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T^t
DIE THERAPIE DER GEGENWART
MEDIZINISCH-CHIRÜRGISCHE RDNDSCHÄD
FÜR PRAKTISCHE ÄRZTE.
(61. Jahrgang.)
Unter Mitwirkung hervorragender Fachmänner
herausgegeben von
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
BERLIN.
Neueste Folge. XXII. Jahrgang.
URBAN & SCHWARZENBERG
BERLIN WIEN
Friedrichstraße 105 B. I., Maximilianstraße 4.
1920.
Geclnickt bei Max StacUhägen, Berlin W57
Die Therapie der Gegenwart
.herausgegeben von ^
ei- Jahrgang Qgl,, Med.-Rat Prof. Dr. G. Kloinperer 1* Heft
Neueste Folge.-XXII.Jahrg. BERLIN Januar 1920
W 62, Kleiststraße 2 *
• - Verlag von TJIIBAN & SOHW ABZElffBEBQ- in Berlin E 24 und WienI
Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementspreis für den
Jahrgang 20 Mark. Einzelne Hefte 2 Mark. Man abonniert bei allen größeren Buchhandlungen»
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man sich an den Verlag in Berlin N, Friedrichstr. 105 B
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Therapie der Gegenwart. Anzeigen.
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- Diesem Heft liegen Prospekte folgender Firmen bei: -
Kalle & Co., A.-O., Biebrich, betr.: „Orexin“ bzw. „Neuronal“. — Gehe & Co., Dresden, betr.: „Liquitalis“. — Krewel & Co.,
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Berlin N 39, betr.: „Amalah“*Erzeugnisse.
INHALTS-^VERZEICHNIS.
Öriginalmitteilungen, Repetitorium der Therapie, zusammenfassende
Übersichten, Kongreßberichte und therapeutischer Meinungsaustausch.
Acidosis, Fettarme Tage zur Bekämpfung.
R. Uhlmann 132.
Allgemeinbehandlung des kranken Menschen.
G. Klemperer 28.
Anaesthesin als entzündungswidriges Mittel.
P. Gast 415.
Aperitol in der Kurpraxis. E. Geyer 47.
Arekolinartig wirkende Verbindungen (Cesol).
A. Loewy ti. R. Wolffenstein 287.
ArgoChrom und Sepsis. W. Wendt 98.
Arteriosklerose. Grunime 151.
Arthritiden, Ambulante Casein-(Caseosan)be-
handlting chronischer —. A. Zimmer 276.
Arthritis, Behandlung der chronischen — mit
Sanarthrit und Proteinkörpern. G. Denecke
216.
Arzneimittel-Prüfungamt, Ein deutsches—.
. - G. Klemperer 377. 448.
Arzneiwirkungen, Bewertung von — imbe¬
sonderen bei Lungenabsceß. G. Klemperer 127.
Atemgymnastik. M. Mosse 86.
Augenkrisen bei. Tabes. Leo Jacobsohn 373.
Bai neologische Gesellschaft, 36. öffentliche
Versammlung 156.
Blutkrankheiten, Behandlung. G. Klemperer
293. 327.
Blutstillende Maßnahmen in der Frauenheil¬
kunde. Ferd. Binz 314.
Blutungen aus weiblichen Genitalien, Physio¬
logische und pathologische. A. Döderlein 129.
Candiolin in der Kinderpraxis. M. Adam 204.
Chirurgie, Bericht über die 44. Versammlung
der Deutschen Gesellschaft für —. 192. 266.
Cretinenbehandlung und Rassenhygiene.
■ Finkbeiner 350. 389. 433.
Depressionen, Wesen und Behandlung. W.
Stekel 253. . 289. 321.
Diabetes, Unterernährung als Heilfaktor. H.
Strauß 6.
—, Moderne individualisierende Diätbehandlung
des —. M, Lauritzeh 209.
-, Diätetische Behandlung. A. Albu 222.
Diabetiker diät. Technische Vereinfachung in
der Handhabung. F. Moritz 49.
Dialacetin, ein neues Kombinationspräparat
des Dials. H. Hirschfeld 447.
•Diät, Indikationsgebiet der vegetarischen —.
(Fettleibigkeit und Diabetes mellitus.) A.
Albu 89.
Dijodyl, Versuche. J. Sakheim 374.
Eisen- und Arsenpräparate. Neuere —. Meid-
ner 358. '
Eukystoltee bei gynäkologischen und uro-
logischen Erkrankungen. J. SFakianakis 335.
Gelenkentzünd Lingen, Behandlung der chroni¬
schen — mit Sanarthrit. G. Reimahn 93.
Gelenkerkrankungen, Behandlung subakuter
und chronischer G. Klemperer und L.
Dünner 400.
Geschwülste, Trypaflavin und Trypaflavin-
silber bei malignen —. C. Lewin 10.
Grippe, Beiträge zur Kenntnis, E. Steinitz 168.
Gynäkologie, Verhandlungen der Deutschen
Gesellschaft Berlin. 296. 329.
Herdreaktion, Gefahren der unspezifischen —.
L. Veilchenblau 239.
Heufieber, Vaccinetherapie. R. Eskuchen 57.
Höhensonne, Erfahrungen mit künstlicher —.
V. Sohlern 284.
Hypertonie, Wesen und Behandlung der dau¬
ernden vasculären. Egmont Münzer 417.
Infektionskrankheiten, Behandlung. G.
Klemperer und L. Dünner 70. 1Ö9. 146. 185-
Influenzanephrose,' Gutartige —. G. Klem¬
perer 241.
Innere Medizin, Rede zur Eröffnung des
22. Kongresses in Dresden. 0. Minkowski 169.
-, Bericht von G. Klemperer 187. 230. 260.
Intravenöse. Therapie, Zwei technische Neue¬
rungen —. M. Sussmann 303.
Kieselsäure, Ausscheidung der — durch den
Harn nach Eingabe verschiedener Kiesel¬
säurepräparate. F. Zuckmayer 344.
Kind, Durch geburtshilfliche Operationen be¬
dingte Schädigungen des —es und Verhütung.
E. Sachs 16. 67.^105.
Kollargolinjektion, Zufälle bei der intra¬
venösen —. H. Eytli 207.
Konstitution, Neue Werke über — von
Bauer — Martins — Kraus. B. Laquer 113.
Luftröhre, Zur Kenntnis und Behandlung der
subkutanen Zerreißung. G. Golm 311.
Lungenabsceß, Selbstheilung. H. Schulze 126.
-, Bewertung von Arzneiwi rkungen bei —.
G. Klemperer 127.
— und Bronchiektasien, Behandlung mit Salvar-
san. Fritz Hirsch 55.
L u n g e n g a n g r ä n, Salvarsanbehandlung. W.Weis
423.
Inhalts - Verzerchnisl
IV
Lungenspitzenkatarrh und chronische Tonsil¬
litis. C, Kraus 12.
Magnesiiimperhydrol bei Magen- und Darm-
beschwcrden. G. Sandberg 47.
Mechanotherapie, II. öffentliche Versammlung
der ärztlichen Gesellschaft für —. Berlin,
20. Januar 1920. 76.
Milchbehandlung, insbesondere bei Tuber¬
kulose. R. LewIn 138.
Nährstoffe, Accessorische Zusammenfassung.
Übersicht 355.
Naturforscher und Ärzte, 86. Versammlung
deutscher — in Nauheim 405.
Nirvanolvergiftungen. E. H. G. Atzrott 375.
Novasurol als Antisyphilitikum. * H. Auer 445.
— als Diureticum. Lange 251.
—, Diuretische Wirkung. V. Kollert 340.
Partigene, Diagnostischer und therapeutischer
Wert der Deycke-Muchschen —. S. Tuszewski
243.
Placenta praevia und Landarzt. Fuhrmann 424.
Pneumothorax, Künstlicher—. K. Grein 393.
Polycythämie, Strahlenbehandlung. 0. Strauß
180.
Proteinkörpertherapie, Fortschritte auf dem
Gebiete der —. A. Zimmer 276.
Pseudoleukämie, Röntgenbehandlung. J.
Blumenthal 280.
Pylorospasmus der Säuglinge, Atropinbehand¬
lung. Kretschmer 15.
Repetitorium der Therapie. 28. 70. 109. 146.
185. 225. 257. 293.. 327. 400.
Riß im Scheidengewölbe intra coitum sechs
Wochen post partum. Voltolini 336.
Röntgentiefentherapie, Grundlagen. Ad.
Calm 385.
Solarson bei Herzkrankheiten. W. Cohn 415.
Solarsontherapie, Technik. K. Gerönne 128.
Stearinfremdkörper in der Blase, Entfernung
jTiit intravesicaler Auflösung durch Benzin.
nach Lohnstein. H. Bonin 46.
St ei nach sehe Versuche, Bemerkungen zu A.
Loewys Aufsatz über Verjüngung. B. Laquer
371.
Stoffwechselkrankheiten, Behandlung. G.
Klemperer 225. 257.
Strikt Urformen und Fisteln der männlichen
Harnröhre, Behandlung'der schwersten. J. J.
Stutzin 21.
Strychninbehandlung. G. Blank 305.
Terpichin bei entzündlicher Erkrankiftig der
Harnwege. W. Karo 103.
Tiefentherapie, Neuzeitliche in Gynäkologie.
E. Opitz 1. 62.
Tonsillitis, Beziehungen zwischen chronischer—
und Allgemeinerkrankung und über Tonsil¬
lektomie nach Kl-app. G. Blank 173.
Toramin, Hustenmittel. Striepecke 208.
Trypaflavin als internes Therapeutikum. K.
Ruhnau 220.
— bei Geschwülsten. C. Lewin 10.
— bei septischen Aborten. A. Mahlo 414.
Tuberkulose, Praktisch wichtige Kapitel der
chirurgischen —. H. Harttung 34. 72.
Typhus, Diagnostisch bemerkenswerter, trotz
Schutzimpfirng letal verlaufener Fall von —.
Voltolini 87.
Ulcus cruris, Behandlung als Nebenbeschäftigung
für Ärzte, besonders Kriegsbeschädigte. E.
Glasen 142.
Ulcus parapyloricum. H. Strauß 379.
Vergiftungen, Behandlung. G. Klemperer 338.
Verjüngung, Steinachsche Versuche durch
Beeinflussung der Pubertätsdrüse. A. Loewy
273.
Wunden, Behandlung infizierter mit Pyoctanin-
gaze. E. L. Blumann 183.
Sachregister.
Abort 200.
—, Sept. 414.
Acidosis 132.
Adam-Stockescher Anfall 236.
Adnextumoren 124.
Ärztebriefe aus vier Jahrhunder¬
ten 364.
Alkohol 365.
Allgemeinbehandlung 28.
Alveolarpyorrhöe 270.
Amöbenruhr 160.
Amputierte, Mechanotherapie77.
Anämie, Einfache 293.
—, Pernieiöse 295. 371.
Anästhesin 415.
Angina 109.
Apcritol 47.
Argochrom und Sepsis 98.
Arteriosklerose 151.
Arthritis 216.
Arthroplastik 300.
Arthritiden, Chronische 276.
Arzneimittelprüfungsamt 377.
448.
—exantheme 78.
—Wirkungen, Bewertung 127.
Atemgymnastik 86.
Atmungsgymnastik und At-
mungslherapie 76.
Atmungsorgane 156.
Atophan, Nebenwirkung 78.
Atropin bei Pylorospasmus 15.
Augenheilkunde, Lehrbuch 199.
—krisen 373.
— Taschenbuch 438.
Bacillenträger 161.
1 Badekuren, Physiologische Be¬
wertung 159.
Bauchabscesse 367.
Basedow, Beziehungen zur Hy¬
pophyse 200.
—behandlung 201.
—sehe Krankheit 200. 332.
Bauchdruck 118.
Bestrahlung der Hoden und
Ovarien 367.
Bewegungsorgane, Behandlung
159.
—Übungen 79.
Blasengeschwülste 41.
—tumoren 270.
Blutbild bei Fleckfieber 410.
—krankheiten 293. 327.
—stillende Maßnahmen 314.
—transfusionen 192.
Blutungen an weiblichen Geni¬
talien 129.
— in Nachgeburtsperiode 236.
Bronchiektasien 55.
Inhalts --VefzoLChnis.
V
Brustkrebsbehandlung 119.
Buttermehlnahrung 79.
Calduititherapie der Lungen¬
tuberkulose 237.
Campher 438.
Candiolin 204.
Caramel 438.
Carcinom, Immunotherapie 161.
—, Röntgenbestrahlung 332.
Caseosan 276.
Centralnervensystem, Chirurgi¬
sche Erkrankungen 232.
Cesol 161. 208. 287.
Chemotherapie 190.
Chinidin 162.
Chirurgie, Lehrbuch 408.
—, Grundriß 438.
Chlorose 293.
Cholera asiatica 150.
Cholevalspülungen 201.
Chorionepitheliom 41.
Cretinenbehandlung 350. 389.
433.
Darmresektionen bei Säuglingen
301.
Depressionen 253. 289. 321.
Diabetes, Diätbehandlung 209.
222. 262.
— insipidus 162. 260.
— mellitus 89.
—, Unterernährung als Heil¬
faktor 6.
Diabetiker, Caramel bei 438.
Diabetikerdiät 49.
Dialacetin 447.
Diät, Vegetarische 89.
Diathesen, Hämorrhagische 328.
Dickdarm und Mastdarm 409.
Digitalis 162.
Dijodyl 374.
Diphtherie HO.
Doppeloberschenkelamputierte
80.
Dysbasia angiosklerotica inter-
mittens 162.
Dysenterie 149.
Eisen- und Arsenpräparate 358.
Eiweißminimum 120.
Eklampsie 80. 332.
—behandlung 42.
Empyeme, Grippe— 42.
Encephalitis 80.
— letharg. 260.
Eosinophilie 163.
Epilepsie '163. 233.
Ernährungslehre, Handbuch 364.
—Störungen des Kleinkindes271.
Erysipel 185.
Erythromelalgie 439.
Essigsäurevergiftung 163.
Eukystoltee 335.
Experimentelle Medizin, Ein¬
führung 39.
Febris herpetica 164.
Fettleibigkeit 89.
—sucht 258.
Fieberhafte Erkrankung 42.
Fisteln der männlichen Harn¬
röhre 21.
Fistula ani 443.
Fleckfieber, Bekämpfung 43.
Fleckfieber, Blutdruck 43.
Föhnwirkung 301.
Frauenheilkunde 409.
Frühgeburt 410.
Furunkeln und Karbunkeln'410.
Furunkulose des Säuglings 411.
'Gallenblasenerkrankungen 411.
Gastroenterostomie- 333.
Gastro- und Nephroptose 267.
Geburtseintritt 201.
—hilfe 365.
Gelbsucht 164.
Gelenkbehandlung in Diather¬
mie 77.
—entzündungen. Chronische 93.
—erkrankungen 400.
—rheumatismus 146.
Geschwülste, Maligne 10.
Gicht 257.
—, Pathologie 2’62.
Glottisödem 81.
Gonorrhöe, Weibliche 121. 367.
Grippe 168.
—, Chronische 440.
Haar, Wachstum 164.
—Schwund 270.
—ausfall, Lichtbehandlung 199.
Hand, künstliche 197.
—schütz, Geburtshilfe 81.
Harnwegeerkrankungen 103.
Haut- und Geschlechtskrank¬
heiten 409.
Herdreaktion 239.
Herzfunktion 159.
—krankheiten 415.
Heufieber 57.
Hirnphysiologische Erfahrungen
233.
—Störungen 235.
Hirschsprungsche Krankheit236.
Höhensonne 284.
—, Grenzen der Leistungsfähig¬
keit künstlicher — 77.
Horngebilde, Wachstum 164.
Humaglosan 270.
Hustenmittel 208.
Hypertonie 417.
Hypophysenextrakt 368.
Ikterus 412.
—, Hämolytischer 196.
Impotenz 437.
Infektionskrankheiten 70. 109.
146. 363.
—, Immuno- und Chemothera¬
pie 188.
Influenza 112.
—nephrose 241.
Inhalationskuren 158.
—therapie 265.
Innere Medizin 169.
Intravenöse Therapie 303.
Kieselsäure 344.
Kind, Schädigungen 16. 67.105.
—er. Anomale 39.
Klumpfuß, Fernresultate 195.
—bildung 165.
Knochenerkrankungen 82.
Kollargolinjektion 207.
Kollateralzeichen 192.
Kolon-descendens-Fistel 368.
Konstitution 1 r3.
Kranker, Was ein — lesen soll
.409.
Kreislauf, Pathologie 263.
—Organe 158. 412.
Kriegsverletzte, Nachbehand¬
lung 77.
Leberfieber 333.
Leitungsanästhesie, Cervicale
236.
Leukämie 327.
Linimentbehandlung der Tuber¬
kulose 272.
Lipoidsubstanzen 201.
Lues -83.
—behandlung 413.
Luftembolien 193.
—röhrenzerreißung 311.
Luminal 163. 332.
Lungenabsceß 55. 126. 127.
—entzündung 268.
—gangräne 121. 237. 423.
—Steckschüsse 269.
—Spitzenkatarrh 12.
—tuberkulöse 237. 403. 408.
-, Chirurgische Behandlung
440.
Magenblutungen 265.
—Darmbeschwerden 47.
—geschwür 83. 121. 333, 441.
—Pathologie 261.
Magnesiumperhydrol 47.
Malaria 186.
-^rezidive 44.
Masern 109.
Mastdarmcarcinom 269.
— Untersuchung 441.
Mechanotherapie 76.
Meningitis 186.
Metastasen des Krebses 367.
Metrasthenie 442.
Milchbehandlung 138.
—Injektionen 44. 165.
Mineralwässer, Verweildauer 159.
Muskelsperrung 197.
Myome und Metropathien 330.
Nährstoffe, Accessorische 355.
Nasenspitze, Ersatz 83.
Nearthrosen 122.
Nephrose 166.
Nervenplastik 193.
—System 160.
Neurasthenie 368.
Neurologie 262.
Niere, Freilegung bei —nge-
schwülsten 44.
—ndekapsLilation 159.
—entzündung 45.
—leiden in Schwangerschaft 123.
Nirvanol 84.
—Vergiftungen 375.
Novasurol 251. 340. 445.
Obstipation 267.
Ödeme, Angioneurotische 40.
Optochin 203.
Organtherapie bei Infektions¬
therapie 190.
Orthopädische Arbeit, Aus 25
Jahren 198.
— Hilfsarbeiterinnen, Lehrbuch
198.
Ösophagusfremdkörper 442.
Osteomyelitis 197.
VI
Inhalts - Verzeichnis.
Partigene 243.
—.therapie 403.
Pathologie und Therapie, Spe-
. cielle 39.
Pericolitis membrana 268.
Periproktitis 443.
Pertussis 112.
Phosphorsäure 84.
Placenta praevia 424.
Pleurapunktionen 166.
—empyemc 264.
Pneumokokkenmeningitis 191.
203.
Pneumonien 438.
Pneumothorax, Künstlicher 393.
Polycythämie 180. 296.
Prostatektomie 269.
Proteinkörpertherapie 190. 276.
403.
Pseudo-Appendicitis 45.
—leukämie 280.
Puerperalprozeß 40.
Pylorospasmus der Säuglinge 15.
Pyoctaningaze 183.
Rachitis 238. 271.
Rassenhygiene 350. 389.
Raynaudsche Krankheit 123.
Resistenzschwankungen 190.
Rheumatismen und Mechano-
therapie 76.
Riß im Scheidengewölbe 336.
Röntgendiagnostik der Unter¬
leibsorgane 264.
—tiefentherapie 365. 385.
Ruhekuren 157.
Ruhr 167. 302.
Salpingo-Stomatoplastik333.
Salzlösung, Physiologische 238.
Sanarthrit 77.'93. 216.
Sarkombehandlung 194.
Säuglingsernährung 271.
—nahrung 239.
Schanker 413.
Scharlach 109.
Schlafmittel 84.
Schulterluxation 194.
Secaleersatz 302.
Secalopan 302.
Sepsis 148.
•— s. Argochrom 98.
Septische Erkrankung, Chemo¬
therapie 203.
Solarson bei Herzkrankheit 415.
—therapie 128.
Somnacetin 84.
Sonnen- und Himmelsstrahlung
Physik 408.
Splanchnicusanästhesie 269.
Stearinfremdkörper in der Blase
46.
Steinachs Versuche 371.
Sterblichkeitsverhältnisse 369.
Sterilisierung der Frau, Künst¬
liche 199.
Stoffwechsel 262.
—krankheiten 225. 257.
Strahlenbehandlung 414.
—therapie 296. ^
Streptothrixerkrankung der At¬
mungsorgane 167.
Strikturtormen 21.
Strophantinanwendung 334.
Struma 123.
Strychninbehandlung 305.
Styptysat 371.
Tenotomie und Muskel 197.
Terpentineinspritzungen bei Ad¬
nextumoren 124.
—öl 371.
Terpichin 103. 371.
Tetanus 186.
Thelygan 124.
Thlaspan 302.
Tiefen therapie I. 62.
—thermometrie 204.
Tintenstiftverletzungen 272.
Tonsillektomie 173.
Tonsillitis 173.
—, Chronische 12.
Toramin 208.
Trauma des Nervensystems 371.
Trichinenkrankheit 264.
Trypaflayin 85: 214. 220. 414.. '
— bei malignen Geschwülsten
10 .
Tuberkulin 272.
Tuberkulose 138. 157. 167. 204.
230.
—, Chirurgische 34. 72.
— des Kindesalters 444.
—mittel, Friedmanns 124.
Tumoren, Maligne 299. t
Typhus 87.
— abdominalis '148.
—bacillenträger 45.
Ulcus cruris 142.
— parapyloricurn 379.
— ventriculi 266.
Unterernährung siehe Diabetes.
Unterschenkel, Rachitische Ver¬
krümmung 334.
—^fraktur 19.8.
Urologisches Praktikum 40.
Vaccinetherapic 57.
Variola 85. 187.
Vereisung von Nerven 236.
Vergiftungen 338.
Verjüngung 273.
Verstaatlichung 125.
Vitamine 355.
Vorderarm Plastiken 197.
Vorhofflimmern 162.
Vuzin 334.
— bei Tiefenantisepsis 191.
Wasserhaushalt des Körpers 260.
Weilsche Krankheit 239.
Winterkuren in Deutschland 157.
Wunddiphtherie 193.
Wunden, Infizierte 183.
Wundliegen 125.
Wurstsorten 85.
Zigarettenmißbrauch 265.
Zuckerkrankheit 226.
Autorenregister.
(Die Seitenzahlen der Original-Mitteilungen sind fett gedruckt.)
Adam, C. 438.
Adam, M. 204.
Albu, A. 89. 222.
Anschütz u. Weinert
193.
Aschheim 296.
Assmann 263.
Atzrott, E. H. G. 375.
Auer, H. 445.
Baer 333.
Bam berge r 162.
Baetzner 194.
Bauer 441.
V. d. Bergh 412.
Betz 201.
Bestelmeyer 197.
Bieling 160.
Bier 122.
Binz, F. 314.
Bittorf 163.
Blank, G. 173. 305.
Blaschko 270.
Blumann, E. L. 183.
Blumenthal (Berlin) 77.
Blumenthal, J. 280.
Bock Li. Mayer 166.
Bohland 85.
Böhm (Berlin) 77.
Böhme 83.
Bolten, C. 40.
Bonin, H. 46.
Borchardt 190.
Bornstein ii. Griesbach
263.
Bossert, L, u. 0. 124.
Bratz Li. Renner 409.
Brauns 121.
Breslauer 232.
Brewitt 368.
Bruck u. Becker 413.
Brugsch 120. 159.
Bruns 158.
Bumke u. Teubern 45.
Bürgers 369.
Cade Li. Rüutier 367.
Calm, A. 385.
Cassel 45. 411.
Clasen, E. 142
Cohn, J. 40.
Cohn, Th, 167.
Cohn, W. 415.
Colmers 194.
Coenen 192.
Debruniier 198.
Decker 161.
Denecke, G. 216.
Döderlein, A. 129.
Dorno, C. 408.
Ebstein, Er. 364.
Einhorn 411.
V. Eiseisberg 266.
Eliasberg 444.
Engel 238.
Engel, St. 411.
Erd heim 272.
Eskuchen, T<. 57.
Eunicke 83
Eyth,* H. 207.
Inhalts-Verzeichnis.
Vll
Fabian, E. 201.
Feuerhak 355.
Finkbeiner 350. 389.
433.
Fischer (Kiel) 160.
Flesch-Thebesius 166.
Flockemann 197.
Franckenthal 159.
Frank 262.
Frankel 195.
Friedberger 86.
Friedländer 163.
Fries 410.
Fromme 82.
Fuchs 124.
Fuhrmann 424.
Garre u. Borchard 408.
Gast, P. 415. ■
Gerönne, K. 128.
Gessner 80.
Geyer 47.
Goldscheider 157.
Golm, G. 311.
Grabley 83.
Grassl 125.
Grein, K. 393.
Groedel 158.
Groß 121.
Großmann 272.
Grote 410.
Gruber 122.
Grumme 151.
Gudzent 262.
Gulecke 233.
Guradze 76.
Gust 84.
Gustafsson 41.
Haeberlin 160.
V. Haberer 266.
V. Hacker 83.
Halban ti. Köhler 40.
Hammesfahr 45.
Härtel 236.
Hartert 123.
Hartog 371.
Harttung, H. 34. 72.
Harzer 239.
Helley 301.
Hermel, H. 160.
Heubner 265.
Hirsch 159.
Hirsch, F. 55.
Hirschfcld, H. 447.
Hochstettcr 82.
Hoffmann 78.
Hoffmann (Warm-
brunn) 159.
Hofmann, K. 44.
Hofstätter 200.
Hiilschinski 271,
Jacob, Ch. 84.
Jacobsohn, L. 373.
Jacoby, Mart. 39.
V. Jaksch 260.
Jarisch 162.
V. Jaschke u. Pankow
365.
Jehn 269.
Joseph 41.
Joseph, E. 194. 270.
Jürgens, Gg. 363.
Käppis 269.
Karo, W. 103. 159.
Kaznelson 163.
Kelling 265.
Keppich 367.
Keppler u. Hof mann
334.
Keysser 196.
Kirchberg, B. 76.
Kirschner 266.
Klee 261.
Klein 438.
Kleinschmidt 79. 266.
Klemperer, F. 403. 408.
Klemperer, G. 28. 127.
187. 225. 230. 241.
257. 260. 293. 327.
338. 377.
Klemperer, G., u. Dün¬
ner 70. 109. 146.
185. 400.
Klewitz 162. 263.
Klink 192. 232. 266.
Klotz 239.
Koblanck 409.
Kolle 191.
Kollert, V. 340.
Königer 190.
Kotzenberg 197.
Kraus, C. 12.
Kraus u. Brugsclv 39.
Krause, Fed. 233.
Kretschmer 15.
Külbs 265.
Kümmel 1 268.
Küttner 269.
Lange 251.
Laquer, B. 113. 371.
Laqueur (Berlin) 77.
Lauritzen, M. 209.
Laewen 236.
Leschke 191. 203.
Lewin, C. 10. 161.
Lewin, R. 138.
Lieberineister 230.
Lilienstein 160.
Lindig 165.
Lippmann u. Samson
42.
Loeb, Edm. 83.
Loewy, A. 273.
Loewy u. Wolffcnstein
287.
Mahlo, A. 414.
MaendJ 237.
Mansfeld 442.
Meidner 358.
Melchior 118.
Meyer, C. 81.
V. Miltner 332.
Minkowski, 0. 169.
Mittweg 42.
Möller 157. 204.
Momm 201.
Mommsen, F. 80.
Morgenroth 190.
Moritz, F. 49.
Mory 334.
Moskowicz 443.
Mosse, Max 86.
Müller, E. F. 44.
Müller, Otfr. 191.
Müller, E., u. Brandt
271.
Munk 264.
Münzer, E. 417.
Naef 80.
Naegeli 440.
Nagelschmidt 199.
Neisser, E. 333.
Niemann, A. 271.
V. Noorden 84.
V. Noorden u. Salomon
364.
Nürnberger 162. 367.
Off rem 167.
Opitz, E. 1. 62.
Oppenheim 371.
Ostermann 197.
Partsch 83.
Pässler 412.
Paul, G. 85.
Payr 195. 267. 300.
Perthes 119. 234.
Petren 262.
Petruschky 302.
Pfeiffer, A. 43.
Pfleiderer 441.
Plcnz 301.
Prendl 409.
Pulay 200.
Pulvermacher, L. 409.
Quincke 79.
Rennstierna 413.
Rehfisch 159.
Rehnjr. 197.
Reich 193.
Reimann, Gg. 93.
Reimer 438.
Retzlaff 237.
Ritter 196. 197.
Römer 83.
Römer, P. 199.
Rosenow 203.
Rosenstein 191.
V. Rothe 267.
Ruhnau, K. 220.
Sachs. E. 16. 67. 105.
Sakheim 374.
Samolewski 167.
Sandberg, G. 47.
Sänger 368.
Schaffer 262.
Schenk 368.
Schepelmann 165.
Schittenhelm 188.
Schlemmer 442.
Schlesinger 124.
Schloffer 198.
Schmid 236.
Schmidt (Prag) 190.
Schmincke 159.
Scholz-Gregor 39.
Schoemaker- 268.
Schöne 192.
Schott 236.
Schulze, H. 126.
Schweisheimer 366.
Seitz 270. 333.
Seitz u. Wintz 365.
Seuffert 414.
Seyfarth 262.
Sfakianakis, J. 335.
Siebelt 158.
Sieben 123.
Simon 83.
V. Sohlern 42. 284.
Sommer 198.
Sonntag 438,
Springer, C. 334.
Stein (Wiesbaden) 77.
Steinitz, E. 168.
Stekel, W. 253. 289.
321. 437.
Stemmler 156.
Stepp 201. 237. 262.
Sterling-Okuniewski 43.
Steyerthal 160.
Stiefler 78.
Straßmann, G. 81.
Straub, W. 238.
Strauß 157.
Strauß, H. 6. 379.
Strauß, 0. 180. 332.
Striepecke 208.
Strümpell 368.
Stutzin, J. J. 21.
Sußmann, M. 303.
Treupel 440.
Tuszewski, S. 243.
Uhlenhut u. Zuelzer
164.
Uhlmann, R. 132.
Umber 262.
Unger 193.
Veil 123. 260.
Veilchenblau, L. 239.
Völeker 196. 269.
Voltolini 87. 336.
Vulpius 198.
Walterhöfer 44.
Walther 302.
Weis, W. 423.
Wendt, W. 98.
Wieting 125.
Winter 199.
Winter, K. 200.
Wolffenstein, R. 208.
Zacharias 410.
Zadek, J. 371.
Zimmer, Arn. 276.
Zlocisti 164.
Zondek 204. 439.
Zuckmayer, F. 344.
Zuntz, N. 164.
Zweig 333.
Die Therapie der Qe§:enwart
1920
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Januar
Nachdruck verboten.
Aus der Frauenkliuik der Universität Freiburg.
Die neuzeitliche Tiefentherapie in der. Gynäkologie.
Von E. Opitz.
Der Aufforderung der Redaktion dieser
Zeitschrift, über den Stand der Tiefen¬
therapie in der Gynäkologie zu.berichten,
komme ich um so lieber nach, als mir
scheint, daß der gegenwärtige Zeitpunkt
zu einem Rückblick und zusammenfas¬
senden Berichte besonders geeignet ist.
Gewisse Gebiete der gynäkologischen Tie¬
fentherapie sind als abgeschlossen zu be¬
trachten. Andere haben durch die neuen
Forschungsergebnisse und Verbesserungen
der Technik neuen Aufschwung genom¬
men.
In physikalische und biologische Vor¬
gänge haben wir einen besseren Einblick
gewonnen, sodaß wir auch von unseren
therapeutischen Maßnahmen Fortschritte
erhoffen dürfen.
Dasjenige Gebiet, auf dem wir wohl
die möglichen Erfolge erreicht haben, das
man daher in der Hauptsache als abge¬
schlossen betrachten kann, ist das Gebiet
der Behandlung der Myome und der
funktionellen Uterusblutungen. Hier sind
wir heute in der Lage, mit einer einmali¬
gen kurzen Behandlung ohne irgend¬
welche bisher bekannt gewordenen Schä¬
digungen der Kranken eine vollständige
Heilung herbeizuführen. Wenn man als
das Ideal einer Behandlungsart das tuto
cito et jucunde bezeichnet hat, so kann
hier dieses Ideal als erreicht gelten. Die
Technik, die dabei befolgt wird, ist denk¬
bar einfach. »Die Frauen erhalten von je
einem Felde vom Bauch und vom Rücken
aus die Ovarialdosis, die mit einem in die
Scheide eingeführten Meßapparat (Jonto-
quantimeterkammer) festgestell t wird.
Mit den neueren leistungsfähigen Appa¬
raten und ganz besonders dann, wenn, wie
es vielfach möglich ist, gleichzeitig vön
zwei Seiten aus bestrahlt wird, nimmt das
nur wenige Stunden in Anspruch. Die
Kranken verlassen dann sofort geheilt die
Klinik. Schwankungen in der Zeitdauer
kommen vor. Dicke Frauen bedürfen
einer längeren Bestrahlungsdauer als ma¬
gere, aber anderweitige individualisierende
Abänderung wird nicht nötig, es sei denn,
daß wir bei mageren Frauen öfters mit
einem Feld auskomm'en, ohne doch die
Haut in einen Entzündungszustand zu
versetzen.
Das ist zweifellos ein großer Fort¬
schritt, wenn man sich vergegenwärtigt,
vor wie kurzer Zeit noch eine durch Mo¬
nate hindurch ständig wiederholte Be¬
handlung notwendig war, an deren Ende
schließlich doch noch die Frage offen
bleiben mußte, ob nun wirklich auch das
erstrebte Ziel endgültig erreicht war oder
ob noch weitere Bestrahlungen notwendig
sein würden, um Rezidiven vorzubeugen.
Man hat freilich diesem Verfahren
allerlei vorgeworfen und es mit dem
Namen ,,Intensivbestrah’lung‘‘ belegt, um
damit anzudeuten, daß ungeheure Men¬
gen von Röntgenstrahlen notwendig seien,
um zum Ziele zu kommen, oder das offen
ausgesprochen. Diese Vorwürfe sind völlig
haltlos. Das genaue Gegenteil ist richtig.
Wir wissen durch biologische Unter- ’
suchungen ganz genau, daß dieselbe Menge
Röntgenlicht bei einmaliger Anwendung
viel intensiver wirkt, als wenn dieselbe.
Dosis auf mehrere Bestrahlungen verteilt-
und so auseinandergerissen wird (Gesetz
der verzettelten Dosis). Schon das be¬
weist, daß bei wiederholter Bestrahlung
zur Erreichung desselben Zweckes mehr
Röntgenlicht verbraucht werden muß,
als bei wiederholten Sitzungen. Wenn
man aber diejenigen Mengen von Röntgen¬
energie berechnet, die bei dem alten Ver¬
fahren benötigt worden sind, so ist man
erstaunt, zu sehen, wie viel von diesem
differenten Mittel dem Menschen einver¬
leibt worden ist im Vergleiche zu den ver¬
blüffend geringen Dosen, die wir bei der
einmaligen Bestrahlung brauchen. Das
letzte Wort in dieser Angelegenheit wer¬
den praktisch selbstverständlich die Kran¬
ken zu sprechen haben. Mir scheint es
nicht im geringsten zweifelhaft, welches
Verfahren bevorzugt werden wird, wenn
die Frauen die Wahl habe», entweder
1
2
Die Therapie der Gegenwart 1920
Januar
monatelang in* verschieden langen Pausen
bestrahlt oder mit einer kurzen Sitzung
endgültig von ihren Beschwerden befreit
zu werden. Mit gleicher Sicherheit wie
durch Röntgenbestrahlung läßt sich mit
Radiumbestrahlung und zwar am besten
intrauteriner, die Amenorrhoe herbei¬
führen. Das Verfahren hat gewisse Vor¬
züge und Schattenseiten, auf die hier
nicht eingegangen werden kann, jeden¬
falls ist der Erfolg ebenso sicher wie mit
Röntgenbehandlung.
Diese Fortschritte sind erzielt worden
durch genaue Erforschung der Bedin¬
gungen physikalischer und biologischer
Art, unter denen die von den Röntgen¬
röhren und von den strahlenden Metallen
ausgesandte Energieform wirkt. Ge¬
naueres über die älteren Forschungsergeb¬
nisse findet sich in dem Buche von
Krönig und Friedrich über die physi¬
kalischen und biologischen Grundlagen
der Strahlentherapie (Berlin, Urban &
Schwarzenberg).
Zum Verständnis des nachfolgenden
muß ich kurz auf das Wichtigste aus
diesen und unseren weiteren Unter¬
suchungen eingehen.
Was zunächst die physikalischen Bedingungen
betrifft, so gehorchen Röntgen- und Radium¬
strahlen dem quadratischen Gesetz, welches be¬
sagt, daß die auf die Flächeneinheit auffallenden
Strahlenmengen sich umgekehrt verhalten, wie
die Quadrate der Entfernung von der Strahlen¬
quelle, solange diese als punktförmig angesehen
werden kann. Durchsetzen die Strahlen feste
Körper, so werden sie zum Teil absorbiert. Die
Höhe der Absorption ist im allgemeinen ab¬
hängig von der Dichte der Körper- bzw. Atomzahl.
Nicht maßgebend ist die chemische Zusammen¬
setzung.
Das Verhältnis der an der Oberfläche und in
der gewünschten Tiefe vorhandenen Strahlen¬
energie, bezeichnen wir als Dosenquotient. Der
Dosenquotient ist günstiger bei großer Entfernung
.des bestrahlten Körpers von der Strahlenquelle
als bei geringer Entfernung, wie sich ohne weiteres
aus dem quadratischen Gesetze ergibt. (Die
Quadrate von 10 und 14 verhalten sich annähernd
wie 1 :2, die von 100 und 104 wie 1 : 1,08.)
Von noch größerem Einfluß auf den Dosen¬
quotienten ist die Qualität der Strahlen. 'Aus
allen Röntgenröhren, einerlei ob sie als hart
oder weich bezeichnet werden, kommt stets ein
Strahlengemisch von harten und weichen Strahlen.
Auch die Lilienfeldröhre macht davon keine
Ausnahme. Freilich sind die Unterschiede in der
Qualität der von den Röhren gelieferten Strahlen
je nach der Beschaffenheit der Röhre selbst und
der Belastung, unter der sie betrieben wird, sehr
groß. Jedoch sind auch bei den härtesten Röhren
noch immer weiche Strahlen vorhanden. Beim
Durchgang durch feste Stoffe, also auch durch
den menschlichen Körper, bleiben von den
weichen Strahlen viel mehr stecken, werden ab¬
sorbiert, als von den harten Strahlen, die ja
wegen ihrer Durchdringungskraft so heißen.
Da nun die Tiefentherapie darauf beruht, in der I
' Tiefe des. Kprpers gelegenes • Gewebe'zü treffen,
so muß das oberflächlich darüber gelegene Ge¬
webe bei weicher Strahlung sehr viel mehr er¬
halten, als in der Tiefe gelegenes. — Eine zweck-
. mäßige Tiefentherapie muß also die weichen
Strahlen nach Möglichkeit ausschalten, und das
gelingt durch Filterung. Welche Stoffe man
dazu nimmt, ist an sich gleichgültig. Sehr durch¬
lässige Stoffe müssen nur in entsprechend dickeren
Schichten benutzt werden. Bei uns ist nach
vielen Versuchen 1 mm Kupfer als das zweck¬
mäßigste Filter für die Tiefentherapie erprobt
worden. Es wird dadurch zwar die von der Röhre
ausgesandte Energie sehr stark vermindert,
das Ergebnis ist aber, daß wir eine im technischen
Sinne völlig ausreichende qualitative Homogenität
der Strahlen erzielen. Wir verstehen darunter
die Eigenschaft der Strahlen, durch weitere Fil¬
terung nicht mehr wesentlich in ihrer Qualität
verändert zu werden. Das Maß der Heterogenität
stellen wir fest durch Vergleich der Dicke der
Schicilten, welche erforderlich sind, um eine
Strahlung immer wieder auf die Hälfte der auf
das Filter auffallenden Energie herabzusetzen.
Werden z. B. aus der Röhre austretende Strahlen
durch eine Schicht von 1 cm Wasser auf die
Hälfte ihrer ursprünglichen Energie herabgesetzt,
so ist für die Herabsetzung der nunmehr durch
das Wasser gefilterten Strahlen wiederum auf
die Hälfte ihrer Energie vielleicht eine Schicht¬
dicke von cm Wasser erforderlich. Das Maß.
der Heterogenität wäre dann das Verhältnis von
1 % zu 1 oder von 3 zu 2. Mit 1 mm Cu. gefilterte
Strahlen weisen eine Heterogenität von 1,01 auf
und sind daher praktisch als homogen zu bezeich¬
nen, was aber durchaus nicht besagen soll, daß
wir nun etwa nur Strahlen von einer Wellen¬
länge hätten.
Wir benutzen deshalb zur Tiefentherapie
ausschließlich gefilterte Strahlung und zwar in
der Mehrzahl der Fälle mit 1 mm Cu. gefilterte
Strahlen.
Sind die eben erörterten Verhältnisse wohl
jetzt unter den Fachleuten als allgemein be¬
kannt zu bezeichnen, so gilt das viel weniger
von der großen Bedeutung, welche die Sekundär¬
strahlung für die Tiefentherapie besitzt.
Wir kennen dreierlei Arten von Sekundär¬
strahlung: 1. Die sogenannte specifische oder
Fluorescenzstrahlung, die, unter der Erregung
durch Röntgenstrahlen ähnlich wie das Licht
an bestimmten Körpern eine Fluorescenz erzeugt,
von den getroffenen Stoffen ausgesandt wird.
Diese Fluorescenzstrahlung ist eine Funktion
des Atoms und hat praktisch, wenigstens für
Röntgenbestrahlung, keine Bedeutung.
Ähnliches gilt von der sekundä!-en ^ff-Strahlung.
Diese entsteht in jedem durchstrahlten Körper,,
also auch in dem bestrahlten menschlichen Gewebe,
und ist jedenfalls die Hauptursache der biolo¬
gischen Wirkung, weil auf sie alle chemischen,
Wärme- und andersartigen Wirkungen der Strah¬
len in der Hauptsache zurückgeführt werden'
müssen. Diese sekundäre |5-Strahlung ist jedoch,,
soweit wir bis jetzt darüber unterrichtet sind,
proportional der auftreffenden Menge der Rönt¬
genstrahlen. Sie kommt deshalb für die Größe^
des Dosenquotienten nicht in Betracht.
Um so wichtiger ist die dritte Art der sekun¬
dären Strahlung, die Streustrahlung. Sie kann
verglichen werden mit der diffusen Verteilung
des Lichtes, das ein trübes Medium, z. B. Zigarrenr
rauch, durchsetzt. Sie hat genau die gleichen
Wellenlängen wie die primäre Strahlung und
entsteht unabhängig von der chemischen Qua-
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1920
3
lität in jedem bestrahlten Stoffe. Diese Sekundär¬
strahlen werden nach allen Richtungen ausge-
’sandt und vermehren ganz erheblich die Tiefen¬
dosis, in geringerem Grad auch die Oberflächen¬
dosis. Einige Beispiele werden* den gewaltigen
Einfluß dieser Sekundärstrahlung am besten er¬
läutern. Wenn man mit 50 cm Fokushautab¬
stand unter Filterung durch 10 mm Aluminium
bestrahlt, so würde der in 6 cm Tiefe unter der
Oberfläche aus quadratischem Gesetz und Absorp¬
tion berechnete Betrag der Tiefendosis 22 %
der Oberflächendosis betragen. In Wirklichkeit
-aber wird er auf den Betrag von 51 % durch die
Sekundärstrahlung erhöht. In 8 cm sind die
entsprechenden Zahlen 13,8 bzw. 42%; in 10 cm
Tiefe 8,4 und 31 %. Benutzen wir statt 10 mm
Aluminium 1 mm Cu. als Filter, so lauten die
entsprechenden Zahlen: 25 und 67,5% in 6 cm
Tiefe, 17 und 54 % in 8 cm und 10 bzw. 44 % in
10 cm Tiefe. Die Tiefendosis übertrifft also in
10 cm Tiefe um nicht weniger als 440% den
allein nach dem quadratischen Gesetz und Ab¬
sorption berechneten Betrag der Strahlung.
Fast ebenso einflußreich ist infolge der Se¬
kundärstrahlung die Feldgröße. Auch hier einige
Beispiele. Der Dosenquotient beträgt unter im
übrigen gleichbleibenden Verhältnissen in 5 cm
Tiefe bei einer Feldgröße von 5 x 5 cm 0,56; bei
10 X 10 cm 0,64 und bei 15x 15 cm = 0,73. In
10 cm Tiefe sind die entsprechenden Zahlen 0,31,
0,38 und 0,43.
Dieses Steigen des* Dosenquotienten erstreckt
sich bis zu einer Feldgröße von etwa 20 x 20 cm.
Eine weitere Vergrößerung des Feldes dürfte,
nach dem Verlauf der Kurve zu schließen, einen
wesentlich verstärkenden Einfluß nicht mehr
besitzen.
Abgesehen von dieser erheblichen Vergröße¬
rung des Dosenquotienten mit der Feldgröße
ist aber noch ein anderer Einfluß dieses Faktors
auf die Ausbreitung der Strahlenenergie in der
Tiefe festzustellen. Wenn wir nämlich den Abfall
der Energie vom Zentralstrahl aus nach den
Seiten messen,, so ergibt sich, daß der Energie¬
abfall um so schneller erfolgt, je kleiner das Feld
gewählt wurde. Am besten dürften das die beiden
bei gegebenen Kurven erläutern.
Verteilung der Dosis bei einer Feldgröße von 8X8 cm.
r
r
i
/
V
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J
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3
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i'J '3 ft f t V z 0 3 \t. ti f ft f* ft
Abb. 2.
Verteilung der Dosis bei einer Feldgröße von 20X20 cm.
Wir sehen, daß bei einer Feldgröße von
8 X 8 cm nur in 1 cm Entfernung vom Zentral¬
strahl noch die gleiche Stärke der Strahlung in
der Tiefe gemessen werden kann, daß sie aber
dann schnell nach den Seiten abfällt. Wählt
man ein Feld von 20 x 20 cm Größe, so finden
wir noch in 6 cm seitlicher Entfernung vom
Zentralstrahle genau die gleiche Dosis. Der Abfall
erfolgt dann nach den Seiten viel allmählicher
als bei kleinerer Feldgröße, wie das am besten
aus den beigefügten Kurven ersichtlich ist.
Wollen wir also einem ausgedehnten Herd
in der Tiefe mit möglichst geringer Schädigung
der darüber gelegenen Gewebe eine starke Dosis
verabreichen, so ist es zweckmäßig, mit der Rönt¬
genröhre in weiter Entfernung von der Haut¬
oberfläche zu bleiben, die Strahlen stark zu filtern
und ein möglichst großes Feld zu wählen. Wir
werden dann den günstigsten Dosenquotienten
für die Tiefe erzielen und die Wirkung der Strahlen
wird sich in der Tiefe auf einen möglichst großen
Raum ausdehnen. Letzterer Umstand ist gerade
bei Bestrahlung von Carcinomen, die ja häufig
ihren Ausgangspunkt schon überschritten haben,
von großer Bedeutung.
Während die Dosierung der Röntgen-,
strahlen, wenigstens für uns, schon seit
längerer Zeit ein abgeschlossenes Kapitel
ist, galt das bisher nicht für die Dosie¬
rung des Radiums. Man hat sich im all¬
gemeinen gewöhnt, die Dosis des Radiums
nach Milligrammelementstunden zu be¬
rechnen, das heißt anzugeben, welche
Menge Radium, beziehungsweise Meso¬
thorium ausgedrückt in Äquivalenten Ra¬
diumelement, angewandt wurde, und die
Zahl der Milligramme mit der Zahl der
Stunden multipliziert. Fügt man noch
die Angabe der Filterung hinzu, so ist
im allgemeinen alles erschöpft, was man
über die Verabreichung des Radiums in
der Literatur finden kann. Man hat dann
von verschiedenen Seiten, am ausführ¬
lichsten von Kehrer, zu berechnen ver¬
sucht, welche Strahlenmengen in ver¬
schiedenen Entfernungen von dem Strah¬
lenkörper wirksam gewesen seien. Diese
sämtlichen Berechnungen sind durchaus
irreführend, denn es ist dabei völlig außer
acht gelassen worden der Einfluß der
Gestalt des Strahlenkörpers und vor allen
Dingen der Sekundärstrahlung, der sich
selbstverständlich auch bei Anwendung
des Radiums bemerkbar machen muß.
Wir haben uns bemüht, diese Lücke aus-
zuftillen. Durch die Untersuchungen von
Friedrich und Glasser im Radiologi¬
schen Institut meiner Klinik ist es nun
in der Tat gelungen, durch genaue Unter¬
suchungen, auf die hier nicht näher ein¬
gegangen werden soll, die Verteilung der
Energie um den Strahlenkörper herum
festzustellen. Die Stellen, an denen
gleiche Energie herrscht, sind von Fried¬
rich mit dem Namen „Isodosen'* belegt
worden. Diese Isodosen verlaufen durch¬
aus nicht, wie man früher anzunehmen
geneigt war, in Form von Kugelschalen
um den Körper herum, sondern haben
1*
4
Die Therapie der Gegenwart 1920
Januar
eine davon erheblich abweichende Ge¬
stalt, die in weitem Maße abhängig ist
von der Gestalt des Strahlenkörpers.
Besser als lange Beschreibungen werden
die beigefügten Abbildungen das erläu-
Abb. 3. Verlauf der Isodosen bei einem einfachen Dome-
niciröhrchen.
Abb. 4. Verlauf der Isodosen bei drei hintereinander
liegenden Domeniciröhrchen von gleichem Radiumgehalt.
tern. Daß sie in der Tat der Wirklich¬
keit entsprechen, dürfte die in Abb. 5
dargestellte Licht- _
Wirkung eines
I Strahlenkörpers
auf der photo-
graphischenPlatte
zeigen, die ganz
die gleichen For¬
men aufweist. Vor- ^^b. s.
läufig sind diese
Isodosenkurven berechnet wotden in
Form von Prozenten der Energiemenge,
die in 1 cm Entfernung von der Mitte
des Strahlenkörpers herrscht. Wollen
wir aber zu therapeutischen Zwecken
das Radium verwenden, besonders in
Kombination mit Röntgenstrahlen, so
ist es natürlich notwendig, die Energie
mit dem gleichen Maße, das wir für Rönt¬
genstrahlen gebrauchen, auszudrücken.
Das ist uns mit Hilfe der biologischen
Eichung mitzunächstgenügender Genauig¬
keit gelungen. Wir wissen, daß 30 mg
Radium in 1 V*cm Entfernung von der Haut
innerhalb von 70 Stunden eine Blasen¬
bildung hervorzurufen imstande sind.
Nach der üblichen Berechnung wären das
2100 mg Stunden Radiumelement. Die
gleiche Wirkung haben 300 e Röntgen¬
strahlen. Wir können also die 300 e mit
den 2100 mg-Stunden vergleichen und
bekommen dann für die in IV 2 cm Ent¬
fernung von der Mitte eines 30 mg hal¬
tenden Radiumträgers herrschende Ener¬
gie den Betrag von 7 e bei Einwirkung in
70 Stunden. Diese Größe können wir
auf die Kurve eintragen und danach die
Energiegröße in e berechnen. Wir be¬
nutzen dieses Verfahren praktisch seit
längerer Zeit und sind damit in der Lage,
die Intensität der Strahlung an allen
Punkten im Becken durch Einzeichnung
der Kurve in einem Schema festzustellen,
wie es auf der untenstehenden Abb. 6 deut¬
lich ersichtlich ist. ^
Daß bei der Radiumstrahlung die
Sekundärstrahlung auf die Dosis ähnlich
wie bei Röntgenbestrahlung von erheb¬
lichem Einfluß ist, geht aus der beifolgen¬
den Tabelle klar hervor, die ein Beispiel
aus vielen Untersuchungen ist.
Abstand
in cm
Gemessene
Dosis
Berechnete]
Dosis
Unterschied in
®/oder berech¬
neten Dosis
1
108
90
20
2
35
20,26
73
3
17
8,1
110
4
10
4,1
144
5
6,0
2,36
154
6
4,5
1,48
204
8
2,6
0,65
300
10
1,6
0,35
357
Von den biologischen Grundlagen
müssen einige der wichtigsten hier kurz
erörtert werden. Voraussetzung für jede
Strahlenbehandlung ist, daß die Gewebe
nicht gleichmäßig für die Strahlen emp¬
findlich sind. Diese Voraussetzung trifft
in der Tat zu. Wir wissen, daß verschie¬
dene Gewebe sich gegenüber den Strahlen
ganz außerordentlich verschieden ver¬
halten. Im allgemeinen sind im jugend¬
lichen Zustande befindliche Gewebe und
solche, die einen besonders regen Stoff¬
wechsel aufweisen, empfindlicher als aus¬
gereifte, hochdiffenenzierte Gewebe mit
geringem Stoffwechsel. Man hat für diese
Tatsache das Wort ,,Elektivität“ der Ge¬
webe geprägt, was zu großen Mißverständ-
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1920
5
nissen Veranlassung gegeben hat, weil
man-darunter verstanden hat, daß ein¬
zelne Gewebe garnicht und andere sehr
empfindlich für die Strahlung seien. Das
wäre eine irrtümliche Auffassung. Es
gibt wohl kein Gewebe, das nicht auf die
Strahlung reagierte, nur ist eben der Grad
der Reaktionsfähigkeit außerordentlich
verschieden. Wenn wir nun aber den
Grad der Empfindlichkeit bestimmen
wollen, wie für eine zielbewußte Therapie
natürlich unumgänglich notwendig ist,
so müssen wir erstens die Strahlung genau
messen können und zweitens uns darüber
ein Urteil verschaffen, ob nicht die Qua¬
lität der Strahlung, das heißt langwellige
oder kurzwellige Strahlen in verschiedener
Weise wirken. Was den ersten Punkt an¬
betrifft, so scheint uns nach unseren
Untersuchungen das weitaus beste In¬
strument das Jontoquantimeter zu sein,
und zwar in der von Friedrich modifi¬
zierten Form, bei der die Kammer aus
Stoffen von sehr niedrigem Atomgewicht
aufgebaut ist. Bei dem Jontoquantimeter
wird die Eigenschaft der Luft, durch die
Strahlen ionisiert und damit für die
Elektrizität leitfähig zu werden, als Maß
benutzt. Als Maßeinheit ist von Fried¬
rich das „e‘' aufgestellt worden, welches
diejenige Strahlenmenge bezeichnet, die
imstande ist, bei Sättigungsstrom einen
Leiter von der Kapazität 1 auf die Ein¬
heit des Potentials (300 Volt) aufzuladen.
Diese Einheit hat vor allen anderen bisher
vorgeschlagenen Einheiten den Vorzug,
daß sie ein objektives Maß darstellt, das
jederzeit an anderer Stelle unter den
gleichen Bedingungen wieder benutzt
werden kann und das sich auf bereits in
der Physik übliche Maßeinheiten aufbaut.
Wir benutzen es ausschließlich. Die
Wichtigkeit der besonderen Einrichtung
der Meßkammer beruht darauf, daß Kör¬
per von höherem Atomgewichte, selbst
schon Aluminum, anders auf verschiedene
Qualitäten der Strahlen reagieren, als
tierische Gewebe, in denen wir ja die
Wirkung der Strahlen messen wollen. Der
Einfluß der Beschaffenheit der Kammer¬
wand des Jontoquantimeters auf die
Messung ist sehr erheblich. Mit einem
solchen einwandfreien Meßinstrumente
hat sich nun bisher stets gezeigt, daß es
bei der biologischen Wirkung lediglich
auf die Menge und nicht auf die Qualität
der Strahlen, also hart oder weich, an¬
kommt. Das war von vornherein durch¬
aus nicht so wahrscheinlich. Wir wissen
a vom Lichte, daß rotes Licht ganz an¬
dere biologische Eigenschaften besitzt,
als violette oder gar ultraviolette Strahlen,
und so wäre wohl anzunehmen, daß ver¬
schieden harte Röntgenstrahlen, die noch
mehr voneinander unterschieden sind als
die genannten Lichtqualitäten, auch ver¬
schiedene Wirkungen äußern würden.
Soweit aber die bisherigen Untersuchun¬
gen ein Urteil gestatten, ist ein solcher
Unterschied nicht vorhanden. Wenn man
nun mit einem solchen geeigneten Me߬
instrument die verschiedene Empfindlich¬
keit der Gewebe prüft, so ergeben sich
ganz gewaltige Unterschiede. Als Tast¬
objekt wird ganz allgemein die Haut be¬
nutzt. Durch vielfache Messungen ist
festgestellt worden, daß regelmäßig die
Epidermis bei einer Dosis von 160 bis 170 e
mit einer entzündlichen Veränderung
reagiert, die als ,,Erythem“ bezeichnet
wird. Man hat deshalb die entsprechende
Dosis als „Erythemdosis“ oder ,,Haut¬
dosis“ bezeichnet und diese Dosis als Ver¬
gleichswert benutzt. Man hat z. B. fest¬
gestellt, daß die Carcinomdosis annähernd
gleich der Hautdosis sei. Leider sind dabei
Unklarheiten entstanden, die sich auch
in der Therapie störend bemerkbar ge¬
macht haben. Denn bei der Hautdosis
ist es eine leichte, fast spurlos abklingende
Entzündung, welche die Dosis bestimmt,
beim Carcinom die vollständige Zerstö¬
rung der Carcinomzellen. Wir haben des¬
halb genauere Bezeichnungen eingeführt
und nennen diejenige Dosis, die ein Ge¬
webe in einen entzündlichen Zustand ver¬
setzt, die Entzündungsdosis „E. D.“ für
die betreffenden Gewebe. Danach ist die
E. D. für Epidermis = 170 e, verstärken
wir die Einwirkung auf die Haut bis zu
etwa 300 e, dann hebt sich die Oberhaut
in Blasen ab und geht zugrunde. Es ist
damit also das Epidermisgewebe abge¬
tötet worden. Diese Dosis bezeichnen wir
als tödliche Dosis „T. D.“, die also für
die Epidermis nach unserer Ausdrucks¬
weise 300 e beträgt.
Für die Bekämpfung der Uterusblu¬
tungen benutzen wir eine Strahlendosis,
die gerade hinreicht, um den gesamten
Follikelapparat des Ovariums vollständig
zu vernichten. Diese Dosis beträgt nach
unseren Messungen durchschnittlich 50 e,
die T. D. für Ovarialparenchym ist also
nach unserer Ausdrucksweise 50 e, d. h.
also nur sein reichliches Sechstel von der¬
jenigen Dosis, die gerade hinreicht, um
die Epidermis zu vernichten.
In gleicher Weise kann man Dosen für
anderes Gewebe feststellen, doch sind dabei
6
Die Therapie der Gegenwart 1920
Januar
die Schwierigkeiten sehr erheblich, weil
infolge der Bestrahlung allgemeine Wir¬
kungen auf den Körper sich zeigen, die
die genaue Berechnung der Dosen schwie¬
rig, zum Teil unmöglich machen. Immer¬
hin wissen wir so viel, daß die T. D. für
Bindegewebe wesentlich höher liegt, als
die für die Epidermis. Denn das binde¬
gewebige Corium, das von der gleichen
Dosis, wie die Epidermis, getroffen wor¬
den ist, reagiert bei einer Dosis von 300 e
noch nicht mit Nekrose, sondern mit
einer entzündlichen Reizung. Zur Nekro¬
tisierung des Bindegewebes sind also höhere
Dosen erforderlich, nach vorläufiger
Schätzung etwa 350 bis 400 e.
Praktisch wichtig, wegen der Nach¬
barschaft zum Uterus, ist die Feststellung
der E. D. und T. D. für Blasen- und Mast¬
darmschleimhaut, doch ist uns dies noch
nicht mit völliger Sicherheit gelungen.
Die E. D. für Mastdarmschleimhaut
scheint nur wenig höher zu liegen als
diejenige für die Haut, also etwa bei 180
bis 190 e; die T. D. ist wohl entsprechend
höher. (Schluß im nächsten Heft.)
Aus der inneren Abteilung des jüdischen Krankenhauses zu Berlin.
Unterernährung als Heilfaktor bei Diabetes.
Von Prof. H. Strauß.
Daß chronische Unterernährung für
zahlreiche Fälle von Diabetes, insbe¬
sondere der leichten und mittelschweren
Form, einen Heilfaktor darstellt, hat der
Krieg aufs deutlichste erwiesen^). Hier¬
über haben in dieser Zeitschrift G. Klem-
perer^), P. F. Richter^), Brugsch^)
und an anderer Stelle G. Rosenfeld^)
und ich selbst®) berichtet. Diese Fest¬
stellung ist jedoch nicht völlig neu.
Denn es hat schon im Jahre 1820, also
schon vor einem Jahrhundert, Prout die
quantitative Einschränkung der Nahrung
als besonders wichtig empfohlen und es
hat Bouchardat vorwiegend auf Grund
seiner gerade vor einem halben Jahr¬
hundert bei der Belagerung von Paris
gemachten Erfahrungen sein ,,mangez
le moins possible'^ als Grundsatz für
die Behandlung der Diabetes ausge¬
sprochen. Auch in gewissen Kuren ist
schon lange in zielbewußter Weise der
Grundsatz der Unterernährung betätigt
worden. Es sei hier nur an die auf Unter-
0 Anmerkung: Schwere Diabetiker sind
von der Kriegsernährung nach meinen Erfah¬
rungen nur selten günsUg beeinflußt worden.
Coma war allerdings in der zweiten Hälfte des
Krieges seltener als früher zu beobachten, da¬
gegen sah ich häufiger als sonst schwere Dia¬
betiker an Herzinsuffizienz oder Tuberkulose ster¬
ben. Von den erst während des Krieges diabetisch
gewordenenHeeresangehörigen entfiel nach meinen
Beobachtungen etwa ein Drittel auf die schwere
Form und noch nicht die Hälfte auf die leichte
Form.
2) G. Klemperer (Ther. d. Gegenw. 1918,
Märzheft).
2) P. F. Richter (Ther. d.- Gegenw. 1918,
Aprilheft).
^) Brugsch (Ther. d. Gegenw. 1919, August¬
heft).
5) G. Rosenfeld (B. ki. W. 1917, Nr. 28).
®) H. Strauß (Münch. Jahresk. f. ärztl. Fort¬
bild. 1918).
ernährung beruhenden Kartoffelkur von
Mosse, an die Milchkur von Donkin’)
und an die Ausführungen von Ko lisch®)
über vegetabilische Ernährung bei Dia¬
betes erinnert. In der Richtung der
Fleischfreiheit und Eiweißunterernährung
und nur zum geringeren Teil in der Rich¬
tung einer Kalorienarmut streben auch
die Gemüse-Eiertage, wie sie von Noor¬
den empfohlen hat, einem gleichen Ziele
zu. In radikalster Weise ist aber das
Prinzip der Unterernährung in den kurz¬
fristigen Hungertagen und in den pro¬
trahierten Fastenkuren vertreten. Wir
haben hier vor allem die Hungertage von
Cantani und Naunyn im Auge, die
sich selbst in Form von ,,Trinktagen“ von
36-stündiger Dauer (d. h. mit Ausdeh¬
nung von Abends bis zum übernächsten
Morgen) mit oder öhne Zulagen von
ganz geringen Mengen von kohlehydrat-
und eiweißarmer Nahrung (ein bis zwei
Apfelsinen und eine geringe Menge [etwa
50 bis 80 g] von Nüssen oder Mandeln) zu
Wasser, Tee, Kaffee, Wein, Cognac und
Bouillon durchzuführen pflege. Schon vor
acht Jahren habe ich®) auf die günstige
Wirkung solcher — bei Bettruhe durch¬
zuführender — Trinktage bei schweren
Fällen von Diabetes, und zwar nicht nur
zum Zwecke einer Verminderung der
Zuckerausscheidung, sondern, was ich
ganz besonders betonen möchte, auch
im Sinne der Acetonverminderung, ein¬
dringlich hingewiesen und auch in der
0 Wiederholt habe ich bei guter Milchtoleranz
auch typische Karellkuren zum Zwecke tempo¬
rärer Unterernährung bei Diabetikern ausgeführt.
®) Ko lisch (Lehrb. d. diätet. Ther. chron.
Krankh., Leipzig und Wien 1899 Deuticke,
u. a. a. O.
ö) H. Strauß (D. m. W. 1912, Nr. 10).
/ **
Januar
Die Thetäpie der Gegenwart 1920
7
Zwischenzeit habe ich mich so häufig
VOQ der Wirksamkeit der Hunger- be¬
ziehungsweise Fast- oder Trinktage in
Fällen, welche der sonstigen Behandlung
Widerstand geleistet hatten, überzeugen
können, daß ich es für angebracht halte,
von neuem ihren großen Wert zu be¬
tonen. Auch von Noorden ■ spricht
in der letzten, vor zwei Jahren erschiene¬
nen Auflage seines Buches^^) bei Er¬
örterung der Gemüse-Eiertage davon,
daß er ,,seit etwa sieben Jahren die ent¬
schieden wirksameren Hungertage (die er
obachtung’en will ich hier nur ein Beispiel
ihrer Wirkung anführen.
M. Sch., 36 Jahre alt, stammt aus gesunder
Familie. Seit sechs Jahren klagt • Patient über
Mattigkeit und Gewichtsabnahme sowie über
erhöhtes Hunger- und Durstgefühl, sowie Zu¬
nahme der Urinmenge. Damals wurde schon
Zuckerausscheidung im Urin festgestellt. Seit
drei Wochen besteht Zunahme der Mattigkeit und
allgemeine Schwäche. ^
Bei der objektiven Untersuchung zeigt sich
als auffällig nur ein redizierter Ernährungszustand
sowie verschärftes Atmen und Abkürzung des
Klopfschalls über der rechten Lungenspitze.
Über das Verhalten des Urins gibt folgende
Tabelle Auskunft;
Datum
Menge
Spez. ■
Gew.
Zucker
% 1 Gesamt
A c
%
e 1 0 n
Gesamt
Acet-
essig-
säure
Diät
Körper¬
gewicht
Pfund
27. 8.
3850
1028
1,6
61,6
0,169
6,5065
Gemüse-Eiertag
101,4
28. 8.
3300
1025
1,7
56,1
0,180
5,940
—
f)
ff
29. 8.
2650
1027
2,5
66,2
0,154
4,081
—
}>
ff
104,3
30. 8.
3250
1015
1,7
55,2
0,050
1,6250
—
ff
ff
107.3
106.4
31.8.
4200
1016
1,8
75,6
0,047
1,974
—
ff
ff
1.9.
3300
1017’
1,4
46,2
0,054
1,782
—
ff
ff
106,2
2. 9.
3800
1007
Spur
—
Spur
—
—
Trinktag
107
3. 9.
3550
1010
0,2
7,1
0,072
2,556
—
Gemüse-Eiertag
104,3
4. 9.
3650
1012
0,4
14,6
Spur
Spur
ff
ff
105,2
104
5. 9.
3500
^ 1010
0,6
21,0
—
ff
ff
6 . 9.
3300
1012
0,8
26,4
—
ff
ff'~
103
7. 9.
3800
1015
0,7
26,6
ji
ff
ff ff
mit Zulage von
50 g Hafermehl
102,3
mitvierzigstündiger Dauer durchführt) viel
öfter als früher an die Stelle der Gemüse-
Eiertage gesetzt“ und sie für schwere Fälle
von Diabetes dringend empfohlen habe.
Von den anderen Autoren, welche für die
Anwendung von Hungertagen in schweren
Fällen von Diabetes eingetreten waren,
will ich hier besonders Umber^^) nennen,
welcher schon in der ersten Auflage
seines Buches die Vorzüge der Hunger¬
tage eindringlich betont hat und bemerkt,
daß einzelne Tage vorübergehender Unter¬
ernährung unbesorgt verordnet werden
dürfen ,,sofern es sich nicht um Fälle mit
besonders bedrohlicher Acidosis und
Komagefahr handelt. Die Acidosis an
sich ist jedenfalls kein Gegengrund Unter¬
ernährungstage einzuschieben und man
kann nicht selten sehen, daß gerade durch
Einschieben eines Hungertages die Aceton¬
körper aus dem Harn verschwinden.“
V. Noorden hält 1—2 Hungertage ge¬
rade für die Vorstufen des Koma für be¬
sonders geeignet.
Aus vielen von mir gemachten Be-
V. No Orden, Die Zuckerkrankheit, T.Aufl.,
Berlin 1917, Hirschwald.
Umber, Ernährung u. Stoffwechselkrank¬
heiten, Berlin und Wien 1909, 1. Aufl., Urban
& Schwarzenberg.
An den Gemüse-Eiertagen bestand die Diät
aus acht Eiern, drei großen Portionen Gemüse,
200 ccm Rotwein, etwas Kognak, reichlichen
Mengen Bouillon, Tee, Kaffee und Fachinger
Wasser und einer Fettzufuhr von etwa 150 g.
Freilich verliefen nicht alle meine
Beobachtungen in gleich günstiger Weise.
Allein unter etwa drei Dutzend kli-
^ nisch beobachteter Fälle zeigte doch die
Mehrzahl einen recht günstigen Erfolg.
Von den Versagern entfiel die Mehrzahl
auf Diabetiker meiner Lazarettbeobach¬
tung. Fast stets wurden die Trinktage, die
immer bei Bettruhe durchgeführt worden
sind, gut vertragen und sie erwiesen sich
auch keineswegs als so angreifend, als
es a priori erscheinen könnte. Dagegen
konnte ich mich für protrahierte
Fastenkuren, wie sie von einigen ameri¬
kanischen Autoren für die Behandlung
renitenter Fälle von Diabetes empfohlen
worden sind, nur wenig erwärmen. Allen^^),
Hill und Sherrick^^), Christian^^) so¬
wie J o s 1 i n^^) haben bekanntlich berichtet.
Allen (Boston Med. and Surg. Journ 1915,
S. 241).
Hill und Sherrick (Boston Med. and
Surg. Journ. 1915, S. 696).
^^) Christian (Boston Med. and Surg. Journ.
1915, S. 929).
^5) Joslin (American Journ. of the med.
Sciences 1915, k 485).
8
Die Therapie der Gegenwart 1920
Januar
daß sie mit der Durchführung mehrerer
aufeinander folgender Fasttage und mit
Fortsetzung dieser Kur zunächst unter An¬
fügung von mehreren Gemüsetagen, dann
mit fetthaltiger aber ei weiß- und kohle¬
hydratarmer Kost (Kaloriengehalt nur
selten über 2200) sehr eindrucksvolle
Ergebnisse erzielt hab.en. Diese protra¬
hierte Fastenkur habe ich allerdings nur
an vier Fällen versucht, da drei der be-
^ treffenden Fälle trotz entsprechender
Flüssigkeitszufuhr solche Gewichtsstürze
zeigten und sich so elend fühlten, daß
ich meine Nachprüfungen auf die ge¬
nannten Fälle beschränkt habe. A.
Schmidt^®) scheint allerdings mit den
Ergebnissen von mehrtägigen Fasten¬
kuren zufriedener gewesen ,zu sein und
auch von Noorden spricht (1. c.) dem
Prinzip, nach Absolvierung der Hunger¬
periode die Nahrung nur langsam wieder
aufzubauen und etwaige Gewichtsver¬
luste nicht allzu ängstlich zu beurteilen,
das Wort. In Analogie zu den bereits
früher von mir erwähnten ,,Kurwochen‘‘^'^)
bin ich allerdings mit Rücksicht auf die
hier erwähnten Erfahrungen sowie in
Hinblick auf Ausführungen von von
Noorden in einer Reihe von Fällen so
vorgegangen, daß ich drei Tage lang
Gemüse-Eiertage mit einem annähernd
normalen oder nur wenig verminderten
Kaloriengehalt — wie ich sie seinerzeit
bei der Besprechung von „Diätproblemen
im Lazarettbetrieb**^®) erörtert habe
(Kaloriengehalt 2240, Eiweißgehalt 26 g)
— durchführen ließ, dann einen Trinktag
einfügte und dann wieder drei Gemüse- ^
Eiertage mit einer — allerdings ohne Sche¬
matismus durchgeführten — Reduktion
des Fettgehaltes (etwa um ein Viertel bis
ein Drittel) verordnete. Dann fing ich
in der Regel an, die Kohlehydrattoleranz
zunächst durch Zulage progredienter
Mengen von Mehlsuppen und erst später
durch Brotzulagen auszutarieren und je
nach dem Ausfall dieser Versuche die
Höhe des zuzulegenden Mehlsuppen¬
quantums zu bestimmen. Diese Art des
Vorgehens erwies sich mir jedenfalls als
schonender, wie die Befolgung der von
den amerikanischen Autoren gegebenen
Anweisungen.
Die vorstehenden Beobachtungen halte
A. Schmidt (Kölner Tagung für Knegs-
beschädigtenfürsorge 1916, s. Ref. in D. m. W.
1916, Nr. 37, S. 1147.
, H. Strauß (Münch. Jahreskurse f. ärztl.
Fortbildung 1913).
18) H. Strauß (D. m. W. 1917, Nr. 6
ich im jetzigen Zeitpunkt deshalb einer
Betrachtung wert, weil sie mir in ge¬
wissem Sinne eine Ergänzung zu den bei
der Kriegsernährung der Diabetiker ge¬
machten Erfahrungen zu liefern scheinen.
Sie regen nämlich die Frage an, ob man
es bei den hier ^ur Erörterung stehenden
Beobachtungen und bei den zu Anfang
erwähnten, als Folge langfristiger Kriegs¬
ernährung bei Diabetikern ganz allgemein
gemachten, Feststellungen mit der Wir¬
kung eines im Prinzip gleichartigen Vor¬
ganges zu tun hat. Diese Frage dürfte
meines Erachtens bejaht werden. Aller-'
dings ist der Vorgang an sich nicht ganz
leicht zu deuten. Ich selbst möchte, wie
ich es bereits früher getan habe'^), den¬
jenigen Autoren beitreten, welche in dem
Vorgang die Folge einer durch Ein¬
schränkung des Gesamtstoffwechsels er¬
zeugten Bremsung beziehungsweise Ent¬
lastung der im Zustand einer Über¬
erregung befindlichen zuckerproduzieren¬
den beziehungsweise zuckermobilisieren¬
den Apparate gegenüber alimentären
Reizen^®) erblicken. Von alimentären Rei¬
zen spreche ich deshalb, weil die Kriegs-
erfahrung gezeigt hat, daß andere mit
dem Krieg zusammenhängende Insulte
direkt geeignet waren, einen Diabetes
auszulösen. Nach einer sehr umfang¬
reichen Statistik, auf die ich in anderem
Zusammenhang eingehen werde, ist näm¬
lich die weit überwiegende Mehrzahl
der bei Heeresangehörigen zur Beob¬
achtung gelangenden Fälle von Diabetes
erst während des Krieges in die Er¬
scheinung getreten. Bei einer solchen
Brems- oder Entlastungswirkung scheint
mir vor allem die Minderung der Eiweiß-
insbesondere der Fleischzufuhr wirk¬
sam zu sein und es geben die hier erörter¬
ten Erfahrungen in diesem Punkte den
Auffassungen Kolischs, die er schon
früher und zuletzt in einer jüngst er¬
schienenen Broschüre^) in ausführlicher
Weise niedergelegt hat, eine Stütze. Wenn
man erwägt, daß eine an Eiweiß und
Fleisch reiche Nahrungauch bei zahl¬
reichen anderen durch endocrine Stö¬
rungen bedingten Krankheitszuständen
. ^®) Strauß (Münchener Jahreskurse f.
ärztl. Fortbildung 1918 und D. m. W. 1919,
Nr. 15).
2®) Anmerkung: Für die Wirksamkeit von
Erregungsreizen spricht u. a. anch der in manchen
Fällen von Diabetes zu beobachtenefe Erfolg einer
Opiumbehar.dlung.
*^) Kolisch, Die Reiztheorie und die modernen
Behandlungsmethoden des Diabetes (Berlin-Wien
1918, Urban & Schwarzenberg).
Jatluar
Die Therapie der Gegenwart 1920
schädlich wirkt, so liegt der Gedanke
nahe, besonders in dem Wegfall größerer
Fleisch- und Eiweißmengen eine Scho¬
nungstherapie der beim Zuckerstoff¬
wechsel beteiligten endocrinen Or¬
gane zu. suchen. Kolisch steht aller¬
dings bezüglich dei Deutung der Wirkung
einer Einschränkung der Eiweißzufuhr
auf dem Standpunkt, daß der Eintritt
vön Nahrungseiweiß in den Stoffwechsel
eine erhöhte Abspaltung von Zocker
aus dem Protoplasma provoziert und
daß außerdem noch der Zerfall des Ei¬
weißmoleküls selbst und die Zucker¬
bildung aus den beim Eiweißzerfall ent-
standehen Kohlenstoffketten eine Rolle
spielt. Ohne die Bedeutung des letzteren
Vorganges irgendwie zu unterschätzen,
scheint mir aber doch auch eine nur die
beim Zuckerstoffwechsel beteiligten endo¬
crinen Organe ins Auge fassende Theorie
geeignet zu sein, die für die praktische
Therapie so wichtige Erscheinung zu
erklären, daß Minderung der^ Eiwei߬
zufuhr bei niedriger aber gerade noch
ausreichender Einstellung der Kalorien¬
zufuhr geeignet ist, die Toleranz für die
Kohlehydratzufuhr zu heben. Schon in
dieser Feststellung liegt meines Erachtens,
unabhängig von ihrer Deutung, ein be¬
gründeter Anlaß, für die Nahrung der
Diabetiker den Rahmen der ,,Fleisch¬
empfindlichkeit“ beziehungsweise „Ei¬
weißempfindlichkeit“ erheblich weiter als
bisher zu ziehen. Allerdings wäre es auch
auf dem vorliegenden Gebiete grundfalsch,
alle Diabetiker nach der gleichen Schab¬
lone zu behandeln, denn kaum eine Krank¬
heit verlangt für die Behandlung des
einzelnen Patienten ein solches Indivi¬
dualisieren und Ausprobieren als die
Behandlung der Diabetiker. Allein es
scheint mir doch bei der Einschränkung
der Gesamtkalorienzufuhr die Reduktion
des Eiweißes und speziell des Fleisches,
das bisher in vielen Fällen auf ärztliche
Anordnung in überreichem Maße gereicht
wurde, viel wichtiger als diejenige der
Fette. Ich habe deshalb schon vor dem
Kriege das Eiweißquantum für die Er¬
nährung vieler auch der mittelschweren
und der leichten Form angehöriger
Diabetiker möglichst in der Gegend von
60 bis 80 g pro die normiert und das Fett¬
quantum bei fehlender Toleranz für Kohle¬
hydrate unter Berücksichtigung des Er¬
nährungszustandes mit etwa 180 bis
200 g eingesetzt. Für eine abnorm starke
Herabsetzung des Fettgehaltes sah ich
jedoch in der Regel keine zwingenden
Gründe, sondern wählte die Höhe des
Fettgehaltes meist auf Grund des indi^
viduellen Ernährungszustandes' dßs be^
treffenden Patienten , unter Erwägung
der bereits durch die Untersuchungen
Weintrauds bekannten Erfahrung, daß
manche Diabetiker mit 25 Kalorien ihr
Auskornmen finden können, sowie unter
Berücksichtigung der^durch den Zucker^
gehalt des Urins bedingten Kalorienver¬
luste. Im Hinblick auf eine bereits in man¬
chen ärztlichen Kreisen zu beobachtende
Tendenz, auch weiterhin die Diabetiker
ohne Unterschied des Einzelfalles ,,kriegs¬
mäßig“ zu ernähren, möchte ich nicht
unterlassen zu bemerken, daß ich für die
Auffindung des für den Einzelfall not¬
wendigen Ernährungsmodus auch heute
noch Toleranzbestimmungen genau so
notwendig finde, als früher, wobei es
allerdings zu pfehlen ist, für die kohle¬
hydratfreie Stamrrkost nicht den Ei¬
weiß- und Fleischreichtüm früherer
Zeiten zu wählen, sondern ihm den oben¬
genannten Charakter zu geben. Ebenso
erscheinen mir auch Blutzuckerbestim¬
mungen zur Beurteilung der Schwere der
einzelnen Fälle sehr wichtig, seitdem wir
über Methoden verfügen, welche die Aus¬
führung derartiger Untersuchungen ohne
Venenpunktion nur an einem Bluts¬
tropfen gestatten. Für leichtere Fälle
empfiehlt sich sogar die Untersuchung
auf alimentäre Hyperglykämie und wird
hierüber aus meiner Abteilung eine
umfangreiche Untersuchungen wieder¬
gebende Mitteilung von Hahn und
Offenbacher erscheinen. Sind doch
die einzelnen Fälle von Diabetes in bezug
auf Entstehung lüid Intensität zu un¬
gleichartig, als daß sich für die Ernährung
und Behandlung der Diabetiker ein einheit¬
liches und allgemein gültiges Rezept auf-
steilen ließe. Ich würde es sogar für eine
sehr bedenkliche Kriegsfolge halten, wenn
die Übertragung der Kriegslehren der
Diabetikerernährung zu einem unkri¬
tischen Schematismus und Schabionismus
führen würde, so sehr es auch zu wünschen
ist, daß bei weitgehender Individuali¬
sierung doch die durch die Kriegserfah¬
rungen nahegelegte Reform > der Ernäh¬
rung von Diabetikern, das heißt die Ein¬
schränkung der .Eiweißzufuhr und Ge¬
währung des gerade notwendigen Kalo¬
rienquantums mit Vermeidung jeder
Luxuskonsumtion bald überall durch¬
dringt. Neu gewonnene Kenntnisse sollen
zwar willige Nutzanwendung finden, aber
doch nicht dazu führen, alte bewährte
2
10
Die Therapie der Gegenwart 1920
Jaiiuär
Erfahrungen ohne weiteres über Bord zu
warfen. Denn Neues und Altes lassen sich
oft recht gut aneinander anpassen. Was
speziell die Fast- oder Trinktage betrifft,
80 sollten diese aber für die Behandlung
renitenter Fälle in den Kreisen der Prak¬
tiker weit mehr Anwendung finden, als
man dies vielfach sieht. Denn es macht
sich oft auch in ^denjenigen Fällen, in
welchen der Effekt solcher Trinktage
ein nur vorübergehender ist, ein unver¬
kennbarer Nutzen auf die Psyche der
Patienten bemerkbar, indem der be¬
treffende Patient sieht, daß eine thera¬
peutische Beeinflußbarkeit seines Leidens
immerhin noch möglich ist. Auf der
anderen Seite gibt aber auch .das Aus¬
bleiben eiiter therapeutischen Wirkung
dem behandelnden Arzte manchen ver¬
wertbaren Fingerzeig zur Beurteilung
des Falles im^ Sinne einer ungünstigen
Prognose.
Aus dem üuiversitätsiustitut für Krebsforscliuiig der Charite in Berlin.
Trypaflavin und Trypaflavinsilber (Argoflavin) in der Therapie
maligner Qeschwülste.
' Von Prof. Dr. Carl LewIn.
Das Argoflavin, eine Kombination
des Trypaflavins mit Silber wird uns
auf unsere Veranlassung von der Firma
Leop. Cassella & Go. in Frankfurt a. M.,
der Herstellerin des Trypaflavins, zu
chemotherapeutischen Versuchen bei ma¬
lignen Geschwülsten seit über einem
Jahre zur Verfügung gestellt. Wir haben
es seit vielen Monaten sowohl auf der Poli¬
klinik wie auf der klinischen Abteilung
in ausgedehntem Maße intravenös an¬
gewendet und haben uns davon über¬
zeugen können, daß es in außerordentlich
großen Dosen ohne Schaden vertragen
wird. Bobland, der das Mittel intravenös
bei bakteriellen Infektionen, z. B. auch
bei Gonorrhoe, angewendet hat, teilt mit,
daß die Dosis von 0,025 g keine besondere
Wirksamkeit entfaltet hat, wie er glaubt,
weil diese Dosis zu wenig Trypoflavin
enthält. Nimmt man aber, so meint er,
die zwei- bis vierfache Dosis, so können
doch schon durch die größeren Mengen
von Silber >Schädigungen d'er Leber und
der Niere eintreten und man verliert eben
den Vorteil, daß wir in dem Trypaflavin
ein Mittel besitzen, das ganz frei ist von
giftigen Metallen.
Diese Bedenken Bohlands sind nach
unseren Erfahrungen vollkommen un¬
begründet. Wir sind mit der Dosis von
0,025 auf 0,05 und neuerdings auf 0,075
gestiegen, haben diese Dosis zvv^ei- bis
dreimal wöchentlich intravenös injiziert,
ohne daß wir bei sehr dekrepiden Kranken
mit schweren Herzfehle^-n oder mit aus¬
gedehnten Zerstörungen der Lunge durch
metastatische Tumoren auch nur den
geringsten schädlichen Einfluß oder auch
nur irgendeinen unangenehmen Zwischen¬
fall gesehen haben. Ja selbst bei einem
Falle von Melanosarkom mit Gravidität
im fünften Monat bei einer Frau von
28 Jahren, über die ich an anderer Stelle
noch berichten werde, habe ich trotz
dreimonatiger Injektion des Mittels zwei¬
mal wöchentlich zu 0,05 g, zuletzt von
0,075 g dreimal wöchentlich nicht nur
keine Schädigungen gesehen, sondern es
ist auch bemerkenswert, daß die Gravi¬
dität ungestört weiter ging und daß am
Ende des achten Monats-bei gutem Be¬
finden der Frau ein vollkommen normal
entwickeltes lebendes Kind geboren wer¬
den konnte, welches allerdings nach acht
Tagen, wie unter den gegebenen Um¬
ständen nicht wunderbar ist, gestorben ist.
Die Bedenken Bohlands brauchen uns
also nicht zu hindern und seine Befürch¬
tung, daß Schädigungen der Leber und
der Niere sich einstellen könnten, ist,
wie wir uns durch mikroskopische Unter¬
suchungen überzeugen konnten, grund¬
los. Ich will über die Einwirkung des
Mittels auf den Krankheitsprozeß der
malignen Geschwülste selbst mich vor¬
läufig nicht ausführlich äußern. Es sei
nur so viel bemerkt, daß wir ohne Zweifel
in manchen Fällen, insbesondere bei
gleichzeitiger Strahlenbehandlung, den
Eindruck einer unverkennbaren Beein¬
flussung der malignen Tumoren haben im
Sinne einer Rückbildung bzw. des Wachs¬
tumstillstandes, ohne daß ich freilich
sagen kann, daß bisher schon eklatante
Erfolge vorliegen. Doch sind wir ja erst
im Beginn unserer Versuche, sind damit
beschäftigt, diese auch auf Kombinatio¬
nen des Trypaflavins mit anderen Metallen
auszudehnen, die von der Firma Leop.
Cassella & Co. in dankenswerter Libe¬
ralität nach unseren Wünschen hergestellt
werden.
Bei unseren Arbeiten mit dem
Januar
Die Therapie der Gegenwart’1920
11
Argoflavin konnten wir nun von einer
-sehr erwünschten, offensichtlich mit der
besonderen Struktur des Mittels zu¬
sammenhängenden Wirkung des Präpa¬
rates bei sekundären Krankheitsprozessen
und Symptomen der malignen Geschwülste
Gebrauch machen, die uns für die The¬
rapie dieser Erkrankung von außerordent¬
lichem Werte zu sein scheinen. Das
Argoflavin ist, wie das ja für das Try-
paflavin bekannt ist, ein ausgezeichnetes
inneres Antisepticum. Davon konnten
wir uns in einem sehr instruktiven Falle
überzeugen.
Eine vierzigjährige Frau, vor mehre¬
ren Wochen wegen Mamma-Carcinom
operiert, wird fünf Wochen nach der
Operation mit folgendem Befunde auf
jdie Station gelegt: An der Operierten
Mamma tadellose Heilung, Narbe in
schönster Ordnung, weder lokales Rezidiv
noch regionäre Metastasen. Dagegen
besteht komplette Lähmung beider Beine
mit Unmöglichkeit spontaner Urin- und
Stuhlentleerung. Der neurologische Be¬
fund ergibt Querschnittslähmung ent¬
sprechend dem fünften bis sechsten Dor¬
salsegment mit schlaffer Parese beider
Beine und den entsprechenden Erschei¬
nungen von Blasen und Mastdarm. Die
Blase ist prall gefüllt, reicht bis fast zum
Nabel und muß sofort bei der Aufnahme
katheterisiert werden. Der Urin ist stark
getrübt, leicht blutig gefärbt. Am näch¬
sten Tage hohes Fieber, der katheteri-
sierte Urin sieht fast wie reines Blut aus,
im Bodensatz gangräneszierende Fetzen.
Es werden Blasenspülungen mit 3%iger
Borsäurelösung gemacht. Gleichzeitig
Argoflavin intravenös zu 0,05 g. Nach
der zweiten Injektion vollkommenes Ver¬
schwinden der blutig-gangräneszierenden
Beimengungen, der Urin ist noch getrübt,
beginnt aber immer mehr klar zu werden.
Nach jeder Injektion Heruntergehen der
Temperatur zur Norm. Es wird nunmehr
innerlich Hexamethylentetramin 6,0 : 200
dreimal täglich ein Eßlöffel gegeben,
gleichzeitig Blasenspülungen mit T/oqiger
Lösung von Trypaflavin. Unter dieser
Therapie gelang es, die Ausscheidung
eines vollkommen klaren Urins zu er¬
zielen, ohne jede Beimengung von Blut
und Eiter. Daß der ganze septische
Prozeß durch weitere intravenöse Injek¬
tionen von Argoflavin nicht aufgehalten
werden konnte, wird dadurch erklärt, daß
es infolge der durch die Wirbelmetastasen
bedingten trophoneurotischen Störungen
zu ausgedehntem schweren Decubitus
kam, von dem aus die Überschwemmung
des Körpers mit immer neuen Infektions¬
stoffen dauernd vor sich ging, ohne daß
es unter den gegebenen Verhältnissen
gelang, der Infektion Herr zu werden.
Doch wiederholte sich auch hier die Er¬
scheinung, daß nach jeder intravenösen
Injektion von Argoflavin die Temperatur
kritisch abfiel. Leider konnte unter den
vorliegenden Umständen die Wirkung des
Mittels auf den Infektionsprozeß keine
dauernde sein. Die Kranke hat das
Krankenhaus inzwischen verlassen, der
Ausgang der Erkrankung ist nicht zweifel¬
haft.
Die innere antiseptische Wirkung des
Argoflavins hängt offenbar nicht allein ab
von der vielfach behaupteten Beeinflus¬
sung septischer Prozesse durch Silberver¬
bindungen. Sie ist wohl nicht minder be¬
dingt durch die experimentell wie klinisch
sichergestellte antiseptische Eigenschaft
des Trypaflavins. Wir sind aus diesem
Grunde dazu übergegangen, die anti-
bakterielle Eigenschaft des Trypaflavins
bei einer Reihe von unangenehmen, den
Verlauf der Geschwulstkrankheiten außer¬
ordentlich schwer komplizierenden Zu¬
ständen uns nutzbar zu machen.
Das Trypaflavin ist auf Veranlassung
von P. Ehrlich von L. Ben da im Speyer¬
haus des Instituts für experimentelle
Therapie hergestellt worden. Den Namen
erhielt es von Ehrlich wegen seiner
tödlichen Einwirkung auf Trypanosomen.
Chemisch ist es Diaminomethylakridi-
niumchlorid. Es ist ausgezeichnet durch
seine enorme bactericide Wirkung, über
die eine große Reihe von Beobachtungen
besonders bei eitrigen Prozessen in der
Chirurgie vofliegen. Die bakterizide
Wirkung des Trypaflavins ist von Brow¬
ning, einem früheren Mitarbeiter Ehr-
lichs, entdeckt worden. In ausgedehnten
Versuchen stellten dann Neufeld und
Schiemann fest, daß die Akridinfarb¬
stoffe von der Blutbahn aus im lebenden
Körper Bakterien abzutöten vermögen
und empfahlen das Trypaflavin, das
bereits beim Menschen ohne schädliche
Nebenwirkungen angewendet worden war,
zum Zwecke der inneren Desinfektion.
Bohland hat es intravenös in Mengen
von 10 bis 40 ccm der Lösung 1 : 200
mehrere Tage hintereinander angewendet
und sah gute Erfolge bei einer Reihe von
Infektionskrankheiten (Influenza, Pneu¬
monie usw.). In einer weiteren Arbeit
empfahl Bohland das Trypaflavin bei
infektiösen Erkrankungen der Niere und
2*
12 Die Therapie der Gegenwart 1920 , , Janträr
Harnwege, der Leber und Gallengänge, in den. Fällen, wo es zur Perforation in
da das Mittel hier ausgeschieden wird und das Rectum und in die Blase gekommen,
also lokal desinfizierend wirken kann. war, konnten wir den Jauchun^sprozeß
Wir haben unabhängig von Bohland immer noch auf ein erträgliches Maß zu-
dieSe desinfizierende Wirkung des Try- rückdrängen. Bei einem Uteruscarcinom
paflavins beziehungsweise des ArgofJa- mit Durchbruch ins Rectum hatten intra-
vins in dem geschilderten Falle schwerster venöse Argoflavininjektionen allein die
Infektion der Harnwege beobachtet, sehr erwünschte Nebenwirkung einer un-
Auch in einem Falle von Blasencarcinom verkennbaren Einschränkung der stinken¬
sahen wir eine gute Beeinflussung den Absonderungen.-
des Eiterungsprozesses durch intravenöse Bei zerfallenen Mammacarcinomen
Injektionen des Argoflavins bei gleich- verwendeten wir Trypaflavingaze oder
zeitiger Blasenspülung mit einer Lösung Trypaflavinstreupuder, welches die Firma
von iVoo Trypaflavin. Das Trypaflavin, selbst herstellen läßt. In letzter Zeit
das ijm Argoflavin enthalten ist, wird, erhielten wir eine 2%ige Trypaflavin-
wie wir uns überzeugen konnten, außer- salbe, die wir mit gleichem Erfolge an¬
ordentlich schnell durch den Harn wieder wandten. Es gelang uns so, die übel-
ausgeschieden, während das Silber, wie riechenden jauchenden Zerfallserschei-
wir das von anderen Silberpräparaten nungen des Mammakrebses ebenfalls in
kennen, in den inneren Organen, vor günstigster Weise zu beeinflussen. Die
allem in der Leber, aufgespeichert wird. Sekretion wurde geringer, der üble Ge-
Für die Therapie der malignen Ge- rtich verschwand mehr und mehr und die
schwülste war es für uns von großem Wunden reinigten sich in ausgezeichneter
Werte, die desinfizierende, desodorierende Weise. Ein leichtes Brennen, über das
und sekretionsbeschränkende Wirkung des zuweilen bei Verwendung der Tryp^-
Trypaflavins bei einer Reihe von sekun- flavingaze und des Puders geklagt wird,
dären Zerfallsprozessen, die mit stinken- ist bei der ausgezeichneten Wirkung des
der Eiterabsonderung einhergehen, zu Mittels leicht in Kauf zu nehmen. Auch
erproben. Wir verwendeten das Mittel bei jauchenden Carcinomen sonstiger Art,
in Form von Spülungen 1 : 1000 bei die einer lokalen Therapie zugänglich
Uteruscarcinomen. In letzter Zeit haben sind, wird sich die äußerliche Anwendung
wir die von der Firma uns gelieferte des Trypaflavins (Spülungen mit l%o iger
fertig hergestellte Trypaflavingaze in Lösung, Trypaflavingaze oder -puder und
Streifen in die Zerfallshöhle des Uterus- nicht zuletzt die Trypaflavinsalbe) außer-
krebses eingeführt. ordentlich empfehlen. Namentlich bei
Die übelriechenden, durch sonstige Blasencarcinomen und bei Uteruskrebs
Behandlungsmethoden schwer einzu- scheint mir aber seine Verwendung eine
schränkenden Absonderungen wurden in dankenswerte Bereicherung unserer sym-
der günstigsten Weise beeinflußt. Selbst ptomatischen Krebstherapie zu sein.
Lungenspitzenkatarrh und chronische Tonsillitis.
Von Medizinalrat Dr. Carl Kraus, Kurhaus Semmering-Wien.
Dieses Thema ergab sich aus dem rungen, die, wenn sie auch an und für sich
reichen Material einer Höhenkuranstalt geringfügig sind, äußerst unangenehm
förmlich von selbst. Es handelt sich um empfunden werden; sie sind blaß, fühlen
nicht seltene Fälle von scheinbar leichten sich hinfällig und klagen über ein oft
Lungenspitzenkatarrhen und Hiluspro- schmerzhaftes Ziehen in den Gliedern und
zessen, die bei Darbietung aller Heil- Gelenken. Das Mißverhältnis zwischen
behelfe, die das Höhenklima und ein gut dem Befunde — z. B. einer ,,toten“
eingerichtetes Sanatorium zu leisten ver- Dämpfung über einer Spitze, zeitweiligen
mögen — Freiluftliegekur, Überernäh- spärlichen Ronchi, ausgesprochenem
rung usw. —, nicht recht vorwärts kom- Spitzen- oder Hilusschatten — und den
men, obgleich die physikalische Unter- unangenehmen Krankheitsmanifestatio-
suchung nach einigen Wochen des Höhen- nen gibt dem beobachtenden Arzte zu
aufenthalts nur einen äußerst gering- denken, zumal wenn kein positiver Ba-
fügigen Befund oder gar das vollständige cillenbefund vorliegt. Die Glieder- und
Zurückgehen der früher manifesten Lun- besonders die Gelenkschmerzen führen
generscheinungen ergibt. Die Kranken leicht irre und werden in Anlehnung an
haben nach wie vor Temperatursteige- die Analogie des von Poncet beschrie-
'Januar
Die Therhßh der Gegenwart 1920
13
benen Rheumatisipus tuberculosus als
durch specifische Toxipe veranlaßte
Krankheitserscheinungen ‘ gedeutet oder
zusammen mit den häufigen neuralgischen
Kopf- und Nackenschmerzen, der lästigen
Mattigkeit sowie der allgemeinen Erreg¬
barkeit in den stets dienstbaren großen
Topf der nervösen Beschwerden geworfen,
wie sije Lungenspitzenkatarrhe tatsäch¬
lich so oft zu begleiten pflegen.
Und doch ist das septische Moment
unverkennbar und fordert in erster Linie
zur Untersuchung des Schlundlymphrings
auf, der, wie wir aus den Beobachtungen
von Paeßler u. A. gelernt haben, so
oft die Quelle einer allzu leicht verkann¬
ten kryptogenen Sepsis ist. Ein typischer
Fall sei hervorgehoben, der uns vor sieben
Jahren auf die in Rede stehenden Inter¬
ferenzerscheinungen von Lungenspitzen¬
affektionen und chronischer Tonsillitis
aufmerksam gemacht hat.
B. Sch., 18 Jahre alt, erblich belastet,
wurde von einem hervorragenden Klini¬
ker dem Sanatorium mit linksseitigem
Lungenspitzenkatarrh zugewiesen. Patien¬
tin blaß, dabei in leidlich gutem Ernäh¬
rungszustände. Links hinten oben kürzerer
Schall, rauhes Athmen, deutliche Ronchi.
Temperatursteigerungen bis 38,2, durch¬
schnittliches Maximum 37,5, kein Sputum,
geringer Hustenreiz. Nach einigen Wochen
Freiluft-Liegekur, über den Lungen bis
auf die Schallverkürzung nichts Abnormes
zu finden, aber die Temperaturen, Krank¬
heitsgefühl, besonders die Mattigkeit und
das Ziehen in den Gliedern halten an.
Leichte Halsbeschwerden machen auf die
Tonsillen aufmerksam, die zerklüftet sind
und öfters charakteristische Pfröpfe ber¬
gen, die sich bei Druck entleeren. Deut¬
liche kleine Drüsenschwellungen am Halse.
Manchmal treten akute Exacerbationen¬
des Prozesses auf und verraten sich durch
Erhöhung der Temperaturmaxima. An¬
geregt durch die Paeßlersehen Publika¬
tionen über Mundsepsis entschließen wir
uns, in den Tonsillen die Quelle der un¬
zweideutig septischen Erscheinungen zu
suchen und den ruhenden Lungenspitzen¬
katarrh als Hauptkrankheitsfaktor aus¬
zuschalten. Prof. Hajek bestätigt diese
Auffassung und rät zur Enucleation der
Tonsillen, die bei direktem Drucke mit
dem Mandelquetscher von rückwärts her
viel rahmig-eitrigen Detritus entleeren.
Der interne Consiliarius entscheidet für
eine weitere expektative Behandlung in
Höhenluft, die aber nach fast zehnmona-
tigem Aufenthalte zu keinem Erfolg
führt. Der Druckversuch auf die Mandeln
ergibt stets .dasselbe Resultat: Chronisch¬
eitrige Tonsillitis. Endlich wird der Zu-,
sammenhang der Temperatursteigerungen
mit der Tonsillitis anerkannt und die
Operation gestattet. Vier Wochen nach
derselben (Prof. Hajek) — sie ergab eine
ausgebreitete peritonsilläre Eiterung und
beträchtliche Verwachsungen — völlige
Entfieberung, Schwinden aller subjek¬
tiven Krankheitsgefühle und blühendes
Aussehen der Patientin. '
Der hier beschriebene Musterfall
hat uns zu weiteren klinischen Beob¬
achtungen über die Interferenz von Lun¬
gentuberkulose und chronischer Tonsillitis
angeregt. Zu unserer größten Über¬
raschung hat sich dieses Zusammentreffen
weit öfter ergeben, als man ahnen konnte,
und dabei stellte es sich heraus, daß es
nicht genügt, sich auf manifeste Erschei¬
nungen von s,eiten der Mandeln (Schwel¬
lungen, Pfröpfe), sowie auf anamnestische
diesbezügliche Daten zu stützen, es haben
sich vielmehr Fälle ergeben, wo die Api-
citis scheinbar allein das Krankheitsbild
erschöpft, bei näherer fachgemäßer Unter¬
suchung aber eine latente Mandelentzün¬
dung mit reichlichem Exsudat an para¬
tonsillärem Gewebe konstatiert wird, ohne
daß die geringsten Beschwerden in dieser
Richtung vorlägen. Die kaum je fehlenden
kleinen submaxillaren Drüsenschwellun-
gen sind immerhin ein brauchbarer Fin¬
gerzeig und sollten nicht mit den ausge¬
sprochen indolenten größeren, specifisch
tuberkulösen verwechselt werden. Die
Untersuchung der Tonsillen muß lege
artis vor sich gehen, am besten durch
Druck innerhalb des Arcus palatoglossus
und ergibt dann im positiven Falle das
reichliche Hervorquellen eines rahmig¬
eitrigen Detritus aus den umgebenden
Gewebsnischen. Dabei darf die Rachen¬
tonsille, besonders bei Kindern und Adol-
escenten als Infektionsherd nicht über¬
sehen werden, ebensowenig die auf ihn
hinweisenden charakteristischen Drüsen¬
schwellungen am Nacken. Wird doch in
der amerikanischen Literatur, insbeson¬
dere von Freer, sogar der Standpunkt
verteidigt, daß Allgemeininfektionen häu¬
figer von der Rächentonsille als von den
Gaumentonsillen ausgehen. Von derselben
Seite wird ferner die mit den neuesten Er¬
fahrungen von Glas sich deckende For¬
derung aufgestellt, in allen suspekten
Fällen nach etwaigen versprengten lym-
phoiden Inseln zu suchen, die nicht nur
im Bereiche des Rachens zumeist ent-
14
Die Therapie der Gegenwart 1920
Januar
sprechend den Seitensträngen als ent¬
zündliche infiltrierte Granuola (Inflam-
matio pharyngis adenoidalis), sondern“
selbst am Zungengrund als entzündete
und exulcerierte Follikelanhäufungen
(Glas) zum Ausgangspunkt einer schein¬
bar kryptogenetischen Sepsis — sozu¬
sagen im kleinen Stile — werden können.
Inwieweit das von John geübte ,,Ab¬
saugen“ der erkrankten Tonsillen — ähn¬
lich wie das konservative Schlitzen —
als therapeutische Maßregel genügt, mag
dahingestellt bleiben. Jedenfalls ver¬
dienen seine diesbezüglichen Beobach¬
tungen aus einem Kriegslazarett Beach¬
tung, insbesondere jene Fälle, die den
Verdacht einer Tuberculosis incipiens
nahelegten und durch Behandlung der
Tonsillen körperlich leistungsfähig und
beschwerdefrei wurden.
Sind derartige versteckte Entzün¬
dungsprozesse schon bei Nichttuberku¬
lösen eine ergiebige Quelle von chroni¬
schen Temperatursteigerungen und damit
verbundenen allgemeinen Beschwerden,
so darf es nicht wundernehmen, daß sie
bei Tuberkulösen um so sicherer Fieber
mit allen Begleiterscheinungen verur¬
sachen. Der tuberkulöse Organismus
neigt ja an und für sich zu Temperatur-'
Steigerungen, selbst wenn der Prozeß ruht
oder im klinischen Sinn ausgeheilt ist, er
behält auch dann gewissermaßen ein „sen¬
sibilisiertes“ Temperaturcentrum. Diese
Sensibilisierung des Temperaturcentrums
macht sich ja so oft verräterisch geltend,
wenn derartige Individuen durch einen
inneren oder äußeren Reiz aus dem Gleich¬
gewichte gebracht werden. Hierher ge¬
hört die prämenstruelle Temperaturstei¬
gerung bei ausgeheilter oder okkulter
Tuberkulose, das Fieber nach einer In-
jectio vacua zu Beginn einer mit Vorsicht
eingeleiteten Tuberkulinkur bei Nervösen,
nach angestrengter körperlicher Bewe¬
gung, nach oft geringfügigen Aufregungen,
im Zusammenhänge mit einer Indigestion
usw. Auch eine forcierte Liegekur, der
sich die empfindliche seelische Konstitu¬
tion so manches Lungenkranken nicht
anpassen kann, vermag, so paradox es
auch klingen mag, die Neigung zu Tem¬
peratursteigerungen zu erhöhen. Selbst
das Rätsel der oft Jahre hindurch Fie¬
bernden, aber sonst leidlich gedeihenden
„Hiluskinder“ mag in diesem Sinn eine
zwanglosere Erklärung finden als durch
die bloße Annahme einer neuropathischen
Konstitution (Czerny), diefwir allerdings
als Summationsfaktor gelten lassen
müssen.
Wenn nun die oben besprochenen mehr
oder weniger versteckten infektiösen Ent¬
zündungsherde im Bereiche des lym-
phoiden Schlundrings in einem tuber¬
kulösen Organismus zur Entwicklung
kommen, so sind die Bedingungen für
hartnäckige Fiebersteigerungen mit Sicher¬
heit gegeben. Derartige Kranke ver¬
halten sich natürlich gegenüber den besten
hygienisch-physikalischen Faktoren der
Höhenluftbehandlung völlig refraktär.
Selbst wenn alle lokalen Erscheinungen
des Spitzenkatarrhes weichen, die Tem¬
peraturen kommen immer wieder zurück,
Blässe, Hinfälligkeit, die rheumatologi-
schen Beschwerden bleiben unverändert
und die Kranken verbringen Monate ihres
Lebens unter großen Opfern ohne Nutzen
im Sanatorium. Jeder erfahrene Anstalts¬
arzt weiß, was dies besonders bei Adol-
escenten zu bedeuten hat, die in ihrer
Ausbildung Schaden leiden und durch
eine aufgezwungene- träge Lebensweise
dem praktischen Leben entfremdet wer¬
den. Schon im Jahre 1913 hat Brauer
auf dem Kongreß für innere Medizin an-
läßlicn der Debatte über das,,Bewegungs¬
fieber“ festgestellt, wie häufig demselben
leichte chronische Entzündungen der
oberen Luftwege, ganz besonders der
Tonsillen, zugrunde liegen und darüber
Klage geführt, daß zahlreiche Kranke
dieser Art ganz ungerechtfertigt in die
Lungenheilstätten und Kindersanatorien
geschickt werden. Derartige accessorische
Fieberquellen in den in Betracht kom-“
menden Fällen zu finden und zu besei¬
tigen, erscheint uns also als eine überaus
dankbare therapeutische Aufgabe und
soziale Pflicht.
Literatur: Paeßler, Verhandlungen d. D.
Kongresses f. i. M. 1911 (Ther. d. Gegenw. 1915,
1. c.).— Brauer, Verhandlungen d. D. Kongresses
f. i. M. 1913. — Jahresversammlung der Amerik.
Larynx Association 1915. — John (M.m. W. 1916,
Nr. 34, Beil.). — Glas (W. kl. W. 1916, Nr. 34).
Januar
' /
Die Therapie der Gegenwart 1920
15 *
Aus der III. mediziuisclieu Universitätsklinik zu Berlin
(Direktor: Gek. Rat Prof. Dr. Goldsckeider). j
über Atropinbehandlung des Pylorospasmus der Säuglinge.
Von Dr. Kretschmer. Assistent.
Bei der Behandlung des Pylorospas¬
mus der Säuglinge spielte bisher nur die
Diätetik und die Operation eine Rolle.
Bei beiden Behandlungsmethoden war
die Sterblichkeit bisher leider noch eine
recht große. Von einer Unterstützung
der inneren Behandlung durch Medika¬
mente hat man im allgemeinen wohl mit
Rücksicht auf die • starke Wirkung der
in Betracht kommenden Arzneimittel
abgesehen. Zum Teil ist die erhoffte Wir¬
kung der Medikamente ausgeblieben, weil
die verabreichten Gaben zu klein waren,
um einen Erfolg zu bewirken. So emp¬
fiehlt Finkeistein beispielsweise einen
Versuch mit Tinct. Opii, Belladonna,
Brom öder Chloral, ohne sich über die
damit zu erzielenden Erfolge oder Art
und Dauer der Anwendung näher zu
äußern.
Sehr gute Erfolge hat in neuester Zeit
die Anwendung zweier Arzneimittel bei
der Behandlung des Pylorospasmus ge¬
bracht, nämlich die des Papaverin und
Atropin. Das Papaverin, ein Opium¬
alkaloid, wirkt nach Pal wahrscheinlich
direkt hemmend auf den Tonus der
glatten Muskulatur. Knöpfeimacher,
Jantischke und Zweig haben davon
bei subcutaner Anwendung in Dosen von
0,005 bis 0,01 gute Erfolge in der Be¬
handlung des Pylorospasmus gesehen.
Das Atropin wirkt lähmend auf den
Vagus, der dem Auerbachschen Plexus
peristaltikfördernde Erregungen zuführt.
Die motorischen Ganglien des Auerbach¬
schen Plexus selbst werden, nach Meyer
und Gott lieb, durch kleine Atropin¬
dosen nicht gelähmt. Eine völlige Läh¬
mung der Magenperistaltik tritt also
nicht ein, sondern nur eine Herabsetzung
derselben. St ölte empfiehlt im Rezept¬
taschenbuch von Rabow (1914) als Ver¬
ordnung bei Pylorospasmus der Säug¬
linge drei- bis viermal täglich einen bis
drei 'Tropfen Atropin sulf. 0,01/10,0
vor der Mahlzeit. Ochsenius hat in
zwei Fällen mit sehr gutem Erfolg die
gleiche Verordnung angewendet. Durch
ein Mißverständnis ,wurde einem seiner
Kranken kurze Zeit 1,2 mg Atropin
pro die verabfolgt, ohne daß eine Schädi¬
gung eintrat. Ohne Kenntnis der Stolte-
Ochseniusschen Verordnung habe ich,
angeregt durch gute Erfolge bei Er¬
wachsenen, bei einem schweren Pyloro¬
spasmus im Marz dieses Jahres eine
Atropinkur eingeleitet. Der Erfolg war
ein sehr guter. Da außer der Veröffent¬
lichung von Ochsenius keine'ausführ¬
lichen Krankenberichte vorliegen und
bei der verhältnismäßig großen Seltenheit
des Pylorospasmus will ich die Kranken¬
geschichte meines Falles kurz mitteilen.
Erich K., geboren am 20. Januar 1913, wurde
am 10. Februar in die Augusta-Viktoria-Krippe
des Berliner Krippen-Vereins aufgenommen. Erb¬
liche Belastung besteht nicht. Geburtsgewicht
3500 g; Gewicht bei der Aufnahme 3250 g. Nach
kurzer Halbmilchperiode wurde er wegen des zu¬
tage tretenden Pylorospasmus auf Ammenmilch
gesetzt. Das Kind nahm dabei etwas zu, doch
verschlechterte sich der Zustand, obwohl die
Nahrung in häufigen kleinen Mahlzeiten verab¬
reicht wurde. Am 2. März übernahm ich das Kind
in einem sehr elenden Zustande: Sehr blasses
Kind, in äußerst abgemagertem Zustande. Die
Haut läßt sich in großen Falten abheben und
hängt an den Oberschenkeln an der dünnen
Muskulatur in weiten Falten herab. Am Gesäß,
Skrotum und der Innenseite der Oberschenkel
starke Intertrigo. Auf dem Kopfe leichtschup¬
pendes, trockenes Ekzem. Muskulatur schlecht
entwickelt, doch auffallend hypertonisch. Patellar-
reflexe gesteigert. Pupillen auffallend eng.
Sofort nach Jeder Mahlzeit wird der größte Teil
der Nahrung erbrochen. Das Erbrochene reagiert
stark sauer. Die Magengegend ist bei dem Er¬
brechen versteift und vorgewölbt, und man sieht
starke peristaltische Wellen über den Magen hin¬
laufen; das Kind ist dabei sehr unruhig und
wimmert vor Schmerzen. Die Ernährung erfolgte
in acht Mahlzeiten ausschließlich mit abgezogener
Amrrienmilch. Bis 26. März erfolgte allmähliche
Gewichtsabnahme bis 2800 g. Vom 27. März
ab zunächst dreimal täglich, dann viermal täg¬
lich fünf Tropfen Sol. Atropinsulf. 0,001 /10,0 vor
der Mahlzeit. Der Zustand besserte sich sofort.
Bei der betreffenden Mahlzeit hörte das Er¬
brechen auf, die Peristaltik war geringer, das
Kind weniger unruhig. Die Reaktion auf das
Atropin in Gestalt von lebhafter Hautrötung
und Pupillenerweiterung war ziemlich stark.
Auch bei den Mahlzeiten ohne Atropinverab¬
reichung hatten die Pflegerinnen den Eindruck,
als ob das Erbrechen geringer war. Vom 1. April
ab mußte aus Mangel an Ammenmilch die Hälfte
der Mahlzeiten in Eiweißmilch verabfolgt werden,
ohne däß eine Änderung im Befinden eintrat.
Vom 12. April ab ließ ich versuchsweise
gleiche Atropinlösung subcutan geben und zwar
dreimal 0,2. Die Wirkung auf das Erbrechen bei
den einzelnen Mahlzeiten war gleichmäßiger.
Bis zum 30. April hatte sich das Gewicht, da
immerhin noch ziemlich viel erbrochen wurde,
auf 3300 g gehoben. Es war jetzt aber möglich,
sechs Mahlzeiten zu 120 ccm zu verabfolgen.
Ohne daß das Erbrechen stärker wurde. Vom
7. Mai ab wurde versuchsweise das Atropin aus¬
gesetzt. Die Gewichtszunahme erfolgte trotzdem
regelmäßig, wenn auch langsam. Das Erbrechen
16
Die Therapie der Gegenwart 1920<
Janiiar
nahm nicht wesentlich zu. • Am 20. Mai begann
ich erneut Atropin zu geben und zwar dreimal
acht Tropfen 0,001 /10,0 per os. Das Gewicht betrug
jetzt 3600- g. Die Nahrungsmenge konnte jetzt
ohne Verstärkung des Erbrechens auf 6 mal
1.60 ccm (zweimal Ammenmilch, viermjal Eiwei߬
milch) gesteigert werden. Vom 7. Juni’ab mußte
die Eiweißmilch, vom' 30. Juni ab die Ammen¬
milch fortfallen. Es wurde zunächst als Ersatz
Halbmilch, bald auch Breinahrung gegeben.
Beides wurde gut vertragen. Vom 14. Juni ab
wurde das' Atropin ganz abgesetzt. Das Kind
spie jetzt noch ab und zu. Am Magen konnte
man nach der Mahlzeit noch eine leichte Peristal¬
tik beobachten. Bis 1. August erfolgte eine
Gewichtszunahme bis 4700 g, täglich im Durch¬
schnitt 15 g vom 20. Mai gerechnet. Der Körper¬
zustand hatte sich ganz erheblich gebessert, ins¬
besondere war das Fettpolster jetzt gut, die
großen Hautfalten völlig ausgefüLt. Am Gesäß
und Skrotum bestand noch leichte Intertrigo.
Nach Aussetzen des Atropins waren die Pupillen
wieder auffallend eng. Die Hypertonie der
Muskulatur hatte sich nicht geändert.
Der Erfolg der Atropinbehandlung in
unserem Falle war ein recht guter, wenn
auch nicht so rascher wie in den Fällen
von Ochsenius. Doch war die Dosierung
bei meinem 1 Falle nur die Hälfte der
Stolteschen Verordnung und das Atropin
wurde nicht bei jeder Mahlzeit, sondern
nur dreimal am Tage verabfolgt. Das
Erbrechen hörte infolgedessen nicht ganz
auf und die Körpergewichtszunahme war
eine sehr langsame. Trotzdem war doch
eine deutliche Einwirkung des Atropins
auf den Tonus des Vagus zu beobachten,
denn nach einmal sechs Wochen, dann
dreieinhalb Wochen dauernder Atropin¬
darreichung in kleinen Dosen waren die
Symptome des Pylorospasmus beseitigt.
Schon bei der geringen Dosierung, äe
wir anwendeten, trat stets eine lebhafte
Hautrötung und Erweiterung der Pupillen
auf,' Die Furcht vor einer Intoxikation
hielt mich deshalb ab, größere Gaben zu
verabfolgen; nach den Erfahrungen von
Stolte und Ochsenius ist diese Gefahr
nicht groß. Ich selbst habe jetzt * bei
einigen Säuglingen mit starkem habi¬
tuellen Erbrechen Atropin nach der
Stolteschen Verordnung ohne Schädigung
verordnet und glaube, daß es im Interesse
einer rascheren Reparation bei Pyloro-
pasmus sich empfiehlt, das Atropin in
großen Dosen nach Stolte zu geben und
nach Eintritt der Wirkung allmählich zu
kleineren Dosen überzugehen.
Das Krankheitsbild zeigte in meinem
Falle zwei Symptome’, die ich in der mir
vorliegenden Literatur nicht gefunden
habe. Besonders auffallend war die
starke Hypertonie der Muskulatur,- die'
auch nach Abklingen des Pylorospasmus
bestand. Spasmophile Symptome waren
nie zu beobachten. Eine Prüfung der
elektrischen Erregbarkeit war aus äußeren
Gründen nicht möglich. Wönn die
Hypertonie auf die Inanition zurück¬
zuführen gewesen wäre, hätte sie sich
mit der Körpergewichtszunahme bessern
müssen. Das zweite auffallende Symptom
waren die engen Pupillen, ein Symptom,
das für eine allgemeine Vagotonie spricht
Es wäre wünschenswert, daß bei Fällen
von Pylorospasmus auf dieses Symptom
geachtet würde. Sein Vorhandensein in
der Mehrzafil der Fälle wäre ein Beweis
für die Richtigkeit der Voraussetzungen
der Atropintherapie des Pylorospasmus.
Literatur: Finkeistein, Lehrbuch der
Säuglingskrankheiten 1912. — Januschke, Ther.
Mh., April 1914. — Knöpfelmacher, Gesell¬
schaft f. innere Med. u. Kinderhlkde, Wien,
22. Januar 1914; Ref. D. m. W. 1914, Nr. 23. —
Meyer und Gottlieb, Experimentelle Pharmako¬
logie 1910. — Ochsenius, D. m. W. 1915, Nr. 51.
— Derselbe, M. m. W. 1915, Nr. 43. — Zweig,
Arch. f. Verdauungskr. 1913.
Aus der geburtsMlflicli-gyiiäkologisclieu Abteilung des Krankeubauses der jüdisebeu
Gemeinde in Berlin.
über die durch geburtshilfliche Operationen bedingten
Schädigungen des Kindes und ihre Verhütung^).
Von Prof. Dr. E. Sachs, dirigierendem Arzt der Abteilung.
Meine Herren! Daß unsere geburts¬
hilflichen Operationen in erster Linie
zur Verminderung der Kindersterb¬
lichkeit in der Geburt führen, bedarf
keines Wortes. Tausende von Kindern
werden durch eine rechtzeitig angelegte
Zange vor dem Erstickungstod in der
.Austreibungsperiode gerettet, von den
Operationen bei den in Quer- und Becken-
1) Vortrag, gehalten am 16. Oktober 1919 im
ärztlichen Hansabezirksverein, Berlin.
endlage liegenden Kindern ganz zu schwei¬
gen. Es ist deshalb verständlich; daß
gerade während des Krieges, wo der Wert
des Kindeslebens besonders stieg, sich
Stimmen erhoben, die zu einer vermehrten
Anwendung der Beckenausgangszange
aufferderten. Nichts liegt mir ferner als
dies gesunde Bestreben zu bekämpfen.
Nur scheint mir, daß bei der einseitigen
Betrachtung des Nutzens der entbinden¬
den Operationen übersehen wird, daß
Januar
Di^ Therapie der Gegenwärt 1920
J7
4 .
diese nicht stets ganz gefahrlos für
das Kind sind, in dessen Interesse sie doch
gerade vorgenommen werden. Der Ein¬
druck, daß so manches vorher ganz un-
geschädigte, mehr noch manches vorher
schon leicht geschädigte Kind erst durch
>die entbindende Operation in akute
Lebensgefahr kommt, verdichtete sich
mir während meiner Tätigkeit an der
Königsberger Universitätsfrauenklinik so
stark, daß ich es unternahm, diese Frage
genau zu untersuchen.
Es handelt sich dabei in erster Linie
um die drei großen Operationen: Zange,
Wendung und Extraktion.
1. Die Zangenoperation.
Daß Zangenoperationen für das Kind
eine Gefahr bedeuten können, ist all¬
bekannt. Denken wir nur an unsere
etsten Zangenversuche! Dabei seien als
Schädigungsursachen alle schwereren Ver¬
letzungen des Schädels ausgeschlossen,
die von der einfachen Knochenimpression
bis zur Zerreißung der Nähte mit internem
Kephalhämatom, zum Tentoriumriß mit
tötlicher innerer Blutung, zur Scheitel¬
beinzertrümmerung oder Absprengung der
Hinterhauptschuppe führen können;
ebenso andere Schädigungen, wie Fa¬
zialislähmung, Erbsche Lähmung, Ver¬
letzung, ja Abreibung des Ohres, Ver¬
letzung des Auges, Kompression der um den
Hals geschlungenen oder der vorgefallenen
Nabelschnur usw. Bei diesen Verletzun¬
gen ist jedem die schädigende Wirkung
des operativen Eingriffs klar, nicht so
bei einer großen Zahl anderer Fälle,
bei denen die Zangenwirkung nicht so
offensichtlich, darum aber nicht weniger
sicher ist.
Bei Gelegenheit einer Untersuchung
über die kindlichen Herztöne als Grund¬
lage für die Indikation zur Beckenaus¬
gangszange konnte ich folgendes fest¬
stellen: Von 68 im mütterlichen Interesse
bei völlig normalen Herztönen mit Zange
entwickelten Kindern kamen nur 43
lebensfrisch zur Welt, 15 wurden leicht,
8 schwer asphyktisch und 2 tot geboren.
Von den schwer asphyktisch geborenen
Kindern starb noch eines nach der Ge¬
burt (siehe Fall 1). Diese Zahlen ver¬
größern sich noch, wenn ich die Kinder
mit nur erhöhten Herztönen, die im
mütterlichen Interesse mit Zange ent¬
wickelt wurden, hinzurechne. Dann sind
es 90 Kinder, von denen nur 56 lebens¬
frisch, 21 leicht, 11 (10) schwer asphyk¬
tisch waren, 2 (3) starben im Anschluß
an die Zangenoperation und in deren
Folge. Die Ursache der Schädigung
durch die Operation war selbstverständ-.
lieh meistens irgendein Kunstfehler;
aber nicht stets ließ sich die Schädigung
vermeiden. Bei den beiden gestorbenen
Kindern z. B. handelte es sich in dem
einen Fall um das Mitfassen der Nabel¬
schnur beim Anlegen der Tarnierschen.
hohen Zange, in dem anderen Fall aller¬
dings um ein mehrfaches Abgleiten der
Zange, die von einem Studenten angelegt
war. So augenfällig braucht der Fehler
aber nicht stets zu sein. Schon der bei
der Durchführung der Zange lege artis
angewandte Druck kann unter Umstän¬
den genügen, um das Kind in Gefahr zu
bringen.
So führten zu straffe Weichteile in
folgendem Falle zum Tode des Kindes.
1. 972/16. 40jährig. I. p. Mitralinsuffiziens.
Nephritis. Kind vollkommen ungeschädigt. Die
Zange wird nur im Interesse der Mutter angelegt.
Der Kopf, der noch ziemlich hoch steht, tritt
nach Cervixincisionen etwas tiefer. Die Zange
wird bei den engen Weichteilen der alten 1, p.
mit ziemlich großer Kraft ausgeführt und führt
zur Tentoriumzerreißung, der das schwer asphyk¬
tisch geborene Kind nach einer Stunde erliegt.
Verführten hier die engen Weichteile
den Operateur dazu, zu stark zu drücken,
so lag die Gefahr der Zange in folgendem
Fair in einem zu engen Becken.
2. 106913. 32jährig. III. p. Enges Becken.
Der Kopf ist auf den Beckeneingang aufgepreßt.
Pfeilnaht steht quer, etwa 1% Querfinger von
der Symphyse entfernt. Beide Fontanellen gleich
tief. Drohende Gefahr der Uterusruptur. Die
Meinungen über den Stand der größten Circum-
ferenz des Kopfes zur Beckeneingangsebene sind
geteilt. Während ein Untersucher eine hohe Zange
für möglich hält, da die enge Stelle des Becken¬
einganges schon überwunden sei, glaubt der
andere, daß die Vorbedingungen für eine hohe
Zange noch nicht gegeben seien. Die danach aus¬
geführte Zangenoperation führt zum Tode des
Kindes infolge einer Tentoriumzerreißung, die
dadurch zustande gekommen war, daß die sagittal
am Schädel anliegende Zange den durch die ver¬
engte Conjugata vera hindurchgehenden Schädel
in seinem Querdurchmesser verbreitern mußte,
wodurch das Mißverhältnis zwischen Becken und
Schädel noch vergrößert wurde.
In einem dritten Falle dagegen han¬
delte es sich um eine unsachgemäße Durch¬
führung der Zange durch einen Anfänger.
3. 511/13. 41 jährig. I. p. Kopf steht auf
dem Beckenboden. Pfeilnaht quer. Die Herztöne
sinken unter 100. Beim Anlegen der Zange ent¬
leert sich Mekonium. Die Zangenextraktion
gelingt dem Praktikanten nicht. Dabei hören die
Umstehenden ein leichtes aber deutliches Krachen,
das von ihnen als Fraktur des Schädels gedeutet
wird. Auch dem die Operation leitenden Assisten¬
ten gelingt die Beendigung der Operation nicht,
da die Zange wiederholt abgleitet. Aus didakti¬
schen Gründen wird die nur im kindlichen
Interesse begonnene Geburt an dem nunmehr
3
18
Die Therapie der Gegehwärt 1920
Januar
sicher toten Kinde nicht mittels Perforation be¬
endet, sondern die Spontangeburt abgewartet. Die
^anatomische Untersuchung des kindlichen Schä¬
dels ergibt eine ausgedehnte Fraktur des rechten
Scheitelbeins. ^
. Welch ^große Bedeutung die Technik^
der Zangenausführung für den Zustand
des Kindes hat, ergibt sich aus folgender
Überlegung. Unter den elf zur schweren
Asphyxie führenden Zangenentbindungen
waren nur drei von mehr oder weniger ge-^
übten Assistenten ausgeführt, an den
anderen acht waren ungeübte Studenten
beteiligt.
Bei Kindern, deren Herztöne schon
vor Anlegen der Zange nicht mehr normal
waren, läßt sich der schädigende Einfluß
der entbindenden Operation natürlich
nicht so sicher beweisen. Ich denke aber,
daß die folgende Zusammenstellung als
ein ausreichender Beweis für die Schädi¬
gung durch die Zange angesehen werden
kann.
Von 31 Kindern, deren Herztöne i. p.
schwankten, wurden 17 lebensfrisch, 10
leicht, 3 schwer asphyktisch und 1 tot
geboren. An den 17 Zangen der ersten
Gruppe waren fünf Lernende gegenüber
zwölf Assistenten beteiligt, an den zehn
zur leichten Asphyxie führenden war das
Verhältnis dagegen acht Lernende zu
zwei Assistenten.. Die drei anderen Fälle,
die zur schweren Asphyxie führten,
nehmen eine Sonderstellung, ein. Bei
zwei von ihnen waren schon vor der
Operation die Kinder schwer geschädigt,
und im dritten Falle war durch die Kiel¬
landzange die Nabelschnur mitgefaßt und
während der fünf Minuten dauernden
Operation gedrückt worden.
Diese Gefahr läßt sich meiner Meinung
nach bei der Kiellandzange nicht sicher
ausschalten, da diese hoch in das Gebiet
des unteren Uterinsegmeints eingeführt
wird und vor allem infolge der intrauterin
stattfindenden Drehung des vorne liegen¬
den Löffels die Uteruswand vom kind¬
lichen Kopf abhebt und so einer etwa
in der Nähe liegenden Nabelschnur Ge¬
legenheit zum Herabsinken gibt, wodurch
sie leicht in das Gebiet der Zange geraten
kann.
Für beachtenswert halte ich weiter¬
hin folgende Zusammenstellung. Unter
den acht Kindern, die mit vollkommen
normalen Herztönen im mütterlichen
Interesse mittels Zange entwickelt,
schwer asphyktisch zur Welt kamen,
fanden sich sieben Kinder eklamptischer
Frauen. Das zeigt, daß Kinder, die
irgendwie geschädigt sind, eine
neu hinzukommende Schädigung,,
wie sie die Operation bedeutet,
schlechter als andere aushalten.
Unter 25 Kindern, die wegen Eklamp¬
sie der Mutter mittels Zange entbunden
wurden, kamen nur 11 völlig lebensfrisch
zur Welt. Neunmal war diese Operation
von Ärzten ausgeführt worden, nur zw^-
mal von Lernenden. Unter sieben leicht
asphyktischen Kindern dieser Reihewaren
schon vier von Lernenden entbunden,
unter sieben schwer asphyktischen da¬
gegen sechs. Dabei ist selbstverständlich,
daß den Studierenden nur die leichten
Zangenoperationen überlassen wurden und
daß es sich in allen Fällen um Kinder
handelte, deren Herztöne völlig normal
waren, die also klinisch als' ungeschädigt
angesehen werden mußten.
Die Gefahr der hohen Zange ist
zu bekannt, als daß ich erneut darauf
hinzuweisen brauche. Baisch^) hatte
bei 285 Fällen 43,8% Kindesmortalität,
bei nicht fixiertem Kopfe sogar 50,4%.
Diese Operation wird in der Königs¬
berger Frauenklinik so selten ausgeführt,
und dann wohl meistens von dem er¬
fahrensten Operateur, daß, abgesehen
von den oben erwähnten Fällen, mir
Beweise für die Schädigung des Kindes
durch sie aus den letzten Jahren nicht
zu Gebote stehen. Wir haben gelernt,
die hohe Zange durch eine kurz vor
der Operation gegebene intravenöse
Pituglandolinjektion zu einer Zange
am im Becken stehenden Kopf umzu¬
gestalten, oder in Fällen, in denen dieser
Versuch mißlingt oder aussichtslos er¬
scheint, sie durch die perkutane.Sym-
physeotomie in der von mir modifi¬
zierten Frankschen Technik, einer meiner
Meinung nach sehr segensreichen, sicheren
und einfachen Operation zu ersetzen.
Die Gefahren der Zangenopera¬
tion für das Kind bestehen also in
zweierlei:
1. in der schwierigen Ausführbarkeit
und
2. in der unsachgemäßen Ausführung.
Eine Möglichkeit, die Schäden der
Zangenentbindung einzuschränken, ist da¬
durch gegeben, daß die Zange, besonders^
jede irgendwie schwere Zange nur nach
strengster Indikation ausgeführt
wird. Es ist eine Tatsache, daß gerade
die nicht dringend indizierten Zangen-^
Operationen technisch die schwersten
2) Zitiert nach Benthin, Die Erhaltung des
Kindeslebens in,der Geburt. Berlin 1919. S. 34..
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1920
•19
sind, weil sie zu einem Zeitpunkte der
Gebürt ausgeführt zu werden pflegen,
in dem die Weichteile noch nicht genügend
vorbereitet sind oder der Kopf noch nicht
zangengerecht steht.
Wenn eine dringende mütterliche oder
kindliche Indikation vorliegt, so muß die
Operation eventuell auch unter ungünsti¬
gen Verhältnissen ausgeführt - werden.
Bei den Indikationen im Interesse der
Mutter sind es die Gefälligkeitszan¬
gen, die bisweilen für das Kind schlecht
ausgehen; aber auch die Indikationen im
Interöise des Kindes werden oft zu weit
gestellt.
Die kindliche Indikation zur Beendi¬
gung der Geburt ist in erster Lmie ge¬
geben durch das Absinken der^Herz-
töne unter 100 Schlägen in der
Minute in mehr-als in einer Wehen¬
pause, falls die Entbindung nicht anders,
als durch die Zange zu Ende geführt wer¬
den kann, wie z. B. durch den Hinter¬
dammgriff oder durch eine intravenöse
Pituglandolinjektion. In seltenen Fällen
muß schon das Absinken in einer ein¬
zigen Wehenpause zur sofortigen Ent¬
bindung auffordern, wenn nämlich gegen
das Ende der Austreibungsperiode die
Herztöne plötzlich unter 100 sinken, wo¬
durch eine akute Kreislaufstörung beim
Kinde angedeutet ^wird, die meistens in
einer . Nabelschnurzerrung oder Kom¬
pression besteht.
Leichtes Schwanken der Herztöne
in normalen Grenzen indiziert keine
künstliche Entbindung; starkes
Schwanken in großen Zahlenabständen
dagegen wohl, besonders dann, wenn die
Herztöne dabei unter 100 herabgehen.
Eine Erhöhung der Herztöne
über 160, selbst bis zu 200 ist keine
dringende Indikation zur Zangen¬
anlegung, besonders, wenn die Zange
nicht ganz leicht und einfach durchzu¬
führen ist*^).
, Nach meinef Erfahrung führt eine
Erhöhung der 'Herztöne über 160 be¬
sonders häufig zur- unnötigen Anlegung
der Zange; Derartig nicht ganz streng
indizierte Z'angenoperationen sind nur
erlaubt, wenn sie ganz sicher leicht sind
,und wenn der Operateur über eine ab¬
solut sichere Technik verfügt. Besondere
Vorsicht ist bei Kindern eklamptischer
Mütter geboten und in ähnlichen Ver¬
hältnissen, in denen es sich um wider¬
standgeschwächte Kinder handelt.
Wie lassen sich nun die beiden oben
genannten Gefahren vermeiden oder doch
verringern?
Eine unsachgemäße Ausführung
der Zangenoperation kann nur dadurch
vermieden werden, daß im Unterricht
immer wieder und wieder auf die Gefahr
des Drückens bei der Extraktion hin¬
gewiesen Vv^ird. Hierin scheint mir aller¬
dings auch jetzt schon alles getan zu
werden, w^as getan werden kann. Die
durch unsachgemäße AuUührung be¬
dingte Gefahr wird aber verringert, die
Verführung, allzu stark zu drücken, wird
kleiner, wenn die Zange technisch leicht
ist. Wir müssen also technisch schwere
3) Zur Kontrolle der Herztöne sind in der
Königsberger Universitäts-Frauenklinik Herzton¬
kurven eingeführt, auf denen die Herztöne alle
Viertelstunden, oder bei Bedarf auch häufiger
notiert werden, und die eine sehr plastische Dar¬
stellung des kindlichen Befindens ergeben. Ich
gebe hier als Beispiel eine Kurve, die einer weiteren
Erklärung nicht bedarf. Die Kurve ist einer in
der Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie
Bd. 82 S. 284 erschienenen Arbeit „Untersuchung
über die kindlichen Herztöne“ entnommen.
Frau T., 226/18.
Sehr starke Unregelmäßigkeit der Herztonkurve in der Eröffnungsperiode, bedingt durch Mißbildung der Frucht.
1. Blasensprung. Mekoniumabgang. 4. Herztöne sinken nach der Wehe bis auf 20.
• 2. Muttermund, kaum zweimarkstückgroß. 5. Der Kopf wird sichtbar.
3. Herztöne sinken nach der Wehe bis auf 80. 6. Geburt.
20
Die Therapie der 'Gegjehwart 1920
Januar^
Zangenoperationen in technisch
leichte mtizuwandeln suchen.
Die Schwierigkeit kann darin liegen,
daß die Weichteile zu straff odei noch-
nicht genügend vorbereitet sind, daß
der Muttermund noch nicht ganz er¬
weitert ist, oder darin, daß mit oder
ohne Beckenverengerung der Stand des
Kopfes noch nicht für eine Zange günstig
ist.
degen Weichteilschwierigkeiten, seien
sie^ durch den Stand der Geburt be¬
dingt oder durch Besonderheiten des
Falles, hilft stets eine genügend große
Incision, die sich aber, besonders wenn
die Hindernisse dadurch bedingt sind,
daß die Wehen noch nicht lange genug
zu wirken Gelegenheit hatten, oft genug
durch ein Wehenmittel vorteilhaft er¬
setzen läßt (z. B. Muttermundincisionen),
ebenso wie die durch noch ungünstige
Kopfeinstellung bedingten Schwierig¬
keiten der Zange. In einer Arbeit ,,Über
intravenöse Pituglandolbehandlung in der
Geburtshilfe (Mschr. f. Geburtsh. 1917
Bd.XLV, Heft 5) habe ich folgenden Fall
erwähnt, der die, schnelle Erweiterung des
Muttermundes bei Mehrgebärenden, so¬
bald er handtellergroß ist, nach intra¬
venöser Pituglandolinjektion zeigt:
306/16. Fieber. Drohende Asphyxie. Multi¬
para. Muttermund fast handtellergroß. Kopf
in Beckenmitte. Injektion von 1 ccm Pituglandol
intravenös. Nach fünf Minuten ist der Mutter¬
mund ganz erweitert, und der Kopf steht so,
daß eine ganz leichte Operation ohne Incision
möglich wird. ^
Diese Fälle sind keine Ausnahmen.
In einer früheren Arbeit über Pitu¬
glandol (Mschr. f. Geburtsh. 1914 Bd. XL
S. 544), hatte ich schon auf folgendes
hingewiesen. In drei Fällen von tiefem
Querstand stellte sich der Kopf nach
Pituglandolinjektion und Seitenlagerung
zangengerecht ein und konnte mit leichter
Beckenausgangszange entwickelt werden.
In zwei weiteren Fällen konnte infolge
der Spontangeburt durch jlie Injektion
die Zange ganz vermieden werden. Bei
tiefem Querstand, wo es mehr auf €ine
Dauerwirkung, als auf plötzliches dnd
schnelles Eintreten der Wirkung an¬
kommt, ist die intramuskuläre In¬
jektion übrigens der intravenösen vor¬
zuziehen.
Auch eine hohe Zange mit ihren
Gefahren für Mutter und Kind haben wir
durch Pituglandolinjektion mehrfach ver¬
meiden können, so daß sich Gelegenheit
zu einer sehr viel leichteren Zange im
Becken oder gar zu eiher Beckenausgangs¬
zange bot. Selbstverständlich bedingt
das Pituglandol, wenn es nicht zur so¬
fortigen Geburtsbeendigung genügt, bei
schon geschädigtem Kinde oder bei un-
überwincilichen Widerständen an sich
eine Gefahr, und man sollte es im Inter¬
esse des Kindes und bei rigiden Weich¬
teilen nur geben, wenn man dielGeburts-
beendigung jederzeit in der Hand hat.
Dann aber, bei prophylaktisch ausge¬
kochter Zange und bei Beendigung aller
zur sofortigen Operation nötigen Vor¬
bereitungen, ist der energische Einfluß
der intravenösen Pituglandolinjektion eine
große Unterstützung für jede Zange; ge¬
rade in diesen Fällen ist die intravenöse
Injektion wegen ihrer stärkeren Wirkung
und wegen ihres prompteren Eintiitts
der intramuskulären und der ebenso wie
diese wirkenden subcutanen Injektion
vorzuziehen. (Die intravenöse Injektion
von 0,5 oder 1 ccm Pituglandol ist völlig
gefahrlos, wenn man sie sehr langsam
ausführt. Die Injektion von 1 ccm dauert
eine halbe bis eine Minute. Schnelle Injek¬
tion führt zu vorübergehendem Erblassen
und zu Übelkeit und sollte daher unter¬
lassenwerden. Einen Schaden habe ich aber
auch hiervon nie gesehen.) Ich rate also,
vor jeder voraussichtlich schvyeren Zan¬
genoperation eine intravenöse Pituglan¬
dolinjektion zu machen; andererseits aber
auch vor der Injektion stets alles zur
sofortigen Zangen entbindung vorzube¬
reiten, um eingreifen zu können, falls bei
schon geschädigtem Kinde die Injektion
zur Geburtsbeendigung nicht genügen
sollte.
Um also die Gefahren der Zangen¬
operation für das Kind möglichst zu
verringern, rate ich folgendes:
1. Jede Zange darf nur nach strengster
Indikation angelegt werden.
2. Eine rechtzeitig ausgeführte medi¬
ane Episiotomie erleichtert die Zange
sehr, vermindert den Druck auf den Kopf
und schont die mütterlichen Gewebe.
Man schützt die Frau dadurch vor dem
sonst doch häufig nicht zu vermeidenden
multiplen Verletzungen am Introitus,
die eine viel schlechtere Heilungstendenz
haben, als eine glatte Schnittwunde.’
3. Wenn die Zange nicht sehr leicht
zu sein scheint, so soll sie durch die von
oben treibende Kraft eines guten Wehen¬
mittels unterstützt werden. Hierfür
empfehle ich ganz besonders das intra¬
venös gegebene Pituglandol.
(Schluß folgt im nächsten Heft.)
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1920
21
Zur Behandlung der schwersten Strikturformen und Fisteln
der männlichen Harnröhre^).
Von Dr. J. J. Stutzin, Facharzt für Urologie und Chirurgie, Berlin.
Zu den schwersten Strikturformen
gehören die sogenannten fibrösen, auch
callöse und cartilaginöse genannt. Größere
Strecken der Harnröhre und der an¬
liegenden Gewebsschichten sind in eine
derbe bis knorpelharte Masse verwandelt.
Das Lumen ist stellenweise bis auf einen
stecknadeldünnen Spalt verengt, dabei
deviiert und oft in zahlreiche innere
Fisteln auslaufend, stark an Ameisen¬
gänge erinnernd. Bei der Betastung fühlt
man ein schwieliges, von mehreren buck¬
ligen Erhöhungen durchsetztes Gewebe.
Das Messer dringt in eine harte, kaum
blutende Masse.
Die Methode der Wahl für jede Strik-
tur ist stets die langsam graduierte Dila¬
tation. Erst wenn diese versagt, tritt
die operative Behandlung in ihre Rechte.
Das’ ist aber bei den geschilderten Strik¬
turformen nicht selten der Fall. Die
harte callusartige Masse gibt nicht nach,
die durch die Dehnung zunächst erzielte
Wirkung geschieht auf Kosten der an¬
liegenden noch relativ gesunden Gewebs-
teile und verschwindet bald mit dem Auf¬
hören der Dilatation. Oft aber ist eine
Dehnung überhaupt nicht möglich, weil
die Durchführung einer Sonde durch
den bis auf ein Minimum verengten, in
fast allen Richtungen diviierten, fistulös
zerklüfteten Kanal auch dem Geübtesten
und Geduldigsten nicht gelingt. In
solchen Fällen stehen uns drei Wege
offen
a) die innere Incision (Urethrotomia
interna);
b) die äußere Incision (Urethrotomia
externa) und
c) die Radikaloperation.
Es liegt nicht im Rahmen dieser Arbeit
auf die Methoden a und b näher einzu-
gehHi. Möglich sind sie in den schwersten
Fällen, die innere Incision aber mit der
Einschränkung, daß eine Filiform durch¬
geht. Sie sind beide Palliativoperationen,
1) Das Material entstammt den von mire, in
den letzten fünf Jahren gesammelten Beobach¬
tungen: 1914 bis 1917 aus den Sanitätsformatio¬
nen, die ich als beratender Chirurg und Urologe
in der Türkei geleitet habe, 1917 bis Anfang 1919
der mir unterstellten chirurgischen und urolo-
gischen Abteilung im Bereiche des XVIII. Armee¬
korps. Ein Fall von Uretralplastik ist von mir
auf der chirurgischen Abteilung des Herrn M. Bor-
chardt (Städtisches Krankenhaus Moabit, Berlin)
ausgeführt worden.
in dem Sinne/ daß sie das Hindernis nur
vorübergehend beseitigen. Es ist Sache
der nachfolgenden dauernden Bougierung,
den Urethralkanal für die Miction offen
zu halten. Der äußere Harnröhrenschnitt
steht in diesem Falle nicht über dem
inneren.
Bei einem Teil der callösea Verenge¬
rungen .kommt man aber mit keiner der
unter a und b genannten Behandlungs¬
methoden zum Ziele. Die retraktive
Tendenz der Narbenschwiele ist so groß,
daß sie nach jeder Durchschneidung sich
rasch wieder retrahiert, manchmal scheint
der operative Reiz die Wachstumsenergie
der Narbe noch zu verstärken. Solche
rezidivierenden Fälle sind 'es vor allem,
die zu einer radikalen Operationsweise
drängen.
Die bisher geübten radikalen Ver-'
fahren zerfallen in zwei große Gruppen:
a) in die Exstirpation alles Narbigen
und Vereinigung der Schichten mitein¬
ander;
b) in den Ersatz des operativen De¬
fektes durch plastische Methoden: durch
Entnahme von Lappen in loco oder durch
Transplantation (Vene, Appendix).
Es war besonders Marion, der das
unter a genannte Verfahren systematisch
ausbildete. Das ^ Hauptgewicht legt er
auf die Weglassung des Dauerkatheters,
der die Wunde irritiere und die Prima
intentio verhindere. Nach Resektion
größerer Stücke der Harnröhre werden
'die Stümpfe, besonders der vordere,
mobilisiert und vereinigt. Der Urin
wird durch einen in die Blase eingeführten
Schlauch abgeleitet. — Zuckerkandl
hat über auf ähnliche Weise operierte
Fälle berichtet. Ich habe ebenfalls nach
der bei Marion selbst erlernten Technik
eine größere Anzahl von Fällen nach
der gleichen Methode behandelt.
Die unmittelbaren Erfolge sind oft
recht zufriedenstellend. Der Kranke
kann spontan urinieren und braucht zu¬
nächst nicht bougiert zu werden. Bei
längerer Beobachtung habe ich aber nicht
selten die Erfahrung gemacht, daß die
mit diesem Verfahren erzeilten Dauer¬
erfolge weit geringer sind als die
Früherfolge, auch hier treten Rezidive
ein, wie ich es an den von mir und anderen
operierten Fällen beobachten konnte, und
22
Die Therapie der Gegenwart 1920
Januar
machen entweder ein konsequentes Bou-
gieren oder weitere Operationen not-
Vv^endig. Tritt aber bei einem mit der
beschriebenen Methode .operierten Kran¬
ken ein Mißerfolg ein, so'^ gesellen sich
weitere Übelstände hinzu: die Folgen
der durch die radikale Resektion ver¬
kürzten Urethra und der Sectio alta, einem
chirurgisch zwar kleinen aber für den
Kranken nicht immer belanglosen Eingriff.
Die gleichen Nachteile machen sich be¬
merkbar, wenn trotz Sectio alta und Weg¬
lassens des Dauerkatheters im vornherein
eine Prima intentio nicht eintritt, was
durchaus nicht selten ist.
Die Ursache dieser letzteren Erschei¬
nung erklärt sich unschwer aus dem Um¬
stande, daß man bei Operationen wegen
Urethralstrikturen in einem entzündlich
veränderten Gebiet arbeitet, also im
Unaseptischen. Die seit Jahren be¬
stehende Urethritis, die zu den Striktur¬
bildungen geführt hat, hat auch außer¬
halb der strikturierten Stelle die Harn¬
röhre infiziert, als deren Produkte die
entzündlichen Infiltrate in der Stufen¬
folge ihres Entwicklungsstadiums anzu¬
sehen sind. Aus der Pathologie der Ure¬
thritis wissen wir, daß sich Infektion,
Reinfektion und Auto(Sekundär)infektion
andauernd abwechseln und folgen. Dem
entspricht auch die Verschiedenheit der
nebeneinander sich befindlichen 'Einzel¬
stadien: Strikturen (callöse Infiltratforni),
weiche und harte Infiltrate. Trotz aus¬
giebiger Resektion alles sichtbar patho¬
logisch Veränderten arbeiten wir oft
doch nicht im Gesunden, sondern im
Latent- oder sogar ini Floridinfektiösen, J
und es hängt nur vom Zusammentreffen,
der für die Entstehung einer jeden In¬
fektion notwendigen Faktoren ab, ob
die op'erativ gesetzte Wunde primär
heilt oder nicht. In ungünstigem Sinne
wirkt bei der ausgiebigen Harnröhren¬
resektion die Erektion, namentlich im
Wundheilungsstadium. Sie übt einen
mechanischen Zug aus auf die unter
Umständen bedeutend verkürzte Urethra,
der sich natürlich in der schwächsten
Stelle, der circulären Naht, besonders
stark bemerkbar macht. Auch die ab¬
solute Freihaltung der Urethralwunde vom
Urin halte ich trotz Nichtanwendung
eines Verweilkatheters und Drainage von
oben noch nicht für bewiesen. Die
Blasensonde löst ebenfalls manchmal
Tenesmen aus, und dabei ist der Eintritt
von kleinen Mengen Harn in die Urethra
die häufige Folge.
Aber auch die primär geheilte Urethral¬
wunde gibt noch keine Sicherheit gegen
das Wiederauftreten einer Verengerung.
Wir haben in keinem Fall eine Gewähr
beziehungsweise Kontrolle für eine linien¬
artig lumenwärts zu erfolgende Heilung
der Urethralwunde. Die Formveränderung
der Wunde beziehungsweise Wundränder
kann noch einige Zeit nach' der scheinbar
primär erfolgten Heilung eintreten, ins¬
besondere durch die bereits erwähnte
Wirkung der erektilen Vorgänge. Mit
dieser mechanischen Reizung der Wunde
geht die langsame Infektion derselben
durch die in der Harnröhre aus den ge¬
schilderten Gründen fast nie fehlenden
Infektionserreger Hand in Hand. Auf
die Infektion folgt im Endstadium das
bindegewebige Organisat, des Vorläufers
der neuen Striktur mit ihren Eolge-
erscheinungen. Wenn diese aber, zumal
nach einer gelungenen Operation, über¬
sehen werden, können sie die durch ^^die
Operation auch traumatisch veränderte
Harnröhre leicht in einen Zustand bringen,
der die Dilatation unmöglich macht. Ein
neuer Eingriff bei einer durch radikale
Resektion veränderten Harnröhre , ge¬
staltet sich naturgemäß komplizierter
und weniger aussichtsreich als zu Anfang.
Ist aber an der Hand dieser Überlegungen
und der klinischen Erfahrungen auch
bei der Radjkaloperation mit supra-
pubischer Cystotomie ein Rezidiv durch¬
aus nicht selten, so muß die Indikation
zu diesem Eingriff infolge der ihm an¬
haftenden, erwähnten Nachteile stark
eingeschränkt werden.
Hierbei darf nicht unerwähnt bleiben,
daß trotz der theoretischen Bedenken
Urethralwunden auch bei eingelegtem
Dauerkatheder heilen können, wie es die
Praxis nicht selten lehrt, und ebenso,
daß trotz der Unvollständigkeit des
äußeren Harnröhrenschnittes bei geeig¬
neter, lange fortgesetzter Nachbehand¬
lung klinisch eine Wirkung erzielt werden
kann, die in ihrer praktischen Wertung
einem Dauererfolg gleichkommt. Ein
solcher ist zumindestens dann anzu¬
nehmen, wenn der Kranke mehr als zehn
Jahre beschwerdefrei bleibt, was ich
nicht selten gesehen habe. Aus all dem
ergibt sich, daß die Anzeige zur Vornahme
einer Radikalop'Cration nur da vorliegt,
wenn alle anderen Maßnahmen — Dila¬
tation, innerer oder äußerer Schnitt —
sich bereits als erfolglos erwiesen haben
oder mit größter Wahrscheinlichkeit nach
Lage des Falles erfolglos bleiben dürften.
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1920
23
X
Das erste ist zweifellos der Fall bei den ent¬
weder nicht dilatationsfähigen oder nach
den Palliativeingriffen stets rezidivieren¬
den Strikturen, das letztere bei den durch
ausgedehnte derbe Narbenschwielen ge¬
bildeten Verengerungen, seres in der als
Tumeurs urineuses bezeichneten Form,
wie sie sich nach schweren entzündlichen
Verengerungen, meist nach einer größeren
Reihe von Jahren, zu bilden pflegen, sei
es nach direkten Traumen, nach denen sie,
wie uns insbesondere die Verletzungen
dieses Krieges gelehrt haben, ganz rasch,
innerhalb weniger Monate, entstehen
können.
Welche Radikaloperation ist in solchen
Fällen zu wählen?
Ich glaube, auch hier gibt es keine
einzige, für alle Fälle geltende Methode,
sondern das Verfahren muß der Indi¬
vidualität der Situation angepaßt werden.
Ich halte an folgenden Richtlinien fest:
1. ist es möglich, alles sichtbar Nar¬
bige zu resezieren, ohne einen größeren
Defekt zu setzen, wobei die Uretra durch
die circuläre Resektion nicht mehr als
etwa 3 cm verkürzt wird, dann ist die
oben geschilderte Methode nach der
Marion’schen Art das beste. Dabei
halte ich die Einlegung eines Dauer¬
katheters nicht für kontraindiziert. Die
Weglassung desselben und die Hinzu¬
fügung der suprapubischen Blasenfistel
ziehe ich nur bei jugendlichen, kräftigen
Individuen in Erwägung, bei denen dieses
Plus an großer Noxe aller Berechnung
nach keine schädlichen Folgen haben
dürfte. (Meine früheren an anderer Stelle
gemachten Vorschläge über den gleichen
Gegenstand werden durch diese Angaben
nicht unwesentlich modifiziert.) — Be¬
sonders wertvoll ist es, wenn es möglich
ist, einen Rest der Uretralwand als
Brücke stehen zu lassen und die volle
Circulärresektion zu vermeiden, ln sol¬
chem Falle pflege ich die längsgerichtete
Wunde quer zu vernähen. Daraus ergibt
sich eine wesentliche Verbreiterung des
Lumens an der Nahtstelle, dergestalt,
daß bei eventuell später eintretender
Verengerung doch noch ein für die Ab¬
wicklung des Mictionsgeschäftes genügend
großer Hohlraum übrig bleiben dürfte.
2. Erfordert die Auslösung der cal-
lösen Narbenmassen die Schaffung einer
solchen Lücke, daß die Vereinigung der
Wundränder ohne eine gewisse Spannung
nicht möglich- ist, und ist insbesondere
beim Adaptieren der Urethralstümpfe es
notwendig, dieselben ausgiebig zu ,,mo¬
bilisieren'S das heißt sie auf weite Strecken
von der Unterlage abzulösen, um sie
dann unter Zugwirkung aneinander zu
bringen, dann wird von einer Vereinigung
überhaupt abgesehen. Es wjrd im Gegen¬
teil eine regelrechte Ürethrostomie her¬
gestellt, solcherart, daß die beiden Harn¬
röhrenstümpfe ausgiebig an die Haut
genäht werden. In die Blase kommt ein
Verweilkatheter, damit der neue Harn¬
röhrenmund möglichst glatt anheift. Ist
dieser Fall eingetreten, dann wird die
Fistel geschlossen nach den Grundsätzen,
wie sie später auseinahdergesetzt werden
sollen.
3. Besteht überhaupt keine Möglich¬
keit alles Narbige zu entfernen, weil die
Narbenmassen zu ausgedehnt sind — sei
es uretralwärts oder dammwärts (ich
habe Narbenmassen gesehen, die sich
wie gewaltige Keile bis tief ins kleine
Becken zogen) —, dann pflege ich eben-"
falls eine Fistel anzulegen und zunächst
so zu verfahren wie in 2 angegeben ist.
Die besondere Art des Fistelschlusses
'in diesem Falle wird ebenfalls weiterhin
auseinandergesetzt werden.
Wenn wir hiermit zur Behandlung
der Harnröhrenfisteln übergehen, so sei
vorausgeschickt, daß die Fisteln geringen
und mittleren Grades, die durch syste¬
matische Dehnung beziehungsweise Auf¬
frischung und Naht zur Heilung gebracht
werden können, nicht in den Rahmen
dieser Betrachtung fallen. Nur die mit
größeren Substanzverlusten verbundenen
Uretrostomren sollen hier abgehandelt
werden.
Eine plastische Deckung der Harn-
röhrendefekte^.wird versucht auf zweierlei
Art: durch Überpflanzung oder durch
gestielte Lappen.
Bei der Überpflanzung werden ver¬
schiedenartige Gewebsteile genommen.
Es war naheliegend, solche zu wählen,
die ein Lumen haben, im Inneren von
Schleimhaut beziehungsweise mit schleim¬
hautähnlichem Epithel bekleidet sind und
außerdem im Gesamtorganismus ent¬
behrlich sind. Als solche sjnd die Wurm¬
fortsätze und einzelne periphere Venen¬
stücke zu bezeichnen.
# Über diese Art Fistelbehandlung kön¬
nen wir hier nur kurz resümieren, daß
sie als Behandlung der Wahl kaum in
Betracht kommt. Die Venentransplan¬
tationen haben sich nicht bewährt. In
den meisten Fällen stößt sich das über¬
pflanzte Stück aus. Aber wenn es zunächst
anheilt, stellen sich vielfach ganz rasch
24
Die T^herapie der Gegenwart 1920
Januar
neue Schrumpfungserscheinungen und da¬
mit zuletzt neue Strikturen ein. Noch
ungünstiger sind die Resultate mit der
transplantierten Appendix. Damit er¬
zielte Dauererfolge sind mir nicht be¬
kannt, wohl aber volle Mißerfolge. Zieht
man noch in Betracht, daß zur Aus¬
führung dieses in den allermeisten Fällen
ergebnislosen Eingriffes immerhin der
operativen Plastik noch eine Laparotomie
(Appendektomie) vorausgehen muß, so
ist es erklärlich, daß von diesem Ver¬
fahren als Opefationsmethode Abstand
genommen werden muß.
Es bleibt uns also für die Deckung
der Harnröhrenfistel größeren Umfangs
nur die plastische Deckung in loco übrig.
Der Erfolg ihrer Anwendung hängt von
der sor^ältigen Beobachtung mehrerer
Einzelheiten ab sowohl hinsichtlich der
Operation selbst wie ihrer Vorbereitung
und Nachbehandlung. Es ist nicht immer
nötig, neue Methoden zu erfinden. Viel
nützlicher ist es oft, die alten sorgfältig
und in individueller Anpassung auszu¬
führen.
Die ungünstigen Faktoren der Harn¬
röhr enplastiken, zumal im Dammteil der
Harnröhre (ihrem häufigsten Sitz) sind
der relativ enge Raum, innerhalb dessen
sie sich abspielen müssen, die unzuver¬
lässige Asepsis, weil die Harnröhre als
solche und geschweige denn nach voraus¬
gegangenen Entzündungen (und um
solche Fälle handelt es sich ja in der Regel)
nicht als keimfrei beziehungsweise keim¬
arm zu betrachten ist. Hinzu kommt noch
die Nähe des Rektums, die zunächst
intra operationem und dann noch während
der Nachbehandlung die Wunde infi¬
zieren kann. Es ist dabei selbst die
Möglichkeit nicht auszuschließen, daß
ohne direkten Kontakt unter besonderen
pathologischen Umständen Keime, ins¬
besondere Coliarten, aus dem hart an¬
liegenden Rectalteil durchwandern und
zur Entstehung einer Infektion Veran¬
lassung geben können. Komplizierend
kommt noch der irritierende Reiz des
trotz Dauerkatheter und suprapubischer
Drainage doch hin und wieder die Wunde
benetzenden Urins und bei eingelegtem
Dauerkatheter sicherlich die traumatisie-
rende Wirkung desselben. — Zwar finddi
wir beispielsweise bei operativen Vorgän¬
gen im Munde stark infektiöse Verhältnisse,
während es doch trotzdem (oder gerade
deswegen) selbst beim Hinzutreten eines
Erysipels schnell zur Heilung von Mund¬
wunden zu kommen pflegt. Indes scheint
i
es, daß in der Urethra - solch günstige
immunisatorische beziehungsweise repära-
torische Vorgänge wie im Munde nicht
vorliegen.
Diese ungünstigen Faktoren veranlas¬
sen pns aber die plastischen Maßnahmen
so sicher als möglich zu gestalten und
andererseits im vornherein mit der Mög¬
lichkeit des Mißlingens oder des nur teil¬
weisen Gelingens zu rechnen.
Im speziellen sind folgende Grund¬
sätze bei Urethralplastiken zu beachten:
1. Der Stiel soll so bteitbasig als
irgend zulässig und der Lappen selbst
so kurz als möglich sein.
2. Ist ein im Verhältnis zum Stiel sehr
langer Lappen notwendig, so kann der
Lappen in mehreren Zeiten vorbereitet
werden.
3. Besteht keine Möglichkeit, alles
Narbige zu exstirpieren und ist nicht
genügend freies Lappenmaterial in der
Umgebung vorhanden, so kann die Narbe
selbst zur plastischen Deckung heran¬
gezogen werden.
4. Man soll mit einem einmaligen
Totalerfolg nicht rechnen, vielmehr sind
häufig Ergänzungsplastiken notwendig.
Ohne auf die Einzelheiten des opera¬
tiven Vorganges hier einzugehen, sei die
Ausführung kurz gestreift. Zu bevor¬
zugen sind Lappen aus der Scrotalhaut,
weil sie sehr dehnbar, nachgiebig und
gut versorgt sind. Ihre Retractilität
hat keinen wesentlichen Nachteil, wenn
man bei der Abmessung des Lappens im
vornherein dies berücksichtigt, anderer¬
seits eignet sie sich gerade deswegen für
den Ersatz der Urethralwand, weil sie
ähnlich wie diese' bei der infolge des
Erektionsvorgang es bedingten starken
Flächenveränderung ,,mitgeht‘'. Nur
muß man bei der Zuschneidung der
Scrotallappen darauf achten, daß die
Schnitte nicht senkrecht zu den Gefäßen
ausfallen, sondern in einer der Parallele
möglichst gleichkommenden Linie sich
bewegen. (Ich habe an anderer Stelle
diese Schnitte als Faltenschnitte be¬
zeichnet und ausführlicher beschrieben:
vgl. Zeitschrift für Urologie, Jahrgang 18,
Bd. 12.) — Die Epilierung der in die
Uretra, mit der Epithelfläche uretral-
wärts, einzupflanzenden Scrotalhaut muß
sorgfältig vorbereitet werden, wenn gleich
ich nach vielen endoskopischen Beob¬
achtungen des Transplantats den Ein¬
druck habe, daß der zum Bestandteil
der Harnröhre gewordene Hodenhaut¬
lappen durch die funktionellen Verrich-
Januar
25
Die Therapie der Gegenwart 1920
tungen der Urethra — im Schleimhaut¬
lumen als Harnkanal und in toto als
Erektivobjekt — regressiv verändert und
auch die dicke Oberschicht des Scrotal-
epithels sich dauernd verfeinert.
Steht aber nicht genügend Scrotal-
material zur Verfügung, so wird man
versuchen, sich den Lappen aus der
übrigen Umgebung zu holen, der Femur-
und Inguinalhaut. Hierbei macht es sich
nicht selten ^notwendig, um ohne Span¬
nung die Gewebe aneinanderzubringen,
den Lappen besonders vorzubereiten.
Dies besteht darin, daß man den Lappen
nicht gleich überpflanzt, sondern ihn in
ein oder zwei vorausgegangenen Sitzungen
in^der notwendigen Länge abnimmt und
mit den Wundrändern zunächst wieder
vereinigt. (Ein Anwachsen an die Wund¬
fläche wird durch ein untergeschobenes
Gazestück verhindert.) Die Gefä߬
sprossung in diesem Lappen ist m der
Regel eine ganz vorzügliche.
Es gibt aber Fälle, wo es durchaus an
plastischem Material in der Umgebung
fehlt. Das ist besonders bei den schweren
Kriegsverletzungen der Fall, wo vielfach
Damm, Scrotum und Inguinalgegend in
eine einzige Narbenmasse verwandelt ist.
In solchen Fällen habe ich versucht, die
Narbe selbst zur plastischen Deckung
heranzuziehen, und habe öfter Erfolg
gesehen. Man muß dabei die plastischen
Regeln noch schärfer erfüllen, insbeson¬
dere nur kleine und breite Lappen ver¬
wenden. Sehr gefährdet ist die Plastik,
wenn man den Lappen um seine Längs¬
achse drehen muß. Aber auch da gelingt
es mit vieler Geduld, den Defekt zu
schließen. Allerdings sind nicht alle
Narben vom plastischen Gesichtspunkt
aus gleichwertig, und darauf muß im
vornherein Bedacht genommen werden.
Es gibt harte, starre, schwielige Narben,
nahezu im Zustand der Verhornung, mit
äußerst geringer Gefäßversorgung, nur
soweit, daß sie gerade vor der Nekroti¬
sierung bewahrt werden. Aber es gibt
auch weiches, gut durchblutetes Narben¬
gewebe, mit einem gewissen Grad von
Verschieblichkeit. Man wird daher mög¬
lichst die letztgenannte Art zu plastischen *
Zwecken heranzuziehen suchen. Daß
dabei das eine oder andere Mal ein Lappen
nekrotisch wird, muß man mit in Kauf
nehmen. ^
Die Erfolge bei der Schließung von
größeren Urethraldefekten sind nicht leicht
zu erzielen. Neben wirklich guten Resul¬
taten mit einer einmaligen Operation
sieht man auch solche, bei denen nach
jedem Eingriff nach vorübergehendem
Schluß eine neue offene Stelle sich bildet,
Abeir man muß sich nicht entmutigen
lassen. Gelingt es nur mit dem- Eingriff
den Defekt zu verkleinern, so ist 'das
schon ein Erfolg. Mit den folgenden
Encheiresen wird die Fistel schon ver¬
schwinden.
Die Krankengeschichten, die ich im
Auszug hier anfüge, sollen die geschil¬
derten Richtlinien illustrieren.
Fall 1. Alb. Br., 3. März 1917. Oberschenkel¬
damm-Granatschuß, ausgedehnte Weichteil Ver¬
letzung am Damm (Rectum ist gestreift) und in
der rechten Leistenbeuge und ferner quere Zer¬
reißung der Harnröhre im Verlauf der Schu߬
richtung. — Operation im Feldlazarett: Um¬
schneidung der Wundrähder in der Leistenbeuge
und Analfalte, Aufsuchung und Vereinigung der
beiden Harnröhrenstümpfe, Dauerkatheter. Nach
Entfernung desselben uriniert Patient spontan,
nur einige Tropfen kommen aus der Wunde.
27. März. Aufnahme in die mir unterstellte
chirurgische Abteilung des Reservelazaretts III,
Darmstadt. Befund: 1. Eine bräunlich verfärbte,
kleinfinger beerengroße Narbe in der ersten unteren.
Gesäßhälfte. 2. Eine klaffende, unregelmäßige
Wunde mit stark verdickten. callusartigen Rän¬
dern in der Perianalgegend, etwa* 2 cm oberhalb
des Analringes. 3. Am Oberschenkel, an der
typischen Unterbindungsstelle der großen Ge¬
fäße eine etwa 3 cm lange, in die Tiefe führende
Wunde, in der ein dünner, 5 cm langer Gummi¬
drain steckt. — Der in die Perianalwunde ein¬
geführte (behandschuhte) Finger gelangt in eine
nach dem Rectum führende Höhle, deren Ende
mit dem Finger nicht erreichbar ist. — Die Harn¬
röhre mit fünf Char. unter Schwierigkeiten
bougierbar, in der Höhe der Perianalwunde stößt
die Sonde auf harten, holprigen Widerstand. —
Es besteht eine offene Damm-Rectumfistel. —
Am 6. April ist es nicht mehr möglich, durch die
Urethra ein Filiform durchzuführen.
10. April, t Operation: Einführung einer
Metallsonde bis zur Striktur, dann Längsincision
durch hartes „knirschendes“ Gewebe. Harn¬
röhre als solche ist nicht zu erkennen. Es gelingt
aber doch, durch die gewaltige Narbenmasse
einer durch die Wunde vorgeführten haarfeinen
Sonde folgend, in die Blase zu kommen. Darauf¬
hin Dehnung der hinteren Urethra, bis Nr. 20
passiert. — Es wird versucht, alles Narbengewebe
bis ins Gesunde zu entfernen. Dies zeigt sich
aber als nicht durchführbar, weil die breiten
Narbenstränge in einen großen Teil des Rectum
und des kleinen Becken verlötet sind. Unter Be¬
nutzung des beweglicheren Teils der Narbe als
Deckungsmittel wird zunächst nach möglichster
Umschneidung im Narbengewebe die Damm-
Rectumfistel geschlossen, hingegen wird eine
kleine Uretralfistel gebildet, weil ihre augen¬
blickliche Schließung die Rectalfisteloperation
gefährden würde im Hinblick auf den Mangel an
plastischem Material. Dauerkatheter. — Verlauf
günstig. Nach Entfernung des Verweilkatheters
fließt der größte Teil des Harns per vias na¬
turales, ein kleiner Teil durch die Harnröhren¬
fistel. Dammrectumfistel geheilt. — Fortgesetzte
Bougierung der Urethra. Fistel verkleinert
sich. Patient verweigert die plastische Schließung
derselben, da sie „von selbst heilt“. Am 24. Juli
4
26
Die Therapie der Gegenwart 1920
Januar
Tnuß er aus militärischen Gründen in sein Heimats-
iazarett verlegt werden. Entlassungsbefund:
Nr. 21 passiert ohne Schwierigkeiten. Am Damm
l)esteht noch eine geringgradige Urethralfistel.
Nachurteil: Die Wiedervereinigung
der durchtrennten Harnröhre ist indi¬
ziert, wenn dies ohne größere Spanniing
möglich ist und wenn es sich um eine
glatte, nicht infizierte Wunde handelt,
nicht aber, wenn es sich, wie in diesem
Falle, um eine ausgedehnte Zertrüm-
xnerungswunde handelt, wo zugleich eine
Kommunikation mit dem Rectum be-
■stand. Auf die anfangs scheinbar primäre
Heilung folgte eine still verlaufende In¬
fektion, die zur impermeablen callösen
Striktur führte. Der Narbenlappen hat
sich hier ganz gut bewährt.
Fall 2. Th. D., 23 Jahre. Angeborene Striktur
am Meatus exturnus. Schon als Kind andauernd
Harnbeschwerdep. Mit 12 Jahren Phimosen¬
operation, geringe Besserung, dann Verschlimme¬
rung. Mit 19 Jahren erste Strikturoperation.
Nach kurzer Besserung erneute Verschlimmerung.
— Befund bei der Aufnahme am 12. Juli 1917:
Starker Urindrang, wobei der Urin unter heftigen
Drucken tropfenweise austritt. Schmerzen in
der Blasengegend, im Rücken, lebhafte Kopf¬
schmerzen. Temperatur 39,4°. Urin stark eitrig.
14. Juli Operation: Spaltung der fast blind
-endenden Urethra, Excision des circularen callösen
Wulstes, Mobilisierung der Harnröhre und Ver-
nähung mit der Haut. Verlauf: Glatte Heilung.
— Starke cystische Erscheinungen. Cystoskopie
zeigt chronisch entzündete Blasenschleimhaut mit
ausgesprochener Balkenbildung, daneben Ver¬
dacht auf einen eitrigen Prozeß in der ersten
Niere beziehungsweise Nierenbecken. (Dieser
Verdacht hat sich nicht bestätigt.) Unter der
üblichen Behandlung gehen die entzündlichen
Erscheinungen der Blase zurück. Es tritt aber
trotz regelmäßiger Bougierung erneut eine
Tendenz zur Verengerung ein und damit bald
wieder allgemeine und lokale Reaktions- be¬
ziehungsweise Folgeerscheinungen (Dyurie, eitriger
Urin, Schüttelfröste). Zweite Operation am
26. September: Es wird jetzt der umgekehrte
Weg beschritten. Statt die Harnröhre zu mo¬
bilisieren und nach außen zu ziehen, wird die
gesunde Penishaut röhrenförmig nach innen ge¬
stülpt und mit der ängefrischten Urethra vernäht.
Alles Narbengewebe war vorher sorgfältig ent¬
fernt worden. Dauerkatheter. Verlauf: Glatte
Heilung, Mictionsbeschwerden verschwinden,
cystische Erscheinungen bessern sich rasch unter
desinfizierender Behandlung. — Dieser Zustand
bleibt anhaltend günstig bis zum 27. Dezember,
dem Tage der Entlassung.
Nachurteil: Aus dem Umstande, daß
auf die früheren Eingriffe schon binnen
weniger Wochen Rezidive folgten, ist
anzunehmen, daß die letzte bereits drei
jMonate bestehende ,,innere iVIuffplastik“
von Dauer sein wird. Indes- sind gerade
die angeborenen Meatusstrikturen die
vielleicht am häufigsten rezidivierenden,
Darum ist in der Prognose Vorsicht
geboten und consecutive Kontrollmaß-
nahmen -dringend über Jahre hinaus
anzuraten.
Fall 3. I. B. Vor 22 Jahren eine vier Wochen
dauernde Uretritis. Später Urinfistel am Damm.
Zwei Jahre darauf Harnbeschwerden, vor fünf
Jahren 14 Tage bougiert. Befund: Impermeable
Striktur beginnend in der Pars praebulbosa.
Operation am 27. September 1917: Sectio alta,
retrograder Katheterismus, Spaltung der Striktur
zwischen zwei — retrograd und durch den Meatus
externus -v eingeführten Metallsonden. Die
Striktur erstreckt sich der Länge nach von der
Pars praebulbosa bis zur Pars '* praeprostatica,
nach der Tiefe dammwärts bis zum Anus. Dabei ^
ist die ganze Urethra und das Periurethralgewebe
im Bereich eder Striktur in eine derbschwielige
callöse Masse Verwandelt. Eine Entfernung der
ganzen Narbe erscheint nicht angängig. Es wird
eine lokale Lappenplastik vorgenommen zur Er¬
weiterung des strikturierten Urethrateiles. Dauer-
" katheter, Schluß der Blasenwunde. — Verlauf:
Die Heilung wird kompliziert durch eine eitrige
Epidydimitis, deren eigentümliches Aussehen und
Verlauf — rasche Besserung nach Jodkali — an
eine gleichzeitige Lues denken lassen (tiefe
gummaähnliche Nekrosen). Wassermann. — Es
bildet sich ferner am Damm eine stecknadelkopf¬
große Urinfistel, die sich spontan schließt. 2. Ja¬
nuar 1918 entlassen mit dem Hinweis, sich regel¬
mäßig bougieren zu lassen.
Nachurteil: Es hat sich hier um einen
mit schwerer Cystopyelitis komplizierten
Fall "gehandelt als Folge der schweren
Urethralstriktur. Die mangelnde Prima-
intentio hat die Anheilung der . Plastik
nicht wesentlich gehindert, wie wir es
auch anderswo, besonders bei Mund¬
plastiken, sehen.
Fall 4. W. Br., 32 Jahre. Angeborene Striktur
des Meatus externus, komplizi'ert durch Cystitis
und relative Inkontinenz. — Operation: Excision
und Hautlappeneinstülpung. Heilung. Da bei
der Entlassung seit der Operation nur sechs
Wochen vergangen waren, ließ sich über einen
Dauererfolg nichts sagen.
Fall 5. Joh. H., 23 Jahre. 27. August 1917.
Granatschußverletzung: Zerreißung des Damm¬
teils der Harnröhre, Bruch des aufsteigenden
Schambeinastes, ausgedehnte Zertrümmerung der
Damm- und Gesäßmuskulatur. — Im Feldlazarett
Urethrotomie und Dauerkatheter, der nach drei
Tagen entfernt worden war. — Aufnahmebefund
am 19. Oktober: Blasenglutealfistel: Der Ge¬
samtharn entleert sich unter starken Tenesmen
durch ein Loch in der linken Gesäßhälfte. Um¬
gebung typisch urinös-septisch. Dammgegend
von derbem Narbengewebe ausgefüllt. Uretra
nicht bOLigierbar. Bougie stößt in der Damm¬
gegend auf ein unüberwindliches Hindernis,
Ozration: Versuch, per uretram die Blase
»mittels Druckspritze zu füllen; mißlingt, weil die
injizierte Flüssigkeit durch die Glutealfistel aus¬
läuft. Sectio alta etwas schwierig, weil die nicht
gefüllte, geschrumpfte Blase tief im kleinen
Becken liegt. Retrograder Katheterismus. Ure-
trotamia ext, Dauerkatheter, einer pla¬
stischen Operation in der stark septischen Um¬
gebung wird Abstand genommen. — Verlauf:
Fistel heilen gut. Die anfänglich aufgetretene
Neigung zur erneuten Strikturierung geht auf
Dilatation zurück. Nr. 21 wird konstant leicht
durchgeführt. Darüber hinaus keine stumpfe
Januar
I Die Therapie der Gegenwart, 1920
27
Dehnung möglich, Allgemeinbefinden gut. —
Patient wird auf seinen Wunsch in di'esem Zustand
entlassen. —
Nachurteil: Wenn auch die Uretrotomie
nur ein Notbehelf ist, so kann sie in
vielen Fällen, bei unausgesetzter Bougie-
kontrolle einen durchaus befriedigenden
Zustand schaffen.
Fall 6. Heinr. G. Granatverwundung an der
linken Gesäßhälfte, Damm und Penis. Zerreißung
der Dammharnröhre und des Mastdarms, Blasen¬
mastdarmfistel, Urindammfistel. Verlust eines
größeren Teiles der linken Scrotalhälfte. (9. Ok¬
tober 1916.) Im Feldlazarett Sectio alta, retro¬
grader Katheterismus, Naht der Uretralstümpfe
" (! der Verf.). Dauerkatheter. (Vor der Operation
hat am Damm eine größere Urininfiltration be¬
standen.) Aus dem Verlauf ist zu ersehen, daß die
Urinfistel am Damm sowie die Bl^senmastdarm-
fistel bestehen blieb. Am 23. Januar 1917 wurde
noch „äußere komplette Mastdarmfistel“ ge¬
spalten. Der Zustand hat sich dadurch nicht
wesentlich geändert.
Am 15. Juni 1917 wurde wegen impermeabler
Striktur der Dammharnröhre und Mastdarm¬
blasenfistel folgender Eingriff ausgeführt: Durch
Horizontalschnitt wird unter Schonung des
Sphinkters das Rectum bis über die mit stark
callösen Rändern umgebene Fistel abpräpariert,
die Narbe excidiert, der Defekt quer geschlossen,
Durch Heranziehung einiger Levatorbündel wird
eine Dammschicht darüber gebildet. In die
Blase kommt ein Dauerkatheter, Harnröhren¬
wunde wird wegen ihrer Größe und wegen callös
beziehungsweise septisch veränderter Umgebung
nicht geschlossen. Verlauf: Blasenmastdarm¬
fistel glatt, Urindammfistel per grariulationem
geheilt. Bestehende Cystitis durch übliche Be¬
handlung wesentlich gebessert. Regelmäßige
Bougierung. Abgangsbefund vom 13. November:
Sämtliche Wunden geschlossen. Cystoskopie
ergibt nahezu normale Blasenverhältnisse. Urin
und Kot spontan, per vias naturales. Regelmäßige
Bougiekontrolle empfohlen.
Nachurteil: In diesem Falle hat eben¬
falls die unmittelbar nach der Verwundung
in durch Urininfiltration und Infektion
veränderter Umgebung vorgenommene
Urethralplastik kein Resultat ergeben kön¬
nen. Die Spaltung der Mastdarmfistel
war eine Folge der irrigen Annahme einer
solchen und verursachte eine unbegrün¬
dete Verletzung des Sphincters. — Die
durch Urethrotomie usw. ohne nachfol¬
gende Plastik ausgeführte Operation kann
trotz ihres Notcharakters bei geeigneter
dauernder Bougierung auch einen Dauer-'
wert haben.
Fall 7. I. R., 25 Jahre. Ahgeboreiie Striktur
der hinteren Harnröhre.* Nur mit Mühe für ein
Filiform durchgängig. Dilatationsversuch gelingt
nicht. Operation am 4. Dezember 1917: Re¬
trograder Katheterismus. Da fast die ganze
hintere Harnröhre strikturiert erscheint, ist eine
völlige Strikturresektion nicht durchführbar.
Quere Vereinigung der Längsincision. Dauer¬
katheter. — Verlauf ohne Zwischenfälle. Patient
wird drei Monate später entlassen. Harnröhren¬
lumen für 25 leicht durchgängig. Die vorher
bestandene Cystitis besserte sich schnell, hingegen
blieben pyelitisclie Erscheinungen bestehen.
Fall 8. W. E., 19 Jahre. — Verwundet am
24. Mai 1917: Tiefe Wunde mit großem Substanz¬
verlust an beiden Oberschenkeln, Damm und
Skrotum. — Harnröhre total durchtrennt. —
Im Feldlazarett wurde zuerst nach Erweiterung
der Dammwunde die Harnröhre genäht. Es
trat Gangrän der genähten Teile ein. Später
wurden die Harnröhrenehden genähert, mit
'nadezu gleichem Erfolg. ^ Bei der Einlieferung
ins Reservelazarett III, Darmstadt, am 22. No¬
vember 1917 bestand eine stecknadelkopfgroße
Fistel am Damm, aus der der Kranke mit vieler
Mühe den Harn herauspreßte, vor der Fistel
befand sich eine impermeable, derb callöse
Striktur. Aus dem Meatus ext. entleerte sich
reiner Eiter. Außerdem bestand eine hochgradige
Cystitis mit Py- und Pollakiurie. Operation am
23. November: Die Freilegung der Harnröhren¬
enden zeigt eine Distanz von etwa 8 cm. Die
Narbenschwiele erstreckt sich einerseits tief in
die Corpora cavernosa, andererseits in die Levator¬
gruppe. Es wird nur der Fistelgang excidiert,
dann die äußere Haut nach innen eingestülpt.
Verlauf-anfangs günstig, wird später kompliziert
durch eine oberhalb (distal) von der Fistel sich
bildende Striktur, die exstirpiert wird. Zur
' Deckung der Fistel — die cystischen Erschei¬
nungen waren inzwischen zurückgegangen —
werden noch zwei lokale Plastiken ausgeführt,
immer in dem Sinne, daß ein Hautlappen mit dem
Epithel uretralwärts eingenäht wird und darüber
die beiden seitlichen geschlossen werden. Es er¬
folgt keine Prima intentio, aber jedesmal bildet
sich eine bedeutende Verkleinerung der Fistel
bei gleichbleibender Durchgängigkeit der Harn¬
röhre für mindestens Charriere 25. Der Kranke
läßt den Gesamturin per vias naturales, nur einige
Tropfen entleeren sich bisweilen aus der Fistel.
Inzwischen wird energische Bougierung fort¬
gesetzt. Es ist anzunehmen, daß die kleine Fistel
sich unter dieser Behandlung ganz schließen wird,
aber es kann dies leider nicht abgewartet werden,
da der Kranke infolge militärischer Verfügung
verlegt werden muß. — Es ist auch hier im Nach¬
urteil zu sagen, daß die im Feldlazarett aus¬
geführte Naht und spätere „Annäherung“ der
Harnröhrenenden bei der Beschaffenheit des an¬
grenzenden Gewebes und bei dem septischen
Zustande desselben kein Resultat ergeben konnte.
Fall 9. J. K., 31 Jahre. — Verwundet am
24. April 1918: Unregelmäßige Tiefenwunde
(Granatverletzung) am linken Oberschenkel,
Damm, Pars pendula. Es bildete sich eine Urin¬
infiltration, die die ganze Genitalpartie und die
angrenzenden Teile des Abdomens einnahm.
Sectio alta, Blasendrainage. Incision der in¬
filtrierten Stellen. — Bei der Einlieferung in meine
Abteilung bestand eine gut fünf Pfennig große
Fistel am Damme, die wie folgt angegangen wurde
(28. Juli 1918): Anfrischung der beiden verengten
Harnröhrenstümpfe und Vernähung derselben mit
der Haut. Circuläre Umschneidung der Haut und
Einstülpung derselben durch versenkte Nähte.
Die ganze Wunde wird durch einen dreieckigen
Lappen aus dem Präputium geschlossen. Heilung
per primam. Entlassung sechs Wochen später.
Es besteht weder Fistel noch Striktur —. Eine
Heilung per primam bei einer so ausgedehnten
Fistel ist nicht häufig.
Fall 10. B. L., 34 Jahre. Wird am 10. Mai
1917 unter der Diagnose Nierenbeckeneiterung
und Blasenentzündung eingeliefert. Befund:
Striktur in der Bulbusgegend, die mit großer Mühe
4*
28
Die Therapie der Gegenwart. 1920
Januar
für ein Filiform passierbar ist. Versuchte Dila¬
tation schreitet schnell vorwärts. Am 10. Sep¬
tember passiert Nr. 22. Cystoskopie ergibt starke
Balkenbildung, sonst ohne Befund. — An diesem
Fall ist das Bemerkenswerte die nicht selten
vorkommende Erscheinung, daß über den Folge¬
erscheinungen der Striktur — Cystitis, Pyelitis —
diese selbst übersehen wird.
Fall 11. K. R., 47 Jahre. Seit 1900 Gon.,
1905 Uretrotomie. — 6. Mai 1918 im Anschluß
an eine Bougieryng mit Metallkatheter starke
Hämorrhagie, Urinretention und vergeblicher
Katheterismus. Daraufhin Verlegung auf die
urologische Abteilung, am 6. Mai 1918 Befund:
Aus der Urethra hellrotes Blut, Blase bis zur
Nalpelhöhe, Katheterismus fördert 1% 1 hellroter
Flüssigkeit zutage. Dauerkatheter. Da die
Blutung trotz Kompression und Styptica nicht
steht, zwei Tage später Sectio alta, heiße Irrigation,
Ausräumung zahlreicher Coagula, retrograder
fester Katheterismus, Tamponade. Blutung stand
bald. Später methodische Bougierung (nach
Schluß der Blasenfistel). — Hier war die durch
die wohl etwas forzierte Dilatation aufgetretene
starke Blutung und die erfolgte Urinretention
bemerkenswert (wohl als Folge Sphinkterkrampfes).
Fall 12. W. D., 19 Jahre. Becken-, lDamm-,
/BlasenVerletzung am 21. Oktober 1919. Sectio
alta, retrograder Katheterismus. — Es bleibt eine
Damm- und Blasenfistel zurück, aus denen sich
der Gesamtharn entleert, wobei, je nachdem sich
die eine Öffnung verstopft, die andere für die Aus¬
scheidung kompensierend eintritt. Zugleich be¬
steht eitrige Cystopyelitis mit starken Fieber¬
remissionen. Katheterismus nicht möglich infolge
impermeabler Striktur vor der Dammfistel. —
6. Dezember 1918 neue Urethrotomie mit nach¬
folgendem Dauerkatheter. Cystopyelitis geht
zurück. Bougierung rasch vorwärts, aber nur bis
18 Charriere möglich. Fisteln schließen sich. —
Dieser Mißerfolg und später nur relative Erfolg
der Urethrotomie zeigt wiederum, daß, wo sie an¬
gewandt werden muß, sie ihren Wert nur durch
die nachfolgende gründliche Dilatation erhält.
Fall 13. Karl K., 67 Jahre. Seit 15 Jahren
Beschwerden bei der Miction. Vor acht Jahren
Urethrotomie ext. Urinstrahl blieb dünn. Im
Januar 1919 Urinverhaltung. Sectio alta, drei
Steine ehtfernt. Nach einigen Monaten wieder
Harnretention. Daraufhin Dauerblasenfistel, dann
entlassen. Es trat bald ein elender Zustand ein:
Aus der Fistel entleerte sich infizierter Urin, der
die Umgebung stark irritierte. Nachdem angeblich
eine Aufnahme in das Krankenhaus, in dem er
zuletzt operiert worden war, wegen Unheilbarkeit
des Leidens abgelehnt wurde, erfolgte die Auf¬
nahme auf die äußere Abteilung des Kranken¬
hauses Moabit. — Aufnahmebefund (auszugs¬
weise): Alter Mann im fortgeschrittenen Kräfte-
verfall. Bronchitische Herde, Blasenfistel und in
dieser Dauerkatheter-, neben welchem stark
eitriger Harn abläuft, Umgebung stark entzündet.
Am Damm alte Operationsnarbe. Im Sediment
massenhafte Leukocyten und vereinzelte Erythro-
cyten. Prostatahypertrophie per rectum nicht
festzustellen. Bougierung der Harnröhre gelingt '
trotz verschiedener Versuche nicht, Striktur in
der Pars bulbosa. Infolge des aussichtslosen Zu¬
standes wird durch äußeren Harnröhrenschnitt
eine Wegbarmachung der Urethra versucht. Ope-^
ration am 26. Juli 1919: Nach Erweiterung der
Blasenfistel retrograder Katheterismus, Spaltung
der Striktur, Entfernung des sichtbar Narbigen,
Schrägnaht der Harnröhre; Schluß der Damm¬
wunde bis auf einen kleinen Tampon. Dauer¬
katheter. — Verlauf: Dammwunde heilt primär,
Harnröbre gut durchgängig, Blasenfistel ver¬
kleinerte sich stetig. Am 30. August trat eine^
Pneumonie hinzu, welcher der stark herab¬
gekommene Kranke am 13. September erlag.
Im Nachurteil ist hier zu sagen, daß
die Anlegung einer endgültigen Cysto-
tomie in diesem Falle nicht berechtigt
erscheint, da sich durch erneute Urethral¬
operation die Harnröhre sehr gut wegsam
machen ließ. Die Blasendauerfistel ist
nur auf ganz desolate Fälle zu beschränken.
Die hier angeführten 13 Fälle sind
nur ein Teil einer größeren Zahl in ähn¬
licher Weise behandelter Strikturen be¬
ziehungsweise Fisteln. Ihre Aufzählung
würde eine stete Wiederholung bedeuten.
Repetitorium der Therapie.
Die Allgemeinbehandlung des kranken Menschen.
Von G. Klemperer.
Dem Heilbestrebei;! des Arztes sind
zwei Aufgaben gestellt, die als gleich¬
berechtigt Erfüllung heischen.
Die eine Aufgabe verlangt, daß der
Kranke von seiner Krankheit befreit
wird. Der Arzt sucht ihr zu genügen,
entweder indem er die Ursache und den
Sitz der Krankheit angreift (kausale be¬
ziehungsweise organotrope Therapie), oder
indem er die Kräfte des Kranken stärkt,
damit der erkrankte Organismus selbst
die Krankheit überwindet (allgemeine
Therapie).
Die zweite Aufgabe verlangt, daß der
Kranke während der Dauer seiner Krank¬
heit von seinen Beschwerden befreit
werde. Dieser Aufgabe sucht der Arzt zu
genügen; indem er auf die einzelnen Kla¬
gen des Kranken eingeht und sie be¬
handelt (symptomatische Therapie).
- Die Erfüllung beider Aufgaben setzt
als unumgängliche Vorbedingung voraus,
daß der Kranke kunstgerecht untersucht
und die Eigenart der Krankheit so gut
als möglich erkannt wird. Grundlage der
Therapie ist die Diagnose. Selbstver¬
ständlich gilt das für die kausale und
organotrope Therapie. Aber auch die An¬
wendungen der allgemeinen und sympto¬
matischen Behandlung sind unsicher und
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1920
29
gefahrvoll, wenn sie nicht von dia¬
gnostischer Sachkenntnis geleitet werden.
Die folgenden Auseinandersetzungen
über die Behandlung von Krankheiten
sind nur für medizinisch durchgebildete
Leser 'geschrieben, welche sich genügende
Erfahrungen über Erkennung und Be¬
urteilung der Krankheiten angeeignet
haben.
Die Einteilung des Stoffes ist so
getroffen, daß die Regeln der Allgemein¬
behandlung vorausgenommen sind, weil
sie sinngemäß in allen Krankheiten An¬
wendung finden, auch in denen, welche
der kausalen und organotropen Therapie
zugänglich sind. Hierbei wird auch die
Behandlung einiger Hauptsymptome be¬
sprochen, insofern ihre Beseitigung zur
Kräftigung und schnelleren Heilung des
Kranken beiträgt; die meisten Einzel¬
heiten der symptomatischen Therapie
werden bei den betreffenden Organkrank¬
heiten ab gehandelt.
Der Besprechung der Allgemeintherapie
folgen die Kapitel über die Therapie der
Organkrankheiten^), welche die Grund¬
sätze und Anwendungen der kausalen,
organotropen und symptomatischen The¬
rapie enthalten.
Die allgemeine Behandlung umfaßt
alle Anwendungen, welche geeignet sind,
die Hindernisse der Genesung zu be¬
seitigen und die natürlichen Abwehrkräfte
des Organismus zu vermehren, damit es
ihm aus eigener Kraft gelinge, der Krank¬
heit Herr zu werden. Hierzu gehört die
Krankenpflege, die Ernährung, die psy¬
chische Beeinflussung, die Anregung des
Gesamtstoffweckseis durch physikalische
und medikamentöse Anwendungen, die
Überwachung der lebenswichtigen Funk¬
tionen des Herzens, der Atmung, sowie
der Exkretionen, die Beseitigung ge¬
nesunghemmender Beschwerden, insbe¬
sondere der Schmerzen, sowie die Sorge
für den Schlaf. In den letztgenann¬
ten Indikationen deckt sich die All¬
gemeinbehandlung teilweise mit der
symptomatischen Therapie.
1. Krankenpflege. Die Krankenpflege
umfaßt die Anordnungen und Verrich¬
tungen, durch welche dem Kranken
Schädlichkeiten ferngehalten und solche
äußeren Bedingungen gewährt werden.
Die Kapitel über Behandlung der Herz-,
Nieren-, Lungen- und Magendarmkrankheiten
sind im vorigen Jahrgang erschienen.
welche dem^ günstigen Ablauf der Krank¬
heit förderlich sind. Die Ausführung der¬
selben ist Sache der zur Krankenpflege
bestellten Persönlichkeit; die Verant¬
wortung für die Pflege hat der Arzt, er
hat sie bis ins einzelne anzuordhen und
zu überwachen.
Die Pflege sorgt für Lüftung und
Temperatur des Krankenzimmers, für
Bereitung und Reinhaltung des Bettes,
für /Beobachtung und Bewachung des
Kranken, für seine peinliche Sauberkeit,
für die Befriedigung seiner Bedürfnisse,
für die regelrechte Darreichung der ver-
ordneten Ernährung und der Medika¬
mente. Die Ausübung der Krankenpflege
bedarf berufsmäßiger Schulung, sie ist die
Grundlage ärztlicher Eingriffe und sollte
nur in kurzdauernden Krankheiten oder
, im Notfall ungeschulten Familiengliedern
anvertraut werden. Schwerkranke, diebe¬
rufsmäßiger Krankenpflege entbehren, ge¬
hören ins Krankenhaus. In gut ein¬
gerichteten Krankenhäusern sieht der
angehende Arzt die Kranken unter gün¬
stigen Pflegebedingungen; er macht sich
oft nicht klar, welche Summe von Arbeit
nötig ist, um die Kranken in solchem Zu¬
stande zu halten; im Haushalt hat der
Arzt die Pflicht, bei der Übernahme der
Krankenbehandlung für Einrichtung ge¬
ordneter Krankenpflege zu sorgen.
2. Ernährung. Die Sorge für regel¬
mäßige Zufuhr einer dem Krankheits¬
zustand angemessenen Nahrung ist eine
Hauptpflicht des Arztes. Sie ist be¬
sonders dringend in langdauernden Krank¬
heiten, welche die Gefahr der Inanition
mit sich bringen. Indem die Nahrungs¬
zufuhr die Kräfte erhält, bringt sie den
Kranken überhaupt erst in die Lage, die
Krankheit üb erstehen, zu können. Die
Ernährung ist stets ein wesentlicher Be¬
standteil der Behandlung. Darüber hin¬
aus wird sie zur Behandlung selbst in
solchen Krankheiten, welche durch fehler¬
hafte Ernährung verursacht, durch rich¬
tige Nahrungswahl geheilt werden, oder
in solchen, bei welchen Anomalien des
Stoffwechsels durch qualitative Diät¬
festsetzung zur Norm zurückgeführt oder
ihrer schädlichen Wirkung entäußert wer¬
den. Zu einem vollständigen Heilplane
gehört ein genauer Speisezettel, der Art
und Mengen der Speisen in ihrer Vertei¬
lung für den Tag verzeichnet. Im all¬
gemeinen soll jeder Kranke soviel Nah¬
rung erhalten, als der jeweilige Zustand
der Verdauungsorgane gestattet, wobei
die qualitative Auswahl durch die be-
30
Die Therapie der Gegenwart 1920
Januar
sondere Art der Krankheit bestimmt wird.
Im Begini^e von Krankheiten, ^^i un¬
sicherer Diagnose, verordne man sparsame
Diät, am besten aus dünnem Getränk,
Suppen und Brei bestehend; die Klärung
der Sachlage wird allmählich bestimmtere
Ratschläge gestatten, welche in den fol¬
genden Kapiteln ausführlich dargelegt
werden. - j
Der Überwachung des Arztes unter¬
steht auch die Beschaffenheit der^ver-
0 ¥dneten Speisen und die Art ihrer Dar¬
reichung; er soll genug von der Kunst
der Küche verstehen, um die Zubereitung
angeben und kontrollieren ^zu können.
Anregung des Appetits. Die Anregung des
darniederliegenden Appetits ist besonders bei
chronisch Kranken als Vorbedingung der un¬
umgänglich notwendigen Nahrungsaufnahme von
größter Bedeutung. Da der Appetit von der
normalen Funktion des komplizierten Räder¬
werks der Magenverdauung abhängt, so kommt
es bei Appetitmangel auf die Feststellung an,
wo das Räderwerk gestört ist, ob der Magen
selbst anatomisch verändert ist, oder ob sein
Blutumlauf unter venöser Stauung leidet, oder
ob' eine Verschlechterung der Blutmischung
durch anderweite Organerkrankung eingetreten
ist oder ob es sich um allgemeine Nervenstörung
handelt. Liegt eine feststellbare ursächliche
Erkrankung vor, so sucht man ihr beizukommen,
worüber in den verschiedenen folgenden Kapiteln
gehandelt wird. Unabhängig von der speziellen
Therapie der Herz- oder Lungen- oder anderer
Krankheit sucht man auf die Magenfunktionen
zu wirken, einmal durch psychische Anregung der
Stimmung und Laune des Patienten, andererseits
durch gewisse Medikamente, welche erfahrungsge¬
mäß die Saftsekre^on und die motorische Tätigkeit
des Magens vermehren. Als einfachstes Stomachi-
cum wirkt verdünnte Salzsäure, tropfenweisgegeben
oder in Mixtur mit Pepsin, auch in Tabletten von
Betainchlorhydrat (Acidolpepsin); auch Pankreas¬
tabletten können appetitanregend wirken. Viel
verordnet werden die Bittermittel Chinarinde,
Condurango, Gentiana, Rhabarber, Nux vomica
in verschiedenen Mischungen. Folgende Rezepte
kommen in Frage:
j. Acid. hydrochlor. dilut. 30,0
Ds. Dreimal täglich 13 bis 20 Tropfen in i Wein¬
glas Wasser eine halbe Stunde nach dem Essen.
2. Ac. hydrochlor. äil. 2,0
Tct. Aivrant. 5,0
Sir. simpl. ad. 200,0
Ds. Stundheh i Eßlöffel.
3. Mixt. Pepsini F. M. B.
(Peps^n 5,0
Actd. hydrochlor. dAl. 2,0
Tct. Atirant 5,0
Sir. spl. 20,0
Aq. dest. ad 200 o
Ds. stündlich i Eßlöffel.)
4. Tinct. stomachica F. M. B.
(Tinct. Chin. comp.
Tinct. Rhei. vinos
Tinct. Zingiher aa 10,0
Ds. Dreiynal täglich vor dem Essen 20 bis 30
Tropfen.)
5. Tct. F^uc. vomic.
Tct. Rhei. vinos.
Tct. Gentian aa^ 5,0
Ds. Dreimal täglich 13 Tropfen vor dem Essen..
6. Decoct. Chinae F. M. B.
(Decoct. cort. Chinae lojiyo
Coq%ie c. ac. mur. dil. 2,0
Sir. simpl. ad. 200,0
Ds. Dreimal täglich i Eßlöffel vor dem Essen.}
7. Decoct. cort. Condurango io,oji8o,o
Ac. hydrochlor 1,0
Syr. simpl. ad. 200,0
Mds. Dreimal täglich i Eßlöffel.
Künstliche Ernährung. Wenn Bewußtlosigkeit
oder unstillbares Erbrechen oder Undurchgängig¬
keit der Speisewege die gewöhnliche Nahrungs¬
zufuhr unmöglich machen, so ist künstliche Er¬
nährung einzuleiten. Bei Bewußtlosigkeit führt
man einen Nelatonkatheter durch die untere
Nasenchoane in die Speiseröhre bis zur Höhe
des Ringknorpels und gießt mittels eines kleinen
Trichters dreimal täglich je einenhalbenLiterMilch
mit zwei eingerührten Eiern in den Magen. Ist
das nicht möglich, so geschieht die unbedingt
nötigeFlüssigkeitszufuhram besten durch lang¬
same Mastdarmeinläufe, mehrmals täglich je einen
halben Liter Wasser, eventuell durch subcutane'
Einspritzung oder auch intravenöse Infusion von
300 bis 500 ccm steriler 0,9%iger Kochsalzlösung..
Eine wirkliche Nahrungszufuhr ist bei Ausschluß
des Magens nur in sehr beschränktem Maße möglich,,
weil der Mastdarm nur wenig Eiweiß und fast gar
kein Fett resorbiert und die sogenannten Nähr¬
klistiere bald zu örtlicher Reizung führen. Gut
resorbiert werden' Wasserklysmen von 300 bis
400 ccm, in denen zwei Teelöffel Traubenzucker
und zwei Teelöffel Cognac gelöst sind. Ab¬
wechselnd damit wendet man Peptonklistiere an
(300 ccm Wasser, 2" Teelöffel Somatose oder
Wittepepton oder Nährstoff Heyden, 2 Teelöffel
Cognac). In Notfällen kann man die Ernährung
durch intravenöse Infusion von einem Liter
10 prozentiger Traubenzuckerlösung verbessern;
der Schüttelfrost, welcher der Infusion zu folgen
pflegt, ist bedeutungslos.
3. Psychische Behandlung^). Wie die
Ernährung den Organzellen das Material
zu Aufbau und Arbeit zuführt, so fließen
ihnen aus den geheimnisvollen Tiefen der
Seele bewußt und unbewußt die Reize zu,,
welche die Kraft und den Rhythmus ihrer
Tätigkeit bedingen. Indem der Arzt auf
die Seelenstimmung des Kranken Einfluß
gewinnt, vermag er auch auf psychischem
Wege Heilung von Krankheiten zu be¬
schleunigen und ErtragenWon Leiden zu
erleichtern.
Dies geschieht einmal durch die see¬
lische Fühlung mit dem Kranken, aus
welcher dieser erkennt, daß der Arzt es
herzlich gut mit ihm meint, und welche
also eine Art psychischer Krankenpflege
darstellt. Denn namentlich in langen
Krankheiten ist das Wohlbefinden des
In diesem und einigen folgenden Ab¬
schnitten gebe ich Darlegungen aus meinem 1906
erschienenen ,,Lehrbuch der inneren Medizin“
Bd. I wieder.
Januar'
Die Therapie der^ Gegenwart 1920
31
Kranken hur zum Teil von den körper¬
lichen Umständen abhängig; eine große
Bedeutung haben auch seine Gedanken
und seine Empfindungen; er grübelt über
den möglichen Ausgang der Krankheit
nach und wird von Angst und Furcht be¬
wegt. Die Depression der Fühllage wirkt
schädlich zurück auf viele körperliche
Funktionen. Hier vermag der Zuspruch
des Arztes, sein Trost, unter Umständen
sein Scherzwort, manchmal auch seine
bloße Haltung zu wirken. Es ist nicht
nur eine Redensart, wenn die Kranken
oft'genug versichern, daß schon der An¬
blick des Arztes ihnen eine Besserung
brächte.
Neben diese Emanation der ärztlichen
Persönlichkeit tritt odie bewußte Sug-
gestivbehand’ung, das ist die Beein¬
flussung des Willens, der Vorstellungen
und Empfindungen des Kranken zwecks
Erzielung von Heilerfolgen. Nicht nur
die dem Willen unterstellten Tätigkeiten
der Organe lassen sich durch Befehl und
moralische Beeinflussung ordnen; auch
das automatische Arbeiten der Organe,
innere und äußere Drüsensekretion, Pe¬
ristaltik, Herztätigkeit und Gefäßtonus
ist wirksam durch seelische Einwirkungen
zu beeinflussen. Wie Schreck, Angst und
Sorge die Pulsfrequenz beschleunigen, so
wird dieselbe durch zuversichtliche Stim¬
mung zur Norm gebracht; die Erzeugung
der Vorstellung, daß gewisse Organe in
verstärktem Maße arbeiten, vermag wirk¬
lich die Leistungsfähigkeit derselben zu
beeinflussen. Auch kann durch die Ein¬
wirkung auf Wollen und Fühlen der
Kranken das Bewußtsein störender Organ¬
empfindungen, ja sogar das Gefühl von
Schmerzen derart vermindert werden,
daß die Patienten trotz bestehender ana¬
tomischer Veränderungen dieselben zu
vernachlässigen und zu ignorieren lernen.
Die psychische Behandlung erzielt
ihre größten Erfolge bei den funktionellen
Erkrankungen, welche ohne anatomische
Organveränderung auf einer Krankhaftig¬
keit oder Ermüdung der Nerven beruhen;,
sie darf aber auch bei organischen Er¬
krankungen nicht vernachlässigt werden,
weil sich einerseits zu diesen oft nervöse
Begleiterscheinungen hinzugesellen, an¬
dererseits auch wirklich organische Ver¬
änderungen der Psychotherapie in ge¬
wissem Grade zugänglich sind.
4. Anregung des Gesamtstoffwechsels*
Wie wir in der Psychotherapie ein Mittel
sehen, die Zellarbeit zu beeinflussen, so
suchen wir auch durch physikalische und
chemische Anwendungen auf sie zu wirken..
Es kommt darauf an, den Ernährungs¬
strom des Blutes und der Lymphe zu
den von der Krankheit angegriffenen
Zellgebieten zu lenken, zugleich für den'
unbehinderten Abfluß verbrauchten Zell-
materials zu sorgen. Solches geschieht,
durch die Methoden der Hydrotherapie
in Gestalt von Ganz- und Teilbädern,
Waschungen und Abreibungen, Packun¬
gen und Schwitzprozeduren, durch Heiß-
Iqftbehandlung, und künstliche Stau¬
ungen, sowie durch die Methoden der
Mechanotherapie, Massage, aktive und'
passive Gymnastik. All diese Heil¬
methoden wirken aber nicht nur durch
mechanische Erzeugung von Blutfülle
und Blutumlauf, sie rufen von den Haut¬
nerven aus reflektorische Wirkungen
hervor, in dem sie Gefäßzusammenzie¬
hung und -Erweiterung in tiefgelegenen
Organen erzeugen; wahrscheinlich ver¬
mögen sie auch auf die Zellarbeit stärkend
einzuwirken; das darf für die Niereh¬
tätigkeit als erwiesen gelten und ist für
andere Organe sehr plausibel.
Die hier genannten Methoden leisten
dem Arzt die besten Dienste in der Be¬
handlung sehr vieler innerer Krankheiten;
ihre Anwendung erfordert genaue Kennt¬
nis ihrer Wirkungen, wie sie nur durch
vielfältige Übung und Beobachtung ge¬
wonnen werden kann, ihre Technik wird
später besonders beschrieben.
Auch durch chemische Anwendungen
versucht man die Zellen im Kampf gegen
Krankheit zu kräftigen, indem man
Arzneisubstanzen zuführt, die erfahrungs¬
gemäß gleich Katalysatoren den Ablauf
der Umsetzungsprozesse beschleunigen.
In dieser Beziehung wirkt insbesondere-
Arsen, das sowohl während der Krank¬
heit als namentlich in der Rekonvaleszenz.
Anwendung ^^erdient.
Empfehlenswert sind tägliche subku¬
tane Injektionen von Natrium arseniqo-
sum subtilissime neutralisatum 0,1 : 10,0,
zu V 2 Spritze, oder das in sterilen Am¬
pullen vorrätige Solarson.
5. Überwachung der lebenswichtigen
Funktionen. Wie der Kranke gepflegt
und ernährt werden muß, um mit der
Krankheit fertig zu werden, so müssen
auch seine körperlichen Hauptfunktionen
vor Gefährdung und Erlöschen bewahrt
werden. In erster Linie bedarf das Herz
sorgfältiger Überwachung, besonders in
solchen Krankheiten, die es erfahrungs¬
gemäß bedrohen. Wird der Puls frequent
und klein, so sind die Herzstärkungsmittel
32
Die Therapie Gegenwart 1920
Janüai*
Alkohol und Kaffee, Campher und Coffein
zu reichen. Digitalis scheint nur zu
wirken, wenn es sich um hypertrophische
und dilatierte'Herzen handelt.
Wein und Kognak sind ausgezeichnete Mittel
zur Anregung des ermüdenden Herzens in Krank¬
heiten; auch wer im gewöhnlichen Leben für Ab¬
stinenz ist, sollte in der Krankenbehandlung auf
diese tonisierende Wirkung nicht verzichten. In
be^ug auf Menge und Sorte des Weins wird man
sich nach den Gewohnheiten des Kranken und
der Art der Krankheit richten. Auch starker
Kaffee leistet vorzügliche Dienste zur Excitation
des Herzens und erhöht bei vielen Kranken das
subjektive Wohlbefinden; wegen seiner oft
schlafscheuchenden Wirkung sollte er abends
Kranken nicht gegeben werden. Kampher und
Coffein sind unentbehrliche .Mittel zur Bekämpfung
drohender Herzschwäche; sie werden nach Bedarf
in wiederholten subcutanen Injektionen gegeben.
OL camphorati io,o.
Ds. Zur Injektion,
Sol. Coffein natr. salicylic. 2,0:10,0.
Ds. Zur Injektion.
Ferner sucht der Arzt die beschleunigte
und mühsame Atmung zu erleichtern.
Selbstverständlich ist bei bestehender
Dyspnoe eine genaue Erforschung der
Ursache und eine auf diese gerichtete Be¬
handlung unbedingt notwendig; aber un¬
abhängig davon hilft man durch kleine
Gaben narkotischer Mittel, eventuell
durch Einatmen von Sauerstoff, bei sehr
bedrohlicher Atemnot durch einen Aderlaß.
Die Einatmung von reinem Sauerstoff mittels
eines leihweis zu erhaltenden Inhalators aus einer
Stahlbombe gehört zu den Erleichterungsmitteln,
welche Dyspnoischen subjektiv wohftuen, oft auch
obj'ektiv nützen, indem ein erhöhter 0-Partialdruck
im Blute die Oxydationen vermehrt. Man läßt
die Einatmung in kurzen Pausen minutenlang
vornehmen. Der Aderlaß ist eine ultima ratio
bei schwerer Dyspnöe; er wirkt durch Entlastung
des kleinen Kreislaufs, doch ist die Wirkung
weder eklatant noch anhaltend, da die innere
Ursache ja nicht beeinflußt wird.
Auf der Grenze zwischen Kranken¬
pflege^ und ärztlicher Behandlung liegt
die Überwachung der Ausscheidungen,
insbesondere der Stuhl- und Urinent¬
leerung, für die in jeder Krankheit zu
sorgen ist. Ist der Stuhl angehalten, so
hilft man durch Wassereinlauf oder
leichte Abführmittel, bei Harnverhaltung
ist zu katheterisieren.
Für Stuhlgang sollte jeden Tag oder we¬
nigstens einen Tag um den anderen gesorgt wer¬
den, wenn nicht die Art der Krankheit (Bauch¬
fellentzündung und andere) es verbieten. Man
gibt dreiviertel Liter lauwarmes Wasser, eventuell
mit Seife oder Salz. Als Abführmittel kommt
Ricinusöl oder Karlsbader Salz oder Bitterwasser,
auch Sennainfus oder Rhabarber in Frage (ver¬
gleiche das Kapitel über Verstopfung). — Der
Stand der Harnblase ist zu kontrollieren; etwaige
Verhaltung sucht man mit warmen Leibumschlä¬
gen zu beseitigen, eventuell ist zwei bis drei Mal
täglich zu katheterisieren, unter vorsichtigster
Asepsis.
6. Beseitigung genesunghemmender
Symptome. Jede Krankheitsäußerung,
die den Kranken quält oder belästigt,
sollte durch Unterdrückung der Ursache
beseitigt werden. Aber die Ursache ist
oft langsam, manchmal gar nicht zu be¬
seitigen, der Patient aber heischt schnelle
Linderung seiner Beschwerden. Vor allem
aber kann das Zeichen einer Krankheit,
wie Schmerz oder Fieber oder Bluthusten
oder Erbrechen, ganz unabhängig'von der
Ursache den Kranken so angreifen, daß
es seine Kräfte verzehrt und also die
Heilung aufhält oder verhindert. So
wird die Beseitigung der einzelnen Sym¬
ptome zur Unterstützung der Heiltendenz
und verdient deshalb als Teil der All¬
gemeinbehandlung besprochen zu werden.
Man wäre berechtigt, die ganze sympto¬
matische Therapie an dieser Stelle ab¬
zuhandeln. Doch erscheint es aus äußeren
Gründen zweckmäßig, hier nur über Be¬
handlung von Schmerzen zu sprechen,
die Einzelsymptome aber der Organ¬
therapie zuzuweisen.
Schmetzstillung. Von Schmerzen be¬
freit zu werden ist eine der Hauptforde¬
rungen des Kranken, Schmerzen zu lin¬
dern wesentliche Pflicht und schönstes
Vorrecht des Arztes. Wenn es angeht,
wird man die Ursache des Schmerzes zu
ergründen und zu beseitigen suchen.
Aber einerseits ist die ursächliche The¬
rapie sehr oft unausführbar, andererseits
verlangt der Patient schnelle Linderung
seiner Schmerzen, während die Verfolgung
der Kausalindikation lange Zeit in An¬
spruch nimmt. Bei der Wahl der Behand¬
lung berücksichtigt man die Art, Inten¬
sität und Lokalisation der Schmerzen
und die Persönlichkeit des Kranken. Bei
erträglichen Schmerzen, die nicht den Ein¬
druck schweren Leidens hervorrufen, die
das Allgemeinbefinden, die Nahrungsauf¬
nahme, den Schlaf nicht wesentlich
stören, wird man mit lokaler Wärme¬
anwendung auszuko.mmen suchen, welche
durch Hyperämie die Nerven beruhigt,
auch wohl dem Entzündungsreiz entgegen¬
wirkt. Jedenfalls empfehlen sich warme
oder heiße Applikationen in Form von
feuchten Umschlägen, mit heißem Wasser
gefüllten Gefäßen, Sandsäcken, Thermo¬
phoren in den meisten Fällen örtlichen
Schmerzes. Bei der Auswahl der Form
und des Hitzegrads richtet man sich
nach den Gewohnheiten und Erfahrungen
des Patienten. Manchmal werden ganz
kalte oder Eisumschläge besser vertragen,
in anderen Fällen dreischichtige Um-
Januat
Die Therapie der Gegenwart 192(0
33
Schläge' aus nasser Leinwand, Gummi-
'papier, Wolle (Prießnitzkompressen, belei¬
hen sechs bis zehn Stunden liegen).
Auch warme Bäder können bei örtlichen
Schmerzen beruhigend wirken. Die Wir¬
kung der Wärme wird unterstützt durch
die innerliche Anwendung der Analgetika,
welche sicherlich die Empfindlichkeit des
Centralnervensystems für einige Zeit
herabsetzen; auch hier pflegt man sich
in der Auswahl zwischen Aspirin 0,5,
Antipyrin 1,0, Pyramiden 0,3, Atophan
0,5 u. a. oft von früheren Erfahrungen
der Patienten bestimmen zu lassen; die
Wirkung der einzelnen MitteL ist in¬
dividuell verschieden, sodaß bei der Er-
folglosigkejt des einen das andere sich
hilfreich erweisen kann; eventuell werden
hartnäckige Schmerzen durch Kom¬
bination kleinerer Gaben mehrerer Mittel
besänftigt. Sehr häufig werden diese
Mittel ohne ärztliche Verordnung an¬
gewendet, und es ist Sache des Arztes, auf
die Schädlichkeit allzuhäufigen Gebrauchs
hinzuweisen. Den eigentlichen Analgeticis
reiht sich Methylenblau^) an, welches
sich der Nervensubstanz direkt einlagert
und augenscheinlich die Schmerzempfin¬
dung abstumpft.
Schmerzen, die von entzündeter oder
wunder Schleimhaut herrühren, werden
durch Aufpinseln schwacher Cocain¬
lösung ^) oder Aufpulvern von Anäthe-
sin^) beruhigt; dem Mastdarme werden
diese Medikamente in Form von Suppo-
sitorien dargeboten.
Bei sehr heftigen, namentlich plötz¬
lich einsetzenden Schmerzen wirkt als
zauberhaftes Beruhigungsmittel die sub-
cutane Injektion von Morphium.
Man gibt 0,01 bis 0,02 g. Die innerliche An¬
wendung beruhigt langsamer und weniger sicher.
Die üble Nebenwirkung des Erbrechens wird
manchmal durch vergrößerte Dosis vermieden;
darauf beruht die gute Wirkung der angeblichen
Ersatzmittel, welche in Wirklichkeit erhöhten
Morphiumgehalt haben (z. B. Trivalin). Man kann
auch an Stelle des Morphiums dessen Derivate
Methylenblau medicinale o,i
D. in caps. gelat. Nr. 20
I Stück dreistündlich zu nehmen (macht öfters
Dysurie und muß dann mit Sem. Myristic. 0,1 zu¬
sammen gegeben werden).
Cocain mur. o,2lio,o
zum Pinseln.
Cocain mur. 0,03
Butyr. Cacao 2,5
F.' supp. D. tal. dos. X.
Anaesthesin 20
F. pulv. Ds. Äußerl.
Pulv. Anaesthesin 0,03
dos. X
Ds. Dreimal täglich i Pulver.
Heroin^) oder Dionin®) versuchen, oder das
Morphium mit Atropin ®) kombinieren. Schlie߬
lich stehen die künstlichen Mischungen der
Opiumalkaloide (Pantopon, Narcophin, Lau-
danon) zu Gebote.
Die Morphiumwirkung hält mehrere
Stunden an; unter sorgfältiger Indika¬
tionsstellung kann die Injektion wieder¬
holt werden. Bei häufiger Anwendung
tritt Gewöhnung ein und die Dosis muß
vergrößert werden. Darin ist bei chro¬
nischen Krankheiten die Gefahr des ver¬
derblichen Morphinismus gelegen. In
jedem Falle soll Mofphiuminjektion nur
vom Arzt oder auf besondere ärztliche
Anordnung gegeben werden.
7. Sorge für Schlaf. Der Schlaf stärkt
Kranke wie Gesunde; Schlaflosigkeit be¬
kämpfen heißt die Kräfte im Kampfe
gegen Krankheit vermehren. Der Eintritt
des Schlafes wird durch Fernhaltung
innerer wie äußerer Sinnesreize gegeben.
In Krankheiten heißt es also, alle schlaf¬
störenden Zeichen zur Nacht möglichst
zu beseitigen; Schmerzen und Dyspnöe
sind durch Morphium, Husten ist durch
Kodein, Fieber durch Antipyretica, die
Kopfschmerzen der Luetischen durch Jod,
Druckschmerzen der Herzkranken und Ar-
teriosklerotiker durch Diuretin zu mildern.
Wenn irgend möglich, soll mit der sym¬
ptomatischen auch die kausale Therapie
der schlafstörenden Krankheit einsetzen.
Besondere Erwägung fordert die
Schlaflosigkeit als Hauptzeichen krank¬
hafter Nervenbeschaffenheit. Dann be¬
weist die Schlaflosigkeit ein Mißverhältnis
zwischen Nervenkraft und Beanspruchung
des Nervensystems. Es gilt dann, der be¬
sonderen Art dieses Mißverhältnisses nach¬
zuforschen und festzustellen, welche be¬
sondere Ursache auf das Nervensystem
eingewirkt hat, ob es sich um quantitativ
gesteigerte Arbeit oder qualitativ be¬
sondere Traumen handelt, oder ob eine
Unterwertigkeit des Nervensystems be¬
steht, welche dasselbe normale Lasten
nicht ertragen läßt. Dementsprechend
muß der Arzt Erlebnisse und Lebensweise
schlafloser Patienten genau durchfor¬
schen, um die Ursache aufzudecken, die
beseitigt werden muß. Handelt es sich
um allzu große Beanspruchung, so ist die
Lebensweise zu ändern, indem man ver-
Sol. Heroin, mur. 0,05/10,0
Ds. — I Spritze zu injizieren.
®) Sol. Dionin. mur. 0,1/10,0
Ds. Zur subcutanen Injektion.
®) Morph, mur. 0,1
Atropin sulf. 0,01
Aq. dest. 10,0
Ds. Zur subcutanen Injektion.
5
34
I
I
Die Therapie der Gegenwart 1920
Januar
sucht, die Tätigkeit der Leistungsfähig¬
keit anzupassen und vor allem für aus¬
giebige Ruhezeit sorgt. Sind Gemüts¬
bewegungen die Ursache, die entweder
zeitlich abgeschlossen oder fortwirkend
nicht zu ändern sind, so kommt die
pädagogische ^ Therapie zur Geltung,
welche geeignetenfalls dem Patienten
höhere Lebensziele enthüllt und die ver¬
gleichsweise Nichtigkeit der niederziehen¬
den oder erregenden Eindrücke nach¬
weist. Neben die Psychotherapie, welche
die Beanspruchung des Nervensystems
vermindern will, tritt der Versuch, die
Kraft des Nervensystems zu steigern
durch wahlweise Anwendung physika¬
lischer und medikamentöser Behandlung,
wie sie im Kapitel der Nervenkrankheiten
näher beschrieben wird.
Die Wirkung der psychischen und
antineurasthenischen Therapie ist nur
langsam zu erwarten; oft wollen wir
dem Kranken schnell erquickenden Schlaf
verschaffen. Dann ist die Verordnung
eines sicher wirkenden Schlafmittels
manchmal unerläßlich. Wir haben die
Wahl zwischen 0,5 g Adalin, Veronal,
Medinal, Bromural, 0,3 g Luminal. Keines
dieser Mittel ist ganz frei von Neben¬
wirkungen, doch wirken sie meist nach
Wunsch. Alle haben die Eigenschaft,
bei öfterer Anwendung allmählich ihre
Wirkung zu verlieren, sodaß immer
größere Dosen notwendig werden. Man
tut deswegen gut, bei der Notwendigkeit
häufiger Verordnung mit dem Präparat
zu wechseln, oder auch Kombination
kleinerer Dosen von Schlafmitteln mit
Analgeticis und Narkoticis zu verordnen,
z. B. Veronal 0,3, Phenacetin 0,25, Kodein
Phosphor. 0,03.
Die hier beschriebenen Methoden sind
für die Behandlung kranker Menschen
unentbehrlich; je besser der Arzt mit
ihnen Bescheid weiß, desto sicherer wird
er die Wege der ärztlichen Praxis wan¬
deln. Aber wenn auch die Allgemein¬
behandlung oft genug Triumphe feiert,
so möge sich der Arzt doch stets bewußt
bleiben, daß ihre Anwendung oft nur
ein Bekenntnis unserer Resigna ion ist.
Wir machen uns die natürlichen Heil¬
kräfte des Organismus dienstbar, weil
unsere Kunst bessere Methoden anzu¬
wenden im Einzelfall nicht gestattet.
Die Allgemeinbehandlung ist ebenso ein
Teil der ärztlichen Kunst wie die kau¬
sale und die organotrope Behandlung,
aber wer seine Sache nur auf die All¬
gemeinbehandlung stellen wollte, der
würde doch vielfach die sichersten Waf¬
fen im Kampf gegen Krankheiten ent¬
behren. Wer gar wahllos nur die eine
oder andere Methode der Allgemeinbe¬
handlung zur Anwendung bringt, ohne
sich um die Diagnose der Krankheit zu
kümmern, der sinkt zur Stufe des Kur¬
pfuschers herab.
Am zweckmäßigsten erscheint der Rat,
die Behandlung jeder Krankheit mit den
Methoden der Allgemeinbehandlung zu
beginnen und dabei das Krankheitsbild
so genau zu erforschen, daß möglichst
bald die spezielle Diagnose gestellt werden
kann, welche oft die Möglichkeit einer
kausalen und organotropen Therapie ge¬
stattet. Freilich gibt es Krankheiten
genug, in denen trotz der Diagnose eine
erfolgreiche spezielle Therapie nicht mög¬
lich ist und das unerbittliche Gesetz der
Natur auch den gelehrtesten Arzt zwingt,
sich mit den Methoden der Allgemein¬
behandlung zu begnügen. -
Zusammenfassende Übersicht.
Aus dem Knappscliaftskraukeuliaiis zu Emanuelsegen.
Über einige praktisch wichtige Kapitel der chirurgischen
Tuberkulose’).
. Von Dr. H. Harttung, leitender Arzt,
Der kalte Absceß kommt äußerst-
selten ohne jede Erkrankung eines
Knochens, einer Drüse oder eines son¬
stigen Organs zur Beobachtung. Der
kalte Absceß ist meist der Ausdruck für
die Erkrankung eines tiefergelegenen Ge¬
webes, wobei es gar nicht notwendig ist.
Aus einem Vortrage, gehalten im Ärzte¬
verein des Kr. Pleß (O./S.).
daß der Absceß sich direkt über der er¬
krankten Partie entwickelt. Ich erinnere
Sie an die Senkungsabscesse, die viel¬
fach unter einer Fascie oder Muskel-
aponeurose an Orten zum Vorscheine
kommen, welche weit entfernt von dem
primären Herde gelegen sind. Spaltet
man einen solchen Absceß, so findet man
in ihm einen dünnen, bröckligen Eiter oder
Januar
35
Die Therapie der Gegenwart 1920
'aber ein .Konglomerat schwammiger, von
käsigen Massen durchsetzten Granula¬
tionen. Mikroskopisch enthält dieser
Eiter sehr wenig Eiterkörper, wohl aber
massenhaft kernige und fettige Zerfalls¬
produkte, die eben dem Verkäsungsprozeß
zuzuschreiben sind. Die Absceßwand
besteht aus einem tuberkulösen Granu¬
lationsgewebe, das sich oft sehr gut gegen
die Umgebung abgekap^elb hat. ,
Klinisch präsentiert sich ein solcher
Absceß in Gestalt eines Tumors, welcher
deutlich in der größten Mehrzahl der Fälle
Fluktuation aufweist. Alle Zeichen der
akuten Entzündung fehlen, solange hicht
eine Mischinfektion hinzugetreten ist.
Es fehlt vor allen Dingen die Schmerz¬
haftigkeit, das hervorstechendste Sym¬
ptom für die heißen Abscesse. Finden sich
andere tuberkulöse Erkrankungen, läßt
sich vor allen Dingen eine Knochener¬
krankung, eine Gelenkaffektion, eine
Drüsentuberkulose nachweisen, dann wird
die Diagnose auf keine Schwierigkeiten
stoßen; Befinden sich derartige Abscesse
auf dem Schädeldache, so muß an ein
Gumma gedacht werden. Allgemein
kann man hierzu bemerken, daß es sich
in solchen Fällen bei Kindern meist um
Tuberkulose, bei Erwachsenen meist um
Gumma handelt. Differentialdiagnostisch
ist weiterhin eine Neubildung in Frage
zu ziehen, wenn die Spannung in dem
Absceß einen derartigen Umfang ange¬
nommen hat, daß Fluktuation nicht mehr
nachweisbar ist, daß der Absceß als ein
kompakter Tumor imponiert. Solche
Fälle sind für die Therapie außerordent¬
lich günstig, die radikale Entfernung
gelingt meist ohne Schwierigkeit und
führt sehr schnell zur vollkommenen
Heilung. In der großen Mehrzahl der
Fälle, namentlich für die Brustwand
liegen die Verhältnisse jedoch nicht so
günstig. Ist bereits eine Mischinfektion
eingetreten, dann muß man sich mit der
Spaltung des Abscesses, der Auskratzung
der Granulationsgewebe, Tamponade der
Wundhöhle begnügen, die dann per secun-
dam zur Heilung kommt. Hierfür ein
Beispiel:
58jähriger Patient. Aufgenommen; 22. Juli
1919, entlassen; 30. Juli 1919.
Diagnose: Abscessus frigidus humeri.
Bemerkt seit zwei Wochen einen Tumor auf
der Innenseite des rechten Oberarms. Befund:
Mittelkräftiger Mann. Innere Organe: Ohne
nachweisbaren Befund. Hühnereigroßer Tumor
auf der Innenseite des rechten Oberarms dicht
über dem Cubitalgelenke. Haut stark gerötet.
Keine besondere Schmerzhaftigkeit. Keine Drüsen
in der Achselhöhle. Diagnose: Abscessus frigidus.
25. Juli: Plexusanästhesie. Spaltung, bröck¬
liger Eiter, starke Absceßntembran. Auskratzung
der Granulationen, Tamponade.
30. Juli: In ambulante Behandlung entlassen.
Wunde hat sich später vollkommen geschlossen.
Hier kommt als primäre .Ursacfie
des kalten Abscesses nux die Cubital-
drüse in Frage, welche wohl sicher auf
dem Blutwege von irgendeinem Lungen¬
herd infiziert worden ist.
Wenn ich so kurz die radikalen
Methoden der Behandlung besprochen
habe, so muß ich betonen, daß in vielen
Fällen dieses Vorgehen nicht angängig
ist, sondern hierselbst konservative Me¬
thoden angewendet werden müssen. Das
ist in erster Linie bei multiplem Auf- ^
treten der kalten Abscesse, namentlich
an der Brustwand der Fall, weiterhin
kommt das schonende Vorgehen für
solche Patienten in Frage, welche durch
ein anderes, besonders Lungenleiden, ge¬
schwächt sind.
• Ohne zunächst auf die primären Ur¬
sachen eingehen zu wollen, möchte ich .
schon hier bemerken, daß die kalten
Abscesse der Brustwand vielfach der
Ausdruck für eine tuberkulöse Pleura¬
infektion sind. Aber auch dann erreicht
man durch Punktion des Abscesses, die
am besten mit einem mittelstarken Troi-
kart vorgenommen wird, mit nachfolgen¬
der Injektion von 10% Jodoformglycerin
oft Heilung. Es ist aber wichtig, die Menge
des Jodoformglycerins zu dosieren, bei
Kindern nicht über 10 ccm hinauszu¬
gehen, bei Erwachsenen nicht über 30 ccm,
sind doch Fälle von Jodoformintoxication
beobachtet worden. Die Punktion muß
zunächst nach 14 Tagen wiederholt wer¬
den, wobei sich dann ein mehr dünn¬
flüssiger, schokoladenähnlicher Eiter,
untermischt mit Jodoformteilchen, ent¬
leert.
Es ist kein Zweifel, daß bei einer der¬
artigen Behandlung auch eine Wirkung
auf den primären Herd beobachtet wird,
sei es, daß sich Jodoformglycerin durch
den Fistelgang bis zum Hzrd ergießt, sei
es, daß die mächtige Leukocytose, an¬
geregt durch das Jodoformglycerin, einen
Einfluß auf den Knochenherd hat. Auch
hierfür ein Beispiel:
Sehr elende Patientin. Deutliche Zeichen einer
Pleuritis. Unter dem Schulterblattwinkel rechts
faustgroßer, kalter Absceß. Zweimal Punktion
mit folgender Injektion von je 20 ccm Jodoform¬
glycerin in Abständen von drei Wochen.
Absceß kommt zur Ausheilung; nach zehn
Wochen nur noch ein Infiltrat zu fühlen, inzwi¬
schen war von anderer Seite ein pleuritisches
Exsudat abgelassen worden.
5*
36
Die Therapie der • öegenv^rart 1920
Januar
Die Patientin hat sich nach allgemeiner Be¬
handlung und - Pflege sehr gut erholt.
Auch dieser Fall stützt die schon
oben ausgesprochene Ansicht, daß' die
kalten Brustwandabscesse nicht immer
von einem Rippenherd ihren Ausgang
nehmen, sondern vielfach von tuberku¬
lösen Pleuritiden.
Die tuberkulösen Erkrankungen des
Skeletts können lokale Prozesse sein,
die aber meist als Metastase aufzufassen
sind.' Lieblingssitz sind die spongiösen
Teile des Skeletts und diejenigen mit
reichlicher Spongiosa: Wirbelkörper, Epi¬
physen der Röhrenknochen, die kurzen
Knochen der Hand- und Fußwurzel;
Beckenknochen, Schädelknochen. Das
Trauma spielt zweifellos für die Ent¬
stehung der Knochentuberkulose eine
Rolle. Einmal kann es günstige Bedin¬
gungen im Sinn eines Locus minoris
resistentiae für die Ansiedlung der Tuber¬
kelbacillen schaffen, zum anderen aber
kann ein latenter Herd durch das Trauma
zur Entwicklung gebracht werden. Es
ist dem Pathologen ganz gebräuchlich,
daß sie bei der Sektion von Lungentuber¬
kulosen häufig chronische Miliartuber¬
kulosen des Knochenmarks finden,
Herde, die im Leben nie eine Erscheinung
gemacht haben.
Die tuberkulöse Osteomyelitis ist eine
rein destruktive Erkrankung, die Telea
ossea wird zerstört und Knochenneubil¬
dung fe}ilt im Gegensatz zur syphilitischen
Ostitis ganz, da auch das Periost, sei es
primär, sei es sekundär, an dem tuber¬
kulösen Prozeß beteiligt ist. An den
Epiphysen der Röhrenknochen find'en
wir häufig keilförmige Herde, die mit
der Basis hach dem Gelenkinnern, mit
der Spitze nach der Diaphyse zu reichen.
Dieser Ausschreitungsprozeß entspricht
mit Sicherheit einer kleinen Arterie,
und so fst die Annahme berechtigt,
daß es sich hier um einen embolischen
Prozeß handelt, das heißt daß käsiges
Material als Embolus das Gefäß verlegt
hat. Gerade dieser Prozeß spielt auch für
die Entstehung der Gelenktuberkulose
eine bedeutende Rolle, auf die ich heute
nicht eingehen kann. Weiterhin kommt
eine tuberkulöse Arteriitis in Frage, die
zu allmählichem Verschlüsse des Gefäßes
und somit zu einem Infarkt geführt hat.
Die Knochentuberkulose ist stets eine
hämatogene Infektion. Der primäre
Herd sitzt mit Vorliebe in einer Drüse,
denn gerade die tuberkulösen Lymph-
drüsen haben eine besondere Neigung,
mit den Blutgefäßen zu verwachsen und
in diese ein'zubrechen. Dor jugendliche
Knochen ist sehr reich an Gefäßen, und
so erklärt sich vielleicht die Tatsache,
daß namentlich jüngere Individuen von
der Knochentuberkulose befallen werden.
Bis zum Abschlüsse des Knochenwachs¬
tums, nach welchem sich reichlich Colla-
teralen ausbilden, sind die Äste der Arteria
nutritia als Endarterien aufzufassen. Eine
primäre Knochentuberkulose gehört wohl
zu den größten Seltenheiten. Das Trauma
spielt bei der Tuberkulose der Knochen
keine so große Rolle als bei der Osteo¬
myelitis, vielfach wird ein latenter Herd
erst durch das Trauma zur Entwicklung
gebracht.
Für die Entstehung einer Tuberkulose
des Knochens kommen drei Wege in
Frage. Einmal können die Tuberkel¬
bacillen in den Gefäßen der Knochen
haften bleiben, zweitens kann ein tuber¬
kulöser Embolus einen Gefäßbezirk ver¬
legen und drittens kann ein tuberkulöser
Herd der Nachbarschaft auf die Knochen
übergreifen. Auf Grund dieser Ent¬
stehungsarten unterscheiden wir drei
Haupttypen:
1. den tuberkulösen Granulationsherd,.
2. den embolischen tuberkulösen Se¬
quester,
3. die infiltrierende, progressive Tu¬
berkulose.
An denjenigen Knochen, welche nur
eine sehr geringe Weichteilbedeckung
haben, also der Clavikel, der Ulna, der
Tibia sind auch tuberkulöse Periostiden
beobachtet worden. Und so muß auch
die Möglichkeit zugegeben werden, daß
auch von solchen Herden aus der Knochen
infiziert werden kann. Die Knochen¬
tuberkulose befällt mit Vorliebe die Epi-'
physen der langen Röhrenknochen, wie
die kurzen und die platten Knochen. Es
dürfte zu weit führen, wenn ich auf die
Klinik der Knochentuberkulose einginge,
ich tue das bei Besprechung einzelner
Formen und komme damit zunächst auf
ein Gebiet der Knochentuberkulose zu
sprechen, das ja praktisch eine hervor¬
ragende Bedeutung hat:
Die Caries der Rippen. Wenn
früher allgemein der Anschauung ge¬
huldigt worden ist, daß die kalten Ab-
scesse der Brustwand stets ihre primäre
Ursache in einer Rippencaries haben,
so besteht diese Ansicht auf Grund
neuerer Untersuchungen, wie namentlich
praktischer Beobacht^ung nicht mehr zu
Recht.
357
s/
Januar 4Dle Therapie,.der
Zweifellos ist ein cariöser Herd in der
Rippe in vielen Fällen die eigentliche
Ursache für den kalten Absceß, gleich¬
gültig, ob es sich um eine primäre oder
sekundäre Infektion des Knochens ge¬
handelt hat.
Der tuberkulöse Prozeß greift von
den Knochen auf die Weichteile über
und nun entleert sich der Eiter unter
die Weichteile, um nach Durchbrechung
der Fascie unter die Haut zu treten und
hier den kalten Absceß zu etablieren.
Bleibt der Prozeß sich selbst überlassen,
dann bricht der Eiter nach außen durch,
und auf diese Weise kommt es zur Fistel,
welche oft erstaunlich gewundene Gänge
aufweist. Viel seltener ist der Vorgang
der, daß der Eiter sich vom Knochenherde
nach innen in die Fascia endothoracica
und^den Brustkorb ausbreitet. Ich bin
in der Lage, Ihnen an ^ einem Beispiel
zu zeigen, daß sich von einem cariösen
Herd der Rippe aus der Prozeß sowohl
nach innen wie nach außen entwickeln
kann:
J. R., 18 Jahre. Aufgenommen 7. Juli 1919,
entlassen 16. August 1919.
Familienanamnese ohne Befund. Bemerkt seit
einem Jahre eine Anschwellung unter dem rechten
Schulterblatte. Schmerzen, Aufbruch, reichliche
Eiterentleerung. Vorher auch öfters stechende
Schmerzen beim Atmen. Nach Entleerung des
Eiters Aufhören der Schmerzen, eine Fistel bleibt
bestehen.
Befund: Blasser Jüngling. Herz ohne Befund.
Lungen: Rechts leises Atmen, Zeichen einer Pleura¬
schwarte. In der hinteren rechten Axillarlinie
über der elften Rippe eine kaum pfennigstück¬
große Fistel, die nach oben zu führt und die
Sonde auf rauhen Knochen gelangen läßt.
Urin: Eiweiß —, Zucker —.
Diagnose: Rippencaries mit Fistelbildung.
Operation: 12. Juli in Lokalanästhesie. Ver¬
folgung des sehr gewundenen Fistelgangs, d^r
zunächst in eine wallnußgroße Höhle über der
zehnten Rippe führt. Resektion der cariösen
Rippe. Entleerung von dünnflüssigem Eiter, der
nun unter der zum Teil cariösen neunten Rippe
hervorquillt. Resektion derselben. Nunmehr
liegt eine gut wallnußgroße Höhle vor, die von
zartem Gewebe umkleidet wird (Fascia endo-
’thoracica mit Pleura). Vorsichtige Auskratzung,
sorgfältige Blutstillung nach Entfernung allen
tuberkulösen Gewebes. Teilweiser Nahtver¬
schluß. Drainage.
Verlauf: Gut. Nachbehandlung mit Höhen¬
sonne und Jodkali und Eisen.
Am 16. August mit frisch granulierender Wunde
in sehr gebessertem Allgemeinzustand entlassen.
Die Krankengeschichte zeigt zur Ge¬
nüge einmal die Entwicklung der Fistel,
zum anderen die Ausbreitung eines tuber¬
kulösen Abscesses nach der Fascia endo¬
thoracica zu.
Neuerdings ist von Iselin auf Grund
eines großen Materials von Brustwand-
Qegßriwaft -1920
tuberkulöse an der chirurgischen Klinik
zu Basel nachgewiesen worden, daß in
der Tat tuberkulöse Brustwandabscesse
und Fisteln nicht immer von Knochen¬
herden auszugehen brauchen. Hierfür
spricht einmal die Tatsache, daß die
tuberkulösen Brustwandabscesse bei-kon¬
servativer Behandlung vielfach zur Aus¬
heilung komm.en, vor allen Dingen die
Erfolge der Röntgentherapie, daß den
Abscessen nicht immer Rippentuber¬
kulose mit Sequesterbildung zugrunde
liegt. Denn es liegt auf der Hand, daß
eine Fistel nicht zur Heilung kommen
kann, solange die eigentliche Ursache,
der Sequester nicht beseitigt ist. Iselin
hat weiter nachgewiesen, daß das Rönt¬
genbild in der größten Mehrzahl der Fälle
eine tuberkulöse Knochenerkrankung ver¬
missen läßt oder aber den Charakter der
sekundären Rippentuberkulose zeigt.
Weiterhin ist als Beweis für die oben aus¬
gesprochene Ansicht der Umstand anzu¬
führen, daß die Brustwandabscesse sich
häufig im Anschluß an eine Pleuritis oder
Lungentuberkulose entwickeln. Hier kann
der tuberkulöse Prozeß sich direkt auf
die Weichteile zwischen die Rippen fort¬
setzen und so zu einem Brustwandabsceß
führen. Fernerhin ist der Beweis er¬
bracht, daß im Anschluß an Punktion
von pleuritischen Ergüssen sich Brust¬
wandabscesse gebildet haben, die ihre
Ursache dann in der direkten Infektion
durch die Punktionsnadel haben. Alle
diese Erwägungen dürften Sie über¬
zeugen, daß in der Tat die kalten Ab-
scesse der Brustwand nicht immer von
den Rippenknochen ihren Ausgang neh¬
men, sondern daß auch Pleuritiden und
Lungentuberkulose in der Ätiologie der
genannten Abscesse eine hervorragende
Rolle spielen.
ln manchen Fällen ist die Ursache
der Brustwandabscesse oft nicht nachzu¬
weisen; ich erlaube mir. Ihnen dies an
folgendem Beispiel zu zeigen:
K. B., 45 Jahre. Aufgenommen: 9. April 1919,
entlassen: 19. Mai 1919 geheilt.
Anamnese: ohne Befund. Seit Anfang März
bemerkt Patiertt in der Gegend der linken unter¬
sten Rippen eine Geschwulst, die sehr schnell
gewachsen ist, ihm aber gar keine Beschwerden
machte.
Befund: Mittelkräftiger Mann. Innere Organe
ohne Befund.
Urin: Eiweiß —, Zucker —.
In der Gegend der elften und zwölften linken
Rippe zwischen hinterer und vorderer Schulter¬
blattlinie findet sich ein faustgroßer Tumor von
derber Resistenz, der keine deutliche Fluktuation
erkennen läßt. Sitzt mit breiter Unterlage den
Rippen auf. Keine Drüsen in der Achselhöhle.
38
Die Therapie der Qegenwdrt 1920
Januar
Röntgenbild: Man hat den Eindruck, als
ob ein Teil der zwölften Rippe in dem Tumor
aufgegangen ist.
Diagnose: Sarkom der Rippen oder kalter
Absceß.
16. April: Operation in Narkose: Es han¬
delt sich um einen typischen kalten Absceß, dessen
Eiter unter mächtiger Spannung steht. Keine
Veränderung an den Rippen. Seine Wand wird
zum Teil exstirpiert, zum Teil ausgekratzt, die
Wunde größtenteils geschlossen.
Verlauf: 19. Mai mit glatt geheilter Wunde
arbeitsfähig entlassen.
Dieser Fall ist insofern wichtig, als
hier die Diagnose Schwierigkeiten be¬
reitete und mit.Sicherheit vor der Ope¬
ration nicht gestellt werden konnte.
Handelt es sich urh einen prall ge- ^
füllten Absceß, bei welchem Fluktuation
nicht mehr nachzuweisen ist, dann kommt
differentialdiagnostisch ein kompakter
Tumor, und zwar in erster Linie ein Sar¬
kom in Frage.
In vorliegendem Falle wurde an ein
solches gedacht, und zwar vom Periost
der Rippe ausgehend.
Die Operation wie die folgende mikro¬
skopische Untersuchung ließ an der Dia¬
gnose ,,Tuberkulose'‘ keinen Zweifel, und
ebenso ist es ohne Zweifel, daß hier ein
kalter Absceß entstanden war, ohne daß
die genaueste Untersuchung nach allen
Richtungen hin einen primären Herd
aufdecken konnte; ein Fistelgang wurde
nicht gefunden, die Rippe war voll¬
kommen intakt und die Heilung erfolgte
in kurzer Zeit.
Was die Diagnose anbelangt, so habe
ich schon erwähnt, daß in manchen Fällen
ein Tumor in Frage gezogen werden muß,
in der größten Anzahl der Fälle wird
aber die Diagnose der kalten Abscesse
wieder Fisteln an der Brustwand nicht auf
Schwierigkeiten stoßen, wenn namentlich
ein primärer Herd, sei es am Knochen,
sei es in der Lunge oder den Pleuren nach¬
zuweisen ist. Differentialdiagnostisch
käme weiterhin ein Gumma in Frage,
aber auch hier wird die genaue Anamnese
nach einer luetischen Infektion, wie
namentlich die Wassermannsche Reaktion,
die Diagnose klären.
Auf die Behandlung des kalten Ab-
scesses bin ich schon im ersten Teil
meiner Besprechung eingegangen. Hier
betone ich nur, daß die tuberkulöse
Fistel, ausgehend von einem Knochen¬
herd, Aufgabe der chirurgischen Therapie
ist. Handelt es sich um primäre Tuber¬
kulose des Knochens, so ist die erkrankte
Rippe zu resezieren. Liegen dem kalten
Absceß Lungenleiden oder Erkrankungen
der Pleura zugrunde, dann sind diese
zu behandeln, der Absceß wird nach
dem angegebenen Verfahren punktiert.
Die Iridikationsstellüng zur Operation
der Rippencaries ist weiterhin von dem
Allgemeinzustande des Patienten abhän¬
gig. Wenn man es mit bereits geschwäch¬
ten Individuen zu tun hat, so muß auch
hier die Rippencaries konservativ be¬
handelt werden, insbesondere ist die
Aufmerksamkeit auf die Hebung ^es All¬
gemeinzustandes zu lenken.
Ich wende mich nunmehr" zu der
Tuberkulose des Schlüsselbeins.
Hier wird am häufigsten die Tuber¬
kulose des Sternoclaviculargelenks beob¬
achtet, viel seltener ist die Caries der
Diaphyse des Schlüsselbeins. Ich bin
in der Lage, Ihnen eine Tuberkulose des
acromialen Teils der Clavicel zu demon¬
strieren.
Die Weichteile über der Clavicel sind
äußerst dünn, und so kommt es hier
sehr selten zu einem kalten Absceß, da
sehr bald von dem Knochen aus die
Perforation nach außen erfolgt.
Differentialdiagnostisch kommen hief
in erster Linie Gumma und maligne Neu¬
bildung -in Frage, unter welchen das
Sarkom die Hauptrolle spielt.
Die Syphilis, sowohl die hereditäre
wie auch die aquirierte, lokalisiert sich
mit Vorliebe in Gestalt von gummösen
Auftreibungen am Sternalende, den so¬
genannten „Trophi“, die dann im weiteren
Verlauf zur Erweichung und Fisteleite¬
rung führen.
So kann die Diagnose auf Schwierig¬
keiten stoßen, aber mit Hilfe der mikro¬
skopischen Untersuchung von Gewebs-
massen, der Wassermannschen Reaktion,
einer genauen Anamnese, wird man auch
hier zum Ziele kommen.
Bei der fistulösen Tuberkulose der
Clavikel kommen in erster Linie opera¬
tive Eingriffe in Frage, also Auskratzun¬
gen und totale und partielle Resektionen.
Die Erfolge sind, namentlich auch nach
der funktionellen Seite hin, gute, wenn
nicht als Grundleiden eine schwere Lun¬
generkrankung vorhanden ist. Die Kran¬
kengeschichte unseres Falles ist kurz
folgende:
22 Jahre alt. Auf genommen: 10. Juli 1919.
Diagnose: Caries des Schlüsselbeins (acro-
mialer Anteil). Seit März dieses Jahres Schmerzen
über dem linken Schlüsselbein, Entwicklung einer
„Beule, die von allein aufging“. Seit dieser Zeit
keine Schmerzen mehr; ein Unfall hat nicht Vor¬
gelegen.
39
-Januar Die Therapie der Gegenwart 1*920,
Befund: Sehr kräftiger Jüngling; Herz ohne Die Diagnose war somit gesichert. Am 16. Juli
Befund, an der Lunge kein Befund. ^eration in Äthernarkose, Auskratzung der
Urin: Eiweiß —, Zucker —. Granulationen, Resektion des Schlüsselbeins bis
Über dem akromialen Teil des Schlüsselbeins zur Mitte unter Erhaltung von dem vorhandenen
handtellergroßer Hautdefekt, Grund schmierig Periost.’
belegt, die Haut 3 bis 4 cm unterminiert. Nachbehandlung mit Höhensonne^ Die große
Sonde gelangt auf rauhen Knochen. Röntgen- Wundhöhle hat sich mächtig verkleinert. Zur¬
bild zeigt Defekt am akromialen Teil des Schlüs- zeit besteht nur noch ein zweimarkstückgroßer
selbeins, Verschmälerung desselben bis zur Mitte, Defekt, der gute Heilungstendenz zeigt.
Aufhellung der Knochen, fast keine Knochen- Funktion des Schultergelenks normal,
neubildung. (Schluß im nächsten Heft.)
Bücherbesprechungen.
Prof. Friedrich Kraus und Prof.Th.Brugsch.
Spezielle Pathologie und Therapie
in ir Bänden, Berlin-Wien, Urban
& Schwarzenberg.
Die Ausführung des großen Unter¬
nehmens, das Gesamtbild der heutigen
innern Medizin in wissenschaftlich kriti¬
schen und praktisch erschöpfenden Dar¬
stellungen ^ darzubieten, ist durch den
Krieg verzögert, aber nicht unterbrochen
worden. Es liegen jetzt drei Bände, die
Konstitutions- und Infektionskrankheiten
enthaltend, ganz abgeschlossen vor. Von
den übrigen Bänden sind zahlreiche Liefe¬
rungen erschienen, so die Beschreibung
der Magenkrankheiten, der Cholelithiasis,
der hauptsächlichsten Blutkrankheiten.
Jetzt stellen die Herausgeber ein schnelles
Weitererscheinen in Aussicht, sodaß das
Gesamtwerk in etwa zwei Jahren voll¬
ständig sein wird. Nachdem wir vor
sechs Jahren (Oktober 1913) das Werk
zum Gegenstand einer empfehlenden Be¬
sprechung gemacht haben, möchten wir
heute noch einmal unsere Leser auf die
hohe Bedeutung desselben hinweisen. Die
neu erschienenen Beiträge zeigen, daß die
Intentionen der Herausgeber, ein wissen¬
schaftlich vollständiges, praktisch nütz¬
liches und dabei gut lesbares Werk zu
schaffen, von den meisten Mitarbeitern er¬
füllt worden sind. In allen Darstellungen
ist überdies die Therapie zu ihrem vollen
Recht gekommen. Wir möchten die Kraus-
Brugsch’sche Pathologie und Therapie
den Kollegen aufs wärmste empfehlen. Das
Werk wird an seinem Teil dazu beitragen,
das Ansehen der deutschen Medizin bei
alten Anhängern von neuem zu befestigen
und auch bei übelwollenden Gegnern zu
Ehren zu bringen. G. K.
Prof. Martin Jacoby. Einführung in
die experimentelle Medizin. Zweite,
neubearbeitete Auflage. Berlin, Springer
1919.
Das ausgezeichnete Werk, dessen Be¬
deutung bei seinem ersten Erscheinen
(Januar 1911) in dieser Zeitschrift ge¬
würdigt worden ist, liegt jetzt in zweiter
Auflage vor, deren Erscheinen durch den
Krieg verzögert worden ist Das Pro¬
gramm des Buches ist das alte geblieben:
aus den therapeutischen Experimenten
am Tier soll der Arzt lernen, was in der
Therapie naturwissenschaftlich feststeht
Dadurch wird er befähigt zu unterscheiden,
ob eine neu empfohlene Heilmethode sach¬
lich fundiert ist oder ob ein dilettanti¬
scher Irrweg eingeschlagen wurde, dessen
Beschreiten für den ärztlichen Stand eben¬
so schädlich ist wie für den erkrankten
Menschen. Der größere Teil des Werkes
ist der antiparasitären, Immuno-, Serum-
und Chemotherapie gewidmet; der übrige
Inhalt umfaßt Neoplasmen, Entzündung,
Blutkrankheiten, Diabetes, Gicht, Fieber,
Magendarmfunktionen. Das wissenschaft¬
liche Material ist bis auf die jüngste Zeit
verwertet; die wesentliche Bedeutung der
Qualität der Ernährung, über die der Ver¬
fasser jüngst in dieser Zeitschrift referiert
hat, ist ebenso eingehend dargestellt wie
die letzten Untersuchungen Morgenroths
über die bactericide Wirkung der Chinin¬
derivate. Alles was ich vor neun Jahren
zum Lobe und zur Empfehlung dieses
Buches gesagt habe, das der deutschen
Literatur zur Zierde gereicht, möchte ich
heute verstärkt wiederholen. So inLalt-
reich es ist, so fesselnd ist es geschrieben,
und es wird sicherlich jedem Leser nütz¬
lich sein, indem es dazu beiträgt, ihn
zum „kritischen Optimismus“ zu erziehen.
G. Klemperer.
Scholz-Gregor. Anomale Kinder.
Zweite neubearbeitete Auflage. Berlin
1919. S, Karger. Preis gebund. 16,50M.,
brosch. 14,00 M.
Das bei seinem ersten Erscheinen
glänzend rezensierte Buch vermeidet in
glücklichster Form die ,,Klippen zwischen
Überwissenschaftlichkeit und Trivialität“.
Es will sich an die Gebildeten aller
Stände wenden, die an der Jugendfür¬
sorge interessiert sind und ist wohl wirk¬
lich ein vorzüglicher Leitfaden für jeden,
40
Die Therapie der Gegenwart 1920
Jarna^är
der'Ausnahmezustände des Kindesalters
mit Verständnis erfassen will. Was das
Buch aber gerade dem Arzte wertvoll
macht ist: er findet darin im Gegen¬
sätze zu den meisten seiner wissenschaft¬
lichen Werke einmal in flüssiger, nie
ermüdender Sprache alles auch für seine
gesteigerten Ansprüche Wissenswerte be¬
schrieben. '
In zweiter von Gregor umgearbeiteter
Auflage ist manche Länge gekürzt und
das Buch wieder auf gleichen Schritt
gebracht mit der rasch vorwärtsschreiten¬
den Tugen dfürsorgebewegung.
, J. V. Roznowski,
Prof. Dr. J. Cohn-Berlin, Urologisches
Praktikum, mit besonderer Berück¬
sichtigung der instrumentellen Technik,
für Ärzte und Studierende. Mit 79
zum Teil farbigen Abbildungen im
Text und auf drei Tafeln/. 8®. X'u.
391 S. ' Berlin-Wien 1919, Urban &
Schwarzenberg. Preis 16 M.
Das für den allgemeinen Praktiker
bestimmte, aus zahlreichen Demonstra-
tions- und Übungskursen hervorgegan¬
gene Buch des geschätzten Berliner Uro¬
logen ist als eine willkommene Ergänzung
des im gleichen Verlage erschienenen der¬
matologischen Werkes von J. Schaeffer
warm zu begrüßen und dürfte voraus¬
sichtlich einem ähnlichen Erfolge ent¬
gegensehen. In mustergültig klarer, durch
vorzügliche Abbildungen illustrierte
Weise behandelt Verfasser das Gesamt¬
gebiet der Urologie, Diagnostik, Sym¬
ptomatologie und Therapie der Harn¬
krankheiten, wobei er insbesondere auf
die genaueste Darlegung der Ein¬
zelheiten der instrumentellen Tech¬
nik den größten Wert legt und so das
gerade auf diesem diffizilen Gebiete be¬
sonders bedeutungsvolle ,,Nil nocere'^
überall gebührend hervortreten läßt.
Einen weiteren Vorzug des Buches bil¬
det die überaus sorgfältig behandelte
subtile Differentialdiagnostik, die
auf der langjährigen Erfahrung und viel¬
seitigen Beobachtungskunst des Verfassers
beruht und so z. B. Abschnitte wie die
über den Harndrang und über die Harn¬
verhaltung nach allen Seiten hin durch¬
leuchtet. In den Kapiteln über funk¬
tionelle Nierendiagnostik und • Röntgen¬
untersuchung sind die neuesten wissen¬
schaftlichen Fortschritte berücksichtigt
worden (Kryoskopie, Indigo- Karmin¬
probe, experimentelle Polyurie, 'Pyelo¬
graphie). So kann das Buch ohne
Uebertreibung als eine ganz vortreffliche
Einführung in die Urologie allen Ärzten
und Studierenden bestens empfohlen
werden. Iwan Bloch.
Halban und Köhler, die pathologische
Anatomie des Puerperalpro¬
zesses und ihre Beziehungen
zur Klinik und Therapie. Leipzig,
Wilhelm Braumüller. 205 Seiten mit
73 farbigen Textabbildungen.
An der Hand sehr instruktiver Zeich¬
nungen werden die Verbreitungswege der
Puerperalinfektion gezeigt. Hieran
schließt sich die Beschreibung der pa¬
thologischen Veränderungen der Organe,
worauf die chirurgische Indikations-
stellüng folgt. Das Resultat, welches
durch die chirurgische Behandlung er¬
zielt wurde, wird als wenig zufrieden¬
stellend hingestellt. Es wird in dieser
äußerst fleißigen Arbeit gezeigt, daß
man heute, mehr als je auf dem Stand¬
punkt stehen müsse, daß die Zukunft der
Therapie des Wochenbettfiebers nicht
in der Chirurgie liegt. Dem Praktiker wird
so immer intensiver voirgeführt, daß die
Prophylaxe immer noch den Haupt¬
anteil . an der Bekämpfung des Puer¬
peralfiebers hat.
Pulvermacher (Charlottenburg).
Referate.
Über das angioneurotische Ödem be¬
richtet C. Bqlten. Das meist mit dem
Namen Quinckes verbundene, nicht
eben häufige Leiden ist bereits früher von
Milton und Graves beschrieben worden.
Besonders hervorgehoben werden vom Ver¬
fasser dm Beziehungen des angioneuro-
tischen Ödems zur Gicht, Migräne und
Ischias, die Bolten als gichtische Äqui¬
valente ansieht. Wie in anderen Statistiken
überwiegt auch im'Material Boltens das
weibliche Geschlecht, dabei das Alter bis
zu 30 Jahren. Bolten unterscheidet zwei
Krankheitsgruppen; die eine ist auf eine
angeborene Anlage zurückzuführen, wäh¬
rend bei der anderen toxisch infektiöse
Momente im Spiele sind. So schließt sich
das angioneurotische Ödem zuweilen an
Magen-Darmstörungen, akute Infektio¬
nen, Lues, Krebskachexie, Alkoholismus,
Nikotinvergiftung an. Im Gegensätze zu
Cassirer, der das Quinckesche Ödem
als Krankheit sui generis ansieht, hält
Bolten das Leiden für einen sekundären.
Januar
Die Therapie der, Gegenwart 1920
41
auf Sympathicusschädigung beruhenden
Zustand. Diese Sympathicushypotonie
ist entweder auf eine endogene Grundlage
oder infektiös-toxisch neuritische Ver¬
änderungen im Sympathicus zurückzu¬
führen. Therapeutisch kommen daher
Reizmittel des syrnpathischen Systems in
Anwendung, vor allem die sympathico-
tonisierenden Drüsensäfte der Thyreoi¬
dea, Hypophyse sowie der Nebennieren.
Nach Bolten erklärt sich der Mechanis¬
mus der angioneurotischen Schwellungen
in folgender Weise: Die vorhandeneSym-
pathicohypotonie führt infolge der engen
Beziehungen des Sympathicus zur Schild¬
drüse zu einem Hypothyreodismus* Dies
bedeutet im intermediären Stoffwechsel
eine Verzögerung der im Blute sich ab¬
spielenden fermentativen Prozesse. Nach
Boltens Ansicht befinden sich unter
den toxischen, abnorm lange im Körper
verweilenden Abbauprodukten auch
Stoffe, die die Permeabilität der Capillar-
gefäße erhöhen und so die Entstehung des
angioneurotischen Ödems begünstigen.
Hierfür sprechen auch die nahen Bezie¬
hungen von Gicht, Migräne und Sym-
pathicohypotonie einerseits, Gicht, Mi¬
gräne und angioneurotischem Ödem an¬
dererseits. Leo Jacobsohn.
(Zschr. f. Psych. u. Neur. 1919, H. 4.)
Eine neue Methode zur Behand¬
lung der Blasengeschwülste empfiehlt
Joseph. Er hat sein Verfahren erfolg¬
reich mehrfach an der chirurgischen Uni¬
versitätsklinik in Berlin angewendet. Die
Thermokoagulation der Blasengeschwülste
hat sich einen dauernden Platz in der
Therapie gesichert. Immerhin erfordert
dieses Verfahren eine große Menge Ge¬
duld von seiten des Patienten und des
Arztes. Außerdem ist die Apparatur
wiederholt Reparaturen ausgesetzt, die in
der jetzigen Zeit besondere Schwierig¬
keiten verursachen. Die Ähnlichkeit der
Blasenpapillome mit den Warzen der
äußeren Haut gab Veranlassung zu dem
neuen therapeutischen Vorschlag, der
dahin geht, die Papillome nicht auf physi¬
kalischem, sondern chemischem Weg
anzugreifen. Die Technik gestaltet sich
folgendermaßen: Es wird ein mit einem
Ureterenkatheter armiertes Ureteren-
cystoskop eingeführt und unter Leitung
des Auges die Spitze des Ureterkatheters
bis auf den Tumor herangebracht und
hier angedrückt. Dann wird von dem
Assistenten mittels einer Spritze 0,1 ccm
einer gesättigten Lösung von Trichlor-
essigsäure langsam eingespritzt und so bei
jedem einzelnen der kleinen. Tumoren
verfahren. Es ist nötig, daß man von dem
Ureterkatheter vorher die Spitze ab¬
schneidet, damit die Flüssigkeit nicht aus
dem seitlichen Auge des Katheters heraus¬
läuft, sondern wirklich nur durch die
Spitze auf den Tumor wirkt. Die Prozedur
ist schmerzhaft, sodaß vorher eine An¬
ästhesierung der Blase vorgenommen
werden muß. Die cystoskopische Kon¬
trolle in den nächsten Tagen nach dem
Eingriff läßt deutlich erkennen, daß eine
Nekrotisierung der Geschwulst eintritt,
die sich dann vollkommen abstößt. Eine
Schädigung der übrigen Blasenwand ist
nicht beobachtet worden. Hayward.
(Zbl. f. Chir. 1919, Nr. 47.)
Über ein Chorionepitheliom, das wäh¬
rend der Gravidität entstanden ist, be¬
richtet Gustafsson aus der Erlanger
Klinik: Bekanntlich entsteht diese Ge¬
schwulst meist nach einer Blasenmode.
Zwischen ihrem Auftreten und der
Schwangerschaft liegt ein mehr oder
minder großer Zeitraum. Das gleich¬
zeitige Vorkommen von Schwangerschaft
und dieser Neubildung ist noch nicht
beobachtet worden. Es handelte sich um
eine 34 Jahre alte Frau, bei der etwa
sieben Monate die Menses ausgeblieben
waren, worauf alle acht Tage Blutungen
von verschiedener Dauer eintraten. Die
Untersuchung ergab folgenden Befund:
Uterus etwa kindskopfgroß, Portio zer¬
klüftet, Muttermund für die Fingerkuppe
durchgängig. Im Speculum sieht man
zwei jauchende, bläulich durchschim¬
mernde walnußgroße Geschwülste. Bei
der nach einigen Tagen vorgenommenen
Sektion findet man in beiden Lungen,
besonders in den Unterlappen, große
Metastasen. Bei dem in der Längsrich¬
tung halbierten Uterus kann auf der
Schnittfläche keine Stelle gefunden wer¬
den, in der das Chorionepitheliom in die
Muskulatur eingedrungen wäre; aus der
Fruchtblase wird ein ganz frisch aus¬
sehender, 4 cm langer Embryo geholt.
Beim vorsichtigen Abziehen der Placenta
wird festgestellt, daß von ihr ein kleiner
Strang in der Mitte des Körpers direkt
in die hintere Uteruswand hineinwächst
und am Fundus die Placenta in ganzer
Ausdehnung mit der Uterusmuskulatur
verwachsen ist. Das an dieser Stelle
heraiisgeschnittene Stück zeigt im mikro¬
skopischen Bilde ein typisches Chorion¬
epitheliom. Mit Sicherheit ist zwar nicht
festzustellen, ob das Chorionepitheliom
vor der Schwangerschaft schon zur Ent-
42
-Die Therapie der Gegenwart 1920
Januar
Wickelung kam, aber das Vorhandensein
des Tumors bei bestehender Gravidität
ist ohne Zweifel. Die Choriohepitheliom-
bildung trifft entweder zeitlich zusammen
mit dem Beginn der Schwangerschaft
oder setzt efnige Zeit später ein; es handelt
sich um eine ausgesprochene Chorion¬
epitheliombildung während der Gravi¬
dität. Pulvermacher (Charlottenburg).
(M. f. G., Heft 2.)
Über die Therapie der Grippe-
Empyeme mit Bülauscher Heberdrainage
berichten A. Lippmann und G. Samson.
Die Bülausche Heberdrainage eignet sich
vorzüglich zur Behandlung der Grippe¬
empyeme, besonders der frischen Formen
mit großem dünnflüssigen Exsudat, bei
denen die überaus schonende, auch in
schwersten Fällen anwendbare Methode
vielfach lebensrettend wirkt. Die Rippen¬
resektion ist für frische Fälle ungeeignet,
da die schwerkranken Patienten an dem
plötzlich eintretenden großen Pneumo¬
thorax im Shock zugrunde gehen, sei es,
daß Atmung und Kreislauf direkt ge¬
schädigt werden, sei es, daß die stets
vorhandenen pneumonischen Infiltrate
unter dem Einflüsse des Lungenkollapses
ungünstig verlaufen. Die einfache Punk¬
tion ist ein nur für kurze Zeit entlastender
Notbehelf, da sich der Eiter meist schnell
ergänzt; die häufige Wiederholung der
Punktion ist für die Patienten lästig und
beseitigt den Eiter nicht vollständig.
Auch die Anwesenheit von Streptokokken
ist keine Gegenindikation für die An¬
wendung der Bülauschen Heberdrainage.
Die große Mehrheit der Grippeempyeme
heilt bei Anwendung der Heberdrainage
ohne Entstellung aus. An unangenehmen
Zwischenfällen wurde außer gelegent¬
lichen Infiltraten um den Katheter, die
meist schnell unter feuchten Verbänden
heilten, nur einmal bei einem sehr schweren
Fall eine tiefe Brustwandnekrose ge¬
sehen, die ihren Grund wohl in der be¬
sonderen Virulenz der beteiligten Strepto¬
kokken hatte. Falls jedoch nach etwa
dreiwöchiger Anwendung der Bülauschen
Methode keine völlige Entfieberung ein-
trift, Appetit und Gewichtszunahme man¬
gelhaft bleiben, dann ist eine Kammer¬
bildung im Exsudat oder eine Beteiligung
der Lungen (Gangränherd, Sequester¬
bildung) anzunehmen. In diesen Fällen
ist eine alsbaldige ausgiebige Rippen¬
resektion, nötigenfalls mit nachfolgender
Plastik, notwendig. Beim aktiven Saugen
ist in solchen Fällen an die Gefahr zu
denken, daß eine morsche absceßdurch- I
setzte Lunge einreißen könnte. Einen
Schaden hat jedoch auch in solchen
komplizierten Fällen die Vorbehandlung
mit der Heberdrainage nicht gebracht,
die sehr schweren Kranken wurden durch
sie über die erste große Lebensgefahr
hinweggebracht und^ konnten später,
nachdem die Lunge verwachsen war,
leicht der Resektion unterworfen werden.
Sehr energische Saugmethoden, wie der
Perthessche Apparat scheinen jedoch für
Grippeempyeme weniger empfehlenswert.
Raschdorff (Berlin).
(D. m. W. 1919, Nr. 37).
Für die Eklampsiebehandlung gibt
Mittweg folgendes Verfahren an:
1. Luminalnatrium, 2 ccm einer
20%1gen Lösung (0,4 Substanz) sub-
cutan, eventuell alle drei bis vier Stunden,
bis zu drei, höchstens vier Injektionen
in 24 Stunden (1,2 bis 1,6 Substanz).
2. In schweren Fällen außerdem
Tropfklystiere von 20 g Bittersalz auf
einen halben bis einen Liter Wasser oder
Injektionen von 10 bis 20 ccm einer
25% igen Magnesiumsulfatlösung (sub-
cutan oder intramuskulär) mehrmals täg¬
lich.
3. Eventuell kräftiger Aderlaß (zu
berücksichtigen ein eventuell schon bei
der Geburt stattgehabter Blutverlust).
4. Eventuell Früh-Schnellentbindung
in schweren Fällen neben der Ltiminal-
usw. Therapie.
5. Ernährung der Kranken anfangs
ausschließlich mit dünnem, salzfreiem
Haferschleim.
Pilivermacher (Charlottenburg).
(Zbl. f. Gyn. 1919, Nr. 51.)
Um Encephalitis handelte es sich
wahrscheinlich bei einer eigenartigen
fieberhaften Erkrankung mit Doppelt¬
sehen, über welche v. Sohlern jun. be¬
richtet:
37 Jahre alter nervös belasteter hypochon¬
drischer Neurastheniker, der außer den Kenn¬
zeichen seiner Konstitution keine pathologischen
Merkmale aufweist, wenn man von schwach
positivem Lasögue rechts und einigen Drüsen
am Hals und in den Leistenbeugen absieht.
Keine Lues. Etwa sechs Wochen, nachdem
dieser Status erhoben worden war, klagte er
über undeutliches Sehen, das am nächsten Tage
bis zur Unmöglichkeit zu Arbeiten zunahm.
In den folgenden Tagen dann Doppeltsehen
rechts (?) und zunehmender Stirnkopfschmerz.
Die ophthalmologische Untersuchung ergibt un¬
deutliche und inkonstante Parese des Rectus
'externus (wohl des rechten? Referent). Sonst
kein Augenbefund. Am vierten Tage seiner
Beschwerden schweres Krankheitsgefühl und
Doppeltsehen mit vermehrtem Kopfdruck. Rec¬
tale Temperatur 38,7, ein somatischer Befund
Jannar
Die Therapie der Gegenwart 1920 '
43
r
ist nicht zu erheben, auch das Doppeltsehen
ist objektiv nicht mit Sicherheit’und nicht kon¬
stant nachweisbar. Im Urin dem Fieber ent¬
sprechend etwas Eiweiß und einCylinder, Wasser¬
mann trotz der negativen Anamnese
Positiv (++). Harnentleerung etwas träge,
erschwert. Am sechsten Tage das gleiche, Augen¬
bewegungen frei. Am folgenden Tage rechte
Pupille etwas weiter als linke und träger rea¬
gierend, Patient hält sich auffallend steif, Blick
und Kopf mit starrem Ausdruck in einer Richtung
gehalten. Sensorium etwas benommen, doch
stets korrekte Antworten (!). Keine meningalen
Symptome, Temperaturen unter 37,5. Am
achten Tage Lumbalflüssigkeit in jeder Hinsicht
normal, sonst gleicher Zustand, Temperaturen
bis 37,9. Am folgenden Tage leichte Desorientiert¬
heit und halliuzinatorische Verwirrtheit, aber
auf Anruf klare Antworten. Doppeltsehen.
Das rechte Auge bleibt bei der Konvergenz
etwas zurück, sonst keine Veränderungen gegen
den Vortag, Temperaturen bis 37,5; Urin frei.
Am 13. Tage Sensorium etwas freier, Kopf¬
druck läßt nach. Amnesie für die letzten neun
Tage fast vollständig. Temperaturen sind normal,
Schlafbedürfnis (vorher meist nur Dämmern).
Am 23. Tage nur noch rheumatische Schmerzen
in Nacken und Schultern. Sensorium frei, Trübung
der Erinnerung besteht fort. Kein Kopfdruck,
aber noch „Schwäche und Unsicherheit beim
Sehen“, wenn auch kein Doppeltsehen mehr.
Mattigkeit trotz guter Nahrungsaufnalyne wäh¬
rend der ganzen Krankheitszeit. Am 35. Tage
nach der Erkrankung Temperaturen normal,
kräftig, Sehen wie durch einen leichten Schleier,
kein Doppeltsehen mehr; die sehr geringe Pupillen¬
reaktion ist rechts geringer als links. Rheu¬
matische Beschwerden.
Die Erklärung des Krankheitsbildes
ist nicht leicht. Dem positiven Wasser¬
mann möchte Verfasser keine sehr er¬
hebliche Bedeutung beilegen. Am wahr¬
scheinlichsten scheint ihm die Annahme
eines toxisch wirkenden Virus (Grippe).
In einem von mehreren ähnlichen Fällen
Schlayers, der tödlich verlief, wurde
außei ganz geringfügigen meningealen
Blutungen an der Unterseite des Pons
und Kleinhirns nichts gefunden, in einem
anderen, der mit Meningismus und ab¬
soluter Pupillenstarre verlief, nicht ein¬
mal diese. Trotz des Fehlens katarrhali¬
scher Befunde denkt Verfasser an eine
Encephalitis bei Grippe, die ja ähnliche
Erscheinungen machen kann. Allerdings
pflegen im allgemeinen bei derselben
Herde in der grauen Substanz des Gehirns
nicht zu fehlen, auch die Temperatur
höher zu sein. Aber bei dem vielgestaltigen
Charakter der Influenza wird man nicht
zu großes Gewicht darauf legen dürfen.
(Schon vor der großen Grippeepidemie
voi 1918 wurden übrigen'^ hier und da
Fälle von schwersten meningealen Er¬
scheinungen, die völlig gesunde Menschen
wie aus heiterem Himmel trafen, be¬
obachtet, die in den Fällen, die Referent
entweder selbst sah oder von denen er
durch die betreffenden Beobachter hörte,
tödlich waren, aber wie die Fälle von
Schlayer auch nicht die Spur eines
anatomischen Befundes boten, wenn man
von einem ganz leichten Hirnödem, wie
es jede fieberhafte Erkrankung einmal
bieten kann, absah. Ob diese Fälle in
die Gruppe der Influenza gehören, wie
anscheinend der v. Sohlernsche und die
Fälle Schlayers, bleibe unentschieden.)
(M. KI. 1919, Nr. 22.) Waetzoldt.
Über seine Erfahrungen bei der Fleck-
fieberbekämpfung in Polen berichtet
A. Pfeiffer (Breslau). Exanthemlose
Fälle sah er bei einem Krankenmaterial
von 800 Fällen niemals. Das Exanthem
ist oft sehr flüchtig und wird daher leicht
übersehen. Beim Abklingen der Epide¬
mien wird sehr oft ein auffällig leichter
Verlauf der Krankheit beobachtet. Die
Fieberdauer beträgt aber auch hier wie
bei den schweren Fällen regelmäßig zwölf
Tage. Die leichten, ambulanten Fälle
sind aber epidemiologisch wegen der
leichten Virusverbreitung besonders wich¬
tig. Bezüglich der Übertragungsmöglich¬
keit wäre gegen die Entlassung der Rekon¬
valeszenten vom sechsten Tage nach der
Entfieberung ab nichts einzuwenden; der
Allgemeinzustand der Kranken verbot
jedoch meist die Entlassung vor dem
zehnten Tage. Therapeutisch wird neben
täglichen kühlen Bädern von etwa 28 bis
30^ C die frühzeitige Anwendung von
Herzmitteln empfohlen.
Hetsch (Frankfurt a. M.).
(Beitr. z. KHn. d. Infekt. Krkh. Bd. 3, H. 1—2,
1919.)
Untersuchungen über den arteriellen
Blutdruck bei Fleckfieber, die von
St. Sterling-Okuniewski angestellt
wurden, ergaben folgende Resultate: Im
Verlaufe der zweiten Krankheitswoche
tritt meist eine auffallende Drucksenkung,
sowohl des systolischen wie des diastoli¬
schen Druckes, auf. Die geringste Sen¬
kung des systolischen Druckes findet
man ungefähr zwischen dem 6.—14.
Tage, des diastolischen nicht später als
am zehnten Tage; es ist aber nicht
unbedingt notwendig, daß beide Sen¬
kungen an demselben Tage stattfinden.
Gewisse Zeit nach dem Temperaturabfall,
also schon in der Rekonvaleszenzperiode,
folgt eine Druckerhöhung, und zwar des
systolischen wie des diastolischen Druckes,
wobei die Maximumzunahme gewöhn¬
lich die Minimumzunahme übertrifft, d. h.
6*
44
Die Therapie der Gegenwart 1920
Januar
die Senkung des systolischen Druckes
größer ist als die des diastolischen. Der
Pulsdruck (die Pulsamplitude) in der
Mitte der zweiten Krankheitswoche ver¬
ringert sich manchmal bis zur Hälfte
’ der normalen Werte. Ob die Blutdruck¬
senkung beim Fleckfieber auf eine
Schwächung des Herzmuskels oder auf
eine unmittelbare Paralyse der Gefäße,
eventuell des vasomotorischen Centrums
^ zurückzuführen ist, ist schwer zu ent¬
scheiden* Die Rückkehr normaler Blut¬
druckwerte nach Ablauf der Krank¬
heit, die klinischen Beobachtungen über
die Aktion des Herzens nach der Krank¬
heit und die Wirkung gewisser pharmako¬
logischer Mittel berechtigen wohl zur
Annahme, daß eine Paralyse der Gefäße
beziehungsweise des vasomotorischen
Centrums vorliegen dürfte, wofür auch
die Experimente von Romberg, Päßler
und andere sprechen. Hetsch.
(Beitr. z. KHn. d. Infekt.-Krankh. u. z. Immun.-
Forsch. 1919, Bd.7, Heft 3—4.)
Klinische und epidemiologische Beob¬
achtungen über Malariarezidive bei
Kriegsteilnehmern berichtet G. Wal¬
terhöf er. Rückblickend auf ein Material
von 1700 Fällen kann er in der Tatsache
allein, daß man bei einer allerdings be¬
trächtlichen Zahl Malariakranker hart¬
näckige Rückfälle nicht verhüten kann,
einen Mißerfolg der Chininbehandlung
nicht erblicken. Das nach wenigen
Gramm Chinin einsetzende Hinaufschwel¬
len der tief gesunkenen Erythrocytenzahl,
der rapide Anstieg des bis zu 20 reduzierten
Hämoglobins und ein Hand in Hand
gehendes Aufblühen des Patienten er¬
scheinen als therapeutische Äußerungen,
wie sie in ihrer Sinnfälligkeit jedem durch
Beseitigung eines Krankheitsherdes ge¬
glückten Eingriff vollwertig an die Seite
gestellt werden können. Die Chinin¬
therapie versagte nur dann, wenn die
Parasiten sich vorzugsweise in einem
lebenswichtigen Organ lokalisiert hatten.
Von den 1700 Kranken starben zehn, und
zwar fünf infolge schwerster dysen¬
terischer Dickdarmveränderungen, drei
infolge diffuser Encephalitis mit massen¬
hafter Anhäufung von Tropikaparasiten
in den Gehirncapillaren, einer infolge
Schwarzwasserfieber, einer infolge einer
Dermatitis exfoliativa generalisata. In
allen anderen Fällen gelang es durch
Chinin — und nur durch Chinin allein —,
der hartnäckigsten Wiederkehr der Re¬
zidive zum Trotz, die Kranken vor schwer¬
wiegenden Schädigungen der Gesundheit
zu bewahren. Hetsch (Frankfurt a. M'.).
(Beitr. z. Klin. d. Infekt.-Krankh. u. z. Im-
munit.-Forschg. 1919, Bd. 8, Heft 1 bis 2).
Untersuchungen über die myeloische
Wirkung der Milchinjektion stellte
E. F. Müller (Hamburg) an. Die Leu-
kocytose, wie sie als myeloische Reaktion
aktiv vom Knochenmark auf den Reiz
der Milchinjektion in die Blutbahn ge¬
worfen wird, kann als Hauptfaktor eines
immunisierenden Vorgangs willkürlich
und mit genauer Indikationsstellung the¬
rapeutisch nutzbar gemacht werden. Die
Milchinjektion ist jedesmal dann an¬
gezeigt, wenn der natürliche Reizleitungs¬
ring dadurch unterbrochen ist, daß der
auf die Funktion des Markes anreizend
wirkende chemotaktische Faktor seine
Wirksamkeit verloren hat oder wenn eine
reine Knochenmarkschwäche vorliegt. Ob
eine komplizierte Knochenmarkserkran¬
kung wie bei dem Symptomenkomplex
der perniziösen Anämie u. a. die Milch¬
therapie verbietet, muß der Versuch er¬
geben. Hetsch (Frankfurt a. M.).
(Beitr. z. Kün. d. Infekt.-Krankh. u. z. Im-
munit.-Forschg. 1919, B.d 8, Heft 1 bis 2).
K. Hofmann-Kalk bei Cöln hat einen
neuen Weg eingeschlagen zur Freilegung
der Niere bei Nierengeschwülsten,
den extraperitonealen Bauchschnitt. Zur
Klarstellung der Verwachsungen mit der
Umgebung z. B. bei Nierentuberkulose,
oder der Ausdehnung des Wachstums bei
einem malignen Tumor macht man mit
Erfolg von der vorherigen Laparotomie
Gebrauch, da es nicht möglich ist, sich
von dem Lumbalschnitt aus Rechenschaft
über diese Dinge zu geben. Andererseits
ist die Schwierigkeit der Freilegung des
Gefäßstiels bei größeren Nierengeschwül¬
sten, Hydronephrose, Tuberkulose usw.
jedermann bekannt. Diese Tatsachen
haben Hof mann dazu geführt, eine
Schnittführung zu suchen, bei der das
Peritoneum geschlossen bleibt, aber die
Vorteile der Freilegung der Niere von
vorn her möglich ist. Die von ihm geübte
Methode der extraperitonealen Nieren¬
freilegung wird noch wesentlich dadurch
erleichtert, daß in den einschlägigen
Fällen der abdominalwärts wachsende
Tumor den Peritonealsack‘nach vorn und
auf die gesunde Seite hinüberdrängt. Er
macht einen pararektalen Schnitt bis auf
das Peritoneum und schiebt den Perito¬
nealsack dann stumpf nach der Mittel¬
linie zu ab. Es ist so ohne jede Schwierig-
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1920
45
keit möglich, den Nierenstiel unter Lei¬
tung des Auges freizulegen und zu unter¬
binden. Erst jetzt wird von dem gleichen
Schnitt aus die erkrankte Niere nach der
Seite hin luxiert und zuletzt der Ureter
unterbunden. Die Verhältnisse zu der
Vena cava kommen besonders übersicht¬
lich zur Anschauung. Ein weiterer Vor¬
teil des Verfahrens ist darin zu suchen,
daß die Operation in Rückenlage aus¬
geführt wird. Ist es nach Lage des Falles
notwendig, zu drainieren, dann wird das
Drain nach rückwärts von einem Knopf¬
loch aus durchgeleitet. Hayward.
(Zbl.f. Chir. 1919, Nr. 42.)
Zur operativen Behandlung der
akuten Nierenentzündung liefert Prof.
Cassel einen kasuistischen Beitrag. Ein
Kind von 9% Jahren war ohne voraus¬
gegangene Infektion an schwerer doppel¬
seitiger akuter Nephrose erkrankt. Die
innerliche Behandlung brachte keine
Besserung, und als nach zwei Monaten
die Ödeme einen riesigen Umfang an-
nahmen, die Harnmenge immer mehr
sank und urämische Erscheinungen auf¬
traten, wurde als Ultima ratio die De-
kapsulation beider Nieren ausgeführt.
Dieselben waren stark vergrößert, von
braunroter Farbe, die Kapsel stark ge¬
spannt. Gleich nach der Operation
besserte sich die Diurese, dagegen blieben
die Ödeme bestehen und der Ascites
nahm sogar zu. Nach der Bauchpunktion
besserte sich das Allgemeinbefinden, die
Urinmenge stieg bis auf 1100 ccm; die
Ödeme nahmen ab. Eine Trink- und
Badekur in Bad Brückenau wirkte ganz
vorzüglich. Die Diurese hob sich bis auf
2y^ 1 täglich; die Ödeme nahmen er¬
heblich ab, das Körpergewicht sank hin¬
gegen nur wenig. Im Laufe der nächsten
Monate besserte sich der Allgemein¬
zustand weiter, die Oedeme schwanden
ganz, der- Eiweißgehalt sank bis auf
^®/oo. Der Wasser- und Konzentrations¬
versuch ergab ein vorzügliches Resultat.
Die Patientin kann heute — das heißt
sechs Jahre nach der Operation — bis
auf eine Restalbuminurie als gesund an¬
gesehen werden.
Nach den Angaben in der Literatur
kommt die Nierendekapsulation bei akuter
Nierenentzündung dann in Frage, wenn
die innerliche Behandlung versagt, etwa
dreitätige Oligurie oder Anurie besteht
und urämische Erscheinungen drohen.
Der operative Eingriff selbst wird als
durchaus ungefährlich bezeichnet, häufig
hat man schon durch einseitige De-
kapsulation den beabsichtigten Zweck
erreicht. ' Schmalz.
(D. m. W. 1919, Nr. 39).
Über Pseudo-Appendicitis nach infek¬
tiösen Darmerkrankungen schreibt
Hammesfahr: Ein Soldat hatte sich
drei Wochen vor der Einlieferung ins
Feldlazarett etwas müde gefühlt und litt
unter leichten Durchfällen. Dieser Zu¬
stand, der ungefähr sieben Tage gedauert
hatte, nötigte ihn jedoch nicht, sich krank
zu melden. Ein Tag vor der Einlieferung
entwickelten sich plötzlich die Zeichen
einer akuten Appendicitis. Unter dieser
Diagnose wurde operiert und es fand sich
in der Bauchhöhle ein bernsteinklares
Exsudat, der Wurmfortsatz selbst war
gesund. Dagegen zeigten sich eine erheb¬
liche Rötung des Dünndarms und eine
Schwellung der Lymphknoten im Mesen¬
terium. Nunmehr war an der Diagnose
eines Typhus nicht mehr zu zweifeln.
Nach Einlegung eines Gazestreifens wurde
die Bauchhöhle geschlossen und nach
steilem Temperaturabfall trat bald Gene¬
sung ein. Offenbar lag ein Wiederauf¬
flackern einer Typhusinfektion vor, welche
vor drei Wochen zuerst in die Erscheinung
getreten war. Hayward.
Zbl. f. Chir. 1919, Nr. 27.
Über Heilversuche bei Typhus-
und Paratyphusbacillenträgern be¬
richten Bumke und v. Teubern. Von
ihren 92 Heilversuchen scheiden 15 aus
der Beurteilung aus, da augenscheinlich
ein spontanes Aufhören der Ausscheidung,
zeitlich zusammenfallend mit dem Beginn
der Therapie, vorlag. Bei den 77 ver¬
wertbaren Heilversuchen wurde keinerlei
Wirkung festgestellt in 70 % der Fälle,
eine ausscheidungshemmende oder vor¬
übergehend heilende oder dauernd hei¬
lende Wirkung in 30 % der Fälle. Ein
Dauerheilerfolg wurde bei 12 % an¬
genommen. Die von den Autoren an¬
erkannten Heifferfolge- verteilten sich an¬
nähernd gleichmäßig auf sechs verschie¬
dene Mittel: Urotropin (bei Harnaus¬
scheidern), Formyl-Gallensäure, Thymo-
form, eine Kupfer-Eiweißverbindung der
Troponwerke, Calomel und Lactobacillin.
Das besagt zum mindesten, daß es ein
bestimmtes Heilmittel für die Daueraus¬
scheidung noch nicht gibt.
Noch schlechter waren die Ergebnisse,
welche Bumke in Heilversuchen an
Bacillenträgern mit ,,starken“ Coli-
stämmen nach Nißle erzielte. Geheilt
wurde von elf Fällen nur ein Kranker, bei
dem aber wegen der kurzen Ausschei-
46
Die Therapie der Gegenwart 1920
Januar
dungsdauer ein spontanes Aufhöreri wahr¬
scheinlicher war. Bei sechs Kranken
konnte keinerlei Wirkung festgestellt wer¬
den, obwohl bis zu 259 Kapseln in 64 Ta¬
gen verabfolgt wurden. Die in den
übrigen vier Fällen beobachtete vorüber¬
gehende Verminderung der Bacillenmenge
kommt auch bei unbehandelten Dauer¬
ausscheidern vor.
Hetsch (Frankfurt a. M.).
(Beitr. z. KHn. d. Infekt. Krkh. Bd. 8, H. 1—2,
1919.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Aus der chirurgiscli-urologiselieii Privatklinik von Dr. A. Frendenberg in Berlin.
Stearinfremdkörper in der Blase; Entfernung mittels intra=
vesikaler Auflösung durch Benzin nach Lohnstein.
Von Dr. H. Bonin, Assistent der Klinik.
Das Vorkommen von Fremdkörpern
in der Blase, die nur aus fettartigen Sub¬
stanzen bestehen, gehört zu den selteneren
urologischen Krankheitsbildern. Im Jahre
1907 hat Lohnstein^) eine Methode der
intravesicalen Auflösung dieser Fremd¬
körper durch Injektion von Benzin in die
Blase angegeben, die doch nicht überall
bekannt zu sein scheint, obwohl sie nach
dem, was bisher darüber veröffentlicht
wurde, verdient, die Methode der Wahl
zur Beseitigung der genannten Fremd¬
körper zu werden. Die auf diesem Gebiet
in den nächsten Jahren erschienenen
Publikationen stellt Posner^) anläßlich
eines von ihm selbst im Jahre 1909 nach
Lohnstein behandelten Falles zu¬
sammen; es handelt sich um je einen Fall
von Lenk ^), Po Hak ^)undFranzWeiß5).
In allen drei Fällen wurden „Wachs¬
kerzen in die männliche Harnröhre ein¬
geführt und gelangten so in die Blase.
Jedesmal gelang die Auflösung mittels
der Benzinmethode ohne Schwierigkeiten
und ohne Nebenwirkungen. Der Docht
wurde dann spontan ausuriniert. Der
von Posner selbst veröffentlichte Fall
unterschied sich durch die Ätiologie.
Hier waren zu Behandlungszwecken
Ichtharganstäbchen in eine entzündlich
veränderte, weibliche Harnröhre ein¬
geführt worden. Dabei war es zum Nie¬
derschlage der Fettmassen in der Blase
gekommen, die starke cystitische Be¬
schwerden verursacht hatten. Die Cysto-
skopie ergab das typische Bild der auf
der Flüssigkeit schwimmenden Fettkugel.
Die Behandlung nach Lohnstein hatte
auch hier prompten Erfolg.
In der späteren urologischen Literatur
finde ich keine hierher gehörigen Angaben
1) Lohnstein, B. kl. W. 1907, Nr. 23.
2) Posner, B. kl. W. 1909, Nr. 34.
2) Lenk, W. kl. W. 1908, Nr. 21.
4) Pollak, W. kl. W. 1908, Nr. 23.
5) Franz Weiß, W. kl. Rdsch. 1909, Nr. 27.
mehr, abgesehen von einigen Veröffent¬
lichungen über fettartige Fremdkörper
mit peripherer Inkrustation, zu deren
Beseitigung die Lohnsteinsche Methode
nicht angewandt wurde, und für die sie
natürlich auch nur dann geeignet ist,
wenn es sich nicht um zu umfangreiche
Niederschläge, also die Bildung eines
wirklichen Blasensteins um die Fett¬
massen herum handelt.
Die spärlichen Literaturangaben dürf¬
ten die Veröffentlichung des nachstehen¬
den, in der Privatklinik von Dr. A.
Freudenberg beobachteten Fallesrecht¬
fertigen.
Der 35 Jahre alte Patient hatte sich vor zehn
bis elf Tagen ein etwa 12 cm langes Stück Stearin,
das er durch Erwärmen und Kneten mit den
Fingern aus einer Kerze geformt hatte, in die
Harnröhre eingeführt. Nachdem die wurstförmige
Masse vollkommen darin verschwunden war,
schob er sie von außen noch weiter vor, ,,um zu
probieren, wie weit sie sich vorschieben ließe“,
in der Meinung, das Stück würde beim urinieren
wieder zum Vorschein kommen. Masturbations-
zweck wurde geleugnet. Seitdem bestanden
Schmerzen am Schluß der Miktion und heftige
Blasenbeschwerden beim Gehen und Treppen¬
steigen. Der Urin soll stark trübe, niemals blutig
ausgesehen haben. Häufigkeit der Miktion, am
Tage zweimal, nachts 0.
Bei der Aufnahme in die Klinik am 15. August
1919 ist der Urin bei Zweigläserprobe in beiden
Portionen stark trübe, von alkalischer Reaktion,
er enthält weder Eiweiß noch Zucker. Auf der
Oberfläche schwimmen eine Anzahl von Fett¬
kügelchen.
Die Cystoskopie am 18. August ergab folgenden
Befund: Schleimhaut katarrhalisch gerötet,
sonst Blase normal. Auf der Oberfläche der Fül¬
lungsflüssigkeit schwimmt eine weiße, glänzende
Masse von der Größe einer Kirsche und ungefähr
kugelförmiger Gestalt. Die Oberfläche des Fremd¬
körpers zeigt an einer Stelle eine Einkerbung, an
mehreren Stellen schwärzliche Flecken (Teile
des Dochtes?).
Nach vollkommener Entleerung der Blase
werden durch den Katheter 15 ccm reines Benzin
injiziert, das reaktionslos vertragen wird. Nach
15 Minuten wird die Injektionsflüssigkeit aus¬
uriniert, dabei wird nur leichtes Brennen emp¬
funden. Im Glase setzt die Flüssigkeit sich sofort
in zwei Schichten ab. In der oberen, aus dem
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1920
47
specifisch leichteren Benzin bestehenden Schicht
sieht man zahlreiche Fettkügelchen, auf dem
Boden des Glases schwarze Dochteile.
19. August: Aus der ersten Urinportion nach
der Behandlung hat sich nach Verdunsten des
Benzins reichlich Stearin abgesondert, das in
zirka 3 mm starker, fester Schicht auf der Ober¬
fläche liegt. Auch die nächste Urinportion ent¬
hält noch etwas Stearin, außerdem ein 3 cm
langes Stück Docht. Heute ist der Urin nur
wenig trübe, enthält kein Eiweiß. Keine Fremd¬
körperbeschwerden mehr, nur noch etwas Brennen
in der Harnröhre.
Unter Behandlung mit Blasenspülungen klärte
,der Urin sich weiter. Die Cystoskopie am 25.
August zeigte noch Spuren von Schleimhaut¬
rötung, sonst nichts Abnormes.
Der Patient wurde am 30. August vollkommen
beschwerdefrei entlassen. Der Urin zeigte noch
eine leichte Trübung, die nur von Phosphaten
herrührte, sonst keinen abnormen Befund. Bei
einer Wiedervorstellung am 22. 11. war der
Patient ohne Beschwerden, der Urin absolut klar
und eiweißfrei.
Der angeführte Fall zeigt wie alle
früher bekannt gewordenen die prompte
Wirkung der Benzininjektion auf den
fettartigen* Fremdkörper. Auch bei uns
war, wie auch Posner betont, die Injek¬
tion absolut reizlos und hatte keinerlei
Schädigungen der Blasenschleimhaut oder
toxische Nebenwirkungen zur Folge.
Das Magnesiumperhydrol
in der Therapie der Magen=Darmbeschwerden.
Von Georg Sandberg, Berlin.
In der symptomatischen Therapie der
Magenbeschwerden spielt in der täglichen
Praxis wohl die Hauptrolle die Linderung
der ,,Hyperaciditätsbeschwerden“.
Auch wenn, wie mitunter, die genaue
Diagnose noch nicht feststeht, werden
therapeutische Maßnahmen getroffenwer¬
den müssen. Diesem Faktor muß der
Arzt besonders in der kassenärztlichen
Tätigkeit Rechnung tragen. Er wird
daher zunächst mit möglichst wenig
eingreifenden Maßnahmen auszukom¬
men suchen, und in erster Reihe diäte¬
tische Verordnungen treffen. Doch wird
ein völliger Verzicht auf medikamen¬
töse Therapie schon deshalb nicht mög¬
lich sein, weil die genaue Befolgung des
diätetischen Regimes oft an äußeren
Schwierigkeiten scheitert.
Von den Medikamenten, welche im
Laufe der letzten Jahre gegen die Hyper¬
aciditätsbeschwerden empfohlen* worden
sind, hat sich das Magnesiumperhydrol
Merck mit am besten bewährt.
Ich habe das Mittel recht häufig an¬
gewandt, .und zwar in erster Linie bei
Hyperacidität mit ihren zahlreichen
funktionellen Beschwerden. Zunächst
spricht für seine Anwendung der Um¬
stand,* daß die Kohlensäureentwicklung
im Magen im Gegensatz zum Natrium
bicarbonicum ausbleibt. In den doch
nicht ganz seltenen Fällen, in denen das
Ulcus ventriculi in seinem Beginn nicht
sogleich als solches erkannt wird, würde
die Bildung von Kohlensäure im Magen
die Beschwerden steigern.
Gleichzeitig hat meist das Magne¬
siumperhydrol eine mild abführende
Wirkung, was • durchaus erwünscht ist,
da ja die Hyperacidität häufig mit
Obstipation einhergeht. Diese Eigen¬
schaft, ein angenehmes und mildes Ab¬
führmittel zu sein, indiziert seine An¬
wendung bei Magengeschwür in der
Rekonvaleszenz, bei Icterus, gutarti¬
ger. Pylorusstenose, Gastrosuccorrhöe
und auch malignen Erkrankungen des
Magens, also in' Fällen, in denen nach
Möglichkeit eine Schonung des Magens
angestrebt werden muß. Auch bei der
Gärungsdyspepsie mit Flatulenz sieht
man gute Erfolge.
Die Höhe der Dosis muß ausprobiert
werden.
Bei bestehender Obstipation gibt
man das Medikament am besten auf
nüchternen Magen: einen gehäuften
Teelöffel in einem Weinglas Wasser.
Die übliche Dosis ist dreimal täglich
ein bis zwei Tabletten oder in Pulver¬
form, dreimal täglich einen Teelöffel
eine halbe Stunde nach der Mahlzeit.
Ein Zusatz von Menth'ol (0,5:50,0)
wirkt leicht kalmierend. Doch hat das
Magnesiumperhydrol nach meinen Beob¬
achtungen eine schmerzstillende Wir¬
kung nicht. Ist solche beabsichtigt, wird
man zu Codein und Belladonna greifen
müssen. .
Aperitol in der Kurpraxis.
Von Dr. med. Ernst Geyer, Arzt in Krummhübel, Kurarzt von Brückenberg im Riesengebirge.
Als Arzt eines Kurortes ist man oft
in die Lage versetzt, gelegentlich ein
Abführmittel zu verordnen, das milde
wirkt und dabei ein gutes Ergebnis
zeitigt. Als solches hat sich mir das
Acetyl - Valeryl - Phenolphthalein be-
48
Die Therapie der Gegenwart 1920
Januar
Währt, das unter dem Namen „Aperitoh*
von der Firma Riedel hergestellt wird.
Die rein theoretisch einleuchtende
Tatsache, daß die Baldriankomponente
des Mittels ihren kalmierenden Einfluß
gegenüber der schmerzhafte Sensationen
hervorrufenden Nebenwirkung des Phe¬
nolphthaleins geltend macht, sodaß nur
eine abführende Wirkung ohne unan¬
genehme Nebenerscheinungen’ bestehen
bleibt, hat sich bei der praktischen An¬
wendung bestätigt. Ein Umstand, auf
den die Patienten eines Kurortes, beson¬
ders die weiblichen, Wert legen.
Ich hatte bisher Gelegenheit, eine
Reihe von Patienten mit Aperitol zu
behandeln. Eine negative Wirkung des
Mittels ist mir bis jetzt nicht berichtet
worden. Fast ausschließlich wurde die
reichliche Menge des Stuhles gelobt und
die Leichtigkeit, mit der er erzielt wurde.
Die Ansicht, daß man nicht die Emp¬
findung habe, ein Abführmittel genom¬
men zu haben, sondern daß der Stuhl
„wie von selbst“ eingetreten sei, wurde
einige Male geäußert.
Bestätigt fand ich gleichfalls durch
die Praxis, daß eine augenscheinliche
Gewöhnung an das Mittel in keinem Falle
eingetreten war. In Fällen inter¬
kurrenter Obstipation, in denen Ape¬
ritol eine Reihe von Tagen täglich ge¬
nommen worden war, brachte ein brüskes
Fortlassen des Mittels keine nennens¬
werte Veränderung in der Häufigkeit des
Stuhles hervor. Nur die Konsistenz war
eine festere, infolgedessen die Menge
geringer scheinend.
Erwähnen möchte ich noch, daß die
leicht zerfallenden Tabletten stets gern
genommen wurden, auch von solchen
Patientinnen, die erklärten, eine Abnei¬
gung gegen „jedes Einnehmen“ zu haben.
Aperitolbonbons, bei denen dies in noch
höherem Grade zutreffen dürfte, sind
von mir bisher nicht verordnet worden..
Ein wirklich brauchbares Abführmittel
scheint in dem Aperitol dem Arzt an die
Hand gegeben zu sein in Fällen chroni¬
scher Obstipation, bei denen man
sonst nur ungern zu einem Abführmittel
griff aus Furcht, der Kranke könne sich
an das Mittel gewöhnen und die an sich
geringe Neigung zum Stuhlgang-sich nach
Fortlassen des Mittels noch verstärken.
Während ich früher nur mit großer Vor¬
sicht hier ein Laxans (Cascara Sagrada,
Rheum u. a.) verordnete, gebe ich jetzt
unbedenklich Aperitol, da es keine Be¬
schwerden verursacht, eine .gute abfüh¬
rende Wirkung zeitigt und vor allem das
gleiche Ergebnis hat, wie es mich die
Erfahrungen bei der interkurrenten Ob¬
stipation gelehrt haben: es tritt keine
offensichtliche Gewöhnung an das Mittel
ein. Das heißt nun nicht, daß, wenn
Aperitol öfter genommen wurde, der
Stuhlgang nach Fortlassen des Mittels
sogleich dauernd regelmäßig und reich¬
lich ist — ist er dies doch vor dem Ein¬
nehmen des Aperitols nicht gewesen.
Immerhin tragen einem die Kranken die
überraschende Nachricht zu, daß nach
Fortlassen des Mittels der Stuhlgang
etwas besser wäre als vorher. Doch scheint
mir diese Wirkung nicht von nachhalten¬
dem Einfluß zu sein, wenn Aperitol nur
kürzere Zeit gegeben wurde. Eine lang¬
dauernde, bis Monate währende Anwen¬
dung von Aperitol in einem • einzelnen
Falle ist von mir bisher nicht versucht
worden. Ich halte das Aperitol nach
meinen bisherigen Ergebnissen für ein
gutes Hilfsmittel bei der Heilung chroni¬
scher Obstipationen, zusammen mit den
bekannten hygienisch-diätetischen Ma߬
nahmen, wie sie von mir auch seinerzeit
in der Deutschen Krankenpflege-Ztg.
(XVII. Jahrg. Nr. 7) und in den Ärzt¬
lichen Ratschlägen zur ,, Krankenkost“
(Verlagsbuchhandlung Hahn, Wernige¬
rode) dargelegt worden sind. Die über
eine längere Zeit ausgedehnte Anwendung
des Aperitols als Darmheilmittel, die bei
chronischer Obstipation als Ersatz der
Massage empfohlen wird, ist von mir
noch nicht versucht worden.
Die Ergebnisse sind bei spastischer
wie bei paretischer Obstipation die
gleichen. Auch bei nervöser Stuhl¬
trägheit eines Neurasthenikers hat es
gute Dienste geleistet.
Einen besonderen Fall möchte ich
noch anführen, bei dem die lindernde
Komponente des Mittels klar hervortrat:
seine Anwendung bei einer Erkrankung
an Hämorrhoiden. Hier war nach Aperitol
der gefürchtete Stuhlgang bei akuter
Entzündung eines Hämorrhoidalknotens
im Verhältnis zu sonst bedeutend weniger
schmerzhaft — eine Tatsache, die zu
weiteren Versuchen ermutigt.
Zusammenfassend kann bisher gesagt
werden, daß das Aperitol sich in jedem
Falle als sehr gutes Abführmittel bewährt
hat.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urb an & Schwarzen berg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, BerlteWS
SEP 3
Die Therapie der Gegenwart
herausgegeben von
61. Jahrgang
Neueste Folge. XXII. Jahrg.
gang ßeh, Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer ■ •
XXII.Jahrg. , BERLIN Febi
W 62 , Kleiststraße 2
Verlag von UBBAK & SOHWABZENBEBG in Berlm-K 24 und Wien I
2. Heft
Februar 1920
Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementspreis für den
Jahrgang. 20 Mark. Einzelne Hefte .2 Mark. Man abonniert'bei allen größeren Buchhandlungen,
sowie direkt bei den Expeditionen in Berlin oder Wien. Wegen Inserate und Beilagen wende
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Literatur durch;
Cltemisclie Falirik ArttiurJiaffe
Bei*linO%7
Original=Packungen:
100 Tabletten ä 0,25 g Mk. 20.-
25 Tabletten ä 0,25 g Mk. 6.-
Inhaltsverzeichnis umstehend!
An uiwere Postempfänget' Heilten wir die Bitte, Beschwei^den über unregelmäßige Zustellung der ,,The»'(^ie dei'
Gegenwart** zunächst ausschließlich an ihre Bestellpostamstalt zu richten, da diese zwr pilnMUchen lAeferu/ng
rernftichtet istm Sollte diese hei/ne Abhilfe schaff entwende m^o/nsish o/n
Thciapie der Gegenwart. Anzeigen.
2. Ixfett-
Testogan Thelygan
für Männer
für Frauen
= Seit 6 Jahren bewährte Spezifika auf organ-chemotherapeutischer Grundlage nach Dr. Iwan Bloch
I bei sexueller Dyshörmonie und Insuffizienz,
= vorzeitigen Alterserscheinungen, Stoffwechselstorungen, Herzneurosen, Neurasthenie, Depressionszuständen.
^ Enthalten die SeXUnlhortnOne, d. tr. die Hormone der Keimdrüsen und der Drüsen mit Innensekretion.
Spezielle Indikationen für TESTOGAN.
Sexueller Infantilismus und Eunuchoidismus des
Mannes. Männliche Impotenz und Sexual¬
schwäche im engeren Sinne des Wortes.,
Climacteriuin virile. Neurasthenie, Hypochon-'
drie, Prostatitis, Asthma sexuale, periodische
Migräne. .
Spezielle Indikationen für THELYGAN.
Infantilistische Sterilität Kleinheit der Mammae
usw. Sexuelle Frigidität der Frau.- Sexuelle
Störungen bei. Fettsucht und anderen Stoff¬
wechselkrankheiten. Klimakterische Beschwer¬
den, Amenorrhoe, Astlienie, Neurasthenie, Hypo¬
chondrie, Dysmenorrhoe.
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Die Therapie der Gegenwart
1920
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Q. Klemperer
in Berlin.
Februar
Nachdruck verboten.
Aus der Medizinischen Klinik der Universität Köln.
über technische Vereinfachungen in der Handhabung
jder Diabetikerdiät.
Von F. Moritz.
In einer kleinen Schrift „Über ver¬
vereinfachte Handhabung der Kalorien¬
werte bei praktischen Ernährungsfragen“
(J. F. Lehmann, München 1919) habe
ich einen Weg anzugeben versucht, um
bei der Festsetzung einer Diät nach
ihrem kalorischen und nach ihrem Eiwei߬
werte bei praktisch völlig genügender
Genauigkeit rascher und bequemer zum
Ziele zu kommen, als das mit Hilfe der
gewöhnlichen Nahrungsmitteltabellen
möglich ist. Es wurden zu diesem Zwecke
die wichtigsten Nahrungsmittel, unter
Berücksichtigung ihrer inneren Verwandt¬
schaft zueinander und ihrer animalischen
oder vegetabilischen Herkunft, in eine
Anzahl von Gruppen tabellarisch zu¬
sammengefaßt, für die der mittlere Ge¬
halt an Kalorien’und Eiweiß berechnet
war. Es wurden diese Werte auch nicht,
wie gewöhnlich üblich, nur für eine
Menge von 100 g Substanz, sondern von
10 zu 10 g bis 100 g, von da ab von 100
zu 100 g bis 1000 g und endlich von 1000
zu 1000 g bis 10 000 g ermittelt. Es
lassen sich aus den Tabellen demnach
unmittelbar ohne weitere Rechnung alle
Angaben entnehmen, die bei der Fest¬
setzung einer Einzeldiät sowohl, als bei
Massenversorgungsfragen nötig sind. Die
Zahlen für die Zusammensetzung der
Nahrungsmittel waren den"^ bekannten
Nahrungsmitteltabellen von Schall und
Heisler^) entnommen. Die dort ge¬
gebenen Zahlen beziehen sich auf resor¬
bierbare Mengen der Nahrungsstoffe,
berücksichtigen also schon die durch¬
schnittlichen Ausnutzungsverhältnisse im
Darme. Eine weitere Vereinfachung wurde
in meinen Tabellen dadurch erzielt, daß
nicht die Einzelkalorien aufgenommen,
sondern als Einheit der Wert von 100
Kalorien als „Hektokalorie“, oder kurz
,,Hektokal“ eingeführt wurde. Dabei
wurden Werte von 1 bis 50 Kalorien ver¬
nachlässigt, solche von 51 bis 150 aber
als Hektokal (Hk), solche von 151 bis
250 als zwei Hk usw. angesetzt. Die
Ungenauigkeit, welche hierin liegt, wird
durch den Umstand, daß eine Diät aus
verschiedenen Nahrungsmitteln in ganz
verschiedenen Mengen zusammengesetzt
wird, und daß diese Zusammensetzung
häufig wechselt, praktisch beseitigt. Das
kalorische Minus bei einer Nahrungs¬
mittelquote pflegt durch eirr kalorisches
Plus bei einer arideren ausgeglichen zu
werden. Eine Genauigkeit bis auf einzelne
Kalorien hat übrigens bei der indivi¬
duellen Verschiedenheit der Ausnutzungs¬
größe der’ einzelnen Menschen und bei
deren Beeinflussung durch die Art der
Zubereitung und der Mischung der Nah¬
rung überhaupt keinen Sinn. Wenn man
indessen von der Bequemlichkeit, nur mit
ganzen Hektpkal zu rechnen, absehen
will, so lassen sich die Tabellen leicht
auch in genauerer Weise benutzen. Wenn
z. B. in einer Tabelle für 10 g mittelfettes
Rindfleisch 0 Hk, für 100 g 2 Hk, für
1000 g aber 16 Hk angegeben sind, so er¬
sieht man daraus, daß der genauere Wert
für 10 g 0,16 Hk = 16 Kalorien und für
100 g 1,6 Hk = 160 Kalorien ist.
Ich bin auf diese Dinge um deswillen
etwas näher eingegangen, weil sich das
gleiche Prinzip auch auf die Kost der
Diabetiker, praktisch ja eines der wich¬
tigsten ärztlich diätetischen Probleme,
anwenden läßt. Dies zu zeigen ist der
Zweck des vorliegenden Aufsatzes. Ich
habe in den nachstehenden Tabellen acht
große Abteilungen von Nahrungsmitteln
unterschieden: 1. solche, die ganz oder fast
ganz aus Fett bestehen; 2. Fleisch- und
Fleischwaren; 3. Fische, Fischkonserven
und Schaltiere; 4. Eier, Milch und Milch¬
produkte; 5. Zerealien, Backwerke, Teig¬
waren, Kakao; 6. Gemüse, Kartoffeln,
Kastanien und Hülsenfrüchte; 7. Obst;
8. alkoholhaltige Getränke. Die Nah¬
rungsmittel verstehen sich durchweg als
Nettosubstanz, d. h. als eßbare Substanz,
7
U Verlag von Kabitsch, Würzbiirg.
50
Die Therapie der Gegenwart 1920
Februaji
das ist ohne Gräten, Knochen, Schalen
usw:, nur beim Obst sind in den Gewichts¬
mengen die Kerne und Steine einbe¬
griffen, da das Obst durchweg auch mit
ihnen gereicht zu werden pflegt. Die acht
Nahrungsmittelabteilungen gliedern sich
wieder in eine größere Zahl von Unterab¬
teilungen, welche "die Durchschnittswerte
von bestimmten Gruppen der einzelnen
Nahrungsmittel enthalten. Es wurden
nur solche Nahrungsmittel berücksichtigt,
die nicht durch einen größeren Zuckerge¬
halt ihre Verwendung beim Diabetiker
von vornherein kontraindiziert erscheinen
lassen (z. B. Konditorbackwaren, Zucker¬
waren, Obstmarmeladen, Liköre, Cham¬
pagner usw.) Berechnet wurden, und
zwar für Nahrungsmittelmengen zwischen
100 und 1000 g von 100 zu 100 g der Kohle¬
hydratgehalt in Gramm (K), der Eiwei߬
gehalt in Gramm (E) und der Kalorien¬
gehalt in ganzen Hektokal (Hk). Falls
demnach Itei einer individuellen Diät
kleinere Mengen eine^ Nahrungsmittels
als 100 g benötigt werden, so müssen
dieselben durch Division der ent¬
sprechenden höheren Werte mit 10 oder
100 ermittelt werden. So ist z. B. der
Kohlehydratwert für 70 g eines Nahrungs¬
mittels gleich dem Zehntel dessen von
700 g, der Wert für 25 g gleich der Summe
von einem Zehntel von 200 und einem
Hundertstel von 500 usw. Es empfiehlt
sich übrigens der Einfachheit halber sehr,
für eine Diät nur ganze Vielfache von
10 g als Nahrungsmittelmengen anzu¬
setzen. In der Regel wird kein Grund
vorliegen, einem Diabetiker gerade 27 g
Käse oder 75 g Brot zu erlauben; 30 g
Käse oder 70 oder 80 g Brot werden den¬
selben Dienst tun. Kommt man nun
bei der Division mit 10 (oder 100) auf
Zahlen von 0,5 oder darunter, so werden
diese vernachlässigt, während Zahlen von
0,6 bis 0,9 auf 1 aufgerundet werden.
Will man beispielsweise 20 g Käse ver¬
ordnen, wobei man mit dem Zehntel der
für 200 g gültigen Zahlen auf 0,4 K, 5,2 E
und 0,7 Hk kommt, so wird gerechnet
mit 0,0 K, 5 E und 1 Hk. Auf diese
Weise werden alle Berechnungen sehr
vereinfacht.
Die Kohlehydratäquivalente der ver¬
schiedenen Nahrungsmittelgruppen sind
angenähert ohne weiteres aus den Ta¬
bellen zu entnehmen. So wird es in der
Regel keinen wesentlichen Unterschied
bedeuten, ob man einem Diabeteker 4,7
oder 5,5 bzw. 5,8, 5,6 oder 5,7 Kohle¬
hydrat zuteilt. Man kann ihm daher, wie
Tabelle V zeigt, an Stelle von 10 g Grau¬
oder Schwarzbrot auch 10 g Weißbrot,
9 g Mehl, 8 g Zwieback oder 7 g Stärke¬
mehl geben. Der noch größeren Bequem¬
lichkeit und Genauigkeit halber sind'aber
bei den kohlehydratreicheren Nahrungs¬
mitteln noch einige Spalten beigefügt, in
denen die Nahrungsmittelmengen auf¬
geführt sind, welche ihrem Kohlehydrat¬
gehalte nach 10, 20, 30, 40 und 50 g ‘
Weißbrot äquivalent sind, das heißt 5,5
bzw. 11, 16,5, 22 und 27,5 Kohlehydrat
entsprechen. Noch unbedenklicher können
diese Mengen selbstverständlich für 10
bis 50 g Schwarz- oder Graubrot, das
etwas kohlehydratärmer als Weißbrot ist,
eintreten.
Bei schwereren Fällen von Diabetes
ist man bekanntlich genötigt, auch den
Eiweißgehalt der Nahrung enger zu um- '
grenzen, da hier das Eiweiß als Zucker¬
quelle in die Erscheinung tritt. Auch
ist ja bekannt, daß bei Einschränkung
oder gar Ausschaltung insbesondere des
animalischen (Milch-, Fleisch-) Eiweißes
in der Regel wesentlich größere Mengen
von Kohlehydrat vom Diabetiker ver¬
tragen werden, als es bei einer größeren
Eiweißaufnahme der Fall ist, daß das
Eiweiß also deutlich schädigend auf den
Zuckerumsatz im diabetischen Organis¬
mus einwirken kann. Auf diese Weise
erklärt sich auch wohl hauptsächlich die
nicht selten günstige Einwirkung reiner
Kohlehydratkuren (von Noordensehe
Hafertage usw.) auf die Zuckerausschei¬
dung. Eine exzessive Eiweißzufuhr, wie
sie bei einer vom Kranken beliebig ge¬
wählten vorwiegenden Fleisch- und Fett¬
diät leicht eintritt, ist also in keinem
Falle von Diabetes ratsam, und in vielen
Fällen ist es nötig, die Eiweißmenge in
der Kost dauernd auf 130 bis 100 g oder
vorübergehend auch noch mehr zu be¬
schränken. Die für den Diabetiker dem¬
nach manchmal recht wichtigen quan¬
titativen Verhältnisse der Eiweißzufuhr
können für jede beliebige Kostform nach
den Tabellen ebenfalls ohne weiteres
ermittek werden. Um in einer Diabe¬
tikerkost die Eiweißzufuhr’einschränken,
die Gesamtkalorienzufuhr aber trotzdem
hochhalten zu können, muß man sich,
da Kohlehydrate nicht verwendet werden
können, an solche Nahrungsmittel wen¬
den, die ganz oder nahezu aus reinem
Fett bestehen oder in denen der Fett¬
gehalt den Eiweißgehalt wenigstens stark
überwiegt. (Fette, Öle, Butter, Mar¬
garine, Fettgewebe, geräuche'rter Speck,
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1920
51
Rahm, gelegentlich auch Rähm-Käse,
fettes Gänsefleisch.)
Der Gesamtkaloriengehalt der Nah¬
rung soll bei dem Diabetiker selbstver¬
ständlich genügend, aber doch auch nicht
besonders hoch bemessen sein, da eine
nur mäßige Beanspruchung der inter¬
mediären StoffwechselpTozesse als scho¬
nende Maßnahme ein.e Erstarkung
des Abbauvermögens _ für Zucker im
Gefolge zu haben pflegt. 35 bis 40 Ka¬
lorien pro Körperkilogramm, nach Abzug
des Kalorienverlusts durch die Glykosurie,
dürften im Durchschnitte genügen, so¬
fern es nicht bei stärkerer Abmagerung
nötig ist, durch ein höheres, dann aber auch
wohl immer ganz vorwiegend durch Fett
zu deckendes Kalorienangebot den Körper
zum Stoffansatze zu bringen. Es ist
daher zweckmäßig und in schwierigeren
Fällen manchmal notwendig, auch die
Kalorienaufnahme des Diabetikers quan¬
titativ' zu überwachen, und aus diesem
Grunde wurden die Hektokalwerte in die
Tabelle aufgenommen.
Die küchentechnischen Aufgaben, die
äus den ärztlich-diätetischen Anordnungen
linier Zugrundelegung nachstehender Ta¬
bellen erwachsen, sind für ‘einigermaßen
intelligente Personen nicht schwierig. Es
liegt der Küche ob, aus den verordneten
Nahrungsmittelmengen _ nach eigenem
Gutdünken einzelne Speisen herzustellen,
wobei ihr die Wahl unter den verschie-
... denen Nahrungsmitteln der namhaft ge¬
machten Gruppen freisteht. Dabei wird
die ärztliche Verordnung fast immer
auch noch eine Reihe von Gruppen zu-
sammenfassefi können. So hat es
keinen Sinn, bei Mengenbestimmungen
für die Diabetikerdiät einen Unterschied
zwischen den reinen Fetten und Ölen
einerseits und Butter oder Margarine
andererseits zu machen, da eine genau
abgezirkelte Kalorienzuteilung fast nie
nötig und durchführbar ist. Man wird
auch unter den Fleisch- und Fischarten,
die ja ebenso wie die Fette zu den unbe¬
dingt erlaubten Speisen gehören, für'
gewöhnlich nicht zu differenzieren brau¬
chen. Sie wurden in den Tabellen nur
wegen des allgemeinen diätetischen
Interesses, das die einschlägigen Ver¬
hältnisse darbieten und in Hinsicht auf
die eben genannten Fälle, in denen eine
Begrenzung der Eiweißzufuhr stattfinden
muß, gesondert aufgenommen. Dagegen
wird man bei den leichteren und mittel¬
schweren Fällen, die noch eine größere
Kohlehydrattoleranz aufweisen, von den
Einzelangaben über die kohlehydrat¬
reicheren Nahrungsmittelgruppen recht
oft mit Vorteil Gebrauch machen können,
um dem Diabetiker, und zwar in der
üblichen Weise im Austausche gegen
äquivalente Mengen von Brot, die er¬
wünschte größere Abwechslung in der
Kost zu gewähren. Daß man aber auch
hier nicht schematisch verfahren darf,
sondern, besonders bei den Nahrungs¬
mitteln, die ihren Kohlehydratgehalt zum
erheblichen Teil bzw. ganz nicht in Form
von' Stärke, sondern von Zucker ent¬
halten, vorsichtig sein muß, ihre-Ein¬
stellung. an Stelle von Brot also nicht
beliebig groß gestalten darf, ist bekannt.
Es gilt dies für die Milch, deren Ver¬
träglichkeit von Fall zu Fall geprüft
werden muß, namentlich aber auch für
die stärker zuckerhaltigen Vegetabilien,
so die Gruppe der Rüben (Tabelle VI, 3)
und die Obstarten, und unter den Ge¬
tränken für die Biere. Die stark süßen
Obstsorten, Trauben und Südfrüchte, sind
aus diesen Grunde überhaupt nicht auf¬
geführt. Auch die Biere, die nicht selten
ausgesprochen ungünstig auf die Zucker¬
ausscheidurig wirken, werden in der Regel
am besten ganz vermieden.
Ausschließlich oder fast ausschließlich aus Fett bestehende Nahrungsmittel
I
g
100
200
300
400
500
600
700
800
900
1000
K EHk
K E Hk
K E Hk
K E Hk
K E Hk
K E Hk
K E Hk
K E Hk
K EHk
K EHk
1. Ausgelassene (ausgeschmolzene)
tierische Fette (Rindstalg,
Schweine-, Butterschmalz
usw.), Palmin, Olivenöl u. a.
pflanzliche öle.
K
E
Hk
0
0
9
0
0
18
0
0
26
0
0
35
0
0
44
0
0
53
0
0
62
0
0
70
0
0
79 1
0
0
88
2. Butter, Margarine, Fettgewebe
von Hammel, Rind, Schwein,
Kno chenmark.
K
E
Hk
0
1
8
0
3
16
i
4
1 23
0
6
31
0
7
39
0
9
47
0
10 1
53
0
12
62
0
13
70
0
15
78
3. Speck, geräuchert.
K
E
Hk
0
9
7
0
17
14
0
26
20
0
35
27
0
43
34
0
52
41
0
61
48
0
70
54
0
79
61
0
87
68
7*
X'
52 , Die Therapie der Gegenwart 1920 Februar
\
II
1 Fleisch- und Fleischwaren, eßbare Substanz (Nettosubstanz)
Kohlehydratäqui¬
valente in g fürWeiß-
brotmengen von
i
100
200
||Q|
B
900
1000
f
KEHh
KE Hh
K E Hk
K E Hk
10g
20 g
30 g
40g|50g
1. Ffettes Gänsefleisch. .
K
E
Hk
0
15
5
0
30
10
0
45
14
0
60
19
0
75
24
0
90
29
B
0
120
38
0
135
43
0
150
48
—
—
—
—
—
2. Rauchfleisch .(Ochse,
, gösalzen u. geräuchert),
Schinken, gesalzen, ge¬
räuchert oder gekocht
(riicht Lachsschinken),
Zünge, geräuchert . .
K
E
Hk
0
24
4
0
48
8
0
72
12
0
96
16
0
120
20
0
144
23
0
168
27
0
192
31
0
216
35
0
240
39
—
—
—
—
-
3. Hammel- u. Schweine¬
fleisch, mittelfett. . .
K
E
Hk
0
17
2
0
34
5
0
51
7
0
68
10
0
85
12
0
102
15
0
119
17
0
136
20
0
* 153
22
0
170
25
—
—
—
—
—
4. Rindfleisch, mittelfett.
K
E
Hk
0
20
2
0
40
3
0
60
5
0
80
6
0
120
10
0
140
11
0
160
13
0
180
14
0
200
16
—
—
—
—
—
5. Kalbfleisch, mittelfett.
K
E
Hk
0
38
3
0
57
4
0
76
5
0
95
6
0
133
9
0
152
10
0
171
12
0
190
13
—
__
—
—
—
6. Bries (Milch, Brösel)
vom Kalb.
K
E
Hk
0
27
• 1
0
54
3
0
81
4
0
108
5
0
162
8
0
189
9
0
216
10
0
243
12
0
270
13
—
—
—
7. Herz, Niere von Rind,
Kalb, Hammel, Hirn
von Kalb.
K
E
Hk
0
13
1
0
26
3
1
39
4
1
52
5
1
65
6
1
78
8
1
91
9
2
104
10
2
117
12
2
130
13
—
—
—
-
8. Würste (ausgenommen
Leber- und Blutwurst)^)
K
E
Hk
1
18
4
2
36
9
2
54
12
3
72
17
4
90
21
5
108
25
6
126
29
6
144
33
7
162
38
8
180
42
—
—
—
-
9. Geflügel u. Wild “) . .
K
E
Hk
1
21
1
2
42
3
3
63
4
4
84
6
5
105
, 7
6
126
8
7
147
10
8
168
11
9
189
13
10
210
14
—
—
—
—
_
10. Lachsschinken, gesal¬
zenes [ungeräuchertes]
Fleisch, Fl.-konserven
in Büchs., frische Zunge
von Rind, Kalb, Ham¬
mel 3).
K
E
Hk
1
22
2
3
44
4
4
66
6
6
88
8
7
110
10
9
132
11
10
154
13
12
176
15
13
198
17
15
220
19
—
—
—
—
-
11. Gänsebrust, pommer.^
Gänseleberpastete . .
K
E
Hk
2
18
4
4
36
8
6
54
11
8
72
15
10
90
19
12
108
23
14
126
27
16
144
30
18
162
34
20
180
38
—
—
—
-
12. Leber von Rind, Kalb,
Hammel.
K
E
Hk
3
18
1
7
36
3
B
13
72
5
16
90
6
20
108
8
23
126
9
26
144
10
30
162
12
33
180
13
180
360
—
_
13. Leberwurst, mittlere
Sorte.
K
E
Hk
11
11
3
22
22
6
33
33
9
44
.44
12
55
55
15
66
66
19
77
77
22
88
88
25
99
- 99
28
50
150
—
-
14. Blutwurst.
K
E
Hk
20
10
2
40
20
4
60
30
6
80
40”
8
120
60
13
140
70
15
160
80
17
180
90
19
27
55
81
110
137
III
g
bei
BB
K E Hk|
K E Hk
|K E Hk
|K E Hk
K E kH
K E Hk
K E Hk
K E Hk
K E Hk
K E Hk
1. Stockfisch.
K
E
Hk
0
76 1
41
0
152
8
0
228
11
0
304
15
0
380
19
0
456
23
0
552
27
0
608
30
0
684
34
0
760
38
2. Besonders fette Fische(frisch),
Aal, Salm (Lachs), Maifisch . .
K
E
Hk
0
18
2
0
36
5
0
54
7
0
72
10
0
90
12
0
108
14
1 0
126
17
i 0
144
19
0
162
22
0
180
24
3. Mittelfette Fische (frisch ^) , .
K
E
Hk
0
17
1
0
34
3
0
51
4
0
68
5
0
1 85
1 6i
0
102
9
0
119
10
0
136
11
0
153
13
0
170
14
4. Magere Fische (frisch®) . . .
K
E
Hk
0
16
1
0
33
• 2
0 !
49 '
3
0
66
4
0 1
82
4
0
99
5
0 i
115 '
6
0
132
7
0 i
148
81
0
165
9
5. Fischkonserven ®)j gesalzen, ge¬
räuchert, mariniert, in Gelee .
K
E
Hk
21 ,
2
42
4
1
63
7
2 1
84
9
2
105
11
2
126
13
3
147
15
3
168
18
4
189
20
4
210
22
6. Kaviar.
K
E
Hk
1
28
3
3 1
sei
4
84
8
4
112
11
6 1
140
13'
8
168
16
9
196
19
10
224
22
12
252
24
13
280
27
7. Hummer, Krabben, Krebse,
Miesmuscheln..
K i
E
Hkj
2
13
1
3
27
2
5
40
2
7
54
3
8
67
4
10
80
1 5
12
94
1 6
14
107
1 7
15
121
7
17
134
8
8. Austern.
E
Hk|
3
6
1
7
12
I
|10
17
2
14
23
2
17
21
1 35
1 3
24
41
4
28
46
4
31
52
5
35
58
5
1) Cervelatwurst, Frankfurter Wurst, Mettwurst, Salami (Hartwurst), Schinkeiiwurst, Schlackwurst, Trüffelwurst.
“) Feldhuhn, Hahn, Hase, Huhn, mager, Huhn, fett, Krammetsvogel, Reh, Taube, Truthahn, Wildente.
®) Bouillonfleisch in Büchsen, Corned beef in Büchsen, Lachsschinken, Pökelschweinefleisch(Salzfleisch) Rindfleisch
(gedünstet) in Buchsen, Rindsbraten in Büchsen, Rindsgoulasch in Büchsen, Schinken, gesalzen, Zunge in Büchsen.
*) Heilbutte, Hering, gefütterter Karpfen, Makrele, Weißfisch.
») Barsch, Flunder, Forelle (Saibling), Hecht, Kabeljau, Karpfen, ungefüttert, Saibling (Forelle), Schellfisch,
Schleie, Scholle, Seezunge, Stör, Zander. - » & v
«) Aal in Gelee, Anchovis (Ölsardinen), Heilbutte, geräuchert und gesalzen (amerik. Schellfisch), Hering, gesal¬
zen, Hering, geräuchert, Laberdan, gesalzen (Kabeljau), Lachs (Salm), gesalzen, Makrele, gesalzen, Neunauge, ge¬
räuchert, Neunauge, mariniert, Sardelle, gesalzen, Sardinen s. Anchovis, Sprotten (Kieler).
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1920
53
Eier, Milch und Milchprodukte |
Kohlehydratäqui¬
valente in g für
Weißbrotmengen
von
IV
H
100
200 1
300
400
50'0
600
700
800
900
1000
■
BQ
mdiisi
K E Hk
10g|20gl
30g
40g
50g
WM
mH
PH
2
3
4
4
5
5
6
,
1. Eier .
IQI
48
60
72
84
96
108
120
—
—
—
—
•—
Hk 1
■■Ol
■NE
■■
6
7
9
10
12
13
15
K
3
3
4
5
6
6
7
2. Englischer Rahmkäse . .
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9. Vollmilch.
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10. Magermilch.
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1. Kakao.
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2. Grau-, Schwarz-, Graham-,
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3. Weißbrot, Wasserwekken,
Milchbrötchen.
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4. Vollmehle, Körner, Griese
Grützen, Nudeln, Macca-
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1. Salate, Tomaten,
Spargel, Gurken,
Sauerkraut, Radies-
chen,eingem. Schnitt¬
bohnen, Spinat 1 °) .
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2. Kohl- u. Krautarten
[ausgenommen Win¬
terkohl], frische Pilze,
Melone, Kürbis, grüne
Schnittbohnen . .
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’) Backsteinkäse, Brie, Camembert, Chedder, Chester, Edamer, Emmenthaler, Fettkäse, Gervais (Neuschätel), Gorgonzola, Hand-
kase, Holländer, Magerkäse, Parmesankäse, Ramadour, Roquefort. /
®) Buchweizenmehl, Buchweizen, geschalt, Eiergerstel, Gerste, geschalt, Gerstengriesmehl, Gerstenschleimmehl, Graupen, Grüir-
kernmehl, Hafer, geschalt, Hafergrütze, Hafermehl (Flocken, Oats), Maismehl (Mondamin), Makkaroni, Nudeln, Reis, geschält, Reis-
inehl, feinstes, Roggenmehl, Sorghohirse, geschält’, Sorghohirsenmehl, Weizengries, Weizenmehl, feinstes, Weizenmehl, gröberes.
®) Kartoffelstärke, Maisstarke, Reisstärke, Sagostärke, Tapioka (Arrowroot), Weizeiistarke.
*“) Endiviensalat, Feldsalat (Lattich), Kopfsalat, Römischer Salat, Spinat, eingemachte Schnittbohnen, Spargel frisch, Spargel,
eingemacht, Gurke frisch, Gurke, eingemacht (sauer), Sauerkraut, eingemacht, Tomaten, Tomaten frisch, eingemacht, Radieschen.
“) Blumenkohl, Rosenkohl, Rotkraut, Weißkraut, Savoyerkraut (Welschkraut, Wirsing), grüne Schnittbohnen, Melone^
Kurbisse, frische Pilze.
54
Die'Therapk der Gegenwart 1920
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Gemüse, Kartoffeln, Kastanien,
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zeln, Rettich, Arti¬
schocken, Winter¬
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5. Kartoffeln, geschält
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6. Getrocknete Pilze “)
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8. Sojabohnenmehl . .
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10. Trockene Hülsenfr.
(Erbsen,Bohnen, Lin¬
sen) ■..
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11. Leguminosenmehle
(Erbsen-, Bohnen-,
Linsenmehl) ....
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Kerne).
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3. Frisches Kern- und
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nanen (keine Feig.) “)
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4. Leicht. Biere, Schankbiere “)
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12 ) Kohlrabi, Kohlrüben, Roterübe, Roterübe, eingemacht, Schwarzwurzel, Speisemöhre, klein (Karotten), Speise¬
möhre, groß (Möhren), Teltower Rüben (Rapunzeln), Weiße Rüben, Sellerie (Wurzel), Winterkohl (Grünkohl), Rettiche,
Meerrettich.
12 ) Erbsen, grüne, eingemacht, Gartenerbsen (Schoten), grüne, Puffbohnen, grüne, Salatbohnen, eingemacht
(Schnittbohnen, grüne, s. Anm. 11, Schnittbohnen, eingemacht, s. Anm. 10).
11) Getrocknete Champignons, Speiselorchel, Speisemorchel, Steinpilz, Trüffel.
12) Blumenkohl, grüne Schnittbohnen, Karotten (gelbe Rüben, Möhren), Rosenkohl, Rotkraut, Savoyerkohi
(Welschkraut, Wirsing), Weißkraut, Winterkohl (Grünkohl), alles getrocknet.
1«) Brombeeren, Erdbeeren, Heidelbeeren, Himbeeren, Johannisbeeren, Preißelbeeren, Stachelbeeren.
11) Äpfel, Ananas, Apfelsinen, Aprikosen, Bananen, Birnen, Kirschen, Mirabellen, Pfirsich, Pflaumen, Reine¬
clauden, Zwetschgen.
18) Französischer Rotwein, Mosel-, Aar-, Saar-Weißwein, Rhein- und Maingau-Weißwein, Rheinpfalz-Wei߬
wein, Tiroler Rotwein.
1») Berlin, Böhmisches Brauhaus, Drehers böhmisches Bier, Dresdner Gambrinus, Münchener Löwenbräu,
Pilsener Schankbier, Wien,St. Marx.
2“) Kulmbacher, Pilsener, Porter, Salvator, Weihenstephaner.
21) Berliner Aktienbier, Dresdner Felsenkeller, Münchener Hofbräu, Münchener Spatenbräu, Pilsener Lagerbier.
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1920
55
Ans der MedizMsclien Klinik der Universität Rostock.
Direktor: Gel. Med.-Rat Prof. Dr, Martins.)
Behandlung von Lungenabsceß und Bronchiektasien mit
Salvarsan.
Von Dr. Fritz Hirsch.
Die Behandlung von Lungenabsceß
und Bronchiektasien ist im allgemeinen
eine Crux für den Arzt. Bei Bronchi¬
ektasien treten Heilungen kaum, bei Lun¬
genabsceß selten ein. Die Zahl der ange¬
wandten Mittel ist sehr groß, ein Beweis
für die geringen Erfolge, die die Therapie
aufweist. In letzter Zeit hat man sogar
chirurgische Behandlungsmethoden ver¬
sucht, doch sind diese meist zu eingreifend.
Relativ am ungefährlichsten ist noch die
Pneumothoraxtherapie, die aber von den
einzelnen Autoren recht verschieden, zum
Teil sehr absprechend beurteilt wird.
Unverricht(l). der eine Reihe von Bron¬
chiektasien mit künstlichem Pneumo¬
thorax behandelt hat, will die Methode
für relativ frische Fälle reserviert wissen,
da in den älteren Fällen meist peribron¬
chiale Entzündungen usw. das Kollabieren
der wohl zu starren Bronchien verhindern.
So sind also auch dieser chirurgischen
Methode enge Grenzen gezogen. Es steht
uns jedoch ein internes Mittel zur Ver¬
fügung, das in der Therapie chronischer
Lungenerkranku'ngen bisher wenig beob¬
achtet wurde, nämlich das Salvarsan,
mit dem wir vielversprechende Erfolge
erzielen konnten. Brauer hat die Sal-
varsanbehandlung der Lungengangrän
inauguriert (siehe Mohr-Stähelin,
Handbuch der inneren Medizin Bd. 2) und
Groß (2) hat über sehr ermutigende Re¬
sultate berichtet. Es lag daher nahe, das
Salvarsan auch für die Behandlung an¬
derer Lungenerkrankungen heranzu¬
ziehen, was bisher, soweit ich die Literatur
übersehen kann, nicht geschehen ist.
Von Januar 1919 bis jetzt kamen zwei
Bronchiektatiker und zwei Fälle von
Lungenabsceß in unserer Klinik zur Be¬
handlung. Bei diesen vier Patienten
versuchten wir Salvarsan und erzielten
in drei Fällen Heilung und in einem Falle
(Bronchiektatiker) erhebliche Besserung.
Eine Kontrolle in unserer klinischen Beob¬
achtung bot uns das Allgemeinbefinden,
der Temperaturverlauf, die Menge und
Beschaffenheit des Sputums und nicht
zuletzt das Röntgenbild. 1m folgenden
gebe ich einen kurzen Auszug aus den
Krankengeschichten:
Fall l. W. H., Maurer, 50 Jahre, aufgenommen
in die Klinik am 29. Januar 1919. Immer gesund
gewesen. Infectio veneris negatur. Am 7. August
1918 erkrankte er an einer rechtsseitigen Rippen¬
fellentzündung und „Lungenkatarrh“. Nach vier¬
zehn Tagen wieder gesund. Bald darauf beim
Atmen schneidende Schmerzen in der rechten
Thoraxseite. Er hatte das Gefühl, daß sich in der
rechten Lunge eine Flüssigkeit bewege, wenn er
den Oberkörper schüttelte. Nach einiger Zeit
hustete er eine eitrige Flüssigkeit aus. Danach
fühlte er sich mehrere Wochen ganz wohl. Dann
expektorierte er wieder Flüssigkeit mit Eiter ver¬
mischt. Dies trat in der Folgezeit in Abständen
von drei bis vier Wochen auf, weshalb er Jetzt
die Klinik aufsucht.
Status; Großer, sehr kräftig gebauter Mann
in gutem Ernährungszustände.
Thorax gut gewölbt. Ausdehnungsfähigkeit
beiderseits gut. Rechts leichte Vorwölbung.
Rechts bei Druck auf die Intercostalräume Wider¬
stand stärker als links. Zwerchfellspiel rechts
nur angedeutet. Am oberen Rande der fünften
Rippe rechts vorn in der Parasternallinie Schall¬
verkürzung. Rechts vorn unterhalb der Brust¬
warze an umschriebener Stelle Tympanie. Da¬
selbst leises, fernklingendes Bronchialatmen hör¬
bar. Hinten vom dritten bis siebenten Brustwirbel¬
dornfortsatz rechts neben der Wirbelsäule ge¬
dämpft tympanitischer Schall mit fernklingendem
Bronchialatmen und verstärktem Stimmfremitus.
Über der rechten Lungenspitze Schall etwas ab¬
geschwächt, Exspirium verlängert und betont.
Sonstiger Organbefund bot keine Besonderheiten.
Blut: Leukocyten 7555.
Blutbild: 54% polymorphkernige Leukocyten,
33% Lymphocyten, 10% Übergangsformen, 3%
eosinophile Leukocyten.
Geringe Mengen confluierendes ockerfarbenes,
eitriges Sputum.
Im Ausstrich- und Antiforminpräparat wurden
niemals säurefeste Stäbchen gefunden.
Wassermannsche Reaktion im Blute negativ,
auch während der Behandlung nie positiv.
Röntgenbild vom 30. Januar 1919 (siehe Ab¬
bildung I) ergab im rechten Unterlappen der
Lunge eine kindskopfgroße, quergelagerte, ovale
Blase zu zwei Drittel mit gut verschieblicher
Flüssigkeit gefüllt. Darüber Luft, alles scharf-
randig abgegrenzt.
Am 5. Februar bei Schräglagsrung plötzlich
Expektoration von 300 ccm eitrigen Sputums.
Temperatur bisher stets zwischen 38,4® und 39®.
Am 6. Februar Beginn der Salvarsanktir: 0,15.
Neosalvarsan intravenös.
Ab 7. Februar langsamer Abfall der Tempe¬
ratur bis auf 36,5® am 10. Februar.
Am 10. Februar: Mäßige Sputummenge.
Am 13. Februar: 0,3, am 18. Februar: 0,45,
am 21. Februar: 0,45, am 1. März: 0,45 und am
7. März: 0,45 Neosalvarsan. Insgesamt 2,25 g
Neosalvarsan.
Am 13. und 17. Februar wurden noch je 50 ccm
eitriges Sputum expektoriert, danach kein Aus¬
wurf mehr. Temperatur stets normal. Allgemein¬
befinden besser, Gewichtszunahme.
19. März: In der Höhe des fünften bis sechsten
Brustwirbeldornfortsatzes rechts ganz geringe
56
Die Therapie der Gegenwart 1S20
Februar
Schallverkürzung mit reinem, aber abgeschwäch¬
tem Vesikuläratmen.
Röntgenbefund (siehe Abbildung II). Kein
Flüssigkeitsspiegel mehr; schräg zum Hilus
gehender strichförmiger Schatten.
Am 21. März: Geheilt entlassen. Der Weisung,
sich in zwei Monaten wieder vorzustellen, hat
Patient nicht entsprochen, ein Zeichen dafür,
daß es ihm gut geht. Dies bestätigt uns ein an¬
derer Patient, der aus dem gleichen Dorfe stammt.
Zusammenfassung: SOjähriger Mann mit Lun-
genabsceß, der zirka sechs Monate besteht, Heilung
durch Salvarsan.
Fall 2: Frl. S., 21-54 Jahre. In der Familie
keine Lungenkrankheiten. Mit 16 Jahren Lungen-
und Rippenfellentzündung, jedoch völlige Gene¬
sung. Im November 1918 Grippepneumonie, seit¬
dem bettlägetig, Stiche in der linken Lunge,
Husten, Auswurf und Nachtschweiße. Keine In-
fectio venerea. Aufnahme am 12. April 1919.
Status: Ziemlich großes Mädchen in mitt¬
lerem Ernährungszustände. Leichte C^anose.
Thorax flach, Zwerchfellspiel beiderseits
deutlich.
Über der ganzen linken Lunge feuchte, klin¬
gende Geräusche, abgeschwächter Klopfschall,
besonders vom Schulterblattwinkel abwärts,
Atemgeräusch unbestimmt, in Höhe des fünften
Brustwirbeldornfortsatzes bronchial.
Puls weich, wenig gespannt.
Sonstiger Organbefund ohne Besonderheiten,
ebenso der Blutstatus.
Subfebrile Temperatur (hin und wieder An¬
stieg auf 39®).
Im Sputum wurden nach Antiforminbehand¬
lung mehrfach säurefeste Stäbchen gefunden.
110—250 ccm (in 24 Stunden) dreischichtiges,
in der mittleren Schicht stark sanguinolentes, in
der unteren Schicht eitriges Sputum. Fader Ge¬
ruch. Keine elastische Fasern im Sputum nach¬
weisbar.
Röntgendurchleuchtung: Links unten starke
diffuse Verschattung, Schwartenbildung. Rechte
Lunge frei. Keine .Bronchialdrüsen. Spitzen frei.
Wassermannsche Reaktion im Blute negativ.
Beginn der Salvarsankur am 8. Mai: 0,15
Neosalvarsan intravenös. Zunächst keine Besse¬
rung und sogar Zunahme des Auswurfs.
20. Mai: 0,15, 30. Mai: 0,3 und 10. Juni: 0,3
Neosalvarsan intravenös.
Auswurf noch nicht geringer, jedoch 4000 g
Gewichtszunahme seit dem 1. Juni und langsamer
Abfall der Temperatur.
21. Juni: 170 ccm Sputum, nicht mehr blutig.
Temperatur 37,4®.
24. Juni: 60 ccm Sputum, blutfrei. Temperatur
37,1®.
26. Juni: Fast kein Sputum mehr. Temperatur
zwischen 36,5® und 37,1®.
28. Juni: Kein Sputum mehr. Entfiebert.
Keine Cyanose mehr. Puls bedeutend voller. In
den letzten drei Wochen keine säurefesten Stäb¬
chen mehr gefunden. Lungenbefund unverändert,
jedoch sind die Rasselgeräusche geringer ge¬
worden.
3. Juli: 0,3 Neosalvarsan intravenös.
7. Juli: Befinden bessert sich weiter.
Zusammenfassung: 22jähriges Mädchen, Bron-
chiektasien mit Cavernenbildung. Offene Tuber¬
culosis pulmonum (primär oder sekundär?); weit¬
gehende Besserung nach Salvarsanbehandlung.
Röntgenologisch: Keine Änderung des Befundes
bisher.
Nachuntersuchung (Mitte Dezember 1919) er¬
gibt, daß die Patientin 30 Pfund an Gewicht zu¬
genommen hat. Der Lungenprozeß ist völlig'zum
Stillstand gekommen.
Fall 3: A. S., Arbeiter, 50 Jahre. Aufnahme
am 26. Mai 1918. Früher stets gesund. Infectio
veneris negatur. Seit etwa vier Wochen Seiten¬
stechen, Husten und .Kurzatmigkeit. Infectio
venerea negatur.
Status: Mittelgroßer Mann in mäßigem
Kräfte- und Ernährüngszustande. Bei der Auf¬
nahme wurde ein rechtsseitiges Pleuraexsudat fest¬
gestellt und 3000 ccm seröser Flüssigkeit entleert.
Organbefund sonst normal, ebenso Blutstatus.
Wassermannsche Reaktion während der Be¬
handlung stets negativ.
Im Anschluß an die Brustfellentzündung Aus¬
bildung von Pleuraschwarten und Bronchiektasien.
Am 30. Juli 1918 ergab die Lungenunter-
suchiing: Rechts hinten unten Dämpfung vom
zehnten Brustwirbeldornfortsatz abwärts. Über
der ganzen rechten Lunge etwas hauchendes
Exspirium, reichliche feuchte, mittelblasige Rassel¬
geräusche. Schall gedämpft-tympanitisch.
Sputum: dreischichtig 50—250 ccm täglich.
Säurefeste Stäbchen wurden niemals gefunden.
Röntgenbild: Rechte Lunge, besonders unten
verschattet, zahlreiche bronchiektatische Herde;
Rechts kein Zwerchfellspiel sichtbar.
Temperatur wechselnd, öfters zwischen ^ 37 ®
und 39®.
Da der Patient in der Folgezeit mehr und mehr
verfiel und alle angewandten Mittel — ich nenne
Terpentin, Guaiacolpillen, Ipecacuanha, Atropin,
Collargol, Calcium — ohne jeden Erfolg gewesen
waren, versuchte ich Februar 1919 als letztes
Salvarsan, da eine chirurgische Therapie bei dem
relativ schlechten Kräftezustande des Patienten
ausgeschlossen erschien.
6. Februar 1919: Rechts hinten unten vom
zehnten Brustwirbeldornfortsatz ab Dämpfung mit
abgeschwächtem Vesikuläratmen. Über beiden
Spitzen verschärftes Vesikuläratmen mit hauchen¬
dem Exspirium. Mitte fast bronchial. Rechts
hinten unten bronchiales, fast aufgehobenes Atem¬
geräusch.
Siehe Röntgenbild III.
0,15 Neosalvarsan intravenös. Auswurf un¬
verändert.
13. Februar: 0,3 Neosalvarsan intravenös. In
der Nacht kein Auswurf mehr. Temperatur fällt
ab. Befinden besser.
16. Febraur: Auswurf sehr wenig, Schlaf in¬
folgedessen jetzt ausgezeichnet, konnte vordem
infolge des quälenden Hustenreizes fast gar nicht
schl 0n
21. Februar: 0,45, 1. März: 0,45, 21. März:
0,45'und 3. April: 0,3 Neosalvarsan intravenös.
Zusammen 2,1 g Neosalvarsan.
10. April: Rechts hinten unten abgeschwächter
Klopfschall und leises Vesikuläratmen. Keine
Rasselgeräusche mehr hörbar.
Siehe Röntgenbild IV.
Am Schlüsse der Kur konnten wir Gewichts¬
zunahme und so bedeutende Besserung des All¬
gemeinbefindens feststellen, daß der Patient, der
fast ein Jahr lang das Bett hüten mußte, aufstehen
konnte." Wir gedenken die Salvarsankur dem¬
nächst zu wiederholen.
Nachtrag (Ende Dezember 1919): Eine zweite
Salvarsankur vermochte nicht, eine weitere Besse¬
rung des Zustandes herbeizuführen.
Zusammenfassung: 50 jähr. Bronchiektatiker.
Bedeutende Besserung durch Salvarsan nach fast
einjährigem Krankenlager.
Fall 4: 0. B., Kaufmann, 35 Jahre, Aufnahme:
25. September 1919. B. leidet seit seiner Kindheit
Februar
Di'e Therapie der Gegenwart 1920
57
an Asthma bronchiale mit consecutivem Lungen¬
emphysem und chronischer Bronchitis.
Am 24. September 1919: Plötzliche Erkrankung
mit Schüttelfrost und hohem Fieber; Herpes la¬
bialis. Rechte Lunge von der Schultergräte ab¬
wärts gedämpft. Lautes-Bronchialatmen. Rost¬
farbenes Sputum.
Wie die Temperaturkurve lehrt, erfolgte in
der nächsten Zeit kein kritischer Temperatur¬
abfall.
Am 3. Oktober 1919 bestand eine faustgroße
Dämpfung im oberen Bereiche des rechten Unter¬
lappens mit broncho-vesiculärem Atemgeräusch
und reichlichen feuchten Rasselgeräuschen. Das
Sputum nahm an Menge bedeutend zu, es war
von gelbgrüner Farbe und zweischichtig.
Am 12. Oktober beginnt der Auswurf einen
süßlich-stinkenden Geruch anzunehmen. Mikro¬
skopisch enthält das Sputum Curschmannsche
Spiralen, elastische Fasern, sehr viele Leukocyten
und Pneumokokken.
Trotz vielfacher Untersuchung wurden im
Auswurfe nie Tuberkulosebacillen oder Spiro¬
chäten gefunden.
25. Oktober 1919: Expektorantien, Balsamica,
Calcium u. v. a. m. zeitigten keinen Erfolg, daher
Beginn einer Neosalvarsankur.
Nach der ersten Injektion (0,15 intravenös)
steiler Temperaturabfall von 39 auf 36® C, der
Auswurf verschwand in wenigen Tagen, und der
Kranke konnte das Bett verlassen.
2. November 1919: Die zweite Spritze erhielt
der Kranke nur noch zur Bekräftigung, denn eine
strenge Indikation für eine Fortsetzung der Kur
bestand nicht mehr.
Die dritte bis fünfte Injektion wurde dem be¬
reits beschwerdefreien Patienten nur noch als
Roborans gegeben.
4. Januar 1920: Der vorher stets elende
Kranke, der zur Heilung seines Asthmas vielfach
Seereisen und Reisen nach dem Süden unter¬
nommen hatte, blühte unter der Salvarsankur
förmlich auf und hat in acht Wochen zirka
20 Pfund an Gewicht zugenommen. Das Emphy¬
sem und die chronische Bronchitis bestehen jedoch
unverändert fort.
Zusammenfassung: 35jähriges Kaufmann, von
Kindheit auf Asthmatiker. Im Anschluß an eine
schwere Pneumonie Bildung eines Lungenabscesses.
Langanhaltendes hohes Fieber. Überraschender
Erfolg bereits nach der ersten Neosalvarsan-
injektion (0,15 g).
Wenn es auch nur vier Fälle sind,
über die ich berichten kann, so glaube
ich doch sagen zu dürfen, daß man in
Zukunft bei Bronchiektasien und Lungen-
abscessen, bevor man einen stets schwie¬
rigen chirurgischen Eingriff in Erwägung
zieht, des völlig ungefährlichen Salvarsans
gedenken sollte. In ihm steht uns ein
Mittel zur Verfügung, welches geeignet
erscheint, auch in ganz chronischen und
verzweifelten Fällen, die jeder anderen
Therapie trotzen, noch Erstaunliches zu
leisten. Unsere Erfahrungen stehen damit
im Gegensätze zu denen von Groß, der
auf Grund seines Materials die mehr akut
verlaufenden Lungengangränfälle mit
Salvarsan behandelt wissen will. (Ich bin
mir dabei wohl bewußt, daß man zwischen
Lungengangrän und unseren Affektionen
nur bedingt Parallelen ziehen kann.)
Schwer ist es, sich von der Wirkungs¬
weise des Salvarsans eine Vorstellung zu
machen. Groß sagt, die Annahme liege
nahe, daß das Mittel besonders in den¬
jenigen Fällen von Lungengangrän wirk¬
sam sein müsse, bei denen Spirillen und
Spirochäten ätiologisch eine Rolle spielen.
Wir haben darauf unser Augenmerk ge¬
richtet; es ist uns jedoch in keinem Falle
vor oder während der Behandlung ge¬
lungen, im Dunkelfeld oder mit einer der
anderen üblichen Methoden Spirillen im
Auswurfe nachzuweisen. Ebenso war und
blieb die Wassermannsche Reaktion in
unseren Fällen dauernd negativ.
Auch an einen allgemeinen tonisieren-
den und roborierenden Einfluß der Arsen¬
komponente im Salvarsan könnte man
denken, der den Körper befähigte, des
Krankheitsprozesses Herr zu werden.
Wenn man auch nicht verkennen darf,
daß das Salvarsan infolge seines sehr
hohen Arsengehaltes besonders intensive
Wirkling zu entfalten vermag, so wäre es
doch interessant, den Einfluß von anderen
Arsenpräparaten auf die in^Frage stehen¬
den Affektionen zu studieren, um so
eruieren zu können, ob nicht andere
Molekülkomplexe (als das i^Arsen) im
Salvarsan die Träger des therapeutischen
Effektes sind.
Nachsatz: Vielleicht ist das Salvarsan
geeignet, auch die Lungentuberkulose
günstig zu beeinflussen.
Literatur: 1. Unverricht, (B. kl. W. 1919,
Nr. 22). — 2. Groß, (Ther. d. Gegenw. 1916,
Heft 12).
Die Vaccinetherapie des Heufiebers,
Von Dr. K. Eskuchei), München-Schwabing.
Seit den Veröffentlichungen von Noon
und Freemann hat die Vaccinetherapie
des Heufiebers in zunehmendem Umfange
die rein symptomatischen Behand¬
lungsmethoden sowie die Klimatotherapie
verdrängt. Die auf das „Pollantin“ und
„Graminol“, mit denen eine Art passiver
Immunisierung angestrebt wurde, ge¬
setzten großen Hoffnungen hatten sich
ja bekanntlich nicht erfüllt und auch die
reine Calciumbehandlung (,,Afenir‘ usw.)
scheint nur in einem Bruchteil der Fälle
58
Die^ Therapie der Gegenwart 1920
Februar
mit Erfolg anwendbar zu sein. Seit es
daher feststeht, daß es durch eine ge¬
eignete Anwendung der Vaccinetherapie
gelingt, selbst schwere Heufieberkranke
nicht nur zu bessern, sondern, sie mit
Sicherheit symptomfrei zu halten, das
heißt in diesem Falle sie zu ,,heilen.‘‘, kann
eigentlich neben ihr eine andere Behand¬
lung nicht mehr in Frage kommen. Denn
im Gegensatz zu den mannigfachen ganz
unspecifischen Methoden, die nur die
gerade auftauchenden Symptome mo¬
mentan zu bekämpfen versuchten, stellt
die Vaccinetherapie des Heufiebers eine
Behandlung dar, die auf der Kenntnis
von dem Wesen des Leidens basiert und
die sich daher gegen die Krankheit an
sich wendet, das heißt: an die Stelle
der ehemaligen unspecifischen,
rein symptomatischen, sehr un¬
sicher und immer nur vorüber¬
gehend wirkenden Behandlungs¬
methoden ist mit der Vaccinethera¬
pie eine specifische, die kausale
Behandlung getreten. Es war aller¬
dings Zeit und Mühe notwendig, bis die
wirksamste Anwendungsart der Vaccine¬
therapie festgestellt war; darüber hat
naturgemäß die ursprünglich angegebene
Methode erhebliche Veränderungen er¬
fahren müssen.
Der Hauptunterschied der jetzigen
gegenüber der anfänglichen Behandlung
mittels Pollenvaccine liegt neben der
Änderung der benutzten Vaccine in der
Steigerung der Giftkonzentration und in
dem Übergange von der rein prophylak¬
tischen zu der Kombination dieser, der
,,immunisatorischen“, mit der direkten
Bekämpfung des Heufiebers auch während
der Blütezeit durch die ,,Kupierung“
drohender oder doch möglicher Krank¬
heitssymptome. Leider besteht bis heute
trotz der Kenntnis von der Ursache des
Heufiebers, das heißt der Feststellung,
durch welche Körper die Attacken hervor¬
gerufen werden, noch keinerlei Sicherheit
hinsichtlich der Art der Wirksamkeit
der Vaccinetherapie. Nun wissen wir ja
allerdings auch über die Entstehung des
Heufieberanfalles bisher nur, daß die
Eiweißkörper der Gräser- und Getreide¬
pollen ihn auslösen; wie das geschieht und
warum das bei dem einen Menschen schon
mit minimalen Dosen, bei dem anderen
überhaupt nicht gelingt, ist noch unbe¬
kannt. Es ist hier nicht der Ort, all die
verschiedenen Möglichkeiten zu erörtern.
Nach dem Gesagten kann es aber nicht
wundernehmen, wenn über der Wirkungs¬
weise der specifischen Therapie erst
recht noch tiefes Dunkel lagert.
Bekanntlich bestand diese Behandlung
anfangs darin, daß man die hohe Emp¬
findlichkeit dem Pollengifte gegenüber
bei den zum Heufieber Disponierten durch
subcutane Injektionen steigender Toxin¬
mengen planmäßig zu verringern, also
ihren Resistenzgrad zu erhöhen suchte.
Genau das gleiche Vorgehen wie bei* der
aktiven Immunisierung. Tatsächlich tritt
auch allmählich eine Erhöhung des Re¬
sistenzgrades ein, was sich zahlenmäßig
exakt durch intracutane Empfindlichkeits¬
prüfungen nachweisen läßt. Ob es sich
dabei aber um ganz ähnliche Vorgänge
wie bei den sonstigen immunisatorischen
Prozessen handelt, wird nun deshalb
zweifelhaft, weil es manchmal auch gelingt,
bei nicht vorbehandelten Kranken
die Heilfiebersymptome während der
Blütezeit durch Injektion von Pollen¬
toxin zu „kupieren“. Für dieses auf¬
fällige Verhalten findet man sonst keine
Analogie und die wichtige Frage bedarf
noch der Klärung: liegt hier eine doppelte,
voneinander unabhängige Art der Wir¬
kungsweise vor oder bestehen zwischen
beiden Vorgängen nähere innere Zu¬
sammenhänge?
Rein empirisch sind wir auf Grund
folgender Beobachtungen zu der Aus¬
arbeitung unserer jetzt geübten Vac-
cinetlierapie gekommen. Erstens zeigte
sich, daß die durch prophylaktische Be¬
handlung erreichte Resistenzerhöhung
nach Aussetzen der Injektionen (zu Be¬
ginn der Blütezeit) sehr bald wieder ,ab-
sinkt, so daß dann bei nicht ganz leichten
Heufieberkranken nach zirka 14 Tagen
doch allerlei Symptome, wenn auch in
abgeschwächtem Maße, auftraten. An¬
dererseits führte der Versuch der Kupie-
rung von Heufieberattacken während der
Blütezeit bei nicht vorbehandelten
Kranken in der großen Mehrzahl der Fälle
erst recht zur Provokation allerschwerster
Erscheinungen, und nur selten zeigte dieses
Vorgehen einen befriedigenden Erfolg.
Sogar bei einigen vorbehandelten
Kranken zeigten sich diese unangenehmen
Folgen; allerdings war die ,, Immunisie¬
rung“ jedesmal nicht sehr hochgradig ge¬
wesen und die Krankheitssymptome ver¬
liefen auch bedeutend milder. Demnach
gab es Versager bei den verschiedensten
Anwendungsformen der Vaccinetherapie,
sowohl bei der reinen ,,Immunisierung“
(Abschluß bei Beginn der Blütezeit), wie
bei der ,,Kupierung“, sei es mit oder ohne
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1920
5^
vorhergehende prophylaktische Behand¬
lung. Die einfache Schlußfolgerung ver¬
wies auf eine Kombination beider
Methoden, der „Immunisierung'S je¬
doch in einer geeigneteren Form wie bis¬
her, und der „Kupierung'*. Eine genügend
kräftige, dabei aber doch völlig gefahr¬
lose Kupierung war nur dann möglich,
wenn auch die Immunisierung hinreichend
intensiv durchgeführt war. Und die An¬
wendung dieser kombinierten Vaccine¬
therapie zeitigte denn auch das erwartete
Resultat. Kurz gesagt besteht deren
Wesen also darin, durch einekonse-
quent durchgeführte immunisato¬
rische Behandlung vor der Blüte¬
zeit rechtzeitig einen so hohen und
so stabilen Resistenzgrad zu er¬
reichen, daß man während der
Blütezeit genügend starke Va'ccine-
konzentrationen gefahrlos spritzen
kann, um das Auftreten irgend¬
welcher Krankheitssymptome von
vornherein zu unterbinden. Natür¬
lich liegt die Frage nahe, ob es sich dann
nicht nur üm eine einfache Fortsetzung
der Immunisierungstherapie handelt,
welche ein Absinken des erreichten Re¬
sistenzgrades verhindert. Nach meinen
Beobachtungen scheint das. jedenfalls
nicht durchgehends der Fall zu sein; wenn
auch für manche, besonders leichtere
Kranke diese Erklärung genügen könnte,
so ist es doch unzweifelhaft, daß bei der
Mehrzahl derselben eine doppelte Art
der Vaccinewirkung vorliegt und daß sich
tatsächlich Immunisierung und Kupie¬
rung unterstützen oder ergänzen.
Nun zur Durchführung der eben
skizzierten Vaccinetherapie. Der erste
Grundsatz dabei ist, daß die Behandlung
nicht schematisch gestaltet werden
darf; nur durch weitgehende Indivi¬
dualisierung ist es möglich, in jedem
Falle das gewünschte Optimum des Er¬
folges zu erzielen, das allein die sichere
Heilung gewährleistet. Wohl lassen sich
allgemeine Richtlinien für die Aufstellung
des Behandlungsplanes angeben, im ein¬
zelnen jedoch muß derselbe ganz persön¬
lich ausgebaut werden, wenn man einmal
eine ,,Heilung“ erreichen (damit ist immer
nur ein Ausbleiben der Heufiebersym¬
ptome während der betreffenden Saison
gemeint), andererseits jegliche unangeneh¬
men Zwischenfälle vermeiden will. Der
erste Punkt erfordert eine Behandlung,
die dem Krankheitsgrad des Kranken ent¬
spricht, auf keinen Fall also ungenügend
ist; der zweite verlangt Vorsicht bei der
Dosierung der Vaccine, die Einhaltung
richtiger Zeitabstände und die Beobach¬
tung einer ganzen Reihe von anscheinend
unwichtigen Kleinigkeiten, auf die noch
hingewiesen wird.
Die Grundlage der Behandlung bildet
die Feststellung der individuellen
Empfindlichkeit dem Pollentoxin
gegenüber. Diese muß rechtzeitig —
entweder im Herbst oder spätestens im
Januar — vorgenommen werden, damit
der für die Behandlung sehr empfindlicher
Kranken notwendige frühe Termin ein¬
gehalten werden kann. Die Empfindlich¬
keit, deren Grad durch intracutane In¬
jektionen ermittelt wird, wird mit der
Zahl der Einheiten bezeichnet, durch die
eine deutliche Reaktion erzielt wurde. Es
ist darauf zu achten, daß die Injektion
wirklich intracutan geschieht (Quad¬
del), ferner, daß nicht gleichzeitig zu
viele Konzentrationen nebeneinänder ge¬
spritzt werden (Gefahr der Summation),
sowie daß mit einer kleinen Dosis ange¬
fangen wird (z. B. 5 E.). Es erleichtert
die Technik wesentlich, wenn man eine
konzentriertere Vaccine wählt, von der
man dann nur eine kleine Menge zu
spritzen braucht, z. B. 10 E. =0,2 ccm
von Konzentration 50 E. Wenn wir nun
auch in dieser Impfung eine ganz exakte
Methode haben, um Heufieberkranke von
Nichtkranken zu unterscheiden (letztere
reagieren auch auf viele Tausend E. nicht),
und wenn die Methode auch mit viel
größerer Präzision die Schwere der
Krankheit angibt als es die subjektiven
Schilderungen der Kranken ermöglichen,
so besteht doch nicht in allen Fällen ein
völliger Parallelismus zwischen Emp¬
findlichkeit und Heufiebersymptomen.
Es gibt sowohl Fälle mit hoher Toxin¬
empfindlichkeit aber verhältnismäßig ge¬
ringen Beschwerden (selten), als auch —
und das ist praktisch von Bedeutung —
Kranke mit ziemlich geringer Toxin¬
empfindlichkeit, die aber während der
Blütezeit die schwersten Symptome zeigen
können. Letztere bedürfen natürlich
einer besonders intensiven Behandlung.
Um schlimmen Überraschungen vorzu¬
beugen, soll man sich daher auch über die
subjektiven Beschwerden der Kranken
genau informieren, wenn auch diese Aus¬
nahmefälle selten sind.
Je nach dem Resultate der Empfind¬
lichkeitsprüfung im Verein mit den An¬
gaben über die subjektiven Beschwerden
teilt man praktischerweise die Heufieber-
8*
60
Die Therapie,der Gegenwart 1920
Februar
kranken in drei Gruppen ein: in leichte
(I), mittlere (II) und schwere (III) Fälle.
Diesen entsprechend kann man auch drei
Behandlungspläne aufstellen; dabei han¬
delt es sich um Unterschiede in der not¬
wendigen Immunisierungshöhe und in der
Intensität der Behandlung während der
Blüte.zeit. Eine reine Folge davon ist die
Dauer der prophylaktischen Behandlung
und die Anzahl der Injektionen. Je nach
der Schwere des Falles hat die Therapie
etwa Ende Januar (I), Ende Februar (II)
oder Ende März (III) einzusetzen. Als
Enddosis ist eine Vaccinekonzentration
von zirka 500 bis 1000 E. (I), 1500 bis
2000 E. (II) und 2500 bis 3000 E. (III)
anzustreben, die möglichst schon einige
Zeit vor Beginn der Blütezeit erreicht
und wiederholt gespritzt werden soll,
um die Stabilität des Körpers dem Toxin
gegenüber zu erhöhen. Während der
Blütezeit werden dann entsprechend zirka
1000 E. (I), 2000 E. (11) oder 3000 E. (111)
gespritzt, ganz nach der Höhe der not¬
wendigen und erreichten Enddosis und
außerdem mit der Schwere des Falles
steigend in größerer Häufigkeit.
Der rechtzeitige Beginn der Be¬
handlung ist von größter Wichtigkeit und
gerade in diesem Punkte sündigen viele
Kranke immer wieder, indem sie allen
schlechten Erfahrungen zum Trotz viel
zu spät zum Arzt gehen. Als Anfangs¬
dosis- spritzt man am besten etwa ein
Drittel der festgestellten Empfindlich¬
keitsstärke und zwar subcutan. Man
steigert die Dosis dann immer um etwa
20% der letzten Injektion, wenn diese
gut vertragen wurde. Nach den ersten
zwei bis drei Injektionen tritt häufig eine
Lokalreaktion mit Rötung, Schwellung,
Jucken usw. an der Injektionsstelle auf,
die aber ganz harmlos ist. Nach meinen
Erfahrungen ist es vielfach von Wichtig¬
keit, ob man immer die gleiche Gegend^
zur Injektion wählt oder ob’ man jedes¬
mal damit wechselt; in letzterem Falle
schienen mir Lokalreaktionen ungleich
häufiger aufzutreten. Die Stelle der In¬
jektion spielt auch sonst unzweifelhaft
eine Rolle; am besten eignet sich die
Gegend zwischen den Schulterblättern,
danach der linke Oberarm, während viel
b ewegte Muskelpartien (Ob erschenkel)
viel ungeeigneter sind, indem häufigere
und stärkere Stichreaktionen auftreten.
Bei den anfänglichen kleineren Dosen
spritzt man etwa jeden dritten bis vierten
Tag, später bei den größeren jeden fünften
bis sechsten Tag; mehr wie zehn Tage
soll man möglichst nicht pausieren. Je
nach der Höhe der notwendigen Enddosis
benötigt man natürlich nicht nur kürzere
oder längere Zeit, sondern auch mehr
oder minder zahlreiche Injektionen. Nach
Erreichen der beabsichtigten Enddosis
kann man deren Injektion jeden sechsten
bis achten Tag wiederholen. — Während
der Blütezeit sind die Zeitabstände je
nach der Schwere des Falles außerordent¬
lich verschieden; auf dem Höhepunkte
der Blütezeit muß man unter Umständen
die Maximaldosis jeden zweiten Tag oder
sogar täglich spritzen. Indessen kann
man bei der Mehrzahl der Fälle die alten
Zeitabstände beibehalten. Insgesamt
wird man bei leichten Fällen mit etwa 18,
bei mittleren mit etwa 24 und bei schweren
mit etwa 30—36 Injektionen auskommen*
davon entfallen etwa zwei Drittel auf die
Zeit vor und etwa ein Drittel auf die Zeit
während der Grasblüte. — Bei Kranken,
die auch‘Unter der zweiten Blüte zu
leiden pflegen, muß der erreichte Im¬
munitätsgrad durch Injektion der End¬
dosis in maximalem Zeitabstände hoch¬
gehalten und während der Blütezeit die
Behandlung mit etwas häufigeren Injek¬
tionen fortgesetzt werden.
Demnach ist auf folgende Punkte be¬
sonders zu achten: rechtzeitiger Beginn
der Therapie (Voraussetzung dazu: recht¬
zeitige Empfindiichkeitsprüfung), rich¬
tige Dosierung der Vaccine (Anfangsdosis,
Steigerung), entsprechende Zeitabstände,
geeignete Injektionsstelle, rechtzeitige Er¬
reichung einer genügenden Endkonzen¬
tration, genaue Kontrolle des Kranken
während der Blütezeit, um drohenden
Symptomen rechtzeitig und energisch Vor¬
beugen zu können. Wenn man unbedingt
sicher gehen will, wird man sich natürlich
nicht mit der eben ausreichenden Behand¬
lung begnügen, sondern lieber etwas dar¬
über hinausgehen. Im ersten Behand¬
lungsjahr wird man kaum immer in jedem
Punkte gleich in der zweckmäßigsten
Weise verfahren; das kann erst im zwei¬
ten Jahre geschehen, wo man genügend
über alle individuellen Eigentümlichkeiten
unterrichtet ist. Daher wird man meist
auch erst dann einen vollen Erfolg zu
verzeichnen haben und wird ein sicheres
Urteil über die Leistungsfähigkeit der
Behandlungsmethode abgeben können.
Ihr Ziel ist, mit einem Minimum von
therapeutischem Aufwand völlige Sym¬
ptomfreiheit zu erzielen. — Daß streng
aseptisch gearbeitet werden muß, braucht
nicht betont zu werden.
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1920 ^
61
Die Vaccinetherapie des Heufiebers
ist bei gewissenhafter Beobachtung der
genannten Vorschriften völlig ungefähr¬
lich. Immerhin ist die Provokation einer
schweren Allgemeinreaktion, das heißt
das Auslösen eines regelrechten Heufieber¬
anfalles mit Asthma usw. ein recht un¬
angenehmer Zwischenfall, zumal er sich
vermeiden jäßt. Hervorgerufen wird er
stets durch Überäosierung; diese kommt
in Frage bei der Empfindlichkeitsprüfung
(gleichzeitige Injektion zu vieler oder
auch zu hoher Vaccinedosen), bei der
ersten therapeutischen Injektion (zu hohe
Anfangsdosis), bei der Durchführung der
Immunisierung (zu starke Steigerung der
Vaccinekonzentration), außerdem bei Be¬
nutzung einer neuen Vaccineserie, die von
einem anderen Ausgangsmaterial stammt-
"(Jahreszahl beachten). Glücklicherweise
hat eine solche Allgemeinreaktion aber
keine Überempfindlichkeit im Gefolge
und die Behandlung kann ruhig fort¬
gesetzt werden, indem man mit der Dosis
entsprechend zurückgeht. Auch bei Auf¬
treten einer stärkeren Lokalreäktion
empfiehlt sich ein Zurückgehen auf die
vorletzte oder eine andere genügend
schwächere Dosis.
Damit wäre" über das Wesen der.
Therapie und über die Technik der Be¬
handlung alles Wichtige gesagt.
Wie bereits erwähnt, hat sich aber
nicht nur die Methode der Vaccinetherapie
gewandelt, es ist auch an der Vaccine
selbst mancherlei geändert worden. Über
die Herstellungsweise der vier im Handel
befindlichen Vaccinearten sind Einzel¬
heiten meist nicht bekannt; doch be¬
ruhen sie alle auf dem Prinzip der Extrak¬
tion des wirksamen Toxins aus den Pollen.
Der verhältnismäßig nur geringe Erfolg’
der ältesten, der Wrightschen Vaccine,
ist ihrer viel zu geringen Konzentration
zuzuschreiben. Die Sormanische Vac¬
cine ist nicht haltbar nnd der jedesmal
frische Bezug ist recht umständlich. Die
Vaccine von Wolff-Eisner hat recht
gute Resultate geliefert. Ich persönlich
hahe am besten mit meiner eigenen
Vaccine^) abgeschnitten, mit der auch
eine ganze Reihe von Kollegen vorzüg¬
liche Erfolge erzielen konnten.
Um ein Vergleichsmoment zu haben,
führten Noon und Freemann die Be¬
zeichnung der Vaccinekonzentrationen
nach Einheiten ein. Nach ihnen be-
1) Vertrieb durch die Fabrik pharmazeutischer
Präparate, ^Wilhelm Natterer, München 19, be¬
ziehungsweise durch die Apotheken.
zeichnet 1 E. die Menge von Pollentojxin,
die aus' Viooo nig Pollensubstanz durch
Extraktion gewonnen werden kann. Im
Gegensatz dazu hat Wolff-Eisner die
Bezeichnung der Vaccinekonzentrationen
nach dem Verdünnungstiter in Vor¬
schlag gebracht. In der Tat bestehen
gegen die Angabe in Einheiten mancherlei
Bedenken; nicht nur ist die Einheit bei
verschiedenem Ausgangsmaterial (Pol¬
len verschiedener Jahre, verschiedener
Gegend, ja auch nur verschiedener Tage)
quantitativ und qualitativ durchaus nicht
gleichwertig, sondern es liefert sogar das
gleiche Ausgangsmaterial bei getrennter
Verarbeitung ungleichwertige Einheiten.
Die gleichen Differenzen finden sich aber
auch bei der .Bezeichnung nach dem Ver¬
dünnungstiter. Da es sich hier also nur
um eine rein praktische Frage handeln
kann und da die englische Bezeichnungs¬
art sich bereits eingebürgert hat, ist am
besten an ihr festzuhalten. Man muß sich
nur darüber klar sein, daß die Einheit
keine absolute Wertigkeit besitzt. Die
Einheiten der verschiedenen Konzen¬
trationen werden immer auf 1 ccm Vac¬
cine bezogen, so daß z. B. die mit 1000 E.
bezeichnete Vaccinekonzentration einer
Ampulle bei nur 0,8 ccm Inhalt auch nur
800 E. darstellt. Selbstverständlich wird
'man sich bemühen, die Einheit bei einer
Vaccineart möglichst gleichartig zu ge¬
stalten, indem man die neu hergestellte
Vaccine auf die ältere einstellt. Durch
eine solche Titration lassen sich jed,enfalls
gröbere Unterschiede in der Wertigkeit
der Einheiten ausschalten, aber eine
quantitativ und qualitativ absolut stim¬
mende Einstellung ist niemals zu erreichen.
Diese Schwierigkeit hat praktisch insofern
Bedeutung, als man darauf achten soll,
daß man bei der Durchführung einer Be¬
handlung möglichst ein und dieselbe Vac¬
cinenummer (Jahreszahl oder dergleichen)
benutzt. Wechselt man dennoch mit der
Vaccine im Verlaufe einer Saison, so
beobachte man dabei die nötige Vorsicht
und versuche es erst nur mit kleineren
Dosen. Bei weniger empfindlichen Kran¬
ken kann man erfahrungsgemäß die Vac¬
cine verschiedener Jahre und verschie¬
dener Herstellung ohne jedes Risiko durch¬
einander verwenden.
Um die Anwendung zu erleichtern und
auch .aus äußeren Gründen ist meine
PoHenvaccine zu mehreren Serien von
verschiedener Konzentrationsanordnung
zusammengestellt, die sich leicht für alle
in Betracht kommenden Behandlungs-
62
Die Therapie der Gegenwart 1920
Februar.
■■ , _ \
methoden kombinieren lassen. Die Vac¬
cine ist haltbar; Nachprüfungen ergaben,
daß die Wirksamkeit nicht im geringsten
abgenommen hatte.
Ungeklärt ist noch die Frage, ob die
Behandlung mit der von einer einzigen
Pflanzenart gewonnenen Pollenvadcine
zur Bekämpfung des Heufiebers- genügt
'"oder ob dazu nicht eine aus Pollen ver- ■
schiedener Pflanzenarten hergestellte
Vaccine notwendig ist. Von den Gras¬
arten haben sich die Pollen des Phleum
pratense als die wirksamsten erwiesen und
die Erfahrung hat auch gezeigt, daß die
Phleumvaccine einen Scliufz gegen sämt¬
liche Grasarten bietet. Hingegen fiel es
auf, daß mit dem Einsetzen der Getreide-
blüte vielfach bei den mit .der Phleum¬
vaccine erfolgreich behandelten Kranken
Heufiebersymptome auftrateii. Dieses
Verhalten schien auf ein Versagen der
Phleumvaccinß gegenüber den Getreide¬
pollen hinziiweisen; man konnte es jedoch
auch so deuten, daß mit dem Einsetzen
der, Getreideblüte die Luft plötzlich der¬
artig mit Pollen überschwemmt wurde,
daß die Intensität der Behandlung diesem
verstärkten Anstürme der Gifte gegenüber
nicht genügte. Während also im letzteren
Falle zur Erreichung eines Vollen Erfolges
nur eine intensivere Behandlung zu for¬
dern war, bedurfte es im ersteren der Be- ‘
nutzung einer anderen Vaccine, die so¬
wohl den Gras- wie den Getreidepollen
gegenüber wirksam, also polyvalent
war. . Nach meinen Erfahrungen und
Untersuchungen scheinen beide Punkte
von Bedeutung zu sein. Jn der Mehrzahl
der Fälle gelingt es, durch eine geeignete,
das heißt hinreichend intensive Behand¬
lung mit reiner Phleumvaccine die
Kranken völlig symptomfrei zu halten.
Zweifelsohne gibt es aber auch Fälle, in
denen diese Behandlung nicht ausreicht.
Einen gewissen — jedoch durchaus nicht
immer sicheren — Anhaltspunkt hat man
öfter an dem Resultat der mit verschie-
denenVaccinearten angestellten intra-
CLitanen Injektionen. Um nun bei der
Möglichkeit solchen verschiedenartigen
Verhaltens doch ganz sicher zu gehen,
ist es zweifelsohne das richtigste, in
jedem Falle die Behandlung mit poly¬
valenter Vaccine durchzuführen; ein
Nachteil kann ja keinesfalls daraus ent¬
stehen.
Daß mit der Vaccinetherapie des Heu¬
fiebers ein bedeutsamer Schritt vorwärts
getan ist, unterliegt keinem Zweifel. Es
ist wohl auch kaum anzunehmen, daß
dieses Prinzip der Behandlung des Heu¬
fiebers wieder verlassen werden wird.
Eine andere Frage ist dagegen, ob nicht
die Methode in manchen Einzelheiten
noch der Verbesserung fähig ist, etwa
hinsichtlich der Verkürzung der Behand¬
lungsdauer oder Erzielung einer dauern¬
den Resistenzerhöhung. Immerhin be¬
deutet es für die vielfach schwer leiden¬
den Heufieberkranken schon eine große
Erleichterung, daß jetzt ein Weg gefun-^
den ist, auf dem sich bei richtigem
Vorgehen die Krankheitssymptome voll-
ständig vermeiden lassen. Außer der
Befreiung von heftigen Beschwerden heißt
das für manche von ihnen überhaupt
erst die Möglichkeit, während der Blüte¬
zeit ihrer Arbeit naclrgehen zu können.
Abgesehen von der Möglichkeit einer
V erb ess eru n g d er H eufi eb erb eh an dl un g,
wie sie jetzt in der Vaccinetherapie vor¬
liegt, harrt der Wissenschaft jedoch noch
vor allem die Aufgabe, eine befriedigende
Antwort auf die Frage sowohl nach dem
Wesen des ,,Heufiebers“ wie nach der
Wirkungsweise der kombinierten Vaccine¬
therapie zu finden.
Literatur: 1. L. Noon (Lanc. 1911, 10. June,
S. 1572). — 2. J. Freemann (Lanc 1911, 16. Sept.,
S. 818). —3. H. Ellern (D. m. W. 1912, Nr. 34). —
4. Haynes Lovell (Lanc. 1912, 21. Dez., S. 1716).
— 5. C. Prausnitz (Kolle-Wassermann 2. Aufl.
1913, Bd. 2, 2. Hälfte, S. 1496). —6. Th. Albrecht
(Bericht 15 d. Heufieberbundes 1913, S. 2). —
7. Dunbar (ebenda S. 3). — 8. Kooijman
(Tjjdschr. voor Geneesk v. 28. August 1915). —
9. Sormani (Bericht 18 d. Heufieberbundes 1916,
5. 25). — 10. Wolff-Eisner (ebenda S. 17). —
11. Wolff-Eisne r (Bericht 19 d. Heufieberbundes
1917, S. 8). — 12. Derselbe (Bericht 21 d. Heu¬
fieberbundes 1919, S. 55). — 13. Gaethgens
(Zschr. f. ärztl. Fortb. 1917, Nr. 11).— 14. K. Es-
kuchen (D. m. W. 1919, Nr. 7 u. Nr. 12). —
15. Derselbe (Bericht 22 d. Heufieberbundes
1920). — 16. Bcssau (D. m. W. 1919, Nr. 30).
Ans der Frauenklinik der Universität Freibnrg.
Die neuzeitliche Tiefentherapie in der Gynäkologie.
Von E.
Diese Feststellungen sind von aus¬
schlaggebender Bedeutung. Wenn wir
ein Carcinom zur Rückbildung bringen
wollen allein durch die Strahlenwirkung,
Opitz. (Schluß)
dürfen wir das benachbarte gesunde Ge¬
webe nicht allzu schwer schädigen. Es
kommt also darauf an, die T. D. für Car-
cinomgewebe nach Möglichkeit genau zu
Februar
63
Die Therapie der Gegenvvart 1920
bestimmen. Hier erheben sich aber be¬
sondere Schwierigkeiten, .denn erstens ist
Carcinom und Carcinom nicht dasselbe,
sondern augenscheinlich bestehen sehr
große Unterschiede der Radiosensibilität
zwischen den einzelnen Carcinomen, die
weniger von der histologischen Struktur,
als von anderen, vorläufig nicht sicher
zu fassenden Umständen abzuhängen
scheinen. Noch bedenklicher aber ist der
Umstand, daß der allgemeine Zustand
des Trägers eines Carcinoms augenschein¬
lich von sehr erheblichem Einfluß auf die
Radiosensibilität des Carcinoms ist. Wir
sehen wenigstens, daß kachektische Per¬
sonen noch lange nicht auf eine Strahlen¬
dosis reagieren, die bei kräftigen Menschen
längst eine starke Beeinflussung, vielleicht
sogar eine Heilung des Carcinoms hervor¬
gebracht hätten Das gilt nicht bloß für
das Carcinomgewebe, sondern auch für
alle anderen Gewebe; wenigstens kann
man häufig bei kachektischen Personen
Dosen auf die Haut verabreichen, ohne
eine Reaktion zu sehen, die bei anderen
Menschen längst Erytheme oder gar Ne¬
krosen hervorgerufen hätten.
Wir müssen daher Carcinome aus¬
wählen, die noch nicht weit ausgebreitet
sind und eine Kachexie noch nicht her¬
vorgerufen haben, wenn wir eine inner¬
halb gewisser Grenzen zuverlässige T. D.
für Carcinom festlegen wollen. Sie be¬
trägt nach unseren Messungen etwa 150 e,
aber mit starken Abweichungen des ein¬
zelnen Falles nach oben und unten. Diese
Dosis liegt sogar noch ein wenig unterhalb
der Erythemdosis für Haut und beträgt
rund die/Hälfte der T. D. für Epidermis.
Es ist also Spielraum genug für eine Zer¬
störung des Carcinoms durch die Strahlen
gegeben ohne große Schädigung der Nach¬
barschaft. Freilich liegen die Verhältnisse
längst nicht so günstig wie für die Be¬
strahlung der Ovarien, denn bei diesen
beträgt die T. D. nur etwa ein Sechstel,
bei Carcinom rund die Hälfte der T. D.
für die Epidermis.
Diese Dosen gelten, um das noch ein¬
mal hervorzuheben, ebensowohl fürweiche
wie für harte Strahlen, für Röntgenstrah¬
len ebensowohl wie für die Gamma¬
strahlen des Radiums oder Mesothoriums,
obwohl diese ganz erheblich geringere
Wellenlängen haben als jene.
Von großer Bedeutung für die Strah¬
lenbehandlung der Carcinome nun sind
Tatsachen, die bisher, so viel uns bekannt,
von anderer Seite so gut wie gar nicht
berücksichtigt worden sind. Schon
Krönig hat festgestellt, daß eine Strah-/
lendosis dem Carcinom direkt, z. B. von
der Scheide aus appliziert, stärker wirkt
als die entsprechende Dosis, wenn sie von
den Bauchdecken und vom Rücken aus
angewandt wurde. Des weiteren wissen
wir, daß bei allzu intensiver Bestrahlung,
wie sie insbesondere n)it Hilfe des Ra-
diums oder Mesothoriums vielfach aus¬
geführt worden ist, sich nicht selten zeigt,
daß das umliegende Bindegewebe voll¬
ständig nekrotisch wurde, während Car-
cinomzellen sich erhalten haben und
augenscheinlich lustig weiter wuchern.
Wenn die allgemeine Annahme zuträfe,
daß mit der Steigerung der Dosis auch die
Wirkung ohne weiteres steigen müßte, so
wäre insbesondere die letztere Tatsache
völlig unverständlich. Wir sind daher zu
einer anderen Annahme gezwungen. Man
dürfte vielleicht der Wahrheit nahe¬
kommen, wenn man sich vorstellt,'daß
die biologische Wirkung auf die Gewebe
nicht allein auf einer direkten Schädigung
der bestrahlten Zellen beruht, sondern
daß eine Zustandsänderung eintritt, wel¬
che die Zellen weniger widerstandsfähig
-macht. Wir glauben, daß insbesondere
die Carcihomzellen in so verändertem Zu¬
stande der Reaktion des benachbarten ge¬
sunden Bindegewebes und der Allgemein¬
reaktion des Körpers zum Opfer fallen. Vor¬
aussetzung dabei ist aber, daß weder'die
Reaktion des benachbarten Gewebes noch
die Allgemeinreaktion durch allzu starke
Strahlung geschädigt wird. Es ist ganz
zweifellos, daß sowohl bei Röntgen- wie
bei Radiumbestrahlung eine Allgemein¬
schädigung des Körpers zustandekommt.
Sie äußert sich bei den leichteren Bestrah¬
lungen in dem bekannten sogenannten
Röntgenkater, kann aber bei zu stärkerer
Bestrahlung in die Röntgenkachexie über¬
gehen und dürfte nach unserer Meinung
auf einer chemischen, vielleicht auch ner¬
vösen Wirkung der Strahlung, vor allen
Dingen auf die Blutbildungsstätten be¬
ruhen. Der Zustand der Röntgenkachexie
ist eine Art Vergiftung, ganz ähnlich der
spontan auftretenden Carcinomkachexie,
und verhindert die Reaktionsfähigkeit des
Körpers, mehr weniger vollständig. Be¬
strahlen wir also mit zu großen Dosen, so
töten wir das umliegende Gewebe ab und
können zugleich eine allgemeine Kachexie
verursachen, welche den Zweck der Strah¬
lung verhindert. Die Größe der Schädi¬
gung hängt ab von der angewandten
Strahlendosis und von dem Umfange des
durchstrahlten Gewebes.
64
Die Thefapie der Gegenwart 1920
Februalr
In Einzelheiten einzudringen, würde
hier zu weitH führen. In großen Zügen
könnte man di£ Vorgänge etwa so
skizzieren:
Die Wirkung der Röntgen- und Ra¬
diumstrahlen beruht zum großen Teil auf
der Reaktionsfähigkeit benachbarter ger
sunder Gewebe und des Körpers im all¬
gemeinen, in erster Reihe wohl des Blutes
und der Blutbildungsstätten. Ist diese
Reaktionsfähigkeit von vornherein nicht
vorhanden oder wird sie durch zu starke
Dosen der Strahlung geschädigt, so bleibt
die erhoffte heilende Wirkung aus, kann
sogar in ihr Gegenteil Verkehrt werden.
So, wie schon längst fast allgemein ange¬
nommen wird, daß geringe Strahlendosen
eine wucherungsanr^gende Wirkung auf
Carcinome ausüben, muß man dies nach
unserer Überzeugung auch für zu große
Dosen tun. Die therapeutische er¬
folgversprechende Dosis liegt also
mitten inne zwischen der gleich
schädlicJien zu geringen reizenden
und der zu großen die Reaktions¬
fähigkeit des Gewebes vernichten¬
den Dosis.
Von weiteren biologischen Tatsachen,
die für die Bestrahlung in Frage kommen,
möchte ich nur folgende erwähnen:
1. Eine Bestrahlung wirkt stärker,
wenn die gleiche Dosis auf einmal verab¬
reicht wird, als wenn, sie in Abständen
wiederholt appliziert wird.
■ 2. Die Wirkung der Strahlung ist
stärker, wenn wir große Dosen kurze Zeit,
als wenn wir kleine Dosen lange Zeit ein¬
wirken lassen. Vergleiche mit Arznei¬
mitteln-liegen auf der Hand. 1 g Morphium
auf einmal verabreicht, wirkt tödlich, in
100 Dosen zu 0,01 innerhalb von lOOTagen
dagegen nur einschläfernd und wenig
schädlich. Jedoch trifft dieses Schwarz-
schildsche Gesetz nur bei großen Unter¬
schieden zu.
3. Die Strahlenwirkung zeigt eine ge¬
wisse Latenzzeit. Sie bleibt ferner lange
Zeit bestehen. Häufig wiederholte Be¬
strahlungen in nur geringen Dosen, die
einzeln keine Wirkung erkennen lassen,
können sich daher in ihrer Wirkung sum¬
mieren und chronische Veränderungen
hervorrufen, die eine gewisse Disposition
zur Carcinomentstehung erzeugen.
Wir haben ferner Grund zu der An¬
nahme, daß es eine Reizdosis für Gewebe
gibt, die ein Gewebe zur Wucherung ver¬
anlaßt, das bei stärkeren Dosen zur Ent¬
zündung gereizt oder abgetötet wird.
Therapeutisch benutzt wird eine solche
bisher nicht näher festgelegte Reizdosis
in der Dermatologie und in der Chirurgie.
Wir haben von ihr zur therapeutischen
Beeinflussung von Amenorrhöen durch
Reizung der Ovarien bisher in einzelnen
Fällen scheinbar mit Erfolg Gebrauch ge¬
macht. 1
Besonders wichtig ist aber das Vor¬
handensein einer solchen Reizdosis für
Carcinom. Bestrahlen wir Teile des Car-
cinoms mit zu geringen Dosen, so ist eine
das Wachstum anregende Wirkung auf
das Carcinom statt der erhofften schädi¬
genden Wirkung zu erwarten.
Auf diesen, hier kurz skizzierten phy¬
siologischen und biologischen Grundlagen
baut sich unsere Behandlung des Car-
cinoms mit strahlender Energie auf, und
unsere Erfolge scheinen uns bisher recht
zu geben. Wir legen großen Wert auf die
Durchführung der Behandlung in ein¬
maliger, in möglichst langer Zeit die Höhe
der notwendigen Dosis erreichenden Be¬
strahlung. Ganz läßt sich das Ideal nicht
erreichen, weil die erforderlichen Dosen
auf einmal nicht vertragen werden, ge¬
legentlich sogar den Tod herbeiführen
können. Aber soviel läßt sich erreichen’,
daß innerhalb von etwa einer Woche das
ganz.e Verfahren durchgeführt wird. Das
hat, abgesehen von den rein technischen
und biologischen Gründen, den großen
Vorteil, daß die Kranken mit der ein¬
maligen Behandlung fertig sind. Die
wegen Unvollständigkeit erfolglosen .Ku¬
ren fehlen deshalb bei uns ganz. Es fehlen
ferner die durch häufige ’ Bestrahlungen
möglichen chronischen Strahlenschädi¬
gungen.
Die jetzt hier ganz gleichmäßig durch¬
geführte Methodik ist folgende:
Zunächst wird mit Hilfe von in natür¬
licher*'Größe gehaltenen Schemata durch
möglichst genaue Untersuchung die Aus¬
breitung des Uteruscarcinoms bestimmt.
Danach erhalten die Kranken die volle
Carcinomdosis, nach unserer Berechnung
also etwa 150 e, vermittels Röntgenbe¬
strahlung. Wir benutzen dazu ein je
20 X 20 cm großes Feld auf dem Bauch
und auf dem Rücken der Patientin und
stellen den Centralstrahl so ein, daß er
bei Bestrahlung von vorn die linke Kante,
bei Bestrahlung von hinten die rechte
Kante des Carcinoms trifft, und zwar aus
dem Grunde, weil wir das links gelegene
Rectum]^möglichst schonen wollen.
Wie aus der beigegebenen Zeichnung
und der zugehörigen Erklärung wohl ohne
Februar ; - Die Therapie der
Abb. 6.
ln dem in natürlicher Größe gezeichneten Schema
ist das Carcinom Ca, hier ein markiges Carcinom der vor¬
deren Muttermundslippe eingezeichnet. Q bedeutet den
Mittelpunkt der Dosimeterkammer, die während der
Röntgenbestrahlung im hinteren Scheidengewölbe gelegen
war und von vorn eine Dosis von 64,6 e, von hinten eine
Dosis von 87,4 e, zusammen 152 e angezeigt hat. Die durch
den Mittelpunkt der Meßkammer gezogene gestrichelte
Senkrechte bedeutet die Größe desjenigen Teils des
Bestrahlungsfeldes von 20 x 20 cm Größe, innerhalb
dessen die Dosis gleich groß ist (s. auch Fig. 4). In der
ganzen Beckenhöhle nach den Seiten ebenso wie nach
oben und unten ist also eine Dosis von 152 e durch die
Röntgenbestrahlung verabfolgt worden. Nach der Ober¬
fläche zu ist die Dosis eher größer. Die um die Radium¬
kapsel P gezeichneten Liniensysteme bedeuten die Iso¬
dosen in Prozenten der Dosis, die in 1 cm. Abstand von
der Mitte der Kapsel verabfolgt ist.
Die Berechnung der Gesamtdosis bei der kombinierten
Behandlung für den vorliegenden Fall ergibt folgendes:
Angewandt wurde eine Kapsel mit 36 mg Radium-
Element' für 15 Stunden. Nach der im ersten Teil der
vorliegenden Arbeit beschriebenen biologischen Aichung
beträgt dann die Dosis in IV 2 cm Abstand von der-Mitte
des Präparats 36 x 15 x 0,143 c = rund 77 e, in 2 cm
Abstand 36 x 15 x 0,085 = 46 e usw. Alle Gewebs-
partien, die auf einer Isodose liegen, haben während der
Bestrahlungszeit die gleiche Dosis erhalten. Die Gesamt¬
dosis läßt sich daher für jede beliebige Gewebspartie leicht
berchnen, in denselben Einheiten als Summe der Röntgen-
und der Radiumdosis. Die Rectumschleimhaut hat z. B.
in diesem Falle durch die kombinierte Bestrahlung im
ganzen ca. 152 -l- 40 e = ca. 190 c erhalten, eine Dosis,
die nach unserer Erfahrung diese Gewebsart nicht dauernd
schädigen kann.
weiteres ersichtlich sein dürfte, ist dann
m einem 6 cm Halbmesser haltenden
Kreise um die Meßkammer herum die
volle Dosis von 150 e im Becken wirksam
gewesen. Nach der Oberfläche zu dürften
die Dosen eher etwas größer als geringer
werden, doch dürften die Unterschiede
nur unbedeutend sein. In manchen Fällen
kann allein schon damit die Rückbildung
des Carcinoms erreicht werden, doch
wissen wir, daß bei Bestrahlung durch die
Gewebe hindurch die Wirkung nicht so
sicher eintritt, als bei direkter Bestrahlung
des Carcinoms. Eine Steigerung der Wir¬
kung durch Erhöhung der Dosis wäre ja
an sich durchaus erreichbar, wenn wir
noch an den Seiten und vom Becken¬
boden her weitere Bestrahlungsfelder hin¬
zufügen wollten. Jedoch fürchten wir bei
einer solchen Bestrahlung die starke All¬
gemeinwirkung, die leicht den erhofften
Gegenwart 1920 , 65
Einfluß auf das Carcinom zunichte macheri
könnte. Wir nehmen deshalb eine Be¬
strahlung mit Radium zu Hilfe. Alle Teile
im Becken haben die volle Carcinomdosis
erhalten. Ein geringes Plus genügt im all¬
gemeinen, um die Rückbildung des Car¬
cinoms herbeizuführen, und dieses geringe
Plus können wir mit Sicherheit dem Pri¬
märherde vermittels des Radiums zuführen,
wobei die Allgemeinwirkung nicht so er¬
heblich ist, als bei der Bestrahlung mit
Röntgenstrahlen. Wir müssen dabei aber
natürlich die Wirkung auf das benach¬
barte gesunde Gewebe im Auge behalten.
Mit Hilfe der Isodosen läßt sich-nun in
jedem Fall im Becken die tatsächlich zur
Wirkung gekommene Strahlenenergie mit
genügender Genauigkeit feststellen. Wir
haben deshalb ernste Schädigungen nicht
zu beobachten gehabt. Das Auftreten
von Rectum- und Blasenscheidenfisteln
ist uns bisher völlig erspart geblieben, und
wir haben in unseren letzten Fällen mit
nicht allzu großer Ausdehnung des Car¬
cinoms regelmäßig eine primäre vollstän¬
dige Rückbildung des Carcinoms ge¬
sehen.
Das beweist freilich noch nicht eine
Dauerheilung. Traurige Erfahrungen ge¬
nug haben uns darüber belehrt, daß die
primäre Heilung sehr häufig von einem
Rezidiv gefolgt wird. Das scheinbar
völlige Wohlbefinden der Kranken kann
uns in der Beziehung nicht irre machen.
NachOperation ebenso wie nach Bestrah¬
lung ist oft genug ein scheinbar völliges
Wohlbefinden zu verzeichnen und doch
folgen nach längerer oder kürzerer Zeit
Rezidive. Sicher ist bis jetzt nur, daß
nach den früheren Erfahrungen ein großer
Teil der primär Geheilten dauernd ge¬
sund bleibt, und so dürfen wir auch eine
erhebliche Vermehrung der Dauerheilun¬
gen angesichts der weit zahlreicheren
Primärerfolge erwarten.
Um dies nach Möglichkeit zu sichern,
muß die Strahlenbehandlung unterstützt
werden durch eine zweckmäßige Allge¬
meinbehandlung. Wir müssen uns be¬
wußt bleiben, daß wir nicht Carcinome,
sondern krebskranke Menschen zu be¬
handeln haben. Wir machen von ver¬
schiedenen Mitteln Gebrauch. Zunächst
scheint uns eine gute Ernährung von
großer Wichtigkeit. Wenn es richtig ist,
daß, wie wir glauben, der Körper letzten
Endes die Heilung besorgen muß, daß dei
Bestrahlung nur den Anstoß gibt zu der
Beseitigung der parasitären Wucherung
des Carcinoms, so bedarf der Körper nach
9
66
Die Therapie der Gegenwart 1920
Februar
der Bestrahlung ganz besonders der nö¬
tigen Kräfte. Und das erst recht bei den
häufig durch große Blutverluste oder
durch eine beginnende Kachexie ge-'
schwächten Krebskranken. Des weiteren
aber suchen wir durch ,,Protoplasma¬
aktivierung“ die Schutzkräfte des Kör¬
pers anzuregen. Wir benutzen dazu das
von Lindig in die Therapie eingeführte
Kaseosan (sterile 5%ige Kaseinlösung in
Ampullen), von dem wir bei Infektionen
und anderen Zuständen gute Wirkungen
gesehen haben. Daß Blutentziehung,
Bluttransfusion oder andere Mittel in
ähnlicher Richtung wirken können, soll
damit nicht bestritten werden. Es ist
wohl möglich, daß wir später, falls sich
eines der genannten oder ein anderes
Mittel als besser erweisen sollte, zu diesem
übergehen müssen. Es kommt ja aus¬
schließlich auf den Erfolg an. Uns ist aber
das „Kaseosan“ deshalb besonders sym¬
pathisch, weil es nach unseren Versuchen
häufig eine Lymphocytose aüslöst. Diese
Lymphocytose dürfte von besonderer Be¬
deutung sein, weil den Lymphocyten nach
unseren Untersuchungen eine besondere
Rolle im Kampfe gegen das Carcinom zu¬
fällt. An der Ausbreitungsgrenze eines
Carcinoms sehen wir eine Lymphocyten-
anhäufung. Wir wissen aus zahlreichen
Erfahrungen, daß verschleppte Carcinom-
zellen in den Lymphdrüsen häufig ver¬
nichtet werden. Wir schließen daraus
auf eine besondere Fähigkeit der Lympho¬
cyten, Carcinomzellen zu vernichten, und
begrüßen deshalb die Lymphocytose als
eine Hilfe im Kampfe gegen etwa noch
vorhandene Krebszellen.
Neben dieser Allgemeinbehandlung
verordnen wir regelmäßig noch eine Ar¬
senkur, weil diesem Mittel ganz gewiß in
leichteren Fällen eine Wirkung gegen das
Carcinom zukommt. Es dürfte kein Zu¬
fall sein, daß das Arsenik zugleich ein
Blutbildung anregendes Mittel ist.
Neben dieser Allgemeinbehandlung hat
eine örtliche Nachbehandlung der Stelle
des Carcinoms zu erfolgen und zwar halten
wir eine Hyperämisierung nach dem Vor¬
gänge von Teilhaber für zweckmäßig.
Müller (Immenstadt) und Andere haben
festgestellt, daß anämisches Gewebe
weniger empfindlich gegen Strahlen ist
als hyperäinisches Gewebe. Es hängt
das vielleicht mit einer direkten Strahlen¬
wirkung auf das Blut zusammen. Ver¬
mutlich läßt das durch die Strahlen ver¬
änderte Blut Carcinomzellen schädigende
Stoffe am Orte der Bestrahlung ins Ge-
-r--
webe austreten. Noch wichtiger aber
scheint uns der Gesichtspunkt, daß es
vor allen Dingen Narben und chronisch
im Sinn einer Anämie veränderte Gewebe
sind, ^an denen Carcinome zu entstehen
pflegen. Nach meiner Überzeugung gibt
es eine große Reihe von Rückfällen nach
Carcinom, die nicht als Rezidive im
engeren Sinne, sondern als neue Carci¬
nome, die an der Stelle des alten bei
einem, wie die Erkrankung ja bereits be¬
wiesen hat, zur Carcinomerkrankung dis¬
ponierten Menschen aufzufassen sind.
Eine Hyperämisierung würde dann also
sowohl im Sinn einer besseren Beseiti¬
gung etwa noch vorhandener Carcinom-
reste, wie im Sinn eines Schutzes vor
der neuen Entstehung von Carcinom
wirken können. Die Hyperämisierung
wird je nach den Umständen durch Dia¬
thermie oder heiße Packungen oder heiße.
Spülungen herbeigeführt.
Nicht unwichtig ist es wohl, angesichts
der zahlreichen Gegnerschaft der ,,ln-
tensivbeslrahlung“ ausdrücklich zu er¬
wähnen, daß unbeabsichtigte Röntgen¬
schädigungen infolge unserer genauen und
zuverlässigen Meßmethoden auch nicht
in einem einzigen Falle vorgekommen
sind, weder bei der Myom- noch bei der
Carcinombehandlung.
Über Dauererfolge können wir selbst¬
verständlich noch nicht berichten. Wir
können nur feststellen, daß mit unserem
Verfahren in der Tat nunmehr bei nicht
allzu kachektischen'oder sonst ungünstig
gelagerten Fällen sich mit viel größere!*
Regelmäßigkeit als früher die primäre
vollständige Rückbildung des Carcinoms
erzielen läßt. Allein daraus ist schon der
Schluß zu ziehen, daß häufiger eine Dauer¬
heilung herbeigekihrt werden wird, denn
wir wissen ja auch aus früheren Erfah¬
rungen, daß durch die Bestrahlung eine
vollständige Heilung erzielt werden kann.
Da wir nun aber mit Bewußtsein auf
Grund unserer besseren Kenntnisse noch
eine Reihe unterstützender Maßnahmen
_hinzufügen und Schädigungen, wie sie
unweigerlich mit häufig wiederholter Be¬
strahlung oder mit zu großen Dosen ver¬
bunden sind, vermeiden, so dürfte unsere
Hoffnung nicht unbegründet erscheinen,
daß wir einen wesentlichen Schritt in der
Bekämpfung des Carcinoms vorwärts ge¬
tan haben.
Ähnliche Fortschritte sind zu erhoffen
oder erzielt in der Behandlung anderer
Carcinonie, über die ich hier nicht be-
Febtuar
Die Therapie der Gegenwart .1920 ^ . . ö7 ;
richten will. Auch andere Leiden: .Sar-‘
kome, Tuberkulose. usw., werden nach
ihrem Verhalten gegenüber den Strajilen
untersucht. Unsere bisherigen Ergeb¬
nisse sind noch nicht ausreichend zu
einem sicheren Urteile, geben uns aber*
mancherlei Ursache, auf ein günstiges
Ergebnis-zu hoffen.
Ans der gebnrtshilflich-gynäkolpgisclieii Abteilung des Krankenhauses der jüdischen
Gemeinde in Berlin.
Über die durch geburtshilfliche Operationen bedingten
Schädigungen des Kindes und ihre Verhütung.
Von Prof. Dr. E. Sachs, dirigierendem Arzt der Abteilung. (Fortsetzung)
II. Die Extraktion am Beckenende.
Daß die Technik bei der Behandlung
-der Beckenendlage von größter Bedeu¬
tung für das Befinden des Kindes ist,
mit anderen Worten, daß eine unsach¬
gemäße Entwicklung des in Beckenend¬
lage liegenden Kindes demselben sehr
schaden, ja sogar seinen Tod verursachen
kann, ist jedem Geburtshelfer von seiner
Studentenzeit her bekannt. In den
letzten Jahren hatte ich mich in der
Königsberger Klinik ganz besonders mit
der Technik der Beckenendlagenbehand¬
lung beschäftigt^). 'Wenn es uns dabei
geglückt ist, statt der durchschnittlichen
Mortalität der Beckenendlagekinder von
15% eine solche von 3,5% bei 307. mit
dem Beckenende zuerst geborenen Kin¬
dern zu erreichen, und sogar eine Mortalität
von nur 1,4% bei 209 primär in Becken¬
endlage zur Geburt stehenden Kindern,
so zeigt dies den Wert einer guten
Technik. Von den drei bei primärer
Beckenendlage gestorbenen Kindern star¬
ben zwei infolge zu später Hilfeanforde¬
rung durch die Hebamme und das. dritte
infolge vergeblicher Hilfeleistung bei einer
sehr seltenen Einstellung, die ich als
tiefen Querstand des Steißes bezeichnen
möchte.
• Manuelles Geschick läßt sich aller¬
dings nur durch Übung erlangen; unsere
Resultate wurden aber nicht durch das
manuelle Geschick eines einzelnen\ er¬
reicht, sondern durch Verwendung be¬
sonderer Handgriffe und vor allem durch
eine systematisch auf die Vermeidung der
mit der Beckenendjage verbundenen Ge¬
fahren gerichtete ‘Geburtsleitung; und
dies kann jeder lernen.
Ich gehe deshalb auf die Technik der
Beckenendlagenbehandlung näher ein.
'.Im allgemeinen fallen, wie bekannt,
die in Beckenendlage sterbenden Kinder
einem Erstickungstode zum Opfer.
Sachs, Die Behandlung der Beckenendlage.
-Ztschr. f. ärztl. Fortbild. 1917, Bd. 14, H. 8.
Die Gefahr der Erstickung droht, wenn
man von allen Komplikationen, wie
xNabelschnufvoifall, Placenta praevia usw.,
absieht, von dem Augenblick an, wo
der größere Teil des Rumpfes aus der
Uterushöhle herausgetreten ist. Die
Retraktionsbestrebungen des Uterus
führen zu verminderter Sauerstoffzu¬
fuhr und zu Kreislaufstörungen, utiter
denen das Kind leiden muß, wenn dieser
Zustand zu lange andauert, das heißt,
wenn die obere Körperhälfte dem Austritt
der unteren aus der Uterushöhle nicht
bald folgt. Später tritt noch die viel
größere Gefahr der Nabelschnurkom¬
pression hinzu. Auch diese wird ver¬
größert, wenn die letzte Geburtsphase
nicht schnell genug durchlaufen wird.
Es muß also bei sachgemäßer Geburts¬
leitung der größte Wert darauf gelegt
werden, daß nach der Geburt des Rumpfes
keine Stockung eintritt. Da bei Stei߬
lagen die Weichteile besser gedehnt wer¬
den ^als bei Fußlagen, so werden wir nicht
unnötig einen Fuß herabholen; da die
Weichteile Zeit zur Dehnung brauchen,
werden wir nicht ohne Not in kurzer
Zeit durch Extraktion zu erreichen
suchen, was für Mutter und Kind schonen¬
der in längerer Zeit durch die Wehen er¬
reicht werden kann. Der Hauptgrund
der Verzögerung der Geburt ist aber eine
schwierige Lösung der hochgeschlagenen
Arme und eine schwierige Entwicklung
des sich ungünstig einstellenden Kopfes.
Beides erlebt man besonders dann, wenn
die Geburt nicht durch die treibende
Kraft der Wehen, sondern durch ziehende
Kräfte zm Ende geführt wird. Wir werden
die Extraktion also nicht im Augenblick
einer Wehenpause vornehmen, sondern
auf ’tJer Höhe der Wehe und werden,
falls Wehenschwäche vorliegt, für künst¬
liche Wehen gerade im Augenblick der
Geburt zu sorgen haben.
Bei der Behandlung der Beckenend¬
lage sind also folgende Klippen zu um¬
gehen.
Fejbrüar
\ 68 Die Therapie der Gegenwart 1920
1. Intrauterine Asphyxiegefahf in¬
folge von Wehenschwäche nach Austritt
des größten Teiles des Rumpfes aus dem
Uterus.
2. Asphyxiegefahr infolge von Nabel¬
schnurkomplikation nach der Geburt des
Nabels.
3. Komplikationen bei der Armlösung.
^ 4. Komplikationen bei der Entwicklung
des Kopfes.
Die beiden letzten Gefahren sind
schon bei normalem Becken vorhanden,
sie sind bei engem Becken weitaus größer
und sind am größten, wenn bei engem
Becken aus Quer- oder gar aus Schädel¬
lage eine Wendung notwendig geworden
ist. Ich bespreche hier aber nur die Be¬
handlung der primären Beckenendlage
und spare mir die Besonderheit der sekun¬
dären Beckenendlage für die Besprechung
der Wendungsoperation auf, an die sie
sich technisch ja stets anschließt.
Wie begegnet man den erwähnten
Gefahren?
Die intrauterine Asphyxie läßt
sich nur vermeiden, wenn man eine ex¬
akte Kontrolle der Herztöne äus-
übt. Hier gelten dieselben Zahlen, die
für die Entbindungsindikation für die'
Zange erwähnt sind. Ist man aber zur
Extraktion entschlossen, so muß man
diese auch ohne Stockung zu Ende
führen. Dazu ist die Mitwirkung eines
kräftigen Druckes von oben mindestens
so wichtig, wie die Wirkung des Zuges.
Der Druck von oben wird in allererster
Linie durch gute Wehen erreicht. Eine
die Wehen unterstützende manuelle Ex¬
pression läßt sich viel wirksamer aus¬
führen, wenn der Uterus kräftig kon¬
trahiert ist. ■ Deshalb kann ich nur
raten, in jedem Falle, wo nicht
infolge der Weichteilverhältnisse
eine sehr leichte Extraktion sicher
erscheint, die Extraktion mit
einer Dosis Pituglandol zu ver¬
binden und sie außerdem durch
Expression zu unterstützen. Eine
rechtzeitige Pifuglandolinjektion macht
oft fast die ganze Extraktion überflüssig.
Zum Beispiel:
388/16. I. p. Fußlage. Sehr großes Kind.
Asphyxiegefahr. Intravenöse Injektion von
1,0 Pituglandol. Spontangeburt bis zum.J<opf,
beide Arme des sehr großen Kindes fallen spontan
heraus.
Die Verwendung des Pituglandols hat
aber für die Behandlung der Beckenend¬
lage noch andere Vorteile, als den der
Abkürzung der Austreibung des kindlichen
Rumpfes. Die Arme bleiben meistens
am Rumpfe liegen, solange das Kind
durch Wehenkraft herausgedrückt wird,
sie können sich aber hochschlagen, so¬
bald in einer Wehenpause am Rumpfe
gezogen wird. Hier tritt wieder das
Pituglandol ein; der sich eng an das
Kind heranlegende Uterus hindert jede
Haltungsänderung. Weiß man von vorn¬
herein, daß es. sich um Wehenschwäche
handelt, so gebe man bei Mehrgebährenden
etwa beim Einschneiden des Steißes, bei
Erstgeb ährenden später, Pituglandol intra¬
muskulär. Die Wehenwirkung, die etwa
fünf Minuten danach eintritt, fällt dann
zusammen mit dem Durchtritt der Arme;
ist die Zeit von fünf Minuten aber zum
Abwarten zu lange, wie z. B. stets bei der
Extraktion nach Wendungen, so lasse man
die Pituglandolinjektion gleich nach der
Wendung intravenös machen. Hierbei tritt
die erste Wehe.schon nach einer halben
Minute auf und kommt gerade zur Ent¬
wicklung der Arme und, des Kopfes zu¬
recht.
Was im einzelnen die Entwicklung;
der Arme^) betrifft, so ziehe ich die
Deventer-Müllersche Methode der Schul¬
terentwicklung der altgewohnten Lösung
der Arme vor, weil sie mir für Mutter
(bessere Währung der intrauterinen Asep¬
sis) und Kind vorteilhafter zu sein scheint.
Sie ist leichter und schneller ausführbar,
als die alte klassische Methode und führt,
vor allem weniger zu Verletzungen der
kindlichen Extremität. (Ich hatte 1,6%
Verletzungen des Schültergürtels gegen
13,5% bei der alten Methode. [Zahlen
nach Huddleston Hater und Lab¬
hardt.]) Ebenso wichtig wie, die Arm¬
lösung selbst aber scheint' mir für den
Ausgang der_Extraktion die Prophylaxe,
die dafür zu sorgen hat, daß eben die
Arme am Rumpfe bleiben.
Sehr wichtig für das Leben des Kindes
ist dann aber noch die nachfolgende Ent¬
wicklung desKopfes. Hierfür konkur¬
rieren zurzeit zwei Handgriffe. Der alt-
bekannteVeit-Smellie, dk durch Zug über
dem Nacken und Zug am Munde wirkt und
durch Druck von außen wrrksam unter¬
stützt werden kann, und der Wigand-A.
Martin-Winckelsche Handgriff, der auf den
Zug über dem Nacken verzichtet und
ihn durch Druck von oben ersetzt. Be¬
sondere Untersuchungen haben mir ge-
5) Näheres über die Indikationsbreite dieser
Armlösungsmethode und über ihre spezielle
Technik siehe die oben erwähnte Arbeit und meine
Arbeit über diese Frage in der Mschr. f. Geburtsh.
1917, Bd.45, H. 2.
Februar
Die Therapie der Gegenwai<t 1920 \
69
zeigt, daß bei über dem Becken stehen¬
dem Kopfe dieser letztere Handgriff nicht
nur wirksamer, sondern weniger gefähr¬
lich ist. Bei zu starkem Zuge, wie er.nur
allzuleicht ange\yendet wird, wenn der
Kopf einem schwachen Zuge nicht folgt,
kann es nämlich beim Veit-Smellie zur
Erbschen Lähmung®), zu Zerreißungen im
Gebiete des Sternokleidoma'stoideus. mit
der Gefahr der Schiefhalsbildung, zur
Klavikularfraktur oder zur Wirbelsäulen-
zerreißung*^) kommen. Diese Gefahren
vermeidet der Wigand-Martinsche Hand-
grüT®). Er ist deshalb in allen Fällen
vorzuziehen, in denen der Kopf nicht'
ganz leicht folgt. Ich wende ihn, da er
keine Nachteile gegenüber dem Veit-
Smellie hat, stets an, solange der Kopf
noch über dem Becken steht.
Die Walchersche Hängelage er¬
leichtert in manchen Fällen den Durch¬
tritt des Kopfes durch den verengten
Beckeneingang; ebenso wirkt eine rich¬
tige Einstellung des Schädels wäh¬
rend des Durchtritts. Man muß näm¬
lich zu erreichen suchen, daß der große
Querdurchmesser des Schädels nicht durch
den verengten geraden Durchmesser des
Beckeneingangs geht. Das erreicht man
dadurch, daß man das Kinn erst dann
auf die Brust zieht, wenn der Kopf den
Beckeneingang passiert hat. Dadurch
kommt der kleinere bitemporale Durch¬
messer an Stelle des biparietalen in die
verengte Conjugata vera.
Die vom Operateur selbst ausgeführte
Impression des Schädels beim Wigand-
Martinschen Handgriff scheint mir dem
von einem Assistenten ausgeübten Drucke
von außen deshalb überlegen zu sein,
weil nur der Operateur selbst die Rich¬
tung und die Stärke des Druckes genau
angeben kann. Wenn ich nun noch er¬
wähne, daß ich es für vorteilhaft halte,
sowohl bei rechts wie bei links stehendem
Kinne den äußeren Druck durch die
rechte Hand auszuüben, die ich auch beim
Abortausräumen und bei jeder Unter¬
suchung als äußere Hand gebrauche,
nicht nur weil sie kräftiger ist, sondern
weil sie zum äußeren Arbeiten geschickter
*) Sachs (Der Frauenarzt 1916, H. 8/10).
’^) Sachs (Zschr. f. Geburtsh., Bd. 79).
8) Sachs (Mschr. f. Geburtsh. 1916, Bd. 44,
H. 5).
ist, — daß ich weiter rate,' in Fällen, in
denen das Mißverhältnis zwischen Kopf
ünd Becken ^u groß ist, als daß das Kind
ungefährdet (Wirbelsäulenzerreißung,
Hinterhauptschuppenabsprengung usw.)
die Beckeneingangsebene passieren kann,
zur Symphyseotomie zu greifen, so
sind die Ratschläge für die Behandlung
der primären Becken’endlage damit er¬
schöpft.
Zusammengefaßt handelt es sich um
folgendes:
Strengste Beobachtung der kindlichen
Herztöne, um den richtigen Augenblick
für das Eingreifen nicht zu übersehen.
Ausschalten der Wehenschwäche und
Unterstützung j eder voraussichtlich
schweren Extraktion durch rechtzeitig
gegebenes Pituglandol, das eventuell in¬
travenös gereicht werden muß, wenn es
zu spät ist, um die Wirkung des intra¬
muskulär oder subcutan gegebenen Pitu-
glandols abzuwarten.
Unterstützung jeder Extraktion du^h
Expression.
Entwicklung der Schultern durch
Deventer-Müller.'
Entwicklung des im Becken stehenden
Kopfes durch Veit-Smellie. Entwicklung
des über dem Becken stehenden Kopfes
durch Wigand-A.Martin-Winckel.
Rechtzeitige Anwendung der Sym¬
physeotomie in Fällen, in denen das
Mißverhältnis zwischen Kopf und Becken
offenbar zu groß ist.
Ausnützung aller von der Natur bei
den verschiedenen Arten von Beckenend¬
lagen uns gewiesenen Vorteile, wie z. B.
Vermeiden des Herabholens eines Fußes
zu eventuell späterer Extraktion, außer
in seltenen Fällen, in denen dies im Inter¬
esse der Mutter nötig ist.
. Expektative Geburtsleistung mit Ver¬
meidung jeder unnötigen zu frühzeitigen
Extraktion.
Das sind die Mittel, mit denen die
Königsberger Klinik ihre vorzüglichen Re¬
sultate bei der Behandlung der Becken¬
endlage erreicht hat; Resultate, die uns
zu dem Urteile berechtigen, daß ein in
Beckenendlage liegendes Kind bei ^ge¬
eigneter Geburtsleitung dieselben Aus¬
sichten hat, lebend geboren zu werden,
wie ein in Schädellage liegendes Kind.
(Schluß folgt im nächsten Heft.)
70 V '■ Die Therapie der Gegenwart 192Ö Februar
Repetitorium der Therapie.
Behandlung der Infektionskrankheiten. -
Von G. Klemperer und L. Dünner.
Verhütung. Infektionskrankheiten be¬
ruhen auf der Aufnahme von Mikroben, wel¬
che dem Menschen von Erkrankten direkt
oder durch Überträger vermittelt werden.
Schutz vor Infektionskrankheiten wird
dadurch ermöglicht, daß wir den Mecha¬
nismus der Übertragung im Einzelfall er¬
kennen, Die meisten Infektionskrank¬
heiten werden durch Absonderungsstoffe
der Kranken, insbesondere Auswurf und
Stuhlgang, übertragen, für einzelne kom¬
men als Überträger Stechmücken und
Läuse in Betracht, in anderen mischt sich
der Ansteckungsstoff der Luft bei und
wird durch Einatmung übertragen.
Man schützt sich vor Ansteckung,
durch Fernhaltung von Infektionspro¬
dukten und Infektionsüberträgern, im all-
^meinen durch peinlichste Reinlichkeit,
im besonderen durch Vorsichtsmaßregeln,
welche bei den einzelnen Erkrankungen
besprochen werden.
Die Prophylaxe liegt aber nicht nur
in der Vermeidung der Infektion. Die
Aufnahme des Erregers führt keineswegs
immer zur Erkrankung, oft gehen die Er¬
reger im menschlichen Organismus zu¬
grunde ohne zu schaden; die natürliche
Immunität schützt den Menschen. Schutz
vor Infektion liegt also in der Stärkung
der natürlichen Abwehrkräfte des Organis¬
mus; diese wird durch gute Ernährung,
regelmäßige Lebensweise, ausgiebigen
Luftgenuß, allgemeine Kräftigung und
Abhärtung gegeben.
Einen besonderen Schutz gewinnt der
Körper durch einmaliges Überstehen man¬
cher Infektionskrankheiten. Die Kunst
ahiiit diese Immunität nach durch Schutz¬
impfung, das heißt durch Zuführung ab¬
geschwächter oder abgetöteter Krankheits¬
keime oder solcher Schutzstoffe, welche
im Tierkörper durch Krankheitskeime
bereitet sind.
^^Zur Verhütung im weiteren Sinne ge¬
hören die Maßnahmen, welche im Er¬
krankungsfalle zur Verhinderung der
Weiterverbreitung der Infektion auszu¬
führen sind. Hierher gehört die Anzeige^)
des Krankheitsfalles an die Behörde, die
Anzeigepflichtig sind Scharlach, Diphtherie,
Typhus, Fleckfieber, Ruhr, Rückfallfieber, Genick- !
starre, Milzbrand, Rotz, Pocken, Cholera; die i
Anzeige geschieht auf vorgedruckten Karten; die j
Unterlassung ist strafbar. , |
eventuelle Absonderung des Kranken^),
und die Unschädlichmachung infektiöser
Ausscheidungen des Kranken^).
1. Die ^llgemeinbehandlung.
Das ideale Ziel der Heilung durch Ver¬
nichtung der Krankheitserreger oder Bin¬
dung ihrer - Gifte, ist nur bei wenigen
Krankheiten erreichbar. In den meisten
Fällen bleibt uns die Pflicht, den mit der
Infektion ringenden und unter ihr leiden¬
den Kranken so zu pflegen, zu ernähren
und zu behandeln, daß er möglichst wenig
leidet und gegen den Kampf mit der In¬
fektion möglichst gekräftigt ist. Diese
Sorge für Wohlbefinden und Kräfte der
Patienten liegt uns auch dann ob, wenn
wir den Kranken mit specifischen Mitteln
behandeln können. Folgende Regeln
gelten für alle Infektionskrankheiten:
Der fiebernde Kranke gehört ins Bett
und bedarf ordnungsgemäßer Pflege. Die
Sorge für diese in all ihren Einzelheiten
ist von allergrößter Wichtigkeit und be¬
einflußt in vielen Fällen die Art des Ver¬
laufs. Von besonderer Wichtigkeit in
länger dauernden Infektionen ist die Ver¬
meidung hypostatischer Pneumonie durch
öfteren Wechsel der Lagerung, sowie Fern¬
haltung des Durchliegens durcli, Luftring
oder Wasserkissen, auch tägliche Ab¬
waschung mit nachfolgender Abreibung
mit Franzbranntwein oder Kampherwein.
— Jeder, der mit Infektionskranken in
' Berührung kommt, ist zu peinlicher
Sauberkeit anzuhalten.
Eine Hauptsorge gilt der Ernährung,
welche der drohenden Konsumption ent¬
gegenwirkt. Der Fiebernde bedarf reicli-
licher Flüssigkeitszufuhr; außerdem soll
er so reichlich genährt werden, als es die
Rücksicht auf die durch das Fieber ge¬
schwächten Verdauungsorgane zuläßt.
Weil das Kauen meist erschwert ist, soll
die Nahrung vorwiegend flüssig oder
breiig sein und, um den Magen nicht zu
überlasten, in kleinen Portionen in regel-
■^) Isolierung ist notwendig bei Masern, Schar¬
lach, Diphtherie, Typhus, Genickstarre, Ruhr,
Flecktyphus, Rotz, Pocken, Cholera; bei den drei
letzten ist Überführung in ein Krankenhaus ge¬
setzlich geboten.
Die Entleerungen sind mit Vs Kalkmilch
zu versetzen und nach einstündigem Stehen ins
Klosett zu schütten. Die Klosetts sind mit Lyscl-
lösLing abzuwaschen.
Februar Die Therapie der Gegeriwart 1920 71
mäßigen Zwischenräumen gereicht weraen. ! objektiv zu nützen. Ein Versuch ist bei
Man gibt Milch, eventuell gemischt mit länger'an'haltendem und hohem Fieber
Kaffee, Kakao, Tee, auch mit Zusatz von wohl geboten, doch wird man im allge-
«in bis zwei Teelöffel Kognak, außer- meinen damit nicht eher beginnen, ehe
dem Mehlsuppen und Breie, am besten | nicht die -Diagnose der Infektiönskrank-
in regelmäßigen zweistündigen Zwischen- | heit einigermaßen klar geworden ist.
räumen in Gaben von 150 bis 200 ccm. i Man hat die Wahl zwischen innerer
Wird Milch nicht vertragen, so ist man ! und äußerer Antipyrese. Ein inneres
nur auf Suppen aus Hafer, Reis, Grieß,, i Fiebermittel: Pyramidon 0,3, Antipyrin
Maizena, Tapioca usw. angewiesen, welche ' 1,0, Salipyrin 1,0, Aspirin 0,5 kann man
eventuell durch Nährpräparate (Sana- | darreichen, wenn die Temperatur 39,5“
togen, Plasmon, Riba)- oder eingerührtes i erreicht oder überschreitet. Man kann
Gelbeimahrhafter gemacht werden können,. I das Fiebermittel zwei- bis dreimal am
Man gibt außerdem Kartoffelbrei, Grieß- } Tage reichen, doch ist die Wirkung genau
brei, Reisbrei, weichgekochtes Ei, Apfel- | zu kontrollieren; manchmal tritt nach
mus und pürierte Gemüse: Spinat, Blu- 1 Antipyreticis allzu starker Schweißaus-
menkohl, Mohrrüben, desgleichen weich-j bruch, Erbrechen, manchmal Beklem-
bereitete Mehlspeisen wie Flammeri,' j mungsgefühle, Pulsbeschleunigung, unter
Puddingspeisen mit Fruchtsäfteri. Doch i Umständen wirklicher Kollaps ein.. Man
kommen diese Speisen mehr bei mittel- | versucht dann wohl das Antipyreticum, zu
hnhem beziehungsweise chronischem Fie- wechseln. Oft aber verbieten die Neben¬
her bei -leidlichem Appetit in Betracht. Wirkungen jede innere Antipyrese.
Im allgemeinen ist bei hitzigem und kurz ' Die äußere Antipyrese durch kalte
dauerndem Fieber die Sorge für die Er- , Bäder hat den Vorzug, daß sie die Or-
nährung nicht dringend. Akut Fiebernde gane in keiner Weise schädigt, während
werden mit Wasser, Fruchtsäften, Ci- sie gleichzeitig nicht nur die Temperatur
tronenlimonaden, Milch und Suppe ge- herabsetzt, sondern auch das Sensorium
nügend befriedigt. Auch bei Infektions- befreit, die Atmung vertieft, den Appetit
krankheiten, deren längerer Verlauf vor- anregt und die Hautpflege gewährleistet,
auszusehen ist, beginne man mit Inhalts- so daß eine Reihe zum Teil verhängnis¬
armer Kost und gehe erst allmählich zu voller Komplikationen verhütet wird.'
reicherer Ernährung über. — Zur Diät Der Nachteil liegt in dem nicht überall
gehört auch die Verordnung von Wein leicht zu beschaffenden Apparat und der
und Kaffee, die gleichzeitig herzstärkend Notwendigkeit mehrerer geübter Pfleger,
wirken. Bei schwer Fiebernden ist der Man setzt den Patienten in ein Bad von
Alkohol von größtem Nutzen. Man gibt 30“ C und kühlt allmählich auf 27“ ab und
am besten von dem alkoholreichen Wein geht allmählich auf Anfangstemperaturtn
zwei- bis dreimal täglich ein Glas, steigt von 28“ und Endtenperaturen von 24“
aber bei sehr hohem Fieber und Herz- herab, ja man kann bis auf 20“ abkühlen,
schwäche bis zu einer Flasche täglich, und Dauer des^ades 15 Minuten. Im übrigen
berücksichtige im übrigen bei der Wahl richtet sich die Bestimmung der Tempe-
des Getränks die persönliche Geschmacks- ratur und der Abkühlung im Einzelfalle
richtung des Kranken. Champagner ist je nach der Wirkung. Gute Wirkung ist
deswegen empfehlenswert, weil die Koh- Herabsetzung von 1 bis 2“ bei subjek-
lensäure besonders belebend wirkt.— Nach tivem Wohlbefinden. Bei anhaltendem
dem Absinken des Fiebers behält man die Widerwillen des Patienten muß man
schonende Diät noch einige Tage bei und auf die Fortführung verzichten. Man
geht erst allmählich zur Rekonvaleszepten- verstärkt die Wirkung des Bades durch
diät über, welche zuerst zartes Fleisch Übergießung des Nackens mit, kalten
(Taube, Huhn), feinen Fisch (Forelle, Wasser (15“) am Schluß des Bades. Das
Schleie), lockeres Gebäck (Keks, Biskuit, Bad kann drei- bis viermal am Tage ge-
Weißbrot mit Butter) darbietet und ganz geben werden. Die Bäderbehandlung
allmählich zur Normalkost übergeht. sollte nur eingerichtet werden, wenn alle
Antipyretische Behandlung. Die Vorbedingungen für ihre Durchführung
Herabdrückung der Fieberhitze kommt seitens der Pflege gegeben sind; der Arzt
in Frage, wenn dieselbe dem • Patienten j tut gut, sowohl die Bäder als auch
Kopfschmerzen oder' allgemeine Unruhe ! namentlich den Transport dei Kranke.i
macht oder wenn sie Benommenheit oder | zur Wanne, besonders im Anfang, zu
Herzschwäche zu verursachen scheint. • überwachen. Mildere Antipyrese wird
Oft vermag die Antipyrese subjektiv und I durch kurzdauernde kalte Einpackung be-
72
Die Therapie der Gegenwart 1920 , Februar
wirkt, oder durch Abreiben der Körper¬
haut mit einem kalten Schwamme. Ver¬
boten ist die Bäderbehandlung bei allzu
großer Körperschwäche, Neigung zu
Kollaps und Blutung.
Wichtig ist die Sorge für ausreichen¬
den Schlaf; an Tagen hohen Fiebers
wirkt oft ein abends gegebenes Anti-
pyreticum schlafbringend. Sonst gibt
man zur Nacht eine Morphiuminjektion
(0,01—0,02 g); Schlafmittel werden besser
.vermieden.
Notwendig ist ferner bei allen Fieber¬
kranken die Sorge für Kräftigung des
Herzens. Dieselbe setzt ein, wenn der
Puls frequenter und kleiner wird als der
Temperaturhöhe entspricht. Als wirk¬
sam erweist sich Wein, starker Kaffee,
vor allem die regelmäßige subcutane In¬
jektion von Coffein und Campher. Digi¬
talis ist in Infektionskrankheiten von
geringem Effekt. In schwerster Gefahr
bewährt sich oft Adrenalin, stündlich
1 ccm der l7oo“^ösung subcutan. Intra¬
venöse Adrenalininjektion ist sehr ge¬
fährlich.
Große Aufmerksamkeit verdient die
Behandlung der Delirien. Bei beginnen¬
der Unruhe sorge man für zuverlässige
Bewachung; wegen der Gefahr plötzlichen
Herausspringens sind die unteren Fenster ge¬
schlossen zu halten. Ausbrechende Delirien
suche man durch einmalige Morphium¬
injektion (0,02 g) und wiederholte zwei¬
stündliche Gaben von 0,5 g Veronal zu
unterdrücken. Bei den schweren Delirien
kräftiger Potatoren gibt man 0,02 Morphium
mit 5 Decimilligramm Scopolamin; oft ist,
trotzdem Fesselung des tobenden Patienten
nicht zu vermeiden. Auch nach Aufhören
des Fiebers bleibt der Kranke in ärzt¬
licher Obhut bis zum Abschluß der Re¬
konvaleszenz. Bettruhe ist beizu¬
behalten, bis die Körperkräfte sich einiger¬
maßen erholt haben. Im allgemeinen
soll der Rekonvaleszent für jeden durch¬
gemachten Fiebertag einen Tag im Bett
bleiben. Nach schwerer Krankheit, ins¬
besondere bei zurückbleibender Tachy¬
kardie, kann sich die Bettzeit verlängern.
Wichtig ist die Sorge für das psychische
Gleichgewicht des Rekonvaleszenten, wel¬
ches durch Überschwänglichkeiten, auch
wohl durch melancholische Anwandlungen
gestört sein kann. Vernünftiger Zuspruch
und Überwachung halten vor schädlicher
Unbedachtheit zurück. Das erste Auf¬
stehen soll keineswegs beeHt werden; der
Rekonvaleszent bleibt eine Stunde im Stuhl
sitzen und wird vorsichtig überwacht
wegen der Gefahr der Herzschwäche.' Von
Tag zu Tag wird die Zeit außer Bett ver¬
längert, nach einigen Tagen der erste
Rundgang im Zimmer gemacht. Mit dem
ersten Ausgang ist die Rekonvaleszenz
beendet; wenn möglich, schließt sich ein
mehrwöchiger Erholungsurlaub in bergiger
oder waldiger Gegend an.
Zusammenfassende Übersicht.
Ans dem Knappscliaftskrankeiilians zu Emanuelsegen.
Über einige praktisch wichtige Kapitel der chirurgischen
Tuberkulose.
Von Dr. H. Harttung, leitender Arzt. (Schluß)
Im laufenden Jahre hatte ich Gelegen¬
heit, zwei Fälle von isolierter Tuberkulose
der Dornfortsätze zu beobachten, von
denen der eine geheilt, der andere auf
dem Wege der Besserung, noch in Be¬
handlung steht.
Die Literatur über die Caries der
Dornfortsätze ist außerordentlich spär¬
lich und ebenso wird in den Lehrbüchern
nur mit einer flüchtigen Bemerkung dar¬
über hinweggegangen, zweifellos aus dem
Grunde, weil die Erkrankung ebenso
wie die Tuberkulose des Schlüsselbeins
zu den Seltenheiten gerechnet werden
muß.
Daß die Caries der Dornfortsätze
von einer solchen der Wirbelkörper ihren
Ausgang nehmen kann, liegt auf der
Hand.
Der Prozeß greift dann zunächst auf
die hinteren Bögen über, um die Dorn¬
fortsätze zu infizieren, aber auch solcher
Modus gehört zu den Seltenheiten, denn
der Verlauf einer Wirbelcaries ist ein
ganz anderer, es dürfte zu weit führen,
wollte ich näher auf diese eingehen. '
Die Processi spinosi gehören zu den
kurzen, spongiosareichen Knochen; die
spongiöse Knochensubstanz wird durch
die fortschreitende granulierende Ent¬
zündung mehr und mehr aufgezehrt, der
Eiter bricht durch den Knochen durch
und bahnt sich unter Zerstörung der
Weichteile seinen Weg unter der Haut.
Februar Die Therapie der
Zu einem Senkun'gsabsceß kann es auch
hier unter der starken Rückenfascie
kommen, wenn sich auch der kalte Absceß
meist direkt über den erkrankten Processus
spinosus entwickelt. Nach meiner Er¬
fahrung werden die oberen Dornfortsätze
der Brustwirbel mit Vorliebe von der
Tuberkulose ergriffen und auch in den
beiden in , Emanuelssegen bepbachteten '
Fällen hat es sich um diese Lokalisation
gehandelt.
Die Infektion erfolgt auf dem Blut¬
wege, und ob. das Trauma für. das Zu¬
standekommen der Infektion eine beson¬
dere Rolle spielt, möchte‘ich dahingestellt
sein lassen. In meinen beiden Fällen
ist von einem Trauma nichts zu eruieren
gewesen.
Der Prozeß kann nunmehr auf die
Dornfortsätze isoliert bleiben, dann bricht
der Eiter gewöhnlich, nachdem das Sta¬
dium des kalten Abscesses überwunden
ist, nach außen durch, und so kommt es
zur Bildung der Fistel. Andererseits
kann die Caries auf die hinteren Bögen
übergreifen und Häute des Rückenmarks
werden in Mitleidenschaft gezogen. Hier
spielt das tuberkulöse Granulationsge¬
webe eine Rolle, das sich wie eine Schwiele
auf die Dura lagert und eine Kompression
»des Markes fhit all ihren Folgen verursacht.
Zum anderen kann sich auch die Dura
an dem specifischen Prozeß beteiligen
und zwar in Gestalt einer Pachymenin-
gitis tuberculosa externa.
Die Dura ist außerordentlich wider¬
standsfähig, und es gehört zu den größten
Seltenheiten, wenn der tuberkulöse Pro¬
zeß auf die weichen Rückenmarkshäute
übergreift. Durch den Eiter wie das
tuberkulöse Granulationsgewebe wird ein
Druck auf die Dura ausgeübt, diese wird
vom Knochen abgedrängt und eine Kom¬
pressionsmyelitis ist die Folge.
Was die klinischen Symptome der
isolierten Dornfortsätze anbelangt, so
sind es zunächst Schmerzen auf Druck,
die auf das beginnende Leiden hinweisen.
Der Verlauf kann bis zum Hervor¬
treten eines kalten Abscesses ein sehr
langsamer und schleichender sein, und
zweifellos kommen anfangs differential¬
diagnostisch rheumatoide Erkrankungen
der Rückenmuskeln in Frage.
Die Haltung, der Wirbelsäule bleibt
unverändert, und gerade diese Tatsache
ist gegenüber der Wirbelcaries in erster
Linie zu verwerten. Ist es zur Bildung
eines kalten Absceses oder einer Fistel
gekommen, so werden diese in erster
Gegenwart 1920 73
Linie den Verdacht auf eine Caries der
Dornfortsätze erwecken.
Stauchungsschmerz läßt sich meist
nachw.eisen, er wird aber mit‘Bestimmt¬
heit. auf die erkrankte Partie der Dorn¬
fortsätze verlegt.
Die Behandlung der Caries des Processus
spinosus kann nur eine operative sein. Die
Prognose der isolierten Caries ist zweifel¬
los eine günstige, wenn sie nicht durch .
ein anderes Grundleiden, getrübt wird.
Sind bereits die Wirbelbögen erkrankt;
dann muß außer der Resektion der Dorn¬
fortsätze auch noch die. Laminektomie
hinzugefügt werden, Eingriffe, die sich
ausgezeichnet in regionärer Anästhesie
ausführen lassen. Differentialdiagnostisch
ist weiterhin an ein Neoplasma zu denken,
zum anderen aber an die Lues, die eben
kein Organ, keinen Knochen verschont.
Es muß aber betont werden, daß sowohl
die Lues, wie. eine Neubildung der Dorn¬
fortsätze zu den größten Seltenheiten
gehört.
Die Krankengeschichten meiner beiden
Fälle sind folgende:
'1. Fall: A. B., 43 Jahre alt. Aufgenommen:
7. August 1918, entlassen: 14. September 1918.
Stets gesund gewesen. Keine Tuberkulose in
der Familie. Vor vier Monaten bemerkte Patient
eine „Beule“ zwischen den Schulterblättern,
welche aufging und reichlich Eiter entleerte.
Beginn des Leidens mit Schmerzen, die sich
namentlich beim Tragen schwerer Lasten ein¬
stellten.
Nach Perfpration des Eiters Nachlassen des
Spannungsgefühls.
Befund: Kräftiger Mann in gutem Ernäh¬
rungszustände. Herz und Lungen ohne jeden
nachweisbaren Befund.
Urin: Eiweiß —, Zucker —, keine Zeichen
ejner Lues.
Über dem vierten Brustwirbeldornfortsatz
eine einpfennigstückgroße Perforation, etwas seit¬
lich von cier Medianlinie gelegen. Ein Fistelgang
führt irf die Tiefe.
Röntgenbild: Wirbelkörper vollkommen in- ’
takt, keine Kyphose nachzuweisen.
16. August: Operation in Lokalanästhesie.
Spaltung der Fistel, Freilegung des Herdes, der
vierte Dornfortsatz vollkomriien zerstört, die
beiden benachbarten intakt. Auskratzung sämt¬
licher käsiger Massen, der hintere Bogen des
vierten Dornfortsatzes ebenfalls intakt.
Breite Tamponade. Verlauf sehr günstig.
Nachbehandlung nüt Höhensonne. Am 14. Sep-
Tember geheilt ohne Fistel entlassen.
Mikroskopische Untersuchung: Tuber¬
kulose.
2. Fall: J. M., 19 Jahre alt. Aufgenommen:
29. März 1919, noch in Behandlung.
Diagnose: Caries der Dornfortsätze. Keine
Tuberkulose in der Familie. Selbst stets gesund
gewesen. Vor .einem Jahre Schmerzen zwischen
den Schulterblättern, die hier lokalisiert blieben
und ein halbes Jahr lang anhielten.
Dann Aussetzen der Schmerzen, die im Fe¬
bruar 1919 wieder erneut auftraten.
10
74
Die Therapie der Gegenwart 1'920
Februai
Seit acht Tagen Schwäche in den Beinen, die
seit einigen Tagen in völlige Lähmung über¬
gegangen ist. Blasen-Mastdarmlähmung.
Befund; Schmächtig gebauter Jüngling ln
mittlerem Ernährungszustände. Gesichtsfarbe
blaß, ebenso die sichtbaren Schleimhäute] Tem¬
peratur 38,2, Puis 80. Herz: ohne Befund. Lun¬
gen: rechts hinten verschärftes Atmen, sonst kein
Befund. Urin mit Katheter entnommen: frei von
Eiweiß und Zucker. Die Gegend des dritten und
vierten Dbrnfortsatzes vorgewöfbt, starke Druck¬
empfindlichkeit, undeutliche Fluktuation, spasti¬
sche Lähmung der unteren Extremitäten, Reflexe
stark gesteigert. Babinski beiderseits positiv.
Diagnose: Caries der Dornfortsätze wie der
hinteren Bögen mit beginnender Kompressions¬
myelitis.
Zunächst Lagerung des Patienten auf Planum
reclinatum und Extensionsverband. Operation
in Aussicht genommen.
4. April: Die Urinentleerung stellte sich spontan
wieder ein und bleibt bis heute erhalten. Im
weiteren Verlauf Zunahme der Spasmen, daher
am 23. April Operation in regionärer Anästhesie,
verbunden mit Äthernarkose. Längsschnitt vom
zweiten Dornfortsatze bis zum sechsten; der vierte
Dornfortsatz vollkornmen zerstört, ebenso der zu¬
gehörige Wirbelbogen. Caries hat bereits auf den
fünften und sechsten Dornfortsatz libergegriffen,
daher Resektion derselben. Die- zugehörigen
Bögen intakt.
Freilegung der Dura im Bereiche des vierten
Dornfortsatzes; auf der Dura lagert eine fast 1 cm
dicke plastische Granulationsschicht, welche mit
der Dura zarte Verwachsungen zeigte. Entfer¬
nung des Granulationsgewebes ohne Schwierig¬
keiten; ein Herd nach vorne konnte nicht mehr
entdeckt werden. Die lange Rückenmuskulatur
zu beiden Seiten ebenfalls teilweise tuberkulös
zerstört.
Auskratzung, einige Situationsnähte, Tam¬
ponade.
15. August; Die Wunde ist seit Wochen voll¬
kommen geschlossen. Immer noch starke Spasmen
in den unteren Extremitäten, namentlich der
Adductoren. Bewegung wesentlich gebessert.
Beine können aktiv gehoben werden, dagegen
immer noch Incontinentia alvi. Blasenfunktion
normal, Resektion der Nervi obturatorii in Aussicht'
genommen.
Bei der Behandlung der chirurgischen
Tuberkulose haben wir nicht allein dem
lokalen Knochen- oder Gelenkherd unsere
Aufmerksamkeit zu widmen, sondern wir
müssen auch auf die Allgemeinbehand¬
lung großen Wert legen. Denn gerade
durch diese werden wir einen dauernden
Erfolg erzielen können, wenn wir den
Organismus befähigen, genügend Schutz¬
stoffe gegen das tuberkulöse Virus zu
bilden.
Was zunächst die medikamentöse Be¬
handlung anbelangt, die wir auch bei
der chirurgischen Tuberkulose mit Erfolg
anwenden, so steht hier im Vordergründe
das Jod. Bier hat dasselbe.warm emp¬
fohlen, so daß es nunmehr als Allgemein¬
gut der Chirurgen gelten kann. Wir
geben es mit Vorliebe mit Eisen und
Arsen zusammen, wie es an der Gras er¬
sehen Klinik vornehmlich bei der Drüsen¬
tuberkulose mit Erfolg geübt wurde. Die
Zusammensetzung ist folgende:
Kalii jodati 10,0
Kalii arsenicosi 10,0
Liquor ferri alhum, 100,0
Aqua destillata 300,0
. S. dreimal täglich einen Eßlöffel.
Einmal hat dieses Medikament zweifel¬
los einen guten Einfluß auf den Allge¬
meinzustand, zum anderen wird aber auch
die Resorption Dank des Jods beschleu¬
nigt. Wir haben es in einigen Fällen
monatelang angewendet, ohne daß etwa
Nebenerscheinungen von seiten des Jods*
sich gezeigt hätten. ^ ■
Bei den isolierten Formen der
Knochen- und Gelenktuberkulose fehlt
meist das Fieber. Ist dieses trotzdem
vorhanden, so^dürfte dies ein Beweis dafür
sein, daß im Körper noch ein anderer flo-
rider Herd manifest ist, namentlich in.
der Lunge. Wenn auch das Fieber als.
eine natürliche Abwehrmaßregel des Kör¬
pers aufzufassen ist, so wird doch der
Organismus mit der Zeit geschwächt. In
solchen Fällen empfiehlt es sich, dem
Patienten kleine Dosen von Aspirin oder
Pyramidon zu verabreichen. Weiterhin
sind Schmierkuren mit lO^/oiger Jod-'*‘
thionsalbe zu empfehlen außer den be¬
reits lokalen Injektionen von Jodoform¬
glycerin; • durch dieses wird eine starke,
Lymphocytose hervorgerufen \ind der
Abbau des tuberkulösen Gewebes be¬
schleunigt.
Das Tuberkulin ist zur Behandlung bei chirur¬
gischer Tuberkulose in den Hintergrund gerückt.
Mir selbst stehen hierüber aus meinem Material
keine Erfahrungen zur Verfügung.
Röpke und Bandelier reden dem Alt-
Tuberkulin Kochs in ihrem großen Lehrbuche
warm das Wort, aber eben nur zur Behandlung
der Lungentuberkulose.
Hier möchte ich noch kurz auf eine im Ausbau
befindliche Behandlung der Tuberkulose eingeheiiy
die von Deyke und Much inauguriert ist: die
Behandlung mit Partialantigenen.
Das tuberkulöse Virus wirkt 'im infizierten
Organismus als Antigen und ruft als solches
Schutzkörper, die Antikörper, hervor. Die ge¬
nannten Autoren haben nun festgestellt, daß
dieses tuberkulöse Virus aus mehreren Teil¬
substanzen sich zusammensetzt, den Partial¬
antigenen, welche wiederum aus einem Eiwei߬
körper und Fettsubstanzen bestehen. Hieraus
ergibt sich weiter, daß jedes dieser Partialantigene
besondere Partialantikörper bildet und daß ein
Antikörper nicht allein imstande ist, die Infektion
mit genügender Sicherheit zu bekämpfen. Dazu
bedarf es der Summe aller Partialantikörper.
Deyke und Much sind daran gegangen, den
Tuberkelbacillus aufzuschließen, und so haben sie
nach bestimmtem Verfahren Partialantigene her-
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1920
75
gestellt, welche den Handelsnamen A. T. und
N. tragen. Die Ansichten über die Erfolge
gehen auseinander und ?s hat den Anschein, als
ob nach den bisherigen Erfahrungen ein-beson¬
derer Fortschritt in der Behandlung der Tuber¬
kulose nicht erzielt-ist. Jedenfalls ist die ganze
Frage noch im Fluß und^bedarf noch weiterer
Forschungen, Prüfungen und Erfahrungen.
Neuerdings sind von mehreren Autoren die
Resultate mitgeteilt, die mit dem Friedmann-
schen Tuberkulosemittel nach einer Beobachtung
von vier Jahren gemacht sind. Friedmann hat
im Jahre 1906 den Schildkrötentuberkelbacillus
entdeckt und hat mit diesem nach zahlreichen
Versuchen eine Emulsion hergestellt, die nun zur
Immunisierung der Tuberkulose, namentlich der
chirurgischen Tuberkulose, benutzt wird. Zur
Verwendung kommt hier eine lebende, dem Kalt¬
blüter entstammende Kultur, welche aber für den
Menschen und den Warmblüter ungefährlich ist.
Der Schildkrötenbacihus. steht'dem menschlichen'
sehr ähnlich. Durch die subcutäne Einverleibung
dieser Emulsion (bis 0,3 ccm) wird in dem kranken
Organismus eine lokale Affektion hervorgerufen,
welche die Neigung zu fortschreitender Rück¬
bildung zeigt. Es tritt hierbei eine erbsen- bis
walnußgroße Infiltration auf, welche aber nach
Wochen und Monaten zur völligen Resorption
kommt. Die eingespritzten Bacillen sind am Orte
der Injektion noch nach vielen Monaten nach¬
weisbar, sie regen daher ständig zur Antikörper¬
bildung an. Die Berichte über die bisher gemach¬
ten Erfahrungen klingen durchaus günstig, wenn
-auch nicht verschwiegen werden darf, daß auch
andere Autoren sehr skeptisch über den Wert der
Impftüig nach Friedmann geworden sind.
Interessant ist nach dieser Richtung hin die
Mitteilung von Strauch und Pingel. Hier hat
es sich um drei ernste Knochentuberkulosen ge¬
handelt, die Fried mann als zu schwer erkrankt
von der Behandlung ausschloß. Alle drei Fälle
sind unter entsprechender Krankenhausbehand¬
lung zur Heilung gekommen, darunter eine
Coxitis, bei welcher nur eine Fistel zurückblieb.
Einstimmig sind die Autoren darin, daß die
Friedmannimpfung in erster Linie für frische
Fälle geeignet ist und daß namentlich frühe tuber¬
kulöse Gelenkerkrankungen sehr gute Erfolge ver¬
sprechen. — Auszuschließen von der Impfung sind
diejenigen Kranken, .deren Kräftezustand eine
aktive Immunisierung nicht zu leisten vermag,
also disseminierte Organtuberkulosen, multiple
schwere Eiterungen der Knochen und Gcicnke,
Miliartuberkulosen. Besteht bei chirurgischen
Tuberkulosen der Verdacht auf Lungentuber¬
kulose, dann dürfem nur schwächste Dosen zur
Anwendung'kommen, und ebenso ist es erforder¬
lich, nach operativen Eingriffen vier bis sechs
Wochen mit der Impfung zu warten.
Die Röntgenstrahlen werden ebenfalls zur
Behandlung der Knochen- und Gelenktuberkulose
angewendet und zwar mit gutem Erfolge. Mit der
Tiefenbestrahlung, z. B. bei Fisteln, hat es auch
hier seine Schwierigkeiten, die aber zweifellos
überwunden werden können. Es ist zuzugeben,
daß auch Fisteln bei Röntgenbestrahlung zur
Ausheilung kommen, aber nur dann, wenn es sich
um die granulierende Form der Tuberkulose, nicht
um den tuberkulösen Sequester,gehandelt hat.
Außer den Röntgenstrahlen ist die künstliche
Höhensonne allgemein in die Therapie und speziell
in die der Tuberkulose eingeführt worden und
leistet zweifellos bei richtiger Anwendung und
strenger Kritik Gutes. Die natürliche Sonne kann
in unseren Ebenen nicht die intensive Kraft wie
im Hochgebirge entfalten; durch den Dunstkreis\
werden viele Strahlen, namentlich die ultra¬
violetten, absorbiert und gerade die sind es, welche
einmal die größte Energie in der Hautoberfläche .
abgeben, zum anderen aber auch therapeutisch
am meisten wirken. Die an ultravioletten Strahlen
reichste Quelle ist die Quarzlampe, die wir in
Gestalt der künstlichen Höhensonne benutzen.
Das tuberkulöse Gewebe ist besonders empfind¬
lich gegen die .ultravioletten Strahlen. Es ant¬
wortet unter Umständen mit einer entzündlichen
Reaktion, die sich in starker Hyperämie und
seröser Exsudation kundgibt und zweifellos einen
Heilungsfortschritt bedeutet. Interessant sind
nach dieser Richtung hin die Beobachtungen von
Jesionek. Er machte an Kranken, die einer
Allgemeinbestrahlung von Höhensonne unter- .
worfen wurden, die Beobachtung, daß stärkere .
Reaktionen an tuberkulösen Herden auftraten, an
Gelenken, Lupusherden, Fisteln, die stärker ab-
zusondern begannen. Eine Erklärung für diese
Tatsache findet man darin, daß die basalen Zellen
der Epidermis das Licht zunächst absorbieren
und daß hier Pigmentbildung entsteht; je mehr
die Pigmentbildung, um so besser für den Patien¬
ten, um so günstiger die Prognose. Bei inten¬
siverer Bestrahlung nehmen auch die Retezellen
das Licht auf und die so in die Haut aufgespei¬
cherte Energiemenge muß nunmehr in Kraft um¬
gesetzt werden. Das geschieht durch Vermittlung
der roten Blutkörperchen, welche das im Über¬
schüsse gebildete Pigment in gelöstem Zustande
dem Organismus zuführen und so ständig an den
kranken Herd Stoffe bringen, welche die Heilung
fördern. So wird es verständlich, wenn auch bei
Allgemeinbestrahlungen eine stärkere Reaktion
des lokalen Herdes zu beobachten ist. Es ist
weiterhin durch zahlreiche Versuche nachgewie¬
sen, daß durch das Licht der Stoffwechsel der
Zellen angeregt wird. Ein beschleunigter Eiwei߬
zerfall setzt ein, Antikörper werden gebildet, die
den Organismus befähigen, Bakteriengifte zu
neutralisieren.
Die Bestrahlungen mit der künstlichen Höhen¬
sonne zerfallen, wie schon hervorgehoben, einmal
in allgemeine, zum anderen in lokale. Man ist
mehr und mehr zu den Allgemeinbestrahlungen
übergegangen, und doch möchte ich die lokalen
nicht missen. Hier möchte ich bemerken, daß
es nach meinen Erfahrungen zweckmäßig er¬
scheint, die allgemeinen Bestrahlungen mit den
lokalen bei tuberkulösen Prozessen zu kombi¬
nieren. Ich kann auf die Technik nicht näher
eingehen, erwähne nur, daß bei der Insolation der
Allgemeinzustand sich hebt, der Appetit ein
besserer wird, der Hämoglobingehalt steigt; alles
Wirkungen, die nun wiederum den Organismus
befähigen, Schutzstoffe zu mobilisieren und den
kranken Herd erfolgreich zu bekämpfen.
Zum Schlüsse möchte ich noch kurz
auf die wunderbaren Erfolge hinweisen,
die Rollier in Walliers mit alleiniger
Bestrahlung mit natürlichem Sonnen¬
licht erzielt hat. Rollier hat jeden
‘operativen Eingriff unterlassen und hat
trotzdem, wenn auch erst nach Jahren,
die schwersten Knochen- und Gelenk¬
tuberkulosen zur, Ausheilung gebracht.
Er unterwirft nicht nur den erkrankten
Körperteil, sondern den ganzen Körper
einer Bestrahlung und geht etwa in der
10*
Februar
76 Die Therapie der Gegenwart 1920
'Weise vor, daß er anfangs nur die Füße
vier Minuten mit Unterbrechungen am
Tage mehrmals bestrahlt. Dann werden
am zweiten Tage die Unterschenkel der
Insolation ausgesetzt, um am dritten Tage
das Gebiet auf die Oberschenkel zu er¬
weitern. In dieser Weise wird allmählich
zur Allgemeinbestrahlung übergegangen,
und wenn erst eine Pigmentbildung in
der^Haut eingesetzt hat, so ertragen die
Patienten eine Bestrahlung von vier bis
sechs Stunden ohne weiteres.
Um Ihnen ein Urteil über die-Erfolge
Rolliers zu geben, erwähne ich nur,
daß es ihm gelungen ist, 87 Tuberkulosen
des Fußgelenks mit normaler Beweglich¬
keit zur' Ausheilung zu bringen. Aber
solche Erfolge können eben nur im Hoch¬
gebirgsklima gezeitigt werden, in unseren
klimatischen Verhältnissen müssen wir
bescheidener sein und die Besonnung
als unterstützende Maßnahme in die
Therapie hineinbeziehen.
Meine ^Herren! Ich hoffe dargetan
zu haben, daß mit gutem Erfolge die
Tuberkulose angegriffen werden kann,
wenn man sich all der vielen Heilmittel
bewußt ist und diese in geeigneter Weise
auf den einzelnen Fall anwendet. Zweifel¬
los steht die lokale Behandlung der
Krankheit im Vordergründe, die Allge¬
meinbehandlung darf aber in keinem
schwereren Falle vernachlässigt werden.
Sie kann aber nur mit Erfolg durchge¬
führt werden, wenii dem 'Organismus
quantitativ und qualitativ genügend Nah¬
rung zugeführt wird. Hoffen wir, daß
dies bald wieder der Fäll ist, dann werden
auch wir Ärzte mit unserer Kunst die
hohe Sterblichkeit der tuberkulösen Er¬
krankungen herabsetzen und damit unse¬
rem Volke zu neuem Leben verhelfen.
Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen.
Zweite öffentliche Versammlung der ärztlichen Gesellschaft für
Mechanotherapie Berlin, 20. Januar 1920.
In dem folgenden Bericht wird nur
der Inhalt der therapeutisch wichtigen
Vorträge wiedergegeben.
B'. Kirchberg (Berlin): Atmungs¬
gymnastik und Atmungstherapie.
Indikationen: 1. Prophylaktisch,
z. B. als Teil der Körpergymnastik in den
Schulen unter schulärztlicher Kontrolle
(Chorsingen in Konzerten durchaus schäd¬
lich!), 2. bei Rekonvaleszenten, insbeson¬
dere auch bei Liegekuren — günstige
Allgemeinwirkung auf Kreislauf und Stoff¬
wechsel, 3. Brustdeformitäten, 4. bei
chronischer Bronchitis in Verbindung mit
Brust- und Bauchmassage — Wirkung:
starke Expektoration, 5. Rachitis, —
6. Starrheit des Thorax (in Verbindung
mit Kompression), 7. Asthma (psychische
Nebenwirkung), oft Erfolg nach vielen
vergeblichen anderen Kuren, 8. Alters-'
emphysem (allgemeine Gymnastik und
Massage), 9. Herzkrankheiten, 10. Kon¬
stitutionsanomalien.
Anwendung erfolgt im allgemeinen
in Verbindung mit den übrigen mediko-
mechanischen Heilmethoden in folgender ’
Skala: Massage, passive Teilübungen,
aktive Teilübungen, Atemübungen, Be¬
wegung, Sport.
Technische Ausführung ist genau
vom Arzte anzugeben und zu dosieren.
Fünf Stadien der Dosierung: 1. Vertiefung
und Verlangsamung der Atmung (neben¬
bei als gutes Schlafmittel. angewandt),
2. Verstärkte Einatmung a) im Liegen,
b) Sitzen, c) Stehen und d). mit Übungen
• verbunden (besondere Indikation bei Kon¬
stitutionsanomalien, Herz- und Brust¬
schwäche), 3. verstärkte Ein- und Aus¬
atmung (a—d) wie vorher, 4. Halten
der Einatmung, später mit Beteiligung
der Bauchmuskeln (aktives Einziehen und
Vorstoßen nachVerordnung), besonders in¬
diziert bei Herz-, Leberleiden, Emphysem,
Obstipation, 5. Kombinierte Übungen bei
Unterdrück (Saugmaske). Hierzu kommen
noch Übungen der Atemmuskeln ohne
Atmung usw.
Vorsicht und sorgfältige Überwachung
bei Tuberkulose. Im allgemeinen wird
14 Tage bis vier Wochen wöchentlich
zwei bis drei Stunden nach Anleitung ge¬
übt. Vorführung atmungtherapeutischer
Übungen.
Theoretisches. Heilwirkung weni¬
ger durch vermehrte, Sauerstoffeinnahme,
als durch außerordentliche Einwirkung
auf Kreislauf und Stoffwechsel.
Dr. Guradze (Wiesbaden): Chroni¬
sche Rheumatismen und Mechanotherapie.
Auf Grund der Heilnerschen Theorie
des mangelnden Gewebsschatzes bei den
humoralpathologischen, den primär und
sekundär chronischen Rheumatismen und
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1920
77
der Arthritis deformans hat Redner drei
Fälle mit Sanarthrit^) behandelt.
Fall 1: Chronischer progressiver Gelenkrheu¬
matismus. Finger, Hände, Schulter, Ellbogen,
Füße, Knie in Contractur. Sechs Injektionen, vier
starke Reaktionen. Weitgehender Erfolg bei
gleichzeitiger, vorher vergeblicher mediko-mecha-
nischer Behandlung.
Fall 2: Monartikulärer Schulterrheumatismus.
Eine Injektion mit starker Reaktion. Erfolg.
Fall 3: Chronischer Rheumatimus der Hände
und Hüften. Sechs Spritzen; anfänglich kein,
nach zwei bis drei Monaten sichtlicher Erfolg,
wegen der starken Allgemeinwirkung sollte
Sanarthrit nur klinisch gespritzt werden.
In der Diskussion führte Lubinus (Kiel) sieben
weitere Sanarthritfälle mit gutem Erfolg an. Eine
61jährige Frau war seit einem halben Jahre bett¬
lägerig mit äußerst schmerzhaften Contractionen
. Sechs Einspritzungen. Keine große Reaktion
(Temperatur 38—38,2®). Patientin kann heute
an einem Stocke gehen.
Vorsicht mit der Indikationsstellung bei
Vitium wegen Kollaps.
Laqueur (Berlin) berichtet über Mißerfolge
mit Urtiarsyl (zwei Fälle), Michaelis (Leipzig)
über einen Scheinerfolg mit Cholinchlorid, der
nach Aufhören der gleichzeitigen Wärmeappli¬
kationen wieder verschwand. Fibrolysin wird
ebenfalls abgelehnt.
Von allen Seiten wurde sodann zu¬
gunsten des Brisement force in Form des
,, Etappenbrisement“ gesprochen mit
nachfolgendem Gipsverband und Wieder¬
holung nach einigen Tagen.
Hertzeil (Bremen) konnte ein in 90®-
Contractur befindliches Kniegelenk mit
Etappenbrisement ohne Narkose korri¬
gieren und empfiehlt dies zur Vermeidung
von Ergüssen. Kirsch (Magdeburg) emp¬
fiehlt es besonders als abkürzendes Ver¬
fahren bei Schultercontracturen auf funk¬
tioneller Grundlage. Bei lokalen Ver¬
klebungen der Gelenksflächen dürfen die
Verklebungsstellen nach dem Brisement
während der nachfolgenden Ruhigstellung
nicht miteinander in Berührung bleiben,
damit sie nicht sofort wieder verkleben
(Schütz-Berlin). Statt des intermedi¬
ären Gipsverbandes empfiehlt Guradze
einen Jutefließverband.
Stein (Wiesbaden): Gelenkbehand¬
lung mit Kreuzfeuer-Diathermie.
Bessere Ausnutzung der Diathermie
wird erreicht durch Benutzung von Neben¬
apparaten: Stromverteilern oder Verteiler¬
widerständen. Die Anzahl der Anschlüsse
wird dadurch vermehrt bei gleichbleiben¬
der Stromquelle. Es-können dann gleich-
^) Vor kurzem hat Rein hart aus der Kieler
Klinik berichtet, daß Sanarthrit in 22% chronisch
rheumatischen Fällen wesentlich, in 48®/o nur
vorübergehend, in 30% nicht genützt hat.
Ein Bericht'über SanarthVit aus dem Kranken¬
haus Moabit wird im nächsten Heft dieser Zeit¬
schrift erscheinen.
zeitig mehrere sich kreuzweise schneidende
Strombahnen ohne gefährliche Summa¬
tion auf ein Gelenk angesetzt werden
(Diathermiekreuzfeuermethöde).
Die technischen Schwierigkeiten der
Apparatur (schädliche Unterbrechungs¬
schläge) sind durch eine rotierende Unter¬
brechungsvorrichtung im sekundären
Strom vermieden. Experimentelle Prü¬
fung ergab 25% mehr Wärme. Apparate
zu haben bei Gesellschaft Sanitas. —
Indikationen wie bisher.
Böhm (Berlin): Nachbehandlung der
Kriegsverletzten.
. Therapeutische Besonderheiten aus dem
orthopädischen Lazarett Schloß Char¬
lottenburg. Korrektur von Contracturen
durch portative Dauerzugverbände nach
Hoeftmann. Behandlung von Pseud-
arthrosen mit Bewegungsreiz zur Anre¬
gung der Knochenbildung durch lokalen
Gewebsreiz und bessere Durchblutung
(besonders bei Fisteln), Zuggipsverband
statt Nagelextension (größere Belastung
möglich), Vorführung von Prothesen:
zweiachsig beweglicher Hüftkorb bei
kurzen Oberschenkelstümpfen ermöglicht
Bewegungen des Stumpfes nach allen
Richtungen, ohne daß der Stumpf in der
Manschette auf- und abgleitet. Infolge¬
dessen bei richtig konstruierten Gelenk¬
achsen glänzender Prothesensitz. Vor¬
führung eines Patienten mit ungewöhnlich
gutem Gang und ausgezeichneter Stumpf¬
ausnutzung auf Grund besagter Vorrich¬
tung. Bei kurzen Unterarmstümpfen Be¬
nutzung der Bicepscontraction zur Be¬
wegung der Kunsthand, indem der Biceps
durch eine Pelotte seitswärts gedrückt
wird und diese bei seiner Anspannung mit
erheblicher Kraft bewegt.
Blumenthal (Berlin), Mechano-
therapie der Amputierten. Der Vortragende
gibt eine Anzahl portativer Übungs¬
apparate an, die dauernd vom Patienten
getragen werden — im wesentlichen
Achsenverlängerung des Stumpfes mit
Belastung am Ende — und eine fort¬
währende Stumpfbewegung und -anstren-
gung mit sich bringen. Für Oberarm¬
stümpfe wird auch besonders Pendeln des
in den Schultern hängenden Körpers bei
fixierten Oberarmen empfohlen. Pessimis¬
mus der Patienten ist durch Zusammen¬
schluß der Verstümmelten zu sportlichen
Zwecken zu lindern.
Laqueur (Berlin): Grenzen der Lei¬
stungsfähigkeit der künstlichen Höhen¬
sonne.
78
Die Therapie der Gegenwart 1920
Februar
Die Wirkungsweise der . Höhensonne
ist theoretisch noch umstritten. Nach
Hoff mann ist die Haut der Hauptbildner
der Immunstoffe des Körpers, daher die
Allgemeinwirkung. Eine lokale Wirkung
wäre demnach unbedeutend. Infolge¬
dessen sei die Hauptindikation für die
künstliche Höhensonne die chirurgische
Tuberkulose. — Beginnende und fort¬
geschrittene Gelenktuberkulose (bei alten
Leuten wenig Erfolg!), auch schwer
fistelnde Gelenke (bei kleinen Kindern re¬
fraktär); Spina ventosa, Abscesse; Peri¬
tonitis tuberkulosa, seröse günstiger als
trockene (genügend lange bestrahlen,
monatelang), am wenigsten Adnex¬
tumoren.
Lungentuberkulose zeitigt mit künst¬
licher Höhensonne selten Heilungen. Der
Allgemeinzustand wird jedenfalls gehoben
(Entfieberung, Herdreaktion). Redner
sah bei einer akuten katarrhalischen und
bei einer latenten fieberlosen Lungen¬
tuberkulose Erfolg.
Überall, wo eine lokale Wirkung er¬
wünscht ist, ist jedoch die künstliche
Höhensonne allein nicht ausreichend.
Bacmeister empfiehlt speziell bei Lun¬
gentuberkulose eine Kombination mit
Röntgenstrahlen.
Bei Wundheilung erreicht man mit
gleichzeitiger Anwendung von Licht¬
wärmestrahlen (Glühlampenring, Siemens-
Aureole usw.) schnellere Erfolge. Das¬
selbe gilt für Ulcerationen, z. B. mal
perforant, alte Fisteln usw., auch für lo¬
kale vasomotorische Störungen (Erfrie¬
rung, Raynaud usw.).
Lediglich auf Suggestionswirkung be¬
ruhen die Erfolge mit künstlicher Höhen¬
sonne allein bei funktionellen Neuralgien,
Myalgien öder schmerzhaften Zuständen
bei Konstitutionskrankheiteh. Echte
Neuralgien heilen entschieden* besser bei
kombinierter Bestrahlung.
Unter den Hautkran&eiten kommen
nur Pruritus cutaneus, Seborrhöe und
Alopecie in Frage. Pruritus wird durch
Röntgenstrahlen wenig beeinflußt. Alo¬
pecie (z. B. nach Grippe) besser mit
Wärmestrahlen.
Wegen der Allgemeinwirkung (z. B.
auch bei infektiösen Prozessen) ist die
künstliche Höhensonne nicht zu ent¬
behren, sonst sind aber andere Licht¬
quellen mit heranzuziehen.
Das Reklamewesen bringt schädigende
Übertreibungen hervor und muß be¬
kämpft werden.
Diskussion: Hertzeil (Bremen) will
neben der Allgemeinwirkung doch an die
lokale Wirkung glauben, da bei großen
lokalen Dosen mit nachfolgenden Pausen
eine nachhaltige lokale Hyperämie in
Haut und tieferem Gewebe entsteht, die
Redner in sorgfältigen Temperatur¬
messungen am Orte der Wirkung fest¬
gestellt hat. So seien die raschen Erfolge
bei Ischias, bei schmerzhaften Gelenk¬
entzündungen oder bei Hüftgelenk tuber¬
kulöse zu erklären. Natürlicfi sei die all¬
gemeine Bestrahlung wegen der biologi¬
schen Wirkung nicht zu unterlassen.
Lubinus (Kiel) hält die lokale Wir¬
kung und die Hyperämie nur für ober¬
flächlich. Er empfiehlt folgende Kombi¬
nation: Höhensonne, Röntgen, Stauung,
Lichtkasten und Jod.
Meyer (Lübeck) wendet sich zugun¬
sten der künstlichen Höhensonne gegen
Röntgenbehandlung des Hüftgelenk¬
kopfes, da eitrige Einschmelzung danach
häufig sei. Empfiehlt gleichzeitig Jod¬
injektionen. Dr. Hartwich.
Refe
Für die Seltenheit der durch Mutter¬
milch übertragenen Arzneiexantheme
führt Hoffmann folgende drei Gründe
an: 1. erhalten stillende Frauen mit
Rücksicht auf eine etwaige Schädigung
des Säuglings selten Arzneimittel; 2, wird
eine große Anzahl der Mittel durch die
Milch nur in geringer Menge ausgeschie¬
den; 3. weisen Säuglinge nicht so oft
eine Überempfindlichkeit auf, wie ältere
Kinder und Erwachsene. Trotz alledem
ist größte Vorsicht geboten! Bei allen
eigenartig aussehenden Brustkinder¬
dermatosen muß an die Möglichkeit eines j
rate.
Arzneiexanthems gedacht werden — z. B.
eines Bromederms.
Pulvermacher (Charlottenburg).
• (D. m. W. 1919, Nr. 37.)
Eine sehr seltene Nebenwirkung des
vielgebrauchten Atophan, nämlich das
Auftreten eines angioneurotischen Ödems
bei einem Falle von multiplen Myalgien
auf Grundlage einer uratischen Diathese,
schildert Stiefier. Bei einer 49jährigen
Frau, einer Neuropathin, traten nach Ge¬
brauch von dreimal 0,5 g Atophan pro
I die am Abend des zweiten Tages um-
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1920
79
schriebene ödematöse Schwellungen der
Augenlider beiderseits, der Oberlippe und
der großen und kleinen Schamlippen auf,
verbunden mit Spannungsgefühl, Brennen
und Jucken, jedoch ohne wesentliche Ver¬
änderungen der Farbe der Haut und
Schleimhäute und ohne objektive Sen¬
sibilitätsstörungen. Der ausgeschiedene
Harn war dunkelbraunrot, Zeichen einer
Allgemeinintoxikation fanden sich nicht.
Atophan wurde in derselben Stärke weiter¬
gegeben und nach drei Tagen verschwan¬
den die Ödeme, Als die Kranke nach vier¬
wöchiger Pause wieder Atophan nahm,
setzten am zweiten Tage die Störungen
in der oben beschriebenen Form wieder
ein, ein Beweis, daß es sich um Neben¬
erscheinungen des Atophans handelte.
Die Erscheinungen des Brennens und
Juckens weisen auf eine urtikarielie Mit¬
färbung hin. Bemerkenswert ist die
Lokalisation der Ödeme in Regionen, die
den Übergang von der Haut in die Schleim¬
haut der inneren Organe bilden.
Raschdorff (Berlin).
(M. KI. 1919, Nr. 37.)
Auf den großen Wert von Bewegungs-
Übungen bei der Nachbehandlung innerer
Krankheiten weist Quincke hin. Nicht
nur bei Erkrankungen des Bewegungs¬
apparats, bei artikulären, muskulären und
psychischen Versteifungen nach rheu¬
matischen Erkrankungen und Lähmungen
kommen solche Übungen in Betracht,
sondern auch bei einer Reihe innerer Or¬
gan- und Allgemeinerkrankungen. Atem¬
übungen bei Pleuritis befördern die Auf¬
saugung von Exsudatresten, beugen der
Schwartenbildung vor oder befördern
deren Rückbildung; Übungen der Bauch¬
muskeln empfehlen sich bei Enteroptose
und oft bei habitueller Obstipation; Be¬
wegungen der unteren Extremitäten
eignen sich für langzeitig Bettlägerige,
besonders zur Verhütung von Throm¬
bosen. Für die meisten Rekonvaleszenten
von fieberhaften Erkrankungen, von Er¬
schöpfungszuständen, von Magen- und
Darmstörungen, von Pneumonie sind all¬
gemeine Bewegungsübungen, besonders
Freiübungen von größter Bedeutung. Im
Krankenhausbetrieb empfiehlt es sich,
eine Mehrzahl von Kranken in einer Art
Turnstunde unter einer geeigneten Lehr¬
kraft zusammen vorzunehmen, wobei aber
nach dem Kräftezüstand des Patienten
Maß und Art der Übungen auszuwählen
Regensburger (Berlin).
(M. m. W. 1919, Nr. 47.)
Zahlreiche Nachprüfungen haben die
guten Resultate bei der Verwendung der
Czerny-Kleinschmidtschen Butter-
raehlnahrung für Säuglinge bestätigt.
In einer neuen Arbeit erweitert Klein¬
schmidt den Indikationsbereich und be¬
spricht verschiedene praktisch wichtige
Fragen, die beim Gebrauche der Butter¬
mehlnahrung auftauchen. Das Prinzip
der neuen Nahrung ist eine Fettanreiche¬
rung der üblichen Kuhmilchverdünnung,
die erreicht wird durch Herstellung einer
Einbrenne aus gleichen Teilen Butter und
Weizenmehl, die dem als Verdünnungs¬
flüssigkeit der Kuhmilch dienenden Wasser
beigesetzt wird. Die Hauptindikation zur
Anwendung geben schwach- und früh¬
geborene, in der Entwicklung gehemmte
Kinder der ersten Lebensmonate; wenn
bei solchen Kindern auch im Notfall allein
mit Buttermehlnahrung befriedigende Er¬
folge erzielt wurden, so rät doch Klein-
schmidt gerade bei solchen Kindern
am besten zur Zwiemilchernährung mit
Frauenmilch und nimmt die Buttermehl¬
nahrung etwas weniger konzentriert, näm¬
lich Butter und Mehl nur 5% anstatt 7%,
und Zuckerzusatz 4% statt 5%. Auch
bei nicht gedeihenden Brustkindern —
als Ursache scheint der unter dem Ein¬
fluß der heutigen Ernährung oft auf¬
fallend geringe Fettgehalt der Frauen¬
milch in Frage zu kommen — und im
Reparationsstadium von schweren Er¬
nährungsstörungen ist die Zwiemilch¬
ernährung oft von ausgezeichnetem Er¬
folge. Von der ausschließlichen Ernäh¬
rung mit Buttermehlnahrung sah Klein-
schmidt gute Erfolge besonders bei Re¬
konvaleszenten nach akuten Ernährungs¬
störungen, nachdem die Durchfälle bei
Schleimdiät oder Buttermilch abgeklun¬
gen waren; auch hier empfiehlt.es sich,
erst mit der dünnen Mischung zu be¬
ginnen. Nach Czerny hängt die natür¬
liche Resistenz des Brustkindes mit dem
hohen Fettgehalte der Frauenmilch zu¬
sammen, und so wurden auch sehr gute
Erfolge mit der fettreichen Buttermehl¬
nahrung erzielt bei allen Infekten der
Säuglinge, Pyodermien, Furunkulose,
Phlegmonen, Abscessen, aber auch bei
rezidivierenden Katarrhen der oberen
Luftwege, bei Lues und Osteomyelitis,
deren Ausheilung beschleunigt wurde.
Es zeigte sich auch, daß intercurrente In¬
fekte bei mit Buttermehlnahrung ernähr¬
ten Kindern viel leichter verliefen, ohne
jähe Gewichtsstürze und nur selten mit
Durchfällen parenteraler Natur, so daß
80
Die Therapie der Gegenwart 1920
Februa r
es meist möglich war, die Ernährung un¬
verändert beizubehalten beziehungsweise
nur für einige Tage eine dünnere Konzen¬
tration gegeben zu werden brauchte.
Endlich werden gute Erfolge erzielt bei
konstitutionell abnormen Kindern, so¬
wohl bei solchen mit exsudativer Diathese
und Neuropathen, als auch bei den so¬
genannten Hypotrophikern, das heißt
schwächlich geborenen Kindern mit ab¬
norm geringer Wachstumstendenz. Stö¬
rungen der Darmfunktion, die auf die
Nahrung bezogen werden müssen, traten
nur sehr selten auf, rneist bei Speikindern,
und konnten durch Übergang zur Frauen¬
milchernährung rasch behoben werden.
Die Ernährung mit' Buttermehlnahrung
konnte monatelang fortgesetzt werden;
der Übergang zu anderer Nahrung ge¬
staltete sich durch allmähliche Ersetzung
der Nahrung durch Milchbrei und Milch¬
mehlmischungen sehr leicht. Es ist nur
zu beachten, daß die Nahrungszufuhr
nicht vermindert wird.
Regensburger (Berlin).
(B. kl. W. Nr. 28.)
Dr. F. Mommsen berichtet über die
Versorgung zweier Doppeloberschenkel-
amputierten mit kurzen Stümpfen. Bei
der ersten, einem 20jährigen jungen Mäd¬
chen, hatte er, nachdem das Höftrnann-
sche 7 cm zurückverlegte Kniescharnier
vollkommen versagt hatte, Kniescharnierc
in gewöhnlicher Lage angelegt. Die Knie¬
streckung und -feststellung wurde durch
eine sehr starke Lordosierung der Wirbel¬
säule mit Verlegung des Körpergewichts
nach vorn erreicht. Die angebrachte Sitz-
vorrichtimg wurde danach von der Pa¬
tientin nicht benutzt, vielmehr diente die
vordere innere Leistengegend zur Auf¬
nahme des Körpergewichts. Hier und
an der (jrenze des hinteren und äußeren
Stumpfendes konnten als Zeichen der
Belastung bald deutliche Schwielen¬
bildungen beobachtet werden. Patientin
vermochte, wie Referent sich gelegent¬
lich überzeugen konnte, mit Hilfe zweier
Stöcke verhältnismäßig sicher gehen, sich
auch niedersetzen und aufstehen. Wäh¬
rend in diesem Falle die Kunstfüße zum
Abrollen gar nicht benutzt wurden, sind
bei dem zweiten Patienten, der sich seine
Prothesen selbst konstruiert hat, die Füße
vermittels tief angebrachter Kugelgelenke
nach allen Richtungen frei beweglich, ja
sogar eine Drehung um die Schienbein¬
achse kann ausgeführt werden, wodurch
die Wendungen leichter vor sich gehen.
:S;tatt des Beckengurts trägt dieser Pa¬
tient einen Metallbügel, welcher von einem
Trochanterstück über den Rücken in
Schulterblattspitzenhöhe zum anderen
verläuft und ihm ohne zu starke Lordo¬
sierung einen guten Halt gewährt. Einzel¬
heiten der Ausführung der Prothesen
müssen in der Originalarbeit nachgelesen
werden. . Sehr richtig bemerkt Verfasser
am Schluß, daß die Veirsorgung der
Doppeloberschenkelamputierten ein be¬
sonderes Problem darstellt, das noch
weiterer Klärung und Forschung bedarf.
Georg Müller.
(Zschr. f. orthop. Chir. Bd. 39, 3. Heft.)
Den Grund für die Abnahme der
Eklampsie während der Kriegszeit sieht'
Geßner darin, daß eine vollkommene
Änderung der Lebensweise der Schwan¬
geren eingetreten ist. Wenn auch keine
klinische Untersuchung über die Bedeu¬
tung der körperlichen Arbeit und IBe¬
wegung während der Schwangerschaft für
den Verlauf der Geburt und die Größe
des Kindes und über den Einfluß der ver¬
schiedenen Nahrungsmittel auf den Stoff¬
wechsel der Schwangeren vorliegt, so
muß doch gesagt werden, das diese klaf¬
fende Lücke in unserem geburtshilflichen
Wissen auf empirischem Wege durch das
Massenexperiment der Hungerblockade
ausgeführt ist; es hat sich deutlich ge¬
zeigt, daß bei Schwangeren mit reichlicher
Bewegung und Arbeit bis zur Geburt und
nebenbei knapper Kost die Entbindungen
kürzer und leichter verlaufen, weil das
sonst hinderliche subperitoneale Fett¬
polster fehlt und die Kinder kleiner aus-
fallen. Pulvermacher (Charlottenburg).
(Zschr. f. Geburtsh. 1919, Nr. 51.)
Klinisches über die endemische En¬
cephalitis berichtet Dr. Ernst Naef. In
den ersten Monaten des Jahres 1919 beob¬
achtete er Krankheitsfälle, welche den
von Econom 0 unter dem Namen En¬
cephalitis lethargica veröffentlichten ähn¬
lich waren. Im Vordergründe stand die
Schlafsucht, oft mit Delirien, die meist
den Typus affektloser Beschäftigungs¬
delirien zeigten, ferner Lähmungserschei¬
nungen, meist im Gebiete der Augen¬
muskeln, aber auch an den übrigen Hirn¬
nerven und an den Extremitäten. Es
fanden sich Hirndruckerscheinungen,
Kopfschmerz, meningitische Symptome,
Nackenstarre, Kernigsches Phänomen,
Hauthyperästhesie, Druck empfindlich-
keit der Bulbi, Stauungspapille, sowie
bulbäre Störungen, wie Phonationsstörun¬
gen und Atemlähmung. Die Kranken
klagten über Hypertonie, Rigidität der
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1920
81
Muskeln des Stammes und der Extremi¬
täten, Coritracturen, über cerebellare Stö¬
rungen, wie Ataxie, motorische Reiz¬
erscheinungen choreatisch-athetotischen
Charakters, von seiten des Rückenmarks
Aufhebung der Patellar- und Achilles¬
sehnenreflexe. Die Lumbalpunktion er¬
gab bei einer Reihe von Fällen erhöhten
Druck, gelegentlich eine leichte Eiwei߬
vermehrung, fast regelmäßig Zellvermeh¬
rung mäßigen Grades. Eine Zahl der Fälle
'Zeigte ein uncharakteristisches Fieber,
gemeinsam war fast allen. Fällen die vor¬
ausgegangene oder noch bestehende
Grippe. Die Grippe konnte ambulant
verlaufen oder von schweren cerebralen
Symptomen verdeckt sein, bevor sie zur
Beobachtung kam. Das Krankheitsbild
dürfte durch die Lokalisation des toxi¬
schen, beziehungsweise infektiösen Pro¬
zesses in den Stammganglien oder im
Bulbus oder im Rückenmark bedingt sein.
Raschdorff (Berlin).
(M.m.W., 5. September 1919.)
Einen geburtshilflichen Handschutz —
erhältlich bei der Firma B. Braun (Mel¬
sungen) in zwei Größen, für große und
kleine Hand — hat Carl Meyer kon¬
struiert. Es wird ein 35 cm langer, fester
Papierschlauch in keimfreier Verpackung
hergestellt. Zum Gebrauch, um ihn zu
durchweichen, wird er mit steriler Pin¬
zette für kurze Zeit in eine warme Des¬
infektionslösung von 1 7o Sublimat-Sub-
lamin, 2% Lysol, Lysoform oder der¬
gleichen gelegt. Nachdem die Hand und
der Oberarm gründlich desinfiziert sind,
wird dieser Papierschlauch jetzt herüber¬
gezogen. Da der Schlauch fingerwärts nach
innen eingefaltet ist, so kann er von den
Fingerspitzenfestgeschlossen gehalten wer¬
den, während die Geburtshelferhand durch
die Scheide bis zum äußeren Muttermund
eindringt. Wenn nun die Fingerspitzen
die Lappen loslassen und durch die vor¬
dere Schlaiichöffnung in die Gebärmutter'
eindringen, zieht die äußere Hand gleich¬
zeitig den Schlauch aus der Scheide über
den Ellbogen auf den Oberarm zurück.
Hierdurch ist folgendes erreicht worden:
die innere Hand hat die Vulva und die
Scheidenschleimhaut nicht berührt, so
daß jede Möglichkeit einer Keiinver-
schleppung aufhört.
Pu 1Ve rm a cher (Charl otteiiburg).
(D. m. W. 1919, Nr. 52.)
Daß Glottisödem zur tödlichen Kom¬
plikation anscheinend harmloser Hals¬
affektionen werden kann, ist vielen Ärzten
nicht genügend gegenwärtig. Um so
wichtiger ist es, auf solche Vorkommnisse
hinzuweisen, welche die große Wichtig¬
keit dieses Symptoms von neuem her¬
vorzuheben geeignet sind. Neuerdings
beschreibt (jeorg Straßmann zwei
Todesfälle durch plötzliches Entstehen
von Glottisödem, dessen Erkennung
Schwierigkeiten machte. Der erste Fall
betrifft einen 53jährigen Makler, der
früher mehrfach an Mandelabscessen litt
und am 5. April 1918 plötzlich mit Hals¬
schmerzen erkrankte, die sich so stei¬
gerten, daß erUn der folgenden Nacht
ein Krankenhaus aufsuchte, in welchem
Anschwellung der rechten Mandel, eine
Schwellung und Schmerzhaftigkeit der
rechten Halsseite und ein gewisser Grad
von Atemnot festgestellt wurde. Lebens¬
gefahr schien nicht vorzuliegen. Der Pa¬
tient ging mangels einer Fahrgelegenheit
mit Mühe nach Hause und starb dort
nach einer halben Stunde an Erstickung.
Die Obduktion ergab eine hämorrhagisch
entzündliche Infiltration der aryepiglot-
tischen Falten, die als Todesursache an¬
zusehen war. Als Ursache der Infiltration
hatte sich eine schwere krankhafte Ver¬
änderung am Kehlkopf oder dessen Nach¬
barschaft nicht gefunden, auch kein
Mandelabsceß, doch ließen sich eine Ver¬
größerung der Mandeln und aus ihnen
ausdrückbare Pfröpfe im Sinne einer
Mandelentzündung verwerten, welche
das Larynxödem erklären kann. Die Er¬
kennung dieses Ödems, das allein die
große Dyspnoe erklären kann, ist dem
aufnehmenden Arzt im Krankenhaus ent¬
gangen.
In einem anderen Falle erkrankte ein
45 jähriger Friseur, während er am 4. April
1919 rasierte, plötzlich kurz nach deim
Genuß eines Schnapses, anscheinend mit
Atemnot und starb in kurzer Zeit. Der
hinzugerufene. Arzt nahm als Todesur¬
sache Alkoholvergiftung an. Die Obduk¬
tion ergab neben Bronchitis und Atrophia
fusca cordis Lungenödem und ödematose
Anschwellung des gesamten Larynxein-
ganges, des Gaumens und Zäpfchens, so¬
wie eitrige Infiltration des submucöseu’
Larynxgewebes und der Trachea. Das.
Zusammentreffen der Erkrankung mit
dem zuerst als Todesursache angeschul¬
digten Genuß des Schnapses dürfte nur
ein zufälliges Ereignis darstellen. Die
sehr wichtigen Krankengeschichten bilden
eine ernsthafte Mahnung, in jedem Fall
schwerer entzündlicher, insbesondere eitri¬
ger Veränderung in der Nähe des Kehl¬
kopfes an die Möglichkeit eines Glottis-
11
82
Die Therapie der Gegenwart 1920
Februar
Ödems zu denken und bei den ersten An¬
zeichen derselben die Tracheotomie zu
machen. Raschdorff (Berlin).
(B. kl. W. 1919, Nr. 38.)
Im Beginne des Jahres 1919 kamen
von Wien aus Berichte über ein gehäuftes
Auftreten von schweren Knochenerkran-
kungen bei älteren unterernährten Men¬
schen, die viel Aufsehen machten und
ein krasses Schlaglicht warfen auf das
.Hungerelend, das der Krieg über Öster¬
reich gebracht hatte. Nicht lange nachher
berichtete auch Fromme aus Göttingen
über endemisch auftretende Knochen-
erkrankungen, die er aber im Gegensatz
zu den Wiener Autoren hauptsächlich bei
Jugendlichen beobachtet hatte. Ihm
folgten in kurzen Abständen zahlreiche
Berichte aus vielen Teilen Deutschlands,
die teils die gleichen Erscheinungen an
Adolescenten, teils auch osteomalacie-
ähnliche Erkrankungen bei älteren Frauen
und Männern zum Gegenstände hatten;
so von Bittorf aus Breslau, von Hoch-
stetter aus Tübingen, von Simon und
von Alwens aus Frankfurt, von Römer
aus Elberfeld, von Böhme aus Bochum,
von Partsch aus Dresden und Anderen
mehr. Was zunächst die Erscheinungen
bei den Jugendlichen anlangt, so traten
sie unter dem Bilde der Spätrachitis auf,
meist bei männlichen Individuen im
Alter von45 bis 19 Jahren, die schwer
hatten arbeiten müssen, jedoch in der
Mehrzahl der Fälle leidlich gut ernährt
waren. Die jungen Leute kamen mit
rheumatoiden Schmerzen zum Arzte, die
hauptsächlich in den Beinen auftraten,
klagten über rasche Ermüdbarkeit und
Erschwerung des Ganges, besonders beim
Treppenabwärtsgehen. Bei schon länger
dauernden Fällen war vielen ein Krumm¬
werden der Beine aufgefallen. Der ob¬
jektive Befund ergab in den Frühstadien
der Erkrankung zunächst nichts, bei vor¬
geschritteneren Fällen fand sich vor allem
eine Druckempfindlichkeit der Epiphysen¬
linien, besonders am Knie- und Fu߬
gelenke, die Epiphysengegend war oft
verbreitert. Verbiegungen der Knochen
waren häufig zu finden, X- und 0-Beine,
Plattfüße und einigemal auch Skoliosen;
der Gang war erschwert und watschelnd.
Von übrigen Symptomen ist zu erwähnen,
daß bei einer Anzahl von Fällen leichte
Tetaniesymptome, bei anderen Zeichen
von Infantilismus sich fanden, Störungen,
die auf eine Mitbeteiligung der endo¬
krinen Drüsen schließen ließen. Soweit
das Blut untersucht wurde, war ein ge¬
häuftes Auftreteri von Eosinophilie be¬
merkenswert Charakteristisch war der
Röntgenbefund der erkrankten Knochen.
Der Knochenschatten war weniger inten¬
siv, die Corticalis dünn, die Spongiosa-
bälkchen zart. Der Epiphysenspalt war
nicht wie normal geradlinig und scharf
begrenzt, sondern aufgetrieben, verbrei¬
tert, unscharf, besonders nach der Dia-
physe hin; der Epiphysenlinie parallel
verlaufend fanden sich häufig dunklere
und hellere Streifen. Pathologisch-anato¬
mische Untersuchungen der Knochen
fehlen.
Etwas anders war der Befund bei den
Patienten, die mehr osteomalacieähnliche
Bilder aufwiesen. Hier handelte es sich
um ältere Menschen, sowohl Männer als
Frauen. Die Frauen waren zum großen
Teil im oder nach dem Klimakterium.
Die starke Unterernährung fiel fast bei
allen auf. Die Beschwerden deckten sich
zum teil mit denen der Jugendlichen,
doch waren sie meist mehr auf das Becken,
den Thorax und die Wirbelsäule be¬
schränkt, Knie- und Fußgelenke waren
meist frei. Rippen, Brustbein und Schlüs¬
selbeine waren druckempfindlich, häufig
fand sich eine Verkrümmung der Wirbel¬
säule und ein Federn des Brustkorbs und
des Beckens bei Druck. Infraktionen an
den Rippen waren nicht selten. Auf Er¬
scheinungen von seiten der Drüsen mit
innerer Sekretion, die gerade bei dieser
Art von Erkrankung von den Wiener
Autoren häufig gesehen worden waren,
achtete besonders Alwens; er fand so¬
wohl Tetaniesymptome als auch häufig
Struma. Adrenalinglykosurie, Loewische
Adrenalinmydriasis, Lymphocytose als
Symptom thyreotoxischer Zustände, und
Eosinophilie als Ausdruck eines erhöhten
Vagustonus wurden bei einer Reihe von
Fällen festgestellt. Die Röntgenplatte
zeigte das Bild einer Osteoporose, beson¬
ders der Rippen, des Schulterblatts und
der Schlüsselbeine, aber auch der Wirbel
und Beckenknochen; Schädel und Extre¬
mitäten waren weniger verändert. Patho¬
logisch-anatomisch fand Partsch in fünf¬
zehn obduzierten Fällen sowohl makro¬
skopisch als mikroskopisch die typischen
osteomalacischen Veränderungen des
Knochens.
Was nun die Ätiologie anlangt, so sind
sich sämtliche Autoren darüber einig, daß
die Unterernährung, und zwar sowohl die
quantitative wie die qualitative eine Rolle
spielt. Welcher Nährstoff aber der aus¬
schlaggebende Faktor ist, ob der Kalk,
Februar
Die Therapie der Gegenwsrt 1920
83
ob die Phosphorsäure, ob irgendwelche
Ergänzungsnährstoffe, die sogenannten
Vitamine, darüber fehlen bis jetzt noch
alle Grundlagen. Daß auch ..die endo¬
krinen Drüsen dabei mit beteiligt sind,
dürfte außer Zweifel stehen. Zahlreiche
Symptome sprechen dafür und es sind
auch schon lange die Beziehungen von
Schild- und Nebenschilddrüsen, Ovarien
und Thymus zum Knochenwachstum und
Kalkstoffwechsel bekannt. Grabley
sieht in einer eben erschienenen Arbeit
als gemeinsame Noxe aller jener Ernäh¬
rungskrankheiten' die durch den Krieg
bedingte Demineralisation des Bodens
und seiner Produkte an. Es komme zur
Mineralverarmiung der Zellen, die den
Grund für ein mangelhaftes Auftreten der
Vitamine bilde und für eine schlechte Zell¬
funktion, das heißt für die gestörte innere
Sekretion. Die durch den Mangel an an¬
organischen- Salzen beeinflußte elektro¬
chemischen und elektro-physikalischen
Prozesse in den Zellen führen zu Störungen
des Wachstums, des Stoffwechsels, der
Sekretion und Exkretion der Zellen.
Offen bleibt bei diesem und nach meiner
Ansicht bei jedem bisherigen Erklärungs¬
versuche die Frage, warum trotz der doch
als allgemein verbreitet anzunehmenden
schädigenden Ursache nur eine relativ
geringe Anzahl von Menschen wirklich
erkrankt. Eine prädisponierende Wir¬
kung einer überstandenen kindlichen Ra¬
chitis anzunehmen, wie es einzelne Autoren
zu tun scheinen, dürfte bei der ungeheuren
Verbreitung dieser Erkrankung kaum, an¬
zunehmen sein. Fromme hält auch die
Möglichkeit des Einflusses toxischer Schä¬
digungen auf das Knochenmark für ge¬
geben und denkt dabei an die Grippe¬
epidemie. Auch Simon konnte eine
wenigstens begünstigende Rolle von In¬
fektionen bei einer Reihe von Fällen fest¬
stellen.
Daß sich die Krankheit bei jungen
Individuen anders äußert als bei alten
dürfte seinen Grund in den verschiedenen
physiologischen Verhältnissen der Lebens¬
alter haben. Zur Zeit der stärksten Wachs¬
tumsenergie sind naturgemäß die physio¬
logischen Wachstumszonen, die Epiphysen
am stärksten beteiligt.
Therapeutisch ist die Erkrankung recht
gut zu beeinflussen. Da es'sich um eine
Hungererkrankung handelt, ist vor allem
eine reichliche, bessere, vitaminreiche
Ernährung am Platze. Phosphorlebertran
wurde von allen Autoren mit sehr gutem
Erfolge gegeben. Über die Calciumthera¬
pie und ihre Wirkung gehen die Ansichten
nicht immer überein; meist wurde es in
Form von Calcium, lacticum gegeben.
Auch von Strontium. lacticum berichtet
Alwens über gute Erfolge.
Regensburger (Berlin).
(Fromme, D. m. W. Nr. 19; Bittorf, B. kl.
W. Nr. 28; Hochstetter, M. m. W. Nr. 28;
Simon, M. m. W. Nr. 29; Alwens, M. m. W.
Nr. 38; Römer, M. Kl. Nr. 41; Böhme, D. m. W.
Nr. 42; Partsch, D. m. W. Nr. 44; Grabley,
D. m. W. Nr. 45.)
Über die Bedeutung der Lues der
Mutter für die endogene puerperale
Infektion hat Edmund Loeb in der
Frankfurter Universitätsfrauenklinik Un¬
tersuchungen angestellt, deren Resume
folgendes ist: Die luetische Erkrankung
der Mutter ist für die Ätiologie einer endo¬
genen puerperalen Infektion und für den
Verlauf des Wochenbetts 'ohne jede Be¬
deutung. Es ist dabei gleichgültig, von
welchem Stadium der Lues die Wöchnerin
befallen ist, ebenso, ob die Frau ante
partum keine Streptokokken, nicht hämo¬
lytische Streptokokken oder hämolytische
Streptokokken in ihrem Scheidensekre
beherbergt hatte.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(Mschr. f. Geburtsh., Dezember 1919.)
Ein Magengeschwür zur Operation
dem Chirurgen zu überweisen, wird der
Internist nur in seltenen Fällen geneigt
sein, um so weniger, als die interne
Therapie meist zu gutem Ziele führt. Der
Komplikation der Geschwürsperforation
jedoch steht der interne Arzt fast machtlos
gegenüber; hier hat der Chirurg einzu¬
greifen und zwar je eher desto besser.
Naht des Geschwürs und Anlegen einer
Gastroenterostomie war bisher das Nor¬
malverfahren. Nach dem Vorgänge von
V. Haberer schlägt Eunicke auf Grund
von drei glatt geheilten Fällen die quere
Resektion des Magens beziehungsweise
Pylorus mit nachfolgender hinterer Gastro¬
enterostomie vor. Bei allen drei Fällen
handelte es sich um Ulcera am oder in der
Nähe des Pylorus; die Wundheilung ging
bei allen primär vonstatten, obwohl sechs
bis zehn Stunden vom Zeitpunkte des
Durchbruchs bis zur Operation ver¬
gangen waren. Je früher die Fälle zur
Operation kommen, desto besser sind
natürlich die Heilungsverhältnisse für
das oben geschilderte radikale Verfahren.
• Regensburger (Berlin).
(D. m. W. Nr. 28.)
Den Ersatz der Nasenspitze hat
V. Hacker unter Verwendung eines
ungestielten Hautlappens vorgenommen.
Februar "
M Die Therapie-der
Er hat. sich die Tatsache; daß in. der
Innenseite der Nase auf der Nasen¬
scheidewand no.ch eine gewisse Strecke
normale Haut sich befindet, welche erst
allmählich in die Nasenschleimhaut über--
geht, zur Ausarbeitung seiner Methode
zu Nutze gemacht. Bei einem Mann,
der infolge eines Pferdebisses die Spitze
der Nase verloren hatte, ersetzte er den
freien Rand des Nasenflügels durch
einen gestielten Lappen, welcher der
genannten Stelle entnommen war. Der
noch verbliebene Rest wurde nach
Thiersch gedeckt. Der Erfolg war, wie
die beigegebenen Bilder, zeigen, ein voll¬
kommener. Hayward.
(Zbl. f. Chir. 1919, Nr. 26.)
Die Berichte über unangenehme Neben¬
wirkungen und Vergiftungserscheinungen
bei Gebrauch'des Schlafmittels Nirvanol
werden in letzter Zeit häufiger. Eine
Reihe von solchen Fällen schildert Char¬
lotte Jacob. Es trat bei geisteskranken
Patienten, die einige Tage abends 0,5 g
Nirvanol erhalten hatten, zum Teil unter
hohem Fieber ein masern- oder scharlach¬
ähnliches Exanthem auf, das sich über
den ganzen Körper ausbreitete. Nach
dessen Abblassen kam es in einigen Fällen
zu feiner Schuppung. Charakteristisch
war, daß sämtliche Patienten zwei Tage
vor Auftreten des Ausschlags ein^ ge¬
dunsenes, bläulichrotes Gesicht mit Ödem
der Augenlider und Lippen bekamen, so
typisch, daß aus dem Auftreten des ,,Nir-
vanolgesichtes‘‘ das Exanthem mit Sicher¬
heit vorausgesagt werden konnte. Einen
Einfluß auf die Psychosen hatten die
Erkrankungen nicht, wohl aber war das
Allgemeinbefinden bei einzelnen sehr stark
beeinträchtigt.
Über ähnliche Gesichtsschwellungen
in zwei Fällen und Auftreten eines Exan¬
thems in einem anderen Falle berichtet
Freund. In allen drei Fällen kam es
auch zu Temperatursteigerungen; in einem
Falle war das Allgemeinbefinden schwer
gestört.
Vorsicht im längeren Gebrauche von
Nirvanol und Entziehung aus dem freien
Handel scheint deshalb wohl am Platze.
Regensburger (Berlin).
(D. m. W. 1919, Nr. 48 u. 50.)
Über die Bedeutung der Phos¬
phorsäure für die Muskeltätigkeit
und Leistungsfähigkeit liefert Gust.
Embden einen bemerkenswerten Beitrag.
Als Contractionssubstanz des quer ge¬
streiften Muskels ist eine Substanz anzu¬
sehen, die Verfasser Laktacidogen genannt
Gegenwart 1020
hat. Diese hat große. Ähnlichkeit mit der
Hexose-diphosphorsäure, ein Stoff, der
Zuckerreaktion gibt. Das Laktacidogen
zerfällt während der Tätigkeit des Mus¬
kels in Phosphorsäure und Milchsäure,
daher nimmt während der Arbeit der
Gehalt an Laktacidogen im Muskel' ab
bei gleichzeitiger Zunahme der anorga¬
nischen Phosphorsäure. Außer der im
Laktacidogen gebundenen Phosphorsäure
enthält der Muskel noch anderweitig ver¬
ankerte Phosphorsäure, Verfasser nennt
sie Restphosphorsäure. Je mehr von
dieser vorhanden ist, um so andauernder
arbeitet ein Muskel. Auf Grund von Ver¬
suchen muß man annehmen, daß diese
Restphosphorsäure während der an¬
dauernden Tätigkeit des Muskels dazu
dient, schließlich in Laktacidogenphos-
phorsäure umgewandelt zu werden, sie
würde daher als Reservestoff für den
arbeitenden Muskel von großer Bedeutung
sein. Hierfür spricht auch die Tatsache,
daß die roten Muskeln, die langsam aber
andauernd arbeiten können einen höheren
Gehalt an Restphosphorsäure besitzen,
als die weißen Muskeln, die zwar schneller
arbeiten, dafür aber um so leichter er- .
müden. Auch beim arbeitenden Menschen
läßt sich die Spaltung des Laktacidogens
durch Zunahme der Phosphorsäureaus-
scheidung nachweisen. Phosphorsäure
ist für den arbeitenden Muskel eine
wichtige Betriebssubstanz, die tägliche
Zufuhr von 5—7 g Natr. biphosphoricum
führt zu beträchtlicher Steigerung der
muskulären Leistungsfähigkeit, die direkt
am Ergostaten nachweisbar ist. Es ist
daher wohl angebracht, diese theo¬
retischen Überlegungen in die Praxis um¬
zusetzen und die Phosphorsäure überall
da anzuwenden, wo eine Steigerung der
Muskeltätigkeit angestrebt wird, z. B.
bei langdauernden Märschen oder an¬
haltender schwerer Arbeit. Aber auch
bei Rekonvaleszenten und manchen Fällen
von Erschöpfungszuständen hat sich die
Phosphorsäure bev/ährt.
(M. Kl. 1919, Nr. 30). Schmalz (Berlin).
V. No Orden berichtet über eine von
ihm vor längerer Zeit als Schlafmittel an¬
gegebene Mischung von Diäthylbarbitur-
säure (Veronal) 0,3 mit Phenacetin 0,25
und Codein 0,025, Somnacetin genannt.
Die Mischung hat gegenüber dem allein
gegebenen VeronaFden Vorteil, daß nicht
nur wesentlich kleinere Mengen des Nar-
koticums benötigt werden, sondern daß
auch die schlafbringende Kraft verstärkt
und die üblen Nachwirkungen völlig aus-
Februar
Die Therapie der Gegefiwart 1920
85
geschaltet werden. Versuche, die wirk¬
same Dosis anderer Schlafmittel durch
Beigabe von anderen Narkotica oder Ner-
vina herabzudrücken, ergaben kein Re¬
sultat. Es gelang v. Noorden auch eine
wirksame Mischung für Injektionen her¬
zustellen, die. in Ampullen 0,4 Natrium
diaethylbarbituricum + Pyräzolpn. phe-
nyldimethylicunn- Codein enthält und in
der Wirkung 0,6 Veronal innerlich ent¬
spricht. Auch für Suppositorien erwies
sich dies Somnacetinum solubile als
brauchbar. Durch den Gebrauch der Arz¬
neikompositionen wurde dem störenden
Einfluß der Gewöhnung an die Veronal-
komponente und dem Nachlassen der
Wirl^samkeit vorgebeugt. Außer als
Schlafmittel bewährt sich das Präparat
unter anderen auch bei Seekrankheit, bei
Morphiumentziehungskuren, bei denen es
das Verlangen nach Morphiuminjektionen
wesentlich herabsetzt, ferner bei allge¬
mein nervösen Erregungszuständen, be¬
sonders des Herzens, wenn es über den
Tag verteilt wurdt, etwa drei- bis viermal
je eine Tablette. Gute Wirkung auf die
Herzerregungszustände konnten auch er¬
zielt werden bei Basedowkranken, im Ver¬
laufe von Schilddrüsenkuren und an
Hungertagen bei Diabetes. Selbst bei
Arteriosklerose, bei der vor Veronal stets
gewarnt wird, sah Verfasser bei einer Gabe
von nicht mehr als zwei Tabletten nie
einen Nachteil. Regensburger (Berlin).
(Ther. Mh. 1919, Nr. 11.)
In dem Trypaflävin (Diaminomethyl-
acridiniumchlorid) hat die chemische In¬
dustrie einen Farbstoff dargestellt, dessen
hohe antiseptische Kraft von chirurgi-
schef Seite vielfach schon erprobt ist. Über
seine intravenöse Anwendung bei Infek¬
tionskrankheiten berichtet Bohland. Er
injizierte von einer neutralen Lösung 1 ;200
Mengen von 10 bis 40 ccm. Zunächst
wandte er es bei Influenza an, und zwar
bei Fällen mit hoher Temperatur und
starken Störungen des Allgemeinbefindens.
Bei diesen gingen Temperatur und Puls
stets am nächsten Tag erheblich herunter
und wurden nach drei bis vier Tagen nor¬
mal; die Patienten erholten sich auf¬
fallend rasch. Auch bei zwölf Fällen von
Influenzapneumonie hatte er ermutigende
Erfolge. Fast stets blieb der Prozeß auf
die Ausdehnung, die er bei Beginn der
Behandlung hatte, beschränkt, der Tem¬
peraturabfall trat rasch, aber nie kritisch
ein. In einzelnen besonders schweren
Fällen erlebte Verfasser auch Versager der
Behandlung. Es ist ja auch das Mittel“
sicher kein specifisch auf den Influenza¬
erreger wirkendes, sondern es hemmt
wahrscheinlich nur die im Blute kreisen¬
den Krankheitserreger und ^bt dadurch
dem Organismus Gelegenheit zur Bildung
von Antikörpern. Ein von vornherein
allzu geschwächter Organismus wird das
natürlich nicht vermögen. Gute Wirkung
sah Bohland auch bei einer durch Koli-
infektion verursachten Pyelonephritis mit
Cystitis, wo das durch die Nieren aus¬
geschiedene Trypaflavin sehr rasch die
Bakterien zum Schwinden brachte, und
ferner bei mehreren Fällen von Sepsis,
bei denen Collargol keinen Erfolg gehabt
hatte. Bei akutem .Gelenkrheumatismus
kommt die intravenöse Anwendung weni¬
ger in Betracht, wohl aber gegebenenfalls
die lokale Injektion in größere Ergüsse.
Bei Nierenkranken ist Vorsicht bei der
Anwendung geboten, bei Nierengesunden
wurde riie Reizung gesehen. (Referent
möchte diese Empfehlung des Trypa¬
flavin mit einiger Vorsicht begleiten,
indem er an das Schicksal aller bisher be¬
richteten Heilmittel gegen Sepsis erinnert;
selbst das meist gepriesene Collargol hat
ja keineswegs allen Erwartungen ent¬
sprochen. Im Krankenhaus Moabit hat
das Trypaflavin schon mehrfach bei
schweren Fällen von Sepsis versagt.)
. Regensburger (Berlin).
(D. m. W. Nr. 29.)
Ein gutes Übersichtsreferat über den
heutigen Stand der ätiologischen
Untersuchungen bei Variola bringt
G. Paul (Wien).^ Es werden sowohl
die bisherigen Ergebnisse der mikrobiolo¬
gischen Forschung in kurzer prägnanter
Form geschildert, als auch deren prak¬
tische Verwertung bei der objektiven
Pockendiagnose Kornealversuch am
Kaninchen, Nachweis der Paschenschen
Elementarkörperchen im Pustelaus¬
striche, Komplementbindungsversuch —
besprochen. Hetsch (Berlin).
(Beitr. z. KHn. d. Infekt.-Krankh. u. z. Immun.-
Forsch. 1919, Bd. 7, Heft 3—4.)
Die Frage, welche Fleischarten wohl
in Wirklichkeit in den im Handel um¬
laufenden Wurstsoften enthalten seien,
erregte letzthin im Publikum beträcht¬
liche Besorgnis. Unverantwortliche Per¬
sonen verbreiteten sogar durch Flug¬
blätter das Gerücht, daß Kinder gestohlen
und zu Ziegenwurst verarbeitet würden.
Aber auch dem kritischeren Teile des
Publikums mußte klar sein, daß so viel
/
Februar
8Q
Die Therapie der Gegenwart 1920
Ziegen und Kaninchen nicht auf den
Markt kommen, um-den Bedarf für die
nach ihnen benannten Wurstsorten zu
decken. Untersuchungen von Fried¬
berger mittels der Präcipitin-
m et ho de sind geeignet, die Frage zu
klären und eine gewisse Beruhigung zu
schaffen. Menschenfleisch wurde nicht
gefunden, auch kein Hundefleisch.. Etwas
peinlich ist die Anwesenheit von Katzen¬
fleisch - in neun von vierundzwanzig
Würsten. Eine angenehme Überraschung
ist dagegen die häufige ,,Inkognito''-
anwesenheit von Schweinefleisch. In
der Hauptsache bestanden die ,,Ziegen¬
würste“ oder ,,Lammwürste“ aus Hirsch¬
fleisch, Hammelfleisch und Schweine¬
fleisch. Pferdefleisch fehlte fast immer, ‘
eine angebliche Pferdewurst bestand so¬
gar aus Rinderfleisch mit Zusatz von
Hirsch- und Kaninchenfleisch.. Die eigen¬
tümliche Tatsache, daß der Konsument
zu seinem Vorteil getäuscht wird, erklärt,
sich natürlich aus dem -Zwange, die
gesetzlichen Bestimmungen zu umgehen.
(M. Kl. Nr. 24.)' ' Bloch (Berlin).
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Atemgymnastik.
Von Prof. M. Mosse, Berlin.
Die Vorteile einer systematisch durch¬
geführten Lungengymnastik in der Be¬
handlung einer Anzahl von Lungen- und
Brustfellerkrankungen sind seit Jahr¬
zehnten den deutschen Ärzten bekannt
und werden bereits in einigen älteren Dar¬
stellungen ausdrücklich erwähnt; ich er¬
innere nur an die Bearbeitung der Krank¬
heiten der Pleura durch Fraentzel in
dem Ziemssenschen Handbuch (1875),
an die Schilderung der Pneumoniebehand¬
lung im Handbuche von Albert Fraen-
kel (1904), an die Hoffmannsche Mono¬
graphie über Emphysem und Atelektase
(1900).
Es lag nahe, die Erfahrungen auch
auf die Kriegspraxis zu übertragen. Hof-
bauer^) konnte zeigen,* daß bei einer
Gruppe von Krankheiten, die uns im
Kriege reichlich beschäftigt hatte, näm¬
lich bei den Folgezuständen von Thorax¬
verletzungen, mit gutem Erfolg Atem¬
übungen angestellt werden konnten; im
besonderen legt er auch Wert auf die von
ihm^) ursprünglich bei 3er Asthmabehand¬
lung empfohlenen Summübungerr.
Nachdem kürzlich in sehr dankens¬
werter Weise die Frage der Lungengynina-
stik von J. Zadek in dieser Zeitschrift
behandelt worden ist, möchte auch ich
mit einigen wenigen Worten auf den
Gegenstand eingehen.
Wir hatten im Lazarett Buch reich¬
lich Gelegenheit, uns von dem Nutzen
systematisch angestellter Atemübungen
zu überzeugen. In dem unter Leitung
von Herrn Dr. R. Friedmann stehenden
orthopädischen Saale wurden die Übungen
1) D. m. w. 1916,- Nr. 5, ref. Ther. cl. Gegenw.
1916, S. 356.
2) D. m. W. 1914, Nr. 22.
mit Unterstützung von Turnlehrern täg¬
lich eine viertel bis eine halbe Stundp lang
ausgeführt. In der Zeit vom August 1915
bis März 1919 wurden behandelt: Lungen-
und Brust-Durch- und Steckschüsse 322,
Lungenentzündung 1Ü9, Brustfellent¬
zündung 95, Bronchialasthma 46, Bron¬
chitis 71, Emphysem 11, Lungentuber¬
kulose 39, Brustquetschung 42, Empyem
18, Lungenabsceß 1, andere Lungen¬
erkrankungen (Fälle von Atembeschwer-^
den, Brustschmerzen, Luftröhrenkatarrh"
usw.) 9T
Die Übungen wurden, wenn die Witte¬
rung dies gestattete, im Sommer und
Winter im Freien abgehalfen. Sehr zweck¬
mäßig erwies sich auch uns die Durch¬
führung der Summtherapie.' Besonders
nach Lungenschüssen mußte die Behand¬
lung oft monatelang fortgesetzt werden.
Großen Wert legte ich für die Fälle der
von mir geleiteten inneren Abteilung
darauf, daß vor und während der Behand¬
lung in Abständen von einigen Wochen
Röntgendurchleuchtungen bei Brust¬
schüssen, Brustfellentzündungen usw. vor-
genontmen- wurden. Nur mit Hilfe der
Röntgenuntersuchung gelingt. es oft,
worauf besonders F. Kraus ^) aufmerk¬
sam gemacht hat, diaphragmatische Ad¬
häsionen zu erkennen und zu entscheiden,
ob die Klagen des Patienten über Schmer¬
zen zu Recht bestehen; oft ist man- er¬
staunt über den hohen Grad von Ver¬
wachsungen, deren Feststellung sonst er¬
schwert oder überhaupt unmöglich ist.
So konnten wir uns in kontrollierender
Weise auch von den Erfolgen der Therapie
Die Röntgenunte.rsuchiing von Pleura und
Zwerchfell. In: Rieder-Rosenthal, Lehrbuch
der Röntgenkunde I, 1913.
Februar ' . Die Therapie der Gegenwart 1920 87
überzeugen. Aber — und auf diesen
Punkt, möchte ich einigen Wert legen —
nicht in jedem Falle gelang es, die Folge¬
zustände der Lungenschüsse zu beseitigen.
Die Durchleuchtung lehrte, daß Adhä-
.sionen trotz mehrmonatlicher Behand¬
lung und trotz größter Mühewaltung von
seiten des Arztes und des Patienten vor¬
handen waren. Auch jetzt sehe ich nicht
selten derartige Folgen von Lungen¬
schüssen und überzeuge mich von/ der
Berechtigung der Beschwerden der Pa¬
tienten durch die Röntgendurchleuchtung,
Es erscheint für die Praxis wichtig, zu
wissen, daß die Klagen dieser Kategorie
von Kriegsteilnehmern in vielen Fällen
ihre organische Ursache haben. —
Die Forderung von H. Quincke^),
auf den inneren Abteilungen der Kranken¬
häuser mehr als bisher Behandlung mit
Bewegungsübungen nach einer Anzahl
von inneren Krankheiten sachgemäß und
konsequent durchzuführen, dürfte sicher¬
lich durchaus berechtigt sein. Aber die-
selbeForderung gilt wohl noch in stä^rkerem
Grade für die zahlreichen der Nachbehand¬
lung bedürftigen Fälle der Haus- und
M. m. W. 1919, Nr. 47.
der ambulanten Praxis, zumal für unsere
Kassen- und Armenkranke. Es unterliegt
für mich keinem Zweifel, daß die Kate¬
gorie dieser Kranken die Vorteile der Atem¬
gymnastik und der Bewegungstherapie oft
nicht ausreichend erfährt. Wie die Ver¬
hältnisse nun einmal liegen, kann sich der
Arzt in der täglichen Praxis mit diesen
Dingen häufig nicht genügend selbst be¬
schäftigen. Es muß deshalb allerorts Ge¬
legenheit geboten werden, Kassen- und
Armenkranke, die der Atemgymnastik oder
der Bewegungstherapie nach inneren Krank¬
heiten bedürfen, Ärzten oder Instituten zu
überweisen, in denen die Behandlung lege
artis durchgeführt wird. Verhältnismäßig
einfach ist dieser Forderung in den Städten
zu genügen; immerhin ist daran zu erinnern,
daß es für Großstädte nicht ausreicht, eine
oder einige Behandfungsstätten zu schaffen.
Einem Kranken,der bettlägerig eine Pleuri¬
tis durchgemacht hat, kann man nicht zu¬
muten, weite Wege zurückzulegen, um
Atemgymnastik zu treiben. Wie dies in
sanitären Dingen ja häufig der Fall ist,
dürfte es allerdings besonders schwierig'
sein, in der uns hier beschäftigenden Frage
für die Bevölkerung des platten Landes aus¬
reichend und. erfolgreich Sorge zu tragen.
Über einen diagnostisch sehr bemerkenswerten, trotz Schutz
impfung letal verlaufenen Fall von Typhus.
Von Dr. Voltolini-Naiimburg a. Bober.
Welche diagnostischen Schwierigkei¬
ten der Typhus zu bieten vermag, zumal
in seiner Symbiose mit Paratyphus-
(A- und B-)B.acillen, die er unter den
Segnungen des Weltkrieges eingegangen
ist, habe ich in Nr. 5 und 9 dieser Zeit¬
schrift darzutun versucht. Hat er doch
bei dieser Sozialisierung manches von
seinen Artgenossen angenommen, eigenes
an sie abgegeben, so daß er von dem Bilde
des Typhus der Lehrbücher sehr erheb¬
lich abweicht, an Gefährlichkeit aber ihn
um vieles übertrifft, —zumal nachdem er
seinen Namen ,,Typhus“ in den freund¬
licheren ,,Grippe“ umgeändert hat.
Im folgenden will ich vorerst die
Krankengeschichte des hier interessieren¬
den Falles vorlegen.
Am 5. September d. J. wurde ich nachts zu
dem 18jährigen Sattler M. K. in Chr. gerufen,
der an starkem einseitigen Kopfschmerz und
hohem Fieber erkrankt war. Er war noch tags¬
über seiner Arbeit nachgegangen und hatte dabei
kaum nennenswerte Beschwerden empfunden;
abends war er alsdann fast schlagartig zusammen¬
gebrochen. Die Untersuchung des kräftigen
jungen Mannes ergab 40,4 und 150 Pulsschläge,
große Abgeschlagenheit und Hinfälligkeit. Ob¬
jektive Krankheitserscheinungen ließen sich nicht
nachweisen; Schüttelfrost war nicht voran¬
gegangen. Subjektiv wurde nur über starke
Schmerzen in der linken Stirnseite geklagt, der
dritte Trigeminusast war besonders am Foramen
supra orbitale äußerst druckempfindlich. In
abdomine, in pulmonibtis kein Befund. Da ein
Arbeitskollege des Patienten einige Zeit vorher
von einem Arzt behandelt worden war, der kurz
darauf selbst an Variola vera schwer erkrankte,
mußte auch eine diesbezügliche Krankheitsüber¬
tragung in Erwägung gezogen werden. Da jedoch
hämorrhagisches Exanthem oder masernartige
Flecke durchaus fehlten, wurde dieser Gedanke als¬
bald fallen gelassen, und es wurde im Hinblick auf
den plötzlichen Beginn, das hohe Fieber, die heftigen
Kopfschmerzen, die drückenden Schmerzen in
den Augen, die große Hinfälligkeit angenommen,
daß hier in der Tat ein Fall von ,,Grippe‘‘ vor¬
liege. Nachdem jedoch in den nächsten Tagen
das Fieber nur wenig unter 39° zurückging, das
Krankheitsbild sich auch in keiner Weise änderte,
vor allem örtliche Symptome nirgend hervortraten,
wurde die Befürchtung nicht unterdrückt, daß es
sich doch vielleicht um Typhus handeln könne,
zumal im Frühjahr dieses Jahres in Ch. eine aus¬
gedehnte Typhusepidemie geherrscht und damals
eine in demselben Haushalte lebende Schwester
des Patienten mit ihrem dreijährigen Kinde einen
— klinisch und serologisch erwiesenen — Typhus
durchgemacht und lange Zeit im Lazarett zu-
88
1
Die Therapfe der Gegenwart 1.920
Februar
gebracht hatte. Jedenfalls wurde der Fall als
typh US verdächtig gemeldet. Die Diazoreaktion
fiel jedoch negativ aus, im Stuhl, im Blut, im
Urin, im Blute, gleich am Krankenbett in Galle
gebracht, wurden Typhusbacillen nicht gefunden
(Medizinal-Untersuchungsamt Potsdam Nr. 13063).
Dagegen ergab die Blutuntersuchung: Widal-
sche Reaktion positiv Typhus ^/goo nach 24 Stun¬
den (Untersuchungsamt 13063). Der positive
Ausfall der Wi dal sehen Reaktion konnte jedoch
für die Diagnose im positiven Sinne nicht ohne
weiteres verwertet werden, da Patient im Februar
zwei Typhusschutzimpfungen erhalten hatte,
nach denen erfahrungsgemäß der Widal noch
monatelang positiv bleibt. Dagegen sprach der
negative Ausfall des Bacillenfundes im Blut in
Galle gegen Typhus, zumal, wie Prof. Käthe
(Untersuchungsamt Breslau) mir seinerzeit brief¬
lich mitteilte, „im Blute, sofort am Kranken¬
bett in Galle gebracht, bei Beginn der Er¬
krankung sich Typhusbacillen regelmäßig nach-
weisen lassen“. ,,Allerdings“ — schrieb der¬
selbe Autor mir an anderer Stelle — „schafft
die Typhusschutzimpfung besondere Verhält¬
nisse. Der Bacillennachweis im Blut und in den
Dejektionen gelingt viel seltener.“ War also der
positive Widal auf die Schutzimpfung oder
auf die jetzt vorliegende Erkrankung zurück¬
zuführen? — Inzwischen schritt diese schnell
ad pejus fort, insofern trotz Bädern und anderen
hydrotherapeutischen Maßnahmen das Fieber
fast dauernd auf 40® blieb, die Pulszahl trotz
Digitalis zwischen 150 und 120 schwankte.
Am dritten Krankheitstage stellten sich
Schüttelfröste von großer Intensität ein, die sich
am nächsten Tage wiederholten.' Sprachen diese
nun für oder gegen Typhus? In dem „Atlas
der klinischen Untersuchungsmethoden und Grund¬
riß der klinischen Diagnostik'^ sagt Ch. Jakob
bei der Besprechung der Diagnose des Typhus:
„Schüttelfrost fehlt“, und Strümpell sagt in
seinem Lehrbuch: „In Erlangen und ebenso in
Leipzig kommt ein deutlicher Schüttelfrost fast
niemals vor.“ Ich selbst sah ihn unter 80 Fällen
nur einmal, und zwar bei einem schnell letal ver¬
laufenden Falle. Jedenfalls sprach also auch
dieses Symptom mehr gegen als für Typhus.
Um aus einer erneuten serologischen Unter¬
suchung Aufklärung zu erhalten, wurden am
16. September nochmals Blut, Stuhl und Urin
zur Untersuchung eingesandt: „Im Stuhl und
Urin keine Typhusbacillen. Widal sehe Re¬
aktion positiv. Typhus ^/goo nach 24 Stunden.
(Untersuchungsamt Potsdam Nr. 13559). Der
Titer war also in wenigen Tagen von ^/goo auf
^/aoo zurückgegangen. Dieses Schwanken des
Agglutinationsphänomens konnte ein Zeichen
dafür sein, daß Typhus vorlag, da erfahrungs¬
gemäß bei Schutzgeimpften das Schwanken im
Titer füt Typhus spricht, das Gleichbleiben
des Titers dagegen. Es konnte aber auch das
Heruntergehen des Titers nur ein Zeichen dafür
sein, daß der schutzgeimpfte Organismus analog
der immer zunehmenden Schwere der Erkrankung
allmählich an Fähigkeit einbüßte, Schutzstoffe
— Agglutine — zu bilden, daß er also ganz
allgemein seine Reaktion überhaupt einzustellen
begann, analog dem Verschwinden des Harn*'
Zuckers beim moribunden Diabetiker.
Am 22. September kam Patient ad exitum,
ohne daß es trotz aller darauf gerichteten Be¬
mühungen gelungen wäre, die amtlich gemeldete
Diagnose zu beweisen. Es lag nun die'Ver¬
mutung nähe, und sie wurde auch vom Kreis¬
ärzte geteilt, daß die bei ihrem Bruder lebende
Schwester, Frau L., die, wie oben erwähnt, ein
halbes Jahr vorher mit ihrem Kind einen schweren
Typhus überstanden hatte, Bacillenträgerin sei
und die Quelle der Ansteckung für ihren Bruder
geworden wäre. Die von Mutter und Kind mehr¬
fach eingesandten Stuhl- und Urinproben ergaben
ein negatives Resultat. (Potsdam 15618.) Bei
weiterem Nachgehen erfuhr ich nun von dritter
Seite, daß mehrere Wochen vor der Erkrankung
des M. K. seine Mutter einige Zeit unpaß gewesen
sei und ohne gerade krank zu sein, längere Zeit
„herumgelegen“ habe. Zur Zeit der Krankheit
ihres Sohnes war Frau K. jedoch wieder völlig
wohl und beteiligte sich in scheinbar bester Ge¬
sundheit an dessen Pflege. Und doch klärte die
Untersuchung ihres Stuhles die Sachlage sogleich
auf, da in ihm schon in der ersten Probe Typhus-
bacillen gefunden wurden (Untersuchungsamt
Potsdam Nr. 15615). Die scheinbar leichte und
ärztlich nicht einmal behandelte Erkrankung der
Frau K. war also Typhus gewesen, und da Frau K.
für ihren Sohn kochte, hatte sie auf ihn Typhus¬
bacillen übertragen. Auch ein Beitrag zum
Kapitel „Bacillenträger“!
Der Fall war in mancher Beziehung
äußerst lehrreich, einmal dadurch, .daß
auf die Schutzimpfung als» absoluten
Schutz gegen Reinfektion nicht zu rechnen
ist — was besonders für Ärzte und
Krankenschwestern beachtenswert er¬
scheint! —, und daß solche Fälle nicht,
wie man bisher annahm, ,,ganz leicht“
verlaufen, sondern sogar tödlich enden
können! Ferner war der Fall durch das
völlige Fehlen aller .klinischen Sym¬
ptome außergewöhnlich und ohne die
bakterielle und serologische Unter¬
suchung der Dejektionen auch der An¬
verwandten überhaupt nicht aufzu¬
klären. Welche Bedeutung dies aber für
die Öffentlichkeit hat, erübrigt sich zu
erörtern! Die Unterstützung der Medi¬
zinaluntersuchungsämter bleibt also Jm
Kampfe gegen den Typhus eine nicht zu
entbehrende Waffe im Rüstzeuge des
modernen Arztes, und so sei denn auch
an dieser Stelle noch dankbar des leider
zu früh aus seiner Tätigkeit geschiedenen
Kirchner gedacht, der diese Ämter ins
Leben gerufen hat.
Der Herausgeber bittet die Mitarbeiter mit Rücksicht auf die gebotene Sparsam¬
keit die Arbeiten so kurz als möglich zu halten, die Beigabe von Abbildungen
auf ein Mindestmaß zu beschränken, auch die Zusammenstellung von Unter¬
suchungsreihen in Form von Tabellen der hohen Kosten wegen zu vermeiden.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer in Berlin. Verlag von Urban & S chwarzenber g
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herausgegeben von Qeh. Med.-Rat Prof. Dr. Q. Klemperer
in Berlin.
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Nachdruck verboten.
Zuin Indikationsgebiet der vegetarischen Diät.
(Fettleibigkeit und Diabetes mellitus.)
Von Professor Dr. A. Albu, Berlin.
Der große „Lehrmeister“ Krieg hat
am Menschen unfreiwillige Experimente
in so großem Umfange^ gemacht, wie sie
die Wissenschaft niemals hätte durch¬
führen können. Zu den vielen Erkennt¬
nissen, mit denen die innere Medizin
durch die Kriegserfahrungen bereichert
worden ist, gehört auch die Bestätigung
der Wirkungen, welche die vegetarische
Kost auf Gesunde und Kranke ausübt,
wie sie unter anderem von mir in meiner
Monographie vor fast 20 Jahren dargelegt
worden sind^). Denn die Kriegsernährung
war mehr als drei Jahre lang in der Haupt¬
sache eine vegetarische Kost, zeitweise
sogar noch schlechter als eine solche, wie
sie von fanatischen Anhängern dieser
Ernährungsform in Friedenszeiten ein¬
gehalten worden ist. Die Kennzeichen
der vegetarischen Ernährung sind nicht
nur ihre Fleischfreiheit und ihre Eiwei߬
armut (etwa 6 bis 10 g N pro die), sondern
auch die Minderwertigkeit des Gesamt-
caloriengehalts der Nahrung (ungefähr
1200 bis 1800 täglich). Gerade letzteres
hat sie hauptsächlich mit der Kriegsernäh¬
rung gemeinsam. Wenn man auch bei
der vegetarischen Kost durch Fettzulagen
den Rohcaloriengehalt der Nahrung nicht
unwesentlich erhöhen kann, so bleibt die
Gesamtheit der ausnutzbaren Nährwerte
doch stets erheblich hinter dem Nutz¬
effekt einer eiweißreichen Fleischnahrung
zurück. Ganz instinktiv pflegen deshalb
die Vegetarier einer zu weit gehenden
Unterernährung durch Aufnahme von
reichlich Nüssen, Öl und anderen Fetten
vorzubeugen. Darum kann und muß
man, wie .ich v. Noorden gegenüber^)
betonen möchte; eine solche Diät durch¬
aus noch als vegetarisch bezeichnen, weil
ihr nicht nur der Stempel der Fleisch¬
freiheit und der Eiweißarmut aufgedrückt
ist, sondern auch der vorwiegenden Zu-
0 Die vegetarische Diät. Kritik ihrer An¬
wendung bei Gesunden und Kranken. Leipzig
1902.
Die Zuckerkrankheit und ihre Behandlung.
VII. Auflage, Berlin 1917, S. 490.
sammensetzung ihrer Masse aus Gemüsen,
Salaten, Kräutern und Obst. Die Heil¬
faktoren der vegetarischen Diät liegen
nach meinen langjährigen Erfahrungen
auf diesem Gebiete gleichzeitig in der
Unterernährung und in der Eiweißarmut.
Daraus erklären sich die mit dieser Kost
in Form von Diätkuren, für die ich seit
Jahren eintrete, zu erzielenden Erfolge
sowohl bei der Fettleibigkeit wie bei der
Zuckerharnruhr. Wenn ich jetzt noch
einmal die Aufmerksamkeit darauf lenke,
so geschieht es, weil eben die Beob¬
achtungen während der Kriegsjähre die
bisherigen Erfahrungen einzelner Autoren
nunmehr im großen Umfange bestätigt
haben. Im Anschluß an die Mitteilung
solcher Erfahrungen aus der eigenen
Praxis will ich auch einige neuere klinisch¬
experimentelle Beobachtungen n.ieder-
legen, deren Veröffentlichung durch die
Kriegszeit verzögert worden ist.
I. Entfettung durch vegetarische
Kost.
Es ist allgemein bekannt, wie rapide
schon vom zweiten Kriegsjahr an das
Körpergewicht fast der gesamten Be¬
völkerung Deutschlands herunterging.
Wenngleich naturgemäß statistische Auf¬
zeichnungen nicht vorliegen, so kann man
ohne Übertreibung behaupten, daß min¬
destens 80% der Bevölkerung eine Ein¬
buße erlitten haben. Sie hat beide Ge¬
schlechter, alle Altersklassen, alle Berufs¬
stände und Gesellschaftskreise und nicht
nur die armen und unbemittelten Volks¬
teile, sondern auch die Wohlhabenden
und Reichen betroffen. Die Ungleich¬
heiten im Körpergewichtsverlust waren
dabei nicht ausschließlich oder haupt¬
sächlich durch die Verschiedenartigkeit
der quantitativen und qualitativen Er¬
nährung bedingt, sondern sie wurden in
erster Reihe durch individuelle Diffe¬
renzen bewirkt, welche durch die vor¬
handene angeborene Konstitution und
ihre abnorme Reaktionsfähigkeit geschah
fen wurden. Der epidemische Genius der
12
90
Die Therapie der
Unterernährung hat in den Kriegs]ahren
keinen Unterschied gemacht nach hoch
und niedrig, arm und reich, sondern
nach der körperlichen Disposition und
Widerstandsfähigkeit der einzelnen. Wir
haben enorme Abmagerungen zustande
kommen sehen bei entschieden günstiger
wirtschaftlicher Lage und vorteilhaften
sozialen Umständen, andererseits auf¬
fallend geringfügige Gewichtsverluste bei
Leuten in dürftigen Ernährungsverhält¬
nissen. Bei dieser individualisierenden
Differenzierung haben vielfach psychische
Momente einen entscheidenden Einfluß
ausgeübt. Während in der großen Masse
des Volkes die Gewichtsabnahme durch¬
schnittlich zwischen 10 und 20%
schwankte, erreichte sie beim Fettleibigen
oft eine Höhe bis zu einem Drittel des
gesamten Körpergewichts. Diese Bevor¬
zugung der Fettleibigen ist nicht zu ver-
-wundern. Denn erstens haben sie ein
ganz ungewöhnlich hohes Körpergewicht,
von dem ein erheblich großer Anteil ab-
gehen-kann, ehe ein wirkliches Mißver¬
hältnis zur Körpergröße entsteht und das
normale Durchschnittsgewicht erreicht
wird; zweitens haben sie einen bei weitem
größeren Bestandteil gerade desjenigen
Körpergewebes, das in erster Reihe und
hauptsächlich die Abmagerung bestreiten
muß: große Fettdepots nicht nur in der
Haut, sondern auch um die inneren
Organe herum, besonders in der Bauch¬
höhle.
Als Beispiel der Kriegszehrung eines
Fettleibigen sei folgender besonders dra¬
stische Fall erwähnt: 1904 trat ein
SSjähriger Buchdrucker in meine Be¬
handlung zum Zwecke der Entfettung.
Der 179 cm große Mann wog nackt 264
Pfund. Im Laufe der folgenden Jahre hat
er mehrfach Entfettungskuren durch¬
gemacht, darunter drei vegetarische, von
denen die erste ihn um 23 Pfund, die
zweite um 11 Pfund, die dritte um 18
Pfund herunterbrachte. Zeitweise nahm
er immer wieder zu. Im Mai 1914 wog
er nach der letzterwähnten vierwöchir
gen vegetarischen Entfettungskur 221
Pfund. Seitdem habe ich ihn nicht wieder
gesehen, bis er, inzwischen 51 jährig ge¬
worden, im Oktober 1917 wieder zu mir
kam mit einem Körpergewicht von 157
Pfund. In den inzwischen verflossenen
drei Jahren hatte er spontan 64 Pfund
verloren, lediglich unter dem Einfluß
der Kriegsernährung, deren quantitatives
und qualitatives Defizit er trotz Auf¬
wendung aller seiner Mittel nicht ab-
’ Gegenwart '1920 ► j ' März
zuwenden vermocht hatte. Der riesen¬
hafte-Fettbauch des Mannes war endlich
verschwunden, der Leib war eingesunken,
in dem ehedem kugelrunden Gesicht
hingen die hohlen Wangen schlaff auf
die Kinnbacken herab, die dicken,fleischi-
gen Hände waren schlank und dünn ge¬
worden, der mehrfach verkleinerte Anzug
hing ihm wie ein Sack am Körper, der
Mann war bis zur Unkenntlichkeit ent¬
stellt. Eine derartige Entfettung hatte
lediglich eine fast ausschließlich vege¬
tarische Ernährung zur Folge gehabt.
Der Mann, der^ früher große Mengen
Fleisch und Fett zu essen gewohnt war,
hatte in den beiden letzten Jahren nur
ein bis zweimal wöchentlich schlechte
Fleischnahrung in geringer Menge auf¬
zutreiben vermocht. Diese unfreiwillige'
vegetarische Entfettungskur hatte weit
intensiver gewirkt als die früheren ärztlich
verordneten, vor allem wohl allerdings
deshalb, weil sie eine Dauerkur gewesen
war. Die Natur gestattet sich eben weit
kühnere Experimente, als die Kunst sie
wagt.
Im Anschluß daran gebe ich die Ge-
wi.chtskurve einer vegetarischen
Entfettungskur wieder, welche ich
kurz vor Kriegsbeginn bei einem 36jähri-
gen Rittmeister gemacht habe. Sein
Körpergewicht ist in 21 Tagen von 92,9
auf 85,9 kg, das heißt, um 7 kg gesunken.
91
März Die Therapie der Gegenwart 1920
Die Kurve zeigt in sehr anschaulicher
Weise die rapiden täglichen Gewichts-,
Verluste, an denen allerdings sicherlich
auch die forcierten Körperbewegungen,
welche der energische Patient konsequent
durchführte, einen großen Anteil' hatten.
Zweitens teile jch das Ergebnis
eines Stoffwechselversuchs mit, den
ich im Mai 1914 während einer vegetari¬
schen Entfettungskur bei einem 43jähri-
gen 89,4 kg schweren Rentner durch¬
geführt habe. Der Versuch erstreckte
sich über sieben Tage, während deren der
Patient folgende Kost zu sich nahm;
Erstes Frühstück: Tee mit Saccharin, 50g
Schrotbrot mit 10 g Butter, ein viertel Pfund
Kirschen.
Zweites Frühstück: Bouillon mit einem
Gelbei, 100 g Schnittbohnen mit. 10 g Butter,
eine Senfgurke.
Mittagessen: 150 g Blumenkohl mit 10 g
Butter, 100 g Spinat, ein Teller Kopfsalat in Öl,
ein halbes Pfund Kirschen.
Nachmittag: Tee mit Saccharin, 50 g Schrot¬
brot mit 10 g Butter.
Abendessen: Bouillon mit einem Gelbei, 100 g
Schnittbohnen mit 10 g Butter, 100 g Spinat,
ein viertel Pfund Kirschen.
Diese Kost enthielt nach unseren
eigenen Analysen — sie wurden von dem
Chemiker Herrn Dr. phil. Rewald aus¬
geführt — etwa 4,95 g N täglich. Die .
Schwankungen während der sieben Ver- i
suchstage sind nur geringfügige gewesen.
Die Ausscheidungen betrugen an N im I
Harn während der sieben Tage, von
4,23 bis 5,27 g N schwankend, im ganzen
33,31 g N, im Durchschnitt also täglich
4,73 g N. Im Kot wurden insgesamt
9,55 g N ausgeschieden, das heißt pro die
1,36 g N. Berechnet , man danach die
Stickstoffbilanz, so steht der Einnahme
von 4,95 g eine Ausgabe von 6,09 g
gegenüber, das heißt, ein durchschnitt¬
licher täglicher Verlust von 1,14 g N, für
sieben Tage demnach 7,98 g N. Der wirk¬
liche Körpergewichtsverlust während der
sieben Versuchstage betrug 3,7 kg. Er j
ist in der Hauptsache wohl auf Fett zu I
beziehen.
Bezüglich der Technik der vege¬
tarischen Entfettungskuren verweise ich
auf meine früheren Mitteilungen (M. Kl.
1907, Nr. 14 und namentlich Ther. d.
Gegenw. November 1909). Schließlich
sei nuF noch erwähnt, daß die Kriegs¬
ernährung als Entfettungsmethode voll¬
kommen versagt hat der angeborenen
endogenen oder thyroegenen Fettsucht
gegenüber, trotzdem auch diese Fett¬
leibigen der vegetarischen Unterernährung
meist viele Monate oder sogar mehrere
Jahre'hindurch sich widerwillig unter¬
ziehen mußten. Diese interessante Beob¬
achtungbestätigt die bekannte Erfahrung,
daß alle diätetischen Entziehungskuren
nur der Mastfettsucht gegenüber wirk¬
sam sind.
II. Vegetarische Diät in der Be¬
handlung des Diabetes mellitus.
In einem Vortrag, den ich an einem
„Kriegsärztlichen Abend‘^ in Berlin im
Frühjahr 1917 gehalten habe, habe ich
als erster^) darauf aufmerksam gemacht,
daß unter der Einwirkung der Knegs-
ernährung eine größere Anzahl von Fällen
des alimentären Diabetes zur spontanen
Ausheilung gelangt sind. Diese Beob¬
achtung ist danach von Klemperer,
P. F. Richter, Rosenfeld, Magnus-
Alsleben, Magnus-Levy und anderen
bestätigt worden. Über die Erklärung
der Ursachen dieser unerwarteten auf¬
fälligen günstigen Einwirkung herrscht
im großen und ganzen Einigkeit unter den
Autoren. Wie auch von mir zuerst an¬
gegeben wurdet), ist es hauptsächlich die
plötzliche Einführung einer Unterernäh¬
rung, welche auf den Stoffwechsel der
auf übergroße Nahrungszufuhr eingestell¬
ten Zuckerkranken so kräftig reduzierend
wirkt. Den von Pr out und später na¬
mentlich Bouchardat für die Ernährung
von Diabetikern zuerst aufgestellten, in
neuester Zeit am entschiedensten von
K 01 i s c h vertretenen Grundsatz der „mög¬
lichsten Nahrungseinschränkung'^ als Heil¬
mittel hat das Massenexperiment der
Kriegsernährung aufs glänzendste be¬
stätigt. Für die auf diese Weise zustande
kommende Verminderung der Zucker¬
ausscheidung bringt uns zweifellos Ko-
lischs „Reiztheorie“ des Diabetes das
beste Verständnis und eine vollkommen
ausreichende plausible Erklärung. Sie
bildet zugleich das Bindeglied zu einem
zweiten maßgebenden Faktor der Heil¬
wirkung dieser Diät: der Einschränkung
der Eiweißnahrung, deren Reiz einer der
stärksten ,,Agents provocateurs“ für die
Hyperglykämie und die Glykosurie ist.
Es kommt hinzu, daß nach langjährigen
klinischen Erfahrungen, welche durch die
Ergebnisse experimenteller Untersuchun¬
gen bestätigt worden sind, das vege¬
tabilische Eiweiß einen weit geringeren
Zellenreiz bildet als das animalische. Die
Kriegsnahrung war ja, wie schon ein¬
leitend hervorgehoben wurde, an Fleisch
Zschr. f. ärztl. Fortbild. 1917.
*) 1. c.
12*
92
Die Therapie der Gegenwart 1920 \
März
und überhaupt an Eiweißnahrung außer¬
ordentlich arm. Während die Gesunden
und die Fettleibigen darauf mit Fett-
einsphmelzung und im geringeren Grade
auch mit Eiweißverlust reagierten, haben
die Zuckerkranken von der unfreiwilligen
Einschränkung ihres Stoffumsatzes den
Vorteil des vollkommenen Aufhörens der
abundanten Zuckerproduktion gehabt.
Der viel mißbrauchte Ausdruck „Kriegs¬
diabetes“ — ich habe zuerst darauf hin¬
gewiesen®), daß weder die schwersten
mechanischen noch psychischen Traumen
imstande sind, bei Nichtdisponierten einen
Diabetes mellitus auszulösen! — kann
also Geltung haben, nur insofern man da¬
mit diejenige Fonfi des Diabetes be¬
zeichnen will, welche durch eine Unter¬
ernährung, wie sie die Kriegskost mit sich
gebracht hat, zum Verschwinden gelangt
ist. Gerade deswegen interessiert uns
diese diätetische Behandlung des Diabetes
weit über die Kriegszeit hinaus. Sie ist
ein dauernder Gewinn auch für die Frie¬
denstherapie der Zuckerharnruhr und
wird jetzt wohl nicht mehr aus den Lehr¬
büchern verschwinden.
Schon früher habe ich betont, daß die
vegetarische Diät sich nicht nur für die
alimentäre Form des Diabetes eignet,
sondern auch und oft gerade mit be¬
sonderem Vorteil für die schweren, mit
Ausscheidung von Aceton und Acet-
Essigsäure einhergehenden Fällen, gleich¬
viel, ob man sie überhaupt entzückern
kann oder nicht. Bei Fällen der letzteren
Art verordne ich die vegetarische Diät
in Form von drei bis vierwöchigen
Diätkuren in Abwechslung mit der Ei¬
weißfettdiät oder Haferkuren und der¬
gleichen mehr, je nach der Lage des Falles.
Bei längerer Dauer der vegetarischen
Diätkur schalte ich ein oder zweimal
wöchentlich einen Fleisch- oder Fischtag
ein um der Abwechslung halber. In der
Zulage von frischem Obst braucht man
meist nicht ängstlich zu sein. Viele dieser
schweren Zuckerkranken vertragen bei
der vegetarischen Diät bald auch die
Zulage, von einem achtel oder einem
viertel Liter Milch täglich, so daß die
Ernährung gar nicht einseitig sich zu ge¬
stalten braucht. Die Zulage von Eiern,
Butter, Fett und Speck ändert gar nichts
an dem vegetarischen Charakter der Kost.
Am schlechtesten wird von diesen Zucker¬
kranken dabei immer noch das Brot ver¬
tragen. Mehr als 100 g davon täglich
kann man ihnen meist nicht gewähren,
D. m. W. 1916, Nr. 33.
ohne ein plötzliches stärkeres Ansteigen
der Glykosurie gewärtigen zu müssen.
Die vegetarische Diät hat den gerade für
Zuckerkranke nicht hoch genug einzu¬
schätzenden Vorteil, das oft so abnorme
Hunger- und Durstgefühl leicht zu be¬
friedigen, ohne einen zu starken Reiz auf
den Stoffwechsel und die Zuckerproduk¬
tion auszuüben. In Kürze gebe ich hier
noch einmal®) das Beispiel einer vege¬
tarischen Diät für Zuckerkranke der
schweren Form, das selbstverständlich
mannigfach modifiziert werden kann:
Erstes Frühstück: Kaffee oder Tee mit Sac-.
charin und eventuell ein achtel Liter Milch, dazu
ein weiches Ei mit 10 g Butter, einen Apfel oder
eine Birne.
Zweites Frühstück: Rührei mit Speck oder
Sauerkraut mit gebratenem Speck, ein Teller
Blumenkohl oder Spargel oder Spinat mit aus¬
gelassener Butter, eine Apfelsine.
Mittagessen: Gemüse- oder Obstsuppe, Spinat
mit Spiegelei, Artischocken mit frischer Butter,
Blumenkohl gebacken oder Spargel in verschieden¬
artiger Zubereitung. Kopf- oder Kressesalat oder
Pfeffergurke und dergleichen mehr. Walnüsse
oder Haselnüsse. Als Getränk Zitronenlimonade
mit Saccharin.
Nachmittags wie früh.
Abendessen: Schnittbohnen mit Butter oder
Pfefferlinge gebraten oder Sauerkraut mit Speck
und dergleichen mehr, eventuell Rettich und Ra¬
dieschen mit frischer Butter oder 50 g Käse be¬
liebiger Art.
Als Beispiel für den Erfolg einer sol¬
chen Ernährung gebe ich eine Beobach¬
tung aus neuester Zeit wieder.
Frau V. X., 47 Jahre alt, seit etwa sechs
Wochen akut erkrankt.
Dat.
Diät
Harn¬
menge
Zucker
Aceton
Acetessig-
säure
%
Ge¬
samt
5. 1.
Beliebig
4000
7,2
288
+ +
-f+
6. 1.
3000
4,2
126
+ +
+
7. 1.
2700
4,0
108
+ +
+
8. 1.
iiiweiD-
2950
3,1
90
+ +
9. 1.
rcLLK-Uöl
2400
2,5
60
+ +
+
10. 1.
2750
2,1
57
+ +
+
11. 1.
2000
1,1
22
+
12. 1.
2250
0,6
13,5
+
13. 1.
2600
0,8
16,8
4"
—
14. 1.
2000
0,6
12
?
—
15. 1.
2600
0,4
10,4
?
—
16. 1.
09
O
1900
0,5
9,5
—
—
17. 1.
1750
0,6
10,5
?
—
18. 1.
« 25 g Brot
2200
0,3
6,6
—
—
19. 1.
50 g „
1600
0,9
14,4
—
—
20. 1.
1500
0,7
10,5
—
—
21. 1.
S 100 g „
1700
0,5
8,5
?
—
22. 1.
OJO
1500
0,3
4,5
—
—
23. 1.
>
1800
0,2
3,6
?
—
24. 1.
1600
0,6
9,6
—
25. 1.
1450
0,8
11,6
—
26. 1.
Va 1 Milch
1800
0,4
7,2
—
—
27. 1.
i V 4 I „
1500
0,5
7,5
—
—
®) Vgl. meine „Grundzüge für die Ernährung
von Zuckerkranken'*, Halle 1912, S. 23 u. f.
■ JVlärz
I
Die Therapie der Gegenwart 1920
• Selbstverständlich sieht man bei der
schweren Form des Diabetes auch Mi߬
erfolge von der vegetarischen ^Diät wie
^on jeder anderen' Ernährungsart. Zu¬
weilen habe ich doch den Eindruck ge¬
habt, das drohende Koma dadurch ver¬
hütet zu haben. Ich habe solche vege¬
tarischen Diätkuren innerhalb ejnes Jahres
»drei bis viermal wiederholt, in einzelnen
Fällen die Kranken überhaupt dauernd
.auf vorwiegend vegetarischer Diät gehalten
9a
unter regelmäßiger Einschaltung von
Fleisch- und Fischtagen oder in Ab¬
wechslung mit kürzeren Perioden der
'Eiweißfettkost, die dann meist den Aceton¬
gehalt im Harn etwas ansteigen läßt.
Widerstand gegen die vegetarische Diät
habe ich niemals gefunden, selbst in der
Nachkriegszeit nicht, in der die Mehr¬
zahl der Menschen wieder fleischhungrig
geworden ist.
Aus der 11. Inneren Abteilung des Städtischen Xränkenbauses Moabit.
(Dirigierender Arzt: Geh.-Eat Prof. Zinn; Berlin.)
Zur Behandlung der chronischen Gelenkentzündungen
mit Sdnarthrit-Heilner.
Von Dr. Georg Reimann.
Das Sanarthrit-Heilner wird ange-
'wandt gegen Gicht und andere chronische
Gelenkerkrankungen. Es wird aus Kalbs¬
knorpel gewonnen und ist eine kolloidale,
■farblose, eiweißfreie Flüssigkeit. Der
Erfinder des Präparats ist Professor
Hei ln er (München). Bis zum Jahre
1918 hatte er es an 180 Fällen erprobt.
Umber berichtete 1918 über 18 Fälle,
Reinhart 1919 über 23 Fälle.
Das Präparat ist nicht nur wichtig
wegen seiner Wirkung auf den Kranken,
sondern auch wegen der an seine Wirkung
von Heilner geknüpften Theorien, die
zu neuen Anschauungen über Gicht und
‘Chronische Gelenkkrankheiten führen.
Diese Theorien greifen aber über das
Gebiet der Gelenkerkrankungen hinaus
-auch auf die gesamten biologisch-patho¬
logischen Vorgänge über.
Die Reifung dieser Theorien, ihre Be¬
gründung und ihre interessante Anwen¬
dung auf andere Organe und Krankheiten
können nicht in Kürze wiedergegeben
werden und müssen bei Heilner selbst
nachgelesen werden. Hier seien zum
Verständnis der Wirkungen des Sanar-
thrits nur die großen Richtlinien der
Heilnerschen Theorien an der Hand
einer einzelnen Krankheit, der Gicht,
kurz angedeutet.
Zwischen normal im Blute vorkom¬
menden Stoffwechsefprodukten und be¬
stimmten von diesen bevorzugten Orga¬
nen, wie z. B. zwischen Harnsäure und
Knorpel, besteht eine Neigung zum Ein¬
gehen specifischer Reaktionen, d. h. es
besteht eine chemische Affinität zwischen
Harnsäure und Knorpel. Nun kreist
‘doch Harnsäure stets im Blute. Daß
trotzdem die chemische Affinität nicht in
Wirkung tritt, sondern die. normal vor¬
handene Harnsäure auf den normalen
Knorpel keine Wirkung ausübt, hat seinen
Grund in einer Abwehrvorrichtung des
Knorpels, dem lokalen Gewebsschutz.
Dieser ist kein der inneren Sekretion
nahestehender Vorgang, mit Abgaben von
Stoffen in das Blut, sondern ein lokaler,
an die Knorpelzelle gebundener und sich
zwischen ihr und der andringenden Harn¬
säure abspielender Prozeß, gleich einem
sich stets erneuernden Schutzgitter.
Wird nun dieser lokale Gewebsschutz
durch irgendeine Ursache geschädigt, so
tritt die Harnsäure auf Grund der chemi¬
schen Affinität mit dem Knorpel in Reak¬
tion und es entwickelt sich das Bild der
Gicht.
Die Gicht gehört somit zu der von
Heilner geschaffenen Gruppe der Affi¬
nitätskrankheiten und entsteht nach ihm
durch Versagen des lokalen Gewebs-
schutzes des Knorpels. Die Wirkung
eines Heilmittels müßte nun darin be¬
stehen, diesen lokalen Gewebsschutz wie¬
der herzustellen. Das Sanarthrit ist ein
aus normalem Knorpel hergestelltes Prä¬
parat. Es bringt wahrscheinlich dem
Knorpel die ihm verlorengegangenen che-s
mischen Stoffe, die vielleicht fermenta¬
tiver Art sind, wieder.
Seine günstige Wirkung beruht wohl
auf einer Wiedererweckung bzw. Ver¬
stärkung des lokalen Gewebsschutzes in
den erkrankten Gelenken, durch Anregung
der darniederliegenden ferinentativenZell¬
vorgänge. Die klinische Äußerung dieser
Anfachung zeigt sich oft in Entzündungs¬
nachschüben. Es werden also durch das
m
, Die\Therapie der Gegenwart 1920
Sanarthrit keine specifischen Schutzstoffe
oder Schutzfermente in das Blut geliefert,
sondern es wirkt eher lokal an den Knor¬
pelzellen in obigem Sinne.
Soweit das notwendigste von den
Hei ln ersehen Theorien. Unabhängig
von ihnen besteht die Tatsache, daß das
Knorpelpräparat Sanarthrit günstigeWir-
kungen in einer Reihe von Fällen bei
anderen Untersuchern und auch bei uns
ausgeübt hat. Die Anwendungsbreite des
Mittels ist noch nicht abgegrenzt und ist
noch weiter zu erforschen. Diesem Zwecke
soll die Veröffentlichung der nachstehen¬
den Krankengeschichten dienen.
Wir haben das Sanarthrit in 15 Fällen
angewandt. Diese Zahl ist zu klein, um
eine statistische Zusammenstellung dar¬
über zu geben. Die Fälle müssen einzeln
betrachtet werden. Es wurden Stärke I
und 11 gebraucht in Mengen von 0,5 und
1 ccm. Die bisher angegebene Technik
der intravenösen Injektion und die Dosie¬
rungsvorschriften haben wir befolgt. Die
Ungefährlichkeit der Injektionen hat sich
auch uns erwiesen. Irgendeine Schwierig¬
keit beim Injizieren besteht nicht.
Nach d'er Vorschrift werden drei Stär¬
ken der Reaktion am Tage der Ein¬
spritzung unterschieden. Unter 62 Ein¬
spritzungen hatten wir merkwürdiger¬
weise nur eine starke Reaktion. Diese
besteht in ausgesprochenem Schüttelfrost
ungefähr eine Stunde oder mehr nach der
Einspritzung, mit Fieber von mindestens
39,5, starken Schmerzen in den befallenen
Gelenken, daneben Kopfschmerzen,Kreuz¬
schmerzen, Übelkeit, starker Schweiß,
Durst, allgemeines Reißen. Die Schmer¬
zen und das Auftreten von Knacken in
den Gelenken sollte man übrigens Herd¬
reaktion nennen, nicht Lokalreaktion,
weil dieser Ausdruck nach Analogie der
Tuberkulinreaktion eine Entzündung der
Einspritzstelle bedeuten würde. Letzteres
sahen wir jedoch bei den nur intravenösen
Einspritzungen in keinem Falle.
Mittelstarke und schwache Reaktionen
zeigen jene Symptome in geringerem
Maße. Hei ln er gibt eine genaue Ein¬
teilung der drei Grade von Reaktions¬
stärken und es ist unbedingt notwendig,
sich streng danach zu richten, damit die
Ergebnisse der verschiedenen Autoren
auch .einwandfrei miteinander verglichen
werden können.
Ebenso wie die übrigen Autoren sahen
auch wir keine Reaktion, die nicht schnell
bis- zum Abend wieder abklang. Die
Patienten fühlt^ sich auch bei stärkeren
Reaktionen nie schwer krank und warea
nie gegen ein^ Fortsetzung (J^r Kur ejn-
genommen. Wenn auch anscheinend die
' Heilwirkung mit der Stärke der Reak¬
tionen zusauimenhing, so war das doch
nicht stets der Fall und wir möchten
nicht raten, bei ausbleibenden Reaktionen
die Kur frühzeitig abzubrechen, ebenso--
wenig bei ausbleibender Heilwirkung.
Eine Kur von mindestens sechs Spritzen
empfiehlt-sich stets, und es bleibt offen,
ob nicht-in Zukunft diese Forderung er¬
höht werden wird. Zumal in den Fällen,
wo die bisherigen Methoden versagt ha¬
ben, wird durch eine ausgedehnte Sanar-
thritkur ja nichts versäumt. H ei ln er
hält eine Kur nicht für vollendet, wenn
nicht wenigstens .eine starke Reaktion
erzielt worden ist.
Fall 1. M. J., 22 Jahre, weiblich.
Djagndse; Akute Polyarthritis rheumatica
mit Übergang in chronisches Stadium. Mitral¬
fehler.
Beginn am 19. März 1919. Aufnahme am
folgenden Tage. 39,6. Gelenkschwellungen an
Armen und Beinen mit Erguß. Am 13. April
entfiebert. Am 27. April eine Angina. Behandlung^
mit Aspirin, Antipyrin, acht Gonargininjektionen,
Salicylsalben,’ Ichthyol, Jodkalisalben, Bädern,
Heißluft, Diathermie, Elektrisieren, Massieren,
Übungen an Apparaten. Die Krankheitserschei¬
nungen gingen zum Teil zurück. Der Verdacht
auf Gonorrhöe bestätigte sich nicht, ln den drei
Gelenken des rechten Armes blieb ein chronischer
Zustand bestehen, der durch obige Mittel nicht
zu beeinflussen war. Viereinhalb Monate nach
Beginn des Leidens war folgender Befund: Der
rechte Arm kann nur bis zur Horizontalen ge¬
hoben werden, nach hinten bleibt er gegen den
linken zurück. Zur Streckung im Ellenbogen
fehlen noch 30 Grad, die Beugung geht etwas
über einen Rechten. Das Gelenk ist verdickt,
knirschende Einlagerungen in der Kapsel sind zu
tasten. Die Hand ist infolge eingeschränkter
Beweglichkeit zur Arbeit nicht brauchbar,
Knacken im Handgelenk, mangelnder Faust¬
schluß. Atrophie von 2 cm gegen links. Wasser¬
mann negativ.
Beginn einer Sanarthritkur unter Aussetzen
aller anderen Behandlung. Im ganzen acht In¬
jektionen. 5. August 1919 1 ccm Stärke I ohne
Fieber, mit Herdreaktion und den von Heil ne r
sogenannten Mahnungen in den anfänglich auch
erkrankt gewesenen, inzwischen geheilten Ge¬
lenken. 8. August 1 ccm Stärke II starke Reak¬
tion. Es wird gleichzeitig zunehmendes Knirschen
in den Gelenken und Besserung der Beweglichkeit
festgestellt. Infolge Auftretens von Ruhr, die .
sich die Patientin durch Hausinfektion zugezogen
hatte, wurde die Kur drei Wochen ausgesetzt.
Am 28. August 0,7 ccm Stärke I und noch weitere
fünf Injektionen mit 1 ccm Stärke II machten
schwache Reaktionen. Die Besserung schritt fort
und wurde unterstützt durch Massage und nicht ,
forzierte Bewegungen.
Das Ergebnis bis zum 25. September war
folgendes:- Di^ Patientin hat zwar noch mäßige:
März
Die Therapie -der
Schmerzen bei gewissen Bewegungen, doch hin¬
dert dies nicht den Gebrauch des Armes. Das
Schultergelenk ist jetzt völlig beweglich wie links.
Das Ellenbogengelenk wird völlig gestreckt und
ein wenig mehr gebeugt als früher. Die all¬
gemeinen Verdickungen sind geschwunden, stark
knirschende V-Knoten noch vorhanden- Die
Hand kann wieder zum Schreiben verwandt wer¬
den. Die Volarflexion ist völlig, die Dorsalflexion
wesentlich gebessert. Beim Faustschluß läßt der
kleine Finger noch nach.
Am 27. November noch in Beobachtung. Der
Zustand ist derselbe.
Fall 2. E. K., 35 Jahre, weiblich.
Rezidiv eines akuten Gelenkrheumatismus mit
Übergang in chronische Polyarthritis. Mitral¬
fehler. Erster Anfall 1917, ausgeheilt.
Der jetzige Anfall begann am 2. Juni 1919
in den Fußgelenken und griff am 12. auf Knie,
Hände, Ellenbogen und Schultern über. Auf¬
nahme am 15. Juni. Nach schnellem Fieberabfall
tritt vom 23. bis 27. Juni eine fieberhafte Ver¬
schlimmerung der Endocarditis ein. Vom 25. Juli
bis 10. August bbsteht eine Cholecystitis. Behand¬
lung mit Salicyl, Heißluft, Diathermie und Übun¬
gen. Drei Monate nach Beginn der Erkrankung
ist der Befund folgender: Die Bewegungen des
rechten Schultergelenks sind von leisem Reibe-
gefäusch begleitet, sie gehen auch passiv nur bis
zur Horizontalen und nach hinten nicht so
weit wie links. Beide Handgelenke sind um die
Hälfte ihrer Beweglichkeit eingeschränkt, beson¬
ders das linke. Faustschluß rechts nicht möglich,
links bleiben vierer und fünfer Finger zurück, ln
den Beinen nur zeitweise Reißen- Röntgen: Kno¬
chenatrophie an den Ei3iphysen der Fingergelenke.
Handgelenke frei.
Da der Befupd im letzten Monate stationär
geworden war, so wird unter Auss’etzen jeder an¬
deren Behandlung am 4. September eine Sanar-
thritkur begonnen von sechs Spritzen, bis zum
29. September. Die Mengen betrugen 0,5 ccm
Stärke I, 0,5 ccm Stärke II, 1 ccm Stärke II
dreimal und zum Schluß I ccm Stärke I. Die
zweite und die letzte Injektioti machten mittel¬
starke Reaktion, die übrigen schwache. Nach
der zweiten Injektion setzte eine fortschreitende
Besserung ein.. An die Sanarthritkur wurde
nun eine vierzehntägige Behandlung mit Dia¬
thermie und Üben angeschlossen. Die Besse¬
rung schritt fort und der Befund war am
14. Oktober folgender: Die Patientin kann
sich jetzt wieder auskleiden, das Haar kämmen,
das Eßbesteck benutzen. Der rechte Arm
kann über die Horizontale gehoben werden und
so weit nach hinten wie links. Der Faust¬
schluß ist beiderseits fast vollständig. Nur die
Endphalangen sind beiderseits aktiv unbeweglich
geblieben. Eine einmonatliche ambulante Weiter¬
behandlung mit Diathermie und Üben und Mas¬
sieren ändert nichts Wesentliches mehr. Patientin
will die Kur demnächst wiederholen
Diese beiden Fälle zeigen, daß das
Sanarthrit, nachdem ein chronischer, an¬
scheinend nicht besserungsfähiger Zu¬
stand eingetreten war, einen Anstoß in
günstigem Sinne gegeben hat.
Fall 3. F. C., 42 Jahre, weiblich.
Polyarthritis rheumat. acuta mit sehr ver¬
zögertem Verlauf. Perikarditis, Pleuritis.
Beginn Ende August 1919. Aufnahme am
31. August. Mitte September pleuritis duplex und
Gegenwart 1920* 1 95 ^
Perikarditis, fast alle Gelenke erkrankt. Behänd -1
lung mit Melubrin, Esterdermasan Antipyrin,;
Salicyl, Kollargölklysmen. Alles ohne rechten i
Erfolg. Dauernd Fieber, in den letzten zweiTagen i
subfebril. Am 3P, September Beginn einer’
Sanarthritkur mit insgesamt sieben Spritzen.,
30. September 0,5 ccm Stärke I schwache Re-,
aktion. Die Temperatur geht am nächsten
Tag auf 37 herab und das Fieber kehrt nicht,-
wieder, auch nachdem die Antipyretika vom,
2. Oktober ab fortbleiben. Die zweite Spritze I-
am 3. Oktober von 0,75 ccm Stärke I macht
keine Reaktion. Die Gelenke schwellen ab, die
Pleuritis geht zurück. Das Herz ist frei. Dritte'
Spritze am 6. Oktober 1,0 ccm Stärke I ohne
Reaktion. Die Beweglichkeit aller Gelenke^
nimmt zu. Vierte Injektion am 9. Oktober'
0,5 ccm Stärke II schwache Reaktion. Am
12. Oktober fünfte Injektion 1,0 Stärkei.
Die sechste am 15. Oktober mit 1 ccm Stärke II,
die siebente mit 1 ccm Stärke II am 17. Ok¬
tober machten keine Reaktion. Am folgenden
Tag konnte die Patientin nach Hause ent¬
lassen werden. Am 23. Fahrt in ein Bad. Dort
sofort ein' Rückfall, der eine Woche dauert
und Beschwerden in der linken Schulter zu--
rückläßt.
Das Sanarthrit hat in diesem Falle 3,.
falls kein zufälliges Zusammentreffen vor¬
liegt, den Ablauf eines akuten Gelenk¬
rheumatismus günstig beeinflußt, aber
nicht vor Rezidiv geschützt. ln den
beiden folgenden Fällen 4 und 5 liegt
jedoch der Verdacht vor, daß das Sanar¬
thrit bei noch frischem Gelenkrheuma¬
tismus Rezidive auslösen kann.
Fall 4: G. C., 19 Jahre, weiblich.
Akuter Gelenkrheumatismus mit Endokarditis
bei Ruhr.
Beginn einer Ruhr am 28. August 1919. Am
31. August Aufnahme. Entfiebert am 18. Sep¬
tember. Herz ohne Befund. Am 12. September
Polyarthritis an Händen, Knien und rechtem
Kiefergelenke. Schnell entfiebert. Rückfall am
23. September ohne Fieber. Befund am 8. Oktober:
Endokarditis mitralis. Keine Schwellungen, all¬
gemeines Reißen. Knie aktiv schlecht beugbar,
passiv frei, subfebrile Temperatur.
Unter Aussetzen der bisherigen Salicyl- und
Schwitzbehandlung wird eine Sanarthritkur be¬
gonnen, vier Wochen nach Beginn des Gelenk¬
rheumatismus.
Am 10. Oktober: 0,5 ccm Stärke I und am
13. Oktober 1 ccm Stärke I, beide ohne Reaktion.
Da leichte Ergüsse in der rechten Hand und im
linken Knie auftreten und Neigung zu Temperatur¬
steigerung, wird die Kur abgebrochen. Die frü¬
here Therapie wird wieder aufgenommen und die
Patientin am 6. November, mit Mitralfehler ge¬
bessert, entlassen. Es besteht Reißen ohne objek¬
tiven Gelenkbefund.
Fall 5: H. B., 24 Jahre, weiblich.
Rezidiv eines akuten Gelenkrheumatismus im
Anschluß an Ruhr.
Im Alter von sieben Jahren echten Gelenk¬
rheumatismus gehabt. Inzwischen Reißen ohne
Gelenkveränderungen. Am 13. August 1919 Er¬
krankung an Ruhr. Am 3. September: Beginn
von Gelenkschmerzen. Am 6. September Auf¬
nahme. 39 Grad, starke Polyarthritis an Armen
und Beinen mit Ergüssen. Ruhr. Herz ohne Be-
96
Die Therapie der Gegenwart 1920
fund. Fluor, keine Gonorrhöe. Wassermann
negativ. Nach Besserung der Ruhr tritt am
20. September ein Rückfall der Gelenkschwellun¬
gen ein, ohne Fieber. Therapie: Salicyl innerlich
und äußerlich, Antipyrin, Phenacetin, heiße
Bäder, Schwitzen. Röntgen: verwaschene Zeich¬
nung der Handwurzelknochen. Am 10. Oktober,
also über einen Monat nach Beginn des Rheuma¬
tismus und während Bestehens eines Rückfalls,
wird unter Aussetzen jeder anderen Behandlung
eine Sanarthritkur begonnen. Zuerst 0,5 ccm
Stärke I ohne Reaktion. An den folgenden Tagen
beginnt die Temperatur zu steigen. Zweite In¬
jektion am 13. Oktober: 1 ccm Stärke I mit mittel¬
starker Reaktion.
Da die Temperatur auf 39 geht und die rheu¬
matischen Erscheinungen sich verschlimmern,
wird die Kur abgebrochen. Zehn Tage später
wieder entfiebert. Weiterbehandlung, mit Melu-
brin, Massieren und Elektrisieren. Der Befund
bessert sich erst Mitte November. Vorübergehen¬
des Herzklopfen und systolisches Geräusch. Vor¬
übergehende Pleuritis exsud. dextra. Am 27. No¬
vember noch in Behandlung.
Es folgen jetzt vier Gelenkerkrankun¬
gen von jahrelanger Entwicklung: Hier
haben Kuren von vier bis sechs Spritzen
noch keine oder nur unwesentliche Er¬
folge aufzuweisen. Es sind auch keine
starken Reaktionen erzielt worden. Da
aber immerhin Reaktionen vorkamen, so
sind solche Fälle vielleicht doch einer
modifizierten Kur zugänglich.
FaI16:J. W., 57 Jahre, weiblich.
Arthritis chronica deformans progressiva im
Anschluß an akuten Gelenkrheumatismus.
1913 akuter Gelenkrheumatismus, der sie bis
1917 arbeitsunfähig macht. Februar 1919 Rück¬
fall an den Fußgelenken, Aufnahme 6. November.
Kein Fieber. Starke Bewegungsbeeinträchtigung
beider Hüftgelenke. Knie nur bis 90 Grad beug¬
bar. Wirbelsäule frei. Subluxationen sämtlicher
Finger. Faustschluß aktiv und passiv nicht mög¬
lich. Wassermann negativ. Röntgen: Am Knie
starke Veränderung des Gelenkspalts außen, am
Becken ist der linke Gelenkspalt nicht sichtbar.
Kleine Auflagerungen am Femurkopf. An den
Händen Knochen ohne Befund.
Sanarthritkur, daneben Ganzschwitzkasten.
Am 12. November 0,5 ccm Stärke I mit schwacher
Allgemeinreaktion. Am 17. November 1 ccm
Stärke I ohne Reaktion. Am 22. November
0,5 ccm Stärke II mit mittelstarker Reaktion,
dabei Herdreaktionen. Am 26. November 1 ccm
Stärke I schwache Reaktion. Die Kur wird fort¬
gesetzt.
Fall 7: M. B., 70 Jahre, weiblich.
Arthritis chronica deformans progressiva. Ar¬
teriosklerose der Aorta, Decubitus.
Seit vielen Jahren sogenanntes Gichtleiden an
den Händen. Aufnahme am 3. November 1919.
Finger in Strecksteilung versteift mit teilweise
subluxierten und verdickten Gelenken. Streckung
im Ellenbogengelenk unvollkommen. Schulter¬
gelenkbewegung beiderseits sehr schmerzhaft.
Brustwirbelsäulenkyphose mit Steifigkeit, Hyper¬
ästhesie der unteren Extremitäten. Kniegelenke
nur bis 90 Grad beugbar.' Keine Konturverände¬
rungen. Röntgen: Die Gelenke der Hand zeigen
starke Atrophie der Knochen mit Konturverände-
rungen der Gelenke.
März
Sanarthritkur:,8. November 0,5 ccm Stärke 1
ohne Reaktion. Am 13. November 1 ccm Stärke I,
schwache Reaktion. Am 17. November 5 ccm
Stärke II, mittelstarke Allgemeinreaktion. Am
21. November 1 ccm Stärke II, mittelstarke
Reaktion. Die Kur wii^d fortgesetzt.
Fall 8: O. L., 61 Jahre, weiblich.
Arthritis urica der Finger. Rezidivierende
Gallensteinkolik.
Im Alter von 35 Jahren Basedow; jetzt nur
noch Exophthalmus und systolisches Geräusch
am Herzen. Seit 1905 gallensteinleidend. Seit
13. April neuer Steinanfall. Aufnahme am 16. Sep¬
tember. Heberdensche Knoten an den steifen
Fingern, die auch passiv wenig krümmbar sind.
Röntgen: Lochartige Defekte an den Epiphysen
der Phalangen.
Nach Abklingen des Gallensteinanfalls bei
schwachem Ikterus: Sanarthritkur von vier
Spritzen. Am 29. Oktober 1919 1 ccm Stärke 1,
mittelstarke Allgemein- und Herdreaktion. Es
tritt Knirschen in den Gelenken auf und die Be¬
weglichkeit bessert sich. Am 1. November 1 ccm
Stärkei, schwache Allgemeinreaktion. Am 4. No¬
vember bei 0,5 ccm Stärke II schwache Allge¬
meinreaktion. Am 11. November 1 ccm Stärke II,
mittelstarke Allgemeinreaktion Am folgenden
Tage tritt ein neuer Gallensteinanfall mit 38,6
und zunehmendem Ikterus auf. Deshalb Abbruch
der Sanarthritkur. Abklingen des Anfalls. Keine
weitere Besserung der Finger. Am 27. November
noch in Beobachtung.
Fall 9: M. H., 49 Jahre, weiblich,
t Chronisch progressive Periarthritis destruens.
Operierte Mammageschwulst. Hysterie. Mor¬
phinismus. Kachexie,
Sommer 1916 Beginn mit steifem Hals. Es
folgten Schmerzen in Schultern und Füßen. 1918
erkrankten Hände und Füße und Knie. 1919
im Frühling der Rücken. Die schubweise auf¬
tretenden Anfälle in Händen und Füßen be¬
standen in Schwellungen, Rötung und Schmerzen.
Über Fieber nichts Sicheres zu erfahren. Seit
Oktober 1919 völlig arbeitsunfähig. Aufnahme
am 20. Oktober. Kopf wenig beweglich. Wirbel¬
säule in normaler Haltung. Starke Versteifung
aller Arm- und Beingelenke. Kein Knirschen.
Röntgen: Keine deformierenden Prozesse an den
Gelenken. Keine Gonorrhöe, Wassermann negativ.
Sanarthritkur von sechs Spritzen ohne Erfolg.
Schwache oder gar keine Reaktionen.
Dieser Fall leitet über zu zwei Fällen
von Wirbelsäulenversteifung, bei denen
auch ein Versuch gemacht wurde. Nach
zwei bis drei erfolglosen Spritzen mußten
die Kuren jedoch aus anderen Gründen
unterbrochen werden.
Fall 10: F. M., 40 Jahre, männlich,
Spondylarthritis ankylopoetica,Typ Bechterew.
1913 nach Wandernierenoperation und Kreuz¬
schmerzen. Später Versteifung der Wirbelsäule.
1915 zum Heeresdienste. Verschlimmerung mit
Intervallen. 1919 Schulterversteifung, Gesä߬
schmerzen und Unsicherheit beim Gehen, beson¬
ders im Dunklen. Aufnahme am 23. Oktober
1919. Kyphose der Brust-Halswirbelsäule. Große
Gelenke ergriffen, kleine frei. Parästhesien an
den Oberschenkeln. Röntgenbefund: An den seit¬
lichen Wirbelgelenken starke Verknöcherungen.
Sanarthrikur 28. Oktober 0,7 ccm Stärke I,
schwache Reaktion mit Herdreaktion. Am
31. Oktober 0,6 ccm Stärke II mit schwacher
Reaktion. Am 4. November 0,5 ccm Stärke II
März
Die Therapie der Gegefiwart 1920
97
(•
ohne Reaktion. Wegen Diphtherie Abbruch der
Kur.
Fall 11: F. P., 41 Jahre, männlich.
Spondylarthritis ankylopoetica, Typ: Pierre-
Marie-Strümpell. Empyem links. Beginn der
Erkrankung im Sommer 1914 mit Kreuzschmerzen
und Steifigkeit der unteren Wirbelsäule. 1917
Erkrankung der linken Hüfte im Anschluß an
Unfall. Übergreifen der Steifigkeit auf die Hals¬
wirbelsäule und beide Hüften. Aufnahme am
18. November 1918. Befund am 1. Oktober 1919:
Elender Zustand, Neigung zu Temperaturen in¬
folge Emphysem links. In Strecksteilung fixierte
Wirbelsäule. Arme frei. Hauptsächlich Hüften,
weniger die Knie und gering die Füße ergriffen.
Röntgen: Besonders an der Lendenwirbelsäule
sind die knöchernen Verwachsungen gut zu sehen.
Sanarthritkur am 2. Oktober: 0,5 ccm Stärke I
ohne Reaktion. Am 18. Oktober 0,5 ccm Stärke II,
hat mittelstarke Allgemeinreaktion und Herd¬
reaktion zur Folge. Keine Besserung. Die Kur
wurde in Rücksicht auf den elenden Zustand
nicht fortgesetzt. Später Operation des Em¬
pyems. Noch in Beobachtung am 27. No¬
vember.
Auch drei gonorrhoische Gelenker¬
krankungen wurden mit Sanarthrit be¬
handelt, von denen ein Fall günstig
beeinflußt wurde.
Fall 12: G. L., 25 Jahre, weiblich.
Monarthritis gonorrhoica pedis. Chronische
Gonorrhöe.
Anfang 1917. Wochenbettfieber und Fluor
mit Angina. Im Winter 1918 ein rheumatischer
Anfall in der linken Schulter. Am 9. August 1919
Wiederauftreten dieser Schmerzen, ferner in der
rechten 'Schulter und im linken Fuß. Aufnahme
am 12. August. Fieber bis 39. Linker Füßrücken
stark geschwollen und gerötet und unbewegbar.
Angina catarrhalis. Gonokokken im Urethral¬
abstrich. Wassermann negativ. Es kommt eine
Lymphangitis mit Schenkeldrüsenschwellung
hinzu. Ab 8. September normale Temperatur.
Therapie: Salicyl, später Heißluft, dann Massage
und Bewegen. Sieben Wochen nach Krankheits¬
beginn war der Befund folgender: Fußgelenk
verdickt. Schmerzen mittelstark. Alle Bewe¬
gungen fast aufgehoben. Röntgen: Knochen¬
atrophie.
Sanarthritkur von fünf Injektionen, anfangs
unter Weglassung jeder anderen Behandlung.
Am 29. September 0,5 ccm Stärke I macht nur
Kopfschmerzen. Am 2. Oktober 1 ccm Stärke I
mittelstarke Reaktion. Am Abend eine bessese
Beweglichkeit des Fußes und weniger Schmerzen.
Am 7. Oktober 1 ccm Stärke l schwache Reaktion.
Von jetzt ab Massieren und Bewegen. Am 13. No¬
vember 1 ccm Stärke II, Mahnungen in der linken
Schulter. Am 18. Oktober 0,5 ccm Stärke II,
ohne Reaktion. Die Besserung schritt schnell
vorwärts. Die Patientin wurde am 23. Oktober
mit normalem Befund entlassen.
Fall 13: M. M., 22 Jahre, weiblich, -
Monarthritis gonorrhoica genu. Lues. Gravi¬
dität. Akute Gonorrhöe. Cystitis.
Beginn Mitte Juli 1919 mit Schmerzen in der
linken Hand und rechtem Fuß. Ende Juli heftige
Schmerzen und Schwellung des rechten Knies.
Aufnahme am 1. August. 37,6 in der Achsel.
Das Knie, Außenseite der Wade und Fußrücken
sind gerötet und geschwollen. Kein Erguß.
Gravid im fünften Monat. Im Urethralabstriche
Gonokokken, Wassermann -f -f. Behandlung mit
3 g Neosalvarsan und 0,9 Hg sal., daraufhin
Wassermann negativ. Ferner Salicyl. Stauung,
später Massieren und Bewegung. Am 6. und
17. September im Chloräthylrausch Lösung der
Verwachsungen unter Knirschen durch forcierte
Beugung. Röntgen: Am 1, Oktober Atrophie der
Knochen. Befund: Das rechte Knie wird aktiv
nicht bewegt wegen Schmerzen, passiv bis zum
rechten Winkel unter Knirschen. Kein Erguß.
Fuß nur noch wenig empfindlich.
Unter Aussetzen jeder Behandlung wird eine
Sanarthritkur eingeleitet, zweieinhalb Monate
nach Krankheitsbeginn, von vier Spritzen, die
alle keine Reaktion machen und keinen Erfolg
haben. Am 3. Oktober 1 ccm Stärke I. Am
6. Oktober 0,4 ccm Stärke II. Am 9. Oktober
und am 13. Oktober 1 ccm Stärke II.
Daraufhin wird am 14. Oktober im Chlor¬
äthylrausche nochmals gewaltsam bewegt und
Heißluft und energische Übungen angeschlossen,
mit gutem Erfolge. Patientin geht bald schmerz¬
frei und kann das verdickte Knie gut beugen. Am
27. November noch in Beobachtung. Gravidität
ungestört. Später Geburt eines gesunden Kindes.
Fall 14: E. B., 31 Jahre, weiblich.
Monarthritis genu gonorrhoica. Akute Gonor¬
rhöe. Cystitis.
Vor fünf Jahren akuten Gelenkrheumatismus
in den Knien gehabt. Fluor seit April 1919. Pa¬
tientin hat einen Mann angesteckt. Am 1. Juni
Schmerzen im linken Knie und linker Schulter.
Am 3. Juni heftiger Anfall im rechten Knie.
Punktion soll nichts ergeben haben. Aufnahme
am 12. Juni. Starke Schwellung des rechten
Knies. Rötung. Kein Erguß. 39 Grad. Im
Urethralabstrich Gonokokken positiv. Wasser¬
mann negativ. Punktion am 28. Juni ohne Be¬
fund, Behandlung mit Gonargin intramuskulär
und intravenös mit im ganzen 14 Spritzen, ferner
Salicyl, Extension, Stauung, Heißluft, Massieren
und Bewegen. Am 19.,^ Juli und am 16. August
forcierte &ugung im Äthylchloridrausche. Viel
Schmerzen und hohes Fieber mit Rückfällen. Das
Knie blieb steif. Röntgen: Unregelmäßige Kon¬
turen. Zerstörung des Knorpels und Knochenusur.
Sanarthritkur von vier Spritzen vier Monate
nach Krankheitsbeginn, unter Ausschaltung an¬
derer Behandlung. Am 2. Oktober 0,5 ccm
Stärke I, ohne Reaktion. Am 6. Oktober 0,5 ccm
Stärke II, mit schwacher Reaktion. Am 9. Ok¬
tober 1 ccm Stärke II, mittelstarke Reaktion.
Am 13. Oktober 1 ccm Stärke I ohne Reaktion.
Da keine Zeichen einer Besserung-zu sehen sind,
wird die Kur abgebrochen. Gehenlassen in Gips¬
hülse. Am 27. November noch in Beobachtung.
Schließlich sei noch als Fall 15: K. L., 60 Jahre,
weiblich, erwähnt. Traumatische Monarthritis der
rechten Schulter. Am 20. Oktober forcierte Be¬
wegung im Äthylchloridrausch. Am 25. Oktober
0,5 ccm Stärke I ohne Reaktion. Aus anderen
Gründen entlassen. Das Röntgenbild war am
16. Oktober ohne Befund gewesen.
Das Röntgenbild scheint bei allen
Fällen für die Indikationsstellung nicht
in Betracht zu kommen.
Eine Kontraindikation haben unsere
15 Fälle nicht ergeben. Vielleicht wird
es sich an größerem Material zeigen, daß
frische noch zu Rezidiven mit Fieber
neigende Fälle nicht geeignet sind. Bel
nicht reagierenden chronischen Fällen
dürfte man in Zukunft versuchen, die
Reaktion zu erzwingen durch Steigerung
13
Die The^rapie der Gegenwart 1920
der Dosen und zeitliche Näherung der
‘(Injektionen. Es bleibt noch offen, ob
Sanarthrit in chronischen Fällen bei aus¬
bleibender Besserung wenigstens einen
.Stillstand bewirken kann.
Die Wirkung der Sanärthritinjektion
•ist vielleicht ähnlich zu werten wie' 'die
,einer forcierten Bewegung versteifter Ge¬
lenke. Das Gelenk wird sozusagen auf
'Chemischem Wege mobilisiert, und von
jdieser Anschauung ausgehend-, müßte man
.‘eine Kombination mit' physikalischer
Therapie zwecks Ausnutzung des Er¬
folgs empfehlen. ,
‘ Die Anwendung des Sanarthrits in
.der vorgeschrieb^en Form erscheint be¬
sonders berechtigt bei denjenigen akuten
Gelenkrheumatismen, die in ein chroni¬
sches Stadium übergetreten sind. Auch
bei gonorrhoischer Ätiologie ist ein Ver¬
such zu machen, ferner bei primär chroni¬
schen Formen und den gichtischen. Auf
'eine günstige Einwirkung ist jedoch nur
in einem Teil der Fälle zu rechnen. Eine
.Kombination mit physikalischer Therapie
ist vielleicht zu empfehlen. Antipyretica
sind {au.szusetzen, um die Wirkung des
Sanarthrits kontrollieren zu können: ■
^ei der großen Verschiedenheit der
ausgesprochen chronischen Gelenkerkran¬
kungen hinsichtlich' Ätiologie und klim-
scher Erscheinungsform ist es bisher nicht
möglich, bestimmte Gruppen für die
■Sanarthritbehandlung schärfer herauszu-
heben. Es ist einleuchtend, daß die vor¬
geschrittenen Fälle mit schweren destruk¬
tiven Gelenkveränderungen und Kno¬
chenneubildungen wenig Erfolg erwarten
lassen; immerhin sind die zuweilen er¬
reichten, wenn auch geringen funktio¬
nellen Besserungen diesen hilflosen Kran¬
ken schon willkommen. Wir werden uns
bemühen, die Sanarthrittherapie mehr in
den früheren Stadien der chronischen Ge¬
lenkerkrankungen heranzuziehen. Diese
sind allerdings in der poliklinischen Praxis
weit häufiger als im Krankenhaus anzu¬
treffen. Im Hinblick auf die Reaktionen
empfiehlt sich die stationäre Behandlung.
Literatur: Heilner (M. m. W. 1916, Nr. 28;
1917, Nr. 29; 1918, Nr. 36). — Umber (M. m. W.
1918, Nr. 36). —Mayr (M. m. W. 1918, Nr. 36).—
Reinhart (D. m. W. 1919, Nr. 49).
Aus d^r inneren Ahteilnng des Stadtkrankenlianses Posen
(Leitender Arzt: Professor Dr. S. Sckoenborn).
Argochrom und Sepsis.
Von Dr. Wilhelm Wendt, Oberarzt der Abteilung^).
Die unsichere Wirkung der gebräuch¬
lichen Silberpräparate bei Behandlung
septischer Allgemeininfektionen bewogen
uns, das von A. Edelmann und A. v.
Müller in die "Therapie eingeführte Me¬
thylenblausilber, das von E. Merck in
•Darmstadt unter dem Namen Argo¬
chrom in den Handel gebracht wird,
bei einigen, zum Teil verzweifelten Fällen
anzuwenden. Wir gingen zunächst sehr
mißtrauisch an dieses Präparat heran, da
wir beim Collargol, Elektrargol und Dis-
pargen häufig Mißerfolge gesehen hatten.
Andererseits forderten die günstigen Er¬
folge, die Edelmann-und v. Müller,
Arnstein, Kothny, v. Herff, Küh¬
nelt und Hüssy und-zuletzt H. Lustig
und Pollag bei septischen Erkrankungen
durch Behandlung mit Argochrom sahen,
‘ ^) Diese Arbeit ist im Januar 1919 abge¬
schlossen. Infolge der politischen Verhältnisse
in der Provinz Posen konnte sie leider nicht eher
zum Druck vorgelegt werden. Es dürfte wohl
die letzte deutsche Arbeit aus dem Stadt¬
krankenhause Posen sein.
2) Argochrom wird neuerdings auch gebrauchs¬
fertig in sterilen Ampullen 0,05, 0,1 und 0,2 g
Argochrom enthaltend, geliefert.
geradezu zu einem Versuche mit diesem
Präparat auf.
Wir haben bis jetzt 14 Patienten mit
Argochrom behandelt, davon ist einer
(Fall 13) von mir im Feld in einem Feld¬
lazarett behandelt worden. Wir wandten
das Mittel nur intravenös in der von
Kühn eit angegebenen Weise an. An¬
fangs injizierten wir 0,06—0,1 g auf ein¬
mal, später 0,2 g. Die Applikation des
Präparats ist absolut schmerzlos, vor¬
ausgesetzt, daß man die Lösung nicht mit
der Venenwand oder dem umgebenden
Gewebe in Berührung bringt, ln diesen
Fällen entsteht eine einige Stunden bis
zwei Tage dauernde schmerzhafte Schwel¬
lung in der Umgebung der Injektions¬
stelle, die dem Patienten sehr lästig ist.
Meistens thrombosiert dabei auch die be¬
treffende Cubitalvene teilweise. Absce-
dierungen oder Nekrosebildung haben wir
nie beobachtet. Auffallend ist die schon
während der Injektion eintretende bla߬
bläuliche Verfärbung der Haut und
Schleimhäute. Auch die Skleren werden
häufig bläulich gefärbt. In einem Falle
trat erst sechs Tage nach der Injektion
M"ärz
Die Therapie der Gegenwart 1920
99
•eine Blaufärbung der Skleren auf, die |
über drei Wochen läng, bis zur Entlassung
der Patientin bestehen blieb. Irgend¬
welche Schädigung des Organismus durch
das Argochrom haben wir nicht beob¬
achtet. Der Urin wurde vor und nach
der Injektion mehrmals chemisch und
mikroskopisch untersucht; eine Nieren¬
schädigung war nicht nachweisbar.
Schockerscheinungen, wie sie gerade bei
den kolloidalen Silberpräparaten häufig
Vorkommen und nach Sahlis Ansicht
durch die Eiweißkomponente der Prä¬
parate verursacht werden, treten beim
Argochrom nicht auf.
Bevor ich auf die Wirkung des Argo-
chroms näher eingehe, gebe ich kurze
Auszüge aus den Krankengeschichten
wieder^).
Fall 1. Franziska D., 27 Jahre alt, äufge-
nommen am 25. März 1918. Seit sechs Tagen
Schmerzen in den Hand-, Schulter- und Knie¬
gelenken. Seit zwei Tagen Schwellung der Unter¬
schenkel. Der Aufnahmebefund ergibt: ent¬
zündliche Schwellung der Tonsillen. Die Kiefer¬
gelenke sind sehr schmerzhaft, so daß der Mund
kaum geöffnet werden kann. Die Zunge ist stark
belegt, Lippen leicht cyanotisch. Herzdämpfung
nicht verbreitert, an der Spitze und über der,
Pulmonalis systolisches Geräusch. Puls weich, stark
beschleunigt. Handgelenke beiderseits stark ge-
sci.wollen und druckempfind ich.Sci.ultergelenkebei
Bewegungen stark schmerzhaft. An beiden Beinen
starke Ödeme. Temperatur 39,6. Diagnose: Poly¬
arthritis. — 1. April: Befund unverändert,
dauernd hohe Temperatur. Blutkultur: steril.
0,1 Argochrom intravenös. Danach keine wesent¬
liche Besserung. Unter zunehmender Herz¬
schwäche am 5. April Exitus letalis.
Fall 2. Simon P., 56 Jahre alt, wird am
18. Februar 1918 aufgenommen. War früher nie
ernstlich krank gewesen. Seit acht Wochen klagt
er über Schmerzen in der Brust, Husten und.
Atemnot. P. ist ein kleiner schlecht genährter
Mann, von blasser Gesichtsfarbe. Rachenorgane
ohne Befund. Der Lungenklopfschall ist rechts,
hinten unten handbreit gedämpft. Die Lungen¬
grenzen sind tiefstehend und schlecht verschieb¬
lich. Atmung vesiculär, mit reichlichen trockenen
und feuchten Rasselgeräuschen. Herzdämpfung
regelrecht. Erster Ton an der Spitze paukend,
sonst Töne laut und rein. Puls regelmäßig, weich.
Im übrigen keine krankhaften Organverände¬
rungen nachweisbar. Temperatur 38,6. Nach
anfänglich leichteren Temperatursteigerungen
weist der Fieberverlauf Ende März starke tägliche
Schwankungen auf. Septische Fieberkurve. Blut¬
kultur: Streptokokken. Diagnose: Strepto-
kokkensepsis. Antistreptokokkenserum mit
vorübergehendem Erfolg. Ende April traten
multiple Abscesse auf. 1. Mai: 0,1 Argochrom
intravenös. Zustand unverändert. 4. Mai: 0,15
Argochrom intravenös. Ohne jede Wirkung.
Unter zunehmendem Kräfteverfall erfolgt am
26. Juni der Tod.
Fall 3. Frieda J., 21 Jahre alt, wird wegen
Herzleidens am 8. Dezember 1917 eingeliefert.
Ö Leider sind die Fieberkurven beim Wegzug
aus Posen verloren gegangen.
War bereits im Juli und August 1917 wegen
Mitralstenose in Behandlung. 1916 Gelenk¬
rheumatismus gehabt.' Klagt jetzt über Schmerzen
in der'Herzgegend^ Atemnot und Schwellung der
Füße. Die körperliche Untersuchung ergibt eine
Verbreiterung der Herzdämpfung nach links bis
ein Querfinger außerhalb der linken Mamillar-
änie, nach rechts anderthalb Querfinger über den
rechten Sternalrand hinaus. An der Herzspitze
hört man ein leises präsystolisches und ein systo¬
lisches jGeräusch. Der zweite Pulmonalton ist
akzentuiert. Puls ist klein, aber regelmäßig.
Blutdruck 115/75 (Riva-Rocci). Die Unter¬
schenkel und Füße sind ödematös geschwollen.
An den übrigen Organen sind keine krankhaften
Veränderungen nachweisbar. Temperatur 37,6.
Diagnose: Endokarditis und Polyarthritis.
Am 30. Dezember 1917 bekam Patientin eine
Angina catarrhalis. Im Anschluß daran klagte
sie über größere Schmerzen im linken Schulter¬
gelenk. Die Ödeme waren geringer geworden.
Seitdem dauernd Temperatursteigerung. Die
Gelenke sind schm'erzhaft. Salicylpräparate und
Atophan bleiben wirkungslos. Am 22. Februar
1918 bekommt Patientin 0,1 Argochrom intra¬
venös. 23. Februar: Patientin macht einen schwer
kranken Eindruck, erbricht, Atemnot, Cyanose.
Puls frequent. Temperatur 40,5. Herzbefund
unverändert. Dieser bedrohliche Zustand hielt
bis Anfang März an. Dann trat eine allmähliche
Besserung ein, so daß Patientin Mitte März das
Bett verlassen konnte. Ende März trat wieder
eine Verschlechterung des Krankheitszustandes
ein. 'Die Herzschwäche nahm zu. Am 14. April
trat der Tod ein. Die Autopsie ergab: frische
Endocarditis an der Mitral- und Aortenklappe,
totale Verwachsung des Perikards mit dem Cor,
enge Aorta.
Fall 4. Agnes R., 24 Jahre alt, aufgenommen
am 2. April 1918 wegen Schmerzen in den Knie-,
Fuß- und Schultergelenken. Im März Gelenk¬
rheumatismus gehabt. Bei der Aufnahme Schwel¬
lung beider Kniegelenke. Die Fuß- und Schulter¬
gelenke sind bei Bewegungen schmerzhaft. An
den inneren Organen kein krankhafter Befund.
Temperatur 38,9. Diagnose: Polyarthritis.
Auf Natr. salicyl. ging die Temperatur zur Norm
herunter. Die Gelenke schwellen ab. 10. April
1918 plötzlich Schüttelfrost, Temperatur 40,7.
Im Urinsediment massenhaft Leukocyten (Pye¬
litis). Patientin bekam in der folgenden Zeit
wiederholt plötzliche heftige Fieberanfälle, die
mitunter mehrere Tage andauerten. Blutkultur
steril. In der fieberfreien Zeit war das Allgemein¬
befinden gut. 1. Mai: Während einer Fieber¬
attacke 0,1 Argochrom intravenös; trotzdem am
folgenden Tage Temperatur bis 40,7. Patientin
bljeb noch bis zum 6. August in Behandlung. Die
Fieberanfälle traten seltener und weniger heftig
auf. Patientin wurde, nachdem sie 30 Tage
fieberfrei war, als geheilt entlassen.
Fall 5. Margarete An., 19 Jahre alt, kommt
am 30. September 1918, nachdem sie wegen einer
eitrigen Mittelohrerkrankung anderweitig be¬
handelt worden ist, wegen Schwellung des rechten
Handgelenkes und hohen Fiebers zu uns in Be¬
handlung. Patientin macht einen benommenen
Eindruck. Rechtes Handgelenk geschwollen, ent¬
zündlich gerötet, sehr schmerzhaft. Am rechten
Warzenfortsatz Operationsnarbe. Sonst keine
krankhaften Organbefunde. Temperatur 40,2.
Diagnose: Sepsis nach Otitis med. dext. An¬
haltend hohes Fieber. 4. Oktober und 7. Oktober
je 0,2 Argochrom intravenös, ohne sichtbare Be¬
einflussung der Krankheitserscheinungen. 10. Ox-
13*
100
Die Therapie der Gegenwart 1920
M^rz:
tober; Probepunktion des, rechten Handgelenks
ergibt dicken Eiter; daraufhin wird Patientin auf
die chirurgische Abteilung verlegt zwecks Spal¬
tung des Abscesses. Temperatur 40,5- Nach drei
Tagen starb Patientin unter zunehmender Herz¬
schwäche.
Fall 6. Luise M., 27 Jahre alt, am 29. Januar
1918 aufgenommen. Patientin klagt seit einigen
Tagen über Schmerzen im Leibe, habe^ erbrochen.
Bei der Aufnahme Leib etwas aufgetrieben, die
linke Bauchseite ist druckempfindlich, daselbst
Bauchdeckenspannung. Rechte Bauchseite ge¬
ringe Druckempfindlichkeit. Genital: linkes
Parametrium infiltriert und sehr druckempfind¬
lich. Adnexe links als pflaumengroßer Tumor
fühlbar. Temperatur 38,7. Diagnose: Pyosal¬
pin x sin. Gonorrhöe nicht nachweisbar. 1. Fe¬
bruar: Blutkultur steril, Temperatur 40,0. Pa¬
tientin bekommt 0,06 Argochrom intravenös.
2. Februar: Allgemeinbefinden etwas besser.
Temperatur 39,2. Lungen: links hinten unten
handbreite Schallverkürzung und verschärftes
Atmen. 8. Februar: Patientin ist abgefiebert.
Schmerzen im Leibe geringer. Allgemeinbefinden
besser. Auffallende Blaufärbung der Skleren.
16. Februar: Skleren noch immer blau verfärbt.
Allgemeinbefinden gut. 8. März: Patientin wird
geheilt entlassen. Parametrien nicht mehr in¬
filtriert. Adnex? nicht fühlbar.
Fall 7. Franz Johann K., 58 Jahre alt, wird
am 16. Dezember 1918 wegen arteriosklerotischen
Erregungszuständen eingeliefert. Am 20. Dezem¬
ber bekommt Patient ein Erysipel, das von der
Nase ausgeht und sich allmählich auf das ganze
Gesicht und den Kopf bis zum Nacken ausdehnt.
Temperatur um 39,5. Patient klagt über keine
Schmerzen. Leib weich. 22. Dezember: Starke
Durchfälle. 24. Dezember: 0,2 Argochrom intra¬
venös, ohne wesentliche Beeinflussung. 26. De¬
zember: Viel Eiter im Stuhl. 28. Dezember: Sep¬
tisches Fieber, objektiv kein nachweisbarer Be¬
fund. 31. Januar: Erysipel abgeheilt. Patient
sehr apatisch un'd teilnahmlos. 0,2 Argochrom
intravenös. Nach drei Stunden zeigt Patient
wieder lebhaftes Interesse für seine Umgebung
und sein Leiden. 4. Januar: Puls sehr klein und
frequent. 5. Januar: Unter zunehmender Herz¬
schwäche Exitus letalis.
Fall 8. Marie N., 21 Jahre alt, wurde wegen
eitriger Mandelentzündung aufgenommen. Be¬
kam zwei Tage darauf plötzlich Schmerzen in
beiden Kniegelenken, dem linken Handgelenk,
Ellenbogen- und Schultergelenk. Die Gelenke
waren geschwollen. Diagnose: Angina, Poly¬
arthritis. Nach wenig erfolgreicher Behand¬
lung mit Atophan und Natrium salicylicum bekam
Patientin zwei Tage hintereinander 0,1 und 0,2 g
Argochrom intravenös. Am folgenden Tage trat
bereits Entfieberung ein. Nach etwa vier Wochen
bekommt Patientin nochmals 0,1 Argochrom, da
in den voraufgehenden Tagen geringe abendliche
Temperatursteigerungen eingetreten waren. Das
Mädchen wurde geheilt entlassen.
Fall 9. Elisabeth W., 30 Jahre alt, kam wegen
Rheumatismus im rechten Fuß- und Schulter¬
gelenk ins Krankenhaus. Die Schmerzen bestehen
schon drei Wochen. Das rechte Fußgelenk ist
geschwollen, schmerzhaft und beschränkt beweg¬
lich. Die rechte Schulter, die keine äußerlichen
Veränderungen aufweist, ist bei Bewegungen
schmerzhaft. Temperatur 38,6. An den inneren
Organen sind keine krankhaften Veränderungen
nachweisbar. Verdacht auf Gonorrhöe bestätigt
sich nicht. Diagnose: Polyarthritis septica.
Nach Behandlung mit Natrium salicylicum und
später Atophan schwellen die Gelenke ab und Pa¬
tientin wird beschwerdefrei. Nachdem Patientin
zwei Tage außer Bett war, bekommt sie allmäh¬
lich höhere Temperaturen, di? vdm vierten Tage
ab mit morgendlichem Schüttelfrost einsetzen.
und bis 40,2 steigen. Diese Schüttelfröste und
Fiebersteigerungen halten fünf Tage an. Nach
einigen Tagen bekommt Patientin wieder Fieber.
Sie fühlt sich sehr elend. Es wird 0,1 Argochrom
intravenös injiziert. Am folgenden Tage Tem¬
peratur^ 38®. Patientin fühlt sich bedeutend
wohler. Das Fieber hält noch einige Tage an.
Patientin hat wenig Beschwerden. Sie wird nach
einigen Tagen geheilt entlassen.
Fall 10. Wanda H., 19 Jahre alt, wird am
7. September 1917 wegen Gelenkrheumatismus^
dem Krankenhause überwiesen. Sie klagt über
Schmerzen im linken Knie und beiden Fu߬
gelenken. Die betreffenden Gelenke sind ver¬
dickt und sehr schmerzhaft. Innere Organe ohne
objektiven krankhaften Befund. Temperatur 38®..
Diagnose: Polyarthritis. Patientin bekommt
zunächst Natrium salicylicum, unter dessen Wir¬
kung die Gelenke weniger schmerzhaft wurden r.
später bekommt sie Atophan. Die Gelenke sind
abgeschwollen, auch nicht mehr schmerzhafL
Die Temperatur schwankt dauernd um 38®. Vier
Wochen nach der Aufnahme bekommt Patientin
hohes, sehr unregelmäßiges Fieber. Sie klagt
wieder über Schmerzen in den Gelenken. 4 g'
Atophan und intravenöse Arthigoninjektionen
haben keinen Einfluß. Am 20. Oktober 1917 be¬
kommt Patientin 0,1 Argochrom intravenös. Am
folgenden Tage keine Änderung des Fieberver¬
laufs, Patientin fühlt sich jedoch subjektiv be¬
deutend wohler. Die Gelenkschmerzen haben
aufgehört. Sie klagt über Schluckbeschwerden..
Beide Tonsillen sind gerötet und zeigen einige
Eiterpfröpfe. Angina.
Am 23. Oktober ist die Temperatur zur Norm
gesunken. Die Angina ist abgeheilt. Patientin
ist beschwerdefrei. Sie wird nach etwa drep-
Wochen geheilt entlassen.
Fall 11. Marie W., 21 Jahre alt, wird am
30. Oktober 1917 wegen Kindbettfieber auf¬
genommen. Vor acht Tagen entbunden, klagt
jetzt über Kopfschmerzen, Fieber und Mattigkeit.
Kleine, gut genährte Person. Brustorgane ohne
krankhaften Befund. Leib weich, Unterleib etwas^
druckempfindlich. Genital: Muttermund fast
, geschlossen. Es besteht trübblutiger, etwas übel¬
riechender Ausfluß. Temperatur 38,6. Diagnose:*
Puerperalfieber. 1. November: Temperatur
39,4. Patientin klagt über Schmerzen im Unter¬
leib. Abends 0,2 Argochrom intravenös. 2. No---
vember: Allgemeinbefinden besser. Temperatur
nachmittags 39,5. Abends ist Patientin entfiebert..
3. November: Keine Schmerzen. Am 4. November
noch eine Fieberzacke bis 38,4, keine Beschwerden,.
Ausfluß gering. Am 10. November wird Patientin’
geheilt entlassen.
Fall 12. Lina M., 35 Jahre alt, aufgenommen
' am 2. Januar 1918. Am 23. Dezember entbunden.
Drei Tage später erkrankte Patientin mit hohem
Fieber und Schmerzen im Leibe. Da das Fieber
seitdem anhält, wird Patientin dem Krankenhaus¬
überwiesen. An den Brustorganen keine krank¬
haften Veränderungen. Der Leib ist etwas auf-
getrieben, druckempfindlich, besonders der Unter¬
leib. Uterus ist groß, reicht fast an den Nabel.
Genital: Übelriechender, etwas blutiger Ausfluß.
Temperatur bis 39,7. Der Muttermund ist fast
für einen Finger durchgängig. Diagnose: Puerpe¬
ralfieber. Nach heißen Scheiden- und Uterus¬
spülungen geht die Temperatur allmählich zurück.
März
Die Therapie der Gegenwart 1920
101
Am 7. Januar: Temperaturerhöhung auf' 40,5.
Patientin fühlt sich elend. Mittags 0,07 Argo-
chrom intravenös. 8. Januar: Patientin ist ab¬
gefiebert, sehr gutes Allgemeinbefinden. Uterus
kleiner,' Unterleib nicht schmerzhaft. Patientin
bleibt fieberfrei bis aüf eine, mehrere Tage dau¬
ernde Fiebersteigerung Ende Januar infolge einer
Mastitis. Am 2. Februar geheilt entlassen.
Fall 13. Musketier Wilhelm K., 20 Jahre alt,
am 1. Februar 1918 wegen Kopfschmerzen und
Fieber aufgenommen. Mittelgroß, kräftig gebaut.
Herzdämpfung regelrecht. An der Spitze leises
systolisches Geräusch. Im übrigen kein krank¬
hafter Organbefund festzustellen. Temperatur
zwischen 37° und 39®. Diagnose: Wahrschein¬
lich Sepsis. Pyramiden und Aspirin ohne Wir¬
kung auf den Temperaturverlauf. Patient fühlt
sich abends ziemlich elend. Malariauntersuchungen
wiederholt negativ. Am 16. Februar: 0,2 Argo-
chrom intravenös, nach drei Stunden Schüttel¬
frost, Temperatur steigt bis 40®. 17. Februar:
Kein Fieber. Allgemeinbefinden gut. 19. Fe¬
bruar: Kein Fieber. Allgemeinbefinden gut.
19. Februar: Wieder Temperatur 38,5. Patient
klagt über Kopfschmerzen. 20. Februar: 0,12
Argochrom intravenös, kein Schüttelfrost. Abends
Temperatur 39,5. Seitdem abgefiebert und be¬
schwerdefrei. Wird am 16. März dienstfähig ent¬
lassen.
Fall 14. Janina M., 23 Jahre alt, aufgenom-
men am 26. September 1918 wegen Hals- und
Kopfschmerzen. Bei der Aufnahme stark dyspno-
isch, benommen. Krampf der Kehlkopfmusku-
latiir. Rachen, Gaumenbögen und Mandeln stark
gerötet, kein Belag. An den inneren Organen kein
krankhafter Befund. Da der Verdacht auf Sepsis
besteht, bekommt Patientin 0,2 Argochrom intra¬
venös. Am folgenden Tage Allgemeinbefinden
bedeutend besser, Patientin nicht mehr be¬
nommen, Dyspnöe fast geschwunden. 28. Sep¬
tember: Auf der linken Tonsille gelber schmieriger
Belag. 6000 A. E. Diphtherieserum. Patientin
wurde am 17. Oktober geheilt entlassen.
Es handelte sich demnach in der Mehr¬
zahl der Fälle um Polyarthritiden, zum
Teil mit septischem Charakter; ferner um
zwei Fälle von Puerperalsepsis, eine
Streptokokkensepsis, je eine Sepsis nach
Erysipel und Otitis, eine Pyosalpinx und
um zwei diagnostisch schwierig zu. be¬
zeichnende Fälle (Fall 13 und 14), die aber
klinisch den Verdacht einer septischen
Erkrankung nahelegten. Leider war eine
bakteriologische Blutuntersuchung in den
meisten Fällen aus technischen Gründen
nicht möglich. In sieben von diesen vier¬
zehn Fällen hat das Argochrom versagt.
Wir müssen freilich zugeben, daß wir in
einigen dieser Fälle eine wesentliche Be¬
einflussung des Krankheitsbildes durch
das Präparat gar nicht mehr erhofft
hatten. Bei der Streptokokkensepsis
(Fall 2) hatten wir meines Erachtens das
Präparat viel zu spät angewandt, um
eine Besserung des Leidens erzielen zu
können; das gleiche gilt bei Fall 3.
Trotzdem sehen wir bei drei dieser ,,Ver-
sager‘‘ eine wesentliche Besserung des
\
Allgemeinbefindens und ein Nachlassen
der subjektiven Beschwerden. Geradezu
auffallend war dies bei Fall 7 nach der
zweiten Injektion von 0,2 Argochrom.
Während der Patient zwei Tage lang vor
der Injektion völlig apathisch war, zeigte
er etwa drei Stunden post injectionem
wieder reges Interesse für sein Leiden und
seine Umgebung. Auch der Puls hatte
sich gebessert. Freilich konnte der end¬
gültige Ausgang des Leidens dadurch
nicht geändert werden.
In einem Falle sahen wir nach der In¬
jektion von 0,1 Argochrom eine Ver¬
schlechterung des Krankheitsbildes
(Fall 3). Ob dies nur ein zeitliches Zu¬
sammentreffen war oder als Folge der
Injektion anzusehen ist, läßt sich schwer
entscheiden. , Akut einsetzende Ver¬
schlechterungen sind bei schweren Endo¬
karditiden nicht so selten. Immerhin
wäre es aber möglich, daß es sich um eine
Patientin gehandelt hat, die gegen Methy¬
lenblau oder Silber eine erhöhte Empfind¬
lichkeit zeigte. Da nach den Unter¬
suchungen Hüssys die Wirkung des .Ar-
gochroms in erster Linie auf einer Hem¬
mung der Virulenz der Keime beruht,
läßt sich diese akute Verschlechterung
nicht gut durch Freiwerden großerMengen
Endotoxine erklären. ,
In den übrigen Fällen trat nach der
Behandlung mit Argochrom eine deutlich
erkennbare günstige Beeinflussung des
Krankheitsbildes ein, so daß wir geneigt
sind, die Heilung dieser Fälle auf das
Argochrom zurückzuführen. Die Wirkung
des Präparats zeigte sich meist nicht un¬
mittelbar nach der Injektion.
Bei Fall 10 trat die Entfieberung erst
am dritten Tage post injectionem ein.
Hier erscheint aber die verzögerte Wir¬
kung durch die gerade am Tage nach der
Einspritzung aufgetretene heftige Angina
erklärlich. Auch in Fall 11 fällt die Tem¬
peratur erst am zweiten Tage; bei Fall 9
am dritten Tage. Diese verzögerte objek¬
tive Wirkung ist meines Erachtens durch
Hüssys Annahme einer Virulenzhem¬
mung durch das Argochrom und nicht
durch eine direkte Keimvernichtung, wie
sie Edelmann und v. Müller annehmen,
besser verständlich. Im übrigen konnten
wir aber auch bei diesen Fällen eine so¬
fortige Besserung des subjektiven Be¬
findens und ein Nachlassen der Schmerzen
feststellen. Geradezu auffallend war die
Wirkung des Argochroms bei Fall 13.
Der zweimalige prompte Tem.peratur'
102
Die Therapie der Gegenwart 1920
März
abfall nach der Injektion kann nur als
Argochromwirkung angesehen werden.
Auf den ersten Blick mußte man bei
Betrachtung unserer Fälle zu einem ab¬
lehnenden Urteile gegenüber dem Argo-
chrom kommen. Diese Auffassung teilen
wir nicht. Wir sind bei der Indikations¬
stellung unserer Fälle nicht wählerisch
genug vorgegangen. Das ist bei einem
neu in die Therapie eingeftihrten Prä¬
parat, das kein Specificum ist, auch gar
nicht anders möglich. Es kann für die
Wirkung nicht gleichgültig sein, in wel¬
chem Stadium der Erkrankung wir das
Mittel anwenden. In einigen unserer Fälle
ist das Präparat als Ultimum refugium
zu einer Zeit angewendet worden, wo hach
menschlichem Ermessen eine Hilfe so
gut wie ausgeschlossen war. Die gleiche
Forderung, die Schottmüller bei der
Anwendung der Sera zur Bekämpfung
septischer Erkrankungen stellt, müssen
wir auch an die chemischen Präparate
stellen. Je zeitiger wir das Präparat
anwenden, um so größer wird die
Wahrscheinlichkeit seiner Wirksamkeit.
Daß ein lokal begrenzter Prozeß
(Absceß) durch eine einmalige intra¬
venöse Injektion sichtlich beeinflußt wird,
abgesehen vielleicht von streng specifi-
schen Mitteln, ist kaum anzunehmen.
Auch bei der Behandlung mit anderen
Silberpräparaten sehen wir fast konstant
in derartigen Fällen Mißerfolge. Kausch,
ein begeisterter Anhänger des Collargols,
warnt vor dessen Anwendung bei An¬
wesenheit lokal begrenzter Prozesse. In
erster Linie werden wohl durch intravenös
applizierte bakteriotrope Mittel die frei
im Blute kreisenden Bakterien angegriffen
werden, und wie weit dies in Fällen ge¬
schieht, bei denen scheinbar das Mittel
versagt hat, weil der lokal begrenzte Pro¬
zeß, der das Krankheitsbild beherrscht,
unbeeinflußt geblieben ist, das entzieht
sich unserer Beurteilung.
Endlich glaube ich, haben wir das
Argochrom in einigen Fällen in zu kleiner
Dosis angewendet und nicht oft genug
wiederholt. So hat H. Lustig erst nach
der elften Injektion in einem Fall eine
heilende Wirkung erzielt. Gerade die
virulenzhenimende Wirkung des Argo-
chroms erfordert in schweren Fällen eine
wiederholte Zuführung.
Zum Schluß möchte ich noch kurz die
Wirkungsweise des Argochroms im Orga¬
nismus erwähnen:
Edelmann und A. v. Müller haben
sich bei der Herstellung des Präparats
von Ehrlichs Schienentheorie leiten
lassen. Das parasitotrope Methylenblau
sollte dem Silbernitrat den Weg zum An¬
griffsort, dem Bakterienleib, bahnen.
Nebenbei erhofften did Hersteller durch
K^ippelung zweier Bakteriengifte deren
erhöhte Wirksamkeit im Sinne Bürgis.
Die Wirksamkeit des Präparats sollte auf
dessen bakterientötenden Eigenschaften
beruhen. '
Hüssy konnte jedoch im Tierexperi¬
ment nachweisen, daß die Wirkung des
Argochroms in erster Linie darin besteht,
die Virulenz der Keime zu hemmen. Be¬
trachten wir daraufhin den Einfluß des
Argochroms in unseren Krankheitsfällen,
so möchten wir uns Hüssys Ansicht an¬
schließen. Die verzögerte sichtbare Wir¬
kung in einigen Fällen, ferner der Mangel
jeder Shockerscheinung und die Wir¬
kungslosigkeit des Mittels in ganz schweren
und weit vorgeschrittenen Fällen läßt
sich meiner Meinung nach am besten mit
der virulenzhemmenden Wirkung des
Argochroms vereinbaren. Damit ist zu¬
gleich auch die geringe Toxicität des Prä¬
parats erklärt. Bei einer direkten keim¬
tötenden Wirkung des Präparats wäre
gerade in schweren Sepsisfällen eine Aus¬
schwemmung reichlicher Endotoxine mit
seiner Nebenwirkung unvermeidlich; diese
wird beim Argochrom aber vermißt.
Ich halte die Wirkungsweise des Argo¬
chroms für keinen Nachteil des Präparats,
vorausgesetzt, daß man frühzeitig und
in genügender Menge injiziert. Diebesten
Erfolge dürfte man natürlich bei kombi¬
nierter Behandlung mit Argochrom und
specifischen Seris erzielen.
Wie V. Müller selbst sagte, will das
Argochrom gar kein Allheilmittel gegen
Sepsis sein. Selbst bei den besten speci¬
fischen Präparaten finden wir Versager.
Wir haben den Eindruck gewonnen, daß
das Argochrom frühzeitig in Mengen von
0,2 angewendet und eventuell in Ab¬
ständen von 24 und 48 Stunden wieder¬
holt ein gutes Silberpräparat zur Bekämp¬
fung septischer Erkrankungen ist, das den
bisher gebräuchlichen Silberpräparaten
durch seine geringere Toxicität über¬
legen ist.
Wer entschiedener Gegner der Silber¬
präparate bei jeglichen Erkrankungen ist,
dem werden einige günstige Erfolge nichts
beweisen, andererseits wird sich der vor¬
urteilsfreie Therapeut durch einige mi߬
glückte Fälle von weiteren Versuchen
nicht abschrecken lassen.
März
Die Therapie der Gegenwart 1920
103
Literatur: 1. A. Edelmann-und A. v. Mül¬
ler, Neue therapeutische Versuche bei allge¬
meinen und lokalen Infektionen (D. m. W. 1913,
Nr. 47). — 2. Arnstein, Sepsis resp. Gelenk¬
rheumatismus mit Methylenblausilber behandelt
(Ges. f. inn. Med. u. Kinderh., Wien, Sitzung vom
26. Februar 1914; Referat: M. m, W. 1914, Nr. 10).
— 3. Kothny, Chininresistente Malaria mit Me¬
thylenblausilber behandelt (Ges. f. inn. Med. u.
Kinderh., Wien, Sitzung vom 26. März 1914;
Referat: M. m. W. 1914, Nr. 15). — 4. Schott¬
müller, Wesen und Behandlung der Sepsis (Ver¬
handlungen des Deutschen Kongresses für inn.
Med. 1914). — 5. v. Herff, Prinzipien in der
Bekämpfung einzelner lokaler Wundentzündungen
(M. m. W. 1915, Nr. 17). — 6. Hüssy, Zur Be¬
handlung der septischen Allgemeininfektion (M.
m. W. 1915, Nr. 15). — 7. Kühnelt, Über die
Behandlung des puerperalen Fiebers mit Me¬
thylenblausilber (Zbl. f. Gynäk. 1916, Nr. 32). —
8. A. Edelmann und A. v.Müller-Deham, Zur*
Behandlung septischer Allgemeininfektionen mit
Methylenblausilber (Argochrom) (D. m. W. 1917,
Nr. 23). — 9. Lustig, Zur Therapie septischer
Allgemeininfektionen mit Methylenblausilber
(Argochrom) (W. kl. W, 1917, Nr. 34). — 10. Pol¬
lag, Über Behandlung mit Methylenblausilber
(Verein der Ärzte in Halle a. S., Sitzung vom
5. Dezember 1917; Referat: M. m. W. 1918,
Nr. 17).
Terpichin bei entzündlichen Erkrankungen der Harnwege.
Von Dr. med. Wilh. Karo, Berlin.
In Nr. 29 der Medizinischen Klinik
1919 habe ich als Erfolg meiner Versuche,
die Klingmüllersche Terpentinölbehand¬
lung wirksamer und gefahrloser zu ge¬
stalten, auf das Terpichin aufmerksam
gemacht.
In diesem Präparat besitzen wir ein
absolut entharztes und von Oxyden be¬
freites Terpentinöl, dessen Wirkung durch
Kombination mit Chinin gesteigert wird.
Nachdem ich das Terpichin nunmehr über
ein Jahr in meiner urologischen Praxis
täglich anwende, will ich im Folgenden
einen kurzen Überblick über* meine mit
dem Mittel erzielten Erfolge geben.
Zunächst ein Wort über die Technik
der Methode: Terpichin muß intra-
glutaeal eingespritzt werden. Durch zahl¬
reiche Kontrollversuche habe ich mich
davon überzeugt, daß es ziemlich gleich¬
gültig ist, an welcher Stelle das Mittel
in die Glutaeen eingespritzt wird, ebenso
ist die Tiefe gleichgültig, nur muß unter
allen Umständen vermieden werden, daß
das Mittel direkt in die Blutbahn gelangt.
Es empfiehlt sich daher, wie bei den
Quecksilberinjektionen, nach Einstechen
der Nadel die Spritze abzunehmen, um
zu sehen, ob etwa aus der Kanüle Blut
tropft. Nach der Injektion wird die In¬
jektionsstelle leicht massiert. Gewöhnlich
gebe ich wöchentlich zwei Injektionen.
Wird eine schnellere und intensivere
Wirkung erstrebt, so können die Ein¬
spritzungen jeden zweiten Tag vorgenom¬
men werden.- Bei klinischen Kranken
habe ich unter besonderen Bedingungen
auch täglich injiziert. Nierenreizungen
wurden nach Terpichineinspritzungen
nicht beobachtet mit einer einzigen Aus-
nahrpe, über die mein Assistent, Herr
Dr. Schär 1er, an anderer Stelle be¬
richten wird.
Ich habe das Terpichin bei allen ent¬
zündlichen Erkrankungen der. Harn¬
organe angewendet. Obwohl weit über
1000 Einspritzungen gemacht wurden,
habe ich nie eine nennenswerte unan¬
genehme Komplikation beobachten kön¬
nen. Nur ganz vereinzelt wird gelegent¬
lich über ein vorübergehendes dumpfes
Schmerzgefühl an der Injektionsstelle ge¬
klagt.
Ganz auffallend ist die günstige Wir¬
kung des Terpichins auf das Allgemein¬
befinden der Kranken, und zwar handelt
es sich nicht nur um eine schmerzstillende
Wirkung, sondern vielmehr auch um
eine allgemeine Kräftigung, die besonders
auffällig bei veralteten Fällen von mit
Adnexerkrankung komplizierter Gonor¬
rhöe schon nach wenigen Injektionen
eintritt. Gleichzeitig können wir in allen
Fällen eine Hyperleukocytose im An¬
schluß an die Terpichininjektionen kon¬
statieren.
Mein Krankenmaterial umfaßt zu¬
nächst viele hunderte Fälle von Gonorrhöe
aller Grade mit und ohne Komplikationen,
sowohl bei Männern als auch bei Frauen.
Bei dieser Kategorie von Kranken wurde
das Terpichin neben der allgemein üb¬
lichen lokalen und internen Therapie
angewandt, wie ich es in meinen früheren
Publikationen bereits auseinandergesetzt
habe. Die lokale Behandlung richtet sich
nach dem individuellen Fall,’ sie ist eine
rein antiseptische. Als interne Therapie
verwende ich ausschließlich Buccosperin
(Dr. Reiß), und zwar in Form von Ta¬
bletten. Eine ausführliche Darstellung
der bei Gonorrhöe mit Terpichin er¬
reichten Erfolge wird Dr. Schärler
an anderer Stelle publizieren. Hier mag
der Hinweis genügen, daß durch Ter¬
pichin der Verlauf der Gonorrhöe wesent-
104
Die Therapie der Gegenwart 1920
März
lieh abgekürzt und das Auftreten von.
Komplikationen verhindert wird. Bereits
bestehende Komplikationen, wie Epidi-
dymitis, Prostatitis, Spermatocystitis,
Bartholinitis usw. werden in kurzer Zeit
günstig beeinflußt. Ganz besonders
möchte ich erwähnen, daß auch die
Polyarthritis gonorrhoica in fast spe-
cifischer Weise auf die Terpichinein-
spritzungen reagiert. Ich habe einige
zum Teil recht schwere Fälle lediglich
durch Terpichin in kurzer Zeit sicji völlig
zurückbilden)sehen. Selbst vorgeschrittene
Fälle speziell von Cowperitis sah ich unter
dem Einfluß des Terpichins in relativ
kurzer Zeit sich völlig zurückbilden.
Von den nicht gonorrhoischen Er¬
krankungen der Harnorgane sind es
besonders die durch Colibacillen und
Staphylokokken bedingten Pyelitiden mit
sekundärer Blasenreizung, die ein dank¬
bares Feld für die Anwendung des
Terpichins abgeben.
Als Paradigma der hierher gehörigen
Fälle mag kurz folgende Kranken¬
geschichte skizziert werden:
F. R., 38 Jahre. Vor acht Jahren Gonorrhöe
ohne Komplikationen geheilt. Im Felde 1916
an Ruhr erkrankt. Seitdem häufiger Harndrang,
ziehende Schmerzen in der linken Seite, Harn
zeitweise blutig, stets trübe. Bei der Aufnahme
ih meine Klinik am 2. August 1919 ist der Harn
stark eitrig, alkalisch, im Sediment Colibacillen,
Eiterzellen uncjl rote Blutkörperchen. Harndrang
alle 30 bis 50 Minuten. Kranker im leidlichen
Ernährungszustand, innere Organe ohne Beson¬
derheiten, Harnröhre nicht verengt, Prostata
ohne Besonderheiten. Nieren kaum druck¬
empfindlich, nicht vergrößpt. Chromocysto-
skopie: Blasenschleimhaut' stark injiziert, doch
intakt. Beide Harnleiteröffnungen verquollen.
Schwache Blauausscheidung.- Ureterenkathe-
terismus ergibt beiderseits leicht getrübten Harn,
im Sediment massenhaft Colibacillen und Leuko-
cyten. Unter Terpichin baldige Besserung der
Mictionsbeschwerden. Bereits nach der dritten
Injektion sind die Pausen zwischen den einzelnen
Mictionen bis zu drei Stunden. Gleichzeitig
wesentliche Klärung des Harns.* Nach der zehnten
Injektion Harn absolut klar, Kranker be¬
schwerdefrei. Bereits am 15. September 1919,
also nach etwa fünf Wochen, konnte Kranker,
der seit drei Jahren dauernd an Harnbeschwerden
litt, die Klinik geheilt verlassen. Die Heilung blieb,
wie die Folgezeit ergab, eine dauernde.
Auch in Fällen von Staphylokokken¬
infektion der Harnwege habe ich ähnlich
gute Resultate erzielt. Ebenso bei der
Colicystitis der Kinder, hingegen ver¬
halten sich die Fälle von reiner Bakteriurie
gegen die Terpichininjektionen refraktär.
Freilich verfüge ich nur über vier ein¬
schlägige Fälle. Es handelt sich in allen
diesen Fällen um durch Staphylococcus
aurens bedingte unkomplizierte renale
Bakteriurie phne Leukocytenausschei-
dung. Das terpichin vermochte die
Bakterienausscheidung, wie bereits ge¬
sagt, nicht zu beeinflussen. Einer dieser
Fälle, bei dem eine entzündliche Schwel¬
lung der Tonsillen bestand, wurde durch
die Tonsillotomie geheilt. Die drei /
anderen Fälle blieben ungeklärt und sind
ungeheilt aus der Behandlung aus¬
geschieden.
Sehr günstige Erfolge mit Terpichin
habe ich bei der Cystitis der Prostatiker
erzielt, und zwar sowohl in objektiver
Hinsicht (Klärung des Harn) als auch in
subjektiver Hinsicht, indem 'nämlich die
Kranken sich unter dem Einfluß des
Terpichins auffallend rasch erholten, an
Körpergewicht Zunahmen, sich allgemein
kräftiger fühlten, wie dies schon eingangs
erwähnt.
Ähnlich gute Erfolge habe ich in ver¬
einzelten Fällen von hartnäckiger Blasen-, '
tuberkulöse erdelt. Jedem Urologen sind
ja derartige Fälle bekannt, die noch viele
Jaiire nach der Entfernung der tuber¬
kulösen Niere, selbst wenn die zweite
Niere gesund ist, dem Kranken durch
Tenesmen und ständige Schmerzen in
der Blase die Lebensfreude nehmen. Be¬
kanntlich versagt in solchen Fällen meist
jede lokale Therapie, ja meist werden die
Beschwerden durch instrumenteile Ein¬
griffe nur verschlimmert. Solche Fälle
bieten oft die besten Chancen für eine
Beeinflussung durch Terpichin. Wenn
auch nicht in allen meinen Fällen ein
restloser Erfolg zu erzielen war, so ließ
sich doch stets ein wesentliches Nach¬
lassen der subjektiven Beschwerden er¬
reichen, oft auch eine beträchtliche Zu¬
nahme der Blasenkapazität, die sich in
größeren Abständen zwischen den ein¬
zelnen Miktionen zu erkennen gab. Auch
wurde der Harn oft wesentlich klarer.
Auch in diesen Fällen leisteten mir die
Buccosperintabletten durch Anregung
der Diurese wesentliche Dienste. Fälle,
die auf Tuberkulin nicht mehr reagierten,
zeigten nach Terpichin wesentliche Besse¬
rung, freilich habe ich auch gelegentlich
einmal das Umgekj^hrte gesehen.
Immerhin möchte ich bei der sonstigen
Machtlosigkeit unserer Therapie in jedem
hartnäckigen Fall einen Versuch- mit
Terpichin empfehlen, denn zum min¬
desten erreichen wir hiermit eine Besse¬
rung des Allgemeinbefindens. Auch in den
schwersten Fällen von Tuberkulose der
Harnwege wird Terpichin gut vertragen.
Niemals konnte ich eine Exacerbation des
März
Die Therapie der Gegenwart 1920
X
105
Leidens oder gar eine Nierenreizung kon¬
statieren.
ln meinen früheren Publikationen
über die Terpentinölbehandlung wies ich
darauf hin, daß ich auch in vereinzelten
Fällen von Enuresis Erfolge erzielen
konnte. Mit fortschreitender Erfahrung
habe ich mich indessen davon überzeugt,
daß diese Erfolge lediglich" suggestiver
Art waren. Daher habe ich in den letzten
Monaten bei dieser Kategorie von Kran¬
ken auf die Anwendung des Terpichins
verzichtet.
Abschließend möchte ich meine Er¬
fahrungen mit Terpichin in folgende
Thesen zusammenfassen:
1. Die intraglutaealen Einspritzungen
von Terpichin sind ein vorzügliches
Mittel, die Gonorrhöe sowohl des
Mannes wie der Frau wesentlich ab¬
zukürzen und das Auftreten von
Komplikationen zu verhüten.
2. Die Terpichineinspritzungen sind bei
bereits bestehenden Komplikationen
der Gonorrhöe — ganz besonders
auch bei der Arthritis gonorrhoica —
die Methode der Wahl, denn sie be¬
dingen in kürzester Zeit eine fast
völlige Rückbildung der Krank¬
heit.
3. Die Terpichineinspritzungen sind
auch bei nicht gonorrhoischen ent¬
zündlichen Erkrankungen der Harn¬
wege, namentlich Pyelitiden, und
Cystitiden, ohne Bedenken zu ver¬
suchen. ’
Ans der gebnrtsliilflicli-gyiiäkologisclieii Abteilnng des Krankenhanses der jüdischen
ftemeinde in Berlin.
Über die durch geburtshilfliche Operationen bedingten
Schädigungen des Kindes und ihre Verhütung.
Von Prof. Dr. E. Sachs, dirigierendem Arzt der Abteilung. (Schluß)
III. Die Wendung.
Die Wendung führt häufiger zur
Schädigung des Kindes, als man glaubt.
Ihre Prognose ist indes bei den einzelnen
Formen eine so verschiedene, daß wir
diese getrennt betrachten müssen. Wir
vernachlässigen bei unserer Besprechung
die äußere Wendung auf den Kopf,
deren Prognose für das Kind fast stets
eine günstige ist, die innere Wendung
auf den Kopf, die kaum je ausgeführt
wird und ebenso die obsolete innere
Wendung auf den Steiß, und be¬
sprechen nur die kombinierte .Wen¬
dung nach Braxton-Hicks und die
eigentliche Wendung, deren Unter¬
schiede in der Vornahme mit zwei Fin¬
gern und mit der ganzen Hand bestehen.
Bei dieser letzten Form der Wendung
haben wir dann noch die sogenannte
prophylaktische Wendung besonders
zu betrachten, weil die Verhältnisse,
unter denen diese ausgeführt zu werden
pflegt, die Prognose trüben und die Tech¬
nik erschweren.
Die kombinierte Wendung,
das heißt die Wendung zu einer Zeit, zu
der bei nicht erweitertem Muttermund die
Extraktion nicht angeschlossen werden
kann, ohne der Mutter ernstlich zu scha¬
den, ist für das Kind in der Mehrzahl der
Fälle eine tödliche Operation, und zwar
deshalb, weil ihr Hauptanwendungsgebiet
die Placenta' praevia ist. Benthin®)
gibt eine Zusammenstellung, der ich
folgende Zahlen entnehme;
Löbenstein (Heidelberg) hatte bei der
kombinierten Wendung 81,25% Mor¬
talität.
Hannes.bei 23 Fällen 82%;
Zweifel bei 19 Fällen 70%;
Hammerschlag an der Königsberger
Klinik 84%;
Sigwart 60,4%.
Schweizers Sammelstatistik über
1266 Fälle ergab eine Sterblichkeit der
Kinder von 97,35%; bei Ausschluß der
nicht lebensfähigen Kinder hatte er an
eigenem Material noch eine Mortalität
von 71,4%.
All diese Zahlen sind so hoch, daß
man die kombinierte Wendung bei Pla¬
centa praevia nicht ausführen darf, wenn
man auf das Leben des Kindes den ge¬
ringsten Wert legt; um so mehr, als man
in der Metreuryse eine Methode hat,
die bei etwa gleicher Prognose für die
Mutter weit bessere Zahlen für das Kind
gibt. Hier schwanken die Mortalitäts¬
zahlen zwischen 45,4% (Do ed er lein),
37% (Hofmeier) und 34,5% (Sammel¬
statistik Schweizers bei 670 Fällen).
Nach Abrechnung der vor der Behand¬
lung schon toten oder stark geschädigten
Kinder hatte Hannes sogar nur eine
») Benthin (I. c. und M. Kl. 1918, S. 862).
106
Die Therapie, der Gegenwart 1920
März
Sterblichkeit von 17%, die Leipziger
Klinik eine solche von 13,3%. Aller¬
dings ist die Metreuryse umständlicher,
sie verlangt meist zwei Eingriffe und
womöglich eine noch größere Sorgfalt
bei der Beaufsichtigung der Kreißenden,
als die kombinierte Wendung. Ist also
das Kind tot oder nicht lebensfähig, so
wird man die kombinierte Wendung als
die einfachere Methode der Blutstillung
vorziehen; lebt das Kind aber und ist es
lebensfähig, so ist, vom Standpunkte des
Kindeslebens aus betrachtet, die kom¬
binierte Wendung ein Fehler. Sie muß
für die Fälle aufgespart werden, in welchen
das Kind nicht lebensfähig ist, oder tot,
oder in welchen die Metreuryse aus irgend
welchen Gründen nicht schnell genug
vorgenommen werden kann, wie bei
überstarker Blutung oder beim Mangel
eines geeigneten Metreurynters, und in
denen der Kaiserschnitt nicht in Frage
kommt. Ich schließe mich vollkommen dem
Ausspruch Hofmeiers an, der gelegent¬
lich sagt: Wolle man dieTamponade durch
den Steiß vornehmen (das heißt bei
Schädellage kombiniert wenden), so müsse
man den Mut haben, das Kind sterben zu
lassen.
Die prophylaktische Wendung ist die
Wendung, die ohne eine eigentliche
Indikation für Mutter oder Kind bei
Schädellage prophylaktisch vorgenommen
wird, weil man glaubt, daß der nach¬
folgende Kopf besser durch den ver¬
engten Beckeneingang hindurchgezogen
werden kann, als der vorangehende. Grund
für diese Annahme ist die Keilform des
Kopfes und vor allem die bessere Hand¬
habe, die bei der Extraktion am Rumpfe
bei der Beckenendlage gegeben ist als
bei der Schädellage.
Sicher kann der geübte Geburtshelfer,
der eine sehr große Erfahrung in der Ab¬
schätzung des Beckens und der Kopf¬
größe hat, mit der prophylaktischen Wen¬
dung und der sich anschließenden Ex¬
traktion vorzügliche Resultate erzielen.
In der Hand des nicht sehr geübten Ge¬
burtshelfers aber werden die Resultate'•
bald schlechter. Nach Wendung und
Extraktion bei normalem Becken sterben
im allgemeinen bis zu 20%, bei Wendung
und Extraktion aus Kopflage (und hier
liegt meistens ein enges Becken vor, auch,
wenn noch andere Indikationen, wie
Nabelschnurvorfall usw., hinzukommen)
bis zu 29%. Die Gefahr ist bei allgemein
verengtem Becken noch größer. Peham^^^)
Peham, Das enge Becken. Wien 1908.
hatte eine primäre Kindesmortalität bei
der prophylaktischen Wendung von 25%,
Bürger^i) (Schauta) von 21%,
KrueH^^ (Leopold) von 25%. Diesen
Zahlen gegenüber hat z. B. Tschats-
jin^^) in den letzten Jahren gezeigt, daß
das gedüldige Abwarten bei engem Becken
zu weitaus^ besseren _ Resultaten führt.
Esch^^) berichtet über 87,5% Spontan¬
geburten mit lebenden Kindern, Heyn^^)
über 57,9% Spontangeburten mit 2,9%
toten Kindern. In der Königsberger
Klinik ist deshalb die Wendung nur
wegen des engen Beckens, das
heißt die prophylaktische Wendung, ganz
außer Gebrauch. Ebenso in der Charite,
wie neuerdings Heyn berichtet. Tritt
der Kopf günstig auf das Becken auf,
respektive in dasselbe ein, ohne doch
bei guter Wehentätigkeit die verengte
Stelle passieren zu können, dann ist er
für das Becken zu groß; dann macht|
gewöhnlich auch die Extraktion des nach¬
folgenden Schädels so große Schwierig¬
keiten, daß die Erhaltung des Kindes¬
lebens zweifelhaft wird. Heyn berichtet
über 18% tote Kinder bei der Geburt
mit nachfolgendem Kopfe beim engen
Becken. Wir wenden deshalb in Königs¬
berg bei engem Becken das in Schädel¬
lage liegende Kind nur dann, wenn in¬
folge ungünstiger Kopfeinstellung (Hin¬
terscheitelbeineinstellung, Gesichts- oder
Stirnlage) wir uns kein Urteil darüber
erlauben können, wie der Schädel sich
bei günstiger Einstellung zum Becken
verhalten würde. Der sich in guter
Flexion bei Beckenendlage einstellende
Schädel geht natürlich sicher leichter
durch die verengte Conjugata vera hin¬
durch, als ein in Hinterscheitelbeinein¬
stellung, in Gesichts- oder Stirnlage
liegender Kopf.
Wir wenden ferner noch bei engem
Becken, wenn es sich um einen Nabel¬
schnurvorfall handelt, weil infojge die¬
ser Komplikation, die eine sofortige Be¬
seitigung verlangt, wir uns kein end¬
gültiges Urteil darüber verschaffen kön¬
nen, ob nicht der Kopf doch spontan
hätte durchs Becken gehen können, wenn
wir ihm nur Zeit zur Konfiguration
hätten lassen können. In allen anderen
Fällen habe n wir, falls nicht doch schließ-
11) Bürger, Die Geburt bei engem Becken.
Wien 1908.
12) Kruel (Arch. f. Gynäk., Bd. 67, S. 374).
12) Tschatsjin, I.-D. Berlin 1910.
11) Esch (Zschr. f. Geburtsh. 1913, Bd. 74,
S. 320.
15)*Heyn (Zschr. f. Geburtsh., Bd. 81, S. 46).
März
/
107
Die Therapie der
lieh die Geburt spontan zu Ende ging,
die Beckendurchschneidung in der Form
der von mir modifizierten Frankschen,
Symphyseotomie zu setzen-gelernt*®).
Was nun die' eigentliche Wendung
betrifft, so kann auch sie dem Kinde
sehr schaden. Die Ursachen dafür sind
bekannt: Placentarablösung, Nabel¬
schnurkompression oder Vorfall, Ein¬
dringen von Luft in den Uterus und Aus¬
lösung vorzeitiger Atmung beim Kinde
infolge der längere Zeit einwirkenden
Reize auf die Frucht, bei längerdauern¬
der Operation Tetanus uteri usw. Die
Größte der durch die Wendung bedingten
Gefahr ersieht man aus dem Unterschiede
der Mortalitätszahlen bei gleich nach der
Wendung extrahierten Kindern und bei
Kindern, die nach der Wendung sich
selbst überlassen blieben, meist weil die
Wendung zu einer Zeit vorgenommen
wurde, bevor der Muttermund eine sofort
angeschlossene Extraktion erlaubte.
Tschatsjin^’) (Charite) gibt fol¬
gende Zahlen:
Nur Wendung:
Winter ^ . . . 27Fälle, 14tot = 51,8 %;
Gaedtke . . . 16 ,, 8 ,, =50 %;
Mal leb rein . 8 „ 4 ,, =50 %;
Pinette. ... 122 „ 60 „ =49,75%.
Sofortige Extraktion:
. Winter. 236Fälle, 5tot= 2 %;
Gaedtke .... 231 „ 14 „ = 6,1%;
Mallebrein . . 27 ,, 1 ,, = 3,7%;
eigenesMaterial 98 „ 8„ = 8,1%.
Diese Zahlenunterschiede sprechen für
sich selbst. Die Wendung ohne ange¬
schlossene Extraktion ist also für das
Kind viel gefährlicher als die Wendung,
der die Extraktion sofort folgt. Aller¬
dings kann diese erst nach völliger Er¬
weiterung des Muttermundes vorgenom¬
men werden. Dies Abwarten halten viele
für gefährlich für die Mutter wegen der
bei längerer Wehentätigkeit eintretenden
Retraktion des Uterus nach dem Blasen¬
sprung, wegen des damit verbundenen
Fruchtwasserabflusses, wegen der Teta¬
nus Uteri- und Rupturgefahr. Alle diese
Gefahren fallen indes gar nicht ins Ge¬
wicht, wenn man die Wendung in ge¬
nügend tiefer Narkose vornimmt und
Sachs, Technisches und Theoretisches zur
Symphyseotomie (Zbl. f. Gyn. 1917, H. 25) und
Anatomisches zur subcutanen Symphyseotomie.
(ebenda 1918, H. 8).
^0 h c.
Gegenwart 1920
wenn man nach der völligen Erweiterung
des Muttermundes nicht mehr mit der
Vornahme der Wendung zögert.
Kann man schon hierdurch eine große
Zahl von Kindern vor der mit mancher
Wendung verbundenen Gefahr retten^
so ist auch die Technik der Wendung und
vor allem die Technik der angeschlossenen
Ex|;raktion nicht ohne Einfluß auf das Be¬
finden des Kindes. Selbstverständlich
lasse ich alle die Hilfsmittel und Hand¬
griffe bei der Besprechung fort, die sich
in jedem Lehrbuche finden und sich daher
von selbst verstehen.- Aber einige per¬
sönliche Erfahrungen möchte ich Ihnen
mitteilen.
Die Wendung wird sehr häufig bei
engem Becken vorgenommen; denn diese
ist die Hauptursache der Querlage und
des Nabelschnprvorfalls bei Schädellage.
Für die Extraktion bei engem Becken be¬
deutet aber das Hochschlagen der Arma
eine äußerst große Erschwerung. Die
Gefahr, daß die Arme sich hochschlagen,
wird um so größer, wenn sich schon bei
der Wendung selbst infolge irgendwelcher
Schwierigkeiten bei der Umdrehung die
Arme vom Rumpf entfernen. Wir er¬
leichtern aber die Wendung meiner Er¬
fahrung nach dadurch, daß wir, wenn ir¬
gend möglich, prinzipiell auf beide
Füße wenden. Man soll nicht nach dem
zweiten Fuße lange suchen, wenn man
mit Mühe den ersten erreicht hat. Liegen
aber beide Füße nebeneinander, so er¬
greife man auch beide. Die für eine
leichte Umdrehung notwendige Ab¬
knickung des Rumpfes kann überhaupt
nur dann eintreten, wenn- man an beiden
Füßen zieht. Dann liegt der Scheitel¬
punkt der Abbiegung in der Rücken¬
wirbelsäule; ergreift man nur einen Fuß,
so kann der Körper nicht ebenso stark
zusammenklappen: der andere Schen¬
kel hindert sogar oft genug die Umdre¬
hung. Der zu drehende Körper hat im
ersteren Fall einen viel kleineren Längs¬
durchmesser. Das ist nicht nur für die
Uteruswandungen von Vorteil, weil Rup¬
turen dadurch vermieden werden, son¬
dern auch für das Kind. Die größere
Leichtigkeit der Wendung auf beide
Füße als auf einen ersehen wir auch aus
den zahlreichen Fällen, in denen die Wen¬
dung erst glück.t, nachdem der zweite
Fuß herunter geholt worden ist. Da¬
durch, daß das stärker zusammenge¬
knickte Kind sich leichter im Uterus
drehen läßt, als das mehr oder weniger
ganz gestreckt liegende, ändert es seine
14*
108
März
Die Therapie der
Haltung weniger, was von großer Wich¬
tigkeit für die nachfolgende Extraktion ist.
. Diese kann, wenn keine Weichteil¬
schwierigkeiten vorliegen, an beiden
Füßen zu Ende geführt werden. Bestehen
-dagegen irgendwelche Schwierigkeiten,so
rate ich, nach teilweiser Vollendung der
Wendung, das heißt, wenn der Kopf
im Fundus ist und die Kniee sich ^twa
in Höhe des Beckeneingangs befinden,
das eine Bein (am besten das hintere)
loszulassen und an dem anderen allein
die Extraktion zu vollenden. Die mütter¬
lichen Weichteile werden dadurch besser
gedehnt.
Daß man während der Extraktion
nicht blind darauf los zieht, daß man ab¬
wartet, wie der kindliche Rumpf sich
drehen will usw. versteht sich von selbst.
Alles, was für die Extraktion aus primärer
Beckenendlage galt, gilt in verstärktem
"Maße für die aus Quer- oder Schädel¬
lage hergestellte sekundäre Beckenend¬
lage. Für ganz besonders wichtig halte
ich bei jeder auch nur im entferntesten
schwierigen Extraktion die Unterstüt¬
zung der Extraktion durch eine
am Ende der Wendung gegebene
intravenöse Pituglandolinjektion,
und durch manuelle Expression. Das
intravenös gegebene Pituglandol wirkt
nach etwa 30 bis 60 Sekunden. Läßt
man es also während der Beendigung
der Wendung geben, so drängt die so¬
fort einsetzende Wehe das Kind in nor¬
maler Haltung der Arme tiefer und er¬
leichtert dadurch die Extraktion ganz
bedeutend. Eine subcutane oder intra¬
muskuläre Injektion käme nach der Wen¬
dung stets zu spät, sie reicht zwar bei der
primären Beckenendlage aus, da sie hier
unter Umständen bei einschneidendem
Steiß gegeben werden kann und dann
zur Entwicklung des Rumpfes ausreicht.
Der Hauptwert bei der intravenösen
Injektion aber besteht darin, daß die
Wehenwirkung so schnell, und dadurch
genau dann,wenn man siebraucht, eintritt.
Es ist auch ratsam, bei der Extraktion
nach der Wendung, die Narkose fortzu¬
lassen, da die erwachende Frau durch
leichtes Pressen die Austreibung der
Frucht beschleunigt.
Für die Arm- und'Kopfentwicklung
gilt das vorher bei der primären Becken¬
endlage ausgeführte. Besonders sei noch
einmal auf die Verwendung des A. Martin-
Wigand-Winckelschen Handgriffs, bei
über dem Beckeneingange stehendem
Gegenwart 1920
Kopfe verwiesen, um Wirbelsäulen-
zerreißungen zu vermeiden.
, Die Kindersterblichkeit nach uiid
durch die Wendung wird also geringer
werden, wenn wir uns an folgendes halten:
Die kombinierte Wendung bei Pla-
centa praevia ist nur bei toten oder
lebensunfähigen Kindern die Operation
der Wahl, sonst durch die Metreuryse
oder den Kaiserschnitt zu ersetzen.
Die prophylaktische Wendung (die
Wendung wegen engen Beckens) ist zu
verlassen, dafür ist die Schädellagengeburt
zu erstreben, eventuell durch die Sym-
physeotomie oder es ist der Kaiserschnitt
vorzunehmen.
Wendungen bei engem Becken aus
irgendeiner anderen Indikation (z. B.
wegen Nabelschnurvorfalls oder ungün¬
stiger Kopfeinstellung) haben eine etwas
bessere Prognose und sind dem erfahre¬
nen Geburtshelfer erlaubt.
Die Wendung ist nur nach völlig
erweitertem Muttermund vorzunehmen
und die Extraktion dann sofort anzu¬
schließen.
Die Wendung selbst, ih genü¬
gend tiefer Narkose ausgeführt, ^soll
womöglich auf beide Füße ausgeführt
werden. Die Extraktion, die zweckmäßig
durch eine intravenöse Injektion von
0,5 oder 1 ccm Pituglandol zu unter¬
stützen und bei der die Narkose fortzu¬
lassen ist, kann dann, wenn nötig, an
einem Fuß ausgeführt werden. Die unter
diesen Verhältnissen erreichte Gesamt¬
mortalität von 8% bei etwa 100 aus
Schädellage, und Querlage gewendeten
Kindern wäre noch besser, wenn unter
den acht Kindern nicht bei drei schon
vorher eine intrauterine Asphyxie Vor¬
gelegen hätte und wenn bei drei weiteren
Fällen, in denen der Kopf nicht den
Beckeneingang passieren konnte, die
Symphyseotomie ausgeführt worden wäre.
Meine Herren! Wir waren davon aus¬
gegangen, daß unsere geburtshilflichen
Operationen den Kindern, in deren Inter¬
esse sie teilweise doch vorgenommen
werden, schaden k-önnen. Ursache hier¬
für ist im Grunde die nicht ausreichende
Technik. Nicht immer aber trifft die
Schuld die Ungeschicklichkeit oder man¬
gelnde Übung des Operateurs; oft genug
liegen die Verhältnisse zu unglücklich.
Falsche Indikationsstellung (anscheinende
Asphyxie z. B. bei erhöhten Herztönen)
verführt zu vorzeitigem Operieren und
März
Die Therapie, der Gegenwart 1920
109
erschwert dadurch auch die Ausführung
der Operation.
Was indes auch immer der Grund
des Mißlingens einer entbindenden Opera¬
tion ist, in letzter Hinsicht ist es die Un¬
gunst der Verhältnisse oder m,angelnde
Technik. Neben der Bedeutung,, einer
guten Technik weise ich deshalb auf den
großen Wert des Pituglandols für die
Ausführung der Zange und der Extrak¬
tion hin^ also für die Prophylaxe der
Asphyxie bei entbindenden Operationen.
Dies Mittel gilt den meisten nur als ein
Mittel gegen Wehenschwäche im eigent¬
lichen Sinne. Ich hoffe Ihnen gezeigt
zu haben, was es auch sonst noch leistet,
und dabei konnte ich mit dem, was ich
Ihnen vortrug, nur einen kleinen Ein¬
blick in das große Indikationsgebiet
dieses vorzüglichen geburtshilflichen The¬
rapeutikums geben, das^ noch ^lange nicht
so verbreitet ist, wie es wohl verdiente.
Repetitorium der Therapie.
Behandlung der Infektionskrankheiten.
Von G. Klemperer und L. Dünner.
1. Masern.
Der Ar.zt darf sich meist auf die
Allgemeinbehandlung beschränken, in¬
dem er den natürlichen Verlauf aufmerk¬
sam überwacht. Besondere Indikationen
ergeben sich' aus dem oft schmerz¬
haften Reizzustande der Augenbinde¬
haut sowie aus dem häufig quälen¬
den und schlafstörenden Bronchialkatarrh.
Das Zimmer ist nur zu verdunkeln, wenn
Lichtscheu besteht; rote Fenstervorhänge
wirken subjektiv und vielleicht auch ob¬
jektiv nützlich. Bei starker Absonderung
der Augen sind dieselben öfter mit war¬
mem Wasser abzutupfen, eventuell die
Lidränder mit weißer Präcipitatsalbe zu
bestreichen. Bei heftigem Schnupfen
fettet man die Umgebung der Nase mit
Borvaseline ein und gibt mehrmals täg¬
lich einen Tampon mit Vaseline für eine
halbe bis eine Stunde in die Nasenlöcher.
Bei starkem Reizhusten ■ ist die dem
Bronchialkatarrh entsprechende Behand¬
lung anzuwenden (vgl. vorigen Jahrgang
S. 143)7 entwickelt sich Bronchopneu¬
monie, so sind die S. 178 angegebenen
Regeln zu befolgen. Bei etwaigen Ohren¬
schmerzen träufelt man 10% Carbol-
glycerin in den äußern Gehörgang; zeigt
die Ohrenspiegeluntersuchung Eiter jen¬
seits des Trommelfells, so ist dasselbe zu
paracentesieren. — Gewöhnlich iäßt man
die Kinder nach achttägiger Fieberfreiheit
aufstehen, überwacht sie aber noch längere
Zeit besonders wegen der Gefahr der
Tuberkulose, Schwächliche Kinder
sollten nach der Genesung längeren
Aufenthalt auf dem Land oder an der
See bekommen.
2. Scharlach.
In leichten und mittleren Fällen darf
man sich mit der Allgemeinbehandlung
begnügen. In schweren Fällen, die sich
durch stürmische Allgemeinerscheinungen
charakterisieren, ist der Versuch spe-
cifischer Einwirkung mit Neosalvarsan
zu empfehlen; man gebe intravenös oder
intraglutaeal einjährigen Kindern 0,2 g,
zweijährigen 0,3 g, dreijährigen 0,3,
älteren Kindern 0,45 g und wiederhole die
Dosis am nächsten Tag. In Krankenhäusern
mache man in schweren Fällen von der
Möglichkeit Gebrauch, Rekonvaleszenten¬
serum anzuwenden. — Die diätetische
Behandlung hat auf die besondere Ge¬
fährdung der Nieren Rücksicht zu neh¬
men, deshalb ist reichliche Milchgabe be¬
sonders erwünscht. Bei vorhandener Albu¬
minurie wird diese Diät nicht geändert.
Erst Symptome wirklicher akuter hä¬
morrhagischer Nephritis nötigen zu;- Be¬
schränkung der Nahrung (vgl. 1919, S.61).
Die Halsentzündung wird wie infektiöse
Angina (siehe unten) behandelt; der
Otitis gegenüber verhält man sich wie
bei Masern. Schwellung der Halsdrüsen .
wird mit warmen Umschlägen behandelt,
unter denen sie sich meist zurückbilden;
seltenerweise kommt es zur Vereiterung,
welche eine Incision nötig macht. Etwaige
multiple Gelenkschwellung bedarf keiner
besonderen Behandlung; allenfalls wer¬
den die befallenen Gelenke in Watte¬
verbände gewickelt; Salicylate sind über¬
flüssig. — Scharlachkranke sollen nach
erfolgter Abfieberung noch drei bis vier
Wochen wegen der Gefahr von Nach¬
erkrankung besonders der Nieren im
Bette gehalten werden. Während der Ab¬
schuppung empfehlen sich Öleinreibungen,
nach erfolgter Abschuppung lauwarme
Bäder.
3. Angina.
Der Schutz gegen Angina liegt in der
systematischen Abhärtung gegen Er-
110
Die Therapie der Gegenwart 1920
März
kältung. Ganz unsicher ist der Schutz
gegen das Eindringen von Krankheits¬
erregern durch Gurgeln, Pinseln und
Mundantisepsis mit desinfizierenden Mit-
teln(H202,Formaraintusw.). Einradikales
Schutzmittel liegt in der vollkommenen
Ausschälung der Tonsillen, welche nach
häufigen Rezidiven an Angina unbedingt
zu empfehlen ist.
» Jeder Fall von Angina, selbst wenn
sie unter leichteren Erscheinungen auf-
tritt, ist als ernsthafte Infektionskrank¬
heit zu behandeln; auch der leichteste
Fall kann zu lebensgefährlichen Kompli¬
kationen und Nachkrankheiten führen.
Jeder Patient mit Angina bedarf während
der fieberhaften Periode der Bettruhe und
gehöriger Pflege. Die Ernährung ge¬
schieht mit kalter Flüssigkeit, am besten
schluckweise mit eisgekühlter Milch.
Den Entzündungszustand der Man¬
deln sucht man durch Priesnitzumschläge,
die über Nacht liegen bleiben, zu mildern.
Die Umschläge werden in den meisten
Fällen angenehm schmerzlindernd emp¬
funden; wo sie belästigen, ersetze man
sie durch ein wollenes oder seidenes Hals¬
tuch. Lokale Einwirkung wird durch
Gurgeln mit 2% H 2 O 2 (1 Teelöffel auf ein
Glas Wasser) oder ebenso verdünnten Liq.
Alumin. acet. versucht. Auch bei starker
Verschwellung des Halses, die unter Um¬
ständen einbiszweiTagedas Schlucken aufs
äußerste erschwert, sei man nicht ängst¬
lich, da die einfache entzündliche Schwel¬
lung mit Sicherheit von selbst zurückgeht.
Sogenannte Entspannungsschnitte nützen
nicht und können zur Verschlimmerung
der Infektion führen. Dagegen hat man
sorgfältig auf die Zeichen der Absce-
dierung zu achten, die namentlich ein¬
seitiger Mandelschwellung zugrunde liegt.
In solchen Fällen beschleunigt man die
Reifung des Abscesses durch heiße Brei¬
umschläge und Gurgeln mit heißem Ka¬
millentee. Man soll erst dann incidieren,
wenn Fluktuation nachweisbar ist, am
besten an der am stärksten vorgewölbten
Stelle des Gaumens parallel der Tonsille
mit einem zweischneidigen Messer, an
dem bis auf die Spitze die übrige Schneide
mit Heftpflaster umwickelt ist; ein zu
zeitiges Einschneiden verursacht unnütze
Schmerzen und verzögert den Heilungs¬
prozeß. Selbst wenn sich der Eiter gut
entleert hat, mache man noch 24 Stunden
weiter heiße Umschläge und wirke dem
Zusammenkleben der Wundränder ent¬
gegen, indem man nach etwa 12 bis
15 Stunden eine Kornzange oder Pean
in die Wunde einführt und eventuell die
Branchen des Instruments spreizt. Unter
Umständen ist diese Prozedur wieder¬
holt nötig. Ist die Sprache frei geworden
und entleert sich kein Eiter mehr, so
mache man kalte Halsumschläge oder
lege Eiskrawatte auf.
Bei sehr 'hartnäckigem Verlauf an¬
scheinend einfacher Anginen mit Belag
denke man an die Möglichkeit specifischer
Ursachen, wobei sowohl sekundäre Lues
wie auch Spirilleninfektion (Angina Plaut-
Vincent) in Frage kommt. Während
die luetische Angina den ganzen Apparat
der specifischen Behandlung notwendig
macht, heilt die Plaut-Vincentsche in
vielen Fällen von selbst ab. Man kann die
^ffektion durch eine einmalige Neosal-
varsaninjektion wesentlich • abkürzen,
manchmal genügt schon das Betupfen
der Tonsillen mit Salvarsan.
4. Diphtherie.
Prophylaxe. Die subcutane In¬
jektion von 500 1. E. afttitoxischen Heil¬
serums schützt ziemlich sicher für etwa
drei Monat vor diphtherischer Erkran¬
kung. Ob man im Einzelfalle die Ge¬
schwister eines diphtheriekranken Kindes
spritzen soll, hängt von den Lebens- und
Wohnungsverhältnissen der Familie ab.
Wenn eine Isolierung des erkrankten
Kindes möglich ist, kann man auf die
prophylaktische Injektion der Umgebung
verzichten, besonders wenn man in der
Lage ist, jede Neuerkrankung durch
schnelle Injektion zu kupieren. — Im
allgemeinen unterläßt man die Schutz¬
injektionen bei Erwachsenen und bei
solchen Kindern, die bereits Diphtherie
oder eine Seruminiektion durchgemacht
haben.
Behandlung. Mit der specifischen
Behandlung soll nicht auf die bakterio¬
logische Diagnose gewartet werden. In
jedem auf Diphtherie verdächtigen Falle
von Angina ist die Injektion des spe¬
cifischen Serums vorzunehmen und zwar
richtet sich die Menge der I. E. nach dem
Tage der Erkrankung und der Schwere
der allgemeinen und lokalen Erkrankung.
Man verwende stets hochwertiges Serum,
um keine allzu großen Mengen spritzen
zu müssen. Namentlich zu intravenöser In¬
jektion benutze man 1000-bis 1500faches
Serum. Im allgemeinen spritze man
bei Fällen, die frühzeitig, das heißt vor dem
dritten Tag in Behandlung kommen,
intramuskulär in die Glutäen mit 3000
bis 4000 I. E. Ist der Fall schwer, so
März
Die Therapie der Gegenwart 1920
in‘
gebe man sofort 6000 I. E. intravenös.
Patienten zwischen viertem und siebentem
Krankheitstag und ausgesprochenen Mem¬
branen injiziere man 6000 bis 8000 1. E.
Für alle Diphtheriefälle gelte als Regel,
daß am nächsten Tage nach der ersten
Einspritzung eine zweite mit derselben
oder höheren Dose zu folgen hat, wenn
keine Besserung eingetreten ist.
Vor jeder Seruminjektion bedenke
man die Gefahr der Anaphylaxie, welche
etwa zwölf Tage nach der ersten Injektion
vorhanden ist und dauernd bestehen
bleibt. Man begegnet ihr, indem man
bei der ersten Reinjektion erst 0,5 ccm
Serum und eine halbe Stunde später
die übrige Menge einspritzt. Die Gefahr
der Anaphylaxie wird auch ausgeschaltet,
wenn man an Stelle des sonst üblichen
Pferdeserums ein in den Apotheken er¬
hältliches andersartiges (Hammel) Serum
verwendet.
Neben der Serumtherapie kaiin man
auf lokale Behandlung der Mandeln be¬
ziehungsweise Beläge verzichten und wird
sich wie bei Angina auf Anwendung von
Halsumschlägen, Gurgelwasser beschrän¬
ken, von Pinselung und Ätzung jedoch
Abstand nehmen. Bei starkem Foetor
ex ore ist peinliche Mundpflege nötig.
Der starke Geruch kann durch Gurgeln
mit dünner Lösung von Kaliumperman¬
ganat oder Einpinseln der Beläge mit
Jodoformglycerin gemildert werden.
Beim Fbrtschreiten der Diphtherie
auf die Nase wird man außer der Serum¬
therapie in schonendster Weise mit Watte¬
oder Gazeträgern die Nase von den Se¬
kreten befreien, Spülungen vermeide man
lieber. Dagegen streiche man die Um¬
gebung der" Nase und in die Nase mit
Borvaseline oder weißer Praecipitatsalbe.
Bei starker Schwellung gebe man mehr¬
mals täglich ein bis zwei Tropfen Adre¬
nalin in jedes Nasenloch, damit die
Atmung freier wird.
Beim übergreifen auf den Kehlkopf
achte man sorgfältig auf die Zeichen des
Verschlusses, Stridor, . Einziehung Und
Cyanose, um den richtigen Zeitpunkt der
Tracheotomie nicht zu verpassen; das
Aufschieben der Tracheotomie ist jedoch
nur bei dauernder Beobachtung erlaubt.
Die Ausführung einer Tracheotomie ist
von jedem Arzt zu fordern. Bei starker
Unruhe verabreicht man kleine Mor¬
phiumdosen oder Chloralhydrat 0,5 bis
1,0 per Klysma. Während des ganzen
Verlaufs der Diphtherie ist das Herz
sorgfältig zu beobachten und bei et-^
waigem Nachlassen entsprechend zu ex-
citieren.
Die Rekonvaleszenz nach Diphtherie
bedarf wegen der Möglichkeit von Nach¬
krankheiten b esonderer Ob erwachung.
Wegen der Gefahr der Herzschwäche
sollen die Patienten lange im Bettebleiben,
selbst in leichten Fällen -mindestens zehn
Tage, bei beschleunigtem Pulse wesent¬
lich länger. Etwaiges Eintreten akuter
Herzschwäche erfordert möglichst schnelle
Behandlung mit Coffein-, eventuell Adre¬
nalininjektionen. Die Eiweißausschei¬
dungen bei Diphtherie verschwinden ge¬
wöhnlich spontan in der Rekonvaleszenz.
Dauern sie länger an, so behandelt man
sie nach den für Nephrose (1919, S. 62)
gültigen Regeln.
Lähmungen im Stadium der Rekon¬
valeszenz bedürfen sehr langer Bettruhe
und Schonung, später systematischer
Übung. Die Akkommodationsstörung gilt
es rechtzeitig zu erkennen, um die Pa¬
tienten vor schädlicher Überanstrengung
zu bewahren; sie sollen entweder auf
Lesen und Handarbeiten usw. verzichten
oder eine Akko-mmodationsbrille tragen.
— Bei Schlucklähmung muß durch vor¬
sichtiges Füttern mit Teelöffel, allenfalls
Schnabeltasse das Verschlucken verhütet
werden, das leicht zu Aspirationspneu¬
monie führen kann. In schweren Fällen
ist die Ernährung durch Nasenkatheter
(s. 0 .) unbedingt notwendig.
Bei Lähmung der Extremitäten ist
selbstverständlich Bettruhe von Anfang
an notwendig; vorzeitige Bewegungs¬
versuche schaden. Im Anfang beschränke
man sich auf ganze oder Teilpackungen,
gehe nach drei bis vier Wochen zu Elek¬
trisieren, Massieren, Bädern, aktiven und
passiven Bewegungen über, nach den
bei Polyneuritis auseinanderzusetzenden
Regeln. Medikamentös wirken Arsen und
Strychnin als Unterstützungsmittel.
Die Patienten können nach voll¬
kommener Genesung aus der Behandlung
entlassen werden, wenn Nase und Rachen
bacillenfrei sind. Eine gewisse Zahl von
Bacillenträgern bleibt übrig, von denen
einige nach sechs bis acht Wochen bacil¬
lenfrei werden. Eine kleine Zahl, welche
trotz aller Therapie die Bacillen lebend
behält, isoliert man nicht länger, sondern
begnügt sich, sie zur Vorsicht und Sauber¬
keit anzuhalten, um Weiterverbreitung
und Neuerkrankungen möglichst aus¬
zuschließen.
112
Die Therapie der Gegenwart 1920
März
6. Pertussis.
Bei der langen Dauer der Erkran¬
kung, die durch die Medikamente nur
mäßig zu mildern ist, bleibt die Sorge
um die Erhaltung der Kräfte und der
Widerstandsfähigkeit die Hauptsache.
Dieser wesentlichen Indikation genügt
man durch reichlich frische Luft, Sauber¬
keit und Ernährung. Man lüftet daher
möglichst häufig den Wohnraum, be¬
sonders das Schlafzimmer. Das* Kind
soll bei irgend günstigem Wetter soviel
als möglich im Freien sein, wobei darauf
zu achten ist, daß es nicht mit gesunden
Kindern zusammenkommt. Von größter
Bedeutung ist die Sorge für die Er¬
nährung, welche durch häufiges Er¬
brechen gefährdet wird. Möglichst bald
nach dem Erbrechen ist den Kindern
neue Nahrung zu reichen. Dieselbe sei
dem Alter der Kinder angemessen. Neben
Milch und Brei ist jede Speise erlaubt,
an die die Kinder in gesunden Tagen
gewöhnt waren. Für die Erhaltung der
Widerstandsfähigkeit sind auch regel¬
mäßige Waschungen erforderlich. — Da
die Steigerung der nervösen Reflexerreg¬
barkeit einen wesentlichen Krankheits¬
faktor darstellt, so ist pädagogische und
suggestive Beeinflussung wesentlich. Ein
Ortswechsel wirkt nicht nur durch die
eventuelle Möglichkeit besserer Luftzu¬
fuhr, sondern auch durch den suggestiven
Einfluß des Milieus.
Als ein Versuch der liifektionsbe-
kämpfung gilt die Darreichung von
Chinin in den ersten Tagen, am besten
in der Lösung von'1:100,0 und je nach
dem Alter drei bis fünf Teelöffel am
Tage, beziehungsweise Pillen zu 0,1 g
mehrmals täglich. Länger als fünf Tage
wird man Chinin nicht geben. Weitere
Aufgabe der Behandlung ist die Mil¬
derung des katarrhalischen Fi^izzustandes
der Luftwege und die Äbschwächung
der Reflexerregbarkeit, welche die Husten¬
anfälle herbeiführt. Am meisten empfiehlt
sich Chloralhydrat 2:100,0 teelöffelweise
drei-bis viermal täglich, das bei starkem Er¬
brechen auch rectal gegeben werden kann.
Beliebt ist auch Bromoform dreimal täg¬
lich drei bis zehn Tropfen, das wegen der
Vergiftungsgefahr mit Vorsicht zu ver¬
ordnen ist. Auch ein Versuch mit Atropin,
das auf den Nervus vagus wirkt, ist an¬
gängig; man gibt 0,003:10,0 zweimal
t^äglich einen bis fünf Tropfen. Gegen
den Katarrh wendet man Inhalationen
mit Menthol oder Thymol an und sorgt
durch Verdampfenlassen von Wasser, daß
das ganze Zimmer feucht gehalten wird.
Die Entstehung von Bronchopneumonie
bekämpft man durch Prießnitzpackungen,
bei' Verschlimmerung derselben wendet
man Senfbäder an (vgl. 1919, S. 178). Der
Zustand des Herzens ist zu beobachten.
Gute Ernährung und allgemeine
Kräftigung bleiben auch nach Ermäßi¬
gung und nach Verschwinden der Husten¬
anfälle bedeutungsvoll wegen der Gefahr
der Nachkränkheiten, besonders der
Tuberkulose.
7. Influenza^). j
Einen persönlichen Schutz vor Influenza
gibt es nicht; Mundspülen und Gurgeln
mit desinfizierenden Lösungen ist ebenso
problematisch wie das Vermeiden von
Menschenansammlungen. Der Erkrankte
bedarf auch bei den leichtesten Er¬
scheinungen der Bettruhe und gehöriger
Pflege, Vernachlässigung rächt sich oft
durch Verschlimmerung, Rückfälle und
Komplikationen. In leichten Fällen ge¬
nügt die Allgemeinbehandlung. Bei
höherem Fieber ist gelegentlich .ein inneres
Antipyreticum, bei stärkerem Hustenreiz
eine kleine Kodeingabe, bei unruhigen
Nächten etwas Morphium erwünscht; auch
Brustpackungen sind bei ausgesprochener
Bronchitis zu empfehlen. Bei schweren
Allgemeinerscheinungen wird das Be¬
dürfnis nach eingreifender Behandlung
ein dringendes. Leider hat sich keins
der vielen empfohlenen Mittel als wirksam
erwiesen. Das sogenannte Grippeserum,
auf Diplo- und Streptokoken eingestellt,
vermag nichts gegen die eigentliche Grippe;
es ist mehr als unsicher, ob es das Hin¬
zutreten von Pneumonie verhindern kann.
Die Verordnung von Trypaflavin, Eucupin,
Optochin, Salvarsan hat sich ebensowenig
bewährt; allzu differente Medikation setzt
die Widerstandsfähigkeit der Kranken
herab. Ich bin stets gut gefahren, wenn
ich dem unruhigen Drängen der Patienten
und ihrer Angehörigen den festen Heil¬
plan entgegenstellte, der unter Verzicht
auf unsichere und unerprobte Mittel die
Widerstandsfähigkeit des Körpers aufs
beste zu stärken sucht. Also gute Pflege,
angemessene Ernährung, viel Alkohol, oft
Kaffee, Herzkräftigung mit Coffein und
Campher, Tags über mehrfach Kodein¬
gaben, eventuell ein oder zwei antipy¬
retische Dosen, zur Nacht Morphium.
Man wird so bessere Resultate erzielen,
In diesen Abschnitt habe ich unter dem Ein¬
druck der diesjährigen Epidemie auch einige
negative Ratschläge aufgenommen. G. K.
März
Die Therapie der Gegenwart 1920
als durch eine vielgeschäftige Verordnung
neuer und neuester Mittel, deren üble
Nebenwirkungen unberechenbaren Schaden
anrichten können.
Die zahlreichen Komplikationen und
Nachkrankheiten der Influenza sind nach
den ihnen zukommenden Regeln zu be¬
handeln. Im Vordergrund steht die viel¬
gestaltige Pneumonie. Die Verhütung ge¬
schieht wohl manchmal durch vorsichtige
Bettruhe von Beginn der Infektion; auch
die Serumtherapie bietet keine sichere
Prophylaxe. Nach Ausbruch der entzünd¬
lichen Lungenerscheinungen sind Prießnitz-
packungen von etwa sechsstündlicher Dauer
, zu machen, ebenso ist für Herzstärkung
durch Wein und Kaffee, bei Frequent¬
werden des Pulses durch subcutane Coffein¬
injektionen zu sorgen. Digitalisgaben ge¬
hören zum alten Bestand der Therapie,
sind aber ohne wesentliche Wirkung. Kräf¬
tigen Patienten macht man bei drohenden
Erscheinungen einen Aderlaß von 200 bis
300 ccm. Subcutane Adrenalininjektionen
stündlich gegeben, sind das Ultimum refu¬
113
gium. Unter den übrigen Komplikationen
will ich die Magen- und Darmerscheinungen
' hervorheben, weil sie die Ernährung sehr
erschweren. Erbrechen sistiert meist auf
volle Morphiuminjektionen, danach wird
eisgekühlte Milch teelöffelweise vertragen.
Diarrhöen stehen nach 15—20 Tropfen
Opium und machen Schleimsuppendiät
und Rotwein nötig. Die gastrischen Kom¬
plikationen machen oft einen sehr beun¬
ruhigenden Eindruck,lassen sich aber relativ
leicht überwinden. Die komplizierende
oder nachfolgende Nierenbeteiligung ist
nach den üblichen Regeln zu behand.eln;
die akute hämorrhagische Nephritis kann
alle Gefahren der Scharlachnephritis
bringen, reagiert meist gut auf beschränkte
Milchdiät und Schwitzpackung. Sehr
alarmierend wirkt das seltenere Vorkommen
der Nephrose mit sehr hohem Eiweißge¬
halt des spärlichen Urins und suburämi¬
schen Erscheinungen, die unter derselben
Behandlung, eventuell leichten Diureticis
sich bald zum Bessern, schließlich zur
vollen Heilung wenden.
Zusammenfassende Übersicht.
Neue Werke über Konstitution von Bauer, Martius und Kraus.
Besprochen von B. Laquer, Wiesbaden i).
Die Älteren von uns erinnern sich der
Virchowschen Vorlesungen, und wie der
eigentlich dauernd in geistiger Kampf¬
stellung verharrende Gelehrte die humo¬
ral-pathologischen, mit Krasen, mit Ver¬
wandtschaften und Antagonismen von
Krankheiten und anderen Spekulationen
versetzten Anschauungen Karlv. Roki¬
tanskys ironisch und völlig ablehnend
behandelte; Virchow war, wie man das
jetzt niclit gerade geschmackvoll nennt,
Organicist; 1894 hielt Virchow bei dem
internationalen medizinischen Kongreß in
Rom den Festvortrag zum Andenken an
G. B. Morgagni, anknüpfend an dessen
Werk: de sedibus et causis morborum
(1761 erschienen); die Krankheiten spielen
sich in Organen und Zellen, nicht in den
Säften ab, den Humores; Virchow zi¬
tierte auch in seinen Vorlesungen öfters
das Wort Bichats: ,,Was ist uns Krank¬
heit, wenn wir nicht ihren Sitz kennen
Die Bakteriologen, also die Kochsche
Schule, gingen noch über Virchow hin¬
aus, der seine Zuhörer immer wieder
gegenüber den „enthusiastischen Para-
Auszug aus einem Vortrag, gehalten in den
Wiesbadener ärztlichen Fortbildungskursen am
8. November 1919.
sitenjägern‘‘ das Ens und die Causa morbi
streng zu scheiden aufforderte; jene fan¬
den aber auch schon in ihrem glänzenden
Aufstiege heftige Gegnerschaft. Die rein
ätiologisch-experimentelle Betrachtung
herrschte nicht gar zu lange; in unserer
schnellebigen Zeit veralten auch die wis¬
senschaftlichen Richtungen, welche früher
ein Jahrhundert oder länger vorhielten,
viel rascher; was der Obduktionssaal des
pathologischen Anatomen für immer ver¬
nichtet zu haben schien, kam im Labo¬
ratorium in Form der Serumtherapie und
der Lehre von der Immunität wieder zum
Leben!
Und die Klinik folgte dieser humo¬
ralen Neuschöpfung mit konstitutionellen
Betrachtungen und Befunden; es ent¬
standen unter anderem die Arbeiten von
Pal tauf über den Status thymico-lym-
phaticus 1889/90, der Vortrag von Mar¬
tius: Krankheitsursachen und Krank¬
heitsanlagen 1898, Czernys Arbeit über
exsudative Diathese 1905, Eppinger-
Heß: zur Pathologie des vegetabilischen
Nervensystems 1904; stark anregend wirk¬
ten die Forschungen über die Sekretion
der inneren Drüsen; beginnend mit Star-
lings Veröffentlichung über die chemi-
15
114
Die Therapie der Gegenwart 1920
März
sehen Korrelationen der Organe und ihrer
Störungen in Krankheiten 1905, und
gipfelnd in A. Biedls Werk über Innere
Sekretion, 1. bis 3. Auflage, 1910bisl915.
Will man die alte und die neue Zeit, den alten
und den neuen Geist einmal wirksam sich gegen¬
überstellen und vergegenwärtigen, so vergleiche
man, hintereinander lesend, die allgemeine Patho¬
logie von Julius Cohnheim, erschienen 1880,
und die eben ers^ienene 9. Auflage v. Ludolf
Krehls pathologische Physiologie; in Cohn¬
heims Werk, das seine Gegner einst wegen der
glänzenden Sprache und Lesbarkeit ein medizi¬
nisches Feuilleton zu nennen beliebten, kommt
der Ausdruck Konstitution überhaupt nicht vor;
hingegen z. B. der Satz: „Alles kommt auf die
Eigentümlichkeiten des Schwindsuchtsvirus und
seine Wirkung hinaus; tuberkulös wird jeder,
in dessen Körper sich das Virus etabliert“;
Albin Hoffmann (Leipzig), ein Schüler Fre-
richs, nahm 1893 in seinem Werk über konsti¬
tutionelle Krankheiten (F. Enke, Stuttgart) von
einer allgemienen Besprechung der Konstitution
überhaupt Abstand. Demgegenüber lautet die
Überschrift des ersten Kapitels bei L. Krehl:
„Krankheit, Konstitution, Diathese“, und die des
letzten Kapitels: „Noch einmal Krankheit und
Konstitution; die pathologische Physiologie und
der Arzt“, wobei auch Krehls Bemerkungen
über den ,,Dauerlauf der Konstitutions-Patho¬
logen“ in seiner Eröffnungsrede des 28. Kon¬
gresses für innere Medizin (1911) zu beachten
sind. Seit 1914 erscheint bei J. Springer die
„Zeitschrift für angewandte Anatomie und Kon¬
stitutionslehre“, Herausgeber: Tandler, von
Eiseisberg, Kolisky, Martins.
Auch über die allgemeinen Begriffe Krankheit
und'Krankheitsursache, über die logischen Unter¬
schiede zwischen Krankheitsursachen und Krank¬
heitsbedingungen (Kondition) wird zurzeit stark
gestritten 2).
Nun liegen zurzeit drei Werke vor, in
denen die eben angedeutete Entwicklung
der Konstitutionspathologie und manches,
was daran angrenzt, gewissermaßen sedi-
mentiert, nämlich Fr. Martins, Kon¬
stitution und Vererbung in ihren Be¬
ziehungen zur Pathologie, J. Springer,
1914, Jul. Bauer, Konstitutionelle Dis¬
position zu inneren Krankheiten, ebenda
1917, und Fr. Kraus, Die allgemeine
und spezielle Pathologie der Person,
Klinische SyzygiolDgie, Allgemeiner Teil I,
G. Thieme, 1919.
Zuvörderst einige allgemeine Bemer¬
kungen über diese drei Bücher; de potiori
fiat denominatio: Fr. Kraus will seine
perönlich-singuläre, philosophisch-natur¬
wissenschaftliche Weltanschauung, das
heißt die n ur von ihm selbst gleichsam
^) O. Rosenbach war der erste, welcher diese
Frage aufrollte; in jüngster Zeit: Verworn,
Kausale und konditionale Weltanschauung, Jena
1912; Hansemann, Über das konditionale Den¬
ken in der Medizin, Berlin 1912; Lubarsch,
D. m. W. 1919, Nr. 1 und 2; Hering und Fischer,
M. m. W. 1919, Nr. 19 und 35; Winterstein,
Kausalität und Vitalismus, Wiesbaden 1919;
Jensen, Erleben und Erkennen, Jena 1919.
specifisch erarbeitete und ihn ganz er¬
füllende Art und „Weise, ärztlich und
physiologisch zu denken, Hunderte von
Einzeltatsachen zu ordnen vermittelst
„abwechselndentwicklungsgeschichtlicher,
morphologischer, experimenteller, psycho¬
logischer und klinischer Belege“ zur Dar¬
stellung bringen; etwa wie der Künstler,
der erst seine Konturen im Kreidegrund
zieht und dann seine Farben und Valeurs
auf trägt oder besser wie ein Teppichweber
— nur sein Muster und einen Riesen-
canevas vor sich — ,,wo ein Tritt tausend
Fäden regt — die Schifflein herüber hin¬
über schießen — die Fäden ungesehen
fließen — ein Schlag tausend Verbin¬
dungen schlägt“. — ,,Der Teppich des
Lebens“, das ist ja ein z. B. von der
Gemeinde Stefan Georges, die auch
philosophische Mitglieder zählt, oft ge¬
brauchtes Symbol.
Das Bau ersehe Buch hat von den
dreien den am meisten unpersönlichen
Zug; es könnte auch von einem Stab von
Mitarbeitern geschrieben worden sein; es
stellt das dar, was man eine Fundgrube
von klinischen Bildern und Einzeltatsachen
zu nennen pflegt, all diese an dem Begriff
,Konstitution* orientiert; es ist die erste
systematische Durcharbeitung von über
3000 Arbeiten; das Literaturverzeichnis
umfaßt allein 67 Seiten; die meisten
Schriften stammen aus den beiden letzten
Jahrzehnten.
Bauer nimmt mit Martins (ebenso
wie Kraus) an, daß die Gesamtkonsti¬
tution eine Summe von Teilkonstitutionen
der einzelnen Organe und Gewebe dar¬
stellt; der gegenseitige Konnex der letz¬
teren, das Spiel der Kräfte z. B. im
neurologischen System, die ,,polyglandu¬
läre Formel“ (die Arbeit der inneren
Drüsen, ihre Funktionskette) ist indivi¬
duell verankert: die funktionelle Ab¬
nützung unserer Organe, unsere Pubertät,
Senium und Tod sind innerhalb bestimm¬
ter Fristen genotypisch fixiert; in allen
diesen Beobachtungen spielt neben einer
cellularen auch eine humorale Kompo¬
nente mit, welche dem älteren Begriff
Diathese entspricht
Im Gegensatz zu der systematf^hen
Darstellung Bauers gibt Martius eine
Reihe von kritischen Aufsätzen, ja von
temperamentvollen Plaidoyers ^), welche
In dieser Hinsicht ist auch besonders
E. Th 0 en i s s e n ’ s großzügiges Referat: Über Ver¬
erbungsforschung und innere Medizin (Erg. d.
Inn. Med. Bd. XVII, 1919, J. Springer) als muster¬
gültig zu bezeichnen.
März
Die Therapie der Gegenwart 1920
115
die Grundbegriffe der Lehre von Kon¬
stitution und Vererbung behandeln, und
sie möglichst scharf zu erfassen suchen;
der zweite spezielle klinische Teil, welchen
Martins nicht zu schreiben vermochte,
„weil seine Abfassung über die Kräfte
eines Einzelnen hinausgingen“, liegt in
dem Bau ersehen Werke vor; eine klini¬
sche Ergänzung seines „allgemeinen Teils
will Kraus in Bälde ebenfalls ausarbeiten
und veröffentlichen.
Martins betont in der Einleitung:
Tausende von Studenten sehen und beob¬
achten Kranke; keiner von ihnen dürfte
aussagen können, was Krankheit ist;'\
Vorlesungen darüber werden nicht ge¬
lesen; der 28. Kongijeß für innere Medizin
(siehe oben) habe die Frage nach den
konstitutionellen Krankheiten 1911 be¬
handeln lassen unter lahmem Interesse
der Zuhörer (und mit einer matten in
Gichtfragen sich hinschleppenden Dis¬
kussion, Ref.). Demgegenüber wäre
Hippokrates ein naturwissenschaftlich
denkender Arzt gewesen; V i r ch o w sprach
von der Medizin als biologischer Doktrin,
welche die Summe alles Wissens von
Menschen darstellen solle; Martins weist
auf einige prägnante Tatsachen hin; z. B.
auf die gesunden Bacillenträger und die
nur ihrer Umgebung gefährlichen Dauer¬
ausscheider; an Masern erkranken poten¬
tiell alle Menschen, an Scharlach nur
die Hälfte; die Typhusbacillen verursach¬
ten bei Mäusen Septicämie iisw. Der
experimentellen Forschung fehle die Ein¬
sicht in die ungeheure variable Natur des
biologischen Objekts: Mensch; Martins
reklamiert die Konstitutionspathologie als
übergeordnetes Prinzip; er stellt, wie
vorher Gottstein und Strümpell, die
Q
Formel auf: Krankheit K = 777 , wobei
. W
S die ursächliche Schädlichkeit, W den
Widerstand des Körpers gegenüber der
Krankheit darstelle und erweitert sie
noch (S. 29).
Martins unterscheidet Konstitutions¬
anomalien und -krankheiten; erstere be¬
deuten angeborene oder erworbene Fehler
in der Körperverfassung, sie können sich
aber zu einer Krankheit entwickeln.
Martins unterscheidet angeborene
Konstitutionskrankheiten, Fettsucht, Di¬
abetes, Gicht und erworbenen Konsti-
tutionalismus (Lues, Alkoholismus).
Drei Wege der Forschung über Kon¬
stitutionspathologie sind für Martins
vorhanden: anatomische Untersuchun¬
gen, aber nicht die schulmäßigen, wie
sie einst A. W. Benek '6 (Gießen) vor
vierzig Jahren ausführte; physiologi¬
sche Fünktionsprüfung, wie sie F. Kraus
und vorher Rosenbach forderten und
förderten, und klinische Beobachtungen
(z. B. konstitutionelle Albuminurie, Gly-
cosurie, Achylie); ein zweiter Abschnitt
des Martiusschen Buches behandelt die
pathogene Vererbungslehre.
Martins Schriften sind alle höchst le¬
bendig, sehr anregend und leicht verständ¬
lich geschrieben.
Friedrich Kraus geht erkenntnis¬
theoretisch von Ernst Mach, Rieh.
Avenarius und ihrem Empiriokriticis-
mus aus; die auf geführten und sorg-
fältigst in die 120 Einzelkapitel hinein-
gearbeiteten' Schriften philosophischen,
naturwissenschaftlichen und klinischen
Inhalts sind geradezu überwältigend!
Ein Weltstadt-Kliniker, der bei all seinen
Pflichten diese Spannkraft und Funk¬
tionsbereitschaft ‘ besitzt, zu lesen, zu
exzerpieren und zu diktieren.
Abgesehen von antiken und modern¬
sten Philosophen, fehlt in diesem Werke
kaum ei ne biologische Tatsache oder eine
klinische Streitfrage, welche nicht zum
Unterbau des Krausschen ,,Persönlich¬
keitsbegriffes“, der aber mehr ,,der Gott¬
heit lebendiges Kleid“ darstellt, verwen¬
det wurde! „Eine Problemhydra mit
immer wachsenden Köpfen, die zu um¬
stricken und zu vernichten drohen!“
,,Alles fließt“; man hat beim Lesen
das Gefühl eines Ideenstromes, ja eines
lavaähnlichen Eruptivgesteins, das von
einer Feuerseele getragen wird; das spricht
sich auch in der Vorwegnahme von Be¬
griffen und Fachausdrücken aus, deren
Begründung oft einige Seiten später, oft
gar nicht kommt; z. B. gleich auf S. 1,
5 und 6 erscheinen die Begriffe: phäno¬
typische Integration, Differentiation und
,,Vitalreihen“.
Kraus unterscheidet die genotypische
Anlage von dem Phänotypus, das heißt
von dem in Erscheinung tretenden Organ¬
system, etwa dem älteren Ausdruck
,,Habitus“ entsprechend, die Ausdrücke
stammen von Johannsen, dem Erblich¬
keitsforscher.
Ohne R. Eislers Wörterbuch der
philosophischen Begriffe, ohne j. Gaupps
kurze Biographie Herbert Spencers
hätte ich zwei dicke Wälzer von Spencer
nachlesen müssen, um die beiden Begriffe
Integration und Differentiation, ohne
G. Sommers „Geistige Veranlagung und
15*
116
Die Therapie der Gegenwart 1920
März
Vererbung“-, Leipzig 1916, un4 ohne
J. Petzoldts'Einführung in die Ave-
nariussche Philosophie der reinen Er¬
fahrung, 2 Bände, Leipzig 1900, den
ganzen Avenarius, welchen Petzoldt
selbst als äußerst'spröde, streng und knapp
bezeichnet, durchackern können, um den
für Kraus biologisches Denken so funda¬
mentalen Begriff: Vitalreihe, zu ver¬
stehen; da dieser aber eine wichtige Vor-
aussetzungfür dasVerständnis desKraus-
schen Werkes bildet, so mögen zuerst
einige Auszüge hier folgen aus G. Som¬
mer, 1. c., zugleich als Beweis für die
Notwendigkeit eines ,,Wegweisers“:
„Avenarius hat das allgemeine Gesetz (mit
dem Ausdruck „Gesetz^* wird man sonst auf
psychologischem Gebiet sehr zurückhaltend sein
müssen) der psychischen Reihen aufgestellt, wel¬
ches sich ungezwungen in den verschiedensten
seelischen Vorgängen erkennen läßt; irgendetwas
um uns, es kann das geringste oder das bedeutend¬
ste sein, zeigt sich plötzlich ergänzungsbedürftig;
eine Alternative, eine Frage tut sich auf; das
Gleichgewicht, in dem wir uns mit der Umwelt
befinden, ist, wenn auch nur im mindesten, an¬
getastet; diesem Ausgangszustand folgt als Mittel¬
glied das Streben, jenes Gleichgewicht wieder¬
herzustellen, und dies gelingt in einem Endglied
der ganzen Kette mit einer nun mehr oder weniger
stark lustgetönten Lösung. Es ist also ein stets
zur Aktion bereitstehender Trieb vorhanden,
einen stabilen, normalen, sagen wir gesunden
Zustand zu erhalten, zu schützen, ein Gleich¬
gewicht wiederzugewinnen, zu behaupten. Dieses
Perpetuum mobile in uns ruht nicht, auch wenn
sich die Reihen über Jahrhunderte ausdehnen,
denn das kleinste psychische Erlebnis des Einzel¬
lebens fällt ebenso unter dieses Gesetz, wie die
gewaltigen Regungen der Volksseele. Dazu kommt
aber ein zweites: Jenes erstrebte Normale,
Stabile, das nun wieder erreicht ist, gleicht nicht
völlig dem ersten, das gestört war; das neue
Gleichgewicht ist nicht mehr genau das alte, und
zwar aus folgenden Gründen: Es ist bis zur
Wiederherstellung des Gleichgewichts die ganze
(kleine oder große) Summe der in Betracht
kommenden Faktoren, die nähere oder weitere
Umwelt eine, vielleicht unmerklich, vielleicht
beträchtlich andere geworden. Dieser Umstand
kann und darf im Alltagsleben der Psyche, das
aus einer Unsumme solcher Reihen besteht, nicht
unsere Wahrnehmung belasten, es entgeht viel¬
fach vollkommen unserer Aufmerksamkeit; aber
er tritt- klar hervor, sobald die Wogen höher
gehen, wenn länger dauernde Unruheperioden
überwunden und gelöst werden.' Ferner hinter¬
läßt das ganze psychische Erlebnis — mag es das
große eines Volkes sein oder eines jener kleinen,
kaum beachteten Erlebnisse des Einzelnen —
eine Spur in der Seele, welche im übrigen gleich¬
geformte, spätere Erlebnisse ihrerseits beeinflußt.
Dies wird bei sämtlichen Erlebnissen zur Geltung
kommen, die zu jenen irgendeine Beziehung haben,
wiederholt es sich aber in den Hauptzügen (iden¬
tisch wird es nie sein!), so ist die Bereitschaft für
seinen Ablauf vermehrt, bis zur Selbstverständ¬
lichkeit, kurz, wir sind auf dem weiten Gebiet
der Einübung,’ des Gedächtnisses, der Erinnerung
angelangt, einem Komplex, von erblichen Dis¬
positionen, ohne welchen unser Seelenleben jedes
Zusammenhanges entbehrte, welcher die Grund¬
lage der Persönlichkeit därstellt.^*
Man erkennt in der Vitalreihe einen alten Be¬
kannten, nur verfeinert, vergeistigt, verallgemei¬
nert wieder: die Reflexaktion; Hunger, Durst,
Geschlechistrieb und anderes mehr, das sind auch
—Vital reihen.— Und nun auch die Deutung des
Psychophysischen — wiederum nach Avenarius
— Petzoldt (1. c.), wie sie Kraus akzeptiert
hat. Wir wissen nichts von einer Vermittlung
zwischen „Physischem“ und „Psychischem“, wir
nehmen keine Seele, Vernunft, kein Bewußtsein
als Spiritus rector an — wir wissen nichts von
einem Übergang vom Physischen zum Psychischen,
wir wissen aber auch nichts von einem prinzipiellen
Parallelismus beider Erscheinungsreihen, wie wir
nichts von einem Kausalzusammenhang über¬
haupt wissen—auch dieser ist schon Ausfluß einer
Theorie. *
So stellte denn Avenarius — welcher ja Dog-
menlosigkeit anstrebte, und nichts Weiteres über
ArtundWesen der Abhängigkeit zwischen Psyche
und Physis aussagen wollte — wieder eine solche
untrennbare Zusammengehörigkeit und Koor¬
dination auf und nannte sie: die logische Funk¬
tionalbeziehung.
Durch die logische Funktionalbeziehung wird
einzig und allein fixiert, daß wir es mit zwei
Gliedern zu tun haben, die so Zusammenhängen,
daß, wenn das eine Glied sich ändert, dann sich
auch das zweite ändert, wie etwa zwei variable
Größen in mathematischer Hinsicht voneinander
abhängig sind.
Kraus überträgt also diese Ave-
nariusschen, von Mach^) und Hering
ergänzten Gesetze, Anschauungen, Be¬
griffe und Funktionsketten auf biologische •
und klinische Tatsachen und Beobach¬
tungen; Roux’ ,Hertwigs,Rubners und
Pawlows Forschungen dienen als Binde¬
glieder; an eine andere, von dem Astro¬
physiker Zöllner ursprünglich ausgehen¬
de Beobachtung der gegenseitigen Beein¬
flussung und Kontiguität von Sonnen¬
flecken, gewissermaßen an kosmisch-vitale
Reihen-,,Induktion“ von Kraus genannt
(S. 248), knüpft Kraus entsprechende
biologische Vorstellungen an; und solcher
Haltepunkte und Gedankencentren gibt
es gar viele und eigenartige in diesem
Werke; so lehnt z. B. Kraus eine-Ver¬
erbung erworbener Eigenschaften grund¬
sätzlich nicht mehr ab; er weist auf
die Verschiedenheit der Organ- und der
Artspecifitäten hin als ein unser anti¬
toxisches Schutzsystem bedingendes Prin¬
zip, welches bedeutungsvoller sei, als das
morphologische Zellenschema und damit
auf den Gegensatz beziehungsweise auf
die Ergänzung der rein cellularpatho¬
logischen Auffassung; ähnlich ist auch
^) Machs Weltanschauung schildert kurz und
feinsinnig R. Wlassak in seiner Gedächtnisrede
auf E. Mach (J. A. Barth, Leipzig 1917); auch
P. Jensen (Göttingen) in „Erleben und Erkennen“
nimmt auf die Lehren von Avenarius und Mach
bezug (Jena 1919).
März
Die Therapie der Gegenwart 1920
-117
die Gesamtkonstitution auf^ufassen, die in
,Partialkonstituenten zerfällt, welche wie¬
derum untereinander funktional Zu¬
sammenhängen und sich zu einer orga¬
nischen, das heißt sich selbst organisieren¬
den Ganzheit verbinden; in der Bewer¬
tung der Intercellularsubstanz (Plasmo¬
desmen) steht Kraus auch im Gegensatz
zu der alten Virchowschen Auffassung;
jene ist selbständig, hat eigenes Wachs¬
tum, eigenen Stoffwechsel! Die Einer¬
seits-Andererseits-Stellungnahme, also das
Dialektische ^), ist charakteristisch für
den Autor und seine Denkungsweise.
Das ganze Buch (S. 366) will zeigen,
daß der biologisch gerichtete Mediziner
das menschliche Verhalten ebensowohl
in den an sich scharf abhebenden Reak¬
tionen und Vitalreihen untersucht, wie
in der Gesamtheit dieser Reaktionen und
Vitalreihen; dies soll uns lehren, das
Verhalten des Individuums als ein Ganzes
als Syzytium ®) (aber auch als ein Singu¬
läres, Ref.) zu erkennen gegenüber den
Reizkomplexen der Außenwelt und gegen¬
über anderen Individuen. Die einzelne
Funktion in dieser Gesamttätigkeit hat
nicht bloß einen psychologischen, sondern
auch einen physiologischen Wert und
Sinn. Die Persönlichkeit ist weder
psychisch noch physisch, sondern neutral;
die Biologie hat dabei die bereits ab¬
gelaufenen Reaktionen und Vitalreihen
(die Engramme, im Sinne SemonsMneme,
Ref.) mitzuberücksichtigen. Die Organi¬
sation unserer Funktionen kann voll¬
ständig nur als psychophysische be¬
schrieben werden. „Den Beseeler der
Heilkunde“ nannte Meynert einst seinen
Lehrer Rokitansky; Und mit diesem
.,Engramm“ könnte man Fr. Kraus auch
ehren 1 " .
Immerhin — eine Hodegetik, einen
„Wegweiser“ durch dieses Kraussche
„Seelengemälde“ zu schreiben, das heißt
den stellenweise sybillinischen Charakter
des Werkes zu erklären, in die üppige
Terminologie des Werkes einzuführen,
es ,,ins Deutsche“ zu übersetzen, sollte
ein auf die Gedankenreihen und In-
In der Hegel sehen Philosophie: „die Auf-
zeigung der dem Gegenstände selbst innewohnen¬
den Widersprüche, kraft deren alles Endliche in
sein eigenes Gegenteil umschlägt, um sich aus
dieser Trennung zu einer höheren, reicheren Ein¬
heit wieder zusammenzufassen“.
®) deshalb Syzyziologie — Zusammenhangs¬
lehre, ein Ausdruck von Hesse für die Beziehun¬
gen zwischen Form und Funktion der Organe für
die Korrelation im KÖfp6r, für die funktionelle
Anpassung. Syzyzium von Z^yog^ Joch, eine Zu-
sammenjochung.
tuitioilen des Meisters eingestellter Schüler
unternehmen! Jene Skizze, welche den
ersten Band der „Ergebnisse der inneren
Medizin und Kinderheilkunde“ einführte
(1908, Springer), „über die Abhängig¬
keitsbeziehungen zwischen Körper •und
Seele in der inneren Medizin“, die
Studien über die Ermüdung als Maß
der Kräfte (Kassel, Bibi. Medica, 1887)
wären aber mit zu berücksichtigen. Das
Werk von Kraus bringt zu jener Ein¬
teilung von Lesemethoden, nach denen
man Bücher von links nach rechts, vpn
oben nach unten und diagonal studieren
kann, eine vierte; man muß dieses Werk ■
erst einmal hintereinander weg lesen und
dann nochmals mit dem Bleistift in der
Hand. Manche ,,Extratouren“ in dem
Krausschen Werke wie die über Fakire
(S.'27), über das Taylor-System (S. 258);.
über den heiligen Augustin und die
Scholastik (S. 398) und andere erhärten
zwar die ungewöhnliche assoziative Kraft
und den Riesenumfang der Krausschen
Einfälle, bilden aber einen entbehrlichen
Ballast; besonders bei den Seiten über
Fakire kam mir trotz aller Krausschen
Reserve aas Wort in den Sinn: „ln dieser
Dämmerung fliegt nicht der Vogel der
Minerva!“ Und das Übermaß von Termi¬
nologie mahnt an das geistvolle Wort des
Historikers Alfred Dove, welcher die
damit besonders belastete Soziologie ein
„'Wortmaskenverleihinstitut‘^ nannte. Über
den Stil läßt sich mit Fr. Kraus wohl
nicht rechten; das ist schon oben an¬
gedeutet worden. Der Stil ist der Mensch;
auch jener ist genotypisch verankert; die
„Fülle der Gesichte“ drückt auf die
Schreibart. Trotz alledem — überall den
Runen, Hieroglyphen und Abbreviaturen,
über all dieser „Hypothesen-Architektur“*
steht ein schöpferisch gestaltender, schau¬
ender und begeisterter, hingebungsvoller,
echter Forscher und Deuter des Lebenst
Jean Paul schreibt einmal von der Lek¬
türe solch eines Werkes: ,,Dies Buch war
für mich eine zweite Welt, auf welche
meine Seele hinaufstieg, während sie den
Körper den Stößen der Erde überließ!“
Was will nun dieser neue Geist in der
Medizin, was bringt diese konstitutionelle
Auffassung uns Ärzten?
Ein höheres Forschungsprinzip soll in
Zukunft herrschen; die einheitliche Auf¬
fassung des organischen Lebens in der
Vielheit seiner Funktionen und Zweck¬
setzungen. Soweit dies eine Reaktion auf
die einseitige Spezialisierung der Klinik be¬
deutet, eine Reaktion, welcheTh.F rer ichs
118
bid Tlierapie der Gegenwart 1920
März
schon in der Eröffnungsrede des 1. Kon¬
gresses für innere Medizin forderte, so
kann ja diese Einseitigkeit, wie Krehl (l.c)
hervorhebt, als überwunden gelten! Hin¬
gegen erscheint die Alleinherrschaft des
koifttitutionellen Prinzips, wie sie Mar¬
tins fordert, vielen gefährlich; Fr. Mül¬
ler warnt S. 35 am Schluß seiner Rekto¬
ratsrede'^) mit Recht vor jener Sieger¬
zuversicht, daß jemals wieder ein Rück¬
fall in jene spekulativ-mystische Richtung
der Röschlaub und Ringseis, die ja
auch R. Virchow in seiner Gedenkrede
auf Schönlein meisterhaft schildert,
stattfinden könne. Und wer, wie Referent
mal — vor etwa einem Jahrzehnt — einer
Sitzung der ,,biologisch denkenden Ärzte“
beigewohnt, wird diese Warnung als wohl¬
berechtigt anerkennen müssen! Solche
Werke wie das von Kraus sind für'den
kritischen Leser höchst anregend, aber
gefährlich für jüngere Schwarmgeister!
Die größere und psychologisch logi¬
sche Schulung, welche Fr. Müller (1. c.)
und kürzlich auch N. Ach (D. m. W.
1919) fordern, wird die Ärzte davor
schützen! Und die Worte von 0. Lu-
barsch (l. c.), man möge in erster
Reihe Kräfte für die Lösung der Einzel¬
probleme verwenden, zumal doch die
Ansichten z. B. über den Ursachenbegriff
der Krankheit gar nicht so weit ausein¬
andergehen, sind ebenfalls beherzigens¬
wert.
,,Ein neues, weites und mühevolles
Gebiet breitet sich vor der künftigen
Forschung aus. Die nächstliegenden Ziele
der Forschung seien kurz angedeutet: am
Einzelfall Feststellung seiner Konstitu¬
tionsanomalien mit Hilfe der genauen
über Spekulation und Mystik in der Heil¬
kunde, München 1914, J. Lindauer.
Methoden und des ganzen .künftigen
Rüstzeugs zum Nachweise von Funk¬
tionsstörungen latenter und manifester
Art, von morphologischen Veränderungen;
die Beziehungen der einzelnen Konsti¬
tutionsanomalien zueinander und zu den
Manifestationen der vorliegenden Erkran¬
kung; womöglich Untersuchung auch der
Eltern und Geschwister^ auf Konstitu¬
tionsanomalien und Vergleichung der Be¬
funde, um Gesetzmäßigkeiten hinsichtlich
der Vererbung zu finden; die Abhängig¬
keit der Konstitutionsanomälien von äuße¬
ren Einflüssen, vom Lebensalter. Am
genealogischen und statistischen Material
die genaue Analyse der Vererbung, ins¬
besondere die Feststellung, ob und in¬
wieweit das endogene Moment einer Er¬
krankung auf Vererbung beruht und wie
der Mechanismus der Vererbung ist, ob die
Krankheit auf einen oder mehrere, even¬
tuell korrelativ verknüpfte Erbfaktoren
zurückzuführen ist. So läßt sich von dem
Zusammenarbeiten der experimentellen
Pathologie und der Vererbungsforschung
eine gegenseitige Förderung beider Ge¬
biete erwarten.“ (E. Thoenißen 1. c.)
Wir Ärzte werden von dem neuen
Geist für unser praktisches Handeln
vor allem auch dahin beeinflußt werden,
daß wir den kranken Menschen nicht aus¬
schließlich als Organleidenden anzusehen
und abzustempeln haben; wir wollen uns
bemühen, die in der Krankheit sich
spiegelnde Persönlichkeit als Ausdruck
einer singulären Erbmasse und in Ab¬
hängigkeit von seiner Umwelt zu erfassen
und heiltechnisch zu beeinflussen; beson¬
ders als Haus- und auch als Kurärzte
sollen wir versuchen, den Geno- und den
Phänotypus durch Rassen- und soziale
, Hygiene zu ertüchtigen.
Referate
Aus der Breslauer chirurgischen Klinik
berichtet Melchior über den Bauch-
druck. Er ist zeitlich wie örtlich wech¬
selnd. ln respiratorischer Ruhelage bei
entspannter Bauchdecke lastet auf der
thorakalen Fläche des Zwerchfells ein
Unterdrück von etwa 9 cm Wasser, also
Ansaugung der Eingeweide nach der
Zwerchfellkuppel. Beim Zustandekommen
der Bauchpresse (Defäkation, Husten,
Geburt, Heben von Lasten) bei Glottis¬
verschluß und Kontraktur der vorderen
Bauchwand wird das Zwerchfell fixiert,
der Innendruck also gesteigert. Der vor¬
her schlaffe Bauchsack wird prall ge¬
spannt bis zu 2 bis 3 m Wasser. In Ruhe¬
lage übt die Bauchmuskulatur keinen
Druck auf den Abdominalinhalt aus,
paßt sich weitgehend dem Inhaltszu¬
wachs an (Gravidität, Tumoren) erst bei
größeren Exsudaten tritt eine Steigung
des Druckes und damit auch klinisch fest¬
stellbare erhöhte Wandspannung, ein.
Bei ruhiger Ausatmung geringe Senkung,
Höhertreten des Zwerchfells, bei Einat¬
mung geringe Steigung. Bei erschwerter
Ausatmung infolge Bauchwandspannung
Erhöhung, umgekehrt bei erschwerter
119
Die Therapie der Gegenwart 1920
.März
Einatmung infolge. Saugwirkung Ernie¬
drigung (epigastrische Einziehung bei Tra¬
chealstenose). Der Bauchinhalt hat bei
natürlicher Füllung in seiner Gesamtheit
etwa das specifische Gewicht des Wassers.
Der Druck in der Bauchhöhle verläuft
also nach den hydrostatischen Gesetzen,
an jeweils tiefstem Punkt ist er am
größten und verhält sich proportional
der Höhe der darauf lastenden Einge¬
weidesäule. Der Nullpunkt liegt beim
stehenden Menschen etwas unterhalb der
(unter negativem Druck bereits stehende)
Zwerchfellkuppel. Bei Beckenhochlage¬
rung kann umgekehrt Luft in die Blase
eingesaugt werden. Die äußere Kontur
des Hängebauches ist der mathematische
Ausdruck des nach unten zunehmenden
Druckes. Demnach wird die Linea alba
nach unten schwächer aber dicker, ebenso
dieRecti. Daraus folgt, daß die Eingeweide
nicht an ihren Mesenterien aufgehängt
sind, sondern vielmehr auf den unter
ihnen liegenden Organen ,,schwimmen“.
Erst unter pathologischen Verhältnissen
können die Aufhängebänder in Funktion
treten, stets unter schmerzhafter Sen¬
sation! Für die Therapie folgt daraus,
daß alle Methoden, welche die Reposition
der Organe durch Raffung des Bandappa¬
rates erstreben, zwecklos sein müssen,
nur die Rekonstruktion der vorderen
Bauchwand und des Beckenbodens
(Mastdarmvorfall) ist rationell. Operation
oder Bandagenbehandlung. Einfluß der
Spannungsverhältnisse und respirato¬
rische Schwankungen auf den Rückfluss
des Venenblutes begünstigend, ebenso
günstige Einwirkung körperlicher Tätig¬
keit als eine Art Massage auf den Darm.
Erschwerung des Stuhlganges und Urin¬
entleerung der Bettlägrigen. Je tiefer
beim Stehenden eine schwache Stelle der
Bauchwand liegt, desto stärker wird sie
belastet bei Entstehung von Brüchen.
Epigastrische Hernien bleiben klein,
Leistenhernien nehmen zu. Bauchnarben
im oberen Teil (Gallenblase) geben keine
Hernien, Unterbauchoperationen erfor¬
dern Rücksicht der Schnittführung auf
das Gewebe. Bei akuter Peritonitis ist
der Bauchdruck zunächst erhöht, da^
durch wird eine Blutüberfüllung im
Splanchnicussystem verhindert. Im
weiteren Verlauf tritt bei Spannungs¬
senkung die schädliche Blutüberfüllung
des Splanchnicussystem auf. Bei Er¬
schlaffung der Bauchwandmuskulatur
tritt notwendig zunehmender Meteorismus
auf, bei dessen weiterem Zunehmen kann
dann wieder passiv die Bauchdecke ge¬
spannt werden. Infolge meteoristischen
Zwerchfellhochstandes wird aber dabei
die Atmung behindert und damit der
Venenkreislauf schwer beeinträchtigt.
Spontanes Platzen der vorher durch
die spannende Baucliwand zusammen¬
gepreßten Därme bei Eröffnung des
Bauches bei Trommelbauch. Der ver¬
minderte Druck in der Zwerchfellkuppel
erklärt das Einströmen von Flüssigkeit
dorthin, die Neigung zur Infektion des
I subphrenischen Raumes. Operation bei
I Beckenhochlagerung läßt bei negativem
i Druck im Becken bei Eröffnung des
Peritoneums die Eingeweide nach der
Zwerchfellkuppel sinken.
An die Ausnutzung der verschie¬
denen Druck Verhältnisse durch Lagen-
Wechsel, wie Referent das im Zbl. f.
inn. M. 43/19 ausgeführt hat, wird nicht
gedacht. Man betrachtet immer wieder
eine einmal eingenommene Lage als un¬
veränderlich. Häufte (Wilmersdorf).
(B. kl. W. 1919, Nr. 51.)
Die Erfolge der Brustkrebsbehandlung
vor und nach Einführung-der prophy¬
laktischen Röntgenbestrahlung der
operierten Fälle bespricht Perthes. Die
allgemeine Anschauung geht heute da¬
hin, daß die Unterlassung der Nachbe¬
strahlung nach der Operation als Vor¬
wurf angesehen werden muß. Zur Prü¬
fung der Richtigkeit dieser Frage hat
Perthes die an der Tübinger Klinik
in den Jahren 1910 bis 1918 operierten
362 Patientinnen einer Nachuntersuchung
unterziehen lassen. Es gelang, über
355 Fälle zuverlässigen Aufschluß zu er¬
halten. Die Hauptergebnisse der Nach¬
untersuchung werden in der vorliegenden
Arbeit mitgeteilt. Das Material ist in
vier Gruppen getrennt. Gruppe 1 um¬
faßt diejenigen Fälle, welche nicht nach¬
bestrahlt worden sind. Es sind dies 130
Patientinnen aus den Jahren 1910 bis
1912. Von ihnen lebten nach drei Jahren
noch 50 = 38,5 %, nach fünf Jahren
noch 36 27 ,7 % ohne Rezidiv. Es
ist bemerkenswert, daß viermal der Ein-
I tritt des Rezidivs im sechsten Jahre nach
I der Operation beobachtet wurde. Zu
j einem späteren Termin wurden Rezidive
nicht mehr gesehen. — Gruppe 2 und 3
umfassen unzureichend bestrahlte Fälle.
In Gruppe 2 sijid 70 Fälle aus den Jahren
1913 und 1914 beschrieben, bei welchen
nach erfolgter Wundheilung nur eine
einmalige Bestrahlung der Narben an
der Brust vorgenommen wurde; Gruppe 3
120
Märr
Die Therapie der
umfaßt 74 Fälle aus den Jahren 1915
und 1916, bei denen mehrfache.Bestrah¬
lungen von Brust und Achselhöhle vor-
genommeii worden waren. Nach der heu¬
tigen Anschauung muß die angewendete
Strahlendosis als zu gering angesehen
werden. Rezidivfrei waren nach drei
Jahren 44 Fälle (30,5 %), nach fünf Jahren
12 = 20,3 %. Während unter Gruppe 1
im ersten Jahre Rezidive in 28 % auf¬
traten, haben wir bei Gruppe 2 und 3
die Zahl von 38,2 %; gegenüber 47,5 %
Rezidiven in den ersten drei Jahren unter
Gruppe 1 stehen 54,2 %. unter Gruppe 2.
Es ergibt sich also unzweideutig,
daß bei den unzureichend bestrahl¬
ten Fällen die Zahl der Rezidive
größer ist als bei Patientinnen,
die überhaupt nicht bestrahlt wor¬
den waren. Da eine Änderung des
Materials nicht eingetreten ist, kann nur
eine gewisse Reizwirkung der Röntgen¬
strahlen auf die Bildung der Rezidive als
ursächliches Moment angenommen wer¬
den. Nachbestrahlungen mit unzurei¬
chender Intensität stiften demnach eher
Schaden als Nutzen. — In Gruppe 4
sind die mit hohen Intensitäten nachbe-
strahlten 88 Fälle aus den Jahren 1917
und 1918 zusammengestellt. Die Technik
gestaltete sich derart, daß fünf Bestrah¬
lungen mit je vier Wochen Pause für
Brust, Achselhöhle und Oberschlüssel¬
beingrube gegeben wurden, bei Jeder
Sitzung drei Felder. Drei Monate nach
der letzten Bestrahlung Wiederholung,
welche je nach Lage des Falles alle
drei oder sechs Monate wiederholt
wurde. Da die Fälle für eine dreijährige
Kontrolle noch nicht weit genug zurück¬
liegen, kann nur über das Verhalten im
ersten Jahre berichtet werden. Danach
ergaben sich Rezidive in 41 %. Betrach¬
tet man die Rezidive durch Metastasen
ohne Lokalrezidive, so ergibt sich für
die vier Gruppen: Gruppe 1: 11 %,
Gruppe 4: 11 %, Gruppe 3: 14% und
Gruppe 4: 18%. Bei Intensivbe¬
strahlung-stehen demnach die Re¬
zidive im ersten Jahr überhaupt
an der Spitze gegenüber den an¬
deren drei Gruppen. Das Gesamt¬
ergebnis der Perthes’schen Untersu¬
chungen ist außerordentlich überraschend
und seine Worte verdienen vollste Bedeu¬
tung: „Von dem , Sieg der Röntgenstrahlen
über den Brustkrebs* (Loose) sind wir
also noch recht weit entfernt, und Sieges¬
fanfaren sollten nicht erschallen, ehe der
Frieden ratifiziert ist.** Da an der Ein-
Gegenwart 1920
...
wirkung der Röntgenstrahlen auf das
Krebsgewebe nicht zii zweifeln ist, müssen«
die beschriebenen schlechten Resultate*
der Technik zur Last gelegt werden und
es ist das Bestreben der Tübinger Klinik,
durch neue Apparate die Intensität der
Bestrahlung noch zu erhöhen. Nach wie
vor muß es das Bestreben des Chirurgen
sein, die Fälle möglichst früh zur Ope¬
ration zu bekommen, zeigten doch von
37 Kranken, welche im ersten Stadium
operiert wurden, nach drei Jahren nur
eine einzige Patientin ein Rezidiv, dem
sie zum Opfer fiel. Weitere Veröffent¬
lichungen über das Spätresultat der be¬
strahlten Fälle sind dringend erwünscht.
(Zbl. f. Chir. 1920, Nr. 2.) Hayward.
Die Aussicht, wieder zu solchen Er¬
nährungsverhältnissen zu kommen, wie
sie vor dem Kriege bestanden, ist zurzeit
noch äußerst gering. Jahre werden ins¬
besondere vergehen, bevor wieder das^
Fleisch als nennenswerter Eiweißträger
im Körperhaushalt des Einzelnen die frü¬
here Rolle spielen kann. Von großem
Interesse sind daher die Erfahrungen über
das Eiweißminimum der Nahrung, über
die Brugsch aus der Krausschen Klinik
berichtet. Die Voitschen Standard¬
zahlen galten vor dem Krieg auch für
die modernen Physiologen als Normal¬
werte und wurden in Theorie und Praxis-
fast allgemein der Ernährung zugrunde
gelegt; der Kostsatz von zirka 110 g Ei¬
weiß galt als das Eiweißminimum.
Nun zeigten die bekannten Versuche
von Chittenden, von Hindhede, von
Röse und Berg, daß es gelingt, auch
mit bedeutend geringeren Eiweißmengen,
selbst mit 40 bis 20 g, Menschen im. Stick¬
stoffgleichgewichte zu halten. Doch nicht
jedes Eiweiß ist für die Ernährung gleich¬
wertig; die Wertigkeit steht mit dem Bau
des betreffenden Eiweiß in Zusammen¬
hang, ist aber noch nicht mit Sicherheit
auf einen bestimmten Faktor zu beziehen.
Je höherwertig nun ein Eiweiß ist für
unsere Ernährung, um so kleiner ist das E^-
weißminimum, mit dem wir uns in Stick¬
stoffgleichgewicht setzen können. Von
höchster Wertigkeit ist das Eiweiß von
Kartoffeln, Reis, Eiern, Fleisch und Milch,
geringer das von Mais und Brot, am ge¬
ringsten das von Gemüse. Wenn es nun
auch gewiß möglich ist, sich mit einem
Eiweißm nimum zu erhalten, so genügt
dasselbe doch nicht, um auf die Dauer
den Anforderungen des menschlichen Le¬
bens gerecht zu werden; denn einmal ist
die Einstellung auf das Eiweißminimum
März
121
Die Therapie der Gegenvirart 1920
nur mit Verlust von Körpergewicht und
Körpereiweiß zu erreichen, andererseits
wird dadurch der Körper gewisser Resti¬
tutionsmöglichkeiten beraubt. Vergleiche
an Rekonvaleszenten aus den Jahren
1912/13, 1916 und 1919 ergaben, daß die
Kost von 1919 nicht mehr die Möglich¬
keit zu Körpergewichtsansatz bot, wohl
aber noch die Kost aus dem Jahre 1916,
obwohl letztere einen bedeutend niedri¬
geren Eiweißgehalt enthielt als die Kost
von 1913, nämlich etwa 61 g verdauliches
Eiweiß. Ein Wert von etwa 70 g resorbier¬
baren Eiweißes, der es Rekonvaleszenten
gestattet zuzunehmen, dürfte auch für
•einen Gesunden genügen, ja als Optimum
gelten, um ihm die Möglichkeit zu Ein¬
sparung in der Not zu geben. Wichtig
ist nur, daß die Kost calorisch ausreicht
>{zirka 3000 Calorien) und der Mischung
der Eiweißkomponenten nach zweck¬
mäßig ist und genügenden Sättigungs-
wert hat. Die Feststellung des Eiwei߬
minimums, das nicht absolut ist, sondern
für jedes Eiweiß in einem Nahrungsmittel
verschieden ist, hat nur ernährungs¬
physiologischen Wert, darf aber nicht
zur Leitlinie für die Ernährungseinstellung
im Sinne eines Kostsatzes dienen.
Regensburger (Berlin).
(D. m. W. 1919, Nr. 29.)
Bei der Behandlung der weiblichen
'Gonorrhöe mit schaumbildenden Stäbchen
hat Brauns nach seinen in der Universi
tätsklinik zu Heidelberg angestellten Ver¬
suchen keinen wesentlichen.Erfolg erzielen
können. Es ist bei der Beurteilung eines
neuen Heilverfahrens der Gonorrhöe Fol¬
gendes zu beachten: Wenn die entzünd¬
liche Abwehrreaktion des Körpers ab-
geklungen ist, werden keine Gonokokken
mehr mit dem Leukocytenstrom aus¬
geschwemmt; haben sich Körper und
■Gonokokken aneinander gewöhnt, so
bleiben die Gonokokken in den Schleim-
hautfältchen, besonders der paraurethralen
Gänge fest liegen, wodurch es zu einer
retenten Gonorrhöe kommt; hierdurch
häufen sich auch immer mehr die Schwie¬
rigkeiten behufs Diagnose und Therapie.
Für die Versuche wurden folgende Prä¬
parate genommen: Die Spuman- und
■Cholevalstäbchen, sowie die Gonostyli.
Brauns sieht sich so gezwungen,. von
dem bisherigen Spülverfahren nicht abzu¬
gehen und glaubt annehmen zu dürfen,
daß hierfür das Choleval in erster Reihe
in Anwendung kommen müsse, da das in
ihm enthaltene gallensaure Natrium im¬
stande ist, die Leukocyten aufzulösen und
die Gonokokken abzutöten,
Pulvermacher (Charlottenburg).
(Zschr.f. Bekämpf. d.Geschlechtskrkh. Nr. 1,1920.)
Die Heilung einer Lungeugangräti
durch Neosalvarsan schildert Groß
(Greifswald). Wie bei früheren Fällen
kommt auch bei diesem sehr ausge¬
sprochenen Fall einer akut entstandenen
Lungengangrän, bei der es zu einer großen
Höhlenbildung mit Plätschergeräuschen
und Auftreten von Spirochäten im Spu¬
tum gekom^ien war, durch zweimalige
intravenöse Salvarsaninjektion innerhalb
von zwei Monaten eine vollkommene Hei¬
lung erzielt worden. Dies dokumentierte
sich zunächst an dem Verschwinden
der elastischen Fasern und des fötiden
Geruchs aus dem Sputum, das allmählich
vollkommen verschwand. Bei der Auf¬
nahme zeigte das Röntgenbild im linken
Lungenflügel eine Höhlenbildung von der
Größe eines Kindskopfes, während bei
der Entlassung, abgesehen von der etwas
vermehrten Hiluszeichnung, ein völlig
normales Bild vorlag. Es ließ sich kom
statieren, daß die Verkleinerung der
Höhle und die Abnahme der Auswurf¬
mengen Hand in Hand gingen und ein¬
ander proportional waren. Ähnlich ver¬
hielt sich die Temperatur, die wenige
Tage nach der ersten Salvarsaneinsprit-
zung abfiel und dann nach geringen
Schwankungen zur Norm abfiel. (So schön
der Verlauf dieses Falles ist, so wird doch
auch hier die Frage nicht zu umgehen
sein, ob eine Heilwirkung des Salvarsan
oder nicht vielmehr eine Selbstheilung an¬
zunehmen ist. Die analoge Erörterung im
Therapeut. Meinungsaustausch dieses Hef-^
tes erscheint in dieser Beziehung sehr
lehrreich.) Raschdorff (Berlin).
(M. m. W. 1919, Nr. 32.)
Aus einem Falle plötzlichen Herztodes
durch Nekrose des Herzmuskels leitet
Grub er Stützen ab für die Rößle-Berg-
mannsche Hypothese von der nervösen
Entstehung des Magengeschwüres. Rößle
hat die Auffassung vertreten, daß schwere
örtliche Reizungen des Magendarmkanals
durch Reflexwirkung entstehen können
undDefektbildungen verursachen könnten,
vorausgesetzt, daß eine gewisse vagotoni-
s,che Disposition vorläge oder eine vago-
tonische Konstitution. Auch Bergmann
hält für das Ucus pepticum jene Menschen
besonders für disponiert, welche sich durch
eine Disharmonierung des visceralen Ner¬
vensystems auszeichneten. Nervös be¬
dingte Spasmen führen zu anämischen
16
122
Die Therapie der GegehWait 1920
März
Bezirken in der Magenwand und darauf
folgt als Ernährungsstörung die Erosion.
Reflektorische Hypersekretion' vermittelt
di'i Ausbildung des Ulcus. Grub er be¬
schreibt nun einen Fall eines früher stets
gesunden Epileptikers, der in der Aura
der wenigen Anfälle, die er überhaupt
hatte, die Symptome der Angina pectoris
bot. In einem echten Anfalle ging der
Mann zugrunde, nachdem er, mehrere
Tage von stenokardischen Beschwerden
und Ängsten geplagt das Kommen des
Anfalls vorausgesagt. D\% Obduktion
ergab einen kräftigen, anatomisch durch¬
aus gesunden Mann, der lediglich eine
ganz frische und umfangreiche Nekrose
des Herzmuskels im Gebiete der vorderen
Arteria coronaria descendens zeigte. Da¬
bei waren die Wände der Coronarien zart,
glatt und völlig durchgängig, wie die
großen und kleineren sonstigen 'Schlag¬
adern. Nirgends waren Thrombosen, nir¬
gends anderweitige Emboliequellen, nir¬
gends steckten Emboli. Es schien also die
Annahme berechtigt, daß hier ein Herz¬
arterienkrampf, bedingt durch centrale
Einflüsse, wohl angioneurotisch ver¬
mittelt, Anlaß zum schweren irreparablen
Herzschaden gegeben. Bleibt nur die Frage
übrig, warum solche Herznekrosen nicht
öftersbei Herztod ohnesklerotische und em-
bolische Veränderungen gefunden werden.
(M.m. W. 1919, Nr.35.) Raschdorff (Berlin).
Über Nearthrosen, besonders über solche
des Kniegelenkes und deren Behandlung
schreibt Bier. Die Veröffentlichung gibt
einen Vortrag wieder, den der Autor in der
Berliner Chirurgischen Gesellschaft gehalten
hat und reiht sich ein in die Studien
^Biers über-Regeneration, die in zwang¬
loser Folge in der Deutschen medizinischen
Wochenschrift zur Veröffentlichung gelan-
. gen. Die Bildung von beweglichen Ge¬
lenken ist durch die grundlegenden Ar¬
beiten Hciferichs zu einem praktisch
brauchbaren Resultat geführt worden. Der
Grundgedanke der Helferichschen Me¬
thode, die Zwischenlagerung von Weich¬
teilen zwischen die resezierten Knochen¬
enden hat eine Fülle von Abänderungs¬
vorschlägen erfahren, welche sich aber
lediglich auf die Art der zur Verwendung
gelangenden Weichteile erstrecken. Bier
glaubt, daß es möglich ist, die immerhin
komplizierten Methoden der Helferich¬
schen Plastiken durch einfachere Verfahren
zu ersetzen, womit bei verschiedenen Ge¬
lenken auch bessere Resultate erzielt
werden können. Er hat gefunden, daß
es weniger auf die Art des zwischen die
Knochen gelagerten Materials ankommt
wie vielmehr darauf, daß die durch die
Resektion'der Gelenkenden erzielte Lücke
zwischen den Knochen erhalten bleibt. Es
ist darum auf die erste Lagerung der
operierten Extremität nach der Operation
schon der größte Wert zu legen. Zur Er¬
zielung einer frühzeitigen Funktion muß
auch in den nächsten Tagen nach der
Operation schon mit dem Lagerungswechsel
der Extremität begonnen werden, wobei
darauf zu achten ist, daß die Lücke
zwischen den Knochenenden erhalten bleibt.
Für das Kniegelenk gestaltet sich das Vor¬
gehen folgendermaßen: Nach der Operation
(Resektion ohne Zwischenlagerung von
Weichteilen) wird das Gelenk in gebeugter
Stellung im Gipsverband verbunden. Nach
10 bis 14 Tagen, wenn die Wunde primär
verheilt ist, wird, eventuell im Ätherrausch,
das Gelenk gestreckt und zur Erhaltung
der Diastase zwischen den Gelenkenden
wird ein Streckverband angelegt wobei
sich die Drahtextension durch den Cal-
caneus bewährt hat Dann wird der
Stellungswechsel in immer schnellerer Folge
vorgenommen und nach vier Wochen ist
meist schon ein erheblicher Grad von ak¬
tiver und passiver Beweglichkeit erreicht
Ganz besonderer Wert ist noch darauf zu
legen, daß sich möglichst bald ein Schleim¬
beutel an den resezierten Enden bildet
Die Untersuchung eines mit Fascien-Fett-
lappen transplantierten Kniegelenks hatte
gezeigt daß sich aus diesem Material
Schleimbeutel gebildet hatten. An diesen
Stellen war das Transplantat bis auf eine
zarte, den Knochen deckende Haut voll¬
kommen verschwunden. Es ist aber nicht
nötig, wie Bier zeigt die Bildung dieser
Schleimbeutel durch Interposition von
Weichteilen zu erzielen, sondern es können
durch einfachere Verfahren die gleichen
Resultate erreicht werden. Nach der Reihe
kamen folgende Materialien zur Verwen¬
dung: Füllung der Lücke mit Blut mit
Blutserum, mit physiologischer Kochsalz¬
lösung, mit sterilisierter Gelatine. Es zeigte
sich, daß alle die genannten Materialien
zu Schleimbeuteln umgewandelt werden.
Für das Kniegelenk ist die Gefahr der
Infektion ganz besonders zu fürchten. Um
diese nach Möglichkeit auszuschalten,
wurde vor Einfüllung des Materials die
ganze Wundoberfläche mit Jodtinktur in¬
tensiv behandelt An den in der Arbeit
mit diesen Verfahren in 14 Fällen erzielten
Erfolgen wird die Brauchbarkeit der Me¬
thode im einzelnen dargetan. Hayward.
(Zbl. f. Chir. 1920, Nr. 1.)
123
MäVz DiB Therapie der Gegenwart 1920
’ Über einen klinisch und pathologisch¬
physiologisch- interessanten Fall ‘ von
Selbsthei lung eines in der Schwanger- '
Schaft entstandenen Nierenleidens durch
Entstehung einer Aorteninsuffizienz be¬
richtet Veil. Es handelt sich um eine
Frau, die während und in der Folge zahl¬
reicher Graviditäten die Erscheinungen
einer chronischen Nephropathie im Sinne
einer gutartigen Nierensklerose bot mit
stark erhöhtem Blutdrucke, verhältnis¬
mäßigreichlicher Albuminurie, Cylindrurie
und typischer Retinitis albuminurica.
Gleichzeitig bestand eine Endocarditis, die
zuerst Mitralklappensymptome machte,
später außerdem Aortenklappensym¬
ptome. Es zeigte sich nun, daß mit der
Entstehung und der stärkeren Ausbildung
des Aortenvitiums die Symptome der
Nephropathie allmälilich so zurückgingen,
daß man von einer Heilung sprechen
konnte; die Augenhintergrundsverände¬
rungen und damit die schweren Seh¬
störungen verschwanden vollständig, der
Urin wurde fast völlig eiweißfrei und
zeigte normalen- Sedimentbefund. Das
Befinden der Patientin war allerdings
durch den stark .zur Dekompensation
neigenden Zustand des Herzens bei zu¬
nehmender Dilatation zeitweise erheblich
gestört. Die Einwirkung der entstehenden
Aorteninsuffizienz auf das Nierenleiden
ist so zu denken, daß das diastolische
Zurückströmen des Bluts in den linken
Ventrikel eine Entspannung des peri¬
pheren arteriellen Kreislaufes durch Wir¬
kung auf die Widerstände in den Capil-
laren hervorrief und auf diese Weise in¬
folge Herabsetzung des diastolischen
Spannungszustandes im gesamten arte¬
riellen Gebiet angiospastische Zustände,
wie sie nach Volhärd für die Nephritis
und die Retinitis in Frage kommen, un¬
möglich gemacht wurden.
(M. m. W. Nr.33.) Regensburger (Berlin).
Über hysterische Simulation Ray-
näudscher Krankheit berichtet Sieben.
Es handelte sich um ein 19V2jähriges
Mädchen,' das wegen krampfähnlicher
Schmerzen im Daumen der rechten Hand
in Behandlung kam. Eine ^Wahrnehmbare
Veränderung war an dem Daumen nicht
vorhanden. An dieser Hand fehlte der
dritte, vierte und fünfte Finger, an der
linken Hand war nur noch der Zeigefinger
und die erste Phalanx des dritten Fingers
vorhanden. Es gab an, jedesmal, wenn es
diesen eigentümlichen krampfartigen
Schmerz in einem Finger verspüre, werde er
in kurzer Zeit weiß wie Wachs und sterbe
dann ab. Gewöhnlich müsse er dann
amputiert werden. Am anderen Tage
präsentierte es in der Tat einen völlig
nekrotischen rechten Daumen^ welcher
vollkommen weiß verfärbt und in seinem
Volumen etwas verringert war. An der
Übergangsstelle in das gesunde fand sich
eine'deutliche rote Demarkationslinie und
zahlreiche, parallele, ganz oberflächliche,
kaum wahrnehmbare Rillen, die circulär
um den nekrotischen Daumen verliefen.
Die Patientin gab an, daß auf diese Weise
ihr auch sämtliche Zehen abgestorben
seien. Auf Ermahnungen gab sie zu, daß
sie sich selbst die Verletzungen beige-
'bracht habe, indem sie einen dicken mit
konzentrierter Karbolsäure getränkten
Bindfaden um ihre Fmger und Zehen ge^
wickelt habe, um sie so zum Absterben
zu bringen. Der wichtigste Unterschied
von der Raynaudschen Krankheit war,
daß auf die regionäre Ischämie keine
Cyanose folgte, sondern daß erstere direkt
in das Stadium der Nekrose überging. Be¬
sonders zustatten kam der Kranken bei
ihrem Betrug ’ die anästhesierende Wir¬
kung der Karbolsäure.
(M. KI. 1919, Nr. 29.) Raschdorff (Berlin).
Zur Operation der intrathorakalen
Struma gibt Hartert einige beachtens¬
werte Winke. Eine ganz besondere
Schwierigkeit liegt bei der Entfernung
der Struma in der Luxation des oft weit’
in den Thoraxraum hineingewachsenen
intrathorakalen Abschnitts der Schild¬
drüse. Die Verhältnisse sind gelegentlich
derartig ungünstige, daß es nicht einmal
gelingt, ein stumpfes Instrument oder
gar den Finger neben den int-rathorakalen
Teil vorzuschieben, um ihn an die Wund¬
oberfläche zu bringen. In derartigen
Fällen bleibt nichts weiter übrig, als
durch eine ausgiebige Wegnahme des
Schlüsselbeins und Spaltung des Brust¬
beins einen genügenden Raum zu schaffen,
oder auch Teile des Manubrium sterni zu
res'ezieren. Naturgemäß wird hierdurch
der Eingriff erheblich kompliziert und
auch verlängert, was bei denjenigen Kran¬
ken, die mit großer Dyspnöe zu kämpfen
haben, nicht gleichgültig erscheint. Hier
hat sich Hartert dadurch,geholfen, daß
er einen dicken Seidenfaden oder einen
mit Kanülenband armierten Faden durch
die Substanz der Schilddrüse an der Stelle
hindurchführt, welche am Brustbeinrande
gerade noch zu erreichen ist. Durch Zug
an dieser Schlinge ist es jetzt möglich,
den intrathorakalen Abschnitt etwas
weiter hervorzubringen, sodaß eine neue
16^
124
Die Therapie, der Gegenwart 4920
derartige Schlinge angelegt werden kann.
Diese Manipulation wird so lange fort¬
gesetzt, bis der ganze Knoten vollkommen
lU'Xiert ist. Es gelang durch den be¬
schriebenen einfachen Handgriff auch in
denjenigen Fällen, in welchen der intra¬
thorakale Abschnitt nur durch eine
schmale Brücke mit dem übrigen Schild¬
drüsenanteil verbunden war, zum Ziel zu
kommen. Es bleibt dann, entsprechend
dem Umfange des Knotens, eine mehr oder
minder große Höhle nach dem Me.di-
astinalraume zu bestehen, deren wirksame
Drainage nicht möglich ist, da man nicht
vom tiefsten Punkt aus drainieren kann.
Diese Höhle unversorgt zu lassen, er- *
scheint gefährlich, da bei einer eventuellen
Infektion mit der« gefürchteten Medi-
astinalphlegmone zu rechnen ist. Deshalb
wird in der Tübinger Klinik die Höhle
durch Naht vollständig geschlossen. Natur¬
gemäß muß bei der Nähe der großen
Brustgefäße die Naht nur oberflächlich
und mit großer Vorsicht ausgeführt wer¬
den. Dann ist es aber auch möglich, die
ganze Strumawunde unter Vermeidung
jeder Drainage zu schließen.
Hayward.
(Zbl.f. Chir. 1919, Nr. 47.)
Mit Terpentineinspritzungen bei ent¬
zündlichen Adnextumoren hat auch
Fuchs gute Erfolge erzielt: in frischen
'Fällen mit großer Schmerzhaftigkeit und
gelegentlich sehr starken Blutungen
konnte in den meisten Fällen schnelle
Hilfe gebracht werden; schon nach der
zweiten Spritze nahmen die Schmerzen
erheblich ab, um bald ganz zu verschwin¬
den, so daß auf jegliches Narkoticum ver¬
zichtet werden konnte. Auch die Blu¬
tungen wurden in der günstigs4:en Weise
beeinflußt, so daß schon die nächste
Periode schwächer oder kaum noch ver¬
früht auftrat. Durch öftere Untersuchun¬
gen konnte festgestellt werden, daß große
Adnextumoren bis zwei Mannsfaustgröße
in wenigen Wochen bis auf Pflaumen¬
größe zurückgingen. Die Injektion muß
auch wie eine Art Stimulanz auf die
Frauen wirken, da sich der Appetit in
vielen Fällen auffallend behob. Dem¬
gegenüber half die Therapie bei ganz alten,
mehr schwieligen Fällen sehr wenig. Die
Behandlung selbst gestaltet sich ganz ein¬
fach: Es werden alle 4 Tage auch wäh¬
rend der Menses 0,5 ccm eines Gemisches
von 4,0 Oleum Terebinth. depurat., 0,2
Eucupin, 16,0 Oleum olivar, und zwar in
der hinteren Axillarlinie zwei Querfinger
unterhalb des Darmbeinkammes mit einer
M^rz
langen, nicht sehr starken Pravazkahüle
bis auf die Knochen eingestochen, in der
Tiefe deponiert.
Pulvermacher (Charlottertburg).
(Zbl.f. Gyn. 1920, Nr. 2.)
Mit Thelygan konnte Schlesinger
in einem Falle von Sterilität und Frigi-
^dität einen vollen Erfolg erzielen, wo eine
Dysfunktion der Ovarien vorjag. Die
Wirkung wird in folgender Weise erklärt:
Durch die Zuführung von Extrakten ver¬
schiedener innerer sekretorischer Drüsen-
Ovarien, Hypophyse, Schilddrüse und
Nebennieren, welche das Mittel enthält,
kommt es zu einer Vermehrung und Ver¬
änderung dieser im Blute kreisenden
Substanzen." Im Thelygan ist aber auch
Johimbin enthalten, welches die Geni¬
talien hyperämisiert p.und hierdurch zu
einer vermehrten Produktion' anregt.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(M. Kl. 1920, H. 2.)
In den letzten beiden Jahren ist eine
Reihe günstiger Berichte über das Fried-
tnannsche Tuberkuloseheilmittel bekannt
geworden. Demgegenüber ist allerdings
einzuwenden, daß nach der bisherigen
Art der Zuteilung des Mittels eine Samm¬
lung ungünstiger' Resultate nur schwer
beizubringen war. Um so bemerkens¬
werter ist eine neuerlich erschienene Ar¬
beit von Luise und Otto Bossert über
klinische Erfahrungen bei Kindern mit
chirurgischer Tuberkulose. Gerade auf
diesem Gebiet schienen bisher die Ver¬
hältnisse für das Friedmann sehe Heil¬
mittel besonders günstig zu liegen. Die
Autoren sind jedoch der Meinung, daß
verschiedene Mitteilungen der Kritik
nicht standhalten. Sie selbst haben alle
Kautelen angewandt, um ein einwand¬
freies Material zu erhalten, besonders ist
die Beobachtungszeit genügend lange aus¬
gedehnt worden. Ein günstiger Verlauf
konnte in sieben Fällen konstatiert wer¬
den, das heißt, die tuberkulösen Prozesse
kamen im Verlauf von zwei bis drei Mo¬
naten zur Ausheilung. Eine Überlegen¬
heit des Mittels gegenüber der Licht- und
Strahlentherapie konnten die Autoren
jedoch auch in diesen Fällen nicht fest¬
stellen. Zu bemerken ist jedenfalls, daß
die Abscesse bei Friedmannscher Be¬
handlung fast stets unter Fistelbildung
zum Durchbruch kamen, so daß zum
mindesten das kosmetische Resultat
schlechter war als oft bei der Strahlen¬
therapie. In weiteren sieben Fällen ist
ein leidlich günstiger Verlauf verzeichnet.
März
Die Therapie der Gegenwart 1920
125
Da es sich in dieser Kategorie um Besse¬
rungen handelt, die mehr oder minder
vollständig im Laufe von ein bis andert¬
halb Jahren eintraten, läßt sich nicht
entscheiden, ^ob hier der Erfolg wirklich
auf Rechnung des Friedmannschen
Mittels zu setzen ist. In acht Fällen blieb
der Verlauf unbeeinflußt; in drei Fällen
war die Beobachtung zu kurz. Ungünstig
war der Verlauf bei 15 Kindern, von denen
vier gestorben sind. Bei diesen Kindern
sind nach Injektion des Friedmannschen
Mittels zum Teil neue progediente Pro¬
zesse, 1 wie z. B. disseminierte Lungen¬
tuberkulosen oder Miliartuberkulosen, auf¬
getreten, die zum Tode führten, zum
Teil sind die alten Prozesse unaufhaltsam
fortgeschritten. Die Autoren wollen den
ungünstigen Verlauf in diesen Fällen nicht
mit dem Friedmannschen Mittel in
Verbindung bringen; zum mindesten ist
aber doch zu sagen, daß das Mittel nicht
imstande war, das Auftreten neuer Pro¬
zesse und Verschlimmerungen zu ver¬
hüten.
Überhaupt ist für die Beurteilung der
Heilwirkung wichtig, daß selbst in den
Fällen, in denen alte Prozesse zur Aus¬
heilung kamen, sich aus kleinen Herden
neue Erkrankungen entwickelten. Daraus
ist doch der Schluß zu ziehen, daß höch¬
stens das sinnfällige Merkmal der Krank¬
heit beseitigt wurde, aber nicht die
Krankheit als solche. Die Autoren kom¬
men denn auch in ihrer Zusammen¬
fassung zu dem Ergebnis, daß sie für eine
völlige Heilung der chirurgischen Tuber¬
kulose ^durch die Behandlung nach Fried¬
mann keine Stütze beibringen können.
Sie räumen der Bestrahlungs- und na¬
mentlich der Sonnentherapie, die oft
eine wirkliche Ausheilung des Organismus
bewirkt, nach wie vor den unbestrittenen
Vorrang ejn; auf das Friedmannsche
Tuberkuloseheilmittel glauben sie bei der
Behandlung der chirurgischen Tuber¬
kulose jedenfalls verzichten zu können.
Bloch (Berlin).
(M. m. W. 1919, Nr. 52.)
Im Anschluß än vorstehende Ausführungen sei
kurz über eine kleine Kontroverse berichtet, die
einen hübschen Beitrag zur kritischen Betrachtung
von Krankengeschichten liefert. Braun berichtet
über seine Heilung von tuberkulöser
Spitzenaffektion nach' einmaliger Injektion
von Friedmann 0,5 ganz schwach. Die Injektion
erfolgte im Juli, die ga;iz plötzliche Umstimmung
Anfang September. Als Zeuge wird der be¬
handelnde Arzt Dr. Ho Id heim angeführt, der
Ende September eine auffällige Besserung fest¬
stellte. Demgegenüber bemerkt Holdheim zu¬
nächst, daß der Patient inzwischen eine Liege¬
kur durchgemacht hatte, wovon Braun merk¬
würdigerweise nichts . erwähnt, Holdheim ist
der Meinung, daß der Prozeß uhd die Kon¬
stitution des Kranken solcher Art waren, wie sie
oft einen spontanen glücklichen Ausgang ermög¬
lichen. Er kann aus seiner Beobachtung des Falles
einen Beweis für die Heilwirkung des Fried¬
mannschen Mittels nicht h^leiten.
Bloch (Berlin).
(D. M. W. 1920, Nr. 2.X
Die wiederholt neuerdings aufgewor¬
fene Frage nach Verstaatlichung der
Heilbehandlung veranlaßt auch Med.-
Rat Dr. Grassl in Kempten,Jn bemer-'
kenswerten Äußerungen hierzu Stellung
zu nehmen. Wenn der Ruf nach Unent¬
geltlichkeit der ärztlichen Hilfeleistungen
einschließlich'Geburtshilfe und der Heil¬
mittel Erfüllung erlangte, so würde da¬
durch nicht nur der Staatssäckel eine un¬
geheuere Belastung erfahren, sondern —
was wohl sehr viel schlimmer wäre — es
würden auch alle lebenswichtigen Fak¬
toren schwer geschädigt, und zwar nicht
nur in bezug auf den praktischen Arzt,
sondern vor allem hinsichtlich der hei¬
lungsuchenden Bevölkerung. Von alters
her hat der Priester dank dem Vertrauen,
welches er beim Volke genoß, sich der
Heilbehandlung seiner Untertanen ge¬
widmet; er, der die Gemütstiefen seiner
Bevölkerung kannte und zu erfassen
wußte, vermochte unbedingt seinem Ein¬
fluß Geltung zu verschaffen. Auch der
Arzt bedarf dieses Vertrauens, soll er mit
Erfolg seine Kranken behandeln. Ver¬
staatlichung der Heilbehandlung muß
aber zur Schematisierung führen, wobei
die Qualität weit hinter der Quantität
Zurückbleiben dürfte, mithin die ärztliche
Kunst nur Schaden nehmen würde. Die
geplante allgemeine Volksversicherung
muß und wird von solchen Folgen be¬
gleitet sein. Auf keinen Pall darf auf das
Prädikat billig und schlecht die deutsche
medizinische Wissenschaft abgestimmt
werden, sondern viel mehr noch wie voi-
dem zugunsten der Gesamtbevölkerung
weiteren Aufstieg zu erwirken suchen.
Waldschmidt.
(Öffentl. Gesundheitspfl. 1919, Nr. 4.)
Wichtiges und Neues über die Patho¬
genese und Behandlung des Wundliegens
bringt eine Abhandlung von Prof. Wie-
ting. Seine Untersuchungen ergaben, daß
die Drucknekrose sich nicht von außen
nach innen, sondern von innen nach außen
entwickelt. Die normale Haut ist gegen
äußere Reize ziemlich widerstandsfähig;
erst tiefe Störungen, besonders Ernäh¬
rungsstörungen können Nekrosen der
Haut herb eiführen, und zu solchen kommt
126
/
Die Therapie der. Gegenwart 1920
März
£s infolge der durch Druck verursachten
Gefäßabsperrung, die die empfindlichen
subcutanen und tieferen Gewebe bis zu
den Muskeln anämisiert. Deren Nekrose
geht der Hautnekrose voran. Durch den
Druck können größere zuführende Ar¬
terien gedrosselt werden, was dann be¬
sonders am Gesäß zu keilförmigen Tief¬
nekrosen führt; es kann aber auch durch
direkten Druck eine Gewebsschädigung
hervorgerufen werden, allerdings stets
auf dem Umwege der Ernährungsstörung
durch Schädigung der empfindlichen Ele¬
mente, der Gefäße und ihrer Nerven. Ein
Ausdruck der Schädigung der Gefäßinner¬
vation, der Gefäßparalyse ist die dem De¬
cubitus vorausgehende Rötung. Solche ge-
fäß paralytischen Stellen sind nicht wieder
zu aktiver Hyperämie zu bringen und von
den Hilfsmitteln der örtlichen Waschun¬
gen, der Salbenverbände usw. darf man
sich nicht zuviel versprechen. Das einzige
wirksame Mittel ist die Prophylaxe durch
Entlastung. Wieting unterscheidet
druckverteilende, druckaufhebende und
druckentlastende Mittel. Zu den ersteren
gehören weiche Unterlagen, Kissen, be¬
sonders Wasserkissen; druckaufhebend
wirkt das Dauerwasserbad, das sehr zu
empfehlen ist, allerdings ebenso wie die
druckverteilenden Mittel bei manchen
Verletzungen, wo man sie gern anwenden
möchte, wie komplizierten Oberschenkel¬
verletzungen, kaum anzuwenden ist. In
der Wirkung grundsätzlich verschieden
sind die druckentlastenden Mittel be¬
ziehungsweise Luftringe, die den Druck
von den kranken Stellen fortnehmen und
ihn auf minder gefährdete übertragen.
Die den Druck aufnehmenden Stellen
sind dabei nicht ungefährdet und es muß
jedesmal anatomisch-physiologisch über¬
legt werden, wie die Entlastung am besten
geschieht. Ein wichtiges druckentlasten¬
des Mittel ist die Schwebelagerungssuspen¬
sion.
Wieting betont besonders die Be¬
deutung der genauen Kenntnis der Kran¬
kenpflege für das Handeln des Arztes und
fordert, daß derselben im medizinischen
Unterricht besondere Aufmerksamkeit ge¬
schenkt werde.
Regensburger (Berlin).
(D. m. W. 1919, Nr. 48.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Die Selbstheilung des Lungenabscesses.
Von Sanitätsrat Dr. H. Schulze, Alterode (Ostharz).
ln Nr. 2 dieser Zeitschrift las ich den
Schriftsatz von Dr. Hirsch über Behand¬
lung des Lungenabscesses usw. mit Sal-
varsan. Ich halte die Schlußfolgerung des
Autors betr. der Wirksamkeit des Salvarsans
bei diesen Krankheitsfällen, namentlich
bei der geringen Anzahl von Fällen, für
sehr gewagt und in majorem Salvarsani
gloriam. Die ganze ärztliche Kritik leidet
unter so wenig begründeten Schlu߬
folgerungen von seiten einer medizinischen
Klinik.
Ich verfüge zufälligerweise aus meiner
eigenen Praxis über drei dieser seltenen
Fälle. Alle drei Fälle entstanden im An¬
schlüsse an eine Pneumonie. Alle drei
Fälle heilten spontan in kurzer Zeit aus
durch Expektoration größerer Eitermengen
und entfiederten sich in wenigen Tagen.
Die drei Fälle liegen 5, 6 und 10 Jahre
zurück, leben noch und sind gesund. Ich
weiß sehr wohl, daß der gewöhnliche Ver¬
lauf des Lungenabscesses in den meisten
Fällen ein anderer ist. Ich möchte aber
gerade diese meine Erfahrungen mitteilen.
um damit zu bezeugen, daß die Beobach¬
tungen des Dr. Hirsch nichts beweisen.
Natürlich verfügt der praktische Land¬
arzt nicht über Archive mit Kranken¬
geschichten. Derartige seltene Krankheits¬
fälle mit abnorm gutem, spontanem Ver¬
laufe behält aber jeder Arzt deutlich im
Gedächtnisse für alle Zeiten.
Fall I. Tischlermeister, zirka 32 Jahre alt. Sonst
gesund, besonders kräftig, aber sehr schwerer Epi¬
leptiker. Erkrankung an croupöser Pneumonie.
Verlauf bis zur Krisis als Schulfall. Abweichend
von der Norm nur, daß der Kranke bei Tempe¬
raturen über 39® doppelt so viel feste Nahrung
jeder Art zu sich nimmt, wie in gesunden Tagen.
Es ist dieses der einzige derartige Fall, den ich in
30jähriger ärztlicher Tätigkeit bei höher Fiebern¬
den beobachtet habe. Nach der Krisis bleiben un¬
regelmäßige Temperaturen zurück. Eine umschrie¬
bene, kleinhandtellergroße runde Dämpfung am
oberen Rande des linken Unterlappens ist deutlich
abgrenzbar. Diagnose: Lungenabsceß. Consilium
mit dem Oberarzte des Krankenhauses zu Aschers¬
leben, der meine Diagnose bestätigt und zur Über¬
führung in das Krankenhaus räU Bei meinem
Besuche am nächsten Tage während meiner Unter¬
suchung plötzlich starker Hustenanfall und Ex¬
pektoration eines großen Tassenkopfes voll pus
bonum et laudabile. Sofortiges Verschwinden der
Die' Therapie |der Gegenwart 1920
127
März
Dämpfung, andauernd normale Temperatur, bis
heute gesund geblieben.
Fall II. Älterer Lehrer, zirka 53 Jahre, kräftig,
gut genährt, sonst immer gesund gewesen, bis auf
nervöse Schlafstörung. Erkrankt unter den Er¬
scheinungen der sogenannten chronischen Pneu¬
monie. Keinerlei stürmische Erscheinungen, Die
Temperaturen bewegen sich zwischen 37 und 38,5°,
keinerlei Dämpfung. Weitverbreitete, über sämt¬
liche Lungenflügel verteilte grobe und mittlere
Rasselgeräusche. Sputum gelblich-weiß, nicht
übermäßig reichlich. Das Allgemeinbefipden wird
nicht erheblich gestört. Puls dauernd gut. Die
Genesung zieht sich in die Länge, die Krankheit
„versumpft", Temperaturen vorwiegend normal,
durchschnittlich aber jeden zweiten Tag eine Er¬
hebung bis 38°. Ich vermute Empyem. Consilium
mit San.-Rat Dr. H. und Probepunktion an ver¬
schiedenen Stellen, die keinerlei Eiter oder Exsudat
zutage fördert. Ich bleibe trotzdem der Ansicht,
daß irgendwo fein Eiterherd in der Lunge sein
müsse, keinerlei Therapie außer kräftiger Ernäh¬
rung. In der fünften Woche nach der Erkrankung
spontane Expektoration großer Mengen dünnen,
gelben Eiters ohne Mühe und ohne Qual des'
Patienten. Täglich wenigstens drei Nachtgeschirre
voll. Nach zirka acht Tagen Lungen gesund. Tem¬
peratur andauernd normal, keinerlei percutorische
und auscultatorische abnorme Befunde, schnelle,
vollständige Genesung. Der Patient lebt heute
noch, ist völlig gesund geblieben und treibt nach
seinem Abschiede aus dem Lehrerberufe (dis¬
ziplinarisch pensioniert) mit gutem Erfolge aktive
Landwirtschaft.
Fall III. Zarter Knabe, 10 Jahre alt. Croupöse
linke Pneumonie, die sich zögernd löst. Appetit
schlecht, der Kräftezustand wird immer geringer,
Eiterfieber. Nach zirka 14 Tagen kündige ich die
Probepunktion an, da ich an Empyem 'denke.
Die Familie und das kranke Kind sind deswegen
in hochgradigster Erregung. Infolge starker Unruhe
des Kindes bei der Punktion (ohne Assistenz)
kommt die Nadel viel tiefer in die Punktionsstelle
wie beabsichtigt. Sofort starker Hustenreiz und
Aushustep von etwa einem Tassenkopf gelben
Eiters. Die Nadel wurde sofort ohne Probepunktion
herausgezogen. Etwa noch eine Woche lang Aus¬
husten mittlerer Mengen von Eiter. Genesung.
Das Kind lebt heute noch und ist gesund geblieben.
Auch ohne Röntgenbild und die feineren Hilfs-
• mittel der Klinik ist wohl nach dem Verlaufe die
Diagnose der drei Fälle sichergestellt. Besondere
therapeutische Maßnahmen wurden in allen drei
Fällen nicht angewendet. Daß der günstige Ver¬
lauf dreier solcher Krankheitsfälle in der Praxis
eines einzelnen Arztes eine vielleicht einzig da¬
stehende Tatsache ist, ist mir bewußt. Auffällig
ist in allen drei Fällen der verhältnismäßig weit
schnellere Verlauf der Genesung wie der von Dr.
Hirsch veröffentlichten, die mit Salvarsan be¬
handelt wurden. Ich persönlich kann mir auch
eine Beeinflussung eines in der Lunge abgekap¬
selten Eiterherdes durch Salvarsan nicht vor¬
stellen.
Über die Bewertung von Arzneiwirkungen,
im besonderen bei Lungenabsceß.
Von G. Klemperer.
Wir dürfen dem Verfasser des vor¬
stehenden Artikels, Herrn San.-Rat Dr.
Schulze (Alterode), dankbar sein, daß er
wieder einmal das kritische Gewissen der
Ärzte geschärft hat in einer Frage, welche
für unsere gesamte Tätigkeit von so großer
Bedeutung ist. Beweist die Heilung einer
Krankheit nach der Anwendung eines
Heilmittels auch wirklich den Heilwert
dieses Mittels? Und soll der Arzt ein
Heilmittel als wirksam anerkennen und
seinerseits in Krankheiten anwenden,
weil dies Heilmittel sich anscheinend er¬
folgreich bewiesen hat, wenn es doch fest¬
steht; daß dieselbe Krankheit auch ohne
Anwendung dieses Mittels zur Heilung
kommen kann?
Diese Fragen stellen, heißt sie beant¬
worten. Aber die Erfahrung aller Zeiten
und ganz besonders die Erlebnisse der letz¬
ten Tage beweisen, wie sehr die Suggestiv¬
kraft eines anscheinenden Heilerfolges ge¬
eignet ist, die Kritik einzuschläfern. Wie
wäre es z. B. sonst möglich, daß Schild-
kröten-Tuberkelbacillen als wirkliches
Heilmittel gegen Lungentuberkulose an¬
erkannt werden, deswegen, weil eine
gewisse Anzahl von Lungentuberkulosen
nach Einspritzungen der Schildkröten¬
bacillen zur Heilung gekommen ist? Wer
den natürlichen durch Heilmittel unbe¬
einflußten Verlauf der Tuberkulose eini¬
germaßen kennt, muß doch fordern, daß
eine sehr große Anzahl von beginnenden
Phthisikern, wahllos mit dem neuen Mittel
behandelt, ohne Ausnahme zur Heilung
kommt, ehe von einer Anerkennung des
neuen Mittels ^ die Rede sein kann. Wie
weit manche Ärzte von dieser Kritik ent¬
fernt sind, zeigt die neuerliche Mitteilung
eines Kollegen^), der das Inaktivwerden
seiner eigenen tuberkulösen Spitzen¬
erkrankung ohne Weiteres auf das Fried-
mannsche Mittel bezieht, während er
sich doch gleichzeitig einer hygienisch¬
klimatischen Kur unterzogen hat.
Die therapeutische Publizis'cik hat vor
allem die Pflicht, immer wieder auf die
Notwendigkeit strenger Kritik in der
Bewertung neuer Heilmethoden hinzur
weisen. Aus diesem Grunde möchte ich
mich den dankenswerten Ausführungen
Schulzes noch besonders anschließen.
Die Anwendung des Salvarsans als an-
1) D. m. W. Nr. 2. Vgl. die Referate auf S. 124
und 125 in diesem Heft.
128 '
* • * 7
Die Therapie der Gegenwart 1920
März
gebliches Heilmittel gegen Lungenabsceß
ist ein Schulfall für die Bewertung von
Arzneiwirkungen. Wenn man sich gegen¬
wärtig hält, daß der Lungenabsceß in
zahlreichen Fällen, oft nach langwierigem
erschöpfenden Verlauf; unverhofft und
plötzlich durch Aushusten des Eiters zur
Heilung kommt, wird man sich hüten,
ein Arzneimittel als Heilmittel des Lun-
genabscesses zu empfehlen, weil nach
seiner Anwendung die heilbringende Eiter¬
entleerung stättgefunden hat. Ich könnte
aus der eigenen Erfahrung mehrere Fälle
anführen, in denen analog den Schulze-
schen Fällen Selbstheilung von Lungen-
abscessen stattgefunden hat, Fälle, in
denen auch durch die Röntgenplatte die
klinische Diagnose gesichert worden ist.
Ich möchte aber vorziehen, einen histori¬
schen Zeugen zu zitieren, dessen Kompe¬
tenz unbestritten sein dürfte. In einem
im Jahre 1877 gehaltenen Vortrag „über
Lungenabsceß*'^) erörtert E. Leyden, der
Volkmanns klinische Vorträge, Innere Me¬
dizin II, Nr. 114 und 115. Sehr lesenswert sind
die ausführlichen Krankengeschichten, die dem
Vortrage beigefügt sind. Die eine (F. R., stud.
med., 19 Jahre alt, rezipiert am 4, November auf
der Medizinischen Klinik zu Straßburg. Diagnose:
Lungenabsceß infolge von Pneumonie) betrifft
den vor kurzem verstorbenen Ordinarius der
physiologischen Chemie, Prof. Fr. Röhmann in
Breslau, der durch die Eindrücke seiner schweren
unvergessene Meister der'inneren Klinik,
in durchsichtiger Klarheit Entstehung
und Verlauf der Krankheit; er kommt zu
dem Resultat, „daß die Heilung des Lun-
genabsceses nichts Ungeiyöhnliches ist“.
Die Therapie besteht in hygienischer und
roborierender Behandlung, ,,unter wel¬
cher, wie die Erfahrung lehrt, die Reini¬
gung und Verheilung von Abscessen und
Ulcerationen am besten vor sich geht“.
Als Arzneianwendung empfiehlt Leyden
die Inhalationen von Terpentin usw., da¬
neben Chinapräparate und Eisen. ,»An¬
dere Mittel, welche speziell verheilend
auf die Ulceration wirken könnten, ver¬
dienen nicht gerade viel Vertrauen.“
Was Herr Schulze in seiner Mittei¬
lung sagt, deckt sich mit dem Sinne der
Leydenschen Worte. Ich glaube, daß
diese Diskussion weit über den Einzelfall
hinweg von Bedeutung ist. Es ist erfreu¬
lich, daß aus dem Kreise der Ärzte die
Reaktion gegen unkritische therapeutische
Empfehlung sich geltend macht. Es ist
zu hoffen, daß durch das kritische Ver¬
halten der Ärzte auch andere un¬
genügend begründete Heilmethoden
auf ihren wahren Wert zurückgeführt
werden.
Krankheit dem Studium der Medizin gewonnen
wurde.
Zur Technik der
Von Oberstabsarzt Dr.
Man nehme eine Rekordspritze mit
scharf geschliffener, sehr feiner, nicht zu
kurzer Kanüle, befreie sie durch Hin- und
Herbewegen des Kolbens von dem zur
Desinfektion vorher eingezogenen Spiritus,
ziehe dann das Solarson aus der Ampulle
in die Spritze herein und entferne alle
Luftblasen.
Dann schleudere man die Spritze nach
Hautdesinfektion bis zum Fuß der Kanüle
in die Adductorenmuskulatur des Ober¬
schenkels und spritze den Inhalt langsam
heraus. Der Patient sitzt oder liegt dabei
mit nach außen rotiertem Bein.
Wer die Injektionen in dieser Weise
macht, erspart den Kranken Schmerzen
und sich selbst die Enttäuschung, daß
Einspritzungen nicht vertragen werden.
Ich habe bei keinem der zahlreichen
Kranken, denen insgesamt viele Hunderte
von Solarsoneinspritzungen gemacht wur-
Solarsontherapie.
K. Gerönne, Potsdam.
den, irgendwelche wesentlichen Be¬
schwerden — leichtestes, schnell vorüber¬
gehendes, wahrscheinlich auf Eindringen
von Spiritus in den Stichkanal zurück¬
zuführendes Brennen in seltenen Fällen
ausgenommen — erlebt, insbesondere aber
jegliche Anschwellung und länger dauernde
Schmerzen vermieden. Das traf auch ins¬
besondere bei mehreren Kranken zu,
welche mir auf meinen Vorschlag einer
Solarsonkur erklärt hatten, sie vertrügen
das Mittel nicht, da der früher unter¬
nommene Versuch einer derartigen Be-
handluirg wegen zu starker Beschwerden
aufgegeben werden mußte.
Da mir seitens der Farbenfabriken
Bayer & Co., Leverkusen, mitgeteilt ist,
daß einige Ärzte lästige Beschwerden bei
der Solarsonbehandlung beobachtet haben,
bin ich der Anregung gefolgt, die von mir
seit langem geübte Änwendungsweise be¬
kanntzugeben.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr.G. Kl em per er in Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg
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Nachdruck verböten.
Die physiologischen und pathologischen Blutungen aus
den weiblichen Genitalien, ihre Entstehung und Behandlung^).
Von A. Döderlein in München.
Anatomische, klinische, serobiologi- ■
sehe, chemische und experimentelle For¬
schungen haben in mühevoller, aber
fruchtbarer Arbeit ganz neues Licht auf
jene Erscheinung im weiblichen Körper
•geworfen, die schon in ihrem gesundheits¬
mäßigen Auftreten so vieifach an das
Krankhafte streift, unter den Krank¬
heitssymptomen der weiblichen Genital-
Organe aber die erste Stelle einnimmt,
die Blutung.
Sonst herrscht der Schmerz als Wäch¬
ter der Gesundheit. Bei vielen gynäko¬
logischen Erkrankungen führt dessen Be¬
achtung aber nur irre, weil seine Lokali¬
sation so leicht wegen der gerade inner¬
halb der Genitalsphäre so außerordent¬
lich großen Ünterschiede in der Empfind¬
lichkeit falsch orientiert wird und die
gynäkologisGhe Diagnostik, soll sie nicht
•selbst Schmerz erregen, eine Schonung
und technische Fertigkeit im Untersuchen
erfordert,'die nur der Geübte beherrschen
kann. Durch das Vorherrschen der ;
•Blutung, einer so augenfälligen Erschei- ;
nung, als Krankheitszeichen ist nun auf
der einen Seite eine gewisse diagnostische
Erleichterung gegeben, andererseits aber
hat dies zur Folge, daß dieses Symptom
den allerverschiedenartigsten Leiden zu¬
kommt, und nirgends ist eine schematische,
symptomatische Behandlung, wie etwa die
Verordnung blutstillender Tropfen, die
nicht auf einer ganz genauen Diagnose
^aufgebaut ist, verkehrter als hier. Kausal¬
therapie zu üben, hat aber zur Voraiis-
setz^ung, daß wir über die zugrunde¬
liegenden Leiden und die aus ihnen her¬
vorgehenden Quellen der Blutung wohl
unterrichtet sind.
Den Ausgangspunkt für die richtige
Deutung einer Genitalblutung bildet die
Unterscheidung zwischen menstruellen
und anderweitigen Blutungen, auf die
besonders die Frauen selbst so wenig
Gewicht legen, sind sie doch von Jugend
auf und bis in das spätere Leben hinein zu
1) Fortbildungsvortrag, gehalten am 29. Fe¬
bruar 1920 im Ärztlichen Verein Augsburg.
sehr an diese natürliche Erscheinung ge¬
wöhnt. ^ Der richtige, ungestörte, und un-
merkliche Ablauf der Menstrualblutung
hängt von so vielen Umständen ab und
erfordert ein so feines Zusammenwirken
der verschiedenartigsten Faktoren im
weiblichen Körper, daß es uns nicht
wundernehmen kann, daß ihre Wieder¬
kehr, ihre Dauer, ihre Stärke und vor
allem auch ihre Schmerzlosigkeit wohl
bei jeder Frau einmal im Leben oder auch
regelmäßig in Unordnung gerät, heißt
doch in der Umgangssprache aller Völker
die Menstruation das ,,Unwohlsein“. Diese
Entartung vermögen wir nur dann rich-
,tig zu verstehen und zu deuten, wenn wir
den normalen Ablauf dieses physiolo¬
gischen, aber so verwickelten Vorgangs
kennen.
Die Menstruation ist die. Folge der
Ovulation, eine alte Binsenwahrheit, über
die man sich keine Gedanken mehr
machte, und doch ist es, wenn man den
zeitlichen und ursächlichen Beziehungen,
dieser beiden Vorgänge nachgeht, bis'vor
kurzem ein viele ungelöste Rätsel ent¬
haltendes Problem gewesen. Um so
erfreulicher ist, .daß nun durch das In¬
einanderarbeiten der verschiedenartig¬
sten Zweige naturwissenschaftlicher For-
schungea eine ganz andere, aber viel ein¬
leuchtendere Klärung gefunden werden
konnte. Es ist das große Verdienst von
L. Fränkel, zuerst die alte Lehre err
schüttert zu haben, daß die Ovulation
mit dem Beginn der Menstruation zu¬
sammenfällt und. die Ausstoßung des Eies
das auslösende Moment dazu darstellt.
Durch seine an operativ entfernten Ova¬
rien und bei Tieren gemachten Forschun¬
gen, die dann durch die ausgezeichneten
und eingehenden Arbeiten von R. Schrö¬
der ergänzt wurden, darf nun unter
gleichzeitiger Berücksichtigung der wich¬
tigen Arbeiten von Halb an und Köhler,
-Adler, .Seitz und Wintz, R, Meyer,
Reusch u. a. als feststehend erachtet
’werden, daß die Ovulation, nicht zeitlich
mit der Menstruation zusammenfällt,
17
130 Die Therapie der Gegenwart 192Ö April
sondern etwa in der Mitte des Intervalls
erfolgt; über den genauen Tag'gehen die
Anschauungen noch ziemlich auseinander.
Mit dieser Zeitverschiebung, ist nun auch
eine vollständige Änderung unserer An¬
schauungen über die kausalen Zusammen¬
hänge gegeben und zugleich über die da¬
mit eng zusammenhängende Frage über
ihre Stellung zur Conception verknüpft.
Kurz zusammengefaßt, stellen wir uns
jetzt diesen Vorgang folgendermaßen vor:
•bas zehn bis vierzehn Tage vor der,
•Periode ausgestoßene Ei wandert durch
die Tube und harrt dort seiner eventuellen
Befruchtung. Das aus dem Graafschen
Follikel dieses Eies hervorgegangene Cor¬
pus luteum macht während der Zeit
dieser Wanderung des Eies unter leb¬
hafter Wucherung seiner hochdifferen¬
zierten Zellen ein zwar kurzlebiges, aber
um . so intensiveres Blütestadium durch,
und die von ihm gebildeten endokrinen
Stoffe rufen die prämenstruelle Kon¬
gestion und Hyperplasie im Uterus her-
-vor, die man fälschlicherweise solange als
pathologische endometritische Wuche¬
rungen aufgefaßt hat, bis es den Wiener
Forschern Hitschmann und Adler ge¬
lang, diese Annahme umzustürzen. R.
Schroeder zeigte dann, daß gerade in
den der Menstruation vorhergehenden
Tagen die Uterusschleimhaut eine eigene
funktioneile Schicht aufbaut, eine Art
Decidua menstruationis, die für den Fall,
daß das Ei inzwischen befruchtet wird,
der Vorbote für die Decidua graviditatis
-wäre. Die Hormone des Eies selbst, wie
besonders die des Corpus luteum, be¬
reiten so für den Fall einer Befruch-
•tung den Mutterboden zum Empfang des
Eies vor. Dies die Bedeutung der durch
-die innersekretorischen Kräfte erzeugten
Blutfülle, Schwellung und Quellung der
Genitalien, besonders der Uterusschleim¬
haut.
Wird das Ei nicht befruchtet, so be¬
deutet der Eitod den Zusammensturz
dieser nunmehr zwecklos gewordenen Vor¬
bereitungen, die funktionelle Schicht der
Uterusschleimhaut zerfällt. Mit der Zer¬
störung dieser Masse brechen auch die
reichlich entwickelten kongestionierten
Capillaren zusammen und es ergießt sich
mit dem daraus entströmenden Blut der
Zelldetritus, vermischt mit besonders gear¬
teten Stoffen, die die Gerinnungsunfähig¬
keit des Menstruationsbluts bewirken.
Das Corpus luteum bildet sich rasch zu¬
rück, während es im Falle der Conception
als Corpus luteum verum ein für lange
Zeit persistierendes Gebilde von , nicht
unbeträchtlicher Größe und lebhafter
innersekretorischer Tätigkeit bleibt, was
für den Ablauf der Schwangerschaft und
die begleitenden Erscheinungen gewiß
von größerer Bedeutung ist, als man
bisher angenommen hat.
Der Eitod ist das Primum movens in
der Reihe dieser Erscheinungen. Er gibt
den Befehl zur Umbildung des Corpus
luteum, dess^en Stoffwechsel nun ins
Gegenteil umsbhiägt. Seitz, Wintz und
F>ngerhut konnten in dem gelben Kör¬
per des Kuhovariums Stoffe nachweisen,
die zu den Lecithalbuminen gehören, von
ihnen Lipamin benannte Lipoproteide
darstellen, die die Hyperämie und Schwel¬
lung des Uterus beim Tierexperiment in
markanter Weise förderten, alles Folge¬
zustände, die für die Vorbereitung zur
Conception dienen, aber auch wichtige
therapeutische Perspektiven eröffnen.
Nach Umschaltung des Stoffwechsels
treten dann an ihre Stelle Luteolipoide,
die antagonistisch wirken, die Blut-
gerinnug beschleunigen und nicht dila-
tierend, sondern vasoconstrictorisch die
Genitalien beeinflussen. Solchen Stoffen
käme dann die therapeutische Wirkung
der Verminderung der menstruellen Blu¬
tung zu. Andere, ebenfalls den Lipoiden
zugehörige . Stoffe stellten Iscovesco,
Fellner und Herrmann dar, die als
Veroglandol und Lpteoglandol bereits im
Handel sind.
Wie ganz anders paßt in unser natur¬
wissenschaftliches Denken für. die Fort¬
pflanzung der Aufbau dieser Lehre, wie
harmonisch gliedert sich eines in das
andere, entgegen dem bisherigen Wirr¬
warr. Fiele der Austritt des Eies mit
dem Beginn der Menstruation zusammen,
wie man dies bislang glaubte, dann wäre
es ganz unverständlich, welchen Zweck
die prämenstruellen Veränderungen, die
ja dann auch präovuläre wären, haben.
Die Befruchtungsmöglichkeit fiele dann
zusammen mit der Zerstörung der
Schleimhaut, wo sie gewiß am ungeeignet¬
sten zur Einbettung' wäre; aber auch
nach der Menstruation würde die Con¬
ception ganz widersinnig erscheinen, denn
da ist ja die Schleimhaut ausgeblutet,
saft- und kraftarm. Nach dem menstru¬
ellen Zerfall der Funktionsschicht bleibt
nur eine 1 mm dicke Basalschicht (R.
Schroeder) zurück, aus der sich die
neue, zunächsL'noch dünne und blutarme
Schleimhaut regeneriert, und das Corpus
luteum, dessen Tätigkeit wir nun so sehr
April Die Therapie der
zu schätzen gelernt haben, wäre nichts
als ein überflüssiger Rest des Follikels.
Die wichtige Frage der zeitlichen Be¬
ziehung der Conceptiön zu diesen neuen
Lehren muß hier außer Erörterung blei¬
ben; ich kann nur darauf hinweisen, daß
wir auch hier ganz anderer Anschauung
geworden sind (Siegel).
Was nun die pathologischen Genital¬
blutungen betrifft, so seien zunächst die
menstruellen Entartungen im Sinne der
Menorrhagien ins Auge gefaßt.
Der Zerfall der funktionellen Schicht
der Uterusschleimhaut bewirkt die Blu¬
tung, deren Größe vor allem in gewissem
Zusammenhang mit der Stärke der vor¬
ausgegangenen Hyperämie steht. Hier¬
auf werden die genannten Stoffe des
Corpus luteum regulierend einwirken,
vielleicht aber auch störend, wenn ihre
Menge oder auch ihre Zusammensetzung
nicht in den normalen Grenzen ge¬
schieht. Wie in der Nachgeburtsperiode
im großen, so wird es auch hier im kleinen
die funktionelle Tüchtigkeit der Uterus¬
muskulatur sein, die durch ihre Con-
tractionen die Blutung steuert. Es ist
eine alte und täglich sich wiederholende
klinische Erfahrung, daß anatomische
Entartungen oder vielleicht auch nur
funktionelle nervöse Störungen diese" so
bedeutungsvolle Tätigkeit der Uterus¬
muskulatur nicht im Rahmen des Phy¬
siologischen begrenzen können. Weiter¬
hin werden die Kraft und Wirkungs¬
fähigkeit der antagonistischen Corpus-
luteum-Stoffe eine wichtige Rolle für die
Stärke der Menstruation spielen, viel¬
leicht auch die Beschaffenheit des Blutes
selbst.
Hierdurch eröffnet sich ein Blick in
die außerordentliche Verschiedenartig¬
keit der für die Regulierung der Men¬
struationsblutungsstärke in .Betrachtkom¬
menden Möglichkeiten. Bedenkt man
vollends, wie die verschiedenartigsten
Erkrankungen der Genitalien, Myome,
Cystome, Lageveränderungen mit ihren
verhängnisvollen Abknickungen der Ge¬
fäße und den daraus bewirkten passiven'
und aktiven Hyperämien,, dann aber
auch alle Entzündungsvorgänge, das Zu¬
sammenspiel der innersekretorischen, me¬
chanischen, nervösen Faktoren stören
können, dann ergibt sich ohne weiteres
die schwierige Aufgabe des Therapeuten
und die Notwendigkeit, sich von jedem
Schematismus fernzuhalten. Liegen greif¬
bare Veränderungen der Genitalien vor,
so ist mit der Diagnostik meist auch der
Gegenwart 1920 131
Weg für die Therapie gegeben. Natürlich
ist aber das eine die Grundbedingung für
das andere;
Viel schwieriger liegt die Aufgabe,
wenn es sich um sogenannte funktionelle
Störungen handelt, in denen wenigstens
palpatorisch keine Veränderung nach¬
weisbar ist. Am einfachsten sind noch
jene Fälle von klimakterischen Blutungen
bei klinisch unveränderten Genitalien,
die man früher als „chronische Metritis“
bezeichnet hat und die namentlich durch
die ausgezeichneten Untersuchungen Pan¬
kows geklärt worden sind. Es handelt
sich hier um bindegewebige Entartungen
der Uterusmuskulatur. Dieses anato¬
mische Bild müssen wir unserer, klini¬
schen Denkungsweise zugrunde legen.
Dann ist es ganz klar, warum unsere
blutstillenden Mittel, die wir sonst so zu
schätzen wissen, hier Versagen; Binde¬
gewebe kann sich nicht kontrahieren.
Unsere Styptika wirken aber mittels des
Muskeltonus, und so kommt es, daß man
diesen klimakterisch blutenden Frauen
Sekale und alle anderen Mittel in den
größten Dosen ohne jegliche Wirkung
verabreichen kann. Früher waren wir
solchen verzweifelten Fällen gegenüber
genötigt, den Uterus zu exstirpieren; jetzt
wissen wir sie durch Bestrahlung in viel
ungefährlicherer und absolut zuverlässiger
Weise zu heilen; denn der Uterus blutet
ja nicht von sich aus, er blutet nur als
Folge der Ovulation. Wir sind aber leicht
imstande, diese letzten Eier, die nur
Störenfriede der Gesundheit sind, durch
die Strahlenbehandlung zum Zerfall zu
bringen. Dann sistiert die Ovulation und
damit steht der Motor für die Menstrua¬
tion still, ein Schulbeispiel für die Kausal¬
therapie, ein nicht minder achtunggebie¬
tender Erfolg der Zusammenwirkung der
verschiedenartigsten Forschungsgebiete.
Schwieriger ist die Deutung der Menor¬
rhagien im gegensätzlichen Alter, in der
Pubertät. Wir sehen Mädchen in und
auch schon über der Zeit der Entwick¬
lungsjahre, die ohne jede palpatorische
Veränderung der Genitalien bei jeder
Periode einen höchst bedrohlichen Blut¬
verlust erleiden, so daß sie im Laufe der
Zeit in einen sehr bedrohlichen Ent¬
kräftungszustand kommen, der sie in der
Arbeitsfähigkeit und im Lebensgenuß
aufs schwerste schädigt. Hier kann man
die Schuld nicht ohne weiteres der
Funktionsuntüchtigkeit des Uterus zu¬
schreiben, wenn man nicht etwa eine
solche sich denkt, die in das schwierige
17*
132
Die Therapie der Gegenwart 1920 ’
April
Gebiet des Infantilismus■ eingerechnet
werden muß. Wahrscheinlicher ist, daß
es sich hier um mangelnde Funktion des
Corpus luteum handelt und daß. wir diese
.Blutungen in die neue Gruppe der ova-
rogeiien-zählen müssen, mit denen sich
natürlich wiederum ein ganz neues Feld
der Ther^apie eröffnet. Leider sind wir
bis jetzt noch nicht im ausreichenden
Besitze solcher endokrinen Heilmittel aus
dem Corpus luteum, und es wird wohl
auch sehr schwer sein, solche zu gewin¬
nen; denn erstens wissen wir gar nicht,
ob die vom Tier gewonnenen Stoffe für
den Menschen die gleiche Wirksamkeit
haben, und dann kommt in Betracht,
daß wir im Corpus luteum vor, bei und
nach der Menstruation ganz andere,
geradezu antagonistisch wirkende Körper
finden, und doch wäre es ein ungeheurer
Gewinn, wenn wir auch hier solche kau¬
sale Therapie treiben könnten. Es er¬
öffnen sich damit äußerst verlockende
Arbeitsgebiete für die Zukunft.
Ebenso dankbar wie die therapeuti¬
sche Verwendung der bluthemmenden
Stoffe des Corpus luteum kann auch an¬
dererseits die der blutfördernden wirken,
und SeitZjWintz und Fingerhut haben
auch hier schon sehr beachtenswerte Er¬
fahrungen mitgeteilt. In Fällen von zu
seltener, zu kurzer, zu geringer Menstrua¬
tion, in denen gew^öhnlich dann auch das
übrige Sexualleben, Libido, Conception
beeinträchtigt zu sein pflegen, würden
diese hyperämisierenden, aktivierenden
Elemente eine empfindliche Lücke unseres
Arzneischatzes auszufüllen vermögen.
Wie weit unsere Operationskunst bei
Blutungen in Betracht kommt, möchte
ich hier nicht des weiteren erörtern, da
das Gebiet ein viel zu umfangreiches ist,
als daß es im Rahmen dieses Vortrags
erschöpft werden könnte.
Nur auf einen Eingriff möchte ich
mit ein paar Worten eingehen, das ist die
so hochgeschätzte, so viel verleumdete,
so arg mißbrauchte und doch so wertvolle
.1
Auskratzung der Uterushöhle, die Abra-
sio mucosae oder, wie sie von ihrem'
Erfinder Robert, einem Schüler Re-
camiers, getauft wurde, die Curage^).
Dieser Operation wurde, schon bei ihrem
Erscheinen der Vorwurf gemacht, sie
wäre ,,ein Scheibenschuß mit geschlos¬
senen Augen“ und es ist keine Frage,
daß sie in vielen Fällen ausgeführt wird,
ohne daß man sich über die Beschaffen¬
heit der Uterusschleimhaut und die Not¬
wendigkeit deren Entfernung klar ist.
Ihr Hauptzweck ist nun aber gerade,
daß man dadurch Material für. die Dia¬
gnose' gewinnt, sei es, daß man schon
durch die makroskopische Betrachtung
der zutage geförderten, ausgekratzten
Massen, z. B. wenn es sich um Schleim¬
polypen handelt, die Quelle der Blutung
kennt oder, was noch viel mehr in Be¬
tracht kommt, daß man durch die mikro¬
skopische Untersuchung die klinische Dia¬
gnose ergänzt. Daß es Fälle gibt, in denen
dann die Auskratzung zugleich das Übel
beseitigen konnte und man ex juvantibus
ihre Berechtigung klar einsieht, weiß
jeder, der den Eingriff ausführt. Aber
ebenso klar ist, daß namentlich bei
zweckloser Wiederholung durch immer
wieder erneutes Auskratzen bei derselben
Frau die Operation mißbraucht wird und
daß man aus ihrer Erfolglosigkeit den
Schluß ziehen muß, daß eben die Ursache
der Blutungen nicht im Uterus, sondern
im Ovarium oder anderswo gelegen ist.
Außerordentlich vielfältig ist somit
die Veranlassung zu Entartung der men¬
struellen Blutung und ebenso vielfältig
sind die Ursachen für Auftreten patholo¬
gischer Metrorrhagien. Es ist eine schwie¬
rige, aber therapeutisch dankbare Auf¬
gabe, den einzelnen Fall richtig zu deuten,
und nur wer richtig diagnostiziert, kann
richtig helfen.
Die meisten Deutschen pflegen „Curettc-
ment“ zu sagen, ein Wort, das es im Französischen
nicht gibt und mit dessen Gebrauch sie sich
lächerlich machen.
Aus-der inneren Abteilung des jüdisclien Krankenhauses zu Berlin.
(Direktor: G-eh. Eat H. Strauß.)
Über fettarme Tage zur Bekämpfung der Acidosis.
Von Dr. R. Uhlmarin, früher Assistent, jetzt Arzt in Fürth.
Durch die zahlreichen Forschungen
'der letzten Jahrzehnte ist die Bekämpfung
der Acidosis bei der Behandlung des
Diabetes in weitgehend festgelegte Bahnen
gelenkt worden. Die Erkenntnis, daß
Acetonkörper nur auftreten, wenn eine
unzureichende Menge von Kohlehydraten
im Organismus verbrannt wird, hat zu
dem obersten Grundsatz geführt, daß
längerdaperndes Auftreten größerer
April
135
Die Therapie der Gegenwart 1920
Acetonmengen zu einer Vermehrung der
Kohlehydratzufuhr auffordern muß, und
daß der Versuch der Entzuckerung nur in
vorsichtiger, langsam einschleichender
Weise, geschehen darjp. Die Form, in der
die Kohlehydratzulagen zur Herab¬
drückung der Ketonurie gegeben werden,
schwankt, je nach der Schulung des
Arztes und der Lage des Falles, in hohem
Maße: Steigerung der täglichen Brötchen¬
menge, Einführung mehrtägiger Mehl¬
kuren mit vorhergehendem und nach¬
folgendem Karenztag, Hafermehl-
(v. Noorden), Inulin- (H. Strauß) und
Milchkuren, Verabreichung von Trauben¬
zucker oder Lävulose per os und rectal,
all diesen verschiedenen Darreichungs¬
arten liegt.in gleicher Weise die Absicht
zugrunde, dem Organismus größere Men-,
gen von leicht verwertbaren Kohle¬
hydraten zuzuführen. Während nun die
vermehrte Darreichung von Amylum-
körpern in' leichten und mittelschweren
Fällen von Diabetes eine prompte anti-
ketogene Wirkung zeigt, versagt sie bei
den schweren Fällen meist vollständig,
da diese eben die gereichten Kohlehydrate
unverwertet aus dem Organismus wieder
ausscheiden. In diesen Fällen gelingt die
Bekämpfung der Acidbsis nicht selten
auf dem umgekehrten Weg, durch Ein¬
schaltung eines kohlehydratfreien
Tages, da sich an einem solchen die Fähig¬
keit des Organismus zur Verbrennung der
Kohlehydrate nicht selten steigert, oder
noch besser, durch Einfügung eines Hun¬
ger- beziehungsweise Trinktages, der,
von Diabetikern meist glänzend ver¬
tragen, die Zucker- und Acetonausschei¬
dung erheblich herabzudrücken pflegti).
(Umber, H. Strauß, v. Noorden u.A.)
Man wird somit eine leichte oder
mäßige KHonurie des Diabetikers zu¬
nächst durch Vermehrung der Kohle¬
hydrate zu bekämpfen suchen; in den
Fällen, wo die Verwertung einer solchen
Zufuhr ganz oder fast völlig unmöglich
ist, gilt es aber, durch kurzdauernde
Kohlehydratabstinenz die Fähigkeit
des Organismus zur Verbrennung der
Kohlehydrate zu heben. ’
Es fragt sich nun, ob eine Verminde¬
rung der Acetonkörper neben diesem
indirekten Weg —auf dem Umweg über
die Kohlehydrate — nicht auch direkt
Umber, Ernährung und Stoffwechselkrank¬
heiten, Berlin-Wien, 1909. .Strauß (D. m. W.
1912, Bd. 10; Ther. d. G.egenw. 1920, Bd. 1).—
V. No Orden, Die Zuckerkrankheit, Hirsch¬
wald 1917.
durch Fortlassen derjenigen Stoffe er-^
reicht werden kann, die als Quelle der
Acetonkörper dienen, eine Fragestellung,
zu deren Beantwortung zuerst auf die
Entstehung der Ketonurie eingegangen
werden muß.
Der in früheren Jahren so heftig ge¬
führte Streit, ob Acetonkörper aus Eiweiß
oder aus Fett entstehen, ist jetzt wohl
in den wesentlichsten Punkten geklärt.
An der Möglichkeit einer Entstehung aus
Eiweiß ist nicht zu zweifeln, nachdem
mehrere Forscher [Embden^), Bär und
Blum^) bestimmte Aminosäuren (Leucin,
Tyrosin, Phenylalanin] als Muttersubstanz
der Acetonkörper nachgewiesen haben.
Da aber diese Verbindungen die einzigen
Eiweißabkömmlinge sind, die zu Aceton¬
körpern hinführen, so spielt auf jeden Fall
die Entstehung aus Eiweiß im Organis¬
mus nur eine gegenüber dem Fett zurück¬
tretende Rolle. Für diese Ansicht spricht
auch die von Weintraud^) und Anderen
nachgewiesene Tatsache, daß auch bei
völligem N-Gleichgewicht Acetonkörper
ausgeschieden werden können, weiterhin,
daß bei Erkrankungen, die eine Erhöhung
des Eiweißzerfalls mit sich bringen, sich
in keiner Weise eine dem N-Gehalt des
Urins entsprechende Vermehrung der Ke¬
tonurie einzustellen pflegt. Nimmt z.B. ein
hochgradig abgemagerter Mensch keiner¬
lei Nahrung zu sich (Ösophaguscarcinom),
so wird trotz des dabei stattfindenden
Eiweißzerfalls nur eine ganz geringe
Acetonausscheidung zustande kommen^).
Trifft dagegen die Hungerkur einen ge¬
sunden Menschen mit reichlichem Fett¬
polster (Hungerkünstler), so zeigt sich
nach wenigen Tagen eine starke, während
der Inanitionsdauer ansteigende Keton-
urie®). Das Gleiche tritt mit Regel¬
mäßigkeit auch in allen anderen Fällen
ein, wo — neben allenfallsiger Eiwei߬
zersetzung — auch eine stärkere Fett¬
verbrennung stattfindet; bei Fiebern-
den'7), bei Carcinomkranken®), die noch
über ein gutes Fettpolster verkigen. In¬
folge dieses weitgehenden, durch zahl¬
reiche Beobachtungen gestützten Paral-
2) Hofmeisters Beitr. 1905, Bd. 6; 1906,
Bd. 8.
3) Arch. f. exp. Path. 1906, Bd. 55; 1907,
Bd. 56.
Arch. f. exp. Path., Bd. 34.
Brugsch (Zeitschr. f. exp. Path., 190,5,
Bd. 1).
Brugsch (1. c.); Fr. Miillsr (Virch. Arch
1893, Bd. 131) u. A.
') Literatur siehe bei Waldvogel, Die Aceton¬
körper, Enke, 1903.
8) Klemperer (B. kl. W. 1889, Bd. 40).
134 - ,Die Therapie der Gegenwart 1920/ . Aprik
lelismus zwischen Fetteinschmelzung und
Acetonausscheidung darf man das Fett
als wesentliche Muttersubstanz der
Acetonkörper ans'ehen. Auf die Frage,
warum Fettzersetzung nur bei Abwesen¬
heit von Kohlehydraten zur Acetonurie
führt, wöllen wir hier nicht näher ein-
gehen. Auf jeden Fall brauchen wir für
Diabetiker keine spezieilen Verhältnisse
anzunehmen, da sich bei kohlehydrat¬
abstinenten Gesunden ein ähnliches Bild
einzustellen pflegt. In beiden Fällen hat
Fettzersetzung bei gleichzeitigem Fehlen
der Kohlehydfatverbrennung die Ent¬
stehung von Ketonurieim Gefolge. Wenn
bei Gesunden die Acidosis auch bei ab¬
soluter Kohlehydratenthaltung nie solche
Höhe erreicht als bei Diabetikern, so hat
dies nach Magnus-Levy^) seinen Grund
darin, daß die Verbrennung des kohle¬
hydratartigen N-freien Teils des Eiwei߬
moleküls beim hungernden Gesunden zur
Hintanhaltung h o ch gr a d i g er Acetonuri e
genügt, während der schwere Diabetiker
auch diesen ,,Eiweißzucker“ nicht mehr
verwerten kann..
Was das Nahrungsfett anlangt, so
scheinen dabei prinzipielle Unterschiede
gegenüber der Verbrennung von Körper¬
fett nicht zu bestehen. Gesunde mit
Normalkost (das heißt mit einer Nahrung
von einem bestimmten Kohlehydrat¬
gehalt) pflegen auch größere Fettmengen
ohne jede Steigerung der Acetonausschei¬
dung zu bewältigen. Bei Diabetikern da¬
gegen konnte Schwarz^^^) und Andere
durch Fettfütterung eine Zunahme der
ausgeschiedenen Acetonmenge erzeugen;
ebenso konnte Forßner^^) an Gesunden
bei einseitiger Eiweißfettkost durch Öl¬
zulage die Acetonurie erheblich steigern.
Das bedeutet: Wenn — im gesunden
oder diabetischen Organismus — ge¬
nügende Mengen Kohlehydrate verbrannt
werden, dann wird auch Nahrungsfett
in.relativ großer Menge verarbeitet; bei
fehlender Verbrennung von Kohle¬
hydraten jedoch wirkt Fettzufuhr
acetonvermehrend. In. diesem Sinne
sprechen auch die Versuche von Wald¬
vogel (1. c.), der an Gesünden zeigte,
daß die ausgeschiedene Acetonmenge bei
reiner Eiweißkost deutlich geringer ist,
als bei völliger Inanition, daß aber durch
Fettzulagen die Werte der Inanitions-
periode leicht erreicht werden können.
Auf jeden FalKkann der Einwand von
®) Albusch? Sammlung, Bd. 1, Heft 7.
Kongr. f. inn. Med., Wiesbaden.
Skand. Arch. f. Phys., Bd. 22 und 23.
Magnus-Levy : (1. c.), daß die nach
Fettzulage verstärkte. Ketbnurie der Dia~
betiker auf Verdauungsstörungen zurück-
zuführen sei, den sorgfältigen, auch an.
Gesunden gemachten Beobachtungen,
gegenüber kaum als stichhaltig erscheinen.
Eine besonders starke acetonbildende.
Kraft scheinen die niedrigen Fettsäuren*
(Buttersäure,' Kapronsäure) zu haben;,
so haf Geelmuyden^^) gezeigt, dah
Buttersäure bei phloridzinvergifteten.
Hunden ' die Acetonausscheidung ver¬
mehre, im Gegensatz zu den von niedrigen
Fettsäuren freien Fetten (wie Rindertalg)..
Schwarz^^) erzielte dann bei Diabetikern,
Strauß^^) und Hagenberg^^) bei Ge¬
sunden durch Verabreichung von butter¬
saurem Natron eine Steigerung der Ke-
tonurie, die in den Straußschen Ver¬
suchen so ausgesprochen war, daß er die-
besondere Art einer ,,alimentären Ace¬
tonurie“ aufstellte. Den Einfluß der
niederen Fettsäuren auf die Acidosis der
■Diabetiker erkennt auch v. Noorden an,,
wenn er Zuckerkranken den Rat gibt,,
die Butter als Hauptträger der niederen
Fettsäuren vor dem Genuß gründlich in
kaltem Wasser zu durchkneten. Einen
wesentlichen Einfluß der Fettzufuhr
auf die Acetonurie bestreitet jedoch
V, Noorden auf Grund der Tatsache,,
daß in mehreren seiner .Fälle auch von
schwereren Diabetes relativ große Fett¬
zulagen ohne jeden stärkeren Einfluß*
auf die Acidosis blieben.
Zur Beantwortung dieser Frage kann
man nun auch den umgekehrten Weg
gehen und prüfen, ob bei schwerem
Diabetes eine Herabdrückung der Acidosis
durch Fettenthaltung möglich ist. Die
Umsetzung eines solchen Versuchs in die
Praxis ist aber bei diesen Fällen deswegen
nicht einfach, weil für diese .— bei ihrer
weitgehenden Unfähigkeit zur Verwertung;
von Kohlehydraten und auch von Ei¬
weiß — die Entziehung des Nahrungs¬
fettes eine Hungerkost bedeutet, die leicht
eine Verbrennung von Körperfett zur
Folge hat. Wenn nun auch nach der An¬
sicht von Forßner Körperfett eine
weniger starke- acetonbildende Kraft be¬
sitzt als Nahrungsfett, so erscheint doch
eine wenigstens einigermaßen ausreichende
Calorienzufuhr Voraussetzung für einen
solchen Versuch. Die Erfüllung dieser
12) Zschr. f. phys. Chem. Bd. 26, 1899.
12) z. f. Stoffwechselerkr., Bd. I.
1“^) Z. f. Stoffwechselerkr., Bd. I.
1^) Zschr. f. klin. M., Bd. 40 und Senator¬
festschrift (Beitr. z. klin. Med.).
April s V Therapie 4er
Bedingung ist^ nun möglich durch reich¬
liche Beiziehung von Alkohol und Ge- .
latine; insbesondere auf den großen Wert
der Gelatine zur Ernährung‘ dieser
schweren Diabetiker sei an dieser Stelle-
hingewiesen. ' ''
Die Diabetiker erhielten
somit
^an
ihren fettarmen Tagen:
I. Beispiel einer fettarmen
Kost.
Cal.
Bouillon.
500
40
Gemüse.
600
300
Gelatine^®).
50
175
Rotwein.
500
350
Cognak .
100
315
Mehl.
50
175
5 Eier.
—
350
Mandelmilch.•. . . .
50
300
Weißkäse.
100
200
Tee, Kaffee, Selters.
—
—
2205
II. Allenfallsige Zulagen.
Gelatine '.
50
175
Fleisch.
50
120
Mandelmilch.
50
300
Weißkäse.
50
100
695
Diese Kost ist naturgemäß im Einzel¬
fall in hohem Maße zu variieren; so
wird man bei Jugendlichen mit den
Alkoholgaben, bei ,,Eiweißempfindlichen“
mit den Fleischzulagen (allenfalls auch
mit Weißkäse) zurückhalten. Die Aus¬
fälle, die dadurch im Caloriengehalt ent¬
stehen, kann man durch die in Gruppe 11
angeführten Stoffe ausgleichen. In Fällen,
wo die Kohlehydratverbrennung nicht
allzusehr geschädigt ist, kann man bis
zu 200 g Mehl reichen; bei solchen ,,fett¬
armen Mehlkuren“ läßt sich der Nähr¬
gehalt des Fettes leicht durch oben an¬
geführte Nahrungsstoffe ersetzen. . Auf
jeden Fall erreicht die Kost unschwer
einen Gehalt von mindestens 2000 Ca-
lorien, was um so mehr als ausreichend
anzuseheh ist, als es zweifellos beim
Diabetiker günstig wirkt, an einzelnen
Tagen etwas unterhalb des nötigen Kost¬
maßes zu bleiben.
Die Gelatine bringt man am besten in Fleisch¬
brühe und den —fett- und mehlfrei zubereiteten ■—
Gemüsen unter; einem Teller kräftiger Fleisch¬
brühe kann man 10 bis 15 g Gelatine beifügen
(den leichten Gelatinegeschmack verdecke man
durch Sellerie oder Suppengrün (Petersilie usw.),
einem Teller Gemüse 10 bis 20 g Gelatine; am
besten eignen sich dazu die Krautgemüse (Sauer-
Blaukraut), am wenigsten die mit süßlichem
Geschmack (gelbe Rüben). Wichtig ist für die
Zubereitung, daß man Gelatine nicht kochen
1®) Nach meiner Erfahrung lassen sich bei
genügender Küchentechnik in den meisten Fällen
für.die Perioden fettarmer Ernährung 100 g
Gelatine (mit einem Caloriengehalt von fäst
350 Calorien) in der täglichen Kost unterbringen.
Gegenwart' 1Ö20 , 135
darf, sonde^rn daß sie^nach Auflösung in heißer
Brühe den fertiggekochten Speisen .zugefügt
wird, weiterhin, daß die mit Gelatine, versetzte
Kost recht heiß, auf gut gewärmten Tellern,
serviert wird. Allgemein läßt ?ich sagen, daß
Gelatine prinzipiell bei Diabetikern die Steile' des
Mehls als Bindemittel vertreten kann. In kleineren
Mengen . kann man' Gelatine als Rotweingelee,
Fleischgelee usw. reichen. Gern wird auch
Gelatineglühwein genommen (Auflösen von 20 g
Gelatine in heißem Wasser, Auffüllen auf einen
Schoppen mit Rqtweih, in dem Zimmt, Nelken
usw. geKOcht wurden; allenfalsiges Beifügen von
etwas" Saccharin).
In folgendem seien nun zwei Fälle
von schwerem Diabetes mitgeteilt, an
denen solche fettarme Tage Anwendung
fanden.
1. Fall., Sil. 32 Jahre alt, seit zwei Jahren
zuckerleidend. Schmächtiger Mann, der bei Auf¬
nahme recht matten Eindruck macht.
Dat.
Zucker
g
Aceton,
g
Kosti’)
11.
84
3,272
Gemüse-Eiertag^®) 50 g.
Inulin.
12.
74
2,880
Ebenso.
13.
70
3,602
Ebenso.
14.
77,9 1
2,552
Ebenso, jedoch fettarm i®).
15.
26,4
1,772
Ebenso, jedoch fettarm.
16.
108
2,768
Gemüse-mertag.
17.
90 1
6,310
Ebenso.
23.
106 j
4,002
Gemüse-Eiertag + 100 g
Hafermehl.
24.
162 i
6,454
Ebenso.
25.
145
4,968
Ebenso.
26.
162
2,268
Ebenso, jedoch fettarm.
27.
137
4,417
Gemüse-Eiertag.
28.
153
1,984
Gemüse-Eiertag -f- 100 g'
Hafermehl, fettarm.
29.
156
5,218
Gemüse-Eiertag.
30.
14 j
1,841
Trinktag.
- 1.
21
6,456
Gemüse-Eiertag.
2;
60 1
4,919
Ebenso.
2. Fall. Schle_,17 Jahre alt. Vor einem
Jahre großes Diirstgefühl, Mattigkeit, nach Auf¬
deckung des Zuckerbefundes und nach Diät¬
regelung leidliches Befinden. 'Seit einem Monat
verstärkte Mattigkeit, Gewichtsabnahme.
Mittelkräftiger junger Mann von leidlichem
Fettpolster. — Der Versuch, durch Kohlehydrat¬
gaben die Acidosis herabzudrücken, mißlang.
Dat.
Aceton
g
Kost
12. 66,5
5,544
Gemüse-Eiertag.
13. 93,1
7,308
Ebenso.
14. 58,5
3,789
Ebenso, jedoch fettarm.
15. 51,7
2,998
Gemüse-Eiertag.
16. 70,0
3,340
Ebenso.
Die Wiedergabe ausführlicherer Tabelhn
mit detaillierter Kostangabe, mit Bestimmung
der N-ausscheidung usw. ist wegen Papiernot
nicht angängig.
^®) Am Gemüse-Eiertag bekamen die Patienten:
Reichlich Fleischbrühe, Gemüse, Weißkäse, 10 bis
12 Eier, Rotwein, Kognak, reichlich Fett (Butter,
Sahne, Mandelmilch).
1®) Ungefähres Kostschema siehe erste Spalte.
136
Die Therapie der Gegenwart 1920
April
Dat.
Zucker
g
Aceton
■ g
Kost
17.
84,0
2,970
Ebenso.
18.
79,3
1,708
Ebenso, jedoch fettarm.
19.
46,8
1,809
Ebenso, jedoch fettarm.
30.
200
5,174
Gemüse-Eiertag - 4 - 50 g
Hafermehl.
31.
147
3,218
Ebenso.
1 .
136
3,712
Ebenso.,
2 .
137 1
2,520
Ebenso, jedoch fettarm.
3.
103
1,790
Ebenso, jedoch fettarm.
4.
74
3,277
Gemüse-Eiertag.
5.
108
5,104
Ebenso + 50 g Inulin.
Bei Fal
l Sil. sehen wir, daß eine kon-
stante und schwere Acidosis weder durch
Kohlehydratzulagen verschiedener Art
noch durch Kohlehydratentziehung (Ge¬
müse — Eiertag) ‘ irgendwie beeinflußt
werden konnte, daß sie jedoch an fett¬
armen Tagen prompt und erheblich zum
Sinken gebracht wurde.
In Parallele sind dabei zu setzen die Kost¬
perioden vom 11. bis 13. September mit der vom
14. bis 15. September, sowie die vom 23. bis
25. September mit der am 26. und 28. September.
Ähnlich prompt reagierten auf die
fettarmen Tage Fall Schle., sowie zwei
Fälle meiner Privatpraxis, deren Verr
öffentlichung deswegen unterbleiben soll,
weil bei diesen keine quantitativen Ace¬
tonbestimmungen vorgenommen werden
konnten.’
Bei Fall Sohle, ist die Kostperiode vom 30. Mai
bis 5. Juni besonders beweisend. Die Aceton¬
ausscheidung, die am 30. Mai trotz Kohlehydrat¬
zufuhr 5 g betrug und an den nächsten Tagen
zwischen 3 und 4 g schwankte, sank an den zwei
fettarmen Tagen auf 2,5 und 1,7 g, um dann
— nach Fettzulagen — wieder auf 3,1 respektive
5 g (trotz Kohlehydratgaben) zu steigen.
Wenn man die Tatsache, daß schwere
Diabetiker auf Entziehung von Fett mit
Sinken der .Acidosis reagieren, mit den
Versuchen von Forßner und Anderen Zu¬
sammenhalt, daß gesuhde Leute mit Ei¬
weißfettkost auf Ölzulagen eine ver¬
stärkte Acetonausscheidung aufweisen, so
kann an dem Einfluß des Nahrungs¬
fettes auf die Acetonurie kaum ein
Zweifel bestehen. Daß diese ketogene
Wirkung des Fettes nur bei weitgehender
Schädigung des Kohlehydratstoffwechsels,
d. h. nur bei den schweren Diabetikern
in Erscheinung tritt, wurde schon oben
betont. Jenes nur an einigen Fällen
gewonnene Ergebnis bedarf nun zweifel¬
los noch einer Kontrolle durch weitere
Beobachtungen. Dennoch erscheint es
aber geeignet, die Anschauung zu stützen,
daß der bei schwer Zuckerkranken oft
so vorzügliche Erfolg der Trinktage auf
die Ketonurie durch Fortlassen, der Fette
bedingt ist. Wenn Strauß,^®) schon vor
fast einem Jahrzehnt betont hat, daß
Trinktage auf die Ketonurie erheblich
besser einzuwirken pflegen, als Gemüse-
Eiertage, so hat dies sicherlich im wesent¬
lichen in der verschiedenen Menge des
dargereichten Fettes seinen Grund.
Bei der Frage, inwieweit die Kenntnis
von der acetonsteigernden Kraft der Fette
praktisch nutzbar gemacht werden kann,
ist zunächst ausdrücklich auf die Wichtig¬
keit des Rates von v. Noorden-hinzu¬
weisen, das Fett hauptsächlich in Form
von vegetabilischem, respektive von
Fleischfett zu reichen, da diese beiden
Arten nur wenig niedrige Fettsäuren ent¬
halten, weiterhin, die Butter in Wasser
gründlich auszulaugen. Nach unseren
Untersuchungen scheinen Eier und auch
Mandelmilch nur in geringem Maße aceton¬
steigernd zu wirken, so daß eine Verab¬
reichung mäßiger Mengen davon den Er¬
folg von fettarmen Tagen oder von Trink¬
tagen nicht wesentlich stören wird; die
,,fettarmen“ Tage erhalten damit mehr
den Charakter von „butterfreien“
Tagen, eine Anordnung, die aus der Über¬
zeugung resultiert, daß die Butter, ins¬
besondere, wenn sie nicht mehr ganz
frisch^ist, von,allen Fetten die stärkste
ketogene Wirkung entfaltet.
In der Literatur finden sich über die aceton¬
bildende Kraft der verschiedenen Fette
folgende Angaben: Nach den Untersuchungen
von Waldvogepi) .. wirkt Olivenöl, nach
Schwarzes) Speck und Rindsfett, nach Le-
pine“3) Rahm acetonvermehrend. Grube 2 ^)
fand die stärkste Ketonurie nach Butter, eine
mäßig starke nach'TRahm; im Gegensatz dazu
konnte er nach Gaben von Schweinefett gar keine
Acetonbildung nachweisen.
Einer systematischen Enthaltung
der Fette, oder auch nur der Butter kann
selbstverständlich nicht ‘ das Wort ge¬
redet werden, da eine ausreichende
Dauerernährung für Diabetiker ohne
Fette überhaupt nicht möglich ist.
Auch eine stärkere und längerdau¬
ernde Einschränkung ist mit Rück¬
sicht auf den Kräftezustand des Pa¬
tienten unmöglich, und die Rücksicht
hierauf muß bei all diesen Kuren na¬
türlich an erster Stelle stehen. Ja, wenn
wir überhaupt bei schweren Diabetikern
durch Einführung solch spezieller Tage
(Trinktage usw.) die Acidosis zu be¬
kämpfen suchen, obwohl wir deren er-
2 «) D. m. W. 1912, 10.
21) Zschr. f. klin. M. 1899, Bd. 38.
22 ) Verb. d. Kongr. f. inn. Med. 1900. '
22 ) Semaine medizinale 1901.
2 ^) Zschr. f. phys. u. diät. Ther. 6 , 1902.
April , Die Therapie der
- -
neuten Anstieg nach Ablauf von wenigen
Tagen voraussehen, so tun wir es in der
Überzeugung, daß eine Verringerung der
Acetonämie auch nur für wenige Tage
für den gesamten Kräftezustand einen
nicht unwesentlichen Vorteil bedeutet.
Aus diesem Gedankengang heraus er¬
scheint uns für schwere Diabetiker, die
infolge hochgradiger Unfähigkeit zur
Zuckerverbrennung dauernd größere Ace¬
tonmengen ausscheiden — und zwar nur
für diese —, die Einschaltung von fett¬
armen Tagen empfehlenswert. Bei einem
der Fälle meiner Privatpraxis schien es
zur Verringerung der Ketonurie be¬
sonders zweckmäßig, von Zeit zu Zeit
einen Trinktag zu geben und diesem
mehrere fettarme Tage mit mäßigen
Kohlehydratgaben (50 bis 100 g) folgen
zu lassen Es wäre erwünscht, wenn
solche Versuche in größerem Maßstab
angestellt würden, da ein solches Vor¬
gehen zum mindesten weit schonender
ist, als der Vorschlag von Guelpa^ß) und
Allen^ü» einer häufigen Wiederholung
von Hungertagen das Wort reden.
Die zweifellos gute Wirkung der Trink¬
tage hat ihre Ursache darin, daß afi diesen
Tagen eben alle Stoffe, aus denen nur
irgendwie größere Mengen von Zucker
oder Aceton gebildet werden können,
fortbleiben. In dieser Erkenntnis nun,
daß der Rückgang der Acetonämie nicht
auf irgendweich dunkler „Organschonung
durch Hunger“ beruht, sondern auf dem
Fortlassen von ganz bestimmten Nah¬
rungsgruppen, liegt die Aufforderung,
nach Stoffen zu suchen, die ohne Bildung
von Zucker oder Aceton Calorien geben.
Dazu darf man nun unbedingt den
Alkohol zählen, der ja schon lange in
solchen Fällen gern gegeben wird. Auch
auf die Gelatine als wertvollen Ca-
lorienträger (und gleichzeitigen Eiwei߬
sparer) wurde schon oben hingewiesen.
Ob in dem eben erschienenen Werk von
Falta, ,,Die Mehlfrüchtekur“, Berührungspunkte
mit dieser Auffassung vorhanden sind, kann ich
nicht beurteilen, da ich das Buch noch nicht er¬
halten konnte. Bei den Verdauungsstörungen
der Säuglinge haben sich jedoch schon ähnliche
Anschauungen durchgesetzt. Bei bestimmten
Gruppen akuter Verdauungsstörungen, bei denen
Aceton- und Ammoniakgehalt des Urins ver¬
mehrt ist, ist fettreiche Nahrung (Frauenmilch
usw.) streng verboten, da deren Darreichung
,,einen erneuten Ausbruch der schon geschwun¬
denen Vergiftungserscheinungen bewirken kann“.
(Salge, Kinderheilkunde 1909.)
2«) Soc. de Therap. Paris, 23, 1908.
2^) The Treatment of Diabetes, Boston, med.
journ. 172, 1905.
Gegenwart 1920 137
Bei einer solchen Modifikation der
,,Hungertage“ steht einer häufigeren
Wiederholung nichts im Wege, so daß
bei ,starker Acidosis, die' durch Ver¬
mehrung der Kohlehydrate nicht zum
Sinken zu bringen ist, die Einschaltung
von protrahierten, fettarmen Tagen
nach oben angegebenem Diät¬
schema, in allenfallsiger Kombinat
tion mit einem streng ^ durchge¬
führtem H.ungertag, ^empfohlen sei.
Wenn wir nur ,,fettarme“ und nicht,,fett¬
freie“ Tage empfehlen, so tun wir dies,
weil wir ja nur die hohen, toxischen
Grade der Acetonämie bekämpfen wollen,
und wir den Nachteil einer gering¬
gradigen Ketonurie lieber in den Kauf
nehmen, als die Gefahr der längerdauern¬
den Unterernährung.
Ganz besonders ratsam scheint eine
Kostordnung nach der oben besprochenen
Richtung bei beginnendem Koma zu
sein. Denn wir müssen uns immer vor
Augen halten, wenn auch die Ursache
des Diabetes im Kohlehydratstoffwechsel
liegt, die Gefahr desselben liegt in-
Störungen des Fettstoffwechsels be¬
gründet. Bei Komagefahr pflegt nun, wie
schon angedeutet wurde, der Versuch,
durch Zufuhr großer Kohlehydratmengen
die Ketonurie zu bekämpfen, häufig an
der Unfähigkeit des Organismus zur Ver¬
brennung der Kohlehydrate zu scheitern.
Dagegen kann, wie v. Noorden betont,
in solchen Situationen durch einen Trink¬
tag mit reichlicher Alkoholzufuhr die
Acidosis oft rasch und stark gedrückt
. werden. Haben sich dann an diesem
'Tage die dyspeptischen Erscheinungen,
die so oft am Beginn des Komas stehen
und für dessen weiteren Verlauf so be¬
deutungsvoll sind, gebessert, dann können
mehrere fettarme Tage nicht selten den
Erfolg des Trinktages aufrechterhalten.
Bei dieser Betonung des Einflusses
der Fettzufuhr auf die Ketonurie soll
keineswegs bestritten werden, daß für
die Stärke der Acidosis die Intensität
der Funktionsstörung an erster und
ausschlaggebender Stelle steht. Denn
für die Menge des in den Säften vor¬
handenen und im Urin erscheinenden
Acetons ist nicht nur die Frage der
Acetonbildung, sondern auch die der
Acetonzerstöi ung entscheidend. Trotz
voller Bewertung solcher endogener
Faktoren darf man aber doch wohl
sagen, daß für die' Acidosis zum Fett¬
angebot ähnliche Beziehungen vorliegen,
wie für die Glykosurie zur Kohlehydrat-
18
138
Die Therapie der Gegenwart 1920
' April
Zufuhr. Denn ebenso, wie es beim
schweren Diabetiker zur Zuckerausschei¬
dung nur dann kommt, wenn dem Körper
durch Nahrung' oder durch Zerfall von
Körpereiweiß Kohlehydrat • angeboten
wird, kann stärkere Ketonurie auch;nur
dann eintreten, wenn dem Organismus
Nahrungs- oder Körperfett zur Verfügung
steht. Weitere exakte Untersuchungen
über die Frage, welche Fettsorten die
Acidosis nur wenig und welche sie stark
.erhöhen, dürften die Diätetik der Dia¬
betiker jedenfalls noch in manchen
Punkten fördern.
Aus der .inneren .Abteilung des Kreiskrankenbauses Berlin-Reinickendorf
(Direktor: Gebeimrat Professor Dr. Felix Klemperer)".
Über Milchbehandlung, insbesondere bei Tuberkulose.
Von Dr. R. Lewin^ Cassel.
Vor Jahresfrist berichteten Professor
Dr. R. Schmidt und Dr. Otto Kraus
(Prag) ,',Über Proteinkörpertherapie bei
Tuberkulose“ (1). Aus ihren Erfahrungen
an 16 mit Milchinjektionen behandel¬
ten Fällen von Lungentuberkulose, deren
Krankengeschichten sie kurz mitteilen,
ziehen die Verfasser unter anderem fol¬
gende Schlüsse:
1. Die Allgemeinreaktionen, wie sie
nach parenteraler Milchzufuhr in einer
Durchschnittsdosis von bis 2 ccm bei
aktiver Tuberkulose auftreten, decken
sich vielfach vollkommen, und zwar so¬
wohl. in ihrem zeitlichen Ablauf, als in
ihrer Art und ihrer therapeutischen Wir¬
kung mit den klinisch wahrnehmbaren
Effekten von Alttuberkulininjektionen.
2. Durch Milchinjektionen lassen sich
im Bereiche tuberkulöser Lungenherde
typische Herdreaktionen erzielen, welche
auch wieder sowohl in ihrem zeitlichen
Auftreten, als in ihrer Art vollkommene
Analoga darstellen zu den Herdreaktionen
nach Alttuberkulininjektionen.
3. Die Stichreaktionen nach Milch
zeigen in ihrem äußeren Aspectus und
der Zeit ihres Auftretens vielfach größte
-Übereinstimmung mit den Stichreaktionen
nach Alttuberkulin Koch.
Mit der Anwendung der Milchinjektio¬
nen zur Behandlung der Tuberkulose ist
die Proteinkörpertherapie gleichsam zu
ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt.
Denn die Behandlungsversuche mit nicht-
specifischen Eiweißpräparaten, sei es mit
Bakterienprodukten oder Bakterien, mit
Nuclein, Albumosen, Serum oder Milch,
die R. Schmidt 1916 zur Aufstellung des
neuen Begriffes der „Proteinkörpertherapie“
geführt haben, gehen-letzten Endes zurück
auf die Zweifel an der specifischen Natur
des Kochschen Tuberkulins.
Alsbald nach der Entdeckung des Tu¬
berkulins (1890) wurde gezeigt, daß auch
die Siedeprodukte anderer Bakterien ähn¬
liche oder gleiche Wirkungen hervorrufen
wie das Tuberkulin (G. Klemperer,^
Roemer, 1891). Krehl und Matthes’
(1894) erzielten tuberkulinähnliche Reak¬
tionen durch Injektion von Albumosen,
G. See durch Nucleineinspritzung. Die
Erfolge mit Heterovaccinebehandlung
— bei. Typhuskranken beispielsweise mit
Pyocyaneuskulturen (Rumpf 1893) (2),mit
Colibacillen bei Typhus und Sepsis (Kraus
1915) (3), mit Streptokokkenserum bei
Staphylokokkensepsis und andere mehr —
bestärkten den Zweifel an dem ausschlie߬
lich specifischen Charakter unserer Im¬
munisierungsverfahren. Lüdtke (4) ver¬
wandte 1915 an Stelle von Bakterienpro¬
dukten mit gleich gutem Erfolge intra¬
venöse Injektionen von Albumosen zur
Behandlung von Infektionskrankheiten,
und seit 1916 wurde in ständig steigen¬
dem Umfange Milch als nichtspecifisches
Eiweißpräparat in parenteraler Zufuhr zu
Behandlungszwecken benutzt.
Eine starke Anregung erfuhr diese
Therapie aus Weichhardts (5) Theorie
der protoplasmaaktivierenden Wirkung
von parenteral zugeführten Eiweißspalt¬
produkten, die aus Weichhardts Stu¬
dien (6) über Kenotoxine, Eiweißabspal¬
tungsantigene vom Ermüdungstoxin¬
charakter, welche in hohen Dosen lähmend
wirken, während geringe Mengen den
Körper zu erhöhter Leistung anreg^'en
sollen, erwachsen ist. Nicht specifische
Eiweißkörper, sondern Spaltprodukte der
verschiedensten Eiweißkörper üben da¬
nach in gleicher Weise eine protoplasma¬
aktivierende oder leistungssteigerndc
Wirkung aus, die Weichhardt durch
den Nachweis anregender Wirkung auf
verschiedene Organe und Organsysteme
— Vermehrung der Milchsekretion, Blut¬
veränderungen als Leistungssteigerung des
Knochenmarks, Vermehrung der Aggluti¬
ninproduktion bei immunisierten Tieren (7),
Die Therapie der Gegenwart 1920'
139
'April
Leistungssteigerung isolierter Tiermuskeln
und "herzen u. a. — zu begründen suchte.
Auf eine so breite Basis gestellt, mußte
die Milchtherapie natürlich bald ein sehr
großes Anwendungsgebiet erobern; gibt es
doch kaum eine Krankheit, bei der ein
Mittel, das auf den Organismus und die
einzelnen Organe leistungssteigernd wirken
soll, nicht von Nutzen wäre. So wurden
denn die therapeutischen Versuche mit
Milchinjektionen auf eine große Reihe von
Krankheiten ausgedehnt, auf Typhus (8),
Cholera und Ruhr (9), auf Arthritiden,
-gonorrhoische Komplikationen (10), ta-
bische Krisen, auf entzündliche Augen-
und Ohrenkrankheiten, Haut- (11) und
Blutkrankheiten (12), und andere mehr.
Die Literatur über die Milchtherapie hat
rasch einen großen Umfang angenommen;
zur Charakterisierung ihrer Mannigfaltig¬
keit sei erwähnt, daß Bacillenträger mittels
dieser Behandlung von ihren Bacillen be¬
freit wurden (Karell und Lucksch) (13),
daß parenterale Eiweißzufuhr raschere
Narben- und Callusbildung anregen soll,
-endlich daß auch bei Kampfgaserkran¬
kungen durch die Milchinjektionen Er¬
folge erzielt wurden (v. d. Velden) (14),
indem es zu rascherer Abstoßung des
zerfetzten Gewebes kam.
Die letzte Frucht auf dem Gebiete
'der Milchtherapie ist die eingangs er¬
wähnte Arbeit von Schmidt und
Kraus (1) „Über Proteinkörpertherapie
bei Tuberkulose“, in welcher R. Schmidt
zusammenfassend den Eindruck seiner
klinischen Erfahrungen in dem Satze
wiedergibt: „Was die Tuberkulin¬
therapie leistet, scheint die Milch¬
therapie auch zu leisten“.
Schmidts Mitteilung gab die Ver¬
anlassung, nachdem bis dahin auf unserer
Abteilung nur gelegentlich Milchinjektionen
gemacht worden waren, systematisch alle
-einschlägigen Fälle mit Milch zu behandeln.
Äußere Verhältnisse zwangen mich leider
zu vorzeitigem Abbruch der Versuche, so
daß ich nur über 55 mit Milchinjektionen
behandelte 'Fälle verfüge, nämlich über
4 Ruhrfälle, 2 Anämien, 1 Hämophilie,
1 Carcinom, 3 Fälle von Sepsis, 1 Ery¬
sipel, 8 Fälle von Gonorrhöe und ihren
Komplikationen, 10 Fälle von subakuten
und chronischen Arthritiden und 25 Fälle
von Tuberkulose und Tuberkulose¬
verdacht. Ist dies Material auch zu
klein zu einer allgemeinen Würdigung
der Milchbchandlung, so gestattet es doch
eine Stellungnahme zu den oben erwähn--
ten drei Thesen Schmidts über die
Wirkung von Milchinjektionen bei Tuber¬
kulose.
In drei'meiner Ruhrfälle war die Prognose
von vornherein recht günstig; sie verliefen unter
der Lacbehandlung genau wie aridere gleichgeartete
Fälle. Bei dem vierten mittelschweren Falle war
nicht die geringste Wirkung der wiederholt vor¬
genommenen Milchinjektionen zu beobachten, die
Heilung verlief bei dem kräftigen Patienten recht
langsam.
Eine perniziöse Anähiie bekam nach wieder¬
holten Lacinjektionen keine Fieberreaktion, bei
einer sekundären Anämie betrugen die Tempera¬
turen nach drei Injektionen von je 5 ccm Lac
38,6, 37,7 und 37,2. In beiden Fällen bestätigte
sich also nicht die Beobachtung Schmidts,
daß Anämien auf Milchinjektionen mit besonders
starkem Fieber reagieren. Die Behandlung hatte
in beiden Fällen nicht den geringsten, auch nur
zeitweiligen Erfolg. Im ersten Falle kam es nach
drei Monaten zum Exitus. Der zweite erholte sich
monatelang nicht, obgleich die Magenblutung, an
welche sich die anämischen Erscheinungen ange¬
schlossen hatten, sofort nach der Einlieferung
stand und auch okkulte Blutungen später niemals
festgestellt wurden. Ich hatte eigentlich in diesem
letzten Falle große Bedenken, die Milchtherapie
anzuwenden, da nach Schmidts Anschauungen
über „Herdreaktionen“ (15) an dem Ulcus eine
Herdreaktion und damit die Gefahr erneuter
Blutung zu befürchten^war. Auch in dem Falle
von Hämophilie bestanden ähnliche Bedenken.
Aber auch in diesem Falle blieben die befürchteten
Folgen aus, vielmehr standen die Nierenblutungen,
die den Patienten ins Krankenhaus geführt hatten,
in kurzer Zeit.
Bei dem einen Fall von Carcinom bestätigte
sich die Angabe Schmidts, daß Carcinome keine
Fieberreaktionen aufbringen. Irgendeine * Ver¬
änderung in den Krebsknoten, die als Zeichen von
Protoplasmaaktivierung hätte gedeutet werden
können — v. d. Velden will derartige Befunde
erhoben haben —, konnte unser Prosektor Herr
Dr. Koch nicht nachweisen.
Eine Sepsis und eine Pyämie blieben durch
Lac völlig unbeeinflußt, die zweite Pyämie, bei
der im Blut hämolytische Streptokokken festge¬
stellt wurden, bei der aber Allgemeinbefinden und
Pulsbeschaffenheit für eine relativ günstige Pro¬
gnose sprachen, besserte sich unter den Lacinjek¬
tionen auffallend rasch. Auch der ziemlich schwere
Erysipelfall heilte nach zweimal 10 ccm Lac
sehr schnell.
Im Gegensatz zu den Mitteilungen Müllers
gelang die Heilung einer gonorrhoischen
Urethritis ziemlich rasch durch drei Wochen
lange Lacbehandlung, während bei zwei Adnex¬
erkrankungen eine heilende Wirkung vermißt
wurde. Bei drei gonorrhoischen Arthritiden habe
ich die Milchinjektionen erst nach ihrer Heilung
vorgenomtnen, um die Wirkungen von Lac und
Tuberkulin auch an tuberkulosefreien Individuen
zu vergleichen — hierüber wird unten berichtet
werden; für die iBeurteilung des therapeutischen
Effekts der Milchinjektionen scheiden diese Fälle
aus. Von zwei weiteren Fällen gonorrhoischer
Arthritis blieb der eine trotz Anwendung von
neun Injektionen ä 5 ccm gänzlich unbeeinflußt,
während es bei dem andern den Anschein hatte,
als wenn durch eine Lacinjektion eine beginnende
gonorrhoische Arthritis kupiert worden sei. Das
Mädchen litt an einer gonorrhoischen Urethritis,
bekam plötzlich hohes Fieber, und es stellten sich
Schmerzhaftigkeit, Rötung und Schwellung des
140
Die Therapie der Gegenwart 1920
Aprir
linken Handgelenks ein; auf 5,0 ccm Lac erfuhr
das Fieber nicht wie sonst eine Steigerung, sondern
Fieber und Entzündungserscheinungen gingen
rasch zurück. Bei der ersten erfolglos behandelten
gonorrhoischen Arthritis war nach einer Injektion
die von R. Schmidt so stark betonte Euphorie,
von der unten des näheren gesprochen werden
soll, angedeutet.
Es folgen jetzt die zehn Fälle von subakuter
s und chronischer Arthritis, von denen vier gleich¬
falls aus den eben angeführten Gründen für die
therapeutische Beurteilung ausfallen. Von den
übrigen sechs Arthritiden habe ^ ich zwei außer
mit Milch auch mit intravenösen Jodcollargol-
injektionen behandelt, die ja nach Weichhardts
Vorstellungen (5) ähnlich wie die Lacinjektionen
wirken sollen, indem es durch das kolloidale
Metall im Körper zur Abspaltung von körper¬
eignem Eiweiß kommen soll. Ich habe bei der
einen Patientin 13, bei der andern 20 intravenöse
Injektionen gemacht; die eine bekam nur ein ein¬
ziges Mal, die andern nur zweimal Fieber, während
die mit Lac behandelten Fälle nahezu regelmäßig
mit Fieber reagierten. Eine Ähnlichkeit in der
Wirkung beider Mittel bei chronischen und sub¬
akuten Arthritiden konnte ich pur in der therapeu¬
tischen Erfolglosigkeit erblicken. Alle sechs
Fälle von chronischer und subakuter Arthritis
blieben in ihrem Verlauf durch Lac und intra¬
venöse Jodkollargolinjektionen in gleicher Weise
unbeeinflußt. Was die Dosierung anlangt, so
wurden nur größere Mengen 5,0—10,0 in drei-
bis viertägigen Intervallen verwendet; die -Be¬
handlungsdauer betrug^ gewöhnlich nicht unter
drei Wochen.
ln den 25 Fällen von Tuberkulose
beziehungsweise Tuberkuloseverdacht (in¬
aktiver Tuberkulose) wurden insgesamt 83
subcutane und intramuskuläre Milch¬
injektionen gemacht, und zwar wurde
entsprechend Schmidts Vorschriften meist
mit V 2 ccm begonnen und auf 1 und
2 ccm, in einigen Fällen auch auf
5 ccm gestiegen. Eine Mitteilung der
Krankengeschichten muß unterbleiben mit
Rücksicht auf den zu Gebote stehenden
Raum; sie erübrigt auch, da über besondere
oder auffallende Vorkommnisse in keinem
Falle zu berichten ist. Unsere Aufmerk¬
samkeit galt entsprechend den ein¬
gangs wiedergegebenen Schlußfolgerungen
Schmidts erstens den Allgemein-, zwei¬
tens den Herd- und drittens den Lokal-
(Cutan- und Stich-) reaktionen.
1. Bei den 30 oben beschriebenen
Fällen von nichttuberkulösen Erkran¬
kungen, die ich mit Milchinjektionen be¬
handelte, bildete das Auftreten von Fieber
und damit verbundenen Allgemeinsym¬
ptomen die Regel. Allerdings sind vier
Ausnahmen zu verzeichnen, in denen die
Milchinjektionen keinen Temperaturanstieg
bewirkten; und in sechs Fällen trat das
Fieber nicht gleich nach der ersten,
sondern nach der zweiten oder einer noch
späteren Injektion auf. Immerhin ist
danach die pyrogenetische Reaktion nach
Milchinjektionen eine ziemlich allgemeine.
Und darum ist es in keiner Weise über¬
raschend, daß auch die mitMilch gespritzten
25 Tuberkulösen, beziehungsweise der
Tuberkulose Verdächtigen mit drei Aus¬
nahmen Temperatursteigerungen auf¬
wiesen. Eine solch allgemeine fieber¬
machende Wirkung kann man dem Alt¬
tuberkulin in den nach Schmidt vergleich¬
baren Dosen nicht zuschreiben. Das ist
in der Literatur längst festgestellt; ich
habe aber gleichwohl noch bei klinisch
vonTuberkulosefreienPersonen Injektionen
mit 1 bis 10 mg Alttuberkulin vor¬
genommen; nur in zwei Fällen trat wie
nach Lac auch nach Alttuberkulin Fieber
auf, ein Fall reagierte nur nach Alt¬
tuberkulin mit Fieber, in den übrigen
acht Fällen blieb nach Alttuberkulin jede
Temperatursteigerung aus, während auf
Lac die übliche Temperaturerhöhung ein¬
trat.. Daraus erhellt zur Genüge, daß die
oben besehriebenen pyrogenetischen Effekte
parenteraler Milchzufuhr von Alttuberkulin
nicht in gleicher Weise ausgelöst werden.
Es sei hier nicht untersucht, was die
Allgemeinreaktion nach Alttuberkulin be¬
sagt, aber ein beträchtlicher Unter¬
schied zwischen parenteraler Lac-
und Alttuberkulin Wirkung kann schon
in Hinsicht auf den pyrogenetischen
Effekt nicht bestritten werden.
Ich häbe im vorstehenden für die
Allgemeinreaktionen nur die objektiv
meßbare Temperatur als Maßstab ge¬
nommen und ich bin auch der Meinung,
daß das Fieber das wichtigste Charakte¬
ristikum der Allgemeinreaktion ist und die
anderen Allgemeinsymptome Begleit- und
Folgeerscheinungen darstellen, wie sie jedes
Fieber mit sich bringt. Gleichwohl bin
ich der Betrachtungsweise R. Schmidt's
gefolgt, welcher unterscheidet „eine nega¬
tive Phase, die mit einem Minus an
Wohlbefinden, Fieber, einer Reihe objek¬
tiver und subjektiver Zeichen, Schmerzen
auf der Brust, die häufig topographisch
den tuberkulösen Veränderungen des
Lungenparenchyms entsprechen, einher¬
geht;“ nach Abklingen dieser negativen
Phase soll die positive Phase folgen,
die sich angeblich in einer ausgesprochenen
Euphorie äußert. Die Zahl der Fälle,
in denen abgesehen vom Fieber.noch be¬
sonders auffallende Zeichen von Unbehagen
und Schmerzen zu konstatieren waren, in
denen ich also von einer negativen Phase
im Sinne Schmidts glaubte sprechen zu
können, beträgt 17, und zwar handelt es
sich dabei um neun tuberkulöse und acht
April „ Die Therapie der Gegenwart 1920 141
mit einer anderen Krankheit behaftete
Personen. Über daö Abklingen dieser
negativen Phase waren die Patienten
natürlich froh, aber eine deutliche, als
ausgesprochene Euphorie anzusprechende
positive Phase habe ich nur bei drei
Tuberkulösen und auch unter den anderen
Krankheitsgruppen nur dreimal feststellen
können. Sehr in die Augen springend,
sozusagen objektiv sichtbar war die
Euphorie eigentlich in keinem Falle, aber
da ich mit besonderer Aufmerksamkeit
darauf fahndete, habe " ich sie immerhin
in diesen sechs Fällen notieren können.
Meine Beobachtungen weichen also
auch in diesem Punkte von den Re¬
sultaten R. Schmidts ab.
Nicht eindeutig sind meine Erfahrun¬
gen hinsichtlich der von Schmidt be¬
tonten Gewöhnung. Ich konnte diese
allerdings nur in einem Teile meiner Fälle
prüfen, bei denen eine größere Reihe von
Injektionen vorgenommen wurde, und von
ihnen scheiden noch einige aus, bei denen
der Eigenfieberverlauf der Krankheit eine
Beurteilung unmöglich macht. Es kommen
daher für diese Frage nur 20 von meinen
Fällen in Betracht, darunter sieben mit
Lungentuberkulose, während die übrigen 13
den anderen Krankheitsgruppen angehören.
Unter diesen r3 Fällen habe ich bei sieben
Patienten eine Gewöhnung insofern fest¬
stellen können, als sie stets auf jede fol¬
gende Injektion mit einer niedrigeren Tem¬
peratur reagierten, so daß zur Auslösung
von Reaktionen immer höhere Dosen not¬
wendig wurden. In vier Fällen war jedoch
'das Verhalten ein umgekehrtes. Jede fol¬
gende gleichgroße Dosis löste in diesen
vier Fällen eine höhere Temperatursteige¬
rung aus als die voraufgegangene Injektion,
ln zwei Fällen trat zunächst Gewöhnung
ein; dann reagierten sie aber wieder ohne
Steigerung der Dosis mit höherem Fieber
als auf die vorhergehende Injektion. Dieses
letztere Verhalten zeigten auch zwei von
den in Betracht kommenden Fällen von
Tuberkulose, während bei drei Fällen eine
Gewöhnung im obigen Sinne und bei den
übrigen beiden Fällen d'as Gegenteil hier¬
von zu konstatieren war. Also eine ge¬
wisse Tendenz zur Gewöhnung besteht
wohl in einer Reihe von Fällen, von einer
Gesetzmäßigkeit kann aber nicht die
Rede sein.
Resümierend darf ich das Resultat
meiner Beobachtungen hinsichtlich der
Allgemeihreaktionen nach Lac und Alt¬
tuberkulin wohl dahin zusammenfassen,
daß ihr gesamter Erscheinungskomplex
den von Schmidt behauptCjten ^ Paralle-
lisfnus durchaus Vermissen ließ.
2. Was die Herdreaktionen betrifft,
so habe ich in zehn Fällen, in denen sichere
tuberkulöse Herde nachweisbar waren,
davon Abstand genommen, probatorische >
Tuberkulininjektionen zu machen. Ich
begnügte mich damit, festzustellen, wie
oft eine Verstärkung der Herderschei¬
nungen nach Lacinjektionen beobachtet
werden" konnte. Zweimal wurde eine Herd¬
reaktion als bestimmt verzeichnet, zweimal
war ^sie zweifelhaft, sechsmal khlte sie
ganz. Die Zahl der durch Milchinjektionen
ausgelösten Herdreaktionen ist danach
ziemlich gering. Da ich jedoch nicht die
Häufigkeit der nach AT-Injektionen auf¬
tretenden Herdreaktionen — die nach
allen sonstigen Erfahrungen häufiger sein
dürften —, nachgeprüft hab^, will ich aus
diesen Resultaten keine Schlüsse ziehen.
3. Zu um so bestimmteren Folgerungen
berechtigen mich aber meine eingehenden
vergleichenden Untersuchungen über die
Cutan- und Stichreaktionen, welche
meine Bedenken gegenüber der Unter¬
schätzung der specifischen Komponente
des Tuberkulins erheblich steigerten.
Ich stellte in 16 Fällen von Tuberku¬
lose oder Tuberkuloseverdacht die Pir¬
quet-Reaktion sowohl mit Alttuberkulin
als auch mit Lac an und machte bei letz¬
terer Modifikation sehr starke "Skarifika-
tionen, um möglichst viel Milch aufsaugen
zu lassen. Während der AT-Pirquet in
14 Fällen positiv ausfiel, gab es nicht
einen einzigen positiven Lac-Pirquet.
Nach einer' subcutanen AT-Injektion
flammten — was der allgemeinen Erfah-,
rung entspricht t— die Pirquets auf, nach
Lac-Injektionen trat dies nicht ein einziges
Mal ein. Danach kann ich die Behaup¬
tung Bessaus bestätigen, daß „nur, wenn
neuerlich Tuberkulin an eine Tuberkulin¬
lokalreaktion herantritt, diese eine neue
Herdreaktion gibt“. In bezug auf die Stich¬
reaktionen erhielt ich Resultate, die
gleichfalls von denen Schmidts abwichen.
Wohl sah ich in drei Fällen nach größeren
Milchdosen (5—10 ccm) entzündliche
Rötungen und Schwellungen, die sogar
recht unangenehme Nebenerscheinungen
darstellten, aber die hier in Betracht kom¬
menden Dosen von —2 ccm Milch lösten
zwar recht häufig lokale Schmerzhaftig¬
keit aus, aber niemals eine Stichreaktion,
die auch nür im entferntesten das typische
Aussehen der Stichreaktionen darbot, wie
wir sie bei den gleichen Patienten nach.
Alttuberkulininjektionen auftreten sahen.
142
Diß Therapie der Gegenwart 1920
Apni
Nach allem kann ich den weitgehenden
Parallelismus zwischen Milch- und Tuber¬
kulinwirkung, den Schmidt annimmt,
in keiner Weise bestätigen. Für die Ver¬
schiedenheit der beiden Eiweißkörper und
zugunsten der Specificität des Tuberkulins
spricht auch folgende Beobachtung. Die
Tuberkulinreaktion bleibt bekanntlich in
den einer stärkeren Reaktion folgenden
Tagen aus. Ich prüfte nun die Wirkung
von Tuberkutin nach Lac und von
Lac nach Tuberkulin, ln acht Hallen
wurde mit den Lacinjektionen be¬
gonnen, von denen zwei für die uns be¬
schäftigende Frage ausfallen müssen, weil
die Lacreaktion ausblieb. In zwei von
den sechs in Betracht kommenden Fällen
brachten nach der Lacreaktion die AT-
Ihjektionen keinen Effekt hervor. In den
vier übrigen Fällen kam es zu kräftigen
AT-Lokalreaktionen und in einem Fall
auch zu einer deutlichen Allgemein¬
reaktion. Von einer atisoluten Hemmung
der AT-Wirkung nach voraufgehender Lac¬
reaktion kann schon hiernach nicht ge¬
sprochen werden, besonders wenn man
bedenkt, daß das pyrogenetische Reaktions¬
vermögen des Alttuberkulins weit enger
begrenzt ist als das der parenteralen
Milchzufuhr. Von den zwölf Fällen, in
denen mit den AT-Inj ektionen be¬
gonnen wurde, können nur fünf verwertet
werden, weil in den anderen sieben eine
anfängliche AT-Reaktion nicht auszulösen
war. In diesen fünf Fällen wurde durch
die voraufgehende AT-Reaktion nicht ein
einziges Mal das Auftreten der Lacreaktion
gehemmt. Diese Tatsache dürfte gleich¬
falls dafür sprechen, daß beim Alttuber¬
kulin die specifische Komponente
überwiegt.
Was zum Schluß das therapeutische
Resultat der Milchinjektionen bei
Tuberkulose anlangt, so will ich für seine
Bewertung nur acht Fälle im Betracht
ziehen, bei denen ich die Behandlung
genügend lange durchführen konnte.
Keiner dieser Fälle ergab einen deutlichen
Erfolg. Bei der Indikationsstellung hatte
ich mich nach den für die Tuberkulin¬
behandlung geltenden Regeln gerichtet
und nur mittelschwere Fälle ausgewählt
Trotzdem kamen iwei Fälle, die sich
allerdings schon an der unteren Grenze
des Zustandes befanden, den man noch
dem mittleren Stadium zurechnen kann,
die aber immerhin bis dahin nur hin und
wieder subfebrile Temperaturen aufwiesen,
ins Fiebern und verschlechterten ^sich
rasch. Besonders in dem einen Falle
glaube ich clje Schuld an dem rasch pro¬
gedienten Verlauf den Mikhinjektionen
zuschieben zu müssen. Bei den anderen
Patienten sah ich keine Schädigung, ab¬
gesehen vielleicht noch von einer im An¬
schluß an eine Milchinjektion auftreten-'
den Hämoptoe, dafür aber auch nicht
den geringsten Nutzen. Bei der einzigen
Patientin, bei der eine Gewichtszunahme
verzeichnet wurde, gelang trotz über sechs
Wochen währender Behandlung die Ent¬
fieberung nicht, so daß ich keine Veran¬
lassung habe, in diesem Falle die Ge¬
wichtszunahme der Milchbehandlung zu¬
zuschreiben. Bei zwei weiteren Fällen
wurde Gewichtsabnahme, bei zwei anderen
Gewichtsstillstand konstatiert. In keinem
Falle wurden Verminderung des Sputums,
Verlust oder Abnahme der Tuberkelbacillen
oder Rückgang der physikalischen Er¬
scheinungen verzeichnet.
Also auch in dieser Hinsicht wider¬
spricht mein Ergebnis den Erfahrungen
*Schmidts, und ich sehe keinen Anlaß,
den Ersatz der Tuberkulintherapie,
die in geeigneten Fällen bei richtiger An¬
wendungsweise Gutes leistet, durch eine
Milchtherapie für irgendeinen Fall
von Lungentuberkulose empfehlen
zu sollen.
Literatur: 1. R. Schmidt und O. Kraus
(M. Kl. 1919, Nr. 21). — 2. Rumpf (D. m. W. 1893,
Nr.41). — 3. Krauß (W. kl. W. 1915, Nr. 21). —
4. Lüdtke (M. m. W. 1915, Nr. 10). — 5. Weich¬
hardt (M. m. W. 1918, Nr. 22). — 6. Weichhardt
(M. m. W. 1907, Nr. 39). — 7. Weichhardt (M.
m. W. 1915, Nr. 45). — 8. Saxl (W. m. W. 1916,
Nr. 3). — 9. Adler (W. m. W. 1917, Nr. 10). ~
10. Müller und Weiß (W. kl.W. 1916, Nr. 9). —
11. Weiß (W. m.W. 1916, Nr. 27). —12. R.Schmidt
und Kaznelson (Zschr. f. klin. M. Bd. 83 und 85).
— 13. Karen und Lucksch (W. kl. W. 1916,
Nr. 7). — 14. V. d. Ve^lden, B. kl.W.1919, Nr. 21).
— 15. R. Schmidt, Zur Frage d. Herdreaktionen
usw. (D. Arch. f. klin. M., Bd. 131, H. 1 und 2).
Die Behandlung des Ulcus cruris
als Nebenbeschäftigung für Ärzte, besonders kriegsbeschädigte.
Von Sanitätsrat Dr. E. Glasen, Itzehoe.
Die lange, schwere Zeit des Krieges ’ ^ - ‘
liegt nun hinter uns, aber vor uns liegt
die noch viel schwerere und längere Zeit
des uns gewordenen Friedens, die für
viele mit einem Aufbau aus Trürnmern
zu beginnen fiat, auch für viele Ärzte.
In der langen Zeit ihrer Abwesenheit
haben auf dem Felde ihrer früheren
April
Die Therapie der Gegenwart 1920
143
Tätigkeit Veränderungen und Verschie¬
bungen stattgefunden, die eine entschie¬
dene Schädigung bedeuten, und die sieh
nicht ohne weiteres ändern lassen. Aber
nicht nur das. Nicht wenige kehren aus
dem Felde zurück mit geschädigter Ge¬
sundheit und verminderter Leistungs¬
fähigkeit, die ihnen verbietet, ihre alte
Arbeit in früherem Umfange wieder auf¬
zunehmen. Diesen wie jenen müssen not¬
wendigerweise die Verhältnisse den Ge¬
danken nahelegen, ihre Tätigkeit nach
einer anderen Richtung hin zu erweitern,
um durch eine — vollständig standes¬
gemäße, ihr^ übrige Arbeit nicht im min¬
desten beeinträchtigende — Nebenbe¬
schäftigung den entstandenen Ausfall
auszugleichen. Diesen Erwägungen ein
Ziel und eine Richtung zu geben, ist der
Zweck folgender Zeilen.
Es möge mir daher gestattet sein, auf
ein bisher so gut wie vollständig brach
liegendes Gebiet ärztlicher Betätigung
hinzuweisen, das von mir seit drei Jahr¬
zehnten mit großen therapeutischen wie
pekuniären Erfolgen ausgebaut worden ist,
auf die spezialistische Behandlung des
Ulcus cruris. Zunächst wird diese Emp¬
fehlung allerdings wohl manches un¬
gläubige Kopfschütteln auslösen, denn
die Behauptung, daß ein Arzt auf die Be¬
handlung des Ulcus cruris seine Existenz
gründen könne oder solle, erscheint den
meisten denn doch gar zu weitgehend und
gewagt, darum habe ich sie zunächst auch
nur als Nebenbeschäftigung empfohlen.
Denn wieviel Ulcus cruris bekommt man
überhaupt als Arzt zu sehen? Kaum der
Rede und noch weniger der Beachtung
wert. Aber gerade in dem letzteren Um¬
stande, daß der praktische Arzt dieses so
außerordentlich verbreitete Leiden in der
Regel gar keiner Beachtung zu würdigen
pflegt und die wenigen Kranken, die ihn
in ihrer Verzweiflung wirklich einmal
um seine Hilfe angehen, immer wieder
mit der ihnen schon hinlänglich als un¬
wirksam bekannten essigsauren Tonerde
abspeist, ist ja die Ursache, daß die Krank-
ken mit ihrem schweren Leiden gar nicht
erst zum Arzte gehen, sondern sich lieber
allen möglichen Kurpfuschern anver¬
trauen. Der praktische Arzt steht nun
einmal in dem Rufe, Varicen und Ulcus
cruris nicht heilen zu können. Kein Wun¬
der, cfaß die wenigsten Ärzte eine Ahnung
davon haben, wie viele und sehr dank¬
bare Kranke sie haben könnten, wenn sie
nur die Hand danach ausstreckten. Mir
ist es seinerzeit gar nicht anders gegangen.
Als ich vor nunmehr 30 Jahren die Be¬
handlung des Ulcus cruris kennen lernte,
begann ich aus reinem Interesse an der
Sache und aus der reinen Freude an ihren
vorzüglichen Heilerfolgen dieselbe aus¬
zuüben. Ich betrieb die Sache völlig
nebensächlich und kam daher zunächst
nur langsam vorwärts. Aber allmählich
änderte sich das Bild ganz von selbst.
Der Kranken wurden immer mehr und
nahmen nach und nach meine Zeit und
Kräfte so vollständig in Anspruch, daß
ich meine übrige Praxis aufzugeben ge¬
nötigt war und nun schon länger als' ein
Jahrzehnt ausschließlich und zu meiner
größten Befriedigung — wozu allein
schon die völlige Freiheit von jeder
Kassenpraxis das ihrige beiträgt — die
Behandlung des Ulcus pflege.
Die Varicen und das zu ihnen ge¬
hörende Ulcus cruris stellen eine der häu¬
figsten Krankheiten der ,,gesunden‘‘
Leute aus den arbeitenden und gewerbe¬
treibenden Ständen dar; es ist ganz auf¬
fallend, wie selten man unter den Vari-
cösen andere chronische Erkrankungen
(als höchstens einmal Lues) vorfindet. Die
Varicosität ist eine ausgesprochen erb¬
liche Krankheit, die sich erst Jahre nach
der Pubertät zeigt, vorwiegend bei den
Frauen. Sie besteht in einer chronischen,
wie mir scheinen will, angioneurotischen
Lähmung der Venen der unteren ,^xtre-
mitäten sowie des Mastdarmes (Hämor¬
rhoiden), seltener auch der Genitalien mit
einer Erweiterung und Verlängerung des
Venenrohrs und einer ausgesprochenen
Blutstase oder „Blutstockung“. Schon
in den ersten Anfängen der Krankheit
kommt es durch die Venectasie mit Blut¬
stase in einzelnen besonders stark er¬
weiterten Venen durch Gerinnung des
Bluts zur Entstehung von Thrombosen.
Man findet dieselben im Bereich des
Unterschenkels und zwar als eine außer¬
ordentlich häufige und sehr kennzeich¬
nende Anfangserscheinung der Krankheit,
oft genug als einziges deutliches An¬
zeichen für die vorhandene Varicosität;
im Anfang bleibt es bei einzelnen Throm¬
bosen, im weiteren Verlauf aber treten
in manchen Fällen immer neue zu den
alten hinzu, so daß es zur Bildung von
Massenthrombosen kommt, zur Ent¬
stehung von großen Thrombosenpaketen,
die als brettharte, knotige Masse mit
großer Vorliebe die Nische ausfüllt, die
durch den M. soleus und die Achillessehne
gebildet wird und als solche mit ihren
chronischen, und subchronischen Ent-
144
Die Therapie der Gegenwart 1920
April
Zündungszuständen gern Anlaß , zur
Entstehung von Ulcus cruris gibt, ob¬
gleich diese Massenthrombosen auch in
sehr vielen anderen Fällen Jahre und
jahrzehntelang eine ganz harmlose Rolle
spielen können. Man'muß dabei aber
immer festhalten, daß diese Thrombosen
nicht als die Folge von etwa vorhandenen
Ödemen oder^^Stauungen, sondern viel¬
mehr als ihre Ursache anzusehen sind, denn
sie waren schon Jahre und Jahrzehnte
früher da, als diese Stauungen, genau so
wie die Erweiterung der Venen, die Varicen.
Ähnlich verhält es sich auch mit dem
Ulcus cruris. Auch dieses zeigt in seinem
Auftreten eine völlige Unabhängigkeit
von allen übrigen, sichtbaren Erschei¬
nungen der Varicosität. Es kann bei
einem Varicösen die ally;erste Erschei¬
nung der vorhandenen Anfage sein und
kann sich andererseits als das scheinbare
Endygebnis jahrelanger Vorbereitungen
zeig'enT Bei der außerordentlich großen
Vielgestaltigkeit, unter der das Ulcus
cruris auftritt, ist es gar nicht leicht, eine
zutreffende Beschreibung zu geben, aber
das erscheint an dieser Stelle auch gar
nicht so nötig, denn mehr oder weniger
ist das Ulcus cruris wohl jedem Leser
bekannt; weniger schon, daß sein weitaus
bevorzugter Lieblingssitz die Gegend um
den inneren Knöchel mit Ausschluß des
vorderen Randes ist, erst danach kommt
der äußere Knöchel sowie das untere
Drittel des Unterschenkels in Betracht.
Am Fuß kommt das Ulcus cruris nur an
der hinteren Hälfte des inneren und
äußeren Randes vor; Fußsohle, Fu߬
rücken, Achillessehne ^sowie die Zehen
bleiben ohne Ausnahme von dem Ulcus
varicosum frei; hier vorkommende Ge¬
schwüre sind entweder luischer Natur
oder Fortsetzungen von varicösen Ge¬
schwüren in der Nachbarschaft.
Gestalt und Größe des Ulcus cruris
unterliegen den allergrößten Verschieden¬
heiten; anfangs pflegt es nur linsengroß
zu sein und bringt es in der Regel nur bis
zur Groschengröße; aber Geschwüre von
Fünfmarkgröße gehören keineswegs zu
den Ausnahmen, aber solche von 10 cm
Durchmesser sind doch schon keine all¬
täglichen Erscheinungen, bilden jedoch
keineswegs den Gipfel des Erreichbaren,
denn es gibt Ulcera, die ringförmig den
Unterschenkel umgreifen und dabei eine
Breite voh 20 cm und mehr aufzuweisen
haben. Im übrigen sind diese ringförrnigen
Geschwüre der Heilung ebenso zugäng¬
lich wie jedes andere Ulcus.
Eine sehr große Rolle im Verlauf des i
Ulcus cruris spielen die Schmerzen, die i
aber merkwürdigerweise nicht mit der
Größe des Geschwürs wachsen; es sind |
vielmehr die kleinen Geschwüre, die ver- :
hältnismäßig die stärksten Schmerzen !
verursachen und die Kranken zur Auf- ;
suchung ärztlicher Hilfe veranlassen,
während die großen und lange bestehen- '
den bei weitem nicht in dem erwarteten !
Maße schmerzhaft sind. !
Viel wichtiger erscheint die Be¬
sprechung der Bedürfnisfrage: Ist es wirk¬
lich nötig für die vorhandenen Kranken
und lohnt es sich für den Arzt, diesem
bisher schon auf der Universität so gänz¬
lich mißachteten Zweige der Heilkunst
größere Aufmerksamkeit und Mühe zu
widmen? Über die Bedürfnis-frage von
seiten der Kranken wird wohl nicht der
leiseste Zweifel bestehen können. . Allein
schon die große Zahl der Kurpfuscher auf
diesem Gebiete mit ihrem teilweise großen
Zulaufwäre ein vollgültiger Beweis für
ein vorhandenes Bedürfnis. Wie stark
übrigens dies Bedürfnis nach ärztlicher
Hilfe auf diesem Gebiet ist, zeigt allein
schon der Umstand, daß die Kranken
eine regelmäßig wöchentlich zu wieder¬
holende Eisenbahnreise von 80 bis 100 km
und mehr zu dem Arzte nicht scheuen,
wenn sie dafür die Aussicht haben, von
ihrem Leiden befreit zu werden. Und das
Material für' diese Art der ärztlichen
Tätigkeit liegt sozusagen auf der Straße,
Niemand kümmert sich darum. Die Zahl ,
der Varicösen und der an Ulcus Leidenden
ist über alle Erwartung groß, jedenfalls
sehr viel größer, als die meisten ahnen; '
das ist allein schon bedingt durch die
große Erblichkeit der Krankheit. Und '
diese Kranken sind tatsächlich in hohem
Maße der ärztlichen Hilfe bedürftig, denn
die an Krampfadern und noch mehr die
an Ulcus Leidenden sind durch ihr Leiden
mehr oder weniger nicht nur dauernd in
ihrer Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt für
Jahre und Jahrzehnte, sondern werden
auch durch ihre Schmerzen, die nicht
selten ans Unerträgliche grenzen, zu dem
Arzte hingenötigt, der sich mit ihrer Be-
handlung befaßt. Es wäre ganz unbe¬
greiflich, daß sich die Ärzte mit diesem
so ungemein verbreiteten Leiden so gar
nicht zu befassen pflegen, wenn nicht die
Universität den werdenden Arzt
auf diesem überaus wichtigen Gebiete
völlig im Stiche zu lassen pflegte, was
allerdings seinen Grund wieder darin
hat, daß man bis jetzt ein einfaches, zu-
April
Die Therapie der Gegenwart 1Ö20
14^
verlässiges Heilverfahren dagegen nicht
kannte. Das hätte freilicTi anders sein
können und müssen, seit Unna seit An¬
fang der achtziger Jahre seinen Zinkleim¬
verband bekannt gemacht hatte. Nach¬
dem ich nun den Leimverband seit
dreißig Jahren erprobt und bewährt ge-.
funden habe, kann ich denselben\iur aufs
angelegentlichste empfehlen, nicht nur
als zuverlässiges Heilverfahren für die
kranken, sondern auch als die Quelle
reicher und ertragreicher Tätigkeit für
den Arzt, namentlich für kriegsbeschä-
digte und andere in ihrer Leistungstätig¬
keit beeinträchtigte, an dem sie viel
Freude erleben werden nach jeder Rich¬
tung hin. Denn der Zinkl\eimverband ist
ein wirkliches und zuverlässiges Heil¬
mittel, sowohl für die Varicen, wie auch
für das schlimmste, selbst das größte
ringförmige Ulcus. Es gibt kaum ein
Ulcus, das nicht heilbar wäre, wenn auch
zugestanden werden muß, daß einzelne
Ulcera auch unter dem Zinkleimverbande
nur zögernd Anstalten zur Heilung
machen. Aber das sind, wie gesagt, immer
nur Ausnahmen, und wenn man die sicht¬
baren und vor aller Augen liegenden Er¬
folge dieser Therapie vergleicht mit den
Erfolgen auf manchen anderen Gebieten
ärztlicher Tätigkeit, so halten sje jeden
Vergleich aus.
Bei alledem ist das Heilverfahren so
überaus einfach, daß jeder Arzt ohne
Vv-eiteres an seine Ausführung gehen kann.
Es ist ja gewiß sehr gut, wenn man sich
die Sache nicht recht zutraut, einen
ein- bis zweiwöchigen Einführungskurs
durchzumachen, um von vornherein mit
einer größeren Sicherheit dazustehen,
aber durchaus notwendig ist ein solcher
nicht, man kann auch ohne ihn auskom-
men. Es handelt sich im Grunde doch um
weiter nichts, als um die Anlegung einer
Rolibinde um den vorher mit Zinkleim
bestrichenen Fuß und Unterschenkel mit
einem gewissen Zug an der Binde während
des Anlegens der Binde. Der Verband ist
bei Varicen und Ulcus völlig gleich, nur
tritt beim Verbände des Ulcus noch die
Versorgung des letzteren hinzu. Ich kann
an dieser Stelle die Art der Anlegung des
Verbandes nur ganz kurz schildern und
muß wegen der Einzelheiten auf meine
Sonderschrift über diesen Gegenstand^)
verweisen. Es wird alBo zunächst nach
E. Glasen, Ulcus cruris und Varicen und
ihre-Behandlung, ein ,,Sonderfach'' für den prak¬
tischen Arzt. Berlin j919, Urban & Schwarzen¬
berg.
der Einpinselung der Hacke mit Zinkleim
durch ein etwa 20 cm langes Stück einer
12 cm breiten Binde eine Art Kappe über
die Hacke gebildet, indem man dasselbe'
von unten und hinten her nach vorn und
oben über die eingeleimte Hacke legt;
darauf wird der vorher eingeleimte Fuß
mit einer 8 cm breiten Mullbinde ver¬
mittels der bekannten Steigbügel- oder
Achtertouren bis über die Knöchel,ver¬
bunden, wobei der Fuß durchaus recht¬
winklig zum Unterschenkel gehalten wer¬
den muß; nun wird das Ganze, Verband
der Hacke samt dem ,des Fußes, in ganz
derselben Weise noch einmal wiederholt.
Zum Verbände des Fußes bedient man
sich am besten eines kleinen dreibeinigen
Bockes von Stuhlhöhe, kann aber in Er¬
mangelung eines solchen dazu auch einen
gewöhnlichen hölzernen Stuhl benutzen,
über'dessen Ecke man den Unterschenkel
so legt, daß der Fuß frei schwebt. Den
Unterschenkel verbindet man, indem man
ihn bei fast rechtwinklig gebeugtem Knie
gegen die Vorderkante des Bockes (Stuh¬
les) stemmen läßt und in derselben .Weise
zweimal hintereinander mit einer 10 cm
breiten Mullbinde verbindet. Schließlich
wird der ganze Verband in ein Stück
Seidenpapier eingeschlagen zur Verhinde¬
rung des Anklebens des Verbandes an den
nun sofort angezogenen Strumpf. Dieser
Verband ist bei offenem Ulcus alle acht
Tage, bei Varicen alle zwei bis vier Wochen
zu erneuern. Selbstverständlich hat man
bei jedem Verbandwechsel das Ulcus noch
besonders zu versorgen. Der Kranke-hat,
wenn er am Orte wohnt, den Verband im
Hause abzunehmen,-das Ulcus ist dann
vom Arzte zu reinigen, nach Bestreuung
mit einem Wundpulver mit einer Mull¬
kompresse zu bedecken und dann darüber
der Leimverband anzulegen; als Wund¬
pulver wird in der Regel Vioform ver¬
wendet; bei Uleeris, die bis in die Cutis
reichen, bei denen es also auf Ersatz der
Cutis (durch Narbengewebe) ankommt,
sind die sogenannten oxydiereudenWund-
pulver am Platze, also Jodoformoderbesser
noch das Vioform mit Ichthargan (oder
Campher) als 5%iger Zusatz; bei ober¬
flächlichen, abheilenden Geschwüren, Lei
denen es sich also nur noch um die Über¬
hornung handelt, bedient man sich der
reduzierenden Wundpulver, wie Xero¬
form, Dermatol und schließlich auch
wieder des Vioform, das eine Mittelstel¬
lung einnimmt. Genaue Vorschriften
lassen sich nicht geben, da sehr oft der
Rand des Geschwürs bereits im Über-
19
146 Die Theiapie der Qegenwart 1920 April
^ ^ ^ ^ ^
hornungsstadium befindlich ist, wenn die ganz verfehltes Unternehmen, mit einem
Mitte es erst bis zum Überhäutungs- nur einzelnen Teile deß Unterschenkels um-
stadium gebracht hat. Im Einzelfalle fassenden Teilverband ein Ulcus heilen
muß hier wie so oft der praktische Blick zu wollen. Solche Teilverbände wirken
des Arztes das richtige zu wählen wissen, wie die bekannten Strumpfbänder ^nur als
i Das Ulcus cruris, bekannt als die Girculationshindernisse, die zu Ödemen
i „Crux medicorum‘‘, erfreute sich bisher auf beiden Seiten des Verbandes führen,
j einer weitgehenden Abneigung in den Es wäre nun ein großer Irrtum, die
» Kreisen der Ärzte wegen seiner Totpi- Beschäftigung mit dem Ulcus cruris für
I dität, seines Mangels an Lebenstätigkeit etwas Eintöniges und Langweiliges zu
! sowie seines Mangels an Angriffspunkten halten. Allerdings tritt ja bei dem Ulcus j
, für die Behandlung, weil es zu sehr für oft genug die Haupteigentümlichkeit des- |
sich allein, zu wenig im Zusammenhänge selben, die große Torpidität, die außer- |
mit seiner Entstehungsgeschichte sowie ordentlich geringe Neigung zur Verände- i
den Verhältnissen seiner Umgebung und rung und damit zur Heilung etwas störend /
] darum^völligunzureichendbeurteiltwurde. in den Vordergrund, es zeigt sich aberj
1 Das Ulcus ist doch nicht ein zufälliger dabei eine so reiche Möglichkeit von Ab-1
I Substanzverlust, sondern das Ergebnis Wechslungen und Verschiedenheiten im j
I von chronischen Circulationsstörüngen im Verlauf und Gestaltung der Krankheit, 1
I Bereiche des ganzen Unterschenkels. Es daß man nie auslernt; denn außer dem |
1 kann daher auch nie mit rein örtlichen einfachen torpiden Ulcus gibt es ja noch j
\ Mitteln zur Heilung gebracht werden, eine ganze Anzahl von anderen Formen |
j sondern nur durch Mittel und Maßregeln, des Ulcus cruris — ich nenne nur das j •
[ die diese chronischen Circulationsstörun- luische, das callöse, das, erethische, das ;
; gen beseitigen, und das geschieht eben Ulcus in der gestrickten Narbe, das Ulcus j
^ durch den Leimverband. Der Leimver- mit Impetigo staphylogenes in der Um-j
band wirkt nicht nur durch seine mäßige, gebung u. a., die alle gekannt sein wollen |
dauernde Kompression günstig auf die und alle der Therapie zugänglich sind.
Blutstase ein, sondern er wirkt auch noch Und bei alledem darf man nicht vergessen, |
als dauernde Evakuierungspumpe für die welche Genugtuung und Freude die 1'
im Bereiche des Unterschenkels stagnie- vielen Heilerfolge gewähren, die dieser j
renden Blutmassen. Denn bei jedem Arbeit einen ganz besonderen Reiz ge- |
Schritte wird durch den Druck des Ver- währen. Ein näheres Eingehen auf alles i
bandes eine gewisse Menge stagnierenden das an dieser Stelle verbietet sich durch
Bluts im Unterschenkel im Sinne des den knappen Raum; ich kann hier nur
Venenblutstroms nach oben befördert, auf mein diesem Gegenstand gewidmetes,
Wenn auch die bei einem Schritt heraus- bereits oben genanntes Schriftchen ver-
beförderte Menge des Blutes an sich nicht weisen. Dort finden sich auch eingehende
sehr groß sein mag, so summiert sich diese Hinweise auf alle Einzelheiten der Be-
kleine Einzelwirkung bei der häufigen, handlung sowie die Beschaffung der ge-
^Wiederholung beim Gehen zu so beträcht- ringen für diesen Zweig der Therapie not-
lichen Mengen, daß der Kranke diese wendigen Zubehörteile (z. B. Zinkleim,
Wirkung alsbald an dem erleichterten Glycerin, Gelatine sowie einige kleine
Gehen‘.bemerkt, wie der Arzt an dem Gerätschaften). Dabei gebe ich mich der
verbesserten Heilungsverlaufe des Ulcus Hoffnung hin, durch den Hinweis auf eine
und der Abnahme des Volumens des außerordentlich günstige Sprechstunden-
Unterschenkels beim Abnehmen des Ver- praxis manchem kriegsbeschädigten Kol-
bandes. Der Verband wirkt aber in dieser legen einen willkommenen Dienst zu er¬
weise nur, wenn er den Unterschenkel weisen und wünsche ihm besten Erfolg
in seiner Gesamtheit umfaßt; es wäre ein dazu.
Repetitorium der Therapie.
Behandlung der Infektionskrankheiten.
Von G. Klemperer und L. Dünner.
7. Gelenkrheumatismus. Schutz vor Waschungen mit allmählich kälterem
der Erkrankung wird oft durch vorsichtig Wasser, eventuell Duschen, mit darauf¬
betriebene Abhärtung gegen Kältereize ge- folgender Trockenreibung und kurzem
geben, wie sie durch tägliche Körper- Luftbad bewirkt wird. Wer sich genügend
April
Die Therapie der Gegenwart 1920
147
abzuhärten vermag, sollte ganz auf wollene
Unterkleidung verzichten; indessen darf
man auch hier nicht schematisch Vor¬
gehen und mag disponierten Individuen
in der tolten Jahreszeit die wollene Unter¬
kleidung lassen. Eine wirksame Prophy¬
laxe liegt in der Verhütung von Anginen;
die sogenannte Sanierung der Mandeln
durch Massieren und Ausdrücken von
Mandclpfröpfen sollte stets vorgenommen
werden, wenn Gelenkrheumatismus nach
Angina entstanden ist; tritt trot 2 ^dem'neue
Angina mit folgendem Rheumatismus ein,
$0 sind die Tonsillen chirurgisch auszu¬
schälen ; die einfache Verkleinerung durch
Abkappen genügt nicht
Die Behandlung beginnt mit der Ver¬
ordnung eines Arzneimittels, von dem man
specifische Wirksamkeit erhofft: Natrium
salicylicum 10:200, zweistündlich einen
Eßlöffel, oder zweistündlich eine Aspirin¬
tablette ä 0,5 g. Sind die Nebenwirkungen
der Salicylate (Schweiße, eventuell Ohren¬
sausen, Erbrechen, Herzstörung, Albumin¬
urie) zu störend, so wendet man Pyra¬
miden oder Antipyrin oder Phenacetin
oder Atophan in den bekannten Einzel¬
dosen an. Werden die sogenannten Spe-
cifica gut vertragen, so sind sie in voller
Dosis etwa fünf Tage anzuwenden, in
welcher Zeit die Gelenkerscheinungen ^
zurückzugehen pflegen. Ist dies der Fall,
so gibt man das Mittel noch mehrere Tage
in kleineren Tagesmengen (etwa vier¬
stündlich) weiter. Erweist sich die Wirkung
auf' die entzündlichen Prozesse in den
ersten fünf Tagen sehr gering, so versucht
man es mit dem Wechsel des Mittels,
indem ein anderes Antipyreticum sich
manchmal wirksam erweist, wenn Sali¬
cylate versagen.' Länger als 14 Tage sind
die medikamentösen Versuche in der Regel
nicht fortzusetzen. Patienten, deren Ge¬
lenkentzündungen sich gegenüber Medi¬
kamenten als refraktär erweisen; sind mit
physikalischen Heilmitteln zu behandeln.
— Gleichzeitig mit der medikamentösen
Verordnung ist in jedem Fall für lokale
Behandlung der befallenen Gelenke durch
schmerzbeseitigende Ruhigstellung und
entzündungswidrige Einpackung zu sorgen.
Die Ruhigstellung geschieht durch Schienen
und Bügel; bei der Lagerung ist nament¬
lich bei längerem Verlauf an die Ver¬
hütung von Versteifung in ungeeigneter
Stellung^) zu denken; wenn die ganz
Zu vermeiden sind supinierte Handgelenke,
gestreckte Ellbogen oder Knie, Spitzfußstellung,
die Oberarme sind niemals fest an den Thorax
zu legen usw.
akuten Erscheinungen zurückgegangen
sind, ist die Gelerikstellung täglich etwas
zu ändern. Als Einpackung genügt in
einfachen Fällen Umhüllung mit Watte;
doch kann man damit von vornherein
den Versuch lokaler Beeinflussung der
Entzündung z. B. durch Jodpinselung oder
Einschmierung mit Jodvasogen oder Ich¬
thyolsalbe verbinden. Die Lokalbehand¬
lung wird von besonderer Bedeutung in
den medikamentös refraktären Fällen;
empfehlenswert ist die Einpinselung der
befallenen Gelenke mit einer Mischung
von Öl und Terpentinöl zu gleichen Teilen,
worüber ein Guttaperchaverband gelegt
wird, der 24 Stunden liegenbleibt; danach
wird die Einpinselung erneuert. Das Ver¬
fahren wird etwa acht Tage angewandt;
man kann den Gehalt an Terpentinöl
verstärken, eventuell zu reinem Terpentin¬
öl übergehen, doch ist die individuelle
Hautempfindlichkeit maßgebend. Ist man
mit der Wirkung solcher lokal-antiphlo¬
gistischer Behandlung nicht zufrieden (wie
es leider nicht selten ist), so bleibt der
Versuch mit lokaler Hyperämisierung
durch Stauungsbehandlung oder Hitze¬
einwirkung. Die erstere geschieht durch
Anlegung von Gummibinden oberhalb der
befallenen Gelenke nach den für die
Bi ersehe Stauung gültigen .Regeln; man
läßt die Staubinden zuerst V 2 Stunde,
dann täglich länger bis zu sechs Stunden
liegen, wenn sie gut vertragen werden und
die Schmerzen besänftigen. Gleichwertig
ist die Erzielung aktiver Hyperämie durch
Heizkästen, in welchen die Luft durch
elektrische Glühlantpen oder äußere Flamme
auf 60—90^ erhitzt wird. Nur in ver¬
einzelten Fällen ist die Schmerzhaftigkeit
trotz dieser Behandlung doch so stark,
daß daneben Morphium angewendet
werden muß.
Bei der Krankenpflege ist besonders
auf den Schutz vor Zugluft zu achten,
sowie auf gute, wenn auch leichte Be¬
deckung der Haut und sorgfältiges Ab¬
trocknen; öftere Abreibungen nnt Franz¬
branntwein, soweit, es der Zustand der
Gelenke gestattet, sind besonders ange¬
nehm, ln der Ernährung ist auf reich¬
liche , Flüssigkeitszufuhr zu achten viel
Milch empfiehlt sich besonders. Die Über¬
wachung des Herzens geschieht mit Rück¬
sicht auf die oft eintretende Endo- oder
Perikarditis. Das Entstehen einer Herz¬
komplikation ist auch durch große Dosen
antirheumatischer Mittel nicht zu unter¬
drücken; beim sicheren Nachweis endokar-
ditischer Zeichen sind die Medikamente
19*
148
Die Therapie der Gegenwart 1920
April
ZU verringern oder ganz fortzulassen, wenn
die* Pulsfrequenz wesentlich beschleunigt
wird. Es ist üblich, auf das bedrohte
Herz stundenweise eine Eisblase zu legen,
auch zu versuchen, den Puls durch Digi¬
talis ^wei- bis dreimal täglich 0,1 g) zu
verlangsamen. Ist die Pulsfrequenz nach
zweitägigem Digitalisgebrauch nicht zur
Norm gebracht, so ist auf das Medikament
zu verzichten. In der Rekonvaleszenz
verordnet man gegen die meist beträcht¬
liche Anämie gern Arsen. Die lange be¬
stehenden Nachschmerzen der Gelenke
werden durch Ma&sage, und Gymnastik
bekämpft gleichzeitig beginnt man durch
Waschungen mit allmählich kühler wer¬
dendem Wasser die Empfindlichkeit gegen
Kältereize zu vermindern.
8.^Sepsis. Die Behandlung beginnt
mit der Frage, ob eine Beeinflussung der
Krankheitserreger an ihrer Eintrittsstelle
möglich ist; man bringt oft eine ausge¬
sprochene Sepsis zum Stillstand, wenn
man die ursächliche Eiterung oder Ent¬
zündung beseitigt. Es ist ein Teil der
Behandlung, daß man alle paar Tage den
Patienten vollständig auf verborgene Eiter¬
herde untersucht, die vielleicht entleert
werden können. Ist die chirurgische Be¬
handlung unmöglich ode'r aussichtslos, so
ist der Versuch berechtigt, die Eitererreger
im Blut abzutöten oder abzuschwächen.
Am aussichtsreichsten ist die Verordnung
von Eucupin, welches Streptokokken
auch in eiweißreichen Lösungen wenigstens
im Reagenzglase zuverlässig vernichtet und
sich in vielen Fällen schwerer Sepsis heil¬
sam erwiesen hat. Man reicht Eucupin.
basic. 0,2, d. tal. dos. X, alle vier Stunden
ein Pulver, und wiederholt die Medika¬
tion eventuell nach einem mehrtägigen
Zwischenraum. Dabei achtet man be¬
sonders auf die Augen und unterbricht
die Darreichung, wenn der Patient über
Verschleierung des Gesichtsfeldes klagt.
An Stelle von Eucupin gibt man in der¬
selben Weise Optochin, wenn etwa Pneu¬
mokokken als Erreger der Sepsis nach¬
gewiesen sind. Bleibt diese Medikation
erfolglos, so ist ein Versuch mit andern
Mitteln, welchen der Ruf besonderer Heil¬
wirkung anhaftet, wohl erlaubt. Man kann
also von Kollargol oder Elektrokollargol in
l%iger Lösung 5 ccm jeden zweiten Tag,
im ganzen vier- bis fünfmal intravenös in¬
jizieren. Oder man gibt das altgerühmte
Chinin, die Muttersubstanz von Eucupin
und Optochin, zwei- bis dreimal täglich
0,5 g in Oblaten, wobei man freilich die
ph unangenehmen Nebenwirkungen mit
in Kauf nehmen muß. Aussichtsvoll in
schweren Fällen, die den chemischen
Mitteln trotzen, ist ein Versuch mit bak¬
teriologisch -specifischer Methodik. Man
kann es mit Antistreptokokkenserum ver¬
suchen, wovon freilich nur sehr große
^ Dosen Erfolg versprechen (an mehreren
aufeinanderfolgenden Tagen je 50 ccm
intramuskulär oder intravenös), oder, wenn
es möglich ist, mit einer Einspritzung
steigender Mengen der abgeschwächten
oder abgetöteten Krankheitserreger, wobei
der Impfstoff durch Kultur aus dem Blute
des Patienten selbst gewonnen werden muß.
Für diese Methodik bedarf man natür¬
lich der Unterstützung eines Bakteriologen
von Fach. Für Staphylokokken-Sepsis hat
die Technik unter dem Namen Opsonogen
und Leukogen fertige Vaccine zur Ver¬
fügung gestellt, die freilich im Einzelfall
der persönlichen Specifität entbehren. Bei
der Unsicherheit der kausalen Behandlung"
wird man um so größeren Wert auf die
Anwendung der allgemeinen Grundsätze
zu legen haben, denen ja in der Mehr¬
zahl der Fälle der lang sich hinziehende
Verlauf eine große Wirkungsmöglichkeit
eröffnet. Das Schicksal des Patienten
hängt nicht zum wenigsten von der Sorg¬
falt ab, mit der er' gepflegt, ernährt und
beaufsichtigt wird. Besondere Empfehlung
verdient die sehr reichliche Flüssigkeits¬
zufuhr, viel Milch, besonders aber guter
Wein, welcher nach meinem Eindruck
gerade bei schwerer Sepsis oft lebens'r
rettend wirkt.
9. Typhus abdominalis. Prophylaxe:
Da die Infektion stets direkt und indirekt
vonDejekten typhuskranker Menschen aus
geht, so ist der Schutz der Gesunden
einerseits durch peinlichste Sauberkeit der
Hände gegeben, andererseits durch Ver¬
meidung von Speise und Trank, die dem
Eindringen von Typhusbacillen ausgesetzt
waren. Wo Gefahr der Verunreinigung
des Trinkwassers besteht, wird man das¬
selbe nur abgekocht trinken. Mit dem
Genuß von Austern sei man vorsichtig,
da dieselben gelegentlich aus infizierten
Gewässern herstammen. Da fernerhin gute
Gesundheit der Verdauungsorgane das
Eindringen von Bakterien in den Organis¬
mus zu erschweren scheint, so liegt in
der Vermeidung von Diätfehlern ein ge-
gewisser Schutz gegen Typhuserkrankung.
Schließlich vermindert das Bestehen eines
kraftvollen Allgemeinzustandes die Dis¬
position zur Erkrankung trotz geschehener
Infektion. - Eine monatelang anhaltende,
wenigstens relative Immunität wird durch
April Die Therapie der
die Schutzimpfung mit abgetöteten öder
abgeschwächten Typhusbacillen erzeugt —
Der Schutz der Allgemeinheit gegen epi¬
demische Ausbreitung wird vor allem durch
Sorge für vorwurfsfreies* Trinkwasser, da¬
neben durch Überwachung der Erkrankten
gewährleistet — Da die Krankheit meist
in wochenlangem Fieber die Kräfte zu
verzehren droht und Inanition und Herz¬
schwäche eine Hauptgefahr des Verlaufs
bilden, so ist die .Pflege und Ernährung
von wesentlichster Bedeutung. Die allge¬
meinen Grundsätze der Ernährung werden
dadurch modifiziert, daß der Darm mit
seinen Infiltrationen und Geschwüren der
Schonung bedart Gröbere schlackenreiche
Kost kann Blutung und Perforation lier-
vorrufen und ist um so mehr zu ver¬
meiden, als die vorbereitende Mund- und
Magenverdauung geschwächt ist Man wird
deshalb für gewöhnlich bei der alten Tra¬
dition flüssiger . bzw. dünnbreiiger Kost
verbleiben und also in zweistündigen
P’ausen je 200—250 ccm Milch darreichen,
abwechselnd mit Mehlsuppen, die mit Ei
.abgerührt werden können, auch Mehl oder
Grießbrei, dazu Kaffee, Tee, Wein. Erst
nach achttägiger Fieberfreiheit wird man
nacheinander Zwieback, Kartoffelbrei,
püriertes Gemüse, zartes weißes Fleisch,
geschabten Schinken, Forelle reichen und
ganz langsam zur Nahrung der Gesun¬
den übergehen. Nur bei ganz leicht
fiebernden Kranken, die gut kauen können,
darf während des Verlaufs eine gewählte
feste Kost insbesondere Fleisch- und Mehl¬
speisen, gereicht werden; andererseits kann
es auch in schweren Fällen zur Pflicht
werden, vorsichtig gemischte Kost zu
reichen, wenn der Fortschritt der Krank¬
heit zur Inanition zu führen droht die
durch flüssige Kost allein nicht aufzuhal¬
ten ist oder wenn diese bei sehr langer
Dauer des fieberhaften Stadiums auf die
Dauer vom Kranken zurückgewiesen wird.
Antipyretische Behandlung ist meist er¬
wünscht Wenn die Umstände es irgend
gestatten, wird man .bei jedem einiger¬
maßen schweren Fall Bäderbehandlung
einleiten. Dann badet man, wenn die
Temperatur 39^ überschreitet wohl 2—3-
mal am Tage, des Nachts nur ausnahms¬
weise; kühlere Übergießung am Schluß
des Bades ist besonders erwünscht Vom
Eiiltreten der steilen Temperaturen sind
Bäder verboten wegen Blutungsgefahr,
ebenso selbstverständlich nach stattge¬
habter Blutung. Auch bei drohender Herz¬
schwäche und wirklicher Inanition, sowie
bei Nephritis und Otitis badet man nicht
Gegenwart. 1920 149
Besondere Behandlung verlangen oft die
Darmsymptome. Bei Verstopfung macht
man Wasser- oder Kamillentee- oder Öl-
einläufe, darf auch Ricinusöl geben. Mäßige
Diarrhöen werden nicht behandelt, über¬
steigt die Häufigkeit 6 am Tage, so gibt
man Tanninpräparate (vergleiche 1919,
S. 384), bei sehr pro'fusen Entleerungen
Opiumtinktur, eventuell mehrmals täglich
20 Tropfen. Nach eingetretener Blutung
gibt man den ersten Tag nur wenig Tee¬
löffel eisgekühltes Getränk, zugleich zwei¬
mal täglich 15 Tropfen Opiumtinktur; bei
Unruhe eine Morphiuminjektion; auf den
Leib legt man eine Eisblase. Zum Ver¬
such direkter Blutstillung macht man ein
Gelatineklystrer (250 g Gelatine auf ^/2 I
Wasser aufgekocht, lauwarm einlaufen
lassen) oder läßt 5 g Coagulen in 100 ccm
Wasser aufgelöst trinken. Starker Meteoris¬
mus wird durch kühle Leibumschläge oder
aufgelegte Eisblase bekämpft; einen ge¬
wissen Erfolg bringt von Zeit zu Zeit ein
weiches, tief in den Mastdarm eingeführtes
Darmrohr. Mäßige Bronchitis ist nicht
Gegenstand besonderer Verordnung; bei
starkem Husten macht man Brustum¬
schläge, sorgt für häufigen Lagewechsel
und läßt öfter vorsichtig hochsitzen, zur
Verhütung von Bronchopneumonie.
Die Kräftigung des Herzens ist von
großer Bedeutung; sie geschieht nach den
allgemeinen Regeln. Auch für die Be¬
handlung der Rekonvaleszenz gelten die
vorher entwickelten Grundsätze. Wichtig
sind die sanitätspolizeilichen Vorschriften.
Die Patienten sollen im allgemeinen nicht
eher völlige Bewegungsfreiheit bekommen,
als bis Bacillenfreiheit von Stuhl und
Urin in zweiimliger Untersuchung nach¬
gewiesen ist. Sind die Bacillen nach drei
Monaten nicht verschwunden, so gelten
die betreffenden Patienten bis auf weiteres
als Dauerausscheider, die ihren Abgängen
besondere Sorgfalt zu widmen haben ^)
und die namentlich vom Verkehr mit
Nahrungsmitteln fernzuhalten sind.
10. Dysenterie (Ruhr). Für die Pro¬
phylaxe sind im allgemeinen dieselben
Gesichtspunkte gültig, welche beim Typhus
dargelegt wurden. Daneben ist bei der
Ruhr den Fliegen besondere Aufmerksam¬
keit zu widmen, weil dieselben häufig
Bacillenüberträger sind. In Epidemiezeiten
2) Wenn möglich, sollen sie ihre Stuhlgänge
desinfizieren, besondere Klosetts benutzen, ihre
Leib- und Bettwäsche nach dem Gebrauch
24 Stunden in Kresolseifenlösung legen, vor allen
Dingen aber größte Sauberkeit der Hände beob¬
achten.
150 " Die Therapie der
sollte man Speisen, die. offen gestanden
haben, gar nicht oder nur frisch abgekocht
genießen. Die Schutzimpfung mit abge¬
töteten Baciilen (Dysbakta) scheint gegen
Ruhrinfektion wirksamen Schutz zu ge¬
währen.
Die Behandlung besteht, im Be¬
ginn im Versuch, die Krankheitserreger
^aus dem Körper zu entfernen oder ihre
Gifte zu binden. Man gebe also jedem
Ruhrkranken, der an einem frühen Krank¬
heitstage zur Behandlung kommt, 20 bis
30 g Ricinusöl öder 0,3 g Kalomel, zwei¬
mal in halbstündigem Zwischenraum.
Wenige Stunden nach dem Abführmittel
reiche man giftadsorbierende feingepul¬
verte Substanzen, also Carbo animalis
(welche überaus teuer ist) oder Bolus alba
(sehr billig), einen gehäuften Teelöffel in
einem halben Glas lauwarmen Wassers
aufgeschwemmt, alle sechs Stunden zu
wiederholen. Diese Medikation ist drei
bis vier Tage fortzusetzen. Hat der Pa¬
tient den fünften Krankheitstag über¬
schritten, so kann man ihm zwar noch
das Abführmittel, aber keinesfalls mehr
das Adsorbens reichen, weil dann die Ba¬
cillen schon ins Gewebe eingedrungen
sind, sodaß die Giftbindung aussichtslos
ist. In diesem Falle sucht man die ent¬
zündlichen Prozesse im Dickdarm durch
geeignete Tanninpräparate, z. B. Tannalbin^
oder Multanin, dreistündlich 0,5 g zu lin¬
dern. Auch Darmeinläufe von warmem
Kamillentee oder schwachen Tanninlösun¬
gen (0,5 ®/o) tragen zur Milderung der
•Darmentzündung bei und werden meist
angenehm empfunden. Wenn die Ent¬
leerungen sehr häufig und quälend sind
oder wenn die Patienten hettige Leib¬
schmerzen haben, ist Opium nicht zu
entbehren, wovon man nach Bedarf in
vier- bis achtstündlichen Pausen 20Tropfen
reicht.
Zugleich mit diesen medikamentösen
Verordnungen hat man für Pflege und
Ernährung des Kranken zu sorgen. Bett¬
ruhe ist unbedingt nötig, dazu ‘'gleich¬
mäßige Wärme für den Leib durch Woll-
binde oder Umschläge. Für bequeme
Stuhlentleerung ist zu sorgen; geschwächte
Patienten läßt man am besten auf Gummi¬
becken liegen. Die Ernährung soll im
Anfang reizlos und inhaltarm sein, sie
besteht nur aus Schleimsuppen, Tee mit
Kognak und warmem Rotwein, erst beim
Nachlassen der Durchfälle gibt man Zwie¬
back, Reisbrei, Grießbrei, auch weiches Ei
und zartes, weißes Fleisch. Manche
Kranke vertragen frühzeitig abgekochte
N Gegenwart 1920 / April
Milch, am besten mit Tee gemischt, even¬
tuell mit wenig Kognak. Bei Patienten,
die durch stürmische Entleerungen sehr
heruntergekommen sind, tut man gut,
sich nicht ängstlich an das Diätschema
zu halten, sondern in geeignet vorsichtiger
Weise, soweit es der Magen verträgt, die
Ernährung reichhaltiger, insbesondere
durch Verwendung von Milch, Eiern und
Butter eiweiß- und fettreicher zu gestalten.
Während des ganzen Verlaufs ist das
Herz entsprechend zu exzitieren; in Kol¬
lapszuständen ist von subcutanen oder
intravenösen Kochsalzinfusionen Gebrauch
zu machen. Die Rekonvaleszenz bedarf
auch nach anscheinend leichten Fällen
sorgfältiger Überwachung, insbesondere in
bezug auf die Diät, da Magen und Darm
sehr lange empfindlich bleiben und
Neigung zu Rückfällen bestehen bleibt
Die sanitätspolizeiliche Behandlung der
Rekonvaleszenten ist viel einfacher als
beim Typhus, da die Schlußuntersuchung
der Dejekte bei Ruhr nicht mehr gefor¬
dert wird. Das Verhalten gegenüber den
selteneren Dauerausscheidern ist dasselbe
wie beim Typhus. Chronische Ruhr wird-
behandelt wie chronische Dickdarment¬
zündung nichtspecifischen Ursprungs
(1919, S. 385).
11. Cholera asiatica. Für den persön¬
lichen Schutz wird analog den bei Typhus
und Ruhr gültigen Regeln durch peinlichste
Reinhaltung der Hände und der Nahrung
gesorgt Für einige Monate schützt die
Vaccination mittels abgetöteter Cholera¬
bacillen. Der Schutz der Allgemeinheit
in Epidemiezeiten besteht in der Isolierung
der ersten Erkrankungsfälle, der Fest¬
stellung der Bacillenträger und der Rein¬
haltung der Wasserläufe beziehungsweise
Wasserleitungen. Die Behandlung besteht
wie bei der Ruhr im Beginn in Abführung
mittels Ricinus oder Kalomel, mit darauf¬
folgender Adsorptionstherapie mittels Carbo
oder Bolus alba; in späteren Krankheits¬
tagen in der Unterdrückung der allzu
häufigen Entleerungen durch Opium und
und Tanninpräparate. Von größter Be¬
deutung ist die Ersetzung der überaus
großen Wasserverluste durch subcutane
und intravenöse Infusionen 0,9 ®/o Koch¬
salzlösung, von welcher während der
stürmischen Entleerungen täglich zwei-
bis dreimal V 2 —% Liter infundiert wird.
Wichtig ist auch die Herzexcitation
durch Coffeininjektionen. Für die Kran¬
kenpflege und die Diät gelten die bei
Ruhr entwickelten Regeln; bei lang¬
anhaltendem Erbrechen sind kleine Mor-
April
Die Therapie, der Gegeriwart 1920
m
phiumgaben zu injizieren und unter
deren Schutze Zufuhr kleiner Flüssigkeits¬
mengen — zuerst Tee und verdünnter
Rotwein — zu versuchen. Kommen die
Patienten im ganz erschöpften Zustand in
Behandlung, so sind sie im heißen Bade
2 U frottieren und danach in eine Schwitz¬
packung zu legen. Ist das Schwächestadium
überwunden, so beginnt vorsichtige Er¬
nährung wie beim Typhusrekonvaleszen¬
ten, unterstützt durch häufige rectale
Wasserzufuhr. Die allgemeine und diä¬
tetische Schonung ist sehr lange fortzu¬
setzen.
Zusammenfassende Übersicht.
Arteriosklerose.
Von Stabsarzt a. D, Dr. Gnimme, Fohrde (Kreis Westhavelland). •'
Der. ärztliche Kampf gegen den vor¬
zeitigen Tod war in den letzten Dezennien
yör dem Kriege hinsichtlich dreier wich¬
tiger Ursachen erfolgreich. Säuglings¬
sterblichkeit, Todesfälle an epidemischen
Krankheiten und an Tuberkulose sind
seltener geworden. Nicht vermindert
haben sich die Abnutzungskrankheiten,
unter denen die Arteriosklerose den wich¬
tigsten Platz einnimmt.
Im folgenden ist der Versuch gemacht.
In kurzen Zügen das wesentlichste aus
der neueren Literatur über Ätiologie,
Wesen, Diagnose, Therapie und Prognose
der Arteriosklerose übersichtlich zu¬
sammenzustellen.
Zunächst erscheint Arteriosklerose bei¬
nahe als physiologische Altersfolge. Das
trifft jedoch in Wirklichkeit nicht ganz
zu. Die Ätiologie ist eine vielseitige.
Nicht alle Menschen werden in höherem
Alter in gleicher Intensität von Arterien-
veränderungen betroffen. Gewiß ist in
Abnutzung der Arterienwandung
ein wichtiges ursächliches, richtiger aus¬
lösendes Moment der Veränderungen zu
sehen; es handelt sich aber weniger um
eine physiologische, als vielmehr um eine
pathologische Abnutzung. Die patho¬
logische Abnutzung der Schlagadern wird
durch dauernde funktionelle Über¬
lastung des Blutgefäßsystems ge¬
geben, wie solche durch fortgesetzte
schwere^ Arbeitsleistung des Körpers,
durch Überanstrengung des Geistes und
Unmäßigkeit im Essen und Trinken be¬
dingt wird. Zu reichliches <Essen und
Trinken wirkt auf dem Wege der durch
Plethora bedingten Blutdrucksteigerung,
welche hierbei ebenso wie bei Über¬
anstrengungen durch die dauernd erhöhte
Inanspruchnahme der Elastizität des Ge¬
fäßrohrs schädlich ist. Auch die durch
Mästung entstandene Fettleibigkeit för¬
dert Arteriosklerose, indem die im Fette
neugebildeten Blutgefäße, entsprechend
der dadurch vermehrten Blutmenge, die
Arbeit des Herzens vergrößern, also eben¬
falls den Blutdruck dauernd erhöhen.
Der geistigen Überanstrengung und auf¬
reibenden Lebensweise gleichwertig sind
häufige psychische Erregungen, schwere
und andauernde Gemütsdepressionen,
Sorgen und Kümmernisse.
Die Bedeutung der funktionellen Über¬
anstrengung darf als sichergestellt gelten.
Das geht schon daraus hervor, daß bei
Landleuten und Arbeitern, die während
ihres ganzen Lebens schwere Körper¬
arbeit verrichten, die Arterien der Arme
und Beine krank werden, bei Geistes¬
arbeitern aber mit Vorliebe die Schlag¬
adern des Gehirns.
Ist Arteriosklerose also keine reine
Alterserscheinung, so tritt sie doch bei
der Mehrzahl der alternden Menschen
ein und es finden sich naturgemäß ihre
höchsten Grade bei älteren Menschen.
Der Beginn des Leidens aber liegt in den
dreißiger oder vierziger Jahren, so daß
gegen Ende der vierziger^Jahre wohl nie¬
mand mehr völlig gesunde Arterien be¬
sitzt. /
Zu d.em, mechanischen Moment bei
der Entstehung der Arteriosklerose tritt
eine Anzahl toxischer Einflüsse hinzu.
Hier sind zunächst Produkte von Stoff¬
wechselkrankheiten, wie Diabetes und
Arthritis urica zu nennen, sodann Bak¬
terientoxine und rein chemische Gifte.
Bei Zuckerkranken und Gichtikern
macht Arteriosklerok leicht schnelle Fort¬
schritte zu höheren Graden,' sowohl in¬
folge direkter Schädigung der Gefä߬
wände durch die pathogenen Stoff¬
wechselprodukte, wie auch indirekt
auf dem Umwege über Nephritis und die
durch diese entstehende Herzhyper¬
trophie mit Blutdruckerhöhung.
Den Schlagadern schädliche Bak¬
teriengifte sind diejenigen von Typhus,
Scharlach, Diphtherie, Tuberkulose und
Syphilis. Doch ist die syphilitische, mit
Endarteritis beginnende Arterienverände-
' t52 Die Therapie der
rung der sonstigen Arteriosklerose nicht
ganz identisch.
Eine beachtenswerte Rolle spielen
gewerbliche' und Genußgifte, wie
Blei, Nikotin, Alkohol, Coffein. Die Be¬
deutung des Bleis steht einwandfrei fest;
über Nikotin, Alkohol und Coffein gehen
die Ansichten der Autoren etwas aus¬
einander. Auf experimentellem Wege
läßt sich mit keinem der Genußgifte echte
Arteriosklerose erzeugen. His behauptet,
daß in der Türkei Arteriosklerose selten
sei, obwohl dort viel geraucht wird. Von
Hoppe wird angegeben, daß auch alko¬
holabstinente Muselmanen ebenso häufig
an Arteriosklerose leiden, wie die gern
trinkenden Europäer. Die meisten deut¬
schen Kliniker aber sind davon überzeugt,.
das zumindest Alkohol und Nikotin bei
übermäßigem Genüsse die Arterien schä¬
digen. Die Wirkung des Coffeips bezie¬
hungsweise Theobromins ist umstrittener.
Alkohol dürfte nicht nur als rein chemi¬
sches Agens wirken, sondern außerdem
indirekt durch Blutdrucksteigerung.
Regelmäßige, übermäßige Flüssigkeits¬
aufnahme wirkt an sich zwar noch nicht
blutdrucksteigernd, wohl aber die chro¬
nische, Zufuhr reichlicher Mengen alkoho¬
lischer Getränke. Nikotin im Übermaß
ist besonders in Zigarettenform von schä¬
digendem Einfluß auf die Coronararterien
des Herzens. Die Hälfte der Kranken mit
, Angina pectoris wird von starken Rau¬
chern gestellt. Durch Rauchen gelingt
es, Anfälle von Angina pectoris auszu-^
lösen, wie auch' andererseits die Anfälle
seltener werden und ausbleiben bei völli¬
gem Entsagen des Tabakgenusses. Durch
Nikotin werden die Kranzgefäße des
Herzens verengt. Diese Tatsache dürfte
das auslösende Moment der Anfälle sein.
Mit vorstehendem ist die Ätiologie der
Arteriosklerose nicht völlig erschöpft.
Nach neueren Forschungen kommen auch
alimentäre Störungen in Frage, wo¬
bei Cholesterin von Bedeutung ist.
Ferner scheint Milchsäure, das Produkt
der Muskelarbeit, die Gefäßwände zu
schädigen. Abnormes Geschlechtsleben,
besonders Coitus interruptus, befördert
Arteriosklerose. Außerdem gibt es ge¬
legentliche Ursachen, So können Kopf¬
traumen Gehirnarteriosklerose scheinbar
auslösen, zum mindesten verschlimmern,
in der Entwicklung beschleunigen.
Wie aus allem hervorgeht, ist Arte¬
riosklerose ein mechanisches und
chemisches Problem, welches aber so
aufgefaßt werden muß, daß die genannten
Gegenwart 192Ö April
Schädlichkeiten lediglich auslösende Mo¬
mente sind, deren gradweise Wirkung
verschieden stark ist, je nach der indivi¬
duellen Disposition (Hart) oder richtiger
Konstitutio,n’ [weil es sich nicht um er¬
worbene, sondern angeborene Anlage
handelt (Löhlein)]. Zumeist wird nun
nicht ein einzelner Umstand, sondern das
Zusarhmentreffen mehrerer Schädlich¬
keiten, bei entsprechender Konstitution,
das Entstehen der Arteriosklerose aus-
Ipsen und auch weiterhin schnelle Ent¬
wicklung begünstigen. Bei üppiger
Lebensweise, splendiden Diners findet
sich von selbst eine Summation: zu viel
Nahrung, reichlich alkoholisches Getränk
und Nikotin. Je häufiger die Festlich¬
keiten, desto größer die durch sie bedingte
direkte Schädigung. Hierzu tritt indirekt
der Einfluß der durch Übermaß im Essen
und Trinken begünstigten Fettleibigkeit
oder Gicht.
Die Auffassung der Arteriosklerose
nach Schmidt als einer Stoffwechsel¬
krankheit sui generis hat etwas Bestechen¬
des an sich und würde therapeutische
Perspektiven eröffnen, ist aber nicht ge¬
nügend begründet.
Das Wesen , der Arteriosklerose be¬
steht in hyperplastischer Wucherung der
Intima und folgender "fettiger Degenera¬
tion des hyperplastischen Gewebes, woran
sich später Kalkablagerung, hauptsäch¬
lich in der Media, anschließt. Die Adven-
titia bleibt intakt. Der Vorgang beginnt
mit Einlagerung von Bindegewebe zwi¬
schen die elastischen Fasern. Das Gefä߬
rohr verliert dadurch an Elastizität. Die
zunehmende Wucherung und schließliche
Verkalkung machen die Gefäßwände
dicker und härter, dabei zugleich auch
spröde, sowie das Gefäßlumen enger.
Die Verengerung des Lumens beeinträch¬
tigt die Blutversorgung der Organe. Es
kann zu gänzlicher Verstopfung kleiner
Gefäße mit örtlichen Erweichungsherden
im entsprechenden Versorgungsgebiete
kommen. Hochgradig erkrankte Arterien
werden fühlbar hart und zeigen Schlänge¬
lungen. MH Vorliebe im Gehirne bilden
sich kleine Wandausbuchtungen, Aneu¬
rysmen. Nicht alle Arterien erkranken in
gleicher Intensität, sondern bei Schwer¬
arbeitern solche an den Extremitäten,
sonst vornehmlich diejenigen des Gehirns,,
des Herzens und der Nieren, überhaupt
des Bauches.
Die von Mönckeberg gewünschte
Trennung der Mediaverkalkung von der
eigentlichen Arteriosklerose, von patho-
April
Die Therapie der Gegenwart 1920
153
logischen Anatomen auch Atherosklerose
genannt, ist nicht nötig, was Hart mit
Recht hervorhebt. Allerdings gibt es auch
Fälle isolierter Mediaverkalkung ohne
Verfettung der Intima. Das sind aber
Ausnahmen.
Von den mannigfachen klinischen
Symptomen seien die wichtigsten hier
angeführt. Der Puls ist hart und ge¬
spannt, meist etwas verlangsamt. Die
Arterien sind starr, hart und geschlängelt,
lassen bisweilen in gänsegurgelartiger An¬
ordnung ringförmige Kalkeinlagerungen
fühlen. Der Blutdruck ist allermeist er¬
höht. Wenngleich merkliche Blutdruck¬
steigerung nach Ansicht eines Teils der
Autoren nicht unbedingt zur Arterio¬
sklerose, wenig^stens nicht im Anfangs¬
stadium, gehört, so ist doch dauernde Er¬
höhung ein pathognostisches Symptom.
Falls bei ausgeprägter Arteriosklerose der
Blutdruck normal ist, liegt eine Ernäh¬
rungsstörung der Herzmuskulatur zu¬
grunde. Die Erhöhung des Blutdrucks
ist hauptsächlich eine primäre — wir
sahen sie bereits als auslösendes Moment
für die Entstehung des Krankheitspro¬
zesses —, teilweise aber auch eine sekun¬
däre und darf in letzter Hinsicht wohl als
Kompensationsvorgang, als Selbsthilfe des
Organismus zur Überwindung des ver¬
mehrten Widerstandes der unelastischen
Gefäßwände aufgefaßt werden. Infolge
der dem Blutdruckanstieg entsprechenden
Hypertrophie des linken Ventrikels ist
der zweite Aortenton stark akzentuiert.
Die höchsten Grade von Blutdrucksteige¬
rung finden sich bei' Arteriosklerose im
Gebiete des Splanchnicus, speziell der
Nieren. Konstante erhebliche Blutdruck¬
steigerung kommt ferner durch vaso¬
motorische Reizung als Frühsymptom
cerebraler Arteriosklerose vor, darf aber
natürlich nur dann so aufgefaßt werden,
wenn Nephritis auszuschließen ist.- Die
Erkrankung der • Gehirngefäße gibt sich
dem aufmerksamen Beobachter über¬
haupt ziemlich frühzeitig zu erkennen.
Es finden sich dabei Sprachverlangsa-
mung, undeutliche Aussprache, Fehlen
der Worte mitten im Gespräche, Reiz¬
barkeit, Rührseligkeit, hysterische,
neurasthenische und hypochondrische Zu¬
stände, Schriftveränderungen, Zitter¬
bewegungen und Gedächtnisschwäche.
Häufig ist eine eigenartige Gedächtnis¬
störung derart, daß Ereignisse aus der
letzten Zeit vergessen werden, solche aus
früherer Zeit dagegen haften. Nicht alle
diese Symptome brauchen gleichzeitig
vorhanden zu sein, ziemlich oft aber
findet sich die Trias Kopfschmerz, Schwin¬
del und Gedächtnisschwäche. Bei wei¬
terem Fortschreiten werden eventuell
noch vorhandene diagnostische Zweifel
durch flüchtige Herdsymptome, wieMono-
und Hemiparesen, transitorische Augen¬
muskellähmungen, Hypoglossus- und Fa-
cialisparesen beseitigt.
Subjektive Beachtung findet die Ar¬
teriosklerose, wenn die Gefäße lebens¬
wichtiger Organe, also des Gehirns, des
Herzens und der Niere, erkrankt sind.
Kopfdruck, Schwindel, Ohrensausen, Ge¬
dächtnisschwäche, Beklemmungsgefühl
auf der Brust, schmerzhafte Empfindun¬
gen in der Herzgegend, stenokardische
Zustände, Kurzatmigkeit erregen die Auf¬
merksamkeit des Kranken. Kopfarbeiter
empfinden frühzeitig ein subjektives In¬
suffizienzgefühl hinsichtlich des Sich-
erinnerns und klagen über Erschwernis
der geistigen Konzentration. Leichte Er¬
müdbarkeit, kalte Füße, intermittierendes
Hinken, arteriosklerotisches Leibweh und
Durchfälle sind allgemeine und örtliche
Symptome, die — ohne selbst von ge¬
bildeten Patienten richtig gedeutet zu
werden — zum Arzt führen.
Über die Diagnose ist anschließend
an vorstehende Beschreibung der , klini¬
schen Symptome nicht viel zu sagen. Ini
Anfangsstadium ist Abtrennung von
Neurasthenie bisweilen nicht leicht. Kon¬
stante erhebliche Blutdrucksteigerung
wird stets auf Arteriosklerose, speziell des
Gehirns und Abdomens hinweisen. In
Zweifelfällen ist die Hertzellsche Stau¬
ungsreaktion brauchbar: unterbricht man
beim Ruhenden die Blutcirculation in
beiden Beinen und in einem Arme voll¬
ständig durch pneumatische Kompres¬
sion, so steigt der Blutdruck im anderen
Arme bei normalem Gefäßsystem um zirka
5 mm Quecksilber an, bei Arteriosklerose
dagegen bis zu 60 mm und selbst mehr.
B6i der Behandlung der Arterio¬
sklerose sind Regelung der Diät und
Lebensweise am wichtigsten. Darauf erst
folgen medikamentöse und physikalische
Therapie.
Die Lebenshaltung und Ernäh¬
rungsweise muß die ini ersten Teil ange¬
führten auslösenden Schädlichkeiten be¬
rücksichtigen und nach Möglichkeit aus¬
zuschalten oder doch zu mindern suchen.
Hier sind an erster Stelle körperliche und
geistige Überanstrengung zu nennen. Ein
Aufgeben des Berufs ist im allgemeinen
nicht erforderlich, aus psychischen Grün-
20
154
Die Therapie der Gegenwart 1920
den auch nicht einmal erwünscht. Doch
ist es vorteilhaft, eine begrenzte Arbeits¬
zeit festzusetzen, wie überhaupt eine ge¬
regelte Einteilung der Arbeit und Er¬
holung von Wert ist. Besonders wichtig
ist das Vermeiden jeder Unruhe, alles
Hastens und Jagens. Ruhiges Leben,
philosophische Weltauffassung verlang¬
samen das Fortschreiten des Krankheits¬
prozesses. Fernzuhalten sind Aufregungen
und Erregungen des Nervensystems durch
Kummer, Sorge, Haß, Ehrgeiz usw. Das
ominöse Wort ,, Gefäßverkalkung“ ge¬
brauche man nicht gegenüber dem Pa¬
tienten, zumal nicht dem gebildeten. Es
kann leicht eine schädliche, psychisch de¬
primierende, ja niederschmetternde Wir¬
kung haben. Geistesarbeitern ist das
Zwischenschalten leichter Körperbewe¬
gung, wie Spazierengehen, Zimmergym¬
nastik, zu empfehlen; ebenso alljährlich
ein mehrwöchiges vollständiges Ausspan¬
nen, am besten in landschaftlich schöner
Gegend. — Alles hier angeführte gilt
namentlich für die Gehirnarteriosklerose.
Für die Diät sei weises Maßhalten
oberster Grundsatz; also keine Luxus-
konsumption, keine Diners. Fünf kleinere
Mahlzeiten am Tage sind drei größeren
unbedingt vorzuziehen. Mäßige gemischte
Kost ist das richtige. Fortlassen des
Fleisches ist nicht erforderlich. Doch ist
eventuell stattgehabter übermäßiger
Fleischgenuß einzuschränken und liebe'r
eine mehr lakto-vegetabile Nahrung zu
bevorzugen. Das vereinzelt geforderte
Vermeiden kalkreicher Nahrung ist nicht
nötig. Völliger Abstinenz der Genu߬
mittel Alkohol^ Tabak, Kaffee und Tee
bedarf es für gewöhnlich nicht, wohl aber
des Maßhaltens. Bei Arteriosklerose der
Coronararterien, bei Angina pectoris aller¬
dings ist Rauchen gänzlich zu unterlassen.
Organische Leiden, welche rasches
Fortschreiten der Arteriosklerose be¬
günstigen, sind zu behandeln; bei Fett¬
leibigkeit ist Verminderung des Körper¬
gewichts anzustreben.
, Am besten ist der Hausarzt, da wo er
noch nach alter guter Sitte bekannt ist,
in der Lage, die gerade im Einzelfalle
wirksamen Schädlichkeiten zu erkennen
und zu beseitigen. Er vermag oft Alkohol-
und Nikotinmißbrauch wahrzunehmen
oder Gicht und Diabetes beizeiten zu be¬
kämpfen.
Aufgabe der medikamentösen
Therapie ist es, die durch die Funktions¬
störung der Gefäße hervorgerufenen Or¬
April
ganstörungen, namentlich funktioneller
Art, zu beheben, sodann aber auch die
Gefäßveränderung selbst zu beeinflussen.
Öfters gebraucht werden Mittel, welche
den Blutdruck herabsetzen, so Nitro¬
glycerin, Amylnitrit, Pilocarpin, Papa¬
verin und Thymus. Am meisten aber
wird Jod angewandt. Auch Jod setzt,
nach der Ansicht der Mehrzahl der
Autoren, z. B. Lampe, Westphal,
Zwingst, Selig, Blum, Loewy, den
Blutdruck herab, was allerdings von
einigen anderen, wie Kraus, von Noor¬
den, Laqueur, in Abrede gestellt wird.
Die Wirkung des Jod bei Arteriosklerose
ist nun aber nicht auf den Blutdruck be¬
schränkt. Bei der syphilitischen End-
arteritis und ihren Polgezuständen haben
größere Jodgaben einen zweifellos spe-
cifischen Einfluß. Doch auch bei der
nichtsyphilitischen, echten Arteriosklerose
wollen die meisten Kliniker, wie die Um¬
frage Schwalb es ergeben hat, den Ge¬
brauch kleiner Jodgaben nicht missen,
wobei manche eine direkte Beeinflussung
des. arteriosklerotischen Prozesses, eine
Verlangsamung des Fortschreitens und
selbst Stillstand der Veränderungen er¬
kennen zu können glauben, andere wenig¬
stens deutliche Besserung der Beschwer¬
den beobachteten. Nur ganz vereinzelt
wird Jod als entbehrlich bezeichnet. Der
nutzbringende symptomatische Einfluß
des Jod dürfte im wesentlichen durch
eine Vergrößerung des Schlagvolumens
der Herzkammern zu erklären sein. Diese
bewirkt ihrerseits eine bessere Durch¬
blutung der erkrankten .Gefäßgebiete und
damit eine günstigere Blutversorgung der
Organe. Ferner wird die osmotische
Spannung in den Gefäßen und Geweben
durch Jod in günstigem Sinne verändert.
Höchstwahrscheinlich aber besitzt Jod
außerdem auch eine direkte Einwirkung
auf die erkrankte Gefäßwand, teils durch
Herabsetzung des Blutdrucks (Pal,
Westphal), teils durch Hemmung des
Fortschreitens der Intimawucherung.
Schließlich ist die resorptionsfördernde
Wirkung des Jod nicht zu vergessen. Die
der Angina pectoris zugrundeliegende Ar¬
teriosklerose der Coronararterien wird, wie
jede Arteriosclerose, zweckmäßig mit Jod
behandelt; im Anfalle selbst haben sich
Diuretin, Alkohol und Coffein (starker,
schwarzer Bohnenkaffee) bewährt.
Die Frage nun, in welcher Form Jod
gegeben werden soll, wird am besten
dahin beantwortet, daß diejenige Dar¬
reichung am zweckmäßigsten ist, welche
April
Dre Therapie der Gegenwart 1920
155
bei guter Heilwirkung die Patienten am
wenigsten belästigt. Daher wird in jüngerer
Zeit gerade für die chronisch-intermittie¬
rende Jodanwendung bei der Arterio¬
sklerose vielfach den neueren organischen
Jodverbindungen, speziell auch dem Jod¬
eiweiß, der Vorzug vor den alten Jodsalzen
gegeben. Vom Jodkali wird vielfach be¬
hauptet, es wjrke als Herzgift. Scheint
nun zwar die^ herzschädigende Wirkung
des Kalium's bei gesundem^ Herzen nur
unbedeutend zu sein, so fällt sie doch bei
krankem oder nicht ganz taktfestem Her¬
zen wohl in die Wagschale. Das Herz des
Arteriosklerotikers ist selten ganz gesund.
Man tut daher gut, bei Behandlung der
Arteriosklerose Jodkali zu vermeiden, un¬
bedingt bei Angina pectoris. Ein gutes
Jodeiweißpräparat ist gewiß ein zuver¬
lässiger, brauchbarer Ersatz des Jodkali.
Schädliche Einwirkung auf das Herz ist
sicher ausgeschlossen. Auch wird die
Zahl der Fälle unangenehmer Neben¬
wirkungen des Jod selbst vermindert:
das Vorkommen des sonst häufigen Jodis¬
mus wird nahezu ausgeschaltet, nur die
selteneren, auf individueller Idiosyn¬
krasie beruhenden Intoxikationserschei¬
nungen sind, wie bei keinem Jodpräparate,
auch damit nicht zu vermeiden.
In neuerer Zeit ist auch der Nutzen
einer milden Arsenmedikation bei Arterio¬
sklerose hervorgehob en worden.. E. N e i ß er
fand, daß Elarson den Blutdruck herab¬
setzt, und G. Klemperer empfiehlt das¬
selbe Präparat (täglich 3—6 Tabletten)
insbesondere bei den Kopfschmerzen,
Schwindel und Angstzuständen, sowie
den subjektiven Herzbeschwerden der
Arteriosklerotiker. Dieser Autor meint,
,,daß der abwechselnde Gebrauch kleiner
Jod- und Arsengaben in bescheidener
Weise zur Besserung der Prognose der
arteriosklerotischen Herzerkrankung bei¬
trägt“. In einer im Jahre 1918 erschie¬
nenen Studie über die „Übergänge
zwischen Nervosität und Arteri^ Sklerose“
berichtet G. Klemperer, daß sich ihm
der langdauernde Gebrauch kleiner Arsen¬
gaben in solchen Übergangsfällen sehr
bewährt habe.
Bei der physikalischen Therapie
stehen hydriatische Prozeduren oben¬
an. Wechselwarme Teilabreibungen und
Waschungen, lauwarme Vollbäder mit
Fichtennadelzusatz, Sauerstoffbäder, auch
Moorbäder und Luftbäder haben sich be¬
währt. Sie regeln die Kreislaufverhält¬
nisse durch Beseitigung spastischer Zu¬
stände in den letzten Verzweigungen der
Endarterien. Massage, Gymnastik, Elek-
tlrotherapie und Hochfrequenzströme fin¬
den häufige Anwendung, gelegentlich
auch Radium als blutdruckherabsetzendes
Mittel.
Arteriosklerose ist und bleibt ein
ernstes organiscnes Leiden, das gar nicht,
selten Veranlassung zum Tode wird. Die
weitverbreitete allgemeine Furcht vor der
Arterienverkalkung ist aber doch etwas
übertrieben.. Durch rechtzeitiges Ein¬
leiten geeigneter psychischer, diätetischer,
medikamentöser und physikalischer Be¬
handlung ist es möglich, die Beschwerden
der Kranken zu bessern und auch zu be¬
seitigen, wodurch das Leben wieder er¬
träglich und selbst befriedigend wird.
Das Fortschreiten des Leidens kann ge¬
hemmt, ihm für einige Zeit Einhalt ge¬
boten werden. Arbeitsfähigkeit ist oft
noch auf Jahre zu erhalten. Die Prognose
der Behandlung ist um so günstiger, je
frühzeitiger damit begonnen wird. Manche
Arteriosklerotiker fühlen sich jahrzehnte¬
lang leidlich wohl und erreichen ein hohes
Alter.
Literatur: 1. Adler und Hensel, Intra¬
venöse Nikotineinspritzungen und deren Ein¬
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20*
156
Die Therapie der Gegenwart 1920
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m. W. 1913, 13). — 22. Hertzell, Die Stauungs-
reaktion bei Arterioslerose (B. kl. W. 1913, 12). —
23. Herz, Vortragszyklus über Herzkrankheiten
(M. Kl. 1913,.34 u. 52). — 24. Derselbe, Über
Arteriosklerose (Allg. Wien. m^Ztg. 1913, 20). —
25. Hirsch, C., Zur Pathogenese und Physik der
Arteriosklerose (D. m. W. 1913,.38.) — 26. Der¬
selbe, Klinisches Referat über Arteriosklerose
(Medizinische Gesellschaft zu Göttingen 24. Juli
1913) (B. kl. W. 1913, 44). — 27, Derselbe und
Thorspecken, Experimentelle Untersuchungen
zur Lehre von der Arteriosklerose (D. Arch. f. kl.
Med. Bd. 107, H. 5 u. 6). — 28. Hirsch, M,, Zur
Frage der Arteriosklerose vor dem 30. Lebens¬
jahre (M. Kl. 1913, 28). 29. Derselbe, Be¬
ziehungen zwischen Gicht und Arteriosklerose
(35. Balneol. Kongreß, Ref. Ther. d. Gegenw. April
1914, S;175).—30. Hirsch, R., Arteriosklerose in
Theorie und Praxis (Ther. d. Gegenw. März 1918).
— 31. Hochhaus, Die Behandlung der Arterio¬
sklerose (D. m. W. 1912, 33). — 32. Horn, Ar¬
teriosklerose und Unfall (Ärztl. Sachverst.-Ztg,
1916, 18 u. 19). — 33. Hoppe, Die Tatsachen
über den Alkohol (Ernst Reinhardt, München
1912). — 34. Janowski, Der Blut- und Puls¬
druck bei Arteriosklerose (Zschr. f. klin. M. Bd. 80,
H. 5 u. 6). — 35. John, Beeinflussung des Blut¬
drucks durch Tabakrauchen (Zschr. f. exper. Path.
u. Ther. Bd. 14, H. 2). — 36. Klemperer, Neuere
Arbeiten über Arteriosklerose (Berl. ver, ärztl.
Gesellschaften, Sitzung 17. Februar 1915) (M.
m. W. 1915, 8, S. 285f.). — 37. Derselbe, Die
Prognose der arteriosklerotischen Herzerkrankung
(Ther. d. Gegenw. Juli 1914). — Derselbe, Über¬
gänge zwischen Nervosität und Arteriosklerose
(B. kl.W.1918, Nr. 31, S. 732). —38. Lehndorff,
Über die direkte Einwirkung des Jod auf den
Kreislauf (Wissenschaftl. Gesellschaft deutscher
Ärzte in Böhmen, Sitzung 7. November 1913)
(M. m. W. 1913,50, S. 2817). — 39. Loeb, Experi¬
mentaluntersuchungen zur Stoffwechselgenese der
Arteriosklerose (Verein für innere Medizin und
Kinderheilkunde Berlin, Sitzung 6. Juli 1914)
Allg. med. Central-Ztg. 1914, 29). — 40. Der¬
selbe, Über experimentelle Arterienverände¬
rungen (D. m. W. 1913, 38). — 41. Löhlein, M.,
Die Begriffe „Konstitution'^ und „Disposition“
(M. Kl. 1918, 30 u. 44). — 42. Maier, Zur Ätio¬
logie, Symptomatologie und Therapie der Arterio¬
sklerose (Allg. med. Central-Ztg. 1912, 34). ~
43. Mönckeberg, Zur Frage der Atheroklerose
im militärdiehstpflichti'gen Alter (Zbl. f. Herz- u:
Gefäßkrankh., 8, Jahrg., 1). — 44. 'Derselbe,
Über Atherosklerose bei Kriegsteilnehmern (Unter-
elsässischer Ärzteverein Straßburg, Sitzung vom
25. November 1916) (D. m. W. 1917,.3, S.96). —
45. Derselbe, Mediaverkalkung und Athero¬
sklerose (Virch. Arch. Bd. 216, S. 408). — 45a.
E. Neißer; Kasuistischer Beitrag zur Elarson-
therapie (Ther. d. Gegenw. 1914, S. 239). — 46.
Niesslv. May eVidort. Die Krankheiten des Rück¬
bildungsalters und des Seniums (Fortschritte der
Medizin 1915/16, 4), — 47. Ortner,' Medikamen¬
töse und physikalische Therapie der Arterio¬
sklerose (Jahreskurse für ärztliche Fortbildung,
Februar 1911): — 48. Pawinski, Über den Ein¬
fluß des unmäßigen Rauchens (Nikotins) auf die
Gefäße und das Herz (Zschr. f. klin. Med. 1914,
80, 284). — 49. Pringsheim, Über Arterio¬
sklerose der Abdominalgefäße (M. K. 1914, 25). —
50. Raecke, Die Frühsymptome der arterio¬
sklerotischen Gehirnerkrankung (Arch. f. Psych.,
Bd. 50, H. 2). — 51. Rehr, Durch Nikotin verur¬
sachte Aortenveränderung (Virch. Arch. 1914,
Bd. 218, H. 1). — 52. Rieb old. Dauernde erheb¬
liche Blutdrucksteigerung als Frühsymptom einer
Gehirnarteriosklerose (M. m. W. 1917, 43). —
53; Roos, Zur Frage der Kriegsarteriosklerose
(M. Kl. 1916, 27). — 54. Saltykow, Jugendliche
und beginnende Atherosklerose (Korr. Bl. Schweizer
Ä. 1915,35). —-55. Derselbe, Über die Häufigkeit
der Atherosklerose (Korr. Bl. f. Schweizer Ä,
1915, 44). — 56. Schmidt, Zur Klinik des essen¬
tiellen Hochdrucks (M. Kl. 1916, 29 u. 30). —
57. Schmie dl. Experimentelle Untersuchungen
über die Wirkung des Tabakrauchens auf das Ge¬
fäßsystem (Frankf. Zschr. f. Path. 1913, Bd. 13,
H. 1.) — 58. Schwalbe, Welchen Einfluß hat die
Jodtherapie auf die Arteriosklerose? (D. m. W.
1914, 15 u. 16). — 59. Steinhauer, Schlaganfall
als Unfallfolge anerkannt (M. Kl. 1912, 28). —
60. Strauß, H., Blutdrucksteigerung als Objekt
der Therapie (Ther. Mh. Juni 1915). —61. Suchy,
Über Nikotinvergiftung (W. m. W. 1918, 32). —
62. Thiem, Der derzeitige Stand der Frage über
die Ursachen der Schlagaderverhärtung (Mschr.
f. Unfallhk. 1915, Nr. 7). — 63. Vaguez, Diätetik
der Herz- und Gefäßkrankheiten (B. kl._ W.
1913, 27). — 64. Wacker und Hueck, Über
experimentelle Atherosklerose und Cholesterin-
ämie (M. m, W. 1913, 38). — 65. Wedekind,
Über Fettleibigkeit und Arteriosklerose (Verl.
Clements Buchhandlung, Kissingen 1914).
Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen.
36. öffentliche Versammlung der Balneologischen Gesellschaft,
10.—13. März 1920.
Bericht von Dr. Hartwich.
In dem folgenden Bericht werden nur
die Vorträge referiert, welche für die
Therapie verwertbare Gesic^itspunkte ent¬
hielten.-
Stemmler (Ems): Referat über
balneologische Behandlung der Kriegs¬
schädigungen der Atmungsofgane. Aus
Lungenschüssen resultierten Schwarten,
Atelektasen, Emphyseme; stets auch
nachfolgende chronische Bronchitiden, die
weiter in Behandlung kamen als Folgen
von Erkältung- (höchster Prozentsatz),
Infektionskrankheiten, später besonders
nach Grippe, ferner von Gasvergiftungen
im Felde und entsprechenden Läsionen in
Kriegsbetrieben der Heimat. Sekundär
Kreislaufstörungen (Asthma, Herz, Niere
usw.). Die Ätiologie ist maI5gebend für
die Behandlung, besonders bei chro¬
nischem . Bronchialkatarrh. Von guter
April
Die Therapie der Gegenwart 1920
157
Allgemeinwirkung ist die klimatische Ver¬
änderung. Die meisten Patienten brauchen
warmes, mäßig feuchtes Klima. Wichtig
gleichzeitiges Vorhandensein von Quellen.
Trinkkuren bewirken Lockerung der
Schleimhäute, Lösung des Schleims, dann
Abschwellung, Verminderung des Hustens
usw.
Badekuren: 'Lokale Schleimhautwir¬
kung (Nasenspülungen, Gurgeln, Inhala¬
tionen) entsteht aus drei Komponenten:
Temperatur, Mineralgehalt und Kohlen¬
säure. — Bei der Inhalation zerstäubten
Mineralwassers ist der Modlis abhängig
von der beabsichtigten Wirkung. Hyper¬
trophischer Katarrh muß kühl, trockener
warm inhalieren; Katarrhe der oberen
Luftwege am Einzelapparat, der tieferen
an der Saline oder im Inhalationsraum;
letzteres besonders für trockene Katarrhe.
Die therapeutische Wirkung, gleich fort¬
schreitende Lösung, läßt sich am physi¬
kalischen Befunde genau verfolgen. —
Emphysem am Brunsschen Unterdrück¬
apparat behandeln, schwache Patienten
in der pneumatischen Kammer (Erfolg:
zunehmende Atemtiefe, Vitalkapazität und
verlangsamte Atmung. Wirkung ist nach¬
haltig!). — Bronchiektasien mit desinfi¬
zierenden Inhalationen behandeln.
Bäder, besonders heiße Schlamm¬
kompressen, beschleunigen das Resorp¬
tionsvermögen. Atelektasen und Schwar¬
ten lösen sich. Kohlensäure Thermal¬
bäder fördern die Expirationskraft, Stoff¬
wechsel und Kreislauf, Gleichzeitig durch
Atemübungen, Gehen und Steigen wird
schließlich erreicht, daß Schwarten sich
dehnen, Atelektasen zurückgehen, Vital-
kapazität zunimmt und endlich mit Über¬
gießungen usw. Abhärtung eintritt. Re¬
sorption auch durch Bäder gebessert.
Goldscheider über Ruhekuren: Bei
Überanstrengung oder mangelnder Ruhe
treten auf: 1. Schwächung, 2. Über¬
empfindlichkeit gegen Reize. Beides ent¬
weder allgemein, oder auf Organe be¬
schränkt. Chronische Übermüdung ist
nicht Neurasthenie (Krankheitsbild Neur¬
asthenie gibt es nicht!) — Symptome:
Partielle oder allgemeine Überreizung,
Mattigkeit, Depression, Willensschwäche,
schlechte Leistungsfähigkeit — organ¬
vasomotorische Störungen, Magensäure,
Herz- und nervöse Beschwerden usw. —
Organische Konstitutionsanonialien be¬
günstigen das Krankheitsbild, sind aber
nicht die Ursache. — Latente Krank¬
heiten werden floride. — Ursache ist
nicht immer Zwang der Verhältnisse,
sondern oft der energische Wille, der sich
zu viel Arbeit zumutet. — Behandlung:
Ruhe! Dosierung: L. tägliche Ruhe¬
stunden, 2. Liegekuren, 3. Erholungs¬
reise, 4. Badekur (mit wirklicher 'Er¬
holung!). Viele organische Symptome
sind lediglich durch Ruhe zu beseitigen,
nicht durch lokale Behandlung. Oppo¬
sition gegen therapeutische Vielgeschäf¬
tigkeit in Bädern (anstrengende Kuren,
Zandern usw.) ist bei diesen Patienten
nötig. Mastkur nur bei bestimmten An¬
lässen!
Mißbrauch mit Ruhe wird betrieben
bei Hypertonikera (Fettleibige, klimak-
^ terische Frauen, Gichtiker usw.). Hier
erreicht Ruhekur bei Herzklopfen usw.
gerade das Gegenteil! Die Oppressionen
dieser bessern sich bei Beanspruchung
der Kräfte. — (Diskussion: Je weniger
Bäder, desto besser der Erfolg! Schema¬
tische Ansicht, bestimmte Bäderzahlmüsse
durchgemacht werden, ist falsch. —
Bäder ohne ärztliche Verordnung werden
vom^Publikum maßlos übertrieben! —
Bei Uberempfindlichkeit gegen Reize sind
Alkohol und Nikotin gänzlich zu ver¬
bieten! — Unter Umständen auch bei
Übermüdung vorsichtige ^ physikalische
Therapie, um die Bildung von Anti¬
kenotoxinen anzuregen!)
Strauß über Winterkuren in Deutsch¬
land: Auslandsbäder sind uns noch für
lange verschlossen. Statt Erholungs¬
kuren im Frühling und Herbst verordne
man Winterkuren in deutschen Gebirgen
(Unterkunft, Heizung und ärztliche Ver¬
sorgung sind zu erstreben). — Der Früh¬
ling kommt in einigen deutschen Gauen
fast so früh, wie im Süden (etwa im Gebiet
des rheinischen Weinbaues usw.). Es
sind genaue klimatische Untersuchungen
anzustellen, welche deutschen Orte an
Klima, Luftfeuchtigkeit, Bestrahlung usw.
die südlichen Kurorte ersetzen können.
(Thema zur diesjährigen Preisaufgabe.)
Bisher liegenmur wenige Untersuchungen
vor.
Möller über Tuberkulose. Im Kriege
entstandene Lungentuberkulose hat
schlechtere Prognose als Rückfälle von
früher. Kurorte müssen in höherem
Grade Lungenleidende aufnehmen. —
Ländliche Betriebe, Walderholungsstätten
sind zu fördern. Therapeutisch nichts
Neues. — Militärpersonen sollen seit
einiger Zeit nach Friedmann behan¬
delt werden. Das ist zu verwerfen.
Unsere Kriegsbeschädigten sind zu gut
für solche Experimente, bei denen nur
158
Die Therapie der Gegenwart 1920 April
Zeit zürn besseren Eingreifen verloren
geht. — H. Möller hat ein Recht, über
Friedmann abzuurteilen, denn er hat
1897 zusammen mit französischen For¬
schern die Kaltblütertuberkulose (Fisch
und Blindschleiche) bearbeitet. — Die
gewöhnlichen säurefesten Bacillen (Heu,
Milch usw.)' sowie Kaltblütertuberkel¬
bacillen haben eine schwächere Lipoid¬
hülle als Warmblütertuberkelbacillen.
Diese Lipoidhülle ist sehr widerstands¬
fähig. Wohl erreicht man in vitro mit
Immunserum der Kaltblütertuberkulose
Agglutination, aber nicht in vivo Hei¬
lung, da die stärkere Lipoidhülle des
Tuberkelbacillus den zu schwachen Fer¬
menten widersteht. Ebenso gibt man ja
auch viel Fett zur Vermehrung der
lipoidlösenden Fermente. Auch dies reicht
nicht aus. —Friedmann kam dann
später mit seiner Schildkrötentuberkulose
und behauptete Heilwirkung. Möller
prüfte sofort nach und mußte bei seinem
früheren Urteil bleiben, daß keine Hei¬
lung möglich ist mit Kaltblütertuber¬
kulose (Versuche an Tieren und Men¬
schen). Friedmanns Patentaatragwurde
abgelehnt, da £s sich um kein neues
Verfahren handle. —Die Erscheinungen
im Reagenzglase (Agglutination) haben
alle säurefesten (auch nicht pathogenen!)
mit Schildkrötentuberkelbacillen gemein.
Es handelt sich nur um Gruppenreaktion,
die mit Immunisierung nichts zu tun hat.
— Die ,,wissenschaftliche Blamage‘‘
Fried mann ist an und für sich schon
für Deutschland peinlich, die Kriegs¬
beschädigten sollte man aber am aller¬
wenigsten solchen Eingriffen aussetzen.
Bruns (Göttingen) über Inhalations-
kuren: Trockeninhalation mit 1. Rei߬
mannapparat, 2. Zerstäubung mit heißer
Luft, 3. Gesellschaftstrockeninhalator. Bei
800^ übersublimierte Kochsalzpartikel ge¬
langen als kleinste (2 ^) Krystalle in den
Respirationstraktus. Da sie sich nicht
so rasch niederschlagen wie Nebel, so ist
die alveoläre Ausbreitung eine bessere.
— Inhalationsversuche an Tieren: in den
ersten sieben Minuten nur centrale, dann
Ausbreitung der Krystalle in den Rand¬
partien der Lunge. Nach 15 Minuten
Auftreten im Kreislauf (inhaliert wurde
Lithiumchlorid). — Auch ohne kräftige
Inspiration gute Ausbreitung wegen der
Expansionskraft der Krystalle. — Reim
Spießschen Vernebler (2.) mehr Absetzung
oralwärts. Auftreten im Kreislauf rascher.
— In einer Stunde werden bei 1. und 2.
2 g NaCl inhaliert.
Vorteile der Trockeninhalation: 1. A^i-
neralmenge gering, trotzdem örtliche Kon¬
zentration größer als bei feuchter In¬
halation, 2. alveolare Wirkung besser, da
nicht so leichter Niederschlag oralwärts,,
3. Resorption, d. h. Schwinden der ört¬
lichen Konzentration langsamer, je weni¬
ger Wasser vorhanden ist, daher längere
therapeutische Wirkung.'
Krone (Sooden) hat systematische
Kontrollen mit Röntgen über die Rück¬
bildung von Hilusdrüsen bei Solbad¬
behandlung gemacht und fand die Rück¬
bildung auffallend.
In der Diskussion wurde hervor¬
gehoben, daß Kuren außerhalb der Saison
billiger wären und daß Nordseebäder im
Winter bessere Heilerfolge als im Sommer
haben, Herbstkuren seien möglichst zu
empfehlen. Einsetzung ein,er Kommission
zur Bearbeitung der Bäderklimätik wird
beschlossen. ' .
Groedel (Nauheim): Referat über
die balneologische Behandlung der kriegs-
beschädigten Kreislaufsorgane. Vier
Schädlichkeiten trafen die Kreislauforgane
im Kriege: Psychische, physische, toxi¬
sche und infektiöse. — Herzkrankheiten
betrafen solche, die schon krank hinaus¬
zogen, und andere. Erstere hielten sich
oft erstaunlich gut, klappten erst bei
psychischem Trauma zusammen. — So¬
genanntes KriegsJierz gibt es nicht!. Ner¬
vöse Herzleiden sind seit Kriegsende
selten, höchstens Neurastheniker, Renten-
undAttestsüchtige. —Bäder: Indifferente
warme Bäder. Kein, zu langes Bad!
Basedowoide besser kühl baden, Vago-
toniker indifferent bis warm — Halb¬
bäder — Anfangs Ruhe, später Terrain¬
kuren. — Viele Herzneurosen reagieren
sehr gut auf Campher. — Schwere orga¬
nische Herzleiden sind mit Vorsicht ins
Bad zu schicken, da sie eventuell doch
nicht baden dürfen!
Sieb eit (Flinsberg): -Im Anfalle der
Herzneuros'e auch im Schlaf oft metalli¬
scher Beiklang der Töne. Pulsbeschleu¬
nigung häufig einziges physikalisches
Symptom. Blutdruck wechselnd. —
Gelegentlich Hypothermie, Hypotonie*,
Hämoglobinverminderung, unregelmäßi¬
ger Puls (40%). — Behandlung: Ruhe,
Abstinenz, einfache Dauerbäder mit Zu¬
sätzen (25 Minuten, '35®), danach zwei
Stunden Bettruhe, Ruhepausen am Tage.
— Mit kühlen Moorbädern und Kohlen¬
säurebädern besser Vorsicht. — Robo-
rierende Kost.
V
April ' Die Therapie der Gegenwart 1920 159
Schmincke (Elster):- Wenn Ruhe
indiziert ist, keine Bäder verordnen! Vor
allem bei akuter Herzschwäche. Das
Wort: ,,Kohlensaures Bad ist Digitalis
gleichzüsetzen“, ist falsch! — Bei rela¬
tiver Insuffizienz (nach akutem Gelenk¬
rheumatismus , nach Dekompensation,
bei Rauchern, Fettleibfgen, Thyreosen,
Neurasthenikern*, Klimakterischen) kühle
Bäder! — Bei Blutdruckerhöhung mit
.Ausnahme der Aortenin^uffizienz nie¬
mals kühle Bäder wegen Gefährdung der
Nieren, sondern lauwarme oder warmie
Moorbäder.
Rehfisch über Prüfungen der Herz¬
funktion. Steigen des Blutdrucks und
PuIsVerlangsamung bei Druck auf die
Femoralis gleich signum boni. Gegen¬
teil signum mali. — Weiter wurden ge¬
schildert: Methode der Maximal- und
Minimalblutdruckbeobachtung, die We-
bersehe Plethysmographie, Elektrokar¬
diographie, VenenpuTsschreibung. Ferner
ohne Apparatur die Atmungsreaktion
Albrechts und die Rehfischsche Me¬
thode (Veränderung des Verhältnisses der
Herztonstärken über den’einzelnen Klap¬
pen nach Ansticengung). — Therapeuti¬
sche Eingriffe am Herzen sollten niemals
ohne derartige Kontrollen gemacht wer¬
den, da man sonst leicht nur Schaden
anrichtet.
H. Selig (Franzensbad): Bei Arterio¬
sklerose Blutdrucksenkung nach Kohlen¬
säurebädern nachlialtig, durchschnittlich
um 24 mm; in einem Falle von 210 auf
140. — Milde Kuren nötig; manchmal
akute Blutdrucksenkung auch böses Omen.
— Apoplexien nach Badebehandlung sel¬
tener als sonst.
Diskussion: Nach Seuchen niemals
dauernde organische Herzfehler. — Puls¬
verlangsamung oft ohne physikalischen
Herzbefund. —Thyreosen vertragen keine
Kohlensäurebäder. — Bei Blutdruck¬
steigerungen hat man mit Bädern nur
bei chronischen Arteriolospasmen Erfolg,
nicht bei echten Sklerosen! —Kriegsherz
gleich 'Ermüdungsherz. — Bäder sind
Herzübungsbehandlung. — Leichte Fälle
von Basedow gehören ins kühle Moorbad,
schwere "zum Chirurgen,
Brugsch, Psychologische Bewertung
der Badekuren. Bei einer Kurbehandlung
soll man nicht allein ,,das Organ“ bewußt
medizinisch behandeln, sondern auch die
Person. Mit Methoden der heutigen
psychologischen Forschung sei man sehr
wohl imstande, unklare Organgefühle und
dergleichen, Mißbehagen usw. wissen¬
schaftlich aufzudecken. Es sei anzu-
nehmeft, daß die verschiedenen Badeorte
diese bisher Undefinierten Dinge in ver¬
schiedener Weise beeinflußten. — Syste¬
matische Untersuchungen müßten diese
diffizilere Spezialwirkung der einzelnen
Kurorte aufdecken und letztere müßten,,
da sie^ die Indikationsstellung zur Aus¬
wahl bestimmter Orte mit ausmachten,,,
in die Prospekte aufgenommen werden.
Auch in die Imponderabilien der Kur¬
wirkung müsse wissenschaftliche For¬
schung Vordringen, damit keine Unklar¬
heiten bleiben. Die Methoden sind vor¬
handen und brauchen nur benutzt- zu
werden.
Hirsch (Charlottenburg) prüfte die
Verweildauer verschiedener Mineralwässer
im Magen eines Hundes mit Duodenal¬
fistel. Kochsalzwässer verlassen den
Magen langsam, Säuerlinge schnell, Lei¬
tungswasser in der Mitte zwischen diesen.
Kohlensäure regt den Magen an, ebenso
alkalische Wässer, weil sie im Magen
Kohlensäure freigeben (durch HCl). Des¬
halb sind Fachinger und Neuenahr gute
Tafelwässer. Kochsalzwässer hingegen
therapeutisch zu schleimlösender Wirkung
brauchbar. — Bitterwässer regen nicht
so sehr den Magen als die Darmperistal¬
tik an. ' '
Fräulein Franckenthal (Berlin) be¬
richtete über Versuche an Hunden mit
Fachinger, Nieder-Selterser und künst¬
lichen Lösungen; fand keine spezifische
Diurese und keine vermehrte Auswaschung
von Körperschlacken. Bei Calciumsalzen
sogar; Schädigung der Auswaschung. Doch
ist eine Erreichung besserer Löslichkeit
von Salzniederschlägen (Gicht) durch
Minei'alsalzlösungen denkbar. ^
Bickel (Berlin): Zur Verfolgung des
Gedankens parenteraler Mineralwasserzu¬
fuhr wurde Hunden 1. Kochsalz im Futter,
2. intraperitoneal und 3. intravenös ge¬
geben. Das Kochsalz im-^Futter. war nach
zwei Tagen, das anders gegebene erst
nach drei Tagen ausgeschieden. — Ver¬
such mit Mineralwasser fiel ebenso aus.
Karo (Berlin) sprach zugunsten der
Nierendekapsulation, die bei akuter
Anurie und Versagen aller klinischen
Mittel geradezu lebensrettend ist (beide
Nieren). Auch bei anderen'" Nieren¬
erkrankungen wurde häufig Besserung
der Diurese beobachtet.
H 0 ffm ann (Warmbrunn):. Referat
über die baineologische Behandlung der
Bewegungsorgane: Schonende Lockerung
von Narben war im Kriege eine Haupt-
Aprir
160 Die Therapie der Gegenwart 1920
aufgabe der Balneologie. Durch Einwir¬
kungen thermischer Art gewinnen die
lebensfähigen Elemente die Oberhand,
Kurzdauernde Bäder mit aktiver Be¬
tätigung. — Heiße Bäder bei Neuritiden.
Bei Gelenkrheumatismus trat oftmals
nach Kurbeginn ein Rückfall ein, der
vier Tage zu dauern pflegte. Chronischer
Muskelrheumatismus war häufig. —Tabes
nicht zu viel mit Bädern behandeln, um
keine überflüssigen Reize zu setzen. —
Theorie der Wärmebehandlung: Wie Licht¬
strahlen bei Durchtritt durch ein Medium
durch Interferenz usw. ihre Qualität
ändern, wie Töne je nach Mischungs¬
verhältnis zwischen Ober- und-Uritertönen
eine aufreizende oder beruhigende Wir¬
kung haben, so erleben auch die Wärme¬
strahlen im Medium des Mineralwassers
Qualitätsänderungen und wirken je nach
Mischung dieser Qualitäten aufreizend
oder beruhigend. — Man sollte die ver¬
schiedenen Quellen nach diesem Gesichts¬
punkt untersuchen und die Indikationen
-danach stellen. — Die verschiedenen
Wärmeapplikationen wdrken bekanntlich
verschieden!
Laqueur zeigte einige kleine trans¬
portable Redressionsapparate ünd sprach
sich günstig über die Wirkung der Dampf-
douche, der Höhensonne, der Aureole und
des Föhn (mal perforant) aus. Heilung
eines Raynaud mit Dampfdouche.
Fürstenberg schilderte eine häufig
'beobachtete akute Myalgie der Schulter¬
muskeln. — Heftige Schmerzen, die den
Schlaf stören, Spannung und Empfind¬
lichkeit der Muskeln. Keine Schwellung,
Gelenk frei (Rö), kein Fieber. Dauer drei
Wochen. — Später Insertionsknötchen,
Faserverhärtungen, Atrophie. •— Leichte
Rezidive (Schipperkrankheit). Behand¬
lung: Fixierung, feuchte Wärme, Dampf¬
strahl, dann Massage usw. Kein Frießnitz,
da äußerst schmerzsteigernd..
B i e 1 i n g (Friedrichroda): Referat üb er,
Bäderbehandlung der Kriegsbescliädigun-
gen des Nervensystems: Kriegsneurotiker
gehörten vor den Facharzt'und heraus aus
den Lazaretten. Erholungskuren mit
Psychotherapie, Wachsuggestion, Hyp¬
nose bei gutem Kurleben, Bewegung
(Luft- und Sonnenbad, Gymnastik). —
Manchmal Psychoanalyse notwendig. —
Organische Leiden müßten behoben wer¬
den und die Aufmerksamkeit davon ab¬
gelenkt. — Kriegsneurosen kommen jetzt
nur noch äußerst selten ziir Behandlung.
Die noch krank sjnd, wollen es auch bleiben.
Haeberlin (Wyk auf Föhr): Die See¬
hospize spielen eine wichtige Rolle zur
Hebung der Volksgesundheit. Atem¬
mechanik .wird gut beeinflußt. 5,3 bis
7,5 ccm Brustumfangszuwachs bei Kin-’
dem, Calorienzufuhr vermehrt, Muskel¬
kraft ebenfalls, Blutkörperchen und Hä-
matochrom, Längenwachstum nehmen zu..
— Im Kriege nahmen 60% der'Kinder
wegen • Ernährungsschwierigkeiten ab.
Schwerkranke dagegen (Knochenfisteln,-
Drüsenfisteln usw.) nahmen zu. —Freilich
erklärt sich das durch die Besserung des
lokalen Leidens. — In die Seehospize ge¬
hören die Knochentuberkulosen und Skro-
phulosen. Es müssen Bettenhospize mit
chirurgischer Versorgung in großem Ma߬
stabe gegründet werden; Für uns kommt
für lange Zeit nur die See in Frage. Im
außerdeutschen Europa gilt die See all¬
gemein als Indikation für Knochentuber¬
kulose. — Nicht als ultimum refugium
die See, sondern möglichst früh. — Be¬
sonnung, frische Luft usw. ist wichtigster
Heilfaktor.
Auch bei Rhachitis ausgezeichnete
Erfolge (80 bis 90 %, wie im Ausland).
— Phosphor- und Kalkretention wächst
an der See. Babystationen müssen^ ein¬
gerichtet werden. — Also: mehr Auf¬
merksamkeit der See; Binnenlandheim¬
stätten allein genügen nicht!
H. Lilienstein (Nauheim) demon¬
strierte einen handlichen Apparat, mit
dem die Stromstöße, die im Elektro-
kardiographen das Kardiogramm bedeu¬
ten, hörbar gemacht werden; eine große
Vereinfachung dieser Untersuchungs¬
methode!
H. Steyerthal (Kleinen) sprach zu¬
gunsten hypnotischer Behandlung geeig¬
neter Fälle und H. Lasker (Berlin) gab
eine ambulante Behandlung der Thrombo¬
phlebitis der unteren Extremitäten ver¬
mittels Stützverbänden an.
Referate.
Über die Häufigkeit der Darmamöben
und Amöbenruhr in Deutschland berichtet
Fischer (Kiel) auf Grund neuer Unter¬
suchungen. Die moderne Bakteriologie
unterscheidet bekanntlich die Entamoeba
histolytica, die zur Ruhr führt, und die
Entamoeba coli, die für den Menschen
nicht pathogen ist. Zwischen beiden For¬
men bestehen gewisse, morphologische
Unterschiede, z. B. enthalten die Cysten
161
JVpril Die Therapie der Gegenwart 1920
der Ruhramöbe höchstens vier Kerne,
dagegen die der Darmamöbe bis zu acht!
Ferner erzeugt die Ruhramöbe bei Katzen
eine Dickdarmerkrankung, die Entamoeba
coli ist für Katzen nicht pathogen. Die
neueren Amöbenfofschungen haben er¬
geben, daß sowohl die Ruhramöbe wie
die harmlose Darmamöbe nicht nur in
den Tropen, sondern auch in Europa
weit verbreitet sind. Nur wird an diese
Krankheit bei uns wenig gedacht, daher
nur selten die richtige Diagnose gestellt.
Eine einmalige Stuhluntersuchung reicht
nicht aus; zur exakten Diagnosenstellung
.gehört mehrmalige Kontrolle. Verfasser
untersuchte 120 Stühle voh Magen-
Darmkranken auf die Anwesenheit von
Amöben. Er fand die Ruhramöbe in zwei
Fällen, die Darmamöbe in elf Fällen. Bei
den mit Entamoeba histolytica Infizierten
bestanden dysenterische Darmbeschwer¬
den, die Entamoeba coli machte’jedoch
bei keinem der elf Kranken ruhrartige
Erscheinungen. Verfasser schließt sich
daher der Ansicht an, daß Ruhr- und
Darmamöben zwei verschiedene Specien
seien. Zur endgültigen Entscheidung
müßte jedoch noch eine viel größere Zahl
von Kranken Und Gesunden »auf das
Vorhandensein von Amöben im Stuhl
untersucht werden. Viele Fragen harren
noch ihrer Lösung, z. B. warum die Ruhr¬
amöbe in unseren Breiten nur so selten
zur Weiterverbreitung der Krankheit
führt. Schmalz (Berlin).
(B. kl. W. 1920, Nr. 1).
Beiträge zur Klinik, Bakterio¬
logie und Therapie von Bacillen¬
trägern der Typhus-und Ruhrgruppe
veröffentlicht H. Herrn el. Von den zur
Behandlung der Bacillenträger in der
letzten Zeit empfohlenen Mitteln wurde
durch den Thymolpalmitinsäureester und
durch das Nißlesche Verfahren mit hoch¬
wertigen Colistämmen kein- Erfolg er¬
zielt. Das von Stüber ,vorgeschlagene
Cystinquecksilberpräparat versagte in
65% der behandelten Fälle. Jede ab¬
gelaufene Typhus- und Paratyphuserkran¬
kung und jeder Bacillenträger sollte als
bakteriologisch geheilt erst dann ange¬
sehen werden, wenn neben den Stuhl-
und Urinuntersuchungen auch die öfters
mit Hilfe der Duodenalsonde gewonnene
Galle sich als frei von Bacillen erwiesen
hat. Bei Paratyphusbacillenträgern wurde
in 15 Fällen ein Krankheitsbild beob¬
achtet, das mit Schüttelfrost, unregel¬
mäßigem Fieber, Leberschwellung und
meist mit Ikterus einherging. Die Ur-
' ♦ .
Sache ist eine Ansiedlung der Bacillen im
Leberparenchym (Hepatitis paratyphosa).
Hetsch (Frankfurt a. M.).
(Beitr. z. Klinik d. Inf.-Krankh. u. z. Immunit.-
Forschg. Bd. 8, H. 3.)
Einen bemerkenswerten Beitrag zur
Imm unotherapie des Carcinomsliefert
C. Lewin. Einer Frau wurde wegen Car¬
cinoms die Mamma' exstirpiert. Schon
ein Jahr später trat ein Narbenrezidiv
und eine Metastase in der rechten Orbita
auf. Nochmalige Operation und Röntgen¬
bestrahlung des Auges und der Brust¬
wunde besserte vorübergehend ein wenig
das Leiden. Nach weiteren sechs Mo¬
naten trat Ascites auf, der an Ausdehnung
allmählich zunahm. Verfasser begann
jetzt mit der Autoserotherapie, das heißt,
er punktierte mit der Spritze 10—^20 ccm
Flüssigkeit aus der Bauchhöhle und inji¬
zierte diese sogleich subcutan. Diese In¬
jektionsbehandlung fand zwei bis dreimal
wöchentlich statt. Gleichzeitig wurde die
Krebsaussaat der Brust energisch be¬
strahlt. Beim Ablassen des Ascites wur¬
den große Tumoren im Abdomen fest¬
gestellt. Diese Behandlung wurde mit
kleinen Unterbrechungen längere Zeit
fortgesetzt, mit dem Erfolg, daß sowohl
Ascites als auch die Bauchtumoren und
die Krebsknötchen auf Brust und Rücken
verschwänden. Dieser Erfolg kann nur
auf die Immunotherapie bezogen werden,
da vorher ohne diese dauernd Verschlech¬
terung eintrat. Ähnliche günstige Err
fahrungen machte Verfasser in zwei an¬
deren Fällen mit Brustfellcarcinose und
Peritonitis carcinomatosa.
Gegen diese Therapie ließe sich nur
das eine Bedenken geltend machen, daß
eventuell an der Injektionsstelle durch
infizierte Tumorzellen Metastasen . ent¬
stehen könnten. Bei den vielen vom Ver¬
fasser ausgeführten Injektionen ereignete
sich aber nie ein solcher Zwischenfall. Man
wird daher diesen allenfalls möglichen
Nachteil bei den großen Vorteilen dieser
Therapie mit in Kauf nehmen müssen.
(B. kl. W. 1919, Nr. 52.) Schmalz (Berlin).
Deck er-München berichtet über gün¬
stige Erfahrungen mit dem durstbeschrän¬
kenden Mittel Cesol-Merck, das von
Umber (diese Zeitschr. 1919, S. 121) ein:
geführt worden ist. Cesol ist ein von
Wolffenstein und Löwy synthetisch
hergestelltes Pyridmderivat, das wie ein
stark abgeschwächtes Philocarpin wirkt.
Die Wirkung scheint hauptsächlich in
starker Speichelsekretion zu bestehen.
Decker hat die volle Dosis, 0,2 in 1 ccm
21 .
162
Die Therapie der
Gegenwart 1920
Wdsser, injiziert und dadurch postppe-
rative Durstzus.tände mit Erfolg be¬
kämpft. Die Wirkung . hielt vier bis
sechs Stunden an; die Einspritzung
konnte wiederholt werden, schädliche
Wirkungen wurden nicht beobachtet.
Im Gegensatz zu den günstigen kli- '
nischen Beobachtungen steht eine Notiz
in den Therapeutischen Halbmonäts-
heften, die auf Grund chemischer Er¬
wägungen die pharmokologischen Grund¬
lagen der Anwendung von Cesol und Neu-
Cesol kritisiert und sogar ,die Wissen¬
schaftlichkeit des Erfinders anzweifelt.
H. Bloch (Berlin).
(D. M. W. 1920, Nr. 3,Ther.Haibmh. 1920, Nr. 1.)
Über Chinidin bei Vorhof sflim-
mern berichtet Klewitz. 15 Fälle,
davon 13 mit Chinidin, 2 mit Chinin,
wurden behandelt. Acht 'davon hatten
Dekompensation. Während sieben Fälle
verschiedene, meist muskuläre Erkran¬
kungen aufwiesen, hatte der Rest Mitral¬
fehler. Die Gaben waren täglich vier-
bis fünfmal 0,2 g Chinidin, in letzter Zeit •
dreimal 0,4 g. Mit Ausnahme weniger
Fälle Ab.setzen, wenn nach drei bis vier
Ta^en kein Erfolg. Nur in einem Falle
(junges Mädchen mit frischer Endokar¬
ditis) nachhaltiger Erfolg, indem nach
drei Tagen das Flimmern verschwand und
dauernd ausblieb. In den übrigen Fällen
schwand das Flimmern auch nicht vor¬
übergehend, wenn auch unter Chinidin
in vier Fällen der Puls ruhiger und lang¬
samer. wurde. Die Stauung wurde nie
beeinflußt. . Nebenwirkungen wurden,
auch in einem Falle, wo Chinin solche
machte, nicht beobachtet, wohl aber
wurde in zwei Fällen unter Chinidin die
Herzschwäche stärker, um nach Absetzen
wieder zurückzugehen. (Chinin hat be¬
kanntlich negativ chronotrope und ino-
trope Wirkung auf die Herzaktion.)
'Bei einigen Versagern leistete Chinin¬
digitalismedikation noch Gutes.
Sehr lange Chinidinmedikation konnte
in einzelnen Fällen auch ohne Einwirkung
auf das Flimmern die Herzkraft erheblich
bessern.
Zu einer klaren Indikationsstellung
für Chinidinbehandlung ist auch Kle¬
witz nicht gekommen; die Erfolge der
Chinidintherapie werden also bis auf
weiteres noch schwankende sein.
(D. m. W. 1920, Nr. 1.) Waetzoldt.
Dr. K. Nürnberger berichtet über
einen Fall von Diabetes insipidus bei Zer¬
störung des Hypophysenhinterlappens
durch Krebsmetastasen und Freibleiben
des Vorderlappeiis. , Auf Grund dieses
Befundes schließt sich Verfasser der
V. Haunschen Theorie an, die besagt,,
daß Zerstörung des Hypophysenhinter¬
lappens allein noch keinen Diabetes in¬
sipidus mache, ein solcher sei vielmehr
noch an einen intakten beziehungsweise¬
funktionstüchtigen Vorderlappen gebun¬
den. Dem Vorderlappen komme eine-
diuretische, dem Hinterlappen eine anti¬
diuretische Wirkung zu. Bei Zerstörung:
des letzteren erlange der antagonistisch
wirkende Vorderlappen das Übergewicht
und bewirke s6 eine vermehrte Diurese.
Bei gleichzeitiger Zerstörung von Vorder-
und Hinterlappen der Hypophyse käme
kein Diabetes insipidus zustande.
(B. kl. W. 1920, Nr, 1.) Schmalz (Berlin).
Daß Digitalis unter Umständen die
Diurese hemmen kann, hat Jarisch an
zwei Schrumpfnierenkranken beobachtet.
In den therapeutisch gebräuchlichen
Dosen bewirkt Digitalis in der Norm eine
Erweiterung der Nierengefäße, in grö¬
ßeren hingegen verengt es dieselben. In
den vom Verfasser mitgeteilten Fällen
trat die Diuresehemmung beziehungs¬
weise die ihr zugrunde liegende Verenge¬
rung der Nierengefäße , schon bei einer
mittleren Dosis ein, oder mit anderen
Worten: eine therapeutische . Gabe ver¬
hielt sich wie eine toxische. Kleinste
Digitalisdosen hingegen führten in dem
einen Falle zu deutlicher Diurese. Die
Ursache hierfür sieht Verfasser in einer
gesteigerten Erregbarkeit der Nieren¬
gefäße; durch diese sei der Schwellenwert
sowohl für die verengernde als auch für
die erweiternde- Gefäßwirkung der Di¬
gitalis herabgesetzt. Für die Anwendung
der Digitalis am- Krankenbett ergibt sich
daraus die Forderung, bei Schrumpfnieren
mit der Dosierung vorsichtig zu sein und
kleinen- Dosen den Vorzug zu geben.
(B. kl.W . 1919, Nr. 52.) Schmalz (Berlin).
Barriberger (Kissingen) machte den
Versuch, eine Dysbasia angiosklerotica
ihterniittens bei einem 51jährigen Manne
mit Chinin zu behandeln. Das Leiden be¬
stand an beiden Beinen seit einer Reihe
von Jahren und ging vielleicht auf Tabak-
mfßbrauch zurück. Es wurden anfangs
dreimal täglich 0,2 g Chininum bisulfuri-
cum, später dreimal 0,3 g dieses Mittels
gegeben. Die ganze Chininkur war mit
6 g bestritten. Die Beschwerden schwan¬
den auffallend rasch, der Patient konnte
bis 1% Stunden ununterbrochen gehen.
Das Verhalten der Gefäße an den Füßen
war wieder normal. Nebenher wurde
April - • ,P'ie Therapie der Gegenwart 1920 ' .163
Kissinger Kur gebraucht (CO 2 , Sprudel
und Moorfußbäder).
Bamberger glaubt den Erfolg dem.
Chinin zuschreiben zu sollen, da er sonst
bei ^er Erkrankung mit der Kissinger
Kur allein keine so durchschlagenden Er¬
folge hatte, und hält eine Nachprüfung
für angezeigt. . Waetzoldt.
(M. Kl. 1920, Nr. 5.)
Vor einiger Zeit hatte Bittorf mft-
geteilt, daß bei schwerem akuten Mus-
kelrheumatisnrus im Blute ■ Eosino¬
philie, bei chronischem Muskelrheuma¬
tismus Lymphocytose zu finden sei. Seine
Befunde werden jetzt von Ina Syn-
woldt bestätigt. Bei 19 Fällen von
schwerem akuten Muskelrheumatismus
waren die Eosinophilen in fast 79% deut¬
lich vermehrt, es fanden sich bis zu 18%
und 22% Eosinophile im Ausstriche. Bei
elf Fällen von chronischem Muskelrheu- .
matismus waren höchstens 1 bis 3%
Eosinophile, dagegen in 81,8% der Fälle
30% Lymphocyten, in 54,4% über 40%
Lymphocyten im Präparat. Diese Be¬
funde sind 'von Bedeutung für die Diffe¬
rentialdiagnose gegen leichte Fälle von
Trichinose, bei der bisher die enorme Ver-,
mehrung der Eosinophilen als patho-
gnomonisch galt. Bei beiden Erkran¬
kungen ist die Entstehung der Eosino¬
philie wohl als Reizwirkung auf die hä-
matopoetischen Organe durch Zerfallspro¬
dukte des Muskeleiweißes aufzufassen.
(M. m. W. 1920, Nr. 4.) Nathorff (Berlin).
Friedländer (Hohemark) weist dar¬
auf hin, daß für die Behandlung der
Epilepsie die Stellung einer exakten
Diagnose die Hauptbedingung sei. Es
müssen daher alle Faktoren ausgeschaltet
werden, die sekundär zu epileptiformen
Anfällen führen. Bei echter Epilepsie
kommen therapeutisch die einfache Brom¬
kur oder die mit Opium beziehungsweise
Arsen kombinierten Kuren in Frage.
Verfasser empfiehlt als symptomati¬
sches Mittel in der Epilepsiebehandlung
ganz besonders das Luminal. Die Wir¬
kung des Mittels macht sich sofort durch
Ausbleiben beziehungsweise Verminde¬
rung der Zahl der Anfälle geltend. Das
Luminal ist aber kein harmloses Mittel,
man muß .daher tastend die geringste
Dosis herauszufinden versuchen, mit der
es’ gelingt, die Anfälle zu unterdrücken.
Man beginnt bei Erwachsenen mit 0,1
bis 0,2 g pro dosi, etwa zweimal täglich.
Nur leichte Fälle sollen ambulant be¬
handelt werden, schwere benötigen Bett¬
ruhe, Diät und zur Erzielung einer ge¬
nügenden Wirkung bis zu dreimal 0,3 g-
Luminal täglich. Die Vorteile der Lu-
. minal- gegenüber der Bromkur bestehen
in dem Fortfall des Bromismus, die Nach¬
teile in-der einschläfernden Wirkung des
Luminals. Wenn man aber die geringste
Dosis wählt, mit der man die gewünschte
Wirkung erzielt, kann man das Mittel un¬
bedenklich I monatelang mit gewissen
Unterbrechungen geben. .
(Ther. Mh. 1919, H. 12.) Schmalz (Berlin).
- Über eine Essigsäurevergiftung mit
Ikterus berichtet Kaznelson. Eine
27jährige Frau hatte 30 g einer 64 %igen
Essigsäure enthaltenden, nicht durch an¬
dere Substanzen verunreinigten Essig¬
essenz getrunken. Ein Teil wurde ei;-
brochen. Der Urin war tiefschwarz, ent¬
hielt Oxyhämoglobin und Methämoglobin
in großer Menge. Keine Erythrocyten,
. dagegen Cylinder und Nierenepithelien.
Ehrlichsche Aldehydreaktion immer ne¬
gativ; geringe absolute und relative Leu-
kocytose. Vermehrung der Blutplättchen.
Am nächsten Tage Zustand wesent¬
lich verschlimmert, Blutdruck 70 R-R,
leichter Ikterus. Am nächsten Tage Leu-
kocytose wesentlich stärker als zu Anfang.
Am folgenden, dem vierten Tage, Exitus..
Die Sektion ergibt neben dem Ikterus und
den ja zu erwartenden Verätzungen Blu¬
tungen in Lungenfell und Lungen, eine
beginnende Peritonitis, weiche blutreiche
Leber mit verwaschener Zeichnung. Im
ganzen also das Bild der typischen. Essig¬
säurevergiftung.
Daß es sich dabei um einen echten
hämolytischen Ikterus handelt, konnte
Kaznelson dadurch nachweisen, daß er
die verminderte Resistenz der Erythro¬
cyten prüfte, sie ergab sich 10 Stunden
nach Einnahme des Giftes: Beginn der
Hämolyse bei^ 0,5% Kochsalz, Voll¬
ständigwerden derselben bei 0,34 %., Am
dritten Tage waren die entsprechenden
Zahlen 0,56% und 0,32%. Auch die von
van Bergh angegebene Unterscheidung
zwischen mechanischem und nichtmecha¬
nischem Ikterus, indem bei ersterem das
Bilirubin sowohl in wässerigerwiein alkoho¬
lischer Lösung die Ehrlichsche Bilirubin-
. reaktion mit Diazoniumkörpern gibt, bei
nichtmechanischem Ikterus dagegen nur in
alkoholischer Lösung, sprach für letzteren.
Das wichtigste Ergebnis der Unter¬
suchung aber war, daß das Serum trotz
dunkelbraungelber Farbe keineswegs be¬
sonders viel Bilirubin enthielt. (Werte
von 0,7—0,5 auf 200 000, wie sie noch im
Bereiche der Norm liegen.) Nun muß aber
21*
164
Die Therapie der Gegenwart 1920
zum Entstehen von Ikterus der Bilirubin¬
spiegel des Blutes drei- bis fünfmal so
hoch sein wie diese Werte. Der Ikterus
muß also durch Eindringen, eines anderen
Farbstoffes in Blut, Haut und Skleren
entstanden sein. Die spektroskopische
Untersuchung ergab denn auch, daß es
sich um eine Hämatinämie handelte, indem
sich im Serum Hämatin in großer Menge
nachweisen ließ. Man wird also kaum
umhin können, auch den Ikterus als einen
durch Ablagerung von Hämatin beding¬
ten Scheinikterus aufzufassen, wenn man
nicht annehmen will, daß noch in der Haut
das Hämatin sich in Bilirubin umsetzte.
(M. KI. 1920, Nr. 6.) • , Wa e t z o 1 d t.
Beobachtungen über die Febris her¬
petica teilt aus dem Vereinslazarett. Deut¬
sches Rotes Kreuz in Konstantinopel
Th. Zlocisti (Berlin) mit. Er vertritt
die Ansicht, daß nach Ausschaltung aller
epidemiologisch, bakteriologisch und sero¬
logisch erfaßbaren, auch mit Herpes ein¬
hergehenden Fälle eine Gruppe kurz¬
fristiger, grippeähnlicher (mit Schüttel¬
frost beginnender, durch rheumatoide
Erscheinungen und durch das Fehlen von
Katarrhen der Luftwege ausgezeichneter)
Krankheiten übrig bleibt, die durch das
Auftreten von Herpes wenige Tage nach
der Entfieberung charakterisiert sind
und als nosologische Einheit aufgefaßt
werden müssen. Der Herpes kann bei
epidemiologisch einheitlichen Fällen ge¬
legentlich auch fehlen. Die Fieberkurve
ist charakteristisch und bietet oft mehr
oder weniger rhythmisierte Nachschwan¬
kungen. Ob diese Rhythmik immer im
Wesen der Krankheit liegt — also prin¬
zipiell in der gleichen Richtung und aus
den gleichen Gründen wie die Paroxysmen
etwa der Malaria und des Recurrens —
oder ob es sich nur um schnell folgende
Rückfälle oder um ein Weitergreifen auf
ein anderes Organ handelt (kleinste
Bronchopneumonien, Beteiligung der Ne¬
benhöhlen), bleibt dabei unentschieden.
Hetsch (Frankfurt a. AJ.).
(Beitr. z. Klinik d. Inf.-Krankh. u. zur Im-
munit.-Forschg. Bd. 8, H. 3.)
Über das Vorkommen der Erreger der
ansteckenden Gelbsucht (Weilschen
Krankheit), der Spirochaeta icterogenes,
bei frei lebenden Berliner Ratten be¬
richten Uhlenhut und Margarete
Z Li e 1 z e r, daß von 89 untersuchten Ratten
neun, also etwa 10%, den Erreger in
Nieren und Urin beherbergten. Die Tiere
selbst machten einen ganz gesunden
Eindruck, bei ihnen scheint die Erkran¬
April
kung latent zu verlaufen.. Für Meer¬
schweinchen und Mäuse waren die- ge¬
fundenen .Spirochäten pathogen. Die
Tiere erkrankten unter den typischen
Erscheinungen des Ikterus. Die-^^Spiro¬
chäten ließen sicF in Passagen fortzüch¬
ten, sie glichen in weitgehender Überein¬
stimmung dem Weilspirochätenstamme
des Reichsgesundheitsamts — aus wel¬
chem die Arbeit stammt.—, welcher im
Felde von Uhlenhut und Fromme
vom kranken Menschen auf Meerschwein¬
chen übertragen und dann weiterge¬
züchtet worden war, wenn sie auch an¬
scheinend weniger virulent waren. Ins¬
besondere schützte ein von Kaninchen
gegen den „Ratten‘‘stamm gewonnenes
Immunserum auch gegen diesen ,,Men-
schen“stamm und bewies damit wohl
endgültig die Identität.
Die Verfasser nehmen an, wenn auch
sichere Beweise nicht bestehen, daß diese
bei den frei lebenden Ratten gefundenen
Spirochäten für den Menschen zweifellos
pathogen sein können; aber, da hier der
Mensch unter gewöhnlichen Verhält¬
nissen mit der Ratte selten in nähere
Berührung kommt, mit der Ratte, die
den Krankheitserreger mit dem Urin
ausscheidet, so sei die Ansteckungsgelegen-
heit gering; die Spirochäten gehen beim
Austrocknen und im Sonnenlicht rasch
zugrunde. Anders in Unterständen,
Höhlen, Kohlengruben usw. Hier könnten
die mit dem Rattenurin in Rhagaden oder
Verletzungen der Hände eindringenden
Keime ohne weiteres Unheil stiften. —
Ein neuer Grund, den Kampf gegen die
schädliche und in mehr als einer Rich¬
tung hygienisch und epidemiologisch ge¬
fährliche Ratte aufzunehmen.
(M. Kl. 1919, Nr. 51.) J. v. Roznowski.
Über Versuche zur Beeinflussung des
Wachstums der Horngebilde (Haare,
Nägel, Epidermis) durch specifische Er¬
nährung berichtet N. Zuntz. Bekannt¬
lich bedarf der Körper außer den all¬
gemein bekannten Eiweiß, Fett, Kohle¬
hydraten, Salzen noch einer Anzahl
anderer, als Ergänzungs&toffe bezeich-
neter Körper, deren Fehlen zu wesent¬
lichen Störungen Veranlassung gibt.
Schon die Zusammensetzung der Horn¬
gebilde unterscheidet sich ganz wesentlich
von der anderer Eiweißstoffe, und zwar
wesentlich im Sinne eines sehr viel
größeren Schwefelgehalts. Schon das
läßt auf einen sehr hohen Cystingehalt
der Hornsubstanzen schließen, und tat¬
sächlich enthalten sie 7 bis 8% gegen
April
165
Die Therapie
0,2 bis 0,5% sonstiger Eiweißkörper. Im
1 Selbstversuch stellte Zuntz nun fest,
daß bei Zufühfung von täglich 1,5 g durch
Hydrolyse völlig resorbierbar gemachter
Hornsubstanz der tägliche Zuwachs seines
Kopfhaars von 5 mg vor den Versuchen
auf 6,3 mg in den nächsten vier Wochen
und im nächsten Monat sogar auf 9,2 mg
stieg. Die Steigerung hielt auch nach
Aussetzen der Hornhydrolysatzufuhr noch
einige Monate langsam sich verlierend an.
Parallelversuche an Wollschafen (täg¬
lich 10 bis 15 g Hydrolysat) ergaben eine
Steigerung des Haarquerschnittes von noch
^icht sieben auf über acht Mikromilli¬
meter. Entsprechend würde sich der Woll-
gewinn gegenüber nicht gefütterten
Schafen wie 1,74 zu 1 'verhalten. Die
ökonomische Bedeutung eines solchen
Versuchs ist klar.
Bef zwei fast Kahlköpfigen — mit in¬
takten Haarwurzeln! —war die Wirkung
gleichfalls sehr deutlich und ebenso das
Dichterwerden des Haares bei Frauen
mit dünnem Haar. Parallel mit der Ver¬
änderung der Haare ist ein Fester-und
Stärkerwerden der Nägel und der Epi¬
dermis zu bemerken. Die Hydrolyse des
Hornes muß mit einer gewissen Vorsicht
geschehen, um Spaltung des Cystins zu
vermeiden. Übrigens scheinen noch
andere Stoffe im Horn enthalten und
wirksam zu sein, da über 30% des Hornes
nicht in Form wohlcharakterisierter
Ammosäuren bei der Analyse erhältlich
sind, wie das ja allerdings auch für die
meisten Eiweißarten die Regel ist. Darum
ist die Vermeidung möglichst jeden Ver¬
lustes bei der Hydrolyse besonders wichtig.
Für die Verwendung am Menschen
wird ein reines Präparat von Fattinger
iSc Co., Berlin, Dorotheenstr. 35, unter
dem Namen Humagsolan hergestellt.
Nachprüfungen dieser Resultate sind
erwünscht. Waetzoldt.
(D. m. W. 1920, Nr. 6.)
Dr. Emil Schepelmann (Hamborn
a. Rh.) berichtet über zwei Fälle von
doppelseitiger schwerer Klunipfußbildung
bei Geschwistern, welche er im Alter von
27 beziehungsweise 19 Jahren, und zwar,
wie die beigegebenen Aufnahmen er¬
kennen lassen, mit gutem Erfolg operierte.
Er exstirpierte ähnlich wie 0. Weber,
Dovy, Colley und Andere einen late¬
ralen Keil aus der Fußwurzel ohne Rück¬
sicht auf die anatomischen Verhältnisse.
Die Tenotomie der Achillessehne und der
Plantaraponeurosen nahm er in einer
zweiten Sitzung vor, in der ein noch¬
Oegenwart 1920^
maliges Redressement die endgültige Fuß-
Stellung herbeiführte. Georg Müller.
(Zschr. f. orthop. Chir. Bd. 39, 3. Heft.)^ ^
"frotz zahlreicher Veröffentlichungen
Ciber die Behandlung der verschieden¬
artigsten Krankheiten mit Milchinjek¬
tionen sind wir üben die wirksamen
Prinzipien und die theoretischen Voraus¬
setzungen der Milch- und im weiteren
Sinne der Proteinkörpertherapie noch
ziemlich im Dunklen. Einen Beitrag zur
Frage nach dem Wesen und dem wirk¬
samen Faktor der Milchtherapie versucht
Lindig zu geben. Er glaubt in dem
Casein das wesentliche Prinzip gefunden
zu haben und in dessen Anwendung die
Nachteile vermeiden zu können, die der
Milch anhaften. Dies sind vor allem die
mangelhafte Dosierbarkeit; denn da die
Zusammensetzung der Milch von den
verschiedensten Faktoren abhängig ist,
von Rasseeigentümlichkeiten, Melkzeit,
Laktationsstadium, Fütterungsverhält¬
nissen und anderem, kann man nicht
annehmen, daß jedesmal mit der gleichen
Menge Flüssigkeit auch die gleiche Menge
an Eiweißstoffen injiziert wird. Die
optimale Dosis ist also dabei nicht zu
bestimmen und die Gefahren einer un¬
genauen Dosierung sind nicht gering ein¬
zuschätzen. Auch die subcutane be¬
ziehungsweise intramuskuläre Applika¬
tion ist unzulänglich, da, abgesehen von
den Schmerzen, individuelle Verschieden¬
heiten der Resorptionsgeschwindigkeit die
Art der Reaktion beeinflussen können.
In einer 5%igen Caseinlösung glaubt
nun Lindig ein Präparat gefunden zu
haben, das sich zur intravenösen Injek¬
tion eignet. Zur Anwendung gerade des
Caseins gelangte Verfasser auf Grund von
Untersuchungen über den Abbau der
. verschiedenen Milcheiweißbestandteile
durch homologes Serum von Neugebore¬
nen und Schwangeren, die das Vorhan¬
densein eines caseolytischen Ferments
nachwiesen. Im Zusammenhang mit der
Tatsache, daß das Neugeborene eine hohe
Immunität .gegen viele infektiöse Er¬
krankungen besitzt, also wohl Schutz¬
stoffe dagegen im Blute hat, ist anzu¬
nehmen, daß eine Beziehung zwischen
der Höhe des caseolytischen Wirkungs¬
grads und der Schutzkraft gegen infek¬
tiöse Erkrankungen besteht, und dem¬
nach durch parenterale Caseinzufuhr eine
Erhöhung des caseolytischen Ferment¬
titers zu erzielen ist. Lindig hatte bei
Fällen von septischem Abort sowie bei
einem schweren Puerperalfieber günstige
April
166 .,Die Therapie dir
Enderfolge, doch waren die einzelnen Re¬
daktionen nach den intravenösen Injek¬
tionen» teilweise außerordentlich sfc^rk.
Eine Injektion, die zu einem ,,unmittelbar
anschließenden Schock unter dem vor¬
herrschenden Bilde der allgemeinen Ge¬
fäßlähmung“ führt, dürfte doch weit über
ein therapeutisch zulässiges Maß gehen.
Herdreaktionen bei abgegrenzten Pro¬
zessen wurden häufig beobachtet. Ferner
fiel eine ziemlich, ausgesprochene Schläf¬
rigkeit im Anschluß 'an die Injektionen
bei vielen Patienten auf. So sehr man
mit der, Forderung eines gleichmäßigen
dosierbaren Präparats einverstanden sein
muß, gegenüber der Anwendung der
intravenösen Caseininjektionen dürfte
doch noch Zurückhaltung am Platze sein.
'Daß auch die theoretischen Voraus¬
setzungen des Verfassers von dem Casein
als dem wirksamen Prinzip der Milch¬
injektion anfechtbar ’ sind, zeigt ein
kurzer Aufsatz von Müller, der die ein¬
zelnen Milchbestandteile nach ihrer Wir¬
kung prüfte. Er fand mit 3%iger Casein¬
lösung ähnliche, aber schwächere Wir¬
kung auf gleichartige Krankheitszustände
als mit reiner Milch. Aber auch mit
caseinfreier Milch (Milchserum von Bei¬
ersdorf) erhielt er besonders auf gonor¬
rhoische Prozesse im Prinzip und der Art
der Wirkung ähnliche Reaktionen, nur in
geringerer Intensität. Ob Müller mit
seiner Ansicht recht hat, daß - es sich
bei der parenteralen Zufuhr von Milch
nicht um specifische Wirkung bestimmter
Faktoren, sondern um einen Fremdkörper¬
reiz handelt, muß dahingestellt bleiben.
Regensburger (Berlin).
(M. m. W. 1919, Nr. 33 u. 44.)
Die genuine Nephrose (parenchyma¬
töse Nephritis) ist eine recht seltene Er¬
krankung. Volhard hat sie unter
seinem großen Material nicht viel mehr
als zwölfmal beobachtet. Von diesen
Fällen sind sechs gestorben und zwar
alle an P neumokokkenperitonitis.
Einen weiteren Fall von genuiner Ne¬
phrose, der an Pneumokokkenperitonitis
zugrunde ging, veröffentlichen jetzt Bock
und Mayer. Eine 43 Jahre alte Frau
erkrankte nach einer Erkältung an hoch¬
gradigen Anschwellungen der Beine und
der Hüftgegend. Im Urin fand sich bis
zu 127oo Eiweiß und massenhaft granu¬
lierte Cylinder. Lipoide wurden nicht
nachgewiesen, Wassermann war negativ.
Der Wasserversuch zeigte eine erhebh'che
Störung der Wasserausscheidung. ' Das
Herz war nicht vergrößert, der Blutdruck
Gegenwart 1920
nie erhöht. Trotz kochsalz- und wasser¬
armer Diät, Schwitzprozeduren und Di-
uretin beziehungsweise Theocin. nahmen
die Ödeme iu. Mit C ursch man rischen
Nadeln wurden schließlich 4 1 Ödem¬
flüssigkeit abgelassen. Drei Tage vor
dem Tode Erbrechen und Stuhlverhal¬
tung, dann Durchfälle. Temperatur nicht
erhöht. Gesamtdauer der Erkrankung
war zwei Monate. Bei der Sektion zeigten
die Nieren Vergrößerung und Verfettung.
Mikroskopisch wurden parenchymatöse
Degeneration der Tubuli und Schleifen,
intakte Glomeruli und Arteriolen ge¬
funden. Das Herz war nicht hypertrp-*
phisch. Es bestand also in Übereinstim¬
mung mit dem klinischen Bilde auch
pathologisch eine reine Nephrose. Außer¬
dem fand sich nun eine frische eitrige
Peritonitis. Im Eiter wurden Pneumo¬
kokken machgewiesen. So schließt sich
dieser Fall den oben erwähnten sechs
Volhardschen Fällen als siebenter 'an.
(M. m. W. 1920, Nr. 4.) Nathorff (Berlin).
Schwere Blutungen nach Pleurapunk¬
tionen werden im allgemeinen nur sehr
selten beobachtet. Immerhin sind in der
Literatur Fälle beschrieben, bei denen
durch die Punktion eine -sklergtische
Intercostal- oder Lungenarterie verletzt
wurde und zum Tode führende Blutun¬
gen eintraten. In diesen Fällen handelte
es sich, aber immer um alte hinfällige
Leute. Daß auch bei Jugendlichen
eine lebensbedrohende, operativ gestillte
Lungenblutung nach Probepunktion auf-
treten kann, beweist ein Fall, den Flesch-
Thebesius aus der Frankurter chir¬
urgischen Klinik veröffentlicht. Bei einem
15jährigen Patienten war bei einem post¬
pneumonischen Empyem nach Grippp
eine Rippenfesektion vorgenommen wor¬
den. Nach scheinbarer Heilung trat plötz¬
lich anhaltendes hohes Fieber auf. Wegen
Verdacht auf Restabsceß wurde von der
alten Operationsnarbe aus eine Probe¬
punktion vorgenommen, die nur dunkles
Blut ergab. Nach der Punktion verfiel
der Patient und machte einen schwer
anämischen Eindruck. Die alte Thorako¬
tomienarbe pulsierte deutlich. Bei der
am nächsten Tage vofgenommenen Ope¬
ration entleerte sich 1% 1 dunkelviolett
gefärbtes Blut aus der alten abgekapsel¬
ten Empyemhöhle. Aus'dem unteren
Drittel der Höhle strömte dauernd hell¬
rotes Blut. Die Blutung wurde durch Tam¬
ponade gestillt, der Heilverlauf war glatt.
Man muß annehmen, daß bei der Punk¬
tion die Nadel durch die Abseeßhöhle hin-
April
Die'Therapie der Qegenwart 1920 rl67
durch in die Lunge gelangt war und dort
ein Gefäß eröffnet hatte. Infolge der man¬
gelhaften Retraktionsfähigkeit der Lunge
hatte sich die Gefäßwunde und infolge
der starren Absceßwand die Punktions¬
öffnung nicht schließen können, so daß es
'dauernd in die Absceßhöhle geblutet hatte.
(M. m. W. 1920, Nr. 4.) Natho^ff (Berlin).
Seine Erfahrungen über die^specifi-
sche Behandlung der Ruhr teilt
A. Offrem (Elberfeld) mit. Danach ist
und bleibt das verläßlichste Mittel das
Serum. Der Ruhrheilstoff Boehncke
konmit als Mittel für sich allein in erster
Linie in Betracht bei den leichten Fäl¬
len, doch gibt es auch hier ganz vereinzelte
Fälle, die trotz Ruhrheilstoffbehandlung
vier bis fünf Tage unbeeinflußt bleiben,
und in denen man gut tut, geringe Mengen
von Serum (etwa.öü ccm) voraus zu geben.
In mittelschweren Fällen ist gleich¬
zeitige Anwendung von Serum (durch¬
schnittlich 70 ccm) und Heilstoff ange¬
zeigt. Die Mortalität betrug bei dieser
Therapie 7,1%, wobei mehr komplizie¬
rende Momente als der eigentliche Ruhr¬
prozeß die Todesursache bildeten. Bei
schweren Fällen führt die alleinige An¬
wendung von Heilstoff wohl meist zum
Tode. Doch auch bei ausgedehnter An¬
wendung von Serum und Heilstoff kom¬
biniert gibt es immer noch Fälle, die
einen wenn auch verlangsamten, so doch
fortschreitenden Verlauf nehmen. Aller¬
dings wird bei intensiver Behandlung der
weitaus größte Teil der Fälle dieser
Gruppe geheilt. Es starben, wenn von
den an Komplikationen unabhängig von
der Ruhr erfolgten Todesfällen abgesehen
wird, 22%. Bei den schwersten Fällen
erwies sich auch das Serum in fast allen
Fällen als nicht ausreichend und ver¬
mochte den Tod nur um einige Zeit
hinauszuzögern. Mortalität hier 92,3%.
Durch die kombinierte Serum-Vaccine-
Therapie lassen sich jedenfalls dieselben
Erfolge erzielen, wie durch ausgiebige
Serumtherapie allein. Die Einführung
des Ruhrheilstoffs ermöglicht einmal die
Ausschließung der Serumanwendung bei
einer großen Anzahl von Ruhrfällen be¬
ziehungsweise die Anwendung bedeutend
geringerer Serummengen und damit eine
große Kostenersparnis, sodann ist aber
die größere Individualisierungsmöglich-
keit bei Anwendung der' kombinierten
Therapie ein wichtiger Fortschritt.
Hetsch (Frankfurt a. M.).
(Beitr. z. Klinik d. Inf.-K^ankh. ii. i. Iminunit.-
Forschg. Bd. 8, H. 3.)
Üb‘er einen tödlich verlaufenen Fall
von Streptothrixerkrankung äer At¬
mungsorgane berichtet A. W. Samo-
lewski. Bei der Kranken war schon vor
fünf Jahren offenbar auf Grund der
-mikroskopischen Sputümuntersuchung —
die Diagnose. Lungentuberkulose gestellt
worden. Es ergaben sich aber keine
physikalisch nachweisbaren Lungenver¬
änderungen, auch das Röntgenbild ergab
keine Zeichen für Tuberkulose. Die Aus¬
saat des Sputums auf Glycerinagar ergab \
bei Zimmertemperatur, in fünf bis sechs
Tagen für Streptothrix typische kleine
Kolonien von gelber Farbe. Der Strepto-
thrixpilz färbt sich gut nach der Ziehl-
Gabbetschen Methode, nach der Ziehl-
Neelsenschen Methode färbt er sich
nicht immer und in bedeutend schwä¬
cherem Grade. Antiforminbehandlung
des Sputums zerstört den Pilz.
Hetsch (Frankfurt a. M.).
- (Beitr. z. Klinik d. Inf.-Krankh. ii. z. Immunit.-
Forschg, Bd. 8, H. 3.)
Zur Vorbeugung gegen die Ausbrei¬
tung der Tuberkulose durch die Ausschei¬
dungen der Harnwege sucht Prof. Dr.
Theodor Cohn (Königsberg) angesichts
der bedeutenden Zunahme der Tuberku¬
loseerkrankungen das Interesse zu er¬
wecken. Wenn während des Zeitabschnit¬
tes 1890—1913 ihre Sterblichkeit in Preu¬
ßen um 48%, in England um 40%, in der
Schweiz um^ 34%, in Italien um 15%
abnahm, so sind (nach Schwalbe) in den
deutschen Orten mit mehr als 15 000 Ein¬
wohnern 43 320 Personen im Jahre 1918
mehr daran zugrunde gegangen als im
Jahre 1913, so'daß sich die diesbezügliche
Sterblichkeit von 15,7 auf 31,7% erhöhte.
Nach Küster weisen 10% aller tuber¬
kulösen Leichen Nierentuberkulose auf,
während Fischer in 53% Tuberkeln in
den Nieren fand, Israel ein Drittel aller
eiterbildenden Erkrankungen der Harn¬
wege als tuberkulöser Art bezeichnete.
Bei 50—70% chronischer Lungentuber-,
kulose wurden die Nieren ebenfalls tuber¬
kulös befunden. — Verfasser sieht nun
das Gefährliche darin, daß allgemein zu
wenig Beachtung diesem Umstande ge¬
schenkt, der Ursprung des Leidens somit
häufig verkannt wird; mithin sei den
einfachen katarrhalischen Affektionen der
Harnröhre und Blase eine erhöhte dies¬
bezügliche Aufmerksamkeit zu widmen,
um also vorbeugende Maßnahmen treffen
zu können. Waidschmidt.
(Öffentl. Gesundheitspfl. 1919, Nr. 8.)
16B ^_ Die IPhetapie W Gegenwart 1920 - April
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Beiträge zur Kenntnis der Grippe.
Von Dr. Ernst Steinitz, Hannover. /
4. PvOlymyositis mit tödlichem,
Ausgang.
Gesunde, mittel kräftige Frau von 40 Jahren
mit etwas reichlichem Panniciilus — früher nicht
krank bis auf leichte gichtische Erscheinungen,
Familie ohne Besonderheiten, vier Kinder — er¬
krankte an anscheinend leichter Grippe ohne be¬
sondere Lokalisationen, nach zwei Tagen fieberfrei.
Nach eintägiger Pause erneuter Temperaturanstieg
auf 390 , zugleich enorme Schmerzhaftigkeit zuerst
der Beine, dann auch der Arme. Auf 0,015 Mor¬
phium subcutan kein Schmerznachlaß. Warme
Kompressen bringen etwas Linderung.
Am Abend dieses Tages sah ich die Patientin
bei gutem Allgemeinzustand, Puls der Temperatur
entsprechend beschleunigt, aber hinreichend kräftig.
•Innere Organe, Reflexe usw. ohne Besondei;heiten,
kein Kernig, Nackensteifheit ^ oder dergleichen.
Sensorium frei. Die sehr vernünftige Patientin
klagt über heftigste Schmerzen in allen vier Ex¬
tremitäten, besonders in den Unterschenkeln und
Oberarmen. Als äußerst druckschmerzhaft zeigt
sich die ganze Muskulatur der Unterschenkel;
diese sehen leicht geschwollen aus, etw^a wie bei
leichter Krampfaderschwellung, ohne eindrückbares
Ödem. An den Armen ist die Beugeseite des
Oberarmes am druckempfindlichsten. Auf 0,5
Chinin -}- 0,5 Antipyrin und 0,02 Morphium (alles
subcutan) ruhige Nacht. Am andern Tage kehrt
die Schmerzhaftigkeit in alter Stärke wieder, aber
am ausgesprochensten an. den Unterarmen. Tem¬
peratur abends 39,7°, Puls dauernd gut. Wegen
der unerträglichen Schmerzen muß die Medikation
des Vortages wiederholt werden. , Nacht trotzdem
unruhig. Morgens verliert die Patientin das Be¬
wußtsein. Der sofort herbeigerufene Hausarzt
findet sie bewußtlos mit schwach^ Puls vor, die
Muskulatur der Unterarme und Unterschenkel
bretthart geschwollen; trotz Campher- und Cof¬
fein-Injektion wird Atmung und Puls unaufhalt¬
sam schlechter und tritt um 10 Uhr vormittags
unter hochgradiger Cyanose der Exitus ein,
Epikrise: Die unter Fieberanstieg
auftretende Schmerzhaftigkeit der Extre¬
mitäten ließ an eine Thrombose bzw.
Phlebitis, akute Polyneuritis oder Myo¬
sitis denken. Die gleichmäßig auf ganze
Muskelgruppen sich erstreckende Druck-
cmpfindlichkeit, das Fehlen venöser Stau¬
ung oder anderer Zeichen für Thrombose
ließ die Diagnose Myositis sicher er¬
scheinen. Ob die plötzlich eingetretene
Herzschwäche durch ein Übergreifen der
Myositis auf den Herzmuskel oder vielmehr
durch Toxin-Überschwemmung von den
zahlreichen in der Extremitäten-Musku-
latur anzunehmenden Entzündungsherden
aus zu erklären ist, möchte ich dahin¬
gestellt lassen. Die Prognose empfiehlt es
sich in ähnlichen Fällen mit großer
Vorsicht zu stellen.
Die Beobachtung läßt übrigens an die
Möglichkeit denken, daß bei allen Grippe¬
fällen mit ausgesprochenen Muskel¬
schmerzen myositische Entzündungsherde
vorliegend' deren Ausdehnung und Inten¬
sität nicht nur die subjektiven örtlichen
Beschwerden, sondern aucJi die Schwere
des Allgemeinverlaufs mit bestimmen.
Unsere Beobachtung würde dann nur als
abnorme Steigerung einer regulären Teil¬
erscheinung der Grippe aufzüfassen sein.
So wäre der schwere Verlauf mancher
Fälle ohne andere Lokalisation zu er¬
klären; ferner auch die häufig in der Rekon¬
valeszenz lange zurückbleibende Schmerz¬
haftigkeit der Extremitäten-Müskulatur.
2. Zur Wirksamkeit des Salvar-
sans bei der Grippe.
Mittelkräftiger junger Mann von 24 Jahren
macht wegen verdächtigen Ulcus’ ohne • Spiro¬
chätenbefund eine intensive Salvarsankur, Injek¬
tionen mit vier- bis fünftägigen Pausen. Am
Nachmittage der neunten intravenösen Neosal-
varsan-Injektion erkrankt er an mittelschwerer
Grippe mit Bronchitis. Nach neun Tagen wech¬
selnden Fiebejrs stellt sich eine Broncho-Pneumonie
im linken Unterlappen ein. Schwerster Verlauf-
der Erkrankung: Zwei Tage nach Auftreten der
Pneumonie intensiver Ikterus. Im Urin Gallen¬
farbstoff, starker Eiweißring, massenhaft hyaline,
granulierte, Epithel-, wachsartige Cylinder, ver¬
fettete Epithelien. Stuhlgang nicht entfärbt, zwei
Tage später heftiger Singultus (der fast eine
Woche mit kurzen Unterbrechungen anhält, durch
Morphium- und Dionin-Injektionen ohne Erfolg,
erst später durch Chloralhydrat rectal, dann durch
Medinal innerlich mit Erfolg bekämpft wird —
zeitweise war in Zwerchfellhöhe mit dem Singultus
synchrones Reiben hörbar, also Pleuritis sicca
diaphragmatica). Im Sputum nur Pneumokokken.
Eine Woche nach Beginn der Pneumonie Pseudo¬
krise mit hochgradiger Herz- und Vasomotoren¬
schwäche, die nur durch größte Dosen Campher
und Coffein, im kritischen Moment außerdem
durch Suprarenin- und intravenöse Strophanthin-
Injektion überwunden wird. Lytische Entfieberung,
sehr langsame Rekonvaleszenz, während deren
der mikroskopische Harnbefund noch lange be¬
stehen bleibt.
Epikrise: Die Erkrankung an Grippe
im Anschluß an eine intensive Salvarsan¬
kur und der Verlauf, den ich ausführlich
beschrieben habe, um zu zeigen, daß er
denkbar schwerst war, sprechen wohl
gegen den behaupteten Nutzen des Sal-
varsans bei der Grippe. Ich möchte daher
die Verwendung dieses für ein schon stark
in Anspruch genommenes Herz gewiß nicht
gleichgültigen Mittels bei schweren Grippe¬
fällen entschieden widerraten.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemp er er in ßorlin. Verlag von U'rban Schwarzenberg
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Die Therapie der Gegenwart
1920
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Q. Klemperer
in Berlin.
Mai
Nachdruck verboten.
Rede zur Eröffnung der 32. Tagung des deutschen Kongresses
für innere Medizin in Dresden, 20. April 1920.
Von Prof. Dr. Oscar Minkowski, Breslau.
Meine Herren! Nach dem glanzvollen
Verlauf der außerordentlichen Tagung
unseres Kongresses in Warschau glaubten
wir, hoffen zu dürfen, uns im Frühjahr
1917 an gewohnter Stätte vereinigen zu
können, um mit frischem Mut und froher
Zuversicht die ersehnte und lang ent¬
behrte Friedensarbeit wieder aufzuneh¬
men. Wohl war die Zeit noch ernst, und
schwer lastete noch auf uns die Not des
Krieges, als wir an die Vorbereitungen
einer Tagung in Wiesbaden herantraten.
Aber nach den gewaltigen Leistungen des
deutschen Volkes, die es befähigt hatten,
gegen eine Welt von Feinden sich sieg¬
reich zu behaupten, herrschte damals kein
Zweifel an einem baldigen günstigen End¬
ausgang des Kampfes. Und wir Ärzte
hatten im Bewußtsein der großen Erfolge,
die wir im Kriege erzielt hatten, allen
Grund, mit besonderem Hochgefühl in
die Zukunft zu blicken und von der Aus¬
wertung unserer Kriegserfahrungen we¬
sentliche Förderung für unsere Friedens¬
arbeit zu erwarten.
Der Gang der kriegerischen Ereignisse
nötigte uns zunächst, die bereits bis in
alle Einzelheiten vorbereitete Versamm¬
lung in letzter Stunde zu vertagen. Es
sollte kein Verzicht sein, nur ein Auf¬
schub! Die Hoffnung schien berechtigt,
daß wir alsbald zu gelegenerer Zeit und
unter günstigeren Verhältnissen Zusam¬
menkommen könnten. Diese Hoffnung
hat uns leider getäuscht! Immer größer
wurden die Schwierigkeiten. Zu Ostern
und zu Pfingsten, im Herbst 1917, im
Jahre 1918 und 1919 beschäftigte uns
die Frage, ob nun endlich die Zeit er¬
füllet ward, und wir es wagen dürften,
unseren Kongreß zu berufen. Die in Aus¬
sicht stehenden Entscheidungskämpfe im
Frühling 1918, die inneren Wirren des
Jahres 1919 ließen jedoch eine Zusammen¬
kunft nicht zeitgemäß erscheinen. Als
aber dann zu Beginn dieses Jahres nach
langem Harren der ' uns immer wieder
vorenthaltene Friedensschluß, zwar hart
und grausam, aber doch endlich zustande
kam, da glaubten wir die Tagung nicht
länger aufschieben zu dürfen. Wie allen,
denen es ernst ist um das Wohl des Vater¬
landes, die an die Zukunft Deutschlands
glauben, schien uns die wichtigste Vor¬
bedingung seines Aufstiegs in der Wieder¬
aufnahme der Arbeit auf allen Gebieten
zu sein, auf denen vor dem Kriege Er¬
sprießliches geleistet wurde, und zu diesen
glaubten wir aucl; die Arbeiten unseres
Kongresses rechnen zu dürfen. Allerdings
waren wir auf die neuen Hindernisse nicht
gefaßt, die sich nun aufzutürmen schienen.
Es hat noch in letzter Stunde nicht an
warnenden Stimmen gefehlt, die in den
erneuten Demütigungsversuchen unserer
Feinde, in den wachsenden Schwierig¬
keiten des Reiseverkehrs, der Unterkunft
und Verpflegung, in der feindlichen Be¬
setzung unseres Stammsitzes, Wiesbaden,
in den verworrenen politischen und wirt¬
schaftlichen Verhältnissen, dem drohen¬
den Bürgerkrieg, in der Not des Ärzte¬
standes, der Unterschätzung und Zurück¬
setzung jeder geistigen Arbeit unüber¬
windliche Schwierigkeiten für die dies¬
jährige Tagung erblicken zu müssen
glaubten. Wir haben es dennoch gewagt!
Und der Besuch des Kongresses, die reich¬
haltige und vielseitige Tagesordnung zeigt,
daß das Wagnis nicht zu kühn war.
Schmerzlich war es für uns, daß wir
uns genötigt sahen, unserem bewährten
und begehrten Tagungsorte Wiesbaden
für diesesmal untreu zu werden. Nicht
leichten Herzens haben wir uns dazu ent¬
schlossen! Solange es nur irgend möglich
schien, hielten Vorstand und Ausschuß
des Kongresses an der Absicht fest, die
diesjährige Tagung wieder nach Wies¬
baden zu berufen, nicht nur aus alter
Anhänglichkeit an den Ort, in dem nach
den Satzungen der Sitz des Kongresses
sich befindet, nicht nur aus Dankbarkeit
gegen die Stadt und die Kollegen, die
uns so oft die herzlichste Gastfreundschaft
gewährten, und die wir jetzt in ihrer Not
nicht im Stiche lassen wollten, sondern
vor allem, weil es uns als vaterländische
22
170
Die Therapie der Gegenwart 1920
Mai
Pflicht erschien, durch unsere Anwesen¬
heit in Wiesbaden zu bekunden, daß wir
diese Stadt und die Lande am Rhein nach
wie vor als zu uns gehörig betrachten,
daß sie uns nach wie vor eine Pflanz¬
stätte für deutschen Geist und deutsches
Wissen sein sollen, weil wir im Angesichte
unserer Feinde zeigen wollten, daß wir
zwar Wehr und Waffen niedergelegt
haben, nicht aber unser geistiges Rüst¬
zeug, mit dem wir in friedlichem Wett¬
kampfe der Völker auch in Zukunft uns
behaupten wollen! Indessen, es fehlte
nicht an Gegengründen gegen eine Tagung
in Wiesbaden, in der bedrückenden Nähe
eines Feindes, der uns zu jeder Stunde
seine Übermacht fühlen lassen konnte,
und wie die Dinge sich leider in der letzten
Zeit entwickelt haben, bedarf es keiner
weiteren Worte, um zu begründen, daß
es richtiger war, in diesem Augenblick auf
eine Versammlung in Wiesbaden zu ver¬
zichten.
Es war nicht leicht, einen Ort zu
finden, der unter den gegenwärtigen Ver¬
hältnissen für unsere Zwecke geeignet war.
Schließlich aber* glaubten wir hier in
Dresden die wichtigsten Vorbedingungen
für eine erfolgreiche Tagung erfüllt zu
sehen, und hier fand sich auch ein Orts¬
ausschuß, der bereit war, uns die Wege
zu ebnen. Der aufopferungsvollen Tätig¬
keit dieses Ortsausschusses, ah dessen
Spitze die Herren Kollegen Päßler,
Rostoski und Arnsperger stehen, wer¬
den wir es in erster Linie zu danken haben,
wenn dieser Kongreß, wie ich hoffe, einen
für die gegenw.ärtigen Zeitverhältnisse
über Erwarten günstigen Verlauf nehmen
wird.
Über den Ort der nächsten Tagung
wird der Kongreß übermorgen, in seiner
Geschäftssitzung, Beschluß zu fassen
haben. Wo wir tagen, ist aber schließlich
nicht so wesentlich, wie daß wir über¬
haupt wieder tagen, daß wir unsere Arbeit
da wieder aufnehmen, wo sie durch den
Krieg unterbrochen wurde, daß unser
Kongreß wieder in die Lage kommt,
seinen Zweck zu erfüllen — wie es in
unseren Satzungen heißt — „durch per¬
sönlichen Verkehr die wissenschaftlichen
und praktischen Interessen der inneren
Medizin zu fördern“.
Mehr als je ist in diesem Augenblicke,
die Wiederaufnahme eines persönlichen
Verkehrs zwischen denen nötig, die die
gleichen Aufgaben zu erfüllen haben, ein
Zusammenschluß aller, die zu gleichem
Ziele streben! Das bedarf Ihnen gegen¬
über keiner besonderen Begründung, die
Sie durch Ihre Anwesenheit beweisen,
daß Sie von der gleichen Empfindung be¬
seelt sind.
In dieser Zeit der gewaltigen Umwäl¬
zungen und der Umwertung aller Werte
müssen aber auch wir uns die Frage vor¬
legen: Sollen wir auch in Zukunft
die Wege weiter wandeln, die wir
bis jetzt verfolgt haben, oder müssen
wir sie verlassen, um neue Bahnen zu
suchen, die uns zu anderen, zu erstrebens¬
werteren Zielen führen könnten?
Wohl mancher, dem der Geist der
neuen Zeit gleichbedeutend ist mit Mi߬
achtung alles dessen, was in der Ver¬
gangenheit gegolten hat, mag heute der
Ansicht sein, daß unser Kongreß, wie
vielleicht alle wissenschaftlichenVersamm-
lungen, sich überlebt habe, daß er nicht
mehr zeitgemäß sei, oder daß wenigstens
seine Arbeitsmethode von Grund auf um¬
gestaltet werden müßte. Uns aber, die
wir gewohnt sind, den Vorgängen in der
Natur zu lauschen, um ihre Erkenntnis
für das Wohl der leidenden Menschen zu
verwerten, uns kann es nicht verborgen
bleiben, daß alles Werden nur Entwick¬
lung ist, und daß auch jedes plötzliche
Ereignis nur die Folge früheren Ge¬
schehens und nur eine andere Form der
Entwicklung ist. Wir können die Zu¬
kunft der inneren Medizin nicht von ihrer
Vergangenheit loslösen. Und seiner Ver¬
gangenheit braucht sich der Kongreß für
innere Medizin wahrlich nicht zu schämen I
Nicht in eitler Selbstgefälligkeit, sondern
mit berechtigtem Stolz haben mehrfach
meine Vorgänger bei Gedenktagen des
Kongresses, so bei Gelegenheit der 25.
und 30. Tagung, auf den bedeutsamen
Anteil hinweisen dürfen, den unser Kon¬
greß an dem Aufbau der inneren Medizin
genommen hat, wie er beigetragen hat zu
den gewaltigen Fortschritten, den unser
Wissenszweig im Laufe der letzten vier
Jahrzehnte verzeichnen konnte. Ich
selbst, der ich dem Kongreß seit seiner
Gründung angehöre, würde gesagtes nur
wiederholen, wollte ich den überwältigen¬
den Eindruck wiedergeben, den die Auf¬
zählung aller wichtigen Fragen hervor-
rufen muß, die auf unserem Kongreß be¬
handelt wurden, die Fülle der Anregun¬
gen, die von ihm ausgegangen sind!
Wir dürfen anknüpfen an bewährte
und glorreiche Traditionen der Vergangen¬
heit, wenn wir unsere Tätigkeit hier wieder
aufnehmen. Damit soll aber nicht gesagt
sein, daß der Kongreß nun stillestehen
IVtai
Die Therapie der Gegenwart 1920
171
soll in seiner Entwicklung, daß er sich
nicht anpassen soll an die neue Zeit und
ihre neuen Aufgaben. Er wird manches
ändern müssen in seinen Arbeiten und
seinen Zielen. Aber diese Änderung, sie
braucht und darf nicht gewaltsam herbei¬
geführt werden auf Grund von vorgefaßten
Meinungen. Wir würden dabei allzu kost¬
bares aufs Spiel setzen: das hohe An¬
sehen ..und den idealen Wert unserer
Wissenschaft! Wir gönnten in dem Wider¬
streit der Meinungen über die Gangbar¬
keit der verschiedenen Wege am ehesten
den richtigen Weg verfehlen! Die Ände¬
rung, die unausbleiblich ist, sie wird sich
ergeben aus dem Zwange, den Forde¬
rungen des Tages zu genügen. Sicher
wird nicht alles sogleich einen Fortschritt
bedeuten, was aus diesem Zwange heraus
geschehen wird. Sicher werden wir uns
nur auf Umwegen unseren Zielen nähern
können. Aber wer nicht verzweifeln will
an der Zukunft der Menschheit, wer die
Lust und Begeisterung sich bewahren
will, mitzuarbeiten an den Fortschritten
der Erkenntnis, der muß von dem Glauben
beseelt sein, daß alle Wege zu guterletzt
aufwärts führen, und daß nur Untätigkeit
Stillstand und Rückschritt bedeutet.
I
Diese Forderungen des Tages, soweit
sie 'die Tätigkeit unseres Kongresses be¬
treffen, sie sind, wie fast alles, was die
neue Zeit geboren hat, nicht neu ent¬
standen unter den besonderen Verhält¬
nissen der Gegenwart, sie treten jetzt nur
mit verstärkter Kraft an uns heran, sie
machen sich jetzt nur gebieterischer
geltend.
Manches, was wir jetzt werden ändern
müssen, betrifft die Organisation und
die äußeren Arbeitsbedingungen un¬
seres Kongresses. Wichtige Fragen, mit
denen sich schon frühere Tagungen be¬
schäftigt haben, harren noch der end¬
gültigen Entscheidung, so besonders:
unsere Stellungnahme gegenüber dem
Arzneimittelunwesen, die Neuordnung
unserer Veröffentlichungen, die Regelung
unserer Beziehungen zu anderen wissen¬
schaftlichen Versammlungen. Wir werden
diese Frage unter Rücksichtnahme auf
die neuen Verhältnisse zu lösen haben.
Aber auch Richtung und Inhalt unse¬
rer wissenschaftlichen Arbeiten wer¬
den durch die Forderungen der neuen Zeit
nicht unbeeinflußt bleiben. Auch hier
werden- wir -vielem Rechnung -tragen
müssen, was schon in früheren Zeiten
Gegenstand der Kritik gewesen ist.
Das, was man am häufigsten unseren
Verhandlungen zum Vorwurf gemacht
hat, das war die übermäßige Bewertung
der Theorie gegenüber der Praxis, der
Laboratoriumsarbeit gegenüber der Beob¬
achtung am Menschen, der Erforschung
der Krankheiten gegenüber der Behand¬
lung von Kranken. Von der hohen Warte
der Wissenschaft aus durfte solcher Vor¬
wurf zurückgewiesen werden, und mit
Recht konnte in so mancher Eröffnungs¬
rede des Kongresses hervorgehoben wer¬
den, daß wir auch unseren praktischen
Zielen uns' nur durch das Fortschreiten
unserer wissenschaftlichen Erkenntnis
nähern könnten. Ich möchte dem hinzu¬
fügen: es gibt ja überhaupt gar keinen
Gegensatz zwischen Theorie und Praxis,
nur die falschen Theorien bewähren
sich nicht in der Praxis! Jeder wahre
Fortschritt der Erkenntnis kommt mittel¬
bar auch der Praxis zugute.'
Aber wir dürfen uns nicht verhehlen,
daß wir in Zukunft vielleicht notgedrun¬
gen uns immer strenger werden richten
müssen nach den unmittelbaren Be¬
dürfnissen der ärztlichen Praxis. Die
steigende Not unseres verarmten Vater¬
landes wird uns vielleicht den Luxus
einer wissenschaftlichen Forschung nur
um ihrer selbst willen nicht mehr in dem
Maße gestatten, wie früher. Bei den
wachsenden Schwierigkeiten unserer Ver¬
sorgung mit Instrumenten, Chemikalien
und Versuchstieren werden wir gezwungen
sein, unsere Laboratoriumsarbeit einzu¬
schränken und uns in erhöhtem Maße der
einfachen Beobachtung am Krankenbette
zuzuwenden. Die mit sinkendem Wohl¬
stand unausbleiblich verbundene Ver¬
schlechterung der Gesundheitsverhält¬
nisse wird sicher auch an unsere thera¬
peutische Leistungen erhöhte Anforde¬
rungen stellen. Wir wollen hoffen, daß
das alles nur etwas Vorübergehendes sein
wird, und daß wieder Zeiten kommen
werden, in denen wir uns vorzugsweise
von idealen Bestrebungen werden leiten
lassen können. Zunächst aber werderi wir
notgedrungen dem Geist der Zeit Rech¬
nung tragen und uns richten müssen nach
dem materialistischen Grundsätze: ,,stul-
ta est gloria, nisi utile est quod faciamus!“
Die sich vorbereitende Wendung der
Dinge macht sich schon jetzt deutlich
bemerkbar. Betrachten Sie die Tages¬
ordnung dieses Kongresses, wie sie sich
unbeabsichtigt aus den verschiedenen
Anmeldungen zusammengesetzt hat, so
erkennen Sie schon ein stärkeres Über-
22*
172
Die Therapie der Gegenwart 1920
Mai
wiegen der Vorträge therapeutischen In¬
halts und der rein klinischen Mitteilungen
im Vergleich mit früheren Tagungen.
Es ist keine Verleugnung unserer Ver¬
gangenheit und keine Abwendung von
den Grundsätzen, zu denen wir uns bis
jetzt bekannt haben, wenn ich der Über¬
zeugung Ausdruck gebe, daß auch diese
Änderung ihr Gutes haben wird. Stets
sind es die Bedürfnisse der Praxis in
erster Linie gewesen, die erfolgreicher
wissenschaftlicher Forschung die Wege
gewiesen haben, und auf unserem Gebiet
war es immer wieder die Klinik, die der
experimentellen Pathologie und Physio¬
logie neue Fragestellungen gegeben und
auf sie befruchtend eingewirkt hat. Auch
dieses zeigt sich mit größter Deutlichkeit
in den Hauptfragen, die unsere diesjährige
Tagesordnung ausfüllen, neben der Im-
muno- und Chemotherapie der Infektions¬
krankheiten, in den Beziehungen zwischen
vegetativem Nervensystem, den endo¬
krinen Drüsen und dem Stoffwechsel, wie
in der Lehre vom Blutkreislauf und auch
sonst auf den meisten Arbeitsgebieten der
inneren Medizin. Und so dürfen wir hoffen,
daß eine intensivere Beschäftigung mit
rein praktischen Fragen für die Zukunft
auch erneute Anregung für wissenschaft¬
liche Forschungen geben wird.
Aber eine solche stärkere Betonung
der praktischen Ziele, sie kann nur dann
segensreich wirken, wenn sie nicht zu
einem Verlassen .der wissenschaftlichen
Grundsätze führt, wenn auch in der
Praxis auf wissenschaftliche Methodik
und wissenschaftliche Kritik nicht ver¬
zichtet wird. Je mehr wir uns genötigt
sehen, uns auf die Beobachtung am
Menschen zu beschränken, um so mehr
müssen wir uns hüten vor Oberflächlich¬
keit und Voreiligkeit des Urteils. Der
Mensch ist kein geeignetes Objekt des
Experiments. Wir können an ihm nicht
die Versuchsbedingungen nach Belieben
wählen, wie es für eine voraussetzungs¬
lose wissenschaftliche Forschung erforder¬
lich ist. Die Notwendigkeit, stets und
unablässig auf das Wohl des Kranken
Rücksicht zu .nehmen, hemmt unsjin der
Wahl der Mittel, der Wunsch, Erfolge
zu erzielen, trübt das Urteil über das Er¬
reichte. Um so vorsichtiger seien wir in
der Verwertung unserer Beobachtungen!
Schützen, wir uns vor Verflachung und
Routine! Suchen wir uns den Geist,
der auf den Höhen wissenschaftlicher
Forschung herrscht, zu bewahren, je
mehr wir hinabsteigen müssen in die
Niederungen des Alltaglebens! Suchen
wir vor allem diesen Geist zu erhalten für
die kommende Generation! Unsere Hoff¬
nung, sie ruht ja jetzt einzig und allein
auf unserer Jugend!
Die älteren unter uns, die mit dem
machtvollen Aufstieg unseres Vaterlandes
auch die glänzende Entwicklung der Me¬
dizin mit erlebt haben, sie sehen mit
Schmerz und Betrübnis vieles Zusammen¬
stürzen, was sie für unerschüfterlich
hielten. Viele von ihnen stehen ratlos
am Grabe ihrer Hoffnungen. ,,Ich habe
keinen Sinn für Kongresse, nur Ruhe,
Trauer und Asche aufs Haupt ziemt jetzt
dem Deutschen“, so schrieb mir vor
kurzem einer unserer angesehensten Kol¬
legen, den wir heute leider hier ver¬
missen. So denken und fühlen zum Glück
aber nicht alle! So denkt und fühlt vor
allem nicht unsere Jugend! Sie ist be¬
seelt von Arbeitslust und Tatendrang und
blickt hoffnungsfreudig in die Zukunft.
Und so dürfen wir es als ein besonders
verheißungsvolles Zeichen begrüßen, daß
gerade sehr viele jüngere Kollegen sich
hier eingefunden haben, die bereit sind,
sich an den Arbeiten unseres Kongresses
zu beteiligen. Sie sind uns doppelt will¬
kommen, weil sie berufen sind, unsere
Reihen aufzufüllen, die in den unglüpks-
vollen Kriegsjahren so sehr gelichtet sind.
Größer als sonst sind die Lücken, die der
Tod in diese Reihen gerissen hat! Wenn
es sonst Sitte war, bei der Eröffnung des
Kongresses der Mitglieder zu gedenken,
die wir seit der letzten Tagung verloren
haben, diesesmal ist es nicht möglich,
sie einzeln zu nennen und ihre Verdienste
nach Gebühr zu würdigen. Fast unüber¬
sehbar ist ihre Zahl. Nicht weniger als
drei von unseren Ehrenmitgliedern sind
uns durch den Tod entrissen. Ihre Namen
nennen, heißt ihre Taten preisen: Paul
Ehrlich, Emil von Behring, Emil
Fischer. Was diese uns gegeben, das
braucht in diesem Kreise nicht gesagt zu
werden. Wir ehren sie in ihren Werken,
die uns bleiben werden für alle Zeiten.
Wir ehren sie, indem wir weiter bauen
auf dem Grunde, den sie geschaffen. Auch
sonst sind es Namen von bestem Klange,
die wir als Verluste zu verzeichnen haben:
Ewald, Edinger und Albert Fraen-
kel, Adolf Schmidt und Lüthje, Al¬
bert Neißer, Kobert, Hochhaus,
Leo Mohr und Jochmann, Adolf
Baginsky, Cornet, Ludwig Bruns,
Türk (Wien), Stäubli (Basel), Jul.
Sclimid (Breslau), Matterstock, Leu-
Die Therapie der Gegenwart 1920
173
Mai
buscher, Weizsäcker, Bresgen,
V. Ehrenwall, Abend, Kohnstamm,
Grube, Robert Schütz, Nolda,
Schliep und viele andere, von Aus¬
ländern: Runeberg (Helsingfors), Pel
(Amsterdam), Osler (Oxford). Neben
Männern, deren Tod den Abschluß eines
langen, arbeitsreichen Lebens bildete, be¬
klagen wir den Verlust von solchen, die
auf der Höhe ihres Schaffens in der Voll¬
kraft ihrer Jahre zum Teil als Opfer
ihres Berufes dahingerafft wurden, und
/
von solchen, deren junges, hoffnungsvolles
Leben in der ersten Blüte dem Vaterlande
zum Opfer dargebracht wurde, wie
Kirchheim (Marburg), Meyer-Betz in
Königsberg, Erich Brück in Breslau,
Th. Groedel in Nauheim und andere.
Wir wollen das Andenken dieser Männer
in Ehren halten! Ich bitte Sie, dem Aus¬
druck zu verleihen, indem Sie sich von
Ihren Plätzen erheben.
Und nun erkläre ich den 32. Kongreß
für innere jyiedizm für eröffnet.
Aus der iuedizinisclieii Abteilung des Krankenbauses Müncben rechts der Isar
(Professor Sittmann).
Über die Beziehungen zwischen chronischer Tonsillitis
und Allgemeinerkrankung und über Tonsillektomie nach Klapp«
Von Dr. G. Blank, Erster Assistenzarzt der medizinischen Abteilung.
Päßler (1 bis 6) gebührt das Haupt¬
verdienst, in mehreren Veröffentlichungen
auf die Bedeutung chronischer Gaumen¬
mandelentzündungen für die Entstehung
von Allgemeininfektionen und auf die Heil¬
barkeit letzterer durch radikale Ent¬
fernung der Tonsillen erneut nachdrück¬
lich hingewiesen zu haben. Weitere Bei¬
träge, besonders von . laryngologischer
Seite, zeigten, daß wir bei der Bekämpfung
dieser als Bakteriämien oder Toxämien
verlaufenden Blutinfektionen (7) nicht
nur der „permanenten Mandelgruben-
infektion‘‘, sondern den Veränderungen
des gesamten lymphatischen Schluiid-
ringes unsere Aufmerksamkeit zuwenden
müssen, also nicht nur die Gaumen- und
Rachenmandeln als Hauptstätten des
lymphoiden Gewebes, sondern auch die
„Nebengeleise“ der Lymphknoten
(Rachengranula, Seitenstränge, Lymph-
gewehe des Zungengrundes) auf chro¬
nisch-entzündliche Veränderungen gründ¬
lich zu untersuchen haben (8). Ganz be¬
sonders weisen wir in diesem Zusammen¬
hang auf die Bedeutung chronischer
Zahn- und Wurzelcaries hin. Keine Ton¬
sillenbehandlung sollte in Angriff ge¬
nommen werden, ehe nicht die von cari-
ösem Gebiß unterhaltene Infektionsquelle
verstopft ist, denn häufig bilden üie Ton¬
sillen erst das Depot für die den Zähnen
entstammenden Infektionserreger (9).
Nach unseren Erfahrungen haben diese
Tatsachen leider noch nicht die wün¬
schenswerte allgemeine therapeutische
Nutzanwendung gefunden. Aus welchen
Gründen?
Manche Ärzte verhalten sich ablehnend
gegen die Mandelausschälung, da diese
dem Körper ein physiologisch nicht gleich¬
gültiges Organ raube. Für Kim der mag
dieser Standpunkt bis zum 12. Lebens¬
jahre, also bis zur Zeit des Einsetzens
physiologischer Involutionsvorgänge (10)
berechtigt sein. Anders beim Erwachse¬
nen. Hier wissen wir über die physiolo¬
gische Aufgabe nichts weiteres, als daß
die gesunde Tonsille, einer gewöhnlichen
Lymphdrüse vergleichbar (11), eine mund-
höhlenwärts gerichtete. Saft- und Leuko-
cytenausschwemmung unterhält, die durch
Filterwirkung und durch Phagocytose (12)
den Körper vor dem Eindringen von
Staub und Infektionserregern schützt.
Die Tonsillen beziehungsweise der lym¬
phatische Rachenring bilden also unter
gesunden Verhältnissen einen wirksamen
lymphatischen Schutzapparat des Orga¬
nismus (10, 13). Anders dagegen steht es
mit chronisch erkrankten Tonsillen.
Sie sind, wie schon makroskopische Be¬
trachtung durchschnittener'*‘ausgeschälter
Mandeln zeigt, in den mit Eiter und
Detritusmassen erfüllten Lakunen und
Krypten ein Schlupfwinkel für Bakterien
und deren Toxine. Daß auch das eigent¬
liche Drüsengewebe seiner oben um¬
schriebenen physiologischen Aufgabe nicht
genügen kann und dadurch infolge un¬
gehemmter Resorption aus den ober¬
flächlichen Krankheitsherden eine stän¬
dige Infektionsgefahr schafft, kann man
ermessen, wenn man auf der Schnitt¬
fläche die das Organ durchsetzenden
bindegewebigen Narbenzüge sieht. Phy¬
siologische Bedenken treffen also für
kranke Tonsillen nicht zu. Ihre Ent¬
fernung ist dringend zu fordern, da sie
ihre Aufgabe nicht erfüllen können und
174
Die Therapie der Gegenwart 1920
Mai /
für den Organismus eine ständige Gefahr
bedeuten (11, 14). Auch ist nach Mandel¬
ausschälung der Körper nicht schutzlos
gegen das Eindringen neuer Schädlich¬
keiten, denn bereits drei bis vier Tage
nach radikaler Entfernung wächst ade¬
noides Gewebe vom Zungengrund her in
die Mandelnische hinein (15).'
Meines Erachtens ist dadurch auch
die Einführung radikaler Behandlungs¬
methoden der Tonsillitis bei Allgemein¬
erkrankungen gehemmt worden, daß, in
enthusiastischer, leider manchmal kritik-
armerWeise die Indikationsstellung immer
mehr erweitert wurde. Fast keine innere
Erkrankung gibt- es mehr, bei der die
Tonsillektomie nicht Heilung bringen oder'
gebracht haben soll. Eine Methode, die
als Allheilmittel gepriesen wird, löst stets
Skepsis und ablehnende Haltung in der
Praxis aus. Um nur weniges herauszu¬
greifen, so wird chronische Tonsillitis in
ätiologische Beziehungen zu Epilepsie,
Veitstanz, Glottiskrampf, nervösem
Husten, Pavor nocturnus, neurastheni-
schen und manisch-depressiven Zustän¬
den, Bettnässen,,habituellen Kopfschmer¬
zen gebracht. Bronchitis, Bronchial¬
asthma, Dyspepsie, Hyperacidität, Magen¬
geschwür, chronische Verstopfung, Ischias
usw. sollen durch Tonsillektomie geheilt
worden sein. Auch Beziehungen zu
Appendicitis durch Verschlucken infek¬
tiösen Materials und zu Nephrolithiasis
werden angenommen (7, 16). Derartige
Indikationsstellungen sind entschieden ab¬
zulehnen. Entweder handelt es sich um
wenig beweisende Einzelfälle, die kurz¬
weg nach dem Grundsatz post hoc propter
hoc bewertet werden, oder es wurde der
suggestive Effekt operativer Eingriffe bei
oben erw^ähnten funktionellen Störungen
ganz vernacMässigt.
Nach unseren Erfahrungen gibt es für
die Tonsillektomie außer aus lokalen und
regionären Gründen, die hier unberück¬
sichtigtbleiben, nur eine sichere, Erfolg
versprechende Indikation: die chronische
bakteriämische oder toxämische Allge¬
meininfektion, mag sie sich nun haupt¬
sächlich an den Gelenken abspielen, das
Herz in Mitleidenschaft ziehen, die Nieren
embülisch oder toxisch schädigen oder in
verschiedenster Kombination dieser Ein¬
zelsymptome unter dem Bilde der so¬
genannten kryptogenetischen Sepsis ver¬
laufen.
In welchen Fällen soll man nun die
Tonsillenausschälung ausführen ? Diese
Frage zu beantworten, ist überaus schwie¬
rig. Hierin erblicke ich einen weiteren
Grund, warum viele Ärzte sich noch
immer recht reserviert gegen die Mandel¬
ausschälung bei Allgemeinerkrankungen
verhalten. Und doch wäre die Indika¬
tionsstellung, die meines Erachtens keine
schematische, sondern nur eine streng
individualisierende sein kann, gerade
Sache des praktischen Arztes, der als
Hausarzt den Kranken und seine Eigen¬
art gegenüber Infekten am bestem
kennt.
Weiß (17) erblickt die Indikation zur
Tonsillektomie in irreparablen patho¬
logischen Zuständen der Tonsillen und
im sicheren Nachweis eines Zusammen¬
hanges zwischen Tonsillenerkrankung und
anderen pathologischen Zuständen des
Körpers. So schön und exakt diese
Richtlinien klingen, im Einzelfalle wird
es schwer fallen, ihnen ger,echt zu werden.
Wann ist eine Tonsille pathologisch ver¬
ändert, wann diese 'Veränderung irre¬
parabel? Subjektive Beschwerden fehlen
gerade bei chronischer Tonsillitis, die
nach der Ausschälung als Ursache einer
Allgemeinerkrankung anzusprechen ist,
häufig fast ganz. Die Stärke der Schluck¬
beschwerden ist also kein Maßstab. Auch
die Größe der Mandeln sagt nichts (18).
Ich erinnere nur an die relative Harm¬
losigkeit mächtiger Tonsillarhypertro-
phien und an die Bösartigkeit mancher
kleinen versenkten Mandeln. Ähnlich
steht es mit dem Befund von Mandel-
pfröpfen. Wer gewohnt ist, jeden Kran¬
ken durch digitale oder instrumentelle
Massage auf tiefsitzende Pfröpfe zu unter¬
suchen, wird mir zustimmen, daß diesem
Befund besonders bei Menschen mit
schlechtem Gebiß und mangelhafter Mund¬
pflege keine entscheidende krankhafte
Bedeutung zukommt. Die Untersuchung^
durch Fingerpalpation nach Roethlis-
berger (19) bringt über den Zustand des
eigentlichen adenoiden Gewebes keine
wertvolleren Aufschlüsse. Auch das Ver¬
halten der regionären Lymphdrüsen ist
untypisch. Hajek (20) betont, daß sie
bei Allgemeinerkrankungen meistens nicht
geschwollen seien.
Wir sehen also, ,,irreparable“ patho¬
logische Zustände der Tonsillen festzu¬
stellen, ist sehr schwierig, ich kann sie
nur mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit
vermuten. Erst nach der Ausschälung
ist man imstande, durch makroskopische
und mikroskopische Betrachtung den
wirklichen Grad der krankhaften Ver¬
änderung zu erkennen.
175
Mai Die Therapie der Gegenwart 1920
Ähnlich verhält es sich mit dem '
zweiten Punkt der angeführten Weiß-
schen Indikationsstellung zur Tonsillek¬
tomie. Sichere Kriterien des ätiologischen
Zusammenhanges gibt es nicht. Die All¬
gemeinerkrankungen tonsillogenen Ur¬
sprungs bieten keinen klinisch oder bak¬
teriologisch pathognomonischen Sym-'
ptomenkomplex. Wen sich nicht nur von i
den erfolgreich tonsillektomierten Fällen '
blenden läßt, muß ziigeben,' daß selbst
bei gewissenhaftester, streng individua¬
lisierender Indikationsstellung, die sich
von jeder Schablone fernhält, eine nicht
kleine Zahl von Fällen der Operation
unterzogen wird, bei denen jeder Erfolg
vermißt wird. Diese Tatsache und die
Komplikationen, die nach Ausschälung
möglich sind (21 bis 25) haben in letzter
Zeit größere Zurückhaltung gegenüber
der radikalen Behandlung und Empfeh¬
lung konservativer Methoden veranlaßt
(26 bis 30, 32, 33). Mackenzie warnte
vor dem Tonsillem,,Massakre“.
Wie.meistens in der Behandlung, ist
auch hier der goldene Mittelweg , zu
empfehlen. Dem obersten Grundsatz
des „non nocere“ würde es nieht ent¬
sprechen, wenn man in jedem Falle
kryptogener Allgemeininfektion, fieber¬
hafter Gelenkerkrankung, ätiologisch un¬
klarer Nierenschädigung usw. zuni Messer
griffe, ganz abgesehen davon, daß man
auch bei gegebener Indikation viele
Kranke nicht zur Mandelausschälung be¬
wegen kann, da sie ,,nichts von ihren
Mandeln spüren“.
Viel gewonnen wäre schon, wenn
jeder Arzt in solchen Fällen überhaupt
an die Tonsillen denkt und dadurch zu
genauester, wiederholter Untersuchung
derselben veranlaßt wird, die nach dem
oben Gesagten nicht nur in Inspektion,
sondern in vorsichtiger instrumenteller
Massage zu bestehen hat, wobei eine
eingehende Anamnese eine wesentliche
Bereicherung und Klärung des örtlichen
Befundes bedeutet. Daß genaueste zwei¬
stündliche Aftermessung unter eventueller
Berücksichtigung des Temperaturverhal¬
tens nach körperlicher Arbeit — Beob¬
achtungen, die in unklaren Fällen nur
stationär durchzuführen sind — ent¬
scheidend für die Indikationsstellung sein
können, sei nebenbei bemerkt. Auch die
Kultur des sterilen Harns auf Strepto¬
kokken usw. kann uns bei negativer Blut¬
kultur wichtige Fingerzeige für die sep¬
tische Natur der vorliegenden Erkrankung
liefern. Ob es gelingt, durch parenterale
Eiweißzufuhr an den erkrankten Ton¬
sillen eine Herdreaktion „ im Sinn'e
Schmidts (34) auszulösen, scheint mir
der Nachprüfung wert.
Da nun nach unseren Erfahrungen
auch nach genauester Beobachtung kein
Arzt den ,,sicheren "Nachweis“ des Zu¬
sammenhanges zwischen Tonsillen- und
Allgemeinerkrankung im Einzelfall er¬
bringen kann, entschließen wir uns erst
dann zur Ausschälung der Mandeln, wenn
alle übrigen medikamentösen und diäte¬
tischen Behandlungsmethoden der A41-
g^meinerkrankung vergeblich gewesen
sind. Die Berechtigung der Tonsiilen-
entfernung können wir also meines Er¬
achtens nur ex, juvantibus erbringen.
Eventus docet!
Wenn man nun die Tonsillen als
Quelle der chronischen Infektion an¬
spricht, soll man konservativ oder radikal
chirurgisch behandeln? Von verschiede¬
nen Seiten wird über Erfolge durch Pinse¬
lungen mit Jodtinktur, Höllenstein- oder
Protargollösungen (28, 35), durch Aus¬
spritzungen (33) oder Kauterisation (26)
der Lakunen, durch Saugverfahren (29,
32), Massage (19, 26, 27), planvolles
Schlitzen (27) berichtet. Auf Grund
eigener Erfahrungen stehen wir diesen
konservativen Verfahren bei Behandlung
der Tonsillitis als Ursache von Allgemein¬
infektionen recht skeptisch gegenüber.
Bei der Massage wissen wir nie, ob sie
nicht mechanisch die Krankheitserreger
in die Lymph- und Blutbahnen hinein¬
preßt oder bei unrichtiger Indikations¬
stellung eine ruhende Infektion lebendig
macht. Beim Schlitzen sind wir bezüglich
der Eröffnung aller versteckten Krank¬
heitsherde ganz dem Zufäll überlassen.
Bei allen diesen konservativen Methoden
ist aber prinzipiell auszusetzen, daß^ sie
eigentlich nur gegen die sekundären
Symptome der Tonsillitis, gegen die
Pfropf- und Absceßbildung gerichtet sind.
Die krankhafte Funktion des eigentlichen
adenoiden Gewebes, die durch perverse
Saftströmung und mangelhafte Phago-
cytose diese makroskopisch auffälligsten
Entzündungsfolgen auslöst, können sie
nicht beeinflussen. Wir können also im
besten Falle vorübergehende sympto¬
matische Erfolge, keine Dauerheilung er¬
zielen, die bei Allgemeininfektionen allein
Wiederaufflackern ' derselben verhüten
kann.
Daß die Verkleinerung der Tonsillen
durch Tonsillotomie nur noch aus
raumbeengenden Gründen bei Atmungs-
176
Die Therapie der Gegenwart 1920
Mai
und Schlingbeschwerden in Frage kommt,
ist jetzt wohl allgemein anerkannt.
Mit Päßler (1, 2), Goerke (10),
Trautmann* (11), Tomlinson (18),
Auerbach (36), Citron (37), Hurd (38),
Oertel (39), Schreiber (40), Tenzer
(41) und anderen teilen wir den^ Stand¬
punkt Hop man ns (42, 43), daß die
Ausschälung immer angezeigt ist,
wenn ein Grund zu einer Operation
an den Mandeln vorliegt.
Die fachärztliche Frage, ob man extra- ^
kapsulär nach Trautmann (44), even¬
tuell unter plastischer Variation (45) Vor¬
gehen, ob man die Mandel stumpf aus-
löseni^lO, 12, 46, 47), ob man ein Stück¬
chen der Mandel zurücklassen soll (48,
49) usw., ist hier nicht zu erörtern. Be¬
tont muß werden, daß jede Tonsillektomie
kein technisch einfacher Eingriff ist (13,
22, nach Sheedy [23] nur 20% normale
Heilungen?), der wohl immer das Zu¬
sammenarbeiten mit einem Chirurgen
oder Hals^arzt notwendig machte. Hierin
liegt wohl mit die Ursache, daß die. bei
richtiger Indikationsstellung so segens¬
reiche Tonsillektomie trotz ihrer häufigen
Empfehlung vom praktischen Arzte, be¬
sonders auf dem Lande; verhältnismäßig
selten ausgeführt wird. Auch ist zu be¬
denken, daß der Allgemeinzustand sep¬
tisch Kranker häufig den Eingriff so¬
zusagen,am Krankenbett wünschenswert
erscheinen läßt, daß die Komplikationen
von seiten des Herzens, der Gelenke, der
serösen yäute zweizeitiges Operieren (44),
länger dauernde Operationen, zumal in
Narkose, ja manchmal sogar Verlassen
des Bettes zwecks Überführung in sitzende
Stellung oder4n den Operationsraum ver¬
bieten.
Um so begrüßenswerter war daher,
daß Klapp 1913 (50) ein Verfahren an¬
gab, das einfach, daher nach einiger
Übung von jedem Arzte ausführbar, und
gründlich sein sollte. Die Anwendung
der Klappschen Zange sei im folgend^en
besprochen und mit einer unwesentlichen
Variation warm empfohlen (40).
Klapp konstruierte in zwei Größen
ein Instrument (Fabrikant Max Kahne-
mann, Berlin), ähnlich der Lu ersehen
Hohlmeißelzange. Nach Einführen der ge¬
öffneten Zange in die Mundhöhle werden
die zwei hohlmeißelartigen Fortsätze ober¬
und unterhalb der Tonsille in die Gaumen¬
pfeilernische eingesetzt. Unter bestän¬
digem leichten Druck gegen die Nischen¬
wand wird die Zange langsam geschlossen,
so daß die Mandel in den Hohlraum der
Zangenlöffel ausweichen muß. Dann er¬
folgt durch kräftigen Schluß Abkileifen
der Tonsille. ,,Bei gewisser Übung ist in
einer größeren Reihe von Fällen radikale
Entfernung möglich.'*
Schon nach den ersten Anwendungs¬
versuchen ergaben sich mir zwei* Mi߬
stände. Bei kleinen versenkten Mandeln
gelang es mir nicht, sie aus ihrem Lager
genügend herauszudrängen und ganz mit
der Zange zu fassen. Zweitens vermochten
die halbscharfen Schneiden der Zangen¬
blätter nicht, auch bei kräftigstem Schluß,
die dünne Gewebsbrücke, besonders bei
narbigen Verwachsungen nach Periton¬
sillitis, zu durchschneiden, so daß die
Tonsille mit ihren die Zange oft seitlich
überquellenden Gewebsbrücken erst nach
unliebsamem Zerren und ruckartigem,
kräftigem Zuge folgte.
Seitdem ich dazu übergegangen bin,
nach dem Vorschläge von Sheedy (23),
Hopmann (43) und Peyser (51) die Ton¬
sille stets durch tiefes Fassen mit einer
Hakenfaßzange aus ihrem Bette hervor¬
zuziehen, gelingt die Entwicklung und
das Eihschließen in die Blätter der
Klappschen Zange auch bei kleinen,
kaum vorragenden Mandeln leicht und
vollständig. Die zweite Störung vermeide
ich dadurch, daß ich nach Schluß der
Zange mit einer der Fläche nach ge¬
bogenen Schere vom hinteren Gaumen¬
bogen aus die schmale Gewebsbrücke
hinter dem Zangenschluß durchtrenne,
wobei die konvexe Fläche der Zange als
Führung für den Scherenschnitt dient.
Die Mandelausschälung gestaltet sich
also folgendermaßen: Der nüchterne
Kranke sitzt in einem Stuhle. Assistenzhält
und führt mit zwei Händen den Kopf. Bei
schwerem Allgemeinzustand läßt sich der
Eingriff auch im Bette in halbsitzender
Stellung ausführen. Mit 10%iger Cocain¬
lösung wird der ganze Rachen bis zur
völligen Reflexaufhebung wiederholt ge¬
pinselt. Mit dieser oberflächlichen Lokal¬
anästhesie kommt man bei schnellem,
sicherem Operieren völlig aus. Gute Be¬
leuchtung und ausgiebige Mundöffnung
durch Kiefersperrer und Lippendilatator
sind Voraussetzung. Ich beginne mit der
für den Rechtshänder technisch schwie¬
rigeren linken Seite. Nach völligem Weg¬
drängen des Zungengrundes mit einem
Spatel wird eine zwei- oder dreizinkige
fixierbare Hakenfaßzange tief in das
Mandelgewebe eingesetzt, und zwar mehr
dem unteren Pole zu, der am leichtesten
Mai . Die Therapie der Gegenwart 1920, 177
infolge seiner versteckten Lage dem Fassen
mit der Klappschen Zange entgeht. Die
Faßzange muß schlank sein, damit sie
den seitlichen Spalt der Klappschen
Zange passieren kann. Danm wird das
Klappsche Instrument, dessen Größen¬
wahl sich nach der Tonsillengröße richtet,
in die Mundhöhle eingeführt und unter
gleichzeitigem Hervorziehen der Mandel
aus ihrer Nische in der oben geschilderten
Weise über und hinter der Tonsille kräftig
geschlossen, wobei' man peinlichst Ein¬
klemmen des Zäpfchens und der Gaumen¬
bögen vermeidet. Beim Zangenschluß
sieht man die Pfröpfe wie aus den Poren
eines Schwammes hervortreten. • Die
Hakenfaßzange wird entfernt und mit
wenigen' Sbherenschlägen die dünne ge¬
quetschte Gewebsbrücke durchschnitten,
wobei die Schere sich scharf an die kon¬
vexe Zangenfläche hält, . In gleicher Weise
erfolgt die Ausschälung auf der anderen
Seite in einer Sitzung. Die doppel¬
seitige Ausschälung dauert bei einiger
Übung wenige Minuten und bereitet keine
wesentlichen Schmerzen. Die tiefen
Operationsnischen pflege ich mit einer
r%igen wäßrigen Pycktaninlösung vor¬
sichtig auszutupfen. Diese Maßnahme
beschleunigt nach meinen Erfahrungen,
wie ich an anderer Stelle erwähnt habe
(52), die Abstoßung der sich stets bilden¬
den fibrinösen Wundbeläge. Unterstützt
wird diese durch fleißiges Gurgeln mit
warmem Kamillenaufguß. In den ersten
48 Stunden nach der Operation lasse ich
zur Linderung der Schluckschmerzen Eis¬
stückchen und eisgekühlte Milch schluk-
ken. Die reaktive Schwellung der Um¬
gebung ist meistens so gering, daß bereits
am dritten Tage breiige Kost geschluckt
werden kann.
Was die ausgeschäiten Tonsillen an¬
betrifft, so gleichen auch unsere den in
der Schreiberschen Publikation (40)
abgebildeten. Die abgeplattet-eiförmige
Gestalt ohne Substanzverluste beweist
die vollständig gelungene Ausschälung.
Das Klappsche Verfahren ist nicht
anwendbar, wenn eine innige Verwach¬
sung der Tonsillen mit den Gaumen¬
bögen besteht. Diese nicht sehr häufige
Komplikation erkennt man daran, daß
die Gaumenbögen nach Anhaken der
Tonsille bei Zug mitgehen.
Gefürchtet sind die Blutungen, die
während und nach der Operation auf-
treten können. Da die Möglichkeit post¬
operativer Blutungen nie vorauszusehen
ist, möchten wir vor ambulanter Aus¬
führung (.12, 40, 44) warnen (31). Naöh
Cocks (21) ist die Blutungsgefahr viel
größer als angenommen wird. Er stellt
aus der amerikanischen Literatur der
Jahre 1890—1912 107' schwere post¬
operative Blutungen mit 13 Todesfällen
zusammen, Burak (53) unter 2000 Man¬
deloperationen drei gefährliche Blutungen,
Chiari unter 600 Tonsillotomien 27
schwere Blutungen mit einem Todesfall.
Die Angabe Chiaris bestätigt die be¬
kannte größere Blutungsgefahr der Ton¬
sillotomie gegenüber der Ektomie. Hurd
(38) sah unter 17 947 Tonsillektomien
einen Todesfall an Blutung. Bei den nach
der Klappschen Methode ausgeführten
Mandelsausschälungen haben wir nie¬
mals eine stärkere Blutung gesehen.
Diese scheint mir sogar gegenüber an¬
deren chirurgischerseits geübten .Me¬
thoden so auffällig gering zu sein — an
Stärke und Dauer einer nach Zahnextrak¬
tion vergleichbar —, daß ich daraus
auf eine vollständige Exstirpation
durch die Klappsche Zange schließen
möchte, denn wie Tr aut mann (44) aus¬
führt, steigt die Blutungsgefahr mit dem
Zurücklassen von Tonsillarresten an der
Kapsel, die infolge entzündlich bedingter
Straffheit die durchtrennten Gefäße klaf¬
fend und blutend erhält. Mit Lewis (55)
sind wir ferner der Ansicht, daß die völlige
Aufhebung des postoperativen Schluckens
durch ausgiebige Cocainisierung die
Thrombosierung der durchschnittenen
Gefäße begünstigt, da jede Schluck¬
bewegung zur Zerrung und Bewegung der
frischen Wunde führen würde. Da wir
meistens bei septischen Allgemeinzustän¬
den zu operieren gezwungen sind, die mit
Herabsetzung der Blutgerinnbarkeit und
mit Gefäßwandschädigung verlaufen, fol¬
gen wir gern, dem Vorschläge Oertels
(39) : am Vorabend der Operation geben
wir subcutan 10,0 Normalpferdeserum
und kurz vor dem Eingriff 10,0 Calc.
chlorat. 10% intravenös. Sonstige Schä¬
digungen, wie Lymphdrüsenentzündungen
als Ausdruck einer Wundinfektion, Faciar
lislähmung, Schluckbeschwerden durch
Narbencontraction und Gaumensegelläh¬
mung, ‘Verwachsungen des hinteren
Gaumensegels mit der hinteren Rachen¬
wand, Singstimmschädigungen (23 bis
25, 56) haben wir nie beobachtet. Ich
erwähnte bereits, daß ich nach der Ope¬
ration die Wundnische lokal desinfiziere.
Mechanische Nachteile vermeide ich durch
genaue Beachtung des Zäpfchens und der
Gaumenbögen beim ZangenschLiß und
23
178 Die Therapie der Gegenwart 1920 Mai
durch Ausschaltung der Fälle von festen
Verwachsungen der Gaunienbögen mit
der Tonsille von der Klapp sehen Me¬
thode.
In einem Falle sah ich drei Monate
nach der Ausschälung ein großes ein-.
seitiges Rezidiv einer Mandelhypertrophie.
Bei jeder Operationsart werden derartige
Mißerfolge zu berichten sein (22). Diese
Rezidive nehmen ihren Ausgang von ab¬
sichtlich (48,49).oder unabsichtlich zuf ück-
gelassenem Tonsillargewebe, wie es nach
Simpson (57) in 44% aller Fälle vor¬
kommt. Vielleicht handelt es sich auch um
übermäßige Neubildung adenoiden Ge¬
webes, das nach Klestadt (15) selbst bei
jeder radikalen Entfernung vom Zungen¬
grunde her in die Mandelnische hinein¬
wächst.
’ Da noch manche Autoren aus physio¬
logischen Gründen (26) zu konservativen
Maßnahmen raten, anderen die ätiologi¬
schen Beziehungen zwischen Tonsillitis
und Allgemeinerkrankung noch sehr zwei¬
felhaft (58) oder der Beweis nicht strikte
statistisch erbracht (13), der Wert der
Tonsillektomie also noch recht hypothe¬
tisch, zu sein scheint (22), auch das Fehlen
fester, allgemein anerkannter Indikations¬
stellung zur Tonsillektomie bei Allgemein¬
erkrankungen bemängelt wird (59), würde
die Mitteilung genauer Krankheitsge¬
schichten am meisten dazu beitragen,
diese Bedenken zu zerstreuen und der
Tonsillektomie zum Segen unserer Kran¬
ken immer weitere Anhängerschaft, be¬
sonders unter den praktischen Ärzten zu
verschaffen. Leider hindert mich daran
die bedauernswerte Papierknappheit. Ich
muß mich daher darauf beschränken, aus
der Zahl unserer Fälle in Kürze einen
mitzuteilen, der- meine Ausführungen in
den wesentlichsten Punkten illustriert
und den Beweis erbringt, daß die Klapp-
sche Methode bei richtiger Ausführung
in der Hand des Geübten Dauererfolg
gewährleistet.
I. M., 32 Jahre alte Belgierin, aufgenommen
20. Oktober 1919, entlassen 25. November 1919.
Schwester war tuberkulös. Selbst mehrere
Kinderkrankheiten. Beginn der Beschwerden vor
fünf Jahren. Abnahme der allgemeinen
Leistungsfähigkeit. Nie ganz gesund, aber
auch nie ernstlich krank. Anfallsweise kolik¬
artige Leibschmerzen. In Behandlung Brüsseler
Kapazitäten: Nervosität, Wanderniere, Eierstock¬
entzündung, Störungen der Periode. Keine Be¬
handlung brachte Dauererfolg. Juli 1919
erfolgreiche Bandwurmkur. Trotzdem keine Bes¬
serung des gestörten Allgemeinbefindens: Kopf¬
schmerzen, fliegende Hitze, Zittern, Herzklopfen,
schlechter Schlaf, Gefühl von Völle im Leib.
10. bis 12. Oktober 1919 wieder heftige Kolik¬
schmerzeu, die Morphiumeinspritzung erforderten.
Befund: Hysterischer Allgemeineindruck.
Kräftiger Körperbau, guter Ernährungszu¬
stand. Gewicht 55,6'^kg.. Wassermanh negativ.
Beigefügte Kurve; gewonnen aus zweistündlicher ,
Aftermessung bei strenger Bettruhe, zeigt den
s^ubfebrilen Temperaturverlauf. Unruhe
und Zucken in den Armen. Hgb. 73%. Normales
Blutbild.
Sehr gutes Gebiß. Freie Nasenatmung.
Gaumenmandeln kaum vergrößert, flach,
Oberfläche uneben, links mit schleierartigem
weißen Belag, ohne entzündliche Erschei¬
nungen. Bei wiederholter Massage aus den ver¬
tieften Lakimen stets dicke gelbe Pfröpfe aus-
drückbar. .Nie Schluckschmerzen. Keine
Drüsenschwellung. Schilddrüse nicht ver¬
größert.
Über der rechten Lungenspitze verschärfte
Ein-, verlängerte Ausatmung. Röntgenosk.
Brustorgane o. B. Herz o. B. Neigung zu Puls¬
beschleunigung. Blutdruck 133/103 mm Hg.
Leib weich. Keine Gefäß- oder Ovarialdruck-
punkte. Frei bewegliche zehnte Rippe. Rechter
Nierenpol fühlbar. Unterer Milzpol bei wieder¬
holter Untersuchung eben arischlagend. Milz¬
dämpfung durchschnittlich 15/9 cm. Über beiden
Darmbeinschaufeln gefüllte, empfindliche Darm¬
schlingen fühlbar. Zweimal Probefrühstück: Ge¬
samtsäure 60 bis 78, freie Salzsäure 36 bis 52.
Wismutmahlzeit: Magen etwas ektatisch und
ptotisch. Dickdarm etwas spastisch. Stuhl acht¬
mal chemisch blutfrei. Oxyuren.
Gelenke frei. Lebhafte Sehnenreflexe. Kath.
Harn o. B. Röntgen kein Nierenkonkrement.
Für die kolikartigen Leibschmerzen ergab der Be¬
fund keine Erklärung.
Nach Vorgeschichte und Temperaturverhalten
mußte an Tuberkulose gedacht werden: Pirquet
negativ. Auf dreimalige subcutane Alttuberkulin¬
injektion (Vs, L5 mg) keinerlei Reaktion.
Fieber und Milztumor ließen ferner an eine
Allgemeininfektion denken, entsprechend der
Mahnung Johns (29) und Citrons (37), unklares
Fieber eher auf chronische Tonsillitis als auf
Tuberkulose zu beziehen. Bei dem geringen Lokal¬
befund der Tonsillen, der bei methodischer Unter¬
suchung nach unseren Erfahrungen bei so vielen
'Menschen zu erheben ist, verhielten wir uns ab¬
wartend, Liege- und Mastkur, Behandlung der
Oxyuren brachten keine Besserung des Allgemein-
zustandes: Kopf- und Kreuzschmerzen, Schlaf¬
losigkeit, Nachtschweiß. Trotz gutem Appetit
Gewicht unverändert 55,6 kg.
Deshalb am 6. November 1919 Tonsillektomie
in der oben beschriebenen Weise. Ideale Aus¬
schälung. Keine Spur von Blutung. Tonsillen
wallnußgroß, auf der Schnittfläche mit Narben¬
strängen durchsetzt.
8. November. In die Ohren ausstrahlende ge¬
ringe Schluckschmerzen. Keine Nachblutung.
Zäpfchen etwas ödematös, gut beweglich. Am
weichen Gaumen kleine Blutaustritte. Reaktive
Schwellung minimal. Tiefe Gaumennischen mit
Fibrin belegt.
10. November. Gewicht 55,5 kg.
Vom 12. November ab außer Bett.
Temperatur vom 9. November ab, also drei
Tage nach der Mandelausschälung, um % °
Normalwert dauernd herabgedrückt (siehe Kurve).
Milz nicht mehr anschlagend, Dämpfung 11/8^ cm,
mithin Abschwellen der Milz infolge Ausschaltung
der den Organismus chronisch mit Bakterien und
Toxinen überschwemmenden Infektionsquelle. In
einer Woche drei Pfund zugenpmmen,
Mai
Die Therapie der G'egenwart X920
^79
während bis zur Tonsillektomie bei völliger Bett¬
ruhe, Mastkur und gutem Appetit keine Zu¬
nahme zu erzielen war. Die dauernde Resorption
aus den kranken Tonsillen wirkte also stoff¬
wechselschädigend. Die bedeutende Gewichts-
^zunahme ist auch ein Beweis, wie schnell bei .der
Klapp sehen Methode normales Schluckvermögen
wiederkehrt. Nervöse Symptome gebessert.
Sichtliches Aufblühen — ein Effekt der Ton¬
sillektomie, den Tenzer (41) ausdrücklich be¬
tont.
Entlassen mit 57,5 kg, also 2 kg Zunahme
in elf Tagen. Hgb. von 73 auf 95% zugenom-
men. Patient übersteht ohne Störung die be¬
schwerliche Reise von München nach Hamburg.
Epikritisch ist von Interesse, daß vor wenigen
Wochen eine mittelschwere Gripp'eerkrankung
ohne Nachteil überstanden wird — eine Bestäti¬
gung der Mitteilung Simpsons (57), daß Ton¬
sillektomie nicht vor ' Infektionskrankheiten
schützt, deren Eintrittspforte im Rachen ver¬
mutet wird. Deshalb dürfte auch die Pinselung
der Tonsillen mit Tct. Jod., die Müller-Waldeck
<35) empfiehlt, wenig Erfolg versprechen. Nach
brieflicher Mitteilung fühlt sich die Kranke jetzt
wohl und munter.
Dieser Fall möge unter Hinweis auf
die Weißsclien Indikationspunkte (17)
zeigen, wie schwer im Einzelfaile die An¬
zeige zur Operation zu stellen ist, denn
trotz wiederholter, genauester Unter¬
suchung waren die Tonsillen kaum als
irreparabel pathologisch zu bezeichnen
und der sichere Nachweis des Zu¬
sammenhanges zwischen Tonsillenverän¬
derung und den unklaren allgemeinen
Krankheitssymptomen war eigentlich erst
post Operationen! aus dem Erfolg derselben
zu erbringen. Also keine schematische,
sondern individualisierende Indika¬
tion per exclusionem auf Grund genaue¬
ster Untersuchung und Beobachtung. Der'
Fall lehrt weiter, daß die Tonsillektomie
imstande ist, bei Allgemeinerkrankungen
Patienten, die jahrelang von Arzt zu Arzt
ziehen, mit einem Schlage Gesundheit
und volle Leistungsfähigkeit wieder¬
zugeben, also auch eine nicht geringe
soziale Bedeutung besitzt. Er m.öge
endlich die Klapp sehe Methode emp¬
fehlen, denn sie ist bei einiger technischer
Gewandtheit einfach,. gefahrlos, fast
in allen Fällen anwendbar und führt
in gleicher Weise wie die komplizierteren
Methoden der Fachärzte zum Dauer¬
erfolge.
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Nr. 10. — 48. Riedel, M. m. W. 1913, Nr. 41. —
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zit. nach 21. — 54. Chiari, zit. nach 21. — 55.
Lewis, Med. rec., Bd. XC, H. 26. — 56. Harris,
-J. of Am. ass., Bd. LX, H. 6. — 57. Simpson,
, J. of Am. ass., Bd. LXVI, H. 14. — 58. Sobern-
heim, B. kl. W. 1913, Nr. 7, Ver.-Ber. — 59.
Mader, M. m. W. 1913, Nr. 32, Ver.-Ber.
23 *
180
Die Therapte der Gegenwart 1920
Mal
Ans der Röntgenabteilung der Kaiser-Wübelms-Akademie in Berlin
(Vorstand: Stabsarzt Dr. Strauß).
über Strahlenbehandlung der Polycythämie.
Von Otto Strauß.
Die Polycythämie ist bis vor kurzem
einer Behandlung überhaupt nicht zu¬
gänglich gewesen. In der Annahme, daß
es sich um ein relativ seltenes Krankheits¬
bild handle, fand man sich mit dieser
Tatsache ab. Indessen scheint es, daß
man heute öfters das polycythämische
Krankheitsbild beobachtet wie ehedem,
wenigstens wird es jetzt öfters dia¬
gnostiziert. Noch 1912 sprach ein Hä¬
matologe von der Bedeutung von
Morawitz, daß man mit Sicherheit
jetzt 50 Fälle von Polycythämie kenne.
Er mußte, also damals angenommen ha¬
ben, daß die Fälle von Polycythämie sehr
selten sind. Heute wird man dies nicht
mehr behaupten können. Es existieren
über dieses Krankheitsbild schon mehr
als 130 Veröffentlichungen. Inwieweit
hierbei Fehldiagnosen mit eine Rolle
spielen, ist nicht meine Sache, zu ent¬
scheiden. Auf jeden Fall aber ist die
Polycythämie heute ein absolut seltenes
Krankheitsbild nicht mehr und damit
wird auch die Frage nach der Behandlung
eine akutere. Der therapeutische Erfolg
der bis jetzt verabreichten medikamen¬
tösen Mittel ist ein unsicherer gewesen.
Zwar hat Türck nach hohen Dosen von
Arsen Erfolge gesehen, Korany und
Bence erreichten etwas mit Sauerstoff¬
inhalationen, V. Noorden anempfiehlt
Chinin und Aderlässe, indessen haben sich
alle die Behandlungsmethoden eine wirk¬
liche Bedeutung nicht erworben. Sowohl
Morawitz wie Grober verhalten sich
ganz ablehnend in der Beurteilung der
Behandlungserfolge. Auch die bei dem
ganzen klinischen Bilde der Polycythämie
so naheliegende Milzexstirpation ergab
keine günstige Beeinflussung des Krank¬
heitsbildes. Vorläufig ist daher die
chirurgische Behandlung dieses Leidens
aufgegeben, ob man sie später nicht wieder
einmal mit besserem Erfolg aufnehmen
wird, bleibt abzuwarten.
Es war selbstverständlich, daß man
bei einem Leiden, bei welchem man in
der ganzen Behandlung noch nicht über
ein unsicheres Probieren hinausgekommen
war, es auch mit der Röntgenbestrahlung
versuchte. Die theroretischen Voraus¬
setzungen für die Wirksamkeit einer
Strahlentherapie waren ja ungünstig. Was
sollte die Bestrahlung bei einer Erkran¬
kung leisten, die lediglich das rote Blut¬
bild betrifft? Wußten wir doch schon
lange^ daß Röntgenstrahlen nur auf das
weiße Blutbild wirksam sind, und man
nahm an, daß die- roten Blutkörperchen
gegen Bestrahlung sich gänzlich unbeein¬
flußbar verhalten. Zahlreiche Beob¬
achtungen von Schweitzer, Helber
und Linser, Milchner und Mosse,
Nürnbergerund anderen stimmten darin
überein, daß die Erythroblasten auf Be-
Bestrahlung nicht reagieren. In dieser
allgemeinen Form^ ausgedrückt, ist das
nun nicht richtig. Eine gewisse Einwir¬
kung der Bestrahlung auf die Erythro-
cyten ist nicht -in Abrede zu stellen,
es bedarf nur dazu sehr großer Strahlen¬
mengen. So hat Schauta nach außer¬
ordentlich hohen Radiumdosen (er ließ 50
bis 100 mg Radium drei bis elf Tage lang
einwirken) eine Abnahme der Zahl der
roten Blutkörperchen und des Hämoglobin¬
gehalts beobachtet. Aubertin und Beau-
jard sahen nach intensiver Bestrahlung
beträchtliche Schädigungen der Erythro-
cyten. Es kam zu Poikilocythose und
Polychromatophilie, desgleichen traten
kernhaltige rote Blutkörperchen im Blut¬
bild auf. Heineke sah bei seinen grund¬
legenden Untersuchungen gleichfalls eine
Zerstörung der roten Blutkörperchen
durch hohe Dosen und fand danach eine
Häufung von Blutpigment in der Milz.
In neuerer Zeit hat Hildegard Bor¬
mann bei intensiver Bestrahlung eine
Verminderung der Erythrocytenzahl und
ein Absinken der Hämoglobinwerte fest¬
gestellt, so daß man also an eine Beein¬
flußbarkeit der roten Blutkörperchen
durch Strahlenwirkung nicht zweifeln
kann. Eine ganz andere Frage ist es nun
aber, ob man diese Strahlenwirkung im
therapeutischen Sinne verwenden kann.
Solche Dosen, wie sie z. B. Schauta
angewendet hat, sind zu vermeiden. Hier
muß man sich von vornherein darüber
im klaren sein, daß es zu schweren Schädi¬
gungen kommt. Die Empfindlichkeits¬
dosis für die roten Blutkörperchen ist eine
so große, daß bei ihrer Applikation schon
schwerste Allgemeinschädigungen ein-
treten können und daß vor allen Dingen
— worauf Wetterer mit Recht aufmerk¬
sam macht — die Haut diese Strahlen¬
mengen nicht mehr verträgt.
IBl
Mai, Die Therapie der
Nach diesen Ausführungen müßte man
eigentlich von einer Behandlung der
Polycythämie mit Röntgenstrahlen Ab¬
stand nehmen. Verwundern könnte es ja
nicht, denn ein Mittel, das gegen leuk¬
ämische Krankheitsbilder so hochwirk¬
sam ist, kann doch im Grunde genommen
die Erythrocyten nicht in gleichem
Maße beeinflussen. Nun aber lehrt uns die
Strahlentherapie, daß gesundes Gewebe
oft mur sehr wenig durch Bestrahlung
zu beeinflussen ist, daß aber dieselbe Ge-
websart eine höhere Radiosensibilität auf¬
weist, wenn sie pathologisch verändert
ist. Bietet nun das krankhaft veränderte
rote Blutkörperchen eine relativ günstige
Vorbedingung für Bestrahlung? Wir
wissen, daß sich im Blut des Polycythäm-
ikers Polychromasie und Mikrocythose
findet, daß kernhaltige Zellen, Zellen mit
Kernresten und Erythroblasten darin vor¬
handen sind, also kurzum, daß ähnliche
Befunde darin auftreten, wie wir sie bei
intensiv Bestrahlten finden. Irgend¬
welche Schlüsse möchte ich hieraus nicht
ziehen. Auch glaube ich nicht, daß die
Wirksamkeit der Bestrahlung bei Erythro-
cythämie auf eine direkte Beeinflussung
der roten Blutkörperchen selbst zurück¬
zuführen ist, sondern ich nehme vielmehr
eine Einwirkung auf die hämatopoetischen
Bildungsstätten an. Man könnte sich ja
schließlich denken, daß normale rote
Blutkörperchen durch Bestrahlung nicht,
daß hingegen krankhaft veränderte Blut¬
körperchen sehr wohl zu beeinflussen
seien, indem die Erythrocyten bei Poly¬
cythämie eben minderwertig sind, durch
Eiweißverarmung und verminderte Re¬
sistenz gegen Kochsalz und Saponin be¬
einträchtigt, leichter der Strahlenwirkung
verfallen. Da außerdem cj^r Polycyth-
ämiker zahlreiche kernhaltige Erythro¬
cyten aufweist, so wäre auch die Möglich¬
keit gegeben, daß diese Formelemente
radiosensibler sind als normale. Indessen
möchte ich trotz aller dieser zugegebenen
Möglichkeiten nicht an dieWahrscheinlich-
keit der direkten Strahlen-Beeinflussungdes
fließenden Blutes glauben. Erstens haben
uns Tierexperimente Curschmanns ge¬
zeigt, daß auch bei normalem Blutbefund
eine Erythrocytenverminderung und ein
Sinken der Hämoglobinwerte eintreten
kann, zweitens muß man sagen, daß die
Veränderungen des Blutbildes nur sehr
kurzfristig sein könnten, wenn sie durch
direkte Beeinflussung erzielt worden
wären. Wir wissen, daß nach längstens
.acht Wochen das durch Bestrahlung ver- |
Gegenwart 1920
V
änderte Blutbild wieder zur vorher be¬
standenen Zusammensetzung zurückkehrt,
wir könnten uns also von einer das flie¬
ßende Blut allein treffenden Beeinflussung
einen dauernden Erfolg (auch nur Erfolg
von relativer Dauer) nicht erwarten.
Wir müssen also die Wirksamkeit der
Bestrahlung in den hämatopoetischen
Bildungsstätten selbst suchen, und da
bleiben uns zunächst zwei Stellen zur
Auswahl: erstens die Milz, zweitens die
Knocheni Die Versuche, durch Bestrah¬
lung des Skeletts die Polycythämie zu
beeinflussen, sind schon sehr weit zurückr
liegend, ln der Literatur wird es immer
so dargestellt, als ob Parkinson 1908
die ersten dahingehenden Versuche unter¬
nommen habe, doch reichen die Anfänge
einer solchen Therapie schon weiter zu¬
rück und knüpfen an allerdings noch nicht
richtig gedeutete Beobachtungen von
Schenck, Vaquez und Laubry aus
dem Jahre 1904 an. Später rückte dann
mehr die Milz in den Mittelpunkt des
Interesses und man begann dann mit
ihrer Bestrahlung. Die damit erzielten
Erfolge sind als negative anzusehen.
Nach den zahlreichen ergebnislosen Ver¬
suchen von Hörder, Kuttner, Pan-
koast, Pic, Bonnamour, Cremieu,
Pick, Begg, Bulmore, Loewy, Mon-
ro, Osler, Watson und verschiedenen
anderen perhorreszierte Lüdin die Milz¬
bestrahlung, die er als ein verfehltes
Unternehmen bezeichnet, und bestrahlte
nur die Knochen. Die weiteren Beob¬
achtungen scheinen Lüdin Recht zu
geben. Zwar hat Mönch noch mit einer
Milzbestrahlung etwas erreicht, auch ver¬
fügt die Universitätsklinik in Königsberg
über einen 1909 behandelten Fall, bei
welchem die Milzbestrahlung Besserung
gebracht hat; schließlich sei auch noch
erwähnt, daß Minkowski der Milz¬
bestrahlung das Wort spricht, aber trotz¬
dem muß man heute sagen, daß man im
allgemeinen von einer alleinigen Be¬
strahlung der Milz nichts erwarten darf.
Es ist selbstverständlich, daß man die
ganze Bestrahlungstherapie der Poly¬
cythämie, bei welcher es also nicht genügt,
die Milz zu bestrahlen, sondern man das
ganze Skelett einer systematischen Rönt-
genisierung unterziehen muß, erst richtig
auszuüben in der Lage war, als man über
die modernen Apparate verfügte. Die
Versuche von Schenck und Parkinson,
die negativen Ergebnisse von Vaquez
und Laubry sind als hochbedeutsame
Vorläufer angesehen; die eigentlich wirk-
182 Die Therapie der
Same Bestrahlung setzte erst ein, als man
die moderne Technik richtig beherrschen
lernte. Es war dann Tan er der durch
Knochenbestrahlung eine Herabsetzung
der Erythrocyten von 14 200 000 auf
6 600 000 und ein Sinken des Hämo-
globingehälts von 178% auf 163% er¬
reichte. Die relative Seltenheit der Fälle,
die ganz anders gerichteten ärztlichen
Interessen der Zeit brachten es mit sich,
daß die Tancresche Mitteilung nicht die
Beachtung fand, die sie hätte finden
sollen. Angeregt nun durch die ungefähr
gleichzeitig veröffentlichten Erfolge von
Tancre und Lüdin sind eine Reihe
Kliniker erneut an die Bestrahlung der
Polycythämie herangetreten und es sind
von Forschbach, Goggenheimer,
Böttner und anderen ausgesprochene
Erfolge mit der Bestrahlung erzielt wor¬
den. Ich kann auf Grund eigener Beob¬
achtungen die Angaben dieser Autoren
nur voll und ganz bestätigen. Auch ich
habe mit der isolierten Milzbestrahlung
einen völligen Mißerfolg erlebt, während
die systematische Bestrahlung des ganzen
Skeletts einen ausgesprochenen Erfolg
brachte. Es ist geradezu staunenswert,
wenn man sieht, wie hochgradige Tibia¬
schmerzen und Erythromelalgien unter
der Einwirkung der Bestrahlung ver¬
schwinden. Auch ich beobachtete wie
andere Autoren einen gelegentlichen Ab¬
fall der Zahl der roten Blutkörperchen
tief unter der Norm. Daß dies ein ge¬
fährlicher Vorfall ist, läßt sich nicht
sagen. Es scheint sich doch nur mehr um
einen vorübergehenden Zustand zu han¬
deln. Daß man bei der Bestrahlungs¬
therapie das Blutbild fortgesetzt kon¬
trollieren muß, bedarf eigentlich keiner
Betonung.
Die Wirksamkeit der Bestrahlung ist
wohl eine das Knochenmark selbst be¬
treffende. Wir wissen, daß das Knochen¬
mark bei der Polycythämie sich im Zu¬
stande der funktionellen Hyperaktivität
befindet und in sämtlichen Knochen eine
dunkelrote Farbe aufweist. Wir müssen
annehmen, daß dieses rote Mark- sehr
strahlenempfindlich ist, und dies ist dann
für unsere ganze Therapie bestimmend.
Man muß möglichst das ganze Skelett
bestrahlen. Daß diese Bestrahlungen bei
Gegenwart 1920 Mai
den langen Röhrenknochen am einfachsten
ausführbar sind, darf uns nicht veran¬
lassen, sie nur auf diese Skeletteile zu be¬
schränken. Brustbein, Becken,Wirbelsäule^
Schulterblätter sind mit zu bestrahlen.
Was die Dosierung betrifft, so ist es
angezeigt, immer die Hauteinheitsdosis
zu verabreichen. Strittig ist es noch, ob
man die Milz mit in die Bestrahlung ein¬
beziehen soll. Wie ich bereits ausführte,
ist die isolierte Milzbestrahlung ohne Er¬
folg. Inwieweit die Milzbestrahlung in
Verbindung mit einer Röntgenisierung
des ganzen Skeletts eine Verbesserung der
Wirkung herbeiführt, vermag ich aus
eigener Erfahrung nicht zu beurteilen.
Dies dürfte in letzter Linie auch nur an
Hand eines großen Beobachtungs¬
materials, in welchem bald mit, bald ohne
Milzbestrahlung die Behandlung aus¬
geführt würde, zu entscheiden sein. Bött¬
ner vertritt den Standpunkt, daß man
Milz und Knochenmark nicht mit gleich¬
starken Dosen bestrahlen dürfe, indem
die Milz mit Reizdosen zu beschicken sei,
die noch eine Funktionssteigerung herbei¬
führten, während das Knochenmark große
Dosen erhalten müsse, damit eine Funk¬
tionslähmung erzielt werde. Der hier
ausgesprochene Gedankengang ist richtig,
es ist nur nicht so einfach, zu^bestimmen,
welche Dosis bei der Milz als Reizdosis
wirkt. Nach Manfred Fränkel, dem
Begründer des Begriffs der Reizdosis,
sind es drei Sabouraud-Noiree-Dosen, die
bei Platinstaniol-Filterung durch drei
Einfallsdosen (eine von vorn, eine von
hinten und eine von der Seite) verabreicht
werden. Man sieht hieraus, daß die Reiz¬
dosis der Milz nicht zu klein bemessen
sein darf. Was viele als Reizdosis an-
sehen, ist tatsächlich nur eine effektlose
Milzbestrahlung. Einer Leberbestrahlung
möchte ich das Wort nicht reden, da ihre
Vergrößerung bei Polycythämie nur auf
Hyperämie beruht.-
Ich möchte meine Ansicht über den
Wert der Bestrahlung bei der Poly¬
cythämie dahin zusammenfassen, daß
ich in der Strahlentherapie ein Mittel
erblicke, das auch noch in fortgeschritte¬
nen und fast hoffnungslos erscheinenden
Fällen indiziert und eine Besserung herbei¬
zuführen in der Lage ist.
Mai Die Therapie der Gegbnwart 19i20 183
Aus der Poliklinik für chirurgische Erkrankungen
des Herrn Geh. Rat Prof. Dr. Bockenheimer, Berlin.
Behandlung infizierter Wunden mit Pyoctaningaze.
Von Dr. med. E. L. Blumann, Assistent der Poliklinik.
Seit Wiedereintreten eines geordneten
Friedensbetriebes in der Poliklinik von
Geh. Rat Bockenheimer habe ich hier
mit dessen Erlaubnis in der Wundbehand¬
lung an Stelle der gewöhnlichen Gaze¬
oder Jodoformgazetamponade die von
Baumann 1916 .eingeführte Pyoctanin¬
gaze angewandt.
Zur Einführung und Erklärung muß
ich nun zunächst noch einige historische,
dann auch experimentell-physiologische
, Vorbemerkungen über die Anilinfarb¬
stoffe in der Therapie im allgemeinen und
über das Pyoctanin im Speziellen machen.
Nachdem Ende der 80er Jahre Kre-
manski^) zum erstenmal auf die bacte-
ricide Wirkung gewisser Anilinfarbstoffe
hingewiesen hatte, führte Stilling^) als
erster die Anilinfarbstoffe als Antiseptica
in die Praxis ein.
Schon damals wurde die große bacte-
ricide Fähigkeit der Aniline hervorge-
^ hoben. Hatten doch die Untersuchungen
Stillings und des Botanikers Wort--
mann^) ergeben, daß die Anilinfarbstoffe
auf die resistentesten Bakterien und
Sporen selbst in geringer Konzentration
einen Wachstums- und entwickelungs¬
hemmenden Einflüß haben, während sie
diese bei jeder stärkeren Konzentration
völlig abtöten. Der physiologische Vor¬
gang, der sich dabei abspielt, ist der, daß
die Bakterien je nach der Konzentration
der Lösur^en, in die man sie bringt, mehr
oder weniger gefärbt werden; und kon¬
form mit den verschiedenen Graden der
Tinktur des Zelleibes gehen dann auch
die Wirkungen auf die vitalen Funktionen
der Zellen selbst.
Bakterien, in schwächere Farblösungen
gebracht, werden in ihrem Wachstum
gehindert und geben, später in ein reines
Medium' gebracht, den Farbstoff wieder
ab, während Zellen in starkkonzentrierten
Farblösungen schnell absterben. Weitere
experimentelle Untersuchungen mit den
Anilinfarbstoffen Methylenblau und Me¬
thylviolett haben dann ergeben, daß be¬
reits in sehr starken Verdünnungen Wachs-
Vortrag, gehalten am 5. März 1920 in der
Poliklinik, Luisenstraße 19.
2) Kremanski (The Lancet 1890).
Stilling 1890, Anilinfarbstoffe als Anti¬
septica und ihre Anwendung in der Praxis.
4) Wortmann 1891 (Ther. Mh.).
tumshemmungeri der Bakterien eintreten,
und daß in Konzentrationen 1:2000 bis
1:1000 jedes vorhandene Bakterium ab¬
getötet wird. Ein Vergleich mit unserem
stärksten Desinficiens, dem Sublimat,^
hatte, angewandt auf Milzbrandbacillen,'
nach Jaenickes), ergeben, daß diese
bereits in einer Methylviolettlösung von
1:1 000 000 entwicklungsgehemmt wa¬
ren, während nach Koch eine Sublimat¬
lösung von 1:330 000 zum selben Effekt
nötig war. Dazu muß man aber in Be¬
tracht ziehen, daß das Sublimat zellschädi¬
gend ist, während die Aniline, auch in
starker Konzentration, sich als nicht
gewebs- oder organismusschädigend er¬
wiesen haben.
Die ersten Anwendungen der Aniline
in der Wundbehandlung fanden in Form
des Methylenblaus oder des Methylvioletts
in Substanz statt; das heißt das blaue
Pulver wurde auf ,diß Wunde geschüttet..
Dabei ergab sich bald ein recht
einschneidender Nachteil, daß die Sub¬
stanz, auf die Wundoberfläche gebracht,
nicht bis in die tiefsten Taschen und
Buchten der Wundhöhle hinein färbte
und daß so nur die Bakterien der Ober¬
fläche gefaßt wurden, während die pri¬
mären Eiterherde in der Tiefe unberührt
blieben.
Diesem Mangel half nun Eaumann®)
erst ab, indem er auf den Gedanken kam,
die Gaze, mit der er eine beliebige Wund¬
höhle austamponierte, mit einer Methyl¬
violettlösung zu tränken, um so den Farb¬
stoff in die Tiefen der Wundhöhle und
an den Herd der Eiterung bringen zu
können. Später ließ er sich die Blaugaze
durch die Hartmannsche Verbandstoff¬
fabrik in Heidenheim fabrikmäßig her-
stellen, und zwar kam die Gaze in drei
Stärken: zu 3%, 5%, 10% in den Handel.
Mit einem Schlage war so die Dosie¬
rung des Farbstoffes für den Praktiker
geregelt. Die bei dem Arbeiten mit der
Trockensubstanz öfters eintretende Über¬
dosierung, die bisweilen eine granulations¬
hemmende Wirkung haben kann, fällt
bei der Anwendung der Pyoctaningaze
fort.
5) Jaenicke (Ther. Mh. 1892).
*) Baumann (Korr. BI. Schweizer Ä. 1916,
Nr. 35).
184 Die Therapie der Gegenwart 1920 Mäi
B a u in a n n benutzte ausschließlich
Methylviolett, Pyoctaninum coeruleum
(Merk), von dessen Überlegenheit über
das Methylenblau er sich experimentell
überzeugt 4iatte.
Nachdem ich nun unter Baumanns
Leitung 1915 an der Königsberger Chir-
urgisclien Klinik einige hundert Fälle mit
Pyoctaningaze behandelt und mich von
dem guten Erfolge derselben überzeugt
hatte, setzte ich an der hiesigen Poliklinik
die Wundbehandlung mit Pyoctaningaze
mitxiem gleichen günstigen Resultate fort
Die Anwendung der Blaugaze ist auch
besonders für den praktischen Arzt sehr
einfach. Alle zur Infektion neigenden
Verletzungen (Unfälle!), als da sind Schuß-,
Stich- und Hiebverletzungen, komplizierte
Frakturen, Skalpierungen, wie sie bei
Überfahrungen häufig sind, alle gespal¬
tenen Abscesse, Panaritien aller Art,
Phlegmonen und selbst Osteomyelitidep,
werden mit der Pyoctaningaze locker!
ausgelegt und dann die Wunde mit einer
dicken Zellstoffschicht belegt, um even¬
tuelle Sekrete aufzufangen. — Es hat
sich mir als recht praktisch erwiesen,
besonders stark verschmutzte Wunden
und besonders solche Verletzungen oder
Infektionen, in denen die Sehnenscheiden
infiziert waren, oder gar die Sehnen frei¬
lagen oder verletzt waren, erstmalig mit
einer 5%igen alkoholischen Pyoctanin-
lösung auszutupfen, die sich ein jeder
aus 5,0 g Pyoctanineum coerulum, Merk
plus 100 ccm 60 %igem Alkohol herstellen
kann, und dann erst zu. tamponieren.
Der weitere Gang der Wundbehand¬
lung ist dann folgender: Der heute ope¬
rierte Patient wird am folgenden Tage
nur auf Sitz des. Verbandes oder auf nur
selten vorkommende Progredienzerschei¬
nungen der Entzündung hin kontrolliert
und dann erst am vierten Tage post in-
cisionem der erste Verbandwechsel vor¬
genommen. Bei diesem Verbandwechsel
sieht man dann schon den Unterschied
zwischen der Behandlung mit Pyoctanin¬
gaze und der mit der alten Jodoform¬
oder gewöhnlichen Gazetamponade. Der
Blaugazetampon ist nie mit der Wund¬
oberfläche verklebt. Ein Herausziehen
aus der Wundhöhle ist also absolut
schmerzlos. Die Wunde und deren Um¬
gebung sind stets ganz reaktionslos. In
.der Wunde -selbst keinerlei oder nur ganz
minimales, blaugefärbtes, meist dünn¬
flüssiges Sekret; kein Eiter! Wer die
Ströme gelben Eiters kennt, die sich
sonst aus kürzlich incidirten Wunden
entleeren, der wird über diese bactericide
und sekretionshemmende Wirkung des
Pyoctanin erstaunt sein.
Ein weiterer Vorteil ist dann auch die
Sparsamkeit an Verbandmaterial, die
durch Anwendung von Blaugaze gewähr¬
leistet wird. Hat man den ersten Ver--
bandwechsel am vierten Tage vorgenom¬
men und dabei nochmals etwas • Blaugaze
eingelegt,’ so kann man beim zweiten
Verbandwechsel nach weiteren fünf bis
sechs Tagen schon einen mit Argentum-
nitricum-Salbe bestrichenen Tampon in
die Wundhöhle bringen, die dann, meist
schon völlig gereinigt, sekretlos ist und
bisauf kleine, noch bläulich verfärb telnseln
schon gesunde Granulationen aufweist.
Erweist es sich doch als notwendig, noch
ein drittes Mal eine antiseptische Wirkung
auf die Wunde auszuüben, so benutze
ich in diesem Falle dann nicht die 10%ige
Starkgaze, sondern ziehe die 5V,qige Gaze
vor, um nicht durch etwaige Überdosie¬
rung des Pyoctanins die Granulation zu
stören.
Durch diese neue Behandlung wird
die Wundheilung bedeutend abgekürzt,
was ja bei unseren arbeitenden Patienten
sehr wichtig erscheint.
Die durchschnittliche Heilungsdauer
gewöhnlicher Abscesse und infizierter
Wunden beträgt bei unserer Behandlung
8—14 Tag^. Größere Phlegmonen, wie
Sehnenscheidenphlegmonen, sowie die
so gefürchteten pyogenen Erkrankungen
des Knochensystems erfordern natur¬
gemäß entsprechend längere Zeit zur
Heilung. Irgendwelche schädigenden
Bei- oder Nebenwirkungen in der Wund¬
behandlung mit Pyoctaningaze haben
sich mir nicht gezeigt. Etwaige blaue
Flecke auf der Haut oder in der Wäsche,
die nicht vollkommen zu umgehen sind,
lassen sich mit 3 %igem Salzsäure-Alkohol
leicht entfärben.
Die meisten in Behandlung kommen¬
den Fälle sind Infektionen, die auf Strep¬
tokokken oder Staphylokokken beruhen.
Aber ebenso, wie diese, reagieren auch
Abscesse und Wunden mit tuberkulösem’
Eiter prompt auf Pyoctaninbehandlung.
Tuberkulöse Abscesse, die ich incidierte,
excochleierteund mit Pioctanin beschickte,
hellten prompt, ohne Zurücklassung der
so gefürchteten Fistel. Ja, man kann
sogar Fistelgängen, auch specifischen
Charakters, mit Pyoctanintinktur erfolg¬
reich zu Leibe gehen.
Wenn ich Ihnen noch einmal die Vor¬
züge der Pyoctaningazebehandlung re-
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1920
185
kapitulieren darf, so möchte ich. dies so
formulieren:
1. Sie ist geruchlos und reizlos und
regt zu Granulationsbildung an.
2. Sie gewährleistet genaue Dosierung
und gleichmäßige Ausbreitung de§ Farb¬
stoffes.
3. Sie erscheint allen anderen bisheri¬
gen Antisepticis an bactericider Kraft bei
absoluter Unschädlichkeit überlegen.
4. Durch ihren sekrethemmenden Ein¬
fluß bewirkt sie eine beträchtliche Er¬
sparnis an Verbandmaterial.
5. Sie vermindert und verkürzt alle
mit der Infektion einhergehenden Sekun¬
därerscheinungen, wie die regionäre Ent¬
zündung, Schmerzen, Lymphangitis, Ent¬
zündung der regionären Lymphdrüsen,
Fieber und Schüttelfröste.
6. Sie kennt nicht die lästige und für
den Patienten so schmerzhafte Tampqn-
verklebung mit der Wundhöhle und ver¬
hindert so jede Blutung beim Verband¬
wechsel. •
Nach meiner Erfahrung erscheint mir
nun die Wundbehandlung mit Pyoctanin-
gaze besonders in der kleinen Chirurgie
jeder ‘ anderen antiseptischen Wundbe¬
handlung vorzuziehen. Und ich hoffe nun,
durch meine Erörterungen wenigstens
eine kleine Übersicht über die Behand¬
lung eitriger Wunden mit Pyoctaningaze
gegeben zu haben, zugleich mit der An¬
regung, es selbst einmal zu versuchen.
.Zum Schluß möchte ich Ihnen noch
an der Spitze der mit Blaugaze behandel¬
ten Fälle, die ich Ihnen nun noch vor¬
stellen werde, einen besonders instruk¬
tiven Fall zeigen.
Die Krankengeschichte ist ungefähr
folgende:
Bei einem Straßenbahnunfall gerät der Schaff¬
ner Tr. mit der rechten Hand in eine Glasscheibe
seines Wagens. Ein Glassplitter dringt ihm in
die Hohlhand etwa zwischen dritten und vierten
Mittelhandknochen. Es besteht sofort eine starke
Einschränkung der Beugefähigkeit des vierten
Fingers. Er kommt an dem zweiten Tage nach
dem Unfall zu uns^ wo sich folgendes Bild bietet:
Allgemeinbefinden leicht getrübt., Abgcschlag'en-
heit, leichte Temperaturerhöhung, Kopfschmerzen.
Die Lymphstränge des rechten Armes sind gerötet,
in der Axilla eine Drüse fühlbar: Die ganze rechte
Hand ist bis an das Handgelenk stark geschwollen,
die Haut gerötet und glänzend. Es besteht be¬
trächtliche Schmerzempfindlichkeit, ln der Hohl¬
hand zwischen Mittelhandknochen UI und IV
etwa kirschgroße Wundöffnung mit zerrissenen
Rändern, die in die Tiefe führt. ‘
Bei Druck auf die Umgebung entleert 'sich
aus der Tiefe der Wunde reichlich eitriges Sekret.
Der dritte Finger kann nur ungenügend gebeugt
werden. — Es wird nun unter Blutleere und
Äthernarkose die Wundöffnung proximal und
distalwärts erweitert. Nach Auseinanderzieheh.
der Wundränder und Auswischen des reichlichen
in der Wunde und den umliegenden Geweben be¬
findlichen Eiters zeigt sich, daß die zum dritten
Finger gehörige Sehne des Flexor dig. sublim,
durchtrennt ist. Die beiden freien Enden der
Sehne werden nunmehr gefaßt und aneinänd'er-
genäht. Danach wird zwischen Mittelhandknochen
HI und IV eine Kornzange hindurchgestoßen
und eine Gegenincision auf dem Handrücken an¬
gelegt. Hier wird etn mit Blaugaze umwickeltes
Drain bis in die Hohl handwunde geführt. Nun¬
mehr wird die ganze erweiterte und gesäuberte
Wundhöhle mit Pyoctanintinktur ausgewischt, die
genähte Sehne mit Pyoctaninstarkgaze umlegt und
außerdem noch das , übrige der Wundhöhle mit
Blaugaze locker ausgelegt. Die so versorgte Hand
wird dann auf eine Schiene ruhig gestellt. Der Arm
wird nachts suspendiert. — Bei der Verband-
revision am folgenden Tage sind alle lokaleti
Reizerscheinurigen bereits im Rückgehen, di'e
Allgemeinerscheinungen verschwunden. Beim
ersten Verbandwechsel nach vier Tagen ist die
Handschwellung fast völlig verschwunden. Die
Wunde selbst ist reaktionslos, tiefblau gefärbt,
nur aus einem Muskelinterstitium läßt sich etwas
bläulich gefärbter Eiter herausdrücken. , Die ge¬
nähte Sehne bleibt in ihrer Blaugazeumhüllung
liegen. Die Wundhöhle wird neu tamponiert. —
Nach weiteren vier Tagen wird bereits die um
‘die Sehne gelegte Gaze schmerzlos entfernt und
das zum Handrücken herausgeführte Drain fort¬
gelassen. Die Wunde sieht nunmehr schon völlig
rein aus. Es entleert sich auf Druck nur noch
wenig bläulich verfärbtes Sekret. Es wird jetzt
ein Tampon von öprozentiger Blaugaze eingeführt,
der wieder vier Tage liegen bleibt. Die Wund¬
heilung bleibt völlig normal, so daß nach drei
Wochen bereits mit Heißluftbehandlung begonnen
werden kann. Heute sind etwa acht-Wochen nach
dem Unfall verflossen. Sie sehen nur eine glatt
geheilte Narbe in der Handfläche. Die Funktion
der Hand ist völlig wiederhergestellt. Irgendeine
Beschränkung der Arbeitsfähigkeit besteht nicht.
’) Neueste Erwähnung der Pyoktaninbehand-
lung in C. Franz Kriegschirurgio, Leitfaden der
prakt. Medizin von Prof. Dr. "Bockenheiiher,
Berlin, Bd. XII, ,1920.
Repetitorium der Therapie,
Behandlung der Infektionskrankheiten.
Von G. Klemperer und L. Dünner.
12. Erysipel, ln dem begreiflichen
Bestreben, den Fortschritt der Erkran¬
kung zu hindern, darf man Eucupin.
basic. 0,2, 4stdl. ein Pulver verordnen, wie
bei der Sepsis, oder auch intravenöse
Kollargolinjektionen (vgl. S. 148). Das
örtliche Weiterschreiten sucht man auf.-
zuhalten, indem man etwa 2 ccm jenr
seits der Infiltrationsgrenze einen breiten
Stich mit Jodtinktur auf der Haut zieht.
24
{
186 ^ Die Therapie der Gegenwart 1920 Mai
Im übrigen betupft man in etwa zwei¬
stündigen Zwischenräumen die geröteten
und geschwollenert Hautpartien mit einer
Mischung von Alkohol und Glycerin ää,
oder wenn dies nicht angenehm emp-
pfunden wird, mit reinem Olivenöl. Vom
Auflegen eines Salbenverbandes, mit Ich¬
thyol- oder Zinksalben, sieht man besser
ab. Etwaige tiefer greifende Eiterung
muß inzidiert werden. Für die Allgemein¬
behandlung gelten dieselben Regeln wie
bei der Sepsis; das Herz ist besonders in
der Rekonvaleszenz wie bei Diphtheri¬
schen zu behandeln.
13. Meningitis. Die Patienten be¬
dürfen mehr als andere Fieberkranken
der Ruhe und Schonung, da sie oft be¬
sonders reiz- und geräuschempfindlich
sind; die Steifigkeit und Hyperästhesie
machen sehr vorsichtige Lagerung not¬
wendig. Auf die Harnentleerung ist zu
achten, eventuell zu katheterisieren.
Wegen der konsumierenden Länge der
Krankheit ist die Ernährung oft von
entscheidender Wichtigkeit; sie wird durch
Benommenheit und Erbrechen besonders
erschwert; meist beschränkt man sich auf
schluckweise Darreichung kalter flüssiger
Nahrung, die ähnlich wie beim Typhus
ausgewählt wird; gegen das Erbrechen
hilft am besten regelmäßige Morphium¬
einspritzung (etwa 5 mg vierstündlich).
In jedem Fall sind regelmäßige Lumbal¬
punktionen zu empfehlen, da durch die¬
selben nicht nur Druckentlastung des Ge¬
hirns und Rückenmarks und damit sub¬
jektive und objektive Besserung, sondern
auch Fortschaffung von Krankheitserre¬
gern und Produkten bewirkt wird. Man
punktiert in schweren Fällen jeden zwei¬
ten oder dritten Tag und läßt jedesmal
20—30 ccm des Exsudats ab.
Die erste Lumbalpunktion dient gleich¬
gleichzeitig der ätiologisch-diagnostischen
Feststellung, welche für die Behandlung
maßgebend ist. Sind Meningokokken im
Exsudat gefunden, so spritzt man nach
Ablassen des Exsudats 20 ccm specifisches
Serum in den Lumbalsack; wenn Pneumo¬
kokken festgestellt werden, spritzt man
20^ccm einer Optochinlösung 1:300 ein.
Im letzteren • Falle gibt man zugleich
innerlich Optochin zehnmal 0,2 g wie bei
croupöser Pneumonie.
14. Tetanus. Die Verhütung des Te¬
tanus geschieht sicher durch intramusku¬
läre Einspritzung von 20 Antitoxinein¬
heiten des specifischen Serums, welches
möglichst bald nach einer Verwundung
anzuwenden ist, wenn die^Wunde einer
Verunreinigung durch Erde ausgesetzt
war. Die Heilwirkung des Serums ist un¬
sicher; sie ist um so aussichtsreicher, je
früher die Anwendung geschieht; man
gibt eventuell täglich 100 A.-E., in vor¬
geschrittenen Fällen intralumbal. Bleibt
das Serum wirkungslos, so sucht man die
Krampfbereitschaft des Nervensystems
zu vermindern, indeiii man viermal täglich
20 ccm der Lösung Magnesium sulfuricum
50:200 intramuskulär injiziert. Tritt
hiernach V erlangsamung und Erschwe¬
rung der Atmung ein, so setzt man die
Magnesiumtherapie aus und gibt milli-
grammweis subcutane Atropininjek¬
tionen. In jedem Falle verlangen heftige
Krampfstöße energische Morphiumbe¬
handlung oder Klysmen von Chloral-
hydrat (10,0:200,0, der vierte Teil zu
injizieren). Seht wichtig ist die Ernäh¬
rung, welche bei Kiefersperre mittels Ka¬
theters durch die Nase erfolgt (vgl. S. 30).
15. Malaria. Die Prophylaxe be¬
steht in dem Schutz gegen die Stech¬
mücken (Anopheles), welche die Parasiten
übertragen, sowie in der dauernden Ein¬
nahme von Chinin, welches die Entwick¬
lung der im Blute kreisenden Erreger
verhindert beziehungsweise beeinträchtigt.
Der Anophelidenschutz wird durch allge¬
meine Maßnahmen der Bodensanierung
und persönliche Schutzmaßregeln (Hand¬
schuhe, Mückenschleier, Mückennetze) be¬
wirkt. Das Chinin muß dauernd genom¬
men werden, solange man sich in ver¬
seuchten Gegenden aufhält und noch
mindestens acht Wochen hinterher. Man
reicht täglich 0,3 ccm, am besten des
Abends, bis zu sechs Monaten.
Die Behandlung gipfelt in der syste¬
matischen Chinindarreichung. Je früher
Malariafieber behandelt wird, desto siche- ^
rer ist man vor Rückfällen. Bei typischen
Fieberanfällen gibt man dreimal 0,5 g
Chininum hydrochloricum in halbstün¬
digen Zwischenräumen acht- bis sechs
Stunden vor dem Eintritt des nächsten
Anfalles; in weniger typischen Fällen gibt
man täglich viermal 0,3 g Chinin in zwei¬
stündigen Pausen und setzt diese. Medi¬
kation ohne Zwischenpausen noch acht
Tage nach dem letzten Fieberanfalle fort.
Da mit dem Erlöschen des Fiebers die
Malariaparasiten noch nicht aus dem
Blute geschwunden sind, so ist zur völligen
Vernichtung derselben eine systematische
Nachbehandlung mit Chinin anzuschlie¬
ßen, welche nach folgendem Schema ver¬
ordnet werden kann: Nach der letzten
Chiningabe^(acht Tage nach beendetem
Die Therapie der Gegenwart 1920
187
Mai
Fieber) zwei Tage Pause, dann drei Chi¬
nintage (mit viermal 0,3 g); darauf drei
Tage Pause, drei Chinintage, vier Tage
Pause, zwei Chinintage, fünf Tage Pause,
zwei Chinintage imd so fort mindestens
sechs Wochen la/ig; nach schweren Zu¬
ständen noch wochenlang an je einem
Wochentage viermal 0,3 g Chinin.
Treten trotz solch energischer Kuren
doch Rückfälle ein, so sucht man die
augenscheinlich in der Milz schlummern¬
den Erreger durch subcutane Adrenalin-.
Injektion (1 ccm 1%) oder Milzdusche in
den Kreislauf zu bringen und schließt die
Chininkur an solche Provokation an. Auch
kombiniert man diese eventuell mit syste¬
matischer Neosalvarsankur oder Methylen¬
blau tgl. 5x0,1 g, eventuell 12 Tage.
In besonders schweren Anfällen, die
mit Benommenheit oder schweren gastri¬
schen Erscheinungen einhergehen, wird
1,0 Chinin +0,5 Urethanlösung in Lö¬
sung intramuskulär oder intravenös inji¬
ziert; die Lösung ist in Ampullen ge¬
brauchsfertig zu beziehen; daran schließt
sich die systematische Chininkur.
Während des Bestehens der Fieber¬
anfälle gelten die Regeln der Allgemein¬
behandlung, nach Erlöschen des Fiebers
ist der Patient als Rekonvaleszent zu be¬
handeln. Stärkende Nachbehandlung im
Hochgebirge ist erwünscht, oft sind Ar¬
senkuren am Platze.
Auftreten von Hämaturie (Schwarz¬
wasserfieber) erfordert sofortiges Aus¬
setzen des Chinins bis zum vollkommenen
Normalwerden des Urins; die sehr ge¬
schwächten Patienten sind nach allge¬
meinen Regeln zu behandeln (vgl. 1919,
S. 62). Nach erfolgter Genesung beginnt
man sehr. vorsichtig mit ganz kleinen,
langsam zu steigernden Chinindosen, zu¬
erst von 0,01—0,1 g, an späteren Tagen
allmählich auf 0,25 und so fort bis vier¬
mal 0,25 g, wobei der Urin sorgfältig zu
kontrollieren und beim ersten Auftreten
von Eiweiß oder Urobilin auf die frühere
Dosis zurückzugehen ist.
16. Variola. Sicherer Schutz vor
Pockenerkrankung wird durch die Vacci-
nation gegeben, welche im Fall der Ein¬
schleppung von Krankheitsfällen bei allen
Gefährdeten unverzüglich durchzüführen
ist; im übrigen sind bei Pockenverdacht
die seuchengesetzlich festgelegten Ma߬
nahmen der Meldung und Isolierung in
Anwendung zu bringen.
Die Behandlung hat symptomatisch
die Mundentzündung, das Erbrechen, die
starken Schmerzen und die Erregungs¬
zustände zu berücksichtigen, vor allem
aber auf die Haut zu achten. Das starke
Spannungsgefühl ist zu mildern, damit
der Kranke nicht in V ersuchung kommt
zu kratzen; man wendet mit häufigem
Wechsel kühle Umschläge.an oder pinselt
Glycerin oder Olivenöl auf. Durch rote
Fenstervorhänge beziehungsweise rotes
Lampenlicht sucht man den entzündlichen
Zustand der Haut zu mildern. Um der
entstellenden Narbenbildung vorzubeu¬
gen, bestreicht man im Pustelstadium die
ganze Haut täglich einmal mit gesättigter
Lösung von Kaliumpermanganat, das
gleichzeitig auch desinfizierend und des¬
odorierend wirkt. Auf geplatzte Pusteln
streut man außerdem Salicylpulver.
Kratzen ist möglichst zu verhindern,
auch während der Rekonvaleszenz ist zu
sorgen, daß die Pocken von selbst ab-
fallen; Beschleunigung der Säuberung er¬
folgt durch laue Seifen- oder Kleienbäder,
mit vorsichtigem Abtrocknen und nach¬
folgendem Einfetten der Haut.
Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen.
32. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin,
Dresden, 20.-
Bericht von
Die' großen Schwierigkeiten, welche
der diesjährigen Tagung des Kongresses
für innere Medizin entgegenstanden, sind
in der Eröffnungsrede des Vorsitzenden,
welche an der Spitze dieses Heftes abge¬
druckt ist, ausführlich geschildert. Indes
hat der Verlauf des Kongresses durchaus
dem Geiste aufbauender Schaffensfreude
entsprochen, auf welche die klug erwoge¬
nen Worte der inhaltreichen Rede abge¬
stimmt waren. Die Verhandlungen haben
23. April 1920.
1 . Klemperer.
den wissenschaftlichen Arbeitern nicht
weniger wie den Praktikern vielfältige
wertvolle Anregung gebracht; Vorträge
wie Aussprache hielten sich auf einer re-
spektabeln Höhe und kein Mißklang störte
die von wissenschaftlichem Geiste getra¬
gene Zusammenarbeit der Alten und Jun¬
gen, der gelehrten Forscher und der prak¬
tischen Arzte. Der harmonische Verlauf
war nicht zum wenigsten dem Vorsitzen¬
den zu verdanken, der das Programm
24*
138 Die Therapie der Gegenwart 1920 ' ^ Mai
vorzüglich vorbereitet hatte und der
nicht nur den Glanz seines berühmten
Namens, sondern auch die Milde seines
gütigen Herzens über den Kongreß aus¬
strahlte.
Die Verhandlungen begannen mit dem
Referat von Schittenhelm (Kiel) über
den gegenwärtigen Stand der Immuno-
und Chemotherapie der Infektionskrank¬
heiten. Die Immunotherapie besteht in der
Anwendung von antitoxisch wirkendem
Tierblutserum, welches durch Vorbehand¬
lung der Tiere mit pathogenen Bakterien
gewonnen ist; unter ihnen hat als Heil¬
mittel nur das Diphtherieserum, ent¬
scheidende Bedeutung. Die neuen Ar-"
beiten über die Heilwirkung gewöhnlichen,
von nicht vorbehandelten Tieren stam¬
menden Blutserums, welche von Bingel
angeregt worden sind, haben zu erneuter
experimenteller Durcharbeitung der Anti¬
toxinfrage geführt. Dabei hat sich als
unbestreitbar sicher ergeben, daß das
diphtherievergiftete Tier nur durch anti¬
toxisches Heilserum zu retten ist. Dem
entsprechen auch die klinischen Nach¬
prüfungen der B i n g e Ischen Arbeit. Sicher¬
lich wirkt auch gewöhnliches unspecifi-
sches Blutserum als ein Unterstützungs¬
mittel im Kampfe gegen die Infektion,
sodaß die Heilungsaussichten eines Di-
phtheriekranken bei der Behandlung mit
gewöhnlichem Serum gebessert werden;
bei leichten oder mittelschweren Fällen
mag diese Behandlung also ausreichen.
Dagegen versagt sie bei schweren Fällen;
sie drückt also die Gesamtmortalität in
schweren Epidemien nicht herab, und es
liegt nur an dem leichten Charakter der
letztjährigen Epidemien, wenn sich die
relative Wirkungslosigkeit des gewöhn¬
lichen Serums nicht in einer erhöhten
Mortalität ausgesprochen hat. Es liegen
zahlreiche Einzelbeobachtungen schwerer
Diphtheriefälle vor, die sich unter un-
specifischer Serumbehandlung rapide ver¬
schlechtert haben und zum Teil noch durch
specifisches Heilserum gerettet werden
konnten. Natürlich ist auch die Wirksam¬
keit des antitoxischen Serums begrenzt,
da es als specifisch giftbindend das im
'Gewebe verankerte und zur Wirkung ge¬
kommene Gift nicht mehr unschädlich zu
machen vermag. Für die ärztliche Praxis
ist also an der Anwendung des antitoxi¬
schen Heilserums unbedingt festzuhalten,
aber möglichst frühzeitige Anwendung
zu fordern, ln zweifelhaften Fällen, die
sich schwer anlassen, warte man nicht
auf die bakteriologische Sicherstellung
der Diagnose, sondern gebe auf den be¬
gründeten Verdacht hin eine volle Heil¬
dosis. — Das andere antitoxische Serum,
welches mit dem Anspruch eines Heil¬
serums auf träte, das Tetanusserum, ist
unschätzbar als Vorbeugungsmittel; es hat
sich im Kriege glärnzend bewährt, indem
es den im Anfang furchtbar wütenden
Wundstarrkram'pf bei allgemeiner’ An¬
wendung ganz zum Verschwinden ge¬
bracht hat; es sei auch im Frieden ärzt¬
liche Pflicht, bei jeder mit Erdschmutz
verunreinigten Wunde 20 Antitoxinein¬
heiten Tetanussertiin anzuwenden. Aber
bei ausgebrochener Krankheit sei die
Heilwirkung sehr unsicher, da das Gift
bereits zu fest im Gewebe befestigt sei.
Allenfalls führt die intralumbale Ein¬
führung noch zur Heilung. Von geringer
Heilwirkung sind die sogenannten bacteri-
ciden Sera, welche die lebenden Bakterien
ab töten sollen; sie scheinen nur durch
ihren gleichzeitigen geringen Antitoxin¬
gehalt zu wirken. Hierher gehört das
Streptokokken- und das Pneumo¬
kokkenserum. Wenn man sich zu ihrer
Anwendung entschließt, so sollte man
sehr große Mengen nehmen und dieselben
wiederholt anwenden. Zweifelhaft ist
auch die Wirkung des Ruhrserums,
wenngleich von einzelnen Beobachtern
im 'Felde ausgezeichnete Resultate be¬
richtet wurden. Das sogenannte Grippe¬
serum richtet sich gegen die Mischinfck-
tion mit Strepto- und Pneumokokken
und mag zur Verhütung von Nachkrank¬
heiten beitragen. Bedeutende Heilwir¬
kungen werden von Rekonvaleszenten-
Blutserumbei Scharlach berichtet, doch
ist es unsicher, ob cs sich nicht nur um
unspecifische Serumwirkung handelt. Bei'
Fleckfieber scheint Rekonvaleszenten¬
serum ganz ohne Wirkung zu sein.
Der passiven Immunotherapie gegen¬
über, welche fertige Schutzstoffe über¬
trägt, steht die aktive Immunisierung,
welche durch Einführung abgetöteter oder
abgeschwächter Krankheitserreger deren
Schutzstoffe im Körper erst erzeugen
will. So bedeutend die Ergebnisse dieser
Methode bei der Schutzimpfung gesunder,
so unsicher sind sie in der Behandlung
kranker Menschen.
Während die Entstehung von Typhus
und Cholera durch präventive Immuni¬
sierung fast sicher verhindert wird, hat
dieselbe Bakterieninjektion nach Aus¬
bruch der Krankheit bei Cholera fast gar
nicht, bei Typhus neuerdings geringfügige
Besserung bewirkt. Dagegen hat sich die
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1920
189 .
nachträgliche Immunisierung als Heil¬
mittel bewährt bei Staphylokokken^
eiterung — die im Handel greifbaren
Präparate sind Opsonogen und Leukogen
— sowie bei Gonorrhöe (Arthigon, Gonar¬
gin), und bei den chronischen Infektionen
der Harnwege mit Bacterium coli; im
letzteren Falle tut man gut, sich die
Krankheitserreger aus dem Harn selbst
zu züchten und die zur Injektion not¬
wendigen Verdünnungen der Reinkultur
zu bereiten. In der Richtung der nach¬
träglichen Immunisierung liegt die Tu-
berkulintherapie; der anfänglichen In¬
jektion der reinen Bacillengifte (Alttuber¬
kulin) folgte die Anwendung der abge¬
töteten Bacillen (Neutuberkulin-Bacillen¬
emulsion); weder die ursprüngliche Me¬
thode/iioch eine ihrer zahlreichen Modifi¬
kationen hat zu sicheren Heilresultaten
geführt, immerhin vermag systematische
Tuberkuliriinjektion die ' Widerstands¬
fähigkeit des Kranken zu vermehren. Die
Methode von Deyke und Much, welche
die Eiweiß- und Fettstoffe der Bacillen
gesondert zur Anwendung bringt, nach¬
dem die specifische Empfindlichkeit des
Patienten ausprobiert ist, ruht nicht auf
gesicherten experimentellen Grundlagen
und darf auch klinischerseits trotz viel¬
facher Berichte über gute Heilresultate
noch nicht als wirksam anerkannt werden.
Die Friedmannsche Methode verwendet
einen für den Menschen avirutenten von
der Schildkröte stammenden Tuberkel¬
bacillus zur Immunisierung. Die Idee
stammt von Koch und Behring, welche
mit Menschentuberkelbacillen gegen
Rindertuberkulose immunisierten. Im
Tierversuch hat Friedmann mit seinem
Verfahren .zwar keinen vollkommenen
Schutz gegen Infektion, aber doch Ab¬
schwächung und Verzögerung derselben
erzielt; es ist deswegen abzuwarten, ob
ihm eine Dauerimmunisierung Gesunder
gegen Tuberkulose gelingen wird. Eine
wirksame Beeinflussung bereits Erkrank¬
ter scheint nicht bewiesen; doch ist zur
endgültigen Beurteilung der Ablauf zahl¬
reich im Gang befindlicher Prüfungen ab¬
zuwarten. — Für das Studium all dieser
therapeutischen Wirkungen ist die Er¬
wägungwichtig, wie weit dabei unspeci-
fische Vorgänge eine Rolle spielen. Un¬
zweifelhaft ist die Specifität des Impf¬
schutzes bei Pocken, Typhus, Cholera.
Dagegen werden die ausgebrochenen
Krankheiten auch durch unspecifische
Mittel wesentlich beeinflußt; wirksam ist
namentlich die Injektion von Eiwei߬
körpern, z. B. Albumosen oder Casein,
neuerdings namentlich in der Form der
intramuskulären Milchinjektion geübt. Die
sogenannte Proteintherapie beruht nach
Weichärdt auf einer Aktivierung des
Zellprotoplasmas; die Einwirkung hängt
nicht anders wie bei den specifischen
auch von dem Zustand des Organismus
selbst ab. Das Ziel aller therapeutischen
Eingriffe muß die Änderung der krank¬
haft veränderten chemischen Zusammen¬
setzung der Körperzelle sein, deren Stoff¬
wechsel für den Heileffekt von entschei¬
dender Bedeutung ist
Die Proteintherapie bildet den Über¬
gang von der Immuno- zur Chemo¬
therapie, indem die unspecifischen Ei¬
weißkörper ebenso wie viele chemische
Mittel augenscheinlich eine katalytische
Wirkung auf die Zelltätigkeit ausüben,
deren Abwehrkraft sie erhöhen. Hierher
gehören die kolloiden und nichtkolloiden
Metalle: Silber, Kupfer und Gold. Kolloi¬
dales Silber wird von vielen als Heilmittel
septischer Prozesse betrachtet, doch läßt
es zweifellos sehr oft im Stich. Kupfer-
und Goldpräparate werden neuerdings
besonders bei Tuberkulose empfohlen.
Von größter praktischer Bedeutung ist
die bactericide Wirksamkeit der von
Ehrlich eingeführten Arsenderivate, ins¬
besondere des Salvarsans, welches die
Spirochäten'bei möglichst geringer Schä¬
digung der Körperzellen tötet. An den
zuweilen beobachteten Übeln Neben¬
wirkungen scheint oft zu hohe Dosierung
schuld zu sein, als Maximaldose sollte bei
Männern 0,6, bei Frauen 0,45 gelten. Neo-
salvarsan scheint dem alten Präparat
nicht gleichwertig, das neue Silbersal-
varsan besonders heilkräftig. Bei den
metaluetischen Prozessen (Tabes und Para¬
lyse) ist oft Stillstand und Besserung,
niemals .Heilung erzielt worden. — Auf
Ehrlichs Anregungen ist die Erprobung
von Acridiniumpräparaten gegen Strepto¬
kokken zurückzuführen, z. B. des Trypa-
flavins und seiner Silberverbindung Argo-
flavin gegen Sepsis; einigen klinischen
Empfehlungen stehen zahlreiche Versager
gegenüber. — Die vorläufig letzte Station
auf dem Forschungswege der Chemo¬
therapie bilden die Arbeiten Morgen-
roths über die Wirkung der Chininderi¬
vate (Optochin, Eucupin, Vuzin). Opto-
chin beginnt sich als Heilmittel bei Pneu¬
mokokkeninfektionen einzubürgern, Eu¬
cupin wird gegen Streptokokken emp¬
fohlen, gegen welche neuerdings beson¬
ders von den Chirurgen Vuzin mit vielen
190
Die Therapie der Gegenwart 192Ö
Mai
Erfolgen angewandt wird. Schitten-
helm bewahrt gegenüber den Chinin¬
derivaten, deren wissenschaftliche Be¬
deutung er sehr anerkennt, in praktischer
Beziehung noch vorsichtiges Abwarten;
er betont, daß die Arbeit noch nicht als
abgeschlossen zu betrachten ist und daß
wir von der Zukunft für ,den Kampf
gegen die Infektionskrankheiten noch viel
erhoffen dürfen.
Dem Hauptreferat folgte eine Ge¬
dächtnisrede Ko lies auf den Begründer
der Chemotherapie Paul Ehrlich; im
Anschluß daran wurden die Vorträge
gehört, welche sich mit der Therapie der
Infektionskrankheiten beschäftigten.
Prof. Schmidt (Prag), welcher die
Milchinjektionen in die Praxis eingeführt
und mehrfach über ihre Erfolge wie ihre
theoretische Begründung geschrieben hat,
sprach über das Problem der Protein¬
körpertherapie. Schmidt geht von
der Beobachtung aus, daß nach Injektion
von 5 ccm Milch bei Tuberkulösen die¬
selben Allgemein- und Herdreaktionen
wie nach Tuberkulin auftreten, daß aber
auch tuberkulöse wie nichttuberkulöse
Gelenkprozesse nach beiden Injektionen
örtlich reagieren, ja daß jeder entzünd¬
liche und nekrotisierende Prozeß danach
zum vorübergehenden Aufflackern kommt.
Aber nicht nur Proteinkörper, sondern
rein anorganisch-chemische Präparate,
wie intravenös eingespritztes kolloidales
Silber, wirken ganz ähnlich; auch das Sa-
narthrit (Heilner) ist ein Spezialfall der
Proteinkörpertherapie. Jeder Reiz, der
den Zellbestand und die Circulation in
Mitleidenschaft zieht, kann eine Herd¬
reaktion auslösen; dieselben spielen sich
in infektiösen Entzündungsherden, aber
auch in endogen bedingten örtlichen
Entzündungsprozessen, sowie in allge¬
meinen Krankheitsbereitschaften ab. Das
Auftreten von tabischen Krisen, von
Asthmaanfällen, epileptischen Krämpfen
und'’Gallensteinkoliken nach Injektionen
gehört hierher. All diese allgemeinen
und Herdreaktionen verlaufen doppel-
phasig, indem der negativen Phase, der
Zunahme der Reizerscheinungen zuerst
eine Abnahme, dann eine positive Phase,
die Wiederherstellung des normalen Ge-
websbetriebs, also der anfänglichen Ver¬
schlechterung eine wesentliche Besserung
folgt. Die positive Phase entspricht der
sogenannten Protoplasmaaktivierung. Es
ist anzustreben, bei der therapeutischen
Anwendung der Proteintherapie die ne¬
gative Phase so geringfügig als möglich,
und die positive Phase möglichst lang
und intensiv zu gestalten.
Prof. Königer (Erlangen) sprach
über die Bedeutung der Resistenz¬
schwankungen des Organismus für die
therapeutische Methodik. Er geht von
der Beobachtung aus, daß jeder gröbere
Eingriff die Resistenz schädigt; auf die
Zeit der Wirkung eines Arzneimittels
folgt eine Phase herabgesetzter Empfind¬
lichkeit. Bei der zeitlichen Verordnung
ist nicht nur auf Art und Dosis des Mittels
beziehungsweise auf die Konstitutions¬
empfindlichkeit, sondern auch auf die
Pausenvariation zu achten; es kommt
auf die Resistenzphase und die Größe der
Intervalle an. Die Therapie wirkt nicht
nur auf die Resistenz, sondern auch die
Resistenz auf die Therapie. Tägliche
Wiederholung eines Arzneimittels bewirkt
Abschwächung der Wirkung, am besten
sind Pausen von zwei Tagen. Neben
künstlichen Schwankungen sind die nor¬
malen zu berücksichtigen, welche durch
Übung, Ermüdung, aber auch die nor¬
malen Tagesschwankungen gegeben sind.
Eine unspecifische Beeinflussung ist nur
bei solchen Fällen möglich, die im Ab¬
klingen begriffen sind, oder im aller¬
ersten Stadium, bei dem die Abkürzung
Kupierung bedeutet. Die Therapie der
Protoplasmaaktivierung betont nur einen
Teil der Wirkung, in Wirklichkeit handelt
es sich um Verstärkung der natürlichen
Resistenzschwankung; als solche sind
auch viele der sogenannten Nebenwir¬
kungen anzusehen.
Borchardt (Königsberg), ,,Experi¬
mentelle Grundlage der Organthefapie
bei Infektionskrankheiten“ hat die me߬
bare Agglutinationsfähigkeit des Blutes
zum Maßstab der Heilwirkung gemacht.
Sowie die Typhusagglutinine durch
Typhusimpfstoff vermehrt werden, so
wächst ihre Menge auch nach Injektion
sehr verschiedener Reizstoffe (Hetol,
Alkohol, Arsacetin, Salvarsan, ja nach
10% Kochsalzlösung). Eine solche
meßbare Resistenzsteigerung wird auch
durch Astmolysin (Adrenalin- und Hypo-
physin), Thyreoidin, ganz besonders
aber durch Spermin hervorgerufen.
Morgenroth (,,Ziele und Grenzen
der Chemotherapie bakterieller Infek¬
tionen“) bezeichnete als begrenzende
Faktoren besonders die Arzneifestigkeit
und Chemoflexion der Bakterien. Trotz¬
dem habe sich das Optochin bei Pneu¬
mokokkeninfektionen ebenso wie im Tier-
191
Mai Die Therapie der Gegenwart 1920
versuch klinisch bewährt, doch sei frühe
Anwendung notwendig. Anwendungs¬
gebiet sei nicht nur croupöse, sondern
auch Bronchopneumonie besonders der
Kinder, Greise und nach Operationen,
besonders auch die sonst tödliche Pneu¬
mokokkenmeningitis. . Die Abwehrkräfte
des Organismus wirkten offenbar bei der
Heilung mit. So werde die lokale Vuzin-
wirkung durch Antiserum erhöht Nach
Vorbehandlung mit Serum sei weniger
Vuzin nötig; eine Vernichtung der Strep¬
tokokken im Blut der Versuchstiere sei
nur durch. Vuzin + Serum möglich. Die
specifische Therapie bedient sich also der
specifischen Resistenzsteigerung und wird
dadurch zur Kombinationstherapie. In
der inneren Medizin käme Vuzin besonders
bei Erysipel und Empyem in Frage, auch
infizierte Gelenke seien durch Vuzin
keimfrei zu machen.
Ko Ile berichtete über neue Arsenoben-
zolderivate, und zwar Aminoverbindungen
des Salvarsans, welche den schon ausge¬
sprochenen Schweinerotlauf beim Ver¬
suchstier zu heilen vermögen. Damit ist
zum erstenmal aus der Arsanilreihe,
welche bisher nur spirillocide Substanzen
geliefert hat, ein bactericides Mittel ge¬
wonnen, und die Hoffnung auf weitere
Fortschritte, die auch der Therapie der
menschlichen Infektionskrankheiten zu¬
gute kommen werden, erscheint gerecht¬
fertigt. Diesen Vorträgen folgte eine ge-
meinsäme Aussprache: Rosenstein
(Berlin) rühmte die ausgezeichnete Wir¬
kung des Vuzin bei der Tiefenantisepsis;
es sei unschädlich für dieGewebe, während
es tödlich auf die Bakterien wirke; Ab-
scesse, Mastitis, Karbunkel, Furunkel
gelangten nach Vuzininjektionen ohne
Operation zur Heilung; ebenso resor¬
bierten sich danach Empyeme, ja, pro¬
phylaktisch in die Pleura gespritzt,, ver¬
hüte das Vuzin die Entstehung von Em¬
pyemen nach Pneumonie. Selbst Sepsis
werde durch Vuzin geheilt, immerhin
empfehle sich hierbei die gleichzeitige An¬
wendung von Argatoxyl, einer Silber¬
verbindung des Atoxyl, Auch für die
Scharlachtherapie hoffte der Redner viel
vom Vuzin. — Leschke (Berlin) berichtete
mehrere Optochinheilungen von Pneurao-
kokkenmeningitis; angewendet wurde lum¬
bale Injektion von 40 ccm ^ 3 % Lösung.
Otfried Müller (Tübingen) wies auf
die Bedeutung der Eosinophilie bei der
Behandlung der Infektionskrankheiten
hin; sowohl nach Tuberkulininjektion wie
nach jeder anderen Vaccine vermehrt
sich die Zahl der eosinophilen Zellen im
Blut, wenn die Dosis im Verhältnis zur
Reaktionsfähigkeit bleibt; die Zählung
gebe also einen Maßstab für die Dosierung
und also die Möglichkeit, Rückschläge zu
vermeiden. Zinn (Berlin) gab eine ein¬
drucksvolle Übersicht über 400 nach
einheitlichen Gesichtspunkten mit Op-
tochin behandelte Fälle von Pneumonie
aus dem Krankenhaus Moabit; die'Ge¬
samtmortalität des schweren Kranken¬
hausmaterials betrug 12 %, gegenüber
18% bei den unbehandelten Fällen. Die
Zusammenstellung der Frühfälle ergab
den sicheren" Beweis für die Heilwirkung
des Optochins. Selter (Königsberg) kam
auf die Friedmannsche Methode zu
sprechen und erklärte die Friedmann-
schen Bacillen für bloße Saprophyten,
die nicht imstande wären, als Antigen
zu wirken und Antitoxin zu bilden, womit
dann freilich der Heilmethode jede Be¬
gründung entzogen wäre. Zur Theorie
der unspecifischen Heilwirkung sprach
Rosenthal (Breslau), welcher eine Be¬
einflussung des antonomen Nervensystems
als die Hauptsache ansah, Heubner (Göt¬
tingen), welcher gegen die katalytische
Wirkung polemisierte, vielmehr eine
lonenwirkung annahm, außerdem kolloide
Niederschläge in Knochenmark und Stern¬
zellen erwähnte, schließlich Starken¬
stein (Prag), welcher das Fehlen einer
direkten pharmakologischen Wirkung,
vielmehr eine omnicelluläre Organbeein¬
flussung hervorhob. Als praktisches
Gesamtergebnis der Diskussion bezeich-
nete His eine kritische. Skepsis gegen¬
über den specifischen Heilmitteln, deren
Wirksamkeit durch Einzelbeobachtungen
nicht zu beweisen sei, während der Schrei¬
ber dieser Zeilen eindringlich dafür ein¬
trat, daß eine Übersicht über Hunderte
von Fällen, die von einem einzelnen ge¬
schulten Beobachter behandelt wären, als
vollgültig beweisend gelten dürfe. Auf
Grund solcher persönlichen Statistik sei
das Optochin als wirkliches Heilmittel
zu bezeichnen.
(Schluß folgt im nächsten Heft.)
192 . Die Therapie der xGegenwart '1920 Maf
Bericht über die 44. Versammlung der Deutschen Gesellschaft
für Chirurgie vom 7. bis 10. April 1920.
Von W. Klink, Berlin.
Am 7. bis 10. April tagte die 44. Ver¬
sammlung der Deutschen Gesellschaft für
Chirurgie in Berlin, zum erstenmal in
ihrem heuen Heim, dem Langenbeck-
Virchow-Haus. Die Leitung lag in der
Meisterhand Biers. Der Krieg hat große
Lücken gerissen. Von den bekannten
Chirurgen ist eine ganze Reihe zur großen
I Armee abberufen, so Sprengel, H.
Fischer, Czerny, Kocher, Angerer,
Riedel, Sonnenburg, Wilms. Für
die vor dem Feinde gefallenen Mitglieder¬
soll eine Gedenktafel gesetzt werden,
doch sind ihre Namen noch nicht alle
bekannt. Mitteilungen werden an Pro¬
fessor Körte-Berlin erbeten: —Zu Ehren¬
mitgliedern wurden Körte und Quincke
ernannt, letzterer wegen seiner Ver¬
dienste um die Entwicklung der Chi¬
rurgie. Angehörige des feindlichen Aus¬
landes sollen einstweilen nicht zu Ehren¬
mitgliedern ernannt werden.'
Schöne berichtet über 21 Bluttrans¬
fusionen, die größtenteils wegen bedroh¬
lichem Blutverlust vorgenommen wurden
und einen überraschenden Erfolg hatten.
Er verband zwei Venen am Arm des
Spenders und Empfängers durch Gummi¬
schlauch und eingeschaltete Glasröhre
und spülte stoßweise mit kleinen Mengen
Kochsalzlösung, die durch eine Glas¬
kanüle in einen Seitenast der Spender¬
vene eingeführt wurde. Die Spendervene
muß unmittelbar mit den tiefen Vorder¬
armvenen in Verbindung stehen. Es
konnten beliebige Blutmengen trans-
fundiert werden. Die Erholung schon
während der Transfusion ist ganz er¬
staunlich, die Wirkung ist lebensrettend,
viel nachhaltiger als bei Kochsalztrans¬
fusion. Kleine Blutmengen genügen nicht.
Man darf nicht zu lange zögern. Bei
einem Fall von Sepsis fehlte der Erfolg.
Bei einer perniziösen Anämie trat eine
auffallende Besserung ein, die aber nach
sieben Monaten einem Rückfall wich. Die
transfundierten roten Blutkörperchen blei¬
ben mindestens einige Tage am Leben.
Einmal schloß sich an die Transfusion
Hämoglobinurie und reichlich Albuminurie
an; Tod nach vier Tagen an Sepsis; es
war ein aussichtsloser Fall von Bauch¬
verletzung, Ernsthafte Schädigungen
sind möglich, aber bisher selten beob¬
achtet. Man soll die Transfusion nur an¬
wenden, wo es sich um Tod oder Leben i
handelt. — Besprechung; Der Tierver¬
such hat dieselben Erfolge beim künstlich
ausgebluteten und mit Kochsalzlösung
ausgewaschenem Tier ergeben. Auch,bei
hämorrhagischer Diathese wirkt dieTrans-
fusion gut. Auch dem defibrinierten Blut
wohnt eine große blutstillende Kraft inne,
schon in Mengen von 30 ccm, doch muß
es ganz frisch sein. Für große Trans¬
fusionen ist es ungeeignet, doch wohnt
ihm eine starke reizende Kraft inne, z. B.
bei perniziöser Anämie und hämorrha¬
gischer Diathese. Auch die großen
Drüsenpakete bei einem malignen
Lymphom bildeten sich nach Einführung
kleiner Mengen defibrinierten Blutes zu¬
rück. Bei einer starken cholämischen
Blutung, fünf Tage nach einer Operation,
wo Unterbindung, Calcium, Gelatine ohne
Erfolg angewandt wurden, trat sofortige
auffallende Besserung und sehr schnelle
Erholung nach intravenöser Infusion von
350 ccm fremdem Blut mit 1% Natrium¬
citratlösung ein. In einer Reihe von
perniziösen Anämien war die Transfusion
von fremdem und verwandtem Blut von
Erfolg, doch stellten sich immer Rück¬
fälle ein. Auch bei hämorrhagischer Dia¬
these sahen mehrere Redner auffallenden
Erfolg nach der Transfusion. In einem
Fall von schwerem Blutverlust kam es
drei Stunden nach der Transfusion zum
Exitus unter krampfartigen klonischen
Zuckungen. Schüttelfrost und vorüber¬
gehende Hämoglobinurie wurde öfter be¬
obachtet. Eine Reihe von Rednern
empfiehlt mehr die Nahtvereinigung einer
Arterie und Vene zur Transfusion. Blut¬
verwandtes Blut hat keinen Vorteil vor
fremdem. Das Zugrundegehen des Blutes
hat nichts zu sagen, da dann die Gefahr
vorüber ist. Ein Redner entnimmt das
Blut mit einer Spritze und führt es mit
derselben auch ein; danach jedesmalige
Spülung der Spritze mit heißer Kochsalz¬
lösung; Erfolg gut. In Charlottenburg-
Westend werden 300 ccm Blut mit Kanüle
entnommen und defibriniert wieder ein¬
geführt mit Trichter, wenn möglich Ver¬
wandtenblut. Trotz strenger Auswertung
des Blutes wurden Schüttelfröste und vor¬
übergehende Hämoglobinurie beobachtet.
Coenen berichtet seine Erfahrungen
über den Wert des arteriellen Kollateral-
zeichens für die Unterbindung von Ge¬
fäßen. Er mißt ihm einen großen Wert
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1920
193
bei. Die Naht ist bei großen Gefäßen
immer vorzuziehen,-aber bei schwierigen
Verhältnissen und Infektionsgefahr soll
man unterbinden. Das Kollateralzeichen
ist nur dann als positiv zu betrachten,
wenn es aus dem peripheren Gefäßteil nicht
rieselt, sondern spritzt. War das Zeichen
positiv, wurde die Unterbindung großer
Gefäße immer gut vertragen, darunter
einmal der Carotis. Mißerfolge sind fast
immer durch Infektion bedingt. —Bier
hält alle Kollateralzeichen für ganz un¬
zuverlässig, im positiven und negativen
Sinn. Unterbinden soll man nur im
äußersten Notfall und in infizierten
Wunden, sonst nähen.
Unger berichtet über seine Versuche
an Hunden mit Nervenplastik. Kon¬
servierte eingepflanzte Nervenstücke wer¬
den von dem lebenden Nerv durch¬
wachsen. Die parallele Lage der Binde-
gewebszüge in der entstehenden Narbe er¬
leichtern dem Nerven das Hineinwachsen;
ungünstiger liegen die Verhältnisse, wenn
Rückenmark mit umhüllender Dura ein¬
gepflanzt wird und noch ungünstiger,
wenn das Ersatzstück von einer Gefä߬
wand umgeben ist. Der eingepflanzte
Nerv degeneriert und erst in ihn wächst
der lebende Nerv hinein. Die Stoffel-
sche Forderung, daß genau entsprechende
Durchschnittsstellen aufeinander kommen
müssen, ist nicht richtig. — Die Nerven-
überbrückung nach Hoffmeister hat
nur wenigen Chirurgen Erfolg gebracht,
so in einem Fall von Borchardt, wo
12 cm überbrückt wurden; in einem Fall
von Riese wurde der Medianus und Ra-
dialis mit gutem Erfolg überbrückt.
Zeller hatte in einem Fall 8 cm gut über¬
brückt, in sieben anderen Fällen versagte
die Methode. Müller-Rostock hat mit
Nervenplastiken schlechte Erfahrungen;
auch Borchardt hat trotz häufiger Aus¬
führung mit der Methode von Hoff¬
meister und B eth e keinen Erfolg gehabt.
Perthes hat die Hoffmeisterschen
Fälle nach einem Jahre geprüft und keine
Erfolge gefunden; nur einmal hatte die
Überbrückung einer 12 cm großen Ulnaris-
lücke Erfolg, wenn auch ohne praktischen
Wert. Mit freier Nervenüberpflanzung
hatte er schlechte Erfahrung, obwohl sie
zum Teil unter sehr günstigen Verhält¬
nissen ausgeführt waren, sogar mit ganz
frisch entnommenen Nerven. Ein Redner
hatte mit der B eth eschen Methode vier
Mißerfolge, einen Erfolg.
Reich weist auf die Möglichkeit von
Luftembolien bei Operationen an Lunge
und Brustkorb hin. Der sogenannte
pleurale Reflex bei derartigen Operationen
ist als arterielle Luftembolie zu erklären.
Der Lufteintritt erfolgt durch eine Lun¬
genvene. Das Gehirn wird besonders
gern befallen, das Rückenmark sehr
selten. Bei Punktionsverletzungen spielt
die Luft in der Lunge eine viel größere
Rolle, als die äußere Luft. Von der
Pleurahöhle her erfolgt die Luftaufnahme
durch feine Capillaren der Pleuraober¬
fläche. Das führt zu dem Schluß, daß
man bei Empyem möglichst nicht spülen
soll, oder doch nur ganz, langsam bei ge¬
ringem Druck und gutem Abfluß; be¬
sonders gefährlich wirkt hier Wasserstoff¬
superoxyd. — Ein Redner hat drei Todes¬
fälle auf diesem Wege eintreten sehen,
davon zweimal bei Lungenpunktionen;
einmal wurde sogar Wismuthpaste auf-
gesaugt.
Anschütz und Weinert berichten
über Wunddiphtherie, die in den letzten
Jahren recht häufig geworden ist. Man
darf sie nicht mit Hospitalbrand in Be¬
ziehung bringen, da wir über dessen
Bakteriologie nichts wissen. Die Wund¬
diphtherie wird durch den echten Diph¬
theriebacillus erzeugt und kann nur bak¬
teriologisch erkannt werden. Es gibt
auch Wunddiphtheriebacillenträger. Die
Wunde hat nichts, oder nur selten etwas
Specifisches. Die verschiedensten Ba¬
cillen können starke diphtherische Beläge
schaffen. In Kiel zeigte die Häufigkeits¬
kurve dasselbe Bild, wie die Rachen-
diphtherie. Auch in Magdeburg, Rostock,
Göttingen, Breslau und anderen Städten
wurde sie häufig beobachtet. Die
schwerste Form ist die phlegmonöse.
Bacillenträger sind von anderen Wund¬
trägern, besonders frischen, zu trennen.
Die erste Infektion wird von außerhalb
eingeschleppt. Ein Teil der Stämme war
bösartiger, als der von Rachendiphtherie.
In 10% bestand gleichzeitig Rachen¬
diphtherie. Man muß eine oberflächliche
oder kruppöse und eine tiefe Form unter¬
scheiden. Oft haben die Kranken kein
Fieber und fühlen sich ganz wohl. Hohes
Fieber spricht für Mischinfektion. Läh¬
mungen treten auf, wie nach Rachen¬
diphtherie. In verschiedenen Städten
verläuft die Krankheit verschieden. —
Die Besprechung ergab, daß Diphtherie¬
serum und Streptokokkenserum keinen
großen Erfolg geben; auch die ver¬
schiedensten Antiseptica sind mit ge¬
ringem Erfolg versucht. Gut zu wirken
scheint die Höhensonne und Methylen-
25
194
Die Therapie der Gegenwart 1920
Mai
blau, auf die Wunde gestreut. Aber äne
Reihe von Fällen trotzt jeder Behandlung.
So liegen in Magdeburg einige Fälle,
deren Wunden seit eineinviertel Jahren
sich nicht schließen.
Baetzner hat bei Hunden Periost-
stOckchen vom Schienbein sehr vor¬
sichtig entfernt und in Muskulatur, Ge¬
fäßscheide und andere Weichteile ein¬
gepflanzt. Wie spätere Untersuchungen
ergaben, wurden diese Stückchen voll¬
ständig resorbiert und bildeten niemals
Knochen. In anderen Fällen bildete sich
eine Narbe; manchmal auch ein Binde¬
gewebe wie frisches Fibrom, das auf dem
Röntgenschirm einen Schatten gab und
> sich hart anfühlte. — In der Besprechung
wurde auf den Gegensatz dieser Ergeb¬
nisse mit den bisherigen Erfahrungen .hin¬
gewiesen, besonders beim Menschen.
Müller-Rostock meint, das Periost bilde
Knochen, der aber bald aufgesaugt wird.
Besonders da tritt Knochenbildung ein,,
wo das Periost mit der Innenschicht zu¬
sammengelegt wird. Axhausen hält
kleinste Knochenspäne am Periost für
die Ursache der Knochenneubildung; sie
gehen selbst zugrunde, geben aber die
Anregung zur Knochenneubildung.
Voeicker hält eine reichliche Blutung
für einen guten Reiz zur Knochenbildung
durch das Periost. Bier weist auf die
Möglichkeit der Knochenbildung ohne
Periost hin. In Narben und Muskeln
treten solche nietaplastischen Knochen
ohne jede Periostverletzung auf. Als
Reiz genügt die Blutung und Infektion.
Sie können sich wie bösartige Neubil¬
dungen verhalten: je öfter man sie ent¬
fernt, desto schlimmer wachsen sie. Be¬
handelt man sie mit heißer Luft oder
gar nicht, so gehen sie allmählich zurück.
Mit der Funktion ist hier kein Zusammen¬
hang festzustellen. Bei den Tierversuchen
muß man einen großen Unterschied
zwischen jungen und alten Tieren machen.
E. Joseph hat eine neue Operations¬
methode für die habituelle Schulterluxa¬
tion angegeben: Durch den freigelegten
Oberarmkopf wird ein oberflächlicher
Kanal gebohrt, durch den ein Fascien-
streifen, ähnlich wie das Lig. teres im
Hüftgelenk, gelegt und unterhalb des
Proc. coracoid. befestigt wird. Die Er¬
folge in zwei Fällen waren ausgezeichnet,
trotz eines neuen Trauma in dem einen
Fall. Schmieden eröffnet das Gelenk
nicht mehr, sondern durchbohrt den
Oberarmkopf oder neuerdings den Ober¬
armhals und führt einen Fascienstreifen
durch.: Auch Voeicker ist mit der
Schmiedenschen Methode zufrieden.
Kirschner hatte in vier. Fällen guten
Erfolg mit der Umlegung eines Fascien-
streifens um das Gelenk ohne Eröffnung
desselben oder Anbohren des Knochens.
Müll er-Rostock ist der Ansicht, daß
viele Methoden das Habituellsein der
Luxation verhindern, aber einem Trauma
nicht widerstehen. Die extracapsulären
Methoden sind vorzuziehen, da die Asepsis
nicht mehr so zuverlässig ist. Der End-
erfolg ist erst nach sechs bis acht Jahren
festzustellen.
Colmers teilte seine Beobachtungs¬
ergebnisse bei der Behandlung von Sar¬
komen mit der Röntgentiefentherapie
mit, die wesentlich günstiger waren, als
die operativen Erfolge. Es wurde die
Methode von Seitz und Wintz aus der
Erlanger Frauenklinik angewandt. Bei
feststehender Diagnose Sarkom soll vor
jeder Excision und Operation bestrahlt
werden. Erst nach mehreren Bestrah¬
lungen ist ein chirurgischer Eingriff an¬
gezeigt. Wird frühzeitig angefangen, so
können nach wenig Bestrahlungen große
Tumoren verschwinden. Bei richtiger
Ausführung wird nichts geschadet. Die
Technik ist schwierig und muß dem
Röntgenologen überlassen werden. Wird
die Sarkomdosis nicht erreicht, so kann
die Bestrahlung schaden. Sie beträgt
60'% der Hauteinheitsdosis und ist wesent¬
lich kleiner als die Carcinomdosis. Jeder
Teil des Tumors muß dieses Minimum
erhalten. Seitz und Wintz haben die
Fernfeldbehandlung eingeführt. Die Er¬
folge bei den neun Fällen Colmers waren
sehr gut. Nur ein inoperables Melano-
sarkom der Brust wurde nicht geheilt.
Auch klinisch hoffnungslose Fälle können
mehrere Jahre erhalten werden, wenn
nicht schon eine Aussaat über den ganzen
Körper eingetreten ist. Wenn nach Be¬
strahlung der Tumor wächst, so haben
nicht alle Zellen das Minimum erhalten. —
Sauerbruch hat mit derselben Methode
sehr traurige Erfahrungen gemacht, wäh¬
rend einige andere Redner Besserungen
sahen; in einem Falle wurde ein Ober¬
kiefersarkom ganz zum Schwinden ge¬
bracht. Perthes meint auch, daß Sar¬
kome zum Verschwinden gebracht werden
können. Er glaubt an keine einheitliche
Sarkom- und Carcinomdosis. Die ver¬
schiedenen Sarkome verhalten sich recht
verschieden. Melanosarkome sind viel
schwerer anzugreifen als Sarkome mit
kleinen Rundzellen. Es liegen nicht ein-
Mai -
Die Therapie der Gegenwart 1920
195
fache physikalische, sondern biologische
Vorgänge vor. — Axhausen berichtet
von einem großen periostalen Sarkom,
das nicht operiert wurde und von dem
nach fünf Jahren klinisch und röntgeno¬
logisch nichts mehr nachzuweisen war.
Auch Müller (Rostock) berichtet von
einem großen Beckensarkom, von dem er
bei der Operation vor 18 Jahren wegen
Blutung viel zurücklassen mußte;, es ist
vollständig spontan geschwunden. Also
es gibt auch Spontanheilungen ohne Be¬
strahlung.
Payr stellte einen Mann vor, bei dem
er das ankylotische Hüft-, Knie- und
Talocruralgelenk mobilisiert hat; der Er¬
folg ist sehr gut. Der Mann kann auch
auf dem operierten Bein ohne Stütze
stehen. — Klapp hatte in zwei Fällen
von Mobilisierung des Hüftgelenks auch
guten Erfolg; die Operierten konnten gut
stehen und sogar tanzen, aber sie konnten
auf dem Bein nicht stehen, da die Festig¬
keit in der Hüfte fehlte. Das obere Sprung¬
gelenk braucht man nach seiner Ansicht
nicht zu mobilisieren, wenn die anderen
Fußgelenke gut beweglich sind, da diese
dann vikariierend eintreten. —Kuttner
weist auf die ruhende Infektion hin, die
oft die Erfolge der Arthroplastik bei
Kriegsverletzten stört. In einem Falle
fand er in einem versteiften Kniegelenk
eines Kriegsverletzten hämolytische
Staphylokokken zwei Jahre nach der
Verletzung und Vereiterung des Gelenks.
Nach 14 Tagen war die Infektion da, die
zum Schluß zur Abtragung des Beines
zwang. — Auch Lexer fürchtet die
ruhende Jnfektion. Von 17 Operationen
am Kniegelenk hat sie ihm fünfmal den
Erfolg verdorben; der in den anderen
Fällen gut war. Es kommt nicht bloß
auf die Technik an, sondern auch auf
das operative Gefühl. Man muß zwei
Klippen vermeiden: Einerseits \gute Be-,
lastungsmöglichkeit und Steifigkeit, an¬
dererseits gute Beweglichkeit und Schlot¬
tergelenk. Wie man sie vermeiden soll, ist
schwer zu sagen. Vielleicht verlassen wir
bei unseren Arthroplastiken wieder die
Zwischenlagerung von Gewebe.. Einst¬
weilen legt er noch Fettgewebe zwischen,
da er mit anderem Gewebe nicht viel Glück
hatte. Bis jetzt hat er und seine Assi¬
stenten an 190 großen Gelenken die
Arthroplastik ausgeführt, darunter 62
Schußverletzungen. Bei 150 war der
Erfolg gut oder ausgezeichnet; bei 27
aus verschiedenen Gründen schlecht (ru¬
hende Infektion, Willensschwäche, Hy¬
sterie und anderes). — Payr läßt zur
Feststellung der ruhenden Infektion Tage
hindurch in der Operationsgegend die
Hauttemperatur messen; 1—1,5® Unter¬
schied mahnt zur Vorsicht. Ferner werden
die Weichteile kräftig massiert. Sind
Keime vorhanden, dann entstehen Schmer¬
zen. Mit einem umwickelten Hammer
wird das Gelenk beklopft: Schmerzen
oder leichte Temperatursteigerung sind
verdächtig. Auch wenn nur der kleinste
Fremdkörper noch vorhanden ist, macht
er eine Voroperation, wie er überhaupt
jetzt meist zweizeitig operiert. Bei Aus¬
kleidung des Gelenkes mit Fascie kommt
die Arthritis deformans viel seltener vor,
als bei Zwischenlagerung von Fett oder
keiner Zwischenlagerung. — Bier hatte
auch gute Resultate bei Gelenkplastik
nach Gelenkvereiterung, wenn er nicht
zwischenlagerte und nur Jod in das Ge¬
lenk goß. Sehr häufig entwickelt sich eine
schwere Arthritis, die aber dem Gang
nichts schadet. Die Heilung erfolgte
immer primär. Aber neuerdings sah er
lange Zeit nach der .primären Heilung
milde Abscesse auftreten. Diese Eiterung
vernichtet nicht die Funktion des Ge¬
lenks. Auch die früheren Chirurgen be¬
kamen nach Resektionen sehr gut be¬
wegliche Gelenke, in denen sich sogar
Knorpel in den Nearthrosen bildete. Man
findet in solchen Fällen nicht nur Faser-,
sondern auch hyalinen Knorpel, zuerst
inselförmig, dann ausgebreitet. Wir
stehen in der Frage der Nearthrosen-
bildung im Anfangsstadium. Die Zwi¬
schenlagerung von Geweben wird nicht
ganz schwinden, aber es gibt auch andere
gute Methoden. Die Arthroplastik ist eine
schwierige Operation.
Fränkel berichtet über die glän¬
zenden Fernresultate der Bi ersehen Kli¬
nik beim angeborenen Klumpfuß. Es
handelte sich um ambulante Fälle. Bei
Säuglingen legt er einen Pflasterverband
mit Spiralschienen zum Redressement an;
bei größeren Kindern und Erwachsenen
wird die Redressierung im Saugapparat
ganz schmerzlos und allmählich durch¬
geführt. Die Tenotomie der Achillessehne
ist zu vermeiden wegen der folgenden
Atrophie der Wade. Wird das Verfahren
gut durchgeführt, so gibt es keine Rück¬
fälle. — Nach der Erfahrung von Schanz
hat man in einem Teile der Fälle mit allen
Methoden Erfolg, in einem anderen Teil
mit keiner Methode. In diesen Fällen ist
er immer blutiger geworden. Die Achilles¬
sehne darf nur bei Nachoperationen durch-
25*
Mai
196, Die Therapie der Gegenwart 1920
= ;
schnitten werden. Beim Säugling legt er
einen Gipsverband bis ah deii Ober-
) sfchenkel an. Beim Rezidiv kommen zwei
Nachoperationen in Betracht: Luxation
der Peronealsehnen am äußeren Knöchel,
wo dasv nicht genügt, wird eine Auf¬
meißelung am inneren Fußrand vorge¬
nommen, wonach die- Redressierung ge¬
lingt. In letzter Zeit ist in seinem Material
der angeborene Klumpfuß viel häufiger,
die angeborene Hüftverrenkung seltener
geworden. — Kümmell empfiehlt für die
schweren Klumpfüße im späteren Lebens¬
alter, wo die Leute zum Teil auf dem Fu߬
rücken liefen, die gewaltsame Redressie¬
rung in dem Lorenzschen Apparat, wo¬
bei Bänder und Knochen, bisweilen sogar
die Haut zerrissen wird. Der Fuß wird
überkorrigiert. Nach drei bis vfer Mo¬
naten stand der Fuß gut und die Leute
gingen gut. — Bier hält die gewaltsame
Redressierung für nicht harmlos, während
die Redressierung im Saugapparat un¬
gefährlich und schmerzlos ist und aus¬
gezeichnete Resultate gibt. Käppis
empfiehlt für die Kümmelschen Fälle,
einen Keil aus dem äußeren Fußrand zu
entfernen, ferner spaltet er den Tibialis
ant. und näht einen Zipfel am Metatars. 111
an. — Müller (Rostock) zieht in den
veralteten Fällen die Operation dem ge¬
waltsamen Redressement vor. Er ent¬
fernt einen Keil aus der lateralen Seite
und setzt ihn in die mediale Seite ein.
•Fraenkel empfiehlt, durch den Kno¬
chen von Amputationsstümpfen quer hin¬
durch Bolzen aus der Tibia oder Fibula
zu legen, an denen die Prothesen befestigt
werden. — Kirschner fürchtet, daß
diese Bolzen mit der Zeit resorbiert wer¬
den. Um die Tragfähigkeit des Kno¬
chenstumpfes zu erhöhen, treibt er in die
Markhöhle von der Sägefläche aus einen
Bolzen, den er der Fibula entnommen
hat. Bier hat zum gleichen Zweck den
Fersenhöcker auf den Oberschenkelstumpf
aufgepflanzt.
Ritter berichtet über einen Mann,
der wegen Schmerzen im Rücken ^ie
verschiedensten Diagnosen über sich er¬
gehen lassen mußte. Es entwickelten
sich an verschiedenen Knochen Ge¬
schwülste, die wieder schwanden, zum
Teil zu Spontanfrakturen führten, die
wieder heilten. Der Urin zeigte immer
die Bence-Jonessche Reaktion., Mikro¬
skopische Untersuchung ergab Myelom.
Behandlung: Arsen, Jodtinktur, äußer¬
lich, und innerlich, subcutane Blutinjek¬
tion. Völlige Heilung.
Keyßerjst es gelungen, durch Ein¬
spritzung einer Emulsion eines Hoden¬
sarkoms in die Leber einer Maus ein
Lebersarkom zu erzeugen und dasselbe
nun schon in vier Passagen weiter zu
übertragen. Es. sind somit alle Bedin¬
gungen der Übertragung erfüllt. Die Ge¬
schwulst entstand am Orte der Impfung,
hatte die Struktur der Ausgangsge¬
schwulst und die Weiterimpfungin Pas¬
sagen ist geglückt. Die zu übertragende
Geschwulst muß sich im äußersten Reiz¬
zustande befinden.
Völcker bericht^ über hämolyti¬
schen Ikterus. Es händelt sich bei der
Krankheit um einen chronischen Ikterus
mäßigen Grades, blaßgelb, wechselnd, oft
angeboren, oft familiär. Der Stuhl ist
normal gefärbt, der Urin auch, doch zei¬
gen beide Urobilinreaktion. Die Kranken
haben oft gar kein Krankheitsgefühl. Die
Leber ist unverändert, aber die Milz ist
fast immer vergrößert, auf mittlere Grade,
nicht auf die ungeheuren Maße, wie bei
Bantischer Krankheit. Das Blut zeigt
gewöhnlich ausgesprochene Anämie, auch
Poikilocytose. Die Erythrocyten lösen
sich leichter auf, als normal. Ob die Er¬
krankung der Milz oder die des Blutes das
primäre sind, ist unbekannt. Die Milz
zeigt eine starke Vermehrung des Binde¬
gewebes. Diese Fälle haben bisweilen
leichte Leberkoliken in der Zeit mit ge¬
steigertem Ikterus, sodaß man Chole-
dochusverschluß annahm. Der Ikterus
kann durch Entfernung der Milz sicher
geheilt werden. Es sind etwa 50 Fälle
bekannt. Die Mortalität der Splenektomie
ist gering. Völcker -hat fünf Fälle
operiert, zwischen 20 und 30 Jahren,
angeboren oder erworben, seit Jahren
bestehend. Alle fünf heilten. Der Ikterus
verschwand schon nach 14 Tagen; auch
die Anämie ging schnell zurück. Aber
die Widerstandskraft der Erythrocyten
gegen hämolytische Einflüsse blieb be¬
stehen. Völcker hält deshalb die Blut¬
erkrankung für das Primäre. —Kuttner
hat ein 21jähriges Mädchen mit derselben
Krankheit operiert. Seit vier Jahren be¬
stand Ikterus und ein ungeheurer Milz¬
tumor. Der war nach 14 Tagen restlos
geschwunden. Auch Wendel hat meh¬
rere Fälle beobachtet und in einem die
Milz mit Erfolg entfernt. Einen anderen
Fall mit nicht sehr großer Milz unterwarf
er der Röntgenbestrahlung. Bei ihm trat,
zeitweise Verstärkung des Ikterus auf.
Die Bestrahlung hat die Anämie erheblich
gebessert und der Ikterus ist fast ganz
Mai die Therapie dep
geschwunden. Wendel hält die Milz¬
erkrankung für das Primäre. Verände¬
rungen der roten und weißen Blutkörper¬
chen sieht man regelmäßig nach jeder
Milzentfernung. — Anschütz hat vier
Fälle operiert, darunter eine Mutter mit
zwei Kindern. Alle Fälle verliefen gut.
In Schleswig-Holstein ist die Krankheit
häufig. Noch nach sechs bis acht Jahren
ist die Hämolyse gesteigert. — Gulecke
hat drei Fälle mit gutem Erfolg operiert.
Die Heilungstendenz scheint herabgesetzt
zu sein. In zwei Fällen ging die ganze
Wunde nach acht Tagen nach Entfer¬
nung der Fäden auf und brauchte sehr
lange bis zum Heilen.
Ostermann teilt mit, daß die Ar¬
beiten der Kruppschen Werke, rostfreien
Stahl herzustellen, soweit gediehen sind,
daß in nächster Zeit wenigstens die gang¬
barsten Instrumente auf den Markt
kommen, natürlich, wie alle Dinge, zu
hohen Preisen.
Ritter spricht zur Entstehung und
Behandlung der akuten Osteomyelitis.
Die Nekrose ist von vornherein vorhanden.
Eine Osteomyelitis ohne Nekrose gibt es
nicht. Sie hat gleich die Ausdehnung,
wie sie später ausgestoßen wird. I^n den
ersten Tagen ist das Knochenmark'noch
frei und der Eiter sitzt nur unter dem
Periost. Hier soll man nur den Eiter ab-
lassen und nicht aufmeißeln.. — Müller
(Rostock) erinnert daran, daß schon
König immer betont hat, daß die Ne¬
krose von Anfang an ab gegrenzt ist. End¬
arterien gibt es im Knochen nicht. Seine
Erfahrungen mit Frühoperation der Dia-
physenosteomyelitis sind schlecht: Er hat
danach oft schwere Pyämien erlebt.
Bestelmeyer berichtet über an¬
nähernd 400 Fälle von willkürlich beweg¬
ter künstlicher Hand, die Sauerbruch
operiert hat. Voraussetzung ist ein ge¬
sunder Stumpf und gute Muskulatur.
Selbst Oberarmexartikulierte kommen
noch in Betracht. Am einfachsten liegen
die Verhältnisse bei Oberarmstümpfen.
An der Beugeseite wird der Biceps
tunnelliert: durchschnittliche Hubhöhe
3 bis 4 cm. An der Streckseite wird der
Triceps tunnelliert: durchschnittliche
Hubhöhe 3 cm. Am Unterarm ist bei den
Beugern eine Hubhöhe von 2 cm, bei den
Streckern von 1,5 cm Durchschnitt. Ein
sehr langer Stumpf muß verkürzt werden,
weil sonst die künstliche Hand länger ist
als die gesunde. Die Anschützsche Me¬
thode hat eine Verbesserung gebracht,
besonders bei kurzem Stumpf. Bei ganz
Gegenwart 1920 .197
kurzen Oberarmstümpfen wird der Pec-
toralis maior und latissimus dorsi tunnel¬
liert. Die Operierten sind sehr zufrieden.
Schlechte Erfolge sind auf schlechte
Kanäle **zurückzuführen. — Anschütz
stellt einen Oberarm amputierten vor,
dessen Prothese zwei Hämmerchen trägt,
mit deren Hilfe er Harmonium spielt
Der Pectoralis ist auch tunnelliert.
Kotzenberg hat die Muskelsperrung,
das heißt die willkürliche Contraction des
Muskels ohne Bewegung des zugehörigen
Gliedes, wie sie besonders beim Biceps
auffällt, benutzt, um Prothesen zu be¬
wegen. Er braucht dabei keine Kanäle
anzulegen. Der Stumpf muß dazu min¬
destens 6 cm lang sein.
Flockemann berichtet über sieben
Vorderarmplastiken nach Krukenberg
aus der Kümmellschen Klinik. Die er¬
zielte Kraft ist sehr gut. Einer hat rich¬
tige Schwielen bekommen. Auch mit
feinen Gegenständen können sie arbeiten.
Einer zerreißt Papier, einer macht Feder¬
zeichnungen. — Nach Borchardts Er¬
fahrungen spielt die Möglichkeit der
Pro- und Supination des Radius eine
große Rolle. In manchen Fällen gibt er
eine Prothese.
Sauerbruch meint, daß die Kraft
des Krukenbergarmes nicht zu kräftiger
Arbeit genüge. Auch aus kosmetischen
Gründen lehnen die Verletzten die Me¬
thode ab. Nur für Blinde ist sie zu emp¬
fehlen, weil sie Gefühl in der Hand haben^
müssen. Die, Kanäle werden von vielen
Ärzten falsch angelegt, weshalb er 17 Un¬
terarmamputierte im Oberarm amputieren
mußte.
Rehn jr. spricht zu dem Thema:
,,Tenotomie und Muskel“. Bier berichtet
dazu einen Fall, wo er aus der Achilles¬
sehne ein Stück von 10 cm entfernte und
eine dünne Sehne von 6 cm Länge ein¬
pflanzte und vier Wochen stillstellte.
Die eingepflanzte Sehne ging zugrunde,
aber es bildete sich eine vollkommene
neue Sehne mit sehr guter Funktion.
Der Nährboden spielt eine, wenn auch
kleine Rolle. Bei einer frisch gerissenen
Sehne ist der Riß sehr unregelmäßig und
die Blutung ganz gering. Das junge
Regenerat will Ruhe haben, wenigstens
in den ersten Tagen. Erst muß das Rege¬
nerat da sein, dann darf erst die Funktion
eintreten. Der Muskel muß in guter
Spannung gehalten werden. Ein großer
Feind des Regenerats ist die Infektion.
Ein lückenloser narbenfreier Hautlappen
muß den Sehnendefekt decken. Nur die
198
Die Therapie der Gegenwart 1920
' Ma i
Sehnen ohne Scheiden regenerieren sich,
so auch die des Handrückens. — Müller
{Rostock) macht darauf aufmerksam, daß
die Sehnen am Handrücken oft nicht
heilen und die Finger sich in Beu^stellung
stellen. Bei völliger Zerstörung des Lig.
patellae oder der Quadricepssehne hat
Payr sehr guten Erfolg, wenn er mit
ParaffinseiÖenfäden die Spannung her¬
stellt und einen Fascicnmantel darum
•egt.
Sommer empfiehlt für die Behand¬
lung von Unterschenkelfrakturen mit
starker Verkürzung einen Apparat der
Greifswalder Klinik. Derselbe beruht auf
dem Scherenprinzip und ist nach Art des
Zuppingerschen Apparats gebaut. Die
Tibia wird am oberen und unteren Ende
von einem Nagel durchbohrt Der Ap¬
parat ermöglicht.die Bewegung des JHüft-
und Kniegelenks und die Röntgenkon¬
trolle und Massage. Ist die richtige Länge
erreicht, so wird der Apparat gesperrt
und in demselben ein Gipsverband an¬
gelegt, wonach der Apparat entfernt
wird.
Schloffer hat kombinierte Liqupr-
druckbestimmungen durch Lumbalpunk¬
tion und Ventrikelpunktion angestellt
Er fand für beide im Sitzen und Liegen
gleichen Druck. Die Verbindung beider
Systeme kann durch Stöpsel- oder Ven¬
tilverschluß oder auch durch Kompres-
smn aufgehoben sein. Das Verfahren ist
• bei gewissen Tumoren anzuwenden. Von
einer Ventrikelpunktion hat er niemals
Schaden gesehen.
(Fortsetzung folgt im nächsten Heft.)
Bücherbesprechungen.
Vulpius, Aus 25 Jahren orthopädi¬
scher Arbeit, Eine therapeutische
Orientierung für den praktischen Arzt
Berlin-Wien 1920. Urban <5 Schwarzen¬
berg. 80 Seiten.
Der Verfasser hat es fertiggebracht
in einem nur 80 Seiten starken Heftchen
das gesamte Gebiet der Orthopädie in
seinen Grundzügen aufzurollen. Durch
eine Lektüre von nur wenigen Stunden
ist der praktische Arzt imstande, den
^heutigen Stand der Orthopädie kennen zu
lernen. Und diese Kenntnisse sich zu
verschaffen muß dem Praktiker auf das
- eindringlichste empfohlen werden, damit
wir Orthopäden, wenn uns Kinder mit
Klumpfuß, Hüftluxation, Skoliose usw.
zu spät zugeführt werden, nicht immer
wieder mit fast beschämender Resignation
den Eltern erklären müssen, daß-für eine
radikale Heilung die Zeit verpaßt sei.
Man kann natürlich von keinem prak¬
tischen Arzt verlangen, daß er sich die
Technik der Hüfteinrenkung oder der
Sehnenverpflanzung aneignet, er muß aber
unter allen Umständen wissen, in welchen
Fällen eine solche indiziert, und wann
der richtige Zeitpunkt für ihre Ausfüh¬
rung gekommen ist. Diese Kenntnisse
kann er sich aus dem vorliegenden Buch
leicht aneignen. Einen besonderen Reiz
verleiht der Autor der Arbeit dadurch,
daß er hauptsächlich aus dem Schatze
seiner reichen Erfahrung schöpft und
dadurch dem Buch eine persönliche Note
gibt. Auch über Mißerfolge berichtet der
Verfasser, die niemandem erspart bleiben.
In einigen Punkten' stimme ich mit ihm
nicht überein, so in bezug auf die Nach¬
behandlung des operierten Klumpfußes,
bei dem er jeden portativen Apparat ver¬
wirft, während ich keine Rezidive mehr
erlebe, seit ich nach der Operation noch
ein bis zwei Jahre lang redressierende
Apparate tragen lasse. Auch in bezug
auf die Statistik der idealen Heilung
nach unblutiger Einrenkung der ange¬
borenen Hüftverrenkung scheint er mir
etwas zu kritisch gewesen zu sein. Also
nochmals: Jeder praktische Arzt schaffe
sich dieses kleine Büchlein an, seine Lektüre
wird ihm Freude bereiten und manchem
seiner Patienten zum Segen gereichen.
Georg Müller.
Dr. Hans Debrunner, Lehrbuch für
orthopädische Hilfsarbeiterin-
nen mit 172 Abb. Leipzig. C. W. Vo¬
gel. Preis 17 M., geb. 19,50 M.
Wenn die Ausbildung der orthopädi¬
schen Hilfsarbeiterin auch vorwiegend
eine praktische sein muß, so muß sie doch
unbedingt einen Leitfaden in die Hand
bekommen, in dem sie das Gehörte, Ge¬
sehene und Erlernte immer und immer
wieder nachlesen und sich einprägen kann.
Die Schaffung eines solchen Buches ist
dem Verfasser in jeder Beziehung geglückt.
Er gibt das theoretisch Wissenswerte in
knapper und für den gebildeten Laien
leicht verständlicher Form. Bei den
orthopädischen Krankheiten und deren
Behandlung beschränkt er sich auf das
für Helferinnen Notwendige. Er betont
ausdrücklich, daß Massage, Gymnastik,
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1920
‘Gipstechnik usw. sich niemals aus Lehr¬
büchern, sondern nur durch praktische
Übungen erlernen läßt. Die Abbildungen
'Sind außerordentlich instruktiv, die Spra¬
che leicht-flüssig und präzis. Jch habe
das Buch mit großem Vergnügen durch-
gelesen. Es erfüllt seinen Zweck in vollem
Maße, und eine weite Verbreitung ist ihm
sichef. Georg Müller.
Winter. Die Indikationen zur künst¬
lichen Sterilisierung der Frau.
104 S. Berlin-Wien 1920. Urban
6c Schwarzenberg.
Auf den ersten Blick müßte man an-
iiehmen, daß dieses Buch nur für den
Gynäkologen geschrieben wäre; damit
'Wären seine Grenzen zu eng gesteckt.
Da an den Praktiker jetzt auch oft genug
das Verlangen gestellt wird, er möge mit
einem Operateur dafür sorgen, daß eine
dauernde Sterilität erreicht wird, so muß
•er sich selbst über die speziellen In¬
dikationen orientieren, die W. in zehn
Abschnitten in äußerst klarer Weise be¬
spricht; in erster Reihe seien die euge-
netische und soziale Indikationen er¬
wähnt. Daß die juristische Seite dieser
Frage ebenfalls genau. erörtert wird, ist
Ja selbstverständlich. Der Arzt wird
nach der genauen Lektüre dieses Buches
imstande sein, den diesbezüglichen Wunsch
mancher Frau im Keime zu ersticken
und weiß jetzt, daß dieser Eingriff dann
erfolgen kann, w;cnn Lebensgefahr oder
:schwerste Gesundheitsschädigung in spä¬
terer Schwangerschaft abzuwenden ist. —
Druck und Ausstattung sind sehr gut.
Pulvermacher (ChariOttenburg).
Paul Römer, Lehrbuch der Augenheil-
■ künde. Dritte, umgearbeitete Auflage.
Mit 297 Textillustrationen und 32 far¬
bigen Tafeln. Berlin und Wien 1919,
Urban 6c Schwarzenberg,
Zu den modernen Lehrbüchern der
Augenheilkunde, die am meisten im Ge¬
brauch sind, gehört das Buch von Römer.
Die erste Auflage erschien im Jahre 1910
.in Form klinischer Besprechungen in
der Art, wie er den Unterricht zu hand¬
haben pflegte. Schon nach zwei Jahren
konnte das Werk seine zweite Auflage er¬
leben; der Text war verkürzt, die Abbil¬
dungen waren vermehrt und das Buch
durch Teilung in zwei Bände handlicher
geworden. Nunmehr ist, wieder in einem
Bande, die dritte, wesentlich umgearbeitete
Auflage erschienen, die Römer dem An¬
denken seiner im Kriege gefallenen Schüler
widmet „Sie ist aus der Not des Krieges
199
und seines unglücklichen Ausgangs ge¬
boren. Diese Not macht es erforderlich,
daß auch die Lehrbücher unserer medizi¬
nischen Wissenschaft ^ auf lange Zeit hin¬
aus so kurz wie möglich gehalten werden.
Das Buch mußte daher wesentlich umge¬
arbeitet und sein Inhalt in knappere
Form gebracht werden . . Die Form
der klinischen Besprechungen ist verlassen,
die Lebendigkeit der Darstellung und die
Anschaulichkeit der Schilderungen haben
aber darunter nicht gelitten. Bei aller
Knappheit des Textes sind alle wesent¬
lichen Momente der Ätiologie, patholo¬
gischen Anatomie, Diagnose und Therapie
der Augenkrankheiten unter kritischer
Berücksichtigung der v.neuesten Literatur
in umfassender Weise behandelt, so daß
das Buch auch den Augenarzt auf jedem
Gebiete über den Stand unseres Wissens
zu orientieren vermag. Die geschickte
Einteilung des Stoffes, die Hervorhebung
des Wesentlichen machen das Buch über¬
sichtlich und bequem für den Lernenden
wie für den Nachschlagenden. Die ersten
elf Kapitel behandeln die Krankheiten der
einzelnen Teile des Augapfels und seiner
Adnexe, die folgenden die Verletzungen
des Auges, das Glaukom, das Schielen,
die Augenmuskellähmungen, die Neurologie
des Auges und die Funktionsprüfung.
Besonderes Lob'verdienen die sehr zahl¬
reichen Abbildungen der pathologisch¬
anatomischen Präparate, der äußeren und
der ophthalmoskopischen Veränderungen
im Text und auf Tafeln. Den Studieren¬
den wird damit das Buch den Atlas voll¬
kommen ersetzen. Auch in dieser dritten
Auflage wird das Lehrbuch nicht nur
— dem Leitmotiv des Verfassers ent¬
sprechend — dem Studierenden eine
wertvolle Ergänzung des klinischen Un¬
terrichts bringen und dem praktischen
Arzt bei der Diagnose und Therapie be¬
hilflich sein, sondern es wird auch dem
Augenarzt stets eine genußreiche und ge¬
winnbringende Lektüre gewähren und
eine wertvolle Bereicherung seiner Biblio¬
thek darstellen. Fehr.
Die Lichtbehandlung des Haaraus¬
falls. Von Franz Nagelschmidt.
Zweite durchgesehene Auflage. Berlin
1919, J. Springer. Mit 87 Abbildungen.
8^, 72 Seiten.
Die Schrift gibt in kritisch-objektiver
Art die sehr bemerkens- und dankens¬
werten Erfahrungen des Verfassers über
die überraschende therapeutische Be¬
einflussung des Haarausfalls durch
200 ^
Die Therapie der Gegenwart 1920
ultraviolette Lichtstrahlen, sie hat das
große Verdienst, dem therapeutischen
Skeptizismus und Nihilismus auf die¬
sem Gebiet ein für allemal ein Ende
bereitet zu haben. Berichtet doch
Verfasser über 84% komplette Hei¬
lungen gegenüber nur 5%^% Mißerfolgen
(200 Fälle, darunter 132 Fälle von Alopecia
areata, 64 von Alopecia seborrhoica et
Refe
Die aktive Therapie beim fieber¬
haften Abort vertritt Kolde Winter
gegenüber, der ja bekanntlich in den
meisten Fällen eine abwartende Haltung
empfiehlt, auf Grund eines in einem Zeit¬
raum von fünf Jahren gesammelten Ma¬
terials aus der städtischen Frauenklinik
zu Magdeburg. Zuvörderst ist die Sta¬
tistik als eine gute zu nennen. Wegen
starker Blutungen kann in einer Reihe
von Fällen gar nicht gewartet werden;
auch die lange Dauer der abwartenden
Behandlung verbietet ihre allgemeine Ein¬
führung; selbst der Mittelweg, Abwarten
bis zur Entfieberung, welche durchschnitt¬
lich am dritten Tage eintritt,^ dann nach
weiteren sieben Tagen des Abwartens
Ausräumung, ist nicht gangbar. Bleibt
das infizierte Placentarstück lange im
Uterus, so dfoht durch Bestehenbleiben
des Uterusplacentarkreislaufes dauernd
die Gefahr einer neuen Keimüber¬
schwemmung des Blutes.
Puivermacher (Chariottenburg).
' (Mschr. f. Geburtsli., Jan. 1920.)
Als eine besondere Form der trauma¬
tischen Neurose stellt E. Pulay den
Thyreodismus und die Basedowsche
Krankheit hin. Es gibt traumatische Neu¬
rosen, in denen die vom Sympathicus sich
herleitenden Erscheinungen wie Tachy¬
kardie, Dermographie, ‘ Schwitzen, Di¬
arrhöen, Polyurie, Haarausfall und Schild¬
drüsenschwellung das Krankheitsbild be¬
herrschen. In dem Material Pulays
setzten die Erscheinungen des Hyper-
thyreodismus zum Teil akut nach Granat¬
verschüttung ein, zweimal kam es zur
Entwickelung von echtem Basedow. Wie
die traumatische Neurose, so entwickelt
sich auch ihre thyreodistische Unterform
auf dem Boden einer konstitutionellen
Minderwertigkeit speziell des vegetativen
Systems. Verschieden sind die zur Aus¬
lösung erforderlichen Momente, ihnen
gemeinsam die Reizwirkung auf das vege¬
tative System. Zwischen Sympathicus-
neurose und Basedow sind fließende
praematura), führt er uns doch überaus
rasch eintretende H^eiluhgen (nach zehn
bis zwanzig Tagen) vor. Voraussetzung
dafür ist allerdings die vollständige Be¬
herrschung der Technik, die Verfasser
am Schluß eingehend schildert Das
Büchlein bedeutet einen wesentlichen
Fortschritt.auf dem Gebiete der Alopecie-
behandlung., Iwan Bibcli.
rate.
Übergänge. Die gestörte Schilddrüsen¬
funktion ist nicht die Ursache des Base¬
dows; sondern eine besonders in die
Augen springende Erscheinung der Sym-
pathicusneurose. Speziell für die Base¬
dowsche Krankheit ist eine Unterwertig¬
keit im sympathischen System notwendig,
die auch die individuelle Reaktionsweise'
des befallenen Individuums bestimmt.
Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(Zschr. f. klin. M. 1919, H. 1 u. 2.)
Die Beziehungen von Hypophyse und
Basedow macht Hofstätter zum Gegen¬
stand neuer Untersuchungen. Die Korre¬
lation der Drüsen mit inneren Sekreten
macht es wahrscheinlich, daß beim Morbus
Basedowii neben der Thyreoidea auch
andere endokrine Drüsen beteiligt sind.'
Es weisen nach Ansicht Hofstätters
eine Anzahl von klinischen Symptomen
direkt auf eine Schädigung der Hypophyse
hin. Auf hypophysärer Grundlage ent¬
steht die Polyurie, die Unregelmäßigkeit
der Körpertemperatur, die abnorme Fett¬
verteilung, die Schlaflosigkeit, wahr¬
scheinlich auch die auf eine gesteigerte
Adrenalinwirkung hinweisenden Erschei¬
nungen. Ebenso kann ex juvantibus auf
eine Beteiligung der Hypophyse im Sinne
einer Unterfunktion geschlossen werden.
Das Krankheitsbild des Morbus Basedowii
wird jedoch nicht durch die auf eine
Störung der Hypophyse zu beziehenden
Symptome beherrscht, sondern durch den
Hyperthyreodismus, wozu noch in den
meisten Fällen ein konstitutionelles Mo¬
ment kommt. Es ist anzuriehmen, daß
die Hypophyse beim Morbus Basedowii
sekundär erkrankt und nicht, wie von
einzelnen behauptet, erst den Anstoß zu
Veränderungen der Thyreoidea gibt. The¬
rapeutisch ergibt sich aus den Unter¬
suchungen Hofstätters die Heran¬
ziehung des wirksamen Prinzips der
Hypophyse (Hypophysin) zu der Be¬
handlung von Basedowkranken. Als
besondere Indikation stellt Hofstätter
die. Fälle auf, in denen eine Schilddrüsen-
Die Therapie der Gegenwart 19^0 201
Mai
T
Operation nicht in Frage kommt, ferner
die durch Operation nicht gebesserten
Erkrankungen sowie alle die Fälle, bei
denen die übliche Basedowbehandlung
versagt.
Eine weitere Arbeit Hofstätters be¬
richtet über die Erfolge der Hypophysen¬
behandlung in‘solchen Fällen, bei denen
klinisch eine Mitbeteiligung der Ovarien
erkennbar war. Während die Kardinal¬
symptome des Basedow (Exophthalmus,
Struma, Tachykardie) unbeeinflußt
blieben, zeigte sich eine Wirkung auf
die sympathicotonischen Beschwerden.
Es ist anzunehmen, daß das Hypophysin
eine sekretionshemmende Wirkung auf
die Schilddrüse ausübt. Eine Kontra¬
indikation für die Anwendung des Hypo-
physins bilden Gravidität, Arteriosklerose
und Nephritis chronica.
Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(Grgbt. d. M.d. u. Chir. 1919, H. 1 u. 2, Zsci*r. f.
Gyn. 1919, H. 3.)
Die Erfolge der operativen Basedow¬
behandlung bespricht E. Fabian. Die
Herzstörungen bei Basedov/ werden am
günstigsten, der Exophthalmus am wenig¬
sten durch die Operation beeinflußt. Un¬
verkennbar ist die Wirkung auf das All¬
gemeinbefinden, Aussehen, Stimmung,
Kräftezustand und Körpergewicht.
Schweiße, Tremor, Durchfälle pflegen
nachzulassen, so daß viele Operierte
wieder arbeitsfähig werden. Die besten
chirurgischen Resultate werden bei
symptomatologisch voll entwickelten For¬
men erzielt, weniger geeignet sind die so¬
genannten Formes frustes, noch geringer
ist der Erfolg in den Fällen, in denen
hystero-neurasthenische Erscheinungen im
Vordergründe stehen. Bei richtiger Aus¬
wahl der Fälle pflegt die Operation nur
in 5 bis 10% zu versagen, Rezidive sind
nicht ganz zu vermeiden. Mit verbesserter
Operationstechnik ist die operative Mor¬
talität gesunken. Es empfiehlt sich, die
Operation frühzeitig auszuführen. Die
operativen Erfolge bestätigen die Mo,e-
biussche Auffassung, derzufolge der
Morbus' Basedowii ein primärer Hyper-
thyreodismus ist.
Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(Bruns Beitr. 1919, H. 1.)
Von recht guten Erfolgen mit intra¬
uterinen Cholevalspülungen — %—
Lösungen bei 50® Celsius —bei gynäko¬
logischen Operationen kann Betz
aus dem St.-Joseph-Krankenhaus in Pots¬
dam berichten. Nicht nur eine desinfizie¬
rende, sondern auch eine direkt blut¬
stillende Wirkung konnte im Anschluß
an Ausschabungen bei septischen Aborten
festgestellt werden; dies läßt sich in fol¬
gender Welse erklären: Durch die zellen¬
beziehungsweise sekretlösende Eigenschaft
der gallensauren Komponente/wird ein
inniger Kontakt dieses Mittels mit der
von Sekret gereinigten Uteruswandung
erzielt; hierdurch kommt es neben der
Desinfektion zu einer Herabsetzung der
Temperatur. Die zweite Eigenschaft des
Cholevals, daß es auch zugleich die Blu¬
tung stillt, beruht auf der Capillarwand-
schädigung der Silberkomponente, welche
die Capillaren der Uterusmucosa- oder
Muskelschicht ätzt und so Thromben er¬
zeugt. Erliöht wird die Wirkung noch
durch den Wärmereiz, da die Temperatur
der Cholevallösung 50® beträgt.
P u 1V e r m a|c h er (Charlottenburg).
(M. m. W. 1920, Nr. 13.)
Als ein neues Zeichen für den nahe
bevorstehenden Geburtseintritt sieht
Mo mm den. Gewichtssturz am Ende
des letzten Schwangerschaftsmonats an,
der durch genaue Wägungen von 20 Haus¬
schwangeren das Höchstgewicht am dritt¬
letzten Tage ante partum erreicht fand.
Im Zusammenhang mit den bisher be¬
kannten Daten, die letzte Menstruation,
erste Kindsbewegungen, Senkung des
Leibes, usw., scheint die Gewichtsabnahme
der Frau am Ende der Schwangerschaft
öfter ein weiteres brauchbares Mittel zu
sein, die für die Geburt in Betracht
kommende Zeitspanne weitmöglichst ein¬
zuengen.
Pulvermacher (ChariOttenburg).
(Zschr. f. Gyn. 1920, Nr. 10.)
Die Bedeutung der Lipoidsubstanzen
(Lecithin und Cholesterin) für die Er¬
nährungwird neuerdings vielfach erörtert.
Stepp (Gießen) schien bewiesen zu haben,
daß diese Substanzen zum Leben nicht
unbedingt nötig seien. Zur Widerlegung
des Einwandes, es habe sich bei seinen
Versuchen nicht nur um lipoid-, sondern
auch vitaminfreie Nahrung gehandelt,
stellte er neuerdings V^ersuche an, in
denen eine Reihe- von Versuchstieren
lipoidfreies Futter und Vitamin, eine
zweite vitaminfreie Diät und Lipoide
erhielt. Bei Berechtigung der Einwände
hätten im ersten Falle Schädigungen
nicht eintreten dürfen, im zweiten da¬
gegen hätten die Lipoide durch ihren an¬
genommenen Vitamingehalt jeder Schä¬
digung Vorbeugen müssen. Beides war
nicht der Fall. Weitere Versuche hatten
26
20*2'
Die Therapie der Gegenwart 1920
Mai.
das Ergebnis, daß die durch Alkohol dem
vollwertigen Futter entzogenen Stoffe
ersetzt werden können durch eine Mi¬
schung von Ovolecithin, Cephalin, Cere-
bron, Cholesterin und ein Vitaminpräpa¬
rat, wobei allerdings zuzugeben ist, daß
es nicht gelang, die Versuchstiere dabei
auf ihrem Anfangsgewicht zu erhalten.
Fehlten die Lipoide oder Vitamin, so
starben die Tiere, auch wenn von der
Lipdidfraktion nur Lecithin und Chole¬
sterin gegeben wurden, konnte nur eine
geringe Verlängerung des Lebens erreicht
werden. Wenn auch die benutzten Stoffe
keineswegs chemisch wohldefinierte Kör¬
per sind, so ist doch wenigstens mit
diesen Versuchen ein Hinweis gegeben,
in welcher Gruppe von chemischen Kör¬
pern die Ergänzungsstoffe zu suchen
sind; unbekannt bleibt allerdings noch
die verhältnismäßige Bedeutung der ver¬
schiedenen Körper der Lipoidfraktion.
Besonders interessant ist diese Frage im
Zusammenhang mit den Ergebnissen Ab¬
derhaldens und Schaumanns, die
neben den Nucleinen den Phosphatiden
eine große Bedeutung als Muttersubstanz
derjenigen akzessorischen Nährstoffe zu¬
schreiben, deren Fehlen für die experi¬
mentelle Polyneuritis verantwortlich ist,
wonach also den P-haltigen Lipoiden eine
besondere Wichtigkeit zukäme.
Wenn von anderer Seite behauptet
wurde, daß der Tierkörper phosphor¬
haltige Nucleinverbindungen und Lipoide
aus ganz einfachen Substanzen aufzu¬
bauen vermöge, so widersprechen dem
die Versuche des Verfassers, die ergaben,
daß bei Fütterung mit alkoholerschöpftem
Hundekuchen die Tiere binnen, wenigen
Wochen unter den gleichen Erscheinungen
eingehen, wie nach Fütterung mit ge¬
schältem Reis. Vögel und Säuger ver¬
hielten sich hier übrigens nicht gleich,
indem unter Vitaminzusatz‘ erstere sich
gesund erhielten, während letztere trotz¬
dem eingingen. (Das Vitaminpräparat
enthielt nur Spuren von Phosphor und
kein Cholesterin.) Phosphatide scheint
demnach der Vogelkörper bei geringstem
Angebot organischer Phosphorverbindun¬
gen zu bilden, ob auch Cholesterin, bleibt
fraglich. Man wird jedenfalls sagen dür¬
fen, daß die Lipoide nicht nur Begleit-
und Mutterstoffe der ,,Vitamine“ sind,
sondern eine ebenso wichtige und quasi
selbständige Stellung im Körper ein¬
nehmen, wie diese von Abderhalden
und Schau mann als Eutonine bezeich-
neten antineuritischen Substanzen. Hier¬
für sind auch Fütterungsversuche am
Hunde beweisend, die ergaben, daß bef
lipoidfreier Kost (mit Äther und Alkohol
extrahierte Hundekuchen) die Tiere in
wenigen Wochen eingingen, wobei es
schien, daß durch vorübergehende Verab¬
reichung lipoidreicher Kost der Ausgang:
wesentlich hinausgeschoben werde. Eine
andere Reihe von Tieren, die das gleiche
Futter, aber mit reichlichem Vitamin-
(Antineuritin-) Zusatz erhielten, lebte
wesentlich länger, fast die doppelte Zeit.
Vitamin vermag also die Lipoide nicht
zu ersetzen, wenn es auch bei Entziehung
derselben lebensverlängernd wirkt. Man
wird also eine jedenfalls teilweise Ent¬
fernung der Vitamine durch die Alkohol-
extraktion anzunehmen haben. Zu be¬
achten ist dabei, noch, daß Vitamintiere
eine wesentlich größere und konstantere
Appetenz zeigten als vitaminfreie. Auch
solche Beobachtungen ergaben eine Vita¬
minarmut der lipoidfreien Nahrung. Plötz¬
liche reichliche Vitaminzufuhr kann die
Nahrungsaufnahme sprunghaft ^ erhöhen,
wobei zunächst zwar eine Zunahme des
Gewichts eintritt, die aber bei dauernd
fehlendem Lipoid doch einer langsam
zum Tode führenden Abnahme weicht.
Hofmeister wies bereits darauf hin,
daß es sich bei der sub finem auftretenden
Nahrungsverweigerung nicht sowohl um
eine Übermüdung der Geschmacksorgane
handeln könne, da Injektion von Reis¬
kleieextrakt den Appetit^ sofort wieder
herstellte, als vielmehr um*etwas anderes.
Unbekanntes, vielleicht um eine- Störung
der Sekretion der Verdauüngsdrüsen,
worauf auch Stepps Befund von schwerer
Pankreasatrophie an seinen Versuchs¬
hunden hinzuweisen scheint, der aller¬
dings vielleicht weniger dem Mangel an
Vitaminen als an Lipoiden zur Last
fällt.
Weiter findet sich an lipoidfrei ernähr¬
ten Hunden ein auffällig geringer Gehalt
der Galle an Cholesterin (ein Drittel bis
ein Fünfzehntel der normalen Werte,
im Durchschnitt etwa ein Viertel), und
zwar selbst, wenn man die starken nor¬
malen Schwankungen dieses Wertes aus¬
giebig in Betracht zieht. Der Cholesterin¬
gehalt des Blutes bei den lipoidfrei er¬
nährten Tieren lag gleichfalls an d'er
unteren Grenze der Norm. Wieweit das
Cholesterin allerdings durch sein Fehlen
Störungen macht, läßt sich nicht sagen,
mur daß es — als streng exogener Körper
— am Entstehen derselben Anteil hat,
läßt sich mit Sicherheit annehmen. Die
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1920
203
Phosphatide, das heißt gewissermaßen
„die Lipoide im eigentlichen Sinne“, haben
nahe Beziehungen zu den Vitaminen.
Siehe die obigen' Versuche, die auf die
Wichtigkeit von Stoffen wie Cercbron
und Cephalin hinweis^. Diese Befunde
sind vielfach bestätigt worden. Ob die
Gerebroside (Cerebronsäure, Sphingosin)
exogen und ob sie unentbehrlich^ sind,
steht noch dahin.
Sicher ist, daß es neben den wasser¬
löslichen, dem Antineuritin oder Anti¬
skorbutin entsprechenden, noch wasser¬
unlösliche, den Lipoiden nahestehende
oder mit ihnen identische akzessorische
Nährstoffe gibt, die zur Erhaltung des
Lebens unbedingt erforderlich sind.
(M. Kl. 1920, Nr. 2.) Waetzoldt,
Einen weiteren Fall von Heilung von
Pneumokokkenmeningitis durch Optochin
berichtet Rosenow. Eine Frau von
32 Jahren hatte nach einem Abort Er¬
scheinungen bekommen, die als Pneumo¬
nie gedeutet wurden. Nach Feststellung
einer Parametris allmählich Entwickelung
einer typischen*Meningitis, die am fünften
Krankheitstage doch sehr bedrohlich aus¬
sah. Es werden 0,03 g Optochinum hydro-
chloric'um in sterilem Wasser (15 ccm) in¬
tralumbal gegeben. Die folgende Lumbal¬
punktion am nächsten Tage ergibt, daß
die vorher sehr reichlichen Pneumokokken
aus dem Liquor verschwunden sind. Am
neunten Tage jedoch wurden bei nicht
wesentlich gebessertem Opisthotonus im
Punktat wieder Pneumokokken gefunden.
Am elften Tage wieder Optochin in glei¬
cher Weise wie das erstemal. Keine
Pneumokokken mehr. Seitdem Ver¬
schwinden der Erscheinungen und des
Fiebers. Geheilt entlassen.
Rosenow empfiehlt eine Konzentra¬
tion Von 1:500 bei der Injektion nicht zu
überschreiten, sie genügt auch, da mit
20 ccm sich eine Konzentration von
1:2500 im- Liquor erreichen läßt, die zur
Entwickelungshemmung der Kokken
mehr als genügt. Die übliche Dosierung
war bislang eine dreipromillige Lösung,
die Dosis ziemlich schwankend. Neben¬
wirkungen, sind schon von fünfpromilligen
Lösungen, wenn auch in leichtester Form,
gesehen worden.
Die Dosen wählte Rosenow ent¬
sprechend den üblichen zwischen 0,04 und
0,06 g, die nach ein bis zwei Tagen je¬
weils wiederholt werden können. Seh¬
störungen sind ausgeschlossen, da die
Dosen viel zu gering sind.
Wichtig ist der Hinweis, daß auch in¬
terne Therapie mit Optochin bei Pneumo¬
kokkenmeningitis hie und da zum Ziele
führt. (Siehe auch Referat über die Ar¬
beit von Kronfeld,' diese Zeitschrift
1919.) Waetzoldt.
(D. m. W. 1920, Nr. 1.)
Die Chemotherapie septischer Erkran¬
kungen mit Silberfarbstoffverbindungen
hat sich, wie Leschke aus der 2. medi¬
zinischen Klinik der Charite mitteilt, als
wirksam erwiesen. Angewendet wurde
zunächst die Methylenblausilberverbin¬
dung Argochrom (Merck), welche in Dosen
von 10 ccm (0,1 g) und 20 ccm (0,2 g)
intravenös gegeben wird. Leschke be¬
stätigt die günstigen Resultate anderer
Autoren bei septischen GrippefälLen mit
Streptokokkenpneumonie und bei Sepsis,
die vom Mittelohr oder den weiblichen
Beckenorganen ausgeht. Bei einem durch'
die Fieberkurve belegten Falle von krypto¬
genetischer Sepsis trat nach zwei Ein¬
spritzungen von je 20 ccm Argochrom
dauernde Entfieberung ein. Besonders
wirksam scheinen aber Präparate zu sein,
die die chemotherapeutische Wirkung der
Silberverbindungen mit der der Acridin¬
farbstoffe, von denen das Trypaflavin
besonders empfohlen wird, kombinieren
(vergleiche das Referat im Februarheft
S. 85). Ein derartiges Präparat ist das
Trypaflavinsilber oder Argoflavin, das
ebenfalls intravenös eingespritzt wird und
von dem am besten zweimal täglich 40ccm
verabfolgt werden. Verfasser erprobte
das Argoflavin bei einem Falle von Endo-
carditis lenta: wie die Fieberkurve zeigt,
trat nach zwei Einspritzungen von je
20 ccm Argoflavin dauernde Entfieberung
ein; der Patient wurde nach langer Re¬
konvaleszenz völlig geheilt. In zwei wei¬
teren Fällen von septischer Endokarditis
glaubt Verfasser eine günstige Einwirkung
des Argoflavins verzeichnen zu können:
in einem der Fälle trat Entfieberung auf,
nach einiger Zeit verschlechterte sich der
Zustand wieder und der Patient starb;
im zweiten Falle wurde eine günstige
Wirkung auf Allgemeinbefinden und Herz¬
befund festgestellt. Ferner hatte Argo¬
flavin einen günstigen Einfluß bei einer
puerperalen Sepsis, bei septischer Sieb¬
beinvereiterung und bei grippaler Strepto¬
kokkenpneumonie. Es muß dahingestellt
bleiben, ob die hier berichteten Erfolge
der Silberverbindungen zur Begründung
ihrer Empfehlung als Heilmittel bei Sepsis,
ausreichen. Nathorff.
(B, m. W. 1920, Nr. 4.)
26*
204 Die Therapie der Gegenwart! 1920 ' - Mai’
Über Tlefenthermometrle berichtet
Zondek aus der Universitätsfrauenklinik
der Charite. Die Messungen erfolgten mit
besonders konstruiertem langem Thermo¬
meter, das in eine in die Haut einzu¬
stechende oder in Körperhöhlen einge¬
führte Metallhülse gesteckt wird. Er¬
gebnis: Die Rectaltemperatur war stets
am höchsten, mit Ausnahme eines Falles
von jauchig zerfallendem Myom, wo im'
Rectum 38,4, im Myom 38,7, im Ober¬
schenkel 37,1 gefunden wurde. Unter
Hinzuziehung der Untersuchungsergeb¬
nisse von Kothe differierende Haut¬
temperatur über erkrankten Gelenken und
Widmer und Hönck (M. m. W. 1908,
Nr. 12 u. 35, bei Appendicitis. Ref.) glaubt
er' eventuell der Tiefentemperatur dia¬
gnostische Bedeutung beilegen zu können.
Genaue Einzelheiten in Nr. 48.
Hauffe (Wilmersdorf).
(M. m. W. 1919, Nr. 46/48.)
Mit einem von einer spontan an Tuber¬
kulose eingegangenen Schildkröte stam¬
menden, anscheinend dem Friedmann-
schen Stamme nahestehenden Schild¬
krötentuberkelbacillenstamme versuchte
Möller Meefschweinchen durch intra¬
peritoneale und intravenöse Impfung
gegen Tuberkulose zu immunisieren, er¬
zielte aber höchstens eine Verzögerung
des Ablaufs der nachher gesetzten In¬
fektion, nie aber eine absolute Immuni¬
sierung. Er führt die Möglichkeit der
“teilweisen Immunisierung auf die der
ganzen Gruppe (bovinus, humänus, Möl¬
ler sehe Säurefeste usw.)gemeinsamesäure-
feste Substanz zurück, wie ja schon Koch
fand, daß sich diese einzelnen Formen
nicht durch Agglutination unterscheiden
lassen. Für seine Versuche der Immuni¬
sierung von Tieren und Menschen durch
Impfung mit Kaltblütertuberkulose, für
die ihm übrigens die Priorität zukommt,
hat er stets, wie schon R. Koch empfahl,
intravenöse Anwendung vorgezogen.
Subcutaiie Impfung nach Fried¬
mann hatte mit Müllers Stamme noch
wesentlich geringere Erfolge als intra¬
venöse Anwendung. Waetzoidt.
(D. m. W. 1920, Nr. 6.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Candiolin in der Kinderpraxis.
Von Dr. Max Adam, München.
Die intrazellulären Fermente oder wde
der neuere bessere Ausdruck von Oppen¬
heim lautet, die ,,Stoffwechselfermente‘‘,
sind als „das wichtigste chemische Hand¬
werkszeug der Zelle zu bezeichnen. Schon
heute können wir, wenn nicht alle, doch
die meisten chemischen Lebensprozesse
auf Fermentwirkungen zurückführen“
(Joh. Müller). Während die Ver¬
dauungsfermente die Vernichtung der
specifischen Struktur unserer Nahrungs¬
mittel zur Aufgabe haben, bleibt es den
Stoffwechselfermenten vorbehalten, bei
der Umwandlung der resorbierten Nah-
rungssoffe in der Blutbahn oder in den
Organgeweben ihre Tätigkeit auszuüben.
Es handelt sich also um die komplizierten
Vorgänge der Assimilation, die Aus¬
gleichung, die notwendig ist, um eine von
der zufälligen Nahrung unabhängige Zu¬
sammensetzung der wesentlichen ‘ Zell¬
bestandteile zu'gewährleisten. Die Assi¬
milationsvorgänge sind dadurch kom¬
pliziert, daß zur Erstehung mancher
Körperbestandteile das Zusammenwirken
verschiedenartiger Zellen nötig ist. So
ist wahrscheinlich für die Hämoglobin¬
bildung durch die Blutkörperchen das
Zusammenwirken von Leber, Milz und
Knochenmark erforderlich (v. Frey). Der
Weg, auf welchem die specifischen Sub¬
stanzen der verschiedenen Zellgattungen
untereinander in Berührung treten, ist in
der Hauptsache wohl die Blutbahn; im
Blute gelangen auch die geheimnisvollen
Einflüsse der Drüsenhormone zur Geltung,
die für den Stoffwechsel von so mächtiger
Bedeutung sind. Die Stoffwechselfer¬
mente, die Endoenzyme, haben das
Schicksal der Hormone insofern geteilt,
als beide lange Zeit als nebensächliche
Dinge betrachtet, wenn nicht gar in das
Reich der Phantasie verwieset! wurden.
Heute allerdings sind sowohl die Hormone
wie die Endoenzyme in den verschiedenen
Organen nachgewiesen worden. Die Fer¬
mente wirken ziemlich nach der all¬
gemeinen Meinung als Katalysatoren be¬
ziehungsweise sie sind anscheinend bei
synthetischen Vorgängen beteiligt. Mit
Ostwald kann man die Katalysatoren
definieren als Stoffe, welche die Ge¬
schwindigkeit einer chemischen Reaktion
positiv oder negativ beeinflussen (um ein
Vielfaches erhöhen oder auf einen winzigen
Teil herabsetzen), ohne selbst in den End-
Mai
205
Die Therapie der Gegenwart 1920
Produkten der Reaktion zu erscheinen.
Die Katalysatoren liefern keine Energie,
sie rufen auch die Reaktion nicht selbst
hervor, sie beschleunigen aber mächtig
ihren Ablauf. Sie sind den Schmiermitteln
einer Maschine zu vergleichen (Joh.
Müller), die den Gang derselben er¬
leichtern. und beschleunigen. . Eine Spur
Pflanzenasehe erhöht die Öxydations-
geschwindigkeit des Zuckers derart, daß
er angezündet wie Siegellack brennbar
wird. Die Katalysatoren verhalten sich
in vieler Hinsicht wie Fermente. Schade
hat die Fermente geradezu „die höchste,
vollkommenste Gruppe der organischen
Katalysatoren“ genannt. Ein sehr wich¬
tiger anorganischer Katalysator ist wohl
das Eisen und jedenfalls auch der Phos¬
phor. Wenn wir den von Wegener
seinerzeit histologisch genau verfolgten
Einfluß des Phosphors auf. den wachsen¬
den Knochen in winzigen Dosen den De¬
struktionsprozessen hei der Nekrose Phos¬
phorvergifteter gegenüberstellen, wenn
wir experimentell nachgewiese'n haben,
daß eine so gut bekannte Synthese, wie
die Zusammenschweißung von Benzoe¬
säure und Glykokoll zu Hippursäure bei
der Phosphorintoxikation ausbleibt, so
wird die Auffassung; Phosphor (in ge¬
eignetem Präparat zugeführt) begünstigt
Synthesen im Tierkörper in therapeu¬
tischer Dosis, in toxischer verhindert er
sie, mindestens weiterführen, als das
sanguinische Geständnis: Phosphor ist
ein Stoffwechselmittel, dessen Wirkung
wir nicht deuten können. Nach dem, was
über das Wesen der katalytischen Vor¬
gänge gesagt ist, wird auch verständlich,
weshalb Phosphorleberthran besser'wirkt
als Lebertran.
Die Unentbehrlichkeit der Phosphor¬
säure bei den Hefegärungsprozessen ist
schon- lange bekannt; daß sie im Zu¬
sammenhänge mit den Gährungsvorgän-
gen selbst steht, hat Harden dargetan.
Nach der Aufspaltung des Dextrose¬
moleküls durch den Fermentangriff wird
nur ein Teil des Traubenzuckers weiter¬
verarbeitet, aus dem anderen entsteht
intermediär eine esterartige Zucker¬
phosphorsäureverbindung, welche wieder
Traubenzucker entstehen läßt. Alle bis¬
her gegebenen Erklärungen, welche die
Entstehung des Zwischenprodukts ver¬
ständlich machen sollen, befriedigen nicht.
Fest steht für mich nur die Wichtigkeit
der intermediären Kuppelung für den
regelrechten Ablauf der Fermentreak¬
tionen. Oppenheimer hat darauf hin¬
gewiesen, daß der-Vorgang, der bei der
Hefederwesenswichtigste, chrakteristische
isi, die Bildung von Alkohol, im Tier¬
körper überhaupt nur eine untergeord¬
nete Rolle spielen kann. ,,Dagegen spielt
im Körper der Warmblüter eine andere
Umsetzung des Zuckers eine wesens¬
wichtige Rolle, die bei der Hefe ganz
unbedeutend ist, die Bildung von Milch¬
säure (Oppenheim S. 56). Der Prozeß
der Milchsäurebildung steht z. B. an'-»
scheinend im Brennpunkt des Muskel¬
chemismus. Nach den hochinteressanten
Forschungen von Embden ist die Quelle
der Milchsäure eine komplizierte phos¬
phorsaure Verbindung, das „Lactacido-
gen“. Die Erforschung der Konstitution
gelang: Lactacidogen erwies sich identisch
mit der Hexosephosphorsäureverbindung,
die als wichtiges Zwischenprodukt bei der
Hefegärung oben erwähnt ist. Prof.
V. Euler (Stockholm), welcher sich näher
mit diesem interessanten Kohlehydrat¬
phosphorsäureester beschäftigt hat ^
dessen Calciumsalz unter dem Namen
Candiolin in die Therapie eingeführt
wurde — hat festgestellt, daß die Sub¬
stanz ein starker Aktivator ist z. B. für
gärende Zuckerlösung. Auch sonst hat
dieser physiologische Kohlehydratphos¬
phorsäureester eine wichtige Besonder¬
heit: er wird nach den Versuchen von
Euler und Impens nur zum Teil ge¬
spalten und zum Teil als solcher resorbiert.
Nachdem zur Genüge bekannt ist,
wie sehr die physiologischen Hormone
den gewöhnlichen galenischen und syn¬
thetischen Arzneikörpern an Wirksam¬
keit überlegen sind (Jodothyrin, Adren¬
alin, Hypophysin und dergleichen), lag es
sehr nahe, diese auf biochemischem Wege
gewonnene, physiologische glykosidähn¬
liche Phosphorverbindung therapeutisch
zu prüfen; der Calciumgehalt des Candio¬
lin erschien zudem für viele Fälle nicht
unerwünscht. Besonders aussichtsreich
erschienen mir Versuche bei rachitischen
Kindern, denn die Apposition der Cal¬
ciumsalze im wachsenden Knochen gehört
wohl sicher zur Aufgabe der Stoffwechsel¬
funktion, deren Aktivierung bisher mit
Phosphorlebertran mit Erfolg angestrebt
ist. Dieser ist aber immerhin ein differen¬
tes und leicht zersetzliches Mittel, die
Knappheit an Lebertran ist groß; das
Streben nach einem wirklich brauchbaren
Ersatz deshalb zweifellos berechtigt. Nun
ist von zwei Seiten schon die gute Wirk¬
samkeit des Candiolin festgestellt worden,
von Burchard und Gött.
206
Die Therapie der Gegenwart 1920
Mai
Letzterer bezeichnet das Candiolin auf Grund
seiner Versuche am Schwabinger-Krankenhause
(D. m. W. 1916, Nr. 38) als empfehlenswerten
Lebertranersatz. Die Medikation von Candiolin
entfaltet bei Rachitikern eine günstige Wirkung,
die derjenigen vpn Phosphorlebertran etwa gleich¬
kommt. In beginnenden Fällen kam der Prozeß
nicht selten rasch zum Stillstand, bei schweren
floriden Fällen mit hochgradiger Verkrümmung
fiel als erste Wirkung mehrwöchiger Candiolin-
darreichung manchmal eine plötzlich zutage
tretende und anhaltende Besserung der Stimmung
und zunehmende Lebhaftigkeit und Bewegungs¬
lust auf.
Dr. Burchard (Berlin) (D. m. W. 1916,
Nr. 26) verwandte das Candiolin 1. bei Kindern
mit allgemeiner Rachitis ohne besondere ander¬
weitige Krankheitserscheinungen, 2. bei rachiti¬
schen Kindern mit deutlichen Erscheinungen
gleichzeitiger Skrophulose und 3. auch bei rachi¬
tischen Kindern mit Reizerscheinungen seitens
des Nervensystems. Bei beiden Gruppen war
eine deutliche Besserung des Allgemeinbefindens,
des Kräfte- und Ernährungszustandes unverkenn¬
bar. In zwei Fällen war ein Rückgang der Spas-
mophilie auffallend. Beide Arten Kinder haben
die spasmophilen Erscheinungen bei erheblichen
Gewichtszunahmen (4 bis 5 Pfund) nach drei¬
monatiger Candiolindarreichung vollkommen
verloren.
Von zahnärztlicher Seite (Lewinski, D.
zahnärztl. W. 1917, Nr. 14) wurde auf den gün¬
stigen Einfluß von Candiolin bei zögerndem Zahn¬
durchbruch hingewiesen. Beginnende Caries
scheint durch forcierte Apposition von Ersatz¬
dentin, dessen Bildung durch, die Candiolin-
behandlung unter Zufuhr von Kalk und Phosphor
wesentlich gefördert wird, zum Stillstand gebracht
werden zu können.
Meine eigenen Erfahrungen auf Grund
zahlreicher Versuche in der Privatpraxis
und einer großen Anstalt mit Kindern
jeden Alters decken sich mit denen von
Gott und Burchard. Ich verordnete
das Candiolin bei Rachitis, Ernährungs¬
störungen der Säuglinge, alimentären An¬
ämien und bei Erschöpfungszuständen
nach schweren Erkrankungen. Da selbst¬
verständlich die entsprechenden Diät¬
vorschriften in jedem Falle gegeben wur¬
den, so kann natürlich nicht mit Sicher¬
heit gesagt werden, wieviel der Heil¬
wirkung auf das Mittel, wieviel auf die
allgemeinen Vorschriften zu rechnen ist.
Aber jedenfalls habe ich den sicheren
Eindruck gewonnen, daß das Candiolin
eine stimulierende Wirkung entfaltet, die
der von Phosphorlebertran mindestens
gleichkommt. Infolge des guten Ge¬
schmacks ist es aber leichter zu nehmen:
außerdem fehlen die Giftigkeit und die
leichte Zersetzlichkeit des Phosphorprä¬
parats.
Leider sind mir gelegentlich eines
Domizilwechsels meine sämtlichen No¬
tizen, genaue Aufzeichnungen über Ge¬
wichtszunahmen bei jedem der kleinen
Patienten abhanden gekommen, so daß
ich nur summarisch meine Erfahrungen
bekanntzugeben vermag. Einen Fall
möchte ich aber doch besonders anführen,
da ich das Kind längere. Zeit in der
eigenen Familie beobachten konnte:
G. K-, drei Jahre altes Mädchen. Familien¬
anamnese ohne Belang. Einige Monate gestillt,
dann vorwiegend mit Milch und Brei ernährt.
Haut durchsichtig, gelblich blaß, schlaff, Musku¬
latur schlecht. Lungen ohne Besonderheit. Über
dem ganzen Herzen ein systolisches Geräusch.
Leber* und Milz vergrößert. Abdomen sehr stark
auf getrieben, Stuhl sehr hell, seifig, stinkend,
Extremitäten sehr schwach, Epiphysen wenig auf¬
getrieben, Brustkorb beiderseits leicht eingebogen.
Dauernde Klagen über Müdigkeit, Laune schlecht,
.Unlust zu gehen. Appetit schlecht. Genommen
wird nur Milch und Kufekebrei. Anfang Mai 1916
Aufnahme in dk eigenen Familie. Gemischte
Kost, deren Aufnahme auf großen Widerstand
stößt. Wenig Fett. Bis Mitte Juni Eisen-Elarson-
Kur ohne deutliche Besserung. Nun Candiolin.
Nun bald fortschreitendes Wohlbefinden. Große
Eßlust, wenig Klagen über Müdigkeit. Lust zu
gehen auch auf unebenem Boden. Stimmung und
Schlaf gut. Mitte Juli konnte das Kind den
Eltern in recht befriedigendem Zustand zurückr
gegeben werden. Der Blut- und Organbefund
zeigten zwar wenig Änderung, aber der ganze
Umschwung im Wesen und die Zunahme an Kraft
ließen Heilung erwarten, die unter Fortdauer der
Candiolinbehandlung auch eintrat.
Auch bei meiner eigenen fünfjährigen
Tochter, die nach schwerer Diphtherie
Lähmungserscheinungen zeigte und durch
die Kriegskost schon vorher mäßig er¬
nährt war, trat bei Candiolingaben eine
baldige recht deutliche Besserung ein,
besonders die Hebung des Appetits schien
mir auffallend. Andere Mittel erhielt sie
nicht. Die Lähmungserscheinungen, auch
der Beine, verschwanden in sechs Wochen
vollständig.
Alles in allem halte ich deshalb das
Candiolin für eine wertvolle Bereicherung
unserer therapeutischen Rüstkammer in
all den Fällen, in denen Phosphor oder
Kalk einen Erfolg versprechen. Ein Ver¬
such wird kaum enttäuschen. Ganz be¬
sonders möchte ich es empfehlen bei der
Behandlung von alimentären Störungen
der älteren Säuglinge (Dekomposition),
ob nun die rachitischen Veränderungen,
die Anämie oder der mangelhafte Turgor
im Vordergründe stehen.
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1920
207
Aus dem Kinderhospital ia Liil)eck (Direktor: Professor Dr. Klotz).
Über Zufälle bei der intravenösen Kollargolinjektion.
' Von Dr. Hildegard Eyth.
Das Kollargol findet heute so ausge¬
breitete Anwendung als intravenöse In¬
jektion, daß es an der Zeit erscheint, auf
unangenehme Zufälle hinzuweisen, denen
der Therapeut trotz aller Vorsichtsma߬
regeln vollkommen regellos ausgesetzt
sein kann.
Fall 1. K. W., 13 Jahre alt. Großer, kräftig
gebauter Knabe. Herz und Lungen o. B. Fieber¬
hafte Erkrankung. Puls 85, kräftig, gleich- und
regelmäßig.
Therapie: Intravenöse Injektion von 6 ccm
einer 2 %igen frisch hergestellten Kollargollösung.
Sofort nach der Injektion tritt im Gesicht hoch¬
gradige Cyanose ein; der Knabe richtet sich im
Bett auf, wird stark dyspoisch, gibt auf Anrufen
keine Antwort, äußert Präkordialangst, klam¬
mert sich an die Bettpfosten. Die Augen sind
weit aufgerissen. Dieser beängstigende Zustand
hält einige Minuten an, dann setzt Schüttelfrost
ein. Am nächsten Tag normale Temperatur und
Wohlbefinden.
Fall 2. L. W., sechs Jahre altes, zart gebautes
Mädchen. Seit sechs Wochen Schmerzen und
Schwellung der Gelenke mit andauernd erhöhter
Temperatur. Lungen o. B. Herz: an der Spitze
leises, systolisches Geräusch. Therapie: Intra¬
venöse Kollargolinjektion. Anfangsdosis 1 ccm
einer frisch hergestellten 2 %igen Lösung. Keine
Temperatursteigerung oder Beeinflussung des
Allgemeinzustandes. Am nächsten Tag 5 ccm
Kollargol intravenös, wieder ohne jede Tempe¬
raturerhöhung, dagegen keine Gelenkschmerzen
mehr und Verschwinden des anfänglichen Herz¬
geräusches. Wegen Temperaturerhöhung und
Wiederauftreten der Gelenkschmerzen folgen noch
sechs intravenöse Injektionen, steigend bis zu
8 ccm einer jedesmal frisch hergestellten 2%igen
Lösung. Dabei trat zweimal Temperatursteigerung
bis 40° und 41° auf.
Bei der neunten Injektion, es wurden 10 ccm
injiziert, ereignete sich folgender Zwischenfall:
Während der Injektion tritt auf dem linken
Unterarm ein fünfmarkstückgroßer, umschriebe¬
ner, bläulicher Fleck auf. Dann verfärbt sich
plötzlich schlagartig das ganze Gesicht voll¬
kommen gleichmäßig lividbräunlich. ' Die Ver¬
färbung schneidet in fast horizontaler Linie in
der Höhe des Kehlkopfes scharf gegen die übrige
normal gefärbte Haut ab. Das Kind ist dyspnoisch,
will sich aufsetzen, wird unruhig. Puls frequent,
gut palpabel. — Erbrechen. Nach einigen Minuten
bessert sich unter Sauerstoff und Campher der
beängstigende Zustand, und die Dyspnoe ver¬
schwindet. Die graublaue Verfärbung des Ge¬
sichts bleibt bestehen, auf dem Arm ist die Ver¬
färbung verschwunden. Im Laufe des Tages wird
die graublaue Farbe des Gesichts bald stärker,
bald schwächer. Die Kleine ist matt, äußert aber
sonst keine Klagen. Herztöne rein. Puls gut.
Trotz Sauerstoffinhalationen keine weitere Ände¬
rung des Bildes. Am nächsten Tage ist die Ge¬
sichtsfarbe graublaß, das Befinden gut. Urin
frei von Eiweiß und Zucker. In den folgenden
Tagen blaßt das milchkaffeeartige Kolorit schnell
ab und macht endlich der normalen Gesichts-
arbe wieder Platz.
Fall 3. W. B. Seinem Alter entsprechend
gut entwickelter Knabe. Seit zwei Tagen 40°
Temperatur und Schmerzen in der linken Bauch¬
seite. Bei der Aufnahme Temperatur 39,5°,
Puls 100, kräftig und regelmäßig. Lungen o. B.
Herz: an der Spitze leises, fauchendes Geräusch.
Milzgegend leicht druckempfindlich. Urin: Ei¬
weiß, Zucker, Diazo negativ. Diagnose: Grippe.
An den beiden folgenden Tagen hält sich die
Temperatur auf 40°. Patient ist auffallend
apathisch. Kernig schwach positiv. Patellar-
. reflexe fehlen. Lumbalpunktion ergibt keinen
erhöhten Druck. Liquor steril. Stuhl: keine
pathogenen Keime. Am achten Krankheitstage
tritt bei Fieberfreiheit am Stamm und Extre¬
mitäten ein hellrotes, kleinfleckiges Exanthem
auf, das am nächstfolgenden Tage wieder ver¬
schwindet. Wegen erneuter hoher Temperatur¬
steigerung bis 39° (Gripperezidiv) werden mittags
um 12 Uhr 5 ccm Elektrokollargol Heyden intra¬
venös injiziert.
1 Uhr 10 Minuten: Heftiger Schüttelfrost von
einhalbstündiger Dauer. Temperatur 41,1°.
Puls gut palpabel.
2 Uhr nachmittags: Temperatur 41,7°. Er¬
brechen, hochgradige Cyanose im Gesicht, Pupillen
reagieren schwach. Patient gibt auf Anrufen
keine Antwort.
3 Uhr: Cyanose im Gesicht wird immer ii.-
tertsiver, Gesichtsausdruck starr. Puls klein,
kaum palpabel (Digipurat; Adrenalin intravenös}.
3^ Uhr: Extremitäten in starkem Spasmus,
lassen" sich nicht lösen, sind stark cyanotisch.
Links im Gesicht heftiges Facialiszucken. Puls
trotz Stimulantien kaum mehr zu zählen. Voll¬
ständige Bewußtlosigkeit.
‘8% Uhr: Exitus. Sektion wird verweigert.—
Zu diesen drei, in ihrer Art jeweils verschiedenen
Zwischenfällen kommen noch zwei ähnliche bei
schwerster Scharlachsepsis, wo wir bei der intra¬
venösen Kollargolinjektion einen schweren Gefä߬
kollaps ohne Dyspnoe erlebten, der sich aber rasch
durch Campher wieder beheben ließ.
Man geht wohl nicht fehl, wenn man
die beiden erstgeschilderten Zufälle als
angioneurotisch bedingt auffaßt, ähnlich
dem bei Salvarsaninfusion beschriebenen
angioneurotischen Symptomenkomplex.
Die bei diesem Salvarsanzwischenfall
beobachtete Dyspnoe gleicht völlig der in
unseren Fällen beobachteten. Sie wäre
in gleicher Weise wie diese nicht als
Anaphylaxie zu deuten, sondern als
akutes Ödem der Respirationsschleimhaut,
,,crise nitritoide“ anzusehen. Pincus^)
beobachtete den angioneurotischen Sym¬
ptomenkomplex beim Silbersalvarsan häu¬
figer als beim Neosalvarsan und führt ihn
auf mangelhafte Handhabung der Tech¬
nik, unrichtige Behandlung des Präparats
■ zurück. Der geschilderte Komplex kann
1) M. Kl. 1920, Nr. 3.
208
Die Theirapie der Gegenwart 1920
auch bei Kranken plötzlich auftretcn,
die schon mehrere Salvarsanspritzen reak¬
tionslos vertragen haben. Das würde auch
auf unseren Fall L. W. zutreffen.
Schwieriger ist Fall 3, W. B., zu
deuten. Hier kommt möglicherweise eine
Meningoencephalitis in Frage.
Fehler im Präparate selbst können
nicht Vorgelegen haben, da mit den glei¬
chen Ampullen auch andere Kinder reak¬
tionslos injiziert wurden. Kausch hat
ebenfalls über unangenehme Begleit- und
Mai
Folgeerscheinungen bei Kollargolinfu-
sionen berichtet, die Ähnlichkeit mit
denen unserer beiden ersten Kinder hatten.
Kausch verwendete jedoch weit größere
Dosen als wir. Diese Zufälle, unter denen
vor allem Fall 3 einen überaus deprimie¬
renden Eindruck hinterläßt, haben uns
bewogen, das Kollargol aus unserer The¬
rapie auszuschalten und es nur dann noch
anzuwenden, wenn die Chancen die glei¬
chen sind, an der Erkrankung selbst oder
aber an der Therapie zu sterben. '
Über das Hustenmittel Toramin.
Von Dr. Striepecke, Berlin.
Angeregt durch die Veröffentlichung
aus der Universitäts-Poliklinik für Lungen¬
leiden, Berlin^), in welcher das Toramin
gegen Bronchialhusten und auch bei Hämo¬
ptoe empfohlemwurde, habe auch ich seit¬
dem Toramin in zahlreichen Fällen von
Husten verschiedener Ursache verwendet
und meist mit positivem Erfolge. Das An¬
genehme an dem Präparat ist, daß es
keine narkotischen Eigenschaften be¬
sitzt, sondern mehr anästhesierende. Che¬
misch wird das Toramin mit dem Namen
,,trichlorbutylmalonsaures Ammonium“
bezeichnet. Die ersten Versuche machte
ich an mir selbst, als ich beim sogenannten
Raucherkatarrh dauernd an einem Husten¬
reiz litt, also laryngitische Beschwerden
hatte. Da die Mittel, wie Kodein, Dionin
und andere in solchem Falle wenig helfen,
im Gegenteil Allgemeinstörungen ver¬
ursachen, so war das Toramin wegen der
anästhesierenden Wirkung besonders da¬
für angezeigt. Ich habe alle zwei Stunden
zwei Tabletten in Wasser gelöst genommen
und habe nach zwei Tagen von dem
lästigen Kitzel im Halse nichts mehr ge¬
spürt. Seitdem habe ich bei meinen Pa-
^)' E. Meyer, B. kl. W. 195, Nr. 33.
tienten Fälle gleicher Art immer mit dem¬
selben guten Erfolge mit Toramin be¬
handelt. Störungen im Magen- und Darm-
traktus sind nicht vorgekommen. Einige
Patienten berichteten, daß der Stuhlgang
besser geworden sei, was noch als Vorzug
gegenüber den Präparaten der Opium¬
alkaloide bezeichnet werden muß, wo in
der Regel eine Verstopfung eintritt. Bei
einem Carcinomkranken, der starken
Husten hatte, war das Mittel gerade wegen
dieses Vorzuges von bester Wirkung, die
Darmträgheit wurde behoben und der
Husten gemildert. Bei Pertussis wirkte*
Toramin nur im abklingenden Stadium,
auch ist es notwendig, wegen des etwas
bitteren Geschmacks bei Kindern Zucker¬
wasser zu nehmen. Wo es darauf an¬
kommt, Husten tieferer Ursachen, wie
bei Tuberkulose, zu beruhigen, wirkt
Toramin nicht, es kann also für diese
Fälle die bekannten Präparate nicht er¬
setzen. Es bleibt aber noch ein großes
Feld für das Mittel, wenn es wie oben bei
laryngitischen Hustenreizen verwendet
wird, ferner bei nervösem Husten und in
Fällen, wo man von den narkotischen
Hustenmitteln absehen muß.
Berichtigung betreffend Cesol.
Von Prof. R. Wolffenstein.
Im Aprilheft dieser Zeitschrift, S. 161,
findet sich ein Referat über eine Arbeit
von Decker, betreffend die therapeuti¬
sche Verwendung von Cesol.
Im Schlußsatz greift der Referent auf
eine anonyme Bemerkung in den Thera¬
peut. Halbmonatsh. (Januar 1920) zurück,
die absprechend lautet. Die dortigen An¬
gaben stehen aber mit den Tatsachen nicht
in Einklang; sie sind ohne Kenntnis der
wissenschaftlichen Unterlagen gemacht
und entsprechen nicht der Wahrheit, wie
aus einer demnächst erscheinenden Arbeit
vom Schreiber dieser Zeilen und von Prof.
A. Loewy (Berlin), den wissenschaftlichen
Bearbeitern des Präparats, hervorgeht.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urban&Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Berlin W8
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Die Therapie der Gegenwart
herausgegeben von
61. Jahrgang (jej,, Med.-Rat Prof. Dr. 0. Kiemperer Heft
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Die Therapie der Gegenwart
1920
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Juni
Nachdruck verboten.
Die moderne individualisierende Diätbehandlung des Diabetes.
Von Marius Lauritzen, Kopenhagen.
Nachdem ich im Jahre 1912 in dieser
Zeitschrift über die Behandlung der dia¬
betischen Acidose berichtet habe, will
ich im folgenden die neuen Versuche
besprechen, die in den letzten Jahren
auf meiner Klinik an Diabetikern aus¬
geführt sind.
1. Die strenge Gemüsediät.
Zunächst eine größere Versuchsreihe
mit strenger Gemüsediät, die sowohl
in frischen wie in älteren Fällen von Dia¬
betes angewandt wurde. Nach dem Ver-
glykämie^) am ersten oder zweiten Tag,,
in schwereren und älteren Fällen können
sieben bis acht Tage (siehe Tabelle 1)
oder noch mehr darüber hingehen. Be¬
steht leichtere Ketonurie (Aceton- und
Diaceturie), so kann sie schnell schwinden,
bei stärkeren Graden von Acidose ver¬
mindert sie sich in der Regel, aber
kann sogar noch innerhalb der ersten
24 Stunden ansteigen, besonders wö
hohe N - Ausscheidung im Urin be¬
steht und wo die Butterration für die
Acidose des Patienten zu reichlich ist.
Tabelle 1. Strenge Gemüsediät.
H. N.-P., 30 Jahre, cf Diabetes. Acidosis.
Datum
Kost
Natron
g
Blut¬
zucker
%
Ammo¬
niak
g
N
g
Gewicht
30. Juni
Gemischte Kost ......
10
123
0,14
2,4
10,6
63,2 kg
1. Juli
1. Gemüsetag 2).
20
30
2,5
10,8
2. „
2. „ .
20
21
1,68
3. „
3. „ .
20
22
1,2
5,8
4. „
4. „ .
20
12
5. „
5. „ .
20
Spuren
4,3
6. „
6. „ .
20
0
0,25
4,8
7. „
7. „ .
20
0
70,0
0,25
4
63,2 „
schwinden der Glykosurie, Hyperglyk¬
ämie und der eventuellen Acidose wurde
ein langsamer Übergang zu einer ge¬
mischten kohlehydratarmen Diät vor¬
genommen.
Nach einer Beobachtung von ein bis
zwei Tagen bei gemischter Diät oder bei
«iner Diät, die der behandelnde Arzt
verordnet hatte, kam der Kranke — bei
Bettruhe — auf strenge Gemüsediät, das
heißt 300—500 g grüne Gemüse (mit
2—5% Kohlehydrat), 60—75 g Butter,
200 g Bouillon, 150 g Rhabarber oder
Preißelbeeren, ein Ei, Tee, Kaffee, Soda¬
wasser und zuweilen Alkohol, wie Rot¬
wein, Whisky oder Kognak.
Die salzlose Gemüsediät wurde zwei
bis acht Tage angewandt bis Aglykosurie
•erreicht oder die Hyperglykämie ge¬
schwunden war (vergleiche Tabelle 1
und 2).
In leichteren und frischen Fällen
schwindet die Glykosurie und Hyper-
N im Urin fällt von der eventuellen
Höhe (13—18 g) bis auf 5—8 g herab.
Bei Kindern liegt N im Urin in der Regel
niedriger.
Das Körpergewicht geht oft etwas
Die Erfahrung, daß hierzu auch bei
schwerem Diabetes eine geringere Nahrungszu¬
fuhr hinreicht als viele gewohnt sind, wider¬
spricht der gewöhnlichen Anschauung vieler
Ärzte, daß jeder Diabetiker mehr als der Gesunde
essen soll, und wie ich glaube, scheitern unsere
diätetischen Kuren vielfach an dieser verkehrten
Anschauung, daß der Mensch soviel essen soll.
Das große Quantum ist oft nur eine schlechte
Gewohnheit.
In frischen Fällen besteht oft trotz be¬
trächtlicher Glykosurie keine ausgesprochene
Hyperglykämie. (Lauritzen.)
2) 500 g Gemüse, 75 g Butter, 1 Ei, 200 g
Bouillon, 150 g Preißelbeeren, Tee, Kaffee.
3) Danach ging Patient zu „gemischter Ge¬
müsediät“ über und bekam zuletzt Zulage von
50 g Braten und 30 g Käse. Gebraucht kein Na¬
tron mehr. Ist ständig zuckerfrei mit normalem
Blutzucker und hat schwache Acetonurie. Ist
arbeitsfähig.
27
') ,
210
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juni
Tabelle 2. Strenge Gemüsediät.
E. K., 5 Jahre, Diabetes.
Datum
Kost
Ufin-
zucker
%
Urin¬
zucker
' g
Blut¬
zucker
%
Ammo¬
niak
g
N
g
Gewicht
3. Mai.
Gemischte Kost.
6,0 -
24
0,06
0,33
4,9
17,5 kg
4. „
1. Gemüsetag^).
0
0,20
4,8
5- „
2. „ ......
0
0,79
7,6
6. „
3. „ .
0
0,05
0,97
5,4
17,3 „
10. „
Gemischte Gemüsediät^) .
0
0,05
0,45
4,2
n,4 „
13. „
. 0
2,89
17,4 „
16. „
y} yy / '
0
0,05
0,24
3,6
17,5 „
herab, bis auf 1 kg oder mehr, in anderen
Fällen bleibt das Gewicht fast unver¬
ändert.
Der Übergang von strenger Ge¬
müsediät zu der für jeden einzelnen Pa¬
tienten passenden Diät geht langsam
vor sich, um Glykosurie und Hyper¬
glykämie und eine plötzliche Vermehrung
einer vorhandenen Acidose zu vermeiden.
Nach jeder Zulage zur Kost wird die
'Glykämie untersucht; zeigt sich Hyper¬
glykämie, wird sofort ein Gemüsetag ein¬
geschoben; hierdurch vermeidet man oft
die Erregung einer Glykosurie, was ich
für sehr bedeutungsvoll halte.
In leichten Fällen bestehen die ersten
Zulagen zur Gemüsediät in Eiweißstoffen:
ein bis zwei Eier oder 50 g Fleisch oder
Fisch, darauf weitere Zulage von Eiweiß
und Fett, wobei die Gemüseration auf 300
bis 400 g eingeschränkt werden kann.
In mittelschweren Fällen besteht
die erste Zulage in Fettstoffen: 25 g ge¬
bratener Speck auf einmal, darauf ge¬
kochter,’durchwachsener Speck, Ei, Fisch,
und zuletzt Fleisch, immer kleine Zu¬
lagen. Nach Schwinden der Acetonurie
werden die Gemüserationen auf 300 g
eingeschränkt und Fisch und Braten aut
.150 g vermehrt (zubereitet abgewogen).
In- schweren Fällen mit stärkerer
Acidose muß man die strenge Gemüse¬
diät mehrere Tage 'bis zu einer Woche
fortsetzen. Und gelingt es damit, die Gly¬
kosurie zu beseitigen und die Acidose
zu verbessern, so bekommt der Patient
kleine Zulagen von gebratenem Speck,
danach von Ei und gekochtem Speck,
sowie Alkohol. Werden diese Zulagen
vertragen, so wird Fisch, Schinken und
Fleisch versucht, jedoch nicht mehr als
50 g.
Tabelle 3.
P. H., 17 Jahre, Lehrling. Mittelschwerer Diabetes. Acidosis.
Datum
Alb.
Fett
■
B
Urin¬
zucker
g
Blut¬
zucker
%
Ace¬
ton¬
urie
Dia-
cet-
urie
Gewicht
1. September 191H) .
8,75
21. „ 1911») .
5,0
100
+
+
50,4 kg
20. Oktober 1911 . . .
98
181
24^0)
0
+
-
-
51,0 „
3. Januar 1912 . . .
98
181
24^0)
0
+
-
-
51 „
1. „ 1913 . . .
134
220
52»)
0
-f
-
-
54 „
27. Oktober 1913 . . .
134
220
521")
0
-
-
56 „
31. März 1914 ....
123
223
58»)
0
+
-
-
18. April 1914.
123
223
58»)
0
0,083
+
-
-
54 „
10. „ 1915 ....
123
223
58^2)
0
0,085
• +
-
-
56 „
6. September 1916 . .
123
223
58»)
0
—
—
56 „
300g Gemüse, 60 g Butter, 1 Ei, 75 g Preißel-
beeren, 200 g Suppe, Tee.
200 g Gemüse, 60 g Butter, 2 Eier, 75 g
Preißelbeeren, 200 g Suppe, Tee, 25 g gekochter
Speck, 25 g gebratener Speck.
®) + 50 g Aleuronatbrot.
’) -}- 25 g Braten.
Bekommt nur gemischte Diät mit 50 g Glu-
tenb.rot (20% Kohlehydrate). Ist zuckerfrei,
hat normalen Blutzucker und schwache Ace-
tonurie. Gewicht: 19 kg.
®) Gemischte Kost.
Diät mit Glutenbrot seit dem 2. Septem¬
ber 1911.
10) Zirka 2200 Calorien. Kohlehydrate in Ge¬
müse und Kompott. (Leichte Arbeit.)
11) Zirka 2800 Calorien. Kohlehydrate in Ge¬
müse und Kompott, Glutenbrot. (Strengere
Arbeit.)
^2) Zirka 2800 Calorien. Kohlehydrate in Ge¬
müse und Kompott, Glutenbrot. (Strengere
Arbeit.)
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1920
211
Alkalien (Natrium bicarbonicum und
citronensaures Natron) verordne ich bei
der strengen Gemüsediät so wenig wie
möglich, weil sie im Verein mit dieser Diät
leicht Wasserretention und Ödeme ver¬
ursachen. Nur wo die alkalische Diät
allein die Ammoniakmenge im Urin nicht
innerhalb der normalen Grenzen zu halten
vermag, wird Bicarbonat von 5 g auf¬
wärts bis zu der für jeden Fall passenden
Dosis gegeben.
Die strenge Gemüsediät hat vor
der allmählichen Einschränkung der
Kohlehydrate der Kost und des Eiweißes
den Vorteil, daß so Aglykosurie und
Beseitigung der Hyperglykämie schnel¬
ler erreicht wird; aber zur Erzielung
eines ebenso dauernden und guten Resul¬
tats wie durch die gradweise Einschrän¬
kung, muß der Übergang von der Ge¬
müsediät zur gemischten, kohlehydrat-
Es ist schwer,, bestimmte Calorien-
summen für die Gesamtkost festzusetzen;
man muß hier individualisieren und mit¬
tels häufiger Wägungen das rechte zu
finden suchen.
Wenn ein Diabetiker von Glykosurie
und Acetonurie befreit ist oder nur
schwache, restierende Acetonurie hat,
wird das Minimum meist 30 Calorien
pro Kilo und manchmal darunter sein.
Bei leichterer Arbeit werden 35—40 Ca¬
lorien und bei strengerer Arbeit über
40 Calorien meist das richtige sein.
Bei ganz jungen Leuten und bei Kin¬
dern liegt die Calorienzahl pro Kilo höher;-
hier einige Beispiele:
Ein siebzehnjähriger Jüngling, mit mittel¬
schwerem Diabetes brauchte im 17. und 18. Jahre
43 bis 41 Calorien pro Kilo bei leichterer Arbeit,
im 19. bis 22. Jahr ca. 53 Calorien bei strenger
Arbeit. Das Gewicht stieg in diesen fünf Jahren
langsam und ist jetzt noch 56 kg. (Vgl. Tabelle-3.)
Tabelle 4.
E. P., 13 Jahre, Knabe. Mittelschwerer Diabetes. Acidosis.
Datum
Kost
Na¬
tron
g
Urin¬
zucker
%
Urin¬
zucker
g
Blut-
Zucker
g
Ammo¬
niak
g
N
g
Gewicht
kg
18. Januar 1915
Gemischte Kost . .
8,0
80
0,15
+
28,8
19. „
1915
1. Gemüsetag . . .
6
60
+ +
20. „
1915
2.
3
23
21. „
1915
1. Hafertag 13) , ,
1,25
25
22. „
1915
2. „ ....
1
22
-i-
23. „
1915
1. Gemüsetag . . .
0,5
8
-f-
28,9
24. „
1915
2.
0,25
4
-f-
25. „
1915
3.
Spur.
+
26. „
1915
Hafertag.
0,25
6
~
27. „
1915
1. Gemüsetag . . .
0
+
3,07
28,4
1. Februar 1915
Gern. Gemüsediät 1^)
21/2
0
4-
29,1
22. August 1916
}> }}
21/2
0
0,07
+
1,29
4,2
35
armen Diät ganz langsam und nach den
oben angegebenen Regeln vor sich gehen.
Bei Nachbehandlung muß Über¬
ernährung vermieden werden, so daß
der Kranke gerade die Kostrationen be¬
kommt, die ihn auf seinem Gewicht er¬
halten, und bei jungen Leuten und Kin¬
dern darf das Gewicht nur langsam stei¬
gen, da eine stärkere Gewichtszunahme
oft Anlaß zur Glykosurie gibt.
In den mittelschweren und schweren
Fällen muß man allzu große Eiwei߬
rationen, besonders' Fleischeiweiß und
Casein, vermeiden.
Ich gebe bei leichtem Diabetes 1,5
bis 2 g, bei mittelschwerem Diabetes 1
bis 1,5, bei schwerem Diabetes %—1 g
Eiweiß per Kilogramm Körpergewicht.
13) 75 g Hafer, 60 g Butter, Tee.
1^) 500 g Gemüse, 75 g Butter, 2 Eier, 100 g
Speck, -200 g Suppe, 150 g Preißelbeeren = 36 g
Eiweiß, 160 g Fett, 28 g Kohlehydrate = 1753.
Ein dreizehnjähriger Junge brauchte im 13.
und 14. Jahre 1750 Calorien oder 58 bis 50
Calorien pro Kilo; das Gewicht stieg von 29
bis 35 Kilo in etwa eineinhalb Jahr (vgl. Tabelle 4)
— und ist in den nächsten eindreiviertel Jahren
bei recht strenger Arbeit bis zu 40 Kilo ge¬
stiegen.
Versuch mit prolongiertem Fasten.
In einigen Fällen habe ich die von
dem Amerikaner Frederick M. Allen^^)
bei Diabetes mit Acidose empfohlene
prolongierte Hungerkur angewandt.
Auf der Basis von Erfahrungen, die Allen
bei diabetischen Tieren, denen das Pankreas zum
Teil entfernt war, mit Hunger und darauf fol¬
gender knapper Fütterung gemacht hatte,
schlug er vor, ein ähnlich prolongiertes Hungern
beim menschlichen Diabetes zu versuchen und
nach dem Hungern kleine Kostrationen zu ver¬
wenden, die stärkere Gewichtszunahme, Gly-
^3) F.M. Allen: The treatment of diabetes.
Boston med. and surg. journal. Febr. 1915 —
Prolonged fasting in diabetes. Am. journal of
the med. Sciences. Okt. 1915.
27*
212
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juni
kosurie und möglichst auch die Acetonurie ver¬
hinderten^®).
Aliens Behandlungsmethode ist:
1. Hungertage (Patient bekommt nur Kaffee
bis zu siebenmal am Tag und eventuell Whysky
in recht großen Dosen, manchmal ca. 200 g und
Natriumbicarbonicum, wo beträchtliche Acidosis
besteht). Das Hungern soll bis zum Schwinden
der Glykosurie und darnach noch möglichst
ein bis zwei Tage beibehalten werden.
2. Nach den Hungertagen werden 200 bis
300 g kohlehydratarme Gemüse gegeben, die von
Tag zu Tag vermehrt werden, bis sich etwas
Zucker im Urin zeigt. Dann wieder ein Hungertag.
3. Darnach wird Eiweiß gegeben. Erster
Tag ein bis zwei Eier, mehr Eiweiß als Ei und
Fleisch, bis der Urin etwas Zucker aufweist.
Dann wieder Hungertag.
4. Zuletzt werden Fettstoffe gegeben und
ihre Mengen gradweis vermehrt. Patienten,
die mit den kohlehydratarmen Gemüsen (mit
4 bis 5 % Kohlehydrat) nicht glykosuriefrei
gehalten werdej können, bekommen diese Ge¬
müse ein paarmal gekocht, wonach das Wasser
fortgegossen wird.
kosurie erreicht war, gaben sie einen Gemüsetag
mit 15 g Kohlehydrat und darauf einen Tag lang
eine Kost mit 15 g Kohlehydrat, 25 g Eiweiß
und 150 g Fett. Hierauf stiegen sie gradweis mit
Fett, dann mit Eiweiß und zuletzt mit Kohle¬
hydrat. Von Fett gaben sie nicht mehr als 200 g
und die Calorienzahl pro Tag überstieg selten 2200.
Elliot P. Joslin^®) hat auch Aliens Hunger¬
kur benutzt' und ist seinen Angaben gefolgt;
nach dem Hunger gibt er jedoch nur 150 g Ge¬
müse, darauf kohlehydratarme Früchte und Nüsse,
dann Eiweiß und zuletzt Fett, bis die Gewichts¬
verluste des Patienten zum Stillstand kommen.
In den Fällen, wo ich das prolongierte
Fasten versucht habe, war es nicht immer
so leicht, die Kur durchzutuhren wie bei
der strengen Gemüsediät, einzelne Kranke
protestieren, andere werden psychisch
wenig glücklich vom Hunger beeinflußt,
der ja auch den Übelstand hat, etwas in¬
human zu sein.
Als Beispiele für die Fastenkur sollen hier
einige Fälle angeführt werden (Tabelle 5 und 6).
Tabelle 5. Hungerkur.
A. H., 55 jährige Frau. Leichter Diabetes. Gangrän,
Datum
Kost
Zucker
%
B
Blut¬
zucker
^/o
Ammo¬
niak
g
N
g
4. Juli
Gemischte Kost.
7,0
70
5. „
Diät mit 100 g Glutenbrot
1
12
0,17
-7-
9. „
1. Hungertag.
Spur
6,24
10. „
2. „ ..
Spur
0,52
6,94
11. „
3. „ .''
0
0,07
. + +
0,75
5,92
12. „
Gemüse tag.
0
+ +
1,6
9,09
13. „
Gemischter Gemüsetag . .
0
+ +
1,2
5,96
14. . „
Gemischte Diät^®) ....
0
. -f
1,12
5,49
16. „
20 \
ff ff f ... .
0
0,08
0,7
Allen hat bei Patienten, die zuckerfrei ge¬
macht waren, ab und zu eine leichte Glykosurie
nach größeren Butterzulagen auftreten sehen und
ist daher in solchen Fällen vorsichtig mit dex
Verabfolgung zu großer Butterrationen.
Im Krankenhaus des Rockefeller-Instituts hat
Allen in 27 Fällen die Behandlung mit pro¬
longiertem Hungern versucht und glaubt dabei
schnellere Aglykosurie erreicht zu haben als bei
gradweiser Einschränkung der Kohlehydrate und
des Eiweißes. Allen betont, daß man nach den
Hungertagen mit der Nahrungszufuhr nicht zu
rasch steigen und daß man sich durch Gewichts¬
verluste der Patienten während des Hungers
nicht verwirren lassen soll. Im allgemeinen meint
Allen, daß eine Gewichtsreduktion an sich
für den Diabetiker günstig ist und dazu dient,
die geschwächte Funktion zu schonen und die
Toleranz zu vermehren.
Später hat L. M. Hill und J. L. Sherrick
(Boston)^^) in acht Fällen von Diabetes die
prolongierte Hungerkur versucht. Sie rühmen
die Methode und haben einen etwas abweichenden
Modus angewandt: nach Hungertagen, bis Agly-
^®) Der Pariser Arzt Guelpa riet 1910 in
allen Diabetesfällen drei bis fünf Hungertage in
Verbindung mit Purgation zu verwenden, dar¬
nach knappe Milchdiät, dann wieder Hungern
und zuletzt Gemüsediät. Mit .dieser Behandlungs¬
methode habe ich keine Erfahrung.
^’) Boston med. and surg. journal 1915, p. 696.
Tabelle 5. 55jährige Frau mit Adipositas,
leichtem Diabetes und Gangrän am Unterschenkel.
Sie litt seit mehreren Jahren an Diabetes und
hatte kurz vor der Aufnahme 7 % Zucker, keine
Albuminurie oder Acetonurie. Bei der Aufnahme
handflächengroßes gangränöses Geschwür auf
dem linken Unterschenkel. Nach dem dritten
Hungertag war der Urin frei von Zucker und die
Hyperglykämie war geschwunden. Nun zeigte
sich Acetonurie und Diaceturie, die
während der folgenden Gemüsetage anhielten
und erst bei gemischter Diät mit 30 g Glutenbrot
und 300 g Gemüse ganz schwanden. Bei dieser
Diät blieb sie frei von Glykosurie und Hyper¬
glykämie. Das gangränöse Geschwür heilte
vollständig. — Patient ist andauernd zuckerfrei
und bekommt nun 100 g Glutenbrot (mit 20 %
Kohlehydrat) täglich.
Tabelle 6. 30jährige Frau mit schwerem
Diabetes und Acidose. Patient hatte seit einem
Jahre Diabetes und war seit mehreren Monaten
bei schwacher Acetonurie frei von Glykosurie
und Hyperglykämie gewesen. Einige Wochen
vor der Aufnahme hatte sie durch einen Diät¬
fehler wieder Glykosurie und Hyperglykämie
^®) Joslin: Am. journal of med. Sciences 1915,
p. 485.;
^®) 50 g Braten, 50 g durchwachsener Speck,
1 Ei, 60 g Butter, 300 g Gemüse, 150 g Preißel-
beeren, % Flasche Rotwein, Tee, Kaffee.
*«) -f30g Glutenbrot.
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1920
213
Tabelle 6. Hungerkur.
A. P., 30jährige Frau. Schwerer Diabetes. Acidosis.
Datum
Kost
Zucker
g
Blut¬
zucker
%
Ammo¬
niak
g
N
g
Gewicht
22. September
Diät mit 30 g Glutenbrot . .
21
0,155
1,61
8,69
50,2 kg
23.
1. Hungertag.
13
0,43
5,90 .
49,2 „
24.
2. „ .
0
0,51
5,72
48,2 „
25.
Gemüsecliät2^).
0
2,0
6,92
48,6 „
26.
Gemischte Gemüsediät*^) . .
Spur
0,096
0,99
6,66
48,6 „
27.
23 \
>> ff / • •
Spur
0,93
5,32
48,6 „
28.
24\
ff ff / * *
0
\
1.7
5,33
49,2 „
29.
0
0,075
1,05
5,29
49,2 „
30.
26\
ff ff / • *
0
0,68
4,86
49,3 „
bekommen. — Am zweiten Hungertag wurde
der Urin zuckerfrei und blieb bei langsamem
Übergang zu gemischter Gemüsediät, die noch
jetzt beibehalten wird, zuckerfrei (ausgenommen
der 26. September). Aus der Tabelle ersieht man,
wie der Blutzuckerprozentgehalt normal wird.
Die Acetonurie und Diaceturie
verhält sich während der Hunger¬
kur verschieden (vergleiche die Ta¬
bellen), je nachdem leichte oder schwere
Diabetesfälle behandelt werden. Bei leich¬
tem Diabetes tritt am zweiten bis dritten
Hungertag Aceton- und Diaceturie auf,
die an den folgenden Gemüsetagen an¬
hält, aber bei Übergang zu gemischter
Diät mit mehr Kohlehydraten schwindet.
Bei schwerem Diabetes mit Acidose
nimmt diese ab: das heißt die Aceton-
und Diaceturie wird schwächer und die
Ammqniakmenge im Urin vermindeit
sich. An den folgenden Gemüsetagen
steigt infolge der plötzlichen Nahrungs¬
zufuhr (Fett und Eiweiß) die Ammoniak¬
menge wieder. Der Nahrungsfettumsatz
vermehrt bekanntlich die Acidose mehr
als der Organfettumsatz bei schwerem
Diabetes. Nach Gemüsediät von einigen
Tagen wird die Ammoniakmenge wieder
normal.
Die N-Ausscheidung im Urin ist
natürlich abhängig von der Eiweißzufuhr
an den den Hungertagen vorausgehenden
Tagen.
(Bei gesunden Menschen ist bei
Hunger N im Urin selten geringer als
10g.. Am zweiten Tag, oft erst am dritten
bis vierten Tage steigt N im Urin, was
wahrscheinlich darauf beruht, daß der
^0 400 g Gemüse, 60 g Butter, 200 g Suppe,
150 g Preißelbeeren, Tee, Kaffee, 30 g Kognak.
22) + 1 Ei oder 25 g gebratener durchwachsener
Speck.
22) -f- 1 Ei oder 25 g gebratener durchwachsener
Speck.
2^) 25 g gekochter durchwachsener Speck.
2") -f 25 g gebratener durchwachsener Speck
und 15 g Butter.
2®) + 50 g Braten oder Fisch.
Glykogenvorrat des Körpers geringer
wird und am dritten Tage geschwunden
ist. Nach dieser Steigerung nimmt der
Eiweißumsatz bei Fortsetzung des Hun¬
gers langsam ab. In den ersten zehn
Tagen sinkt er selten unter 10 g.)
Dasselbe Verhalten wie bei Gesunden
fand ich bei Diabetikern an Hungertagen.
Wenn die N-Zahlen in diesen zwei Fällen
niedriger sind, so beruht das wahrschein¬
lich darauf, daß die Patienten vorher auf
eiweißarmer Kost waren. Am ersten
Gemüsetag hach dem Hunger steigt N
im Urin, aber geht bei gemischter Ge¬
müsediät bald wieder herab (dasselbe
Verhalten fand ich bei meinen Versuchen
mit der strengen Gemüsediät, ver¬
gleiche Tabelle 1 und 2).
2. Die moderne individualisierende
Diabetesdiät in der Praxis.
Wie aus dem früher Gesagten hervor¬
geht, ist die Entwicklung der Diabetes¬
therapie mehr und mehr auf die indivi¬
dualisierende Diätbehandlung hinaus¬
gekommen.
So mußte es kommen, weil das nähere
Diabetesstudium die Ärzte lehrte, wie
verschiedenartig die Krankheit ist: zu¬
nächst die leichten Funktionsstörungen,
die ohne wesentliche diätetische Behand¬
lung jahrlang leicht bleiben, dann andere
leichte, die infolge von Komplikationen
mit anderen Krankheiten eingreifepde
Änderung der gewöhnlichen Diät er¬
fordern, und wieder andere leichte Fälle,
die sich bald plötzlich, bald allmählich
als schwere Fälle entpuppen. Schließlich
gibt es mittelschwere Fälle mit Keton-
urie, auf deren alsbaldigen schweren
Verlauf man gefaßt ist, die sich
aber bei prinzipientreuer Behandlung in
leichte Fälle verwandeln und jahrelang
dauernd normalen Urin behalten.
Man versteht, daß ein einziges Diät¬
schema für diese verschiedenen Formen
214
. Die .Therapie der Gegenwart 1920
Juni
und Krankheitsstadien nicht passen
würde. Jeder Patient muß genau unter¬
sucht und mit der Diät behandelt werden,
die qualitativ und quantitativ im ge¬
gebenen Augenblicke für ihn paßt. Nicht
nur der Kohlehydratgehalt der Diät, son¬
dern auch die Eiweiß- und F.ettrationen
müssen nach dem Stadium, in dem der
Patient sich befindet, empirisch fest¬
gesetzt werden.
Einzelne ältere und moderne Behand¬
lungsmethoden, wie die absolute Milch¬
diät, die Haferkur, die strenge Gemüse¬
kur und die Hungerkur, haben als ge¬
legentliche kurze Behandlung in gewissen
bestimmten Fällen und während gefähr¬
licher Situationen Bedeutung bekommen
und sind uns von großem Nutzen, wenn
sie mit Kritik und Vorsicht angewandt
werden.
Die Diätformen, die während langer
Zeiträume angewandt werden, wie die
,,animalische, kohlehydratarme Diät“
und die „gemischte Gemiüsediät“, werden
von vielen Patienten jahrelang vertragen.
Bei eintretender Dyspepsie, die die Ein¬
leitung zu drohendem Koma sein kann,
heißt es, zu rechter Zeit abzubrechen und
verschiedene, kleinere Mengen Kohle¬
hydrat zu geben oder Hunger- oder Hafer¬
schleimdiät zu verordnen. Nach Schwin¬
den der Dyspepsie kann man vorsichtig
zur kohlehydratarmen Diät wieder über¬
gehen, und dann kommt wieder eine
Periode, wo man monate- oder jahrelang
den Patienten ganz frei von Glykosurie
und Acetonurie oder bei schwacher Ace-
tonurie halten kann. Zuletzt kommt
dann ja bei schwerem Diabetes ein Zeit¬
punkt, wo es nicht gelingt, den Kranken
mit den hier aufgezählten strengen Diät¬
formen von Glykosurie frei zu halten,
und gleichzeitig mit der Zunahme der
Glykosurie verstärkt sich die Acidose.
Da muß man zu allernächst einen Ver¬
such machen, die Funktion des Patienten
durch eine der früher erwähnten Behand¬
lungsmethoden zu verbessern: strenge
Gemüsekur, Haferkür oder prolongiertes
Hungern. Beim Mißlingen dieser Ver¬
suche besteht kein anderer Ausweg, als
eine gemischte, etwas kohlehydrat¬
reichere Diät zu verordnen. Dabei wird
die Glykosurie des Patienten zunehmen,
manchmal nur langsam, bei anderen
schnell. Im ersten Falle wird die Acidose
mäßig bleiben, aber bei schnell zunehmen¬
der Glykosurie wird die Acidose gleich¬
falls an Stärke ansteigen, und manch¬
mal in höherem Grade als die Glykosurie.
, Ich will nun in großen Zügen ^ die
Diätbehandlung bei Diabetes schil¬
dern, wie sie seit langem auf meiner
Klinik durchgeführt wird. Die frischen,
unkomplizierten Diabetesfälle, tre¬
ten als leichte oder mittelschwere
in Erscheinung (es ist sehr selten, einen
frischen Fall zu beobachten, der ganz
von Beginn an schwer ist, man kann so
gut wie immer durch die Anamnese er¬
fahren, daß die Krankheit unentdeckt
kürzere oder längere Zeit bestanden hatte).
Habe ich einen anscheinend leichten
Diabetes vor mir, so bekommt der Kranke
ein bis zwei Tage gemischte Kost oder
die Diät, die der Arzt draußen ordiniert
hat. Gleichzeitig wird ,die quantitative
Blutzuck erbestim-mung gemacht, der
Urinzucker, N und Ammoniak in der
24stündigen Urinmenge bestimmt, wie
auch auf Aceton, Diacetsäure Eiweiß usw.
untersucht. Darnach wird ordiniert:
1. Probediät für zwei bis drei
Tage. Sie besteht in 150 g gebratenes
Fleisch, vier Eiern, 80 g Butter, 50 g
Käse, 300 g Gemüse (mit 2 bis 5 %
Kohlehydrat), 100 g Rhabarberkom¬
pott, 200 g Fleischsuppe, 100 g Sahne,
100 g Brot, ein Drittel Flasche Rotwein,
500 g Tee, 500 g Kaffee, 500 g Selter¬
wasser. Diese Kost enthält : 104 g
Eiweiß, 140 g Fett, 72 g Kohlehydrate,
18 g Alkohol = 2151 Calorien.
In einigen leichten Fällen wird der
Urin in zwei bis drei Tagen zuckerfrei
werden. Geschieht das nicht oder ist
der Blutzuckerprozent bei einer solchen
Kost über der Norm, das heißt 0,84 bis
0,9 %, so wird verordnet:
2. Gemüsediät (siehe oben) ein Tag.
Darauf wird verordnet:
3. Animalische Diät wie bei der
Probediät, aber ohne Sahne, und anstatt
Brot wird 60 bis 120 g Glutenbrot oder
gar kein Brot gegeben, sondern sehr
kohlehydratarme Gemüse. Die Gluten¬
brotration oder die Gemüseration wird
gegeben, die, ohne Hyperglykämie nach
der Mahlzeit zu machen, vertragen wird.
Die so festgesetzte Diät wird monate¬
lang, oft einige Jahre beibehalten,
bevor weitere Kohlehydratzulagen ein¬
geräumt werden, und stets unter Kon¬
trolle der Blutanalyse. Milch wird in
unkomplizierten' Fällen niemals verord¬
net, Sahne auch nicht,' nur ausnahms¬
weise 50-^100 g Schlagsahne. Ab und
zu kommt es vor, daß der Patient nach
einigen Jahren zu gewöhnlicher gemisch-
Juni
215
Die Therapie der
ter Kost (ohne Zuckerzusatz) übergehen
kann, ohne Glykosurie zu bekommen.
Auch in diesen leichten Fällen — die
ja übrigens ohne dauernde Acetonurie
und Diaceturie verlaufen — kann man
zu Anfang der Kur sehen, daß die kohle-
hydratarme^ Diät Ketonurie heryorrüft.
Diese verliert sich jedoch allmählich in
dem Maße wie die Kohlehydrattoleranz,
sich bessert und kann im übrigen durch
Vermehrung des Eiweißes der Kost zum
Schwinden gebracht werden, da dieses
hier die Acetonurie ebenso wie die Kohle¬
hydratzulage beeinflußt (ebenso wie bei
Gesunden), im Gegensatz zu dem, was
man in den schweren Fällen sieht, wo
Eiweißzusatz leicht die Acidose vermehrt.
Handelt es sich um einen anscheinend
mittelschweren unkomplizierten
Fall oder erweist sich der Fall, den man
anfangs für leicht hielt, als mittelschwer,
das heißt die besprochene Probediät
Brot, Sahne, Käse, Wein und sehr
kohlehydratarmen Gemüsen zugesetzte (in
Wasser geknetete) Butter vermag die
Hyperglykämie und die Glykosurie nicht
zu beseitigen, so kann man auf ver¬
schiedene Weise vergehen:
1. Man kann die oben beschriebene
Behandlung mit strenger Gemüsediät
mehrere Tage anwenden, bis das ge¬
wünschte Resultat erreicht ist, und da¬
nach langsam zu einer gemischten Diät
übergehen, die eiweißärmer als die eben
erwähnte Diät ist;
2. Anstatt der strengen Gemüsediät
kann man Hungerkuren gebrauchen,
wie sie von Cantani oder Allen emp¬
fohlen sind, und danach langsam zu
eiweißarmer Diät übergehen.
3. Man kann sich damit begnügen,
einen Gemüsetag einmal einzu¬
schieben und nach ihm zu einer eiwei߬
ärmeren Diät überzugehen, und, wenn
nötig, wieder einen Gemüsetag einschieben,
worauf die Eiweißration weiter einge¬
schränkt wird, bis Blutzucker und Urin
normal ist. Wenn im gegebenen Falle be¬
sondere Neigung zur Ketonurie besteht,
wie bei Kindern und ganz jungen Leuten,
pflege ich anzuwenden
4. von Noordens Haferkur mit der
Ration Hafergrütze und Butter (zur Ent¬
fernung der Fettsäuren in Wasser ge¬
knetet), die im gegebenen Falle paßt,
und nach den abschließenden Gemüse¬
tagen gehe ich langsam zu strenger ani¬
malischer Diät mit Gemüsen über.
NB. Kann man die Kranken nicht
im Hospital oder im Sanatorium behan-
Gegenwart 1920
dein und beherrscht man die Technik
der Gemüse-, Hunger- und Haferkur nicht
vollkommen, so muß man den Modus
Nr. 3 wählen, der ungefährlich,
leicht durchführbar ist und Resultate
■gibt, die auf der Höhe des mit den an¬
deren Methoden Erreichbaren stehen, so¬
lange es sich um einen mittelschweren
Diabetes handelt.
Falls eine vorhandene Diaceturie den.
behandelnden Arzt irgendwie beunruhigt,
kann man außer den eingeschobenen Ge¬
müsetagen, die auf die Acidose herab¬
setzend wirken, kleine Dosen Alkalien
gebrauchen, von 5 g pro Tag an, bis der
Urin alkalisch ist^’).
Der mittelschwere Diabetes, der nicht
oder nicht energisch und lange genug mit
kleinen Kostrationen behandelt wird, die
Hyperglykämie und Glykosurie verhüten,
geht mehr oder weniger schnell in die letzten
Stadien der Krankheit über. Wir stehen
hier den schweren und schwersten Fällen
gegenüber, wo die diabetische Aci¬
dose einen so großen Einfluß auf die
Behandlung hat.
Bei schweren Diabetesfällen mit
mittelstarker Acidose, wo die täg¬
liche Ammoniakmenge im Urin 2—3 g
beträgt (bei gemischter antidiabetischer
Diät mit zirka 30 g Kohlehydrat) muß
man immer versuchen, durch eine ener¬
gische Behandlung den Fall von einem
schweren zum mittelschweren zu machen,
und das wird auch oft gelingen.
Auf meiner Klinik beobachten wir die
Patienten einige Tage bei der Diät, die
sie gerade innehalten. In der Regel wird
zuerst Behandlungsmethode Nr. 3
(siehe oben) angewendet, mit Reduktion
des Nahrungseiweißes, besonders Fleisch
und kaseinhaltiger Nahrung (Sahne, Käse,
Milch)2®). Gradweis werden nun sowohl
Eiweiß als auch Kohlehydrate einge¬
schränkt, die durch grüne Gemüse er¬
setzt werden, bis Aglykosurie und. mög¬
lichst niedrige Blutzuckerprozentzahlen
erreicht sind, möglichst 0,05—0,06%.
' Wo aus einem oder dem anderen Grunde
schnelle Zuckerfreiheif gewünscht wird,
wird unter Bettruhe die Gemüsekur
(Nr. 1) oder die Hungerkur (Nr. 2) an¬
gewandt, die bis zum gewünschten Ziele
fortges^etzt wird. —.Wo keine Aglykosurie
"0 Die Alkalitherapie kann die ersten Tage
die Acetonurie und Diaceturie verschlimmern,
aber man fahre mit dem Alkali fort, bis der Urin
alkalisch ist.
2®) Nach meiner Erfahrung werden diese
Eiweißstoffe weniger .gut als Pflanzeneiweiß
auch in diesen Fällen vertragen.
216
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juni
und Hypoglykämie durch Behandlung
Nr. 3 erzielt wird und wo die Acidose
stärker als gewöhnlich ist, versuche ich
von Noordens Haferkur.
Gelingt es nun, durch eine der hier
genannten Behandlungsarten Urin und
Blut normal zu machen und die Ket-
onurie zu beseitigen, muß man solange
als möglich mit eiweißarmer Diät,
kohlehydratarmen Gemüsen, mit
ausgewaschener Butter oder mit
Olivenöl, Essig und anderen Gewürzen
fortfahren und von Getränken Soda¬
wasser, Tee, Kaffee, Aquavit oder Kognak
geben. Man kann auf diese Weise das
Leben der Patienten jahrelang erhalten.
Kommt es zu Dyspepsie, bricht man ab,
modifiziert die Diät oder verordnet ein
bis zwei Tage Hunger.
Bei den schwersten Fällen mit
starker Acidose, wo 4 bis 8 g Ammo¬
niak in 24 Stunden (bei gemischter
Diät mit zirka 30 g Kohlehydrat) aus¬
geschieden werden, bietet die Behand¬
lung größere Schwierigkeiten. Hier hat
man meist gleichzeitig mit Obstipation
und Dyspepsie zu kämpfen;
Eine kürzere oder längere Bettruhe
ist notwendig. Eine Gemüse- oder
Hungerkur ohne oder mit folgender
Haferkur wird den Grad der Acidose
etwas vermindern. Hier müssen gleich¬
zeitig Alkalien verwendet -werden, um
den Urin alkalisch zu machen. Selbst
wenn die Glykosurie nicht ganz beseitigt
wird, kann- sie doch bis auf 10 bis 20 g
in 24 Stunden und der Ammoniak bis
auf 0,5 bis 1 g heruntergebracht werden.
Die Diät während der Nachbehand-
lung muß sehr kleine Eiweißmen¬
gen enthalten, besonders vegetabilisches
und Hühnereiweiß, das am besten hier
vertragen wird. Die Kohlehydrate
der Kost müssen von Gemüsen und Früch¬
ten mit geringem Kohlehydratgehalt
stammen, eventuell werden kleine Brot¬
rationen gegeben. Milch und Sahne wer¬
den am besten ganz vermieden, weil so¬
wohl Milchzucker als auch Kasein die
Glykusurieungünstig beeinflußen, müssen
jedoch zu Zeiten , den Kranken erlaubt
werden, um Abwechslung in die Kost zu
bringen. Von Fettstoffen wird vege¬
tabilisches Fett gegeben, Butter (in
Wasser geknetet), Speck, aber alles in
kleinen Mengen mit Rücksicht auf die
Acidose, die in diesem Stadium für Fett¬
stoffe sehr empfänglich ist. Alkohol
wirkt dagegen hier günstig, ist fast un¬
entbehrlich und hat viele Vorteile: die
Kranken vertragen ihn in großen Dosen,
er vermehrt die Glykosurie nicht und
beeinflußt die Acidose gut.
Sofern kleine Mengen (25 bis 50 g)
gebratenes Fleisch oder Fisch ohne we¬
sentliche Vermehrung der Glykosurie und
Acidose vertragen werden, geben diese
ja eine angenehme Variation der Diät.
Aus der Medizinisclien Klinik der Universität Greifswald (Direktor: Prof. Dr. Morawitz).
Die Behandlung
der chronischen Arthritis mit Sanarthrit und Proteinkörpern.
Von Gerhard Denecke.
Im Jahre 1916 hat Heilner (1—3) eine
neue Behandlung der chronischen Arthritis
und der Gicht angegeben, und zwei Jahre
später sein Mittel der Öffentlichkeit über¬
geben. Der Gedankengang, der ihn darauf
brachte, war folgender: Bei der Gicht
liegt nachgewiesenermaßen eine Störung
im Harnsäurestoffwechsel vor. Man
findet sie auskrystallisiert in dem Knorpel
der erkrankten Gelenke. Brugsch und
Citron (4) haben experimentell gezeigt,
daß auch der normale Knorpel aus ver¬
dünnten Lösungen von harnsaurem Na¬
tron Urate aufnimmt und in krystalli-
nischer Form ablagern kann. Darauf
gründete Umber (5) seine bekannte
Gichttheorie, nach der die Affinität der
Gewebe zur Harnsäure beim Gichtkranken
eine pathologische Steigerung erfährt.
So daß es sich also nach Umber um eine
Harnsäureretention, nicht um eine Stö¬
rung der renalen Ausscheidung handelt^).
Wenn aber auch der gesunde Knorpel,
wenigstens in vitro, in der Lage ist, Harn¬
säure abzulagern, so ist es auffallend, daß
durch Steigerung der Harhsäurewerte im
Blute allein z. B. bei der Leukämie oder
Nephritis noch keine Gicht herbeigeführt
werden kann. Heilner glaubt deshalb,
daß der Affinität des Knorpels zur Harn¬
säure, die im Versuch gezeigt wurde, im
Leben ein anderer Prozeß entgegenwirkt,
den er Gewebsschutz nennt. Es soll also
nicht die Affinität zur Harnsäure oder
ihre Steigerung das Pathologische sein,
D Anmerkung bei der Korrektur: Klemperer
hat diese Theorie der Gicht schon früher aus
gesprochen. (D. m. W. 1895, Nr. 40.)
Juni,
Die Therapie der Gegenwart 1920
\
217
sondern der Wegfall der Gegenaktion
dieses Gewebsschutzes. Er denkt sich
den Gewebsschutz etwa so, daß die
Knorpelzellen normaliter von einer dün¬
nen sauer reagierenden Schutzhülle um¬
geben sind. .Dann stört irgendeine pri¬
märe Schädigung die Produktion dieser
Schutzhülle, und die saure Harnsäure
kann ihrer Neigung zu dem entblößten
basischen Knorpel nachgeben. Oder aber
der Gewebsschutz besteht in der Tätig¬
keit eines Fermentes, das die Harnsäure
weiter abbaut, und auf diese Weise vom
Knorpel abhält. Jedenfalls glaubte Heil-
her, daß dieser Gewebsschutz aus irgend¬
welchen Substanzen bestehen müsse, die
an Ort und Stelle gebildet werden, und
versuchte also aus dem Gelenkknorpel
nach völliger EntWweißung den wirk¬
samen Faktor zu gewinnen, um damit
dem Kranken zu Hilfe zu kommen. So
gelangte er zur Erfindung seines Sanar-
thrit, wie das fabrikmäßig dargestellte
Mittel nunmehr heißt.
Dieses Mittel injizierte er intravenös
in Mengen von 1 bis 2 ccm, und hatte
sehr gute Resultate. Nach seiner Auf¬
fassung führte er also mit seinem Mittel
dem Patienten künstlich Gewebsschutz-
stoffe zu, der erkrankte Knorpel wurde
wieder gedeckt, und die Beschwerden
verschwanden.
Seine klinischen Ergebnisse führten
ihn nun theoretisch noch einen Schritt
weiten Er hatte diese Erfotge nämlich
nicht nur bei der Gicht, von der er aus¬
gegangen war, sondern bei einer ganzen
Anzahl anderer Krankheitsbilder,, die
unter dem Namen chronische Arthritis
zusammengefaßt werden. Daraus folgerte
er, daß die gleiche Wirkung seines Mittels
auch eine, wenigstens prinzipiell, gleiche
Ätiologie der Krankheit zur Voraus¬
setzung haben dürfte. Das heißt, daß
alle chronischen Arthritiden, ähnlich wie
die Gicht, beruhen könnten auf dem.
Mangel an Gewebsschutz des Knorpel-
gewenes gegen andrängende Stoffwechsel¬
produkte. In der Tat ist, außer der Gicht,
noch wenigstens für eine, allerdings
seltene, Arthritis der Zusammenhang mit
einem solchen Stoffwechselprodukte nach¬
gewiesen worden, das ist die Homogen¬
tisinsäure bei der Arthritis alcaptonurica
von Allard und Groß (6). Die Homo¬
gentisinsäure ist ein normales Abbau¬
produkt der aromatischen Aminosäuren,
das beim Gesunden sofort weiter ver¬
wandelt wird, während sie beim Al-
captonuricer bestehen bleibt. Ihre Affi¬
nität zum Knorpel wurde auch in vir to
nachgewiesen, wobei sie die bekannte
Schwarzfärbung zeigte. So wie die'
Homogentisinsäure und die Harnsäure
sollen nun nach Hei ln er auch ,npch
andere, bisher unbekannte Erzeugnisse
des intermediären Stoffwechsels existieren,
die die Veränderungen der Arthritis de-
formans und der übrigen Formen der
chronischen Arthritis verschulden. In dem
Kampfe gegen das Eindringen dieser
Schädlinge soll der natürliche Gewebs¬
schutz unterstützt werden durch das
Sanarthrit, dasSchutzstoffe von gesundem,
Knorpel enthält. Wenn diese hypothe¬
tischen Anschauungen stimmen, dann
kann Hei ln er seine Behandlung wirklich
die erste kausale Therapie der chronischen
Arthritis nennen.
Seit etwa einem Jahre ist nun die
chronische Arthritis an unserer KJiüik
mit Sanathrit behandelt worden. Über
das Ergebnis soll im folgenden berichtet
werden. Das Mittel kommt in Ampullen
in den Handel, und wird intravenös in¬
jiziert. Man fängt mit kleineren Dosen
der Stärke I an und schreitet zu vollen,
und schließlich auch zu mehrfachen Voll¬
dosen der Stärke H fort. Nach den An¬
gaben Heilners soll man im allgemeinen
nicht mehr als sechs Injektionen geben,
und unter diesen sollen möglichst zwei
starke Reaktionen sein.' Die s-tarke Re¬
aktion besteht in einem plötzlich an¬
steigenden und rasch wieder abfallenden
Fieber, hin und wieder mit Schüttelfrost,
und ziemlich beträchtlichen, ziehenden
Schmerzen in den befallenen Gelenken.
Aber auch in Gelenken, die früher einmal
befallen waren und solchen, die bereits
erkrankt sind, ohne daß der Patient es
bisher' bemerkt hatte, treten solche
Schmerzen auf. Hei ln er hat dieses
Phänomen als .„Mahnungen“ bezeichnet.
Derartige starke Reaktionen folgen aber
durchaus nicht jeder Injektion. Sie treten
bei manchen Patienten überhaupt nicht
auf. Hei ln er gibt an, daß er auch dann
Wirkungen gesehen hat. Wir können das
bestätigen. Ich habe allerdings noch einen
Indikator angewandt, um die Reaktion
sichtbar zu machen. Ich habe nämlich
in der Annahme, daß in den schmerzenden
Gelenken irgend etwas vor sich gehe, um
die Reaktionszeit herum die Hauttempe¬
ratur über dem erkrankten Gelenk und
über einer gesunden Stelle gemessen, und
habe bei jeder starken Reaktion eine
Hauthyperth-ermie um ein Grad und mehr
über dem kranken Gelenk gefunden.
28
218
Die Therapie Üer Gegenwart 1920
Juni
Aber wenn auch allgemeines Fieber und
Schmerzen, ausblieben, habe ich in einigen
. Fällen zur selben Zeit das kranke Gelenk
wesentlich wärmer gefunden, als die
Vergleichsstelle. Durch Kontrollmessun-
gen außerhalb der Injektionszeiten konn¬
ten Täuschungen ausgeschlossen werden.
Es ist das wohl ein Beweis dafür, daß das
Mittel tatsächlich irgend welche Vorgänge
im Gelenk bewirkt, und zwar manchmal
auch ohne den übrigen Körper in Mit¬
leidenschaft zu ziehen.
In vielen Fällen reagiert der Patient
'auf zwei bis drei Spritzen stark, auf die
anderen wenig oder gar nicht, ohne daß
' sich eine Abhängigkeit vön der Größe
der Dosis feststellen ließe. Nur eine
Patientin hat bis jetzt auf jede Spritze
sehr stark mit Schüttelfrost und Schmer-
, zen reagiert. Nach dieser Reaktion, der
negativen Phase, soll dann das Wohl¬
befinden, das .Zurückgehen der Be¬
schwerden, die positive Phase kommen
und anhalten.
Wir übersehen heute ein Material vou
30 Fällen, und zwar sind das 11 Fälle von
primärer chronischer Arthritis, 11 Fälle
von Arthritis deformans und 5 Fälle
von Arthritis der alten Leute, und zwar
ausschließlich Malum coxae senile. Das
Malum coxae spricht auf das Mittel nicht
an. Wir haben bei keinem der fünf Fälle
objektiv auch nur die geringste Besserung
nachweisen können. Auch von den Pa¬
tienten wurde nichts angegeben, was eine
günstige Beeinflussung durch Sanarthrit
hätte erschließen lassen. Dement¬
sprechend fehlte auch jede Herdreaktion.
Weder ziehender Schmerz noch Haut¬
hyperthermie über dem erkrankten Ge¬
lenk kamen zur Beobachtung. Trotzdem
war die allgemeine Fieberreaktion hin
und wieder da, in einem Falle sogar recht
hoch. Das Ausbleiben jeglichen Heil¬
erfolges kann wohl nicht weiter wunder¬
nehmen, da wir im Malum coxae ein
Leiden vor uns haben, das entsteht, wenn
die Wiederstandskraft und die Ernährung
der Gewebe den statischen Anforderungen
nicht mehr gewachsen ist. Irgendeine
Stoffwechselstörung anzunehmen, wäre
überflüssig.
Bei der primären chronischen Ar¬
thritis haben wir von 14 Fällen nur vier
besser werden sehen. Die Besserung be¬
stand vor allem im Nachlassen der sub¬
jektiven Beschwerden. Die Patienten
klagten nach der Injektion zunächst über
Zunahme der Schmerzen, a]ber bald, oft
schon nach 12 bis 24 Stunden, flauten
die Beschwerden merklich ab, und die
Patienten hattßn das Gefühl der Er¬
leichterung. Die objektiv nachweisbare
Motilität war in zwei der genannten Fälle
zwar auch deutlich besser geworden, aber
nicht so erheblich, daß man von einer
Heilung des Leidens hätte Sprechen kön¬
nen. Dagegen konnten zwei Patienten
wieder vollkommen im Besitze ihrer Be¬
weglichkeit entlassen werden. Beide
Patienten waren bereits früher häufig mit
den üblichen Methoden behandelt worden,
der eine in Privatbehandlung, der andere
zweimal je zwei Monate hier an der
Klinik, beide ohne allen Erfolg. Von dem
ersteren hat mir kürzlich der Hausarzt
mitgeteilt, daß er bis jetzt gut imstande
geblieben sei, er ist vor sechs Wochen
entlassen worden. Von den zehn nicht
gebesserten Fällen sind einige mit Moor¬
bädern, Heißluft und mit Massage zweifel¬
los auch günstig beeinflußt worden, wenn
auch nicht in solchem Maße. Andere aber
^haben jeder Therapie getrotzt.
Die besten Erfolge haben wir bei der
Arthritis deformans erzielt. Unter elf
Patienten hat sich nur einer refraktär
verhalten. ^ Alle andern haben deutlich
Besserung gezeigt. Zunächst war bei
diesen Kranken die Reaktion am häufig¬
sten' und stärksten. Diese Patienten
lieferten auch die höchsten Hauttempe¬
raturen über den erkrankten Gelenken.
Dann aber war auch die positive Phase
recht gut ^ausgeprägt und das Gesamt¬
resultat bei der Entlassung in allen zehn
Fällen einwandfrei. Im Vordergründe
stand eine erhebliche Besserung der Mo-
tilität. Finger und Zehen, die völlig
fixiert gewesen waren, wurden wieder
gebrauchsfähig, und auch die Knie wurden
wieder soweit beweglich, daß sie im Gehen
wenigstens nicht mehr störten. Außerdem
sind Verdickungen und Auftreibungen
der Gelenke und ihrer Umgebung sicher
und deutlich zurückgegangen. In vier
Fällen wurde auch ein deutliches Nach¬
lassen der Crepitation von verschiedenen
Beobachtern konstatiert. Ich möchte
bemerken, daß der größte Teil der Pa¬
tienten während der Sanarthritbehandlung
nicht mit den sonst üblichen Mitteln be¬
handelt wurde. Ich habe zum Vergleich
eine Anzahl früherer Krankengeschichten
herausgegriffen und finde da meist den
betrüblichen Entlassungsvermerk: ,,im ob¬
jektiven Befunde ist keine wesentliche
Veränderung eingetreten“. Ich glaube
deshalb berechtigt zu sein, auch die
wenigen Patienten, die außer mit Sanar-
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1920
219
thrit noch mit Heißluft, Moor, heißem
Sand, Lichtbädern, Salicylpräparaten und
Fibrolysin behandelt worden sind, auch
für das Sanarthrit in Anspruch nehmen zu
können. Die Erfolge waren für die Pa¬
tienten zum Teil recht erfreülich. Es ist
z. B. ein alter Mann darunter, dessen
Finger und Zehen völlig versteift waren,
so daß er ganz hilflos auf fremde Wartung
angewiesen war. Er war sehr dankbar,
als er nach der Behandlung seinen Kaffee¬
topf wieder selbst fassen und wieder selbst
essen konnte. Freilich an Heilners Re¬
sultate reicht kein einziger unserer Fälle
heran. Hei ln er hat in seiner ersten Mit¬
teilung eine Statistik über 30 Fälle ver¬
öffentlicht, die meist schon nach einer
Injektion nahezu schlagartig völlige Be¬
schwerdefreiheit gezeigt haben. Der¬
artige vollkommene Heilungen haben wir
nie gesehen, die erste Injektion hat über¬
haupt nur ganz selten eine deutliche Re¬
aktion gegeben.
Arthritis urica, die Hei ln er recht
viel behandelt hat, haben wir leider das
ganze Jahr nicht zu sehen bekommen.
Den Erfolgen Heilners bei der Gicht
muß man aber wohl sehr skeptisch gegen¬
überstehen, denn der Gichtanfall hat ja
doch die Eigenschaft, auch von selbst
vorüberzugehen, und ein längeres auch
über Monate dauerndes Aussetzen der
Anfälle kommt spontan vor und braucht
durchaus keine Heilung zu bedeuten.
Dieselbe Anschauung vertritt auch
Umber (7), er hat bei zwei Fällen echter
Gicht. durchaus keinen Erfolg gesehen.
Dagegen hat er bei der primären chro¬
nischen Arthritis und Arthritis deformans
auch gute Resultate erzielt. Im Gegen¬
satz zu uns, allerdings bessere bei der
primären chronischen Arthritis, aber er
sagt selbst, daß bei dem regionär ver¬
schiedenartigen Charakter des Leidens
andernorts die Indikation anders gestellt
werden kann. Umber bestätigt gleich¬
falls den Rückgang von periartikulären
Verdickungen, die Zunahme der Motilität
und die Besserung des subjektiven Be¬
findens. Wunderheilungen hat auch er
nie gesehen.
Was ist nun das Wirksame am Sanar¬
thrit? Wenn die Heilnersche Theorie
richtig wäre, so würde das Verhalten der
primären chronischen Arthritis von Be¬
deutung sein. Es stehen vier gut beein¬
flußten Fällen zehn refraktäre gegenüber.
Es wäre möglich, daraus auf eine ver¬
schiedene Ätiologie zu schließen. Die
Klinik würde für einen solchen Fingerzeig
dankbar sein, dehn die Umschreibung
dieser Gruppe ist noch durchaus nicht
einheitlich. Umgekehrt würde die zu¬
verlässige Reaktion der Arthritis de¬
formans auf das Mittel auf eine, auch
ätiologisch geschlossene Gruppe schließen
lassen. Hier die Ursache in einer Stoff¬
wechselanomalie zu sehen, begegnet keinen
/Schwierigkeiten.
Schwer ist es dagegen, mit einer Um¬
stimmung der Gewebe im Hei ln ersehen
Sinne die geringe Quantität des Mittels
und die Schnelligkeit der Wirkung, be¬
sonders in seinen eigenen Fällen, in Ein-
^klang zu bringen. Selbst wenn der in¬
jizierte Ccm Sanarthrit vollständig vom
erkrankten Knorpel aus dem Blute
herausgefangen wird, kann man sich die
Wiederherstellung des Gewebsschiitzes
doch nur analog einer Organtherapie so¬
lange denken, bis alles wieder ausgeschie¬
den ist. Die Stoffwechselanomalie selbst
wird ja durch das Sanarthrit gar nicht
berührt.
Es muß wohl also ein anderer wirk¬
samer Faktor im Sanarthrit enthalten
sein. Die starke Reaktion ähnelt in bezug
auf die Ailgemeinerscheinungen so stark
dem bekannten Bilde der Proteinkörper¬
therapie, daß der Verdacht, es möge sich
einfach um die Eiweißwirkung des
Knorpelextraktes handeln, sehr nahe liegt.
Das Sanarthrit enthält aber kein Eiweiß.
Ich bemerkte eingangs schon, daß das
Extrakt fabrikmäßig enteiweißt wird.
Das käufliche Sanarthrit gibt in der Tat
weder die Kochprobe noch die Biuret-
reaktion. Dagegen konnten in unserem
chemischen Laboratorium Aminosäuren
nachgewiesen werden. Obwohl wir es
hier sehr wahrscheinlich mit einem spe-
cifischen Prozeß zu tun haben, und man
andererseits den Aminosäuren im all¬
gemeinen specifische Wirkungen ab¬
erkennt, haben wir doch vergleichende
Versuche mit Proteinkörpern bei der
chronischen Arthritis vorgenommen. Denn
vermutlich wird ja auch das parenteral
einverleibte Eiweiß über Aminosäuren
abgebaut.
Wir haben Milch verwandt, 10 bis
.20 ccm intraglutäal, und das Caseosan,
ein neues Caseinpräparat der Firma
Heyden, für intravenöse Injektionen,
außerdem, in einigen geeigneten Fällen,
Gonargin. Die Reaktion war nahezu in
allen Fällen gleichmäßig; ein Schüttel¬
frost mit mehr oder weniger hohem
Fieber, oft, wenigstens bei der Milch,
höher als beim Sanarthrit. Aber nie sahen
28*
220
Die Therapie der Gegenwart 1920 * Juni
wir eine ,Spur von Herdreaktionen am
erkrankten Gelenk. Gewiß wurden in
vielen Fällen Schmerzen geklagt, aber
die wurden dann entweder über die Brust
oder in die langen Röhrenknochen ver¬
legt, nie isoliert in ein Gelenk, und eine
Hauthyperthermie ließ sich auch nicht
nachweisen. Trotzdem läßt sich nicht
leugnen, daß von den zehn nur mit Milclf
behandelten Fällen zwei deutlich besser
geworden sind. Es sind das ein Fall von
Malüm coxae und ein Fall von Arthritis
deformans mit starken Verkrümmungen
der Finger und Zehen. Aber einwandfrei
zeigten diese, wie.die anderen Fälle, nie¬
mals eine Herdreaktion. Sie kam auch
dann nicht zur Beobachtung, wenn wäh¬
rend,^ einer Sanarthritkur eine und die
andere Injektion durch einen Protein¬
körper ersetzt wurde.
Wir haben dann noch das Sanarthrit
am Gelenkgesunden versucht und haben
zwei Hysteriker, die über Steifigkeit der
Gelenke klagten, und zehn Gonorrhoiker,
an Stelle von Gonargin, ein- und mehr¬
mals mit Sanarthrit gespritzt. Wir haben
auch da einzelne starke All^emeinreak-
tionen bekommen, aber nur bei einem
Gonorrhoiker ziehende Schmerzen im
rechten. Ellenbogen beobachten können,
die als Herdreaktion hätten gedeutet wer¬
den können. Es mag sein, daß es sich
um eine Heilnersehe „Mahnung“ ge¬
handelt hat. Allerdings ist der Patient
geheilt entlassen worden, und ein anderer
mit schwerer gonorrhoischer Arthritis hat
auf Sanarthrit wiederholt gar nicht rea¬
giert, aber er kann ja früher einmal eine
echte Arthritis durchgemacht haben.
Das Sanarthrit wirkt also offenbar
specifisch. Die Specifität ist neuerdings
von Schmidt (8) geleugnet worden.
Schmidt macht sich anheischig, mit
Milch ebensolche Herdreaktionen erzielen
zu können, wie sie beispielsweise mit
Tuberkulin zu bekommen sind. Den
Quantitätsunterschied erklärt er mit der
höheren phlogistischen und pyrogeneti¬
schen Potenz des Tuberkelbacillen¬
ei'weißes. Man ist versucht, dies für eine
Umschreibung des alten Wortes Specifität
zu nehmen. Aber er meint, daß ein
Eiweiß mit gleicher Potenz gefunden
werden könnte, das mit der Entstehung'
der Tuberkulose nichts zu tun hat.
Schmidt geht an Hand der Wirkung
einiger Arzheimittel und der Provoka¬
tionsmethoden der Malaria schließlich so
weit, zu sagen, daß jeder Eingriff, der
den Körper nur, einigermaßen kräftig
und überraschend trifft, zu allermeist an
einem etwa bestehenden Krankheitsherde
bemerkbar werden wird, daß also eine
Herdreaktion zustande kommt. Er tut
dabei auch das Sanarthrit als unspecifische
Proteinkörperwirkung ab. Er übersieht
dabei, daß das Sanarthrit kein Protein¬
körper mehr ist. Aber selbst wenn das,
wie er glaubt, zur Herdwirkung nicht
nötig ist, so haben doch unsere Versuche
gezeigt, daß mit Proteinkörpern nie eine
specifische Gelenkwirkung zu erzielen
war, die sich mit unseren Mitteln nach¬
weisen ließe. Daß also für Sanarthrit
und Milch auch kein Parallelismus der
Wirkung besteht, wie ihn Schmidt für
Tuberkulin und. Milch annimmt, denn
wir haben bis zu 20 ccm Milch gegeben.
Wir stehen also nicht an, dem Sanar¬
thrit eine specifische Wirkung auf er¬
krankte Gelenke zuzusprechen und in
geeigneten Fällen, namentlich bei der
Arthritis deformans, auch eine bessernde.
Den Optimismus des Erfinders können
wir nicht teilen. In der Prognosestellüng
wird man gut tun, sich sehr vorsichtig
auszudrücken. Eine Restitutio ad integrum
darf nicht erwartet werden. Aber bei der
trostlosen Lage der Therapie der chroni¬
schen Arthritis sonst kann das Sanarthrit
gewiß gern willkommen geheißen werden.
Literatur: 1. Heilner, M. m. W. 1916,
Nr. 27. — 2. Heilner, M. m. W. 1917, Nr. 28.
— 3. Heilner, M. m. W. 1918, Nr. 36. —
4. Brugsch u. Citron, Zschr. f. exp. Path. 6,
5. 401. — 5. Umber, Lehrb. d. Ernähr. u.Stoffw.
Krankh. 1909, S. 272. — 6. Allard u. Groß,
Arch. f. exp. Path. 59, S. 384. — 7. Umber,
M. m. W. 1918, Nr. 36. — 8. Schmidt, D. A.
f. klin. M. 131, S. 1.
(Aus der 11. inneren Abteilung des Städtischen Krankenhauses Berlin-Moabit.
(jeh. Bat Prof. Dr. W, Zinn.)
Das Trypaflavin als inneres Therapeutikum.
Von Konrad Ruhnau.
Das Trypaflavin ist auf Veranlassung
von Paul Ehrlich von L. Benda dar¬
gestellt und beschrieben worden. Es ist
ein gelber Farbstoff, chemisch ein Dia-
mino-methyl-akridinium-Chlorid und hat
seinen Namen, weil es von Ehrlich für
wirksam gegen Trypanosomen befunden
wurde.
221
Juni Die Therapie »der
In seiner Wirkung eingehend studiert
wurde es zuerst von dem englischen
Chirurgen und SchülerEhrlichs, Brow¬
ning. Er wies nach, daß' das Trypaflavin
nicht nur eine hohe bactericide und
antiseptische Wirkung hat, sonderp daß
diese Wirkung sich bei Zusatz von Serum
erhöht, während seine gewebsschädigende
und die Phagocytose hemmende Kraft
außerordentlich gering ist. Er verwendete
das Trypaflavin in saurer einpromilliger
Lösung als äußeres Desinfiziens, sah
gute Erfolge davon und schuf den) Prä¬
parat in England weitestgehende Ver¬
breitung. In Deutschland hat das Trypa¬
flavin sich nur schwer einbürgern können.
Es hat nämlich den Nachteil, daß es
ein intensiv gelber Farbstoff ist und
Hände und Wäsche unangenehm be¬
schmutzt, ein Übelstand, der die das
Trypaflavin herstellende Firma genötigt
hat, dem Präparat eine Anweisung zur
Reinigung der Hände und Wäsche mit¬
zugeben. Immerhin »existiert auch in
Deutschland eine reichliche Literatur über
die erfolgreiche Verwendung des Trypa-
flavins in der chirurgischen, dermatolo¬
gischen, urologischen, zahnärztlichen und
Allgemeinpraxis.
In letzter Zeit ist man dazu über¬
gegangen, das Trypaflavin — entsprechend
den ursprünglichen Absichten Ehrlichs
— als inneres Desinfiziens zu verwenden.
Kalberlah und Schloßberger nehmen
auf eine Anregung von Ko Ile die Ver¬
suche wieder auf, bestätigten die von
Ehrlich festgestelltte trypanocide Wir¬
kung, des Trypaflavins bei Mäusen und
studierten die Wirkung des Präparats bei
menschlicher chininresistenter Malaria.
Sie gaben sechs Einspritzungen von 10
bis 50 ccm einer halbprozentigen Lösung,
sahen danach keinerlei Schädigungen, aber
auch keinen Einfluß auf dfe Krankheit.
Neufeld und Schiemann kamen
auf Grund von Tierexperimenten zu dem
Ergebnis, daß das Präparat von der
Blutbahn aus im lebenden Körper Bak¬
terien zu töten vermag. Ungefähr gleich¬
zeitig hatte Bohland bei therapeutischen
Versuchen an Menschen günstige Erfolge
erzielt. Er injizierte drei- bis viermal
durchschnittlich 0,1 g Substanz in halb¬
prozentiger Lösung und beobachtete bei
Influenzapneiimonien, Septikämien, einer
Pyelonephritis mitCystitis fast ausnahms¬
los lytische Entfieberung und schnelle
Rekonvaleszenz. Bald darauf berichtete
Bohland von weiteren sehr günstigen
Heilerfolgen bei Sepsis, Colipyelitis und
Gegen wärt 1920
Pneumonie. Bis auf eine Herabminderung
der Erythrocyten um eine halbe Million
im Qubikmilliimeter nach der Injektion
sah er niemals schädliche Einwirkungen.
Als kontraindiziert sah er nur Fälle von
akuter hämorrhagischer Nephritis an.
Im Februar d. J. berichte G. Spieß
von einer Heilung eines Falles von Menin¬
gitis nach endonasaler Operation eines
Hypophysentumors durch Trypaflavin-
injektionen. Er injizierte durchschnitt¬
lich täglich 0,5 g Substanz in einhalb- bis
zwei prozentiger Lösung, im ganzen 3,1 g
Trypaflavin und 10 ccm Trypaflavin-
silber (Argoflavin). Da Meningitiden im
Anschluß an Operationen, bei denen eine
Kommunikation des Endocraniums mit
der Außenwelt auftritt, erfahrungsgemäß
I eine absolut infauste Prognose haben, so
glaubt Spieß die Heilung ausschließlich'
dem Trypaflavin zuschreiben zu müssen.
In Zukunft will Spieß zwölfstündlich,
solange als erforderlich, 100 bis 150 ccm
einer halbprozentigen Lösung beziehungs¬
weise eine entsprechend verminderte Menge
einer zweiprozentigen Lösung in Ver¬
bindung mit einem Silberpräparat geben.
Auf der II. Inneren Abteilung des
Krankenhauses Moabit wurden mitTrypa-
flavin behandelt 7 schwere Grippe¬
pneumonien, 6 Erkrankungen an ein¬
facher Grippe, 6 Erysipele, 1 Fall von
chronischer Endokarditis und 1 Fäll
von chronischem Gelenkrheumatismus.
Im. allgemeinen wurde das Trypaflavin
im Sinne Bohlands in Dosen von 0,1 : 20
täglich bis zweitäglich bis zu dreimal in
Summa gegeben. Bei einem schweren
Gesichtserysipel gaben wir in Anlehnung
an die Erfahrungen von G. Spieß größere
Dosen (am ersten Tag 0,5 : 20, am zweiten
Tag 0,4 : 20). ln- dem Falle von chroni¬
schem Gelenkrheumatismus hielten wir
mit einer Dosierung von zweimal 0,2 : 20
die Mitte. Irgendeine Schädigung sahen
wir nicht. Die Beobachtung Bohlands
von der Herabminderung der Erythrocyten
von der Herabminderung der Erythro¬
cyten um eine halbe Million im Kubik¬
millimeter konnten wir bestätigen.
Von den sieben schweren Grippe¬
pneumonien führten sechs zum Tode. Der
einzige Fall, der zur Heilung kam, bot
auch klinisch das leichteste Krankheits¬
bild. Eine entscheidende Beeinflussung
fand also in keinem Falle statt. Nach
den Injektionen war weder eine subjek¬
tive noch objektive Besserung feststell¬
bar. Ein Übergreifen des Prozesses auf
andere Lungenteile wurde nicht ver-
222
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juni
hindert. Ein kritischer Temperaturabfall
trat niemals ein. Die Abendtemperaturen
am Tage der Injektion (es wurde stets
mittags injiziert) waren gewöhnlich höher
als die Temperaturen zur Zeit der Injek¬
tion. ‘Die Temperaturen am Tage nach
der Injektion waren zum Teil gegen den
Vortag unverändert oder sogar gesteigert,
zum Teil waren sie im Vergleich zu den
Temperaturen der vorangegangenen und
folgenden Tage verhältnismäßig niedrig,
zum Teil fielen sie noch bis in die Mittag¬
stunden ab. Möglicherweise stehen die
beiden letzten Beobachtungen im Zu¬
sammenhang mit den Trypaflavininjek-
tionen.
Di.e Erkrankungen an einfacher Grippe
waren durchweg leicht bis mittelschwer.
Sie führten zur völligen Genesung. Eine
Entscheidung, ob eine Einwirkung des
Trypaflavins vorliegt oder nicht, ist hier
noch schwieriger als bei den schweren
Grippepneumonien, ln vier Fällen glaube
ich jedoch keinen Einfluß erkannt zu
haben, in den beiden anderen Fällen trat
nach der letzten Injektion ein — vorüber¬
gehender — Temperaturabfall ein, der
möglicherweise auf das Trypaflavin zu¬
rückzuführen ist.
Bei den Erysipelerkrankungen führte
ein Fall durch Kreislaufschwäche zum
Tode, die anderen kamen zur Genesung.
Eine entscheidende Beeinflussung fand
in keinem Falle statt. Auch in den Fällen,
in denen man eine Beeinflussung an¬
nehmen könnte, boten die Fieberkurven
nichts Abweichendes von den gewöhn¬
lichen Erysipelkurven. Bei dem Fall,
der mit hohen Trypaflavindosen behandelt
wurde, konnten die Injektionen ein Wei¬
terwandern des Erysipels nicht ver¬
hindern.
In dem Fall von chronischer' Endo¬
karditis und chronischem Gelenkrheu¬
matismus konnten wir keinen Einfluß des
Trypaflavin erkennen.
Unsere Erfolge mit der intravenösen
Trypaflavintherapie sind also nicht er¬
mutigend. Um zu einem abschließenden
Urteil über das Präparat zu kommen,
wären die Versuche an größerem Material,
in größerer' Dosierung eventuell kombi¬
niert mit einem Silberpräparat, z. B. in
Form des Argoflavin, fortzusetzen. Auf
jeden Fall erscheint es nach unseren Er¬
fahrungen verfrüht, das Trypaflavin schon
jetzt als inneres Therapeutikum in die
tägliche Praxis einzuführen:
Zusammenfassende Übersicht.
Neue Bestrebungen in der diätetischen Behandlung des Diabetes^).
Von A. Albu, Berlin.
In der Geschichte der inneren Medizin
gibt es wohl kaum eine schroffere Wand¬
lung der Anschauungen, wie sie sich gegen¬
wärtig in den Grundlagen für die Be¬
handlung der Zuckerharnruhr geltend
macht. Es ist eine wahre Revolution des
Geistes, die alles über den Haufen zu
werfen droht, was mehrere Generationen
von Ärzten sich mühsam an Kenntnissen
erworben haben. ,,Bete an, was du bisher
verflucht, und verfluche, was du bisher
angebetet.“ An dieses bekannte Wort
des Bischof Remigius von Reims beim
Übertritt des Frankenkönigs Chlodwigs*
zum Christentum wird man erinnert,
wenn man die neueste Entwicklung der
wissenschaftlichen Erörterungen der Dia¬
betestherapie überblickt, welche in dem
hier angezeigten Faltaschen Buch am
schärfsten zum Ausdruck kommt. Diese
Revolution ist freilich so wenig wie irgend
eine andere das Werk Einzelner, und sie
Die Mehlfrüchtekur bei Diabetes mellitus,
von Professor Dr. W. Falta, Wien (Verlag von
Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1920).
ist auch nicht plötzlich erstanden, son¬
dern sie hat sich ganz allmählich von
innen heraus gestaltet auf Grund reicherer
Erfahrungen und reiferer Erkenntnisse
vieler Sachverständiger, welche mit den
bisherigen Grundsätzen der Diabetes¬
behandlung nicht die wünschenswerten
Erfolge aufzuweisen hatten. Das Bessere
ist stets der Feind des Guten, und die
Wissenschaft insbesondere darf niemals
aufhören, das höchste Ziel zu erstreben.
So erklären sich die seit Jahrzehnten un¬
unterbrochen fortgesetzten Bemühungen,
die Diabetesdiät, die ja nach wie vor
den einzigen Angel- und Ruhepunkt in
der Behandlung dieser Krankheit bildet,
immer mehr zu vervollkommnen, ins¬
besondere für die schweren Fälle, an
denen ja oft unser heißestes Bemühen
scheitert. Die Ärzte werden wieder einmal
umlernen müssen. Länger als ein Jahr¬
hundert herrschte das Schuldogma, daß
für den Diabetiker der Genuß der Kohle¬
hydrate grundsätzlich verboten werden
müsse. An deren Stelle war das Fleisch
Juni , Die Therapie der
und die eiweißhaltige Nahrung überhaupt
getreten, in^ deren Verordnung man sich
nicht genug tun konnte, um den Ernäh¬
rungszustand des Kranken auf der alten
Höhe zu erhalten. Jetzt klingt das hohe
Lied der Wissenschaft ^ganz anders: Die
vielfach noch übliche Überfütterung der
Zuckerkranken wird verpönt, die Fleisch¬
nahrung wird für schädlich erachtet, die
Eiweißzufuhr möglichst eingeschränkt,
und die qualitative und quantitative
Grundlage für die Ernährung der Diabe¬
tiker sollen — es scheint fast paradox, es
auszusprechen — die Kohlehydrate bih
den! Angebahnt war dieser Umschwung
der Anschauungen zuerst durch von
Noordens Entdeckung der Haferkur,
welche; ihre richtige Deutung dann durch
Blums . Untersuchungen mit Weizen¬
darreichung erfuhr. Sie waren die Ver¬
anlassung zur Prüfung der Wirkungen
weiterer Kohlehydratarten auf den Stoff¬
wechsel der Diabetiker. Daraus ent¬
wickelte sich die praktische Empfehlung
verschiedener Kuren, die immer nur eine
Kohlehydratart als Inhalt hatte. Das
galt als Voraussetzung ihrer Wirksam¬
keit. Auch konnte man solche Kuren
meist nur für eine kurze Frist von Tagen
durchführen,' wie es zuerst von Noorden ^
für die Haferkur empfohlen hatte, weil
die Eintönigkeit derartiger Kuren meist
schnell den Widerstand der Kranken
herausfordert. Hier setzten die For¬
schungen Faltas im Jahre 1914 ein,
die ihn jetzt zu dem Ergebnis geführt
haben, daß auch gemischte Kohlehydrat¬
kuren sich in der Behandlung des Diabetes
mellitus als außerordentlich wirksam er¬
weisen und noch den großen Vorzug haben,
auf die längere Dauer von zehn Tagen
und mehr, in einzelnen Fällen selbst
monatelang durchführbar zu sein. Das
von Falta befürwortete Regimen setzt
sich in der Hauptsache aus verschie¬
denen Amylaceen (Hafer, Weizen, Grün-
. kern, Reis, Hirse, Mais, Gries, Erbsen,
Bohnen, Linsen, Kartoffeln und Brot)
zusammen und wird von ihm deshalb als
,,Mehlfrüchtekur.“ bezeichnet. In der
vorliegenden ausführlichen Abhandlung
bringt Falta außerordentlich umfang¬
reiche und sorgfältig ausgearbeitete Er¬
gänzungen zu seinen früheren Mittei¬
lungen, die er dadurch zu einem beach¬
tenswerten. Lehrgebäude abrundet. Um¬
fassende Untersuchungen an 40 ein¬
gehend mitgeteilten Krankheitsfällen legt
er der von ihm empfohlenen diätetischen
Therapie zugrunde, für die er auch eine
öegenwart 1Ö20' 223
exakte Begründung auf Grund der neue¬
sten wissenschaftlichen Anschauungen und
eigener Forschungen zu geben sucht.
Bevor ich die näheren Einzelheiten
der Theorie und Praxis dteser neuen Be¬
handlungsmethode der Zuckerharnru^hr
hier wiedergebe, um ihre voll berechtigte
und dringend notwendige Nachprüfung
durch weite Ärztekreise zu befürworten,
scheint es mir am Platze, darauf hinzu¬
weisen, daß die Auffassung Faltas über
die Stellung seiner „Mehlfrüchtekur“ im
Rahmen der bisher empfohlenen Kohle¬
hydratkuren, wenigstens in der Dar¬
stellung seines neuesten Buches, eine
historisch und sachlich unzulängliche und
ungerechte ist. Falta nimmt für seine
Mehlfrüchtekur die Originalität der Ent¬
deckung in Anspruch und weist, wie mir
scheint, mit vollem Recht den Einwand
von Noordens zurück, daß die ge¬
mischte Amylaceenkost nur eine etwas
veränderte Wiederholung der alten von
Düringschen Reiskur sei. Denn letztere
verwendete in^der Tat nicht unerhebliche
Mengen von Fleisch, Milch und Eiern,
also reichlich animalisches Eiweiß, das in
Faltas diätetischen Regimen streng ver¬
pönt ist. Aber Falta übersieht, daß
gemischte Kohlehydratkuren mit starker
Beschränkung des Eiweißes und völliger
Ausschaltung des Fleisches auch schon vor
ihm zuerst von Ko lisch und dann wieder¬
holt von mir 2) nachdrücklich befürwortet
und angewendet worden sind. Denn was
sind denn vegetarische Diätkuren anderes
als gemischte Kohlehydratkuren? Der
Unterschied ist doch nur der, daß statt
der Amylaceen hier vorwiegend Gemüse
und Obst verwendet werden, welche ja
auch Falta in seiner ,,C-“ und ,,D-“Kost
in den Rahmen seiner Diät einschließt 1
Das KH der Amylaceen ist Stärkemehl,
d. h. ein Polysaccharid, das KH der
Gemüse- und Obstarten sind meist Glu-
cosen, das heißt Monosaccharide. Aber
nicht einmal dieser Unterschied zwischen
Amylaceenkost und vegetarischer Diät
ist durchgreifend; denn abgesehen davon,
daß viele Obst- und Gemüsesorten auch
Polysaccharide enthalten, wie Dextrin,
Inulin, Lävulin, Galaktan, Gummi,
Pflanzenschleim, Inosit, Pektinstoffe und
dergleichen, so werden doch die Poly¬
saccharide durch die Einwirkung der
Fermente im Verdauungskanal hydro¬
lysiert und gehen in die Monohexosen
über. Von der Glucose führt eine un¬
unterbrochene chemische Entwicklungs-
2) Zuletzt in dieser Zeitschrift, März 1920.
• . ♦ - ^ V ' ^ ^ -
224. Die Therapie der
reihe über die Maltose (Isomaltose), Dex¬
trin und Amylodextrin zur Stärke, Wie
weit die Monosaccharide im Tierkörper
durch Wasserentziehung in Polysaccha¬
ride übergehen, ist zurzeit noch nicht be¬
kannt. Im Reagensglasversuch ist das
für Gummi, Pflanzenschleim und Cellu¬
lose nachgewiesen. Jedenfalls verwendet
Faltä in seiner Kostordnung „C“ und
namentlich in „D'‘ auch ein buntes Ge¬
misch von Poly- und Monosacchariden,
das ^Sich von der Zusammensetzung der
vegetarischen Kost nur dadurch unter¬
scheidet, daß bei ihr die ersteren vor¬
walten. Der von ihm auf gestellte Satz:
„Die Kohlehydrate sind in der Mehl¬
früchtekost nicht in Form von Monosen,
sondern . als . Stärke enthalten“ (S. 25),
deckt sich nicht mit der Zusammen¬
setzung der Diätformen „C“ und „D“,
die Falta nach seiner eigenen Angabe
(S. 46), in den letzten Jahren am meisten
verwendet.
In welchem Umfange die Hexosen
im Organismus des Zuckerkranken zer¬
setzt werden oder nicht,' hängt meines
Erachtens gar nicht allein von der chemi¬
schen Konstitution der verwendeten Hex¬
osen ab, sondern vielmehr von der Menge,
der Art, und'der Dauer ihrer Darreichung
und in noch viel höherem Grade von den
begleitenden Nährstoffgemischen, inner¬
halb deren die Zersetzung der Hexosen
vor sich geht, d. h. in erster Reihe von
der Art und Menge des begleitenden Ei¬
weißes.
In Bezug auf den Caloriengehalt deckt
sich Faltas Mehlfrüchtekost mit der von
mir empfohlenen vegetarischen Diät haar¬
scharf: nämlich 2700 bis 2800 Calorien
pro die. An Eiweiß bietet erster.e etwa
58 g, letztere dagegen etwa 75 g (weil sie
zwei Eier und 50 g Käse gestattet, deren
animalischer Eiweißgehalt nur wenig über
denjenigen in Faltas Rahmzusatz in
Kost.,,D“ hinausgeht). An KH bietet
Falta 140 g, die früher von mir angege¬
bene vegetarische Diätform nur 90 g.
Nun ist es ein Leichtes, wie ich nach mehr¬
jährigen Erfahrungen in der demnächst
erscheinenden neuen Auflage meiner
,, Grundzüge für die Ernährung vonZucker¬
kranken“ (Halle 1912) zeigen werde, die
vegetarische Diät in der Weise zu ver¬
ändern, daß man noch eiweißärmere und
kohlehydratreichere Gemüse und Obst¬
arten einsetzen kann, wie: Kartoffeln,
Schwarzwurzeln, Teltower Rüben, Arti¬
schocken, Winterkohl und andere Kohl¬
arten, deren N-Gehalt ja meist nur zur
Gegenwart 1^20 " L .
Hälfte odet sogar nur zu einem Drittelaus
Protein besteht (!), ferner einige Dörr¬
gemüse, z. B. Karotten, schließlich auch
die gemischten Suppenkräuter (sogenannte
Julienne), Sellerie, Meerrettich u. a. m.
Den hauptsächlichsten Calorienträger bil¬
det sowohl in der Amylaceenkur Faltas
wie in der vegetarischen Diät das Tett.
Falta nimmt sogar noch den Alkohol in
Form von Wein oder Kognak in Anspruch,
um die nötige Calorienhöhe zu erreichen.
Nach alledem muß ich betonen, daß
kein grundsätzlicher Unterschied weder
in der Zusammensetzung, noch in der
Art der Wirkungsweise zwischen der
Mehlfrüchtekur und der vegetarischen
Diät besteht; denn das wesentliche der
beiden diätetischen Prinzipien gemein¬
samen, praktisch bewährten Wirksam¬
keit ist ausschließlich in der Eiweißarmut
unter Ausschluß des Fleisches zu suchen.
Die Vorstellung von einer specifischen
Wirkung der Haferstärke u. dgl. ist ja
nach den Erfahrungen mit anderen Kohle¬
hydra tkuren jetzt wohl fast allgeniein
auf gegeben. palta erwähnt in der
historischen Einleitung seines Buches die
vegetarische Diät kurz einige Male, aber
er hat sie weiterer Betrachtung und Beur¬
teilung und eines V'ergleiches mit seiner
Mehlfrüchtekur nicht gewürdigt. Das
halte ich im Interesse der Sache für
bedauerlich, weil die Grundlagen beider
Diätkuren nahezu die gleichen sind. Ich
• habe die Überzeugung, daß Faltas Mehl¬
früchtekur nunmehr auch der vegetari¬
schen Diät den Weg in die ärztliche Praxis
ebnen wird, der ihr bisher doch nur des¬
halb verschlossen geblieben ist, weil nun
einmal der hauptsächlich von Außen¬
seitern geschaffene, geförderte und auf¬
rechterhaltene' Vegetarismus sich noch
immer nicht das Interesse der Schul¬
medizin hat erringen können. Es wird
nun hoffentlich endlich anders werden,
wenn das vorherrschende Eiweißdogma
auch in der Therapie des Diabetes melli¬
tus endgültig gebrochen ist.
Jedenfalls lehren auch die reichen Er¬
fahrungen Faltas, daß in der Behand¬
lung der Zuckerharnruhr kein starres und
einseitiges diätetisches Prinzip notwendig
oder zweckmäßig ist, sondern nach Mög¬
lichkeit gemischte Nahrung meist den
Vorzug yerdient, eben weil nur solche
immer auf längere Zeit durchführbar ist.
So gewährt Falta zur Mehlspeisekost
z. B. Zulagen von Kartoffeln und auch
Brot, und zwar nicht nur Luftbrot,
sondern öfters auch Weiß- oder Schrot-
Juni Die Thefapie der Gegenwart 1920. 225
brot — Nahrungsmittel, die von manchen
Diabetikern, wenn man sie zur Fleisch¬
kost zusetzt, bekanntlich durchaus schlecht
vertragen werden. Ebenso ist es übrigens
auch mit dem Obst, dessen Toleranz
nach meinen Erfahrungen im Rahmen
einer vegetarischen Diät weit größer ist
als bei strenger Fleisch-Fettkost selbst in
kleinen Zulagen. Bei Fällen mit schwerer
AcidosiS' unterbricht Falta die lang¬
fristige Amylaceenkur zeitweise 'durch
Einschaltung von Gemüsetagen, wie ich
es in gleicher Weise bei Durchführung
der vegetarischen Diätkuren beim Diabe¬
tes mellitus empfohlen habe.
Faltas kühnes Vorgehen wird vor¬
aussichtlich eine neue Ära in der diäte¬
tischen Diabetesbehandlung eröffnen. Als
Beispiel seiner Kurvorschriften sei hier
die Amylaceen-Gemüsekost wieder¬
gegeben, die sich wie folgt zusammensetzt:
Fünf Portionen Amylaceen von je 30 g
Weizen- oder Hafermehl, 30 g getrocknete
Linsen oder Erbsen, 30 g Reis oder 30 g
Nudeln, 100 g Kartoffeln und 40 g
Semmel oder 50 g Schrotbrot. Von
diesen fünf Portionen Amylaceen sollen
zwei in Suppenform, zwei als Breie ge¬
reicht werden. Dazu kommen 600 g
Gemüse, 220 g Butter (in heutiger Zeit
wohl nur wenigen Sterblichen täglich er¬
reichbar!), 400 g Wein und 50 g Kognak.
Diese Nahrungsmittel lassen sich in
folgender Weise zweckmäßig verteilen:
1. Frühstück, bestehend aus Kaffee oder
Tee mit 25 g Schrotbrot und Butter;
2. zweites Frühstück, bestehend aus einer
Suppe mit 30 g Hülsenfrüchtemehl, Luft¬
brot und Butter, ein. Glas Wein; 3. Mittag¬
essen, bestehend aus einer Suppe mit 15 g
Hülsenfrüchtemehl, einer Gemüseplatte,
Risotto von 30 g Reis, Luftbrot und
Butter, ein Glas Wein, schwarzer Kaffee;
4. nachmittags wie früh; 5. Abendessen,
bestehend aus einer Suppe mit 15 g Hül¬
senfrüchtemehl, Gemüse mit 100 g Kar¬
toffeln, Luftbrot und Butter, ein Gläs¬
chen Kognak und ein viertel Liter Wein.
Falta gibt im zweiten^und achten
Kapitel seines Buches ganz ins einzelne
gehende Darstellungen der praktischen
Anwendung und Durchführung seiner
Diätform und begründet im sechsten
Kapitel ausführlich die theoretischen
Grundlagen der Mehlfrüchtekur. Der
dritte Abschnitt schildert eine Reihe
eigener Untersuchungen über den Eiwei߬
stoffwechsel und den Eiweißbedarf bei
dieser Ernährungsweise sowohl bei Ge¬
sunden wie bei Zuckerkranken, die dabei
nicht nur im N-Gleichgewicht geblieben
sind, sondern auch sogar noch an N zu¬
rückgehalten haben. Kapitel 4 behandelt
im Zusammenhang mit der Erörterung
der Wärmebildung den Calorienbedarf in
der Nahrung der Diabetiker. Abschnitt 5
erörtert-die endlich ihrer Klärung nahege¬
brachte Pathogenese des diabetischen
Ödems. Das siebente Kapitel schließlich
äußert sich nach Faltas persönlichen
reichen Erfahrungen über die verschie¬
denen „Formen“ der Zuckerharnruhr, be¬
sonders nach ihren klinischen Erschei¬
nungen und ihrem Verlauf, wobei er unter
anderem auf die in der Praxis wohl noch
nicht genügend bekannte akute maligne
Form. des Diabetes mellitus hinweist.
Durch diese zahlreich angefügten allge¬
meinen Ausführungen über die Patholo¬
gie ist Falta's Darstellung zu einem
vollständigen Lehrbuch der Zuckerkrank¬
heit geworden, das jeder Arzt, der sich
über den neuesten Stand der Anschau¬
ungen und des Wissens auf diesem Ge¬
biete unterrichten will, mit Genuß und
Gewinn lesen wird.
Repetitorium der Therapie.
Behandlung; der Stoffwechselkrankheiten.
Von G. Klemperer.
Allgemeine Grundsätze der Behand¬
lung ergeben sich aus der begründeten
Auffassung, -daß den Stoffwechselkrank¬
heiten eine besondere Leistungsunfähig¬
keit gewisser Organzellen zugrunde liegt.
Diese Zellen vermögen nicht mehr in der
erforderlichen Menge die specifischen Fer¬
mente zu erzeugen, welche auf bestimmte
Atomgruppen (Traubenzucker, Harn¬
säure, Fett) eingestellt sind, um sie zur
weiteren Verarbeitung zu bringen. Solche
Auffassung führt zu deni therapeutischen
Bestreben, die fermentbildende Zelltätig¬
keit anzuregen durch Anwendung der all¬
gemeinen Heilmethoden, welche erfah¬
rungsgemäß die Gesamtafbeit der Zellen
zu befördern vermögen. Wie Luft und
Licht, Bewegung und Massage, Hydro¬
therapie und elektrische Anwendungen
sichtbarlich den Appetit heben, die At¬
mung vertiefen, den Blutumlauf be¬
schleunigen, Absonderungen und Aus-
29
226'
Die Therapie der Gegenwart 1920
Jutii
Scheidungen vermehren und das subjek¬
tive Wohlbefinden verbessern,:so dürfen
wir hoffen, daß sie auch die Einzelfunk¬
tionen der Zelle, zu denen .die Ferment¬
bildung gehört, in günstiger Weise be¬
einflussen können. Fördernden Einfluß
auf die Zellarbeit schreiben wir auch der
psychischen Behandlung zu, welche durch
Veränderung der Fühllage in geheimnis¬
voller, aber nicht zu bezweifelnder Weise
die trophischen Vorgänge beeinflußt.
Eine besondere Wirksamkeit kommt
der diätetischen Behandlung zu; sie trägt
nicht nur im Bunde mit der hygienisch¬
physikalischen Einwirkung zur allge¬
meinen Zellkräftigung bei, sondern sie
beeinflußt den Krankheitsverlauf in be-
sondererWeise, indem sie diejenigen Atom¬
gruppen aus der Ernährung auszuschalten
sucht, welche von den Fermenten nicht
mehr genügend; angegriffen werden. Wird
die Nahrung so eingerichtet, daß sie wenig
Traubenzucker oder Harnsäure oder Fett
zu bilden vermag, so ist damit freilich die
Stoffwechselkrankheit nicht geheilt, 'aber
es werden doch die lästigen und bedroh¬
lichen Erscheinungen gemildert oder be¬
seitigt, welche durch die Anhäufung der
unzersetzten Substanzen im Blute oder
Geweben entstehen. In manchen Fällen
vermag die Diätetik zur Besserung beizu¬
tragen, indem sie durch reichliche Flüssig¬
keitszufuhr eine Ausspülung des unzersetz¬
ten Materials aus den Geweben fördert.
Neben der allgemeinen und diäteti¬
schen Beeinflussung spielt die arzneiliche
Therapie der Stoffwechselkrankheiten
bisher nur eine bescheidene Rolle; immer¬
hin vermag die Zufuhr von Alkalien in
verschiedenen Situationen zu nützen, und
die Anwendung des Atophans bei der Gicht
unterstützt die Ausscheidung der Harn¬
säure aus dem Blute. Sehr wirksam ist
die Anwendung der Schilddrüsensubstanz
bei der Fettsucht, indem sie anscheinend
nach Art der physiologischen Fermente die
Zersetzung des Fettmoleküls befördert.
Eine nützliche Vereinigung der physi¬
kalisch-hygienischen mit den psychischen
und diätetischen Faktoren sowie ratio¬
neller Alkalitherapie ist in den Bade¬
kuren (Karlsbad und andere) gegeben.
1, Behandlung der Zuckerkrankheit.
Allgemeine Grundsätze: Eine
ätiologische Behandlung ist nur in den
seltenen Fällen möglich, die nachgewie¬
senermaßen durch luetische Pankreatitis
verursacht sind; allenfalls ist die psychi¬
sche Einwirkung hierherzurechnen, welche
sich bei ausgesprochen psychogener Ent¬
stehung nützlich erweist. Als ein Versuch
kausaler Therapie ist die physikalisch¬
hygienische Behandlung zu betrachten,
welche die Zelltätigkeit anregt; sie wird
durch schwache alkalische Wasser unter¬
stützt.
Die Hauptbedeutung hat die diäteti¬
sche Therapie, welche die Störung des
Zuckerhaushalts als gegeben ansieht und
ihre schädlichen Folgen zu beseitigen
trachtet. Mag nun die Anhäufung des
Zuckers im Blute (Hyperglykämie), welche
der Glykosurie zugrunde liegt, durch ver¬
mehrte Bildung in der Leber ader ver¬
minderte Zersetzung in den Endorganen
verursacht sein, wir vermögen diese An¬
häufung zu verhüten, wenn wir Zucker
und Zuckerbildner aus der Nahrung aus¬
schalten. Zuckerbildner sind in erster
Linie die Kohlehydrate, in zweiter Linie
die Eiweißkörper. In leichteren Fällen
genügt die Einschränkung oder Ent¬
ziehung der Kohlehydrate, in vielen
schwereren die Verminderung der Eiwei߬
kost, um normalen Blutzuckergehalt und
Zuckerfreiheit des Urins, und damit zu¬
gleich das Schwinden aller subjektiven
und objektiven Zeichen des Diabetes zu
erzielen. Der Blutzuckergehalt ist übri¬
gens nicht nur von der qualitativen, son¬
dern auch von der quantitativen Zu¬
sammensetzung der Nahrung abhängig.
Je geringer die Gesamtnahrungsmenge,
desto eher wird der Urin zuckerfrei; in
schwersten Fällen führt erst der Hunger
zu normalem Blutzuckergehalt. Die
Entziehung der Zuckerbildner wirkt nicht
nur symptomatisch; sie stellt auch eine
Art von Schonungstherapie dar, indem
dadurch teils die Zuckerfixation in der
Leber, teils die Fermentbildung in den
zuckerzersetzenden Zellen vermindert
wird. Durch die Schonung wird eine
Stärkung der Zellen erstrebt. In der Tat
führt längere Kohlehydrat-..(und Eiweiß-)
beschränkung zu späterer besserer Tole¬
ranz. Ein wesentlicher Nachteil der Ent¬
ziehungskuren würde einerseits in Unter¬
ernährung liegen, ihr begegnet man durch
Fettgaben; andererseits im Auftreten von
Ketonkörpern, welche sich beim voll¬
kommenen Fehlen von Kohlehydraten
anhäufen und zur Gefahr der Säurever¬
giftung führen. In solchen Fällen, bei
welchen die Kohlehydratentziehung nicht
zur Zuckerfreiheit des Urins, wohl aber
zur reichlichen Ausscheidung von Acet-
essigsäure führt, werden zu Heilzwecken
bei wesentlicher Eiweißbeschränkung mit
227
Juni Die Therapie der
viel Fett reichlich Kohlehydrate in Form
der Mehlkuren gegeben; es scheint, daß
die Darmgärung die Kohlehydrate in
eine über den Traubenzucker hinab¬
gehende Atomgruppierung versetzt, wel-
clie sie für die Zellfermente angreifbar
und zersetzlich macht. Ist doch schon
der Caramelzucker, welcher durch Er¬
hitzen des Traubenzuckers entsteht und
diesem chemisch ganz nahe steht, vom
schwersten Diabetiker leicht zersetzlich.
Der Erfolg der diätetischen Maßnahmen
bleibt immer von der Intensität der dia¬
betischen Stoffwechselstörung 'abhängig;
ist diese sehr weit vorgeschritten,- sind
also die zuckerfixierenden beziehungs¬
weise fermentbildenden Zellen so insuffi¬
zient, daß bei der wesentlichen Herab¬
setzung des Zuckerabbaues sich reichlich
Acidosekörper anhäufen, so erfordert die
drohende Komagefahr dauernd große
Dosen alkalischer Salze.
Spezielle Behandlung. Jede Dia-
betikerbehandlung beginnt mit der rech¬
nungsmäßigen Gegenüberstellung der in
24 Stunden genossenen und durch den
Urin ausgeschiedenen Zuckermengen. Man
muß also den Kohlehydratgehalt der Nah¬
rungsmittel berechnen und eine quan¬
titative Zuckerbestimmung machen.
Als Diabetiker ist jeder Patient zu be¬
handeln, der nach Genuß von etwa 250 g
Brot mehr als 10 g Zucker ausscheidet ^).
Bleibt die Zuckerausscheidung auch bei
wiederholten Proben und selbst nach reich¬
lichem Genuß gesüßter Speisen dauernd
so gering, so darf man eine so leichte Form
von Diabetes annehmen (wahrscheinlich
renaler Natur), daß man von besonderen
Diätvorschriften absehen kann und sich
mit gelegentlicher Urinkontrolle be¬
gnügt. Andererseits darf man Patienten,
die diabetesverdächtig sind, nicht als ge¬
sund betrachten, wenn eine einmalige
Urinprobe zuckerfrei ist; die Probe ist
vielmehr nach reichlichem Brotgenuß zu
wiederholen. Als diabetesverdächtig muß
jeder Patient gelten, bei welchem sich
Zeichen verminderter geistiger oder kör¬
perlicher oder sexueller .Leistungsfähig¬
keit ohne erkennbare Ursache einstellen.
Wenn man dieses Satzes eingedenk ist,
wird wohl kein Diabetiker der rechtzei¬
tigen Behandlung entgehen, der nicht
0 In der ärztlichen Umgangssprache würde
man sagen, der nicht mehr als 0,2% Zucker im
Urin hat. Aber ich brauche nicht zu wiederholen,
daß die Prozentzahl wenig bedeutet. Die klinische
Untersuchung erfordert auch die Bestimmung
des Blutzuckers; in der Praxis kann man meist
ohne dieselbe auskommen.
Gegenwart 1920
erst den Arzt aufsucht, wenn er hoch¬
gradig abgemagert oder von wütendem
Durst gequält ist. Ist der Diabetes er¬
mittelt, so ist seine dfätetische Behand¬
lung von der Feststellung der Form ab¬
hängig. Als leicht wird 5er Fall bezeich¬
net, wenn der-Patient bei kohlehydrat¬
freier Kost im Urin weder Zucker noch
Acetessigsäure ausscheidet ,und auch
zuckerfrei bleibt,, w^nn er etwa 100 g
Brot in 24 Stunden genießt. Eine mittel-
,schwere Form nehmen wir an, wenn der
Patient bei kohlehydratfreier Ernährung
20—30 g Zucker mit mäßiger Eisen¬
chloridreaktion im Urin ausscheidet und
wenn die Zuckermenge nach etwa 100 g
Brot auf 30—40 g steigt,, während die
Eisenchloridreaktion danach verschwin¬
det. Der schweren Form gehört ein Pa¬
tient an, der nach der Probekost 40—50 g
Zucker mit reichlicher. Acetessigsäure aus¬
scheidet und die letztere auch nach reich¬
licher Brotkost nicht leicht verliert.
Die Behandlung jedes Diabetikers hat
also mit einer dreitägigen Probekost zu
beginnen, die etwa folgendermaßen zu¬
sammengesetzt ist:
Erstes Frühstück: Tee oder Kaffee
ohne Milch, eventuell mit Eigelb abge¬
rührt, auf Wunsch mit Sacharin gesüßt.
Zweites Frühstück: zwei weiche Eier
mit Butter.
Mittag: Klare Bouillon mit Ei, eine
reichliche Fleisch- (beziehungsweise Ge¬
flügel) oder Fischportion mit fetter Sauce,
ohne Mehl bereitet, grüner' Salat. Käse.
Selterwasser mit Kognak.
Nachmittag:- Kaffee oder Tee wie
morgens.
Abends: Rührei aus vier Eiern mit
reichlich Butter. Käse. Selterser mit
Kognak.
Wenn der Patient am dritten tage
zuckerfreien Urin ohne Eisenchloridreak¬
tion hat, so muß seine Toleranz be¬
ziehungsweise Assimilationsgrenze fest¬
gestellt werden, d. h. es ist durch stei¬
gende Kohlehydratzulagen auszupro¬
bieren, wieviel Kohlehydrat er essen
kann, ohne daß Zucker im Urin auftritt.
Für die leichten Forrnen gilt als Regel,
daß sie mittlere Eiweißmengen, aus¬
reichend Fett und soviel Kohlehydrat
erhalten, als sie ohne Glykosurie ver¬
tragen. Man würde der Probekost am
zweiten zuckerfreien Tage etwa 100 g
Brot zulegen, in mehreren Portionen mit
viel Butter gegeben,, und je nach dem
Ergebnis der Urinprobe die weitere Ver-
1 Ordnung treffen. Bleibt der Patient nach
29 *
228,
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juni
100 g BrOvt zuckerfrei, so bekommt er
am nächsten Tage 150 g, hat er nach
•100 g mehr als 10 g Zucker aüsgeschieden,
so bekommt er am nächsten Tage 50 und
so fort, bis die Toleranzgrenze erreicht ist.
Innerhalb dieser ist nun die diätetische
Verordnung für die nächsten Wochen zu
treffen; nach einiger Zeit ist zu kontrollie¬
ren, ob die Toleranz sich verschoben hat
und anderweite Verordnungen nötig
macht. Sowohl für die Probetage als
auch für die diätetische Verordnung ist
es angenehm, die Äquivalentmengen der
Kohlehydrate zu kennen, welche 100 g
Brot entsprechen. Dies sind etwa 125 g
Grahambrot, 150 g Aleuronatbrot, 80 g
Weizenmehl, 90 g Hafer- oder Gersten¬
oder Reismehl, 90 g Nudeln oder Makka¬
roni,'200 g frische Erbsen oder Bohnen,
120 g trockene Erbsen, Linsen, Bohnen,
600 g Karotten, Kohlrabi, Spargel,
^ Schneidebohnen, Orangen, Äpfel, Birnen,
Ananas, Melonen, 750 g Stachelbeeren,
Johannisbeeren, Aprikosen, Pfirsich,
1300 g Milch, 1500 g Bier.
Außer der quantitativen Zumessung
von Kohlehydrate erfordert die' Diätetik
die Festsetzung der erlaubten Gesamt¬
menge. Auch leichte Diabetiker neigen
dazu, zuviel zu essen; sicherlich aber ist
es für sie im allgemeinen und für den
Zuckerhaushalt im besonderen am besten,
wenn sie nicht über das notwendige
Calorienbedürfnis hinaus ernährt werden.
Eiweiß sollen sie in mäßigen ‘ Mengen
genießen (höchstens 100 g) also von
Fleisch oder Fisch nicht über 250 g täg¬
lich, wozu noch zwei bis vier Eier, 30 bis
40 g Käse kommen. Auch im Brot und
den übrigen Mehlfrüchten, in Kartoffeln
und Gemüsen ist ja Eiweiß vorhanden.
Der Ausfall an Calorien, den die Kohle¬
hydratbeschränkung mit sich bringt, ist
durch Fette gutzumachen; durch vier
Eier und* 30 g Käse werden 25 g Fett
zugeführt, etwas ist im fetten Fleisch
und den Saucen enthalten, der Rest,
der je nach der notwendigen Höhe der
Kohlehydratbeschränkung zwischen 70
und 150 g schwankt, wird als Butter oder
Schmalz zugeführt, teils als Brotauf¬
strich, teils mit den Speisen zubereitet,
wobei besonders die Gemüse und Kar¬
toffelbrei als Fettträger in Betracht kom¬
men. Unter den Kohlehydraten verdienen
die jungen Gemüse, Spinat, Spargel,
junge Kohlrabi, Blumenkohl, Artischok-
ken, Pilze die häufigste Anwendung.
Schneidebohnen, Erdschocken (Topi¬
nambur), sowie die Sojabohne sind noch
besonders zu empfehlen, weil sie ein vom
Diabetiker assimilierbares Kohlehydrat,
Inulin, enthalten. Aus säuerlichen Früch¬
ten (Äpfel, Sauerkirschen, Preißelbeeren,
Johannisbeeren) sind mit Sacharin Kom¬
potts zu bereiten. Kleine Mengen Milch
sind innerhalb der Toleranzgrenze ge¬
legentlich ebenso erwünscht wie Bier,
das mit seinen 4 % Dextrin beinahe die¬
selben Anforderungen stellt. Daß Pilsener
Bier wegen seiner Bitterstoffe besonders
unschädlich ist, wird von den Diabetikern
gern geglaubt, ist aber natürlich eine
Fabel. Das Alkoholbedürfnis wird am
besten durch Cognak, Whisky, Kirsch¬
wasser, sonst durch rote und herbe Weine
befriedigt. Sekt mit seinem Traüben-
zuckergehalt ist zu meiden. Beim Brot
ist der Kohlehydratgehalt im Verhältnis
zu dem besonders in den Schalenbestand¬
teilen enthaltenen Eiweiß um so geringer,
je dunkler und stärker ausgemahlen das
Brot ist; also ist Schwarzbrot relativ
besser als Weißbrot; Kriegsbrot, Schlüter¬
brot, Grahambrot empfehlenswert. Die
Industrie stellt aus eiweißreichem Mehl
spezielles Diabetikerbrot her, welches 20
bis 50% Kohlehadrat enthält (Roborat-,
Gluten-, Congluten-, Leukonbrot, Mandel¬
gebäck, besonders sogenannte Luftbröt¬
chen), welche wohl empfehlenswert sind, zu¬
meist aber auf die Dauer den Patienten den
richtigen Brotgeschmack nicht ersetzen.
Unter Zugrundelegung dieser Angaben
kann man den Patienten einen sehr
mannigfachen und vielseitigen Speise¬
zettel zusammenstellen, bei dem sie keine
Entbehrung zu empfinden brauchen. Es
ist ratsam, intelligente Patienten mit den
Grundsätzen der Schonungstherapie be¬
kannt zu machen, ihnen das notwendige
Zahlenmaterial zu geben und sie einer
gewissen diätetischen Selbstbestimmung
zu überlassen. Es mag sein, daß manche
Patienten in Spezialanstalten am besten
zur Diätetik erzogen werden; aber die Er¬
fahrung vieler Fälle beweist, daß jeder Arzt
in der Privatpraxis in der Lage ist, wenig¬
stens nicht allzu schwere Fälle richtig zu
beurteilen, zu erziehen und zu behandeln.
Obwohl die Speisenwahl und Ein¬
teilung sich hiernach leicht ergibt und
ärztlich geschulte Patienten beziehungs¬
weise ihre Umgebung es in der diäteti¬
schen Küche zu großer Gewandtheit brin¬
gen, will ich doch einen paradigmatischen
Speisezettel eines leichten Diabetikers
geben, dessen Assimilationsgrenze bei 60 g
Kohlehydrat (100g Brot) gelegen ist: Erstes
Frühstück: Kaffee mit wenig Milch, zwei
Juni ' Die Therapie der
Luftbrötchen mit 40 g Butter; zweites
Frühstück: Rührei aus drei Eiern mit*
20 g Butter, 30 g Schinken, zwei Glas
Rotwein; Mittag: Bouillon mit Einlauf
und Ei, 150 g Kalbfleisch mit fetter Sauce,
drei Kartoffeln, 200 g Spinat mit einem Ei,
50 g Apfelkompott, Selterser mit Kognak;
nachmittags: Kaffee mit wenig Milch;
abends: 100 g Fisch mit Salat, zwei Lüft¬
brötchen mit 40 g Butter und 50 g Käse.
Leichte Diabetiker können ihrer Be¬
rufsarbeit ruhig nachgehen; sie sollen be¬
sonders Erregungen nach Möglichkeit aus
dem Wege gehen, ihrer Hautpflege mit
Bädern und Waschungen besondere Auf¬
merksamkeit widmen, in jedem Falle für
ausreichende körperliche Bewegung sor¬
gen,. bei gutem Kräftezustand eventuell
angemessenen Sport treiben. Gelegentlich
Trinkkuren in Karlsbad sind nützlich
und tragen oft zur diätetischen Schulung
der Patienten bei; auch Bewegungskuren
im Gebirge sind zu empfehlen.
Die Behandlung der miüelschweren
und schweren Diabetiker ist in vieler
Beziehung verschieden. Als schwere
Diabetiker kennzeichnen sich diejenigen
Patienten, welche nach der dreitägigen
Probekost noch Zucker im Harn und
gleichzeitig Acetessigsäure ausscheiden;
diese Patienten sind als fleisch- be¬
ziehungsweise eiweißempfindlich zu be¬
trachten, und es ist die Hauptsorge der
Behandlung, ihnen das Eiweiß nach Mög¬
lichkeit zu beschränken, während die
Kohlehydratentziehung zwar auch wichtig
ist, aber doch erst in zweiter Linie steht.
Hauptnahrungsmittel sind für diese
Patienten die Fette, von denen ihnen so¬
viel zugeführt wird, als sie vertragen;
zur besseren Verdauung der Fette tragen
alkoholische Getränke bei, die auch als
Calorienträger in Betracht kommen. Die
Patienten erhalten an Eiweiß in Fleisch,
Fisch, Eiern und Käse weniger als 100 g,
von Kohlehydraten ohne Rücksicht auf
die Zuckerausscheidung soviel, daß die
Eisenchloridreaktion verschwindet. Ge¬
wöhnlich sind dazu 150 bis 200 g not¬
wendig, die man in reichlichen Gemüse¬
gaben, daneben in Brot, Kartoffeln, Milch
und Mehlspeisen darreicht. Ist die Eisen¬
chloridreaktion verschwunden, so setzt
man die Brot- und Kartoffelration allmäh¬
lich herab, ohne aber die Fleischmengen
zu vergrößern. Braucht man zu große
Brotmengen zum Fortbringen der Keton-
urie, so bedient man sich der Hunger-,
Gemüse- und Mehlkuren, um sie zum
Verschwinden zu bringen. Man gibt an
Gegenwart 1920 229
einem Tage, nur Kaffee, Tee, Bouillon mit
kleinen Gemüseportionen und wenig
Schwarzbrot mit Butter, am darauf folgen¬
den Tage dazu drei bis vier größere. Ge¬
müseportionen und am vierten, fünften,
sechsten Tage je vier- bis fünfmal einen
Mehlbrei, , der aus 30 bis 50 g Mehl mit
ebensoviel Butter und 200 bis 250 g Wasser
gekocht ist. Gemüse ist auch an den
Mehltagen frei, allenfalls auch einige Eier.
Den Mehltagen folgt wieder ein Gemüse¬
tag; sollte die Acetessigsäure noch nicht
verschwunden sein, eventuell noch ein'
Hungertag. Welches Mehl zu den Kur¬
tagen gebraucht wird, ist gleichgültig,
man hat die Wahl zwischen Weizen-,
Hafer-', Gerste-, Reismehl, man kann
statt des Mehlbreies gelegentlich auch
Reisbrei und Kartoffelbrei einschalten.
Auch Milchtage sind gelegentlich nützlich,
besonders bewährt sich Yoghurt. Meist
werden solche Kuren gut vertragen, oft
haben sie den Erfolg, die Zuckerausschei¬
dung herabzusetzen und vorher hart¬
näckig bestandene Diaceturie zum Ver¬
schwinden zu bringen. Bleibt die Mehl¬
kur erfolglos, so ist einige Zeit wieder
eiweißarme, fettreiche, gemischte, aber
knappe Kost zu reichen und dann die
Mehlkur zu wiederholen. Je weniger sie
Eindruck macht, desto schlechter die
Prognose. Patienten, die länger Acet¬
essigsäure ausscheiden, sollten in dieser
Zeit stündlich eine bis zwei Messerspitzen-
Natron bicarbonicum oder Kalium car-
bonicum einnehmen; die ideale Forde¬
rung, ihnen soviel Alkali zuzuführen, daß
die Reaktion des Urins neutral wird, ist
in den ganz schweren Fällen nicht zu ver¬
wirklichen. Wenn solche Patienten ins¬
besondere nach Kohlehydratkuren und
Alkaligaben Ödeme bekommen (soge¬
nannte Haferödeme), so ist mit der Diät zu
wechseln, insb esondere relativ mehr Fleisch
zu reichen, dazu Diuretin zu verordnen.
Auch hier gebe ich einen paradigma¬
tischen Speisezettel, wie er einem schwe¬
ren Diabetiker nach Absolvierung einer
Haferkur verordnet wurde: Morgens:
Kaffee mit Milch, 30 g Brot mit Butter,
ein Ei; vormittags: ein viertel Liter Milch,
zwei Eier, zwei Luftbrötchen mit Butter;
mittags: Bouillon mit Ei, 125 g Kalbs¬
schnitzel mit 150 g Spargel, 50 g Brat¬
kartoffeln, Preißelbeeren, eine viertel
Flasche Rotwein; nachmittags: Kaffee mit
50 g Milch, zwei Luftbrötchen mit Butter;
abends: Spinat mit Ei, ein viertel Liter
Milch mit zwei Teelöffel Kognak, 50 g
Brot mit Butter und Käse.
230
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juni
Schwere Diabetiker bedürfen der Scho¬
nung je nach dem Grade der Krankheit.
Die Hautpflege ist auch hier sehr wichtig,
die Körperbewegung einzuschränken;
hochgradige Acidotiker gehören ins Bett.
Medikamentöse Behandlung ist außer der
Alkalitherapie nicht ratsam; großer Durst
ebenso wie allgemeine Unruhe wird durch
kleine Opiumgaben bekämpft, (täglich
fünfmal 0,01 Extr. Opii), dem von einigen
auch ein krankheitsmildernder Einfluß
zugeschrieben wird. Hefepräparate, wel¬
che assimilierbare Zuckerabbaustufen im
Darm erzeugen sollten, haben sich prak¬
tisch nicht bewährt; doch bleibt es un¬
benommen, gelegentlich die im Handel
vorkommenden Präparate (z. B. Fermo-
cyltabletten) auszuprobiereri. Karlsbader
Kuren sind ratsam, solange der Kräfte¬
zustand der Patienten sie gestattet.
Coma diabeticum. Wenn im Laufe
von Entziehungskuren Mattigkeit und
Unbesinnlichkeit eintritt, so ist die Diät
sofort zu ändern und. in jedem Falle
reichlich Milch, Mehlbrei, eventuell Brot
und KartoffHn, jedenfalls auch Wein und
Kognak zu geben. Läßt die Herzkraft
nach, so ist Campher und Coffein anzu¬
wenden. Wenn vorher Alkalitherapie
noch nicht stattgefunden hat, so ist sie
sofort einzuleiten; Natrium bicarbonicum
beziehungsweise Calcium carbonicum ist
innerlich soviel zu geben, als der Patient
verträgt. Wird der Patient bewußtlos, so
mache man intravenöse Infusion zuerst
von 1 1 5 %iger Natrium bicarboni-
cura-Lösung, nach einigen Stunden von
1 1 5%iger Traubenzucker-Lösung.
Erwacht der Patient aus dem Coma, so
sind alsbald Mehlkuren zu unternehmen.
Diabetische Gangrän. Tritt die¬
selbe bei leichten Fällen auf, so ist Kohle¬
hydratentziehungskur mit größter Energie
durchzuführen; nur der normale Zucker¬
gehalt des Blutes verspricht die Ab¬
stoßung, Granulierung und Ausheilung
des nekrotischen Gewebes. Die lokale
Behandlung besteht in trockener Ein¬
packung des brandigen Teiles, bei feuchter
Gangrän nach geschehener Einpuderung
•mit Dermatol oder Airol, unter gleich¬
zeitiger stundenlanger Anwendung einer
Bier sehen Stauungsbinde. Chirurgische
Eingriffe sollen in solchen Fällen unter¬
bleiben, solange der gangränöse Prozeß
nicht fortschreitet. — ln schweren Fällen
mit starker Eisenchloridreaktion, die nicht
zu entzückern ^sind, ist der chirurgische
Eingriff schnell indiziert, wenn der gan¬
gränöse Prozeß vorschreitet beziehungs¬
weise mit Fieber einhergeht. Dann ris¬
kiert man mit Abwarten Coma oder
Sepsis; man tut gut, schnell zur hohen
Absetzung des brandigen Gliedes zu raten.
Abwarten wäre bei schweren Diabetikern
nur zu rechtfertigen, wenn die gangränöse ,
Stelle klein ist, langsam vorschreitet und
keine Allgemeinerscheinungen bestehen.
Dann bleibt noch Zeit, den Erfolg von
Hunger- und Mehlkuren abzuwarten, der
manchmal das Blut entzückert und zum
Rückgang der Gangrän führt.
Das Auftreten derjenigen Kompli¬
kationen, die offensichtlich der Hyper¬
glykämie ihre Entstehung verdanken,
Juckreiz, Impotenz, Furunkulose,
Lungentuberkulose machen systema¬
tische Anwendung der diätetischen Ma߬
nahmen notwendig, die zur Zuckerver¬
armung des Blutes führen. Selbstver¬
ständlich sind neben dem antidiabetischen
Regime die physikalischen und hygieni¬
schen Methoden zu verordnen, die der
jeweilige Krankheitszustand notwendig
macht. In all diesen Komplikationen
wird die Diät so verordnet, wie es dem
Grade der diabetischen Störung zukommt.
Soweit der Diabetiker sich als leicht er¬
weist, muß Kohlehydratentziehung streng
durchgeführt werden, auch wenn die
komplizierende Krankheit, z.B. die Phthise,
schwer ist. Nur bei Herzbeschwerden ist
die Entscheidung etwas anders zu fällen.
Herzneurosen der Diabetiker pflegen auf
Entzuckerung sich zu bessern, während
Patienten mit wirklicher Angina pectoris
selbst bei leichtem Diabetes auf strenge
Entziehung leicht mit Kollaps reagieren.
Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen.
32. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin,
Dresden, 20.^—23. April 1920.
Bericht von G. Klemperer. (Fortsetzung)
Die Nachmittagssitzung des ersten
Kongreßtages war den Vorträgen über
Tuberkulose Vorbehalten. Lieber¬
meister (Düren), dessen Thema die Im-
munotherapie war, betonte das leichte
Übergehen sogenannter inaktiver Form
in schnelle Progredienz, wie es im Kriege
sehr oft zu beobachten war. Die Kon-
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1920
231
i
stitution sei nicht maßgebend für den
Erfolg der Behandlung, da die sogenannte
asthenische Konstitution erst durch die
Tuberkulose verursacht sei; oft gelingt
es, dieselbe durch die Tuberkulinbehand¬
lung umzustimmeh, wenn sie nur lange
genug, mindestens vier Monate, fortge¬
setzt wurde. Es sei immer noch nicht
sicher zu sagen, wann man mit der Tuber¬
kulinkur aufhören solle. Anzustreben sei
die biologische Heilung, bei der genügend
Schutzkörper im Blute gebildet wären.
Bei unbehandelten Tuberkulösen seien
solche nicht vorhanden, aber langdauernde
Behandlung vermöge sie anzuhäufen und
es bestände die Aussicht, daß solches
Immunserum zur Behandlung verwertet
werden könnte. Im Gegensatz zu Lieber¬
meister legte der nächste Vortragende
A. Mayer (Berlin) den Konstituti ons-
verhältnissen eine außerordentliche Be¬
deutung bei; er bezeichnet schon im
Thema die Konstitution „als differenzie¬
rendes Prinzip für die Immunotherapie
der Tuberkulose^*. Der Vortrag bewegte
sich in dem Gedankengang und der Aus¬
drucksweise der modernen Konstitutions¬
forscher, wie sich aus dem folgenden Re¬
ferat ergibt: „Alle Sympathiker sind ge¬
setzmäßig durch eine sehr hochliegende
Immunitätskurve und eine positiv ge¬
richtete dynamische Kurve, alle Astheni¬
ker durch eine sehr niedrigliegende, dyna¬
misch negative, vor allem auch durch den
Mangel an Fettantikörpern charakteri¬
siert. Mit dem Einsetzen der regressiven
Umbildung des lymphatischen Gewebes
sinkt meist mit gleichzeitigerEntwick-
lung asthenischer Komplexe die Im¬
munitätskurve. Dies steht in Überein¬
stimmung mit dem günstigen Verlaufe der
Tuberkulose bei Lymphatikern und dem
ungünstigen bei Asthenikern. Beim
Lymphatismus ist das Konstitutionelle
das Entscheidende. Die Asthenie ist ein
genotypisch geformter Phänotypus, eine
echte, wahrscheinlich germinativ bedingte
Konstitutionsform. Die konstitutionell
bedingte Reaktionsfähigkeit entspricht
der Disposition. Als ein weiterer Maßstab
für die Konstitution ist der Iinmunitäts-
zustand gegenüber der Tuberkulose zu
verwenden.**' Auf den praktischen Boden
der Therapie zurück führte der Vorträg
von D eycke (Lübeck) über die specifische
Behandlung der Tuberkulose mit den
Partigenen. Bekanntlich sind die theo¬
retischen und experimentellen Grund¬
lagen dieser Methode noch nicht als ge¬
sichert zu betrachten, worüber demnächst
in dieser Zeitschrift ausführlich gehandelt
werden wird. Demgegenüber sind die
praktischen Erfolge, über die Deycke
selbst berichten konnte, höchst beach¬
tenswert.. Von 1397 Kranken aller Formen
und Stadien wurde in 82,5 % der Fälle ein
günstiges Ergebnis erzielt. Besonderen
Wert mißt Deycke einer Statistik bei,
die ihre Entstehung einem mehrjährigen
Zusammenarbeiten mit der Hanseati¬
schen Landesversicherungsanstalt ver¬
dankt. Von 335 Lungenkranken, die nach
abgeschlossener Partigenbehandlung noch
zwei Jahre beobachtet wurden, sind 300
(89%) gesund und vollkommen arbeits-
und erwerbsfähig geblieben. Bock (Ber¬
lin) berichtete über „Erfahrungen mit dem
Friedmannschen Heil- und Schutz¬
mittel gegen die Tuberkulose. Der Vor¬
trag brachte nur persönliche ärztliche
Beobachtungen, ohne die vielen nahe¬
liegenden Streitfragen zu berühren. Alle
behandelten Frühfälle, „ausgesprochene
Spitzenfälle** wurden günstig beeinflußt.
Die Indikationsstellung muß sehr vor¬
sichtig sein, kombinierende und inter-
kurrierende Krankheiten stellen den Er¬
folg in Frage. Hoffnungsreiche Aussich¬
ten eröffnete der Vortrag von Strub eil
(Dresden) über Tuberkulose-Immun¬
milch. Da die Widerstandsfähigkeit
gegen Tuberkulose mit dem Lebensalter
und durch den Kontakt mit dem Krank¬
heitsgift steigt, so sollte der specifische
Tuberkuloseschutz schon im Mutterleibe
beginnen. Dies läßt sich auf dem Wege
des Placentarkreislaufs erreichen. Nach
der Geburt kann die Immunisierung beim
Menschen und beim Kinde nach Ansicht
des Vortragenden durch Verabreichung
von artgleicher Tuberkulose-Immunmilch
erreicht werden; Strub eil glaubt in der
Milch wie im Blutserum der Gesäugten
„alle Partialantikörper gegen Tuberku¬
lose** nachgewiesen zu haben. Danach
ist die Verwendung des Säuglingsschutzes
durch Ammen bei Kindern nicht artders
wie durch Ammenkühe bei Kälbern zu
fordern. Die Verwendung artfremder
Milch begegnet theoretischen und prak¬
tischen Schwierigkeiten wegen der Re¬
sorption des artfremden Milcheiweißes.
Doch hält Strub eil es für bewiesen, daß
größere Kinder aus der Immunmilch von
•Kühen Fettantikörper resorbieren. Er
hält danach die praktische Anwendung
der Tuberkulose-Immunmilch zur Er¬
zielung eines wirksamen Schutzes nur
noch für eine Frage der Zeit.
Ähnlich gute Zukunftsaussichten er-
232
Die Therapie der Gegenwart 1920
I
Juni
Öffnete Reuter (Frankfurt .a. M.) in
seinem Vortrage überKrysolganbehand-
lung der Tuberkulose. Er hat mit diesem
Goldpräparat (Natriumsalz einer Auro-
phenolsäure, vergleiche den Aufsatz von
Frankenthal, 1919, S. 164) specifische
Herdreaktionen und gute therapeutische
Erfolge erzielt. Wenn Krysolgan allein
nicht wirkte, so bewährte sich eine Kom¬
bination mit Tuberkulin. Eine Ver¬
schlimmerung ist auch nach intensiven
Herdreaktionen nicht aufgetreten, trotz¬
dem wird namentlich für kombinierte
Kuren Krankenhausbehandlung emp¬
fohlen.
Die anschließende Aussprache war im
ganzen auf den aktiv-optimistischen Ton
der Vortragenden gestimmt, nur wenig
Stimmen abwägender Kritik wurden laut.
Altstädt (Lübeck) rühmte die kombi¬
nierte Behandlung mit Bestrahlung und
Partialantigenen, die insbesondere bei
Knochentuberkulose und Lupus zu einer
Abkürzung der Behandlungsdauer führte.
Auch Klaare (Scheidegg) hat von der
D eycke-Müchschen Behandlung nur
Gutes erfahren; er rühmt ihre Unschäd¬
lichkeit und die relativ kurze Behandlungs¬
dauer besonders in Verbindung mit Be¬
strahlungen. Zu den Lobrednern der
Partialantigene gehört auch Kremser
(Sülzhayn), der auf Grund großer stati¬
stischer Zahlenreihen die zweifellose Über¬
legenheit der specifischen gegenüber den
unspecifischen Behandlungsmethoden an¬
erkennt. Unter allen specifischen Ver¬
fahren leistet das Deycke-Muchsche
am meisten; es brauche keineswegs aus¬
schließlich in Krankenhäusern oder Sana¬
torien durchgeführt werden, sondern es sei
von jedem geschulten Arzt durchzuführen.
Wie schwierig die Beurteilung even¬
tueller Heilerfolge ist, geht aus der
verschiedenen Bewertung der für die
Diagnostik entscheidenden Zeichen hervor.
Über die Pirquetsche Reaktion sprach
Curschmann (Rostock); bei einwand¬
freier Technik hält er sie für einwandfrei
und mit ihrer Hilfe findet er die Morbidität
des Kindesalters ganz erheblich gestei¬
gert. Saathoff (Oberstdorf) hält da¬
gegen auch die negative Pirquetreaktion
nicht für beweisend; man kann nach ihm
den Beginn der Tuberkuloseerkrankung
gar nicht früh genug ansetzen. Fast alle
Erwachsenen, die eine inaktive Tüber-
kulose haben, zeigen angeblich eine folli¬
kuläre Schwellung der Lymphfollikel im
äußeren unteren Augenwinkel. Gerade
dies Symptom zeigen auch viele kleine
Kinder, und daraufhin diagnostiziert
Saathoff auch beim Fehlen anderer
Zeichen bei ihnen latente Tuberkulose.
Demgemäß nimmt Saathoff vor dem
klinisch aktiven und natürlich vor dem
manifesten Stadium nicht nur ein Latenz¬
sondern auch ein biologisch aktives Vor¬
stadium an. Die experimentellen Grund¬
lagen der specifischen Therapie berührte
Jakobsthal (Hamburg), welcher Tiere
abwechselnd mit Friedmannschen Ba¬
cillen und mit Tuberkulin behandelte; es
zeigte sich bei diesen Impfungen ,,über
Kreuz“, daß keine Verwandtschaft zwi¬
schen den verschiedenen Immunitäten be¬
steht. Die Partialantigene erwiesen sich
im Tierversuch als unwirksam.
Zur Theorie der Partialantigentherapie
äußerte sich auch Königer (Erlangen),
welcher im Verfolg seiner Phasentheorie
(S. 96) die Wirkung der Teilantigene auf
die kurzen Pausen zwischen den Injek¬
tionen, im übrigen auf die Ausnutzung
der unspecifischen Komponenten zurück¬
führte.
Das Schlußwort der Tuberkulose¬
diskussion sprach der Schreiber dieses
Berichts, welcher gerade vertretungsweise
den Vorsitz führte: Bei der Beurteilung,
der Heilerfolge sollte man sich .immer
wieder die Frage vorlegen, ob im Einzel¬
fall die Diagnose einwandfrei gestellt sei
und wieweit die Wirkung der natürlichen
Heilfaktoren, die so oft allein dem Phthi¬
siker Heilung brächten, berücksichtigt sei.
Sicher ist, daß wir mit vielen Methoden
die Heilung des tuberkulösen unter¬
stützen können, aber ein Heilmittel gegen
die Tuberkulose haben wir bisher noch
nicht empfangen. (Fortsetzung folgt.)
Bericht über die 44. Versammlung der Deutschen Gesellschaft
für Chirurgie vom 7. bis 10. April 1920.
Von W. Klink, Berlin. (Fortsetzung)
Eine längere Besprechung fanden die
chirurgischen Erkrankungen des Central¬
nervensystems. Breslauer sprach zur
Theorie der Hirnerschütterung. Er wies
darauf hin, daß bisher im Tierversuche
nur Bewußtlosigkeit durch dauernde
Hammerschläge auf den Kopf erzeugt sei,
aber niemals Hirnerschütterung. Dieser
Versuch hat für die Entstehung der Hirn¬
erschütterung keine Bedeutung. Das ein-
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1920
233
zig Feststehende bei der Hirnerschütte¬
rung ist das Trauma, und das ist keine
Erschütterung des Schädels durch wieder¬
holte Einwirkungen, sondern ein einziger
Stoß und Kompression des Gehirns. Das
ganze Großhirn ist unempfindlich. Schlägt
man beim Hunde, dem das ganze Gro߬
hirn freigelegt ist, mit beiden Händen
auf das Großhirn, so erschrickt das Tier,
aber es tritt keine Hirnerschütterung ein.
Bewußtlosigkeit entsteht erst, wenn man
das ganze Großhirn in die hintere Schädel¬
grube hineinpreßt. Das Kleinhirn ist auch
unempfindlich. Legt man die Hirnbasis
vom Rachen her frei und faßt den Hirn¬
stamm an, so stirbt das Tier an Atem¬
lähmung. Bei vorsichtigem Vorgehen
läßt sidh feststellen, daß Hirnstamm und
Medulla oblongata ungeheuer empfind¬
lich sind. Je nachdem man mehr oder
weniger kräftig anfaßt, tritt Vaguskom¬
plex oder Bewußtlosigkeit ein. Der einzig
empfindliche Teil gegen das, Trauma ist
der Hirnstamm. Ein Trauma, das
vordere und hintere Schädelgrube trifft,
erzeugt von der Oblongata aus die Be¬
wußtlosigkeit. An der alten Rinden¬
theorie kann man nicht m€hr festhalten.
Das Bewußtsein sitzt nicht in der Me¬
dulla oblongata, aber auch nicht in einem
bestimmten Teil der Hirnrinde oder
überhaupt in der Hirnrinde allein. Die
Medulla oblongata ist aber der Brenn¬
punkt des ganzen Großhirns und an ihr
ist das ganze Großhirn zusammen zu er¬
fassen, und eine Kraft, die sie trifft,
trifft das ganze Großhirn.
Krause berichtet über seine hirn¬
physiologischen Erfahrungen aus dem Felde
Sehr wichtig ist die Kenntnis der ,,stum¬
men“ Teile, die an der Oberfläche des
Großhirns ziemlich ausgedehnt sind, am
Kleinhirn kleine Bezirke einnehmen, deren
Verletzung keine üblen Folgen hat. Ihre
Kenntnis ist wichtig bei der Entfernung
von Fremdkörpern und Eröffnung von
Abscessen, wo man von ihnen aus durch
die gesunde Hirnmasse vorgeht. Große
Hirnteile, besonders des Stirnhirns, kön¬
nen zerstört werden, ohneschwerere Folgen,
als eine große Hilaritas zu verursachen.
Bei einer Reihe von Hirnkrankheiten,
die zur Hirnschwellung führen, bringt die
dekompressive Trepanation Heilung. Sie
wird natürlich von stummen Gebieten
aus gemacht. —Vordere Centralwindung:
Es besteht ein großer Unterschied zwi¬
schen oberflächlicher und tiefer Ver¬
letzung. Verletzungen der Oberfläche
erzeugen Monoplegien; in der Tiefe kann
der kleinste Splitter völlige Lähmung er¬
zeugen. An die Monoplegie können sich
heue Lähmungen anschließen. Sind sie
auf aseptischer Basis entstanden, so
gehen sie zurück und sind ungefährlich.
Sie treten auch nach operativer Ent¬
fernung kleinster Teile auf. Es gehen oft
erstaunliche Lähmungen zurück und nur,,
wenn große Teile der Hirnrinde zertrüm¬
mert sind, bleiben sie bestehen. Krampf¬
zustände können durch jede Reizung der
Centralwindung ausgelöst werden; schon
durch den Verbandwechsel. Sie haben
immer Jacksonschen Charakter und
können zur Bewußtlosigkeit führen; doch
kann diese auch fehlen. Die Krämpfe
können auch im gelähmten Glied be¬
ginnen. — Die hintere Centralregion ist
ein Aufnahmeorgan; ihre Reizung er¬
zeugt Schmerzen auf der gekreuzten
Seite. — Das sensorische Sprachcentrum
sitzt in der oberen Schläfenwindung, das
motorische in der Brocaschen Windung.
Bei Verletzung der letzteren tritt motori¬
sche Aphasie auf, nach einigen Tagen
auch sensorische. Die musikalischen Aus¬
drucksfähigkeiten liegen in der rechten
Brocaschen Windung. So kann ein
Verletzter mit Aphasie eine Melodie pfei¬
fen und singen und sogar den Text dazu
singen, obwohl er ihn ohne Singen nicht
sprechen kann. — Sehstörungen: Alle
Verletzungen des Occipitalgebietes führen
zu Sehstörungen, wenn sie einigermaßen
groß sind. Einseitige Verletzungen geben
Hemianopsie, wobei die Fovea centralis
nicht betroffen wird. Bei beiderseitiger
Verletzung bleibt das Sehen mit der
Fovea centralis erhalten, was praktisch
allerdings gleich Blindheit ist; die Ver¬
letzten sehen wie durch ein enges Rohr.
Bei Reizung entstehen optische Hallu¬
zinationen, auch in der blinden Gesichts¬
feldhälfte. Die gewöhnliche Hemianopsie
ist die laterale; es gibt eine inferior; die
Superior hat er nur einmal gesehen.
Gulecke berichtete‘ über Epilepsie
nach Hirnschußverletzungen. Vorwie¬
gend die oberflächlichen Verletzungen,
wie Prell- und Tangentialschüsse, führen
zur traumatischen Epilepsie. Besonders
gefährlich sind die Verletzungen in der
Nähe der motorischen Centren; aber auch
von anderen Stellen aus kann eine Epi¬
lepsie ausgelöst werden. Oberflächliche
Fremdkörper wirken schwerer als tiefe.
Nur in einem Drittel seiner Fälle fand
er Fremdkörper und sie spielten nur eine
nebensächliche Rolle. Aber immer ist
eine Narbe vorhanden. Sie macht das
3
234
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juni
Gehirn unbeweglich durch die Fixierung
an der Schädelkapsel, oder ohne Adhä¬
sionen wirkt sie durch Zug auf die um¬
gebenden Teile des Gehirns. Das Gehirn
kann sich an solchen Zug nicht gewöhnen.
Der Zug einer solchen Narbe ist sehr groß,
wie man aus dem ‘ Auseinanderweichen
des Gehirns nach Entfernung der Narbe
sehen kann. Man muß deshalb das Wie¬
derentstehen einer Narbe zu verhüten
suchen. Hier gibt wohl die Fettplastik
nach Lexer die besten Erfolge. Auch bei
ganz glattem Verlaufe kann das einge¬
pflanzte Fett zugrunde gehen; aber es
kann auch makroskopisch erhalten blei¬
ben; ja selbst mikroskopisch wurde es
nach zehn Monaten noch gut erhalten ge¬
funden. Er operiert zweizeitig; erst die
Fettplastik und nach einem halben Jahre
die Knochenplas’tik. Die letztere macht
er nicht, wo das Gehirn nach seiner Ab¬
lösung nicht' zurücksinkt, sondern sich
vorwölbt. In 50 Fällen hat er nur einmal
einen Fettlappen sich abstoßen sehen. In
allen anderen Fällen ist er gut eingeheilt
und auch die Knochenplastik geglückt. —
Fälle mit häufigen Anfällen müssen ope¬
riert werden. Hat sich allgemeine Epi¬
lepsie entwickelt, so soll man versuchen,
die lokalen Veränderungen zu beseitigen.
Ist erst ein Anfall aufgetreten, so soll
man warten, wenn die Verletzung erst
kurze Zeit zurückliegt, weil selbst ge¬
häufte Anfälle dann wieder schwinden
können. Liegt die Verletzung aber lange
zurück und ist die Vernarbung abge¬
schlossen, so soll man operieren. Eine
prophylaktische Operation vor dem Auf¬
treten von Anfällen ist nicht zu empfehlen,
weil die Erfolge der Operation nicht sehr
gut sind. Nach der Operation können
Anfälle auftreten, wo vorher keine be¬
standen.
Kümmell betont, daß das Ergebnis
unserer Erfahrungen über Kriegshirn¬
verletzungen ein trauriges sein wird. Die
üblen Folgen sind Hirnabsceß und Epi¬
lepsie. Bei der letzteren sind es die Rück¬
fälle. Die Ausführungen Gu leck es kann
er ganz unterschreiben. Bei der trauma¬
tischen Epilepsie hatte er den Eindruck,
daß die Plastik vielfach zu früh gemacht
wurde, so daß der Schädel wieder geöffnet
werden mußte. Er hat die Narbe zum Teil
excidiert, zum Teil unterschnitten. Um
neue Verwachsungen mit dem Knochen
zu vermeiden, hat er wieder Celluloid an
Stelle von Knochen angewandt. Statt
Fettlappen hat er auch Silberfolie oder
einen präparierten Bruchsack oder der¬
gleichen eingelegt. Diese Fremdkörper
haben keine neuen Verwachsungen zu¬
stande kommen lassen und man kann da¬
durch wohl die Rückfälle einschränken.
Ein Mann trägt seine Celluloidplatte seit
15 Jahren und hat den Feldzug mitge¬
macht; ein anderer trägt sie seit sechs
Jahren. Reich fand, daß es nach Schädel--
Plastiken gewöhnlich anderthalb Jahre lang
gut ging. Dann trat die Epilepsie wieder
auf. Bei zwölf Excisionen nach Jahres¬
frist fand er alle Fettlappen degeneriert
und nach anderthalb Jahren war kein Fett
mehr vorhanden; nur zwischen Dura und
Knochen war es erhalten geblieben. Diese
Aufsaugung des Fettes hängt wohl mit
dem Rückfalle zusammen. Es ist zu
überlegen, ob man nicht sich eine Cyste
entwickeln lassen soll, statt Fettplastik
zu machen. Martin berichtet aus der
Berliner Klinik über seciis Fälle; die Er¬
folge waren nicht gut, es trat nur tem¬
poräre Besserung ein. In zwei Fällen
konntennach 9 beziehungsweise 14 Wochen
die Fettlappen untersucht werden. Beide
Male war das Fett nur zum kleinsten
Teil erhalten und zeigte Proliferations¬
vorgänge. Der größte Teil war durch
narbiges Bindegewebe ersetzt oder durch
Bindegewebe nekrotisch eingeschlossen.
Nach der Operation hatten sich die An¬
fälle gesteigert. Die Entfernung des Fett¬
lappens brachte in dem einen Falle für ein
halbes Jahr eine erhebliche Besserung,
dann trat ein Rückfall ein. — Lexer
betont auch, daß die Kriegshirnschu߬
verletzungen beziehungsweise die trau¬
matische Epilepsie danach eine schlechte
Prognose geben. Bei der Operation
kommt es auf mancherlei an: Man soll
das Ablaufen der ruhenden Infektion
abwarten; man muß die'Technik be¬
herrschen; man muß einen guten Heil¬
verlauf haben; die Narben oder Cysten
müssen die einzige Quelle der Epilepsie
sein. Die'Epilepsie nach Schußverletzun¬
gen sind kein gutes Objekt für die Be¬
urteilung der operativen Erfolge bei
traumatischer Epilepsie. Die Überpflan¬
zung von Fettgewebe hat Vorteile vor
allen anderen Verfahren. Auch er operiert
bei Kriegsschußverletzungen jetzt zwei¬
zeitig und hat ausgezeichnete Heilungen
von vier bis fünf Jahren, auch in schweren
Fällen. Aber es kommen doch auch sehr
viele Rückfälle vor. Das Transplantat
kann sich bestenfalls aus eigenen Mitteln
erhalten und regenerieren. Die Blutung
muß sehr gut gestillt sein, es darf keine
Narbe mehr vorhanden sein. Das Fett-
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1920
235
gewebe läßt sich ins Gehirn überpflanzen
und erhält sich dort und heilt ein. Die
mangelhafte Technik ist schuld, wenn es
nicht einheilt. Die Untersuchungen von
Aschoff haben .ergeben, daß es sich
gut erhält und aus eigenen Mitteln rege¬
neriert. Es darf nicht gedrückt werden
und deshalb ist zweizeitig, zu operieren.
Die Celluloidplatte muß sich bindegewebig
umwachsen und diese Kapsel macht
frische Verwachsungen; sie ist deshalb
nicht zu empfehlen. — Payr weist zu
dem Thema Hirnerschütterung darauf
hin, daß das Gehirn bei Hunden und
Katzen fest in die Schädelkapsel einge¬
preßt ist, während es beim Menschen
einen großen Spielraum hat. — Bei
Plastiken hat er vielmals Silber- oder
Goldfolien eingelegt. In zwei Fällen fand
er bei Nachoperationen die Folie in eine
Unmenge kleiner Stücke zerrissen und
eine massenhafte Neubildung von Binde¬
gewebe; er hat deshalb die Methode ver¬
lassen. — Kuttner hält auch die Hirn¬
chirurgie für das traurigste Kapitel der
Kriegschirurgie. Er warnt auch vor jedem
Optimismus. In einem Falle waren nach
Entfernung des Fremdkörpers die An¬
fälle fünf Jahre geschwunden, dann kehr¬
ten sie wieder. Mit der Knochenplastik
soll man wegen der ruhenden Infektion
mindestens zwei Jahre warten. Er würde
auch nach dem ersten Anfall operieren,
wenn er einen gut lokalisierbaren Fremd¬
körper fände, von dem der Anfall aus¬
ginge. Die Lähmungen im Anschluß
an Operationen und Traumen kann er
nicht 'ebenso günstig beurteilen wie
Krause. Bei Störungen des Augen¬
lichts empfiehlt er ebenfalls die dekom-
pressive Trepanation. — Lexer macht
auch darauf aufmerksam, daß die Silber¬
folien sich in der Wunde in milchsaures
Silber auflösen. —v. Eiseisberg emp¬
fiehlt auch die Fettransplantation, da die
Fascie sich narbig umwandelt. Ein Ope¬
rierter trägt seine Celluloidplatte schon
zwölf Jahre. Bei dem Auftreten von
Epilepsie spielt wohl die Disposition eine
Rolle. — Schloffer hat mit Celluloid¬
platten gute Erfahrung gemacht. Ein
Operierter trägt sie schon 12—15 Jahre.
Ein Fall von Borchard trug sechs Jahre
mit gutem Erfolg eine Silberplatte, dann
löste sie sich auf. — Bier hat die Narben
ausgiebig entfernt und die Verwachsun¬
gen gelöst und nach gründlicher Blut¬
stillung die Höhle mit Kochsalz gefüllt
und geschlossen. Zunächst guter Ver¬
lauf. Um glatte Fremdkörper bilden sich
Schleimbeutel, die sehr guten Schutz
gegen Verwachsung bilden. Daher ist
Heteroplastik unter Umständen am Platze.
— Kaerger hat 40 mal Fascie und Fett
transplantiert. Bei Verletzung der moto¬
rischen Region hat er dann beobachtet,
daß am zweiten bis siebenten Tage leichte
epileptiforme oder Krampfanfälle auf¬
traten ohne Infektion. In drei Fällen
traten später epileptiforme Anfälle auf,
obwohl die motorische Region selbst
nicht verletzt war. — Brüning haf zwei
Fälle beobachtet, wo das Centrum für die
willkürliche Entleerung der Blase ver¬
letzt war. Eines liegt ganz in der Nähe
des Fußcentrums, das andere am Boden
des dritten Ventrikels. Auch einseitige
Verletzung stört schon die Entleerung der
Blase. — Krause hält die Ansicht von
Breslau für richtig. Die gesamte Hirn¬
rinde ist Sitz unseres seelischen Bewußt¬
seins. Die Eröffnung eines Ventrikels bei
Hirnabsceß ist gleichbedeutend mit dem
Tode. Die Prognose bei Operation der
Kriegsepilepsie ist bei allen Methoden
sehr schlecht. Fascie nimmt er nicht
mehr, sondern spaltet die Dura und deckt
damit. Gulecke hat bei einfacher Ent¬
fernung der Cyste und Verschluß durch
Naht immer Wiederkehr der Anfälle erlebt.
Wenn er wieder öffnete, hatte sich der
Zustand vor der ersten Operation wieder
eingestellt. Wenn der Fettlappen auch zu¬
grunde geht, so hindert er doch das Neu¬
auftreten des Narbenzugs auf lange Zeit.
Perthes spricht über die Ursachen
von Hirnstörungen nach Carotisunter¬
bindung. Man erklärte sie durch Störung
im Kollateralkreislauf. Das genügt nicht.
In den meisten Fällen liegt ein freies
Intervall, bis zu 30 Tagen, zwischen der
Unterbindung und dem Insult, was schon
gegen die alte Annahme spricht. In einem
Falle fand er als Ursache Imbolien. Die
Ursache der Thrombose ist an der Ligatur¬
stelle zu suchen. Auch aus einem An¬
eurysma können sich Thromben loslösen.
Hierdurch gewinnt die Arteriosklerose
eine neue Bedeutung für die Unterbin¬
dung der Carotis. Die Kompression der
Carotis oder das Collateralzeichen kommen
deshalb für die Bewertung der Möglich¬
keit der Operation nicht in Betracht.
Ebensowenig nützt die gleichzeitige Unter¬
bindung der Vena jugufaris interna Aus
diesem Grunde sind auch die Erfolge der
Gefäßnaht des Carotisaneurysmas gut.
Aber hierbei können auch üble Zufälle
eintreten. Zur Unterbindung empfiehlt
er einen Fascienstreifen, weil dadurch die
30*
236
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juni
Intima nicht verletzt wird. Einmal hat
sich die Methode bewährt. — Pels-Leus-
den wendet schon lange ganz langsame
Unterbindung mit dickem Faden an.
Auch Bier nimmt ganz dickes Catgut. —
V. Haberer hält in vielen Fällen die
Blutleere des Gehirns für die Ursache der
üblen Zufälle. In 20 Fällen von Aneur¬
ysma der Carotis hatte er mit der Naht
guten Erfolg. Er würde niemals unter¬
binden, sondern transplantieren, wenn
nötig sogar eine Vene. — Müller-
Rostock sah sechs bis sieben Fälle von
Carotisunterbindung zum Tode kommen
bei allen fand sich Thrombose und Em¬
bolie; nur in einem Falle bestand allein
eine Thrombose. — Bier hält die An¬
sicht von Perthes nicht für richtig.
Hier muß der Begriff der Endarterien
heran. Unsere Ansichten vom Kollateral-
kreislauf sind irrig. Nicht der Druck läßt
das Blut strömen, sondern der Druck¬
unterschied. Es muß zugleich eine Saug¬
wirkung da sein. Die Körperoberfläche
hat diese Eigenschaft, das Blut anzu¬
saugen, die inneren Organe nicht. Der¬
selbe Unterschied gilt für die Schmerz¬
empfindung bei Haut, Hirn, Darm.
Refe
Als Therapie bei Ventrikelstillstand
im Adam-Stokesschen Anfall empfiehlt
Schott (Köln) einen kräftigen Faust¬
schlag auf die Brust in die Herzgegend.
Die Beobachtungen an einem Fall lassen
ihn annehmen, daß die mechanische Rei¬
zung zu einer einfachen mechanischen
Austreibung des Blutes aus dem Herzen
führt, ohne daß der Ventrikel angeregt
wird, oder es erfolgen unmittelbar hinter
dem Einsetzen der Reizung ein auch zwei
bis drei heterotype Ventrikelsystolen,
also Ventrikelextrasystolen, die dann ihrer¬
seits Anlaß zu automatischer Ventrikel¬
tätigkeit geben. Man darf also der Um¬
gebung und Pflegepersonen von Kranken,
bei denen die Diagnose Adams-Stokessche
Anfälle sichergestellt ist, empfehlen, nach
Beginn des Anfalls einen Faustschlag
auf die Herzgegend auszuführen. (Referent
möchte diesen energischen Eingriff jeden¬
falls der Hand des Arztes Vorbehalten.)
(M. m. W. Nr. 13.) F e u e r h a c k (Berlin).
Gegen schwere Blutungen in der Nach¬
geburtsperiode und nach der Geburt
empfiehlt Schmid die manuelle Aorten¬
kompression, die auch von jeder Hebe-
amme gekannt und gegebenenfalls zur
Härtel gibt technische Ratschläge
zur Ausführung der cervicalen Leitungs¬
anästhesie. Man kämmt mit einer In¬
jektion von 10 ccm einer 1 %igen Lösung
in C III aus, die von selbst auf C IV
diffundiert. — In über 100 Fällen sah er
keine ernste Störung.
Laewen empfiehlt die Vereisung der
Nerven zur Behebung von Nerven¬
schmerzen in Amputationsstümpfen und
zur Verhütung des Auftretens solcher.
Der Nerv wird zur Degeneration gebracht.
Sein Apparat trifft mehrere Nerven-
stämme zugleich. Als Kältequelle dient
Kohlensäure. Nerven von mittlerer Dicke
erfordern zehn Minuten, ganz dicke mehr.
Besonders geeignet waren die Amputa¬
tionsstümpfe, wo spontane Schmerzen
auftraten oder die Belastung schmerzhaft
war. Die Schmerzen, die in die abgesetzten
Teile verlegt wurden, wurden weniger
beeinflußt. Central sitzende Schmerzen
reagieren nicht. Meist wurde der Nerven¬
stumpf ausgelöst, vereist und implantiert.
— Moszkowicz empfiehlt, den Nerven-
stumpf gleich in einen Muskel einzu¬
pflanzen zur Vermeidung Von Amputa¬
tionsneuromen. (Schluß folgt.)
rate.
rechten Zeit angewendet werden muß;
falls die Sehrtsche Aortenklemme zur
Hand ist, kann sie gebraucht werden,
da sie nach den bis jetzt gesammelten
Erfahrungen das beste Instrument ist.
Demgegenüber darf der Momburgsche
Schlauch nur dann angelegt werden,
wenn die Gefahr der unmittelbaren Ver¬
blutung droht, da die auf diese Weise
herbeigeführte Blutleere große, mit Sicher¬
heit nicht zu vermeidende Gefahren ein¬
schließt. Pulvermacher (Charlottenburg).
(Zbl. f. Gyn. 1920, Nr. 19.)
Über die Ätiologie der Hirschsprung-
schen Krankheit gehen die Ansichten
der Autoren noch auseinander: in einer
Minderheit der Fälle muß anscheinend
die ursprüngliche Ansicht Hirschsprungs
aufrecht erhalten bleiben, daß es sich um
ein angeborenes Leiden — ein congeni¬
tales Megakolon — handelt. Bei vielen
Fällen aber scheint die Auffassung zu
Recht zu bestehen, daß eine mechanische
oder funktionelle Ursache primär zur
Stauung des Darminhaltes und erst se¬
kundär zur Dilatation des Kolons führt.
Als Stütze für letztere Ansicht dient die
genaue klinische Beobachtung eines Fallesj
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1920
237
den Retzlaff aus der Krausschen Klinik
mitteilt. Ein 46jähriger Patient sucht
wegen Aufblähung des Leibes, Leib¬
schmerzen und Stuhlverstopfung, die nur
durch sehr große Einläufe behoben werden
kann, die Klinik auf. Er gibt an, seit
seiner Kindheit an diesen Beschwerden
gelitten zu haben. Die Untersuchung
ergab Zwerchfellhochstand, aufgetriebe-
nen, weichen Leib, dünne Bauchdecken,
durch die Darmperistaltik fühlbar war.
Im linken Hypochondrium war die Auf¬
treibung am stärksten. Um eine Röntgen¬
aufnahme anfertigen zu können, mußten
sieben Liter Bariumsulfataufschwemmung
in den Darm eingelassen werden. Diese
ergab ein mächtiges Megasigma. Aus dem
ganzen Symptomenkomplex erschien die
Diagnose Hirschsprungsche Krankheit
gesichert. Bemerkenswerte Aufschlüsse
bezüglich der Ätiologie ergab aber die
Prüfung des vegetativen Nervensystems.
Äußerlich bemerkbare Zeichen eines er¬
höhten Tonus im gesamten vegetativen
Nervensystem waren nicht nachzuweisen.
Atropin- und Physostigmineinspritzungen
blieben ohne jede Wirkung, der Tonus
des Vagus war demnach herabgesetzt.
Dagegen zeigte die Injektion von 1 mg
Suprarenin einen starken Effekt, dessen
genauere Analyse eine außerordentliche
Erhöhung des Sympathikotonus bewies.
Verfasser setzt nun diesen erhöhten Sym¬
pathikotonus in Beziehung zur Ätiologie
der Krankheit: Der Sympathicus hemmt
die Darmbewegungen und setzt den Darm¬
tonus herab; unter normalen Verhält¬
nissen wird seine hemmende Wirkung
aber durch die antagonistische Vagus¬
wirkung kompensiert und reguliert.^ Im
vorliegenden Fall aber hemmt das Über¬
wiegen des erhöhten Sympathikotonus
über den verminderten Vagotonus die
Darmfunktionen, es kommt zur Stauung
des Darminhaltes und im Laufe der Jahre
dann sekundär zur Erweiterung des Ko¬
lons. Patient wurde operiert, starb aber
an Peritonitis. Bei der Sektion wurde
kein mechanisches Hindernis der Darm¬
durchgängigkeit gefunden. Nathorff.
(B. kl. W. 1920, Nr. 14.)
Prof. Stepp (Gießen) berichtet über
die Behandlung der Lungengangrän mit
Salvarsan, welche von Brauer und Groß
eingeführt worden ist. Verfasser konnte
während der letzten 1 % Jahre das Neo-
salvarsan in vier Fällen von Lungen¬
gangrän anwenden, und zwar mit durch¬
weg günstigem Erfolge. Er gab je zwei¬
mal 0,45 ccm Neosalvarsan intravenös im
Abstand von acht Tagen und konstatierte
nach der ersten Injektion Abnahme be¬
ziehungsweise! Aufhören des putriden Aus¬
wurfes, Abfallen des Fiebers, Besserung
des Allgemeinbefindens, und nach der
zweiten Injektion bedeutende Besserung
des lokalen Lungenbefundes und weitere
Hebung des Allgemeinbefindens mit gro¬
ßer Gewichtszunahme. Wichtig ist die
Beobachtung Stepps, daß Salvarsan bei
reinen Lungenabscessen und bei Kom¬
plikationen der Gangrän mit Empyem
versagte. (Man vergleiche hiermit die anr
scheinenden Erfolge, welche Hirsch auch
bei Lungenabsceß erzielt hat, und die an¬
schließende Diskussion im Aprilheft.) Die
Erklärung für die Unwirksamkeit liegt
wohl darin, daß das Salvarsan zwar gegen
die Fäulniserrreger der Lungengangrän,
nicht aber gegen die Eitererreger des
Lungenabscesses wirksam ist, was durch
das Verhalten von Salvarsan gegenüber
anderswo lokalisierten gangränösen be¬
ziehungsweise purulenten Prozessen nach¬
zuprüfen wäre. Stepp glaubt, daß andere,
neuere Behandlungsarten der Lungen¬
gangrän, wie die von Franzosen angewand¬
ten intrabronchialen Injektionen oder die
von Strauß intraglutäal gegebenen Men-
thol-Eukalyptol-Injektionen nicht an die
Erfolge der Salvarsantherapie heran¬
reichen, empfiehlt jedoch, das Urteil erst
nach weiteren Untersuchungen endgültig
abzuschließen. Klauber (Berlin).
(Ther. Halbmh. 1920, H. 6.)
Die intravenöse Calciumtherapie
bei Lungentuberkulose wird von Maendl
angelegentlich empfohlen. Angewandt
wurde ausschließlich das von Merck in
den Handel gebrachte Calcium chloratum
crystallisatum purissimum, bei dem üble
Nebenwirkungen nicht zur Beobachtung
kamen, in 5 bis 10 %iger Lösung. Aller¬
dings muß die intravenöse Injektion recht
sorgfältig vorgenommen werden, da Cal¬
cium chloratum in diesen Konzentrationen
bereits circumscripte Nekrosen verursacht,
wenn eine kleine Menge in das subcutane
Gewebe gelangt. Nach der Einspritzung
stellt sich ein rasch vorübergehendes
Hitzegefühl ein, auf das die Patienten schon
vorher hinzuweisen sind. Verfasser gibt
bei Hämoptoe 5 bis'10 ccm der 5%igen,
in schweren Fällen der 10%igen Calcium¬
lösung, eventuell muß die Injektion wieder¬
holt werden. In letzter Zeit wurden auf
diese Weise 15 Fälle behandelt: in zehn
Fällen stand die Blutung nach der ersten,
in zwei Fällen nach der zweiten Injektion,
in drei Fällen war diese Behandlungsweise
238
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juni
ohne Erfolg. Die günstige Wirkung führt
Verfasser auf die Erhöhung der .Gerin¬
nungsfähigkeit durch Übersalzen des Blu¬
tes und durch den hohen Kalkgehalt zu¬
rück. Außer dieser mehr symptomati¬
schen Wirkung bei Hämoptoe haben aber
auch intravenöse Calciuminj ektionen,
wenn sie längere Zeit hintereinander
gegeben werden, einen guten Einfluß auf
das Allgemeinbefinden Lungenkranker.
Verfasser hat bei 25 Patienten 5 ccm
einer 5 %igen, und bei 10 Patienten 5 ccm
einer 10%igen Calciumlösung intravenös
gegeben, im Durchschnitt zehn- bis fünf¬
zehnmal, aber auch zwanzigmal und mehr.
Bei dieser Behandlung verschwinden die
Nachtschweiße rasch, die Menge des
Auswurfes wird vermindert, Entfieberung
tritt ein. Bei hochfebrilen, schweren,
exsudativ-ulcerösen Tuberkulosen konnte
kein Erfolg festgestellt werden. Jedoch
rechtfertigen die Erfolge in allen anderen
Fällen eine Nachprüfung. Nathorff.
(M. Kl. 1920, Nr. 9.)
Das gerade jetzt aktuelle Thema der
Rachitis wird von Engel in einer Reihe
von Aufsätzen behandelt. Bei allem Ge¬
winn, den die Rachitisforschung der
beiden letzten Jahrzehnte brachte, konn-.
ten die Rätsel der Ätiologie und Patho¬
genese der Rachitis noch keine Lösung
erfahren. Vieles wird als Ursache der
Rachitis angeschuldigt. Als klarere Fas¬
sung der Verhältnisse sind die Gedanken¬
gänge V. Hansemanns anzuerkennen,
der die Rachitis als Domestikationskrank¬
heit erklä'rt. v. Hanse mann ging von
der Erwägung aus, daß fast sämtliche
Tiere in der Gefangenschaft rachitisch
werden, daß die Rachitis bei den Natur¬
völkern unbekannt ist, und daß sie an¬
dererseits dort mit Vorzug auftritt, wo
die Kinder besonders eng ans Haus ge¬
fesselt sind, daß die Zahl der Rachitis¬
fälle im Winter erheblich größer ist als
im Sommer, v. Hansemann gibt als
Definition der Domestikation: „Die Ge¬
wöhnung einer Tierrasse an eine von der¬
jenigen der frei lebenden Tiere abwei¬
chende Lebensweise.. — jedes Streben, die
Existenz der Rasse und des einzelnen
Individuums in bewußter Weise durch
künstliche Hilfsmittel und gegen den
Einfluß äußerer Naturgewalten zu ver¬
teidigen.“ So bestechend an sich die Dar¬
stellung der Rachitis als Domestikations¬
krankheit ist, das Problem ist im Hinblick
auf die Definition der Domestikation
durch V. Hansemann doch nicht er¬
schöpft. Auch die wildesten Naturvölker
sind domestiziert, sie kennen die Rachitis
nicht. Die Rachitis ist im wesentlichen
eine Erkrankung der Armen in den
größeren Städten, bei den Reichen war
sie bisher so gut wie unbekannt. Gerade
bei diesen trifft aber im vollsten Maße
zu, was V. Hansemann unter Domesti¬
kation versteht. Trotz immer stärkerer
Domestizierung der Bevölkerung hielt in
den letzten Jahrzehnten die Rachitis
nicht Schritt mit dieser Entwicklung, sie
blieb in engen Grenzen. Die Domestika¬
tion muß qualitativ betrachtet werden.
Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte
machte aus der Wohnstätte des Menschen
unter der Einwirkung einer unseligen
Bodenpolitik einen Käfig. Die Domesti¬
kation wurde zur Einpferchung, deren
Schäden erträglich waren, solange ihnen
günstige Lebensbedingungen, insbeson¬
dere gute Ernährung entgegenwirkten.
Bei der allgemeinen Notlage unserer Zeit
nun aber schaffen beide Faktoren: die
Wohnung, eine dunkle, stinkende Höhle,
die Nahrung, ungenügend, mangelhaft
verdaulich, dem Kinde Bedingungen
ähnlich einer Pflanze, die im Keller auf
dürrem Boden auskeimen muß, sie muß
verkommen und verkümmern. Alle
einzelnen ätiologischen Faktoren, die sonst
für die Rachitis in Betracht kommen,
ordnen sich dem Begriff der Verküm¬
merung des menschlichen Keimlings
unter. Feuerhack.
(M. Kl. Nr. 15.)
Über das Problem der physiologi¬
schen Salzlösung in Theorie und Praxis
bringt W. Straub bemerkenswerte Aus¬
führungen und Untersuchungen, die ge¬
eignet erscheinen, den Gebrauch der alt¬
bekannten physiologischen Kochsalz¬
lösung etwas einzuschränken.
Nach Ansicht Straubs ist die „phy¬
siologische“ Salzlösung eigentlich nur
eine ,,anatomische“ Lösung, da die mit
ihr zusammengebrachten Körperbestand¬
teile, wie Blutkörperchen, Muskeln, Darm¬
schlingen in ihr zwar die anatomische
Form behalten, hingegen die physiolo¬
gische Funktion einbüßen: der Salz¬
gehalt der Blutkörperchen verändert sich,
das Herz schlägt nicht mehr, der Rhyth¬
mus der Darmcontractionen wird un¬
regelmäßig, das Adrenalin verliert seine
blutdrucksteigernde Wirkung. Eben¬
solchen vernichtenden Einfluß auf die
Körpertätigkeit habe die offizinelle „Sol.
Natrii chlorati physiologica!‘, der ein
unberechtigt hoher Prozentsatz Soda zu¬
gesetzt sei. Wenn bei Anwendung dieser
^Juni
Die Therapie der Gegenwart 1920'
239
Salzjösungen (Infusion, Darmeinpackun-
gen, Wundspülungen usw.) die Patienten
gesund würden, so geschehe es trotz,
nicht wegen des Gebrauches der Lösungen.
Im Gegensatz zu der gewöhnlichen
und der offizineilen NaCl-Lösung stehen
die Ringerlösung und die Serum Salz¬
lösung des Verfassers., Diese beiden ent¬
halten Kochsalz, Chlorkalium, Chlor¬
calcium, Natriumbicarbonat und Chlor¬
magnesium nach dem Vorbilde der Aschen¬
zusammensetzung des Blutes; in diesen
behalten überlebende Organe nicht nur
ihre anatomische Form, sondern auch
ihre physiologische Funktion bei. Gegen¬
über der älteren Ringerschen Lösung habe
die Serumsalzlösung des Verfassers den
Vorzug, daß die einzelnen Salze gleich¬
zeitig in Lösung bleiben, ohne bei Zu¬
fügung des letzten Bestandteiles, des
Chlorcalciums, oder beim Sterilisieren
auszufallen. Das St raub sehe Salz¬
gemisch könne tatsächlich als „anorga¬
nisches Blutserum*' 'bezeichnet werden;
dies beweist Verfasser mittels mehrerer
sphygmographischer Kurven, die die Wir¬
kung der alten „physiologischen** Koch¬
salzlösung und der neuen Serumsalzlösung
am ausgeschnittenen Froschherzen, am
Darm und am Nebennierenextrakt (Adre¬
nalin) dartun. Diese Kurven zeigen in
der Tat eine Funktionsminderung, sogar
Funktionsaufhebung bei physiologischer
Kochsalzlösung und völlige Funktions¬
erholung bei nachher angewandter Serum¬
salzlösung. Das Straub sehe Präparat
wird von dem sächsischen Serumwerk
Dresden unter den Namen „Normosal“
hergestellt. ’ Klauber.
(M. m. W. 1920, Nr. 9.)
Unter der mangelhaften Milchhygiene
der letzten Jahre muß vielfach als Säug¬
lingsnahrung sauergewordene Kuh¬
milch verfüttert werden, eine Milch, die
früher als ungeeignet dafür galt. Klotz
(Lübeck) gibt Rietschel (M. m.W. 1920,
Nr. 2) recht, der von Überschätzung der
Gefahren der sauer gewordenen Milch
spricht., Die Erfahrungen der letzten
Jahre in Lübeck zeigen, daß trotz der
schlechten Milchverhältnisse keine Stei¬
gerung der akuten Ernährungsstörungen
(Toxikosen) der Kinder festzustellen war.
Als Erklärung dieses Phänomens
nimmt Klotz an: 1. Die Brusternährung
der Säuglinge hat zugenommen; 2. der
Fettgehalt der Kuhmilch ist geringer ge¬
worden, es fehlt das Substrat, damit
größere Mengen ranziger Fettsäuren ent¬
stehen, die nach der Czernyschen Schule
eine wichtige' Rolle bei der Entstehung
akuter Ernährungsstörungen spielen ;
3. Sommerhitze größeren Stils hatten wir
in den letzten Jahren nicht; 4. bei der
allgemeineiy Nahrungseinschränkung
kommen Überfütterung des Säuglings
und Überladung mit Kohlehydraten weni¬
ger in Frage; 5. offenbar macht die Auf¬
klärung der Mütter durch Säuglingsbe¬
ratungsstellen und dergleichen Fort¬
schritte. Klotz empfiehlt als guten
Kunstgriff Hamburgers das Abkochen
der gesäuerten Milch mit Haferschleim.
(M. m.W. 1920, Nr. 13.) Feuerhack.
Einen Beitrag zur Epidemiologie
der Weilschen Krankheit veröffentlicht
F. A. Harzer. Die im Felde gesammelten
Erfahrungen laufen darauf hinaus, daß
das Auftreten der Krankheit im all¬
gemeinen abhängig ist von dem Zu¬
sammentreffen besonderer Umstände, ein¬
mal von der Gegenwart weilkranker
Ratten, die im Krankheitsstadium der
Blutinfektion den primären Infektions¬
herd darstellen, zweitens aber von dem
Wirtswechsel des Rattenflohes, der als
Zwischenträger in Betracht kommt. Ver¬
mutlich werden sich daher auch im Kriege
menschliche Krankheitsfälle im all¬
gemeinen nur dort häufen, wo vor allem
die Lagerstellen Ratten und Flöhen zu¬
gänglich sind. Hetsch (Frankfurt a. M.).
(Beitr. z. Klin. d. Infekt.-Krankh. u. z. Im-
munit.-Forsclig. 1919, Bd. 8, Heft 1 bis 2.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Die Gefahren der unspecifischen Herdreaktion.
Von Dr. L. Veilchenblau in Arnstein (Ufr.).
Bekannt waren schon seit langem die
specifische Leistungssteigerung in Ge¬
stalt der Impfung und die Herdreaktion
(das heißt die specifische), besonders im
Verlauf der specifischen Tuberkulose¬
diagnostik und Behandlung. Wei-
chardt führte den Begriff der unspeci¬
fischen Leistungssteigerung (Protoplasma¬
aktivierung) ein. Wie nun die (specifische)
Herdreaktion eine Folge der Überspan¬
nung auf dem Versuch der specifischen
Leistungssteigerung darstellt, so ist die
unspecifische Herdreaktion ebenfalls der
Ausdruck einer übermäßig versuchten
240
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juni,
unspecifischen Leistungssteigerung, wo¬
bei nicht die absolute Leistungssteige¬
rung, sondern die relative (mit Rücksicht
auf das Subjekt) als übermäßig versucht
zu betrachten ist. R. Schmidt hat be¬
reits die Lehre von der unspecifischen
Herdreaktion in die Therapie eingeführt
Tatsachen und Zustände, die der
praktische Arzt und Kliniker am Kran¬
kenbett erlebt und erfahren hatte, kom¬
men unter die Lupe der Wissenschaft,
werden in ein neugeprägtes System ein¬
gefügt. Freilich ist dieses System auch
dem Praktiker wissenswert genug, um
der Gefahren willen, die eine unspecifi^
sehe Herdreaktion bedeuten kann. Es
handelt sich bei den von mir inaugurier¬
ten Fällen um Herdreaktionen der Neben¬
krankheiten im Verlaufe der therapeuti¬
schen Beeinflussung der Hauptkrank¬
heiten, also um Herdreaktionen bei
nebenhergehenden, wenig oder gar nicht
erkannten Krankheiten. Und diese „Zu¬
fälle“ gilt es zu verhüten.
Zunächst: I. Tuberkulose und Lues.
Ein 28jähriger junger Mann befindet
sich seit längerer Zeit wegen Lungen¬
tuberkulose in specifischer Behandlung
mit Alttuberkulin. Sputumbefund: ne¬
gativ. Im Verlaufe der Behandlung bittet
er um Untersuchung wegen Lues, da er
jetzt seine zweite Kur zu erledigen habe.
Wassermannreaktion + + + + ohne
äußere Erscheinungen von Lues an Haut
und Schleimhäuten. Zehn Minuten nach
der ersten Salvarsaninjektion (0,2) Hä¬
moptoe mit 400 ccm Blut, Auftreten von
Rasselgeräuschen im linken Oberlappen,
der bis dahin kaum nennenswerte physi¬
kalische Erscheinungen geboten hatte,
und positiver Bacillenbefund. Die spä¬
teren Injektionen blieben ohne Einfluß
auf die tuberkulöse Erkrankung (Eigen¬
beobachtung).
2. Tuberkulose und Typhusschutz¬
impfung. Eine Frau mit latenter Lun¬
gentuberkulose reagiert nach einer Ty¬
phusschutzimpfung mit hohem Fieber,
Rasselgeräuschen und stark gestörtem
Allgemeinbefinden; Dauer der Erschei¬
nungen ungefähr eine Woche. — Eine
andere Frau erfährt nach einem be¬
schwerdefreien Intervall durch die
Impfung Verschlimmerung in Gestalt
starker Müdigkeit und Appetitlosigkeit.
Eine weitere Frau von 53 Jahren, die
seit längerer Zeit lungenleidend ist, wie¬
derholte Lungenblutungen bereits gehabt
hat und seit geraumer Zeit nicht mehr
in ärztlicher Behandlung ist, bekommt
nach einer Impfung hochgradige Kurz¬
atmigkeit, wird hinfällig, sucht das Bett
auf und erliegt einige Tage später einem
Blutsturz (Dr. Basten, D. m. W. 1920,
Nr. 12, Ausgedehnte Zwangsimpfungen
der Zivilbevölkerung im besetzten Ge¬
biet).
3. Lues und Gonorrhöe. Ein 22jähri-
ger junger Mann kommt in Behandlung
wegen einer alten Gonorrhöe; es besteht
eine feuchte Harnröhre, im Präparat viel
Epithel, wenig Eiter, beide Urine sind
klar, im linken Vorsteherdrüsenlappen ein
altes erbsengroßes Infiltrat; auf Sonden¬
provokation keine Reaktion; auf Provo¬
kation mit Arthigon 0,1 intravenös Fieber
bis 39,5, keine Herdreaktion, sehr starke
Kopfschmerzen; nach sechs Tagen Ar¬
thigon 0,2 intravenös, daraufhin nach
24 Stunden Apoplexie. Wassermann¬
reaktion + + + + (Eigenbeobachtung).
Es handelt sich hier um eine Zu¬
sammenstellung von unliebsamen Er¬
scheinungen, von Herdreaktionen, die
bei einer konkomitierenden Krankheit im
Verlaufe der Therapie der ersten Krank¬
heit aufgetreten sind. Es erwächst hieraus
also eine besondere Aufgabe für die Indi¬
kationsstellung. - Bei jenem un-glück¬
lichen Zusammentreffen von Lues und
Tuberkulose ist also auch Vorsicht beim
Salvarsangebrauche zu machen, freilich
weiß man ja, daß hier Hämoptoen schon
nach einfachen Injektionen auf treten
können.
Schutzimpfungen, die eine Umstim¬
mung des Körpers herbeiführen sollen,
eine aktive Immunisierung bezwecken,
bilden auch bei latenter Tuberkulose eine
Gegenindikation.
In jenem Fall von Lues und Gonorrhöe
hätten die nach der ersten Injektion von
Arthigon aufgetretenen Kopfschmerzen
eine Warnung gegen eine zweite Injektion
bilden müssen. Hier hatte es sich nicht
um eine specifische Allgemeinreaktion,
sondern bereits um eine unspecifische
Herdreaktion gehandelt, die nach der
zweiten Injektion, trotz inzwischen ab¬
geklungenen Kopfschmerzen, erst recht
wild wurde.
So ist der Zweck dieser Zeilen, weniger
eine Erklärung für eigenartige ,,Zufälle“
zu bringen als vielmehr zur Vorsicht in
der Therapie zu mahnen.
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Apotheker'SNürnberg, betr.: „Ermer, Mediz.Taschenhandbuch“. — Dr. Ludw, östreicher, BerlinW35, betr.: „Eulatin“, „Terpichin“.
Berichtigung.
In der Arbeit von Moritz, „Über technische Vereinfachungen in der Hand¬
habung der Diabetikerdiät“ im Februarheft der Th. d. Geg. 1920 sind in der Tabelle VI,
Rubrik 1 (Salate, Tomaten usw.) durch ein Versehen falsche Hektokalzahlen angegeben.
Beistehende Richtigstellung ist dort einzukleben.
Salate, Tomaten,
Spargel, Gurken,
Sauerkraut,. Radies¬
chen, elngem. Schnitt¬
bohnen, Spinat“) .
K
2
5
7
10
12
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2
Die Therapie der Gegenwart
1920
herausgegeben von Geh. |Ated.-Rat Proh Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Juli
' Nachdruck verboten.
Gutartige Influenzanephrose.
klinische Vorstellung von Prof. G. Klemperer. ' ,
Meine Herren! Wir haben gelernt,
daß die akute Nierenentzündung, welche
zu wassersüchtigen Schwellungen und
Albuminurie führt, in zwei verschiedenen
Formen auftritt, deren reine Typen ich
Ihnen zeigen konnte. Entweder als wirk-
hche Entzündung, deren Circulationsstö-
rungen am Glomerulusapparat' ablaufen,
und die mit starkvermindertem blutigen
Urin einhergehen, oder als deg^nerative
Veränderung .des secernierenden Nieren¬
parenchyms, bei der reichliche Eiweiß-
abscheidung ohne Blut und ohne wesent¬
liche Einschränkung der Urinmenge beob¬
achtet wird.
AlsTypus (^er akuten hämorrhagischen
Form habe icfi einen jugendlichen Kran¬
ken mit Nephritis nach Scharlach gezeigt.
Er war angeschwollen am ganzen Körper,
die vierundzwanzigstündige Urinmenge
betrug 250 ‘ ccm, sie enthielt reichlich
Blut und Eiweiß, im mikroskopischen
Präparat viele rote Blutkörperchen und
viel Cylinder. Wir haben die Voraus¬
sage in diesem Fall als relativ günstig be¬
trachtet, weil das Stadium der geringsten
Urinmenge schon überwunden war. Aber
wir haben uns gesagt, ,daß bei der akuten
hämorrhagischen Nephritis die Prognose
im allgemeinen ernst ist, weil Anurie
und Urämie drohen, welche nicht immer
überstanden werden. Ich mußte Ihnen
berichten, daß wir trotz Einschränkung
der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr, ja
trotz Hunger und Durst, trotz Schwitzkur,
Aderlaß und diuretischer Medikamente
einige Patienten mit akuter Nephritis
haben sterben sehen.
Unter den Infektionskrankheiten,
welche analog dem Scharlach, wenn auch
keineswegs in gleicher Häufigkeit, den
Glomerulusapparat der Nieren zur Ent¬
zündung bringen, nannte ich Ihnen auch
die Influenza. In der großen Epidemie,
welche uns in den vergangenen Jahren
heimgesucht hat, und welche sich jetzt
ihrem Ende nähert, haben wir mehrere
Fälle akuter hämorrhagischer Nephritis
nach typisch verlaufener Influenza beob¬
achtet; wir haben in der Influenzazeit
eine große Zahl von solchen Nephritiden
gesehen, bei. welchen klinische Influenza¬
zeichen fehlten; wir haben sie zur In¬
fluenza gerechnet, weil mit ihrem Blut¬
serum deutliche Agglutination von In-
Jluenzaerregern zu erzielen warj).. Einen
dieser Fälle haben wir verloren,, mehrere
sind chronisch geworden. Wir haben des¬
wegen die Prognose der Influenzanephritis
gleich der nach Scharlach als dubia be¬
zeichnet, und wir haben betont,'daß die
Behandlung die offenbare Lebensgefahr
dieser Krankheiten würdigen müsse. Ich
stelle Ihnen nun heute eine Kranke vor,
welche unsere Anschauungen von den
Nierenerkrankungen nach Influenza er¬
heblich modifizieren wird. .
Die 26jährige Patientin Frieda B.„ welche
am 8. Februar mit allgemeinen Fiebererscheinun¬
gen erkrankt ist, kam am 16. Februar ins Kranken¬
haus; die Temperatur war 38,3, die Pulsfrequenz
84, Patientin machte keinen schwerkranken Ein¬
druck; sie klagte über Gliederschmerzen, Mattigkeit
und‘hatte geringe Bronchitis, vereinzelte broncho- -
pneumonische Herde. Auffallend war eine leichte
Gedunsenheit des Gesichts und deutliches Knöchel¬
ödem. Der Blutdruck betrug 120/85 ccm. Der Urin
war hell, specifisches Gewicht 1018, gab starken
Eiweißniederschlag, der im Esbach zu 8®/oo be¬
stimmt wurde und enthielt im Centrifugat wenig
hyaline Cylinder, keine roten Blutkörperchen. Pa¬
tientin bekam Milchdiät und eine Schwitzpackung.
Am 17. Februar war die Temperatur normal, der
Puls 76, das Allgemeinbefinden besser. Die vierund-
zigstündige Urinmenge hatte 1400 mit dem spe-
cifischen Gewicht 1012 betragen, Eiweiß 4 °/oo.
Der sogenannte Rest stickst off, das heißt der beim
Kochen nicht gerinnende, wurde auf 36 mg in
100 ccm Blut bestimmt.
Heut am 18. Februar macht die Patientin
kaum einen kranken Eindruck; sie ist befriedigend
genährt und hat gute Farben, atmet ruhig, hat
normale Temperatur, 72 Pulse. Leichtes Knöchel¬
ödem. Der Urin hell, 1500/1015, Eiweiß 2%o-
Im Sediment hyaline Cylinder in mittlerer Menge,
keine roten Blutkörperchen. Das Herz normal,
der zweite Aortenton nicht verstärkt. Blutbild
normal, 4000 000 rote, 8000 weiße Körperchen.
Nach den klinischen Zeichen ist
kein Zweifel, daß die Patientin an
einer mittelschweren Influenza mit
bronchopneumonischen Erscheinungen er¬
krankt ist, in deren Verlauf sich eine
Nierenveränderung entwickelt hat. Die
Vgl. Dünner und Kupke, B. kl.W. 1919^
Nr. 3.
31
242
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juli
Eiweißausscheidimg ist relativ hoch, die
Urinmenge kaum vermindert, Blut ist
nicht im Urin, das heißt, der wasserab-
scheidende Glomerulusapparat ist nicht
angegriffen, die Erkrankung ist im Paren¬
chym lokalisiert. Wir dürfen sie als reine
Nephrose bezeichnen. Wir sind also
durch diese Beobachtung belehrt, daß
nach Influenza auch reine Parenchym¬
erkrankungen Vorkommen können. Ich
gestehe, daß mir selbst diese Tatsache
erst im Verlaufe des letzten Aufflackerns
der Epidemie klar geworden ist. Im
Jahre 1918 haben wir diele hundert Fälle
von Influenza beobachtet, darunter waren
Fälle von akuter hämorrhagischer Ne¬
phritis, aber nicht ein einziger Fall reiner
Nephrose; auch unter den sehr zahlreichen
Fällen des Jahres 1919 ist mir keine rein¬
parenchymatöse Nierenerkrankung be¬
gegnet; erst seit Anfang dieses Jahres
habe ich mehrere Fälle wie den eben vor¬
gestellten gesehen, die alle gut verlaufen
sind. Unser Fall kennzeichnet sich als ein
leichter, der unter Bettruhe, Milchdiät
und Schwitzprozeduren sich wesentlich
.gebessert hat. Es ist wohl kein Zweifel,
daß die Besserung fortschreiten und die
Patientin bald ganz geheilt sein wird^),
ganz abgesehen von dem bisher guten
Verlauf sind wir zu dieser guten Prognose
berechtigt auf Grund der allgemeinen
Erfahrung, daß rein nephrotische Pro¬
zesse nach akuten Infektionskrankheiten
in der Regel gut verlaufen. Das gilt so¬
wohl für die reinen Albuminurien, als
auch für die Cylindurien nach Diphtherie,
nach Typhus, nach Pneumonie, mögen
sie nun mit oder ohne Ödeme einhergehen.
Immer ist die Voraussage der Nierenent¬
zündung eine bessere, wenn Blut im Urin
fehlt und die Urinmenge nicht sehr ver¬
mindert ist. Dabei ist freilich zu bedenken,
daß das Schicksal der Patienten nicht nur
von der Nierenerkrankung, sondern vom
Verlauf der Grundkrankheit bestimmt ist.
Die Nephrose kann sich bessern, während
der Patient der Schwere der Infektion oder
einer Mischinfektion erliegt.
Auch davon will ich Ihnen aus un¬
seren jüngsten Beobachtungen ein Bei¬
spiel geben.
Helene M., 31 Jahre, in der Nacht vom 19.
bis 20. Januar mit Schüttelfrost, Fieber, Glieder¬
schmerzen erkrankt. War früher angeblich stets
gesund und hat im besonderen keine Nieren¬
krankheiten durchgemacht. Aufgenommen am
24. Januar 1919, bot sie das mäßig schwere
Kranheitsbild einer Influenzapneumonie des
Patientin wurde am 28. Februar eiweißfrei
und in ganz gesundem Zustand entlassen.
rechten Unterläppens mit mittelhohem Fieber
und kräftigem Herzen. Auffallend waren mäßige
Ödeme beider Unterschenkel bis zum Knie; Be¬
schaffenheit des etwas hochgestellten Urins ent¬
sprach dem Infektionszustand, er enthielt 1 %q,
Eiweiß, kein Blut, keine Formbestandteile. Wir
hätten den Urinbefund nur als febrile Albuminurie
gedeutet, wenn nicht die Ödeme auf eine tiefer¬
greifende Veränd'^rung des Nierenparenchyms
hingewiesen hätte. In den nächsten Tagen ent¬
wickelten sich fortschreitend bronchopneumo-
nische Herde auch im rechten Mittel- und Ober¬
lappenherde, während das Fieber zwischen 38,2
und 39,6 unregelmäßig schwankte. Die Ödeme
blieben unverändert. Die Urinmengen blieben
relativ hoch, sanken in 24 Stunden nicht unter
700 ccm; an keinem Tage war Blut vorhanden,
auch niemals Formbestandteile nachweisbar. Die
Eiweißmenge betrugen am 25. Januar 2 7oo, am
26. und 27. desgleichen, am 28. Januar 8 ®/oo>-
am 29. Januar 13 7oo, 30. Januar 7 ®/oo>
31. Januar 5 7oo F Februar 7 7oo ,am 2. Fe¬
bruar 16 7ooi der Reststickstoff betrug 57 mg,
der Blutdruck 110 mm. An diesem Tage stieg'
das Fieber auf 40' und der Puls auf 120. Pa¬
tientin klagte über starke Schmerzen in der Schild¬
drüsengegend; die Haut des Halses war gerötet
und gespannt, bei der Betastung konnte man
ausgedehnte Infiltration der Schilddrüse nach-
weisen, die zwei Tage später deutliche Fluk¬
tuation auf wies. Während die Stumitis sich ent¬
wickelte und das Allgemeinbefinden sich sehr
verschlechterte, war der Urinbefund 700/1027 J.
Eiweiß 47oo, am 4. Februar 500/1025 Eiweiß 2 7oo,>
keine Formbestandteile. Unter sinkender Herz¬
kraft trat der Exitus ein. Bei der Obduktion fand
Herr Geheimrat Ben da „typische Influenza¬
pneumonie, eitrige Strumitis. In den Nieren
starke trübe Schwellung in den Tubuli mit stellen¬
weisem Kernschwund; die Glomeruli waren frei.“
Das Interesse dieser Beobachtung liegt
einmal in dem pathologisch-anatomischen
Beweis, daß sich an Influenza Nieren¬
veränderungen anschließen können, die
rein auf die secernierenden Epithelzellen
beschränkt bleiben, ferner aber in dem
Ablauf der klinischen Symptome." Die
Albuminurie war eine außerordentlich
starke, sie stieg bis zu 16®/oo- Aber die
Nephrose hat der Patientin wenig ge¬
schadet. Die Nieren haben trotz der Zell¬
schädigung ihren Dienst relativ gut ge¬
tan, sonst wäre ja die Zahl des Reststick¬
stoffs erheblich höher gewesen; es hätten
sich auch irgendwelche Zeichen von Ur¬
ämie entwickeln müssen, aber davon war
nichts zu bemerken. Von ganz beson¬
derer Bedeutung erscheint aber das Ab¬
sinken der Eiweißmengen, während die
Mischinfektion fortschritt und zur Herz¬
schwäche führte.
Wir können daraus im allgemeinen
den gutartigen Charakter der Influenza-
tiephrose erkennen, welche sich zum
Bessern wenden kann, selbst wenn ander-
weite Krankheitsprozesse den Organismus
schwächen.
Diesen gutartigen Charakter derödeme
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1920
243
und Albuminurie nach Influenza habe
ich in dieser Influenzaepidemie mehrfach
beobachten können. Insbesondere habe
ich in der Privatpraxis eine Reihe von
Fällen gesehen, in denen Ödeme mit ver¬
hältnismäßig sehr starker Albuminurie
bei Influenzakranken den Arzt sehr er¬
schreckten und zu ungünstiger Prognose
veranlaßten. Oft schien mir auch der
therapeutische Angriff zu energisch.
Ich möchte gern, meine Herren, daß
Sie aus dieser klinischen Visite die Er¬
fahrung mitnehmen, daß die Influenza¬
nephrose, selbst wenn dabei sehr große
Eiweißmengen ausgeschieden werden, im
allgemeinen eine gute Prognose gibt, und
daß einfache Behandlungsmethoden, Bett¬
ruhe, gemischte Milchdiät und leichte
Schwitzkuren meist zu ihrer Behandlung
ausreichen. '
Ans der Inneren Abteilnng des Kreiskrankenhauses Berlin-Reinickendorf.
(Direktor: G-eli. Rat Prof. Dr. Felix Klemperer.)
Über den diagnostischen und therapeutischen Wert der Deycke-
Muchschen Partigene.
Von Dr. S. Tuszewski, Erstem Assistenten.
ln dem Bericht über „die Behandlung
mit Partialantigenen nach Deycke-
Much“, den mein Chef, Herr Prof. F.
Klemperer, im Februar- und März-
Heft'1919 dieser Zeitschrift veröffent¬
lichte, wies er darauf hin, daß wir
die praktische Prüfung der Deycke-
Muchschen Methoden auf unserer Ab¬
teilung in Angriff genommen hätten.
Über das Ergebnis dieser Prüfung, die
vornehmlich in meinen Händen lag und
die jetzt so weit gediehen ist, uns ein
eigenes Urteil zu gestatten, will ich im
folgenden berichten.
Ich schicke voraus, daß ich mich in
technischer Hinsicht streng an die Me¬
thodik gehalten habe, die Herr Prof.
Deycke und Herr Dr. Altstädt selbst
so liebenswürdig waren, mir im Dezember
1918 im Städtischen Krankenhause zu
Lübeck zu demonstrieren.
Meine Prüfung galt den praktisch¬
wichtigen Fragen nach dem diagnosti¬
schen und therapeutischen Wert
der Partigene.
Die theoretische und experimentelle Be¬
gründung der Deycke-Muchschen Lehren
konnte ich — entsprechend den beschränkten
Mitteln eines Krankenhauslaboratöriums, haupt¬
sächlich dem Mangel an Versuchstieren, und der
starken zeitlichen Inanspruchnahme durch ärzt¬
liche Pflichten — nur in sehr geringem Umfange
nachprüfen; daß sie der Kritik manche Angriffs¬
punkte bietet und eingehendster Durcharbeitung
bedürftig ist, hat F. Klemperer (I. c. S. 108)
bereits erwähnt. In zwei Punkten glaube ich
aber auch zur wissenschaftlichen Beurteilung der
Partigenlehre etwas beitragen zu können.
Der grundlegende Gedanke der Deycke-
Muchschen Behandlung ist der, daß der Tuberkel¬
bacillus neben einer Eiweißgruppe (A) ein wirk¬
sames Fettgemisch enthält, das sich zusammen¬
setzt aus dem alkohollöslichen Fettsäure-Lipoid¬
gemisch (F) und dem ätherlöslichen Neutralfett
(N). A, F und N sind antigenen Charakters, das
heißt, sie bilden im Tierkörper specifische Anti¬
körper. Eine erfolgreiche Abwehr gegen die In¬
fektion mit Tuberkelbacillen findet nur statt,
wenn gegen jedes der drei Partialantigene (Par¬
tigene) ein besonderer Partialantikörper sich
bildet. Zur Gewinnung der Partialantigene in
wirksamer (reaktiver) Form benutzen Deycke-
Much die Auflösung der Tuberkelbacillen in ver¬
dünnter Milchsäure: Von der Milchsäure-Tuberkel-
bacillen-Aufschließung (MTb) wird der wasser¬
lösliche Anteil (Filtrat = L) entfernt, der Rück¬
stand (MTbR) enthält die drei Partigene A, F
und N.
Das Alttuberkulin und die Bacillenemulsion
von R. Koch sind bekanntlich ebensowenig wie
alle ihre zahllosen späteren Modifikationen im¬
stande, Immunität gegen Tuberkulose zu
erzeugen. Den Grund hierfür sehen Deycke und
Much eben darin, daß alle diese Präparate nur
einzelne Partialantigene enthalten, andere gar
nicht oder nicht in genügender Menge oder nicht
genügend aufgeschlossen, das heißt, nicht in
reizender (reaktiver) Form, so daß ihre Ein¬
verleibung nicht die erforderliche Summe aller
notwendigen Partialantikörper erzeugt. Das
von Deycke und Much gewonnene natürliche
Gemisch MTbR muß, wenn ihre Voraussetzungen
richtig sind, ebenso wie die Mischung A+F-l-N
gegen Infektion mit Tuberkelbacillen zu schützen
vermögen.
Die Immunisierung gegen Tuberkulose
mittels MTbR oder A-|-F-}-N, welche eine
wesentliche Voraussetzung und das eigentlich
Neue der Partigenlehre darstellt, ist durch die
von Deycke (1), Much und Leschke (2) mit¬
geteilten Tierversuche nicht ausreichend erwiesen.
Much und Leschke konstatierten übrigens bei
ihren Versuchen die eigentümliche Tatsache, für
die noch jede Erklärung fehlt, daß Immuni¬
sierungen nur gelangen, wenn die Vorbehandlung
und die nachherige Infektion an gleicher Stelle,
also beide Male subcutan oder beide Male intra¬
peritoneal stattfanden; eine intraperitoneale Vor¬
behandlung schützte nicht gegen subcutane In¬
fektion, eine subcutane Schutzimpfung nicht gegen
intraperitoneale Infektion — hier vor allem muß
die Nachprüfung ansetzen. Haupt (3), der die
Immunisierung mittels Milchsäuretuberkelbacillen
prüfte, kam zu vollkommen negativen Resultaten;
er benutzte freilich nicht das Originalpräparat der
Firma Kalle & Co., sondern Auflösungen, die
er selbst nach den Angaben von Deycke und
Much herstellte und die vielleicht nicht so voll-
31*
Die Therapie den Gegenwärt 1920
Juli
2U
ständig aufgeschlossen waren, wie das Deycke-
Muchsche MTbR.
Ich selbst mußte mich aus äußeren Gründen
auf einen einzigen Versuch beschränken, den ich
mit dem von Kalle & Co. bezogenen MTbR
anstellte:
Meerschweinchen 1 (360 g schwer) erhält
von MTbR 1:100 000 am 8. Dezember 1919
0,25 ccm, am 9. Dezember 0,5 ccm, am 11. De¬
zember 1,0 ccm, am 13. Dezember 2,5 ccm, am
15. Dezember 5,0 ccm subcutan am Rücken.
Am 22. Dezember Infektion subcutan am
Bauch mit 0,5 ccm einer Aufschwemmung von
TB-Typ. human, (drei Platinösen einer Kultur vom
15. November 1919 in 10 ccm physkalischen Koch¬
salzlösung verrieben. Die Kultur stammt aus dem
Rob. Koch-Institut und ist in Virulenz und
Menge so eingestellt, daß die ersten Milzverände¬
rungen erst nach acht Wochen eintreten — es
handelt sich also um eine schwache Infektion).
Am 1. Februar 1920 an der Injektionsstelle ein
kleines geschwüriges Infiltrat, in der rechten
Schenkelbeuge eine linsengroße Drüse nachweis¬
bar, Arri 14. April 1920 (nach 114 Tagen) 0,2 Alt¬
tuberkulin subcutan, nach drei Stunden tot.
Gewicht 280 g. Sektion: Ausgedehnte Tuber¬
kulose der Milz, Leber und Lungen.
Meerschweinchen 2 (367 g) erhält MTbR
(1:100 000) subcutan am 8. Dezember 0,5, am
9. Dezember 1,0, am 11. Dezember 1,5, am 13, De¬
zember 5,0, am 15. Dezember 10 ccm. Am 22. De-
zen)ber Infektion wie bei Meerschweinchen 1.
Am.T. Februar 1920 Infiltrat an der Injektions¬
stelle und Leistendrüsenschwellung wie bei 1.
Am 10. März 1920 (nach 79 Tagen) getötet.
Sektion: Zwei erbsen- bis kleinbohnengroße,
mehr weniger erweichte Drüsen in der rechten
Schenkelbeuge, in der linken eine graurötliche
knapp linsengroße Drüse. In der Milz drei hirse¬
korngroße graue Knötchen, in der Leber mehrere
mohnkorhgroße gelbliche Herdchen — die übrigen
Organe ohne Behind. In den Drüsen wie in den
Milz- und Leberherdchen TB nachweisbar.
Meerschweinchen 3 bis 6 wurden am
22. Dezember in gleicher Weise wie 1 und 2 in¬
fiziert. M. 5 und 6 dienen als Kontrolle, M. 3
^und 4 werden mit MTbR (1:100000) nach-
behandelt, und zwar erhält M. 3 am 23. De¬
zember 1 ccm, am 27. Dezember 1 ccm, am 29. De¬
zember 2,5 ccm, am 31. Dezember 5,0 ccm, am
'3. Januar 7,5 ccm subcutan.' M. 4 erhält am
23. Dezember 1,0, am 27. Dezember 2,5, am
31. Dezember 5,0 und am 3. Januar 5,0 ccm
subcutan.
Meerschweinchen 3 am 10. März 1920 (nach
79 Tagen) getötet. Sektion: An der Injektions¬
stelle mit dickem gelblich-grünem Eiter gefüllter
Absceß; nahebei zwei kleinbohnengroße partiell
verkäste und erweichte Drüsen; zwei doppel¬
hanfkorngroße graurötliche Drüsen nach der
Harnblase zu. Milz, Leber und übrige Organe
ohne Befund. — Meerschweinchen4 am 17. Mai
1920 (nach 147 Tagen) getötet; Sektion:
Schenkeldrüsen beiderseits, desgleichen Milz
stark, Lunge weniger tuberkulös erkrankt.
Meerschweinchen 5 am 10. März 1920
(79. Tag) getötet; Sektion: Zwei erbsen- bis klein¬
bohnengroße Drüsen, die eine stark, die andere
weniger erweicht, in der rechten Schenkelbeuge;
in der Milz mehrere mohn- bis hirsekorngroße gelb¬
graue Knötchen; in der Leber m einem pfennig¬
großen Bezirk zahlreiche gelbliche, unscharf be¬
grenzte Knötchen; Lungen ohne Befund. — Meer¬
schweinchen 6 (am 1. Februar 1920 linsen¬
großes Infiltrat an der Injektionsstelle und kleine
geschwollene Drüsen in der rechten Schenkel¬
beuge nachgewiesen), am 2. Mai 1920 (nach 132
Tagen) tot aufgefunden, in stark verwestem
Zustande^ so daß eine genaue Feststellung der
tuberkulösen Veränderungen nicht möglich ist.
Das Resultat dieses Versuchs ist insofern ein¬
deutig, als die Vorbehandlung bei Meer¬
schweinchen 1 und 2 vollkommen resultatlos
war, obgleich sehr große Dosen MTbR zur Schutz¬
impfung verwandt wurden und die nachherige
Infektion sehr schwach war. Auch die Nach¬
behandlung bei Meerschweinchen 3 und 4 erwies
sich nicht wirksam, da beide Tiere tuberkulös
wurden; nur hat das am 79. Tage getötete Meer¬
schweinchen 3 noch eine auf die Infektionsstclle
und ihre Umgebung beschränkte Tuberkulose,
die inneren Organe sind noch frei, und auch bei
dem nach 147 Tagen getöteten Meerschweinchen 4
ist die Tuberkulose der Lunge noch relativ gering
im Vergleich zu den Kontrollieren. Vielleicht
kommt hierin ein gewisser Behandlungswert
der MTbR-Nachbehandlung zum Ausdruck.
Weitere Versuche, die ich selbst anzustellen vor¬
läufig nicht in der Lage bin, müssen dies ent¬
scheiden. Ein etwaiger geringer therapeutischer
Wert aber, der auch bei manchen Tuberkulin¬
präparaten von einigenAutoren im Tierexperiment
gefunden wurde, würde die Partigene nicht grund¬
sätzlich vom Tuberkulin zu trennen brauchen und
für ihren Immunisierungswert nichts besagen;
eine immunisatorische Fähigkeit des MTbR
— das sei nochmals hervorgehoben — kommt in
meinem Versuche nicht einmal andeutungsweise
zum Ausdruck.
Der zweite Punkt, zu dem ich Versuche an¬
stellte, betrifft den antigenen Charakter der
Fette. Die Annahme specifischer Antikörper¬
bildung gegen Fettsubstanzen stammt von
Deycke und Reschad Bey (4), die 1905 aus einer
bei Leprakranken gefundenen Streptothrixart
ein bakterielles Fett, das Nastin, darstellten,
mit dem sie bei Lepra therapeutische Erfolge er¬
zielten. In Übertragung dieser Methode auf die
Tuberkulose stellten Deycke und Much dann
aus dem Tuberkelbacillus das Tuberkulonastin
und in der Fortführung ihrer Versuche, nachdem
sie die Säureauflösung des Tuberkelbacillus ge¬
funden, aus der Milchsäure-Tuberkelbacillen-Auf-
schließung MTb, beziehungsweise ihrem unlös¬
lichen Rückstand MTbR die oben beschriebenen
Fettsubstanzen F und N her, welche im Körper
specifische Antikörper bilden sollen. Die Anti¬
körperbildung kommt zum Ausdruck in der ört¬
lichen Reaktion nach intracutaner Ein¬
spritzung der Fettantigene, von der unten näher
die Rede sein wird. Der antigene Charakter der
Fette ist noch nicht allgemein anerkannt, Bürger
und Möllers (5) und andere Autoren zweifeln ihn
an und führen die nach Einspritzung der Fett¬
substanzen entstehenden Reaktionen auf Bei¬
mengung von Eiweißkörpern zurück.
Um über die Specificität der Deycke-Much-
schen Hautreaktionen nach Injektion von F und N
ein Urteil zu gewinnen, machte ich vergleichende
Injektionen mit einer Reihe chemisch gut ge¬
kannter und den Partigenen nahestehender Sub¬
stanzen.
Die Hautreaktion nach Alkohol und Glycerin
war nach 36 Stunden sicher abgeklungen. Bei
Triolein war Rötung und Schwellung in den Ver¬
dünnungen 1:1000 bis 1:1 Million nach 48 Stunden
verschwunden. Bis zum dritten Tage waren
deutlich abgestufte Reaktionen bei der Anwendung
von Oleinsäure, Palmitinsäure, Palmitin und
Cholesterin in gleichen Verdünnungen nachweis-
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1920
245
har. Nur Cetylalkohol C16H34O. der zu den
Wachsen gerechnet wird, lieferte Reaktionen, die
denen des Partigens N ähnlich waren und sich
im Titer mit dessen Konzentrationen deckten.
Im ganzen aber war doch ein deutlicher Reaktions¬
unterschied zwischen den Partigenen N und F
und den vergleichsweise gespritzten Fettsäuren,
Neutralfetten, dem Cholesterin und dem Cetyl¬
alkohol unverkennbar, der für den besonderen
specifischen Charakter der Tuberkelbacillenfette
spricht.
Wenn ich in den vorstehend berührten
Punkten nur einige orientierende, so¬
zusagen tastende Versuche machen konn¬
te, die ein abschließendes Urteil nicht er¬
möglichen, so gestatten meine klini¬
schen Untersuchungen, über die ich
nun berichten will, eine bestimmte
Stellungnahme hinsichtlich der diagno¬
stisch-prognostischen und der therapeu¬
tischen Bedeutung der Partigene.
I. Die Immunitätsanalyse mit¬
tels d/3r Partigene. Zur Feststellung
der Antikörper, über die der an Tuber¬
kulose kranke Mensch verfügt, spritzen
Deycke und Much A, F und N in ver¬
schiedenen Verdünnungen in einer Menge
von 0,1 ccm intracutan ein und lesen am
vierten Tage die Reaktion ab, die sie
dann noch ca. 14 Tage verfolgen, um ihr
eventuell späteres Aufflammen nicht zu
übersehen; auf je stärkere Verdünnungen
eine Reaktion eintritt, um so größer ist
die Menge der vorhandenen Antikörper
— das Resultat, das in ein Schema ein¬
getragen wird, gibt den Immunitätstiter.
Bezüglich der Önzelheiten über die In-
tracutanprobe, in der Much geradezu
eine „quantitative, mathematische Im¬
munitätsanalyse“ erblickt, mittels deren
Altstadt (6) „immunphysiologische und
immunpathologische Immunitätsbilder“
unterscheidet und aus deren Veränderun¬
gen bei wiederholter Anstellung W.
Müller (7) den Begriff der „statischen
und dynamischen Immunität“ prägt, ver¬
weise ich auf den eingangs erwähnten
Bericht von F. Klemperer. Deycke (8)
selbst ist neuerdings in der Beurteilung
des Wertes der Intracutanreaktion zu¬
rückhaltender geworden, er stellt ihre
diagnostische Bedeutung nur mehr der
des Tuberkulins gleich, erklärt ihren
prognostischen Wert für beschränkt und
hält die Intracutanprobe auch für die
Einleitung einer Partigentherapie, bei
welcher früher die zu verwendende Erst¬
dosis durch den Intracutantiter ermittelt
werden mußte, nicht mehr'für erforder¬
lich.
Ich selbst stellte die Intracutan¬
reaktion bei 136 Personen an, bei Tuber¬
kulösen, an anderen Krankheiten Leiden¬
den und Gesunden.
Alle Injektionen, bis auf drei oder vier,
machte ich persönlich und zwar streng nach den
Vorschriften, die ich auf Deyckes eigener
Krankenabteilung kennen gelernt hatte; die
Schwester, welche die ganze Apparatur bediente,
wechselte während der Versuchszeit nur einmal.
Anfangs, als ich die Verdünnungen in unserem
Haus bereiten ließ, liefen vereinzelte Fehler unter;
später, als ich mit den vonKalle & Co. in Biebrich
a. Rh. fertig gelieferten Konzentrationen arbeitete,
funktionierte der ganze Mechanismus tadellos.
Die größte und kaum überwindliche
Schwierigkeit des Verfahrens bietet die
Feststellung und Registrierung der
durch die Reaktionen gegebenen Titer¬
werte. Deycke-Muchs' Methodik ist
unvollkommen, insofern als sie die Nu¬
ancen der Reaktionsreihen nicht genügend
wiedergibt. Besseristdievonv.Pirquet(9)
in seiner Arbeit über graphische Analysen
vorgeschlagene Methode, welche neben
der Ausdehnung auch die Intensität der
Rötung und Schwellung berücksichtigt.
Aber die praktische Arbeit lehrte mich
bald, daß eine exakte Messung des Durch¬
messers einer entzündlichen Schwellung
kaum möglich ist und die Registrierung-
stets etwas Subjektives behält. Ich be¬
gnügte mich deshalb nach einiger Zeit
mit der Registrierung nach Zahlen nach
dem Vorgehen von Dora Gerson (10),
indem ich die stärksten Reaktionen mit
4, schwächere mit 3 und 2 und geringe
mit 1 bezeichnete; ganz minimale Re¬
aktionen habe ich noch mit einem Punkt
an der 1 (== l*) gekennzeichnet Diese
Registrierung bewährte sich mir als ein¬
fach, schnell ausführbar und übersichtlich,
sie gab gute Vergleichsmöglichkeiten,
Der Subjektivität auch dieser Methodik
bin ich mir wohl bewußt — besonders bei
der Beurteilung schwacher Reaktionen
als positiv oder negativ trat dieser Mangel
deutlich hervor Ich brauchte nur die¬
selben Reaktionen von verschiedenen Be¬
obachtern unabhängig von einander ab¬
lesen zu lassen, ja, wenn an einem Tage
viele Reaktionen zu kontrollieren waren,
so daß'die einzelnen nicht in der Er¬
innerung haften konnten, brauchte ich
nur nach einer Stunde einen Titer erneutzu
notieren — stets fanden sich kleine Diffe¬
renzen. Aber dieser Mangel haftet jeder
Art der Registrierung an und schon aus
diesem Grunde kann von einer exakten
,,mathematischen“ Immunitätsanalyse
nicht die Rede sein.
Um die Genauigkeit der Intracutan¬
probe einer weiteren Prüfung zu unter¬
ziehen, injizierte ich die Partigenreihen
246
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juli
bei 15 Personen gleichzeitig an ver¬
schiedenen Körperteilen Ichnahm
einmal beide Oberarme, dann wieder
Oberarm und Unterarm, Oberarm und
Oberschenkel, Oberarm-Vorderseite und
-Rückseite und fand in keinem Falle
völlige Übereinstimmung in Inten¬
sität und Extensität, vielfach sogar er¬
hebliche Unterschiede. Auf die genaueste
Ausführung der Methode legte ich aller¬
größten Wert und vermied Injektions¬
fehler in diesen Fällen mit besonderer
Sorgfalt.
Meine Befunde will ich an einigen Fällen de¬
monstrieren :
O. T. 31* Jahre. Kleinherdige disseminierte
Tuberkulose der ganzen linken Seite und der
•rechten Spitze.
A F N
Rechter Oberarm, vorn. 2 3 3
1 1 1 *
linker „ ,, . 2 3 3
Hanna P., Krankenschwester, gesund.
A F N
Rechter Oberarm, vorn. 3 — 1
linker „ ,, . 2 I 2
1 — 1
Am siebenten Beobachtungstage ergab der¬
selbe Fall folgende Werte:
A F N A F N
Rechts . . 3 1 2 Links . . 3 3 2
2 — — 2—1
1 . — —
Die Unterschiede sind eklatant. Interessant
ist auch der folgende Fall bei einem 47 Jahre
alten Apoplektiker.
A F N
Rechter Oberarm . 1 — —
1 — —
Linker ,, . 1 1 1
1 1 1 -
— — P
— — 1 *
In gleicher Weise könnte ich noch eine ganze
Reihe von Fällen demonstrieren. Erwähnen will
ich nur noch die Werte bei einem seit 9 Jahren
hier beschäftigten, gesunden Stationsmädchen,
der ich je 13 Jnjektionen an beiden Ober- und
Unterarmen, also an vier verschiedenen Stellen
gleichzeitig verabfolgte.
Der vierte Beobachtungstag ergab:
A F N
Rechter Oberarm . 3 3 3
2 1 2
linker ,, . I 2 2
1 I 1
— 1 V
Rechter Unterarm. 2 4 4
1 - 1 - 1 -
Linker ,, . 2 3 3
1 - 1 1
— — 1
Den verschiedenen Reaktionsablauf an ver¬
schiedenen Körperstellen zeigt auch folgender
Fall.
Else P. 24Jahre. Beginnende Spitzenaffek¬
tion. Vor drei Wochen Hämoptoe.
Rechter Oberarm, Hinterseite.
1. Tag 2. Tag 3. Tag
23 3. 344 233
222 332 222
2 h 1 2 3 2 1 1 1
2 1 1 2 2 2 I-
5. Tag 6 . Tag 7. Tag '10. Tag 12. Tag
2332332231221 1 1
i 1 2 1 1 2 1 1 1 1 1 1 1 - 1 * 1 -
1*— 1 1* 1- 1 1 P 1* 1- 1 1 P P P
P P P
Linker Oberarm^ Vorderseite.
l.Tag 2. Tag 3. Tag
113 2 14 113
111 1 P 1 1—1
111 1 P 1
111 1 P 1
P
5. Tag 6 . Tag 7. Tag lO.Tag 12. Tag
1 P 3 1 P 3 P P 2 P 1 3 1 1 2
P P P P P P
P P P P P P
P P 'P
Die Unterschiede fallen ins Auge. An der
einen Stelle ist z. B. am vierten Tage F stark
(3), an der anderen kaum als positiv nachweisbar
(P). Das gleiche zeigen die Werte fürA und N.
Nicht anders steht es mit der sogenannten Exten¬
sität. An der einen Körperstelle sind in derselben
Reihe zwei, an der anderen drei oder mehr Werte
nachweisbar, gelegentlich fehlt z. B. am rechten
Oberarm F ganz, während am linken eine deut¬
liche Reaktion vorhanden ist.
Wir stehen demnach vor der Tatsache,
daß uns die „ Immunitätsanalyse^'
an verschiedenen Körperteilen
ganz verschiedene Resultate liefert,
und müssen daraus den Schluß ziehen,
daß der Immunitätszustand des Körpers
nicht die allein Ausschlag gebende Rolle
bei dem Ausfall der Reaktion spielt,
sondern lokale Faktoren der Haut dabei
mitwirk en.
Die verschiedene Dicke der Haut und
ihr Fettgehalt, ihre verschiedene Durch-
blu^tung und vor allem ihre Versorgung
mit nervösen Elementen sind von offen¬
barem Einfluß auf Stärke und Art der
intracLitanen Partigenreaktionen. Daß
diesen Faktoren ganz allgemein ein wich¬
tiger Anteil an den lokalen Reaktionen
der Haut zukommt, lehrt die stärkere
Auslösbarkeit der Dermographie an Brust
und Rücken gegenüber Unterarm, Hand
und Fuß, ferner das Ausbleiben bezie¬
hungsweise die Schwäche der Reaktion
auf entzündliche Reize an Stellen tropho-
neurotischer und vasomotorischer Stö¬
rungen bei centralen Lähmungen, und
anderes mehr. Krankheiten, bei denen
das Hautorgan besonders in Mitleiden¬
schaft gezogen ist, zeigten dement¬
sprechend ein besonders abweichendes
4. Tag
2
3
2
1
1
2
P
—
■—
4. Tag
1 P 3
P-
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1920
247
Verhalten gegenüber der Partigenprobe;
^0 gaben ödematöseNephritiker meist über¬
haupt keine Reaktion — z. B. ein sieben¬
jähriger Knabe, dessen Titer ganz negativ
ausfiel, obgleich zahlreiche Drüsen am
Halse auf tuberkulöse Infektion hinwie¬
sen—, und ein Fall ^ mit katarrhalischem
Ikterus reagierte negativ; auch ein Fall
von einseitiger Lungentuberkulose mit
starker Ichthyosis, der klinisch besonders
günstig verlief, zeigte bei mehrfacher
Prüfung dauernd schlechte Werte.
In Fällen von fibrinöser Pneumonie
und bei akut fieberhafter Grippe konnte
ich rbehrfach die schon von anderer Seite
gemachte Beobachtung bestätigen, daß
die Reaktion zunächst eine minimale war
und später in der Rekonvaleszenz auf¬
flammte.
Erwähnenswert ist — was von anderer Seite
noch nicht beobachtet zu sein scheint —, daß bei
neun Patienten wenige Stunden bis drei Tage
nach der Injektion ein mehr weniger über
den ganzen Körper ausgedehnter, besonders am
Kopfe sich bemerkbar machender Juckreiz auf¬
trat. Irgendwelche urticarielle Efflorescenzen
waren dabei nicht vorhanden. Erneute Titer¬
prüfungen bei denselben Personen hatten den
gleichen Effekt. Es scheint, daß er durch das
Partigen A verursacht wurde, da der Juckreiz
nach alleiniger Einspritzung von A wiederum
auftrat, nach F und N dagegen ausblieb.
Temperaturanstieg wurde bei An¬
stellung der Intracutanprobe nach den
Vorschrift enDeycke-Muchs öfters b eob-
achtet, doch klang die Temperatur späte¬
stens nach drei bis vier Tagen wieder ab.
Irgendwelchen Schaden habe ich bis auf
eine öfters an die Intracutanreaktion sich
anschließende Gewichtsabnahme nicht
entstehen sehen.
Eine größere Anzahl von Kranken
empfanden die 13 Einspritzungen als sehr
schmerzhaft und machten Schwierigkei¬
ten; einige verweigerten vollkommen die
Vornahme beziehungsweise Fortsetzung
der Titerinjektionen.
Vergleichende Untersuchung der Par¬
tigene mit dem Alttuberkulin ergaben im
allgemeinen, daß positive A-Reaktionen
mit positivem Pirquet einhergingen. Aber
eine Parallelität zwischen beiden Reak¬
tionen konnte ich nicht feststellen. Bei
schwachen Pirquets fanden sich starke
A-Reaktionen und umgekehrt, ja ich sah
sogar starken Pirquet bei negativem A.
Da aber der Partigentiter in der Regel
am Oberarm, der Pirquet am Unterarm
angelegt wurde, können neben technischen
Ungleichheiten lokale Hautdifferenzen,
wie wir dies oben kennen lernten, zu den
Unterschieden beigetragen haben.
Auch vergleichende Untersuchungen
der Partigen-Hautreaktion mit der sub-
cutanen Tuberkulinprobe aber ergaben
keine übereinstimmenden oder eindeuti¬
gen Resultate. Kranken mit hohem Parti¬
gentiter gaben auf Alttuberkulininjek¬
tion in der Menge von 1 und 5 mg keine
Herd- und Allgemeinreaktion, während
umgekehrt Patienten mit lebhafter Reak¬
tion auf ^/lo mg und weniger mittlere und
schwache Partigenwerte zeigten — ich
kann in diesem Punkte die Resultate von
Rolly (11) und Arthur Mayer (12) nur
bestätigen.
Die Intracutanreaktion mit Deycke-
Muchs-Partigenen folgt also anderen Ge¬
setzen wie die Tuberkulinreaktion oder
aber sie wird durch lokale Momente zu
stark beeinflußt, um eine etwaige Über¬
einstimmung mit ihr in Erscheinung treten
zu lassen. Daß sie eine Beurteilung des
Immunitätszustandes und seiner Schwan¬
kungen gestattet, ist nach alledem wenig
wahrscheinlich. Tn der Tat zeigen die
von mir gefundenen Titer bei Gesunden
und Kranken, über die ich nun einen
Überblick geben will, ein ziemlich regel¬
loses Verhalten, das einen Rückschluß
auf den Grad vorhandener Resistenz
nicht zuläßt.
Bei 17 klinisch gesunden Ärzten
und Schwestern, von denen die Mehrzahl
schon jahrelang in der Umgebung Lungen¬
tuberkulöser gearbeitet hatte und gesund
geblieben war, fand ich teils starke, teils
teils mittlere, teils schwache Reaktionen.
Die stärkste überhaupt von mir beobach¬
tete Reaktion hatte ein Kollege, dessen
Werte folgende waren:
A F N
4 4 4
3 3 3
3 3 3
3 3 3
Ein anderer nicht minder gesunder Kol¬
lege hatte am gleichen Tage:
A F N
1 1 1
1 * — 1 *
Bei einer Schwester, die seit sechs
Jahren hier tätig ist, einer Tuberkulose¬
infektion viel ausgesetzt, aber stets ge¬
sund und leistungsfähig war, konnte ich
kaum eine Reaktion nachweisen; ich
notierte bei ihr am vierten Tage
A F N
1* V V
248
Die Therapie der Gegenwart 1920
julj
Im allgemeinen waren bei den klinisch
Gesunden die Reaktionen auf A und N
stärker, die auf F schlechter entwickelt;
letztere fehlten unter 24 Gesunden vier¬
mal ganz, während ich A nur einmal
vermiete.
Die Reaktion auf N war in der Kon¬
zentration 1:1000 stets positiv, häufig
trat sie in der Form eines kleinen Bläs¬
chens auf, wie ich es auch in den oben er¬
wähnten Untersuchungen mit Cetyl-
alkohol beobachtete.
Mehrfach sah ich bei Kranken und
Gesunden ein tägliches Abfallen der
Extensität der Reaktionen bis zum fünf¬
ten bis siebenten Tage und ein späteres
Ansteigen des Titers, so daß nach 14 Ta¬
gen bis drei Wochen an allen Injektions¬
stellen livid gefärbte Infiltrate nachweis¬
bar waren. Der Versuch, diese Erschei¬
nungsform der Reaktion auf inaktive
Tuberkulose zu beziehen, scheitert daran,
daß-sie auch bei sicher aktiven und pro¬
gredienten Prozessen vorkommt — so
sah ich sie in besonders ausgesprochener
Weise in dem oben bereits angezogenen
Fall der seit einigen Wochen erst an mani¬
fester Tuberkulose erkrankten Else P.
Auch bei den tub erkulösen Pati en-
ten kamen regellos alle möglichen Kom¬
binationen im Titerbilde vor. Differenzen
gegenüber den Reaktionen bei Gesunden
waren hinsichtlich der Extensität nicht
zu erkennen. Die Intensität der Reaktion
dagegen war bei Tuberkulösen im allge¬
meinen geringer, die oberste Reihe von
A, F und N war meist mit 1 und 2, nur
sehr selten einmal mit 3 zu bewerten —
die Stärke 4 fand ich nur bei klinisch
Gesunden.
Der Titer für A war bei 75% aller
Lungentuberkulösen in seiner Extensität
stärker entwickelt als der für F, ebenso
war auch N meistens deutlicher als F.
W. Müller(13) und Spitzer(14) hatten
im Gegensatz zu Deycke, Much und
Anderen das gleiche gefunden, hatten
aber andere Verdünnungen im Titerbilde
gleichgesetzt, während in meinen Fällen
die gleiche Technik und die Verdünnungen
angewandt sind, die Deycke und Much
angegeben haben. Eine Erklärung für
diese Differenz mit Deycke und Much
vermag ich nicht zu geben.
Schwerkranke mit infauster Prognose
reagierten auf die Intracutaneinspritzun-
gen weder mit Rötung noch mit Schwel¬
lung — was dem Fehlen der Pirquetschen
Reaktion auf Alttuberkulin in diesen
Fällen entspricht und auch wohl in gleir*
eher Weise, durch das Versagen aller
Funktionen, sich erklärt.
Prognostisch günstige Fälle aber und
solche mit zweifelhafter Prognose zeigten
alle möglichen Titer, ohne daß es möglich
gewesen wäre, daraus einen Schluß weder
auf den augenblicklichen Zustand noch
auf den weiteren Verlauf zu ziehen. Bei
wiederholter Anstellung der Reaktion
ergab sich im allgemeinen zwar, daß kli¬
nische Besserung mit einer Besserung des
Titerbildes einherging, und namentlich
dann war dieses der Fall, wenn es gelang,,
das Körpergewicht und damit auch den
Ernährungszustand der Haut zu heben.
Aber nicht selten sah ich auch bei klini¬
scher Besserung allgemeine Verschlechte¬
rung des Titers oder eine regellose Ver¬
änderung, indem z. B. A ab- und N und
F zunahm.
Wenn ich auf Grund der vorstehend
mitgeteilten Erfahrungen mein Urteil
über die Intracutanreaktion nach Partial¬
antigeninjektion zusammenfassen soll, so-
datf ich sagen: In diagnostischer Be¬
ziehung leistet die JntracLitanprobe^nach
Deycke-Much nicht mehr und nicht
weniger als die cutane oder intracutane
Tuberkulinreaktion; beide sind positiv,
wenn der Körper in irgendeiner Form
mit Tuberkulose infiziert ist, auf den Sitz
der Tuberkulose aber oder ihre Aktivität
beziehungsweise Inaktivität lassen sie
keinen Schluß zu. In prognostischer
Hinsicht läßt sich bei manifester Tuber¬
kulose aus der einmaligen Austitrierung
nicht erkennen, wie sich der weitere Ver¬
lauf gestalten wird, da die gleichen Titer¬
bilder bei klinisch Gesunden,' bei in
Besserung und in Verschlechterung be¬
findlichen Kranken Vorkommen. Das voll¬
kommene Negativsein der Reaktion auf
A, F und N ist als prognostisch infaust
anzusehen — doch handelt es sich hier
meist um Fälle, in denen die physikalische
und allgemeine Untersuchung ohne wei¬
teres den progressen Zustand und die
üble Prognose erkennen läßt. Die mehr¬
fache Austitrierung gibt zwar in günstig
verlaufenden, mit Gewichtszunahme ein¬
hergehenden Tuberkulosefällen in einem
ziemlich hohen Prozentsatz eine Besse¬
rung des Titers; da aber ein abweichendes
Verhalten — Besserung des objektiven
Befundes und Verschlechterung des Titers
oder Verschlechterung des Befindens bei
Besserung des Titers — ziemlich häufig
zu beobachten ist, kann auch die fort¬
laufende Kontrolle des Titers nur zur
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1920
249
Bestätigung, nich*t zur alleinigen Be¬
gründung der Prognose dienen.
II. Die Partigenbehandlung. Die
Technik der Partigentherapie ist im Laufe
der Zeit wesentlichen Wandlungen unterworfen
worden. Von der Methodik, die in dem Bericht
von F. Klemperer (1. c.) näher beschrieben
wurde, bei welcher 1. die zu injizierende
Erstdosis jedesmal durch die Intracutanprobe
bestimmt wurde (die Behandlung wurde mit
Vioo ccm derjenigen Konzentration begonnen,
welche intracutan eben noch eine Reaktion ge¬
geben hatte), 2. die Injektionen täglich statt¬
fanden unter Steigerung um je 0,1 ccm, 3. als
Ziel der Behandlung neben und vor der
Steigerung des Titers seine Einstellung auf den
Mittelwert A:F:N = 1:10:10 000 galt, ist
Deycke (8) neuerdings ziemlich weitabgekommen.
Er empfiehlt jetzt eine schematische An¬
fangsdosis, die unabhängig ist vom Intracutan-
titer (sie beträgt für MTbR und A 0,1 der Ver¬
dünnung von 1:100 000 Millionen, für F und N
0,1 cm^ der Verdünnung 1:10000 Millionen); die
Injektionen finden nur in leichteren Fällen noch
täglich statt, in schwereren zweimal wöchentlich,
in besonders schweren sogar nur einmal wöchent¬
lich; endlich wird die getrennte Behandlung mit
A, F und N nur in Aiisnahmefällen angewandt,
bei den meisten Fällen wird von Anfang an mit
dem Gemisch MTbR behandelt. Für die Dosen¬
steigerung gibt Deycke jetzt folgendes Schema:
bei täglicher Einspritzung 0,1, 0,15, 0,2, 0,3,
0,45, 0,7 der Verdünnung 1:100 000 Millionen,
dann weiter 0,1, 0,15, 0,2 usw. der Verdünnung
1:10 000 Millionen und so fort; bei wöchentlich
zwei- oder einmaliger Einspritzung wird die
Dosis jedesmal verdoppelt, also 0,1, 0,2, 0,4,
0,8 MTbR 1:100000 Millionen, dann 0,15, 0,3,
0,6 MTbR 1:10 000 Millionen, 0,1, 0,2 MTbR
1:1000 Millionen und so fort bis zur Verdünnung
von 1:1 Million, über welche selten hinaus¬
gegangen zu werden braucht. Die höchste über¬
haupt angewandte Konzentration liegt für MTbR
und A bei 1:100 000, für F bei 1:10 000 und für N
bei 1:1000.
In dieser Form ist die Partigentherapie prak¬
tisch außerordentlich vereinfacht, sie hat sich
damit freilich auch von ihrer theoretischen Be¬
gründung offenbar entfernt und unterscheidet
sich kaum mehr von der sogenännten anaphylak-
fisierenden Methode der Tuberkulinbehandlung.
Der einzige Unterschied von dieser besteht darin,
daß das Tuberkelbacillenpräparat MTbR durch
Ausschaltung des wasserlöslichen Anteils L entgiftet
sein soll; ob dies richtig und die Ausschaltung
von L ein Gewinn ist, erscheint zweifelhaft, nach¬
dem W. Müller (15) im Vorjahre berichtet hat,
daß L wie die anderen Partialantigene wirke und
therapeutisch günstige Erfolge erzielt habe.
Die bisherigen Berichte über die thera¬
peutischen Erfolge der Behandlung mit
MTbR oder seinen Komponenten A, F
und N sind sehr geteilt. Außer Deycke,
Much und ihren Schülern, die von der
besonderen Wirksamkeit der Partialanti-
geae überzeugt sind und — wie Deycke
und Altstaedt (16) — versuchen, ihre
guten Behandlungsergebnisse mit Stati¬
stiken zu belegen, haben Römer und
Berger(17),Brecke(18),Liebc(26),Reh-
der(19) und Andere sich in günstigem
Sinne ausgesprochen. Auch Kremser-
Sülzhayn gab kürzlich auf dem Kon¬
greß für innere Medizin zu Dresden den
Partialantigenen vor dem Alttuberkulin
den Vorzug. Keinen Fortschritt erblick¬
ten in ihnen Bandelier und Röpke(20),
ferner Karl Rohde (21), welcher be¬
richtet, daß in der Frankfurter chirurgi¬
schen Klinik A, F und N und MTbR bei
chirurgischer Tuberkulose für sich allein
versagten und in Kombination mit 'chi¬
rurgisch - operativer Behandlung keine
besseren Resultate lieferten, als die chi¬
rurgische und konservative Therapie ohne
Partigene. F. Oeri (Davos)(22) hatte bei
acht Fällen zweifelhafte Ergebnisse.
H. Walthard (23) glaubt in einzelnen
Fällen die Heilung günstig beeinflußt zu
haben, hat aber auffallende Besserungen
nicht gesehen. H. Landau (24) beurteilt
in seinem Bericht aus der chirurgischen
Universitätsklinik Berlin (Charite) die
therapeutischen Erfolge als sehr fraglich;
Heilungen kamen nicht vor. Jacob und
Blechschmxidt (25), die im Städtischen
Krankenhause zu Bremen 156 Kranke,
und zwar 146 Lungentuberkulöse und
10 Drüsentuberkulöse nach Deycke-
Much behandelten, sahen günstige Er¬
folge bestenfalls in der Hälfte der Fälle
bei cirrhotischen Formen, heben aber
hervor, daß sie bei diesen gleiche Erfolge
durch Freiliegekur und gute Ernährung
zu sehen gewohnt sind; bei cirrhotisch-
knotigen und knotigen Formen sahen sie
Besserung des Befundes und des Allge-
m*einzustandes nur in einem^ Fünftel der
Fälle, während sie bei einer Überlegenheit
der Partigentherapie gerade hier wesent¬
lich bessere Resultate erwartet hätten;
bei knotig-pneumonischen Formen end¬
lich war die Behandlung fast durchweg
ergebnislos. Auch Schittenhelm (Kiel)
hat in seinem einleitenden Referat „Über
den gegenv/ärtigen Stand der Immuno-
und Chemotherapie“ auf dem Dresdener
Kongreß für innere Medizin sich jüngst
dahin geäußert, daß er mit den Partigenen
keine besseren Erfolge erzielt hätte, als
bisher mit den alten Tuberkulinen.
Ich selbst habe nur eine beschränkte
Anzahl von Fällen mit der Partigen¬
therapie behandelt können; ichverwandte
ausschließlich MTbR und folgte hinsicht¬
lich Anfangsdosis, Dosensteigerung usw.
den ursprünglichen Vorschriften D e y ck es.
27 Kranke erhielten zusammen 36 Kuren,
und zwar konnte die Kur bei 20 Patienten
einmal, bei 5 zweimal und bei 2 dreimal
durchgeführt werden.
32
250
Die Therapie der- Gegenwart 1920
Von fünf Fällen von tuberkulösei ex¬
sudativer Pleuritis fieberte einer unter
der MTb{^-Behandlung ab, dessen Kurve
jedoch schon vor dem Beginn der Injek¬
tionen eine Tendenz zum Fallen zeigte. Bei
den anderen vier Fällen wurde die Tem¬
peratur nicht beeinflußt und auch sonst
war ein Nutzen von der Partigenbehand¬
lung nicht zu erkennen; erst als lokale
Wärme in Form von Dampfdusche, Föhn
und Brustumschlägen neben Flüssigkeits¬
beschränkung, salzarmer Kost und inner¬
lichen Gaben von Natrium salicylicum
angewandt wurde, kam es ziemlich
schnell zu Temperaturabfall, Exsudat¬
schwund und-allgemeinem Wohlbefinden.
Bei 9 von 21 mit MTbR behandelten
Fällen von Lungentuberkulose war
eine Gewichtszunahme von 1 bis 11 kg
zu verzeichnen. Bis auf einen Fall in¬
dessen hatte die Zunahme schon vor der
Behandlung eingesetzt, wie folgende Zu¬
sammenstellung zeigt:
Gewichtszunahme
während und nach der
MTbR-Kur
1 .
2,3 kg
2,5 kg
2 .
0,8 „
0,2 „
3.
1,9 „
3,6 ,,.
4.
2,2 „
5,5 „
5.
3,6 „
4,7 „
6 .
0,8 „
2,1 „
7.
7,2 „
3,8 „
8 .
5,3 „
0,5 „
9.
—1,3 „
5,6 „
Die bei dem Fall 9 konstatierte vor¬
herige Gewichtsabnahme von 1,3 kg fällt
in die erste Woche seines Ki'ankenhaus-
aufenthalts, in der die Intracutanreaktion
vorgenommen wurde. Ich habe oben
bereits erwähnt, daß ich Gewichtsab¬
nahme oder Stillstand in der Gewichts¬
abnahme nach Intracutanierungen öfters
verzeichnet habe.
Bei den erwähnten neun Fällen, bei
denen ich während, aber auch schon vor
der MTbR-Kur eine Besserung beobachten
konnte, handelte es sich von vornherein
um zwar ziemlich ausgedehnte, aber pro¬
gnostisch relativ günstige cirrhotische
und cirrhotisch-kleinherdige Prozesse, die
schon vor der MTbR-Kur in sechs Fällen
kein Fieber und in drei Fällen subfebrile
Temperaturen aufwiesen. Bei fünf war
die Sputummenge überhaupt nicht mehr
meßbar und bei den übrigen vier betrug
sie nur gelegentlich 20—30 ccm.
Tuberkelbacillen, die vor der Kur
nachweisbar waren, schwanden in keinem
Falle; einmal ging das Sputum von
30 ccm auf Spuren zurück. Der physi¬
kalische Befund an den Lungen war am
Juli^
Ende der Kur teilweise gebessert, aber
auch diese Besserung hatte meistens
schon vorher, ebenso wie die Gewichts¬
zunahme, eingesetzt.
14 Kranke verschlechterten sich wäh¬
rend der Partigenbehandlung sichtlich,
obwohl ich bei fünf nach der Art des
Lungenbefundes und der ganzen körper¬
lichen Verfassung bei einem wirklichen
Nutzen der Deycke-Muchschen The¬
rapie einen Erfolg erwartet hätte.
Darm- und Kehlkopftuberkulosen, die
in einigen Fällen komplizierend auftraten,
wurden nach keiner Richtung hin günstig
beeinflußt.
Sechs Kranke starben während oder
jm Anschluß an die Kur.
Bei diesen letzten Gruppen achtete
ich besonders auf eine etwaige ,,Ab¬
schwächung der Giftwirkungen der Tuber¬
kulose“, wie sie Rehder(19) verzeichnete,
welcher eine ,,qualvolle Verlängerung des
Lebens auf Kosten der Euphorie“ als Folge
der Partigentherapie sah. Einige meiner
vorgeschrittenen Kranken wurden unter
den MTbR-Injektionen fieberlos und das
finale Stadium zog sich lange hin, wie
ich dies ähnlich und sogar häufiger bei
der Behandlung mit' Bacillenemulsion
gesehen habe — von einem besonderen
entgiftenden Einfluß des MTbR, einem
„aneuphorischen“ Zustand oder der¬
gleichen habe ich nichts beobachtet.
Mein Urteil über die Partigen¬
therapie nach Deycke und Much
lautet danach: Ich sah von der Behand¬
lung mit MTbR niemals einen Schaden,
aber auch keinen Erfolg, der nicht
durch die günstigen Faktoren der
Krankenhausbehändlung allein zu er¬
klären wäre; eine 'Überlegenheit der
Partigentherapie über die Behandlung
mit Alttuberkulin und Bacillenemulsion
vermag ich nicht anzuerkennen.
Literatur: 1. Deycke und Much, Beitr.
z. KHn. d. Tbc., Bd. XV. — 2. Much und
Leschke, Beitr. z. Kün. d. Tbc., Bd. XX..—
3. H. Haupt, Zschr. f. Tbc., Bd. 22, H. 5. —
4. Deycke und Reschad Bey, D. m. W. 1905,
Nr. 13 u. 14, 1907, Nr. 5. — 5. Bürger und
Möllers, D. m. W. 1916, Nr. 51. — Dieselben,
Veröffentlichungen der Robert-Koch-Stiftung,
Bd. II, H. 2. — 6 . Altstaedt, Beitr. z. KHn.
d. Tbc., Bd. 39, H. 3 u. 4. — 7. W. Müller,
Beitr. z. KHn. d. Tbc., Bd. 36. — 8 . Deycke,
Zschr. f. ärztl. Fortbild. 1919, Nr. 20.
9. V. Pirquet, M. m.W. 1914, Nr. 29. — 10*Dora
Gerson, Beitr. z. KHn. d. Tbc., Bd. 39, H. 1
bis 4. — 11. Rolly, M. m. W. 1911, Nr. 24. —
12. Arthur Meyer, Zschr. f. Tbc., Bd. 30, H. 5. —
13. W. Müller, M. m. W. 1918, H. 2. —
14. Spitzer, M. m. W. 1917, Nr. 35. — 15. W.
Müller, W. kl. W. 1919, Nr. 25. — 16. Deycke
Juli
Die Therapie, der Gegenwart 1920
251
und Altstaedt, M. m. W. 1917, Nr. 9. —
17. Römer und Berger, D.m.W. 1916, Nr. 21.—
18. Brecke, Zschr. f. Tbc., Bd. 30, H. 5. —
19. H. Rehder, Beitr.-z. Kün. d. Tbc., Bd. 42,
H. 3. — 20. Bandelier und Röpke, Lehrbuch
der spez. Diagnostik u. Therapie der Tuber¬
kulose, 9. Aufl. 1918. — 21. Karl Rohde,
Bruns Beitr. z. Kün. d. Chir., Bd. 115, H. 3.
22. F. Oeri-Davos, Korr. Bl. Schweizer Ae.
1919, Nr. 45. — 23. H. Walthard, Korr. BI.
Schweizer Ae. 1919, Nr. 42. — 24. H. Landau,
Arch. f. klin. Chir., Bd. 113, H. 2. — 25. Jacob
und Blechschmidt, M. m. W. 1920, Nr. 16. —»
26. Liebe, Zschr. f. Tbc., Bd. 31, H. 2,
Aus dem Stadtkraukenliause in Zeitz.
Novasurol als Diureticum.
Von Dr. Lange, Sekundärarzt.
Die Aufnahme eines Herrn, bei dem
großer Ascites und starker Ikterus im
Vordergründe des Krankheitsbildes stan¬
den und der von seinem Hausarzt erfolg¬
los behandelt worden war, veranlaßte
meinen Chef, Herrn Geheimrat Po ei¬
chen, anstatt des Kalomeis das Novasurol
der Farbenfabriken Bayer-Elberfeld in
intraglutealen Injektionen als Diuretikum
anzuwenden. Er versprach sich von dem
Novasurol als Doppelverbindung von oxy-
mercuripheno-xylessigsaurem Natrium und
Diäthyliranonylharnstoff eine gute, harn¬
treibende Wirkung.
Die auf das Novasurol gesetzten Er¬
wartungen wurden erfüllt, ln der Zeit
vom 3. Dezember 1918 bis Oktober 1919
wurden im Krankenhause Zeitz sieben
Patienten mit Novasurol behandelt.
Leider erlaubten die Zeitverhältnisse nur
von drei Patienten die Harnabsonderung
in Form von Kurven zu bringen, aber sie
genügen, um einen Überblick über das
prompte Einsetzen der diuretischen Wir¬
kung des Präparats zu geben. Das Kreuz
unter den Daten bedeutet die jedesmalige
intramuskuläre Gabe von 0,22 g Nova¬
surol = 1 Ampulle.
Einmal handelte es sich um Ascites und Ödeme
bei Mitralinsuffizienz:
1. Friedrich W., 58 Jahre alt, aufgenommen
18. März 1919. Klinische Diagnose: Mitralin¬
suffizienz. Beginn der Krankheit September 1918.
Jetzt starker Ascites, starkeÖdeme. Verlauf: Auf
Strophantin intravenös, Diuretin, Digitalis, einan¬
der folgend, steigt Harnmenge im Verlauf von 16
Tagen von 300 auf 1500 ccm, nach Zwischen¬
gaben von Novasurol auf 2100 ccm. Exitus am
13. April 1919 unter Anzeichen von Herzschwäche.
Stuhlgang: Dauernd ohne Durchfall. Eiweiß:
Von Anfang an Spuren.
Zweimal bestanden Ascites und Ödeme bei
Störungen des Pfort aderkreislaufes.
2. Kaufmann H., 57 Jahre alt, aufgenommen
am 3. Dezember 1918. Klinische Diagnose:
Syphilitische Lebercirrhose. Erkrankt vor vier
Wochen angeblich nach Erkältung an Ikterus mit
seinen sekundären Erscheinungen. Jetzt Schmer¬
zen unter rechtem Rippenbogen. Starker Ascites,
Leber und Milz überragt Rippenbogen um zwei
Querfinger. Wassermann negativ. Verlauf:
Vgl. Kurve I. Entlassung: Beschwerdefrei.
Milz nicht fühlbar, Leber überragt den Rippen¬
bogen um zwei Querfinger. Stuhlgang: Zwei-
bis dreimal täglich. 10. und 14. Dezember 1918
Durchfall. Eiweiß: Dauernd negativ. Nach¬
untersuchung Januar 1920: Gutes Befinden.
Ascites nicht nachweisbar. Rechter Leberlappen
hypertrophiert, Milz nicht palpabel, nicht per¬
kutorisch nachweisbar. Harn frei von Eiweiß
und Zucker.
Kurve 2.
3. Konrad K-, 54 Jahre alt, aufgenommen
September 1919. Klinische Diagnose: Hepa¬
titis iuetica, Myocarditis. Vor 15 Jahren Lues,
zweimal Schmierkur. Jetzt starker Ascites, Ver¬
größerung'der Leber. Verlauf: Siehe Kurve II.
Entlassung: 30. Oktober 1919 auf eigenen
Wunsch, gebessert. Stuhlgang: Kein Durch¬
fall. Eiweiß: Dauernd negativ. Nachunter¬
suchung Januar 1920: Gutes Allgemeinbefinden.
Schonungsbedürftig. Keine Ödeme. Geringer
Ascites.
Viermal waren Tumoren der Baucheingeweide
die Ursache der Wasserretention im Körper.
4. Hedwig M., 47 Jahre alt, aufgenommen
26. Mai 1919. Klinische Diagnose: Carcinom
der Leber und des Netzes. Vor 14 Tagen Ikterus,
der noch besteht, ferner starker Ascites. Tägliche
Harnmenge 500 bis 1000 ccm. Verlauf: Durch¬
schnittlich jeden dritten Tag eine Ampulle =
0,22 Novasurol. Darauf Harnmengc zwischen
1200 und 2500 ccm. Bis 13. Juni 1919 schwindet
der Ascites fast vollkommen. Von da ab Ver¬
schlechterung des Allgemeinbefindens, Aussetzen
von Novasurol. Exitus am 21. Juni 1919.
Stuhlgang: Kein Durchfall. Eiweiß: Dauernd
negativ.
5. Alwine K., 50 Jahre alt, aufgenommen
27. Dezember 1918. Klinische Diagnose:
Cystadenoma malignum ovarii mit Lebermeta-
32*
252
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juli
stasen. Aufnahmebefund; Starker Ascites,
Ödeme beider Beine. Verlauf: Siehe auch
Kurve III. 30. Dezember 1918: Punktion, 10 l
Kurve 3.
Flüssigkeit. 3. Februar 1919: Punktion, 8 I
Flüssigkeit. Entlassung: Keine Klagen, kann
aufstehen, Ascites gering. Auf Wunsch entlassen.
Stuhlgang: Durchfall am 5., 6., 7. Januar 1919.
Eiweiß: 10. bis 13. Februar 1919 bis %Voo, auch
weiterhin, ? Vor Novasurol kein Eiweiß,
h j 6. Frau H., 64 Jahre alt. Aufgenommen
8 ." Oktober 1919. Klinische Diagnose: Pan-
kreas-Carcinom. Seit August 1919 Ascites. Mitte
September 1919 ein Eimer voll Flüssigkeit durch
Punktion entleert. Aufnahmebefund: Starker
Ascites, starke Ödeme. Schwer darnieder¬
liegende Diurese, täglich nur 100 bis 200 ccm.
Verlauf: Auf Diuretin, Digalen, Verodigen,
jedesmal in Abschnitten von einigen Tagen zü-
sammengefaßt, Harnmenge über 800 ccm. Auf
Zwischengabe von Novasurol Harnmenge bis
1600 ccm. Vom 20. November 1919 an Ver¬
schlechterung des Allgemeinzustandes. Exitus:
4. Dezember 1919 an Herzschwäche. Stuhl¬
gang: Viele unregelmäßige Durchfälle, die
zwischen 7. und 8. November, solange Novasurol
ausgesetzt wird, aufhören. Eiweiß: Spuren
18. Oktober 1919, dann hin und wieder.
7. Johanna M., 45 Jahre alt, aufgenommen
3. Dezember 1918. Klinische Diagnose: Tumor
der linken Adnexe. Krankenblatt verloren ge¬
gangen. Verlauf: Auf Tartarus dep., Digitalis,
Kalomel, einander folgend, Harnmenge im Verlauf
von 18 Tagen von 1200 auf 300 bis 500 ccm
fallend. Nach Novasurol, durchschnittlich jeden
dritten Tag, steigende Diurese bis 3000 ccm.
18. Januar 1919: Probelaparotomie. Ent¬
lassung: Gebessert. Stuhlgang: Durchfall
am22. und23. Dezember 1918. Eiweiß: Dauernd
negativ.
Durchweg beobachten wir, wie auf
einmalige Injektion von Novasurol ein
prompter Anstieg der Harnmenge erfolgt.
Die Wirkung tritt frühestens vier Stunden
nach der Injektion in die Erscheinung,
spätestens aber am nächsten Tage. Sie
hält etwa ein- bis zweimal 24 Stunden an
und fällt dann schneller oder langsamer
zur früheren Höhe ab.
Auf Kurve I sehen wir ein außer¬
ordentliches Hochschnellen der Harn¬
menge von 1500 auf 5000. Patientin 6
mit sehr darniederliegender Diurese von
täglich 100—200 ccm scheidet nach Nova¬
surol am nächsten und übernächsten Tage
1100 beziehungsweise 1600 ccm ab.
Bei Patientin 5
zwischen dem 9. und 19. Januar
dreimalige Gaben Novasurol die Harn¬
menge von 300 ccm auf 1500, 1900, dann
2200 ccm in die Höhe.
Mit der Erschöpfung des Flüssigkeits¬
depots wird naturgemäß auch die aus¬
geschiedene Harnmenge geringer. Dies
war bei Patientin 2, 3, 4 und 6 zu beob¬
achten und wird deutlich in Kurve I und
II: die Verbindungslinie der Maximal¬
punkte fällt immer mehr, je länger Nov¬
asurol gegeben wird. Kurve III zeigt bis
zuletzt gleichbleibenden Einfluß des Prä¬
parats; es erklärt sich dies daraus, daß
dauernd neue Flüssigkeitsmengen im Kör¬
per an novasurolfreien Tagen zurück¬
gehalten beziehungsweise in die Bauch¬
höhle ausgeschieden wurden. Die Patien¬
tin wird auf ihren Wunsch mit noch ge¬
ringem Ascites entlassen.
Nur mit Novasurol behandelt wurden
Patientin 4 und 5. Kurve III zeigt die
kräftige diuretische Wirkung. Patientin 4
bekommt vom 14. Juni 1919 an wegen des
aussichtslosen Allgemeinzustandes Mor¬
phium, Novasurol wird ausgesetzt, aber
bis zur letzten Anwendung werden kräf¬
tige, wenn auch abnehmende Wirkungen
auf die Harnabsonderung erzielt.
Bei Beobachtung 1, 2 (Kurve I) und
7 wurden zunächst andere diuretische
Mittel gegeben. Bei 2 (Kurve I) wird eine
Besserung der Harnabscheidung erzielt,
und auch bei 1 steigt die Harnmenge auf
Strophantin, Diuretin und Digitalis (vgl.
Krankengeschichten). Bei 7 hingegen
verschlechtert sie sich immer mehr und
erhebt sich nicht über 500 am Tage. Mit
der Verabreichung des Novasurol aber
springt die Besserung ganz offensichtlich
in die Augen. Der Probelaparotomie
und dadurch bewirkten Entlastung der
Bauchgefäße am 18. Januar 1919 im
Falle 7 wird man die Besserung nicht zu¬
schreiben dürfen, denn eine anhaltende
Aufwärtsbewegung tritt erst mit inten¬
siver Novasurolbehandlung ein.
Bei Beobachtung 3 (Kurve H) und
Beobachtung 6 werden auf anfängliche
Gaben von Novasurol gebräuchliche Diu-
retica dazugegeben; eine verstärkte,Wir¬
kung tritt hierdurch nicht ein, im Gegen¬
teil fällt die durch Novasurol hochgetrie¬
bene Kurve wieder ab, und nur wenn das
Präparat erneut verabfolgt wird, schnellt
sie wieder empor, so daß das bekannte
Bild entsteht.
Nebenwirkungen. Was die Reiz¬
wirkungen auf- die* Nieren anlangt, so
finden wir den Harn viermal dauernd frei
(Kurve III) geht
1919 auf > von Eiweiß (2, 3, 4, 7). Bei 5 wird ver-
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1920
253
zeichnet am 1,0.—13. Februar 1919 Ei¬
weiß bis V 2 7oo> i wird verzeichnet
Spuren von'Eiweiß von Anfang an, bei 6
wird verzeichnet Spuren am 18. Oktober
1919, im Lauf der Krankheit verschwin¬
dend und wieder erscheinend.
Dauernd frei von Reizwirkungen auf
den Darm blieben I, 3, 4; Durchfälle von
2—3’Tagen haben 2, 5 und 7, viele Durch¬
fälle. 6. •
Über heftigen Schmerz an der Ein¬
stichstelle wurde von zwei Patienten ge¬
klagt. Der eine von diesen behauptete,
die Schmerzen ließen nach dem Trinken
von einem Glas Bier prompt nach.
Die Injektionen geschahen am äußeren
Quadranten des Gesäßes mit einer Ka¬
nüle, die nicht zum Aufziehen des Nova-
surols .aus der Ampulle benutzt war. Stets
wurde festgestellt, daß keine Vene ge¬
troffen war.
Fortgesetzte Temperaturmessungen
und Pulszählungen bei 6 und 7 lassen
einen deutlichen Einfluß des Novasurols
nicht erkennen; wohl finden sich nach der
Krankengeschichte einige Male nach der
Injektion Erhöhungen von Puls und Tem¬
peratur,-doch sind diese nicht einheitlich
genug, um' als beweisend zu gelten.
Kein Erfolg fand sich bei zwei mit
Exsudatbildungen einhergehenden tuber¬
kulösen Peritonitiden. Bei beiden Kran¬
ken hielt sich nach einmaliger Gabe die
Härnmenge in der gleichen Höhe von
etwa 400 ccm, beide reagierten mit starken
Durchfällen für die folgenden Tage.
Grundsätzlich wird jetzt Novasurol
bei allen Stauungserscheinungen mit
Wassersucht und als Antisyphilitikum
gegeben. Es hat alle anderen Mercurialien
in der Therapie der Syphilis im Kranken¬
hause Zeitz zu verdrängen gewußt.
Depressionen, ihr Wesen und ihre Behandlung.
Von Dr. Wüheltn Stekel, Wien.
Die Depression ist eine der häufigsten
Neurosen, die-der praktische Arzt zu Ge¬
sicht bekommt. Er sieht sie in den ersten
Stadien, in denen eine rationelle Therapie
noch viel leisten kann. Je länger die
Depression besteht, desto schwieriger
wird ihre Behandlung. Die physikalischen
und medikamentösen Mittel versagen
vollkommen. Es gibt nur eine Methode
der Wahl: die Psychotherapie. Eine
Seelenkrankheit — und das ist eine jede
Depression —kann nur seelisch behandelt
werden.
Um aber ein solches Leiden behandeln
zu können, muß man es verstehen. Ge¬
rade die Depression fordert den ganzen
Scharfsinn und die überlegene Kunst des
Seelenarztes heraus. Denn die Kranken
gehören zu jener Art von Menschen, die
nicht wissen, warum sie traurig sind. Sie
erzählen meist in den ersten Stunden, daß
sie keinen Grund für ihre Trauer wüßten.
Es gibt jedoch keine grundlose De¬
pression! Die Aufgabe des Psychothera¬
peuten ist es, den versteckten Grund der
Trauer ausfindig zu machen.
Den Übergang zu den schweren Fällen
von Depressionen, als deren Endglied
schon eine Psychose, die Melancholie,
gelten kann, bilden die leichten Formen
von vorübergehender Depression, die
flüchtigen Verstimmungen, welche man¬
chen Menschen scheinbar grundlos beim
besten Wohlbefinden überfallen. Die
Diagnose der Depression ist leicht zu
stellen: Der Kranke ist verstimmt und
kann keinen Grund dafür angeben. Eine
motivierte Trauer ist keine Depression
im neurotischen Sinne. Allerdings werden
oft Motive vorgeschoben, deren Zweck
als ,,Ersatzvorstellung‘' leicht erkannt
werden kann. Wenn im Krieg ein mehr¬
facher Millionär an der Angst vor Ver¬
armung erkrankte und seine Depres¬
sionen auf diese Angst zurückführte,
konnte auch der Anfänger in der Seelen¬
heilkunde feststellen, daß diese Angst
und Verstimmung unberechtigt waren.
Das Charakteristische einer jeden De¬
pression ist der Umstand, daß der wahre
Grund der Trauer dem Kranken nicht
bewußt ist. Er drückt sich um eine
Wahrheit herum. Er will etwas nicht
sehen und ,,rationalisiert“ seine Trauer,
oder er will nicht wissen, warum er traurig
ist. Das gilt auch für die schwersten Fälle
von Melancholie^).
Den Übergang zu diesen schweren
Zuständen liefern uns die grundlosen Ver¬
stimmungen des Normalmenschen und
der Neurotiker. In solchen Fällen gelingt
es der Analyse leicht, eine Assoziation
nachzuweisen, durch die sich die Ver¬
stimmung motivieren läßt.
Ein Beamter klagt darüber, daß er an be¬
stimmten Tagen an einer schweren Depression
erkrankt, für die er keine Motivierung finden
9 Vergleiche meine Ausführungen über Me¬
lancholie in meinem Buche „Nervöse Angst¬
zustände und ihre Behandlung“.
234
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juli
könne. Ich ersuche ihn, an einem solchen Tage
zu mir zu kommen. Der sonst lebensfrohe Mensch
bietet ein jammervolles Bild, als er sich an einem
solchen kritischen Tage bei mir meldet. Sein Ge¬
sicht, sonst glatt und strahlend, hat einen tief¬
ernsten Ausdruck und zeigt viele Falten. Wie
lange die Depression schon andauert? Seit dem
Erwachen. Ob er gestern noch guter Laune war?
Ja! Bei bester Laune. Nun beginne ich nachzu¬
forschen. Es ergibt sich kein aktueller Anlaß.
In solchen Fällen tut man gut, sich der Tatsache
zu erinnern, daß Neurotiker einen „geheimen
Kalender“ haben und ihre Trauer und Bußtage
durch Depressionen feiern, ohne sich über die
Motive Rechenschaft zu geben. Ich blicke auf
den Kalender. Wir zählten den 17. Mai. Ich er¬
kundige mich, ob der Tag für ihn eine besondere
Beziehung habe. Erst verneint er, dann schlägt
er sich auf die Stirne. Natürlich! Es ist der
Todestag seines Vaters, der ihm angeblich ganz
entschwunden war. Dieser Tag bedeutet für ihn
eine peinliche Erinnerung. Er war elf Jahre alt,
als der Vater starb. Er erinnert sich, daß er nicht
geweint hat und laut lärmte und sogar auf dem
Klavier klimperte, so daß ihm das Fräulein be¬
merkte, sie habe einen so herzlosen Knaben noch
nicht gesehen.
Seine Depression erklärt sich als das oft vor¬
kommende Phänomen der „nachträglichen
Trauer“.
Es zeigte sich, daß die anderen Tage seiner
„unmotivierten“ Depressionen sich gleichfalls
auf einen geheimen Kalender zurückführen ließen.
Er trauerte am Todestage seiner Mutter und seiner
Geschwister, von denen er sieben verloren hatte.
Diese Todesfälle hatten ihn zum Erben eines
großen Vermögens gemacht. Er hatte allen Grund
seine geheime Schadenfreude und Genugtuung
über den Tod der Brüder durch Bußtage zu kom¬
pensieren, in denen die Kraft seines bösen Ge¬
wissens zutage trat.
Ähnlich lassen sich andere tem¬
poräre Tagesdepressionen motivieren.
Dr. Ferenczi hat in einem Artikel
,,Sonntagsneurosen“ (Intern. Zschr. f.
Psychoanal. 1919, Nr. 1) diese Neurosen
auf sexuelle Erinnerungsbilder zurück¬
geführt. Ein jüdischer Patient habe jeden
Sonnabend den Koitus seiner Eltern be¬
lauscht. Die Erinnerungen daran hätten
den Sonntag zu einem unangenehmen
Tag gemacht. Ein anderer wäre am
Sonntag von seiner Mutter verzärtelt
worden. Ich habe in der Ztschr. f. Sexuai-
wissenschaft 1919, Nr. 5 bei Besprechung
der Ausführungen von Ferenczi die
Sonntagsneurosen auf mangelnde Be¬
schäftigung zurückgeführt.
„Nervös sein, heißt: etwas nicht sehen wollen.
Nervosität ist Einschränkung des geistigen Blick¬
feldes! Alle Neurotiker benutzen die Arbeit als
Ablenkung. Wo die Arbeit fehlt, werden neuro¬
tische Symptome zur Ablenkung benutzt, werden
Aufregungen geschaffen, Konflikte herbeigeführt
(so benutzten unzählige Neurotiker den Krieg
als Mittel zur Ablenkung und stürzten sich auf
die Kriegsberichte in fieberhafter Spannung; an¬
deren dienen die Politik, die Kunst oder die Liebe
diesem Zwecke). Selbst Zwangsvorstellungen,
Zweifel, Angstzustände verdecken das ,,Nicht¬
sehenwollen“, schaffen aktuelle Schwierigkeiten,
heben über die leeren Stunden hinweg. Der größte
Segen ist aber die Arbeit. Arbeitsfanatiker sind
häufig Neurotiker, die sich fortwährend mit Auf¬
gaben belasten, um keine, freie Minute zum Nach¬
denken zu haben. Sie arbeiten auf der Elektrischen,
sie arbeiten in die späte Nacht hinein, sie werden
nie fertig, sie bürden sich tro4:zdem stets neue
Lasten auf. Vom normalen Menschen unterscheidet’
diese Arbeitsfanatiker der Sonntag und der Ur¬
laub. Der Gesunde wird Sonntag ausspahnen,
wird allein sein können, wird sich Rechenschaft
geben über die Fragen der Woche, er wird auch
nichts tun können, sich seiner Faulheit freuen,
die er sich so schwer errungen hat. Der neurotische
Arbeitsfanatiker wird die Sonntagsruhe als eine
neue Form der Arbeit betreiben. Er wird Riesen¬
touren machen, wobei er fortwährend mit dem
Fahrplan oder der Karte beschäftigt ist. Er
braucht immer Gesellschaft, immer Ablenkung
vom Ich, wird sich immer eine solche Leistung
aufbürden, daß es am Schlüsse zu einer Hetz¬
jagd kommt. Die vielen Unbefriedigten, Unglück¬
lichen, Enttäuschten, Erbitterten, Empörten, die
im Innejrn noch nicht auf ihre weiten Ziele und
großen Pläne verzichtet haben, die Liebessucher,
die noch immer nicht ihre Ergänzung gefunden
oder sich falsch gebunden haben — wohlgemerkt
alle ohne es sich eingestehen zu wollen! — sie
alle werden an ihren Sonn- und Festtagen, an
ihren Urlauben, bei jeder Pause ihrer Arbeit’und
des Lebens sich unglücklich, müde, abgespannt
fühlen und einen heftigen Kampf gegen die „be¬
grabenen Wünsche“ führen, die sich ins Bewußt¬
sein drängen wollen. Der Kopfschmerz ist immer
eine Folge solcher Vergewaltigung des eigenen
Denkens. Dazu kommt der lange Schlaf am Sonn¬
tag, der unsere Traumgedanken übermäßig lang
ausspinnt, ihnen zu viel Raum zur Entfaltung
bietet, so daß sie in die Wachgedanken eindringen
und die Stimmung des Tages beeinflussen.“
Am Sonntag quälen den Neurotiker
viele Schuldgefühle, er' erinnert sich an
seine geheimen Sünden.
In allen Fällen von temporären De¬
pressionen ist nach dem ,,geheimen Ka¬
lender“ zu fahnden.
Oft sind es andere Assoziationen. Der
angeblich grundlos Verstimmte hat die
erste Frau gesehen, von der er sich hat
scheiden lassen. Ein Büchertitel (,,Briefe
die ihn nicht erreichten“) erinnerte sein
Unbewußtes, daß ihm vor einigen Wochen
eine angebetete Frau die letzten Briefe
uneröffnet zurückgeschickt hat. Oder:
Eine sehr elegante Dame hatte durch
eine gewisse Ähnlichkeit die Assoziation
zu seinem traurigen Roman, den er vor
vielen Jahren erlebt hatte, geweckt. Ein
eigentümliches Parfüm kann gewisse ver¬
drängte Bilder ins Vorbewußte heben,
Gerüche wecken leicht Assoziationen
(ein Student wurde in der heitersten
Stimmung deprimiert, wenn Geruch von
Kiefernadelöl die Erinnerung an Föhren-
2 ) Eine solche Psychogenese der Depression
beschreibt Grillparzer in seinen Tagebüchern.
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1920
255
Wälder brachte, nach denen er sich aus
dem Lärm der Stadt sehnte).
Musik ist die wichtigste Quelle der
Depressionen. Das ist ja vielen Menschen
bewußt. Ein Lied weckt Erinnerungen
und Sehnsucht nach Unerfülltem; Oft
werden Melodien gehört, die Menschen
geben sich keine Rechenschaft über den
Text, der zur Melodie gehört, ja sie kennen
diesen Text gar nicht, sie kennen nur die
Melodie und werden tief verstimmt. Eine
sich nach Liebe sehnende Dame hörte
die Melodie des Liedes ,,Wär es auch nur
ein Traum von Glück“ und wurde ver-
^stimmt. Den Text wußte sie angeblich
nicht. Sie konnte nur die Melodie vor
sich hinsummen. Sie mußte mir aber
dann gestehen, daß sie das Lied oft ge¬
hört und den Text auch mitgesungen
hatte.
Immer wieder bestätigt die Analyse
den Grundsatz: Es gibt keine unmoti¬
vierten Verstimmungen. Das gilt für die
kleinen Depressionen des Normalmenschen
bis zu der selbstmörderischen Verzweif¬
lung des Melancholikers,
Der Wechsel von Melancholie und
Manie, von Trauer und Fröhlichkeit, von
Verzweiflung und Übermut, von Ver¬
stimmung und Frohsinn mußte viele
Ärzte auf den Gedanken bringen, beide
Bilder zu einer Einheit zu vereinen. So
entstanden die Krankheitsbilder des
„manisch-depressiven Irreseins“ und der
„Cyclothymie“ als ihrer milderen Aus¬
drucksform. In der Praxis kann man
den Satz nicht bestätigen, daß jede
Melancholie das depressive Stadium eines
manisch-depressiven Irreseins wäre. Der
Praktiker sieht oft genug reine Melan¬
cholien ohne die manische Reaktion und
manische Bilder ohne das depressive
Stadium.
Trotzdem läßt es sich nicht bestreiten,
daß die depressiven Krankheitsbilder
einen gewissen periodischen Verlauf zei¬
gen. Es gibt Verstimmungen, die in regel¬
mäßigen Intervallen wiederkehren. Frauen
erkranken oft vor und nach der Menstrua¬
tion an Depressionen. Schon die soge-
riannte Tagesdepression zeigt deutlich den
periodischen Charakter. So gibt es Men¬
schen, die nach dem Erwachen einige
Stunden deprimiert sind. Ein Kranker
schildert den Zustand: ,,Am Morgen ist
es mir, als wenn man einen Sack über
meinen Kopf geworfen hätte. Das dauert
bis zehn Uhr, dann wird es besser, der
Sack wird langsam zurückgezogen. Abends
bin ich dann ganz gesund und kein Mensch
würde in mir einen Depressionisten er¬
kennen.“ . .
Diese Morgendepression erklärt sich
als Nachwirkung des Traumes. Forscht
man nach den Träumen, so erkennt man
bald, daß sich in seinen Traumbildern der
Kranke in eine Welt der Illusionen und
Erfüllungen flüchtet, aus der ihn das
Erwachen grausam reißt, so daß ihm
das Differenzgefühl zwischen Phantasie
(Traum) und Realität die Unerträglich¬
keit der Realität vor Augen führt. Diese
Traummenschen, welche auch am Tage
gern ihren Wachträumen erliegen und
gern am Morgen im Bett im Halbschlaf
duseln (das heißt immer: Phantasieren),
zeichnen sich alle durch die Morgen¬
depression aus. Es gibt aber Menschen,
die um zehn Uhr vormittags, am Nach¬
mittag, gegen Abend ihre tägliche De¬
pression durchmachen. Reiche Frauen
pflegen sich'um diese bestimmte Stunde
in ihr Zimmer einzusperren und sind
nicht zu sprechen, bis die böse Zeit vor¬
über ist. Die Mehrzahl der Fälle zeigt
folgendes Verhalten: Am Morgen ist die
Verstimmung am schlimmsten. Die Stim¬
mung bessert sich wahrend des Tages und
erst des Abends und des Nachts fühlen
sich die Kranken wohler. Diese Menschen
neigen dazu, bis spät in die Nacht auf¬
zubleiben und den bösen Vormittag zu
verschlafen. Sie gehen lange nicht zu
Bett, lesen und plaudern bis zwei oder
drei Uhr, schlafen dann spät in den Vor¬
mittag hinein, um über die böse Zeit zu
schlafen. Das ist eine Selbsttäuschung,
denn die Depression bleibt gewöhnlich
nicht aus, auch wenn sie um zwölf Uhr
vormittags erwachen. Sie haben nur den
Rhythmus der Depression verändert.
Sehr häufig hört man, daß die De¬
pression jeden zweiten Tag einsetzt.
Einem guten Tag folgt ein schlechter,
wie das Amen dem Gebete. Die Kranken
lassen sich diese Einstellung nicht aus-
reden. Haben sie heute einen guten Tag,
so wissen sie bestimmt, daß morgen ein
schlechter Tag folgen wird. Bei dieser
Neurose spielt das Schuldgefühl eine große
Rolle. Die Autosuggestion erzeugt schon
den schlechten Tag dadurch, daß man
ihn erwartet. Hinter dieser Erwartung
verbürgt sich ein böses Gewissen. Man
verdient es nicht, daß es einem gut geht.
Man steht unter der Herrschaft von ,,Ver¬
sündigungsideen“, die meistens unbewußt
sind, nur in seltenen Fällen offen zutage
liegen.
256
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juli
Ein 31 jähriger Mann konsultierte mich wegen
einer Depression, die jeden zweiten Tag mit
mathematischer Präzision auftrat. An dem freien
Tage war er sehr erotisch und konnte seiner
Paraphilie nicht widerstehen. Diese Paraphilie^)
bestand in einer Neigung zu Mädchen zwischen
zehn und dreizehn Jahren, die gut entwickelt waren
und schöne Waden sehen ließen. Er suchte an
solchen Tagen im Sommer einen Kinderpark auf
und ließ sich mit den Kindern und ihren Bonnen
in ein Gespräch ein und verteilte Näschereien (alle
Kinderfreunde, die immer Zuckerln bei sich
tragen und an Kinder verteilen, sind auf Pädo¬
philie verdächtig. Man hüte die Kinder vor auf¬
fälligen Kinderfreunden, auch wenn sie alte
Herren sind. Gerade im Alter meldet sich als eine
Regression auf das Infantile bei vielen Menschen
eine pathologische Pädophilie). An gesunden
Tagen pflegte er auch mit Mädchen ein Hotel
aufzusuchen. Er weidete sich an der Entkleidung,
die ihm einen großen Reiz erregte, ließ es aber nie
zu einem Koitus kommen. Es handelte sich immer
um sogenannte „anständige Mädchen“, denen er
versprochen hatte, sie nicht der Virginität zu be¬
rauben. Diese moralische Zurückhaltung war nur
eine Rationalisierung einer Paraphilie.
Wie er mir gestand, konnte er auch bei Dirnen
trotz heftiger Erektion wegen eines inneren
Widerstandes niemals einen Kongressus ausführen.
Er begnügte sich mit der Entkleidung und der
Reizung des äußeren Genitales. Ihm schwebte
immer ein Kind vor und er benahm sich mit den
Erwachsenen, die er mit infantilem Typus wählte,
immer so, als ob er ein Kind vor sich haben würde.
Die Depression am zweiten Tage war die Strafe
für die Libertinage am vorhergehenden. Zugleich
aber die Verzweiflung darüber, daß er seine krank¬
haften Triebe nie werde ausleben können.
Jede Depression ist die moralische
Reaktion auf unmoralische Regungen und
dokumentiert die Aussichtslosigkeit der
geheimen sexuellen Zielstrebungen.
Diesen Wechsel zwischen erotischer
Erregung und sexueller Apathie können
wir in allen Fällen von periodischer De¬
pression, bei allen Cyclothymien nach-
weisen. Er spielt wahrscheinlich in der
Psychogenese neben einem zweiten Fak¬
tor, den ich später erwähnen werde, eine
große Rolle.
Ein Mädchen erkrankt alle paar Monate an ’
einer schweren Depression. Während ihrer glück¬
lichen Zeiten ist sie erotomanisch. Sie spricht nur
von Liebe, onaniert mehrere Male täglich, koket¬
tiert mit allen Männern. In den Zeiten der De¬
pression ist sie vollkommen anerotisch. Sie zeigt
Ekel vor allen sexuellen Dingen, wird fromm und
heilig, geht in die Kirche, kasteit sich, bemüht
sich geduldig zu sein, was ihr nicht immer gelingt.
Zeitweise kommt es zu bösen Wutanfällen, in
denen sie die Umgebung, besonders die Mutter
bedroht. Die Mutter ist angeblich schuldig an
3) Ein von Kraus vorgcschlagener Ausdruck
für Perversion.
ihrem Unglück.' Diese periodischen Depressionen
schlossen sich an eine’Liebesenttäuschung an, die
sie angeblich sehr gut vertragen hatte. Sie war
verlobt und liebte ihren Bräutigam über alles.
Es kam auch zu allerlei Intimitäten. Sie ließ es
zwar nicht zum Koitus kommem Aber sie wurde
in der Verlobung eine ausgebildete „Halbjungfrau“.
Plötzlich verlangte der Bräutigam die Verdoppe¬
lung der Mitgift und löste die Verlobung, als die
Eltern empört diese Zumutung zurückwiesen (sie
war als einziges Kind Erbin eines großen Ver¬
mögens und sollte eine stattliche Mitgift erhalten).
Der Bräutigam hatte aber eine noch reichere
Braut ausfindig gemacht und zog aus dieser Tat¬
sache seine Konsequenzen. Die Eltern hatten ganz
recht gehandelt, als sie die Verlobung auflösten,
da er sich als ein so habgieriger und egoistischer
Mensch erwies, der ihr Kind nur des Geldes wegen
heimführen wollte. Sie aber grollte den Eltern.
Ihre Sexualität war furchtbar gereizt, sie war der
Ansicht, daß sie keinem anderen Mann angehören
könnte, sie fühlte sich nicht mehr als reines, un¬
berührtes Wesen. Wie benahm sie sich nach der
Auflösung? Sie war angeblich überglücklich,
lachte den ganzen Tag, ging die folgenden Wochen
in alle Gesellschaften, so daß alle Welt glaubte,
sie wäre von einem Alpdruck erlöst. Ihre Fröh¬
lichkeit hatte etwas Forciertes, Manisches an sich.
Die Depression kam erst nach einem halben
Jahre, angeblich nach einer Influenza. Sie war
zu stolz, um ihre große Neigung zu dem Mann
offen zu zeigen. Sie verbarg" sic hinter einer ge¬
steigerten Fröhlichkeit und "Koketterie. In der
Depression rationalisierte sie ihre Trauer mit
allerlei lächerlichen Motiven. Sie wäre zu dick
geworden. Sie sei plump und häßlich. Sie werde
nie heiraten. Sie wolle ins Kloster gehen und eine
Nonne werden. Das dauerte einige Wochen, dann
trat wieder das manische Stadium mit seiner ge¬
steigerten Erotik auf. Die Hoffnungslosigkeit
ihrer Liebe zu dem Exbräuügam kam-ihr in der
Depression in maskierter Form ins Bewußtsein.
Ihre Depression hieß: ,,Niemals, niemals werde
ich ihn erreichen!“ Auch Erinnerungen an den
Bräutigam konnte eine Depression und Wutanfälle
auslösen. Wenn sie in der Zeitung den Namen
eines seiner Regimentskam.eraden las, kam sicher
die Depression hervor. Auch die Heirat dieses un-
getreuen Mannes war — allerdings nach drei Mo¬
naten Schauspielerei von einer schweren Depres¬
sion gefolgt, die viele Monate dauerte, nachdem
eine Sanatoriumsbehandlung das Leiden bedeu¬
tend verschlimmert hatte. Es folgten zwei Selbst¬
mordversuche, worauf sie in meine Behandlung
kam. Die pädagogische Psychoanalyse hatte einen
vollen Erfolg. Nach viermonatlicher Behandlung
kam sie genesen nach Hause, heiratete bald und
ist jetzt glückliche und gesunde Mutter von zwei
Kindern. Das Puerperium wurde anstandslos
ertragen. Die Heilung ist vollkommen. Sie hat
einen sehr guten und sehr potenten Mann ge¬
funden, der sie vergöttert. Ihre Befürchtungen,
sie werde keinem Manne die Treue halten können,
sie benötige ein halbes Dutzend Männer, haben
sich als grundlos erwiesen. Diese Zwangs¬
befürchtungen waren nur die Reaktion auf die
furchtbare Enttäuschung und eine Flucht vor
der seelischen Liebe in den körperlichen Rausch.
(Schluß folgt im nächsten Heft.)
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1920
257
Repetitorium der Therapie.
Behandlung der Stoffwechselkrankheiten.,
Von G. Klemperer.
2. Behandlung der Gicht. Ist auch
vieles im Wesen der Gicht noch dunkel und
der Behandlung nicht zugänglich, so ge¬
stattet doch auch unsere unvollkommene
Erkenntnis, in Verbindung mit den Er¬
gebnissen der Erfahrung, vielen Gicht¬
kranken die Schmerzanfälle abzukürzen
und zu lindern und oft der Wiederkehr
neuer Anfälle wie den übrigen Äußerungen
der gichtischen Erkrankung vorzubeugen.
Der Gichtanfall ist ein akut-entzünd¬
licher Prozeß, der mit entzündungswi¬
drigen und schmerzstillenden Mitteln zu
behandeln ist. Die betroffenen Glieder
sind ruhig zu lagern und mit kalten Um¬
schlägen, eventuell mit essigsaurer Ton¬
erde, einzuhüllen; manchmal werden
heiße Packungen besser vertragen; oft
hilft Wattepackung nach vorheriger Ein¬
schmierung mit Rheumasan oder Ein¬
pinselung mit Spirosol oder Salit; manch¬
mal bewährt sich die Bi ersehe Stauungs¬
binde ausgezeichnet. Schmerzstillend
wirken die Analgetica, Antipyrin, Pyra¬
miden und andere in den üblichen Dosen.
Colchicin und Atophan stehen im Ruf,
über diese Wirkung hinaus auf die Ur¬
sache der Gichtentzündung, die Harn¬
säureimprägnierung der Gewebe, in be¬
sonderer Weise einzuwirken. Atophan
gibt man täglich fünf Tabletten zu
0;5 g in zweistündlichen Pausen, am
besten unter gleichzeitigem Trinkenlassen
von Fachinger Wasser. Das beste Col-
chicumpräparat ist das Alcaloid, welches
in 5—6 Milligrammdosen zvv^ei bis drei
Tage verabreicht wird. (Rp.ColchicinMerck
0,03 Mass. pik q. s. ut f.^^ pil. 30 Ds.
2 stdl. 1 P. z. n.) Bei Übelkeit oder
Durchfall ist diese Medikation aus¬
zusetzen. Weniger sicher wirkt Tinct.
Colchici viermal täglich 15 Tropfen^).
Während des Gichtanfalls ist der Pa¬
tient im Bett zu halten und dem Ali-
gemeinzustand entsprechend zu ernähren.
Reichliches Trinken von Mineralwasser,
Fruchtsaft, eventuell auch Milch »st zu
empfeiilen, die Diät ist in schweren
Fällen wie bei Fiebernden, in leichteren
vorwiegend pflanzlicn aus Gemüsen,
leichten Mehlspeisen und Früchten be-
In der Praxis sehr beliebt waren früher
die Colchicum enthaltenden Geheimmittel, wie
Liqueur de Laville, Alberts remedy, B^champs
Pillen.
stehend. Klingt der Anfall ab, so ist
Massage und Gymnastik der betroffenen
Glieder ratsam. Danach kommen die
allgemeinen Regeln zur Beeinflussung
der Gichtkrankheit zur Anwendung.
Die Behandlung der gichtischen
Krankheitsbereitschaft besteht erfah¬
rungsgemäß in fleischarmer Diät, reich¬
lichem Wassertrinken, Vermeidung des
Alkohols, in rüstigem, tätigem Leben.
Die theoretische Begründung geht von
der Tatsache aus, daß in den" Organen
der Gichtkranken Harnsäure-eingelagert
ist; sie an der Einlagerung zu verhindern
oder herauszubringen, ist das Ziel der
Behandlung. Wir wissen sicher, daß die
Harnsäure aus den Nucleinsubstanzen
herrührt, welche vor allem in den Zell¬
kernen der Gewebe enthalten sind.
Man vermindert zweifellos die Menge
der im Blute kreisenden Harnsäure, w^enn
man das Fleisch und vor allem die
Drüsensubstanzen aus der Nahrung
streicht; man vermehrt ihre Ausscheidung
durch reichliche Wasserzufuhr, die die
Diurese befördert, sowie durch öftere
Darreichung von Atophan. Anregung
der Blutströmung in den Geweben durch
Trinken und diirch örtliche Massage mag
die Ausscheidung der Harnsäure aus den
Geweben vermehren. Vielleicht ist auch
die Löslichkeit der Harnsäure durch das
Trinken schwach alkalischerWässer zu be¬
einflussen. Die letzte Ursache des Haftens
der Harnsäure in den Geweben ist dunkel.
Aber wenn eine Fermentwirkung für die
Affinität zwischen Geweben und Harn¬
säure in Betracht kommt, so wird Körper¬
bewegung und allgemeine Anregung des
Stoffwechsels auch diese Fermenttätig¬
keit beeinflussen. Aus all diesen theo¬
retischen Gründen, aber vor allen Dingen
auf Grund sicherer Erfahrung, soll der
Gichtkranke sein Leben lang wenig Fleisch
und Fisch essen; ganz vermeiden soll er
Thymus, Leber, Hirn, Niere, Austern.
Wer häufig Gichtanfälle hat, soll monate¬
lang streng vegetarisch leben. Milch und
Eier sind in jedem Fall erlaubt, ebenso
wie jede Art von Gemüsen und Früchten;
eine Beschränkung der Mehlspeisen,
Süßigkeiten und Fette käme nur aus
Gründen starker Fettleibigkeit in Frage.
Nur wenn der Gichtkranke zu fett ist, soll
er durch die Diät zur Abmagerung gebracht
33
258
Die Therapie der Gegenwart 1920
Jüli
werden, ln jedem Fall sind große und
üppige Mahlzeiten zu vermeiden, zwischen
den Mahlzeiten soll der Patient häufig
trinken, erfahrungsgemäß am besten
schwach alkalische, kohlensäurehaltige
Mineralwässer. Der Patient soll sich
fleißig in frischer Luft bewegen, auch
körperliche Übungen betreiben, wofern
nicht Arteriosklerose oder Herzleiden
hindern. Hautpflege ist wichtig. Von
Zeit zu Zeit sind jüngeren Kran¬
ken Schwitzprozeduren zu empfehlen.
Die Bedeutung der psychischen Beein¬
flussung ist auch bei der Gicht nicht
zu unterschätzen. Insofern Atophan die
Ausscheidung der im Blut kreisenden
Harnsäure vermehrt und ihre Bildung
einschränkt, ist die gelegentliche Ver¬
ordnung dieses Mittels ratsam. Man
'verordnet dann 20x0,5 g (Inhalt eines
Röhrchens) in vierstündigen Pausen zu
nehmen und läßt die Verordnung alle
vierzehn Tage, im ganzen etwa fünfmal
wiederholen. Die spätere Wiederauf¬
nahme dieses Verfahrens macht man von
der eventuellen guten Wirkung abhängig.
Da die meisten Gichtkranken ihre
Lebensweise ändern müssen, ist zur diä¬
tetischen Umlernung der gelegentliche Be¬
such eines Sanatoriums wohl zu empfeh¬
len. Ratsam ist auch der Besuch von
Badeorten, von denen namentlich- Karls¬
bad, auch Marienbad,. Franzensbad
zur alkalisierenden Durchspülung der
Gewebe, Wiesbaden, Hom.burg, Kissingen
zur Badebehandlung der Gelenkfolgezu¬
stände in Betracht kommen.
Das nicht ganz seltene gemeinsame
Vorkommen von Diabetes und Gicht
beziehungsweise das Auftreten von Gicht¬
anfällen bei Diabetes oder von Glykosurie
bei Gichtkranken macht eine sinngemäße
Modifikation der diätetischen Behand¬
lungsregeln notwendig. Es ist ein Kom¬
promiß zu schließen zwischen der Not¬
wendigkeit, dem leichten Diabetiker die
Kohlehydrate zu entziehen, welche dem
Gichtkranken nützlich sind, beziehungs¬
weise die Fleischspeisen dem Gicht¬
kranken einzuschränken, welche der
Diabetiker mit Vorteil genießt. Ganz
gefahrlos ist für den von beiden Krank¬
heitsanlagen Betroffenen nur der Fett¬
genuß. Man macht nun die diaetetische
Verordnung i'm Einzelfalle von der
Schwere der jeweiligen Krankheits¬
erscheinungen abhängig, indem man bei
Glykosurie dem Gichtkranken nur ge¬
ringe Kohlehydratbeschränkung zu¬
mutet, doch die Pflanzencrnährung in
den Vordergrund rückt. Ist aber der
Patient von Gichtanfällen verschont, so
benutze man die gichtfreie Zeit zu
strenger antidiabetischer Diät, von der
man wieder zurücktritt, wenn sich Gicht¬
anfälle melden, und ebenso wird man
bei Diabetes beim Auftreten der Gicht¬
anfälle die Zuckerbeschränkung zurück¬
stellen und sich für einige Zeit ohne
Rücksicht auf die Glykosurie vorwiegend
pflanzlicher Kost zuwenden.
3. Behandlung der Fettsucht. Nach
alter Gewohnheit werden an dieser Stelle
zuerst die Entfettungskuren besprochen,
durch welche die übermäßige Fettleibig¬
keit vermindert wird, obwohl diese in
vollkommen physiologischer Weise nur
durch zu reichliches Essen und zu wenig
körperliche Arbeit zu Stande gekommen
ist. Als eigentliche pathologische Fett¬
sucht ist nur die Fettansammlung zu
betrachten, welche bei normal großer
Nahrungszufuhr 'nur durch mangelhafte
Fettzersetzung entsteht.
a) Behandlung der Mastfett¬
sucht. Da die Fettspeicherung durch
übermäßige Zufuhr stickstofffreier Nah¬
rungsmittel erfolgt ist, für welche Fett
die physiologische Depotform darstellt,
so wird das angehäufte Fett durch Ver¬
minderung der N-freien Zufuhr unter
die Bedingungen der Zersetzung gebracht,
ln zweiter Linie wird der Fettbestand
durch körperliche Arbeit angegriffen.
Schließlich kann er zur Wärmebildung
verbraucht werden, sei es, daß der Körper
sich gegen äußere Kälte zur Wehr setzen
muß, sei es, daß Schwitzprozeduren durch
Wärmeentziehung neue Wärmebildung an¬
regen. Schließlich kann die Entwässerung
des Körpers, sei es durch Dürsten, sei
es. durch Schwitzen, anscheinend als
direkter R^iz zur Fetteinschmelzung.bei¬
tragen.
Die Ausführung von Diätkuren sollte
sich hiernach von selbst ergeben, da sie
stets darauf hinauslaufen, daß der Fette
durch wesentliche Nahrungsbeschränkung
zur Abmagerung kommt. Es sollte also
der Rat genügen, daß die Patienten sich
längere Zeit nur die Hälfte oder der
gewohnten Kost gönnen sollten. Aber
nur wenig Menschen haben für so ver¬
nünftige Ratschläge genügende Einsicht
oder Selbstbeherrschung. Es hat sich
vielmehr die Gewohnheit eingebürgert,
bestimmte Kuren in schematischer Form
vorzLischreibeii, die trotz Entziehung das
Hungerbedürfnis zu befriedigen vermögen.
Bei der sogenannten Bantingkur wird
Juli
Die Therapie der Gegenwart 192Ö
259
den Patienten mageres Fleisch und Fisch
nicht beschränkt, dagegen bekommen sie
nur ganz kleine'Mengen. Brot oder Zwie¬
back (etwa 80 bis 100 g) mit sehr wenig
Butter, sehr wenig Kartoffeln und wenig
Flüssigkeit (2 bis 3 Tassen Tee, keine
SuppeX Streng durchgeführt, verursacht
dies Regime' schnellen Gewichtssturz,
vermehrt aber durch die mangelhafte
Calorienzufuhr auch die Eiweißzersetzung,
schädigt eventuell das Herz und greift
die Nerven sehr an. Die Ebsteinsche
Kur vermindert die Zufuhr von Fleisch
und Brot wie Kartoffeln, läßt aber bis
100 g Fett täglich essen, indem die er¬
laubte Fleischmenge (bis ein halbes
Pfund) und das Brot (etwa 100 g) sowie
das Gemüse mit sehr viel Butter ge¬
nossen wird. Eine sehr gute Form der
Calorienverminderung stellt die rein vege¬
tarische Kost mit wenigMilch und wenig
Eiern dar, bei welcher die starke Füllung
des Magens durch Gemüse und Früchte
zu täuschendem Sättigungsgefühl führt.
Besondere Abarten sind die sogenannten
Kartoffelkuren, bei denen die Patienten
einige Zeit nur von Kartoffeln in ver-
schiedendensten Zubereitungen, mit
wenig Fett leben, older Obstkuren, bei
denen nur rohe Früchte genossen wer¬
den, auch Milchkuren, bei denen zu un¬
genügender Milchzufuhr (1 bis II /2 1) nur
sehr wenig andere Nahrung geboten wird.
Ein neues Prinzip ist in der Örtel-
schen Kur enthalten, welche von Schwe-
ninger populär gemacht worden ist;
sie erlaubt keine Flüssigkeit beim Essen,
sondern läßt beschränkte Mengen erst
längere Zeit nach demselben trinken;
einerseits wird hierdurch die Eßlust be¬
schränkt, andererseits eine Entwässerung
des 'Körpers herbeigeführt, welche^ na¬
mentlich nach vorhergegangener Über-
schwebimiing des Körpers von großem
Nutzen ist. Die Flüssigkeitsentziehung
ist namentlich bei Fettleibigen mit Herz¬
schwäche durchzuführen. Eine besondere
Form derselben, die aber nur bei bett¬
ruhenden Patienten wenige Tage ange¬
wendet werden darf, ist die Karellkur,
welche täglich nur viermal 200 g Milch
als einzige Nahrung gestattet.
Zu den diätetischen Ratschlägen treten
dann die physikalischen Verordnungen,
welche die Einschmelzung des Fettes
befördern; regelmäßige Bewegung, am
besten nach bestimmten Vorschriften.
Jede Art von Gymnastik und Sport ist
zu empfehlen. Hierbei ist die Rücksicht
auf den Zustand der Herzens maßgebend.
Wenn die Fettleibigkeit zur Schwächung
des Herzens geführt hat, derart, daß der
Puls klein und frequent ist, so sind Be¬
wegungskuren nicht anzuraten, sondern
durchaus zu meiden. Herzschwäche Fett¬
leibige sind als Herzkranke zu behandeln.
Am besten führt man bei ihnen diätetische
Entfettungskuren in Bettruhe durch.
Sehr empfehlenswert ist die regel¬
mäßige Verordnung von Schwitzkuren
ein- bis zweimal wöchentlich, teils in
Form russisch-römischer Bäder, teils im
elektrischen Glühlichtkasten. Bei alten,
arteriosklerotischen oder herzschwachen
Individuen sind Schwitzkuren kontra¬
indiziert.
Da Entfettungskuren an die Energie
der Patienten oft nicht geringe Anforde¬
rungen stellen, werden sie gern in Sana¬
torien durchgeführt, in denen die ärztliche
Überwachung gleichzeitig vor Übertrei¬
bungen bewahrt. Beliebt ist auch der Be¬
such von Badeorten (Karlsbad, Mariehbad
und Kissingen), in welchen Diätetik und
Bewegung durch die leicht abführenden
und den Stoffwechsel anregenden Wässer
unterstützt werden. Für alle Entfettungs¬
kuren gelte als Regel, daß sie nicht in
kurzer Zeit zu schndlen Gewichtsstürzen
führen dürfen, weil dadurch Herz- und
Nervenschädigung entstehen können.
b) Behandlung der konstitutio¬
nellen Fettsucht. Da es sich bei den
anämischen und relativ kraftlosen Pa¬
tienten um eine wirkliche Stoffwechsel¬
störung handelt, welche in der mangel¬
haften Umsetzung des Fettes beruht,
versprechen die diätetischen und
physikalischen Methoden relativ wenig
Erfolg. Eine Nahrungsbeschränkung
kommt meist nicht in Frage, da die
Kranken an sich relativ wenig essen; eine
Verminderung der Fettbildner, das heißt
der Kohlehydrate und- Fette, ist gewiß
ratsam, führt aber praktisch kaum zur
wesentlichen Abmagerung. Äußerste Ver¬
minderung der Nahrungszufuhr vermin¬
dert allmählich das Körpergewicht, schä¬
digt aber das Allgemeinbefinden und
die Kraft des Kranken. Diätetische Be¬
schränkungen sind also bei wirklich kon¬
stitutioneller Fettsucht meist nicht ge¬
boten. Nützlich ist die Verminderung
der Flüssigkeitszufuhr und die langsam
zu erhöhende Körperbewegung, die in
systematischer Weise auch das Herz
kräftigt; auch Schwitzkuren sind sehr
empfehlenswert. Die wirksamste Be¬
handlung liegt in der kurmäßigen An¬
wendung von Mitteln, welche die intra-
33*
260
Die Therapie der Gegenwart 1920
cellularen Zersetzungen und speziell die
Fettverbrennung steigern. Als solches
wirkt vor allem die Schilddrüsensub¬
stanz. Man verordnet von den Trocken¬
präparaten Thyreoidin täglich ein bis
zweimal 0,3 g vier bis sechs Wochen
lang unter täglicher Kontrolle des Her¬
zens und des Allgemeinbefindens, so¬
wie mit gelegentlicher Untersuchung des
Urins auf Zucker; bei eintretender Schä¬
digung ist das Thyreoidin auszusetzen.
Während der Kur bedürfen die Patienten
einer gewissen Schonung in körperlicher
und seelischer Beziehung. — Wenn die
anämische Fettsucht mit mangelhafter
Ovarialtätigkeit besonders im Klimak¬
terium Zusammenhängen sollte, versuche
man die Einwirkung von Ovariin (Oopho-
rin)tabletten, wovon täglich dreimal
fünf Stück wochenlang unter ärztlicher
Kontrolle genommen werden. — In refrak¬
tären Fällen ist auch ein Versuch mit der
anregenden Wirkung des Borax zu
machen, wovon man dreimal täglich
eine gehäufte Messerspitze verordnet;
guter Erfolg ist freilich selten.
Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen.
32. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin,
Dresden, 20.-
Bericht von
Der zweite Kongreßtag brachte eine
eingehende Besprechung der epidemischen
Encephalitis lethargica, welche
V. Jak sch (Prag) mit einem Vortrag über
Symptomatologie und Verlauf einleitete.
Seme Beaobachtung umfaßt 30 Fälle,
von denen nur einer tödlich endete. Der
Beginn äußert sich m.eist in einem fieber¬
haften, mehr oder weniger schweren Exal¬
tationsstadium, von meist wochenlanger
Dauer. Dabei kommen sowohl wirkliche
Delirien, ?ls auch schwere geistige Stö¬
rungen vor, manchmal choreatische Er¬
scheinungen, die in wirkliches Koma über¬
gehen. In anderen Fällen traten zuerst
unter leichtemFieber tetaniforme Krämpfe
ein, denen immer Koma folgte; die
Zuckungen sistierten weder im Schlafe
noch in der Hypnose. . Oft bestanden
Augenmuskellähmungen. Das Koma kann
wocheiilanganhalten^mankönntc von euro¬
päischer Schlafkrankheit sprechen im. Ge¬
gensatz zu der tropischen, welche durch
Trypanosomen hervorgerufen wird. Thera¬
peutisch empfiehlt Jak sch Aderlaß,
Lumbalpunktion, Herzmittel, möglichste
Fernhaltung aller Reize und sorgfältige
eventuell künstliche Ernährung. Die
Mortalität ist bei gleicher Behandlung
an verschiedenen Orten sehr verschieden,
man hat bis zu 20% Todesfälle beob¬
achtet.
In der Aussprache wurde die örtliche
Differenz der Morbidität bestätigt, ln
Berlin z. B. (Leschke, Umber) sind nur
wenig Fälle vorgekommen, "wobei die
Lethargie im Vordergründe stand und
das wirkliche Koma ganz zu fehlen schien;
es kamen auch Hemiplegien und Kom¬
binationen von Encephalitis und Myelitis,
23. April 1920.
j. Klemperer. (Schluß)
sowie das echte Bild der Paralysis agitans
vor; in einem Fall ein Wechsel zwischen
epileptiforriien und lethargischen, halluzi¬
natorischen und stuporösen Erscheinun¬
gen. In Leipzig sah Wandel myelitische
wie meningitische Formen, Formen von
Chorea und wirklichem Koma, deren Pro¬
gnose er ungünstig ^tellt. Curschmann
nannte noch echte Bulbärparalyse. Der
Zusammenhang der Encephalitis mit der
Grippe wurde mehrfach besprochen,
blieb aber unsicher; insbesondere stellte
Petren- Lun d aus epidemiologischen
Gründen jede Abhängigkeit in Abrede.
Therapeutisch wurde gegen die Erre¬
gungszustände Chloral in hohen Dosen
(6—8 g), auch per clysma, von Spät
(Prag) wiederholte Lumbalpunktion emp¬
fohlen; dieser Autor hat auch von Hyp¬
nose besonders guten Erfolg gesehen. Bei
Grav^'d^’tät riet Curschmann (Rostock)
zu schnellem Abort, während Böhme
(Bochum) eine zweiwöchige Lethargie
bei einer Gravida in Heilung übergehen
sah.
Eine Reihe von Vorträgen behandelte
den Wasserhaushalt des Körpers im
allgemeinen und die Pathologie des Dia¬
betes insipidus im besonderen. Veil
(München) hatte schon früher gezeigt,
daß es zwei gegensätzliche Gruppen der
Diabetes insipidus gibt, die gewöhnliche
Form mit viel Urin, geringem specifischen
Gewicht und vermindertem Kochsalz¬
gehalt des Urins (hydrurisch-hypo-
chlorurisch), bei dem das Blut vermehrten
Kochsalzgehalt hat (Hyperchlorämie) und
die praktisch kaum in Betracht kommende
Form mit normaler Kochsalzausschei¬
dung (hyperchlorurisch), bei den die
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1920
261
Blut-NaCl-Menge eher vermindert ist (hy-
pochlorämisch). Jetzt berichtetVeil, daß
beim sogenannten Salzstich vom vierten
Ventrikel aus eine Hypochlorämie und
Hyperchlorurie ausgelöst wird, diese ist
also von der Niere unabhängig; die Nie¬
renstörung laufe parallel der allgemeinen
Störung des Wasser- und Kochsalzhaus¬
halts. Es handle sich um eine Vaso¬
motorenwirkung ähnlich wie nach
Theocin, während bei Reizung des
Zwischenhirns eine hypochlorurische
Hydrurie auftritt. Die Piqüre vom vier¬
ten Ventrikel aus kann also nicht die¬
selbe Bahn reizen, deren Centrum im
Zwischenhirn getroffen wird. Die Mehr¬
ausscheidung des Wassers beruht nicht
nur auf der Konzentrierunfähigkeit der
Nieren, sondern auch auf einer Unfähig¬
keit der Gewebe, das Wasser festzuhalten.
Oehme (Bonn) präcisierte folgende ur¬
sächliche Möglichkeiten erhöhter Wasser¬
ausscheidung; 1. Abhängigkeit von einer
centralen Regulation des Wasserhaushalts,
2. von Erregungen der Nierennerven,
3. von erhöhteii'i Wassergehalt des Blutes,
4. von innersekretorischen Einflüssen. In
eigenen Versuchen vergheh er Trocken-
und Wassertierenach intravenöser Infusion
mittels Untersuchung der Seren und kam
zu dem Resultat, daß die Niere selbst
durch ihren eigenen Wassergehalt die
Regulation des Ausscheidens bewirkt;
der Wassergehalt der Niere aber sei
vom Stoffwechsel und der Wasser¬
zufuhr der Vorperiode abhängig.
Leschke und Brugsch zeigten die Ab¬
hängigkeit der Harnflut von verschie¬
denen Nervencentren. Auf die nervöse
Beteiligung der Niere an der Harnregula¬
tion wies Jungmann (Berlin) hin; die
Piqüre wird nach Splanchnicusdurch-
schneidung unwirksam; vielleicht handelt
es sich um eine reflektorische rückläufige
Beeinflussung der Ausscheidung von sei¬
ten der Niere. Für die wesentliche Rolle
der Hypophyse in bezug auf Wasser- und
Kochsalzausscheidung trat Frank (Bres-
.lau) ein. Die Störungen des Diabetes in-
sipidus, im Blut erhöhter Kochsalzspiegel
bei Verminderung des Wassergehalts, im
Harn die Wasserflut bei geringer Koch¬
salzkonzentration, verschwinden voll¬
ständig nach Pituglandolinjektion; mit
größeren Pituglandolmengen läßt sich
diese Verschiebung auch bei Gesunden
zeigen. Dieselbe Substanz, welche in
kleinen Mengen Polyurie macht, heilt die¬
selbe in großen, für die Wirkung ist neben
der Menge auch das Milieu und die Zeit
entscheidend; der Kochsalzgehalt ist
nach V 2 Stunde anders als nach zwei
Stunden. Auch. Biedl (Prag) betont die
Wasserbindung im Gewebe durch die
Hypophyse. Zur Regulation der Wasser¬
konstanz ist ein Centrum im Zwischen¬
hirn notwendig; es ist unklar, auf welche
Reize es anspricht; der Salzgehalt des
Körpers spielt bei der Wasserausschei¬
dung nicht die entscheidende Rolle; einen
wesentlichen Einfluß übt dagegen ein
Hormon der Hypophyse, welches ein
solches der Magendarmschleimhaut in¬
aktiviert. — Eine Wirkung des Hypo¬
physenextrakts auf die Blutverteilung
konnte Rosenow (Königsberg) nach-
weisen; intravenöse Injektion bewirkt
beim gesunden Menschen eine kurz¬
dauernde Zunahme des Armvolumens,
welche plethysmographisch nachgewiesen
wurde. Die Änderungen des Plethys¬
mogramms sind darauf zurückzuführen,
daß die Hypophysenpräparate, analog
dem Adrenalin, zunächst auf die Gefäße
des Splanchnicusgebiets verengernd ein¬
wirken.
Es folgten einige Vorträge aus dem
Gebiete der Magenpathologie. Klee
(München) besprach die Wirkung des
Atropins bei Störungen der Mo¬
tilität des Magens. ln Experimenten
an Katzen ließ sich zeigen, daß
Atropin die Peristaltik unter allen Be¬
dingungen hemmt, selbst nach Aus¬
schaltung des Sympathicus und Vagus.
Der Angriffspunkt der peristaltikhem¬
menden Afropinwirkung muß also in der
Magenwand liegen; die Magenentleerung
wird durch die Hemmung der Peristaltik
verzögert. Selbst nach Ausschaltung des
Splanchnicus wird der Tonus des Sphinc-
ters durch Atropin nicht vermindert.
Dagegen wirkt es auf die Wandspannung
und die spastischen Erscheinungen der
Magenmuskulatur, sofern der sympathi¬
sche Tonus ausreichend ist. Hieraus er¬
gibt sich die Indikation des Atropin bei
allen nervösen Krampfzuständen, sowie
beim Geschwür des Magens; man gebe
cs bei leerem oder wenig gefülltem Magen
beziehungsweise vermeide stärkere Fül¬
lungen des Magens während einer Atropin¬
kur. Bruns (Göttingen) sprach über das
Verhalten der Bauchdecken bei den
verschiedenen Füllungszuständen der
Bauchorgane. Merkwürdigerweise steigt
der Bauchinnendruck auch während der
Füllung und Ausdehnung des Magens
nicht an; es setzt nämlich gleichzeitig
mit der Erschlaffung desselben eine re-
262
Die Therapie der Gegenyvart 1920
Juli
flektorische Entfaltung der Baucliwand
ein. . ;Der Anstoß zur Bauchdecken¬
erschlaffung muß von den Magennerven
ausgehen, denn bei Reizung der spinalen
Nervenäste tritt eine Drucksteigerung
im Bauchraum ein. Exstirpiert man das
Ganglion coeliacum und die Splanchnici,
so steigt mit der Magenfüllung auch
sofort der intraperitoneale Druck an und
es kommt nicht zur reflektorischen Er¬
schlaffung der Bauchdecken.
Der Bruns sehe Vortrag bildete den
Übergang zur Neurologie, welche durch
die Vorträge von Frank und Schäffer
(Breslau) hervorragende Förderung und
Anregung erfuhr. Frank suchte durch
pharmakologische Versuche zu beweisen,
daß der Tonus des quergestreiften Muskels
nicht von den motorischen, sondern vom
antagonistischen Spiel des autonom.en
Nervensystems beherrscht wird. Der
Parasympathicus bedingt und steigert
den Tonus, der Grenzstrangsympathicus
vermindert ihn. Durch intramuskuläre
Novocainisierung im Physostigminver-
such wird bewiesen, daß die parasym¬
pathisch-motorischen Nerven identisch
sind mit den sensiblen Muskelnerven.
So ist auch das Motorischwerden der
Chorda tympani im Heidenhainsehen
Experiment zu erklären. Das Bellsche
Gesetz vom motorischen Charakter der
vorderen Wurzeln besteht danach nicht
mehr zu Recht; die den Tonus unter¬
haltenden Fasern verlaufen durch die
hintern Wurzeln! Nach Durchschneiden
derselben hört auch ausgesprochene
Muskelstarre sofort auf. Schäffer stützte
die überraschenden Frank sehen Thesen
durch weitere Versuche. Die Muskel¬
kontraktion wird durch diejenigen Phar¬
maka beeinflußt, deren Wirkung speci-
fisch auf autonome Nervenendapparate
eingestellt ist. Der Angriffspunkt dieser
Wirkungen liegt in der Peripherie, da
sie auch in dem völlig motorisch und
sensibel gelähmten Arm Zustandekommen.
Die Stoffwechselvorgänge des Muskels
werden durch das regulatorische Spiel
fördernder parasympathischer und
hemmender sympathischer Impulse re¬
guliert.
Der Lehre vom Stoffwechsel waren
die nächsten Vorträge gewidmet. Sey-
farth(Leipzig) berichtete über eingehende
anatomische Untersuchungen des Pan¬
kreas beim Diabetes, welche die Be¬
deutung der Langerhansschen Inseln
für die Entstehung derselben einzuschrän¬
ken scheinen. Der schwedische Kliniker
Petren (Lund) berichtet über die diä¬
tetische Behandlung des Diabetes.
Er schränkt das gesamte Nahrungs¬
quantum- erheblich ein, nur die Fett¬
menge bleibt sehr reichlich, Eiweiß wird
ebenso vermindert wie die Kohlehydrate;
der N-Umsatz wird bis auf 3 g herab¬
gesetzt. Dabei sinkt die Acidose bis zum
völligen Verschwinden, das Körperge¬
wicht nimmt oft zu, während der Blut¬
zucker zur Norm zurückkehrt und der
Harnzucker in vielen, selbst schweren
Fällen zum Verschwinden gebracht wird.
Todesfälle sind nur bei solchen Fällen
eingetreten, die ganz aufgegeben waren,
als sie. in Behandlung traten. Petren
erklärt das Fleisch für ein Gift bei
schweren Diabetikern und hält besonders
die starke Eiweißbeschränkung für das
Haupterfordernis der Diabetestherapie.
Die guten Erfolge wurden an zahlreichen
• Tabellen erläutert. Zur Kasuistik des
Coma diabeticum bei Schwangeren
'Sprach Umber; er hat dies sehr seltene
Vorkommnis nicht weniger als dreimal
beobachtet. In allen drei Fällen kam es
im Verlauf der Gravidität zu erheblicher
Verschlimmerung eines vorher gut regu¬
lierten Diabetes, indem gesteigerte Aci-
dosis und schnelles Koma mit tödlichem
Ausgang ohne Abort eintrat; in einem
.Fall wurde im Koma der Kaiserschnitt
gemacht, ohne daß es gelang, Mutter
oder Kind zu retten.
Eine Entdeckung, die vielleicht in
Zukunft noch praktischen Wert bekommt,
ist Stepp (Gießen) gelungen; er konnte
im Blute der Diabetiker Acetaldehyd
nachweisen. Beim Gesunden Vvdrd diese
Abbausubstanz der [Kohlehydrate schnell
weiter zersetzt, so daß sie dem Nachweis
entgeht; nur nach dem Genuß großer
Mengen Alkohol ist Aldehyd im Blute
gesunder Menschen nachweisbar.
Zur Pathologie der Gicht brachte
Gudzent (Berlin) neue Untersuchungen,
welche von neuem die Theorie befestigen,
daß Harnsäure in den Geweben der Gicht¬
kranken zurückgehalten wird. Nach
intravenöser Injektion von 1 g Mono¬
natriumurat steigt der Wert der Blut¬
harnsäure sehr schnell an und fällt auch
schnell wieder ab; erst viel später wird
die Harnsäure im Urin ausgeschieden, so
daß der Schluß gerechtfertigt ist, daß
sie in der Zwischenzeit von den Geweben
festgehalten wird. Beim Gichtkranken
ist das Verhalten der Blutharnsäure das¬
selbe, aber es erfolgt in der gegebenen
Zeit keine Ausscheidung der Harnsäure
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1920
263
durch den Urin, also muß sie im Gewebe
abgelagert verbleiben. ^
In den Mittelpunkt der Gichttheorie
muß also die Affinität zwischen Harn¬
säure und Gichtgewebe gestellt werden,
wie dies übrigens schon im Jahre 1895
von dem Referenten deutlich ausge¬
sprochen und begründet worden ist. Neu
war in den Mitteilungen von Gudzent
noch die Angabe, daß eine Reihe seiner
Gichtkranken mit erheblichen Tophis
normale Blutharnsäurewerte zeigten; da¬
mit würde der diagnostische Wert der
Harnsäurebestimmung im Blut illusorisch.
Bornstein und Griesbach haben
das alte Problem bearbeitet, in welcher
Form die Harnsäure im Blute der Gicht¬
kranken kreist. Sie haben gefunden, daß
Salzsäure aus dem enteiweißten Blutfiltrat
größere Mengen Harnsäure freimacht, so
daß in Übereinstimmung mit der be¬
kannten Theorie Minkowskis eine kom¬
plexe Harnsäureverbindung nach Art der
Nucleoside anzunehmen wäre. Diese
komplexe Harnsäure kann in kurzer Zeit
in freie Harnsäure übergehen; nach Ato-
phan verschwindet zunächst nur die freie
Harnsäure aus dem Blute.
Der dritte Kongreßtag brachte zahl¬
reiche Mitteilungen zur Pathologie des
Kreislaufes. Klewitz (Königsberg)
bewies durch zahlreiche Kasuistik mit
Sektionsbefunden, daß die negative T-
Zacke des Elektrokardiogramms auf
eine Erkrankung des Herzens selbst beim
Fehlen anderer klinischer Zeichen hin-
weise. Weber (Nauheim) zog aus dem
Vergleich von E. K. und Venenpuls kli¬
nische Schlüsse auf die Bedeutung ver¬
schiedener • Formen von Arhythmie.
Kraus (Berlin) analysierte das Verhalten
der Herztöne an veratrin- und calcium¬
vergifteten Kaninchen. 0. Müller (Tü¬
bingen) hielt einen zusammenfassenden
Vortrag über die von ihm begründete und
ausgebaute Beobachtung des Capillar-
k reis lauf s beim Menschen; neuerdings
gelingt es mit einem von Zeiß konstruier¬
ten Mikroskop die Capillaren an allen
Stellen des menschlichen Körpers zu beob¬
achten, und dabei in bezug auf Größe
und Weite der Capillarschlingen sowie die
Strömungsgeschwindigkeit interessante
Feststellungen zu machen, die freilich
mehr allgemeinpathologisch als speziell
diagnostisch von Bedeutung sind. So
zeigen Kinder mit exsudativer Diathese
erheblich längere Schlingen, die stark
anastomosieren; ähnliche Bilder zeigen
sich bei anderen Krankheiten, wie vaso¬
motorischer Neurose und manchen For¬
men von Arteriosklerose. Schwierig ist
die Beurteilung der Strömungsgeschwin¬
digkeit; venöse Stauungen, sowie erhöhter
arterieller Druck geben ziemlich präcise
Bilder, aber bei Vasoneurosen finden sich
alle möglichen Veränderungen, Ther¬
mische und chemische Reize haben Ein¬
fluß auf die Strömung. Die verschiedenen
Exantheme geben charakteristische Bil¬
der, ohne daß differentialdiagnostische
Sicherheit zu erzielen wäre; auch die
bemerkenswerten Befunde bei gewissen
Nervenkrankheiten sind für die Diagnose
nicht zu verwerten. Wessely (Würz¬
burg) berichtete über eine neue plethysmo¬
graphische Methode zur Messung des
intraokularen Druckes, welche viele
Fragen der Kreislaufphysiologie und Pa¬
thologie am Auge zu lösen, gestattet. Mit
einer ähnlichen Methodik hat Friede¬
mann (Berlin) einen besonders tiefen
Augendruck bei der Grippe gefunden, der
sich weit über das Fieberstadium bis in
die Rekonvaleszenz erstreckte. Über
Entstehung von Gefäßveränderungen^
welche an experimentelle Arteriosklerose
erinnern, berichtete Löwe' (Göttingen).
Bekanntlich kann man im Tierversuche
durch Injektionen von Adrenalin und
Nicotin entzündliche Veränderungen der
Media hervorrufen. Ähnliche Verände¬
rungen entstehen in akuter Weise nach
intravenöser Injektion von 20 mg Chlor¬
sauerstoff, nämlich bläschenförmige Herde
in der Media, die frei von Kalkeinlage¬
rungen sind. Curschmann (Leipzig)
beschrieb das anaphylaktische
Asthma der Fellfärber. Nach mehr¬
jähriger Arbeit mit der Schwarzbeize
(einer Chironverbindung) bekommen die
betreffenden Arbeiter iiÄen anderen Ana-
phylaxiesyniptomen schwerstes Bronchial¬
asthma, das jedesmal nach geringer Ein¬
atmung wieder erscheint und erst nach
Entfernung der Patienten aus dem Be¬
trieb erlischt. Die anaphylaktische Natur
des Anfalls wurde durch den Tierversuch
bewiesen, indem sowohl der aktive wie
der passive Anaphylaxieversuch positiv
ausfiel. Der Anfall zeigte akute Lungen¬
blähung mit Krampf der Bronchioli, im
Blute waren die eosinophilen Zellen ver¬
mehrt. In der Behandlung wie auch
vorbeugend erwiesen sich Kalksalze
nützlich.
Assmann (Leipzig) deutete Röntgen¬
bilder von Herz und Lungen bei Mitral¬
fehlern, Küpferle (Freiburg) Röntgen¬
bilder tuberkulöser Lungen. Durch
264
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juli
den Vergleich anatomischer frontaler
Serienschnitte mit systematischen Rönt¬
genuntersuchungen kommt Küpferle zu
dem Ergebnis, daß die beiden Grundtypen
der produktiven und exsudativen Phtnise
in ihren Erscheinungsformen- des acinös-
nodösen (knotig-produktiven) und des
lobulär-käsigen (knotig-exsudativen) Her¬
des an charakteristischen Schattenbildern
erkennbar seien. Auch die sekundären
Veränderungen der Induration und Cir-
rhqse .lassen sich röntgenologisch dia¬
gnostizieren. So kann man die anatomi¬
sche Form der Lungenphthise durch das
Röntgenbild feststellen, und daraus für
Prognose und Therapie wesentliche
Schlüsse ziehen. Obwohl die von
Küpferle gezeigten Lungenbilder all¬
seitig Anerkennung fanden, wurde ihre
klinisch-diagnostische Verwertbarkeit von
F. Klemperer angezweifelt; er hielt die
Schattenbilder nicht für ausreichend, um
daraus Stadium und Voraussage des Ver¬
laufs ableiten zu können; ohne genaue
Kenntnis des klinischen S 3 anptomenbildes
und bisherigen Verlaufs bliebe die Deu¬
tung des Röntgenbildes unsicher; wir
können eher aus dem klinischen Befund
auf den anatomischen schließen als um¬
gekehrt.
i Die Röntgendiagnostik der Unter¬
leibsorgane hat eine wesentliche Ver¬
besserung erfahren durch Lufteinblasung
in die Bauchhöhle, welche Rautenberg
(Lichterfelde) eingeführt hat; er zeigte
eine große Zahl ausgezeichneter Röntgen¬
bilder der Leber und der Niere, welche
nach künstlichem Pneumoperitoneum auf¬
genommen waren und zur sicheren Dia¬
gnosenstellung in sonst ganz unklaren
Fällen geführt hatten. Minkowski und
Matth es bestätigten die wertvollen
Dienste, welche das Rautenbergsche
Verfahren in der Klinik leistete. Unan¬
genehme Nebenerscheinungen seien dabei
so gut w’e ausgeschlossen, wenn man
nicht in der Linea alba, sondern seitlich
durch den Rectus zur Lufteinblasung
punktierte. Eine weit weniger günstige
Zensur bekam d^e Röntgendiagnostik
des Ulcus duodeni, über welche
Förster (Würzburg) vortrug. Manche
Röntgenspezialisten hatten sich gewöhnt,
die Verziehung des Duodenums nach
rechts und eine gewisse Form der Nischen¬
bildung, auch wohl starke Peristaltik mit
verzögerter Entleerung als beweisend für
Zwölffingerdarmgeschwür zu betrachten;
in einigen von Förster so diagnostizierten
Fällen zeigte sich aber bei der Operation
kein Ulcus, sondern einfache Verwach¬
sung oder Pulsionsdivertikel. . Es muß
auch für diese Erkrankung wie für viele
andere der Satz gelten, daß das Röntgen¬
bild immer nur im steten Vergleich mit
den klinischen Symptomen verwertet
werden kann.
Den Beschluß des dritten Kongre߬
tags machte eine Mitteilung über Diagnose
und Behandlung der Trichinenkrank¬
heit von Munk (Berlin). In diagnostischer
Beziehung hat sich die Eosinophilie des
Blutes, die bis zu 70% steigt, als be¬
sonders wertvoll erwiesen. Leider hat
diese Feststellung dadurch an Wert ver¬
loren, daß auch bei der gewöhnlichen
(rheumatischen) akuten Myositis Ver¬
mehrung der Eosinophilen im Blut vor¬
kommt. In zweifelhaften Fällen bleibt,
wie Minkowski betonte, die Mikrosko¬
pie eines excidierten Muskelstückchens
entscheidend. Therapeutisch hat sich in
Munks Fällen der Palmitinsäure-Thy¬
molester als zuverlässiges Heilmittel be¬
währt, wenn es vor der dritten Woche
angewandt wird; die Wirkung scheint
auf Schädigung der Muttertiere zu be¬
ruhen. Wirksam ist auch reines Thymol
in Ricinusöl oder in Oblaten.
Der letzte Tag brachte eine Aussprache
über Behandlung des Pleuraempyeme,
in der die alte Frage, ob Operation oder
Punktion, von neuem behandelt wurde.
Zu offenkundig sind die Gefahren der
radikalen breiten Eröffnung, welche so
oft zu Kollaps führt, als daß das Verlangen
der inneren Mediziner nach schonenderen
Verfahren nicht immer wieder zum Aus¬
druck kommen sollte. So empfahl
Bönniger (Pankow) die Punktion mit
breitem Trokar, wobei der Eiter durch
Hustenstöße herausbefördert und ein
Pneumothorax angelegt wird. Auch
Päßler (Dresden) tritt für die Punk¬
tionsbehandlung ein, wenn er sie auch
nicht in allen Fällen für anwendbar hält.
Forschbach (Breslau) will die Ent¬
leerung mit einem neuen Thorakotom
ausführen, welches den Pneumothorax
mit seinen Gefahren zu vermeidengestattet.
Auch Wandel (Leipzig) hat ein ähnliches
Instrument mit Erfolg angewandt, er
spritzt außerdem Trypsin in den Pleura¬
raum, um die Fibrinklumpen zu ver¬
flüssigen. Ein ,,Thorakotom“ ist übrigens
bereits vor vierzig Jahren von Leyden
angegeben worden, hat sich aber nicht
behaupten können. Für die chirurgische
Behandlung traten Gerhardt (Würz¬
burg), Volhard (Halle) und Clemens
juli
bie Therapie der Gegenwart 1920.
265
(Chemnitz) ein; die letzteren sind der
Meinung, daß der relativ geringfügige
operative Eingriff auch von dem inneren
Arzt ausgeführt werden müsse. Bei
Kindern empfahl Rietschel (Würzburg)
unbedingt die konservative Behandlung.
Die Resektion bedeutet sicherlich den
Tod, solahge noch pneumonische Infil¬
trate vorhanden sind; sie käme jeden¬
falls erst nach wiederholten Punktionen,
wenn diese nicht zum Erfolg führten,
in Frage. Übrigens könne man dann auch
beim Säugling erfolgreiche Resektionen
machen. Mit Gerhardt und Päßler
trat Referent für indivualisierende Be¬
handlung ein. Wie sich die Resektion
bei noch bestehender Pneumonie ver¬
biete, so empfehle sich die Buelausche
Punktionsdrainage in jedem Fall, in dem
die Operation das geschwächte Herz mit
Kollaps bedrohte; führe die Drainage
auch nicht immer zur Heilung, so erhalte
sie doch das' Leben und ermögliche häufig
spätere Operation ohne Lebensgefähr¬
dung.
Heubner (Göltingen) sprach über
Inhalationstherapie. Er hat gezeigt,
daß Kalksalze, in konzentrierten Lösungen
verstäubt und inhaliert, sehr gut durch
die Bronchialschleimhaut resorbiert
werden. Bei seinen Versuchen unterschied
er zwei Typen von Inhalationsapparaten,
die einen mit grober, die anderen mit
feiner Zerstäubung. Wenn die Inhalation
erfolgreich sein solle, müsse der Inhala¬
tionsnebel etwa 12 ccm in der Minute be¬
tragen und genügend konzentriert ge¬
liefert werden. Mit den bisherigen Ap¬
paraten kann man nur etwa 10 ccm in
einer halben Stunde in den Bronchial¬
baum bringen. Von der Verbesserung
der Apparate und vor allem von der
genauen Dosierbarkeit der zu inhalieren¬
den medikamentösen Lösungen seien
Fortschritte der Inhalationstherapie zu
erhoffen.
Külbs (Köln) machte interessante
Mitteilungen über Krankheitssymptome
nach Zigarettenmißbrauch. Bei vielen
Patienten, die bis zu 50 englische Zi¬
garetten pro Tag rauchten, trat neben
den Erscheinungen der Nicotinvergiftung
besonders eine außerordentliche akute Ge¬
wichtsabnahme (bis über 50 Pfund) auf.
Daneben wurden Stomatitis, Magen¬
krämpfe mit herabgesetztem Säurege¬
halt, Wadenschnierzen, kühle Extre¬
mitäten, erhöhte Reflexe und vasomo¬
torische Erregbarkeit, relativ selten Herz¬
erscheinungen, aber auch stenokardische
Anfälle beobachtet. Die teilweise sehr
schweren Erscheinungen verloren sich
nach Aussetzen des Rauchens. Lieber¬
meister (Düren) hat nach englischen
Zigaretten häufig spastische Obstipation,
gesehen, die er auf den hohen Opium¬
gehalt zurückführt.
NeueVorschlägezur Behandlunglebens¬
gefährlicher Magenblutungen machte
Kelling (Dresden). Einerseits will er
das Duodenum unten abschließen durch
einen komprimierenden Verband, welcher
die Bauchdecken gegen die Wirbelsäule
abschließt. Andererseits will er den ne¬
gativen Druck, der angeblich im bluten¬
den Magen herrscht, beseitigen, indem er
durch einen durch die Nase eingeführten
Schlauch Luft unter geringem Druck in
den Magen einbläst. Er hält dies Ver¬
fahren für ungefährlicher als Magenspü¬
lungen mit Eiswasser, die ja auch als
Mittel gegen Magenblutung empfohlen
worden sind.
Der vorstehende Bericht hat nur die¬
jenigen Mitteilungen angeführt, welche
in näheren oder entfernteren Beziehungen
zur praktischen Medizin stehen; unbe¬
rücksichtigt blieben eine Reihe wertvoller
Vorträge, welche vorläufig nur theore¬
tisches Interesse beanspruchen dürfen.
Trotz dieser Beschränkung dürfte der
Bericht zeigen, wie wertvolle Anregungen
dieser Kongreß seinen ärztlichen Teil-'
nehmern gebracht hat. Wer sich näher
für den Inhalt der Verhandlungen inter¬
essiert, sei auf die offizielle Ver-
öff entli chung d erselb en hingewi esen *
welche im Laufe des Sommers in ge¬
kürzter, aber vollständiger Form im Ver¬
lag von Bergmann in Wiesbaden er¬
scheinen wird. — Schließlich sei berichtet^
daß die Mitgliederversammlung auf An¬
trag des Ausschusses den Beschluß gefaßt
hat, den Namen ,,Deutsche Gesell¬
schaft für innere Medizin“ anzuneh¬
men. Die Änderung des Namens erscheint
nicht bloße Formalität; siebringt vielmehr
das Streben des Kongresses nach festerem
innerem Zusammenhang "zum Ausdruck;
sie zielt darauf hin, Anziehungskraft und
Einfluß der alten Vereinigung zu ver¬
mehren. Die ,,Deutsche Gesellschaft für
innere Medizin“ öffnet ihre Pforten jedem
deutschen Arzt, welcher dem wissen¬
schaftlichen Fortschritt wie dem prak¬
tischen Ausbau der inneren Medizin sein
Interesse zuwendet. ■ Auch an dieser
Stelle möchte ich den Werberuf des Vor¬
standes ertönen lassen. Möchten recht
viele Ärzte der Deutschen Gesellschaft
34
:266
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juli
für innere Medizin als neue Mitglieder
beitreten, damit sie mit größerem Erfolge
als bisher in die Lage versetzt würde, sich
an der Förderung der^wissenschaftlichen
und praktischen Aufgaben der inneren
Medizin zu beteiligen.
Bericht über die 44. Versammlung der Deutschen Qesellschaft
für Chirurgie vom 7. bis 10. April 1920.
Von W. Klink, Berlin. (Schluß)
Kirschner stellt ein junges Mädchen
vor, bei dem sich eine Ätzstriktur des
Ösophagus gebildet hatte, so daß keine
Sondierung mehr möglich war. Er machte
den Magen beweglich, so daß er nur noch
von der Arteria gastrica dextra und
gastroepiploica und vom Duodenum aus’
ernährt wurde. Dann trennte er ihn im
kardialen TeiL vom Ösophagus, den er
mit dem Jejunum vereinigte. Den Magen
selbst zog er aus der Bauchwunde bis zur
Clavicula, was ohne Schwierigkeit gelang.
Vor dem Brustkorb wurde .er subcutan
gelagert, dann der obere Teil des Oeso¬
phagus vom Hals aus hervorgeholt und
mit der oberen Magenöffnung vereinigt.
Der Heilungsverlauf war gut. Die Kranke
hat 35 Pfund zugenommen, schluckt und
verdaut gut. Nach drei Stunden ist der
Magen leer. Das Verfahren ist technisch
nicht schwierig und eröffnet neue Ge¬
sichtspunkte für die Behandlung des
Ösophaguscarcinoms.
V. Eiseisberg berichtet über 900
Operationen wegen Ulcus ventriculi aus
den letzten 20 Jahren. Bemerkenswert
ist die große Zunahme der Fälle bis zum
Kriegsbeginn, dann ein Abfall, seit 1918
wieder ein Anschwellen. 1919 war die
Zunahme so stark, daß man die schlechte
Ernährung, als Grund annehmen mußte.
Die Nervosität spielt wohl auch eine
Rolle. Die Männer überwiegen. Auch
das Ulcus duodeni scheint zugenommen
zu haben, ln der Behandlung ist man
mit der Zeit mehr zur Resektion über¬
gegangen. Die geschlossene Pylorusstenose
wird durch die Gastroenterostomie sehr
gut beeinflußt. Eine Gastroenterostomie,
die nicht streng angezeigt ist, soll
man besser unterlassen; je weniger
sie indiziert ist, desto schädlicher wirkt
sie. — Die Pylorusausschaltung stellt das
Ulcus ruhig. Unter 61 Fällen ist zehnmal
eine Operation wegen Ulcus pepticum
nötig geworden und in weiteren vier
Fällen lassen die Erscheinungen an ein
solches denken. Es handelte sich hier
um unilaterale Pylorusausschaltung.
Über Raffung des Pylorus hat er keine
Erfahrung. — Von 99 Querresektionen
des Magens hat er zwei durch die Operation
verloren. Unter 64 Fällen trat neunmal
ein Rückfall ein, von denen vier operiert
werden mußten. Ob es sich um echte
Rückfälle oder zurückgebliebene Ulcera'^
handelt, läßt sich nicht entscheiden. Der
Pylorospasums spielt dabei eine Rolle,
weswegen man den Pylorus mit weg¬
nehmen soll. Man kommt dadurch zur
ausgedehnten Mag^nresektion nach Bili-
roth II. Unter 98 derartigen Operationen
sind sechs gestorben. Bei der Quer¬
resektion soll man möglichst viel weg¬
nehmen. Aber auch danach kam Ulcus
pepticum vor. Es scheinen also noch
andere Momente außer der absondernden
Magenschleimhaut der Grund für das
Ulcus pepticum zu sein. - Vor der Hand
ist die Resektion die Operation der Wahl.
Sie wird ausgeführt in Lokalanästhesie
der Bauchdecken zusammen mit Äther¬
narkose.
V. Hab er er hat dieselben Beob¬
achtungen gemacht, nur kein Ulcus pep¬
ticum nach Resektion gesehen. Nach
536 Resektionen hatte er 0, nach 250
Gastroenterostomien 3, nach 71 Pylorus-
ausschaltungen 11 Ulcera peptica. Die
Ursache für das Ulcus pepticum liegt im
Pylorus. Nach der Querresektion waren
die nächsten und die Dauererfolge nicht
gut. Nach Billroth II hat er das nie
gesehen. Die Technik kann keine Be¬
deutung für das Ulcus pepticum haben.
Auch der ausgeschaltete Pylorus bekommt
noch Spasmen und diese tragen die
Schuld; vielleicht auch noch andere Ur¬
sachen. Nach Billroth H sah er keine
Spasmen und keine Hypersekretion wie
nach Querresektion, ln letzter Zeit hat
er 55 Mal Billroth I gemacht, immer die
Originalmethode, mit 0 Todesfällen. Er
dehnte die Operation bald auch auf den
Sitz des Ulcus im Duodenum aus. Man
muß den Magen und das Duodenum
gehörig mobilisieren.
Kleinschmidt iDerichtet über das
Material Payrs aus 1912—19, im ganzen
360 Ulcera, darunter 167 Pylorus-
geschwüre, 130 Pylorusf erngeschwüre.
Nur die letzten werden besprochen. Es
wurden ausgeführt 76 Querresektionen,
29 Billroth II, 42 Gastroenterostomien.
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1920
267
Die Querresektion ist die beste und
physiologische Behandlungsmethode des
pylorusfernen Ulcus. Die einzige ab¬
solute Gegenindikation ist der schlechte
Allgemeinzustand. Relative Gegenindi¬
kationen sind: Sehr hoher Sitz an der
kleinen Kurvatur, größere Blutung oder
mehrfache kleine Blutungen, zu hohes
Alter. Trotzdem sind unter den Ope¬
rierten Leute von über 70 Jahren. Des¬
wegen kann man bei gutem Allgemein¬
zustand auch unter diesen Voraus¬
setzungen die Operation vornehmen.
Neuerdings stieg die Mortalität durch die
Grippe von 6,1% auf 15%. — Dauer¬
erfolge der Querres'ektion: Von 27 Fällen,
die über zwei Jahre zurückliegen, be¬
standen nur in einem Falle Beschwerden,
die man nicht ganz erklären konnte. Die
anderen waren ganz geheilt und hatten
stark zugenommen. Übersäuerung fand
sich nie. Bei fast allen Operierten war
die freie Salzsäure herabgesetzt. Die
chemischen Verhältnisse waren fast nor¬
mal, auch die Motilität. Also das pylorus-
ferne Ulcus ist durch die Querresektion
des Magens zu entfernen. Die Erfah¬
rungen mit der Gastroenterostomie
konnten in dieser Ansicht nur bestärken.
Denk teilte einen Fall mit, wo sich
schon 2%^ Wochen nach der Gastro¬
enterostomie trotz Ausschaltung des Py-
lorus und eines großen Teils der Pars-
pylorien des Magens mehrere Ulcera
peptica jejuni gebildet hatten. —
Noetzel empfiehlt die Gastroenterosto-
mia anterior.
Budde berichtet über 15 Fälle von
Perigastritis durch Obliteration des Vesti-
bulum und der Bursa omentalis bei Ulcus
ventriculi und duodeni. Es handelt sich
meist um sensible Personen. Krankheits¬
bild: Heftiger Schmerz nach dem Essen,
mehrere Stunden anhaltend, ohne freie
Zwischenräume. Es besteht Druck¬
schmerz im Epigastrium, in der Mittel¬
linie oder rechts davon. Meist ist Hyp-
acidität vorhanden. Die Durchleuchtung
ergibt meist nichts Besonderes. Pylorus
meist hochstehend, Verschieblichkeit
fehlt, keine Rechtsverziehung, verzögerte
Magenentleerung. In allen 15 Fällen
ergab die Operation derbe Verwachsung
des Magenperitoneum mit der Mesocolon¬
wurzel. Die Behandlung bestand in
Ruhigstellung des Pylorus durch Gastro¬
enterostomie und Pylorusausschaltung.
V. Rothe spricht zur Gastro- und
Nephroptose. Bei der maternellen Ptose
beherrscht die Stuhlverstopfung das
Krankheitsbild, bei der virginellen die
Schmerzen und das Erbrechen. Im
Liegen tritt Besserung ein; auch die Ver¬
stopfung bessert sfch. Bei der materuellen
.Form läßt man mit gutem Erfolg einen
festen Gürtel tragen, der vorn geschlossen
und im Liegen angelegt wird. • Die
virginelle Form kann nur operativ ge¬
bessert werden, da ja die Bauchdecken
straff sind und ein Gürtel überflüssig ist.
Eine gute und ungefährliche Methode ist
die Befestigung des Magens an der
vorderen Bauchwand nach Rovsing
(Gastropexie). In 80 Fällen hat sich die
Methode bewährt. Viele Fälle klagten
zwei bis drei Jahre lang über Schmerzen
bei leerem Magen, ohne daß Anhalts¬
punkte für ein Magengeschwür da waren.
Die Raffung des Ligamentum gastrohepat.
hat ihm keine besonderen-Erfolge gebracht,
weshalb er die Raffung noch durch einen
Fascienstreifen aus dem Oberschenkel ver¬
stärkt hat. Der Erfolg war in zwei Fällen
gut. Auch bei der Nephroptose hat er
einen Fascienlappen zur Befestigung be¬
nutzt. — Perthes führt beiGastroptose
das Ligamentum teres hepatis, von dem
man 16 cm präparieren kann, längs
der kleinen Kurvatur subserös durch.
Das eine Ende wird an der Leber, das
andere an der vorderen Bauchwand be¬
festigt. Guter Erfolg in vier Fällen. —
Flörcken: Bei der virginellen Form
haben die einen einen Sechsstundenrest,
die anderen keinen; bei den ersteren hat
die Gastroenterostomie sehr guten Er¬
folg, bei den anderen keinen, wohl aber
die Raffung des Ligaments nach Bier.
— Koch schlägt bei Gastroptose die
Keilresektion des Magens vor.
Payr sprach über die Anzeigestellung
zur Operation bei Obstipation. Selten
sind die Anzeigen absolute. Wegen
Obstipation allein wird man selten ope¬
rieren, gewöhnlich wird Schmerz, Ent¬
zündung und dergleichen vorhanden sein
müssen. Entgegen der allgemeinen An¬
sicht heilen die Wunden bei Asthenikern
mit Enteroptose gut. Senkung und
Knickung des Darmes braucht keine Ob¬
stipation zu bedingen, wohl aber Knickung
und Adhäsionen. Adhäsionen zwischen
Dünn- und Dickdarm macht keine Ob¬
stipation, wohl aber zwischen Dünndarm
und Bauchdecken. Eine ungünstige Vor¬
aussetzung ist gesteigerter retrograder
Transport im Dickdarm. Eine gut
suffiziente Valvula Bauhini und eine
starke Flexur des Colon schränkt den
retrograden Transport ein. Die Auto-
34*
268
Die Therapie der Gegenwart 1920 Juli
. .■ - - ■■ - • .. '' —
intoxikation ist im ganzen überschätzt
worden. Bei den Hypothyreosen kann
man nur mit Thyreoidin helfen.
Schoemaker hat bei 68 Fällen von
Pericolitis membranacea das Colon des-
cendens samt Coecum weggenommen und
das rieum mit dem Kolon transversum,
vereinigt. 'Als Grund der Krankheit
nimmt er Obstipation an. Das Colon
ascendens ist dabei von einer dünnen
Membran bedeckt, die das Coecum frei
läßt. Zwei Fälle sind gestorben, 32'
wurden beschwerdefrei, acht hatten leichte
Schmerzen, bei zehn fehlte jeder Erfolg;
bei einem Teil schwanden die Schmerzen
auf der rechten Seite, um links aufzu¬
treten. Die Untersuchung der Darmwand
ergab nichts Besonderes. Die bedeckende
Membran ließ sich immer leicht abheben
und war steril, kann also kein Entzün¬
dungsprodukt sein. Sie findet sich auch
bei anderen Operationen häufig, ohne daß
Schmerzen bestehen, selbst bei Kindern,
wo noch keine Entzündung voraus¬
gegangen ist. Die Schmerzen lassen sich
aus der Obstipation nicht erklären, denn
sie bestehen auch bei entleertem Darm;
auch nicht aus Zugwirkung, denn man
findet keine Constrictionen. Das Coceum
saß mehrmals zu hoch, aber niemals zu
tief. Eine Appendicitis und Cholecystitis
kann nicht die Ursache sein, da kein Zu¬
sammenhang mit diesen Organen be¬
steht. — Payr macht darauf aufmerk¬
sam, daß die angeborenen Membranen
nahezu gefäßlos sind und keine Gefä߬
reaktion bei der Operation geben.
Kümmell berichtete über seine Er¬
fahrungen mit der Entrindung der Lungen
zur Heilung starrwandiger Empyem¬
höhlen. Er hat sich dieser Operation zu¬
gewandt, da die Schedesche Thoraco-
plastik auf Entfaltung der Lunge und
Wiedereintritt der Funktion verzichtet
und außerordentlich verstümmelt. Unter
Lokalanästhesie entfernt er so viel Rippen,
daß er die ganze Hand einführen kann;
bei schwachen Kranken wird zweizeitig
operiert. — Die Schwielen lassen sich bis¬
weilen leicht entfernen, oft tritt aber auch
große Blutung ein. Die Lunge dehnt sich
sofort nach der Enthülsung gut aus. Die
Hautwunde wird bis auf ein Drain ge¬
schlossen. Die Heilung erfolgt mit guter
Funktion und ohne Deformität. Selbst¬
verständlich wird man' nur operieren,
wenn die Lunge selbst gesund ist und die
Kranken nicht zu alt sind. — Kirschner
rät von der Dekortikation ab, wenn die
Schwarten zu tief in die Lunge hinein
gehen oder Bronchektasien bestehen. Es
bleiben also Fälle übrig, wo die Thorako-
plastik am Platze ist. Er eröffnet in
solchen Fällen den Thorax von der Vorder¬
seite, unterhalb des Schlüsselbeins, und
kommt so bis an die oberste Spitze, kratzt
aus und legt den Musculus pectoralis in die
Höhle. Die bleibende Entstellung ist ganz
gering. Der untere Teil der Höhle heilt
dann von selbst oder man kommt mit
einem kleineren Eingriff aus. —Barth ist
zur Thorakoplastik zurückgekehrt, obwohl
er in einigen Fällen gute Erfolge hatte, weil
bei der Mehrzahl so starke Verwachsungen
bestehen, daß man Einrisse nicht ver¬
meiden kann. Gerade bei Influenza¬
empyemen, wo die Operation verhältnis¬
mäßig schnell gemacht wird, haben sich
Schwierigkeiten ergeben. — Körte hat
die Dekortikation auch wieder auf¬
gegeben, weil er nicht viel Glück damit
Hatte. Die Schwarten sitzen nicht auf der
Pleura, sondern sie sind die verdickte
Pleura selbst, und wenn man sie entfernt,
hat man die nackte blutende Lunge vor
sich. — Nach Sauerbruchs Erfahrung¬
hat die Entrindung nur in wenig Fällen
Erfolg, nämlich, wenn die Schwarten der
Lunge aufliegen, was nur bei postpneu¬
monischem Empyem der Fall ist. Un¬
möglich ist die Operation, wenn die
Schwarten in die Lunge hinein reichen.
Hier ist die Gefahr der Reflexe und der
Luftembolie groß. In der Mehrzahl der
Fälle ist die Entrindung nicht möglich.
Hier sind plastische Verfahren am Platz.
— Auch Küttner hat mit der Entrin¬
dung keine gute Erfahrung gemacht.
Viele chronische Empyeme heilen wegen
einer Bronchialfistel nicht aus,, die natür¬
lich erst geheilt werden muß. — Schmie¬
den drängt auf möglichst frühzeitige
Operation des Empyems und empfiehlt
die Maske von Goetze, die nach der Art
der Kuhnschen Maske gebaut ist. —
Perthes empfiehlt, die von Sauerbruch
empfohlene Phrenicotomie zur Verkleine¬
rung der Brusthöhle durch Zwerchfell¬
hochstand nur temporär durch Vereisung
auszufüren. Kirschner hat dies schon
zweimal wegen Tuberkulose getan.—
Zeller sah infolge noch bestehender
kleiner Abscesse der Pleurahöhle neue
Eiterung nach der Dekortikation auf-
treten und mußte dann ausgedehnte
Plastik machen. — Moszkowicz operiert
nicht mehr, seitdem er die Hofbauer-
sche Lungengymnastik kennen gelernt
hat. Sie bewirkt, daß der geschwundene
Sinus phrenicocostalis sich wieder bildet.
Juli
Die Therapie der, Gegenwart 1920
269
Auch die dicksten Schwarten werden ge¬
dehnt und die Lunge entfaltet. Die
Methode muß sehr vorsichtig angewandt
werden. Die Kranken lernen die Ex¬
spiration auf .ein bis zwei Minuten aus¬
dehnen. / Die Methode leistet Unglaub¬
liches, der Thorax bekommt eine normale
Form. Wenn man von vornherein das
Saugverfahren an die Rippenresektion
anschließt, kommt es nicht zur Schwarten¬
bildung.
Jehn berichtet aus der Münchener
Klinik über 43 Fälle von operierten
Lungensteckschüssen, von denen 40 rest¬
los heilten, drei starben. Man muß zwei
Gruppen unterscheiden: Es besteht völlige
Arbeitsfähigkeit nach der Verletzung,
dann plötzlich Bluthusten mit folgender
Herabsetzung der Arbeitsfähigkeit. Dem¬
gegenüber steht das Bild des Lungen-
abscesses oder der -gangrän. Die Blutung
und der Absceß können nur operativ be¬
handelt werden. Bei der Blutung findet
man immer eine ganz freie Pleura, trotz
der Veränderungen, die doch nach der
Verletzung bestanden, Weshalb man unter
Druckdifferenz arbeiten kann. Das Ge¬
schoß wird entfernt und alles geschlossen.
Beim Absceß ist oft eine Pleurainfektion
eingetreten. Hier wird die Brustwand
breit eröffnet, der Absceß eröffnet und
tamponiert.
Käppis empfiehlt für Bauchopera¬
tionen die Splanchnicusanästhesie, die er
mit 60 bis 100 ccm %proz. Novocainlösung
ausführt. Er sah keine üblen Folgen.
Schwache Kranke sind auszuschließen
wegen der folgenden Blutdrucksenkung.
Vorher gibt man ein Narkoticum. Die
Operierten erholen sich auffallend schnell.
Operative Blutung ist herabgesetzt, wes¬
halb man gut blutstillen muß. Die Dauer
ist dieselbe wie bei anderen Lokal¬
anästhesien. — Andere Chirurgen be¬
richten über schwere Zufälle nach der
Splanchnicusanästhesie, wie Kollaps, hal-
lucinatorische Delirien bis za acht Tage
lang, Doppelsehen, ja plötzlicher«Tod
unter den Zeichen der Blutdrucksenkung
selbst schon während der Injektion.
Eiseisberg hat bessere Erfolge, seitdem
er zugleich Atropin und Adrenalin in¬
jiziert. Laewen teilt die Novocain¬
vergiftungen in drei Stufen: Harmlose
Form: Trockenheit im Halse, Gesichts¬
blässe, Erbrechen, auch nach der Ope¬
ration. — Zweite Form: • Aufregungs¬
zustände. — Dritte Form: Dauernde
Blutdrucksenkung, die zum Tode führt.
Letztere Form tritt besonders bei schwa¬
chen alten Leuten oder bei länger be¬
stehendem Ileus auf.
Küttner berichtet über 1021 Fälte
von Mastdarmcarcinom, von denen 800
operiert wurden, 62% Männer, 38%
Frauen. Bei Männern trat es im 50. bis
70., bei Frauen im 40. bis 60. Jahr am
häufigsten auf. Aber im 17. bis 19. Jahr
trat es auch sechsmal, im 20. bis 29. Jahr
37 Mal auf. Nur 32% der Gesamtzahl
konnte radikal operiert werden; bei 17%
wurde ein Anus praeternaturalis angelegt.
Ein Zehntel der nicht operablen Fälle
wurde bestrahlt. Die Frühdiagnose ist
bei dieser Krankheit möglich, wird aber
leider selten gestellt. Er bevorzugt die
Resektion, macht von Kreuzbeinresektion
ausgiebig Gebrauch, ohne präliminaren
Anus außer bei Ileus. Bei hochsitzendem
Carcinom ist er von der abdominosacralen
Methode abgekommen und operiert sakral
zweizeitig. Der Tumor wird abgetragen
und circulär vernäht. Ricinusöl wird so¬
fort gegeben und zwölf Tage lang gereicht.
Sterblichkeit in sämtlichen Fällen 24,5%,.
bei Amputation größer als bei Resektion;
von 14 Excisionen ist keiner gestorben.
Unter den Todesursachen steht die Wund¬
infektion an erster Stelle; der Tod tritt
dann selten in den ersten Tagen, meist
nach Wochen, ja nach Monaten ein. An
der Größe des Eingriffs starben 16%;
bei hochsitzendem Carcinom war dies die
Haupttodesursache. An Lungenerkran¬
kungen starben 11%. Sterblichkeit des
Anus praeternaturalis war 14%, lauter
elende Kranke. — Dauerergebnisse: Von
den radikal Operierten lebten 32,5% länger
als drei Jahre, 21,6% länger als fünf,
16,4% länger als acht, 12,8% länger als
zwölf Jahre. Im sechsten bis achten
Jahr traten noch acht Rückfälle auf,
später als zehn Jahre kein Rückfall. Die
Excision ergab 50 % Dauerheilung. Leute
mit Anus praeternaturalis lebten bis sieben
Jahre nach der Operation. Der Verlauf
des Carcinoms kann sehr langsam sein. —
Von 170 Nichtoperierten lebten 10%
noch länger als drei Jahre, 4 % länger als
vier Jahre, aber ihr Zustand war zum
Teil sehr qualvoll. Die Ergebnisse der
Bestrahlung der inoperablen Fälle sind
viel schlechter als die des Anus prae¬
ternaturalis. Das Gesamtergebnis ist
besser als beim Magencarcinom.
Yölcker empfiehlt für die Prostat¬
ektomie eine Methode vom Damm aus,
besonders für schrumpfende Formen, die
das gleiche Bild machen, wie die adeno¬
matöse Hypertrophie. Diese Schwielen
270
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juli
können auf den Sphincter übergreifen.
Auch bei eiteriger Prostatitis hat sich die
Methode bewährt. 5,5% Sterblichkeit
Kümmell betont die geringen Erfolge
der Prostatektomie. Der Tod erfolgt
meist durch Niereninsuffizienz. Man
kann die Operation weiter stecken, wenn
man zweizeitig operiert. Ist die Niere
nicht suffizient, so wird Dauerkatheter
eingelegt, nur im Notfall hohe Blasen¬
fistel. Nach 10 bis 14 Tagen ist die Niere
immer suffizient. Dann wird die Blasen¬
fistel mit Laminaria gedehnt, Lokal¬
anästhesie in und um die Prostata her¬
gestellt und die Drüse von der Blase aus
entfernt. Danach Drainage oder Tampon.
Alle 27 Fälle, lauter ganz alte Leute
und schwere Fälle, wurden geheilt.
Küt.tner empfiehlt bei Sitz des Ho¬
dens am inneren Leistenring oder noch
höher die Durchschneidung der Samen¬
stranggefäße. Die Ernährung des Hodens
geschieht dann durch die Gefäße des
Ductus. An der richtigen Stelle ent-
. wickelt sich der atrophische Hoden schnell.
E. Joseph hat bei intravesicaler Be¬
handlung von Blasentumoren 70% Hei¬
lung, weitere 20% nach Rezidiv geheilt.
Zur Chemokoagulation derselben nimmt
er jetzt Tri Chloressigsäure unter Leitung
des Cystoskops. Brand empfiehlt 10 bis
20 % Resorcinlösung zu demselben Zweck.
Besonders die Blutung wird dadurch in
ein bis zwei Sitzungen gestillt, wenigstens
bei gutartigen Tumoren; bei bösartigen
ist die Chemotherapie nicht zu empfehlen.
Der Bericht über den Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie
erscheint im nächsten Heft.
Referate.
Man hat lange Zeit versucht, der
Alveolarpyorrhöe eine Sonderstellung
unter den bekannten Wundkrankheiten
einzuräumen, indem man für ihre Ent¬
stehung eine' besondere Spirochäte an¬
nahm. Seitz Untersuchungen haben er¬
geben, daß keine Berechtigung dazu vor¬
handen ist. Es wurden neuerdings
18 Fälle von Alveolarpyorrhöe, sieben von
Stomatitis und eine Gingivitis Simplex
genau bakteriologisch untersucht, ohne
daß bei einer der drei Wundaffektionen
eine dominierend vorkommende Spiro¬
chäte festgestellt werden konnte. Bei
allen dreien fanden sich auch fusiforme
Bacillen, wenn auch bei Stomatitis und
Gingivitis nicht in solchen Mengen wie
bei Alveolarpyorrhöe. Ebenso waren
Eitererreger bei allen gemeinsam. Da¬
gegen fand sich bei Alveolarpyorrhöe
allein ein anaerob wechselndes, unbeweg¬
liches, grampositives, ca. 7 großes
Stäbchen, das Gelatine nicht verflüssigte,
und ein feines, gramnegatives, Gelatine
verflüssigendes Stäbchen.
Kamnitzer (Berlin).
(M. Kl. 1920, Nr. 20).
Zur Behandlung des Haarschwundes
hat der unlängst verstorbene bedeutende
Physiologe Zuntz ein Hornpräparat an¬
gegeben, Humagsolan, mit welchem
Blaschko therapeutische Versuche bei
Menschen angestellthat. Behandelt wurden
hauptsächlich Fälle von sogenanntem
seborrhoischem Defluvium, und zwar be¬
sonders diejenigen, die einerseits noch
nicht zu weit vorgeschritten und die
trotz systematischer Höhensonnenbehand¬
lung nicht wesentlich beeinflußt worden
waren; eine zweite Gruppe umfaßte
frisch in Behandlung getretene, noch
nicht bestrahlte Fälle, und bei einer dritten
hat Verfasser neben der inneren Behand¬
lung noch Bestrahlungen angewandt. Im
ganzen handelte es sich um 60 bis 80
Fälle. Nicht in Betracht kamen als Prüf¬
steine Fälle mit vorgeschrittener Alopecia
praematura, auch voraussichtlich bald
günstig abheilende Formen,’ wie Haar¬
ausfall im Wochenbett, bei sekundärer
Lues, nach Scharlach und andere. In
der Regel wurden dreimal täglich drei
Pillen gegeben, die wegen ihres guten,
fleischextraktähnlichen Geschmackes gern
gendmmen und auch längere Zeit hin¬
durch gut vertragen wurden. Der Heil¬
erfolg war nicht ganz eindeutig. In
einzelnen Fällen eine völlige Wiederher¬
stellung, in anderen ein völliges Versagen
— besonders in vorgeschrittenen — in
der Mehrzahl deutliche Besserung. Die
besten Erfolge treten bei Pillendarreichung
zusammen mit Bestrahlung auf. Be¬
sonders gute Erfolge wurden in einigen
Fällen von Trichorhexis erzielt, weniger
gute bei vorgeschrittener totaler Alopecia
arcata. Eine überraschende Besserung
Die Therapie der Gegenwart 1920
271
Juli
trat nach dreimonatiger Darreichung
der Pillen in einem seit Jahren bestehen¬
den Fall von schwerer trophischer Nagel¬
erkrankung auf. Es liegt nahe, anzu¬
nehmen, daß auch gewisse Hautkrank¬
heiten, wie Ekzem, Pemphigus und
andere durch das Präparat günstig be¬
einflußt werden. Diesbezügliche Ver¬
suche sind nicht angestellt worden. Die
örtliche Applikation scheiterte bisher noch
' an der allzu salzigen Beschaffenheit des
Mittels und der dadurch hervorgerufenen
beträchtlichen Reizwirkung.
Kamnitzer (Berlin).
‘ (D.m. W. 1920, Nr. 19).
Auf die Anforderungen, die an die
Therapie bei Ernährungsstörungen
des Kleinkindes zu stellen sind, weist
Prof. A. Niemann hin. Durchfälle des
Kindes um die Wende des Säuglings¬
alters, also ziemlich lange vor Ablauf
des ersten Lebensjahres, sind wie Durch¬
fälle „älterer Kinder‘‘ und nicht wie die
der Säuglinge zu behandeln. Zu .oft
werden solche Kinder den Säuglingen
gleichgestellt, durch Entziehung der
ihrem Alter entsprechenden gemischten
Kost werden sie heruntergebracht. Ge¬
rade, wenn Kuhmilch nicht vertragen
wird, soll gemischte Kost (Gemüse, fein
püriert, ja sogar Zwieback-Apfelbrei)
unter Meidung von den leicht gären¬
den Kohlehydraten und Fett, bald¬
möglichst wieder verabreicht werden.
Ausschließliche Ernährung mit Eiwei߬
milch ist nicht, allenfalls eine Flasche
morgens, zu empfehlen, zur Herstellung
von Brei an Stelle von Milch kann Eiwei߬
milch benutzt werden. Feuerhack.
(B. kl. W., Nr. 10.)
Kurt Hulschinski berichtet an
Hand von 24 Fällen über die Behandlung
der Rachitis durch Ultraviolettbestrah¬
lung im Oskar-Helene-Heim (Berlin-
Dahlem; Direktor: Prof. Biesalski). Er
hat nur solche Fälle mit Höhensonne
behandelt, welche nach röntgenologischem
Ausweis sich im floriden oder invete-
riertem Stadium befanden, während er
alle Fälle, welche im Röntgenbild bereits
Heilungstendenz zeigten, von der Behand¬
lung ausschloß. Eine gleichzeitige Be¬
handlung einzelner Fälle mit Kalk, Phos¬
phor oder Sonnenbestrahlung zeitigten
keinen Unterschied im Heilungsverlauf.
Bestrahlt wurde dreimal wöchentlich mit
drei Minuten anfangend bis 20 Minuten
steigend bei einem Lampenabstand von
einem Meter, der fünfcentimeterweise bis
auf 50 respektive 60 cm verringert wurde.
Sobald das erste greifbare Resultat sich
zeigte, wurde die Behandlung 8 bis 14
Tage ausgesetzt, und dann wieder mit
kleinen Dosen von vorn angefangen. Die
Behandlung nahm durchschnittlich zwei
Monate in Anspruch. Die Heilungs¬
resultate, welche in jedem einzelnen Falle
an Reproduktionen derRöntgenaufnahmen
gezeigt werden, waren derart günstig,
daß der Verfasser zu dem Schluß kommt,
daß die Bestrahlung mit ultravioletten
Strahlen eine specifische Therapie der
Rachitis darstellt. Tatsächlich war es
dem Verfasser gelungen, in sämtlichen
24 behandelten Fällen Rachitis jeden
Grades, frische und alte bei Kindern im
Alter von IV 2 bis 6 V 2 Jahren durch zwei¬
monatliche ultraviolette Bestrahlungen
in 22 bis 26 Sitzungen zur Ausheilung zu
bringen. Diese Mitteilungen, die sich mit
den von Professor Langstein kürzlich
in seinem Säuglingsheim an rachitischen
Säuglingen gezeigten Resultaten und auch
mit den eigenen Beobachtungen des Re¬
ferenten decken, sind so bedeutsam, daß^
sie eine neue segensreiche Ära in der
Bekämpfung der durch die Entbehrungen
der letzten Jahre fast zur Volkskrankheit
gewordenen Rachitis bedeuten.
Georg Müller.
(Zschr. f. orthop. Chirur. Bd. 39, Heft 4.)
E. Müller und Margar. Brandt be¬
richten über gute Erfahrungen in der
Ernährung des Säuglings mit Fett¬
milch. Gesunde, aber untergewichtige
Säuglinge, auch Kinder in der Repara¬
tion nach Dyspepsien, bei parenteralen
Infektionen, Frühgeburten, gedeihen
größtenteils ausgezeichnet sowohl bei der
Butter-Mehl-Nahrung als auch bei der
,,Sahne-Milch“. Die von E. Müller und
Margar. Brandt nach dem Muster der
Czerny - Kleinschmidtschen Butter-
Mehl-Nahru’ng herg^stellte „Sahne-Milch“
hat folgende Zusammensetzung:
Kuhmilch (etwa 3%) 200 g
Sahne (etwa 20%) . 200 ,,
Wasser. 600 ,,
Mehl.42 „ (geröstet)
Zucker (Koch-) ... 30 „
Bei der Dosierung wurde nicht über
200 g pro Kilo Körpergewicht hinaus¬
gegangen.
Nach den Erfahrungen mit der,,Sahne-
Milch“ werden bei der Butter-Mehl-Nah¬
rung nicht die flüchtigen Fettsäuren für
ausschlaggebend gehalten, sondern der
hohe Fettgehalt. Praktisch erscheint die
Herstellung der Butter-Mehl-Nahrung im
272
Die Therapie der Gegenwart 1920
Juli
Privathaushalte leichter durchführbar;
für Anstalten, wo die Butterration meist
außerordentlich gering, ist vielleicht die
„Sahne-Milch“ leichter herzustellen.
(B, kl. W., Nr. 13.) Feuerhack.
Zur Pathologie und Therapie der
Tintenstift-(Kopierstift-) Verletzungen
schreibt Erdheim: Die Tintenstiftver¬
letzungen, sind für die chirurgische
Therapie von besonderer Bedeutung.
Sie üben an der Stelle der Verletzung eine
schwere Zerstörung der Gewebe aus,
wobei die Schädigung im wesentlichen
auf chemische Einflüsse zürückzuführen
ist. Der Verfasser hat 19 Fälle im Zeit¬
raum von sechs Jahren beobachtet, über
die er berichtet. Meistens war das abge¬
brochene Ende des Kopierstifts bald nach
der Verletzung aus der Wunde entfernt
worden. Trotzdem entwickelten sich bei
einigen Kranken schwere phlegmonöse
Entzündungen, die ausgiebige Einschnitte
erforderten. In diesen, wie auch in den
anderen Fällen, in denen solche Entzün¬
dungen nicht beobachtet wurden, trat
jedoch eine Heilung nicht ein. Vielmehr
bildete sich eine Fistel, welche eine
klarseröse violett gefärbte Flüssigkeit ab¬
sonderte. Die gewöhnlichen chirurgischen
Maßnahmen führten nicht zum Ziele,
sondern es mußte ausnahmslos in allen
Fällen der ganze Herd weit im Gesunden
Umschnitten werden, und auch nach der I
Tiefe alles über den Bezirk, hinaus in dem
sich noch eine Verfärbung der Gewebe
zeigte, entfernt werden. Der Defekt wurde
meistdurch einige Nähte geschlossen. Es
erfolgte dann reaktionslose Heilung. Be¬
sondere Schwierigkeiten bot zunächst
ein Fall, bei dem die Verletzung an der
Fingerbeere des fünften Fingers erfolgt
war. Es wurde in der üblichen Weise
alles violett verfärbte Gewebe entfernt.
Bald nach der Operation trat wieder vio- j
lette Verfärbung der Wunde auf und es
wurde jetzt ein Stück vom Finger weg¬
genommen und schließlich der ganze
Finger exartikuliert. Kurze Zeit hinterher
entwickelte sich auch in dieser Wunde
wieder eine violette Färbung; jetzt wurde
das ganze Gebiet einschließlich des Meta-
carpus V entfernt und ein Okklusivver-
band angelegt. Die Heilung erfolgte nun¬
mehr glatt. Es handelte sich um einen
Fall von Selbstbeschädigung zum Zwecke
der Entziehung vom Militärdienste.
Hayward.
(Arch. f. klin. Chir. Bd. 113, Heft 4),
Ob die Heilwirkungen des Tuber¬
kulins auch auf cutanem Wege zu er¬
zielen sind, ist eine viel umstrittene Frage.
Bekanntlich hat Petruschky eine ent¬
schiedene Wirksamkeit des von ihm in die
Praxis eingeführten Linimentum tuber-
culini compositum behauptet und hat
auQh unter den Ärzten schon zahlreiche
Anhängerschaft gefunden. Neuerdings
berichtet auch Groß mann über sehr
günstige Erfahrungen. Bei Halsdrüsen¬
tuberkulose beobachtete er erhebliches
Schwinden der Drüsentumoren. In ganz
frischen Fällen wurde die Behandlung
mit Linimentum 1:5000 bis 10 000 be¬
gonnen. Bei Hilustuberkulose Jugend¬
licher fiel das ,rasche Aufblühen der bis
dahin meist sehr elenden, ewig kränkeln¬
den Kinder schon in den ersten Wochen
der Inunction auf. Hier fängt Verfasser
gewöhnlich mit Linimentum 1:1000 an,
nur bei stärkeren Schwächezuständen
und Fieberneigung mit 1:5000. Bei
Bronchialdrüsen tuberkulöse Erwachsener
kann man gleich mit Linimentum 1:150
beginnen. Stärkere Konzentrationen
können zur ,,Toxinüberlastung“ (Mattig¬
keit, Appetitverlust, Gewichtsabnahme)
führen. In einem von Großmann er¬
wähnten Falle von Hilustuberkulose Er¬
wachsener ist ein günstiger anatomischer
Heilverlauf trotz schlechten Allgemein¬
befindens während der Kur bemerkens-
I wert, was wohl als Folge lebhafter re-
sorptiver Vorgänge gedeutet werden muß.
Bei offener, fieberfreier Lungentuber¬
kulosebeginnt die Behandlung mit 1:1000,
bei Temperaturerhöhung kam ent¬
sprechend geringere Konzentration in
Anwendung. Verfasser schreibt die Wirk¬
samkeit des Linimentums dem Umstande
zu,' daß die 'Haut im Gegensatz zum
sul3cutanen Gewebe die Fähigkeit hat,
Tuberkelbacillen aufzulösen. Dadurch
gelangen diese in mehr oder weniger voll¬
kommen abgebautem Zustande in den
Säftestrom und an den Tuberkelherd^
ohne vorher durch Antituberkulin ab¬
gefaßt zu werden. Er stellte die Pe-
truschkysche Inunction hinsichtlich der
Wirkung, Billigkeit und Bequemlichkeit
höher als andere specifische Behandlungs¬
methoden. Ohne sich die theoretischen
Begründungen zu eigen zu machen, wird
man doch nach so vielen günstigen Be¬
richten der Tuberkulinsalbenbehandlung
einiges Vertrauen entgegenbringen dürfen.
(M. Kl. 1920, Nr. 20). Kamnitzer (Berlin).
Für die Redaktion verantworthcbi Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Kiempererm Berlin. Verlag von Urb an & Schwarzenberg
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Die Therapie der Gegenwart
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heraussfegeben von Qeh. Med.-Rat Prof. Dr. Q. Klemperer
in Berlin.
August
Nachdruck verboten.
Die Steinachschen Versuche über Verjüngung durch
Beeinflussung der Pubertätsdrüse.
Von Prof. A. Loewy, Berlin.
Die soeben der Öffentlichkeit mitge¬
teilten Untersuchungen Steinachs, die
sich mit der Frage der Verjüngung des
Organismus auf experimentellem Wege
befassen^), stellen ein weiteres Glied in
einer langen Kette von Forschungen dar,
die alle das anatomische Verhalten und
die funktionelle Bedeutung eines beson¬
deren, in den Keimdrüsen beider Ge¬
schlechter sich findenden Gewebes zum
Gegenstände haben, nämlich der soge¬
nannten Pubertätsdrüse.
Diese Bezeichnung ist ganz neuen
Datums, aber auch der Begriff, der da¬
mit bezeichnet werden soll, kann auf
keine lange Vergangenheit zurückblicken.
Steinach benennt als Pubertätsdrüse
-denjenigen Anteil der Hoden und Ova¬
rien, mit denen die innersekretori¬
schen Leistungen dieser Zusammen¬
hängen.
Daß die Keimdrüsen nicht allein der
Fortpflanzung dienen, durch Produkte,
die sie nach Art der gewöhnlichen Drüsen
nach außen abgeben, sondern daß sie da¬
neben auf den Körper mannigfach ge¬
staltend einwirken, daß sie durch innere
Sekrete die beide Geschlechter kenn¬
zeichnenden körperlichen und seelischen
Besonderheiten hervorrufen, ist aus den
der Frühkastration folgenden Erschei¬
nungen und den Wirkungen der Im¬
plantation von Keimdrüsen bei Kastra¬
ten seit längerem bekannt. Aber man
brachte diese sichtbar werdenden Folgen,
sei es der Fortnahme der Keimdrüsen,
sei es ihrer Wiedereinheilung, in Verbin¬
dung mit ihrem generativen Gewebe,
das danach also die doppelte Eigenschaft
einer Drüse mit äußerem und einer mit
innerem Sekret haben* sollte.
Dies ist nun nach den neueren Erfah¬
rungen nicht der Fall. Vielmehr kommen
die Wirkungen, welche nicht mit der
Bildung von Fortpflanzungsprodukten zu
1) E. Steinach, Verjüngung durch experi¬
mentelle Neubelebung der alternden Pubertäts¬
drüse (Berlin 1920, Springer; auch in Roux’ Arch.
f. Entwicklungsmechanik, Bd. 46).
tun haben, auf Rechnung eines ganz be¬
sonderen Bestandteils der Keimdrüsen,
der als anatomisches Substrat der inner¬
sekretorischen Tätigkeit anzusehen ist,
eben der von Steinach sogenannten
Pubertätsdrüse. Sie ist am Hoden leichter
zu erkennen als am Ovarium, und ist in
ihm mit ziemlicher Sicherheit in den von
Leydig entdeckten ,,Zwischenzellen“ zu
sehen, die im Bindegewebe zwischen den
Samenkanälchen eingebettet liegen.
Über die Pubertätsdrüse beim weib¬
lichen Geschlecht bestehen noch einige
Meinungsverschiedenheiten, betreffend
Herkunft und anatomisches Verhalten;
jedoch scheint es, daß es sich hier um
epitheloide Zellen handelt, wie man sie
auch sonst im Drüsengewebe findet, und
die teils aus den Epithelzellen der Mem¬
brana granulosa, teils aus Bindegewebs¬
zellen der Theca interna stammen, daß
sie also aus Follikelmaterial herstammen,
sei es aus obliterierenden Follikeln, sei
es aus bei der Ovulation zum Bersten
kommenden, also aus Zellen des Corpus
luteum.
Daß die innersekretorischen Wirkun¬
gen der Keimdrüsen unabhängig von
•ihrem generativen Anteil sind, daß in den
Keimdrüsen gewissermaßen zweierlei Drü¬
sen nebeneinander gelagert sind, ist durch
mannigfache Beobachtungen und Ver¬
suche erhärtet worden. So führt Unter¬
bindung der Vasa deferentia zum
Schwund des Fortpflanzungsan¬
teils der Hoden unter Erhaltung und
häufig Vermehrung des Zwischen¬
gewebes. Dabei kommen keinerlei
Folgen zur Beobachtung, wie sie der
Kastration eigentümlich sind. Dasselbe
Verhalten findet man bei Kryptorchismus,
dasselbe bei transplantierten und einge¬
heilten Hoden und ähnliches auch bei
röntgenbestrahlten Hoden.
Ebenso ist es beim weiblichen Ge¬
schlecht: bei der Röntgenbestrahlung,
bei der Transplantation geht der eiberei¬
tende Anteil zugrunde, der sogenannte
interstitielle bleibt bestehen oder ver-
35
274
Die -Therapie der Gegenwart .1920
August
mehrt sich, und dabei kommen weder
die anatomischen Folgen der Kastration,
noch die funktionellen Ausfallserschei¬
nungen zur Beobachtung.
Ebenso sprechen für die innersekre¬
torische Bedeutung des Zwischengewebes
die quantitativen Beziehungen, welche
zwischen-seiner Äusbildung und der Wir¬
kung auf die Sexualcharaktere sehr häufig
gefunden worden sind.
Wo das Fortpflanzungsgewebe zu- '
gründe geht—wie bei transplantierten oder
bestrahlten Keimdrüsen —, kommt es
häufig zu einer Vermehrung, einer Hyper¬
trophie des Zwischengewebes. Mit dieser
parallel gehend, wurde nun gefunden bei
männlichen Tieren Steigerung des Be¬
gattungstriebs und stärkere Ausbildung
von Penis und Samenblasen; bei weib¬
lichen gesteigerte Brunsterscheinungen
und — besonders nach Röntgenbestrah¬
lung — Wachsen der Mammae, der Brust¬
warzen, des Uterus, so daß bei bestrahlten
jungfräulichen Tieren diese Teile wie bei
trächtigen ausgebildet erschienen^).
Umgekehrt: wird in ein kastriertes Ti er
nur wenig Keimdrüsensubstanz ver¬
pflanzt oder heilt das Transplantat nur
zumTeil ein,sodaßdielnkretbildunggering
ist, so bleiben auch die sich ausbildenden
Geschlechtsmerkmale mangelhaft ent¬
wickelt, und das körperliche und seelische
Verhalten solcher Tiere gleicht dem von
alternden Tieren, bei denen die inner¬
sekretorische Tätigkeit, die Hormonbil¬
dung der Keimdrüsen nachgelassen hat.
Hier erhob sich nun für Steinach
die Frage, ob es nicht möglich sei, die
innere Sekretion der Keimdrüsen zu ver¬
stärken und da, wo sie im Laufe des
Lebens so schwach geworden ist, daß die
körperliche und psychische Beeinflussung
durch ihr Hormon unzureichend gewor¬
den, Libido und Potenz geschwunden, die
Geschlechtsorgane in Rückbildung be¬
griffen sind, durch Kräftigung der Puber¬
tätsdrüse ihre Wirkung von neuem hervor¬
zurufen.
Wie oben erwähnt wurde, kommt es
zu einer Hypertrophie und damit zu
vermehrter Wirkung der Pubertätsdrüse
beim männlichen Geschlecht durch Unter¬
bindung der Vasa deferentia, bei beiden
Geschlechtern durch Transplantation
junger Keimdrüsen. Steinach prüfte nun
Eine ausführliche Zusammenstellung der
auf die Bedeutung der Pubertätsdrüse bezüglichen
Arbeiten bis 1919 gibt A. Lipschütz, Die Puber¬
tätsdrüse und ihre Wirkungen (Bern 1919).
an senilen Ratten, welchen Einfluß die
Vas-deferens-Unterbindung und die Über¬
pflanzung junger Keimdrüsenstücke
hatte^).
Er fand, daß auf solche Weise es auch
an senilen Tieren zu einer Neubildung
von Pubertätsdrüsen und damit auch der
specifischen Wirkungen dieser kommen
kann.
Unterbindung der Samenstränge führte
anatomisch neben dem Untergang des
samenbereitenden Anteils der Hoden zu
einem Wachstum der Zwischendrüse, und
damit änderte-sich das ganze Verhalten
des Tieres. Die zum Teil kahl gewordenen,
hinfälligen, mit gekrümmtem Rücken da¬
sitzenden, impotenten und geschlechtlich
gleichgültig gewordenen Männchen er¬
hielten die Zeichen der Jugend wieder:
vollen, glänzenden Haarwuchs, straffe
Haltung, vermehrte Freßlust und damit
erneuten Fettansatz und jugendliche For¬
men; sie wurden wieder lebhaft, angriffs¬
lustig, ihre Libido kehrte in verstärktem
Maße zurück, ebensoihrePotentiacoeundi.
Ja, in einem Versuche ging die Wirkung
noch weiter: Hier wurde der Samenstrang
nur einer Seite unterbunden. Das damit
eingeleitete Wachstum der Pubertäts¬
drüse hatte nicht nur die eben beschrie¬
benen Wirkungen, vielmehr vermochte
das Rattenmännchen ein Weibchen zu
befruchten. Nach Steinach hat die
gewucherte Pubertätsdrüse vermocht, den
zweiten Hoden durch ihr Hormon zu
,,beleben“, so daß er vollwertiges Sperma
lieferte. Nach weiteren Versuchen, die
Steinach in. dieser Richtung anstellte,
scheint tatsächlich die Wucherung der
Pubertätsdrüse sowohl zur Verjüngung an¬
derer Organe, wie auch der Samenkanälchen
und der Wiederlterstellung der Sperma-
togenese zu führen. Denn die im Senium
geschwundene subcutane Fettschicht
nimmt wieder zu, die Muskulatur er¬
scheint besser ernährt als sonst bei senilen
Tieren, Samenblasen, Prostata, Penis sind
wieder gewachsen und das spermatogene
Gewebe des Hodens, das, wie erwähnt,
nach Vasdeferens-Unterbindung zunächst
zugrunde geht, bildet sich später wieder
aus und funktioniert von neuem, wie
mikroskopische Untersuchungen ergeben
haben an Tieren, die verschieden lange
Steinach nennt das Verfahren der Samen¬
strangunterbindung, bei der der Körper das neue
Pubertätsdrüsenmaterial aus sich selbst bilden
muß: autoplastische Altersbekämpfung; die
Transplantation, bei der fremdes Material aktiviert
wird: honioplastische.
August
Die Therapie der Gegenwart 1920
275
Zeit nach Unterbindung des Vasdeferens
untersucht wurden. .
Ebenso wie die Unterbindung des
Vasdeferens wirkte die Überpflanzung
jugendlicher Hoden auf die Bauchmuskeln
bei alten, impotenten, Atrophie der Pro¬
stata und Samenblasen zeigenden Ratten¬
männchen und Meerschweinchen. In
zwei Fällen konnte die Verjüngungs¬
wirkung durch Transplantation ein zweites
Mal erzielt, werden, nachdem die der
ersten Überpflanzung abgeklungen war.
Bei alten weiblichen Tieren er¬
reichte Steinach prinzipiell das gleiche
und zwar entweder gleichfalls auf dem
Wege der Überpflanzung (von Ovarien)
oder durch Röntgenbestrahlung der Ge¬
schlechtsorgane. Die atrophisch geworde¬
nen Geschlechtsorgane (Uterus, Ovarien,
Mamma) wachsen von neuem, die lange
erloschene Brunst tritt wieder auf, die
Tiere concipieren und werfen, nachdem
mehr oder weniger lange Zeit Sterilität
bestanden, von neuem Junge.
Die eingetretene Verjüngung ist natür¬
lich vergänglich. Sie besteht einige Zeit,
um dann wiederum den Zeichen des
Greisenalters Platz zu machen. Immer¬
hin kommt durch sie eine Lebens Verlänge¬
rung zustande, die bei Ratten nicht un¬
beträchtlich ist, insofern sie ein Viertel bis
ein Drittel der gewöhnlichen Lebensdauer
ausmachen kann.
Die an Tieren erzielten Erfolge mußten
natürlich dazu auffordern, zu untersuchen,
ob am Menschen ein gleiches Ergebnis
zu erzielen sei, da ja die anatomischen
und physiologischen Grundlagen die näm¬
lichen sind. Diese Versuche hat nach
den von Steinach ausgebildeten Metho¬
den besonders Lichtenstern in Wien
durchgeführt. Beiträge lieferten auch
Mühsam und Kreut er. Es handelt sich
teils um Kranke, bei denen wegen Ver¬
letzung oder Tuberkulose der Hoden
kastriert wurde oder bei denen ein Zu¬
stand von Eunuchoidismus bestand. In
beiden Fällen wurde eine Transplantation
kryptochischer Hoden gesunder junger
Männer vorgenommen, wonach die ein¬
getretenen Zeichen des Alters: Muskel¬
schwäche, Ermüdbarkeit, Trägheit, Ab¬
nahme des Gedächtnisses, Erlöschen der
Libido und Potenz zum Schwinden ge¬
bracht wurden.
Wichtiger als diese Fälle, in denen
es sich um ein durch Krankheiten her-
vorgeriifenens vorzeitiges Senium han¬
delt, sind diejenigen, in denen das natür¬
liche Senium mit Erfolg behandelt wurde.
In dieser Beziehung teilt Steinach drei
von Lichtenstern behandelte Fälle mit,
die einen 44jährigen Arbeiter mit Senium
praecox, einen 66-'und einen 71 jährigen
Mann betrafen. Alle zeigten die aus¬
geprägten Erscheinungen des Greisen¬
tums, bei allen dreien wurden..sie durch
Unterbindung des Vas deferefis zum
Schwinden gebracht. Die allgemeine
körperliche Schwäche nahm ab, die Mus¬
kelkraft hob sich, die mit Muskelarbeit
verbunden gewesene Atemnot machte sich
nicht mehr geltend. Das Haar- und Bart¬
wachstum wurde lebhafter. Auch auf
seelischem Gebiete trat ein Umschwung
ein, indem das Gedächtnis schärfer wurde,
'die geistige Regsamkeit wuchs, das Den¬
ken leichter von statten ging, besonders
aber wurden die Geschlechtsfunktionen
gehoben, die erloschene oder fast er¬
loschene Potenz und Libido wurden wie¬
der wie fti den Tagen der Jugend.
Ähnlich, wenn auch nicht in gleicher
Schärfe hervortretend, waren die Erfolge,
die bei Frauen zwischen 45 und 55 Jahren
durch Röntgenbestrahlung der Ovarien
erzielt wurden; auch hier Beobachtung
einer gesteigerten körperlichen und geisti¬
gen Leistungsfähigkeit neben Verjugend-
lichung der äußeren Formen.
So scheint ein Traum und ein Wunsch
von Jahrhunderten, ein so phantastischer
Wunsch, daß nur die Kunst, nicht die
Wissenschaft sich mit ihm beschäftigten,
plötzlich der Erfüllung nahe gerückt zu
sein, und die Verwirklichung ist um so
höher einzuschätzen, als sie auf sicherer
experimenteller Grundlage beruht und
nicht von theoretischen Erwägungen, viel¬
mehr von praktischen Erfahrungen des
Tierversuchs ihren Ausgang nahm. Die
körperliche und geistige Verjün¬
gung soll' erzeugt werden durch
neue Erotisierung des Körpers
von seiten der Pubertätsdrüse, die
durch experimentell bewährte Vor¬
nahmen zum Wachstum und damit
zur gesteigerten Bildung ihrer
Hormone angeregt wird.
Wenn das möglich sein soll, müssen
natürlich noch funktionierende Reste der
Pubertätsdrüse vorhanden sein. Ist sie
vollkommen zugrunde gegangen, so ist
sie natürlich nicht wieder zu erwecken.
So wäre es zu verstehen, daß in den
Zeiten, in denen die Vas-deferens-Unter-
bindung als Heilmittel bei Prostata-
hypertrophie viel ausgeführt wurde, von
einer ihr folgenden Verjüngung nichts
bemerkt wurde.
35*
276
Die Therkpie der Gegenwart 1920
August
Wir stehen erst am Beginn unserer
Erkenntnis und es wird sich zeigen
müssen, ob nicht Bedingungen bestimm¬
ter Art erforderlich sind, um den Erfolg
zu gewährleisten, und ob die Möglichkeit
der Verjüngung nicht auf einen bestimm¬
ten Kreis von Alterserscheinungen be¬
schränkt ist. Vorläufig haben ,,Ver¬
jüngungskuren“ nach Steinachschen
Prinzipien noch die Bedeutung von Ex¬
perimenten, deren Ausgang nicht voraus¬
sehbar ist. Immerhin werden solche
Experimente, und in nicht geringer Zahl,
nötig sein, um eine Grundlage für die
Aufstellung von Indikationen zu gewin¬
nen, die späterhin als Richtschnur dienen
können, und um Antwort auf eine ganze
Reihe weiterer Fragen, die sich aufdrän¬
gen, zu erhalten. Deshalb wird der Arzt,
wo sein Rat für oder gegen erfordert wird,
bis nach weiterer Klärung der Frage
weder zu- noch abraten, und es dem
Kranken überlassen, ob er — entsprechend
den Tatsachen — es auf die Möglichkeit
einer Besserung durch operativen Ein¬
griff ankommen lassen will, durch einen
Eingriff, der jedenfalls ihm keinen Scha¬
den bringen kann.
Daß die Frage, selbst theoretisch,
noch nicht ganz spruchreif ist, erkennt
auch Steinach, der eine ganze Reihe
weiterer Aufgaben zur experimentellen
Altersforschung aufzählt; Aufgaben, die
er anderen Forschern wird zuj# Lösung
überlassen müssen, da ihm. selbst die
Mittel zu ihrer Durchführung nicht mehr
zur Verfügung stehen.
Aus der Cliirurgiscliea» Uuiversitätsklmik Berlin (G-elieinirat Bier).
Fortschritte auf dem Gebiete der Proteinkörpertherapie.
Die ambulante Casein»(Caseosan»)behandlung chronischer Arthritiden.
Dr. med. Arnold Zimmer.
In der modernen Therapie erzielt
man durch parenterale Zufuhr von che¬
misch-einander sehr fernstehenden Mit¬
teln in ihren Grundzügen oft auffallend
übereinstimmende Wirkungen, die man
alle als. unspecifische Leistungssteige¬
rung (Protoplasmaactivierung) auffassen
kann, eine Theorie, die Weichardt für
die Proteinkörpertherapie aufgestellt hat
und ebenfalls auf andere Stoffe und Vor¬
gänge (Bestrahlung) angewendet wissen
will(l). Seine Arbeiten, die der prak¬
tischen Anwendung weit vorausgeeilt sind,
haben viele Anerkennung gefunden und
gewinnen bei dem schnell anwachsenden
Anwendungsgebiet der parenteralen Pro¬
teinkörpertherapie und ihrer verwandten
Methoden immer mehr an Bedeutung.
Unter den Proteinkörpern ist bisher
am meisten die Milch (unter dem Namen
Aolan und Ophthalmosan) verwendet
worden. Einen großen Fortschritt be¬
deutet die Verwendung von 5 % Kasein¬
lösung. Mit ihr ein chemisch genau de¬
finierbares und dosierbares Mittel in die
Therapie eingeführt zu haben, ist Lin-
digs (2) großes Verdienst. Er hat es,
intravenös injiziert, bisher fast nur bei
gynäkologischen Erkrankungen ver¬
wandt und damit auffallende Erfolge er¬
zielt. Dahingestellt möge dabei bleiben,
inwieweit die theoretischen Erwägungen
zutreffen, aus denen heraus er das Kasein
empfiehlt. Der Firma Heyden, Radebeul,
ist es gelungen, aus dem Kasein eine
ungefähr 5 %ige sterile, haltbare Lösung
in Ampullen zu 1 und 5 ccm herzustellen,
die sie Caseosan nennt. Meine Versuche
zeigen nicht nur die erheblich gesteigerte
Wirksamkeit des Caseosans den Milch¬
präparaten gegenüber, sondern lassen
auch die großen Vorzüge erkennen, die
die intramuskuläre oder subcutane Dar¬
reichung vor der intravenösen bietet.
Die besondere Affinität der Protein¬
körper zu erkrankten Gelenken veran¬
lassen mich, auf diesem Gebiete weiter¬
zuarbeiten. Bei meinen Erwägungen von
der Gelenkstuberkulose ausgehend, wählte
ich zur praktischen Ausführung aus sach¬
lichen und äußeren Gründen zunächst
die unspecifischen chronischen Gelenk¬
erkrankungen (Arthritis deformans, pri¬
märer und sekundärer chronischer Ge¬
lenkrheumatismus, Gicht, ferner Arthritis
gon., usw.) für die in ihrer Vielseitigkeit
das Studium der Wirksamkeit dieser Be¬
handlungsmethode auf die Gesamtheit
des Gelenkzellenkomplexes sich als be¬
sonders geeignet erweisen.
Über gute Erfolge der Milchbehandlung bei
akutem Gelenkrheumatismus berichten schon
1917 Müller (3) und Edelmann (4); auch bei
Arthritis gon, sind gute Erfolgehekannt geworden.
Selbst mit intravenöser Gaseosanbehandlung ist
von Tacge (5) bereits kürzlich ein gutes Resultat
erzielt worden. Leider störte ein darauf folgender
Schock das günstige Bild. Bei chronischen Arthri¬
tiden dagegen ist zwar eine gewisse Beeinflussunge
aber im allgemeinen noch keine befriedigend,
277
August
Die Therapie der Gegenwart 1920
Heilwirkung erreicht worden. Bedeutsamer sind
hier die Erfolge'mit anderen Stoffen: Das San-
arthrit Hei Ine r (6) ist inzwischen vielfach an¬
gewandtworden und seine Erfolge sind in manchen
Fällen sicher unbestreitbar i). Intravenös gegeben
erzeugt es einerseits hohe Fieberreaktionen,
andererseits Herdreaktionen in allen erkrankten
und erkrankt gewesenen Gelenken, denen in ge¬
wissen Fällen eine Besserung der Schmerzen wie
der Beweglichkeit zu folgen pflegt. Ähnliche
. Reaktionen und Heilerfolge werden nach intra¬
venöser Applikation von Jodkollargol (7) und
Kollargol (8) berichtet. Eine ganz neue Arbeit
von De necke (9) beschäftigt sich mit einem Ver¬
gleich der Wirkungen von Sanarthrit und Protein-
' körpern. Dreißig mit Sanarthrit behandelten
Fällen stellt er solche entgegen, bei denen er Milch
(10 bis 20 ccm intraglutäal), Caseosan (intravenös)
und Gonargin verwandt hat. Während allen
gemeinsam die starken fieberhaften Allgemein-'
reaktionen waren, zeigten die mit Caseosan, Milch
und Gonargin behandelten Fälle nicht die gering¬
sten Herdreaktionen. Trotzdem sah Denecke bei
zehn mit Milch behandelten Fällen zweimal deut¬
liche Besserung. Er schließt daraus, daß ein
Parallelismus zwischen dem specifisch (der Theorie
entsprechend) wirkenden Sanarthrit und den un-
specifisch wirkenden Proteinkörpern nicht besteht.
Er anerkennt dem Sanarthrit besonders bei
Arthritis deformans eine bessernde Wirkung, ohne
den Optimismus des Erfinders zu teilen; eine
Restitutio ad integrum erwartet er nicht.
Meine Beobachtungen beziehen sich
ungefähr auf 150 ambulante Fälle, die
ich im Laufe der letzten vier Monate in
der poliklinischen Abteilung der hiesigen
chirurgischen Universitätsklinik behandelt
habe, nebst ungefähr 30 klinischen re¬
spektive privaten Patienten. Meist han¬
delt es sich um Arthritis deformans auf
rheumatischer oder traumatischer Grund¬
lage, Malum coxae senile, einer Anzahl
verschiedener Gichtformen, Arthritis gon.
chronischem und subakutem Gelenkrheu¬
matismus und verschiedenartige Neu¬
ritiden.
Aus den eingangs erwähnten Erwä¬
gungen heraus schien mir die Behandlung
dieser Fälle mit Casein besonders aus¬
sichtsreich, doch zog ich Aolan und
Ophthalmosan zum Vergleich hinzu^).
Das Casein war bis dahin nur in der Freiburger
Frauenklinik zu gynäkologischen Zwecken und
fast ausschließlich intravenös verwandt worden.
Es erzeugte in Dosen von % bis 1 ccm bei Sepsis
und Adnexerkrankungen ungefähr eine Stunde
nach der Injektion Schüttelfrost mit Kopf¬
schmerzen, dem mit Absinken der reaktiven
Temperatursteigerung auch häufig das Fallen
eines vorher bestehenden Fiebers folgte, und
wurde in Abständen von zwei bis drei Tagen zu-
1) Die der Sanarthrit zugrunde gelegte Theorie
setze ich als bekannt voraus.
^) Beide Mittel wiesen dem Caseosan gegenüber
keinen prinzipiellen Unterschied auf, zeigten aber
nur einen kaum angedeuteten Reaktionseffekt,
denen nur eine ganz geringe Heilwirkung folgte.
Sie fielen deshalb für die weiteren Versuche für
mich fort.
sammen drei- bis viermal injiziert. Adnextumoren
zeigten Rückbildung. Der Injektion folgte häufig
eine auffallende Schläfrigkeit. An weiteren Er¬
scheinungen, ist hinzuzufügen: Durstgefühl, trok-
kene Lippen, Gliederschmejzen, Abgeschlagen-
heit, leichte Übelkeit und Schwindelgefühl. Leuk'o-
cytenzählungen ergaben nichts Einheitliches. Ein
schwerer anaphylaktischer Shock wurde sowohl
in der ersten Arbeit von Lindig wie bei dem
bereits oben erwähnten Fall von Taege beschrie¬
ben. Lindig und Arweiler (10) verwandten fast
ausschließlich intravenöse Injektionen, deren Wir-
. kung sie höher als die intramuskulären ein¬
schätzten.
Bei meinen eigenen Versuchen ver¬
ließ ich trotzdem die Methode der intra¬
venösen Applikation, weil mir gerade
bei meinem Krankenmaterial ein so
plötzliches Hineinwerfen des Caseins in
die Blutbahn nicht erforderlich schien
und ich andererseits bei meinem fast
ausschließlich poliklinischen Patienten
mich vor so stürmischen Allgemein¬
reaktionen’ schützen mußte, wie sie die
oben erwähnten Shockerscheinungen dar¬
stellen. Nach einigen Vorversuchen er¬
zielte ich folgende Reaktionen auf die In¬
jektionen, die ich zumeist subcutan unter
die Ruckenhaut gegeben habe: 1. All¬
gemeinreaktionen : leichtes Frösteln,
mäßige Abgeschlagenheit, dumpfes Ge¬
fühl im Kopf, erhöhte Schweißsekretion,
Schläfrigkeit wie leichter Schwindel,
nach einem Schlafmittel, auffallende
Euphorie, bei höheren Dosen manchmal
Ansteigen der Temperatur. 2. Herd-
reaktionen: erhöhte Schmerzhaftigkeit und
akute Entzündungserscheinungen in allen
manifest und latent erkrankten Gelenken
(vergleiche Heilners Mahnungen). Diese
Reaktionen währten bei richtiger Do¬
sierung 12 bis 36 Stunden. Eine Anzahl
der Patienten führte ich außer der Ca-
seosanbehandlung den sonst üblichen
äußeren Behandlungsmethoden zu, wie
Heißluft- und Bewegungstherapie. Denn
in der Regel werden rein mechanische
Hindernisse wieo Adhäsionen und
Schrumpfungsprozesse durch die Injek¬
tionen allein nicht gelöst, sondern höch¬
stens ihre Beseitigung unterstützt wer¬
den können. Heißluftbehandlung allein
konnte in so kurzer Zeit die Erkrankung
nicht entscheidend beeinflussen.
Das wichtigste für die Erfolge der
Caseosanbehandlung und zugleich das
schwierigste ist die geeignete Dosierung
Als Allgemeinregeln gelten: Zu geringe
Dosis ist wirkungslos, zu hohe Dosis
kann kurze Fieberreaktionen (bis "zu
2) Schon Weichardt weist immer wieder auf
die Wichtigkeit der richtigen Dosierung hin.
278
Die Therapie der Gegenwart 1920
August
40 Grad) und außerordentlich heftige
Herdreaktionen erzeugen, die mehrere
Tage anhalten. Durch Injektionen mitt¬
lerer Dosen in und um die erkrankten
Gelenke kann man sehr starke Herd¬
reaktionen unter Umgehung der gleich
starken Allgemeinreaktion hervorrufen.
Aber außerdem hängt die Dosierung
noch von den drei folgenden Faktoren
ab: Erstens verlangen die einzelnen
Krankheitsgruppen eine untereinander
erheblich verschiedene Dosierung. Zwei¬
tens zeigt jeder Organismus auf das Ca-
seovsan eine ihm eigentümliche biologische
Reaktion. Drittens verschiebt sich auch,
diese Reaktionsgruppe bei dem einzelnen
Menschen im Laufet der Behandlung
nach oben oder unten, ohne daß sich
bisher eine bestimmte Regel hat finden
lassen.
Gleiche Allgemein- wie Herdreaktionen
werden bei dem einen mit 0,25 ccm bei
dem anderen mit 10 ccm pro dosi erreicht!
Im allgemeinen erweisen sich mittlere
Dosen am vorteilhaftesten, das heißt
solche, bei denen der Patient entsprechend
seiner Krankheit und seiner Reaktions¬
fähigkeit mit eben merkbarer Allgemein-
wie Herdreaktion antwortet, die nach
12 bis 24 Stunden abgeklungen sind.
Auch gewähren sie eine bequeme am¬
bulante Behandlung. Beim Beginn emp¬
fiehlt es sich deshalb, bei den wöchent¬
lich ungefähr zweimal auszuführenden
Injektionen (die Reaktion soll vor einer
Reinjektion abgeklungen sein), mit einer
Dosis von versuchsweise 1/2 bis 2 ccm an¬
zufangen und sie je nach der Wirkung zu
steigern oder zu vermindern. Die Be¬
schwerden einer zu starken Allgemein-
wie Herdreaktion sind durch Gaben
Aspirin, Pyramiden oder Salipyrin leicht
zu beheben, ohne daß die Wirkung da¬
durch beeinträchtigt' wird. In einzelnen
Fällen haben sich sehr starke Herd¬
reaktionen günstig erwiesen. Doch be¬
darf die Indikationsstellung dazu noch ge¬
nauer klinischer Nachprüfung. Unter¬
schwellige Dosierung erzeugt, nachdem
vorher eine stärkere Reaktion erzielt ist,
insbesondere bei Gicht und Neuritiden
sehr schnelles Nachlassen der Schmerzen,
höhere Dosen bewirken längerdauernde
Entzündungserscheinungen, durch die
man oft erstaunliche Erfolge in der Mo¬
bilisation versteifter Gelenke erzielen kann.
Diese großen Schwankungen in der
Dosierung bilden zwar keine unüber¬
windlichen Schwierigkeiten erfordern
aber eine dauernde Kontrolle der Be¬
handlung und eine Erfahrung, die erst
durch Übung gewonnen werden* kann.
Eine so genaue Einstellung auf die
optimale Dosierung erscheint mir bei
intravenöser Applikation ausgeschlossen,
da jede, nicht berechenbare Überdosie¬
rung schwere’ Schädigungen zur Folge
haben kann, wie die beschriebenen Shock-
erscheinungeti zeigen Da diese Dosis--
Schwankungen sicherliqh auch für andere
Mittel gelten, ist meines Erachtens auch
für sie bei intravenöser Darreichung,
soweit sie darauf mit hohem Fieber re¬
agieren, wie z. B. das Sanarthrit, eine
optimale Dosierung nicht erreichbar und
Fehlerfolge unvermeidlich. Schon aus die¬
sem Grunde werden jene Methoden als
unsicher abgelehht werden müssen, ab¬
gesehen davon daß die höhen Fieber¬
reaktionen nicht oft von einem Patienten
vertragen werden, während wirklich
chronische Prozesse wohl mit keiner
Methode durch wenige Injektionen in
ihre Behandlung abgeschlossen sein
dürften.
Die Resultate meiner klinischen Be¬
obachtungen ergeben in kurzen Umrissen
folgendes Bild^):
1. Subakuter Gelenkrheumatismus
und Arthritis gon. mit äußerst schmerz¬
haften und stark geschwollenen Gelenken
(hohe Anfangsdosis 2 bis 4 bis 6 ccm,
die meist ohne Fieber vertragen wird).
Erste Injektion: fast völliges Verschwin¬
den der Schmerzen zweite bis dritte
Injektion: auch die Schwellung verschwin¬
det; Behandlung abgeschlossen. Ver¬
steifungen nach Gonorrhöe werden nicht
beeinflußt. Akute fieberhafte Prozesse
versprechen eben so gute Resultate, wie
schon die Versuche mit Milch (Edelmann
und Müller)'zeigen. Solche Versuche
habe ich bei der medizinischen Klinik
schon angeregt.
2. Arthritis deformans, monartikulär
oder polyartikulär auf rheumatischer oder
traumatischer Grundlage, mit sehr star¬
ken Schmerzen, besonders nachts und
bei Witterungswechsel (gerade bemerk¬
bare Reaktionen, wobei die Dosis
sehr großen Schwankungen unterliegt.
bis 10 ccm). Nach Einstellung auf
die richtige Dosierung sehr schnelles
Nachlassen des Ruheschmerzes. Nur
bei starken Schrumpfungsprozessen oft
lange mechanische Nachbehandlung, die
mit geringen Caseindosen unterstützt
Alle Dosisangaben beziehen sich auf eine
mittlere, individuelle Reaktionsfähigkeit und
bieten nur einen gewissen Anhalt.
August
Die Therapie der Gegenwart 1920
279
wird. In manchen Fällen erzeugt starke
Herdreaktion, durch Injektion in und
um die erkrankten Gelenke sofortige Be¬
schwerdefreiheit. Bei starken synovialen
Wucherungen ohne allzu kräftige Kapsel¬
schrumpfungen nimmt die Beweglichkeit
bei stärker werdendem Knarren schnell
zu. ln ganz chronischen Fällen ohne
starke Contracturen ist die Wirkung von
plötzlicher völliger Schmerz- und Be¬
wegungsfreiheit oft ganz überraschend.
Auch das* Malum coxae senile reagiert
vorzüglich.
3. Gicht: Für akute Gichtanfälle
fehlte bisher das Material. Bei deutlichen
gichtischen Ablagerungen erzeugen ganz
geringe Dosen (0,2—0,5 ccm) schnell
subjektive Erleichterung, bei kleinen
und mittleren Dösen (0,5—2,0 ccm) sehr
deutliche, länger dauernde Reaktionen
in allen Gelenken, Abnehmen der
Schwellungen. Bei einem Fall von
schwerer alter Gicht mit ganz kompakten
Ablagerungen um alle Gelenke, der schon
lange mit Ameisensäure vorbehandelt
war, erzeugte eine einzige Injektion von
2 ccm Caseosan in einen sich, auf Ameisen,
säure refraktär verhaltenden Herd am
Knie eine ganz enorm schmerzhafte Herd¬
reaktion ohne Fieber. Nach vier Tagen
waren die harten Ablagerungen absceß-
artig weich geworden und bald darauf
zum großen Teil resorbiert. Leider haben
mir bisher ähnliche Fälle zur klinischen
Untersuchung gefehlt. Ein Fall von
schwerem gichtischen Ekzem mit quä¬
lendem Juckreiz ist nach wenigen Injek¬
tionen von bis 1 ccm fast völlig ab¬
geheilt.
4. Der primäre chronische Gelenk¬
rheumatismus mit festen Contracturen
verhält sich trotz hoher Dosen und deut¬
lichen Herdreaktionen meist ziemlich re¬
fraktär, oder es gelingt, in Ruhe den
Schmerz zu lindern, bei stärkeren Bewe¬
gungen und besonders nach Versuch der
Mobilisation treten die alten Beschwerden
wieder auf (vergleiche die Mißerfolge bei
Denecke). Neue Versuche mit Injek¬
tionen in die Gelenke scheinen Erfolg zu
versprechen.
5. Neuritiden (7) scheinen schnell und
günstig beeinflußt zu werden (hohe An¬
fangsdosis, 2 ccm, mit starker Herdreak¬
tion, danach schwache, dicht unterhalb
der Reaktionsschwelle befindliche Dosen.
— y ^—1 ccm). Nach der ersten schwa¬
chen Dosis läßt der Schmerz an den cen¬
tralen Teilen zunächst nach, um, wie die
Patienten übereinstimmend beschreiben,
gegen die peripheren Teile zu hinausge¬
trieben zu werden.
Die Dauer der Behandlung hängt von
den Krankheitsformen ab. Bei subakuten
Fällen kann mit wenigen Injektionen ab¬
geschlossen werden, bei chronischen Fäl¬
len mit starken Gelenksveränderungen
kann nach einigen Injektionen Schmerz¬
freiheit erzielt werden, die, soweit bisher
beobachtet, oft ohne Rezidiv bleibt;
treten doch Rezidive auf, häufig infolge
äußerer Einflüsse (Witterungsumschlag,
kalte Nässe, Erkältungen, Überanstren¬
gungen), so können sie mit wenigen, oft
schon einer Injektion beseitigt werden.
Abschließendes Urteil kann erst nach
längerer Beobachtung gefällt werden.
Meine Versuche bei diesen chronischen
Erkrankungen sind dafür noch zu jung.
Die Methode der subcutanen oder
intramuskulären Caseosanbehandlung ist
noch weit davon entfernt, erschöpft zu
sein. Erst genaue klinische Untersuchun¬
gen werden in vielen Einzelheiten Klar¬
heit bringen. Die Frage der optimalen
Dosierung z. B. bedarf durch weitere,
möglichst klinische Beobachtungen noch
gründlicherer Klärung. Bedeutsam für
die Methode ist die Tatsache, daß ich,
trotzdem ich in manchen Fällen wochen¬
lang 5—10 ccm Caseosan (im Höchstfälle
zusammen 107 ccm) gegeben habe, nie¬
mals die bei einer protrahierten Protein¬
körperbehandlung drohenden Erschei¬
nungen der Anaphylaxie und der pro¬
teinogenen Kachexie 11) erlebt habe. Da¬
gegen muß man sich von vornherein be¬
wußt sein, daß die Proteinkörpertherapie
nicht specifisch wirkt, daß sie vielmehr
auf alle Körperzellen emwTkt, die sich
durch irgendwelche Krankheitsprozesse
in einem erhöhten Reizzustand befinden.
Tuberkulöse Lungenprozesse reagieren oft
sehr intensiv. In einem Falle habe ich
nach 1 ccm eine sehr unangenehme Lun¬
genblutung erlebt. Alte Cholecystitiden
geraten in eine reaktive Entzündung,
und auch bei anderen Krankheitserschei¬
nungen muß man stets daran denken,
daß man mit der Proteinkörpertherapie
immer den Gesamtorganismus trifft und
nicht nur den Krankheitsherd, auf den
man zielt. Trotzdem bildet selbst eine
Lungentuberkulose bei vorsichtiger Do¬
sierung keine absolute Kontraindikation.
Ich glaube, daß die Caseosanbehand¬
lung der chronischen Arthritiden und
ähnlicher Erkrankungen bei vorsichtiger
Anwendung zum wertvollen Rüstzeug
auch des praktischen Arztes werden kann
280
Die Therapie der Gegenwart 1920
August
und die Methoden der intravenösen In¬
jektionen irgendwelcher Stoffe verdrängen
wird, vor'denen- sie den Vorzug der be¬
quemen und ambulanten Ausführung und
die Möglichkeit der optimalen Dosierung
hat Was das Sanarthrit betrifft, glaube
ich ferner, im Gegensatz zu Denecke,
den Beweis des Parallelismus zwischen
ihm und den Proteinkörpern erbracht zu
haben. Damit wird die Theorie der speci-
fischen Wirkung des Sanarthrits hin¬
fällig.
Trotz der guten Erfolge bei den
chronischen Arthritiden halte ich das
Caseosan nun keineswegs für ein Speci-
ficum dieser Erkrankungsformen, son¬
deren diese vielmehr nur für ein zufälliges
Anwendungsgebiet jenes Mittels, das auch
auf allen anderen der Proteinkörper’-
therapie zugänglichen Gebieten Hervor¬
ragendes leisten wird, insbesondere, wo es
bei subciitaner und intramuskulärer An¬
wendung eine optimale Dosierung ge¬
währleistet.' Andererseits bin ich mir aber
dessen bewußt, daß das Caseosan kaum
das Präparat sein wird, dessen Wirkung,
nicht mehr gesteigert werden kann. Im
Gegenteil halte ich es für sehr möglich,
daß noch andere Stoffe gefunden werden,,
die den therapeutischen Anforderungen
noch besser gerecht werden. Nach dieser
Richtung hin liegt noch ein weites Ar¬
beitsgebiet offen. Zurzeit aber gebührt
dem Caseosan die führende Stellung in
der Proteinkörpertherapie.
1. Weichardt (M. m. W. 1920, Nr. 4; 1919..
Nr. 11; 1918, Nr. 22; 1915, Nr. 45; Zschr. f. d.
Neurol. 1914, Bd. 22, H. 4/5. — 2. Lindig (M.-
m. W. 1919, Nr. 33 u. 50. — 3. R. Müller (W.
kl. W. 1917, Nr. 26. — 4. Edelmann (M. m. W.
1917, Nr. 51; W. kl. W. 1917, Nr. 10 u. 16. —
5. Taege (M. m. W. 1920, Nr. 25. — 6. Heilner
(M. m. W. 1916, Nr. 28; 1917, Nr. 29; 1918, Nr. 36.
— 7. I. Voigt (Ther. d. Gegenw. 1919, Nr. 7. —
8. Böttner(M.m. W. 1920, Nr. 12. — 9. Denecke
(Ther. d. Gegenw. 1920, Nr. 6. — 10. Ar weil er,.
Beitrag zur Caseintherapie, In.-Diss., Freiburg
i. Br. 1919. — 11. Schittenhelm und Weich¬
ardt (Zschr. f. Immun. Forsch. 1912, Bd. 14, S.609^
Aus dem Städtischen Krankenhause Moabit in Berlin, I. medizinische Abteilung.
über die Röntgenbehandlung der Pseudoleukämie.
Von Dr. J. Blumenthal.
Während über die Röntgenbehandlung
der Leukämie und ihre Erfolge eine sehr
reichhaltige Literatur vorhanden ist,
existieren nur wenige Veröffentlichungen
über die bei der Pseudoleukämie mit der
Strahlentherapie erzielten Wirkungen. Die
Ursache hierfür ist darin zu suchen, daß
die an und für sich seltenere Erkrankung
meist im Rahmen der Leukämie mit ab¬
gehandelt wird. Von dieser ist das, was
wir unter der eigentlichen Pseudoleukämie
verstehen — nämlich die aleukämische
Myelose und Lymphadenose — ja auch
nur unwesentlich verschieden. Zwischen
beiden Erkrankungen besteht lediglich
ein gradueller Unterschied; daraus folgt
freilich noch nicht, daß bezüglich der
Schwere und Verlaufsdauer wichtige
Unterschiede bestehen. Vielmehr gibt es
sehr chronisch verlaufende Leukämien und
andererseits sehr stürmisch verlaufende
Aleukämien. Man faßt heute allgemein
Leukämien und Pseudoleukämien als ver¬
schiedene Manifestationen derselben
Krankheit auf.
Der Unterschied zwischen Leukämie
und Pseudoleukämie ist also nicht etwa
so aufzufassen, als wenn letztere die
weniger intensive Erkrankung wäre. Trotz¬
dem bestehen zweifellos Unterschiede in
der Strahlenwirkung auf leukämische und
aleukämische Erkrankungen, die be¬
sonders für die Indikationsstellung nicht
gleichgültig sind. Bekanntlich bewirkea
die Röntgenstrahlen bei der Leukämie:
erstens eine Verkleinerung der myeloischea
und lymphatischen Tumoren und damit
die Beseitigung solcher subjektiver Be¬
schwerden, die durch rein mechanische
Behinderungen entstehen und zweitens
die Veränderungen des Blutbildes, die sich
in Abnahme der Leukocyten (besonders
der unreifen Formen), bewirkt durch
Hemmung der pathologischen Mehrbil¬
dung, und in Zunahme der Erythrocyten-
werte und des Hämoglobingehalts do¬
kumentieren. Hierdurch wird eine wesent¬
liche Hebung des Allgemeinbefindens be¬
wirkt, oft kommt es für lange Zeit zur
vollen Arbeitsfähigkeit. Nach Gocht
übersteigt die durchschnittliche Dauer der
Erkrankung auch unter Röntgenbehand¬
lung nicht drei bis vier Jahre; jedoch
sind zweifellos viel länger anhaltende
Besserungen möglich.
Für die Pseudoleukämie ist es von
großer Wichtigkeit, daß eine länger
dauernde Einwirkung der Röntgenstrahlen
auch die normale Leukopoese erheblich
zu hemmen vermag. Selbst Fälle, die
schon mit Leukopenie einhergehen, können
eine weitere Abnahme der Leukocyten er-
Augu'st I Die Therapie der
fahren, was unter Umständen zu bedroh¬
lichen Erscheinungen führen kann.
Kommt es daher im Verlaufe der Bestrah¬
lung zu stärkerer Leukopenie, so ist die
Behandlung zu unterbrechen, da*' es sich
lediglich darum handeln soll, hemmend
auf die Mehrproduktion der weißen "Zellen
einzuwirken, nicht aber subnormale Bil¬
dung zu erzielen.
Die Hebung des Allgemeinbefindens
führt Gocht auf ,,Er>tgiftung des Orga¬
nismus durch Verminderung der Pro¬
duktion toxisch wirkender Substanzen“
zurück; die Verkleinerung der Tumoren
ist eine Böige des durch die Bestrahlung
bewirkten Leukocytenzerfalls am Bil-
dungsoTt.
- Aus der Spezialliteratur über die
Röntgenerfolge bei der Pseudoleukämie
ist besonders die Arbeit von Hoch¬
gürtel hervorzuheben. Dieser stellte 1914
aus der Literatur 43 Fälle zusammen, von
denen jedoch nur 17, also noch nicht die
Hälfte, ein halbes Jahr und länger be¬
obachtet wurden, ln sämtlichen dieser
17 Fälle trat Verkleinerung der pseudo¬
leukämischen Tumoren ein, jedoch nur
bei dreien völlige Rückbildung. Elf dieser
Fälle bekamen nach drei bis acht Mo¬
naten Rezidive, nur vier davon zeigten
auch günstige Beeinflussung des Rezidivs
durch Bestrahlung. Lange • andauernde
Besserungen traten in vier Fällen auf,
jedoch dauerte die längste nur 30 Monate.
Zu berücksichtigen ist, daß die von
Hochgürtel angegebenen Fälle aus dem
Jahre 1903 bis 1910 stammen, zu welcher
Zeit man die moderne Tiefenbestrahlung
noch nicht anwandte; die meisten anderen
der sich übrigens immer nur auf ver¬
einzelte Fälle beziehenden Veröffent¬
lichungen sind für die Beurteilung der
wirklichen Erfolge wegen der ungenügend
langen Beobachtungsdauer nur im be¬
schränktem Maße verwertbar.
Im folgenden beschreibe ich drei
Fälle^) aleukämischer Lymphadenose und
einer aleukämischen Myelose, die alle
drei außerordentlich prompt und günstig
auf die Röntgentherapie reagierten.
Fall 1. Schwester M. H., 42 Jahre alt. Mit
9 und 12 Jahren Luftröhrenkatarrh, hierbei
gleichzeitig starke Drüsenpakete am Hals, die
sich langsam zurückbildeten. Mit 28 Jahren An-
In den Krankengeschichten von Fall 1
(die aus dem Krankenhaus Moabit), von Fall 2
und 3 (die aus dem Institut für Krebsforschung
stammen), befinden sich genauere Angaben über
Technik der angewandten Bestrahlung, die hier
tortgelassen sind.
Gegenwart 1920 ^ 281'
Schwellung am Hals, deren Ursache und Art nicht
einwandfrei feststellbar ist. Bis 1915 bestand
dann im allgemeinen Wohlbefinden, bis Patientin
merkte, daß der Leib stärker und härter wurde,
und daß Drüsenschwellungen in der Leistengegend
auftraten. Es stellten sich Durchfälle und (Quälende
Blähungen ein, die Anschwellung des Leibes
nahm zu und es traten Drüsenschwellungen in der
Axillargegend auf. Im Herbst 1918 Grippe. Im
Januar 1919 traten Durchfälle und Erbrechen
häufiger auf. Der Leib wurde stärker, die vojr
3% Jahren auf getretenen Drüsenschwellungen
am Hals und in der Axilla haben sich bis jetzt
nicht wesentlich verändert.
Aufnahmebefund am 10. September 1919:
Große mittelkräftige Frau in mäßigem Ernäh¬
rungszustände. Gesichtsfarbe gelblich blaß,
Schleimhäute durchblutet. Leib stark aufgetrieben.
Milz und Leber stark vergrößert, bis handbreit
unter den Nabel reichend, hart. Am Hals und
in den Supraclaviculargruben zahlreiche kirsch-
bis pflaumengroße Drüsen, die beweglich sind.
In der linken Axilla drei bis vier pflaumengroße,
in der rechten mehrere größere, gut verschiebliche
Drüsen. Eine große Drüse neben der rechten
Mamma. Röntgenbefund: Leichte Verbreiterung
des Herzens nach rechts und des Gefäßschattens.
Leichte Verschattung der rechten Lungenspitze.
Kein Mediastinaltumor. Wassermann: —. Blut¬
status: rote Blutkörperchen 4 500 000, weiße
Blutkörperchen 5700, Plättchen 500 000, Hämo-’
globin 72%, Polynucleäre 58%, Lymphocyten
36%, Mononucleäre 15%, Eosinophile 1%-:
19. September. Patient, fühlt sich wohl.
Röntgenbefund unverändert. Blutbefund: Poly-
nucl. '42%, gr. Lymph. 25%, kl. Lymph. 27%
Mononucl. 5%, Eos. 1%.
28. September. Beginn der Röntgenbehand¬
lung. Milzbestrahlung von 15 Minuten Dauer.
6, Oktober. Milzbcstrahlung wird fortgesetzt.
Keine Veränderung im Allgemeinbefinden. Blut¬
bild : Polynucl. 42%, gr. Lymph. 28%. kl. Lymph.
26%, Mononucl. 3%, Mastzellen 1%.
13. Oktober. Seit Beginn der MIzbestrahlung
im ganzen sechs Bestrahlungen ä 15 Minuten.
Patientin fühlt sich ziemlich matt.
18. Oktober. Blutbefund: Leukoc. 4000,
Polynucl. 51%, Lymph. 40%, Mononucl. 8%,
Eos. 1%. Seit einigen Tagen wieder Bestrahlung
des Leibes, jedesmal von 30 Minuten Dauer.
25. Oktober. Bestrahlung wird fortgesetzt.
Die Tumoren im Abdomen haben sich ver¬
kleinert, der Leib ist nicht so gespannt. Im An¬
schluß an die Bestrahlung häufig große Mattig¬
keit, sonst allgemeine Besserung des Befindens.
27. Oktober. Letzte Bestrahlung des Leibes.
Die Schwellung des Abdomens ist zusehends
zurückgegangen.
31. Oktober. Die Tumoren im Leib sind fast
völlig verschwunden, Leber und Milz nur noch
wenig vergrößert. Auch die Drüsen haben sich
etwas verkleinert. Hämogl. 60%.
7. November. Andauernde Mattigkeit, sonst
keine Veränderung.
13. November. Hämogl. 65%, r. Blutk.
' 4 080 000, w. Blutk. 2600, Polynucl. 47%, gr.
Lymph. 29%, kl. Lymph. 16%, Mononucl. 8%.
23. November. Noch häufig große Mattigkeit.
28. November. Hämogl. 65%, w. Blutk. 3700.
3. Dezember. Die Tumoren im Leib und die
Drüsen in der Axilla haben sich wieder etwas
vergrößert.
36
282
Die Therapie der Gegenwart 1920
August
8. Dezember. Keine Veränderung. In den
letzten Tagen leichte Temperaturerhöhung. Blut¬
befund: r. Blutk. 4100 000, w; Blutk. 3800,
Hämogl. 75%, Polynucl. 54%, Lymph. 42%,
Eos. 2%, Mononucl. 2%.
11. Dezember. Beginn der neuen Bestrahlungs¬
periode. Es werden ausschließlich Drüsen be¬
strahlt. In den letzten Tagen Durchfälle. Sub¬
jektives Befinden sonst gut, w. Blutk. 4300.
13. Dezember. Bestrahlung. W. Blutk. 4400.
^ 16. Dezember. Bestrahlung. W. Blutk. 4700.
18., 20., 22. Dezember. Bestrahlung. W. Blutk.
3300, subjektives Befinden bessert sich.
24., 29., 31. Dezember. Bestrahlung der
Drüsen am Hals und in der Axilla. Leuk. 4900.
Patientin fühlt sich meist abgespannt. Die Drüsen
in der linken Axilla sind,stark zurückgegangen,
diejenigen in der linken Brustseite sind ganz
verchwunden.
3. Januar. Patientin ist dauernd fieberfrei
und fühlt sich subjektiv wohl. Im Leib sind keine
Tumoren fühlbar, Bestrahlung wird abgeschlossen.
14. Januar. Befund bei der Entlassung aus
dem Krankenhaus: Leib weich, nirgends druck¬
empfindlich. Die Milz ist palpatorisch nicht ver¬
größert, sie überragt auch perkutorisch nirgends
den Rippenbogen. Die Drüsen an beiden Brust¬
seiten sind völlig geschwunden, auch keine Ver¬
größerung der Achseldrüsen feststellbar. Blut¬
befund: Erytroc. 4 100 000, Leuk. 4500. Im
gefärbten Präparat 10% Lymph. Patientin
wird als gebessert entlassen. Patientin machte
kurz nach ihrer Entlassung eine leichte Grippe
durch, wodurch sich ihr Allgemeinbefinden vor¬
übergehend verschlechterte. Ende Februar wurde
weder Milz- noch Drüsenschwellung festgestellt.
Im Blutbild ergaben sich keinerlei Veränderungen
gegenüber dem Abgangsbefund. Im März bekam
Patientin eine Entzündung der Mundschleimhaut,
in letzter Zeit besserte sich das Befinden ein wenig.
Jedoch besteht auch jetzt noch häufig große
Schwäche. Die Temperatur^ ist in letzter Zeit
andauernd normal. Milz- und Drüsenschwellungen
sind bis jetzt noch'nicht wieder aufgetreten.
Fall 2. H. S., 44Jahre. Krankheit begann nach
Angabe des Patienten bereits im Jahre 1910 mit
zunehmender Schwäche und mäßiger Gewichts¬
abnahme. Damals wurde bereits von einem Arzt
eine hochgradige Milzschwellung festgestellt. Auch
wurde Patient damals schon mit Röntgenstrahlen
und Atoxylinjektionen behandelt. Der Erfolg
war aber nur vorübergehend, und das Befinden
des Patienten verschlechterte sich in letzter Zeit
wieder, wenn er auch niemals bettlägerig war.
11. September 1916. Mittelkräftiger Mann, in
mäßigem Ernährungszustand, sehr blasse Ge¬
sichtsfarbe. Röntgenbefund: Linker Ventrikel
dilatiert, Mediastinum frei. Es bestehen keinerlei
Drüsenschwellungen. Milz hart, bis zum Nabel
reichend. Leuk. 10 000. Die klinische und
hämatologische Diagnose lautete damals: aleu-
käm. Myelose. Genauerer Blutbefunde aus
dieser Zeit stehen nicht zur Verfügung.
4. September bis 11. Oktober 1916. 23 Be¬
strahlungen der Milz.
12. bis 21. Oktober. Atoxylkur.
20. bis 27. November 1916. Vier Bestrahlungen.
Im Januar 1917 neun Bestrahlungen, im März
1917 elf Milzbestrahlungen, und im Juli zwölf
Bestrahlungen. Im Februar und Juli 1917 je eine
Atoxylkur.
14. Januar 1918. RöntgenulceraFon an drei
Stellen unterhalb des linken Rippenbogens.
8. März 1918. Die Ulceration ist flacher ge¬
worden.
5. Juli 1918. Die Ulceration ist vernarbt, die
Milzverkleinerung hat angehalten, trotzdem seit
einem Jahr keine. Bestrahlung vorgenommen
werden konnte. Allgemeinbefinden gut. , Blut¬
befund im April 1918: Hämogl. 70%, r. Blutk.
3 600 000, w. Blutk. 8300, Polynud. 78%, Eos.
2Vo, kl. Lymphoc. 13%, Mononucl. 3%, Myeloc.
4Vo- Blutbefund am 6. Januar 1919: Hämogl.
75%, Leuk. 4600, Pol. 79%, Eos. 2%, kl.
Lymph. 12%, Mononucl. 2%, Myeloc. 5%.
17. März 1919. Milz reicht zwei Querfinger
unterhalb Nabelhöhe und überschreitet die Me¬
dianlinie zwei Querfinger nach r. 9600 Leukoc.
Ausgesprochene Poikilocytose, Anisocytose, einige
Normobi., einige Myeloc,
Vom 19. bis 25. März. Sieben Milzbestrah¬
lungen.
26. bis 28. Mai 1919. Drei Milzbestrahlungen.
I. Juni 1919. Blutbefund: Hämogl. 84%,
r. Blutk. 3 700 000, w. Blutk. 9000, Pol. 70%,
Eos. 2%, kl. Lymph. 14%, Mononucl. 6%, Myeloc.
24. bis 26. Juli. Drei Milzbestrahlungen je
40 Minuten. Erhebliche Milzverkleinerung. All¬
gemeinbefinden gut. Im Frühjahr 1920 wurde
Patient mit Salvarsan behandelt und bekam im
ganzen 13 Einspritzungen von 0,15 bis 0,45
steigend. Blutbefund am 5. April 1920: Hämogl.
80Vn, r* Blutk. 4 100 000, w. Blutk. 6900, Polynucl.
77%, Eos. 3%, kl. Lymph. 14%, Mononucl. 4%,
Myeloc. 2%.
Fall 3. R. S., 49 Jahre. Krankheit begann
vor fünf Monaten mit Drüsenschwellungen in der
ersten Fossa supra-clavicularis. Bald darauf
traten Drüsentumoren an beiden Halsseiten auf.
Status präsens: kräftiger Mann in gutem Er¬
nährungszustand. Hauptsitz der Erkrankung:
In beiden Fossae supraclaviculares, am Verlauf
der mm.' sternocleidomastoidei, sowie in beiden
Achselhöhlen und in beiden Leistenbeugen zahl¬
reiche mittelharte, gut verschiebliche Drüsen von
Kirsch- bis Wallnußgröße. Beiderseits vom
Sternum ‘besteht mehrere querfingerbreite
Dämpfung. (Röntgen- und Blutbefunde von da¬
mals stehen leider nicht zur Verfügung. Jedoch
wurde auf Grund dieser Befunde damals die
Diagnose: aleukämische Lymphadenose ge¬
stellt.)
5. bis 17. Dezember 1917. Sechs Bestrahlungen
verschiedener Drüsen. Gleichzeitig Atoxyl-Arsen-
kur Silbe.
28. Januar bis 8. Februar 1918. S^chs Be¬
strahlungen.
II. März 1918. Sämtliche Drüsen, auch die
am Halse haben sich verkleinert.
15. bis 22. März 1918. Sieben Bestrahlungen
je 20 Minuten.
20. März 1918. Die Drüsen sind deutlich
kleiner geworden. Auf der rechten Seite supracla-
vicular befindet sich eine noch etwa kirschgroße,
links eine etwa haselnußgroße. Gewichtszunahme
etwa sechs Pfund.
17. April 1918. Über der linken clavicula
mehrere kirschgroße Drüsen, im ganzen ein Paket
von etwa Taubeneigröße, von mäßiger Härte,
frei beweglich. Einige gleichgroße Drüsen am
linken Unterkiefer, am Kinn und auf der rechten
Halsseite. In der linken Achselhöhle ein Drüsen¬
paket von Kleinkindskopfgröße, ebenso in der
rechten Milz vergrößert. In der Leistengegend
August
Die Therapie der Gegenwart 1920
283
beiderseits kleinere, etwa haselnußgroße Drüsen.
Leuk.: 13 000.
25. April bis 13. Mai 1918. Neun Bestrahlungen.
11. Juni 1918. 65% Lymph.
19. Juni bis 13. November 1918. Neun Be¬
strahlungen von je 20 bis 30 Minuten Dauer.
15. August 1918. Die Drüsen haben sich weiter
erheblich verkleinert. In beiden Achselhöhlen
noch .je ein Paket von Kleinapfelgröße. Sub-
mäxillar- und Supraclaviculardrüsen fast völlig
verschwunden.
-2. Oktober 1918. Patient war sechs Wochen
in der Schweiz. Die Drüsen sind jetzt überall
erheblich mehr angeschwollen, jedoch nicht an¬
nähernd so groß wie zu Beginn der Behandlung.
Das Allgemeinbefinden hat sich nicht verschlech¬
tert. 12 000-Leukocyten.
7. bis 28. Oktober 1918. Zehn Bestrahlungeh
von je 20 bis 30 Minuten Dauer.
26. Novemb>er 1918. Sämtliche Drüsen haben
sich wieder verkleinert. 10 000 Leukocyten. All¬
gemeinbefinden gut.
3. Januar 1919. Blutbefund: Hämogl. 90%,
r. Blutk. 4 450 000, w. Blutk. 12 000, Pol. 41%,
Eos. 2%, kl. Lymph. 31%, gr. Lymph. 19%,
Mononucl. 7%.
2. bis 20. Dezember 1918. Sechs Bestrahlungen.
5. bis 13. Dezember 1919. Acht Bestrahlungen.
17. bis 29. März 1919. Neun Bestrahlungen^
17. März 1919. Die Drüsenschwellungen am
Hals, an der Achselhöhle, in den Leisten haben
sich zwar verkleinert, sind aber immer noch stark.
An der rechten Halsseite eine große Anzahl
weicher, gut verschieblicher, wenig druckempfind¬
licher Drüsen. Ähnlicher Befund an’ der linken
Halsseite. In beiden Axillae je ein faustgroßes
weiches Drüsenpaket. In der rechten Inguinal-
gegend eine pflaumengroße Drüse. Blutbefund:
Hämogl. 90%, r. Blutk. 4 700 000, w. Blutk. 8000,
Pol. 45%, Eos. 6%, kl. Lymph. 28%, gr. Lymph.
18%, Mononucl. 3%.
7. Mai 1919. Die Drüsen haben sich außer¬
ordentlich verkleinert. An beiden Halsseiten nur
noch einzelne weiche, gut verschiebliche kirsch¬
große Drüsen.
7. bis 17. Mai 1919. Acht Bestrahlungen.
4. bis 14. Juli 1919. Acht Bestrahlungen.
2. September 1919. Die Drüsen sind überall
völlig zurückgegangen.
2. bis 12. September 1919. Acht Bestrahlungen.
1. Oktober 1919. Blutbefund: Hämogl. 90%,
r. Blutk. 4 530 000, w. Blutk. 7900, Pol. 51%,
Eos. 3%, kl. Lymph. 34%, gr. Lymph. 9%, Mono¬
nucl. 3%. Patient ist seit dieser Zeit nicht wieder
bestrahlt worden. Sein gutes Befinden hielt trotz¬
dem^ bis vor kurzem an, wo im Anschluß an ein
Gesfchtserysipel wieder eine geringe Drüsen¬
schwellung rechts supraclavicular auf trat, die sich
aber bereits wieder zu verkleinern beginnt. Der
Blutbefund hat sich seitdem nicht wesentlich
verändert. Am 25. Februar betrug die Zahl der
weißen Blutkörperchen 7600 und die Lympho-
cytenprozentzahl 40.
Im ersten Falle bestand nach sehr
rascher Rückbildung der Tumoren und
Besserung des Blutbildes und Allgemein¬
befindens nach einem halben Jahre noch
völlige Rezidivfreiheit. Fall 2 (aleukä¬
mische Myelose), dessen Krankheitsbe¬
ginn bereits zehn Jahre zurückliegt, zeigte
dauernde günstige Beeinflussung des
Blutbildes und Allgemeinbefindens, auch
bei den mehrmals aufgetretenen Rezidiven,
während der enorme Milztumor sich
immer nur bis zu einem bestimmten Grade
verkleinerte. Jedoch ist die lange und
milde Verbufsart dieses Falles vielleicht
nicht allein auf Konto der Strahlenbe¬
handlung zu setzen, sondern der an und
für sich relativ gutartigen Erkrankung
zuzuschreiben. Fall 3 zeigte eine allmäh¬
liche aber zielsicnere Verkfeinerung der
Drüsentumoren, sowohl bei der ersten
Behandlung im Winter 1917/18, wie auch
eines im Oktober 1018 aufgetretenen
leichten Rezidivs. Günstig war auch hier
Wirkung auf Blutbild und subjektives
Befinden.
Alle drei Fälle zeigen die eingangs er¬
wähnten Röntgenwirkungen in außer¬
ordentlichem Maße. Darüber hinaus ist
zu ersehen, ‘daß eine viel längere Besse¬
rung der Krankheitserscheinungen mög¬
lich ist, als nach den in der Literatur mit¬
geteilten Fällen anzunehmen war. Im
Widerspruch zu den meisten dieser Mit¬
teilungen steht auch die günstige Beein¬
flußbarkeit der Rezidive. In Fall 1, der
mit starker Leukopenie einherging, mußte
mit der Behandlung besonders vorsichtig,
und unter sorgfältiger Kontrolle des Blut¬
bildes vorgegangen werden.
Bei der Myelose genügt im allgemeinen
die Bestrahlung der Milz (die .in sechs
Felder eingeteilt wird), von wo aus offen¬
bar eine günstige Beeinflussung des ge¬
samten myelopoetischen Systems mög¬
lich ist. Die Lymphadenosen erfordern
eine isolierte Bestrahlung der einzelnen
Krankheitsherde. Man benutzt heute
ausschließlich harte Strahlen, die infolge
ihres stärkeren Durchdringungsvermögens
auch auf tiefere Partien einzudringen ver¬
mögen. Längere Zeit fortgesetzte Be¬
strahlungen mit kleinen Dosen ergeben
günstigere Resultate als intensive lang¬
dauernde Einzelbestrahlungen. Es wur¬
den einzelne Bestrahlungsperioden von je
nach Allgemeinbefinden und Wirkung
verschiedener Dauer in vierwöchigen Zwi¬
schenräumen vorgenommen. Die Gesamt¬
zahl 'dieser Bestrahlungsperioden hängt
natürlich von dem Verlauf und der Be¬
einflußbarkeit des Leidens ab. Kontra¬
indikationen gegen Fortsetzung der Be¬
strahlung sind Zunahme der Anämie und
schwere Störung des Allgemeinbefindens,
sowie ein zu intensiver Leukocytensturz,
wenn er zu hochgradiger Leukopenie
führt.
36*
284
Die Therapie der Gegenwart 1920
‘ August
Immerhin bedeutet eine noch so lange
andauernde Rezidivfreiheit keineswegs
eine völlige Heilung. Jederzeit kann
selbst nach mehrmals erfolgreicher Rezi¬
divbehandlung eine akute Verschlimme¬
rung auftreten, die jedeY weiteren Beein¬
flussung trotzt. Und erfahrungsgemäß
tritt dies im Verlaufe Jeder Leukämie und
_
Pseudoleukämie einmal ein. Trotzdem
bleibt' die Möglichkeit einer jahrelangen
Lebensverlängerung und lange anhalten¬
der Symptomfreiheit bestehen; dadurch
wird die Röntgentherapie zur wirksam¬
sten Waffe gegen dieses Leiden ge¬
stempelt.
Erfahrungen mit künstlicher Höhensonne.
Von Dr. med. Frhr. v, Sohlern (Stuttgart).
Da man gelegentlich noch immer bei
manchen Kollegen auf arge Skepsis be-
, züglich der Höhensonnenerfolge bei recht
verschiedenartigen Krankheiten stößt,
möchte ich im, folgenden kurz über meine
Erfahrungen Berichten.
Was zunächst die Technik betrifft, so mache
ich fast ausschließlich Ganzbestrahlungen bei
völlig geöffneter Lampe, entweder täglich oder
jeden zweiten Tag. Ich beginne mit fünf Minuten
auf jeder Körperseite bei einem Meter Lampen¬
abstand und gehe dann langsam jeweils um einige
Minuten (drei bis fünf) und 5 bis 10 cm von Tag
zu Tag fortschreitend, bis auf je 15 Minuten und
40 bis 50 cm Lanipenabstand. Die Schnelligkeit
des Näherrückens usw. richtet sich nach der je¬
weiligen Empfindlichkeit der Haut. Innerhalb
einer Woche läßt sich bei täglichen Bestrahlungen
meist der definitive Abstand von 40 bis 50 cm bei
zweimal 15 Minuten Bestrahlungsdauer erreichen.
Bei sehr empfindlichen Patienten muß man
eventuell langsamer Vorgehen.
' Die Beschwerden bei etwa eintretendem
Erythem sind zwar nicht allzuschlimm, aber
doch lästig und namentlich bei empfindlichen und
nervösen Individuen störend. Hier ist also be¬
sondere Aufmerksamkeit geboten. Bei einiger
Vorsicht und Berücksichtigung der Eigenheiten
der Patienten läßt sich aber die Belästigung meist
leicht vermeiden. Geringe Grade des Erythems
werden durch Pudern (Salicylpuder), nicht durch
Einfetten oder Waschen, bekämpft; dadurch wird
der Juckreiz gelindert. Nur in ganz seltenen
Fällen kommt es trotz aller Vorsicht zu stärkeren
Reaktionen, die dann allerdings recht unangenehm
sind, besonders weil durch den Juckreiz dann auch
der Schlaf gestört wird. Gang aufgegeben habe
ich aber deswegen die Bestrahlungen auch bei
solchen Fällen nicht. Man macht dann längere
Pausen zwischen den einzelnen Bestrahlungen,
bleibt mit der Lampe weiter weg usw., dann geht
es meist ohne weitere Störungen, und die Bestrah¬
lungen werden gut vertragen. In einem Fall,
merkwürdigerweise bei einer Patientin mit dunk¬
lem Haar, beobachtete ich nach den ersten Licht¬
bädern ein sehr starkes, juckendes, papulöses
Exanthem, das aber nach etwa acht Tagen
verschwand. Von da ab wurden die Bestrah¬
lungen gut vertragen.
Die Wirkung täglicher oder wenigstens jeden
zweiten Tag vorgenommener künstlicher Sonnen¬
bäder ist bei inneren Krankheiten im allgemeinen
entschieden besser, als die selteneren Applikationen,
bei denen wenig oder nichts herauskommt. Nach¬
dem ich anfänglich meist 20 Bestrahlungen in einer
Serie gab, nehme ich jetzt für gewöhnlich 30 Be¬
strahlungen als Minimum, da ich die Beobachtung
gemacht zu haben glaube, daß dann die Wirkung
kräftiger und nachhaltiger ausfällt. Viele Patienten
geben zwar schon nach wenigen Sonnenbädern an,
daß sie sich frischer, kräftiger und wohler fühlen,
häufig aber setzt diese erfreuliche Allgemeinwirk-ung
erst nach der zehnten bis zwölften Bestrahlung,
bei nervösen und blutarmen Patienten oft auch
erst noch später, nach der 15. bis 20. Betrahlung
ein. Über 40 Bestrahlungen in einer Serie bin ich
bisher nur bei tuberkulösen Drüsen- und Gelenk¬
erkrankungen und bei einem Falle von Apicitis
gegangen, der ’ mir entschieden günstig zu rea¬
gieren schien.
Ein sorgsamer Augenschutz durch Brillen ist
nicht zu vernachlässigen. Bei Patienten, die keine
Pigmentierung im Gesicht wünschen, kann man
dieses mit einem Tuch abdecken.
Mein Material besteht fast nur aus
intern^en Fällen. Das Hauptkontingent
stellen asthenische, nervöse, neur-
asthenische und chlorotisch-anämi-
sche Kranke. Bei diesen Kategorien
sowie bei Erschöpfungszuständen
kommt die anregende und belebende
Wirkung der Höhensonne sehr schön zur
Geltung. Die Patienten fühlen sich bald
frischer und spannkräftiger, der Appetit
hebt sich -und vor allem wird etwaige
Schlaflosigkeit sehr günstig beein¬
flußt. Auch etwa vorhandene Schmerzen
(Kopf- und Gliederweh und dergleichen)
verschwinden meist bald. Objektiv äußert
sich die Besserung in frischerem Aussehen,
allgemeinem Ruhigerwerden, der Puls
wird voller, das Gewicht steigt. Günstig
ist die Wirkung vor allem auch auf angio-
neurotische Zustände (kalte lind
feuchte Hände und Füße, Wallungen,
Frösteln und dergleichen). All das ver¬
geht meist rasch und macht einem allge¬
meinen behaglichen Wärmegefühl Platz;
auch nervöse Schweißausbrüche
bessern sich. In einem Falle von Anämie
mit migräneartigen Kofschmerzen
hörten diese während der Bestrahlungs¬
kur fast ganz auf, setzten aber leider bald
darauf mit erneuter Heftigkeit ein. Eine
Weiterbehandlung war aus pekuniären
Gründen nicht möglich. Auch bei ner-
August
Die Therapie der Gegenwart 1920
285
vösen Erregungszuständen sind die
Bestrahlungen recht gut brauchbar. Sie
wirken hier allgemein beruhigend. ln
einigen Fällen mit nervös^em Zittern,
/leichten hysterischen und epilepti-
formen Anfällen konnte ich wesent¬
liche Besserungen erzielen.
Sehr auffallend ist die Tatsache, daß
die bei Chlorotischen und Anämischen'so
häufigen Menstruationsstörungen
(Dysmenorrhöen, Unregelmäßigkeiten,
Menorrhagien usw.) fast ausnahmslos
unter der Höhensonne sich bessern. Die
Menses werden unter ihrem Einfluß
regelmäßiger, schmerzlos und dauern kür¬
zer. Allerdings hält dieser Erfolg in vielen
Fällen leider nicht sehr viel länger an als
die Kur dauert, wenn sich nicht gleich¬
zeitig der Allgemeinzustand entsprechend
hebt. Ein Einfluß der Bestrahlungen auf
die Menstruation und überhaupt auf die
Genitalorgane aber scheint mir sicher
vorhanden zu sein. So wurden mehr¬
fach Endometritiden nachhaltig
gebessert. Der Ausfluß verringerte
sich und verschwand dann ganz.
Auch eine Erhöhung -der Libido
tritt häufig ein.
Auchbei Pyelitiden und Cystitiden
scheint mir die Höhensonne günstig zu
wirken. Die Schmerzen schwinden hier
fast ausnahmslos rasch. Entsprechend
bessert sich der U'rinbefund.
Die .blutdruckherabsetzende Wirkung
der ultravioletten Strahlen läßt sich bei
chronischen Nephritiden und bei der
Arteriosklerose mit Nutzen verwen¬
den. Ich habe in den meisten Fällen, aber
nicht immer, bei Arteriosklerotikern den
erhöhten Blutdruck um 10—20 mm Hg
herunterbringen können, was sich im
subjektiven Befinden der Kranken natür¬
lich auch durch eine Besserung, nament¬
lich durch Schwinden des lästigen Kopf¬
drucks und ähnlicher Beschwerden ange¬
nehm bemerkbar macht.
Auch in der Rekonvaleszenz nach
schwächenden Erkrankungen, na¬
mentlich nach angreifenden Darmkatar¬
rhen, Ruhr und dergleichen sind die Be¬
strahlungen von gutem Erfolg.
Recht beachtenswert sind endlich die
Erfolge, die man mit der Höhensonne bei'
Emphysem, Bronchitis und Asthma
erzielen kann. Eine Be’sserung tritt hier
fast ausnahmslos ein. Sie besteht in einer
allgemeinen Erleichterung der Atmung,
einem müheloseren Abhusten des Aus¬
wurfs und in einem Seltenerwerden oder
Verschwinden der' asthmatischen Be¬
schwerden und Anfälle.
Nervöse Magenbeschwerden, na¬
mentlich solche im Gefolge von Sekre¬
tionsanomalien, sah ich mehrfach während
Höhensonnenkuren verschwinden.
Viel empfohlen werden die Bestrah¬
lungen bei Anämie und Chlorose. Zahl¬
reiche Untersuchungen un^er anderen
solche aus neuester Zeit von Traugott
in Nr. 12 der M. m. W. haben indes er¬
geben, daß eine Beeinflussung der roten
Blutkörperchen durch die ultravioletten
Strahlen nicht stattfindet. Bezüglich des
Hämoglobingehalts fand ich zwar
bisweilen Steigerungen um 10—15%,
doch schiebe ich dies mehr auf Wirkung
des gleichzeitig gegebenen Eisens oder
Arseris.
Überhaupt habe ich bei den bisher
genannten Krankheiten die Bestrahlun¬
gen meist zusammen mit den entsprechen¬
den Medikamenten oder anderen thera¬
peutischen Maßnahmen gegeben, indem
ich sie als wertvolles Unterstützungs¬
mittel für die altbekannte Therapie ansah
oder sie zur Bekämpfung bestimmter
Krankheitssymptome benutzte. In
diesem Sinn angewandt aber hat mir die
Höhensonne fast ausnahmslos die Wirkung
der übrigen Theräpie vertieft und be¬
schleunigt. Einen glatten Mißerfolg habe
ich eigentlich quoad Allgemeinwirkung nur
einmal bei einer nervösen Patientin,
bei der die psychische Causa movens
ununterbrochen fortwirkte, erlebt.
Wenig genützt haben mir ferner die
Bestrahlungen bei hartnäckigen Rheu¬
matismen, jedenfalls konnte ich hier
keine bessere Wirkung konstatieren als
mit der üblichen, allgemein bekannten
Therapie.
Ausschließlich und zwar mit sehr
schönem Erfolge habe ich die Höhensonne
angewendet bei tuberkulösen Drüsen,
Fisteln, Geschwüren und kalten
Abscessen. Hier ist ihre Wirkung tat¬
sächlich verblüffend. Die Drüsen ver¬
schwinden oder werden kleiner, nach an¬
fänglich stärker werdender, dann allmäh¬
lich versiegender Sekretion schließen sich
die Fisteln mit festen und kosmetisch
sehr guten Narben, inzidierte Abscesse
heilen rasch und mit glatten Narben.
Ein Fall mag hier näher beschrieben werden,
bei dem die Wirkung besonders eklatant war.
Ein fünfmarkstückgroßer Hautabszeß, der von
anderer Seite ein Jahr lang mit allen möglichen
Salben nutzlos behandelt worden war, heilte nach
Entfernung der schmierigen Granulationen und
286
Die Therapie der ©egenwart 1920
August
der lose übergewachsenen Hautränder bei offener,
nicht verbundener Wunde unter der Höhensonne
in etwa drei Wochen vollkommen und mit fester
Narbe. Dabei hob sich der Allgemeinzustand der
Kranken in schönster Weise. Sie hatte an zahl¬
reichen Stellen noch kleinere Abscesse, Drüsen und
suspekte Lungen, und kam in derartig herunter¬
gekommenem Zustande, noch durch Diarrhoen
geschwächt, zu mir, daß sie kaum gehen und
stehen konnte. Sie wog im Beginn der Behand-
rüng 38,6 kg bei 158 cm Körperlänge! Bereits
nach drei Wochen machte sie ohne mein Wissen
einen Ausflug von etwa vier Stunden Fußmarsch.
Nach zwei Monaten hatte sie 6,2 kg zugenommen,
fühlte sich vollkommen wohl, machte weite
, Spaziergänge, cfie Drüsen v/aren fast alle ver¬
schwunden, die Abscesse sämtlich ^geheilt und
gut vernarbt. Die Kranke nahm dann noch einen
längeren Aufenthalt im Allgäu und ejfreut sich
heute nach etwa einem Jahre völligen Wohl¬
befindens.
In einem Fall von tuberkulöser Erkran¬
kung am Fußgelenk (Fungus) bei einem
dreijährigen, sonst gesunden Kinde habe ich
neben den Bestrahlungen nach den Empfehlungen
von Bier und Kisch (Zschr. f. phys. diät.
Ther. 1915, Aug.) Stauung und Jodmedikation an¬
gewandt. Der Erfolg ist bis jetzt recht gut. Die
äußeren Erscheinungen (Schwellung, Rötung,
Schmerzen, völlige Unbrauchbarkeit)'’ sind ver¬
schwunden. Das Kind, das früher nur auf den
Knien herumrutschte, kann jetzt, allerdings hin¬
kend, ganz gut gehen. Klinisch ist also die Besse¬
rung bedeutend, röntgenologisch war aber nach
einvierteljähriger Behandlung der etwa hasel¬
nußgroße Herd in der Tibia nur wenig ver¬
ändert. Die Behandlung wird noch fortgesetzt.
Ein Nachteil derselben ist hier ent¬
schieden die meist monatelange Dauer
und damit die Kostspieligkeit des Ver¬
fahrens. Bei den tuberkulösen Knochen-,
Gelenk- und Drüsenerkrankungen habe
ich gewöhnlich täglich eine Stunde lang
bestrahlt.
Von einer wesentlichen Beeinflussung
derLungenphthise konnteich riiich bis¬
her nur in einem Fall überzeugen, der
entschieden unter längerer Strahlenbe¬
handlung subjektiv und objektiv Besse¬
rung zeigte. In allen anderen Fällen aber
schien mir der tuberkulöse Lungenprozeß
wohl kaum berührt zu werden. Trotzdem
haben aber selbst weit vorgeschrittene
Fälle von den Bestrahlungen wenigstens
subjektiv insofern noch Vorteil, als sich
auch da noch das Allgemeinbefinden hebt
und eine gewisse Euphorie eintritt, die
dem Kranken neue’Hoffnung gibt. Ob¬
jektiv läßt der Husten nach, auch die
Nachtschweiße verschwinden zuweilen,
die Kranken schlafen besser, atmen leich¬
ter und bekommen regeren Appetit. Es
wird also eine ßesserung wenigstens vor¬
getäuscht, was bei solchen desolaten Fällen
immerhin von hohem .Wert sein dürfte."
Ein Schaden könnte höchstens bei Nei-'
gung zu Haemoptoe erwartet werden; so- ^
mit kann man die Bestrahlungen ruhig '
auch bei schweren Fällen machen, min¬
destens vom Standpunkte der Psycho¬
therapie aus: ut aliquid fiat.
In einem Falle sehr vorgeschrittener
Phtise, den ich auch solaminis causa noch
bestrahlte, ging nebenbei ein schon lange
bestehender, sehr ausgedehnter G esi ch ts-
lupus überraschend schnell zurück.
Bei Lungenspitzenkatarrh und
suspekten Lungen ohne Bacillenaus-
wurf ist eine Kur mit Höhensonne sicher
zu empfehlen, schon weil durch die An¬
regung des Appetits und die dadurch ver¬
mehrte Nahrungsaufnahme günstigere (Je-
samtverhältnisse geschaffen werden.
Außerdem verschwinden etwa vorhan¬
dene Beschwerden, wie Husten, Stiche,
Nachtschweiße, Mattigkeit und der¬
gleichen.
Von äußeren Erkrankungen habe
ich nur einmal einen Fall von Sykosis
barbare und eine Gesichtsacne mit
Höhensonne lokal behandelt. • Bei dem
ersteren heilten die oberflächlichen Herde
gut ab, die tiefen, infiltrierten' Partien
dagegen verhielten sich refraktär. Auch
bei der Acne war der Erfolg nur vorüber¬
gehend.
Alles in allem kann also die künstliche
Höhensonne als ein gutes, bequemes, an-
geneinnes und gefahrloses Hilfsmittel in
der Therapie zahlreicher innerer Erkran¬
kungen empfohlen werden. Ihre Wirkung
beruht wohl im wesentlichen mehr auf
einer indirekten Beeinflussung des Ge¬
samtorganismus, durch Anregung des Blut¬
umlaufs und des Stoffwechsels von der
Hautaus. Vielleicht könnte man auch an
eine direkte Wirkung auf bestimmte Teile
des Nervensystems (Sympathicus) denken.
Endlich scheinen einzelne Organe (Nieren,
Genitalorgane) vielleicht besonders auf
die Strahlen zu reagieren. Wenn aber
auch all diese Fragen noch keineswegs
genügend und befriedigend geklärt sind,
so kann man sich doch schon vorläufig
der empirisch gewonnenen, günstigen Er¬
fahrungen freuen und sie zum Heile der
Kranken benutzen.
1 ' 1
August Die Therapie der Gegenwart 1920 ^ 287
Aus dem Tierpliysiologisclieu Institut der Landwirtscliaftliclien Hocliscliule und dem
Organischen Laboratorium der Technischen Hochschule in Berlin.
Über arekolinartig wirkende Verbindungen (Cesol).
Von A. Loewy und R. Wolffenstein.
Das Arekolin, das Hauptalkaloid der
Arekanuß, besitzt eine Reihe ausge-
sprochene'r Wirkungen; es erregt die
glatte Muskulatur des Darmes, es ist
Speichel- und schweißtreibend und führt
zur Contraction des Sphincter pupillae.
Diese Eigenschaften befähigen es zu aus¬
gedehnter pharmakologischer Verwen¬
dung, indem es als Anthelminticum und
als Mioticum gebraucht werden kann,
ferner besonders in der Veterinärpraxis
bei der sogenannten Kolik der Pferde,
das heißt bei Zuständen von Darmatonie.
In der Kriegszeit trat nun, .wie auf
so vielen anderen Gebieten, ein Mangel
an dem Alkaloid ein. Bei der Wichtigkeit
des Indikationsgebietes suchte man dafür
Ersatz zu schaffen und auf synthetischem
Wege zu arekolinartig wirkenden und
'technisch leicht zugänglichen V'erbindun-
gen zu gelangen.
Diese synthetischen Versuche arbei¬
teten in erster Linie auf die Darstellung
möglichst einfach zusammengesetzter
Verbindungen hin, -welche, ohne den ge¬
samten Atomkomplex des Arekolins zu
enthalten, gerade den pharmakologisch
wirksamen Teil desselben herausgeschält
umfassen sollten.
Das Arekolin ist seiner chemischen
Konstitution nach der N-Methyl-zi|S-tetra-
hydro-/?-pyridincarbonsäuremethylester:
CH
COOCH3
N
CH3
Arekolin
Die Arekolinformel weist nun als
einfachsten charakteristischen zugrunde
liegenden Kern auf den Nicotinsäure¬
methylester hin.
So wurde zunächst dieser pharma¬
kologisch untersucht. Hierbei erwies sich
aber der Ester als gänzlich unwirksam.
Er besaß keine der verschiedenen aus¬
geprägten Wirkungen des Arekolins.
Nun unterscheidet sich das Arekolin
von dem Nicotinsäureester unter anderem
weiterhin durch das Vorhandensein einer
N-Methylgruppe, die sich oft in wirk¬
samen Alkaloiden vorfindet. So wurde
versucht, diese Gruppe in den Nicotin¬
säureester einzufügen. Die Einführung
ließ sich aber wegen der tertiären Nafur
des Nicotinsäureesters nicht durch Sub¬
stitution erreichen, sondern - nur durch
Anlagerung mit Hilfe der Bildung quater¬
närer Salze. Es wurde also der Nicotin¬
säuremethylester in sein Chlormethylat
übergeführt und rein dargestellt. Diese
Verbindung erhielt den Namen Cesol
CH CH
Hc/%c—COOCH3 Hc/'^c—COOCH3
HC\^CH HC\,_^CH
N N
Nikotinsäuremethylester /\
HgC CI
Nikotinsäuremethylester-
chlormethylat (Cesol)
Hier trat nun mit einem Schlage der
gewünschte pharmakologische Erfolg ein,
vornehmlich die speicheltreibende Wir¬
kung, der drastische.Einfluß auf die glatte
Muskulatur des Darmes, und als weiteres
erwünschtes Moment kam eine dem Are¬
kolin gegenüber stark herabgesetzte Gift¬
wirkung hinzu.
Interessant ist, daß die arekolinartige
Wirkung beim tertiären Nicotinsäure¬
methylester in keiner W-ise vorhanden
ist, sondern erst beim Übergang in das
quaternäre Chlormethylat auftritt.
Das Cesol bewährte sich nun bei der
Bekämpfung der Pferdekolik als ein
brauchbares arekolinartig wirkendes Mit¬
tel. In der Humanmedizin kann es nach
verschiedenen Richtungen verwandt wer¬
den; es wirkt als speichelförderndes,
durststillendes Mittel bei pathologischen
Durstzuständen, worüber schon Publi¬
kationen von den Herren Umber
und Decker 2) vorliegen. Über seine
Wirkung bei Zuständen von Darmatonie
wird von besonderer . Seite publiziert
werden.
Die Wirkung des Cesols unterscheidet
sich von der des Arekolins vornehmlich
iri quantitativer Hinsicht. BeiVersuchen an
Kaninchen waren, um eine ausgesprochene
Arekolinwirkungzu erzielen, 2 cg, subcutan
beigebracht, erforderlich. Beim Arekolin
beginnt die specifische Wirkung bei 5 mg;
aber während bei letzterem 12 bis 15 mg
bereits tödlich wirken, konnten vom
h 'Umber, Therapie der Gegenwart, 1919,
Heft 4.
2) Decker, Münch, med. Wochenschr. 1919,
Nr. 52.
28^' ' Die Therapie der
Cesol 2000 mg ohne Schädigung injiziert
werden. —
Das Cesol ist ein Derivat der Nicotin¬
säure, während das Arekolin sich von
einer hydrierten Nicotinsäure ableitet.
ln der Pyridinreihe zeigen nun die
reduzierten Verbindungen vielfach tine
Verstärkung der physiologischen Wirk¬
samkeit, und es wurde in dieser Erwar¬
tung auch hier eine dem Cesol ähnliche
voll hydrierte Verbindung dargestellt
CH2
H,c/\cH—COOCHj
H2C\/CH2
N
/l\
CI CH,5 CH3
die den Namen „Neu-Cesol“ erhielt.
Diese zeigt in der Tat die Eigen¬
schaften des Cesols schon in kleinerer
Dosis, so daß z. B. beim Kaninchen be¬
reits 5 mg schwach wirksam waren,
während 2 cg höchst energisch wirkten.
Bei einem derartigen Versuch am Ka¬
ninchen wurden in etwa 13 Minuten
16,5 ccm Speichel aufgefangen, wie auch
hier die Wirkung auf die Peristaltik einen
hoch wirksamen Körper erkennen ließ,
denn im Laufe einer halben Stunde wurde
drei bis viermal Kot abgesetzt, der zuerst,
entsprechend' der Norm, aus einzelnen
festen Kügelchen, später aus weichen,
deformierten Klumpen und zuletzt aus
dickbreiigen zusammenhängenden Massen
bestand.
Die Cesolpräparate zeigen gegenüber
dem Arekolin, entsprechend der abwei¬
chenden chemischen Zusammensetzung
gewisse therapeutische Unterschiede. Eine
aufmerksame vergleichende Betrachtung
der pharmakologischen Wirkungen des
Cesols und Neu-Cesols .einerseits und
des Arekolins andererseits ließ diese
Unterschiede erkennen. ln den Cesol-
präparaten tritt die schweißtreibende
Wirkung des Arekolins anscheinend zu¬
rück, ebenso die miotische; dagegen ist
ausgesprochen die speicheltreibende und
die auf die Darmmuskulatur. Vor allem
aber äußern sich die Unterschiede auch
durch die viel geringere Giftigkeit der
synthetischen Produkte, bei denen
zwischen wirksamer und giftiger Dosis
ein außerordentlich großer Spielraum
liegt. Dadurch aber werden die Cesol¬
präparate für die humane Praxis in ganz
anderem Maße brauchbar, als es bei dem
Arekolin der Fall sein konnte.
I
Gegenwart 1920 * August
Nach der allgemein üblichen, auch
oben angenommenen Formelschreibweise
"für das Arekolin hätte man eigentlich er¬
warten sollen, daß der Nicotinsäuremethyl¬
ester in näherer Beziehung zum Arekolin
st#it als die Cesole, welche doch Pyri-
doniumkörper sind. Und doch sahen wir,
daß der Nicotinsäuremethylester ganz un¬
wirksam ist, während das Arekolin und dre
Cesole physiologisch sehr ähnlich wirken.
Durch diese Tatsachen erfährt die
Arekolinforschung* eine besondere För-
derun"g, denn das Arekolin scheint danach
auch in der Pyridoniumform zu reagieren,
wie es folgende Formel veranschaulicht;
CH
H^c/Sc—C=0
H2C\/CH2 I
' N-— 0
/ \
H3C CHg
I Arekolin
Das Studium über die Cesole bringt
also auch einen neuen Einblick in die
Arekolinforschung und gibt ihr eine neue
Richtung.
Diese neueren Tatsachen und Gedan¬
kengänge werden hier 'zum ersten Mal
entwickelt und veröffentlicht. Um so
auffallender ist es, daß die Therapeu¬
tischen Halbmonatshefte in einem
nicht gezeichneten Artikel über den Zu¬
sammenhang zwischen Cesol und Arekolin
Anschauungen konstruieren, die jeder
- tatsächlichen Unterlage entbehren müs¬
sen. Auch über die pharmakologische
Wirkung des Cesols finden sich in dieser
Besprechung dem Tatsächlichen gegen¬
über unzutreffende Behauptungen, die
auch schon dem Referenten dieser Zeit¬
schrift, Herrn Dr. Bloch, gelegentlich der
Besprechung des Cesolartikels aufge¬
fallen sind.
Ist schon die sachliche Kritik in den
Therapeutischen Halbmonatsheften un¬
berechtigt, so muß die Form des Artikels
noch mehr befremden. Es wird bei dem
einen von uns sogar die Wissen¬
schaftlichkeit in Frage gezogen, während
es doch kaum ein unwissenschaftlicheres
Vorgehen geben kann als das von den
Therapeutischen Halbmonatsheften hier
befolgte: ohne tatsächliche Unterlagen
eine Kritik zu konstruieren und diese
zu angeblich wissenschaftlichen Angriffen
zu benutzen.
Therapeutische Halbmonatshefte 1920, S.28.
Therapie der Gegenwart 1920, Aprilheft.
August
Die Therapie der Gegen'(vart 1920
289
Depressionen, ihr Wesen und ihre Behandlung.
Von Dr. Wilhelm Stekel, Wien. (Fortsetzung.)' '
Doch kehren wir zum Thema der
Periodizität der Depressionen zurück.
Es gibt Depressionen von monatlichem
Typus, die sich auf bestimmte Monate
beziehen. Mancher wird im Frühjahr
verstimmt, andere im Herbst. Goethe
litt bekanntlich am Ende des Herbstes
und im Beginne des Winters an ziemlich
schweren Depressionen.
Möbius berichtet, daß Goethe bis zum kür¬
zesten Tage einige Wochen hindurch sehr deprimiert
.war. Möbius konnte auch eine siebenjährige
Periode im Liebesieben Goethes nachweisen, in
der Depressionen sich an eine neue Liebe und an
eine neue Schaffensperiode anschlossen. Es kam
zuerst ein Liebesrausch, während dessen die Schaf¬
fenskraft stieg, so daß alle großen Werke in diesem
manischen Stadium geschrieben wurden. Dieses
Schaffen zahlte er dann mit einer mehr odef
minder schweren Depression. Sein 'Hausarzt
Dr. Vogel berichtet: „Rühmte Goethe seine Pro¬
duktivität, so machte mich das stets besorgt, weil
die vermehrte Produktivität seines Geistes ge¬
wöhnlich mit einer krankhaften Affektion seiner
produktiven Organe endete. Das war so sehr in
der Ordnung, daß mich schon im Anfänge meiner
Bekanntschaft mit Goethe dessen Sohn darauf
I aufmerksam machte, wie, soweit seine Erinnerung
reiche, sein Vater nach längerem geistigen Pro¬
duzieren noch jedesmal eine bedeutende Krank¬
heit davongetragen habe.“ Goethe selbst nannte
diesen Zustand seine wiederholte Pubertät
und erkannte die sexuelle Grundlage dieser Zeiten.
Er äußerte sich zu Eckermann: „Solche Männer
und ihresgleichen sind geniale Naturen, mit denen
es eine eigene Bewandtnis hat; sie erleben eine
wiederholte Pubertät, während andere Leute nur
einmal jung sind.“
Einen sehr interessanten schweren
Typus zeigt der folgende Fall eigener
Beobachtung.
Ein Mädchen von 32 Jahren leidet seit drei
Jahren an einer im Frühjahr einsetzenden De¬
pression, die mit Appetitverlust und starker Ab¬
magerung vor sich geht. Während der ganzen
Zeit der Trauer ist sie keineswegs schweigsam und
negativistisch. Im Gegenteil! Es bemächtigt sich
ihrer eine leicht manische Unruhe. Ihr Schlaf
wird gestört, sie muß viel herumlaufen, kann
nirgends lange bleiben, ist ruhelos, sucht bald
die einen, bald die anderen Verwandten auf, ißt
den ganzen Tag fast gar nichts, hat vor Fleisch
einen Abscheu und nährt sich nur vegetarisch.
Ein längerer Aufenthalt in einem Sanatorium,
Luftveränderung, Mastkur bringen keine Besse¬
rung.
Die psychologische Erfahrung des Falles er¬
gibt eine merkwürdige Genese. Vor drei Jahren
hatte sie ihren Schwager am Lande besucht und
blieb dort längere Zeit zu Gaste. Sie fuhren dann
mit seinem achtjährigen Kinde nach Wien. In
Wien fanden sie nach langem Suchen in einem
Hotel nur ein Zimmer mit zwei nebeneinander¬
stehenden Betten. Sie scherzte noch über dies
Ehebett und legte sich schlafen. Das achtjährige
Kind lag zwischen ihr und dem Schwager. Sie
war angeblich vollkommen unaufgeklärt und
wußte noch gar nichts, was sich zwischen Mann
und Frau zutragen kann, glaubte^ die Kinder
kämen durch eine äußere Berührung zustande.
So ihre Aussage. Sie war in jener kritischen Nacht
schlaflos. Gegen Morgen fragte sie der Schwager
— es mochte gegen vier Uhr gewesen sein —,
warum sie nicht schlafe. Er kam zu ihr ins Bett
und begann ein Gespräch «über geschlechtliche
Aufklärung, dem sie anfangs gern und neugierig
folgte. Er gab ihr auch den Phallus in die Hand, .
was sie sehr erregte. Dann meinte er, er werde
ihr den Verkehr zeigen, ohne ihr etwas zu machen.
Es kani zu einem regelrechten Koitus, bei dem
sie defloriert wurde. Am nächsten Tage war sie
verzweifelt. Es bedurfte der ganzen Überredungs¬
kunst des Schwagers, um sie abzuhalten, die ganze
Geschichte ihren Eltern mitzuteilen. Er heuchelte
ihr eine Liebe vor, die gar nicht vorhanden war,
wie es sich später herausstellte (das Mädchen war
weder liebreizend noch begehrenswert, eher hä߬
lich, mager, unfreundlich). Sie hatte sich nun
in den Kopf gesetzt, daß der Schwager sich von
der Schwester scheiden und sie heiraten werde.
Sie dachte es sich aus, was geschehen würde,
wenn die Schwester sterben würde.
Es bildeten sich in ihrer Phantasie immer
stärker werdende Todeswünsche gegen die
Schwester, denen sich ein tiefes Schuldbewußt¬
sein anschloß.
Diese Todeswünsche spielen in der
Psychogenese der Depression eine große
Rolle und erklären das tiefe Schuldbewußt¬
sein, an dem viele Depressionisten leiden.
Sie klagen sich leidenschaftlich verschie¬
dener Verbrechen an, -die alle nur Ge¬
dankensünden sind.
Sie erlebte ihre erste Depression im Anschluß
an das traumatische Erlebnis und die Depression
kehrt mathematisch mit dem Tage wieder, an
dem sie defloriert wurde. Sie zählte die Tage bis
zu dem Moment, da der Schwager vor sie hin¬
treten und sie rehabilitieren werde. Aber sie wird
mit jedem Tage älter. Diese Tatsache annulliert
sie durch eine forcierte Jugend während der De¬
pression. Sie trägt kurze Kleider, einen Back¬
fischzopf, spricht kindisch und benimmt sich
kindisch.
Mit dem Eintritt des Winters überwindet sie
ihre Depression und hofft auf die Erfüllung ihrer
geheimen Wünsche im nächsten Frühling. Um
diese Zeit fängt sie wieder zu onanieren an.
Wir können immer wieder sehen, wie
das Aufhören der Onanie eine Depression
einleitet. Kranke, die onanieren, sind
enorm selten. Das Aufgeben der Onanie
verstärkt die Depression. Abstinenz von
Onanie ist eine häufige Ursache der De¬
pressionen. Dann wird die Depression
als Folge der Onanie statt als Folge der
Abstinenz aufgefaßt ^).
Bei unserer Kranken kommt noch die
verlorene Virginität in Betracht. ,,Du
kannst keinen mehr heiraten außer deinen
Schwager!“ — Dieser Imperativ läßt
‘^) Verg'eiche mein Buch „Onanie und Homo¬
sexualität“.
37
290 '
Die Therapie der Gegenwart J920
August
ihre Lage so hoffnungslos erscheinen, daß
die Depression eintreten muß.
Eine Depression bedeutet Hoffnungs¬
losigkeit und Verzicht auf Erfüllung der
geheimen sexuellen Ziele und Wünsche.
Die sexuelle Hoffnungslosigkeit ver¬
bündet sich mit einem gekränkten Ehr¬
geiz, mit einer,, empfindlichen Herab¬
setzung des Persönlichkeitsgefühls.' Des¬
halb sieht man Depressionen sehr häufig
bei Beamten auftreten, die im Amt über¬
gangen wurden, oder bei hohen Beamten,
die plötzlich pensioniert»wurden. Ein
Professor, der eine Berufung erwartet,
und übergangen wird, ein Offizier, der
nach einem mißlungenen Manöver mit
dem blauen Bogen heimgeschickt wird,
sie alle können an Depressionen erkranken,
wobei jedoch das Motiv der Depression
verschleiert wird, weil das Persönlichkeits¬
gefühl sich sträubt, die Kränkung zuzu¬
geben. Sie stellen es schließlich so dar,
daß sie mit dem Ausgange zufrieden seien.
Jetzt hätten sie die erwünschte Ruhe, es
wäre schon längst ihr Wunsch gewesen.
Sie lassen sich eine Latenzperiode bis
zum Ausbruche der manifesten Depres¬
sion, die dann auf andere Ursachen ge¬
schoben wird oder als grundlose Verstim¬
mung aufgefaßt wird.
Selten wird aber ein Mensch an einer
so schweren Depression erkranken, wenn
nicht zugleich die Aussichtslosigkeit seiner
sexuellen Wünsche die Umwertung von
Ehrgeiz in Liebe verhindert.
Ein gutes Beispiel bietet der nächste
Fall, der uns zugleich tiefer in das Wesen
der Depression einführt.
Ein 59jähriger Mann in hervorragender lei¬
tender Stellung leidet schon seit zwei Jahren an
Depressionen. Er nimmt täglich Schlafmittel und
Abführmittel, wagt es nicht auszugehen, da er
ein „schwaches Herz“ habe. Er leidet an Arterio¬
sklerose. Überdies ist er sicher, daß bei ihm bald
die Paralyse ausbrechen wird. Eigentlich ist er
schon paralytisch. Er hat das Gedächtnis ver¬
loren, kann nicht lesen, hat kein Interesse für alle
Vorgänge der Umwelt (Lues vor 15 Jahren,
Wassermann stets negativ!).
Die Behandlung eines solchen Kranken
ist außerordentlich schwer. Die Kranken
lassen sich nicht gern in die Karten blicken
und sind psychisch sehr schwer zugänglich.
Sie jammern immer wieder, sprechen von
ihren namenlosen Qualen. Kein Mensch
ist so schwer krank wie sie. Es sei nicht
möglich, das Leben zu ertragen. Wenn
sie nicht so feige wären, hätten sie sich
längst das Leben genommen. Das beste
wäre es, wenn der Arzt ihnen eine tüch¬
tige Dosis Gift geben möchte. Viele er¬
suchen direkt um Gift, sind dem Arzte
böse, daß er sie nicht erlösen will.
Alle betonen das Hoffnungslose und
Aussichtslose ihres Leidens. Alle haben
die Hoffnung verloren! Alle lächeln über¬
legen, wenn^ der Arztthnen Heilung ver¬
spricht.
Sie haben den ausgesprochensten
„Willen zur Krankheit“. Das heißt:
Sie wollen nicht gesund werden. Sie sind
ausgesprochen Zerrissene, welche aus
zwei- oder drei Persönlichkeiten bestehen.
Der eine möchte gesund werden, bängt
an dem Leben, lauert auf jedes Wort
des Arztes, beobachtet ängstlich seine
Miene, ob er ihm widerspricht und wie
er ibm widerspricht, wenn er von der
Hoffnungslosigkeit des Leidens spricht.
^Der andere aber will nicht gesund werden.
*Er leidet an einem schweren Schuldgefühl.
Das Schuldgefühl steht im Mittel¬
punkte der ganzen Neurose und der
melancholischen Psychosen. Dieses Schuld¬
gefühl stammt aus einer geheimen
unerschöpflichen Quelle. Alle De-
pressionisten maichen sich Vorwürfe. Diese
Vorwürfe enthalten aber die Schuld nur in
versteckter Form. Erst die Analyse deckt
die tieferen Motive des Schuldbewußt¬
seins auf und zeigt, an welchen Vorwürfen
das Bewußtsein vorbeigeht, um andere
zu erblicken und aufzugreifen, die einen
gewissen Ersatz bieten können. Man
kann daher in diesen Fällen von ,, Ersatz¬
schuld“ und „Ersatzvorwürfen“ sprechen.
Kehren wir zu unserem Kranken zurück.
Seine Vorwürfe gehen auf wiederholte Untreue
in der Ehe zurück, die ihm eine Lues einbrachte,
als deren Folge er eine Paralyse fürchtet. Seine
Frau ist leidend, launisch — kurz er hat mit ihr
.keine seelischen Beziehungen. Die körperlichen
sind wegen eines Frauenleidens längst aufgegeben.
Er hat deutliche Beseitigungsideen und Todes¬
wünsche, welche allein die Ursache einer Depres¬
sion und .eines Schuldbewußtseins werden können.
Überdies kam ihm seine Frau auf eine Liebes¬
affäre mit einer Nichte, die bis knapp vor Aus¬
bruch der Depression spielte. Den Anlaß zum
Ausbruche gab eine Zurücksetzung in der Stel¬
lung und die Kränkung durch einen Vorgesetzten.
Er hörte auf ins Amt zu gehen, das ihm soviel
Ablenkung geboten hatte. Aber diese Ablenkung
gestattet ihm die Überdeckung und Sublimierung
seiner sexuellen Triebkräfte. Nun wurde alles
in'ihm frei.
Was tat er aber? Er löste die Beziehungen
zur Nichte und begann abstinent zu leben, weil
er einen Herzschlag während der Kohabitation
fürchtete. Er fürchtete die Strafe Gottes für
die sündigen Beziehungen. Er wollte sich bessern
und sich seiner Familie widmen.
Unter seinen Kindern war es die älteste Toch¬
ter, die ihm ans Herz gewachsen war (die Nichte
war die Tochter — Imago!). Dieses -Mädchen
verlobte sich und begann den Vater, der alle Hoff-
3 ,' . '
August ' Die Therapie der
nungen auf sie gesetzt hatte, auffallend zu ver¬
nachlässigen. Sie hatte von dem Verhältnis zur
Nichte erfahren, war eifersüchtig und wendete
I sich nun vom Vater ab. Mit dieser Verlobung
begann die Verstimmungen und knapp vor' ihrer
Heirat setzte die schwere Depression ein.
Die Analyse brachte verhältnismäßig rasche
Heilung. Zuerst wurden alle Medikamente aus¬
gesetzt. Der' Kranke hatte bald spontan Stuhl,
konnte ohne Schlafmittel ausgezeichnet schlafen,
wurde ausgiebig beschäftigt,' lernte täglich meh¬
rere Stunden Bewegung machen, ’ faßte wieder
Interesse für Lektüre und suchte sich eine zweite
Be&chäftigung, die ihm größere Selbständigkeit
einräumte.
Todeswünsche gegen teure Ange¬
hörige kommen in der Psychogenese der
Depression häufig vor, weil sie die Folge
einer unglücklichen Liebe sind. Ich
könnte einige Dutzend solcher Fälle aus
meiner Erfahrung änfüfiren. Ein älterer
Herr verliebt sich in seinem Bureau ‘in
eine TypmamselL Diese Liebe gesteht
er sich nicht. Es bleibt eine unbewußte
Liebe. Er erkrankt an Herzschmerzen^).
Zugleich treten Befürchtungen auf, seine
Frau könnte überfahren werden, sie sei
so leichtsinnig usw. Hinter dieser neuro¬
tischen Angst verbergen sich die ver¬
brecherischen Wünsche. Er erkrankt an
einer schweren Depression. Die Analyse
läßt die verdrängte Liebe zum Vorschein
kommen.
Auch Inzestgedanken, die vom Be¬
wußtsein abgedrängt werden, lassen sich
sehr häufig konstatieren. Oft übernimmt,
wie in dem vorerwähnten Fall ein anderes
Objekt die Werte des Inzestobjektes.
Oft flieht der Kranke vor dem Inzest in
eine neue Liebe. Diese Inzestwünsche
brechen in schweren Psychosen offen
durch. Die Kranken bezichtigen sich
dann des Verkehrs mit den Angehörigen
und verlangen strenge Bestrafung. Oder
sie projizieren den eigenen Wunsch nach
außen und behaupten, man hätte sie zu
einem Inzest verleiten wollen, sie be¬
ginnen ein Familienmitglied heftig zu
hassen, es dürfen bestimmte Familien¬
mitglieder nicht in ihre Nähe kommen.
Mitunter wird die ganze Familie in den
Haß einbezogen.
Eine der Hauptursachen der De¬
pression ist die Zerstörung einer geheimen
inzestuösen Hoffnung. Mütter erkranken,
wenn ihre Töchter oder Söhne heiraten,
Vätern ergeht es ebenso. Aber auch die
Töchter können vor der Ehe mit dem
geliebten Manne an Depressionen er¬
kranken, wenn sie ihren Vater oder Bru-
Vergleiche meine Broschüre ,,Das nervöse
Herz“ (Verlag Paul Knepler, Wien).
Gegenwart 1920 291
der^ ihre Mutter oder Schwester verlassen
sollen, an die sie fixiert sind.
Ich könnte aus meiner Erfahrung
viele Beispiele anführ^n. Ich will nicht
ermüden, da ich noch manches andere
zu sagen habe. Jedermann kann an seinen
Beobachtungen Bestätigungen genug
finden.
Der Abbruch einer inzestuösen (un¬
bewußten) Beziehung findet sich fast ,
in jeder Pepression. Meistens hat sich
der Gegenstand der Liebe anderweitig
durch eine neue Liebe gebunden. Diese
Liebe wird dann als Treulosigkeit ge¬
wertet.
Oft kämpfen die Eltern gegen die
Neigung ihres Kindes und finden allerlei
an den Haaren herbeigezogene Motive
für die Ablehnung. Meist klagen sie dann
über Vernachlässigung und finden, das
Kind habe sie nicht mehr lieb. Oft sieht
man nach Hochzeiten bei den Nahver¬
wandten leichte manische Zustände auf-
treten, welche eine Flucht in eine gewollte
Fröhlichkeit und übertriebene Tätigkeit
darstellen und denen dann gewöhnlich
eine Depression folgt, was fälschlich zur
Diagnose einer Cyclothymie führen könn-te.
In dem letzten Falle klagte der Pa¬
tient, daß die Tochter für die Schwere
seines Leidens kein Verständnis habe.
Sie lache ihn aus und berufe sich auf die
Ärzte, die gesagt hätten, an einer Depres¬
sion sterbe man nicht. Er will wie alle
diese Kranken ihre Liebe in Form von
Mitleid erpressen! Er wird Egoist und
liebt nicht mehr.
Er liebt nicht sich, selbst wie es Freud
behauptet, der in der Melancholie eine
,,narzißtische Psychose“ erblickt, ein
Rückströmen der Libido auf das eigene
Ich. Man muß viel eher in der Melancholie
und in der Depression ein Umkehrungs¬
phänomen sehen. Die ganze ,,Liebes-
bereitschaft“ ist in ,,Haßbereitschaft“
verwandelt. Der Kranke kann nur hassen
und haßt sich selbst. Dieser Haß gegen
sich selbst steigert sich zum Taedium
vitae. Er verstümmelt sich, quält sich,
legt Hand an sich. Meistens wird ge¬
klagt, daß jedes Gefühl erstorben ist,
daß ein Stein im Herzen liege usw. Das
verbirgt nur die Tatsache, daß der Haß
den Kranken vollkommen beherrscht. Er
kann nicht lieben, weil er sich und die
ganze Welt haßt. Deshalb quält er die
Umgebung, weckt sie des Nachts, tyranni¬
siert sie, läßt sie nicht zur Ruhe kommen.
Seine Entfernung in eine Heilanstalt be¬
trachtet er als tiefe Kränkung, weil er
37*
292 ^ Die Therapie der
. die f^amilie nicht mehr quälen kann. Er
ist von Neid gegen die ganze Welt erfüllt.
Er beneidet jeden Menschen, der lachen
kann, der sich guten Appetits erfreut,
er beneidet jeden Glücklichen.
Die Depression ist eine Ha߬
neurose. Die Kranken glauben oft, daß
sie deprimiert sind, weil sie hassen. Sie
verwechseln die Tatsachen. Sie hassen,
\ weil sie deprimiert sind. Man sieht Müt¬
ter, die in tiefe Depression verfallen, weil
sie ihre Kinder hassen, man sieht Frauen,
die ihre Depression auf Haßregungen
gegen den Mann zurückführen, ln allen
Fällen beginnt das Leiden mit einer
Liebesstörung. Je weiter die Depression
fortschreitet, desto deutlicher wird die
Haßeinstellung gegen die Umgebung, die
sich sogar in Tätlichkeiten äußern kann.
Daß dieser Haß auf* andere Ursachen
zurückgeht, werden uns weitere Beispiele
zeigen.
Im psychischen Gefüge der Depression
"gibt es immer einen Kern, den ich als
treibenden Wunsch oder als „uner¬
füllten Wunsch“ bezeichnen möchte.
Jeder Wunsch und jede Phantasie hat
einen gewissen Anspruch auf Realität (auf
, Verwirklichung). Ich nenne diesen An¬
spruch den ,,Realitätskoeffizienten“.
Wenn der Realitätskpeffizient auf den
Nullpunkt heruntersinkt, so daß die
Hoffnung auf Erfüllung der unerfüllten
Sehnsucht auf Null gesunken ist, so ist
der psychologische Moment für das Zu¬
standekommen der Depression gekommen.
Da dieser ,,unerfüllte Wunsch“ meist un¬
bewußt ist, so ist dann die Ursache der
Depression gleichfalls dem geistigen Blick¬
felde des Bewußtseins entzogen. Die
Depression stellt also'den endgül¬
tigen Sieg der Realität über die
Phantasien dar. Sie ist der vollkom¬
mene Bankerott der Phantasiewelt. Der
Neurotiker arbeitet mit zwei Währungen:
mit dem Lustprinzip und dem Realitäts¬
prinzip (Freud). In der Depression ist
die Lustwährung gaiiz außer Kurs ge¬
setzt. Aber auch die Realitätswährung
leidet unter der Entwertung., Der Kranke
entwertet die ganze Welt, seinen ganzen
Besitz, alles verliert seinen Wert. Das
heißt: Nichts kann ihm mehr Freude
machen!
Mit dem Bankerott der Phantasien
und der bitteren Erkenntnis von der Un¬
erfüllbarkeit der unbewußten Zielvor¬
stellungen kommt es zu einer Einschrän¬
kung der Interessen. Das Interesse und
die Aufmerksamkeit ist ein Problem der
Gegenwart 1920 ^ , August
Affektivität (Bleuler). Die ganze Affek¬
tivität des Kranken ist in Haß verwandelt.
Damit schränKt sich sein geistiger Hori¬
zont auf alle HaßobjeKte (die nächste
Umgebung) ein. Der Kranke hat schlie߬
lich nur ein Objekt, das ihn interessiert;
das eigene Ich und' das eigene Unglück.
Die alte Erfahrung, daß jedes Unglück
egoistisch macht, bestätigt sich aufs
neue. Der Kranke denkt und fühlt
,,autistisch“ (Bleuler). Freud meint,
die Libido ströme ganz auf das Ich zurück.
Nur im gewissen Sinne wäre diese An¬
nahme mit einer Einschränkung richtig.
Es wäre nur zu beweisen, daß es sich
um eine Libidostörung handelt, daß die
verhinderte Objektbesetzung zu einer
Fixierung an das Ich, also zu einer Rück- ^
bildung im infantilen Sinne führt.
Sicher ist nur, daß die Einschränkung
des Interessenkreises das sichere Charak¬
teristikum bildet. Fängr der Kranke sich
für die Umgebung und für die Ereignisse
der Welt zu interessieren an, so ist der
erste Fortschritt gegeben. Ebenso wenn
er über vollkommene Gleichgültigkeit
klagt. Er muß eben nach der Periode des
Hasses eine indifferente Zone der Gleich¬
gültigkeit durchschreiten, ehe er wieder
lieben kann. Geheilt ist er, wenn er wieder
liebt!
Allen Beobachtern ist die starke Nei¬
gung der Kranken zum Jammern auf¬
gefallen. In leichteren Stadien reden sie
unaufhörlich und beschäftigen sich mit
ihren Leiden. Erst in schweren Stadien
treten die Vorwürfe offen zutage. Es
gibt aber keine Depression, in der
sich der Kranke nicht Vorwürfe
machen würde. Wenn er verstummt
und nicht mehr klagt, so denkt er über
seine Fehler nach. Die ganze Vergangen¬
heit wird" durchforscht, um die Sünden
zu finden, als deren Folge er die Krank¬
heit empfindet. Die Krankheit wird dann
als gerechte Strafe des Himmels auf¬
gefaßt, Die Kranken werden oft fromm
oder geben ihre frühere Frömmigkeit auf
,,weil es angeblich keinen Gott gibt“, —
„sonst könnte er sie nicht so leiden
lassen“. Im Innern sind sie alle fromm,
selbst wenn es sich um Freigeister und
Atheisten handelt. Sie gestehen, daß sie
vergeblich versuchen zu beten. Sie haben
zu Gott auch die Haßeinstellung, die sie
gegen die ganze Welt beherrscht. Oft
setzt das Leiden mit einer Blasphemie
oder einer Empörung gegen' Gott ein.
Depressionen, die sich im Kriege an den
Verlust eines teuren Wesens schlossen,
August
Die Therapie der Gegenwart 1920
293
zeigten oft diese Empörung gegen die
göttliche Ailgewait.
Eine Patientin kam in meine Behandlung, die
schon drei Jahre an schwerer Melancholie litt.
Ich hörte irn Laufe der psychischen Behandlung,
daß sie vorher fromm war und jetzt den Glauben
ganz verloren habe. Sie besuchte seit der Melan¬
cholie keine Kirche rnehr, während sie vorher sehr
fleißig in die Kirche gegangen war und jeden
Monat gebeichtet hatte. Gründe für diesen Abfall
hat sie gleich bei der Hand: Weil sie so unglück¬
lich sei wegen ihrer Krankheit, die sie grundlos
befallen hätte. Die Analyse ergab, daß sie sich
in "einen Vetter verliebt und diese Liebe tapfer
überwunden hatte. Sie bat den Vetter, ihr Haus
zu verlassen, sie wolle ihrem guten Manne (der
sie weder seelisch noch körperlich befriedigen
konnte) nicht die Treue brechen. Nach seiner
Abreise ging sie in die Kirche. Während des
Gebets passierte es ihr, daß sich ein Flatus ein¬
stellte, den sie mit einem Fluche gegen die Gott¬
heit herausließ. Nun traute sie sich nie mehr
in die Kirche, weil sie sich als schwere Sünderin
betrachtete. Auch fürchtete sie die Beichte. Ich
empfahl sie einem von mir unterrichteten Beicht¬
vater, der sie absolvierte. Rasche Genesung.
Ich habe erwähnt, daß alle Kranken
die Neigung zum Jammern haben. Sie
erpressen die Liebe der Umgebung in
Form von Mitleid und werden wütend,
wenn man ihnen ihre Beschwerden und
Qualen nicht glaubt. Lachen sie über
einen Witz oder in einem Theater, so er¬
klären sie gleich: es. wäre kein rechtes
I^achen gewesen. Sie hätten nur mecha¬
nisch gelacht. Und sofort setzt das
Jammern wieder ein.
, Die bisherigen Ausführungen haben
uns dem Verständnis vieler Symptome
näher gebracht. Die Vorwürfe, die die
Kranken sich machen, sind berechtigt.
Ihr böses Gewissen läßt ihnen keine Ruhe.
Ihr Leiden ist eine selbstdiktierte Strafe.
Deshalb glauben sie nicht an ihre Gene¬
sung. Sie wollen nicht gesund wer¬
den! Sie lächeln^daher überlegen, wenn
der Arzt von ihrer .Heilung spricht. Sie
wissen es besser. Sie sind unheilbar. Ihr
Selbstmord ist dann die Strafe für die
Beseitigungsideen. Ich habe einm’al den
Satz geprägt: Niemand tötet sich
selbst/ der nicht einen anderen
töten wollte! Das gilt auch für den
so oft eine Depression abschließenden
Selbstmord.
(Schluß folgt im nächsten Heft.)
Repetitorium der Therapie
Behandlung der Blutkrankheiten.
Von G. Klemperer.
1. Allgemeine Grundsätze. Wie die
normale Zusammensetzung des Blutes ab¬
hängig ist von dem normalen Ablauf des
Stoffwechsels und sämtlicher Organfunk¬
tionen, so ist bei jeder Krankhaftigkeit
der Blutmischung nach der allgemeinen
oder besonderen Ursache zu forschen,
deren Beseitigung zur Verbesserung der
Blutbeschaffenheit führen könnte. Also
hat die Behandlung jeder Anämie mit einer
Betrachtung der Lebensweise und einer
körperlichen Untersuchung zu beginnen.
Wenn unzureichende Ernährung, Über¬
arbeitung, Mangel an Luft und Licht,
toxische oder psychische Einflüsse die
Anämie verursachen, so gipfelt die Thera¬
pie in den entsprechenden hygienischen
und diätetischen Ratschlägen und Ma߬
nahmen; wenn eine spezielle körperliche
Erkrankung zur Blutverschlechterung ge¬
führt hat, so ist deren Behandlung zur
Behebung der Anämie notwendig. Werdö^n
allgemeine oder besondere Ursachen nicht
gefunden, so bedarf es spezieller Blut¬
untersuchung, um festzustellen, welches
besondere Krankheitsbild essentieller
Anämie vorliegt. Die Behandlung ist un¬
mittelbar von der Zählung der Blutkörper¬
chen, der Feststellung des Hämoglobin¬
gehalts, der Betrachtung des gefärbten
Blutpräparats abhängig.
Je nachdem die Diagnose auf Chlorose
oder perniziöse Anämie oder Polycyth-
ämie oder Leukämie gestellt wird, ist die
Behandlung verschieden. Es hängt vom
Ergebnis der Untersuchung ab, ob man
die verminderte Hämoglobinbildung an¬
zuregen hat oder ob man die darnieder¬
liegende Hämatopoese durch Reizmittel
kräftigen soll oder ob die übermäßige
Bildung der roten oder der weißen Blut¬
körperchen zu hemmen ist. Für jede
dieser besonderen Indikationen haben wir
besondere Heilmittel und Methoden, deren
Anwendung nur auf die spezielle Blut¬
untersuchung basiert werden kann. We¬
sentliches Anregungsmittel der Häino-
globinbildung ist das Eisen, wirksamste
Förderung der Blutkörperchenbildung be¬
wirkt das Arsen; Dämpfung übermäßiger
Bildung besorgen die Röntgenstrahlen.
Jede specifische Kur wird durch Allge¬
meinbehandlung unterstützt.
2. Einfache (sekundäre) Anämie
(Oligocythämie). Unter diesem Namen
fassen wir alle Zustände von Blässe und
294
Die Therapie der Gegenwart 1920
August
Schwäche zusammen, welche durch un¬
hygienische Lebensweise, mangelhafte
Ernährung, wiederholte oder profuse Blu¬
tung, durch Giftwirkung,' Infektion oder
Organerkrankung entstanden sind, und
bei welchen die roten Blutkörperchen an
Zahl vermindert sind, ohne daß qualita¬
tive Veränderungen derselben nachweisbar
sind. Der Blutfarbstoff hat nicht wesent¬
lich abgenommen, ’ Zahl und Art der
Leukocyten ist nicht verändert
Die Behandlung geht von der ein¬
gehenden Betrachtung der Lebensweise
aus, deren Fehlerhaftigkeit etwa die
Anämie verursacht haben könnte, und
sucht auf dieselbe bessernden Einfluß zu
nehmen, soweit es die sozialen Verhält¬
nisse irgend gestatten. Oft genügt ein
Orts- oder Luftwechsel, Herausnehmen
aus der Schule oder aus gesundheitsschäd¬
lichen Betrieben, Verbesserung derWohn-
und Arbeitsverhältnisse, Sorge für regel¬
mäßige Ruhezeiten und für längeren
Schlaf, reichlichere Nahrungszufuhr und
bessere Zusammensetzung derselben zum
Ausgleich der Störung. So kann ein län¬
gerer Urlaub, unter günstigen Umständen
verbracht, ebenso wie der bloße Kranken¬
hausaufenthalt heilend einwirken. In
jedem Fall ist nach eventuellen, oft wieder¬
holten Blutungen zu fahnden, insbeson¬
dere erschöpfenden Menses, Hämorrhoi¬
dalblutungen, aber auch häufigem Nasen¬
bluten, auch okkulten Blutungen aus
Magengeschwüren usw. Bei den Gebär¬
mutterblutungen, die natürlich speziali-
stisch gynäkologische Beratung notwendig
machen, würde ich in geeigneten Fällen
auch heut noch für die Kußm au Ische
Stopfmethode eintreten, die mir zu Un¬
recht in den Hintergrund gedrängt
scheint. Das habituelle Nasenbluten wird
manchmal durch spezialistische Kauterisa¬
tion geheilt, aber oft nur durch ent¬
sprechende Allgemeinbehandlung beein¬
flußt. Innere Blutungen sind nach den
Regeln der Organtherapie zu bekämpfen.
Zu den Gifteinwirkungen, auf welche
zu fahnden ist und deren Beseitigung die
Heilung der'^Anämie herbeiführt, gehört
z. B. die chronische Bleivergiftung, wie
sie nicht nur bei dem gewerbsmäßigen
Bleigebrauche der Anstreicher und
Lackierer, sondern auch bei Kriegsteil¬
nehmern mit steckengebliebenen Blei¬
kugeln (Steckschüssen) beobachtet ist;
hierher gehört auch die Anämie nach Ar¬
seneinwirkung, die von Zimmertapeten
ausgeht u. a. m. Leidet der Anämische
an Würmern (Bandwurm, Spulwürmer,
auch Madenwürmer), so sind jedenfalls
entsprechende .Abtreibungskuren zu un¬
ternehmen.' -Für die Diät der Anämischen
gilt nur die Regel, daß sie dem Zustande
des Magens und Darms entsprechend aus¬
gewählt und zLibejreitet, sowie dem oft
empfindlichen Nervensystem entspre¬
chend dargeboten werde; im übrigen sei
die Kost gemischt, mit gebührendem Ge¬
halt an Vegetabilien. Unterstützt wird
die hygienische und, diätetische Therapie
durch physikalische Anwendungen, ins¬
besondere Anregung der Hauttätigkeit
durch kalte Waschungen mit nachfolgen¬
den Abreibungen, gelegentlichen Schwitz¬
packungen, auch allgemeine Körper¬
massage. Eine Kombination von allge¬
meiner und physikalischer Behandlung
bieten die Badekuren in Elster, Pyrmont,
Schwalbach, Liebenstein und vielen an¬
deren Kurorten, in denen neben hygieni¬
scher Lebensweise besonders die Einwir¬
kung der CO 2 - beziehungsweise Moorbäder
von Nutzen ist; die Anwendüng der meist
sehr schwach eisen- beziehungsweise arsen¬
haltigen Trinkwasser tritt daneben zurück.
Auch Kuren im Hochgebirge, dessen ver¬
dünnte Luft die Zahl der Blutkörperchen
vermehrt, sind empfehlenswert.
Wohl bei allen Anämischen bedient
man sich mit Vorteil der zweifellosen An¬
regung der hämatopoetischen Funktion,
welche das Arsen ausübt. Man verordnet
zeitweise wohl in jedem Fall ein inner¬
liches Arsenpräparat, z. B. Solutio arseni-
calis Eowlep i), oder Elarsontabletten
oder Pil. asiatic. ^) dreimal täglich ein
Stück, oder ein Arsenwasser^); wird Arsen
innerlich nicht vertragen, so kann man
die Heilung durch Injektionskuren unter¬
stützen, indem man täglich eine Ein¬
spritzung von Natrium arsenicosum sub-
tilissime neutralisatum macht. Man
verschreibt die Lösung 0,1 ; 10,0 und
beginnt nach alter Gewohnheit, um den
Reiz langsam zu steigern, mit 1 Teil-
1) Sol. arsenical. Fowleri, Aq. Meliss aa 5,0.
Man gibt unmittelbar nach dem Essen täglich
ein bis zehn Tropfen, an jedem Tag um einen
Tropfen steigend, läßt zehn Tropfen (=5 mg
ASs O 3 ) 14 Tage lang nehmen und dann wieder
auf einen Tropfen absteigen.
2 ) Man verschreibt 1 Originalflakon = 60 Ta¬
bletten und gibt dreimal täglich zwei Tabletten
unmittelbar nach dem Essen (zwei Tabletten
enthalten 1 mg As) etwa acht Wochen lang,
oder man steigt von einer Tablette bis dreimal drei
und steigt wieder auf eine Tablette ab.
3) Acid. arsenicos. 0,05 Piper, nigr. I,5in50 Pillen,
jede Pille enthält 1 mg As^ O 3 .
Levi CO- Wasser (schwach und stark), Guber-
quelle, am meisten gebraucht die Dürkheimer
Maxquelle.
August
Die Therapie der Gegenwart 1920
295
strich der'Pravazspritze (= 1 mg), gibt
ieden Tag 1 Teilstrich mehr bis zur
vollen Spritze (== 1 cg), die man mehr¬
mals wiederholt, um im selben Turnus
bis zu 1 Teilstrich wieder herabzii-
gehen. Eine Notwendigkeit zu dies,er
ein- und ausschleichenden Behandlung
besteht keineswegs. Mit demselben Nutzen
bddient man sich der täglich gleich¬
mäßigen Dosen von Solarson (heptin-
arsinsaures Ammon), welches in fertig
sterilisierten Ampullen zu 1 ccm (=--3 mg
As) vorrätig ist und wovon man 24 bis
*36 Einspritzungen verabreicht.
3. Chlorose (Oligochromämie). Kli¬
nisch der einfachen Anämie oft sehr
ähnlich, ist die Chlorose doch durch die
Blutuntersuchung sicher von ihr zu
scheiden, da sie der relative Farbstoff¬
mangel kennzeichnet. Viele Chlorotische
gelangen nicht anders als die einfach
Anämischen zur Heilung durch zweck¬
mäßige Anwendung der allgemeinen The¬
rapie. Ja, die Chlorose ist ein ausge¬
zeichnetes Beispiel dafür, daß specifische
Mängel des Stoffwechsels durch unspe-
■cifische Anregung der Körperkräfte be¬
hoben werden können. Oft bildet der
Organismus nach langer Hämoglobin¬
verarmung wieder genügend Blutfarb¬
stoff, wenn die bis dahin überarbeitete
Patientin genügend Ruhe und Schlaf
bekommt oder wenn andere offensicht¬
liche Fehlerhaftigkeiten der Lebensweise
abgestellt werden; oft sind Abreibungen,
oft Schwitzkuren nützlich, oft erweisen
sich psychische Beeinflussungen heilsam,
wenn Kummer und Sorge, wohl auch
unglückliche Liebe an der Entstehung der
Chlorose schuld waren. Oft genügt ein
Aufenthalt an der See oder im Gebirge
oder in den oben genannten Kurorten
zur Heilung, Aber beschleunigt wird die¬
selbe in den meisten Fällen, und manch¬
mal erst ermöglicht durch die Verordnung
von Eisen, welches in geradezu specifischer
Weise die Hämoglobinbildung befördert.
Man gibt entweder Ferrum reductum als
Schachtelpulver, zweistündlich 1 Messer¬
spitze oder Pil. ferr. reducti ^), dreimal
täglich zwei Stück oder die Blaudschen
Pillen®) in derselben Dose; im Handel
sind zahlreiche flüssige Eisenpräparate
zu haben, z. B. Athenstädts Eisen¬
tinktur, die teelöffelweise genommen wird.
Besonders wirksam und empfehlenswert
ist die gleichzeitige Darreichung von
Eisen und Arsen in den Eisenelarson-
Ferr. reducti 5,0 auf 50 Pillen.
6 ) Jede Pille enthält 0,028 g Fe.
tabletten, der Arsenferratose (in Syrup-
formen) und den Pil. fepr. arsenicosi ’).
Die Diät der Chlorotischen sei §ine ge¬
mischte, im allgemeinen nach denselben
Prinzipien wie bei den Anämischen; be¬
sonderen Wert legt man auf den Eisen¬
gehalt der Speisen und bevorzugt dem¬
gemäß Fleisch und Eier, während die
eisenarme Milch zurücktritt; früher hat
man aus demselben Grunde pflanzliche
Kost, insbesondere die chlorophyllreichen
Gemüse wie Spinat usw. empfohlen; man
darf an der Empfehlung festhalten, trotz¬
dem man jetzt weiß, daß das Chloro¬
phyll kein Eisen, sondern Magnesia ent¬
hält. Erfahrungsgemäß ist Zumischung
von Obst und Gemüse zur Kost der
Chlorotischen nützlich, vielleicht auch
deswegen, weil es die oft träge Darm¬
funktion anregt. Langsam zu essen und
gut zu kauen sei den Patienten besonders
empfohlen. — Im allgemeinen bedürfen
Chlorotische im Anfang der Ruhe und
gehen erst mit fortschreitender Besserung
zu allmählich gesteigerter Bewegung und
Gymnastik über; schwere Fälle sind in
Bettruhe zu behandeln.
4. Perniziöse Anämie. Alle Regeln
der allgemeinen Therapie, die in den vor¬
stehenden Abschnitten entwickelt sind,
gelten sinngemäß auch für die Behandlung
der perniziösen Anämie, welche durch den
charakteristischen Blutbefund der Olig^o-
cythämi^ mit relativ vermehrtem Hämo¬
globingehalt und den Megaloblasten ausge¬
zeichnet ist. Doch ist die Perniciosa von An¬
fang an als schwere und lebensgefährliche
Erkrankung mit Bettruhe und größter all¬
gemeiner Schonung zu behandeln. Auch die
Diät ist dem ernsten Zustande anzupassen.
Die Patienten sind mit häufigen kleinen
Mahlzeiten zu ernähren, wobei flüssige
oder breiige, jedenfalls zarte und leicht
zu kauende Speisen zu wählen sind, vor¬
wiegend also Milch, Weißbrot mit Butter,
Eier, Kartoffelpüree, weichgekochter
Reis, pürierte Gemüse, weißes gebratenes
Fleisch, zarter Fisch, feine Mehlspeisen.
Wichtig ist im Beginn der Behandlung
die Untersuchung der Faeces auf Band¬
wurmeier, insbesondere von Ankylosto-
mum und Botriocephalus, deren even¬
tuelle Abtötung in nicht zu vorgeschrit¬
tenen Fällen zur Heilung führen kann.
Bei nachgewiesener luetischer Infektion
beziehungsweise bei positiver Wasser-
mannschen Blutprobe ist eine specifische
Behandlung zu versuchen. Im übrigen
’) Ferr. reducti 3,0 Acid. arscnicos. 0,05 auf
50 Pillen dreimal täglich zwei Stück.
“296 Die Therapie der Gegenwart 1920 * August
ist alles Heil' von energischer Arsen- Betracht kommt. Läßt auch die Blut-
.medikation zu^ erwarten, die in jedem Übertragung im Stich, so bleibt als letztes
Fall so|ort zu beginnen ist und im Anfang * Mittel zur Erziehung einer neuen Re-’
beziehungsweise in frühen Anfällen fast mission die Exstirpation der Milz übrig,
immer zu langdaiiernden Remissionen Der Eingriff ist ungefährlich, wenn er
führt. Ich empfehle zuerst zwölf In- nicht allzuspät aüsgeführt wird und ver-
jektionen von 1 ccm Solarson, danach heißt eine monatelange. Besserung, ohne
zwölf Injektionen von 2 ccm Solarson freilich das unvermeidbare Ende ab-
{Ampullen II. Größe), danach nochmals wenden zu können. Im Stadium der er-,
zwölf Spritzen zu 1 ccm. Man kann auch zielten Remission sollen sich die Patienten
hier Natriurn arsenicosum verwenden, dauernd schonen und unter fortgesetzter
doch vertragen es die oft sehr schmerz- Kontrolle des Blutbildes beleihen, damit
empfindlichen Patienten meist nicht so der rechtzeitige Beginn der wieder not¬
gut. Die innere Verabreichung von wendigen Arsenkur nicht verpaßt wird.
Arsenpräparaten ist weniger sicher, die Je besser die Pflege und Allgemeinbe-
Kakodylate sind unwirksam. Die Arsen- handlung im Remissionsstadium, desto
medikation wird unterstützt durch die länger wird das unvermeidliche Rezidiv
Verabreichung von Salzsäure mit Pepsin, herausgezögert.
in den Fällen von gleichzeitiger Achylie; 5. Polycythämie(Erythrättiie). Während
bei Darmstörungen reicht man zweck- wir uns früher bei der Behandlung der
mäßig mehrmals täglich einen Eßlöffel allzu blutreichen Patienten mit gelegent-
Carbo animalis oder Bolus alba in Tee liehen Aderlässen oder blutkörperchen-
-aufgerührt. Da sich an diese adsorbierende zerstörenden Medikamenten (Phenyl-
Medikation die Hoffnung knüpft, daß hydracin, Benzol) beschränkten, welche
durch sie vielleicht ursächliche Krank- nur kurzdauernde subjektive Erleichte-
heitsgifte am Ort der Entstehung un- rung und vorübergehende Verminderung
schädlich gemacht werden, so mag man der übernormalen x Erythrocytenzahl
sie auch ohne sichtbare Darmstörungen brachten, haben wir in der Röntgenbe¬
insbesondere beim Versagen von Arsen Strahlung des Knochenmarks augen-
versuchen. Bei jedem Patienten mit scheinlich eine ätiologisch wirksame Be-
perniziöser Anämie kommt früher oder handlung gefunden. Man bestrahle das
später die Zeit, in welcher das mehrfach ganze Skelett, nicht nur die langen
bewährte Arsen schließlich im Stich läßt. Röhrenknochen, sondern auch Becken,'
Dann wendet man mit Vorteil Blut- Brustbein, Schulterblatt, mit großen
injektionen an, indem man 10 ccm Blut, Dosen harter Strahlen, in der Stärke bis
durch Venenpunktion von einem Ge- zu einer Hautdosis pro Feld. Für die
Sunden entnommen, unmittelbar nach Milz kommt höchstens eine Reizdosis in
der Entnahme dem Kranken intraglutäal Frage. Die bisherigen Beobachtungen
injiziert. Die Injektion ist ganz unge- sind noch nicht alt genug, um die Dauer
fährlich, schmerzlos und sicher; sie wird der erzielten Heilresultate beurteilen zu
jeden fünften Tag wiederholt, im ganzen können. Die Röntgentherapie, welche
etwa zehnmal. Die Bluttransfusion ist augenscheinlich die Mehrproduktion der
demgegenüber ein schwerer Eingriff, Erythrocyten im Kno^chenmark aufhebt,
der ein kompliziertes Instrumentarium macht anscheinend jede symptomatische
und chirurgische Schulung voraussetzt Behandlung überflüssig,
und für praktische Verhältnisse kaüm in (Fortsetzung folgt im nächsten Heft.)
Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen.
Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie.
Berlin, 26. bis 29. Mai 1920.
Bericht von Dr. Aschheim, Berlin.
I. Referate über Strahlentherapie Dosenquotient erfährt eine erhebliche Verbesse-
Kehrer (Dresden): Die Radiumbestrah- rung. Dadurch wird das der Strahlenquelle be-
lung bösartiger Neubildungen. nachbarte Gewebe auch bei länger dauernder
Aus dem physikalischen Teil sei hervorgehoben, Einwirkung vor einer wesentlichen Strahlen¬
daß Kehrer gefunden hat, daß durch die Ver- Schädigung (Nekrose) bewahrt und trotzdem
längerung eines- Radiumpräparats die Ober- in der Tiefe des BestrahlungsfeJdes eine Impuls¬
flächenintensität herabgesetzt, ohne daß die Strahlung erhalten, die ebenso intensiv wie ftüher,
Tiefenintensität dadurch beeinträchtigt wird; der gleichzeitig aber wesentlich homogener ist. Für
August
Die Therapie der Gegenwart 1920
297
das Uteruscardnom empfiehlt Kehrer daher
ein langes, dünnes Radiumpräparat.
Im biologischen Teil'empfiehlt er auf Grund
von Versuchen und Erfahrungen I. nur Präparate
mittlerer Wertigkeit anzuwenden und in nicht
zu langen Intervallen zu bestrahlen; ein Zwischen¬
raum von mehr als vier bis sechs Tagen heißt den
ersten Erfolg mehr oder minder ungenützt vor¬
übergehen zu lassen; 2. bei Bestrahlung tief¬
gelegener Carcinome die Milligramm-Radium¬
dosen allmählich zu steigern, um so gewissermaßen
zonenweise zuerst das Carcinom in den nahe¬
gelegenen, sodann in den tieferen Schichten zu
vernichten; doch darf die Gesamtbestrahlungs¬
zeit nicht so in die Länge gezogen werden, daß
für die tieferen Gewebslagen die Gefahr der Reiz¬
dosierung besteht.
Kehrer geht dann auf die Verschiedenheit
der Radiosensibilität der Zellen ein.
Von den Schädigungen durch Radium hebt
Kehrer die lokalen in Form Proctitis und
Sigrnoiditis acuta, der Proctitis necrotica und
ulcerosa und der Spätnekrose des Rectums her¬
vor. Die Fisteln gehören zu den Kinderkrank¬
heiten der Radiumbestrahlung und sollten bei
richtiger intrauteriner Bestrahlungsart kaum
mehr beobachtet werden, nur bei intravaginaler
Bestrahlung sind sie noch nicht sicher vermeidbar.
Die größere Gefahr der Darmnekrosen besteht
in der Infektion. Radiumschädigungen allge¬
meiner Art: Kopfweh, Übelkeit, Erbrechen, ner¬
vöse Herzstörungen sind, wohl auf Stoffwechsel¬
störungen . und Blutveränderungen zurückzu¬
führen. Für die operablen Korpuscarcinome gibt !
Kehrer, trotz guter Erfolge der Bestrahlung,
der Radikaloperation den Vorzug, beim inope¬
rablen ist er für Kombination von intrakorporaler
Radiumbestrahlung und Röntgenbestrahlung der
Adnexa uteri und der Drüsengebiete. Die Hei¬
lungserfolge bei Radiumbestrahlung der Vaginal-
carcinome sind' bis jetzt ungünstig. Bezüglich
des operablen Vulvacarcinoms ist zu sagen:
1. der Primärtumor ist durch Radiumbestrahlung
zu fast sicherer Heilung zu bringen; 2. Beseitigung
der inguinalen und bei vorgeschrittenen Fällen
der hypogastrischen und iliacalen Drüsen; 3. Vor¬
sicht vor allzu starker Dosierung in den ersten
drei Wochen.
Inoperable und rezidivierte Fälle verhalten
sich meist refraktär. Operable vulvo-urethrale und
Urethracarcinome wurden gut beeinflußt.
Für die operablen, nicht jauchenden Colltim-
carcinome läßt Kehrer die Radikaloperation
gelten, sofern sie künftig eine geringere Sterb¬
lichkeit aufweist als bisher, sonst ist er für die
Radiumbestrahlung in der von ihm angegebenen
Methodik.
Jugendliche Zellen mit rascher Fortpflanzung
und kranke Zellen sind strahlenempfindlicher als
alte ausgereifte, nicht mehr sich teilende und
gesunde Zellen. Aber auch innerhalb ein und
derselben Gewebsart, vor allen bei den Carci-
nomen und Sarkomen ist die Radiosensibilität
nach dem histologischen Charakter einzelner
Zellen oder auch des ganzen Tumors eine ver¬
schiedene.
Das Problem der Radiumdosierung kann nur
durch Empirie und Experiment geklärt werden.
Für die Messung behält Kehrer die' nach
Milligrammelement-Impulsstunden bei, wobei aber
die Distanz zwischen bestrahltem Gewebe und
Radiumfokus nach Centimetern mit berücksichtigt
werden soll. Die Excochleation des Carclnoms )
vor der Bestrahlung verwirft Kehrer. Das Ra¬
dium ist dem Mesothorium überlegen.
Bestrahlungsdauer.der Einzelbestrahlung inter¬
mittierend zweimal 24 Stunden mit 24stündiger
Pause. Als Pausen zwischen den Einzelbestrah¬
lungen vier bis sechs Tage.
Die Behandlung muß individualisierend sein;
die Radiumelementmenge und die einzelne Be¬
strahlungszeit ist je nach Lage des Falles zu
variieren, beide im Zusammenhang mit dei^iefen-
ausdehnung des Carcinoms und der Radiosensibi¬
lität des Carcinoms und der Kranken..
Verfahren zur Verstärkung der Strahlen¬
wirkung:
1. Desensibilisierung der Organe (Kompres¬
sion, Adrenalininjektion usw., Sensibilisierung des
Carcinoms (Injektion fluoreszierender Stoffe).
Beides unsicher.
2. Universelle Radioaktivität des Körpers durch
Injektion von Thorium X zu erhalten, hat wenig
Anhänger.
3. Zur Unterstützung der Widerstandskraft
und des Kampfes des Organismus gegen das Car¬
cinom: subcutane Einspritzung abgetöteter Car-
cinomzellen, Blut, Serum, Thymuspräparate;
Reizdosisbestrahlung der Thymus und der Milz.
Seitz und Wintz (Erlangen): Die Röntgen¬
bestrahlung bösartiger Neubildungen.
Die Forderung, zahlenmäßig festzustellen^
eine wie große Dosis nötig ist, um Carcinomzellen
sicher abzutöten, ist Krönigs Verdienst, der
den Begriff „Carcinomdosis“ schuf. Seitz und
Wintz nennen ihr System der Dosierung das bio¬
logische, aufgebaut auf der Grundlage der Haut¬
einheitsdosis (HED). Darunter verstehen sie jene
Reaktion der Haut, die bei einer B.estrahlung mit
praktisch homogenen Strahlen folgendermaßen
verläuft. Nach acht bis zehn Tagen eine leichte
Rötung, nach vier bis sechs Wochen eine zarte
Bräunung der gesunden Haut.
Die HED setzen sie = 100%. Die Carcinom-
dosis beträgt 110% der HED, die Sarkomdosis
60—70%. Die Reizdosis, bei der die Carcinom¬
zellen zu rascher Vermehrung angeregt werden,
beträgt 35—40% der HED. Die gesamte Dosis
muß in einer Sitzung gegeben werden.
Da die Unterschiede der Röntgenempfindlich¬
keit der einzelnen Carcinome sehr gering sind,
halten sie an dieser bestimmten Carcinomdosis
fest.
Auffallend schnell sich zurückbildende Abdo¬
minaltumoren lassen sich nach dem Erfolg
nachträglich als Sarkome diagnostizieren.
Bei der Röntgenbestrahlung, einer Fern¬
bestrahlung, erfolgt im Gegensatz zur Radium¬
nahbestrahlung ein langsames Absterben der
Zellen. Wichtig ist das Verhalten und die Reak¬
tion des Organismus bei der Bestrahlung, beson¬
ders beachtenswert die Blutschädigung, die Seitz
und Wintz durch Arsenkur zu beheben suchen,
um den Körper in seiner Widerstandsfähigkeit
zu stärken. Fälle mit ausgedehnter Metastasen¬
bildung und gegen Röntgenbestrahlung über¬
empfindliche Individuen scheiden für die Be¬
strahlung aus. Für die Carcinomtherapie sind
nur Apparate und Röhren, die ganz durchdringungs¬
fähige Strahlen liefern und speziell für Tiefen¬
therapie eingerichtet sind, geeignet.
Die Bestrahlung erfolgt von sechs Einfalls¬
feldern, drei von vorn, drei vom Rücken, zu¬
nächst auf den Primärtumor, nach sechs Wochen
auf das rechte Parametrium, nach weiteren sechs
Wochen auf das Imke Parametrium, ein Ver-
38
298
Die Therapie der Gegenwart 1920
August
fahren, das die Autoren als „Röntgenwertheim“
bezeichnen.
Im Anfang haben Seitz und Wintz noch mit
Radium die Röntgenbestrahlung kombiniert, aber
vorwiegend mit Röntgen bestrahlt, und hierbei
Resultate erzielt, die denen der reinen Radium¬
bestrahlung gleich sind. Seitz und Wintz be¬
strahlen jetzt ausschließlich mit Röntgenstrahlen.
Die Schwierigkeiten beim Vulvacarcinom, das
als Obfrflächencarcinom eigentlich leichter zu be¬
einflussen sein sollte, besteht darin, daß nur von
einem Feld aus bestrahlt werden kann, das
gleiche gilt für das Mammacarcinom; Verfasser
gehen auf die Einzelheiten der Technik hierbei
ein. Die Resultate bei Ovarialcarcinom sind des¬
halb schlecht, weil die Carcinome meist von sol¬
cher Ausdehnung sind, daß es nicht gelingt, sie
in ganzer Ausdehnung mit der Carcinomdosis zu
durchstrahlen. Die postoperative vorbeugende
Röntgenbestrahlung soll so ausgeführt werden,
wie das nichtoperierte Carcinom bestrahlt wird.
Bei Uterussarkomen haben sie sehr gute Re¬
sultate erzielt, bessere als bei der Operation; bei
der Verabfolgung der Sarkomdosis gelingt es
bei auf Malignität verdächtigen Uterustumoren
auf Grund des raschen und starken oder der
langsamen Rückbildung die Differentialdiagnose
zu stellen, ob es sich um ein Sarkom oder Myom
handelt.
Warnekfos (Berlin): Die biologische Strah¬
lenwirkung und Bestrahlungstechnik des
Uteruscarcinoms.
Warnekros bezeichnet als ,,maximale Haut¬
dosis“ eine ausgesprochen dunkelrote Verfärbung
der Bauchhaut mit blasiger Abhebung der Epi¬
dermis unter verstärkter seröser Ausschwitzung
der sich neu epithelialisierenden Wundfläche;
diese ist größer als die Carcinomdosis und für die
verschiedenen Teile der Haut (z. B. dicht über
Knochen) verschieden. Auch bei verschiedenen
Individuen besteht Verschiedenheit in der Haut¬
empfindlichkeit. Der Empfindlichkeitsuntersehicd
zwischen Carcinom und ungeschädigtem und
nichtalteriertem Darm ist groß genug, um per-
cutane Tiefentherapie ohne Gefahr einer ernsten
Darmschädigung ausüben zu können. Leichtere
Reizerscheinungen sind allerdings nicht immer
zu vermeiden. Der primär geschädigte Darm aber
ist wesentlich empfindlicher für die Strahlen als
der gesunde. Für die Blase ist, wenn sie nicht
primär geschädigt ist, die percutane Be¬
strahlung ohne schädliche Folgen.
Die für die Haut noch erträgliche Dosis ist
für das Carcinom tödlich, das Carcinom also
strahlenempfindlicher.
Die Carcinomdosis beträgt 85% der Haut¬
maximaldosis.
Warnekros steht auf dem Standpunkte,
daß die verschiedenen Carcinome gegen Strahlen
Sensibilitätsunterschiede aufweisen, und zwar
findet er, daß lipoidreiche Carcinome besonders
rasch auf die Bestrahlung reagierten, während
bei Carcinomen, die sich refraktär gegen Röntgen¬
strahlen verhielten, die Fettfärbung vollkommen
negativ ausfielen (z. B. Vulva- und Scheiden-
carcinom).
Sarkome sind nur dann erfolgreich zu behan¬
deln, wenn es sich um primäre sarkomatöse Neu¬
bildungen handelt; auch die Sarkome sind ver¬
schieden empfindlich, besonders ungünstig rea¬
gieren Melanosarkome.
In der weichen und harten Strahlung erblickt
Warnekros zwei biologisch verschieden v/irk-
same Medikamente. Neben der energetischen Wir¬
kung der absorbierten Strahlen durch Trans-
forrhation im Körper kommt wahrscheinlich auch
eine fermentartige oder katalytische in Betracht.
Warnekros geht dann des näheren auf seine
Technik ein. Die Gewebe müssen gleichzeitig
von zwei räumlich getrennten Strahlenquellen,
deren Energiewellen sich in der Peripherie über- .
kreuzen, durchstrahlt werden.
Warnekros berichtet weiter über Sensibili¬
sierungsversuche bei der Röntgenbestrahlung mit
Arsen, Tumoremulsion, Serum von gesunden Men¬
schen und Tieren, besonders mit Serum von Neu¬
geborenen und schließlich über die Bedeutung der.
Thymus, wobei aber die Untersuchungen noch
nicht abgeschlossen sind. Vor intratumoralen In¬
jektionen mit Collargol usw. warnt Warnekros
und geht dann auf die unterstützende Wirkung
der Bluttransfusion (Protoplasmaaktivierung) ein.
Zum Schluß bringt er statistische Mitteilungen
besonders über kombinierte Bestrahlung des
Uteruscarcinoms mit Radium und Röntgen; die
Resultate bei inoperablen Vaginalcarcinomen sind
wenig befriedigend, die prophylaktische Bestrah¬
lung nach Radikaloperationen scheint die Pro¬
gnose zu verbessern.
Gauß und Friedrich: Die Strahlentherapie
der Myome und hämorrhagischen Metro-
pathien.
A. Biologisch-physikalische Grundlagen der
gynäkologischen Röntgen- und Radiumtherapie.
I. Beobachtung über die Strahlenwirkung an
verschiedenen Organen.
Ovarium und Keimzellen. Die Röntgen- und
Radiumstrahlen vernichten bei genügend großer
Dosis den Follikelapparat des Ovariums, die da¬
durch bedingte Funktionsstörung macht sich erst
nach gewisser Latenzzeit geltend. Für die Rönt¬
genbeeinflussung der als interstitielle Drüse be¬
zeichnet en Ovarialzellen fehlen bisher beweisende
Beobachtungen.
Eine direkte Röntgenwirkung auf den Uterus
ist bisher nicht einwandfrei nachgewiesen.
II. Theorien der Heilwirkung.
Die stark gefilterten Radiumstrahlen und
Röntgenstrahlen greifen wohl an den Ovarien
selbst an, eine direkte Strahlenbeeinfiussung des
Uterus ist möglich, wohl aber nicht von wesent¬
licher Bedeutung für die Heilwirkung.
III. Gradabstufungen der klinischen Heil¬
wirkung.
Der Begriff der Heilung ist durch das Auf¬
hören der Beschwerden gegeben. Sie besteht in
dem Eintreten der Amenorrhoe und einer so weit¬
gehenden Schrumpfung des Tumors, daß die
Patientin sich in ihrem Wohlbefinden nicht mehr
behindert fühlen darf.
IV. Dosimetrie und allgemeine biologische
Gesetze und Begriffe der Strahlenwirkung.
Für vergleichende Dosimetrie verschieden
harter Strahlen ist vorderhand das Jontoquanti-
meter in Verbindung mit der Friedrichschen
Graphitkammer brauchbar. Die Stärke der bio¬
logischen Wirkung ist unabhängig von der Härte
der Strahlung. Bei gleicher Dosis ist die biologi¬
sche Wirkung stärker bei großer Intensität der
Strahlung als bei kleiner. Die einmalige Dosis ist
biologisch stärker als die verzettelte Dosis.
B. Die Röntgenbestrahlung der Myome und
hämorrhagischen Metropathien.
Die moderne Freiburger Technik (einzeitige
Bestrahlung) stellt nach dem heutigen Stande
der physikalischen Forschung die am besten
ausgearbeitete Bestrahlungsmethode dar.
August
Die Therapie der Gegenwart 1920
' 299
I. Neben- und Nachwirkungen.
Mit der fortschreitenden Ausarbeitung der
Technik und Dosimetrie verschwinden die Ge¬
websschädigungen.
Der Röntgenkater ist eine Störung des All¬
gemeinbefindens, bei der vor allem objektiv nach¬
weisbare Blutveränderungen als Ursache in Be¬
tracht kommen.
Bei verzettelter Dosis kann die Dosis am
Ovarium so klein sein, daß sie praktisch eine
-Reizdosis darstellt und vermehrte Blutungen her-
vorruft.
Erfolgt im Beginne der Schwangerschaft eine
Bestrahlung mit großen Dosen, so sind Störungen
der Schwangerschaft und Schädigungen der
Frucht zu fürchten. Die nach Röntgentherapie
beobachteten Ausfallserscheinungen treten bei
jeder Technik und fast immer auf.
Eine durch dip Röntgentherapie bedingte
Sterblichkeit ist nicht vorhanden.
C. Die Bestrahlung der Myome und hämorrha¬
gischen Metropathien mit radioaktiven Sub¬
stanzen.
Gewebsschädigungen fehlen bei den modernen
Methoden, richtige Technik vorausgesetzt.
Radiumkater scheint seltener und schwächer
als Röntgenkater zu sein.
Reizblutungen ikennt die Radiumtherapie
selbst bei kleinen Dosen nicht.
Die intrauterine Radiumbestrahlung hat ge¬
wisse Gefahren im Sinne einer lokal begrenzten
oder einer aufsteigenden Infektion.
Die Radiumtherapie hat eine Mortalität von
0 , 1 %.
D. Abgrenzung des Anwendungsgebietes.
Operation oder Strahlentherapie?
Schwere, die Operation kontraindizierende
Krankheiten sind eine Indikation der Strahlen¬
therapie. Basedowkranke sind, wenn überhaupt,
so nur mit großer Vorsicht zu bestrahlen. Schwere
Anämie ist keine Kontraindikation, sondern eine
Indikation zur Bestrahlung. Zur Vermeidung von
Reizblutungen muß eine genügend große Dosis
gegeben werden; vielleicht ist die Radiumtherapie
überlegen.
Operative Komplikationen. Subseröse Myome
sind der Operation zuzuführen, wenn die Gefahr
einer Stieldrehung droht oder besteht.
Submucöse Myome sind der Operation zuzu¬
führen, wenn sie gestielt sind. Riesenmyome
müssen operiert werden, wenn die durch Bestrah-
lungzu erwartende Schrumpfung nach Grad und
Zeit für das Wohlbefinden und Arbeitsfähigkeit
der Patientin nicht ausreicht. Myome mit Druck-
und Einklemmungserscheinungen gehören im all¬
gemeinen der operativen Therapie zu. Die
Schrumpfung der Myome ist bei etwa 70—80 %
zu erwarten, in einem Drittel der Fälle scheint
man mit dem Verschwinden des Tumors rechnen
zu können. Regressive Veränderungen und Ver¬
eiterungen der Myome sind nicht als unbedingte
Kontraindikationen der Strahlentherapie anzu¬
sehen. Die Nekrose der Myome im Wochenbett
gehört dem Messer.
Adenomyome sind zu bestrahlen. Sarkom¬
verdächtige Fälle können von vornherein mit
der Sarkpmdosis bestrahlt werden. Schwanger¬
schaft ist von der Bestrahlung auszuschließen.
Wenn Kinder gewünscht werden, ist die kon¬
servative Myomenucleation vorzuziehen. Die
Strahlenbehandlung der Myome und hämorrha¬
gischen Metropathien hat das ihr gesteckte Ziel
einer Amenorrhoe unter Schrumpfung der Myome
erreicht.
II. Vorträge zum Verhandlungsthema.
Maligne Tumoren.
Bier (Berlin) hat' von Kombination von
Röntgenbestrahlung und Proteinkörpertherapie
(Einspritzungen von Schweineblut in die Um¬
gebung des Tumors) mächtigen Zerfall der Ge¬
schwulst gesehen; bei dem großen Zerfall des
Krebsgewebes besteht aber die Gefahr einer
gleichzeitigen Krebskachexie.
V. Seuffert (München): Das Ergebnis der
Strahlenbehandlung der Portio-Cervix-Carcinome:
Von 205 Fällen der Münchener Frauenklinik vom
1 . Januar 1913 bis Ende Juni 1914 sind 40 nach
fünf und mehr Jahren noch geheilt, also absolute
Heilung rund 20%, dabei waren 40 Fälle so
schlecht, daß auch nicht ein Versuch mit Strahlen¬
therapie gemacht werden konnte. Nach von
Seuffert übertrifft die Strahlenbehandlung das
mit Operation Erreichbare um fast 10%.
Ungünstig wirkt das Ausbleiben oder die Un¬
pünktlichkeit der Patientinnen. Im Anfang wirkte
ungünstig die durch zu großen Radiumcarcinom-
abstand angewendete Bestrahlungstechnik infolge
schwerer Darmschädigungen.
Seit 1916 keine Fistelbildung mehr, seit 1917
keine schweren Folgen der Strahlenbehandlung
infolge verbesserter Technik.
Auch bei anderen Carcinomen (Mamma, Vulva,
Vagina, Rectum) hat v. Seuffert schon fünf¬
jährige Heilungen.
Pankow (Düsseldorf): Zur Frage der Gro߬
felderbestrahlung des Uteruscarcinoms. Pankow
hat sich in letzter Zeit der Großfelderbestrahlung
zugewandt, sein Verfahren weicht von der Technik
von Warnekros darin ab, daß er die Tiefenlage
des Carcinoms nach Fürstenau-Wesky fest¬
stellt.
V. Franque (Bonn): Bemerkungen zur Strah¬
lentherapie.
Gute Dauerresultate bei gutartigen Erkran¬
kungen (470 Fälle) sowohl bei Serien- als bei ein¬
maliger Bestrahlimg; gute Erfolge bei Osteo-
malacie. Keine besseren Resultate durch Nach¬
bestrahlung der operierten Collumcarcinome. Bei
inoperablen Fällen durch kombinierte Radium-
Röntgenbestrahlung keine Dauerheilungen, .aber
beträchtliche Lebensverlängerungen. Über¬
raschende Einzelerfolge, ab60^ keine Erfüllung
der in Halle gehegten Hoffnungen.
Opitz (Freiburg): Dosis und biologische Wir¬
kung der Strahlen.
Zum rein physikalischen Messen der Dosis ist
die von Friedrich modifizierte Jontoquanti-
meterkammer die beste Methode, im physikali¬
schen Sinne muß die Strahlenenergie gemessen
werden, welche in dem ganzen Volumen, das von
den Strahlen getroffen wird, absorbiert wird.
Bei Feststellung der biologischen Wirkung ist
das Erfolgsorgan zugrunde zu legen. Die biolo¬
gische Wirkung ist nicht nur abhängig von der
Radiosensibilität der Gewebe, sondern auch von
dem Zustand, in dem sich das Gewebe befindet,
von dem allgemeinen Zustand des Körpers und
der Wirkung der Strahlen auf den Körper überT
haupt. Er schlägt vor, ganz allgemein eine Ent¬
zündungsdosis (ED) und eine tödliche Dosis (TD),
vielleicht noch eineReizdosis(RD) einzuführen und
ist jder Ansicht, daß nicht alle Carcinome gleich
reagieren, sondern sehr wesentliche Unterschiede
in der Empfindlichkeit aufweisen.
Walthard (Frankfurt a. M.): Über Strahlen¬
empfindlichkeit der Krebse aus Embryonat-
anlagen.
38*
300
Die Therapie der Gegenwart 1920
August
Ein postoperativ entstandener Rezidivtumor
eines primären Plattenepithel carcinoms des
Ovariums bei einer 62jährigen Frau, das von der
Haut einer Embryonalanlage ausgegangen war,
wurde durch Radiumbromid bis jetzt 6 V 2 Jahre
geheilt.
Ein das kleine Becken ausfüllender, die Sym¬
physe 17 cm überragender Tumor bei einem
23jährigen Mädchen durch Röntgenstrahlen in
neun Wochen bis zur Faustgroße zur Rückbildung
gebracht, der Tumorrest operativ entfernt (histo¬
logisch: Carcinom aus embryonaler Anlage); bis
jetzt ist Patientin rezidivfrei.
Die Beobachtungen zeigen, daß gewisse Car-
cinome, hier solche aus Embryonalanlagen, für
Radium- und Röntgenstrahlen eine besonders
hohe Empfindlichkeit besitzen.
Hei mann (Breslau): Die Intensivbestrah¬
lung in der Gynäkologie.
Bei Myomen und Metropathien hatte Hei-
mann mit der serienweisen Verabreichung so¬
wohl wie mit der ,,Kastration in einer Sitzung“
sehr gute Resultate. Für den Krebs reichte
weder die frühere Technik mit dem Apexapparat,
noch die Mesothorbestrahlung allein, noch die
kombinierte Mesothor-Röntgenbestrahlung aus;
das Resultat der 303 nachuntersuchten, meist
inoperablen Fälle ist betrübend. Die operablen
Fälle werden der Operation unterzogen.
Eckelt (Frankfurt a. M.): Weitere Erfah¬
rungen mit der Radium- und Röntgenbestrahlung
der Collumcarcinome.
Vqn den operablen und nur mit Radium be¬
strahlten Fällen waren nach zwei Jahren 40%,
nach ^ünf Jahren nur 14% geheilt, von den in¬
operablen nach zwei Janren 22%,' nach fünf
Jaliren nur 5%, die absolute Heilung beträgt
nach zwei Jahren 28%, nach fünf Jahren 7%.
Giesecke (Kiel): Unsere Erfahrungen mit
der Strahlenbehandlung des Uteruscarcinoms.
Von 533 Collumcarcinomen der Jahre 1910
bis 1919 sind bis jetzt geheilt: 160 Fälle = 30 %,
129 durch Operation, 31 durch Strahlenbehand¬
lung. Von 282 fünf Jahre wenigstens zurück
liegenden Fällen sind geheilt 63 Fälle = 22,34 %,
58 durch Operation und fünf durch Bestrahlung.
Die Kieler Klinik bestrahlt jeden operierten
Fall mit Röntgenstrahlen nach. Ausschließlich
mit Radium wurde nicht bestrahlt, sondern stets
mit Röntgen kombiniert.
Von 131 inoperablen Fällen ist bei elf Fällen
bis jetzt Heilung vorhanden, darunter vier Fälle
seit fünf Jahren geheilt.
Operable Fälle wurden seit 1916 bestrahlt;
von 34 Fällen 20 bis jetzt geheilt. Fälle von
Gravidität und Carcinom werden operiert und
nachbestrahlt.
Hinweis auf Streptokokkeninfektion nach Be¬
strahlung.
29 Fälle von nach Wert heim operierten
Carcinomen mit Radium nachbestrahlt, davon
19 geheilt, jedoch Verfahren aufgegeben; in drei
Fällen Rectum und Blasenscheidenfisteln.
(Schluß folgt.)
Referate
Eine Übersicht über zehn Jahre Ar-
throplastik gibt E. Payr. Der Autor
hat, als er die ersten Versuche über die
Beweglichmachung versteifter Gelenke am
Menschen vor zehn Jahren anstellte, das
Prinzip der Muskelinterposition von Hel-
ferich seinen Operationen zugrunde
gelegt und ist nach den ausgezeichne¬
ten Erfolgen, die er hiermit erzielt
hat, dieser M^ethode treu geblieben.
In der vorliegenden Arbeit gibt er eine
zusammenfassende Übersicht über alle
einschlägigem Fragen. Was zunächst die
Anzeigestellung betrifft, so wurde sie
wesentlich erweitert, indem — nur bei
Jugendlichen — auch bei hochgradiger
Muskelatrophie nach viele Jahre be¬
stehender Versteifung operiert wird. Fer¬
ner wird der Eingriff vorgenommen bei
multiplen Ankylosen, auch bei Kranken
in höherem Lebensalter, endlich bei sol¬
chen, weiche eine Lähmung einzelner
Nerven an den versteiften Gliedern haben.
Handelt es sich um mehrfache Verstei¬
fungen, so wird die Operation sofort bei
allen Gelenken gleichzeitig ausgeführt.
Sind erhebliche Veränderungen derWeich-
teile durch Narbenbildung vorhanden,
so werden diese, eventuell durch plastische
Operationen, zuvor beseitigt. Eine Gegen¬
indikation bildet überstandener Tetanus^
Die Prognose für die Kriegsverletzungen
ist mit Rücksicht auf die ruhende In¬
fektion eine erheblich schlechtere. Als
Voroperationen kommen neben den ge¬
nannten plastischen Operationen die
Sehnenverlängerung bei Contracturen, die
Wiederanheftung durchtrennter wichtiger
Muskeln, endlich die Korrektur von
Knochenbrüchen in Frage. Fremdkörper
und Sequester sind vorher zu entfernen.
Bei der , Schnittführung zur Operation
der Ankylose muß über alles die zur
späteren Bewegung nötige Funktion der
Muskeln berücksichtigt werden, und es
können darum meist nicht die klassischen
Schnittführungen zur Gelenkresektion An¬
wendung finden. Die Technik muß eine
extraperiostale sein und man soll nach
Möglichkeit die Schnitte in der Linie des
ehemaligen Gelenkspalts anlegen. Am
zweckmäßigsten sind diejenigen Schnitte,
welche das Gelenk wie ein Schloß mit
dem zugehörigen Schlüssel aufsperren.
In welcher Weise das geschieht, wird für
die einzelnen Gelenke von Payr näher
ausgeführt. Die knöcherne Ankylose
wird mit Meißel und Säge durchtrennt
in einer Form, daß sie schon das spätere
Gelenk äußerlich nachahmt. Für die
August
Die Therapie der Gegenwart 1920
301
Größenverhältnisse der Gelenkkörper gilt
allgemein der Satz: am konkaven Gelenk¬
körper den Radius vergrößern,, am kon¬
vexen verkleinern. Bei Scharniergelenken
müssen in die beiden Gelenkenden ,,Füh¬
rungssicherungen“ in Gestalt von Gleit¬
furchen hineingearbeitet werden. Der Ge¬
lenkspalt soll 1 bis 1% cm betragen. Von
den Weichteilen müssen sämtliche Schwie¬
len und Schwarten entfernt werden.
Zwischen die Gelenkenden wird frei über¬
pflanzte Fascie unter starkem Zug über
die neu gebildeten Gelenkkörper hinüber¬
gespannt. Payr gibt der Fascie den Vor¬
zug vor dem frei transplantierten Fett
oder dem gestielten Muskellappen. Da¬
neben macht er, wenn es die anatomischen
Verhältnisse zulassen, gern von dem ge¬
stielten Fettlappen Gebrauch. Die Wun¬
den werden vollkommen ohne Drainage
verschlossen, nur für diejenigen Fälle, in
denen aus J^estimmten Gründen von der
einjährigen Wartezeit Abstand genommen
wird, wird für 48 Stunden ein Glasrohr
eingelegt. Nach zwei Tagen wird mit
einer mäßig starken Extension begonnen
und gleichzeitig werden geringe aktive
und passive Bewegungen vorgenommen.
Regelmäßige Übungen beginnen nach
acht bis zehn Tagen. Als Nachoperation
kommen gelegentlich Reffung von neu
gebildeten Gelenkbändern, Formver¬
besserungen der Gelenkkörper usw. in
Betracht. Hayward.
(Zbl. f. Chir. 1920, Nr. 14.)
Über Darmresektion bei Säuglingen
"bringt Plenz zwei interessante Fälle, die
erfolgreich im Krankenhaus Charlotten-
burg-Westend operiert worden sind. Bei
dem ersten Kinde, welches sieben Monate
alt war, entstanden plötzlich die Zeichen
eines Darmverschlusses, der vorüber¬
gehend durch Rizinus etwas behoben
werden konnte. Fünf Tage nach den
ersten Symptomen gelangte das Kind
zur Operation, wobei eine Invagination
des unteren Dünndarmabschnitts in den
Dickdarm als Ursache des Darmver¬
schlusses festgestellt wurde. 30 cm des
Darmes mußten entfernt werden und
es wurde eine End-zu-End-Vereinigung
vorgenommen. Das zweite Kind war
erst zwei Stunden alt und wurde wegen
eines eingeklemmten Nabelschnurbruchs
operiert. Es fand sich eine Dünndarm¬
schlinge, deren zuführender Schenkel tief
blau verfärbt war und auf der Höhe dieser
Schlinge bestand eine durch ein Meckel-
-sches Divertikel gebildete hühnereigroße
Ausbuchtung. Es wurde eine^Resektion
vorgenommen und die Dünndarmenden
wurden Seit zu Seit miteinander ver¬
einigt. Auch in diesem Falle, der wohl
das jüngste mit Darmresektion behandelte
Kind darstellt, wurde volle Heilung
erzielt. Hayward.
(Zbl. f. Chir. 1920, Nr. 15.)
Über Föhnwirkung und Pathologie
berichtet der Prosektor des Kantonspitals
St. Gallen Prof. Helley. Föhnwirkung ist
Sammelname für alle aus südlicher Rich¬
tung kommenden Luftströmungen und
ihre Wirkung. Veranlassung gab ihm
Beobachtung frühzeitiger Reaktion so¬
wohl des eigenen Organismus wie Anderer
und das gleichzeitige Steigen der Mor¬
talitätskurve nach Beobachtungen am
Sektionstisch. Die. Reaktionen sind bei
den Einzelnen verschieden stark und auch
bei demselben Individuum wechselnd;
Ermattungserscheinungen, Unlustgefühl,
Kopfschmerzen, Conjunktivalrötung und
Brennen, Darm- und andere Koliken
(Atembeklemmungen, Herzdruck, d.Verf.).
,,Soweit das Obduktionsmaterial mit¬
zusprechen berechtigt, kann man sagen,
daß mit einer gewissen Regelmäßigkeit
ein Heraufgehen der Mortalitätsziffer zu
beobachten ist, wenn südliche Luft¬
strömungen einsetzen.“ Föhntodesfälle
in vier Gruppen zu teilen 1. Fall mit
raschem Versagen der Herztätigkeit bei
vorausgängiger unmittelbarer oder mittel¬
barer Schädigung der kardialen Leistungs¬
fähigkeit. 2. Unvermutet schnell ein¬
tretende Todesfälle von Individuen mit
labiler Konstituante, wobei allerdings
auch noch das Herz den Dienst versagt,
jedoch ohne daß es eine vorausgängige
Schädigung erkennen lassen müßte.
3. Selbstmord. 4. Unfälle. ' Ad 1 Säug¬
lingssterblichkeit mit Magen - Darm¬
erscheinungen, doch spielen auch
Diphtherie und andere Infektionen dabei
eine Rolle. Die sekundäre Herz¬
schädigung ist am Leichenorgan aus
Schlaffheit, Dilatation und Zerreißbarkeit
erkennbar, teils gehört sie zu den Folgen
toxischer Wirkungen der Erreger. Beim
Erwachsenen neben derartigen Infektionen,
Erkrankung des Herzens und Gefäße,
daher chronische und acute Vitien und zur
Dilatation und Hypertrophie führende
Zustände am Föhntod beteiligt, besonders
Aneurysma, allgemeine und Koronar¬
sklerosen. Beobachtung an einem Kind
mit Mitralendokarditis, jedesmalige Ver¬
schlimmerung und schließlich Tod bei
302
Die Therapie der Gegenwart 1920
August
Föhn. Emphysem und Nephritis besser.
Ad 2. Status thymicus-thymo-lympha-
ticum. Narkosetodesfälle und bei Myas¬
thenie sind nicht selten Föhntodesfälle.
Ferner gehören dahin congenitale Hirn¬
hypertrophien, Nebennierenhypoplasien
und sonstige der nervösen und inner¬
sekretorischen Regulierung abträgliche
Zustände. Die erhöhte Sterblichkeit der
Tuberkulösen ini Frühjahr ist wahr¬
scheinlich zum bedeutenden Teil auf die
im Frühjahr lebhafte südliche Luft¬
strömung zurückzuführen. Ad 3 und 4.
Einfluß des Föhns auf die Psyche, Beein¬
trächtigung der normalen Hemmungen.
Gleiche Beeinträchtigung und solche der
Sinnesleistungen, sowie auch der mus¬
kulären und nervösen Reaktionen führen
zu Unfällen. Häufte (Wilmersdorf).
(Schweiz, m. W. 1920, Nr. 6).
Den Erfolgen, die Petruschky seit
Jahren mit seiner perkutanen Schutz¬
behandlung gegen Tuberkulose erzielt
hat, stellt er neuerdings auch Erfahrungen
mit einer auf den gleichen theoretischen
Voraussetzungen beruhenden percutanen
Schutzbehandlung bei akuten Krank¬
heiten, besonders bei Ruhr, an die Seite.
Zwei Epidemien bei verschiedenen Trup¬
penteilen gaben Gelegenheit, an einem grö¬
ßeren Material Vergleiche anzustellen. Bei
der ersten Epidemie zeigte es sich, daß
bei der Gruppe, die nicht behandelt
wurde, der Prozentsatz der Erkrankten
15 mal so groß war als bei der Gruppe,
die prophylaktisch behandelt worden war.
Sogar der Prozentsatz der Todesfälle bei
den Nichtbehandelten war noch um etwa
die Hälfte größer (3,1 %) als der der Er¬
krankungsfälle bei den Schutzbehandel¬
ten (2,1 %), von denen keiner starb. Bei
der anderen offenbar schwereren Epidemie
wurde gleichzeitig eine Gruppe auch mit
dem Ruhrimpfstoff ,,Dysbakta“ Boehnke
gespritzt. Der Vergleich ergab: von den
Nichtbehandelten erkrankten 9,8 %, es
starben von den Erkrankten 54,4 %;
von den mit Dysbakta Behandelten er¬
krankten 3,6 %, es starben von den Er¬
krankten 21,4 %; von' den perkutan Be¬
handelten erkrankten 3,5 %, es starben
von den Erkrankten 14,4 %. Dies
Resultat dürfte auch für den Skeptiker
etwas Bestechendes haben und zur Nach¬
prüfung anregen, zumal das Verfahren
äußerst einfach und ohne die geringste
Belästigung für den Patienten durchzu¬
führen ist. Es wird von dem Material,
das nicht nur die verschiedenen Ruhr¬
erreger, sondern auch Paratyphus- und
Gärtnerbacillen — in abgetötetem Zu¬
stande — enthält, in Dosenfolgen von
zwei bis vier bis sechs bis acht Tropfen
auf gesunde Hautstellen eingerieben mit
ein- bis zweitägigem Zwischenraum. Das
Linimentum antidysentericum ist bereits
im Handel zu haben undvon der ,,Hageda‘^
zu beziehen. Regensburger (Berlin).
.(M. KI. 1919, Nr. 35.)
Als einen guten Secaleersatz bezeichnet
Walther das Thlaspan, einen Extrakt
aus dem Hirtentäschlein Capselia bursa
pastoris, hergestellt von dem chemischen
Laboratorium Dr. Denzel in Tübingen.
Um den etwas unangenehmen Geschmack
des Präparats zu beseitigen, werden
Corrigentien hinzugesetzt, so daß man
es am besten in folgende Form verordnet:
Thlaspan-Extr. burs. pastor. 25,0, Tct.
Aurant. 5,0, Tct. Chin. compos. 20,0.
D. S. zwei- bis dreimal täglich ^nen halben
bis einen Theelöffel. Es werden auch Am¬
pullen zu subcutanen Injektionen herge¬
stellt, jedoch hat Walther hierüber keine
Erfahrung. Recht zufriedenstellend waren
die Erfolge in folgenden Fällen: 1. post
partum nach Ausstoßung der Placenta;
2. ganz besonders bei atonischen Blu¬
tungen post partum und abortum; 3. bei
Blutungen im Wochenbett; 4. bei schwe¬
ren Menorrhagien eventuell auch Me¬
trorrhagien. Selbstverständlich kann ein
wirkliches wissenschaftliches Urteil erst'
dann abgegeben werden, wenn an einem
größeren klinischen Material Nachprü¬
fungen vorgenommen wurden. Versuche
an Tieren, wie am überlebenden Uterus
müssen noch durchgeführt werden.
Dagegen glauben Uhlmann und
Hirneistein im Secalopon, welches sie
im Institut Giba-Basel herstellen ließen,
das beste Secalepräparat zu sehen. Bei
ihren Versuchen ließen sie sich von folgen-
' den Grundgedanken leiten: Aus der ge¬
bräuchlichen Droge werden vollwertige,
von Ballast freie und injektible Extrakte
hergestellt; es genügt nun aber nicht,
die bekannten Alkaloide, Glykoside usw.
zu isolieren und wieder in einem be¬
stimmten Verhältnisse zu mischen; es
ist vielmehr wahrscheinlich, daß gewisse
wenig oder gar nicht wirksame Neben¬
alkaloide und Ballastsubstanzen doch
nicht ganz gleichgültig sind. Wenn sie
auch, einzeln angewendet, keinerlei phar¬
makologische Wirkung zeigen, so wird
es doch nach dem Potenzierungsgesetz
von Bürgi begreiflich, daß unter-
August
Die Therapie der Gegenwart 1920
303
schwellige Dosen verschiedener, chemisch
nicht verwandter Substanzen in ihrer
Kombination einen pharmakologischen
Effekt haben können. Es war deshalb
naheliegend, auch von diesen Neben¬
substanzen und sogenannten Ballast¬
stoffen des Mutterkorns alles> herüber¬
zunehmen, was sich in Lösung bringen
ließ und von dem das Experiment fest¬
stellen konnte, daß aus der Kombination
ein Vorteil erwuchs. Auf dieser Basis
ist das neue Präparat aufgebaut. Ver¬
suche am Uterus in situ und isolierten
Organen haben folgendes ergeben: Se-
calopon ist das weitaus stärkste aller
untersuchten Secalepräparate, besitzt
keine große Toxicität, wirkt weniger auf
die'Gefäße und reizt äußerst wenig bei
subcutaner und intramusculärer Appli¬
kation.
Pulvermachcr (Charlottenburg).
(M. Kl. 1920, Nr. 24.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Zwei technische Neuerungen zur intravenösen Therapie.
^ Von San.-Rat Dr. Martin Sußmann, Berlin.
Wenn die intravenöse Therapie in das
allgemeine Rüstzeug des praktischen
Arztes bisher noch nicht in dem Maße
übergegangen ist, wie sie es verdient, so
ist der Grund hierfür wohl hauptsächlich
der, daß der Methode noch einige
Schwierigkeiten anhaften, die eine ge¬
wisse Scheu vor ihrer Anwendung er¬
klären. Denn gerade bei den intravenös
wirksamsten Mitteln, wie Salvarsan, Stro¬
phantin, Kolloidalen, Hormonal usw. ge¬
nügen schon wenige Tropfen, die ,,da¬
neben“, also in das der Vene benachbarte
Gewebe geraten, um meist sehr empfind¬
liche, zuweilen lange anhaltende Schmer¬
zen und Infiltrate, oft auch Nekrosen zu
verursachen, so daß nach einem solchen
Mißgeschick dem Arzt für einige Zeit die
Lust zu weiterer intravenöser Betätigung
vergehen kann.
Insbesondere zwei Schwierigkeiten gilt
es zu überwinden. Bei der intravenösen
Injektion dunkler Flüssigkeiten, wie
Kollargollösung, Hormonal und ähnlicher,
ist es schwer, meist sogar unmöglich, sich
durch Ansaugen von Blut davon zu über¬
zeugen, ob die Kanüle richtig im Lumen
der Vene liegt, da das in die Spritze ein¬
tretende Blut sich nicht von der dunklen
Farbe der Injektionsflüssigkeit abhebt;
man muß dann gewissermaßen aufs Ge¬
ratewohl einspritzen, was immerhin ein
gewisses Gefühl von Unsicherheit erzeugt.
Der zweite Übelstand ist der, daß es
namentlich bei der Injektion größerer
Flüssigkeitsmengen, 10 bis 20 ccm und
mehr, vorkommt, ‘ daß während der
Einspritzung, die je nach der Menge fünf
bis zehn Minuten und länger, bei Zucker¬
lösungen bis zu einer Stunde währen soll,
durch eine geringfügige Drehung der
Kanüle deren Spitze sich in die Venen¬
wand einbohrt und dadurch ein Infiltrat
entsteht, was meist zur Unterbrechung
der Injektion zwingt.
Beide Schwierigkeiten lassen sich
durch den von mir angegebenen In-
j ektionstrokar vermeiden Er besteht,
wie jeder Trokar, aus einer Röhre (Fig. 1)
und dem Stilett (Fig. 2) und wird in be¬
kannter Art geschlossen (Fig. 3) in die
Vene eingeführt; wird dann das Stilett
herausgezogen, so stürzt das Blut in
feinem Strahl aus der Kanüle heraus, die
gefüllte Spritze wird aufgesetzt, und nun
kann die Injektion so langsam, wie nur
erforderlich, vor sich gehen: man weiß
sicher, daß die Kanüle im Venenlumen
gut liegt, und die Venenwand kann nicht
mehr angespießt werden.
304
Die Therapie der Gegenwart 1920 Aügust
i ^ ^ ^ ■ “
Die Schwierigkeit bei Herstellung
des Injektionstrokars liegt, abgesehen
davon, daß das Instrument recht dünn
ausfallen soll, darin, daß der Übergang
vom Rohrende zum Stilett ein möglichst
glatter, unmerklicher sein muß, damit
nicht bei Einführung des Instruments an
dieser Stelle ein Widerstand fühlbar ist.
Ein jeder, der sich öfter eines Trokars,
sei es zu Bauch- oder Brustpunktionen,
-sei es des Capillartrokars bei Ödemen,
bedient, weiß, daß man den an der be-
zeichneten Stelle oft stark fühlbaren
Widerstand nur durch kräftiges und
•schnelles Einstoßen des Trokars über¬
winden kann. Gerade dieses etwas ge¬
waltsame und. brüske Vorgehen ist beim i
Injektionstrokar unmöglich; dieser muß 1
möglichst sanft durch die Haut hindurch- i
dringen, da sonst die leicht verschiebliche |
Vene ausweicht. Dieser Schwierigkeit!
ist die Geschicklichkeit des Instrumenten-1
machers in dankenswerter Weise Herrl
geworden; das Rohr selbst hat bei einem
äußeren Durchmesser von knapp 1 mm
eine Wandstärke von nur 0,1 mm.
Wenn der praktische Arzt, besonders
in der Kleinstadt und auf dem Lande,
sich der intravenösen Therapie oft und
gern bedienen soll, dann muß er ohne
geschulte, ja überhaupt ohne jede As¬
sistenz auskommen. Es ist aber immerhin
ein nicht geringer Unterschied, ob der
injizierende Arzt eine Assistenz zur Ver¬
fügung hat, die das abschnürende Tuch,
beziehungsweise den komprimierenden
Schlauch hält und auf Befehl löst, oder
ob er selbst, die Lösung vornehmen muß,
sei es auch nür durch Öffnung eines Pean
oder Kocher, da gerade hierbei ein nach¬
trägliches Anspießen der Venenwand vor¬
kommt. Zur schnellen und leichten
Lösung der Abschnürung habe ich daher
eine neue Klemmvorrichtung^) an¬
gegeben, wie sie Fig. 4 wiedergibt. Die
Anwendung ist ohne weiteres klar: Der
Apparat wird in diesem (geöffneten)
Zustand auf den entblößten Oberarm
gelegt, der Schlauch (am besten von 1 cm
Durchmesser) über das Lager (c) fest an¬
gezogen, der Deckel (a) darüber geklappt
und nun durch Herunterdrücken des
Hebejs (b) die Abschnürung geschlossen.
Das Öffnen geschieht, indem, man den
Hebel durch leichten Fingerdruck hoch-
schnellen läßt.
0 Beide Instrumente sind bei Georg Wolf
G. m. b. H., Berlin N, Karlstraße 18, käuflich.
Bei dieser Gelegenheit sei es mir er¬
laubt, auf einen Umstand aufmerksam
zu machen, der für eine möglichst lange
Instruments — von Bedeutung ist. Hat
man die Spritze ausgekocht, so kann man,
je härter das Wasser ist, um so mehr be¬
merken, daß es oft schwer hält, den
Kolben in die Spritze emzuführen: die
beim Kochen des Wassers ausgeschiedenen
Erdalkalien haben sich am Kolben und
im Innern der Spritze niedergeschlagen
und verkleinern das Lumen der Spritze
beziehungsweise vergrößern den Kolben¬
umfang, und das entstandene Mißver¬
hältnis erschwert die Einführung des
Kolbens. Durch das notwendigerweise
etwas gewaltsame Einschieben des Kol¬
bens läßt die Dichtigkeit der Spritze all¬
mählich nach. In gleicher Weise leiden
schneidende und spitze Instrumente, be¬
sonders jetzt beim Fehlen der Soda, in¬
folge der beim Sterilisieren in kochendem
Wasser entstehenden Niederschläge. Die¬
sem Übelstand läßt sich dadurch be¬
gegnen, daß man Spritzen und scharfe
Instrumente in destilliertem Wasser
auskocht. Die Unkosten sind nur sehr
gering, weil man das Wasser ja immer
wieder verwenden kann; übrigens werden
sie auch reichlich ausgeglichen durch gutes
Funktionieren der Spritze und längere
Erhaltung der Schärfe der Instrumente.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Berlin W 8.
^1623 1920 ' Ä
Die Therapie der Gegenwart
herausgegeben von *
el. Jahrgang Geh. Med.-Rat Prof. Dr^G. Klemperer 9. Heft
Neueste Folge. XX'II.Jahrg. BERLIN September 1920
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Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementspreis halbjährl ch
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•Therapie der OegenWart. Anzeigen.
9. Heft
Ftii?
RECPNVAIESCENTLN
nach Fl eher, Biuj^erlusf
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^tonischef'
ein vorzü^jUches
Herzfonicum
ROBORANS
Sf imulans für den Appefii
VMi.Uhlmaim,Jnh.Apoih.B.RAtHFrankfuriaII..
DIGIPAN
nimmt unter allen Herzmitteln eine hervorragende Stellung
ein, weil es den therapeutischen Höchsteffekt der Digitas
lisdroge gewährleistet. Die stets gleiche chemische Be=
schaffenheit und die regelmäßige physiologische Einstel=
lung bedingen die Unveränderlichkeit seiner Wirkung. Diese
experimentell, wie klinisch erwiesenen Tatsachen erklären
das überaus günstige Urteil hervorragender Vertreter der
Wissenschaft und Praxis, welche die ausgezeichneten Eigen=
schäften des Digipans am Krankenbette kennen gelernt haben.
TEMMLER-WERKE, Vereinigte Chemische Fabriken DETMOLD.
- Diesem Heft lieeen Pro^^pekte folgender Firmen bei: -
C. H. Boehringer Sohn, Nieder-Ingelheim a. Rh., betr,: „Laudanon“ u. „Cotarnin*^. — Kalle & Co. A.-ö., Biebrich a. Rh., betr.;
„Neuronal“. — Urban & Schwarzenberg, Berlin N24 u. Wien, über „Mayerhofer u. Pirquet, Lehrbuch der \’olksernährung“.
Die Therapie der Gegenwart
1 QOr^ herausgegeben von üeh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
Lv4U in Berlin. oeptemDer
Nachdruck verboten.
Aus dem Stadt. Kraukenhausb Müucbeii rechts der Isar (Direktor: Prof. Sittmanu).
über Strychninbehandlung.
Von Dr. G. Blank, 1. Assistent der medizinischen Abteilung. i
Während im verflossenen.Jahrhundert
Strychnin bei der Behandlung des Seh¬
nervenschwundes und sonstiger centraler
Lähmungen gern verordnet wurde, hat
in den letzten Jahrzehnten die theo¬
retische und praktische Arzneikunde
dieses Mittel immer mehr vernachlässigt-.
So schreibt v. Tappeiner in seinem Lehr¬
buch der Arzneimittellehre: Das Strych¬
nin spielt als Arzneimittel keine hervor¬
ragende Rolle.
'Der Grund, warum ein Mittel, dem
auf Grund seiner pharmakodynamischen
Eigentümlichkeiten geradezu specifische
Wirkungen zukommen, von den deutschen
Ärzten zunehmend vernachlässigt wurde,
ist vor allem in unzweckmäßiger Dosierung
und Verordnungsweise zu suchen. Aus
Besorgnis vor Cumiulatiön, deren An¬
nahme sich auf die im Tierversuch sehr
langsame Ausscheidung durch den Harn
gründete, wurde Strychnin nur in
kleinsten, fast homöopathischen Mengen
gegeben. Da infolgedessen der Erfolg
kein sinnfälliger war, wurde meistens die
Anwendung vorzeitig abgebrochen; auch
kannte man nur die innerliche, nicht die
wirksamere subciitane und-intravenöse
Verordnungsweise.
Demgegenüber gehört Strychnin im
Auslande, besonders in Amerika und
Frankreich, zum Rüstzeug des prak¬
tischen Arztes. Aus schiffsärztlicher Tätig¬
keit weiß ich, daß in amerikanischen Arzt¬
bestecken Strychnin in kleinen, leicht
wasserlöslichen Kompretten als einziges
Kreislaufmittel vorhanden ist. ln er-
beuteten französischen Kriegslazaretten
waren wir von der Rolle, die es als ge¬
schätztes Kollapsmittel, besonders bei
Chirurgen spielt, überrascht.
Eine genaue Kenntnis der pharma¬
kologischen Eigenschaften des Strychnins
ist zwecks richtiger, gegen früher wesent¬
lich erweiterter Anwendung und zur
kritischen Beurteilung der Behandlungs¬
ergebnisse unerläßlich.
Strychnin gehört zu den Alkaloiden. Es ist
in Wasser schwer löslich, als Salz leicht löslich.
Man verordnet es als Strychninum nitricum. Seine
mittlere tötliche Menge beträgt 0,1 bis 0,12 g.
Strychnin, das in toxischen Gaben zum Tetanus
führt, wirkt erregbarkeitssteigernd auf das
gesamte Zentralnervensystem. Es fördert unter
Ausschaltung hemmender Einflüsse die
Reflexübertragung vom sensiblen zum motorischen
Teil des Reflexbogens.
Von gänz besonders praktischer Bedeutung ist
auf Grund dieser allgemein-pharmakologischen
Eigentümlichkeiten die erregende, energie- und
tonussteigernde Wirkung des Strychnins auf
lebenswichtige Centren des verlängerten Markes,
auf die der Atmung, Gefäßinnervation und
Körperwärme. Dabei ist es wichtig zu wissen,
daß beim Menschen die Erregbarkeitssteigerung
nur bei Störung des physiologischen Gleichgewichts
mit klinischen Untersuchungsmethoden nachweis¬
bar wird.
Strychnin steigert also:
1. die Erregbarkeit des durch Veränderung
der Blutgaszusammensetzung oder durch endogene
und exogene Gifte geschädigten Atemcentrums.
2. die Erregbarkeit des Gefäßnerven-
ceptrums. Infolge der Eigenschaft des Strych¬
nins, nicht alle Stromgebiete in gleicher Stärke
vasokonstriktorisch zu beleben, kommt es zur
Gefäßverengerung vorwiegend in dem* für einen
normalen Vasomotorentonus ausschlaggebenden,
weitverzweigten, geräumigen Splanchnikusgebiete,
während sich die Gefäße des Gehirns und der
Peripherie erweitern. Durch diese central¬
vasomotorische Wirkung, die übrigens der toxisch-
tetanischen wesentlich vorangeht, wird eine
günstige Beeinflussung der Blutverteilung und
des Biutumiaufs erzielt, der Blutdruck steigt,
die Herzarbeit wird erleichtert und befördert und
durch Reizung des Vaguscentrums tritt Puls-
verlangsamung ein.
Wir lernen also im Strychnin einen Haupt¬
vertreter eines unmittelbar central wirken¬
den Gefäßnervenmittels schätzen.
In diesem Zusammenhänge, sei auf neuere
pharmakologische Ergebnisse hingewiesen, die
aber noch nicht ahgemein anerkannt sind. Ca-
meron will eine unmittelbare Herzwirkung
des Strychnins durch Hebung des Muskeltonus
festgestellt haben. Von noch größerer praktischer
Bedeutung wären französische Forschungsergeb¬
nisse, nach denen Strychnin imstande sein soll,
die Erregbarkeit der intra- und extrakardialen
nervösen Apparate zu heben, die Reizleitung
und -Verteilung zu regulieren und zu
fördern. In jüngster Zeit werden diese Angaben
von van Egmond bestätigt. In Tierversuchen
stellte er fest, daß Strychnin die Leitung zwischen
Vorhof und Kammer verbessert. Die Verbesse¬
rung ist noch bei Mengen bemerkbar, die auf
Kontraktilität und Frequenz keinen Einfluß mehr
ausüben. Bei größeren Strychninmengen nehmen
39
306
Die Therapie der Gegenwart 1920
September
beide bei unverändert günstigem Einfluß auf di?
Reizleitung ab. Daß
•3. Strychnin fähig zu sein scheint, krank¬
haft veränderte Körperwärme vorübergehend
regulierend zu beeinflussen, sei später mit
Beobachtungen am Krankenbette belegt.
Zu diesen Haupteigenschaften des Strychnins,
die im großen und ganzen pharmakölogisch-
experimentell wohl begründet, praktisch aber nur
wenig verwertet waren, tritt nun — besonders
nach ausländischen, bisher durch die Zeitumstände
wenig nachgeprüften Angaben — eine weitere
Eigentümlichkeit des Strychnins, die Veran¬
lassung zu wesentlich erweiterter Anwendung
werden sollte. Sie beruht auf der elektiven Be¬
einflussung centraler aufnehmender und reiz-
leitender Apparate. Das Strychnin wirkt aus¬
gleichend auf Hemmung und Bahnung der ver¬
schiedenartigsten, dem Centralnervensystem un¬
aufhörlich zufließenden sensiblen und sensorischen
Impulse. Und. zwar scheint diese Wirkung vor¬
nehmlich dann in Erscheinung zu treten, wenn
sozusagen das harmonische Zusammenspiel ge¬
stört war. Ganz besonders wird die Aufnahme
schmerzhafter Empfindungen gedämpft und die
Reizschwelle für unangenehme Organsensationen
herabgedrückt. An Stelle gedrückter, pessi¬
mistischer Stimmung und geistiger Trägheit soll
eine belebende Wirkung auf psychischem Gebiete
unverkennbar sein. Das Strychnin soll also
4. ein ausgesprochen euphorisierendes
Mittel sein.
Die praktischen Folgerungen aus
diesen pharmakologischen Voraussetzun¬
gen stützen sich zum größten Teil auf
eigene Eri:jrobung des Strychnins am
Krankenbett. Soweit nicht anders be¬
merkt, habe ich das Strychnin nur intra¬
venös eingespritzt. Es sei gleich bemerkt,
daß irgendwelche schädliche Folgen und
Zwischenfälle besonders der intravenösen
Strychriinbehandlung, nicht zu befürchten
sind. Anderseits verbürgt die intravenöse
Anwendung eine schnelle und vollwertige
Wirkung, da sie durch den Blutstrom das
Mittel unmittelbar und unabgeschwächt
seinem Angriffspunkt, dem Centralnerven¬
system zuführt.
Bei Atemlähmung sollte in jedem
Fall neben anderen erprobten physi¬
kalischen Maßnahmen Strychnin intra¬
venös in einer Menge von 2 bis 3 mg ge¬
geben werden. Besonders den Chirurgen
sei es zur Bekämpfung asphyktischer
Narkosezwischenfälle warm empfohlen.
Ob das Strychnin, prophylaktisch zu Be¬
ginn der Operation gegeben, die aus langer
Narkose für das Atemcentrum drohenden
Gefahren ausschalten kann, wäre zu er¬
proben.
Die weitere Empfehlung, bei Erkran¬
kungen, die mit starker Inanspruchnahme
des Atemcentrums einhergehen und trotz¬
dem Morphiumanwendung erfordern, das
durch das Morphium noch mehr ge¬
fährdete Atemcentrum durch gleich¬
zeitige intra\^riöse Strychnindarreichung
(pro 1 cg Morphium 1 mg Strychnin) anzu¬
peitschen, stützt sich auf eigene Versuche
an Gaskranken und Grippelungenentzün¬
dungen im Felde. Besonders bei schwer
Phosgengaskranken, bei denen die An¬
sprüche an das Atemcentrum so häufig
unerfüllbar werden, glaube ich deshalb
von den ungünstigen Erfahrungen, die
andere Ärzte mit Morphiumeinspritzungen
bei Schwergaskranken machten, verschont
geblieben zu sein, weil ich das Morphium
mit Strychnin kombinierte. Je nach der
Dringlichkeit kann man das Strychnin
getrennt intravenös oder zusammen in
einer Spritze subcutan geben. Auch bei
schweren Lungenentzündungen erleichtert
die gleichzeitige Strychninanwendung die
Zweifel, in die bei alleiniger Morphium¬
verabreichung der Wunsch zu lindern und
die Sorge zu schaden den gewissenhaften
Arzt bringen können. Auch glaubte ich
bei manchen Fällen' objektiv eine Be¬
ruhigung der Atmung feststellen zu
können.
Bei manchen akuten Vergiftungen,
die mit einer Atemlähmung einhergehen
können, wie z. B. Ckloral, Morphium,
Alkohol, ist die Anwendung des Strych¬
nins nach seiner pharmakologischen Wir¬
kung auf das Atemcentrum wohl ver¬
ständlich. Die Mitteilung, daß das Strych¬
nin bei rigorosen Morphiumentzie-
hungsk-uren wertvolle Dienste leistet,
indem es die bedrohlichen, oft kollaps¬
artigen, zur Kurunterbrechung zwingen¬
den Kreislaufstörungen mildert, sei zwecks
Nachprüfung erwähnt; eigene Erfah¬
rungen fehlen uns.
Nun zum praktisch wichtigsten An¬
wendungsgebiet des Strychnins bei der
Bekämpfung akuten oder drohenden Ge¬
fäßnervenzusammenbruches ! Hier wirkt
es Wunder, besonders beim Kollaps.
Durch die pressorische Wirkung auf den
Splanchnikus und die gleichzeitige dila-
tatorische auf die Hirngefäße wird
die schädliche Blutverteilung in kürzester
Zeit wieder ausgeglichen. Für dringliche
Anwendung empfiehlt es sich, Strych-
ninum nitricum in 2‘^/ooiger Lösung in
sterilen Ampullen vorrätig zu halten.
Nach dem Beispiel des Auslandes möchten
wir sie in keinem Besteck für erste Hilfe
mehr missen.
Ausgezeichnete Erfolge sah ich im
Kriege von intravenösen Strychnineiii-
spritzungen bei Schwergaskranken, bei
denen ja die Schädigung des Gefäßnerven-
centrums neben der bereits erwähnten
307
September ,• Die Therapie der Gegenwart 1920 .
des Atemcentrums eins der hervor¬
stechendsten sekundären Krankheits-
zeichen bildet. Ich behandelte schwerste
Fälle mit hochgradigem Lungenödem
unter Fortlassung aller anderen Kreis¬
laufmittel lediglich mit Strychnin mit
günstigem Ausgange. Durch fortlaufende
Blutdruckmessungen konnte ich neben
Besserung des Pulsverhaltens eine me߬
bare Erhöhung des Blutdruckes be¬
achten, die ich bei den sonst üblichen
Gefäßmitteln wie Coffein, Campher usw.
nie feststellen konnte. Diese Tatsache
der nachweisbaren Blutdruck erhöhung
durch Strychnin bei sekundärer Gefä߬
lähmung ist auffällig, da, wie später er¬
wähnt, bei primärer weder anderen Unter¬
suchern noch uns der Nachweis möglich
war. Vielleicht spricht diese Beobachtung
bei Gaskranken, bei denen/ja infolge
Bluteindickung das Herz primär ge¬
schädigt ist, für die unmittelbare, muskel-
tonisierende Herzwirkung des Strychnins
im Sinne Camerons.
Auf Grund ausgedehnter Erfahrungen,
die wir besonders an dem reichen Material
der Grippeepidemie sammeln konnten,
emp'fehlen wir wärmstens die intravenöse
Strychninanwendung bei allen primären
Kreislaufstörungen, die im Verlauf akuter
Infektionskrankheiten auftreten.
Zum Verständnis dieser Empfehlung
sind hier einige grundsätzliche Bemer¬
kungen über dje Art der Kreislaufstörung
bei akuten Infektionen am Platze, wobei
wir besonders auf die Verhältnisse bei der
Grippe Bezug nehmen.
Für die Wahl des Kreislaufmittels; die
eine der verantwortungsvollsten, folgen¬
schwersten Aufgaben des Arztes am
Krankenbette bedeutet, ist die Frage ent¬
scheidend, ob Herzschwäche oder Gefä߬
nervenschwäche vorliegt. Die Beant¬
wortung hat auf Grund pathologischer,
klinischer und ^ experimenteller Erfah¬
rungen zu erfolgen.
Die Autopsie in den ersten Tagen
akuter Grippeinfektion Verstorbener, er¬
gibt in den meisten Fällen weder ma¬
kroskopisch noch histologisch eine Schädi¬
gung des Herzens; Herzdehnung, Ver¬
änderungen an Klappen, Herzbeutel usw.,
trübe Schwellung und Verfettung finden
sich erst in späteren Krankheitsstadien.
Zu bedenken ist allerdings, daß der
normale Befund des pathologischen Ana¬
tomen nicht immer gleichbedeutend ist
mit ungestörter Organfunktion.
Was lehrt uns nun die klinische Beob¬
achtung? Überzeugende Beweise für das
Bestehen einer primären, akut infektiösen
Herzschwäche lassen sich aus dem physi¬
kalischen Herzbefund nicht ableiten. Bei
akut Grippekranken vermissen wir per¬
kutorisch und röntgoskopisch Herz¬
erweiterung, auch fehlen Geräusche
oder Pulsveränderungen in Form
stärkerer Beschleunigung oder Unregel¬
mäßigkeit. Vor allem aber spricht das
Fehlen von Stauungserscheinungen
von seiten der Lungen, Leber oder Nieren
gegen primäre Herzschädigung. Auch das
Ausbleiben der gewohnten Digitaliswir¬
kung auf Puls-, und Blutdruckverhalten
der Grippekranken ist in diesem Sinne
zu bewerten.
Die Vasomotorehätiologie verdankt be¬
sonders den grundlegenden experimentellen Ar¬
beiten Rombergs und seiner Schüler ihreffür
die Therapie entscheidende Stütze. Ellinger
und Adler gelangten mit dem Dysenterie-, For¬
tunat o mit dem Influenzatoxin zu gleichem Er¬
gebnis. Aus diesen Versuchen wissen wir, daß
die Gifte der’akuten Infektionskrankheiten eine
ausgesprochene Affinität zum Centralnerven¬
system, damit also auch zu denjenigen lebens¬
wichtigen medullären Gebieten zeigen, die neben
der Wärmeregulierung und Atemsteuerung die
Innervation der Gefäße besorgen. Das Experiment
lehrt uns, daß die Schädigung oder der Ausfall
des Gefäßnervencentrums ein Mißverhältnis
zwischen Angebot und Nachfrage schafft, daß es
zu tiefgreitenden, ja katastrophalen Störungen der
Blutverteilung kommt, die dann schließlich, aber
erst sekundär, durch' Mangel an Arbeitsstoff
auch die Arbeitsfähigkeit des Herzens herab¬
setzen. Die Schwere und Heilbarkeit der Kreis¬
laufstörung werden bestimmt durch die Blut¬
menge, die infolge Splanchnikuslähmung in das
weitverzweigte Bauchreservoir abfließt, weiter
dadurch, ob die reflektorisch einsetzenden Aus¬
gleichsversuche des Körpers, die sich haupt¬
sächlich in den Gefäßen der Haut und Muskulatur
abspielen, hinreichen, um den Aortendruck auf
einer solchen Höhe zu halten, die eine mit dem
Leben nicht vereinbare Blutverarmung lebens¬
wichtiger Stromgebiete, besonders des Herz¬
muskels und des Nervensystems, verhütet.
Histologische Untersuchungen (Stoerck und
Epstein) stellten bei der Grippe schwere de-
generativ-nekrotisierende Gefäßwanderkrankung
mit besonderer Beteiligung der Contractilen und
elastischen Elemente fest. Zu der central be¬
dingten Lähmung kommt also die durch die
Gefäßerkrankung verursachte herabgesetzte An¬
spruchsfähigkeit auf vasokonstriktorische Reize.
Was nun die klinische Seite der Frage an¬
betrifft, so ist auf Grund eben dargelegter Ab¬
hängigkeit von Herz- und Gefäßfunktion zuzu¬
geben, daß im Einzelfalle die Symptom.e der Herz¬
schwäche und Gefäßlähmung oft schwer zu trennen
sind. Vom Standpunkte rationeller Therapie aus
wäre es aber falsch, wenn wir uns einfach mit
dem Vorliegen eines gewissen Circulus vitiosus
abfinden wollten. Wenn auch die Wirkung auf
den Gesamtkreislauf nicht wesentlich verschieden
ist, die Ursachen sollten nach Möglichkeit streng
analysiert werden, was primär, was sekundär ist,
die Vasomotoren- oder die Herzschwäche.
Im folgenden seien mehrere Symptome an¬
geführt, die uns besonders bei schweren Grippen
39"
308
''' . ■ ■ I
Die 'pierapie der Gegenwart 1920
/ September
und. Grippepneumonien auffielen und deren
Auftreten nach unserer Erfahrung das Bestehen
oder Drohen primärer Gefäßlähmung ankündigt.
Charakteristisch in dieser Hinsicht- sind für
den ruhig im Bett liegenden Grippekranken eine
• auffällig blasse Cyanose und eine weniger durch
Häufigkeit, als durch Tiefe, Hörbarkeit und
Mitbewegung der Nasenflügel gekennzeichnete
Dyspnoe, die beide entschieden stärker sind,
als/dem objektiven Herz- und Pulsbefund und
dem Ergriffensein der Respi rationswege ent¬
spricht.
Besonders in Erscheinung tritt dieses Ver¬
sagen der medullären Centren, wenn dem Kranken
die geringste körperliche Bewegung zugemutet
wird. Kurzdauerndes Aufsitzen im Bett zwecks
Auscultation der hinteren Lungenabschnitte, ein
Hustenanfall nach Aufforderung zu tiefer Ein¬
atmung usw. verursachen eine bedenkliche Zu¬
nahme der Cyanose und eine Steigerung der
Dyspnoe zu richtigem Lufthunger.
Als weiteres Zeichen cerebral bedingter Cir-'
culationsstörung sei die subjektive Klage über.
Schwindelgefühl beim Auf richten genannt, das
in manchen Fällen schon im Inkubationsstadium
vorhanden ist und oft noch lange bis in die Re¬
konvaleszenz bestehen bleibt. In schweren Fällen
kann es sich bis zum Ohnmachtsanfall mit ver¬
fallenem Aussehen steigern.
Sehr beweisend für die Vasomotorenätiologie
i'st viertens das Verhalten des Blutdrucks nach
körperlicher Bewegung, eine Beobachtung, die
selbstverständlich nicht als praktische Unter¬
suchungsmethode empfohlen werden soll, gleich¬
wohl aber für die vorliegende Frage von theore¬
tischem Interesse ist. Bei Schwergaskranken,
bei denen ja bekanntlich der Vasomotorenkollaps
im Vordergrund des Krankheitsbildes steht habe
ich das Blutdruckverhalten nach körperlicher
Bewegung auf der Höhe der Erkrankung einer
methodischen Prüfung unterworfen. Meine da¬
maligen, infolge militärischer Zensur unveröffent¬
licht gebliebenen Ergebnisse fand ich bei der
Grippeepidemie an zur Nachprüfung geeigneten
Fällen regelmäßig bestätigt. Entgegen dem
physiologischen Verhalten sinkt unmittelbar nach
körperlicher Bewegung der systolische Blutdruck
. um ein Beträchtliches ab. Der Sturz kann bis zu
30 mm Hg betragen. Besonders instruktiv ist
die gleichzeitige Bestimmung mit Reckling-
hausenschem Tonometer am Oberarm und
Gärtnerschem Tonometer an der Fingerkuppe
des gleichen Armes, wobei unter Berücksichtigung
der verschiedenen Wertangaben beider Apparate
an der Peripherie eine stärkere Drucksenkung
als am Oberarm festzustellen ist. Dieses Phänomen
ist in manchen, besonders schweren Fällen noch
lange nach Ablauf der eigentlichen Erkrankung
zu erheben, wo sonstige objektive Symptome
fehlen, auch eine genaue Herzfunktionsprüfung
ein befriedigendes- Ergebnis liefert. Der positive
Ausfall dient mir als Beweis der Realität mancher
unbestimmten Rekonvaleszentenklagen. Diese
Beobachtung liefert eine Bestätigung der früher
erwähnten experimentellen Tierversuche am
kranken Menschen: infolge toxischen Versagens
des Gefäßnervencentrums kommt es zum Ab¬
strömen der Hauptblutmenge in das gelähmte
Splanchnikusgebiet und damit zur Blutver¬
armung anderer, teilweise lebenswichtiger Gefä߬
gebiete.
Als letzter Beweis für die centrale Natur der
Kreislaufschwäche bei akuten Infektionen hat
selbstverständlich auch die bessere Wirkung der 1
Gefäßmittel gegenüber den reinen Herzmitteln
zu gelten.
Erinnern wir uns an die pharmakologischen
Vorbemerkungen, nach denen Strychnin Haupt¬
vertreter eines unmittelbar central wirkenden
Gefäßmittels ist,, so erscheint uns im Hinblick
auf die vorstehenden grundsätzlichen Bemer¬
kungen über die Art der Kreislaufstörung bei
akuten Infektionen die warme Empfehlung des
Strychnins hinreichend begründet.
Was nun unsere speziellen Erfahrungen
bei der Bekämpfung'der akut toxischen
Kreislaufschwäche anbetrifft, so beziehen
sich diese, wie bereits erwähnt, lediglich
auf intra.venöse Einspritzungen. ' Ich
brauche nicht zu bemerken;' daß jede
andere medikamentöse Behandlung unter¬
blieb. 'Die Kranken erhielten nur etwas
Alkohol und bei starken Beschwerden
abends0,01 Morphium subcutan. Die Höhe
der Strycl^nindosis richtet sich nach der
Schwere der Vasomotorenschädigung, be¬
urteilt nach den früher erwähnten Kri¬
terien. Als Einzelgabe genügt 1 bis 2 mg.
Die höchste Tagesdosis, die wir somit .bei.
dreimaliger ^Einspritzung erreichten, be¬
trug 6 mg.' Man kann die Injektionen
tagelang; bei Bedürfnis bis zum Eintritt
der Krise ohne jeden Schaden fortsetzen.
Zu welchem Zeitpunkt soll man nun das
Strychnin, besonders bei grippaler Pneu¬
monie anwenden? Auf Grund unserer
Erfahrungen können wir nicht dringend
genug raten, die Injektion rechtzeitig
zu machen, das heißt nicht erst, wenn die
schädlichen Folgen dej Splanchnikus-
lähmung klar zutage treten, sondern so¬
zusagen beim ersten Wetterleuchten der
Gafäßlähmung, also bei Klagen über
Schwindelgefühl, beim ersten Auftreten
von Cyanose und Dyspnoe, bei Zunahme
derselben und Nachlassen der Pulsfüllung,
eventuell auch des Blutdruckes nach ge¬
ringster körperlicher Bewegung. Wer in
dieser Weise vorgeht, wird, wie es uns
ergangen ist, die für den Internisten so
seltene, überzeugende ünd zweifelsfreie
Befriedigung erleben, einem Kranken
durch rechtzeitige Anwendung eines
Mittels wirklich geholfen zu haben. Auf
Grund meiner an vielen Fällen schwerer
Pneumonie gerade in jüngster Zeit er¬
lebten günstigen Erfolge habe ich an
Stelle der früheren Campher- und Coffein-
einspritziingen lediglich die intravenöse
Strychninbehandlung gesetzt. Daß na¬
türlich Komplikationen von seiten des
Herzens eintreten könrierT; die die An¬
wendung eines Herzmittels erfordern, be¬
darf keines Hinweises. In solchen Fällen
empfehlen wir das Digitalispräparat, von
denen wir Digipan, Digipurat oder Stro-
^epteiHbßr / , '* Die Therapie der
phantin bevorzugen, in einer (Spritze zu¬
sammen mit Strychnin intravenös zu
geben, weil man mit oraler Digitaliszufuhr
zu spät kommt.
Welche Wirkungen beobachtet man
nun nach intravenöser Strychninein¬
spritzung am Krankenbett? In Überein-’
Stimmung mit den Reinhartschen Unter¬
suchungen kann ich bestätigen, daß im
Gegensatz zu den Beobachtungen an
Gaskranken eine sinnfällige ‘ Blutdruck¬
beeinflussung nicht festzustellen ist.
Die kurvenmäßige Aufzeichnung,von Puls
und Atmung zeigt trotz Fortbestehen
oder Fortschreiten des Lungenprozesses
eine beruhigende, prognostisch günstige
Stetigkeit. Wir vermissen eine'Zunahm,j3,
beobachten häufig eine Abnahme der
Cyanose. Trotz unbeeinflußter Atem¬
frequenz gibt der Kranke eine subjektive
^Erleichterung der Atmung zu. Gerade
die günstige Beeinfluss^ung der subjektiven
Beschwerden, der Summe^ der vom er¬
fahrenen ärztlichen Prognostiker mit
einem Blick erfaßtenEirizelsymptome, ist
das hervorstechendste Merkmal der
Strychninwirkung. Besonders beim Pneu-
moniker sehen wir nach Strychnin einen
auffälligen Kontrast zwischen Lokalbefund
und subjektivem Befinden. Bei Hoch-
fiebefnden lassen Apathie und Schläfrig¬
keit nach, .das erlahmte Interesse für die
Umgebung kehrt wieder, Essenslust regt
sich, vorher Verzagte fassen wieder Mut
und Vertrauen. Der Umschwung, den die
konsequent durchgeführte Strychninbe¬
handlung fast regelmäßig in dem All¬
gemeinbefinden Schwerkranker . bringt,
läßt sich mit Worten nur unvollkommen
ausdrücken. Sehr instruktiv war die Be¬
merkung eines Kollegen mit Lobär¬
pneumonie, die durch das Bestehen einer
Herzsklerose anfänglich zu Bedenken An¬
laß gab. Den ihm selbst fast zauberhaft
anmutenden. günstigen Umschlag un¬
mittelbar nach zweimaliger Injektion von
2 mg Strychnin suchte er in die Worte
zu kleiden: ,,Mir wird so frei, als wenn
etwas aufgeschlossen würde, während mir
vorher so eng und bang war.“
Alle diese Wirkungen des Strychnins,
die wir im Vorhergehenden zu skizzieren
versuchten, erklären sich zwanglos aus
seinen pharmakologischen Eigentümlich¬
keiten:'Die elektive Erregung der me¬
dullären Centren führt durch Behebung
der Splanchnikuslähmung zu einer Besse¬
rung der Blutverteilung,, die ihrerseits
wieder der Herztätigkeit und der Funktion
des Nervensystems zugute kommt. Da¬
Gegeriwaft 1920 ^ 3 ^
neben wird die Atmung central erregt.
In manchen Fäll^ schien mir auch die
euphorisierende Wirkung des Strychnins
zur Geltung zu kommen.
Die im pharmakologischen Teil als
dritte Eigenschaft des Strychnins an¬
genommene regulierende Wirkung auf
krankhaft veränderte Körperwärme stützt
sich auf Beobachtungen anmehreren Fällen
von Grippepneumonien. Leider verbietet
die Papierknappheit die Wiedergabe der
merkwürdigen Fieberkurven. Nach jeder
intravenösen Injektion von 1 bis 2 mg
Strychnin trat für zwei bis drei Stunden
eine Herabsetzung des Fiebers um ein
bis einundeinhalb Grad auf, so daß die
Kurven ungefähr der eines bäderbehan-
delten Typhus ähneln. Diese auffällige
Erscheinung, deren Zufälligkeit nicht ge¬
leugnet werden soll, die aber bei der
Wirkung des Strychnins auf das ver¬
längerte Mark wohl verständlich wäre,
bedarf weiterer klinischer wie pharma¬
kologischer Beachtung.
Strychnin bei eigentlichen Erkran¬
kungen des Herzens nach französischem
Vorschläge zu geben, war ich bisher ein¬
mal in der Lage. Es handelte sich um
einen Fall von Vorhofflimmern, bei dem
intravenöse Digipangaben weder sub¬
jektive noch objektive Besserung bringen
wollten. Auf sechs intravenöse Injektionen
von je 1 mg Strychnin trat eine wesent¬
liche Beruhigung der Extrasystolensalven
ein, vor allem aber wurde die Linderung
der quälenden Beschwerden dankbar emp¬
funden. Weitere Anwendung und kritische
Nachprüfung der ausländischen günstigen
Erfahrungen empfehlen sich. Geeignet
wären also alle Fälle, die m.it unangeneh¬
men Herzsensationen einhergehen, also
in das weite Gebiet der nervösen Herz¬
erkrankungen fallen, einschließlich aller
der Herzbeschwerden, die Teilerscheinung
eines Grundleidens bilden (Basedow, Dia¬
betes, Tuberkulose, Klimakterium). Vor
allem aber kommen alle Herzunregel-
raäßigkeit^n in Betracht, die auf Störung
der Reizleitung beruhen. Neißer er¬
wähnt lebensrettenden Erfolg bei Adams-
Stokesscher Erkrankung. Auch bei par¬
oxysmaler Tachykardie wäre ein Versuch
am Platze. In diesen Fällen empfehlen
wir die chronische Strychnintherapie,
wie sie im folgenden geschildert ist.
Um die euphorisirende Wirkung des
Strychnins zu erzielen, muß man es
ähnlich wie das Arsen sehr.lange Zeit in
steigenden Dosen einschleichend geben.
Wir gehen so vor, daß wir mit einer
310 , ^ Die Thei:?ipie der Gegenwart 19‘20 • l Septenlber
Tagesmenge von 2 mg beginnen, die wjr
in zehn- bis zwanzig^ägigen Zwischen¬
räumen um 1 mg bis zur Tagesdosis von
b mg steigern. In gleicher Weise schleichen
wir dann wied^er aus. Eine derartige
chronische Strychninkur würde also un¬
gefähr drei bis sechs Monate dauern.
Erwähnt sei, daß manche Autoren die
Tagesmenge bis 1 cg steigern, ja noch
weiter, bis sich in Form von Muskel¬
schmerzen die ersten Vergiftungserschei¬
nungen einstellen.* Auffällig ist bei diesen
monatelang fortgesetzten hohen Strych¬
ningaben das Ausbleiben von Cum'ulations-
störungen, vor denen in pharmakolo¬
gischen Lehrbüchern stets gewarnt wird.
Das spräche für die Richtigkeit der in der
Literatur mitgeteilten Erfahrungen, daß
sich der Organismus mit der Zeit ähnlich
wie an Arsen an Strychnin gewöhnt. An
die Stelle intravenöser haben wir bei der
chronischen Strychninbehandlung häufig
auch subcutane Einspritzungen mit gutem
Erfolge gesetzt. Für den praktischen Arzt
empfiehlt sich die — allerdings weniger
wirksame — Verordnung in Pillenform.
Der chronischen Strychnintherapie
haben wir bisher sechs f^älle von epide¬
mischer Encephalitis unterworfen. Wir¬
kungslos ist sie, solange die akuten
Krankheitserscheinungen noch f ortbe¬
stehen, um so erfreulicher ist ihr Einfluß
auf die subakuten und chronischen Folge¬
erscheinungen dieser proteusartigen Ge¬
hirnerkrankung. Sie behebt den soma¬
tischen und nervösen Erschöpfungszu¬
stand, bekämpft erfolgreich die oft hoch
wochenlang andauernde Apathie und
geistige Stumpfheit, gibt dem Kranken
Energie wieder und schien auch die oft
noch lange geklagten neuralgieformen
Beschwerden zu mildern. Über die
euphorisierende, besonders auf psychi¬
schem Gebiete belebende Eigenschaft des
Strychnins besteht für mich nach diesen
günstigen Erfahrungen kein Zweifel.
Neißer empfiehlt besonders die chro¬
nische Anwendung bei Neurasirhenie, für
die das Strychnin wie kein anderes Mittel
geeignet erscheine, da es Gefäße und
Nervencentren tonisiere, die Sinnes¬
schärfe für die Außenwelt erhöhe, die
Schmerz- und Mißempfindungen aber
herabsetze. Wir möchten mit unserem
— bisher günstigen — Urteil noch zurück¬
halten, bis die Behandlung einer größeren
Reihe von Fällen abgeschlossen ist.
Endlich haben wir noch in zwei Fällen
centraler Lähmung Versuche mit chro¬
nischer Strychninbehandlung angestellt,
in der Absicht, einerseits die Reflexüber¬
tragung anzubahnen,anderseits hemmende
Einflüsse äuszuschalten. Im ersten Falle
handelte es sich um' eine\ epidemische
Encephalitis, die unter dem Symptomen-
bild einer schweren universellen Neuritis
verlief, bei der also disseminierte perivas¬
kuläre Infiltrate und Neuronophagien im
Rückenmark anzunehmen waren. Wäh¬
rend b^i Anwendung physikalischer Heil¬
methoden der Zustand fast stationär ge¬
blieben war, trat nach Einleitung der
intravenös durchgeführteh chronischen
Strychninbehandlung in überraschend
kurzer Zeit eine fast völlige Restitutio ad
integrum, mit Rückkehr der Sehnen-
re-flexe ein. Auch wurden die lästigep
Parästhesien entschieden günstig be¬
einflußt — also außer der central erreg¬
barkeitsteigernden wieder eine deutliche
euphorisierende Wirkung des Strychnins.
Der zweite Fall betrifft eine schwere Lues
cerebrospinalis, bei der nach intensivster
specifischer Behandlung außer leichter
Sprachstörung und spastischer Paraparese
beider Beine eine Blasenlähmung zurück¬
geblieben war, die das ständige Tragen
eines Urinals erforderte. Hier haben die
bisher vier Wochen lang gegebenen sub-
cutanen Strychnineinspritzungen den Er¬
folg gehabt, daß der Kranke wieder Ge¬
fühl für Blasenfüllung und Harnent¬
leerung gewonnen hat;' es hat also das
Strychnin, entsprechend seiner pharma¬
kologischen Eigentümlichkeit eine Bah¬
nung und Neuerschließung von Blasen¬
reflexen ermöglicht.
Daß diese Beobachtungen Behandlungs¬
versuche bei organischer, besonders aber
psychischer Impotenz in der geschilderten
chronischen subcutanen oder intravenösen
Anwendungsart aussichtsvoller als früher
erscheinen lassen, verdient besondere Er¬
wähnung.
Der Vollständigkeit halber sei zum
Schluß aus der Literatur noch angeführt,
daß auch die intralumbale Anwendung
des Strychnins versucht worden ist. Man
hofft auf diese Weise die Zellen, in denen
das Gift noch nicht verankert ist, in
ihrer Resistenz erhöhen und vor Lähmung
bewahren zu können.
In Frage kämen für die intralumbale
Strychnintherapie Fälle von akuter Polio¬
myelitis und akuter aufsteigender Landry-
scher Paralyse.
Übersehen wir vorstehende Ausfüh¬
rungen, dann muß man sagen, auf der
einen Seite gesicherte Behahdlungs-
erfolge, welche die weiteste Anwendung
September
Die Therapie der Gegenwart 1920
31 f
des Strychnins zur Pflicht machen, auf
der anderen Seite vielversprechende'
therapeutische Probleme, die kri¬
tische Mitarbeit Vieler wünschen lassen.
1. Ben da (Aschpffs Lehrbuch , 2. Atifl.,
Bd. II, S. 62). — 2. Biank (Zur Anwendung des
Strychnins bei Gaserkrankung, April 1918). —
3. Blank (Zur Anwendung des Strychnins bei •
Gaserkrankung, Juni 1918, Berichte an die Mediz.
Abteilung d. pr. Kr. Min.). — 4. van Egmond
(Pflüg. Arch. Bd. 180). — 5. Ellinger und
Adler (Arch. f. exp. Path. u. Pharm., Bd. 85,
S. 95). — 6 . Feilchenfeld (Med. Klin. 1918,
H. 1. — 7. Fejes (D. m. W. 1919, S. ,653). —
8 . Fortunato (Policlinico, sez. prat. Jahrg. 26,
H. 27). — 9. Frey (Berl. kl. W. 1919, H. 7). —
ip.Frey (Berl. kl. W. 1919, H. 13).—II. Friede¬
mann (D. m. W. 1920, H. 11). — 12. Gray und
Parsons (Brit. Med. Journ. 1912, I, S. 1125). —
13. Isaak (Ther. Mh. 1919, H. 3). — 14. Meyer
und Gott lieb (Experimentelle Pharmakologie).
— 15. Neißer (Berl. kl. W. 1918, H. 3). — 16.
Reirihart (zit. nach 8 ). — 17. Scheidemandel
(M. m. W. 1919, H. 31, Ver.-Ber.). — 18. Schiff-
ner (M. Kl. 1919, H. 39). — 19. Stoerk und
Epstein (W. kl. W. 1919, H. 45). — 20. Sym-
mers (N. J. Med. Journ. 1919, CX, No. 20.) —
21. V. Ta pp ein er (Lehrbuch der Arzneimittel¬
lehre, 5. Aufl., S. 214); — 22. Treupel und
Kaysei^-Petersen (M. m. VV. 1-920, H. 24). —
23. Troisfontaines (Revue de medecine, 1907,
H. 5). — 24. Zuelzer (Zschr. f. ärztl. Fortb.’
1920, H. 6).
Aus der 11. chirurgisclieii Abteilung des Rudolf-Vircbow-Krankenhauses.
(Dirig. Arzt: Prof. Dr. R. Mühsam.)
Zur Kenntnis und Behandlung der subcutanen Zerreißung der
Luftröhre.
Von Dr. Gerhard Golm, Assistenzarzt.
Am 13. Mai 19120 wurde der Patient N. N.
beim Fahren seines Wagens durch das aus¬
schlagende Pferd mit dem Eisen am Hals in dem
Augenblick getroffen, als er sich zum Antreiben
des Pferdes mit der Leine vornüberbeugte. Der
Patient konnte sich noch aufrichten, gleich aber
stürzte Blut aus Nase und Mund. Der Hals
schwoll an. Der Patient konnte seinen Kehlkopf
nicht mehr abtasten. Er wurde nach der Unfall¬
station gebracht und zwei Stunden später im
Virchow-Krankenhaus aufgenommen.
Bei der Aufnahme bestand mäßige Dyspnoe,
der Hals war unförmig angeschwollen, zeigte
aber keine Wunde oder Suggilation. Der Kehl¬
kopf ließ sich nicht abtasten, Krepitation war
nicht zu fühlen: Blutiger Auswurf bestand nicht.
Ein ausgedehntes Hautemphysem erstreckte sich
bis zu den Brustwarzen und hinten im Rücken
bis zur Mitte des Schulterblattes.
Da das Hautemphysem während der Unter¬
suchung rasch fortschritt und das ganze Gesicht
einschließlich der Augenlider ergriff, die Dyspnoe
ebenfalls zunahm, schritt ich in oberflächlicher
Narkose zur Tracheotomie. Beim ersten Schnitt
quoll Blut mit schaumigen Blasen aus dem
Unterhautzellgewebe hervor. Das Auffinden der
Trachea war recht schwierig. Nach Freipräpa¬
rieren der Fascia laryngothyreoidea und Ein¬
schneiden derselben stieß der Patient mit mäch¬
tigen Husten Stößen Blut und Schleim aus einem
fingerkuppengroßen Loch in der vorderen Wand
der Luftröhre entsprechend dem zweiten und
dritten Trachealring. - In dieses Loch führte ich
sofort eine gewöhnliche 8 mm starke Kanüle ein.
In dauernden Hustenstößen, entleerte sich nun
blutiger Schleim und erst nach erneuter Mor¬
phiumgabe beruhigte sich der Patient. Der
Wundverlauf war glatt und fieberfrei. Am
sechsten Tage wurde die Kanüle entfernt. Drei
Wochen nach dem Unfall konnte der Patient
vollkommen geheilt das Krankenhaus verlassen.
Die subcutanen Zerreißungen der
Trachea sind recht seltene Verletzungen,
sie sind viel seltener als die Kehlkopf¬
frakturen. Bei gewöhnlicher Körper¬
haltung liegt der Kehlkopf nur wenig
unterhalb des Kinnes, welches ihn bei
leicht gebeugtem Kopf gut schützt. Auch
liegen zu beiden Seiten desselben ziemlich
derbe Muskelmassen. Die Trachea selbst
liegt noch geschützter als der Kehlkopf, da
sie von der Schilddrüse und reichlich
Fettgewebe bedeckt ist. Außerdem ist
beiden in weitem Maße ein Ausweichen
gegenüber einwirkenden Gewalten ge¬
stattet; auch verhindert die Elastizität
der Knorpel bis zu einem gewissen Grade
einen Brueh. .Von den bisher beschrie¬
benen 47 Fällen isolierter Luftröhrenzer¬
reißung sind 27 ad exitum gekommen.
Die Prognose ist also ziemlich schlecht.
Sie verschlechtert sich noch, wenn man
die mit Kehlkopfverletzung kombinierten
Fälle hinzunimmt. Hierfür berechnet
von Hofmeister (1) die Mortalität auf
83 %.
Die klinischen Beobachtungen sowie
die Versuche von Anders-Bern (2) haben
ergeben, daß es für das Zustandekommen
einer subcutanen Zerreißung der Trachea
eines heftigen äußeren Traumas bedarf.
Dabei kan*n direkt an Ort und Stelle des
Traumas die Zerreißung erfolgen oder
auch indirekt durch Zug an einer-ent¬
fernteren Stelle. Bei der ersten Art
handelt es sich meistens um Querrupturen
der Trachea, bei der anderen um Rup¬
turen, ähnlich wie am Darm, an den
Fixationspunkten. Am häufigsten finden
wir den Ansatzpunkt der Trachea am
Kehlkopf betroffen, und zwar besonders
dann, wenn es sich um mit Kehlkopf-
fraktür komplizierte Trachealruptur han¬
delt. Weniger häufig ist die Gegend der
312
Die Therapie der Gegenwart 1920
/September
Bifurkation betroffen und ganz selten
sind die Verletzungen der mittleren Luft¬
röhre. Die Diastase kann bei vollständiger
Durchtrennung eine recht erhebliche sein.
Sie betrug in einem von Noll (3) be¬
schriebenen Falle 3 cm und verursachte
bei der Operation erhebliche Schwierig¬
keiten.
Als ätiologische Momente kommen in
Betracht meist heftige äußere Gewalt¬
einwirkungen, Stoß mit dem Hals gegen
eine Stuhllehne, gegen einen Holzbalken,
'gegen einen Förderkorb. Zweimal habe
ich auch in der Literatur einen Hufschlag
gegen den Hals gefunden (4; Briegel,
^ Fall 4 und 13).
Von indirekten Gewalteinwirkungen
sind zu erwähnen: starker Muskelzug
durch plötzliches Rückwärtswerfen des
Kopfes, Schlag gegen den Hinterkopf, am
häufigsten jedoch Quetschung des Brust¬
korbes durch Überfahrenwerden. Bei
den letzteren Fällen handelt es sich
meistens um eine Fraktur der Trachea
in der Nähe der Bifurcation entweder
oberhalb derselben oder um Einriß oder
Abriß eines Bronchius von der Trachea.
Hier muß man sich vorstellen, daß der
Riß durch Zerrung der Trachea nach
unten zustande gekommen ist (5).
Die Lunge weicht mit den Bronchien
in den Thorax aus und der Kehlkopf
wird, wenn er ‘ad maximum herunterge¬
stiegen ist, durch Muskelzug in seiner
Lage fixiert. Die Tatsache, daß gerade
bei Kindern relativ häufig durch Über¬
fahrenwerden Zerreißungen der Trachea
stattfinden, spricht für die Wahrschein¬
lichkeit dieser Annahme, da ja hier die
Widerstandskraft der Bronchien eine
geringe ist, während die Elastizität des
kindlichen Thorax durch Kompression
eine recht beträchtliche Formveränderung
zuläßt (6).
Eine ganz eigene Stellung nehmen
die Gruppen von Gewalteinwirkungen
ein, wo die Ruptur in erster Linie durch
eine Erhöhung des intratrachealen
Druckes hervorgerufen ist. Dies ist be-
weitehi die kleinste Gruppe, da ja durch
den Mund jederzeit ein, Ausgleich mit
der Atmosphäre stattfindet.
Sechs Fälle von plötzlicher Erhöhung des
»intratrachealen Druckes haben aber doch zu
einer Trachealruptur geführt. In dem einen
Fall (4, Fall 5) handelte es sich um einen F/dJahr
alten Jungen, der an starker Bronchitis erkrankt
war und seinen Kopf hin und her warf. Am
fünften Tage der Erkrankung stellte sich ein
Hautemphysem ein. Die Sektion ergab hier eine
Querruptur der Trachea unterhalb des ersten
Knorpelringes. In einem zweiten Falle hatte
^ ein Kind etwas verschluckt (4, Fall 14). Heftigef
' Hustenanfall mit Dyspnoe waren die Folge. Am
zweiten Tage war der ganze Hals ödematös ge¬
schwollen. Bei der Operation fand man eine
Ruptur der Trachea zwischen mittlerem und
unterem Drittel. Bei einem anderen Fall (4,
Fall 28) handelte es sich um eine Pulverexplosion
im Munde bei einem Selbstmörder. Auch hier
' zeigte die Sektion eine vollständige Zerreißung
der Trachea ohne äußere Verletzung. Andres-
Bern beschreibt einen interessanten Fall, wo
• bei einer Primipara infolge starken Pressens
ausgedehntes Hautemphysem an der linken
Halsseite auftrat. Bei einem anderen Fall (7)
soll bei einem tetanischen Glottiskrampf in¬
folge übermäßigen Exspirationsdruck eine kleine
Ruptur der Trachea entstanden sein, die zu
ausgedehntem Hautemphysem führte. Der
Patient erlag später einer hinzutretenden Pneu¬
monie.
Die plötzliche Erhöhung des intratrachealen
Druckes spielt sicher auch bei allen direkten
Traumen- eine erhebliche Rolle. Wenigstens
führt H ö r h a m m e r (8) die Ruptur der
Luftröhre bei einem elfjährigen Knaben, der sich
. beim Stabspringen eine Stange in die linke
Halsseite stieß, auf die Verstärkung der Schlag¬
wirkung durch gleichzeitig bestehende Erhöhung
des intratrachealen Druckes zurück. Bevor
der Knabe zum Sprunge ausholte, schöpfte er,
wie es meistens geschieht, noch einmal tief Luft
und sprang mit geschlossenem Munde. Durch
ein Ausgleiten der Stange schlug ihm dieselbe
gegen die unter etwas erhöhtem Druck stehende
Trachea. So wie ein Gummiball durch Drauf¬
schlagen' zum Bersten gebracht werden kann,
so zerriß in diesem Falle die Luftröhre. Die
Diagnose eirtcp- Ruptur konnte aus den deut¬
lichen Symptomen gestellt werden und die
Operation zeigte einen 4 cm langen Trachealriß.
Die Diagnose einer isolierten Tracheal¬
ruptur ist‘Schwierig zu stellen. . Handelt
es sich doch meist um diffuse Schwellung
des Halses und ausgeprägtes Haut¬
emphysem, das, wie auch in unserem
Fall, ein Abtasten des Kehlkopfes micht
zuläßt. Unter Umständen freilich kann
man die Diagnose einer Kehlkopffraktur
leicht stellen, wenn man eine Abplattung
des Pomum Adami fühlt oder eine
sonstige Deformität des-Kehlkopfgerüstes
sich wahrnehmen läßt. Auf das Knorpel-
krepitieren ist nicht zuviel Gewicht zu
legen, da es auch sonst bei normalen
Kehlköpfen vorkommt, ln zwei Fällen
allerdings soll die Diagnose einer isolierten
Trachealruptur gestellt worden sein, ein¬
mal (4,10) als man den Bruch an einer
deutlichen Ein-senkung des Ringknorpels
fühlte, ein anderes Mal als man eine Ver¬
wölbung in Höhe des dritten Tracheal-
ringes feststellen konnte (5,35). Wieweit
die direkte Laryngoskopie die Diagnose
eines Trachealruptur sichern kann, ent¬
zieht sich meiner Beurteilung. Jedenfalls
ist diese' Methode, bisher noch nicht zur
Sicherung der Diagnose herangezogen
worden, auch ist die Technik nicht Ge-
September
Die Therapie der Gegenwart 1920
313
meingut aller Ärzte. Theoretisch müßte
ja eine systematische Absuchung der
Trachealwand von innen zum Erfolge
führen. Die Exploration wird wohl aber
infolge der ’ starken Schwellung der
Schleimhaut des Kehlkopfes und der
heftigen Dyspnoe stets auf erhebliche
Schwierigkeiten stoßen.
Was die Behandlung anlangt, so hat
.als oberstes Prinzip die Sicherstellung
-der Atmung zu gelten. Nach Brigel
bestand die. Therapie in neun Fällen von
Heilung der Trachealruptur in Fixation
•des Kopfes nach vorn, wodurch die
Bruchenden möglichst einander genähert
wurden, absoluter Ruhe und Auflegen
einer kalten Kompresse. Dieses Verfahren
kann man seiner Meinung nach beibe¬
halten, solange keine bedrohlichen Symp¬
tome wie stärkere Dyspnoe bestehen
und vor allem der Patient unter steter
Aufsicht ist. Hingegen schreibt v. Hof¬
meister wörtlich: ,,Trotz aller statisti-
•schen Ergebnisse erscheint es mir ge¬
fährlich bei frischen Fällen anders zu
handeln als gegenüber einem Largux-
bruch“, wo die Tracheotomie die Methode
der Wahl ist. ,,Wir können ja nie wissen,
ob oder wie rasch das Emphysem sich
steigern wird.“ Gelingt es durch eine
Incision die Frakturstelle freizulegen, so
•empfehlen wir heute die Naht derselben
(Noll), eventuell nach Anfrischung der
Wunde. ,,Ebenso gerechtfertigt ist auch
das Einführen einer Kanüle, wenn nur
dafür gesorgt wird, daß die Luft nach
außen abgeleitet wird und nicht mehr ins
Unterhautzellgewebe tritt.“ Chiari (9)
ist der Ansicht, daß die Tracheotomie
bei Trachealruptur stets indiziert ist,
ja geradezu unerläßlich ist bei Kombi¬
nation mit Brüchen des Kehlkopfs. Auch
wir stehen auf dem Standpunkt, daß
die Tracheotomie in jedem Fall und
zwar schon bei begründetem Verdacht
auf Luftröhrenzerreißung angezeigt ist.
Bei vollständiger Zerreißung der Tra¬
chea empfiehlt es sich, durch Naht der
hinteren und seitlichen Luftröhrenwand
die Rißenden aneinander zu passen, vorn
aber jedenfalls die Kanüle einzulegen.
Im Anschluß an die Tracheotomie muß
man häufig, um die Atmung frei zu be¬
kommen, die aspirierten Blut- und
Schleimmassen aussaugen. Die Tracheo¬
tomie selbst ist in einfachster Weise
durch Freilegung der Bruchstelle auszu¬
führen. In diese wird dann die Kanüle
eingeführt. Nur sehr selten bei besonders
tiefer Lage dürfte man die- Luftröhren¬
öffnung selbst nicht finden und müßte
dann von einem Schnitt in die Trachea
aus eine lange biegsame König sehe'
Kanüle tief in die Luftröhre einführen.
In neuster Zeit hat man bei Larynx-
frakturen Versuche mit der Intubation
gemacht. Bei Trachealfrakturen ist die¬
selbe meines Wissens noch nicht ver¬
wendet worden. Es ist auch von ihr,
jedenfalls von der O’Dwyerschen Intu¬
bation, wenig zu erwarten. Erstens ist
es sehr unsicher, ob das Ende des Tubus
bis zur Rupturstelle reicht, zweitens
ist zwischen Tubus und Trachea noch
ein Raum vorhanden, durch den die
Luft ins Unterhautzellgewebe gelan¬
gen kann; insbesondere wird sich
das bei Hustenstößen nicht vermeiden
lassen. Drittens kann man den Tubus
wegen erhöhter. Infektionsgefahr nicht
lang genug liegen lassen, schließlich führt
die Intubation nur zu häufig zu ‘Kehl¬
kopfstenosen. Die Tracheotomie allein
schafft übersichtliche Verhältnisse und
sichert den Patienten vor erneuten Er¬
stickungsanfällen.
Zum Schluß möchte ich erwähnen,
daß Herr Prof. Levy-Dorn die Freund¬
lichkeit hatte, von unserem Patienten
mehrere Röntgenaufnahmen der Trachea
anfertigen zu lassen. Bei der seitlichen
Aufnahme sieht man hier deutlich einen
Sporn an der vorderen Wand der Luft¬
röhre dicht unterhalb des Ringknorpels.
Diese Stelle entspricht dem Orte der
Verletzung. Es hat sich hier eine leichte
narbige Stenose gebildet.
Die von Herrn Prof. Claus vorge¬
nommene laryngoskopische Untersuchung
mittels Endoskopie zeigte deutlich an
der vorderen Wand der Luftröhre in
Höhe des dritten Trachealringes eine
über erbsengroße Prominenz, frisches
Granulationsgewebe.
Literatur: l.v. Hofmeister (Handb.
d. prakt. Chirurgie v. Bruns 1913). — 2. A n d e r s-
Bern (Schw. Rdsch. f. M. 1909, Nr. 4). — 3. N o 11
(D. Ztschr. f. Ch. 1888, Bd. 27, $. 597). — 4. B r i -
g e 1 (Beitr. z. klin. Ch. 1895, Bd. 14). — 5. Z im¬
mermann (Arch. f. Laryng. 1911, 24). —
H 0 p m a n n (Heymanns Handb. d. Laryn-
gologie, Wien 1898). — 7. W a 1 c h e r (M. m. W.
1916; Nr. 19). — 8. H ö r h a m m e r (M. m. W.
1915, Nr. 27). — 9. Chiari (Neu dt. Chir.,
Bd. 19, S. 229). — 10. F r i e d e m a n n (M. m. W.
191-6, 35 Feldärztl. Beilage).
40
314
Die Therapie der Gegenwart 1920-
September
Aus der Üniversitäts-Frauenkliiiik Müuclien. (Direktor: G-ekeimrat Prof. Dr. D öder lein.)
lieber blutstillende Maßnahmen in der Frauenheilkunde.
Von Dr. Ferdinand Binz, Assistenten der Klinik.
Bekanntlich können wir die Ursachen
von Blutungen aus dem weiblichen Ge¬
nitalapparat — unter Ausschluß derer,
•die durch Schwangerschaft, Geburt und
Wochenbett hervorgerufen werden —
in zwei große Gruppen zusammenfassen;
in die allgemeinen und die lokalen.
Zu den häufigsten allgemeinen Ur-
'Sachen von Meno- und Metrorrhagien
gehören Anämie und Chlorose. Umge¬
kehrt wie bei Tuberkulose tritt hier —
während in den leichteren Fällen oft
A- und Oligpmenorröhe zu verzeichnen
ist — häufig in schweren Fällen eine
Verstärkung der Menses ein, die wiederum
im Circulus vitiosus das primäre Leiden
verschlimmert. Aus diesem Gfunde
kann man der vorzugsweise bei jungen
Mädchen um die Pubertätszeit auftre¬
tenden Chlorose gar nicht frühzeitig genug
seine Aufmerksamkeit schenken, denn
Vorbeugen ist bekanntlich um vieles
leichter als heilen. Aus Gründen der
Raumersparnis verzichte ich an dieser
Stelle auf eine Darlegung der kausalen
Therapie der Chlorose, welche in vielen
Fällen zur Heilung profuser Blutungen
führt.
Daß neben dieser auch die durch
Chlorose verursachten Blutungen als
solche Gegenstand symptomatischer Be¬
handlung sein müssen, um das primäre
Leiden durch weitere Blutverluste nicht
aufs neue zu verstärken, ist wohl über¬
flüssig, zu bemerken.
Was therapeutisch bei Chlorose emp¬
fohlen wird, gilt im großen und ganzen
auch für die chronisch anämischen Zu¬
stände. Freilich muß darauf hingewiesen
werden, daß diese auf eine häufig noch
immer wirkende Grundursache zurück¬
zuführen sind, ohne deren Ausschaltung
keine Therapie von nachhaltiger Wirkung
sein kann. Zu denken hat man da
besonders an Magengeschwüre, Bleiver¬
giftungen, chronische Alkoholvergiftun¬
gen, chronische Nephritis, Lues, Typhus,
Malaria, chronische Eiterungen, maligne
und auch gutartige Tumoren, Einge¬
weidewürmer und Tuberkulose. Latente
Tuberkulosen segeln dabei häufig unter
der Flagge ,,Chlorose“, worauf Näegeli
erneut hinweist. Weitere Ursachen von
Menorrrhagien sind die Leukämie, die
Biermersche Anämie und die hämor¬
rhagischen Diathesen, deren Behandlung
nach den Regeln der inneren .Medizin
erfolgen muß.
Basedow, Gicht, Phthise und Adi«
positas, von denen, letztere zwei häufig
mit verminderten Regeln einhergehen^
können gelegentlich ebenso Ursache von,
uterinen Blutungen werden, diese Fälle
treten aber der Zahl nach zurück, außer¬
dem wird sie der Gynäkologe stets an
den Internisten verweisen.
Die akuten Infektionskrankheiten:
Cholera, Malaria, Pocken, Typhus und
Influenza verursachen ebenfalls nicht
selten profuse Genitalblutungen. Bei
den Herzkrankheiten, welche seltener¬
weise zu Meno- und Metrorrhagien
führen, haben oft Digitalis und Stro¬
phantin in Verbindung mit Bettruhe und
Stypticis eine überraschend günstige
und rasche Wirkung, Chronische Ne¬
phritis hat ebenfalls Uterusblutungen im
Gefolge, ferner betonen verschiedene
Autoren die Möglichkeit, daß Menor¬
rhagien rein psychogen entstehen, wobei
namentlich die mit Unlustgefühlen ein¬
hergehenden Affekte "eine Blutverschie¬
bung aus der Haut in die visceralen
Organe, also eine vorübergehende Stau¬
ung bis zur Blutung verursachen können.
Die Möglichkeit gewerblicher Ursachen,
wie z. B. das Arbeiten in Fabriken mit
Blei, Phosphor und Chinin, ist eben¬
sowenig außer acht, zu lassen. Ganz
selten ist schließlich auch einmal Leber-
cirrhose oder Bothriocephalus latus die
Ursache von Menorrhagien (Gebhard).
Schließlich ein paar Bemerkungen
über Blutungen, die zwar nichts mit
Menorrhagien zu tun haben, nichts¬
destoweniger aber leider mit allen mög¬
lichen Stypticis angegangen werden, weil
sie nicht richtig erkannt wurden. Blu¬
tungen aus Hämorrhoiden, überhaupt
aus dem Darm mit genitalen zu verwech¬
seln, dazu gehört wohl schon eine große
Oberflächlichkeit bei der Untersuchung,
die zwar nicht möglich sein- sollte, es-
aber leider offenbar doch ist. Nicht ganz
so übel ist es, urethrale Blutungen in
uterine umzudeuten. Verletzungen des
Hymens, der Clitoris, überhaupt der
Scheide müssen ebenfalls unbedingt durch
genaue Inspektion ausgeschlossen werden
können — Varixblutungen außerhalb der
Gravidität sind kaum anzunehmen. Eine
der häufigsten Ursachen von Mißdeutun-
315
September . Die Therapie der Gegenwart 1920
gen und daran anschließend falscher
Therapie sind die Erosionsblutungen, die
manchmal recht erheblich stark sein
können. Daß hier mit den gewöhnlich
verprdneten Stypticin- usw. Tabletten
nichts zu wollen ist, ist selbstverständlich.
Wiederholtes Ätzen mit ^ Argentum ni-
tricum, 10 %ig, eventuell Verschorfen
mit Galvanokauter (bei starker Blutung),
Tampospuman, endlich eine Scheiden-
taniponade helfen sicher.
Auf eine Möglichkeit von ,,Uterus¬
blutungen“ möchte ich noch hinweisen:
Frauen, deren Periode über die übliche
Zeit ausgeblieben ist und die eine Gra¬
vidität aus irgendwelchen Gründen
fürchten, haben schon wiederholt in der
stillen Hoffnung, der Arzt möchte zur
Stillung der ,,Metrorrhagie“ eine Abrasio
machen, blutige Wäsche in die Sprech¬
stunde mitgebracht, sichVulva und Vagina
mit Tierblut beschmiert und den Arzt
durch falsche Angaben zu obengenanntem
Eingreifen zu bestimmen versucht. Wenn
auch derlei Fälle zu den Seltenheiten
gehören, so muß doch -der Frauenarzt
immer daran denken, daß er zu denjeni¬
gen Menschen gehört, die vielleicht am
meisten angelogen werden. Um so mehr
muß verlangt werden, daß nur auf Grund
genauester eigener Untersuchung der The¬
rapieplan festgesetzt werden darf.
Nicht immer machen lokale Ursachen
von Metrorrhagien und Menorrhagien
einen tastbaren Befund am Uterus oder
den Adnexen. Gerade die allerhäufigste,
die Endometritis, läßt ihn vermissen.
Ja, im Gegenteil, wird doch die „Ver¬
legenheitsdiagnose“ eigentlich nur ge¬
stellt, wenn andere Ursachen verstärkter
Menses weder in- noch außerhalb des
Genitals gefunden werden. Döderlein
nennt die Häufigkeit der Diagnose „Endo¬
metritis“, ja geradezu einen Gradmesser
für die Gediegenheit des ärztlichen Kön¬
nens, in dem Sinne, daß, je sorgfältiger
nicht nur das Genitale allein, sondern
auch der Mensch untersucht wird, sie
um so seltener gestellt wird!
Liegt ein solcher Fall vor, bei dem die
Blutung Folge einer Funktionsstörung,
einer Hyperplasia mucosae uteri oder
•nach Pankow einer ,,Metropathie“ ist,
so haben wir eine ganze Reihe erprobter
Mittel. Die übliche Therapie war bisher
die Verordnung von Präparaten, die aus
dem Secale cornutum und aus dem Ex¬
trakt von Hydrastis canadensis herge¬
stellt sind.
Secale cornutum wirkt durch die Er¬
regung von peristaltischen . und teta-
nischen Contractipnen der .Uterusmus¬
kulatur — die, auch am nicht graviden
Organ auftreten,— indem diese Kon¬
traktionen die Gefäße verschließen und
kongestive Zustände beseitigen. Leider
ist die Wirkung des Secale eine durchaus
nicht gleichbleibende. Guggisberg und
Tschirsch behaupten, daß beim Lagern
der Droge dauernd Umsetzungen statt¬
finden mit Bildung immer neuer Stoffe
von verschiedener Wirkung.
Der Secalepräparate gibt es viele.
.Als Infus wirkt es besser, wenn es frisch
bereitet ist (Inf. Secal. cornut. rec. parat.
5,0—8,0: 130,0, Sir. .Cinnamom. 20,0
MDS. Alle zwei Stunden ein Eßlöffel).
Sehr gute Wirkung rühmt Heffter der
reinen Droge in Pulverform nach, wenn
sie kurz nach der Ernte zur Anwendung
kommt und unmittelbar vor Gebrauch
pulverisiert wurde. Vielleicht nicht so
stark, aber gleichmäßiger in der Wirkung
sind die Extrakte. Von ihnen verord¬
net man ebenso wie von Dialysat
dreimal täglich 20 Tropfen. Während in
der Geburtshilfe eine starke, kurzwirkende
Contraction der Uterusmuskulatur er¬
wünscht ist, die am besten durch sub-
cutane und intramuskuläre Injektion er¬
reicht wird, kommt es bei den gynäko¬
logischen Blutungen mehr darauf an,
eine lang anhaltende, wenn auch schwä¬
chere Wirkung hervorzubringen. Das
hat einen gewissen Vorteil, weil subcutane
Injektionen manchmal zu unangenehmen
Infiltraten an der Einstichstelle führen
können. Tenosin, eine Kombination von
Tyramin und Histamin (Jaeger), hat als
synthetisches Mittel den Vorzug, daß
seine Herstellung von der Knappheit an
Mutterkorn unabhängig ist und keine
Ballaststoffe enthält. Fernerhin stellt
die MBK-Vereinigung noch sogenannte
Ergotinkompretten MBK her, die ganz
angenehm zu nehmen sind und gut
wirken.
An die Secalepräparate reihen sich
die aus der Wurzel von Hydrastis cana¬
densis hergestellten an. Das darin ent¬
haltene Hydrästin wirkt auf Uterus und
Gefäße zusammenziehend, ist also im¬
stande, uterine Blutungen zum Stehen
zu bringen. Wir haben da zunächst das
Extrakt. Hydrast. fluid, drei- bis fünfmal
20 Tropfen zu nehmen, dann: Rp.:
Hydrastinin. hydrochl. 0,5 Rad. et succ.
Liqu. qu. s. ai. f. pil. Nr. L, fernerhin:
Cotarnin. hydrochl. 1,0; Aqu. Menth.
40*
316 ‘ Die Therapie der
pip. ad 20,0 MDS. viermal 20 Tropfen
zu nehmen.
Salze des Cotarnins sind Styptol und
Stypticin, beide werden in Tablettenform
^(20 zu 0,05 in Röhrchen, dreimal' täglich
eine Tablette) verordnet. Sehr gut be¬
währt hat sich mir auch Uquidrast drei-
bis viermal 20—30 Tropfen zu nehmen.
In letzter Zeit hat man auf das Hirten¬
täschelkraut zurückgegriffen, das bereits
in der Volksmedizin zu diesem Zv/eck
verwendet wurde. Knimmacher hat
das Styptisat Bürger genannte Mittel mit
vollstem Erfolg und ohne jedwede un¬
angenehme Nebenwirkung bei profusen
Blutungen angewandt (dreimal ’ täglich
15 Tropfen).. Vor kurzem hat. uns die
Firma Tosse ihr ,,Stypturar‘ zugesandt,
von dem die beigelegte Literatur günstige
Resultate behauptet, aber leider regen
sich bereits jetzt Stimmen, die den neuen
Mitteln recht skeptisch gegenüberstehen,
anscheinend nicht zu unrecht. Außerdem
käme noch Salipyrin in Betracht, das
man zweckmäßig als Fast. Phenaz.
salicyl. 1, Nr. XX S. dreimal täglich
eine Tablette verschreibt (Kayser). Frei
von Nebenwirkung und angeblich den
Hydrastispräparaten überlegen in seiner
styptischen Wirkung — nach van Don-
gen — ist der leicht zu beschaffende
Fluidextrakt des einheimischen Erodium
{Geranium) cicutarium THerit. Aller-
•dings muß man vier bis acht Wochen
lang das Mittel (viermal täglich 25 Trop¬
fen) geben, bis es seinen vollen Erfolg
hat. Franz, Wasicky und Denecke
lehnen dagegen das Erodium als unwirk¬
sam ab. Ebenfalls erst nach mehrmona¬
tigem Fortgebrauche kann man von der
durch Klemperer empfohlenen Chlor¬
calciumtherapie Erfolge erwarten; da das
Mittel recht unangenehm schmeckt, ist
es immerhin fraglich, ob viele Frauen
die nötige Ausdauer aufbringen, es so
lange zu nehmen. F. Ludwig rühmt
dem Meth^dentetrahydropapaverin bei
Myom- und anderen Uterusblutungen
eine gute styptische Wirkung nach.
Soweit bei diesen Medikamenten eine
besondere Anwendung nicht hervorge¬
hoben wurde, ist es zweckmäßig, sie
nicht nur während der verstärkten Men¬
ses selbst, sondern schon einige Zeit —
etwa fünf bis acht Tage — zuvor anzu¬
wenden. Man wird auf diese Weise in der
Lage sein, Blut zu sparen, was im Inter¬
esse der oft mit Menorrhagien vergesell¬
schafteten Anämie von höchster Bedeu¬
tung ist.
Gegenwart 1920 . Septernber
Die neuere Forschung bringt die Meno-'
und Metrorrhagien teilweise 'mit Stö¬
rungen der Ovarialfunktion in Beziehung.
Damit- ist der Organotherapie ein neuer
Weg gewiesen. Zwar sind wir ja noch
in keiner Weise über das Stadium der
Hypothesen hinaus, in der Praxis liegen
aber doch schon Mitteilungen vor, die
der Beachtung wert sind. Die neueren
Autoren nennen die Blutungen nicht
mehr endometritische, sondern ovarielle
und teilen sie in Pubertätsblutungen,
ovarielle Blutungen der erwachsenen Frau
und klimakterische ein. Die Berück¬
sichtigung des Alters der Patientin hat
eine eminente Wichtigkeit für, unser
Handeln. Bei Verdacht auf Carcinom -
wäre jedes Zuwarten ein grober Fehler,
und ist die sogenannte ,,Probeabrasio“
die einzig richtige Maßnahme. Erst nach
Ausschluß einer malignen Neubildung
durch mikroskopische Untersuchung des
Geschabsels treten die styptischen Ma߬
nahmen in ihre Rechte.
So dringend wir in diesen Fällen zur
rechtzeitigen ',,Probeabrasio“ raten, so
selten möchten wir sie in all denen ange¬
wandt wissen, wo sie nicht diagnostischen,
sondern rein therapeutischen Zwecken
dient. Nach unserer heutigen Auffassung
ist eine — womöglich des öfteren wieder¬
holte— Abrasio zur Stillung einer Uterus¬
blutung, die nicht durch retentierte Abort-
reste^oder Placentarpartikel unterhalten
wird — eine falsche Methode. Das hieße,
eine Maschine zu zerlegen, wenn der
Dampfkessel in Unordnung geraten ist,
denn soviel wissen wir trotz aller Unklar¬
heit über das ,,wie“ doch heute schon,
daß der Uterus das ausführende Organ
für die Impulse ist, die von den Ovarien
ausgehen.
ln dieser Erkenntnis greift denn auch
die moderne Therapie bei den Ovarien
an und versucht durch Zufuhr von Ex¬
trakten teils des ganzen Ovars, teils des
Corpus luteum, teils auch von Organ¬
extrakten antagonistischer Drüsen die
,,Dysharmonie“ im Haushalte der ,,in¬
neren Sekretion“ des kranken Körpers
auszugleichen. Ich bezweifle, ob das auf
einfach empirischem Wege jemals mög¬
lich sein wird. Tatsächlich ist es ein
Tappen, im Dunkeln, wenn wir Organo¬
therapie treiben. Es würde weit über
den Rahmen dieser Arbeit, die mehr der
Praxis gewidmet ist, hinausgehen, wollte
ich auf all die Hypothesen eingehen, die
sich mit der inneren Sekretion befassen.
Nur soviel sei gesagt, daß das Ovar
September
Die Therapie der Gegenwart 1920
317
offenbar relativ selbständig gegenüber
den anderen endokrinen Drüsen dasteht
und weder im selben Maße auf sie wirkt,
noch so stark von ihnen beherrscht wird,
wie diese es -untereinander tun. Des¬
gleichen sei gestreift, daß dem Corpus
luteum nach Ansicht der meisten Beob¬
achter eine blutungshemmende Eigen¬
schaft zukommt, Seitz.und Wintz je-,
.doch aus den gleichen Drüse zwei Sub¬
stanzen von antagonistischer Wirkung
extrahiert haben: das Luteolipoid und
das Lipamin.
An' organotherapeutischen Mitteln
stehen uns gegen die ovariellen Blutungen
zur Verfügung: Adrenalin, Hypophysin,
/vlammin, Ovarial- und Corpus-liiteum-
Extrakte. Hervorzuheben ist, daß die
parenterale Einverleibung der oralen in
allen Fällen weit überlegen ist. Erfolge
wurden fast mit jedem der genannten
Organextrakte erzielt und diese ihrerseits
wieder bestritten; die Frage befindet
sich durchaus im Fluß und ist es deshalb
vielleicht von Interesse, daß auch wir
unsere diesbezüglichen Erfahrungen mit-
teilen.
Ich habe in der Ambulanz der Frauen¬
klinik im Rahmen allgemeiner Versuche
über das Hormin Natterer, die noch
weiter fortgesetzt und später veröffent¬
licht werden, dieses Präparat auch bei
profusen Menses angewendet. Ent¬
sprechend der Tatsache, daß neben dem
Extrakt der Glandulae pituitariae, Thyreo¬
iditis, suprarenalis und des Pankreas den
Extrakt des ganzen Ovars enthält, das ja
zeitweise einem Extrakt: Ovar plus Follikel
zeitweise einem solchen: Ovar plus Cor¬
pus luteum entsprechen kann, war zu
erwarten, daß das Präparat keine gleich¬
mäßige Wirkung hat. So kann ich nur
von zwei Fällen berichten, die man allen¬
falls als Erfolg buchen könnte, die aber
von den mit Luteoglandol erzielten weit
übertroffen werden.
Der erste Fall betrifft die 18jährige I para
D. K-, die am 11. April 1918 einen Abortus durch-,
gemacht hatte; seither Periode alle ein bis drei
Wochen, acht bis 14 Tage, sehr stark; vor dem
Abortus alle drei Wochen, acht Tage, stark.
Nachdem die Blutungen durch fünf Monate immer
den angegebenen Verlauf genommen hatten, war
die nach vier Injektionen, drei Tabletten und
zwei Suppositorien auftretende Menstruation nur
zwei Tage lang und schwach. Leider begnügte
sich die Patientin hiermit und kam nicht mehr
zur Sprechstunde. Objektiv .'.normaler Tastbefund.
Der zweite Fall war die 34 jährige 0 para M. D.
Genitale ohne Besonderheiten. Menses seit langem
vierwöchtlich, acht Tage lang, sehr stark. Tropfen
und Pillen ohne jeden Erfolg. Das erstemal
injizierte ich am vierten Tage der Menses und
noch zweimal (am sechsten und achten) je eine
Ampulle Hormin, ohne Erfolg. Bei der nächsten
Regel im Januar begann ich am ersten Tage^
injizierte drei Ampullen und gab zwei Svppo-
sitorien mit dem Erfolg, daß die Blutung geringer
war und nur vier Tage dauerte. Im Februar
konnte die Frau nicht regelmäßig kemmen, die
drei Injektionen bewirkten nur eine Abkürzung
auf vier Tage, die Blutung war wieder stark. Im
März wurden die Injektionen fünf Tage vor der
erwarteten Periode begonnen, diese trat um drei
Tage zu früh auf, dauerte fünf Tage und war
schwach! (sieben Ampullen). Im April und Mai
traten die Menses je um fünf Tage zu früh ein,
waren aber auf je drei Ampullen schwächer als
früher. Irn Juni keine Injektion, Menses stärker,
sieben Tage lang! Im Juli, August, September
nur je eine bis zwei Spritzen Hormin, die Menses
wurden allmählich immer schwächer, die im
Oktober dauerte nur einen Tag! Es ist bei diesem
Fall schwer zu sagen, was auf das Konto des
Hormins, was auf das des Zufalls zu setzen ist.
Inzwischen hatte ich bereits früher
einmal begonnene Versuche mit Luteo¬
glandol wieder aufgenommen, da sie mir
weit eindeutiger schienen, als die mit
Hormin — das bei anderen Indikationen
mehr in Betracht kommt —, so lasse ich
einige Fälle hier folgen:
1. Fall. J. S., 28 jährige 0 para. Uterus klein,
etwas nach links verzogen durch strangartige Ver¬
dickung des Lig. latum. Sonst ohne Besonderheit.
Menses alle acht Tage, sechs bis sieben Tage stark.
Beginn der Luteoglandolinjektion am 2. Februar,
die für 9. Februar erwartete Blutung blieb aus und
kam erst am 21. Februar (vorher sechs Ampullen),
sie dauerte bis 1. März und war stark. Da die
früher bestehende Müdigkeit günstig beeinflußt
wurde, werden im Intervall noch jedesmal drei
Spritzen gegeben, darauf tritt die Menses nur alle
drei Wochen je fünf Tage mäßig stark auf. (Beob¬
achtet bis April, dann ausgeblieben aus der
Sprechstunde,)
2. Fall. L. 465, 25jährige II para. Sehr aus¬
geblutete Frau mit kleinem, anteflektiertem
Uterus und minimal verdickter r. Tube. Periode
alle 'ein bis drei Monate, aber sehr stark, acht
Tage lang. Secale usw. ohne Erfolg. Drei Luteo-
glandolinjektionen bringen zweimal hinterein¬
ander Abkürzung der Menses, und zwar auf¬
fallend.
3. Fall. E. 639, 23jährlge 0 para.' Struma,
Periode alle vier Wochen stark, acht Tage lang.
Blutet stark seit drei Wochen. Auf drei Spritzen
Luteoglandol, davon die erste mit Hypophysin
kombiniert, ist die Blutung verschwunden. Acht
Tage danach reist die Patientin ab und entzieht
sich weiterer Beobachtung. Uterus und Adnexe
ohne Besonderheit.
4. Fall. St. 590, 16jährige Virgo intacta.
Rektal: Genitale ohne Besonderheit. Periode seit
drei Jahren alle vier. Wochen drei Wochen lang,
dann acht Tage Pause, dann wieder drei Wochen
lang! Blutet jetzt seit sechs Wochen und ist
äußerst anämisch. Erhält im Laufe von sieben
Wochen 19 Ampullen Luteoglandol, nach den
ersten drei bereits wesentliche Besserung, so daß
während der etwa siebenwöchigen Beobachtungs-
zcit nur zeitweise etwas Blut auftrat und das
Befinden sich zusehends besserte.
5. Fall. K-, 25jährige I para. Uterus etwas
groß, Adnexe frei. Wegen Menorrhagien vor acht
Wochen Abrasio, seit drei Wochen profuse Blu-
318
Die Therapie der Gegenwart 1920
September
tungen trotz Ergotins. Drei Spritzen Luteoglanol
und Hypophysin bringen in drei Tagen die
Blutung zum Stehen. Hernach noch neun Am¬
pullen Luteoglanol allein im Laufe von sieben
Wochen, während derer im Abstand von drei
Wochen nur mehr vier Tage mäßig starke Mehses!
6. Fall. N. 848, 27 jährige 0 para. Alex-Adams
1917. Jetzt Genitale ohne Besonderheit. Periode
alle drei Wochen drei bis sechs Tage, stark, jetzt
in acht Tagen zwei starke Blutungen. Auf zwei
Injektionen steht- die Blutung, dann noch zwei
Injektionen, zwei Wochen später Blutung, die
nach zwei Spritzen steht. Zurzeit etwa alle 14 Tage
eine schwache zweitägige Blutung. Noch in Be¬
handlung.
7. Fall. Pr. 1159, 30jährige II para. Genitale
ohne Besonderheit. 'Partus vor fünf Monaten.
Hat seither alle zwei bis drei Wochen acht bis
zehn Tage lang starke Blutungen. Ergotin ohne
Erfolg. Neun Injektionen im Intervall. Darauf¬
hin die folgende Menses nur zwei Tage, stark,
noch in Behandlung, zurzeit keine Blutung.
8. Fall. L. 1400, 28jährige I para. Periode
alle drei Wochen, drei bis vier Tage stark, seit
einigen Monaten alle zwei Wochen bis zwei Wo¬
chen lang, stark. Zuletzt seit 15. April bis Ende
April. Jetzt seit 20. Mai Blutung stark. Am 26.
und 27. Mai je eine Ampulle Luteoglandol, worauf
die Blutung steht. Uterus ohne Besonderheit. •
Adnexe links leicht druckempfindlich, nicht ver¬
dickt.
9. Fall. D., 26jährige II para. Abgelaufene
Lues? (Wassermann-Reaktion nach Behandlung
negativ.) Vor sieben Wochen Abortus. Abrasio,
Tampospuman und Ergotin halfen nicht, seit
10. Mai gehen dauernd ganze Stöcke von Blut ab.
Uterus groß, etwas retrovertiert. Linke Adnexe
etwas dicker als rechte. Auf zwei Luteoglandol-
injektionen steht dio Blutung.
10. Fall. K., 27 jährige II para. Abort 24. April,
blutet seit 17. Mai sehr stark. Uterus klein.
Adnexe frei. Hgb. 75 %. Auf drei Spritzen
Luteoglandol steht die Blutung.
11. Fall. K. 1739, 33jährige V para. Blutet
seit 10. Mai andauernd. Die Periode war am
10. Mai fällig, vorher ohne Besonderheit, Am
10. Juni eine Doppelspritze Luteoglandol, ebenso
am 11. Juni, am 12. Juni eine einfache Luteo-
glandolinjektion, worauf die Blutung steht. Vor¬
her waren Pillen ohne Erfolg gegeben worden!
Uterus groß, derb. Sonst ohne Besonderheit.
12. Fall. R. 1765, 33jährige I para. Letzte
Periode 1. Januar, am 7. April Abortus. Blutet
seit acht Tagen sehr stark, nachdem seit April oft
Blutungen eintraten. Auf eine Doppelspritze nur
Spuren Blut, auf zwei weitere steht die Blutung
völlig. Uterus und Adnexe ohne Besonderheit.
Leider sind der Fälle nicht viele, auch
sind die Behanalungszeiten recht kurz,
da die Patientinnen sich teilweise trotz
Bitten des behandelnden Arztes, nicht
wieder vorstellten. Das ist doppelt be¬
dauerlich, da neues Luteoglandol infolge
Einschränkung der Fabrikation kaum
mehr zu haben ist. Interessant ist es
noch, daß das Luteoglandol uns bei zwei
Fällen von kleincystischer Degeneration
des Ovars völlig im Stich ließ.
Im großen und ganzen decken sich
unsere Erfahrungen durchaus mit denen
anderer, z. B. Hannes, jedenfalls ist ein i
Versuch mit Luteoglandol nicht nur im
Interesse der Patientinnen selber, denen
nie geschadet wird, sondern auch zur
weiteren Klärung begrüßenswert.
Esch legt großen Wert auf die Be¬
tonung des Umstandes, daß unsere ,,Or¬
ganotherapie“ eigentlich eine Organ¬
extrakttherapie ist, das heißt, daß die
Proteinkörperwirkung (R. Schmidt) bei
parenteraler Einverleibung der Organ¬
extrakte die möglicherweise wirklich be¬
stehende organspecifische Wirkung bei
weitem übertrifft. So erklären sich wohl,
die eigenartigen Erfolge bei ganz ent¬
gegengesetzten Symptomen, wie Menor¬
rhagie und Amenorrhoe durch Behand¬
lung mit demselben Organextrakt — so
auch die Erfolge, die Esch durch Injek¬
tion von Aolan, Frauenmilch usw. er¬
zielte.
Bei Patientinnen, die aus irgend¬
welchen Gründen nicht mehrmals in die
Sprechstunde kommen können, haben
wir wie Fränkel schon wiederholt mit
Luteintabletten gute Erfahrungen ge¬
macht, allerdings dauert es oft monate¬
lang, bis die Wirkung eintritt. Die
Skepsis desselben Autors bezüglich der
Hypophysenpräparate bei Menorrhagien
teilen auch wir.
Über das Mammin-Poehl — den
Extrakt von Schweinemilchdrüsen —
besitzen wir keine eigenen Erfahrungen,
es soll (nach Hoehne und Anderen) sich
in Gaben von drei bis vier Tabletten oder
einer Ampulle subcutan bei Menorrhagien
sehr bewährt haben. Mayer erzielteferner
durch Follikelsaft augenblicklich Still--
stand von profusen Uterusblutungen.
Kleemann empfiehlt auf Grund
seiner Erfahrungen gegen Metrorrhagien,
die jeder Behandlung trotzten, das Aus¬
wischen des Cavum Uteri mittels Sän-
gerschen Stäbchens, das er in Clauden-
Kochsalzlösung tauchte. Die Blutung
stand augenblicklich, sogar die folgende
Periode dauerte nur fünf Tage!
Von Mitteln, die außer den bespro¬
chenen noch Anwendung finden, möchte
ich erwähnen, daß das von Boldt neu
empfohlene Chlorzink von Hellend ah 1
abgelehnt' wird, da es zu Atresie des
Muttermundes und Hämatometra führen
kann.
Th Franz hat bei Menorrhagien gutes
gesehen durch die Tamponade der Cervix
mit Bariumchloridlösung und Injektion
einer 4%igen ebensolchen in die Portio.
Auch die Tamponade der S.cheide kann
in manchen Fällen in Frage kommen, be-
September
Die Therapie der Gegenwart 1920
319
sonders bei profusen Blutungen ausge¬
bluteter Frauen, damit bis zum Angreifen
der anderen Mittel Blut gespart wird.
Sachs empfiehlt dazu nicht entfettete
Watte, die sich nicht mit dem Blut voll-
■saugt, sondern das Blut am Austritt ver-
rhindert. Bei nicht zu starken Blutungen
kann ich auf Grund eigner Erfahrungen
>auch das Tampospuman empfehlen. Die
Tabletten werden vor die Portio gelegt und
dösen sich dort unter Bildung eines Kohlen-
isäureschaumpfropfes, der überdies noch
Styptica enthält, auf. Ein großer Vorzug
ist es, daß diese Art der Tamponade
auch bei manchen Virginis anwendbar
ist, ohne den Hymen zu gefährden.
Als rein therapeutischer Eingriff darf
in unserer Zeit eine Abrasio mucosae
nur in ganz seltenen Fällen zur Anwen¬
dung kommen, etwa dann, wenn alle
hier genannten Mittel einschließlich derer
gegen eine daneben bestehende Grund¬
krankheit wie Chlorose usw. uns im
Stiche gelassen haben. In solchen Fällen
könnte man das Bestreben gelten lassen,
sich des symptomaFsch wirkenden Ein¬
griffs zu bedienen, um der kausalen
Therapie in der Zwischenzeit die Mög¬
lichkeit zu geben, ihre Wirkung zu ent¬
falten. Nur* mit dieser Einschränkung
erscheint mir die Ausschabung als
Therapie berechtigt. Eine selbstver¬
ständlich weitere Einschränkung ist die
Forderung, bei Verdacht auf das Vor¬
handensein pathogener Keime und bei
manifesten Erscheinungen von Erkran¬
kungen der Gebärmutteranhänge die
Abrasio unter allen Umständen zu unter¬
lassen.
Ob man der Ausschabung noch eine
Atzung mittels Jod oder Formol anschließt,
ist Geschmackssache, vor der Chlor-
zinkätzung hat, wie erwähnt, Hellen-
•dahl nachdrücklichst gewarnt. Ebenso
ist es recht still geworden bezüglich der
Snegireff-Pincusschen Atmokausis der
•Uterussphleimhaut.
Daß viele dieser Methoden an Terrain
verloren haben, mag zum nicht geringen
Teil auf das Konto der gerade in der
Frauenheilkunde so mächtig an Boden
gewinnenden Strahlentherapie zu setzen
sein. Über die günstigen Erfahrungen, die,
wie auch Andere, wir bei klimakterischen
und Myomblutungen gemacht haben,
wurde von E. Zweifel auf dem Berliner
Kongreß berichtet. -War nun bisher
‘die Röntgenbestrahlung besonders für
’die Beherrschung von klimakterischen
Blutungen herangezogen worden, da man
wegen der befürchteten Keimschädigung
nur absolute Sterilisierungen bei Frauen
wagte; die der Klimax nahe waren, so
geht man jetzt weiter. Durch die Arbeit
Nürnbergers wurde bewiesen, daß eine
Schädigung des Nachwuchses durch tem¬
poräre Sterilisation nicht eintrjtt, ent¬
weder sind die Keimzellen so geschädigt,
daß eine Befruchtung überhaupt nicht
in Frage kommt, oder sie sind befruch-
tungsfähig; dann sind sie völlig intakt und
die daraus hervorgehenden Früchte voll¬
wertig. Damit entfällt jeder Grund, nach
Erschöpfung anderer styptischer Ma߬
nahmen die Bestrahlung von Frauen mit
sonst nicht beherrschbaren Metrorrhagien
abzulehnen, weil sie zu jung dazu sind.
Die Strahlentherapie ist heute in der
Lage, Uterusexstirpationen wegen Me¬
trorrhagien überflüssig zu machen. Einen
eklatanten Erfolg möchte ich kurz er¬
wähnen:
A. M., 17 jährige Virgo intacta. Kleiner retro-
flexiorischer Uterus, Adnexe frei. Hat wochen¬
lange Perioden, die höchstens durch Landauf¬
enthalt etwas gebessert wurden, alle Maßnahmen:
Medikamente, Strumektomie, Organotherapie
(Hormin und Luteoglandol) konnten die Blutung
nicht stillen, der Hämoglobingehait fiel auf 30 bis
40 %, die Patientin war nur mehr ein Schatten.
Am 6. Dezember 1919 eine intrauterine Radium¬
einlage ohne jeden Erfolg. Da die überaus starken
Blutungen andauerten, wurde die Patientin eine
Stunde lang bestrahlt, nachdem sie am Vortag
(11. Dezember 1919) noch eine Luteoglandol be¬
kommen hatte. Am 12. Dezember stand die
Blutung schlagartig. In etwa 14 Tagen erholte
sie sich so, daß man das Mädchen kaum wieder¬
erkannte, der Hämoglobingehait stieg auf über
70%, von einem vierwöchigen Landaufenthalt
kam sie blühend zurück, ohne noch einmal ge¬
blutet zu haben. Seither hat sie sich leider nicht
mehr sehen lassen.
Ist die Strahlenbehandlung von Me¬
trorrhagien bei jüngeren Frauen eine
Methode, zu der man immerhin erst nach
nutzloser Anwendung aller anderen uns
zur Verfügung stehenden Mittel greifen
wird, so ist sie die gegebene bei klimak¬
terischen und auch bei präklimakterischen
Blutungen, wo jede Befürchtung vor der
ja doch bald eintretenden Klimax in
Wegfall kommt.
Dasselbe leistet die Strahlentherapie
bei all den Myomen, deren Hauptsymptom
nicht in Verdrängungserscheinungen durch
einen allzugroßen Tumor, sondern in
profusen Blutungen besteht. Ausnahmen
machen jedoch die polypösen Formen,
die ja bekanntlich diejenigen sind,
die die allerergiebigsten Blutungen ver¬
ursachen, häufig genug vernachlässigt
werden, verjauchen und dann eine un¬
dankbare Aufgabe der operativen Gy-
320
Die Therapie der
näkologie darstellen. Solange die Po¬
lypen — ganz gleich welcher Ätiologie —
nur klein sind, genügt dahingegen das
Abtragen am Stiel, eventuell mit nach¬
folgender Abrasio und Tamponade.
Blutungen aus denjenigen Uteri, die
man als ,,metritisch verdickte*'.' bezeich¬
net, ohne mit dieser Diagnose eine be¬
stimmte Vorstellung vom Wesen und
der Ätiologie zu verbinden, können
neben den Stypticis noch durch eine
^ Reihe anderer Maßnahmen günstig be¬
einflußt werden. Hierzu gehören: ein
vorsichtiger Versuch mit Massage, heiße
Scheidenirrigationen, bis 50 Grad Cel¬
sius, wobei die äußere Haut entweder
durch Vaseline oder durch einen Hei߬
wasserspüler geschützt wird, Umschläge
— kalte und laue — Sitz- oder Ganzbäder
mit Zusatz von Kreuznacher Lauge oder
Franzensbader Moorsalz, schließlich Moor¬
bäder. Ganz besonders die letzteren
haben oft einen außerordentlich gün¬
stigen Einfluß auf verstärkte Uterus¬
blutungen. ln einzelnen Fällen mit ver¬
dickter Portio ist auch die Skarifikation,
zwei bis dreimal im Intermenstrum
wiederholt, so daß jeweils etwa zwei bis
drei Eßlöffel abgezapft werden, sehr zu
empfehlen. Gestillt wird die Blutung
hernach durch Glycerintampons, diese
und Ichthyol-Thiol- Thigenol-Glycerin-
Tampons, ferner Thio-Parametrontablet-
ten und Jodanstrich befördern die Re¬
sorption. Prinzipiell sei erwähnt, daß
keines dieser Mittel eine Wirkung ent¬
falten kann, ehe nicht auf das sorg¬
fältigste die Sekrettapete, die die Vagina
auskleidet und jede Resorption ver¬
hindert, durch Spülung und Trocken¬
wischen entfernt ist. Es ist merkwürdig,
wie oft hiergegen verstoßen wird.
In manchen Fällen wird aber auch
die beste Therapie nichts leisten können,
wenn die schädigenden Ursachen weiter¬
bestehen. Oft wird Masturbation eine
solche sein, nicht minder häufig aber
auch der Coitus reservatus. Hat man
doch für die Folgezustände des letzteren
geradezu den Ausdruck ,,Ehemetritis“
geprägt. Denkt man hieran und genießt
man das nötige Vertrauen .seiner Pa¬
tientinnen, so wird man ihnen um so
leichter ein wahrer Helfer sein können.
Manchmal wird man auch vor Über¬
anstrengungen — überhaupt vor falschem
Verhalten — zur Zeit der Menses warnen
und unter Umständen nicht nur ruhiges
Verhalten, sondern direkt Bettruhe ver¬
ordnen müssen, um die Blutung zu be-
Gegenwart; 1920 September
schränken. Das übermäßige Schnürea
ist ja heutzutage nicht mehr eine abso¬
lute Forderung der Mode, ebenso ist es
heute auch in Laienkreisen nichts Un¬
bekanntes mehr, daß eine Obstipation
auf alle Fälle beseitigt werden muß.
Mit der Verbreitung der Gonorrhoe
werden leider auch diejenigen Folgezu¬
stände häufig_er, die zu den ernstesten
Erkrankungen der weiblichen Genitalien
gehören, die der Adnexe. Die dabei nicht
selten auftretenden profusen Blutungen,
dürfen unter gar keinen Umständen uns
dazu verführen, eine Abrasio vorzuneh¬
men. Ganz besonders im akuten und
subakuten Stadium ist jede Manipulation
an den Genitalien streng kontraindiziert!:
Absolute Bettruhe in Verbindung mit
den obengenannten styptisch wirkenden
Medikamenten Ist für die erste Zeit un¬
bedingt geboten, ist das Fieber mindestens
vierzehn Tage abgeklungen, dann kann
man allmählich unter steter Kontrolle
anfangen, alle bereits erwähnten resorp-
tiven Maßnahmen: Umschläge, Bäder,
Tampionbehandlung, Moor-, auch Hei߬
luftbäder, Diathermie und Terpentin¬
injektionen zu verwenden. Vor Massage
möchte ich warnen, nur in ganz damit
vertrauten Händen wird kein Unheil
dadurch angerichtet.
Die Indikation, ob Adnextumoren
operativ entfernt werden müssen oder
nicht, wird in den allermeisten Fällen
nicht durch das Vorhandensein von Blu¬
tungen entschieden werden, sondern,
durch Schmerzen und Siechtum, nachdem
lange fortgesetzte konservative Behand¬
lung nichts gefruchtet hat. Nicht entzünd¬
liche Ovarialtumoren, wenn sie eine ge¬
wisse Größe überschreiten oder stielge¬
dreht sind, ferner maligne verfallen dem
Messer ebenfalls aus anderen Gründen
als dem der “^Blutungen, die sie bisweilen
zur Folge haben. Mit der Entfernung-
•des erkrankten Organs verschwindet zu¬
meist auch dieses Symptom, voraus¬
gesetzt, daß nicht später auch das Ovar
der anderen Seite degeneriert.
Die Retroflexio und die manchmal
damit einhergehenden Blutungen auf eine
fehlerhafte Funktion der Ovarien zu be¬
ziehen, wie es Aschner tut, dürfte reich¬
lich weit gehen. Jedenfalls wird der
Praktiker vorerst noch gut tun, sich bei
profusen Menses hierbei nicht nur auf die
Organtherapie zu verlassen, sondern die
Lagekorrektur zu versuchen.
Auch die Tuberkulose der Genitalien,
kann gelegentlich zu Menorrhagien führen,.
September
Die Therapie der. Gegenwart 1920 SJltl
wenn auch zumeist die Amenorrhoe deren
erstes Symptom ist. Die Therapie dieser
Blutungen deckt sich ganz mit der bei
Adnexerkrankungen überhaupt (bei* Sitz
der Erkrankung in den Adnexen); Abrasio
mit Ätzung ist bei tuberkulösen Endome¬
tritis am Platze, falls man nicht die kran¬
ken Organe ganz entfernt.
Ein Warner für die Patientin — mehr
noch für ihren gewissenhaften Arzt kann
eine Blutung dann sein, wenn sie im so¬
genannten ,,gefährlichen Alter‘‘ auftritt.
Zur Frühdiagnose des Carcinoms hilft
uns die sorgfältige Beachtung des frühesten
Symptoms: der Blutungen. Treten solche
bei einer Frau von Ende der Dreißiger an
auf — aber auch jüngere Jahre schützen
nicht 1 — stellt sich vielleicht dazu noch
ein bräunlicher Fluor, Abmagerung und
Mattigkeit ein, die Blutungen ^etwa gar
nach dem Coitus oder nach Anstrengungen
— dann dürfen wir nicht eher ruhen, bis
wir nicht die Patientin von der Not¬
wendigkeit einer Probeabrasio oder
Excision überzeugt haben. Die mikro¬
skopische Untersuchung entscheidet dann.
Heute stehen zwei Wege der Heilung
in Frage: Operation nach Wertheim
und Bestrahlung. . Immer mehr gewinnt
die letztere an Boden, über ihre Leistun¬
gen wurde auf dem letzten Gynäkologen¬
kongreß berichtet. Daß die Strahleri-
therapie nur in ganz großen Instituten
ihr Bestes leisten kann, darf ihr nicht
zum Nachteil angerechnet werden, denn
auch die Bumm-Wertheijnsehe Total¬
exstirpation gibt ihre besten Resultate
nicht ‘in jedermanns Händen.
Zweck dieser Abhandlung ist, erneut
darauf hinzuweisen, wie vielfältige Gründe
ein scheinbar so eindeutiges Symptom
'wie die Menorrhagie haben kann. Ohne
die Kenntnis der Ursachen wird aber
jede Therapie bestenfalls ein zufällig
geglückter Versuch bleiben und nie das
befriedigende Gefühl eines zielbewußten
Handelns in dem aufkommen lassen, der
sich damit befaßt.
Die Therapie uteriner Blutungen ist
schon heute dankbar für den, der sich
das bisher Erreichte zu Eigen gemacht
hat. Sie birgt aber andererseits auch
immer noch des Geheimnisses genug, um
den zu reizen, der sich an neue Probleme
wagen wilH).
Die Arbeit wurde aus drucktechnischen
Gründen gekürzt.
Depressionen, ihr Wesen und ihre Behandlung.
Von Dr. Wilhelm Stekel, Wien. (Schluß.)
Freud hat in einem interessanten
Aufsatze: „Melancholie und Trauer‘‘ die
Behauptung aufgestellt, daß die Vor¬
würfe ursprünglich einer geliebten Person
gelten und dann erst sekundär auf das
eigene Ich verschoben werden. — Diese
Behauptung ist nach meiner Erfahrung
nicht für alle Fälle richtig. Sie trifft nur
für einen bestimmten Typus zu. Ganz
falsch ist es aber, in der Ablehnung der
Nahrung etwas anderes zu sehen als einen
,,chronischen Selbstmord“. Freud unter¬
streicht die Behauptung von Abraham,
daß die Ablehnung der Nahrung eine Folge
der „Regression auf die kannibalistische
Phase der Libidoentwicklung“ sei. Diesen
Verstiegenheiten und Spitzfindigkeiten
kann ich keinen Geschmack abgewinnen.
Sie verwirren das Krankheitsbild anstatt
es aufzuhellen....
Die Kranken sind liebesarm geworden.
Die Angst zu verarmen bedeutet die
Angst, an Liebe zu verarmen. Geld ist in
der Sprache der Depression Liebe. Sie
wollen auch kein Geld ausgeben, sich
nichts anschaffen, es sei ja alles vergeb¬
lich, es hätte keinen Wert usw.. . Sie
finden die Umgebung und den Ar H t
los. Niemand leide so wie sie. Ob der
Arzt schon so- einen schweren Fall ge¬
heilt habe? Ob er auch fühlen könne, wie
schwer sie leiden? Sie lauern auf jedes
Wort des Arztes und entwickeln eine
Genialität, seine Worte zu verdrehen und
sie zu ihren ungunsten zu deuten. Sie
sind sehr empfindlich und bemerken mit
unheimlicher Beobachtungsgabe jede
Geste, jeden Tonfall des Arztes und der
Umgebung. Sie haben das Interesse für
die Umwelt verloren, aber sie sind scharf¬
sichtiger geworden in allen Beziehungen
zu ihrem Ich.
Im ganzen Krankheitsbilde tritt eine-,
deutliche masochistische Tendenz hervor.
Der Haß richtet sich gegen das eigene
Ich und aus der Selbstquälerei strömt
ihnen geheime Lust.
Das merkt man besonders in jenen
Fällen von Depressionen, die sich dem
hypochondrischenKrankheitsbilde nähern.
Die Hypochondrie befällt immer eine
„erogene“ Zone. Diese Zonen zeigen
sich bei oberflächlicher Betrachtung:
als Angstakkumulatoren, während
41
322 ' Die Therapie der
3ie in Wahrheit Lustakkumulatoren
sind.
Ich komme nun zum wichtigsten Teil
meiner Ausführungen. Männer machen
in diesem Leiden einen weibischen Ein¬
druck, so daß Men dl®) mit Recht von
einemClimacterium virile sprechen konnte.
Es handelt sich wie beim weiblichen kri¬
tischen Alter der Frau um einen Bankerott
aller erotischen Hoffnungen. Der Mann
ist alt, fühlt sich alt und klagt darüber,
daß er nun sterben soll,- ohne sich aus-
gelebt zu haben. In jedem Menschen
lebt ein heimlicher „sexueller Imperativ“,
der ihn drängt, seine Erfüllung zu suchen.
Ohne diese Erfüllung können die Menschen
nicht sterben, oder sie sterben mit dem
Ausrufe, daß sie eigentlich nicht gelebt
hätten.
Im Klimakterium des Mannes tritt
aber seine Verweiblichung sehr deutlich
hervor. Er verliert alle Energie, wird ent¬
schlußunfähig (,,wie ein altes Weib“),
jammert und klagt direkt, er habe seine
Männlichkeit verloren’).
Es ist eine sichere Tatsache, die ich
immer wieder beobachten konnte, daß
die Depressionen mit einer Verstärkung
der gleichgeschlechtlichen Komponente
einsetzen. Die Männer werden weiblich
und die Frauen männlich.
Ich kann nicht entscheiden, wie weit
dabei organische Störungen der inneren
Sekretion eine Rolle spielen. Der Erfolg
der Psychotherapie spricht gegen die
rein organische Grundlage. Wahrschein¬
lich erfolgt wegen der heterosexuellen
Enttäuschung eine Flucht in die Homo¬
sexualität.
Frauen, die an Depressionen erkran¬
ken, die bei ihnen fast immer das typische
Bild der Melancholie bietet, zeigen plötz¬
lich eine Neigung zu männlichen Be¬
schäftigungen. Sie beginnen zu rauchen,
(,,weil die Zigarette sie wie ein Narkoticum
beruhigt“). Sie tragen Männerblusen mit
Kragen. Manche lassen sich scheinbar
unmotiviert das Haar schneiden. Sie
suchen die Ruhe der Natur in Ausflügen
und ziehen Männerhosen an.
Mitunter läßt sich sogar eine stärkere
Behaarung im Gesicht nachweisen, die
während der Depression auftritt. Die
Menses werden spärlicher oder bleiben
ganz aus. Die Schilddrüse schwillt an.
Die Wechseljahre des Mannes (Neurol. Zbl.
1910).
’) Siehe auch Löwenfeld, ,,Sexualleben oder
Nervenleiden“, 4. Aufl., Wiesbaden 1914. Kapitel:
Climacterium virile.
Gegenwart 1920 • ’ September
es zeigen sich Störungen der inneren
Sekretion. Der Organismus beteiligt sich
an der ganzen Umstimmung in das. Gegen¬
geschlechtliche.
Bei den periodischen Depressionen
läßt sich dieser Wechsel zwischen hetero¬
sexueller und homosexueller Einstellung
sehr deutlich nachweisen. E. Steinach
hat in einer seiner hochinteressanten und
fundamentalen Arbeit ,,Pubertätsdrüsen
und Zwitterbildung“ (Arch. f. Entwick¬
lungsmechanik Bd. 13, 3. Heft) beob¬
achtet, daß bei seinen künstlichen Zwit¬
tern männliche und weibliche Perioden
wechselten.
Ich bringe diese Stelle wegen ihrer
Wichtigkeit wörtlich wieder:
',Bei der Entwicklung des Geschlechtstriebes
macht sich zunächst männliche Art geltend. Das
Tier ist mutig, stellt sich einem fremden gleich¬
altrigen Männchen zum Kampf und läßt dabei
den gurgelnden Laut vernehmen, welcher beim
Weibchen und beim männlichen Frühkastraten
fehlt, der beim normalen Bock jede Aktion ein¬
leitet oder begleitet, sei es Kampf oder Werbung.
Auch normalen Weibchen gegenüber gebärdet es
sich als Männchen. Es findet sofort ein brünstiges
Weibchen heraus, verfolgt' unaufhörlich und be-
springt. Würde man sich mit einigen Prüfungen
in der ersten Zeit der Reife begnügen, so würde
man schließen, der Zwitter sei in männlicher
Richtung erotisiert.
Bei regelmäßig wiederkehrenden Ermittlungen
kommt rhan aber zu einem Zeitpunkte, wo das
Tier ganz veränderten Charakter zeigt. Das Tier
ist mehr scheu und furchtsam. Bringt man ein
fremdes Männchen in sein Abteil, so stellt er sich
nicht mehr, sträubt nicht mehr die Haare, sondern
bleibt stumm und läuft davon. Bringt man ein
oder das andere Weibchen in sein Abteil, so ver¬
hält es sich nach dem ersten Beschnuppern ruhig
und vollkommen gleichgültig, auch wenn das
Weibchen brünstig ist. Der männliche Trieb
scheint wie erloschen.
Im Gegenteil, das Tier hat weiblichen Reiz
gewonnen. Dasselbe normale Männchen, welches
,in ihm bisher ein Kampfobjekt erblickt hat, findet
in ihm ein Objekt der Werbung. Der Zwitter wird
nun fort und fort verfolgt, berochen und be-
sprungen, und wehrt sich oft vor heftigem Auf¬
sprung durch Heben des Hinterfußes, wie ein
normales Weibchen — kurz es ist beim Zwitter
eine Periode weiblicher Erotisierung eingetreten.
Diese Periode dauert etwa zwei bis vier Wochen.
Bei den Exemplaren, bei welchen die Mamma¬
hyperplasie bis zur Milchsekretion gediehen ist,
fällt sie zusammen mit der Periode der Milch¬
sekretion und kehrt wieder, sobald neuerdings
Milchdrüsenschwellung und Milchsekretion ent¬
steht. In diesen zwei- bis dreimonatelangen Zwi¬
schenpausen benimmt sich das Tier zunächst in¬
different, dann wieder ausgesprochen männlich.
Die Übergänge von der weiblichen zur männlichen
Erotisierung nehmen bei den einzelnen Periodeh
verschiedene Zeiten in Anspruch.
Die Koinzidenz von weiblicher Sexualstim¬
mung und Milchsekretion hat mich veranlaßt,
eben einen solchen Zwitter zur histologischen
Untersuchung der Transplantate zu opfern. Der
gesunde beträchtliche Hodenrest bietet das Bild
September
Die Theräpie. der Gegenwart 1920
323
der gewucherten männlichen Pubertätsdrüse.
JVlächtige Lager oder Stränge Leydigscher Zellen
umgeben die atrophischen oder schon zerfallenen
-Samenkanälchen. Das Ovarium ist noch ganz
in alter Forfn erhalten und zeigt eine massenhafte
Oblitierung der Follikel, die von luteinzell¬
artigen Elementen gefüllt sind und die in ihrer
Zahl Und Üppigkeit ‘ eine besonders reich ent¬
wickelte weibliche Pubertätsdrüse darstellen.
Durch diesen Befund wird die Periode der
weiblichen Erotisierung tatsächlich aufgeklärt.
Sie wird hervorgerufen durch periodisch aus¬
gelöste Höchstleistung der weiblichen Pubertäts¬
drüse, welche in diesen Zeitläuften soviel weib¬
lichen Sexualhormon produziert, daß einerseits
die weiblichen Geschlechtsmerkmale ihre höchste
Entfaltung erfahren, was in der Mammahyper¬
plasie und Milphsekretion zum Ausdruck kommt
und daß andererseits die centrale Nervensubstanz
•so reichlich mit diesem Hormon durchspült wird,
daß die psychosexueile Stimmung und das von
ihr beherrschte funktionelle Verhalten vollständig
nach der weiblichen Richtung umschlägt.
Wird-'das ovariale Transplantat innerhalb der
Periode männlicher Sexualstimmung exstirpiert,
so fällt die Periode der Mammahyperplasie und
der weiblichen Erotisierung ein für allemal aus,
ein Kontrollversuch, welcher den Zusammenhang
zwischen dem psychischen Geschlechtscharakter
und der specifischen Wirksamkeit der Sexual¬
hormone wieder in zwingender Weise erhärtet.
Daß die Pubertätsdrüse des transplantierten
Ovariums in bezug auf Ausbreitung und Tätigkeit
starkem Wechsel unterliegt, war mir aus der bis
in die Gegenwart fortgesetzten Beobachtungen
an feministischen Männchen geläufig; bei den¬
selben haften, wie schon eben mitgeteilt, die in
frühester Jugend eingepflanzten Ovarien jahre¬
lang, ja bis zum Lebensende, und sind imstande,
durch die von Zeit zu Zeit wiederkehrende, histo¬
logisch nachweisbare Steigerung der Follikel-
obliteration beziehungsweise Pubertätsdrüsen¬
wucherung, jene periodisch erfolgenden Erschei¬
nungen der weiblichen Brunst, der Mammahyper--
plasie und Milchsekretion auszulösen. Neu aber
und" von Bedeutung ist die durch vorliegende
Experimente ermittelte Tatsache, daß das cen¬
trale Nervensystem auf die Schwankungen im
Zuflusse der beiden Sexualhormone so scharf
reagiert und daß es wiederholt im Laufe des in¬
dividuellen Lebens je nach der Speicherung des
specifischen Hormons bald in männlicher, bald
in weiblicher Richtung erotisiert werden kann.“
Steinach weist auf die Forschungen
von Moll hin, der als der erste die Perio¬
dizität im Auftreten homosexueller Nei¬
gungen konstatiert. hat (Die konträre
Sexualempfindung Berlin 1891). Aber
auch bei Krafft-Ebing, bei Tar-
nowsky, bei Magnus Hirschfeld und
bei Bloch finden sich deutliche Hinweise
auf diese Tatsache.
Krafft-Ebing beschreibt im Jahrb. f. sex.
Zwischenstufen Bd. 3, S. 27, einen. Fall von
periodischer Bisexualität, der den. von mir oft
•beobachteten Verlauf nimmt. In der Depression,
wegen der ein Sanatorium aufgesucht wird, homo¬
sexuelle Neigungen. Im^^ Sanatorium regelmäßig
Liebesregungen zu den Ärzten, die sich bis zum
Verliebtsein steigern, so daß es zu Heiratsgedanken
kommt. Mit der Besserung der Neurose tritt das
»heterosexuelle Fühlen wieder in den Vordergrund.
Krafft-Ebing beobachtete einen Anfall (hyste¬
rische Psychose), in dem beide Tendenzen mit¬
einander rangen und behauptet, die Kranke durch
eine suggestive Kur dauernd geheilt zu haben.
Auch Hirschfeld kwähnt in seinem Buche
,,Die Homosexualität“ (Berlin 1914, Luis Marcus)
einen Fall von periodischer Bisexualität der mit-
cyclothymen Symptomen einherging. Er sagt:
„Er betrifft einen an manisch-depressiven Stim^
mungsschwankungen leidenden Gymnasialpro¬
fessor, der in einer Heilanstalt Morphinist ge¬
worden ist. Er fühlt im Depressionszustande
homosexuell, im. Exaltationszustand und im
Morphiumrausche heterosexuell. Das Merkwürdige
aber ist, daß in homosexuellen Zeiten seine Stimme
eher hoch ist, oft umschlägt, auch seine Bewegungs¬
art recht weibisch ist, während er in hetero¬
sexuellen Zeiten viel tiefer spricht und auch in
Gang und Gesten viel viriler wirkt“ (S. 212)8).
Eine ähnliche Beobachtung habe ich
in allen meinen Fällen gemacht. Mit dem
Durchbruch der gleichgeschlechtlichen
Regungen setzte die Depression ein.
Einen entgegengesetzt verlaufenden, alle
meine Erfahrungen über den Haufen werfenden
Fall schildert Max Marcuse in der Mschr. f.
Psych. (Ein Fall von periodisch-alternierender
Hetero-Homosexualität 1917j Bd. 41, Heft 3.)
Es handelt sich um einen 31jährigen, erblich be¬
lasteten Schriftsteller, der sich nur in der Homo¬
sexuellenperiode richtig wohl fühlte und nur in
ihr schriftstellerisch und prpduktiv ist, dagegen
zur Zeit des normalen Empfindens dauernd unter
einer gewissen Depression leide und nichts schaffen
könne. Körperlich zeigt er keine Zeichen einer
betonten Bisexualität. Seine Perioden schilderte
Marcuse folgendermaßen:
In der homosexuellen Periode lebt er als der
maskuline Teil jeweilig mit einem jungen Freunde
zusammen, ist in seinem Glücksgefühl nur durch
Angst vor einem Konflikte mit Polizei und Ge¬
richt beeinträchtigt, dies allerdings dauernd und
erheblich, und er befindet sich zurzeit offenbar
in Erpresserhänden; in diesem Zeitabschnitte
schreibt und veröffentlicht er seine dichterischen
Arbeiten. Fast über Nacht, aber doch immer nach
bereits tagelanger Empfindung, daß der „Um-
schwung“^, bald eintreten müsse, vollzieht sich
dann die Änderung mit ihm: aus froher, schaffen¬
der Stimmung wird Traurigkeit und Arbeits¬
unlust; nicht selten kämpft Patient dann gegen
Lebensüberdruß; und er fürchtet, diesem Kampfe
demnächst einmal zu erliegen. Er kann in solcher
Zeit nicht begreifen, wie er jemals sich homo¬
sexuell zu betätigen imstande .sei, da ihm schon
der Gedanke daran Ekel bereite; er flieht seinen
homosexuellen Freunden und das ganze Milieu,
meist indem er auf Reisen geht, bei denen er fast
niemals ein bestimmtes Ziel habe, sondern sich
vom Zufall und einem dumpfen Drange leiten
lasse. Er sehnt sich nach den Umarmungen eines
Weibes, ist leicht von den Reizen eines solchen
entflammt und verliebt sich fast in jede üppige
Frau. Der Coitus als solcher reizt ihn wenig und
befriedigt ihn noch weniger. Er ist in dieser
Periode liederlich und völlig haltlos, verschwendet
Geld, weil doch ,,alles unnütz“ sei und lebt „ohne
Sinn und Verstand“.
Aus dieser Schilderung ergibt sich,
daß er auch in den homosexuellen Perio-
8) Auch Löwenfeld (1. c. S. 431) schildert
eine periodische homosexuelle Zwangsneigung mit
Wechsel der Stimmungslage.
41 *
324
Die Therapie der Gegenwart 1920 -
September
den leidet. Er fülilt sich dauernd und er¬
heblich durch den Konflikt mit Gericht
und . Polizei beeinträchtigt und scheint
jErpressern ausgeliefert. Es ist ja möglich,
daß der starke Wille zur Homosexualität,
den ich in allen Fällen von Homosexua¬
lität konstatieren konnte, den Typus der
Depression verändert hat. Ich habe in
meinem Buche „Onanie und Homo¬
sexualität“ (Die homosexuelle Neurose.
Urban & Schwarzenberg 1917) auf die
wichtigen Zusammenhänge zwischen Sa¬
dismus und Homosexualität aufmerksam
gemacht. Der Homosexuelle ist zum
Weibe mit Haß eingestellt und flüchtet
vor seinem verbrecherischen Sadismus in
die gleichgeschlechtliche Liebe. Beson¬
ders instruktiv ist ein Fall, in dem sich
tiefe Depressionen einstellten, wegen der
sich der Kranke keine Rechenschaft geben
konnte. Aber in den Depressionen war
er von Haß gegen die ganze Welt und be¬
sonders gegen seine Mutter erfüllt, so
daß er sich vor sich selber fürchtete.
Viele Menschen greifen zum Mor¬
phium und zu anderen Narkoticis, um
dem Sadismus zu entfliehen. Ein Opio-
mane, der 20 bis 30 g Opium täglich ein¬
nehmen mußte, gestand mir, er müsse
das Opium einnehmen, um ,,gut zu sein“.
Er karikierte die Nächstenliebe, so daß
deutlich zu erkennen war, daß es sich
um einen überkompensierten Sadismus
handelte. Er machte nur eine Ausnahme:
Er haßte die Homosexuellen, obwohl
seine Weltanschauung sonst eine voll¬
kommen anarchistische war. ,,Homo¬
sexuelle könnte ich ruhig insgesamt ver¬
brennen oder aufhängen lassen“, pflegte
er sich zu äußern. Es war klar, daß er
auch seine homosexuelle Komponente im
Opium ertränken wollte. Diese Erschei¬
nung erklärt sich durch die Tatsache, daß
die periodische Dipsomanie (Quartals¬
säuferei) auf eine periodische wieder¬
kehrende homosexuelle Periode zurück¬
zuführen ist, wie meine Analysen be¬
weisen. Bei einem homosexuellen Quar¬
talssäufer war offenkundig zu konsta¬
tieren, daß der Durchbruch der hetero¬
sexuellen Neigungen im Alkohol zur In¬
aktivität verurteilt wurde. (Andererseits
sehen wir bei sogenannten Normalen im
Rausche plötzlich homosexuelle Regungen
auf treten.)
Es gibt aber Krankheitsfälle, welche
deutlich die Kombination von Homo¬
sexualität und Sadismus klarlegen. Ich
verweise auf die nächste Beobach¬
tung.
Eine 34jährige Arztensgattin wird mir von Prof.,
Eppinger zur psychoanalytischen Behandlung
zugewiesen. Sie stammt aus gesunder Familie,
zeigt aber infantilen Typus und zeichnet sich
durch einen auffallend starken Bartwuchs im Ge¬
sicht aus, der ihr das Profil eines interessanten
blassen Jünglings verleiht. Menses regelmäßig.
Sie leidet seit der Ehe an regelmäßig wieder--
kehrenden schweren Depressionen, die zwei bis
drei Monate dauern. Sonst sanft und milde und
ihrem Manne sehr ergeben, wird sie in den ■De¬
pressionszuständen wild und jähzornig. Sie läßt:
sich immer wieder'trotz guter Vorsätze hinreißen,
ihren Mann zu schlagen. Sie ist eine frigide Frau,
die nicht zum Orgasmus kommt. In den Depres¬
sionszuständen wird sie geradezu nymphomanisch.
Sie verlangt' immer wieder von ihrem Manne den
Koitus, gerät' in hochgradige Aufregung, ohne
zum Orgasmus zu gelangen. Sie wirft ihm vor,,
er habe vor der Ehe zuviel gelebt. Sie hat sich
alle seine Erlebnisse vor der Ehe genau berichten
lassen und hat jene verderbliche „Eifersucht auf
die Vergangenheit“, welche jede Ehe zur Hölle
macht.
Auf diese Zusammenhänge zwischen
Eifersucht, Sadismus und Homosexua¬
lität habe ich in meinem Buche ,,Onanie
und Homosexualität“ ausführlich meine
Theorie der Homosexualität begründet.
Ich will mich hier nicht wiederholen und
nur aufmerksam machen, daß die homo¬
sexuelle Wurzel der Eifersucht immer-
nachzuweisen ist. Man i^t nur (patho¬
logisch) eifersüchtig, wenn man
das Objekt der Eifersucht begeh¬
renswert findet. Dazu ist aber die-
homosexuelle Einfühlung unbedingt not¬
wendig. Die Eifersucht ist auch ein Vor¬
wand für den Haß, der auf diese Weise
rationalisiert wird. Die Depression wird
vom Haß, der die treibende Kraft, des
Sadismus darstellt, beherrscht. Sie ist
eine ausgesprochene Haßneurose. '
Vom besonderen Interesse sind die-
Beziehungen der Depression und des
Wahnes überhaupt zum Hermaphrodi¬
tismus. Der erste Fall, den ich beobachten
konnte, war merkwürdig genug.
Es handelte sich um eine 42iährige Bäuerin,,
die auf der urologischen Station als Mann erkannt
wurde. Es wurde ihm durch eine Operation ein
sehr gelungener Penis geschaffen, durch den er
tadellos urinieren konnte. Auch erhielt er Männer¬
kleider (er war bisher als Magd auf einem Bauern¬
hof tätig gewesen). An die Operation schloß sich
eine schwere Depression an, die drei Monate
währte.
Die Vorstellung ,,Du bist kein Weib
mehr!“ war .offenbar die auslösende Ur¬
sache der Depression, welche ja nach
meiner Ansicht die Reaktion auf ein aus¬
sichtsloses sexuelles Begehren darstellt.
Wie Freuds berühmte Forschungen
nachgewiesen haben (Psychoanalytische
Bemerkungen über einen autobiographisch
beschriebenen Fall von Paranoia, Jahr-
September
325
Die Therapie der Gegenwart J92Ö
l3uch für psychoanalytische Forschungen
Bd. 3, 1. Hälfte) läßt sich die Entstehung
der Paranoia auf eine verdrängte Homo¬
sexualität zurückführen. Ich habe diese
Theorie in allen meinen Fällen bestätigen
können (vergleiche mein Buch: ,,Onanie
und Homosexualität“). Es kommt auch
zu Wahnvorstellungen, bei' denen der
Kranke sich einbildet, ein ,,Zwitter“ zu
sein. Wir müssen diese Wahnbildung als
einen Heilungsversuch, als ein Kom¬
promiß aus dem unlöslichen Konflikt:
^,Mann oder Weib?“ ansehen.
Sehr interessant ist ein diesbezüglicher Fall^
den Kielholz in seiner Broschüre: „Jakob
Boehme“ (Ein pathographischer Beitrag zur
Psychologie der Mystik. Schriften zur ange¬
wandten Seelenkunde 17. Heft, Leipzig und Wien
1919, Franz Deuticke) publiziert. Es handelt sich
um ein wegen Muttermord (!) interniertes Mäd¬
chen, dessen Erkrankung einen circularen Ver¬
lauf zeigte. Sie schildert ihren Zustand mit
folgenden Worten;
Ich hatte verschiedene Stadien durchzumachen,
nämlich ein bestimmtes, das keinen Zweifel zu¬
ließ, und ein unbestimmtes Neutrumstadium, wo
die Zweifel ob der Richtigkeit dieses Seins sich
einstellten. Ich erinnere mich des Moments, da
die Entwicklung vor sich ging. Ich litt an der
Täuschung, Mann geworden zu sein. Die körper¬
lichen Bewegungen wurden freier, die Muskel ge¬
wannen an Spannkraft, kräftig rollte das Blut
durch die Adern, die Geistes- und Körpertätigkeit
mächtig fördernd. Das Allgemeinbefinden war
ein leichtes, wohliges, die Denkungsart eine un¬
gehemmtere, kühnere, die Fähigkeiten waren
verschärft und die Tatkraft fühlte ich sich ver¬
doppeln. Ein freudiges Selbstbewußtsein hob
das seelische Empfinden und trat an die Stelle
des Sichkleinfühlens. Ich hätte mich in allen
diesen Vorteilen sehr glücklich geschätzt, wenn
ich nicht unter den (vermeintlichen) Anspielungen
der Wärterinnen sowie der Insassen des Männer¬
pavillons gelitten hätte. Ich machte aus diesem
Grunde einen Selbstmordversuch. Es folgte das
Stadium des unbestimmten Wesens bei zuneh¬
mender Besserung des Allgemeinbefindens, das
sich ob des Bestehens der physischen Verände¬
rungen im Zweifel und beängstigender Ungewi߬
heit ließ. Mit der langsam fortschreitenden Bes¬
serung verschwanden auch diese Ideen wie auch
die Empfindung allmählig, bis sie schließlich
ganz wegblieben.
Wir sehen in diesem Falle die sadisti¬
sche Komponente (Muttermord!), welche
sich in eine ausgesprochen altruistische
umwandelte. Sie wollte als Herma¬
phrodit alle Kranken heilen und fühlte
die Kraft dazu iri sich. ,,Christus ist
Hermaphrodit ...“, was die deutlichen
Ansätze zur ,,Christusneurose“ und zur
,,großen historischen Mission“ zeigen,
die' ich an anderer Stelle beschrieben
habe.
Auffallend ist, wie otft die Wahn¬
kranken über Kastrationen berichten. So
berichtet Kielfeld von einem Fabrik¬
arbeiter, der sich von seinen Arbeitgebern
verfolgt fühlte. Sie hätten ihn veran¬
lassen wollen, Kellnerin zu werden. Er
sollte kastriert werden, ihm sollte die Ge¬
bärmutter eines Affen eingesetzt werden.
Ich habe einen Fall von manisch-de-
pressivem*Irresein beobachtet, in dessen
Verlauf sieh während der Depressionen
immer wieder Kastrationstendenzen zeig¬
ten. Er wolle sich das Glied abschneiden,
dann werde es besser werden. Vielleicht
geht die Kastrationsmanie der Skopzen
8iuf solche homosexuelle Regungen zurück,
■wfe sie im Klimakterium und Senium des
Mannes regelmäßig auftreten.
Durch diese Tatsachen erklärt sich
das Rätsel der Cyclothymie und aller
periodischer Psychosen. Sie hängen mit
dem periodischen Wechsel von hetero¬
sexueller und homosexueller Einstellung
zusammen. Die starke Bisexualität würde
dann die Disposition zu diese'm Leiden
ab geben.
In dem erwähnten Falle der ArztenSr
gattin zeigte sich in der Depression ein
gradezu nymphomanischer Drang. Man
lasse sich nicht von dieser oft beobach¬
teten Tatsache irrig machen. Wie ich
nachgewiesen habe, ist die Nymphomanin
ebenso wie der an Satyriasis leidende
Mann eigentlich ein Latent-Homosexuel¬
ler. Weil der normale Akt keine Befriedi¬
gung bringen kann, wird die Wieder¬
holung verlangt. Auch der Don Juan ist
ein Latent-Homosexueller (vergleiche in
meinem Buche ,,Die Geschlechtskälte der
Frau“ 3. Band der Störungen des Trieb-
und Affektlebens, Urban & Schwarzen¬
berg, Wien 1919, die ,,Analyse einer
Messalina“), Sie erweist sich als eine aus¬
gesprochene Bisexuelle, mit starker Nei¬
gung zur offen bekannten Homosexualität.
Deshalb werden wir oft in den Depres¬
sionszuständen, sofern der Geschlechts¬
trieb nicht scheinbar ganz erlöscht, eine
Neigung zum Objektwechsel beobachten
können. Frauen begehen ihre Treubrüche,
Männer laufen in die Bordelle. Es sind
krampfhafte Heil ungs versuche,
aus der Homosexualität in die He¬
terosexualität zu gelangen.
Auch das plötzliche Verlieben der
Männer im hohen Alter kann eine Flucht
vor der Homosexualität bedeuten. Je
pathologischer und unwahrscheinlicher
diese Liebe erscheint, desto größer ist die
Wahrscheinlichkeit, daß es sich um den
Versuch einer Heilung, um eine Transpo¬
nierung der Homosexualität auf ein he¬
terosexuelles Objekt handelt.
326
Die Therapie der GegenwaJt 1920
Septetiiber
Ein Gljähriger Mann verliebte sich in ein
Bureaufräulein* Er verließ seine Familie, ließ
sich scheiden, obgleich er schon mehrfacher Gro߬
vater war. In der Ehe brach eine Depression aus.
In der Analyse kam zutage, daß er sich in den
•Bruder seiner Frau verliebt hatte und diese Nei¬
gung auf das Mädchen übertragen hatte.
Es fragt sich, ob wir diese Funde
therapeutisch verwerten können. Ich
möchte vorweg betonen: Die Behand¬
lung mit Hormonen hat mich glatt
im Stich gelassen. Ob eine Operation
im Sinne Steinachs, welche die hetero¬
sexuellen endokrinen, Triebkräfte ver¬
stärken würde (Einpflanzung einer glefch-
>geschlechtlichen Pubertätsdrüse) von Er¬
folg sein werden, das muß erst die Zukunft
lehren. Vielleicht ergibt sich eine opera-
rive Therapie der Psychosen, der Dipso¬
manie, des manisch-depressiven Irrseins
und der Paranoia.
Die seelische Behandlung gibt gute
Resultate, wobei sich die Patientinnen
stürmisch in den Arzt verlieben^), das
heißt ihre homosexuellen Neigungen
zurückdrängen und sich eine aktuelle
heterosexuelle Leidenschaft arrangieren.
Die Zurückweisung dieser oft unbändigen
Leidenschaft ruft eine tiefe Depression
hervor.
Es bedarf großer psychotherapeuti¬
scher Kunst, um einer Depression Herr
zu werden. Die Kranken jammern un¬
aufhörlich und verstecken ihre unbewu߬
ten Motive. Sie wollen nicht von den tie¬
feren Motiven sprechen, die zur Erkran¬
kung geführt haben. Oft muß man sich
auf reine Persuasion und liebevolles Zu¬
sprechen beschränken. Aber’in manchen
Fällen kommt man mit der Psychoanalyse
rasch vorwärts, man öffnet dem Kranken
die Augen, man entlastet ihn von dem
drückenden Schuldbewußtsein, das in¬
folge seiner Haßgedanken und Beseiti¬
gungsideen unaufhörlich an seiner Seele
nagt. In einem größeren Werke, zu dem
diese Studie ein Vorläufer sein soll, will
ich die Psychotherapie und Genese der
Depressionen ausführlich besprechen.
Heute kann ich mich nur mit Hinweisen
an wichtigste Punkte halten.
Ich möchte aber ganz besonders auf
die Gefahren der Behandlung mit Nar-
koticis aufmerksam machen. Man erzeugt
unzählige Opiomanen, Yeronal- und
Adalinisten; die vielen Toximanen sind
zum Teil Kunstprodukte einer falschen
Therapie. Für die schwersten Fälle, welche
unter ständiger Selbstmorddrohung ste¬
hen, bei denen die Angstentwicklung zu
®) Vergl. den erwähnten Fall Krafft-Ebing.
einem Raptus melanchölicus führen kann,
greife ich zur Opiumbehandlüng, welche
eine vorübergehende Beruhigung erzwingt.
Diese Fälle werden . immer seltener.
Ich habe gelernt, ohne narkotische Mittel
auszukommen. Ich wende weder Veronal,
noch Adalin, Bromural, Luminal, Brom
usw. an. Die Kranken sind am nächsten
Tage noch apathischer und mürrischer,
ihre Abulie verstärkt sich. Ich nehme
von allen diesen Mitteln Abstand.
Ich fürchte die Schlaflosigkeit der
Depressionisten nicht mehr. Ich habe
gelernt, daß in der Schlaflosigkeit eine
Art Heilungstendenz und Schutzvorrich-
timg steckt. Die Kranken fürchten ihren
Schlaf, weil sie nicht in ihre pathologi¬
schen Komplexe verfallen wollen^®). Viele
zeigen die merkwürdige Schlafstörung,
sofort nach einigen Minuten Schlaf mit
einem Schrei oder mit Herzklopfen auf-
zuwacheh, mit der Empfindung, daß sie
in einen Abgrund hinunterstürzen. Es
ist der Sturz in die Tiefe ihrer Verbrecher¬
natur, in die Abgründe ihrer geheimen
Wünsche. .. In der Analyse bessert sich
erst die Schlafstörung. Die offene Be¬
sprechung ihrer Konflikte, deren Reich¬
haltigkeit ich in diesem Aufsatz eben
nur andeuten konnte, führt eine seelische
Entlastung herbei und verringert die
Angst vor dem Schlaf und die Furcht
vor den verbotenen Träumen.
Eine wertvolle Unterstützung leistet
die Hydrotherapie. Man hat ja die Auf¬
gabe, den Kranken den ganzen Tag zu
beschäftigen, ihn von seinen Grübeleien
abzulenken. Auch will er auf die seelischen
Wurzeln nicht eingehen und das Gefühl
haben, daß „etwas Ordentliches zu seiner
Heilung geschieht'^. Feuchte Einpackun¬
gen, die bis zu einer Stunde ausgedehnt
werden, denen sich ein nicht allzu warmes
Halbbad anschließen soll (um eine kräf¬
tige Hautreaktion zu erzeugen), werden
sehr gut vertragen. Die Temperatur der
Einpackung sei möglichst kalt, etwa
14 bis 16 Grad. Das Halbbad womöglich
von 18 auf 16. Wenn der Kranke sich in
der Einpackung nicht erwärmt, ist er
vorher abzureiben oder es sind Wärme¬
flaschen, elektrische Bettwärmer zu den
Füßen zu applizieren.
Man trachte immer wieder, die Kran¬
ken zur Arbeit zu bewegen. Beamte
müssen ins Amt gehen, so sehr sie sich
auch sträuben und ihre Unfähigkeit zur
Vergl. meine Broschüre „Der Wille zum
Schlaf. Verlag J. F. Bergmann.
“September
pie Therapie der Gegenwart 1920
32T
Arbeit betonen, Kaufleute müssen in ihr
Bureau oder in ihren Laden, die Haus¬
frauen in die Küche.. Es ist falsch, ihnen
die Sorgen um den Haushalt abzunehmen.
Sie brauchen die Arbeit als Heilmittel.
Für leichte, anregende Lektüre ist zu
sorgen, der Besuch heiterer, harmloser
Theaterstücke ist zu empfehlen (das Kino
wirkt immer schlecht, nur die wissen¬
schaftlichen Uraniavorstellungen werden
gut vertragen). Kartenspiele mit geringem
Einsätze, Spaziergänge, Müllern, Gym¬
nastik sind in leichten Fällen zu emp¬
fehlen.
Die Kunst des Arztes zeigt sich in den
ersten Stadien der Depression. Neben der
psychologischen Erforschung muß auch
die Beruhigung und die Anleitung zur
Arbeit erfolgen. Sehr gefährlich sind Ur¬
laube, welche die Depression fast immer
verschlimmern. Der Erfolg der Sana¬
toriumsbehandlung hängt von der Tüchtig¬
keit des Arztes ab.
Ich kann diese Ausführungen nicht
schließen, ohne auf die eminente Selbst¬
mordgefahr aufmerksam gemacht zu ha¬
ben, die bei diesen Kranken besteht. Im
Beginne meiner psychotherapeutischen
Praxishabeich dieseGefahrsehr gefürchtet.
Die Erfahrung hat :mich belehrt, daß bef
richtiger psychotherapeutischer Behand¬
lung. welche dem Kranken stets die Hoff¬
nung auf Genesung betont und sich von
seiner Jammerei nicht beirren läßt, die
Gefahr nicht besteht. Während der
Analyse kommt ein Selbstmord
nicht vor. Die Kranken drohen, wenn
sie aber an dem Arzte hängen, so führen,
sie die Drohung nicht aus. Allerdings ist
es wichtig, die Kranken zu beschäftigen
und sie aus dem Nichtstun und Vorsich-
hindämmern herauszufeißen. Man beginne-
die' Kur mit einem Verbote, das sehr se¬
gensreich wirkt. Die Kranken dürfen über
ihr Leiden zu keinem Menschen aus der
Umgebung sprechen. Sie dürfen nur dem
Arzte klagen. Damit beginnt die Schule
der Selbsterziehung und Selbstbeherr¬
schung, welche die schönsten Erfolge
zeitigt.
Die Behandlung ist schwierig und sehr ,
anstrengend, ermüdend und zeitraubend..
Aber sie rettet viele Menschen und führt
sie mit sanfter Hand ins Leben zurück*.
Repetitorium der Therapie.
Behandlung der Blutkrankheiten.
Von G. Kletnperer. (Schluß.)
6. Leukämie. Wenn bei Milz- oder
Lymp'hdrüsenschwellung die Vermehrung
der polynukleären Leukocyten und das
Auftreten von Myelocyten oder die Ver¬
mehrung der Lymphocyten im Blut die
Diagnose gesichert hat, ist alsbald mit
der Strahlenbehandlung zu beginnen. Ins¬
besondere der Röntgentherapie kommt
dieselbe Bedeutung für die Leukämie zu,
weilche wir für die perniciöse Anämie der
Arsentherapie zusprechen. Selbstver¬
ständlich ist die Allgemeinbehandlung
und die Bekämpfung symptomatischer
Beschwerden in keinem Falle zu ver¬
nachlässigen. Man bestrahlt die ver¬
größerte Milz oder die vergrößerten
Lymphdrüsen in intensiver Weise; Häufig¬
keit und Stärke der Einwirkung ist dem
Grad der Krankheit und dem allgemeinen
Kräftezustana anzupassen. Unter Be¬
nutzung eines leistungsfähigen Apparates
für Tiefentherapie wendet man möglichst
die Hauteinheitsdosis für jedes Feld an
und bestrahlt alle Felder in einer Sitzung.
Wenn diese Bestrahlung gut vertragen
wurde, wird sie in zwei- bis dreitägigen
Pausen drei- bis viermal wiederholt.
Danach tritt -eine größere Ruhepause mit
guter Pflege ein, während welcher das
Abschwellen der Milz beziehungsweise der
Lymphdrüsen und die Verminderung der
farblosen Blutkörperchen beobachtetwird..
Hat die Bestrahlung zu annähernd nor¬
malem Organ- und Blutbefund geführt,.,
so gestattet oft das leidlich gute All¬
gemeinbefinden, dem Patienten einen ge¬
wissen Lebensgenuß und eine beschränkte
Berufsarbeit zij^ gestatten. Dabei muß
eine dauernde Überwachung des Kräfte¬
zustandes, der inneren Organe und des
Blutbildes stattfinden. Kommt es zur
Verschlechterung, so muß erneute Rönt¬
genbehandlung einsetzen. In vorgerück¬
tem Krankheitsstadium ist die Einwirkung
auf die blutbildenden Organe gering, oder
die Kachexie nimmt zu trotz Besserung'
des Blutbefundes. Dann muß man sich
ganz auf die allgemeine Therapie be¬
schränken, die man durch energische
Arseneinwirkung zu unterstützen sucht.
— Der'Röntgenbehandlung gleichwertig
ist die Thorium-X-Therapie; man kann
dieselbe an Stelle der Röntgenbestrahlung'
oder abwechselnd mit derselben anwen-
Die Therapie der Gegenwart 1920
328
den. Die intravenöse Injektion von
1 Million Mache-Einheiten Thorium-X
epitspricht etwa einer Röntgenintensiv¬
bestrahlung; man macht, unter Kontrolle
des Allgemeinbefindens und des Blut¬
bildes, fünf solche Injektionen in acht¬
tägigen Zwisch'enräumen. Hiernach läßt
man, wie nach einer Röntgenserie, eine
längere Ruhezeit eintreten. Die Thorium-
X-Therapie bietet'den Vorteil, daß man
von den Röntgenapparaten unabhängig
ist; das Präparat ist in beliebigen Stärken
von der Berliner Auergesellschaft zu
beziehen, welche es unter dem Namen
Doramad gebrauchsfertig mit Bezeich¬
nung der jederzeitigen Wertigkeit irer-
sendet. — Für die allgemeine und sympto¬
matische Therapie der Leukämie gelten
dieselben Regeln wie für die schweren
Anämien (s. o.).
7. Hämorrhagische Diathesen. Die
Neigung zu profusen und schwer still¬
baren Blutungen beruht zum Teil auf der
Durchlässigkeit und Verletzlichkeit der
Gefäßwände, die wir mit der allgemeinen
Herabsetzung der Körperkräfte in Zu¬
sammenhang bringen dürfen. In diesem
Sinne wirken wir der hämorrhagischen
Diathese durch die allgemeinen Methoden
der roborierenden Therapie entgegen; unter
ihnen steht in erster Linie die Ernährung,
welche direkt zur Heilmethode wird, wenn
das Fehlen bestimmter Nahrungsbestand¬
teile die Gefäßerkrankung unmittelbar
verursacht (frische Gemüse beim Skorbut,
ungekochte Milch bei der Barlowschen
Krankheit). Zum größern Teil machen
wir die herabgesetzte Gerinnungsfähigkeit
des Blutes für die schweren Blutungen
verantwortlich und suchen deshalb die
Mangelhaftigkeit der Blutgerinnung thera¬
peutisch zu verbessern. Auch die Ge¬
rinnungsbildner regenerieren sich in den
blutbildenden Organen; deren Arbeit
suchen wir durch Eisen und Arsen anzu¬
regen; eine besondere Anregung des
Knochenmarks, vielleicht durch Beseiti¬
gung hemmender Einflüsse, geschieht
durch die Exstirpation der Milz, welche
für schwere Fälle in Frage kommt.
Sicherlich vermehren sich nach diesem
Eingriff in außerordentlicher Weise die
Blutplättchen, deren Zahl in manchen
Septetnber
Fällen hämorrhagischer Diathese beträcht¬
lich vermindert war. Ein anderer Be¬
handlungsweg besteht in der direkten Zu¬
fuhr solcher Substanzen, welche den
Gerinnungsvorgang befördern. 'So kann
man Kalk darreichen, oder Präparate
reindargestellter Blutplättchen oder Ge¬
rinnungsfermente einspritzen (Coagulen,
Clauden) oder Gesamtblut oder Blut¬
serum injizieren, in welchem die Ge¬
rinnungsbildner enthalten sind.
Der spezielle Befiandlungsplan erfor¬
dert nicht anders wie bei schweren Anä¬
mien Betrachtung und Ordnung der ge¬
samten Lebensführung und der Ernäh¬
rung, eventuell Bettruhe und Pflege,
sowie die Verordnung von Eisen- und
Arsenpräparaten. Hinzu tritt die Dar¬
reichung von Kalkverbindungen; man
gibt entweder Sol. Calc. chlorati 10,0/200,
eßlöffelweise, oder eines der im Handel
üblichen Präparate, Kalzan, Camagol,
von denen nur zweifelhaft ist, ob sie dem
Blut genügende Mengen von Kalk zu¬
führen. Treten trotz einer allgemeinen
Behandlung, welche den Körper genügend
kräftigt und anregt, immer neue Blutun¬
gen ein, so ist festzustellen, ob eine
abnorme Verminderung von Blutplätt¬
chen vorliegt. In Fällen sogenannter
essentieller Thrombopenie ist durch Milz¬
exstirpation außerordentliche Besserung,
anscheinend Heilung, zu erzielen; künftig
wird man zu erproben haben, ob nicht
intensive Röntgenbestrahlung der Milz
denselben Effekt macht. Die Einzel¬
blutung wird man in Fällen hämorrhagi¬
scher Diathese mit denselben Mitteln
behandeln, die man gegenüber inneren
Blutungen überhaupt anwendet (vgl.
Hämoptoe s. o.); intravenöse Injektion
von 20 ccm 5 pCt. Coagulenlösung ist
besonders empfehlenswert. In Fällen
von Hämophilie ist intravenöse Injektion
von je 20 ccm frischgewonnenem mensch¬
lichen Blutserum angezeigt. Zur Heilung
von Skorbut sind reichlich frische Ge¬
müse und Citronensaft zuzuführen. Zu
den Blütkrankheiten ist auch der hämo¬
lytische Ikterus zu rechnen; kommt
es zu schwerer Anämie, so wirkt die
Milzexstirpation oft als heilender Ein¬
griff; auch hier ist Röntgenbestrahlung
in Erwägung zu ziehen.
0 Berlin 0, Rotherstraße.
Sepiembec.
Die Therapie der Gegenwart 1920
329
Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen.
Verliandlurigen der Deutschen Qesellschaft für Gynäkologie.
Berlin, 26. bis 29. Mai 1920.
Bericht von Dr. Äschheim, Berlin. (Schluß.) i)
P. Schäfer (Berlin). Ergebnisse
der Bestrahlung mit Radium und
Radium und Röntgen kombiijiert.
Von 1913 bis 1918 wurden 962 Ge-
nitalcarcinome (darunter 71,5 Collum-
•carcinome) bestrahlt, von diesen vorläufig
130 = 18,1% geheilt. Von 282 vor fünf
'bis sieben Jahren bestrahlten Collum-
«carcinomen leben noch 50 == 17,73%,
von 74 operablen 25 = 33,78%, von
Grenzfällen 19 =23,45 %, von 127
.inoperablen 6 = 4,72 %. Von den 1916
bis 1918 bestrahlten Fällen sind bis
jetzt 78 gesund = 18,09 %, von 91
operablen Collumcarcinome 30 = 33 %,
von , 122 Grenzfäilen 33 =27 %, von
218 inoperablen 15=6,88 %, das Re¬
sultat dürfte für die zweite Gruppe
durch Rezidive, die noch zu erwarten
sind, ungünstiger werden, durch Herab¬
setzung der Radiumdosis sind zwar
Verbrennungen vermieden, die Heilungs¬
resultate aber ungünstiger geworden. Die
kombinierte Radium-'Röntgenbehand-
iung hat sich der bloßen Radiumbehand-
iung überlegen gezeigt. Gut operable
Carcinome werden von der Bumm'schen
Klinik jetzt operiert und prophylaktisch
mit Röntgen nachbestrahlt. Frauen,
bei denen erfahrungsgemäß die Ope¬
rationsresultate nicht gut sind, werden
kombiniert bestrahlt.
Weinbrenner (Magdeburg) be¬
strahlte in den letzten sieben Jahren
insgesamt 450 Genitalcarcinome. Von
49 Collumcarcinomen sind 18 =36,7 %
noch 5 Jahre nach der Bestrahlung ge¬
sund, dabei sind die operablen pnd Grenz¬
fälle mit 20 % beteiligt, die inoperablen
mit 16,7 %. Weinbrenner operiert
heute nur die günstigen Fälle. Er kom¬
biniert die intracervicale möglichst ein¬
malige Bestrahlung mit Röntgen. Am
güntsigsten von allen Carcinomen ver¬
hielten sich die Korpuscarcinome.
Theilhaber (München) empfiehlt die
Anwendung der Diathermie zur Ver¬
besserung der Insuffizienz, des Selbst¬
schutzes des Gewebes, ferner zur Vor-
0 Der Bericht berücksichtigt nur diejenigen
Mitteilungen, welche zur Therapie in nahen oder
entfernteren Beziehungen stehen; auch die blossen
Demonstrationen sind nicht referiert.
beugung von Rückfällen nach Jder
Krebsoperation..
Bauereisen (Kiel). In unbestrahlten
Carcinomen begegnet man ähnlichen re¬
gressiven Veränderungen wie in be¬
strahlten. Fehlen von Mitosen ist eine
der wichtigsten Zeichen der Strahlen¬
wirkung.
Frankl (Wien). Zur pathologischen
Anatomie bestrahlter Uteruscarcinome.
Bei Radium beginnen die Veränderungen
an den direkt getroffenen Partien am
dritten und vierten Tage und erreichen am
vierzigstem Tage ihr Ende.. Der Höhepunkt
der Wirkung fällt zwischen fünften und
siebenten Tag, bei Röntgen setzt die
Wirkung etwas früher ein.
Siegel (Gießen). Die Lebensdauer
der ' an Uteruscarcinomen erkrankten
Frau. Bei exakter Meßmethode hält er
die ausschließliche Strahlenbehandlung
des operablen Uteruscarcinoms für be¬
rechtigt.
Benthin (Königsberg). Vaginale oder
abdominale Totalexstirpation und Nach¬
bestrahlung bei Carcinoma uteri?
Die Königsberger Klinik operiert va¬
ginal und, bestrahlt nach.
RübSamen (Dresden). Die operative
Behandlung der rekto-vaginalen Ra¬
diumfisteln. Operation der nach intra-
cervicalen Radiumbehandlung entstande¬
nen Fisteln erst zwei Jahre nach Ent¬
stehung. Verschluß der Fisteln nach
Füth und Verlagerung des Sphincter ani
kranialwärts von der Fistel.
Aussprache. Opitz (Gießen) ist für
Bestrahlung aller Fälle. Mayer (Tübin¬
gen), weist auf die operativen Resultate
mit der Freund-Wertheimschen Ope¬
ration an derTübinger Klinik hin. Primäre
Mortalität 20 %, Dauerheilung^ der ge¬
sund Entlassenen 40 absolute Hei¬
lung aller beobachteten Carcinomen 20 %.
Straßmann (Berlin) operiert Korpus¬
carcinome, bestrahlt Collumcarcinome.
Stoeckel (Kiel) ist der Überzeugung,
daß die radikale Abdominaloperation bis
auf weiteres die Grundlage der Carcinom-
therapie bleiben wird. Die Zukunft wird
eine Kombination von Operation und
Bestrahlung sein. Weiter beteiligen sich
an der Aussprache Jüngling, Jäschke,
Eimer, Schweitzer für Operieren und
42
330 ^ Die Therapie der
Nachbestrahlen, Mackenrodt, der die
Operation an erste Stelle setzt, eventuell
Nachbestrahlen. Dessauer hält die
Oroßfeldermethode für die einzige Me¬
thode der Zukunft. Küstner teilt den
Stoeckelschen Standpunkt,. Franz
bleibt bei einer absoluten Heilungszahl
von 28 % bei der Operation, Zweifel
vertritt auch den Stoeckelschen Stand¬
punkt. Im Schlußwort kommt Kehrer
zu dem Resultat, daß er mit gewissen
Einschränkungen weiterbestrahlen wird.
Seitz:.Die Frage, ob operieren oder be-,
strahlen, läßt sich nicht durch, autorita¬
tive Kundgebungen entscheiden, die
einen sollen weiter operieren, die anderen
bestrahlen; die Erfolge werden sich nach
fünf Jahren zeigen. Warnekros: Die
Großfeldermethode ist die Methode der
Zukunft. Wi n tz|_ bespricht Dosierungs¬
fragen,
III. Vorträge zum Verhandlungsthema
Myome und Metropathien.
Lichtenstein (Leipzig). Bericht
über 200 Fälle mit 96 % Heilung. Bei
Metropathien vorher Abrasio. Die Aus¬
fallserscheinungen nach Bestrahlung sind
stärker als nach Uterusexstirpation mit
Belassung der Ovarien. Neben der neueren
einzeitigen behält die ältere mehrzeitige
Bestrahlung ihre Berechtigung.
V. Jaschke (Gießen). Die Ab¬
grenzung der Indikationen zur opera¬
tiven und Strahlenbehandlung bei
Myomatosis uteri. v. Jaschke betont
auch die oft sehr schweren Ausfaller¬
scheinungen bei Bestrahlungen. Die
Strahlenbehandlung ist vorzuziehen bei
allen hämorrhagischen Metropathien,
ferner bei Myomkranken über 40 oder
über 45 Jahre, sofern nicht besondere
Komplikationen zur Operation zwingen.
Die operative Therapie bei Frauen unter
40. Jahren; im übrigen schließt er sich
den von Gauß mitgeteilten Indikationen
zur Operation an, will aber auch die
Fälle, in denen Vereiterung, Erweichung
oder maligne Degeneration anzunehmen
ist, operieren. »
X Zweifel (München) stellt die gleichen
Indikationen für Operationen auf. Auch
die Münchener Klinik hat vorzügliche
Resultate mit der Bestrahlung bei
Myomen und Metropathien erreicht, Aus¬
fallserscheinungen treten zumeist auf,
lassen sich aber durch eine, Reihe von
Mitteln lindern.
Eck eit (Frankfurt a. M.) hat die
gleichen Kontrainindikationen gegen Be-
Qegenwart 1920 _ • 'September
Strahlung, wie die Vorredner; als Methode
gibt er der Schnellsterilisierung an zwei
bis vier aufeinanderfolgenden Tagen den
Vorzug. Mit dauernder Amenorrhoe
wurden 86 % geheilt. Rückbildung des
Tumors in 36,6 %.
A. Mayer (Tübingen). Über Be¬
handlung^ d.er Mammahypertrophie mit
Röntgenstrahlen. Rückgang derselben
durch Bestrahlung.
Gi es ecke (Kiel). Bei Myomen gute
Resultate,’bei klimakterischen Blutungen
wurde nach vorausgeschickter Ourettage,.
bei 183 jbestrahlten Fällen sephs Re¬
zidivblutungen beobachtet, die - total-
exstirpiert wurden, hierbei fanden sich
viermal Korpuscarcinome.
Albrecht (München). Die Röntgen¬
kastration bei krankhaft gesteigertem
und' entartetem Geschlechtstrieb. Bei
schweren mit der Menstruation in un¬
verkennbarem Zusammenhang stehenden
Psychosen und Psychoneurosen empfiehlt
Albrecht, die in der cyklischen Keim-
drüsenfunktioh gegebene Auslösung oder
Verstärkung durch Röntgenbehandlung:
abzuschwächen beziehungsweise auszu¬
schalten.
R. Schröder (Rostock). Der ana¬
tomische und,klinische Begriff der Me-
tropathia hemorrhagica. Schröder teilt
die hämorrhagische Metropathie in die
Unterabteilungen 1. Hypermenorrhöe bei
normalem Palpationsbefund und normale
dem Cyclus entsprechenden Phäsenbild
des Endometriums verstärkte Regel¬
blutung durch Muskelschwäche oder durch
Steigerung des Blutaffluxes zum Genitale
in aktivem oder passivem Sinne. 2. Poly-
hypermenorrhöe außer den sub 1) ge-
narmten Faktoren, Störungen des Ova-
rialcyclus durch Schädigung der Eireifung
und Eireife. Ursache: interne Affektionen
und konstitutionelle Faktoren des Ova-
rialfunktion. 3. Metrorrhagien: a) Ver¬
deckung des normalen Cyclus durch
Dauerblutungen infolge Muskelschwäche
oder erheblichem Blutaffluxes; b) un¬
regelmäßige Blutungen durch echte En¬
dometritis; c) Dysfunktion des Ovariums
in Gestalt von Ausbleiben der Korpus-
luteumbildung und Vorhandensein rei¬
fender und reifer Follikel. Folge am
Endometrium: pathologische Prolifera¬
tion im Sinne der früheren Endome¬
tritis fungosa. Letzeres die Domäne der
Röntgenbehandlung.
Liepmann (Berlin), Einfluß der
Röntgenstrahlen auf die weibliche Psyche.
Strahlenbehandlung ohne Berücksich-
September ^ Die Therapie der Gegenwart 1920 - . .331
tigung der Psyche ist ein gefährliches
.Unternehmen, Drei selbstbeobachtete
Fälle von schweren Psychosen bezie¬
hungsweise Psychoneurosen.
Vogt (Tübingen). Über Röntgen¬
tiefentherapie der Genitaltuberkulose.
Von 46 Fällen 32 operativ behandelt
und systematisch nachbestrahlt, bei 14
nur Röntgenbe^strahlung. In allen Fällen
Endometritis tuberculosa nachgewiesen,
Zwei Frauen bald nach Bestrahlung ge¬
storben,. sechs voll erwerbsfähig, drei nur
für leichtere Arbeit fähig, eine arbeits-’
unfähig. Die Röntgentherapie beschränkt
sich auf ausgewählte Fälle, 1. Endome¬
tritis tuberculosa ohne Adnextumoren
und Tuberkulose des Bauchfelles, 2. bei
Fällen,’ die operative Kontraindikationen
aufweisen.
Werner (Wien) weist darauf hin,
daß Kinder röntgenbestrahlter Frauen
im Wachstum Zurückbleiben können und
warnt vor Bestrahlung jugendlicher
Frauen.
Hofbauer (Dresden). Das vegeta¬
tive Nervensystem in der Gravidität und
die Ovariaitherapie der Toxikosen. Emp¬
fehlung von Ovoglandol bei Schwanger¬
schaftstoxikosen, besonders bei Er¬
brechen.
Heynemann bespricht die Wichtig¬
keit der Blut- und Serumuntersuchungen
bei Eklampsie, denen prognostische ünd
therapeutische Bedeutung zukommen.
Nicht nur die Eklampsie, sondern auch
die Vorstadien gehören in klinische Be¬
handlung.
Jaschke (Gießen). Vorläufige Er¬
fahrungen über therapeutische Proto¬
plasmaaktivierung mittels Kaseosan
(Lindig). Erfolgreiche Versuche bei
Puerperalfieber, Parametritis, Adnextu¬
moren, besonders bei Bauchfellgenital¬
tuberkulose.
R. Fre-und (Berlin). Die Wirkungs¬
weise parenteraler Injektionen. Die bei
Schwangerschaftstoxikose von Freund
eingeführte Injektionstherapie (Serum,
Ringersche Lösung usw.) ist keine spe-
cifische Behandlung. Sie leistet bei
leichten Formen Gutes und beruht wohl
auf Reizung der blutbildenden Organe.
Bei der Eklampsie hat die Stroganoff-
therapie mit Aderlaß keine besseren Re¬
sultate, als die entbindende Therapie
ergeben.
Stoeckel (Kiel). Schnittentbindung.’,
bei Placenta praevia. Bericht über 21
Fälle von Placenta praevia, die mit
Kaiserschnitt behandelt wurden; alle
Mütter geheilt, von'25 Kindern, darunter
neun nicht ausgetragen, starben ein
Zwillingspaar und fünf unreife. Es wurde
stets der intraperitoneale cervicale
Schnitt gemacht.
Hammerschlag (Neukölln). i#)er
manuelle Placentalösung. Die erste Frage:
,,Bei welchem Blutverluste darf gelöst
werden?'‘, beantwortet-Hammerschlag
rnit dem Rat, bei 700 gr. zu lösen, ,Die
zweite Frage, wann darf gelöst werden,
beantwortet er für die Außenpraxis mit
sechs Stunden, für die Klinik mit zwölf
Stunden.
G. A. Wagner (Prag). Zur. Differen¬
tialdiagnose der Extrauteringravidität, zu¬
gleich ein Beitrag zur Frage der sogenann¬
ten ovariellen Blutungen. Pituitrininjek¬
tionen beeinflussen die ovarigenen Blu¬
tungen günstig, während sie auf uterine
Blutungen bei Tubargravidität keinen
Einfluß haben. •
Schweitzer (Leipzig). Die Resultate
der Carcinomoperation mit Extraperito¬
nisierung nach Wertheim-Zweifel.
Von 1910 bis 1920 sind 322 Uteruscar-
cinome, 281 Collum-, 41 Korpuscar-
cinome mit 16 =4,96 % Mortalität ope¬
riert worden. Nur 7,8 % postoperative
Cystitis, nur 2,5 % Wundeiterungen.
Absolute Heilung für alle Operierten
27,5 %.
Hartog (Berlin). Zur Terpentinbe¬
handlung der Adnexerkrankungen gute
Erfolge bei Parametritis, Pyosalpinx
und Bubo.
Hartog (Berlin). Autotransplan¬
tationen von Ovarien in 20 Fällen. Bei
elf von zwölf nachuntersuchten Fällen
hat sich die Menstruation zwei bis sieben
Monate nach der Operation wieder einge¬
stellt, bei sieben ist sie jahrelang ge¬
blieben.
Thaler: Zur Sakralanästhesie bei
abdominellen und zur parametranen In¬
filtrationsanästhesie bei vaginalen Bauch¬
höhlenoperationen.
Stoeckel (Kiel). Die operative
Therapie bei Insuffizienz des Blasen¬
schließmuskels. Eingehende Darstellung
der von Stoeckel mit Erfolg geübten
Methoden der Muskelnaht, der Pyrami¬
dalis- und Levatorplastik.
Wagner. Bildung einer Urethra
und eines Sphincter urethrae bei
Aplasia vaginae nach Zerstörung der
Urethra und der Sphincter-Harnröhre.
aus Vestibularschleimhaut gebildet, der
muskuläre Schluß durch den Levator
hergestellt.
42*
332 ’ ? ' V .y ‘Die Therapie ' Septltl^er'
Referate.
Die Aufgabe der postoperativen
Röntgenbestrahlung des Carcinoms
ist nach 0. Strauß, die noch vorhande¬
nen Carcinomzellen oder etwa sich neu
enÄvdckelnde zu zerstören, oder sie wenig¬
stens so zu schädigen, daß der Körper
. mittels seiner natürlichen Abwehrkräfte
mit ihnen fertig wird. Dabei muß vor
allen Dingen darauf geachtet werden, daß
eine genügend große Strahlenmenge zur
Wirkung kommt. Denn ist sie unzuläng¬
lich, so kann sie als Reizdosis wirken, die ,
Krebszellen, anstatt sie zu schädigen,
zu regerem Wachstum anspornen. Die
Frage, ob, durch Nachbestrahlupg der
operierten Fälle das Operationsergebnis
verbessert werden kann, ist^ noch nicht
' entschieden; denn die ,bis- jetzt mit¬
geteilten Resultate erlauben noch kein
abschließendes Urteil, da das Beobach-
tungsniaterial zu klein ist, und so viele
Einzelfaktoren-, wie Bestrahlungstechnik,
.Sitz und biologische Beschaffenheit der
Geschwulst,berücksichtigt werden müssen.
Auch sind die von den einzelnen Autoren
bekanntgegebenen Erfahrungen keines¬
wegs einheitlich. Während die einen —
Blum.enthal, Gauß u. a. — durch die
postoperative Bestrahlung eine Vermin¬
derung der Rezidivziffey sahen, urteilen
Weibel (Wertheimsche Klinik) u. a.
abfällig über ihren Wert. Perthes und
Lobenhofer, deren Mitteilungen der
Verfasser großen Wert beimißt, haben
sogar durch die postoperative Bestrahlung
eine Verschlechterung ihrer Heilergeb¬
nisse erhalten. Die Perthesschen Mit¬
teilungen zeigen eine konstant wahrnehm¬
bare progressive Verschlechterung je nach
der Steigerung der Strahlenmenge. Nach
den Beobachtungen von Lobenhofer
haben sämtliche nachbestrahlten Fälle
ein Rezidiv aufgewiesen.
Vielleicht sind diese betrübenden Er¬
gebnisse aus einem zu späten Beginn der
Bestrahlung zu erklären. So hat Blu¬
menthal die Erfahrung gemacht, daß
die meisten Kranken erst zwei bis drei
Monate nach der Operation zur Be¬
strahlung überwiesen werden. Dies hält
' Verf. für zu spät, da in zwei bis drei
Monaten sich bereits Metastasen gebildet
haben können, und das erstrebte Ziel —
die Bestrahlung als Prophylaxe — nicht
mehr erreicht werden kann. Vielmehr
handelt es sich dann bereits’ um die Be¬
strahlung des Rezidivs.
Daher fordert Strauß, während man
heute im allgemeinem mit der Bestrahlung;
erst nach vollendeter Wundheilung ein¬
setzt, sogleich nach der Operation damit
zu beginnen. Sollte etwa durch die
Bestrahlung eine Verschlechterung der
Wundheilung verursacht werden, so wäre
sie als kleineres Übel mit in Kauf zu
nehmen. Ein wertvolles Mittel zur
Unterstützung der Nachbestrablung sind .
intravenöse Injektionen von 0,1 Atoxyt
mit arsenigsaurem Natron in steigenden.
, Dosen von 2 bis 7 mg.
Horovitz (Berlin).
(Ther. Hbmh., Heft 11.)
Mit Lum‘inal sind an der Münchener
Klinik 60 Fälle von Eklampsie be¬
handelt worden, von denen 13 zugrunde
gingen, worüber v. Miltnej ausführlich
berichtet; außer diesem Hypnotikum
wird noch ein Sedativum, das Magnesiüm-
sulfat, gegeben. Die Firmen E. Merk
•und Fr. Bayer & Co. haben kleine
Flaschen von 7 ccm hergestellt mit
1,2 g. L. als Tagesbedarf, mit einer ein¬
geritzten Marke, bis zu der 6 ccm kaltes,
vordem abgekochtes Wasser angefüllt
werde; < von dieser 20%igen Lösung
werden alle acht Stunden 2 ccm subcutan
gegeben. Gleichzeitig hiermit w’^erden
auch 10 ccm einer 25%igen Magnesium-
sulfuricum-Lösung eingespritzt. Es ist
nun auch darauf zu achten, daß die In¬
jektionsstellen fernab vom ödematöseii.
Gebiet gewählt werden, da sonst durch
schlechte Resorption die beabsichtigte
Wirkung ausbleiben kann. Durch diese
Addition der Mittel kommt es zu einer
pharmakotherapeutischen Verstärkung;
unangenehme Nebenwirkung wurde nie¬
mals beobachtet. Bevor jedoch die In¬
jektion vorgenommen wird, werden der
Eklamptischen in leichter Äthernarkose
ante partum 5- bis 600, post partum
3- bis 400 ccm Blut durch Aderlaß
entnommen. Kochsalzinfusionen werden
nicht gemacht, da man hierdurch die
Gehirnödeme und so den Hirndruck ver¬
mehrt. Bleibt die Wirkung aus, so wird
zur Schnellentbindung geschritten, zumal
wenn ein enges Becken vorliegt. Zu be¬
achten ist immer der Satz Zweifels, daß
die Eklampsie reich an Wechselfällen ist
und mit Überraschungen überlastet ist
wie kaum irgendeine Krankheit.
PtilVermacher (Charlottenburg).
■5 (Mschr. f. Geburtsh., Bd. 53.)
Die innerliche Anwendung von Jod
bei der Basedowschen Krankheit gilt all-
September — , Die Therapie der. Gegenwart 1920 333
gemein — weil ausgesprochene Verschlech¬
terungen hervorrufend — als streng ver¬
boten. Und doch gibt es, worauf schon
früher öfters, doch ohne gut begründete
klinische Beobachtung von Ärzten hin-
gewiesen worden ist, eine große Reihe»
von thyreotoxischen Symptomenbildern
und Basedowschen Erkrankungen, bei
denen eine gewisse Anwendung von
Jod von hervorragend heilender Wirkung
ist. E. N ei SS er berichtet über acht kli¬
nisch beobachtete Fälle verschiedener
thyreotoxischer Zustände, die alle ein¬
wandfrei zum Basedowschen Symptomen-
komplex gehörten. Bei diesen hat er
durch Darreichung kleiner Jodmengen
(dreimal täglich zwei bis fünf Tropfen
Sol. Kali jodat. 1,0:20,0, ansteigend bis
dreimal täglich 12—20 Tropfen) in kurzer
Zeit eine rapide, auffällige Besserung, be¬
ziehungsweise Heilung erzielt. Nach
seinen Erfahrungen sind besonders'^ die¬
jenigen Fälle für die Jodbehandlung ge¬
eignet, die schon längere Zeit bestanden
haben, bei denen ferner der wenig pul¬
sierende Kropf entweder gering entwickelt
ist oder sich schon wieder zurückgebildet
hat und weder starker Exophthalmus
noch Herzvergrößerung besteht. Erfah¬
rungen über Jodwirkung bei akutem
Basedow Jugendlicher hat Verfasser keine.
Es liegt nahe, zur Erklärung dieser Wir¬
kungsweise des Jod das sogenannte bio¬
genetische Grundgesetz von Arndt heran¬
zuziehen, wonach kleine Dosen reizen,
große lähmen sollen. Erkannte man im
Morbus Basedow eine Störung des Ge¬
samtstoffwechsels mit krankhaft, gestei¬
gerter dissimilatorischer Erregung im
Nerven- und Gesamtstoffwechsel, so
könnte Jod in kleinen Mengen die ge¬
schwächte ,,assimilatorische Funktion“
reizen, wodurch die Heilwirkung erklärt
werden würde. Kamnitzer (Berlin).
(B. kl. W., Nr. 20.)
Baer teilt einen Pall von luetischem
Leberfieber auf kongenitaler Grundlage
mit. Bei der 25jährigen Frau, die seit
ihrem 22. Lebensjahre dauernd unregel¬
mäßiges Fieber hatte und stark abmagerte,
reichte die im ganzen stark vergrößerte
Leber, die von derber Konsistenz war und
keinerlei umschriebene Vorwölbung auf¬
wies, zwei Finger breit unter den Nabel.
Der untere Milzpol war unter dem Rippen¬
bogen zu fühlen. Im Urin war Eiweiß,
Zucker und Urobilinogen nicht nachzu¬
weisen. Die Wassermannsche Probe war
stark positiv. Durch kombinierte Be¬
handlung mit Jod und kleinsten Neo-
salvarsandosen wurde sehr schnell Ent¬
fieberung erzielt, während die Leber- und
Milzschwellung nur langsam zurückging.
Das Körpergewicht nahih rapid zu. Be-,
merkenswert an diesem Fall ist das Auf¬
treten einer parenchymatösen mit Fieber
einhergehenden Lebersyphilis auf here¬
ditärer Grundlage im 22. Lebensjahre.
Die Heredität ist erwiesen aus den vor¬
handenen Hutchinsonschen Veränddrun-
gen an den Zähnen, der überstandenen
Ceratitis parenchymatosa, schließlich aus
den sechs Tot- und mehreren Fehl¬
geburten der Mutter. Horovitz (Berlin).
(M. m. W., Nr.'20.)
Während früher lange Zeit hindurch
Chirurgen und Internisten von den Resul¬
taten der Gastroenterostomie bei
Magengeschwür völlig befriedigt waren,
mehren sich in letzter Zeit, die Stimmen
über Mißerfolge dieser Operationsmethode.
Diese Fehlresultate äußern sich einmal im
Auftreten eines Ulcus jejuni pept. an der
Gastroenterostomiestelle und zweitens
im Fortbestehen des ursprünglichen Ulcus
mit Blutungen und Schmerzen: Zweig
beschäftigt sich an der Hand von 34
operierten Fällen von Ulcus ventriculi
mit den postoperativen Blutun¬
gen, die in den ersten zehn Tagen meist
auftreten und die — in ihrer Intensität
ganz verschieden — bisweilen selbst töd¬
lich verlaufen können. Unter seinen
Fällen befanden sich 16 von Resektion
des Ulcus, 7 von Pylorusausschaltung mit
Gastroenterostomie und 10 von ein¬
facher Gastroenterostomie. 14 mal kam
es zur postoperativen Blutung, davon
sechsmal nach Pylorusausschaltung, acht¬
mal nach Gastroenterostomie. Auf Grund
seiner Erfahrungen kommt Verfasser zu
dem Resultat, daß die klassische Therapie
des Ulcus ventriculi beziehungsweise duo-
deni die interne Behandlung sei; scheitert
diese, so kommt in erster Linie die Resek¬
tion des Ulcus mit Entfernung des Pylorus
und Resektion eines Teils des Fundus
in Betracht. Die Gastroenterostomie wird
verworfen. ’ Kamnitzer (Berlin).
(M. Kl., Nr. 22.)
Durch eine Salpingo-Stomatoplastik
die durch entzündliche Prozesse ver¬
schlossene Tubenostium durchgängig und
für eine Befruchtung funktionsfähig zu
machen, hat auch Seitz in 22 Fällen
versucht, wobei er jedoch betont, daß der
während der Operation festgestellte Be¬
fund nach Beseitigung der übrigen anor¬
malen Verhältnisse die Veranlassung zu
einer plastischen Korrektur der Tube
334 Die Therapie der
gibt/ Die Operatiotistechnik ist folgende:
Nachdem die Tube aus den Verwachsun¬
gen gelöst ist, wird das verschlossene
Ostium an einer Stelle eingeschnitten;
hat sich der etwa vorhandene Inhalt als
unverdächtig gezeigt, und war eine Durch¬
gängigkeit mit der Sonde festgestellt, so
wird die durch Resektion geschaffene
neue Öffnung mit Schleimhaüt umsäumt,,
in der Form einer Manschette gebildet
und die Wundränder werden mit Schleim¬
haut gut umsäumt. Bei zwei Fällen kam
es zu einer Gravidität, die jedoch immer
frühzeitig endete. Den Grund des Mi߬
erfolgs glaubt Seitz in der chronisch
entzündlichen Schleimhaut des Uterus
oder in dem erneuten Verschluß des
Tubenostiums zu suchen.
P u 1V e r m a c h e r (CharlOttenburg).
(Mschr. 1 .Geburtsh. März 1920.)
Über intravenöse Strophantinan-
wendung in ihrem' Verhältnis zur Digi-
talisbehandlung macht Mory bemerkens¬
werte Mitteilungen. Obwohl die intra¬
venöse . Strophantinanwendung ein wert¬
volles Mittel zur Bekämpfung der Herz¬
insuffizienz ist, hat sie b€i weitem nicht
die ihr gebührende Verbreitung gefunden..
Vor allem haben die Strophantintodes¬
fälle abschreckend gewirkt. Unangenehme
Zwischenfälle lassen sich jedoch vermeiden,
wenn mit Gaben von^bis %mg begonnen
und tropfenweise injiziert wird; seit Beob¬
achtung dieser Vorsichtsmaßregeln ist
eine Schädigung der Kranken durch
Strophantin an der Erlanger Klinik nicht
mehr bemerkt worden. Die häufig auf¬
gestellte Forderung, daß zwischen letzter
Digitalis und erster Strophantingabe eine
längere Pause liegen muß, um die Gefahr
einer Cumulation zu vermeiden, kann
nicht mehr allgemein aufrecht erhalten
werden, wie die an der Erlanger Klinik
gemachten Erfahrungen lehren, nur muß
m.an mit kleinen Dosen beginnen und darf
diese nur allmählich steigern. Der Haupt¬
vorteil des Strophantins ist, daß es mit
Sicherheit an den Ort seiner Wirkung
gebracht werden kann, und daß es in den
Fällen, bei denen Digitalis allein versagt,
bei vorsichtiger Dosierung eine akute
Gefahr beseitigen hilft.
(M. m. W., Nr. 20.) Horovitz (Berlin).
Dr. C. Springer-Prag hat in fünf
Fällen schwerster schraubenförmiger rachi¬
tischer Verkrümmung des Unterschenkels
durch ein neues Operationsverfahren eine
vollkommene Geraderic.htung des Beines
mit einer Verlängerung um 2—3 cm er¬
Gegehwart 192Ö ^ ' Septentber
reicht. In der Blutleere flacher, lappen¬
förmiger Hautschnitt bis 2 cm über die
Verkrümmung hinaus. Längsschnitt durch
das Periost und Abhebelung desselben.
Freilegung des nackten Knochens durch
«Unterschiebung von Elevatorien. Aus¬
lösung des ganzen verkrümmten Knochen¬
stückes durph zwei Meißel^chläge ah den
Grenzen der' gerade gebliebenen Nachbar-
partieh. Das herausgenommene kipfel¬
förmige Stück wird in einen kleinen ste¬
rilisierten Schraubstock gespannt und in
eine Reihe 1 cm dicker Scheiben mit der
Laubsäge zerlegt. Sämtliche Scheiben
werden wieder in den Periostsaclczurück¬
gebracht, mit der Pinzette fixiert und
darüber unter Streckung des Beines (nach
vorheriger Einknickung der Fibula) das
Periost vernäht. Gipsverband für vier
Wochen, dann Gehversuche mit Schutz¬
hülse. Dies Verfahren, das dem Geübten
keinerlei technische Schwierigkeiten be¬
reitet, bedeutet gegenüber der einfachen
Osteotomie oder Osteoklase zweifellos
einen Fortschritt. Weitere Erfahrungen
müssen aber erst lehren, ob die Knochen¬
scheiben stets reaktionslos einheilen oder
sich, wie es bei der Albee’schen Operation
zuweilen vorkommt, nekrotisch abstoßen.
Georg Müller.
(Zschr. f. orth. Chir., XL. Bd., H. I.)
Über Erfahrungen mit Vuzin und
dessen Anwendung bei der Behandlung
eitriger Prozesse berichten Keppler und
Hof mann. Die Arbeit, welche im März
1919 abgeschlossen ist, bringt eine ein¬
gehende Beschreibung aller Fälle, die
an der chirurgischen Universitätsklinik
in Berlin (Bier) mit Vuzin behandelt
worden sind. Zur Behandlung kamen
Fälle von Abscessen, Mastitis, Pleura¬
empyem, Gelenkeiterungen des Knies,
Ellenbogens, Fußes und der Finger, Fu¬
runkel und Karbunkel, Sehnenscheiden¬
phlegmonen und Osteomyelitis. Bei den
Abscessen wurde mit der Rekordspritze
der Eiter abgesaugt und dann die Vuzin-
löSLing eingespritzt. Diese Einspritzung
wurde in derselben Sitzung mehrfach
wiederholt und zum Schluß ein gewisser
Teil der Flüssigkeit zurückgelassen. Nach
einigen Tagen geht der heiße Absceß in
einen kalten Absceß über, es bildet sich
ein Durchbruch und der Eiter läuft nach
außen ab; jedoch tritt dieser günstige
Verlauf nicht in allen Fällen ein, sondern
wiederholt mußte, da die beschriebene
Umwandlung nicht auftrat, breit ge¬
spalten werden. Bei der Mastitis eignen
sich zur Vuzinbehandlung nur diejenigen
September
-Die Therapie der Gegenwart 1920 ; 335
Fälle, bei denen die Eiterung in der
Brustdrüse lokalisiert ist. Hier ist der
Verlauf ähnlich dem, wie er bei den Ab-
scessen beschrieben-ist. Bei der diffusen,
infiltrierenden Form der Mastitis kommt..^
man mit dem Vuzin nicht aus. Eine
Ausheilung eines Empyems der Pleura
durch Vuzin, selbst bei wiederholt aus¬
geführten Einspritzungen, gehört zu den
Seltenheiten. Es mußte daher auch meist
die Rippenresektion angeschlossen wer¬
den. Bei 'Gelenkeiterungen muß man sich
streng an die Payr sehe Einteilung der
Vereiterungen der Gelenke halten: ein¬
faches Gelenkempyem, Kapselphlegmone
und Totalvereiterungi Für die geschlos¬
sene Form, das heißt das einfache Ge¬
lenkempyem, hat sich die Vuzinbehand-
■lung als günstig erwiesen. Durch ein-
oder mehrfache Punktionen kann der Pro¬
zeß zur vollkommenen Ausheilung ge¬
bracht werden. Dagegen empfiehlt es
sich nicht, bei der Kapselphlegmone und
der Totalvereiterung, sich mit dem Vuzin
aufzLihalten. In zahlreichen Fällen wird
hierdurch der günstige Augenblick für
eine Gelenkresektion verpaßt und öfter
konnte auch eine Amputation das Leben
nicht mehr erhalten. Durchaus zu emp¬
fehlen ist das Vuzin dagegen bei der Be¬
handlung der Furunkel und Karbunkel,
ßs wird ähnlich wie bei der Lokalanäs¬
thesie in der Umgebung des Entzündungs¬
herdes ein Wall mittels der Vuzinlösung
errichtet, welchen die Entzündung nicht
überschreitet. — Bei den Sehnenscheiden¬
phlegmonen, wie auch bei der Osteomye¬
litis kann von einem eigentlichen Erfolge
nicht gesprochen.werden. Allenfalls hat
sich die Behandlung in einigen Fällen
von Phlegmone des zweiten und dritten
Fingers bewährt, jedcTch bei der gefürch¬
teten V-Phlegmone durchweg versagt.
Zusammenfassend lassen sich die Resul¬
tate der Verfasser dahin wiedergeben,
daß der Kreis der für die Vuzinbehand-
lung geeigneten Fälle verhältnismäßig
klein ist. Sicher gehört eine ganz beson¬
dere Kenntnis der Diagnose und des Ver¬
laufs eitriger Prozesse dazu, um die für
das Vuzin geeigneten Fälle auszusuchen
und bei begonnener ‘Vuzinb'ehandlung
im Falle des Versagens rechtzeitig chir¬
urgische Maßnahmen zu ergreifen.
Hayward.
(Arch. f. klin. Chir. Bd. 113, Hift 4.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Erfahrungen mit Eukystol=Tee bei gynäkologischen und
urologischen Erkrankungen.
Von Dr. J. Sfakianakis, Spezialarzt für Frauenkrankheiten und Urologie in Athen.
Die bessere Durchspülung der Harn¬
wege bei entzündlichen Erkrankungen
derselben ist ein uraltes Postulat, dem
durch Verabfolgung von Mineralwässern,
Tees und den sogenannten inneren Anti-
septicis Rechnung getragen wird. Die
Verabfolgung von Tees ist in den letzten
Jahrzehnten durch die stärkere Bevor¬
zugung der inneren Antiseptica mehr
und mehr in den Hintergrund gedrängt
worden. Sehr zu unrecht, denn meiner
Erfahrung nach können wir gerade durch
die Ordination eines geeigneten Tees viel
leichter eine Reizmilderung bewirken als
durch die den Magen respektive Darm
mehr oder minder belästigenden Anti¬
septica respektive Diufetica. Welche An¬
forderungen sind nun an einen für unsere
Zwecke brauchbaren Tee zu stellen?
Wenn wir durch die Ordination eines
Tees die Entzündungserscheinung in den
Harnwegen beseitigen wollen, wird der
Tee durch Anregung der Diurese eine
Verdünnung des Harns, also eine Reiz¬
milderung bedingen müssen; überdies
wird er aber auch, um kausal wirken zu
können, die Harnwege sterilisieren müssen,
d. h. antiseptisch wirken. Die allgemein
gebräuchlichen Tees, wie Folia uvae ursi,
Folia bucco, Folia betulae, auch die
Species diureticae haben lediglich diu-
retische Wirkung, d. h. sie vermögen die
Harnwege besser zu durchspülen, nicht
aber durch Sterilisierung des Harns die
in ihm wuchernden Bakterien in ihrem
Wachstum zu hemmen.
Im Gegensatz hierzu steht der seit
einigen Monaten unter dem Namen ,,Eu-
kystol“^^ von dem Chemischen Institut
Dr. L. Östreicher, BerlinW35, in den
Handel gebrachte Nierentee. In ihm
sind die wirksamsten diuretischen Dro-
guen, wie Bulbus scillae, Rhizoma gra-
minis, Folia betulae usw. nach einem be¬
sonderen Verfahren derart aufgeschlossen
worden, daß eine Sterilisierung der Harn¬
wege sichergestellt wird. Durch bakterio¬
logische Kontrollversuche konnte ich fest-
33^ ; / Die Aefapie'4^^ ^ V ‘ ; / Sep&iijtifer
stellen, daß durch Zusatz von 5 ccm eines ter beseitigt als durch Urotropin oder^
5 %igen Eukystolaufgüsses das Wachs- Oleum Santali. Besonders wertvoll war
fum von Bacterium coli und Staphylo- mir der Tee in Fällen von Cystitis im
coccus aureus auf Agar sowohl wie auf Puerperium. Hier hörten die durch den
Bouillon, gestört wird. Entsprechend ^ Katheterismus in Fällen von Harnver-
diesen Vorversuchen waren auch mxCine 'haltung gesetzten' cystischen Symptome .
praktischen Erfahrungen mit dem Euky- nach Eukystol prompt auf, so daß von
stoltee ganz ausgezeichnete. Ich habe Blasenspülung Abstand genommen wer¬
den Tee in vielen Fällen von Erkran- den konnte. Eine angenehme Nebenwir- *
kungen der Harnorgane, sowie bei gynäko- kung des Eukystol ist* seine leicht ab¬
logischen Affektionen angewandt. Bei führende Wirkung, die ja bei. Krankheiten
Fällen von Cystitis, respektive Pyelitis . der Harnorgane^ sowie bei gynäkologischen
ohne lokale Therapie. In Fällen von Erkrankungen besonders erwünscht ist.
Gonorrhoe in Verbindung mit der üb- Auf Grund meiner nunmehr sechsmonat¬
lichen antiseptischen Lokalbehandlung, liehen'.Erfahrungen möchte ich daher
Bei Urethritis jposterior pnd Cystitis colli den Eukystoltee, den neuerdings auch
wurden die lästigen subjektiven Begleit- Scherler empfohlen hat (Allg. m. Zztg.
erscheinungen, wie namentlich •der'^ im- 1920, Nr. 24), angelegentlichst zur Nach¬
periöse Harndrang durch Eukystol proinp- Prüfung den Kollegen anraten.
Riß im Scheidengewölbe intra coitum sechs Wochen post partum.
Von Dr. Voltolini, Naumburg (Bober).
Daß intra partum Risse im Scheidengewölbe inzwischen keinerlei Störungen aufgetreten wären,
entstehen können mit mehr oder weniger abun- und daß sie soeben eiligst'gerufen sei; weil aus ihr
danten ja tötlichen Blutungen, ist wiederholt völlig unbekannten Ursachen eine enorme Blutung
festgestellt und auch forensisch beurteilt worden, aufgetreten wäre; sie habe diese durch Aus-
Meist, treten sie auf im Gefolge von Cervix- stopfung der Scheide mit Wattekugeln notdürftig
rissen nach forcierter Extraktion und Expression zu stillen versucht. Da diese inzwischen völlig
des nachfolgenden Kopfes oder durch „Abgleiten“ durchblutet waren, entfernte ich sie, um mich
oder „Hebelbewegungen“ der Zange und zwar vor allem über die Ursache der Blutung- zu
-wohl ausschließlich dann, wenn infolge vorzeitigen orientieren, immer in der Annahme, daß es sich
sum eine mit der vorausgegangenen Entbindung
irgendwie zusammenhängende Blutung aus der
Gebärmutter handele. Ich fand jedoch diese
fest kontrahiert, den Muttermund geschlossen,
im hinteren Scheidengewölbe aber einen weit¬
klaffenden Riß, durch den der Finger in eine mit
Blutgerinnseln ausgefüllte Höhle kam, aus der
es stark blutete. Nach Freilegung der Scheide
drainierte ich sofort die blutende Stelle fest mit
Jodoformgaze ebenso die ganze Scheide und
wartete vorläufig ab, um, falls die Blutung nicht
zum Stillstand käme, den Riß freizulegen und zu
nähen. Dies wurde jedoch nicht nötig, und der
Riß heilte sogar ohne Eiterung.
Über die Entstehung der Blutung erg,ab sich
folgendes: Der Ehemann hatte plenus alkoholi
an der heftig widerstrebenden Frau den Coitus
forciert, diese hatte dabei plötzlich einen inten¬
siven Schmerz im Leibe gefühlt, und gleich darauf
ergoß sich zur Überraschung des ernüchterten
Ehemannes eine starke Blutung aus den Ge¬
schlechtsteilen. — Die Erklärung des Vorganges
kann nur die sein, daß bei der immerhin älteren
Frau durch dfe sechs Wochen vorher erfolgte
Entbindung Cervix und Scheidengewölbe noch
aufgelockert und nachgiebig waren und die nor¬
male Elastizität noch nicht wieder erlangt hatten,
daß durch die Widerstandsbeweg:ungen der. Frau,
die sich intra coitum äufzurichten versuchte,
die Scheidewände eine außergewöhnliche
Spannung annahmen, und daß dadurch die
Scheide im Scheidengewölbe rupturierte.^ Viel¬
leicht hatte auch außerdem eine drei Jahre vorher
erfolgte Entbindung hierfür prädisponierende
Momente irgendv/eleher Art hinterlassen.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. V erlag von Urban feSchwarzenberg
* in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Berlin W8.
oder verfehlten Eingreifens der Muttermund für
den Durchtritt des Kopfes noch nicht genügend
erweitert war. Die Zerreißung kann alsdann über
das Scheidengewölbe hinausgehen, in üas para-'
cervicale Bindegewebe Vordringen und sogkr das
Parametrium eröffnen; durch Anreißen eines
vaginalen Astes der Arteria uterina kommt es
dann nreist zu profusen Blutungen, zumal wenn
bei älteren Mehrgebärenden mit unnachgiebigen,
dabei etwas mürben Weichteilen, die notwendige
Elasticität verloren gegangen ist. Nach Stillung
der lebensbedrohlichen Blutungen können die
das weitmaschige Be.ckenbindegewebe frei legen¬
den Risse durch sekundäre Infektion deletäre
Folgezustände nach sich ziehen. Derartige Fälle
sind von Hoffmann, Walther, H.W. Freund,
Reiferscheidt, Wirtz und Anderen beschrieben
worden.
Daß aber auch außerhalb des Geburts¬
vorganges, und zwar intra coitum, Risse im
Schddengewölbe auftreten können, dafür ver¬
mochte ich in der Literatur — wenigstens so weit
sie mir zugänglich war — keinen Fall aufzufinden,
und ich möchte daher einen von mir beobachteten
kurz beschreiben.
Am 22. November v. J. wurde ich nachts zu
der Ehefrau des Maurers J. in Ch. gerufen, bei der,
wie die Hebamme sagen ließ, eine lebensgefähr¬
liche Blutung aufgetreten wäre; um eine Ent¬
bindung handele es sich nicht. Ich fand die
38jährige Frau fast pulslos mit kühlen Extremi¬
täten, tiefgelagertem Kopf, die Bettunterlagen
blutdurchtränkt, auch vor dem Bett eine Blut¬
lache. Die Hebamme berichtete, daß Frau J.
vor sechs Wochen normal entbunden habe, daß
fr^'^ä'->,’?^''«^_.ff»p»<i? 'S lifj c'-
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Die Therapie der Gegenwart
1920
herausgegeben von öeh. Med.-Rat Prof. Dr. ü. Klemperer
in Berlin.
Oktober
Nachdruck verboten.
Die Behandlung der Vergiftungen.
Klinischer Vortrag von Prof. G. Klemperer.
Meine Herren! Den jungen Mann, der
heut gesund und munter vor Ihnen er¬
scheint, haben Sie vor acht Tagen in
größter Lebensgefahr gesehen. Er lag
damals matt und apathisch zu Bett, auf
Lippen und Zunge hatte er weiße Schorfe,
er klagte über heftige Magenschmerzen.
Tags zuvor hatte er 2 g Sublimat in selbst¬
mörderischer Absicht geschluckt; erst drei
Stunden nach der Vergiftung war er zur
Behandlung ins Krankenhaus gekommen.
Die Sublimatvergiftung macht für ge¬
wöhnlich stärkste Entzündung der Magen-
und Dünndarmschleimhaut, dazu diph¬
therische Nekrosen des Dickdarms und
schwerste nephritische Veränderungen,
die zur Anurie und zum urämischen Coma
führen. Schon bei der ersten Vorstellung
machte ich Sie darauf aufmerksam, wie
wenig das Aussehen des Kranken dem
Bilde der -typischen Sublimatvergiftung
entsprach; wohl waren Verätzungszeichen
am Mund und Magenschleimhaut bemerk¬
bar; aber es bestand kein Blutbrechen, es
war kein blutiger Durchfall aufgetreten,
die Urinmenge war nicht vermindert und
nur eine Spur von Eiweiß wies auf die
Resorption geringer Quecksilbermengen
hin. Auch in den seitdem vergangenen
acht Tagen ist es nicht zur Anurie und
Urämie gekommen, die Urinsekretion ist
ganz normal geblieben, das Eiweiß hat
sich bald ganz verloren und Cylinder
sind gar nicht ausgeschieden worden. Der
Stuhlgang ist normal geblieben. Die
Magenschmerzen haben sich allmählich
verloren, die Beläge sind von den Lippen
und der Zunge verschwunden. Heut er¬
scheint der Patient ganz gesund und
ist im Begriff, als geheilt entlassen zu
werden.
Welche Mittel haben bewirkt, daß der
Patient trotz der tötlichen Menge von
Sublimat, die er zu sich genommen hat,
mit dem Leben davongekommen ist und
daß er so wenig Spuren der Vergiftung
davongetragen hat?
Zuerst wurde ihm unmittelbar nach
der Ankunft im Krankenhause, noch im
Aufnahmezimmer, der Magen gründlich
ausgespült. Man hat in früheren Zeiten,
ehe Kußmaul im Jahre 1866 zum ersten
Mal den Magenschlauch eingeführt hat,
nach geschehener Vergiftung den Magen'
durch künstliches Erbrechen zu entleeren
gesucht. Man kann auch heute noch, um
das Gift schnell aus dem Magen zu bringen,
reichlich Wasser oder Milch trinken lassen
und dann durch tiefe Einführung des
Fingers in den Rachen Erbrechen zu er¬
zielen suchen; aber das gelingt durchaus
nicht immer und keinesfalls so voll¬
ständig als man wünschen muß. Man
kann auch ein Brechmittel verordnen,
nach alter Sitte Pulv. Ipecacuanh. 1,0 g
innerlich, oder nach neuerem Gebrauch
Apomorphin 0,02 g in subcutaner In¬
jektion. Aber auch das Erbrechen ent¬
leert den Magen niemals vollständig.
Man hat auch eine gewisse Scheu vor
stürmischen Brechbewegungen insbeson¬
dere nach Verätzung des Magens, wie sie
z. B. bei Sublimatvergiftung stets ein-
tritt, weil sie zur Perforation des Magens
führen können. Bei benommenen Pa¬
tienten besteht beim Erbrechen stets die
Gefahr der Aspiration mit folgender
Pneumonie. Und bei manchen Fällen,
z. B. von Pilzvergiftung, ist überhaupt
kein Erbrechen zu erzielen. Heut ist
die Ausspülung des Magens erstes Er¬
fordernis nach jeder Vergiftung. Es ist
unbedingt notwendig, daß der Arzt einen
brauchbaren Magenschlauch stets ver¬
wendungsfähig in seinem Instrumen¬
tarium vorrätig hat, und daß er ihn stets
mit sich führt, wenn er zu Vergiftungen
gerufen wird. Man kann den Magen¬
schlauch allenfalls improvisieren, indem
man sich eines Gasschlauches bedient,
und es war ein alter Prioritätsanspruch
der Frerichsschen Klinik^), daß hier
lange vor Kuß maul einem Vergifteten
der Magen mit einem durch den Schlund
1) Frerichs war 1861—1885 der Nachfolger
von Schönlein und der Vorgänger von Leyden
an der I. medizinischen Klinik der Charite. Die
erwähnte Priorität ist insbesondere von Ewald,
welcher Anfang der siebziger Jahre Assistent
bei Frerichs war, behauptet worden.
43
338
Die Therapie der Gegenwart 1920
Olctdber
geführten Gasschlauch entleert worden
wäre. Aber besser und zweckmäßiger
ist doch wohl der weiche glatte Magen¬
schlauch, den jeder von Ihnen schnell
und sicher einzuführen lernen muß. Dann
gieße man V 2 bis % Liter Wasser durch
den aufgesetzten Trichter und entleere
das eingegossene schnell durch Senken
des Trichters. Die Eingießung muß dann
sehr häufig wiederholt werden, denn der
Magen soll so gründlich wie möglich ge¬
reinigt werden, da leicht Reste des Giftes
fest an der Magenschleimhaut und in
deren Falten haften. Man ermüde also
in solchen Fällen nicht vor der Zeit. Es
sollen 20 Liter und mehr durch den Magen
gespült werden, ehe man sich zufrieden
gibt. Gewiß gelingt es in zahlreichen
Fällen so, das eingeführte Gift ganz aus
dem Magen zu bringen und die Pa¬
tienten nur durch die Magenausspülung
zu retten.
Aber es gibt doch Fälle, in denen die
Einführung des Magenschlauchs nicht
möglich ist, sei es, daß der Patient sich
dagegen sträubt, sei es, daß die Würge¬
bewegungen des überempfindlichen
Schlundes die Einführung verhindern.
Gewiß werden solche Fälle um so seltener
sein, je geschickter der Arzt ist, aber ganz
auszuschließen ist die Möglichkeit nicht.
Außerdem ist mit der Entleerung des
Magens allein ja noch nicht alles ge-
gescfiehen, es kann ein großer Teil des
Giftes schon in den Darm gelangt sein.
Darum besteht in jedem Fall nach be¬
endeter Magenausspülung die Indikation
der Darmentleerung, der wir durch Ab¬
führmittel zu genügen suchen. Aber das
ist kein ideales Vorgehen, denn auf dem
langen Weg durch den Darm, selbst wenn
er beschleunigt zurückgelegt wird, kann
doch noch viel Gift resorbiert werden.
Wir haben neben der Entleerung des
Magens und Darms die dringende Pflicht,
das Gift im Innern des Körpers unschäd¬
lich zu machen. Wir wollen das Gift im
Magen und Darm entgiften. Uralt ist
das Suchen nach Gegengiften, welche
durch chemische Einwirkung das einge¬
führte Gift so verändern, daß et keine
Giftwirkung mehr auszuüben vermag.
Ein praktischer Erfolg ist dieser Art von
antitoxischer Therapie in der früheren
Zeit nur selten beschieden gewesen. Wohl
hat man Kupfer gegen Phosphor, Natrium¬
sulfat oder Zuckerkalk gegen Carbolsäure,
Eisenoxydhydrat gegen Arsenik emp¬
fohlen. Aber so gut die theoretische Be¬
gründung dieser Giftbindung, so wenig
hat sie den Vergifteten geholfen, denn
die gewollte chemische Bindung kam
meist nur unvollkommen zustande;
Eine wirkliche Bindung eingeführter
Gifte ist erst erreicht worden, seit man
auf die chemische Wirkung verzichtete
und physikalische Kräfte verwendete,
in Gestalt der Bindung durch feinver¬
teilte Pulver von großer Oberfläche. Es
ist die Adsorption von Giften vor allem
durch feingepulverte tierische Kohle,
deren Anwendung einen der schönsten
Fortschritte der praktischen Medizin be¬
deutet. Sicherlich sind zahlreiche Men¬
schenleben durch die Kohletherapie ge¬
rettet worden. Auch bei unserem Kranken
haben wir sie nach der Magenausspülung
angewendet, indem wir ihm zwei Eßlöffel
Kohlepulver (etwa 60 g) mit dem letzten
Wasserguß in den Magen schütteten.
Ich glaube, daß der auffallend günstige
Heilungsverlauf, dessen Zeuge Sie ge¬
wesen sind, zum großen Teil auf diese
Adsorptionstherapie zurückzufühfen ist.
Die Adsorptionstherapie der Vergif¬
tungen ist ein Beispiel dafür, daß aus¬
gezeichnete Heilmethoden im Lauf der
Zeiten auftauchen und wieder verschwin¬
den können. Die Anwendung des Kohle¬
pulvers war schon im klassischen Alter¬
tum bekannt, und sie ist im Anfang des
vorigen Jahrhunderts wieder aufgelebt.
Der Apotheker Thouery hat im Jahre
1830, um ihre Wirksamkeit zu demon¬
strieren, ein ganzes Gramm Strychnin
mit 15 g Kohlepulver eingenommen und
ist ganz gesund geblieben. Trotz dieses
Beispiels ist die Kohletherapie der Ver¬
giftungen bei den Ärzten ganz in Ver¬
gessenheit geraten und kein neueres Lehr¬
buch der Intoxikationen spricht von ihr.
Sie wurde erst 24 neuem Leben erweckt
durch den Prager Pharmakologen Wie-
chowski und seine Mitarbeiter Adler
und Starkenstein, denen sich in
Deutschland Lichtwitz zugesellt hat 2 ).
Wiechowski berichtete im Jahre 1909,
daß die verschiedensten Giftstoffe, wenn
sie an Tierkohle adsorbiert Tieren bei¬
gebracht werden, ihre Giftwirkung ver¬
loren haben. Man kann auf diese Weise
mehrfach tötliche Dosen schwerer Gifte
ohne Wirkung per os einführen. Wie¬
chowski hat verschiedene Adsorbentien
in bezug auf ihre giftbindende Kraft ver-
2) Wiechowski, Prag. m. Wschr., Januar
1909. Kongreß für innere Medizin 1914, S. 329.
Adler, W. kl. W. 1912, Nr. 21. Lichtwitz,
Th. d. G. 1908, S. 542. Starkenstein, M. m. W.
1915, S. 27.
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1920
339
glichen, insbesondere den gepulverten
weißen Ton (bolus alba) und mehrere
Arten von Kohlepulver, und er hat fest¬
gestellt, daß ein durch Verkohlen von
Blut gewonnenes Kohlepulver am wirk¬
samsten krystallinische und kolloide Sub¬
stanzen adsorbiert. Er hat auch gezeigt,
daß die Adsorption im tierischen Organis¬
mus teilweise anderen Gesetzen gehorcht
als im Reagenzglas, indem im Magen und
Darm adsorbierte Gifte noch nachträg¬
lich zur Resorption gebracht werden
können. Obwohl die Blutkohle am
stärksten ,das adsorbierte Gift zurückhält,
ist es doch zweckmäßig, zugleich mit dem
Kohlepulver ein Abführmittel zu reichen,
um den Aufenthalt des adsorbierten
Giftes im Darm möglichst abzukürzen.
Die salinischen Abführmittel, z. B. Bitter¬
wasser oder Magnesium sulfuricum, sind
hierzu am meisten geeignet, weil sie zu-
.gleich den Darminhalt verdünnen und
auf diese Weise die Adsorption noch be¬
sonders befördern. Adler hat im Jahre
1914 über 30 Fälle von Vergiftung be¬
richtet, welche durch Kohletherapie sämt¬
lich zur Genesung gekommen, sind.
Darunter waren sieben Phosphorvergif¬
tungen, drei Vergiftungen mit Morphium,
je zwei mit Sublimat, chlorsaurem Kali,
Lysol, je eine mit Arsen, Veronal + Pan-
topon, Absinth, Kaliumbichromat. 22 der
behandelten Fälle waren so schwer, daß
die Vergifteten ohne die Kohletherapie
kaum am Leben geblieben wären.
Seit den Veröffentlichungen der Prager
Forscher ist die Kohletherapie der Ver¬
giftungen in unserem Krankenhaus regel¬
mäßig angewendet worden. Jedem Kran¬
ken,' der mit Vergiftungssymptomen spä¬
testens zwölf Stunden nach geschehener
Tat eingeliefert wird, wird der Magen
gründlich ausgespült, wenn nicht etwa
peritonitische Reizerscheinungen auf
drohende Perforation des Magens hin-
weisen. In allen Fällen, mit Ausnahme
nachgewiesener Säure- oder Laugevergif¬
tung (in diesen wird Magnesia usta be¬
ziehungsweise verdünnte Essig- und Ci-
tronensäure angewandt), werden nach der
Magenausspülung zwei Eßlöffel Kohle¬
pulver mit '30 g Magnesium sulfuricum
in den Magen eingegossen. Ist es für die
Magenspülung zu spät, so wird sofort die
Kohle-Magnesiamischung, in einem halben
Liter Wasser aufgerührt, eingegeben oder
durch den Schlauch eingeführt. Das
Kohlepräparat, welches zu diesem Zweck-
stets in unserem Aufnahmezimmer und auf
allen Krankenstationen vorrätig gehalten
wird, ist Carbo animalis Merck.
Ich bin in der glücklichen Lage, be¬
richten zu können, daß wir seit Ein¬
führung dieser Therapie von etwa 25
schweren Vergiftungsfällen mit Sublimat,
Arsen, Lysol, Phosphor, Cyankali nicht
einen einzigen verloren haben. Ich emp¬
fehle Ihnen dringend, sich diese Behand¬
lungsmethode der Vergiftungen zu eigen
zu machen und später in ihrer Praxis aus¬
zuüben. Alles was Sie über Antidote und
ihre Anwendung gelernt haben, tritt neben
der Kohletherapie an Wichtigkeit zurück;
Sie brauchen kein anderes Antidot neben
Carbo animalis mehr anzuwenden.
Ich brauche nicht besonders hinzu¬
zufügen, daß neben und nach der Aus¬
spülung und. Kohletherapie die Allgemein¬
behandlung des Kranken, insbesondere
die Excitation des Herzens, nicht ver¬
nachlässigt werden darf.
Zum Schluß will ich Sie darauf auf¬
merksam machen, daß die Tierkohle als
adsorbierendes Mittel noch weit ausge¬
dehnterer Anwendung fähig ist. Sie ver¬
mag auch die im Darmkanal gebildeten
Gifte bei Speisevergiftungen (Fleisch,
Fisch, Pilze usw.) sowie bei Enteritis,
Ruhr und Cholera zu binden und ist
deshalb neben der Abführtherapie ein
unschätzbares Heilmittel bei akuten
schweren Durchfallskrankheiten gewor¬
den. Um sich desselben mit Nützen zu
bedienen, muß man freilich bedenken,
daß es nur wirken kann, solange die
Krankheitsgifte sich noch innerhalb des
Darmrohrs befinden, ehe sie vom Körper
aufgesaugt sind. Wirkliche Triumphe
feiert die Kohletherapie nur im Früh¬
stadium, wenn mindestens 20—30 g
'Kohle in den ersten Tagen der Infektion
beziehungsweise Intoxikation zugeführt
werden. Zur ursächlichen Frühbehand¬
lung aller Magen- und Darmvergiftungen,
mag es sich um fertig zugeführte oder im
Magendarmkanal entstandene Gifte han¬
deln, rate ich Ihnen, nach anfänglicher
Anwendung von Laxantien von der
Kohletherapie umfassenden Gebrauch zu
machen.
43*
'340
Die Therapie der Gegenwart 1920
. Ql^ober
Aus der ü. medizinisclieu Klinik in Wien.
über die diuretische Wirkung des Novasurols.
Von Dr. V, Kollert) Assistenten der Klinik.
Das Novasurol, ein durch seinen hohen
Hg-Gehalt und seine rasche Ausscheidung
charakterisiertes Präparat, wird in neu¬
ester Zeit vielfach bei der Behandlung
der Lues verwendet. Nach Angabe der
Erzeugungsfirma Bayer in Elberfeld han¬
delt es sich um eine Doppelverbindung
des Oxymerkuri-o-chlorphenoxylessig-
saurem Natrium mit Veronal, die 33,9 %
Hg enthält^). Außer den im Handel vor-
kommenden 10%igen Lösungen stand
bei den vorliegenden Versuchen durch
das Entgegenkommen der Firma. ein
,,Novasurol fest“, ein weißes, amorphes,
wasserlösliches Pulver zur Verftigung,
das nach Angabe der Fabrik 33,21 % Hg
enthielt. Das Mittel fällt nicht Eiweiß,
gibt mit NaOH keine Verfärbung, bleibt
mit Kalium hydroxyd und (NH^^gS un¬
verändert, schwärzt sich aber sofort beim
.Aufkochen mit Ammoiiiumsulfid.
Die ‘ vorliegende Abhandlung wurde
durch die Beobachtung P. Saxls (1) an¬
geregt, daß nach Injektion des Mittels
bei dekompensierten Aortikern starke
Diuresen auftreten. Es sollte untersucht
werden, auf welche Bestandteile des Prä¬
parats die harntreibende Wirkung be¬
ruhe, die Vorgänge bei der Diurese näher
studiert werden und damit eine Abgren¬
zung des Mittels gegenüber ähnlichen
Präparaten und eine scharfe Präzisie¬
rung seiner Indikationen und Kontra¬
indikationen gewonnen werden.
Das Präparat wurde meist intramusku¬
lär, nur einige Male intravenös angewen¬
det. Die Injektionen waren schmerzlos,
Muskelinfiltrate wurden nicht gesehen.
Einige Male trat rasch eine Stomatitis
mercurialis auf, die zur Aussetzung des
Mittels zwang.
Bei nicht ödematösen Kranken war*
die diuretische Wirkung, wenn überhaupt
vorhanden, gering. Auch von den Kran-
h Die in der Literatur bei sämtlichen Autoren
.CI
sich findende Formel CcHg^O—CHgCOONa dürfte
\Hg. C^HnOgNg
auf einem Druckfehler beruhen. Wahrscheinlicher
erscheint, daß die Doppelverbindung unter Wasser¬
abspaltung zustande kommt:
/CI
CcHg—0—CHgCOONa
und demnach 1 C Atom mehr enthält.
CO
ken mit Ergüssen in den serösen Hüllen
reagierten nicht alle mit Polyurie. Hier¬
her gehören anscheinend vor allem die
entzündlichen Ergüsse, ähnlich wie dies
vom Kalomel bekannt ist, das auf Exsu¬
date ohne Einfluß ist (siehe Fleckseder
[2]); wenigstens gelang es mir nicht, bei
Pleuritis exsudativa eine Diurese oder
eine Abnahme der Ergußm'enge zu er¬
zielen. Weder Chlorausscheidung noch
Refraktometerwerte des Serums ergaben
einen Unterschied gegenüber den Kon-
trolltagen. Es wurde daher weiterhin die
Anwendung des Mittels auf Stauungs¬
ergüsse beschränkt. Bei den gut reagieren¬
den Kranken mußten ganz bestimmte
Momente berücksichtigt werden, wollte
man eine gute Wirkung erreichen. Zu¬
erst wurde das Mittel täglich gegeben;
dabei stellten sich wohl keine erkenn¬
baren Schädigungen ein, aber die auf
die ersten Injektionen auftretende. Poly¬
urie konnte schon nach wenigen Tagen
nicht mehr erzielt werden. Es trat eine
Erschöpfung der Wirksamkeit des Mittels,
eine Nierenermüdung im Sinne der Auto¬
ren auf. Besser waren die diuretischen
Erfolge, wenn das Mittel jeden zweiten
Tag verwendet wurde, und endlich stellte
sich bei den gut reagierenden Fällen
als die günstigste Applikationsart, eine
Injektion jeden vierten bis sechsten Tag
heraus. Bei dieser Anwendungsform war
die ■ Intoxikationsgefahr sehr gering und
die Wirksamkeit des Präparats blieb
lange erhalten. Die verabreichten Dosen
schwankten zwischen 1 und 3,3 ccm; am
häufigsten wurde der Inhalt einer Am¬
pulle, nämlich 2,2 ccm, gegeben.
Die diuretische Wirkung beträgt bei
oligurischen Kranken oft das Fünf- bis
Siebenfache der sonstigen Tagesmenge,
als höchstes Quantum wurden 3800 ccm
in 24 Stunden gesehen. Die Harnflut
setzte meistens eine halbe bis eineinhalb
Stunden nach der Injektion langsam ein,
steigt allmählich an und nimmt oft be¬
reits nach 12 Stunden wieder ab. Seltener
ist eine vermehrte Diurese noch am fol¬
genden Tage. Ebenfalls zweimal wurde
eine protahierte Wirkung mäßigen Grades
durch mehrere Tage gesehen. Um die
folgenden Ausführungen verständlich zu
machen, ist es nötig, eine solche Kurve
gemeinsam mit der NaCl-Ausscheidung
vorzuführen.
■ • ' ' •
Oktober
Die Tberalpie der Gegenwart 1920
341 f
Pat. H. (Cirrhosis luetica).
a) Vortag: Diurese 475 ccm. Sp. G.
1023. Sturidenmengen durchschnittlich
20 ccm. NaCl-Ausscheidung bei mehr¬
fachen Bestimmungen und'gleicher Diät
mie über 3 g in 24 Stunden ansteigend.
b) Versuchstag: 9,-30 Minuten vor¬
mittags. 2,2 ccm Novasurol in'tramus-’
kulär.
aber wie 0,17:1,27 oder wie 1:7V2. Diese
starke Chlorausscheidung durch die Nieren
durfte neben anderen Eigenschaften des
Mittels, auf die noch zurückzpkommen
sein wird, von Bedeutung sein, wenn wir
die klinisch gefundene, relativ große
Unschädlichkeit des Mittels erklären
wollen. Nach Sabbatini (3) hemmen
nämlich Halogenionen die Konzentration
Zeit
Qh
I
12h
Ih
2h
3h
6h
7h
nachts
Harnmenge in
ccm.
48
118
335
275
400
435
475
148
140
135
110
598
Sp. G.
1024
1015
1012
1012
1010
1009
1012
1014
,1015 j
1015
1017
1016
Chloride in % .
0,8
1,19
0,96
0,92
0,94
0,98
0,98
1,08
1,05
1,24
1,2
1,2
Absolute ausge¬
schiedene Chlor-
inenge in g . .
0,38
1,4
3,2
2,53
3,76
4,26
4,66
1,6
1,47
1,67
1,32
7,18
, c) Nachtag: Diurese 350 ccm (durch¬
schnittliche Stundenmenge 14 ccm), Sp.
G. 1020, Chloride 0,56 %=: 1,86 g in
24 Stunden.
Es stieg demnach bei diesem Versuche
die Harnmenge von 475 ccm auf über
• drei Liter, um schon am nächsten Tage
wieder auf den bei diesem Kranken' ge¬
wöhnlichen Stand abzusinken. Während
■ die NaCl-Ausscheidung an den Tagen vor
dem Versuch 3 g in ,24 Stunden durch¬
schnittlich nicht überschritten hatte, stieg
sie während der Diurese auf etwa 33 g
an, um am nächsten Tage wieder unter
2 g abzusinken. ‘Das Maximum der
Wasser-, und Salzausscheidung erfolgte
nach etwa fünf Stunden. Es mag hier
betont werden, ' daß bei mehreren in¬
travenösen Verabreichungen des Mittels
•der Höhepunkt der Diurese n etwa zur
selben Zeit auftrat, als Beweis, wie rasch
auch bei intramuskulärer Injektion die
Resorption des Mittels erfolgt.
Versagte bei einem Kranken die diu-
retische Wirkung des Mittels, so blieb
auch die vermehrte NaCl-Ausscheidung
aus. Bei den positiv reagierenden Fällen
ist manchmal der perzentuelle Anstieg
der Chlorausscheidung im Harn noch auf¬
fälliger wie der Anstieg der Harnab¬
sonderung. So in folgendem Beispiel:
8 Uhr vormittags,- Stundenharn 69 ccm
mit 0,49 % = 0,34 g Chloriden, 8,30 Uhr
Novasurol. 9 Uhr 145 ccm Harn mit
0,99 % NaCl - 1,44 g. Unter der Vor¬
aussetzung, daß die Nieren in der halben
Stunde vor der Injektion ebenso funktio¬
niert haben wie in der Stunde vorher, ver¬
hielten sich die Harnmengen in der halben
Stunde vor und nach der Injektion wie
35:110 oder wie 1:3, die Chloridmengen
von Quecksilberionen durch Zurück¬
drängen der elektrolytischen Dissoziation.
Die toxische Wirkung der Hg-Präparate
soll eng an die Dissoziation des Mittels
gebunden sein, in dem Sinne,’ daß bei
gleichzeitigem Vorhandensein von 'Chlo¬
riden eine geringere Dissoziation und da¬
mit eine geringere Giftigkeit des Hg-
Präparats vorhanden ist. ln diesem Sinne
würde die mit Eintritt der Diurese (und
der damit parallel gehenden Quecksilber¬
ausscheidung) auf tretende Kochsalzflut
einen Schutzvorgang für die Niere dar¬
stellen.
Wenn man bedenkt, daß bei der
nekrotisierenden Sublimatnephrose Oli¬
gurie und verminderteChloridausscheidung
—die z. B. in einem Falle von Volhard (4)
bis 0,012 % herabging — auftritt, so
ist es naheliegend, daß die nach Nova-
surolinjektionen gefundenen Vorgänge im
Harn sich zu den nach Sublimatvergif¬
tungen einstellenden Veränderungen wie
Reizung und Lähmung verhalten. Ein
ähnlicher Antagonismus zwischen beiden
Zuständen kann auch hinsichtlich des
Verhaltens der Chloride im Blut.gefunden
werden. Für die schwere Quecksilber¬
vergiftung ist (zitiert nach Veil und
Spiro [5]) eine Abnahme des Chlor¬
gehaltes charakteristisch. Während der
Novasuroldiurese untersuchte ich den
Chlorspiegel des Blutes nach der Mikro¬
methode von Bang. Trotzdem die Ver¬
suche wegen des nicht ganz scharfen
Umschlages bei der Titration keineswegs
völlig einwandfrei sind, kann doch ge¬
sagt werden, daß es sich in den ersten
Stunden der Diurese um ein Ansteigen
und nicht um ein Sinken der Chlorwerte
handelte.
342
Die Therapie' der Gegenwart 1920
Oktober
Soll ein quecksilberhaltiges Mittel
überhaupt als Diureticum in Betracht
kommen, so rückt die Frage nach seiner
relativen Schädlichkeit für den Gesamt¬
organismus unter den verschiedenen Hg-
Präparaten in den Vordergrund. Nach
den grundlegenden Untersuchungen von
Müller, Schöller und Schrautti (6)
hängt die Giftigkeit eines organisr'hen
Quecksilberpräparats von seiner*Zersetz¬
lichkeit und seiner Ausscheidungsge¬
schwindigkeit ab. Es ist daher unsere
Aufgabe, uns über diese beiden Eigen¬
schaften ein Urteil zu verschaffen. Hin¬
sichtlich der Zersetzlichkeit im Körper
sind die organischen Hg-Präparate in
relativ unschädliche Komplexe und be¬
deutend giftigere Halbkomplexe zu tren¬
nen, je nachdem beide oder nur eine Va¬
lenz des Hg an' einen Kohlenstoffkern ge¬
bunden ist. Nach dem bereits erwähnten
Verhalten gegen Ammoniumsulfid in der
Kälte ist das Novasurol unter die relativ
unschädlichen komplexen Verbindungen
einzureihen. Von einer Wirkung auf das
Zentralnervensystem, wie sie als moleku¬
lare Wirkung einiger, wohl unzersetzlicher
aber sich nur langsam ausscheidender
organischer Hg-Präparate in der Literatur
.beschrieben ist (Hepp [7]), konnte am
Krankenbett nichts gesehen werden.
Es ist nunmehr die zweite Kompo¬
nente, die Ausscheidungsgeschwindigkeit
im Harn, zu besprechen. Die Unter¬
suchungen wurden nach der Methode von
Almen (8) ausgeführt. Dabei ergab sich
zunächst das verblüffende Resultat, daß
sowohl bei intravenöser und intramusku¬
lärer Injektion — in letzterem Falle
quantitativ anscheinend schwächer —
das Mittel bereits nach zehn Minuten
im Harn auftritt. Nur wenige Stunden
ist das Mittel in gpoßer Menge im Harn
zu finden, bald ist es bei der qualitativen
Prüfung nach der genannten Methode,
die bis zu 1:10 000 000 empfindlich ist,
nur mehr in Spuren nachweisbar. Am
folgenden Tag war der Nachweis mehrfach
nicht mehr möglich. Es kann daher ge¬
sagt werden, daß im Wesen die Hg- und
Wasserausscheidung bei diesem Mittel
parallel gehen. Da nun Bürgi (9) —
allerdings an schwer löslichen Hg-Salzen
— das Gesetz aufgestellt hat, daß Polyurie
und Hg-Ausscheidung sehr oft parallel
gehen, daß die Urinausscheidung meist
ein verkleinertes Bild der Hg-Kurve dar¬
stellt, scheint der Schluß gestattet zu
sein, daß das wesentliche diuretische
Prinzip an dem Mittel das Quecksilber
ist. Betrachten wir nach dem Vorge¬
brachten also die Wertigkeit des Mittels
nach den Kriterien von Müller, .Schöl¬
ler und Schrauth, so kommen wir zu
dem Schluß, daß das Novasurol we^en
seiner Komplexität und sehr auffallend
raschen Ausscheidung vom experimen¬
tellen Standpunkt aus^ als ein für den
Organismus relativ unschädliches Queck-
s’ilberpräparat anzusehen ist.
Schwierig zu beantworten aber ist
die Frage, ob die ganze diuretische Wir¬
kung des Mittels auf das Hg zurückzu¬
führen jst. Gerade die ungemein rasche
Ausscheidung des Quecksilbers würde
diesen Gedanken nahelegen, da sie nach
dem Vorgebrachten mit einer Harnflut
einhergehen muß. Nach der Arbeit von
Bürgi ist anzunehmen, daß nur jene Hg-
Präparate nicht diuretisch wirken, welche
langsam ausgeschieden werden. Gegen
die alleinige Wirksamkeit des Hg auf die
Diurese aber spricht in gewissem Sinne
die Arbeit von Kleist (10) über ver¬
mehrte Diurese pach Anwendung kleiner
Veronaldosen. Über die diuretische Wirk¬
samkeit der anderen Gruppen des Präpa¬
rats wage ich kein Urteil abzugeben.
Soll die Einführung eines neuen Mit¬
tels zu einem bestimmten Zwecke be¬
gründet sein, so müssen gewisse Vorteile
gegenüber ähnlichen, bisher zu dem glei-
chen'Zwecke gebrauchten Präparaten vor¬
handen sein. Da seit Jendrässik (11)
das Kalomel als das Diurese erzeugende
Hg-Präparat kaE exochen gilt, ist ein
Vergleich der beiden Mittel angezeigt.
Vor allem ist dabei zu betonen, daß zur
Erzielung einer Kalomeldiurese oft eine
Verwendung des Mittels mehrere Tage
hindurch nötig ist, während das Nova¬
surol rasch wirkt. Andererseits aber ist
die Kalomelwirkung wohl meist viel
intensiver, da die Diurese länger an¬
dauert. Während Kalomelkuren meistens
nicht oft bei einem Kranken wiederholt
werden können, ist die Anwendung des
Novasurols zeitlich viel weniger be¬
schränkt. Fleckseder fand im Gegen¬
satz zur Bluteindickung bei der Koffein¬
diurese während jeder merkuriellen Diu¬
rese und speziell bei Kalomel eine ganz
beträchtliche Hydraemie. Es wurden
deshalb in einem Falle, der gut auf
Novasurol reagierte, die Refraktometer¬
werte des Serums geprüft.
Versuch vom 10. 4. Diurese vom 9: 4..
250 ccm. 10. 4. 8,15 Uhr U /2 Ampullen
Novasurol intramuskulär. Diurese bis
7 Uhr abends 3100 ccm. Beginn der
X)kt6ber ' Die Therapie tfer Gegenwart-1920 343
Diurese nach -1 Uhr, Ende^ der starken
Harnflut nach M Uhr', mäßige Harn-
vermehrüng noch am folgenden Tag.
Durchschnittliche Stundendiurese am
Vortag 10 ccm, maximale Stundendiurese
am Versuchstag (fünf Stunden nach der
Injektion) 475 ccm. fe - .
Refraktometerwerte: 8 Uhr vormit¬
tags 53,55 = 6,887 % Eiweiß, 10,15 Uhr
vormittags 55,45’= 8,172 % Eiweiß,
•5 Uhr nachmittags 55,1 = 7,221 % Ei¬
weiß.
Es konnte demnach in diesem Falle
zu den untersuchten Zeiten keine Ab¬
nahme des Bluteiweißes, welche auf eine
Hydraemie schließen hätte lassen, ge¬
funden werden. Ein zweiter Fall, der
wie der vorhergehende an einer Leber¬
zirrhose litt und auf Novasurol keine
Diurese bekam, hatte nach der Novasurol-
injektion die gleichen Refraktometer¬
werte wie an einem Kontrolltag.
Von praktischer Bedeutung dürfte der
Unterschied des Verhaltens der Kalomel-
und Novasuroleinwirkung auf die Nieren
sein. Für das Kalomel gelten in der
Literatur die mit renalen Hydropsien
einhergehenden Nephropathien als Kon¬
traindikationen. Ich habe deshalb ur¬
sprünglich selbst bei Zeichen einer ganz
leichten Nierenschädigung die Novasurol-
anwendung nicht für angezeigt gehal¬
ten., bin aber schließlich von dieser stren¬
gen Fassung abgekommen: Allerdings
erregt es von vornherein Bedenken, ein
Hg-Präparat bei einem Nierenkranken
anzLiwenden, wenn man überlegt, daß
die gefährlichste schädigende Wirkung
des Quecksilbers die Nierenfunktion be¬
trifft. In zwei Fällen mit Pfortader¬
stauung und gleichzeitiger Nierenschädi¬
gung — vorwiegend ein herdförmiger
degenerativer Prozeß in den Tubulis trat
auf das Novasurol keine vermehrte Diu¬
rese auf. Diese Versager wurden in dem
Sinne gedeutet, daß das Hg durch die
erkrankten Tubuli erschwert ausgeschie¬
den wurde. Dies würde dafür sprechen,
daß das Mittel bei Nephropathien, die
mit nephrotischen Symptomen einher¬
gehen, nicht indiziert ist. • Eigene Er¬
fahrungen über diesen Punkt konnte ich
allerdings nicht sammeln. Bei leichten
Albuminurien, wahrscheinlich toxischen
Charakters ohne sonstige Zeichen einer
diffusen Nephritis, trat zweimal ein Ab¬
sinken der Albuminurie auf Novasurol-
injektionen ein, ohne daß Haematurie,
ein positiver Sedimentbefund oder eine
Veränderung des Allgemeinzustandes
einen Anhaltspunkt für eine Nierenschädi-
güng durch die Injektion geboten hätte.
Der eine dieser Fälle hatte auf Kolomel
mit einer vermehrten Albuminurie (ohne
stärkere Diurese) reagiert. Die Beob¬
achtung, daß der Eiweißgehält des Harnes
auf Novasurolinjektionen. abnimmt,
wurde bereits von Zieler' (12), der das
Mittel in die Therapie einführte, gemacht:*
Ich möchte meine Ansicht über das Ka¬
pitel Novasurol und Nierenschädigung
folgendermaßen präzisieren: Wenn ich
auch- bislang eine sichere Nierenschädi¬
gung nicht gesehen habe, so erregt doch
der hohe Quecksilbergehalt des Mittels
Bedenken, das’ Präparat ohne alle Ein¬
schränkung als Diuretikum zu empfehlen;
Es erscheint als ein Gebot der Vorsicht
bei einem hydropischen Kranken zuerst
jene harntreiberyien Mittel zu versuchen,
die eine langdauernde Erfahrung als
schädlich erwiesen hat. Erzielt man auf
diese Weise aber keinen Erfolg;, so wird
man die theoretischen Bedenken, die
gegen das Mittel wegen seines hohen
Metallgehalts vorliegen, hintansetzen
können, um so mehr, als nach den bis¬
herigen Erfahrungen die schädigende Wir¬
kung des Präparats nicht häufig einzu¬
treten scheint. Andererseits ist der Er¬
folg ein sehr zufriedenstellender.
Wegen der eben erörterten Frage der
Schädigung der Hiere durch Noväsurol-
anwendung sind endlich die mikroskopi¬
schen Befunde zweier Nieren bemerkens¬
wert, die von Fällen stammen, die intra
vitam Injektionen mit dem Mittel be¬
kommen hatten. Der eine Kranke,
G. C. Cirrhoris hepatis carcinomatosa
in individuo luetico) hatte kurz vor seinem
Tode zwei Novasurolinjektionen erhalten.
Die erste war wirkungslos geblieben, auf
die zweite war eine mäßige Oligurie .ein¬
getreten. Mikroskopisch waren die
Epithelien der Mehrzahl *der Tubuli nor¬
mal, ein geringer Teil zeigte trübe Schwel¬
lung. Die Glonieruli waren in der über¬
wiegenden Mehrzahl intakt, hie und da
war eine leichte Exsudation in die Bow-
mannschen Kapseln zu finden. Da nach
den histochemischen Untersuchungen von
Almkvist (13) das Quecksilber durch
die Tubuli ausgeschieden wird, sind Ver¬
änderungen an den Glomerulis wohl
nicht in Zusammenhang mit dem Mittel
zu bringen. Ob die tubulären Zellver¬
änderungen mit dem Novasurol in Zu¬
sammenhang gebracht werden können,
ist schwierig zu beantworten. Bedenkt
man aber, daß es sich um einen schweren
344' • Di^ trhetanljB ^(^genyajrji iS30 r / _ Qlj^0^r
Pöfator gehandelt hätte, daß-der Kranke
Luäs mitgemaGht hatte und in einer langen
Agonie gelegen war, so findet man so viele
Möglichkeiten, auf die die relativ geringen
Veränderungen bezogen werden können,
daß die Schädigung durch das Novasurol
in diesem' Falle nicht sehr hoch angesetzt
werden kann. Ähnliche Veräilderungen,
aber ohne Glomerulusschädigungen, wur¬
den auch in einem zweiten Falle gesehen,
Bei der öbigen Besprechung des Falles
G. wurde erwähnt, daß nach der zweiten
Injektion eine .mäßige Oligurie gesehen
wurde. Auch in einem zweiten Falle
wurde die gleiche Beobachtung gemacht.
Diese beiden Fälle sind die einzigen Be¬
obachtungen, die darauf schließen lassen,
daß das Novasurol unter Umständen
auch schädigend auf die Niere einwirken
kann, obwohl wir uns yi diesen beiden
Fällen nicht einwandfrei davon über¬
zeugen konnten.
. Bei Kalomel sind bekanntlich Diar¬
rhöe und Diurese vikariierend. Starke
Diarrhöen sah ich auf Novasurol nie,
wohl aber, einige Male ganz mäßige Darm¬
reaktionen. In diesen Fällen war-die
diuretische Wirkung etwas geringer als
sonst.
Bemerkenswert erscheint schließlich,
daß zweimal bei einem Patienten mit
Lebercirrhose, dessen Ascites von Zeit
zu Zeit punktiert werden mußte, die
Punktionsstelle nach einer Novasurolin-
jektion auf der Höhe der Diurese zu fließen
begann, nachdem sie vorher schon einige
Tage lang nicht mehr sezerniert hatte.
Kürzlich wurde der gleiche Befund bei
einem zweiten Kranken erhoben. Hier
war die Punktionsöffnung am Abdomen
schon vier Tage geschlossen gewesen,
die Sekretion begann auf der Höhe der
Diurese und hielt noch einen Tag länger
an, als die vermehrte Harnabsonderung.
Von anderen Herren unserer Klinik wer¬
den noch zwei analoge Fälle beobachtet.
Es ist daher der Gedanke naheliegend,
bei Hautskarifikation zur Entlastung von
ödematös geschwellter Haut gleichzeitig
dem Kranken eine Novasurolinjektion
zu gebeui da vielleicht auf diese Weis«“
sich .(Ter Erfolg der Skarifikatmn verviel-^
faltigen läßt, Diese Beobachtungetfe
dürften sich in dem Sinne deuten lassen,
daß die Resorption einer Ascites unter
der Novasuroleinwirkung mindestens teil¬
weise auf dem Wege der erweiterten.
Lymphbahnen zustande kommt. Es ist
ja bekannt, wie eng verbunden oft dime^
trische und lymphagoge Wirkung eines
Mittels sind. Es ist anzunehmen, daß
die resorptionsbefördernde Fähigkeit des
Novasurols auf Ergüsse in serösen Höhlen
dann versagt, wenn sich dem Abfluß
auf dem Lymphwege Hindernisse ent¬
gegenstellen, z. B. als Folge eines vor¬
angegangenen Entzündungsprozesses der
serösen Haut.
Zusammenfassend läßt sich sagen::
Die diuretische Wirkung des Novasurols.
dürfte größtenteils auf seiner Queck¬
silberkomponente beruhem Da es eia
komplexes Präparat ist, das sehr rasch
ausgeschieden wird und die Ausscheidung:
zugleich mit einer vermehrten Chloraus¬
schwemmung einhergeht, ist es als eiU'
relativ unschädliches Quecksilberpräparat
zu betrachten. Die diuretische Wirkung:
setzt rasch ein, hört aber bald wieder auf.
Schädigungen schwereren Grades wurdea
bislang nicht gesehen. Trotzdem soll
das Mittel wegen seines hohen Metall¬
gehaltes nur dort gegeben werden,, wo-
die anderen Diuretica versagt haben.
Die beste diuretische Wirkung scheint
dann aufzutreten, wenn zwischen zwei.
Injektionen eine Pause von etwa vier
Tagen eingeschaltet wird.
Literatur: 1. P. Laxl (W. kl. W. 1920,.
S. 179). — 2. Fleckseder (W. kl. W. 1911, Nr 41
und Arch. f. exper. Path. u. Pharm., Bd. 67). —
3. Sabbotini (Biochem. Zschr, Bd. 7, S. 22). —
4. Volhard (Doppelseitige haemotogene Niereii-
erkrankungen, 1918). — 5. Veil und Spiro (M. m.
W. 1918, Bd. 41). — 6. Müller, Schöller und
Schrauth (Biochem. Z., Bd. 33). — 7. Hepp'
(Arch. f. exper Path. u. Pharm. 1878, Bd. 9). —
8.Alm6n nach Malys Tierchemie 1886. — 9. Bürgi
(Arch. f. Derm. 1906, Bd. 79). — 10. Kleist (Ther..
d. Gegenw. 1904). — 11. Jendionik (D. Arch,.
f. klin. Med. 1886, Bd. 38). — 12. Zieler (M. m. W.
1917). — 13. Almkvist (Zschr. f. exper. Path. u..
Pharm., Bd. 82).
über die Ausscheidung der Kieselsäure durch den Harn
nach Eingabe verschiedener Kieselsäurepräparate.
Von Dr. phil. F. Zuckmayer, Hannover.
Durch die Arbeiten von Kobert und
seinen Mitarbeitern sowie von Schulz
und anderen ist die Bedeutung der Kiesel¬
säure für unseren Mineralstoffwechsel
nachgewiesen, ihr weitverbreitetes Vor¬
kommen in allen Teilen des KörperSv
— teilweise in bedeutender Menge —
festgestellt und ihre Ausscheidungsver¬
hältnisse klargelegt worden. Die Aus¬
scheidung der Kieselsäure durch die.
- r - ‘
QktoBer Die Therapie der Gegeniwart 1920 ' 345
“= * - - — -—— - v ' ■ ■ ’
Dickdarmschkimhaut ist von Kobert^)
ei nwan dfrei b ewi es en; G o n n e r m a n n s 7
Analysen der Mucosa und der Sub-
mücosa des Menschendarmes bestätigen
dies. Daß durch die Nieren Kiesel¬
säure ausgescheiden wird, ist bekannt;
Schulz^) gibt als Durchschnittszahl für
den gesunden, tuberkulosefreien Menschen
(vier Versuche) 0,1 g SiOg in der Tages¬
menge Harn an, Salkowsky*^) die gleiche
Menge und Kelle®) fand 0,0076 bis0,015g
SiOg pro Tagesmenge bei Tuberkulosen.
Über die Resorption von Kieselsäure
und das Verhältnis, in welchem sie durch
Darm und Niere ausgeschieden wird, ist
nichts bekannt; ebensowenig über die
Höhe der Retention derselben im Orga¬
nismus. Die Resorption der SiOg an
Menschen festzustellen, ist unmöglich,
da die nichtresorbierte und die resorbierte
in den Dickdarm abgeschiedene Kiesel¬
säure zusammen im Kote ausgeschieden
werden. Einen Anhaltspunkt gewinnen
wir aber durch die SiOg-Bestimmung im
Harn nach Kieselsäurezulagen zu der üb¬
lichen, Nahrung und erhalten stark von¬
einander abweichende Resultate, je nach
der Beschaffenheit der angewandten
Kieselsäure.
Die so erhaltenen Werte können aller¬
dings nur zum Vergleich untereinander
benutzt werden, unter Berücksichtigung
der Kieselsäureausscheidungen durch den
Harn in der Zeit vor Verabreichung von
SiOg-Zulagen.
Das Interesse, welches neuerdings der
Kieselsäuretherapie besonders bei Lungen¬
tuberkulose infolge der Versuche Kob er ts
und Mitarbeiter entgegengebracht wird,
veranlaßte die Untersuchung der SiO/o-
Ausscheidung im Harn nach Eingabe
von Kieselsäure in Form .verschiedener
Präparate.
Zum Vergleiche wurden 1.- der von
Kob ert^) und Kühn^) angewandte
Kieselsäuretee aus Herba Equiseti, Ga-
leopsidis und Polygoni, 2. frisch bereitete
kolloidale'Kieselsäurelösung, 3. kolloidales,
Kieselsäure-Amylodextrin, 4. kolloidales
Kieselsäure-Eiweiß, 5. kolloidales Kiesel-
säure-Kasein-Metaphosphat herangezogen
Robert u. Koch, Einiges über die Funk¬
tion des menschlichen Dickdarms, D. m. W. 1894,
Nr. 47.
2) Gonnermann, Tuberkiilosis 1917, Nr. 11.
3) Nach Kühn, Ther. Mh. 1919, H. 6.
Salkowsky,'H. S., Zschr. f. phys. Chem.
83, S. 143—152, 1913.
•^) Tuberkulosis 1917, H. 10 11 . 11."
«) Ther. Mh. 1919, H. 6 u. M. m. W. 1918,
H. 52.
Es wurden also bei 1 und 2 gelöste Kiesel¬
säure, bei 3 und 4 und 5 feste kolloidale,
an Amylodextrin beziehungsweise Eiweiß
- gebundene Kieselsäure benutzt.
Der Vergleich, der Harn-Kieselsäure¬
mengen nach Verabreichung der genannten
SiOg-Zubereitungen soll zeigen, ob ein
Unterschied derselben bezüglich der Aus¬
scheidung durch den Harn vorhanden ist.
Er soll ferner zeigen, ob an Stelle des
in seinem Gehalt an SiOg stark schwan¬
kenden Kieselsäuretees ein anderes festes.
Präparat von gleich guter Resorption
treten kann mit fest normiertem SiOg-
Gehalt, welcher zugleich die umständr
liehe tägliche Teezubereitung unnötig
machen würde. Die Teeaufgüsse schwan¬
ken in ihrem SiOg-'Gehalt je nach Her¬
kunft, Standort und Sammelzeit der am
gewandten Kräuter und je nach der
Härte des benutzten Wassers sowie je
nach der Bereitungsweise des Tees derart,
daß in einem Liter desselben teils wenige
Milligramme SiOg, teils bis zu 280 mg
gefunden’) wurden.
Zur Untersuchung wurde verschiedenen Per¬
sonen die zu prüfende SiOa-Zubereitung in einer
Menge von 0,3 g SiOg auf einmal verabreicht und
der Harn während des darauffolgenden Tages
oder ,während mehrerer Tage gesammelt. • Bei
allen Versuchen wurde auch an dem Tage vor
dem Versuche der gesammelte Harn analysiert
und diese Harnwerte als ngrmale Ausscheidung
für die Versuchszeit zugrunde gelegt. Da wir in
unserem Harn nicht unwesentliche Mengen SiOg,
auch ohne Eingabe eines SiOg-Präparates, aus-
scheiden, die offenbar aus unserer Nahrung
stammen, und diese Kieselsäuremengen bei der
gleichen Person innerhalb der kurzen Versuchs¬
zeit, wie wiederholte Bestimmungen in dem Harne
vom Tage vor und nach dem Versuche ergeben
haben, nur.wenig schwanken,- mußte diese aus
der' Nahrung stammende Ausscheidung zur Er¬
mittelung der aus der Eingabe stammenden SiOg'
mit in Rechnung gesetzt werden. Dies geschah
in der Weise, daß der SiOg-Wert des Harns vom
Tage vor dem Versuch auf die Harnmenge des
Versuchstages umgerechnet und dann von der
am Versuchstage'ausgeschiedenen SiOg-Menge ab¬
gezogen wurde.
Diese Art der Berechnung wählte ich, anstatt
das Mittel aus der SiOg-Ausscheidung'der Vor-
und Nachperiode als Nahrungskieselsäure anzu¬
nehmen, weil ich so die größere Harnmenge des
Versuchtages, die sich in den meisten Fällen
ergab, berücksichtigen konnte. Ich vermied da¬
durch SiOg als aus dem Präparat stammend an¬
zunehmen, die vielleicht aus der Nahrung her¬
rührte. Dieses Vorgehen erscheint um so berech¬
tigter, als ohne SiOg-Zulagen bei größeren Harn¬
mengen meist auch größere SiOg-Mengen aus¬
geschieden werden. Wenn auch diese Berechnung
nicht unbedingt richtig ist, so ergibt sie doch ein
zum Vergleiche geeignetes Bild, das besonders
übersichtlich in den Prozenten der Einnahme zum
Ausdrucke kommt. In den Tabellen sind die
auf diese Weise berechneten Zahlen sowohl in
7) Kühn, Ther. Mh. 1919, H. 6.
44
346
"^Die Therapie der Gegenwärt 1920
Oktober
Gramm SiOg, als auch in Prozenten der Einnahme
angegeben.
Um die individuellen Verschiedenheiten der
SiOg-Ausscheidung durch den Harn auszuschließen,
wurden auch bei den gleichen Personen die ver¬
schiedenen Präparate verabreicht. Außerdem
wurden bei einigen Versuchen zugleich mit der
Kieselsäure Kalkzulagen gegeben.
Zur Analyse wurden je 300 bis 500 ccm
Harn angewandt. Der Harn wurde in einer
Platinschale verkohlt, die Kohle mit Soda und
Salpeter verbrannt, die Schmelze gelöst, mit
verdünnter Salzsäure zur staubigen Trockne ver¬
dampft und darauf noch zweimal mit Salzsäure
.abgeraucht. 'Nun wurde mit Wasser und Salz¬
säure aufgenommen, die- SiOg abfiltriert,^ aus¬
gewaschen und nach dem Veraschen des Filters
gewogen. Die Asche wurde zweimal mit Flu߬
säure abgeraucht, der geringe Rückstand ermittelt
und von der gewogenen Kieselsäure in Abzug
gebracht. Die Analysen zeigten gute Überein¬
stimmung.
Um die Ausscheidung der SiOg im Harn bei der
heutigen Ernährung festzulegen, wurden die Misch-
'harne eines Tages von fünf verschiedenen Personen
untersucht. Es ergaben dieselben Werte von
0,0184 g bis 0,0253 g SiOg pro Liter Harn und
zwar bei: Person I 0,0184 g SiOg, bei Person II
0,0203 g SiOg, bei Person III 0,0253 g SiOg, bei
Person IV 0,0180 g SiOg, und bei Person V
0,0190 g SiOg im Liter, d. i. eine Tagesmenge von
etwa 0,03 bis 0,06 g SiOg. Schulz sowohl, wie
Salkowsky geben als Tagesausscheidung 0,1 g
SiOg an. Solch hohe Werte sind bei den vor¬
liegenden Untersuchungen nie gefunden worden,
sondern als Maximum 0,0630 g, als Minimum
0,0153 g SiOg pro Tag beziehungsweise 0,0280 g
und 0,0086 g SiOg pro Liter Harn. Die starken
Schwankungen sind wahrscheinlich durch die
Nahrung bedingt.
Bei den Versuchen 1 bis 4 Tabelle I
wurde ein Aufguß von kieselsäurehaltigen
Kräutern verabreicht. Der von Kob ert
und Kühn in die Heilkunde eingeführte
Kieselsäuretee aus Herba Equiseti, Poly¬
gon! und Galeopsidis ergab nach Vor-
schrift^) hergestellt einen SiOg-Gehalt von
0,0489%. An den Versuchstagen wurden
410 ccm des Aufgusses = 0,2 g SiOg ver¬
abreicht. Tabelle I gibt die gefundenen
Werte an.
und zwar wurden von Person I 38,4%
der Einnahme, von Person II 39,1% aus¬
geschieden. I schied am Tage vor dem
Wsuche 0,0147 g SiOg aus, die wohl aus
der Nahrung stammt. Am Tage des Ver¬
suches mußte doch auch eine Ausschei¬
dung von Nahrungskieselsäure im Harn
erfolgen; diese Menge, aus dem SIO 2 ’
Gehalt des Harns vom Vortage unter
Zugrundelegung der Harnmenge des Ver-
^suchstages zu berechnen, dürfte, wie oben
erwähnt, einigermaßen der Wirklichkeit
entsprechen. Der Abzug der auf diese
Weise berechneten SiOg-Menge, als eine
nicht der SiOg-Eingabe entstammende
Ausscheidung erscheint um so mehr an¬
gebracht, als am Tage nach dem Ver¬
such eine nahezu gleiche Menge SiOg
— bezogen auf die Harnmenge — aus¬
geschieden wurde, und als auch ohne
SiOg-Eingabe bei größeren Harnmengen
meist eine höhere SiOg-Ausscheidung ge¬
funden wurde. Da die Gleichmäßigkeit
des Kieselsäuregehaltes des Harns in
einer Anzahl von. Fällen bei der gleichen
Person innerhalb der kurzen Versuchs¬
zeit festgestellt wurde, glaube ich mich
berechtigt, diese Art der Berechnung
allgemein durchzuführen, zumal der Zweck
der Untersuchung in einem Vergleiche
der Ergebnisse liegt.
Die Personen I und 11 schieden im
Versuch 1 und 2 innerhalb 24 Stunden
nahezu gleiche Mengen SiOg in der , er¬
wähnten Weise als Prozente der Einnahme
berechnet 38,7 beziehungsweise 39,1%
aus. Am Tage darauf erhielt Person II
Versuch 3 außer 0,2 g SiOg noch 0,2 g CaO
in Form von Tricalcol (kolloidales Tri-
calcium - Phosphat- Eiweiß). Die Aus¬
scheidung fiel darauf auf etwa zwei Drittel
des Wertes ohne Kalkzulagc, beziehungs¬
weise auf 21,6% der Einnahme. Am
Tabelle I. Kieselsäuretee.
Vers.
Per¬
Eingabe
Harn
Harn
Harn
Ausgeschiedene SiOg
nach Abzug des am Vortage
festgestellten SiOg-Gehaltes
son
am Vortage
am
1 . Tage
am 2. Tage
aes tiarns
Summe
in 0/0 der
Eingabe
Nr.
Nr.
g
ccm
1 . g SiO,
ccm ]
g SiOo
ccm
g SiO„
l.Tag
g SiOa
2. Tag
g SiOa
1
I
0,2 SiOo
1300^
0,0147
1760
0,0973
1650
0,0176
0,0774
-0,0011
38,7
2
II
0,2 SiOa
2200 !
0,0220
2500
0,1033
—
—
0,0783
39,1
. 3
II
/0,2 SiOo
\0,2 CaO“
2200
0,0220
2600
0,0693
_
—
0,0433
—
21,6
4
II
0,2 CaO
2200
0,0220
2100
0,0189
2300
0,0240 .
-0,0021
0,0010
■ 0
Die Zahlen der Tabelle I zeigen, daß
die Ausscheidung der SiOg, die als Kiesel¬
säuretee =: 0,2 g SiOg eingegeben wurde,
im Harn innerhalb 24 Stunden erfolgt
8) Th’er. Mh. 1919, H. 6, S. 207.
nächsten Tage wurde keine SiOg, sondern
nur 0,2 g CaO als Tricalcol verabreicht
(Versuch 4) und fiel dabei der Wert noch
unter den Wert am Tage vor dem Ver¬
such, um tags darauf ohne Eingabe
' ^ \ . Die Therapie der Gegenwart 1920 ; 347
wieder nahezu auf den Wert am Vortage
/-des Versu'chs^ zu steigen. Der Einfluß
•der Kalkgabe auf die giOg-Ausscheiduhg
ist auffällig; dieses Absinken der Menge
der Harnkieselsäure infolge einer Kalk-
gaße findet sich auch bei späteren Ver-
' suchen.
CaO nicht so stark zum Ausdruck wie bei
Versuch 3 der Tabelle' I.
Die Ursache der größeren Ausschei¬
dung der SiOa im Harn bei Verabreichung
frischer kolloidaler SiOg-Lösung läßt sich
vielleicht durch die geringere Teilchen¬
größe des Kolloids erklären.
Tabelle II. Kolloidale SiOg-Lösung.
'
■■
Harn
Vers.
Per-
Eingabe
Harn
‘ Harn
son
-am Vortage
am
1. Tagg
am 2. Tage
'
aes i-iarns
l.Tag
2. Tag
Summe
in Vo der
Nr.
Nr.
g
ccm
g SiO^
ccm
g SiO„
ccm ‘
g SiOa
g SiO^
g SiOa
Eingabe
5
II
0,2 SiOa
2800
0,0467
2410
0,1681
2100
0,0392
0,1193
-0,0034
59,6
6
I
0,2 SiOg
1300
0,0347
1950
0,1872
1250
0,0375
0,1352
0,0042
.69,7
7
II
/0,2 SiOa
\0,2 CaO
2100.
0,0390
2300
0,1460
2450
0,0380
0,1033
-0,0065
51,6
Bei den Versuchen 5 bis 7 Tabelle II
wurde eine frisch hergestellte kolloidale
Kieselsäurelösung aus kristallisiertem Na¬
triumsilicat. und Salzsäure bereitet, als
Lösung == 0,2 g SiOa verab¬
reicht.
Die Person II Versuch 5 schied am
Tabelle III. SiO.,-Aiiiylodextrin.
1
1
1 ■
■ 1
r
1
1
Ausgeschiedene SiOa nach Abzug
Vers.
Per-
Eingabe
Harn
Harn
Harn
Harn
des am Vortage festgestellten
SiOa-Gehaltes des Harns
son
am Vortage
am 1
. Tage
am 2. Tage
am 3. Tage
Summe
l.Tag
2. Tag
3. Tag
in ®/d
Nr.
Nr.
g
ccm 1
gSiOa
ccm !
g SiOa
ccm
g SiO^
ccm
1 g SiO,
g SiOa
g SiOa
g SiOa
der Ein¬
gabe
8
I
0,2 SiO,
1700
0,0323
1850
0,0468
1300
0,0433
0,0117
0,0186
_
15,1
9
II
0,2 SiOg
1900
0,0355
1900
0,0570
2000
0,0493
—
—
0,0215
0;0119
—
16,6
10'
IV
0,2 SiOg
1400
0,0252
1500
0,0550
1450
0,0589
1200
0,0340
0,0280
0,0328
0,0124
36,6
Die Tabelle III zeigt die Ausscheidung
der SiOg im Harn nach Eingabe von
fester kolloidaler SiOg, die mit Amylo¬
dextrin als Schutzkolloid hergestellt
wurde. Die Substanz enthielt etwa 10% '
SiOo; die verabreichte Menge entsprach
0,2 g SiO..
Versuchstage 0,1681 g SiOg im Harn a.us,
nach Abzug der aus dem Vortage be¬
rechneten Si02 ergab sich eine Ausschei-
•dung von 59,6% der Einnahme. I schied
in Versuch 6 am Versuchstage nach Ab¬
zug des ungerechneten SiOg-Wertes des
Vortages 0,1352 g SiOg. aus, am Tage
darauf 0,0042 g, das heißt also 67,6%
■der Einnahme an SiOg am Versuchstage.
Am Vortage schied Person I 0,0347 g,
also nur etw^as weniger als am zweiten
Versuchstage aus; auch hier findet sich
die Übereinstimmung der SiOa-Werte vor
und nach dem Versuch.
Die Ausscheidung der frisch be¬
reiteten, kolloidalen SiOg-Lösung erfolgt
in 24 Stunden und zwar in wesentlich
höherem Grade, (zwischen 60 bis 70% der
SiOg-Eingabe,) als nach Darreichung des
Kieselsäuretees in Tabelle 1. Die gleich¬
zeitige Verabreichung von CaClg = 0,2 g
CaO in Versuch 7 ergibt etwas geringere
Ausscheidungswerte = 51,6% der Ein¬
nahme. Hier kommt die Wirkung des
Tabelle III zeigt, daß die SiOg-Aus-
scheidung bei Verwendung des festen
kolloidalen SiOg-Amylodextrins sich über
mehrere Tage hinzieht.* Die Ausscheidung
der SiOg am ersten Tage der Einnahme
ist geringer, als bei den Versuchen mit
kolloidaler SiOg-Lösung und Kieselsäure¬
tee nach Tabelle II und I. Nach Ver¬
such 10, Person IV erscheint jedoch die
Ausscheidung innerhalb von drei Tagen
nahezu die gleiche zu sein wie bei Ver¬
abreichung von Kieselsäuretee. Die
hohen Ausscheidungswerte bei Darrei¬
chung kolloidaler SiOg-Lösung (Tabelle I)
werden hier nicht erreicht.
Die gefundenen Werte zeigen, daß die
Ausscheidung der SiOg und vielleicht
auch die Resorption derselben eine lang¬
samere ist. In Versuch 10 zeigt Person IV
höhere Ausscheidungswerte = 36,6% der
Eingabe als die Personen I in Versuch 8
= 15,1% der Eingabe und II in Versuch 9
= 16,6% der Eingabe, wobei allerdings
hervorgehoben werden muß, daß bei Ver-
44*
348 _ j 1 _ ' Die Iftierapie der GegeiiwM / ‘ ^
such 8 und 9 der Harn des dritten Ver-,
suchstages nicht untersucht wurde.
Das wesentliche ufid bei den drei Ver¬
suchspersonen vorhandene Merkmal für
das Verhalten des SiOg-Amylodextrin im
Körper, ist die verlangsamte, sich über
zwei bis drei Tage erstreckende Aus¬
scheidung der SiOg durch den Harn.
Zur weiteren Aufklärung des Ver¬
haltens kolloidaler SiOg in fester Form
wurde Kieselsäure-Casein mit ca. 10%
SiOg-Gehalt zu den in Tabelle IV auf¬
geführten Versuchen benutzt. Das Kiesel¬
säure-Casein wurde aus gereinigtem kalk¬
freien Casein hergestellt; es löste sich
in 0,5%iger Sodalösung vollständig mit
geringer Opalescenz. Bei künstlicher Ver¬
dauung mit Pepsinsalzsäure geht das
Präparat teilweise in Lösung; nach der
Verdauung ist durch Zusatz von Soda-
lösung bis zur Konzentration von 0,5%
der ungelöste Niederschlag bei Körper¬
temperatur nicht mehr löslich. Während
bei künstlicher Verdauung offenbar ein
^chwerlösliches Produkt entsteht, scheint
im Organismus das Präparat keine der¬
artige Zersetzung zu erfahren, sondern
nach den Werten der Tabelle IV gut
resorbiert zu werden.
niedriger als diejenigen nach kollpi-
daler SiOg-Lösuhg. Der Unterschied
gegenüber dem SiOg-Amylodextrin (Ta¬
belle 111) zeigt sich darin, daß bei letzterem
die Ausscheidung verzögert ist, während
sie beim Kieselsäure-Casein innerhalb
24 Stunden abläuft. Versuch 13 (Per¬
son III) zeigt im Vergleich mit dem
anderen Versuchen dieser Reihe einen
wesentlich niedrigeren Wert 15,2% der
Eingabe, gegen 27,5% bei Versuch 11
und 25% der Eingabe bei Versuch 12,
ohne daß dafür eine Ursache angegeben
werden kann. Bei den Versuchen 14
(Person III), 15 (Person II) und 16 (Per¬
son I) wurde gleichzeitig mit der SiOg.,
eine Kafkzulage verabreicht. Auch hier
sieht man wieder den verringernden Ein¬
fluß des Kalkes auf die SiOg-Ausscheidung.
Bei Versuch 15 (Person II) entspricht
einer geringeren Kalkzulage auch eine
weniger verminderte SiOg-Ausscheidung,^
während in Versuch 15 bei 0,1 g CaO
13,2% der Eingabe SiOg im Harn er¬
scheint, findet sich bei Versuch 14 und Ib
bei 0,2 g CaO nur 2,5 beziehungsweise
2,4% SiOg im Harn. Es ist dabei gleich¬
gültig, ob die Kalkzulage als Chlorcalcium
oder als Tricalcol gegeben wird.
Tabelle IV. SiOg-Casein.
Per¬
son
Harn
1. Tage
Ausgeschiedene SiO,
nach Abzug des am Vortage
Vers.
Eingabe
warn
am Vortage
am
riarn
am 2. Tage
festgestellten SiOa-Gehaltes
des Harns
l.Tag
2. Tag
j Summe
in ®/o der
Eingabe
Nr.
Nr.
g
ccm
g SiOa
ccm
g Sio.
ccm
g SiOo
g SiOo
g SiOa
11
III
0,2 SiOa
1000
0,0253
1130
0,0836
0,0550
27,5
12
III
0,2 SiO,
2300
0,0512
2225
0,0997
2250
0,0502
0,0501
0,0001
25,0
13
III
0,2SiO2
2180
0,0579
2160
0,0883
—
—
0,0304
_
! 15,2
14
III
/0,2 SiOä
\0,2 CaO
2200
0,0528
2370
0,0578
—
—
0,0050
2,5
15
'II
/0,2 SiOa
\0,1 CaO
1990
0,0557
1970
0,0824
2020
0,0548
0,0267
-0,0018
13,3
16
I
/0,2 SiOa
\0,2 CaO
1750
0,0490
1700
0,0490
1720
0,0516
0,0014
0,0035
2,4
Die Werte zeigen, daß in 24 Stunden
die Ausscheidung der SiOg beendet ist.
In zwei Versuchen 11 und 12 (Person IV)
wurde der Harn der ersten 15 Stunden
und der folgenden 9 Stunden auch ge¬
trennt analysiert; es ergab sich, daß
schon in dem Harn der ersten 15 Stunden
etwa drei Viertel bis vier Fünftel der in
24 Stunden ausgeschiedenen SiOg-Menge
enthalten ist. Am zweiten Versuchstage
war keine größere Ausscheidung von
SiOg als am Vortage vorhanden. Die
SiOg-Werte selbst sind niedriger als
die Ausscheidungswerte nach Eingabe
von Kieselsäuretee und wesentlich
Es erschien nicht ausgeschlossen, dab
das oben beschriebene Verhalten des
SiOg-Caseins bei der künstlichen Ver¬
dauung in bestimmten Fällen von un¬
günstigem Einfluß auf die Resorbierbar¬
keit des Präparates im Organismus ist.
Deshalb wurde ein gegen die Verdauung
resistentes, im Darm aber lösliches Kiesel¬
säure - Casein - Metaphosphat hergestellt
und zum Vergleiche herangezogen. Das
Produkt hat einen Gehalt von etwa 10%
SiOg und 3,5% PgOg. Es geht bei zwei¬
stündiger Verdauung mit Pepsinsalzsäure
aus diesem Präparat keine SiOg in Lösung;,
auch bleibt das Präparat nach der Ver-
. Oktober
Die Therapie der- Gegenwart 1920
__
f
dauung mit Pepsinsalzsäure in 0,5%iger
Sodalösung löslich.
Die Ausscheidung der SiOg dieses
Präparates verteilt sich auf mehrere Tage;
Tabelle V gibt die Ausscheidungszahlen
der SiOg im Harn an.
gehen, daß trotz SiOa’^^u^uhr am Ver¬
suchstage Versuch 21 (Person II)- nie¬
drigere Werte = 0,0560 g Si02 als am
Vortage des Versuchstages = 0,0630 g
SiOg erhalten werden. Wird Kalk ge¬
geben und keine Si02 Versuch 26 (Per-
Tabelle V. Si02-Casein-Metaphosphat.
...
[' ■
1
1
1
1
1
1
1 Ausgeschiedene SiOg nach .
Abzug
Vers.
Per-
Eingabe
Harn
Harn
Harn
Harn
des am Vortage festgestellten
SiOg-Gehaltes des Harns
son
am Vortage
am
1. Tage
am :
2. Tage
am 3
!. Tage
2. Tag
3. Tag
Summe
l.Tag
in 7.
Nr.
Nr.
g
ccm
1 g SiOg
ccm
gSiOg
ccm
1 g SiO.
ccm
i g SiO.
gSiOg
gSiOg
g SiO*
der Ein¬
gabe
It'
J7
0,2 SiOg
2000
0,0400
2100
0,0812
2000
0,0460
■1200
0,0280
0,0392
0,0060
0,0040
24,6
18
0,2 SiOa
1800
0,0154
1700
0,0874
1650
0,0353
1400
0,0168
0,0728
0,0111
0,0048
44,3
19
I
0,2 SiOa
1400
0,0140
1200
0,0448
1250
0,0342
1300
0,0182
0,0330
0,0217
0,0052
29,9.
20
II
0,2 SiO,
2100
0,0457
2285
0,0973
2050
0,0653
—
—
0,0488
0,0217
—
35,2
21
II
/0,2 SiOo
\0,2 CaO“
2550
0,0630
2670
0,0560
—
—
' —
~
-0,0187
_ j
1
—
—9,3
22
II
0,2'SiO2
1780
0,0356
1875
0,0666
—
—
—
—
0,0291
—
14,5
23
II
0,2 SiOa
2050
0,0340
2100
0,0700
1950
0,0403
2200
0,0198
0,0350
0,0078!
-0,0168
21,4
24
II
0,2 SiO.,
2200
0,0198
2250
0,0525
2350
0,0376
2000
0,0233
0,0323
0,0165!
0,0053
26,9
25
II
/0,2 SiO^
\0,2 CaO
2000
0,0233
2500
0,0317
—
—
1
-
t),0025
—
j
1,2.
26
II
0,2 CaO
2500
0,0317
2500
0,0217
— -
—
—
—
-0,0100
—
1
—5,0
27
II
0,2 SiOs
2500
0,0217
2300
0,0383
—
—
—
—
0,0183
—
- j
9,1
28
II
0,2 SiOj
2300
10,0383
2750
0,0917
—
—
—
—
0,0461
—
_ 1
23,0
Die Versuche 17, 18 und 19 (Person I)
und 20 (Person II) zeigen, daß innerhalb
dreier Tage ca. 25 bis 45% der Einnahme
an Si02 im Harn ausgeschieden werden.
Die Ausscheidung ist meist am ersten
Tage am größten und sinkt an jedem
Tage weiter; am' vierten Tage konnte
-eine Mehrausscheidung gegenüber dem
Tage vor dem Versuch nicht mehr fest¬
gestellt werden. Daß die Ausscheidung
der SiOg im Harn so langsam vor sich
geht, kann mit verzögerter Resorption
des Präparates oder mit einer langsamen
Aufspaltung desselben zusammen hängen.
Der Unterschied in den SiOg-Werten
am Tage vor dem Versuche bei Person I,
Versuch 17 und 18, 0,040 g beziehungs¬
weise 0,0154 g SiOg erklärt sich aus dem
zeitlichen Auseinanderliegen (vier Mo¬
nate) beider Versuche. Versuch 19 (Per¬
son I) zeigt wieder ähnliche Anfangs¬
werte = 0,0140 g SiOg wie 18; diese
Versuche folgen aber auch aufeinander.
Auffällig ist, daß bei Versuch 23
(Person II) am dritten Tage der Aus¬
scheidungswert unter den des Vortages
absinkt; vielleicht liegt in einem un¬
bekannten Nahrungseinfluß die Ursache
für diesen niedrigen Si02-Wert. Auch bei
‘ diesem Präparat zeigt sich, daß eine
Kalkzulage herabdrückend auf die SiOg-
Ausscheidung durch den Harn wirkt;
die Art der Kalkzulage (Chlorcalcium
oder Tricalcol) ist ohne Einfluß. Diese
Wirkung des Kalkes vermag soweit zu
son II), so sinkt die Harnkieselsäure
unter den Wert vom Vortage und zwar
von 0,0317 g Si02 auf 0,0217 g SiOg. Ob
diese Abhängigkeit der SiOg-Ausscheidung
im Harn durch Kalkgaben durch eine
vermehrte Si02 Ausscheidung in den
Dickdarm veranlaßt ist, ob ein Un¬
löslichwerden der SiOa infolge Bildung
unlöslicher Kalksilicate eintritt und da¬
durch die SiOg nicht resorbiert wird, oder
ob eine wenigstens teilweise Retention im
Organismus dabei eine Rolle spielt, läßt
sich durch Versuche an Menschen nicht
entscheiden. Aufklärung können hier
Versuche am Vella-Fistel-Tier geben, die
ich mir Vorbehalten möchte. — Jeden¬
falls zeigen die Zahlen der Tabelle V,
daß eine einmalige Gabe des Si02-Casein-
Phosphates eine über drei Tage sich er¬
streckende Si02-Ausscheidung im Harn
veranlaßt, das heißt, daß die Kieselsäure
einer Dosis von 0,2 g SiOg drei Tage im
Körper kreist. Dies ist gegenüber den
anderen untersuchten SiOg-Präparaten,
dem Kieselsäuretee, der kolloidalen Si02-
Lösung und dem Si02“Casein ein Vorteils
Die verzögerte Ausscheidung hat da-
Si02-Casein-Phosphat mit dem SiOg.
Amylodextrin gemeinsam. Ersteres ist
diesem jedoch dadurch überlegen, daß es
im Magensaft unlöslich ist, daher den
Magen nicht alteriert und unverändert
an die Stelle der Resorption, den Darm¬
kanal gelangt. Da es sich bei der SiOg-
Therapie um eine monate-, ja möglichst
350
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1920
jahrelange Darreichung handelt, fällt
dieser Vorteil noch mehr ins Gewischt.
Zusammenfassung: Die Ausschei¬
dungswerte der SiOg im Harn lassen einen
vergleichsweisen Schluß auf die Resorbier¬
barkeit der angewandten SiOg zu.
Frische kolloidale SiOa-Lösung er¬
scheint am schnellsten und zum größten
Teil im Harn, während der therapeutisch
verwendete Kieselsäuretee geringere Aus¬
scheidungswerte, etwa die Hälfte als die
frische kolloidale SiO-g-Lösung zeigt.
Feste kolloidale SiOa-Präparate in
Form von SiOa-Casein, SiOa-Amylo¬
dextrin oder SiOa-Casein-Metaphosphat
zeigen ähnliche Ausscheidungswerte für
den Harn, wie der Kieselsäuretee. Da¬
gegen ist bezüglich der Ausscheidungs¬
dauer ein Unterschied zwischen denselben.
Die SiOa des Kieselsäuretees und SiOa-
Caseins wird in 24 Stuncien im Harn aus¬
geschieden, während die SiOa-Ausschei-^
düng nach SiOa-Amylodextrin und SiQa“
Casein-Metaphosphat sich über drei Tage
erstreckt.
Das SiOa-Casein-Metaphosphat®) hat
außerdem den Vorteil, den Magen nicht
zu reizen und unverändert in den Darm
zu gelangen, was bei einer langwährendea
Darreichung wichtig ist.
Eine gleichzeitige Kalkgabe setzt die.
$iOa-Ausscheidung im^ Harn bei allen
untersuchten SiOa-Zubereitungen herab;
sie vermindert auch die Kieselsäuremenge
im Harn, die aus unserer Nahrung
stammt. Die Ursache dieses Einflusses
sollen Versuche am Tiere mit Vellafistel
aufklären.
Das Präparat hat sich auch' bei der klini¬
schen und pharmakologischen Prüfung bewährt
und wird unter dem Namen „Silicol‘‘ vom Lecin-
werk, Dr. E. Laves (Hannover), hergestellt.
M. m. W. 1920, H. 9.
Cretinenbehandlung und Rassenhygiene.
Von Dr. Fmkbeiner, prakt. Arzt, Zuzwi! (Schweiz).
Bevor wir an die Behandlung des
Cretinismus und der Cretinen heran¬
treten, müssen wir uns über Begriff und
Wesen dieser Entartungsform des euro¬
päischen Menschen einigen. Daß die
Cretinen Degenerierte sind, wird wohl
von niemand bezweifelt. Aber während
die einen als Ursache der cretinischen
Entwicklungsstörung miasmatisch-tellu-
rische Einflüsse annehmen, so sehen
andere darin lediglich eine Form der Hypo¬
thyreose (oder gar bloß Jodmangel) und
für Dritte handelt es sich einfach um
eine chronische Infektionskrankheit. Es
läßt sich für jede dieser Theorien ein
gewisses Tatsachenmaterial als Beweis
und Stütze beibringen, aber keine ver¬
mag einer strengen Kritik stand zu halten
oder alle Symptome restlos und befriedi¬
gend zu erklären. Es ist hier auf diese
Verhältnisse nicht weiter einzutreten,
sondern bloß hervorzuheben, daß so¬
wohl die Verbreitungsweise wie das anato¬
mische Verhalten mit aller Entschieden¬
heit den Gedanken an eine rasseniuäßige
Entartung nahelegen. Bezüglich Ver¬
breitung des Cretinismus erinnere ich
daran, daß derselbe fast ausschließlich
in kleinen Ortschaften vorkommt, da¬
selbst die Bürger vor den Frem.den auf¬
fallend bevorzugt und ein nahezu kon¬
stantes Geschlechtsverhältnis von zirka
54 Männern auf 46 Weiber aufweist.
I n Endemiegegenden finden wir die Vari¬
ationsbreite der Bürger bezüglich Körper¬
größe, Intelligenz, Ossifikationszustand
und vielleicht auch noch in anderen Ver¬
gleichspunkten (Schilddrüsenfunktion,
Magenchemismus usw.) auffallend groß,
das heißt, wir finden abnorm viel Plus-
wie auch abnorm viel Minusvarianten
und beides in höheren Ausbildungsgraden;
häufig ist. allerdings (durch selektive
Vorgänge?) die Gruppe der Plusvarianten
im Laufe der Zeit stark .zusammenge¬
schmolzen. Was ferner das anatomische
Verhalten der Cretinen anbelangt, so
bieten dieselben (und das scheint mir für
die Theorie sehr wichtig!) in ihrer äußeren-
Erscheinung, in ihrer Osteologie und in
ihrer bisher kaum beachteten Ergologie
so gehäufte Primitivmerkmale und An¬
klänge an kleinwüchsige fossile und
exotische Naturvölker, daß auch thera¬
peutische Bestrebungen davon unbedingt
Notiz nehmen müssen. Mag bei Annahme
einer rassenhaft-degenerativen Ätiologie
die Behandlung im ärztlichen Sinne zu¬
nächst als aussichtslos erscheinen, so darf
ein solches Bedenken nicht ins Gewicht
fallen; denn eine zutreffende Vorstellung
über das Wesen der cretinischen Entartung
vermag uns (und unsere Klienten!) doch
wenigstens vor zwecklosen oder gar
schädlichen Heilbestrebungen zu be¬
wahren. Und ich hoffe allerdings zeigen
zu können, daß wenigstens in der Theorie
auch bei Annahme einer Ätiologie im
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1920
351
Sinne vorstehender Andeutungen eine
rationelle Cretinenbehandlung und Pro¬
phylaxe recht wohl möglich erscheint;
ob dieselbe nötig oder auch nur wtinsch-
bar sei, das ist freilich wieder eine andere
Frage.
Die Aufgabe der Therapie ist
beim Cretinismus (wie immer in der Medi¬
zin) eine doppelte: einmal sollen die vor¬
handenen Cretinen in normale Individuen
umgewandelt, also „geheilt“ werden, und
zum anderen gilt es, die Entstehung neuer
Fälle zu verhüten. Die Mittel zur Er¬
reichung dieser beiden Ziele müssen ganz
verschieden sein je nach der Ansicht, die
wir uns vom Wesen der Entartung gebildet
haben; und wenn irgendwo, so könnte
hier ,,ex juvantibus“ auf die Natur der
Endemie geschlossen werden. Auch unter
diesem Gesichtspunkt bietet eine Betrach¬
tung dessen, was bisher in der Cretinen-
therapie versucht und dessen, was dabei
erreicht wurde, ein besonderes Interesse.
A. Behandlung der cretinischen
Individuen.
Die Infektionstlieorie müßte, wenn
sie richtig wäre, uns ein specifisches Mittel
zur Bekämpfung der Endemie (wie auch
zu prophylaktischer Verwendung) an die
Hand geben. In Wirklichkeit verlautet
davon aber bis heute kein Sterbens¬
wörtchen i). Durch Hekatomben von Ver¬
suchstieren hat man nachgerade heraus¬
gebrächt, wie man es anstellen muß,
um Ratten kropfig zu machen; diese
Versuche haben aber kaum für die
Kropfbehandlung positive Anhaltspunkte
geliefert und für die Cretinentherapie
sind sie so gut wie wertlos.
Eine Zeitlang schien es, als ob die
Boden- und Trinkwassertheorie einer
therapeutischen Anwendung fähig wäre.
,,Änderung der Wasserleitung! Jura¬
wasser, kein Wasser aus marinen Sedi¬
menten!“ so lautete die siegessicher aus¬
gegebene Losung. Die Paradebeispiele
Rupperswil, Asp und Densbüren
machten die Runde durch die ganze
Literatur, bis im Jahre 1913 die Zürcher
Autoren Dieterle, Hirschfeld und
Klinger ,,hinter dem Rücken“ von
Bircher (wie sich dieser vorwurfsvoll
ausdrückte) eine genaue Nachprüfung
Vornahmen und dabei zu dem unwider¬
leglichen Ergebnis kamen, daß sowohl
die geologischen Verhältnisse wie die
9 Die Vaccine von Mac Garrison ist bis¬
her kaum zur Kropfbehandlung und m. W. noch
nie in der Cretinentherapie verwendet worden.
kropfige Durchseuchung der Bevölkerung
keineswegs den Angaben Birchers ent¬
sprechen.
Und dann kam die Schilddrüsen¬
behandlung, auf die ich, ohne Anspruch
auf Vollständigkeit zu machen, mit
einigen Worten eingehen muß. Ich will
^ bloß den gegenwärtigen Stand der Frage
skizzieren.
a) Behandlung mit Thyreoidin-
tabletten.
Es ist sicher, daß in Fällen von wirk¬
lichem Ausfall der Schilddrüsenfunktion
(bei Myxödem und bei postoperativer
Cachexia strumipriva) durch Schild¬
drüsenmedikation die Ausfallserscheinun¬
gen großenteils beseitigt werden können;
es ist nicht ernsthaft bestritten, daß
eine hypothyreotische Quote auch bei
Cretinen häufig vorhanden ist; — und
es ist daher nicht zu verwundern, daß auch
hier die Tabletten mit einem gewissen
Anfangserfolg gegeben werden, nämlich
so lange, bis die Schilddrüsenstörungen
nachgeholt sind. Es wäre aber falsch, zu
glauben, daß nicht auch ohne Schild¬
drüsenbehandlung der Entwicklungs¬
rückstand später noch einigermaßen aus¬
geglichen werden könne, und es wäre ein
großer Irrtum, zu glauben, daß ein
Cretin nach Verschwinden hypothyreo-
tischer Symptome nun kein Cretin mehr
wäre. Ganz im Gegenteil! Erst nach
Abschluß der Wachstumsperiode und
nach Abklingen der erwähnten Ausfalls¬
erscheinungen treten bei den echten,
wenn ich so sagen darf: rassenhaften
j Cretinen die eigentlich charakteristischen
I Merkmale unverkennbar hervor: die typi¬
sche Haltung, der typische Gang, die
Physiognomie, die Knochenverbiegungen,
die primitive Mentalität, welche nicht
ohne weiteres als Idiotie zu bezeichnen ist,
und so fort.
Es scheint ganz unbekannt zu sein,
' daß auch cretinische Kinder sich ent¬
wickeln und eine richtige Wachstumskurve
j darbieten; man hat kein Recht, jede
Größenzunahme ohne weiteres einer all¬
fälligen Schilddrüsenb ehandlung gutzu¬
schreiben. Wenn Oswald behauptet:
,,Geringste Zunahmen sind aber geeignet,
sowohl dem Patienten2) wie dem Arzt
Vertrauen in die Behandlung einzuflößen
und beide aufzumuntern....“, so ist zur
") Wohl eher unkritischen Angehörigen als
dem Patienten selbst; dem Cretin ist es doch
ganz einerlei, wie groß er ist! (Schweiz. Corr. Blatt
1914, S. 15, 1345).
352
Die Therapie der Gegenwart 1920
Oktober
Entschuldigung dieses Standpunkts nur
anzuführen, daß der Autor Erfinder eines
Schilddrüsenpräparats ist
Schilddrüsenbehandlung großen Stils
und mk gutem Erfolg scheint zuerst in
Nordamerika geübt worden zu sein
(Literatur vgl. Scholz S. 468), ob aber
wirklich an echten Cretinen und nicht
vielmehr an Hypothyreosen und Myx¬
ödemfällen? Denn ob in den Vereinigten
Staaten endemischer Cretinismus über¬
haupt vorkommt, ist durchaus nicht
sicher. Die Versuche wurden dann auf
Veranlassung von Wagner und von
Kutschera in verschiedenen öster¬
reichischen Kronländern während ge¬
nügend langer Zeit auf Staatskosten
in großem Umfange durchgeführt und
nach einigen allzu hoffnungsfroh be¬
grüßten Anfangserfolgen in aller Stille
wieder auf gegeben, und zwar schon vor
deni Kriege. Nach Taussig (S. 154)
handelt es sich bei diesen Erfolgen ledig¬
lich um Selbsttäuschungen der betreffen¬
den Forscher; und Scholz hebt hervor,
wie gleichgültig, ja geradezu feindselig
die Bevölkerung sich gegen die Tabletten¬
behandlung verhielt Die Kinderwuchsen,
hörten und lernten vielleicht etwas besser,
blieben aber Cretinen wie zuvor. Es
konnte ja gar nicht anders sein. Die
Schilddrüse ist nicht das einzige Organ,
dessen Funktion bei Cretinismus leidet;
wie bei Basedow, so ist auch hier noch
an andere innersekretorische Drüsen zu
denken: Thymus, Keimdrüse, vielleicht
(sogar wahrscheinlich) Hypophyse und so
fort. Man könnte eine „polyvalente
Organtherapie“ versuchen, aber auch so
dürfte eine schlechte Erbanlage nicht
zu korrigieren sein. Was nützt es
schließlich, wenn es gelingt, einen Cretin
zum Wachsen zu bringen? Er braucht
mehr Tuch zur Kleidung und ein größeres
Nahrungsquantum, ohne daß seine
Leistungen wesentlich andere oder bessere
würden. Lohnt solcher Erfolg auch nur
die mindeste Bemühung? Und noch
eins! Bedenken wir die Gefahren der
Organtherapie und die nicht so seltenen
Todesfälle, die ihr nach Scholz zur Last
zu legen sind, so gestaltet sich die Bilanz
immer ungünstiger.
Man kann also heute sagen: zeigen
sich bei einem Cretin deutliche Anzeichen
von Schilddrüseninsuffizienz, so mag man
immerhin einen Versuch machen mit der
Thyreoidinbehandlung. Man soll aber
nicht erwarten, dadurch eine wirkliche
und bleibende Heilung zu erzielen.
b) Schilddrüsenimplantation.
Schon ziemlich früh (Kocher 1892,
Kummer 1896, Christiani 1901; alle
zitiert nach Scholz S. 496) versuchten
schweizerische Chirurgen statt der sonst
üblichen Verabfolgung per os die Schild¬
drüse direkt in den Körper von Cretinen
zu überpflanzen. Auf dem Chirurgen¬
kongreß 1914 inWiesbaden hatTh. Kocher
ausführlich über Technik und Erfolge
dieser Behandlungsmethode berichtet.
Seine Ausführungen, über welche diese
Zeitschrift (1914 S. 232) ausführlich refe¬
riert hat, sind in mehr als einer Hinsicht
von großem Interesse. Es handelte sich
danach um homöoplastische Implan¬
tation von Schilddrüsengewebe (am
besten von Basedow-Schilddrüsen!) in
Milz, Knochenmark, Thymuskapsel oder
Peritoneum; am besten gelang die Über¬
pflanzung bei jungen, blutsverwandten
und gleichgeschlechtlichen Tieren, und
es erwies sich als nützlich, die ,, Immuni¬
tät“ des Wirtsorganismus durch vor¬
gängige Thyreoidinbehandlung (per os)
abzuschwächen und die „Virulenz“ des
Transplantates zu steigern; zu diesem
Zwecke wurde die zu transplantierende
Schilddrüse durch Jodmedikation vor¬
erst aktiviert. Es handelte sich also um
eine sehr ingeniöse, aber nichts weniger
als einfache .Methode, die schon darum
einer Anwendung im großen zur. Aus¬
rottung der Endemie wohl kaum fähig
ist. Die Tablettenbehandlung, welche
daneben fortgeführt wurde (oder werden
mußte?), scheint nach der Implantation
besser gewirkt zu haben, indem man mit
geringeren Mengen auskam. Wesentlich
scheint mir aber das Geständnis, daß die
besten Resultate bei Myxödem und
Cachexia strumipriva beobachtet wurden,
während Cretine und Cretinoide sich
meistens refraktär verhielten, — also
genau wie bei der Tablettenbehandlung.
Es ist eben bei Cretinen, wie Kocher
ausführt, die Blutbeschaffenheit chemisch
von derjenigen normaler Menschen so
different, daß die Transplantation nicht
mehr homöo- sondern heteroplastisch
wirkt. Eine Zwischenfrage: Wie weit
ist es denn von der Konstatierung dieses
wichtigen prinzipiellen Unterschiedes zwi¬
schen Cretinen und normalen Menschen
bis zur Annahme einer rassenmäßigen
Differenz? Und nicht nur vom normalen
Menschen unterscheiden sich die Cre¬
tinen, sondern eben so sehr vom Myx¬
ödem. — Aus der anschließenden Dis¬
kussion sei bloß das Votum des gerade
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1920
353
auf diesem Gebiete sehr erfahrenen Herrn
Payr hervorgehoben; er war der Ansicht:
wenn die interne Medikation keinen Er¬
folg- brachte, so hilft auch die Operation
nicht viel, und er fragte sich, ob es nicht
angezeigt wäre, zu gleicher Zeit noch
andere Drüsen zu implantieren. Das
wäre also wieder eine Art pluriglandulärer
Organtherapie, wie oben schon ange¬
deutet.
Auf andere mehr oder weniger moderne
Behandlungsvorschläge (Verabfolgung von
NaCl und von alkoholischen Getränken
[!!] nach Allara; Ersatz des Kochsalzes
durch Meersalz nach Taussig) brauche
ich wohl nichl näher einzugehen. In
neuester Zeit wendet man sich bei uns
in der Schweiz speziell der Jodbehand¬
lung zu, auch schon in prophylaktischer
Absicht (Kocher^), Roux^), Hun-
ziker^), Klinger®); ob und welche
Resultate dabei erzielt werden, bleibt
abzuwarten, da sich die Versuche über
viele Jahre erstrecken sollen. Die Thera¬
pie ist allerdings dasjenige Kapitel aus
der Lehre vom Cretinismus, an dem sich
der Wert oder Unwert einer Theorie am
unzweideutigsten erweist und an welchem
leider die meisten Autoren' gescheitert
sind. Im entschuldbaren Bestreben,
immer und überall heilend eingreifen,
das heißt den natürlichen Lauf der Dinge
zum vermeintlichen Vorteil des Menschen
beeinflussen zu wollen, übersieht man
gelegentlich, daß es eben gewisse unheil¬
bare Zustände wirklich gibt.
Unter diesen Umständen wäre es
unbescheiden, ja vermessen, wenn ich
völlige Heiluitg des Cretinismus ver¬
sprechen wollte. Immerhin bedingt die
von mir vertretene Auffassung vom Wesen
der cretinischen Degeneration keineswegs
den Verzicht auf jeden Behandlungsver¬
such; sehen wir von prophylaktischen
Maßnahmen hier noch ab, so bleibt uns
die Anstaltsbehandlung des
Cretinismus
als die zurzeit wirksamste Individual¬
therapie. Sie wird, wie mir scheint, von
ärztlicher Seite entschieden zu .wenig
geschätzt. Hans Jakob Guggenbühl,
einem jungen, vielleicht etwas schwärme¬
risch veranlagten Schweizerarzt, gebührt
das Verdienst, durch seine berühmte
(eine Zeitlang hieß es; berüchtigte) Grün-
3) Schweiz. Korr. Bl. 1917, S. 1655.
4) Ebenda 1918, S. 369.
5) Ebenda 1918, S. 261.
6) Ebenda 1919, S, 575.
düng auf dem Abendberg bei Interlaken
im Jahre 1840 diese Anstaltsbehandlung
inauguriert zu haben. Wenn er vielen
als ein Charlatan galt, so läßt sich dieser
Vorwurf heute nicht mehr aufrecht er¬
halten (vgl. Vortrag von K. Altherr auf
der Vri. Konferenz für das Idiotenwesen
in Altdorf, 1909). Ursprünglich wandte
er sich mit seinen Ideen an seine Kollegen
und an die Schweizer Naturforschende
Gesellschaft, fand aber hier nicht die
erwartete nachhaltige Unterstützung. Da
ist es ihm nicht zu verdenken, daß er
im Interesse seiner Pfleglinge später
Hilfe annahm, wo er sie eben fand, nämlich
bei pietistischen Kreisen; unredliche Ab¬
sichten haben ihm sicher fern gelegen.
Seine Idee, cretinische Kinder in An¬
stalten zu vereinigen und hier deren
geringe Fähigkeiten allseitig aufs beste zu
entwickeln, um womöglich brauchbare
Menschen aus ihnen zu erziehen, stieß
vielfach auf Spott und Unverstand —
und ist es heute zur Selbstverständlichkeit
geworden. In den letzten Jahrzehnten
hat sich die Zahl der Anstalten rasch ver¬
mehrt; während anfangs private und
charitative Institute überwogen, werden
neuerdings staatliche Häuser immer
häufiger. Ein Besuch in einer solchen
Anstalt vermag die Überzeugung zu
wecken, daß die Arbeit an diesen Kindern
nicht nutzlos ist, auch wenn keine voll¬
ständige Heilung erzielt werden kann.
Was leistet nun die Anstaltsbehand¬
lung?
Durch Entfernung aus einem unge¬
eigneten Milieu entlastet sie die Familie,
wie auch die Schule von Geschöpfen,
mit denen diese nichts anzufangen weiß,
und den Kindern selbst bietet sie eine
zusagende Umgebung, wo sie nicht ver¬
spottet und nicht (in Anwendung roher
Erziehungsmittel) mißhandelt, dadurch
verschüchtert und vollends unbrauchbar
gemacht werden. Es wird für passende
Ernährung .und wenn nötig für ärztliche
Behandlung gesorgt (daheim stehts da¬
mit oft schlecht genug) und die geistigen
Fähigkeiten, so gering sie sein mögen,
werden entwickelt. Da die Anstalten
in der Regel auf dem Lande gelegen sind,
so ergibt sich von selbst eine Beschäfti¬
gung mit landwirtschaftlichen Arbeiten,
Gartenbau usw., was für die Haushal¬
tungskosten eine fühlbare Entlastung
bedeutet. Eine solche Erziehung könnte
in einer gewöhnlichen Armenanstalt oder
in einem Waisenhaus niemals gleich
zweckmäßig durchgeführt werden, schon
45
354
Die Therapie der Gegenwart^ 1920
Oktober
darum nicht, weil hier den Lehrkräften
Zeit und Erfahrung zur Lösung solcher
Spezialäuf gaben fehlen. Cretinenan-
stalten möchte ich mit Refugien oder
Reservationen vergleichen, worin diese
verkümmerten und manchmal verkom¬
menen letzten Nachkommen einer ehemals
friedlichen Urbevölkerung ein beschau¬
liches und ihren Fähigkeiten angemessenes
Leben führen.
Ein' mächtiges Mittel zur allgemeinen
Kräftigung zurückgebliebener Kinder sei
nicht vergessen; es ist dies ein
intensiver Tiirnbetrieb.
Daß die „edle Turnerei“ auf die Entwick¬
lung unserer Jungmannschaft den wohl¬
tätigsten Einfluß ausübt, das ist altbe¬
kannt; zahlenmäßig nachgewiesen wurde
dieser Einfluß durch E. Mathias, der
im Auftrag des eidgenössischen Turn¬
vereins auf die Landesausstellung hin
(1914) an 600 bis 700 Turnern genaue
Messungen und Wägungen angestellt
hat’). In allen Merkmalen (Körpergröße,
Brustumfang, Arm- und Beinumfang,
Gewicht) standen die Turner gleichaltrigen
Nichtturnern weit voran; die Unter¬
schiede waren mit dem Alter und der
Turnzeit immer stärker ausgesprochen.
Je jünger einer anfängt zu turnen, um
so mehr Nutzen hat er davon; aber auch
bei 20jährigen Jünglingen bleibt die
Wirkung nicht aus. Am meisten be¬
günstigt das Turnen den Brustumfang
(91 cm gegen 85) und das Gewicht (63,1
gegen 58,4 kg) bei Vergleichung 21 jähriger
Menschen.
Die drei bei uns gepflegten Arten
des Turnens verhielten sich nicht ganz
gleich. Die Nationalturner (Ringer,
Schwinger, Steinstoßer) standen schon
mit 16 Jahren über dem Durchschnitt,
verzeigten aber nachher nur relativ ge¬
ringe Zunahmen, Umgekehrt wiesen
die Kunst- (oder Geräte-) turner bei ge¬
ringen Anfangsmaßen gewaltige Zu¬
nahmen auf; beim volkstümlichen
Turnen (Leichtathletik) waren Anfangs¬
werte und Zunahmen vergleichsweise be¬
scheiden. Es scheint also namentlich
das Kunstturnen empfohlen werden zu
sollen. Merkwürdig ist, daß nicht bloß
Arm- uhd Beinumfang, sondern auch
die Körpergröße und das Gewicht günstig i
beeinflußt wurden; es ergab sich, daß
das Winterwachstum, das sonst hinter !
dem Sommerwachstum bekanntlich zu- |
') Arch. Suisse d’Anthropologie 1914.
rücksteht, beim Turnen anhält; auch das
Gewicht nahm im Winter noch zu. —
Nicht zahlenmäßig' nachweisbar ist die
Zunahme der körperlichen Geschicklich¬
keit, des Selbstvertrauens, der Lebens¬
freude, welche das Turnen bewirkt. Es
ist richtig, daß die Turner den Nicht¬
turnern gegenüber ein ausgesuchtes
Menschenmaterial darstellen und daß
leider heute gerade die vom Turnen sich
fernhalten, welche davon den größten
Nutzen erhoffen dürften. Ich verkenne
die Schwierigkeiten keineswegs, welche
speziell bei Degenerierten und Schwach¬
sinnigen der Einführung der Leibes¬
übungen entgegenstehen, und ich gebe
sogar zu, daß bei den höchsten Graden
des Vollcretinismus wahrscheinlich über¬
haupt darauf verzichtet werden muß
(diese letzteren Fälle sind aber sehr selten).
Aber mit der nötigen Geduld können
auch muskelschwache Idioten an die
Turngeräte gebracht werden und in den
Anstalten dürfte es nicht allzu schwer
sein, Eifer und Nachahmungstrieb zu
erwecken^). Wenn (woran ich kaum
zweifle) das Turnen nicht bloß bei Ge¬
sunden, sondern auch bei Entarteten
und bei von der Entartung Gefährdeten
die gleiche Wirkung hervorbringt: um
wie viel, wie unendlich viel steht dann
der Nutzen des Turnens höher, als eine
eventuell durch Thyreoidin erzielte
,,Heir‘wirkung! Beim Thyreoidin eine
Anregung des Knorpelwachstums, beim
Turnen eine Zunahme der Körpergröße,
der Fülle, der Muskelkraft, der gesamten
Lebensenergie! Im großen wurde das
Turnen bisher bei Cretinen nicht ver¬
sucht; es sind mir aber immerhin einzelne
Beispiele bekannt, wo Brüder von echten
Cretinen durch eifriges Turnen sich zu
strammen Burschen entwickelt haben,
obschon auch bei ihnen schon deutliche
Anzeichen der Endemie vorhanden ge¬
wesen waren. Möchte doch überall in
den Anstalten ein Versuch mit plan¬
mäßigem Turnbetrieb gemacht werden.
Die Aufgaben der individuellen Be¬
handlung der Cretinen lassen sich also in
die Worte zusammenfassen:
8) Nachträglich bemerke ich, daß schon
Guggenbühl auf dem Abendberg gymnastische
Übungen mit seinen Cretinen vornahm und
dieselben für unerläßlich erklärte (Seite 93
und 104).
Die Anstaltsbehandlung befürwortet auch
Kutschera vom Standpunkt der Kontakt¬
infektionstherapie aus, nämlich in dem Sinne,
daß durch Internierung in Anstalten die Propa-
I gation der Seuche hintangehalten werde!
Ciktober
Die Therapie der Gegenwart 1920
Vereinigung in ländlichen Spezial-
an§talten;
planmäßige Leibesübungen am Turn¬
gerät;
wenn nötig unterstützende Organ¬
therapie.
3 55
Eine ganze Anzahl der vorstehepd
besprochenen Maßnahmen gehen über die
Individualbehandlung schon hinaus ins Ge¬
biet der Prophylaxe; diesem zweiten Teil
unseres Themas wollen wir uns nunmehr
zuwenden. (Fortsetzung folgt im nächsten Heft.)
Zusammenfassende Übersicht.
über die accessorischen Nährstoffe (Vitamine).
Bericht von Dr. Feuerhak, Berlin.
Über die Bedeutung einiger lebens¬
wichtiger Nährstoffe, die außer dem Ei¬
weiß, Fett, Kohlehydraten und Mineral¬
stoffen in der Nahrung enthalten sein
müssen, wenn sich diese nicht als unzu¬
reichend und als Ursache schwerer 'Er¬
nährungskrankheiten erweisen soll, ist
in dieser Zeitschrift (Heft 11, 1919) von
Prof. Jacoby berichtet worden. Auf
klinische Beobachtungen wie auf Tier¬
versuche ist hingewiesen, die erkennen
lassen, daß besondere Krankheitserschei¬
nungen, wie sie bei der Beri-Beri (infek¬
tiöser Polyneuritis) und dem Skorbut sich
zeigen, nicht auf einseitige Kost zurück¬
zuführen sind, daß vielmehr der Mangel
accessorischer Nährstoffe, sogenannter
Vitamine, deren chemische Identifizie¬
rung noch nicht möglich ist, als Ur¬
sache dieser Ernährungskrankheiten an¬
zusehen ist. Über weitere Ergebnisse
diesbezüglicher Forschungen hat vor
kurzem Boruttau in der Zschr. f. phy-
sik. u. diät. Ther„ 24. Band, Heft 7, be¬
richte!:. Er referiert besonders über die
Versuchsergebnisse amerikanischer und
englischer Forscher, die in einem schwer
zugänglichen Sammelberich t^) nieder¬
gelegt sind. Von deutschen Forschungen
sind vorher die Untersuchungen von
Abderhalden an Ratten zu erwähnen,
die teils mit entkeimten Getreidekörnern
(Roggen, Weizen, Hafer), teils mit ge¬
schliffenem Reis gefüttert wurden. Bei
den Tieren zeigte sich starke Beein¬
trächtigung des Geschlechtstriebes und
der Fortpflanzungsfähigkeit, verküm¬
merte Entwicklung des Nachwuchses.
Trotz Abwechslung in solcher Kost wur¬
den die genannten Schädigungen beob¬
achtet. Sie traten auch bei solchen Tieren
auf, die mit reinen Nährgemischen ge¬
füttert waren. Bei Zusetzen zu solchen
Report Oll the present state of knowledge
concerning accessory food factors (vitamines).
Compiled by a comittee appointed jointly by the
Lister Institute and Medical Research Comittee.
London H. M. Stationery Office 1919. 108 S.
,,künstlichen Nahrungen“, insbesondere
von Hefe, Spinat und Rüböl zusammen,
konnte Besserung in der Ernährungs¬
krankheit der Tiere herbeigeführt werden.
Abderhalden nimmt aus weiteren Ver¬
suchen an, daß bei normalen Tieren ein
gewisser Vorrat von wirksamen Stoffen
im Körper vorhanden ist, die der
Nervenstörung (der Polyneuritis z. B. der
Hühner und Tauben) entgegenwirken.
Die amerikanischen und englischen For¬
schungen bringen zv/ar auch keine Klärung
in die Chemie dieser wichtigen Stoffe,
doch als ihr wichtiges Ergebnis sehen
wir die Sonderung dieser charakteristi¬
schen, spezifischen Stoffe in Gruppen
und die Feststellung des- Gehaltes be¬
stimmter Nahrungsmittel an diesen, also
wertvolle quantitative Angaben. Nach
ihren Versuchen hat man zwei Stoff¬
gruppen oder ,,Faktoren“ als wichtig
anzusehen für das Wachstum junger
Tiere und für die Gesunderhaltung er¬
wachsener und für die Verhütung von
Erkrankungen der Haut mit ihren Horn¬
gebilden, der Conjunctiva und Cornea,
diese zwei Faktoren sind erstens ein fett-
oder lipoidlöslicher Faktor A — der durch
Butterzusatz — und zweitens ein wasser¬
löslicher Faktor B, der durch Hefezusatz
geliefert wurde. Die Grundkost setzte
sich dabei aus gereinigtem Kaseinogen,
gereinigter Stärke und reinem Mineral¬
salzgemisch zusammen, sie hatte, ohne
Zusatz verfüttert, alsbaldige schwere
Erkrankung der Tiere zur Folge, das
Wachstum hörte auf. Eine Speicherung
von A im Tierkörper ist anzunehmen —
nicht von B. Der Ausfall von B zeigt be¬
sonders schnelle üble Wirkung bei jungen
Tieren, der Ausfall von A und B hemmt
die Fortpflanzungsfähigkeit und die
Lebensfähigkeit der Nachkommen. Fak¬
tor B ist als identisch mit dem ,,anti-
neuritischen“ Faktor oder ,,Vitamin“
Funks anzusehen. Sein Fehlen macht
Erscheinungen der Beri-Beri-Krankheit,
er findet sich in den Randschichten undi
45*
356 ^ , I Die Therapie der Qegefiwärt 1920^ , Öktöbief
besonders im Keime der Getreidekörner
(Reis,. Weizen).
-V- Besonders liervorhebenswert erschei¬
nen die Versuche von M. Mellauby, die
dem Faktor A besondere Bedeutung für
die Rachitis zukommen lassen. Im Tier¬
versuch trat Skorbut bei ausschließlicher
Trockenfütterung auf, Heilung erfolgte
Tlurch Zusatz frischen Blattgemüses, auch
konnte antiskorbutische Wirkung mit
Keimen der im trockenem Zustand schäd¬
lichen Körner und Hülsenfrüchte er¬
reicht werden.
Dem englischen Sammelbericht ist
ein Anhang in Form eines Merkblattes
beigegeben, es enthält eine Tabelle der
gebräuchlicheren Nahrungsmittel, aus der
zu ersehen ist, wie groß der Gehalt
an den wirksamen Faktoren A und B
und an dem antiskorbutischen Faktor
ist. Aus ihr entnehmen wir, daß das anti-
neuritische Prinzip, der Faktor B, der
die Beri-Beri-Krankheit verhindert, seinen
Hauptsitz im Samen der Pflanzen und
in den Eiern der Tiere hat, auch in Leber
und Gehirn reichlich, weniger im Fleisch
zu finden ist, ganz besonders aber die
Hefezellen reich daran sind auch Hefe¬
extrakte. In Erbsen, Bohnen und anderen
Hülsenfrüchten sind sie über den ganzen
Samen verbreitet — bei Getreide im
Keimling und in der äußeren Schicht des
Samens zu finden. ' Wertvoll sind auch
besonders die Angaben, daß die Vitamine
der Nahrungsmittel durch Erhitzen in
Büchsen geschädigt werden, daß also
Büchsenkonserven als insuffizient anzu¬
sehen sind, während mit dem 'Back¬
prozeß die Stoffe im Brot beziehungs^
weise Vollkornbrot nicht zerstört werden.
Ersatzstoffe für Milchpräparate, Sahne
und Butter, aus Leinöl, Kokosfett oder
dergleichen ohne Zusatz tierischen Ma¬
terials hergestellt, erwiesen sich als in¬
suffizient und darum für Kinderernährung
ungeeignet. Dagegen findet sich der
•lipoidlösliche Faktor A besonders reich¬
lich in tierischen Fetten, im Milchfett
wie auch im Lebertran. Ferner findet
er sich in den Blattgemüsen und in den
Getreidekeimen, er fehlt in den Wurzel¬
gemüsen.
Frisches Gemüse und Obst erweist sich
als reich an antiskorbutischen Stoffen,
frische tierische Gewebe enthalten, sie
in geringem Maße. Besonders reich
zeigen sich Kohl, Kohlrüben, Zitronen,
Apfelsinen, Himbeeren und Tomaten.
Der Saft von Citrus medica behält auch
in eingekochtem Zustand seine anti¬
skorbutische \\(irkung.
Vereinigt sind alle drei wichtigen Er-'
gänzungsstoffe besonders in der Voll¬
milch, im mageren Fleisch und in der
Leber des Schlachtviehes, in frischen
Gemüsen, frischen Mohrrüben und ge¬
keimten Getreidekörnern und Hülsen¬
früchten. ^
Beifolgende Tabelle aus der englischen
Denkschrift gibt einen zusammenhängen¬
den Überblick über die Verteilung der
drei Vitamine in den gebräuchlichsten
Nahrungsmitteln.
Art der Nahrungsmittel
Antirachitisches
Vitamin
Fettlöslicher
Faktor A
Antineuritisches
Vitamin
Wasserlöslicher
Faktor B
Antiskorbutisches
Vitamin
Fette und Öle:
Butter.
--F-f
0
Rahm.
-i--r
. 0
Lebertran .
+++
0
Hammeltalg.
Rindsfett oder Nierenfeti.
-FH-
Arachisöl.
+
Speck .
0
Olivenöl.
0
BaumwoIIsamenöl.
0
Kokosnußöl...
0
Kokosbutter .
0
Leinöl.
0
Fischtran, Walfischtran, Heringstran usw. . . .
-FH-
Gehärtete Fette, tierischen oder pflanzlichen ür-
Sprungs .
0
Margarine, aus tierischen Fetten hergestellt . .
je nach dem Ge-
halt an Tierfett
Margarine aus pflanzlichen Fetten oder Speck
t
(Schmalz).
0
Nußfett.
-F
■
0ktöt»Vr I Die Therapie dfer Gfegeiyvaft 1920 /
Art der Nahrungsmittel
Antirachitisches
Vitamin '
Fettlöslicher
Faktor A
Antineuritisches
Vitamin
Wasserlöslicher
Faktor B
Antiskorbutisches
Vitamin
Fleisch, Fisch usw.:
!
Mageres Fleisch (Ochse, Hammel usw.) ....
-f
. -f
Leber .
"1~ +
-f-f
-f
Nieren-.
+ +
-f
'
Herz.
-f-f-
-f
Hirn.
+
-f-f
Kalbsthymus (Briesel) ...
+
-f-f
Fisch (w.ei ß) .
0
sehr wenig, wenn
Fisch (fett, Salm, Hering usw.).
Fisch (Rogen).'.
' -f-f
-f
überhaupt
-f-f
Büchseafleisch.•
?
sehr wenig
0
Milch, Käse usw.:
Milch, Kuhmilch, voll, roh.
„ ,, abgerahmt, roh.
-l-f
-f
-f
0
-f
-f
„ „ getrocknet, voll.
weniger als ++
-f
weniger als -f
„ „ gekocht, voll.
nicht bestimmt
-f
desgleichen
„ ,, kondens., gesüßt .
-f
-f
Käse, vollfetter.
Käse aus Magermilch.
Eier:
frisch..
-f
0
+ -f
-f-f-f
?0
getrocknet.
.-f-f-
-f-f-f
?0
Getreide,- Hülsenfrüchte usw.
Weizen, Mais, Reis, ganze Körner.
-f-
-f
0
„ „ Keimling.
-f-f-
-f-f-f
0
„ „ Kleie.
0
-f-f
0
Weißes Weizenmehl, reines, Kornmehl, polierter
0
Reis usw.
0
0
Eierrahmpulver, Eierersatz, aus Getreideproduk-
0
ten hergestellt.
0
0
Leinsamen, Hirse.
-f-f
-f-f
0
Getrocknete Erbsen, Linsen usw.
-f-f
0
Erbsenmehl (gedörrt) .
-
, 0
0
Sojabohnen, gewöhnliche Bohnen.
-f
-f+
0
Gekeimte Hülsenfrüchte oder Getreide.
-f
++
-f-f
Gemüse und Obst:
Kohl, frisch, roh .
„ frisch, gekocht .
-f-f
-f
-f-f-f
-f
-f
„ «getrocknet.
-f
-f
sehr wenig
„ in Büchsen.
Schwedische Steckrübe, roh, ausgepreßter Saft .
Kopfsalat ..
-f-f
+
-f-f-f
Spinat (getrocknet).
-f-f
+
-f
Karotten) frisch, roh.
-f
+
„ getrocknet.
sehr wenig
weniger als +
)> >)
Zuckerrübe, frisch ausgepreßter Saft .
Kartoffel, roh.
-f
+
„ gekocht .
Schnittbohnen, Feuerbohnen, roh . ..
Zitronensaft, frisch .
-f
-f-f
-f-|—f
„ konserviert.
Limonensaft (lime juice), frisch.
„ konserviert.
Orangensaft, frisch.
Himbeeren.
Äpfel.\.
Bananen.'.
-f '
-f
-f-f
-f-f
sehr wenig
-f-f-f
-f-f
“f
sehr wenig
Tomaten (in Büchsen).
Nüsse .
, -f
-f-f
-f-f
Diverses:
Hefe, getrocknet.
H—f-f
0
Hefeextrakt und antolysiert.
?
-f-f-f
Fleischextrakt.
0
0
0
Malzextrakt.
Bier.
+ in einigen
Proben
0
0
358
Die Therapie der Gegenwart 1920
Oktober
über neuere Eisen- und Arsenpräparate.
Von Dr. med, Metdner, Sekundärarzt der inneren Abteilung des israelitischen Krankenhauses, Breslau.
Der reichliche Bedarf, den die große Zahl
blutarmer und nervenschwacher Individuen seit
langem und bis auf die heutige Zeit an Kräfti¬
gungsmitteln hat und den die Ärzte gern durch
Verordnung eisen- und arsenhaltiger Medikamente
befriedigen, hat die Heilmittelindustrie in immer
steigendem Maße veranlaßt, solche Zubereitungen
in handlicher, gefälliger und bekömmlicher Form
auf den Markt zu bringen. Es 'ist dabei Gutes
und minder Gutes zutage getreten, manches ist
geradezu als Modesache aufgekommen und wieder
abgekommen, einiges hat sich gehalten, aber auch
die von alters her gebräuchlichen einfachen Ver¬
schreibungsweisen der beiden Arzneimittel haben
sich ihre Freunde bewahrt. Bei dieser Sachlage
ist es nicht eben leicht, über das vorliegende
Gebiet kritisch zu referieren. Vor allem muß
auf Vollständigkeit verzichtet werden. Bewußt
ausscheiden sollen von den Arsenpräparaten die¬
jenigen, die andern besonderen Zwecken dienen,
wie das Salvarsan und seine Modifikationen und
auch das Atoxyl und Arsacetin. Hier vielmehr
ist es nur auf solche Mittel abgesehen, die dem
häufigen Bedürfnis des Praktikers, einen minder¬
wertigen Blut- oder Allgemeinstatus auf arznei¬
lichem Wege zu heben, in Erfolg versprechender
Weise entgegenkommen, und das sind die festen
und flüssigen Eisen- und Arsenpräparate zum
innerlichen Gebrauch und ihre ■ Kombinationen
miteinander und mit in gleicher Richtung wirken¬
den Stoffen, wie dem Phosphor, dem Jod u. a.,
auch der Eierstockssubstanz, oder init Nährmitteln
und nährmittelartigen Produkten, sowie ferner
die injizierbaren Arsenpräparate einer sozusagen
milderen Observanz (im Vergleich zum Salvarsan,
Atoxyl und Arsacetin). Ehe in die Bericht¬
erstattung nach diesem ungefähren Schema ein¬
getreten wird, muß noch erwähnt werden, daß
es unter den heutigen abnormen Verhältnissen
geschehen kann, daß sich Präparate aufgeführt
finden, die wegen Materialbeschaffungsscliwierig-
keiten zurzeit nicht erhältlich siijid.
Für eine Reibe der Eisen- und |Arsenpräparäte,
besonders derbereits etwas älteren, muß es genügen,
sie summarisch zusammenzustellen. Ich nenne
hier von mehr oder minder eingeführten Hämo¬
globin präparaten das Hämatin-Albumin, das
als Pulver etwa teelöffelweise, in Tablettenform
bis zu acht Stück am Tage gegeben wird, das
Hämatogen, Dynamogen, Perdynamin, das flüssig
ist und in Gaben von einem Kinder- bis Eßlöffel
verabreicht wird, das Bioferrin in'derselben Form
und mit den gleichen Dosen, die ebenfalls flüssige
Eubiose, die sich mit Arsen auch als Arsen-
Eubiose im Handel befindet, das Hämatopan, ein
trockenes Hämoglobin-Malzextrakt mit 0,6 %
Eisen, hiervon gleichfalls ein Arsen-Hämatopan
und auch ein Jod-Hämatopan. Beliebt sind ferner
Arsen- und Jodferratose, jenes -tee-, dieses e߬
löffelweise zu nehmen, als Arsen-, beziehungsweise
Jodferratin auch in Tablettenform erhältlich, jede
Tablette zu 0,25, bis zu acht Stück täglich, Arsen-
ferratin wird auch in einer Modifikation als
,Arsenferratin süß‘' vertrieben; weiter Sanguinal
und seine Kompositionen, z. B. mit Arsen, Jod,
Chinin, als Pillen dreimal täglich ein bis drei
Stück, als Liq. Sanguinal., gleichfalls mit Zu¬
sätzen, u. a. Arsen, für Kinder in Gaben von einem
halben bis einen' Teelöffel, für Eryvachsene bis zu
einem Eßlöffel, Phosphor haltig^ Präparate sind
das Nucleogen in Tabletten mit je 0,05 Eisen-
niicleinat und 0,0012 As (günstige Erfahrungen
damit liegen auch aus neuerer Zeit vor), das Ledn,
ein phosphorhaltiges Eisen-Eiwdß, von dem auch
ein Jod- und ein Arsa-Lecin existiert (die Lecine
werden sowohl in flüssiger, wie in Tablettenform
hergestellt), das Metaferrin, ebenfalls ein phosphor¬
haltiges Eisen-Eiweiß in Tablettenform, mit den
gleichen Kombinationen, in gelöster Form als
Metaferrose, beziehungsweise Jod- und Arsen-
Metaferrose, das Eisenprotylin, wiederum Phos-
phqr-Eisen-Eiweiß, von Wormser in einer Arbeit
aus 1916 besonders in der Granul 6 -Form gelobt,
Dosierung bis dreimal täglich drei Stück, das
Arsoferrin als Eisen, Arsen und Phosphor ent¬
haltende Tektolettes, nach beigegebener Ge¬
brauchsanweisung zu nehmen, in einer Arbeit von
Braun aus 1919 für die frauenärztliche Praxis
empfohlen. Zu den Eisenliquores sind zu
zählen das Hämaticum „Glausch“, ein Mangan-
Eisenlikör, der auch mit Arsen hergestellt wird,
das Guderin, gleichfalls mangan- und eisenhaltig,
das Anämin und Arsanämin, Eisen-, beziehungs¬
weise Arsen-Eisen-Pepsinsaccharat in flüssiger
Form, das Hämalan, ein Eisen-Manganlikör mit
Pepsin und Malzextrakt, davon auch ein Arsen-
Hämalan, beide likörglasweise zu verabreichen,
das Ferrescasan, Eisensaccharatlösung mit Salzen
der Glycerophosphorsäure und geringen Mengen
der Kakodylsäure, dreimal täglich ein Eßlöffel,
die Hämatose, besonders als Arsen- und Arsen-
Guajacol-Hämatose, in chinaweiniger Lösung
oder als Tabletten (PoHack berichtet aus 1915
über den Nutzen der flüssigen Arsen-Hämatose
bei heruntergekommenen Kieferverletzten); eine
Kombination mit Baldrian stellt das Eisen-
Valerianat „Riebel“ dar, das auch mit Arsen
hergestellt und in Gaben bis zu einen Eßlöffel ge¬
nommen wird. Phosiron ist das neutrale Eisensalz
der komplexen Phosphor-, Asferryl, das der
komplexen Arsenweinsäure, beide Präparate in
Tabletten zu je 1,0, davon ein bis zwei Stück
am Tage. Arsojodin und Arsobromin, deren Zu¬
sammensetzung sich aus der Benennung ergibt,
werden nach beigegebener Gebrauchsanweisung
genommen. Zusammenstellungen mit Nähr¬
mitteln oder nährmittelartigen Substanzen sind
Eisenodda, teelöffelweise in Milch, Leciferrin,
Ovolecithin und Eisenoxydhydrat, in Flaschen
mit Meßglas, Maltzym mit Eisen, Jodella, ein
Jodeisenleberthran, auch mit Phosphorzusatz als
Jodella phosphata hergestellt, tee- bis kinder-
bis eßlöffelweise, Romauxan, hauptsächlich als
Eiweißnährmittel mit Eisengehalt gedacht, näm¬
lich Phosphor-Eisen-Protalbumose des Milch¬
eiweißes, bis zu drei gehäuften Teelöffeln täglich
als Speisenzusatz.
Ein älteres wohl eingeführtes Eisenpräparat
ist das Blut an, ein alkoholfreier Liq. ferro-
mangani peptonat. mit Acidalbumin; seine Halt¬
barkeit ohne Alkohol beruht auf Imprägnierung
mit Kohlensäure. Es weist zu 0,6 % Eisen, zu
0,1 % Mangan auf. Von Kombinationen des
Blutans existieren: Jod-, China- und Brom-
blutan, ersteres mit 0,1 % Jod, das zweite mit
den 1% Chinarinde entsprechenden wirksamen
Chinabestandteilen, letzteres mit 0,1 % Brom.
Auch ein zuckerfreies Diabetiker-Blutan be¬
findet sich im Handel. — Ein neueres hier be¬
sonders einschlägiges Kombinationspräparat ist
das Arsenblutan mit 0,01% ASg O 3 . Leng¬
fellner hat damit bei chlorotischen, anämischen
und Schwächezuständen, auch nervösen, bei
rachitischen, tuberkulösen und luetischen Kno-
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1920
359
chenaffektionen, sowie bei Erschöpfung infolge
sportlicher Überanstrengung günstige Erfolge
gehabt; Baur lobt es — und auch das Blutan
— als gutes, bekömmliches Kräftigungsmittel für
schwächliche, unterernährte, blutarme Schul¬
kinder. — Alle Blutane werden likörglasweise
dreimal täglich, am besten in Milch, genommen.
Von der altbewährten Tct. ferri Athen-
staedt, einer alkoholischen Lösung von alkali¬
freiem ' Eisensäccharat mit 0,2 % metallischen
Eisens, gibt es auch eine Arsen-Kombination,
Tct. ferri Athenstaedt arsenicosa, mit
0,004% AsgOg, die Joachim bei den bekannten
Indikationen gute Dienste geleistet hat. Seit
einiger Zeit werden auch den beiden vorstehen¬
den, bis zu 14% alkoholhaltigen Präparaten ent¬
sprechende alkoholfreie Zubereitungen unter
den Namen Athensa und Arsen-Athensa her¬
gestellt, die, wie sich Brodzki überzeugt hat,
durch Sterilisierung sogar in heißen Kümaten
haltbar sind. Topp hat über sie einen günstigen
Bericht erstattet. — Verordnungsv/eise: mehrere
Eßlöffel täglich.
Die älteren Präparate Triferrin und Tri-
ferrol sind paranucleinsaures Eisen (mit einem
durchschnittlichen Gehalt von 23 % Eisenoxyd,
9 % Stickstoff und 2,5 % Phosphor), beziehungs¬
weise die weingeistige Lösung dieser Substanz.
Wegen der Unlöslichkeit des Triferrins im Magen
findet keine Belästigung dieses Organs statt, wie
überhaupt die Bekömmlichkeit dieser gut ein¬
geführten Medikamente, ebenso wie ihre energische
Eisenwirkung von vielen Seiten anerkannt ist;
für letztere gibt die von Salkowski festgestellte,
durch Triferrinfütterung erzielbare, besonders
ausgiebige Eisenspeicherung in der Kaninchen¬
leber die tierexperimentelle Grundlage ab. —
Arsentriferrin ist arsen-paranucleinsaures Eisen
in Mischung mit Triferrin derart, daß im fertigen
Präparat 16% Eisen, 0,1% Arsen und 2,5%
Phosphor enthalten sind. Die Dosis beträgt
dreimal täglich 0,3 als Pulver oder eine Tablette,
allmählich auf die doppelte Gabe steigend und
wieder zurückkehrend; die Tabletten sind zu
zerkauen. Arsen-paranucleinsaures Eisen wird im
Gegensatz zu arsensaurem Eisen vom Darmkanal
.aus schnell resorbiert. Mit dem Triferrin teilt
das Mittel die Reizlosigkeit für den Magen. Wo
doch einmal Magenbeschwerden auftreten, werden
sie nach Gelhausen durch Einnahme der zer¬
kleinerten Tabletten während der Mahlzeiten mit
anderen Speisen zusammen hintangehalten. Dieser
Autor erzielte gute Erfolge bei Anämie und
Chlorose, bei Skrophulose und bei neurastheni-
schen und hysterischen Schwächezuständen; auch
hebt er die vorteilhafte Wirkung auf gleichzeitig
bestehende Schwächezustände hervor. Neben
früheren Mitteilungen äußern sich aus neuerer
Zeit über das Arsentriferrin noch günstig Jochem
und Gehring, beide auch hinsichtlich der An¬
regung des Appetits, nach letzterem sogar bei
Lungentuberkulose; jener will während der Medi¬
kation Gewürze und Obst vermieden wissen,
dieser weist noch auf Besserung und selbst gänz¬
liche Beseitigung dysmenorrhoischer und amenor-
rhoischer Zustände durch Arsentriferrin hin. —
Arsentriferrol verhält sich zum Arsentriferrin
wie_ Triferrol zum Triferrin. Erwachsene nehmen
dreimal täglich einen Eßlöffel, Kinder dreimal
täglich einen Kinderlöffel. Die Indikationen sind
die bekannten. Empfehlungen liegen vor von
Thomas, Ewald, der besonders auch auf die
gute Verträglichkeit des Präparats selbst bei
empfindlichen Ulcuskranken Wert legt, Hartung
und Ury, der sich ganz im Sinne Ewalds
äußert, ferne'r von Möller für vorkommende Fälle
in der zahnärztlichen Praxis. — Jodtriferrin
ist jodparanucleinsaures Eisen mit einem Gehalt
von 15% Eisen, 8,5% Jod und 2% Phosphor;
es wird als Pulver oder Tabletten zu 0,2 dreimal
täglich genommen. Tierexperimentell ist es von
Salkowski studiert, nach dem es, ohne Stö¬
rungen vertragen, das 'Jod selbst in hohen Dosen
vollständig, das Eisen teilweise zur Resorption
gelangen läßt und den Eisengehalt der Leber auf
das Dreifache steigert. Das Präparat ist für die
Verwendung bei allen Indikationen der Jod -
Eisentherapie, insbesondere bei Skrophulose, be¬
stimmt. — Ovaradentrif errin ist eine Mischung
von Triferrin und dem Ovarienpräparat Ovaraden
im Verhältnis von 1;3. Aus neuerer Zeit liegen
darüber empfehlende Berichte für die Behandlung
der Amenorrhoe, insbesondere der Kriegs¬
amenorrhoe, von Ohrenstein, Cordes und
Koslowsky vor. Das Präparat begegnet oder
ist in letzter Zeit Herstellungsschwierigkeiten be¬
gegnet. — Im Triferrin-Maltyl ist das Triferrin
mit einem Malzextraktpräpärat vereinigt. Es
wird davon drei- bis viermal täglich ein E߬
löffel trocken gereicht, in der Kinderpraxis nach
Villain, der besonders bei Arrythmien an¬
ämischer Kinder und solchen in der Rekonvales¬
zenz nach Diphtherie mit Vorteil davon Gebrauch
gemacht hat, größeren Kindern dreimal täglich
ein Kipderlöffel, kleineren ein gehäufter Thee-
löffel auf jede Flasche.
Regenerin ist ein Eisen-Mangan-Lccithin-
Präparat mit einem Gehalt von 0,6% Fe und
0,1% Mn, Arsen-Regenerin von derselben
Zusammensetzung mit Zusatz von Arsacetin und
Lith. kakodyl. ^ 0,04%. Beide kommen flüssig
und in Tablettenform in den Handel und sollen
sich bei den entsprechenden Indikationen, unter
anderem auch in der Kinderpraxis, bewähren.
Vorzugsweise als Arsenpräparat ist das
Haemarsin zu bewerten, das aus Kakodylsäure,
glycero-phosphorsaurem Calcium und Strychnin be¬
steht. Es wird eßlöffelweise nach dem Essen verab¬
reicht. Zur subcutanen und intramuskulären An¬
wendung sind sterile Ampullen erhältlich, in denen
das glycero-phosphorsaure Calcium durch das
entsprechende Natriumsalz ersetzt ist. Hirsch
hat mit dem Präparat sowohl bezüglich des
Fehlens von Nebenerscheinungen, als auch hin¬
sichtlich /.üverlässiger Wirksamkeit bei Fällen
von Anämie, Erschupfungszuständen und Unter
ernähruiig günstige Erfahrungen gesammelt. —
Auch ein Haemarsin mit Guajakol und eines
mit Lecithin befindet Mch im Handel.
Gleichfalls ein Arsenpräparat, und zwar unter
den neueren wohl das mit am weitesten ver¬
breitete, ist das Elarson. Es ist das Strontium¬
salz der Chlorarsinobehenolsäure. Das im Elarson
enthaltene Arsen ist also an eine lipoide, äther
lösliche, ungesättigte Säure der Fettreihe, die
Behenolsäure. gebunden. Unter dem Einfluß
der Magensalzsäure wird aus dem Elarson ein
erheblicher Teil der arsenhaltigen Fettsäure frei,
die sich soäter im alkalischen Darmsaft zu einem
löslichen Salz von Seifencharakter verbindet; ein
anderer Teil des Strontiumsalzes, der den Magen
als solches passiert, erfährt im Darm eine Um¬
wandlung in das Alkalisalz. Die Salze sind im
Darm ohne vorherige Bildung von arseniger
Säure direkt resorbierbar. Die Resorption vom
Magen aus als die Wurzel der schlechten Verträg¬
lichkeit mancher Arsenpräparate ist möglichst
vermieden; Elarson ist daher auch mit ziemlich
seltenen Ausnahmen gut verträglich. Die Re¬
sorbierbarkeit des Elarsons ist dabei recht be-
Beo
Die TJierapje der Gegen^vart 1920 Oktober
friedigend, indem nur etwa ein Viertei des darin
enthaltenen Gesamtarsens unverwertet abgeht.
Die Dosierung beträgt dreimal täglich 1 bis 5
Tabletten ä 0,5 mg Arsen und mehr, allmählich
steigend und fallend, wie bei allen Arsenpräpa¬
raten üblich; bei hohen Dosen treten reichlichere
Stuhlentleerungen auf, dies bleibt bei den als
Eisep-Elarson-Tabletten (siehe später!) zu¬
geführten gleichen Arsenmengen aus. — Im
Ei'nführungsaufsatz von Emfl Fischer und
G; KlempereT werden klinische Erfolge an¬
gegeben bei sekundären Anämien, Schwäche¬
zuständen, auch von Phthisikern, sogar fiebernden,
bei Chorea, Neuralgien und^Basedow. Leib holz
hatte bei Anämien einschließlich Chlorose eben¬
falls gute Resultate, desgleichen Reinhardt und
Walte rh cf er, nur hat letzterer bei Chlorosen
nach Elarson profuse Menstrualblutungen erlebt,
je einmal auch Durchfälle und' einen Herpes
arsenicalis gesehen, weswegen er dabei zu vor¬
sichtiger Dossierung rät; bei primären.Blutkrank¬
heiten hat ihm die'Elarsonbehandlung keine be¬
sonderen Vorteile gebracht. Kohnstamm hat
besonders bei Basedowscher Krankheit durch
Kombinationsbehandlung mit Elarson und
Merckschen Antithyreoidintabletten, beide Me¬
dikamente steigend und fallend, Erfolge erzielt;
bei einem Luetiker, der bei früheren Kuren stets
Quecksilberstomatitiden bekam, wurden diese
durch Elarsonzugabe vermieden. Tuszewski lobt
Elarson bei sekundären Anämien und Chlorosen,
hier in Verbindung mit Eisen, sowie als Tonicum,
desgleichen Gastal di bei sekundären Anämien,
von denen nur zwei äußerst geschwächte Fälle
mit Diarrhöen darauf reagierten. Das Auftreten
von Durchfällen während Elarsonkuren ist auch
von anderer Seite beobachtet worden, so besonders
von Scheibner, der deswegen und auch wegen
ungünstiger Beeinflussung der Menses das an¬
schließend zu besprechende Eisen-EIarson vor¬
zieht. N ei SS er hat solche Nebenwirkungen nicht
gesehen, hingegen einmal vorübergehend starken
Harndrang; ferner beschreibt er eine herab¬
setzende Wirkung des Elarsons auf erhöhten Blut¬
druck, die auch G. Klemperer für .Arterio-
sklerotiker erwähnt. Von Lewinsohn liegt ein
günstiger Bericht über Elarson bei einer größeren
Anzahl verschiedener einschlägiger" Fälle vor,
wobei ihn besonders der rasche Eintritt der
angestrebten Arsenwirkung befriedigt hat. Aus
späterer Zeit haben sich noch B'ogner, Hösch
und Braitmaier lobend darüber geäußert.
Klotz empfiehlt es und noch mehr das Eisen-
EIarson (siehe unten!) für die Kinderpraxis,
zwei- bis dreimal täglich eine halbe Tablette.
Nach Maier und Sußmann soll Elarson bei
Epileptikern die Zahl der Anfälle vermindern
und die geistige Regsamkeit erhöhen. Von den
bisher angeführten Autoren haben einige kurso¬
risch auch Erfolge des Elarsons bei Hautkrank¬
heiten berichtet; in einem eigens dieses Gebiet
behandelnden Artikel berichtet Scherber über
gute Erfahrungen mit Elarson bei den bekannten
dermatologischen Indikationen.
Eisen-Elarson-Tabletten sind Elarson-
tabletten, deren jede noch 30 mg Eisen als Ferrum
reductum enthält. Sie sind hauptsächlich für
die Anwendung bei Chlorosen bestimmt, welche
bekanntlich au^ eine Kombinationsbehandlung
mit diesen beiden Substanzen am besten re¬
agieren. Man gibt dreimal täglich 1 bis 3 Tabletten,
.steigend und fallend, nach den Mahlzeiten. Ihr
Geschmack und ihre Bekömmlichkeit werden
eigentlich vorbehaltlos gerühmt. Nach G. Klem¬
perer ist ihre Wirkung auf Chlorosen ausge¬
zeichnet, auf sekundäre Anämien befriedigend.
Scheibner und Eulenburg schließen sich dem
an, letzterer besonders für Neurosen auf an¬
ämischer Grundlage, auch Neuralgien, Neur¬
asthenie und Chorea. Mit günstigen Urteilen sind
dann noch neben änderen H. E. Schmidt und
Brühl hervorgetreten, dieser für das oto-rhino-
iaryngologische Spezialgebiet. Schließlich wird
noch in der Kinderpraxis bis zu dreimal täglich
eine Tablette gern davon Gebrauch gemacht.
Ein kombiniertes Eisen-Arsen-Präparat ist
auch das Ferarson, eine Arsen-Strontium-Ver¬
bindung mit organischem Eisen und Lecithin¬
albumin in Tablettenform; jede Tablette enthält
0,0005 Strontio-Arsen, 0,018 organischen Eisens
und 0,025 Leeithinalbumin; Dosierung ein- bis
fünfmal täglich zwei Tabletten, Kindern eine halbe
bis drei Tabletten täglich. Das Präparat soll gut
vertragen werden und bei den einschlägigen In¬
dikationen günstige Wirkung haben.
Wie in dem letztgenannten Medikament ist
auch im Eisen-Jodocitin Lecithin enthalten,
und zwar 0,041 in der Tablette; ferner ist in jeder
Tablette 0,0015 Eisen in anorganischer Bindung
und 0,0075 Jod vorhanden. Die Dosis beträgt
dreimal täglich 1 bis 3 bis 5 Tabletten. Nach
Deutsch greift das Eisen-Jodocitin Zähne und
.Verdauungstrakt nicht an und zeitigt günstigen
Einfluß auf Skrophulose, Rachitis (wegen des
Phosphorgehalts des Lecithins), spätsyphilitische
Erscheinungen im Kindesalter, exsudative Dia-
these mit Reizzuständen der Schleimhäute und
Drüsenanschwellung, Anämien einschließlich Chlo¬
rose und auf Rekonvaleszenten nach akuten In¬
fektionskrankheiten. — Eisen-Jodocitin mit
Arsen (0,0002 Acid. arsenicos. auf die Tablette)
wird steigend und fallend von dreimal täglich
ein bis dreimal täglich 3 Tabletten verabreicht.
Im Eisen-Bromocitin und Eisen-Brom-
ocitin mit Arsen tritt an Stelle des Jods Brom,
und zwar 0,006 auf die Tablette. Diese Präparate
sind in .gleicher Dosierung wie die Jodocitine .für
den Gebrauch bei mit Anämie einhergehenden
Neurosen, Neurasthenie und Hysterie bestimmt,
sowie wiederum besonders für die Kinderpraxis
in Fällen, wo neben der roborierend-tonisierenden
eine länger dauernde Bromwirkung beabsichtigt ist.
Auf der Grundlage reizlosen Pflanzeneiweißes
ist das Eisenpräparat Ferro-Glidine aufgebaut;
es wird in Tabletten hergestellt, deren jede
0,025 Fe enthält; Dosierung zweimal täglich
ein bis dreimal täglich 2 Tabletten. Es wird
zur Anwendung bei Anämien, Chlorose, Schwäche¬
zuständen und in der Rekonvaleszenz empfohlen.
Roeder berichtet aus dei; Kinderpraxis über gute
Verträglichkeit und nachhaltige Erfolge, ebenso
spricht sich Bloch lobend aus, und auch aus
der englischen Litaratur liegt ein günstiger Be¬
richt von Mc Leod Munro vor. — Arsan ist
Arsen-Glidine, ein Reaktionsprodukt von Arsen-
chlorür und dem nucleinfreien Pflanzeneiweiß
„Glidine“. Die chemische und physiologisch¬
chemische Untersuchung des Präparats durch
Loe,b hat günstige Verhältnisse hinsichtlich der
Abspaltbarkeit und Resorbierbarkeit des darin
enthaltenen Arsens ergeben'. Es befindet sich
in Tablettenform im Handel, jede Tablette ent¬
hält 1 mg Arsen; die Dosierung beträgt etwa
zweimal täglich 1 bis 2 Tabletten. Mendelsohn
hat es frei von Nebenerscheinungen und gut
wirksam bei Morbus Basedow und nervösen Er¬
schöpfungszuständen und besonders geeignet für
den Gebrauch bei Herzkranken gefunden. Bei
Anämien, Chlorose und den anderen Indikationen
der Arsenmedikation lobt es Flat au, besonders
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1920
361 r
in Kombination - mit Ferro-Oli di ne. Schmelz
fand es zusammen mit Jod-Glidine bei Tabikern
nützlich. Für die Kinderpraxis empfiehlt es
Uhlirz bei Pädotrophien. Auf dermatologischem
Gebiet beurteiltes Amende bei geringen Neben¬
erscheinungen als voll wirksam. — Ein gebrauchs¬
fertiges Eisen-Arsen-Kombinationspräparat, das
auf den gleichen Prinzipien wie die eben genannten
beruht, ist As-Fe-Gli di ne, Tabletten mit einem
Gehalt von je 1 mg As und 25 mg Fe; Dosierung
und Indikationen ergeben sich aus dem Vor¬
stehenden. — Jod-Ferro-Glidine ist ein eisen¬
haltiges, jodiertes Pflanzeheiweiß. Als Jod-Eisen-
Präparat ist es hauptsächlich für die Anwendung
bei Skrophulose, auch Rachitis bestimmt; als
weitere Indikationen werden chronische Endo¬
metritis, Malaria und tertiäre Lues angegeben.
Tabletten mit je 25 mg Jod und ebensoviel Fe;
zwei bis sechs am Tage, für die Kinderpraxis
auch weniger.
Ein weiteres Jod-Eisen-Präparat ist das
Eisensajodin, das Eisensalz der Jodbehensäure;
es enthält Eisen zu ca. 5,6, Jod zu ca. 25 %. Im
Handel befindet es sich in Tabletten zu je 0,5,
wovon Erwachsene bis sechs, Kinder bis drei am
Tage einnehmen. Görges rühmt seinen guten
Geschmack, seine Bekömmlichkeit und seine Un¬
schädlichkeit für die Zähne (im Gegensatz zum
Jod-Eisen-Syrup); es hat sich ihm bei skrophu-
lösen Kindern als recht erfolgreich bewährt;
Jodismus ist dabei sehr selten. Der Empfehlung
des Eisensajodins durch Görges haben sich andere
Autoren angeschlossen: Dierbach für den
gleichen Indikationsbereich, Echtermeyer,der
davon allerdings gelegentlich leichte Magen¬
beschwerden sah, insbesondere für skrophulöse
Lymphdrüsenschwellungen, Radziejewski für
skrophulöse, beziehungsweise tuberkulöse Augen¬
leiden, Brühl auf dem Gebiete der Ohren- und
Halskrankheiten und Ruhemann für ver¬
schiedenartige organische, mit Anämie einher¬
gehende Affektionen Erwachsener. — Auch eine
Eisensajodin-Emulsion, ein Eisensajodin-
Leberthran-und Eisensajodin-Malzextrakt
mit 0,02 Jod und 0,008 Eisen in 10 ccm sind zu
haben. Radziejewski erwähnt die Emulsion
als geschmacksfrei, den Leberthran als weniger
schmackhaft.
Jodhaltig ist auch das Testijodyl; es weist
sämtliche Eiweißkörper des Blutes auf, mit Aus¬
nahme des Fibrins, und ebenso den Gesamt¬
eisengehalt des Haemoglobins mit 0,25%, sowie
15,24% Jod. Es ist in Dragees zu 0,5 käuflich,
von aenen dreimal täglich ein bis zwei Stück
gereicht werden. Hauptsächlich als Jodpräparat
ist es von Wohlgemuth und Rewald hinsicht-
I ich seines Verhaltens im Organismus studiert und
als solches von verschiedenen Seiten auch thera¬
peutisch angewendet worden. Doch wird auch auf
seinen Eisengehalt Wert gelegt, so von Blumen¬
thal für die Anwendung bei anämischen Zuständen,
von Käfern an n für den Gebrauch bei Skrophu¬
lose und von L6nard für die Behandlung der
Chlorose. Die durchschnittlich gute Verträglich¬
keit des Präparats wird von allen Autoren bezeugt.
Prothaemin ist ein pulverförmiges Präparat,
das sämtliche wichtigen Bestandteile des Blutes
ohne konservierenden Zusatz enthält. Es wird
nach den Angaben Salkowskis hergestellt, der
auch seine gute Verträglichkeit und Ausnutzbar¬
keit im Tierexperiment dargetan hat. Sein Eisen¬
gehalt beträgt 0,2%; neben Eiweißkörpern ist
in ihm besonders noch organisch gebundener
Phosphor reichlich vertreten. Es wird mehrmals
täglich theelöffelweise, mit etwas kalter Flüssig¬
keit gut verrührt undr.dann mit einem Getränk
auf gefüllt, nach dem Essen genommen. Korb,
hat damit bei Anämien, Chlorosen und beginnen-^
den Lungentuberkulosen Zunahme des Körper¬
gewichts, des Blutfärbstoffgehalts und der Erythro¬
zytenzahl erzielt. Entsprechende’ Erfolge bei
diesen und ähnlichen Indikationen (Rekon¬
valeszenz, Skrophulose usw.) berichten Camp-
hausen, Jüngerich und Gutowitz. Alle diese
Autoren rühmen die durchschnittlich sehr gute'
Bekömmlichkeit des Präparats selbst bei pro¬
trahiertem Gebrauch und seine öfters zu beob¬
achtende appetitanregende Wirkung.
Den Blutpräparaten schließt sich in gewisser
Weise ein neuartiges Medikament an, das Chlo-
rosan. Es ist ein kombiniertes'Chlorophyll-Eisen-
präparat, und zwar enthalten die im Handel be¬
findlichen Tabletten je 0,03 Chlorophyll und 0,005
Eisen; die übliche Dosierung beträgt dreimal
täglich 2 Tabletten (an Eisen also weit weniger,
aber bei Darreichung von Eisen allein gegeben zu
werden pflegt). — Die Chlorophylltherapie ist von
Bürgi inauguriert. Nach ihm braucht der Orga¬
nismus zum Aufbau des Haemoglobinmoleküls
Eiweiß, Eisen und viergliedrige " Pyrrolringe,
Letztere können ihm in reichlichem Maße durch
Zufuhr von Blutfarbstoff oder aber Chlorophyll
geboten werden. Die gebräuchlichen Blut¬
präparate repräsentieren nicht reinesHaemoglobin,
sondern Gesamtblut und darin — im Plasma¬
anteil — möglicherweise auch schädliche Stoffe.
In dieser Hinsicht ist das in genügender Reinheit
dargestellte Chlorophyll unbedenklicher; sein
blutfarbstoffbildender Effekt hält dabei der tier¬
experimentellen und klinischen Prüfung völlig
stand. Künstlich anämisierte Kaninchen werden
durch Chlorophyll ebenso rasch wiederhergestellt
wie durch Eisen und noch rascher durch Kom¬
binationsbehandlung mit beiden Substanzen,
wie denn Bürgi auch sonst und schon länger für
die kombinierte Arzneibehandlung als wirkungs¬
potenzierend eintritt; Tiere mit normalem Blut
werden durch Chlorophyll sogar besser als durch
Eisen an Hämoglobin und roten Blutkörperchen
angereichert. Am Menschen wurden mit Chlorosan
bei Chlorosen, sekundären Anämien, auch solchen
tuberkulöser Individuen, sowie bei schweren
Kinderanämien günstige Erfahrungen gemacht.
Im allgemeinen eilt der Anstieg des Blutfarbstoff¬
gehalts demjenigen der Erythrozytenzahl voraus.
Mit der Beeinflussung des Blutstatus ist die Wir¬
kung des Chlorophylls aber nicht erschöpft; es
ist auch ein allgemein belebendes Agens. Als
solches dokumentiert es sich experimentell durch
eine leichte Erregung der Herz- und auch der
Darmtätigkeil, wahrscheinlich führt es auch eine
bessere Ausnutzung der Nahrung herbei. Die
Herzwirkung macht es für Zustände mit ohnehin
erregter Herzaktion minder geeignet; wohl aber
hat es sich bei Arteriosklerotikern bewährt. Die
Anregung der Peristaltik verursacht in seltenen
Fällen Diarrhöen. Über gute Erfolge mit Chlorosan
bei Grippenrekonvaleszenten berichtet Wein¬
berg. Die Wirkungsweise des Chlorophylls stellt
sich Bürgi wie die des Eisens vor: dort wie hier
ein Stoff, der in Jeder gemischten Kost enthalten
ist, dessen besondere Medikation unter besonderen
Umständen aber doch angezeigt erscheint, sei es,
daß dadurch ein glei-chwohl vorhandenes Manko
gedeckt (Substitution) oder ein Reiz ausgeübt
werde, wobei beides auch Hand in Hand gehen
kann (Substitutionsreiz).
Unter den bisher besprochenen Präparaten
befand sich bereits das oder jenes, das neben
anderer auch zu subcutaner Anwendung bestimmt
46
362
Die Therapie der Gegenwart 192Ö
Oktober
ist. Nun existiert noch eine Reihe neuerer Mittet,
die ausschließlich fiir diesen letzteren Zweck vor¬
gesehen sind.
Hierher rechnen zunächst diejenigen Medika¬
mente, welche von deutschen Firmen in den Handel
gebracht, unter den veränderten Zeitverhältnissen
einige früher eingeführte ausländische Präparate er¬
setzen sollen. Es sind dies die M.B.K- - Zuberei¬
tungen Ferr. arsen.-citric. ammon.. Fern kako-
dylic., Natr. kakodylic., Natr. monomethyl-
arsenicic. und Strychno-Phosphor-Arsen-Injektion
(Astonin), sowie die Kakodyl-Einsprit'zungen
Marke Ha-eR Natriumkakodylat, Ferrikako-
dylat und Methyl-Dinatriumarseniat. Sie werden
gebrauchsfertig in Ampullen abgegeben und haben
vielfach Anklang gefunden. Hierher gehört auch
das Arsamon. Es ist eine sterile Lösung von
monomethylarsinsaurem Natrium, die in Einzel¬
dosen von 0,0135 g Arsen auf 1 ccm Flüssigkeit
erhältlich ist. Es werden damit subcutane Ein¬
spritzungen von einer halben bis einer Dosis
vorgenommen, und zwar täglich, bis zu 20 bis
30 Injektionen, v. Hayek hat mit dem Präparat
zu seiner Zufriedenheit gearbeitet bei jungen an¬
ämischen Leuten mit Erscheinungen chronischer
Unterernährung, die meist auch eine specifische
Lungenspitzenaffektion oder latente-Drüsentuber-
kulose aufwiesen, sowie bei zwei Psoriasiskranken.
Hinsichtlich des Fehlens von Nebenwirkungen ist
es nach diesem Autor dem entsprechenden aus¬
ländischen Mittel „Arrhenal“ gleich und bezüglich
des Ausbleibens lokaler Reizerscheinungen in der
Umgebung der Stichstelle sogar überlegen.
Ein weiteres Arsenpräparat zum hypoderma-
tischen Gebrauch ist das So lagen; es ist Natr.
arsenicos., mit verdünnter Salzsäure genau neu¬
tralisiert und steril auf Ampullen gefüllt, deren
jede 0,01 Natr. arsenicos. enthält; zu einer Kur
gehören 20 subcutane Einspritzungen je einer
Ampulle; die Injektionen werden zwei- bis drei¬
mal wöchentlich vorgenommen. Sie sollen in¬
folge Beseitigung der alkalischen Reaktion durch
die Neutralisierung ganz schmerzlos sein.
Solarson ist das Mono-Ammoniumsalz der
Heptinchlorarsinsäure. Es ist käuflich als
wässerige, neutrale, isotonisch gemachte Lösung
in Ampullen von rund 1 und 2 ccm, enthaltend
3,' beziehungsweise 6 mg Arsen. Alle Bericht¬
erstatter stimmen darin überein, daß die sub-
cutanen und intramuskulären Injektionen von
Solarson schmerzlos seien, keine lokale Reaktion
hervorrufen und in den üblichen, hinreichenden
Dosen keine unerwünschten Nebenwirkungen im
Gefolge haben. Ausnahmen finden sich wohl
erwähnt, aber man gewinnt bei Durchsicht der
Literatur doch den Eindruck, daß sie überaus
selten und auch dann höchstens unerheblich sind.
Auch für die endovenöse Beibringung trifft das
gleiche zu (Rubens). Für die Durchführung
einer Solarsonkur ist wohl ziemlich allgemein
der Modus täglicher Einspritzungen von 1 ccm
an zehn- bis zwölf aufeinander folgenden Tagen
mit Wiederholung nach achttägiger Pause an¬
genommen, doch ist sowohl mildere Gestaltung
mit Injektionen nur an jedem zweiten Tage noch
gut wirksam (Bogner), als auch energischere
Durchführung mit Erhöhung der Dosen ohne
Schädigung möglich (besonders für die der¬
matologische Praxis — Joseph und Arnson).
Gegenüber den Kakodylaten geht dem Solarson
einerseits deren häufige häßliche Begleiterschei¬
nung, der Knoblauchgeruch der Ausatmungsluft,
ab, und andererseits kommt vor allem sein Arsen¬
gehalt weit vollständiger und zuverlässiger zur
Geltung. Die gute Ausnutzung des Arsens im
Solarson ist sowohl tierexperimentell ermittelt,
wie auch klinisch als typische Arsenwirkung durch
die günstige Beeinflussung, die es selbst auf
perniziöse Anämien ausübt,'' sicher gestellt
(G. Klemperer, Rosenfeld)7- Das Hauptan¬
wendungsgebiet des Solarsons bilden sekundäre
Anämien, Schwächezustände, Neurasthenie, Neu¬
ralgien mit Ischias, Basedow und Chorea. In
diesem Sinne äußern sichu.a. van Rey und Baur-
mann; dieser hat auch noch einen Fall von
Migräne erfolgreich mit Solarson behandelt, jener
auch noch bei Folgezuständen von Genickstarre,
Malaria und Diphtherie, sowie bei Bauchfell¬
tuberkulose mit Nutzen davon Gebrauch gemacht.
In der Malariatherapie spielt das Solarson ferner
dadurch eine Rolle, daß chininresistent gewordene
Fälle nach einer damit durchgeführten Zwischen¬
kur wieder besser auf Chinin reagieren (War-
burg). Bei Prophylaktikern und im Frühstadium
der Lungentuberkulose hat sich Radwansky
mit Vorteil des Solarsons bedient. Neuerdings
wird das Solarson sogar bei Grippe empfohlen,
und zwar nach jeder Richtung, zur Verhütung
(Fricke), zur Behandlung (Krüche) und in der
Rekonvaleszenz (Sußmann). Gegen Neuralgien
finden sich auch Fehlschläge des Solarsons an¬
geführt, so Weißbart bei Interkostalneuralgien
und Ischias und Bogner bei Gesichtsneuralgie;
Weißbart bezeichnet auch noch die Erfolge des
Solarsons bei Chlorose als weniger eindrucksvoll,
was aber wegen des Fehlens der Eisenquote nicht
Wunder nehmen kann; sonst sprechen sich
übrigens beide Autoren lobend über das Mittel
aus. Ebenso ist Braitmaiers Bericht über seine
Erfahrungen mit Solarson gehalten; er hat sie
auch auf Hautleiden ausgedehnt und bei diesen,
sowie z. B. bei Rachitis und Skrophulose erfolg¬
reich mit Höhensonne kombiniert. Speziell auf
dem Gebiete dermatologischer Affektionen haben
Joseph und Arnson, Hoffmann und Schäffer
mit Solarson gearbeitet; als Indikationen dafür
geben sie Lichen ruber planus, Psoriasis vulgaris,
Neurodermitis, Akne bei Chlorose, Warzen,
Pyodermie, Furunculose und Pemphigus an. Für
die frauenärztliche Praxis, wo ein Arscnikale ja
häufig angezeigt ist, fällen Mackenrodt, Hösch
und Schergoff ein günstiges Urteil über Solarson.
Ein für die intravenöse Beibringung be¬
stimmtes Eisenpräparat ist unter dem Namen
Electroferrol von einer namhaften chemischen
Fabrik kürzlich herausgebracht worden. — Es ent¬
hält 0,5% elektrisch zerstäubten, kolloidalen Eisens
(nebst einem Schutzkolloid). Nach Heinz ist
es im Tierversuch ungiftig. Das Präparat kommt
in gebrauchsfertigen Ampullen für intravenöse
Anwendung in den Handel. Am Menschen erfolgt
auf die endovenöse Beibringung von 0,5 ccm
Elektroferrol Schüttelfrost mit Fieber bis 38,5®,
sowie Kopfschmerzen, ln der Wirkung ist es in
Übereinstimmung mit dem Ticrexperiment als
starkes Mittel zur Anregung der Bliitbildung an-
zuschen. Therapeutisch soll die einmalige Dosis
von 0,5 bis 1,0 gewöhnlich genügen; eventuell
Wiederholung nach 14 Tagen. Anaphylaktische
Shockwirkung ist nicht zu befürchten. Ver-
suchenswert soll auch die innerliche Darreichung
des Elektroferrols in Gaben von 20 Tropfen auf
einen TheelÖffel Wasser sein.
Ein zusammenfassendes Urteil über die be¬
sprochenen Präparate — etwa im Sinne einer
Rangordnung — zu fällen, erscheint untunlich;
es konnte nur auf eine für praktische Zwecke
brauchbare Orientierung über die Fülle des Ge¬
botenen ankommen, und hoffentlich ist dieser
Zweck einigermaßen erreicht.
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1920
.363
Bücherbesprechungen.
Prof. Georg Jürgens (Berlin), Infektionskrank¬
heiten. Berlin 1920. Verlag von Julius Springer.
341 S.
In dem „Gegensatz bakteriologischer Denkungs¬
art und ärztlicher Auffassung“ sucht Jürgens
die letztere wieder mehr zur Geltung zu bringen.
Nicht alle übertragbaren Krankheiten oder alle
bakteriellen Infekte rechnet er zu den Infektions¬
krankheiten, die er als „unter dem Einfluß immuni¬
satorischer Vorgänge stehende Allgemeinerkran¬
kungen mit seKundär auftretender Lokalisation“
definiert. «
Jürgens geht eigene Wege, die von den ge¬
wohnten stellenweise weit abweichen. Das doku¬
mentiert sich schon in seiner Einteilung der In¬
fektionskrankheiten, die er in sechs Gruppen:
1. gemeingefährliche Volksseuchen, 2. epidemische
Volksseuchen, 3. endemische Infektionskrankheiten,
4. Blutinfektionskrankheiten, 5. Tierinfektions¬
krankheiten und 6. nicht ansteckende Infektions¬
krankheiten trennt. Dabei reiht er beispielsweise
die Masern in die Gruppe 1, die Grippe in Gruppe 2
ein; in Gruppe 6 widmet er vor Pneumonie, Ge-'
lenkrheumatismus und anderen der „Erkältung“
als nicht ansteckender Infektionskrankheit ein
eigenes jkurzes Kapitel.
Eigenartig und diskutabel wie diese Einteilung
sind zahlreiche Einzelheiten. Als Beispiel sei der
Satz angeführt (S. 134): Es ist „eine ungewöhn¬
liche Erscheinung, daß ein Grippekranker seine
Angehörigen ansteckt, daß in den Krankenhäusern
Hausinfektionen eine beachtenswerte Rolle spielen.
Eine skeptische und größtenteils ablehnende
Stellung nimmt J ürge ns gegenüber der specifischen
Therapie ein. Der Wirksamkeit der Schutzimpfung
gegen Typhus schreibt er keine Wirkung zu, die
antikörperanregenden Methoden bezeichnet er als
„Scheintherapie“. Bei der Therapie der Pneumonie
— die auf knapp einer ^ite abgehandelt ist, wie
auch in den übrigen Kapiteln die Behandlung
einen oft sehr geringen Raum einnimmt, —, ist
das Optochin überhaupt nicht erwähnt.
Die angeführten Hinweise sollen nur dartun,
daß Jürgens’ Werk kein Lehrbuch im gewöhn¬
lichen Sinne für Studierende und jüngere Ärzte
ist. Seinem Werte tut dies keinen Abbruch. Dem
Älteren, der die Schulmeinung in sich auf genommen
haJ und neue Lehren auf Grund bereits gewonnener
eigener Erfahrung kritisch zu verarbeiten vermag,
sei Jürgens’ Buch warm empfohlen: er wird vieles
neu sehen lernen und auch da, wo er nicht zustimmen
kann, Anregung und Bereicherung erfahren.
Felix Klemperer (Berlin).
Dr. med. et phil. Hermann v. Hayek (Innsbruck),
Das Tuberkulose-Problem. Berlin 1920.
Verlag von Julius Springer. 343 S.
Die Tuberkulose ist dem Verfasser „in erster
und letzter Linie ein immunbiologisches Problem“.
Die chronische Tuberkulose ist eine Krankheit,
die mit Immunitätsreaktionen beginnt und mit der
Zerstörung lebenswichtiger Organe endet. Es ist
fehlerhaft, einzelne Krankheitsstadien für „die“
Tuberkulose zu halten. Die Tuberkulose darf
nicht dann erst als Krankheit aufgefaßt und be¬
handelt werden, wenn sie im tertiären Stadium in
lebenswichtigen Organen physikalisch nachweis¬
bare Gewebsschädigungen gesetzt hat. Die latente
Tuberkulose ist in Wirklichkeit keine ruhende
inaktive Tuberkulose, sondern eine Tuberkulose,
die unter stetem Kampf von der Durchseuchungs¬
resistenz in Schach gehalten wird. Jede Tuber¬
kulosediagnose erfordert die immunbiologische
Analyse, sie erst rundet den anamnestischen und
klinischen Befund zu einem Gesamtbild ab. Ins¬
besondere die Frühdiagnose darf nicht Zustands¬
diagnose, sondern' soll Entwicklüngsdiagnose
sein. Die spezifische Behandlung muß nach im¬
munbiologischen Gesetzen geleitet werden.
V. Hayek unterscheidet eine positive und
negative Anergie und Allergie und versucht den
Gegensatz zwischen der prophylaktischen (immuni¬
sierenden) und der anaphylaktisierenden Therapie
zu überbrücken.
Als V. Immunitätserscheinungen bezeichnet
V. Hayek ganz allgemein die „Wechselwirkung
zwischen einem Krankheitserreger und einem
befallenen Organismus“; Immunität in diesem
Sinne ist nicht Schutz, sondern Kampf, Die
Immunitätsreaktionen deutet er als Antigen-
Antikörperreaktionen, wobei er aber unter dem
„Antigen“ ganz allgemein einen biologischen Reiz
versteht, der durch den Krankheitserreger die
Körperzellen trifft, und von den „Antikörpern“,
den hypothetischen Trägern einer Abwehrfunktion
der bedrohten Körperzeilen, es O'ffen läßt, ob sie
chemisch faßbare Substanzen oder nur „Erschei¬
nungsformen eines immunbiologischen Energie¬
umsatzes durch physikalische Zustandsänderungen“
sind. Das Problem dej Tuberkuloseimmunität läßt
sich durch keine der bekannten, experimentell
bearbeiteten Grundformen humoraler Immunitäts-
reaklionen restlos erklären. Alle Tuberkulin¬
theorien leiden an dem Fehler, daß sie eine Teil-
erscheinung immunbiologischer Vorgänge als
die erschöpfende Erklärung annehmen.
Wie V. Hayek, von dessen Grundan¬
schauungen ich im Vorstehenden einiges wieder¬
gegeben habe, den Einzelfall immunbiologisch
zu erfassen und die immunbiologische Be¬
handlung zu differenziern sucht, kann hier
nicht wiedergegeben werden. Weder „die Gesetz¬
mäßigkeiten der Lokal-, Allgemein- und Herd¬
reaktion“, die er in Kapitel IX aufstellt, noch die
„Leitsätze für die immunbiologische Tuberkulose¬
behandlung“ in Kapitel XIII bis XV kann ich
in vielen Einzelheiten oder im ganzen als fertig
und richtig anerkennen. Der Wert des v. Hayek-
schen Buches liegt meines Erachtens nicht in
seinem positiven Ergebnis, sondern in seinem
Ideenreichtum, in der kühnen Aufstellung neuer
Probleme — z. B. des Problems der getrennten
Beeinflussung vorgeschrittener Krankheitsherde
und solcher Herde, bei welchen eine kräftige Re¬
aktion, die. zur Antikörperluxusproduktion im
Herd selbst führt, nicht gescheut zu werden braucht
(S. 180); und sein außerordentlicher Reiz liegt in
der Kritik v. Hayeks, die temperamentvoll und
oft übers Ziel schießend — so z. B. in den Aus¬
führungen über die Heilstättentherapie, über
Liegekur, Ernährungstherapie tisw. in Kapitel IV
— die Lektüre des Buches so fesselnd und anregend
gestaltet. Ein ungewöhnliches Buch, an dem kein
Tuberkuloseforscher und kein Tuberkulosearzt
wird Vorbeigehen dürfen.
Felix Klemperer (Berlin).
Prof. G. Deycke (Lübeck), Praktisches Lehr¬
buch der Tuberkulose. Berlin 1920. Verlag
von Julius Springer. 298 S.
Der Verfasser, der in der Türkei und in der
Heimat vielseitige praktische Erfahrungen sammeln
konnte und durch seine Leprastudien und seine
gemeinsame Arbeit mit Much die experimentelle
Tuberkuloseforschung bereichert hat, war vor
vielen berufen, ein Lehrbuch der Tuberkulose zu
46*
364 ^ Die Therapie 4er
schreiben. Nach kurzen einleitenden Kapiteln
über die Geschichte der Tuberkulose, den Erreger,
die Tuberkulose als Volksseuche, die Übertragung
und Ansteckungswege des Tuberkelbacillus und
die pathologische Anatomie ist der Hauptteil
seines Buches der Lungentuberkulose gewidmet.
Entsprechend dem praktischen Zwecke ist die
Untersuchung und Behandlung besonders breit
besprochen, bei letzterer kommt — was hervor¬
gehoben zu werden verdient — neben der Pärtigen-
therapie, auf deren Boden Deyke naturgemäß
steht, auch die Behandlung mit Alttuberkulin
zu Wort. Auf das Friedmannsche Ver^
fahren setzt Deycke geringe Hoffnung, die
Strahlentherapie und die chirurgische Behandlung
würdigt er neben der hygienisch-diätetischen und
der arzneilichen Behandlung nach Gebühr. — Es
folgt ein „Abriß der übrigen Organtuberkulose“..
Kapitel über die „Miliartuberkulose“ und „die
Beziehungen der Tuberkulose zum Kindesalter“
beschließen das Werk, das in ungemein fließender
Darstellung den gegenwärtigen Stand unseres
Wissens und Könnens auf dem Tuberkulosegeb’ete
zur Darstellung bringt und Studierenden und
Ärzten warm empfohlen zu werden verdient.
Felix Klemperer (Berlin).
Carl von Noorden und Hugo Salomon, Handbuch
der Ernährungslehre. 1. Band: Allgemeine
Diätetik (Nährstoffe und Nahrungsmittel, all¬
gemeine Ernährungskuren). Berlin 1920. Julius
Springer. 1237 S. Preis 68 M. u. T.-Z.
Ein „Standard-Werk“ der Weltliteratur, das
einen stolzen Besitz der deutschen Wissenschaft,
bilden wird und ihr so schnell nicht nachgemacht
werden dürfte! Es ist ein würdiges Seitenstück
zu Königs „Chemie der menschlichen Nahrungs^
und Genußmittel“, einem Werk, das meines
Wissens auch noch in keiner anderen Sprache
seinesgleichen hat. Dem Werke von v. Noorden
und Salomon liegt eine ganz gewaltige Arbeit
zugrunde. Mit Bienenfleiß und peinlichster Sorg¬
samkeit haben sie aus der Literatur ein riesen¬
haftes Material zusammengetragen, bis in die
kleinsten Einzelheiten geprüft und gesichtet und
in seiner mustergültigen Darstellung kritisch zu¬
sammengefaßt. Dabei kam den Autoren natürlich
ihre eigene außerordentlich reiche Erfahrung auf
dem Gebiete der Diätetik sehr zustatten. Daher
trägt die Darstellung auch allenthalben einen aus¬
gesprochen subjektiven Charakter — ein großer
Vorzug für ein solches Sammelwerk, der seine
Lektüre niemals langweilig werden läßt, sondern,
wo man es aufschlägt, immer wieder unterhaltend
gestaltet. Die temperamentvolle Schreibweise und
das gesunde ungeschminkte Urteil der Verfasser
machen das , Lesen des Buches in vielen Teilen
geradezu zu einem Genuß für den Kenner. Bei
zahlreichen Stichproben, die ich in dem umfang¬
reichen Werke gemacht, habe ich in bezug auf
Vollständigkeit der Darstellung auch nicht einen
Versager gefunden. Über alles und jedes in der
allgemeinen und speziellen Diätetik (Nährstoffe,
Nahrungsmittel, Nährpräparate, Genußmittel,
Kalorienlehre, Eiweißumsatz, Hygiene des Essens
und Trinkens, Diätkuren, Überernährung und
Unterernährung, vegetarische Kuren, Milchkuren,
Obstkuren, Durstkuren, kochsalzarme Kost, künst¬
liche Ernährungsmethoden, Ernährung im Greisen-
alter, in der Schwangerschaft und im Wochenbett
und dergleichen mehr) gibt das Werk ausführlichste
und zuverlässigste Auskunft. Niemand, der auf
diesem Gebiete wissenschaftlich arbeitet, wird
das Werk in Zukunft entbehren wollen, und auch
der praktische Arzt wird sich daraus für alle
Bedürfnisse der Praxis bestens unterrichten
Opgenwart 1920 Oktobeir
können.. Hoffentlich gelingt den Verfassern der
zweite Teil, der die spezielle Diätetik bei einzelnen
Krankheiten umfassen, soll, in gleich vorzüglicher
Weise. Albu.
Ärztebriefe aus vier Jahrhundertened. von
Erich Ebstein^ (Leipzig). Berlin 1920. Julius
Springer.
, Doctores male pingunt, das Sprichwort von
den schlecht schreibenden Ärzten bezieht sich
nicht nur auf die Handschrift; das beste und
interessanteste was wir in der Praxis erleben,
dürfen wir nicht preisgeben. \^r sind ja mit
Fug und Recht zum Berufsgeheimnis verpflichtet
und nehmen — anders wie viele Repche, welche die
Hälfte ihres Vermögens, nämli ch die, um welche
sie zu Lebzeiten überschätzt werden, ins Grab
mitnehmen — all unsere Familienkunde und
unsere „Dompteurweisheit“ zu den Schatten
hinab. Aber auch den Forschern, welche für und
vor Ärzten lehren, fehlt oft, wenn sie alt, müde«
und einsam geworden, die Lust zur Rückschau;
das ,,Weißt du noch damals?“ lockt nicht mehr!
Immerhin besitzen wir gerade aus den letzten
Jahrzehnten einige vortreffliche ärztliche Lebens¬
beschreibungen, Erinnerungen und Briefsamm¬
lungen. Mit steigendem Wohlstand war einstens
dio Möglichkeit gegeben, sich aus der.Praxis und
dem Lehramt zeitig zurückzu dehen; diebetreffen¬
den Werke wurden auch stärker als früher begehrt
und gelesen; es existieren ferner zwei sich er¬
gänzende biographische Lexica berühmter Ärzte
und eine unlängst erschienene von Lebens¬
beschreibungen erfüllte Geschichte der Augen¬
heilkunde von H. Hirschberg.
Ohne „Wertangabe“ nenne ich (Naturfprscher,
die als Ärzte angefangen, einbegriffen) folgende
Einzelwerke: v. Helrnholtz, Du Bois-Rey-
mond, Virchow, E. v. Bergmann, Billroth,
Karl Vogt, Boveri, K. Weigert, Aug. Weis¬
mann, Kußmaul, P. Ehrlich (eine Biographie
ist in Vorbereitung), Th. Kölliker, J. Henle,
Abbe, Gegenbaiier, Wiedersheim, K. E.
von Baer, "Rob. Koch, Johannes Müller,
Jacobson, Rob. Mayer, H. Fritsch, A.
W. Freund, E. v. Leyden, A. von Graefe,
E. Haffter; von Nichtdeutschen: Lamarck,
Pasteur, Darwin, Fr. Treves, Roscoe,
Pirogoff, Weressajew, Mandt, Vant’Hoff,
RamonyCachal.
Nun liegt ein ganzer Strauß von Ärztebriefen
vor, natürlich kein „Mediocritätenbukett“ wie
Mommsen einst im Kampf mit Fr. Althoff
gewisse politisch gefärbte Berufungslisten nannte,
sondern die sorgfältigste, von Paracelsus bis
Ehrlich sich dehnende Auslese seitens eines
Medicohistorikers, wobei der Inhalt der Briefe
maßgebend war; alle interessant, insbesondere die
von J. G. Zimmermann über seinen ärztlichen
Verkehr mit Friedrich dem Großen; einige künst¬
lerisch in der Form, wenn auch nicht heran¬
reichend an unsere stärksten Briefschreiber —
Bisrnarck, Nietzsche, Gottfr. Keller, Th.
Fontane, Henriette Feuerbach. Die meisten
haben die Gefahr, sich in der Tinte zu spiegeln,
wie Bismarck von seinem Gegenspieler Gort-
schakoff zu sagen pflegte, vermieden; Psychiater
fehlen, wie auch in obiger Liste, ebenso praktische
Ärzte. Für die zweite Auflage wären eventuell
die wundervollen Briefe von Emin-Pascha (ur¬
sprünglich Dr. Ed. Schnitzer aus Neiße i. Schl.),
von Dr. Richard Kandtim Kriegef, Gouverneur
von Uganda und Erforscher der Nilquellen, sowie
von dem im Burenkriege tätig gewesenen, 1904 f
Dr. Hero Tilemann zu empfehlen.
Oktober ’ . Die Therapie der Gegenwart 1920. ' 365
Für viele von uns, die wir jetzo in Erdbeben-^'
und apokalyptischen Zeiten sozusagen auf Scher¬
benbergen leben, dient die Flucht zu den Großen
^als eilte Art Narkose. Jean Paul hät dafür ein
'Wort: Dies Buch war für mich eine zweite Welt,
auf welche die Seele hinausstieg, während sie
den Körper den Stößen der Erde überließ.
B. La quer ('^Viesbaden).
V. Jaschl^e und Pankow; Rünges Lehrbuch
der Geburtshilfe. Neunte, umgearbeitete
Auflage. Mit 476, darunter zahlreichen mehr¬
farbigen Textabbildungen. Berlin 1920,
Julius Springer.
Das Rungesche Lehrbuch der Geburtshilfe^
hat durch die beiden• Verfasser eine .vollständige
Umarbeitung erfahren, so daß man es wohl als
ihr ganzes geistiges Eigentum betrachten muß.
Ihrem Versprechen, den Hauptwert auf die für
den Praktiker bestimmten Methoden zu legen,
sind sie vollauf gerecht geworden. Hervorzuheben
sind besonders die Abschnitte über die Nach¬
geburtszeit und das Wochenbett, deren genaue
Schilderung sonst schwer zu finden ist. Drück
und’ Ausstattung des Buches sind vorzüglich.
Dem Geburtshelfer, der nicht klinisch arbeiten
kann, sei dieses Werk auf das wärmste empfohlen.
Pulverrnacher (Charlottenburg).
Seitz u. Wintz, Unsere Methode der Röntgen¬
tiefentherapie und ihre Erfolge. Berlin-
Wien 1920. Urban & Schwarzenberg.
Das Erscheinen dieses. Buches wurde von
Frauenärzten und Röntgenologen mit gleichem
Interesse erwartet. Es stellt die Frucht lang¬
jähriger, intensiver Arbeit dar und bildet einen
Merkstein in der Entwicklung der Strahlenbehand¬
lung. Derjenige, .der erwartet, daß man nach
Ankauf eines Röntgenapparates mit Hilfe dieses
Buches auch gleichwertige Röntgentherapie be¬
treiben könne, wird enttäuscht werden, anderer¬
seits wird auch der auf dem Gebiete der Röntgen¬
tiefentherapie tätige Röntgenologe mit Bedauern
bemerken, daß die Wintz-Seitzsehe Methode
auch für die gleiche Apparatur nebst Neben¬
apparaten nicht die gleichen Werte respektive Er¬
folge verspricht. Das ist bedauerlich. Seitz und
Wintz sehen in ihrer Behandlung eine physika¬
lisch-mechanische Methode. Der mechanisierte
Betrieb setzt bei richtiger Einstellung’nur eine
genügend lange Bestrahlungsdauer voraus, um
die Kastrations-, Sarkom-, Carcinomdosis zu er¬
reichen. Unter dieser Zeitdosis ist die Verab¬
reichung derjenigen Strahlendosis verstanden,
welche die entsprechende Krankheit beseitigt.
Da man aber nicht ohne Schaden unbegrenzt be¬
strahlen kann, so setzen die Verfasser die Therapie¬
dosis in Beziehung zu der Dosis, welche die Haut
gerade noch ohne erste Schädiguhg verträgt.
Seitz und Wintz setzen sich damit sehr leicht
über die Tatsache hinweg, daß uns das biologische
Verhalten der bösartigen Geschwülste noch ein
Buch mit sieben Stegein ist. Wir wissen empirisch
aber nicht nur, daß der Krebs desselben Organs
sehr verschiedene Wachstumsbedingungen hat,
sondern vor allem, daß bösartige Tumoren ver¬
schiedener Organe ganz verschieden verlaufen.
Dieser biologische Faktor kommt allein durch die-
Tatsache zur Geltung, daß ältere Röntgenologen
unter weit ungünstigerer Strahlenausbeute, als
jetzt möglich, glänzende und überraschende Re“-
sultate erzielt haben. Auf der anderen Seite geht
es aus den Darlegungen von Seitz und Wintz,
nicht zum mindesten auf Grund ihrer glänzenden
experimentellen • ‘Untersuchungen, zur Genüge- •
hervor, daß ihre Methode für die Behandlung des-
Uterus- und besonders des Portiocarcinoms die
aussichtsreichste ist. Die Anwendung des 0,5 mm-
Zinkfilters, der Intensivapparatur und nicht zu¬
letzt die tiefe Lage des zu beeinflussenden Organs:
führen zu bewundernswerten Resultaten. Es.
muß, wie es in dem Seitz-Wintzschen Buche
geschieht, mit Nachdruck betont werden, daß^die
Technik der Bestrahlung eine Voraussetzung guter
Resultate ist. Wie könnte es sonst möglich sein,
daß eine Universitätsklinik von der postoperatiyen'
prophylaktischen Bestrahlung der Mammaca'rci-
nome eine außerordentliche Verbesserung, eine
andere eine starke Verschlechterung der End¬
resultate meldet.
Das größte Verdienst des Buches sehe ich in
dem mathematisch genauen Nachweis der ver¬
schiedenen Strahlenausbeute, je nachdem, ob
eine bösartige Neubildung mehr an der Ober¬
fläche oder in der Tiefe gelegen ist. Nicht genügend
scheint mir allerdings hervorgehoben, daß der
Betrieb der Fernfelderbestrahlung dadurch außer¬
ordentlich verteuert wird. Interessenten mögen
sich vor Augen halten, daß auch ein kleineres
Krankenhaus die von der Erlanger Schule vor¬
geschlagene Röntgentiefentherapie nicht mit
einem Spezialapparat ausführen kann. Im Jahre
1918 wurden etwa 150 000 M. A.-Minuten (140
bis 170 000 Milliamp^reminuten pg. 154) verab¬
reicht. Das ergibt bei einer Sekundenbelastung
von 2,5 M. A. 1000 Bestrahlungsstunden im Jahre
oder 3y2 —4 Stunden am Tage. Nimmt man an,
daß die~Erlanger Klinik 1918 nur die Hälfte der
jetzt vorhandenen Apparate besaß, so sind immer¬
hin zu der oben genannten Leistung drei bis vier
Tiefentherapieapparate nötig gewesen. Jedes
Institut mit größerem Material braucht eine An¬
zahl* von Apparaten; denn zum Dauerbetrieb
gehört ein stets gebrauchsfertiger Ersatzapparat.
Leistungen, wie sie in Erlangen verlangt werden,
bringen an sich öftere Revisionen und Repara¬
turen der Apparate mit sich. In dieser Beziehung
ist die Erlanger Klinik exzeptionell günstig dran;
sie genießt die Unterstützung der Reiniger, Geb-
bert u. Schall A. G., die nicht nur vorzügliche
Apparate liefert, sondern durch einen Stab tüch¬
tiger Ingenieure die experimentell-physikalischen
Arbeiten außerordentlich unterstützt hat. Es ist
und bleibt ein Ruhmesblatt, daß unter den er¬
schwerenden Umständen des Krieges und seiner
Folgeerscheinungen eine Universitätsklinik die
Röntgentherapie so fruchtbringend beeinflußt
hat. In der Arbeit der Erlanger Frauenklinik
liegt System. Die Röntgenbestrahlung der bös¬
artigen Geschwülste und def Blutungen steht
nicht mehr abseits: ihre Erfolge können neben der
operativen Therapie bestehen, ja sie übertreffen
dieselbe sogar häufig. Max Cohn (Berlin).
Referate.
Über die Wirkungen, welche der Al¬
kohol auf den Krieg und seine Folgen
gehabt hat, machen sich Stimmen be¬
merkbar, die nicht alle gleicher Beach¬
tung wert sind. Jedenfalls kann man
nicht scharf genug solchen Veröffent¬
lichungen entgegentreten, welche einzelne
im Felde bedauerlicherweise vorgekom-
366 Die Therapie der
nienen Exzesse zu Schlüssen aufbauschen,
•welche besagen zu sollen scheinen, daß
dank unserem Alkoholismus den
'Krieg verloren haben. Über den Rück-
:gang des Alkoholismus während
4es Krieges hat u. a. Dr. Schweis-
/l^eimer in München Mitteilungen ge¬
macht, welche zur Weitergabe heraus-
iordern. Die Bekämpfung des Alkohol-
•verbrauchs ist von Beginn des Krieges
.an von allen beteiligten Staaten für not¬
wendig befunden worden; sie erhielt ihren
scMrfsten Ausdruck durch das strikte
Alkoholverbot in Amerika und (erstaun¬
licherweise) in Rußland. In Deutschland
begnügte man sich mit einer sogenannten
alkoholfreien Mobilmachung, denn wirk¬
lich alkoholfrei war sie nicht. Immerhin
aber verhinderten die diesbezüglichen
Verordnungen Ausschreitungen, wie man
sie bei solchen Anlässen von früher ge¬
wohnt war. Deutschland ist nach des Ver¬
fassers Meinung nicht mehr ein ,,feuchter“
Staat, da die Schnapsbereitung durch
Benötigung der dafür erforderlichen
Grundstoffe wesentlich eingeschränkt wer¬
den mußte, da für die Biererzeugung der
wichtigste Bestandteil: die Gerste, fehlt,
-das für Mostbereitung früher verwandte
'Obst andere Verwendung fand, und
schließlich der Wein so sehr im Preise ge¬
stiegen ist, daß er nur besonderen Kreisen
noch zugänglich wird. Dazu kommen
Verkürzung der Polizeistunde,. Schließung
der Animierkneipen u. dgl. m.
Der also verm.inderte Verbrauch an
geistigen Getränken hatte einen erheb¬
lichen Rückgang der Alkoholerkrankungen
zur Folge. In Deutschlands Anstalten für
Geisteskranke belief sich-' die Zahl der
wegen Alkoholismus Neuaufgenommenen
im Jahre 1914 noch auf 6921 (6380 männ¬
liche, 541 weibliche); im Jahre 1916 war
dieselbe auf 2266 (1986 männliche, 280
weibliche) gesunken. Der Prozentsatz
der wegen Alkoholismus in die Charite
Auf genommenen, der im Jahre 1907
20,6 bei den Männern, 3,2 bei den Frauen,
bis August 1914 noch 14 beziehungsweise
2,8 betrug, fiel im Jahre 1916 auf 3,3 bei
den Männern und 0 bei den Frauen. Des¬
gleichen ist der Prozentsatz der Deliranten
unter den alkol^olistisch Eingelieferten
daselbst sehr erheblich gesunken: von
47,3 Männern und 20 Frauen im Jahre
1907 auf 9 beziehungsweise 0. Von Inter¬
esse ist, daß Bonhoeffer in der Charite
eine Zunahme der wegen ,,pathologischem
Rausch“ Aufgenommenen von 12% im
Jahre 1912 auf 30 und 40% in den Jahren
Gegenwart 1920 ' Oktober
. - ■ , .- ■ ■ .. s , '..
1915/16 zu verzeichnen hatte. Diese Er¬
scheinung wird zum Teil auf die Über¬
weisung gerichtlicher Fälle aus dem
Heere, sodann aber auch auf die "
mangelnde Widerstandsfähigkeit zurück¬
geführt. Es wird ferner das beachtens¬
werte Moment hervorgehoben, daß die
Aufnahme solcher Geisteskranken, welche
äußeren Einflüssen nicht ihre Ent¬
stehung verdanken, wie der an jugend¬
licher Verblödung erkrankten Personen,
'keine prozentuale Herabminderung er¬
fahren hatte (das d.ürfte sich in späteren
Jahren erst bemerkbar machen, sofern
der dafür angenommene Alkoholismus
die rückschreitende Bewegung bei¬
behält. D. B.). ^
Mit Recht hebt Verfasser hervor, daß
ein abgeschlossenes Bild erst dann ge¬
geben sei, wenn die Gesamtzahl ein¬
schließlich der Militärpersonen, bekannt,
auch der Verbrauch an alkoholhaltigen
Getränken während der Kriegs]ahre mit¬
geteilt sein würde. Wenn er schließlich
noch dem ,,Kriegsbiere“ wegen seines ge¬
ringen Alkoholgehalts das Wort redet
und es als ein wirksames Mittel zur Be¬
kämpfung des Alkoholismus bezeichnet,
so wiederholt er, was der Nestor auf dem
Gebiete de$ Kampfes gegen den Miß-
brauch geistiger Getränke, A. Baer,
vor vielen Jahrzehnten zum Ausdruck
brachte, um sich damit die unauslösch¬
liche Gegnerschaft der Radikalabstinenten
zuzuziehen.^
Ergänzend sei hierbei gestattet, unter
Hinweis auf die in der ,,Chronik der so¬
zialen H^^giehe“ von Dr. Alexander
Elster (Öffentl. Gesundheitspfl. 1919,
Heft 5) veröffentlichten Daten noch mit¬
zuteilen, daß in den Irrenanstalten un¬
serer Ostprovinzen im Jahre 1913 unter
4882 Kranken 335=6,9% an alkoholi¬
scher Geisteskrankheit litten, während
das Jahr 1917 nur noch 2% aufwies. In
den öffentlichen Irrenanstalten Schlesiens
ist der Rückgang der männlichen Al-
koholisten auf 85,6%, der an akuter Al¬
koholvergiftung Erkrankten sogar auf
96,1% errechnet. Die Provinz Schlesien
beziffert die Ersparnis dadurch im Jahre
1917 auf rund 80 000 M. Daneben hatte
dieschlesischeLande^versicherungsanstalt,
die im Jahre 1913 für die Heilbehandlung
Alkoholkranker 125 817 M., im Jahre
1916 nur noch 8920 M. zu zahlen hatte,
im Jahre 1917 nichts mehr dafür zu
verausgaben. — Die Dresdener Heil-
und Pflegeanstalt stellt genau dieselben
günstige Rückwärtsbewegung wie auch
Die Therapie der Gegeinwart 1920
367
Oktober ^ >
T
die Berliner städtischen Irrenanstalten
festi).
Diese nackten Tatsachen dürften auch
denjenigen zu denken geben, welche jede
Antialkoholbestr^ung für illusorisch
halten. Schade nur, daß wir auf eine ob¬
jektive Darlegung dessen verzichten müs¬
sen, was der Alkohol im Felde sowohl in
positiver wie negativer Richtung geleistet
hat' Erst dann würden wir seinen Wert
im Kriege voll einschätzen können.
Waldschmidt.
Der retroperitoneale Weg zur Eröff¬
nung tiefliegender Bauchabscesse wird von
K ep p i ch angelegentlich empfohlen. Wenn
auch dieses Verfahren bei perityphliti-
schen Abscessen die Methode der Wahl
darstellt, so verdient doch die Mitteilung
des Verfassers, der sie auch auf andere
Bauchabscesse -.angewendet wissen will,
der besonderen Beachtung. Der Fall, in
dem es gelang, einen in Nabelhöhe
median gelegenen Absceß auf diesem Wege
zu eröffnen, betraf einen Kriegsverletzten,
der einen Becken-Mastdarmschuß erlitten
hatte. Es war sofort die Freilegung des
Mastdarms und dessen Naht ausgeführt
worden. Der Kranke begann aber bald
zu fiebern und verfiel immer mehr. Es
fand sich an der oben bezeichneten Stelle
•eine Resistenz, über der der Klopfschall
tympanitisch war. Dadurch wurde es
zur Gewißheit, daß man, wenn man den
Absceß von vornher anging, durch die
freie Bauchhöhle hindurchgehen mußte.
K epp ich legte darum den Eiterherd
retroperitoneal von einem linksseitigen
Flankenschnitt frei. Das Peritoneum und
der absteigende Dickdarm ließen sich
weit nach der Mittellinie zu abschieben
und es fand sich median von der Abgangs¬
stelle der Arteria iliaca communis eine
Vorwölbung, in der der Absceß gefunden
und eröffnet wurde. Die Heilung erfolgte
glatt. Hayward.
(Zbl. f. Chir. 1920, Nr. 6.)
Auf Grund ausgedehnter experimen¬
teller Untersuchungen an Tieren konnte
Nürnberger nachweisen, daß Bestrah¬
lungen der Hoden und Ovarien eine pa¬
thologische oder minderwertige Nach¬
kommenschaft nicht entstehen lassen.
Die Keimzellen werden durch die Be¬
strahlung nicht direkt geschädigt, son¬
dern bleiben noch etwa 24 Stunden be-
Auf der im Mai in Hamburg stattfindenden
Versammlung der Irrenärzte wird von Peretti
(Grafenberg) und Ritter Wagner-von Jauregg
(Wien) über diesen Gegenstand umgehend Bericht
erstattet. D. B.
fruchtungsfähig; auffallend ist, daß die
Spermatozoen weniger strahlenempfind¬
lich sind, als die Ovarien. Die innerhalb
dieser 24 Stunden erzeugten Nachkom¬
men sind vollkommen normal; nach dieser
Zeit kommt es nicht mehr zu einer klinisch
nachweisbaren Konzeption. Tritt nun
durch die Bestrahlungen keine dauernde
Sterilität ein, so werden durch die Regene¬
ration der Keimdrüsen wieder normale
Nachkommen erzeugt. Auch beim Men¬
schen konnte auf Grund von klinischen
Beobachtungen und statistischen Er¬
hebungen in keinem Falle nachgewiesen
werden, daß es durch die Bestrahlung zu
einer Schädigung der Nachkommenschaft
gekommen wäre. Einen wertvollen Bei¬
trag zur Frage der temporären Sterili¬
sation der Röntgenstrahlen liefern auch
diese Tierexperimente; manüst berechtigt,
bei strengster Indikation dieses Verfahren
durchzuführen, welches gefahrlos ist und
stets zum Ziele führt.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(Prakt. Erg. d. Geburtsh., 8. Bd., 2. H.)
^ Auf Metpstasen des Krebses im Dou-
glasschen Raume, wie am Rectum lenken
Cade und Routier die Aufmerksamkeit
des Praktikers, da die Kenntnis dieser
pathologischen Zustände für Diagnose
und Prognose von großer Wichtigkeit
sind. In den Fällen, in denen der primäre
Sitz des Krebses unbekannt ist, wird man
durch das Fühlen, wie Rectoskopieren
einen Befund aufnehmen können, der ein
primäres Rectumcarcinom ausscnließt.
Man muß nämlich in allen den Fällen,
in denen nur eine breite Infiltration der
Rectalwand ohne Geschwürsbildung ge¬
funden wird, stets an eine Metastase
denken und die primäre Geschwulst¬
bildung in irgend einem Bauchorgane
suchen. Ist es nun möglich gewesen, den
Tumor zu finden, so ist dies ein Merk¬
zeichen für die Kliniker, daß man es mit
einer Carcinomatose des Bauchfells zu
tun hat, und für den Chirurgen, daß er
sich nur auf eine palliative Operation be¬
schränken soll oder überhaupt von jedem
Eingriff absehen muß.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(La Pr. m6d. 1920, Nr. 16.)
Die weibliche Gonorrhöe hat nach
Sänger ihren primären Sitz in der
Urethra, wonach der Arzt auch seine
Therapie einrichten muß; das Hauptziel
ist, den Cervix uteri vor der Infektion zu
schützen. Bei ambulanter Behandlung
soll die Harnröhre einmal hei klinischer
zwei- bis dreimal mit 5% Argonin oder
X)ie Therapie der Gegenwart i92CL
OktoBer
durchgespritzt werden. Nicht ver¬
gessen werden darf die Behandlung der
urethralen und paraurethralen Gänge, die
mit einem feinen Stichbrenner verödet
oder mit einem watteumwickelten und
in Arg. nitrid. getränkten Platindraht
ausgewischt werden. Ist die Absonderung
aus der Urethra sehr stark, so wird ein
mit 1% Ichthargan oder Ichthyolglycerin
getränkter Tampon vor die Portio gelegt.
Während der Menstruation muß un¬
bedingt Bettruhe eingehalten und dreimal
täglich eine Atropinpille 0,001 genommen
werden. Auf solche Weise ist es Sänger
in manchen Fällen gelungen, die Ge-
norrhöe auf die Harnröhre zu beschränken
und dann in viel kürzerer Zeit und sicherer
als eine Uterusgonorrhöe zu heilen.
, ■ Pulvermacher (Charlottenbürg).
(Mschr. f. Geburtsh., Bd. 53.)
Im Gegensatz zu früheren Anschau"-
ungen ist in den letzten Jahren nachge¬
wiesen worden, daß beim Menschen nach
subcutaner und intravenöser Injektion
von Hypophjsenextrakt eine deutliche
Hemmung der Wasserausscheidung auf^
tritt. Dies gilt auch für die Diurese beim
Diabetes insipidus, während die Wirkung
beim Diabetes mellitus- bisher noch unge¬
klärt war. Schenk kommt auf Grund
zahlreicher Untersuchungen zu dem Re¬
sultat, daß Hypophysenextrakte
selbst in Dosen, die bei Gesunden und
bei Patienten mit Diabetes insipidus zu
vorübergehender Anurie führen, beim
Diabetes mellitus gar nicht oder nur
gering diuresehemmend wirken. Die
als Begleiterscheinung alimentärer Glykos-
urie auftretende gesteigerte Diurese wird
dagegen durch große Extraktdosen be¬
einflußt. Kamnitzer (Berlin).
(M. Kl., Nr. 22.)
Durch das seitliche Anlegen einer
Kolon-descendens-Fistel unter Lokal¬
anästhesie war es Brewitt möglich ge¬
worden, eine Reihe von Frauen zu retten,
bei denen es nach der Operation durch ein
Beckenexsudat zum Darmverschluß ge¬
kommen war. Von den mechanischen
Verhältnissen dieser postoperativen Stö¬
rung wird eine gute Schilderung gegeben.
Ein Erfolg kann nur dann erreicht werden,
wenn nicht zu spät operiert wird. Es wird
zuerst die Darmwandung mit feinen
Seidenknopfnähten in Markstückgröße in
die kleine Peritonenlöffnung eingenäht
und ein Jodoformdocht d''rüber geknüpft.
Es folgt nun sofort Punktion des Darms
mit dicker Kanüle, um den Druck der
Gase zu beseitigen. Eine Seidennaht be-
' \
zeichnet die Mitte der eingenähten Darmr
wand und schließt die Punktionsstelle.
Quer zum Darmverläuf wird am nächsten
Tage ein 1 cm langer Einschnitt gemacht.
Das bedrohliche Bild ändert sich ganz
plötzlich. Nach zehn bis zwölf Tagen hat
sich der Zustand soweit gebessert, daß
sich die F‘stel spontan schließt.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(Zbl. f. Gyn. 1920, Nr. 24.)
Über Wesen und Behandlung der
Neurasthenie hat Strümpell auf einem
in Karlsbad veranstalteten internatio¬
nalen Kursus etwa folgendes vorgetragen:
Unsere Anschauungen über Begriff
und Wesen der Neurasthenie haben sich
in neuerer Zeit wesentlich erweitert.
Neurasthenie ist keine scharf abgegrenzte
Krankheit, der Name bezeichnet eine
ganze Gruppe von Krankheitserscheinun¬
gen, die man zu den sogenannten funktio¬
nellen Neurosen rechnet. Das Wort
,,funktionell“ soll den Gegensatz zur
,,anatomischen“ Erkrankung bezeichnen.
Doch entsprechen sicher auch der funktio¬
nellen Störung gewisse organische, das
ist also anatomische Veränderungen. Sie
bestehen aber nicht in dauernden Ge¬
websschädigungen oder Gewebsneubil¬
dungen, sondern nur in Änderungen des
funktionellen Zellzustandes und können
daher jederzeit verschwinden oder sich
verändern. Jede Zelle steht in ständiger
Funktionsbereitschaft, deren Anpassung
an eine bestimmte Reizstärke als die
„funktionelle Einstellung“ der Zelle be¬
zeichnet wird. Die meisten funktionellen
Störungen beruhen auf einer krankhaft
veränderten funktionellen Einstellung be¬
stimmter Zellgruppen, beziehungsweise
bestimmter Organe. Meist bezieht sich
diese Einstellung wohl auf das Verhältnis
der Zellen zum Nervensystem, so daß diese
Zustände passend als Neurosen bezeichnet
werden können. Es ist aber nicht aus¬
geschlossen, daß funktionelle Störungen
der Gewebe auch unabhängig vom Ner¬
vensystem bestehen können, daß man
also statt von Neurosen auch von Myosen,
Adenosen und anderen sprechen könnte.
Immerhin spielt der nervöse Faktor bei
den meisten funktionellen Störungen
sicher die größte Rolle, und zwar kommen
unter den nervösen Funktionen wiederum
am meisten die psychischen Funktionen,
die Funktionen des Vorstellungslebens in
Betracht. Wir müssen alle funktionellen
Störungen einteilen in die organisch¬
funktionellen und in die psychogenen
Störungen. Die Entstehung der letzteren
Oktober
Die Therapie deif Gegenwart 1Ö20
3^
hängt zunächst von dem Inhalt der im
Bewußtsein vorherrschenden Vorstellun¬
gen ab. Namentlich sind es Vorstellungen
ängstlichen Inhaltes, die zahlreichen neur-
asthenischen Krankheitszuständen zu¬
grunde liegen. Die Furcht vor dem
Krebsleiden, vor dem Herzfehler, vor
der . Geisteskrankheit ist die Hauptur¬
sache vieler Fälle von psychogener Neur¬
asthenie. Einen wichtigen Faktor stellen
dabei die sogenannten Erwartungs¬
täuschungen dar: die lebhafte Erwartung
einer -bestimmten Empfindung ruft die
Illusion der erwarteten Empfindung her¬
vor. Aus dem gefürchteten Schmerz
entsteht die eingebildete Schmerzemp¬
findung. Die letzte Ursache der abnormen
funktionellen Einstellung des Nerven¬
systems und der anderen Organe muß in
der gesamten ,,Konstitution“ der Kran¬
ken liegen. Alle Erörterungen über Neur¬
asthenie führen zur Untersuchung des
Konstitutionsbegriffes. Wir müssen ent¬
sprechend dem oben Gesagten die orga¬
nisch-funktionelle und die psychischeKon-
stitution unterscheiden. Die abnorme
Konstitution kann sich in äußerlichen
anatomischen Merkmalen bemerkbar
machen oder nur in abnormer funktio¬
neller Einstellung der Organe. Bei den
Neurasthenikern ist die abnorme psy¬
chische Konstitution meist das Vor¬
herrschende. Sie ist charakterisiert durch
die große psychische Reizbarkeit, die
sich aber nicht nur in bezug auf die
psychischen Reize selbst, sondern auch
oft auf zahlreiche körperliche physika¬
lische (Witterung!) und chemische (Alko¬
hol und andere) Reize bezieht. Gehen
wir dem Wesen der Konstitutionsunter¬
schiede noch näher nach, so müssen wir
auch das Gebiet der inneren Sekretion,
der sogenannten endokrinen Drüsen be¬
rühren. Vor allem die Schilddrüse und
die Geschlechtsdrüsen, letztere insbe¬
sondere beim weiblichen Geschlecht, ver¬
dienen auch bei der Entstehung neur-
asthenischer Zustände Beachtung. Nicht
selten hängt die Neurasthenie zum Bei¬
spiel mit Basedowerscheinungen zusam¬
men, in anderen Fällen mit Störungen
der Ovarialfunktion und dergleichen.
Auch die chemische Konstitution des
Körpers kommt in Betracht. Anomalien
des Stoffwechsels, wie zum Beispiel die
Hämatoporphyrie, können den neur-
asthenischen Zuständen zugrunde liegen.
Machen wir uns alle diese verschiedenen
Gesichtspunkte klar, die zur Beurteilung
jedes einzelnen Falles von Neurasthenie
herangezogen werden müssen, so sehen
wir auch ein, vor welche komplizierte
Aufgabe wir auch bei der Behandlung
der Neurasthenie gestellt werden. Die
Grundbedingung ist eine eingehende Dia¬
gnostik, nicht nur der Ausschluß anatomi¬
scher Erkrankungen, sondern auch die '
Beurteilung der besonderen Art der vor¬
liegenden funktionellen Störungen. Die
Konstitution des Kranken verdient die
eingehendste Berücksichtigung; an die
Möglichkeit endokriner Störungen, die
vielleicht durch eine Organtherapie
günstig zu beeinflussen sind, ist stets zu
denken. Von größter Bedeutung ist
aber die psychische Behandlung. Nur
der Arzt, der seine Kranken psychisch
günstig zu beeinflussen versteht, wird bei
der Behandlung der Neurasthenie gute
Erfolge erzielen. Die Neurastheniker
bedürfen vor allem des Trostes und der
Beruhigung. Der Arzt muß ihren Ge¬
mütszustand zu ergründen suchen uad
hiernach seine Behandlung einrichten.
Die Suggestivbehandlung ist neben der
unmittelbaren Psychotherapie oft unent¬
behrlich. Der Arzt muß sich daran ge¬
wöhnen, jeden einzelnen Krankheitsfall
als eine besondere ihm gestellte Aufgabe
zu betrachten. Dann wird er bei der
Diagnose und Behandlung der Neur¬
asthenie das erreichen, was der Natur
der Sache nach überhaupt zu erreichen ist,
0. R.
Welch verheerenden Folgen der Krieg
auf die heimische Bevölkerung gehabt
hat, und wie die Schäden einigermaßen
wieder auszugleichen sind, ist eine Frage
von allergrößter Wichtigkeit für den
Fortbestand des Deutschen Reiches. Aus
den verschiedensten Städten werden
ziffernmäßige Daten gegeben, die in er¬
schreckender Deutlichkeit zeigen, was
uns die Kriegszeit an Menschenmaterial
gekostet hat. So veröffentlicht der
Privatdozent Dr. Bürgers die Sferblich-
keitsverhältnisse der Leipziger Bevöl¬
kerung in den Jahren 1912—18. Aus
einer größeren Zahl von Tabellen und
Kurven, welche er seinen ausführlichen
Darlegungen beifügt, erhellt, wie un¬
günstig sich die Verhältnisse für diese
Stadt gestaltet haben. Zunächst ist die
Einwohnerschaft von 616 220 im Jahre
1912 auf 563 946 im Jahre 1918 zurück¬
gegangen, wobei die Männer ein Minus
von 76 222 aufzuweisen haben gegenüber
einem Plus der weiblichen Bevölkerung
von 23 948. Die allgemeine Sterblichkeit
hat sich bei den Männern von 3995
47
^70
Die Therapie der' Gegenwart 1920
Oktober
('== 132,5 auf 10 000 Einwohner) auf 5389
(239,4), bei den Frauen von 3719 (111,1)
auf 5389 (239,4), also insgesamt von 7714
(124,8) auf 10 969 (194,5) gehoben. Die
Zahl der Geburten fiel von 134 00 (6935
männliche, 6465 weibliche) im Jahre 1912
auf 6505 (3372 männliche, 3133 weib¬
liche) im Jahre 1918. Der Geburtenüber¬
schuß ist von + 65,9 auf — 83 herab¬
gedrückt, so daß Leipzig nur noch hinter
München, welches von + 65,5 auf — 43,1 "
glitt, übertroffen wird; während andere
deutsche Großstädte ein noch trüberes
Bild zeigen, so Berlin von + 99,4 auf
— 147,4, Breslau von + 74,1 auf — 144,
Hamburg von + 70,7 auf —• 120,7 usf.
Die Hauptsteigerung der allgemeinen
Sterblichkeit, welche ihren beredtesten
Ausdruck in den Sterblichkeitsziffern für
das weibliche Geschlecht erhält, setzt in
Leipzig im Dezember 1916 ein und währt
über Januar/Februar 1917,* um dank einer
bnfluenzaepid^fnie im Oktober 1918 ihren
Höhepunkt zu erreichen. Für die sonstige
Todesursache wird in erster Linie die
Tuberkulose verantwortlich gemacht; die
Zahl der diesbezüglichen Todesfälle stieg
von 18 auf 32,2 pro 10 000, das ist um
91,6%. Besonders zeichneten sich hier¬
durch die Jahre 1917/18 aus, wiewohl
schon im Laufe des Jahres 1916 eine ge¬
wisse Steigerung beobachtet ward. In den
’Jahren 1915/16 machte sich Diphtheriebe-
sonders unliebsam geltend, während 1917
Herz- und Gefäßerkrankungen sowie
Altersschwäche hervortraten. Wie nicht
anders zu erwarten, geben diebeiden Jahre
1917/18 ein recht ungünstiges Bild. —Was
die Säuglingssterblichkeit anlangt, so
konnte für Leipzig mitgeteilt werden, daß
in dem Zeitraum 1912/18 keine Steigerung
stattgehabt hat, allerdings auch keine Ab¬
nahme zu konstatieren war. Angesichts
der hoh^n Sterblichkeitsziffern bei den
unehelichen Kindern mußte man wahr-
" nehmen, daß die Erwartungen, welche auf
die Reichswochenhilfe gesetzt worden
waren, vereitelt wurden.
Ein Mehr aus diesem wertvollen Ma¬
terial wiederzugeben, würde den Rahmen
der Berichterstattung übersteigen. Es sei
schließlich nochmals hervorgehoben, daß
die Tuberkulose besonders im Jahre 1918
verheerend auftrat, nachdem sich bereits
im Frühjahr der Einfluß der mangel¬
haften Ernährung geltend gemacht hatte,
ein Einfluß, den deutlich die Einwirkung
der unheilvollen Blockade, deren direkte
Folgen für Leipzig auf 5000 Personen
geschätzt werden, dartut. —
Über Geburt und Tod in Chem¬
nitz während der Kriegsjahre verbreitete
sich Med.-Rat Dr. Hauff e, Stadtbezirks¬
arzt in Chemnitz. Er stellte einen starken
Rückgang der Geburten dreiviertel Jahr
nach Kriegsbeginn fest, der im November
1917 seinen höchsten Tiefstand, ein Viertel
der Entbindungen im ersten Kriegsmonat,
erhalten hat; im Jahre 1918 konnte ein
kleiner Anstieg konstatiert werden. Die
Zahl der Lebendgeburten sank von 8406
im Jahre 1913 auf 3366 im Jahre 1918,
die der Todesfälle stieg dagegen in den
betreffenden Jahren von 4306 auf'5441.
Im Jahre 1913 kamen auf 1000 Ein¬
wohner 26,69 Lebendgeborene, im Jahre
1918 nur noch 12,38 (11,93 im Jahre 1917).
Die Säuglingssterblichkeit bewegte sich
zwischen 16,13% im Jahre 1913, 20,77%
im Jahre 1914 und 15,71% im Jahre
1918. Dabei muß die größere Anzahl
stillender Mütter in Betracht gezogen
werden: während z. B. 1913 noch ein
Prozentsatz von 21,63 aller entbundenen
Mütter überhaupt nicht stillten, fiel diese
Zahl im Jahre 1918 auf 7,49%; besonders
die Zahl derjenigen, welche diese Pflicht
über sechs Wochen erfüllten, war nicht
unwesentlich erhöht — Die Gesamt¬
sterblichkeit ist von 136^7 (1913) auf 200,2
(1918) auf 10 000 Einwohner gestiegen,
die Zahl der Tuberkulosesterblichkeit von
13,21 auf 31,2 errechnet. Die Folgen der
Hungerblockade werden auch durch diese
Zahlen, zumal in Anbetracht der Tatsache,
daß die Zahl der Einwohner bei Kriegs¬
beginn 326 563 betrug, bis Ende des
Jahres 1918 einen Verlust von 54 646-
aufzuweisen hatte, erhärtet — ein Um¬
stand, der nicht nachdrücklich genug
immer wieder betont zu werden verdient.
Im Anschluß hieran sei der Äußerun-
gofi, welche Geh. Ober-Med.-Rat Dr.
K r 0 h n e aus dem preußischen Ministerium
des Innern gelegentlich der jüngsten Ver¬
sammlung der Medizinalbeamten über
diesen Punkt machte, Erwähnung getan.
Nach der Zeitschrift für Medizinalbeamte
1919, Nr. 24, sagte er u. a.: ,,Ich weiß
nicht, ob es in weiteren Kreisen unseres
Volkes bereits hinreichend bekannt ist,
wie furchtbar unser Volk in gesundheit¬
licher Beziehung durch diesen Krieg ge¬
litten hat, und welches Maß von Verlusten
an Menschenkraft und Menschengesund¬
heit uns betroffen hat. Ich will nur fol¬
gende Zahlen erwähnen; Wir haben im
Kriege verloren annährend 7 Millionen
Menschen! Gefallen sind rund 2 Millionen
Menschen; weiterhin sind 800 000 Men-
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1920
371
scheiß der Heimatbevölkerung, was wir
•statistisch nachweisen können, durch die
Hungerblockade zugrunde gegangen, und
schließlich haben wir lediglich infolge des
Krieges seit 1915 einen Geburtenverlust
von 4 Millionen zu beklagen — also ganz
ungeheuere Verlustziffern— Krohne
berechnet unter Berücksichtigung'^der
Abtretung deutscher Landesteile den
Menschenverlust für Deutschland auf über
12 Millionen! Waldschmidt.
' (Öffentl. Gesundheitspfl. 1919, Nr. 10.)
Mit Styptysat, aus dem Hirtentäsch chen
nach dem Ysatverfahren von der Ysat-
fabrik Johannes Bürger in Wernigerode
hergestellt, hat Oppenheim bei Uterus¬
blutungen aller Art in den meisten Fällen
seine Erwartungen erfüllt gesehen, so-
daß er dieses Mittel bei allen Geburts¬
blutungen, soweit sie nicht operativ an-
zugreifen sind, sehr empfehlen kann.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(M. KI. 1920, Nr. 35.)
Mit Einspritzungen- von Terpentinöl,
das nach einem besonderen .Verfahren
rektifiziert und von der Firma Ludwig
Ostreich er in Berlin hergestellt wird,
hat Hartog bei Eiterungen und
Entzündungen der weiblichen Ge¬
nitalien recht gute Erfolge erzielt.
Auffallend war die schnelle Besserung
bei Parametritiden nach Abort und
Geburt; bei den gonorrhoischen Er¬
krankungen ließen auch Ausfluß und
Schmerzen bald nach, während eine
wesentliche Änderung im objektiven Be¬
fund nicht sofort festzustellen war. Inner¬
halb einer Woche werden zwei Ampullen
Terpichin mit einer drei bis vier Zenti-
- meter langen Kanüle in die Glutäal-
muskulatur eingespritzt. Wenn auch,
wie die Erfahrung zeigt, mit anderen
Mitteln bei diesen Erkrankungen eine
Besserung erreicht wufde, so ist doch die
äußerst schnelle Veränderung nach der
guten Seite hin sowohl in subjektiver,
wie objektiver Beziehung sehr über¬
raschend. Pulvermacher (Charlottenburg).
(M. Kl. 1920, Nr. 18.)
Die Frage' eines ursächlichen Zu¬
sammenhanges zwischen Trauma des
Nervensystems und perniziöser Anämie
erörtert J. Zadek auf Grund einer Ka¬
suistik des Städtischen Krankenhauses
Neukölln. Die Ätiologie der Perniziosa
ist nur in einer Minderzahl der Fälle
— schätzungsweise zu 20 % — bekannt:
Bothriocephalus, Leukämie,'Malaria, Blei,.
Lues, Carcinose. Der Ursprung der über¬
wiegenden Mehrzahl (80 %) ist unbe¬
kannt. Die nervöse Komponente im
Krankheitsbilde der Perniziosa umfaßt
hauptsächlich funktionelle Symptome wie
Schwindel, Kopfschmerz, Paraesthesieen,
Koma. Nur selten finden sich organische
Störungen: Hirnblutungen, Strangdegene¬
rationen. Organische Veränderungen des
Nervensystems sind als Entstehungs¬
ursache kaum in Betracht gezogen wor¬
den: Eher hält man psychische Traumen,
Kummer und Sorgen bei schlechten so¬
zialen Verhältnissen für bedeutsam, wo¬
durch sich die hohe Erkrankungsziffer
bei Frauen der Arbeiterklasse erklärt.
Die vorliegende Sammlung umfaßt
fast 50 Fälle, unter denen drei (6 %) be¬
merkenswert sind, bei denen anamnestisch
ein schweres Trauma des Nervensystems
vorliegt. In der Literatur sind bisher
nur wenige derartige Fälle beschrieben
worden, und zwar weniger nach or¬
ganischen Verletzungen als nach allge^
mein psychisch-nervösen Einwirkungen,
so nach Schock, Sturz mit dem Motor¬
rad, Eisenbahnunfall. Die drei eigenen
Fälle des Verfassers umfassen sichere
Perniziosae nach schweren Verletzungen
des Schädels unter mittelbarer oder un¬
mittelbarer Beteiligung des Gehirns.
Ein strikter Beweis für eine Ein¬
wirkung der Hirnverletzung auf das
hämatopötische System ist naturgemäß
nicht zu erbringen. Angesichts der un¬
zähligen Schädeltraumen des Weltkrieges
bietet sich reichlich Gelegenheit dieser
Anregung naehzugehen.
Bosselmann (Berlin).
(M. m. W. 1920, Nr. 33.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Bemerkungen zu dem A. Loewysehen Aufsatz über die
Steinachschen Versuche im Augustheft 1920.
Von Sanitätsrat Dr. B. Laquer, Wiesbaden.
Die klaren’ A. Loewy sehen Ausfüh¬
rungen sind inzwischen durch W. Roux,
Stutzin und P. Fürbringer in der
D. m. W. 32 und 35 und 36 sowie durch
Rom eis in der'M. m. W. 35 in kritischer
Hinsicht erweitert worden; daß die Stelle,
an welcher das Vas deferens nach -Stei¬
nach unterbunden und excidiert werden
47*
I
372 Die Therapie der
.soll, — im Gegensatz zu, der früher bei
Prostatahypertrophie herkömmlichen, 'der
S t e-i n a ch- Effekte ermangelnden ingui¬
nalen — eine gewisse Rolle spielt, hebt
schon Roux hervor; — Fürbringer be¬
tont die geringe Zahl der klinischen Be¬
obachtungen Steinachs, Romeis den
Mangel an Eindeutigkeit derselben, auch
. ‘der Rattenexperimente. Von Bedeutung
scheint aber auch — und dies ist bislang
noch nicht erwähnt worden — die Aus¬
wahl der zu Verjüngenden, insbesondere
-die Rücksicht auf die Beschaffenheit des
Herzens; hier kann durch wahllose In-
-dikationsstellung Lebensgefahr entstehen,
denn eine neu gewonnene sexuale Betäti-
.gungsmöglichkeit stellt gerade bei älteren
Leuten große, ja maximale Ansprüche an
das Gefäßsystem; siehe auch B. Naunyn
und C. Hi.rsch in den betreffenden Ka¬
piteln des J. Schwalb eschen Lehrbuchs
-der Greisenkrankheiten (1908), • Krehl
der in Monographie über Herzkrankheiten
in Nothnagels,,Handbuch“. E. v. Ley¬
den in Senator-Kaminers Ehe und Krank¬
heiten; V. Leyden hat vor langer Zeit,
Zschr. f. klin. M. Bd. 11, Fälle von Herz¬
ruptur im Kohabitationsakt beschrieben.
Man sollte, wenn die allgemeine Ver-
. jüngung überhaupt gelingt,‘d'ie betreffen-
-den ,,alten Herren“ dringend davor
warnen, die Probe, auf das Exempel zu
inachen und ihnen raten, sich mit der
Besserung der allgemeinen funktionellen
Leistungsfähigkeit genügen zu lassen.
Steinachs Verdienste um die For-
■schung bleiben, auch wenn seine Ratten¬
versuche sich, wie so oft, nicht auf die
Menschen übertragen lassen, unbestritten
ersten Ranges. Man lese auch A. Lip-
3chütz: die Pubertätsdrüse, 1919, Bern
und P. Kämmerers Bericht über Stei¬
nachs Forschungen in den ,,Ergebnissen
der inneren Medizin“, Bd. 17, 1919.
Nachschrift: Während des Druckes
-dieser Zeilen fand gelegentlich der Nau-
heimer Ärzte- und Naturforscherversamm¬
lung in der ,,Sektion für Chirurgie“ am
Mittwoch, dem 23. September, eine kurze
Debatte über die Verjüngungsoperation
statt. Zuerst berichtete der chirurgischeMit-
-arbeiter Steinachs, Prof. R. Lichten-
stern-Wien über die Erfolge der Alters-
bekämpfungbeimManne. Es ist Steinach
gelungen, durch Neubelebung der Puber¬
tätsdrüse beim Versuchstiere die Alters¬
erscheinungen zum Schwinden zu bringen
und dem Tiere eine neue Jugend einzu¬
flößen. Auf Veranlassung dieses Forschers
hat Lichtenstern im Herbste 1918 diese
Gegenwart 1920 ' Oktober
Veisuche auf den Menschen übertragen
und es gelang ihm, in einer Anzahl von
Fällen gewisse Alters ersch ei nun gen zur'
Rückbildung zu bringen. Lichtenstern
-verfügt ütier 28 Fälle. Der Eingriff, der
in der Unterbindung des Ausführungs¬
ganges der Geschlechtsdrüsen besteht,
teils am Nebenhoden selbst, teils höher,
oben, ist ein harmloser, in Lokalanästhesie
leicht auszuführender. Die Indikation
für diese Operation am Menschen besteht
in den Veränderungen des Senium praecox
bei Männern zwischen dem 40. und 50.
Lebensjahre, wobei Vorbedingung das
Fehlen schwerer Organerkrankungen ist.
Weiter in der Bekämpfung der Alters¬
erscheinungen bei Menschen in hohem
Lebensalter, deren Allgemeinzüstand aber
noch so günstig ist, daß eine Wiederher¬
stellung wahrscheinlich erscheint. Auch
hier bilden schwerere Organerkrankungen
eine Kontraindikation. Endlich wurde
bei jungen Menschen, bei denen eine ge¬
ringe Erotisierung seit der Pubertät, ge¬
ringere Ausbildung der Sexuszeichen und
insbesondere geringere geistige Leistungs¬
fähigkeit bestand, der Versuch gemacht,
durch diesen Eingriff eine vermehrte
Funktion der Geschlechtsdrüse zu er¬
zielen.
Die Erfolge bei den zwei ersten Grup¬
pen waren recht befriedigende. Von mar¬
kanten Erscheinungen war insbesondere
das Verhalten der Haut auffällig; die
früher trockene, spröde, unelastische Haut
bekam Glanz, Elastizität und wurde gut
durchfeuchtet. Rascheres Wachstum
der Kopf- und Barthaare, Neubehaarung
an verschiedenen Stellen des Körpers
und der Extremitäten war ebenfalls zu
beobachten. Rasche Gewichtszunahme,
Erhöhung der körperlichen und geistigen
Leistungsfähigkeit trat auf. Früher
quälende Herzbeschwerden schwanden.
Es konnte endlich eine auffallende Zu¬
nahme der Libido und Potentia coeundi
festgestellt werden; die Erfolge bei der
Gruppe der jüngeren, sexuell Zurückge- v
bliebenen ist zurzeit noch nicht spruchreif.
Der Eintritt dieser Veränderungen
erfolgte acht Wochen bis fünf Monate
nach dem Eingriff und ist deshalb ruhiges
Zuwarten und ein lang fortgesetztes Be¬
obachten nach der Operation angezeigt.
Die Auswahl der zu operierenden Fälle
muß eine vorsichtige und sehr sorgfältige
sein. Alles ungeeignete Material soll aus¬
geschaltet werden.
Die bisherigen Beobachtungen am
Menschen berechtigen zu dem Schlüsse,
Öktober
Dfe Therapie der Gegenwart 1920
373
daß die von Steinach am Tierexperi-
ment gemachten Erfahrungen auf den
Menschen anwendbar sind, daß die Wir¬
kung des von Steinach empfohlenen
Eingriffes auch beim Menschen ähnliche
Veränderungen nach sich zieht wie beim
Versuchstier. Irgendeine lokale Schädi¬
gung oder'irgend einen ungünstigen Ein¬
fluß auf den Gesamtorganismus konnte
auch bei doppelseitiger Unterbindung und
bei längerer Beobachtungszeit in keinem
der Fälle wahrgenommen werden.
Sodann sprach Mühsam (Berlin) über
Testikel-Radikaloperationen bei Sexual¬
neurose und ihre Erfolge (vgl. D. m. W.
N. 29 d. J.).
In der Diskussion empfahl E. Payr
(Leipzig), falls Testikeln mangeln, Testi-
kelscheiben von Blutverwandten Heraus¬
zunehmen und zu überpflanzen. Ferner
wies er auf seine in der Nummer vom
11. September des ,,Zbl. f. Chir.“ ver¬
öffentlichte Kritik der St ei nach sehen
Versuche hin, sowie auf die alte Noth-
nagelsche Bemerkung, daß unter tau¬
send Menschen etwa einer an Alters¬
schwäche stürbe, während Tiere umge¬
kehrt zu 999 7oo einen physiologischen
Tod erleiden, da ihre Organe nicht so
vielen und starken,’ krankmachenden In¬
sulten ausgesetzt seien wie die der Men¬
schen. Die Vasektomie sei niöht gar so
harmlos; Choc Psychosen nicht selten.
Kümmel (Hamburg) hat auch schon
früher eine zweite Jugend nach subpubi-
scher Prostatektomie mit Obliterationen
der Vasadeferentia gesehen und führt
die selteneren Fälle von Psychosen auf
Urämie zurück. Asch off (Freiburg) hält
das isolierte Vorhandensein und -Wirken
der sogenannten Pubertätsdrüse histolo¬
gisch und physiologisch für noch nicht
erwiesen. Von Haberer (Innsbruck): sah
Todesfälle nach doppelseitiger Vasektomie
durch Gangrän des Nebenhodens.
Die Debatte ergab also noch viele
strittige Punkte; .auch waren die Lich-
tensternschen Krankengeschichten kli¬
nisch viel zu allgemein gehalten (Referent).
Kritische Weiterprüfung der interessanten
sexualbiologischen Fragen, welche nach
Ansicht des Referenten nur nach sorgfäl¬
tigster klinischer Prüfung der Fälle, und
zwar von hunderten von Kranken und
Gesunden vor und nach der Steinach-
schen Operation ist notwendig.
Aus der 1. inneren Abteilung des Städtischen Krankenhauses Moabit.
Augenkrisen bei Tabes.
Von Leo Jacobsohn, Chaiiottenburg.
Eine Belebung des einförmigen Bil¬
des, das die Tabes dorsalis dem Kliniker
bietet, bewirken jene eigenartigen akut
auftretenden, als Krisen bezeichneten
Zustände, deren Prototyp die Magen¬
krise ist. Auch an Häufigkeit steht die
Magenkrise an erster Stelle. Seltener
schon sind die Darmkrisen, Blasen-,
Nieren-, Klistoris-, Anal-, Larynx-, Pha¬
rynx- und Geschmackskrisen. In neuerer
Zeit hat J. PaF) auf einen krisenartig
eintretenden Zustand von Atmungsstill¬
stand aufmerksam gemacht, der von
jenem Autor auf eine für die Tabes
charakteristische Neigung zu zeitweiser
Gefäßverengerung zurückgeführt wird.
Das eindrucksvolle Bild einer vier Minuten
anhaltenden Atmungspause mit tiefer
Bewußtlosigkeit wurde im Krankenhause
Moabit bei einer tabischen Kranken mehr¬
fach beobachtet^). Zu den seltensten
Erscheinungen im Bilde der Tabes ge-
J. Pal, Atmungs- und Gefäßkrisen bei
Tabes. W. m. W. 1909, Nr. 11.
2) Leo Jacobsohn, Krisenhaft auf tretende
Bewußtlosigkeit mit Atemstillstand bei Tabes.
Ther. d. Gegenw. 1910, Nr. 7.
hören krisenartige, periodisch wieder¬
kehrende, auf den Augapfel lokalisierte
Zustände. Ja, ein so erfahrener Autor
und hervorragender Kenner wie Her¬
mann Oppenheim konnte noch in
der vorletzten Auflage seines Lehrbuches
(1909) sagen: „Es bleiben jedoch weitere
Erfahrungen abzuwarten, ehe man diese
Anfälle der Symptomatologie der Tabes
einreihen kann.“ ^ Derartige Erfahrungen
sind in den letzten zehn Jahren gemacht
worden, und wenn auch etwa nur ein
halb Dutzend Fälle der Kritik standhalten,
so ist doch die Existenz der Augenkrise
heute über jeden Zweifel sichergestellF).
Die Seltenheit der auf dem Boden der
Tabes entstehenden Augenstörung recht¬
fertigt die Mitteilung eines weiteren Falles.
Es handelt sich um die 42 jährige verwitwete
W'. K., die am 3. Juli 1920 im Krankenhaus Moabit
Aufnahme fand.
Als Kind Masern, Diphtherie, Lungenentzün¬
dung, hat infolge von Rachitis erst spät gehen ge¬
lernt. Seit sieben Jahren Menopause nach Total-
extirpation. Im Anschluß hieran rechtsseitige
2) R. Fabinyi, Tabische Augenkrisen und
deren Entstehung. Zschr. f. Psych. u. Neurol. XXII,
Heft 3.
374
Die Therapie der Gegenwart 1920
Oktober
Lähmung mit Sprachverlust. Deswegen längere
ambulante Behandlung in der Charite mit Aus¬
gang in fast völlige Heilung. Im letzten Jahr
mehrere Anfälle von vorübergehender Bewußt¬
losigkeit ohne Zungenbiß. Darauf Kopfschmerz,
einigemal auch Erbrechen. . Seit zwei Monaten
wiederholte Schmerzanfälle in der Magengegend
und rechtem Hypochondrium mit starkem galligem
Erbrechen. In dieser Zeit konnte Patientin nichts
bei sich behalten, auch nicht Wasser, kam sehr
herunter. Nach Überstehen der Brechanfälle
schnelle Erholung. Seit 18 Jahren verheiratet,
Lues in Abrede gestellt, keine Fehlgeburt. Von
fünf Kindern sind vier angeblich an Kinderkrank¬
heiten gestorben.
Aufnahmebefund: Stark gealterte, schlecht
genährte Frau. Blässe der Haut und Schleimhäute.
Das Brustbein springt vor, die Unterschenkel
sind leicht verkrümmt. An der Herzspitze leises
systolisches Geräusch, Puls 120, keine Verbreite¬
rung. Urin frei von Eiweiß und Zucker, im Sediment
vereinzelte Leukocyten und Plattenepithelien.
Pupillen beiderseits eng, lichtstarr, Konvergenz-
re^ktion erhalten. Linker Abducens leicht paretisch
Rechter Patellarreflex erloschen, linker nur mit
Kunstgriffen auslösbar, Achillesreflex fehlt beider¬
seits. Rechter Radiusreflex erhöht, Sensibilität
auf der ganzen rechten Seite leicht herabgesetzt
(Reste der früheren Hemiplegie). Keine Ataxie.
Wassermann Nonne
Am zweiten Tage der Krankenhausbehandlung
epileptiformer Anfall mit vierstündiger Bewußt¬
losigkeit ohne Zungenbiß und Bettnässen. Beim
Erwachen Kopfschmerz, einmaliges Erbrechen.
Eine darauf eingeleitete Quecksilberbehandlung
wird wegen Stomatitis ausgesetzt und Neosalvarsan
gegeben, das gut vertragen wird. In den nächsten
drei Wochen keine neuen Erscheinungen, Patientin
erholt sich und steht auf. Da stellte sich plötzlich
nach vorangehendem Ziehen und Unbehagen ein
‘ heftiger, bohrender Schmerz ein, den Patientin
in den rechten Augapfel und die obere Begrenzung
der Orbita verlegte. Gleichzeitig bestanden
heftige Blendungserscheinungen, sodaß das
Augenlid krampfhaft geschlossen blieb. Nach¬
träglich befragt, gab Patientin an, im Laufe des
letzten Jahres mehrere Anfälle dieser Art gehabt
zu haben. Die durch die starke Lichtscheu er¬
schwerte Untersuchung ergab einen klaren, nicht
injizierten leicht tränenden Bulbus. Die Sehkraft
war beiderseits herabgesetzt, rechts mehr als
links. Augenhintergrund normal. Am nächsten
Tage Steigerung der Beschwerden namentlich
der Schmerzen und Blendungserscheinungen. Druck
auf den Augapfel und Orbitalrand äußerst schmerz¬
haft. Das Augenlid wird weiter geschlossen ge¬
halten. Nach zwei weiteren Tagen hörten Schmer¬
zen und Lichtscheu auf. Das Auge konnte ohne
Lichtscheu und Tränen offen halten werden,
auch gab Patientin an, jetzt wieder klarer zu sehen.
Fassen v^ir das Wesentliche des Krank¬
heitsbildes zusammen. Es handelt sich
um eine 42jährige Frau, bei der Er¬
scheinungen von Lues cerelri mit denen
der Tabes alternieren. Hirnluetisch ist
die frühere Hemiplegie, die Neigung zu
Krampfanfällen mit Bewußtlosigkeit,
Kopfschmerz und Erbrechen. Hiervon
völlig verschieden sind die periodischen,
schmerzhaften, lang andauernden Brech¬
anfälle, die als gastrische Krisen anzu¬
sprechen sind und die in Verbindung
mit Pupillenstarre und dem Verhalten
der Knie- und Achillesreflexe die Dia¬
gnose Tabes sichern. Die Hirnlues ist
offenbar älteren Datums, die Tabes noch
im Stadium der Entwicklung. Als den
Magenkrisen analoge Zustände sind die
periodisch wiederkehrenden, krisenarti¬
gen, das Auge betreffenden Anfälle zu
betrachten, deren letzten wir im Kranken¬
haus zu sehen Gelegenheit hatten. — Die
spärliche Literatur über tabische Augen¬
krisen zeigt im großen und ganzen Über¬
einstimmung des mitgeteilten Falles mit
den bisher beobachteten Krankheits¬
bildern.
über Augenkrisen, Zsako und Benedek,
Budapest! Orvosi Ujsag, 1913, Nr. 51, ref. Neurolog.
Centralblatt 1915, S. 27. Weitere Literatur s.
Fabinyi.
Ans den inneren Stationen des Krankenhauses der Stadt Neukölln. (Direktor: Prof. Dr.
R. Ekrmann, Abteilung Oberarzt Dr. Zadek).
Versuche mit Dijodyl.
Von Jeanette Sakheim. Assistenzärztin.
Dijodyl ist ein von der Firma I. D.
Riedel Aktiengesellschaft Berlin-Britz
seit mehreren Jahren in den Handel ge¬
brachtes organisches Jodpräparat, das
nach genauen Untersuchungen von Hoos
und Wolf im Gießener Pharmakologischen
Institut auf seine chemische Zusammen¬
setzung und auf seine Ausscheidung re¬
spektive Resorbierbarkeit hin, dem Jod¬
kalium als sehr nahestehend befunden
worden ist. Das Präparat enthält 46,2%
Jod und wird in Tabletten z-u-0,3 -oder
in gefärbten Gelatinekapseln zu 0,3 Di¬
jodyl hergestellt.
Bei der heutigen Jodknappheit haben
wir das utis von der Firma zur Verfügung
gestellte Präparat gern geprüft und wollen
in Folgendem über die Ergebnisse unserer
dreiviertel Jahre dauernden Beobach¬
tungen berichten.
Wir haben Dijodyl in der Hauptsache
auf einer Frauen-Lungen- und Nerven-
station gegeben und haben es niemals aus
äußeren Gründen absetzen müssen, vor
allem hörten wir niemals Klagen über
schlechten Geschmack und Widerwillen
gegen das Medikament, da ja das Dijodyl
in der Gelatinekapsel genommen, ge-
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 19^0
375
schmacklos ist, auch kein Aufstoßen ver¬
ursacht, weil es erst im Dünndarm zerlegt
wird. Nur zweimal klagten Patientinnen
über Magenschmerzen, die aber nach Dar¬
reichung des Dijodyls in einer anders ge¬
färbten Kapsel nicht wieder auftraten,
also wohl funktionell bedingt waren.
Während der ganzen Zeit haben wir
weder Jodschnupfen noch Jodakne beob¬
achtet, auch nicht während einer Zeit,
wo wir das Mittel in höheren Dosen (bis
zu dreimal 5 Kapseln = dreimal 1,5 täg¬
lich) als gewöhnlich gaben.
Den im allgemeinen in verhältnis¬
mäßig kurzer Beobachtungszeit schwer
erkennbaren Joderfolg erzielten wir be¬
sonders bei Darreichung von Dijodyl an
tuberkulöse Frauen im ersten Stadium
der Krankheit, um Sputum zur mikro¬
skopischen Untersuchung zu bekommen.
Fast immer hatten wir nach zweitägiger
Darreichung von dreimal 0,3 Dijodyl
Erfolg. Ferner gaben wir das Präparat
bei chronischer Pneumonie, Lungen-
abscessen, Pleuraergüssen und Asthma¬
bronchiale mit gutem Erfolg. Bei Tabes
dorsalis, Arteriosklerosis und Lues cerebri
unterstützte es in wirksamer Weise die
sonst übliche Therapie, so daß wir das
Präparat zur Weiteruntersuchung nur
empfehlen können.
Zum Schluß noch einige Kranken¬
geschichten.
Fall 1. O. Sch., 34 Jahre. Lues cerebri.
Seit drei Wochen dauernde heftige Kopf¬
schmerzen, die nachts heftiger werden. Ehemann
hatte Lues. Befund: Wassermann positiv im
Blut. Gesteigerte Reflexe. Lumbalpunktion
310 m/m Druck, 19 Zellen, Lymphocyten, Wasser¬
mann negativ, Nonne-Apelt negativ, Nissel 0,02.
Therapie: Jod in Form von Dijodyl und Salvarsan.
Nach wenigen Wochen ist der Kopfschmerz völlig
geschwunden, Patientin fühlt sich gesunden,
nimmt zu,
Fall 2. L. M., 53 Jahre. Arteriosclerosis,
Lues III.
.Früher luetische Regenbogenhautentzündung
und Hautlues gehabt. Jetzt häufig Kopfschwindel
und Mattigkeit (kommt herein mit einer leichten
Grippe). Befund: Narben im Gesicht und an den
Händen von der Hautlues stammend. Links
Iritis luetica, Herz an der Spitze unreiner Ton,
Ag stärker Pg. Arterienrohr verhärtet, Blutdruck
R^ R. 140/90, Wassermann negativ, Lumbal¬
punktion Druck normal, Nonne-Apelt positiv,
Nissel 0,03, Zellen 13, Lymphocyten Wassermann
negativ. Therapie: Dijodyl. Nach vier Wochen
Wohlbefinden, kein Kopfschwindel mehr, Patien¬
tin fühlt sich frisch. Gewichtszunahme.
Fall 3. W. H., 42 Jahre. Lues III.
Früher stets gesund. Ganz plötzlich erkrankt
mit Kopfschmerzen, Doppelsehen, kloßiger Spra¬
che, Torkeln beim Gehen. Befund: Bulbär-
sprache, vollkommene Ophthalmoplegie, auf¬
gehobene Sehnenreflexe, unwillkürlicher Abgang
von Urin. Stuhlverhaltung. Therapie: Schmier¬
kur, Salvarsan. Besserung. In der Nachbehand¬
lung dreimal 0,3 Dijodyl; Die Erscheinungen gehen
allmählich vollkommen zurück.
Fall 4. Ch. W., 20 Jahre. Meningitis
luetica. Drüsentuberkulose.
Als Kind und jetzt Drüsentuberkulose. Vor
einem halben Jahr Lues tonsillaris. Seit vier
Wochen fast ununterbrochen Kopfschmerzen und
Erbrechen. Befund: Nackensteifigkeit, Kernig,
Hyperästhesien, Sehnenreflexe gesteigert, Pu¬
pillendifferenz, Wassermann Blut positiv. Lumbal¬
punktion: Druck hoch, Zellen vermehrt und
pathologisch. Wassermann negativ. Therapie;
Wiederholte Punktionen, nach Feststellung des
luetischen Charakters Schmierkur, Salvarsan und
Dijodyl dreimal 0,3. Alle meningitischen Er¬
scheinungen zurückgegangen. Gewichtszunahme.
Fall 5. G. F., 28 Jahre. Lungenabsceß.
Im Anschluß an eine Operation Husten, foeti-
der Auswurf, Fieber. Befund: Lungenabsceß.
Therapie: Pneumothorax. Darauf hört das
foetide Sputum auf, in der Rekonvaleszenz Dijodyl
dreimal 0,3. Sehr gute Gewichtszunahme und
dauerndes Wohlbefinden. Die Lungen, die nach
der Entfaltung,^noch Geräusche aufwiesen, sind
völlig gereinigt.
Fall 6. B. G., 67 Jahre. Asthma bronchiale.
Seit 37 Jahren Asthma, mit vielerlei Medika¬
menten behandelt. Vor kurzem wegen desselben
Leidens im hiesigen Krankenhaus. Damals mit
Erfolg mit Jodkali behandelt. Patientin kommt
in schwerem Anfall herein. Befund: Cyanose,
Dyspnoe, Lunge: Schachtelton, tiefe Grenzen,
Giemen und Pfeifen. Therapie: Anfall durch
Morphium kupiert, dann gleich anschließend
Dijodyl dreimal 0,3, seither noch ein kleiner
Anfall und dann wochenlang anfallsfrei geblieben.
über Nirvanolvergiftungen.
Von Dr. E. H. G. Afzrott, Grabow i. M.
Das 1916 von den Firmen Meister
Lucius Brüning (Höchsta. M.) und Heyden
(Radebeul) in den Handel gebrachte
Nirvanol erfreute sich zunächst bei den
Ärzten einer großen Beliebtheit. Es
handelte sich um ein geschmackloses
Präparat, das bei Tierexperimenten sehr
günstige Resultate zeitigte. Wernicke
lobte es ,,als ein ausgezeichnet sicheres
Schlafmitter‘.
Zur Vorsicht gemahnt wurde von
verschiedenen Seiten, so von Pensky und
Curschmann 1918, Goliner 1919; diese
drei beobachteten Fälle von akuter N.-
Vergiftung mit Bewußtlosigkeit. Über
mehr chronische Intoxikationserscheinun¬
gen berichteten Frieda Röder, Char¬
lotte Jakob (D. m. W. 1919, Nr. 48)
und Michalke (D. m. W. 1919, Nr. 14),
letzterer in kurzer aphoristischer Form.
376
Die Therapie der Gegenwart 1920
Oktober
Besonders Jacob bringt eine klare,
eindrucksvolle Schilderung von sechs
Fällen, die kurze Zeit nach den Nirvanol-
gaben zum Teil unter hohem Fieber ein
masernähnliches Exanthem am Rumpf
und den Gliedmaßen bekamen. Als
charakteristisch schildert Jacob das
„Nirvanolgesicht“ eine gedunsene, bläu¬
lich verfärbte Fazies mit stark ödematösen
Augenlidern und Lippen. ,,Dieser An¬
blick war so auffallend und dazu so
typisch, daß man aus diesem „Nirvanol-
gesicht“ das kommende Exanthem mit
Sicherheit Voraussagen konnte.Diese
Vergiftungserscheinungen traten schon
nach einigen Gaben yon abends 0,5 Nir-
vanol auf.
Reye (Hamburger Ärztlicher Ver¬
ein, 9. März 1920) berichtet ebenfalls
über einige Fälle von dieser Intoxikation,
die mit recht erheblichen akuten und
chronischen Schädigungen einhergingen.
Auch er beobachtet hohes Fieber, ge¬
dunsenes Gesicht, ein masernartiges, stark
zuckendes Exanthem am ganzen Körper,
Drüsenschwellungen und lebhafte Ent¬
zündung der Schleimhäute. Außerdem
entwickelte sich bei einer Patientin eine
sehr ausgedehnte, stark entstellende
fleckige Pigmentierung an Hals, Rücken
und Brust. Auf Grund dieser Beob¬
achtungen warnt Reye dringend vor
der Anwendung des durchaus entbehr¬
lichen Mittels.
Ich möchte aus meiner Erfahrung einen Fall
beisteuern, der vierzehn Tage lang unter einem
masernähnlichen Exanthem hoch fieberte, leicht
delirierte und dem behandelnden Arzt zuerst
Kopfzerbrechen verursachte. Es handelte sich
um eine 32 jährige Klempnersfrau D. J., die
am 13. Oktober 1919 mit den Symptomen einer
rechtseitigen Peritonsillitis und hohem Fieber er¬
krankte. Am 14. Oktober wurde durch eine typische
vertikale Incision in der oberen Gaumennische
stinkender Eiter entleert. Wegen starker Schmer¬
zen erhielt Patientin abends 0,3 Nirvanol, und zwar
vier Tage hintereinander. Am 21. Oktober fiel
das gedunsene leicht cyanotische Gesicht auf und
drei Tage später zeigte sich am Rumpf ein morbillen-
ähnliches Exanthem mit hohem Fieber bis 39,6°,
aber ohne Schnupfen, Bindehautentzündung. Ledig¬
lich die Mundschleimhaut zeigte burgunderrote
Verfärbung (aber keine Koplikschen Flecken an
der Wangenschleimhaut). Die Flecken waren groß
und klein, oft in großer Ausdehnung konfluierend.
Besonders war die Streckseite der Extremitäten
befallen. Starker Juckreiz war zeitweise vorhanden.
Patientin war mittags und abends meist sehr un¬
ruhig, delirierte aber nur wenig. Oedeme an den
Beinen waren nicht vorhanden. Eiweiß im Urin: 0.
Der Hautausschlag hielt fünf Tage an und der
Patientin schien es besser zu gehen. Am 5. No¬
vember begannen an Händen und Füßen sich neue
Maculae und Papulae zu zeigen; allmählich wurden
auch die Streckseiten der Extremitäten und der
Rumpf befallen. Patiehtfn hatte hohes Fieber,
das nun bis zur Abschuppung acht Tage anhielt,
und klagte über Kopfschnierzen. Sie war unleid¬
lich, wie mir'der Ehemann versicherte. An den
Beinen sah das Exanthem zeitweise wie Urticaria
aus. Auffallend war auch diesmal die Cyanose
der Hände, Füße und des Gesichts. Nach
acht Tagen beobachtete man feine glänzende
Schuppen.
Ein hinzugezogener Kollege hielt am wahr¬
scheinlichsten eine Art Serumkrankheit für vor¬
liegend. Das ganze Krankheitsbild war nur nach
Art der Anaphylaxie zu erklären. Zweifellos hat
es sich in unserem Falle auch um eine Nirvanol-
vergiftung gehandelt, und zwar hervorgerufen
durch außerordentlich niedrige Gaben von Nirvanol
(vier Tage hintereinander ,j e 0,3!).
Zusammenfassend ist hervorzuheben,
daß die einzelnen Patienten sehr ver¬
schieden auf Nirvanol reagieren. In
unserem Falle lag eine enorme Über¬
empfindlichkeit gegen das Mittel vor.
Es dürfte sich wohl empfehlen — wie
andere Autoren dies auch schon befür¬
wortet haben —, das Nirvanol dem freien
Handel zu entziehen. Es verursacht
zwar keine lebensbedrohlichenden Er¬
scheinungen, bereitet aber dem Kranken
manche peinvolle und unruhige Stunde.
Allein schon das Auftreten des hohen
Fiebers bei der Medikation yon Nirvanol
verbietet seine Anwendung bei schwäch¬
lichen und älteren Patienten.
Nirvanol ist nicht als ein Schlaf¬
mittel anzusehen, das ähnlich wie
Veronal, Adalin, Luminal eine
sichere Wirkung beim Menschen
erzielt. Bei seiner Anwendung werden
häufiger schwere Nebenerschei¬
nungen, die einer Art Serumkrankheit —
Anaphylaxie— ähneln, beobachtet.
Es erscheint dringend geboten, neue
Fälle von Nirvanolvergiftung z^ sam¬
meln und sie der Allgemeinheit zugäng¬
lich zu machen.
Im Gegensatz zu E. Poulsson,
Christiania (Lehrbuch der Pharmako¬
logie, 5. Auflage 1920), der von dem
Mittel schreibt, es sei ein kräftiges Hyp-
notikum ohne schädliche Wirkung auf
Atmung und Kreislauf, muß nach den
jetzt schon zahlreichen Veröffentlichungen
immer wieder auf die Schädlichkeiten
des Nirvanols hingewiesen werden.
Literatur: 1. Maj erus (D. Zschr.f. Nervhlk.
63, Heft 5 und 6, S. 312). — 2. Jacob (D. m. W.
1919, Nr. 48). — 3.^ Michalke (D. m. W. 1919,
Nr. 14). — 4. Reye (Ärztlicher Verein zu Hamburg.
9. März 1920).
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr.G.Klemperer in Berlin. Verlag von Urb an & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berlin W57,
KB2- 1S23
Die Therapie der Gegenwart
heratisgegeben von
61. Jahrgang Qel,, Med.-Rat Prof. Dr. Q. Klemperer
Neueste Folge. X23I.Jahrg. BERLIN
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11 . Heft
November 1920
Verlag von URBAN Ä SCHWARZENBERG in Berlin N 24 und Wien I
Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementspreis halbjährl ch
15 Mark, Ausland 40 Mark. Einzelne Hefte 3 Mark, Ausland 8 Mark. Man abonniert bei allen
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Therapie der Gegenwart. Anzeigen.
11. Heft
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Der heutigen Ausgabe liegt ein Prospekt der Firma C. H. Boehringer Sohn in Nieder-Ingelheim a. Rh. bei, der über
eine neue Phase auf dem Gebiete der Forschung über Anwendung des Kampfers berichtet, und dem neuen Erzeugnis
„Cadechol“ in Ärztekreisen weiteren Eingang verschaffen soll. Ferner liegt ein solcher der Verlagsbuchhandlung
Urban & Schwarzenberg, Berlin N24 und Wien, über die soeben erschienene 12. bis 15. Auflage von „Guttmann, Medi-
zinische Terminologie“ bei.
Die Therapie der Gegenwart
1920
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klenfperer
in Berlin. XN U V ülliUül
Nachdruck verboten.
Ein deutsches Arzneimittel = Prüfungsämt.
Von G. Klemperer.
Es entspricht dein Beruf dieser Zeit¬
schrift, welche dem Fortschritte , der
Krankenbehandlung dienen soll, wenn
ich an leitender Stelle einen Plan be¬
spreche, dessen Verwirklichung die Besse¬
rung wesentlicher Mißstände im Arznei¬
mittelwesen verspricht. Der Aufschwung
der Arzneimittelindustrie, welchem wir
die Einführung vieler wirkungsvoller un¬
ersetzlicher Heilmittel verdanken, hat
eine Reihe unerfreulicher Begleiterschei¬
nungen gezeitigt, unter denen die ärzt¬
liche Praxis und, das Ansehen des ärzt¬
lichen Standes in gleicher \Veise leidet.
Alljährlich werden zum Teil von unbe¬
rufener und unverantwortlicher Seite eine
Anzahl neuer chemischer Präparate auf
den Markt gebracht, die in tönenden Pro¬
spekten bestimmte Heilerfolge verspre¬
chen, ohne daß eine genügende Prüfung
vor der Einführung stattgefunden hätte.
Oft wird die chemische Zusammensetzung
der neuen Substanzen nicht bekannt ge¬
geben, so daß sich dieselben als Geheim¬
mittel charakterisieren, oft ist die che¬
mische Deklaration ungenau oder trüge¬
risch. In vielen Fällen werden alte Mittel
unter neuem Namen herausgebracht oder
es werden Gemische bekannter Sub¬
stanzen als neue Mittel deklariert. Der
praktische Arzt, der von den neuen Er¬
rungenschaften der Arzneimittelwissen¬
schaft Nutzen ziehen möchte und der oft
von seinem Klientel geradezu gedrängt
wird, neue Mittel zu verordnen, ist in einer
sehr schwierigen Lage. Wie soll er die
Spreu von dem Weizen trennen? Wer
hilft ihm, gegenüber der Suggestionskraft
lockender Ankündigungen die rechte
Kritik zu üben und seine Patienten
vor dem Schaden zu bewahren, den
die Anwendun ungenügend geprüfter,
oft schädlicher Präparate hervorrufen
kann.
Seit langem besteht unter den denken¬
den Ärzten der lebhafte Wunsch nach
einem unparteiischen Tribunal, das mit
Sachkunde und Gerechtigkeit unter den
Arzneimitteln Auswahl hielte, die guten
und wertvollen hervorhebe und empfehle.
die überflüssigen und schädlichen der
Vergessenheit überlieferte.
Gewiß gehört diese Aufgabe auch in
den Pflichtenkreis der medizinischen Fach¬
presse; viele Zeitschriften und nicht zum
wenigsten die ,,Therapie der Gegenwart“
haben ihre Leser über die pharmakologi¬
schen Neuerscheinungen zu unterrichten
und in bezug auf ,die Verwertung kritisch
zu beraten versucht. Aber diese Versuche
konnten niemals ihren Zweck ganz er¬
reichen, da sie doch nur ein beschränktes
Material bearbeiten konnten und in der
Auswahl auf Zufälligkeiten angewiesen
waren. Der Hauptmangel aber bestahd
darin, daß den Redaktionen eine unab¬
hängige und leistungsfähige Prüfungs¬
und Auskunftstelle nicht zur Verfügung
stand. Bestrebungen, solche Einrich¬
tungen zu schaffen, sind in den großen
Körperschaften, die das Wohl und Wehe
der Ärzte zu erwägen haben, seit langem
lebendig. Im Anfang dieses Jahrhunderts
hat die Gesellschaft deutscher Natur¬
forscher und Ärzte sich eingehend mit
diesem Problem beschäftigt und einen
Ausschuß zur weiteren Bearbeitung ein¬
gesetzt; es ist nicht gelungen, zu prakti¬
schen Schöpfungen zu gelangen.
Danach wurde die Aufgabe vor etwa
zehn Jahren von dem Kongreß für innere
Medizin von neuem aufgenommen; es
wurde eine ,,Arzneimittelkommis-
sion“ geschahen, welche Mittel und
Wege finden sollte, dem Arzt die Auswahl
zwischen guten und wertlosen Arznei¬
mitteln zu erleichtern. Die älteren Leser
werden sich des Versuches mit den Arznei¬
mittellisten erinnern, welche die frühere
A.-K. den Ärzten zur Verfügung stellte
und über welche in dieser Zeitschrift aus¬
führlich berichtet worden ist^). Die Aus¬
wahl für diese Listen geschah nicht nach
einem Werturteil über die Mittel selbst,
sondern nach der Art ihrer Ankündigung;
sie bildete nur eine. Art von Inseraten-
zensur. Auf die negative Liste kamen
diejenigen Mittel, deren Anzeigen ihre
») 1912, Seite 210 und Seite 334.
48
378 Die Therapie der Gegenwart 1920 Novetnber
Zusammensetzung verheimlichte oder üb er
ihre Eigenschaften, ihren Heilwert oder
ihre Unschädlichkeit" irreführende Be¬
hauptungen aufstellte oder neue Namen
für bekannte Gemische veröffentlichte.
Diesel-Listen sind damals vielfach ange¬
griffen worden, aber sie durften sich der
Zustimmung vieler ärztlicher Standes¬
organisationen erfreuen, insbesondere des
Deutschen Aerztevereinsbiindes, und sie
haben zweifellos den Erfolg gehabt, das
damals etwas entartete Anzeigenwesen des
Arzneimittelmarkts ^ erheblich zu ver-'
bessern und dadurch dort wenigstens der
Irreführung der Ärzte entgegenzuarbeiten.
Aber das Listensystem stellte nur einen
ersten Versuch dar, dessen Fortsetzung
mit besseren Mitteln von der A. K. selbst
lebhaft erstrebt wurde. Schon damals
wurde betont, daß für die Reform des
Arzneimittelwesens die Schaffung eines
Untersuchungsamts unumgänglich not¬
wendig sei.
Der Weltkrieg unterbrach auch diese
Arbeit.
Als es galt, nach der Niederlage sich
zu erheben und in neuem Wirken die
Grundlagen für wirksame Kraftentfaltung
zu schaffen, trat auch die Arzneimittel¬
kommission zur Wiederaufnahme ihres
Werkes zusammen. Sie hatte inzwischen
ihre Zusammensetzung geändert und um¬
faßt jetzt unter dem alten Vorsitz von
Penzoldt die Kliniker Stintzing
(Jena), v. Bergmann (Frankfurt a. M.)
und den Verfasser, die Pharmakologen
Heffter (Berlin) und Gottlieb (Heidel¬
berg), als Vertreter der großen Ärztever¬
einigungen Dippe (Leipzig) und Stöter
(Berlin), von der medizinischen Fach¬
presse Spatz (München). Diese Kom¬
mission hat in vielfältiger reiflicher Er¬
wägung einen neuen Aktionsplan gefaßt,
über den ich heute meinen Lesern emp¬
fehlend berichten will.
Der Plan ist von Vorstand und Aus¬
schuß der Deutschen Gesellschaft für
innere Medizin eingehend beraten und
gebilligt worden und der Vorstand des
Deutschen Aerztevereinbundes hat eben¬
falls sein Placet gegeben. Das Charakte¬
ristische des neuen Unternehmens ist, daß
es die positive Unterstützung und Be¬
lehrung der Ärzteschaft in den Vorder¬
grund rückt. Es soll eine Geschäfts¬
stelle begründet werden, welche das ge¬
samte Material über neue Arzneimittel
sammelt, sowohl die Angaben der Dar¬
steller als auch die gesamte Literatur,
und welche auf Grund dieses Materials
jedem anfragenden Arzt die gewünschte
Orientierung mitteilt. Es bestand aber
Einigkeit in allen Kreisen darüber, daß
die Arzneimittelkommission selbst in der
Lage sein muß, neue Arzneimittel einer
sachverständigen Prüfung zu unterziehen,
ehe sie eine Auskunft erteilt. Solche
Untersuchung mag überflüssig sein gegen¬
über den Erzeugnissen der chemischen
Großindustrie, die selbst über erstklassige
Untersuchungsstellen verfügt und ihre
neuen Präparate erst nach erschöpfender
Prüfung herauszugeben pflegt. Um so
notwendiger aber ist eigene Prüfung
gegenüber den zahllosen Produkten wenig
leistungsfähiger Erfinder, die weder che¬
misch noch medizinisch die erforderliche
Gewähr vorwurfsfreier Arbeit bieten. So¬
fern eine Prüfung am Krankenbett nötig
erscheint, verfügt die Arzneimittelkom¬
mission über eine Reihe von Klinikern
und Krankenhausärzten, die ihr die Er¬
gebnisse ihrer Prüfungen zur Verfügung
stellen werden. Daneben aber ist ein
analytisches Institut notwendig, in wel¬
chem die chemischen Angaben kontrolliert
beziehungsweise die chemische Zusammen¬
setzung der Arzneimittel geprüft werden
kann. Ohne ein solches Prüfungsamt ist
die Arbeit der Arzneimittelkommission
zur Unfruchtbarkeit verurteilt, am Fehlen
derselben sind bisher alle-Reformversuche
gescheitert.
Die. Arzneimittelkommission hat des¬
halb den Beschluß gefaßt, an die Grün¬
dung eines solchen Arzneimittelprüfungs-
anits heranzutreten. Eigene Mittel hat
die Arzneimittelkommission nicht und
öffentliche sind in unserer Zeit nicht er¬
hältlich. Andererseits liegt hier eine Auf¬
gabe vor, deren glückliche Lösung im
eigenen Interesse des ärztlichen Standes
liegt. Die Arzneimittelkommission ver¬
traut deswegen, daß die deutsche Ärzte¬
schaft selbst sich bereit finden wird, Hand
mit anzulegen zur Begründung. Sie findet
ein Vorbild in den Verhältnissen Nord¬
amerikas. Die große.amerikanische Ärzte¬
vereinigung besitzt ein solches Prüfungs¬
amt, dessen Tätigkeit sich großen An¬
sehens erfreut und in bemerkenswertem
Umfange das. Geheimmittelunwesen ein¬
geschränkt hat. Auf Grund der Analysen
ihres Prüfungsamts veröffentlicht der
amerikanische Council aufklärende Mit¬
teilungen über neue Arzneimittel, welche
den Ärzten für die Verordnung derselben
maßgebend sind.
Es ist nun an den deutschen Ärzten,
sich selbst durch tätige Mithilfe an der
Novelnber
Die Therapie der Gegenwart 1920
379
Gründung eines Arzneimittelprüfiings-
> amts 2u Dßteiligen. Sie haben von dem¬
selben eine-persönliche Beratung in ihrer
Berufsübung zu erwarten: Aber der er¬
hoffte Nutzen wird ihnen auch darin zu¬
gute kommen, daß 'sich hier ein aus¬
sichtsreicher Weg bietet, die Auswüchse
der Heilmitteldarstellung in der .Ent¬
stehung zu bekämpfen. Wenn die Arznei¬
mittelkommission erst über eine klinisch
und literarisch gut unterstützte Geschäfts¬
stelle und über ein leistungsfähiges Prü¬
fungsamt verfügt, so ist zu hoffen, daß
ihr Urteil von der Arzneimittelindustrie
vor der Einführung neuer Präparate in
Anspruch genommen werden wird und
dann wird wohl manches ,,Heirmittel“
ungeboren bleiben, das sonst die ärztliche
Praxis in überflüssiger Weise belästigt
oder gar diskreditiert hätte. Mit Recht
sagt der Aufruf der Arzneimittelkommis¬
sion, der in diesen Tagen zur Verbreitung
gelangt: ,,Hiermit wird nicht nur die Ar¬
beit des einzelnen Arztes, sondern auch
das Ansehen der deutschen J\/ledizin und
nicht zuletzt auch des ärztlichen Stanaes
eine erhebliche Förderung erfahren.“
Die Ärzneimittelkommission appelliert
an das Standesgefühl der deutschen Ärzte,
daß sie durch eigene Beiträge helfen
mxöchten, eine Einrichtung ins Leben
treten zu lassen, die sicherlich von weit-
tragendem putzen für sie alle sein wird.
Die erforderlichen Kosten werden nicht
sehr groß sein, da die Organisation im
Anschluß an das pharmakologische Uni¬
versitätsinstitut des Herrn Geheimrat^
Heffter geplant ist. Immerhin bedarf
es eines wenn auch nur kleinen Beitrages
jedes deutschen Arztes, wenn das geplante
Prüfungsamt bald ins Leben treten soll.
Die Aufforderung zur Zahlung wird jedem
deutschen Arzt in diesen Tagen persön¬
lich zugehen; Ich möchte den Lesern’
dieser Zeitschrift die Bitte warm anSN
Herz legen, ihr Interesse für die Therapie
durch einen Beitrag zu betätigen^) und
dadurch an ihrem Teil mitzuhelfen, daß
ein Feld deutscher Arbeit, welches jetzt
durch manches Unkraut entstellt wird,
zu neuem kräftigen Blühen gedeihe.
Einzahlungen erbeten auf Postscheck-Konto
Leipzig 873 21, Geschäftsstelle der Arzneimittel-
kommission.'
Aus dem Krankenliause der jüdisckeii Gremeiude zu Berlin,
über Ulcus parapyloricum^).
Von Prof. H. Strauß.
Seit den Veröffentlichungen englischer
und amerikanischer Chirurgen, vor allem
seit dem Erscheinen des Moynihanschen
Buches^), ist die Diskussion über das
Ulcus duodeni nicht zur Ruhe gekommen.
Hierbei ist aber in so vielen Punkten ein
so großer Gegensatz zwischen den Auf¬
fassungen der Chirurgen und Internisten
zutage getreten, daß die Kluft in den xA.n-
schauungen zeitweilig fast unüberbrück¬
bar erschien. Eine neue Diskussionsbasis
ist jedoch durch die vor kurzem erschie¬
nene Arbeit von Hart^) geschaffen wor¬
den, welche neues und höchst wertvolles
Material beigebracht hat. Durch dieses ist
die Betrachtung entschieden zugunsten
der Anschauungen der Internisten ver¬
schoben worden und zwar sowohl in bezug
auf Fragen der Diagnostik wie der Pro¬
gnostik und Therapie. Ganz allgemein
mußten bis zum Erscheinen der Hart-
1) Erweiterte Diskussionsbemerkung zu den
Referaten über Ulcus duodeni auf der'II. Tagung
für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten in
Homburg.
2) Moynihan, Ulcus duodeni (Dresden und
Leipzig 1913, Steinkopf).
3) Hart (Mitt. Grenzgeb. 1919, Bd. 31).
sehen Arbeit die einschlägigen 'Fragen
vorzugsweise auf Grund klinischer und
bioptischer Erfahrungen diskutiert wer¬
den, da die pathologisch-anatomischen
Befunde zum Teil recht widersprechend
waren. Das den bioptischen Erfahrungen
zugrunde Hegende Material war aber der
Natur der Sache nach nur einseitig ge¬
schichtet. Gerade hierdurch kam es, daß
man sich sogar über grundlegende Fragen
der Diagnostik, Prognostik und Therapie
bis jetzt nur schwer einigen konnte.
Soweit die Diagnostik in Frage
kommt, so muß leider nicht ohne eine ge- •
wisse Resignation festgestellt werden, daß
wir — wenn wir von einigen selteneren
Röntgenbefunden absehen (siehe später)
— kein einziges wirklich pathognomo-
nisches Symptom für das Ulcus duodeni
besitzen und daß auch nicht einmal ge¬
wisse als diagnostisch bedeutsam bezeich-
nete Symptomenkomplexe einen direkt
pathognomonischen (Charakter besitzen.
Erwägt man ferner, daß auch bei der
chirurgischen Behandlung der Krankheit
Dauererfolge in einer nicht ganz unerheb¬
lichen Anzahl von Fällen ausgeblieben
48*
380
Die Therapie der Gegenwart 1920
November
sind, so ist dies Anlaß genug, die Leistungs¬
fähigkeit unserer Diagnostik, und im Zu¬
sammenhänge damit auch die internen
und chirurgischen Aufgaben der Therapie
immer wieder von neuem einer kritischen
Betrachtung zu unterziehen.. Ich möchte
an dieser Stelle aber nicht auf alle wichtig
erscheinenden diagnostischen Fragen des
großen hier interessierenden Gebietes ein-
gehen, sondern mich nur mit der all¬
gemeinen Frage beschäftigen, inwieweit
die Diagnose eines Ulcus duodeni über¬
haupt möglich und tatsächlich auch not¬
wendig ist.
Nach dieser Richtung hatte ich schon
im Jahre 191H), also zu einer Zeit, wo nicht
bloß von chirurgischer Seite, sondern
auch noch von der Mehrzahl der Inter¬
nisten eine scharfe Trennung des Ulcus
duodeni vom Ulcus ventriculi als auch
für praktische Zwecke wichtig bezeichnet
worden ist, betont, daß es ,,für die interne
Behandlung nicht von wesentlicher Be¬
deutung ist, ob das Ulcus 1 oder 2 cm
links oder rechts vom Pylorus sitzt*' und
im Jahie 1913^) gelegejitlich einer Be-
sprechnung der Diagnostik und internen'
Therapie des Duodenalgeschwürs aus¬
geführt, daß auch für praktische Zwecke
die Feststellung eines Ulcus parapylori-
cum®) in der Mehrzahl der Fälle genügt,
und daß diese Diagnose auch häufiger ge¬
lingt, als die meist erheblich schwierigere
Feststellung eines Ulcus duodeni. Aus den
später erschienenen. Arbeiten — ich nenne
speziell die Mitteilungen von K. Faber’).
V. Bergmann®), Michaud®) und An¬
derer — erfuhr ich dann, daß schon 1906
Soupault^o^ von einem ,,Ulcere juxta-
pylorique** gesprochen hatte und geäußert
hatte, daß die ulcerösen Läsionen des
Duodenums dieselben Symptome dar¬
bieten, wie die Magengeschwüre in der
Gegend des Antrum pyloricum. Je mehr
ich aber die Dinge verfolgt habe, um so
mehr schien es — und scheint es auch
heute noch — mir notwendig, darauf hin¬
zuweisen, daß häufig auch bei der Dia¬
gnostik des Ulcus parapyloricLim der to-
4) H. Strauß (M. KI. 1911, Nr. 21). ^
5) H. Strauß (Zschr. f. ärztl. Fortbild. 1913,
Nr. 4).
In diesem Begriffe sind nicht nur die cis-
und transpylorischen Geschwüre, sondern auch
die pylorischen Geschwüre selbst einbezogen.
’) K. Faber (M. KI. 1913, Nr. 34).
8) V. Bergmann (B. kl. W. 1913, Nr. 51 u.
a. a. O.
3) Michaud(in Mohr-Stähelins Handbuch der
inneren Medizin).
^'^) Soupault, Traite des maladies de l’esto-
mac, Paris 1906).
pische und der genetische beziehungs¬
weise histologische Faktor nicht scharf
genug getrennt werden, so daß gar man¬
cher Fall, der nur ein ,,Affectio'“ para-
pylorica darstellt, ohne weiteres als
,,Ulcus** parapyloricum deklariert wird.
Aus diesem Grunde scheint es mir not¬
wendig, auch hier nachdrücklichst zu be¬
tonen, daß der parapylorische Symptomen-
komplex und die Ulcusdiagnose scharf
auseinandergehalten werden müssen und
daß man sich im Einzelfalle stets fragen
muß, ob nur die Diagnose einer „Affectio“
parapylorica oder auch diejenige eines
,,Ulcus** parapyloricum möglich ist. Nach
dem Ergebnisse chirurgischer Kontrollen
ist abk auch der parapylorische Sym-
ptomenkomplex kein absolut untrüglicher,
so sehr auch zuzugeben ist, daß in den¬
jenigen Fällen, in welchen er in genügender
Vollständigkeit vorhanden ist, die Gefahr
einer Fehldiagnose-doch nicht allzu groß
ist (siehe später). Von seinen einzelnen
Teilen bietet jedenfalls jeder einzelne die
Möglichkeit einer Täuschung. ^ 11
Soweit die funktionellen Symptome
in Betracht kommen, so habe ich als
für den parapylorischen Symptomen-
komplex bis zu einem gewissen Grade
charakteristisch an anderer Stelle^^) die
,,Reiztrias“: Hyperästhesie, Hyper¬
sekretion und Hypermotilität beziehungs¬
weise Spasmophilie bezeichnet, und halte
es für zweckmäßig, den diagnostischen
Wert der einzelnen Glieder des Sym-
ptomenkomplexes auch hier einer kurzen
Betrachtung zu unterziehen:
1. Hyperästhesie. Als differential¬
diagnostisch verwertbar hat sich mir
weniger der Hungerschmerz als der Spät¬
schmerz und Nachtschmerz erwiesen. Der
erstere gibt jedenfalls häufiger zu Täu¬
schungen Anlaß als die beiden letzteren.
Ob der von F. MendeF^) schon 1903 und
auch neuerdings wieder gerühmte scharf
lokalisierte Perkussionsschmerz in allen
Fällen tatsächlich ein Ulcus verrät, und
ob die angegebene Empfindlichkeit auch
stets auf das Duodenum zu beziehen ist,
möchte ich erst dann mit Sicherheit ent¬
scheiden, wenn ich über ein ausreichendes
bioptisches und autoptisches Kontroll-
material verfüge. Zeitliche Veränderungen
in der Gegend der percutorisch festgestell¬
ten Schmerzzone sind aber mir stets wert¬
voll erschienen. Ein großes Vertrauen
11) H. Strauß (Jkiirs. f. ärztl. Fortbild. 1916,
Märzheft).
12) F. Mendel (M.m. W. 1903, Nr. 13 und
D. m. W. 1920, Nr. 14/17).
November
Die Therapie der Gegenwart 1920
381
habe ich auch stets einem scharf am Duo¬
denum beziehungsweise an der regio para-
pylorica lokalisierten Röntgendruckpunkt
entgegengebracht. Ebenso erschien mir
auch eine ,,defense musculaire*' in der
regio parapylorica stets einer besonderen
Beachtung wert.
2. Hypersekretion. Wichtiger als
die Hyperacidität erschien mir stets —
und ganz besonders auf Grund neuerer
Erfahrungen, über welche ich in meinen
„Magenkrankheiten durch Kriegswirkun-
gen“^^) berichtet habe — die Hyper¬
sekretion, und zwar nicht bloß di^ kon¬
tinuierliche Form, sondern vor allem auch
die erheblich häufigere digestive Form.
Nach meinen Erfahrungen, über welche
jüngst meine Assistentin, Fräulein. Dr.
Wolpe^^), ausführlich berichtet hat, ent¬
fallen zwei Drittel bis drei Viertel aller
Fälle von Hypersekretion auf eine Af-
fectio parapylorica, wobei die Mehrzahl
der betreffenden Fälle ein Ulcus para-
pyloricum darstellen dürfte. Auch
Kempiö), Sommerf eldi6), W. Wolffi’)
Kaspar^^), Westphal und Katsch^^)
und Andere haben über ähnliche Erfah¬
rungen berichtet. Die digestive Hyper¬
sekretion ist dabei durch Ermittelung des
„Schichtungsquotienten“ sehr leicht fest¬
zustellen, und verdient für die Diagnose
der vorliegenden Affektion eine erheblich
größere Beachtung als die Hyperacidität,
die ich zwar seltener fand, als die Hyper¬
sekretion, deren positiven Befund ich
aber doch auch für den vorliegenden
Zweck nicht absolut gering schätzen
möchte.
3. Hypermotilität beziehungs¬
weise Spasmophilie. Von den motori¬
schen Reizsymptomen habe ich besonders
die Pylorospasmen mit ihren Folgen — die
vpn Hart bei Ulcus duodeni gelegentlich
beobachtete Pylorushypertrophie kann
auch ich auf Grund von Autopsien be¬
stätigen — für die Diagnose schätzen ge¬
lernt. Ein gleiches kann ich auch von dem
Röntgenbefund der „duodenalen Motili¬
tät“ mit ihren tief einschneidenden, auch
an der kleinen Kurvatur und an der
H. Strauß, Magenkrankheiten durch
Kriegseinwirkungen (Biblioth. v. Coler-v. Schjei*-
nig, Bd. 49, Berlin 1919, Hirschwald).
i^)Wolpe(B. kl. W. 1919, Nr. 37).
15) Kemp (Zschr. f. kl. Med., Bd. 72 und
a. a. O.).
1®) Sommerfeld (Arch. f. Verdauungskr.,
Bd. 19).
■1’) W. Wolff (M. Kl. 1914, Nr. 32).
18) Kaspar (D. Zschr. f. Chir., Bd. 131).
18) Westphal und Katsch (Mitt. Grenzgeb.,
Bd. 26).
Corpusregion sichtbaren Wellen und mit
einer trotzdem zuweilen — aber meiner
Erfahrung nach doch nicht allzu häufig —
verlängerten Verweildauer des Röntgen-
ingestums behaupten^®). Ihnen können
sich als Reizsymptome nicht selten auch
noch „Zähnelung“ der großen Kurvatur
sowie zpweilen spastischer Sanduhrmagen
— gelegentlich auch ein umfangreicher
Gastrospasmus oder auch Cardiospasmus
mit vorübergehender^^ Ansammlung des
Röntgeningestums im Ösophagus sowie bei
gewissen Duodenalaffektionen eventuell
auch Retroperistaltik zugesellen.
Neben diesen Reizsymptomen,
welche ihren Grund darin haben, daß
die Pylorusregion den Sitz sehr sensibler
Angriffspunkte von Reflexapparaten dar¬
stellt, verdienen für die topische,. Dia¬
gnostik selbstverständlich auch noch auf¬
fällige morphologische Veränderungen
des Röntgenbildes des Duodenums und
seiner Umgebung — von welchen einige
später noch bei der Besprechung der
Ulcusdiagnostik erörtert werden sollen —
vollste Beachtung. Soweit hierbei die
Rechtsverziehung des Duodenums und
Magens in Frage kommt, wird diese
allerdings vielleicht ebenso häufig durch
extraduodenale und extraventriculäre
Affektionen — so insbesondere. Gallen¬
blasenaffektionen — bedingt, und es
bedarf deshalb gerade dieser Befund in
genetischer Richtung stets einer besonders
kritichen Deutung.
Selbstverständlich verdienen alle hier
genannten Befunde nur in positiver
Form Beachtung und es beweist ins¬
besondere ihr Fehlen nichts gegen eine Ver¬
änderung in der regio parapylorica. Außer¬
dem ist — dies muß immer wieder betont
werden — vielleicht mit der alleinige
Ausnahme des lokalisierten Röntgen-
Druckpunktes auf kein einziges der ge¬
nannten topischen Symptome ein sicherer
Verlaß. Sieht man von dem genannten
Röntgen-Druckpunkt und den erwähnten
abnormen morphologischen Röntgen¬
befunden am Duodenum und in seiner
Nachbarschaft ab, so entsteht der Ver¬
dacht einer p.arapylorischen Affektion
stets erst durch eine Summe der ge¬
nannten Symptome, und der Verdacht
wird um so' stärker, je mehr von den
genannten — an sich mehrdeutigen —
20) Anmerkung: Tiefeinschneidende Peri¬
staltik ohne Motilitätsstörung pflege ich als
„Kompensationsperistaltik“ zu bezeichnen, weil
sie in effektvoller Weise der Überwindung
eines Hindernisses dient.
382
Die Therapie der Gegenwart 1920
November
Einzelsymptomen im konkreten Falle vor¬
handen sind. Zur Orientierung über die
Fra'ge, wie oft bei gegebener Ulcusvoraus-
setzung die Diagnose eines parapylori-
schen Sitzes* desselben gelingt, habe ich
vor einiger Zeit meine Assistentin Fräu¬
lein Dr. Wolpe^i) veranlaßt, 18 operativ
kontrollierte Fälle meiner Abteilung kri¬
tisch zusammenzustellen. Dabei ergab
sich folgendes: Unter diesen 18 Fällen
scheiden drei aus, weil sich bei ihnen
trotz nachgewiesenen Blutgehaltes der
Faeces kein Ulcus, oder — wie ich
glaube — kein Ulcus mehr, hatte nach-
weisen lassen. Von den übrigen 15 Fällen
zeigten 13 Fälle den Sitz .des Geschwürs
in der Pylorusregion und zwei Fälle am
Magenkörper. Wenn ich auch voll be¬
rücksichtige, daß ich nur solche Fälle
der Operation überwiesen habe, bei wel¬
chen ein sehr ausgeprägtes Krankheits-'
bild vorlag, so beweist das Ergebnis der
vorliegenden Operationskontrollen meines
Erachtens doch, daß es bei polysympto¬
matischen Fällen in einer nicht geringen
Zahl von Fällen gelingt, die richtige topi¬
sche Diagnose zu stellen. Daß aber auch
wichtige Teile des Symptomenkomplexes
zu Täuschungen Anlaß geben können,
haben wir unter anderem auch darin er¬
fahren, daß wir 6-Stundenrest und Hyper¬
sekretion zweimal auch bei Fällen von
Ulcus der kleinen Kurvatur angetroffen
haben.
Wenn demnach der parapylorische
Symptomenkomplex in einer Gruppie¬
rung, in welcher eine Vielheit von Sym¬
ptomen vorhanden ist, zwar kein patho-
gnomonischer, aber doch ein wohl¬
charakterisierter ist und wenn er dabei
für den Einzelfall um so mehr verwend-
*bar ist, je mehr von den erwähnten Sym¬
ptomen vorhanden sind, so ist es aber
immerhin, wie schon erwähnt wurde, ein
Irrtum, zu glauben, daß alle topisch als
Duodenalaffektion verdächtigen Krank¬
heitszustände auch immer durch ein Ulcus
bedingt sein müssen. Ich habe Sektions¬
befunde in Erinnerung, bei welchen gastri-
tische Prozesse ausschließlich oder vor¬
zugsweise in der Pylorusregion lokalisiert
waren und erinnere mich unter anderem
auch an tierexperimentelle, in gleicher Art
lokalisierte Befunde, die ich bei Kanin¬
chen nach Eingießung von stark hyper¬
tonischen Kochsalzlösungen erhalten
hatte. Auch Frankl und Plaschkes^^^
21) Wolpe (Arch. f. Ve'rdauungskr., Bd. 25).
22) Frankl und Plaschkes (Arch. f. Ver-
dauungskr., Bd. 24).
trafen in acht Fällen von postinfektiöser
„Kriegsgastritis“ bei der Autopsie die
gastritischen Veränderungen ,,besonders
im pylorischen Anteil, weniger im Fundus
des Magens“ an. Ich halte diese Gastritis
parapylorica, von welcher ich schon an
anderer Stelle gesprochen habe, für iden¬
tisch mit dem, was Ramond^^) als
Gastritis „inferior“ beschrieben hat, da
diese durch vermehrte, später vermin¬
derte Schleimsekretion, reflektorische
Hypersekretion des Obermagens, Spät¬
schmerz und rechtsliegende Schmerz¬
punkte charakterisiert sein soll. Ferner
halte ich und zwar speziell auch Mei¬
ch io r^^) gegenüber an dem fest, was ich
früher über die Unterscheidung des Ulcus
superficiale und Ulcus profundum für
diagnostische und prognostische Zwecke
ausgeführt habe. Geben doch gerade die
ausgezeichneten Untersuchungen von
Hart wichtige Stützen für die Richtig¬
keit der Anschauung, daß oberflächliche
Duodenalgeschwüre vollkommen aus-
heilen können. Hart sieht sogar ki dem
Umstand, daß man callöse Geschwüre
am Duodenum seltener als am Magen¬
körper findet, einen Hinweis zu der Auf¬
fassung, daß Duodenalgeschwüre even¬
tuell noch leichter abheilen als Magen¬
geschwüre. "
Aus dem Vorstehenden ergibt sich
jedenfalls, daß präzise Ulcussymptome
stets dann vorhanden sein müssen,
Vv^enn man eine Affectio parapylorica im
Sinne eines Ulcus deuten will. Es würde
aber hier zu weit führen, auf die Ulcus¬
symptome in ihrer Gesamtheit einzu¬
gehen, und es soll deshalb von den zahl¬
reichen, für die Ulcusdiagnose in Frage
kommenden Symptomen hier nur die
Frage des diagnostischen Wertes der
okkulten Blutungen eine kurze Er¬
örterung finden.
Wie ich in meinen ,,Magenkrankheiten
durch Kriegswirkungen“ (1. c.) ausführlich
erörtert habe, ist nicht nur von verschie¬
denen Autoren, sondern auch durch zahl¬
reiche eigene Befunde bioptisch einwands¬
frei festgestellt, daß manifeste oder ok¬
kulte Blutungen keineswegs zu den
obligatorischen Ulcussymptomen gehören.
Die Zahl der negativen Blutbefunde in
den Faeces schwankt bei den einzelnen
Autoren jedenfalls zwischen etwa 25—50%
2^ H. Strauß (Jkurs. f. ärztl. Fortbild. 1919,
Märzheft).
21) Ramond (Pr. m6d. 1918, Nr. 34).
25) Melchior, Die Chirurgie des Duodenum
(Stuttgart 1917, Enke).
•r, ■ ■; ■ / ■
' 1 - • \ ^
November Die Therapie der
der Fälle. Trotzdem ist aber auch nach
meiner Erfahrung ein positiver, kritisch
erhobener und kritisch gedeuteter, Blut¬
befund in den Faeces für die Diagnose
eines Ulcus von außerordentlich hoher
Bedeutung. Da aber über die Methoden
des Nachweises von okkultem Blut in
den Faeces in den letzten Jahren außer¬
ordentlich viel debattiert worden ist, so
will ich hier nur erwähnen, daß ich auf
Grund von '• Vergleichsuntersuchungen,
welche die Herren Dr. Schön und Dr.
Wolfner mit den verschiedenen An¬
stellungsformen der Benzidinprobe an
meiner Abteilung ausgeführt haben, auch
jetzt noch an uder Benzidinprobe in einer
ähnlichen Ausführungsform festhalte,
wie ich diese seinerzeit durch Schlesinger
und Holst^ß) hatte ausarbeiten lassen.
Der letzteren gegenüber verzichte ich
jetzt nicht nur auf das Aufkochen der
Faecesmischung, sondern benutze auch
als konstantes Präparat die Benzidin¬
tabletten von Goe decke und lasse
schliej^lich seit längerer Z-eit sämtliche
Phasen der Probe mit abgemessenen,
stets gleichbleibenden Mengen dtrrch-
führen.
Es wird also die Benzidinlösung durch Auf¬
lösen einer Benzidintablette Goedecke (=0,15
Benzidin, in 2 ccm Eisessig und 4 ccm Wasserstoff¬
superoxydlösung hergestellt. Von d^ Faeces
wird ein etwa linsengroßes Parti Reichen in 4 ccm
Wasser aufgeschwemmt, und von dieser Auf¬
schwemmung wird dann mit einem Glasstab —
oder noch besser einem unbenutzten Holzstäb¬
chen (wie er für die Rektoskoptupfer gebraucht
wird) — so viel in die Benzidinlösung übertragen,
als an dem Glasstab beziehungsweise dem Holz¬
stab hängenbleibt. Der Aiblauf der Probe ist be¬
kannt.
Wie die Herren Dr. Schön und Dr.
Wolfner 27) vor kurzem mitgeteilt haben,
wird die in dieser Form ausgeführte Probe
weder von der Gregersenschen noch
von der Boasschen Modification der
Benzidinprobe an Brauchbarkeit irgend¬
wie übertroffen. Für Situationen, in
welchen aber kein Benzidin zur Ver¬
fügung steht oder die Anstellung einer
Kontrollprobeangezeigt erscheint, möchte
ich hier als eine sehr einfache und wie es
scheint, der Benzidinprobe ungefähr
gleichwertige Probe eine von Thevenon
und Rolland^s) angegebene Pyramidon-
probe empfehlen, über welche Herr Dr.
28) Schlesinger und Holst (D. m. W. 1906,
Nr. 36).
27) Schön und Wolfner (B. kl. W. 1920,
Nr. 44).
28) Thevenon et Rolland (Presse m6d. 1918,
Nr. 46).
Gegenwart 1920 383
Arons aus meiner Abteilung noch be¬
richten wird 29).
In manchen — allerdings im ganzen
seltenen — Fällen von Ulcus duodeni
vermag freilich — das soll hier speziell
hervorgehoben werden — das Röntgen¬
verfahren durch Aufdeckung besonders
wichtiger morphologischer Verände¬
rungen am Duodenalbild so z: B. durch
einen persistierenden Bariumfleck, einer
Hau deck sehen Nische oder anderer mehr
oder weniger beweisender Befunde vor
allem am Bulbus — so z. B. in Form von
Propulsion, Dauerbulbus, Aussparungen
usw. — aber zuweilen auch an anderen
Teilen des Duodenums nicht bloß der
Lokalisations-, sondern auch der Ulcus-
diagnose mehr oder weniger wertvolle
Dienste zu leisten. Allerdings ist für die
Deutung dieser morphologischen Befunde
— auch für die Rechtsverziehung ist dies
schon gesagt — und noch mehr für die
Deutung der funktionellen indirekten
Röntgensymptome große Kritik nötig.
Da diese Kritik aber nur von derjenigen
Seite erfolgreich geübt werden kann,
welche die einzelnen klinischen Symptome
nicht nur in ihrer Gesamtheit, sondern
auch in ihren verschiedenen Nuancen
voll zu überschauen und zu werten ver¬
mag, so ist allerdings für den Inter¬
nisten eine weitgehende Vertrautheit
mit vden durch das Röntgenverfahren
am Duodenum erhältlichen Befunden
und deren Deutung erforderlich.
jedenfalls ist aber nach all dem, was
wir erfahren haben, die Diagnose eines
Ulcus parapyloricum meist eine recht
komplizierte und häufig eine recht un¬
sichere. Wenn das letztere auch für die
polysymptomatischen Fälle im allge¬
meinen nicht in gleichem Grade zutrifft,
wie für die oligosymptomatischen Fälle, so
habe ich doch — speziell in meiner Gut¬
achtertätigkeit während des Krieges —
unsere diagnostische Notlage in Beziehung
auf die letzteren Fälle oft außerordentlich
drückend empfunden, und mich infolge¬
dessen über die Schwierigkeiten der Dif¬
ferentialdiagnosein meinen,,Magenkrank¬
heiten durch Kriegseinwirkungen“ in
entsprechender Weise geäußert. Meines
Erachtens gibt es für die Diagnostik des
Ulcus parapyloricum im Einzelfall nur
28) Die spektroskopische Untersuchung der
Faeces nach Snapper, welche auch den Nach¬
weis des Hämato-Porphyrins in den Faeces ge¬
stattet, habe ich nur in einer begrenzten Zahl
von Fällen ausführen lassen können, da die
Kosten für das Aceton zurzeit sehr hohe sind.
384
Die Therapie der Gegenwart 1920
November
„Richtlinien“, nicht aber eine einfache
Forme Dabei sind die Schwierigkeiten
für die Diagnostik in den einzelnen Fällen
außerordentlich verschieden. Unter den
Fällen, welche mit dem Namen eines
Ulcus parapyloricum belegt sind, befindet
sich meines Erachtens eine nicht ganz
kleine Zahl von Fällen von Gastritis para-
pylorica oder von funktionell bedingten —
sei es psychogen, sei es reflectorisch oder
sonstwie auf dem Nervenwege erzeugten
— krankhaften Zuständen und schlie߬
lich noch eine Reihe von Veränderungen,
welche auf die Pylorusgegend von der
Serosaseite her übergegriffen haben. Nach
letzterer Richtung hin hat Foerster^^)
erst jüngst recht beachtenswerte Mit¬
teilungen über operativ kontrollierte
Röntgenbeobachtungen veröffentlicht. Da
also ein ganz Teil der als ,,Ulcus“ duodeni
oder parapyloricum diagnostizierten Fälle
überhaupt gar kein Ulcus darstellt, so
werden wir uns nicht wundern, daß die
Blutungs- und Perforationsgefahr
doch nicht ganz so groß ist, als es uns nach
dem etwas einseitig geschichteten Material
der Chirurgen seit einem Jahrzehnt ge¬
lehrt worden ist. Die überaus gründlichen
pathologisch-anatomischen Untersuchun¬
gen von Hart haben ab.er außerdem noch
gezeigt, daß auch beim Duodenalgeschwür'
tödliche Blutungen selten und Perfora¬
tionen nicht häufiger sind als beim
Magengeschwür. Hart sagt unter an¬
derem^ ,,Und es fehlt'auch jeder Beweis,
daß Perforation in die freie Bauchhöhle
und tödliche Blutung durch Gefäßarrosion
beim Zwölffingerdarmgeschwür eine grö¬
ßere Rolle als beim Magengeschwür
spielen“ und er betont weiter ,,mit aller
Bestimmtheit, daß die Prognose des
Ulcus duodeni nicht schlechter als die
des Ulcus ventriculi ist“. Hierbei schließt
er sich voll meiner 1913 formulierten Pro¬
gnostik an, die lautete: ,,eine Krankheit,
die in vieljähriger Dauer so und so oft
ab geheilt oder zum mindesten für längere
Zeit in die Latenz getreten ist, kann
nicht generell eine so schlechte Prognose
haben, als jetzt von chirurgischer Seite
gelehrt wird“, und resümiert: ,,Das Ulcus
duodeni heilt gleich häufig ab, bleibt
gleich oft klinisch latent, führt etwa
gleich oft zur Perforation wie zur profusen
Blutung wie das Magengeschwür — mit
einem Wort: es hat die gleiche Prognose.“
Die hier besprochenen Feststellungen
und Erwägungen veranlassen mich, auch
heute noch an dem festzuhalten', was ich
vor sieben Jahren^^) über die Indikations¬
stellung für die interne und chirurgische
Therapie gesagt habe. Es bedarf keiner
Erörterung, daß die letztere außer für
diejenigen Folgezustände, welche auf me¬
chanischem Wege zu schweren Störungen
geführt haben, ohne weiteres bei allen
Perforationen in Frage kommt. Hier
genügt schon ein begründeter Verdacht
zur Vornahme eines chirurgischen Ein¬
griffs. Sonst kommt aber die Operation
meines Erachtens nur für solche Fälle in
Frage, bei welchen einerseits die Diagnose
eines Ulcus parapyloricum mit einem
hohen Grad von Wahrkheinlichkeit ge¬
stellt werden konnte, andererseits eine
langdauernde — eventuell mehrfach
wiederholte — gründliche interne Behand¬
lung nicht zu einem günstigen Ergebnis
geführt hat. Wie diese beschaffen sein
soll, habe ich seinerzeit ausfürlich er¬
örtert (I. c.), und ist auch erst jüngst
von F. Mendel (1. c.) beschrieben wor¬
den, der Erfahrungen auf dem vorliegen¬
den Gebiete schon im Jahre 1903 mit¬
geteilt und einen Teil seiner Patienten in¬
zwischen durch mehrere Jahrzehnte in Be¬
obachtung gehabt hat. Was speziell die
Behandlung akuter bedrohlicher Massen-
blutungen betrifft, so bin ich hier ein
Gegner operativen Vorgehens geblieben,
und stehe ich auch jetzt noch auf dem
Standpunkt, den ich vor nahezu 20 Jah¬
ren in einer Diskussion zu einem Vortrage
von Körte ausgesprochen habe^-). Jeden¬
falls habe ich eine ganze Reihe zunächst
desolat aussehender Fälle von Massen¬
blutung bei maximaler Schonungsbehand¬
lung sich wieder erholen sehen und
glaube kaum, daß die Zahl der auf chi¬
rurgischem Wege zu rettenden ähnlich
schweren Fälle größer sein dürfte. Bezüg¬
lich der Behandlung rezidivierender mittel¬
starker Blutungen verhalte ich mich je¬
doch gegen eine Operation nicht prin¬
zipiell ablehnend, stelle aber die operative
Indikation individualisierend von Fall
zu Fall, weil die Erfahrung gelehrt hat,
daß sich auch trotz Operation Blutungen
nicht ganz selten wiederholen. Ich
selbst verfüge — ähnlich wie Zweig^^^
und Andere — über eine ganze Reihe
solcher Beobachtungen und habe auch
eine nicht geringe Zahl von Fällen ge-
31) H. Strauß (Zschr. f. ärztl. Fortbild. 1913,
Nr. 4).
32) H. Strauß (Sitzung des Vereins f. inn.
Med. in Berlin 1900, Sitzung vom 21. Jan. 1901,
cf. D. m. W. 1901, Nr. 8).
33) Zweig (M. Kl. Bd. 16, Nr. 22).
30) Foerster (Kongreß f. inn. Med. 1920).
/
November Die Therapie der Gegenwart 1920 385
sehen, welche schwere postoperative Stö¬
rungen (Verengerung der Gastro-Enter-
ostomieöffnung, Ulcus pepticum jejuni
usw.) dargeboten haben. Dies ist der
Grund, warum ich bis jetzt im großem
und ganzen meinem früher aufgestellten
Indikationskreis treu geblieben bin. So¬
fern es sich nicht um eine Dauerstenose
oder um eine Perforation handelt, pflege
ich demnach im allgemeinen die Behand¬
lung zunächst mit einer systematischen
Geschwürskur zu beginnen. Es wird
sich dabei niemand darüber wundern,
daß tiefgreifende Geschwüre schwerer
abheilen als oberflächliche, und daß die
interne Behandlung gegen ulcusähnliche
Krankheitsbilder versagt, bei welchen
die alleinige oder wenigstens die wich¬
tigste* Ursache der Störung in Verände¬
rungen an der Serosaseite der Pylorus-
region (Verwachsungen usw.) gegeben
ist. Eine grundsätzliche Bevorzugung
der Frühoperation wäre meines Erach¬
tens nur dann aro Platze, wenn das ope¬
rative Vorgehen stets auch vor Rezidiven
bewahren würde. Da dies aber nicht zu¬
trifft, so können auch operierte Fälle nie
einer gründlichen internen Nachbehand¬
lung entbehren, es sei denn, daß die
neuerdings von verschiedenen Seiten, so
speziell von v. Haberer®^), Finsterer®^)
u. A. empfohlene Resektion sicherer als
diebisherigen Methoden die Neuentstehung
von Geschwüren verhüten könnte. Vor¬
erst muß es aber noch Sache weiterer
Anmerkung: An Stelle von Wismut, das seit
einiger Zeit außerordentlich teuer ist, habe ich
dabei in Analogie zu Escalin (G. Klemperer)
seit einiger Zeit mit Erfolg 0,2—0,3 g Aluminium
subtilissime pulveratum verabreicht.
’ 34) V, Haberer (M. Kl. Bd. 16, Nr. 11, Zschr.
f. ärztl. Fortbild. 1919, Nr. 12 und a. a. O.).
35) Finsterer (Zbl. f. Chir. 1918, Nr. 52 u.
a. a. 0.)
Diskussionen sein, die Vorteile und Nach¬
teile des radikalen Vorgehens zu erörtern
und festzustellen, bis zu .welchem Grade
ein solches auch die Gefahr einer Neu¬
entstehung oder Wiederkehr von Ge¬
schwüren im Vergleiche zur internen
Behandlung vermindert. Denn bei der
Wertung eines chirurgischen Eingriffs ist
— abgesehen vön den Gefahren des¬
selben — nicht nur dessen momentane
Leistungsfähigkeit, die wir auf dem vor¬
liegenden Gebiete ja keineswegs gering
einschätzen, sondern auch dessen Einfluß
auf das definitive Fernbleiben von Ger
schwürsprozessen zu berücksichtigen. Ge¬
rade mit Rücksicht auf das letztere Mo¬
ment habe ich mich schon vor vielen
Jahren' veranlaßt gesehen, von einer
„ Ulcusdiathese“ zu sprechen®®), welche
in die therapeutische Fragestellung ebenso
einzubeziehen ist wie diejenigen Äuße¬
rungen des Ulcus, welche in einem ge¬
gebenen Zeitpunkt den Gegenstand der
therapeutischen Erwägungen ausmachen.
Gegen diese „Geschwürsbereitschaft‘‘,
welche ja die gleichzeitige Wirkung
mechanischer Momente im Sinne von
Aschoff u. A. nicht ausschließt, können
wir allerdings erst dann erfolgreich Vor¬
gehen, wenn wir über die Pathogenese
des Ulcus klarer informiert sind, als dies
leider zurzeit noch der Fall ist. Auf
die Fortschritte unseres Erkennens der
Pathogenese des Ulcus müssen sich vor
allem unsere weiteren therapeutischen
Hoffnungen stützen, und es sind deshalb
auch unter dem Gesichtspunkte der
therapeutischen Fragestellung alle Fort¬
schritte der theoretischen Forschung auf
diesem Gebiete mit großer Freude zu
begrüßen.
33) H. Strauß (M. KI. 1911, Nr. 21 und Zschr.
f. ärztl. Fortbild. 1913, Nr. 4).
Aus dem Eöutgen-Institut des Städtischeu Krankenhauses Moabit.
Leitender Arzt: Dr. Max Cohn.
Die Grundlagen der Röntgentiefentherapie ^).
Von Dr: Adolf Calm.. Assistenzarzt.
Unter den Errungenschaften der mo¬
dernen Therapie stehen die Röntgen-
strahlen als ein Heilfaktor von hohem
Werte rnit an erster Stelle. Diese Tat¬
sache wird leider vielfach auf den Uni¬
versitäten gegenüber den Studierenden
noch nicht genügend gewürdigt und ist
leider noch nicht hinreichend Allgemein-
^) Vorgetragen auf dem wissenschaftlichen
Abend im Krankenhaus Moabit.
gut des praktischen Arztes geworden.
Andererseits findet man häufig eine Über¬
schätzung der Leistungsfähigkeit der
Strahlentherapie , besonders gerade an
ihrem wundesten Punkte, bei den ma¬
lignen Tumoren, die dann leicht nach
einem Mißerfolg überhaupt zu ihrer Dis¬
kreditierung führt. — Ich werde mir
daher erlauben, Ihnen in großen Zügen
an Hand der physikalischen und biologi-
49
386 Die Therapie der
sehen Grundlagen der Bestrahlungs¬
therapie aufzuzeigen, daß diese Behand¬
lungsart heute ein wissenschaftlich gut
fundiertes Gebiet darstellt, axif dessen
Basis sich, vereint mit den praktischen
Erfahrungen, die. Erfolge aufbauen.
Die Entstehung der Röntgenstrahlen
setze ich als Ihnen bekannt voraus.
Analog den Lichtstrahlen weisen nun auch
die Röntgenstrahlen ein Spektrum ver¬
schiedener Wellenlängen auf und dem¬
entsprechend sind ihre Eigenschaften
gegeneinander verschieden. Die lang¬
wellige Strahlung ist die sogenannte
weiche, die , kurzwellige die harte, da¬
zwischen liegen die Übergangsstufen.
Beide Arten verhalten sich gegenüber
einem Medium, auf das sie auftreffeh,
andersartig und zwar werden die weichen •
Strahlen von dem Medium absorbiert,
die harten vermögen es mehr oder weniger
zu durchdringen, wobei ich einmal von
der auch nicht belanglosen Beschaffenheit
des Mediums absehe. Diese Grundtat¬
sache ist für die Tiefentherapie ent¬
scheidend: denn soll eine Strahlung in die
Tiefe zu einem dort gelegenen Krank¬
heitsherd gelangen, so muß sie hart oder
penetrationsfähig sein, um nicht schon
in den obersten Schichten des mensch¬
lichen Körpers absorbiert zu werden. Der
modernen Technik ist die Lösung des
Problems, möglichst kurzwellige Strahlen
zu erzeugen, durch besonders konstruierte
Röhren, wde die Glühkathoden- und Sie¬
deröhren, durch den Bau von Apparaten
mit sehr hoher Spannung — bis zu 250000
Volt — und durch die Filterung gelungen.
Ein nennenswerter Mangel dieser neu¬
zeitlichen Apparatur wäre hervorzu¬
heben: wir,können mit ihr noch keine
reine harte Strahlung, eine sogenannte
homogene Strahlung, erzielen, sondern
nur ein Strahlengemisch, in dem also
noch weiche beziehungsweise mittelharte
Strahlen neben den harten vorhanden
sind. Das zwingt uns zu der schon er-
Avähnten Filterung, um Schädigungen
der Haut durch Absorption der weicheren
Strahlung in ihr zu vermeiden. Im
Gegensätze zum chemischen Filter, das
qualitativ wirkt, d. h. Stoffpartikel von
bestimmter Größe durchläßt oder nicht
durchläßt, wdrkt das Strahlenfilter
quantitativ in dem Sinne, daß es die
gesamte Röntgenstrahlenmenge schwächt,
die weiche' jedoch besonders. Diese
differente Absorption gegenüber weicher
und harter Strahlung wächst mit dem
Atomgewicht und der Dicke des Fil- '
Gegenwart 1920 . . ' November
terstoffes; z. B. absorbiert Blei mit
seinem hohen Atomgewichte die w.eicheren
Komponenten hundertfach stärker als
die harten. Soll das Filter demnach
.richtig gewählt sein, so muß es die weiche
Strahlung möglichst vollkommen ab¬
halten, ohne zugleich auch die harte
Strahlung allzusehr zu schwächen, mit
anderen Worten: die Wahl des Filters,
ob Al, Zn, Cu, Pb, ist abhängig von der
Spannung der Apparatur, beziehungsweise
der Härte der Röhre. Auf diese Weise
kann eine praktisch homogene Strahlung
erreicht werden. Die Gesamtstrahlen¬
menge erleidet durch die Filterung einen
Verlust, zu dem sich ein zweiter nach dem
Satz gesellt: die Strahlenintensität nimmt
mit dem Quadrate der Entfernung ab.
Diese Tatsache wird verständlich, wenn
man sich den Brennpunkt der Röntgen¬
röhre als den Mittelpunkt zweier Kugeln
vorstellt. Die zweite Kugel habe den
doppelten Radius der ersten, dann hat
diese größere Kugel die vierfache Ober¬
fläche und infolgedessen fällt auf jeden
Quadratzentimeter ihrer Oberfläche nur
der vierte Teil der radienförmig vom
Brennpunkte ausgehenden Strahlung. Als
dritter Verlust kommt die Streustrahlung
in Betracht, unter der ein aus seiner ur¬
sprünglichen Richtung abgelenkter Teil
der Primärstrahlung von gleicher Be¬
schaffenheit wie diese zu verstehen ist.
Sie entsteht überall da, wo Röntgen¬
strahlen auf irgendwelche Moleküle auf¬
treffen und gehört in das Gebiet der
Sekundärstrahlung. Die Zeichnung 1
Fiff. 1.
versinnbildlicht ihre Entstehung durch
ein Filter. — Um nun die Art und die
Menge der Strahlung zu messen,*gibt es
eine Anzahl von Verfahren, leider aber
noch keine einwandfreien, allgemein¬
gültigen. Das exakteste zur Bestimmung
der Strahlenmenge ist die Ionisations¬
kammer, das lontoquantimeter, dessen
schwierige Handhabung seinen Gebrauch
^ in der Praxis vorläufig verhindert und
Nov^ember
Die Therapie- der Gegenwart 1920
387
das auch noch kein Einheitsmeßinstru¬
ment darstellt. Als Testobjekt di ent die
Reaktion der Haut. Tritt auf ihr eine
Rötung ein, so habe ich die zulässige
Bestrahlungsmenge, die Erythemdosis,
erreicht. . Diese Erythemdosis muß nun
eine ganz variable Größe sein, die bei^
einer weichen Strahlung mit ihrer starken
Absorption in der Haut schnell erreicht
wird und mit zunehmender Härte der
Strahlung weiter hinausrückt. Um die
Größe der Erythemdosis als Konstante
zu fixieren, haben Seitz und Winz
den Maßbegriff der Hauteinheitsdosis
(H. E. D.) = 100% geschaffen, mit der
sie die Erzeugung des Erythems durch
eine ganz bestimmte harte Strahlung fest¬
legen. Gegenüber der H. E. D. steht die
Tiefendosis, die in Prozenten zur Ober¬
flächendosis die in die Tiefe gelangte
Strahlenmenge ausdrückt. Daß die pro¬
zentuale Tiefendosis kleiner sein wird
als die H. E. D. ist ohne weiteres ver¬
ständlich, wenn man den Verlust an
Strahlung durch Absorption, quadratische
Abnahme und Streuung berücksichtigt.
Dieser Verlust ist alles andere als gleich¬
gültig für uns, denn wir gebrauchen
häufig genug zur erfolgreichen Tiefen¬
therapie sehr große Strahlenmengen bis
zur H. E. D. und über sie hinaus und
müssen daher bestrebt sein, die Tiefen¬
dosis an Größe der Hautdosis gleichzu¬
machen. Der Weg der Zulunft in dieser
Richtung ist vielleicht die weitere Här¬
tung der Strahlen. Heute gelingt es, auf
Umwegen das gesteckte Ziel zu erreichen:
1. durch die Mehrfelderbestrahlüng oder
das Kreuzfeuer.
Fig. 2 veranschaulicht diese Methode.
Sie sehen, daß ich die Tiefenwirkung
parallel der Felderzahl steigern und das
Vielfache der Erythemdosis in die Tiefe
geben kann, während ich die Haut pro
Feld nur bis zur Erythemgrenze belaste.
Der Nachteil dieses Verfahren ist:- je
zahlreicher die Felder sind, um so kleiner
werden sie, um so größer wird der Ziel¬
fehler auf den Tumor und die Gefahr,
die später noch zu erörternde Reizdosis
zu geben, beziehungsweise große Objekte,
an einzelnen Stellen gar nicht zu treffen.
Liegt ein Krankheitsherd nun oberfläch¬
licher, wie z. B. das Mammacarcinom, so
gelingt eine Konzentration der Bestrah¬
lung von mehreren Einfallspforten kaum
oder gar nicht mehr. Wenn Sie sich in
Fig. 2 den Tumor oberflächlicher und
kleiner eingezeichnet denken, wird Ihnen
diese Tatsache ohne weiteres verständ¬
lich werden. Der großen Schwierigkeit,
in solchen Fällen die erforderliche Dosis
heranziibringen, wird man Herr:
2. durch Vergrößerung des Röhren¬
hautabstandes und
3. durch Vergrößerung des Einfall¬
feldes.
Vergrößere ich z. B. den Röhrenhaut¬
abstand von 23 auf 50 cm, so erhöhe ich
nach Seitz und Wintz die Tiefendosis
um zirka 50%. Fig. 3 mag Ihnen diesen
Vorgang erläutern. Die vom Punkte A
kommende Strahlung breitet sich kegel¬
förmig aus. Käme die Strahlung aus
der Unendlichkeit, so wäre sie praktisch
parallel und damit die Einfallsintensität
•und die Intensität in größerer Tiefe
gleich. Das gesteckte Ziel wäre erreicht.
Um mich ihm zu nähern, muß ich den
Röhrenhautabstand im Verhältnis zur
Schichtdicke des zu durchstrahlenden
Gewebes möglichst vergrößern. Infolge
der quadratischen Abnahme der Strahlen¬
intensität wird aber hierdurch die Ge-
samtstrahknmenge bedeutend verringert,
dagegen die Bestrahlungsdauer erhöht,
Auf "diese Weise kommen die Dauer¬
bestrahlungen von vielen Stunden zu¬
stande. Vergrößere ich das Einfallsfeld
von 8XS 10X15 cm, so erhöht sich
49*
388
Die Therapie der Gegenwart 1920
November
die Tiefendosis ebenfalls nach Seitz und
Wintz um etwa 25%. Dies liegt an der
Streustrahlung, die zum Teil als Zusatz¬
strahlung in der Tiefe in Betracht kommt,
wie aus Fig. 1 ersichtlich ist, und die
mit der Größe des Einfallfeldes zunimmt.
Unsere physikalischen Betrachtungen
haben uns gezeigt, daß wir nicht nur über
genügend durchdringungsfähige Röntgen¬
strahlen verfügen, sondern auch ihre
Menge den jeweiligen Anforderungen ent¬
sprechend variieren können. Um uns
nun den therapeutischen Effekt der
Röntgenstrahlen verständlich zu machen,
und um eine rationelle Tiefentherapie zu
treiben, müssen wir auch über die biolo¬
gischen Wirkungen Aufklärung suchen.
Das Charakteristische der Röntgen¬
strahlenwirkung auf den lebendigen Or¬
ganismus ist die direkte Zellschädigung.
Sie entsteht infolge der biochemischen
Wirkung der Röntgenstrahlen, deren An¬
griffspunkt in erster Linie der Zellkern,
erst weiterhin das Protoplasma ist. Je
nach der Menge der absorbierten Strah¬
lung und der Empfindlichkeit der Zelle
kommt es zu ihrer vorübergehenden Er-
kpnkung oder zur bleibenden Schädigung
bis zum Tode der Zelle. Die Absorption
sehr kleiner Strahlenmengen bewirkt eine
Erhöhung der Proliferation, sie stellt die
Reizdosis dar. Sie sehen, daß wir die
Röntgenstrahlen als ein Medikament auf¬
fassen können von einer den Giften ana¬
logen Wirkung. Und wie es bei diesen
auch nicht gleichgültig ist, ob ich z. B.
eine größere Dosis Morphium auf einmal
oder sukzessive verabreiche, so muß ich
auch die Röntgenstrahleiidosis je nach
dem gewünschten Erfolge in einer oder
mehreren Sitzungen verabfolgen. Im
letzteren Fall ist dann der Erholungs¬
faktor der Zellen und eine gewisse Ge¬
wöhnung an das ,,Röntgengift“ in Rech¬
nung zu stellen. Der Grad der Zellschädi¬
gung steht also im gesetzmäßigen Ver-'
hältnis zur Menge der Strahlung, der
Absorptionsfähigkeit des Gewebes und
zur specifischen Radiosensibilität der
Zelle. Diese specifische Strahlenempfind¬
lichkeit der Zelle ist an ihren biologischen
Charakter gebunden. Darüber hat die
experimentelle Forschung Aufklärung ge¬
geben und gezeigt: je jüngeri^eine Zelle
ist, je rascher sich der Kernteilimgsprozeß
in ihr vollzieht und je lebhafter ihr Stoff¬
wechsel abläuft, um so radiosensibler ist
sie. Die Samenzellen sind z. B. während
ihres kargokinetischen Werdegangs hoch¬
gradig strahlenempfindlich, die ausge¬
reiften Spermatozoen weit weniger. Auf
die Praxis angewandt, bedeutet dies,
daß sich alle Organe mit vorwiegend
,,tätigen“ Zellen für die Strahlentherapie
eignen, so die Ovarien und Hoden, die
Lymphdrüsen und die Milz mit ihren
Keimcentren, die Hyperplasien der drü¬
sigen Organe, wie Thyreoidea, Thymus,
Hypophysis, die malignen Tumoren mit
ihren atypisch wuchernden Zellen. Dem¬
gegenüber reagieren die ruhenden Zellen,
z. B. die Bindegewebszellen weit schwerer
auf Röntgenstrahlen. — So lehren das
Experiment und die Erfahrung, daß eine
Dosierung nur aufgebaut werden kann
auf Vergleich der biologischen Reaktionen
mit der aufgewandten Stärke des Medika¬
ments, und daß eine bestimmte Dosis
nur auf einem bestimmten Gewebe diese
oder jene Wirkung ausübt, nicht aber,
daß eine bestimrrite Dosis überhaupt eine
bestimmte Wirkung hat. Dieselbe Strah¬
lenmenge auf ein Lymphosarkom ge¬
geben, hat eine ganz andere Wirkung als
auf einen Skirrhus. — Diese Betrach¬
tungen führen uns dazu, den Kern des
schwierigen Problems, warum gewisseZell-
arten sehr strahlenempfindlich und andere,
ihnen morphologisch ähnliche Zellen wenig,
empfindlich sind, nicht allein in der ver¬
schiedenen Absorptionsfähigkeit der Ge¬
webe für Röntgenstrahlen, also in einer
rein physikalischen Erklärung, zu suchen,
wie das von einigen Seiten geschieht,,
sondern auch in einer specifischen Strah-
lenempfindlichekti der Zellen. Wenn
nun Seitz und Wintz bestimmte Be¬
strahlungsdosen angegeben haben, für die
Kastration 34%, für das Sarkom 60 bis
70% und für das Carcinom 110% der
H. E. D., gewissermaßen ein physikali¬
sches Verfahren, so ist darüber zu sagen,
daß beide Forscher diese Dosen durch
lange Versuchsreihen gewonnen haben
und zwar eben im Vergleich zwischen
biologischer «Reaktion und aufgewandter
Strahlenintensität. Nach zwei Rich¬
tungen hin möchte ich aber diese Zahlen
eingeschränkt wissen: einmal sind sie
nur als Normen aufzufassen, und dann
fußen sie auf gynäkologischen Erfahrun¬
gen, das heißt ihnen liegen Geschwülste
mit einem umgrenzten, bestimmten Mut¬
tersubstrat und damit doch gewisse
Typen zugrunde. Es sei dies gegenüber
einem Überschwang von Hoffnungen,
der nun glaubt, mit diesen Dosen mehr
oder minder mechanisch eine erfolgreiche
Therapie jedes Carcinoms oder Sarkoms
einleiten zu können, besonders betont:
l^ovember ^ Die Therapie der Gegenv^l^art 1920 389
Es- gibt keine Ca^Dosis schlechthin und
noch viel weniger' eine Sarkomdbsis. Ca
und Ca ist ein Unterschied, der vielleicht
noch deutlicher bei einem periostalen und
einem Lymphosarkom zutage tritt, Tat-
■sachen, deren man sich bei Anwendung
der genannten Zahlen in anderen als den
-gynäkologischen Körperregionen wohl be-,
wuf5t sein sollte. An sich aber haben uns
die.Untersuchungen der Freiburger und
Erlanger Schule sehr viel weiter gebracht,
so daß heute in der Carcinom- und Sar-
.komtherapie die Großfelder- und Dauer¬
bestrahlung als die Methode der Wahl
gilt. Gegenüber desolaten Fällen ist
auch sie machtlos; diese sind für die
Strahlenbehandlung quoad sanationem
ebensowenig geeignet, wie für die Opera¬
tion. Unter Umständen kann ein Rück--'
gang der Jauchung, eine Besserung der
Schm.erzen usw. für gewisse Zeit .erzielt
werden, aber auch das Gegenteil, wenn
infolge zu großer Ausbreitung des Tumors
irgendwohin die Reizdosis gegeben wird.
Jedenfalls sollten solche Fälle nicht der
Strahlentherapie zur Last gelegt werden.
Zum Schluß möchte ich vor einer Über¬
tragung der Intensivmethode auf , die
Therapie der inneren Medizin, wie der
Leukämien, der Tuberkulose, des Morbus
Basedowii warnen. Hier hat uns die Er¬
fahrung gelehrt, daß eine vorsichtige,
individualisierte Bestrahlungsart sehr gute
Erfolge zeitigt.
Cretinenbehandlung und Rassenhygiene.
Vofi Dr. Finkbeiner, prakt. Arzt, Zuzwil (Schweiz). (Fortsetzung.)
B. Prophylaktische Maßnahmen
gegen den Cretinismus haben zu allen
Zeiten wichtiger geschienen und mehr
Erfolg versprochen, als die trostlose In¬
dividualtherapie, und namentlich die
älteren Autoren haben hierüber sehr
gesunde Ansichten verfochten. Es lohnt
sich wohl, dieselben der Vergessenheit
zu entreißen.
Guggenbühl schreibt: „Ursache des
Cretinismus ist alles, was schwächt und
die Lebenstätigkeit depotenziert; Vor¬
beugungsmittel dagegen alles, was den
physischen und moralischen Charakter
des Volkes hebt,“ und er empfiehlt
speziell
1. sorgfältige Bodenkultur, Drainage;
2. bessere Wohnungen, Baugesetze,
Baupolizei;
3. abwechselungsreiche Nahrung,
'Schnapsverbot, gutes Trinkwasser, jod¬
haltiges Kochsalzbei Kropfdisposition(l);
4. Verhinderung der blutsverwandt¬
schaftlicheil Ehen und Verbindungen von
Individuen, welche bereits Spuren des
Cretinismus an sich tragen, Begünstigung
der Rassendurchkreuzung, Verbesserung
der physischen Erziehung; Kleinkinder¬
schulen und Musterdörfer; dann natürlich
die Anstaltsbehandlung.
Es ist geradezu erstaunlich, wie ver¬
nünftig und richtig- dieser lange Zeit
als Charlatan verschriene Autor die
Endemie und die Mittel zu ihrer Ver¬
hütung beurteilte; besseres vermögen
wir auch heute darüber noch nicht zu
sagen.
Dem me stand auf dem gleichen
Standpunkt; er verweist darauf, daß
(schon damals!) die Endemie, namentlich
die schwersten Formen derselben, unauf¬
haltsam zurückging; ,,der Cretinismus
hat seine Akme überschritten; die Natur
selbst strebt nach endlichem Erlöschen
und unterstützt die Kraft durchbrechen¬
der Kultur“; in der Annahme eines
völligen und spontanen Erlöschens der
Endemie hat er sich aber doch wohl ge¬
täuscht. Richtig scheint seine Forderung,
daß nur der Staat und der Gesetzgeber
die wirksamen Mittel zur Abhilfe besitze.
■„Redliche Sorge für das Wohl des Landes;
gewissenhafte Förderung der. Volks¬
bildung, umsichtige Erforschung schäd¬
licher Einflüsse und beharrliche Versuche
möglicher Abhilfe“ nennt er als Wege
zum Ziel und lu^int: ,,Ein Hauptmittel:
Verhinderung von Ehen in cretinischen
Geschlechtern, ist bis dahin nur wohl¬
gemeinter Wunsch geblieben und wird
aus höheren Rücksichten für die persön¬
liche Freiheit aller es auch ferner bleiben
müssen.“ Solche altmodische, vormärz¬
liche Rücksichten haben in den letzten
fünf Jahren doch wohl ihre allgemeine
Geltung verloren und wir wissen, daß
heute in Europa für die ,,persönliche
Freiheit“ (und gar für die persönliche
Freiheit aller!) kein Raum mehr ist.
Tempi passati ...
Rösch meint, wenn wirklich der
Cretinismus an gewisse Örtlichkeiten ge¬
bunden wäre, so bliebe nichts anderes
übrig, als solche Wohnplätze zu ver¬
lassen. Im einzelnen schlägt er vor:
1. Bodenverbesserung, Entwässerung,
Flußkorrektionen;
2. baupolizeiliche Vorschriften;
r - '
390 Die Therapie der
\ 3. Bäume dürfen nicht zu nahe bei
den Wohnungen stehen;
4. gutes Trinkwasser;
5. ‘Abstinenz von geistigen Getränken
(Branntwein);
6. bessere Ernährung; Entlastung von
drückenden Abgaben (!), Steuernach¬
laß (!), Übernahme des Straßenunter¬
halts'durch den Staat, Beförderung des
Wohlstands durch innere Kolonisation
und Industrie;
7. bessere Hautpflege (Bäder, Klei¬
dung usw.);
8. sorgfältige Erziehung, Kleinkinder¬
schulen ;
9. Schwangere sollen nicht dreschen (!),
schneiden, nähen, schwere Lasten tragen,
nicht jeder Unbill der Witterung und
nicht psychischer Mißhandlung (!) aus-
gesetzt sein, keinen Branntwein trinken;
10. d:e Fortpflanzung des Menschen
soll nicht mehr dem blinden Zufall
überlassen bleiben wie bisher, sondern
Mädchen aus Endemiegegenden sollen
gesunde Burschen von auswärts hei¬
raten;
Abkömmlinge von Cretinenfamilien
sollen nie, auch wenn sie selbst ge¬
sund sind, unter sich heiraten;
cretinische Individuen sollen selbst nie
heiraten, auch wenn sie selbst bloß
etwas vierschrötig,' geistesschwach
oder mit lallender Sprache begabt
wären;
ist bloß der eine Teil leicht cretinoid, so
ist die Ehe dann allenfalls zulässig,
wenn der Mann der gesunde Partner
ist (gleicher Ansicht ist Guggen-
bühl S. 60). '
Von diesen Vorschlägen sind zwar
einige schon verwirklicht, aber vieles
bleibt noch zu tun, und aus dem Stadium
des ,,frommen Wunsches'‘ wird die Pro¬
phylaxe des Cretinismus in absehbarer
Zeit noch nicht herauskommen. Denn
man muß sich vollständig darüber klar
sein, daß eine unentwegte Durchführung
solcher Maßregeln aufs allertiefste in
unser gesamtes Leben einschneiden
müßte. Und es ist noch sehr die Frage,
ob die Ausrottung des Cretinismus so
dringend und so .nützlich wäre, daß sie
die Anwendung so drakonischer Vor¬
schriften erforderte. Ich persönlich bin
der Ansicht, daß dies nicht der Fall ist
und daß ein weiteres Bestehenlassen des
Cretinismus keine unerträgliche Last be¬
deutet. Bloß der Vollständigkeit halber
und weil meines Wissens das Problem
in neuerer Zeit nie mehr von dieser Seite
j-
Gegenwart 1920 November
her betrachtet wurde, will ich hier Mittet
und Wege andeuten, wie zu einer Ein¬
dämmung und. sogar zu radikaler Aus¬
rottung des Cretinismus zü gelangen wäre..
Im einzelnen kommen folgende Punkte
in Betracht:
I. Erforschung des Cretinismus.
Gestehen wir ruhig, daß unsere Kennt¬
nisse vom Cretinismus heute noch sehr-
lückenhaft sind. Man hat das Problem
viel zu sehr mit Fragen belastet, welche
direkt damit kaum etwas zu tun haben..
Das Studium des Kropfes, derTaubstumm-
heit, der Idiotie usw. §oll keinem ver¬
wehrt sein; aber man glaube nicht, damit
für die Aufhellung des Cretinismus etwas
zir leisten. Wenn wir wirklich vorwärts
kommen wollen, so ist einmal das Pro¬
blem ausschließlich, direkt und nicht .
mehr auf Umwegen in Angriff zu nehmen.
Ich denke bei dieser Forderung nicht so
sehr an eine Statistik (welche freilich
auch noch fast vollständig neu zu schaffen
ist), als vielmehr an die unerläßliche
anatomische Grundlage; sehen wir ab
von Gehirn, Kropf und einigen mehr
fragmentarischen Knochenbefunden (alt
das am vollständigsten bei Scholz ver¬
arbeitet), so wissen wir über die Anatomie
der Cretinen noch sehr wenig. Es sind
zwar Sektionsprotokolle solcher Menschen^
schon in ziemlich großer Zahl vorhanden,
aber über die normale Anatomie der
Cretinen, nämlich das Verhalten der
Osteologie derselben, der Muskelabnormi¬
täten, des Verlaufs von Gefäßen und
Nerven, mit einem Wort: über die An¬
thropologie der Cretinen liegen noch recht
wenig brauchbare Angaben vor. Hier
ist zunächst der Hebel anzusetzen; mit
solchen Vorarbeiten ist das Fundament
einer rationellen Prophylaxe zu schaffen.
Die prophylaktischen Maßregeln selbst
sind in zwei Gruppen zu teilen, je nach¬
dem sie in der Umgebung des Menschen
oder beim Menschen selbst angreifen.
11. Kulturelle Verbesserungen.
Das Programm der alten Autoren
ist in diesen Punkten großenteils ver¬
wirklicht, ohne daß dadurch die Endemie
merklich beeinflußt worden wäre. Ent¬
sumpfung und Bodenverbesserungen sind
heute bei uns. allerwärts durchgeführt
und die meisten Gemeinden verfügen
über gutes Trinkwasser (in den Berg¬
dörfern des Schweizer Jura, wo dies¬
bezüglich die Verhältnisse schlecht sind,
ist Cretinismus nur wenig verbreitet!).
' November Die Therapie der Gegenwart 1920 ^ 2(91
Jedes Dorf hat seine Gesundheitskom¬
mission und organisatorisch dürfte da
wenig zu ändern sein.
Auch die Wohnungen sind in den Neu¬
bauten der letzten Jahrzehnte theoretisch
einwandfrei; theoretisch, soweit Bau¬
meister und Baupolizei in Frage kommen.
Praktisch, was den Unterhalt durch die
Hausfrau- anbelangt, stoßen wir oft ge¬
nug auf elende’ Verhältnisse, und ich
weiß nichts Ödere^ und Abstoßenderes, als
ein neues Haus in unordentlichen Händen.
Gewiß mag, wie Kutschera ausgeführt
hat, das Abbrennen eines Hauses unter
Umständen im hygienischen Sinne zu
begrüßen sein; aber eine Cretinenfamilie
in einem Neubau: mir graust davor!
III. Prophylaxe beim Menschen selbst
leisten wir bei den wirklichen Infektions¬
krankheiten schon dadurch, daß wir die'
Erkrankten ^behandeln und durch deren
Heilung die Ansteckungsquellen^ beseiti¬
gen. Beim. Cretmismus kommt diese
Prophylaxe nicht in Frage. Eine erfolg¬
reiche Behandlung der Cretinen, welche
diese instand setzt, siclT ihren Lebens¬
unterhalt selbst zu verdienen und eine
Familie zu begründen, würde vernTutlich
nicht zur Verminderung, sondern im
Gegenteil zur Vermehrung des Cretinis-
mus beitragen. Unser Ziel kann nicht
sein, den Cretinen die Familiengründung
zu ermöglichen, sondern im Interesse
der Prophylaxe muß danach gestrebt
werden, alle von der Endemie auch nur
gestreiften Individuen . von der Fort¬
pflanzung auszuschließen. Davon später;
vorerst sind zwei mehr äußerliche Punkte
zu besprechen, nämlich bessere Lebens¬
haltung und bessere Körperpflege.
a) Bestrebungen für bessere-
^ Lebenshaltung
sollen in erster Linie den Gesunden zugute
kommen, nicht denen, die der Endemie
schon erlegen sind. Ich verweise auf
Punkt 6 bei Rösch. Ein wesentlicher
Punkt sodann scheint mir bessere Aus¬
bildung der zukünftigen Hausfrauen zu
sein^). Was jetzt nur einzelnen zugute
kommt, nämlich Absolvierung einer Haus¬
haltungsschule, das sollte allen jungen
Mädchen zugänglich gemacht werden und
wäre auch auf dem Lande unschwer zu
‘^) Wer die Notwendigkeit dieses Programm¬
punktes bezweifeit, möge sich durch den Artikel
von Dr. Emil Reiß über „Hygiene und Küche“
(in Nr. 27 der M. KI. vom 6. Juli 1919) überr
zeugen lassen.
erreichen;' es brauchte bloß die schon
fast überall bestehende Fortbildungs- •
schule diesem Zweck dienstbar gemacht
zu werden. Hier würden die jungen
Töchter nicht allein die Führung eines
Haushalts, sondern (was ebenso wichtig
und ihnen meistens unbekannt) die Zu¬
bereitung einer schmackhaften Kost, ver¬
feinerten Gemüsebau, Krankenpflege und
dergleichen mehr erlernen. Solche Forde¬
rungen mögen mit Cretinenprophylaxe
scheinbar kaum etwas zu tun haben; ihre
Erfüllung würde jedoch die häusliche Be¬
haglichkeit erhöhen und dadurch erst
die" Durchfüfirung eines Alkoholverbots
ermöglichen. All das -ist ja noch nicht
der Inbegriff der Prophylaxe, aber doch
nicht unwesentliche Vorbedingung, dazu;
'namentlich das Alkoholproblem hat für
unsern Gegenstand eine große praktische
Bedeutung, die leider von .den neueren
Autoren viel zu wenig beachtet wird.
/
b) Bessere Körperpflege
hat schon die Ungeborenen zu berück¬
sichtigen; ich muß jedoch gestehen, daß
mir Forderung 9 be| Rösch in diesem
Sinne viel sympathischer ist, als etwa
das Taussigsche Postulat einer syste¬
matischen Kropfbekämpfung bei sämt¬
lichen graviden Frauen; kann doch die
Struma der Schwangeren mit Fug und
Recht als eine notwendige Kompen-
sationserscheinuug b etrachtet werden.
Warum in diese fein abgestimmten Re¬
gulierungsvorgänge mit grober Hand ein¬
greif en?
Zurück zur Körperpflege! Da eine
solche ohne Badegelegenheit undenkbar
ist, so ist für jede Gemeinde die Errich¬
tung eines Brausebades anzustreben. Hier
könnte, wie es in den Städten ja schon
lange eingeführt ist, jedermann um ge¬
ringes Entgelt die bisher so sträflich
vernachlässigte Körperpflege durchführen.
Wenn im Mittelalter jedes Dorf seine
Badestube hatte, so sollte ähnliches auch
heute noch möglich sein.
Ein weiterer sehr wichtiger Programm¬
punkt ist der, daß der schulentlassenen ^
Jugend beider Geschlechter Gelegenheit
zu einem zielbewußten Turnbetrieb ge¬
schaffen werden sollte. Das Schulturnen
hat sich (aus Gründen, die hier nicht zu
erörtern sind) als vollständig wertlos
erwiesen; das ergaben unsere Rekruten¬
prüfungen. Bis 1914 wurden alle unsere
Stellungspflichtigen außer einer päda¬
gogischen Prüfung auch auf ihre körper-
! liehe Gewandtheit geprüft und es zeigte
3&2 Die Therapie der
sich d&hei, daß diejenigen, welche nur
, in der Schule geturnt hatten, genau so
wenig leisteten, wie die Burschen, die
überhaupt nie zum Turnen gekommen
waren. Positive Ergebnisse liefert einzig
das Vereinsturnen, das deshalb überall
auch in ländlichen Verhältnissen all¬
gemein und verbindlich eingeführt werden
sollte. Auf Einzelheiten, wie dies ge¬
schehen könnte und wie die Gefahren der
Vereinsmeierei und des Alkoholismus da¬
bei zu vermeiden wären, ist hier zunächst
nicht einzutreten; - wo ein Wille ist, da
findet .sich immer ein Weg. Solche
Körperpflege auf kommunaler Grundlage
erscheint überall ..da von besonderer Be¬
deutung, wo künftig die allgemeine Wehr¬
pflicht ausgeschaltet wird.
Man kann und wird, mir einwenden,
für kostspielige hygienische Neuerungen
sei leider heute kein Geld vorhanden;
die Gegenwart hat andere Sorgen 1 Ge¬
wiß; aber es ist zu beachten, daß alle
diese Vorschläge nicht charitativen
Charakter haben, sondern in allererster
Linie dem gesunden , Nachwuchs zu¬
gute kommen sollen; die Volksgesundheit
ist (neben den Schätzen des Erdbodens!
der wichtigste Teil jeden Nationalreich¬
tums, und darum kann das darauf ver¬
wendete Geld nicht als unproduktive
Anlage angesehen werden. Ferner ist
zu bedenken, daß Schulküche, Brause¬
bad und Turnhalle in Verbindung mit
Versuchsgarten und TuruT (respektive
Spiel-)platz in einer gemeinsamen An¬
lage vereinigt werden können, wodurch
sich die Kosten wesentlich reduzieren;
und daß die Benützung dieser Einrich¬
tungen, auch wenn sie obligatorisch er^
klärt ist, deswegen noch nicht unentgelt¬
lich sein muß; mit etwelchen Zuschüssen
- aus öffentlichen Mitteln sollten sich
Volksbad, Haushaltungsschule und Turn¬
verein leicht selbst zü erhalten vermögen.
— Aber freilich: so hoch wir den Nutzen
solcher Anstalten einschätzen mögen,
an den Kern des Cretinenproblems und
der Cretinenprophylaxe kommen sie
kaum heran.
c) Rasseiihygiene und Eugenik.
Die-Frage: „Wie kann die Entstehung
des Cretinismus verhütet werden?“ —
diese Frage gehört durchaus ins Gebiet
der Rassenhygiene. Liegen auch bisher
verwertbare Beobachtungen noch kaum
vor, so läßt sich nichtsdestoweniger der
einzuschlagende Weg recht wohl einiger¬
maßen überblicken.
Gegenwart 1920 Novemben
Nehmen wir einmal an, unter irgend¬
einer Haustierart wäre .eine dem'Cretinis¬
mus vergleichbare Entartung aufgetreten;
was wäre da zu tun? Würde, man sich
tatenlos in sein unabwendbares Schicksal'
ergeben? Würde man Abhilfe für un¬
möglich oder auch nur für schwierig.
halten? Quod nonl Jeder simple Land¬
wirt wäre gewiß überzeugt, daß mit den
allgemein bekannten und erprobten Züch¬
terregeln innerhalb von wenigen Gene¬
rationen die Gesundung der betreffenden
Rasse erreicht werden könnte. Welches
sind nun diese Züchterregeln ? Sie sind
sehr einfach und lassen sich auf die For¬
mel zurückführen: es werden bloß die¬
jenigen Individuen zur Zucht zügelassen,
welche 'die dem Vorgesetzten Züchtüngs-
ziel entsprechenden Eigenschaften be¬
sitzen (Selektion); alle anderen werden
eliminiert oder sterilisiert. Reinzucht
(Inzucht in Verbindung mit Systematik'
s.cher Blutauffrischung) befestigt das Re¬
sultat; dazu kommen ferner sorgfältige
Abstammungskontrolle, Prämiierungen,
verständige Haltung (Fütterung, Dressur,
Gesundheitspflege) usw.
Was der bewußte Wille des Tier¬
züchters bei den Haustieren, das leistet
bei den frei lebenden Tieren der unerbitt¬
liche Kampf ums Dasein: nämlich Elimi¬
nation der minderwertigen Individuen.
Der Mensch ist, wie es scheint, das einzige
Wesen, bei dem eine zweckdienliche Aus¬
lese überhaupt nicht zur Geltung kommt;
Zuchtwahl ist strengstens verpönt und
widerspricht allen unseren heutigen Mo¬
ralbegriffen; geschlechtliche Selektion be¬
stimmt sich nicht nach körperlichen, son¬
dern wohl ausschließlich nach kulturellen
Eigenschaften (Vermögen, gesellschaft¬
liche Stellung, Verstand) und der Kampf
ums Dasein ist im zivilisierten Europa
ausgeschaltet, indem unsere sozialen Ein¬
richtungen die Schwachen in jedem Sinne
begünstigen. Wer will sich wundern,
wenn das. Resultat der Zivilisation un¬
befriedigend ist und Degeneration be¬
deutet?
Sehen wir in Endemiegegenden die
Variationskurven allgemein verbreitert^®)
und finden wir daselbst die Minusvarian¬
ten relativ zu stark vertreten, so läßt
sich das Ziel der Prophylaxe mit anderen
Wenn eine abnorm flache oder mehr-
gipflige Variationskurve auf Rassenmischung zu¬
rückzuführen ist, so muß es möglich sein, durch
zielbewußte Reinzucht eine mehr geschlossene
Kurvenform zu erreichen. Dazu sind aber
mehrere Generationen erforderlich.
39a
November Die Therapie^ der Gegenwart 1920
Worten so umschreiben, daß der eine
Schenkel der Variationskurven (nämlich
, eben di^ Minusvarianten) zum Ver-,
schwinden gebracht werden soll. Dies
kann nach dem eben gesagten nicht als
unerreichbar gelten,'aber man muß sich
darüber klar sein, daß es unseren gegen¬
wärtig geltenden Moralbegriffen wider¬
spricht. Frühere Zeiten dachten darüber
anders, und welche Anschaltungen in der
Zukunft gelten werden, das wissen wir
nicht. Immerhin lassen sich gewisse
Keime zu neuen Entwicklungen heute
schon erkeunen.
Früher dachte man anders. Die
Spartaner setzten ihre Minusvarianten
im Taygetos aus, und die barbarisch
grausamen Aiisrottiingskriege; mit denen
zu allen. Zeiten der weiße Mann die Ur¬
bevölkerung in Europa wie in überseei¬
schen Ländern verfolgte, hatten schlie߬
lich alle den gleichen Endzweck: Rein-
haltung der eigenen Rasse. Ganz das¬
selbe gilt wohl auch von den Hexenver¬
brennungen;’ es läßt sich zeigen, daß
in den Sagen der Alpenländer eine un¬
unterbrochene Entwicklungsreihe von den
Hexen über Feen und Teufel zur zwerg¬
haften Urbevölkerung hinführt. Und
wenn noch in nicht allzu weit zurück¬
liegender Zeit Landstreicher wegen Baga¬
tellen „von Rechts wegen“ gehenkt wür¬
den, so befreite . auf solche brutal-sa^
distische Art die damalige Gesellschaft
sich von Alkoholikern und anderen uner¬
wünschten Rassenelementen, welche heute
in meist nutzloser Weise die Strafan¬
stalten und Be^seriingshäuser bevölkern.
Auch das war im Endeffekt eine Art von
praktischer Rassenhygiene. 'Aber nichts ,
liegt mir ferner, als etwa jene Zeiten
zurück rufen zu wollen.
Die Bewegungen, .welche schließlich
rassenhygienische Wirkung haben können
oder sollen, lassen sich in zwei Gruppem ‘
einreihen: es sind einmal gewollte, ge¬
setzgeberische (und sagen wir es gleich
von Anfang an: meistens aussichtslose)
Maßnahmen, denen auf der anderen Seite
die viel langsamer, aber unwiderstehlich
wirksamen spontanen Bevölkerungsbewe¬
gungen gegenüber stehen. Betrachten
wir beide Gruppen kurz der Reihe nach.
(Schluß folgt im nächsten Heft.)
Zusammenfassende Übersicht.
Der künstliche Pneumothorax^).
Von Dr. K. Grein, Assistent an der Chirurgischen Klinik Halle, Dir. Rrof. Dr.VoeIcker.
Die ständig steigenden. Erkrankungs¬
ziffern an Lungentuberkulose lenken
mehr denn je unser ganzes Interesse auf
die Behandlung dieser furchtbaren Volks¬
seuche. In den Behandlungsmethoden
spielt seit über dreißig Jahren als aktivste
Therapie die Anlegung eines künstlichen
Pneumothorax eine Hauptrolle. Im
folgenden soll daher eine Übersicht ge¬
geben werden, die kurz möglichst alle
Punkte berührt, die den Kliniker und
den Praktiker, die heutzutage an dieser
Therapie nicht mehr vorübergehen kön¬
nen, besonders iriteressieren.
Als hauptsächliche Literaturangabe möchte
ich hinweisen auf die im Jahre 1912 in den Er¬
gebnissen der inneren Medizin erschienene Arbeit
von F 0 r 1 a n i n i. In ihr findet man .alle grund¬
legenden Angaben über Theorie und Praxis der
Pneumothoraxtherapie. Was an Arbeiten in den
folgenden Jahren erschienen ist, hat zwar manche
Erweiterungen und Richtigstellungen gebracht,
in den Grundlagen aber die Anschauungen von
F 0 r 1 a n i n i nicht geändert. Wir -haben es
ja auch in dieser Arbeit mit einer 30 Jahre hin¬
durch gereiften Erfahrung des Begründers der
Pneumothoraxtherapie zu tun. Denn im Jahrel882
Nach einem Vortrage, gehalten im ärzt¬
lichen Verein zu Halle.
machte F o r 1 a n i n i zum ersten Male in einem
theoretischen Artikel den Vorschlag, die Lungen¬
tuberkulose durch den Pneumothorax anzugehen,
I ohne daß der Vorschlag weitere Beachtung er-
wa0. Den ersten praktischen Fall führte F o r 1 a -
n i n i 1888 aus bei einem Fall von einseitiger
Lungentuberkulose mit Pleuraerguß. Er wählte
absichtlich diese Komplikation, weil bei ihr die
Verletzung der Lunge fortfiel. An diese Arbeiten
schlossen sich weiterhin hauptsächlich die Ar¬
beiten von M u r p h y in Amerika, von Brauer
und AdolfSchmidt in Deutschland, S a u g -
mann in Dänemark und von anderen mehr.
Sie alle befaßten sich vor allen Dingen damit, die
Methode auszuprobieren, Verbesserungen in der
Apparatur einzuführen und die Indikationsstellung
schärfer zu umgrenzen. Eine verhältnismäßig
geringe Anzahl von Arbeiten liegen über andere
Fragen vor, etwa über die Veränderung der
' Pneumothoraxluft, über die anatomischen Ver¬
änderungen der kollabierten Lunge, über den
Wirkungsmechanismus des Pneumothorax, über
die Veränderungen des Blutbildes bei ihm usw.
Während F o r 1 a n i n i den Pneumothorax ur¬
sprünglich nur bei Lungentuberkulose anwandte,
war sein Schüler Riva R o c ci der erste,
der ihn anwandte bei Bronchiektasen. Adolf
Schmidt versuchte ihn bei Schluckpneumo-
. nien. Weiter wurde er bei lebensbedrohlichen
’ Hämoptysen angewandt. Das Hauptanwendungs¬
gebiet blieb .aber die Lungenschwindsucht.
Ehe wir uns die Frage vorlegen, wann
wir zur Pneiimotoraxtherapie greifen,
50
394
Die Therapie der Gegenwart 1920
Noveihber.
\,
müssen wir uns kurz, den Wirkungs¬
mechanismus klar machen. Sofort ein¬
leuchtend ist die Wirkungsweise auf^ie
Zerstörungsfolgen der Lungentuberkulose,
soweit sie zur Höhlenbildung geführt hat.
Die bei. nicht aktiver Therapie stets
klaffend gehaltenen Kavernen werden
durch Kollabieren des Lungengewöbes
zum Schließen gebracht. Es kommt zu
Verklebungen und eventueller endgültiger
Ausheilung. Ähnlich einfach ist auch
die Erklärung der oft schon als iebens-
rettend angewandten Pneumothorax-
theräpie bei lebensbedrohlichem Lungen-
bluten, wo es entweder durch direkte
Kompression der betreffenden Gefäße
zum Stillstand der Blutung kommt,
^der durch Ischaemie infolge Kompres¬
sion durch das kollabierende Lungenge-
gewebe. Vielleicht spielt auch noch der
Umstand eine Rolle, daß die Atmung
aufhört, die ja sonst Ursache ist für die
bei jedem Atemzug eintreteiide intra-
pneumonische Druckverminderung und
die damit gerade die Blutaspmation be¬
wirkt. Viel schwerer zu erklären.ist die
Wirkung des Pneumothorax auf den
eigentlichen phthisischen Vorgang, das
heißt,, warum es zum Aufhören des Grund¬
prozesses der Krankheit und sogar zu
Heilungsvorgängen kommt. Forlalini
glaubte zwar nicht, wie es nach ihm
andere taten, daß der künstliche Pneu¬
mothorax direkt auf die Tuberkelbacillen
wirke, nämlich durch Einschränkung der
Sauerstoffzufuhr und durch Kohlen¬
säurevermehrung in der kollabierten
Lunge, auch nicht, daß die Phthise als
solche geheilt würde durch den Pneu¬
mothorax, sondern es würde nur die
weitere Ausbreitung des Prozesses ver¬
hindert. Aber die Erklärung, die Forlalini
• dazu gibt, fußt auf der Annahme und
von einigen auch beobachteten Tatsache,
daß, wenn Lungen mit partiellem Pleura¬
erguß tuberkulös erkranken, die Tuberku¬
lose die kollabierten Lungenteile nicht er¬
greift. Neuere Forschungen haben aber
anderseits ergeben, daß imTierexperiment
die durch den Pneumothorax kollabierten
Lungenteile bei Einspritzungen von Tu¬
berkelbacillen in die Venen oder gar in die
Trachea genauso gut tuberkulös erkrank¬
ten wie die anderen Teile. Wir wissen sicher
nur folgendes: Es kommt zu einer Erweite¬
rung der Lymphspalten durch Stauüng
und Verlangsamung im Lymphkreislauf,
der viel abhängiger von der Atmung ist
als der Blutkreislauf. Die Folge ist die
Verminderung der Resorption von
Toxinen mit den daraus resultierenden
guten Allgemeinfolgen. Weiter kommt
es zu einer bindegewebigen Neubildung,
sei es z. B. durch lokale Ansammlung von
Toxinen und dadurch bedingten ^ Reiz,
oder sogar durch den Reiz des' einge¬
führten Stickstoffs. Der Anschauung,
daß Anämie , die Ausbreitung behindere,
steht die direkt gegenteilige Annahme
entgegen, daß Hyperämie der kolla¬
bierten Lunge die Heilungstendenz för¬
dert. Am einfachsten ist es, sich vor¬
läufig mit der Vorstellung einer kombi¬
nierten Wirkung zu begnügen, die besteht
im Aufhören des Dehnens und Zerrens im
erkrankten Gewebe, in Kompression der
Bronchialwege, die eine Verschleppung
von infektiösem Material hindert, in Ver¬
langsamung des Lymphkreislaufs und
ihren Folgen, und in der nachgewiesenen
Bindegewebsneubildung.
Bei der Frage der Indikationsstellung des
künstlichen Pneumothorax betrachten wir zu¬
nächst die lebensbedrohlichen Blutungen
aus der Lunge. Bei ihnen ist in der Literatur
der Pneumothorax als lebensrettend in zahl¬
reichen Fällen erhärtet. Die Schwierigkeit da¬
bei ist natürlich die Feststellung, aus welcher
Lungenhälfte die Blutung erfolgt ist. Sobald die
Diagnose gesichert ist, gelingt es oft mit ein¬
maliger relativ geringer Luftblase die Blutung
prompt zum Stehen zu bringen. Meist allerdings
sind dann mehrere Nachfüllungen nötig.
Ein zweites' Gebiet ist die Anwendung des
Pneumothorax bei der"Bronchiektasen-
bildung. In der Literatur ist die Zahl der be¬
richteten Fälle relativ gering. Das hängt einmal
damit zusammen, daß die Zahl der Lungen¬
tuberkulosen bei weitem größer ist als die der
Bronchiektasen. Ferner sind die Bronchiektasen
viel schwieriger zu diagnostizieren als eine mehr
oder minder ausgebreitete Lungentuberkulose.
Weiter sind die Erfolge entschieden ungünstiger
als die Heilerfolge des. Pneumothorax bei Lungen¬
tuberkulose,und es sind naturgemäß nicht die vielen
Mißerfolge veröffentli cht worden. Schon 1907 schrieb
Adolf Schmidt, „daß die Kompressions¬
therapie bei Bronchiektasen in der Regel ver¬
sagt“. .Günstige Erfolge wollen Frank und
J a g i c gesehen haben (W. kl. Wchschr. 1910/12).
Empfohlen wird er weiter von König, Ger¬
hard, PieLsticker, Volhard
und anderen. Besonders .^ausführlich hat sich
noch 1914 Z i n n in der Therapie der Gegenwart
geäußert. Wenn man bedenkt, wie wenig meistens
die innere Behandlung bei der Bronchiektasie
erreicht, wie eingreifend ihre chirurgische Be¬
handlung ist, ist man auf alle Fälle verpflichtet,
bevor man sich zur letzteren entschließt, die-
Pneumothoraxbehandlung in Anwendung zu
bringen.. Am günstigsten ist es, wenn man mit
ihr wegen der starken Bindegewebsneubildung
und Verwachsungen nicht zu lange wartet. Bei sehr
vielen Fällen wird sich allerdings die Anlegung als
unmöglich heraussteilen, und bei Fällen, bei denen
scheinbar ein Erfolg auftritt, muß man sich jeder-
z;eit vor Augen halten, daß gerade bei Bronchiek-
tasenbildung längere Zeit scheinbare Heilung beob-
achtet wird auch ohne jede Therapie. Mir ist in
dieser Hinsicht ganz besonders der Fall eines
fJovember
Die Therapie der Gegenwart 1920
395
Soldaten lehrreich gewesen, der durch seine
Bronchiektasen nach alter Schußverletzung sehr
-heruntergekommen war. Ihm war eine Thorako-
-lyse nahegelegt worden, jedoch ihm gesagt wor¬
den, daß man es vorher noch einmal mit einer
Pneumothoraxbehandlung versuchen wolle. Beim
ersten Versuch gelang es nur eine ganz geringe
-Menge Luft einzuführen, ohne daß man ganz
sicher War, in den Pleuraraum gelangt zu sein.
Beim zweiten Versuch konnte man überhaupt
tkeine Luft zuführen. Die weiteren Versuche wur¬
den daher zunächst ausgesetzt. Nach einigen
Tagen stellte sich plötzlich eine entschiedene
Besserung ein. Die Temperatur ging herunter
und es wurde kaum noch Auswurf entleert. Unter
•diesen Umständen willigte der Betreffende nicht
.in eine Thorakolyse ein, da er sich durch den
Pneumathorax geheilt wähnte. Einige Zeit später
wurde er abtransportiert in sein Heimatlazarett,
wo kurz darauf das alte Krankheitsbild von
neuem begann.
> Mehr Erfolg wollen Ad. Schmidt und
andere gesehen haben bei metapneumoni¬
schen Erkrankungen, Aspirationserkrankungen
usw. Über ^te Erfolge der Anwendung der
Pneumothoraxtherapie bei der Behandlung von
Lungenschüssen mit Hämothorax be¬
richten Hess und Reichmann, welche
diese Therapie^schon fast von Anfang des Krieges
an ausgiebig angewandt haben. Sie lifeßen den
Hämothorax frühzeitig ab und bliesen statt seiner
Stickstoff ein. Über die spezielle Indikations¬
stellung, unter welchen Bedingungen und zu
welchen Zeitpunkten Hess die Pneumo¬
thoraxtherapie bei Lungenschüssen einleitet, muß
bei ihm im Original nachgesehen werden.
Als gewissermaßen eine Fortsetzung seiner
Therapie kann die Anwendung des Pneumothorax
bei trockenen Rippenfellentzündungen gelten.
Eingeführt hat sie M o r i t z in Cöln schon 1914.
Er hat zum erstenmal bei wochenlang fort¬
bestehender trockener Rippenfellentzündung die
Schmerzen durch vorübergehende Pneumothorax-
Anlegung zum Schwinden und die Prozesse zur
Heilung gebracht. Beeinflußt durch ihn hat
Hess sie bei trockenen Rippenfellentzündungen
im Gefolge von Lungenschüssen angewandt.
Das speziellste Gebiet aber für den
Pneumothorax ist natürlich das der
Lungentuberkulose." Die erste Frage,
die wir uns bei Anlegung eines Pneu¬
mothorax bei Lungentuberkulose vorzu¬
legen haben, ist die, was wir von ihm
erwarten. Ich will durch Kollabieren
eines Lungenteils den tuberkulösen Pro¬
zeß in ihm zum Stillstand oder gar zur
Heilung bringen. Dazu muß ich mir
zunächst die Gewißheit darüber verschaf¬
fen, in welchem Stadium sich die Lungen¬
erkrankung befindet. Diese Gewißheit
läßt sich mit Wahrscheinlichkeit nur er¬
bringen, wenn neben der physikalischen
Lungenbeobachtung auch der Röntgen¬
befund zu erheben ist. Je länger man
sich mit der Beobachtung und Beur¬
teilung Lungenkranker abgibt, um so
mehr zeigt sich einem auf Schritt und
Tritt die auch überall anderswo gemachte
Erfahrung, daß Fälle mit kaum verwert¬
barem physikalischem Lungenbefund im
Röntgenbild einen ausgedehnten Lungen¬
prozeß zeigen, im Gegensatz zu Fällen,*
wo üns das Röntgenbild gegenüber der
physikalischen Untersuchung 'durchaus
im Stiche läßt. Schon aus diesem Grunde,
und nicht nur zur Kontrolle der Technik,
gehört zur Pneumothoraxtherapie ein
Röntgenapparat.
Der physikalische Vorgang bei der
Pneumothoraxtheräpie stellt von vorn¬
herein den Satz auf, daß ein Haupt-
anweridungsgebiet die einseitige Lungen¬
tuberkulose ist. Ehe man sich die Frage
vorlegt, welches Stadium der einseitigen
Lungenerkrankung man angreifen soll,
die allgemeinere Frage, soll man nun
schon bei beginnender oder erst bei fort¬
geschrittener Lungentuberkulose Vor¬
gehen? Dogmatisch läßt sich diese Frage;
nie beantworten, weil sie von der Initia¬
tive und den Erfahrungen des einzelnen
abhängig ist. Lege ich den Pneumothorax
im Frühstadium an, habe ich an Vorteilen
voraus: 1. die größere Wahrscheinlichkeit,
daß der Prozeß einseitig ist, 2. daß mich
nicht Verwachsungen an der Schaffung
eines kompletten Pneumothorax hindern,'
3. daß es nicht zu Perforationen von
Kavernen und damit zu Empyemen'
kommt, 4. daß nach Abschluß der Kur
wieder viel gesunde Lunge zur Atmung
zur, Verfügung steht. Entsprechend sind,
die Nachteile bei Anlegung nur in schweren
Fällen; und doch wird man stets geneigt
sein, leichtere Fälle zunächst mit der
konservativen üblichen Behandlung an¬
zugehen, ehe man sich zum Pneumothorax
entschließt, und das um so eher, da
ja immer noch. Zeit zur Pneumothorax¬
therapie verbleibt, wenn die konservative
Behandlung versagt.
Was die Stadieneinteilung im Spe¬
ziellen anbelangt, so legen wir das Frän-
kel-AlbrechtseheEinteilungsprinzip zu¬
grunde, welches^ unterscheidet: 1. die
zirrhotische Foriii, 2. die knotige, 3. die
käsig-pneumonische, 4. die miliare Form.
Von diesen scheidet für unsere Betrach¬
tungen die letztere von vornherein aus.
Jede der drei anderen Formen verschlech¬
tert sich prognostisch, wenn es zur Höh¬
lenbildung kommt, ohne daß, wie gesagt,
Höhlenbildung an sich eine Kontra¬
indikation gegen die Pneumothoraxthera¬
pie bildet.
Unter Zugrundelegung dieser Ein¬
teilung habe ich mich bei Anlegung
eines künstlichen Pneumothorax von
folgenden Gesichtspunkten leiten lassen:
50*
396
Die Therapie der Gegenwart 1920
November
1. Er ist indiziert bei einseitigen cir-
rhqtischen Vorgängen und einseitfg chro¬
nischen Infiltrationsprozessen, wobei
Kavernenbildting keinen Abhaltungsgrund
bildet. 2. Versucht kann der Pneumotho¬
rax werden, wenn einseitige pneumonische
Prozesse senr langsam verlaufen. 3. End¬
lich kann er gewagt werden, wenn es
sich um einseitige cirrhotische und ein¬
seitig chroni^sch infiltrative Prozesse
handelt, und auf der andern Seite nur
geringe Prozesse von ziemlicn sicher in¬
aktivem Charakter vorliegen. Der Ent¬
scheid über die Inaktivität der Prozesse
auf der andern Seite ist natürlich sehr
schwer^Lind bleibt im wesentlichen- der
Erfahrung und dem Können des Unter¬
suchers Vorbehalten.
Häufiger hat man nämlich in der
Literatur von Fällen berichtet, bei denen
die geringen Prozesse der anderen Seite
durch den Pneumothorax auf der schwer¬
erkrankten Seite im günstigsten Sinne
beeinflußt wurden, sei es dadurch, daß
Antitoxine frei werden, oder durch bessere
Durchblutung der anderen Lunge. Wich¬
tig ist dabei auch die Kräftigung im
Kampfe gegen den geringeren Prozeß
durch die Besserung des Allgemeinzu¬
standes infolge der Bekämpfung der
schwer erkrankten Lungenparti een.
So ist z. B. auch bei doppelseitiger
hochgradiger Tuberkulose sicherlich selbst
der partielle Pneumothorax, wenn ein
kompletter nicht mehr anlegbar ist, unter
Umständen indiziert, nämlich dann,
wenn durch diesen ,,Entspannungspneu¬
mothorax“, manche schwerwiegenden
Symptome zeitweilig gut beeinflußt wer¬
den. Auf dieses Postulat hat zuerst
G w e r d e r hingewi esen und für i linden Aus¬
druck ,,symptomatischer Entspannungs-
pneumothprax“ geprägt.
Sehr wichtig ist als zweites der Zu¬
stand der Pleuren, das heißt: haben wir
es mit unbeteiligten Pleuren zu tun,
zwischen die sich mit Leichtigkeit Luft
einblasen läßt, oder mit Verwachsungs¬
pleuren? Perkutorische Lungenverschieb¬
lichkeit spricht an der Stelle für freie
Beweglichkeit der Pleuren, ebenso gute
Zwerchfellverschieblfchkeit vor dem
Röntgenbild. Aber was man auch von
dem Zustand der Pleuren erwarten mag:
man kann den Pneumothorax stets ver¬
suchen. Es liegen äußerst lehrreiche Er¬
fahrungen darüber vor, daß bei schein¬
barer Unmöglichkeit der Lösung der
Pleurablätter dieselbe schließlich doch
noch gelingt. Besonders eindrucksvoll
ist in dieser Hinsicht ein Fall Von*
Stephan in Leipzig, bei dem dieser
wegen Unmöglichkeit der Pleuralösurig:
die Pneumothoraxanlegung . auf gegeben
hatte. Auf dringendes .Bitten der Pa¬
tientin wurde sie wieder aufgenommen;
es wurden an den'verschiedensten Stellen,
der Pleura kleine Stickstoffdepots an¬
gelegt,- und in sechs Wochen nach vielen
mühevollen Sitzungen gelang die An¬
legung eines kompletten Pneumothorax..
Noch ein-^Wort darüber, wie wir uns
verhalten sollen bei de'r Indikationsstel¬
lung, wenn gleichzeitig andere Krank¬
heiten bestehen. Im allgemeinen ist der
Pneumothorax kontraindiziert bei ernste¬
ren Erkrankungen des Kreislaufs und
der Nieren, obschon in der Literatur be¬
hauptet worden ist, daß, wenn zuweilen
Cylinder im Urin Vorkommen, das keine-
Kontraindikation sei. Jedenfalls kann
es keine Kontraindikation darstellen,
wenn wir nur Eiweiß finden, bei dem wir
stets die Vermutung hegen können, daß-
es sich um einfache Toxinausschwem¬
mungen handelt.
Sollte eine gut kompensierte Kreislauf¬
störung vorliegen, so kann man natürlich
unbedenklich einen Pneumothorax ver¬
suchen, besonders, wenn der Lungen¬
prozeß bedrohlich erscheint. Belege für
beide Vorkommnisse finden sich in der
Literatur nach Forlanini kaum. For-
lanini selbst hat bei einem Falle von
gleichzeitiger Nierentuberkulose eine auf¬
fällige Besserung gesehen.
Während man früher allgemein Kehl¬
kopftuberkulose als Gegenindikation ge¬
gen den Pneumothorax auffaßte, hat
man neuerdings, gestützt auf eine Reihe
von Beobachtungen, diese strikte fee-
hauptung fallen lassen.
Als weitere häufige Begleiterscheinung
bei Lungentuberkulose bleibt uns noch
die Darmtiiberkulose. Die Erfahrung
hat gezeigt, daß ein Pneumothorax auf
eine wirklich schwere ulcerative Darm¬
tuberkulose keinen Einfluß hat. Man
darf nur nicht Durchfälle und Darm¬
tuberkulose gleichsetzen. Darmerschei-
nungen, die erst während der Behandlung
auftreten, haben eine ungünstige Pro¬
gnose; das gleiche gilt natürlich auch
von neu auftretenden Kehlkopfaffektio¬
nen. Sollte neben der Lungentuberkulose
Asthma oder Emphysem vorliegen, würde
,man besser auf den Pneumothorax ver¬
zichten.
Schließlich sei noch erwähnt, daß
eine Reihe von Beobachtungen vorliegen,
I
November , Die Therapie der
WO während der Behandlung eine Gra-
vididät auftrat, oder wo wegen der Gra-
vididät, um eine Verschlechterung zu
verhindern, ein Pneumothorax angelegt
wurde. Bei ihnen nahmen Geburt und
Wochenbett einen guten Verlauf (Härter,
Unverricht).
Es sei hier kurz darauf hingewiesen,
wie eigentlich die Lunge kollabiert. Es
wird stets zuerst und am meisten die
Spitze komprimiert, so daß bei neuem
Infunktiontreten der Lunge es immer
die untersten Partien sind, die zunächst
wieder atmen. Das ist ja im allgemeinen
bei der Tuberkulose, die sich mit Vor¬
liebe in den Spitzen lokalisiert, durchaus
erwünscht. Im Tierexperiment, wie beim
Menschen im Leben und durch die Sek¬
tion ist dieser Modus einwandfrei fest¬
gestellt. Selbst wenn ein Pneumothorax
länger als zwei Jahre bestanden hat,
hat man immer wieder Neuinfunktion¬
treten kollabiert gewesener unterer
Lungenpartien beobachtet.
Noch ein Wort über die Technik.
Heutzutage bedient man sich als Füll¬
mittel wohl nur noch der Luft oder des
Stickstoffs. Ich habe mich fast stets
der gewöhnlichen Luft bedient, da man
mit ihr am unabhängigsten ist. Welche
Apparate man anwendet, und welche
Nadeln, ob man sich der Brau ersehen
Schnittmethode oder derF or 1 an i n i s c h en
Stichmethode bedient, ist im Grunde
gleichgültig.
Vor der Anlegung bei einem klinisch indi¬
zierten Fall überzeuge ich mich natürlich durch
Perkussion und Zwerschfellverschiebung vor dem
Röntgenschirm über den Zustand der Pleura¬
verschieblichkeit. Welche Einstichstelle ich
dann nehme, ist auch gleichgültig. Ich werde
die Stelle nehmen, von der ich sicher annehmen
kann, daß ein freier Pleuraraum vorliegt. Als
einzige Vorbereitung empfiehlt sich die Ver¬
abreichung von etwas Morphium und eventuell
etwas Kampfer; zur Desinfektion genügt etwas
Jodtinktur; Lokalanästhesie ist entbehrlich. Beim
langsamen Durchstechen der mit der Luftsäule
und dem Manometer verbundenen Nadel zeigen
die plötzlich eintretenden tiefen Aspirationen
des Manometers an, daß man in der freien Pleura¬
höhle ist, und damit hat man gewonnenes Spiel.
Viel schwieriger ist es natürlich, wenn Ver¬
wachsungen der Pleurablätter bestehen. Sieht
man die Verwachsungen der Pleura in Gestalt
von Einsinkung der Brustwand und tiefen respira¬
torischen Einziehungen, ist natürlich jeder Ver¬
such aussichtslos. Bei weniger ausgedehnten Ver¬
wachsungen muß man einen Versuch wagen.
Aufs Manometer allein ist dabei kein Verlaß,
sondern man läßt Luft oder Stickstoff unter
Überdruck ein, und sieht sich dabei folgenden
drei Möglichkeiten gegenüber:
a) man kommt glücklich in eine Pleuralücke;
die tiefen Aspirationen des Manometers zeigen
uns das an; b) es gelingt mir durch Einblasen,
Gegenwart 1920 397
eine Lücke zu schaffen; das zeigt mir eben¬
falls dann das Manometer, und c) es gelingt mir
nicht, Luft einzuführen.
Um den Gefahren einer Embolie zu entgehen
beim gewaltsamen Lösen von Verwachsungen,
hat z. B. H 0 1 z g r e e n sich zunächst einer
Einblasung von steriler physiologischer Koch¬
salzlösung in einigen Fälleii mit sehr gutem Er¬
folg bedient. Von einigen anderen\ sind seine
Erfahrungen nachgeprüft und bestätigt worden.
Wenn es nicht gelingt, einen kompletten Pneumo¬
thorax zu erreichen, besteht immer noch die
Möglichkeit, daß auch ein inkompletter einen
Erfolg hat. So sind Fälle .berichtet, wo eine
größere Gasblase in der Nähe einer Kaverne
gerade ausreichte, um diese und ihre Symptome
zum Schwinden zu bringen. Jessen berichtet
sogar von einem Falle, wo es'ihm gelang, die
Kavernensymptome dadurch zu beseitigen, daß
er mit einer Gasblase die Pleura costalis Vortrieb.
Bei der Unmöglichkeit, zwischen die Pleuren zu
gelangen, bestehen die beiden Möglichkeiten: 1. in
die Lunge zu gelangen und 2. einen extrapleu¬
ralen Pneumothorax zu schaffen. Gelangt man
in die Lunge, so entstehen nur kleine Manometer¬
schwankungen, das heißt, es ist kein eigentlicher
negativer Druck nachweisbar, und es können
große Mengen eingelassen werden, ohne daß
sich die Druckverhältnisse ändern.
Lege ich unbeabsichtigt eine extrapleurale
. Blase an, so zeigt mir das Manometer das eben¬
falls sicher an durch seine kleinen Ausschläge
und durch die Schwierigkeit, größere Luftmengen
einzuführen.
Die Brauersche Methode besteht in
1. Lokalanästhesie mit Schleichscher
Lösung, 2. einem 5 bis 7 cm langen
Schnitt bis auf^ die Intercostalmuskel-
fascie, 3. in Durchtrennung der Inter-
costalmuskeln und Freilegung der Pleura,
4. im Durchstechen der Pleura mit der
Kanüle und 5. in Stickstoffeinblasung;
danach 6. Naht der Intercostalmuskeln,
7. Fasciennaht, und 8. Muskelnaht.
Demgegenüber ist die Einfachheit
der Forlaninischen Stichmethode be¬
stechend, die nur in Einführung einer
Hohlnadel wie zu einer Pleurapunktion
besteht. Angeblich besteht bei der Stich¬
methode eine ' größere Emboliegefahr
Und damit kommen wir kurz auf die
Gefahren, die uns während der Operation
begegnen können. Es sind das 1. die
größte, die der Gasembolie, 2. die der
pleuralen Eklampsie, 3. die des sub-
cutanen und tiefen Emphysems.
Zunächst die Gasembolie. Soweit ich die
Literatur überblicken kann, sind es etwa 15 Fälle,
die veröffentlicht sind. Über die Zahlenverhält¬
nisse orientiert kurz, daß S a u g m a n n 1913 bei
186 Fällen von Pneumothorax zwei Todesfälle er¬
lebte, von denen einer wahrscheinlich auf Embolie
beruhte. Es zeigt das hinlänglich die Seltenheit
des Vorganges an. Beachtenswert ist, daß mehr
als die Hälfte der beobachteten Fälle sich bei
Nachfüllungen ereigneten. Vielleicht wird das
durch eine Erfahrung von B a e r erklärt, der
röntgenologisch beobachtete, daß sich zuweilen bei
lange bestehendem Pneumathorax der Unterlappen.
398
Die Therapie der Gegenwart 1920
November
der Brustwand anlegt. Das gibt einem gleichzeitig
wieder eine Mahnung, nur da einzustechen,
wo man mit guter Wahrscheinlichkeit in eine
freie Pleura gelangt, das heißt, sich nicht an feste
Einstichpunkte zu binden. Kennzeichen der
Embolie sind: momentane Atemlähmung, Kol¬
laps, tiefe Bewußtlosigkeit, Lähmungen und
schließlich der Tod.
Es ist zweifellos, daß die Brauer sehe
Schnittmethode diese Gefahr wesentlich ver¬
ringert. Wenn man aber bedenkt, daß es bei der
Brauer sehen Methode leichter zu Infektionen
kommen kahn als bei der Stichmethode, und
daß sie viel umständlicher ist als die letztere,
kann man der Stichmethode unbedingt den Vor¬
zug geben. Vielleicht gelingt es mit der Brauer-
schen Methode mehr Fälle der Pneumothoraxthera¬
pie zuzuführen, wenn man sie da anwendet, wo man
mit der Stichmethode nicht zum -Ziele kommt.
Denn mit der Brauer sehen Methode ist wohl
eine ausgiebigere Explorierung des Pleuraraumes
möglich, als mit der einfachen Stichmethode.
Es sei noch hinzugesetzt, daß Vorsichtige zuerst
Sauerstoff einströmen lassen, um sich von den
Druckverhältnissen zu überzeugen. Das Moment
abzuwarten, ob durch die Nadel Blqt austritt,
schützt uns nicht. Es kann im Venenkreislauf
der Lunge negativer Druck herrschen und durch
die Nadel direkt Außenluft aspiriert werden.
Aber bei den vielen Hunderten von glücklichen
Pneumothorax-Fällen möchten wir die Gefahr
der Luftembolie gering einschätzen, um so mehr,
da sie bei jeder anderen Operation eintreten kann.
Was das subkutane Emphysem anbelangt, so
verläuft es wohl immer harmlos. Es tritt auf
bei' zu hohem Füllungsdruck, indem aus der
Pleurastichöffnung Gas zurückgepreßt wird. Be¬
fördert wird es durch Hustenstöße. Efn wesent¬
licher Nachteil ist, daß man eventuell mehrere
Tage lang nicht nachfüllen kann, was die Gefahr
von Pleuraverwachsungen bedeutet.
Das tiefe Emphysem entsteht durch Rück¬
tritt aus dem Pleurastichkanal, wenn sich die
Muskulatur schon geschlossen hat, und zwar be¬
sonders, wenn man versucht hat, durch hohen
Druck dem Gas Eingang zu verschaffen. Diag¬
nostizierbar ist es angeblich durch tympani-
tischen Klopfschall und eventuell durch Knistern,
welches im Höhrrohr wahrnehmbar sein soll.
Am wichtigsten ist die sogenannte pleurale
Eklampsie. Es kommt zu ihr bei Einführung
der Nadel in die Pleura, beim Verweilen der
Nadel im Pleuraraum, oder auch beim Heraus¬
ziehen der Nadel. Es treten bei ihr auf Zeichen
von Geistesverwirrung, Benommenheit, Bewußt¬
seinsverlust, schlaffe, einseitige Lähmungen, aus¬
gedehnte tonische Krämpfe, seltener klonische,
Kreislaufs- und Atemstörungen. Bisweilen tritt
der Anfall erst nach der Operation auf. Experi¬
mentell wird er bei Tieren hervorgerufen durch
die Einführung reizender Stoffe in die Pleuren.
Die Dauer des Anfalls schwankt zwischen einigen
Minuten und einigen Stunden. Man sagt, daß
je öfter die Anfälle auftreten, sie um so leichter
tödlich verlaufen; deshalb bricht man bei wider-
holtem Auftreten die Therapie ab. F o r 1 a n i n i
hält streng daran fest, daß es sich um pleurale
Reizerscheinungen handle, während andere dies
bedrohliche Bild auf Gasembolie im Gehirn
zurückführen wollen. Glücklicherweise tritt
sie sehr selten auf und verläuft meist gutartig.
Mit Vorliebe scheint sie nervös geschwächte
Menschen zu befallen. Es empfiehlt sich daher,
wenn es sich tatsächlich um pleurogene Reflexe
handeln sollte, mit subkutanen Morphiumein¬
spritzungen oder, mit leichter Kokainisierung
der Pleura zu arbeiten. Das letztere will F o r 1 a -
n i n i bei verschiedenen Fällen mit gutem Er¬
folg angewandt haben. Die Therapie ist rein
symptomatisch: künstliche Atmung, Herzmittel,
eventuell prophylaktisch öder das Einatmen von
Chlorpform.
Bei Einleitung einer Kur ist der erste
Zweck Erreichung des nötigen Gasvo¬
lumens. Mit einer Füllung gelingt der
völlige Kollaps fast nie. Nachdem die
erste Füllung gelungen ist, ist die nächste
Aufgabe Nachfüllung. des resorbierten
Gases, dazu genügen Nachfüllungen von
500 bis 800 ccm, anfangs täglich, später
wöchentlich und gegen Ende der Therapie
monatlich und in noch größeren Zwischen¬
räumen. Man muß die Nachfüllung be¬
sonders im Anfang regelmäßig durch¬
führen, ^damit es nicht zur Loslösung
schon verklebender Kavernenwände
kommt. Die Schmerzen bei der Anlage
sind meistens gering, zuweilen treten sie
eine ganze Zeit nach der Füllung auf.
Es handelt sich wohl immer um Zerrungen
von Verwachsungen.
Zum völligen Kollaps braucht die
Lunge nicht auf den Hilus gedrückt zu
werden, sie kann z. B. infolge von Ver¬
wachsungen in die Spitze gedrängt werden.
Bei zu brüsken Zerrungen und Zerreißun¬
gen von Adhäsionen treten zuweilen leichte
Temperatursteigerungen auf. Solche
Fieber schwinden, wenn man seltener
und weniger viel nachfüllt. Nur kurz er¬
wähnt sei,, daß es unter Umständen,
z. B. wenn die Spitze adhärent ist,
Zwerchfell und Mediastinum aber völlig
frei sind, zu Erscheinungen von seiten
h des Mediastinums kommt. Wenn aber
durch Verdrängung des Mediastinums
eine Einschränkung der anderen Lunge
erfolgt, anstatt daß sie, wie wir hoffen,
gerade vermehrt arbeitet, gehen uns die
Vorteile der Mehrdurchlüftung der ande¬
ren Lunge verloren.
Noch kurz die Frage, wann der Pneu¬
mothorax komplett ist. Das Röntgen¬
bild zeigt uns die kollabierte Lunge, die
größeren Zwischenrippenräume, die Gas¬
blase, Abflachung des Zwerchfells,
leichte Verlagerung des Mediastinums,
deutlichere Zeichnung der Rippen und
Wirbel. Klinisch sehen wir Asymmetrie
des Brustkorbs, breite abgeflachte
Zwischenrippenräume, Verlagerung des
Spitzenstoßes, Schachtelton, Ausdehnung
der Lungengrenze und Aufhebung des
Atemgeräusches. Zweckmäßig hält sich
der Patient in den ersten vierzehn Tagen
im Bett auf, damit nicht durch Körper-
Navember Die Therapie der
anstrengung die eingeblasene Luftmehge
schneller resorbiert wird. Besserungs^
Zeichen sind: allgemeines Wohlbefinden,,
Auswurfabnahme,. Fieberabfall, Gewichts¬
zunahme. Dabei darf man sich aber
nicht dadurch täuschen lassen,.daß oft
.sofort nach der ersten Füllung das
Fieber abfällt. Man kann sonst leicht
die Enttäuschung der Wiederkehr des
Fiebers erleben. Dieser . erstmalige
Fieberabfall erklärt sich wohl aus der
Verschlechterung der augenblicklichen
Resorptionsbedingungen in . der kolla¬
bierten Lunge, ohne daß er eine wirkliche
Besserung verbürgt. Ähnlich kann es
mit dem sofortigen Nachlassen von
Husten und Auswurf sein. Sie können
auf Behinderung der Expektoration’be¬
ruhen, olpie daß eine wirkliche Besserung
besteht. Eine solche ist erst dann vor¬
handen, wenn diese Zeichen längere Zeit
anhalten. Kritisch kann ein „Pneumo¬
thorax auch eine Lungentuberkulose
nicht zur Heilung bringen.
Andererseits kann nach Einleitung der
Pneumothoraxtherapie auch eine höhere
Fiebersteigerung/ auftreten. Sie beruht
wahrscheinlich auf Einpressung von
Toxinen in-die Lymphräume und damit
auf einer Überschwemmung des Orga¬
nismus mit Giftstoffen.
Weniger leicht ist die Erklärung da¬
für, daß oft nach Beginn der Behandlung
der Auswurf zunimmt. Forlanini meint,
daß es sich um stagnierendes Kavernen¬
sputum handelt, welches jetzt gewisser¬
maßen aus den Kavernen herausgepreßt
werde, ,' _
Es sind noch kurz eine Reihe von Kompli^
kationen anzuführen, die sich im Laufe der Be¬
handlung einstellen, sei es kurz nach der Ein¬
leitung der Therapie oder mit Vorliebe später,
wenn die Patienten anfangen, sich wohl zu fühlen,
und sie es an der nötigen Vorsicht fehlen lassen.
Es sind das:
1. Pleuritiden mit Erguß auf der Pneumo¬
thoraxseite,
2. Perforation der kollabierten Lunge und
3. der sogenannte Höhenzwischenfall.
Lfrsachen der Pleuritiden sind: 1. Einwande¬
rung von Keimen von der Lunge her, 2. rheu¬
matische Einflüsse. Vielleicht beruht die leichtere
Anfälligkeit der Pleuren bei Pneumothorax auf
der Verlangsamung des Lymphkreislaufes und
auf dem Atemstillstand der Lunge. Gerade der
letztere soll das Eindringen von Bakterien in
die intrapulmonalen Lymphgefäße erleichtern.
Besonders leicht kommt es zu Ergüssen bei
Erkältungen und Anginen. Bei letzteren hat
man im Erguß dieselben Erreger wie auf dem
Tonsillarabstrich gefunden. Saugmann er¬
klärt mit Recht: „die Ergüsse sind in der großen
Mehrzahl eine unangenehme und unerwünschte
Komplikation“. Denn einmal enthalten sie
ja das plastische Material zur Schwartenbildung,
Gegenwart 1920 399
- ■ \
und' andererseits stellen sie, besonders die rechts¬
seitigen, eine Herzbelastung dar. Und doch
indiziert ein Erguß als solcher noch nicht immer
eine Punktion; denn einmal stellt er eine gleich¬
mäßige Kompression dar, und'andererseits resor¬
biert die» erkrankte Pleura viel langsamer als
die gesunde, hat also weniger Nachfüllungen
nötig. Es ist jaA/'ielleicht auch noch zu bedenken,
daß das Exsudat oft Antikörper enthält. Die
größte Gefahr aber ist die Verklebung der Pleuren
bei späterer Resorption des Ergusses.
Kommt es zu einem Empyem mit Fieber,
müssen wir natürlich entleeren, eventuell mit
B ü 1 a u scher Drainage oder Resektion. Leider
kommt es in fast der Hälfte aller Fälle zur Bildung
von Ergüssen, und zwar spielen dabei Erkäl¬
tungen die größte Rolle.
Die Perforation der Pleuren erfolgt seltener
durch Wachsen eines Herdes bis an die Oberfläche
der Lunge, sondern viel häufiger durch ein Trauma.
Erkennbar ist die Perforation einmal durch Ver¬
kleinerung des Pneumothorax, 2. durch Auf¬
treten von Atemgeräusch und durch Aufhebung
der Immobilisation; sie führt fast immer
zum Tode.
Unter Höhenzwischerifall verstehen wir die Bq-
einflussung des Pneumathoraxgases durch Höhen¬
unterschiede, das keißt durch intrapleurale Druck¬
steigerung infolge Ausdehnungsversuches des
eingelassenen Gases. „Ein drei bis vier Liter
fassender Pneumothorax, ein gut hergestellter er¬
reicht ein solches Volumen, befindet sich infolge
einer Erhebung von 1000 bis 1500 Meter unter den¬
selben Verhältnissen, wie wenn 400 bis 800 ccm
Stickstoff neu zugeführt werden.“
„Schickt man einen Patienten also zu einer
Kur ins Gebirge, muß man, um ihn den Gefahren
zu hohen Gasdruckes in der Pleura zu entziehen,
200 bis 300 ccm Luft vorher ajpziehen.“ (Forla¬
nini).
Über die Dauer der Unterhaltung
eines Pneumothorax liegen wenig be¬
stimmte Angaben vor. Sicher ist, daß
man die Kur nicht zu kurz, das heißt
vor Abschluß eines Jahres abbrechen
darf. Sichere klinische Angaben für tat¬
sächlich sicher erfolgte Heilung kann ich
nicht machen. Man kann nur mit Wahr¬
scheinlichkeit auf eine Ausheilung schlie¬
ßen. Die Indikation für das Abbrechen
der Kur nach ein bis zwei Jahren ist
darin zu suchen, daß man möglichst
viel der ausgeschalteten Lunge wieder
in Funktion treten lassen möchte. Selbst¬
verständlich sind es immer nur be¬
schränkte Teile der Lunge, die sich
wieder an der Atmung beteiligen. Denn
einmal dauert die letzte Resorption aller
Gase sehr lange, und ferner kommt es
doch im Verlaufe der Resorption zu
Schrumpfung der Brustwand wie bei
Pleuritiden.
Was nun den wirklichen Erfolg der
Pneumothoraxtherapie anbelangt, so muß
man an der Hand von jahrelang beob¬
achteten und veröffentlichten Fällen
daran festhalten, daß eine Ausheilung der
4^
400
Die Therapie der Gegenwart 1^20
November
Lungentuberkulose durch sie unbedingt
möglich ist und in vielen Fällen absolut
zum Ziele geführt hat, wo alle anderen
Mittel den raschen Fortschritt der Tuber¬
kulose nicht verhindern konnten. Haupt¬
schwierigkeit bei Durchfühfung der The¬
rapie ist einmal, die Kranken im Anfang
der Kur lange genug im Krankenhaus
festhalten zu können, ferner aber, sie
nachher während der ambulanten Behand¬
lung zu regelmäßigen Nachfüllungen zu
bewegen. Deshalb läßt sich der Pneu¬
mothorax zweifellos bei der arbeitenden
Bevölkerung, besonders, wenn sie -nicht
am Ort des Krankenhauses wohnhaft
ist, viel schwerer durchführen als bei
der wohlhabenden Bevölkerung, bei der
außerdem noch Sanatorienaufenthalt,
Tuberkulinkuren und allgemeine äußere
Lebens'bedingungen einen viel günsti¬
geren Allgemeinzustand schaffen können.
Statistiken über erfolgte Heilung und
Nichtheilung lassen sich nicht anlegen.
Einmal müßten die Fälle, um einwand-
frei als geheilt gelten zu können, durch
viele Jahre hindurch beobachtet sein, ^
was nicht immer möglich ist. Ferner’
wird der Pneumothorax ja seinen Zweck
im gewfssen Sinne auch dann. erfüllt
haben, wenn er Jahre hindurch einem
Menschen das Leben verlängert und seine
Beschwerden verringert hat, ohne daß
er eigentliche Heilung der Lungen¬
schwindsucht herbeigeführt hat. Und
ein besonders wichtiges Moment ist
schließlich auch, daß mit Anlegung des
Pneumothorax fast stets das Auswerfen
von bacillenhaltigem Sputum aufhört,
was veranlassen könnte, von einer hy¬
gienischen Indikation bei manchen.
Fällen zu reden.
Literatur; Eine vollständige' Literatur-
Übersicht über alle künstlichen Pneumothorax
berührenden Fragen findet sich in der 1918 er¬
schienenen Sonderveröffentlichung des Inter¬
nationalen Zentralblattes für Tuberkulose-
Forschung.
Repetitorium der Therapie.
Die Behandlung
der subakuten und chronischen Gelenkerkrankungen.
Von G. Klemperer und L. Dünner.
1. Allgemeines: Die Behandlung der
mehr oder weniger chronisch verlaufen¬
den Gelenkerkrankungen mit' ihren lang¬
dauernden, schmerzensreichen Schwellun¬
gen, Deformitäten, Verwachsungen und
Versteifungen ist nur zum geringen Teile
von der diagnostischen Feststellung ihrer
verschiedenen Formen abhängig. Nur
die ätiologische Unterscheidung kann in
gewissem Maße die Behandlung in be¬
sondere Bahnen lenken. Bei chronischen
Gelenkentzündungen, die sich offensicht¬
lich aus akuter Polyarthritis entwickelt
haben, wird man immer wdeder gelegent¬
liche Versuche spezifischer Behandlung
mit Salicylaten machen, in geeigneten
Fällen wird man Ausschälung der Ton¬
sillen vornehmen^). Bei nachgewiesenen
luetischen Antecedentien wird man die
entsprechenden Kuren versuchen. Bei
gonorrhoischer Arthritis erweist sich
systematische Injektionskur mit steigen¬
den Mengen von Gonokokkenvaccine
(Gonargin, Arthigon) oft sehr wirksam.
Bei gichtischen Gelenkerkrankungen wird
man die Gichtmittel immer wieder wenig¬
stens zur Schmerzstillung heranziehen,
im übrigen die besondere Gichtdiät von
1) Vgl. die Behandlung’ des akuten Gelenk¬
rheumatismus, S. 147.
Zeit zu Zeit verordnen. Eine weitere
diagnostische Unterscheidung erweist sich
für die Therapie nur in sehr begrenztem
Maße fruchtbar. Ob es sich, mehr um
exsudative' oder produktive, mehr um
hypertrpphierende oder atrophierende
Prozesse handelt, ob der Prozeß sich nur,
auf das Gelenk beschränkt oder ob er
schon Knorpel und Knochen in Mit¬
leidenschaft gezogen hat, ist für die Be¬
handlung wohl insofern wichtig, als die;
exsudativen und hypertrophierenden Pro¬
zesse oft zu akuten Schüben reizen,,
in denen sie besonders der Ruhe und
Schmerrlinderung bedürfen, während oie
aktiven Verfahren der Behandlung mehr
den gewebsbildenden und abschleifenden
Prozessen mit ihrem trägen und eintönigen
Verlauf Vorbehalten sind. Im allgemeinen
aber gilt sämtlichen Formen chronischer
Gelenkentzündung das gleiche therapeu¬
tische Bestreben, für einen kräftigen
Zustrom arteriellen und einen ungehin¬
derten Abfluß des venösen Blutes zu
sorgen, die gehörige Verteilung des Blutes
in den erkrankten Geweben zu regulieren,
und also die natürliche Selbstheilung, so¬
weit möglich, zu befördern, ln gleicher
Weise sucht man bei allen Gelenkerkran¬
kungen den Folgezuständen der Inaktivi-
T^ovembei^ . Die Therapie der Gegenwart 1920 ^ 401
tätsatrophie der Muskulatur und der
sekundären Verwachsung und Verstei¬
fung von Gelenken entgegenzuwirken.
Diesen gemeinsamen Indikationen dienen
die physikalischen Behandlungsmethoden
der Wärmebehandlung durch Umschläge,
Hitzkasten, Diatherrnie und Bäder, der
Bierschen Stauung, der Massage, der
aktiven und passiven Gymnastik. Auch
die medikamentöse Therapie erzielt zum
Teil lokale Hyperämie, zum Teil dient
sie symptomatischen Zwecken. Eine
Ergänzung und Weiterführung der physi¬
kalischen Therapie, kann durch chirur¬
gische Behandlung geschehen, wozu wir
die Gelenkpunktion, die Mobilisierung
in der. Narkose sowie die Anordnung
orthopädischer Apparate rechnen. Welche
von den zahlreich zur Verfügung stehen¬
den Behandlungsmethoden man • im
Einzelfall zur Anwendung bringt, ist zum
Teil von den Besonderheiten der Erkran¬
kung, zum Teil von den Gewohnheiten
und Wünschen der Patienten, zum Teil,
von dem persönilichen, durch Ort und Zeit
bedingten Ermessen des Arztes abhängig.
Oft ist dem Patienten beschieden, der
Reihe nach die verschiedensten Kuren
durchzumacfien; man tut gut, nach den
bisherigen Erlebnissen der Kranken zu
fragen und solche Methoden zu erproben,
die bisher noch nicht angewandt waren.
Sehr wesentlich ist es, die moralische
Widerstandskraft der Patienten zu heben,-
indem man ihnen auch in scheinbar deso¬
later Lage wieder zu neuen Heilversuchen
Mut macht. Manchmal erlebt man doch
noch von unverminderter therapeutischer
Beharrlichkeit gute ' Erfolge, wenn Arzt
und Patient an Besserung fast schon
verzweifelten.
2. Hyperämisietende Behandlung.
a) Umschläge, Packungen und
T eilbäder. Dieselben erweisen sich wirk¬
samer bei subakuten als bei chronischen
Prozess.en. Man hüllt die betroffenen
Gelenke in Prießnitzkompressen, die man
morgens und abends erneuert, oder man
macht Kataplasmen mit warmem Brei
oder Moor oder Fango^), die nach drei-
2) Fangopackungen sollen anfangs Tempera¬
turen von etwa 45® haben; allmählich geht man
zu höheren Hitzegraden über. Der gut durch¬
geknetete Fango wird 1 bis 2 cm dick auf¬
getragen, darüber kommt Leinen, darüber Gummi¬
papier, schließlich ein wollenes Tuch. Die Um¬
schläge werden mehrere Tage hintereinander
wiederholt. Bei allen Umschlägen und Packungen
ist die Hautpflege wichtig zur Vermeidung von
Verbrennung und Entzündung. Man fette die
Haut nach den Anwendungen sorgfältig ein.
bis vierstündigem Liegen erneuert werden,
oder man legt erhitzte Sandsäcke an die
Gelenke. Oder rnan legt die erkrankten
Glieder in geeignete Schüsseln oder Scha¬
len, die* mit oft'erneuertem heißen Wasser
gefüllt sind.
b) Behandlung mit Salben und
Einreibungen. Die befallenen Gelenke
werden mit Jodvasogen oder Ichthyol-
salbe dick eingeschmiert oder mit Meso-
tan oder Spifosal eingepinselt, danach
dick mit Watte eingepackt und bleiben
damit zwei bis. drei Tage verbunden.
Oder man bepinselt die Gelenke mit einer
gleichen Mischung von Terpentin und
Olivenöl, belegt sie mit Guttapercha¬
papier, darüber einen dicken Wattever¬
band, der 24 Stunden liegen bleibt und
nach eintägiger Ruhe erneuert wird. Bei
chronischem Verlauf bevorzugt man Ein¬
reibungen, eventuell mit Chloroformöl,
auch mit Linimenten,z.B. ammöniatosapo-
natum oder camphoratum (Opodeldoc).
c) Heißluftbehandlung. Man
bringt die befallenen Gelenke in geeignete
Heißluftkästen, in denen die Temperatur
allmählich bis 90® und höher gebracht
wird und läßt sie ein bis zwei Stunden
darin. Mit Vorteil läßt man in geeigneten
Fällen unmittelbar darauf Massage fol¬
gen. Eine mildere Form' der Heißluft¬
behandlung bildet das Anblasen mit dem
Föhnapparat.
d) Bi ersehe Stauung (passive Hy-
perämisierung). Man legt eine etwa 6 cm
breite Gummibindo. oberhalb des-be¬
troffenen Gelenkes um die Extremität,
welche vorher mit Mullbinde eingewickelt
wird. Es ist darauf zu achten, daß die
Gummibinde nicht so fest angelegt wird,
daß etwa der Arterienpuls. unterdrückt
wird. Der gestaute Teil muß heiß und
rot, niemals kühl und bleich oder blau
sein. Auch darf die Binde die Schmerzen
in den Gelenken nicht vermehren. Even¬
tuell ist sie abzuwickeln und von neuem
loser anzulegen. Man läßt die Binde zu¬
erst zwei Stunden, täglich eine Stunde
länger, eventuell (bei gonorrhoischer Ar¬
thritis) bis 22 Stunden liegen.
c) Diathermiebehandlung. Diß
Auflegung der Platten findet täglich
einmal 15 bis 20 Minuten statt; sachver¬
ständige Handhabung muß vor zu starker
Wärmeentwicklung eventuell Verbren¬
nungsgefahr schützen. Die in der Tiefe
der Gewebe geschehende Erwärmung ist
manchmal noch von Nutzen, wenn die
anderen thermisch hyperämisierenden Me¬
thoden versagt haben.
.51
402
November
Die Therapie der
5. Mechanische Behandlung (Gym¬
nastik und Massage).
Dieselbe ist in der Regel nur bei
einigermaßen reizlosem Verhalten, der
Gelenke indiziert, während jedes Zeichen
entzündlichen Nachschubes (Temperatur,
Rötung und Schwellung) Ruhe^) erfordert.
Man beginnt vorsichtig und mit allmäh¬
licher Steigerung mit geringfügigen Lage¬
veränderungen ^), geht dann langsam zu
passiven Bewegungen über, eventuell- zu¬
erst im "warmen Bade, die man dem
Widerstand und dem Schmerzgefühl an-
,paßt und allmählich zu steigern sucht;
bei langdauernden Nachschmerzen ist
zu pausieren. Doch darf die Schmerz¬
reaktion, namentlich bei nervösen Pa¬
tienten, nicht entscheidend bewertet wer¬
den. Im allgemeinen ist man bei abklin¬
genden Prozessen aktiver, muß sich aber
in jedem Falle bei der Beurteilung des
Schmerzes von einem gewissen Taktge¬
fühl leiten lassen. Auch zu aktiven Be¬
wegungen ist der Patient anzuhalten,
neben die systematische Gymnastik tritt
der Gebrauch der Glieder zu den täg¬
lichen Verrichtungen beim Essen, Schrei¬
ben, Kämmen, eventuell Ankleiden, spä¬
ter Gehübungen mit Krücken oder im
Gehstuhl. Der Arzt tut gut, sich mög¬
lichst viel selbst mit den Gelenkübungen
zu beschäftigen, nicht nur weil er am
besten beurteilt, wieviel er dem Patienten
ohne Schäden zumuten kann, sondern
vor jillem wegen der sehr wichtigen er¬
mutigenden Wirkung, die das tätige
Interesse des Arztes auf die meist mi߬
trauischen und wenig ' 2 :uversichtlichen
Kranken ausübt. — Bei vollkommenem
Ablauf aller Reizerscheinungen findet die
Gelenkgymnastik zweckmäßig an be¬
sonderen Apparaten statt, wie sie be¬
sonders in den Zanderinstituten zur Mo¬
bilisierung verwachsener und versteifter
Gelenke geübt wird. Sind alle Versuche
passiver Gymnastik ergebnislos, so ist
3) Die Lagerung bei Ruhigstellung erfordert
besondere Vorsicht zur Vermeidung der künftigen
Versteifung in ungünstiger Funktionsstellung (vgl.
S. 148). Auch sind die eventuell mit Schienen
und Sandsäcken zu lagernden Gelenke ent¬
sprechend zu polstern und mit Drahtgestellen vor
Druck zu ^chützen. Bei eventuellem Verband¬
wechsel isEmöglichst eine kleine Änderung in der
Stellung der Gelenke vorzunehmen. Auch ist
für aktive und passive Bewegung der benachbarten
Gelenke (z. B. der Handgelenke bei Fixation des
Ellenbogens) zu sorgen.
^) Man schiebt z. B. unter das steife Kiiie für
mehrere Stunden eine Rolle oder-belastet es nach
langer Beugestellung vorsichtig mit einem Sand¬
sack. Die erreichte Stellung fixiert man für kurze
Zeit durch einen Verband.
Gegenwart 1920
gewaltsame Dehnung im Ätherrausch an¬
gezeigt; unrnittelbar; nach diesem ge¬
wöhnlich vom Chirurgen vorgenommenen
Eingriff bleibt der Patient mehrere Tage
unter reichlichen Morphiumgaben in
Bettruhe, während die erreichte Stellung
durch gut gepolsterten Verband, Schienen
und Sandsäcke fixiert wird. Klingen die
Reizerscheinungen ab, so hat erneute
passive upd eventuell aktive Gymnastik
zu beginnen. — Eine Behandlungsmethode,,
von der man in den meisten Stadien auch
neben anderen Anwendungen ausgiebigen
Gebrauch machen kann, ist die Massage,
welche auf die Blutzirkulation den größten
Einfluß ausübt und ebenso Aufsaugung
und Rückbildung' wie regenerative Pro¬
zesse anzuregen vermag. Obwohl Strei¬
chen, Drücken, Erschüttern und Klopfen
meist erst bei Reiz- und Schmerzlosig¬
keit empfohlen werden, kann ihre vor¬
sichtige Anwendung doch auch schon in
entzündlichen und leicht fieberhaften
Stadien von Nutzen sein, ln jedem Fall
ist die Indikation zur Massage mit Über¬
legung zu stellen und ihre Ausübung, so¬
weit sie vom Pflegepersonal oder beson¬
deren Hilfskräften ausgeübt wird, sorg¬
fältig zu überwachen. Eine gute Ausbil¬
dung in der Massage sollte jeder Arzt be¬
sitzen, denn es gibt kaum eine andere
therapeutische Methode, die gleich aus¬
gedehnter Anwendung fähig ist und so
sichtbare Erfolge zeitigt. Außer den Ge¬
lenken sind die Muskeln, um vor Inaktivi¬
tätsatrophie geschützt zu werden, regel¬
mäßig zu massieren.
Im Anschluß an die mechanische Be¬
handlung sei die Punktion der Gelenk¬
ergüsse erwähnt. Wenn solche stark an-
wachsen und trotz hyperämisierender
und mechanischer Behandlung nicht zu¬
rückgehen, so wird unter strengster Asep¬
sis der flüssige Gelenkinhalt durch Punk¬
tion entleert, um einer Kapselerschlaffung,
vorzubeugen; in manchen Fällen wird
die Punktion mehrfach wiederholt. Wir
pflegen Indikation und Ausführung der
Gelenkpunktion dem Chirurgen zu über¬
lassen.
4, Medikamentöse Behandlung. Die
lange' Dauer der Krankheit mit ihren
häufig auftretenden Schmerzanfällen
macht immer- wieder die gelegentliche
Anwendung der sogenannten antirheuma¬
tischen Mittel notwendig, von welchen
wir Vor allem eine schmerzlindernde
Wirkung erwarten dürfen. Man hat die
Auswahl zwischen der großen Anzahl der
Salicylate und der gebräuchlichen Fieber-^
403
November D|e Therapie der Gegen>yart 1920
mittel, denen sich das Atrophan zugesellt;
bei der Anwendung läßt man sich von der
individuellen Verträglichkeit leiten und
gibt das einzelne Mittel etwa acht Tage
lang, wenn keine Übeln Nebenwirkungen
eintreten. Man kann auch einen Versuch
mit längerer Darreichung einer Jodkali¬
lösung (10/200 dreimal täglich einen E߬
löffel) machen. In Fällen von Verwach¬
sung und Versteifung versucht man die
narbenlösende Wirkung von subkutanen
Thiosinamininjektionen(l: Glycerin 10,0)^)
oder seines^ in sterilisierten Ampullen
käuflichen Salicyldoppelsalzes Fibro-
lysin.
5. Behandlung mit radioaktiven Sub¬
stanzen. Eines Versuches wert ist die
Methode der Inhalation von Radium¬
emanation, die durch besondere Emana-
torien^) geliefert wird; auch das kur¬
mäßige Trinken radiumhaltigen Wassers
kann versucht werden; solches kann
man aus stark radiumführenden Quellen
(Oberschlerna, Brambach, Joachimstal)
beziehen oder sich aus künstlichen Er¬
zeugern selbst bereiten®). Schließlich
kann den Erfolg von Thorium-X-
Injektionen"^) versuchen. All diese Kuren
entbehren nicht der wissenschaftlichen
5) Die Lösung muß vor jeder Injektion neu
auf gekocht werden.
Von der Berliner RadiogengesellschafL'
’) Doramaci der Auergesellschaft in Berlin.
Grundlage, da eine mobilisierende Ein¬
wirkung radioaktiver Substanzen auf
ruhendes Bindegewebe, also eine even¬
tuell zur Heilung führende Tendenz be¬
wiesen scheint.
6. Behandlung mit aktivierenden Sub¬
stanzen. Erlaubt sind Heilversuche miV
Injektion von körperfremdem Eiweiß
und anderen Entzündung anregenden
Stoffen. Man darf also ein- bis zwei¬
mal wöchentlich Injektion von 1—^3 ccm
sterilisierter Milch (in Ampullen vorrätig
als Aolan) oder Caseinlösung (Caseosan)
oder 5 % Zuckerlösüng ©der Knorpel¬
extrakt (Sanarthrit) machen. Bei vor¬
sichtiger Anwendung ist eine Schädigung
ausgeschlossen, eine relative Heilwirkung
oft unverkennbar.
7. Badekuren. Wie heiße Bäder even¬
tuell mit Zusatz von Salz oder Sole oft
guttun, so Ist auch der Besuch gewisser
Badeorte mit einfachen oder gashaltigen
Salzquellen oder Moor- oder Schwefel¬
bäder chronischen Rheumatikern sicher¬
lich nützlich, insbesondere wenn dort
auch die übrigen Behandlungsmethoden
von geschulten Ärzten besonders sach¬
verständige Anwendung finden. In Be¬
tracht kommen Wiesbaden, Teplitz, Oeyn¬
hausen, die Schwefelquellen von Nenn¬
dorf und Pistyan, die Moorbäder von
Polzin, Elster, Franzensbad, Aibling und
viele andere.
Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen.
Berliner Medizinische Gesellschaft. Sitzung vom 20. Oktober 1920.
Prof. Felix^ Klemperer (Berlin-Rei¬
nickendorf): Über einige neuere Be¬
handlungsmethoden bei Lungen¬
tuberkulose.
1. Proteinkörpertherapie: Über
die von K. Schmidt (Prag) zuerst an¬
gewandte Milchtherapie bei Tuber¬
kulose hat R. Lewin in dieser Zeitschrift
berichtet (April 1920); Vortragender kann
sie nicht als Ersatz der Tuberkulinthera¬
pie anerkennen. Günstigere Erfahrungen
machte er mit der Serumtherapie,
die-Czerny und Eliasberg zur Be¬
handlung der Kachexie tuberku¬
löser Kinder empfohlen haben. Die Sub-
cutaninjektion von V 2 ccm, später 1 ccm,
zuletzt 2 ccm normalen Pferdeserums, in
täglicher Wiederholung bis zu 100 und
mehr Injektionen, wirkt nach einigen
Wochen außerordentlich günstig auf das
Allgemeinbefinden. Eine direkte Beein¬
flussung des tuberkulösen Leidens findet
%
nicht statt, das Serum dient nicht als
Tuberkulinersatz — die Hebung des Ge¬
wichts aber, die Besserung der Temperatur
usw. kommen mittelbar auch dem Grund-,
leiden zuguter Für Erwachsene scheint
die Serumtherapie nicht geeignet; Vor¬
tragender sah in allen Fällen nach den
Einspritzungen örtliche Reizerscheinun¬
gen, zum Teil auch Fieber und anaphy¬
laktische Erscheinungen, während Kinder
das Serum dauernd reaktionslos vertragen.
2. Partigentherapie: Über den
Inhalt der Deycke-Muchschen .Par¬
tigenlehre und die Einwände, die sich
gegen sie erheben lassen, vergleiche den
Bericht des Vortragenden und den Auf¬
satz von Dr. Tuszewski in dieser Zeit¬
schrift (Februar-März 1919 und Juli
1920). Der Anspruch Muchs, daß seine
,, Partigen g es etze“ ,,endgültig das
Rätsel der Tuberkuloseimmunität lösen“
und sogar über die Tuberkulose hinaus
51*
4Q4 ' Die Therapie der
allgemeine Gültigkeit für Infektionskrank-,
heiten haben sollen, ist nicht ausreichend
begründet. Die Immunitätsanalyse
durch Ermittlung des fntracutantiters
ist im Prinzip nichts anderes, als die ab¬
gestufte Cutanimpfung mit Alttuberkulin
nach Ellermann-Erlandsen und An¬
deren. Beide versagen, weil die Haut ihre
eigene Reaktionsfähigkeit hat, die keines¬
wegs immer der Antikörperbildung in an¬
deren Organen parallel geht. Die Intra¬
cutanprobe gibt keinen sicheren Maßstab
der gesamten cellulären Immunität, für
diagnostische, und prognostische Zwecke
ist sie daher -nicht verwendbar. — Die
Partigentherapie ist ihrem Wesen und
ihrer Wirkung nach eine Tuberkulin¬
therapie. Das Partigengemisch MTbR
steht am nächsten der Koch sehen Ba¬
cillenemulsion B. E., es kann wie diese
verwendet werden, ohne wesentliche Vor¬
züge vor ihr zu besitzen.
3. FriecTmanns Tuberkulose¬
mittel. Nach einem Überblick über die
Entwicklung der Friedmannschen Be¬
handlung mit lebenden Schildkröten¬
bacillen aus Behrings Bovovaccination
{vergleiche Ther. d. Geg. 1913, S. 29)' be¬
richtet Vortragender über seine eigenen
vErfahrungen an 63 Fällen.
Die Fieber- und Allgemeinreaktion
nach Injektion des Friedmannmittels war
im allgemein gering, meist ganz fehlend,
desgleichen die Herdreaktion. Dagegen
trat meist an der Stelle der Injektion ein
Infiltrat auf, das in fast der Hälfte der
Fälle nach verschieden langer Zeit durch¬
brach und einige Zeit secernierte, in der
anderen Hälfte langsam sich verkleinerte.
Eine innere Beziehung zwischen
dem Verhalten des Impfdepots
und dem Verlaufe der Krankheit
war nicht zu erkennen. Bei einem
durch intercurrente Erkrankung (Ruhr)
ad exitum gekommenen Falle, bei dem
das Infiltrat aufgebrochen war und ge¬
eitert hatte, ließ sich nachweisen, daß
säurefeste Bacillen noch reichlich an der
verheilten Impfstelle vorhanden waren
=(von einem „Auslaufen“ der injizierten
Bacillenemulsion kann also nicht die Rede
sein).
Eine unmittelbare Heilwir¬
kung in den nächsten Wochen nach der
Injektion, ein ,,Schwinden der toxischen
Tuberkulosesymptome: Nachlassen der
Schmerzempfindlichkeit, der Nacht¬
schweiße, Stiche, des Beklemmungsge¬
fühls und Fiebers, Besserung des Schlafes“,
wie" es Friedinann beschreibt, sah
' > ■ ~ \
Gegenwart 1920 I ^ November
Vortragendef nicht; ein eklatanter Um¬
schwung im Befinden des Patienten, ein
Aufblühen der prophylaktisch geimpften
schwächlichen Jugendlichen oder ähn¬
liches wurde nicht in einem Falle beob¬
achtet; die Nachtschweiße blieben teil¬
weise unverändert bestehen.
Für die Beurteilung der späteren Heil¬
wirkung, des Endeffekts, scheidet Vor¬
tragender acht Fälle aus, die erst vor
drei Monaten oder weniger injiziert wur¬
den; ferner neun chirurgische Fälle
(von denen eine Mesenterialtuberkulose
erwähnt wird, die acht Monate per injec-
tionem starb, ferner zwei Halsdrüsenfälle
bei jungen Mädchen, die teils unverändert
blieben, teils Monate nach der Impfung
noch neue Drüsen bekamen). Neun wei¬
tere Fälle wurden wegen Pleuritis oder
besonders starker Belastung oder aus
anderen Gründen prophylaktisch ge¬
impft; sie sind bisher lungengesund ge¬
blieben, für die Urteilsbildung über den
Wert des Friedmannmittels kommen sie,
bisher wenigstens, nicht in Betracht.
Zwölf Fälle starben; drei aus inter¬
currenter Krankheit, sechs waren progreß
und wurden nur zum Studium der Reak¬
tion oder solaminis causa geimpft. In drei
von diesen Fällen aber, die sechs bis acht
Monate nach der Impfung starben, war
rnit Hoffnung auf Erfolg geimpft worden.
Elfjähriges Mädchen, nach Exstirpation tuber¬
kulöser Drüsen am Halse wegen Dämpfung usw.
über der rechten oberen Lunge auf die innere Ab¬
teilung verlegt — Röntgenbild zeigt Schatten¬
bildung bis zur dritten Rippe —, bleibt dort nach
der Impfung vier Monate fiebeiios, ohne Husten
oder Auswurf, klinisch ganz gesund, nimmt
V /2 Kho zu; dann tritt ein Umschwung ein und
innerhalb.drei Monaten kommt es zu rascher Aus¬
breitung der Tuberkulose und zum Exitus.
Von den an intercurrenter Erkrankung Ge¬
storbenen ist ein Fall bemerkenswert, der zwei
Monate nach der Impfung starb;, der geringe
Lungenherd erwies sich als alt, vernarbt — er war
bereits zur Zeit der Impfung fast geheilt, inaktiv
gewesen —, daneben bestand aber eine frische
Miliartuberkulose einer Hilusdrüse, die etwa ein
bis zwei Wochen, höchstens drei Monate alt war;
diese war entweder nach der Impfung entstanden
oder doch durch sie nicht zu Heilungsvorgängen
angeregt worden.
Von den 25 Fällen, die noch am Leben
sind, dürfen zwei als geheilt bezeichnet
werden, zwei weitere geben subjektive
Besserung an, die übrigen 21 sind besten¬
falls stationär geblieben, über die Hälfte
davon (elf) sind verschlechtert. Unter
den letzteren sind eklatante Frühfälle:
Fräulein P., 25 Jahre alt. Im Februar bis
März 1919 initiale Hämoptoe. 14. April 1919
geimpft. Nach physikalischer Untersuchung und
Röntgenbild unsichere Symptome im der linken
November
Die Therapie der Gegenwart 1920
405
Spitze. Nach gutem Befinden im Sommer und
Herbst Weihnachten 1919 erneute Blutung; jetzt
im Krankenhause Pankow physikalisch und rönt¬
genologisch beiderseits deutliche Spitzenerkran¬
kung festgestellt (Demonstation beider Röntgen¬
platten).
Krankenschwester E. S., 25 Jahre alt,
pflegt ihre an akuter Phthise sterbende Schwester
in April—Juni 1919; wurde selbst im Januar 1919
wegen linksseitigem Spitzenkatarrh behandelt.
Am 22. Mai 1919 geimpft; physikalisch nichts
Sicheres nachweisbar, Röntgenplatte zeigt rechts
im Spitzenfelde fraglichen kleinerbsengroßen Herd¬
schatten, links unregelmäßige Trübung der
Spitze (?). Nach längerer Erholungsreise, bei
gutem Wohlbefinden, tritt sie im September 1919
an der Freiburger Frauenklinik zur Ausbildung
als Hebamme ein. Im November 1919 fühlt sie
sich schlecht, Prof. Küpferle findet röntgepo-
logisch links im Spitzenfeld und in der Um¬
gebung des Hilus vereinzelte gut umschriebene
Herdschatten, im Januar 1920 dazu rechts
einen neu aufgetretenen infiltrativen Prozeß unter¬
halb der Spitze (Demonstration der drei Platten).
Seit Mai 1920 liegt Patientin mit reichlichem
bacillenhaltigen Sputum, Fieber usw. schwerkrank
im Kreiskrankenhause Balingen (Chefarzt Dr.
Schmid); seit Mitte Juli 1920 ist eine langsame
Besserung zu verzeichnen.
Unter den. stationär gebliebenen und
den langsam sich verschlechternden Fällen
befinden sich Fälle von sehr guter Pro¬
gnose, die noch jetzt, ein Jahr und länger
nach der Impfung, in vorzüglichem
Kräftezustand sich befinden. An einigen
der Röntgenplatten, die Vortragender
demonstriert, lassen sich sowohl Hei¬
lungsvorgänge (Schrumpfung, auch
Resorption) wie auch Fortschritte (Ver¬
größerung von Schatten, Auftreten neuer
Herde) nebeneinander erkennen. Die
beiden Fälle, die sich subjektiv besser
fühlen, und die beiden geheilten werden
näher besprochen. Die beiden ersteren
halten der Kritik nicht stand — der
eine war nie aktiv krank gewesen, der
andere ist tatsächlich nicht gebessert.
Von den zv^/ei geheilten war der eine
gleichzeitig mit einem wirksamen Pneu¬
mothorax behandelt worden, der andere
zeigt überraschend gute Heilungsfort¬
schritte, sowohl klinisch (Gewichtszu¬
nahme von 38 Pfund, kein’ Auswurf oder
Husten usw.) wie im Röntgenbilde (De¬
monstration). Bereits vor der Impfung
aber hatte diese Patientin, deren Krank¬
heit erhebliche Ausbreitung in beiden
Lungen zeigte, zwölf Pfund zugenommen.
Ihr Fall steht ganz allein gegen die
große Zahl der unbeeinflußten Fälle;
es ist zwangloser, ihn als natürliche
Heilung zu deuten, wie sie anerkannter¬
maßen in jedem Stadium der Krankheit
Vorkommen kann.
Zum Schluß prüft Vortragender die
Frage, ob technische Fehler seine Mi߬
erfolge erklären können, und bespricht
besonders die Dosierung. Er hat
meist 0,5 „schwach“ subcutan injiziert.
Der Einwand, daß dies zu viel war und
daß 0,5 oder weniger „ganz schwach“
hätten gegeben werden müssen, ist nicht
stichhaltig. Bei einer Untersuchung
dreier Röhrchen ,,stark“, ,,schwach“ und
,,ganz schwach“ fanden sich nach dem
Ergebnis des Äusstrichpräparates und
der Kolonienzahl auf Impfplatten wesent¬
lich mehr Keime in der ganz schwachen,
als in der schwachen Emulsion (Pro¬
sektor Dr. Koch). Eine Dosierung leben¬
der Bacillen in so scharfer Abgrenzung
ist in Ampullen, die eine größere Reihe
von Tagen zum Gebrauch stehen sollen,
gar nicht möglich; stets müssen sich,
wie in jeder Kultur, im Sputum usw.
neben den lebenden abgestorbene Ba¬
cillen finden und die Zahl der einen und
der anderen wechselt. Aus dem verschie¬
denen Gehalt der Ampullen an toten
Bacillen und ihren Zerfallsprodukten
(nicht-specifischen Eiweißkö rpern und
specifischen tuberkulinartigen Substan¬
zen) erklärt Vortragender auch das oben
erwähnte scheinbar regellose Verhalten
der Reaktion auf die Friedmann-In¬
jektion.
Vortragender kommt zu dem Resul¬
tat: ' das Friedmannmittel übt
keine Wirkung auf die Lungen¬
tuberkulose, jeder Fall nimmt
seinen Lauf zum Besseren bis zur
Heilung oder zum Schlechteren,
oder er bleibt stationär, nach
seiner Eigenart, seinen inneren
und äußeren Umständen, unbe¬
einflußt von der Friedmann-In¬
jektion. (Autoreferat.)
86. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte
in Bad=Nauheim, 20.—25. September.
Bericht von.Dr. Lilienstein, Bad-Nauheim.
Die Naturforscher-Versammlung, welche zum
ersten Mal nach dem Weltkrieg ihre Tagung ab¬
hielt, hat ihren ärztlichen Besuchern viele Wissen¬
schaftliche und praktische Anregungen gebracht;
darüber hinaus hat sie durch ihre erstklassigen
naturwissenschaftlichen Darbietungen in den
Ärzten das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit
dem gewaltigen Reich der großen Naturwissen¬
schaft in ' erhebender Weise gekräftigt. Der
folgende Bericht referiert nach früherer Sitte nur
406
Die Therapie der Gegenwart 1920 November'
solche Vorträge, welche zur Therapie in direkter
oder indirekter Beziehung stehen.
In der ersten allgemeinen Sitzung wurde das
sehr aktuelle Thema des Stickstoffs behandelt.
Bosch (Ludwigshafen) schilderte die Art der
Gewinnung des Stickstoffs aus der Luft, durch
die demnächst allein von den Fabriken Merseburg
und Oppau 300 000 Tonnen gewonnen werden,
während die Friedenseinfuhr an Guano, Chili-
salpeter usw. insgesamt nur 55 000 Tonnen Stick¬
stoff enthielt. Die große Bedeutung des Stick¬
stoffs für die Ernährung der Tiere und Pflanzen
wurde von Rubner (Berlin) erörtert und z. B.
durch die Tatsache anschaulich gemacht, daß
das Leben ein Ende findet, wenn die Zelle an¬
nähernd 50% ihres Eiweißgehalts verloren hat.
Die 500 Millionen Menschen auf der Erde ver-.
brauchen alle fast die gleiche Zahl von Calorien
und gleiche Eiweißmengen. Die Ernährung
Deutschlands bleibt noch immer stark hinter
dem erforderlichen Mittel zurück und eine völlige
körperliche und geistige .Gesundung der Massen
ist erst mit der Rückkehr zu den gewohnten und
X nötigen Formen der Ernährung zu erwarten.
In der letzten allgemeinen Sitzung sprach
Zumbusch (München) über „Probleme der
Syphilis'L Er legte die Art der Ansteckung und
die auf diese folgenden Früh- und Späterschei¬
nungen dar und verwies besonders auf die großen
Unterschiede zwischen angeborener und erwor¬
bener Syphilis. Bei der erworbenen erfolgt die
Ansteckung durch die Haut. Diese bildet in den
ersten drei Wochen Schutzstoffe, wodurch es
erst zu einer sich über Jahre hinstreckenden Aus¬
breitung der Krankheitserscheinungen kommt.
Bei der angeborenen erfolgt die Ansteckung auf
dem Wege der Blutbahn, die inneren Organe
werden zuerst betroffen und können nicht die
Schutzstoffe bilden wie die Haut. Die bei er¬
worbener Syphilis in die inneren Organe einge¬
drungenen Erreger werden vielfach dort mit einem
Schutzwall umgeben, aus dem sich die besondere
Art der Späterscheinungen erklärt. Dem Foetus
werden die Erreger aus dem mütterlichen Blut
durch die Nabelvene zugeführt und überschwem¬
men alsbald seinen ganzen Kreislauf, sowie die
inneren Organe. Auf diese Weise entstehen viel
schwerere Allgemeinerkrankungen, die häufig
den Tod der Frucht zur^ Folge haben. Den Ge¬
samtgeburtenausfall durch früheres oder spä¬
teres Absterben der Frucht infolge angeborener
Syphilis schätzt Zumbusch für Deutschland
auf mehrere Hunderttausend im Jahre. Die
Paralyse, die etwa 5% der Syphilitischen zehn
Jahre und später nach der Ansteckung befällt,
scheint gerade bei solchen Kranken aufzutreten,
bei denen die Geringfügigkeit der Krankheits¬
erscheinungen in den ersten Stadien der Erkran¬
kung ein mangelhaftes Abwehrvermögen beweist.
In gemeinsamer Abteilungssitzung wurden
Referate über accessorische Nährstoffe von Stepp
(Gießen), sowie über Hungerödem von Prym
(Bonn) erstattet. Die diesen Referaten zugrunde
liegenden Feststellungen finden sich in dem Be¬
richt von Feuer hak (voriges Heft, S. 355) sowie
in den ausführlichen Übersichten in dieser Zeit¬
schrift 1918, S. 24, und 1919, S. 181.
In einer anderen gemeinsamen Sitzung ver¬
schiedener Abteilungen wurde die Röntgen¬
therapie besprochen. Wintz (Erlangen) wies in
seinem Referat über die Röntgentiefentherapie
darauf hin, daß das heute Erreichte nur der eng¬
sten Zusammenarbeit von Technik, Physik und
Medizin zu danken ist. Spannungsvermehrung
und Strahlungsvermehrung sind die Hauptgrund¬
sätze, nach denen die Methoden aüsgebaut wur¬
den. Hand in Hand damit geht eine immer mehr
sich verfeinernde Messung der Strahlenmenge,
die zu einer genauen Dosierung unerläßlich ist.
Eine Schwierigkeit für die Messung liegt darin,
daß in allen von den Strahlen getroffenen Ge¬
weben Sekundärstrahlen entstehen. Sie beein¬
flussen das Gesetz, daß die Menge der Strahlen
entsprechend dem Quadrat der Entfernung von
der Röhre abnimmt. Man hat ein biologisches
Maßsystem darauf auf gebaut, daß man die
Menge der Strahlen bestimmte, die eben dazu
nötig ist, um ein Gewebe zu schädigen. Setzt
man-diese Zahl für die Haut gleich 100, so beträgt
sie für Carcinom oft etwa 110. Daraus ergibt sich,
daß es nicht möglich wäre, Carcinomgewebe zu
vernichten, ohne die überliegende Haut und an¬
dere Gewebe zu zerstören. Deshalb läßt man
von zwei oder drei Hautfeldern die Strahlen auf
die Geschwulst gelangen, wo sie sich vereinigen.
So wird, die Tiefenbestrahlung zu einer topo¬
graphisch-anatomischen Aufgabe, zu deren Lö¬
sung der Sitz der Geschwulst aufs genaueste be¬
kannt sein muß und zu deren Durchführung
häufig besondere Vorarbeiten an Modellblöcken
aus Wachs nötig sind. Noch stecken in Apparaten,
Röhren und Verfahren Fehlerquellen, die aber
immer mehr beseitigt werden. Von der Heilungs¬
ziffer von 100% sind wir heute noch weit ent¬
fernt, sind ihr aber schon näher als vor zehn
Jahren. Erschwert wird die Aufgabe dadurch,
daß oft der gealterte Körper das durch die
Strahlen zerstörte Krebsgewebe nicht me.hr durch
neues Gewebe ersetzen kann. Meßtechnisch rich¬
tige Bestrahlung und genauester topographisch¬
anatomisch ausgebauter Plan sind unerläßliche
Vorbedingungen für den Erfolg der Tiefen¬
bestrahlung.
Aus dem vollkommen verschiedenen Ver¬
halten der Sarkome gegenüber den Röntgen¬
strahlen, über das Jüngling (Tübingen) berich¬
tete, ergibt sich wieder die Richtigkeit der sich
immer mehr durchsetzenden Erkenntnis, daß
unter dem Sammelbegriff Sarkom Bildungen
allerverschiedenster biologischer Wertigkeit zu¬
sammengefaßt werden. Manche Sarkome schwin¬
den völlig und für immer, andere bleiben durchaus
unbeeinflußt. Lossen (Frankfurt) berichtete aus
der Grödelsehen Röntgenabteilung über soge¬
nannte Fernwirkungen der Röntgenstrahlen, wor¬
unter Veränderungen an nichtbestrahlten Or¬
ganen nach der Bestrahlung eines anderen Or¬
gans verstanden werden, wie z. B. Heilung von
Herzinsuffizienz oder Bronchialasthma nach Eier¬
stockbestrahlung oder günstige Beeinflussung der
Leukämie durch Milzbestrahlung. Dietlen
(früher Straßburg) gab einen Überblick, über die
Anwendung der Röntgenstrahlen in der inneren
Medizin. An den ersten wirklichen Erfolg, die
Behandlung der Leukämie, knüpften sich Hoff¬
nungen, die nicht erfüllt wurden. Für die Ver¬
kleinerung der Schilddrüse und die der Thymus¬
drüse durch Röntgenbestrahlung sind wirksame
Methoden ausgebaut, bei bedrohlicher Schwellung
der Thymus kann die Bestrahlung unter Um¬
ständen lebensrettend wirken.. Wichtig sind die
Ergebnisse der Bestrahlung der Hypophyse und
der nicht operablen Geschwülste des Mediasti¬
nums. Ein röntgenbiologisches Grundgesetz sagt
aus, daß die verschiedenen Gewebe, Organe und
Zellen in ganz verschiedenem Maße für die Ein¬
wirkung der Strahlen empfindlich sind, und
wiederum wirken verschiedene Strahlenmengen
ganz verschieden auf die Organe ein. Kleinere
Dosen rufen in vielen Fällen Reizzustände und
November
Die Therapie der Gegenwart 1920
407
Steigerungen der Drüsensekretion hervor. Durch
stärkere Strahleneinwirkung kann dann eine
Lähmung der Drüsentätigkeit erreicht werden.
Bei der günstigen Beeinflussung tuberkulöser
Erkrankungen von Drüsen, Knochen und Ge¬
lenken handelt es sich nicht um zerstörende, son¬
dern reizsetzende Einwirkungen, welche die Ge¬
webe in den Zustand besserer Abwehrmöglichkeit
gegen die eingedrungene Schädlichkeit bringen.
Während Chirurgie und Gynäkologie gewebs-
zerstörende Bestrahlungsmethoden ausbauen
müssen, um die Geschwülste bekämpfen zu
können, muß die innere Medizin auf den weiteren
Ausbau von gewebsanregenden Bestrahlungen
bedacht sein. Große Schwierigkeiten liegen heute
noch darin, daß die hierzu nötigen und geeigneten
Strahlenmengen bisher noch in keiner Weise sich
bestimmen lassen. Bacmeister (St. Blasien)
berichtet über Behandlung der Lungentuberkulose
mit Röntgenstrahlen und weist darauf hin, daß
auch hier die Strahlen nur in vorsichtigster Weise
angewandt werden dürfen, da sonst gefährliche
Gewebsschädigungen entstehen können.
In der Abteilung für Chirurgie fand eine
Besprechung statt über Steinachs Operation
zur Erzielung einer Verjüngung; den Bericht über
diese Diskussion hat La quer im vorigen Heft
erstattet (S. 371).
In der Abteilung für Kinderheilkunde sprach
Langer (Charlottenburg) über„die Behandlung
der Diphtheriebacillenträger''. Ausgehend
von der Tatsache, daß der hintere obere Nasen¬
rachenraum der gewöhnliche Sitz der Diphtherie¬
bacillen nach Nasenrachenerkrankungen ist, emp¬
fahl er Spülungen mit einem stark chemothera¬
peutisch wirkenden Mittel, dem Flavicid, das
mittels Pipette stündlich ein- bis dreimal in die
Nase eingeträufelt werden soll. Mader (Frank¬
furt) sprach über die antibakterielle Wirkung des
Suprarenins, das in Verbindung mit Silber-
Tierblutkohle noch in kleinsten Mengen stark
baktericid wirkt. Hochschild (Frankfurt) beob¬
achtete an 30 Fällen mittels des Okularmikro¬
meters nach Weiß das Verhalten der Hautcapil-
laren bei der Scheinanämie der Säuglinge unter
Eiweißmilchernährung und konnte dabei re¬
gressive Veränderungen der Capillaren feststellen,
die mit der Veränderung der Nahrung ver¬
schwanden.
ln der Abteilung für Augenheilkunde besprach
Jeß (Gießen) die Gefahren der Chemotherapie
für die Augen, insbesondere das aktuelle Thema
der Sehstörungen nach Anwendung der modernen
Chininderivate (Optochin, Eukupin). Es ist
ihm gelungen, in dem einen Teil des Chinin¬
moleküls darstellenden sogenannten Chinolinring
eine äußerst gilftige Chemikalie für Netzhaut und
Sehnerv festzustellen. Die Notwendigkeit, sich
in Zukunft der überaus empfindlichen Netzhaut
als toxikologischer Reagens zu bedienen, wird be¬
tont. Brückner (Berlin) und v. Eicken (Gießen)
referierten über Nebenhöhlen und Sehnerven¬
erkrankungen. ln bezug auf die viel diskutierte
Frage der Nasenätiologie der retrobulbären
Neuritis einigte man sich dahin, daß hier eine
ständige Zusammenarbeit von Augen-, Nasen-
und Nervenärzten unbedingt erforderlich sei, um
jede andere Ätiologie auszuschließen, bevor sich
der Rhinologe zu operativem Eingreifen ent¬
schließen dürfe. Igersheimer (Göttingen) be¬
richtete über nicht specifische Therapie in der
Augenheilkunde und kommt zu dem Schluß, daß
man in vielen Fällen mit derselben große Erfolge
erzielen könne. Er erinnerte daran, daß mit der
Injektion von nicht specifischem Pferdeserum bei
nicht zu schweren Fällen von Diphtherie ähnliche
Erfolge erzielt werden wie mit Diphtherieheil¬
serum. Grüter (Marburg) referiert über gute
Erfolge mit Elliotscher Trepanation und Ab-
hebelung des Ciliarkörpers bei chronischem Glau¬
kom und juv. Buphthalmus. Bei chronischem
Glaukom sei diese Therapie der konservativen
entschieden vorzuziehen.
In der Abteilung für Neurologie und Psychiatrie
sprach Kleist (Frankfurt a. M.) über seine Stu¬
dien an den konstitutionellen, aus inneren Grün¬
den (autochthon) auf tretenden, heilbaren Psy¬
chosen, die von Kräpelin als Äußerungen ein
und desselben Krankheitsvorgangs, des manisch-
depressiven Irreseins, aufgefaßt werden. Nach
der vom Vortragenden im Jahre 1911 zuerst auf¬
gestellten Lehre handelt es sich um zahlreiche,
in ihrem Symptombilde und in ihren Ursachen
verschiedene Erkrankungen, zu deren Entstehung
Störungen der inneren Sekretion mit mannig¬
faltigen abnormen Gehirnanlagen Zusammen¬
wirken.
Jahne I brachte vorzügliche anatomische
Untersuchungen der Großhirnrinde bei Paralyse
(Spirochätenbefunde). Goldstein und Gelb
(Frankfurt) führten kinematographisch Hirn-
verletzte vor und zeigten, wie aus solchen Ver¬
letzungen auf die Lokalisation gewisser psychi¬
scher Funktionen im Gehirn geschlossen werden
kann. Ebenfalls kinematographisch wurden von
Köhler (Ettlingen) die psychischen Leistungen
dargestellt, die an Menschenaffen auf Teneriffa
beobachtet wurden. Es war ertaunlich, zu sehen,
wie hoch entwickelt die an menschliche Intelligenz
gemahnenden Funktionen dieser Tiere sind.
Der Berichterstatter demonstrierte in dieser
Abteilung ein neues Verfahren zum Nachweis
bioelektrischer Ströme. Die Summe aller
in einem lebenden Organismus ablaufenden
Ströme, lonenwanderungen, Potentialgefälle,
Aktionsströme usw. kann als lönenhaushalt
bezeichnet werden und hat sicher eine ähnliche
' Bedeutung wie der Wärmehaushalt, Zum Nach¬
weis dieser Ströme dienen bisher feinste Galvano¬
meter, Capillarelektrometer, Saitengalvanometer
(Elektrokardiograph). Ich habe nun die Apparatur
einer Funkenstation diesem Zwecke dienstbar ge¬
macht. Die Ströme werden bei meinem Instru¬
mentarium über einen (mechanischen) Unter¬
brecher und Elektronenröhren einem Telephon
zugeführt.
Stiefle (Linz) tritt dafür ein, daß die Ence¬
phalitis lethargica trotz ihres häufigen Auf¬
tretens während der Grippeepidemien doch als
' eine selbständige Infektionskrankheit aufzufassen
sei. Die von vielen Seiten heftig bekämpfte
psychoanalytische Behandlung wird von
Schmidt (Mainz) warm verteidigt. Gierlich
(Wiesbaden) weist auf eigentümliche Formen
hemiplegischer Lähmungen und ihre Beziehungen
zur Phylogenese hin. Küppers (Freiburg) sieht
in der parasitären Lebensführung die hauptsäch¬
lichste Ursache für die Entstehung der Hysterie,
die sich immer nur aus Beziehungen des Menschen
zu seinen Nebenmenschen entwickelt.
Von aktuellem Interesse waren die Vorträge
über psychologische Eignungsprüfungen,
Assozationsversuche usw. (die von Sommer,
Voß, Berliner, Koffka und den beiden Brü¬
dern Jaentsch vorgeführt und erörtert wurden).
Solche Eignungsprüfungen werden voraussicht¬
lich in Zukunft für die verschiedensten Berufe
Bedeutung gewinnen. An der Universität Münster
408
Die Therapie -der Gegenwart 1920
November
besteht z. B. bereits eine Eignimgsprüfstelle. Ihr
Leiter, Goldschmidt, berichtet über die da¬
selbst gesammelten Erfahrungen und zeigte, daß
'Sich die Prüfungen auf Eignung zu der einen oder
anderen Berufstätigkeit bereits mannigfach be¬
währt haben. Freilich läßt sich ein praktischer
Erfolg nur bei äußerster Vorsicht eines wirklich
geschulten Experimentalpsychologen erwarten.
Zur Fortbildung der Eignungsprüfungen erscheint
deren Durchführung im Anschluß an Universi¬
täten und Technische Hochschulen dringend ge¬
boten. Es zeigt sich, daß hiermit zukünftige Prü¬
fungen, besonders für die Berufe der Kraftfahrer,
Funker, Lokomotivführer, Mechaniker,^ Schlosser
und viele andere ausgeführt werden können. Aller¬
dings kamen bei der Sitzung auch abweichende
Ansichten und kritische Bedenken dieser neuen
Methode gegenüber zum Ausdruck.
In der gynäkologisch-geburtshilflichen Sektion
wurde von Freund (Frankfurt a. M.) ein in seiner
Einfachheit beachtenswertes Verfahren emp¬
fohlen: das sofortige Anlegen des Kindes an die
Mutterbrust zur Auslösung von Uteruscontrac-
tionen bei Blutungen post partum beziehungs¬
weise prophylaktisch. In der Proteinkörper¬
therapie fand das Caseosan warme Befürwortung
seitens Esch (Marburg) und Salomon (Gießen).
Mayer (Tübingen), berichtete über zahlreiche
Versuche mit Luftfüllung der Bauchhöhle zu
diagnostischen und therapeutischen Zwecken
(Pneumoperitoneum). Ferner betonte derselbe
die Vorzüge der Lumbalanästhesie, welche nur
den Kopfschmerz als gelegentliche, unerwünschte
und bisher nicht beeinflußbare Nachwirkung' hat.
Nürnberger (Hamburg) hat bei Kreuzschmerzen
ohne gynäkologischen Befund, Coccygodynie usw.
präsacrale Injektionen mit Narcophin angewandt,
deren günstige Wirkung anhaltend war.
Hanauer (Frankfurt) weist auf Grund ddfe
Materials des Frankfurter statistischen Amtes
der letzten zehn Jahre nach, daß die Krebs-
Sterblichkeit im Kriege sich nicht in der Weise
geändert hat, wie es von vielen Seiten ange¬
nommen wurde. Die Bevölkerungsbewegung nach
Alter und Geschlecht sei hierbei zu berücksich¬
tigen. Tatsächlich sind während des Krieges
durchschnittlich jüngere Lebensalter vom Krebs
dahingerafft worden als in Friedenszeiten.
Bücherbesprechungen.
C. Dorno, Physik der Sonnen- und Himmels¬
strahlung. — Die Wissenschaft, Einzeldar¬
stellungen aus der Naturwissenschaft und der
Technik Bd. 63. 1919. Vieweg. Preis 6 M.
Die Bedeutung von Licht und Luft als Heil¬
faktor ist jedem Laien geläufig. Sobald man
.hier aber zu klaren Vorstellungen gelangen will,
sieht gerade der wissenschaftlich geschulte Arzt
sofort ein, wie mangelhaft ihm das Rüstzeug zur
Verfügung steht. Das kleine Buch des um die
Physik des Klimas sehr verdienten Verfassers ist
geeignet, in schwierige Gebiete der angewandten
Physik einigermaßen gemeinverständlich einzu¬
führen. Wer als Therapeut sich für klimatische
Fragen interessiert, wird sich aus der flott ge¬
schriebenen Schrift reiche Belehrung verschaffen
können. M. Jacoby.
Felix Klemperer. Die Lungentuberkulose,
ihre Pathogenese, Diagnostik und Be¬
handlung. Berlin und Wien 1920, Urban
& Schwarzenberg. 155 Seiten. Preis 25 M.
Das Buch will, wie die Vorrede sagt, nicht
ein Lehrbuch für Studierende sein, sondern ein
Ratgeber für den ärztlichen Praktiker, um ihn
zu unterstützen in der Pflicht gesteigerter Auf¬
merksamkeit und Betätigung gegenüber dem
jetzigen Anwachsen der Tuberkulose.
Demgemäß sind in den Abschnitten über
Entstehung, Infektionswege, Disposition, Ana¬
tomie, Statistik zwar alle wesentlichen Punkte
berührt, aber doch mehr kursorisch behandelt,
ausführlich dagegen die Diagnostik und die
Therapie besprochen.
Bei der Diagnostik werden die Goldscheider-
sche Spitzenperkussion, die Tuberkulinproben, die
Röntgenbefunde eingehender erörtert; der Wert
dieser Methoden wird durchaus zugestanden, aber
ihre Anwendung erfordert viel Kritik. Besonders
nötig ist die Kritik bei der Verwertung der Einzel¬
symptome für die Frühdiagnostik; die Notwendig¬
keit eingehender Beobachtung und wiederholter
Untersuchung wird nachdrücklich betont.
Für die Einteilung der Krankheit ist das
Albrecht-Fränkelsche Schema der zirrhoti-
schen, knotigen und käsig-pneumonischen Form
im allgemeinen genügend; um den einzelnen Fall
kurz und scharf zu kennzeichnen, istBacmeisters
kombinierte Einteilung nach vier Reihen von
Gesichtspunkten zurzeit wohl die beste.
Der therapeutische Teil, der fast die Hälfte
des Buches einnimmt, behandelt zunächst die All¬
gemeinbehandlung, Luft-, Liege-, Bewegungskur,
Diätetik, physikalische Behandlungsweisen, dann
die Theorie und Technik der Tuberkulinkuren, die
nach des Verfassers Erfahrung ein nützliches
Unterstützungsmittel der gesamten Tuberkulose¬
therapie sind, nicht mehr und nicht weniger; auch
die Deyke-Muchsehe Parthigentherapie wird
eingehender besprochen; einen therapeutischen
Fortschritt bedeutet sie nach Klemperers Er¬
fahrung nicht. Ebenso muß Klemperer die Er¬
folge des Friedmann sehen Mittels bezweifeln,
so sehr er die Berechtigung der Grundlage, der
Immunisierung durch lebende Bacillen, anerkennt.
Nach einem Abschnitt über medikamentöse
Behandlung folgt eine breitere Besprechung der
Pneumothoraxtherapie mit genauer Erörterung
der Technik, der Indikationen und Kontraindika¬
tionen. Ein kurzer Anhang handelt von der
klimatischen, Badeorts- und Anstaltsbehandlung.
Der Vorzug des Buches liegt darin, daß es
alles Wesentliche über Tuberkulose enthält, aber
mit Geschick gerade die neuen oder aufs neue
angeregten praktischen Fragen mit ihrer wissen¬
schaftlichen Grundlage ausführlich und klar be¬
handelt, daß es überall, ohne vorschnell abzu¬
sprechen, vor einseitiger Bewertung und Über¬
wertung der diagnostischen und therapeutischen
Neuerungen warnt, und immer wieder auf gründ¬
liche, allseitige Untersuchung, Beurteilung und
Behandlung hinweist. D. Gerhardt.
Prof. Dr. C. Garre und Prof. Dr. A. Borchard,
Lehrbuch der Chirurgie. Mit 535 teils
farbigen Abbildungen. Leipzig 1920. Verlag
von F. C. W. Vogel.
Es ist ganz besonders zu begrüßen, wenn dem
praktischen Arzt, dem täglich chirurgische Fälle
zugehen, ein Lehrbuch wie das vorliegende an
die Hand gegeben wird, durch das ihm in denkbar
bester Form die Anschauungen der modernen
November
Die Therapie der Gegenwart 1920
409
Chirurgie zugänglich gemacht werden. Wird er
doch hierdurch besser in die Lage versetzt, die
schwere Frage der chirurgischen Indikations¬
stellung selbständig zu lösen, ein Problem, dessen
hohe Bedeutung nicht immer erkannt und nicht
eindringlich genug stets wieder betont wird, und
von dessen Beherrschung in vielen Fällen das
Leben des Kranken abhängt. Je nach der Vor¬
bildung des einzelnen nach der technischen Seite
hin miiß sich der Praktiker selbst die Grenzen
seines Könnens und .Handelns vorschreiben.
Hierin wird er durch d^ Garre-Borchardsche
Lehrbuch auf das trefflichste unterstützt, da¬
durch, daß es einesteils diejenigen Operationen,
die der praktische Arzt, wofern fachärztliche Hilfe
nicht zur Stelle ist, selbst ausführen muß, ein¬
gehend beschreibt, im übrigen aber vor allem die
Symptomatologie und Diagnose in den Vorder¬
grund stellt. Hierbei verdient das Kapitel:
Regionäre und funktionelle Diagnostik ganz be¬
sonders hervorgehoben zu werden, dem an präg¬
nanter, kurzer, aber doch erschöpfender Aus¬
drucksweise wohl nichts gleichartiges in der
deutschen Literatur zur Seite gestellt werden
kann.
Die Einteilung des Stoffes entspricht ungefähr
der der Lehrbücher der speziellen Chirurgie.
Fragen der allgemeinen Chirurgie werden im
einzelnen dort abgehandelt, wo sie zum Ver¬
ständnis der jeweils beschriebenen Erkrankung
notwendig sind. Die topographisch-anatomischen
Verhältnisse sind in den einschlägigen Teilen der
einzelnen Abschnitte gebührend gewürdigt. Dem
Rang entsprechend, den die Verfasser unter den
deutschen Chirurgen einnehmen, ist das Buch aus
einer reichen Erfahrung geschrieben und entbehrt
vielfach nicht der persönlichen Note. Für das
Kapitel „Operationskursus“ wären in einer neuen
Auflage zum großen Teil andere Abbildungen zu
wünschen.
. Besonders hervorzuheben ist die. glänzende
Ausstattung, die der Verlag dem Werke hat an¬
gedeihen lassen, und der wohlfeile Preis, der die
Anschaffung des Lehrbuches dem Praktiker fast
zur Pflicht macht.
Das einleitende Kapitel: Das Lehren und
Lernen in der Chirurgie von Garr6 behandelt
Fragen der ärztlichen Ethik in vollendeter Form,
deren Wert besonders hoch zu veranschlagen ist
in einer Zeit, die ihr Ziel ganz im Sozialisieren
Hayw.ard.
Koblanck, Taschenbuch der Frauenheil¬
kunde. Zweite verbesserte Auflage, mit 63 Ab¬
bildungen. Berlin-Wien 1920. Urban &
Schwarzenberg.
Das für den Praktiker, wie den Studierenden
gleibh wichtige Buch erscheint nach verhältnis¬
mäßig kurzer Zeit in zweiter Auflage, die noch
an Wert dadurch gewonnen hat, daß zwei neue ,
Abschnitte auf genommen wurden: Eileiterschwan-
gerschaf L und künstliche Kinderlosigkeit, während
einige Kapitel, wie Erkrankung der Harnwege,
Endometritis, wesentliche Verbesserungen zeigen.
Dieser zuverlässige Ratgeber muß immer wieder
empfohlen werden; Ausstattung und Druck sehr
gut. Pulvermacher (Charlottenburg).
San.-Rat Bratz und Bibliothekar G. Renner,
Was ein Kranker lesen soll? Ein Rat
geber für Kranke, ihre Ärzte und Pfleger.
Berlin-Wien 1920, Urban & Schwarzenberg.
In diesen 50 Seiten steht viel drin; in einem
kurzen Vorwort, welches an des Referenten Skizze
über „Geistige Diät von Nervenkranken“ (Strüm-
pell-Erb'sche Ztschr. Bd. 23, 1903) anknüpft,
wird der Titel in Ziel und Zweck weiter aus¬
geführt; die Renn ersehen Buchbesprechungen
könnten wohl etwas ausführlicher sein; anderer-
"seits erleichtern sie dem Kranken die Wahl der
Bücher; man kann und soll das Büchlein getrost
dem Kranken übergeben; Sanatorien, Heime,
Heilstätten aller Art, auch die Hotels und Pen-
sionate in Bädern und Sommerfrischen täten gut
daran, ihre oft kümmerlichen Bibliotheken nach
obigen Mustern zu vervollkommnen.
B. La quer (Wiesbaden).
Leopold Pulvermacher, Grundzüge der Be¬
handlung von Haut- und Geschlechts¬
krankheiten. Berlin-Wien 1920, Urban &
Schwarzenberg, 8^, VIII, 249 S.
Als eine willkommene Ergänzung der im
gleichen Verlage erschienenen weitverbreiteten
,,Therapie der Haut- und venerischen Krank¬
heiten“ von J. Schäffer ist Pulvermachers
kürzeres Büchlein insofern zu begrüßen, als es
besonders die an der Berliner Universitäts-Haut¬
klinik übliche dermato-venereologische Therapie
berücksichtigt und auch sonst dem Praktiker
durch übersichtliche alphabetische Anordnung
und Berücksichtigung der allerneuesten Fort¬
schritte (insbesondere in der Syphilisbehandlung)
zur raschen und zuverlässigen Orientierung ^
dienen kann. Iwan Bloch (Berlin).
Referate.
Uber ein neues Prinzip in der Chi¬
rurgie des Dickdarms und Mastdarms
berichtet Prendl. Die Unsicherheit der
Dickdarmnaht hatte Mikulicz schon
im Jahre 1902 bewogen, die Dickdarm¬
resektion zweizeitig auszuführen. In
dem ersten Akt wurde der meist durch
einen Tumor verengerte Darmabschnitt
vorgelagert, nachdem die zuführenden
ernährenden Gefäße durchtrennt worden
waren. Der zu- und abführende Schenkel
wurden durch einige Nähte doppelflinten¬
artig aneinandergenäht und in der Folge¬
zeit, nachdem sich der erkrankte Darm¬
abschnitt abgestoßen hatte, der ent¬
standene Sporn mittels einer Sporn¬
quetsche beseitigt. Bei der zweiten Ope¬
ration wurde die hierdurch entstandene
Darmlichtung wieder geschlossen. Dieses
Verfahren wird heute nur noch in der
Mehrzahl der Fälle von akutem Darm¬
verschluß geübt, da hier die Verhältnisse
für eine direkte Darmnaht noch ungün¬
stiger liegen. Die Aussichten für die Naht
des Dickdarms gestalten sich, im Gegen¬
sätze zu der Dünndarmnaht, besonders
ungünstig wegen der Zartheit der Dick¬
darmwand, wegen des • breiten Mesen-
52
410
Die Therapie der Gegenwart 1920
'November
terialansatzes und wegen des derben In¬
halts des Dickdarms. Es war daher bis¬
her üblich, nach einer Dickdarmresektion
den Stuhlgang durch Opiate für eine Reihe
von Tagen anzuhalten, bis man, hoffen
konnte, .daß die Darmwunden soweit
geheilt waren, daß die Kotpassage die
Darmnaht nicht mehr gefährdete. Trotz¬
dem' erfolgte in zahlreichen Fällen ein
Nachgeben der Naht mit nachfolgender
tödlicher Bauchfellentzündung. Prendl
legte sich die Frage vor, ob es nicht mög¬
lich sei, die oben genannten Faktoren
für die Dickdarmnaht günstiger zu ge¬
stalten. Es kam hierfür nur der dritte
Punkt, die Beschaffenheit des Darm¬
inhalts, in Frage, und es galt zu unter¬
suchen, ob die Naht nicht vom Tage der
Operation an so zuverlässig ist, daß man
ihr die Passage des Darminhalts zumuten
könne. Zu diesem Zweck mußte der
Darminhalt möglichst dünnflüssig* ge¬
staltet werden. Prendl erreicht dieses
durch die Verabfolgung von Rizinusöl,
welches er vom Tage der Operation an
gibt. Am Morgen der Operation erhält
der Kranke, der zuvor in der üblichen
Weise vorbereitet worden ist, 1—1%
Löffel Rizinusöl, an jedem folgenden
Tage bis zum elften Tage nach der Ope¬
ration einen halben Löffel. Das Ver¬
fahren hat sich außerordentlich bewährt,
ln 17 Fällen, die nach dieser Methode
behandelt wurden, erfolgte niemals eine
Insuffizienz der Naht. Eine gewisse Vor-
■^icht erfordert die Anlegung der Naht.
Es muß die circulare Vereinigung der
Darmlichtungen vorgenommen werden,
um dem Darminhalt die Passage nach
Möglichkeit zu erleichtern. Die geringe
Verengerung, welche hierdurch entsteht,
ist einer Knickung des Darmlumens, wie
sie bei der seitlichen Vereinigung un¬
vermeidlich ist, vorzüziehen. Als Naht¬
methode wird eine doppelreihige Knopf¬
naht verwendet. Genäht wird mit Seide.
Das Verfahren kommt zur Anwendung
bei der Dickdarmresektion und der Mast¬
darmresektion. Bei der Coecumresektion
erübrigt es sich, da hier der Darminhalt
noch flüssig ist. Ebenso wie bei der Dick¬
darmresektion hat sich die Methode bei
der Mastdarmresektion bewährt. Es ge¬
lang zwar nicht immer, das Auftreten
einer Kotfistel zu vermeiden, doch war
diese immer sehr klein und schloß sich
in fast allen Fällen nach kurzer Zeit von
selbst.
Hayward.
(Arch. f. klin. Chir. Bd. 114, Heft 2.)
Einen Beitrag zur Bewertung des
Blutbildes bei Fleckfieber veröffentlicht
G. Zacharias. Die Untersuchung des
Blutbildes bietet eine wesentliche Hilfe
bei der Frühdiagnose der Krankheit. Im
Gegensatz zü Typhus abdominalis be¬
steht beim Fleckfieber bei Ausschluß
von Komplikationen eine polynucleäre
Leukocytose auch bei niedrigen Gesamt-
leukocytenzahlen. /Ein ^starker Leuko-
cytenverbrauch führt zu dem Auftreten
zahlreicher polynucleärer Zellen mit
jugendlichen basophilen Granulationen.
Möglicherweise sind diese Granula mit
den von Prowazek beschriebenen Kör¬
perchen identisch. Hetsch (Berlin).
(Beitr. z. Klin. d. Infekt.-Krankh. u. z.Immitn.-
Forsch. 1919, Bd. 7, Heft 3—4.) /
Die künstliche Frühgeburt nach der’
Zangemeisterschen Methode, über welche
Grote ausführlich berichtet, kann auch
in den Händen des praktischen Arztes
sehr gute Erfolge erzielen, wenn folgende
Forderungen mit ausreichender Sicher¬
heit erfüllt sind: genaueste Becken-’
messung — Zangemeistersche Vermes¬
ser —, möglichst genaue Bestimmung der
Fruchtgröße, Kenntnis derjenigen Frucht¬
größen, welche bei verschiedenen Graden
von Beckenenge eben noch eine günstige
Prognose stellen und schließlich eine
möglichst ungefährliche technische Durch¬
führung der Schwangerschaftsunter¬
brechung. Nach einer von Zange¬
meister empirisch gefundenen Kurve
wird bei festgestellter Größe des Beckens
und der Kindsgröße der Einleitungs¬
termin bestimmt. Die Schwangerschafts¬
unterbrechung erfolgt immer durch Me-
treuryse — Zweifelsches Bläschen —;
größere Ballons wurden nur sehr selten
eingelegt. Bei 22 Frauen wurde die
Frühgeburt eingeleitet; in zwei Fällen
mußte die Entbindung durch Kaiser¬
schnitt erfolgen; außer einem mace-
rierten Kinde wurden die anderen lebend
geboren. Pu 1 v e fm a c h e r (Charlottenburg).
(Mschr. f. Geburtsh., Juli 1920.)
Die Verordnung von Kal. hypermaii-
ganicum bei Furunkeln und Karbunkeln
empfiehlt Fries - Göttingen. Schorn
früher hat Wederhake eine 10%ige
wässerige ,,Lösung'' oder besser Auf¬
schwemmung von Kal. hypermanganicum
angewendet. Auch durch bakteriologische
Untersuchungen ist die Zweckmäßigkeit
dieser Behandlungsart erhärtet, da sich
Kal. hypermanganicum als Specifictim
gegen Staphylokokken erwies. Letztere
November
Die Therapie der Gegenwart'1920
411
sind in der Regel die Erreger von Furunkel
und Karbunkel, welche man dement¬
sprechend als „Staphylomykosis circum¬
scripta cutis‘‘ ansprechen kann. Ganz
beginnende Furunkel lassen sich durch
Bestreichen mit der Lösung, wobei auch
die umgebende Haut miteinbezogen wird,
kupieren. Hat sich bereits eine gelbe
Kuppe gebildet,, so wird diese mittels
Pinzette abgehoben und in die ent¬
stehende Öffnung mit einem in einen
Knopf endigenden Glasstäbchen, wie es
in der Augenheilkunde gebräuchlich ist,
die desinfizierende Lösung eingebracht.
Bei größeren Karbunkeln kann man rein
chirurgisch Vorgehen, einen Kreuzschnitt
anlegen, die vier Hautlappen zurück¬
präparieren und den ganzen nekrotischen
Herd wie eine Geschwulst exstirpieren.
Hierbei wird es ohne emipfindliche Blu¬
tungen unter Umständen nicht abgehen.
Bei solchen kann man aber auch mit
gutem Erfolge, besonders bei Gesichts-
fürunkelri und -Karbunkeln, mehr kon¬
servativ Vorgehen. Es genügt die Her¬
stellung einer oder mehrerer kleiner Öff¬
nungen, durch welche ein- oder mehrmals
täglich die Kal. permanganat-Lösung ein¬
gebracht wird. Es stoßen sich dann
spontan nekrotische Pfröpfe ab, die neue
Wege zum Eindringen der desinfizieren-
Lösung bieten. Hierbei wird zugleich,
was für das Gesicht nicht unwichtig er¬
scheint, ein kosmetisch günstiger Erfolg
erzielt. Bosselmann (Berlin).
(D. m. W. J920, Nr. 33.)
Als einfache und erfolgreiche Behand¬
lungsweise der Furunkulose des Säuglings
empfiehlt St. Engel prolongierte heiße
Bäder. Die Kinder werden zehn Minuten
in ein Bad gebracht, das durch Zugießen
von heißem Wasser auf 40—42^ erwärmt
wird.. Die Bäder werden anfangs täglich
bis zur Heilung wiederholt. Bei Kindern
im ersten Vierteljahr soll die Temperatur
der Bäder, die dann zweckmäßig kürzere
Dauer haben, nicht über 40^ hinausgehen.
Beachtenswert ist die Mitteilung von
Cassel zu dieser therapeutischen Ma߬
nahme. (B. kl. W. Nr. 36.) Er weist auf
die dringende Notwendigkeit hin, die
gebrauchte Bett- und Leibwäsche, auch
das Badetuch der Kinder, eine Stunde
lang im. Kochkessel mit Seifenwasser
auszukochen, um so durch Abtötung der
Keime die Reinfektion des Patienten zu
verhindern. Ferner soll die wasserdichte
Unterlage, die ihrem eigentlichen Zweck
entsprechend, das Durchsickern von
Feuchtigkeit in Bettbezüge und Matratzen
verhindern soll, nicht zu Einwicklungen
mißbraucht werden, das heißt, sie soll
nur die Größe 40:35 cm haben. So reicht
sie an der Seite des Körpers bis zur spina
ant. sup. des Beckens hinauf und läßt
die Vorderseite des Bauches frei, es kann'
also die Feuchtigkeit von Schweiß, Harn
und Stuhl verdampfen. Ist die Unterlage
zu groß, wird die ganze mittlere Partie
des Säuglings verhüllt, so zersetzt sich
der nicht verdunstete Harn, es entwickeln
sich reizende Stoffe, die Haut wird ma-
ceriert, und die Möglichkeit zur Infektion
ist da. Aus demselben Grunde sind die
Windelhosen aus Gummistoff bei älteren
Säuglingen und Kindern verwerflich. Sie
werden entbehrlich bei frühzeitiger Er¬
ziehung der Kinder zur Stubenreinheit..
(B. kl. W. 1920, Nr. 26.) Feuerhack.
Uber Diagnose und Behandlung der
Gallenblasenerkrankungen sprach Prof.
Max Einhorn (New York) im Rahmen
der Karlsbader Fortbildungsvorträge. Die
korrekte Diagnose eines Gallenblasen¬
leidens ist nicht immer leicht, da die
,,charakteristischen“ Symptome manch¬
mal irreführend sind. Fast alle Erkran¬
kungen der Gallenblase sind mit der Frage
der Gallensteine eng verknüpft. Ent¬
weder prädisponiert die erkrankte Blase
zur Steinbildung oder die Steine sind
die Ursache des pathologischen Zustandes.
Nach Naunyn, Aschoff und Bac-
m ei st er entstehen Gallensteine durch
bakterielle Infektion; die beiden letzteren
Autoren nehmen an, daß sich gewisse
Cholesterinsteine auch infolge von Stag¬
nation der Galle bilden. 10% aller an
Erwachsenen vorgenommenen Obduk¬
tionen zeigen Gallensteine, ungefähr die
Hälfte dieser Fälle hat, wie die Kliniker
annehmen, Gallenbeschwerden gehabt.
Nach Kehr ist nur bei 1 % der Gallen¬
steinträger ein operativer Eingriff not¬
wendig. Andere Chirurgen wollen das
Indikationsgebiet .für Gallensteinopera¬
tionen sogar auf Fälle erweitern, welche
nicht die charakteristischen Symptome
zeigen. Für praktische Zwecke teilt Ein¬
horn die Gallenblasenaffektionen in vier
Gruppen ein, als deren erste er die
akute Gallenblasenentzündung mit und
ohne Gelbsucht nennt. Sie ist durch
Völle und Unbehaglichkeitsgefühl im
rechten Hypochondrium, durch Anorexie,
manchmal durch leichten Ikterus und
durch mäßige, einige Tage währende
Temperatursteigerung gekennzeichnet.
52 *
412 Die Therapie der
, Die chronische oder wiederkehrende
Gallenblasenentzündung zeigt dieselben
Symptome, jedoch an Intensität und
Dauer zunehmend. Manchmal begegnet
man kolikartigen Schmerzen, welche nach
hinten und oben ausstrahlen. Ein ähn¬
liches Bild verursachen Steine im Ductus
cysticus, die Koliken treten hier in den
Vordergrund. Befinden sich Steine im
Ductus choledochus oder Ductus com¬
munis, so ist der je nach Vollständigkeit
der Obstruktion an Stärke variierende
Ikterus das Hauptsymptom. Das Em¬
pyem der Gallenblase weist eine unregel¬
mäßige, septische Temperatur, heftige
Schmerzen im rechten Hypochondrium,
Steifheit des M. rectus abdominis dexter,
Leberschwellung und Schmerzhaftigkeit
der ganzen Region auf. Das Blutbild
zeigt Leukocytose mit vielen Polynu-
clearen, im ganzen die Erscheinungen
der Septikämie. Gruppe IV umfaßt die
bösartigen Erkrankungen der Gallen¬
blase. Der Gallenblasenkrebs kann längere
Zeit symptomlos bleiben, erst die Invol-
vierung der Gallengänge erzeugt Ikterus.
Therapeutisch lassen sich die Gallen¬
blasenerkrankungen in akute und chroni¬
sche einteilen. Akute Cholecystitis wird
mit heißen Umschlägen, Opiaten, even¬
tuell mit Morphium oder Kodein-Bella-
donnasuppositorien behandelt. Heiße
Getränke und Irrigationen sind angezeigt.
Bei schweren toxischen Erscheinungen
(Perforationsgefahr) ist der Chirurg her¬
anzuziehen. Bei den chronischen Formen
ist die Stagnation der Galle durch Trink¬
kuren zu bekämpfen, ferner der Infektion
mit Hilfe von Urotropin, Salicyl und
Aspirin (Darmspülungen) vorzubeugen.
Einhorn hat gute Erfolge mit Glycerin
(mit Bicarbonat 50:8 auf 150 Wasser
kombiniert) gesehen. Die Anwendung
von Olivenöl zwecks Abgangs von Steinen
erscheint ziemlich problematisch. Die
chirurgische Indikation besteht bei schwe- ‘
ren, wiederkehrenden Anfällen, ferner bei
milden Fällen mit Leukocytose (die Poly-
nuclearen vorherrschend), schließlich bei
chronischem Ikterus. Kontraindikationen
sind Herz- oder Nierenleiden, Diabetes
mellitus, allgemeine Schwäche. o. R.
Neue Anschauungen über Ikterus, die
■großenteils auf seinen eigenen For¬
schungen beruhen, entwickelte Prof.
Heyermanns van der Bergh (Ut¬
recht) in einem in Karlsbad gehaltenen
Fortbildungsvortrag. Nicht in allen Fällen
von gelblicher Verfärbung der Haut darf
Gegenwart 1920 November
man von Ikterus sprechen. Denn maach-
mal wird diese Farbe von anderen Stoffen
veranlaßt; so vor allem von lipochromen
Pigmenten, dem sogenannten Lutein, das
hauptsächlich aus der Nahrung stammt.
Auch das zuerst von Schümm im Serun>
bei der perniziösen Anämie nachgewiesene
Hämatin kann zur abnormen Hautfarbe
beitragen. Eine auf der Ehrlichschen
Reaktion beruhende Methode des Bili¬
rubinnachweises und quantitative Schät¬
zung iri Blutserum ist imstande, einen er¬
höhten Gallenfarbstoff im Blute nach¬
zuweisen und damit die Diagnose sicher¬
zustellen. Mittels dieser Methode ist es
möglich, in Fällen von Bauchschmerzen
zweifelhafter Art in anfallsfreier Zeit und
während des Anfalles einen Unterschied
im Bilirubingehalt nachzuweisen und da-,
durch die Diagnose sicherzustellen. Es
hat sich herausgestellt, daß das Blut¬
serum bei der perniziösen Anämie —
wenigstens wenn sich nicht eine Re¬
mission vorfindet, also in den Stadien
des übernormalen Blutkörperzerfalles —
eine Erhöhung des Bilirubinspiegels im
Blute besteht. Bei allen sekundären
Anämien, insbesondere beim Carcinom
ist der Serumbilirubingehalt erniedrigt.
In diesem Unterschiede besitzen wir ein
außerordentlich wichtiges differential¬
diagnostisches Merkmal zwischen diesen
beiden Gruppen von Krankheitszuständen.
Es hat sich weiter herausgestellt, daß es
mittels der erwähnten Methode leicht ge¬
lingt, das im Blute kreisende Bilirubni
des früher hämolytisch genannten Ikterus
(der heute wohl besser dynamischer Ik¬
terus genannt werden dürfte) von dem
Bilirubin des Stauungsikterus zu unter¬
scheiden. Es werden einige aus diesem
Verhalten hervorgehende praktisch-kli¬
nische Folgerungen .sowie die Auffassung
über das Zustandekommen der physio¬
logischen Bilirubinämie und des dyna¬
mischen Ikterus besprochen. 0. R.
Über Kohlensäurebäder bei Er¬
krankungen der Kreislaufsorgane sprach
Professor Pässler (Dresden) gelegentlich
eines Fortbildungsvortrags in Karlsbad.
Die Balneotherapie der Kreislauf¬
störungen ist kein unbestrittenes Gebiet
der Heilkunde, wird sie doch selbst in
neuester Zeit noch ’ von manchen als
v/irkungslos bei Herzkranken ganz ab¬
gelehnt, wie dies schließlich bei allen
zunächst nur empirisch gefundenen Heil¬
methoden der Fall ist. Anderseits führt
überschwengliche Fachsehung leicht zu
413
Novembet Die Therapie der
falscher Indikationsstellung und schä¬
digt damit das Zutrauen zur Methode.
Ehe eine wissenschaftliche Kritik mög¬
lich ist, muß man prüfen, ob und welche
tatsächlichen FeststeHungem als Unter¬
lage bisher vorhanderi sind. Dabei
ergibt sich, daß Bäder, und namentlich
die salzhaltigen C 02 -Bäder, zweifellos
Veränderungen des Kreislaufs hervorzu¬
bringen vermögen. Die uns bis jetzt
bekannten analysierbaren und me߬
baren Veränderungen erlauben aber noch
nicht, eine bestimmte Erklärung dafür
zu geben, auf welchem Wege die so oft
beobachteten großen Heilwirkungen einer
Badekur zustande kommen. Die früher
häufig gemachte Annahme, daß die Heil¬
wirkung der COo-Bäder durch Herz¬
übung oder Herzspannung zu er¬
klären sind, ist unbewiesen und unbe¬
friedigend. Die Heilwirkung beruht viel¬
mehr darauf, daß das einzelne Bad
durch die Gesamtheit seiner Kreislaufs¬
wirkung eine wenn auch zunächst geringe
und nur ganz vorübergehende Ver¬
besserung der Blutverteilung und Strö¬
mungsverhältnisse herbeiführt und da¬
durch den Circulus- vitiosus durchbricht,
welcher bei Entstehung jeder Herz¬
insuffizienz sofort entsteht, indem das
insuffiziente Herz auch die eigene Durch¬
blutung nicht mehr in normaler Weise
gewährleistet. Aus dieser Auffassung
von der Theorie der Badewirkung bei
Herzleiden ergibt sich auch die Indi¬
kationsstellung. Sie erstreckt sich da¬
nach auf diejenigen Zustände, welche
einerseits mit Herzinsuffizienz verbunden
sind, anderseits keine Überanstrengung
des Herzens durch die mit jedem Bade
verbundenen Anforderungen an das Herz
bedingen. 0. R.
Die von Li ns er eingeführte Lues¬
behandlung mit Salvarsan-Sublimat
hat den Nachteil, daß dem Organismus nur
eine recht geringe Menge Hg (pro Kur zirka
1,0 g) zugeführt wird. Es ist infolgedessen
in verschiedenen Fällen nach einigen
Monaten zu klinischen und serologischen
Rezidiven gekommen. Versuche miL
höheren Sublimatdosen führten bei fort¬
laufender Behandlung zu solchen Ver¬
härtungen der Venen, daß eine solche Kur
nicht durchführbar war. Bruck und
Becker haben an Stelle des Sublimats
ein lösliches Hg-Präparat gewählt, das
neben lokal guter Verträglichkeit die
Einführung relativ hoher Hg-Dosen er¬
möglicht, das NovasuroK Es handelt sich
Gegenwart 1920
um ein Doppelsalz mit einem Gehalte
von 33,9% Hg, das in Ampullen zu 2 ccm
der 10%igen Lösung = 0,068 Hg in den
Handel kommt. Die Technik der Be¬
handlung ist derart, daß. nach der üb¬
lichen Lösung der zu verwendenden Neo-
salvarsandose diese in die Glasspritze auf¬
gezogen und das Novasurol nachgesogen
wird. Nachdem man uingeschüttelt und
eine halbe Minute gewartet hat, injiziert
man intravenös, wobei die grünliche
Farbe der Mischung das in die Spritze
einströmende Blut nicht verdeckt. —
Verfasser haben in ^keinem ihrer 59 so
behandelten Luesfälle eine Schädigung
der Venenwand noch sonstige Zwischen¬
fälle feststellen können. Die klinischen
Erscheinungen gingen rapid zurück, ebenso
war die serologische Beeinflussung durch¬
aus günstig Bei Männern wurden im
ganzen 4 g Neosalvarsan + 0,4—0,5 g
Hg, bei Frauen 3—3,5 g Neosalvarsan
-f 0,4 g Hg gegeben. .
Kamnitzer (Berlin).
(M. m. W. 1920, Nr. 31.)
Gegen den Bacillus des weichen
Schankers hat R een stier na ein Anti¬
streptokokkenserum durch intravenöse In¬
jektionen von abgetöteten und lebenden
Streptobacillenkulturen bei Schafböcken
hergestellt und damit zirka 100 Fälle
von Schankerbubonen behandelt. Dabei
zeigte sich, daß nach intramuskulärer
Injektion von 10 ccm Serum eine, ent¬
schiedene Besserung mit ausgesprochener
Abnahme von Schmerz, Schwellung und
Rötung eintrat. Eine Steigerung der
Wirkung erzielte Verfasser bei Zusatz
einer bestimmten Menge abgetöteter
temperaturerhöhender Bakterien (z. B.
Typhusbacillen) zum Serum. Sämtliche
mit diesem Präparat behandelten Fälle
von vorher nicht geschnittenen oder auf¬
gebrochenen Bubonen sind in ganz un¬
gewöhnlich kurzer Zeit — durchschnitt¬
lich etwas über eine Woche — zur Hei¬
lung gelangt —-bis auf 7, bei denen bei
genauer Untersuchung im Punktionseiter
Staphylokokken festgestellt wurden. In
der Regel genügten zwei Injektionen m.it
vier bis fünf Tagen Zwischenzeit. In
keinem Fall kann es zum Rezidiv. Das
weiche Schankergeschwür wird durch das
Serumpräparat gleichfalls sehr günstig
beeinflußt, doch empfiehlt es sich, es
gleichzeitig durch Wegkratzen unter¬
minierter Ränder, Kupfersalbe und der¬
gleichen zu behandeln. Die Ungelegen-
heiten bei der Serumbehandlung sind:
414
Die Therapie der Gegenwart 1920
Novemb^er
Schüttelfrost und hohes Fieber nach der
Injektion, beträchtliche, einige Tage fort¬
bestehende Empfindlichkeit an der In¬
jektionsstelle (Glutäalmuskulatur) und
bisweilen vorübergehende Empfindlich¬
keit in regionären Leistenlymphdrüsen.
Kamnitzer (Berlin).
(M.m. W. 1920, Nr. 31.)
Eine Übersicht über den jetzigen Stand
der Strahlenbehandlung in der Münchener
Frauenklinik (Prof. Dö der lein) gab
Seuffert im Cyclus der Karlbader Fort¬
bildungsvorträge. D%s erste Frauenleiden,
das mit Erfolg mit Röntgenstrahlen ange¬
gangen wurde, waren die Blutungen in
den Wechseljahren. Mit geringer Strah¬
lenintensität sind diese mit einigen Be¬
strahlungen zu heilen. Blutungen jün¬
gerer Frauen, Blutungen bei Myomen
erfordern eine stärkere Strahlenmenge.
Auch hier ist ein Erfolg der Bestrahlung
vollkommen sicher. Selbst bei solchen
Myomen, die Kompressionserscheinungen
auslösen, kann man durch Bestrahlung
Erfolge erreichen, die sich bereits nach
der ersten Bestrahlung, lange bevor noch
die Blutungen aufhören, im Verschwinden
der Kompressionserscheinungen mani¬
festieren. Die besten Erfolge zeitigt die
Bestrahlung bei der Dysmenorrhöe.
Während früher eine Totalexstirpation
des Uterus und der Ovarien das einzige
Hilfsmittel darstellte, um die Frauen von
ihren Schm-erzen zu befreien, gelingt es
jetzt durch Bestrahlung eine Oligomenor-
rhöe zu erzielen, beziehungsweise soweit
zu kommen, daß die Blutungen voll¬
kommen aufhören. Selbst wenn die
Blutung wiederkehrt, treten keine
Schmerzen auf. Mangelhaft oder gar
keine Erfolge erzielt man dann, wenn es
sich um cystische Ovarialtumoren oder
entzündliche Adnextumoren handelt. Bei
Carcinomen muß man eine hohe Dosis
wählen und das ganze erkrankte Gebiet
unter die Carcinomdosis stellen. Würde
man nur den primären Herd bestrahlen,
so würde dies nur einen Reiz für das
Wachstum des Carcinoms bilden und das
Carcinom selbst rapid weiter um sich
greifen. Daher wird auch durch die hohe
Dosis jenes Gebiet unmittelbar betroffen,
in welchem sich das Rectum befindet,
und dieser Umstand stellt eben eine
Komplikation dar, die aber in Anbe¬
tracht der Lebehsgefahr, welche durch
ein weiteres Vordringen des Carcinoms
bedingt ist, außer acht gelassen werden
muß. Die Schädigungen des Rectums
(Geschwüre, Fisteln), welche sich infolge
der Strahlentherapie zu 'Anfang ergaben,
betrugen 9 %, während bei der Operation
10 % zu verzeichnen waren. Infolge der
verbesserten Methoden aber sind seit
zwei Jahren an der Münchener Klinik
überhaupt keine Schädigungen des Rec¬
tums zu verzeichnen gewesen. Noch be¬
deutungsvoller aber ist das fast voll¬
kommene Fehlen einer akuten Lebens¬
gefahr, während doch bei Operationen die
primäre Mortalität 10—15 % betrug.
Auch' inoperable Carcinome muß man un¬
bedingt bestrahlen, da insofern eine
Besserung eintritt, als die Blutungen,
Eiterungen und Schmerzen aufhören.
Aus diesen Gründen werden an der medi¬
zinischen Klinik Myome überhaupt nicht,
Carcinome nur in den seltensten Fällen
operiert. Seit dem Jahre 1913 gelangten
über 1000 Fälle von Carcinom zur Beob¬
achtung. Von solchen Fällen, die durch
Operation überhaupt nicht hätten ge¬
rettet werden können, sind noch 14 %
durch Bestrahlung dem Leben erhalten
wordjen und seit fünf Jahren beschwerde¬
frei geblieben. Gut operable Carcinome,
welche in 40 % der Fälle durch Operation
erhalten bleiben, wurden in 50 % durch
Bestrahlung geheilt. Auch Carcinome
der Mamma und des Rectums kamen zur
Bestrahlung, 4 Mammacarcinome wurden
dauernd durch Radium geheilt, zwei hier¬
von, bei denen die Axillardrüsen schon
sehr stark infiltriert waren. ' Von zwei
Rectumcarcinomen wurde das eine,
welches für den eingeführten Finger nicht
mehr passierbar war, nach einer zwei¬
maligen Radiumeinlage dauernd geheilt.
— Auch Pruritus vulvae und Bauchfell¬
tuberkulose sind dankbare Objekte für
die Strahlentherapie. 0. R.
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Zur Anwendung des Trypaflavins bei septischen Aborten.
Von Dr. A. Mahlo, Hamburg.
Die gute Wirkung des Trypaflavin bei I seine Anwendung bei septischen Aborten
septischen Prozessen ist bekannt. Ich j hinweisen. Wir leben augenblicklich in
möchte mit diesen Zeilen besonders' auf [ einer Epidemie von Aborten. Die Scham-
November
Die Therapie der Gegenwart 1920
415
losigkeit, mit der die Abtreibung öffent¬
lich betrieben wird, kann kaum über¬
boten werden. Es gibt hier Frauen, die
gehen wirklich hausieren und bielen sich
als Abtreiberin den Frauen an. Seit der
Einführung eines pilzartigen Stiftes haben
viele, besonders manuell geschickte
Frauen, die Möglichkeit, jederzeit selbst
abzutreiben. Hand in Hand damit
steigen die septischen Aborte. Mir selbst
gehen im Monat etwa 30^—35 Aborte
durch die Finger, die meisten sind einge¬
leitet, sei es durch einen Fall, oder durch
Spritzen, durch Stift, oder sonstwie. Etwa
5 % verlaufen davon septisch. Ein Be¬
weis, wie gut die Frauen mit dem Ab¬
treiben jetzt umzugehen wissen. Seit
einem halben Jahre verwende ich nun
bei allen septischen Aborten Trypaflavin
intravenös. Meine Erfahrungen waren
über Erwarten gut. Ich habe nach zwei
bis drei Spritzen von 0,025/5 ccm Abfall
des Fiebers, Nachlassen der Schüttelfröste
regelmäßig gesehen. Das Anwendungs¬
gebiet habe ich in der Folgezeit erweitert.
Ich spritze jetzt bei jedem Abort, der
verdächtig riecht, gleich im Anschlüsse
an die Ausräumung mit der Curette eine
Ampulle Trypaflavin ein. Seitdem ich
dies mache, ich spreche von einer Er¬
fahrung von etwa 20 Fällen, habe ich
keinen ‘ septischen Abort' mehr gesehen.
Meines Erachtens gehört in die Tasche
eines jeden Arztes, der viel mit Abort¬
ausräumungen zu tun hat, eine 10-ccm-
Spritze und Trypaflayinampullen.
Anaesthesin als entzündungswidriges Mittel.
Von Geh. San.-Rat Dr. P. Gast, Berlin.
Bü einem Falle von Stomatitis und
Glossitis, bei dem die stark geschwollene
Zunge das Sprechen und Schlucken aufs
äußerste behinderte, trat in wenigen
Minuten erstaunliche Besserung der Be¬
schwerden durch Anwendung von An-
ästhesin ein. Ein halbes Gramm wurde
in einem Eßlöffel Olivenöl verrührt und
zum Bepinseln der Zunge verwendet.
Der Rest wurde allmählich verschluckt.
Der. Erfolg war ein nachhaltiger.
Solarson bei Herzkrankheiten.
Von Dr. Walter Cohn, Berlin.
Außerordentlich günstige Erfolge, die
ich in mehreren Fällen von Herzkrank¬
heiten mit Hilfe des Arsenpräparats Sol¬
arson erzielte, veranlassen mich zu deren
Bekanntgabe, zugleich als Aufforde¬
rung einer Nachprüfung in ähnlichen
Fällen.
Bei den Arsenpräparaten, die wir bei
Infektionskrankheiten gegen deren Er¬
reger verwenden, sind wir uns bewußt,
daß der chemischen Konstitution eine
besondere Bedeutung zukommt. Bei den
Infektionskrankheiten können wir die
verschiedenen Präparate rm Laboratorium
nach ihrer Wirksamkeit miteinander ver¬
gleichen und verfügen so über eine Me߬
methode, nach der wir bis zu einem ge¬
wissen Grade auch für die klinische Ver¬
wendung uns ein Urteil über die mehr
oder mindergroße Wirksamkeit bilden
können. Wir wissen heute, daß es keines¬
wegs, z. B. bei der Behandlung der Lues
mit Arsen, nur darauf ankommt, das¬
selbe in möglichst verträglicher Form
und etwa in möglichst großen Dosen ein-
zuführen, sondern daß die Form und
die chemische Bindung, mit der das
Arsen dem Körper geboten wird, von
allergrößtem Einfluß auf dessen Wirk¬
samkeit ist. — Auffallenderweise haben
sich aber die gleichen Vorstellungen bei
der auch sonst so häufig geübten Arsen¬
therapie bisher nicht durchgerungen. Wir
sind da meines Erachtens noch zu sehr
gewohnt, alle Arsenpräparate, so wie sie
nur bekömmlich sind, mehr oder weniger
gleichzusetzen. Wohl hat eine ganze
Anzahl von Forschern sich bemüht, Licht
in die Art der Arsenwirkung zu bringen.
Es hat sich dabei aber meines Wissens
nie darum gehandelt, Arsenpräparate ver¬
schiedener Konstitution miteinander zu
vergleichen, sondern es sind meistens die
Untersuchungen mit ein und demselben
Präparat durchgeführt worden. So ar¬
beitete Bettmann mit Acidum arseni-
cosum an Kaninchen, Kuhn und Alden¬
hoven an Meerschweinchen mit Atoxyl.
Auf den Chemismus der Wirkung ist
meines Wissens bisher nur Heffter in
seinen Untersuchungen über die Wirkung
der Kakodylate eingegangen. Er hat
gezeigt, daß Magendarmschleimhaut,
Muskeln, Nieren und Leber die einge-
416
Die Therapie der Gegenwart 1920
• November
führte Kakodylsäure zu Kakodyloxyd
oder Kakodyl zu reduzieren vermögen,
daß aber höchstwahrscheinlich diese bei¬
den Produkte für die Therapie unwirksam
bleiben und daß beim Kakodyl nur das
Arsen zur Wirkung kommt, das im
Körper als arsenige Säure beziehungs¬
weise als Arsensäure abgespalten wird.
Solche Gedanken drängen sich mir
aus' riieinen praktischen Erfahrungen ge¬
radezu auf. Wir haben wohl eine ganze
Reihe gutverträglicher Arsenpräparate,
die alle eine gewisse Wirkung zeigen, aber
die Unterschiede in dem Grade der Wirk¬
samkeit sind doch ganz gewaltig. Beim
Kakodyl können wir uns nach Heffters
Untersuchungen eine Vorstellung machen,
warum die Wirkung so unsicher ist. Es
wird eben nur ein kleiner Teil des Prä¬
parats gespalten und für die beabsichtigte
Therapie ausgenutzt. Am besten wirken
meiner Erfahrungnach die Arsenpräparate
Solarson und Elarson, die ihrer Konsti¬
tution nach einer besonderen Klasse von
Arsenverbindungen angehören, die be¬
kanntlich von Emil Fischer entdeckt
sind. Ich habe jedoch den Eindruck, daß
das Solarson, das zudem eine subcutane
Einspritzung ermöglicht, in seiner Kon¬
stitution noch vorteilhafter ist als das
auch schon recht gute Elarson. Mag sein,
daß schon die perorale Zuführung beim
Solarson genügt, es überlegener erscheinen
zu lassen. Erklärt doch Kunkel den
Unterschied in der Wirkung oraler und
SLibcutaner Arsentherapie damit, daß eine
gewisse Menge Arsen in den unteren
Darmabschnitten durch Schwefelwasser¬
stoff als Schwefelarsen unwirksam ge¬
macht wird, und E. v. Hoffmann hat
dieses Schwefelarsen ja auch tatsächlich
nachgewiesen. — Jedenfalls muß ich be¬
tonen, daß ich gleich gute Resultate wie
mit dem Solarson mit keinem anderen
Präparat erzielt habe und deshalb über¬
zeugt bin, daß dessen Konstitution von
wesentlichem Einfluß bei der Wirkung
ist. Geradezu frappierend war diese bei
etwa zehn Fällen von Myokarditis und
Herzmuskelschwäche, von denen ich drei
gekürzte Krankengeschichten hier an¬
schließe:
Fall 1: Patientin K-, 22 Jahre alt, stark
anämisch, schwerer Gelenkrheumatismus vor
einigen Jahren, klagt über heftige Herzbeschwer¬
den, Schwindel und Ohnmachtsanfälle. Die
Untersuchung ergab blasse Schleimhäute, Puls
schlaff ohne elastischen Druck, Herztöne unrein,
Herztätigkeit unregelmäßig, Patientin war arbeits¬
unfähig. — Nach 16 Spritzen fühlt sich Patientin
bedeutend,wohler. Puls elastisch, Herztöne reiner.
Am Ende der Kur, nach 24 Spritzen kaum noch
Erscheinungen am Herzen zu merken. Patientin
arbeitet in einer • Druckerei eine ziemlich schwere
Arbeit. — Kur datiert sechs Monate zurück, bis
heute Wohlbefinden und Arbeitsfähigkeit.
Fall 2: Fräulein Sch. klagt über heftige Herz¬
stiche, ungemeine Schwäche, kann kaum die
Treppen zu ihrer Wohnung herauf steigen. Puls
klein, Herztöne unrein. Am Ende der Kur Puls
elastisch, Herztätigkeit etwas schneller als- normal.
Herztöne völlig rein. Patientin ist wieder im¬
stande, ihre Wirtschaft zu' besorgen und ohne
Beschwerden Treppen zu steigen.
Fäll 3: Drogist K., blasser, etwas auf geschwom¬
mener Patient mit matter Herztätigkeit, klagt
über sehr große Schwäche, Appetitlosigkeit und
öftere Ohnmachtsanfälle. Puls klein unregelmäßig
und ohne Elastizität. Herztöne dumpf, Herz
nach links um einen Finger breit erweitert. —
Nach 24 Spritzen Solarson ist Patient fast völlig
hergestellt. Puls regelmäßig und voll, hat guten
Appetit, an Gewicht zugenommen und fühlt sich
seelisch und körperlich wie neu geboren.
Es ist nun die Frage, worauf die
frappante Wirkung des Solarson in diesen
und zahlreichen analogen Fällen von
Herzschwäche zurückzuführen ist. Eine
Einwirkung auf den Herzmuskel selbst,
wie sie Digitalis und teilweise Coffein
ausübt, ist ja nicht anzunehmen. Es ist
vielmehr wahrscheinlich, daß die Stär¬
kung des .Herzmuskels indirekt zustande
kommt, indem der Tonus der die Herz¬
muskelarbeit regulierenden Nerven ge¬
stärkt wird. Außerdem ist die Einwirkung
auf die psychischen Faktoren, auf die
allgemeine Fühllage, in Betracht zu ziehen,
die mehr oder weniger allen Arsenpräpa¬
raten zukommt und die beim Solarson
ganz besonders ausgesprochen ist. Von
einer Hebung des Kraftgefühls profitieren
sicherlich auch die Herznerven und die
Herzkraft. Schließlich ist zu bedenken,
daß durch die Solarsonwirkung die Hem¬
mungen der Angstgefühle und krankhaften
Vorstellungen fortfallen, welche vorher
ungünstig auf die Herzarbeit eingewirkt
haben.
In der deutschen Literatur ist die
Herzwirkung des Arsens nirgends er¬
wähnt, dagegen finde ich bei dem eng¬
lischen Kliniker Gibson^) die Be¬
merkung, daß Arsen ein vorzügliches
Herztonicum ist.
Die nervösen Erkrankungen des Herzens,
übersetzt von Heller-Volhard, S. 48.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemp erer in Berlin. Verlag von Urban&Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, BerUn W57.
Die Therapie der Gegenwart
herausgegeben von
61- Jahrgang gej,, Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
Neueste Folge. XXII.Jahrg. BERLIN
W 62 , Kleiststraße 2
12. Heft
Dezember 1920
Verlag von URBAIN & SOHWABZETSTBBIIG in Berlin K 24 und WienI
DieThjerapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementspreis halbjährl ch
15 Mat;k, Ausland 40 Mark. Einzelne Hefte^ 3 Mark, Ausland 8 Mark. Man abonniert bei allen
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Therapie der Gegenwart. Anzeigen.
12. Heft
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hagen i. d. Mark, über: „Dr. med. Leichen’s Moorextrakt (Moorlauge)“ und der Verlagsbuchhandlung Urban & Schwarzenberg,
, Berlin N24 und Wien, über das „Wiener Archiv für innere Medizin“.
Die Therapie der Gegenwart
1920
herausgegeben von üeh, Med.-Rat Prof. Dr. ö. Klemperer
in Berlin.
Dezember
Nachdruck verboten.
Wesen und Behandlung der dauernden vasculären Hypertonie^).
Von Prof. Dr. Egmont Münzer, Prag.
Der normale maximale Blutdruck des
•erwachsenen Menschen, das heißt der
Druck, bei welchem der Puls in der Arteria
radialis nicht mehr getastet wird, beträgt
nach Riva-Rocci gemessen, 110—140
mm H"g. Er kommt zustande durch den
Widerstand, den das Blut beim Ein¬
strömen in das Capillarsystem findet;
wir können diese Tatsache auch anders
-ausdrücken und sagen, der Blutdruck
ist die Folge des Widerstandes,
er ist eine Funktion des Wider¬
standes. . Den Beweis hierfür bieten
uns' die Messungen des Blutdrucks an
verschiedenen Stellen des Gefäßsystems.
Wenn wir den Blutdruck bei einem Men¬
schen gleichzeitig nach Riva-Rocci am
Oberarm und nach Gärtner am Finger
bestimmen, finden wir fast die gleichen
Zahlen, oder mit anderen Worten, der
Blutdruck nimmt von der Aorta bis zur
Peripherie nur wenig ab. Erst im Ca-
pillargebiete sinkt er jäh auf einen Wert
von 7—10 mm Quecksilber, wie dahin
.gerichtete eigene Untersuchungen der
Physiologie gelehrt haben. Das ist also
der Beweis für die oben ausgesprochene
Behauptung.
Bei einer Reihe von Menschen finden
wir den maximalen Blutdruck niedriger
als nonnal, z. B. 85—90—100 mm Hg.;
diese Menschen zeigen also eine Hypo¬
tonie. Wir müssen annehmen, daß der
Gesamtwiderstand, den das Abströmen
des Blutes in und durch die Haargefäße
findet, geringer ist als normal. Das
braucht kein krankhafter Zustand zu
sein, sondern kann konstitutionell bedingt
sein, obwohl auch viele besonders kon-
sumptive Krankheitszustände bekannt
sind, die mit so erniedrigtem Tonus der
Gefäße einhergehen. Als wesentlichstes
Symptom kennen wir diese Hypotonie
beim Morbus Addison. Eine solche Hypo¬
tonie verlangt im allgemeinen zur Aufrecht-
^rhaltung normaler Circulation schon im
Ruhezustände ein (etwas) vergrößertes
Nach einem im ärztlichen Fortbildungs¬
kurse der deutschen medizinischen Fakultät in
Prag am 12. Okt-ober 1920 gehaltenen Vortrage.
Schlagvolumen des Herzens, woraus sich
wohl die verminderte Arbeitsfähigkeit
solcher Menschen erklären dürfte (1). An¬
dererseits finden wir Menschen, bei denen
die Messung des Blutdruckes eine wesent¬
liche Erhöhung ergibt, der Blutdruck
200—250 mm Quecksilber und noch mehr
beträgt. Mitunter sehen wir diese Blut¬
druckerhöhung wieder schwinden; die
Widerstandssteigerung, die zur Blut¬
druckerhöhung fwhrte, war eine nur vor¬
übergehende. Wir beobachten solche
Erscheinungen, abgesehen von der ur¬
ämischen Blutdrucksteigerung akuter Ne¬
phritis, auf die ich noch zu sprechen
komme, besonders bei schmerzhaften Zu¬
ständen; ich sah dies bei Nierenkolik,
bei Ischias, bei Magenkrämpfen infolge
Übersäuerung. Es handelt sich hier
offenbar um auf dem Wege des Nerven¬
systems zustande gekommene reflek¬
torisch ausgelöste Widerständssteige-
rungen, beziehungsweise Verengerungen
des peripheren Capillargebietes. Pal (2)
hat diesen Zuständen seine besondere
Aufmerksamkeit geschenkt und sie als
Gefäßkrisen beschrieben.
Häufig aber finden wir eine solche
Bludrucksteigerung dauernd bestehen, ja
der Blutdruck steigt mitunter unter
unserer Beobachtung zu außerordent¬
licher Höhe. Was liegt dieser dauern¬
den Hypertonie zugrunde? Wir
gehen nicht fehl, wenn wir eine dauernde
Verengerung eines größeren Teiles des
Arteriolo - Capillargebietes annehmen.
Werden die Haargefäße enger, dann wird
der Widerstand'für das Einströmen des
Blutes erhöht und die Summe dieser
erhöhten Einzelwiderstände gibt eine Er¬
höhung des Gesamtwiderstandes, eine
Steigerung des Blutdruckes. Je weiter
die Verengerung im Arteriolo-Capillar-
system fortschreitet, desto größer ist die
Widerstandssteigerung, desto höher der
Blutdruck.
Diese Steigerung des Blutdruckes muß,
falls sie dauernd ist, zu weiteren Ver¬
änderungen führen: 1. Die Herzarbeit
wird gesteigert. Die Herzarbeit ist
418
Die Therapie der Gegenwart 1920
Dezember
gegeben durch das Produkt von Schlag¬
volumen und Blutdruck. Gesteigerter
Blutdruck bedeutet also gesteigerte Herz-
muskelarbeft; der Herzmuskel, und zwar
der linke Ventrikel — wir sprechen ja
vom Capillarsystem der Aorta — hyper-
trophiert. Diese Hypertrophie können wir
durch die Perkussion nicht nachweisen,
weil, worauf Fr. Müller (3) aufmerksam
machte, die einfache Hypertrophie, selbst
wenn der Muskel um V 2 cm Dicke zu-/
nimmt, zu gering ist für den Nachweis
durch die Perkussion. Dagegen hat
Munk (4) letzthin behauptet, daß er diese
Hypertrophie durch die Elektrokardio¬
graphie sicherstellen könne. Wenn gar
nicht so selten bei Menschen mit stark
erhöhtem Blutdruck eine Herzvergröße¬
rung deutlich nachweisbar ist, so handelt
es sich fast immer schon um eine gewisse
Schwäche des Herzens, Tier Herzventrikel
ist dilatiert und die Vergrößerung der
Dämpfung ist nicht• bedingt durch die
Hypertrophie des Herzmuskels. Diese
Herzschwäche gibt sich durch die meist
vorhandene beschleunigte Herzaktion zu
erkennen.
2. Die Blutdrucksteigerung führt
weiter zur erhöhten Spannung der
Wand der Arterien. Den Beweis,
daß dem tatsächlich so ist, liefert die Be¬
stimmung der Fortpflanzungsgeschwin¬
digkeit der Pulswelle. Für diese hat
Newton die Grundbedingungen erkannt
und Hoorweghatfür die Fortpflanzungs¬
geschwindigkeit die Fornrel gegeben:
1 / 1 /o E ^
c = %.\/2gx —
Wir sehen aus dieser Foimel, daß die
Geschwindigkeit c wesentlich von E, vom
Elastizitätsmcdulus, abhängt-). Eigene
Untersuchungen, die ich zur Beantwor¬
tung dieser Frage anstellte, zeigten mir,
daß die Fortpflanzungsgeschwindigkeit
der Pulsw'elle bei normalem Blutdrucke
9—12 m in der Sekunde beträgt, bei er¬
höhtem Drucke aber auf 16—20 m und
darüber ansteigt. Es ist also bei stark
erhöhtem Drucke tatsächlich eine erhöhte
Gefäßspannung vorhanden.
3. Schließlich muß eine solche Ver¬
engerung des Capillarsystems zu einer
Störung des Stoffaustausches führen:
Das Blut strömt mit einer Geschwindig¬
keit von 300 mm in der Sekunde durch
2) Die Wanddicke d, der innere Radius des
Gefäßes r und das spezifische Gewicht des Blutes ^
sind so kleine Werte, daß ihre Veränderungen
chne nennenswerten Einfluß auf c bleiben.
1 , z= 1/2 mn»
Qx.
Fig. 2.
die Carotis, das heißt in der Sekunde
strömt durch die Carotis ein ßlutcylinder,
dessen Basis der Querschnitt der Carotis
(Q), dessen Länge (1) i = 300 mm
300 mm ist (Fig. 1). q/n -/Vq
In der Cruralis ist die ^
Strömungsgeschwin-
digkeit 200 mm in der Sekunde. Je weiter
wir nun in die. Peripherie kommen, um
so langsamer strömt das Blut, das heißt
die Blutbahn wird, je näher wir gegen
die Peripherie kommen, um so
breiter. In den Capillaren strömt
das Blut mit einer Geschwindig¬
keit von nur % mm in der Se-
künde (Fig. 2, l^) und da in der-
Zeiteinheit dieselbe Menge durch
die Aorta, wie durch das Capillar- ^
System fließen muß, können wir
schließen, daß das Strombett im
Bereiche des Capillarsystems
zirka 600 mal so groß ist, als a
im Bereiche der Carotiden. Be¬
zeichnen wir mit Q den Quer¬
schnitt der Carotis, mit den
Querschnitt des Capillargebietes, so muß^
300 X Q = % X Ql oder mit anderere
Worten Qi = 600 Q. Diese außerordent¬
lich langsame Strömung im Capillargebiet
ist nötig, weil ja hier der Stoffaustausch
zwischen Blut und Geweben stattfindet,,
hier tritt der Sauerstoff aus dem Blute in
die Gewebe und die Kohlensäure aus dem
Geweben in das Blut. Ein dauernd er¬
höhter Blutdruck bedeutet nun, wie wir
gesehen haben, eine Verengerung eines
großen Teiles der Capillargefäße, eine-
Steigerung der Einzelwiderstände, die so
groß sein muß, daß eine eventuelle Ent¬
spannung der restlichen, gesunden Ca¬
pillaren keinen Ausgleich darstellt, der
Widerstand also erhöht, der Blutdruck
dauernd vergrößert bleibt. Die Summe
nun der Querschnitte dieser verengtem
Capillaren, ven denen ein großer Teil
bis zum vollen Verschlüsse des Lumens
verengt ist und schwindet,
gibt nun natürlich ein kleineres
Strombett, das heißt, dieser
Quet'schnitt Qo (Fig. 3), ist
kleiner als Q^ und umgekehrt L I
entsprechend größer als li, denn,
falls die Blutmenge unverändert
geblieben ist, muß das Blut, soll
dieselbe Menge in der Zeiteinheit
wie früher durchfließen, rascher
strömen. Da nun gleichzeitig die Gesamt¬
oberfläche der verengten Capillaren kleiner
ist als unter normalen Verhältnissen, er¬
folgt auch der Gasaustausch und Stoff-
Fig. 3.
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1920
419
Wechsel zwischen Blut' und Geweben
innerhalb einer kleineren Fläche und unter
rascherem Vorbeiströmen des Blutes, zwei
Momente, die den , Stoffaustausch und
vor allem den Gaswechsel zwischen Blut
und Geweben wesentlich beeinträchtigen.
Es wird uns daher nicht wundernehmen,
zu beobachten, daß der Organismus sich
vor einer Schädigung des Gasaustausches
in solchen Fällen dadurch zu schützen
trachtet, daß die Zahl der Sauerstoff¬
träger in der Volumeinheit des Blutes
vermehrt wird.. Es kommt häufig zu
einer, wenn auch nicht beträchtlichen
doch deutlichen Polycythämie. Geis-
böck hat diese Polycythämie bei Hyper¬
tonie als der Erste beschrieben, hat sich
aber über den Zusammenhang, der zwi¬
schen Hypertonie und Blutkörperchen¬
vermehrung besteht, nicht geäußert. Ich
glaube, daß die von mir gegebene Deutung
die Verhältnisse klärt. Wir haben damit
jenes Krankheitsbild zu Ehren gebracht,
das einst unter dem Namen des apoplek-
tischen Habitus eine große Rolle
spielte.
Wir haben bisher die Erscheinungen
besprochen, die allgemein als Folgen einer
Verengerung des Arteriolo - Capillarsy-
stems anzusehen sind. Die Aorta löst sich
capillar in allen Geweben und Organen
des Körpers" auf, eine Erkrankung ihres
Capillarsystems bedeutet also eine Er¬
krankung im ganzen Körper. Allerdings
brauchen die Capillaren in den verschie¬
denen Organen nicht in gleicher Aus¬
dehnung erkrankt zu sein; bald wird
das Capillarsystem dieses, bald das jenes
Organs besonders von der Erkrankung
ergriffen und je nachdem wird das Krank¬
heitsbild der Hypertonie noch besondere
Lokalzeichen aufweisen: Bald bieten
solche Kranke, wenn die Hirngefäße be¬
sonders beteiligt sind, Erscheinungen, die
an Paralysis progressiva erinnern (wie dies
besonders bei geistigsehr tätigen Menschen
zu beobachten ist), bald wieder, wenn die
Capillaren des Herzmuskels besonders er¬
krankt sind, sehen wir Störungen dieses
Organes auftreten (Pulsus alternans), dann
wiederum sind es Erscheinungen am
Auge (Netzhautblutungen) oder in einem
anderen Falle eine, Glykosurie, die unsere
Aufmerksamkeit erregt. In vielen Fällen
sind Veränderungen am Harne vorhanden.
Bei der Allgemeinerkrankung des Capillar¬
systems erscheint es selbstverständlich,
daß in allen Fällen auch ein paar Capil¬
laren in den Nieren erkrankt sind. Da
nun die Harnuntersuchung fast stets ge¬
übt wird, wurden die Veränderungen des
Urins am ehesten und stets festgestellt.
Und nun glaubten die Ärzte in der
Nierenerkrankung die Ursache der Blut¬
drucksteigerung vor sich zu haben;
Nierenerkrankung, so lautete die
Lehre, führe zur Blutdrucksteige¬
rung. Aber das Experiment zeigte, daß
Entfernung einer, ja fast beider Nieren
ohne Blutdrucksteigerung verläuft. Dann
wieder sah der Arzt schwerste Blutdruck¬
steigerungen, die ihn zur Diagnose einer
schweren Nierenschrumpfung veranlaßte,
während . die Autopsien fast gesunde
Nieren ergaben, und schließlich lehrte die
Blutdruckmessung, daß schwerste paren¬
chymatöse Nieren erkrankung, Nephro¬
pathie, ohne jede Blutdrucksteigerung ab¬
läuft, ja nicht allzu selten mit Blutdruck¬
senkung einhergeht. So wurde allmählich
die Kritik geweckt, bis endlich die Zweifel
an der Lehre, daß die Blutdrucksteigerung
von der Nierenerkrankung abhänge, nicht
mehr überwunden werden konnten und die
alte Gull-Suttonsche Lehre in etwas
geänderter Gestalt neu auflebte. Alle
eben genannten Schwierigkeiten fallen
weg, bei der Annahme, daß die dau¬
ernde vasculäre Hypertonie Folge
sei einer bisher nicht genug gewür¬
digten Systemerkrankung, einer
Erkrankung des Arteriolo-Capil-
larsystems, die Schrumpfniere nicht
Ursache sondern Folge und Teil-
erscheinung dieser Capillarerkrankung
darstelle. Diese Anschauung gewinnt
denn auch immer allgemeinere Aner¬
kennung. Meinungsverschiedenheiten be¬
stehen nur noch in der Beantwortung
der Frage, was dieser Veränderung des Ca¬
pillarsystems zugrunde liege. Pal (5) und
Munk (5) nehmen einen dauernden funk¬
tionellen Contraktionszustand an; ich
selbst stehe auf dem Standpunkte, daß
es sich um eine anatomische Veränderung,
um eine Sklerosis arteriolo-capilla-
ris oder kurz um CapillarSklerose han-
d'elt. Die Annahme von Pal und Munk
lehne ich aus folgenden Gründen ab: Es
ist unwahrscheinlich, daß ein solch dauern¬
der funktioneller Contraktionszustand im
Schlaf und in der Narkose unverändert
weiterbesteht, daß wiederholte Schlag¬
anfälle mit vollkommener Veränderung
der Psyche des Menschen nichts an dieser
Innervationsstörung ändern. Auch spricht
gegen die Annahme eines solchen funktio¬
nellen Contraktionszustandes, daß ein
solcher Zustand zum vollkommenen
Schwunde irgendeines Organes führen
53*
420
Die Therapie der Gegenwart 1920
Dezember
solle; endlich liegen ja auch reichlich Be¬
funde von anatomischen Veränderungen
der Arteriolo-Capillaren bei vasculärer
Hypertonie vor — ich verweise auf die
Veränderung an den Netzhautgefäßen, in
den Anfangsstadien bei vasculärer Hyper¬
tonie. Es gibt aber noch einen weiteren,
fast möchte ich sagen ausschlaggebenderen
Beweis, die Capillarsklerose im Gebiete
der Lungenarterie. Diese kann um so
leichter und sicherer nachgewiesen werden,
weil hier das ganze Gefäß in einem ein¬
zigen Organe, in der Lunge capillar endet.
Das Krankheitsbild, das der Lungen-
capillarsklerose entspricht, ist, wie ich
schon seit Jahren wiederholt hervorge¬
hoben habe, das wahre Lungenemphysem
und tatsächlich stützen die pathologischen
Untersuchungen eine solche Annahme.
[Posselt; Ljungdahl; Eppiiiger und
Wagner (6)3).]
Welches ist die Ätiologie dieser Capil¬
lar erkrankung?
Die experimentelle Pathologie läßt
uns hier vollkommen im Stiche. Das
kommt daher, daß nicht beachtet wurde,
daß wir im Gebiete der Aorta zwei funk¬
tionell wesentlich verschiedene Anteile zu
unterscheiden haben: die großen Gefäße,
die als Windkessel wirken und das Capil-
largebiet, in dessen Bereich der Stoffaus¬
tausch zwischen Blut und Geweben vor
sich geht. Die experimentelle Pathologie
hat nun kaum begonnen, die Verände¬
rungen der Aorta und der größeren Ge¬
fäße, die Arterio- und Atherosklerose, zu
studieren und die experimentelle Erzeu¬
gung dieser Erkrankung steht noch ganz
im Beginne der Erforschung. Wieviel
mehr gilt dies für die Erkrankungen des
Capillarsystems.
Die letzten Jahre haben uns eine
Methode an die Hand gegeben, die ge¬
stattet, Veränderungen im Capillarsysteme
zu studieren, die Capillaruntersuchungs-
methodik; sie ist vielleicht bestimmt, uns
in absehbarer Zeit die wertvollsten Er¬
kenntnisse zu verschaffen. Bis dahin
müssen wir uns mit dem begnügen, was
klinische Beobachtung lehrt. Da wissen
wir denn, daß manche Infektionskrank¬
heiten mit Erkrankung der Capillargefäße
der Haut einhergehen; ich erinnere an
das Fleckfieber und vor allem an den
Scharlach. Bei der Blutdruckmessung
Scharlachkranker beobachtete man ähn¬
lich, wie bei Menschen, die an schwerer
3) SieheMünzer: Gefäßsklerosen (Wien. Arch.
f. inn. Med. 1920, Bd. II, S. 1).
Capillarsklerose erkrankt waren,, das Auf¬
treten vielfacher punktförmiger Haut-
blutungeh distal von der Manschette (7).
Diese Beobachtung besitzt große Bedeu¬
tung; sie zeigt, daß bei Scharlachkranken
die Capillargefäße affiziert sind, und legt
die Möglichkeit nahe, daß die hier so
häufig zu beobachtende Nierenerkran¬
kung nur Teilerscheinung der all¬
gemeinen Capillaraff ektion ist.
Könnte es nicht sehr wohl sein, daß
die Nierenentzündung solcher Kranken
im wesentlichen abheilt, während die
Capillaraffektion schleichend, an den
übrigen Körperorganen (der Haut) weiter¬
bestehen bleibt, sodaß der vielleicht nach
Jahr und Tag zu beobachtende hohe
Blutdruck nur einfach das Endresultat
der durch Scharlacherkrankung gesetzten
Capillaraffektion darstellt? Sie sehen,
daß eine solche Auffassung uns. manches
leicht verständlich machen würde, was
bisher der Erklärung schwer zugänglich
schien.
Und noch einer Erkrankung möchte
ich hier Erwähnung tun, die in einer ge¬
wissen ursächlichen Beziehung zur Capil¬
larsklerose zu stehen scheint, der Gicht.
Nur allzu häufig hören wir, daß Menschen,
die eine Blutdrucksteigerung aufweisen,
früher typische Gichtanfälle durchge¬
macht haben oder sonstige gichtische Ver¬
änderungen und mit der Gicht zusammen¬
hängende Erscheinungen aufweisen, so¬
daß wir irgendeinen Zusammenhang zwi¬
schen gichtischer Stoffwechselstörung und
Capillarsklerose wenigstens vermuten dür¬
fen. Auch darauf darf ich vielleicht hin-
weisen, daß Falta (8) speziell bei solchen
Kranken mit stark erhöhtem Blutdrucke,
durch entsprechende Mittel eine vermehrte
Harnsäureausscheidung erzielen konnte.
In bezug auf Prognose und Thera¬
pie der Hypertonie sind wir vorläufig
zum größten Teil auf die reine Erfahrung
angewiesen. Zunächst ist es ziemlich
sicher, daß die Allgemeinerkrankung des
Arteriolo-Capillarsystems (jederzeit) zum
Stillstände kommen kann. Nur so ist es
verständlich, daß Menschen 10, 15 Jahre
und länger einen erhöhten Blutdruck
zeigen, ohne nennenswerte Beschwerden
zu äußern. Dadurch haben sich nicht
wenige Ärzte veranlaßt gesehen, der
Blutdruckmessung einen besonderen Wert
abzusprechen. Das ist natürlich ein irriger
Standpunkt. Über die außerordentliche
Bedeutung der Kenntnis der Blutdruck¬
verhältnisse in jedem Falle kann kein
Zweifel bestehen, darüber hat uns wohl
Dezember
Die Therapie der. Gegenwart 1920
421
das bisher Gesagte genügend belehrt.
Prognose und Therapie der Capillar-
sklerose sind verschieden, je nachdem es
sich um eine Erkrankung ohne jedes
Lokalzeichen, das heißt ohne Zeichen von
Erkrankung bestimmter Organe handelt,
oder mit -solchen Lokalerscheinungen.
Im ersteren Falle, in dem es sich um Blut¬
drucksteigerung ohne Zeichen einer be¬
sonderen Affektion von Herz, Hirn oder
Nieren handelt, haben wir zwei Indika¬
tionen zu erfüllen: wir haben das unter
erschwerten Bedingungen arbeitende Herz
zu schonen, also jede weitere vermeidbare
Herzbelastung hintanzuhalten, und wir
haben zweitens, soweit uns dies möglich
ist, das Arteriocapillarsystem vor schäd¬
lichen Reizen zu bewahren.
Der ersten Indikation entsprechen wir,
wenn wir solche Kranke nicht schwer
arbeiten lassen, wenn wir Bergbesteigun¬
gen, anstrengende Märsche, kurz alle
sportsmäßige Betätigung verbieten. Die¬
ser Indikation entsprechend müssen wir
auch die Ernährung regeln und dafür
sorgen, daß die Nahrungszufuhr eine
ganz mäßige sei und daß insbesondere
die Flüssigkeitszufuhr auf das unbedingt
nötige Minimum beschränkt bleibe, denn
das Herz ist die Pumpe des Körpers und
je mehr Flüssigkeit dem Darme zugeführt
wird, desto mehr hat die Pumpe zu ar¬
beiten, muß die Flüssigkeit ansaugen und
den Nieren zur Ausscheidung übergeben.
Unter Flüssigkeit verstehen wir also auch
Wasser. Daß wir alkoholische Getränke
bei solchen Kranken am besten ganz aus¬
schalten, ist leicht verständlich, denn
neben der Belastung durch die Flüssig¬
keit kommt hier die Reizwirkung des
Alkohols für Herzmuskel und vielleicht
auch Capillargefäße, besonders der Nieren,
in Betracht.
Der zweiten Indikation zu genügen,
ist recht schwer; hier handelt es sich
vor der Hand um ein vorsichtiges Tasten.
Wir haben gehört, daß die Gicht in Be¬
ziehung zur Capillaraffektion steht und
wissen, daß die akute Nierenentzün¬
dung, bei der neben der Erkrankung der
Glomeruli vielleicht auch eine allgemein e
Capillaraffektion vorhanden ist, häufig
nach Erkältungen eintritt. Das sind ge¬
wisse Anhaltspunkte für unser therapeu¬
tisches Handeln. Wir werden also, ähnlich
wie bei Gicht, für solche Kranke eine pu¬
rinarme Nahrung wählen und sie knapp
halten. Weiter Vermeidung von Kälte¬
reizen und Verwendung lauer, beziehungs¬
weise warmer Bäder. Von Medikamenten
aber käme Zufuhr alkalischer Getränke
(Karlsbad) selbstverständlich in ganz
kleinen Portionen in Betracht; ich lasse
solche Kranke ständig früh ein achtel
Liter Karlsbader Mühlbrunnen nehmen
— und kleinste Jodsalzmengen, von wel¬
chem Mittel wir wissen, daß es wie'ein
Katalysator die Verbrennung der Harn¬
säure begünstigt.
Mitunter gelingt es auf diese Weise
Kranke Jahre hindurch relativ be¬
schwerdefrei zu erhalten. Häufig aller¬
dings ist alle Mühe vergebens. Wir sehen
unter unseren Augen die Krankheitser¬
scheinungen zunehmen und Beschwerden
sich einstellen, die uns darüber belehren,
daß bald das Herz, bald das Gehirn, bald
die Nieren am Krankheitsprozeß beson¬
ders beteiligt sind.
Ist der Herzmuskel stärker ergriffen,,
dann tritt zur Herzhypertrophie sehr
bald die Herzmuskelschwäche: der Kranke
wird bei jeder Anstrengung kurzatmig-,
er zeigt auch in Ruhe einen beschleunig¬
ten Puls, das Herz ist dilatiert, die Leber
schwillt an, und meist ist auch eine
Schwellung der Füße vorhanden. Die
Behandlung eines solchen Kranken ist
durch die Herzmuskelschwäche vorge.-
schneben: Ruhe, knappe Kost, am besten
eine leicht modifizierte Karelldiät, Ge¬
brauch lauer Bäder und andauernde Dar¬
reichung von Digitalis werden auch bei
solchen Kranken einen erträglichen^ Zu¬
stand schaffen. Meist fürchten die Ärzte
wegen des hohen Blutdruckes Digitalis
anzuwenden. Dazu ist kein Grund. Ich
empfehle, wenn Zeichen der Herzmuskel¬
schwäche vorhanden sind, unbekümmert
um den Blutdruck, Digitalispräparate,
womöglich dauernd, nehmen zu lassen.
Wir befreien dadurch viele Kranke
von schweren Beschwerden und erleich¬
tern ihnen das Dasein. Unter den Digi¬
talispräparaten selbst wäre das von
Wiechowski neuerdings angegebene Di-
ginorgin besonders empfehlenswert.
Jetzt hätte ich noch die Aufgabe,
über die Behandlung jener Kranken zu
sprechen, bei denen die Nierengefäße an
der allgemeinen Capillarerkrankung be¬
sonders beteiligt sind, das heißt, schwere
Schrumpfniere, Nierensklerose vorhan¬
den ist.
Die Lehre von den Nierenerkrankun¬
gen hat in den letzten Jahren wesent¬
lichen Ausbau erfahren. Wir unter¬
scheiden (9):
1. Die Erkrankungen des Nieren¬
parenchyms, jene Erkrankungen, die man
422
Die Therapie der Gegenwart 1920
Dezember
früher mit Unrecht unter die Entzün¬
dungen rechnete und als parenchymatöse
Nierenentzündungen bezeichnete; wir
sprechen jetzt in solchen Fällen von Ne¬
phropathie (Aschoff) oder Nephrose
(Müller) oder Nephrodystrophie (H^rx-
heimer).
Dann die an den Blutgefäßen der
Niere sich abspielenden Erkrankungen,
und zwar:
2. Die akuten Nierenentzündungen,
die Glomerulo-Nephritiden und
3. die chronischen, mit reaktiven Er-'
scheinungen (Schrumpfungsprozessen) ein¬
hergehenden Nephrocirrhosen, von denen
uns hier der Hauptrepräsentant dieser
Gruppe, die N. arteriolo-capillaro-sclero-
tica (diffusa et dissiminata) besonders
interessiert.
Bei den Nephropathien ist der Blut“
daick normal, mitunter unternormal. Die
Harnmenge ist normal oder vermindert;
(nur wenn sich im Laufe der Erkrankung
schrumpfende Prozesse hinzugesellen,
kommt es zu reichlicherer Harnsekre¬
tion). Der Harn ist blaß und enthält
meist vief Eiweiß. Die Ausscheidung der
Salze, vor allem jene des Kochsalzes durch
den Harn, ist gestört, und meist auch eine
schwere Beeinträchtigung des Wasser¬
haushaltes vorhanden; es besteht Ödem¬
bereitschaft.
Die Therapie hat diese Verhältnisse
zu berücksichtigen, daher heißt es: ge¬
ringe Wasser- und Salzzufuhr, Schwitz¬
prozeduren; reizlose eiweißhaltige Kost;
Gebrauch harntreibender Mittel, beson¬
ders des Harnstoffes. Eppinger emp¬
fahl zur Beseitigung der Ödeme solcher
Kranker Thyreoidindarreichung, und zwar
durch einige Zeit täglich 0,9—1,2 g
trockene Substanz. Ich habe diese Medi¬
kation wiederholt vergebens versucht.
Doch könnte dieser Mißerfolg an äußeren
Umständen, vor allem an minderwirk¬
samen Präparaten, liegen und wäre in
einschlägigen Fällen ein Versuch mit
diesem Mittel sicher angezeigt.
Bei den Nephritiden und Nephrocir¬
rhosen spielt sich der Krankheitsprozeß
an den Gefäßen ab.
In ersterem Falle besteht eine Herab¬
setzung der Harnsekretion bis zur vollen
Anurie, dabei ist der Harn blutig und ent¬
hält ein reichliches Sediment organischer
Formelemente (Blut, Blutcylinder).
Bei der Nierensklerose ist die Harn¬
sekretion reichlich; der Harn hat ein.
niedriges specifisches Gewicht, enthält
kein Eiweiß oder Spuren von Eiweiß
und gibt meist kein Sediment.
ln diesen Fällen aber ist, wie ich (10)
vor Jahren, wohl als einer der ersten
mit modernen Methoden, nachgewiesen
habe, die Ausscheidung der Endprodukte
des Eiweißstoffwechsels gestört, Harn¬
stoff und N-haltige Extraktivstoffe sind,
im Blute vermehrt nachweisbar, und die
Retention dieser stickstoffhaltigen Ab¬
bauprodukte bildet das wesentliche Er¬
kennungszeichen der urämischen Ver¬
giftung. Sie gibt sich zunächst zu er¬
kennen durch Blutdrucksteigerung. Die
Blutdrucksteigerung, die wir bei
,, Schrumpfniere'' finden, hat allerdings mit
Urämie nichts zu tun: ihre Pathogenese
ist, wie wir wissen, eine andere. Doch
mag es immerhin sein, daß die bei der
Schrumpfniere infolge der Capillarsklerose
gegebene. Blutdruckerhöhung durch die
urämische Intoxikation eine Steigerung
erfährt. Die Blutdrucksteigerung bei der
akuten Glomerulo-Nephritis aber ist ein
Zeichen und Folge der urämischen Ver¬
giftung, und so sehen wir sie auch schwin¬
den, sobald sich beim Abheilen der
Nierenentzündung reichliche Harnsekre¬
tion einstellt. Der vorher stark erhöhte
Blutdruck sinkt dann häufig bis unter
die Norm, es tritt eine posturämische
Hypotonie ein.
. Die urämische Intoxikation gibt sich
ferner zu erkennen durch Kopfschmerzen,
Muskelzucken, zeitweise Atemnot, die
sich anfallsweise zu schwerstem Asthma
steigert und häufig mit Erscheinungen des
Lungenödems einhergeht. Schließlich
kommt es zu den bekannten, durch
Hirnrindenreizung, und Hirnrindenerkran¬
kung bedingten Krampfanfällen und
Ausfallserscheinungen (Amaurose usw.)
(Münzer, F. Pick) (11).
Die Behandlung der akuten Nieren¬
entzündung liegt außerhalb des Be¬
reiches des Vortragsthemas; aber auch
bezüglich der Behandlung der Schrumpf¬
niere, der Nierensklerose, kann ich mich
nach dem früher Gesagten kurz fassen:
Es ist selbstverständlich, daß wir die bei
der Capillarsklerose als richtig erkannte
Therapie hier besonders strenge befolgen
und vor allem in der Diät mit Rücksicht
auf die eben erwähnte Retention der
N-haltigen Abbauprodukte die Eiweißzu¬
fuhr durch die Nahrung außerordentlich
einschränken, purinhaltige Eiweißkörper
ganz vermeiden. Übrigens leistet dauernde
Darreichung der Digitalis — in Verbin¬
dung mit Theobrominpräparaten — her-
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1920
42^
■vorragende Dienste. Gegen das urämische
Asthma, sowie bei Anfällen von Lungtn-
•ödem wirkt der Aderlaß vorzüglich.
Wie weit das von mir (9) beim Coma
urämicum nachgewiesene Basendefizit,
■die'relative Acidose, für die Therapie Be¬
rücksichtigung verlangt, wird die Zu-
Icunft lehren.
Literatur: 1. E. Münzer, Ein Fall von
-Morb. Addisonii... (Zschr. f. exper. Path. ü.
Ther. 1914, Bd. 16). — 2. J. Pal, Gefäßkrisen
-(Leipzig 1905, S. Hirzel). — 3. F. Müller, Be¬
izeichnung und Begriffsbestimmung.... (Berlin
1917, A. Hirschwald). — 4. F. Munk, Die Hyper¬
tonie als Krankheitsbegriff... .»,{B. kl. W. 1919,
Nr. 51). — 5. J. Pal, a) M. Kl. V, 1909; 1312 und
b) Ebenda XV, 1919, 662; F. Munk, 1. c. Nr. 4
und Pathologie und Therapie der Nephrosen....
(Urban & Schwarzenberg 1918). — 6. A. Posselt,
(Volkmanns klin.Vortr. N. F. 1908, Nr. 504 bis 507);
M. Ljungdahl, Untersuchungen über die Arterio¬
sklerose. ... (Wiesbaden 1915, Bergmann; H. Ep-
pinger und R. Wagner, Zur Pathologie der
Lunge (W. Arch. f. inn. Med. 1920, Heft 1). —
7. Rumpel-Leede, (M. m. W. 1911, Nr. 6,
S. 293). — 8. Falta, Aussprache zu Pals Vortrag
(Wien, 25. April 1919). — 9.^A. Begun und
E. Münzer, Nierenleiden.... (Zschr. f. exper.
Path. u. Ther. 1919, Bd. 20). — 10. E. Münzer,
a) V. Jaksch, klinische Diagnostik (3. Aufl. 1892;
b) Urämie- (Prag. m. Wschr. 1912). —
11. E. Münzer, (Prag. m. Wschr. 1899; F. Pick,
D. Arch. f. klin. M., Bd. 56).
Aus der Direktorialabteiluug des Eppendorfer Kraukenhauses (Med. Klinik).
Direktor: Prof. Dr. Brauer.
Zur Salvafsanbehandlung der Lungengangrän ^).
Von Dr, W. Weis, Sekundärarzt.
In neuerer Zeit sind von Groß (1) und
von Stepp (2) Veröffentlichungen über die
Salvarsanbehandlung bei Lungengangrän
'erschienen, die von sehr günstigen Er¬
folgen berichten. Es handelt sich im
ganzen um 13 Fälle, bei denen Heilung
beziehungsweise Besserung erzielt wurde,
auch in einem Falle, wo eine große 8:15cm
messende Gangränhöhle röntgenologisch
nachgewiesen war, erfolgte völlige Hei¬
lung. In den übrigen Fällen scheinen
größere Höhlen nicht vorhanden gewesen
zu sein, es bestanden aber neben dem
fötiden Sputum Anzeichen des Gewebs¬
zerfalles, wie elastische Fasern und in
einem Falle auch Lungenfetzen, einige
Male waren auch Spirochäten im Aus¬
wurf gefunden worden. Fast jedesmal,
so wird berichtet, trat im unmittelbaren
Anschluß an die Salvarsandarreichung
■eine merkliche Besserung ein, das Sputum
verlor sehr schnell seinen Geruch, wurde
nach anfänglichem Ansteigen an Menge
geringer und verschwand dann. Das
Fieber ging zurück und das Allgemein¬
befinden hob sich rasch. Manchmal gingen
der Besserung starke Allgemeinreaktionen
voraus. Diese Mitteilungen veranlaßten
uns, die Behandlungsweise, zu der die
erste Anregung von unserer Abteilung
(Dr. Becker) ausgegangen war, wieder
.anzuwenden. Ich kann heute nur über
vier Fälle berichten. Die Lungengangrän,
die früher in Hamburg sehr häufig war,
ist in letzter Zeit anscheinend seltener ge-
■worden, es mag das mit den derzeitigen
Verhältnissen wie dem Rückgang des Al-
^) Nach einer Demonstration im Hamburger
ürztlichen Verein.
koholismus, der verminderten Arbeit im
Hafen, und anderem Zusammenhängen.
1. 19jähriges Mädchen, das im Anschluß an
einen Abort Brustschmerzen, Fieber und Auswürf
bekommen hatte. Bei der Aufnahme im September
1919 Infiltration im rechten Oberlappen, aus der
sich eine Gangrän mit großem Zerfallsherd und
reichlichem Gangränsputum entwickelte. Im
Sputum keine Spirochäten nachgewiesen. Auf
Behandlung mit Salvarsan zunächst sehr guter
Einfluß, Temperaturabfall, Verschwinden des
Auswurfs und Verschwinden des Zerfallherdes im
Röntgenbilde. Dann aber wieder zunehmendes,
stinkendes Sputum, Fieber und Zunahme des
Röntgenbefundes. Im Sputum jetzt Spirochäten.
Nochmals Salvarsanbehandlung, die aber diesmal
gar keinen Erfolg brachte, sodaß Ende November
1919 operiert wurde. Heilung.
2. 57jährige Frau mit einem Gangränherd im
linken Unterlappen, anscheinend im Anschluß
an Pneumonie. Der Gangränherd lag hinter dem
Herzschatten, zeigte Flüssigkeitsspiegel. Reich¬
lich Gangränsputum, keine Spirochäten. Alsbald
Salvarsanbehandlung, 2 mal 0,45 und 2 mal 0,6
Neosalvarsan mit eintägigen Pausen, also recht
erhebliche Mengen. Ein wesentlicher Einfluß
war hier nicht zu erkennen. Charakter des
Sputums, Allgemeinbefinden und Fieber änderten
sich nicht, das Sputum wurde vorübergehend
etwas weniger. Operation, Heilung.
Fall 3 und 4 sind für die Beurteilung
der Methode nur mit Einschränkung zu
verwerten, da sie Komplikationen auf¬
wiesen, und zwar Fall 3 mit Tuberkulose.
Massenhaft Gangränsputum mit Spiro-
chaeta refringens.
Dieser Patient, ein 34jähriger Ar¬
beiter, bekam dreimal 0,45 und viermal
0,6 Salvarsan. Irgendein Einfluß auf die
Art und Menge des Sputums war nicht
sichtbar. Der tödliche Ausgang schloß
sich an eine Lungenblutung an.
4. 37jährige Frau mit Gangränerscheinungen
nach Grippe. Keine Höhlensympt'om'e. Sie
erhielt 3 mal 0,3 Neosalvarsan, ein Einfluß auf
424
Die Therapte der Gegenwart 1920
Dezember-
die Beschaffenheit des Sputums zeigte sich nicht.
Bei der Operation wurde der Gangränherd nicht
gefunden, die Patientin ging dann zugrunde, und
es fand sich, daß außer der Lungengangrän
noch ein nach dem Mediastinum hin abgesacktes
Pleuraempyem bestanden hatte.
Die guten Erfolge also, die von Groß .
und Stepp berichtet werden, haben wir
nicht erzielt. In dem ersten Fall trat zwar
eine auffallende Besserung ein, sie war
aber nicht von Dauer, ln dem zweiten
Fall kein erkennbarer Einfluß. Der dritte
und viej*te Fall boten ja infolge ihrer Kom¬
plikationen von vornherein eine infauste
Prognose, es ist aber immerhin be¬
merkenswert, daß sich die Sputumbe¬
schaffenheit nicht änderte, und daß im
dritten Fall die Spirochäten aus dem
Sputum nicht verschwanden. Im ganzen
ist natürlich die Zahl der Fälle zu gering,
um ein Urteil über die Behandlungsweise
zuzLilassen. Ein Versuch ist jedenfalls zu
empfehlen, man sollte aber, ‘ besonders
wenn ein'Zerfallsherd deutlich markiert
ist, nicht zu viel Zeit damit versäumen.
Em zu langes Zuwarten kann bei der Bös¬
artigkeit, der Erkrankung doch verhäng¬
nisvoll werden. Die Operation dagegen,,
von geübter Pfand ausgeführt, gibt doch
bessere Chancen, ich verweise nur auf die
Mitteilungen von Kis’sling (3) aus der
Len hartzschen Abteilung. Genaueste kli¬
nische und röntgenologische Lokalisation
ist dabei natürlich Voraussetzung. Beim
Lungenabsceß liegen die Verhältnisse
anders, hier kann man sich v.iel eher ab¬
wartend verhalten, gerade in letzter Zeit
wieder haben wir mehrfach außerordent¬
lich umfangreiche Lungenabscesse spon¬
tan zur Ausheilung kommen sehen.
Literatur: 1. Groß (Th. d. Geg. 1916,.
Dezemberheft; M. m. W. 1919, Nr. 31). —
2. Stepp (Ther. Halbmh. 1916, H. 6). —
3. Kissling (Erg. d. Inn. Med. 1910).
Aus der Provinzial-Fraiienklinik Köln (Prof. F. Frank).
Placenta praevia und Landarzt.
Von Dr. Fuhrmann, Assistenzarzt.
Jeder Geburtshelfer, nicht bloß der
auf sich allein angewiesene Landarzt,
verspürt beim Begriffe,,Placenta praevia“
ein Gruseln. Auch der Facharzt weiß,
daß die Behandlung des Vorliegens des
Mutterkuchens sein ganzes Können in
Anspruch nimmt, und zwar in einer Um¬
gebung, die dafür eigens zugerichtet ist.
,,Die Placenta praevia gehört in die
Klinik“, ist die von allen Lehrern der
Geburtshilfe aufgestellte Forderung, deren
Befolgung auf aem platten Lande schei¬
tert; zwei Umstände sind es, die eine
Überführung in die Klinik (oder in fach¬
ärztliche Hand überhaupt) auf dem Lande
vereiteln können: der Zustand der Krei¬
ßenden, der eine Ortsveränderung nicht
verträgt; die weite Entfernung, welche
Hilfsbedürftige und Hilfe trennt.
Der nachfolgenden Besprechung soll
die Annahme zugrunde gelegt sein, daß
der Arzt allein auf sich gestellt,
auch ohne den Beistand eines Kollegen,
seine Maßnahmen zu treffen hat. Diese
Annahme entspricht ja auch der Wirk¬
lichkeit. Denn wenn der Hilferuf den
Landarzt erreicht, ist keine Frist mehr,
ihn weiterzugeben; dann ist es hohe
Zeit, höchste Zeit, zur Kreißenden zu
eilen, bei der es ums Leben geht.
Ein häufiges Ereignis ist ja das
Auftreten dieser gefährlichen Geburts¬
umstände, die zu ihrer Beherrschung
einen ganzen Mann und einen ganzen Arzt
erfordern, nicht; auf 500 bis 600 Ge¬
burten ist ein Fall von Placenta praevia
errechnet; auf die jährlich zwei Millionen
Geburten in Deutschland ereignen sich
also etwa 4000 Placentae praeviae, mit
einer Muttersterblichkeit von 5 bis
6%; 200 bis 300 Frauen verlieren wir
also doch an der krankhaften Mutter¬
kuchenanlage; und zwar ist diese Sterbe¬
ziffer der klinischen Behandlung eigen;,
die Privathausbehandlung hat eine-
fast viermal höhere Müttersterblichkeit,,
nämlich 20 %. Wenn alle Placenta-
praevia-Kranken im Privathause ent¬
bunden werden müßten, so würde dieses-
Schicksal jährlich 760 Müttern das Leben
kosten; das genügt, um jeden Arzt nach
der Hilfe einer Fachanstalt greifen zu
lassen — sofern sie eben erreichbar ist..
Die Kindersterblichkeit bei Pla¬
centa praevia ist 60% für die Anstalten^),,
zehnmal höher als die mütterliche-
klinische; 2400 Kinder sterben an dem
ungewöhnlichen Sitz des Mutterkuchens;:
unter 5 Placenta-praevia-Kindern müssen
3 sterben! Diese fürchterliche Zahl ist
aber keineswegs der Unzulänglichkeit
des ärztlichen Könnens zuzuschreiben;,
deswegen nicht, weil die Placenta-praevia-
Schwangerschaft ' ihr regelrechtes Ende
sehr oft nicht erreicht 1200 von den
^) Errechniingen^für Privathaus fehlen.
Dezember
Die Therapie der pegenwart 1920
425
.2400 toten Placenta-praevia-Kindern sind
Fehl- beziehungsweise kaum lebensfähige
Frühgeburten. Wenn man annimmt,
daß von den kaum lebensfähigen Früh¬
geburten noch ein Bruchteil am Leben
bleibt,.so kommt es darauf hinaus, daß
^in Drittel echter Placenta-prae-
via-Kinder keine Lebensaussich-
tuii hat.
Der Grund, warum die Hälfte aller Pla-
centa - praevia - Schwangerschaften nicht
ausgetragen werden, mit anderen Worten;
die Ursache des Wehenbeginns schon im
siebenten, achten, neunten oder zehnten
Mondmonat statt am Ende des zehnten
Mondmonats ist noch unbekannt 2). ist
etwa der Umstand, daß der Mutterkuchen
sich über dem inneren Muttermund ent¬
wickelt oder in seiner nächsten Nachbar-
•schaft zugleich die Ursache des früh¬
zeitigen Wehenbeginns? Oder ist etwa
der Zusammenhang so, daß abweichender
Mutterkuchensitz und’frühzeitige Wehen-
auslösung ein und dieselbe Ursache haben ?
Damit ist die Frage der Ätiologie der
-Placenta praevia berührt. Die Ursache des
Einnistens des befruchteten Eies am Gebärmutter¬
ausgang, statt, wie gewöhnlich, in der Nähe der
Tubenmündung, ist unbekennt. Man weiß nicht,
warum das befruchtete Ei, ohne sich festzusetzen,
durch die ganze Gebärmutter hindurchrutscht;
vielleicht deswegen, ,,weil ihm die normale Klebrig-
Jkeit oder Arrosionskraft seines Ektoderms fehlt“
<Bumm) oder deswegen, weil im Endometrium
■,,eine abnorm ausgebreitete und abnorm starke
Flimmerung“ 2) besteht. Diese Flimmer Über¬
bildung und -Überbewegung ist ein Befund
chronischer Endometritis; die gesunde Schleim¬
haut hat einen lückenhaften Flimmerbelag
{Ho eh ne) 3). Damit würde übereinstimmen die
Beobachtung, daß Placenta praevia zehnmal
häufiger bei Mehrgebärenden ist, als bei Erst-
•gebärendcn; Mehrgebärende leiden ja natürlich
häufiger an Gebärmutterkatarrhe als Erst-
•gebärende. Mchrgebärende haben ja sozusagen
eine Vergangenheit an Gelegenheit zu Endome¬
tritis: gestörte Wochenbette, Fehlgeburten, manu¬
elle Placentarlösungen.
Aber außer dieser pathologischen Placcnta-
praevia-Ätiologie gibt es noch eine anatomische;
sie ist schön und einleuchtend.
Gemeint ist die sogenannte Reflexatheorie
der Placenta praevia. Sie stellt die Entstehung
eines vorliegenden Mutterkuchens folgendermaßen
dar: das Ei siedelt sich in der Nähe des inneren
Muttermundes an und bildet sich seine Placenta
an der Niststelle, regelrecht auf der Decidua
serotina; aber nicht nur auf der Decidua serotina,
•sondern auch auf der Reflexa, das heißt auf der
dem Ei zugewandten Innenfläche der Reflexa
wächst Placentagewebe. Natürlich muß diese
Reflexa-Placenta früher oder später auf den
inneren Muttermund zu liegen kommen; früher
2) Auch die Ursache des Geburtsbcginncs am
Ende der 40. Schwangerschaftswoche ist noch
unbekannt.
Nürnberger, A. E. G. 1918, Bd. 109,
S. 733, nach Hoehne im Zbl. 1908 und 1911.
oder später, jedenfalls aber dann, wenn die Decidua
reflexa mit der Vera in ganzer Ausdehnung ver¬
wächst, die freie Lichtung der Üterushöhle
aufhebend, also im Beginn des fünften Mond¬
monats. Allerdings ist das Kuchengewebe,
wenn sich die Reflexa-Placenta auf den inneren
Muttermund gelegt hat, von ihm noch getrennt
durch das zarte Reflexhäutchen, und das ist
der schwache Punkt an der Hofmeier^)-Kalten-
bach®)schen Reflexatheorie. Ahlfeld®) lehnt
die Theorie ab.
Die Diagnose der Placenta praevia macht
keine Schwierigkeiten: Blutung in der zweiten
Hälfte der Schwangerschaft bei einer Mehr¬
gebärenden läßt, ohne weiteres, Vorliegen des
Kuchens vermuten. Zwischen Vermutung und
Diagnose liegt die Handlung der Untersuchung.
Wenn die Fingerspitze mit dem eigen sich an¬
fühlenden Mutterkuchengewebe in unmittel¬
bare Berührung kommt, ist die" Diagnose ein¬
fach und sicher. Nicht mehr ganz sicher, aber
höchst wahrscheinlich ist die Diagnose' dann,
wenn die Fingerspitze nur mittelbar in Be¬
rührung mit Placentagewebe kommt: bei ge¬
schlossenem Muttermund; aber auch bei offenem
Muttermund und weit seitlicher Lage des voran¬
gehenden Mutterkuchens. In beiden Fällen liegt
zwischen Placenta und Finger mütterlicher Weich¬
teil. (Scheidengewölbe beziehungsweise mehr
weniger entfaltet Cervix.) Durch ihn hindurch
ist wohl der Schwamm der Placenta zu fühlen.
Aber die Handlung der Untersuchung hat bei
Placenta praevia etwas Eigentümliches: die
Gefahr der Auslösung einer mehr minder heftigen
Blutung. Der berührende Finger kann un¬
beabsichtigt Thromben loslösen, Placentagewebe
freilegen, Wehen erregen; es sollte deswegen
innerlich nur untersucht werden — bei Verdacht
auf Vorliegen des Mutterkuchens, also bei
Blutungen in der zweiten Schwangerschaftshälfte
bei Mehrgebärenden —, wenn alles zum einschlä¬
gigen Eingriff bereit ist.
Dieser Fall — des Untersuchungszwanges —
ist in der Landpraxis immer gegeben: der herbei¬
gerufene Arzt kann und darf Schwangere und
Hebamme nicht verlassen ohne Untersuchung
und Urteil; das Urteil ist einfach, wenn Placenta¬
gewebe gefühlt wird. Aber die Untersuchung
hat ihre Klippen. Der Untersucher kann getäuscht
werden. Er kann sich selbst Placenta Vortäuschen,
wo keine ist, z. B. durch derbe Blutgerinnsel.
Derbes Blutgerinnsel setzt voraus länger zurück¬
liegende — wenn auch nicht starke — Blutungen.
Solche Blutungen in der Schwangerschaft haben
statt nicht bloß bei genital-lokalen Erkrankungen,
sondern auch bei Allgemeinerkrankungen der
Mutter. Unter den letzteren spielen eine Haupt¬
rolle die sogenannten akuten Exantheme, also
Röteln, Masern, Scharlach, falsche und wahre
Pocken. Bei ihnen neigt das Endometrium
(übrigens auch beim nichtschwangeren Uterus)
zu Blutungen. (Das ist offenbar so zu erklären,
daß bei diesen Krankheiten das Exanthem —
das heißt umschriebene Hyperämien — auch
auf dem Endometrium Platz gegriffen hat.)
Wissenschaftlich heißt der Zustand: Endometritis
decidualis hämorrhagica (exanthernatica). Außer
diesem Exantheinkatarrh der Gebärmutter-
Schleimhaut kennen wir noch andere blutende
Schleimhautentzündungen des Organs: die Endo¬
metritis decidualis hacmorrhagica gonorrhoica
‘1) Verh. D. Ges. f. Gyn., Halle 1888.
"9 Zbl. f. d. ges. Gyn., Bd. 18.
®) Zbl, f. d. gos. Gyn., Bd. 21 und 32.
54
426
Die Therapie der Gegenwart 1920
Dezember
und die luetica, beides Beispiele wohl rein
ortiieher Erkrankungen. Vor Verwechslungen
mit Placenta praevia, die für die Frucht ver¬
hängnisvoll werden könnten, schützt die Anamnese
beziehungsweise die bestehende ursächliche Krank¬
heit. Es mag allerdings irgendeinmal nicht leicht
sein, aus Blutgerinnseln im Muttermund bei
einem Scharlach ohne Exanthem (aber Fieber!)
oder etwa bei einer latenten Syphilis die Wahrheit
zu finden. Es gibt noch eine Krankheit der Sieb-
haut^) in der Schwangerschaft, welche zu Blu¬
tungen und Blutgerinnselbildungen im Mutter¬
mund führt; ihr Wesen ist auch eine Endometritis
decidualis, eine Entzündung der Schwangerschaft¬
gewucherten Schleimhaut; sie äußert sich vor¬
wiegend in Zunahme der Zahl der Schleim¬
drüsen und in gesteigerter Absonderung der ver¬
mehrten Drüsen. Die abgesonderte deciduale
Flüssigkeit — mehr weniger blutig gefärbt —
sickert dauernd ab, Hydrorrhoea uteri gravi di
decidualis [haemorrhagica], oder aber sie sammelt
sich bei zeitweiser Verlegung des Halskanals
in der Fruchthöhle zwischen Ei und Uterusmund
an und fließt dann schubweise ab. Dieser Vor¬
gang kann eine Placenta praevia Vortäuschen.
ln einer Besprechung von Blutungen aus
der Schleimhaut der schwangeren Gebärmutter,
also aus der Membrana decidua, muß — vom
Gesichtspunkt der Vollständigkeit aus — auch
erwähnt werden, daß Störungen in der physio¬
logischen Arbeit zweier Organe zu Blutungen
aus der; Decidua führen können: des Herzens
und der Nieren. Allerdings sind glücklicherweise
die Blutungen nie so stark, daß sie placenta-
praevia-ähnlich, also bedrohlich werden.
Die bis jetzt genannten Vortäuschungen von
Präviablutungen gehen aus von krankhafter
Veränderung des mütterlichen Gewebes der
Uterusschleimhaut; es gibt auch eine krankhafte
Veränderung der äußersten kindlichen Eihaut,
also des Chorions, welche prävia-ähnliche
Blutungen machen kann. Diese Veränderung
besteht in Wucherung des normal-2-schichtigen
Epithelmantels der Chorionzotten. Die Wuche¬
rung findet überall da statt, wo Zotten sind;
da aber der Zottenstand mit dem Alter des Eies
sich ändert, so ändern sich auch die Stellen der
genannten Epithelwucherung. Die zotten-
reichste Zeit für das Ei ist derjenige Ent¬
wicklungsabschnitt, welcher liegt zwischen vierter
und achter Woche; das ganze Ei ist ringsum mit
Zotten besetzt. Und so findet auch die Wuche¬
rung der entartenden Zotten in dieser frühen Zeit
der Schwangerschaft statt in der Weise, daß
der ganze Zottenpelz wuchernd entartet: der
Embryo wird ein Opfer der Erkrankung des
Eies und stirbt ab.
Die Wucherung der Zotten kann aber auch
in einer späteren Schwangerschaftszeit beginnen,
wenn die Eioberfläche bereits glatt ist und die
Zotten nur auf einer einzigen Stelle, die Placenta-
stelle, beschränkt sind. Wenn in diesem Falle
die ganze Kuchenmasse entartet, so kostet die
Umbildung dem Embryo wieder das Leben;
manchmal aber wuchert nur ein Teil der Pla-
Decidua (sc. membrana), auf deutsch „hin¬
fällige“ Haut (weil sie mit der Placenta aus¬
gestoßen wird), heißt im Hebammenunterricht
„Siebhaut“, ,,weil sie, von zahlreichen, jetzt (d.h.
in der Schwangerschaft) deutlich sichtbaren
Drüsenöffnungen durchbrochen, wie ein Sieb
durchlöchert ist“. Preuß. Hebammenlehrbuch,
S. 95.
centazotten und dann kann die Frucht lebend
geboren werden.
In allen Fällen, sei es nun, daß die Frucht tot
ist und ausgestoßen wird, sei es, daß sie lebend
geboren wird, in allen Fällen beginnt die Geburt
der Blasenmole unter Blutung und geht
auch weiter unter Blutung vor sich, ln der
ersten . Hälfte der Schwangerschaftszeit wird
man eine Fehlgeburt vermuten, in der zweiten
Hälfte eine Placenta praevia.
Vor der Verwechslung kann man sich schützen
durch den Nachweis von Blasen in den blutigen
Abgängen (hirsekorn- bis haselnußgroße hell¬
gefüllte Blasen, die auf feine Stiele aufgereiht
sind); der Verdacht wird auf Blasenmole hiri-
gelenkt, wenn der schwangere Uterus viel größer
ist als der Schwangerschaftszeit entspricht.
Eine Quelle der möglichen Täuschung für
den Arzt ist das Zusammentreffen von Schwanger¬
schaft und Gebärmutterkrebs.
Für die Differentialdiagnose will ich neben der
Vaginaluntersuchung bloß auf die Exploratio-
per rectum hinweisen. Diese Art der Untersuchung
wird in der täglichen Praxis aus naheliegenden
Gründen wohl wenig benützt, weniger als sie
es verdient. Sie sollte nicht nur für Feststellungen
im Rectum selbst gebraucht werden; gerade
in der Geburtshilfe (und in der Gynäkologie)
gelingen durch sie Ergänzungen, selbst Neuauf¬
nahmen im Befund, die oft überraschend schnell
Klarheit schaffen. Auch beim Portio- und Cervix¬
krebs Schwangerer ist gerade vom Mastdarni'
aus oft die entscheidende Härte, Wucherung
Infiltration der Umgebung zu fühlen, im Gegensatz
zur weichen, flüssig durchtränkten Auflockerung
bei der Prävia.
Eine Augenscheinnahme der Portio mit Hilfe-
des Tr^latschen, noch besser des zweiteiligen
Plattenspeculums wird eine weitere Unter¬
stützung zur Auffindung der Wahrheit sein.
Wieder ist beim Krebs trotz aller Verwaschung
durch die Schwangerschaft eine knotige Auf¬
treibung, ein Epithelverlust, ein Substanzdefekt,,
eine Wucherung vielleicht sichtbar, die bei der
Prävia fehlt, wo die gleichmäßig blaurot ge¬
färbte Scheidenschleimhaut in ununterbrochenem
über die Portio gespannt ist.
Es gibt außer dem Tast- und Gesichtssinns¬
befund noch einen sensorischen Eindruck, den
man für die Erkennung des Krebses der zugäng¬
lichen weiblichen Geschlechtsteile heranziehen
kann: den Geruchssinn; allerdings nur für den
kundigen Untersucher. Man kann die fad-sü߬
lich, ekelerregende, aasige Eigentümlichkeit jenes
Geruches nicht beschreiben, aber er ist be¬
zeichnend und wer ihn kennen gelernt hat, er¬
kennt ihn wieder.
Für den allein gestellten Landarzt mag es
keine Kleinigkeit sein, sich zu einer Geburts¬
leitung bei einer Portio- oder Cervixkrebskranken
gerufen zu sehen. Glücklicherweise ist das Zu¬
sammentreffen von Genitalkrebs und Schwanger¬
schaft selten. Noch seltener ist das Austragen
der Schwangerschaft beim Gebärmutterkrebs.
Es scheint, daß nur zehn Fälle von Gebär¬
mutterkrebs aus dem zehnten^ Schwangerschafts¬
monat in der Literatur bekannt sind s).
Für den alleinstehenden Praktiker ist aus dem
Verlauf der Geburt beim Gebärmutterkrebs
8) Gräfenberg, Ein Beitrag zur Kasuistik
des Uteruscarcinoms am Ende der Schwanger¬
schaft, Zschr. f. Gyn. 1909, Nr. 21; dort zitiert':
Marek, Uteruskrebs und Schwangerschaft.
Uezeiriber
Die Therapie der Gegenwart 1920
wichtig, daß die krebskranke Schwangere am
regelrechten Ende der Schwangerschaft in die
Geburt eintreten kann, ohne jede Ahnung
und ohne jedes Anzeichen eines Krebses
am Fruchthalter. Das gilt sowohl vom Portio¬
ais auch vom Cervixcarcinom, Die Geburt
beginnt mit schwachen Blutungen; Blutungen
sind auch ab und zu während der Schwanger¬
schaft aufgetreten, aber nur so schwach, daß man
den Arzt erspart hat. Blutungen in der Schwanger¬
schaft, Blutungen bei Wehenbeginn — also
durchaus das Präviabild. Dabei braucht die
Blutung im Wehenbeginn gar nicht so stark zu
sein, daß eine unaufmerksam untersuchende
Hebamme den Arzt ruft. Aber sie wird nicht
lange allein bleiben wollen: ,,die Geburt geht
nicht vorwärts“. Die für die Untersuchung mehr
weniger schwer erkennbaren Krebswucherungen
haben Portio und Halskanal schlecht dehnbar,
hart gemacht. Der wegen Verzögerung im Ge¬
burtsverlauf herbeigerufene Arzt findet sich
mitten in die Sachlage hineingestellt. Zur Beur¬
teilung der Lage dient die Erfahrung, daß Portio¬
krebse eine Spontangeburt zulassen; Cervixkrebse
aber machen eine genügende Erweiterung für
Fruchtdurchtritt unmöglich. Das Hindernis
muß umgangen werden (durch den Bauchkaiser¬
schnitt). Die Technik beherrscht der Landarzt
nicht; die Lage ist dringend. Was tun? An¬
genommen, daß bis zur Ankunft des nächsten
erreichbaren Facharztes (Geburtshelfers oder
Chirurgen) immerhin 24 bis 36 Stunden ablaufen
(und das ist wohl selbst unter den ungünstigsten
Umständen noch erzielbar), so gilt es, den Ge¬
burtsfortgang zu unterbrechen oder wenigstens
zu verzögern; mit andern Worten, die Wehen
aufzuheben beziehungsweise abzuschwächen. Das
kann man erreichen durch Verabfolgung von
Narkoticis; Morphium 0,01 alle acht Stunden
subcutan oder Pantopon in etwa der doppelten
Dosis des Morphiums; allerdings muß man darauf
gefaßt sein, das Kind durch diese Narkose schwer
zu schädigen. Genitalkrebskranke müssen, noch
in puerperio, der Operation zugeführt werden.
Gegen eine Verwechselung anderer Blutungen
aus dem Genitale mit Placenta praevia schützt
wohl auch schon eine oberflächliche';Untersuchung
durch die Hebamme; so z. B. gegen Verletzungs¬
blutungen, oder Blutungen aus Geschwüren, aus
Varicen und Thromben der Vulva und Vagina.
Die vorzeitige Ablösung der regelrecht
sitzenden Placenta steht ja vor allem im Zeichen
der inneren Blutung — ,,zuweilen wird nicht
ein Tropfen Blutes nach außen ergossen“, sagt
Bumm —, aber es kann auch dabei nach außen
bluten und dann gilt es für den Arzt sich vor
Verwechselung mit Präviasitz zu schützen.
Blutung bei geschlossenen Weichteilen spricht
für ,,vorzeitig“; ebenso Unstimmigkeit zwischen
der Menge des abgegangenen Blutes und den
Blutverlusterscheinungen der Kreißenden, weil
bei der vorzeitigen Lösung nicht nur nach außen,
sondern auch nach innen Blut verloren wird, das
sich als gewaltiges retroplacentares Hämatom an¬
sammelt, während bei der Prävia die ganze ver¬
lorene Blutmenge zu Gesicht kommt; dieses
Hämatom ist vielleicht sogar als pralle Geschwulst
der Gebärmutter von außen festzustellen. Die
digitale Untersuchung bringt die Entscheidung
nicht immer und ohne weiteres. Die ganze Cervix
kann noch geschlossen sein oder jedenfalls für
den Finger nicht zugängig; ihre besonders auf¬
fallende Auflockerung spricht für Prävia; ein
hinter dem Scheidengewölbe, das abgeflacht,
aufgehoben oder selbst scheidenwärts vorgetrieben 1
427
ist, sitzendes Polster kann vorliegender Kuchen
sein aber auch Blut, teils geronnen, teils flüssig,
aus der vorzeitig sich lösenden Placenta.
Bei der Besprechung der Behandlung
der Prävia sollen, wie gesagt, solche
Umstände zugrunde gelegt werden, bei
denen der Arzt auf sich allein gestellt ist,
bei denen der Rat, ,,den Fall rechtzeitig
in eine geeignete Klinik zu überweisen“
unausführbar ist, weil die nächste Klinik
beziehungsweise die nächste Anstalt mit
Fachhilfe (Geburtshelfer oder Chirurgen)
Tagereisen weit entfernt ist. ln der Land-
praxis ist ausnahmslos die Sache so ®),
daß der Arzt sozusagen mitten in die
Geburt hineingestellt wird und die Er¬
eignisse bei der, Placenta praevia folgen
sich dann so rasch, daß ein selbständiges
Handeln für den ganz allein stehenden
Arzt eben zwingende Notwendigkeit ist.
Derjenige Arztanfänger, der geneigt ist,
stets mit einem Auge nach Hilfe zu schielen,
wird schwerlich Selbständigkeit erringen.
Natürlich ist ein gewisser Grundstock
von Handfertigkeit unerläßliche Vor¬
bedingung; auf ihr kann der Arzt, der
das Zeug zum Mediziner in sich hat,
getrost weiterbauen; es ist durchaus nicht
notwendig für ihn, daß er alles, was
technisch von ihm verlangt wird, schon
einmal gemacht hat; die harte Notwendig¬
keit ist eine treffliche Lehrerin. Die
wenigsten Ärzte haben als Studenten eine
Schädelperforation ausgeführt, und trotz¬
dem verfügt jeder Arzt über diese Opera¬
tion — weil er muß; aber der Durch-
schnitts-Arzt-Anfänger wendet die Me-
treuryse nicht an — weil er nicht muß:
er kann sie durch die Braxton-Hicks-
Wendung umgehen. Und doch ist die
Wendung bei Zweifingermuttermund viel
schwerer, als die Metreuryse, Damit soll
nicht etwa gesagt sein, daß die Metreuryse
die Behandlungsweise schlechtweg der
Prävia sei. Ein einziges Verfahren für
die Prävia gibt es nicht. Jeder Fall ver¬
langt seine eigene Behandlung; und für
jeden Fall das passende Verfahren zu
beurteilen, das eben macht den Arzt aus,
den guten Arzt. Es gibt auch einmal
eine Placenta praevia, eine zweifellose,
die gar keinen Eingriff verlangt.
Für den alleinstehenden Landarzt gibt
es ini Bauernhause fünf Verfahren, die
ihm für die Prävia zur Verfügung sind,
wobei der einzelne gegebene Fall auch
mehrere Verfahren erheischen kann.
^) Dem Schreiber dürfte ein Urteil über diese
Verhältnisse zukommen, weil er jahrelang Praxis
1 auf dem platten Lande ausgeübt hat.
54*
428
Die Therapie der Gegenwart 1920
Dezember
Gerufen wird der Arzt, weil’s blutet,
unter der Geburt mehr oder weniger stark
blutet. Der Gedanke an Prävia löst die
Association aus: „Braxton-Hicks-Wen¬
dung, vielleicht Tamponade“; aber er
’ verfügt, ohne es sich zuzutrauen, noch
über drei weitere, ausgezeichnete Ver¬
fahren: die Blasensprengung, die Metr-
euryse und die manuelle Dehnung (frei
nach Bonnaire). Welches Verfahren an¬
wenden, das entscheidet der Befund, •
Zunächst entscheidet der Befund, ob
überhaupt ein Eingriff und ob er sofort
nötig ist. Dauert die Blutung bei der
Ankunft des Arztes an, so wird eih-
gegriffen. Die Art des Eingriffs diktiert
der Stand der mütterlichen Weichteile:
Vollkommen eröffneter oder hand¬
tellergroßer Muttermund erlaubt auch bei
Schädellage und hochstehendem Kopf die
Wendung und Extraktion; bei toter
Frucht wird, sobald der nachfolgende
Kopf auch nur den geringsten Wider¬
stand findet, perforiert. Vollkommen
geschlossener Muttermund erheischt
die Tamponade der Scheide. Ein Finger
Durchgängigkeit erlaubt zweierlei: die
Blasensprengung oder die Scheideritam-
ponade. Die Blasensprengung dann, wenn
der Finger neben dem Mutterkuchen¬
gewebe vorbei an die Eihäute gelangen
kann.
Ein einfaches scharfes Häkchen wird,
Häkchenspitze auf dem Zeigefinger, eingeführt,
am Ziel wird die Spitze eihautwärts gedreht, ein¬
gehakt; das Häkchen wird dann auf der ruhenden
Hand zurückgeführt, der Zeigefinger erweitert den
Eihautriß möglichst weit.
Für den blutstillenden Erfolg der
Blasensprengung ist Schädellage am gün¬
stigsten, aber nicht Voraussetzung. ,,Das
Sprengen der Blase wirkt oft Wunder“,
sagt Bumm. Wenn man nicht an die
Eihäute gelangen kann, so bleibt es bei
der Scheidentamponade.
Soll die Tamponade wirksam sein, so muß sie
gründlich sein. Aber gründlich läßt sich die
Scheide nur ausstopfen, wenn man sie brauchbar
entfaltet. Die Scheide brauchbar entfalten, ist
Sache des Speculums. Am besten dazu sind die
Riemenspecula (nach Doyen) mit ordentlichen
Ausmaßen (12 cm lang, 6 cm breit u. ä.); die
vordere Platte kann die Kreißende selbst halten.
(Narkose ist ja nicht nötig.) Trelat- oder Cusco-
Speculum genügt aber auch. Beginnend an der
einen Seite des hinteren Scheidengewölbes wird
Schlinge an Schlinge des Stopfmittels (Jodoform¬
gaze, Vioformgaze) gelegt bis herunter zum
Scheideneingange. (Die Kreißende wird vorher
— oder wenn die Blutung Eile erfordert nachher
— katheterisiert. Von der festen, unter kräftiger
Pressung stehende Tamponade des hinteren
Scheidengewölbes könnte man neben der blut¬
stillenden Wirkung auch noch eine Reizung der
wehenerregenden Cervicalganglien erwarten, wel¬
che beiderseits der Cervix dem hinteren Scheiden¬
gewölbe aufliegen.
Wenn die Tamponade durchblutet ist, so daß
auch in der Wehenpause das Blut herausrieselt,
nicht nur sickert, muß sie entfernt werden; die
Neuuntersuchung ergibt ja wohl einen neuen
Befund. Erneuern.soll man — womöglich —
die Tamponade, der steigenden Infektionsgefahr
wegen, nicht. Wenn die Durchblutung keine
Entfernung fordert, das Stopfmittel auch nicht
ausgestoßen wird, soll man nach 6 Stunden die
Gaze herausnehmen und wieder untersuchen.
Zweifingerdurchgängigkeit erlaubt viererlei:
die Tamponade, die Blasensprengung, die Metr-
euryse, die Braxton-Hicks-Wendung, die Finger¬
dehnung (Bonnaire).
Zunächst eine Überlegung: Trifft der Arzt eine
sehr ausgeblutete Frau [Ohnmächten, Pulslosig¬
keit 1®) usw.], so tut er gut, nicht sofort zur Ent¬
bindung und damit zu neuer Blutentziehung zu
schreiten, sondern vor allem dem Blutverlust zu
steuern durch Tamponade und dann den Verlust
zu ersetzen: 2 Liter Kochsalz^^) (NaCl-Pastillen,
Karl Engelhard, Frankfurt a. M.) subcutan, das
etwa aufgefangene flüssige oder geronnene Blut
durch Windel filtriert als Tropfklystier (Martin-
sche Kugel durch Vogel-Dallhausen, Köln, Her¬
zogstraße); Bettfußende auf Stühlen hochstellen,,
eine Tasse heißen, schwarzen Kaffee, einen
Schluck Kognak, ein halbes Dutzend Spritzen
Narkoseäther, subcutan verteilen.
Die Tamponade als Verfahren scheidet
aus, wenn bei gesprungener Blase ein
oder beide, Füße zu fühlen sind: der Arzt
drückt mit Hilfe des einen herabgezoge¬
nen Fußes den Steiß auf die blutende
Placenta; auch wenn bei stehender
Blase, Kopf im Fundus, kleine Teile
durch den Muttermund festzustellen sind:
Blasensprengung, Holen eines Fußes.
Die Blasensprengung als therapeu¬
tische Maßnahme scheidet aus dann, wenn
die Eihäute nirgends zu erreichen sind:
Praevia centralis-totalis. Hier genügt die
Blasensprengung als blutstillende Ma߬
nahme nicht (wie sie bei der Praevia
marginalis-Iateralis-partialis sicher vor¬
her genügt), sondern hier muß die Blut¬
stillung von einer eingreifenderen Hand¬
lung geleistet werden: der Braxton-Hicks-
Wendung oder der Metreuryse.
Die Metreuryse scheidet aus bei allen
Becken-Endlagen, sei es, daß die Blase
steht oder gesprungen ist (natürlich bei
allen Zuständen, bei denen der voran¬
gehende Teil im Becken steht; wenn es
hier blutet: Blasensprengung). Die Ballon¬
behandlung scheidet auch aus bei vor¬
gefallener (nicht bei vorliegender) Nabel¬
schnur (ohne andere kleine Teile oder
neben solchen). Sie scheidet auch aus
^®) Bei Pulslosigkeit ist die Lage nicht ver¬
zweifelt, wohl aber bei Lufthunger.
^‘) Heute ersetzt durch Norrnosal (anorgani¬
sches Serum) Sächsisches Serumwerk, Dresden.
Gebrauchsanweisung in der Packung.
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1920
429
bei ausgebluteten Frauen, weil die Metr-
euryse als nur einleitende, vorbereitende
Maßnahme später noch eine zweite (aber¬
mals blutkostende) Handlung notwendig
macht.
Die Braxton-Hicks-Wendung ‘ paßt,
sobald zwei Finger in den Uterus eingehen
können, die ganze Hand in der Scheide^^),
für alle Fälle.
Es ereignet sich, daß der Arzt bei Nur-
Zweifinger-Durchgängigkeit Schwierigkei¬
ten bei der Wendung oder beim Versuche
der Metreuryse hat. Da ist die m an u e 11 e
Dehnung der Cervix und des Mutter¬
mundes ein einfaches und sicheres Ver¬
fahren der Erweiterung auf jede ge¬
wünschte Weite. Man nennt diese Art
der gewaltsamen Weichteilerweiterung
nach Bonnaire, einem noch lebenden
Pariser Geburtshelfer. Aber die Bon¬
naire sehe Methode besteht in gleich¬
zeitiger Einführung beider Zeigefinger
in den Muttermund derart, daß beide
Handrücken einander zugekehrt sind;
rundum streichende, drückende Bewe¬
gungen dehnen den Ring; dann gesellen
sich zu den beiden Zeigefingern beide
Mittelfinger usw. Einfacher und ebenso
wirksam ist das ,,früher allgemeines)“
geübte Verfahren, zuerst einen Finger,
dann zwei Finger, dann drei ein und der¬
selben Hand einzuführen ,,und nach all¬
mählicher Dehnung die halbe oder auch
die ganze Hand es)“. ,,Allmähliche
Dehnung“ heißt allerdings: den einen
Finger fünf Minuten liegen lassen, bis der
nächste folgen darf, so daß bis zur Hand-
durchgängigkei t etwa eine halbe Stunde
verstreicht (je nach der Nachgiebigkeit
der Teile). Bei strömender Blutung kann
man also nicht für die ganze Hand er¬
weitern, wohl aber für die Braxton-Hicks-
Wendung. Holländische Ärzte, Meurer^"^)
und Treub^^), berichten allerdings von
^2) Es erleichtert die Handlung, die ganze
Hand, also auch den Daumen, in die Scheide zu
legen. Allerdings bildet Bumm, Bild 567 und 568,
den „Braxton-Hicks“ ab, mit Daumen außerhalb
der Scheide. D öd erlein, Geburtshilflicher
Operationskurs, 4. Aufl., Abb. 79 und 80, bildet
ebenfalls den Daumen außen befindlich ab, läßt
aber im Wortlaut ,,die eine Hand in die Scheide“
einführen (S. 88); Schröder-Olshausen-Veit
hat die ganze Hand in der Scheide (12. Aufl.,
S. 372); Hammerschlag, Operative Geburts¬
hilfe, spricht sich nicht darüber aus, aber Franz-
Pentzoldt-Stintzing,VII. Band, rät ausdrück¬
lich als Erleichterung die ganze Hand, und bildet
auch so ab.
13) Schröder, Lehrbuch, 12. Aufl., S. 314
unter Accouchement force.
1-») Mschr. f. Geburtsh. 1903, Bd. 17 S. 1299
und 1902, Bd. 16 S. 114 und 1904, Bd. 19 S. 426ff.
manueller vollständiger Erweiterung
in drei und fünf Minuten, selbst bei Erst¬
gebärenden. Aber sie berichten auch von
Cervixrissen, die in dem schwammigen,
reich vaskularisierten Prävia-Cervix häu¬
fig tödlich sind. Wenn demnach die
manuelle Dehnung mit großer Vorsicht
anzuwenden ist, so ist sie doch ein brauch¬
bares Verfahren und in manchen Fällen
sehr willkommen.
Der Metreuryse steht der Arzt der
Allgemeinpraxis ablehnend gegenüber. Die
Gründe trifft Bumm, indem er sagt: ,,Die
Methode .... erfordert aber größeres Ge¬
schick“ (als der Braxton-Hicks ist ge¬
meint) jjUnd einen komplizierteren Appa¬
rat und wird deshalb in der allgemeinen
Praxis die Wendung kaum verdrängen“
(S. 642). Heutzutage kommt noch eine
Schwierigkeit dazu, nämlich die Be¬
schaffung des Metreurynters, der Braun-
schen Gummiblase. Aber in der Baumm-
schen sterilen Tierblase ist ein voll¬
wertiger Ersatz gefunden. (In Einzel¬
packungen, steril, gebrauchsfertig, durch
die Firma B. Braun-Melsungen.) Besteht
der Arzt auf der Gummiblase, so muß
er dieselbe, um sie immer gebrauchsfertig
zu haben, wie alle Giimmisachen in einem
verschlossenen, zinkblechausgeschlagenen
Schränkchen, auf dessen Boden ein Schäl¬
chen 3%iger Carbollösung oder Terpentin¬
öl steht, entfaltet und hängend aufbewah¬
ren. Vor dem Gebrauch wird sie, luftleer
gemacht und abgeklemmt, gekocht. Zum-
Aufspritzen nimmt man eine 50-ccm-
Spritze und gekochtes, einfaches Wasser.
Nach der Aufspritzung klemmt man den
Gummischlauch mit Gefäßklemme ab,
befestigt an ihr einen Mullstreifen, an
welchem ein Halbpfundgewicht über das
Bettfußbrett herabhängt; länger als sechs
bis acht stunden soll der Ballon nicht liegen.
Ob der Metreurynter-Einführung auf
jeden Fall die Blasensprengung voraus¬
zugehen hat (intra-amniale Metreuryse)
oder ob der Ballon neben die Feuchtblase
in die Gebärmutter gelegt werden soll
(extra-amniale Metreuryse), darüber ist
man sich nicht einig. Jedenfalls gibt für
die nachherige innere Wendung und
Extraktion die Schonung dej Eiblase
viel günstigere Verhältnisse. Statistisch
ist bezüglich Mutter- und Kindmortalität
kein Unterschied zwischen intra-amnialer
und extra-amnialer Metreuryse i^). Bei
^^3) Zimmermann, Zbl. f. Gyn. 1909, tritt
in einem sehr überzeugten, schönen Aufsatz mit
Abbildungen des extra-amnialen Ballons für das
letztere Verfahren ein.
430 Die Therapie der
Kyphotischen mit Herzverlagerung und
bei unkompensierten Herzfehlern kann
die extra-amniale Lagerung des Ballons
einen Collaps (wegen des plötzlichen
Volunien- und Druckzuwachses) herauf¬
beschwören; aber auch die plötzliche Ent¬
leerung der Fruchtblase. Narkose ist zur
Metreuryse nicht notwendig. Einstellung
mit Rinneiispekula, eine Lippe oder beide
Muttermundlippen mit je einer Kugel¬
zange fassen und entgegenziehen; Ballon
zusammengefaltet einführen.
Die Ergebnisse zwischen Braxton-
Hicks-Wendung und Metreuryse sind be¬
züglich der Müttermortalität gleich; aber
beim Braxton-Hicks sterben, da man
die Frucht nach der Wendung sich selbst
überlassen muß, nicht extrahieren darf,
drei Viertel der Kinder, die Metreuryse
rettet ebensoviele.
Die Nachgeburtsperiode bei Prä-
via ist wohl nicht minder gefahrdrohend,
wie die Eröffnungszeit. Sie ist lebens¬
bedrohend nicht deswegen, weil wieder
sehr reichliche Blutungen einsetzen wer¬
den, die man nicht sofort kausal behan¬
deln könnte, sondern vielmehr deshalb,
weil die Halbentbundenen möglicherweise
den für eine regelrechte Placentaaus-
stoßung fälligen Blutaufwand (er kann
schwanken von fast 0 g bis 500 g, Bumm,
S. 201) nicht mehr leisten kann; die
Anämische ist vielleicht so nahe an der
Grenze des Erträglichen, daß ein Neu¬
verlust von 10 g die zwischen Hoffen und
Fürchten hin und her schwankende Lage
zur schlimmen Entscheidung bringt. Von
vornherein müßte man glauben, daß die
Präviaplacenta, die ja schon in der
Eröffnungsperiode teilweise gelöst war,
in der Nachgeburtszeit besonders leicht
ausgestoßen wird. Diese Erwartung er¬
füllt sich ,,gewöhnlich sofort^^^)“ bei der
Praevia totalis-centralis; beim Marginal¬
sitz der Prävia bedarf es häufig nur des
Crede (leere Harnblase und kontrahierter,
in die Mittellinie gestellter. Uterus!).
Jedenfalls darf bei ungeborener Prävia
nicht übersehen werden ein Blutsickern
in die Scheide (Bildung von Blutklumpen)
oder in die Gebärmutter (Erscheinen von
Blutklumpen bei der Expression). Die
Prävia-Nachgeburtszeit neigt zu solchen
Vorgängen, weil der im Cervix oder im
unteren Uterinsegment eingepflanzte Ku¬
chen keine Muskelunterlage hat, welche
durch Zusammenziehung die utero-pla-
centaren Gefäße verschlösse. Das Corpus
Richter, Geburtshilfliches Vademekum
1913, Fall 61.
Gegenwart 1920 Dezerhber
Uteri kann bei diesen Sicker¬
blutungen hart sein. Es ist für
den Arzt untunlich, die Halbentbundenen
und sich selbst lange mit Auspreßver-
suchen nutzlos abzuquälen; wenn der
Crede auch in Narkose nicht zum Ziele
führt, muß der Entschluß der manuellen
Lösung .und Entfernung des Mutter¬
kuchens gefaßt und in der gleichen Nar¬
kose unverzüglich ausgeführt werden.
Freilich kann es sich ereignen, daß wir
die Frau durch den Eingriff zwar vom
Verblutungstode retten, aber tödlich in¬
fizieren. Die Infektion ist neben der
Blutung die Hauptgefahr bei der Placenta
praevia. Wenn vorher auch noch tam¬
poniert war, ein Metreurynter lag, Brax¬
ton-Hicks, Bonnaire ausgeführt wurde,
ist die Gefahr einer Infektion vergrößert.
Aber es sind durchaus nicht mehrere
intrauterine Eingriffe nötig, um nach
Placenta praevia ein schweres, ja tötliches
Wochenbettfieber heraufzubeschwören;
der Zustand neigt an sich zur Infektion
und zu bösem Verlauf derselben: wegen
der nahe der Außenwelt sitzenden emp¬
findlichsten Stelle des kreißenden und ent¬
bundenen Uterus, der Placentarstelle mit
ihren weit offenen Gefäßen, Blutgerinn¬
seln und ihrer Säfteanreicherung; jede
untersuchende, jede operierende Hand,
jedes Hilfsgerät kommt mit ihr in Be¬
rührung, muß an ihr vorbei; und wegen
der Anämie, welche die Widerstands¬
fähigkeit der Puerpera gegen die statt¬
gehabte Infektion herabsetzt, aufhebt.
Die Mortalität der manuellen Placenta-
lösungen (überhaupt, nicht nur bei Pla¬
centa praevia) beträgt nach RosenthaP'^)
13 %, die Morbidität 30 bis 66 % ^'^).
Eine dritte, für die Placenta praevia bezeich¬
nende Gefahr, die glücklicherweise selten ist,
bringt die Luftembolie, Lufteintritt ins eröffnete
Gefäß der Placentarstelle. Daß sie bei vorliegendem
Mutterkuchen besonders gern sich ereignet, hängt
wieder mit der exponierten Lage der Placentar¬
stelle am Eingänge der Eihöhle zusammen. Ver¬
meiden läßt sich der Zufall, indem man bei
Placenta-praevia-Eingriffen keine Beckenhoch¬
lagerung ^®), sondern höchstens Steinschnittlage
(Oberkörper und Becken in gleicher Höhe, weitest
gebeugte Knie- und Hüftgelenke) einnehmen läßt,
und in Steinschnitt läge auch keine Seitenlage
benutzt, weil dabei der schwere Fundus nach der
Seite und tiefer fällt als die Placentarstelle liegt
und so ansaugend wirkt. Man faßt also die Luft-
Zitiert in Hammerschlag, Operative Ge¬
burtshilfe.
IS) Bei geburtshilflichen Untersuchungen und
Maßnahmen im ländlichen Querbette tritt leicht,
ohne daß der Arzt es besonders anstrebt, Becken¬
hochlagerung ein, weil der Oberkörper der Unter¬
suchten in den muldenförmigen Strohsack des
Bauernbettes hineinsinkt.
Dezfember^ Die Therapie der
«embolie bei Placenta praevia als eine Aspira¬
tionsembolie auf; man könnte auch an die Mög-
iichkeit einer Impressionsembolie denken, da¬
durch zustande kommend, daß bei Handlungen
-an der Haftstelle und beim Vorbeigehen an ihr
Luft in offene Gefäße eingepreßt würde; ein
Vorgang, der sicher auch vorkommt, wenn auch
wohl seltener als die Ansaugung. Tritt der
Zwischenfall, obwohl man ihn zu vermeiden
:suchte, trotzdem ein, so handelt es sich darum,
ihn zu erkennen; das ist nicht leicht, denn er
gleicht aufs Haar einem anämischen Kollaps (mit
oder ohne motorischer Unruhe): Lufthunger,
Cyanose, Verfall der Gesichtsziige, verschwunde¬
ner Radialpuls. Die Unterscheidung bringt die
Untersuchung des Herzens: An der Pulmonar-
-arterie und an Tricuspidalis ein systolisches und
auch , diastolisch noch hörbares merkwürdig
glucksendes Geräusch, das leicht zu unterscheiden
ist von dem sogenannten anämischen, weichen,
blasenden, nur systolischen Geräusch; außerdem
ändert sich die Eigenschaft des Luft- oder Schaum¬
geräusches beim Aufrichten der Befallenen dahin,
daß es anders lautend, besonders leiser wird oder
gar verschwindet, weil ein Teil der schaumbilden¬
den Luftblasen den Ort wechselt; sie steigen
empor entweder an den höchsten Punkt des
rechten Vorhofes, selbst in die Cava, oder sie ent¬
weichen in die Lungen. In jedem Falle, besonders
in letzterem, bessert sich.der Zustand der Kranken
zusehends: die Cyanose verschwindet und der
Puls wird fühlbar Beim anämischen Herz¬
geräusch ändert sich durch das Aufrichten des
Oberkörpers im Gegensatz zur wagerechten Lage
nichts. Die Behandlung der Luftembolie besteht
also — im Gegensätze zu derjenigen der Anämie
im Auf richten des Oberkörpers.
Die Nachgeburtszeit der Pla¬
centa praevia ist gezeichnet durch zv^ei
Ereignisse, deren Zeichen unglücklicher¬
weise abermals die Blutung ist. Das ist
der ungenügende Verschluß der Placentar-
gefäße und dev Cervixriß. Beide sind die
Folge der ungewöhnlichen, unnatürlichen
Einpflanzungsstelle des Kuchens. Der
muskelarme Cervix, der überdies noch als
papierdünner Schlauch zur Bildung des
unteren Uterinsegmentes mitverbraucht
ist, kann keine gefäßschließende Kon¬
traktion aufbringen; er kann sich höch¬
stens, nach der Ablösung der Placenta,
in Falten legen; aber eine Membran
plombiert kein großes Gefäß. Die auf¬
gelockerte, dünne, mit Bluthohlräumen
durchsetzte Cervix ist, wie natürlich, zer-
reißlicher als ein gesunder Halsteil; für sie
wird eine Beanspruchung, welche ein ge¬
sundes Gewebe durch elastische Nach¬
giebigkeit übersteht, zur Überbeanspru¬
chung: sie bricht, reißt ein und reißt
unverhältnismäßig weit ein; unverhält¬
nismäßig weit will sagen, daß der Prävia-
Cervix-Riß nicht wie der Riß einer ge¬
sunden, überbeanspruchten Cervix’ ge-
19) Im Zbl. f. Gyn. 1920, Nr. 30, S. 832ff.
schildern Lichtenstein und Thies je einen
klassischen Fall von Metreurynter- und Spontan-
Juftembolie.
Gegenwart 1920 431
staltet ist, der an der Außenseite, Schei¬
denseite, bis zum Scheidengewölbe reicht
und an der Innenseite, Lumen¬
seite auch nicht höher hinaufgeht,
sondern der Prävia-Cervix-Riß erstreckt
sich inwändig bis zum inneren Mutter¬
mund und selbst ins Parametnum. Solche
Risse sind auch in der Klinik für die Naht
von. der Scheide her nur durch eine
Operation zugänglich-zu .machen. Für
den Landarzt im Bauernhause bleibt nur
die Tamponade, die mauerfeste utero-
vaginale Tamponade. Lege artis aus¬
geführt genügt sie wohl in den meisten
Fällen auch beim hohen Cervixriß; immer
genügt sie bei der atonischen Nach¬
blutung aus der Prävia-Placentar-Stelle.
Die Ausführung dieser Tamponade ist nicht
einfach und ohne Narkose kaum wirksam zu
gestalten. Die ganze Hand ist in der Scheide, zwei
bis drei Finger liegen im Uterus. Die andere Hand
schiebt einen breiten Jodoformgazestreifen in die
Scheide, bis sich einige Schlingen des Stopfmittels
auf der inneren Hand angesammelt haben; sie
werden von ihr in den Uterus gebracht, gegen die
Viertubenecke geleitet und dort mit Hilfe der
äu.ßeren gegendrückenden^Hand angepreßt. Und
so geht es weiter; die äußere Hand schiebt immer
neue öaze nach, welche von der inneren Hand
Bausch für Bausch in die Höhle eingebracht und
an der Uteruswand angelegt wird; und die äußere
Hand modelliert gewissermaßen von den Bauch¬
decken her den Uterus über das eingebrachte
Stopfmittel durch stärksten Druck. So wird die
Placentarstelle, die ganze Uterushöhle, der Riß,
das Scheidengewölbe, die ganze Scheide bis heraus
zum Vulvaeingang mit Jodoformgaze (10 m und
mehr!) ausgemauert. Wenn noch zwei bis drei
Stunden lang eine gescheite Hebammö die Tam¬
ponade so hält, daß sie mit der einen Hand die
Gebärmutter gegen die Schoßfuge drückt, mit
der andern das Stopfmittel von der Vulva her
entgegenpreßt, so dürfte jede Blutung stehen.
Durch Eisbeutel auf den Fundus, Mutterkorn,
Tenosin subcutan werden Nachwehen angeregt.
Die Tamponade bleibt 24 Stunden liegen; nach
12 Stunden muß katheterisiert werden, weil die
feste Tamponade die Harnröhre zudrückt.
Der Momburgsche Schlauch, ein l%m langei¬
daumendicker Gasschlauch aus rotem Paragummi
ist heute wohl kaum zu beschaffen; er macht die
uterovaginale Tamponade nicht entbehrlich, weil
man ihn nach zwei Stunden abnehmen soll und
weil es dann weiter bluten wird; er ist nicht un¬
gefährlich, weil er Quetschungen, ja Zerreißungen
der Aorta selbst, des (gefüllten) Darmes und
parenchymatöser Organe (Niere, Leber) machen
kann, ohne bei fettreichen Bauchdecken immer
wirksam zu sein. Er läßt auch sonst manchmal
im Stiche, dann vielleicht, wenn die Arteriae
spermaticae internae (s. ovaricae) oberhalb des
gelegten Schlauches von der Aorta oder von den
Arteriae renales abgehen und so weit rückwärts,
in der Tiefe verlaufen, daß sie durch den Schnür-
druck nicht mehr getroffen werden.
Henckel hat empfohlen, die der Naht
unzugänglichen Cervixrisse so zu j3e-
handeln, daß die Cervix rücksichtslos
herunter und zur Seite gezogen wird; nun
432
Die Therapie der Gegenwart 1920
Dezember
soll ein kräftiger Museux (oder zwei) der
üteruskante entlang hinaufgeführt wer¬
den, so weit es die Nachgiebigkeit der
Teile erlaubt (Vorsicht, keine Durch-
stoßung) und "soll dort oben eingehakt
und ganz geschlossen werden. Dann kann
die Uterina mit gefaßt und abgeklemmt
sein. Die Zange bleibt zweimal 24 Stunden
liegen. Der wahrscheinlich mitgefaßte
Ureter wird vernachlässigt. (Urinprüfung
nach der Abnahme.)
Die Frage, bei wie großem Blut¬
verlust der Tod eintritt, läßt sich exakt
nicht beantworten. Jedenfalls hat die
Erfahrung gezeigt, daß Frauen Blut¬
verluste besser vertragen als Männer, und
magere, zartaussehende Frauen, besser
als fette, vollblütige. Bei zwei Liter ist
jedenfalls für alle die Grenze, deren Be¬
schreiten oder gar Übertreten die Kata¬
strophe bedeutet. Aber es hat praktisch
wenig zu sagen, ein Maß anzugeben: das
klinische Bild ist unzweideutig genug.
Ist nun für den Arzt, der in der
bitteren Lage ist, den äußersten Folgen¬
des Blutverlustes gegenüberzustehen,
alles getan? Ist er dazu verurteilt, er¬
geben dem letzten Kampfe um das ent¬
fliehende Leben zuzusehen oder winkt
selbst in dieser Stunde noch eine Hoff¬
nung seiner Kunst? Wir wissen alle aus
dem Felde, daß es ärztlicher Geschick¬
lichkeit gelingt, pulslosen Anämischen, ja
Sterbenden das Leben zu retten durch
Einverleibung fremden Menschenblutes
unmittelbar in den Blutstrom (Trans¬
fusion), und die Frauenärzte insbesondere
wissen durch ihren Fachkollegen Thies
in Leipzig, daß aussichtslos ausgeblutete
Extrauterin-Schwangere — nach "der Blut¬
stillung — durch Zurückführung ihres, in
die Bauchhöhle verlorenen Blutes in das
Gefäßgebiet am Leben erhalten werden
und sich in erstaunlich kurzer Zeit erholen.
Kann der Landarzt in seiner unvor¬
bereiteten Umgebung diese im wahrsten
Sinne lebenrettende Handlung vor¬
nehmen?
Daß der Eingriff einfach und unab¬
hängig ist von einer Einstellung der
Umgebung und von der Bereitschaft eines
großen Rüstzeuges, ist im Felde unzählige
Male bewiesen.
An Gerätschaft ist notwendig: ein Irrigator
mit 1% m Schlauch und eineStrauß-Moritzsche
dicke Nadel. An Spendern fehlt es auf dem Lande
nie; im Gegenteil, der Arzt hat die Auswahl.
Die Angehörigen, die Nachbarschaft ist bereit,
zur Lebensrettung % Liter Blut und mehr zu
opfern. Der Arzt wird Personen unter 20 Jahren
ausschließen, und unter den gesunden Mädchen
zwischen 20 und 30 Jahren Umschau halten.
Wenn der Eingriff Erfolg haben soll, muß der
Augenblick, da der erste Tropfen Spenderblut in
die Empfängervene fließt, schnell herbeigeführt
sein. Und das kann in der Tat in längstens einer
halben Stunde der Fall sein.
Kochendes Wasser ist in jedem Gebärhause
vorhanden.
Auskochen des Irrigators nebst Schlauch und
der Strauß-Moritzschen Nadel, einer Haken¬
pinzette, eines Ein-Liter-Glas- oder Porzellan¬
gefäßes, eines hölzernen Kochlöffels.
Aderlaß bei der Spenderin, etwa % Liter, aus
der Ellenbeugenvene.
Die Spenderin Hegt, indem sie den (linken)
Arm im rechten Winkel von sich abstreckt und
auf einen Stock, in der vollen Faust gehalten,
stützt. Reinigung der Ellenbeuge (Benzin, Äther,
Brennspiritus und dergleichen oder nur Seifen¬
wasser). Stauung am Oberarm (Handtuch,.
Radialpuls nicht abstauen). Die gewählte Vene
kann man eröffnen entweder mit der Strauß-
Nadel selbst oder mit einem Skalpell. Mit diesem
gewinnt man einen stärkeren Blutstrom, also Zeit;
das Skalpell muß aber eine sehr scharf schneidende
Spitze haben; es soll deswegen nicht — stumpfend
— ausgekocht, sondern nur mit Brennspiritus
gründlich abgerieben werden. Wählt man zur
Eröffnung die Nadel, so umgreift die linke Hand
den Spenderina'rm, Daumen auf der Vene und
sticht von lateral her ein; das Blut wird in das
untergehaltene (ausgekochte und etwas ab¬
gekühlte) Glas- oder Porzellangefäß aufgefangen
und. mit dem (ausgekochten) Kochlöffelstiel,,
schon im Einfließen geschlagen (defibriniert). Die
Spenderin rotiert den Arm nach auswärts, um
ein Abfließen des Blutes auf die Haut zu ver¬
meiden (Asepsis) und öffnet und schließt ab¬
wechselnd ihre Faust um den Stock, um durch
Muskelkontraktionen auch die tieferen - Venen
auszupumpen. In einer Minute fließen so etwa
100 ccm Blut aus.
Bei einer Skalpell-Venen-Wunde geht es schnel¬
ler. Die Eröffnung geschieht so, daß der Arzt —■
wieder von lateral her — die Vene durch" die
Haut hindurch aufschlitzt. Und zwar wird die
Vene nicht längsgeschlitzt, auch nicht quer er¬
öffnet, sondern schräg zu ihrem Verlaufe. Indem
die Messerspitze in einem Winkel von 45® auf
die Haut aufgesetzt wird, beginnt der Hautschnitt
am lateralen Umfange der Vene, geht in ihre
vordere Wand und in ihr hinauf, mindestens 1 cm
weit. Es soll Bedacht genommen werden darauf,
daß der Hautschnitt länger ist als der Gefä߬
schnitt, was man beim Einstechen und besonders
beim Herausführen des Messers erzielen kann..
Der Arzt ist darauf gefaßt, in der Haut einen
unerwartet derben Widerstand zu finden. Wenn¬
alles gut gelungen ist (die Schärfe des Messers
gewährleistet den Erfolg), dann schießt das Blut
im Bogen hervor. Es gibt Zwischenfälle. So
kann es sich ereignen, daß beim Nadelgebrauch
das Blut in so spärlichem Druck herausfließt, daß
es den Arm trifft, das darf nicht sein. Ein 5 cm
langes Gummischläuchlein verlängert die Nadel
genügend, um den Arm zu vermeiden. Beim
Skalpellgebrauch kann eintreten, daß ein Fett-
träubchen den Hautschlitz verstopft: es wird mit
der Pinzette abgenommen; oder, daß Haut- und
Gefäßschlitz nicht aufeinanderpassen. Verschie¬
bung der Haut stellt die Übereinstimmung her.
Nach Abfluß von 500 bis 600 ccm wird das bis
dahin fortwährend geschlagene Blut mit der
gleichen Menge physiologischer Kochsalzlösung
(NaCl-Pastillen), das in der Zwischenzeit gekocht
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1920
43S
und auf 37® bis unter 40® C, jedenfalls aber
unter 40® C (über 40® C Methämoglobinbildung)
abgekühlt war, zusammengegossen und damit ist
die Lösung für die Empfängerin fertig. Eine
gestaute Ellenbeugenvene (oder die gestaute j
Saphena interna an der Innenfläche der Tibia
beziehungsweise in der Umgebung des Malleolus
internus) wird durch Querschnitt und präpa-
rando ^®) freigelegt auf eine Strecke von 5 bis
10 cm. In der Nähe des oberen und unteren
Wundwihkels wird ein Seiden-, Zwirn- oder
Catgutfaden unter dem Gefäß durch- und knot-r
bereit gelegt. Die Vorderwand der Vene wird
aufgeschlitzt mit dem Messer; dasselbe muß sehr
scharf und spitz sein, sonst gelingt dieser Teil
des Eingriffes nicht. Beim Scheitern desselben
knüpft man den unteren (distalen) Faden, schnei¬
det das Gefäß quer durch, hebt mit der Haken¬
pinzette die Vorderwand an und führt hier die
Strauß-Moritzsche Nadel laufend ein. An sie ist
angeschlossen • der 1 % ni lange Gummischlauch
mit Irrigator, in welchen durch einen darüber ge¬
legten vierfachen Mullstreifen die Blut-NaCI-
Wassermischung gegossen ist. Mit Hilfe des
oberen (proximalen) Fadens ist die Nadel in das
Gefäß eingebunden und die Stauungsbinde ist
gelöst. In jedem Falle wird nach Entfernung der
Nadel sowohl der obere als auch der untere Faden
über dem Gefäße geknotet und das Zwischenstück
der Vene herausgeschnitten. Der Irrigatorgummi¬
schlauch paßt nicht auf die Strauß-Moritzsche
Nadel, weil seine Lichtung zu weit ist. Man muß
seine Lichtung reduzieren mit Hilfe eines (gläser¬
nen) ,,Reduktionsstückes“, d. h. eines 5 bis 10 cm
langen Glasröhrchens, dessen eines Ende die
Lichtung des Irrigatorschlauches, dessen anderes
Ende die Lichtung der Strauß-Moritzschen Nadel
hat. Zwischen dem Glasreduktionsröhrchen und
der Strauß-Moritzschen Nadel ist das oben schon
benutzte 5 bis 10 cm lange Gummischläuchlein
eingeschaltet.
Der Arzt als Wissenschaftler will wissen, mit
welchen Venen er bei dieser mittelbaren Trans¬
fusion zu tun hat.
Die anatomischen Erinnerungen, die mit der
Zeit abzublassen .pflegen, seien hier kurz auf¬
gefrischt. Die oberflächlichen Venen des Armes
verlaufen schon vom Vorderarm an auf der
Beugeseite, obwohl sie ihr Quellgebiet auf dem
Handrücken haben, und zwar: das radiale
Quellgebiet liegt auf der Rückseite der Daumen¬
gegend und wird gesammelt in der Vena cephalica,
welche sich über den Radialrand des Vorder¬
armes auf die Beugeseite hinüberschlägt und so
an der Daumenseite des Unterarmes über die
Ellenbeuge zum lateralen Bicepsrand des Ober¬
armes verläuft und an der äußeren Bicepsfurche
zur Mohrenheimschen Grube emporstrebt, um
hier in die Vena subclavia einzumünden. Das
^®) Die Assistenz kann man sich durch einen
Wundsperrer ersetzen.
ulnare Quellgebiet liegt auf der Rückseite der
Kleinfingergegend und besonders in der*gut sicht¬
baren Vena salvatella (Name aus dem Arabischen)
des vierten Zwischenknochenraumes; es wird ge¬
sammelt in der Vena basilica (arabisch basilik =
innere Vene), welche sich um den Ulnaerand des
Unterarmes auf die Beugeseite herumschlägt,
hier ulnar in die Höhe läuft, durch die Ellenbeuge
zum medialen Bicepsrand zieht und in der inneren
Bicepsfurche oder erst in der Achselhöhle in die
Vena brachialis einmündet.
Diese beiden Venen, die radiale Cephalica und
die ulnare Basilica sind in der Ellenbeuge ver¬
bunden durch einen Ast, der von der Cephalica
nach der Basilica zieht und die Ellenbeuge in
schräger • Richtung voa radial distal nach ulnar
proximal überschreitet; das ist die Vena mediana
cubiti. Sie ist ein starkes Gefäß, weil sie fast
sämtliches Blut der radialen Cephalica nach der
ulnaren Basilica überführt (so daß erstere am
Oberarm sehr schwach geworden ist) und weil sie
aus der Tiefe des Unterarmes herauf gespeist wird
durch. Anastomosen, welche von den die Arteria
radialis und ulnaris je doppelt begleitenden Venen
herkommen.
Die Vena mediana cubiti ist das Gefäß bei
unserer Entnahme und unserer Zuführung von
Blut.
Aber es gibt Abänderungen des beschriebenen
Verlaufes.
Die häufigste ist folgende: Außer der radialen
Hautvene, der Vena cephalica, und der ulnaren
Hautvene, der Vena basilica, gibt es noch eine
mittlere Hautvene der Beugeseite des Vorder-
arrnes, die Vena mediana antibrach.ii; sie läuft in
der‘Mitte des Vorderarmes bis gegen die Ellen¬
bogenbeuge; in der Beugegrube angelangt, teilt
sie sich in zwei Äste, von denen der eine zur
Cephalica nach außen läuft, die Vena mediana
cephalica, der andere zur Basilica nach innen, die
Vena mediana basilica; die Mediana basilica ist
die stärkere und dient unserem Zwecke.
Wie ersichtlich, ist kein einziger der Hand¬
griffe, aus welchen sich die mittelbare Transfusion
zusammensetzt, schwierig; sie bestehen aus Kleine
arbeit, wie sie viel schwieriger der Landarzt aus¬
führt, wenn er einen Fremdkörper aus der Horn¬
haut herausholt, wenn er eine Trommelfellparacen-
these macht. Schwierig an der Ausführung ist, daß
sie sich aus mehreren solchen kleinen, an sich
technisch leichten Handgriffen zusammensetzt,
deren reibungsloses Ineinanderspiel Schlag auf
Schlag, nur den Erfolg gewährleistet.
Aber in der Lage, für welche die
Transfusion empfohlen ist, gibt es nur
die Wahl zwischen untätig den Tod er¬
warten und entschlossen den letzten Ver¬
such zu unternehmen in der nicht un¬
berechtigten Hoffnung, ein Menschen¬
leben zu retten.
Cretinenbehandlung und Rassenhygiene.
Von Dr. Finkbeiner, prakt. Arzt, Zuzwil (Schweiz).
Legislative Bestrebungen.
Die moderne Rassenhygiene verlangt
nicht mehr die Elimination der Minüs-
varianten, sondern bloß deren Aus¬
schaltung von der Fortpflanzung, und
(Schluß.)
sie verlangt auch nicht einmal mehr die
Kastration, welche ja wegen der in
ihrem Gefolge unvermeidlichen inner¬
sekretorischen Störungen immer eine be¬
denkliche Verstümmelung ist, sondern sie
v55
Dezeratieir
434
•Die iTherapie der Qegenwa^ 1920
begnügt , sich mit der Vasektomie oder
mit der Röntgensterilisation, wobei so¬
wohl die Potentia coeundi, wie die sekun¬
dären Geschlechtsmerkmale erhalten blei¬
ben. Es ist hier nicht der Ort, die prak¬
tischen Versuche mit solchen Verfahren,
wie sie aus verschiedenen Staaten schon
vorliegen, zu referieren, es ist bloß zu
konstatieren, daß dieser Weg auch für
die Prophylaxe des Cretinismus durchaus
gangbar erscheint. Dabei ist auf zwei Be¬
denken besonders hinzuweisen.
Einmal wird man einwenden: wozu
denn überhaupt Cretine sterilisieren? sie
sind ja ohnehin schon impotent Selbst¬
verständlich hat die Operation bei echten
Vollcretinen keine Indikation, obschon
daran erinnert werden muß, daß echt
cretinische Frauenzimmer immerhin le¬
bensfähige Kinder bekommen können.
Wohl aber kämen als Kandidaten für die
operative Sterilisation alle jene leicht
cretinoiden Menschen in Betracht, von
denen mit einiger Wahrscheinlichkeit eine
minderwertige Nachkommenschaft zu er¬
warten ist. Die Schwierigkeit liegt nicht
im Erkennen dieser Individuen, sondern
in deren großer Zahl!
Und hier erhebt sich sofort der zweite
Eihwand: ist es denn so sicher, daß von
cretinoiden Eltern unweigerlich cretine
Kinder in die Welt gesetzt werden?
Gehen durch konsequente Sterilisierung
all der fraglichen Bevölkerungselemente
dem Staat nicht auch eine Menge brauch¬
barer Sprößlinge verloren? Gewiß ist
dies der Fall und sind sehr auffallende
Beispiele dieser Art bekannt genug. Aber
auch solche anscheinend gesunden Ab¬
kömmlinge aus Cretinfamilien können
(und werden sehr häufig) ihrerseits durch
latente Vererbung (Vererbung nach dem
Genotypus, nicht nach dem Phänotypus)
degenerierte Nachkommen erzeugen. Hier
gilt es sich zu entscheiden, und w^er den
Zweck will, nämlich das Verschwinden
der Endemie, der darf auch das hierzu
taugliche Mittel nicht scheuen, auch wenn
dadurch zeitweise die Bevölkerungsver¬
mehrung in Frage gestellt wird. Dann
ist es eben die Qualität auf Kosten der
Quantität bevorzugt.*
Als weitere gesetzgeberische Ma߬
nahme zur Eindämmung der Endemie
wäre eine Erschwerung der Eheschließung
in Betracht zu ziehen. Während die
Züchter nur qualifizierte Tiere zur Nach¬
zucht verwenden und also bewußt Se¬
lektion treiben, ist beim Menschen in
diesem Punkt alles erlaubt und dem Zu¬
fall überlassen. Unser schweizerisches
Zivilgesetzbuch z. B. verlangt von den
Nupturienten bloß, daß sie nicht in
nahem Grade blutsverwandt und nicht
geisteskrank sondern „urteilsfähig*' seien.
Der Entscheid über diese Erfordernisse
liegt beim Zivilstandesbeamten, eventuell
kann ,,jedermann, der ein Interesse hat,
Einsprache ... erheben** und muß die¬
selbe in Form einer gerichtlichen Klage
verfechten. Aber auch dann liegt wieder
der Entscheid über die Urteilsfähigkeit
beim Gericht, also bei einer durchaus
nicht sachverständigen Instanz, welche
an Expertengutachten nicht gebunden
ist. Kein Gericht würde es wagen, einen
Cretinoiden, der einigermaßen fähig ist,
seinen Lebensunterhalt selbst zu ver¬
dienen, für ,,urteilsunfähig** zu erklären;
theoretisch wie praktisch ist also bei uns
die Ehefähigkeit der Cretinoiden unan¬
gefochten, was für die weitere Ausbrei¬
tung des Cretinismus von grundlegender
Bedeutung ist.
Es wäre also zu fordern, daß in Ende¬
miegegenden die Eheschließung nur ge¬
stattet wäre, wenn durch ärztliches Attest
das Fehlen einer cretinoiden Disposition
bei den Brautleuten bezeugt wird. Haben
wir uns aber einmal zu diesem schwer¬
wiegenden Entschluß durchgerungen, so
dürfen wir natürlich beim Cretinismus
allein nicht stehen bleiben; es ist dann
auch auf andere leicht vererbliche Leiden
(Tuberkulose, Geistes- und Geschlechts¬
krankheiten) zu achten und es erhebt sich
die Frage, ob nicht auch gewisse morali¬
sche und finanzielle Garantien von den
Ehekandidaten zu fordern seien? (in
dem Sinne, daß nur bei Nachweis eines
einigermaßen gesicherten Lebensunter¬
halts und eines guten Leumundes die
Ehe gestattet wäre). Aber dadurch ist
schon der Vorschlag ad absurdum ge¬
führt; denn es leuchtet ohne weiteres
ein, daß jeder von uns ohne Ausnahme
mindestens in irgendeinem der ob¬
genannten Punkte als belastet, somit
als disqualifiziert anzusehen sein muß.
Will man aber jeweilen nur die höchsten
Grade von Belastung als Ehehindernisse
gelten lassen, so wird die ganze Regelung
wirkungslos und öffnet sich der Willkür
ein allzu weiter Spielraum. Und wer soll
die Zeugnisse ausstellen? Der Hausarzt?
— er ist an seiner Klientel zu sehr inter¬
essiert. Ein Amtsarzt oder eine Kom¬
mission? — hier fehlt die persönliche
Kenntnis der Kandidaten und sind Be¬
trugsmöglichkeiten gegeben. Sieht man
IJeztober
Die Therapie der Gegenwart 1920
435
von einer gesetzlichen Regelung ab und
'sucht die Lösung der Frage auf dem Boden
der Freiwilligkeit, etwa so, daß kein
Mädchen ,einem Manne Gehör schenkt,
wenn er nicht im Besitz eines Attestes ist,
:so steht solcher Lösung die Blindheit der
Leidenschaft im Wege, die achtlos über
.alle (auch ärztlichen) Ratschläge hin¬
weggeht.
Sollen die schon bestehenden gesetz¬
lichen Ehehindernisse aus Blutsverwandt¬
schaft verschärft werden? Sollen Ehen
zwischen Ortsbürgern (da diese in engerem
•oder weiterem Grad immer unter sich
verwandt sein müssen) überhaupt ver¬
boten sein? Auch das wären Fehlschüsse,
die weit übers Ziel hinaus gingen. So
verderblich auch ein während Jahr¬
hunderten geübtes Ineinander-Heiraten
sein kann, so steht doch auch fest, daß
bei gesunden Stämmen Inzucht .nicht
schädlich, sondern veredelnd wirkt, wenn
nur von Zeit zu Zeit frisches Blut zu¬
geführt wird.
Wenn man in einer allzu frühen
Eheschließung die Wurzel alles Übels sieht
'(es gibt solche Autoren!), so wäre durch
Heraufsetzen des gesetzlichen Heirats-
.alters leicht Abhilfe zu schaffen. Aber
jede Erschwerung der Eheschließung be¬
günstigt doch bloß die illegitimen Ver¬
bindungen, welche gewiß niemand als
ein Palladium gegen cretinische Ent¬
artung ansehen wird. (Es gibt übrigens
sichere Endemiegebiete mit durchschnitt¬
lich ungewöhnlich hohem Heiratsalter
und geringer Fruchtbarkeit.) Die Gefahr
■ der allzu frühen Eheschließung liegt nicht
im ungenügenden Alter der Eltern, son¬
dern meines Erachtens eher darin, daß
in solchen Fällen die Kinderzahl abnorm
groß und dadurch das Keimmaterial im
Lauf der Generationen erschöpft wird;
aber welcher Gesetzgeber würde und
könnte sich zu einer Limitierung der
Kinderzahl entschließen!?
Auf dem Wege der Ehegesetzgebung
scheint mir also für die Prophylaxe des
Cretinismus auch heute noch ein prakti¬
sches Ziel nicht zu winken. Man hat auch
schon vorgeschlagen (Schallm ayer),
durch eine Wehrsteuer, welche nur die
vom aktiven Dienst Befreiten trifft, die
Wehrfähigen als die durchschnittlich rasse¬
tüchtigeren Elemente zu begünstigen^^).
Eine solche Militärpflichtersatzsteuer
Bei Wegfall der allgemeinen Wehrpflicht
• entfällt natürlich auch die Möglichkeit der Er-
.hebung einer Ersatzsteuer.
müßte aber, soll sie wirksam sein, so
unerträglich hoch angesetzt werden, daß
den Untauglichen überhaupt jede Exi¬
stenzmöglichkeit dadurch entzogen wird;
auch dies ein unerreichbares Ziel und
kaum erstrebenswert. Denn unter den
Untauglichen befinden sich doch auch
noch sehr wertvolle Rassenelemente, die
man nicht ohne Schaden für die Allge¬
meinheit so stark benachteiligen darf. Der
Soldat ist schließlich nicht der einzige
und vielleicht nicht einmal der wertvollste
Menschentypus.
Soviel über gesetzgeberische Versuchs¬
möglichkeiten zur Eindämmung der cre-
tinischen Endemie; die weitere Frage,
ob die
natürliche Entwicklung
einem spontanen Verschwinden der En¬
demie zustrebe, scheint durch die von
Ewald (S. 140) erwähnte Tatsache, daß
gegenwärtig in mehreren deutschen Staa¬
ten (Baden, Thüringen, Harzgegend) bloß
noch Kropf, jedoch kein Cretinismus
mehr vorkommt, schon in bejahendem
Sinne entschieden zu sein. Als ma߬
gebende Faktoren werden Verkehrsver¬
hältnisse und Kriege angeführt. Darauf
ist nun noch kurz einzutreten.
Verkehr und Industrie spielen zweifel¬
los bei der Verbreitung der Seuchen eine
hervorragende Rolle. Aber während wir
die Infektionskrankheiten überall dort
antreffen, wo lebhafter Verkehr herrscht,
so findet sich der Cretinismus umgekehrt
gerade da, wo der Verkehr und der mo¬
derne Industriebetrieb noch nicht hin¬
gekommen sind; und wenn sonst die
Seuchenverhütung durch Isolierung, Qua¬
rantäne usw. den Verkehr fernzuhalten
sucht, so sind alle Autoren darüber einig,
daß der Cretinismus zurücktritt, sobald
bisher abgeschiedene Gegenden dem Ver¬
kehr erschlossen werden. Da nun die
Entwicklung unverkennbar und ohne
unser zutun dahin geht, Verkehr und
Industrie in die hintersten Winkel zu
tragen, so dürften wir davon automatisch
auch eine Zurückdrängung der Endemie
erwarten; ob im übrigen die Industrialisie¬
rung für bisher unberührte Bezirke im
sozialen und hygienischen Sinn einen
großen Vorteil bedeutet, das bleibe da¬
hingestellt. Was die Cretinenprophylaxe
anbelangt, so ist das wesentliche und
sanierende Moment nicht die Maschine
als solche oder gar die Fabrikarbeit, auch
wohl nicht einmal die bessere Lebens¬
haltung, sondern die Zufuhr frischer Be-
55 *
436
Die Therapie der Gegenwart 1920
Dezember
völkerungselfemente in Gegenden, wo bis¬
her vorzugsweise Endogamie geübt wurde.
Das dürfte im Sinne" der vorstehenden
Ausführungen kaum zweifelhaft sein.
Diese Entwicklung vollzieht sich, wie
schon bemerkt, ohne unser Zutun. Wenn
mäh durchaus sie begünstigen will, so
wäre daran zu denken, durch Steuer-
privilegi'en usw. die Ansiedlung der In¬
dustrie in geeigneten Gegenden zu er¬
mutigen. Ferner käme Erleichterung
der Einbürgerung und vermehrte Gleich¬
stellung von Ortsbürgern und Nieder¬
gelassenen in Frage (z. B. Verdrängung
des Heimatprinzips in der Arm.enpflege
durch das Territorialprinzip; Anteil ah
den Gemeindegütern für die Fremden).
Aber auf Entgegenkommen ist in solchen
Dingen seitens cer ländlichen Gemeinden
nicht zu rechnen.
Um zu zeigen, in welchem Maße die
erwähnte Entwicklung unser Volk schon
umgestaltet hat, führe ich bloß an, daß
die schweizerische Bevölkerung im Jahre
1850 bei zirka 2 400 000 Einwohnern
6% kantonsfremde Schweizer und 3%
Ausländer auswies; bis 1910 waren die
ersteren auf 20%, die letzteren auf 12%
angewachsen (die Bevölkerung auf zirka
3 750 000). Es hatten sich somit die
Ortsbürger, die noch 1850 mehr als
neun Zehntel ausmachten, auf zwei
Drittel der Gesamtbevölkerung vermin¬
dert. Es scheint mir nicht ungereimt,
die Abnahme des Cretinismus in dem
erwähnten Zeiträume, die allgemein be¬
hauptet wird, auf diese lebhaftere Volks-
vermischung^“) zu beziehen; dies um so
mehr, als der Cretinismus, wie zahlen¬
mäßig exakt nachweisbar ist, sich heute
nur noch in den kleinsten Ortschaften
und Weilern findet, die größeren Städte
und Industriedörfer aber auffallend ver¬
schont sind. —
Da der Krieg (wie die Industrie) auf
die Zusammensetzung der Staaten und
^2) Es ist eine Tatsache, an der man nicht
achtlos Vorbeigehen darf, daß die Fremden in
der Schweiz (zumeist Reichsdeutsche und Ita¬
liener) eine geringere Sterblichkeit, eine größere
Geburtenzahl und damit einen höheren Bevöl¬
kerungszuwachs haben, als die Einheimischen.
Hier wird die Abnahme der Entartung durch
die lebhaftere Volksvermischung zu erklären
versucht; weiter oben war aber zielbewußte Rein¬
zucht (allerdings in Verbindung mit zeitweiser
Blutauffrischung!) als prophylaktisches Heil¬
mittel angeführt worden. Auf diesen schein¬
baren Widerspruch kann hier nicht näher ein¬
gegangen werden; er läßt sich bei allseltiger
Kenntnis der Regeln der Vererbungswissenschaft
ziemlich leicht lösen.
der Völker bekanntlich tiefgreifende Wir¬
kungen auszuüben vermag, so ist es-
nicht verwunderlich, daß er auch für
Entstehung und Verschwinde^ cretini-
scher Entartung verantwortlich gemacht
wird. Lombroso (zitiert nach Ewald)
hat hervorgehoben, daß in gewissen fran¬
zösischen Departementen, die durch die-
Aushebungen und Kriege von 1789 bis
1873 ihrer felddienstfähigen Jugend be¬
raubt wurden, nach dieser Zeit, als
Produkt der Ehen der zurückgebliebenen
kropfigen Individuen und der schlech¬
teren sozialen und hygienischen Zustände,
Cretinismus auf getreten sei. Anderer¬
seits sollen schwer yerseuchte Gegenden
wie das Wallis infolge der Napoleonischea
Kriege ihre Endemie großenteils ver¬
loren haben. Es ist beides recht wohl
denkbar, und die gleichen Momente dürf¬
ten auch heute noch wirksam sein. Ohne
an frisch blutende Wunden zu rühren,
darf ich doch vielleicht einige allbekannte
Tatsachen anführen und in ihrer Bedeu¬
tung für unsere Endemie zu würdigeir
versuchen.
Europa hat in den letzten fünf Jahren
zirka zehn Millionen Männer im besten
Alter verloren und etwa ebenso viele
dürften als Kriegsinvalide für die Er¬
haltung der Rasse nur noch in beschränk¬
tem Maße in Frage kommen. Es leuchtet
ein, daß nach diesem Aderlaß, der einen
sehr erheblichen Teil der Plusvarianten
eliminiert hat, die Minusvarianten rein
zahlenmäßig ein bedenkliches Überge¬
wicht bekommen müssen. Vergessen
wir jedoch nicht, durch welche Momente-
diese Einbuße in ihrer verderblichen
Wirkung korrigiert wird. Vor allem wird,
so lange die allgemeine Dienstpflicht
nur die Männer beansprucht, durch das
Verschontbleiben des weiblichen Ge¬
schlechts der Schaden zur Hälfte wieder
ausgeglichen. Sodann ist an die un¬
geheure Durchrüttelung großer, bisher
stagnierender Volksmassen zu denken..
Riesenhafte Heeresmassen haben jahre¬
lang in fremden Ländern gestanden und
Gelegenheit gehabt, auf die ansässige
Bevölkerung Einfluß zu gewinnen; fast
ebenso große Heere haben als Kriegs¬
gefangene in friedlicher Tätigkeit fremde-
Länder gesehen. Jede Nation ist als.
Sieger in Feindesgebiet eingezogen und
jede hat auch die Schrecken der Invasion
kennen gelernt. Es ist undenkbar, daß
solche Völkerwanderungen spurlos vor¬
übergehen sollten; die dadurch bewirkte
allseitige Durchmischung und Blutauf-
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1920
437
frischung kann und muß neue Entwick¬
lungsmöglichkeiten schaffen, von denen
in bezug auf die cretinische Degeneration
und deren Sanierung nur Gutes zu
erhoffen ist. Und noch etwas! Wenn der
männermordende Krieg es in erster Linie
auf die Plusvarianten abgesehen hat und
hier eine sehr unglückliche Auslese hielt,
so haben Hungersnot und Seuchen
<Fleckfieber, Grippe usw.) in ausgleichen¬
der Gerechtigkeit auch die Minusvarianten
heimgesucht. Ich will diesen Gedanken
nicht weiter ausführen, sondern bloß
betonen, daß das zu allen Zeiten, nicht
bloß heute, so gewesen ist, und daß heute
das ganze Europa (mit Einschluß der
Neutralen) unter den Kriegsfolgen leidet.
Wenn wir hier und da erfahren, daß ganze
Anstalten und Siechenhäuser ausgestörben
sein sollen, so ist dies vom humanitären
Standpunkt aus entsetzlich; aber die
kühl rechnende Rassenhygiene vermag
darüber leichter hinwegzukommen.
Es ist mir ganz klar, daß meine Aus¬
führungen über Cretinenbehandlung und
Rassenhygiene das Thema keineswegs
erschöpfen und mit ihrem reservierten
Abwägen aller Pro und Contra weder die
heute noch maßgebenden Vertreter der I
Thyreoidintherapie, noch die überzeugten
Parteigänger der Rassenhygiene befriedi¬
gen können. Ich betrachte es auch keines¬
wegs als meine Aufgabe, positive Vor¬
schläge zu machen und unfehlbare Re¬
zepte anzugeben, und ich weiß mich frei
von jeder Überschätzung des Cretinen-
problems und seiner volkswirtschaft¬
lichen Bedeutung. Immerhin handelt es
sich hier um ein Grenzgebiet mit viel¬
seitigen Beziehungen, und es ist ein
Grenzgebiet, in welches auch der ge¬
wöhnliche Praktiker ohne allzu kompli¬
zierten wissenschaftlichen Apparat sich
einen gelegentlichen Streifzug gestatten
darf.
Literatur: Allara, Vincenzo, der Cretinis-
mus, seine Ursachen und seine Heilung; über¬
setzt von Hans Merlan. Leipzig 1894. —
Dem me, Hermann, Über endemischen Cretinis-
mus. Bern 1840. — Ewald, C. A., Die Erkran¬
kungen der Schilddrüse usw. Leipzig 1909. —
Guggenbühl, Hans Jakob, Die Heilung und
Verhütung des Cretinismus (Mitt. Schweiz. Naturf.
Ges.) 1853. — Rösch, Untersuchungen über
den Cretinismus in Württemberg. Erlangen 1844.
— Scholz, Wilhelm, Klinische und anatomische
Untersuchungen über den Cretinismus. Berlin
1906. — Derselbe, Cretinismus (in Kraus &
Brugsch, Spez. Path. u. Ther. inn. Krankh.;
Urban & Schwarzenberg). — Taussig, Siegmund,
Kropf und Cretinismus. Jena 1912.
Das yyRepetitorium der inneren Therapie"^ von G. Klemperer fällt diesmal
wegen Raummangel aus und wird im nächsten Heft fortgesetzt werden. Gleich¬
zeitig beginnt im nächsten Heft das yyRepetitorium der chirurgischen Therapie*^
von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Moritz Borchardt, Direktor der HI. chirurgischen
Univ.-Klinik im Städt. Krankenhaus Moabit, Berlin, zu erscheinen.
Bücherbesprechungen.
Dr. Wilhelm Stekel, Störungen des Trieb-
und Affektlebens (Die parapathischen Er¬
krankungen). IV. Die Impotenz des
Mannes (Die psychischen Störungen der
männlichen Sexualfunktion). Berlin-Wien 1920,
Urban & Schwarzenberg, gr. 8». XII, 482 S.
Preis 50 M., geb, 65 M.
Das Schlußbekenntnis des Verfassers: ,,Die
Psychotherapie“ hat ihre Berechtigung genau so
wie die Pharmokotherapie, beleuchtet den Stand¬
punkt, von dem aus dieser neue Band geschrieben
worden ist, ebenso wie die drei vorhergehenden.
Es handelt sich um eine einseitige, aber geniale
und faszinierende Betrachtung der psychischen
Untergründe der männlichen Impotenz, in die
uns Stekel, wie wir es von ihm gewöhnt sind,
eine Fülle von tiefen und überraschenden, oft
auch allzu kühnen, immer aber interessanten
Einblicken tun läßt. Der Ausspruch Stekels
(S. 74), daß man ohne gründliche Analyse des
individuellen sexuellen Geschmackes keine Be¬
handlung eines Impotenten durchführen könne,
ist sicher schon vor Freud und Stekel von
allen einsichtigen Ärzten beherzigt worden, jeder
hat nach den individuellen psychischen und (was
mindestens ebenso wichtig!) physischen Be¬
sonderheiten des Einzelfalles geforscht, ohne
allerdings so häufig infantile, Ödipus- und andere
Komplexe, „Christusneurosen“, ,,Mutter- oder
Vaterleibsträume“ zu finden, wie dies bei den
Psychoanalytikern par excellence der Fall ist.
Neuerdings erkennen diese letzteren ja immer
mehr auch die Bedeutung somatischer Faktoren
für die'Ätiologie der Impotenz, in erster Linie
die Bedeutung von Störungen der inneren Sekre¬
tion, neben den psychischen an, wie dies auch
Stekel in der vorliegenden Schrift getan hat,
die neben der eigentlichen „Psychoanalyse“ zahl¬
reiche neue und interessante Beobachtungen über
die besonderen Bedingungen der männlichen Po¬
tenz, über Pollutionen, Onanie und Potenz, Im¬
potenz und Ehe, Ejaculatio praecox, Impotentia
paralytica, Orgasmusstörungen, Krieg und Im¬
potenz, Beruf und Sexualität usw. usw. bringt,
zum Schluß freilich der ausschließlich psycho¬
analytischen Behandlung das Wort redet.
Stekels neues Werk kann als eine eigenartige
und umfassende Darstellung der Impotenz des
Mannes sowohl den Spezialisten als auch den all¬
gemeinen Praktikern warm empfohlen werden.
Iwan Bloch (Berlin).
438
Die Therapie der Gegenwart 1920
Dezember
Erich Sonntag, Grundriß der gesamten
Chirurgie. Ein Taschenbuch für Studierende
und Ärzte. Berlin 1920. Verlag von Julius
Springer. Preis 38 M. und Sortimenlszu-
schlag.
Der Zweck des Buches wird von dem Autor
im Vorwort mit folgenden Worten charakterisiert:
„Die Darstellung der gesamten Chirurgie in Form
eines kurzgefaßten Grundrisses, welcher dem
Mediziner, vor allem dem studierenden, ein
Kompendium für das Studium, ein Vademekum
für den Unterricht und ein Repetitorium für das
Examen in Form eines Taschenbuches bieten
soll.“ Demgemäß enthält das Buch folgende
Abschnitte: Allgemeine Chirurgie, spezielle Chirur¬
gie, Frakturen und Luxationen, Operationslehre,
Verbandlehre.
Sonntags Grundriß ist mit ungewöhnlichem
Fleiß und großer, auf eigenen Erfahrungen an
der Payrschen Klinik sich begründenden Kennt¬
nissen der gesamten Chirurgie geschrieben. Schon
hierdurch erhebt es sich weit über den Stand
der bekannten Bücher ähnlicher Art, die zumeist
nur kurzgefaßte Auszüge der gebräuchlichen
Lehrbücher sind. Der „Grundriß“ ist, wenn
auch oft nur in Form von Stichworten,' dem
studentischen Leser, an den er sich in erster
Linie wendet, ein willkommener Führer, um ihm
sein im Kolleg und durch^ das Studium der Lehr¬
bücher erworbenes Wissen in systematischer
Form wieder aufzufrischen. Auch der Arzt wird
ihm manchen praktischen Wink entnehmen
können. Bei dem gewaltigen Lehrstoff der Ge-
samtmedizin wird das Buch sicher auch ein gern
gesehener Berater in Examenangelegenheiten
sein. Hayward.
Refe
hl letzter Zeit sind zur Behandlung
von Pneumonien große Dosen Campher
mehrfach empfohlen worden. Campher
soll auf die Pneumokokken specifisch
bactericid wirken und durch Erweiterung
der Lungengefäße den pneumonischen
Herd rascher zur Resorption bringen.
Daß aber bei höhen Campherdosen auch
Vergiftungserscheinungen auftreten kön¬
nen, beweist ein Fall, der von Klein
veröffentlicht wird. Es handelt sich um
einen Studenten von 19 Jahren mit
Bronchopneumonie. Verordnet wurde
unter anderem zweimal täglich 10 ccm
Oleum camphoratum forte. Eine halbe
Stunde nach der vierten Einspritzung
wurde Patient cyanotisch und bewußtlos,
der Puls war unfühlbar, die Atmung hatte
ausgesetzt. Erst nach 40 Minuten lang
fortgesetzter künstlicher Atmung kommt
sie wieder in Gang. Nach zwei Stunden
trat wiederum Bewußtlosigkeit und. At¬
mungsstillstand ein. Künstliche Atmung
P/4 Stunden lang. Beim Erwachen tob¬
suchtsartige Erregung. Diese Erscheinun¬
gen gleichen völlig denen, die bei akuter
Camphervergiftung bekannt sind. Da
Curt Adam, Taschenbuch der Augenheil¬
kunde für Ärzte und Studierende. Mit
72 Textabb. u. 5 färb. Tafeln. Berlin-Wien 1920..
Urban & Schwarzenberg.
Es spricht für die große Beliebtheit und Ver¬
breitung des Buches, daß zwölf Jahre nach der
ersten Auflage in jetziger Zeit trotz aller Not
im Buchhandel bereits die vierte Auflage hat
erscheinen können. Sie hat wie die vorhergehen¬
den eine erhebliche Vermehrung und Vertiefung
des Inhalts erfahren, und aus dem „Taschenbuch“'
ist ein stattliches Buch von 400 Seiten geworden.
In knapper Form, ohne unverständlich zu werden,.,
wird in geradezu erschöpfender Weise auf allen
Gebieten das Wesentliche dargestellt, oder doch,
soweit berührt, daß bei allen Vorkommnissen
der praktische Arzt Rat und Führung findet..
Es sind genau die Grenzen bezeichnet, bis zu
denen sein Können geht, und wo das Gebiet des
Spezialisten beginnt. Die Therapie wird überall:
besonders betont, aber auch die Differential¬
diagnose hat Verfasser in allen Kapiteln aus¬
giebig behandelt. Besonderer Wert ist auf den
Zusammenhang zwischen Allgemeinerkrankung,
und Augenleiden gelegt. Alle wirklichen Fort¬
schritte der letzten Jahre sind in der neuen Auf¬
lage berücksichtigt, und die Ergebnisse moderner
Therapie kritisch behandelt. Auch der Spezialist
wird daher in dem Buch, besonders im allgemeinen
Teil, eine wertvolle Orientierung finden. EbensO'
wird er die im Anhang gegebene reichhaltige
Rezeptsammlung, das Verzeichnis der Blinden¬
anstalten, die Bemerkungen über Gutachten usw.
mit Nutzen verwenden können. Gute Abbildungen
im Text und auf Tafeln illustrieren die Schil¬
derungen. Fehr.
rate.
die Untersuchung des verwandten Prä¬
parates seine chemische Reinheit ergab,
kann es sich im vorliegenden Falle nur
um eine Camphervergiftung gehandelt
haben. Obwohl Verfasser in anderen
Fällen günstige Einwirkung hoher
Campherdosen auf den Verlauf von Pneu¬
monien gesehen hat, hält er es doch für
angezeigt, bei Bronchopneumonien zur
Vorsicht zu mahnen. • Nathorff.
(M. Kl. 1920, Nr. 32.)
Über die von Grafe (Heidelberg) be¬
gründete Anwendung von' Caramel bei
Diabetikern, welche G. Klemperer in
dieser Zeitschrift referiert und empfohlen
hat, berichtet neuerdings aus der Heidel¬
berger Klinik Dr. Reimer. Er verfügt
über 55 Fälle leichtester bis schwerster
Art und kommt zu außerordentlich gün¬
stigen Resultaten. Von allen Diabetikern
wird Caramel vorzüglich assimiliert und
auch für eine gewisse Zeit nach Beendi¬
gung der Caramelkur anhaltende Ent¬
zuckerung, ein Sinken der Acidosewerte
und beträchtliche Erhöhung der Kohle¬
hydratbilanz in der überwiegenden Mehr-
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1920
439
heit der behandelten Fälle festgestellt.
Besonders günstig reagieren jugendliche
Kränke. Dazu kommt die durch den
hohen Caloriengehalt des Caramels be¬
dingte Erleichterung und Verbesserung
der Ernährung. Am günstigsten wunien
vier sehr schwere Fälle beeinflußt. Uber
die Dauer der günstigen Einwirkung sind
endgültige Angaben noch nicht zu
machen. Bei sieben mit Caramel behan¬
delten Fällen, die sich zu späteren Ter¬
minen wieder in Behandlung begaben,
konnte die Kur wegen Zuckermangels
während des Krieges nicht wiederholt
werden. Diese Fälle zeigten daher Ab¬
nahme der Kohlehydrattoleranz. Die
Caramelkuren sollen jedenfalls öfters
wiederholt werden, und es wäre inter¬
essant zu erfahren, ob diese Wieder¬
holungen ebenso günstig wirken und
vielleicht sogar die Nachhaltigkeit der
Wirkung erhöhen.
Als störende Nebenwirkungen kom¬
men in Betracht; leichte und durch Tan¬
nin oder Opiumpräparate leicht stillbare
Diarrhöen und in seltenen Fällen Wasser¬
retention. Eine Verringerung oder wesent¬
liche Verzögerung der therapeutischen
Wirkung tritt dadurch nicht ein. ln
keinem einzigen Falle wurde durch die
Caramelverabreichung eine nachteilige Be¬
einflussung des weiteren Krankheits¬
verlaufs bewirkt.
Jedenfalls dürften die Mitteilungen
Reimers schon deshalb zu weiteren Ver¬
suchen anregen, weil das Caramel eines
der wenigen für den Diabetiker gut
assimilierbaren Kohlehydrate darstellt,
das durch keinerlei wesentliche störende
Neberiwirkungen schädlich wirkt. Ver¬
wendet wurde die von Merck herge¬
stellte Caramose (= Traubenzuckercara-
mel) oder durch Erhitzen von Rohr- oder
Traubenzucker hergestelltes Caramel. Das
Erhitzen geschieht am besten in einem
möglichst flachen und breiten Aluminium¬
topf (Rohrzucker, auf 175®, Trauben¬
zucker auf 175®) bis zum' Verschwinden
jedes süßen Geschmackes und der Ver¬
gärbarkeit bis auf geringe Reste. Man
gibt 150—200 g 6—12 Tage hindurch am,
besten in Kaffee oder Kognak oder zu
Puddings oder Cremes verarbeitet.
. Blumenthal (Berlin).
'"(oT^ATcirrkh^^ Heft"3/4.)
Über einen Fall von Erythromelalgie
bei Polycy thaemia vera berichtet
Zondek. Beide Krankheitsbilder sind
einzeln nicht häufig — in der Oppen-
heimschen Poliklinik wurde unter 25 000
Fällen nur. zweimal Erythromelalgie
beobachtet —, ihre Kombination aber
ist sehr selten und bis jetzt nur einige
Male beschrieben worden. Es handelt
sich um einen 39 Jahre alten Arbeiter,
der mit der Diagnose ,,Plattfußbeschwer¬
den“ eingeliefert wurde. Die Unter¬
suchung ergab: Starke Milzvergrößerung,
Rötung und Cyanose d»f Haut und der
Schleimhäute. Blutbild: 7 000 000 Ery-
throcyten, 26 000 Leukocyten, Hämo¬
globin 110®/o, Färbeindex 0,78. Im Aus¬
strich keine Polychromasie, keine Normo-
blasten, keine Anisocytose. Weiße Blut¬
körperchen: unter anderem 12®^ eosino¬
phile Leukocyten, 4% neutrophile Myelo-
cyten. Starke Durchblutung und Schwel¬
lung der Zehen des rechten Fußes, des
rechten Fußrückens und der lateralen.
Seite der unteren Hälfte des rechten
Unterschenkels. Alle diese Teile zeigen
starke Hyperhydrosis und Hyperästhesie^.
Der Patellar- und Achillessehnenreflex
rechts, ist erheblich gesteigert, Babinsky
rechts deutlich positiv. Die grobe motori¬
sche Kraft des rechten Armes und Beines,
ist wenig, aber deutlich und konstant
herabgesetzt. Die Schmerzen im rechten
Beine wurden wochenlang beobachtet und'
waren jeder Therapie unzugänglich. Alle
zwei bis drei Wochen traten Schmerz¬
anfälle auf. Über die Ätiologie beider
Krankheitsbilder ist Sicheres nicht be¬
kannt. Ursprünglich wurde die Ery¬
thromelalgie von Cannois als Tropho-
neurose und Angioneurose aufgefaßt, es
hat sich aber herausgestellt, daß sie als.
Symptomenkomplex bei den verschie¬
densten anscheinend meist centralen, aber
auch bei peripherischen Nervenerkrankun¬
gen auftritt. So ist Kombination von
Erythromelalgie mit Dystrophia mus-
culorum, mit Tumor albus,' mit Tabes
beobachtet worden. Während früher
mehr peripherische angio-neurotische
Symptome bei der Kombination von
Erythromelalgie und Polycythaemia vera
beobachtet worden sind, handelt es sich
im vorliegenden Fall um eine organische
centrale Erkrankung. Bei ersteren könnte
die gleiche Ätiologie für beide Erkran¬
kungen vorliegen, bei dem beschriebenen
Falle wäre es auch möglich, daß vorüber¬
gehende Gefäßstörungen im Centralner¬
vensystem auf Grund oder als Ursache
der Polycythämie auch für die Erythro¬
melalgie in Betracht kämen. Dem Ver¬
fasser erscheint für den vorliegenden FaU
440 Die Therapie der Gegenwart 1920 Dezember
die Annahme des Kausalnexüs für beide
Erkrankungen natürlich.
Nathorff (Berlin).
(B. kl. W. 1918, Nr. 50.)
Auf die Schwierigkeiten, manche Fälle
wn chronischer Grippe, wie sie im Au¬
sschluß an die letzten Epidemien beob¬
achtet worden sind, von Lungentuber¬
kulose zu unterscheiden, weist Treupel
erneut hin. Bei chronischen Grippefällen
finden sich Nachtsehweiße, dauernd er¬
höhte Temperaturen, ständig nachweis¬
bare Veränderungen sowohl an den unte¬
ren und seitlichen Lungenteilen wie an
den Spitzen, ferner Blut im Auswurf und
auch elastische Fasern. Da dies alles
Zeichen sind, die für Tuberkulose als
charakteristisch gelten, so ist die Kennt¬
nis ihres Vorkommens bei chronischer
Grippe von großer praktischer. Bedeu¬
tung. Auch röntgenologisch sind diese
Fälle schwer von Tuberkulose abzu-
:gren:^en, da durch Verdichtungen und
bindegewebige Stränge , der Tuberkulose
sehr ähnliche Bilder entstehen. Zuweilen
finden sich auch Schatten im Röntgen¬
bilde, die umschriebenen Eiterherden ent¬
sprechen. Daß es bei Einschmelzungen
zum Aushusten elastischer Fasern kommt,
ist erklärlich. Differentialdiagnostisch ist
aber von Wichtigkeit, daß Herz und
Kreislauf bei Grippe durch die Toxine
•der Erreger früher und beträchtlicher ge¬
schädigt zu sein pflegen, als dies bei
Tuberkulose zur Beobachtung kommt.
(D. m. W. 1920, Nr. 42.) Nathorff.
Die chirurgische Behandlung der
Lungentuberkulose, die Naegeli zur
sammentassend bespricht, steht nicht im
Gegensätze zur internen, sondern setzte
da ein, wo diese versagt. Von älteren
Methoden kommen die Exstirpation tuber¬
kulös erkrankter Lungenpartien und die
Eröffnung und Drainage von. tuberku¬
lösen Kavernen in Betracht, die aber
wenig aussichtsvfdl sind. Die neueren
Bestrebungen sind nicht auf die Lunge
direkt gerichtet, sondern wollen diese
durch extrapleurale Eingriffe günstig be¬
einflussen. Hierzu gehört die Resektion
des obersten, frühzeitig verknöcherten
Rippenknorpels; dadurch wird die Be¬
hinderung der Lunge in ihrer respiratori¬
schen Entfaltung behoben, die nach
Freund die Ursache für die Lokalisation
die beginnenden Lungentuberkulose in
der Spitze ist. Eine andere Methode
beabsichtigt, die .Ausheilung des Lungen¬
prozesses durch funktionelle Ruhigstellung
der Lunge herbeizuführen. Dies wird am
einfachsten und idealsten erreicht durch
den künstlichen Pneumothorax, wobei je¬
doch die Lunge frei beweglich sein. muß.
Für die Fälle, in denen Verwachsüngen
den künstlichen Pneumothorax unmög¬
lich machen, kommt die extrapleurale
Thorakoplastik (Brauer) in Frage. Die
besten Resultate bei der modernen chi¬
rurgischen Behandlung der Lungentuber¬
kulose werden heute mit der von Sauer¬
bruch angegebenen paravertebralen Re¬
sektion erreicht, die in einer Resektion
der ersten bis elften Rippe besteht. Bei
selbst hierdurch nicht genügend beein¬
flußten- Fällen müssen kombinierte 'Me¬
thoden in Anwendung kommen. Hierzu
sind die intra- und die extrapleurale Pneu¬
molyse zu rechnen. Letztere besonders
von Friedrich als Apikolyse empfohlen.
Bei der ersteren, die wegen der dam.it
verbundenen Gefahr der Blutung wenig
Anhänger gefunden hat, werden die sich
straff ausspannenden, die Lunge’an der
Thoraxwand fixierenden Bindegewebs-
stränge durchschnitten, bei der letzteren
wird bei Y^erwachsungen der Spitze der
Oberlappen stumpf extrapleural heraus¬
geschält, um so bei ausgeführtem Pneumo¬
thorax oder bei Thorakoplastik die Re¬
traktion der Spitze zu ermöglichen. Der
durch die Ablösung entstandene Hohl¬
raum wird durch Tamponade oder Fett
ausgefüllt. Endlich ist noch die von
Stüdt, Sauerbruch und anderen zum
Zwecke der Ruhigstellung des Zwerch¬
fells empfohlene Phrenektoinie zu er¬
wähnen, wodurch jedoch nur eine teil¬
weise Ruhigstellung des Unterlappens er¬
zielt wird. Jeder dieser chirurgischen
Eingriffe hat seine strenge Indikation,
bei deren richtiger Stellung und sach¬
gemäßer Technik die chirurgische Be¬
handlung der Lungentuberkulose' sehr
Gutes leistet. Das geht aus der neuesten
Sauerbruchschen Statistik hervor, die
von 381 operierten Patienten 134 — 35%
als praktisch geheilt (mindestens andert¬
halb Jahre nach der Operation fieber- und
sputumfrei und völlig arbeitsfähig) be¬
zeichnet. A Kamnitzer (Berlin).
(Ther. Halbmonatshefte 1920, Heft 17.)
Die Ansichten über die Entstehung
der Magengeschwüre sind auch heute
noch recht geteilt: mechanische Momente*,
Superacidität, thrombotische Prozesse,
Spasmen, neuropathische Konstitution,
Chlorose und manches andere werden als
Ursachen angesprochen. Auf Grund ein-
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1920
441
gehender Untersuchungen im Aschoff-
schen Institute nimmt Bauer erneut zu
der Frage der Lokalisation und Ent¬
stehung der Magengeschwüre Stellung,
ln allen von ihm untersuchten Fällen —
55 an der Zahl — war die Lokalisation
konstant. Alle Geschwüre fanden sich
nämlich in einer ganz scharf begrenzten
Zone, die als Magenstraße bekannt ist.
Diese besteht aus einer an der kleinen
Kurvatur gelegenen, durch vier zu ein¬
ander parallel verlaufende Längsfalten
gebildeten und durch besonders angeord¬
nete Muskelzüge ausgezeichneten Rinne,
deren Schleimhautüberzug weit weniger
verschieblich als der anderer Magenteile
ist. Neben dem besonderen anatomischen
Bau besteht auch ein besonderes funktio¬
nelles Verhalten, da die Speisen in der
Magenstraße hinabgleiten und erst dann
die übrigen Magenteile füllen, was durch
Röntgenaufnahmen sichergestellt ist. Die
Schleimhaut der Magenstraße ist dem¬
nach allen Schädigungen zuerst ausge¬
setzt. Entstehen nun im Magen durch
irgendwelche Ursachen kleine Schleim¬
hautdefekte oder Erosionen, wie sie wahl¬
los verstreut häufig bei Sektionen ge¬
funden werden, so werden solche an allen
Stellen verheilen können, nur nicht im
Bereiche der Magenstraße, da hier ein¬
mal die mangelhafte Verschieblichkeit der
Schleimhaut die Defekte nicht überdecken
kann, vor allem aber alle mechanischen,
chemischen und thermischen Eigen¬
schaften der Speisen einen dauernden
Reiz ausüben und die Heilung verhindern.
Nun hat sich aber weiter gezeigt, daß in
der Magenstraße nicht alle Teile für die
Entstehung eines Geschwürs gleichmäßig
disponiert sind, sondern daß zwei Prä¬
dilektionsstellen bestehen: Pylorusgegend
ünd Magenmitte. Bei letzterer handelt es
sich um eine Stelle an der Grenze zwi¬
schen Vestibulum und Corpus des Magens,
die Aschoff als Engpaß des Magens,
Isthmus ventriculi, bezeichnet hat. Es
entsteht hier bei der Verdauung eine
funktionelle Verengerung, die den Magen
in zwei ungleich große Hälften teilt. Man
kann demnach den Isthmus gleichsam
als den Pylorus des Kardiateiles auf¬
fassen. So erklärt sich leicht, daß die
Geschwüre mit Vorliebe am Isthmus
und vor dem Pylorus ihren Sitz haben.
Denn beide sind Absperr- und Durchla߬
vorrichtungen, an denen die Intensität
aller der Heilung entgegenwirkenden Fak¬
toren am stärksten sein muß.. Außerdem
sind ja auch sonst im Körper phyisologi-
sche funktionelle Engen zur Lokalisation
krankhafter Vorgänge disponiert. Die
Erweiterung der Geschwüre an den er¬
wähnten Stellen erfolgt dann durch die
Einwirkung des Magensaftes. Verfasser
kommt daher zu der Ansicht, daß das
Magenge.schwür nicht durch eine einzelne
Ursache, sondern nur durch drei gleich¬
wertige, nicht substituierbare Bedingun¬
gen entstehen kann: Vorhandensein eines
primären Defektes, hervorgerufen durch
mechanische Ursachen oder kleine In-
farcierungen der Schleimhaut, Lokalisa¬
tion desselben in der Magenstraße und
Einwirkung der funktionell-anatomischen
Faktoren. Daneben gibt es eine große
Reihe anderer Ersatz- oder Substitufions-
bedingungen, die bei der Entstehung des
Geschwüres mitwirken können, aber nicht
müssen. Diese sind meist konstitutio¬
neller Natur: z. B. asthenische Konstitu¬
tion, Vagusneurose, Chlorose. Die Haupt¬
sache aber bleiben für die Ulcusent-
stehung die lokalen in Bau und Funk¬
tion des Magens selbst gelegenen Bedin¬
gungen. "Nathorff.
(D. m. W. 1920, Nr. 41.)
Für eine Mastdarmuntersuchung in
gynäkologisc“hen und geburtshilf¬
lichen Fällen tritt Pfleiderer sehr
energisch ein, indem er die großen Vor¬
teile gegenüber der üblichen Scheiden¬
untersuchung anführt: Vom Rektum aus
kann man die ganze Beckenhöhle sehr
ausgiebig austasten; Aufrichtungen der
Gebärmutter gelingen recht leicht. Es
ist möglich bei Kreißenden noch hinterher
von der Scheide aus zu untersuchen, da
die Ansteckungsgefahr durch die Klein¬
pilze des eigenen Darms sehr gering ist;
es i^t noch der Vorteil zu beachten, daß-
man durch Streichen der Kreuzbein-
Gebärmutterbänder sehr kräftige Wegen
auslösen kann. Eine Verkürzung dieser
Bänder, welche schwere hysterische Er¬
scheinungen hervorruft, kann zur Bil¬
dung einer Falte führen, die Pfleiderer
eine Sichel nennt; durch kräftige Massage
schwinden die Schmerzen. Wenn nun
am Schlüsse der Arbeit den Fachärzten
der Vorwurf gemacht wird, daß sie auf
diese pathologischen Veränderungen
keinen Wert legen, so muß demgegen¬
über betont werden, daß erstens dieser
Querwulst als Torus uterinus längst
bekannt ist — siehe Waldeyer: Das-
Becken — und, daß zweitens gegen die
Verkürzung der Lg. sacrouterina, Para-
metritis posterior,;^die Behandlung mit
56
442
Dezember
Die Therapie' der Oegenwart 1920
der Diathermie mit bestem Erfolge an¬
gewandt wird.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(M.m.W. 1920, S..1 lieft.)
Die Metrasthenie definiert Mansfeld,
der die übliche Krankheitsbezeichnung:
Metropathia haemorrhagica als.zu wenig
besagend auf gibt, in folgender Weise:
Wenn eine Frau unter übermäßigen Blu¬
tungen leidet, ohne daß eine Subinvo¬
lution der Decidua, ein submucöses
Myom oder ein maligner Tumor vorliegt,
so muß angenommen werden, daß irgend¬
ein Agens auf die sympathischen Ele¬
mente des Uterus so einwirkt, das die¬
selben asthenisch geworden sind, daß die
Frau also an einer Metrasthenie leidet.
Man kann sowohl von psychischen wie
von hormonalen, lokal-entzündlichen
sexualen Einflüssen sich das leicht vor¬
stellen. Die Metrasthenie hat ihren Aus¬
gang von einer Alteration der sympathi¬
schen Elemente (Receptoren nach Neu)
des Uterus genommen. Auf diese Hypo¬
these wurde die Therapie eingestellt, die
in einer Reihe von Fällen gute Erfolge
erzielte. Da es galt, den Uterus zu toni-
sieren, kam nur Adrenalin in Frage, das
ein direktes Reizmittel der Uterusnerven
ist. Zuerst wurde von einer Adrenalin¬
lösung (1:1000) 1 ccm mit 4 ccm physio¬
logischer Kochsalzlösung vermischt in
verschiedenen Stellen der Portio einge¬
spritzt, dann wurde die Cervix mit der
konzentrierten Lösung ausgewischt. In
einigen Fällen muß jedoch angenommen
werden, daß vom Eierstock aus der Reiz
zu den starken Blutungen ausgeht; wurde
nun das eine Ovar abgedeckt, das andere
intensiv bestrahlt — halbseitige Röntgen¬
kastration —, so erzielteman eineOligo-
menorrhöe.
Pulvermacher (Charlottenbürg).
• (Zbl. f. Gyn. 1920, Nr. 44.)
Die Erfahrungen der Wiener Universi¬
tätsklinik für Kehlkopfkrankheiten ^ bei
der Behandlung der Kranken mit Öso-
phagusfrenidkörpern gibt Schlemmer in
einer ausführlichen Bearbeitung wieder.
Dem Material, welches einen Zeitraum
von zehn Jahren umfaßt, liegen folgende
Zahlen zugrunde: es wurde an der ge¬
nannten Klinik 1657mal die Ösophagos¬
kopie vorgenommen und hierbei in 529
Fällen ein Fremdkörper nachgewiesen.
508mal, das heißt in 96% der Fälle,
konnte dieser durch das Ösophagoskop
entfernt werden. Abgesehen von den be¬
deutenden Zahlen und den sich hieraus
ergebenden Erfahrungen, welche die vor¬
liegende Arbeit besonders wertvoll er¬
scheinen lassen, sind es eine Reihe wich¬
tiger grundsätzlicher Fragen, die be¬
sonders für den praktischen Arzt von
Interesse sind, 'welche ein ausführliches
Referat an dieser Stelle rechtfertigen.
Nach der Literatur besteht ein deut¬
licher Gegensatz zwischen der Auffassung
vieler Chirurgen und der Laryngologen in
der Beurteilung der Untersuchung und
Behandlung der Kranken, welche einen
Fremdkörper in der Speiseröhre haben
oder zu haben glauben. Der Gang der
Untersuchung durch den Praktiker und
in der chirurgischen Klinik ist meist der,
daß mit einer Sonde oder dem Gräten¬
fänger die Speiseröhre sondiert wird und
daß.im Falle, daß ein Fremdkörper nicht
gefunden wird, der Patient den Auftrag
erhält, falls sich in einigen Tagen noch wei¬
tere Beschwerden zeigen, den Arzt oder die
Klinik wieder aufzusuchen. In der gleichen
Weise wird verfahren, wenn das Röntgen¬
bild oder die Röntgendurchleuchtung
einen negativen Befund ergeben haben.
Ist dagegen ein Fremdkörper nachge¬
wiesen, dann wird von verschiedenen
Seiten der Versuch gemacht, ihn in den
Magen hinabzustoßen oder es wird die
Ösophagotomie ausgeführt. Der ge¬
schilderte Weg läßt die großen Fort¬
schritte, welche die Untersuchung der
Speiseröhre mit dem Ösophagoskop in
den letzten Jahren in der Hand des
Spezialisten gemacht hat, vollkommen
außer acht. Er setzt an Stelle dieses
durchaus gefahrlosen Verfahrens ein sol¬
ches, welches in jedem Falle das Leben
des Kranken auf das ernsteste bedroht,
ohne daß es dadurch gelänge, die Diagnose
zu präzisieren. Die Ösophagussonde als
Untersuchungsmittel auf Fremdkörper
sollte endgültig aus dem Instrumentarium
des praktischen Arztes verschwinden und
auch auf der Universität sollte diese Form
der Anwendung nicht mehr gelehrt wer¬
den. — Die Dauer, während welcher der
Fremdkörper in der Speiseröhre gesessen
hat, ist kein Gegengrund zu der Unter¬
suchung mit dem Ösophagoskop. Sie
schwankte in den Fällen des Verfassers
zwischen einigen Stunden und vier
Jahren. Die für die Technik wiclxtige
Frage, ob man ein Instrument mit oder
ohne Mandrin benutzen soll, wird von
Schlemmer dahin entschieden, daß dem
Instrument ohne Mandrin der Vorzug zu
geben ist, da sonst die Untersuchung
gegenüber derjenigen mit der Sonde
keine Vorzüge bietet, indem man mit dem
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1920
443
:mit Mandrin armierten Instrument ebenso
leicht an dem Fremdkörper vorbeigleiten
.kann. Das Wesentliche der Untersuchung
liegt gerade darin, daß sie von Beginn ab
xmter Leitung des Auges ausgeführt
werden muß. .Beim Erwachsenen genügt
■die Anwendung der Lokalanästhesie, bei
Kindern muß Narkose zu Hilfe genommen
werden.' Ist der Fremdkörper entdeckt,
dann wird die Extraktion bei liegendem
Instrument sofort angeschlossen. Stets
-geht der Untersuchung mit dem Öso-
phakoskop eine Röntgenuntersuchung
voraus. Die Indikationen zur Öso¬
phagoskopie können in folgenden Leit¬
sätzen zusammengefaßt werden: 1. Wenn
von einem Kranken die Angabe gemacht
wird, daß er einen Fremdkörper ver¬
schluckthat und seitdem nichts mehr oder
nur Flüssiges schlucken kann, wenn er
Schmerzen im Halse, in der Höhe des
Jugulums oder substernal, gegen die
Schultern hin ausstrahlend hat. 2. Ana¬
loge Angaben gemacht werden, jedoch
hinzugefügt wird, daß der Unfall schon
tagelang oder noch länger zurückliegt.
3. Diese subjektiven Angaben gemacht
werden, die Röntgenuntersuchung aber
ein negatives Resultat hatte. Die Öso¬
phagoskopie ist kontraindiziert: 1. beim
'.Nachweis einer progredienten entzünd¬
lichen Phlegmone am Halse; 2. wenn das
Schlingen sehr behindert oder aufgehoben
ist; 3. wenn Fieber besteht; 4. wenn der
Kranke einen schwerkranken oder sep¬
tischen Eindruck macht; 5. wenn Em¬
physem außen am Hals nachweisbar ist;
6 . wenn nach anderweits ausgeführten
Extraktionsversuchen der Verdacht auf
tiine Perforation des Ösophagus besteht,
-ln diesen Fällen muß die Ösophagotomie
vorgenommen werden, die auch noch
unter nachfolgenden Bedingungen in¬
diziert ist: Wenn während der Öso¬
phagoskopie eine Perforation der Speise¬
röhre eintritt; wenn der Fremdkörper
nur unter schweren Nebenverletzungen
■entfernt werden kann; das Röntgenbild
positiv, die Ösophagoskopie aber negativ
ausfällt. Eine Sonderstellung nehmen
diejenigen Fremdkörper^ ein, welche
magenwärts von einer Ätzstriktur sich
festgekeilt haben. Hier, aber auch nur
in Äesen Fällen, erscheint der Versuch
berechtigt, unter Leitung des Öso-
pliagoskops den Fremdkörper in den
Magen hinabzubefördern. Ob eine Gastro¬
tomi e dann angeschlossen werden muß,
^ergibt sich aus der Art und Größe des
Fremdkörpers.
Bei Periösophagitis, Mediastinalphleg-
mone usw. darf mit dem chirurgischen
Vorgehen nicht allzu lange gewartet
werden. Es hat sich durch die Erfahrung
gezeigt, daß es nicht richtig ist, auf den
vermuteten Eiterherd direkt einzuschnei¬
den, sondern es muß die Freilegung des
Mediastinums typisch so erfolgen, daß
man zunächst die sicher nicht infizierte
Seite sich zugänglich macht, dann eine
Stelle jenseits der Perforation aufsucht,
die ebenfalls sicher nicht mehr infiziert
ist und diese beiden Gegenden auf das
sorgfältigste nach außen tamponiert. Erst
dann wird der eigentliche Eiterherd er¬
öffnet und nach chirurgischen Grund¬
sätzen behandelt. Auf diese Weise ge¬
lingt es mit Sicherheit, ein Weiterschreiten
der Phlegmone nach der Tiefe zu ver¬
hindern, wie die zahlreichen günstigen
Erfahrungen des Verfassers.beweisen.
Hay ward.
(Arch. f. kl. Chir. Bd. 114, Heft l,/2 .)
Über Periproktitis und Fistula ani
schreibt Moskowicz. Der Verfasser hat
sein Hauptaugenmerk auf die schlechte
Heilungstendenz der genannten Erkran¬
kungen gerichtet und ist hierbei zu teil¬
weise vollkommen neuen Anschauungen
über die Wundheilung der in der Um¬
gebung des Afters und ■ des Mastdarms
sich abspielenden Erkrankungen gekom¬
men. Die Kenntnis, daß entzündliche
Prozesse in der. Umgebung des Aftere
und des Mastdarms, sich selbst übers
lassen, nur in den wenigsten Fällen aus¬
heilen, ist nicht neu. Meist wurden ope¬
rative Eingriffe vorgenommen, welche,
wenn die Eiterung sich weit in das Becken¬
bindegewebe hinauf erstreckte, sich zu
großen Operationen gestalteten, die nicht
selten die Schlußfähigkeit des Afters in
Frage stellten. Daß das scheinbar so ein¬
fache Leiden der Analfistel durchaus nicht
zu den harmlosen Erkrankungen gehört,
wie vielfach angenommen wird, haben
Nachuntersuchungen gezeigt, die Mel¬
chior an der Breslauer Klinik ausgeführt
hat. Von 95 Fällen erwiesen sich nur 70
als geheilt, ungeheilt waren 22 und drei
zeigten ein Rezidiv. Eine mehr oder
weniger hochgradige Inkontinenz war in
17 Fällen vorhanden. Die Ursache der
schlechten Heilungstendenz sieht Mos¬
kowicz vor allem in mechanischen Ver¬
hältnissen. Er vergleicht die anatomi¬
schen Bedingungen, welchen diese Er¬
krankungen unterworfen sind, mit den
Verhältnissen, wie sie bei der Heilung
starrwandiger Höhlen, z. B. Empyem-
56»
.444
Die Therapie der Gegenwart 1920
Dezember,
höhlen, oder starrwandiger Knochen¬
höhlen, z. B. bei der Osteomyelitis des
Tibiakopfes vorliegen. Die Wände dieser
Höhlen sind zu starr, als daß sie durch
den Narbenzug zur Ausfüllung des De¬
fekts herangezogen werden könnten. Bei
den Knochenhöhlen hilft man, nach dem
Vorgänge von Neuber, sich dadurch,
daß man die ganze Höhle abflacht und
sie. zu einer • Mulde gestaltet, in deren
tiefsten Teil ein entsprechender Haut¬
lappen hineingeschlagen ■ wird; bei den
starrwandigen Empyemhöhlen werden
durch Entrindung der Lungen oder durch
die ausgedehnte Wegnahme von Rippen
die starren Wände zu nachgiebigen
Weichteillappen umgestaltet. Das un¬
nachgiebige Bindegewebe der Umgebung,
bedingt durch die elastische Muskulatur
des Rectums einerseits, welche bestrebt
ist, das röhrenförmige Lumen des Mast-
dafms zu erhalten und durch die straff
gespannte Haut zwischen Tuber ischii
und Anus andererseits schafft die gleichen
Bedingungen, wie sie oben für die starr¬
wandigen Höhlen beschrieben worden
sind. Die bisher geüEten Operationsver¬
fahren verfolgten den Zweck, aus der
Fistel eine Wundfläche zu machen, was
jedoch in vielen Fällen nicht ohne Durch¬
schneidung des. Sphinkters sich bewerk¬
stelligenläßt. Man vermeidet diese Schädi¬
gung, wenn man nach dem Neu berschen
Prinzip einen Hautlappen in die ent¬
standene Wundhöhle hineinschlägt. Han¬
delt es sich um alte Fälle, dann muß
man zuvor das gesamte Narbengewebe
entfernen und dann die Haut, unter ent-
sprechenderSchnittführung, so lagern, daß
ihre Ränder bis in den tiefsten Teil des
neu geschaffenen Wundbettes zu liegen
kommen. Hier wird die Haut durch
einige Nähte in ihrer Lage gehalten. Das
Verfahren muß, entsprechend dem ein¬
zelnen Falle, den jeweiligen örtlichen Be¬
dingungen angepaßt werden. Bei der
Behandlung der akuten Periproktis sollte
man auf diese Verhältnisse schon durch
die Schnittführung Rücksicht nehmen.
Es erscheint darum nicht zweckmäßig,
den periproktitischen Absceß durch einen
radiären Schnitt zu spalten, sondern die
Schnittführung sollte circulär zum Anus
verlaufen. Man kann schon jetzt den
dem Anus am nächsten liegenden Haut¬
rand durch einige Nähte in der Tiefe
fixieren, wodurch für die Heilung sofort
die günstigsten Bedingungen geschaffen
werden. Zahlreiche gute Resultate, welche
durch diese Verfahren erreicht wurden,
lassen deren Anwendung angebracht er¬
scheinen. Hayward.
(Arch. f. kl. Chir.. Bd. 114, Heft 1.)
Auch für die Lungentuberkulose des^
Kindesalters bedeutet die Einführung der
Pneumothoraxb ehandlung einen we¬
sentlichen Fortschritt. Helene Elias¬
berg berichtet über diesbezügliche Er¬
fahrungen aus der Universitäts-Kinder¬
klinik (Berlin). Der Pneumothorax wird
bei jungen und jüngsten Kindern an¬
gelegt, bei beginn.enden Lungenprozessen,,
auch bei doppelseitiger AffekFon. Rich¬
tige Erkennung der Art der Lungener¬
krankung ist erforderlich für die Indika¬
tion zur Pneumothoraxbehandlung. Da¬
bei ist zu beachten, daß chronische
Pneumonien im Kindesalter auftreten
können, wenn Fremdkörper in die Lunge
gelangt sind, und auf Grund chronischer
Bronchiektasien, die sich als häufig rezi¬
divierende pneumonische Prozesse dar¬
stellen. Ferner finden sich große Infil¬
trate auf dem Boden tuberkulöser Gewebs¬
veränderung. Man spricht .dann von epi¬
tuberkulöser Pneumonie. Die Abgrenzung:
der epituberkulösen Pneumonie von der
einen Lungenlappen infiltrierenden echten
Tuberkulose ist schwierig. Dauernder
negativer Bacillenbefund bei ausge¬
sprochenem auskultatorischem und per¬
kutorischem Befund, spricht mit Wahr¬
scheinlichkeit gegen echte Tuberkulose..
Das Röntgenbild zeigt bei epituberkulöser
Erkrankung große, dichte, gleichmäßige
Schatten, bei echten tuberkulösen Pro¬
zessen ist der Schatten weniger dicht und.
läßt größere und kleinere Aufhellung er¬
kennen. Die Anwendung der Pneumo¬
thoraxbehandlung bei epituberkulöser
Pneumonie erscheint überflüssig, da die
Infiltrationsherde spontan zurückgehen.
Pneumothoraxbehandlung zeigt günstige
Erfolge bei Hilustuberkulose, Hämoptoe,
kavei nösen Prozessen. Komplikationen,
die die Pneumothoraxbehandlung in
Frage stellen können, sind Pleuraadhä¬
sionen und Exsudatbildung. Diese
tritt häufiger ein bei Verwendung unfil-
trierter atmosphärischer Luft mit dem
Heniusschen Apparat, jedoch nicht, wenn
die Luft vorher gereinigt wird. Die Nach¬
füllung wird im Beginn alle drei bis vier
Tage bis zur Erreichung des maximalen
oder kompletten Pneumothorax vorge¬
nommen, später mit 14tägiger, endlich
vier- bis sechswöchiger Pause. Zur Ver¬
meidung des bei der Nachfüllung öfter
auftretenden komplizierenden Haut-
emphysems, das infolge heftigen Schreiens
Dezember
Pie Therapie der Gegenwart 1920
445
der Kinder entstehen kann, ist Chlor-
ätliylrausch in Anwendung zu bringen.
Luftembolien sind so gut wie ausge¬
schlossen bei Beachtung der für Pneumo¬
thoraxanlegung notwendigen Kautelen.
Als Minimum für die Unterhaltung des
Pneumothorax sind zwei Jahre anzusehen.
(D. m. W. 1920, Nr. 35.) Fruerhack.
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Ein Beitrag zu den Erfahrungen über das „Novasurol“
als Antisyphilitikum.
Von Dr. Horst Auer, Berlin.
•Zwei Jahre sind es jetzt her, seitdem
das Novasurol zum ersten Male von den
Elberfelder Farbenfabriken vorm. Friedr.
Bayer u. Co. in den Handel gebracht
worden ist. Rechtfertigte seine damals
bereits langjährige klinische Anwendung
sowie seine so günstig ausfallenden Er¬
folge vollkommen seine Einführung in
die Syphilitistherapie, so hat es durch
die Erfahrung der letzten Jahre die auf
seine Wirkung und Eigenschaften gesetz¬
ten Hoffnungen in vollstem Maße erfüllt
und bestärkt. Von den so reichlich in
den Handel gebrachten Hg-Präparaten
ist es wohl dasjenige, das zurzeit das
größte Interesse und seiner einwandfreien
Wirkung wegen weitere Beachtung ver¬
dient. Die per os verabreichten Hg-Salze
haben lediglich dadurch so sehr an Be¬
deutung verloren, weil sie auf die Dauer
einen ungünstigen Einfluß auf denMagen-
Darmtraktus ausüben und von verhältnis¬
mäßig langsamer Wirkung sind. Die so
lästige Schmierkur ist wegen der Unsicher¬
heit, wieviel von dem wirklich verabreich¬
ten Hg dem Körper tatsächlich einver¬
leibt wird, mehr und mehr in den Hinter¬
grund getreten. Sie bei primären Infek¬
tionen oder im sekundären Stadium als
einziges therapeutisches Mittel zu ge¬
brauchen, ist heute bei der Kenntnis
des Salvarsans und der Methodik des
Quecksilbereinspritzens unter die Haut
oder intramuskulär von der Mehrzahl der
Ärzte aufgegeben. Dem primären Infekt
von vornherein mit allen uns zu Gebote
stehenden therapeutischen Mitteln ent¬
gegenzutreten, ist für den Arzt eine der
vornehmsten Aufgaben in der Syphilis¬
therapie. Mag das Salvarsan auch heute
noch so viele Gegner, auch unter den
Ärzten, haben, seine fundamentale Be¬
deutung in der Behandlung der Lues wird
trotz seiner jetzt erkannten und erwiese¬
nen Nachteile weiterhin bestehen bleiben.
Auf die Gründe der Gegnerschaft des
Salvarsans hier einzugehen, würde uns
zu weit von unserem Thema abbringen.
Neben dem Salvarsan kommt also dem
durch Injektion verabfolgten Hg univer¬
selle Bedeutung für die Behandlung der
Syphilis zu, so daß dieses kombinierte
Heilverfahren, Salvarsan und Queck¬
silber, als die beste Syphilisbehandlung
in bezug auf rasche und sichere Wirkung
gilt. Nachdem zuerst lange Jahre hin¬
durch ausschließlich unlösliche Präparate
in Anwendung gebracht wurden, die
jedoch manche noch zu erwähnende
Schattenseiten aufwiesen,, hat man ver¬
sucht, ein möglichst ideales und doch
ebenso wirksames Hg-Präparat herzu¬
stellen, das jene unangenehmen Eigen¬
schaften nicht in sich birgt. Diese Eigen¬
schaften sind subjektiver und objektiver
Natur. Was die ersteren anbelangt, so
ist vor allem die mehr oder weniger, je¬
doch immer auftretende- Schmerzhahig-
keit an der Applikationsstelle zu erwähnen.
Diese Schmerzhaftigkeit kann bekannt¬
lich so hohe Grade annehmen, daß man
bei empfindlicheren Patienten schon nach
zwei bis drei Injektionen die Behandlung
auszusetzen genötigt ist. Heftige Er¬
scheinungen, hohes Fieber, ausgedehnte
Exantheme (Herxheimersche Reaktion,
Stomatitis, Durchfälle, Erbrechen) pflegen
gar zu oft nach den Injektionen aufzu¬
treten. Extensive Induration, ja Absceß-
bildungen erhöhen die unangenehmen
Eigenschaften dieser Präparate. Wie weit
die gleichmäßige Resorption bei der De¬
potbildung von statten geht, ist jeden¬
falls bei dieser Art der Applikation durch¬
aus nicht sichergestellt. Verhinderung der
Kumulierung im Körper, Schmerzlosig¬
keit an der Applikationsstelle und die
Sicherheit der möglichst gleichmäßigen
Quecksilbergiftwirkung sind demnach die
Anforderungen, die an eine ideale Queck¬
silberverbindung gestellt werden müssen.
Wie weit werden diese Bedingungen von
dem Novasurol erfüllt? Indurationen
kommen wie bei den unlöslichen Ver¬
bindungen so auch beim Novasurol vor.
Auch eine gleichmäßige Verteilung der
Flüssigkeit durch Massage an der Appli¬
kationsstelle kann oft eine solche Indu-
446
Die Therapie der Gegenwart 1920
DezembeF
ration nicht verhindern, jedoch treten
diese Knotenbildungen in weit geringerem
Maße auf, als bei den unlöslichen Präpa¬
raten. Hinzufügen möchte ich bei dieser
Gelegenheit, .daß bei der. Verwendung
derartiger Präparate das Auftreten sub¬
jektiver Nachteile von individuellen Eigen¬
schaften abhängig zu sein scheint. Von
einem luetisch erkrankten Ehepaare ver¬
trug die Frau die Novasurolinjektionen
sämtlich ohne die geringsten Beschwerden,
während der viel robustere Mann bereits
nach den ersten Injektionen derartige
Beschwerden an der Applikationsstelle
äußerte, daß ich von einer weiteren Be¬
handlung mit dem Präparat Abstand
nahm. Ihm unlösliches Quecksilber zu
applizieren, scheiterte vollkommen. Zu¬
meist pflegen die auch beim Novasurol
auftretenden Indurationen im Gegensatz
zu denen des unlöslichen Hg mehr oder
weniger schmerzlos zu sein, in den meisten,
zirka 90 %, Fällen verlaufen die Injek¬
tionen überhaupt ohne jede äußere Reak¬
tion. Das Präparat als harmlos und völlig
gefahrlos zu bezeichnen, ist jedoch nicht
berechtigt. Kommen doch hohe Tempe¬
raturaufstiege (bis 41 0), wenn auch nur
verschwindend wenig (von mir in drei
Fällen beobachtet), Schüttelfrost, der
nach ein- bis zweistündiger starker Vehe¬
menz ebenso schnell wie er sich einstellt,
auch wieder abklingt, vor. (Wahrschein¬
lich lag in derartigen Fällen eine spirillo-
toxische Wirkung vor.) Herxheimersche
Reaktion habe ich nach dem Novasurol
nicht beobachtet. In zwei Fällen sah ich
24 Stunden nach einer Novasurolinjektion
bei Primäraffekten ödematöse Schwellung
des Gesichts- beziehungsweise des ganzen
Körpers, der sich an den nächsten Tagen
ein rupröses Exanthem in diffuser Aus¬
breitung zugesellte. Keinesweges können
diese gemachten Erfahrungen, die weiter
auszuführen nicht in den Rahmen der
mir gestellten Aufgabe fallen, die großen
Vorzüge des Novasurol beeinträchtigen
und seine Anwendung in Zweifel stellen.
Bei der furchtbaren Schwere der Krankheit
— scheint doch die Syphilis in den letzten
Jahren an Bösartigkeit in geradezu auf¬
fallender Weise zugenommen zu haben —
sind derartige Reaktionen bei der Selten¬
heit ihres Auftretens nicht ausschlag¬
gebend zu bewerten, zumal sie sich nach
dem Einspritzen von Neo-Salvarsaii wie
nach dem unlöslichen Quecksilber in
weit erhöhtem Maße zeigen. Ein Trug¬
schluß wäre es da, dem Salvarsan oder
dem Quecksilber den Garaus zu machen.
' Hier handelt es sich also nur darum, die
Wahl zu treffen in der Art und Zusammen¬
setzung des Quecksilbers. Und da ist
es entschieden das Novasurol, dem der
Vorrang in der Reihe der Präparate
gebührt. Wegen seiner Dünnflüssigkeit
ist man imstande, die feinsten Kanülen
zu benutzen und schon auf diese Weise
schonend zu wirken. Die häufige Ver¬
abfolgung der Injektionen — ich gebe^
gewöhnlich jeden zweiten Tag einen ccm
= 0,1 g Novasurol der 10%igen Lösung—,
wird dabei ohne Murren oder leichten
Überdruß von seiten des Patienten er¬
tragen. Im Gegenteil kann man sogar
von einem günstigen Einfluß auf die-
Psyche des Patienten sprechen, der durch'
die häufige Behandlung sieht, daß gegen
die furchtbare, ihn in seiner Stimmung
niederdrückende Krankheit gewaltig vor¬
gegangen wird. Ich habe aus diesem letzt¬
erwähnten Grunde und weil bei einer
Verabfolgung von 2 ccm auf einmal
doch leichter stärkere Knotenbildung:
und damit verbunden Schmerzhaftigkeit
auftreten, davon Abstand genommen, ’
zweimal wöchentlich 2 ccm der Lösung
zu injizieren. Hat sich der Patient erst
einmal an die Einspritzungen gewöhnt,
steht es immer noch im Belieben des
Arztes, die einzuführende Quecksilber¬
menge zu erhöhen., Bleibt noch die
therapeutische Wirkung letzten Endes
das wesentliche! Beachtet man einer¬
seits, daß dem Körper mit jeder Nova¬
surolinjektion eine verhältnismäßig große
Quecksilbermenge, nämlich 6 ctg, zu¬
geführt wird, andererseits dieses Queck¬
silber schneller resorbiert wird, als bei den
unlöslichen Präparaten, der Fall ist, so
ist es nicht zu verwundern, daß es speziell
bei der Frühsyphilis eine prompte und
sichere Wirkung aufweist. Diese akut
einsetzende Wirkung habe ich fast durch¬
weg bei einfachen Primäreffekten gesehen,
jedoch auch makulöse und papulöse
Exantheme können bereits nach einigen
Injektionen anfangen zu verschwinden,
ohne in absehbarer Zeit Rezidive auf-
kommen zu lassen. Um nun die Inten¬
sität der Wirkung in einzelnen Fällen
besonders vor Augen zu führen, habe ich
Patienten mit besonders schweren Symp¬
tomen ausschließlich Novasurol mit sehr
gutem Erfolge gegeben, nachdem in zweien
dieser Fälle sogar das Salvarsan im Stich
gelassen hatte. Erzielt man mit der
kombinierten Kur des Salyarsans -|- Nova-
surols trotz längerer Behandlungszeit kei¬
nerlei günstigen Einfluß auf die Wasser-
Dezember
Die Therapie der Gegenwart J920
447
mannsche Blutreaktion, so werden uns
auch andere Mittel in dieser Hinsicht im
Stiche lassen. Es sind dies die Fälle
hartnäckigster Syphilis, denen nur nach
sehr langer Behandlungsdauer, wenn
überhaupt, beizukommen ist. Auch
unter Berücksichtigung dieses letzteren
Punktes muß das Novasurol als zur¬
zeit' wertvollstes Präparat bezeichnet
werden, das uns unter den Injektions¬
mitteln bei der Luestherapie zu Gebote
steht.
Über Dialacetin, ein neues Kombinationspräparat des Dials.
Von Privatdozent Dr. Hans Hirschfeld, Berlin.
Vor sechs Jahren berichtete ich über
meine Erfahrungen mit dem von der Ge¬
sellschaft für Chemische Industrie in
Basel in den Handel gebrachten neuen
Schlaf- und Beruhigungsmittel ,,DiaL‘,
einem Diallylmalonylharnstoff. Die gün¬
stigen Erfahrungen, die ich . damals
machte, haben sich im Laufe der in¬
zwischen verflossenen Zeit, wie aus ver¬
schiedenen Publikationen von anderer
Seite hervorgeht, bestätigt, und das Dial
ist eines der verbreitetsten und belieb¬
testen Schlafmittel geworden. Leider war
es in der letzten Zeit infolge Rohstoff¬
mangel in Deutschland schwer zu haben-.
Üble Nachwirkungen irgendwelcher Art,
insbesondere auch Arzneiexantheme sind
meines Wissens nach Verabreichung- von
Dial niemals beobachtet worden. Kam
hier und da mal ein Versagen des Mittels
vor, so lag das gewöhnlich an Fehlern
der Verabreichung, die auf Mißverständ¬
nisse von seiten der Patienten zurück¬
zuführen waren. Auch Ärzte vergessen
es vielfach darauf hinzuweisen, daß man
Schlafmittel immer aufgelöst einnehmen
soll, wodurch eine bessere und schnellere
Resorption gewährleistet und Magen¬
störungen vermieden werden. Selbst¬
verständlich ist die Dosierung der Schlaf¬
mittel ganz von der Individualität des
Patienten abhängig und ergibt sich häufig
erst im Verlaufe der Behandlung. Nie
sollte man versäumen, die Patienten
darauf hinzuweisen, daß sie an den Tagen,
an denen sie Schlafmittel genommen
haben, sich auch gehörig ausschlafen. Es
ist kein Wunder, wenn die Kranken über
Benommenheit klagen, wenn sie sich am
anderen Morgen frühzeitig wecken lassen,
zu einer Zeit, wo die Wirkung des Mittels
noch anhält.
Wie auch die meisten anderen ge¬
wöhnlichen Schlafmittel, versagt das Dial
in solchen Fällen, in denen die Schlaf¬
losigkeit durch Schmerzen bedingt ist.
Gewöhnlich kombiniert man in solchen
Fällen mit den Schlafmitteln Antipyretica
und Antineuralgica. Die Gesellschaft für
Chemische Industrie in Basel stellt jetzt
unter dem Namen ,,Dialacetin“ eine Kom¬
bination her von Diallylbarbitursäure
(Dial) und p-Acetaminophenolallyläther,.
einer chemischen Verbindung, die sich
vom Phenacetin dadurch unterscheidet,
daß die Äthylgruppe durch den Allyl¬
rest ersetzt ist. Jede Tablette enthält
0,25 g p-Acetaminophenolallyläther und
0,1 g Diallylbarbitursäure (Dial). Im
Dialacetin wird die klinisch erprobte hyp¬
notische Wirkung des Dials auf das zweck¬
mäßigste ergänzt durch den analgetischen
Effekt des p-Acetaminophenolallyläthers,
der, wie Tierversuche zeigten, das Ein¬
treten des Schlafes fördert und seine-
Tiefe verstärkt. Durch die Kombination
der beiden genannten Komponenten po¬
tenzieren sich im Sinne des Bürgischen
Gesetzes die sedativen Wirkungen. Über¬
dies hat das Dialacetin durch die Ver¬
einigung gegenüber seinen Komponenten
auch an Wirkungsbreite gewonnen: Wirk¬
same Gabe und toxische Dosis liegen weiter
auseinander. Die antipyretische Wirkung.
1 (geprüft am fiebernden Tier), erwies sich
infolge der Substitutierung der Aethyl-
gruppe im Phenacetin durch den ungesät¬
tigten Allylrest als beträchtlich gesteigert.
Ich habe das Dialacetin in über
50 Fällen von Schlaflosigkeit angewandt.
Zunächst ergab eine Reihe von Ver¬
suchen bei gewöhnlicher neurasthenischer
Schlaflosigkeit ohne besondere Kompli¬
kationen, daß die Stärke der Wirkung der
des Dials überlegen zu sein scheint, da es
sich auch in der gewöhnlichen Verab¬
reichung in der Dosis von einer Tablette
selbst in hartnäckigen Fällen oft als wirk¬
sam erwies. Hervorheben möchte ich, daß
auch die .doppelte Dosis, die sich mehrere
Male als nötig erwies, keinerlei Schläfrig¬
keit und Benommenheit am anderen Tage
zurückließ. Vorwiegend aber verabreichte
ich Dialacetin bei solchen Fällen, wo die
Schlaflosigkeit mit Schmerzen kombiniert,
beziehungsweise durch solche bedingt
war, wie bei Gesichtsneuralgien, akutem
und chronischem Gelenkrheumatismus,
Tabes und akuten Infektionskrankheiten,
und konnte mich auch hier, von einigen
448
Die Therapie der Gegenwart 1920
Dezember
Versagern abgesehen, die natürlich- bei
jedem Mittel zu erwarten sind, von seiner
ausgezeichneten Wirksamkeit überzeugen.
Ich glaube auf Grund meiner Er¬
fahrungen, daß das Dialacetin sich als
zuverlässiges und von üblen Neben¬
wirkungen freies Mittel, sowohl bei
gewöhnlicher, wie durch Schmerzen
bedingter Schlaflosigkeit gut einführen
wird.
Aufruf der Arzneimittelkommission.
Der folgende Aufruf, den wir schon
im vorigen Heft angekündigt haben, ist
in den vergangenen Wochen an die Adresse
aller deutschen Ärzte abgesandt worden.
Da aber infolge der durch die Zeitverhält¬
nisse bedingten Unvollkommenheit des
Adressenmaterials eine- nicht geringe Zahl
von Kollegen den Aufruf nicht erhalten
haben, möge er von dieser Stelle noch ein¬
mal der Ärzteschaft unterbreitet werden.
Sehr geehrter Herr Kollege 1 '
Wir wenden uns an Sie mit der dringenden
Bitte um tätige Teilnahme für ein Werk, das zum
Nutzen der deutschen Ärzteschaft bestimmt ist
und das Sie selbst in Ihrer Berufsausübung unter¬
stützen soll.
Sie haben gewiß oft peinlich die Unsicherheit
empfunden, mit der Sie der Anpreisung neuer
Arzneimittel gegenüberstanden'; vielleicht sind
Ihnen auch üble Erfahrungen nicht erspart ge¬
blieben, wenn Sie auf Grund von Zeitungsanzeigen
oder Veröffentlichunger neue Mittel anwendeten,
deren Wirkungen den Ankündigungen keineswegs
entsprachen. Die Arzneimittelkommission will
Ihnen in dem Bestreben behilflich sein, neue
Arzneimittel richtig zu beurteilen. Dabei tritt sie
nicht in Gegensatz zu der Arzneimittelindustrie,
die auf wissenschaftlicher Grundlage arbeitet und
mit wohlbegründeten Empfehlungen an die Öffent¬
lichkeit tritt, und der wir viele wirkliche Bereiche¬
rungen unseres Arzneischatzes verdanken. Sie
will nur die zahllosen unnützen und schädlichen
Auswüchse der Arzneimittelproduktion mit allen
auf Grund der Forschung und praktischen Er¬
fahrung zu Gebote stehenden Mitteln bekämpfen.
Daher will sie Einrichtungen treffen, welche
jedem deutschen Arzte die Möglichkeit gewähren,
sich rasch über die Zusammensetzung und den
Wert der neu eingeführten Arzneimittel zu unter¬
richten. Sie wird zu diesem Zweck eine Auskunlts-
und Beratungsstelle errichten, welche in systema¬
tischer Weise das Material über neue Arzneimittel
sammelt und auf Grund desselben jedem an¬
fragenden Arzte orientierende Antwort erteilt.
Um eine feste Grundlage für ihre Urteile zu
erlangen, plant die Arzneikommission die Errich¬
tung einer Prüfungsstelle im Anschluß an das
Pharmakologische Institut der Universität Berlin
(Geh. Rat Prof. Heffter). Dort soll durch er¬
probte Analytiker die Zusammensetzung neuer
Arzneimittel in zweifelhaften Fällen nachkon¬
trolliert werden. Für die Prüfung am Kranken¬
bett haben sich zahlreiche Leiter von Kliniken
und Krankenhäusern zur Verfügung gestellt. Wenn
die Arzneimittelkommission mit solchen Hilfs¬
mitteln ausgerüstet sein wird, so ist bestimmt zu
hoffen, daß ihr Urteil von der Arzneimittelindustrie
vor der Einführung neuer Arzneimittel • in An¬
spruch genommen werden wird, und daß sich auf
diese Weise die Möglichkeit bieten wird, die Aus¬
wüchse der Heilmitteldarstellung in wirksamer
Weise zu bekämpfen. Hierdurch wird nicht nur
die Arbeit des einzelnen Arztes, sondern auch das
Ansehen der deutschen Medizin und nicht zuletzt
auch des ärztlichen Standes eine erhebliche För¬
derung erfahren.
Wir sind sicher, daß dies Programm Ihre Zu¬
stimmung finden wird; es ist aber nicht mit der
theoretischen Teilnahme getan; das Werk kann
nur ins Leben treten, wenn Sie praktisch dazu
helfen. Die erforderlichen Mittel sind nicht allzu¬
groß, da die Organisation im Anschluß an ein be¬
stehendes staatliches Institut geplant ist. Auch
ist zu hoffen, daß das analytische Prüfungsamt
sich bald selbst erhalten wird. Immerhin bedarf
es zur ersten Einrichtung einer gewissen Summe,
welche durch die Beiträge deutscher, Ärzte zu¬
sammengebracht werden soll. Der Plan, den wir
Ihnen hiermit unterbreiten, ist sowohl vom Vor¬
stand und Ausschuß der Deutschen Gesellschaft
für innere Medizin als auch vom Vorstand des
Deutschen Ärztevereinsbundes erörtert und ge¬
billigt worden.
Sie fördern ein wesentliches ärztliches Standes¬
interesse, wenn Sie sich durch die Zuwendung
eines kleinen Betrages beteiligen wollen. Wenn
jeder deutsche Arzt mindestens 10 Mark beisteuert,
ist die Ausführung unseres Planes gesichert. Für
höhere Beiträge sind wir sehr dankbar.
Penzoldt. Dippe. G. Klemperer. Stöter.
von Bergmann. Gottlieb. Heffter. B. Spatz.
Stintzing. Holste.
Schon jetzt sind zahlreiche Beiträge
eingegangen. Mit besonderer Dankbarkeit
verzeichnen wir die Gabe eines öster¬
reichischen Kollegen, Herrn Dr. von
Fleischl, von 1000 M. Die Herausgeber¬
schaft der Münchener medizinischen Wo¬
chenschrift hat 1000 M. gespendet, die
Herren Verleger der Therapie der Gegen¬
wart, der Zeitschrift für ärztliche Fort¬
bildung sowie der Deutschen medizinischen
Wochenschrift je 500 M. Groß ist die
Zahl der deutschen Ärzte, welche bereits
beigesteuert haben. An diejenigen Kollegen
aber, deren Beitrag noch aussteht, ergeht
noch einmal die dringende Bitte, dem ge¬
planten Wetke, das nur zum Nutzen der
Ärzteschaft bestimmt ist, ihre Mitwirkung
nicht zu versagen. Nocli ist die Begrün¬
dung des Arzneimittelprüfungsamts nicht
gesichert, dazu bedarf es tatsächlich der
Mithilfe jedes einzelnen deutschen Arztes.
Das Postscheckkonto ist Leipzig Nr. 873 21,
Geschäftsstelle der Arzneimittelkommission.
Für die Redaktion verantwortlich Geh.Med.-Rat Prof.Dr. G. Klemperer in Berlin. Verlag von Urb an & Schwarzenberg
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Inhaltsverzeichnis umstehend!
1921
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ROBORANS
SiimulcUlLS für den Appetil
Viali.Uhlmmn,Jnh.Apoth.E.RfiTHFrankfuriaJI.
-^- Diesem Heft liegen Prospekte folgender Firmen bei: --^-
«flehe k Co., A.-O., Dresden-N, betr.: „Maltosellol“. — (LPohl, SchSnbaum, Bz. Danzig, betr.: „Blennosan «Pohl»“ und „Gelopol“.—
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INHALTS-VERZEICHNIS
Originalmitteilungen, Repetitorium der Therapie, zusammenfassende
Übersichten, Kongreßberichte und therapeutischer Meinungsaustausch.
Abortbehandlung. S. Joseph 299.
Abort US, Soziale, eugenetische und Notzucht¬
indikation zur Einleitung des künstlichen.
W. Wiegels 461,
Alter, Einfluß des —s auf Stärke von Tuber¬
kulinlösungen. V. Kollert und M. Burger 318.
Anämie, Ätiologie der perniziösen —. R. Sey-
derhelm 241.
— Coliindexbestimmungen und Mutaflorbehand-
lung bei perniziöser —. J. Zadek 291. 341.
Apyron, Neues —. (Magnesium acetylosali-
cylicum). H. Fischer 277,
Arthritiden, Behandlung chronischer — mit
Proteinkörpern insbesondere mit Sanarthrit.
R. Lämpe 93.
Arthritis, Diagnostische und therapeutische Irr-
tümer bei gonorrhoischer —. H. Schlesinger 47.
— gonorrhoica. Einfache Behandlungsweise der
— im Frühstadium. Fr. Lahmeyer 195.
Aspirin als Hustenmittel. Hilgers 117.
As pochin, eine neue Salicylchihinverbindung.
F. Mendel 216.
Asthma bronchiale, Adrenalinbehandlung. Karl
Csepai 319.
Atropinvergiftungen. R. Meißner 418.
Augenstörungen nach Optochin und Ver¬
meidungen. G. A. Waetzoldt 96.
Campherölinjektion'en, Intravenöse. K.Wohl-
gemuth 484.
Carcinom, Lehre vom infektiösen Ursprung.
Em. Sachs 367.
Caseosan bei akutem Dickdarmkatarrh. Gröp-
1er 446.
-behandlung in der dermatologischen Praxis.
H. Krösl 365.
Cesol und Neucesol bei inneren Krankheiten.
V. Kollert und K. Bauer 381.
Chinidinwirkung, Ungünstige — bei voll¬
kommenem Herzblock? Frz. M. Groedel 172.
Chirurgie, 45. Versammlung der Deutschen
Gesellschaft für —. Berlin 30. März bis 2. April
" 1921. Bericht von W. Klink 179. 227.
Choleval bei infektiösen Hauterkrankungen.
Goldmann 366.
Dermatologische Gesellschaft, 12. Kongreß
der Deutschen —. Hamburg, Pfingsten 1921.
Bericht von E. F. Müller 308.
Diabetes, Renaler — und Bedeutung für Thera¬
pie der Zuckerkranken. E. Frank 167.
Diabetes und chirurgischer Eingriff. M.Lauritzeh
409. ^
-debatte, Epilog zur — von B. Naunyn 201.
Digitalis bei chronischen Lungenkrankheiten,
besonders bei Schwindsucht. C. Focke 426.
-tinktur. Titrierte — (Digititrat Kahlbaum).
H. Guggenheimer .194.
Encephalitis letharg. G. Klemperer 136.
Enuresis nocturna. Neues zur Lehre. J.
Finckh 257.
Ernährungsstörungen und ihre Behandlung
mit Tonophosphan als Stoffwechselstimulans
unter Berücksichtigung der Rachitis. C. Hoff-
mann 422.
Erysipelas migrans, Therapie. A. Salinger320.
-H. Schmidt 236.
Erythroltetranitrat in der Behandlung der
Coronarsklerose und mancher Formen von
Hypertonie. W. Zinn und K. Liepelt 329.
Esalcopat, Zur Wirkung der Salvia. Apotheker
Stöcker und Dr. A. Mahlo 485.
Fluor albus, Psychogen., Bunnemann 132.
Gonorrhoe, Weibliche — und Fluor, Trocken¬
behandlung der —. Walt. Treuherz 303.
Hautdesinfektion mit Junijot. A. Rosen¬
berg 252.
Hefeextrakt als Stomachikum und seine,Ver¬
wendbarkeit. Heinz 174.
Heilentzündung und Heilfieber mit Berück¬
sichtigung parenteraler Proteinkörpertherapie
nach Bier. Bericht von F. Klemperer 144.
'Herzmassage, Physiologische —. Jobs. Hae¬
dicke 333.
Hippokratische Medizin. G. Klemperer 449.
Hypnotherapie. Alfr. Rothschild 60.
Innere Medizin, Eröffnungsrede auf dem
Kongreß für — von G. Klemperer 161.
— 33. Kongreß für — in Wiesbaden 18. bis
21. April 1921. Bericht von G. Klemperer 183.
223. 265.
Intrakardiale Injektion. Waith. Schulze 339.
Jod -Ichthyolanstrich (Astaphylol). "S. Lissau
486.
Karlsbader Fortbildungskurs. Bericht von
Julian Marcuse 473.
IV
Inlialts-Verzeichnis.“
If*. %.l^V
Kieselsäurebehandlung bei Lungentuberku¬
lose. Max Roth 369.
Kieselsäurezufuhr, Parenterale —._ F. Zuck¬
mayer 376.
Kopfschmerzen peripheren Ursprungs und
Heilung. L. Schmidt 156.
Krampfkrankheiten, Chirurgische Behahd-
lung. St. Westmann 260.
Leberkrankheiten, Behandlung. G. Klem-
perer 29. 67.
Lichttherapie. F. Schanz 121.
Liegehallen, Drehbare —. K. Gerson 368.
Lokalanaesthetikum, Herstellung eines halt¬
baren gebrauchsfertigen —. Fr, v. Delbrück 364.
Lues, Intravenöse Quecksilber-Salvarsanbehand-
lung. S. Reines 407.
Luminaltherapie bei Säugling. L. Salmony
^83.
Lungentuberkulose, Chirurgische Behandlung.
W. Jehn281.
— Röntgenbehandlung. 0. de la Camp 164.
— Symptomatische Behandlung (Holopon und
Eukodal). Leichtweiß 51.
Lytophan, eine Phenylchinolindocarbonsäure.
F. Gudzent und J. Keip 127.
Magensekretion, Psychische Einflüsse auf —.
G. R. Heyer 285.
Milanol bei Hautkrankheiten. Fritz M. Meyer
und Frz. K. Meyer 279.
Morphiumvergiftung, Behandlung akuter —.
L. Brauer 6.
Myodegencratio cordis. H. Eppinger 81.
Nährstoffe, Accessorische. H. Aron 79.
Narkosen, Nirvanol bei —. Schlichting 159.
Ne OS al varsan - No vasurol-Injektionen, In¬
travenöse kombinierte —, Treitel 199.
Nervenkrankheiten, Behandlung von —.
^ G. Klemperer 390. 436.
Neucesol bei Diabetes insipidus. Erh. DeIoch363.
Nitroglycerin - Darreichung, Neue Art.
C. Winkler 484.
Optarson als appetitanregendes Mittel bei
Lungenkranken. Schuhes 317.
— Kombination von Solarson und Strychnin.
G. Klemperer 116.
— Solarson-Strychninmischung. Georg Eisner
235.
Orthopädenkongreß, Bericht über den XVI.
— Berlin 18. bis 20. Mai von Georg Müller
230.
Osteomalacie, Behandlung mit Asthmolysin,
klin. Heilung. W. Blumenthal 279.
Perikarditis, Diagnose und Therapie. L.Dunner
453.
Phloridzindiagnostik der Frühgravidität.
Kamiiitzer und Joseph 459.
Prteumonie|i, Behandlung schwerer — mit
Pferdeserum und Aderlaß. Ad. Bingel 316.
Proteinkörpertherapie, Dosierung und Inter-
"vall bei —. F. Kleeblatt 209.
Psyche, Wert der Behandlung der — bei inneren
Erkrankungen, ihre Methoden und Erfolge,
Erw, Moos 213. 248.
Psychotherapie in ärztlicher Praxis unter Be¬
rücksichtigung der Hypnose. Disque 176.
Puerperalfieber, Therapie. St. Wesimann 455,
Radiumemanationstherapie. Engelmann
347. 386. 430.
Sanarthritbehandlung chronischer Gelenk¬
affektionen. Erna Herrmann 482.
Schmerzen, Körperliche — (Bedeutung und
Behandlung). Martin Sußmann 447.
Schwangerschaft, Biologische Diagnostik,
Kammitzer und Joseph 321.
Schwangerschaftsunterbrechung, Grund¬
lagen der künstlichen —. Benthin 324.
Seife, Einfluß auf Tuberkulose. W. Berg¬
mann 118.
Silberlösungen, Intravenöse Behandlung mit
kolloiden —. Plehn 243.
Solarson bei Herzkranken. Firnhaber 40.
Staphar, Erfahrungen. Dienemann 157.
Steckschuß, Selbstheilung eines perivesikalerr
— durch Austreten aus der Harnröhre. Dr,
Pankow 488.
Syphilisbehandlung, Einige Fragen der —,
W. Wechselmann 15.
Teno sin in der Frauenpraxis. Georg Katz 198.
Terpichin bei entzündlichen Erkrankungen der
Harnorgane. W. Karo 129.
Traubenzuckerintusionen, Bericht über
fremde und eigene Erfahrungen mit —, ins¬
besondere bei Herzkranken. Th. Büdingen 20.
Tuberkulose, Experimentelle Grundlage der
Friedmannschen Behandlungsmethode. L. Ra-
binowitsch 1.
Tuberkuloseinfektionen, Additionelle —im
Alter Erwachsener. 0. Müller und H. Isele 41.
87.
Typhus, Ist (Pseudo-) Grippe —? Voltolini 77*
Ulcera cruris, Pyoktaninbehandlung. Pran^
Seiler 488.
Ulcus ventriculi — Sodbrennen. Hugo>
Schmidt 197.
Varicen und Folgezustände. M. Borchardt und
S. Ostrowski 467,
Verletzungen, Behandlung frischer—. M, Bor¬
chardt und Ostrowski 25. 61. 101. 141. 220.
263. 305. 354. 399.
Wehenmittel, Einfluß der neueren — auf die
Leitung der Geburt. E. Sachs 10. 53.
Zuckerkrankheit, Grundlinien der'diätetischeu
Behandlung der —. C. v. Noorden 202.
Zungen ne krose bei einem Kinde durch Be¬
rühren eines elektrischen Stechkontaktes. G.
Klemperer 39.
Abdominelle Untersuchung 440.
Abführmittel 34.
Abort 461.
-behandlung 299.
—, fieberhafter 474.
Aderlaß 316.
Adnexerkrankungen 404. 441.
-tumoren 356.
Adrenalinbehandlung 319.
— -Wirkung 266.
Aktinomykose 274.
Alterseinfluß 318.
Amputierte, Neurologische Un¬
tersuchung —r 309.
Analfissuren 405.
Anämie, Perniziöse 241. 291.
Angina pectoris 473.
Apoplexie 391.
Apyron 277.
Arbeitseinflußauf Herzgröße 270.
Arbeitstherapie des Diabetes 225.
Arhythmien 270.
Arsenikvergiftung 441.
Arthritiden, Chronische 93.
Arthritis gonorrhoica 47. 195.
Aspirin (Hustenmittel) 117.
Astaphylol 486.
Asthma bronchitale 319.
Asthmolysin 279.
Aspochin 216.
Atropin bei Magengeschwür 269.
Atropinvergiftungen 418.
Augenschädigung 315.
-Störungen 96. ^
Autotransfusion 354. ,
Basedow 181. 439. 473.
—, operative Behandlung 474.
Bauchfelltuberkulose 70.
Bauchschmerz 228.
Blasenlähmung 109.
Blutacidose 225 .
-drucksteigerung 34.
— -körperchen, Permeabilität
roter 270.
— Resistenzprüfung 270.
-menge 270.
-plättchen 271.
-Stillung 220.
-transfusion 148. 181. 354.
399. 442.
Blutung 357.
— und Blutstillung 110.
Blutverlust, Behandlung 354.
-Zucker 225.
-Zusammensetzung 266.
Bronchopneumonie 35.
Brustwanddefekte 310.
Butolan 191. 406.
Calciumwirkung auf Herz 268.
Camagol 149.
Campherölinjektion, intravenöse
484.
Carcinom 367.
Caseosan 191. 356. 365. 446.
Cervicalkatarrh-Behandlung
475.
Cesol 381.
— und Neucesol bei inneren
Krankheiten 381.
fiihldts’-Verzeiciiriik “
Sachregister.
Chinidin Wirkung 172.
Chininbehandlung Herzkranker
475.
Chloräthylrausch 310.
Chlorylen 152.
Cholesterin 357.
-Stoffwechsel 265.
Choleval' 366.
Chorea 440.
Coliindexbestimmungen291.341.
Collargol in Chirurgie und Gynä¬
kologie 475.
Conjunctivitis neonatorum 442.
Coronarsklerose 329.
Darmpathologie 269. <
Diabetes 201. 409.
—, Arbeitstherapie 225.
—, Organotherapie 225.
—, Pituglandolinjektion 225.
—, Hungerkuren 226.
—, Überempfindlichkeit 226,
— insipidus 363. 442.
—, Renaler 167.
—Theorie und Therapie 473.
-therapie, Neue und alte 223.
—, Zuckerausscheidung 230.
Diathermiebehandlung 404.
Dickdarmkatarrh 446.
Digitalis 426.
-therapie 35.
Digititrat 194.
Diurese 442.
Dünndarm, Autosterilisation 269.
Duodenalgeschwür 70.
Eklampsie 71.
Empyeme (Pleura-) 357.
Empyem, Fistelnde 182.
— -fisteln 443.
Encephalitis, lethargische 136.
Entgiftung 111.
Enuresis noct. 257.
Epilepsie 358. 438.
Erfrierungen 103.
Ernährungsstörungen 422.
Erysipel (Staphylokokken-) 181.
Erysipelas migrans 236. 320.
Erythroltetranitrat 329.
Esalcopat 485.
Eukodal 51.
Fluor 303.
— alb.. Psychogen. 132.
Fraktur 359.
Friedmanns Tuberkulosemittel
1. 149. 446.
Frühgravidität 459.
Gastroenterostomie 310.
Geburt 10.
Gehirnkrankheiten 390.
Gelatine 226.
Gelbsucht 31.
Gelenkaffektionen, Chronische
482.
— -erkrankungen 191.359. 443.
-rheumatismus, Tonsillen¬
schlitzung bei 114.
Geschwülste, Bösartige 228.
Gicht, Pathogene 111, 265.
Gichtproblem 111.
Giftwirkung 445.
Gonokokkensepsis 405.
Gonorrhöe, Weibliche 72. 303.
444.
Grippe 77.
Guanidinvergiftung 266.
Gynäkologie, Diagnostische Irr-
tümer 360.
Halsgefäßverletzung 231.
Hämatopprphyrie 72.
Hämolyse' Intravitale 271.
Hämophilie 442.
Hämorrhoiden 311.
Harnröhrensekret, Weibliches
232.
Hautdesinfektion 252.
Hautgangrän nach Kochsalz¬
infusion 112.
Haut- und Geschlechtskrank¬
heiten, Behandlung 309.
Hefeextrakt 174.
Heilentzündung 144.
-fieber 144.
Herzblock 172.
— -fehler 270.
-größe 266. 270.
-kranke 20. 40.
—, Hydropischer 152.
— u. Aortenerkrankungen 73.
-massage. Physiologische 333.
Hippokratische Medizin 449.
Hirschsprungsche Krankheit 274.
Hohlglaspessare 312.
Holopon 51.
Hüftverrenkung 312,
Humagsolan 112.
Hungerkuren 226.
Hustenmittel (Aspirin) 117.
Hydrocephalus 393 .
Hydronephrose 232.
Hyperglykämie und Glykosurie
225.
Hypertonie 329. 473,
Hypnose 176.
Hypnotherapie 60.
Hypophysen 444.
Hysterie 436.
Ikterus 476.
— der Herzkranken 269.
Ileus 228.
Infektionskrankheiten 271.
Infusion blutisotonischer Lö¬
sungen 354.
Infusionen, Intravenöse 444;
Injektion zur Wiederbelebung,
Intrakardiale 181.
Innere Medizin 161.
—, Verhandlungen des 32. Kon¬
gresses für 147.
Innervation, Myostatische 36.
Instrumente aus rostfreiem Stahl
181.
Insufficientia vertebralis 482.
Interstitielle Drüsen 360.
Intrakardiale Injektion 339.
Invaginationen 232.
Ischias 396.
-artige Erkrankungen 193.
VI
Inhalts - Verzeichnis.
Jod-Ichthyolanstrich 486.
Jonengleithgewicht und Gift¬
wirkung 445.
Junijot 252.
Kaffee, Überempfindlichkeit
gegen 112.
Kardiospasmus 227.
Keuchhustenkranke Kinder 37.
Kiesclsäurcbehandlung 369.
-Zufuhr 376.
Kinderkrankheiten 147.
—, Prophylaktik und Therapie
147.
Klumpfuß, Angeborener 112.
Knochen- und Gelenktuberku¬
lose 179.
Kochsalzinfusion 112.
KoehlerscheKrankheit desKahn-
beins 4/6.
Kohlehydrate, Abbau im Muskel
224.
—, Caramelisierte 224.
Kollargol 270.
Konstitutionstypen siehe Thy-
mo-lymphaticus 114.
Kopfschmerzen 156.
Krätzemittel Mitigal 320.
Krampfkrankheiten 260.
Kreislaufpathologie 270.
Kropfbehandlung 477.
Kyphose 477.
Lebercirrhose 33.
-krankheiten 29. 67. 269.
-Schwellung 30.
Leukocyten 271.
Lichttherapie 121. 312.
Liegehallen 368.
Liquor und Syphilis 308.
- Untersuchung 271.
Lokalanästheticum 364.
Loosefilter 360.
Lues 407.
-behandlung 312.
Lumbalanästhesie 74.
— und örtliche Betäubung 182.
Luminal 383.
Lungengangrän 149.
-kranke 317.
-krankheiten 426.
-phthise. Natürliche Hei¬
lungsvorgänge 183.
-spitzen katarrh 149.
Lungentuberkulose siehe auch
Tuberkulose.
— 39. 51. 281. 369.
—, Atmungstherapie 189.
—, Chirurgische Behandlung 188.
—,xSponanheilung schwerer 188.
—, Röntgentherapie 164. 189.
—, Tuberkulinwirkung 190.
Lupus vulgaris 150.
Lymphosarkoleukämie 405.
Lytophan 127.
Magen- und Duodenalgeschwür
74.
-geschwür 112. 269.
- Pathologie 268. 477.
-resektion 360.
- Sekretion 285. 315.
-Spülungen 37.
- Straße 269.
Mark, Blutbildendes 271.
Masern 274.
Mastdarmkrebs 312.
-Vorfall 313.
Mastitis puerperale 442.
Mehlfrüchtekur 223.
Menstruation 150.
Milanol 279. '
Milzpathologie 269.
Mitigal 320.
Morphiumvergiftung 6.
Muskeltonus 75.
Mutaflor 291. 341..
Myodegeneratio cordis 81.
Nährstoffe, Accessorische 79.
Narkolepsie 445.
Narkose 233.
—, Allgemeine 182.
—n 159.
Nebennierenreduktion 358.
Neosalvarsan-Novasurol - Injek¬
tion 199.
Nephritis 233.
-lehre 473.
Nervenlähmungen 398.
Nervensystem, Vegetatives 268.
-Verletzungen, Chirurgie der
peripheren 272. '
Neucesol 363. 381.
Neuralgien 396.
Neurasthenie 436.
Neuritis, Multiple 395.
Neurosen 436.
Nierendekapsulation 71.
Nirvanol 159.
Nitroglycerin-Darreichung 484.
Normosal 364.
Novasurol 478.
Ohrenheilkunde 148.
Optarson 116, 235, 317.
Optochin 96.
Organotherapie des Diabetes 225.
Osteomalacie 279.
Osteotomie 313.
Oxyuren 406.
Oxyuriasis 191.
Pankreaserkrankungen 70.
Pankreatitis 478.
Paralysis agit. '440.
Periarteriitis nodosa 151.
Perikarditis 453.
Peritonitis 228.
Pferdeserum 316.
Phloridzinglykosurie 225.
-diagnostik 459.
Phosphaturie 479.
Physormon 444.
Pituglandol 225.
Placenta-Opton 234.
Pneumonien 316.
Pneumothoraxtherapie 313.
Prostatektomie 314.
Proteinkörpertherapie 93. 191.
209.
—, Parenterale 144.
Psyche, Behandlung 213. 248.
Psychotherapie 176.
Pylorospasmus 361.
Polycythämie 406.
Polyomyelitis acuta 395.
Puerperalfieber 455.
Quecksilber-Neosalvarsanbe-
handlung 407.
Rachitis 361. 442.
Radiumemanatiönstherapie 347.
386. 430.
Regulin 34.
Rektale Untersuchung 314.
Retinitis alb. 268. ♦
Retroflexio uteri 192.
Röntgen- und Radiumtherapie
404.
-behandlung siehe« einzelne
Krankheiten.
-diagnostik innerer Krank¬
heiten 273.
-energie 37.
-kater 275.
-ologie 273.
-Schädigung 314.
-strahlen, Einfluß auf Magen-
saftsekretion 269.
-strahlen, Messung und Do¬
sierung 404.
-therapeutisches Hilfsbuch
274.
— -verfahren, Fortschritte 479.
-, Leitfaden für röntgeno¬
logisches Hilfspersonal 148.
Rückenmarkskrankheiten 390.
Ruhr im Kindesalter 192.
Sanarthrit 93. 191.“
-behandlung 482.
Säuglingsanämien 362.
-ernährung 38.
Schmerzen, Körperliche 447.
Schwangerschaft, Frühdiagnose
75.
—, Biologische Diagnostik 321.
-glykosurie 75..
- Unterbrechung 324.
Schwindsucht 426.
Seife bei Tuberkulose 118.
Sekretin 226.
Selbstinfektion 315.
Shock, Traumatischer 142.
Silberlösungen, Kolloidale 243.
Silbersalvarsan bei multipler
Sklerose 480.
Sklerose 480.
—, Multiple 395.
Skoliose 480.
—n, Redression s^chwerer 113.
Sodbrennen 197. '
Solarson 481.
— bei Herzkranken. 40.
Sonnenstich 362.
Spina bifida 193.
Spondylitis tuberculosa 481.
Spontanfrakturen der Patella
479.
Steckschuß-Selbstheilung 488.
Sterilisierung 113.
Stoffwechsel, Pathologischer265.
Strahleneffekte, Gynäkologische
l48.
Staphar 157.
Stomachikum 174.
Stuhlverstopfung 76.
Sympathikotonie 153.
Syphilis, resistente 481.
-therapie 15. 151.
Tabes, Heilbarkeit 234.
— dorsalis 393.
Tenosin 198. 406.
Terpichin 129,
Infialts-Verzeichnis.
VII
Tetanie 275.
Thlaspan 39.
Thymo-lymphaticus 114.
Tonophosphan 422.
Tonsillenschlitzung 114.
Traubenzuckerinfusionen 20.152.
Tri Chloräthylen 193.
Trigeminusneuralgie 152. 398.
Trinkkuren bei Kindern 474.
Tripper 276.
Trivalin 445.
Tuberkulindiagnostik 235.
-lösungen 318.
Tuberkulose 1. 118. 276.
—, Chirurgische 235.
—, siehe auch Lungentuber¬
kulose. 39.
Tuberkulose, Nachweis* 362.
—, Spezifische Behandlung
186.
—, Klinische Therapie 186.
—, Strahlenbehandlung 115.
-infektionen, Additionelle 41.
87.
Typhus 77.
Überempfindlichkeit gegen
Kaffee 112.
Ulcera cruris 488.
Ulcus cruris-153.
— ventriculi 197.
— ventriculi und duodeni 153.
Unterschenkelgeschwüre 115.
Uzara 77.
Vagotonie 153.
Varicen 467.
Verbrennungen 103.
Verletzungen, Frische 25.61.101.
141. 220. 263. 305. 354. 399.
Wassermann-Reaktion 315.
Wehenmittel 10. 53.
Wiederbelebung, Intrakardiale
Injektion zur 181.
X-Bein 316.
Zellfunktion, Steigerung 37.
Zuckerkranke, Ther. 167.
Zuckerkrankheit 202.
Zungennekrose 39.
Autorenregister.
(Die Seitenzahlen der Original-Mitteilungen sind fett gedruckt.)
Alsberg, J. 149.
Alwens 189.
Aron, H. 79.
Aschoff 183.
Aßmana 273.
Aubry, L. 313.
Bartels 114.
Baruch 74.
Bauer (Wien) 268. “
Bauermeister 34.
Beltz 270.
Benthin 324.
Bergmann, W. 118.
Bier, A. 144. 179.
Bingel, Ad. 316.
Birch-Hirschfeld 315.
Bircher, E. 70.
Birt 479.
Bittorf 73.
Blaschko u. Groß 444.
Blühdorn 35.
Blumenthal, Waith.
279.
Boden u. Neukirch475.
Boenheim 477.
Boese 475.
Bonsmann 271.
Borchardt, M. u.
Ostrowski 25. 61.
101. 141. 220. 263.
305. 354. 399. 467.
Böttner 270. 406.
Brandenburg, K. 112,
Brauer, L. 6. 188.
Braun 182.
Brugsch 35. 224.
Brüning 228.
Bruns 270.
Bucky', G. 404.
Büdingen, Th. 20.
Bungart 74.
Bunnemann 132.
Bürger 225.
Busch ke 150.
de la Camp, O. 164.
Citron 405.
Collatz 226. -
Colmers 228.
Csepai, K. 319.
Dardel 232.
V. Delbrück, F. 364.
Deloch, Erh. 363.
Denk 182.
Diemer, Th. 405.
Dienemann 157.
Disque 176.
—, jr., L. 191.
Ditler, R. 113.
Dresel 224.
Dreyfus 234.
Drüner 275.
Dünner 268. 453.
Eiseisberg 229.
Eisner 225.
—, Gg. 235.
Elias 226.
Engelmann 347. 386.
430.
Eppinger 81. 233.
Falta 223.
Finckh, J. 257.
Finsterer^ H. 74.
Firnhaber 40.
Fischer, Heinr. 277.
Focke, C. 426.
Frank 153. 473.
—, E. 167. 266.
—, L. (Berlin) 270.
—, E. u. Nothmann 75.
Fraenkel, J. 112.
Franz (Berlin) 72.
Friedemann,U.267.313.
FronzLg 362.
Full 269.
Fürstenau, Immelmann
u. Schütze 148.
Garling 150.
Gerhardt 186.
G6ronne 191.
Gerson, Karl 368.
Gigon 226.
" Gödde 231.
Goerres 481.
Goldmann 366.
Goldscheider 226.
Göppert u. Langstein
147.
Gorke 226.
Grafe 75. 224.
Graetz, H. 312.
Greving 268.
Griesbach 270.
Groedel, Frz. M. 172.
Gröpler 446.
Groß 265.
Grote 225.
Grütz 148.
Gudzent 193. 265. ,
—, F. u. Keip, J. 127.
Guggenheimer, H. 194.
Günther 72.
Haedicke. Jobs. 333.
Hartleib 310.
Heffter 441.
Heinz 174.
Heller 315.
Hellmuth 444.
Herrmann, Erna 482.
Herzog, F. 442.
Hesse, E. 312.
Hey^r 268. 285.
Hilgers 117.
Hirsch 440.
—, H. 360.
Hofbauer 189.
Hoffmann, C. 422.
—, G. 274.
Holmgreen 473.
Holst 473.
Holzknecht, G. 273.
Hoppe-Seyler 226.
Hoesslin' 267.
Hunaeus 149.
Isaak u. Bieling 271.
Isele, H. 41. 87.
Jaeger 406.
Jansen 267.
V. Jaschke 474.
Jehn, W. 281.310. 357.
Joseph, S. 299.
Jüngling 229.
Jungmann 270.
Junkel 443.
Karo, W. 129.
Kamnitzer u. Joseph
321. 459.
Katsch 269.
Katz, G. 198.
Kauffmann 442.
Kennedy 475.
Kirschner 182.
Kleeblatt, F. 209.
Klempei-er, F. 190.
—, G. 29. 39. 116. 136.
162. 183. 223. 265.
390. 436. 449.
Klewitz 208.
Klink, W. 179.
Klinkert 111.
Klose 474.
Klotz 361.
Kocher, A. 153.
Kolisch 225.
Kollert, V. u. Bauer,
K. 381.
— u. Burger 318.
König, E. 362.
Koenig, Fritz 179.
— (Würzburg) 112.
Königer 272.
Koopmann 114.
Korbsch 152.
VIll
Infialts-Verzeichnis,
.Koßmann 405,
Kramer 152.
Kraus 153.
Krecke 477.
Krecke, A. 312.
Kretschmer 446.
Kreuter 227.
Krösl, H. 365.
Kroetz 150.
Kulenkampf 181.
Kuntze, G. 192.
Küpferle 190.
Kurtzahn 357.
Laache 76.
Lahmeyer, Fr. 195.
Lampe, Rud. 93.
Lang 442,
Lange 480.
— (Frkf.) 266.
Langstein 361. 474.
Laquer 224.
Lauritzen, M. 409.
Lehmann, W. 272.
Leicht weiß 51.
Leidler, R. 148.
Lenkj Rob. 274.
Leschke 268.
Lewy 224.
Lichtwitz 226. 473.
Liebermeister 150. 189.
Liegner 314.
Lippmann (Frkf.) 269.
Lissau, S. 486.
Löffler 225.
Loning 225.
Lübbert 71.
Lust 147.
Magnus-Alsleben 270.
Martin 234.
Mau, C. 235.
Mayer-Bisch 359.
Meier, Clot. 267.
Meißner, R. 418.
Mendel, Fel. 216.
Meyer 360.
—, Er. 190. 266. 442.
—, Fr. M. u. Meyer,
Frz. K. 279.
Meyer-Birch 442.
Meyersohn 480.
Michaelsen 232.
Minkowski 223.
Molnar 443.
V. Monakow 34.
Moos 213. 248. .
Morawitz 110.
-— u. Denecke 267.
Müller 481.
—, Ernst 359.
—Ernst Friedr. 271.
308.
J. 112.
—, L. R. 268.
—, Otfr. 41. 87.
Nathan u. Flehme 151.
Naunyn, B. 201.
Neuland u; Peiser 38.
“Neuwirth, K. 148.
Nevermann 445.
Nonne 308.
Nonnenbruch 267. 478.
V. Noorden, C. 202.
310.
Nordmann 229.
Nürnberger 444.
Nußbaum, A. 113.
behlecker 181,
Oehme 226.
Opitz 312.
Ostermann 181,
Ottow 232.
Pamperl, R. 275,
Pankow’ 488.
Perthes 228.
Peterson 360.
Pfaundler 274.
Plehn 243.
Plenz 313.
Pleßner 193.
Pongs 269.
Pulay 112.
Rabinowitsch, L. 1.
Rehdes 362.
Reichmann 446.
Reines, S. 407.
V. d. Reis 269.
Reiß, E. 188.
Rieder 275.
Rietschel 276.
Rqedelius 314.
Rosenberg, Alb. 252.
Rosenow 269.
Rosenthal (Breslau)
271.
Roth, M. 369.
.Rothschild, Alfr. 60.
Rotter 269.
Sachs, E. 10. 53.
—^ Em. 367.
Salinger, Alfr. 320.
Salmony, L. 383.
Salomon 315.
Sandor 358.
Schade 267,
Schanz, F. 121. 482.
Scheuermann 477.
Schilling 271.
Schlesinger, H. 47.
Schlichting 159.
Schmid, E. 316.
Schmidt, H. (Lieben¬
stein) 236.
Hugo 197.
—, L. 156. .
Schmiedeberg, O. 230.
Schneider 39.
V. Schrötter 115.
Schultes 317.
Schulze, W. 339.
Seelmann 404.
Seiler, Franz 488.
Seitz 192.
Selter 406.
Seyderhelm, R. 241.
266.
Siemens, W. 481.
Singer (Wien) 70. 268.
Sonnenfeld 356.
Sonntag 476.
Steinkamm 274.
Steinthal 358.
Stephan 37. 189. 320.
Stepp 225.
Stöckel 109.
Stöcker u. Mahlo 485.
Strümpell 36. 476.
Sudeck 181.
Suermondt 360.
Süßmann, M. 447.
Toennießen 225.
Traugott 226.
Treitel 199.
Treuherz, W. 303.
Tutscheck 441.
Uhlenhuth 186.
Veraguth 309.
Vogt 77. 181.
Volhard 227. 268. 473.
Völker 311.
Volkmann 115.
Voltolini 77.
Voltz, F. 404.
Wächter 315.
Wacker u. Beck 357.
Wagner 479.
Warnekros 229.
Waetzoldt, G. A. 96.
Wechselmann 15.
Weinberg 271.
Westmann, St. 260.
455.
Wetterer, J. 276. 404.
Wetzel 314: "
Wiechmann 270.
Wiegels 461.
Wieland, H. 111.
Wijnhausen 478.
Wilhelm, M. 37.
Winkler, C. 484.
Wohlgemuth, K. 484,
Zadek, J. 291. 341.
Zinn, W. u. Liepelt, K.
329.
Zondek 39. 445.
Zuckmayer, F. 376.
Zumpe 479.
Die Therapie der Gegenwart
1921
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Januar
Nachdruck verboten.
Aus dem Bäkteriologisclien Laboratorium des Krankeuiauses Moabit iu Berliu.
Zur experimentellen Grundlage
der Priedmannschen Behandlungsmethode der Tuberkulose^).
Von Prof. Dr. Lydia Rabinowitsch.
Sie haben gerade in der letzten Zeit
recht viel von der Priedmannschen
Behandlung der Tuberkulose gehört. Ich
habe mich entschlossen, heute hier über
die experimentelle Grundlage dieses Im-
munisiertmgsverfahrens zu sprechen, weil
ich annehme, daß die Frage noch immer
allseitiges Interesse beansprucht.
Ich will versuchen. Ihnen in großen
Zügen die wichtigsten Bausteine vorzu¬
führen. Allerdings werde ich damit wohl
denjenigen, welche mit der Frage vertraut
sind, wenig Neues bieten. lljm aber auch
vor diesen nicht mit ganz leeren Händen
zu erscheinen, beabsichtige ich einige bei
meinen fortgesetzten Studien dieser Frage
gefundene und noch nicht bekannt ge¬
gebene Tatsachen meiner Darstellung
einzuflechten.
Robert Koch hat bereits 1890 auf
dem X. Internationalen Medizinischen
Kongreß in Berlin auf die Wichtigkeit
und Unumgänglichkeit der Tierversuche
bei der Prüfung eines neuen Mittels, hinge¬
wiesen. Ersagt: ,,Nicht mit dem Menschen,
sondern mit dem Parasiten für sich inseinen
Reinkulturen soll man zuerst experimen¬
tieren; auch wenn sich dann Mittel ge¬
funden haben, welche die Entwicklung
der Tuberkelbacillen in den Kulturen
aufzuhalten imstande sind, soll man nicht
wieder sofort den Menschen als Versuchs¬
objekt wählen, sondern zunächst an
Tieren versuchen, ob die Beobachtun¬
gen, welche im Reagenzglase gemacht
wurden, auch für den lebenden Tierkörper
gelten!
Erst wenn das Tierexperiment ge¬
lungen ist, kann man zur Anwendung am
Menschen übergehen.“ ^
Seit Jahren haben die verschiedenen
Autoren versucht, Laboratoriumstiere mit
lebenden oder abgetöteten Bakterien der
Säugetier- oder Geflügeltuberkulose oder
1) Vortrag, gehalten am 16. Dezember 1920
am wissenschaftlichen Abend des Krankenhauses
Moabit.
mit den Produkten dieser. Keime gegen
menschliche Tuberkulose zu schützen.
Keine der,zahlreichen Methoden konnte
jedoch als sicher wirkend anerkannt
werdeji. •
Bereits bei der E.atdeckung der spe-
cifischen Färbbarkeit des Tuberkelbacillus
hat Robert Koch vorausgesagfc, daß
man sicher noch eine ganze Reihe von
Bacillen finden wird, denen dieselben
tinktoriellen Eigenschaften wie dem
Tuberkelbacillus eigen sein werden. Unter
Robert Kochs Leitung habe ich dann
auch 1896 die ersten tuberkelbacillenähn¬
lichen säurefesten Stäbchen aus der Butter
herausgezüchtet. Es folgten dann ver¬
schiedene Autoren mit ähnlichen Ent¬
deckungen. Petri isolierte ähnliche Stäb¬
chen gleichfalls aus der Butter, MoeIler
aus Gras und Mist, Dubard, Bataillon
et Ter re aus dem Tumor eines Karpfens.
All diese Bakterien zeigten trotz ihrer
verwandtschaftlichen Beziehungen zum
Tuberkelbacillus gar keine oder nur ge¬
ringe Pathogenität für Versuchstiere.
Mit der Entdeckung dieser säurefesten,
tubcrkelbacillenähnlichen Stäbchen er-
öffneten sich neue Aussichten für die
Immunisierung von Meerschweinchen
gegen echte Tuberkulose,
F. Klemperer kam auf Grund von
acht Versuchen an Meerschweinchen zu
dem Schluß, daß durch subcutane be¬
ziehungsweise intraperitoneale Injektion
der säurefesten Gras-, Butter- und Milch¬
bacillen ein abschwächender und hem¬
mender Einfluß auf die tuberkulöse In¬
fektion ausgeübt wird. Der Schutz war
aber nur gering und vorübergehend, da
alle vorbehandelten Tiere doch später in¬
folge der Einspritzung tuberkulösen Spu¬
tums zugrunde gingen.
Möller prüfte die immunisierende
Eigenschaften der einzelnen Vertreter der
säurefesten Gruppe untereinander an
Meerschweinchen und Kaninchen durch
subcutane und intravenöse Injektionen,
1
2
Die Therapie der Gegenwart 1921
Januar
und zwar mit avirulenten Repräsentanten
dieser Gruppe gegen virulente Vertreter
derselben. Sodann wurden sämtliche von
MoeIler beschriebenen säurefesten Ba¬
cillen bezüglich des Schutzes, den sie den
hiermit vorbehandelten Tieren gegen eine
nachfolgende Infektion mit menschlichen
Tuberkelbacillen verliehen, untersucht.
Hierbei zeigte sich, daß selbst durch
wiederholte Injektionen nur ein hem¬
mender Einfluß auf die Entwicklung der
Tuberkulose, aber keine vollständige Im¬
munität zustande kam.
Auch Koch und Schütz berichten
im Verein mit Neufeld und Mießner
anläßlich ihrer Immunisierungsversuche
von Rindern gegen Tuberkulose über
Immunisierung von Meerschweinchen mit¬
tels lebender Kulturen von Gras-, Mist-,
Pseudoperlsucht- und Blindschleichen¬
tuberkulose-Bacillus. Eine größere Zahl
von Meerschweinchen wurde meist intra¬
venös, in einigen Fällen auch intraperito¬
neal mit genannten Bacillen vorbehandelt
und nach verschieden langer Zeit durch
SLibcutane oder intraperitoneale Injek¬
tionen kleiner Mengen schwach virulenter
Tuberkelbacillen auf ihre Immunität ge¬
prüft. Bei den so vorbehandelten Meer¬
schweinchen ließ sich zwar häufig eine
Verzögerung im Auftreten der ersten In-
fektionserscheinungen und im Verlaufe
der Infektion nachweisen, insbesondere
war die Erkrankung der Lymphdrüsen
bei subcutaner Infektion bisweilen eine
sehr geringe, so daß man bei nicht ge¬
nügend langer Beobachtung der Tiere
leicht zu falschen Schlußfolgerungen hätte
verleitet werden können; indes sind sämt¬
liche Meerschweinchen schließlich tuber¬
kulös geworden.
Zu ähnlichen Resultaten gelangten
Gaston und Galbrun, welche auf dem
Pariser Tuberkulosekongreß 1905 über
Immunisierungsversuche mittels des säure¬
festen Rabinowitschschen Butterbacil¬
lus berichteten. Und zwar wurden Meer¬
schweinchen nicht nur mit lebenden Kul¬
turen, sondern auch mit Stoffwechsel¬
produkten des Butterbacillus behandelt
und gleichzeitig oder später mit Tuber¬
kulose infiziert. Die Bakterienprodukte
des Butterbacillus übten keinen Einfluß
auf den Verlauf der Tuberkuloseinfektion
aus, während durch die Vorbehandlung
mit Kulturen ein hemmender Einfluß auf
die Entwicklung der Tuberkulose deutlich
zutage trat. Die tuberkulösen Verände¬
rungen waren bei den behandelten Tieren
geringgradig im Verhältnis zu denjenigen
der Kontrolltiere, die bedeutend früher
der Infektion erlagen.
Eine vollständige Immunisierung wurde
auch von den französischen Autoren
nicht erreicht.
Die Resultate dieser Autoren stimmen
vollkommen mit meinen eigenen seinerzeit
angestellten diesbezüglichen Immunisie¬
rungsversuchen überein.
Der erste, der Immunisierungsversuche
mit Kaltblütertuberkelbacillen vornahm,
war Terre, der gemeinsam mit Dubard
und Bataillon eine spontane Tuberku¬
lose beim Karpfen beobachtet und mit
der isolierten Kultur umfangreiche Unter¬
suchungen angestellt hatte. Eine Im¬
munität gegen Tuberkulose konnte Terre
bei Meerschweinchen durch VoTbehand-
lung mit dem genannten Karpfenbacillus
nicht erzielen, wenn auch einzelne Tiere
relativ länger, ja mitunter doppelt so
lange am Leben blieben, wie die Kontroll¬
tiere (z. B. 3j4 Monate zu 1 % Monaten).
Auf die darauf folgenden Versuche
von Küster, Marey und Dieudonne
will ich hier nicht weiter eingehen. Da sie
hauptsächlich, wie auch zahlreiche Ver¬
suche anderer Autoren (Hormann und
Morgenroth, Auche und Hobs, Ra-
mond Ravaut, Lubarsch, Klimmer
und Andere) die Frage der Umwandlung
von Säugetier- und Geflügeltuberkulose
durch die Passage des Kaltblüterorganis¬
mus behandelt haben.
Auf dem Pariser Tuberkulosekongreß
1905 berichtete Behring in einer Dis¬
kussionsbemerkung zur Frage der Be¬
ziehungen der menschlichen zur tierischen
Tuberkulose, er habe experimentelle Beob¬
achtungen über die Bacillen der Säuge¬
tier-, Geflügel- und Kaltblütertuberkel-
bacillcn gemacht. Die drei Tuberkulose¬
arten haben gemeinsame Tuberkulinreak¬
tion, und außerdem wäre es möglich, mit
den für Meerschweinchen wenig oder gar
nicht virulenten säurefesten gegen die
nächst höheren Virulenzstufen zu immu-
ni zieren.
Ferner ist es Calmette, Guerin und
Breton mittels intrastomachaler .Einver¬
leibung der Kaltblütertuberkelbacillen und
der säurefesten Stäbchen nicht gelungen,
beim Meerschweinchen einen bemerkens¬
werten Immunisierungseffekt zu erzielen.
Wie ich schon ausgeführt habe, konnte
man also mit sämtlichen tuberkelbacillen¬
ähnlichen Stämmen beim Meerschwein¬
chen keine sichere Immunität er¬
reichen.
Januar .
Die Therapie der Gegenwart 1921
3
Um so erfreulicher erschienen daher
die von Friedemann 1903 mitgeteilten
Ergebnisse, die dieser mittels einer von
spontaner Schildkrötentuberkulose iso¬
lierten Kultur gewonnen hatte. Von den
anderen Kaltblütertuberkelbacillen sollte
sich der Fried mann sehe Bacillus unter¬
scheiden:
1. Wachstumsmöglichkeit innerhalb
weiter Temperaturgrenzen (gutes Fort¬
kommen schon bei Zimmertemperatur,
üppigstes Wachstum bei 37^).
2. Völlige Gleichheit des Aussehens
der bei 37® gewachsenen Kulturen mit
Säugetiertuberkelkulturen (menschliche
Tuberkulose und Perlsucht).
3. Erzeugung eines ganz leichten, loka¬
lisiert bleibenden und in vollständige Hei¬
lung übergehenden specifischen Herdes
im Meerschweinchenkörper.
4. Eine absolute und sicher bewiesene
.Unschädlichkeit gegenüber allen unter¬
suchten Säugetieren: Meerschweinchen,
Kaninchen, Hund, Ziege, Rind, Schaf,
Schwein, Pferd.
Fri edmann gelang es angeblich,durch
eine einmalige geeignete (intravenöse)
Vorbehandlung mit dem Schildkröten¬
bacillus, welchen er ,,als echten, nur wun¬
dersam mitigierten Tuberkelbacillus‘‘ be¬
zeichnet, ,,Meerschweine so hoch zu im¬
munisieren, daß sie eine Dosis mensch¬
licher Kultur, die nicht behandelte Tiere
in drei Wochen an Tuberkulose tötet,
ohne tuberkulös zu werden, überstehen.
Auch gegen Perlsuchtstämme sollte die
Friedmannsche Kultur Meerschwein¬
chen in gleicher Weise zu immunisieren
imstande sein.
Gegen diese günstigen Imnuinisie-
rungsversuche Friedmanns mit Schild¬
krötenbacillen wandten sich bereits 1904
in scharfer Kritik Libbertzund Ruppel
von den Höchster Farbwerken, in deren
Laboratorium ein Teil der Versuche von
Friedmann ausgeführt worden ist. Diese
Autoren stellten fest:
1. Die Fri edm an nsche Kultur ist
für Warmblüter nicht absolut ungefähr¬
lich. Sie erzeugt zwar keine Tuberkulose,
sie kann aber Intoxikationen und organi¬
sche Veränderungen hervorrufen, welche
Gesundheit und Leben der Versuchstiere
zu gefährden imstande sind.
2. Intravenöse Injektionen der Fri ed¬
mann sehen Kultur vermögen Warmblüter
nicht vor einer späteren Infektion mit
Tuberkulose zu schützen.
3. Durch intravenöse Injektionen der
Friedmannschen Kultur werden bei
Warmblütern Tuberkuloseimmunstoffe
nicht erzeugt.
Auf die Veröffentlichung von Lib-
berts und Ruppel hin wandte sich
Friedmann an Orth'mit der Bitte unr
Nachprüfung, ob die von Friedmann
vorbehandelten Meerschweinchen gegen
eine erneute Infektion mit echten Tuber¬
kelbacillen geschützt sind. Orth hat
seinerzeit mich aufgefordert, diese Ver¬
suche mit ihm gemeinsam auszuführen
und so haben wir nach allen Regeln der
Pathologie und Bakteriologie die Ver¬
suche in Angriff genommen.
Ich will hier nicht auf die Einzelheiten
dieser in einem Zeiträume von mehr als
zwei Jahren ausgeführten'Untersuchungen
eingehen, es würde mich dies zu weit
führen. Meine gemeinsamen Untersuchun¬
gen mit Orth haben ergeben, daß die
Fri edm an nsche Behauptung einer er¬
zielten vollen Immunität — das heißt,
daß es ihm durch eine einmalige Vorbe¬
handlung gelungen sei, ,,Meerschweine so
hoch zu immunisieren, daß sie eine Dosis
menschlicher Kultur, ,,die nicht vorbe¬
handelte Tieren in drei Wochen an Tuber¬
kulose tötet, ohne tuberkulös zu werden,
überstellen“ — sich als absolut un¬
zutreffend erwiesen.
Das Friedmannsche Immunisie¬
rungsverfahren war weder imstande, einen
erheblichen Schutz gegen eine nachfol¬
gende bei nicht vorbehandelten Kontroll-
tieren schneller oder langsamer verlau¬
fende tödliche Infektion zu gewähren,
noch ein Stationärwerden des tuberku¬
lösen Prozesses zu bewirken. Es leistete
nicht mehr und nicht weniger als die
zahlreichen bereits Ihnen geschilderten
Immunisierungsverfahren, welche mit an¬
deren Kaltblüterubcrkelbacillen, wie auch
mit den verschiedenen säurefesten Butter-,
Gras- und Mistbacillen angestellt worden
sind.
Nur noch einen Punkt meiner gemein¬
samen Untersuchungen mit Orth möchte
ich hier erwähnen. , Dieser bezieht sich
auf die strittige Frage der geringeren oder
größeren Pathogenität der Schildkröten¬
tuberkelbacillen.
Bei diesen unseren Untersuchungen
haben wir von Friedmann keine Kul¬
turen seiner Kaltblütertuberkelbacillen
bekommen, sondern stets bereits vorbe¬
handelte Tiere, die wir dann mit echten
Tuberkelbacillen impften. Eins der vor-
behandclten Tiere, das erkrankt ange¬
kommen ist, aber sich später erholte,
wurde von uns ungeimpft belassen. Nach
4 • . ■- ' Die Therapie der'Gegenwart‘ Janülf
länger als einem Jahre haben wir dieses
. Tier-getötet, um festzustellen, ob von der
Vorbehandlung noch Spuren zu entdecken
seien.
Am Hoden- und Samenstrangbauch¬
fell dieses Tieres waren Neubildungen,
welche makroskopisch wie mikroskopisch
Tuberkeln glichen, an denen aber weder
in frischen Ausstrichen, noch an Schnitten
Tuberkelbacillen beziehungsweise säure¬
feste Stäbchen nachgewiesen werden
konnten. -Die von hier angelegten Kul¬
turen sind steril geblieben. Dagegen
gaben zwei mit dem erkrankten Hoden
weitergeimpfte Tiere ein wenn auch ge¬
ringfügiges positives Resultat. In den
verk-ästen Inguinaldrüsen dieser Meer¬
schweinchen waren vereinzelte säurefeste
Stäbchen sichtbar.
Herr Orth fand bei- der mikroskopi¬
schen Untersuchung, diese Inguinaldrüsen
typisch tuberkulös, hier und da, insbe¬
sondere in einzelnen Riesenzellen, wurden
säurefeste Stäbchen aufgefunden.
Die von Friedmann also für diese
seine Versuche benutzten Stämme konn¬
ten nicht als völlig harmlose Saprophyten
angesehen werden und es mußte gewarnt
werden, zu prophylaktischen Impfungen
zumal bei Kindern, wie das von Fried¬
mahn und E. Müller seinerzeit auf’s
wärmste empfohlen wurde, dieselben an¬
zuwenden.
Auch zur Bekämpfung der Rinder¬
tuberkulose hat Friedmann sein Ver¬
fahren aufs wärmste empfohlen. Ein dies¬
bezüglicher Prüfungsversuch an Kälbern,
der auf einem Gute des Grafen Oppersdorf
in Schlesien unternommen wurde, hat
aber gänzlich fehlgeschlagen.
Auch die neuerdings von der Land¬
wirtschaftskammer der Provinz Branden¬
burg angestellten Versuche, über die in
,der Sitzung der Berliner Madizinischen
Gesellschaft vom 7. Dezember 1920 be¬
richtet wurde, haben ein durchaus nega¬
tives Resultat ergeben.
Erwähnt sei hier, daß auch die experi¬
mentelle Nachprüfung der Friedmann-
schen Angaben von Ehrlich seinerzeit
ergab, daß den Schildkrötentuberkel¬
bacillen weder eine prophylaktisch-im-
munisierende noch eine Heilwirkung beim
tuberkulösen Meerschweinchen zukomme.
Gleichfalls hat d'e amerikanische Re¬
gierung unter Andersons Leitung den
Behauptungen Fri e d m a n ns bezüglich
der Wirksamkeit und Harmlosigkeit semes
Mittels widersprochen.
. Aber trotz des negativen Ausfalls aller
auf Fried man ns Wunsch vorgenoni-
menen Tierversuche empfahl Friedmann
seine.Behandlungsmethode mit demSchild-
kröt'entuberkelbacillus und ließ sein Mittel
bereits fabrikmäßig herstellen. Es sei'
daher noch bemerkt, daß die Herstellungs¬
weise zuerst eine sehr mangelhafte war,
daß die Ampullen außer den säurefesten,
sehr zahlreiche andere Keime, auch Eiter¬
erreger enthielten, also stark verunreinigt
waren. Ich habe seinerzeit darüber in
der Medizinischen-Gesellschaft berichtet,
will aber gleich an dieser' Stelle hervor¬
heben, daß diese Kinderkrankheit, wenn
ich mich so ausdrücken darf, von Fried¬
mann überwunden wurde. Seit das
Mittel in Leipzig, unter der Kontrolle
von Kruse hergestellt wird, habe ich
wenigstens bei den vielen von mir unter¬
suchten Ampullen keine Verunreinigung
mehr durch andere Keime feststellen
können. Die Angaben ,,stark“ und
,,schwach“ bei dem Mittel dagegen haben
nicht immer gestimmt, worauf- auch
F. Klemperer letzthin in der Medizini¬
schen Gesellschaft aufmerksam gemacht
hat. Es enthielten mitunter Ampullen
mit der Bezeichnung ,,stark“ weniger
Keime als die mit der Bezeichnung
,,schwach“.
Obwohl Friedmann'ja lange Zeit sein
Mittel nicht freigab, war ich seit Jahren
im Besitz von seinen Kulturen, die ich
aus den mir verschiedenerseits zur Ver¬
fügung gestellten Ampullen mit Leichtig¬
keit herausgezüchtet habe. Wenn Fried¬
mann auch nur den von ihm Auserwähl¬
ten das Mittel zur Verfügung stellte, so
waren auch unter diesen Auserwählten
Ärzte, die gerne wissen wollten, womit
sie eigentlich ihre Patienten behandeln.
Mein Lehrer R. Koch pflegte uns zu
sagen, man dürfe kein Präparat am Men¬
schen anwenden, ohne sich über die Rein¬
heit desselben persönlich vorher zu über¬
zeugen.
Die von mir aus den Friedmann¬
ampullen herausgezüchteten Stämme
verhielten sich nicht immer gleichmäßig.
Manche von ihnen entwickelten sich
nur bei Zimmertemperatur, die anderen
hatten ihr Wachstumsoptimum bei Brut¬
temperatur.
Ich habe Stämme,-die zuerst nur bei
Zimmertemperatur zu wachsen schienen,
auch iiach und nach an den Brutofen
gewöhnt.
Ich will ihnen Stämme zeigen, die
bereits über 150 Passagen durchgemacht
Die Therapie der Gegenwart' 1921
.5
haben.. — Die Gestalt der Stäbchen hat
sich durch die Passagen .mitunter ge¬
ändert, sie sind schlanker, dünner, mehr
Ähnlichkeit mit den echten Tuberkel¬
bacillen aufweisend, geworden.
Was die pathogenen Eigenschaften
der Friedmannkultur betrifft, so scheinen
auch diese zu variieren.
Die subcutane Verimpfung größerer
Mengen an Kaninchen hat mitunter
Impfabscesse gezeitigt, in welchen die
Säurefesten mit Leichtigkeit nachge¬
wiesen werden konnten. Intravenöse In¬
jektionen riefen bei Kaninchen keine
Veränderungen hervor.
Das Verhalten der einzelnen Stämme
Meerschweinchen gegenüber war ver¬
schieden. — So hat die Verimpfung einer
halben Friedmannampulle auf ein Meer¬
schweinchen mitunter keine Verände¬
rungen beim Tiere gezeitigt, dagegen hat
der eine von mir isolierte Stamm, den
auch der bekannte Tuberkulosearzt
Schröder-Schömberg an Meerschwein¬
chen verimpft hat, bei Anwendung
größerer Mengen typische“ tuberkulöse
Veränderungen hervorgerufen. Ich hatte
wiederum Stämme, die selbst bei Anwen-'
düng großer Dosen nur lokale, leicht auch
zurückgehende Veränderungen zeitigten.
Da Friedmann sich in den letzten
Jahren nie genau über seine Kulturen
geäußert hat, in seiner Patentschrift
vom 29. Juni 1920 aber sagt, sein Ver¬
fahren bestehe auch darin, daß er viru¬
lente Tuberkelbazillen avirulent und
avirulente noch avirulenter mache, so
müßte man ja auch die Möglichkeit nicht
völlig von der Hand weisen, daß er in
seinen Ampullen mitunter nicht nur seine
Schildkrötentuberkelbacillen, - sondern
avirulent gemachte menschliche Tuberkel¬
bazillen habe. Wie vorsichtig man aber
mit dem Avirulentmachen sein muß und
wie leicht dabei auch bei großer Sorgfalt
noch virulente Tuberkelbacillen übrig¬
bleiben können, weiß jeder, der solche
Versuche angestellt hat. Mit großem
Interesse habe'ich aus einer ganz kurzen
Notiz im neuesten Lehrbuche von Cal-
mette entnommen, daß auch er gleich
mir der Meinung ist, das Friedmann sehe
Tuberkulosemittel beherberge neben Kalt--
blütertuberkelbacillen auch echtemensch¬
liche Tuberkelbacillen.
Meerschweinchen und Kaninchen
durch wiederholte Vorbehandlung mit
den Fri e dm a mischen Schildkröten¬
tuberkelbacillen gegen eine darauf fol¬
gende Infektion mit menschlichen Tuber^
kelbacillen respektive PerlsuchtbaciiKii
.zu schützen, ist mir trotz aller Bemühun¬
gen nicht gelungen. Meine diesbezüg¬
lichen neueren Versuche sind insofern
ungünstiger ausgefallen, als die s'einef-
zeit gemeinschaftlich mit OTth ausge-
führten, als die vorbehandelteii Meer¬
schweinchen, nur ganz vereinzelt länger
am Leben blieben als die Kontrolltiere.
Eine Erklärung für diese Tatsache finde
ich darin, daß die uns seinerzeit von
Friedmann zur Prüfung übergebenen
vorbehandelten Tiere sämtlich sehr
schwere, alte Tiere waren. Kein einziges
darunter war unter 500 g schwer, ja es
befanden sich darunter Tiere, die über
1000 g wogen. Es ist aber eine bekannte
Tatsache, daß junge Tiere, die gewöhn¬
lich bei Laboratoriumsversuchen ge¬
braucht werden (300—400 g schwer) für
Tuberkulose viel empfänglicher sind als
alte.
Dieselben Resultate wie mitder.
Vorbehandlung mittelst Friedmann¬
scher Schildkrötentuberkelbacil-
ten konnte ich auch mit ande¬
ren säurefesten tuberkelbacillen¬
ähnlichen Stäbchen erzielen. Ja,
es gelang mir sogar, durch die Vor¬
behandlung mit Prodigiosuskul-
turen mitunter eine Resistenz¬
erhöhung gegenüber der nachfol¬
genden Tuberkuloseinfektion zü
erreichen.
Außer meinen früheren gemeinsam
mit Orth auSgeführten Tierversuchen
sind gerade in der letzten Zeit auch
von anderen Autoren Versuche ver¬
öffentlicht worden, so von Klopstock,
Lange, Selter, Kolle, Schloßberger
u. a. Ich will hier auf die einzelnen Ar¬
beiten nicht weiter eingehen, möchte
aber nur zusammenfassend sagen, daß
kein einziger Autor die Tierver¬
suche vön Friedmann bestätigt
hat. Gleich mir kommen auch diese
Autoren zu dem Schluß, daß dieser so
,,wundersam“ von Friedmann ,,miti¬
gierte“ Tuberkelbacillus sich in immunisa¬
torischer Hinsicht durchaus nicht von
den anderen säurefesten Bakterien unter¬
scheidet. Auch der Hygieniker Kruse,
der das Friedmannsche Mittel kon¬
trolliert und aufs wärmste empfiehlt, ist
uns bis zum heutigen Tage trotz aller
Erwartungen einen Bericht über Tier-
vefs.Liche schuldig geblieben.
So hab.en leider sämtliche An¬
gaben' Fri edm^anns bezüglich der
6
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1921
Immunisierung von Meerschwein¬
chen gegen Tuberkulose keine Be¬
stätigung gefunden.
Allein Herr Schleich betonte letzt¬
hin in der Medizinischen Gesellschaft, wir
sollten uns ja von den Tierversuchen
emanzipieren, die Meerschweinchen im¬
ponierten ihm schon lange nicht, wenn
man doch wenigstens mit Löwen arbeiten
würde.
Nun, geehrte Anwesende, ich bin
gern bereit, der von mir anfangs zitierten
Forderung meines Lehrers R. Koch
untreu zu werden und sämtliche Tier¬
versuche zu ignorieren, wenn unsere
Kliniker mir einwandfrei bewiesen,
daß das von Fried mann und seinen
Jüngern so warm empfohlene Mittel
wirklich das so längstersehnte Allheil¬
mittel ist. Leider scheint dies ^ber doch
nicht der Fall zu sein.
,,Aufgabe der Wissenschaft ist es‘‘,
wie Kant sagt, „teils der Verirrung einer
noch rohen ungeübten Beurteilung, teils,
welches weit nötiger ist, den Genie¬
schwüngen vorzubeugen, durch welche,
wie es von Adepten des Steins der Weisen
zu geschehen pflegt, ohne alle methodische
Nachforschung geträumte Schätze ver¬
sprochen und wahre verschleudert wer¬
den'* und so wollen denn auch wir in
diesem Sinne handeln, wollen weiter
forschen und suchen. Jede ehrliche Ar¬
beit bringt uns vielleicht doch etwas
näher dem so ersehnten, doch schwer zu
erreichendem Ziele.
Aas der Direktorial-Abteilang des Eppendorfer Krankenbaases
(Mediziniscbe Universitß,tsklinik).
Die Behandlung der akuten Morphiumvergiftung.
Von Dr. Ludolph Brauer, o. ö. Professor, ärztlichem Direktor des Eppendorfer Krankenhauses.
Die akute Morphiumvergiftung be¬
wirkt eine eigenartige Form von Hirn¬
narkose, insofern nach frühzeitiger Ab¬
stumpfung der Schmerzempfindung eine
vorwiegende Lähmung des Atemcentrums
folgt. Aus dieser Atemlähmung resultiert
die Gefahr für das Leben, noch bevor die
Funktion des Großhirnes vollständig aus¬
geschaltet ist und die Reflexerregbarkeit
des Rückenmarks erlischt.
Das klinische Bild der Vergifturg ist
dadurch ausgezeichnet, daß sich etwa eine
viertel bis eine Stunde nach Beginn der¬
selben eine allmählich an Tiefe zunehmende
Benommenheit entwickelt, die sich all¬
mählich bis zum tiefsten Coma steigert.
In den Anfangsstadien pflegt es zum Er¬
brechen und infolge der herabgesetzten
Reizempfindlichkeit nicht selten zur Aspi¬
ration zu kommen. Mit dem tiefen Coma
gehen die bedrohlichen Folgen der Schä¬
digung des Atemcentrums einher. Wäh¬
rend die Atmung nach kleineren Gaben
nur tiefer und langsamer erfolgt, wird die¬
selbe nach größeren Dosen alsbald selte¬
ner, aussetzend und röchelnd. Nicht selten
kommt es zu einem Cheyne-Stokes-
schen Atemtypus und endlich unter Ver¬
flachung der Atembewegungen zum Tode
durch Respirationsstillstand. Parallel mit
diesen Veränderungen geht eine zuneh¬
mende, zum Schluß tiefste Cyanose einher.
Der Blutdruck pflegt zu sinken, die Pu¬
pillen sind auffällig verengt, die Körper¬
temperatur ist erniedrigt, die Haut ist
blaß und kalt. Gelegentlich kommt es
zum Schluß "ZU Konvulsionen.
Die Circulation wird im allgemeinen
wenig beeinflußt. Durch Steigerung des
centralen Vagustonus tritt nach vorüber¬
gehender Pulsbeschleunigung eine mäßige
Pulsverlangsamung auf; im übrigen leidet
der Kreislauf bei der Morphiumvergiftung
erst sekundär, insofern infolge der zu¬
nehmenden Erstickung und wohl auch
einer Parese der vasomotorischen Centren
eine Erlahmung des Herzens eintritt.
Nicht nur die tierexperimentelle, sondern
auch die klinische Analyse des Bildes der
akuten Morphiumvergiftung zeigt, daß
die Patienten zwar an einer Morphium¬
vergiftung leiden, daß sie aber
nicht an dieser, sondern an der
sekundären Kohlensäure Intoxika¬
tion zugrunde gehen. Diese Kohlen¬
säureintoxikation gesellt sich dem reinen
Bilde der Morphiumvergiftung hinzu; mit
ihrer Beseitigung schwindet aus* dem kli¬
nischen Bilde der wichtigste lebens¬
bedrohende Faktor. Es verbleibt die
unkomplizierteMorphiumvergiftung, deren
Gefahr weit geringer ist, als gemeiniglich
angenommen wird.
Die Behandlung leichterer Grade der
akuten Vergiftung hat in erster Linie für
die Entfernung des Giftes aus dem
Körper zu sorgen. Auch nach subcutaner
Injektion wird ein großer Teil des Giftes
unverändert in den Magen ausgeschieden
und diese Ausscheidung dauert so lange.
Jänuar
'. Die Therapie der Gegenwart 1921
7
wie die Morphinwirkung überhaupt. Da¬
her muß es als wichtigste Aufgabe er¬
scheinen, in jedem Falle eine gründliche
Magenauswaschung auszuführen und diese
eventuell noch mehrfach zu wiederholen.
Der Spülflüssigkeit kann eine geringe
Menge von übermangansaurem Kali zu¬
gesetzt werden (etwa eine Lösung von
ü,5 ® oo) zwecks Zerstörung des ausge¬
schiedenen Morphines. Ein Zusatz von
Gerbsäure, um noch unresorbierte Reste
in schwerlösliche Form zu bringen, ist
wenig von Nutzen;’ eher könnte Tierkohle
das' Morphin durch Adsorption binden.
Eine Anwendung von Brechmitteln kommt
nicht in Frage, da mit Eintritt der
tieferen' Narkose die Erregbarkeit des
Brechcentrums stark sinkt. Bei der
Magenspülung ist mit größter Vorsicht
vorzugehen; bei dem benommenen Pa¬
tienten ist die Gefahr einer Aspiration
recht beträchtlich. Diese Vorsicht ist
um so mehr am Platze, als schon in den
Anfangsstadien der Vergiftung nicht selten
ein Teil des Erbrochenen aspiriert wurde
und zudem häufig in den oberen, Luft¬
wegen sich noch Schleim und Speisereste
finden.
Bei leichteren Vergiftungszuständen
sind raschwirkende Abführmittel, ganz
-besonders Kalomel oder salinische Prä¬
parate am Platze. Bei schwereren Ver¬
giftungen ist eine rechtzeitige Einwirkung
der Abführmittel wohl nicht mehr zu
erwarten.
Neben einer Entfernung des in den
Verdauungskanal ausgeschiedenen und
dort erneuter Resorption wieder zugäng¬
lichen Giftes kommt die Entfernung der
bereits aufgenommenen, vielleicht auch
der im Centralnervensystem schon ver¬
ankerten Giftmengen in Frage. Wir
suchen dieses durch Aderlaß und eine
größere intravenöse Infusion von physio¬
logischer Kochsalzlösung (1 bis 2 Liter)
zu erreichen. Der Infusion folgt eine
lebhafte Harnflut. Während bei früheren
Untersuchungen eine Ausscheidung des
Morphins und seiner Umbildungsprodukte
mit dem Harne bezweifelt wurde, konnten
Kauf mann-Asser 1) zeigen, daß die
Niere als Ausscheidungsorgan, wenigstens
nach Anwendung größerer Morphiuir dosen
ernstlich in Frage kommt. Die aus¬
geschiedene Menge war zwar wechselnd,
in einzelnen Versuchen konnten aber bis
zu 30 % und mehr des eingeführten Giftes
im Harn der Versuchstiere wieder nach-
Kaufmann-Asser, Biochem. Zschr. 1913,
Bd. 54, S. 161.
gewiesen werden. Auch wir fanden
(Untersuchungen von Prof. Schümm)
Morphium im Harn unserer schweren
Vergiftungsfälle deutlich nachweisbar,
halten daher die vorerwähnte Durch¬
spülung des Gefäßsystems neben der
Magenspülung bei schweren Fällen von
Morphiumvergiftung praktisch für not¬
wendig.
Als Gegengifte kommen Präparate
in Frage, die das Centralnervensystem,
vor allem das Atemcentrum anregen;
unter ihnen sind in erster Linie Atropin,
Campher und Coffein zu nennen. Cam-
pher- und Coffeinpräparate wirken als
central erregende Mittel auf das Central¬
nervensystem, außerdem wirken sie der
vasomotorischen Parese, die die schwere
Morphiumvergiftung zu begleiten pflegt,
entgegen. Digitalispräparate sind kaum
indiziert, da die Wirkung des Morphins
auf das Herz nur eine recht geringe ist.
Als hauptsächlichstes Gegengift des
Morphiums wird auf Grund tierexperi¬
menteller und klinischer' Beobachtung
stets das Atropin genannt; es gilt als
das stärkste chemische Erregungsmittel
des Atemcentrums.' Allgemein anerkannt
ist die Bedeutung des Atropins zur Ver¬
hinderung der Nebenwirkungen des in
therapeutischer Dosis angewandten Mor¬
phins. Keineswegs eindeutig dagegen ist
die Wirkung bei schwereren Morphium-
vergTtungen. Jedenfalls ist auf eine
richtige und vorsichtige Dosierung des
.Atropins und besonders auf eine Berück¬
sichtigung des Stadiums der Morphium¬
vergiftung größter Wert zu legen. Keines¬
falls vermag ich dem Rate zuzustimmen,
jeweils zum mindesten die Maximaldosis
zu injizieren und diese je nach dem Ver¬
halten der Atmung noch öfters zu wieder¬
holen. Schon lange ist durch Bezold
nachgewiesen und später durch Andere
bestätigt, daß das Atropin eine centrale
Erregung des Respirationsapparates be¬
wirkt und daß dieses im Tierexperiment
bei akuten Vergiftungen mit Narcoticis
verschiedener Art, besonders bei der
Morphiumvergiftung deutlich in anta¬
gonistischer Weise zutage tritt. Aber
schon experimentell ist zu bedenken, daß
stärkere toxische Dosen von Atropin
auch ihrerseits das Atemcentrum zu
lähmen vermögen; es ist sehr wohl an¬
zunehmen, daß diese lähmende Wirkung
bei. bereits schwer geschädigtem Atem¬
centrum frühzeitiger eintritt. So erklären
2) Bezold und Blöbaum, Würzburger phy-
siolog. Untersuchungen 1867, Bd. 1, S. 1.
8
Die,Therapie der Gegenwart 1921’
Januar
sich die abweichenden Resultate, die
Binz und Andere bei ihren Experimen¬
ten beobachteten. Ganz besonders Len-
hartz hat die antagonistische Wirkung
von Morphium und Atropin auf Grund
eingehender Tierversuche intensiv be¬
stritten, und auch klinische Erfahrungen
— ich verweise besonders auf die Mit¬
teilung von Erich Becker^) — mahnen
zu größter Vorsicht. Sah doch Becker
bei einer Morphiumvergifteten, bei der
nach Lage des Falles und den bestehen¬
den Erfahrungen fast mit Sicherheit mit
Überwindung der Gefahr zu rechnen war,
der Injektion von 1 mg Atropinum sul-
furicum alsbald den plötzlichen Tod
folgen. Im ganzen haben wir im Eppen-
dorfer Krankenhause bei einem recht
beträchtlichen Beobachtungsmaterial von
der Anwendung des Atropins keine irgend¬
wie hervorstechende Wirkung gesehen, so
daß wir im allgemeinen von der Anwen¬
dung desselben Abstand nehmen. Kei¬
nesfalls sollte Atropin bei wirklich
schweren Vergiftungen und be¬
sonders in späteren Stadien zur
Verwendung kommen. Auch eine
Überdosierung halte ich für gefahrvoll
und nutzlos. Die Literatur findet sich in
den vorzitierten Arbeiten von Lenhartz
und Erich Becker.
Bei weitem das wichtigste zur Be¬
kämpfung der Morphiumvergiftung ist die
Kontrolle und Behandlung der
schweren Atemstörungen und der
damit einhergehenden Kohlen-
säureintoxikation. Dieses ist, soweit
die Beseitigung der todbringenden Sym¬
ptome in Frage kommt, der Kernpunkt
der ganzen Behandlung.
Im Beginn der Vergiftung und bei
mäßigeren Morphiumdosen ist die An¬
regung des Atemcentrums durch indirekte,
reflektorische Erregung vermittels Haut¬
reize, sowie durch Reizung der Endigungen
des Nerv, trigeminus und olfactorius in
der Nase zu erwirken. Die indirekte
Erregung des Respirationscentrums wirkt
kräftiger als die direkte Erregung durch
pharmakologische Agenzien (Meyer und
Gottlieb)'^). In praxi wird dieses, so¬
weit die Patienten noch nicht in tiefer
Binz, B. kl. W. 1896, S. 885.
-) Lenhartz, Arch. f. exper, Path. ii. Pharm.
1887, Bd. 22.
•>) Erich Becker, M. Kl. 1920, Nr. 18, S.467.
Brauer, Zur Behandlung schwerer Mor¬
phiumvergiftungen. Beiträge u. Klinik der Tuber¬
kulose Bd. 45, S. 174.
'^) Meyer und Gott lieb. Experimentelle
-Pharmakologie 1920, S. 378.
Benommenheit liegen, durch Umherfüh¬
ren oder durch sehr kräftiges Abklatschen
mit nassen Tüchern erreicht. Die schmerz¬
erregenden Maßnahmen bringen die Pa¬
tienten häufig wieder etwas zum Bewußt¬
sein und zu tieferer geregelter Atmung.
Nicht selten gelingt es, sie bei mittleren
Giftdosen auf diese Weise leidlich bei
Bewußtsein und guter Atmung zu erhalten.
Man darf aber auch jetzt die Patienten
keinesfalls außer Auge lassen, muß ihnen
vielmehr eine dauernde Wache geben, die
immer wieder für die Anregung der At¬
mung und Kontrolle des Gesamtbefin¬
dens sorgt, denn sonst verfallen die
Patienten alsbald wieder in Schlaf. Mit
erneuter oberflächlicher Atmung gesellt
sich wiederum die Kohlensäureintoxika¬
tion hinzu, und aus der Summation beider
Schäden kann es noch nachträglich zum
Tode kommen.
Zur reflektorischen Anregung von der
Nase her sind neben mechanischen Kitzel¬
reizen Riechsalze, Ammoniak und ähn¬
liche chemisch wirkende Reizmittel zu
verwenden.
Versagen die vorgenannten Maßnah¬
men, so ist rechtzeitig zur künstlichen
Atmung zu schreiten, tunlichst unter Dar¬
reichung von reinem Sauerstoff und even¬
tuell zur Anwendung von Apparaten zur
künstlichen Atmung.
Aber auch hier ist Vorsicht geboten.
Bei ernsteren Vergiftungszuständen muß
die künstliche Atmung über viele Stunden,
oft über ein bis zwei Tage in Anwendung
kommen. Dieses läßt sich praktisch häufig
nicht durchführen. Außerdem ist mit
künstlicher Atmung, sobald dieselbe nicht
mit größter Sachkenntnis durchgeführt
wird, die Gefahr der Aspiration verbunden
und dieses um so mehr, als sich bei
Morphiumvergifteten infolge des anfäng¬
lichen Erbrechens nicht selten Speise¬
reste in den oberen Atemwegen oder in
gröberen Bronchien finden. Häufig sieht
man dort auch beträchtliche Schleim-
massefi angesammelt, die nicht nur die
Atemwege verlegen und die Bemühungen
der künstlichen Atmung wirkungslos
machen, sondern durch alle jene Ma߬
nahmen in die feineren Bronchien und das
atmende Lungengewebe herabgebracht
werden.
So sehe ich denn, und in diesem Zu¬
sammenhänge wird selbstverständlich nur
von den schwersten Formen der Ver¬
giftung gesprochen, alle die bekannten
Maßnahmen der künstlichen Atmung nur
als recht bedingt nützlich an; ganz be-
Januar
Die Therapie der Oe^enwart 1921
9
sonders eine reine Sauerstoffatmung, bei
der nicht für sehr guten Anschluß des
Mundstückes gesorgt ist, hat nur wenig
Bedeutung, und zwar um so weniger, je
oberflächlicher und unregelmäßiger die
Atembewegungen bereits sind.
ln diesen Fällen ernstester Lebens¬
bedrohung durch Lähmung des Atem¬
centrums und consecLitive Kohlensäure¬
narkose hat sich mir dagegen das nach¬
folgende Verfahren, das sich auf tier¬
experimentelle Untersuchungen von Vol-
hard^) stützt, auf das beste bewährt.
Kommen die Patienten von vornherein
mit so beträchtlicher Ateminsuffizienz auf,
daß bei Berücksichtigung der großen Gift¬
menge mit einer Dauerwirkung der künst¬
lichen Atmung nicht gerechnet werden
kann, oder versagt die iibhche künstliche
Atmung, so wird, besonders auch im
Hinblick auf die Gefahr der Aspiration
respektive die Verlegung der oberen Luft¬
wege durch Schleim, ein Faktor, der
zweifellos von großer Bedeutung ist, zur
Tracheotomie geschritten. Die Trachea
wird von etwa angehäuften Schleim¬
massen usw. befreit; dies kann durch An¬
saugen oder durch Austupfen geschehen.
Es gelingt auch, durch Kompression des
Brustkorbes oder durch Auslösen von
Hustenreiz, durch Berührung der Gegend
der Bifurkation Schleimmassen aus den
gröberen Bronchien zutage zu fördern.
Alsdann wird zu einer ausgiebigen und
kräftigen Spülung des unteren Abschnittes
der Trachea mit Sauerstoff geschritten.
Die beistehende Abbildung läßt das
Verfahren im einzelnen erkennen. Ein
mittelstarker weicher Gummikatheter, der
®) Volhard, Über künstliche Atmung durch
Ventilation der Trachea ect. M.m.W. I90S, Nr. 5.
die Tracheakanüle nicht ausfüllen darf,
wird an eine mit Reduktionsventil ver¬
sehene Sauerstoff bombe angeschlossen,
und zwar unter Zwischenschaltung eines
Luftfilters und bei längerer Verwendung
dieser Form der künstlichen Atmung
unter Zwischenschaltung auch einer Vor¬
richtung zur Befeuchtung des einströmen¬
den Sauerstoffes. Die Stärke des durch¬
streichenden Sauerstoffstromes kann da¬
durch erprobt werden, daß man den
Katheter zuvor in ein Sublimatschälchen
eintaucht und das Ventil so stellt, daß
ein lebhaftes großblasiges, nicht allzu
gewaltsames Durchperlen gröberer Sauer-
stoffblasen stattfindet. Die Spülung der
Trachea kann ohne Schaden viele Stunden
fortgeführt werden. Wird der Katheter
bis zur Bifurkation
oder gar in einen
Hauptbronchus ein¬
geführt, so löst dieser
mechanische Reiz zu¬
meist Hustenstöße
aus, die zur Beförde¬
rung der Schleim¬
entleerung beitragen;
auch wird hierdurch
zweifellos die Atmung
angeregt. Eine Lun¬
genblähung findet bei
richtiger Dosierung
des Sauerstoffstromes
nicht statt, da die Luft
bequem durch dieTra-
chealkanüle neben
dem Katheter oder
durch die oberen Atemwege abströmen
kann. Von irgendwelchen Vorrichtungen
zur Erzeugung einer rhythmischen künst¬
lichen Atmung im Sinne Volhards konn¬
ten wir stets absehen. Es zeigte sich, daß
die einfache Spülung der Gegend der
Bifurkation und wohl auch der Flaupt-
bronchien mit reinem Sauerstoff vollauf
genügt, um nunmehr, sei es durch Dif¬
fusionsvorgänge, sei es durch die noch
restierende oder durch die bald wieder
einsetzende Atembewegung das Alveolar¬
gebiet genügend mit Sauerstoff zu ver¬
sehen.
Durch diese Sauerstoffspülung wird
auch der Abstrom der Kohlensäure aus
dem Bronchialbaum befördert, so daß
nunmehr das Blut sich nicht nur reich¬
lich arterialisieren, sondern sich auch von
Kohlensäure befreien kann. Damit wird
die additionelle Kohlensäureintoxikation
beseitigt. Der Patient verliert meist
rasch das cyanotische Aussehen infolge
10
Die Therapie der Gegenwart 192.1
Januar
genügender Bildung des hellroten, die
Sauerstoffsättigung anze'genden Oxy¬
hämoglobins; auch wird die Kohlensäure¬
narkose behoben und damit die wichtigste
Todesursache bei der Morphiumvergiftung
beseitigt. Von Interesse ist die Beob¬
achtung, daß fast stets mit der wieder
genügenden Zufuhr von Sauerstoff zum
Blute ein wesentlich gebesserter, wenn
nicht gar normaler Atemtypus einsetzt.
Es scheint dieses, fast paradox zu sein,
erklärt sich aber aus den folgenden Über¬
legungen. Im Gegensatz zum Morphium
erregt die Kohlensäure das Atemcentrum.
Bei der Morphiumvergiftung ist aber
das geschwächte Atemcentrum d’eser nor¬
malen Erregung gegenüber unempfind¬
lich geworden; nur höhere Kohlensäure¬
werte sind zunächst noch in der Lage,
die Atmung auszulösen. Der Sauerstoff¬
mangel an sich übt auf das Atemcentrum
keinen Reiz aus, wohl aber werden die
dem Atemzentrum untergeordneten mo-.
torischen Rückenmarkcentren, durch
deren Vermittlung die von dem Atem¬
zentrum stammenden Reize erst zur
mechanischen Auswirkung kommen, bei
Sauerstoffmangel unempfindlicher9), ja
gelähmt. Diese Rückenmarkcentren sind
somit im Gegensatz zum Atemcentrum
für Sauerstoffmangel empfindlich. In-
G. C. Mathison, Effects of asphyxia upon
medullary centres. journ. of Physiologie 42,
283, 1911.
• R. Kaya, und E. H. Starling, Asphyxia in
the spinal animal. Ibid. 39, 346. 1909.
direkt wird daher der gesamte Atem¬
mechanismus, der seinen Ausgang nimmt;
von dem Atemcentrum auch durch Sauer¬
stoffmangel ungünstig beeinflußt. Es
ist daher verständlch, daß einerseits
geringere Impulse, die bei Morphium-
verg'ftung von dem Atemzentrum noch
ausstrahlen können, bei einer durch Sauer¬
stoffmangel bedingten Parese der ge¬
nannten Rückenmarkcentren nicht mehr
zur Wirkung kommen können und daß
andererseits nach Beseitigung dieses
Sauerstoffmangels die untergeordneten
Centren auch auf geringere Reize wieder
anzusprechen vermögen. So ist es denn
erklärlich, daß, so auffälh'g dieses zu¬
nächst auch erscheint, mit einer ge¬
nügenden Sauerstoffzufuhr die normalen
Atembewegungen, die zuvor schon ge¬
schwunden waren oder jedenfalls nur
noch außerordentlich unregelmäß'g ver¬
liefen, wieder aufzutreten vermögen.
Die reichliche Sauerstoffzufuhr, wie
sie durch die Spülung der Bifurkations¬
gegend bewirkt wird, bedingt daher nicht
nur eine bessere Ernährung der Gewebe
und eine Beseitigung des Symptoms der
Cyanose und der Kohlensäureanhäufung
durch Ausschwemmung derselben aus
dem Bronchialbaum ünd damit aus dem
Blute, sondern sie führt auch zu einer
Neubelebung des normalen Atemmecha¬
nismus und damit zu einer fortschreiten¬
den Beseit'gung des eigentlichen tot¬
bringenden Momentes bei der Morphium¬
vergiftung, der Kohlensäurevergiftung.
Aus der geburtsMlflicli-gyiiäkologisclien Abteiluug des Kraukenliauses
der jüdisclieu G-emeiude iu Berlin.
Über den Einfluß der neueren Wehenmittel auf die Leitung
der Geburt.
Von Prof. E. Sachs, dirigierendem Arzt der Abteilung.
Meine Herren! Das Recht, vor Ihnen
über die seit 1911 in der Geburtshilfe ein¬
geführten Hypophysenextrakte als Wehen-
mittel, insbesondere über das von mir
fast ausschließlich benutzte Pituglandol,
zu sprechen, schöpfe ich aus einer Er¬
fahrung an über 600 Fällen.
Der Grund, weshalb ich mir dieses
Thema zur Behandlung in Ihrem Kreise
wähle, ist der, daß ich durch Unterhaltung
mit Kollegen und durch die Durchsicht
der gerade im letzten Jahre zahlreich
neu erschienenen Lehrbücher der Ge¬
burtshilfe zu der Überzeugung gekom¬
men bin, daß diese Mittel in der Geburts¬
hilfe noch lange nicht die allgemeine
Verwendung gefunden haben, die sie
verdienen. Was die Lehrbücher mit-
teilen, scheint mir der Bedeutung des
Mittels nicht gerecht zu werden. 1917
schrieb ich in einer sich mit dem Pitu¬
glandol beschäftigenden Arbeit^): ,,Die
Anmerkung: Die Verwendung des Pituglandols
und ähnlicher Präparate war durch Lieferungs¬
schwierigkeiten im letzten Jahre sehr behindert.
Wie mir die Firma Chemische Werke Grenzach
mitteilt, ist sie jetzt imstande, wieder größere
Quanten Pituglandols herzustellen. Der Preis
beträgt z. Zt. 6 M. für die Ampulle, wird aber
infolge Verwendung ausländischen Rohmateriales
erhöht werden müssen. Der Preis für 20 ccm
einer zur Injektion benötigten 5 % sterilen
Chininlösung beträgt zur Zeit etwa 13 M.
1) Mschr. f. Geb. u. Gyn. 1917, Bd. XLV.
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1921
II
Geburtshilfe hat durch Anwendung dieses
Mittels ein anderes Gesicht bekommen.
Die sekundäre Wehenschwäche, die früher
oft allen Medikamenten trotzte, hat ihre
Schrecken verloren; denn mit einer an
Sicherheit grenzenden .Wahrscheinlichkeit
läßt sie sich durch die Hypophysen¬
präparate beheben. Eine große Zahl
von Operationen ist unnötig geworden,
andere operative Eingriffe lassen sich
durch die unterstützende wehentreibende
Kraft jetzt vielmals leichter und gefahr¬
loser gestalten als früher; die größte
Zahl der schweren Nachgeburtsstörungen
ist jetzt sicher und schnell zu beherr¬
schen.“
Fast genau dieselben Erfahrungen,
die ich mit dem Pttuglandol, besonders
in der Form der intravenösen Dar¬
reichung gemacht habe, hat Werner^)
mit der Verwendung des Chinins bei
kombinierter intravenöser und intra-.
muskulärer Injektion gemacht. Ich habe
über diese Methode keine eigene Er¬
fahrung. Muschallik^) bestreitet aller¬
dings in einer kürHich erschienenen
Arbeit die Richtigkeit der Angaben
Werners.
Anwendungsform.
Wir kennen zwei respektive drei For¬
men der Pituglandol-Anwendung. Die
subcutane und intramuskuläre, die ich
nach ihrer Wirkung gleichsetzte, und
die intravenöse. Beide sind meisten*^
wirksam, sie unterscheiden sich aber
sehr voneinander, und dieser W’rkungs-
unterschied ist von großer Bedeutung
für ihre Verwendung im speziellen Fall.
Bei der subcutanen und der intra¬
muskulären Gabe tritt die erste Wehe
frühestens nach fünf, manchmal auch
erst nach zehn Minuten ein; sie dauert,
durch kurze, manchmal nur einviertel
Minuten dauernde Wehenpausen unter¬
brochen, zwei bis fünf bis sieben Minuten
und geht dann allmählich in normale,
mittelstarke Wehen mit normalen Wehen-
pausen über. Ihre Wirkung hält etwa
eineinhalb Stunden an, dann tritt oft der
vorher bestehende Zustand von Wehen¬
schwäche wieder ein. Eine erneute In¬
jektion wirkt dann meistens wieder ebenso
gut wie die erste. Oft genug aber bleiben,
entsprechend dem Fortschreiten der Ge¬
burt, gute Wehen bis zum Geburtsende
bestehen. Hiervon unterscheidet sich
2) Mschr. f. Oeb. u. Gyn. 1918, Bd. XLVIII
und Zbl. f. Gyn. 1919, S. 405.
3) Mschr. f. Geb. u. Gyn. 1920, Bd. LII, S. 378.
die Wirkung des intravenös gegebenen
Pituglandols in mehreren Punkten. ,,Bis¬
weilen noch während der Injektion, oft
noch bevor die Nadel aus der Vene her¬
ausgezogen ist, in anderen Fällen nach
höchstens einer Minute, setzt die erste
Wehe ein. Sie ist entschieden viel stärker
als die erste nach der subcutanen oder
intramuskulären Darreichung auftretende
Wehe. Ihre treibende Kraft ist viel wirk¬
samer. Sie dauert meistens eine'nhalb bis
zwei Minuten, dann erschlafft der Uterus
etwas, um nach einviertel bis e'nhalb
Mmuten einer neuen, etwa ebenso starken
Wehe wie der ersten Platz zu machen.
Das dauert etwa fünf bis sieben Minuten.
Die nächsten Wehen kommen dann in
regelmäßiger Folge mit Pausen von ein
bis zwei M'nuten.“ Versager, schon bei
der subcutanen Gabe selten, gehören bei
der intravenösen Injektion zu den Aus¬
nahmen. Aber: Die Wehentätigkeit er¬
lischt etwas früher als nach der subcuta¬
nen Gabe, manchmal schon nach drei¬
viertel Stunden. Der Unterschied, zwi¬
schen beiden Darreichungsformen bezieht
sich also auf 1. schnelleres, fast augen¬
blickliches Emtreten der ersten Wehe,
2. größere Intensität der ersten Wehe,
3. seltenere Versager und 4. kürzere Dauer
der Wehenwirkung bei der intravenösen
Injektion. Hieraus ergibt sich d e Indi¬
kation für jede Anwendungsform von
selbst: Die intravenöse Injektion darf
nicht gegeben werden in Fällen, in welchen
schon das intramuskulär gegebene Pitu-
glandol eine Gefahr für die Mutter be¬
deutet.
De intravenöse Injektion braucht
nicht gegeben zu werden in Fällen von
einfacher Wehenschwäche ohne sonstige
Kompiikationen, in welchen die intra¬
muskuläre Gabe ausreicht.
Die intravenöse Form der Darrexhung
muß gewählt werden in Fällen, in welchen
aus irgendeinem Grunde eine sofort ein¬
tretende Wehenwirkung erwünscht ist,
oder in welchen es auf eine besonders
starke Augenblickswirkung ankommt,
selbst auf die Gefahr der kürzeren Wir¬
kungsdauer hin; diese kann durch eine
erneute Gabe, intramuskulär oder wieder
intravenös, oder nach beendeter Geburt
durch Sekalepräparate ausgeglichen wer¬
den.
Die intravenöse Form der Darreichung
muß auch gewählt werden, wenn die intra¬
muskuläre Injektion versagt hat.
Die von mir gebrauchte Menge beträgt stets
1 ccm; nur in seltenen Fällen bei intravenöser
2*
12
Die Therapie der Gegenwart 1921
Jan^uar
Injektion 0,5 ccm, wenn ich glaube, daß diese
Dosis genügen wird. Bei ganz langsamer Injektion
(Dauer etwa 35—45 Sekunden) erlebt man keine
Komplikationen. Bei zu schneller Injektion ist
vorübergehendes Erblassen, Herzklopfen, Übel¬
keit und kurzdauerndes Angstgefühl beobachtet
worden. Werner empfiehlt für die Chinin¬
darreichung 0,5 ccm Chininum hydro- !
chloricum in 10 ccm destilliertem Wasser %
gelöst intravenös und gleich danach die- g p.
selbe Dosis intramuskulär zu verabfolgen.
Die letztere Gabe kann fortbleiben, wenn 70 0 /^
man nur die sehr starke und schnell ein¬
setzende Wirkung der intravenösen Injek-
tion haben will. Vor der subcutanen g.
Injektion warnt er wegen Schmerzen und
Nekrosengefahr.. 40 0 /^
Man hört bisweilen, daß Pitu- 3 ^^^^
glandol nicht in der Eröffnungs¬
periode gegeben werden soll, weil
es hier doch nicht wirksam sei, 10 0/0
und daß es in der Nachgeburts-
p'eriode gefährlich sei, weil es keinen
Dauerkontraktionszustand des Uterus be¬
dinge, Beides ist falsch. Pituglandol
und ebenso Chinin machen sehr oft recht
gute Wehen in der Eröffnungsperiode,
und wenn sie in der Nachgeburtszeit
keine Dauerkontraktionen wie Sekale
auslösen, so wirken die sehr starkenWehen
doch blutstillend; damit ist meistens der
augenblicklichen therapeutischen Forde¬
rung genügt. Wenn die Wehen nicht zur
Dauerkontraktion führen, so hindert nichts,
die Gabe zu wiederholen oder sie von vorn
herein mit Sekalepräparaten zu kombi¬
nieren, falls die Rlacenta schon aus¬
gestoßen ist. Allerdings ist die Wirkung
auf die Wehen um so deutlicher, je weiter
vorgerückt die Geburt ist; aber sehr oft
vermag das Pituglandol auch in der Er¬
öffnungsperiode schon gute Wehen zu
machen. Genaueres hierüber habe ich in
Tabelle 1.
Wirkung des Pituglandols auf den Geburts¬
fortgang in den verschiedenen Geburtsperioden.
i„.Subcutane Intravenöse
insgesamt Injektion Injektion
■ II
I n 11
B|= Gute Wirkung. |=j=Mäßige Wirkung. I I = Versager.
1 = Eröffnungsperiode, 2=Austreibungsperiode. 3 und 4 =
Nachgeburtsperiode vor und nach Ausstoßung der Placenta.
(Gute Wirkung in der Eröffnungsperiode nenne
ich deutliche Erweiterung des Muttermundes
unter dem Einfluß derWehen; in der Austreibungs¬
periode, wenn der vorangehende Teil wesentlich
vorrückt, oder das Kind unter dem Einfluß der
Pituglandolwehen geboren wird. Gute Wirkung
in der Nachgeburtsperiode ‘ vor Ausstoßung der
Plazenta nehme ich an, wenn der Uterus infolge
der Wehen imstande war, die Placenta zu lösen,
oder so hart wurde, daß ein Crede ausgeführt
werden konnte, der zum Ausstößen der Placenta
führte, d. h. wenn eine manuelle Placentarlösung
unnötig wurde. Selbstverständlich gibt es in
der dritten Geburtsperiode nur ein Gut oder
Schlecht, kein Mäßig gut, d. h. entweder gelang
es, die manuelle Lösung zu umgehen, oder nicht.
Gute Wirkung nach Ausstoßung der Placenta
nenne ich es, wenn die Blutung zum Stehen
kommt.)
Geburtsfortgang in der Austreibungs¬
periode. Am besten ist die Wirkung in
einer früheren Arbeit mitgeteilt ^). Den
sehr viel wichtigeren Einfluß des Pitu¬
glandols auf den Fortgang der Geburt
habe ich in der folgenden Tabelle zu¬
sammengestellt.
Wir sehen die weitaus bessere Wirkung in
den späteren Geburtsperioden.
Eine Erklärung für die bisweilen be¬
obachteten Versager findet man, wenn
man die Wirkung auf die Wehen und auf
den Geburtsfortgang miteinander ver¬
gleicht, und wenn man dann auch noch
die Wirkung bei Erstgebärenden und
Mehrgebärenden einander gegenüber¬
stellt. Wir finden in der Eröffnungs¬
periode trotz ziemlich guter Wehen in
etwa 72 %, doch einen sehr guten Erfolg
für den Geburtsfortgang nur in etwa
50 %. Viel stärker ist der Erfolg für den
4) Mschr. f. Geburtsh. 1914, Bd. XL.
der Nachgeburtsperiode nach Ausstoßung
der Placenta. Hier kommen fast gar
keine Versager vor, besonders bei intra¬
venöser Injektion. Verhältnismäßig häu¬
fig (27 %) Versager dagegen hat man
wieder in der Nachgeburtsperiode vor
Entfernung der Placenta. Die Ursache
hierfür wird klar durch Betrachtung der
folgenden Tabelle, die die Wirkung des
Pituglandols auf den Geburtsfortgang bei
Erstgebärenden und Mehrgebärenden
gegenüberstellt.
Die Tabelle II zeigt die Wirkung auf
den Geburtsfortgang bei Erstgebärenden
und Mehrgebärenden , getrennt nach
den verschiedenen Geburtsperioden. In
der Eröffnungsperiode kommt es bei bei¬
den Kategorien oft dadurch zu einem
(scheinbaren) Versager, daß es sich um
Schwangerschaftswehen handelt. Zur
Januar Die Therapie der Gegenwart 1921
13
Tabelle 2.
Vergleich der Wirkung des Pituglandöls auf den
Geburtsfortgang bei I. pp. (a) und bei
M. pp. (b) in den einzelnen Geburtsperioden.
12 3 4
ab ab ab ab
Einleitung der Geburt aber kann das
Pituglandol ebensowenig sicher wie das
Chinin verwandt werden. Hier ist es trotz
Wehenerregung oft unwirksam. Daß die
Weichteile einer Erstgebärenden schlech¬
ter beeinflußt werden als die einer Mehr-
gebärendeh ist verständlich und erklärt
auch die weit besseren Resultate bei Mehr¬
gebärenden in der Austreibungsperiode,
obwohl die Stärke der Wehen sich bei
beiden Kategorien nicht voneinander,
unterscheidet. In der dritten Geburts¬
periode (vor Entfernung der Nachgeburt)
dagegen hatten wir Versager nur bei
Mehrgebärenden; offenbar dann, wenn
alte endometritische oder atrophische
Prozesse es zu einer so festen Adhärenz
hatten kommen lassen, daß auch gute
Wehen nicht helfen konnten. Bei Erst¬
gebärenden sind hier Versager nur selten,
weil entzündliche Prozesse sehr viel selte¬
ner vorhergegangen waren. Besonders
seit Verwendung der intravenösen Injekr
tion hatten wir bei Erstgebärenden
einen ausnahmslosen Erfolg in der Nach¬
geburtsperiode vor Entfernung der
Placenta.
Nach Austritt der Placenta ist eben¬
falls ein leichter Unterschied zugunsten
der Erstgebärenden zu erkennen, was aus
der Verbrauchtheit der Uterusmuskulatur
der Mehrgebärenden leicht zu verstehen
ist.
Pituglandol und Chinin wirken eben
in allen Geburtsperioden; sicher aber nur,
sobald die Geburt begonnen hat. Einen
Schaden haben wir auch von Versagern
in der Eröffnungsperiode oder in der
letzten Zeit der Schwangerschaft nie ge¬
sehen. Gerade von wiederholten kleinen
Chiningaben (vier- bis fünfmal 0,25 in
stündlicher Pause) sahen wir dagegen oft
überraschende Erfolge, wenn es uns daran
lag, am Ende der Gravidität eine Geburt
einzuleiten.
Ich gehe nun dazu über, den Einfluß
der Wehenmittel auf die Leitung der Ge¬
burt bei den einzelnen geburtshilflichen
Situationen zu besprechen.
Behandlung der Wehenschwäche.
Eine jede geburtshilfliche Lage kann
durch Wehenschwäche kompliziert sein.
Diese bedarf deshalb einer kurzen gemein¬
samen Betrachtung.
Wie verhielt man sich früher in Fällen,
die durch Wehenschwäche kompliziert
waren? Man suchte womöglich die Ur¬
sache zu beseitigen, entleerte z. B. die
überfüllte Harnblase. Handelte es sich
um Folge einer Überdehnung des Uterus,
so sprengte man zu geeigneter Zeit die
Fruchtblase; lag eine durch lange Ge¬
burtsarbeit bedingte Übermüdung vor,
so gab man Morphium oder ein Ana-
lepticum. Diese kausale Therapie besteht^
hatürlich auch jetzt noch zu Recht. In
anderen Fällen, z. B. beim vorzeitigen
Blasensprung, führte man einen Kolpo-
rynter oder gar einen Metreurynter ein.
Dieser Eingriff war wegen seiner Infek¬
tionsgefahr schon nicht mehr ganz gleich¬
gültig.
Zu diesen so beeinflußbaren Fällen
gehörte aber doch nur eine kleine Zahl.
Meist handelte es sich um Wehenschwäche
ohne erkennbaren Grund. Dann ließ man
die Kreißende herumgehen, gab ihr ein
warmes Vollbad oder heiße Umschläge,
suchte wohl auch durch Reiben des
Leibes Wehen zu erregen und gab Chinin
oder ein anderes mehr oder weniger wirk¬
sames Mittel. Bis zum Eintritt eines
Erfolges verging gewöhnlich viel Zeit,
was besonders bei ernsteren Indikationen
zur Geburtsbeendigung, wie z. B. bei
Fieber von Nachteil war. Die Wirkung
blieb auch stets unsicher und ließ sich
nicht in einem bestimmten Augenblick
erzwingen. Die Folgen der Wehenlosig-
keit für Mutter und Kind sind bekannt;
Auch für den Arzt brachte sie vielerlei
Unbequemlichkeiten mit sich. Manche
Operation wurde nur wegen der Wehen-
losigkeit, nur um die Geburt aus Zeit¬
mangel abzukürzen, vorgenommen.
Und heute? Meine Tabellen zeigen,
in wie seltenen Fällen, besonders, wenn
die Geburt erst einmal in Gang gekommen
ist, Versager eintreten. Bei primärer
14
Die Therapie der Gegenwart 1921'
Januar
Wehenschwäche, im ersten Geburts¬
beginn, braucht man auch jetzt nichts
anzuordnen; man wird aber mit einer
intramuskulären Injektion von 1 ccm
Pituglandol, mit Chinin oder Chineonal
(0,2 in einstündiger Pause vier-'bis fünf¬
mal) nichts schaden und oft überraschen¬
den Erfolg haben. Ich habe niemals bei
primärer Wehenschwäche mehr zur Kol-
poryse oder gar zur Metreuryse zu greifen
gebraucht, was besonders bei Fieber als
Indikation zur Geburtsbeschleunigung von
großem Wert ist. Ist die Geburt erst
weiter fortgeschritten, so übertrifft nach
meiner Erfahrung Pituglandol, besonders •
in .intravenöser Darreichung die Wirkung
der per os gereichten Chininpräparate be¬
trächtlich. Nur in seltenen Fällen emp¬
fiehlt sich bei Ermüdungswehenschwäche
durch Pantopon eine Pause in der Geburt
eintreten zu lassen.
Ob bei Versagern das von Werner
empfohlene intravenös und zugleich intra¬
muskulär zu injizierende Chinin besser
hilft, bleibt noch zu untersuchen..
Von 120 Fällen sekundärer Wehen¬
schwäche, die zum Teil (75 mal) mit intra¬
muskulärer Injektion, zum Teil (45 mal)
mit intravenöser Injektion von Pitu¬
glandol behandelt wurden, hatte ich nur
20 Mißerfolge, davon 17 mal in der Er¬
öffnungsperiode. Unter den 45 mit intra¬
venöser Injektion behandelten Fällen be¬
fanden sich 42 in der Austreibungszeit.
Davon war die Geburt bei 25 Fällen so¬
fort, teils noch während der Injektion,
teils zwei bis drei Minuten nachher be¬
endet; in 13 Fällen innerhalb der nächsten-
5 bis 20 Minuten. Nur dreimal genügten
die Wehen nicht ganz zur Geburts¬
beendigung, und in einem einzigen Fall
genügten sie gar nicht. Denken wir
daran, wieviel sonst wegen der Wehen¬
schwäche vorgenommene Operationen da¬
durch überflüssig werden; dann werden
wir den Wert dieses Wehenmittels, erst
recht zu schätzen wissen.
Das Gebiet, auf dem das Pituglandol
die größten Triumphe feiert, auf dem es
keine Konkurrenz mit irgendeinem ande¬
ren Mittel zu scheuen hat, ist die
Behandlung der Nachgeburtsblu¬
tungen.
Sie sind auch das dankbarste Gebiet
für die Verwendung der intravenösen
Injektion; denn in keinem Augenblick
der Geburt braucht man so wie hier
gerade die Eigenschaften eines Wehen¬
mittels, die ich als typisch für die intra¬
venöse Injektion hervorgehoben habe:
Fast absolut sichere Wehenwirkung, und
vor allem sofortiges, nach Sekunden zu
rechnendes Eintreten der Wirkung. War
früher die Placenta noch im Uterus und
es blutete, so wurde nach Entleerung der
Blase versucht, durch Reiben Wehen an¬
zuregen. Genügte das nicht zur Blut¬
stillung, so wurde versucht, die Placenta
zu exprimieren. Die dazu nötigen Wehen
wurden durch Reiben oder Ergotin er¬
zeugt. Mißlang dies und blutete es weiter,
so wurde wohl auch am nicht gut kon¬
trahierten Uterus ein Crede versucht und
die partiell gelöste Placenta dadurch nur
weiter partiell abgelöst. Dann mußte in
Narkose nach wieder vergeblichem Crede-
versuch die manuelle Lösung vorgenom¬
men werden. Dabei zeigte es sich dann
oft genug, daß die Placenta ganz leicht
abgeschält werden konnte und nur infolge
von Wehenschwäche noch nicht gelöst war.
Blutete es nun weiter oder begann die
atonische Blutung erst nach Ansstoßung
der Placenta, so traten die mechanischen,
chemischen und thermischen Wehenmittel
in Funktion. Ergotin, heiße Uterus¬
spülungen, Reiben des Uterus von den
Bauchdecken her oder durch bimanuelle
Handgriffe, Abknicken des Uterus über
die Symphyse, Abklemmen der Uterinae,
Uterustamponade, ja sogar die Uterus¬
exstirpation, das waren die früher ge¬
bräuchlichen Mittel.
All dies kann, abgesehen von Ergotin
und von äußerer Massage, jetzt ver¬
mieden werden, falls es sich nicht
umeine wirkliche Placentaradhärenz
handelte. Aber das Pituglandol muß
intravenös gegeben werden, damit
die Wirkung auch schnell genug eintritt.
Sowohl vor wie nach der Ausstoßung der
f^lacenta ist es indiziert. Nach Ausstoßung
des Mutterkuchens gibt es zur Beherr¬
schung der reinen Atonie kein Mittel, das
sich an Sicherheit und Promptheit der
Wirkung nach völliger Entfernung aller
Placentarreste mit der intravenösen Pitu-
glandolinjektion vergleichen ließe. Es ist,
als ob man einen Wasserhahn abdreht.
Die geringere Dauerwirkung kann leicht
durch ein Sekalepräparat ausgeglichen
werden, dessen Wirkung' aber erst sehr
viel später eintritt. In den 45 Fällen, in
denen ich Pituglandol bei Atonien nach
Ausstößen der Placenta anzuwenden Ge¬
legenheit hatte, wurde der Uterus jedes¬
mal sofort steinhart und die Blutung stand
sofort. Secacornin dazu gegeben verbürgte
Jantiar
Die Therapie der Gegenwart 1921
15
die Dauerkontraktion. Nie brauchte ich
zur Uterustamponade zu greifen, ge¬
schweige.denn zur. Exstirpation. Selbst¬
verständlich gilt dies nur dann, wenn
keine Rißblutung vorliegt.
Vor Ausstoßung der Placenta machen
(wieder abgesehen von Rißblutungen)
zwei ganz verschiedene Zustände ein
gutes Wehenmittel nötig. Erstens: Re¬
tention ohne Blutung und zweitens:
Blutung infolge partieller Lösung der
Placenta. Es ist in meiner Abteilung
streng verboten, eine manuelle Placentar-
lösung vorzunehmen, bevor nicht Ver¬
sucht ist, durch energische, eventuell
wiederholt gegebene intravenöse Pitu-
glandolinjektionen stärkste Wehen anzu¬
regen. .Diese haben dreierlä Vorteile.
Einmal führen sie zur Wehentätigkeit und
dadurch zur Lösung der Placenta, wenn
diese überhaupt spontan lösbar ist, 2. steht
jede Blutung, solange der Uterus unter
der Pituglandolwirkung steht und 3. er¬
möglicht die harte Konsistenz in manchen
Fällen überhaupt erst einen gut auszu¬
führenden Credfechen Handgriff, der vor¬
her wegen der Schlaffheit des Uterus
nicht möglich war. Wurde dann trotz
des Pituglandols eine manuelle Lösung
nötig, so erwies sie sich stets als wirklich
indiziert; d, h. es handelte sich bei diesen
Versagern wirklich um pathologisch ad-
härente Placenten. Strikturen sah ich
in meinen Fällen nie.
Meist verläuft übrigens in den Fällen,
in denen Pituglandol kurz vor dem Ende
der Geburt gegeben war, die Placentar-
periode nicht nur viel schneller, sondern
auch auffällig bluttrocken. Diese Tat-'
Sache machte ich mir für die
Behandlung der sogenannten habi¬
tuellen Nachgeburtsblutungen
nutzbar. Ich gebe in diesen Fällen im
Augenblick des Einschneidens des Kopfes
intravenös 1 ccm Pituglandol. Dann steht
nach der meist sofort erfolgenden Geburt
des Kindes die Nachgeburtsperiode noch
unter dem Einfluß der ersten sehr starken
Pituglandolwehe, und unter ihrer starken
Wirkung pflegt sich die Placenta meist
gleich zu lösen. Man hat nur darauf auf¬
zupassen, daß es nun nicht hinter die
gelöste Placenta blutet. So kann man
die habituellen Nachgeburtsblutungen sehr
oft vermeiden; denn sie sind sehr oft nur
durch fehlerhafte Leitung der Nach¬
geburtsperiode, durch vorzeitiges Expri-
mieren bei wehenlosem Uterus bedingt
und nur selten durch wirkliche Adhärenz.
Ich verfüge über 20 so behandelte Fälle,
bei denen die Frauen in mehreren vorher¬
gegangenen Geburten große Mengen Blut
verloren hatten und bei denen die Placenta
mehrfach manuell hatte gelöst werden
müssen. 17 mal gelang es, die Lösung zu
vermeiden, 14 mal war der Blutverlust
unternormal, manchmal nur 30 bis 40 g.
In Fällen; bei denen das Verfahren ver¬
sagte, zeigte die dann vorgenommene
manuelle Lösung, daß es sich um feste
Adhärenzen handelte. Daß wir die gute
Wehenwirkung des Pituglandols zur An¬
regung von Wehen beim Kaiserschnitt
benutzten, ist selbstverständlich. Selbst
in der Eröffnungsperiode vorgenommene
plötzliche Uterusentleerungen verlaufen,
wie auch Baisch^) erst kürzlich mit¬
teilte, nach intravenöser Pituglandolinjek-
tion ohne jede Atonie und machen eine
Tamponade überflüssig.
Über gleich günstige Resultate in der
Behandlung der Nachgeburtsperiode bei
Verwendung des Chinins berichtet Wer-^
n e r.
Bei gewöhnlichen wie bei habi¬
tuellen Nachgeburtsblsutungen oder
sonstigen Störungen in der Lösung
der Placenta, und ganz besonders bei
atonischen Blutungen nach Aus¬
stoßung der Nachgeburt ist das intra¬
venös verabreichte Pituglandol durch
kein anderes Mittel zu übertreffen. Uterus¬
tamponade und Uterusexstirpation wer¬
den dadurch überflüssig. Läßt sich trotz
der Injektion die Placenta wirklich nicht
exprimieren, so pflegt sie so fest adhärent
zu sein, daß die sonst sehr oft unnötig
vorgenommene manuelle Placentarlösung
sich als wirklich indiziert erweist.
(Fortsetzung folgt im nächsten Heft.)
5) Mschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. LI 11, S. 69.
Über einige Fragen der Syphilisbehandlung.
Von Prof. Dr. Wilhelm Wechselmann. Berlin.
Von Alters her sind in der jHeilkunde
kaum irgendwo die Kämpfe so heftig, so
mit persönlichen Verunglimpfungen er¬
füllt gewesen, wie in der Frage der. Heil¬
mittel der Syphilis. Schon 1498 klagt der
spanische Arzt Francesco Lopez de
Villalobas in einem Gedicht über die
Syphilis:
16
Dk Therapie der Gegenwart 1921
Januar
„Daß sich Gelehrte wie die Räuber hassen>
Wie Hund und Katz einander abgeneigt “
und so geht es durch die Jahrhunderte
weiter. Danach ist es auch nicht ver¬
wunderlich, daß ein in solch genialem Auf¬
bau gefundenes, in seinen Wirkungen ganz
eigenartiges Mittel, wie das Salvarsan,
die Gemüter und Geister auf das lebhaf¬
teste erregen mußte. Jetzt, ein Jahrzehnt
nach seiner Einführung, ist das Salvar¬
san als ein unentbehrliches Hilfsmittel im
Kampf gegen die Syphilis anerkannt und
schwebt nicht mehr in der Gefahr, durch
das Geschrei der Gegner verschüttet zu
werden, selbst dann nicht, wenn Parla¬
mente und Minister schwierige wissen¬
schaftliche Fragen durch Majoritätsbe¬
schlüsse und Verordnungen regeln. Die
Wissenschaft hat demgegenüber die Auf¬
gabe, ruhig fortzuarbeiten, den sachlichen
Kern aus den heftigsten Angriffen, seien
sie auch noch so seltsam vorgebracht,
herauszuschälen und das Für und Wider
sorgsam abzuwägen. Zwei Vorwürfe
werden dem Salvarsan gemacht: 1. daß es
giftig ist, 2. daß es die Syphilis nicht heilt.
Tatsächlich smd das die beiden Kern¬
fragen, welche auch von Anfang an die
Forscher beschäftigt haben.
Nur machen sich die Gegner die Sache
gar zu leicht, indem sie die vereinzelt vor¬
kommenden Unglücksfälle als voll aus¬
reichend erklären, um ein gesetzliches
Verbot oder zum mindesten eine der¬
artige Knebelung des Salvarsans — der
Pharmakologe Lewin beantragt 0,03 als
Maximaldose zu erklären — zu fordern,
daß sie einem Verbot gleichkommt. Da¬
bei ist alles, was dem Salvarsan vorge¬
worfen wird, auch bei kleinen Dosen
beobachtet worden, und große Dosen von
3 g sind, wie erst kürzlich wieder Wei-
geldt aus der Strümpelsche Klinik be¬
richtete, straflos gegeben worden. Alles,
was man als allgemeine oder organotrope
Giftigkeit des Salvarsans beobachtet und
mit phantasievoller Übertreibung berich¬
tet hat, kommt unter vielen tausenden
von Salvarsaneinspritzungen kaum ein
Mal zur Beobachtung und hat keinen
erkennbaren Zusammenhang mit der an¬
gewandten Gabe und der im ganzen ver¬
abfolgten Salvarsanmenge. Daher ist
auch die statistische Methode ganz un¬
geeignet zur Klärung dieser rein indivi¬
duellen Verhältnisse. Da Millionen gleich¬
artiger Einspritzungen ohne jede Störung
gemacht werden, kann es sich nur um an
einzelnen Menschen und auch hier nur
in einem ganz bestimmten Zeitpunkt auf- |
tretende unerwünschte Nebenwirkungen
handeln; die Schwierigkeit besteht in der
Ermittelung dieser individuellen Verhält¬
nisse und kann nicht durch die inhalt¬
lose. wenn auch noch so oft wiederholte
Bezeichnung als Arsengiftigkeit gelöst
werden. Wenn man von ganz vereinzelten,
meist ungeklärten und bedeutungslosen
' Vorkommnissen absieht, so handelt es
sich bei den Salvarsanschädigungen um
vier Gruppen L Neurorezidive, 2. Ikte¬
rus, 3. Hautentzündungen, 4. Gehirn¬
erscheinungen.
Die in den ersten Monaten nach der
Infektion in klinische Erscheinung treten¬
den Ausfallserscheinungen an den Gehirn¬
nerven, welche die aufgeregte Phantasie
einzelner 'Syphilidologen durchaus als
eine durch das Salvarsan erzeugte Nerven¬
lähmung ansprechen wollte und will, sind
schon lange unter unerschrockener Dar¬
reichung des Mittels selten geworden und
wenn sie überhaupt auftraten, gut ge¬
heilt; ja es ist heute sehr fraglich, ob
ihre vermeintliche Häufigkeit — zumal
die Erkrankung des Hörnerven — nicht
nur durch aufnierksamere und plan-
mässigere Beobachtung sich erklärt (En¬
gelmann).
Ebenso verhält es sich mit der ge¬
samten cerebrospinalen Lues; nicht die
klinischen Fälle haben zugenommen, son¬
dern die klinische und serologische Beob¬
achtung sind verfeinert und bei der
Kenntnis des Zusammenhangs mit Lues
ein umfangreicher und tieferer Einblick
auch in die Anfangsformen, die sonst un¬
beachtet blieben, gewonnen worden.
Verschiedene Äußerungen Nonnes,
wonach nach Einführung des Salvarsans
Tabes und Paralyse frühzeitig aufträten,
haben lebhafte Beunruhigung erregt.
Nach meinen Erfahrungen kann davon
keine Rede sein und auch sonst findet
man keine Unterlagen für eine so schwer¬
wiegende Annahme. Auch Nonne hat
keine zureichenden Beobachtungen ge¬
macht, wie aus einer kürzlich erschienenen
Zusammenstellung seines Schülers Pette’
hervorgeht. Er sagt ausdrücklich: ,,Einen
Fall von Metalues nach intensiver und
nach den heute gestellten Forde¬
rungen genügender Salvarsanbe-
h an d lun g haben wir unter dem Kranken¬
hausmaterial nicht beobachtet^).“ Zwei
Fälle mit kurzer, Inkubation bei sehr
reichlicher Quecksilber- und mäßiger Sal-
Der Sperrdruck findet sich in Fettes -
Arbeit.
Januar
Dte Therapie der Gegenwart 1921
17
varsanzufuhf, durch welche ein ursäch¬
licher Zusammenhang des Salvarsans
mit der Frühparalyse bewiesen werden
soll, sind durchaus nichtssagend und
ganz ungeeignet, in einer so bedeutsamen
Frage ein Urteil zu fällen.
Ebenso ist die Frage des Salvarsan-
ikterus praktisch ohne größere Bedeu¬
tung. Man hat von jeher im ersten Jahre
der Lues ohne Behandlung und nach Be¬
handlung mit Quecksilber Gelbsucht beob¬
achtet; daß diese auch nach Anwendung
von Salvarsan oder Quecksilbersalvarsan
äuftritt, ist nicht besonders auffällig.
Auffällig ist nur ihre sehr starke — aber
zeitweise verschieden starke — Zunahme
seit 1915. Die Fälle, welche nach Salvar-
sananwendung auftreten, treten während
der Kur aber auch viele Monate danach
auf; ein Teil mit positiver, ein Teil mit
negativer Wassermannscher Reaktion. Es
besteht jetzt durch die schlechten, zum Teil
verdorbenen und infizierten Nahrungs¬
mittel überhaupt auch bei der nicht¬
syphilitischen Bevölkerung eine endemi¬
sche Infektion der Gallengänge, wie dies
z. B. Albu in seiner Poliklinik beob¬
achtet hat. Es sind also verschiedene
Umstände, welche die Gelbsucht be¬
dingen. Wie wenig eine Leberschädigung
durch Salvarsan vorliegt, geht daraus
hervor, daß wir nach anfänglicher Zu¬
rückhaltung die Fälle mit angepaßten
Gaben von Salvarsan schadlos behandelt
haben und dadurch sogar fast stets eine
schnelle Abheilung erzielt haben. Die
gelbe Leberatrophie ist seit Einführung
des Salvarsans sicher nicht häufiger ge¬
worden und kann unter keinen Um¬
ständen als Folge einer Salvarsanzufüh-
rung angesehen werden. Erst .heute
haben wir die Sektion einer 22jährigen
Arbeiterin gemacht, welche wegen frischer
sekundärer Lues vom Arzt sechs Ein¬
reibungen mit grauer Salbe erhalten hat.
Danach trat mäßiger Ikterus auf, wes¬
wegen sie am 24. November das Kranken¬
haus aufsuchte. Da sie subfebrile Tem¬
peraturen hatte und verschiedene Funk¬
tionsprüfungen vorgenommen wurden,
wurde sie nicht behandelt. Urin frei von
Leucin und Tyrosin. Am 1. Deiember
wurde Patientin unruhig und verließ das
Bett, schlief dann aber ein; am 2. Dezem¬
ber wurde sie somnolent; Steifheit der
Muskulatur. Abends tetanische Krämpfe.
Exitus 3. Dezember. Sektion ergab
typische gelbe Leberatrophie. Hätte die
Kranke Salvarsan bekommen, so würde
sicher das allgemeine Urteil auf Salvarsan-
vergiftung oder zum mindesten auf schwe¬
re Leberschädigung durch Salvarsan, bei
schon bestehender Gelbsucht fehlerhaft
angewendet, gelautet haben. Es ist Zeit,
daß endlich mit dem törichten Hin¬
starren und der kritiklosen Beurteilung
aller Krankheiten, welche bei Leuten, die
einmal'Salvarsan bekommen haben, auf¬
treten, ein Ende gemacht wird.
Von wesentlich größerer Bedeutung
sind die Hautentzündungen. Während
bei reiner Salvarsananwendung früher
fast nur masern artige, in wenigen Tagen
vorübergehende Hautausschläge zur Be¬
obachtung kamen, sieht man in den
letzten Jahren ab und zu auch hierbei
schwerere, sich über 2—3 Wochen hin¬
ziehende nässende, mit Schuppung heilen¬
de allgemeine Hautentzündungen, welche
vielleicht mit der Unterernährung zu¬
sammenhängend Am meisten und schwer¬
sten werden diese schweren Formen nach
kombinierter Kur beobachtet, mindestens
in demselben Verhältnis, wie man sie
nach kräftiger Einverleibung von Hg.
immer zu sehen gewohnt war. Nach
experimentellen Untersuchungen kann die
gleichzeitige Darreichung beider Mittel
eine erschwerte Ausscheidung beider Stof¬
fe durch die Niere zur Folge haben und
der Körper gezwungen sein, die Haut zur
Ausscheidung heranzuziehen. In den
Schuppen findet man selbst noch nach
Wochen große Mengen Quecksilber. Aber
auch die Zufügung anderer Metalle zum
Salvarsan, wie Silber oder Antimon (Da-
nysz) wirken ebenso, wie die Zufügung
von Hg.
Da diese schweren Hautentzündungen
immer die Gefahr einer septischen Infek¬
tion des seiner Oberhaut entbehrenden
Körpers unter Umständen mit tötlichem
Ausgang in sich schließen, welche durch
alleinige Anwendung von Salvarsan ver¬
mieden oder doch ungeheuer eingeschränkt
werden kann, kann man nach wie vor
die praktischen Ärzte vor der allgemein
beliebten Anwendung der kombinierten
Kur, zumal in der ambulanten Behand¬
lung, nur eindringlichst warnen.
Der schwerwiegendste Punkt in der
Salvarsanfrage ist die sogenannte Ence¬
phalitis hämorrhagica. Sie steht sicherlich
im Zusammenhang mit dem Salvarsan,
wobei es gleichgültig erscheint, ob man
sie — wie ich annehme zu Unrecht —
als Arsenwirkung auffassen will. Es
scheint, daß sie nur nach intravenöser .
Anwendung des Salvarsans äuftritt. Un¬
sere fortgesetzten Bemühungen, Klarheit
18 Dfe Therapie der Gegenwart 1921 Januar
•in diese dunklen Verhältnisse zu bringen,
haben gelehrt, daß es sich bei dem Ge-
•hirntod nach Salvarsan einmal um ek-
Jamptisch-urämische Zustände, beson¬
ders bei Nierenkranken und Schwangeren
.handelt, vornehmlich aber um Throm¬
bosierungen kleiner Gefäße oder der Sinus
lind der vena magna^Galeni des Gehirns.
Es scheint, daß überstandene Infektions¬
krankheiten, vor allem die Grippe, Hals¬
entzündungen, Ohrentzündungen, aber
auch Schädeltraumen bei manchen Men¬
schen Gefäßschädigungen im Gehirn ver¬
ursachen — wofür ja die Encephalitis
nach Grippe ein klares Beispiel liefert —,
welche latent bleiben und durch intra¬
venöse Salvarsanzufuhr sich schnell aus¬
breiten und tötlich werden können. Ähn¬
lich können chronische Infektionskrank¬
heiten wie Tuberkulose, Syphilis und
schwere Bluterkrankungen die Vorbe¬
dingung für Thrombosen im Gehirn lie¬
fern.
Es steht zu hoffen, daß es in nicht
allzu langer Zeit gelingen wird, diejenigen
Fälle rechtzeitig zu erkennen, bei denen
die Anwendung von Salvarsan zu einer
gewissen Zeit unterlassen werden muß;
denn daß die Unverträglichkeit für Sal¬
varsan bei demselben Menschen nur in
einem gewissen Zeitpunkt auftritt, geht
daraus hervor, daß von manchen Men¬
schen eine starke Kur oder große Einzel¬
dosen anstandslos vertragen wurden, wäh¬
rend nach Monaten ganz geringe Dosen
eine Thrombose im Gehirn auslösten; es
müssen also in der Zwischenzeit .in den
Hirngefäßen die Vorbedingungen für die
Unverträglichkeit des Mittels ausgebildet
worden sein.
Alle diese Vorkommnisse können je¬
doch dem Salvarsan seine hervorragende
Stellung im Kampfe gegen die Syphilis
nicht rauben, solange es nicht gelingt,
ein von allen Nebenwirkungen freies
Mittel für eine erfolgreiche Syphilis¬
behandlung zu finden. Denn wenn man
selbst den Gegnern sehr weit entgegen-
kommen will, so kann man die Gefahren
des QuecksillDers bestimmt nicht geringer
einschätzen, wie die des Salvarsans, was
ja auch der jahrhunderte lange Kampf der
Mercurialisten und Antimercurialisten be¬
weist. Die Geschichte lehrt, daß neben
den lauten und törichten Schreiern gegen
das Quecksilber, auch eine große Zahl vor¬
züglich beobachtender und kritisch ab¬
wägender Ärzte nach reicher Erfahrung
das Quecksilber verließen und die Krank¬
heit lieber ihren natürlichen Verlauf neh¬
men ließen. Erst die genauere Kenntnis
der Nebenwirkungen des Quecksilbers
und die Kunst, diese zu umgehen oder
einzuschränken, haben schließlich seinen
Sieg bedingt und die Anerkennung seiner
therapeutischen Wirkung gebracht. Denn
der Entscheid über den Wert eines Anti-
syphiliticums liegt nicht, wie man zur
Irreführung der öffentlichen Meinung be¬
hauptet, in der gelegentlichen Giftwir¬
kung desselben, sondern in dem Verhält¬
nis der Giftigkeit zum Heilerfolg. Es
scheint mir ^unzweifelhaft, daß die^ Er¬
folge des Salvarsans in der Anfangszeit:,
als Ehrlich sich noch nicht bemühte,
die Giftwirkung herabzusetzen, wesent¬
lich bessere waren, als später, wo man
den Lärm der Gasse fürchtend, durch
Herabsetzung der Gaben und Verände¬
rung des Präparats die Wirkung ab¬
schwächte. Dabei scheinen die ver¬
meintlichen und wirklichen Gefahren,
welche ja doch nur von besonderen zeit¬
lichen Zuständen der Behandelten ab-
hängen, dadurch gar nicht beeinflußt zu
sein. Es scheint jetzt, bei der klareren
Einsicht in diese Verhältnisse, der Zeit¬
punkt gekommen zu sein, wo man unter
sorgfältiger Berücksichtigung der erkenn¬
baren individuellen Gegenanzeigen, wie¬
der anfangen muß, eine energischere An¬
wendung des Salvarsans zu erproben.
Es kann sich dabei nur um reine. Salvar-
sananwendung handeln, da es nach wie
vor unstatthaft erscheint, die Gefahren¬
zone des Salvarsans durch das bestimmt
giftige Quecksilber zu erhöhen. Es ist
unbegreiflich, wie leichtfertig dieser Um¬
stand von den Anhängern der kombinier¬
ten Behandlung fortgesetzt verschwiegen
wird. Wir sehen Tag für Tag schwere
Schädigungen auch nach geringen Queck¬
silbergaben und sehen z. B. Mund¬
entzündungen, wie wir sie früher nur
äußerst selten sahen. Dies ist wohl be¬
dingt durch die schlechte Ernährung.
Dazu kommt, daß klinische Versuche,
sowie die zahllosen von anderer Seite
kombiniert behandelten Fälle, welche ich
gesehen habe, mich nicht im entferntesten
überzeugen konnten, daß die Beifügung
von Quecksilber zu Salvarsan eine nen¬
nenswert höhere Heilwirkung in sich
schließt. Vielfach erhält man sogar, was
auch andere kritische Beobachter melden,
den Eindruck einer Herabsetzung der
Heilwirkung. Das kann man natürlich
nur beurteilen, wenn man sich unaus¬
gesetzt bemüht, ein möglichst klares Bild
von der Salvarsanwirkung auf die Lues
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1921
19
ZU bekommen. Auch dann bestehen noch
sehr große Schwierigkeiten, um die ab¬
solute Heilwirkung" des Salvarsans auf die
syphilitische Erkrankung des Individu¬
ums genau beurteilen zu können. Alles,
was bisher über Behandlung und Heilung
der Syphilis mitgeteilt worden ist, hat
nur den Wert von persönlichen Ein¬
drücken und Glaubensbekenntnissen. Ver¬
nachlässigt wird das, was ich als erstes
Wort bei der Einführung des Salvarsans
sagte, daß wir nicht wissen, was aus
einem Patienten, der mit frischem Pri¬
märaffekt zu uns kommt, werden wird,
gleichgültig, ob wir ihn unbehandelt
lassen oder behandeln. Wenn es Aufgabe
jeder Wissenschaft ist, in ihrem eigenen
Gebiet die Zukunft vorherzusagen, so
steht die Syphilidologie noch sehr in den
Anfängen. Der springende Punkt ist
aber die Prognose des Einzelfalles. Diese
hängt in erster Linie von der Natur der
eingedrungenen Spirochäten und von
Eigentümlichkeiten des befallenen Men¬
schen ab, erst in zweiter Linie von der
Art der Behandlung. Levaditti will
ja besondere für das Nervensystem giftige
Spirochätenrassen nachgewiesen haben.
Ich kenne demgegenüber zwei Fälle, wo
jungfräulich in die Ehe getretene Frauen
von ihren mit Primäraffekt behafteten
Männern angesteckt wurden; während
nun die Männer schwere Lumbalverände¬
rungen und der eine trotz energischer Be¬
handlung schwere Hirnsyphilis vom
pseudoparalytischen Typus im ersten
Jahre der Syphilis aufwiesen, hatten die
Frauen leichte Syphilis, die schnell mit
negativer Wassermannscher Reaktion und
völlig normalem Lumbalpunktat aus¬
klang und bisher durch mehrere Jahre
so verblieb. Es ist also bestimmt nicht
eine Spirochätenrasse für alle Nerven¬
systeme gleich gefährlich, und wir wissen
nicht, warum in einem Fall das centrale
Nervensystem ergriffen wird, im anderen
nicht. Darin liegt aber der Angelpunkt
'der Prognose. Wir sehen ja, daß der alte
Syphilitiker in den meisten einigermaßen
ausreichend behandelten Fällen nur ge¬
fährdet ist durch syphilitische Erkran¬
kungen des centralen Nervensystems und
der Aorta, welche im Gegensatz zu allen
anderen Rückbleibseln der syphilitischen
Erkrankungen von den Heilmitteln nur
schwer zur Rückbildung gebracht werden
und langsam zur Zerstörung lebens¬
wichtiger Organe führen. Das Verfehlte
aller bisherigen schematischen Behand¬
lungsarten liegt aber darin, daß man, wie
schon der alte Paracelsus klagt, „allen
Kranken ein Lied singt“:. Es liegt doch
auf der Hand, daß ein Kranker, der nach
beendeter Kur dauernd negative Wasser-
mannsche Reaktion und ein negatives
Lumbalpunktat aufweist, eine ganz ande¬
re Behandlung erfordert, als ein solcher,
dessen Lumbalpunktat sich nicht von
dem eines Paralytikers unterscheidet und
dessen Zukunft damit wahrscheinlich,
schwer bedroht ist. Nach unseren Er¬
fahrungen scheint ein Lumbalpunktat,
welches nach 1—2 Jahren negativ ist,
später nicht mehr umzuschlagen.
Leider können wir die frühzeitige
-Diagnose der Aortensyphilis nicht stellen
und auch das Röntgenbild läßt uns erst
verhältnismäßig spät bei schwereren Ver¬
änderungen die Krankheit erkennen. Un¬
beeinflußbare positive Wassermannsche
Reaktion bei negativem Lumbalpunktat
erweckt immer Verdacht; leider aber
verläuft ein nennenswerter Teil von syphi¬
litischen Aortitiden auch mit negativem
Wassermann. Hinweise geben erhöhter
Blutdruck bei gesunden, funktionstüch¬
tigen Nieren und subjektive Symptome,
die schon Baglivi (1668—1707) klassisch
schilderte: ,,dolor fixus in medio pectoris
diu perseverans ac moleste sine tussi“..
In allen diesen Fällen bedeutet die
reine Salvarsanbehandlung, welche man
beliebig lange durch Jahre fortsetzen
kann, einen mächtigen Fortschritt gegen¬
über der Quecksilberbehandlung, welche
von Fournier zu einer ,,intermit¬
tierenden“ d. h. unterbrochenen gemacht
wurde, nicht weil er damit die Syphilis
zu heilen glaubte, sondern weil er erkannt
hatte, daß es unmöglich war, das Queck¬
silber bis zu voller Wirksamkeit zu geben,
weil gute Arzneiwirkung und schwere
Giftwirkung dabei zu nahe aneinander¬
liegen.
Die Überlegenheit des Salvarsans bei
der Abortivbehandlung der Syphilis wird
allgemein anerkannt; daß aber auch hier
nur mit einem großen Prozentsatz, nicht
mit einer Gesetzmäßigkeit der Heilung
zu rechnen ist, habe ich nachgewiesen
auch in der seronegativen Periode des
Primäreffekts (Med. Klin. 1919 Nr. 39),
was später von verschiedenen Seiten
bestätigt wurde. Man darf eben nicht
glauben, daß unsere Heilmittel unter
allen Umständen gleichmäßig günstig
auf den syphilitischen Prozeß wirken;
man sieht beim Quecksilber und, wenn
auch seltener beim Salvarsan syphi¬
litische Infiltrate längere Zeit resistent
3*
20
Die Therapie der Gegenwart 1921
Januar
bleiben, ja sogar hämatogene Rezidive
während der Kur auf treten. Bisher habe
ich allerdings immer noch, gefunden, daß
fortgesetzte, unter Umständen gesteigerte
Salvarsanzufuhr zur Vernichtung und
Aufsaugung der Herde führen.
Es bedarf also bei der Schwierigkeit
der wissenschaftlichen Erforschung dieser
therapeutischen , Frage großer Sorgfalt
und tunlichster Vereinfachung der Frage¬
stellung; wenn schon bei der verhältnis¬
mäßig einfachen Frage nach der Gift¬
wirkung die Kombination zweier toxi¬
schen Substanzen die größten Unklar¬
heiten erzeugt, so ist sie bei den so
viel verwickelteren therapeutischen Fra¬
gen wissenschaftlich ganz wertlos und
kann nur wirre Ergebnisse liefern. Daran
ändert nichts der Stolz, mit dem die
Väter dieser Hindernisse immerzu ihre
Erfolge verkünden. Sie beweisen damit
nur, daß sie die Grundfragen der Syphilis¬
behandlung noch gar nicht erfaßt haben.
Die tiefer denkenden Syphilidologen
haben es sich stets viel schwerer gemacht
und sich das Wort des alten Paracelsus
vor Augen gehalten:
,,Und wie jeder Esel sein besondere
Art hat, also habens auch die mala
Frantzosen. Darumb sich keiner be-
rühmen darff, er sey der Krankheit ohn
zweiffel, er sey ihr gewaltig, er sey ihr
Meister. Denn so oft, ein Frantzösischer,
als offt ist eine besondere tück in der
Krankheit, die den Arzt umtreibt, vexiert
und verspot.“
Zusammenfassende Übersicht.
Aus Dr. Biidingeus Heilanstalt im Koustauzer Hof zu Konstanz-Seehausen.
Bericht über fremde und eigene Erfahrungen mit Trauben=
Zuckerinfusionen, insbesondere bei Herzkranken.
Von Theodor Büdingen.
Infolge des Krieges und seiner Nach¬
wirkung hat es lange gedauert, bis die
wissenschaftliche und praktische Medizin
zu der von mir begründeten Behandlung
der Ernährungsstörungen des Herzmus¬
kels 1) mit hochprozentigen Trauben¬
zuckerinfusionen, die ich 1913 hierbei zu¬
erst angewendet habe, Stellung genommen
hat. Im Laufe der letzten Jahre sind
nun eine Reihe von Veröffentlichungen
aus Kliniken und Krankenhäusern in ver¬
schiedenen Zeitschriften erschienen, über
die ich berichten und denen ich eigene
Erfahrungen angliedern will.
Hingewiesen sei in erster Linie auf
die im Anschluß an meine Arbeiten ent¬
standenen experimentellen Untersuchun¬
gen von Privatdozent Dr. Nonnen-
bruch in Würzburg, die uns weitere Ein¬
blicke in.die Wirkungsweise der Trauben¬
zuckerinfusionen 2) gewähren. In Ver¬
bindung mit den Ergebnissen anderer
Forscher bietet sich folgendes Bild:
Büdingen, Über die Möglichkeit einer
Ernährungsbehandlung des Herzmuskels durch
Einbringen von Traubenzuckerlösungen in die
Blutbahn. (D. Arch. f. klin. M., Bd. 114, S. 534
bis 579, 1914).
2) Über die innere Hyperglykämie. Über die
Veränderungen im Blut und Harn nach intra¬
venösen Traubenzuckerinfusionen. (Beides: Arch.
f. exper. Path. u. Pharm. 1920). Über Blutzucker
und Blutkonzentration. (Sitz.-Ber. d. phys.-
med. Ges. zu Würzburg, Sitzung 15. Januar 1920).
Nach Johannes Müller (Düsseldorf) ist die
Quelle der Herzmuskelkraft der in einer Menge
von 0,07 bis 0,12% beim Gesunden im Blut vor¬
handene Traubenzucker. Er ist weitgehend un¬
abhängig von der aufgenommenen Nahrung.
Nur überreichliche („abundante“) Zuckerzufuhr
auf natürlichem Wege kann die Leber zu einer
höheren Abgabe an das Blut veranlassen. Die
Leberbarriere wird, wie von Noorden sagt,
dann durchbrochen. Ein Teil dieses Zuckers
geht unverwertet mit dem Urin ab. Die von
Bernstein und Falta auch bei üblicher Er¬
nährung angenommene Hyperglykämie (Blutüber¬
zuckerung), die sich nur auf der Venenstrecke
von der Leber zum rechten Herzen finde, aber
wegen des Zuckerverbrauchs innerhalb der Capil-
larsysteme in den peripheren Venen nicht mehr
nachgewiesen werden könne, hat sich durch die
Versuche Nonnenbruchs als unrichtige Hypo¬
these herausgestellt3). In Bestätigung meiner
Auffassung kann nach demselben Forscher eine
Zuckerabgabe per os nicht zu einer solchen
Konzentration des Zuckers im Herzblut und ins¬
besondere im Blute der Coronararterien führen,
wie die intravenöse Traubenzuckerinfusion.
Kommen also Ernährungsstörungen des Herz¬
muskels vor, die nach meiner Lehre entweder
auf einem unterwertigen Blutzuckergehalt (Hypo¬
glykämie)^) oder ungenügender Zufuhr von
normalem Blute (wie z. B. infolge von Vasor
constriction der Kranzgefäße bei Coronarsklerose
oder bei dieser allein) oder verminderter Ver¬
arbeitungsfähigkeit des Blutzuckers in der Herz-
2) Siehe meine vorausgegangene Arbeit im
D. Arch. f. klin. M. 1918, Bd. 128, S. 151 bis 162:
Blutzuckerregelung, respiratorischer Gaswechsel
und Körpertemperatur in ihren Beziehungen zu
Traubenzuckerinfusionen bei gesunden und kran¬
ken Menschen.
Blutzuckergehalt unter 0,07 bzw. 0,06%.
Januar
Die Therapie der Gegenw:art 1921
21
muskulatur (nkch Infektionen, Vergiftungen),
beruhen, so ist die Behandlung durch Trauben¬
zuckereinläufe in die Blutbahn, welche die Ratio-
•nierung des Blutzuckers durch die Leber umgehen,
die folgerichtigste und wirksamste Behandlung.
Dies habe ich an Hand zahlreicher Kranken¬
geschichten machgewiesen.
Durch die Infusion wird, wie Nonnenbruch
sagt, das Zuekergefälle, das heißt der Unterschied
im Blutzucker und Gewebezuckergehalt größer.
„Wird die Zuckerzufuhr reichlicher, so wird auch
die Menge Zucker, die während einer Umlaufs¬
zeit in die Gewebe austritt, zunehmen.“ Beim
Diabetiker wird nach Lüthje der infudierte
Zucker weit besser als der von den Verdauungs¬
organen abgegebene Zucker verwertet. Auch
bei dem gesunden Tier sah der gleiche Forscher
Ähnliches. Nach Kausch ist es erstaunlich,
wie gut, ja wie restlos eingespritzte größere
Zuckermengen im Gegensatz zu den im Übermaß
genossenen ausgenutzt werden können. Also
keine oder nur ganz unbedeutende Glykosurie!
Nach einer Infusion kommt es unter anderem
mit größter Wahrscheinlichkeit zur Bildung von
Glykogen in der Herzmuskelfaser, das als Vor-
ratskraftstoff gewöhnlich dort gefunden wird
(Aschoff, Berbl.inger). Ist die durch die
Infusion verursachte Hyperglykämie infolge Ab¬
lagerung und Umwandlung des Zuckers in den
Geweben verschwunden, so zeigt sich eine Zu¬
nahme des respiratorischen Quotienten, wie
Bernstein und Falta nachgewiesen haben.
Schließlich lösen die Traubenzuckerinfusionen
nach Nonnenbruch ^„einen ganz erheblichen
Austausch von Wasser; Kolloiden und Salzen
zwischen Geweben und Blut aus, wobei die ein¬
zelnen Bestandteile weitgehend unabhängig von
einander sind und bald eine überwiegende Strö¬
mungsrichtung aus den Geweben ins.Blut, bald
umgekehrt haben“. So bewirken diese Infusionen
physikalisch und chemisch bedeutsame, größten¬
teils therapeutisch willkommene Vorgänge im
Organismus, Sie regen nach den verschiedensten
Richtungen den Stoffwechsel an und können
schädliche Stoffe aus den Geweben durch den
geschilderten Austausch entfernen (Auswaschung
des Körperinneren).
Im folgenden möchte ich hauptsäch¬
lich praktische Erfahrungen zu Worte
kommen lassen:
Dr. Eberle, Oberarzt der chirurgischen Ab--
teilung des Stadtkrankenhauses in Offenbach a.M.,
schreibt im Arch. f. klin. Chir., Bd. 113, Heft 2:
„Ich ließ die Infusionen auf einen früheren per¬
sönlichen Rat des internen Kollegen Büdingen
(Konstanz) machen und habe in diesen und zahl¬
reichen anderen Fällen den Eindruck gewonnen,,
daß sie von großem Nutzen sind. Es war auf¬
fallend, wie sehr sich die Schwerkranken dabei
erholten, wie sie dadurch vielfach erst operations¬
fähig wurden und den Eingriff zweifellos viel
besser ertrugen als andere nicht infundierte
Schwerverletzte. Auch bei protahiert verlaufen¬
der Sepsis wurde diese hochprozentige Lösung
verwendet und nie ernstere nachteilige Folgen
von ihr gesehen. In einigen Fällen scheint sie
aber direkt lebensrettend gewirkt zu haben.“
In der zweiten kürzlich erschienen
Auflage seines Lehrbuches d'er funktio¬
neilen Diagnostik und Therapie der Er¬
krankungen des Herzens und der Gefäße
urteilt August Hoffmann über meine
Behandlung der Ernährungsstörungen
d-es Herzmuskels (Kardiodystrophien) fol¬
gendermaßen:
„ Ich habe diese Methode bisher in einer größeren
Zahl von Fällen angewandt und niemals Nach¬
teiliges gesehen, dagegen nicht nur subjektiv,
sondern auch objektiv günstige Wirkungen.
Besonders in Fällen von anginösen Herzbeschwer¬
den haben die Infusionen günstig gewirkt, sodaß
die Kranken imstande waren, größere Wege wieder
ohne Beschwerden zurückzulegen, was sie vorher
nicht konnten. — Fast alle Patienten, die doch
.sonst vielfach gegen derartige Eingriffe sich leicht
ablehnend verhalten, gaben subjektive Besserung
an und wünschten die Fortsetzung der Kur.“
Objektive Merkmale eines günstigen Eim
flusses der Infusionen bei Coronarsklerose,, Myo¬
karditis und Myodegeneratio cordis neben dem sub¬
jektiven Besserbefinden erkennt Pfalz®), ein
Schüler August Hofmanns (Düsseldorf), in
dem Verhalten der Urinsekretion (gewöhnlich
Steigerung der Urinmenge nach jeder Infusion),
dem Verschwinden des Pulsus alternans und der
Wiederherstellung der Anspruchsfähigkeit auf
Digitaliskörper. „Irgendwelche nachhaltigen
Schädigungen wurden nicht beobachtet.“ In
dem relativ häufigen Auftreten von Fieber sieht
Pfalz „eine nicht beherrschbare Nebenwirkung
auf das Wärmezentrum“. Ohne eine gesteigerte
Erregbarkeit des Wärmezentrums, so bei Basedow,
Diathesen, Quincke’schen Ödemen usw. aus¬
schließen zu können, muß ich auf Grund einer
weit größeren Erfahrung (mehr als 8000 In¬
fusionen) widersprechen.
Auch wir haben 1913 und 1914, dann wieder
1915 infolge einer Beschädigung unseres Destil-
i lationsapparates eine Reihe von vermeidbaren
Schüttelfrösten und Fieberanfällen durch Wasser¬
fehler beobachtet, welche innerhalb der ersten
zwei Stunden nach einer Infusion auftraten
(Frühfieber). Zwischen 1914 und 1919 und später
war das Fieber nur auf seltene und wohlcharakte¬
risierte Fälle beschränkt. So hat 1920 der Ab¬
teilungsoberarzt an meiner Anstalt Dr. Hubert
vom 1. Februar bis 1. September ungefähr 900
Infusionen gemacht und nur bei drei Herzkranken
Fieber beobachtet, und zwar als Reaktion be¬
reits vorhandener entzündlicher Herde im Körper
dieser Kranken (Strumitis, Appendicitis Simplex,
Kiefereiterung). Die Abteilungsärztin Dr. H.
Beuttenmüller hat innerhalb eines Jahres
300 Infusionen ausgeführt und nur bei zwei
Patienten — einem Fall von kardiodystrophisehen
Beschwerden bei Cor ad.-posuni und Myocarditis,
sowie von leichten Schmerzen in der Elliaddarm-
gegend, ferner bei einem Falle von Endocarditis
lenta — Fieber, beziehungsweise Zunahme des
Fiebers nach den ersten sechs bis acht Infusionen
auftreten sehen, später nicht mehr. Diese als
Spätfieber von mir bezeichnctc, meist heilsame
Reaktion, die drei bis acht Stunden nach der
Infusion erst auftritt, habe ich im D.. Arch. f.
klin. M., Bd. 128, Seite 151 bis 162, bereits ge¬
schildert. Ich komme darauf später zurück.
Bei ausreichender Behandlung lassen
sich selbst in Fällen organisch bedingter
schwerer Ernährungsstörung des Herz¬
muskels langdauernde Befreiung von Be¬
schwerden und Wiederherstellung der
Ö Verlag von I. F. Bergmann, Wiesbaden 1920.
®) D. m. W. 1919, Heft 43, S. 1181.
22
Pk Therapie 4er Gegenwart* 192t
'Jankar
Arbeitsfähigkeit erzielen. Ich habe eine
Reihe von älteren Patienten, die infolge
von Coronarsklerose unheilbar' bei Wieder¬
kehr der Anfälle von Angina pectoris seit
Jahren gewöhnlich einmal im Jahre zu
mir kommen und nach einigen Wochen*
wieder mit dem gleichen, erfreulichen Er¬
gebnis Weggehen oder solche mit chroni¬
scher Myocarditis, bei denen die verlorene
Anspruchsfähigkeit auf Digitaliskörper
wiederhergestellt oder eine Befreiung von
der Digitalisbehandlung erzielt wird. Auch
können durch Kardiodystrophien be¬
dingte Kompensationsstörungen bei Herz¬
klappenfehlern, sowie frische Myocardi-
tiden dauernd'^beseitigt werden.
Meine Behandlungsmethode ist eine
Stoffwechsel- oder Ernährungstherapie
des Herzmuskels. Sie will und kann
die Digitaliskörper in ihrem gesicherten
Anwendungsbereich nicht verdrängen,
sondern sie nur dort wirksam ersetzen
oder ergänzen, wo sie zu Unrecht oder
wirkungslos allein angewendet wurden, so
bei allen organisch bedingten Ernährungs¬
störungen des Herzmuskels, die durch
Anfälle von Angina pectoris gekennzeich¬
net sind. Rein funktionelle Kardio¬
dystrophien ohne Herzerweiterung, wie
ich sie in meinem Buche besonders als
hypoglykämische Kardiodystrophien ge¬
schildert habe, bedürfen nur dann einer
so eingreifenden Behandlung, wenn die
damit verbundenen Beschwerden nicht
auf andere Weise zurückgehen wollen.
Jeder organischen Herzerkrankung
kann nach meiner Lehre eine durch un¬
genügenden Blutzuckergehalt (Hypogly¬
kämie) oder ungenügende Blutzuckerzu¬
fuhr bedingte Kardiodystrophie aufge¬
pfropft sein. Eine Herzunterernährung
ist auch als Teilerscheinung der Schädi¬
gungen des Herzmuskels durch infektiöse
oder andere Gifte unter bestimmten Um¬
ständen anzunehmen derart, daß die
regelrechte Blutzuckermenge nicht mehr
ausreichend vom Herzen verbraucht wer¬
den kann.
In dieser Beziehung berichtet Blank aus
dem Krankenhaus München rechts der Isar
(Direktor Prof. Sittmann)^) über seine Er¬
fahrungen bei Knollenblätterpilzvergiftung, deren
Prognose als fast infaust gilt. Früher 60 bis 80%
Mortalität, seit Anwendung der Traubenzucker¬
infusionen ein Rückgang auf 10%! „Der Erfolg
der Traubenzuckerinfusionen ist zauberhaft“
schreibt Blank. Dies bei einem Leiden, dessen
pathologisch-anatomischer Befund in Fällen, die
zur Sektion gekommen sind, „in Verfettung der
vergrößerten Leber, des Herzens und der Nieren“
bestanden hat (Blank)!
7) M. m. W. 1920, S. 1032, Heft 36. '
Korb sch teilt aus der Abteilung des Prof.
Ercklentz am Allerheiligen-Hospital in Breslau
folgendes mit«): „Durch die Arbeiten Th. Bü¬
dingens ist die günstige Wirkung, welche die
Traubenzuckerinfiisionen auf bestimmte * Er¬
nährungsstörungen des Herzens ausüben, ' den
weitesten Kreisen der Ärztewelt bekannt ge¬
worden. Aber wie schon dieser Autor den An¬
wendungsbereich der Traubenzuokerinfusionen
viel weiter gezogen hat, so wird man jetzt wohl
allgemein den günstigen analeptischen Einfluß
dieser Infusionen bei Infektionskrankheiten,
bei Inanition, bei Urämie, bei Leberer¬
krankungen und anderen allgemeinen Schä¬
digungen des Körpers nicht mehr missen mögen.“
Nachdem Kausch in Fällen von
Peritonitis aus Gründen allgemeiner
ErnährungisotonischeTraubenzuckerinfu-
sionen mit gutem Erfolge gemacht und
ihre Anwendung bei Cholera empfohlen
hatte, habe ich 1915 in dem mir unter¬
stellten Vereinslazarett hochkonzentrierte
Lösungen zuerst bei einem Falle von lang¬
dauernder Sepsis mit Herzschwäche,
dann, in andern Fällen von septikämischer
Erkrankung, von croupöser Pneumo¬
nie, Grippeluagenentzündung, En¬
dokarditis lenta, Gelenkrheuma¬
tismus und Diphtherie zur Besserung
der. durch Digitalis usw. nicht beeinflu߬
baren Herztätigkeit 2 ;um Schutze und zur
Kräftigung des Herzens angewendet. In
allen diesen Fällen, darunter auch Privat¬
patienten und von der Reichsversiche¬
rungsanstalt für Angestellte mir zu¬
gewiesene Kranken, war der Herzmuskel
in Mitleidenschaft gezogen und schwer
gefährdet. Ich hatte meist ausgezeichnete
Erfolge, die ich zum TeH schon 1917 in
meinem Buche ,,Ernährungsstörun¬
gen des Herzmuskels, ihre Bezie¬
hungen zum Blutzucker und ihre
Behandlung mit Traubenzucker¬
infusionen mitgeteilt habe.
Litchfieldio) hat Typhus, septische Peri¬
tonitis, Pneumonie, Meningitis usw. mit Trauben¬
zuckerinfusionen behandelt. Er sah sofort ein¬
tretende Besserung des Allgemeinbefindens, (Ab¬
nahme der Toxämie), Verlangsamung von Puls
und Atmung, Zunahme der Amplitude des
•Pulses und des Blutdruckes, Steigerung der Diu¬
rese, Beruhigung des vorher aufgeregten Kranken,
Herbeiführung von Schlaf usw. Die Infusionen
sind nach ihm unschädlich, wenn auch einzelne
Fälle mit Schüttelfrost und Temperatursteige¬
rung reagierten. Wells, Clifford und Blan-
kinship ^^) haben 319 Fälle von Grippelungen¬
entzündung mit hypertonischen Zuckerl ösungen
(250 .bis 300 ccm, 5 bis 25% Lösung) behandelt.
Die Erfolge waren gut, selbst bei Patienten, die die
schwersten Symptome von Kollaps darboten.
Von den Fällen starker Erkrankung starben
8 ) M. m. W. 1920, S. 936, Heft 32.
s) Verlag F. W. C. Vogel, Leipzig 1917.
^0) Journal of the Amerik. med. assoc. August
1918.
ri) Gleiche Zeitschrift, Januar 1920.
f
JnjicL^rbares Giur^tikum
üon i^eroorra^ender lüir^un^
Indication:
Oedeme, cardialer und renaler Hydrops,
Bright’scher Krankheit, Urämie, Eklampsie
nach Laporatomien.
Dosierung:
/. per OS 2-3 Tabl. a 0,1 g
2 intramuskulär u. iniraoenös 1 Ämp.
m. 0,48 g
3. rectal 1 Suppositorium mit 0,36 g
¥
Proben und Literatur durch
BVK-OULDENWERKE
BERLIN NW7
£Rl£impsl4^
„Bei Behandlung der Eklampsie kommt es auf möglichst
rasche Entgiftung an. Dieselbe kann auf natürliche und
künstliche Weise geschehen. Auf natürlichem Wege kann
das Gift den Körper verlassen durch die Nieren und den
Darm, hauptsllchlich aber durch die Nieren. Bisher hatte
man kein Mittel, die Nierenfunktion zwar schonend, aber
doch wirksam und rasch anzuregen. Es fehlte ein Diureti¬
kum, das injiziert werden konnte, bei dem man also nicht
auf die Verabreichung per os angewiesen war und es liegt
ein direktes Bedürfnis nach einem derartigen Mittel vor,
solange die Eklamplischen komatös sind. Die innere Me¬
dizin kennt ein solches aber schon seil mehreren Jahren,
das Euphyllin. Obwohl das Urteil dadurch erschwert wird,
daß wahrend der Euphyllinkur die Entbindung jederzeit
dazw'ischen kommen kann, darf man wohl zugunsten des
Euphyllins in die Wagschale werfen, daß alle fünf damit
behandelten Falle inlerkurenl verliefen und daß keinerlei
Schädigungen beobachtet wurden, auch nicht bezüglich der
Kinder. Solange das eklamplische Koma dauert, kommen
für uns wohl nur die intramuskulären Injektionen in Frage,
weil das Mittel schnell und sicher resorbiert werden soll.
Klysmen und Suppositorien anzuwenden, ist ja hier mög
lieh, aber da dauert die Resoiption langer Hat man durch
Injektionen die Diurese schon etwas gehoben, so kann
man natürlich mit rektaler Anwendung fortfahren oder bei
Rückkehr des Bewußtseins mit stomachaler.“
Lichtenstein, Universitäts-Frauenklinik, Leipzig,
(Zenlralblalt für Gynäkologie, 1914, Nr. 23).
WassersuclTk 1
„Die wirksamste Dosis für die intravenöse Injektion ist
Euphyllin 0..ö—1,0 in o ccm Lösung. Bei alleren Fallen
genügt ein Kardiakum allein oft nicht, aber ein Xanlhin-
praparal allein intravenös angewandt, kann einen Einslrom
erzielen. Bei noch alteren und schwereren Füllen von Herz-
wassersiicht ist weder das eine oder das andere Mittel
allein wirksam sondern nur die Vereinigung beider, am
besten in Form von intravenösen Einspritzungen von Stro¬
phantin und Euphyllin. Die Neigung von Oederaen be¬
gegnet man durch Darreichung von Euphyllin (in Zäpfchen)
das bisweilen schon vor. aber erst nach Eintreten der
Digitaliswirkling seine was.sermobilisierende und harn¬
treibende Wirkung entfaltet,“
Dr F. Vollhardt. Hümatogene Nierenerkrankungen
l (Brightsche Krankheit), Berlin, Julius Springer, 1918.
.'JaMiiaT/ ' ' ' ' Dl« Iherapie der
nur 6/5%, von den Fällen, die unter der üblichen
Behandlung nach diesen Autoren sicher gestorben
wären, wurden" 34,94% gerettet. Auch sie be¬
obachteten eine Anregung des Herzmuskels zu
stärkerer Tätigkeit,
Fälle von langdauerndem Fieber, dar-'
unter zwei Fälle von Endocarditis lenta,
von denen eine Patientin über ein Jahr
mit kurzen Unterbrechungen fieberte,
wurden durch meine Methode in wenigen
Wochen fieberfrei. Diese zwei Fälle und
andere sind trotz der Schwere ihrer Er¬
krankung wieder leistungsfähig geworden.
Sehr bemerkenswert ist die von mir
bereits oben' als meistens heilsam be-
zeichnete Reaktion des Körpers auf Trau¬
benzuckerinfusionen, wenn sich. Eiter¬
erreger oder infektiöse Gifte in irgend
einem Gewebe befinden, so nach kurz vor¬
her abgelaufenen Anginen, Pyelitis chro¬
nica, bei frischer' Myocarditis usw. Sie
unterscheidet sich von dem Fieber infolge
von Wasserfehlern, wie gesagt, durch
späteres Auftreten. Unbeachtete chroni¬
sche Eiterungen, die schmerzlos ver¬
laufen, können auf diese Weise durch ein¬
gehende Fahndung nach dem Ursprung
des Fiebers entdeckt werden.
Ich habe eine Reihe lehrreicher Fälle dieser
Art beobachtet, so kürzlich einen Fall von an¬
scheinend chronischer Myokarditis mit ‘ pulsus
irregularis perpetuus, erheblicher Herzerweiterung,
und versagender Herzkraft schon bei unbedeuten¬
den Leistungen. Der Mann bekam als einziger
unter einer größeren Zahl infundierter Patienten
am gleichen Tage Fieber. Er hatte seit Jahren
eine schmerzlose Kiefereiterung, öfters Mandel¬
entzündungen und wahrscheinlich als Folge der¬
selben neben seiner chronischen Myokarditis
einen frischen Entzündungsnachschub im Herz¬
muskel. Denn nach Beseitigung der Kiefereite¬
rung durch den Konstanzer Zahnarzt Missmahl
flackerte auch nach den folgenden Infusionen,
aber nicht mehr regelmäßig Fieber auf. Die
Herzkraft hob sich trotz Fortbestehens des
pulsus irregularis perpetuus in erfreulichster
Weise.
Herdreaktionen hat Hasenbein
in der städtischen Krankenanstalt Kiel
(Dirigierender Arzt: Prof. Dr. Hoppe-
Seyler) durch intramuskuläre Rohr¬
zuckerinjektionen, in gleicher Weise wie
durch die bekannten Milchinjektionen
erzeugt und damit Heilerfolge bei der
Behandlung der Gonorrhöe erzielt. ,,Bei
Endometritiden und Adnexerkrankungen
zeigten sich am Abend nach der Ein¬
spritzung Schmerzen und erhöhte Druck¬
empfindlichkeit der erkrankten Organe,
verbunden mit Temperatursteigerung.“
Die symptomatischen Erfolge Bodmers
bei der Lungentuberkulose — Verminde¬
rung, ja sogar Versiegen der Auswurfs¬
Oegen^wart 1921 • . '' ’ ’ 23
menge und Aufhören .der Nachtschweiße
— werden von Hasenbein bestätigt.
Bei einer wahrscheinlich gonorrhöe-
ischenMonathritis habeich ähnlicheHerd-
und allgemeine Reaktion mit gutem End¬
erfolg durch Traubenzuckerinfusionen er¬
reicht. Ich möchte deshalb empfehlen,
statt Rohrzucker,* der bekanntlich bei
parenteraler Einverleibung im Körper
nicht verwertet, beziehungsweise ver¬
brannt wird, Traubenzucker auch zwecks
Stoffwechselsteigerung und zu Ernäh¬
rungszwecken, sowie in der gedachten
Absicht regelmäßig anzuwenden. Nach
Prof. Robert Schmidt in Prag kann
„jeder Reiz, der genügend in- und extensiv
den Organismus in Mitleidenschaft zieht,
besonders auch in seinem circulatorischen
und neurogenen Betrieb, Herdreaktionen
auszulösen“. Dies kann ebenso durch
Milchinjektionen, wie durch Tuberkulin¬
einspritzungen u. a. geschehen. ,,Ihre
diagnostische Bedeutung liegt darin, daß
auf diesem Wege latente Entkindungs-
herde und diathetische Zustände manifest
gemacht werden können; — ,,auf eine
Zunahme der Entzündungsvorgänge er¬
folgt eine Abnahme derselben bis zur
eventuellen Wiederherstellung eines nor¬
malen Gewebebetriebes“. ‘ In völliger
Übereinstimmung damit habe ich Fieber
oder Zunahme des bestehenden Fiebers
durch Traubenzuckereinläufe in die Blut¬
bahn bei Vorhandensein eines entzünd¬
lichen Herdes im Körper herbeiführen
können, ja es konnte mit großer Wahr¬
scheinlichkeit die Diagnose einer frischen
Myocarditis oder eines Nachschubes bei
einer chronischen Myocarditis daraus ge¬
stellt und diese Entzündungsvorgänge
ebenso wie das Begleitfieber durch Weiter¬
behandlung beseitigt werden.
Während bei Coronarsklerose die Be¬
schwerden zu verschwinden pflegen, kön¬
nen in solchen Fällen Schmerzen oder
leichtes Druckgefühl in der Herzgegend
nach den Infusionen als Reaktionser¬
scheinungen meist am gleichen Tage auf-
treten.
Gestützt auf diese Erfahrungen, bin
ich der Ansicht, man sollte unbeschadet
einer specifischen Therapie und anderer
Maßnahmen die erwähnten Infektions¬
krankheiten mit hypertonischen’Trauben¬
zuckerinfusionen zum Schutze des Her¬
zens und zur Beeinflussung seines und
des allgemeinen Stoffwechsels möglichst
frühzeitig behandeln. Die Vereinfachung
^2) M. m. W. 1920, S. 1222.
12) D. Arch. f. klin. M. 1920, Bd. 131, S, 1.
24 ' Die Therapie der
der Technik durch Roger Korbsch^^)
bietet, sofern einwandfrei destilliertes
und sterilisiertes Wasser geliefert werden
kann, diese Möglichkeit, allerdings auch
hier nur für technisch gut ausgebildete
und erfahrene Ärzte. Ich habe die be¬
gründete Zuversicht, daß durch früh¬
zeitige Anwendung der Infusionen man¬
cher Herzklappenfehler insbesondere in¬
folge von Gelenkrheumatismus^ und
manche Siechtum herbeiführende''Herz¬
muskelschädigung vermieden ' werden
kann. Eindringlich aber möchte ich vor
Anwendung in der allgemeinen Praxis
bei Herzkranken warnen, beziehungsweise
meine Warnung wiederholen^^). Da ist
fachärztliche Indikationsstellung und eine
größere Erfahrung erforderlich, die sich
nicht ohne weiteres übermitteln lassen.
Eine nochmalige ausführliche Begründung
dieser Stellungnahme gegen ambulante
Behandlung behalte ich mir an anderem
Orte vor. Hier sei außer auf das nach
meiner Erfahrung nur selten auftretende
Fieber auf die Möglichkeit zu großer Be¬
lastung eines gefährdeten und schwachen
Herzens nicht nur durch die eingebrachte
hochzentrierte Traubenzuckerlösung, son¬
dern durch das nach osmotischen Ge¬
setzen in die Blutbahn einstürzende Ge¬
webswasser bei Stauungszuständen und
durch individuell gesteigerte Erregbar¬
keit der Gefäßnerven, ferner auf etwaige
abnorme Durchlässigkeit der Gefäßwände
bei Nephritis, bef schwerer Anämie und
anderen Blutkrankheiten hingewiesen.
Unter mehr als 8000 Infusionen habe ich
etwa achtmal, meistensteils nicht kardial
bedingtes Lungenödem auftreten sehen.
Davon habe ich keinen Fall verloren.
Wäre das Lungenödem kardial bedingt ge¬
wesen, so hätte die größere Hälfte der davon
Betroffenen sich nicht nach wenigen Stunden
wieder wohl und munter fühlen, sicherlich aber
keine Spaziergänge beschwerdefrei machen können.
Bei 47 Herzkranken wurden in diesem Jahre
vor der Infusion Blutuntersuchungen vorgenom¬
men. In vier Fällen Wurde hochgradige sekundäre
Anämie festgestellt, zwei davon bekamen nach
Infusionen Lungenödem. Allerdings war in dem
einen Fall zwei Tage vorher zwecks Beseitigung
14) M. m. W. 1920, Heft 32, S. 936.
12) Anm. des Herausgebers: Hier möchte
ich meiner abweichenden Meinung Ausdruck geben.
Ich kenne nicht wenig ärztliche Praktiker, welche
durch ihre eingehende Beschäftigung mit Herz¬
kranken wohl imstande sind, die Indikation der
intravenösen Traubenzuckerinfusion zu stellen
und die Infusion selbst tadellos auszuführen.
Auch sind die Bedingungen der häuslichen Pflege
in vielen Fällen der Nachbehandlung nicht un¬
günstig. Ich möchte also das oft wertvolle
Büd in gen sehe Verfahren der Privatpraxis der
Ärzte nicht entzogen wissen.
Gegenwart 1921 Janttap
{ der Herzunregelmäßigkeit Chinidin g^eben
worden, • und seit der letzten Infusion waren drei
Tage vergangen. Immerhin legen diese zwei Fälle
große Vorsicht bei schwerer Anämie nahe.
Im Besitze der Erfahrung, die ich
mir im Laufe der Jahre erworben habe,
lassen sich derartige, immerhin denKran-
ken .und seine Umgebung beunruhigende
Ereignisse vermeiden, wenn man unge¬
eignete Fälle nach sorgfältiger Erhebung
der Anamnese und nach gründlicher
Untersuchung (röntgenologischer und
Blutbefund, Blutdruckbestimmung, Elek¬
trokardiogramme usw. I) ausschließt und
andere zweifelhafte Fälle durch herz¬
anregende oder beruhigende Mittel zweck¬
mäßig für die erste Infusion vorbereitet.
In dieser Beziehung darf ich auf mein
Buch und auf meine letzte Veröffent¬
lichung in der D. m. W.^®) verweisen.'
Wenn die von mir angegebenen Vor¬
sichtsmaßregeln eingehalten werden, so
darf ich im Hinblick auf die große Zahl
der durch ihr Herzleiden schwer gefähr¬
deten Kranken, denen meine Trauben¬
zuckerinfusionskur zwar nicht immer
Heilung, doch häufig Wiederherstellung
der Arbeitsfähigkeit und Lebensfreude
verschafft hat, gewiß sagen: Die Infusion
i.st in-fachmännischer Hand ein ungefähr¬
licher Eingriff.
Die Untersuchung und Behandlung
zu infundierender Kranken muß Kliniken,
Krankenanstalten und geeigneten Sana¬
torien Vorbehalten werden.* Letztere
haben, sofern sie richtig geleitet sind, den
anerkannten Vorzug größerer Erholungs¬
möglichkeit für chronisch Kranke. Die
Anstaltsbehandlung sieht eine ihrer Haupt¬
aufgaben darin, vermeidbare seelische
und nervöse Erregungen mit ihren Folgen
für die Herzfunktion auszuschalten und
führt deswegen eher Dauererfolge herbei,
als die Infusionskur allein. Das Schick¬
sal der Herzkranken beruht weit weniger
auf den organischen Veränderungen, wenn
wir von den ein Weiterleben ausschließen¬
den Gewebszerstörungen absehen, als auf
Störungen im Betrieb. In dieser Be¬
ziehung sind die beeinflußbaren Stö¬
rungen der Ernährung und der zum Teil
eng damit verknüpften Seelen- und
' Nerventätigkeit die wichtigsten.
Neben den erwähnten Heilanzeigen
für meine Behandlungsmethode kommen
besonders auch Fälle mit Herzbeschwer¬
den nach Infektionskrankheiten in Be-
^®) Grundzüge der Ernährungsstörungen des
Herzmuskels (Kardiodystrophien) und ihrer Be¬
handlung mit Traubenzuckerinfusionen. D. m.
W. 1919, Heft 3.
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1921
25
tracht, die meist zu Unrecht als nervös an¬
gesehen werden. Je früher sie mit Trauben¬
zuckerinfusionen behandelt werden, um
so rascher und besser sind die Erfolge,
die ich in solchen Fällen, auch im Sinne
der Vorbeugung ernsterer Herzleiden er¬
zielt habe. Es bedarf wohl keiner weiteren
Betonung, daß Herzneurosen oder seelisch
bedingte Herzbeschwerden anders be¬
handelt werden müssen.
Repetitorium der chirurgischen Therapie.
Von JÄ. Borchardt.
Die Behandlung frischer Verletzungen.
Von M. Borchardt und Ostrowski.
Den Typus in der Behandlung frischer,
akzidenteller Wunden stellen die Ver¬
letzungen des Schlachtfeldes und die
gewerblichen Unfallverletzungen dar. Be¬
sonders die jüngsten Erfahrungen der
.Kriegschirurgie haben unser Vorgehen
bei der Versorgung frischer Wunden
wesentlich beeinflußt. Hier sollen zu¬
nächst ihi wesentlichen die Unfallver-
letzungen der Friedenschirurgie be¬
sprochen werden. Die Schußverletzungen
werden in einem Sonderabschnitt für
sich abzuhandeln sein.
Es ist natürlich, daß gerade die Ex¬
tremitäten, als die funktionell am meisten
beanspruchten Teile des Organismus, weit¬
aus. am häufigsten Verletzungen aus-
gesetzt^^sind. Sie müssen deshalb bei
einem Überblick über die Therapie frischer
Wunden im Vordergrund stehen. Nach
der Verschiedenheit der einwirkenden
Gewalten sind wir gewohnt, drei Haupt¬
gruppen von Verletzungen zu unter¬
scheiden: 1. Verwundungen mit scharfen
Instrumenten; 2. Quetschungen und
3. Verwundungen größten Umfanges
durch Zermalmung, Zerreißung oder
Abriß ganzer Glieder, beziehungsweise
von Teilen derselben. Als vierte Gruppe
reihen sich an die Läsionen durch ther¬
mische Schädigungen (Erfrierungen und
Verbrennungen). Pathologische Besonder¬
heiten ergeben sich — innerhalb dieser
Gruppen so wenig, daß es zweckmäßig
ist, die Behandlung dieser verschiedenen
Verletzungsformerl zusammenfassend und
mehr unter allgemeinen Gesichtspunkten
darzustellen.
1. Verletzungen durch scharfe
Gewalt.
Frische Schnittwunden, seien sie nun
durch den glatten Schnitt von Hieb¬
waffen, Messern, Scheren oder durch
Glas hervorgerufen, bieten insofern die
günstigsten Aussichten auf glatte und.
vollständige Heilung, als man sie prak¬
tisch zumeist als aseptisch ansehen kann,
obwohl auch sie stets Bakterien ent-,
halten. Kommen solche Wunden, frei
von gröberen Schmutzteilen oder sonstigen
Fremdkörpern, womöglich durch einen
sauberen, aseptischen Verband abge¬
schlossen, zeitig genug, das heißt inner¬
halb der ersten sechs Stunden post
trauma — nur dann haben sie den Cha¬
rakter frischer Verletzungen — in unsere
Behandlung, so kann nach sorgfältiger
Prüfung des Wundbettes die primäre
Heilung durch die Naht oder durch Ver¬
kleben als das ideale Ziel angestrebt
werden.
Die Wundversorgung wird am besten
in folgender Weise vorgenommen: Be¬
decken der Wunde mit einem kleinen
Gazebausch, Rasieren der Umgebung in
weitem Umkreise, Abreiben des fett¬
haltigen Schmutzes in der Nachbar¬
schaft mit Äther, Benzin oder Jodbenzin,
Hautanstrich mit 5% Jodtinktur (10%
gibt nicht selten Irritat'onen auf der Haut)
oder Thymollösung, Abdecken der Wunde
gegen ' die nicht gereinigte Umgebung.
Die abdeckende Gazekompresse kann
man zweckmäßig mit Mastix auf der
Haut ankleben.
Nach diesen Vorbereitungen folgt die
Revision der Wunde. Zunächst gilt es,
die Blutstillung auf das genaueste zu
bewerkstelligen, damit sich nicht sekun¬
där Blutkoagula in der Wunde an¬
sammeln, welche die Haut abheben,
prima Intentio verhindern und einen
guten Nährboden für die Bakterien ab¬
geben, also die Infektion vorbereiten.
Bei allen in die Tiefe gehenden Wun¬
den soll sich der Arzt Rechenschaft
darüber geben, ob, beziehungsweise welche
Muskeln, Nerven und Gefäße verletzt
sein können.
Oberflächliche, Uichtklaffende Schnitt¬
wunden werden einfach mit aseptischer
Gaze bedeckt und diese mittels eines
Verbandes oder mit Mastixlösung fest¬
gehalten. Die Mastixlösung wird mit
einem kleinen Haarpinsel bis dicht an die
4
26
Die Therapie der Gegenwart. 1921
Januar
Wundränder aufgepinselt. Sie dient
nicht nur zur Fixierung der Verbände,
sondern erfüllt noch die weitere sehr
wichtige Aufgabe, daß sie die der Haut
anheftenden Bakterien hindert, in die
Wunde zu gelangen („Arretierung^* nach
von Oettingen). Alle Manipulationen
in der Wunde und ihrer Umgebung
sollen, wenn' sie schmerzhaft sind, erst
nach sorgfältiger lokaler Anästhesierung
oder in kurzdauerndem Chloräthylrausch
vorgenommen werden.
Wunden, deren Ränder auseinander¬
klaffen, werden zweckmäßig durch einige
in Abständen gelegte Nähte verkleinert.
Statt durch Nähte kann man die Wund¬
ränder auch durch schmale .Mastix¬
streifen aneinanderbringeh und primäre
Verklebung ohne Naht erzielen. Bleiben
größere Buchten, in denen sich. Sekret
ansammeln könnte, so ist es zweckmäßig
durch kleine Gegenincisionen für wenige
Tage einen Gazedocht hindurchzuziehen.
Die weitere Behandlung ist abhängig
von der Infektion. Wundschmerz, Tem¬
peratur- und Pulserhühung sind Zeichen
der beginnenden Infektion. Auf Grund
klinischer Erfahrungen im Kriege hat
Schöne für en Eintritt der Infektion
die. folgende Tabelle zusammengestellt:
1. Akut endzündliche Symptome an
der Wunde, sich äußernd in entzünd¬
licher Hyperämie nach 1%^, P/^, 3, 3 %,
31 / 2 , 4, 51 / 2 , 6 / 2 , 714, 71 / 2 , 9 %, 10 %
Stunden.
2. Erste Eiterbildung nach 4, 6 ^,
61 / 2 . Syz. 151/4 Stunden.
3. Jauchung nach 8, 12, 13, 14,. 15%, ’
1 % Stunden.
4. Gasphlegmone im Beginn nach i
5, 5%, 6%, 7, 8, 10, 101 / 2 , 133%, 15,
15%, 15%, 153 % Stunden.
5. Ausgebrochene Gasphlegmonen mit
Zeichen der Progredienz nach 3, 5, 6,
7, 10, 11, 12, 13, 16, 16%, 19, 20, 20%
Stunden.
6. Infektion mit angezüchtetem Bak-
terienmaterial: Beginn von retroperi-
tonealen Phlegmonen nach Kolonschüssen:
1. Nach 4%, 2. nach 43%, 3. nach 6%,
4. nach 63%, 5. nach 83% Stunden.
Die beste Prophylaxe gegen die Infek¬
tion ist die Ruhigstellung des verletzten
Gliedes in Suspension und die Vermeidung
starker Kompressionsverbände. Bei dem
Auftreten der ersten Reizerscheinungen
wird man ein oder mehrere Nähte lösen,
schon verklebte Wundränder vorsichtig
auseinanderdrängen, beim neuen Verband
jeden Druck vermeiden, und wenn es sich
um Extremitätsverletzungen handelt; die
Glieder auf Schienen fixieren und sus¬
pendieren.
Infizierte und infektionsverdächtige
Wunden dürfen wir nicht durch die Naht
schließen.
Als infektionsverdächtige, oder als
infizierte, unreine Wunden haben zu
gelten, alle nicht mit scharfen Instru¬
menten gesetzten Verletzungen, also
Quetsch-, Riß- und Platzwunden
mit unregelmäßig zerrissenen, gequetsch¬
ten und unterminierten Hauträndern,
mit offener oder bei kleiner Hautwunde
größten Teiles subcutaner Zerreißung und
Zerfetzung tieferer Gewebsschichten,
Höhlen-, Taschen- und Gangbildung, so¬
wie Eröffnung von Gelenkhöhlen, Frei¬
legung, Periostentblößung oder Zer¬
trümmerung von Knochen und schlie߬
lich alle Wunden mit sichtbarer Ver¬
schmutzung, auch wenn sie frisch in
unsere Behandlung kommen.
Bei solchen Wunden stehen uns heute
im wesentlichen zwei Methoden der
Versorgung zur Verfügung; die erste,
altbewährte und sichere, besteht darin,
daß man die Wunde physikalisch so
herrichtet, daß die der Infektion unaus-
b leib li ch nachfolgenden Erscheinungen
keinen Schaden stiften können; für die
Wundsekrete und den sich bildenden
Eiter müssen bequeme Abflußmöglich¬
keiten geschaffen -werden.
Die Wunde muß mechanisch von
grobem Schmutz gereinigt, gequetschte
zum Absterben verurteilte Gewebsteile
abgeschnitten werden, enge Wundkanäle
sind zu • erweitern, aus langen Gängen
flache Mulden zu bilden, alle Buchten
und Taschen durch Anlegen von Gegen¬
incisionen gegen Sekretstockungen zu
sichern. Nach exakter Blutstillung wer¬
den die Wunden, wenn die Blutung ge¬
stattet auf Kompression zu verzichten,
lose mit steriler öder Jodoformgaze aus¬
gefüllt, in die Gegenincisionen Gaze,
Gummi- oder Glasdrains eingelegt.
War wegen unvollkommener Blut¬
stillung doch eine Kompression nötig, so
tut man gut, schon nach 24 Stunden
den fest sitzenden Verband [durch einen
loseren zu ersetzen.
Wir verzichten primärauf jegliche Naht,
überlassen die Heilung der Wunde per
secundam oder legen möglichst früh
sekundär Nähte an. Ausnahmsweise im
Gesicht kann man aus kosmetischen
Gründen hier und da eine Situationsnaht
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1921
7
anleg,en, die man beim ersten Eintreten
von Infektionserscheinungen allerdings
wieder entfernen muß.
Wenn der wenig erfahrene Praktiker
sich an diese Grundlagen hält, so wird
er keinen Schaden stiften.
Das zweite Verfahren besteht darin,
daß man die infektionsverdächtigen Ge¬
webe ausschneidet und versucht, aus der
infektionsverdächtigen eine aseptische
Wunde zu machen: Dieses Verfahren
knüpft sich an den Namen Friedrich.
Es wird am ehesten Eftolg haben, je
früher die Verletzten in unsere Behand¬
lung kommen. Es ist aber nach Kriegs¬
verletzungen vereinzelt auch noch
24 Stunden nach dem. Trauma mit Erfolg
angewendet worden.
Es sollte eigentlich nur von erfahrenen
Chirurgen angewendet werden.
Das Verfahren besteht in dem sorg¬
fältigen Ausschneiden der ganzen Wünde
1—2 mm vom Wundrande entfernt.
Bei zerfetzten Hautwunden werden
die Hautränder mit Hakenpinzetten ge¬
faßt und durch glatte Schnitte mit dem
Messer oder der Schere abgetragen. Die
hierzu verwendeten Instrumente werden
beiseite gelegtaund durch frische ersetzt.
Schicht für Schicht werden nun unter
stetem Instrumentenwechsel zerrissene
und nicht mehr lebensfähige Gewebsteile
abgetragen, bis glatte Wundverhältnisse
vorliegen. So kann es nötig werden,
gequetschte Muskelstücke, ja Kapsel¬
teile eröffneter Gelenke herauszuschnei¬
den, um bis zum Grunde der Wunde
aseptische zur Naht geeignete Gewebe
zu schaffen. Die mechanische Wund¬
reinigung wird ergänzt durch die Ent¬
fernung der mit in die Wunde gerissenen
Verunreinigungen (Holzsplitter, Stoff¬
fetzen, Geschoßstücke, Glassplitter, Erd-
partkiel usw.) mittelst Pinzette und
Tupfer. Blutko.agula werden durch Auf¬
drücken von Gazebäuschen beseitigt.
Eventuell berieselt man das Wundbett
mit warmer, steriler physiologischer Koch¬
salzlösung oder einer antiseptisch wir¬
kenden Lösung \2 bis 3%ige Borsäure¬
lösung, Solut. Hydrarg. oxycyanat.
1:3000 bis 5000, Wasserstoffsuperoxyd,
das durch Schaumbildung kleine Ge-
websfetzen und Schmutzpartikel an die
Oberfläche reißt. Von französischen
Autoren wurde besonders die Carrel-
Dakinsche Lösung empfohlen, die durch
Chlor in statu nascendi bakterientötend
wirkt. Die Carrel-Dakinsche Lösung
wird folgendermaßen bereitet: 200 g
Chlorkalk (mindestens 25% Chlorgehalt)
werden mit Wasser fein verrieben, zehn
Liter Wasser unter ständigem Umrühren
hinzugefügt; dann werden 140 g Soda
in gleichen Teilen Wasser gelöst, und der
Chlorcalciumlösung zugesetzt. ■ Diese
Mischung wird eine halbe Stunde lang
gerührt und filtriert. 35 g Borsäure in
200 g Wasser gelöst, und dann dem
Filtrat soviel zugesetzt, bis mit Phenol-
phthalin neutrale Reaktion oder bester
noch durch Natr. bicarbonic. eine al¬
kalische Reaktion eintritt. Lösung im
Dunkeln aufbewahren, höchstens acht
Tage haltbar. (Fründ.) Wir selbst haben
uns auf Grund klinischer und bakteriolo¬
gischer Untersuchung nicht von den viel
gepriesenen Vorteilen der Carrel-Dakin-
schen Flüssigkeit überzeugen können.
Es kommt weniger auf die Art der Flüssig¬
keit an, die man verwendet, als auf die
Sorgfalt, die man sonst der Wundbe¬
handlung widmet.
In einem großen Teil der Fälle kann
man nach diesem Verfahren behandelte
Wunden noch durch primäre Naht ganz
oder wenigstens zum größten Teile durch
die Naht schließen, indem man zusammen¬
gehörige Schichten exakt miteinander
vereinigt. Ein Drain oder Gazedocht
kann, für einige Tage bis an den tiefsten
Punkt der Wunde geführt, als Sicherheits¬
ventil für sich ansammelndes Wund¬
sekret von Nutzen sein. tes. Ist die Wund¬
toilette trotz aller Rigorosität unbefrie¬
digend, so bleibt die Wunde, locker mit
Gaze ausgefüllt, am besten offen. Zeigen
sich nach einigen Tagen keine Anzeichen
einer Infektion, so kann man immer
noch mit gutem Erfolge die Sekundär¬
naht ausführen oder durch quer über
die Wunde gespannte Heftpflaster- oder
Mastixstreifen eine schnelle Verklebung
der Wundflächen zu erreichen suchen.
Schon die Wundausschneidung nach
Friedrich dient im wesentlichen der
Prophylaxe gegen die Infektion frischer
Wunden. Sie eliminiert durch radikale
mechanische Maßnahmen innerhalb der
ersten Stunden nach dem Trauma etwa
in die Wunde eingedrungene Keime, Seit
dem Kri ege verfügen wir ab er auch noch üb er
ein wirksames Verfahren der chemisch¬
antiseptischen Wundprophylaxe. Das
von Morgenroth dargestellte Chinin¬
derivat Vuzin (Isoetylhydrocuprein) hat
eine so hochgradige, baktericide Kraft,
daß es im Reagenzglas die Hauptinfektions¬
erreger (Streptokokken und Staphylo¬
kokken) noch in Verdünnungen von
28 Die Therapie der Gegenwart 1921 Januar
1:80000 abtötet. Eiweißhaltige Medien,
also auch die Gewebe, schwächen diese
Wirkung nur wenig ab. Andererseits
erleiden die menschlichen Gewebe im
Kontakt mit dem Mittel bei wirksamer
und nicht zu starker Konzentration des¬
selben keine Schädigung. . Klapp zog
daraus die Konsequenz und begründete
das tief en-antiseptische Verfahren der
Wundprophylaxe.
Die Umgebung frischer Wunden wird,
ob infektionsverdächtig oder nicht, wird
mit Vuzinlösungen verschiedener Konzen¬
tration sorgfältig ganz nach Art der Infil¬
trationsanästhesie-um- und durchspritzt,
bis die Wunde selbst durch einen Wall von
antiseptischer Flüssigkeit von der Um¬
gebung abgeschlossen ist. Bei Extremi¬
tätenwunden ist unter Umständen eine
totale Querschnittsdurchspritzung er¬
forderlich.Die Durchschnittskonzentration
des Vuzins für die Gewebsdurchspritzung
beträgt. 1:1000. Nur zur Füllung trau¬
matisch eröffneter Gelenke werden stär¬
kere Konzentrationen bis zu 1:500 bis
300 verwendet. Nach der Füllung ist eine
Abdichtung der Gelenke erforderlich. Da
Vuzin die Gewebe reizt und Schmerzen
hervorruft, ist ein Zusatz von Novocain
im Verhältnis 0,5/100,0 Vuzinlösung
zweckmäßig. Die Anwesenheit von
Suprarenin hat die gleiche verstärkende
und verlängernde Wirkung wie bei der
lokalen Anästhesie. Wir erreichen da¬
durch als erwünschte Nebenwirkung eine
für die notwendigen chirurgischen Ma߬
nahmen hinreichende Anästhesie und
durch sie zugleich eine Kontrolle darüber,
ob die antiseptische Lösung überallhin
gedrungen ist. Mit Hilfe dieses Ver-
f^ahrens,,der verstärkten Wundantisepsis“
sind wir in der Lage, noch eine große
Anzahl infektionsverdächtiger Wunden
ohne Gefahr per primam durch Naht
zu schließen. Auch hier ist freilich die
Erfahrung in der Wundbehandlung aus¬
schlaggebend und nicht die blinde Regel.
Auch offen bleibenden Wunden können
wir durch die Vuzintiefenantiseptis neben
den sonstigen gegen die Infektion ge¬
richteten Maßnahmen wirksamen Schutz
verleihen.
Im weiteren Heilverlauf unterscheiden
sich ,,vuzinierte“ Wunden von nicht
tiefen-antiseptisch vorbehandelten da¬
durch, daß die genähten Wunden in
den ersten Tagen Zeichen der Reizung
(En tzündlicheSchwellung, Durchschneiden
der Nähte, Fieber) und weiterhin eine
weniger feste Wundränderverklebung
zeigen. Bei offen gelassenen, vuzinierten
Wunden fällt auf, daß in den ersten
Tagen jede Sekretion fehlt; Nur eine,
im Sinne eines rückläufigen, die Ge¬
webe reinigenden Lymphstromes wir-
.kende . wässerige Absonderung (ausge¬
schwemmte Vuzinlösung) wird beobachtet.
Die prophylaktische Vuzintiefenanti-
sepsis, die auch in unserer Klinik bei/
allen größeren frischen Verletzungen mit
gutem Erfolge angewendet wird,' kann
allein oder in Verbindung mit der Wund-
excision nach T^riedrich zur Zeit wohl
als die wirksamste Wundprophylaxe
gelten.
Einer besonders vorsichtigen Behand¬
lung bedürfen Stichwunden. Bei ihnen
ist besonders sorgfältig auf etwaige Ver¬
letzung von Muskeln, Nerven, Gefäßen,
Knochen und Gelenken zu untersuchen.
Zur besseren Übersicht über die in der
Tiefe angerichteten etwaigen Nebenver¬
letzungen ist die Spaltung des Wundr
ganges nötig. Die Versorgung aller dieser
Nebenverletzungen hat zu folgen. Glatte
Messerstiche machen die Infektionsgefahr
weniger dringlich als z. B. die häufige
Verletzung durch rostige Nägel. Solche
Wundgänge sind breit zu spalten, dann
locker mit Gaze zu füllen und offen zu
halten. Radikaler ist die Ausschneidung
des ganzen Wundganges mit Kombination
der verstärkten Tiefenantisepsis. Jedoch
sollte nur der Erfahrene sich auf dieses
Verfahren einlassen.
Bei der Behandlung der Lappen¬
wunden, Skalpierüngen und Schin¬
dungen ist Obacht darauf zu geben, ob
die Ursache der Verletzung ein glatter,
schräg oder tangential gerichteter Schnitt
oder eine stumpfe Gewalt (Überfahrung
oder Maschinenverletzung) war. Im
ersten Falle führt nach Anfrischung der
Wundränder und sorgfältiger Blutstillung
die Einpassung des Lappens in den Defekt
und seine lockere Fixierung durch einige
Knopfnähte zur Einheilung, Je schmaler
die den Lappen ernährende Hautbrücke
ist, je schwächer die Blutung aus seinen
Wundrändern ist, desto ungünstiger sind
die Aussichten auf seine Erhaltung.
Die Kopf- und Gesichtshaut ist besonders
reichlich mit Blutgefäßen versorgt. Lap¬
pen mit schmaler Basis können glatt ein¬
heilen, wenn eine Situationsnaht sie in
richtiger Stellung fixiert. Deshalb können
auch Skalpierungsverletzungen bei Ab¬
lösung fast der ganzen Kopfhaut nach
guter Blutstillung, sorgfältiger Einfügung
des losgelösten Lappens restlos heilen,
Januar
Dk Therapie der Gegenwart 1921
29
wenn man sie in den Defekt zurück¬
lagert und für Abfluß der Sekrete sorgt.
Infolge von Mangel an Deckungsmaterial
restierende Lücken werden sofort mit
Thierschlappen oder besser durch plasti¬
sche Hautverschiebungen an Ort und
Stelle gedeckt. Ein gleichmäßiger Ver¬
band ohne nennenswerten Druck bewirkt
ein glattes, möglichst faltenloses Anliegen
des Lappens auf seiner Unterlage.
Die Besprechung der Therapie der
Schindungen, d. h. großer traumatischer
Hautdefekte, fällt zusammen mit der Be¬
sprechung der plastischen Operationen,
die in einem besonderen Abschnitt be¬
handelt werden sollen.
Bei allen mit unsauberen Gegen¬
ständen gesetzten, zerklüfteten und ver¬
unreinigten Wunden müssen wir — be¬
sonders bei Verunreinigung mit Pulver¬
schleim, Sprengstücken, Erde und Holz¬
teilen, Stoffetzen usw. —an die ernste Ge¬
fahr einer drohenden Tetanusinfektion
denken. Die Kriegserfahrung hat gelehrt,
daß der Schwerpunkt der Tetanusbehand¬
lung in der Prophylaxe der Wund¬
behandlung liegt. Die subcutane oder
intramuskuläre Injektion von 20 A.E.
Tetanusantitoxin, am besten in die Nähe
der verdächtigen Wunde, gewährt einen
einigermaßen hohen Schutz neben der
chirurgischen Versorgung der Wunde.
Warten wir ab, bis die ersten Zeichen der
Tetanusinfektion auftreten, so kommt
in vielen Fällen die Serumtherapie zu
spät. Die Unterlassung der prophylak¬
tischen Seruminjektion bei verdächtigen
Wunden ist demnach ein grober Kunst¬
fehler. Lieber eine Injektion zu viel und
unnötig, als eine zu wenig!
Mehr noch als bei den inkomplizierten,
frischen Verletzungen, ist bei den infek¬
tionsverdächtigen und infizierten Wunden
die Ruhigstellung des verletzten Körper¬
teiles unbedingt geboten. Durch Aus¬
schaltung des Muskelspieles schließen wir
einen Hauptfaktor für die Weiterver¬
breitung etwa eingedrungener Keime aus.
Bei Verdacht auf besonders maligne
Infektion (z. B. Anärobininfektion —
Gasbrand —) kann es von Nutzen sein,
die Wunde zur ständigen Kontrolle dem
Auge zugänglich zu. erhalten. Das er¬
reichen wir durch die offene Wund¬
behandlung. Zunächst erfolgt die Wund¬
versorgung nach den oben gegebenen
Grundsätzen. Dann aber unterbleibt
jeder abschließende Verband (als Fremd¬
körper für die Wunde). Durch geeignete
Lagerung des verletzten Körperteiles ist
dafür gesorgt, daß die Wunde frei liegt
und ihre Sekrete, sofern sie nicht schnell
.eintrocknen, ungehinderten Abfluß haben.
Ein korbartiger Drahtbügel, von einem
Gazeschleier umhüllt, schützt den ver¬
letzten Teil vor dem Kontakt mit der
Umgebung. So wird jede Sekretstauung
vermieden, jede Veränderung des Gewebes
sofort sichtbar und durch die Lufttrock¬
nung den in die Wunde eingeschleppten
Keimen der Nährboden entzogen.
Als Lagerungsapparat für offene Wund¬
behandlung eignen sich besonders die
einfachen Braunschen Schienen.
Die Wundinfektion wird' in einem be¬
sonderen Kapitel behandelt.
Repetitorium der inneren Therapie.
Behandlung der Leberkrankheiten.
Von G. Klemperer.
1. Allgemeines. Die Prophylaxe der i
Leberkrankheiten deckt sich im all¬
gemeinen mit der Verhütung der Magen-
und Darmkrankheiten, denn wenn der
Verdauungsapparat ganz normal fungiert
und frei ist von Infektionen, so fehlen
viele mechanische und bakteritische Vor-
b ed i n gun gen für Leb ererkrankungen.
Neben der diätetischen Prophylaxe wird
man die allgemein-hygienische in den
Vordergrund rücken, weil regelmäßige
Körperbewegung,' tiefe Atmung und ge¬
sundheitsgemäße Kleidung auch gute
Circulationsverhältnisse in der Leber be¬
fördert und damit die Verlangsamung
der Gallenströmung und deren Folgen^
Infektion und Steinbildung, verhindert-
Kausale Therapie kommt nur bei den
nicht seltenen Erkrankungen luetischen
Ursprungs in Betracht; bei den auf
Giftwirkung, z. B’. dem Alkohol, beruhen¬
den Erkrankungen kann die Fernhaltung
weiterer Giftzufuhr heilsam wirken. Im
übrigen ist zu bedenken, daß die Leber¬
krankheiten nur selten und eigentlich
nur in hoffnungslosen Stadien den Zell¬
bestand angreifen und die lebenswichtige
Funktion der Leberzellen stören, viel¬
mehr vor allem in Blutgefäßen und Gallen¬
wegen sich abspielen oder ihren Ursprung
30
Die Therapie der Gegenwart 1921
Januar
nehmen. Also verfolgt auch die Therapie
der Leberkrankheiten mehr mechanische
als biochemische Ziele. Hauptstreben ist
Förderung der Circulat'on, des portalen
und arteriellen Blutzuflusses und Erleich¬
terung des Abstroms zur unteren Hohl¬
ader, Unterstützung des freien Gallen¬
abflusses in den Darm, daneben Ver¬
hütung von Galleninfektion. Nur durch
diese indirekten Einwirkungen suchen
wir die ‘ specifische Arbeit der Leber¬
zellen, insbesondere die Gallenb'^reitung,
in quantitativer und qualitativer Wese
zu beeinflussen. Diese bescheidenen Auf¬
gaben werden zum großen Teil durch
d e Sorge für Gesundhaltung des Magen¬
darmkanals erfüllt; wenn die normale
.Verdauung befördert, sowie katarrha¬
lische Prozesse des Verdauungstraktus
beseitigt werden, so wird einerseits die
Pfortadercirculation befördert, anderer¬
seits der Fortschritt entzündlicher Schwel¬
lung vom Duodenum auf die Schleim¬
haut der Gallenwege verhindert und
also der Gallenabfluß freigemacht; das
freie Strömen der Galle ist auch das
beste Mittel gegen das Eindringen der
Darmbakterien in die Gallenwege. So
deckt sich die Diätetik der Leberkrank¬
heiten zum großen Teil mit der des sub¬
akuten und chronischen Magenkatarrhs.
Aus dem bekannten Enthaltungspro¬
gramm (vgl. 1919 S. 307) tritt besonders
der Verzicht auf Gewürze und Alkoholika
hervor, wegen deren Wirkung auf die
Hyperämisierung der Magendarmschleim¬
haut, ferner bei vollkommenem Galleab¬
schluß vom Darm die Fernhaltung aller
Fette wegen deren fast absoluter Unver-
daul’chkeit ohne Galle (und Pankreas¬
saft). ln manchen Kategorien von Leber¬
krankheiten kann die Schonung des
Magens durch eine gewisse Übung ab¬
gelöst werden, wenn es darauf ankommt,
die Gallenabsche'dung anzuregen, da,
wenigstens beim Gesunden, d'e Magenver¬
dauung den adäquaten Reiz für Leber¬
zellenarbeit, also ein physiolog'sches
Cholagogum darstellt. Es ist Sache des
speziellen Heilplans, festzustellen, wie
weit der Zustand des Verdauungsappa¬
rates eine ergiebige Nahrungszufuhr ge¬
stattet, wenn sie durch die Rücksicht auf
die zu fördernde Gallenabscheidung oder
auf den gesamten Ernährungszustand
erwünscht erscheint. Einfacher liegen die
Verhältnisse in bezug auf die Flüss'gkeits-
zufuhr, welche wohl in allen Leberkrank¬
heiten in regelmäßigem und reichlichem
Maße erwünscht erscheint, da durch die¬
selbe eine verstärkte Absonderung ver¬
dünnter Galle in Gang gebracht wird; zum
Getränk gesellt sich die rectale Flüssig¬
keitszufuhr durch Darmeinläufe, welche bei
allen Leberkranken erwünscht sind. Eine
Flüss’gkeitsbeschränkung dürfte wohl nur
bei allgemeiner Fettleibigkeit mit hyper-
ämischer Leberschwellung und bei Ascites
in Frage kommen. Die von der Wasser¬
zufuhr erwartete Anregung der Qallen-
sekretion wird durch höhere Temperatur
des Getränks, sowie den Gehalt an ge¬
wissen Mineralbestandteilen vermehrt;
so gTt besonders heißes Karlsbader Quell¬
wasser n’cht nur wegen der guten Wir-
küng auf Magendarmfunktion, sondern
auch wegen einer hypothetischen Be¬
ziehung zur Zellfunktion der Leber als
Unterstützungsm'ttel jeder Lebertherapie.
Auch eine Anzahl von Medikamenten
erfreut s'ch gleicher Wertschätzung, die
freil’ch weder allgemein anerkannt noch
genügend begründet ist; kleine Dosen
Kalomel gelten besonders als Stimulanzen
der Leberzellen. Wenn die Diätetik mehr
indirekte, d e medikamentöse Behandlung
nur uns'chere Wirkung m hat, so dürfen
wir der physikalischen Behandlung
d'rekte und sichere, wenn auch nicht all¬
zu kräftige Wirkung erwarten. Bettruhe
und lokale Wärmezufuhr durch Um¬
schläge beziehungsweise Wärmekissen, in
manchen Fällen vorsichtige Massage,
unterstützen durch lokale Hyperämisie¬
rung und Beförderung der Gallenströmung
das natürliche Heilbestreben; starke Hitze¬
zufuhr wirkt schmerzstillend, unter Um¬
ständen krampflösend. Die operative
Therapie tritt in die erste Linie, wenn es
gTt, Folgen der Infektion zu beseitigen
oder Konkremente zu entfernen, mit
welchen die innere Behandlung nicht
fertig werden kann.
Leberschwellung. Die hochgradige
Schwellung der Leber, welche zu unbe¬
quemen und schmerzhaften Gefühlen im
rechten Hypochondrium Veranlassun g
gißt und gewöhnl ch mit Verdauungs¬
beschwerden, oft auch mit allgemeinen
Unlustgefühlen einhergeht, wird oft zum
Gegenstand ärztlicher Beratung gemacht,
obwohl sie meist nur eine Teilerscheinung
eines umfassenden Krankheitsbildes ist.
Immerh’n verdient die ,,Leberanschop¬
pung“ eine gesonderte therapeutische Er¬
wähnung, sei es auch nur um klar zu
machen, daß d'e Behandlung erst nach
Feststellung der Ursache einsetzen kann.
Handelt es sich nur um Blutüberfüllung,
und zwar um aktive Hyperämie, wie sie
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1921
31
5ichbei schwelgerischem Lebenswandel der
Vielesser und Trinker entwickelt, so be¬
steht die Behandlung in den Verordnun¬
gen, die wir bei Fettleibigkeit geben,
mäßig zu essen und zu trinken, Alkohol
zu meiden, sich viel im Freien zu be¬
wegen; mit Vorteil werden die hygienisch¬
diätetischen Kuren in geeigneten Bade¬
orten (Kissingen, Karlsbad, Marienbad)
ausgeführt und durch Brunnentrinken
unterstützt. Ist die Hyperämie der Leber
eine passive, durch mangelhafte Saug¬
kraft des erkrankten Herzens bedingt, so
wird die Leberschwellung durch Herz¬
therapie zum Schwinden gebracht. Ist
die Blutüberfüllung teils aktiv teils passiv
verursacht, wie es bei sitzender Lebens¬
weise der Stubengelehrten der Fall ist,
so erweist sich die hygienische Beein¬
flussung der Lebensgewohnheiten, Ver¬
ordnung von Gymnastik und eventuell
Massage, dazu die Behandlung der oft
vorhandenen Verdauungs- und Hämor-
rhoidalstörungen, als heilsam. Aber
außer der einfachen Hyperämie können
Infiltrationen, Hypertrophien oder Hyper¬
plasien zur Leberschwellung führen. Man
muß die ganze spezielle und die Leber¬
pathologie genügend beherrschen, um zu
wissen, ob es sich um Fettinfiltration,
um hypertrophische Lebercirrhose, um
Leberlues oder Lebercarcinom oder Amy¬
loid oder Leukämie oder auch um Gallen-
^stauung aus verschiedenen Ursachen han¬
delt. In zweifelhaften Fällen wird eine
abwartende Therapie sich auf allgemeine
Pflege, vorsichtige Ernährung, lokale
Wärmezufuhr, gelegentliche Verordnung
von Stomachicis oder Abführmitteln be¬
schränken; eine zielbewußte Behandlung
der Leberschwellung ist erst nach Fest¬
stellung ihrer Ursache und Emord-
nung in eins der folgenden Krankheits¬
bilder oder Diagnose einer Allgemein¬
erkrankung iröglicb.
Einfache (katarrhalische) Gelbsucht.
Aufgabe der Behandlung ist d’e Beseiti¬
gung der entzündlichen Schwellung der
Magendarmschleimhaut, deren Übergang
auf den ductus choledochus zu dessen
VerschTeßung und also zum Abschluß
der Galle vom Darm, in der Folge zum
Übertritt der Galle ins Blut geführt hat.
Die Grundsätze der Behandlung decken
sich also mitdenen derTherapie der akuten
Gastritis und bestehen in Bettruhe, lokaler
Wärmezufuhr und flüssiger sehr enthalt¬
samer, wässerig-brei’ger Diät, damit der
Reizzustand der Magendarmschleimhaut
sich schnell ausgleiche. Auch in den sel¬
teneren Fällen, in welchen die ,,Cholangie“
auf primärer Entzündung der Gallenwege
beruht, besteht die Behandlung im wesent¬
lichen in weitgehender Schonung des Ver¬
dauungsapparats. Der ikterische Pa¬
tient soll in jedem Fall zu Bett liegen,
wozu er bei leidlichem Allgemeinbefinden
und drängenden Berufspflichten nicht
immer leicht zu bewegen ist; dann ist
an die nie auszuschließende Gefahr ernster
Wendung zu schwerster Erkrankung zu
erinnern. Die Lebergegend sei immer
von warmem feuchten Umschlag oder
Kataplasma oder Thermophor bedeckt,
über N'^cht wird ein Prießnitzumschlag
angelegt. In den ersten Krankheitstagen
soll der Patient möglichst inhaltarme
Nahrung bekommen, in etwa dreistünd¬
lichen Zwischenräumen dünnen Tee mit
Zwieback, dünne Mehlsuppen ohne Butter,
allenfalls mit etwas Fleischextrakt be¬
reitet, als erstes Frühgetränk ein Glas Karls¬
bader Mühlbrunnen, sonst abgestandenes
Mineralwasser, auch ein bis zwe’ Glas ver¬
dünnten Rotwein, Gesamtflüssigkeits¬
menge etwa zwei LiteV. Nach drei bis vier
Tagen Zulagen von Weißbrot, Kartoffel¬
püree, Griesbrei, weichgekochtem Reis,
Apfelmus, nach weiteren drei Tagen kleine
Portionen von weißem Fleisch, magerem
Fisch, leichtem purriertem Gemüse (Spi¬
nat, Blumenkohl, Mohrrüben). Je lichter
die Haut, je farbhaltiger der Stuhl,
je heller der Urin wird, desto besser kann
die Ernährung werden, desto mehr darf
sie Butter und Eier enthalten. Während
des ganzen Bestehens der Gelbsucht ist
für regelmäß’'ge Stuhlentleerung zu sorgen;
doch wende man das besonders beliebte
Karlsbader Salz keineswegs täglTh an,
da es leicht reizend wirkt, sondern gebe
Tag für Tag Darmeinläufe von cfreiv’ertel
Liter zuerst lauen, allmählich kälteren
Wassers, wodurch n’cht nur mit der Be¬
förderung der Darmperistaltik Zusammen¬
ziehungen des Ductus choledochus an¬
geregt, sondern auch mit einer Bewässe¬
rung der Leber augenscheml’ch eine Ver¬
dünnung und Strömungserle'chterung der
Galle erzielt wird. Regelmäßige Darm-
eing'eßungen dürfen als d’rekte Behand¬
lungsmittel bei katarrhalischem Ikterus
angesprochen werden.
Ehie med’kamentöse Behandlung ist
ke'neswegs notwendig; gewöhnlich kehrt
die gestörte Magenfunktion ohne beson¬
dere NachhTfe zur Norm zurück; doch
kann man verdünnte Salzsäure (15—20
Tropfen nach der Mahlzeit) oder Mixtura
Pepsini f. m. zweistündlich einen Eßlöffel
32
Die Therapie der Gegenwart 1Q21
Januar
oder auch, namentlich bei starker Ver¬
stopfunggelegentlich Infucum Rhei.f. m.i)
zweistündlich einen Eßlöffel geben; auch
Karlsbader Salz ist zeitweise erlaubt.
Die Verordnung galletreibender Mittel
ist bei einfachem Ikterus überflüssig.
Symptomatische Behandlung erheischt das
oft sehr quälende Jucken. In leichten Fällen
genügt Einsalben der Haut mit 2 % Menthol
oder 10 % Anästhesinsalben, oder Abreiben mit
Franzbranntwein oder Mentholspiritus oder Essig¬
wasser. Für einige Stunden hilft eine einmalige
Gabe von 1 g Antipyrin oder 0,3 Pyramiden oder
dgl. Sehr angenehm sind laue Bäder mit Kleie¬
zusatz (ein Beutel mit Kleie wird im Badewasser
ausgepreßt) oder mit Zusatz von Bolus alba (500 g
in ein Bad aufgeschlemmt) oder mit Zusatz von
Kaliumpermanganat (bis zur schwachroten Farbe
des Bades. In ganz schweren Fällen macht die
Unstillbarkeit und Unerträglichkeit des Juckens
Morphiuminjektion insbesondere für die Nacht
notwendig.
Bei gutem Verlauf, wie ihn die über¬
wiegende Mehrzahl der Fälle innehält,
schwindet die Gelbfärbung der Haut
und Schleimhäute in zwei bis sechs
Wochen. • Der Patient soll erst aufstehen,
w,enn er ganz licht geworden ist. Der
Übergang in normale Lebens- und Er¬
nährungsverhältnisse geschehe allmäh¬
lich, unter Berücksichtigung der indivi¬
duellen Verhältnisse, nicht' anders wie
in der Rekonvaleszenz nach akuten In¬
fektionskrankheiten.
Chronische Gelbsucht. Wenn an¬
scheinend einfache Gelbsucht unter sach¬
gemäßer Pflege nicht in längstens zwei
Monaten zur Heilung führt, so ergeben
sich die Anzeigen der weiteren Behandlung
aus diagnoslisch-ätiologischen Erwägun¬
gen. Am naheliegendsten ist der Gedanke,
ob es sich wohl um eine sekundär-syphili¬
tische Manifestation im Ductus chole-
dochus, sei es diffuse entzündliche Schwel¬
lung oder Papelbildung handele. Liegen
sonstige Sekundärerscheinungen vor oder
ist eine specifische Infektion vor Wochen
oder Monaten nachgewiesen, oder ist
wenigstens die Wassermannprobe positiv,
so zögere man nicht mit systematischer
Hg-Behandlung, die oft in zwei bis drei
Wochen zur vollkommenen Heilung führt.
Freilich bedeutet positiver Wassermann
ncch keineswegs, daß ein bestehender
Ikterus luetischen Ursprungs ist; so bleibt
die specifische Kur auch oft ergebnislos.
In diesem Falle handelt es sich seltener¬
weise um chronische Cholangie, gegen
welche kausale Heilverfahren nicht mög-
h Inf. Rhizom. Rhei 8,0 :175,0
Natr. bicarbon. 10,0
Ol. Menth, piperit. gtt. IV
Sir. simpl. ad 200,0
h‘ch sind. Die Regeln der Ruhe und
Schonung sind fortzusetzen wie beim
einfachen Ikterus, nur daß die Diät
reichhaltiger, nicht ganz salz- und fettarm
zu halten ist. Bei der langen Dauer der
Krankheit ist eben auf die Erhaltung der
Kräfte entscheidender Wert zu legen. Die
,,chalogogen“ Medikamente spielen eine
größere- Rolle. Empfehlenswert ist Ka-
lomel, fünfmal täglich 0,01 g, im ganzen
30 Pulver oder Pillen; außerdem gibt man
gelegentlich Natron salicylicum (6 : 200,0
dreistündlich einen Eßlöffel) oder auch
nach altem Brauche, der neuerdings
experimentell gestützt ist, Ochsengalle
(Fel tauri depur. sicc. in Pillen zu 0,1,
drei bis vier Stück täglich) beziehungs¬
weise Natrium choleinicum in gleichen
Dosen. Von Zeit zu Zeit läßt man von
Karlsbader Mühlbrunnen zwei bis drei
Glas täglich trinken, oder schickt die
Patienten, sofern ^e reisefähig sind, zu
systematischer Trinkkur nach Karlsbad.
Es sind Fälle bekannt und theoretisch
verständlich, in welchen nach vielmona-
tiger Dauer des Ikterus doch noch voll¬
kommene Rückbildungeintrat. Die Regel
aber ist, daß trotz aller Bemühung unter
zunehmender Erschöpfung, oft unter den
Erscheinungen hämorrhag scher Diathese,
nach zwei bis drei Jahren das tödliche
Ende eintritt. Während des chronischen
Verlaufes hat man sich immer wieder die
Frage vorzulegen, ob wohl ein chirurgi¬
scher Eingriff helfen könne. Derselbe
kommt vor allem bei Verschluß des Chöle-
dochus durch Gallenstein in Frage, wel¬
cher nicht in jedem Fall zu Schmerz¬
erscheinungen führen muß. Auch bei
unsicherem Symptomenbild wird man die
Probelaparatomie wagen, die bei even¬
tuellem Verschlußstein, aber auch in den
seltenen Fällen isolierter Geschwulstbil¬
dung unlernoirmen werden kann. Der
chirurgische Eingriff kann auch auf den
Gedanken gestützt werden, daß der Ikte¬
rus auf einer chronischen Infektion der
Gallenwege beruht; hier kann Anlegung
einer Gallenfistel gewissermaßen durch
Drainierung und Reinigung des infizierten
Gefäßgebietes einen Umschwung bewir¬
ken. In anscheinend verlorenen Fällen
von chronischem Ikterus halte ich die
zeitweise Anlegung einer Gallenfistel für
erlaubt und empfehlenswert. Bei allen
Operationen lange ikterischer Patienten
ist längere Zeit vor dem Eingriff die
hämorrhagiL-che Diathese durch Darrei¬
chung von Kalksalzen und Koagulen zu
bekämpfen.
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1921
33
Lebercirrhose. Bei der sogenannten
hypertrophischen Lebercirrhose, hoch¬
gradiger Leberschwellung mit allmählich
nachlassenden Körperkräften, meist mit
Ikterus, oft mit gelegentlichen Fieber¬
attacken einhergehend, beschränkt sich die
Therapie auf die allgemeinen Grundsätze
der Pflege, Schonung und Ernährung;
medikamentös erfreut sich Kalomel be¬
sonderen Vertrauens, aber auch andere
Stomachica und Cholagoga dürfen ge¬
legentlich angewandt werden. Karlsbader
Trinkkur ist empfehlenswert. Wenn fort- '
schreitende Kräfteabnahme einen Übeln
Ausgang ankündigt, ist man berechtigt,
aus den eben entwickelten Gründen eine
Probelaparatomie und eventuell eine- Ab¬
leitung der Galle nach außen vorzuneh¬
men, Bei der atrophischen Leber¬
cirrhose kommt es zuerst darauf an, die
Ursache festzustellen, um durch deren
Beseitigung einen Fortschritt des chroni¬
schen bindegewebsbildenden Prozesses in
der Leber aufzuhalten. So kann bei
alkoholistischer Cirrhose im Frühstadium
durch absolute Alkoholabstinenz ein Still¬
stand und relative Heilung erzielt werden,
ebenso wie bei luetischer Cirrhose durch
energische Quecksilberkur. Ist die Ur¬
sache, wie so oft, nicht sicher festzu¬
stellen, so sucht man sie in Giftwirkungen,
die vom Darm ausgehen, und wirkt diesen
durch systematisches Abführen oder durch
häufige Darreichung von Adsorbentien,
wie Tierkohle oder Bolus alba (1920,
S. 338) entgegen. Im übrigen behandelt
man die Anfangserscheinungen katarrha¬
lischer Magen- und Darmerkrankung mit
diätetischer Schonung und vorsichtiger
medikamentöserTherapie nicht anders wie
beim subakuten und chronischen Magen¬
katarrh (vgl. 1919, S. 307). Zur blanden
Suppen- und Breidiät gibt man mit Vor¬
liebe Milch, in solchen Mengen wie sie der
Darm verträgt, dazu leichte Gemüse,
Apfelmus, Weißbrot mit Butter, aber
wenig Fleischspeisen. ' Eine weitere Sorge
betrifft den Ascites. So lange er noch
gering ist, sucht man ihn durch salzfreie
Diät und mäßige Beschränkung der Flüs¬
sigkeitszufuhr, auch diuretische Medi¬
kamente (vgl. 1919, S. 60), zu vertreiben;
große Dosen Harnstoff sind zu empfehlen
(Urea pur. 40, aq. ad 200, stündlich einen
Eßlöffel); als letztes, gerade bei Leber¬
cirrhose noch aussichtsvolle Medikation
gilt die Kombination gro,ßer Dosen von
Kalomel (zwei Tage lang fünfmal täglich
0,2 g) mit Digitalis (dreimal täglich 0,1 g);
ist die Wasseransammlung so groß, daß
sie starke örtliche und allgemeine Be¬
schwerden macht, so ist der Ascites durch
Punktion möglichst vollständig zu ent¬
leeren.
Die Punktion geschieht entweder im Sitzen
in vorgebeugter Haltung an einem tiefen Punkt
der Linea alba (nach vorheriger Urinentleerung)
oder in Seitenlage an einem tiefgelegenen Punkt
in der Verlängerung der vorderen Axillarlinie.
Einer vorherigen Anästhesierung bedarf es nicht,
zur Asepsis genügt Jodanstrich. Man nehme
4 einen nicht zu starken Trokar (etwa 5 mm Durch¬
messer), damit der hervorquellende Flüssigkeits¬
strahl nicht zu schnell fließe; sonst kann es bei
zu schneller Entleerung leicht zu Kollaps kommen.
Der Puls ist während der Punktion zu kontrol¬
lieren, bei etwaiger Herzschwäche ist Wein zu
reichen, bei wirklichem Kollaps die Entleerung
zu unterbrechen. Sonst entleere man so viel
als möglich, wenn das Abfließen sich verlangsamt,
helfe man durch Druck der auf den Leib gelegten
Hände oder um den Leib gelegter Handtücher
nach. Nach Beendigung der Punktion bringt man
den Patienten in Rückenlage, bzw. in die ent¬
gegengesetzte Seitenlage und schließt die Punk¬
tionsöffnung durch Heftpflaster. Wenn doch
Flüssigkeit nachsickert, gelingt der Schluß leicht
durch eine Nadel.
Nach geschehener Punktion widmet
man dem Patienten besonders sorgfältige
Ernährung und reicht alsbald wieder
Diuretica, weil die vom Druck des Acsites
I befreiten Unterleibsorgane, besonders die
Nieren, zu besserer Funktion befähigt
sind. Die Punktion ist nach Bedarf be¬
liebig oft zu wiederholen. Wenn der
Patient sich im vorgeschrittenen Stadium
befindet, tritt die Allgemeinbehandlung
des Schwerkranken in ihr Recht; be¬
sonders bedarf das geschwächte Herz der
Excitation.
Der Vollständigkeit halber sei der
Versuch operativer Behandlung erwähnt,
welchen Talma durch Laparatomie und
Vernähen des Netzes mit den Bauch¬
decken gemacht hat. Die Operation ver¬
sucht, Verbindungen zwischen dem Wur¬
zelgebiet der Pfortader und den Haut¬
gefäßen herzustellen, um einen Teil des
Pfortaderbluts in die Ursprünge der obern
Hohlader abzulenken. Die Talmasche
Operation ahmt das Heilbestreben der
Natur nach, welches in den angeschwol¬
lenen Venen der Bauchhaut, der Kardia
und des Anus zum sichtbaren Ausdruck
kommt. So einleuchtend die Idee ist,
so ist ihr der praktische Erfolg bisher
versagt geblieben. Immerhin verdient
die Talmasche Operation in aussichts¬
losen Fällen erneut angewendet zu werden.
(Fortsetzung folgt.)
5
34
Die Therapie der Gegenwart 1921
Januar
Referate.
Seitdem Adolf Schmidt die Quel¬
lungsfähigkeit des Agaragar zur Grund¬
lage seines Abführmittels Regulin gemacht
hat, sind auch andere leicht aufquellende
Pflanzengewebe zur Beförderung der Peri¬
staltik gebraucht worden. So hat nament¬
lich Kohnstamm in dieser Zeitschrift
(Jahrgang 1915, S. 283) den Genuß von
Leinsamen und Flohsamen empfohlen.
Jetzt berichtet Bauermeister, daß auch
der Tragantgummi zu den „Pflanzen¬
mukoiden“ gehört, die infolge ihrer
leichten Quellbarkeit den Stuhl volumi¬
nöser, geschmeidiger und also gleitbarer
machen. Tragantgummi wird gegeben
zwei- bis dreimal täglich teelöffelweise
und bewährt sich bei hartnäckiger Obsti¬
pation als gutes Abführmittel. Leider
ist es jetzt aber infolge großer Einfuhr¬
schwierigkeiten nicht zu beschaffen. In
Übereinstimmung mit Kohnstamm be¬
richtet Bauermeister weiter, daß der
leicht erhältliche Leinsamen dieselben
Erfolge erziele. Dieser wurde roh, und
zwar ein bis zwei Eßlöffel mit Wasser
angerührt morgens und abends ange¬
wandt. Bei längerem Gebrauch traten
auch hier die bei dem Regulin gerühmten
Wirkungen zutage. In schweren Fällen
wurde ein „Koprolin“ benanntes
Präparat benutzt, das einen Zusatz von
Cortex Frangulae enthält (auf 1000 Lein¬
samen 50,0 decoctum cort. frangul.). Die
Anwendungsweise ist dieselbe wie beim
rohen Leinsamen. Die Leinsamenpräpa¬
rate, die im Gegensatz zum Regulin und
Tragant billig sind, würden sich, falls
sich die günstigen Erfahrungen Bauer¬
meisters auch anderweitig bestätigen,
zu ausgedehnterer Anwendung eignen.
Blumenthal (Berlin).
(Ther. Hmh. 1920, Heft 20.)
Im Anschluß an den Aufsatz von
Münzer über die klinische Bedeutung
der Blutdrucksteigerung (im letzten Heft
der Therapie) sei eine neuere Arbeit
aus der Klinik Fr. Müllers (München)
referiert, in welcher v. Monakow an der
Hand einiger sorgfältig analysierter Er¬
krankungen über die Beziehungen zwi¬
schen Blutdrucksteigerung und Niere be¬
richtet. Von der Tatsache ausgehend,
daß vorübergehende Blutdrucksteige¬
rungen aus verschiedensten organischen,
nervösen und chemischen Ursachen her¬
aus zustande kommen, führt er Beweise
dafür an, daß einerseits dauernde Blut¬
drucksteigerung ohne funktionelle und
anatomische Nierenschädigung vor^
kommt, während andererseits diejenigen
anatomischen bjlierenveränderungen, die
Volhard u. a. als ursächliches und
charakteristisches Moment für die Blut¬
drucksteigerung ansieht, auch ohne die¬
selbe Vorkommen können. Da ja selbst
völlige Kierenausschaltung nicht zu Blut¬
drucksteigerung führt, wird die Annahme
unhaltbar, daß mechanische Nierencircu-
lationsstörungen den Blutdruck wesent¬
lich erhöhen können, und man kann sich
daher die als renal bezeichnete Blutdruck¬
erhöhung nur so erklären, daß extra¬
renale Gefäße von der Niere aus beein¬
flußt werden. Die Möglichkeit, daß die
Retention harnfähiger Schlacken hierbei
eine wichtige Rolle spielen, stellt v. Mo¬
nakow nicht in Abrede, glaubt aber,
daß dabei der Reststickstoff, der sich
in der Hauptsache auf den Harnstoff
bezieht, nicht immer erhöht zu sein
brauche. Als gleichbedeutend der Harn¬
stoffzunahme im Blut ist die Harnsäure-
vermehrung zu bewerten, die v. Mona¬
kow in einigen Fällen von Glomerulo¬
nephritis mit normalem Rest N feststellte,
V. Monakow glaubt nun, daß der Ver¬
mehrung der Harnsäure im Blut dieselbe
Bedeutung für die Blutdrucksteigerung
zugemessen werden könne, wie der des
Rest N überhaupt. Die von Volhard und
Fahr in Fällen von Blutdrucksteigerung
ohne funktionelle Nierenschädigung be¬
schriebenen sogenannfen präsklerotischen
Nierenveränderungen an den kleinen Ge¬
fäßen, die sich in vielen Fällen aus¬
schließlich an den Nierengefäßen finden^
erklärt v. Monakow mit besonders
leichter Lädierbarkeit der Nierengefäße
erst als Folge der Blutdrucksteigerung,
Die anatomischen Veränderungen auch
an den Gefäßen anderer Organe genügen
nicht zur Erklärung der Blutdrucksteige¬
rung, da ja sklerotische Veränderungen
ausgedehntester Arteriolengebiete nicht
zu solcher zu führen brauchen, v. Mo¬
nakow nimmt daher als wichtigste Ur¬
sache dafür Gefäßspasmen an, mit denen
ja auch solche Fälle länger dauernder
Hypertonie erklärt werden können, bei
denen der Blutdruck nach längerer oder
kürzerer Zeit, ohne daß ein Erlahmen
der Herzkraft eingetreten ist, absinkt.
Als Ursachen solcher Spasmen kommen
Gifte (z. B. Blei), Lues, Gicht sowie das
Klimakterium in Frage; auch Einflüsse
der inneren Sekretion dürfen nicht unbe-
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1921
35
rücksichtigt bleiben. , Von ganz beson¬
derer Bedeutung für die Erhöhung des
Blutdrucks sind nervöse Erregungen, das
heißt Gemütsbewegungen, welche zu Ge¬
fäßspasmen fühten. Monakow kommt
als.o auf dem Wege exakter Feststellung
zu demselben praktisch wichtigen Er¬
gebnis, welches von klinischer Seite neuer¬
dings mehrfach ausgesprochen worden
ist. Ich möchte noch daran erinnern, daß
G, Klemperer die Arsentherapie der
beginnenden Arteriosklerose insbesondere
gegen die ursächlichen nervösen Gefä߬
spasmen, welche den Blutdruck erhöhen,
empfohlen hat. Blumenthal (Berlin).
(D. Arch. f. klin. M. Bd. 133, 3. u. 4. H.ft.)
Die Diagnose der Bronchopneumonie
der ersten Lebenszeit ist oft nicht
leicht zu stellen. Bei einer Erkrankung,
die eine so große Rolle in der Neugebore-
nenzeit und im Sauglingsalter spielt, er¬
scheinen die Ausführungen Blühdorns
über ihr Krankheitsbild besonders be¬
merkenswert. Der physikalische Befund
über die Lungen läßt oft im Stich, der
Husten fehlt meist. Auch können manch¬
mal die sonst klinisch verwertbaren
Symptome, wie erhöhte Temperatur, an¬
gestrengte Atmung, Nasenflügelatmung,
vermißt werden. Als konstantestes
Symptom ist meist anzutreffen die Cya-
nose mit oder ohne Anfälle von As¬
phyxie. Die Cyanose ist aber ein viel¬
seitiges Symptom in der ersten Leben^:-
zeit. Bei ihrer Bev/ertung hat man
differentialdiagnostisch hauptsächlich 'in
Betracht zu ziehen Bronchopneumonie,
Sepsis und Herzstörungen. Intermit¬
tierende Cyanose spricht mehr für Lungen¬
prozeß, dauernde, mäßig cyanotische Ver¬
färbung mehr für Sepsis. Permanente
Cyanose kann auch einziges Symptom
einer Herzerkrankung sein, doch fehlen
bei dieser Erkrankung die Anfälle von
Asphyxie. Cyanose bei Frühgeburten
spricht für Pneumonie oder Sepsis ■— bei
ausgetragenen kräftigen Kindern eher für
Herzerkrankung.
Bei letzteren kann die Cyanose oft
viel intensiver sein (Morbus cocruleus),
während die Stauungscyanose bei Pneu¬
monie oder bei Sepsis weniger stark aus¬
geprägt ist. Schließlich muß differential
diagnostisch noch ein Krankheitsbild mit
Cyanose berücksichtigt werden, das Bu-
din auf Hungerzustahd zurückführt,
Göppert als Verdurstungserscheinung
. ansieht. Therapeutisch ist bei der Bron¬
chopneumonie, deren Prognose in den
ersten Lebenswochen stets sehr ungünstig
gestellt werden muß, außer den üblichen
Mitteln wie Abreibungen mit Spiritus,
Glycerin oder Franzbranntwein, Bäder
mit kühlen Übergießungen, Herzmitteln,
die Zufuhr der notwendigen Flüssigkeits¬
menge zu beachten. Bei asphyktischen
Zuständen kann die künstliche Atmung
nach der Methode S so ko low ange¬
wandt werden. Bei Cyanose kommt in
erster Linie Sauerstoff in Frage.
(B.kl. W. 1920, Nr. 40.) Feuerhack.
Über Digitalistherapie sprach Th.
Brugsch in der Reihe der Vorträge über
Therapie innerer Krankheiten, die zur¬
zeit in der Beiliner Vereinigung für ärzt¬
liche Fortbildung gehalten werden.
Das Ind.kationsgebiet der Digitalis
umfaßt die hypodynamischen Herz¬
erkrankungen, die extrasystolischen Un¬
regelmäßigkeiten des Pulses und den Pulsus
irregularis perpetuus.
Bei jedem Infekt ist Digitalis klinisch
ohne Nutzen. Erfahrungsgemäß ist Digi¬
talis aber bei Typhus in gewissen Fällen
unbewiesen nutzbringend. Bei Pneumonie
ist es gut, Digitalis schon am ersten Tage
der Eikrankung zu geben, um den rechten
Ventrikel maximal arbeiten zu lassen und
die Atmungsmechanik aufrecht zu erhal¬
ten. Man g.bt 0,3 bis 0,4 g pulv. fol. d’git.
tit. pro Tag, bis zur Krisis im ganzen
2 bis 3 g.
Bei Insuffizienz des linken Ventrikels
ist bei der Digitalistherapie zu berück¬
sichtigen, ob es sich um absolute Insuffi¬
zienz mit Ödemen, Asthma card. usw.
handelt, oder ob die Vorläufer, Kurz¬
atmigkeit usw., Veranlassung geben, ärzt¬
liche Hilfe aufzusuchen. Im letzteren
Falle kann man mit kleinen Digitalis¬
dosen den Patienten monate-, jahrelang
in guter Kompensation erhalten. Acht
Tage lang gibt man 0,2 pulv. fol. dig. tit.,
geht dann herunter auf 0,1, setzt aus,
wenn der Puls unter 60 herabgeht und
der Blutdruck sinkt. Als Präparate für
lange Darreichung am besten geeignet
erscheinen Dig'purat, Digifolin und Digi-
pan. Sie können wochen-, monatelang
gegeben werden.
Verod'gen hat manchmal Neben¬
erscheinungen, die Veranlassung geben,
einige Tage das Präparat fortzulassen;
nach dieser Pause kann es wieder verab¬
folgt werden. Bei absoluter Insuffizienz
sind schnell große Dosen erforderlich.
Bei einem mit Digitalis bisher unbehandel¬
ten Fall gibt man am ersten Tage 4, am
zweiten 4, am dritten 3, am vierten 3,
am fünften 2, am sechsten 1 dcg Digitalis.
5-
36
Die Therapie der Gegenwart 1921
Januar
Daran anschließend werden kleine Dosen
gegeben, 1 bis 2 dcg, eine Pause von
einer Woche- kami eingeschaltet werden.
Pulvis fol. digit. ist seiner brechenerregen¬
den Wirkung ungeeignet. Außer den
■genannten Präparaten kann Tinctura digi-
talis 25 bis 30 Tropfen == 0,1 fol. digit.
gegeben werden.
Bei Insuffizienz des rechten Ventri¬
kels nimmt man mehr Rücksicht auf die
Gefäße, erzielt mit kleinen Dosen Ein¬
wirkung auf die Nierengefäße. Bei
Alkoholisten kann man geben: Infus, bulb.
Sein. 5/120, dazu 1 g fol. digit. zugesetzt,
ad 200 Aq. dest. Davon gibt man — ent^
sprechend dem vorstehenden Schema —
vier Eßlöffel, drei Eßlöffel 'usw. Bei
weiterer Behandlung sucht man mit
Diureticis auszukommen, man' gibt Diu-
retica vom dritten oder vierten Tage an,
wenn die Pulsfrequenz heruntergeHt (vier¬
mal 1 g Diuretin), drei Tage lang.
Zur Regulierung der Herztätigkeit bei
extrasystolischer Unregelmäßigkeiten des
Pulses gibt man Digitalis in der Dosierung
1^2 dcg höchstens pro Tag (Tinctura
digitalis 20 bis 30 Tropfen, auch Vero-
digen ist gut). Paroxysmale Tachykardie
spricht nicht immer aüf .Digitalis an,
eventuell erreicht man prompte Wirkung
mit y 2 mg Strophantin intravenös, auch
oft gute Wirkung mit Aschners Versuch-
(Druck auf die Augen). Gute Wirkung
der Digitalis findet man beim Pulsus
irregularis perpetuus, vor allem mit Gita-
lin, man gibt also Verodigen eine Tablette
zwei bis drei Wochen lang, geht der Puls
unter 70, setzt man aus, steigt er wieder,
gibt man erneut Verodigen. Kommt ein
Digitalisbehandelter im Stadium der Ver¬
giftung (Blutdrucksteigerung, Pulsbe¬
schleunigung), leitet man Carellsche Milch¬
kur ein (es kann auch Schleimsuppe mit
40 gZucker und30 g Fett gegeben werden),
acht Tage lang diese Kur, gleichzeitig
Morphium 0,01. Dann gibt man Scilla
oder Infus. Adon. vernal. Bei Cumula-
tionserscheinungen in der Digitab'sbehand-
lung ist regelmäßig das Versiegen der
Harnflut bemerkenswert und muß be¬
sonders berücksichtigt werden.
Feuerhack.
Die Arbeit Strümpells über myo-
statische Innervation und myosta-
tische Innervationsstörungen ist
ein groß angelegter Versuch, eine
Anzahl wenig geklärter Nervenkrank¬
heiten wie die Schüttellähmung, die
Pseudosklerose, die sogenannte Wilson-
sche Krankheit (progressive lenti-
culäre Degeneration), sowie die an¬
geborene oder früh erworbene Athetose
unter der Bezeichnung amyostatischer
Symptomenkomplex auf,einen klinischen
Nenner zu bringen. Die Untersuchungen
des verdienstvollen Leipziger Klinikers
sind geeignet, eine Lücke im Gebiete der
Bewegungsphysiologie und Pathologie aus-
zufülleh. Auf Grund histopathologischer
Befunde wird unter Würdigung der.Tat¬
sache, daß auch bei den kleinsten, um¬
schriebenen Bewegungen fast die ge¬
samte Körpermuskulatur in Tätigkeit
versetzt wird, kommt Strümpell zur
Annahme eines für die ganze Myodyna-
mik unentbehrlichen ,,myostatischen“
Apparates mit besonderen myostatischen
Innervationseinrichtungen. Die zentri¬
fugale, motorische Impulse vermittelnde
Pyramidenbahn ist ebenso wie der tonus¬
regulierende Anteil des Kleinhirns und
Labyrinthes in seiner Bedeutung für die
Bewegungsphysiologie und Pathologie ge¬
nügend gewürdigt worden. Dagegen hat
die für das Zustandekommen der klein¬
sten Bewegung notwendige statische
FJxation der Nachbargelenke keine ge¬
nügende Berücksichtigung gefunden.
Schon seit einiger Zeit ist man namentlich
durch die Arbeiten Wilsons auf ein
eigentümliches Krankheitsbild aufmerk¬
sam geworden, das trotz wesentlicher
Beteiligung des Muskelapparates in Form
von Halb- oder doppelseitiger Rigidität
mit Zittern eine Beteiligung der Pyra¬
miden vermissen läßt. Der von Wilson
beschriebenen Krankheit, die als Prototyp
der extrapyramidalen Prozesse besondere
Bedeutung verdient, liegt in allen Fällen
eine Zerstörung des einen oder beider
Linsenkerne zugrunde. Das Charakte¬
ristische des Wilsonschen Komplexes
sowie der in klinisch-pathogenetischer
Hinsicht verwandten Störungen (Para¬
lysis agitans, Pseudosklerose, Athetose)
sieht Strümpell in der Störung der
zur Fixation eines Gelenkes notwendigen
Zusammenwirkung der Extremitäten¬
muskeln. Sind die zu einem Gelenk
gehörigen Muskeln in einen Zustand
gesteigerter Kontraktion und Spannung
versetzt, so entwickelt sich die für die
Wilsonsche Krankheit sowie die Para¬
lysis agitans charakteristische Muskel¬
starre. In ähnlicher Weise wird das
Zustandekommen des für die genannten
Krankheiten typischen Muskelzitterns be¬
ziehungsweise der eigenartigen atheto-
tischen Muskelbewegung auf eine Störung
in der Gleichzeitigkeit und Gleichmäßig-
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1921
37
keit der Muskelinnervation zurückgeführt.
Auch für gewisse Formen der Enzephalitis
lethargica sowie einige nervöse Erschei¬
nungen nach schweren Kohlenoxydver¬
giftungen, bei denen mehrfach autoptisch
Linsenkernerweichungen festgestellt wor¬
den sind, nimmt* Strümp eil eine Stö¬
rung des myostatischen Apparates in An¬
spruch. Leo Jacobsohn (Charlottenburg.
(Neurol. Zbl. 1920, H. 1.)
Magenspülungen bei keuchhusten¬
kranken Kindern werden von M. Wil¬
helm empfohlen. Bei Säuglingen und
jüngeren Kindern treten während des
Keuchhustens häufig Appetitlosigkeit und
herabgesetzte Nahrungsaufnahme ein, die
zu bedrohlicher Gewichtsabnahme führen
können. Bei'der Sondenfütterung dieser
Kinder zeigte sich, daß der Magen mit
großen Mengen glasigen '^Schleims und
stagnierenden Milchresten gefüllt war.
Diese Beobachtung veranlaßte systema¬
tische Magenspülungen, nach denen der
Appetit der Kinder sich schnell hob. Die
Magenspülungen wurden denn auch bei
größeren neuropathischen Kindern an¬
gewandt, die bei jedem Hustenaiifall er¬
brachen. Ein oder zwei-Magenspülungen
waren hinreichend, das Erbrechen dau¬
ernd zu beseitigen. Verf. benutzte
zur Magenspülung körperwarmen Karls¬
bader Mühlbrunnen oder physiologische
Kochsalzlösung. Lungenkomplikationen
sind keine absolute Gegenindikation.
(Ther. Hlbmh. 1920, Nr. 16.) Nathorff.
Die Steigerung der Zellfunktion
durch Röntgen-Energie macht Stephan
(Frankfurt a. M.) zum Gegenstand einer
größeren Abhandlung; dieselbe ist voll
von interessanten Anregungen über die
Wirkungsweise der Röntgenstrahlen auf
innere Organe und therapeutischer Ver¬
suche der Röntgenbehandlung innerer
Krankheiten. Die Erklärung hat fast
ausschließlich hypothetischen Charakter;
Stephans therapeutisches Vorgehen ist
mehr spekulativ als experimentell zu be¬
werten. Stephan greift Seitzu.Wintz
an, indem er die Festlegung des Begriffs
der Carcinom-, Sarkom-Dosis nicht gelten
lassen will. Er hat damit recht; denn diese
Begriffe sind auch nur Hypothesen. Wenn
Stephan gegen die Wintzsche An¬
schauung die Statistik von Perthes ins
Feld führt, nach der die Tiefentherapie
nach Mamma-Carcinom eher zu Rezidiven
führe, als wenn gar nicht mit Strahlen be¬
handelt worden wäre, so stehen dieser
vereinzelten Statistik zahlreiche andere,
als wirkungsvollste die von Blumenthal,
die das gerade Gegenteil beweist, ent¬
gegen. Die Arbeit Stephans sucht den
Reizeffekt kleiner Röntgendosen in der
Steigerung der spezifischen Funktion der
Organzelle. In der Steigerung des Profer¬
mentgehaltes des Plasmas soll so die
wesentliche Abwehrreaktion des Organis¬
mus auf eine drohende Verblutung zu
erblicken sein. Die therapeutischen Ver¬
suche bei der akuten Nephritis machten
in beiden Fällen der Tiefenbestrahlung
den schweren Eingriff der operativen
Dekapsulation unnötig. Der Versuch
der Reizbestrahlung soll daher stets vor
der Operation gemacht werden. Bei der
Zuckerkrankheit werden zwei Phasen der
Röntgenstrahlenwirkung berichtet. Eine
primäre schließt sich unmittelbar an die
Bestrahlung an und setzt die Zuckeraus¬
scheidung herab. Eine Spätwirkung be¬
steht darin, daß allmählich eine Er¬
höhung der Kohlehydrattoieranz eintritt.
Bei schweren Pankreasdiarrhöen infolge
von Achylie wird durch einmalige Tiefen¬
bestrahlung des Pankreas ein Ver¬
schwinden der objektiven Krankheits¬
zeichen innerhalb 48 Stunden erreicht.
Der Funktionsreiz bei der Tuberkulose
wird eingehender behandelt. Angeblich
sollen die Ergebnisse der Tiefentherapie
der tuberkulösen Drüsen mit Verbesse¬
rung der technischen Anwendungsweise
schlechter geworden sein. Minimale Do¬
sierung bringe rasche Vernarbung
des tuberkulösen Tumors hervor.
Referent ist gerade der entgegenge¬
setzten Ansicht. Eine hundertfältige
Beobachtung an Kassenpatienten, die
anderwärts oft jahrelang bei verzettelten
und kleinen Dosen ihre vereiternden und
fistelnden Drüsen nicht loswerden konnten,
wurden in wenigen Sitzungen mit einer
besseren Apparatur und längeren Be¬
strahlungen geheilt. Wieviel Strahlen in
einem bestimmten Falle das Optimum
darstellen, wissen wir bis jetzt alle nicht.
Auch die Forderung Stephans, ,,jene
kleinste Strahlenmenge zu applizieren,
die noch eben mit Sicherheit den Zell¬
funktionsreiz für die Bindegewebszelle
auslöst“, hat keinen realen Hintergrund.
Schließlich befaßt sich Stephan auch
noch mit dem Zellfunktionsreiz beim
Carcinom. Er verwirft die Abtötung der
Geschwulstzelle und sieht in dem Effekt
der Röntgentiefentherapie auch nur die
erhöhte funktionelle Tätigkeit der Carci-
nomzelle auf dem Wege der Beeinflussung
des Bindegewebes. Max Cohn (Berlin).
(Strahlenther. Bd. 11, Heft 2.)
38
Die Therapie der Gegenwart 1921
Januar
In einer Zeit, wo mangelhafte Milch¬
hygiene oder Milchknappheit so häufig
große Schwierigkeiten in der Säuglings¬
ernährung auftreten lassen, erscheinen
die Mitteilungen, die von W. Neuland
und A. P eis er aus der Berliner Kinder¬
klinik Tcommen, besonders beachtenswert
Hier wurde ein Weg erprobt, der über
den Rahmen der Säuglingsernährung hin¬
aus Bedeutung gewinnen kann in weite¬
rem volkswirtschaftlichen Interesse. Es
handelt sich um die Verwertung der Voll¬
milch in Form eines haltbaren, einwand¬
freien Vollmilchpulvers. Das aus
Amerika kommende Vollmilchpulver ist
nach dem Just-Hatmakerschen Ver¬
fahren hergestellt. Seine Haltbarkeit
verdankt es keinen Konservierungs¬
mitteln, sondern der Maßnahme, daß
sich die Milchtrocknungsmaschinen un¬
mittelbar am Ort der Milchgewinnung
befinden, wodurch längere Beförderung
und gröbere Verunreinigung und Zer¬
setzung der Milch'vermieden werden.
Wiederholte Untersuchungen be¬
wiesen, daß das Milchpulver keimarm und
.— was besonders wichtig ist — frei von
Tuberkelbacillen ist. Das Pulver ist
vollständig und leicht löslich. Eine
Lösung von 13,5 g Milchpulver auf 100 g
Wasser entspricht in der Zusammen¬
setzung einer guten Vollmilch. Mit
einer kleinen Menge kalten Wassers wird
das Pulver gelöst. Nun gießt man die
für eine 13,5%ige Lösung notwendige
Menge heißen Wassers hinzu, wobei sich
auch die letzten, kleinen Pulverteilchen
lösen. Man erhält so eine homogene
Flüssigkeit, der rohen Milch in Aussehen,
Geruch und Geschmack gleichend. Die
Ernährungsversuche wurden an 62 Säug¬
lingen angestellt. Zur Herstellung von
Halbmilch, Buttermehlnahrung und Milch¬
breien verwandt, wurde die Trocken¬
milch von den Säuglingen während der
ganzen Dauer der Verabfolgung gern
genommen. Buttermilch läßt sich nicht
aus dem Pulver, Molke und Quark da¬
gegen durch Labung gewinnen, wenn
man die Labung in kochendem Wasser
auf dem Feuer vor sich gehen läßt. Von
den Säuglingen, an denen die Trocken¬
vollmilch erprobt wurde, bekam die eine
Gruppe, deren Kinder fast alle dem ersten
Lebensvierteljahr angehörten, die Milch
nur wenige Tage. Sie vertrugen den
Milchaustausch ohne jegliche Beeinträch¬
tigung des Befindens. Die Kinder der
anderen Gruppe wurden über längere
Zeit mit Trockenvollniilchmischung er¬
nährt. Die Ergebnisse, die mit den ver¬
schiedensten Trockcnmilchmischungen er¬
zielt wurden, entsprechen durchaus denen
mit gewöhnlicher Kuhmilch. Wo ge¬
wöhnliche Milchmischung nicht recht
vertragen wurde, ergab sich auch kein
Vorteil bei Darreichung von Trocken¬
milchmischung. Besonders günstig waren
die Erfolge bei Verwendung der Trocken¬
milch zu Czerny-K1 einschmidtscher
Buttermehlnahrung. Es erwies sich dabei
als vorteilhaft, wenn die Fettmenge in
der Mehlschwitze auf 5 g vermindert und
gleichzeitig der -Zucker auf 7—12 g ge¬
steigert oder Malzsuppenextrakt hinzu¬
gesetzt wurde. Auch bei Zwiemilcher¬
nährung mit Muttermilch und Trocken¬
vollmilch wurden gute Ergebnisse erzielt.
Das Anwendungsgebiet der Trocken-
vollinilch deckt sich demnach mit dem der
gewöhnlichen Vollmilch. In der heißen
Jahreszeit, wo so leicht zersetzte Milch
Ernährungsstörungen hervorruft, wo
sich Mütter beim Abstillen aus dieser
Angst heraus zu allzu einseitiger Er¬
nährung verleiten lassen, erweist sich
die Trockenvollmilch als ein einwand-,
freies Milchpräparat, das über die ganze
heiße Jahreszeit gegeben werden kann
und die Kinder bei gutem Gedeihen er¬
hält. Zur Verhütung von Skorbut er¬
scheint es allerdings notwendig, jedem
Säugling mit der Trockenmilch frischen
Apfelsinensaft oder frischen Zitronen¬
saft (5 ccm jeden zweiten oder dritten
Tag) zu verabfolgen. Ebensowenig wie
der antiskorbutische Faktor macht sich
auch der antirachitische Faktor in der
Trockenvollmilch geltend. Infolge ihrer
leichten Löslichkeit ist die Trockenvoll¬
milch vielleicht geeignet, als konzentrierte
und calorienreiche Nahrung Säuglinge
mit Pyloruspasmus über die Gefahren der
Inanition hinwegzuhelfen. Auch wird sie
sich sicherlich bei anderen Krankheits¬
zuständen brauchbar erweisen, wo calo¬
rienreiche Nahrung ohne Erhöhung der
Flüssigkeitszufuhr erforderlich ist.
Welche allgemein-wirtschaftliche Be¬
deutung der Ausbau eines Verfahrens
hat, das ein einwandfreies, haltbares
Vollmilchpräparat in Pulverform schafft,
ist ohne weiteres ersichtlich bei Erwä¬
gung ungünstiger örtlicher oder zeit¬
licher Verhältnisse, die die Milchversor¬
gung der Bevölkerung erschweren.
(M. Kl. 1920, Nr. 47.) .Feuerhack.
In der Jodtinktur sieht Froriep ein
nie versagendes Mittel zur Behandlung
infektiöser SclieidenerKränkungen, also
Jantiar
Die Therapie der OegenvVart 1921
3Ö
nur in solchen Fällen, in denen Cervix und
Urethra von der Infektion freigeblieben
sind. Referent hält es für seine Pflicht,
an der Hand dieser Veröffentlichung davor
zu warnen, auf Grund einiger Fälle eine
antigonorrhoische Therapie zu rühmen.
Abgesehen davon, daß Froriep den
großen Fehler beging, nur die sekundäre
Erkrankung der Scheitle zu behandeln,
die doch selbst ausheilt, wenn Cervix
und Urethra von Gonokokken frei wer¬
den, so ist auch die Beobachtungszeit
eine viel zu kurze. Der Praktiker weiß
es leider viel zu gut, daß die chemischen
und -physikalischen Heilmethoden im
Kampf gegen die Gonorrhöe in sehr
vielen Fällen versagen.
Pulvermacher (Charlottenbürg).
(M.m. W. 1920, Nr. 42.)
Mit'Thlaspan, welches von der Firina
Denzel (Tübingen) aus der Bursa pastoris
hergestellt wird, hat auch Schneider in
der Tübinger Frauenklinik recht zu¬
friedenstellende Ergebnisse bei Metror¬
rhagien erzielen können; es ist zwar die
Wirkung des Täschelkrautes auf den
Uterus noch unklar; vielleicht sind es die
senfhaltigen ätherischen Öle, da ja auch
das Mutterkorn einen hohen Ölgehalt
hat. Sowohl bei der Subinvolution im
Wochenbett als auch bei den atonischen
Nachblutungen hat sich das neue Mittel
gut bewährt; wenn es auch per os gegeben
werden kann — dreimal täglich 20 bis
30 Tropfen —, so ist die intramuskuläre
Einspritzung zu bevorzugen; es genügte
oft eine Spritze; über vier Injektionen
wurden nie gemacht.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(M.m. W. 1920, S. 1439.)
Auf die Schwierigkeit der Beurtei¬
lung von Heilerfolgen der Lungen-
Tuberkulose wird von Zondek mit
Nachdruck hingewiesen. Er beobachtete
in der Hisschen Klinik in den letzten drei
Jahren vier Patienten, bei denen er eine
erhebliche Besserung des Allgemein¬
befindens, der objektiven Zeichen und
auch des Röntgenbefundes feststellen
konnte, ohne daß eine besondere Behand¬
lung oder gar eine der specifischen Be¬
handlungsmethoden zur Anwendung ge.-
kommen war. Der erste Patient —.ein
dreißigjähriger Mann — bot im Jahre
1915 das Bild einer floriden Phthise:
Husten, Auswurf, Nachtschweiße und
Temperaturen, Oberlappendämpfung mit
broncho-vesiculären Atmen und Rassel¬
geräuschen; das Röntgenbild zeigte ty¬
pische kleinere und größere Herde. Nach
drei Jahren wurde Patient wieder unter¬
sucht, er war inzwischen im Felde ge¬
wesen und war nicht behandelt worden.
Das Allgemeinbefinden war erheblich
besser, Husten und Temperaturen nicht
mehr vorhanden. Schallverkürzungen
rechts oben mit vesiculärem, leicht ab¬
geschwächtem Atemgeräusch, Im Rönt¬
genbilde sind die herdförmigen Verdich¬
tungen fast völlig geschwunden. Im
zweiten Falle handelte es sich um eine
46jährige Waschfrau, die mehrmals
Hämoptoe gehabt hatte, hoch fieberte,
der rechte Oberlappen war infiltriert,
reichlich klingendes Rasseln vorhanden.
Im Auswurf fanden sich reichlich Tu¬
berkelbacillen, das Röntgenbild zeigte
diffuse Verschattung des rechten Ober¬
lappens. Es handelte sich also um eine
gelatinöse käsige Pneumonie. Nach einem
Jahre waren — ohne daß die Patientin
sich einer besonderen Kur unterzogen
hatte — das Allgemeinbefinden gut,
das Gewicht erhöht, der Auswurf ver¬
schwunden, an den Lungen keine ob¬
jektiven Zeichen mehr nachzuweisen, das
Röntgenbild ohne jede Schattenbildung.
Auch in den beiden anderen Fällen,
die Verfasser beschreibt, konnten Besse¬
rungen dnd Rückgang aller Verände¬
rungen im Röntgenbilde nachgewiesen
werden ebenfalls ohne jede spezifische
Therapie. Aus diesen Beobachtungen
geht emnach erneut hervor, wie große
Schwierigkeiten sich der Beurteilung der
Wirkung einer specifischen Behandlung
entgegenstellen und wie leicht man dabei
zu Trugschlüssen kommen kann.
(D. m. W. 1920, Nr. 46.) Nathorff.
Therapeutlscher Meinungsaustausch.
Zungennekrose bei einem Kinde durch Berühren eines
elektrischen Steckkontakts.
Im folgenden berichte ich von einem weil ich durch die Mitteilung vielleicht
Unglücksfalle, der einem kleinen Kinde dazu beitrage, ähnliche Vorkommnisse zu
beinahe das Leben gekostet hätte, verhüten. Das elfmonatige Kind hatte
40
Die Therapie der Gegenwart 1921
Janiiäi* ^
beim Spielen eine am Boden liegende
Starkstrom-Leitungsschnur ergriffen und
den daran befestigten Steckkontakt so
unglücklich in den Mund gesteckt, daß
die Zunge die Leitung zwischen den beiden
Metallstiften herstellte; das Kind schrie
.laut auf und die herbeistürzende Mutter
entfernte den Stecker im selben Augen¬
blick aus dem Munde. Bald danach
schwoll die Zunge stark an, so daß
Atmung und Schlucken sehr erschwert
waren; nach zwei Tagen ging die Schwel¬
lung zurück; nun verfärbte sich der vor¬
dere Teile der Zunge gelblichgrau, und es
bildete sich eine etwa die Mitte durch¬
ziehende Demarkationslinie. Am vierten
Tage stieß sich die vordere Zungenhälfte
ab und es entquoll dem Mund ein heftiger
Blutstrom. ,Zum Glück war ein Arzt als¬
bald zur Stelle, der nach unvollkommenem
Tamponadeversuch das Kind sofort in
eine chirurgische Klinik brachte, wo eine
kunstgerechte Umsteckung und L'gatur
der blutenden Zungenwunde vorgenommen
wurde. Das Kind war wachsbleich und
fast pulslos geworden, hat sich aber all¬
mählich unter guter Pflege erholt und ist
jetzt drei Monate nach dem Unfall wohl¬
auf und kräftig. Der Zungenstumpf ist
frei beweglich, das lebhafte Kind macht
Sprechversuche, vermag aber bisher nur
Vokale und unartikulierte“ Laute zu
bilden.
Es ist eine alte Regel, daß man aus
dem Greifbereich von kleinen Kindern
alles entfernen soll, was sie in den Mund
stecken können. Wieviel Unglück ist
schon durch Verschlucken solcher Gegen¬
stände geschehen! Daß man aber mit
elektrischen Leitungsschnüren und Steck¬
kontakten besonders vorsichtig sein soll,
ist die ernste Lehre, die sich aus dem
oben berichteten Unglücksfall ergibt.
G. K.
Solarson bei Herzkranken.
Von San.-Rat Dr. Firnhaber, Berlin.
Der Aufsatz von Dr. Walter Cohn im
Novemberheft dieser Zeitschrift gibt mir
Veranlassung, über einen schweren Fall
von Herzkrankheit zu berichten, bei dem
sich Injektionen von Solarson augenschein¬
lich besonders wirksam erwiesen haben.
Bei dem 72jährigen General v. H. bestand
seit Jahren zunehmende Herzinsufficienz
aus Ateriosklerose, die sich in zeitweiser
Atemnot und Ödemen äußerte; durch Ruhe,
Digitalis und Diuretica gelang es, über die
manchmal bedrohlichen Attacken hinweg¬
zukommen. ln neuerer Zeit traten in all¬
mählich kürzeren Zwischenräumen Anfälle
von Schwindel und Bewußtlosigkeit ein,
welche von 15 bis 75 Sekunden dauerten
und höchst bedrohlich aussahen. Patient
machte im Anfall den Eindruck eines
Sterbenden, er war totenbleich, der Puls
war verschwunden, die Herztöne nicht zu
hören. Es kann sich also nicht qm einen
Herzblock gehandelt haben, sondern das
Herz setzte minutenlang vollkommen aus.
Die Anfälle traten schließlich alle drei
bis vier Stunden auf, Patient fühlte sie
kommen und äußerte jedesmal die Empfin¬
dung, daß er sterben werde. Da nun das
lange Leiden eine hochgradige Nervosität
erzeugt hatte — der früher äußerst stramme
und energische Herr war jetzt sehr reizbar
und weinte oft — so bildete ich mir die
Vorstellung, daß dem Aussetzen der Herz¬
tätigkeit neben den schweren sklerotischen
Veränderungen (und vielleicht auf Grund
derselben) nervöse Störungen zugrunde
liegen könnten. In dieser Idee versuchte
ich regelmäßige Injektionen von Solarson,
da dies Mittel sich mir bei vielen anderen
Schwächezuständen des Nervensystems gut
bewährt hatte. Patient bekam täglich
1 ccm Solarson eingespritzt, im ganzen
24 Injektionen. Der Erfolg übertraf jede
Erwartung. Von der zweiten Woche an
wurden die Anfälle seltener, schließlich
hörten sie vollkommen auf. Es sind seit¬
dem drei volle Jahre vergangen, der greise
Patient lebt noch; er ist stets in ärztlicher
Behandlung und braucht fast dauernd
Digitalis, Diuretin und ähnliche Mittel,
auch Narkotika und Schlafmittel, aber
Anfälle yon Bewußtlosigkeit mit dem
Gefühl der Vernichtung sind seit der Solar-
sonkur nicht wiedergekehrt. Selbst bei
kritischer Betrachtung wird man aus dem
Fall schließen dürfen, daß Solarson wenig¬
stens bei den nervösen Begleiterscheinungen
der Herzkrankheiten angewendet zu werden
verdient.
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Berlin-Weißensee, betr.: „Amalah“-Präparate. — Krewel & Co., G.m.b.H. & Cie, Coln a. Rh., betr.: „Sanguinal“.— 0. Pohl, Schdn*
banm, Bz. Danzig, betr.: „Blennosan «Pohl»“. — Verlagsbuchhandlung Urban & Schwarzenberg, Berlin N 24 u. Wien, über: „Stekel,
Störungen des Trieb- und.Affektlebens*.
Die Therapie der Gegenwart
1921
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Februar
Nachdruck verboten.
Aus der Medizinischen Klinik in Tübingen (Vorstand: Prof. Otfried Müller).
Zur Frage der additionellen Tuberkuloseinfektionen im Alter
des Erwachsenen.
Von Otfried Müller, in Gemeinschaft mit Dr. Hedwig Isele, Assistentin der Klinik.
Der beste Teil therapeutischer Be¬
strebungen ist noch immer die Prophy¬
laxe. Dieser in der Tuberkulosebekämp¬
fung der Vorkriegszeit bewährte und
angesichts der heutigen Tuberkulose¬
gefahr so besonders wichtige Satz ist
nicht immer eine banale Selbstverständ¬
lichkeit gewesen. Vielmehr schien er
durch die Entwicklung unserer. Anschau¬
ungen über die Phthiseogenese bezüglich
der exogenen Infektionsgefahr für den
Erwachsenen lange Zeit hindurch in'
Frage gestellt.
Als ich Mitte der neunziger Jahre bei
Karl Gerhardt in Berlin hörte, wies
dieser so besonders sachlich urteilende
Meister unserere Kunst regelmäßig auf
die großen Zahlen von Erkrankungen
hin, die er am Ärzte- wie namentlich
Schwesternpersonal seiner mit dritten
Stadien gefüllten, in den ungünstigen
Räumen des alten Juliusspitales in Würz¬
burg und der alten Charite in Berlin
untergebrachten schweren Tuberkulose¬
stationen zu verzeichnen gehabt habe.
Ich weiß die Zählen heute nicht mehr.
Sie waren aber groß und machten dem
jungen Studenten einen nachhaltigen
Eindruck.
Als ich mein Studium vollendet hatte,
war die Heilstättenbewegung in Gang
gekommen, und man konnte überall
hören, eine solche Heilstätte sei der
gesundeste Ort der Welt; dort werde
ganz gewiß niemand mit Tuberkulose
infiziert. Daß zwischen licht- und luft¬
armen Sälen alter Spitäler, die mit
offenen dritten Stadien belegt sind, und
den hygienischen Musterräumen mo¬
derner und günstig gelegener Pracht¬
anstalten, die ganz vorwiegend geschlos¬
sene erste und zweite Stadien beher¬
bergen, wesentliche Unterschiede bezüg¬
lich einer etwaigen Ansteckungsgefahr
bestehen müssen, liegt auf der Hand.
Aber man war doch mittlerweile in
manchen Kreisen nicht nur hinsichtlich
der ersten und zweiten, sondern auch
der offenen und der dritten Stadien
leichtherziger geworden.
Mir trat dieser Umschwung der Dinge
besonders während meiner Marburger
Assistentenzeit zu Beginn des Jahr¬
hunderts entgegen. E. Behring (I) und
Römer(2) propagierten damals ihre Lehre
von der Kindheitsinfektion durch den
Darm. Wenn auch heute die Darm¬
infektion im allgemeinen als der Aus¬
nahmefall angesehen wird, so ist doch
von der Behring-Römerschen Lehre
die allgemeine Erkenntnis übrigge¬
blieben, daß wohl nur ein ganz ver¬
schwindender Bruchteil aller Menschen
die Schwelle des Kindesalters ohne tuber¬
kulöse Infektion überschreitet.
Von besonderer Bedeutung wurde in
weiterer Ausführung dieser Gedanken¬
gänge die Lehre des Behringschülers
Römer (2), welche die Tuberkulose des
Erwachsenen lediglich als eine metasta¬
sierende Autoinfektion der in der Kind¬
heit erworbenen Herde aufgefaßt wissen
wollte. Diese Lehre herrscht bei den
Tuberkulosefachleuten heute vor. Viel¬
leicht war es zunächst dem großen sug¬
gestiven Einfluß des Entdeckers des
Diphtherieserums zuzuschreiben, wenn
man nach seinem berühmten Vortrag auf
der Naturforscherversammlung in Kassel
die Gefahr (I) der exogenen Tuberkulose¬
infektion im Alter des Erwachsenen einfach
als eine ,,quantit6 n6gl:geable“ auffaßte.
Durch V. Pirquets (3) Forschungen
wurde dann die Römersche Theorie,
welche sich zunächst mehr auf Meer¬
schweinversuche und Obduktionsbefunde
gründete, in aussichtsreicher Weise an
das Krankenbett übertragen; und die
Lehre von den allergischen Perioden
in Gestalt der interkurrenten akuten
Infektionen, der Gravidität, der Unter¬
ernährung und des allgemeinen Elends
6
42
Die Therapie der Gegenwart 1921
Februar
brachte die Ursachen der Autoinfektion
dem Verständnis näher.
Die so überaus zahlreichen Forscher,
welche sich ganz der Römerschen Lehre
anschlossen, im einzelnen hier aufzu¬
zählen, würde zu weit führen. Wer sich
dafür interessiert, braucht nur in einem.
Handbuch oder Lehrbuch der Tuberkulose
nachzuschauen. Genannt seien hier nur
einzelne Autoren, welche kleinere oder
größere Einschränkungen machten, und
denen es zu danken ist, daß die Lehre
von den sogenannten ,,additioneIlen In¬
fektionen“ als kleines Sicherheitsventil
für die scheinbar so handgreiflichen Be¬
obachtungen der alten Ärzte, für die
nicht auszurottende Ansteckungsfurcht
des Publikums und als Rechtfertigung
bestehender Bestimmungen und Vor¬
schriften (Wohnungsdesinfektion, Kran¬
kenhausdesinfektion, Anlage offener Ab¬
teilungen, Friedenssanitätsordnung) übrig¬
blieb. Sehr vorsichtig nur wich Frey-
muth(4) von der Römerlehre ab. Er
erklärte den tuberkuloseinficierten Orga¬
nismus für immun gegen die krank¬
machende Wirkung einer selbst längere
Zeit fortgesetzten Aufnahme kleinerer
Mengen von Bacillen. Daraus aber, daß
er ausdrücklich nur von kleineren Mengen
spricht, läßt sich doch wohl der Schluß
ziehen, daß die Sache bezüglich größerer,
massiger Infektionen nicht ganz so klar
liegt. Auch Hamburger (5) hält nicht
absolut an dem Dogma der Autoinfektion
fest. Ähnlich steht Ranke (6). Etwas
entschiedener treten Selter (7), Hillen-
b e r g(8) und R o e p k e(9) für die Möglichkeit
einer exogenen Infektion ein, namentlich,
wenn sie massig einsetzt. Am meisten
erwärmensich von Hayek(lO), und beson¬
ders Gemach (11), Ast (12), Hochhaus
(13), Sch lesin ge r(14) undAssmann(15)
für die Möglichkeit exogener Tuberkulose¬
infektionen im Alter des Erwachsenen.
Sieht man die Literatur durch, so ge¬
winnt man den Eindruck, daß sich seit
der zweiten Hälfte des Krieges wieder
mehr Forscher für die additioneile An¬
steckung erwärmen, als früher. Weiter
unten wird sich zeigen, daß das kein
bloßer Zufall ist.
Nicht unerwähnt möge bleiben, daß
der Altmeister Koch (16) selbst die
Möglichkeit der Verschlimmerung eines
tuberkulösen Krankheitsprozesses durch
Ansteckung von außen anerkannt hat.
Ich selbst hatte im Kriege Gelegenheit,
mir an der Hand eines ungewöhnlich
großen und ungewöhnlich gut „sortierten“
Krankenmateriales ein eigenes Urteil über
die Frage der exogenen Tuberkulöse-,
infektion im Erwachsenenalter zu bilden.
Ich hatte in den ersten Jahren gegen 100,
später immer noch 50 Lazarette in zwei-;
monatlichen Abständen zu bereisen und
alle inneren Kranken darin zu unter¬
suchen. Auch wurde ich vom Kriegs¬
sanitätsinspekteur und vom Sanitätsamt
zur Tuberkulosebekämpfung herange^
zogen, so daß ich wenigstens in Tuber¬
kulosefragen ‘ leicht einen statistischen
Überblick über sämtliche 178 württem-
bergischen Heimatlazarette erhalten
konnte. Endlich leitete ich selbst eine
große Tuberkulosebeobachtungsstation.
In der ersten Zeit schien 'mir wie so
vielen anderen die Entwicklung der Dinge
ganz im Sinne der Römerschen Lehre
zu sprechen. Es war Schröder(17)durch¬
aus zLizustimmen, wenn er in diesem
Sinne von einem ätiologischen Experiment
größten Stiles sprach. War doch bei den
Feldtruppen und besonders in den ersten
Jahren des Krieges ganz ungleich viel
weniger Gelegenheit zu exogener In¬
fektion, als bei den gleichen Menschen
daheim in Arbeitsstätten und an Orten
des öffentlichen Verkehrs. Wenn trotzdem
viele Feldzugsteilnehmer erkrankten, so
war man doch wohl gezwungen, die Strapa¬
zen des Krieges und die relativ dazu unzu¬
längliche Ernährungslage als anergische
Periode anzusehen und dieser die Schuld
an der Reinfektion der von den Anatomen
(siehe z. B. Möckeberg (18) gefundenen
alten Herde zuzuschieben.
Daß die Tuberkuloserkrankungen in
der Heimat bald noch mehr Zunahmen,
wie beim Feldheer, ließ sich für die Männer
leicht durch die Ausmusterung der
schwächlicheren Konstitutionen, für die
Frauen durch die Überbürdung mit un¬
gewohnt harter Arbeit erklären. Auch
wurde in der Heimat wohl noch mehr ge¬
hungert als bei der Feldtruppe.
Auffallend war mir nun aber, daß
bald, nachdem wir schon im Sommer 1915
begonnen hatten, alle tuberkulösen Heere^-
angehörigen sehr streng in Sonderlaza¬
retten (Beobachtungsstationen, Heilstät¬
ten und Siechenstationen) unterzubringen,
beim fachärztlichen Beirat Klagen über
Ansteckungsfälle im Personal laut wurden.
Diese Klagen gingen mir zunächst vom
Roten Kreuz zu, welches seine Helferinnen
und Hilfsschwestern so ziemlich in alleri
Lazaretten hatte. Sie betrafen im wesent-
Februar
43
Die Therapie der Gegenwart 1921
liehen ein Lazarett, welches, als"Lungen¬
heilstätte geltend, zahlreiche offene Tuber¬
kulosen beherbergte. Wie kam das Rote
Kreuz dazu, gerade auf dieses Lazarett
hinzuweisen ? Allgemeine Tuberkulose¬
furcht war es wohl nicht. Erkrankten
doch gelegentlich auch in diesen und jenen
nicht mit Tuberkulösen oder nur mit
leicht Tuberkulösen belegten Lazaretten
Rotekreuzschwestern an Tuberkulose.
Ich ging der Sache nach und fand heraus,
daß die Klagen berechtigt waren. In
dem bewußten Lazarett erkrankten in
der Tat ganz auffallend viel vorher als
gesund eingestellte Schwestern an Tuber¬
kulose. Auch die Lazarettleitung selbst
machte sich ihre Gedanken und tat das
Mögliche, um dem Übel zu steuern.
Bald kamen gleichlautende Klagen über
ein zweites Lazarett hinzu, das als Siechen-
station und Absterbehaus fast nur schwere
offene Tuberkulosen -beherbergte. Das
mußte doch zu Bedenken Anlaß geben,
ob nicht in den genannten Anstalten
Kontakte am Kranken vorkämen.
Nun kamen natürlich, wie in der Be¬
völkerung sonst, so auch beim Ver-
waltungs- und Pflegepersonal der ver¬
schiedensten, sicher nicht dauernd mit
aktiv Tuberkulösen belegten Lazarette
Erkrankungen an Tuberkulose vor. Sie
mußten z. B. in den zahlreichen Ver¬
wundetenlazaretten ohne weiteres als
metastasierende Autoinfektion im Sinne
Römers aufgefaßt werden. Wenn sich
aber auf breiter Grundlage nachweisen
ließ, daß die Zahl solcher Personal¬
erkrankungen in den Tuberkuloselaza¬
retten und insonderheit auf den offenen
Abteilungen den Durchschnittswert in
den anderen Lazaretten wesentlich über¬
stieg, so mußte doch neuerdings der Ge¬
danke erörtert werden, ob nicht. bei
Gelegenheit zu massiger und, dauernder
exogener Infektion neben der endogenen
Reinfektion, auch die additioneile Neu¬
ansteckung, d. h. der Kontakt am Kranken
eine Rolle spielen könne.
Da in Württemberg im ganzen 178
Lazarette bestanden, von denen 27 teils
Tuberkuloseabteilungen hatten, teils reine
Tuberkuloselazarette waren, und da es
sich im ganzen um rund 20000 Kranken¬
betten handelte, so ließ sich eine auf
breiter Basis fundierte Enquete veran¬
stalten. Eine solche Untersuchung bot
auch eine gewisse Gewähr für Sicherheit,
weil dank der glänzenden Organisations¬
gabe des Obergeneralarztes Prof, von
Lasser und der weitgehenden Kompe¬
tenzen zahlreicher spezialistisch vorge¬
bildeter Beiräte eine eingehende Speziali¬
sierung und sehr engmaschige Kontrolle
dieser Heimatlazarette durchgeführt und
damit eine ziemlich reinliche Scheidung
des gewaltigen Krankenmateriales erreicht
war. Man konnte also ziemlich sicher sein,
aktive oder gar offene Tuberkulosen
längere Zeit hindurch nur an ganz be¬
stimmten Orten zu finden.
Ich erbat und erhielt daher im Sommer
1918, nachdem die Tiiberkulosesonderr
abteilungen mindestens drei Jahre be¬
standen hatten, vom Kriegssanitäts¬
inspekteur die Erlaubnis, sämtliche 178
Heimatlazarette zu dienstlichen Mel¬
dungen darüber zu veranlassen, ob sich
während des Krieges Personalerkran-
kiingen an Tuberkulose überhaupt gezeigt
und wie sich dieselben gegebenen Falles
auf die Ärzte, auf das Verwaltungsper¬
sonal und auf das Pflegepersonal verteilt
hätten. Besondere Rücksicht wurde bei
diesen Meldungen auf die Tuberkulose¬
lazarette resp. -Abteilungen genommen,
so daß sich ergeben mußte, ob diese eine
stärkere Frequenz an Personaltuber¬
kulosen hatten als die gewöhnlichen
Lazarette.
Sehen wir zunächst, wie es mit den
Personalerkrankungen an Tuberkulose in
den 151 Lazaretten stand, die keine Tuber¬
kuloseabteilung hatten und demgemäß
aktive oder gar offeneTuberkulosen immer
nur ganz vorübergehend beherbergt haben
können. Naturgemäß- kamen auch in
diese Lazarette mit den Lazarettzügen
tuberkulöse Heeresangehörige. Diese
wurden aber bei den wöchentlichen Mel¬
dungen an die Centralstelle, wenn sie
erkannt waren, bald eliminiert. Waren
sie nicht erkannt, so dürften sie im
höchsten Falle bis zu etwa zwei Monaten
in den Lazaretten verblieben sein, denn
in diesen Zwischenräumen hatten die
fachärztlichen Beiräte die Lazarette zu
besuchen. Die Tabelle I faßt die Mel¬
dungen dieser Lazarette zusammen. In
Spalte 1 der Tabelle ist die laufende
Nummer der 178 Anstalten aufgeführt,
in Spalte 2 der Ortsname. In Spalte 3
ist angegeben, ob es sich um ein Reserve¬
oder Vereinslazarett gehandelt hat. Die
Spalten 4, 5 und 6 geben an, ob die
Erkrankten zum Ärzte-, Verwaltungs¬
oder Pflegepersonal gehörten. Das letztere
ist meistens gesondert als männlich (m)
oder weiblich (w) angegeben. In der
letzten Spalte 7 findet sich die Summe der
Erkrankungsfälle beim Gesamtpersonal.
Aulendorf .
Blaubeuren.
Cannstadt .
Cannstatt .
Cannstatt .
Freudental .
Heilbronn .
Kirchheim .
Liebenzell .
Ludwigsburg
Niedernau .
Oehringen .
Ravensburg
Stuttgart .
Stuttgart .
Stuttgart .
Stuttgart .
Stuttgart .
Stuttgart .
Stuttgart .
Stuttgart .
Tailfingen .
Tübingen .
Wolfegg , .
Sum- 24 Lazarette von |
me: 151 Lazaretten i
Vereinslazarett
Vereinslazarett
Vereinslazarett
Reservelazarett I
Reservelazarett II
Genesungsheim
Reservelazarett III
Vereinslazarett
Reservelazarett . .
Reservelazarett II
Reservelazarett
Vereinslazarett
ReserveJazarett
Reservelazarett II
Reservelazarett V
Reservelazarett V
Marienhospital
Resevelazarett VI
Reservelazarett VII
Reservelazarett VIII
Reservelazarett X
Reservelazarett XI
Vereinslazarett
Reservelazarett II
Vereinslazarett
—männl.: 1
I wbl.:l(alteTb?) |
! m.: 1 (alte Tb!) '
i ml.: 1 (alte Tb!) ,
i weibl.: 1
männl.: 2 (l La¬
borant)
männl.: 1
I weibl.; 1
‘ männl.: 2
: weibl.: 1
I männl.: 4
i weibl.: 3
männl.: 1
weibl.: 2
männl.; 3
männl.: 1
männl.: 1
weibl.: 4
männl.: 1
weibl.: 1
männl.: 2
männl.: 1
weibl.: I
männl.: 2
weibl.: 5
männl.: 2
weibl.: 1
wbl.: 1 Verdacht
männl.: 1
weibl.: 1
Darunter sind
Reservelazarette — meist in größeren Städten: 16 mit Erkrankungsziffer.
Vereinslazarette:.8 mit Erkrankungsziffer.
Die Erkrankungen verteilen sich auf das Personal in folgender Weise;
Ärzte.
Verwaltungspersonal | ! 0 } ±
Pflegepersonal { Sief.’ : 23 } E®
Da zeigt sich nun, daß von 151
Lazaretten ohne Tuberkuloseab¬
teilung 24 d. h. 16% Tuberkulose¬
erkrankungen beim Personal zu
melden hatten; 137 d. h. 84% gaben
negative Meldungen ab. Es handelte
sich um 3 Ärzte, 4 männliche Ver¬
waltungsbeamte und je 23 männliche und
weibliche Pflegepersonen, zusammen also
um 46 Menschen, die in der unmittel¬
baren Krankenpflege beschäftigt waren.
Die Gesamterkrankungsziffer in diesen
151 Lazaretten betrug 53,
Hervorzuheben wäre noch, daß von
den 24 Nichttuberkuloselazaretten, welche
Tuberkulosefälle beim Personal meldeten,
16 Reservelazarette in Städten und nur
8 Vereinslazarette auf dem Lande waren.
Da man wohl annehmen muß, daß die
53 in diesen Lazaretten erkrankten Per¬
sonen aus sich selbst heraus reaktiviert
worden sind, daß additioneile Infektionen
durch vorübergehend auch in diesen
Lazaretten anwesende tuberkulöse Heeres¬
angehörige überaus unwahrscheinlich
sind, so zeigt sich in sehr schöner Weise,
Februar
Pie Therapie der^.Oegep^airt .1921
, Tab.e 11 e 2.
Perso'aalerkrankungen an Tuberkulose hatten aufziiweisen:
von 27 Lazaretten mit Tüberkulosestatioh 15 = 56% dieser Lazarette.
. . • Die Erkrankungen verteilen sich auf:
Lazarett
Verwendung
Etwaige Es ereigneten sich
Zahl der gyf nicht auf
tuber- .
kulösen
Patienten Station Station
1 Alpirsbach . . | Reservelazarett
4 Elisabettenberg | Reservelazarett
5 Gmünd . . .
6 . Göppingen . .
7 Heilbronn . ;
9 Hornegg . . .
11 Ludwigsburg .
13 Nagold' .
14 Reutlingen . .
17 Solitude . . .
18 Stuttgart. . .
20 Tübingen. . .
21 Tübingen . . .
25 Ulm.
27 Wilhelmsheim
Reservelazarett
Vereinslazarett
Reservelaz. I
Reservelazarett
Reservelaz. I
Reserve lazarett
Reservelazarett
Reservelazarett
Reservelaz. I
Reservelaz. I
Reservelaz. III
Fest.-Hpt.-Laz.
Vereinslazarett
Beobachtstat.; Heilstätte;
Pflegestätte.. Offene Tb.!
Beobachtungsstation u. P.flege-
stätte; offene Tb.!
Sonderstation für Tb.
Sonderstation für Tb.
Beobachtungsstafon u. Sonder¬
station für offene Tb.
Nur Beobachtungsstation
Beobachtungsstation u. Sonder-^
Station für offene Tb.
Pflegestätte." Fast nur
offene Tb.
Sonderstation für Tb.
Sonderstation für'Tb.
Nur Beobachtungsstation
Sond§rstation-für Tb.; in de.r
Regel nicht belegt.
Nur Beobachtungsstation
Pflegestation ‘ '
Beobachtungsstat. u. Heilstätte
[5l| j
Erkrankungen
Zu samm en
iTn
Erkrankungen
Die Erkrankungen verteilen sich auf das Personal in folgender Weise:
auf der nicht
Tb- auf Tb-
Station Station
Verwaltungspersonal 1
Pflegepersonal |
\ rnännlich
weiblich
männlich. . .
weiblich . . .
daß die Gelegenheit zur Reaktivierung
alter tuberkulöser Prozesse unter den
ungünstigen Verhältnissen der dichter und
dauernder belegten und mit Nahrungs¬
mitteln schlechter versorgten Lazarette
der Städte eine bessere war als unter
den in jeder Beziehung günstigeren Ver¬
hältnissen der ländlichen Vereinslazarette.
Weiter nun zu den 27 Lazaretten mit
Tuberkuloseabteijungen. Von diesen
meldeten 15 d. h.. 56% Personalerkran¬
kungen an Tuberkulose, trotzdem sie
unter ähnlich guten und 'teilweise hin¬
sichtlich der Verpflegung noch besseren
Verhältnissen arbeiteten, wie die oben
hervorgehobenen Vereinslazarette. Man
beachte: 151 Lazarette ohne
Tuberkuloseabteilungen hatten
in 16% positive und in 84% ne¬
gative Meldungen bezüglich Per¬
sonalerkrankungen an Tuberku¬
lose. 27 Lazarette mit Tuberkü-
loseabteilungen hatten in 56%
positive und in 44% negative Mel¬
dungen aufzuweisen. Das Nähere
ergibt die Tabelle 2. Diese enthält in
Spalte 1 wiederum die laufende Lazarett¬
nummer, in Spalte 2 ist der Ortsname und
die Angabe, ob Reserve- Vereins- oder
Festungslazarett enthalten. In Spalte 3
ist angegeben, ob es sich um eine Beob¬
achtungsstation, eine Heilstätte oder ein
Siechendepot gehandelt hat. Spalte 4
bringt die ungefähren Bettenzahlen der
46
Die Therapie der Gegenwart 1921
Februar
betreffenden Tuberkuloseabteilungen.
Spalte 6 und 7 geben an, ob sich die
Erkrankungsfälle auf der Tuberkulose¬
station oder auf einer nicht mit tuber¬
kulösen Kranken belegten Station des
gleichen Lazarettes ergeben haben. In
absoluten Zahlen ausgedrückt er-
giebt die Tabelle 2 dann auch, daß
in 151 Lazaretten ohne Tuber-
kiiloseabteilung 53 d. h. 0,35 Men¬
schen pro Lazarett, in 27 Laza¬
retten mit Tuberkuloseabteilung
aber 71 d. h. 2,6 Menschen pro
Lazarett an Tuberkulose erkrank¬
ten. Im einzelnen erweist sich, daß 4
Ärzte, 15 Verwaltungsbeamte (10 männ¬
liche und 5 weibliche), 32 Pflegepersoneh
18 männliche und 14 weibliche) unmittel¬
bar auf den Tuberkulosestationen der
betreffenden Lazarette; 1 Arzt, 4 männ¬
liche Verwaltungsbeamte und 15 Pflege¬
personen (zwölf männliche und drei weib¬
liche) auf den nicht mit tuberkulösen
Heeresangehörigen belegten Stationen.des
gleichen Lazarettes erkrankten. Während
also in den 151 überhaupt nicht mit
Tuberkulösen belegten Lazaretten ins¬
gesamt drei Ärzte, vier Verwaltungs¬
beamte und 46 Pflegebedienstete erkrank¬
ten, waren in den 27 Tuberkuloselazaret¬
ten fünf Ärzte, 19 Verwaltungsbeamte
und 47 Pflegepersonen als tuberkulös
erkrankt gemeldet.
Für den Kundigen sagt die Tabelle 2
aber noch mehr, als aus den einfachen
Zahlen zu ersehen ist. Sie enthärlt nämlich
die beiden Lazarette, derentwegen sich
der fachärztliche Beirat veranlaßt sah,
die Umfrage zu veranstalten: Nagold
und Alpirsbach.
Was zunächst Nagold betrifft, so
waren in der Nähe dieser Schwarzwald¬
stadt in einem waldigen Seitentale große
Mengen offner dritter Stadien unterge¬
bracht, die von den Beobachtungssta¬
tionen und Heilstätten als zu progredient
für eine aussichtsreiche Behandlung ab¬
geschoben werden mußten. Die Leute
verblieben dort, bis ihr Entlassungsver¬
fahren in geeignete Zivilpflege abge¬
schlossen war, oder starben auch dort ab,
wenn eine entsprechende Zivilunter¬
bringung nicht oder nicht mehr möglich
war.. Bei der Notwendigkeit, eine der¬
artige Siechenstation für Tuberkulöse
zu errichten, hatten sich beträchtliche
Schwierigkeiten ergeben. Niemand wollte
sie haben. Alle Zivilanstalten und Kran¬
kenhäuser, die ihre Betriebe zu Lazarett¬
zwecken zur Verfügung gestellt hatten,
wehrten sich auf das entschiedenste da¬
gegen, mit größeren Mengen schwer
Tuberkulöser belegt zu werden.' Die
Furcht der Zivilbehörden und teilweise
auch des Publikums war eine große. Nach
der Ansicht einer sehr beträchtlichen
Anzahl von modernen Tuberkuloseärzten
wäre diese Furcht für die erwachsene
Umgebung unbegründet gewesen. Schlie߬
lich blieb nichts übrig, als ein militär¬
fiskalisches Gebäude, das frühere Militär¬
genesungsheim des XI11. Armeekorps,
das völlig abseits menschlicher Wohn¬
stätten und dabei in gesundheitlich un¬
gewöhnlich günstiger Lage gelegen war,
im Befehlswege zu bestimmen. In diesem
Siechenhause wurde von Anfang an mit
größtmöglicher Vorsicht verfahren. Vor
allem ließ man das Pflegepersonal in ge¬
wissen Zwischenräumen —14 J^hr)
wechseln. Trotzdem erkrankten an diesem
Lazarett acht Menschen auf der offenen
und einer auf der geschlossenen, nur ge¬
legentlich auch mit anderen Kranken
notgedrungen belegten Station, die in
einem getrennten Gebäude jenseits der
Straße untergebracht war. Man be¬
achte: In 151 Nichttuberkulose¬
lazaretten erkrankten 53 Menschen,
das heißt 0,35 pro Lazarett. In
27 Tuberkuloselazaretten erkrank¬
ten 71 Menschen, das heißt 2,5 Men¬
schen pro Lazarett. Allein indiesem
einen Siechenhaus erkrankten trotz
großer Vorsicht und namentlich
häufigem Personalwechsel neun
Menschen.
Will man selbst die ganze Sta¬
tistik in ihrer Aufmachung nicht
gelten lassen, so bleibt doch fol¬
gende Tatsache: Faßt man allein
die offene Siechenstation von Na¬
gold ins Auge, so erhält man eine
Erkrankungsziffer von acht. Stellt
man dem alle 177 anderen Laza¬
rette einschließlich der 26 an¬
deren Tuberkuloselazarette mit
ihren 53 plus 71 weniger 8, das
heißt mit insgesamt 116 Erkran¬
kungen gegenüber, so erhält man
eine Durchschnittsziffer von 0,65
pro Lazarett. Acht gegen 0,65, das
gibt doch zu denken.
(Schluß folgt.)
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1921
47
Aus der dritten medizinisclien Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses in Wien. .
Diagnostische und therapeutische Irrtümer bei der gonorrhoischen
Arthritis.
Von Professor Dr. Hermann Schlesinger.
Meine Herren! Die Klinik der gonor¬
rhoischen Arthritis hat oft eine eingehende
Bearbeitung und Darstellung gefunden.
Dennoch ereignen sich nicht selten Fehl¬
diagnosen, welche recht peinliche Konse¬
quenzen nach sich ziehen können. Dies
mag bei vielen Praktikern die Folge ge-
• wisser festeingewurzelter Vorstellungen
sein, welche noch aus der Zeit über¬
nommen wurden, in der die Klinik und
die Behandlung der gonorrhoischen Ar¬
thritis weniger gut gekannt war.
Auf Grund einer recht umfangreichen
persönlichen Erfahrung — ich dürfte in
30 Jahren Spitalstätigkeit mehrere
hundert Fälle gesehen haben — möchte
ich die Häufigkeit dieser Gelenkscrkran-
kung betonen. Atypisches Verhalten er¬
schwert bisweilen die Erkennung, in den
meisten Fällen wird aber die Diagnose
möglich, wenn man folgende, oft von mir-
den Hörern hervorgehobenen wesent¬
lichen Momente berücksichtigt:
Die gonorrhoische Arthritis ist vor¬
wiegend oligo-artikulär, verläuft zumeist
mit außerordentlich heftigen Schmerzen
und führt in vielen Fällen frühzeitig zur
Versteifung der Gelenke. Das Herz bleibt
in de ungeheuren Mehrzahl der Fälle
frei von Veränderungen. Die gewöhnliche
antirheumatische Therapie, namentlich
die Salicylbehandlung versagt; hingegen
ruft subkutane oder intravenöse Einver¬
leibung von Gonokokken-Vaccine außer
einer fieberhaften Allgemeinreaktion in
der Regel eine Lokalreaktion in den er¬
krankten Gelenken, später Rückbildungs¬
vorgänge der Erscheinungen hervor,
welche durch Stauungsbehandlung be¬
schleunigt werden. Die Blenorrhoe des
Genitaltraktes kann zur Zeit des Fort¬
bestandes der Gelenksaffektion schon
lange abgeklungen sein; besteht sie aber,
so ist eine Verschlimmerung der Genital¬
affektion häufig von einer Verschlechte¬
rung des Gelenksprozesses gefolgt.
Die angeführten diagnostischen Sätze
bedürfen einer kurzen Erläuterung. Wohl
ist die stets in der Literatur hervorge¬
hobene Bemerkung richtig, daß eine akute,
isolierte Erkrankung des Knie- oder
Sprunggelenkes an gonorrhoische Arthritis
denken läßt. Aber es ist mindestens
gerade so häufig, daß mehrere Gelenke
an den oberen oder unteren Extremitäten
gleicjhzeitig affiziert werden. In der Regel
sind nur mehrere große Gelenke gleich¬
zeitig befallen, aber daneben können
Finger- und Zehengelenke multipel an¬
schwellen. Wir sehen namentlich bei
Frauen konform mit-Beobachtungen von
Nasse oft gonorrhoische Rheumatismen
an den oberen Extremitäten, besonders
in den Hand- und Ellbogengelenken.
Bei dieser Gelegenheit sei betont, daß
die häufig geäußerte Ansicht, gonor¬
rhoische Arthritis sei seltener bei Frauen,
wenigstens an unserem Materiale nicht
zutrifft. Die Erkrankung verläuft weder
seltener, noch leichter als bei Männern.
Nicht selten beobachtet man af ebri le,
schleichend e i n s e t z e n d e Formen,
welche leicht zu Fehldiagnosen Veran¬
lassung geben, da zur Zeit der Entwick¬
lung der Gelenksleiden eine Gonorrhoe
nicht oder kaum nachweisbar ist. Die
Zugehörigkeit dieser, oft als chronische
Rheumatismen angesprochenen Erkran¬
kungen zu den blenorrhagischen geht aus
der typischen Reaktion nach Einver¬
leibung von Gonokokken-Vaccine (Ar-
thigon) und aus den klinischen Er¬
scheinungen hervor.
Die Schmerzhaftigkeit der gonor¬
rhoischen Gelenkserkrankung ist regel¬
mäßig so erheblich, daß ein schmerzloser
oder nur wenig schmerzhafter Verlauf
einer Arthritis eigentlich von vornherein
gegen ihren blenorrhagischen Charakter
spricht. Nur wenige Geienksaffektionen
— so die bei Hämophilie, die nach
schweren septischen Erkrankungen —
sind dauernd so schmerzhaft wie die
gonorrhoischen. Viele Kranke machen
Wochen- und monatelang ein wahres Mar¬
tyrium durch, da nicht einmal die bereit«
eingetretene Ankylose die ersehnte
Schmerzfreiheit bringt. Auch bei ruhig
gestelltem Gelenke sind fortwährend quä¬
lende Empfindungen vorhanden, welche
wenigstens in den akuten Fällen durch
geringe ungewollte Bewegungen und Er¬
schütterungen des Körpers unerträglich
gesteigert werden. Die Ausnahmen von
dieser Regel sind ziemlich selten; zu den¬
selben gehören mitunter der gonorrhoische
Hydrops der Gelenke, welcher nur geringe
Schmerzen verursachen kann.
Die Versteifung der Gelenke ist
stets bei der gonorrhoischen Arthritis zu
Die- Therapie der Gegenwart 1921
Februar
48
befürchten. Sie setzt oft überraschend
schrieli nach den ersten Erscheinungen
ein. Diese Erfahrung drängt zu früh¬
zeitiger, energischer Behandlung der ble-
norrhagischen Affektion und zeigt die
Gefahren einer Fehldiagnose mit ihren
manchmal irreparablen Konsequenzen.
Denn die Ankylosierung ist entgegen den
Anschauungen mancher hervorragender
Chirurgen fast immer vermeidbar. Es
ist mir kein Fall in Erinnerung, welchen
ich während der vielen Jahre meiner
Spitalstätigkeit einem Chirurgen wegen
einer schweren Ankylosenbildung hätte
zuweisen müssen. Nur selten, in manchen
besonders schwer verlaufenden Fällen,
auch nach zu spät einsetzender Behand¬
lung mag eine der sinnreich erdachten
Operationen wegen Ankylose der Gelenke
erforderlich sein. Bloß gegen die gonor¬
rhoische Wirbelsäulenversteifung, welche
vollausgebildet dem Bilde der Spondylose
‘ Rhizomelique entspricht, sind wir thera¬
peutisch machtlos. Von dieser glück¬
licherweise nicht allzuhäufigen Form habe
ich im unmittelbaren Anschlüsse an gonor¬
rhoischen Rheumatismus • mehrere Fälle
beobachtet.
Eingangs wurde hervorgehoben, daß
das Herz in der Regel von anatomischen
Veränderungen frei bleibt. Allerdings sind
gonorrhoische Endocarditiden wiederholt
beschrieben und eingehend geschildert
worden, ich selbst habe mehrere Fälle der
von Gohn und Schlagenhaufer ge¬
schilderten Formen beobachten können,
jedoch handelt es sich stets um Raritäten.
Dies kann nicht genug unterstrichen
werden, weil ich selbst in ausgezeichneten
Darstellungen, wie in der von Nobl die
Ansicht vertreten finde, daß die Endo-
carditis gonorrhoica ,,oft genug'‘ die blen-
norrhagische Arthritis kompliziert. Auf
viele, viele Dutzende von gonorrhoischer
Arthritis entfällt nur ein Fall von Endo-
carditis, d. h. der Praktiker hat bei dieser
Gelenkskrankheit in der Regel mit in¬
taktem Herzen rechnen. Ein manifester
Klappenfehler, resp. eine ausgesprochene
Endocarditis lassen eher an eine andere
Form einer Gelenkserkrankung denken.
Nicht allgemein bekannt ist, daß
selbst nach Ablauf oder scheinbarem
Ablauf der Gonorrhoe des Genital¬
traktes die Gelenksaffektion noch
fortschreiten kann. Besonders die
fieberlosen, schleichend einsetzenden For¬
men gelangen dann zur Entwicklung. Wir
haben wiederholt im Krankenhaus ge¬
sehen, daß das Vaginal- oder Urethral¬
sekret frei von Gonokokken war, während
Gonokokkenvaccine, -subkutan eipver-
leibt, eine stürmische Reaktion im kran¬
ken Gelenke hervorrief.
Eine Kranke mit schwerer Omarthritis, welche
wegen rasender Schmerzen Morphium-Injektionen
erhalten mußte, hatte keinen Fluor, angeblich
auch früher nie einen Ausfluß bemerkt. Das
Vaginal- respektive Urethralsekret erwiesen sich
bei wiederholten Untersuchungen als gonokokken¬
frei. Intravenöse Injektion von Arthigon erzeugte
nicht nur Fieber, vorübergehende Zunahme der
Gelenkschwellung und der Schmerzen, sondern
auch eine plötzliche schmerzhafte Schwellung
der Parametrien, in welchen sich offenbar blenor--
rhagische .Depots befanden. Wiederholte In¬
jektionen des gleichen Mittels führten zur Heilung
des Gelenkprozesses.
Da solche schleichende Arthritiden
manchmal zur Entstehung schwerer Mus¬
kelatrophien Veranlassung geben, ist
es verständlich, daß bisweilen die Ge¬
lenkserkrankung als sekundäres Leiden
imponiert, während'man die Muskelatro¬
phie auf ein Nervenleiden bezieht. So sind
uns wiederholt Kranke unter der Diagnose
einer spinalen Muskelatrophie zugegangen,
welche eine artikuläre Muskelatrophie
nach Arthritis gonorrhoica hatten. Früh¬
zeitig und erheblich pflegt der periarti-
kuläre Muskelschwund bei der Erkrankung
des Schultergelenkes zu sein.
Gerade die Lokalisation im Schulter-
.gelenk pflegt zu einem anderen diagnosti¬
schen Irrtum zu führen. Bekanntlich gibt
es eine, zumeist bei älteren Individuen
auftretende, isolierte Erkrankung des
Schultergelenkes, welche zu einer Ver¬
steifung des-Gelenkes führt. Sie nimmt
ihren Ausgangspunkt von den periarti-
kulären Schleimbeuteln unter dem Del-
'toideus und von der Bicepssehne, resp.
deren nächster Umgebung. Diese Omar¬
thritis (Maladie de Duplay) kann durch
eine gonorrhoische Arthritis vorgetäuscht
werden. Die unrichtige Diagnose bewirkt
die Unterlassung der wirksamen spezifi¬
schen Therapie.
Heftige, die blenorrhagische Arthritis
begleitende Schmerzen können Neural¬
gien Vortäuschen. Allerdings muß die
Einschränkung der. Beweglichkeit im Ge¬
lenke, sowie die Druckempfindlichkeit
desselben sehr bald den Nervenschmerz
als sekundäre Leiden erkennen lassen.
Sehr oft verleitet eine vorhandene
gonorrhoische Arthritis zu der Lieblings¬
diagnose vieler Ärzte bei schmerzhaften,
mit Bewegungsstörung verbundenen Pro¬
zessen : Muskelrheumatismus oder
Gicht. Wer sich zur Regel gemacht hat,
erst dann an Muskelrheumatismus zu
Februar
Die Therapie der
denken, wenn andere, zu Verwechslung
führende Erkrankungen ausgeschlossen
sind, der wird bei der Untersuchung bald
ersehen, daß ein vielleicht vorhandener
Muskelschmerz nur eine Zugabe zu einer
Gelenksaffektion darstellt. Die Gelenks-
affektjon wird dann unter Berücksichti¬
gung der eingangs, erwähnten Charaktere
leicht sich als gonorrhoische deuten lassen;
Das Fehlen anderer gichtischer. Erschei¬
nungen läßt Gicht zumeist auch ohne
Stoffwechseluntersuchungen ausschließen..
Auch führt die Arthritis urica in der Regel
nicht zu dauernd schmerzenden Anky¬
losen der..Gelenke. Ich habe wiederholt
Kranke mit gonorrhoischer Arthritis ge¬
sehen, welche Gichtkuren, natürlich ohne
Erfolg, absolviert hatten.
Entwickelt sich der gonorrhoische
Prozeß als akuter, polyartikulärer, so
liegt eine Verwechslung mit dem gewöhn¬
lichen polyartikulärem Rheumatis¬
mus nahe. Hat aber eine mehrtägige
energische Salicyltherapie keinen erkenn¬
baren Einfluß auf das Geienksleiden, fehlt
das charakteristische Wandern des Ent¬
zündungsprozesses von Gelenk zu Gelenk,
so steife man sich ja nicht auf die ur¬
sprüngliche Diagnose. Wir wissen ja, daß
verschiedene infektiöse Prozesse unter
dem Bilde des akuten Gelenksrheumatis¬
mus einsetzen können. Unter den dann
in Betracht kommenden sind drei prak¬
tisch besonders wichtig: Tuberkulose,
Lues und Gonorrhoe. Der tuberkulöse
Gelenksprozeß klingt, wenn er als akutes
polyartikuläres Leiden bego.nnen hat, in
der Regel in allen Gelenken bis auf eines
rasch ab; das Testierende Gelenk bietet
bald das Bild des Tumor albus dar. Die
fieberhaft verlaufende polyartikuläre Ge¬
lenkssyphilis wurde vor etwa zehn Jahren,
40 Jahre nach der ersten völlig ver¬
gessenen Beschreibung von mir neu ent¬
deckt und an meiner Abteilung von
Huszar studiert. Diese Gelenksaffektion
ist ausschließlich einer antiluetischen Be¬
handlung zugänglich. Die offenbar nicht
extrem seltene Krankheit ist durch nächt¬
liche Schmerzen, positive Wassermann-
sche Reaktion, eigenartigen Röntgenbe¬
fund und durch den Effekt der Therapie
zu erkennen.
Auffallenderweise haben wir in den
letzten Jahren zwei Kranke gesehen,
welche klinisch und nach dem Ergebnisse
der Reaktionen eine Kombination von
luetischer und gonorrhoischer Arthritis
darboten. Beide Fälle betrafen Frauen
mit nächtlichen Exacerbationen der
Gegenwart. 192L; , 49
Schmerzen, eine in den Hand- und Finger¬
gelenken, eine, im Sprunggelenk; beide:
hatten positive Wässerinannsche Re'aktipn
im Serum.. Beide sprachen aber auf
Gonokokkenvaccine mit Fieber und Lokal¬
reaktion an. In beiden. Fällen wurde
Heilung, aber erst nach einer Kombination
von antigonorrhoisc.her und antiluetischer
Behandlung erzielt. *
Die' Osteo-Arthritis deformans
mit ihrer .(trotz möglicher Remissionen)
schlechten Prognose .darf man nicht mit
der prognostisch viel günstigeren Ar¬
thritis gonorrhoica verwechseln. Gerin¬
gere Schmerzen und mäßigere Bewegungs¬
beschränkung bei stärkerer Deformation
der Gelenksgegend lassen die Östeo-Ar-
thritis von der subakut verlaufenden
gonorrho’schen Arthritis ‘ unterscheiden.
Das Malum coxae, welches als solitäre
Gelenksaffektion eine Sonderstellung ein¬
nimmt, entwickelt sich langsam, schlei¬
chend, unter ischialgischen Schmerzen,
welche bei Bewegung zunehmen oder sich
nur beim Gehen zeigen; eine nennens¬
werte Bewegungsbeschränkung kommt
erst nach langer Dauer'des Leidens. Die
Coxitis gonorrhoica führt rasch zur Anky-
losierung; die Schmerzen sistieren auch
nicht bei Bettruhe, die geringste passive
Bewegung der Beine steigert sie in ex¬
zessiver Weise.
Mitunter beschul-digt der Kranke ein
geringfügiges Trauma als Ursache seines
Gelenksleidens und suggeriert das schlie߬
lich seinem Arzte. Ich habe einige Male
in der Konsiliarpraxis Patienten mit der
,,phlegmonösen Form“ (König) einer
monartikulären Arthritis gesehen, bei
welcher wegen dezidierter Angaben des
Kranken gar nicht an eine gonorrhoische
Erkrankung gedacht worden war, obgleich
die Untersuchung noch eine rezente Go¬
norrhoe ergab.
Beim Bestände einer gonorrhoischen
Arthritis ist eine prolongierte Darreichung
von SalizyIpräparaten oder von Ato-
phan nicht nur .nutzlos, sondern sogar
nicht unbedenklich, weil die für thera¬
peutisches Eingreifen wertvollste Zeit un¬
genützt verstreicht. Das gleiche gilt von
der Bekämpfung neuralgischer Schmerzen
durch die gebräuchlichen Antineuralgica.
Morphinismus als Folgezustand einer un¬
zweckmäßig behandelten gonorrhoischen
Arthritis habe ich bei einem Arzte und.bei
einer rankenschwester gesehen.
Für die Behandlung kommen im
wesentlichen zwei Methoden in Betracht,
deren Kombination zumeist besonders
7
50
Die Therapie der Gegenwart 1921
Fetirüaf
günstige Resultate zeitigt, die Stauungs¬
therapie und die Behandlung mit Gono-
kokken-Vaccine. DieStauungstherapie
steht bei dieser Affektion fast seit einem
Vierteljahrhundert in Verwendung, ohne
sich die dominierende Position erobert zu
haben, welche sie verdient. Da ich un¬
mittelbar nach •Bier’s ersten Publi¬
kationen die damals neue Behandlungs¬
methode bei Kranken mit Arthritis gonor¬
rhoica verwendete und mich seither un¬
unterbrochen derselben bediene, war es
mir möglich aus vielen eigenen und
fremden Beobachtungen zu lernen. Der
geringe Erfolg der Stauung in manchen
Fällen ist nach meinen Erfahrungen oft
durch folgende Momente bedingt. Die
Angst des Arztes, die Schmerzen zu
steigern, macht ihn zaghaft und unsicher.
Er läßt sich dann durch den Kranken zu
sehr beeeinflussen.
Als ich meine jetzige Abteilung übernahm,
lag daselbst ein Kindsmädchen mit einer Gonitis
gonorrhoica; es hatte sich in beiden Kniegelenken
eine spitzwinklige Beugekontraktur entwickelt.
Angeblich steigerte Stauung die Schmerzen.
Die von mir neuerlich eingeleitete Stauungs¬
behandlung, gegen welche sich die Kranke anfangs
sehr sträubte, konnte noch die Kontraktur
beseitigen. Patientin konnte das Krankenhaus
zu Fuß ohne Stock oder Stütze, schmerzfrei
verlassen.
ln anderen Fällen ist die Stauung von
zu kurzer Dauer. Der Arzt läßt die
Stauungsbinde ^ bis ^4 Stunde liegen.
Das ist viel zu wenig! Man muß die Zeit
der Stauung rasch verlängern. Wir lassen
die Binden 4—8 Stunden, andere noch
länger liegen. Ein Schaden kann nicht er¬
folgen, wenn die Weisung gegeben ist, bei
• Steigerung der Schmerzen die Stauung¬
binde abzunehmen.
Man kann nicht früh genug mit der
Stauungsbehandlung beginnen. Schon
nach vier Wochen kann feste, irreparable
Ankylosenbildung im Gelenke vorhanden
sein; setzt erst in diesem Augenblick die
Behandlung ein, so kommt sie zu spät.
Nur die ,,phlegmonösen Formen“ ver¬
tragen mitunter die Stauung schlecht.
Es kommt zu Blutungen in das erkrankte
Gelenk und dessen Umgebung und damit
zu einer Schmerzsteigerung. Jedoch ist
dies nur ausnahmsweise der Fall. Selbst
bei diesen Formen sollte man von Anfang
an wenigstens den Versuch der Behand¬
lung mit Stauung machen und ihn, wenn
er nicht gelingt stets wieder nach einigen
Tagen Pause wiederholen. Schließlich hat
man auch bei diesen Gelenksverände¬
rungen Erfolg. Die phlegmonöse Form
König’s geht ausnahmsweise in Eiterung
( über. In der Regel handelt es sich um
. gigantische Anschwellung des Gelenkes
und der benachbarten Weichteile; die
derben Schwellungen rufen wütende
Schmerzen ‘hervor. Ist sicher Eiter im
Gelenke vorhanden — ein sehr seltenes
Vorkommnis —, so ist nicht Stauung,
sondern Incision und Entleerung des
Eiters gebo.ten. Ich habe die Stauung
bis zum spontanen Eiterdurchbruche fort¬
setzen gesehen; die destruktiven Vor¬
gänge sind dann sicher größer, als bei
rechtzeitiger Eröffnung.
Fehlerhaft ist es auch mit der Stau¬
ungsbehandlung vorzeitig aufzuhören. Der
Gelenksprozeß pflegt dann bald wieder
Fortschritte zu machen. Wenn die Not¬
wendigkeit vorhanden- ist, dann sollte die
Stauungsbehandlung selbst monatelang
fortgesetzt werden. Selbstverständlich ist
die Stauung kunstgerecht vorzunehmen;
die Stelle soll täglich gewechselt werden,
ein unter die Binde gelegter Gazestreifen
schont die Haut.
Der von den Franzosen viel empfohlene
Watteverband oder der von vielen
Chirurgen angewendete Gipsverband (vgl.
die Zusammenfassungen von Nobl, H.
Weiß, Chiari), befördert die Ankylo-
sierung und erklärt, warum machen
Chirurgen so reiche Erfahrungen auf dem
Gebiete der Ankylosenbehandlung nach
gonorrhoischer Arthritis besitzen. Die
Immobilisierung darf so wenig als wenig
verwendet werden. Passive Bewegungen
währen der Stauung oder bei Anwen¬
dung der Heißluft, im heißen Bade, oder
während einer Diathermiebehandlung
sind dringend geboten.
Die Arthigon-Therapie erfreut sich
mit Recht einer rasch wachsenden Be¬
liebtheit in Behandlung der gonor¬
rhoischen Arthritis. Mehrmals habe ich
therapeutische Irrtümer bei Arthigon-
anwendung gesehen. So wurde in mehre¬
ren Fällen die Behandlung mit Gono-
kokken-Vaccine eingestellt, nachdem die
erste Injektion eine schwere Lokalreaktion
mit Zunahme der Schwellung und Schmer¬
zen herbeigeführt hatte. Nicht genügende
Kenntnis der Nebenwirkungen hatte den
Arzt zu der Annahme veranlaßt, er hätte
mit der Therapie geschadet. Richtiger¬
weise wäre die Behandlung, in gleicher
Form fortzusetzen. Schwere Lokalreak¬
tionen pflegen doch schon nach der
zweiten oder dritten Injektion zu ver¬
schwinden.
In anderen Fällen sah ich eine allzu--
rasche Applikation der Gonokokken-Vac-
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1Q21
51
eine; sie wurde täglich verabfolgt, statt
jeden dritten bis vierten Tag. Ein recht
schwerer Kollaps hatte in einem Falle
diese stürmische aber unzweckmäßige
Therapie in fataler Weise unterbrochen.
Die gleichen unangenehmen Zufälle
drohen bei allzu gehäufter Anwendung
von Milchinjektionen, welche sich uns
sonst als wirksames therapeutisches Ver¬
fahren erwiesen hatten. Wir haben mehr¬
mals eine durch Gonokokken-Vaccine ein¬
geleitete Besserung des Gelenkprozesses
unter fMilchinjektionen weitere Fort¬
schritte machen gesehen.
Daß bei der Anwendung von Hei߬
luft die üblichen Vorsichtsmaßregeln
nicht vernachlässigt werden dürfen, ist
eigentlich selbstverständlich. Unbedingt
sollte der Kranke während der Dauer
der Heißluft- oder Heißdampfapplikation
nicht allein gelassen werden. Ein Kranker
meiner Konsiliarpraxis hatte während der
Anwendung des Heißluffcapparates einen
Ohnmachtsanfall erlitten. Während der
Synkope zog ’er sich umfangreiche Ver¬
brennungen schwerster Art zu. Der
Kranke war längere Zeit allein gelassen
worden.
Die Zahl der diagnostischen und thera¬
peutischen Irrtümer ließe sich noch er¬
höhen. Die Vermeidung der gewöhnlichen
häufigen Fehler ist im Interesse des
Patienten und des Arztes dringend zu
wünschen.
Aus der Deutschen Heilstätte in Davos-Wolfgang (Leitender Arzt: Dr. E. Peters).
symptomatischen Behandlung der Lungentuberkulose
(Holopon und Eukodal).
Von Dr. med. Leichtweiss. I. Assistenzarzt.
Bei der Therapie der chronischen
Lungenschwindsucht ist die rein sympto¬
matische Behandlung ein nicht zu unter¬
schätzender Faktor. Wenn sie auch bei
schweren und aussichtslosen Fällen zur
Linderung des qualvollen Leidens viel¬
fach unsere einzige ärztliche Hilfe dar¬
stellt, so kann sie andererseits bei noch
besserungsfähigen Kranken neben den
sonstigen therapeutischen Maßnahmen
von nicht unwesentlicher Bedeutung sein.
Es erscheint durchaus nicht gleichgültig,
ob der kranke Organismus durch quälen¬
den Hustenreiz, Schmerzen, Schlaflosig¬
keit usw. in seinem Kräftezustand noch
weiter herunterkommt, oder ob ihm durch
eine geeignete Applikation von Be¬
ruhigungsmitteln eine solche Erleich¬
terung zuteil werden kann, daß die all¬
gemeine Erholung dadurch gefördert und
indirekt auch der lokale Krankheits-
prpzeß günstig beeinflußt wird. Dabei
soll das angewandte Narkoticum zwar
vollwertig in der gewünschten Wirkung,
aber möglichst frei von unangenehmen
Nebenerscheinungen sein, wie wir das
von den gebräuchlichsten Morphium¬
derivaten her kennen.
Zwei neuere Präparate dieser Gattung,
Holopon und Eukodal, die wir seit
Lihgefähr neun Monaten bei einer Reihe
von Fällen ausgiebiger angewandt haben,
scheinen diese Vorzüge in hohem Maße
in sich zu vereinigen, sodaß eine nähere
Mitteilung darüber gerechtfertigt er¬
scheint.
Holopon ist ein von den Byk-Guldenwerken
in Berlin hergestelltes neues Opiumpräparat,
das auf dem Wege der Ultrafiltration gewonnen
ist. Durch diese physikalische Methode war es
möglich, alle wirksamen Bestandteile des Aus-
gahgsproduktes in ihrem natürlichen Mischungs¬
verhältnis in wäßriger Lösung chemisch unver¬
ändert zu erhalten und von wertlosen Baiast¬
stoffen wie Fett, Wachs, Schleimstoffe usw. zu
befreien. Das Ultrafiltrat hat gegenüber dem
Opium den großen Vorteil, daß es auch subcutan
gegeben werden kann, ähnlich wie Pantopon oder
Pavon, die ja auch sämtliche Opiumalkaloide in
reiner Form, allerdings auf chemischem Wege
gewonnen, enthalten sollen. Die Dosierung ist
identisch mit der der offizineilen Tct. Opii Simplex.
Um die Wirkung des Holopons eindeutiger
feststellen zu können, wurde es vorzugsweise
denjenigen Kranken verabfolgt, die schon vorher
andere Narkotica (Tct. Opii, Pantopon, Kodein
usw.) längere Zeit genommen hatten; im ganzen
gelangte das Mittel bei 19 Patienten^) zur An¬
wendung. Bei der vielseitigen Indikationsmög¬
lichkeit des Präparates haben wir es zunächst als
Antidiarrhoicum versucht. Bei akuten und chro¬
nischen Durchfällen nicht tuberkulöser Art war
die stopfende und beruhigende Wirkung mit
Ausnahme eines einzigen Falles der der Opium¬
tinktur mindestens gleichwertig, der des Panto-
pons entschieden überlegen. ’ Wir kamen dabei
immer mit zwei bis drei Tabletten, oder zwei- bis
dreimal 15 Tropfen Holopon aus, doch wurde
von den meisten Patienten die Lösung gegenüber
der Tablettenform bevorzugt. Irgendwelche un¬
angenehme Nebenwirkungen, insbesondere Er¬
brechen, wurden nicht beobachtet. Auch wurde
im Gegensatz zu Opium niemals der Appetit
ungünstig beeinflußt. Bei drei Fällen von schwerer.
1) Ein Teil der hier aufgeführten Fälle lag
auf der Abteilung des früheren Assistenzarztes
der Deutschen Heilstätte, Herrn Dr. F. Rave,
jetzt in Todtmoos, dem ich für seine mitgeteilten
Beobachtungen an dieser Stelle meinen verbind¬
lichsten Dank ausspreche.
1 *
5’2 ■ . . ßie .Therapie der
piiogredieriter LLuigen-- und Därmtuberkulose
war die Überlegenheit des' Holopons gegenüber
jedem anderen Präparat ganz .offensichtlich.
Mit drei-'bis .viermal täglich 15 Tropfen erreichten
wir.eine ausgezeichnete peristaltikhemmende Wir¬
kung. Durch die Ruhigstellüng des Darmes
ließen die krampfartigen, quälenden Leibschmer¬
zen nach, die reichlichen, sehr dünnen Stühle
gingen auf zwei bis drei von mehr breiiger Konsi¬
stenz zurück, und der durch Schmerzen und
Husten gestörte Schlaf wurde wesentlich besser.
Später 'lioß sich allerdings bei diesen rasch fort¬
schreitenden Fällen die zunehmende Entkräftung
nicht mehr aufhalten, trotzdem wurde Holopon
bis zum Schluß gern genommen und jedem
anderen Präparat, insbesondere auch dem Panto-
pon, das nicht so nachhaltig wirkte, vorgezogen.
Auffallend war die angenehm beruhigende und
intensiv schmerzstillende Wirkung, wie auch
schon Mayer, Handtmann u. a. berichtet
haben.
Die zweite Gruppe, bei denen Holopon mit
sehr gutem Erfolg gegeben wurde, betrifft Phthi¬
siker mit schwerem Lungen- und Kehlkopfbefund, .
deren Allgemeinbefinden durch starken Husten
und Auswurf sehr beeinträchtigt war. Traten'die
Beschwerden vorzugsweise in der Nacht auf,
so genügte meistens eine Dosis von 15 bis 20
Tropfen oder ein bis zwei Tabletten - abends, um
den lästigen Hustenreiz zu unterdrücken und einen
ausgiebigen Schlaf zu sichern: Auch die sonst
so anstrengende und häufig mit Erbrechen ver¬
bundene Expektoration am nächsten Morgen
ging danach viel leichter vonstatten, die Pa¬
tienten fühlten sich durch den Schlaf erfrischt
und. waren psychisch in gehobener Stimmung.
Irgendwelche unangenehmen Nebenerscheinungen
wurden dabei nicht beobachtet, es trat keine
Gewöhnung an das Mittel ein, und die bisweilen
vorkommende Verstopfung war bei dieser Dosis
selbst nach wochenlangem Gebrauch nicht über¬
mäßig lästig. Sehr günstig wirkte Holopon auch
zur Unterdrückung des Reizhustens bei Kehl¬
kopfkranken. Durch die Herabsetzung der all¬
gemeinen Reflexübererregbarkeit ließ der quälende
und vielfach schmerzhafte Husten nach, so daß
die Patienten mehr zur Ruhe kamen und wieder
genügend Schlaf finden konnten. Auch der lokale
Krankheitsbefund im Larynx wurde durch die
vermehrte Ruhigstellung günstig beeinflußt. Nur
bei ganz schweren Formen von Kehlkopfphthise
mit ausgedehnten geschwürigen Prozessen und
heftigen sekundären Schluckschmerzen waren
Morphium- oder Eukodalinjektionen vorzuziehen.
Durchweg lobten alle Patienten, die infolge starken
Hustenreizes und Auswurfs an Schlaflosigkeit
litten, die intensiv beruhigende und schlaf¬
bringende Wirkung des Holopons. Bei den Fällen
von rein nervöser Insomnie dagegen schien das
Opiumderivat den üblichen Schlafmitteln (Bar-
bitu'rsäure usw.) an sedativer Kraft nachzustehen.
Das zweite Präparat, über das ich
meine Erfahrungen mitteilen möchte, ist
das von Freund und Speyer in den
Arzneischatz eingeführte und von der
Firma E. Merck (Darmstadt) in den
Handel gebrachte Eukodal. -Es ist ein
aus dem Opiumalkaloid Thebain her¬
gestelltes neues Narkoticum (Dihydro-
•oxykodeinonchloralhydrat) und deckt sich
in seinem Indikationsgebiet ungefähr mit
dem des Morphiums oder Kodeins. Wir
’Gegen^i^arf 1921' . / Februar
gaben es gegen die vielseitigen Beschwer-'
den der Phthisiker, insbesondere zur
Schmerzbekämpfung, zur Linderun'g des
Hustenreizes und gegen Schlaflosigkeit^.
In leichteren F-ällen kamen . wir fast
immer’mit der innerlichen Verabreichung
von ein bis zwei Tabletten zu 0,005 ;^
aus, während bei Beschwerden stärkeren
Grades subcutane Injektionen von 0,01.
seltener 0,02 erforderlich w.aren, um eine;
schnelle und nachhaltige narkotische Wir¬
kung zu erzielen. .
Uiisere Erfahrungen über Eukodäl stützen
sich auf insgesamt 28 Fälle. Das Präparat wurde
weitaus von den meisten Patienten sehr gut ver¬
tragen, irgendwelche ernstere Störungen der
Herztätigkeit und des Kreislaufsystems konnten
wir im allgemeinen nicht beobachten. Nur bei
einem Fall von Asthma bronchiale (Vagotoniker),
bei dem die erste Eukodalinjektion von 0,02 gut
vertragen und .eine sehr gute, krampflösende
Wirkung erzielt worden war, trat bei der zweiten
Injektion (nach acht Tagen) heftiges Erbrechen
und ein koljapsartiger Zustand auf, sodaß das
Mittel abgesetzt werden mußte. Kurze Zeit
■■ nach der Einspritzung klagte der Kranke, daß
es ihm „schlecht“ .sei, er sah äußerst blaß und
verfallen aus und erbrach fast eine Stunde lang
ununterbrochen. Der Puls war klein, unregel¬
mäßig, die Pupillen sehr eng, fast reaktions¬
los, und kalter Schweiß bedeckte die Stirn, Nach
Kampfergaben erholte sich der Patient darin
verhältnismäßig rasch. Bei einem anderen Fall,
bei dem am Abend Eukodal gegen heftige kolik¬
artige Schmerzen mit gutem Erfolg injiziert
worden war, traten nachts Schweiße auf, eine.
Nebenwirkung, auf die schon Rothschild auf¬
merksam gemacht hat. Außerdem wurde noch
zweimal nach Einnehmen von einer Tablette
über leichtes Erbrechen geklagt, eine ernstere
Störung des Allgemeinbefindens war aber nicht
zu konstatieren. Sonst wurde' das Präparat
durchweg sehr gut vertragen und selbst nach’
wochenlangem Gebrauch keinerlei unangenehme-
Nebenerscheinungen beobachtet. Insbesondere
haben wir im Gegensatz zu Kreutzer niemals
urticariaähnliche Hautausschläge nach dem Ge¬
brauch des Mittels gesehen. Trotzdem möchten
wir bei der Indikationsstellung zu einer gewissen
Vorsicht mahnen und Eukodal nicht als ein . in
jedem Falle völlig harmloses Ersatzpräparat
für Morphium betrachtet wissen.
Die Anwendungsweise des neuen Narkoticums
ist eine recht vielseitige. Am besten bewährte es
sich uns als Analgeticum gegen die bei Lungen¬
kranken so häufig vorkommenden . Schmerzen
der verschiedensten Art. Bei leichteren und
schwereren Graden der Pleuritis sicca, bei
Interkostalneuralgien, toxischen Gliederschmer¬
zen usw. genügten meist ein bis zwei Tabletten
im Tage, um eine wohltuende Linderung der
Schmerzen herbeizuführen. Bei allen stärkeren
Schmerzanfällen, bei Gastralgien, Koliken, eben¬
so bei Asthma oder anderen dyspnoischen Zu¬
ständen wurde die subcutane Applikation wor-
gezogen. Die narkotische Wirkung war dann
entsprechend stärker und von längerer Dauer
und der des Morphiums nicht nachstehend, ver¬
schiedentlich- sogar überlegen. Angenehm war,
daß die Dosis meist nicht gesteigert zu werden
brauchte. Bei Dysmenorrhöe sahen wir in .drei
Fällen nach Darreichung von ein bis zwei Ta-
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1921
53
bletten einen guten Erfolg, bei anderen wieder
war es dem Pantopon nicht gleichwertig.
Am häufigsten gaben wir Eukodal bei Schwer^
kranken zur Bekämpfung des übermäßigen
Hustens und zur Herabsetzung der allgemeinen
Reflexübererregbarkeit. Vielen Patienten, die
durch reichlichen Auswurf und hartnäckigen
Hustenreiz besonders während der Nacht nicht
zur Ruhe kamen, gaben wir abends eine oder
höchstens zwei Tabletten, wodurch ein aus¬
giebiger Schlaf erzielt wurde. Genügte die Dosis
nicht, so war eine Injektion von 0,01 fast immer
ausreichend. Am nächsten Morgen verspürten
die Kranken keinerlei üble narkotische Nach¬
wirkungen, meistens fühlten sie sich sogar be¬
sonders erholt und ausgeruht. Auch war danach
die morgendliche Expektoration wesentlich er¬
leichtert. Im Vergleich zu Heroin, Kodein oder
Pantopon war die sedative Wirkung sicher viel
intensiver und nachhaltiger. Wir können daher die
günstigen Erfahrungen von Baum, Falk,
Hesse, Wohlgemuth und Anderen nur be¬
stätigen. Auch bei nervöser Schlaflosigkeit
nach erschöpfenden Krankheiten, insbesondere
Grippe, hat sich Eukodal in einzelnen Fällen
sehr bewährt. Eine Gewöhnung an das Mittel
trat bei den meisten Patienten nicht ein, zum
mindesten nicht so leicht wie bei Morphium,
was sicher einen großen Vorzug bedeutet. Nur
bei einem hoffnungslosen Fall von Lungentuber¬
kulose mit sekundären Bronchiektasien und
500 ccm Sputum im Tag ist es nach monate-
Jangem Gebrauch von drei Spritzen Eukodal (0,02)
zu einem richtigen Eukodalismus im Sinne
Alexanders gekommen.
Zum Schluß sei noch auf eine besonders
günstige therapeutische Wirkung des Eukodals
bingewiesen, die wir bei zwei Fällen von aus¬
gesprochener Zyklonose beobachten konnten.
Nach Frankenhäuser versteht man unter
diesem Begriff gewisse Krankheitszustände, die
bei einzelnen Personen bei Witterungswechsel,
das heißt insbesondere beim Übergang vom so¬
genannten „schönen“ Wetter zu Wind, Regen
oder Schnee aufzutreten pflegen. Im Hochgebirge
ist es hauptsächlich der Föhn, der die zyklono-
tischen Beschwerden hervorruft, und zwar machen
sich die Symptome meist schon vor dem Eintritt
des eigentlichen barometrischen Minimums be¬
merkbar. Frankenhäuser unterscheidet dabei
drei Arten von krankhaften Erscheinungen,
einen „kongestiven-cerebralen“, einen „katar-
rhalischen-gastrointestinalen“ und einen „rheuma-
toiden-peripheren“ Symptomenkomplex. Bei
unseren beiden Fällen standen die kongestiven-
cerebralen Beschwerden im Vordergrund des
Krankheitsbildes, die Patienten klagten über
dumpfe Kopfschmerzen, Schwindelgefühl und
Schlaflosigkeit und zeigten eine gewisse nervöse
Reizbarkeit bei vorwiegend depressiver Stim¬
mung. Beide hatten seither alle möglichen Anti-
pyretica und Sedativa genommen, aber keine
nachhaltige Erleichterung ihrer Beschwerden
gefunden. Dagegen wirkte Eukodal ganz aus¬
gezeichnet. Nach Einnehmen von ein bis zwei
Tabletten verloren sie prompt alle unangenehmen
Sensationen, die intensiven Kopfschmerzen ver¬
schwanden vollkommen, und subjektives Wohl¬
befinden verbunden mit einer gewissen Euphorie
trat ein.
Die Zahl unserer Beobachtungen ist natürlich
viel zu klein, um ein endgültiges Urteil über den
therapeutischen Wert des Eukodals bei der
Zyklonose abgeben zu können, aber die beiden
erzielten Erfolge waren doch so eklatant, daß wir.
zu einer Nachprüfung anregen möchten. .
Aus der geburtsMlflicli-gyuäkologisclieii Abteilung des Krankenhauses
der jüdischen Gemeinde in Berlin.
über den Einfluß der neueren Wehenmittel auf die Leitung
der Geburt.
Von Prof. E. Sachs, dirigierendem Arzt der Abteilung. (Schluß.)
Wir betrachten jetzt diesicli während
«der Geburt selbst ergebenden, für
die Anwendung eines guten Wehen¬
mittels geeigneten Situationen und be-
.ginnen mit „Indikationen, die schon in
der Eröffnungsperiode gegeben sein kön¬
nen. Dazu gehört z. B. das durch In-
"fektian der Geburtswege bedingte
Fieber.'
Früher galt der Grundsatz bei Fieber
•während der Geburt möglichst schnell
nnd sei es auch mit großen eingreifenden
'Operationen die Geburt zu beendigen.
Untersuchungen, die ich an der Königs¬
berger Klinik vornehmen konnte, haben
indes gezeigt, daß die Schnellentbin-
•dung mit unter Umständen großen
Inzisionen und anderen verletzenden
•Operationen bei bestehender Infektion
•schädlicher ist, als die etwas U'ngere
Fieberdauer bei schonenderer Geburts-
leitung^). Es soll beschleunigt entbunden
^) Sachs, Zschr. f. Geburtsh. u. Gyn., Bd. 70
•'S. 222 und D. m. W. 1912, Heft 28.
werden, aber unter möglichster
Schonung der Geburtswege. Ein
wirklich gutes Wehenmittel setzt uns
meist in den Stand, dies zu erreichen.
Ich kann über zwölf Fälle berichten, die
mit intravenösen Pituglandolin j ek-
tionen behandelt wurden. Neun davon
befanden sich in der Austreibungsperiode.
Diese waren teils sofort, teils nach drei
bis fünf Minuten beendet, ein Fall von
septischer Wehenschwäche erst nach drei
Viertelstunden, nach Wiederholung der
Injektion. Ein zehnter Fall, bei dem der
Muttermund handtellergroß war, ge¬
stattete ohne jede Muttermundsinzision
nach fünf Minuten die Anlegung der
Zange und im elften Fall war die Wirkung
noch wertvoller. Die Zervix war für
zwei Finger durchgängig. Eine sub-
cutane Injektion hatte nur mäßige Wir¬
kung gehabt. Nach der intravenösen
Injektion von 1 ccm Pituglandol war die
Geburt innerhalb P /2 Stunde beendet.
Nur im zwölften Fall hatte ich bei starker
54
Die Therapie der Gegenwart 1921’
Februar
Rigidität des Muttermundes keinen Er¬
folg.
Im ganzen habe ich bisher 22 Fieberfälle
mit Pituglandol behandelt. Neun davon
in der Eröffnungsperiode. Unter den
zwölf intravenös gespritzten waren, zwei
Erstgebärende. Gerade in Fällen von
Infektionsfieber, bei denen es* auf einen
möglichst sicheren Erfolg des Wehen¬
mittels ankommt, rate ich durchaus zur
intravenösen Injektion, und zwar auch
in der Eröffnungsperiode, falls das hierbei
vorher intramuskulär gegebene Mittel
nicht gut genug wirkt. Man wird bei
Infektionszuständen das Mittel auch
geben, ohne daß eine eigentliche Wehen-
losigkeit besteht. In derartigen Fällen
wirkt es noch intensiver; dann pflegt
auch die intramuskuläre Darreichung zu
genügen.
Eine zweite Situation in der Eröff¬
nungsperiode, bei der es auf besonders
gute Wehen ankommt, ist der
Arm- oder Nabelschnurvorfall.
Beides gefährliche Zustände für Mutter
und Kind. Wehenschwäche erschwert ihre
Beseitigung. Die Reposition gelingt;
weil dann aber keine ausreichende Kraft
den Kopf in der Eröffnungsperiode ge-
•tiügend zu fixieren vermag, so tritt oft
genug ein erneuter Vorfall ein, der beim
Nabelschnurvorfall dem Kinde das Leben
kosten kann. Diese Gefahr können wir
durch ein nach der Reposition rechtzeitig
gegebenes, sicher wirkendes Wehenmittel
beseitigen. Hier ist wegen ihrer augen¬
blicklich eintretenden Wirkung die intra¬
venöse Injektion die allein richtige. Sie,
beginnt oft, noch während die operierende
Hand die Nabelschnur reponiert hält.
Von 19 derart behandelten Fällen von
Arm- oder Nabelschnurvorfall in der
Eröffnungsperiode waren 18 erfolgreich.
Nur einmal trat mehrere Stunden danach
in der Austreibungsperiode ein erneuter
Nabelschnurvorfall ein, dem das Kind
erlag, weil der erneute Vorfall nicht
schnell genug bemerkt worden war.
Beim Armvorfall genügt meist die
intramuskuläre Injektion, weil man den
Kopf durch äußere Handgriffe und Lage¬
rung bis zum Eintritt der Wehen über
dem Beckeneingang fixieren kann und
die Gefahr für das Kind selbst bei er¬
neutem Armvorfall nicht so groß ist, wie
beim Nabelschnurvorfall.. Daß man in
besonderen Fällen beim Nabelschnur¬
vorfall in der Austreibungsperiode, wo
sonst die Wendung und Extraktion das
beste Verfahren darstellt, bei normalem
Becken und günstigen Weichteilverhält-*
nissen, durch eine intravenöse Pituglan-
dolinjektion die Geburt ohne jeden opera¬
tiven Eingriff schnellstens beenden kann,,
wird später noch erwähnt werden.
Eine ähnliche Bedeutung hat viel¬
leicht, das Pituglandol zur
Fixation des Kopfes
nach Umwandlung einer Deflexionslage.
Hamm (Fehling) empfiehlt dies Ver
fahren. Ich habe keine eigene Erfahrung
darüber.
Die Möglichkeit die Geburt in der
Austreibungsperiode bei gutvorbereiteten
Weichteilen und beim Fehlen sonstiger
Hindernisse meistens sofort durch intra¬
venöse Injektion eines guten Wehen¬
mittels beenden zu können, setzt uns in
die Lage, wenigstens bei Mehrgebärenden
die Zahl der entbindenden Opera¬
tionen sehr einzuschränken. Damit
komme ich zu einem weiteren Gebiet
der Pituglandolanwendung bei Schädel¬
lage, zu dem
Ersatz der Zange^).
Jede vermiedene Zangenoperation ist ein
Gewinn; denn bei dem leichtesten opera¬
tiven Eingriff besteht die. Gefahr der
Infektion; Verletzungen können hin¬
zu kommen und Operationen wegen
^Wehenschwäche sind oft von schweren
atonischen Blutungen gefolgt.
Fast alle Beckenausgangszangen an
Mehrgebärenden, deren Indikation nur
Wehenschwäche oder Ermüdung ist,,
lassen sich durch intensive Wehenanregung
ersetzen. Andere Zangenoperationen,,
z. B. am erst in Beckenmitte stehenden
Kopf, der noch nicht gut zangengefecht
rotiert ist, lassen sich durch die treibende
Kraft des Pituglandols sehr erleichtern.
Zu dem Zug der Zange kommt der Wehen¬
druck hinzu, so daß der Kopf sich leichter
in und mit der Zange dreht, als wenn die
Wehenkraft fehlt. Wird eine Zange vor
völlig erweitertem Muttermund nötig,,
so bewirkt eine kurz vor ihrem Beginn
gegebene intravenöse Pituglandolinjek-
tion schnell das völlige Verstreichen des*
Muttermundes und erspart uns die.
Muttermundsincisionen. Ich habe
mehrere derartige Fälle erlebt und emp¬
fehle deshalb das Verfahren dringend.
Ganz anders aber, wenn es sich um
Geburtsstillstand infolge von Rigidität
handelt. Dann ist ein zu stark wirkendes
Wehenmittel kontraindiziert. Dann
2) cf. Sachs, Über die durch geb. Operationen
bedingten Schädigungen des Kinde» und ihre
Verhütung. Th. d. Geg, 1920.
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1921
55
bedeutet es eine Gefahr für das Kind.
Selbst gute Wehen überwinden Weich-
tei[Schwierigkeiten nicht so schnell, wie
es z. B.' bei kindlicher Asphyxie nötig
ist. Drängt dann die starke Pituglandol-
wehe von oben und die rigide Scheide
oder der straffe Damm von unten, so
kann das Kind absterben. Ich vermeide
also das Pituglandol, besonders in Form
der intravenösen Injektion bei Rigidität
der Scheide oder des Dammes. Wagt
man es doch zu geben, so muß man
gerüstet s.ein, im Fall der Verschlechte¬
rung des kindlichen Befindens die Frau
sofort durch Scheidendammi'ncisionen
oder mittels Zange zu entbinden. Diese
muß also in- derartigen Fällen stets
prophylaktisch ausgekocht sein.
Die Gefahr der
hohen Zange
ist bekannt. Möglich ist sie beim engen
Becken nur, wenn der Kopf den verengten
Beckeneingang zum größten Teil schon
überwunden hat. Auch dann noch ist
die kindliche Mortalität groß; denn die
quer zum Beckeneingang, frontooccipital
am Schädel angelegte Zange, vergrößert
durch unvermeidliche Kompression gerade
den Durchmesser, der durch die verengte
Conjugata vera hindurch soll. Hier leistet
die intravenöse Injektion oft aus¬
gezeichnete Dienste. Wenn ein Durch¬
tritt überhaupt möglich ist, wenn der
Kopf konfigurabel und durch Wehentätig¬
keit schon konfiguriert ist, dann genügt
oft die sehr starke Pituglandolwehen-
tätigkeit dazu, den Eintritt ins Becken
zu erzwingen. Hinzu kommt, daß der
während der ersten Wehen steinharte
Uterus das Mitdrücken von außen, das
„Kristellern“ viel wirksamer macht, als
es beim schlecht kontrahierten Uterus
möglich ist. So kann die hohe Zange
fast stets umgangen werden; der Kopf
tritt ins Becken ein, und wenn dann noch
eine Zange nötig ist, so kann sie jetzt am
im Becken stehenden Kopf angelegt
werden. Gelang es den Pituglandol-
wehen nicht den Eintritt zu erzwingen,
so ist nach meinen Erfahrungen eine
hohe Zange nicht ohne Schaden für das
Kind möglich und der Fall reif zum
Kaiserschnitt oder zur Symphyseotomie.
Ich verfüge über 25 Fälle von engem
Becken, die erfolgreich mit intravenöser
oder intramuskulärer Pituglandolinjek-
tion behandelt wurden. Da es sich beim
engen Becken meist nur um Becken¬
eingangsverengerungen handelt, so ist,
besonders bei Mehrgebärenden die Wir¬
kung des' intravenös injizierten Pitu-
glandols oft direkt überraschend. Die
erste Wehe, die den Kopf ins Becken preßt,
drängt ihn auch oft durch die Vulva
hindurch und beendet so die sich schon
stundenlang hinziehende Geburt. Ich
glaube sicher, daß besonders durch die
intravenöse Anwendung des Pituglan-
dols viele .Wendungen wegen As¬
phyxie, alle prophylaktischen Wen¬
dungen und alle hohen .Zangen aus
der Therapie des engen Beckens schwin¬
den werden. Folgende Beispiele mögen
zur Illustration dienen.
1. 37jährige 3 p. Plattes Becken. Mutter¬
mund handtellergroß. Wehen fehlen seit zwei
Stunden. Kopf quer im Beckeneingang. Vorder¬
scheitelbeineinstellung. Schwankende Herztöne.
Injektion von 1 ccm Pituitrin intravenös mit
vorzüglichem Erfolge, 30 Sekunden nach Beginn
der Injektion wird das Kind lebend geboren.
2. 39jährige 8 p. Plattes Becken. Mutter¬
mund völlig erweitert. Blase gesprungen. Kopf
beweglich im Beckeneingang. Wehenschwäche.
Injektion von 1 ccm Pituglandol intravenös.
Nach wenigen Sekunden tritt eine drei Minuten
dauernde Wehe auf, die sofort das Kind ins
Becken und aus der Vulva heraus treibt.
3. 22jährige 1 p. Allgemein verengtes plattes
Becken. Muttermundsaum gerade noch zu fühlen
Kopf fest auf den Beckeneingang aufgepreßt.
Temperatur 38,6. Injektion von 1 ccm Pitu¬
glandol intravenös mit dem Erfolg, daß der
Kopf nach zwei Minuten in der Vulva sichtbar
wird -und die Geburt nach sieben Minuten be¬
endet ist.
4. 41jährige 3 p. Schwankende Herztöne
bei leicht verengtem Becken und sehr großem
Kinde. Kopf beweglich im Beckeneingang.
Pfeilnaht quer. Gleich die erste Wehe nach der
intravenösen Injektion treibt den Kopf ins Becken;
danach werden die Herztöne kräftig und regel¬
mäßig. Die Geburt ist nach weiteren zehn Minuten
beendet. Kind zehn Pfund schwer, 56 cm lang.
Mit der subcutanen Injektion erreicht
man nicht so sicher eine so gute Über¬
windung des verengten Beckeneingangs.
Daß eine gewisse geburtshilfliche Er-
fahrung gerade in derartigen Fällen nötig
ist, daß man ungefähr die Möglichkeit
eines Durchtritts des Schädels durch
den Beckeneingang abschätzen können
muß, versteht man von selbst.
Beim
tiefen Querstand
ist eine spontane Umwandlung durch
Seitenlägerung nur bei guten Wehen
erzielbar; sonst muß die Geburt durch
eine nicht stets sehr leichte, schräg anzu¬
legende Zange beendet werden. Mehr¬
fach ist es uns gelungen, die zur Um¬
wandlung nötigen starken Wehen durch
Pituglandol zu erzielen und dadurch
die Zangenoperation zu erleichtern oder
auch zu umgehen. Hierbei ist die intra¬
muskuläre Injektion der intravenösen
56
Die Therapie der Gegenwart 1921-
Februar
gleichwertig, wegen der längeren Wir¬
kungsdauer vielleicht sogar vorzuziehen.
Beim tiefen Querstand empfiehlt übrigens
auch Jaschke^) die Injektion eines
guten Wehenmittels zur Umwandlung
der Stellungsanomalie.
Ich handele in Fällen, in denen ich
durch Pituglandolinjektion eine Zangen¬
operation vermeiden will nach folgenden
Grundsätzen. Keine Zangenopera¬
tion sollte ohne vorausgehende oder
unterstützende intravenöse Pitu¬
glandolinjektion vorgenommen wer¬
den. Andererseits sollte, wenigstens bei
rigiden Weichteilen keine intravenöse
Pituglandolinjektion ausgeführt wer¬
den, ohne daß alles zur etwa sofort vor¬
zunehmenden Zangenoperation vor¬
bereitet ist.
Es kommt garnicht selten vor, daß
man nach Injektion des Pituglandols
mit der zur Extraktion angelegten Zange
den stark andrängenden Kopf zurück¬
halten muß, damit er nicht unter Zer¬
reißung des Dammes zu schnell durch¬
schneidet.
Neu ist die Verwendung der Hypo¬
physenpräparate bei der
Beckendurchtrennung.
Hier stehen sich bezüglich der anzu-
sciibcßenden Geburtsleitung zwei An¬
sichten gegenüber. Soll man die Spon¬
tangeburt nach der Beckendurchtrennung
abwarten, oder sofort, das heißt operativ
entbinden ? Ich nehme von beiden Ansich¬
ten das Gute. Die sofortige Entbin¬
dung und die spontane Entbindung.
Wenn die Frau entbunden ist, so kommt
die Knochenwunde zur Ruhe, die Frau
braucht nicht mit durchtrenntem Becken
noch weiter zu kreissen, nach der Ent¬
leerung des Uterus hört die Blutung
aus der Operationswunde, wenigstens bei
der Symphyseotomie fast von selbst auf.
Solange man diese sofortige Entbindung
nur operativ erzielen konnte, womöglich
durch eine Wendung, mußte man als
Nachteil die Gefahr eines jeden Ein¬
griffes für die des knöchernen Schutzes
beraubten Scheidenwände mit in Kauf
nehmen. Hier wieder überhebt uns die
intravenöse Pituglandolinjektion aller
Zweifel für unser Handeln. Jßtzt sind
wir imstande die Geburt schnell, aber
spontan zu Ende zu führen. War der
Fall für eine Beckendurchtrennung ge¬
eignet, so genügt die sofort nach der
Durchtrennung vorgenommene intra¬
venöse Pituglandolinjektion zusammen
mit Impression des Schädels und Kristel¬
lerscher Expression trotz der noch be¬
stehenden Narkose fast stets dazu, den
Kopf ins Becken zu drängen; meist bis
zur Sichtbarkeit. Eventuell hilft nun
eine für die Weichteile der Mehrgebären¬
den (denn nur bei diesen rate ich zu
diesem Verfahren) ganz ungefährliche
Beckenausgahgszange die Geburt schad¬
los beendigen.
Empfehle ich die intravenöse . Ver¬
wendung der Wehenmittel zur Über¬
windung von Beckeneingangsverengerun¬
gen, so muß ich im Gegensatz dazu vor
ihrer Verwendung bei B ecken au sgangs-
verengerungen warnen, oder doch dar¬
auf aufmerksam machen, daß hier größte.
Vorsicht bei ihrer Anwendung am Platze
ist. Hier gilt dasselbe, was für Rigidität
der . Scheide und des Dammes gesagt ist.
Kurze starke Wehen vermögen im all¬
gemeinen den durch Beckenausgangs¬
verengerung gesetzten Widerstand nicht
zu überwinden. Das Kind kommt durch
den Gegendruck in Lebensgefahr. Eine
Scheidendamminzision ist in solchen Fäl¬
len viel mehr am Platze. Bei Verwendung
eines stark wirkenden Wehenmittels muß
also die Zange ganz gewiß fertig aus¬
gekocht zur Hand sein.
Beckenendlagen.
1,4% Mortalität, über die ich bei einem
Material von über 200 Fällen primärer
Beckenendlagen berichten konnte (die
Zahl der Fälle hat sich seitdem bei
gleich günstigem Resultat fast verdoppelt),
gegen 10 bis 15% durchschnittlicher Mor¬
talität in der Literatur, sind gewiß ein
gutes Resultat. Dies verdanke ich in
erster Linie der rationellen Anwendung
des Pituglandols. Die in Beckenendlage
liegenden Kinder sterben, wenn nach der
Geburt des Rumpfes der Kopf nicht
schnell genug folgt. Hochgeschlagene
Arme oder schlechte Einstellung des nach¬
folgenden Kopfes sind die Ursachen für
das Steckenbleiben; beides oft genug die
Folge schlechter Wehen, und dadurch
provozierter vorzeitiger Extraktion, die
ohne gleichzeitige Wehenwirkung vor¬
genommen wird. Geschieht der Durch¬
tritt des Kindes unter Wehenwirkung,
so bleiben die Arme viel häufiger am
Rumpfe liegen, als wenn der Uterus
schlaff und ohne Einfluß auf die Haltung
des Kindskörpers ist. Also darf nur im
Augenblick einer Wehe extrahiert werden.
cf. Sachs, Die Behandlung der Beckenend-
lagen. Zschr. f. ärztl. Fortbild. 1917, Heft 9.
=') Geburtshilfe, IV. Aufl. 1920, S. 169.
Februar
57
Die Therapie der
Das erreichen wir durch Injektion eines
guten Wehenmittels, intramuskulär, wenn
wir zeitig genug dazu kommen; intra¬
venös, wenn wir, wie stets hach Wendun¬
gen, nicht fünf Minuten bis auf den Ein¬
tritt der Wirkung warten dürfen. Auch
in diesen Fällen erlaubt die starke Uterus¬
kontraktion gute Unterstützung durch
Expression von außen.
Die Verwendung eines sehr gut wirken¬
den Wehenmittels ist bei der Entwick¬
lung des in Beckenendlage zur Geburt
stehenden Kindes eine sehr wirksame
Unterstützung', auf die niemals verzichtet
werden sollte, wenn auch nur die gering¬
sten Schwierigkeiten bei der Geburt zu
erwarten sind. Die Gesamtzahl von nur
3,5 % toter Kinder bei über 300 Fällen
von primärer und sekundärer Becken¬
endlage ^), spricht für die Richtigkeit
meiner Behauptungen.
Daß bei
Querlage
in der Austreibungsperiode jedes zu starke
Wehenmittel kontraindiziert ist, brauche
ich nicht zu betonen. Wohl aber habe
ich Pituglandol mit Erfolg in der Er-
öffnungspericde gegeben; stets nur bei
stehender Blase. Ist diese gesprungen,
so würde ich das Pituglandol nur ungern
verwenden, nie intravenös, damit nicht
die zu starken Wehen zu viel Frucht¬
wasser heraustreiben und eine spätere
Wendung erschweren.
Ein weiteres Kapitel, in dem das
Pituglandol die Geburtsleitung verein¬
facht hat, ist das Gebiet der
Placenta prävia.
Die einfachste und für Mutter und Kind
beste Behandlung, die Blasensprengung,
scheitert oft daran, daß der voran¬
gehende Teil infolge mangelhafter Wehen¬
tätigkeit nicht nachrückt, und daß dann
die Blutung infolge Fehlens einer Kom¬
pression nicht zum Stehen kommt. Durch
eine intramuskuläre Injektion ist diese
so notwendige Wehenwirkung fast stets
zu erreichen. Dann steht die Blutung
so lange, wie die Wehen andauern. Hören
sie auf, so sind sie durch eine zweite
Injektion wieder zu erzielen. Dabei
erweitert sich zugleich der Muttermund
und eine nun doch noch etwa notwendig
werdende Metreuryse oder eine kombi¬
nierte Wendung ist nun viel leichter aus¬
führbar. Sehr viel häufiger als früher
kommt man daher jetzt mit der Blasen¬
sprengung in Verbindung mit Pi-
tuglandolinjektion allein aus.
Gegenwart 192T
Nach der kombinierten Wendung bei
Placenta prävia ersetzt ein wirklich gutes
Wehenmittel die hier nie ganz ungefähr¬
liche Belastung am Bein; denn die Cervix¬
erweiterung durch Wehenwirkung ist nach
der kombinierten Wendung ungefähr¬
licher als die bei Placenta prävia durchaus
zu verurteilende Cervixdehnung durch
Zug am geborenen Kindesteil.
Daß auch bei anderen Indikationen
zur kombinierten Wendung, z. B. bei vor-
zeitiger Lösung der Placenta bei
normalem Sitz, eine intravenöse
Pituglandolinjektion, hier zusarrtmen mit
einem Dauerzug am herabgeschlagenen
Bein, die Geburt sehr verkürzt und Cervix¬
inzisionen unter Umständen unnötig
macht, leuchtet ein.
Bisher handelte es sich stets mehr
oder weniger um Wehenschwäche. Es
gibt aber auch andere Indikationen zur
Geburtsbeschleunigung, und gerade in
den Fällen, in welchen keine Wehen¬
schwäche vorliegt, ist die Wirkung der
Wehenmittel eine besonders gute. Die
Behandlung des Infektionsfiebers mitPitu-
•glandol habe ich schon erwähnt. Die
Behandlung der Rectusdiastase,
die unter Umständen so stark sein kann,
daß eine Wirkung der Bauchpresse völlig
fortfällt, schließt sich hier an. In derartigen
Fällen gelingt es meist, die Wirkung des
Uterusmuskels so zu verstärken, daß diese
allein zur Geburtsbeendigung genügt. In
Fällen, in denen die Frauen aus Angst vor
Schmerzen, einmal auch in der bewußten
Absicht, die Geburt des unerwünschten,
unehelichen Kindes zu verhindern, jede
Bauchdeckenwirkung unterdrückten, ist
es mir mehrfach gelungen, durch Wehen¬
verstärkung so stark reflektorisch auf die
Bauchpresse zu wirken, daß die Frauen
mitpressen mußten, ob sie wollten oder
nicht.
. Sehr bedeutungsvoll und bisher noch
nicht in diesem Zusammenhänge bespro¬
chen, ist die
Behandlung der kindlichen
Asphyxi e.
Ich habe meine sämtlichen Fälle, in
denen Pituglandol verabreicht wurde,
auf die Frage der Beeinflussung durch
das Mittel untersucht. 1917 konnte ich
über 31 Fälle von beginnender As¬
phyxie berichten ^), bei denen ich durch
intravenöse Injektion schnellstens die
Geburt zu beenden und die Kinder aus.
der drohenden Lebensgefahr zu retten
®) Mschr. f. Geburtsh., Bd. XLV.
8
58
.Die Therapie der Gegenwart 1921 .
Febf^uar.
vermocht hatte. In sieben Fällen von
beginnender Asphyxie in der Eröffnungs¬
periode gelang es, die Geburt glücklich
für das in Schädellage liegende Kind zu
Ende zu führen. Nie allerdings war der
Muttermund kleiner als kleinhandteller¬
groß. Fünfmal wurde .dabei nach kürze¬
ster Zeit ohne Muttermundsinzision eine
leichte Zange möglich. Einmal, nach
Nabelschnurreposition bei handteller-gro¬
ßem Muttermund erfolgte fast sofort die
spontane Geburt eines lebensfrischen Kin¬
des, im siebenten Falle erholten sich die-
Herztöne während der durch Pituglandol
erreichten vollkommenen Erweiterung des
Muttermundes so, daß die Spontangeburt
abgewartet werden konnte.
Noch sicherer sind die Resultate in
der Aüstreibungsperiode. Hier berichtete
ich über 24 Fälle mit zwei Erstgebärenden
(die Zahlen haben sich seitdem natürlich
sehr erhöht). Zehnmal bestand neben der
drohenden Asphyxie .ein leichtes Mi߬
verhältnis zwischen Kopf und Becken¬
eingang; stets allerdings derart, daß die
gereifte geburtshilfliche Erfahrung die
Spontangeburt bei guten Wehen für mög¬
lich erachten, durfte. Stets konnte die
■ Geburt nach der intravenösen Injektion
in kürzester Zeit mit lebendem Kinde
beendet werden. Die Zeiten schwankten
zwischen 30 Sekunden und einigen Minu¬
ten. In zwei Fällen, in denen es bis zur
Beendigung der Geburt zehn Minuten
dauerte, erholten sich die Herztöne nach
Überwindung des Beckeneinganges. In
all diesen Fällen wurde also die sonst
im Interesse des Kindes notwendige Wen¬
dung und Extraktion vermieden. Unter
meinen Fällen von drohender Asphyxie
bei über dem Becken stehendem Kopf,
befindet sich ein Fall von Nabelschnur¬
vorfall, den ich derart zu einem glück¬
lichen Ende führen konnte.
Ich hatte das Becken gerade vorher untersucht.
Der Muttermund war völlig erweitert. Bei der
Untersuchung durch den Studenten sprang die
Blase. Dabei fiel mehr Nabelschnur weit vor die
Vulva. Da ich nicht desinfiziert war, wagte ich es,
die Geburt durch eine intravenöse Pituglandol-
injektion zu beendigen, was mir gut gelang.
In den übrigen Fällen stand der Kopf
im Becken. Die Geburt war beendet in
diesen Fällen: achtmal sofort, einmal
nach einer Minute, einmal nach drei
Minuten, einmal nach fünf und nach
sieben Minuten. Nur einmal genügte die
Injektion (0,5 ccm) nicht sofort zur Ge¬
burt, so daß eine Zange nötig wurde.
Auch bei Beckenendlagen wandte ich
das Mittel wegen Asphyxie erfolgreich an.
In allen Fällen würde die Extraktion da¬
durch sehr erleichtert. Erwähnenswert
scheint mir besonders folgender Fall.
Frau W. 27 j ährige M. p. Sehr fette, gedrungen
gebaute Frau, die schon mehrere Kinder, teils
i. p., teils nachher verloren hatte. Einfache Stei߬
lage. Muttermund völlig erweitert. Blase ge¬
sprungen. Herztöne sinken plötzlich auf 60 bis 80.
Die innere Untersuchung zeigt, daß der Steiß
fest in Beckenmitte steht. Man fühlt die straff
gespannte Nabelschnur zwischen den Gesä߬
backen hindurchziehen. Beim Versuch, die
Nabelschnur über eine Gesäßbacke hinwegzu¬
streifen, reißt die Schnur ab. Sofortige Injektion
von Iccm Pituglandol intravenös, unterstützt
durch Expression, befördert nach wenigen Minuten
den Steiß soweit heraus, daß man bequem mit
dem Finger die Extraktion beenden kann. Die
Nabelschnur spritzt. Kind lebt. 8 Pfund schwer.
Hier wäre ohne die Injektion nur eine
sehr schwere Extraktion imstande ge¬
wesen, das Kind zu retten. Bisweilen war
das durch derartige starke Wehenwirkung
schnell geborene Beckenendlagenkind,
ohne daß eine Asphyxie bestanden hätte,
kurze Zeit kreideweiß. Dies erkläre ich
mir durch die starke Kompression, die die
ganze Oberfläche des Kindes durch den
stärkst kontrahierten Uterus erfuhr, be¬
sonders, wenn die Scheide nicht allzuweit
war. Einen Schaden habe ich bei meinen
Fällen- nie erlebt. Sollte die, Wirkung
einmal nicht genügen, so hat man je nach
Lage des Falles immer noch die Möglich¬
keit zur Zange, zur Wendung und Ex¬
traktion, die in tiefer Narkose trotz
der Pituglandolwirkung stets möglich
ist, oder — in klinischem Betrieb —
zur Beckenspaltung. Oft genug erholen
sich die Herztöne eines mit dem Kopf
im Beckeneingang eingeklemmten Kindes
schnell, sobald nach einer kurzen inten¬
siven Wehenwirkung der Kopf den Bek-
keneingang überwunden hat.' Abzu¬
raten ist vor der intravenösen Pitu-
glandolinjektion bei Asphyxie, wenn
es sich um Rigidität alter Erst¬
gebärender handelt. Gleich nach der
Injektion sinken oft die Herztöne auf
100 oder 80, um sich nach einigen-Minuten
wieder zu erholen. Dies nur durch die
starke Wehe bedingte Sinken der kind¬
lichen Herztöne hat nichts zu sagen und
braucht uns nicht zu einem Eingriff zu
veranlassen, falls nicht schon vorher
Zeichen einer sonstwie bedingten Störung
des kindlichen Kreislaufes bestanden.
Soviel von den Indikationen. Es gibt
natürlich auch
Kontraindikationen
und unrichtige Anwendungen. Ein Nachteil
der ausgezeichneten Wirkung ist, daß das
Mittel von Studenten, die seine schöne
Februar
Die Therapie d^r Gegenwart 1921
59
“Wirkung im Kreissaal oder in der Poli¬
klinik sehen, wahllos im geburtshilflichen
Kolloquium empfohlen und dann viel¬
leicht auch in der Praxis angewendet wird.
.So kann es zu ganz törichten Indikations-
:stellungen kommen. -Die eigentlichen Miß-
-erfolge beruhen meist auf falscher An¬
wendung. Eine Schwangerschaft läßt
sich durch Pituglandol nicht unterbrechen;
wenn am Ende der Tragezeit die Blase vor¬
zeitig gesprungen ist, so kann die Geburt
durch Wehenerregung ab und zu in Gang
gebracht werden.. Eine Sicherheit im
Erfolge besteht aber nicht. Bei über¬
dehntem Uterus tritt ohne Entlastung
der Muskulatur auch nach Pituglandol-
injektion keine geregelte Wehenwirkung
•ein; Rigidität des Muttermundes und der
'Scheide trotzen oft den besten Wehen.
Derartige falsche Anwendungsformen muß
man kennen, weil in bestimmten Fällen
die schnell auf die Injektion folgende Be¬
endigung der Geburt die Voraussetzung
für die Anwendung des Mittels ist, wie
X, B. bei Asphyxie.
Die
Gefahren
der erwähnten Wehenmittel sind nicht
groß, wenn man falsche Indukations-
stellungen vermeidet. Stets ist aller¬
dings eine genaue Kenntnis der Lage
nötig; Krampfwehen, eine Querlage mit
drohender Uterusruptur und dergleichen,
dürfen nicht noch mit Wehenmitteln
behandelt werden, ebensowenig ein Nabel¬
schnurvorfall in der Eröffnungsperiode
ohne vorhergegangene Reposition. Fälle
mit stark erhöhtem Blutdruck verlangen
wegen der durch die starken Wehen
bedingten Blutdrucksteigerung einen vor¬
hergehenden Aderlaß. Eine Uterusruptur
habe ich nicht erlebt, obwohl ich das
Mittel oft genug bei engem Becken nach
lange vergeblicher Geburtsarbeit gab. Da¬
bei aber unterstützte ich die Uterus¬
wirkung regelmäßig durch starkes Mit¬
drängen von den Bauchdecken her, wo¬
durch nicht nur die treibende Kraft
verstärkt, sondern vielleicht auch die
Überdehnung des unteren Segmentes ver¬
mindert wird.
Bei hochgradiger Wehenschwäche be¬
steht eine scheinbare Neigung zu Nach¬
blutungen. Aber nur dann, wenn die
Wirkung des in partu gegebenen Pitu-
iglandols aufgehört hat und die Nach¬
geburtsperiode erst zu einer Zeit eintritt,
ln der die Wehenwirkung schon vorbei
Ist. Dann aber handelt es sich nicht um.
eine nach Pituglandol entstandene Atonie,
sondern um das Wiedereintreten der vor¬
her schon vorhandenen. Gibt man bei
Wehenschwäche im Augenblick der Ge¬
burt des Kindes eine erneute Pituglandol-
gabe, eventuell kombiniert, nach Austritt
der Placehta mit Ergotin, so vermeidet
man alle Nachblutungen.
Das sind die verschiedenen Anwen¬
dungsgebiete der Hypophysen extrakte
und, falls es sich bewähren sollte, des
intervenös gegebenen Chinins- Ich wollte
mit meiner Aufzählung zeigen, welchen
Einfluß diese Mittel auf die Leitung
der Geburt gewinnen können. Durch
ihre rationelle Anwendung können wir die
entbindenden Operationen, dieZan-
ge und Extraktion am Beckenende, stark
einschränken (z. B. in vielen Fällen
von Asphyxiegefahr), oder sie doch in
ihrer Ausführung erleichtern (z. B.
die Zange bei tiefem Querstand oder am
noch nicht zangengerecht stehenden Kopf
und die Extraktion nach Wendungen).
So mancher verengte Beckeneingang
kann unter , Umgehung der hohen
Zange oder der prophylaktischen
Wendung überwunden werden,
Repositionsmanöver bei Arm- und
Nabelschnurvorfair, die früher oft wegen
Wehenschwäche zu keinem Erfolg führten,
können jetzt erfolgsicherer vorgenommen
werden; ebenso die Blasensprengung
bei Placenta prävia und die kom¬
binierte Wendung. Bei Fieber und
nach Beckendurchtrennungen kön¬
nen wir den Forderungen der möglichst
schnellen, aber auch möglichst spon¬
tanen Entbindung jetzt Rechnung
tragen und bewahren dadurch die Frauen
vor der Gefahr operativen Eingreifens
bei diesen beiden Zuständen. Gute
Wehenmittel schützen vor zu langer Dauer
der Geburt mit den Gefahren der Ent¬
kräftung und Infektion und zugleich
vor den zur Verhütung dieser Zustände
früher vorgenommenen operativen Ein¬
griffen. Daß wir ein neues Mittel zur B e-
hebung der kindlichen Asphyxie-
gef-ahr in die Hand bekommen haben,
ist gewiß auch nicht zu verachten.
Vor allem aber sind die Gefahren der
Nachgeburtsperiode, vor und nach
Lösung und Ausstoßung der Plä-
centa auf ein Minimum herabgedrückt
worden.
Gute Wehentätigkeit ist eben eine der
wichtigsten Bedingungen für den norma¬
len Ablauf der Geburt. Es wäre segens¬
reich für die Frauen, und beruhigend für
8*
63
. Februar
Die Therapie der Gegäiwart 1921
die Ärzte, wenn die neuen, von mir er¬
wähnten Wehenmittel noch viel konse¬
quentere Verwendung fänden, als es bisher
der Fall zu sein scheint.
Anmerkung. Pituglandol, das noch nicht
wieder in Apotheken erhältlich ist, wird von den
Chemischen Werken Grenzach (Berlin, Wilhelm¬
straße 37/38) auf direkte Anfrage für Geburtshelfer
unter Verrechnung über eine Apotheke geliefert..
Über Hypnotherapie.
Von Dr. med. Alfred Rothschild (Karlsruhe.)
Die kritisch angewandte hypnotische
Therapie stellt große Anforderungen an
den gewissenhaften Arzt, wie auch an
die Ausdauer der Patienten. Es gibt-
gewiß eine größere Anzahl geeigneter
Fälle, die sofort auf die Hypnose an¬
sprechen und den Heilsuggestionen zu¬
gänglich sind. Andererseits müssen sich
gewisse Kranken erst in die neuartige
Situation einleben, in die sie bei hypno¬
tischer Behandlung, eintreten. Allmählich
legen sie das Mißtrauen ab und geben
sich dann gern und willig der Leitung
des Arztes hin. Die Behandlungsdauer
läßt sich in keinem Falle im voraus be¬
stimmen. Eine Unterbrechung der ein¬
geleiteten Heilbehandlung, wie sie oft¬
mals vorgenommen wird (Kuraufenthalte,
Reisen zu Verwandten) kann den ganzen
Erfolg-illusorisch machen oder die, Be¬
handlung unendlich in die Länge ziehen.
Eine hypnotische Behandlung hat mit
der bestimmten Forderung an den Pa¬
tienten zu beginnen, daß er außer mit
seinen allernächsten Angehörigen mit
niemand über die Behandlung spricht
und sich in keinerlei Diskussionen über
den Heilwert einläßt. Die Gedanken des
Patienten müssen ganz auf die Maß-
nahmien des Arztes eingestellt werden,
doch muß eine kontrollierende und kri¬
tisierende Beobachtung unter allen Um¬
ständen ausgeschaltet werden. Nur dann
läßt sich die Erschwerung hypnotischer
Arbeit verhindern. Auch bei hochgebil¬
deten Personen sind zweifellos gute Er¬
folge zu erzielen, nur müssen bei deren
Behandlung die Suggestionen feiner nuan-
ziert und vor allem plausibel gehalten
sein. Jeder einzelne Fall soll individuell
behandelt werden. Auch ein gewisser
Wechsel in der Art der Schlafsuggestionen
muß ab und zu vorgenommen werden,
wenn der Kranke nicht dazu gebracht
werden kann, auf Kommando einzu¬
schlafen. Bei der Hypnose kommen zeit¬
lich zweierlei Suggestionen in Anwen¬
dung: die Schlafsuggestionen, die der
Einleitung des hypnotischen Zustands
dienen, und die Heilsuggestionen, die in
der Hypnose bestimmt, klar, eindeutig
und überzeugend gegeben werden müssen.
Eine Variation bei den Heilsuggestionen-
kommt viel weniger in Frage als bei den.
Schlafeingebungen. Oftmals genügt nach
einigen hypnotischen Sitzungen lediglich
die Hypnose als solche, die Krankheits¬
symptome weiterhin verschwinden lassen.
Denn die immer weiter sich vertiefende
Autosuggestion des Kranken erkennt in.
der Hypnose selbst den Heilwert.
Sehr oft bekommt der Praktiker Fälle,,
zu sehen, die in erster Instanz von Laien¬
hypnotiseuren „vorbehandelt“ sind. Han¬
delt es sich dabei um Kranke mit organi¬
schen Leiden, wie es öfters der Fall ist,,
dann wurden sie bald von der Minder¬
wertigkeit dieser Laienarbeit überzeugt..
Zweifellos gehört es zu den verantwor¬
tungsvollsten Schritten des Hypnothera-
peuten, wenn er sich an einzelne Sym¬
ptome organischer Krankheiten heran¬
wagt. Einmal kommt man leicht in fach¬
männischen Kreisen in Verruf, Dilet¬
tantenarbeit zu leisten, zumal wenn auch
einmal eine erfolglose Behandlung be¬
kannt wird. Manchmal muß aber die
ganze ärztliche Autorität aufgeboten:
werden, um die Weigerung einer hypno¬
tischen Behandlung bei einem ungeeig¬
neten Fall aufrechtzuerhalten.
Beispielsweise wurde ich vor einigen Monaten
zu einer Patientin zwecks hypnotischer Behand¬
lung gerufen. Als ich zu der Kranken kam, be¬
stand ihre Begrüßung in den Worten: „Haben
Sie Ihr Werkzeug zum Hypnotisieren dabei ?“*
Bei der 72 jährigen Kranken bestand ein mani¬
scher Erregungszustand mit ausgesprochener
Ideenflucht nebst Rede- und Betätigungsdrang..
Ihre Angehörigen zwangen mich förmlich, am
Abend einen hypnotischen Versuch vorzunehmen..
Die Patientin konnte nicht in hypnotischen
Tiefschlaf versetzt werden, aber wenigstens-
soweit beruhigt werden, daß sie die eine Nachfe
wenigstens ruhig schlief. Eine weitere hypnotische
Behandlung wurde von mir strikte abgelehnt,,
da ich der Überzeugung bin, daß man bei Geistes¬
krankheiten, selbst bei leichten Formen von
Melancholie und Manie keine wesentlichen Er¬
folge erzielt, die den Aufwand an Zeit für die
Behandlung gerechtfertigt erscheinen ließen. Da
sich übrigens der Zustand bei der erwähnten
Kranken verschlimmerte, mußte sie in Anstalts¬
behandlung gebracht werden.
Erfolgreich konnte ich in einem Falle-
von Angina pectoris mit starker psychi¬
scher Überlagerung die Hypnose an¬
wenden.
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1921
6f
Es handelte sich um einen 42 jährigen Patien¬
ten, der seit 1918 an schwersten stenokardischen
Anfällen litt, täglich bekam er 10 bis 15 Anfälle,
hatte keine Nachtruhe mehr, der Schlaf blieb
höchstens eine Stunde ungestört. Der Kranke
nahm unkontrollierbare Mengen an Morphium
und Nitroglycerin zu sich. Beim' Gehen war je¬
weilsschwerste Atemnot vorhanden, Patient mußte
alle paar Schritte stehenbleiben. Als der Kranke
zu mir kam, schrie und stöhnte er laut vor Schmerz.
Eine Untersuchung war erst möglich, als er sich
das in die Handfläche gegossene Nitroglycerin
schleunigst zugeführt hatte. Die Wa.-R. war pos.
Eine darauf hin vorgenommene äntiluetische
Kur (Hg.-Neosalyarsan) blieb auf das subjektive
Befinden ohne Einfluß. Weitere Kuren machte
der Patient nicht durch. . Der Röntgenbefund er¬
gab ein nach rechts und links mäßig verbreitertes
Herz. Die Herztöne sind frei von Geräuschen.
Zweiter Aortenton etwas verstärkt. Puls 104.
Blutdruck R.R. 195 mm (derselbe war früher
angeblich 330). Urin: dauernd eiweißfrei. (Probe
mit Sulfosalicylsäure) keine Cylinder. Die Unter¬
suchung des Nervensystems ergab gesteigerte
Patellarreflexe, ebenso gesteigerte Achilles¬
sehnenreflexe, Romberg negativ, Rachen und
Würgreflexe fehlen.. Pupillenreaktionen intakt.
Da dem Patient von autoritativer Seite zur hyp¬
notischen Behandlung geraten worden war,
wurde diese in Erwägung gezogen. Patient er¬
hielt zunächst einige Tage Diuretin 0,5 Dionin
0,005 dreimal täglich, um auf die Coronargefäße
dilatatorisch einzuwirken. Alsdann wurde mit
der eigentlichen hypnotischen Behandlung begon¬
nen. In den ersten beiden Sitzungen verhielt
sich Patient refractär, um aber von der dritten
Sitzung ab in Sthlaftiefe 11 (Übergangsstadium
der oberflächlichen zur tiefen Hypnose) zu kom¬
men. Bereits nach der vierten Sitzung war deut¬
liche Besserung in dem subjektiven Befinden des
Kranken festzustellen, die Zahl der Anfälle sank
auf zwei bis drei am Tage herab, die Nacht wurde
durchgeschlafen. Anfangs wurde jeden zweiten
Tag eine hypnotische Sitzung vorgenommen,
später zweimal wöchentlich, zuletzt einmal in
der Woche, im ganzen 13 Sitzungen in sechs
Wochen. Der Blutdruck ging auf 175 mm Hg.
zurück, um hier konstant zu bleiben. (Über
Blutdruck und Hypnose soll in einem späteren
Artikel ausführlich referiert werden.) Am Schlüsse
der Behandlung war das subjektive Befinden
deutlich gebessert, Patient schläft ohne Mittel
die ganze Nacht durch. Die Zahl der Anfälle
blieb auf fünf bis sechs in der Woche reduziert
und kamen nur bei Anstrengungen oder Auf¬
regungen zur Auslösung, während im Ruhezustand
der Patient sich meistens wohl fühlte, lediglich
das Beklemmurgsgefühl tritt ab und zu "auf,
hält sich aber in erträglichen Grenzen. An dem
objektiven Befund hatte sich seit Beginn der
Behandlung nichts geändert mit Ausnahme der
nicht unwesentlichen Blutdrucksenkung. Eine
neuerdings vorgenommene Wa.-R. war schwach
positiv, so daß eine erneute Salvarsanbehandlung.
eingeleitet wurde.
Dieser Fall ist deswegen interessant,,
weil tatsächlich eine bedeutende Hyper¬
tonie vorliegt, die zu Beschwerden führt,,
bei denen sich aber der Patient in eine
große Aufregung hineinsteigert. Diese
psychische Komponente, die sich in den
scheinbar unerträglichen Beklemmungs¬
gefühlen und der hochgradig gesteigerten
Atemnot kundgibt, hat die pathologi¬
schen Vorgänge an den Coronargefäßen
überlagert und ist dankbares Objekt
hypnotischer Beeinflussung geworden.
Auf alle Fälle wird nach einigen Monaten
eine nochmalige kurze hypnotische Nach¬
behandlung notwendig sein.
Derartige Fälle sind deshalb außer¬
ordentlich wichtig, weil sie zu denjenigen
gehören, bei denen ärztliches Prestige
bei Stellung der Indikation zur Hypnose
auf dem Spiele steht. Jedenfalls glaube
ich, daß man unbedingt dazu berechtigt
ist, auch bei organischen Störungen je
nach der Sachlage die Hypnose anzu¬
wenden, wenn man wenigstens einzelne
Symptome günstig beeinflussen kann.
Selbstverständlich wird die kausale
Therapie im Vordergrund zu stehen haben.
Aber wir haben im Laufe der letzten
Jahre doch gelernt, den psychischen Vor¬
gängen und Begleiterscheinungen bei allen
Erkrankungen größere Würdigung und
Beachtung zu schenken. Die meisten
organisch . erkrankten Patienten leiden
psychisch außerordentlich unter ihrer
Erkrankung, zumal, wenn eine sexuelle
Infektion ätiologisch nicht sicher aus¬
geschlossen werden kann, diese Patienten
vergrößern dann das Gros hysterischer
und neurasthenischer Individuen. Dem
Verantwortungsgefühl bleibt es Vorbe¬
halten, dort mit der Psychotherapie ein¬
zugreifen, wo wir dem Kranken helfen
können, ohne Gefahr zu laufen, Schar¬
latanerie zu treiben.
Repetitorium der chirurgischen Therapie.
Von M. Borchardt.
Die Behandlung frischer Verletzungen.
Von M. Borchardt
Bei tieferen Schnittverletzungen der
Extremitäten ist die Durchtrennung von
funktionell wichtigen Teilen (Muskeln,
Sehnen, Gefäße und Nerven) eine häufige
Komplikation.
und S. Ostrowski. (Fortsetzung.)
Die Prüfung auf Ausfallserscheinungen
von seiten dieser Gebilde ist darum bei
allen Wunden, die tiefer greifen als die
Fascie, unbedingt vorzunehmen, und zwar
bevor die Patienten narkotisiert sind.
€2
Die Therapie der Oegenwart 1921
Februar
Es sind also alle in Betracht kommenden
Bewegungen zu prüfen, es muß die Sensi¬
bilität, es müssen die Circulationsverhält-
nisse sorgfältig kontrolliert werden.
Eine Unterlassung dieser Unter¬
suchungen kann sich später bitter rächen.
Die Stümpfe durchschnittener Mus¬
keln ziehen sich zwar proximal und distal-
wärts zurück, ihre Vereinigung ist aber
fast stets ohne weitere Hilfsmaßnahmen
zu erreichen. Allenfalls ist eine Erweite¬
rung der Wunde in der Längsrichtung
vorzunehmen. Die Vernähung der Muskel¬
stümpfe geschieht in Entspannungs¬
stellung des entsprechenden Gliedes durch
einfache Knopfnähte. Ein Schienen¬
verband sorgt für Fixierung und Siche¬
rung der Naht in der gleichen Entspan¬
nungsstellung. Nach etwa zehn bis
vierzehn Tagen beginnt man mit aktiven
und passiven Bewegungsübungen, mit
Massage und Heißluftbädern; bei unvojl-
kommenen Muskeldurchtrennungen kann
man die Fixierung schon früher aufgeben.
Größere Defekte in der Muskelfascie
dürfen nicht vernachlässigt werden. Sie
führen zuweilen zur Ausbildung von
Muskelhernien, die an manchen Stellen,
7. B. am Biceps brachii, am Rectus
femoris und an anderen Stellen, lästige
Funktionsstörungen herbeiführen können,-
Wenngleich sich diese Störungen mit
der Zeit auch auszugleichen pflegen, so
ist es doch besser, ihr Auftreten überhaupt
zu verhindern. Einige durch die Fascie
gelegte Knopfnähte werden in der Regel
zum Verschluß der Lücke genügen; eine
fortlaufende Naht oder eine Dopplungs¬
naht, die eine doppelte Fascienlage
schafft, ist manchmal noch sicherer.
Dieser hermetische Verschluß aber darf
nur angewendet werden, wenn die Wun¬
den einigermaßen rein sind.
Anlaß zur operativen Wiedervereini¬
gung durchtrennter Sehnen hat man am
häufigsten bei Schnittverletzungen an
den distalen Extremitätenabschnitten
(Verletzungen durch Glas, Messer, Sense,
Beilhieb usw.).
Das Aufsuchen besonders der in langen
Sehnenscheiden gleitenden Sehnen¬
stümpfe in centraler Richtung kann
schwierig werden, weil sie sich weit
zurückziehen.
Handelt es sich um Verletzung einer
oder weniger Sehnen, so macht ihre Auf¬
findung und Adaption kaum besondere
Mühe; anders dagegen, wenn zahlreiche
Sehnen, z. B. die ganzen Streck- oder
gar die Beugesehnen der Hand und Finger
durchtrennt sind. Die distalen Stümpfe
stellen sich meist von selbst in die Wunde
ein, wenn man, je nachdem es sich um
Durchschneidung von Streck- oder Beuge¬
sehnen handelt, den betreffenden Glied¬
abschnitt maximal beugt oder streckt.
Ihre Enden werden zunächst entweder
mit einer Naht angeschlungen oder mit
einer feinen Pinzette unter Vermeidung
jeglicher Quetschung fixiert. Mühsamer
ist die Auffindung der centralen Stümpfe.
In kleiner Wunde halte man- sich nicht
lange mit Suchen auf, sondern erweitere
sie durch ausgiebige Spaltung in der
Längsrichtung des Gliedes. Zur Sicht¬
barmachung der proximalen Enden hilft
eine Streichmassage vom Centrum zur
Peripherie, durch welche Muskeln und
Sehnen in die Wunde vorgedrängt wer¬
den. Auch die centralen Stümpfe werden
angeschlungen oder durch feine Pincen
festgehalten. Richtige* Vereinigung der
zueinandcrgehörenden Sehnenenden ist
Voraussetzung für eine spätere gute
Funktion. Die regelrechte Ausführung
einer komplizierten Sehnennaht erfordert
gute anatomische Kenntnisse und viel
Geduld. Die zusammengehörenden
Sehnenenden werden durch eine der be¬
währten Nahtmethoden vereinigt. Die
zuverlässigsten Methoden werden besser
durch die beigefügten Abbildungen illu¬
striert, als durch langatmige Schilderung
beschrieben; fast alle sind gleichwertig.
Zu starke Schnürung der Enden muß
vermieden werden, damit sie nicht nekro¬
tisch werden. Einlagerung der Naht¬
stellen unter Fett ist zweckmäßig. (Ab¬
bildung 1.)
Vor dem Verbände noch muß geprüft
werden, ob die Naht hält und ob die
Sehnen frei gleiten. Wurde in Lokal¬
anästhesie operiert, so läßt man zur
Kontrolle sofort aktive Bewegungen aus¬
führen! Hat man sich vom Erfolge der
Naht überzeugt, dann wird die Fixation
wieder in Entspannungsstellung des Glie¬
des vorgenommen, soll aber nur für mög¬
lichst kurze Zeit eingehalten werden.
Kann man sich auf seine Naht verlassen,
so darf unter Aufsicht des Arztes schon
am vierten bis fünften Tage vorsichtig
mit aktiven und passiven Bewegungen
begonnen werden. Ist sachgemäße Auf¬
sicht und Hilfe nicht vorhanden, ist die
Naht unsicher gewesen, so muß man die
Fixation auf’ zehn bis vierzehn Tage
ausdehnen.
Wenn es die Wundverhältnisse nur
einigermaßen zulassen, soll man dieSehnen-
[Februar
Die Therapie der Gegenwart 1921
63
naht unter allen Umständen primär an¬
streben. Nur bei stark verschmutztenWun-
den muß man sie bis nach Abschluß der
Wundheilung aufschieben und sekundär
.ausführen. In solchen Fällen empfiehlt
•es sich, die Stümpfe in der Nähe der
Wunde.zLi fixieren, damit sich die Stümpfe
nicht zu weit voneinander entfernen.
Wenige Tage nach der Wundheilung
führt man dann die sekundäre Naht aus.
Größere Kontinuitäts-' 3
;defekte in den Sehnen
können durch Lappenab-
^paltung vom proximalen
Sehnennaht
mach Hägler.
nach
Wölf 1er.
nach Lange.
nach
■Wilms-Sievers.
7
nach
Frisch.
Abb. 1. Methoden der Sehnennaht.
und vom distalen Sehnenende überbrückt
werden. Auch Streifen von der Fascia
lata sind zur Ausfüllung von Defekten
oder zur Umhüllung bei unsicherer Naht
warm zu empfehlen.
Die früher schon vielfach verwendete
Alloplastik mit zwischengelagerten Sei¬
den- oder Catgutfäden ist heute fast
überall entbehrlich geworden.
Nervenverletzungen werden erfah¬
rungsgemäß häufig übersehen. Nament¬
lich wird bei tieferen Schnittverletzungen
.in der Gegend des Handgelenkes auf der
Beugeseite eine Schädigung des N. me-
dianus und ulnaris vielfach verkannt.
Man schiebt die rrotorische Störung,
die sich bei den Bewegungen der Finger
: 2 eigt, mit Recht zunächst den in die
Augen fallenden Sehnendurchtrennungc-n
zu. Man vergißt, daß die über dem Hand¬
gelenk durchschnittenen Nn. medianus
und ulnaris zwar auch noch motorische,
viel mehr aber noch sensibleFasern bergen.
Deshalb ist es eine grobe Unterlassüng,
vor der Wundversorgung nicht auch die
Möglichkeit einer Nervenverletzung in
Betracht zu ziehen. Der Untersuchung
auf motorische und sensible Störung
sollte, wenn möglich, noch eine solche
mit dem elektrischen Strome vorangehen.
Auch die Nervennaht soll primär aus¬
geführt werden.
. Welche glänzenden Erfolge die Ner¬
vennaht aufzuweisen hat, haben die
Erfahrungen des letzten Krieges hin¬
reichend bewiesen. Nur bei starker Ver¬
unreinigung der Wunde, oder bei schon
bestehender Infektion ist die primäre
Naht zu unterlassen; uns ist sie aller-,
dings auch dann noch gelegentlich ge¬
lungen, empfehlen wollen wir sie aber
nicht, da der Versuch mit einem gewissen
Risiko verbunden ist. Nach langdauern¬
den Eiterungen schiebt man die Sekundär¬
naht der Nerven am besten ungefähr
sechs Monate nach Ausheilung der infi¬
zierten Wunde hinaus. Nur Nerven-
stümpfe, deren Querschnittszeichnung
deutlich normal ist und deren Konsistenz
den gesunden Nerven entspricht, dürfen
miteinander vereinigt werden. Sind die
Enden stark gequetscht oder aufgefasert,
so ist eine sparsame Anfrischung nötig.
Bei der Wiedervereinigung ist darauf zu
achten, daß die korrespondierenden Teile
des Nervenquerschnittes genau anein¬
andergelegt werden, so daß Verschie¬
bungen nach der Seite und Verdrehungen
um die Längsachse sicher vermieden wer¬
den. Da sich die Stümpfe dank ihrer
Elastizität zurückziehen wie die Sehnen¬
stümpfe, so muß man sie manchmal
bisweilen bis ins Gesunde hinein verfolgen,
um ihre normale Lagerung richtig zu
erkennen. Die korrespondierenden Stellen
der Nervenstümpfe schlingen wir durch
je drei feine Situationsnähte, die an den
Rändern und in der Mitte angelegt sind,
an. Die eigentliche Vereinigung der
Nervenstümpfe geschieht durch feinste,
nur das Perineurium fassende Nähte mit
Seide oder mit Catgut. Durch kurz¬
dauernde Kompression muß die Blutung
aus dem Nervenquerschnitt gestillt wer¬
den, denn Hämatome stehen den aus¬
wachsenden Nervenfibrillen hinderlich im
Wege.
Bei den Friedensverletzungen wird
es nur selten nötig sein, größere Defekte
64
Die Therapie der Gegenwart 1921
Februar
durch besondere Methoden' zu über¬
brücken. Die vorsichtige Dehnung des
centralen und peripheren Nervenstunipfes,
die Entspannungsstellung der benach¬
barten Gelenke werden in der Regel
genügen, um eine exakte Adaptierung
zu ermöglichen. Allenfalls können durch
Verlagerung der Nerven, z. B. des Ulnaris
aus dem Sulcus internus des Ellbogens
nach vorne, noch günstigere Bedingungen
zur Wiedervereinigung der Nerven ge¬
schaffen werden.
Bleibt bei ausgedehnten Zermal¬
mungen die direkte Vereinigung der ange¬
frischten Nervenstümpfe unmöglich, dann
müssen wir zu einem der im Kriege so
vielfach erprobten und bewährten Ueber-
brückungsverfahren schreiten. Die an¬
fangs mit großem Enthusiasmus emp¬
fohlenen Edingerschen Röhrchen, durch
deren gelatinösen Inhalt die proximalen
Nervenfibrillen hemmungslos auswachsen
und ihren Anschluß an den peripheren
Nervenstumpf finden sollen, haben uns
und anderen zuverlässigen Autoren keine
Erfolge gegeben. Mehr Erfolg verspricht
die Implantation von Nervenstücken,
deren Berechtigung Bethe durch seine
Experim.ente und Förster und Andere
durch ihre klinischen Erfahrungen be¬
wiesen haben. Am zweckmäßigsten wird
es sein, möglichst frisches oder demselben
Individuum entnommenes Nervenmaterial
zu benutzen. Steht solches nicht zur
Verfügung, so ist auch bei der Verwendung
von frischem, unter allen Kautelen der
Asepsis entnommenem Leichenmaterial,
eine erfolgreiche Implantation möglich.
Sehr aussichtsreich erscheint nach einigen
Kriegserfahrungen auch die Nerven-
pfropfung. • Sie wird am besten so aus¬
geführt, daß der distale Stumpf des ge¬
schädigten Nerven mittels feinster Su-
turen in einen Schlitz eines normalen
Nervenstamm es implantiert wird. Dabei
soll man darauf achten, daß die motori¬
schen Bündel des gelähmten mit motori¬
schen Bündeln des gesunden Nerven in
Kontakt kommen. Bei dieser Operation
muß man sich mit Hilfe der unipolaren
oder bipolaren Elektrode darüber Rechen¬
schaft geben, welches das sensible, welches
das motorische Areal des betreffenden
kraftspendenden Nerven ist. Der Kraft¬
spender selbst darf weder in seinem
motorischen noch in seinem sensiblen
Anteil zu stark geschädigt werden.
Die Frage der Umscheidung genähter
Nerven ist noch nicht eindeutig ent¬
schieden worden. Am zweckmäßigsten
erscheint es uns, wenn es- irgend möglich
ist, die Nerven zwischen normale weiche-
Fascien, Fett oder Muskelgewebe einzu-
lagern. Da haben sie ihre natürliche Gleit¬
fläche. Allenfalls kann man sie mit ge¬
härteten Kalbsarterien umhüllen. Bef
allen Manschettenbildungen, mit welchem
Gewebe man sie auch ausführt, ist darauf
zu achten, daß die Manschette weit
genug ist und nicht durch sekundäre
-Schrumpfung Schaden stiftet.
Die Erfolge einer frisch ausgeführten
Nervennaht können sich nach wenigen
Monaten schon zeigen. Sie lassen aber'
bisweilen auch lange, bis zu zwei Jahren,
und mehr, auf sich warten. Die Behand¬
lung mißlungener Nervennähte durch
erneute Operation oder ihr Ersatz durch
Sehnentransplantation wird später an
anderer Stelle besprochen werden.
Behandlung frischer Gefäß Verletzungen^
Die Versorgung kleiner Gefäße in
frischen Wunden bedarf einer Beschrei¬
bung nicht.
Die Versorgung großer Gefäße aber
hat durch die ausgezeichneten Studien
Car reis einen vollkommenen Wandel,
erfahren. Während man in früherer Zeit
Blutungen aus Gefäßwunden, wenn die
Lage und die Ausdehnung der Verletzung
es zuließen, günstigstenfalls durch eine
seitliche Ligatur oder eine fortlaufende
seitliche Naht unter Erhaltung des Blut¬
stromes zu stillen in der Lage war, mußte
man bei totaler bzw. subtotaler Durch¬
trennung eines größeren Gefäßes ohne
Rücksicht auf die folgende Ernährungs¬
störung die Unterbindung des verletzten
Gefäßrohres ausführen. Heute haben
wir in der Carrel-Stichschen Gefäßnaht
ein verläßliches Mittel, nicht nur seitliche-
Gefäßwunden zu schließen, sondern auch
vollkommen zerrissene Gefäße exakt cir-
CLilär zu vernähen, ohne Nachblutung,,
ohne Thrombose an der Nahtstelle be¬
fürchten zu müssen. Das bedeutet einen
ganz enormen Fortschritt, denn wenn
auch nicht in allen Fällen, in denen die-
Hauptschlagader eines Gliedes unter¬
bunden worden ist, Gangrän eines mehr
oder weniger größeren Gliedabschnittes
auftrat, so war das doch häufiger der
Fall, als man nach den Publikationen an¬
nehmen sollte; und wenn auch wirklich
der Brand in manchen Fällen ausblieb,,
so waren die Folgen der Ischämie doch
häufig sehr unangenehme.
Ob nach der Unterbindung der Carotis-
communis, der Femoralis, der Axillaris>
Februar
' Die Therapie der Gegenwart 1921
65
aisw. schwere irreparable oder ob leichtere
reparable Störungen auftreten, läßt sich
mit Sicherheit nicht vorhersehen. Des¬
halb muß dringend gefordert werden,
<iaß man bei allen akzidentellen Ver¬
letzungen solcher Gefäße, denen die Er¬
nährung einer größeren Körperregion zu¬
fällt, die Gefäßnaht versucht, ehe jnan
sich zur Unterbindung mit ihren unüber¬
sehbaren Folgen entschließt. Voraus¬
setzung ist freilich, daß wir es mit an¬
nähernd aseptischen Wundverhältnissen
zu tun haben, denn in infiziertem Gewebe
wird die Nahtstelle selbst infiziert, es
-leidet die Haltbarkeit und es treten,
was noch schlimmer ist, an der Naht¬
stelle septische Thromben auf.
An allen größeren und kleineren Ge¬
fäßen, an der Carotis, ist wie uns selbst,
so auch anderen, die Gefäßnaht vielfach
gelungen, ja selbst an der Aorta hat sie
Braun mit Erfolg vorgenommen.
Seitliche Wandverletzungen werden
so durch die Naht geschlossen, daß man
nach Abdrosselung des verletzten Gefäßes
oberhalb und unterhalb der Verletzungs¬
stelle mittels elastischer eigens dazu
konstruierter Klemmen von Höpfner,
Carrel oder Jeger, mit Gummi¬
schläuchen oder mit Gazebändern den
Wundschlitz durch zwei Winkelnähte
strafft und die Wundränder durch, feinste
fortlaufende Naht unter sorgfältiger Aus-
krempelung
und Adaption
der Intirra
•vereinigt.
Zur Naht
werden feinste
runde oder
grade Nadeln
mit sehr feiner
paraffinierter
Seide verwen-
-det.DieDurch-
tränkung der
Seide mit Pa¬
raffin dient da¬
zu, den Faden
geschmeidig
zu machen, die Abb.2. Oefaßna it nachCanel-Sticli.
Stichkanäle
.abzudichten und Thronibenbildung zu
verhindern. (Abbildung 2.)
Die circuläre Gefäßnaht wird so aus-
geführt, daß nach temporärem Verschluß
der Gefäßenden durch eins der genannten
Hilfsmittel oder Instrumente, die Stümpfe
zunächst sauber angefrischt werden, weil
ihre Intima manchmal einige Millimeter
ins Gefäßlumen hinauf verletzt ist. Von
den Stumpfenden wird ferner die Ad-
ventitia sorgfältig entfernt. Nunmehr
werden in gleichen Abständen drei die
ganze Dicke der Gefäßwand fassende
Haltefäden angelegt und geknüpft, wäh¬
rend die Gefäßenden unter leichtem Zug
an den Klemmen aneinandergebracht
werden. Durch Anziehen der Halte¬
nähte wird das Gefäßlumen in ein gleich¬
zeitiges Dreieck verwandelt, dessen Seiten
nun durch engstichige, dicht fortlaufende
Naht mit einander vernäht werden. Die
Intima wird dabei sorgfältig evertiert,
sodaß Intima mit Intima breit an¬
einanderliegt. Die Naht der Gefä߬
scheide oder die Deckung der einreihigen
Nahtstelle durch Nachbargewebe, Fett,
Muskel oder Fascie beendigen den Eingriff.
Etwaige Nachblutungen aus den Stich¬
kanälen werden durch vorübergehende
Kompression mittels in Vaselin oder
Paraffin getränkten Gazebäuschchen ge¬
stillt. Die Naht frischer Gefäßwunden
ist leicht. Schwierigkeiten erwachsen
erst bei Spätoperationen (siehe später
Aneurysmen).
Beim Abriß von Qliedteilen oder
ganzen Gliedmassen wird in erster Linie
die Blutung Gegenstand der Behandlung
sein.
Der Arzt ist hier nur selten in der
Lage, die erste Hilfe zu bringen. Diese
Aufgabe fällt den Laien zu. Eine hin¬
reichende Belehrung derselben über die
Methoden der ersten Blutstillung ist
heute in großen Betrieben wohl fast
überall durchgeführt. Um so wichtiger
aber ist die sekundäre Tätigkeit des
Arztes. Die Gefahr der Nachblutung
aus selbst kleinen Gefäßen verlangt ihre
sorgfältige Ligatur im Stumpf; haben sie
sich von der Wundfläche zurückgezogen,
steht die Blutung zunächst infolge von
Zerreißung, Aufrollung der Intima und
sekundärer Thrombosenbildung, so muß
man dennoch versuchen, die Stümpfe
in den Muskelinterstitien aufzusuchen;
durch wiederholtes Tupfen auf die Wund¬
fläche oder durch Streichmassage vom
Centrum zur Peripherie kann man sie an
erneut auftretenden Blutpunkten in der
Tiefe des Wundtrichters erkennen und
dann versorgen. Ueber die weiteren
Maßnahmen zur Ueberwindung der Folge
des Blutverlustes wird noch später be¬
richtet.
Erlaubt der Zustand des Verletzten
außer der Blutstillung durch Ligatur
9 • ’
66
Die Therapie* der Gegenwart 1921
Februar
der zerrissenen Gefäße zunächst keine
anderen chirurgischen Maßnahmen zur
Deckung des Stumpfes, so werden wir
es zunächst mit der Anlegung eines
aseptischen Druckverbandes genug sein
lassen. Kramersche oder Pappschienen
sorgen für die Fixierung des Stumpfes.
Steigt die Temperatur, so muß man den
Kompressionsverband abnehmen, ihn
durch einen lockeren ersetzen und auch
den aufgedrückten Tampon von Tag zu
Tag lüften. Besteht die Gefahr der Nach¬
blutung, dann soll am Krankenbett,
jederzeit leicht erreichbar, ein elastischer
Gummischlauch hängen. Dem Praktiker,
der nicht allzuoft in der Lage ist, den
Abschnürschlauch zu verwenden, in
dessen Instrumentarium der Gummi
leicht verdirbt, empfehlen wir sehr, die
von Sehrt angegebenen Metallklammern.
Handelt es sich bei größeren Gliedern
nur um eine partielle Abtrennung mit
Erhaltenbleiben einer Gewebsbrücke, so
kommt es für die Erhaltung des gefähr¬
deten Gliedstückes darauf an, ob die
Hauptgefäße durchtrennt sind oder nicht.
Sind sie intakt, so können Gliedab¬
schnitte, die nur noch mit einer schmalen
Gewebsbrücke am Körper hängen, er¬
halten bleiben. So gelang es uns, einen
im Ellbogengelenk abgerissenen Vorder¬
arm, der nur noch an der Cubitalis und
an den Nerven hing, zur Anheilung zu
bringen und eine volle Funktion des Ell¬
bogengelenks zu erzielen. Sind aber die
Hauptgefäße (Arterien und Venen) ver¬
letzt, so ist, wie wir erwähnt haben, die
Gefahr der Gangrän und Ischämie so
groß, daß stets die Gefäßnaht versucht
werden sollte. Ist sie aus Gründen der
Infektionsgefahr oder wegen weitgehender
Zerreißung des Gefäßrohres oder schwer
ausführbar, oder hält sie nicht, so ist die
Amputation des Gliedabschnittes un¬
vermeidbar.
Alt ist die Vorschrift, bei partieller
Abtrennung von Fingerkuppen oder Fin¬
gergliedern möglichst konservativ zu ver¬
fahren, d. h. dem Verletzten einen mög¬
lichst langen Stumpf zu erhalten. Auch
heute noch ist diese Vorschrift richtig
und zu beherzigen; aber dahin muß sie
zweckmäßig ergänzt werden, daß auch
Fingerstümpfe nur dann zu erhalten sind,
wenn sie den Verletzten Nutzen bringen.
Jeder, auch der kleinste Daumenrest, ist
wertvoll. Aber ein nach langem Kranken¬
lager schließlich in Strecksteilung ver¬
heilter vierter Finger stört den Arbeiter
mehr als er ihm nützt. Lose angewachsene
Fingerkuppen, sind ihm hinderlich und.
also zu entfernen. Bei allen Amputationen
und Exartikulationen ist mit Sorgfalt
darauf zu achten, daß die Greiffläche des
Fingerstumpfes narbenfrei bleibt.
An den Zehen wird mansichleichterzur
Entfernung von Phalangen entschließen,
da ihr Wegfall keine Funktionsstöruffg;
bedingt. Nur das Köpfchen des Meta¬
tarsus I und V soll man-erhalten, da sie
bei der Abwicklung des Fußes vom Wich¬
tigkeit sind.
Quetschungen, Zermalmungen. Ihre
Entstehungsursache bilden meist stumpfe;
Gewalten (Überfahrung, Pufferquet-.
schungen, Verschüttungen). Sie gehen,
häufig mit mehr oder weniger aus¬
gedehnter und schwerer Gewebsschädi¬
gung einher. Die dabei entstehenden
Nebenverletzungen werden nach den in-
den Sonderabschnitten übk ihre Behand¬
lung angegebenen Regeln behandelt. Bei
Quetschungen, Abschürfungen und Blu--
tungen der Haut selbst, meist durch Hin¬
gleiten am Boden, z. B. bei Kindern, zu¬
stande kommend, werden zunächst die
in die Haut eingetriebenen Schmutz¬
partikel durch gründliche mechanische-
Reinigung entfernt. Danach überläßt
man eventuell nach einem leichten Jod--
anstrich die Läsionsstelle unter einem
trockenen sterilen Verband der Trock--
nung. Sind subcutane oder subfasciale
Blutergüsse vorhanden, so sind sie da¬
durch entstanden, daß das lockere Unter-
hautzellgewebe beziehungsweise die Fascia
und die Muskulatur ohne Verletzung der.
elastischen und deshalb ausweichenden
Haut gedehnt, überdehnt und schließlich
zerrissen sind. Von kleinen, umschrie¬
benen Blutergüssen können alle Über¬
gänge zu den schwersten und ausgebreitet-
sten Blutungen Vorkommen. Bei gefähr¬
licher Spannung der Haut, die besonders
bei Überfahrungen durch schwerste Ver¬
letzung des Unterhautzellgewebes, an den
Extremitäten z. B., circulär völlig von
der Unterlage losgerissen sein kann (de-
collement de la peau), muß der Gefahr
der drohenden Hautgangrän durch Punk¬
tion der Blutansammlung oder mehrfache
Einschnitte vorgebeugt werden. Kleinere
Blutergüsse resorbieren sich bei Anwen¬
dung von Hyperämisierung und durch
vorsichtige Massage schnell. Ruhig¬
stellung des verletzten Gliedes bei leichter
Kompression der verletzten Teile unter
gleichzeitiger Hochlagerung dürfte sich
empfehlen. Es ist auch daran zu denken,,
daß die subcutanen Blutansammlungem
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1921
6T
starke Beimischung von Lymphe ent¬
halten können. Diese Lymphextravasate,
die sich bei Zerreißung größerer Lymph-
stämme hartnäckig immer wieder bilden
können, muß man häufig punktieren und
durch Kompressionsverbände zum Ver¬
schwinden zu bringen suchen. Die Be¬
handlung des traumatischen Hautemphy¬
sems, das gewöhnlich durch Einströmen
von Luft aus gleichzeitig mitverletzten
Teilen der Atmungsorgane, aber auch
lufthaltiger Schädelknochen z. B. in die
Gewebe entsteht, hat in der Verstopfung
der den Austritt der Luft ermöglichenden
Läsionsstelle und eventuell in der Ent¬
leerung durch mehrfache Incisionen in
die lufterfüllten Gewebe zu bestehen. Die
Behandlung des gefährlichen Mediastiiial-
ernphysems wird bei den Thoraxver¬
letzungen besprochen.
Das Resorptionsfieber, das sich an
schwere Verletzungen anschließen kann,
geht in wenigen Tagen zurück und muß
von der Erhöhung der Körpertemperatur,
die durch Infektion der Blutextravasate
hervorgerufen wird, scharf unterschieden
werden. In diesen Fällen bleibt die
Temperatur hoch oder zeigt einige Tage
nach dem Trauma dauernde Tendenz
zum Ansteigen. Dabei steigert sich ge¬
wöhnlich auch der spontane Schmerz an
der Verletzungsstelle. Alsdann ist so¬
fortige Verbandskontrolle notwendig. Je¬
der neue Verband muß ohne jeden Druck
angelegt werden.
Die Infektion bei den ungünstigen
Ernährungsverhältnissen gequetschter Ge¬
webe ist die gefährlichste Komplikation.
Findet sich bei diesen Verletzungen
auch nur die kleinste, die Haut durch¬
setzende Läsion (entweder durch äußere
Gewalt oder durch Anspießung zersplit¬
terter Knochen von innen her hervor¬
gerufen), so empfiehlt sich von vornherein
breite Spaltung des Wundganges. Alle
Taschen und Wundbuchten werden frei¬
gelegt, Blutergüsse ausgetupft, Blu¬
tungen gestillt, losgelöste Knochensplitter
entfernt. Sachgemäße Gegenöffnungen,
sorgen für bequemen Abfluß der ent¬
stehenden Wundsekrete.
Die zum' größten Teile subcutane-
Verletzung wird somit nach Möglichkeit
in eine offene verwandelt. Die oft von
ihrer Unterlage durch Blutergüsse weithin'
abgehobene Haut kann sich nunmehrr ihre
Unterlage wieder anlegen und findet da¬
durch günstigere Ernährungsbedingungen..
Die Heilung wird so beschleunigt und die
Gefahr der Gangrän schlecht ernährter
und unter Spannung stehender Hautteile
vermindert. Tritt dennoch Gangrän ein,,
so ziehen wir' anfangs den trockenen
Verband vor, um den Brand zu beschrän¬
ken. Nach erfolgter Demarkation können
dann feuchte Verbände die Abstoßung
der abgestorbenen Teile beschleunigen
helfen. Bleiben größere 'Wundflächen
zurück, so schließt man sie, wenn mög¬
lich, durch plastische Verfahren an Ort
und Stelle, durch Thierschlappen oder
durch die Epithelpfropfung nach Braun,
um den Eintritt etwaiger Contractur-
bildungen zu vermeiden. Große Wund¬
flächen in der Nähe von Gelenken darf
man unter keinen Umständen der
Spontanheilung durch Granulation über¬
lassen.
Repetitorium der inneren Therapie.
Behandlung der Krankheiten der Leber und des Pankreas.
Von G. Klemperer. (Schluß.)
Gallensteinkrankheit. Im Kol kanfall
gilt es den heftigen, oft unerträglichen
Schmerz zu stillen, zugleich auch alles
zu versuchen, was die entzündliche Schwel¬
lung der Gallenblase zur Rückbildung und
den im Gallengang eingeklemmten Stein-
zum Durchtritt'bringen könnte. Heiße
Auflagen auf die Lebergegend übertönen
den Schmerz, wirken auch hyperämi-
sierend und krampflösend; feuchte Auf¬
schläge oder Kataplasmen oder Thermo¬
phore sind so heiß aufzulegen, als der
Patient ertragen kann; doch hüte man
sich vor Verbrennungen; die lokale Hitze¬
wirkung ist so lange fortzusetzen als noch
Schmerzen bestehen. Meist erfordert der
enorme Schmerz eine Morphiuminjeklion;
am besten gibt man gleich 0,02 g; 1 cg
genügt oft nicht zur Schmerzstillung,
macht nicht selten Erregung und Er¬
brechen ; viele der sogenannten Morphium-
ersatzmittel danken ihren guten Erfolg
nur dem Umstande, daß sie in 1 ccm 0,02 g
Morphium enthalten. Die Injektion
ist bei sehr starken Schmerzen nach Be¬
darf, eventuell mehrfach, zu wiederholen;
Z. B. Trivalin, das daneben noch Spuren von
Cocain und Baldrian enthält. Auch die zu In¬
jektionen gebrauchte Pantoponlösung hat 0,02 g
Morphium in 1 ccm.
9*
68
Die Therapie der'Gegenwart 1921
Februar
sie wirkt nicht nur symptomatisch, son¬
dern oft auch kausal, indem sie durch
Lösung des Muskelkrampfes das Hin¬
durchgleiten des Steins befördert. Unter¬
stützend .und subjektiv sehr erquickend
wirkt oft ein lauwarmes Vollbad; zieht
sich der Anfall in die Länge, so empfiehlt
sich die Anlegung von etwa sechs (even¬
tuell blutigen) Schröpfköpfen in der Um¬
gegend der größten Schmerzhaftigkeit,
oder auch von zwei bis vier Blutegeln über
dem zu fühlenden Gallenblasentumor.
Während der Kolik verschmähen die
Patienten meist regelmäßige Nahrungs¬
aufnahme; sie sind zu häufigerem Trinken
yon dünnem Tee, Mineralwasser, Suppen
anzuhalten; beim Nachlassen der Schmer¬
zen ist zuerst leichte Krankenkost anzu¬
bieten, ganz langsam zur gewohnten Kost
überzugehen. Stuhlgang ist durch Darm¬
einläufe zu erzielen; anfangs lauwarm,
später kühl, am besten täglich gegeben,
unterstützt die Eingießung den Ablauf
der Kolik, indem sie die Darmperistaltik
anregt und bei längerem Zurückhalten
und Aufsaugen der Flüssigkeit auch als
Cholagogon in Frage kommt. Bei längerer
Dauer der Gallensteinkolik macht sich
das Bedürfnis nach aktiver Unterstützung
des Heilverlaufes geltend; man sucht
ihm durch Anregung der Gallensekretion
zu genügen, um vielleicht durch Ver¬
dünnung der Galle den entzündlichen Reiz
für die Gallenwege zu mindern, zugleich
die vis a tergo zu vermehren, welche dazu
"beitragen kann, den Stein aus der Ein¬
klemmung zu befreien. So scheinen die
sogenannten Cholagoga, wie Natrium sali-
-cylicum (6 :200, dreistündlich einen E߬
löffel) oder Calomel in kleinen Dosen
<zu 0,01 g zweistündlich)^) oder Sol.
Sublimati (0,1 : 10,0 zweimal täglich fünf
Tropfen) zu wirken. Auch die oft ange¬
wandte Ölkur dürfte gallentreibend, kaum
als Gleitmittel wirken. Man gab früher
•oft feinstes Öl zwei- bis dreistündlich
tee- oder eßlöffelweise, wenn nicht Brech¬
reiz vorhanden; oder man verordnete täg¬
lich Einläufe von t)is Liter Öl.
Die oft gerühmte Heilwirkung beruht
manchmal auf Illusion, da die entleerten
•anscheinenden Gallensteine sich als Mi¬
schung von Öl, Seifen und Kotbrocken
erwiesen. Bei der Beurteilung der wirk¬
lichen Heilwirkung, d. h. der schmerzlosen
Calomel 0,3
Muss. pil. q. s. ut f. pil 30
tgl, 5 St z. n.
Calomel mit Podophyllin bildet das viel ge¬
lbrauchte Chologen.
Beendigung der Kolik, ist stets zu be¬
denken, daß sie in mehr als drei Vierteln
der Fälle ohne Kunsthilfe eintritt. — All¬
zulange Dauer der Koliken läßt die Frage
der chirurgischen Beendigung hervor¬
treten; doch wird die Frage selten drin¬
gend; als absolute Indikation der Opera¬
tion im Anfall können nur Erscheinun¬
gen von drohender oder vollzogener Per¬
foration oder schwerer Sepsis gelten.
Kurzdauerndes Fieber oder vereinzelte
Fröste geben noch keine bestimmte An¬
zeige zur Operation; erst wenn das Fieber
lange andauert, namentlich aber wenn das
längere Bestehenbleiben des Gallenblasen¬
tumors auf Eiterung hinweist, wird man
sich zur Operation entschließen. Probe¬
punktion der geschwollenen Gallenblase
rate ich zu vermeiden oder sie doch erst
auf dem Operationstisch vorzunehmen,
weil sie leicht zur Infektion des Peri¬
toneums führen kann. Im allgemeinen
verläuft aber die Gallensteinkolik auch
beim Auftreten von Fieber und Schüttel¬
frost, beziehungsweise bei längerer'Dauer
beträchtlicher Schwellung ohne Eingriff
zu gutem Ende. Eine weitere Indikation
liegt im chronischen Icterus durch Ver¬
schluß des Choledochus;, auch hier ent¬
schließt man sich meist erst nach mehr¬
monatigem Abwarten zur Operation.
Nach überstandenem Kolikanfall ist
die Verhütung neuer Anfälle zu er¬
streben. Wenn noch Gallensteine in der
Gallenblase vorhanden sind, so ist dafür
zu sorgen, daß sie in Ruhe liegen bleiben,
daß Wanderung eines Steines in den
Gallengang und Infektion der Blase ver¬
mieden wird. Die Möglichkeit der künst¬
lichen' Auflösung von Gallensteinen in
der Gallenblase liegt außerhalb unseres
Könnens. Man kann einigermaßen für
Latenz sorgen durch- Vermeidung körper¬
licher Anstrengung, seelischer Erregung
und diätetischer Unregelmäßigkeit. Je
ruhiger und regelmäßiger der Patient
lebt, je vorsichtiger er Magen- und Darm¬
störungen vermeidet, desto sicherer wird
er vor neuen Gallensteinkoliken bewahrt
bleiben. Zu den prophylaktischen Vor¬
nahmen gehört auch die Vornahme einer
Karlsbader Trinkkur, teils durch gün¬
stige Beeinflussung der Magendarm¬
schleimhaut, teils durch die Anregung der
Gallensekretion, deren Verdünnung und
Strömungsbeschleunigung zur Verhütung
der Infektion beiträgt. Eine vollkommene
Sicherheit ist weder durch Ruhe und Diät,
noch durch Karlsbader Kuren zu errei¬
chen, weil die Galle oft schon infiziert ist.
Februar
Die TherapieAder* Q-egenwar't i
69
sö daß das AÜfflackern neufer .Cholangitis
und Cholecystitis von äußeren Einflüssen
unabhängig ist; gelegentlich erfolgt auch
die Infektion der Galle von der Blutbahn
aus. Treten nun. trotz genügender all¬
gemeiner und'diätetischer Schonung im-
m'er von neuem schwere Anfälle auf,
oder auch deswegen, weil der Patient
durch sozialen Zwang an der nötigen
Schonung verhindert wird, so bietet- die
chirurgische Entfernung der Gallenblase
den einzigen Weg der sicheren Prophy¬
laxe. Operativer Eingriff wird auch nötig,
wenn aus wiederholten Anfällen sich eine
Chronische Wandverdickung der Gallen¬
blase gebildet hat, die als ein harter Tumor',
an Carcinom erinnernd, zu fühlen ist. Die
Operation ist um so dringender, als sich
auf dem Boden der Cholecystitis ein pri¬
märes Carcinom entwickeln kann.
Wirksamer ist die Prophylaxe, wenn
es sich um die Verhütung neuer
Steinbildung handelt. Mag - dieselbe
nun aseptisch oder durch Galleninfektion
erfolgen, fast immer beruht sie auf einer
Verlangsamung der Gallenströniung. Die¬
ser hat die prophylaktische Beratung ent¬
gegenzuwirken, indem sie auch in diesem
Fall zuerst die Notwendigkeit diätetischer
Regelmäßigkeit und Schonung hervor¬
hebt, weil Magendarmkatarrh durch se¬
kundäre Schwellung des Choledochus zu
Gallenstauurig führt. Die diätetische Ver¬
ordnung dringe auf öfteres Einnehmen
kleiner Mahlzeiten, weil die normale
Magendarm Verdauung den physiologi¬
schen Reiz der Gallensekretion darstellt.
Wichtig ist häufige Getränkaufnahme.
Besondere diätetische Beschränkung ist
nicht notwendig; die Kost sei gemischt,
das Fett darf nicht fehlen, weil die Ver¬
dauung desselben in besonderer Weise
die Gallenströmung begünstigt. Man ver¬
gesse nicht, das langsame Essen und
gutes Kauen zu betonen. Selbstverständ¬
lich, daß jede infektiöse Gastroenteritis
zu vermeiden ist, weil die Infektion sich
direkt auf die Gallenwege fortpflänzen
und s'teinbildende Cholangitis verursachen
kann. Gelegentliche Karlsbader Trink¬
kuren sind zur Prophylaxe der Gallen-
steinbildung sicher nützlich, indem sie
den Magendarmkanal sanieren, zum Teil
wohl auch direkte Anregung reichlich^
Gallensekretion und Ströriiung. Wie weit
hierbei'die specifische Zusammensetzung
des Karlsbader Wassers mitspricht,' ist
unsicher; wesentlich-ist gewiß auch die
heiße Temperatur des'Brunnens. So ist
cs 'denn' ein TVützlicher Rat, Patienten
nach Gallensteinkaliken lange Zeit' auf
nüchternen Magen ein Glas heißes Wasser,
trinken zu lassen. Zur diätetischen Ord:-
nung tritt die hygienische Beratung, wel¬
che die Vermeidung langen Sitzens; die
Notwendigkeit häufiger . Bewegung, Vor
allem auch tiefer Atembewegungen in den
Vordergrund rückt. Es soll die Blut-
circulatiori in der Leber befördert werden,
die Atemgymnastik bedeutet eine Art von
Lebermassage. Dazu tritt die. Sorge für
zweckmäßige Kleidung; weder das Kor¬
sett noch Rockbänder oder Leibriemen
dürfen die Gallenströmung in der Leber
hemmen. Wenn durch Entbindungen
oder starke Abmagerung der Druck der
Bauchmuskulatür vermindert ist, welcher
in der Norm ein Hauptbeförderungsmittel
des Gallenflusses darstellt, ist durch
zweckmäßige Leibbinden ein Ersatz zu
besorgen.
Die Bildung neuer Gallensteine kann
insofern durch Medikamente verhindert
werden, als sie durch gallentreibende Wir¬
kung den Gallenstrom beschleunigen und
vielleicht durch Abscheidung in der Galle
desinfizierend wirken^* So- mag die ge¬
legentliche Darreichung von kleinen Calo-
mel- oder Sublimatdosen, beziehungsweise
von Ochsengalle oder Gallensäuren (vgL
S. 32) oder von Ölkuren (s. o.) auch in
anfallfreier Zeit .gestattet sein.
Luetische Lebererkrankungen. In
therapeutischer Beziehung muß hervor¬
gehoben werden, daß viele Symptomen-
bilder der Leberpathologie, die gewöhn¬
lich auf andere Ursachen zurückzuführen
sind, auch durch Lues verursacht sein
können. Icterus Simplex kann durch
sekundärluetis.che Schleimhautentzündung
der Gallenwege bedingt sein; fieberhafte
Leberschwellung, welche dem Bilde der
hypertrophischen Lebercirrhose sehr ähn¬
lich sein kann, kommt nicht selten im
Tertiärstadium vor, ohne daß die anato¬
mische Ursache immer deutlich erkennbar
ist. Atrophische Lebercirrhose, in diesem
Falle mit tiefen Lappungen einhergehend,
kann auf interstitieller Hepatitis luetica
beruhen. Spätlues führt zu Gummiknoten,
welche dem wirklichen Leberkrebs zum
Verwechseln ähnlich sich anfühlen. Schlie߬
lich kann die akute gelbe Leberatrophie
durch Lues verursacht sein. Es ist ein'
nützlicher Rat, bei allen Leberkrank¬
heiten, namentlich bei ungewöhnlichen
und langwierigen Verlaufsformen, an die
3) Leibbinden müssen individuell angefertigt
und angepaßt werden. Als gute Modelle sind 7 ai
empfehlen Kalasiris und Heragürtel. ■ ’
70
Die Therapie der Gegenwart 1921
Februar
Möglichkeit luetischer Ätiologie zu denken
und eine specifische Kur zu versuchen,
die nicht selten überraschende Erfolge
erzielt. Manchmal genügt 5 % Jodkali¬
lösung, eßlöffelweise dreimal täglich ge¬
nommen; sonst wendet man intramusku¬
läre Einspritzungen von Hg salicylicum
1:10 Paraffin liq. alle fünf Tage 1 ccm
an. Salvarsan ist bei Lebererkrankungen
besser zu unterlassen, weil es gerade in
diesem Organ anscheinend leicht Schädi¬
gungen verursacht; nur wenn ausge¬
sprochene akute Leberatrophie luetischen
Ursprungs verdächtig ist, mache man
intravenöse Injektion von 0,6 Neosalvar-
san, um durch diesen energischen Angriff
vielleicht schnelle Heilung herbeizuführen.
Erkrankungen des Pankreas. Die
akuten Pankreaserkrankungen (Entzün¬
dung und Blutung), welche mit plötzlich
einsetzenden schweren Leibschmerzen und
schnellem Kollaps einhergehen und welche
von Perforationsperitonitis nicht so leicht
diagnostisch zu trennen sind, erfordern
schnelle Laparatomie, da nur die recht¬
zeitige Ableitung des Pankreassekrets den
Heilungsprozeß eriwglicht. Beim wesent¬
lichen Verdacht akuter Pankreaserkran¬
kung soll man nicht kostbare Zeit mit
Abwarten verbringen, sich auch nicht
durch subjektive Besserung nach Mor-
phiuininjektion beirren lassen; das Klein-
und Frequentbleiben des-Pulses nach
anfänglichem Perforationsschmerz Jn der
Oberbauchgegend * bleibt für den Ent¬
schluß zur Operation maßgebend. Nur
das gleichzeitige Rückgehen der lokal-
peritonitischen.und der Allgemeinerschei¬
nungen rechtfertigt ein gewisses Zuwarten,
da mittelschwere Fälle akuter Pankreati¬
tis zur Selbstheilung gelangen können;
die Diagnose wird in diesen Fällen durch
die gleichzeitige Glykosurie sichergestellt.
In zweifelhaften Situationen heftiger Ober¬
bauchschmerzen mit Kollaps würde ich
die Laparatomie stets für weniger gefähr¬
lich halten als das bloße Zuwarten.
Die Behandlung der Pankreasstein¬
koliken, welche der Diagnose manchmal
durch die beträchtliche Glykosurie zu¬
gänglich werden, ist dieselbe wie der
Gallensteinkoliken.
Pankreascysten sind chirurgisch zu
behandeln.
Die chronischen Pankreaserkrankun¬
gen imponieren als Durchfallszustände
beziehungsweise als Steatorrhoe und wer-,
den nach der bei den Darmkatarrhen
besprochenen Grundsätzen teils diätetisch,
teils mit Pankreon (mehrmals täglich
0,5 g) behandelt (1919 S. 307).
Die chronische interstitielle Pan¬
kreatitis führt oft zu schwerem' Diabetes
(vgl. 1920 S. 229). Sofern die Krankheit
luetischen Ursprungs ist, ergibt sich die
seltene Kategorie einer durch specifische
Therapie heilbaren Form schwerer Zucker¬
krankheit.
Referate.
Die Behandlung der Bauchfelltuber¬
kulose mit Röntgenstrahlen wird von
dem Schweizer.Chirurgen Dr. E. Bireher
in Aarau auf Grund eines sehr großen
Krankenmaterials warm empfohlen. Er
hat nicht weniger als 155 Fälle von Peri¬
tonealtuberkulose mit Röntgentherapie
behandelt. Der primären Strahlenbehand¬
lung werden alle Formen unterzogen mit
Ausnahme der hochgradig ascitösen Fälle,
in denen der Ascites zur Raumbeengung
geführt hat, beziehungsweise älter als
drei bis fünf Wochen ist. In diesen Fällen
erfolgt zuerst die Operation, der sich die
Nachbestrahlung anschließt. Dieses kom¬
binierte Verfahren hat besonders bei den
hartnäckigen, rezidivierenden Fällen zu
guten Erfolgen geführt und die Mortalität
der Operation auf 4% herabgedrückt.
Die Ileocoecal- und Genitaltuberkulose
sind ebenso wie Bauchfell- und Darm¬
fisteln recht dankbare Objekte der Strah¬
lenbehandlung. Daß in leichteren Fällen
die ambulante Behandlung zur Erspa¬
rung von Zeit und Geld für den Patienten
durchgeführt werden kann, ist ein wei¬
terer Vorteil dieser Methode. Allgemeine
Therapie, wie roborierende Diät, Kom¬
bination mit Höhensonnenbestrahlung,
empfiehlt sich je nach Lage des Falles.
70% der von Bircher beobachteten
Fälle sind geheilt, beziehungsweise ge¬
bessert. Dr. Calm.
(Strahlentherapie, Bd. XI, Heft 2.
Im Cyclus der in Karlsbad abgehal¬
tenen Fortbildungsvorträge sprach Prof.
Singer (Wien) über das Duodenal-
Geschwtif, welcher vor kurzem von
H. Strauß in dieser Zeitschrift behandelt
v^orden ist (1920, S. 379).
Der Vortragende zeigt zunächst, daß
die mit vielem Geschick von dem Eng¬
länder Moynihan neu beschriebene
Krankheit eigentlich eine Reprise alter,
in Vergessenheit geratener Tatsachen ist.
Ausgezeichnete Bearbeitungen aus dem
Februar
Die Therapre der Gegenwart 1921
71
Anfang des vorigen Jahrhunderts schil¬
dern schon das Symptomenbild der jetzt
wieder modern gewordenen Krankheit,
welche dem Magengeschwür so ähnlich ist.
Während bis vor etwa einem De¬
zennium das Duodenalgeschwür als eine
sehr seltene Erkrankung galt, lehren die
statistischen Aufstellungen, daß die Zahl
der Beobachtungen von Jahr zu Jahr im
Anwachsen begriffen ist, besonders seit
den Rekordoperationen der Amerikaner
(Mayo), des* Engländers Moynihan.
ln Deutschland und Frankreich hat
man einen großen Teil der zum Duodenal¬
geschwür gehörigen Erkrankungen dem
Geschwür des Magenausganges (Pylorus),
beziehungsweise dem sogenannten ,,juxta-
pylorischen Geschwür“ (Faber, Kopen¬
hagen) zugerechnet.
Die Pathogenese, des Duodenal¬
geschwürs ergibt analoge Verhältnisse
wie beim Geschwür des Magenkörpers.
Auch hier zeigt sich, daß alte, von Mor¬
gagni und Virchow begründete An¬
schauungen in neueren Versuchen wieder
aufleben. Auch die experimentellen
Untersuchungen der Talma’schen Schule
haben ihre Vorläufer in berühmten Ar¬
beiten von J. Schiff-Ebstein, Noth¬
nagel und Brown-Sequard, welche
die Rolle des Nervensystems bei der Ent¬
stehung dieser Geschwürsformen erwiesen
haben. Die neuere Wiener und Berliner
Schule hat die Bedeutung des Nervus
vagus für das Zustandekommen von
Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüren
in das rechte Licht gerückt.
Vortragender hebt namentlich hervor,
daß den chronischen Lungenerkrankungen
(larvierte Tuberkulose) nach seinen Stu¬
dien ein wichtiger Platz bei den Ent¬
stehungsbedingungen der hierhergehörigen
klinischen Komplexe gebührt. Die. so¬
genannten charakteristischen Symptome
(Hungerschnierz usw.) sind vieldeutig und
erfordern eine genaue Detaillierung. Die
schwere Blutung faßt der Vortragende
nicht als Komplikation, sondern als inte¬
grierendes Symptom dieser Geschwürs¬
form auf, ein Ereignis, das nach seinen
Untersuchungen das Eingreifen des Chi¬
rurgen erfordert. Das Zwölffingerdarm¬
geschwür beginnt nicht selten unter dem
Bilde der Magenneurose und führt in
jahrelangem, progredienten Verlaufe zur
Verengung des Pförtners.
Die Resultate der Röntgenprüfung
sind allein nicht entscheidend für die
Diagnose, sondern nur im Zusammen¬
hang .mit allen klinischen Untersuchungs¬
behelfen zu verwerten. Mit der näheren
Kenntnis der Veiiaufseigentümlichkeiten
haben sich die Befürchtungen, die man
noch vor kurzem an das Vorhandensein
des Duodalgeschwüres knüpfte, wesent¬
lich gemildert. Auch die Erfahrungen
der operativen Therapie haben ge¬
zeigt, daß der ursprüngliche Enthusiasmus
für die Operation und die radikale Ein¬
stellung bei der Behandlung dieser Ge¬
schwürsformen nicht angebracht sind.
Von Deutschland her beginnt eine Um¬
kehr namentlich der Chirurgen zu den
konservativen Methoden der inneren
Medizin. Der Vortragende nimmt in
dieser Frage einen vermittelnden Stand¬
punkt ein. Sorgfältige Überwachung
der Lebensführung, körperliche und
geistige Ruhigstellung (nervöse Bedin¬
gungskomplexe) und diätetische Forde¬
rungen sind die Richtlinien der konser¬
vativen Behandlung. ,,Wenn die über¬
eilte Geschäftigkeit wieder der alten ab¬
wägenden und beobachtenden Haltung
der internen Klinik Platz machen wird,
dann werden die Karlsbader Quellen
jenen Kranken zugute kommen, die
schon vor Jahrhunderten inkognito hier
Heilung gefunden haben.“ q ^
Die Nierendekapsulation bei
Eklampsie, welche nach Edebohls mehr¬
fach mit Erfolg ausgeführt worden ist,
wird neuerdings von Lübbert emp¬
fohlen. Bei dem ersten Fall, den er be¬
obachtet hat, handelte es sich um eine
26jährige Erstgebärende. Die Schwanger¬
schaft war ohne Beschwerden verlaufen,
der Partus war normal. Wegen starker
Blutung wurde tamponiert. 114 Stunden
nach der Entbindung trat der erste
eklamptische Anfall auf, dem bis zum
nächsten Morgen noch 24 zum Teil
schwere Anfälle folgten. Im ganzen
wurden nur 100 ccm Urin entleert, der
0,4% Eiweiß enthielt. Nach der De-
kapsulation beider Nieren hörten die
Anfälle ganz auf, schon nach 48 Stunden
betrug die Urinmenge zwei Liter, Albumen
war nur noch in Spuren nachweisbar.
Nach drei Wochen wurde Patientin ge¬
heilt entlassen.* Die zweite Patientin
war 25 Jahre alt. Normaler Partus mit
starkem Blutverlust. Nach vier Stunden
ein eklamptischer Anfall. Nach dem
siebenten Anfall wurden beide Nieren de-
kapsuliert. Nach der Operation traten
einige ganz kurze Anfälle auf. Die Urin¬
menge vor der Operation betrug nur
einige ccm mit 0,2 % Eiweiß, zwei Tage
1 % Die Therapie der
nach der Operation aber schon 1400 ccm.
mit 0,02 % Eiweiß. Auch.diese Patientin
konnte nach drei Wochen beschwerde-
frei entlassen werden. Verfasser erklärt
die günstige Wirkung der Dekapsulation
folgendermaßen: Die Eklampsie post
partum wird durch ein latentes im
Körper auch nach Ausstoßung der Pla-
centa zurückgebliebenes Gift ausgelös.t,
das durch die Nieren ausgeschieden werT
den ..müßte. Bei der Schädigung der
Nierenfunktion ist dies aber erst möglich,
wenn durch die Operation eine Wieder¬
herstellung der Nierentätigkeit in die
Wege geleitet ist NTathorff.
(M. m. W. 1920, Nr. 48.)
Über die Gonorrhöe des Weibes sprach .
Prof. Franz im Rahmen der von dem
Deutschen Fortbildungskomitee veran¬
stalteten Vorträge über Therapie innerer
Krankheiten. Eine der größten Gefahren
für die Ausbreitung ist in der Symptom-
losigkeit der Gonorrhöe der Frauen zu
sehen. Der Nachweis der Gonokokken
ist in vielen Fällen schwierig; wo er
leicht ist, sind meist auch die klinischen
Erscheinungen deutlich genug. Die .pri¬
märe gonorrhoische Infektion betrifft bei
Kindern die Urethra und Vagina, bei Er¬
wachsenen die Urethra und die Cervix,
nicht die Scheide. Bei chronischer Gonor¬
rhöe des Mannes kann manchmal nur die
Cervix der Frau infiziert werden. Der
innere Muttermund stellt eine Barriere
gegen die Ausbreitung der Gonorrhöe aus
der Cervix in den Uterus dar. Gelangen
die Gonokokken über den inneren Mutter¬
mund hinaus, sind sie auch in der Tuba,
von wo aus ein Austritt in das Pelvo-
peritoneum und zu den Ovarien statt¬
finden kann. Sehr gefährlich können
ärztliche Manipulationen (Sonden) die
Ascension beeinflussen. Sehr wichtig für
die Diagnose ist die bei der akuten
Gonorrhöe eventuell auftretende schmerz¬
hafte Schwellung- der Inguinaldrüsen.
Chronische Gonorrhöe ist manchmal über¬
haupt nicht zu diagnostizieren. Bei Druck
auf die Harnröhre ist bei dieser manchmal
etwas Sekret auszupressen. Häufig er¬
kranken die Bartholineschen Drüsen —
besonders der Ausführuhgsgang — ver¬
stopft er sich, so kann es zu Absceß-
bijdung kommen. Rötung an den Aus¬
führungsgängen der Bartholineschen
Drüsen findet man bei chronischer Gonor¬
rhöe. Gonorrhöe der Vagina ist bei Er^
wachsenen sehr selten (Colpitis grahulosa).
Um eine echte gonorrhoische Infektion
der Vaginalwand handelt es sich bei der
•Gegenwart.1921 .Febrpar
Vulvovaginitis der kleinen Kinder, .die
niit starker Sekretion, .pro.fusen AbsonK
derungen eirihergeht.- Der . Ausfluß,,
das Symptom der Cervixgonorrhöe der
Frau, kann öfter gering. sein,, er kann,
andere Ursachen haben, als gonorrhoisch,
nur erwiesen werden .durch mikroskopi-.
sehen Nachweis der Gonokokken. . Starke.
Schmerzhaftigkeit charakterisiert die
Tubenerkranküng. Meist handelt es sich
um doppelseitige Erkrankung der Tuben
bei ascendierender -Gonorrhöe. Bei chro-.
nischer Gonorrhöe^ kann sie noch nach
Jahren auftreten bei besonders schädi¬
genden Momenten. Bei Tubenerkran¬
kung kommt eS' fast immer zur Pel.vo-,
peritonitis, dauert die. Infektion länger,,
so kommt es zu typischen Veränderungen,
'der Tube, doch kann diese wieder funk¬
tionsfähig werden. Isolierte Eierstock¬
entzündung ohne Erkrankung der Tuben
gibt es nicht. Diffuse gonorrhoische, Peri.-
tonitis ist selten, sie hat gutartigen Cha¬
rakter. Für die. Behandlung ist wichtig
zu bedenken, daß der' Verlauf der
Gonorrhöe umso harmloser, je
zurückhaltender der Arzt ist. Bei
Cervixgonorrhöe ist von Scheidenspülun¬
gen oder Ätzung der Cervix abzusehen.
Absolute Ruhe braucht die Frau, sie ist
wie eine Schwerkranke drei Wochen fest
im Bett zu halten. So kann die Ascension
eventuell verhütet werden. Bei starken
Beschwerden beim Urinlassen kann die
Urethralgonorrhöe behandelt werden, aber
nicht spritzen, sondern mit Urethralstäb¬
chen, Gonostyli (Bayer), mit Protargol
(10%ig), 40 mm -lang, 4 mm dick, die
täglich eingeführt werden. Die -Vulvo¬
vaginitis ist mit Vaginalglobuli (Protar¬
gol, 10%tig) zu behandeln. Bei Adnex¬
tumoren, chronischer Pelvoperitonitis ist
die therapeutische Wirkung vielfach emp¬
fohlener Maßnahmen (z. B. Terpentinöl¬
injektionen) zweifelhaft. Erforderlich ist
Bettruhe; bei der seltenen Bildung von
Eitersäcken ist Operation indiziert, wo¬
bei Vorsicht anzuraten ist bezüglich der
völligen Entfernung der Eierstöcke.
Feiierhack.
Über das Krankheitsbild der relativ
seltenen genuinen akuten Hämato-
porphyrie berichtet Günther unter Hin¬
zufügung einiger neuer Beobachtungen zu
den etwa 20 bisher veröffentlichten typi¬
schen Fällen. Hämatoporphyrin (Hp),
ein Hämoglobinabkömmling, nämlich
eisenfreies Hämatin, wird normalerweise
zu etwa 0,4 mg pro Liter im Harn aus¬
geschieden- und ist darin spektroskopisch-
‘Februar , Die- Therapie 'der Gegenwart 1Q2D 7:3
hiachweisbar. Pathologisch vermehrte
Hp-Ausscheidung gründet sich auf einer
noch dunklen Konstitutionsanomalie —
Porphyrismus —, die meist Neuropathen
mit Neigung zu ‘Hautpigmentierungen
betrifft. Das in der Haut, dem Harn oder
Kot zutage tretende Porphyrin leitet
■sich dabei möglicherweise gar nicht immer
vom Blutfarbstoff her; die Wahrschein¬
lichkeit synthetischer Porphyrinbildung
ist vom Verf. anderenorts begründet
worden. — Der Porphyrismus kann ver-
•schiedene Krankheitszustände bedingen;
bei Ablagerung sensibilisationsfähigen
Hp.san der Körperoberf lache, der Häm a-
toporphyri'a congenita, kommt es zu
eigenartigen verstümmelnden Hautverän¬
derungen. Meist schließt sich die Hp.urie
an akute Vergiftungen an, wie Sulfonal,
Veronal, Bleivergiftung, aber auch an
Typhus. Es gibt aber auch eine genuine
akute Hämatoporphyrie, für die
zwei ausfürliche neue Krankengeschichten
beigebracht werden. Danach tritt der
typische akute Anfall plötzlich mit hef¬
tigsten, unbestimmt lokalisierten Darm¬
koliken ein, Erbrechen, hartnäckiger
Stuhlverhaltung bei schlaffen Bauch¬
decken und unter Entleerung einer an¬
fangs verminderten stets sauren, tief¬
braunen oder portweinfarbenen, oft nach¬
dunkelnden Harns, der immer Hp, oft
Urobilin enthält. Röntgenologisch sind
Darmspasmen nachweisbar; der schlie߬
lich produzierte Stuhl ist kleinknollig, oft
blutig-schleimig, hp- und urobilinreich. Es
bestehen keine Anzeichen für cutane
Lichtüberempfindlichkeit. Die Anfälle,
die einige Tage bis zwei Wochen dauern
können, wiederholen sich zuweilen, oft
erst nach jahrelangen Intervallen, in
denen vermehrte Hp-Ausscheidung fort¬
besteht, meist an Schwere zunehmend.
Polyneuritiden beherrschen manchmal das
Krankheitsbild, und können zu bleibenden
Lähmungen führen, 45% der berich¬
teten Fälle ging an aufsteigender Para¬
lyse zugrunde. Zur Pathogenese der Stö¬
rung wird als einfachste Theorie die An¬
nahme von Enterotoxinen angeführL wo¬
bei vielleicht das Hp selbst bei Über¬
schreitung einer gewissen Konzentrations¬
schwelle Reizwirkungen ausübt. Solango
noch die Herkunft des Entero-Hp frag¬
lich ist, inuß die Krankheit un.ter die
kryptogenen Affektionen aus konstitu¬
tioneller Anomalie eingereiht werden.
Denn gerade auch die toxischen Formen
weisen auf diese konstitutionelle Kompo¬
nente hin, wie ja allein schon aus der
überwiegenden Zähl der vom Verf.unter¬
suchten Typhusfälle ohne Hp-Vermeh-
rung hervorgeht. Die^ vereinzelten Be¬
funde von kombinierender beziehungs¬
weise alternierender kindlicher Aceton-
ämie mit periodischem Erbrechen und
von paroxysmaler Hämoglobinurie können
zur Aufhellung der Pathogenese wenig
beitragen. Man muß sich daher vorläufig
begnügen, von einer liieist Neuropathen
betreffenden Darmneurose zu sprechen,
die sich auf dem Boden eines konstitutio¬
nellen Porphyrismus akut entwickelt. —
Je nach der Lokalisation der Kolik¬
schmerzen können Appendicitis, Chole-
lithiasis, Nephrolithiasis, Magen- und
Duodenalaffektionen vorgetäuscht wer¬
den. Einige Patienten wurden einer
Appendixoperation unterzogen. Oft ent¬
steht Ileusverdacht. Die Diagnose wird
durch die spektroskopische Untersuchung
des auffallend dunkeln Urins gestellt; sie
schützt vor unnötigen chirurgischen Ein¬
griffen ; therapeutisch kommt nur allge¬
meine Pflege, vorsichtige Diät und Anwen¬
dung von Narkoticis in Frage. Joel (Berlin.)
(D. Arch. f. kl. M., Bd. 134, H. 5 u. 6.) •
Unter dem Namen Dyspragia cordis
intermittens verbucht Bittorf eigen¬
artige anginöse Schmerzphänomene bei
Herz- und Aortenerkrankungen von dem
klassischen Bilde der Angina pectoris
abzugrenzen. Dies erscheint ihm des¬
halb besonders von Wichtigkeit, weil
diesen anginoiden Formen andere anato¬
mische Prozesse und andere funktionelle
Vorgänge als der echten Angina pectoris
zugrunde liegen, was vor allem für die
Prognose von großer Bedeutung ist.
Es handelt sich zumeist um Männer in
den fünfziger und sechziger Jahren, die
über folgende charakteristische Er¬
scheinungen zu klagen haben: Schmerzen
in der Herzgegend, die nach dem Hals
und dem linken Arm zu ausstrahleh und
sich bis zum Vernichtungsgefühl steigern
können. Atemnot tritt nicht auf, wohl
aber vereinzelt Schweißausbruch. Das
Wesentlichste ist aber, daß diese Schmerz¬
anfälle nie in der Ruhe, im Bett, im
Schlaf oder bei langsam gleichmäßiger
Bewegung auftreten, sondern stets nach
raschem Gehen, Steigen oder anderen An¬
strengungen. Als begünstigende Momente
kommen hinzu vor allem Kälteeinwirkung
und stärkere Magenfüllung, daneben aber
auch seelische Erregungen. Als objektive
Zeichen finden sich bei diesen Patienten
die Erscheinungen der Aortensklerose:
Herzhypertrophie, klingender zweiter
10
74
Februar
-Die Therapie der
Aorten tojn, leises systolisches Aorten¬
geräusch, Blutdrucksteigerung. Dazu
gesellen sich manchmal die Symptome
der arteriosklerotische Schrumpfniere.
Ätiologisch kommen b.esonders Alkohol
und Nikotin in Betracht, die Lues spielt
keine Rolle. Anatomisch handelt es
sich nach Ansicht des Verfassers um eine
diffuse sklerotische-Erkrankung der Coro-
nargefäße, die aber so gering ist, daß
in der Ruhe die ausreichende Blutver¬
sorgung des Herzmuskels gewährleistet
wird. Erst bei Anstrengungen versagt
die Anpassungsfähigkeit und Erweitbar-
keit der Coronarien. Vasomotorische
Einflüsse wirken in gleichem Sinne un¬
günstig, es kann sogar zu einer paradoxen
Verengung der Kranzgefäße unter dem
Einfluß der Anstrengung kommen. Das
Krankheitsbild ähnelt demnach sehr dem
auch sonst in der Klinik bekannten inter¬
mittierenden arteriosklerotischen Dys-
pragien, wie den intermittierenden arterio¬
sklerotischen Darmstörungen und der
Dysbasia arteriosclerotica. Deshalb gibt
Verfasser den beschriebenen Krankheits¬
erscheinungen den anfangs genannten
Namen: Dyspragia cordis intermittens.
Die Prognose ist wesentlich besser als
die der echten Angina pectoris, es kommt
höchst selten zu Herzinsuffizienz. Die
Therapie deckt sich in der Hauptsache
mit der bei der Angina pectoris bewährten.
(M. Kl. 1920, Nr. 45.) Nathorff.
Versager und unangenehme
Nachwirkungen der Lumbalanästhesie
sind in der letzten Zeit wiederholt be¬
schrieben worden.. Zuletzt hat Baruch
in der B. kl. W. 1920 Nr. 13 mit diesen
Fragen sich beschäftigt und ist hierbei
zu dem Schluß gekommen, daß eine
Liquorverarmung des Lumbalsacks für
diese Erscheinungen verantwortlich zu
machen sei. Dieser Liquorverlust wird
nach Baruchs Meinung dadurch hervor¬
gerufen, daß aus dem Stichkanal des
Lumbalsacks Liquor nachträufelt und
hierdurch eine Stichkanaldrainage bedingt
wird, die mehrere Tage anhalten kann,
ln der Tat ist in einigen Fällen zu be¬
obachten, daß sich an der Stelle der
Lumbalpunktion eine Durchtränkung der
Weichteile entwickelt. Bungart glaubt
die Beweisführung Baruchs nicht als
stichhaltig anerkennen zu können.. Er
führt hierfür folgende Tatsachen an:
Einmal gibt es Operationen (z. B. an
Gehirn und Rückenmark), bei denen das
Nachsickern der Lumbalflüssigkeit in
bezug auf Menge und Zeit ein wesent-
Oegenwart 1921
lieh erheblicheres ist und trotzdem werden
nie entsprechende Erscheinungen beob¬
achtet. Dann haben wir es bei den
Baruchschen Erklärungen mitVorgängen
zu tun, die so alt sind wie die Lumbal¬
anästhesie selbst und trotzdem ist diese
Häufung der Begleiterscheinungen erst
in den letzten Jahren gesehen worden.
Endlich haben einige Autoren festgesfellt,
daß die Nacherscheinungen schwanden,
sobald ein anderes Präparat in Anv/en-
dung kam. Alles dies und die Fest¬
stellung, daß es sich um eine Form von
Reizung der Hirn- und Rückenmarkshäute
handelt, läßt Bungart zu dem Schlüsse
kommen, daß Störungen vorliegen, die
ihre Ursache entweder im Präparat oder
in der Metallzusammensetzung der Spritzen
haben, die unter den Kriegsverhältnissen
eine Verschlechterung erfahren haben.
Werden diese beiden Schäden behoben,
dann ist auch mit dem Verschwinden
der unangenehmen Erscheinungen zu
rechnen. Hayward (Berlin.)
(Zbl. f. Chir. 1921, Nr. 1.)
Für die operative Behandlung des
Magen- und Duodenalgeschwürs kommen
nach H. Finsterers Ansicht erheblich
mehr Fälle, als von mancher Seite an¬
genommen wird, in Betracht, zumal
die Gefahren der Operation keineswegs
größere sind, als die der konservativen Be¬
handlung. Während er für das akut ent¬
standene Geschwür die allgemein üblichen
chirurgischen Indikationen stellt (Gefahr
der Perforation, stärkere Blutung beim
Versagen interner Behandlung), empfiehlt
er die chronischen Magengeschwüre
häufiger operativ anzugreifen, als es bis¬
her üblich war. Fehldiagnosen, wie z. B.-
nervöse Hyperacidität und Magenerweite¬
rung verhindern nicht selten das indizierte
chirurgische Vorgehen, aber auch die
chronischen Geschwüre, die richtig und
rechtzeitig diagnostiziert sind, sollten
häufiger chirurgisch behandelt werden.
Auch für die akute Blutung empfiehlt
Finsterer selbst, wenn stärkere Anämie
besteht, operatives Vorgehen; ebenso bil¬
den hohes Alter, Kachexie, Herz- und
Lungenleiden keine Kontraindikation bei
Anwendung der Lokalanästhesie. Fin¬
sterer nimmt für die konservativ be¬
handelten Fälle eine Mortalität von 20
bis 25% an, während sie bei der Resek¬
tion mir 6—10%, bei der Gastroentero¬
stomie sogar nur 1—3% beträgt. Trotz
der höheren Mortalität werden die besten
Dauerresultate mit der Resektion, und
zwar mindestens des halben Magens bei
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1921
75
ulcus ventriculi und duodeni erzielt, wo¬
durch auch die Hyperacidität dauernd
beseitigt werden kann.
Blumenthal (Berlin).
(Ther. Hmh. 1920, Heft 19.)
Das Problem des Muskeltonus, mit
dem sich früher fast allein Physiologen
und Pathologen beschäftigt haben, hat
in jüngster. Zeit auch für die Klinik ein
erhöhtes Interesse gewonnen. Über die
Beziehungen, die zwischen Muskeltonus
und Gesamtstoffwechsel bestehen, ver¬
öffentlicht jetzt Grafe aus der Krehl-
schen Klinik eingehende Untersuchungen.
Die früher herrschende Anschauung ging
dahin, daß Verkürzung und Arbeits¬
leistung der Muskeln Ausdruck einer
einzigen Funktion, nämlich der Spannung
sei. Im Gegensatz hierzu geht die heutige
Ansicht dahin, daß die Spannung des
Muskels durch zwei völlig voneinander
verschiedene Vorgänge bedingt sei,
einmal durch tetanische Kontraktion und
zweitens durch Zunahme des sogenannten
Tonus, der auch als innere Sperrung,
plastischer Tonus oder myostatische Funk¬
tion bezeichnet wird. Dieser Muskeltonus
ist von allen willkürlichen Bewegungen
völlig unabhängig; er ist auch bei der
quergestreiften Muskulatur des Warm¬
blüters vorhanden und dort wahrschein¬
lich dem Sarkoplasma eigentümlich. Man
hat nun vielfach untersucht, ob dieser
Muskeltonus von Einfluß auf den Stoff¬
wechsel und die Wärmeproduktion ist.
Die Physiologen Parnas und Bethe
haben gezeigt, daß kontrahierte Muschel-
und Schneckenmuskeln trotz starker Be¬
lastung keinen anderen Energieumsatz
hatten als erschlaffte Muskeln. Für
andere Kaltblüter konnten diese Befunde
nicht bestätigt• werden. Grafe hat es
nun unternommen, auch beim Warm¬
blüter speziell beim Menschen ähnliche
Versuche anzustellen. Er hatte bereits
feststellen können, daß bei Katatonikern
eine Herabsetzung der Wärmeproduktion
auch dann eintrat, wenn eine ausge¬
sprochene allgemeine Muskelstarre vor¬
handen war. ' Mit Hilfe des Jaquetschen
Respirationsapparates konnte er nun
weiter zeigen, daß bei Meerschweinchen,
die nach Tetanustoxininjektion eine
Muskelstarre bekommen hatten, eine
Steigerung des respiratorischen Gaswech¬
sels nicht aufgetreten war. Zweitens wurde
der Gaswechsel bei in Hypnose erzeugter
kataleptischer Starre an Menschen unter¬
sucht und festgestellt, daß derselbe nicht
vermehrt war, während dieselben Per¬
sonen bei willkürlich erzeugter Muskel-
.starre eine Steigerung des Stoffumsatzes
bis zu 50% aufwiesen. Ähnliche Befunde
wurden auch bei Patienten mit abnormem
Tonus größerer Muskelgebiete also mit
schlaffen und spastischen Lähmungen
erhoben, ln allen Versuchen fielen die
Werte des respiratorischen Gaswechsels
in die Breite des Normalen. Und schlie߬
lich konnte Verfasser auch an Hunden,
die nach Durchschneidung des Brust¬
markes ausgedehnte Lähmungen, hatten,
zeigen, daß ebenfalls eine Beeinflussung
des Stoffwechsels nicht vorhanden war.
Aus all diesen Versuchen zieht Grafe
den Schluß, daß ein nachweisbarer Ein¬
fluß des Muskeltonus auf den Gesamt¬
stoffwechsel sicher nicht vorhanden ist.
(D. m. W. 1920, Nr. 49.) Nathorff.
Von der -bekannten Tatsache aus¬
gehend, daß manche Frauen während der
Gravidität Zucker im Harn ausscheiden,
haben E. Frank und M. Nothmann
auf der Minkowskisehen Klinik in Bres¬
lau Untersuchungen über die Verwert¬
barkeit der renalen Schwanger-
schaftsglykosurie zur Frühdiagnose der
Schwangerschaft angestellt, deren Er¬
gebnisse auch für den ärztlichen Prak¬
tiker Bedeutung gewinnen können. Bei
30 Schwangeren in den ersten drei Monaten
der Gravidität gelang es ohne Ausnahme,
eine alimentäre Glykosurie zu erzeugen.
In mehreren Fällen ermöglichte diese
die Diagnose zu einer Zeit, zu der von
den Gynäkologen eine Schwangerschaft
noch nicht festgestellt werden konnte;
die renale Glykosuria e saccharo scheint
als Frühdiagnos'tikum der Schwanger¬
schaft bereits unmittelbar nach dem
erstmaligen Ausbleiben der Regel ver¬
wendbar. Von besonderem Interesse
sind zwei Fälle, bei denen die Diagnose
auf extrauterine Gravidität in Frage kam;
bei der Operation erwies sich der erste
Fall, bei dem die Zuckerreaktion positiv
ausgefallen war, als Tubengravidität, der
andere, bei dem wegen negativen Ausfalls
der Reaktion die Gravidität in Abrede
gestellt worden war, als doppelseitige
Zyste.
Die Methodik ist einfach: Nach Ent¬
leerung der Blase mittelst Katheters
werden am Vormittag 100 g chemisch
reiner Traubenzucker in 350 bis 500 ccm
Tee verabreicht und nach einer halben
Stunde in Abständen von 15 Minuten
die Urinportionen auf Zucker untersucht.
(Erforderlich ist die Untersuchung des
Harns auf Zucker und die Bestimmung
10=^
:. 16 -
Die Therapie der. [Qegenwant 1921
Februar
des Blutzuckers vor Beginn des Ver¬
suches. • Bei positivem .Ausfall der. Me¬
thode schlossen die Verfasser noch eine
zweite Blutzuckerbestimmung zwischen
zwei zuckerhaltigen, durch den Katheter
gewonnenen Harnportionen an, um zu
zeigen, daß der Traubenzucker tatsäch¬
lich bei Blutzuckerwerten abgesondert
war, die an sich nicht zu einer Zucker¬
ausscheidung führen. Für die Praxis
halten sie die einmalige Untersuchung
des Blut- Li. Harnzuckers etwa eine
-Stunde nach der Einnahme des Trauben¬
zuckers für genügend, nachdem die Blase
eine halbe Stunde, nach Beginn des-Ver¬
suches möglichst entleert ist. — Ein
negatives Resultat der Urinuntersuchung
übrigens kann auch ohne Blutzucker-
bestimmung verwertet werden.) -
(M. m. W. 1920, Nr. 50.) F. K.
Der norwegische Kliniker Prof.
Laache (Kristania) sprach im Rahmen
der Karlsbader Fortbildungsvorträge über
Stuhlverstopfung und ihre Behandlung.
Die normale Magen-Darmtätigkeit geht
beim gesunden Menschen mit staunens¬
werter, fast mathematischer Präzision
und Gesetzmäßigkeit vor sich, um in der
•gewöhnlichen Zeit von 24 Stünden die
unresorbierten Speisereste als Kot aus
dem Körper fortzuschaffen. Für die
meisten Leute ist ein bloß jeden zweiten
Tag cintretender Stuhlgang schon als
pathologisch zu bezeichnen, während für
andere, die wenig essen und sich daran
gewöhnt haben, dies wieder normal wäre.
Es gibt aber Personen, die sich zwar eines
täglichen Stuhlganges erfreuen, die.aber
dennoch, weil sie den betreffenden Akt
zu früh abschließen, sich mit dem Los¬
werden der sogenannten ,,Vorladung“
begnügen, eigentlich als permanent obsti-
piert anzusehen sind. Wegen ihrer ge¬
wohnheitsmäßigen Defaecatio incompleta
bleiben erhebliche Mengen von Residual¬
fäzes bei ihnen stets zurück, die zu
größeren oder kleineren, mitunter zu
sehr ernsthaften Beschwerden Veran¬
lassung geben können. Indes sind die
Folgen, den zahlreichen ,,Koprotheo-
rien“ zum Trotz, im allgemeinen nicht
-ganz so schwer, wie man sie vielleicht
von vornherein hätte aufkonstruieren
können. Speziell dürfte die Gefahr einer
Autointoxikation beim Intaktsein der zur
Verfügung stehenden physiologischen Ent-
giftungsorgane kaum übermäßig sein.
Die v/ichtigste unter denselben ist eine
gewisse Völle im Leib und die wegen Gas¬
auftreibung behinderte Zwerchfellbewe¬
gung; ferner kommen Schmerzen im
Bauch (Darmkoliken, besonders bei Kin¬
dern), auch sonst im Körper, zum Bei^
spiel im Kopf, zugleich andere nervöse
Erscheinungen, wie Indisponiertsein,
Schwerfälligkeit, Hypochondrie und der¬
gleichen häufig vor.. Eine der größten
Unannehmlichkeiten ist aber rein lokaler
Art und rührt von der schon erwähnten,
im Mastdarm allmählich angesammelten
harten bis steinharten Scybalis. mit einer
davon abhängigen, wegen eventueller
Schädigung des Afters durch Hämor¬
rhoiden, Vorfall, Fissuren usw. mehr
weniger peinvollen Defaecatio difficilis
alias ,,Pyschezie“ her. Es ist nur er¬
klärlich, daß unter solchen Umständen
der Kranke den Stuhlgang fürchtet und
möglichst hinausschiebt, wodurch aber
die Sachlage das nächste Mal nur noch
verschlimmert wird. Während eines der¬
artigen Stuhlganges ist transitorische Am¬
blyopie, ferner Gehirnapoplexie wegen
des starken Fressens mitunter beobachtet
worden. Vollständige Darmverschließuhg
(auch für Gase) ist ein seltenes Ereignis;
der Unterschied zwischen einer mit ein¬
facher Kotstauung verbundenen Obsti-
patio einerseits und einer koprostatischen
Okklusion anderseits ist gewiß mehr als
ein bloß gradueller aufzufassen. Daß
Koprostase wegen Trägheit der Darm¬
bewegung auch zur Gallenstase führt —
wie umgekehrt — ist anzunehmen. Bei
Behandlung des chronischen Zustandes
kommt es auf die Prophylaxe (Vernünftig¬
keit im Regime, namentlich in bezug
auf passende Körperbewegung, -ferner
in Diät und in einer schon von der Kinder¬
zeit an durchgeführten Pünktlichkeit im
willkürlichen Anteile der normalen Funk¬
tion) vor allen Dingen an. Der Vege¬
tarianismus hat gerade hier, um genügen¬
des Transportmaterial für'den Kot her¬
beizuschaffen, ein unbestreitbares Lieb¬
lingsgebiet, derselbe ist aber nicht zu über¬
treiben; bei specifischer Obstipation soll
die Kost eher reizlos sein. Von diäteti¬
schen Hilfsmitteln sind übrigens die
saure Milch und das frühmorgens ge¬
trunkene kalte Wasser (bei Gelegenheit
das salzige Meerwasser) bestens zu emp¬
fehlen. Die für akute Zustände unent¬
behrlichen m e d i k a m e n t e 11 e n Abführ¬
mittel sind für chronische Fälle,' nament¬
lich bei der habituellen Stuhlverstopfung
nur in zweiter Linie in Betracht zu ziehen.
Gut sind das Rizinusöl, der Rharbarber,
die Cascara, die Senna, welche alle aber
nicht als habituell, sondern nur gelegent-
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1921
77
lieh auf bestimmte Indikationen verord¬
net werden sollen. Vor gewohnheits¬
mäßiger Einnahme derselben ist zu war¬
nen, weil Nebenwirkungen, zum Beispiel
bei Aloe oder beim in der Regel ziemlich
unschuldigen Phenolphthalein, eintreten
können, namentlich aber deshalb, weil
die Laxantien, in Analogie mit den ge¬
wohnheitsmäßig gebrauchten Schlafmit¬
teln (Hypnotica), allmählich zu wirken
aufhören. Der Haupteinwand gegen ihre
gewohnheitsmäßige Verwendung liegt aber
darin, daß sie sich, wie alle künstlichen
Mittel überhaupt, der Selbstregelung
eines physiologischen Vorganges entgegen¬
gesetzten und daher, indem sie durch
nachfolgende Darmschwäche die schon
vorhandene Störung noch mehr ver¬
schlimmern, als wesentliches Glied des
schließlich schwer zu durchbrechenden
Circulus vitiosus zu bezeichnen sind.
0. R.
Mit Uzara hat Vogt experimentelle
und klinische Untersuchungen angestellt,
um seine Einwirkung auf den Uterus zu
klären. Es hat sich nun gezeigt, daß
dieses Mittel ein vorzügliches Antidys-
menorrhoicum bei den Formen der Dys¬
menorrhöe ist, bei denen kein anatomi¬
scher Befund vorliegt. Die Wirkung unter¬
scheidet sich ganz auffallend von der¬
jenigen der bisher gegen Dysmenorrhöe
empfohlenen Mitteln, welche als Narko-
tica einen lähmenden Einfluß auf die
Nerven ausüben. Bei einigen Fällen
konnte auch die Beobachtung gemacht
werden, daß die Blutungen schwächer
wurden. Die Dosierung dieses Mittels,
bei dem keine schädlichen Nebenwirkun¬
gen festgestellt werden konnten, ist sehr
einfach: zweistündlich 30 Tropfen Liquor
uzarae bis zur Wirkung oder zu gleichen
Zeiten drei bis vier Tabletten, oder dreimal
täglich ein Suppositorium; bei den ersten
beiden Anwendungsweisen ist eine Über¬
dosierung unmöglich, da ein Teil von
Uzara durch die Magensäure zerstört
wird, während bei den Zäpfchen, die von
der Uzaragesellschaft hergestellt werden,
die vorgeschriebene Maximaldosis nicht
überschritten werden darf, da doch alles
resorbiert wird. Auch auf geburtshilflichem
Gebiete wird sich wohl‘Uzara bald den
ihm gebührenden Platz erobern, da es
nach dem Ergebnis der experimentellen
Untersuchungen und theoretischen Über¬
legungen bei schmerzhaften Schwanger¬
schafts- und Vorwehen, bei Krampfwehen
und Tetanus krampflindernd sein muß.
Pulvermacher (Charlottenburg.)
(Zschr, f. Gyn., H. 3.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Ist (Pseudo-) Grippe Typhus?
(Fortsetzung zu den gleichläutenden Artikeln in dieser Zeitschrift 1919 Heft 5 und 9.)
Von Dr. Voltolini, Naumburg (Bober.)
Im Mai- und Septemberheft 1919
hatte ich an der Hand mehrerer bakterio¬
logisch und serologisch als Unterleibs¬
typhus erwiesener Krankheitsfälle dar¬
zutun versucht, daß viele der als ,,spani¬
sche Grippe“ und ,,Pseudo-Grippe“
angesprochenen und von erfahrenen Ärz¬
ten als solche behandelten Erkrankungen
der vorjährigen Grippe-Epidemie nach¬
träglich als ein von dem Bilde der Lehr¬
bücher allerdings abweichender und des¬
halb so erhebliche diagnostische Schwie¬
rigkeiten bereitender Typhus be¬
ziehungsweise Paratyphus sich aus¬
wiesen. Einen weiteren Beweis hierfür
möchte ich an der Hand zweier zufällig
zur Beobachtung gelangter aus ganz ver¬
schiedenen Teilen Deutschlands stam¬
mender Fälle erbringen und über die
in vieler Beziehung sehr bemerkenswerte
Krankengeschichten kurz berichten:
Fräulein Jda Sch., 37 Jahre alt, konsultierte
mich im August v. Js. wegen äußerst quälender,
zumal des Nachts auftretender und dadurch den
Schlaf dauernd störender Kopfschmerzen, die
besonders in Stirn und Hinterkopf ihren Sitz
hatten und seit Monaten bestanden. Patientin
führte ihr Leiden auf eine Erkrankung zurück,
die sie von Februar bis Mai 1920 in Jena durch¬
gemacht hatte, wo sie mit hohem Fieber, Kopf-
und Rückenschmerzen erkrankt war; ersteres
hielt sich wochenlang auf 40®. Anfangs bestanden
auch Durchfälle; wiederholt traten Schüttelfröste
auf. Da die Kopf- und Rückenschmerzen keinem
Medikament wichen, beschränkte sich der die
Patientin wochenlang täglich besuchende Arzt
Dr. X. schließlich auf Morphiuminjektionen. Er
sowie der als Consiliarius zugezogene Prof. Dr. Y.
stimmten darin überein, daß es sich um eine
„neuartige Form der Grippe“, um „Darm-,
Blasen-, Kopfgrippe“ handele. Diese eigen¬
artige Krankheit war damals nach Angabe der
Patientin in Jena sehr verbreitet und forderte
infolge ihres ominösen Namens zahlreiche Opfer!
— Die abendlichen Temperatursteigerungen be¬
standen bis in die letzte Zeit hinein, auch nach¬
dem Patientin Jena längst verlassen und zur
Pflege ihrer Mutter nach der Stadt Ch. über¬
gesiedelt war. — Die Untersuchung der Sch. ergab
eine ausgesprochene Trigeminus-Neurologie mit
typischen Schmerzpunkten im Gebiet des n. supra-
78
Die Thera^xie der Gegenwart 1Q21
Februar
und infraorbitalis; sie strahlten bis in den Hinter¬
kopf, in den Nacken und die Schultern aus;
zeitweilig trat auch starke Tränensekretion auf.
Das Ergrauen und Ausgehen der Haare im Gebiete
des n.frontalis war höchst auffällig. Eine or¬
ganische Ursache des qualvollen Leidens war
zunächst nicht festzustellen; Erkrankungen der
Schädelknochen und des Periostes, der Zähne,
der Nasen- und Stirnhöhlen sowie des Mittel¬
ohres waren nicht nachweisbar; der Urin war
frei von Eiweiß und Zucker. — Da die genannten
Beschwerden mit der Erkrankung im Frühjahr
d. J. begonnen hatten und seitdem fortbestanden,
lag es nahe, sie als die Ursache des Leidens
anzusehen. und nachzuforschen, ob jene ,,neu-
artige Form der Grippe“ nicht vielleicht
eine andere Erkrankung dargestellt hatte. Die
Einsendung einer Blutprobe ergab eine über¬
raschende Aufklärung: Widal positiv, Typhus
50. Paratyphus 100. — (Untersuchungsamt
Robert Koch, Berlin, Tagb. Nr. 866). Patientin
war also im Februar dieses Jahres an Typhus
und Paratyphus erkrankt; auf diese Erkran¬
kung allein konnte der positive Widal hinweisen,
zumal Fräulein Sch. sonst stets gesund gewesen
war, und erst seitdem die mitunter noch auf¬
tretenden Fieberbewegungen und sämtliche ner¬
vösen Beschwerden persistierten. „Nervenfieber“.
Im Stuhl .und Urin wurden Typhusbazillen
nicht gefunden. Und das ist ja auch nicht ver¬
wunderlich. Ist es ja doch die Regel, daß trotz
possitivem Widal nach abgelaufener Erkrankung
keine Bazillen mehr im Blute durch die Galle¬
kultur und auch nicht im Stuhl und Urin nach¬
gewiesen werden.
Die Patientin begab sich anfangs November
in das Krankenhaus zu Gr. „um sich den Kopf
durchleuchten zu lassen.“ Wie mir der behandelnde
Kollege mitteilte, ergab sich dabei nichts Patho¬
logisches; auch die Nebenhöhlen waren frei.
Das Lumbalpunktat war klar und ohne Besonder¬
heiten. Nach kurzer Besserung traten die Kopf¬
schmerzen alsbald in alter Heftigkeit wieder
auf, auch nach Ansicht des Kollegen lediglich
eine Folge der überstandenen Infusionskrankheit.
Es ergibt sich hieraus aufs neue, eine
wie bedeutsame Rolle dem Widal — auch
retrospektiv — bei der Beurteilung dia¬
gnostisch dunkler Krankheitsfälle zu¬
kommt, zumal, wie ich in den oben¬
genannten Artikeln referierte, das Agglu¬
tinationsphänomen nach Browne und
Crampton 2, 12 und sogar 38 Monate
nach überstandenem Typhus positiv ge¬
funden wurde.
Eine praktisch erheblich größere Be¬
deutung beansprucht folgender Krank¬
heitsfall, der nach dem Gesetz von der
Duplizität der Fälle zu gleicher Zeit zur
Beobachtung kam.
Ebenfalls wegen äußerst quälender Kopf-
und Nackenschmerzen konsultierte mich Frau
Gertrud F., die Wirtschafterin in einer Apotheke
war(!) Sie konnte ihre Beschwerden trotz ver¬
schiedenster diesbezüglich angewandter Medi¬
kamente seit einer Erkrankung im März dieses
Jahres nicht mehr los werden. Damals war sie
in .der schlesischen Stadt L. mit Fieber, das
zwischen 39° und 40° schwankte, Durchfällen
und Rückenschmerzen erkrankt und war bis
in den Monat Mai hinein schwer angegriffen
und arbeitsunfähig. Der Arzt stellte damals
„Grippe“ fest; eine in demselben Hause an der
gleichen Krankheit darniederliegende Frau erlag
ihr und ebenso deren Schwester und ein Kind.
Auch die Patientin F. fieberte noch längere Zeit
nach ihrer scheinbaren Wiederherstellung und
behielt seitdem die quälenden Kopfschmerzen
und Haarausfall zurück. — Die überstandene
„Grippe“ bekam durch die Untersuchung der
von mir eingesandten Dejektionen eine über¬
raschende Aufklärung, indem laut Mitteilung
des. Medizinal-Untersuchungsamte's Breslau vom
3. September (Tgb. Nr. 15830) im Urin Typhus¬
bazillen gefunden wurden! Inzwischen war
Frau F. nach dem Kreise Lüben verzogen, und
wie mir der dortige Kreisarzt Dr. Lange freund-
lichst mitteiite, hatte sie sich im Kreise Jauer
in einer Molkerei (!) vermietet, was er aber noch
eben rückgänig machen konnte; sie ist alsdann
unbekannten Aufenthalts nach einem anderen
Kreise verzogen!
Ich möchte hier auf den sehr bemer¬
kenswerten Aufsatz hinweisen, den
Dr. Gaehtgens.in Nr. 7, 1919, der
,,Zschr. f. ärzth Fortbild.“ veröffentlicht
hat unter der Überschrift: ,,Über krank-
heitsübertragung durch Gesunde“. Es
ist nach seinen Ausführungen als ein
besonderer Glücksumstand anzusehen, daß
in den gerade zur Untersuchung gelangten
Harnproben dieser Bacillenträgerin Ty¬
phusbacillen nachgewiesen werden konn¬
ten, denn bei den chronischen Bacillen¬
trägern erfolgt 1. c. die Bacillenaus¬
scheidung nicht regelmäßig und gleich¬
mäßig, sondern häufig in Schüben, so
daß manche Bacillenträger einen posi¬
tiven Bacillenbefund oft nur in monate-
und selbst jahrelangen Pausen aufweisen
und erst bei wiederholten Nachunter¬
suchungen ermittelt werden. — Die Ge¬
fährlichkeit solcher Bacillenträger ergibt
sich hieraus von selbst; zumal es auch
in der neuesten Auflage (1920) der ,,The¬
rapie an den Berliner Universitäts-Kli¬
niken“ S. 122 heißt: ,,Für Bacillenträger
und Dauerausscheider ist keine wirk¬
same Behandlung bisher bekannt“. Konn¬
ten doch (nach Gaehtgens) bei ständig
kontrollierten Bacillenträgern die Ba¬
cillen bis zu zehn Jahren und darüber
nachgewiesen werden. ,,Als längste Aus¬
scheidungsdauer konnte in einem Falle
die Zeit von 70 Jahren unter Zugrunde¬
legung des Datums der überstandenen
Typhuserkrankung angenommen wer¬
den.“
Jedenfalls geht aus den referierten
Krankengeschichten zur Genüge hervor,
wie notwendig und von welcher Bedeutung
für die Allgemeinheit und Volksgesund¬
heit es ist, statt ,,Pseudo-Grippe“
oder,,Kopf-, Darm-, Blasengrippe“
zu diagnostizieren, in allen diagnostisch
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1921
79
dunklen Krankheitsfällen an die Möglich¬
keit eines Typhus oder Paratyphus zu
denken und Blut und Dejektionen da¬
raufhin untersuchen zu lassen. Die Aus-
treitung einer so insidiösen und dele-
bären Krankheit wie Typhus würde da¬
durch jedenfalls sehr erheblich einge¬
schränkt werden und die ,,Pseudo-
Grippe“ als Krankheit sui generis sehr
bald verschwinden. Denn schließlich
ist es doch nicht gleichgültig, ob eine
im Haushalte oder in einer Molkerei
beschäftigte scheinbar gesunde Person
von einer überstandenen Grippe restlos
genesen ist oder ob sie lebende virulente
Typhusbacillen ausscheidet.
' Zur Frage der accessorischen Nährstoffe.
(Bemerkungen zu dem Aufsatz von Dr. Feuerhcak im Oktoberheft S. 355 dieser Zeitschrift.)
Von Prof. Dr. H. Aron. Breslau.
ln einem kurzen Übersichtsreferat
berichtet Herr Dr. Feuerhack auf Seite
355 in der Oktobernummer dieser Zeit¬
schrift über die Bedeutung der accesso¬
rischen Nährstoffe (Vitamine). Er stützt
sich dabei fast ausschließlich^) auf den
kürzlich erschienenen Bericht des eng¬
lischen Comitee on accessory food factors
(vitami'nes), der vom Lister Institut in
London an alle maßgebenden Forscher
versandt worden ist, den meisten deut¬
schen Ärzten aber sonst wohl schwer zu¬
gänglich sein dürfte. Bedauerlicherweise
ist das Kapitel der accessorischen Nähr¬
stoffe und der durch ihren Mangel be¬
dingten Ernährungskrankheiten in der
deutschen medizinischen Wissenschaft
lange Zeit stiefmütterlich behandelt wor¬
den, und es ist daher bis vor wenigen
Jahren uns deutschen Forschern schwer
gewesen, uns mit unseren Arbeiten durch¬
zusetzen. Erst jetzt, als nach dem Kriege die
ausländischen Forschungen in Deutschland
bekannt wurden, fanden diese wichtigen
Fragen endlich in der deutschen LiteraLur
Interesse und Anerkennung. Die Tat¬
sache, daß es außer Eiweiß, Kohlehydrat,
Fetten und Mineralstoffen lebenswichtige
Nährstoffe gibt, hat der englische Physio¬
loge F. Gowland Hopkins zum ersten
Male klar erkannt und nachgewiesen;
von ihm stammt auch der Ausdruck
,,accessory food factors“ (1912). Hop¬
kins kommt also auf diesem Gebiete
der gleiche Ruhm zu, wie etwa Brown-
Sequard für die Lehre von der ,,Inneren
Sekre tion“. Sogleich nach Hopkins hat
1) Anm. des Herausgebers: Zur Rechtfertigung
meines Mitarbeiters Dr. Feuerhack bemerke
ich, daß derselbe nur die Absicht und den Auf¬
trag hatte, den in ärztlichen Kreisen noch wenig
bekannten Bericht des englischen Vitamin-Komi¬
tees zu referieren, insbesondere dessen sehr in¬
struktive Nahrungstabelle wiederzugeben. Dr.
Feuerhack bezieht sich selbst im Eingang seines
Referats auf den im Jahre 1919 in der Th. d. Geg.
erschienenen Aufsatz von Prof. M. Jacoby
(S. 401), in welchem die von Aron erwähnte
Literatur zusammenfassend erwähnt ist.
der damalige Straßburger physiologische
Chemiker Franz Hofmeister mit einer
Reihe von Schülern in grundlegenden
Untersuchungen die Bedeutung der von
ihm als „accessorische Nährstoffe“ be-
zeichneten Nahrungsbestandteile weiter
erforscht. Vor allem sind hier die Ar¬
beiten Wilhelm Stepps zu nennen,
der zum ersten Male die Lebenswichtig-
keit gewisser Fettbestandteile, der „.Li¬
poide“ durch sorgfältigst durchgeführte
Forschungen erwiesen hat. Die Arbeiten
des Holländers Ejkmann, welcher die
experimentelle Polyneuritis entdeckte,
und die Untersuchungen der Norweger
Holst und, Fröhlich, die für das Ver¬
ständnis der Genese des Skorbuts und
des Wesens der antiskorbutischen Stoffe
entscheidend wurden, sind als weitere
Marksteine in der Entwicklung der Lehre
von den accessorischen Nährstoffen zu
bezeichnen. Schließlich habe ich selbst im
Jahre 1914 zum ersten Male den Nach¬
weis geführt, daß gewisse ,,Extraktstoffe“
unabhängig von Eiweiß-, Fett-, Kohle¬
hydrat- und Mineralstoffgehalt der Nah¬
rung für Leben und Gesundheit von aus¬
schlaggebender Bedeutung sind. Funks
Anschauung, daß es sich um gewisse
Amine, die von ihm sogenannten „Vita¬
mine“ handelt, hat sich bisher nicht be¬
stätigt. Die Auffassung, daß es außer
Eiweiß, Fett, Kohlehydrat und Mineral¬
stoffen noch andere lebenswichtige Nah¬
rungsbestandteile gäbe, ist damals aller¬
dings von zahlreichen Forschern Abder¬
halden, Röhmann, auch Osborne
und Mendel noch aufs schärfste be¬
kämpft worden, und es hat Jahre be¬
durft, ehe sich die neuen Lehren durch¬
zuringen vermochten. Von Röhmann
abgesehen, haben die anderen Gegner
aber die accessorischen Nährstoff-Fak¬
toren später voll erkannt, ja wie Abder¬
halden sowie Osborne und Mendel
selbst wichtige Beiträge zu ihrer Kenntnis
geliefert.
80
Die Therapie der Gegenwart 1921
Februar
Die weittragende Bedeutung der acces-
sorischen Nährstoffe für die Ernährungs¬
lehre und Diätetik im allgemeinen sowie
für viele klinische Fragen, haben Stepp
und ich selbst in verschiedenen Arbeiten
ausführlich darzulegen versucht. Der
zusammenfassende Bericht des eng¬
lischen Komitees bringt zwar eine
große Reihe neuer wertvoller Tat¬
sachen, bestätigt aber im wesent¬
lichen nur unsere früheren Anschau¬
ungen, wie sie Stepp in seiner muster¬
gültigen, aber leider viel zu wenig be¬
kannten zusammenfassenden Dar¬
stellung in den Ergebnissen der Inneren
Medizin und Kinderheilkunde für die
deutsche Wissenschaft schon Jahre vor
dem von Feuerhak ausführlich refe¬
rierten englischen Bericht niedergelegt
hatte.
Berichtigung.
Am Ende einer Veröffentlichung „Über are-
kolinartig wirkende Verbindungen (Cesol)“ von
A. Loewy und R. Wolffenstein auf S. 287 der
Th. d. Geg. 1920 wird versucht, auf den Verfasser
einer Cesol-Notiz im Spezialitäten-Abschnitt der
„Therapeutischen Halbmonatshefte 1920, S. 28, den
von ihm gegen R. Wolffenstein erhobenen Vor¬
wurf der Unwissenschaftlichkeit abzuwälzen. Als
Begründung dieses Ablenkungsversuchs wird an¬
geführt, daß die Angaben der Therapeutischen
Halbmonatshefte ohne tatsächliche Unter¬
lagen gemacht seien. Dieser Angriff auf die
Wissenschaftlichkeit der Th. Hmh. ist aus der
Luft gegriffen; denn unseren Angaben über Cesol
lag eine ausführliche freundliche Auskunft der
das Cesol herstellenden Firma Merck zugrunde.
(Ohne derartige sachliche Unterlagen wäre ja
wohl auch nicht verständlich, wie der Verfasser
der Cesol-Notiz in den Th. Hmh. über die experi¬
mentell-pharmakologisch wirksame Dosis genau
dieselben Zahlenangaben hätte machen können,
wie Loewy und Wolffenstein.) Diese sach¬
lichen Angaben der herstellenden Firma sind
übrigens auch Grundlage der nachdrücklichen
Zurückweisung gev/esen, die sich R. Wolffen¬
stein in der Zschr. f. d. ges. exper. M., Bd. X,
S. 223, gefallen lassen mußte; diese Zurückweisung
wiederum bildete zusammen mit den Veröffent¬
lichungen in Bd. IX, S. 424 und 433 der Zschr.
f. d. ges. exper. M. die Unterlage für die Behaup¬
tung der Th. Hmh., daß die Wissenschaftlichkeit
von Herrn R. Wolffenstein durch den Ver¬
gleich der Cesol-Angelegenheit mit früherem
Auftreten des Herrn Wolffenstein ,,eigenartige
Streiflichter erfahre“.
Unter Hinweis auf jene ausführlichen Dar¬
legungen in der Zschr. f. d. ges. exper. M. muß auch
der in der Th. d. Geg. 1920, S. 288 unternommene
Versuch zurückgewiesen werden, die ganze An¬
gelegenheit als einen Angriff der Th. Hmh. auf
das Cesol selbst hinzustellen. Alle die Angriffe,
gegen die sich die Veröffentlichung auf S. 287 der
Th. d. Geg. wendet, richten sich — das sei an dieser
Stelle ganz ausdrücklich hervorgehoben — viel¬
mehr ausschließlich gegen Herrn R. Wolffen¬
stein. Daher ist denn auch die Angabe unrichtig,
es fänden sich in der Besprechung in den Th.
Hmh. über die pharmakologische Wirkung des
Cesols „den tatsächlichen gegenüber unzu¬
treffende Behauptungen“. Die pharmakolo¬
gischen Angaben jener Notiz sind vielmehr eine
einfache Wiedergabe der von Umber gemachten
Angaben, die allerdings um so eher erfolgen
konnte, als sich Umbers Daten mit der brief¬
lichen Auskunft der Firma Merck deckten.
Auch die chemischen Angaben der Notiz in den
Th. Hmh. über den Zusammenhang zwischen
Cesol und Arekolin, die Loewy und Wolffen¬
stein als „konstruierte Anschauungen“ be¬
zeichnen, sind eine einfache Übersetzung der von
der Firma Merck mitgeteilten chemischen For¬
meln in eine dem praktisch ärztlichen Leserkreis
verständlichere Sprache. Die auf die Chemie und
Pharmakologie bezüglichen Sätze jener Notiz
haben also ihre Unterlagen; wer behauptet, daß
sie den Tatsachen widersprechen, trifft nicht den
Verfasser jener Notiz, sondern dessen Quellen.
In dem, dem Cesol selbst gewidmeten Abschnitt
der Notiz in den Th. Hmh. bleibt dann nur noch
ein einziger Satz zu erörtern. Er spricht von der
Wahrscheinlichkeit, daß die Synthese des Cesols
mit dem Wunsche zusammenhing, das natürliche
Arekolin zu ersetzen, eine Annahme, die durch
die Ausführungen von Loewy und Wolffen¬
stein selbst eine Stütze erhält (vgl. z. B. S. 287,
Absatz 2. und 3). Der tatsächlichen Unterlagen
entbehrt in jenem Satz nur die Vermutung, daß
die Bemühungen um synthetische Herstellung des
Arekolins bisher vergeblich gewesen seien; aber
gerade diese Angabe, die einzige Stelle der Notiz,
an welcher ein Gegenbeweis hätte einsetzen
können, bemühen sich unsere Angreifer gar nicht
zu widerlegen, und wir haben auch sonst, trotz
mancher Bemühungen, keine Tatsachen erfahren
können, die die Unrichtigkeit dieser Vermutung
erwiesen hätten.
Im Anschluß an die vorstehenden Ausführun¬
gen muß auch das von Loewy und Wolffen¬
stein (S. 288) verwertete Fehl-Erzeugnis des
Referenten der Ther. d. Gegenw. (Bloch) richtig¬
gestellt werden. Sein Referat bringt eine Be¬
sprechung der klinischen Erfahrungen mit Cesol,
die Decker in der D. m. W. 1920 No. 3 berichtet
hat, und zwar decken sich Blochs sachliche An¬
führungen (stark abgeschwächtes Pilokarpin,
hauptsächlich starke Speichelsekretion, von Dek-
ker verwendete Dosis) genau mit den Angaben
der Th. Hmh. 1920, S. 28. Wenn er also zu der
Behauptung kommt, daß die Notiz in den Th. Hmh.
im Gegensatz zu den günstigen klinischen Beob¬
achtungen (vgl. Deckers) stehe“, so ist das
offensichtlich ganz und gar unrichtig. — Diese
unsere Berichtigung des Blochschen Referates
stellt gleichzeitig die zu diesem Referat unmittel¬
bar darauf auf S. 208 der Ther. d. Gegenw. er¬
folgte „Berichtigung“ R. Wolffensteins richtig,
und die vorstehenden Zeilen dürften demnach die.
dort (Ther. d. Gegenw. S. 208) von R. Wolffen¬
stein geübte Handhabung des Begriffs „Wahr¬
heit“ ins rechte Licht setzen.
Die Redaktion des Spezialitätenteils
der Therapeutischen Halbmonatshefte.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urban&Schwarzenberg
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Von Prof. Hans Eppinger. ~
Arbeitet der Gesanitbetrieb eines Röh-
renpumpw-erkes — wie es gelegentlich
vorkommt — mit einer Unterbilanz, so
kann die Ursache im Motor liegen, in
nicht wenigen Fällen funktioniert aber
der Motor tadellos und doch ist der End¬
effekt nicht der gewünschte, weil teils
Wasser aus den Röhren fließt, teils Ven¬
tile in den Hilfsmaschinen lädiert sind.
Die menschliche Kreislaufmaschine, die
für die Bewegung des Blutes in unserem
Körper zu sorgen hat, besteht ebenfalls
aus einer Mehrheit. Es ist falsch, sich vor¬
zustellen, daß eine geregelte Circulation
nur vom Herzen abhängig ist; das Röhren¬
system und die anderen HiIfsmaschinen
(wie z. B. Lunge, Zwerchfell, Vasomotoren,
Muskelaktionen usw.) sind ebenso wichtig,
wie der« Motor selbst.
Die Unterbilanz in der Anlage, wie
sie unter pathologischen Verhältnissen
vom Kreislauf repräsentiert wird, gibt
sich durch die Erscheinungen der Inkom¬
pensation. Wir sehen also Dyspnöe, Cya-
nose, Unvermögen der Patienten leichtere
Arbeit zu leisten, es kommt im weiteren
Verlaufe zu Oligurie und schließlich zum
Auftreten von Ödemen und Stauungs¬
organen. Schreitet der Prozeß weiter, so
wird der Patient bettlägerig und ist nicht
mehr imstande, außer unter den bedroh¬
lichsten Erscheinungen, die geringsten
Verrichtungen zu leisten. In einem Gut¬
teil der Fälle ist die Ursache all dieser
Komplikationen in einer Schädigung des
Herzens zu suchen, es ist also, um im
Beispiele zu bleiben, der Motor lädiert,
sollte es aber nicht auch möglich sein, daß
das Herz als geschädigtes Organ weniger
im Vordergründe steht, während all das,
was man als Peripherie des Kreislaufes
zusammenfaßt, schwer darniederliegt?
Gibt es nun Kraakheitszustände, die
uns gestatten, diese Überlegungen über¬
haupt in Diskussion zu ziehen, oder hat
all das, was wir zunächst rein spekulativ
von der Bedeutung des peripheren Her-
Nach einem Fortbildungsvortrage (Wien,
am 7. Februar 1921).
zens gesagt haben, nur theoretisches
Interesse? Unter dem Namen der ,,so¬
genannten Myodegeneratio cordis“ habe
ich ein — sicherlich nichtsNeues —Krank¬
heitsbild beschrieben, das geeignet er¬
scheint, im Zusammenhänge mit obiger
Frage besprochen zu werden. Jeder
erfahrene Arzt kennt Patienten, .die bei
oberflächlicher Betrachtung die Charac-
teristica eines schwer decompensierten
Herzfehlers zur Schau tragen, wo sich
aber bei der Analyse des Herzens selbst
fast nur negative Zeichen erkennen lassen..
Da keine Geräusche über den Ostien zu
vernehmen sind, und auch der dauernd
niedere Blutdruck weder die Diagnose
einer Nephritis, noch einer Hypertonie
aufkommen läßt, und auch die (jröße des
Herzens selbst die Annahme einer kardia¬
len Läsion unwahrscheinlich macht, so
kann eventuell die Diagnose — Concretio
cordis — in Erwägung gezogen werden.
Jedenfalls tritt der Kliniker, wenn ein
solcher Fall ad lustrationem kommt, mit
einigem Zweifel vor den Anatomen, ver¬
läßt aber eventuell getröstet wieder den
Seziersaal, wenn auch der Prosektor mehr
oder weniger nur negative Befunde er¬
heben konnte, ln der Regel einigt man
sich auf die Diagnose Myodegeneratio
cordis, da es auf Grund des makroskopi¬
schen Herzbefundes unwahrscheinlich ist,
all die schweren Folgeerscheinungen zu
deuten; offenbar hat das Herz in vivo
funktionell nicht das geleistet, was man
von einem gesunden erwarten könne. Die
Diagnose Myodegeneratio cordis wird lie¬
ber von klinischer Seite gestellt, während
der Anatom doch eher geneigt ist, dieses
oder jenes kleine Symptom in den Vorder¬
grund zu rücken (geringes Emphysem,
nässige Arteriosklerose der Coronararte-
rien, der Nierengefäße usw.). Zeigt sich
außerdem noch das Herzfleisch brüchig
und mürb, so wird darauf das größere Ge¬
wicht gelegt und die anatomische Schlu߬
diagnose doch zugunsten eines makro¬
skopisch nachweisbaren Substrates ver¬
schoben. Jedenfalls zeigt sich aber in
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82
Die Therapie der Gegenwart 1921
MärÄ
solchen Fällen ^ine deutliche Discrepanz
zwischen anatomischem und oft auch
klinisch nachweisbaren Herzbefunde und
der Schwere der in vivo beobachteten
Erscheinungen. — Das voll entwickelte
Krankheitsbild sah ich, wie schon seiner¬
zeit gesagt wurde, hauptsächlich bei
Männern im Alter zwischen 45 bis 65
Jahren. In einzelnen Gegenden wie z. B.
in den Alpen (Steiermark) scheint es
öfter vorzukommen. Zumeist handelt es
sich um Menschen, die bereits vor ihrer
Erkrankung sehr schwer und fett waren.
Die ersten Zeichen, die an Krankheit
mahnen, sind Schwellungen an den Bei¬
nen. Zunächst verschwinden sie noch
über Nacht, später halten sie an, und sind
trotz mehrtägigem Liegen noch nachweis¬
bar. Anfangs möchte man wegen Fehlen
von Albuminurie, Dyspnöe, Stäuungs-
leber, dem Gefühl von Herzklopfen einen
stärker ausgeprägten Plattfuß, tiefliegen¬
den Varicen der Beine beschuldigen;
werden allerdings die Schwellungen stär¬
ker, so beginnt man allmählich an seiner
ursprünglich gestellten Diagnose zu zwei¬
feln und richtet seine Aufmerksamkeit
neuerdings auf das Herz; auch jetzt
verrät die Untersuchung des Herzens
nichts Auffälliges; die Dämpfung ist
zwar etwas größer, aber akustisch sind
normale Verhältnisse zu erkennen; das¬
selbe gilt vom Harn und der Pulsspan¬
nung; Werte, die um 150 schwanken,
sollen nicht irreführend sein, da sie bei
Menschen im vorgerückteren Alter fast
als normal angesehen werden können. Die
Pulsfrequenz ist normal, sie ändert sich
auch zumeist kaum, wenn der Patient
aufsteht und geringe Bewegungen aus¬
führt. In den Anfangsstadien fehlt
Bronchitis immer, höhere Grade von
Emphysem mahnen stets zu Vorsicht.
Subjektive Klagen, die auf eine Störung
des Herzens hinweisen (Dyspnöe, Ortho-
pnöe beim Liegen, das Gefühl von Kurz¬
atmigkeit usw.) fehlen. In diesem Sta¬
dium diagnostischen Zweifels mißt man
einem eventuellen Eiweißbefunde im
Harne große Bedeutung bei, zumeist
fehlt aber Albumen vollkommen, so daß
die Annahme eines renalen Ödemes weg¬
fällt. Da manchmal geringe Dosen an
Digitalis genügen können, um innerhalb
der ersten Monate noch die Ödeme zu
bannen, so kommt man schließlich doch
zu der Überzeugung, es müsse sich auch
hier um einen kardialen Prozeß handeln.
Dieses Anfangsstadium kann oft monate-,
selbst jahrelang anhalten.
Eine Änderung des Bildes zeigt sich
oft im Anschluß an eine interkurrente
Krankheit (Bronchopneumonie, Erysipel,
Cholelithiasis), indem jetzt die Ödeme
viel größere Dimensionen annehmen; war
vorher schon eine Spur Albumen im Harne,
so kann dies jetzt gleichfalls zunehmen;
der nicht geübte Praktiker ist gern
geneigt, hier von einer Nephritis zu
sprechen; die reichliche Anwesenheit von
Urobilinogen im Harne, sowie das cyano-
tische Verhalten des Patienten mahnt
aber zu Vorsicht. Gegen die Annahme,
daß durch die früher erwähnte Kompli¬
kation das Herz geschädigt worden sei,
und daß deswegen die Ödeme größere
Dimensionen angenommen hätten, spre¬
chen die geringen kardialen Erscheinun¬
gen. Auf der Höhe einer Komplikation
kann es zu Orthopnoe und Stauungs¬
bronchitis kommen, trotzdem muß man
aber sagen, daß ein krasser Unterschied
zwischen dem objektiven Befunde der
Schwere der mittlerweile aufgetretenen
Ödeme und dem Herzen, respektive den
Gefäßen besteht. Sobald die akute Ver¬
schlimmerung zurücktritt, möchte man
glauben, daß nunmehr auch die Ödeme
wieder geringer werden; hier und da kann
das der Fall sein, oft nehmen aber die
Schwellungen noch weiter zu. Zuerst
lagern sich die Ödeme an den Beinen ab,
allmählich greift die Schwellung auch auf
die Gesäß- und Rumpfpartie über. Das
Abdomen nimmt rasch an Umfang zu,
so daß oft der Arzt vor die Frage gestellt
wird, handelt es sich nur um Ödem der
Haut oder auch um Ascites. Eine hier
eventuell vorgenommene Probepunktion
belehrt uns, daß zumeist keine freie
Flüssigkeit im Cavum peritonei vorliegt.
Nicht wenige dieser Patienten laborieren
seit Jahren an den verschiedensten Her¬
nien. Relativ spät beteiligen sich an der
allgemeinen Wassersucht auch die Geni¬
talien. Die Bewegungsfreiheit solcher
Menschen wird mit der Zeit so stark ein¬
geschränkt, daß sie bald zu dauernder
Bettlägrigkeit verurteilt werden.
Da der Prozeß der fortschreitenden
Ödeme immer größere Dimensionen an¬
nimmt, so entwickeln sich langsam hilf¬
lose Kolosse, die sich selbst im Bette nur
mehr mit Unterstützung bewegen können.
Meist zeigen die Patienten große Teil¬
nahmslosigkeit, sie schlummern vor sich
hin, ohne dabei in der Nacht wirkliche
Ruhe zu finden; charakteristisch ist oft
die geringe Kurzatmigkeit, die um so
auffälliger ist, als die Patienten zumeist
März
Die Therapie der Gegenwart 1921
83
mit kaum erhöhtem Oberkörper im Bette
liegen. Die Nahrungsaufnahme, die an¬
fangs noch reichlich sein kann, reduziert
sich oft auf ein Minimum. Sehr gequält
werden solche Leute von Durst, trotzdem
ist die Harnmenge nur sehr gering es
besteht kein Fieber, im Gegenteil — Un¬
tertemperatur; der Harn ist immer hoch-
gestellt und enthält reichlich Pigmente.
Obstipation gehört nicht zu den Sel¬
tenheiten. Wenn weiter beobachtet
werden kann, wie schütter das Haupthaar
wächst, während die Barthaare kaum
Wachstumstendenz zeigen, und auch die
Nägel und die Haut selbst träge reagieren,
so wird man unwillkürlich an eine myx-
ödematöse Mitbeteiligung erinnert. Je
stärker die Wassersucht zunimmt, desto
eher können Erscheinungen auftreten, die
tatsächlich auf eine schwere Herzaffektion
hinweisen. So kann es bei den geringsten
Anstrengungen (schon beim Versuche sich
im Bette aufzusetzen) zu Atemnot kom¬
men, desgleichen zu Steigerung der Puls¬
frequenz und Zunahme der Cyanose.
Kehren diese ödematösen Kolosse wieder
in ihre alte Lage zurück, so flacht sich
die vorher stark beschleunigte Atmung
wieder ab, die Pulsfrequenz sinkt auf ihre
ursprüngliche Höhe zurück und auch die
Cyanose wird geringer. Durch das Ödem
an den unteren Extremitäten können
eigentümliche Veränderungen an der Haut
auftreten, die vielfach an Ichthyosis er¬
innern. Eventuell auftretende Wunden
oder Ulcera zeigen eine auffallend geringe
Heilungstendenz. Im Anfang des ganzen
Prozesses nützt manchmal noch Digitalis;
je stärkere Dimensionen aber die Ödeme
annehmen, desto weniger erzielt man da¬
mit. Im guten Glauben, diesen Leuten
durch Cardiaca doch etwas zu nützen,
wird ein Digitalispräparat nach dem
anderen versucht: im Prinzip erreicht
man mit keinem etwas Dauerndes. Es ist
merkwürdig, wie gut selbst größte Digi¬
talismengen vertragen werden. Ganz
Ähnliches gilt von Diuretin, im Anfang
der Krankheit relativ schöne Erfolge, die
sich aber von Monat zu Monat immer
geringer gestalten. Manchmal erzielt
man erfreuliche Resultate mit einem
energischen Aderlaß oder durch Haut¬
punktion. Zuweilen fließt durch Ein¬
stiche in die Haut nur wenig Flüssigkeit
ab, gelingt es aber durch Hautdrainage
große Mengen an Ödemflüssigkeit abzu¬
lassen, so fühlen sich die Leute viel besser
und es kann unter günstigen Bedingungen
monatelang dauern, bevor die Wasser¬
sucht wieder in den Vordergrund tritt.
Einige Male habe ich sehr schöne Erfolge
mit Kalomel gesehen.
Der Patient stirbt in der Regel nicht
an den Folgen der Ödeme, sondern
zumeist an Komplikationen. An den
Kliniken sieht man diese Fälle selten,
da sie vielfach als Marasmus gelten
und dementsprechend bald an Ver¬
sorgungsanstalten abgegeben werden, hier
sind auch solche Patienten viel häufiger
zu finden.
Der Versuch, solche Fälle einheitlich
erklären zu wollen, stößt vielfach auf
Schwierigkeiten, selbstverständlich kon¬
zentriert sich nach wie vor das Haupt¬
interesse auf das Verhalten des Herzens.
Weil aber hier außer einer leichten Ver¬
breiterung der Herzschatten nach links
und rechts, sowie dumpfer Töne keine
sicheren Ursachen für die Entstehung
der Ödeme angeführt werden können,
die ja doch im Vordergründe des ganzen
Krankheitsbildes stehen, so recurriert
man diagnostisch auf die verschiedensten
seltenen Krankheitsprozesse oder auf
funktionelle Schäden des Herzmuskels.
Zu letzterer Annahme glaubt man sich
hauptsächlich dann veranlaßt, wenn es
sich um ein Herz handelt, das früher
schwer zu arbeiten hatte, jetzt aber
unterleistungsfähig geworden; gelegent¬
lich bemüht man sich ein Mißverhältnis
zwischen Körpermasse und Herzgröße
zu konstatieren oder sucht die Ursache
in einer Unterernährung des ganzen Orga¬
nismus zu begründen. Jedenfalls gewinnt
man als Arzt den Eindruck, daß wegen
des Mißverhältnisses zwischen objektivem
Herzbefund und den schweren Ödemen
irgendein individuelles Moment hier mit
in Betracht kommen muß. Wenn man
sieht, wie solche allmählich zu Kolossen
verwandelte Menschen z. B. nach ge¬
glückter Hautpunktion förmlich neu auf¬
leben, ohne nach Entfernung der Ödeme
über irgendwelche Herzbeschwerden zu
klagen, so verstehen wir, wie recht solche
Patienten haben, wenn sie gelegentlich
sagen: wenn ich nicht geschwollen wäre,
könnte ich ein gesunder Mensch sein.
Auf Grund des eigentümlichen Ver¬
haltens der Haut, der Nägel, des Haar¬
ausfalles, der Disposition zu Hernien
und des gesamten Habitus solcher
Patienten, dachten wir an einenZusammen-
hang zwischen einer forme fruste des
Myxödems und diesem Krankheits¬
bilde und gaben Thyreoidtabletten. In
nicht wenigen Fällen haben wir aus-
11*
84
Die Therapie der Gegenwart 1921.
März
gezeichnete Erfolge - erzielt, denn die
Diurese nahm nach kurzer Zeit bereits zu
und innerhalb weniger Wochen erholten
sich die Patienten, so daß von den ganzen
Ödemen nichts anderes mehr übrig blieb
als eine gleichsam zu weite, jetzt dünne
Haut. Im Anfang waren wir mit der^
Darreichung von Thyreoidtabletten sehr
vorsichtig, allmählig überzeugten wir uns
aber, daß sie sehr gut vertragen wurden;
vor allem gilt dies von der Herztätigkeit
selbst — unliebsame Tachykardien als
Ausdruck einer Schilddrüsenvergiftung
sahen wir fast nie, ein Beweis mehr,
wie berechtigt es war, hier von einer
Unterfunktion der Schilddrüse zu
sprechen. Jedenfalls forderten diese Be¬
obachtungen, die von anderer Seite be¬
reits bestätigt wurden, auf, sich für zwei
Fragen zu interessieren: 1. besteht nicht
ein Zusammenhang zwischen Ödem¬
bildung und Schilddrüsenfunktion? und
2. könnten nicht so manche-Ödeme, wie
sie im Gefolge sicherer Herzaffektion zu
sehen sind, auch mit einer dispositioneilen,
eventuell einer geringen myxödematösen
Veranlagung Zusammenhängen? Die
Analyse der ersten Frage ließ sich nur
experimentell lösen, und tatsächlich waren
wir bemüht, das Problem der Ödem¬
bildung auf breite Grundlage zu stellen.
Zuerst konnten wir demonstrieren,
daß .sich durch Schilddrüsenzufuhr im
akuten Nierenversuch keine Diurese aus-
lösen läßt; es kommt bei Kaninchen
weder zu einer Steigerung der Harn¬
menge noch zu einer Zunahme des Nieren¬
volumens, wie man es von jedem Diureti-
cum erwarten kann, das an der Niere
angreift. Daß aber die Funktion der
Schilddrüse mit dem Wasser und Salz¬
stoffwechsel in innigstem Zusammen¬
hänge steht, ließ sich einwandfrei in
folgender Weise demonstrieren. Hunde,
die mit Schilddrüse gefüttert wurden,
schieden Wasser und Salz viel schneller
aus als normale Kontrolltiere und umge¬
kehrt thyreoprive Hunde elimierten zu¬
geführtes Wasser und Salze, also die
Hauptbestandteile der Oedems, viel lang¬
samer als normale Tiere. Wir schlossen
daraus, daß ein Plus an Schilddrüse die
Geschwindigkeit des Wasser- und Koch¬
salzexportes in unserem Körper beschleu¬
nigen kann und umgekehrt ein Minus
desselben den normalen Lauf stark zu
verzögern vermag. Noch krasser ließ
sich der Unterschied demonstrieren, wenn
Kochsalzlösungen subcutan verabfolgt
wurden; während die normalen Tiere
und ebenso die mit Thyreoid gefütterten
die Flüssigkeit rasch resorbierten, blieb
beim thyreopriven Hunde die Kochsalz¬
lösung die längste Zeit unter der Haut;
sie verschob sich zwar von der Stelle der
Injektion gegen die Bauch- und Brust¬
gegend, blieb aber schließlich als dicker
am Bauch herunterhängender Wulst
liegen. Da die Haut, wie entsprechende
Versuche lehren^ als Ablagerungsstelle
des Kochsalzes gilt, und sich bei thyreo¬
priven Tieren eine sichtbare Hemmung
der Resorption demonstrieren ließ, so
schien uns dies ein Beweis, daß der
Angriffspunkt des Schilddrüsenextraktes
dort liegt, wo wahrscheinlich physio¬
logischerweise das Kochsalz und das
Wasser zurückgehalten wird, nämlich
in den Depots der Haut. Diese Beob¬
achtungen am Tiere haben wir auf die
menschliche Pathologie übertragen und
bei Zuständen mit Hyperthyreoidismus
ebenfalls eine beschleunigte Elimination
des per os verabfolgten Salzes und Wassers
gesehen, und eine starke Verzögerung
feststellen können, wenn in gleicher Weise
physiologische Kochsalzlösung beim myx¬
ödematösen Patienten dargereicht wurde.
Für die Bedeutung der Gewebe im Ge¬
triebe des Salz- und Wasserstoffwechsels
sprachen' auch folgende Beobachtungen:
injiciert man in langsamem Tempo phy¬
siologische Kochsalzlösung intravenös; so
kommt es nicht, wie man zunächst an¬
nehmen könnte, zu einer sofortigen Aus¬
scheidung des Kochsalzes- durch die
Nieren. Die drei Gramm Kochsalz,
die wir z, B. injiciert hatten, verschwinden
gleichsam, d. h. sie finden sich weder
im Blute noch im Harn — so daß man
annehmen muß, sie seien in die Gewebe
übergegangen. Mit der Existenz von extra¬
vasalen Gewebsräumen müssen schein¬
bar auch jene Salz-und Wasserquantitäten
rechnen, die wir mit der Nahrung auf¬
nehmen. Denn wie sollten wir uns sonst
die Tatsache erklären, warum diese beiden
Substanzen nach dem Genüsse per os
nicht sofort im Harne erscheinen, und
warum sich ihre Ausscheidung unter
gewissen Bedingungen durch viele Stun¬
den hinziehen kann. Es ist der Weg —
um einen Vergleich zu wählen, den ich
bereits einmal angewendet habe — den
das Wasser und Salz nach ihrer Resorp¬
tion aus dem Darmkanal bis zur Niere
zu nehmen hat, nicht eine gerade Flu߬
linie mit einem weiten Quellgebiete und
nur einer Mündung. Ich glaube, der
Flußlauf ist an vielen Stellen eng und
März
Die Therapie der Gegenwart 192T
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wird vielleicht des öfteren durch Tal¬
sperren aufgehalten. Um diesen Engen
auszuweichen, sind gleichsam Nebenwege
für den Ablauf des gestauten Wassers
gebaut, die gelegentlich zu den Haupt¬
bahnen werden können. Es dürften also
Hindernisse für den Abfluß an den ver¬
schiedensten Stellen liegen,und wir müssen
nicht glauben, daß die Barriere an der
Mündung selbst gelegen sein muß, falls
der Abfluß an der Mündung geringer
wird oder ganz aufhört. Gut angelegte
Stauungsbecken mit Seitenbahnen im
Verlaufe des .ganzen Flusses können einer
drohenden Überschwemmung noch be¬
gegnen, doch haben auch sie ihre Grenzen.
An Hand dieses Vergleichs muli^an
sich daher fragen, ob das Symptom Über¬
schwemmung — in unserem Falle das
Ödem — nur darin zustande kommt,
wenn ein Hemmnis an der Mündung
des Flusses vorliegt, oder ob nicht an
allen möglichen Stellen Störungen Vor¬
kommen können. Ich habe daher ge¬
meint, daß die Niere nicht allein jener
Faktor ist, der für die Diurese bestim¬
mend ist; es spielt offenbar das große
Schwammorgan — wie ich den ganzen
Komplex der zellulären Gewebsräume
bezeichnet habe — im Wasser- und Salz¬
stoffwechsel eine ebenso große, wenn
nichj größere Rolle, als die Niere selbst.
Übertragen wir diese _ Vorstellungen,
die, bestrebt waren, den Ödemen in der
.Pathologie der Nierenkrankheiten eine
gewisse Selbständigkeit beizumessen, auf
die kardialen Stauungen, so kontrolliert
das Herz, ähnlich wie die Niere, das
Gefälle im Blutstrome. Pumpt das Herz
fehlerhaft, so breitet sich stromaufwärts
ein Stauweiher aus und es kommt zur
Stase des Blutes in'den Venen; als Folge
gibt sich, daß Flüssigkeit in vermehrter
Menge aus den Gefäßen austritt und
sich in den Gewebsspalten ablagert. Es
hängt nun offenbar ganz von der Be¬
schaffenheit der Gewebe ab, ob sich hier
die Flüssigkeit länger öder kürzer auf¬
hält. Daß z. B. gesundes Gewebe trotz
Stauung nicht immer zu Ödemen dis¬
ponieren muß, beweist der einfache Ver¬
such, wenn man bei einem gesunden
Tiere die Vena femoralis abbindet; fast
nie kommt es zur Entwicklung eines
Ödems. Analoges kann man auch beim
Menschen beobachten. Warum soll es
daher nicht möglich sein, daß z. B. ganz
geringgradige Stauungen bereits genügen
können, um in disponierten Geweben
starke Ödeme auszulösen, die sicher
in einem dazu nicht geeigneten Organis¬
mus sich kaum Geltung verschaffen
könnten.
Die Wirkung von Thyreoidsubstanz
als Diureticum glaubte ich ebenfalls
auf dem Umwege der Gewebsbeschaffeh-
heit erklären zu müssen. Je lebhafter:
der Zellstoffwechsel in den Geweben vor
sich geht, desto rascher dürfte sich die
Gewebsflüssigkeit in Cireülation befinden;
da wir nun wissen, einen wie lebhaften
Stoffwechsel die Thyreoidea anzufachen
vermag, so stellten wir die Theorie auf,
daß der diuretische Erfolg der Schild¬
drüsensubstanzen dadurch zu erklären
sei, daß durch Verfütterung von Schild¬
drüsentabletten die vorgelagerten Nah¬
rungsbestandteile von den Zellen kraft
ihrer erhöhten Tätigkeit rascher in Arbeit
genommen werden, wodurch die bei der
Resorption mitgenommenen Wasser- und
Salzstoffquantitäten frei werden und
schließlich für die Ausscheidung durch
die Nieren disponibel erscheinen.
Meine Untersuchungen waren mit der
An laß, wenn jetzt sowohl von klinischer als
auch von experimentell-pathologischer
Seite her die Sonderstellung der Ödeme
betont wird und vielfach versucht wird,
auch den unterschiedlichen Diureticis
eine extrarenale Bedeutung beizumessen.
Die neuesten Untersuchungen von El-
linger sprechen ebenfalls zugunsten
meiner Anschauungen, nur mit dem Unter¬
schiede, daß Ellinger für die Retention
des Wassers und Kochsalzes vorwiegend
physikalisch-chemische Kräfte beschul¬
digt, während ich im Anschluß an Asher
vitale Momente in den Vordergrund rücke.
Jedenfalls glaube ich aus allen diesen
Angaben den Schluß ableiten zu können,
das Ödem, das sich sowohl im
Verlaufe vieler Nierenkrankheiten,
als auch bei einzelnen Herzaffek¬
tionen findet, ist nicht nur von
der Beschaffenheit der Niere, re¬
spektive des Herzens abhängig,
sondern sicherlich spielt auch die
Beschaffenheit der Gewebe hier
eine ausschlaggebende Rolle.
Von diesen zunächst rein theoretischen
Überlegungen, glaube ich, muß man sich
auch bei der Therapie der verschiedenen
Formen von Ödemen leiten lassen. Die
Thyreoidbehandlung war der Anfang, und
tatsächlich kann man in vereinzelten
Fällen damit ausgezeichnete Erfolge er¬
zielen. Leider hat das Thyreoid aber
viele unangenehme Nebenwirkungen, so
daß sich viele Ärzte, und zwar mit Recht
86
Die Therapie der Gegenwart 1921
“März
scheuten, davon ausgiebigeren Gebrauch
zu machen. In jüngster Zeit haben wir
nun ein Präparat durch die. Unter¬
suchungen von Saxl in die Hand be¬
kommen —; Novasurol (Bayer & Co.),
das wohl sicherlich. ebenfalls an der
Peripherie anzugreifen scheint und das
in vielen Fällen mehr zu leisten imstande
ist, als das von uns ursprünglich gewählte
Thyreoid. Novasurol ist ein Quecksilber¬
präparat — man gibt 2 cm intramuskulär
(intraglutäal) —, das ganz ähnlich in
seiner Wirkung sein dürfte wie das Kalo-
mel. Gibt man Novasurol bei Fällen von
sogenannter Myodegeneratio cordis, so
kommt es innerhalb der kürzesten Zeit
(oft schon nach zwei bis drei Stunden) zu
den stärksten Diuresen. Harnmengen,
die zwischen vier bis sechs Liter schwan¬
ken, gehören nicht zu den Seltenheiten.
Meist klingt nach 24 Stunden die Diurese
ab, um sich nach einer neuerlichen In¬
jektion wieder einzustellen. Da es sich
um ein Quecksilberpräparat handelt, so
ist auf eine entsprechende Zahnpflege
zu achten. Unangenehme Komplikationen,
wie Diarrhöen gehören zu den Selten¬
heiten, meist stellen sich dieselben nur
dann ein, wenn es nicht zur Diurese
kommt. Störungen von seiten des Her¬
zens haben wir nie gesehen, wohl dagegen
das Gegenteil. Wenn die Patienten bis
dahin nie Ruhe und Schlaf gefunden-
hatten, so fühlen sie sich jetzt stark er¬
leichtert und wohl, wie seit langer Zeit
nicht mehr.
Die Erfolge bei Fällen von sogenannter
Myodegeneratio cordis sind so augen¬
fällig, daß man mit Novasurol, das
wohl sicherlich kein Herzmittel sein
dürfte, fast von Ausheilung sprechen
kann. Die bis dahin bestandene Cyanose
tritt zurück, die Leberschwellung kann
geringer werden, der Atem wird freier,
so daß der Patient Bewegungen durch-
■ fühlen kann, die bis dahin kaum mög¬
lich waren. Man gewinnt den Ein¬
druck, daß die Patienten nur an den
Folgen der Ödeme gelitten haben: seit¬
dem der Ballast, mit dem der Patient,
der vielleicht nur eine geringe Herz¬
schädigung hatte, weggefallen, arbeitet
das Herz gegen geringere Widerstände
und kann sich erholen. Wenn ich zunächst
von Ballast gesprochen habe, so kann
sich dies in doppelter Weise bemerkbar
. machen; ein Patient mit ungefähr zehn
Liter Ödem ist zu vergleichen mit
einem Menschen, der stets zehn Kilo¬
gramm Gewicht herumzutragen hat; fällt
dies einem gesunden Menschen schon
schwer, um wie viel mehr muß ein Patient
darunter leiden, dessen Herz bereits
Zeichen von Schwäche zeigt. Das Ödem
ist aber auch nicht gleichgültig für das
Fließen des Blutes in den Capillaren und
Venen. Die Mehrarbeit, die daraus er¬
wächst, ist wieder vom Herzen zu tragen,
so daß auch in dieser Richtung die An¬
sammlung von Flüssigkeit in den Gewebs-
räumen stets berücksichtigt werden muß.
Wenn wir also gesagt haben, die Ödem¬
ansammlung muß zunächst nicht in un¬
mittelbarem Zusammenhänge stehen mit
der Schwere der Herzläsion, so muß in
weiterer Folge gesagt werden, daß die
Zunahme von Schwellungen für das Herz
jetzt von um so ungünstigerer Bedeutung
sein kann.
All das, was wir jetzt gesagt haben,
bezieht sich in erster Linie auf jenes
Krankheitsbild, das wir Myodegeneratio
cordis genannt haben. Es gibt aber auch
sichere Herzfehler und muskuläre Läsio¬
nen, wo sich ebenfalls ein Mißverhältnis
zwischen Herzbefund und der Schwere
der Inkompensationserscheinungen nicht
hinwegleugnen läßt. Die Auscultations-
und Percussionerscheinungen, um ein
Beispiel zu nennen, lassen keinen Zwei¬
fel, daß es sich um ein kombiniertes
Vitium handeln muß. Der Puls und die
subjektiven Störungen sind aber bis
auf die Ödeme und die consecutive
Oligurie so gering, daß auch hier die Frage
auftaucht, wie kommt es zu dieser hoch¬
gradigen Schwellung der Beine und dem
Ascites, wo scheinbar das Herz, wenig¬
stens was die Frequenz und Rhythmik
anbelangt, nicht so schwer geschädigt
erscheint. Auch in solchen Fällen, die
ich auf ihre Qualität die längste Zeit
beobachtet habe und ich mich durch die
verschiedensten Medikationen überzeugen
konnte, wie wenig durch Digitalis und
Diuretin zu erzielen war, gab ich Thyreoid
und habe mich öfter von günstigen Er¬
folgen überzeugen können, wurde aber
immer vorsichtiger, weil gelegentlich
durch das Auftreten von Tachykardie
der Eindruck nicht erwehrt werden konnte,
daß das Thyreoid zwar eine günstige
Wirkung quoad Diurese zeitigte, dafür
aber das Herz in Mitleidenschaft zog.
Die ausgezeichneten Erfolge, die wir bei
der reinen Myodegeneratio cordis durch
das Novasurol erreichten, waren Anlaß,
dieses Mittel auch bei echten Klappen¬
fehlern mit schweren Ödemen zu ver¬
suchen. Auch hier konnten wir uns oft
März
Die Therapie der Gegenwart 1921
87
Überzeugen, wie nach Injektion von 2 cm
Noväsurol trotz bestehender, nicht hin¬
wegzuleugnender Herzinsuffizienz binnen
kürzester Zeit die Diurese einsetzte.
Harnmengen, die gelegentlich vier bis
fünf Liter betrugen, zählen nicht zu den
Seltenheiten. In dem Maße, als die Ödeme
abnahmen, besserte sich das kardiale
Bild,,,so daß man sagen mußte, seitdem
die Ödeme bei diesem Herzfehler be¬
seitigt sind, geht es dem Patienten auch
subjektiv viel besser. Manchmal,kommt
es im weiteren Verlaufe zu neuen Ödemen,
oft hält aber die Besserung wochenlang an.
Unter der Voraussetzung,’ daß das Nova-
surol nicht doch ein Cardiatonicum ist,
wozu uns allerdings nichts an positivem
Tatsachenmaterial auffordert, glaube ich
aus diesen Beobachtungen den Schluß
ableiten zu können, daß die ,,kardialen“
Ödeme nicht nur die alleinigen Folgen
einer Herzschwäche darstellen. Das
Primäre ist in den meisten — vielleicht
sind wir vorsichtiger und sagen in allen —
Fällen abhängig von einem Nachlassen
der Herzkraft,’ wodurch der Druck im
venösen System ansteigt und der Ab¬
transport der Gewebsflüssigkeit erschwert
erscheint. Offenbar reagiert aber nicht
jedes Gewebe in gleicher Weise, wenn der
venöse Druck im Sinne einer Stauung
steigt: ob hier die Bedingungen von der
Tätigkeit der Drüsen mit innerer Sekretion
abhängig sind, wie es manche Erfolge mit
der ' Thyreoiddarreichung zu beweisen
scheinen, oder ob hier physikalische
Kräfte in Frage kommen, soll zunächst
unberücksichtigt bleiben; Tatsache ist,
daß sich viele kardiale Ödeme beseitigen
lassen durch Medikamente, die zunächst
nicht am Herzen angreifen und daß es
dem Patienten nach Beseitigung der
Ödeme manchmal ausgezeichnet geht.
Die Erfolge sind auf Grund unserer Er¬
fahrungen an einem großen Herzmaterial
so ausgezeichnet, daß man die Novasurol-
injektion öfter anwenden soll. Kontra¬
indikationen sehen wir nur in einer gleich¬
zeitig bestehenden Nephritis. Auch hier
erweist sich die Nierensklerose gegenüber
der Nephritis als Krankheitsbild suigeneris,
so daß auch Fälle mit arteriosklerotischer
Schrumpfniere keine Kontraindikation
darstellen.
Die Auffassung, nicht alle Inkom¬
pensationsstörungen als Folge einer Herz¬
läsion hinzustellefi, erweist sich nicht nur
theoretisch, sondern auch praktisch be¬
deutsam. Wie oft hat man Gelegenheit
zu sehen, wie Patienten, die z. B. die
Zeichen einer sogenannten Myodegeneratio
cordis darbieten, die längste Zeit mit
Digitalis gefüttert werden. Weil es dem
Patienten nicht besser geht, wird in der
Wahl des Arztes gewechselt; auch dieser
Kollege gibt wieder Cardiatonica in
irgendeiner neuen Kombination, um
schließlich nach einer Zeit zu der gleichen
Überzeugung zu kommen, daß hier mit
Digitalis nichts erreicht wird. Der Wechsel
des Arztes wiederholt sich womöglich
noch einige Male und der Patient be¬
kommt neue Digitalispräparate. . ln
manchen Fällen mag es sich um^eine Art
Gewöhnung handeln, in vielen Fällen
habe ich aber doch die Überzeugung
gewonnen,. daß man im Prinzip der
Therapie auf einem falschen Wege ist.
Die Annahme, daß das Inkompensations-
system Ödem nicht nur vom Herzen
abhängig sei, dürfte für manche Fälle
1 die Erklärung sein.
Ans der Medizinischen Klinik in Tübingen (Vorstand: Prof. Otfried Müller).
Zur Frage der additionellen Tuberkuloseinfektionen im Alter
des Erwachsenen.
Von
Otfried Müller, in Gemeinschaft mit Dr.
• In Alpirsbach, einer ebenso abseits
des Schwarzwaldstädtchens in günstigster '
waldiger Lage gelegenen Anstalt mußten
ebenfalls sehr zahlreiche offene dritte
Stadien untergebracht werden, teils weil
der Wunsch nach einer einigermaßen aus¬
sichtsreichen Heilbehandlung, die auch
über Stadium 1 und 2 noch helfend ein¬
zugreifen versuchen sollte, laut gewor¬
den war, teils weil Nagold oft so belegt
war, daß es die ihm eigentlich zufallenden
Fälle nicht rechtzeitig aufnehmen konnte.
Hedwig Isele, Assistentin der Klinik. (Schluß.)
Auch hier wurde das Personal sehr sorg¬
fältig schon bei der Einstellung kontrol¬
liert und in ähnlichen Abständen wie in
Nagold gewechselt. Entsprechend der
etwa um ein Drittel größeren Zahl der
Kranken und-dementsprechend auch des
Personals erkrankten dort zwölf Menschen.
Eine mit Nichttuberkulösen belegte Ab¬
teilung bestand in diesem Lazarett nicht,
man bestrebte sich nur, Offene und Ge¬
schlossene nach Möglichkeit zu sondern.
Da bekanntlich viele Fälle heute offen
88-
Die Therapie der Gegenwart 1921
März
und morgen geschlossen sind, so darf
man auf eine solche Sonderung bei einem
einigermaßen fortgeschrittenen Material
keinen allzu großen Wert legen. Machen
wir für Alpirsbach die gleiche
Sonderrechnung auf wie für Na¬
gold, so erhält man für dieses
Lazarett die Erkrankungsziffer 12;
für alle anderen 177 Lazarette ein¬
schließlich der 26 anderen Tuber¬
kuloseabteilungen 53 plus 71 we¬
niger 12, das heißt 112 insgesamt
und 0,64 pro Lazarett. Es ergeben
sich also entsprechend der etwa um ein
Drittel stärkeren Belegzahl und Personal¬
zahl in Alpirsbach ganz gleiche Verhält¬
nisse wie in Nagold.
Für Alpirsbach wird sich zudem in
einiger Zeit die Probe auf das Exempel
machen lassen. Die Anstalt ist inzwischen
einer gründlichen Reinigung und Reno¬
vierung unterzogen worden, hat einige
Zeit leer gestanden und arbeitet jetzt
unter gleicher Leitung wie im Kriege als
Sanatorium für leicht lungenkranke
Damen. Da wird sich alsbald erweisen
lassen, daß die unter den ungünstigen
Bedingungen des Krieges vorgekommenen
Kontakte unter den guten Bedingungen
eines normalen Sanatoriumsbetriebes
völlig ausbleiben.
Diese beiden Anstalten sind bezüglich
der exogenen Ansteckungsgefahr fraglos
am meisten exponiert gewesen. Ich
mache sie deshalb zum Kernpunkt meiner
Ausführungen. Was die Beobachtungs¬
station und Heilstätte Wilhelmsheim be¬
trifft, so war sie nur anfangs reichlicher
mit fortgeschrittenen Tuberkulosen be¬
legt. Später erhielt sie auf ihren ausdrück¬
lichen Wunsch ein mehr dem Friedens¬
gebrauch entsprechendes Krankenmate¬
rial. Die Heilstätte meldete auch, daß
die sämtlichen im Laufe des Krieges in
ihr erkrankten Ärzte, Verwalter und
Pfleger schon früher tuberkulös erkrankt
gewesen seien mit Ausnahme eines Wasch¬
küchenmädchens, das, früher gesund, erst
nach dem Eintritt in die Anstalt erkrankte.
Die Zahlen von Wilhelmsheim dürfen
somit nicht annähernd gleich schwer in
die Wagschale geworfen werden, v\§e die
von Nagold und Alpirsbach. Immerhin
wäre aber doch zu sagen, daß auch in
anderen Lazaretten unter den Kranken¬
wärtern und dem Verwaltungspersonale
zahlreiche Leute waren, die früher etwas
an der Lunge gehabt hatten und deshalb
nur heimatsverwendungsfähig geschrieben
wurden. Diese mir in sehr vielen anderen
Lazaretten persönlich bekannten früheren
Kranken wurden, wie der Überblick er¬
weist, doch in den Nichttuberkulose¬
lazaretten in weit geringerem Ausmaß
reaktiviert. An diesem Punkte kommt
man auch bezüglich Wilhelmsheim nicht
ohne weiteres vorbei.
Um auch dem entgegengesetzten
Standpunkt gerecht zu werden, sei her¬
vorgehoben, daß in Elisabethenberg eben¬
falls offene dritte Stadien untergebracht
waren. Hier erkrankten nur zwei Leute
aus dem Personal. Freilich wurde die
Station in Elisabethenberg erst sehr viel
später (soweit mir erinnerlich, Anfang
1917) eingerichtet, wie die in Nagold und
Alpirsbach, so daß die zeitliche Exposi¬
tion des Personals dort eine wesentlich
geringere war. Das gleiche gilt für die
sogenannte Solitude, wo auf der eigent¬
lichen Tuberkulosestation überhaupt
keine Personalerkrankung gemeldet wurde.
Die übrigen in der Tabelle 2 aufge¬
führten Sonderabteilungen und Pflege¬
stätten für offene Tuberkulose können
mit Nagold und Elisabethenberg deshalb
nicht verglichen werden, weil sie einmal
viel kleiner waren und weil sie zweitens
sehr vielfach längere Zeit überhaupt nicht
belegt wurden. Sie waren nur örtliche
Sammelreservoire, bestimmt, ihre Kran¬
ken entweder alsbald in Zivilpflege oder
nach Nagold beziehungsweise später auch
Elisabethenberg zu schicken. Die Beob-
achtungsstatio/ien in Tübingen (Reserve¬
lazarett 3), Hornegg und Stuttgart (Re¬
servelazarett 1) weisen Erkrankungszif¬
fern auf, die etwa ihrer Bettenzahl nach
abgestuft erscheinen. Sie hatten die
Kranken nie dauernd, aber es ging natur¬
gemäß ein ununterbrochener Strom von
aktiv tuberkulösen Menschen und viel¬
fach doch auch offenen Tuberkulosen
durch sie hindurch, wenn auch die als
offen Erkannten entsprechend militäri¬
scher Vorschrift überaus streng bezüglich
der Zimmer, des Eßgeschirrs usw. isoliert
wurden.
Ich komme zu den in Tabelle 3 auf¬
geführten zwölf Tuberkuloselazaretten,
welche keine Personaltuberkulosen zu
melden hatten. Es sind das, wie bereits
ausgeführt, 44% der mit tuberkulösen
Heeresangehörigen überhaupt belegten
Anstalten, während von den 151 Nicht¬
tuberkuloselazaretten, bekanntlich 127,
das heißt 84% ohne Personaltuberkulosen
geblieben waren.
Dieser rein zahlenmäßige Unterschied
wird noch bedeutsamer, wenn man die
89
März
Die Therapie der Gegenwart 1921*
Tuberküloselazarette, welche . negative
Meldungen schickten, näher durchgeht.
Da sind zunächst die beiden bekannten
Lungenheilanstalten in' Schömberg, weiter
die ganz moderne und mit jedem hygie¬
nischen Raffinement ausgestattete Volks-,
heilanstalt Überruh, und die Heilanstalt *
Balingen unter der Alb, welche zu einem
sehr erheblichen Prozentsatz Knochen-,
Gelenk- und Drüsen tuberkulösen auf¬
nahm. Diese Anstalten wurden von vorn¬
herein im wesentlichen mit ersten und
zweiten Stadien belegt, sie hatten vielfach
in Stuttgart Weimarspital (Nr. 19) nach
ihrer Durchgangsfrequenz mindestens eine
so gute Gelegenheit zu Kontakten ge¬
boten haben müßte wie Hornegg. Auch
die Beobachtungsstation in Ulm (Nr. 23)
hatte eine wenn auch geringere, so doch
immerhin in Betracht fallende .Durch¬
gangsfrequenz, die schon Gelegenheit zu
Kontakten hätte geben können, wenn
solche überhaupt zugegeben werden will.
Ich fasse nochmals kurz zu¬
sammen: Die Meldungen über Tu¬
berkuloseerkrankungen beim Per-
Tabelle 3.
Keine Personalefkrankungen an Tuberkulose hatten aufzuweisen:
von 27 Lazaretten mit Tuberkulosestationen 12 = 44% dfeser Lazarette.
Im einzelnen waren dies:
Nr.
Ort
Name
•
, Art
Verwendung
Etwaige Zahl
der
tuberkulösen
Lazarett¬
patienten
2
Balingen . . .
Vereinslazarett
Heilstätte
40
3
Biberach....
—
Vereinslazarett
Sonderabt. für Tb.
10
8
Herrenberg . .
—
Vereinslazarett
Sonderabt. für Tb.
10
10'
Leutkirch . . .
—
Vereinslazarett
Sonderabt. für Tb.
10
12
Mergentheim . .
Reservelazarett
Sonderabt: .für Tb.
10
15
Schömberg. . .
Neue Heilanstalt
Dr. Schröder
Vereinslazarett
Beobachtungsstation,
Heilstätte -
cc. 50
16
Schömberg. . .
Sanatorium
Dr. Koch
Genesungsheim
Beobachtungsstation,
Heilstätte
50
19
Stuttgart . . .
Weimarspital
Zweiglazarett
Beobachtungsstation
50—60
22
Überruh . : . .
(Versicherungs¬
heilstätte)
Vereinslazarett
■
Beobachtungsstation,
Heilstätte
200
23
Ulm.
—
Festungshilfsl. II
Beobacht ungsstati on
20—30
24
Ulm.......
—
Festhilfslaz. III
Sonderabt. für Tb.
wenige
26
Weingarten . .
—
Reservelazarett I
Sonderabt. für Tb.
10
Keine Personalerkrankungen an Tuberkulose hatten aufzuweisen:
von 151 Lazaretten ohne Tuberkulosestätion 127 = 84% dieser Lazarette.
noch ein geschultes und erfahrenes Per¬
sonal und unterschieden sich somit durch
ihre teilweise Belegung mit tuberkulösen
Heeresangehörigen nicht wesentlich vom
ihrem Friedensbetriebe. Ihre negativen
Meldungen bestätigen somit nur das, was
man auch früher schon wußte, nämlich,
daß man in gut eingerichteten, gut gelei¬
teten und im wesentlichen mit geschlos¬
senen Tuberkulosen belegten Sanatorien
in der. Tat vor Kontakten ziemlich sicher
sein kann.
Daß die kleinen Sonderabteilungen
unter Nr. 3, 8, 10, 12, 24 und 26 keine
Erkrankungen des Personals aufzuweisen
hatten, ist vom Gesichtspunkte der vor¬
liegenden Arbeit nicht weiter verwunder¬
lich, da sie oft vorübergehend, teilweise
sogar dauernd nicht belegt waren, das
heißt mehr einen Bereitschaftsdienst aus¬
zuüben hatten.
Vom Standpunkte der Gegenseite wäre
zu sagen, daß die Beobachtungsstation
sonal fielen bei 1.51 Lazaretten
ohne Tuberkuloseabteilung 24mal,
das heißt in 16% positiv und 137mal,
das heißt in 84% negativ aus. In
den 27 Lazaretten mit Tuberkulose¬
abteilung fielen sie 15mal, das
heißt in 56% positiv und 12mal,
das heißt in 44% negativ aus. Nach
ab.saluten Zahlen angegebenkamen
in 151 Lazaretten ohneTuberkulose-
abteilung 53 Erkrankungen (das
heißt 0,35.pro Lazarett), in 27 La¬
zaretten mit Tuberkuloseabteilung
71 Erkrankungen (das heißt 2,6 pro
Lazarett) vor. Die am meisten ge¬
fährdeten Lazarette hatten Er¬
krankungsziffern von neun be¬
ziehungsweise zwölf,
. Stellt man .sich auf den Standpunkt
eines Gegners dieser Berechnung, so kann
.man darauf hinweisen, daß unter den
Tuberkuloselazaretten, welche nicht über¬
wiegend mit offenen dritten Stadien,
12
90
Die Therapie der Gegenwart 1921 „März
sondern mehr mit geschlossenen ersten
und zweiten Stadien belegt waren, Wil¬
helmsheim mit der stattlich ins Gewicht
fallenden Zahl von 15 Erkrankungen
vertreten ist. Man kann sagen, diese
Leute waren mit einer Ausnahme schon
vorher manifest tuberkulös gewesen, und
darum nimmt ihre Reaktivierung nicht
runder, auch wenn ihre Krankheits¬
prozesse bei Di'ensteintritt ruhig waren.
(Man kann natürlich auch umgekehrt)
gerade in der so reichlichen Reaktivierung
alter tuberkulöser Prozesse den Beweis
für die Bedeutung additioneller Infek¬
tionen bei Menschen erblicken, deren
Tuberkuloseimmunität sich im labilen
Gleichgewicht befindet). Weiter kann
man darauf hinweisen, daß Elisabethen¬
berg, das neben Nagold und Alpirsbach
die meisten offenen dritten Stadien über
längere Zeitäume beherbergte (wenn auch
weder der' Krankenzahl noch der Be¬
legungszeit nach so ausgiebig w!e die
erstgenannten Lazarette), eine weitaus
geringere Erkrankungsziffer zu melden
hatte. Will man das tun, so kann man
eine ganz andere Berechnung aufstellen.
Man kann alsdann sagen: Ich lasse
als Grundlage für die Entscheidung über
die Frage der additionellen Infektionen
überhaupt nur diejenigen Lazarette gel¬
ten, in denen nachweislich längere Zeit
hindurch unausgesetzt offene dritte Sta¬
dien in reichlicher Zahl verweilt haben.
Diese Lazarette waren: Alpirsbach mit
einer Erkrankungsziffer von zwölf bei
140 Betten, Nagold mit einer Erkran¬
kungsziffer von acht (auf offener Station)
bei 100 Betten und Elisabethenberg mit
einer Erkrankungsziffer von zwei bei etwa
40 Betten auf offener Station. Das er¬
gibt zusammen 22 Erkrankungen in
drei Lazaretten oder 7,3 pro Lazarett.
Man kann weiter sagen: diesen drei La¬
zaretten stelle ich alle anderen württem-
bergischen Heimatlazarette einschließlich
der übrigen Tuberkuloseabteilungen, das
heißt also 175 Anstalten mit 24 Tuber¬
kuloseabteilungen gegenüber, weil ich
der Meinung bin, daß in den anderen gar
nicht oder nicht dauernd mit offenen
Tuberkulosen belegten Lazaretten eine |
Kontaktgefahr überhaupt nicht in Be¬
tracht kommen kann. Dann hätte man
also in 175 Anstalten noch 102 Erkran¬
kungen an Tuberkulose zu verzeichnen,
das heißt 0,6 pro Lazarett.
Faßt mau also nur die dauernd
mit offenen Tuberkulosen belegten
Lazarette zusammen und stellt
diesen alle anderen, einschließlich
der nur zeitweise mit offenen oder
dauernd mit geschlossenen Tuber¬
kulosen belegten Lazarette gegen¬
über, so erhält man für die drei
offenen Anstalten eine Durch¬
schnittsziffer von 7,3 Personal-
tuberkulose, für die anderen eine
solche von 0,6.
Ich glaube, daß sich gegen diese nach
meiner Auffassung schon zu vorsichtig
aufgestellte Kalkulation nicht viel wird
einwenden lassen. Man- wird allenfalls
sagen können: Wie militärische Meldungen
vielfach zustande gekommen sind, weiß
man, und darum ist auf diese Zahlen
kein Gewicht zu legen. Dann werde ich
darauf hinweisen, daß die vorliegenden
Zahlen durchaus meinen eigenen Erleb¬
nissen entsprechen. Ich habe das ge¬
sehen, andere Ärzte haben es auch ge¬
sehen, sogar Laien haben mich darauf
aufmerksam gemacht. Wie kam es denn,
daß ich in den exponierten offenen La¬
zaretten immerfort Klagen über Personal¬
erkrankungen zu hören bekam und diese
zum Teil auch" selbst feststellen konnte,
während das in den anderen Lazaretten
nicht der Fall war?
Weiter könnte man sagen: in den
Tuberkuloseabteilungen ist eben mehr
auf das Personal geachtet worden, und
darum hat man auch mehr gefunden.
Darauf ließe sich erwidern, daß dann
doch der offensichtliche Unterschied zwi¬
schen den schweren offenen Abteilungen
und der ganz überwiegenden Mehrzahl
der Heilstätten nicht zu erklären wäre.
Auch wäre hier ins Feld zu führen, daß
die offenen Abteilungen mit rasch wech¬
selndem Personal • arbeiteten, die ge¬
schlossenen nicht in dem Maße. Es wäre
doch merkwürdig, wenn bei viertel- bis
halbjährig wechselndem Personal der
gleiche Arzt so oft zunächst nichts fände
und später aus übergroßer Peinlichkeit
einen Befund erhöbe.
Sodann ließe sich bedauern, daß die
absoluten Zahlen des Personalbestandes
der Tuberkuloselazarette und der Nicht¬
tuberkuloselazarette nicht vorliegen. Es
ist dadurch, unmöglich, festzustellen, wie¬
viel Prozent des Personals in der einen
und wieviel in der anderen Art von
Lazaretten an Tuberkulose während des
Krieges erkrankt sind. In der lastenden
Arbeit des Krieges wurde es versäumt,
diese Erhebungen anzustellen.
Endlich kann man natürlich auch
kommen und sagen: Man hätte das auf
März
Die Therapie der Gegenwart 1921
91
die Tuberkuloseabteilungen einzustellende
Personal so, wie es in einzelnen Lungen¬
heilanstalten üblich ist, einige Tage beob¬
achten und eventuell mit Röntgen und
probatorischer Tuberkulinprovakation be¬
züglich des Grades seiner alten tuberkur
lösen Veränderungen genau explorieren
sollen. Das war im Kriege sachlich leider
nicht möglich.
Aber alle diese Einwände sind nicht
imstande, in mir den Eindruck zu ver¬
wischen, daß die drei reichlich und dauernd
mit offenen dritten Stadien belegten La¬
zarette durchschnittlich je 7,3, alle an¬
deren weniger oder gar nicht mit dritten
Stadien belegten Lazarette aber durch¬
schnittlich je 0,6 Personalerkrankungen
an Tuberkulose aufwiesen. Das läßt sich
meines Erachtens nicht allein durch die
Römersche Autoreinfektion erklären. Da
müssen Kontakte stattgefunden haben.
Ich komme also wieder zu dem zurück,
was ich bei Gerhardt seinerzeit gehört
habe, wenn auch in anderer Weise. Ger¬
hardt wußte noch nichts von der Regel¬
mäßigkeit der Kindheitsinfektion und
von der Reaktivierungslehre. Er faßte
die Kontakte wohl so auf, daß die davon
Betroffenen zum ersten Male mit Tuber¬
kulose infiziert worden seien. Das ist
heute nicht angängig. Wir müssen vor¬
aussetzen, daß auch die auf den offenen
Abteilungen Erkrankten schon in ihrem
früheren Leben mit der Tuberkulose Be¬
kanntschaft gemacht, daß sie eine mehr
oder weniger kräftige relative Immunität
gegen dieses Leiden erworben hatten.
Wir sind aber doch wohl genötigt, den
Schluß zu ziehen, daß diese mehr oder
weniger stark ausgesprochene relative Im¬
munität im großen Durchschnitt der
Personalzahlen in den nicht oder wenig
exponierten Lazaretten infolge der Hun¬
ger- und Arbeitskrise ganz unvergleich¬
lich viel seltener durchbrochen worden
ist als auf den offenen Abteilungen, wo
zu der gleichen Krise noch die Möglich¬
keit additioneller Neuinfektion hinzutrat.
Beim einzelnen werden die Dinge
naturgemäß sehr verschieden und nach¬
träglich auf keine Weise mehr feststellbar
sich zugetragen haben. Der eine wird
schon relativ reaktivierungsbereit ge¬
kommen sein, der andere stärker resistent.
Hier bedurfte -es nur eines kleinen An¬
stoßes, dort einer langen massigen Ein¬
wirkung. Meines Erachtens liegen die
Dinge hier ganz ähnlich wie bei der
Psychopathenlehre, die ebenfalls vor dem
Kriege reichlich dogmatisch, während
des Krieges wesentliche Umgestaltungen
erfahren hat. Vor dem Kriege sagte man,
wer hysterische Erscheinungen unter dem
Druck exogener Verhältnisse bekommt, ist
ein Psychopath von Haus aus; ist er das
nicht, so bekommt er sie auch nicht bei
den schwersten Insulten. In diesem Kriege
konnte man von manchen Nervenärzten
schon hören: die exogenen Momente sind
derart gewaltig, daß schließlich jeder
„hysteriefähig“ wird. Ich erinnere da an
die Martiussche KonstitutionsformelC:P,
das heißt Konstitution durch pathogene¬
tisches Moment. Ist C sehr klein, so wird
schon ein geringfügiges pathogenetisches
Moment das Gleichgewicht stören. • Ist
aber P sehr groß, so wird auch eine robuste
Konstitution erliegen.
Als Endresultat möchte ich des¬
halb aus meinen Erlebnissen und
statistischen Feststellungen fol¬
gendes formulieren: Die Römer¬
sche Reaktivierungslehre ist in
diesem Kriege nach Art eines
ätiologischen Experiments [Schrö¬
der (17)] auf breiter Basis bestätigt
worden. Sie ist aber kein abso¬
lutes Dogma. Unter den anergi-
schen Perioden, welche die Reak¬
tivierung veranlassen können,
spielt bei massiger und längerer
Einwirkung die additioneile In¬
fektion ebenfalls eine Rolle. Die
wohltuende Vaccinierung, welche
nach Schröder für den aktiv tuber¬
kulösen durch exogene Aufnahme
vereinzelter Tuberkelbacillen be¬
wirkt wird, kann in ihr Gegenteil
Umschlagen, wenn das Verhältnis
C:P im speziellen Falle nicht das
optimale ist. Ist die Widerstands¬
kraft eines Menschen im gegebenen
Augenblicke, welche ich hier durch
C ausgedrückt haben möchte, eine
gute, so wird auch eine relativ be¬
trächtliche Infektion, welche ich
hier durch P ausgedrückt wissen
will, ertragen. Wird P unendlich
groß und wirkt diese große Schäd¬
lichkeit andauernd ein, so werden
nicht alle Menschen dem ein so
kräftiges C entgegenzustellen ha¬
ben, daß sie ohne Neuinfektion,
das heißt ohne Kontakt davon¬
kommen.
In dieser Auffassung werde ich durch
zwei sich scheinbar widersprechende Äuße¬
rungen Cornets bestärkt. Die eine be¬
sagt, daß in den ersten Brehmersehen
Heilanstalten, wo noch viele Schwer-
12*
92
März
Die Therapie der
kranke lagen und, Disziplin und Hygiene
naturgemäß erst in den Anfängen ihrer
Durchbildung waren,. bei den Zimmer¬
mädchen auffallend viele Lungenspitzen¬
tuberkulosen vorgekommen seien. Die
andere Mitteilung besagt dann später,
nachdem die Heilanstaltsverhältnisse sich
von .Grund aus verändert hatten, daß die
Ansteckungsfurcht in gut eingerichteten
mit ersten und zweiten Stadien belegten
Anstalten unbegründet sei. Genau das
Gleiche sagt unsere Statistik. Unsere
Schlüsse werden auch nicht angefochten
durch die Angaben von Sanders, der
bei guten hygienischen Allgemeinbedin¬
gungen und vorsichtigen und reinlichen
Kranken in 27 Jahren keinen einzigen
Fall von Ansteckung beim Personal ge¬
sehen hat. Der Soldat war nicht immer
ein vorsichtiger und reinlicher Kranker
und konnte es unter den ungünstigeren
hygienischen Bedingungen des Krieges
in improvisierten Anstalten auch nicht
sein.
Nun wird man sagen: das sind exzep¬
tionelle Verhältnisse gewesen, die liegen
jetzt hinter uns, und darum haben die
Kontakte bei länger dauernder und mas¬
siger Infektion keine allgemeine prakti¬
sche Bedeutung. Da bin ich anderer
Meinung. Unser Volk lebt noch immer
unter sehr ungünstigen hygienischen Be¬
dingungen. Die Hungerkrise ist keines¬
wegs überwunden. Die Wohnungskrise
steht auf der Höhe. Die Reinlichkeit und
die Desinfektionsmöglichkeiten sind in¬
folge der Brennstoffnot und der hohen
Preise für Seife und Desinfektionsmittel
schwer beeinträchtigt. Die guten Sitten
und die Rücksicht auf den Mitmenschen
haben fraglos nicht zugenommen. Die
Tuberkulosekurve steigt dementsprechend
noch fortgesetzt und wird noch einige
Jahre steigen.
Wir haben also damit zu rechnen, daß
in engen Räumen zusammengepfercht
nicht hinreichend reinlich und peinlich
große Menschenmassen dahinleben, und
daß unter ihnen viel mehr offene Tuber¬
kulosen sind wie vor dem Kriege. Nach
dem, was sich aus den Lehren der offenen
Lazarettstationen ergibt, müssen wir
meines Erachtens mit zahlreicheren Kon¬
takten rechnen als -früher. Nicht nur die
Kinder werden früher und schwerer in¬
fiziert und darum auch später leichter
autoreaktiviert, sondern auch die Er¬
wachsenen werden zahlreicher sowohl
Gegenwart 1921
autoreaktiviert, als additionell infiziert
werden. Wir haben also alle Ursache,
unser Fürsorgewesen nach jeder Möglich¬
keit äuszubauen, die bestehenden gesetz¬
lichen Bestimmungen über Desinfektion
usw. streng zu beachten, wie auch dem
Arzte gegenüber der Omnipotenz der
Wohnungskommissionen einen durch¬
schlagenden Einfluß zu sichern.
Literatur: 1. v. Behring, Phthiseogenese
und Tuberkulosebekämpfung (D. m. W. 1903 und
1904, B. kl. W. 1906). —2. P. H. Römer, Tuber¬
kuloseimmunität, Phthiseogenese und praktische
Schwindsuchtsbekämpfung (Beitr. z. Klin. d.
Tbc. XVII); Experimentelles und Epidemiologi¬
sches zur Lungenschwindsuchtsfrage (B. kl. W.,
1912); Die Ansteckungswege der Tuberkulose
(Handbuch der Tuberkulose Brauer-Schroeder,
Bd, I); Kritisches und Anti kritisches zur Lehre
von der Phthiseogenese (Beitr. z. Klin. d. Tbc.,
XII); Immunität gegen natürliche Infektion
(ebendort). — 3. v. Pirquet, (siehe Fehr, Lehr¬
buch der Kinderheilkunde, 1917). — 4. Frey-
muth, Über Tuberkuloseinfektion mit besonderer
Berücksichtigung der Heilstätten (Beitr. z. Klin.
d. Tbc., XX). —-5. Hamburger, Tuberkulose¬
immunität (Beitr. z. Klin. d. Tbc., XII); Was
verdankt die Lehre von der Tuberkulose der ex¬
perimentellen Medizin? (Beitr. z. Kün. d. Tbc.,
XXXII); Über tuberkulöse Exacerbationen (W.
kl. W., 1911). — 6. Ranke, Über den zyklischen
Verlauf der Tuberkulose (Beitr. z. Klin. d. Tbc.,
XXI). — 7. Selter, Reinfektion und Immunität
bei Tuberkulose (D. d. W., 1916); Die tuberkulöse
Infektion im Kindesalter und ihre Bedeutung für
die Phthise (D. d. W., 1918). — 8. Hillenberg,
Kindheitsinfektion und Schwindsuchtsproblem
(D. d. W., 1912). — 9. Röpke, zitiert nach
H. Müller Sammelreferat über: Der Krieg und
die Tuberkulose (Intern. Zbl, f. Tbc.Forsch., XI).
— 10. V. Hayek, Über tuberkulöse Exposition
und exogene tuberl^ulöse Infektion unter den be¬
sonderen Verhältnissen des Krieges (Intern.
Zbl. f. Tbc.Forsch, XI. und W. kl. W., 1917);
Tuberkulöse Disposition (W. kl. W., 191«).
— 11. Comach (W. kl. W., 1917). —
12. Ast, zitiert nach H. Müller Sammelreferat
über: Der Krieg und die Tuberkulose (Intern.
Zbl. f. Tbc.Forsch., XI). — 13. Hochhaus, Er¬
fahrungen über die Erkrankungen der Respira¬
tionsorgane im Kriege (D. med. W., 1916). —
14. Schlesinger, zitiert nach H. Müller Sammel¬
referat über: Der Krieg und die Tuberkulose
(Intern. Zbl. f. Tbc.Forsch., XI). — 15. Aßmann,
Die militärische Untersuchung und Beurteilung
Tuberkulöser im Kriege (D. d. W., 1917). —
16. Robert Koch, zitiert nach P. Römer:
Tuberkuloseimmunität, Phthiseogenese und prak¬
tische Schwindsuchtsbekämpfung (Beitr. z. Klin.
d. Tbc., XVII). — 17. Schröder, zitiert nach
H. Müller .Sammelreferat über: Der Krieg und
die Tuberkulose (Intern. Zbl. f. Tbc.Forsch., XI).
— 18. Mönckeberg, Tuberkulosebefunde bei
Obduktionen von Kombattanten (Zschr. f. Tbc.,
XXIII). — 19. Cornet, Nekrolog für Brehmer
(M. m. W., 1890). — 20. Cornet, zitiert nach
Predöhl: Die Geschichte der Tuberkulose (Brauer-
Schroeders Handbuch der Tuberkulose, I). —
21. Sander, Über moderne Sanatoriumshygiene
(Beitr. z. Klin. d. Tbc., VH).
März
Dk Therapie der Gegenwart 1921
93
Aus der innereu Abteilung des Stadtkrankenbauses Dresden-Jobannstadt
(Leitender Arzt: Obermedizinalrat Prof. Dr. Kostoski).
Die Behandlung chronischer Arthritiden mit Proteinkörpern,
insbesondere mit Sanarthrit.
Von Dr. Rudolf Lämpe.
Das von Hei ln er auf. Grund eigen¬
artiger theoretischer Begründung zur Be¬
handlung von Gelenkerkrankungen emp¬
fohlene Sanarthrit wird in unserem Kran¬
kenhaus. seit über ein und einhalb Jahr
angewendet. Wir verfügen bis jetzt über
19 abgeschlossene Fälle. Wir haben uns
im allgemeinen streng an die Vorschriften
Heilners gehalten. Die Injektionen ge¬
schahen stets intravenös, in den ersten
Vormittagsstunden. Durchschnittlich be¬
stand eine Kur aus sechs bis acht Einzel¬
injektionen, bisweilen wurden auch mehr
Injektionen ausgeführt, selten weniger.
In einzelnen Fällen wurde mit zwei ge¬
trennten Kuren behandelt. Zwischen den
einzelnen Injektionen wurde je nach der
Stärke der Reaktion eine zwei- bis sechs¬
tägige Pause gemacht. Als Anfangsdosis
injizierten wir 1 ccm Stärke I, als zweite
Dosis 0,5 oder 1 ccm von Stärke II. Die
nächsten Dosen richteten sich nach den
Reaktionen, die beide ersten Dosen her¬
vorgebracht hatten. Da nach Vorschrift
Heilners möglichst zwei Starkreaktionen
unter sechs Injektionen verlangt werden,
waren wir bisweilen gezwungen, sogar bis
2 ccm von Stärke II zu geben. Wie aber
auch Heilner betont, konnten wir ein
gesetzmäßiges Verhalten zwischen Stärke
der Reaktion und der Stärke und Menge
des injizierten Stoffes nicht konstatieren.
Oft wirkte 1 ccm von Stärke I intensiver
als 1 ccm von Stärke H.
Unter Verzicht auf die Wiedergabe
der einzelnen Krankengeschichten berichte
ich im folgenden über unsere Behandlungs¬
ergebnisse.
Unter unseren 19 Fällen waren zu er¬
zielen in fünf Fällen eine starke, in sechs
Fällen zwei oder sogar drei bis vier starke
Reaktionen. Der Temperaturanstieg wur¬
de meist eingeleitet durch einen Schüttel¬
frost, welcher seltener schon eine halbe
Stunde, meist erst zwei bis vier Stunden
nach der Injektion auftrat, gewöhnlich
sehr heftig war und bisweilen über eine
Stunde anhielt. Auch die mittelstarken
Reaktionen, unter denen Heilner einen
Fieberanstieg bis 39® versteht, setzten
sehr oft unter einem ausgesprochenen
Schüttelfrost, schnellem Temperaturan¬
stieg und denselben allgemeinen Erschei¬
nungen ein, wie die sogenannten starken
Reaktionen, so daß eine Trennung zwi¬
schen den beiden Reaktionen nicht immer
gemacht werden kann. Die größere Zahl
der von uns beobachteten Fälle würde
also noch, hinzukommen, bei denen man
von einer ausgesprochenen Reaktion spre¬
chen kann. Die leichten Reaktionen
(Temperatur zwischen 37 und 38®) waren
nur von leichten Frösteln begleitet.
Der Temperaturabfall erfolgte gewöhn¬
lich in einigen Stunden, durchaus nicht
immer mit Schweißausbruch. Am näch¬
sten Tag war die Temperatur wieder
normal oder sie zeigte dieselben leichten
Erhebungen, die sie schon vor der Be¬
handlung aufwies. Sehr häufig klagten
die Patienten bei den starken und mittel¬
starken Reaktionen über Kopf- und Kreuz¬
schmerzen, bisweilen über Brechreiz, ein¬
mal traten sehr heftige krampfartige Leib-
schmerzvin mit Durchfällen auf. Erschei¬
nungen von seiten der Kreislauforgane,
außer mäßigem Herzklopfen, und von
seiten der Atmungsorgane haben wir
nicht beobachtet. Nach dem Schüttel¬
frost, beim Absinken der Temperatur, trat
öfters eine angenehme Müdigkeit und
eine allgemeine Euphorie auf. Albuminurie
wurde nicht gesehen.
Als besonders charakteristisch sieht
Heilner das Auftreten von Schmerzen
in den befallenen Gelenken, vor allem bei
starken und mittelstarken Reaktionen
an. Auch in den Gelenken, die früher
einmal entzündlich erkrankt waren, aber
scheinbar ausgeheilt sind, oder in solchen,
in denen der Prozeß eben erst beginnt,
sollen leichte Schmerzen auftreten. Er
bezeichnet diese Schmerzen als Mahnun¬
gen. Wir haben dieses Auftreten von
starken Schmerzen in den befallenen Ge¬
lenken in der Mehrzahl der Fälle beob¬
achtet, meist besonders intensiv bei star¬
ken Reaktionen. Aber auch bei ganz
leichten Reaktionen waren die Schmerzen,
welche die Patienten als ziehende angeben,
ziemlich ausgesprochen. Die Gelenk¬
schmerzen machten sich besonders wäh¬
rend des Schüttelfrostes und bei Abfall
des Fiebers bemerkbar, in einigen Fällen
traten sie erst in der folgenden Nacht ein.
Im Gegensatz dazu trat in einer Anzahl
von Fällen bei starken Reaktionen schon
während des Schüttelfrostes in den be-
94
Die Therapie der Gegenwart 1921
Märr
falleneu Gelenken ein Nachlassen der
bestehenden Schmerzen auf, die Gelenke
konnten besser bewegt werden. Auch in
Gelenken, die früher erkrankt gewesen
und scheinbar ausgeheilt waren, machten
sich Mahnschmerzen gar nicht selten be¬
merkbar. Wir haben aber auch Fälle
gesehen, bei denen wir Entzündungs¬
erscheinungen an den Gelenken beob¬
achtet hatten, ohne daß einige Wochen
später auf Sanarthritinjektionen Mah¬
nungen auftraten. Oft traten die Schmer¬
zen auch in Gelenken auf, für welche
kein Anhaltspunkt einer früheren oder
beginnenden Erkrankung vorlag. Eine
Beziehung zwischen der Intensität der
auftretenden Gelenkschmerzen und der
endgültigen Besserung des Krankheits¬
zustandes haben wir nicht sichej fest¬
stellen können.
Der therapeutische Erfolg der San-
arthritkuren in unseren Fällen ist ein recht
wenig ermutigender, er reicht bei weitem
nicht an die günstigen Resultate Heil-
ners und Umbers, die einen Mißerfolg
nur in 30 % sahen, heran, aber auch die
von anderen Kliniken veröffentlichten
Erfahrungen, die von denen Heilners
und Umbers, was den Erfolg betrifft,
schon erheblich abweichen, können wir
nicht bestätigen. Wir sahen unter 19 Fäl¬
len nur zwei gute Erfolge; und zwar einen
bei primärer chronischer Arthritis (Fall
Xll), den anderen bei Osteoarthritis de-
formans (Fall XIII). Hier wurden die
Gelenke, die lange Zeit vorher gebrauchs¬
unfähig gewesen waren, wieder gut be¬
weglich. ln einem anderen Falle (XI) von
primärer chronischer Arthritis trat eben¬
falls eine gute Besserung ein, der aber
dann bald eine Verschlechterung nach¬
folgte. Von den übrigen elf Fällen von
primärer chronischer Arthritis zeigten ein-
Fall eine Verschlimmerung, sechs Fälle
keine, vier Fälle eine geringe Besserung.
Von chronischer Polyarthritis rheumatica
wurden drei Fälle behandelt, von denen
zwei eine mäßige Besserung zeigten, ein
Fall von Osteoarthritis deformans besserte
sich gar nicht, ein anderer nur wenig.
Jedenfalls waren die Erfolge bei diesen
Besserungen so gering, daß man sie viel¬
leicht auch mit anderen Maßnahmen er¬
reicht hätte. Während der Sanarthrit-
kuren selbst traten allerdings in verschie¬
denen Fällen Besserungen ein; dieselben
hielten aber nicht an, sondern gingen nach
Beendigung der Kur schnell wieder zu¬
rück. Die ein bis zwei starken Reaktionen,
die Hei ln er verlangt, wurden allerdings
nicht in allen Fällen ermöglicht; aber sie
waren auch dort, wo sie erreicht wurden,
ohne Einfluß.* Gerade in derh einen gün-.
stig verlaufenen Falle war nie eine starke
Reaktion auf getreten.
Hei ln er verlangt nun eine Beob¬
achtungszeit von mindestens vier Monaten
nach der ersten Injektion, um über den
Erfolg oder Mißerfolg ein endgültiges
Urteil fällen zu können. Wir haben die
Mehrzahl der Fälle mehrere Monate nach
der ersten Injektion schon aus dem Grun¬
de beobachten können, weil sie weiterer
Behandlung und Beobachtung" im Kran¬
kenhause bedurften. Natürlich konnten
wir nicht immer abwarten, ob noch ein
Erfolg der Sanarthritkur auftreten würde.
Die Patienten klagten weiter über ihre
Beschwerden, und wir miußten andere
therapeutische Maßnahmen ergreifen. Wir
haben auch bei einer größeren Anzahl von
Patienten eine nachträgliche Besserung;
erzielt, haben aber durchaus den Ein¬
druck, daß diese Besserung vieliriehr der
angewandten Behandlung zugerechnet
werden muß, als der Nachwirkung des
Sanarthrits, denn wir sahen solche Besse¬
rungen auch ohne Sanarthrit bei der
gleichen Behandlung.
Wie auch bereits in anderen Arbeiten aus¬
gesprochen ist, hat die Wirkungsweise des Sanar¬
thrits große Ähnlichkeit mit der unspecifischen
Leistungssteigerung, wie sie durch die Protein¬
körper ^hervorgerufen wird. Auch parenteral
einverlefbtes Eiweiß und seine Spaltprodukte
entfalten eine intensive Allgemeinwirkung im
Körper, die sich auf jede Körper und Organ¬
zelle erstreckt und dort vitale Vorgänge erzeugt.
(Protoplasmaaktivierung nach Weichhardt.)
Diese vielseitige Wirkung auf den Organismus
macht sich in Fieber, Stoffwechselbeschleunigung,.
Hyperleukocytose usw. bemerkbar. Auch die
Wirkung der Proteinkörper tritt am erkrankten
Gewebe als Herdreaktion besonders hervor.
Es kann zu einer Einschmelzung und Abstoßung
des erkrankten Gewebes kommen und dadurch
eine Heilwirkung erzielt werden. Lindig und
von den Velden sind der Ansicht, daß fermen¬
tative Prozesse am Ort des Krankheitsprozesses
in unspecifischer Weise aktiviert werden. Es.
werden dabei starke vasomotorische Reaktionen
beobachtet, die mit vermehrtem Lymphstrom
und Leukozytenanhäufung einhergehen. Schmidt
sagt, daß den Spaltprodukten der Proteinkörper
bei parenteraler Zufuhr ein hyperämisierender
und entzündungerregender Einfluß zukommt,,
der vor allem dort sich äußert, wo ein Entzün¬
dungsprozeß bereits im Gange ist, beziehungs¬
weise eine Bereitschaft für eine Entzündung be¬
steht. Diese schmerzhaften Reaktionen in den
erkrankten und krank gewesenen Gelenken sind
von ihm besonders nach Milchinjektion beob¬
achtet worden, sie wurden begleitet von Rötungen
und Schwellungen. Nach weiteren Milchinjek¬
tionen kehrte dann das Gelenk zur Norm zurück.
Wir können dies bestätigen. Döllken weist
besonders auch auf eine negative Herdreaktion,.
März
Die rherapie der Gegenwart 1Q21
95
bei welcher nach der Injektion die Empfindlich¬
keit in den entzündeten Gelenken bedeutend
nachläßt und später in vermindertem Maße
wiederkehrt, hin. Im Gegensatz dazu hat Den ecke
als einziger bei chronischen Arthritiden nach
Milchinjektion und Caseosaninjektionen nie eine
Spur von Herdreaktionen gesehen, trotz intensiver
Allgemeinreaktion.
Die Allergemeinreaktionen, wie wir sie nach
Sanarthrit beobachteten, waren im großen und
ganzen dieselben wie sie nach parenteral einver-
leibtei Eiweiß auftreten. Die Herdreaktionen,
die nach Sanarthritinjektionen in der großen Mehr¬
zahl der Fälle und ziemlich intensiv einsetzten,
waren allerdings ausgesprochen stark. Sie traten
auch vor allem in den Gelenken auf, von denen
man annehmen konnte, daß sie noch nicht völlig
gesund respektive früher einmal krank gewesen
waren. In wenigen Fällen konnten wir auch eine
sogenannte negative Herdreaktion beobachten.
Hei Ine r betont ausdrücklich, daß das San¬
arthrit eiweißfrei hergestellt wird, daß also eine
Proteinkörperwirkung nicht in Frage kommt. Die
Untersuchung des Sanarthrits auf Albumosen und
Peptone ist häufig aiisgeführt worden, mit wenigen
Ausnahmen ist die Bimetreaktion stets negativ
ausgefallen. Dagegen konnte Denecke Amino¬
säuren nachweisen, weist aber trotzdem einen
Vergleich mit der Proteinkörperwirkung zurück.
Nun werden die Erscheinungen, wie sie nach
parenteral einverleibten Protein körpern auftreten,
auch nach Einwirkung physikalisch und chemisch
wirkender Energiearten auf den Körper beob¬
achtet. Man nimmt an, daß aus der organischen
Substanz des Körpers auf den Reiz hin Spalt¬
produkte, leistungssteigernde' Stoffe, entstehen,
die also auch eine Protoplasmaaktivierung im
Sinne Weichhardts erzeugen. Hierher gehören
kolloidale Metalle, Salzlösungen usw. Lindig
nimmt an, daß ebenso wie nach parenteraler
Einverleibung von körperfremdem Eiweiß auch
nach Einwirkung elektrischer Energie, Radium¬
strahlen, parenteraler Zufuhr rein chemischer
Produkte proteolytische Fermente im Blutkreis¬
lauf erzeugt beziehungsweise gesteigert werden.
Diese Fermente sind ein Produkt lebender Zellen,
ihre Aufgaben bestehen in der Auslösung hydro¬
lytischer und oxydativer Spaltung und in anderen
mit intramolekularer Verschiebung von H. und
O.H.-Gruppen einhergehenden Prozessen. Auch
das Sanarthrit Heilners dürfte wohl
von gleichsinniger Wirkung, also un¬
spezifisch sein.
Das • Anwendungsgebiet der Proteinkörper¬
therapie scheint ein fast unerschöpfliches zu sein.
Die leistungssteigernde Wirkung auf die gesamte
Zelltätigkeit und die therapeutisch besonders
wirksame Reaktion an dem erkrankten Gewebe
ist schließlich für jede Krankheit wertvoll. Und
doch bedarf diese Therapie noch weitgehender
Forschung, ehe sie für die Praxis allgemein an¬
wendbar ist. Gerade über die detaillierte Wirkung
beim kranken Organismus sind wir fast noch
ganz im unklaren. Mit Recht betont Schitten-
helm, daß keineswegs jeder Proteinkörper die¬
selbe Wirkung hat, und entsprechend verhält es
sich auch mit der Einwirkung chemischer und
physikalischer Energiearten. Bei der einen
Krankheit löst dieser, bei der anderen jener Stoff
die bessere Wirkung aus. Ebenso wichtig ist die
Dosierung. Eine zu große Dosis kann zu einer
Leistungsverminderung, zu einer proteinogenen
Kachexie führen, eine zu kleine kann wirkungs¬
los bleiben. Es gilt, in jedem Falle die optimale
Dosis zu finden. Auch die Intervalle zwischen
den einzelnen Dosen-sind sicher von Wichtigkeit.
Die Konstitution wird ebenfalls eine nicht zu
unterschätzende Rolle spielen. Jedenfalls sind
die Erfolge von der Individualität des erkrankten
Organismus weitgehend abhängig, so daß zur Zeit
eng umschriebene Indikationen für die Anwendung
nicht aufzustellen sind.
Es ist leicht möglich, daß Hei ln er in
seinem Sanarthrit einen Körper gefunden
hat, der die lokalen Prozesse bei chroni¬
scher Arthritis oft recht günstig beein¬
flußt; aber auch hier müssen noch nicht
bekannte Momente gefunden und berück¬
sichtigt werden, um eine optimale Wir¬
kung zu erreichen.
Wir haben bei chronischer Arthritis
seit vielen Jahren vom zweiprozentigen
Collargol Heyden recht gute Erfolge ge¬
sehen. Sie sind sehr viel besser, als die
von uns bei Sanarthrit beobachteten und
auch als diejenigen, die in der letzten Zeit
von anderer Seite über Sanarthrit berich¬
tet worden sind. Patienten, die Monate
und Jahre lang jeder möglichen Therapie
getrotzt hatten, bekamen wieder ge¬
brauchsfähige Glieder. Die Allgemein-
erscheinungen waren ungefähr dieselben
wie die bei Proteinkörpern beobachteten,
Herderschemungen traten allerdings sub¬
jektiv nicht so heftig und so häufig auf
wie nach Sanarthrit. Die sogenannte
Zweiphasigkeit, auf die Schmidt beson¬
ders aufm.erksam macht, fanden wir bei
Collargol oft ausgesprochen. Den Schmer¬
zen in den Gelenken nach der Injektion
folgte ein erhebliches Nachlassen derselben
noch an demselben oder am nächsten
Tage; entsprechend verhielt sich das All¬
gemeinbefinden, einer Verschlimmerung
folgte ein angenehmer, fast euphorisch zu
nennender Zustand. Bemerkenswert war
vor allem auch, oft im Gegensatz zum
Sanarthrit, daß die vorher subfebrilen
Temperaturen schon nach der ersten In¬
jektion normal wurden und es auch
blieben.
Die Wirkung war auch hier im all¬
gemeinen am besten, je öfter starke Reak¬
tionen nach'der intravenösen Zufuhr von
Collargol auftraten. Böttner nimmt an,
daß das Collargol eine wenn auch ab¬
geschwächte Anaphylaxie erzeugende Wir¬
kung hat, und daß deshalb Injektionen im
anaphylaktischen Intervall stärkere Reak¬
tionen haben. Er betont, die Wichtigkeit
dieser Tatsache zur Herbeiführung von
starken Herdreaktionen und empfiehlt,
die zweite Injektion frühestens am neun¬
ten oder zwölften Tage zu machen. Ob
das Schutzkolloid des Collargols, das aus
96
Die Therapie der Gegenwart 1921
März .
Eiweißkörpern besteht, einen Anteil an
■der Wirkung hat, ist bei der außerordent¬
lich geringen zur Verwendung kommenden
Menge allerdings unwahrscheinlich. Lüd-
ke spritzt etwa 0,1 Proteinkörper ein, um
eine Reaktion zu erreichen; in der von
uns • verwandten Collargolmenge (siehe
unten) sind nur 0,008 Proteinkörper vor¬
handen. Wir haben erwogen, hur das
Schutzkolloid zu injizieren; da uns aber
von der Fabrik mitgeteilt wurde, daß das
Ausgangsmaterial bei der Herstellung des
Collargols Veränderungen erleidet, haben
wir davon abgesehen. Wir haben nach
der ersten Injektion in den meisten Fällen
die stärkste Reaktion erhalten und ge¬
sehen, daß die zweite Injektion, einige
Tage nach der ersten gemacht, gewöhnlich
schwächer ausfiel, später dagegen wieder
stärker. Aber dies gilt in einer großen
Anzahl von Fällen auch wieder nicht.
Bisweilen waren auch zwei kurz hinter¬
einander verabreichte Injektionen von
gleich intensivem Erfolge oder die erste
Injektion blieb ohne jede Reaktion und
erst die zweite kurz darnach gegeben,
brachte die erwünschte Wirkung hervor.
Von der Dosierung scheint die Wirkung
nicht so sehr abhängig zu sein. Wir geben
gewöhnlich als Anfangsdosis nur. 2 ccm
und erreichten damit sehr intensive Reak¬
tionen, bei den. nächsten Injektionen muß
allerdings die Dosis etwas größer ge¬
nommen werden (bis 8 ccm), um einen
Erfolg zu erzielen, aber ein gesetzmäßiges
Verhalten hat sich auch hier noch nicht
finden lassen.
Die Häufigkeit der chronischen Arthri¬
tiden und die Hilflosigkeit, welche die¬
selbe so oft schon in frühen Jahren bei
Personen verursacht, die sonst völlig ge¬
sund und leistungsfähig sein würden, darf
nicht ruhen lassen, immer noch neue Mög¬
lichkeiten zu suchen, hier helfen zu kön¬
nen. Wahrscheinlich bietet der weitere
Ausbau der Proteinkörpertherapie gün¬
stige Aussichten hierzu. Die anderen und
bisher bewährten Behandlungsmethoden
dürfen darüber nicht außer acht gelassen
werden. Wir haben auch durch dieselben
allein bei konsequenter Behandlung oft
recht gute Erfolge erzielt. Durch richtige
Kombination dieser therapeutischen Ma߬
nahmen gelingt es uns vielleicht, an den
erkrankten Gelenken eine möglichst opti¬
male Herdreaktion hervorzurufen (z. B.
Kombination von Sanathrit und
Diathermie) oder eventuell auch die in
ihrer Vitalität gesteigerten Körperzellen
für ein Medikament (z. B. Natr. salicyl.)
besonders empfänglich zu machen.
Literatur: 1. Heilner, Die Behandlung d.
Gicht u. anderer chron. Gelenkentz. mit Knorpel¬
extrakt (M. m. W. 1916, Nr. 28). — 2. Heilner,
dasselbe, (M. m.'W. 1917, Nr. 29). — 3. Heilner,
dasselbe (M. m. W. 1918, Nr. 36). — 4. Umber,
Zur Pathogenese chronischer Gelenkerkr. u. ihre
Behandl. durch Heilners Knorpelextrakt (M. m.
W. 1918, Nr. 36). — 5. Mayr, Über die Behandl.
chron. Gelenkentzünd, beim Haustier mit Heil¬
ners Knorpelpräparat u. Beziehungen zwischen
Gelenkerkrankungen von Mensch u. Tier (M. m.
W. 1918, Nr. 36). — 6. Stern, Behandl. chron.
Gelenkerkr. mit Sanarthrit Heilner, (M. m. W.
1920, Nr. 22). — 7. Reinhart, Die Behandl. der
chron. Gelenkerkrankungen mit Sanarthrit Heil¬
ner (D. m. W. 1919, Nr, 49). — 8. Denecke,
Die Behandl. d. chron. Arthritis mit Sanarthrit
u. Proteinkörpern (Ther. d. Gegenw. 1920, H. 6.)
— 9. Reimann, Zur Behandl. d. chron. Gelenk¬
entzündungen mit Sanarthrit Heilner (Th. d.
Geg. 1920, H. 3). — 10. Weichhardt, Über
Proteinkörpertherapie (M. m. W. 1918, Nr. 22).
— 11. Weichhardt, Über unspecifische Lei¬
stungssteigerung (M. m. W. 1920, Nr. 4). —
12. Weichhardt und Schräder, Dasselbe (M.
m. W. 1919, Nr. 11). — 13. Weichhardt, Er¬
müdungsstoffe (Hb. d. path. Mikroorganismen
Kolle-Wassermann, 2. Aufl.). — 14. Von den
Velden," Beiträge zur parenteralen Protein¬
körpertherapie ^JB. kl. W. 1919, Nr. 21.) —
15. Döllken, Über die elektiven Wirkungen der
Heterovakzine u. Pröteinkörper (M. m. W. 1919,
Nr. 18). — 16. R. Schmidt, Über Proteinkörper¬
therapie u. parenterale Zufuhr von Milch (Med.
Kl. 1916, Nr. 7). — 17. Derselbe, Zur Frage d.
Herdreaktion, ihrer Specifität u. ihrer diagn.-ther.
Bedeutung (D. Arch.' f. kl. Med. 1919, Bd. 131).
— 18. Derselbe, Über das Problem der Protein-
kbrpertherapie (Med. Kl. 1920, Nr. 27). — 19. Lin-
dig, Das Kasein als Heilmittel (M. m. W. 1919,
Nr. 33). — 20. Kaufmann, Erfahrungen mit
kolloidalem Palladiumhydroxydul (M. m. W. 1913,
Nr. 23). — 21. Grode, Über Proteinkörper¬
therapie (Zschr. f. ärztl. Fortb. 1919, Nr. 24). —
22. Schittenhelm, Zur Proteinkörpertherapie
(M. m. W. 1919, Nr. 49). — 24. Derselbe, Der
gegenwärtige Stand der Immuno- u. Chemo¬
therapie der Infektionskrankheiten, 32. Kongreß
f. inn. Med. (ref. M. m. W. 1920, Nr. 19). —
25. Böttner, Zur Collargoltherapie des chron.
Gelenkrheumatismus m. besonderer Berücksich¬
tigung der Collargolanaphylaxie (M. m. W. 1920,
Nr. 12, D. Arch. f. klin. Med. 1919, Nr. 25).
Aus dem Städtischen Krankenhaus Moabit in Berlin.
Die Augenstörungen nach Optochin und ihre Vermeidung.
Von Dr. G. A. Waetzoldt.
Der folgende Aufsatz ist ein Auszug düngen und Tabellen zu finden sind,
aus einer kürzlich eingereichten Disser- Er will an Hand der gesamten, über die
tation, in der die eingehenden Begrün- Frage existierenden Literatur und eigener
März
Dk Therapie der Gegenwart 1921
97
Erfahrungen untersuchen, ob die viel¬
fach gehegten extremen Befürchtungen
bezüglich der Augengefährlichkeit des
Optochins berechtigt sind, wie die Neben¬
wirkungen des Optochins und seiner
Verwandten zustande kommen, was an
ihnen dem Optochin als solchem, das
heißt also einer besonderen Organotropie
desselben, zur Last fällt und was schlie߬
lich lediglich einer falschen Dosierung
zuzuschreiben ist.
Das Auftreten der Augenstörung geschieht
in einem Teil der Fälle plötzlich, wobei aber
vielleicht doch bei genauester Untersuchung
schon etwas zu finden gewesen wäre. In anderen
Fällen finden sich prämonitorische Störungen
in Gestalt subjektiver Erscheinungen von seiten
des Auges, Ohres und des Allgemeinbefindens,
Erbrechen und oft schon sehr früh weite und
träge Pupillen. Nach etwa 1 bis 24 Stunden
kommt es dann in einem Teile der Fälle zur
Amaurose, wobei es kaum einen Unterschied
macht, ob das Mittel weitergenommen wurde
oder nicht. Vereinzelt trat die Störung erst
mehrere Tage nach der letzten Optochingabe auf.
Die Befunde aller Art sind oft auf einem Auge
stärker als auf dem anderen. Die Pupillenbefunde
schwanken zwischen träger Reaktion der weiten
Pupille und völliger Starre bei maximaler Weite.
Innerhalb von acht Tagen tritt zumeist Besserung
dieses Befundes ein (zuerst Engerwerden, dann
Reaktion auf Konvergenz, dann solche auf Licht,
beide zuerst noch träge). Nur in schweren Fällen
dauern die Pupillenstörungen.länger. Am Hinter¬
grund können Befunde überhaupt fehlen, da
manchmal nur eine kurzdauernde Anämie vor¬
handen ist. Die Arterien sind meist eng, die
Venen weit und geschlängelt, die Pupille zeigt
Oedem (Verschleierung), das sich auch auf die
Retina ausdehnen kann. Während das Oedem
langsam abnimmt, zeigen sich schon im Laufe
der ersten Woche die bekannten Einscheidungen
an den Arterien. Die Enge der Arterien nimmt im
Laufe des ersten Monats noch weiter zu, hie und
da tritt schon Pigment, das heißt Narben, auf.
Im zweiten Monat findet man auch schon narbig¬
atrophische Herde in der Retina. Die Gefäße
werden, so weit sie nicht vollständig von den
im Laufe der ersten Monate immer häufiger und
ausgedehnter werdenden Einscheidungen ver¬
deckt und oblitteriert sind, erst im Laufe des
zweiten Vierteljahres allmählich weiter. Der
Visus ist oft schon nach 24 Stunden, in einzelnen
Fällen sogar noch wesentlich eher wieder normal,
die totale Amaurose dauert selten über einige'
Tage (14 Tage gehören schon zu den Ausnahmen,
nur Lorant sah Dauer über ein halbes Jahr).
Von dem Zeitpunkt an, wo sich der Visus exakt
bestimmen läßt, steigt er sehr verschieden schnell
zum Status quo ante an, Schwankungen kommen
allerdings noch nach Monaten, ja nach Jahren vor.
Das Gesichtsfeld zeigt ganz anfangs meist zentrale
Skotome, dann öfter Einschränkungen verschie¬
denen Grades, die lange bestehen bleiben und oft
auch bei gutem Visus sehr stark sind (Röhren¬
sehen). Als Rückstand bleibt nach Monaten ge¬
wöhnlich eine mäßige Einschränkung bestehen
lind kleine Skotome, die kaum zur Besserung
neigen. Das Farbensehen kommt oft schnell
wieder, auch bei noch recht engem Gesichtsfeld. In
anderen Fällen bleibt es ganz erloschen oder
fehlt entweder peripher oder" zentral für alle oder
nur einzelne Farben, besonders oft für blau. Der
Lichtsinn kann, wie erwähnt, schon gleich anfangs
gestört sein. Abgesehen von Biedl ist dies
in der zweiten Woche zuerst gesehen worden.
Die Störungen sind meist sehr hartnäckig und
wphl oft irreparabel.
Im Zusammenhalt mit dem klinischen Bilde
und den — meist experimentell gewonnenen —
gleichartigen Befunden bei Chininamaurosen geht
aus den Obduktionsbefunden der Optochinamau-
rosen hervor, daß neben einer primären toxischen
Wirkung auf die Ganglienzellen- der Retina und
auf deren Gefäße (adrenalinähnliche Wirkung?
Gefäßkrampf?) die zu Thrombenbildung führen
kann, (bösartige Fälle) sowie vielleicht auch auf
das Sinnesepithel, als sekundäre Wirkungen
von den Ganglienzellen aufsteigende Degenera¬
tion und Veränderungen im, Opticus und in den
Sinnesepithelien als Folge der Gefäßschädigung
anzusehen sind.
Ein Vergleich der Störungen
nach Optochin, Chinin und ihren„Ver-
wandten ergibt eine weitgehende Über¬
einstimmung. Doch wird man sie nicht
völlig gleichsetzen dürfen. (Zurücktreten
der Augenerscheinungen beim Chinin
gegenüber den Hauteruptionen und Ge¬
hörsstörungen, die beide ihrerseits beim.
Optochin und seinen Derivaten völlig
in den Hintergrund treten.) Auch an
den Augen finden sich beim Chinin
einige Störungen, die beim Optochin
noch nicht beschrieben sind, vielleicht
aber, da es sich vorwiegend um Narben
und Ausheilungserscheinungen zu han¬
deln scheint, noch beschrieben werden
werden. Nur beim Chinin ist bisher (ein¬
mal) die Kornealanästhesie beschrieben,
was umso auffallender ist, als Optochin
und seine Derivate viel stärkere lokale
Anästhetica sind, als Chinin. Einige an¬
dere Erscheinungen sollen dem Optochin
eigentümlich sein. Die Dosen, nach denen
Chininamaurosen auftreten, sind, das
sollte nicht vergessen werden, oft recht
gering (1 bis 3 gr.)-
Für die Beurteilung und Begut¬
achtung bestehender Störungen sind
einige Punkte wichtig, die oft übersehen
werden. Zunächst die Beeinflussung
des Befundes durch den Körperzustand
(Ermüdung, Haltung usw.), sodann die
außerordentlich unsichere Prognose (Mög¬
lichkeit von Änderungen im guten oder
schlechten Sinne noch nach Jahren),
so daß alle bisherigen Beobachtungen
durch Nachuntersuchungen eine Korrek¬
tur erfahren können), und schließlich
die Erfahrungstatsache, daß nur in den
allerseltensten Fällen von Chinin- wie
Optochiiiaugenschädigung eine Blindheit^
im sozialen Sinne zurückbleibt (von den
in der Literatur bekannten Fällen sind
vielleicht die von Lorant und Oliver
13
98
Die Therapie der Gegenwart 1921
März
hierlierzurechnen). Wohl aber kann eine
beträchtliche Einschränkung der Seh¬
leistung (besonders bezüglich des 'Ge¬
sichtsfeldes, des Lichtsinnes und des
Farbensehens) dauernd sein und eine
erhebliche Erwerbsbeschränkung machen.
Geheilte Amaurosen sollen übrigens bei
erneuten Chininkörpergaben zu Rezidiven
neigen. (Schreiber.)
Zieht man in Betracht, daß das
Chinin und wohl auch das Optochin
(in der Leber) zum größten Teile zer¬
stört wird, so wird nur unter folgenden
Bedingungen eine bedrohliche Er¬
höhung des Chininkörperspiegels
im Blute möglich sein: 1. Massive ein¬
malige Dosen zumal mit Umgehung der
Leber oder 2. geringere, sehr schnell auf¬
einander folgende Dosen, die sich für die
Resorption im Darm summieren, oder
3. Insuffizienz der Leber oder der Nieren.
Letztere scheint doch recht selten zu
sein, da nach intravenösen Gaben kaum
je Augenschädigungen gesehen sind, also
die Nieren immer imstande waren, den
bei großen intravenösen Gaben nicht
niedrigen Chininkörperspiegel des Blutes
auf ein unschädliches Niveau zu bringen.
Überempfindlichkeit gegen Chinin
ist nicht selten, und zwar sowohl solche,
die schon nach der ersten Gabe sich zeigt,
als auch solche, die erst nach einigen oder
vielen gut vertragenen Dosen auftritt.
Zu der letzteren Art gehört auch der
von Spiethoff beschriebene Fall von
Optochinidiosynkrasie. Subjektive Augen¬
erscheinungen sind dabei nicht häufig,
doch wurden oft weite träge Pupillen und
feuchter Glanz der Augen wie bei leichter
Atropinwirkung gesehen. Prädisponierend
sollen Nervosität und hohe Außentempe¬
ratur wirken. Verwendung von schwer¬
löslichen anstelle von leichtlöslichen Ver¬
bindungen soll Überempfindlichkeitser¬
scheinungen vermeiden lassen, tut es
jedoch keineswegs sicher und dauernd.
Optochinidiosynkrasie scheint doch selten,
was vielleicht mit ein Grund dafür ist,
daß es erst verhältnismäßig so spät be¬
merkt wurde, daß hohe Dosen gefährlich
— sein können.
Für die Optochinbehandlung
lassen sich aus dem Vorstehenden unter
Berücksichtigung der Tatsache, daß Op¬
tochin an sich nicht giftiger ist als andere
Chininkörper folgende Schlüsse ziehen:
1. Schwer lösliche Präparate in nicht zu
häufigen Dosen sind vorzuziehen; bei
leichtlöslichen Präparaten ist besonders
auf seltene Dosen zu achten. 2. Insuffi¬
zienz der Nieren ist nur bei Versagen oder
Umgehung der Leber das heißt bei rek¬
taler oder parenteraler Anwendung von
größerer Bedeutung, da in anderen Fällen
die entgiftende Wirkung der Leber sicher
genügt. Zu Störungen kam es überdies
bislang nur nach Applikation vom Dick¬
darm aus in einigen Fällen, immerhin
könnte bei schwerer Nephritis und hoher
parenteraler Dosis doch einmal ein Un¬
glück passieren.
Sucht man sich nun ein Bild über die
Bedingungen, die Optochinschäden
entstehen lassen, zu machen, so ist klar,
daß sie nicht einfach sein können. Sind
doch enorme Dosen ohne Schaden ge¬
geben und andererseits schwere Schäden
nach verhältnismäßig kleinen Dosen ent¬
standen. So sind denn auch zahlreiche
Ursachen für die Optochinschäden ver¬
antwortlich gemacht worden. Diejenigen,
die im Zustande des Patienten abgesehen
von der die Behandlung erfordernden
Krankheit liegen sollten, sind ohne Be¬
deutung.
Weder ließ sich nachweisen, daß der Zustand
der Augen noch das Alter oder Geschlecht einen
Einfluß auf die Häufigkeit der Optochinschädi-
gungen habe, besonders, wenn man die Zusammen¬
setzung der Gesamtheit der Behandelten in bezug
auf diese Merkmale in Rechnung stellt. Auch
der Zustand der Nieren, über den allerdings oft
jede Angabe fehlt, dürfte von geringer Bedeutung
sein, denn einerseits wird über gut vertragene
Optochinkuren bei schwer Nierenkranken be¬
richtet, andererseits ist' in einer Anzahl von
Amaurosefällen eben die Gesundheit der Nieren,
soweit sie sich mit einfachen, klinischen Mitteln
feststellen läßt, bestätigt. Auch die Auffassung,
daß toxische Abbauprodukte der Chininkörper,
die aus irgendeinem Grunde länger oder in höherer
Konzentration zur Wirkung auf das Auge kommen,
die Störungen verursachten, kann, mangels
jeden Anhaltspunktes dafür, vorläufig nicht
angenommen werden. ■ Die Frage der Diät wird
weiter unten genauer besprochen werden. Sie
leitet auf den Einfluß, den die Krankheit als
solche auf die Häufigkeit der Optochinschäden
haben könnte. Es ist sicher, daß nur außerordent¬
lich wenig, und mit Ausnahme der Fälle von
Izar-Nicosia und Bärmann auch nur sehr leichte
Fälle bei nicht durch Pneumokokken hervor¬
gerufenen Erkrankungen sich ereignet haben,
trotz der immer zunehmenden Verwendung der
Optochinkörper bei solchen Erkrankungen und
oft recht sorgloser Dosierung. Schon Stähelin
vermutete 1914 einen Einfluß der Krankheit auf
die Störungshäufigkeit. Auf die präziseren in
dieser Richtung gehenden Vermutungen Böhn-
kes, der annahm, daß atypische Pneumokokken¬
stämme (Neufeld) die Toxicität des Optochins
erhöhten, ist nicht weiter eingegangen worden.
Eine Erklärung, warum die Pneumokokkenerkran¬
kungen bevorzugt werden, fehlt zurzeit noch. Ein
Zusammenhang der Störungshäufigkeit mit der
Schwere der Erkrankung und der Fieberhöhe
läßt sich gleichfalls nicht nachweisen. Der Be¬
hauptung, daß besonders spät in Behandlung
99
März Die Therapie der
kommende Fälle Störungen bekämen, steht die
andere gegenüber, daß es besonders die Früh¬
fälle sind, die ja bei dem Wunsche, möglichst früh
zu behandeln, die große Mehrheit des Materials
-ausmachen. Die Störungen verteilen sich nun auf
die Optochinbehandelten etwa entsprechend der
Verteilung der Früh- und Spätfälle überhaupt,
so daß keiner Kategorie in dieser Hinsicht ein
Vorzug zukommt. Die Behandlungsdauer und
von ihr abhängig die Gesamtdosen ergeben durch¬
aus ein Überwiegen der kurzen Behandlungs¬
dauern und der niedrigen Gesamtdosen (über
die Hälfte der Fälle zwei Tage und weniger
Behandlungsdauer und unter drei Gramm Ge¬
samtdosis) ein Ergebnis, das sich nur unwesentlich
ändert, wenn man nur die schweren Schädigungen
in Betracht zieht und die leichten Fälle aus-
scheidet, und .wenn man die nach Auftreten der
Allgenstörung gegebenen Dosen mitrechnet.
Als wesentliche Ursache der
Augenstörungen bleibt also die eigent¬
liche Dosierung, deren Fehlerhaftigkeit
schon früh als die eigentliche Ursache
der Amaurosen erkannt wurde.
Der Dosierung dreimal 0,5 gr Opto-
chinum hydrochl., die anfangs die übliche
war, fallen schwere bleibende Fälle fast
gar nicht, leichte nur' in ganz geringem
-Umfang zur Last. Ja auch die nicht so
sehr seltenen Fälle, in denen die gleiche
Einzeldosis öfter, bis zwölfmal in 24 Stun¬
den, gegeben wurde, weisen keine schweren
und erstaunlich wenig leichte Störungs¬
fälle auf. Einen Fall, wo nach fünfmal
0,5 gr Eucupinum bihydrochloricum, das
einen Tag lang gegeben wurde, eine
schwere, wegen des Todes der Patientin
an Puerperalsepsis nicht länger zu ver¬
folgende Amaurose entstand, beschrieb
ch in der erwähnten Dissertation.
Infolge der Störung wurde aber die
Dosierung dreimal 0,5 gr aufgegeben .und
•durch die von sechsmal 0,25 gr Opt. hydr.
in vierstündlichen Dosen ersetzt, indem
man sich vorstellte, daß hierbei eine
gefährliche Konzentration des Mittels
im Blute nicht erreicht, eine therapeutisch
genügende aber erhalten würde. Daß
ersteres nur bedingt richtig ist, wurde
oben dargelegt. Es ist nun ein müßiges
Unterfangen, Prozentsätze auszurechnen,
wieviel Störungen auf das Hundert oder
Tausend so behandelter Fälle kommen,
•da die Zahl der Behandelten ja nicht an¬
nähernd bekannt ist und auch vielleicht
einzelne Störungen nicht ihren Weg in
•die Literatur gefunden haben. Genug,
dieser Dosierungsform gehören die weit¬
aus meisten leichten und eine nicht unbe¬
trächtliche Anzahl schwerer Störungen
.an, deren Aufzählung hier zu weit führt,
unter denen aber — wie immer unter
dem Vorbehalt einer genügenden Be-
O egen wart 1921
Obachtungszeit — eine ganze Anzahl
Dauerschädigungen sind. Ähnliches gilt
für die von Einzelnen angewandte Ver¬
minderung der Einzeldosis in dieser
Dosierungsform auf 0,2 gr.
Theoretisch am wichtigsten erscheinen
mir die nicht häufigen Fälle, in denen
Dosen meist zwischen 0,2 und 0,3 gr
Optochin. hydrochl. öfter als alle vier
Stunden, meist- dreistündlich, also acht¬
mal in 24 Stunden gegeben worden sind.
Zu diesen Fällen gehören ein großer Teil
der ganz schweren und dauernd geschä¬
digten Fälle. Fast alle Autoren, die mit
solchen Dosierungsformen gearbeitet
haben, haben unverhältnismäßig viele und
vor allem schwere, bleibende Störungen
gesehen, was bei der verhältnismäßigen
Seltenheit der Dosierungsform besonders
auffällt.
Einige wenige Störungen, di.e mit Aus¬
nahme des Falles Hensen-Möller leicht
und nicht dauernd waren, sind auch
nach der Dosierung vier- bis fünfmal
0,25 gr Optoch. hydrochl. beobachtet
worden. Schließlich gibt es noch einige
Fälle, die nach sehr geringen Gesamt¬
dosen, und jedenfalls nicht allzu hohen
Einzeldosen (bezüglich 0,5 — 0,25 —0,25)
in durchaus erlaubten Abständen (be¬
züglich 12 — 4 — 12 Stunden) ziemlich
schwere Störungen bekamen. Hier han¬
delt es sich doch jedenfalls um Über¬
empfindlichkeit. Einen sehr auffallenden
Fall sah ich selbst. Ein Pneumoniker
bekam 48 Stunden nach Einstäubung
von minimalen Mengen von Optochinum
hydrochlor. in ein Auge eine etwa
36 Stunden dauernde Amaurose, die ohne
jeden Befund verlief (außer schlechter
Pupillenreaktion), keine Störungen hinter¬
ließ, aber auf beiden Augen vollständig
war.
Nach Optochinum basicum sind
Störungen kaum bekannt. Die einzigen
von größerer Schwere, die von Warburg
und Vogt beobachteten, erhielten zwei¬
beziehungsweise dreistündliche Gaben von
0,25 gr beziehungsweise 0,2 gr. Der Fall
von Manliu nach elftägiger Verab¬
reichung von sechsmal 0,25 gr war sehr
leicht und passager, und die leichten
Störungen, die Mendel trotz Milchdiät
und fünfstündlicher Verabreichung sah,
sind wohl nur infolge der extremen
darauf verwendeten Sorgfalt entdeckt
worden.
Nach Optoch. salicyl, dem Ester, sind
nur von Löb sehr leichte passagere
Störungen nach sechsmal 0,25 bex)bachtet
13*
ICO ' Die Therapie der Gegenwart 1921 ' - ' ■ März
worden, während von anderer Seite wesent¬
lich mehr ohne Schaden gegeben wurde.
Zusammenfassend wird man sagen
dürfen, daß besondere Beachtung rein
erfahrungsgemäß- also 1. die Art des
Präparates; 2. die Häufigkeit der Dosen;
3. die Höhe der Einzeldosis; 4. die Ge¬
samtdosis verdienen. Nebenher ist auch
ein Augenmerk zu richten^ auf den Zu¬
stand der Nieren und des Verdauungs¬
apparates, die Diät und Vermeidung von
Irrtümern bei der Verabreichung.
Bezüglich der Art des Präparates
ist es auffallend, daß das Optochinum
hydrochloricum das einzige Präparat der
ganzen Chiningruppe ist, nach dem häufig
Augenstörungen beobachtet worden sind,
und daß es zugleich auch das Wasser¬
löslichste ist. Trotz der Behauptung,
daß Resorption und Verteilung der Chinin¬
körper im Organismus von der Art des
Präparates unabhängig seien, wird man
doch wohl so leicht lösliche Verbindungen
am besten ganz aus der Therapie aus¬
schalten, zumal bekanntlich zur Be¬
kämpfung der Chininnebenwirkungen mit
Erfolg die unlöslichen Präparate verwen¬
det worden sind. Bemerkt sei auch,
daß das in dem beschriebenen Amaurosen¬
fall verwendete Eucupinum bihydro-
chloricum leicht (1 : 15) in Wasser löslich
ist. Jetzt wird regelmäßig die Eucupin-
base — und zwar im großen Umfange —
gegeben, ohne daß man von Störungen
hört. Die so verhängnisvolle Häufigkeit
der Dosen wird man am besten so be¬
kämpfen, daß man nie öfter als 'sechs-
stündlich, also viermal in 24 Stunden
das Mittel gibt. Mit viermal (also sechs¬
stündlich) 0,25 gr ist auszukommen;
dies sollte für den Erwachsenen von
normalem Gewicht als Normaldosis
gelten. Da ein Gramm Optochin. salicyl.
%: Base entspricht, ergibt sich
für den Ester eine Normaldosierung von
sechsstündlich (viermal in 24 Stunden)
0,3 bis 0,4 gr. Optochintannat ist ein
Präparat der Kinderpraxis.
Die Höhe der Gesamtdosis im
Verlaufe einer Erkrankung, mit anderen
Worten die Frage, wie lange das Optochin
gegeben werden soll, hat sehr verschiedene
Lösungen gefunden. Eine Häufung von
Störungen bei hohen Gesamtdosen ist
nicht beobachtet, weder bei pneumoni¬
schen noch bei langdauernden nicht¬
pneumonischen Erkrankungen, sind doch
15, ja 25 gr im ganzen bei Pneumonien
gegeben worden, mit Ausnahme von
Manlius Fall ohne Schaden.
Die Entscheidung der weiteren Frage,
ob man bei Auftreten leichter prämoni-
torische Störungen absetzen oder das
Mittel weitergeben soll,, ist nicht leicht.
Die allermeisten Autoren setzen bei
Ohrensausen, Flimmern usw. sofort ab,
ohne Rücksicht auf das Aufhören der
therapeutischen Wirkung, doch wurde
schon erwähnt, daß unter Weitergeben
eine ganze Anzahl leichter Störungen
zurückgingen oder sich , jedenfalls nicht
verschlimmerten. Immerhin wird man
sicher gehen, unbedingt bei den leich¬
testen Störungen von seiten des Auges
und auch des Ohres sofort das Mittel
abzusetzen.'
Die Diät stellte Mendel auf Grund
seiner Anschauungen über die Nieren¬
schädigung bei Pneumonie in den Vorder¬
grund der prophylaktischen Maßnahmen
gegen Augenschädigungen. Auch wenn
man. nicht der Ansicht ist, daß die
Nierenschädigungen eine Rolle beim Zu-*
standekommen der Amaurosen spielen,
wird man, wie aus dem Dargelegten er¬
hellt, eine Diät empfehlen, bei der die
Salzsäureproduktion und -konzentratioii
des Magens möglichst gering ist, um die
Entstehung leichtlöslicher Verbindungen
zu vermeiden.
Bei der Dosierung des Opto-
chins im Kindesalter ist viel ge¬
fehlt worden, ein meist sehr ungefähres
Gutdünken herrschte vor. Nicht weniger
als sechs Fälle von großenteils sehr
schweren Störungen sind bekannt. In
vier Fällen waren dabei einfach die —
an sich schon zu hohen — Dosen für'
Erwachsene beibehalten worden, in einem
Falle wurden 0,1 gr der Base, diese aber
stündlich gegeben und im letzten Falle
bekam ein Kind von Jahren die
Hälfte der für Erwachsene üblichen
Dosis. Nicht seiten wurden allerdings
auch erschreckend hohe Dosen gut ver¬
tragen.
• Ich möchte vorschlagen, dem Kinde
alle sechs Stunden so viel mal 0,015 gr
Optochinbase zu geben, als es Jahre zählt.
Diese Dosierung erreicht im 18. Lebens¬
jahr die Normaldosierung für Erwachsene
von 60 kg Gewicht. Für den Ester ent¬
sprechen dem 0,02 gr je Lebensjahr
und Dosis. Optochintannat enthält nur
33 %'Base, man wird also sechsstündlich
für jedes Lebensjahr 0,04 bis 0,05 gr
geben können, das heißt ein Plätzschen.
Biedert-Vogel geben je Lebensjahr ^20
der Erwachsenendosis. Eine Berechnung
nach dem Gewicht wäre natürlich bei
Mär^
Die Therapie der Gegenwart 1921
•101
deir sehr schnell wechselnden und sehr
verschiedenen Gewichten gleichaltriger
Kinder wünschenswert, doch kennt man
es selten genau. Setzt man den Er¬
wachsenen von 60 kg Gewicht als Norm,
so ergeben sich für die Dosis und das Kilo
Körpergewicht 0,004 gr Base, 0,0066 gr
Ester oder 0,0125 gr Tannat. Brauchbar
sind die Zahlen.nur unter der Voraus¬
setzung, daß Kinder nicht überempfind¬
lich gegen Optochin sind, wofür aller¬
dings jeder Anhalt fehlt. Die Ergebnisse
der Berechnung nach dem oben gegebenen
eigenen Vorschlag, wie nach dem von
Biedert-Vogel stimmen — einiger¬
maßen normale Gewichte vorausgesetzt —
jenseits des schsten Lebensjahres mit
der Dosierung nach dem Gewicht ziemlich
überein. Unter dieser Grenze weichen sie
etwas nach unten von ihr ab, und zwar
im ersten Lebensjahr der eigene Vor¬
schlag noch mehr als die Berechnung nach
Biedert-Vogel. Ich möchte dies jedoch
für keinen Nachteil halten, da bei Klein¬
kindern Störungen sehr schwer zu be¬
merken sind, also besondere Vorsicht
am Platze ist.
Von parenteralen Anwendungen
sind Nebenwirkungen ernster Art nur
nach Anwendung bei Dysenterie (Spul¬
ring bei Appendikostomie) bekannt (Bär¬
mann) deren Ursache nicht ganz klar
ist, immerhin scheint bei dieser An¬
wendungsform besondere Vorsicht ge¬
boten. Subkutan wurde die Base in Öl
(Kampferöl soll nach manchen Autoren
antagonistisch wirken) gegeben in Gaben
zwischen 0,45 und 1,0 gr in 24 Stunden
in verschiedener Verteilung. Da mit
verhältnismäßig langsamer Resorption zu
rechnen ist, wird man — vorausgesetzt,
daß man eine ölige Lösung der Base ver¬
wendet, — nicht wesentlich weniger zu
geben brauchen, als per os. Gleiches gilt
von den bislang kaum verwandten intra¬
muskulären Anwendungen. Auch bei
intravenöser Anwendung sind irgendwie
beträchtliche Nebenwirkungen bisher
nicht gesehen worden, bei Dosen zwischen
0,1 ünd 1,0 gr in 24 Stunden in verschie¬
dener Verteilung, die bis zu zehn Tagen
gegeben wurden. Hier wird man, da eine
sehr lösliche Verbindung (Optochin.
hydrochlor.) verwendet werden muß, doch
etwas vorsichtiger sein, und jederifalls
über 0,6 gr in 24 Stunden nicht hinaus¬
gehen, die Abstände zwischen den Einzei-
dosen nicht unter sechs Stunden, diese
selbst nicht über 0,2 gr wählen.
Für Kinder würden sich die Gaben
für'intramuskuläre und subkutane An¬
wendung in. öliger Lösung auf 0,015 gr
Base je Lebensjahr stellen, während bei
intravenöser Verabreichung nicht über
0,01 gr Optochinum hydrochloricum je
Dosis und Lebensjahr gegeben werden
sollte. Für Eucupin dürfte mutatis
mutandis das gleiche gelten, wie für
Optochin. Für Vuzin bedarf es besonderer
Vorschriften nicht, da die verwandten
Lösungen sehr dünn, die Gesamtdosen
sehr gering und nach bisherigen Er-'
fahriingen schon wegen der sehr geringen
Löslichkeit ungefährlich sind.
Intraspinal sind je nach dem Alter
0,01 bis 0,1 gr im allgemeinen in drei-
promilliger Lösung gegeben worden. Nur
Landsberger sah nach 0,1 gr allerdings
in fünfpromilliger Lösung, die übrigens
nach Leschke gut vertragen wird, in
der Hälfte seiner Fälle Blasenlähmungen,
sonst sind Nebenwirkungen, die mit
Sicherheit auf das Optochin zurückgehen,
nicht bekannt. Nach Kronfeld kann
auch durch die entzündete Pia aus der
Blutbahn Optochin in' den Lumbalsack
ausgeschieden werden, also ist auch eine
orale Therapie meningealer Erkrankungen
möglich. -Die Normaldosis für lumbale
Anwendung dürfte zwischen 0,06 und
0,08 gr in dreipromilliger Lösung liegen.
Bei Kindern mit ihrem verhältnismäßig
höheren Gehirngewicht und Piafläche
wird man unbedenklich das Doppelte
von dem geben können, was ihrem Alter
zukäme, das heißt Vio der Erwachsenen¬
dosis je Lebensjahr bei gleicher Kon¬
zentration.
Repetitorium der chirurgischen Therapie.
Von M. Borchardt.
Die Behandlung frischer Verletzungen.
Von M. Borchardt und S. Ostrowski.
(Fortsetzung.)
Fremdkörper und ihre Entfernung.
Über die Behandlung grob verun¬
reinigter Wunden ist in den vorangehen¬
den Abschnitten bereits das Notwendige
gesagt worden. Fremdkörper im eigent¬
lichen Sinne (Nadeln, abgebrochene Mes¬
serklingen, Geschosse, Glassplitter, Holz¬
splitter) müssen nach Möglichkeit gleich-
102
Die Therapie der Gegenwart 1921
' März
falls entfernt werden. Grundsätzlich sind
solche Fremdkörper operativ anzugreifen,
die in der Volarfläche der Hand oder
Plantarfläche des Fußes liegen, offen in
Wunden sichtbar oder durch unbedeu¬
tende Eingriffe leicht zu erreichen sind.
Fremdkörperabscesse werden eröffnet. Der
sie verursachende Fremdkörper ist in
diesen Fällen leicht aufzufinden und zu
extrahieren. Entfernt werden von vorn¬
herein solche Fremdkörper, die erfah¬
rungsgemäß zur Infektion führen können
{Tetanus nach Holzsplitterverletzung!).
Von den • Geschossen gehören zu dieser
Kategorie besonders die Projektile mit
rauher Oberfläche (Granat- und Minen¬
splitter). Ein großer Teil der Fremdkörper
heilt bei sachgemäßer Behandlung asep¬
tisch ein. Verursachen sie durch Druck
auf benachbarte Nervenstämme Schmer¬
zen oder durch ihre Lage in der Nähe
von Sehnen oder der Bewegung besonders
ausgesetzten Muskeln oder durch ihre
Anwesenheit in Gelenken Funktions-
stöningen, so müssen sie dennoch ent¬
fernt werden. Bei jeder Fremdkörper-
entfernung aber ist genau abzuwägen, in
welchem Verhältnis die Größe der Be¬
schwerden zur Größe und den Gefahren
des notwendigen operativen Eingriffes
steht.
Ein unentbehrliches Hilfsmittel bei
der Aufsuchung in den Körper eingedrun¬
gener Fremdkörper besitzen wir in der
Röntgenuntersuchung. Es sollte kein
Versuch zur Entfernung von Fremd¬
körpern unternommen werden, ohne daß
zuvor eine genaue röntgenographische
Lagebestimmung gemacht und auf Grund
derselben der Operationsplan festgelegt
wird. Zur ungefähren Lagebestimmung
genügt eine Röntgenaufnahme in zwei
aufeinander senkrecht stehenden Ebenen.
Wir erfahren auf diese Weise sofort,
ob z. B. ein von der Streckseite in eine
Gliedmasse eingedrungenes Geschoß vor,
hinter, seitlich von oder in dem Knochen
selbst gelegen ist. Zur genauen Fest¬
stellung derTiefenlage eines Fremdkörpers
sind zahlreiche Methoden erdacht worden.
Je nachdem es sich um eine Tiefenlokali¬
sation eines Fremdkörpers im Schädel
oder in den Extremitäten oder im Rumpfe
handelt, bevorzugen wir die Bestim¬
mungsmethode von Levy-Dorn oder
von Fürstenau.
Wollen wir z. B. die Entfernung eines
im Schädel oder in einer Gliedmassesitzen¬
den Geschosses von der Hautoberfläche •
feststellen, so fixieren wir vor dem Durch¬
leuchtungsschirm auf der dem Beobachter
zu-und'abgekehrten Seite des betreffenden
Körperteiles je eine Bleimarke so, daß die
Schatten der Bleimarken und des Fremd¬
körpers sich für das beobachtende Auge
decken. Dasselbe wiederholen wir nach
Drehung des Gliedes um 45 bis 90®.
Nunmehr legen wir unter sorgfältiger An¬
passung an die Oberfläche des Gliedes,
seine Konfiguration genau nachahmend,
ein biegsames Bleiband oder Cyrtometer,
das die einzelnen, in gleicher Höhe liegen¬
den Marken miteinander verbindet. Mar¬
kiert man nun die Lage derselben auf
dem Bleiband und überträgt den Umriß
des Gliedes auf Papier, so ist die Lage des
Fremdkörpers durch den Schnittpunkt
der Verbindungslinien zwischen je zwei
Marken bestimmt. Wir kennen^ dadurch
die Entfernung des Fremdkörpeis von
jedem Punkt der Hautoberfläche.
Für die Feststellung der Tiefenlage
von Fremdkörpern in Körperteilen, die
ihren Umfang und mithin ihre Konfigu¬
ration mit den Atmungsphasen ändern
(Brust und Bauch), ist das Verfahren von
Fürstenau sehr geeignet. Man markiert
zunächst auf der Vorderseite des Rumpfes
des Patienten vor dem Röntgenschirm in
der Nähe des Punktes, den man sich durch
Projektion des Fremdkörpers auf die
vordere. Rumpfwand gegeben denkt, einen
Fixpunkt mit einer Bleimarke. Eine bei
unveränderter Körperlage unter einer seit¬
lichen Verschiebung der Röntgenröhre
von 6,5 cm von der Bleimarke und dem
Fremdkörper gemachte Doppelaufnahme
gibt uns auf der Platte ein Doppelbild der
Marke und des Fremdkörpers. Der senk¬
rechte Fokusabstand der Röntgenröhre
von der Platte beträgt 60 cm. Nunmehr
werden die Spitzen eines Tasterzirkels,
der eine Skala mit den nach einer leicht
aufzustellenden Formel errechnetenTiefen-
werten trägt, auf zwei korrespondierende
Punkte je eines Doppelbildes gesetzt
und auf der Tiefenskala des Zirkels die
Entfernung des Fremdkörpers von der
Platte bei ventro-dorsaler Aufnahme un¬
mittelbar abgelesen. Um seinen Abstand
von der vorderen Körperoberfläche zu
finden, hat man nur nötig, die gefundene
Zahl vom Tiefendurchmesser des Körpers
zu subtrahieren.
Beide Methoden geben uns nun zwar
Aufschluß über die Tiefenlage des Fremd¬
körpers, zeigen uns aber nicht den Weg
an, auf dem wir sicher operativ zu ihm
gelangen können. Das gelingt mit Sicher¬
heit auf folgende Weise: Vor dem Rönt-
März
103
Die Therapie der
genschirm wird eine mit einem Metall¬
knopf versehene sterile Nadel in der Rich¬
tung des Centralstrahles auf den Fremd¬
körper eingestochen. Dabei müssen sich
Nadelknopf- und Fremdkörperschatten
genau decken. Nun drehen wir den
Körperteil um 45® und wiederholen das
gleiche Manöver mit einer zweiten Nadel.
Dringen wir danh bei der gleich anzu¬
schließenden Operation zwischen den Na-
.delköpfen unter Schonung wichtiger Teile,
wie Nerven, Sehnen und Gefäße, in die
Tiefe, so müssen wir den Fremdkörper
am Treffpunkte beider Nadelspitzen fin¬
den.
Bei der operativen Aufsuchung von
Fremdkörpern in der Schädel-, Thorax-
und Bauchhöhle, wo wir das Doppelnadel¬
verfahren kaum anwenden können, leistet
uns das Perthes- Gasheysche Teocho-
Kryptoskop gute Dienste. Der Patient
liegt — fertig zum Eingriff — vorbereitet
auf einem Röntgentisch, zugleich Ope¬
rationstisch, unter dem sich horizontal
eine Röntgenröhre verschieben läßt. Über
dem Tisch ist der Schirm befestigt. Bei
dem Perthesschen Modell schaltet der
Operateur durch Pedale das Saallicht und
Röntgenlicht ein und aus und kann sich
in jeder.Phase des operativen Vorwärts-
schreitens darüber orientieren, ob er sich
auf dem richtigen Wege zum Fremd¬
körper befindet. Grashey erspart durch
sein Kryptoskop dem Operateur die fort¬
währende Adaption von dunkel und hell.
Das mit dem Kryptoskop bewaffnete
Auge kann auch bei Tageshelle Dunkel¬
adaption behalten, während unter Leitung
des anderen Auges operiert wird.
Die vollendetste Röntgen-Operations¬
einrichtung ist von Holzknecht in der
V. Eiselsbergschen -Klinik geschaffen
worden.
Gut bewährt hat sich in vielen Fällen
das sogenannte Fremdkörpertelephon. Es
besteht aus zwei Hörern, die durch eine
federnde Metallspange verbunden sind
und am Kopf des Operateurs befestigt
werden. Zwei Elektroden (eine nadel¬
förmige und eine gabelförmige Elektrode)
stehen durch zwei in Metallgehäusen sich
automatisch auf- und abrollende elasti¬
sche Metallbänder mit den Hörern in Ver¬
bindung. Ist man nach vorangegangener
Tiefenbestimmung, geleitet.von Narben,
Fistelgängen usw., in die mutmaßliche
Nähe des Fremdkörpers gedrungen, so
wird die Gabelelektrode in die Wunde
eingesetzt und die Nadelelektrode zwi¬
schen den Gabelbranchen in die Gewebe
Gegenwart 1921
eingestochen. In dem Augenblick, wo sie
den Fremdkörper berührt, schließt sich
ein elektrischer Stromkreis und erzeugt
ein für den Operateur deutlich hörbares
Alarmsignal.
Je nach der Beschaffenheit des zutage
geförderten Fremdkörpers, dem Zustand
der ihn umgebenden Gewebe und dem
nach der Verletzung verstrichenen Zeit¬
raum (cave: die latente Infektion) werden
wir die Wunde nach Auskratzung der
den Fremdkörper umgebenden Granu¬
lationen oder Excision des ganzen Herdes
ganz oder nur teilweise unter Sicherung
durch einen Gazedocht schließen. Zweck¬
mäßig ist hier eine ausgiebige Vuzin-
infiltration gegen eine etwa aufflammende,
bis zum Zeitpunkte der Operation latente
Infektion. — Diese Infiltration wird
wenige Tage vor dem geplanten Eingriff
gemacht und eventuell während der Ope¬
ration wiederholt.
Verbrennungen und Erfrierungen.
Die Therapie der Verbrennungen muß
sich auf die örtlichen Gewebsschädigungen
und die Allgemeinerscheinungen erstrek-
ken. Die leichtesten Verbrennungen
(I. Grades), die nur von einer mehr oder
weniger lebhaften Rötung der betroffenen
Hautpartien, dem Verbrennungschmerz
und später allenfalls von einer Schälung
der geschädigten oberflächlichen Epider-
misschicht gefolgt sind, kommen kaum in
unsere Behandlung. Jedem Laien bekannt
ist die subjektiv wohltuende Wirkung des
Brandlinimentes (Aq. calcis, 01. lini. ü),
die die entzündliche Hautspannung ver¬
mindernde Wirkung von Kühlsalben (La¬
nolin mit Beimischung von essigsaurer
Tonerde, ,,Unna“sche Kühlsalbe usw.),
weiter die austrocknende Wirkung der
Brandbinde ,,Bardeila“ (eine mit Wismut
und Talcum ü bestreute Mullbinde).
Die gleiche und daneben auch schmerz¬
stillende Wirkung hat das Bestreuen der
geschädigten Hautstellen mit Dermatol,
Viro- oder Xeroform, oder Anästhesin
(teuer). Das letztere ist auch zweckmäßig
5 bis 10 %ig in Pasten oder Salbenform
anwendbar.
Häufiger kommen wir in die Lage,
höhere Grade der Verbrennung zu be¬
handeln. Neuere therapeutische Vor¬
schläge zielen teils auf eine hautdesinfi¬
zierende (Eiweißkoagulation), teils eine
adsorptive, teils eine bakterienarretierende
Behandlung hin. Wir haben dabei streng
nach den Vorschriften der Asepsis zu ver¬
fahren, denn die Verhütung der Infektion
104
März
Die Therapie der-Gegentort 1921
von Brandwuirden ist für den weiteren-
Verlauf der Heilung von größter Bedeu¬
tung und deshalb unsere erste und dring¬
lichste Aufgabe. Geschlossene Brand¬
blasen überlassen wir, wenn sie klein sind,
der Eintrocknung, größere-eröffnen wir
mit einer ausgeglühten Nadel oder mit
einem Scherenschlag. Bei schon eröffne-
ten Blasen wird die sich meist zusammen¬
rollende Epidermisdecke am besten mit
steriler Pinzette und Schere’abgetragen.
Das freiliegende Corium wird mit einem
Salbenverband oder einer Brandbinde
bedeckt. Der Wismuttalkummischung
kann zur Schmerzlinderung Anästhesin
im Verhältnis 1 : 10 zugesetzt werden.
Auch das Eucupin in 2 %iger Konzen¬
tration in Salbenform sei an dieser Stelle
als brauchbares Antisepticum und An-
ästheticum erwähnt. Bei der von Ren¬
ner empfohlenen Bepuderung mit einer
Wismut-Kaolin-Mischung wird besonders
die schnelle Austrocknung der Wunden,
die Verhinderung der Infektion und die
Verhütung von Narbenkeloiden gerühmt.
Schmerzstillende und zugleich antisep¬
tische Wirkung haben mit 10 %igem
Tymol- oder Jodoformöl getränkte Ver¬
bände.
Früher ist vielfach die Pikrinsäure zur
Behandlung von Verbrennungen empfohlen
worden. Sie gerbt die Haut und ver¬
hindert Blasenbildung. Auch der Brand¬
schmerz soll schnell beseitigt werden.
Nach der Anwendung des Mittels, das
sehr bald nach dem Trauma auf die Haut
gepinselt werden soll, sind allerdings ver¬
einzelt Vergiftungserscheinungen und Zeir
chen von Nierenreizungen beobachtet
worden, die zur Vorsicht mahnen. In der
von Heußner angegebenen Salbenform
soll das Mittel dürch Resorption nicht
gefährlich werden können (Acid. picric.2,0,
glycasine (Beyersdorff) ad 100,— picra-
sine).
Brandwunden III. Grades erheischen
eine ganz besonders aseptische Versor¬
gung.
Von der geübten rigorosen Haut¬
desinfektion durch rücksichtsloses Bürs¬
ten der alterierten Hautstellen, zu¬
erst mit Wasser und Seife, dann mit
Alkohol und Sublimat — Maßnahmen, die
man begreiflicherweise nur in Narkose
ausführen kann —, und die zuerst von
Sonnenburg empfohlen wurden, sind die
meisten Chirurgen abgekommen.Eine grob¬
mechanische Reinigung stark verschmutz¬
ter Stellen muß allerdings in jedem Falle
vorgenommen werden. Neuerdings ist
die primäre Desinfektion verbrannter
Hautteile wiederum von einzelnen Auto¬
ren (Enderlen, Schöne,, Flörken)
wärm empfohlen worden. Nach der alten
S0nn enbu r.gschen Vorschrift wurden
zunächst alle Epidermisfetzen abgetragen,,
Brandblasen aufgeschnitten. Nach gründ¬
licher Reinigung mit Wasser und Seife
durch energisches Bürsten erfolgt Ab¬
spülung mit sterilem Wasser, alsdann
Trocknen mit sterilen Tüchern, Waschung,
mit Äther, Sublimat oder 3%iger
Borsäurelösung. Auf die Wunde kommt
ein steriler Gazeverband, der bis zu acht
Tagen liegen bleiben kann. Beim Ab¬
heben des Verbandes zeigen sich dann
Verbrennungen II. Grades meistens ge¬
heilt, solche. III. Grades weisen frische
Granulationsflächen auf. Wir sind auch
ohne diese etwas energischen Maßnahmen
stets gut ausgekömmen.
Bis zur Demarkierung und Abstoßung
nekrotischer Teile steht die Infektions¬
gefahr im Vordergründe. Nach erfolgter
Abstoßung entstehen mehr oder weniger
in die Tiefe dringende granulierende Wun¬
den, deren Heilungstendenz oft träge ist.
Bei den stärksten Graden der Verbren¬
nung (Verkohlung und Verbrennungdurch
elektrischen Starkstrom, Schmelzofen-
hitze, Fliegerabsturz- und Tankverbren¬
nungen) können schwerste Gewebsdestruk-
tionen hervorgerufen werden. Bei aus¬
gedehnten Gewebsdefekten kann die Hei¬
lung häufig nur durch Bildung ungünstiger
Narben erfolgen. -An den Extremitäten
können daraus verhängnisvolle Funk¬
tionsstörungen entstehen: Im Gesicht das
Narbenektropion der Augenlider und grobe
Verziehungen des Mundes. Bekannt
sind die durch Narbenzug von Weich¬
teilen in der Nähe von - Gelenken ent¬
standenen Beuge- und Streckcontracturen
der Glieder, die häufig nur durch plasti¬
sche Operationen zu beseitigen sind.
Durch zweckentsprechende Maßnahmen
in den ersten Phasen der Behandlung
kann man diesen üblen Folgen einiger¬
maßen Vorbeugen, wenn man die Regel
befolgt, bei Verbrennungen der Beuge¬
seiten von Extremitäten in Strecksteilung,
bei solchen der Streckseite in Beuge¬
stellung zu verbinden. Einzelne Autoren
haben gute Erfolge bei offener Wund¬
behandlung gesehen (austrocknende Wir¬
kung der Luft), andere wiederum, be¬
sonders Bier, sahen schnelle und gün¬
stige Heilung unter verklebenden Ver¬
bänden. Die Epithelisierung granulieren¬
der Flächen wird durch Applikation von
105
März Die Therapie der Gegenwart 1921
Scharla'chrotsalbe, Terpentinemulsion,
natürliches und l^ünstliches Sonnenlicht
oder durch Heißluftduschen angeregt.
Um zu verhüten, daß sich starre Nar¬
ben und dadurch sekundäre Funktions¬
störungen des betroffenen Körperteiles*
herausbilden, ist es geraten, die Wund¬
flächen frühzeitig durch Transplantation,
.von Epidermislappen nach Thiersch
oder durch Pfropfung nach Braun zu
decken und sie nicht der Spontanheilung
zu überlassen. Die Deckung nach
Thiersch genügt im allgemeinen für
solche Körperteile, die keiner stärkeren
Belastung ausgesetzt sind. Anderenfalls
müssen z. B. bei Lokalisation der Ver¬
brennung an den Handflächen und Fu߬
sohlen, oder, wenn eine knöcherne Unter¬
lage nahe ist, gestielte Lappen, die durch
Haut mit Unterhautfettgewebe gebildet
werden, überpflanzt werden. Anlaß zu
Sekundäroperationen geben zumeist im
Gesicht Lidektropien, Mundverziehungen,
Verunstaltungen sonstiger Art, an den'
Extremitäten die Klumphand oder der
Klumpfuß und an den Abgangsstellen der
Extremitäten die sogenannten Flügel¬
fellbildungen.
Bei Narben, deren operative Behand¬
lung von vornherein wenig aussichtsreich
erscheint, ist in einzelnen Fällen erfolg¬
reich die Röntgentherapie versucht wor¬
den. Von konservativen Maßnahmen zur
Erweichung von Narben nach Verbren¬
nung sei noch die Narbenauflockerung
durch Injektion von Fibrolysin (Thiosin-
amin. natrium salicylic.) in subcutaner,
intramuskulärer oder intravenöser An¬
wendungsform erwähnt (cave Neben¬
erscheinungen: Exantheme, Kopf¬
schmerz, Schwindel, Erbrechen, Haut¬
blutungen, beträchtliche lokale Schmer¬
zen). Wir selbst haben vom. Fibrolysin
keine eklatanten Erfolge gesehen."
Unna hat auf hypertrophische starre
Narben — zumeist Keloide — das Pepsin
mit seiner andauenden Kraft wirken
lassen. Durch täglich erneuerte Um¬
schläge mit einer Pepsinborsäurelösung
(Pepsini 1,0, Acid. boric. 3,0, Aq. dest.
ad 100,0) hat er in einer Reihe von Fällen
Rückgang der Narbenhypertrophie, Ge¬
schmeidigkeit und Verschieblichkeit vor¬
her harter und unbeweglicher Narben er¬
zielt. Die Behandlung dauert allerdings
monatelang.
Neben dem Fibrolysin ist im Kriege
zur Erweichung großer, starrer, funk¬
tionshemmender Narben das Cholin in
Form seines salzsauren oder borsauren
Salzes empfohlen worden (Fränkel). Es
ist ein Spaltprodukt, des Lecithhis und
entsteht auch beim Gewebeabbau durch
Röntgenbestrahlung. -Es spielt als Hor¬
mon in der Regulierung des Gefäßtonus
unter den Produkten der Organe des so¬
genannten ■ chromaffinen Systems eine
bedeutende Rolle. Das Adrenalin erhüht
den Gefäßtonus, das Cholin vermindert
ihn durch hochgradige Erweiterung der
Gefäße. Werner führte das Mittel unter
dem Namen ,,Enzytol“ in die Therapie
der malignen Geschwülste ein, indem er
auf Grund der oben mitgeteilten Beob¬
achtung durch intravenöse Cholininjek¬
tionen die Röntgenwirkung imitieren,
bzw. verstärken wollte. Fränkel zog
das Cholinchlorid zur Erweichung von
Narben heran, indem er die gefä߬
erweiternde Wirkung des Stoffes aus¬
nutzen und dadurch eine Hyperämi-
sierung der Narbenumgebung erreichen
wollte. Die Technik der Behandlung ist
folgende (neueste Mitteilung): In die
Umgebung der Narbe wird eine 5—10%
salzsaure Cholinlösung injiziert, ohne daß,
die Injektion in die Narbe selbst zu er¬
folgen braucht; eine Gewebsreizung tritt
nicht ein. Im Anschluß an die Injektion
wird sofort eine verstärkende Hyperämi-
sierung der Narbenumgebung durch Hei߬
luftapplikation unter genauer Berück¬
sichtigung der Wärmeverträglichkeit ge-
lähmterTeilevorgenommen. Neben diesen
Maßnahmen wird noch die ganze ,Skala
energischer medico-mechanischer Übun¬
gen ausgenutzt. So gelang Fränkel die
Auflockerung und Beweglichmachung
starrer, anderen Behandlungsmethoden
trotzender Narben.
Prognostisch ist die Feststellung wich¬
tig, ein wie großer Teil der Körperober¬
fläche von der Verbrennung betroffen ist.
Ist mehr als ein Drittel geschädigt, so ist
mit einem Weiterbestand des Lebens
kaum zu rechnen. Viele Verbrennungen
werden erst dadurch zu ernsten Schädi¬
gungen, daß die erhitzten oder schwe¬
lenden Kleidungsstücke noch längere Zeit
an Ort und Stelle liegenbleiben und da¬
durch die Hitzeschädigung noch wesent¬
lich erhöht wird.
Neben den örtlichen Symptomen bleibt
noch ein Komplex von Allgemeinsym¬
ptomen zu behandeln. Die meist sehr
peinigenden Schmerzen und die häufig
sehr ausgesprochene motorische Unruhe
erfordern die Darreichung von Morphium
oder Chloralhydrat per os oder per
elysma. Bei sehr ausgedehnten Ver-
14
106
Die Therapie der Gegenwart 1921
März
brennungen wirken lauwarme Dauer¬
bäder schmerzlindernd und beruhigend
und geben günstige Bedingungen für eine
schnellere Abstoßung abgestorbener Haut¬
partien.
Den durch die starke Wasserent¬
ziehung quälenden Durst bekämpfen wir
durch Einflößung reichlicher Getränke¬
mengen. So wirken wir zugleich auch
durch Durchspülung der Nieren der
häufig drohenden Anurie entgegen, die
einerseits durch die Entwässerung des
Körpers, andererseits aber dadurch ent¬
steht, daß das aus den in Massen zugrunde¬
gehenden Erythrocyten freiwerdende
Hämoglobin durch Verstopfung der Harn¬
kanälchen die Harnpassage behindert.
Intravenöse Kochsalzinfusioneh —evtl, in
Form der intravenösen Dauertropfinfu¬
sion — sind noch wirksamer, aber zu¬
weilen technisch bei ausgedehnten Zer¬
störungen der Haut schwer ausführbar,
wenn keine geeigneten Venen auffindbar
sind. Dann bietet das rectale Dauer¬
tropfklistier einen fast vollwertigen Er¬
satz dafür. Neuerdings hat man in der
Erwägung, daß die durch die Hitzeein¬
wirkung in. großen Mengen zugrunde¬
gehenden roten Blutkörperchen eines Er¬
satzes bedürfen, in Fällen schwerer Ver¬
brennung mit Erfolg die Bluttransfusion
ausgeführt.
Hat man eine bereits mehrere Tage
alte, schlecht behandelte Verbrennung
mit ausgebildeter Infektion vor sich, so
ist nach den Regeln vorzugehen, die wir
bei der Behandlung infizierter Wunden
zu befolgen haben. Bei infizierten Ver¬
brennungen größerer Ausdehnung werden
im allgemeinen nicht alle Stellen von der
Infektion gleichmäßig betroffen sein. In
solchen Fällen ist es zweckmäßig, durch
Teilverbände zu verhindern, daß infizierte
und nicht infizierte Wundstellen unter
einer Verbanddecke liegen.
Röntgenschädigungen der Haut.
Ihre Behandlung gleicht in vieler Hin¬
sicht der Therapie der Verbrennungen,
nur daß wir es hier mit weit hartnäckige¬
ren Affektionen zu tun haben als dort.
Dank den wirksamen Schutzmaßnahme
die in der modernen Röntgentechnik für
Arzt und Patient vorgeschrieben sind, ist
die Häufigkeit der Röntgenverbrennungen
doch sehr verringert worden.
Die Schädigungen der Haut durch das
Röntgenlicht reichen von leichten Graden
der Dermatitis bis zu den schwersten Ul-
cerationen, die einer Behandlung den
größten Widerstand entgegensetzen. Im
allgemeinen sollte jeder Röntgenbeschä¬
digte es vermeiden, sich Röntgenbelich¬
tung auszusetzen. Bei der Röntgen-
dermatitis sind alle Waschungen mit irri¬
tierenden Mitteln (Sublimat, Karbol, Al¬
kohol, scharfe Seifen, Lysoform usw.) zu
vermeiden, desgleichen brüskes Bürsten^
ganz besonders das Hantieren mit Gips.
Die Behandlung ist überhaupt ähnlich
der Behandlung des akuten irritablen
Ekzems. Sonnenbelichtung wirkt un¬
günstig. Empfohlen werden warme Bäder
mit Soda- oder Pottaschezusatz, auch das
Seewasser soll nach Gocht (Selbstbeob¬
achtung) günstigen Einfluß auf die Der¬
matitis bzw. das bereits bestehende Rönt¬
genekzem haben. Den lästigen Juckreiz
und das schmerzhafte Brennen der Haut
mildern feuchte impermeable Verbände
mit Bleiwasser oder essigsaurer^ Tonerde
durch aufquellen der Epidermis. Im
übrigen sind die aus .der großen Reihe
der antiekzematösen Mittel der Dermato¬
logie bewährten Substanzen anzuwenden.
Von Glycerinpräparaten sei das Kalo-
derma oder Kalophan genannt. Unter
den Teer- und Schwefelpräparaten emp¬
fiehlt Gocht eine Kombination beider
Präparate in folgender Zusammensetzung:
Hydrarg. sulfurat. 1,0
Sulfur, präcipitat. 10,0
• Lianthral 10*0
Ung. casein ad 100,0
Das Präparat soll einen guten Hautüber¬
zug schaffen, unter dessen Schutz die
Heilung der Dermatitis wesentlich be¬
schleunigtwird. Bei Brüchig- und Rissig¬
werden der Haut, insbesondere auf der
Streckseite der Fingergelenke, ist Ruhig¬
stellung erforderlich, die am besten durch
circLiläre Zinkpflasterstreifen bewirkt
wird. Gegen Hyperkeratose wirkt Ätzung
mit 30 % igem Wasserstoffsuperoxyd,
Waschungen mit Pernatrolseife, und die
Applikation der Heb raschen Bleisalbe
günstig.
Geschwürige Prozesse mit träger Hei¬
lungstendenz werden bisweilen durch Pin¬
selung mit Jodtinktur oder Eosinlösung,
durch Chloräthylvereisung oder Kohlen¬
säureschneebehandlung einer schnelleren
Heilung zugeführt. Gut sind auch pro¬
trahierte warme Dauerbäder sowie eine
hyperämisierende Behandlung durch
Hitzeapplikation (Fön oder Heizkasten),
Höhensonnen- oder Quarzlichtbestrah¬
lungen bis zur Reizung.
Chirurgische Maßnahmen müssen bis¬
weilen angewendet werden, wenn es nicht
März
Die Therapie der Gegenwart 1921
107
gelingt, Warzen oder ausgedehntere Hy-
perkeratosen sowie Ulcerationen durch
konservative Mittel zu beseitigen. Sie
bestehen bei nicht zu großer Ausdehnung
in der Excision dieser Gebilde und der
nachfolgenden plastischen Deckung. Bis¬
weilen genügt bei Ulcerationen die Um¬
schneidung nach Nußbaum. Vor allem
muß auch daran gedacht werden, daß
sich aus diesen chronischen Prozessen ge¬
legentlich .doch bösartige Neubildungen
entwickeln können.
Therapeutisches aus Vereinen u. Kongressen.
Prof. Aug. Bier: Heilentzündung und Heiifieber mit besonderer
Berücksichtigung der parenteralen Proteinkörpertherapie.
(Berliner Medizinische Gesellschaft. Sitzung vom 2. Februar 1921. M. m.W. 1921 Nr. 6.)
Besprochen von Prof. Felix Klemperer.
Der kürzlich von August Bier, dem
Entdecker der ,,Hyperämie als Heil¬
mittel“, gehaltene Vorfrag soll im folgen¬
den ausführlich wiedergegeben werden;
er ist in gleicher Weise historisch inter¬
essant und lehrreich, wie therapeutisch
anregend.
Die Bluttransfusion, die zuerst
1667 (mit Lammblut) bei Menschen von
Denis ausgeführt wurde, hat über 200
Jahre eine Rolle in der Therapie gespielt.
Ihre Erfolge, die nicht nur auf die Heilung
und Besserung von Krankheiten sich er¬
strecken sollten, sondern auch auf Hebung
des Wohlbefindens, der Ernährung, der
Blutbeschaffenheit, kurzum auf eine
zuweilen großartige Förderung des All¬
gemeinbefindens mit ansehnlicher Ge¬
wichtszunahme, wurden durch die Trans¬
plantation des fremden Blutes, das un¬
mittelbar als solches dem Blutempfänger
zugute kommen sollte, erklärt. Die nach¬
weisliche Unrichtigkeit dieser Erklärung,
der Zerfall des gespendeten artfremden
Blutes und die daran sich knüpfenden
unliebsamen Nebenerscheinungen führten
in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr¬
hunderts zur Verwerfung der Transfusion.
Hasse, ihr Hauptvertreter und Wieder-
erwecker in damaliger Zeit, gestand zu,
daß das transfundierte Blut im Empfänger
aufgelöst werde, aber er nahm an, daß das
aufgelöste Blut den Organen des Körpers,
und zwar in erster Linie den Verdauungs¬
organen, Leber und Pankreas, als Nahrung
diene und sie zu gesteigerter Tätigkeit
anrege; die Transfusion von artfremdem
und arteigenem Blut führe zu einem
merkwürdigen Wohlbehagen, zur Hebung
des Allgemeinbefindens und zur Gewichts¬
zunahme; in dieser Wirkung auf das All¬
gemeinbefinden und die Ernährung, nicht
in einer Beeinflussung der Krankheits¬
herde, sei ihr Heileffekt begründet. Auch
diese Ansichtsänderung hielt den Rück¬
gang der Transfusion nicht auf; Pan ums
und Landois’ vernichtende Kritik be¬
deutete das Ende der Transfusion von
fremdartigem Blut und Ernst v. Berg¬
mann verdammte 1883 auch die Trans¬
fusion arteigenen Blutes.
A. Bier nahm die Transfusion von
Blut, insbesondere von fremdartigem, An¬
fang des Jahrhunderts (D. m. W. 1901
Nr. 15) von neuen Gesichtspunkten aus
wieder auf. Als Anhänger des Heilfiebers
und der Heilentzündung hatte er beide,,
besonders aber die letztere, durch Herbei¬
führung bzw. Steigerung ihrer vornehm¬
sten Erscheinung, der Hyperämie, zu er¬
zeugen oder zu verstärken gesucht. An
den Gliedmaßen, am Kopfe und Rumpfe
war ihm dies diirch einfache physikalische
Maßnahmen (Stauung) gelungen. Ein
Mittel, um dasselbe an inneren Körper¬
teilen zu erreichen, schien ihm die Ein¬
spritzung artfremden Blutes in die Venen
zu sein. Dabei sah er den gefürchteten
Zerfall des Blutes gerade als das Wirk¬
same an: das zerfallene Blut wirke als
Reiz auf alle Zellen des Körpers (Heil¬
fieber), besonders aber auf den Entzün¬
dungsherd (,,und fast alle Krankheits¬
herde befinden sich im Zustande der Ent¬
zündung“), weil seine Zellen eine höhere
Reizbarkeit besitzen, als die Zellen des
übrigen Körpers (Heilentztindung). Auf
diese Heilentzündung kam es Bier in
erster Linie an; vor allem wollte er chro¬
nische Entzündungsherde akut machen,
ein Mittel, das seit uralten Zeiten ge¬
bräuchlich, unter verschiedenen Vorstel¬
lungen immer wiederkehrt. Außer de-
fibriniertem Blut benutzte Bier Serum,
aufgeschwemmte rote Blutkörperchen,
Brei von Leber und Milz — letztere nur
subcutan und intramuskulär — zu Ein¬
spritzungen, kehrte aber bald zum de-
fibriniertem Blute zurück. Auf diese
Arbeiten gründet Bier den Anspruch,
,,als erster Proteinkörpertherapie bewußt
getrieben“ zu haben.
14 *
108
Die Therapie der Gegenwart 1921
März
Die Haupterscheinungen der Pro-
teink.örpertherapie sind seit langem
bekannt und Jm wesentlichen schon von
den alten Transfusoren beobachtet, näm¬
lich: Fieber mit seinen Nebenerschei¬
nungen, nach seinem Abklingen das Ge¬
fühl des Behagens und erhöhte Leistungs¬
fähigkeit (Euphorie), Anregung des Ver¬
dauungsapparates, der Blutbildung und
Ernährung, ,,die umstimmende Wirkung
der Transfusion auf den ganzen Körper“,
ferner die schlafrnachende Wirkung usw.
Bier fand diese alten Angaben.bei seinen
Transfusionen vollkommen bestätigt; be¬
sonders fiel ihm das Wohlbefinden, der
gesunde Hunger, das bessere Aussehen
und die Gewichtszunahme nach derTrans-
fusion auf. Die schweren sogenannten
j,Transfusionserscheinungen“, wie Er¬
stickungsanfälle, Ohnmächten, Blutharnen
usw., welche die Methode in Mißkredit
gebracht hatten, führte er auf Über¬
dosierung zurück; statt der früheren
größeren Mengen infundierte er im allge¬
meinen intravenös nur Mengen zwischen
2 und 20 ccm Blut. Als wirklich neue
Beobachtungen der modernen Protein¬
körpertherapeuten sieht Bier nur an:
1. die vermehrte Harnabsonderung, 2. die
von* Weich har dt an Ziegen beobachtete
vermehrte Milchabsonderung, 3. die. blut¬
stillende Wirkung. Nicht neu dagegen
ist die Kenntnis, daß die eingeführten
Eiweißkörper auf alle Organe des Kör¬
pers wirken. Das haben die alten Trans¬
fusoren bereits ausgesprochen, welche an
die Transplantation, des übertragenen
Blutes glaubten, und Bier, der dem ein¬
gespritzten Blute lediglich die Rolle
eines Reizes zuschrieb, hat niemals daran
gezweifelt, daß dieser Reiz den ganzen
Körper — wenn auch nicht gleich¬
mäßig — träfe.
Gegenüber der Erklärung der Pro¬
teinkörpertherapie durch ,,Proto¬
plasma aktivier ung“ (Weichhardt)
greift Bier zurück auf Virchows Reiz¬
theorie, welche den funktionellen, nutri¬
tiven und formativen Reiz unterscheidet.
Im Falle der Bluttransfusion bzw. Pro¬
teinkörpertherapie kommt in der ver¬
mehrten Tätigkeit der Drüsen die funk¬
tionelle Reizwirkung zum Ausdruck; daß
auch ein nutritiver Reiz statthat, zeigt die
Gewichtszunahme und die Neubildung
von Blutbestandteilen; Zellteilungen im
Entzündungsherde weisen auf einen
formativen Reiz. In dem neuen Worte
,,Protoplasmaaktivierung“ sieht Bier nur
■eine Übersetzung von Reizung — Weich¬
hardt sagt: ,,Protoplasmaaktivierung ist
gesteigerte Leistungsfähigkeit,“ Virchow:
,,Die Anregung zu gesteigerter Tätigkeit
riennen wir einen Reiz“ —; und diese
Übersetzung erscheint ihm obendrein noch
schlecht, weil der Reiz, zum mindesten
der formative und wahrscheinlich auch
der nutritive, mehr den Kern der Zelle als
das Protoplasma trifft. Den Einwand,
Prptoplasmaaktivierung sei doch etwas
anderes als Reiz, weil dieser eine mehr
vorübergehende, jener eine langdauernde
Tätigkeit ausübe, läßt Bier nicht gelten;
denn 1. gehe die Wirkung der Trans¬
fusion wie die der Proteinkörperein¬
spritzung gewöhnlich schnell vorüber,
und beide müßten, um nachhaltig zu
wirken, mehrfach wiederholt werden, und
2. sei es durchaus nichts Ungewohntes,
von einem einmaligen Reiz Dauerwir¬
kungen zu sehen. Als schädlich aber sieht
Bier ,,das überflüssige Schlagwort Proto¬
plasmaaktivierung“ an wegen der Gefahr,
daß es die Begriffe des Heilfiebers und
der Heilentzündung in den Hinter-grund
drängt, denen Bier größte Bedeutung
beimißt. Vom Fieber freilich ist es
noch nicht erwiesen, daß es Krankheiten
günstig beeinflußt; aber Fieber und
Entzündung gehören engst zusammen
und von der Entzündung hält Bier den
Beweis für erbracht, daß sie ein Heil¬
mittel ist.
Zum Verständnis der Entzündung
als Heilmittel ist es nötig zwei Dinge
voneinander zu scheiden: 1. das Passive,
die Schädigung, und 2. das Aktive, die
Reaktion auf die Schädigung. Nur die
letztere ist das Heilende. Der Schmerz
gehört nicht zu den Kardinalsymptomen
der Entzündungsreaktion, er ist lediglich
eine Folge der Schädlichkeit. Dement¬
sprechend können die entzündlichen Re¬
aktionen, die sich im wesentlichen aus
der Hyperämie entwickeln, den Schmerz
lindern oder beseitigen. Auch das fünfte
Symptom, das man später den vier klassi¬
schen Kardinalsymptomen hinzufügte,
die functio laesa, hat nach Bier
nichts mit der Entzündungsreaktion zu
tun, sondern ist ebenfalls Folge der Schäd¬
lichkeit.
Der entzündete Teil stellt zwar seine
gewöhnliche Arbeit ein, aber er bekommt
neue Funktionen oder richtiger seine all¬
gemeinen Zellfunktionen werden außer¬
ordentlich gesteigert (Antikörperbildung,
Abbau und Aufbau von Geweben und
anderes mehr). Die Entzündungsreaktion
ist eine gewaltige Kraftleistung des Kör-
109
März
Die Therapie der Gegenwart 1921
pers, um sie ausüben zu.können, läßt er
die, .gewöhnliche Arbeit ruhen.
•Der Entzündungsherd zeigt eine
erhöhte Reizbarkeit. Das hat Vir-
chow schon betont, vor allem aber hat
Hugo Schulz darauf hingewiesen, daß
für kranke Organe Reize sehr stark sein
können, die für gesunde kaum als Reize
sich geltend machen.. Bier selbst sah bei
seinen Bemühungen, die Entzündung zu
verstärken, daß die geringsten Reize, deren
Einfluß auf den unveränderten Körper gar
nicht bemerkbar ist, sie auf das heftigste
steigern können. Hinzukommt zu der
Reizbarkeit des Entzündungsherdes seine
Eigenschaft, allerlei in den Kreislauf ge¬
langte fremdartige Stoffe aufzufangen und
festzuhalten; dadurch wirkt das Reiz¬
mittel im Entzündungsherde in viel größe¬
rer Menge (in höherer Dosis) als im übrigen
Körper. Die erhöhte Massenwirkung des
Reizmittels zusammen mit der erhöhten
Reizbarkeit des Entzündungsherdes er¬
möglichen es, chronische Entzündungsherde
durch allerlei Reizmittel akut zu machen.
Bei den chronischen Entzündungen ist
die aktive Tätigkeit des EntziVndungsherdes
abgeschwächt oder erloschen; sie akut
machen, heißt die erschlaffte Tätigkeit
wieder anfachen, wodurch oft die günstig¬
sten Heilwirkungen oder wenigstens Besse¬
rungen erzielt werden. Für besonders
schädlich hält Bier die chronischen
Ödeme, weil sie für sekundäre Infektionen
empfänglich machen, schädliche Toxine
aufspeichern usw.; sie müssen beseitigt
werden. Das akute entzündliche Ödem
dagegen wirkt nach Biers Auffassung
genau entgegengesetzt, also heilend.
Von ausschlaggebender Bedeutung für
den Effekt der Proteirikörper ist ihre
Dosierung:,,Kleine Mengen derPro-
teinkörper wirken umgekehrt wie
große, jene anregend, diese läh¬
mend.“ Diese entgegengesetzte Wirkung
kleiner und großer Dosen hatte Hugo
Schulz zuerst an Arzneimitteln erkannt;
er war dabei ausgegangen von dem von
Arndt (1885) aufgestellten biologischen
Grundsatz: „Schwache Reize fachen die
Lebenstätigkeit an, mittelstarke fördern
sie, starke hemmen sie, stärkste heben sie
auf.“ Dem Arndt-Schulzschen Gesetz
schreibt Bier eine überragende Bedeutung
zu, es gilt nicht nur für die Arzneiwirkun¬
gen, sondern auch für elektrische und
andere physikalische Reize, es gilt für die
Stauungshyperämie, deren nützliche oder
schädliche Wirkung eine reine Dosierungs¬
frage ist, für das Röntgenlicht, für die
Transfusion von Tierblut, wie für alle
Proteinkörper — kurz für alle Mittel.
Die anscheinend neue Erkenntnis, daß
unspezifische Eiweißkörper auf die ver¬
schiedensten Krankheiten günstig einwir¬
ken können, gibt nur die alte Erfahrung
wieder, die an den Derivantien, Revulsiva,
Moxen, Kataplasmen u. v. a. gewonnen war:
daßunspecifische Reize heilend wir¬
ken auf alle möglichen Krankhei¬
ten. Die Erklärung hierfür sieht Bier in
der gleichartigen Wirkung aller dieser
Mittel im Sinne der Verstärkung der Heil¬
entzündung und des Heilfiebers. Zahlreiche
Mittel wirken dabei auf dem Umwege einer
Spaltung des eigenen Eiweißes des
Behandelten, die Eiweißspaltprodukte
erst erzeugen Fieber und Entzündung.
Die Anerkennung der Specifität, der
Wirkung specifischer Körper auf beson¬
dere specifische Krankheitsstoffe und
-herde wird durch diese Lehre, wie Bier
hervorhebt, nicht erschüttert.
Die neuzeitliche Proteinkörpertherapie
stellt so eine direkte Fortführung älterer
therapeutischer Methoden, speciell der
Bluttransfusion dar. Ihr eigentlicher Fort¬
schritt liegt darin, daß sie an Stelle anderer
Mittel, die grundsätzlich gleich wirken,
chemisch rein darstellbare und leicht dosier¬
bare Stoffe mit wenig unangenehmen
Nebenwirkungen gesetzt hat, die für die
allgemeine Anwendung besser sich eignen.
(Fortsetzung folgt.)
Referate.
Zur Heilung der Blasenlähniung bei
traumatischer Schädigung derSphincteren-
muskulatur hat Stöckel ein Operations¬
verfahren angegeben, welches sich auf das
von Göbel und Frangenheim stützt,
und das auch bereits von anderen
Operateuren mit gleich gutem Erfolge
angewandt wurde. Der Grund des
Versagens der meisten Eingriffe zur
Hebung dieses für die Frauen oft un¬
erträglichen Zustandes beruht haupt¬
sächlich darauf,, daß. die Anatomie des
Operationsfeldes nicht genau studiert
wurde, zumeist wurde der von Kali sch er
genau beschriebene Befund' vernach¬
lässigt, daß es einen ringförmigen
Sphincter der weiblichen Harnblase
nicht gibt, daß vielmehr die glatte
urethrale Ringmuskulatur bereits an
der Vorderwand vor dem Orificiiim int.
110
Die Therapie der Gegenwart 1921
März
endet, sich dagegen an der Hinterwand
bis auf das Trig. fortsetzt; hieraus ergibt
sich, daß die Mm. der hinteren Harn¬
röhrenwand und des vorderen Blasen¬
bodenabschnittes den Abschluß besorgen.
Bei diesen nicht perforierenden Ver¬
letzungen am hinteren Halbkreis der
inneren Harnröhrenmündung, welche am
häufigsten infolge der Geburt, die auch
ohne Kunsthilfe verlief, entstehen, ist es
für den Operateur geboten, daß er das
ganze Sphincterengebiet vollkommen frei¬
legt; es muß darauf geachtet werden, daß
die Narben in der Muskulatur durch die
Schere, welche tangential zur Blase und
senkrecht zur Scheidenwand arbeitet, be¬
seitigt werden. Wenn so bis über die
Ureteren hinaus die Blase freipräpariert
ist, geht man daran, die Muskelrisse mit
recht breitfassenden Catgutnähten zu
vereinigen. Bei den inkomplizierten Fäl¬
len wird durch diese Muskelplastik ein
voller Erfolg erzielt. Liegen jedoch noch
starke Verwachsungen zwischen Blase,
Harnröhre und Beckenwand vor, fehlt die
hintere Urethralwand und ist zum Sphinc-
terriß noch eine Fistel hinzugekommen,
so muß noch eine künstliche Ringbildung
um den Blasenhals vorgenommen werden,
und zwar auf folgende Weise: Nachdem,
wie bereits beschrieben, die Blase frei¬
präpariert und vernäht ist, wird aus der
vorderen Rectusscheide ein möglichst lan¬
ges, schmales Fascienrechteck so heraus¬
präpariert, daß an seiner Innenfläche die
beiden Mm. pyramidales haften bleiben,
und die Verbindung mit der Symphyse
nicht verletzt wird. Nach medianer
Spaltung dieses Lappens und Durch-
stoßung der Beckenfascie werden die
Streifen einfach oder gekreuzt an der
Hinterseite des Blasenhalses vernäht. Ne¬
ben dem Pyramidalisring wird jederseits
ein dünner Gazestreifen aus dem ab¬
dominellen Operationsgebiet durch die
an einer Stelle offenbleibende Scheiden¬
wunde in die Scheide hindurchgeführt,
welcher nach drei Tagen allmählich ge¬
kürzt wird; für acht Tage bleibt ein
Dauercatheter liegen. Bei dieser durch
-die Operation erreichten Ringbildung
handelt es sich um eine Wirkung der
Muskel, nicht der Pyramidales, sondern
der Recti; eine active Funktion kommt
ihm nicht zu; es kommt nur darauf an,
daß er den Blasenhals gut umschließt und
durch die Bauchmuskeln hochgehalten
und gehoben wird.
Als Konkurrenzoperationen wären
noch die Levatorplastik und Uterus¬
interposition nach Wertheim-Schauta
anzuführen, die bei gut ausgewählten
Fällen*auch einen Erfolg erreichen lassen.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(C. f. Gyn. 1921, Nr. 1.)
Blutung und Blutstillung, die früher
als allein abhängig von der Fibrin¬
gerinnung gedacht wurden, sind nach
neueren Forschungen von der Blutplätt¬
chenagglutination stark mitbedingt, also
von der Bildung eines Plättchenthrombus,
der das verletzte Gefäß pfropfartig ver¬
schließt. Er wird in seinem Kopfteil frei
von Fibrinfäden gefunden. Duke hat da¬
her folgerichtig zwischen Blutungszeit
(B. Z.) und Gerinnungszeit (G. Z.) ge¬
schieden, wobei B. Z. die Zeit (meist zwei
bis drei Minuten) bis zum spontanen Still¬
stand einer durch die .Frankesche Nadel
gesetzten capillären Blutung bedeutet.
Morawitz kommt bei einer neuerlichen
Untersuchung über die Beziehungen
zwischen Blutungs- und Gerin¬
nungszeit zu folgenden Ergebnissen.
Die beiden Zeiten brauchen durchaus
nicht gleichsinnig verändert zu sein. Bei¬
spiele für verlängerte B. Z. bei normaler
G. Z. bieten Purpuraerkrankungen, wie
die essentiellen Thrombopenien (Frank)
und die symptomatischen, eben Fälle von
Leukämie und perniziöser Anämie; Bei¬
spiele für gleichsinnige Veränderungen
beider Funktionen: die Hämophilie, die
Cholämie, die experimentelle Phosphor-
und Arsenvergiftung. Immer ist bei
langsamer Gerinnung auch die Blutung
verlängert, doch darf man nicht umge¬
kehrt schließen. Ist die B. Z. bei normaler
Gerinnung verlängert, so liegt dies an
Plättchenarmut des Blutes. Morawitz
glaubt daher, daß eine völlige Unabhängig¬
keit zwischen Plättchenagglutination und
Fibringerinnung nicht angenommen wer¬
den darf. Wesentlich ist dabei die Ge¬
rinnung, und er hält es für wahrscheinlich,
daß es allerfeinste Fibrinfäden sind, die
die Plättchen zusammenballen und ver¬
stricken. So wäre es verständlich, daß
bei mangelhaftem Gerinnungsvermögen
eine Blutung trotz reichlich anwesender
Plättchen nicht steht und daß anderer¬
seits bei erhaltenem Gerinnungsvermögen
Plättchenmangel verlängerte Blutungs¬
zeit verursacht, die sich bei allmählicher
Vermehrung der Thrombocyten normalen
Werten wieder annähert. Aus diesen
Beobachtungen ergibt sich für die Frage
chirurgischer Eingriffe bei Patienten mit
Verdacht der Blutungsbereitschaft fol-
März
Die Therapie der Gegenwart 1921
im’
gende praktische Nutzanwendung: Man
beginne mit Prüfung der B. Z.; ist diese
regelrecht, so erübrigen sich weitere
Untersuchungen, - ist sie verlängert, so
bestimme man die G. Z. und prüfe noch
die Gefäßresistenz durch den Rumpel-
Lee d eschen Versuch, der bei verlängerter
B. Z. meist positiv ist. Fallen alle Unter¬
suchungen ungünstig aus, so ist für jede
chirurgische Maßnahme Zurückhaltung
angezeigt. Ist nur die B. Z. verändert,
so sei durch lokale Koagulenanwendung
oder intravenöse Injektion von Gelatine¬
oder hypertonischen Lösungen Steigerung
der Gerinnungsgeschwindigkeit anzu-
S^^^ben. Iß jQgj (Berlin).
(Med. Kl. 1920, Nr. 50.)
Durchaus neue Gesichtspunkte bringt
eine experimentelle Studie von Hermann
Wieland (aus dem Pharmakol. Institut
Freiburg i. B.) über Entgiftung durch
adsorptive Verdrängung. Wenn es
sich auch zunächst um theoretische.Frage¬
stellungen handelt, haben die Ergebnisse
doch auch Interesse für den Praktiker.
Ein isoliertes Fraschherz kann man längere
Zeit nur mit Salzlösung ernähren. Schlie߬
lich aber verliert es seine Leistungs¬
fähigkeit. Dann besteht ein Zustand der
Ermüdung oder Hypodynamie, der durch
Zufuhr kleiner Mengen von Serum wieder
beseitigt werden kann. Es war nun un¬
geklärt, worauf diese geheimnisvolle Rolle
des Serums beruht. Wieland ermittelte,
daß auch gegenüber der Vergiftung des
Herzens mit einer Gallensäure (Desoxy-
cholsäure) das Serum ganz so wirkt wie
gegen Ermüdung, und kam durch diese
weitgehende Analogie geleitet zu der Er¬
kenntnis, daß. auch die Ermüdung des
Herzens eine Vergiftung mit Substanzen
darstellt, die bei der Herzarbeit gebildet
werden. Daß seine Anschauungen sich in
der richtigen Bahn bewegten, ergab die
Fruchtbarkeit seiner Fragestellung. Wenn
das Serum als .Gegengift funktioniert, so
muß es bei der Gallensäurevergiftung
durch Stoffe ersetzt werden können,
welche mit den Gallensäuren Additions¬
verbindungen bilden. Solche Substanzen
sind durch die bedeutungsvollen Unter¬
suchungen von Heinrich Wieland in
großer Zahl bekannt. Untersucht wurden
auf ihre das Herz entgiftende Funktion
Ölsäure, Xylol, Äther und Campher. Sie
alle sind imstande, das mit Gallensäure
vergiftete Herz in seiner Leistungsfähig¬
keit wiederherzustellen. Aber auch ge¬
ringe Mengen Tierkohle wirken restituie¬
rend auf das ermüdete wie auf das durch
Gallensäure vergiftete Herz. So kommt
Wieland zu einerphysikalisch-chemischen
Deutung der Befunde. Alle diese ent¬
giftenden Stoffe sind oberflächenactiv.
Sie werden an der Oberfläche des Herzens
adsorbiert und verdrängen das dort ge¬
bundene Gift. Nach dieser Vorstellung
ist der Campher kein specifisches Herz¬
mittel, sondern er wirkt dadurch, daß er
Stoffe, welche die Herztätigkeit hemmen,
beseitigen kann. Diese Auffassung er¬
leichtert einigermaßen die bisher noch
sehr unklare Vorstellung von der thera¬
peutischen Herzwirkung des Camphers.
Martin Jac oby (Berlin).
(Arch. f. exper. Path. ] u. Pharm. Bd. 89,
H. 1 und 2.)
D. Klinkert (Rotterdam), der kürz¬
lich das Gichtproblem vom allgemein¬
pathologischen Standpunkt erörterte (Z.
f. kl. Med. 89, H. 1 u. 2), veröffentlicht
eine klinisch-historische Studie zur P a tho-
genese der Gicht. Wesentlich ist ihm
gegenüber der rein chemischen Betrach¬
tungsweise die nervöse Natur des Lei¬
dens, jener Spannungszustand des Nerven¬
systems, der im Anfall seine Entladung
findet. Auf die Abhängigkeit des Gicht¬
anfalls von Erregungen sowie auf die
häufige Koinzidenz mit paroxysmaler
Tachykardie und anderen nervösen An¬
fällen wurde oft hingewiesen. Auch De¬
pressionszustände auf dem Boden harn¬
saurer Diathese sind bekannt. Charcot
verglich den epileptischen mit dem gichti¬
schen Insult. Und wenn Garrod, ob¬
gleich Entdecker der Hyperurikämie und
damit Urheber der chemisch gerichteten
Gichtforschung, sagte: ,,Das Dasein der
Harnsäure im Blute an sich kann die Ent¬
stehung des Gichtparoxysmus nicht er¬
klären“, so ging Duckworth noch einen
Schritt weiter: ,,Bei der primären oder
erblichen Gicht ist die Hyperurikämie
eine sekundäre Erscheinung, in ihrer
Stärke von der Gichtneurose a.bhängig“.
Klinkert selbst hält den Gichtanfall für
eine angioneurotische Entzündung der Ge¬
fäßnerven. Solche Auffassung beeinflußt
natürlich die Therapie; im Gichtanfall
wird man sich von activer Behandlung
zurückhalten und für die ganze gichtische
Diathese körperliches und geistiges Ma߬
halten zur ersten Maxime der Behänd-
lung machen. jogi (Berlin).
(Berl. Kl.Woch. 1921, Nr. 2.)
112
'Die Therapie der Gegenwart 1921
März
E. Pulay hat an 48 Patienten Ver¬
suche mit Humagsolan zur Beeinflussung
des Haarausfalles gemacht und hat fest¬
gestellt, daß dies Hornpräparat allein
weder den Haarausfall kupieren noch den
Haarwuchs anregen kann, daß ihm jedoch
für das Längen- und Dickenwachstum
der Haare eine wertvolle Bedeutung zu¬
kommt. Das Humagsolan stellt einen
Ernährungsfaktor (eine Wachstumssub¬
stanz) im Sinne eines Vitamins dar. Die
Therapie des Haarausfalles hat sich in
erster Linie mit der Aufdeckung der den
Haarausfall bedingenden Ursachen zu be¬
schäftigen und sucht diese durch kausale
und lokale Behandlung sowie allgemeine
therapeutische Maßnahmen zu beein¬
flussen. Das Humagsolan ist ein aus¬
gezeichnetes Mittel zur Unterstützung
der bisher üblichen Therapie, indem es
den Haarnachwuchs erheblich beschleu¬
nigt. Die Dosierung beträgt dreimal drei
Pillen täglich. Bei Auftreten von Magen-
und Darmbeschwerden kann man durch
langsam steigende Dosen mit einer Pille
täglich beginnend allmählich die Dosis
von neun Pillen erreichen.
V. Hinüber (Berlin).
(Med. Kl. 1920, Nr. 48.)
Auf das Vorkommen von Überemp-
findlichkeit gegen Kaffee infolge der
langjährigen Kaffee - Entwöhnung
weist Prof. Brandenburg an der Hand
einiger Beobachtungen hin. Es handelte
sich um Frauen, meist mit thyreogen oder
sklerotisch sensibilisierten Herzen, die
nach Kaffeegenuß üb er Schwindel, Angst¬
gefühl, Wallungen, Ohnmachtsanwand¬
lungen, Herzbeschwerden bis zum Bilde
der Angina pectoris klagten und den ob¬
jektiven Befund eines kleinen faden-
förmigen^ Pulses bei blasser, kühler Haut
boten. Ärztlich verordnete Coffein- und
Cainpherinjektionen konnten diesen Zu¬
stand der Übererregtheit natürlich nicht
beeinflussen. Derartige Fälle von Kaffee-
Überempfindlichkeit dürften jetzt öfter
Vorkommen; neben dem Kaffeeverbot
werden psychische Beruhigung und kühle
Umschläge die Anfälle schnell zum
Schwinden bringen. E. Joel (Berlin).
(Med. Kl. 1920, Nr. 50.)
Über Fernresultate beim angeborenen
Klumpfuß berichtet Professor J. F ra enk e 1,
Berlin. Verfasser verwirft grundsätzlich
die Achillotomie, auch die plastische Ver¬
längerung der Achillessehne. Alle Fälle,
deren günstiges Behandlungsresultat er
zehn Jahre nach der Behandlung in
Lichtbildern nachweist, wurden ohne
Sehnenschnitt, ohne Narkose nach vor¬
ausgegangenem Dampf- oder Heißwasser¬
bad mit allmählicher Umstellung und
nachfolgendem Gipsverband behandelt.
Gehen durften die Patienten im Gips¬
verband entweder gar nicht oder nur mit
(jehbügel. Soweit es aus den Abildungen
ersichtlich ist, waren die „Fernresultate‘‘
durchaus zufriedenstellend. Einige der
Behandelten haben als Frontsoldaten den
Krieg mitgemacht. Georg Müller.
(Zschr. f. orthop. Chir., Bd. 40, H. 5.)
J. Müller erörtert einen Fall von
Hautgangrän nach subcutaner Koch¬
salzinfusion. Bei einerPatientin, die wegen
starker Blutung post partum 1000 ccm
Kochsalzlösung unter die Haut der Ober¬
schenkel erhielt, verfärbte sich zwei Tage
nach der Infusion 20 cm distal von den
Einstichstellen die Haut dunkelblau und
hob sich nach weiteren zwei Tagen in
Blasen ab. Trotz der Verbände mit
Combustinsalbe vergrößerten sich unter
heftigsten Schmerzen die gangränösen
Hautstellen, und' der Prozeß schritt in
die Tiefe fort. Da eine chemische und
thermische Wirkung abzulehnen ist, die
Zusammensetzung der Lösung war kor¬
rekt, die Temperatur nur 35®, eine Appli¬
kation in die Fascie sicherlich nicht statt¬
gefunden hat, und der Fall bakteriologisch
einwandfrei war (Temperatur nur bis
37,4®), muß als Grund für die Gangrän
eine Drucknekrose, bedingt durch ver¬
zögerte Resorption und dadurch ver¬
längerte Druckwirkung auf das umgebende
Gewebe angesprochen werden.
Horovitz (Berlin).
(Med. Kl. 1920, .Nr. 31.)
Prof. König (Würzburg), erörtert die
Bedenken, der der totalen Quer¬
resektion des chronischen Magengeschwürs
entgegenstehen, so daß die meisten Ope¬
rateure eine einfache Gastroenterostomie
vorziehen; neben der hohen Mortalität
(bis 14 %) findet er die Schwierigkeit der
Totalresektion in der ungenügenden Indi¬
kation zu einem immerhin so radikalen
Vorgehen bei einem durch Anämie ge¬
schwächten Organismus. K. untersucht
zuerst die beiden Formen der über¬
standenen und der floriden Ulceration
und deren Entzündungserscheinungen am
Magen und seiner Umgebung. Bei alten
Entzündungen sind häufig alle den Magen
umgebenden Organe, wie. Leber, Gallen¬
blase, Pankreas und Omentum durch
fibrinöse Verwachsungen mit der Ge¬
schwürsstelle fest verklebt, so daß bei
deren Ablösung während der Operation
März
Die Therapie der Gegenwart 1921
113
oft ein Durchbruch des Ulcus in die
Bauchhöhle erfolgt. Schnitzler sagt
sogar, daß in allen Fällen von solch weit¬
gehender Verwachsung zuerst ein Durch¬
bruch geschehen sein müsse, so daß die
Verbackungen gewissermaßen einen spon¬
tan-reparativen Vorgang nach der Per¬
foration darstellen. Die Mageneröffnung
bei der Operation ist nach ihm also nicht
eine primäre, sondern eine Wiedereröff¬
nung des Ulcus. Bei der floriden Ent¬
zündung finden sich neben der flammen¬
den Röte als Infiltrationsvorgang an der
Ulcüsstelle noch Hyperplasie der zahl¬
reichen den Magen umgebenden Lymph-
drüsen, die aber erst bei vorgerückter Ent¬
zündung indurieren und somit zu Ver¬
wechselung mit carcinomatösen Drüsen
Veranlassung geben könnten.. Danach
sind es die entzündlichen Vorgänge, die
der Heilung eines chronischen Ulcus be¬
sonders entgegenstehen und gegen die
sich die Behandlung vor allem richten
müsse. Durch „Ruhigstellung, Fernhal¬
tung von Schädlichkeiten und Kom¬
pression“ könnte man hier, ganz ähnlich
wie beim Unterschenkelgeschwür, die
Therapie einleiten. In diesem Sinne emp¬
fiehlt er eine von Roth-Lübeck als
,,Faltungstamponade“ angegebene Ope¬
ration, deren Wesen darin besteht, daß
die Magenwand von der Ulcüsstelle bis
zum Pylorus mehrfach durch etagenför¬
mige Nähte gerefft und so die dem Ge¬
schwür gegenüberliegende Wand fest in
dieses hineingepreßt wird. Auf diese
Weise wird die Magenpassage bis zum
Pylorus völlig verschlossen, so daß eine
Gastroenterostomie gleichzeitig angelegt
werden muß. Roth und König haben
durch röntgenologische Nachprüfung ihrer
zumeist von weiteren Ulcusbeschwerden
verschonten Patienten festgestellt, daß
die Gastroenterostomie gut funktionierte
und die Pyloruspassage völlig oder fast
völlig durch die Faltungstamponade ver¬
ödet war. Im Hinblick auf die immer noch
großen Gefahren der Totalresektion bei
Magenulcus verdient die Faltungstam¬
ponade weitere Anwendung und Nach¬
prüfung. Klauber.
(M. m. W, 1920, Nr. 47.)
A. Nussba'um, Bonn, berichtet über
Redression schwerer Skoliosen durch
ein abnehmbares Gipskorsett. Ver¬
fasser legt in vertikaler Suspension ein
Gipskorsett an, schneidet es vorn und
hinten längs auf, armiert die beiden
Schalen dann oben und unten mit
Kramerschienen, die in Verschlußvorrich¬
tungen auslaufen, welche durch Hebel¬
wirkung ein festes Anlegen des Gips¬
korsetts gestatten. Die Druckwirkung
wird durch alle zwei Tage nachgestopfte
Zellstoffplatten verstärkt. Das Korsett
wird nur am Tage getragen urid zwecks
Vornahme von Massage und gymnasti¬
schen Übungen zeitweise abgenommen.
Verfasser hat in zwei bisher so behan¬
delten Fällen gute Erfolge erzielt. Ob
sie dauernde sein werden, daran zweifelt
der Verfasser und mit ihm der Referent.
Alle in den letzten Jahrzehnten ange¬
gebenen Behandlungsmethoden mit Gips¬
panzern — und ihre Zahl ist nicht klein
— haben uns enttäuscht, und wir sind
immer wieder zu der alt bewährten Trias:
Stützkorsett, Gipsbett und Gymnastik
zurückgekehrt. Georg Müller.
(Zschr. f. orthop. Chir., Bd. 40, H. 3.)
Rudolf Ditler berichtet über eine
Reihe von Tierversuchen, durch die er
die Sterilisierung des weiblichen Tier¬
körpers durch parenterale Sperma¬
zufuhr prüfte. An Stelle der experimen¬
tellen Kastration, bei der die inneren
Sekretionsstoffe (Hormone) dem weib¬
lichen Organismus verloren gehen, wollte
Dittler durch intravenöse Injektion des
arteigenen Ejakulats bei Kaninchen ,,Ab¬
wehrstoffe“ ähnlich den Antigenen und
Schutzfermenten erzeugen, die eine nach¬
her erfolgende Begattung unwirksam
machen. Es gelang ihm durch mehrmalige
Spermainjektion (insgesamt 2—5 ccm) in
die Ohrvenen eine Sterilität der so be¬
handelten Kaninchen hervorzurufen, die
allerdings nur bis zur Dauer von vier
Monaten anhielt. Während dieser Zeit
war auch die serologische Kontrolle posi¬
tiv, d. h. das Blut der behandelten Tiere
agglutinierte und immobilisierte rascher
als normales Blut die mit ihm zusammen¬
gebrachten Spermatozoen. Nach kleineren
Injektionsmengen dauerte die Aggluti¬
nationskraft und die künstliche Sterilität
entsprechend kürzere Zeit.
Es ist interessant, daß die Kaninchen
nach Behandlung mit artfremdem, z. B.
menschlichem Sperma, normal empfäng¬
nisfähig blieben. Daß es sich bei der
,,Spermasterilität“ nicht um Hormon¬
wirkung, sondern vielmehr um allgemeine
Immunisierung handelt, geht auch daraus
hervor, daß die lokalen Generationsvor¬
gänge ungestört blieben; es zeigte sich
nämlich bei mehrmaliger Laparotomie
während der Injektionszeit, daß stets
Corpora lutea spuria vorhanden waren,
daß also Eireifung und Follikelsprung
15
114
Die Therapie der Gegenwart 1921
März
normal vor sich gingen, ohne daß eine
Befruchtung trotz mehrmaliger Deckung
eintrat. Während der ganzen Behand-
lüngszeit waren die allgemeinen Körper¬
funktionen der Tiere normal, auch wurde
bei Wiederaufnahme der Impfungen nach
längerer Pause jede Anaphylaxieerschei¬
nung vermißt; doch stellte sich bei lang¬
dauernder Spermabehandlung stärkere
Gewichtsabnahme ein, die zweimal sogar
zu allgemeiner Kachexie und Atrophie
der Keimdüsen mit konsekutivem Si-
stieren jeder Geschlechtsfunktion führte.
Insbesondere diese Nebenwirkungen wer¬
den uns neben anderen Erwägungen ver¬
anlassen, erst weitere Versuche mit art-
. eigenen und artfremden Spermainjek¬
tionen bei höheren Säugetieren abzu¬
warten, bevor wir an eine Anwendung
dieser Methode temporärer Sterilisierung
beim Menschen denken dürfen.
Klauber (Berlin).
(Med. Kl. 1920, Nr. 52.)
Unter den pathologischen Konstitu¬
tionstypen ist der sogenannte Status
thymo-lymphaticus derjenige, der am häu¬
figsten diagnostiziert, mit dem aber auch
am meisten Mißbrauch getrieben wird.
Hart rät bei der Entscheidung der Frage,
ob ein primärer pathologischer Konsti¬
tutionstypus oder eine sekundär erworbene
krankhafte Veränderung des Organismus
vorliegt, schärfste Kritik zu üben. Von
den Versuchen, ein ganz bestimmtes Merk¬
mal als charakteristisch für den Status
thymo-lymphaticus zu bezeichnen, ist
einmal die Angabe Scheiddes über eine
Hyperplasie der Zungengrundfollikel er¬
wähnenswert, die sich häufig bestätigt
findet, und ferner Bartels Feststellung,
daß einem hypertrophischen Stadium der
Lymphdrüsenveränderung ein atrophi¬
sches mit Bindegewebswucherung folgt,
was aber noch der Nachprüfung bedarf.
Die angenommene primäre Schwäche der
Lymphdrüsen ist noch nicht sicher be¬
wiesen. Viele in der Literatur beschriebene
Fälle von Status thymo-lymphaticus
halten der Kritik nicht stand, da Ent¬
wicklungsgrade des lymphatischen Appa¬
rates für pathologisch gehalten worden
sind, die sehr wahrscheinlich noch inner¬
halb der-physiologischen Breite liegen.
Exakte Zahlenwerte für die normale
Lymphdrüsenentwicklung wie auch für
die Thymusgröße fehlen heute noch. Auf
beide ist diese oder jene besondere Er¬
nährungsweise von Einfluß, was bisher
viel zu wenig beachtet worden ist. Dem
Verständnis des Bildes des Status thymo-
lymphaticus kommt man am nächsten,
wenn man auch in all den Fällen, in
denen eine Schwellung des lymphatischen
Apparates sich nicht auf eine ektogene
oder endogene Schä igung zurückführen
läßt, an eine sekundäre Veränderung
denkt, die abhängig ist von einem endo¬
genen Faktor, nämlich der konstitutio¬
nellen Anomalie des Thymus als eines
Teilorganes des endokrinen Systems. Die
erhöhte, vielleicht auch krankhafte Tätig¬
keit des Thymus führt zu einer Wuche¬
rung der lymphoiden Elemente im ganzen
Organismus. Mit der Bezeichnung ,,Thy¬
mustod“ ist größter Mißbrauch getrieben
worden. Selbst in solchen Fällen, wo jede
Möglichkeit einer anderen Erklärung
plötzlichen oder unerwartet schnellen
Todes fehlt und daher seine Annahme
berechtigt erscheint, ist das Wesen der
Thymuswirkung nicht sicher zu erklären.
Der Streit darüber, ob der Thymus durch
seine abnorme ^Größe rein mechanisch
oder durch sein Übermaß und eine krank¬
hafte Veränderung seines specifischen Se¬
kretes verhängnisvoll wird, ist dahin ent¬
schieden, daß zweifellos eine zu große
ThymusdrüsedurchDruckauf dieLuftröhre
gelegentlich zum plötzlichen Erstickungs¬
tod führen kann, daß aber im wesent¬
lichen eine toxische Wirkung des Organes
in Betracht zu ziehen ist. Gegenüber der
alten Erfahrung, daß der Status thymo-
lymphaticus die Entstehung und den
Verlauf vieler Infektionskrankheiten un¬
günstig beeinflußt, ist zu bemerken, daß
die Tuberkulose dabei verhältnismäßig
gutartig verläuft. Ferner soll , die Ent¬
stehung von Appendicitis, Magengeschwür
und bei Frauen das Auftreten von Ek¬
lampsiebegünstigt sein. Vielleicht|bestehen
auch Beziehungen des Status zum Auf¬
treten der lymphatischen Leukämie. Das
eigentliche konstitutionelle Moment beim
Status thymo-lymphaticus liegt ziemlich
verborgen in der primären Störung des-
endokrinen Systems, deren Manifestation
lediglich die Vermehrung des lymphoiden
Gewebes darstellt. Kamnitzer (Berlin.)
Zschr. f. ärztl. Fortbild. 1920, Nr. 23.
Ober Erfolge, die er bei akutem-
und recidivierendem Gelenkrheumatismus
durch Tonsillenschlitzung erreicht hat,,
berichtet Koopmann. Obgleich in der
Literatur des öfteren auf den Zusammen¬
hang der chronischen Tonsillitis mit dem
Gelenkrheumatismus hingewiesen worden
ist, werden die Erkrankungen der Ton¬
sillenhäufig übersehen und vernachlässigt.
Diese Tatsache findet darin eine Er-
März
Die Therapie der Gegenwart 1921
115
klärung, daß viele Ärzte sich bei der
Untersuchung der Mandeln mit einer ein¬
fachen Inspektion des Rachens begnügen.
Da jedoch sehr häufig die Pfropfe ledig¬
lich hinter den vorderen Gaumenbögen
sitzen, bleiben viele Fälle von chronischen
Tonsillitiden der einfachen Besichtigung
der Mundhöhle mit Hilfe des Spatels ver¬
borgen. Um sie in jedem Falle zu er¬
kennen, ist es erforderlich, durch Hinweg¬
ziehen der vorderen Gaumenbögen mittels
eines Häkchens sich die ganze Mandel zu
Gesicht zu bringen. Oft genug kommen
dann auf der ursprünglich für gesund
erachteten Tonsille einige Pfröpfe mit
oder ohne Eiter zum Vorschein. Da es
erwiesen ist, daß in vielen Fällen von
Arthritiden, besonders von akuten und
subakuten rheumatischen Polyarthritiden,
die Erreger von den Mandelkrypten ihren
Ausgangspunkt für die Invasion in den
menschlichen Körper nehmen, so ist es
zur erfolgreichen Bekämpfung solcher
Krankheiten erforderlich, diese Eingangs¬
pforten zu verlegen. Dies zu erreichen,
ist das Ziel der tonsillaren Behandlung
bei Polyarthritis. In der Behandlung der
Tonsillen gibt es verschiedene Methoden:
1. die. verstümmelnden (die vollständige
Entfernung der Mandeln, die Abtragung
der Tonsille bis auf eine Basalplatte),
2. die konservativen (Expression und
Massage, oder Aussaugen durch ein Saug¬
röhrchen). Zwischen den verstümmelnden
und rein konservativen Methoden steht
die des Schützens der Tonsillen, die zuerst
von Ruault und Guggenheimer an¬
gegeben wurde. Nach den mit den ver¬
schiedenen Arten der Tonsillenbehand¬
lung gemachten Erfahrungen erscheint es
zweckmäßig, zu versuchen, zunächst mit
der konservativen Behandlung bzw. mit
dem Tonsillenschlitzen -die Polyarthritis
zu beeinflussen. Mißlingen diese Me¬
thoden, so ist es immer noch möglich, die
verstümmelnden anzuwenden. Bei den
drei vom Verfasser mitgeteilten Fällen
von akutem und recidivierendem Gelenk¬
rheumatismus mit chronischer Tonsillitis
trat nach dem Auspressen der Tonsillar-
pfröpfe und dem Schlitzen der Mandeln
eine prompte Entfieberung ein, ein
schnelles Zurückgehen der Gelenkaffek¬
tionen, ein ■ Geringerwerden der Herz¬
symptome, in einem Fall ein völliges
Verschwinden der Herzgeräusche (Myo¬
karditis). Vor allem fühlten sich die
Patienten sehr bald nach der Tonsillen¬
schlitzung subjektiv außerordentlich er¬
leichtert. Die Mandeln wurden mit dem
von Moritz Schmidt angegebenen,
senkrecht zur Achse des Handgriffs an¬
gebrachten Sichelmesser geschlitzt; die
gesetzten Schlitze mit Jod ausgepipselt.
Horovitz (Berlin.)
(Zschn f. Physik, diät. Ther. 1920, H. 10.)
In seiner Arbeit über die Strahlen¬
behandlung der Tuberkulose stellt
V. Schrötter, Wien, die Forderung auf,
daß der Tuberkulöse jedweder Art in eine
Heilanstalt gehört, in der Sonnenkuren
vereint mit den Vorteilen klimatischer
Einflüsse optmale Heilerfolge gestatten.
Ein frommer Wunsch im armen Deutsch¬
land! Diese Heilerfolge können und
müssen durch örtliche Behandlung mit
Röntgenstrahlen und Quarzlampe ins¬
besondere bei peripherer Tuberkulose ge¬
steigert werden. Röntgenstrahlen allein
• sind schon imstande, bei der chirurgischen
Tuberkulose Erfolge zu erzielen, die die
chirurgische Tätigkeit auf ein immer enger
gezogenes Indikationsgebiet weisen. Der
tbeoretische Teil der Arbeit gibt einen
Überblick über den heutigen Stand der
Genese des Hautpigmentes, seine Be¬
deutung für den, Körperhaushalt des
Tuberkulösen und die Möglichkeit, den
Pigmentstoffwechsel durch Strahlen¬
wirkung zu steigern. Das Pigment wird
als ein Sensibilisator aufgefaßt, vermöge
dessen strahlende Energien in chemi¬
sche transformiert und photokatalytische
Wirkungen im erhöhten Maße erzielt
w-erden. Für die Haut selbst ergibt sich
daraus die Funktion einer inkretorischen
Drüse, worauf auch die Wechselbe¬
ziehungen zu Nebennieren und Ovarien
hinderten. Es scheint mir jedoch fraglich
zu sein, ob nicht auch noch andere Vor¬
gänge in der Haut als der Pigmentations-
prozeß bei der günstigen Beeinflussung
der Tuberkulose eine wichtige Rolle
spielen. Auch gegenüber der Behauptung,
daß die Antigentherapie eine Ausnutzung
oder Verminderung disponibler Energetik
verursacht, daß dagegen die Heliotherapie
eine energetische mit positiver Bilanz
infolge Zufuhr lebendiger Kraft ist, wer¬
den manche Bedenken laut werden. Hier
stecken wir noch tief in ungeklärten
Fragen — in der Praxis werden beide
Therapien versagen, wenn die Reserven
des Körpers nicht mehr ausreichend sind.
(Strahlenther., Bd. XI, H. 2. Calm (Berlin.)
Bei der Behandlung chronischer Unter¬
schenkelgeschwüre hat Volkmann mit
der Nervendehnung gute Erfolge zu ver-
; zeichnen. Das Verfahren ist zuerst 1872
15*
116
Die Therapie der Gegenwart' 1921
März
von Nußbaum empfohlen worden, später
wurde es von französischen Autoren
wieder aufgegriffen und außer beim Unter¬
schenkelgeschwür erfolgreich bei dem Mal
perforant zur Anwendung gebracht.
Volkmann verfügt über 12 eigene Fälle,
von denen 9 geheilt und einer gebessert
sind. Stets wird der Nervus saphenus
in Angriff genommen, dann je nach der
anatomischen Lage des Geschwürs die’
Nn. cutaneus surae lateralis und medialis,
der Nervus peronaeus superficialis und
profundus. Die Operation wird, wie
folgt, ausgeführt: Lokalanästhesie. Auf¬
suchen des N. saphenus in der Rinne
zwischen Schienbeinkante und Gastro-
cnemius, dicht unterhalb der Tuberositas
tibiae. Die anderen Nerven werden in der
Kniekehle freigelegt. Man hebt den Ner¬
ven aus der Wunde heraus und dehnt ihn
in der Richtung nach der Peripherie zu.
Das richtige Maß ist dann erreicht, wenn
die Haut entsprechend der Ansatzstelle
der Endverzweigungen des Nerven kleine
Einziehungen zeigt. 2—3 Tage nach der
Operation beginnt das Geschwür sich zu
reinigen und vom dritten Tage ab setzt
die Epithelisierung vom Rande her ein.
Die weiteren Verbandwechsel erfolgen
alle drei Tage; es wird Borzinksalbe auf¬
gelegt. Daß die schnelle Heilung der
Operation zugeschrieben werden muß,
steht außer Zweifel, da einmal die Kranken
trotz langer Behandlung keinerlei Zeichen
von Besserung zeigten, andererseits die
lokale Behandlung mit indifferenten Mit¬
teln unverändert nach der Operation
durchgeführt wurde. Ob die Erfolge von
Dauer sind, läßt sich einstweilen noch
nicht entscheiden, da hierfür die Beob¬
achtungszeit noch zu kürz ist.
(Zbl. f. Chir. 1921 No. 6.) Hayward.
Therapeutischer Meinungsaustausch,
über eine Kombination von Solarson und Strychnin.
Von G. Klemperer.
Vor Jahresfrist wurde mir von den
Elberfelder Farbenfabriken ein Präparat
zur klinischen Prüfung übergeben, welches
im ccm 0,01 g Solarson gleich 4 mg AS 2 O 3
und 1 mg Strychnin enthielt. Obwohl es
sich nur um eine Mischung bekannter
und erprobter Substanzen handelte, schien
mir das Präparat doch der Anwendung
am Krankenbett wert zu sein, weil es die
guten Wirkungen des Solarson in einer
für die Praxis wertvollen Weise zu er¬
gänzen versprach. Solarson steht im
Rufe, die Nerven zu kräftigen und ist
ein bewährtes Tonikum in Zuständen von
Ermattung und Überreiztheit; aber diese
Wirkung tritt doch nur langsam und all¬
mählich auf und es schien mir oft wün¬
schenswert, das Solarson mit einem schnell
anregenden Mittel zu kombinieren. So
habe ich seit lange in der Praxis empfohlen,
in dieselbe Spritze zu 1 ccm Solarson
0,1 ccm einer l%igen Strychninlösung hin¬
zuzunehmen. Bei der Anwendung dieser
kombinierten Injektion wurde oft ein
schnelles Eintreten subjektiven Wohl¬
befindens und Kraftgefühls bemerkt, wel¬
ches nach einfacher Solarsoneinspritzung
in diesen Fällen vermißt worden war.
Eine andere Situation, in. der eine Er¬
gänzung • gerade durch Strychnin gutes
Ergebnis für die Kranken verhieß, boten
die Schwächezustände während und nach
Infektionskrankheiten dar. Gerade für
diese hat man das Solarson vielfältig emp¬
fohlen, weil insbesondere in der Rekon-
valescenz eine Auffrischung des Nerven¬
systems und eine Anregung der Blut¬
bildung von Bedeutung ist. Aber im
Mittelpunkt der Erscheinungen steht doch
häufig Kleinheit und Frequenz des Pulses,
welche nicht so sehr auf Herzschwäche
als vielmehr auf Erschöpfung der Vaso¬
konstriktoren beruht. Gegen diese wird
in neuester Zeit mit besonderem Erfolg
Strychnin angewandt. Schließlich wird
diesem Mittel eine direkte Kräftigung des
Herzmuskels zugeschrieben, von der man
namentlic.h in akuten Infektionskrank¬
heiten Gebrauch machen darf, in welchen
Digitalis so oft versagt. Nun ist ja neuer¬
dings auch mehrfach von der Anwendung
des Solarsons bei Herzkranken die Rede
gewesen; aber es scheint sich dabei doch
nur um nervenstärkende Wirkung ge¬
handelt zu haben, die sicherlich auch in
diesen Fällen erwünscht und wertvoll ist.
Eine Kombination von Strychnin und
Solarson durfte also mit Vertrauen unter
der besonderen Indikation der Euphori-
sierung, der Vasokonstriktion und der
Herzkräftigung angewendet werden. Ich
habe das kombinierte Präparat in zahl¬
reichen Fällen dieser Kategorien regel¬
mäßig injiziert. Die erzielten Ergebnisse
sind subjektiv sehr befriedigend gewesen.
Die Injektionen werden ebenso reizlos
Marz
Die Therapie der Gegenwart 1921
117
und ohne jede Nebenwirkung vertragen,
wie die einfachen Solarsons. Sehr häufig,
trat das gesteigerte Wohlbefinden, die
erhöhte Euphorie hervor, die. man viel¬
leicht auf das Strychnin beziehen darf.
Zahlreiche Rekonvalescenten haben sich
unter dem Gebrauch dieser Injektionen
relativ schnell erholt, .während Puls¬
spannung und Frequenz sich besserte.
Ich habe auch vielen Herzkranken die
Solarson - Strychninmischung injiziert;
aber wenn es sich um wirkliche Kompen-
satiohsstörung handelte, habe ich doch
nicht auf Digitalis verzichten zu dürfen
geglaubt, so daß ich über die wirkliche
Strychninwirkung in diesen Fällen nichts
Sicheres aussagen kann. In schweren
Schwächezuständen bei Pneumonie und
Sepsis habe ich übrigens auch nach hohen
Strychnindosen (bis 5 mg) nicht so ein¬
deutige Resultate gesehen wie andere
-Autoren, so daß ich mich den Lobrednern
dieser Therapie bei bedrohlicher infek¬
tiöser Herzschwäche nicht anschließen
möchte. Viel besser waren die Ergebnisse
bei nervösen Herzstörungen, besonders
bei den Schmerz- und Druckempfindun¬
gen in der Herzgegend, auch bei Angst¬
zuständen und Schwindel ohne organi¬
schen" Herzbefund. Analoge Erfolge habe
ich schon früher mit Solarson allein er¬
zielt, doch schien die Wirkung bei dem
kombinierten Präparat schneller einzu¬
treten. In gleicher Weise ist schwer ,zu
entscheiden, wieviel von der guten Wir¬
kung dem Strychninzusatz zuzuschreiben
ist bei ausgesprochen guter Beeinflussung
der Basedowsypmtome. Zusamnienfas-
send möchte ich der Meinung Ausdruck
geben, daß der Praxis in der Soiarson-
Strychninmischung ein brauchbares Prä¬
parat dargeboten ist zur Behandlung von
Schwächezuständen des Nervensystems,
zur Erzielung einer gewissen Euphorie und
zur Linderung nervöser Herzbeschwerden.
Da dem Strychnin von den meisten
Autoren eine Erhöhung des Blutdruckes
zugeschrieben wird, so möchte ich seine
Anwendung nicht befürworten bei be¬
ginnender Arteriosklerose, deren nervöse
Grenzsuztände ich gern mit Elarson oder
So'larson behandle.
Die Elberfelder Farbenfabriken h-aben
die Solarson - Strychninmischung mit dem
Namen Optarson benannt; die Ergeb¬
nisse meiner Prüfung lassen mich hoffen,
daß das neue Medikament dieser optimis¬
tischen Bezeichnung Ehre machen wird.
Erfahrungen mit Aspirin, besonders als Hustenmittel.
Von Geh. San.-Rat Dr. Hügers (Bad Reinerz).
In Nr. 32 der D. m. W. hat Wilh-elm
Ebstein auf die hustenlindernde Wir¬
kung des Aspirin hingewiesen; zahlreiche
Erfahrungen am eigenen Leibe und in der
ärztlichen Praxis haben mir diese be¬
stätigt.
Nach einem in meiner Studienzeit über¬
standenen schweren Empyem, welches
meine vitale Lungenkapazität dauernd
auf 2000 bis 2200 ccm herabdrückte,
blieb ich für Erkrankungen der Atmurigs-
organe besonders disponiert und seit
Ende der achtziger Jahre jedem neuen
Auftreten der Influenza preisgegeben.
Beginnend mit den gewöhnlichen ner¬
vösen Symptomen kam es fast regelmäßig
zu Bronchitiden, Lobulärpneumonien,
p'leuritischen Reizungen und wochen- und
monatelangen Niederlagen.
Charakteristisch war intensiver quälen¬
der Hustenreiz, der mich am Einschlafen
hinderte und zwang, halbe Nächte in
sitzender Stellung zuzubringen.
Gichtische Anlage, die im Jahre 1898
den ersten schweren Podagraanfall
machte, mag an der Heftigkeit der
Katarrhe mit Schuld tragen.
Die Annahme, daß erhöhte Tempera¬
tur an dem unstillbaren, namentlich
abends auftretenden Husten schuld sei,
erwies sich als irrig, da ich fast regelmäßig
nur morgens und vormittags erhöhte
Temperatur hatte.
Narcotica, auch- nach Dettweilers
Empfehlung in Verbindung mit Anti-
pyreticis genommen, halfen nicht viel.
Mit der Einführung des Aspirin wurde
das ganz anders. Zufällig beobachtete
ich, als ich abends wegen Kopfschmerz
Aspirin nahm, daß ich nicht nur leicht
einschlief, sondern auch, daß der quälende
Husten ausblieb.
Seitdem habe ich regelmäßig beim
ersten Anzeichen von. Influenza Aspirin
genommen mit dem Erfolge, daß die An¬
fälle leichter und schneller verliefen, und
daß der gefürchtete Husten ausblieb.
Meine Erfahrungen in der Praxis waren
gleichgute.
In den ersten Krankheitstagen ge¬
nügten drei Dosen zu 0,5 in 24 Stunden,
118
Die Therapie der Geg;enwart 1921
März
dann zwei und vom fünften Tage
ab noch eine abendliche Dosis von
0,5 g.
Ich kann mich der Anschauung nicht
erwehren, daß Aspirin 1. ein hervor¬
ragend wirksames Hustenmittel ist, 2. das
Einschlafen erleichtert, und 3. bei In¬
fluenza ähnlich wie bei den Rheumatoid-
Erkrankungen eine specifische Wirkung
entfaltet.
Über den Einfluß der Seife auf Tuberkulose.
Von Wilhelm Bergmann (Andernach a. Rh.)
Veranlassung zu. der folgenden
Mitteilung gab ein hartnäckiger Fall
eines tiefgreifenden tuberkulösen Anal-
eschwürs, welches durch Seifenbehand¬
lung fast ganz geheilt ist. Es betraf
einen mäßig arteriosklerotischen, fünfzig¬
jährigen Patienten mit ausgeheilter Spit¬
zentuberkulose, bei dem eine eiternde
äußere Analfistel von 15 mm Tiefe zu
einem hartnäckigen' quälenden Ekzem
geführt hatte. Im Fisteleiter konnte ich
Tuberkelbacillen nachweisen. Eine Ope¬
ration lehnte der Patient ab. Nachdem
das Ekzem durch Ruhe und Umschläge
mit essigsaurer Tonerde beseitigt war,
ließ ich die Analgegend vier Monate lang
täglich mit Wasser und Seife reinigen
und m die Fistel einen mit Jodoform be-
puderten Jodoformgazetampon einführen.
Als die Eiterung danach nicht zum Still¬
stand kam, empfahl ich jeden Morgen
nach der Defäkation die Analgegend wie
bisher mit Wasser und Seife zu reinigen,
dann aber die ganze Gegend, insbesondere
die Stelle der Fistelöffnung, tüchtig mit
Seife einzureiben und erst nach % Stunde
abzuspülen. Nach drei Wochen hörte die
Eiterung vollständig auf. Auch keine
Spur von Eiter war mehr zu bemerken.
Bis auf den heutigen Tag setzt Patient
die Behandlung noch fort. Die Fistel ist
bis auf 2 mm zugeheilt.
Es dürfte demnach wohl keinem Zwei¬
fel unterliegen, daß unter der Seifenbe¬
handlung die Heilung des tuberkulösen
fistulösen Geschwürs sich vollzieht bzw.
zum größten Teil bereits Vollzogen hat.
Im vorliegenden Falle lagen die Ver¬
hältnisse für das völlige Eindringen der
Seife in das Fistelinnere ausnahmsweise
günstig, da der Fistelgang ziemlich gerad¬
linig verlief und von vornherein nicht
sehr in die Tiefe ging. Es kann also an¬
genommen werden, daß die Seife bei der
Einreibung in den Ifistulösen Gang hinein¬
gepreßt worden ist.
Ob allein das Eindringen der Seife von
der äußeren Öffnung her in das Fistel¬
innere oder ob auch oder gar haupt¬
sächlich die Durchdringung der Haut
heilend in Betracht kommt, ist in Anbe¬
trachtkrummliniger und verästelter Fistel¬
gänge, wie sie oft genug Vorkommen,
unter Umständen von großer Bedeutung.
Wenn man sich vorstellt, was ge¬
schieht, wenn eine Hautstelle tüchtig mit
Seife eingerieben wird, so erscheint es
sehr wohl denkbar, 'daß die Seife bis in
die Lymphspalten der Stachel- und Riffel¬
zellenschicht und von da aus mit dmi
Lymphstrom in den Blutkreislauf gelangt;
denn durch die chemische Wirkung der
Seife wird die normalerweise auf der
Oberfläche der Haut befindliche Fett-
bzw. Talgschicht aufgelöst und entfernt.
Dadurch wird die Haut gewissermaßen
zur Resorption befähigt. Ist doch der
Erfolg der Kappesserschen Schmier¬
seifeneinreibung wohl sicher auf die per-
cutane resorbierende Wirkung zurück¬
zuführen.
Nach Matthes ist bei chronischen
Peritonitiden die Einreibung von 5 g
Schmierseife in die Haut des Abdomens
oft von gutem Erfolge gewesen.
Nach His ist die Kappessersche
Schmierseifenbehandlung geeignet, Drü¬
sengeschwülste und Dermatosen zum
Schwinden zu bringen. Er empfiehlt
V 2 —^ Kaffeelöffel voll Schmierseife jeden
zweiten Tag mit wenig Wasser auf Rük-
ken, Brust oder Bauch sanft einzureiben
und nach einer Viertelstunde im Bade
oder mit lauwarmem Wasser abzuwaschen.
Während in solchen Fällen die Ein¬
wirkung der Seife vermittels des Strom¬
kreises der Körpersäfte anzunehmen ist,
dürfte im vorliegenden Falle der Fistula
ani externa eine direkte Wirkung der
Seife an Ort und Stelle in Betracht kom¬
men.
Die chirurgische Behandlung der Mast¬
darmfistel ist zweifellos das mit Recht
dominierende Verfahren. Aber es sind
doch in manchen Fällen Rezidive und
unangenehme Folgezustände, wie Incon¬
tinentia alvi, nicht zu vermeiden.
Auch aus diesen Gründen dürfte es
zu empfehlen sein, in geeigneten Fällen
119
Mäfz Die Therapie der Gegenwart 1021
Seifenbehandlung bei Fisteln zu ver¬
suchen.
Im Anschluß an diesen Fall möchte ich
die Aufmerksamkeit auf etwas lenken, was
uns vielleicht, wenn präzise Nachfor¬
schungen dieselben Resultate ergeben
sollten, wie sie aus den nachfolgend aiif-
geführten statistischen Angaben hervor¬
zugehen scheinen, im Kampfe gegen die
Tuberkulose weiterbringen würde.
In der Zeit vor meiner Hiilstättentätigkeit
— von 1909 bis Ende 1917 bin ich Heilstätten¬
arzt gewesen — waren mir nur sehr wenige Fälle
von Lungentuberkulose bei Wäscherinnen vor
Augen .gekommen. So wenig, daß es mir auffiel,
und ich beschloß, dieser Erscheinung mal näher
auf den Grund zu gehen und nachzuforschen, ob
es nicht lediglich etwa 'Zufall wäre. Ich habe
mich damals in einem Schreiben an das Reichs¬
gesundheitsamt gewendet und angefragt, ob es
Statistiken gäbe, aus welchen zu ersehen wäre,
in welchem Zahlenverhältnis die einzelnen Be¬
rufsklassen von der Tuberkulose ergriffen seien.
Soviel ich mich entsinne, war der Bescheid ein
negativer.
In der Lungenheilstätte, in welcher ich tätig
gewesen bin, war alles auf Tuberkulinbehand¬
lung eingestellt, weil der Chefarzt ein sehr eifriger,
um nicht zu sagen enragierter Tuberkulinthe¬
rapeut war, welcher diese Behandlung für wich¬
tiger als das hygienisch-diätetische Heilverfahren
hielt. •
Von dem Geiste, der in jener Heilstätte
herrschte, wurde auch ich ergriffen, und so
hatte ich den Gedanken, welcher mich veranlaßt
hatte an das Kaiserliche Gesundheitsamt zu
schreiben, ganz aus dem Auge verloren.
Daß nur so wenig an Lungentuberkulose
erkrankte Wäscherinnen mir vor Augen gekommen
sind, war mir gerade deshalb so besonders auf¬
fallend erschienen, weil doch gerade jene Erwerbs¬
klasse nach meiner Ansicht in bezug auf Tuber¬
kuloseinfektion ganz besonders gefährdet sein
müßte. Da die Wäscherinnen die Wäschestücke
natürlich nur im trocknen Zustande eingeliefert
bekommen, so sind auch die daran haftenden
Sputumteile der phthisischen Kundschaft in
trocknem Zustande. Beim Hantieren mit diesen
Wäschestücken findet ein Rütteln und Schütteln
statt, wodurch die trocknen Sputumstäubchen
und mit ihnen die Tuberkelbacillen in die Luft
geraten und von den Wäscherinnen sicher in
Mengen eingeatmet werden.
Man müßte daher annehmen, daß sehr viele
der Wäscherinnen der Tuberkulose zum Opfer
fielen. Wenn aber das gerade Gegenteil der Fall
ist, wie es nach den folgenden statistischen An¬
gaben zu sein scheint, dann ist das nicht anders
zu erklären, als daß mit der Beschäftigung des
Waschens etwas verbunden sein muß, was einen
Schutz gegen die Tuberkulose verleiht.
Ich gebe zunächst in folgendem einen Auszug
aus den mir zur Verfügung stehenden Jahres¬
berichten der Kaiserin-Augusta-Victoria-Volks¬
heilstätte in Landeshut in Schlesien wieder:
Es waren im Jahre
1904 unter 84 Pfleglingen 0 Wäscherinnen
1905 „ 328 „ 2
1907 „ 407 • „ 0
1908 „ 724 „ 0
1909 „ 747 „ 5
1910 „ 750 „ 3
1911 unter 827 Pfleglingen 1 Wäscherinnen
1912 „ 883 „ 2
1913 „ 684 „1
1914 „ 745 „ 3
1915 „ 674 „ 2
Also 0—^/7%, in allen außer einem Jahre
unter ^/3%. Zu bemerken ist dazu noch, daß die
Pfleglinge aus allen Gegenden Schlesiens, ins¬
besondere aus Breslau und anderen großem Städten,
und aus dem industriereichen Oberschlesien
stammen, wo sicher viele Personen dem Gewerbe
der Wäscherei obliegen.
Nach dieser Feststellung dürfte es nun wohl
von wachsendem Interesse sein, mal zu sehen,
wie es denn in andern Frauenheilstätten mit diesen
Verhältnissen steht.
Ich wandte mich nun dieserhalb an den Chef¬
arzt der nächstgelegenen Frauenheilstätte, Herrn
Dr. Schüler in Waldbreitbach, und fragte an, ob
seine Heilstätte im-Jahresberichtsaustauschver¬
hältnis mit den andern Heilstätten Deutschlands
stände. Mich interessierten besonders die Berichte
der Frauenheilstätten. Zutreffendenfalls bäte
ich ihn, mir Einblick zu gewähren.
Herr Dr. Schüler hatte nun die außerordent¬
lich große Freundlichkeit, mir gleich eine Anzahl
Berichte zu übersenden, wofür ich ihm an dieser
Stelle meinen ergebensten Dank auszusprechen
nicht verfehlen möchte. Ich lasse nun hier einen
Auszug aus diesen Berichten folgen.
Es waren in der Heilstätte in Öberkaufungen
bei Cassel im Jahre 1910 unter 181 Frauen 0,
1912 unter 341 Frauen 3, 1913 unter 363 Frauen
2 Wäscherinnen, 1916 unter 573 Frauen 1
Wäscherin; in Slaventzitz (Oberschlesien) 1910
und 1911 unter 362 Frauen unter der Rubrik der
Wäscherinnen und Plätterinnen 3; in Fürth i. B.
1910 unter 361 Frauen 0, 1911 unter 364 Frauen
2 Wäscherinnen; in Cottbus 1910 unter 485
Frauen 4 Arbeiterinnen in Wäschereien, eben¬
daselbst 1911 unter 524 Frauen 3 Arbeiterinnen
in Wäschereien. Es ist aus diesen letzten An¬
gaben nicht zu erkennen, ob es gerade speziell
Wäscherinnen waren; denn es können auch
Plätterinnen oder sonst in der Wäscherei be¬
schäftigte Personen gewesen sein, im Jahre 1915
ebendaselbst unter 435 Frauen nur 1 Wäsche¬
arbeiterin; in Waldbreitbach 1916 unter 667
Frauen in der Rubrik der Büglerinnen und
Wäscherinnen 2, 1916 unter 824 Frauen unter
der Rubrik Büglerinnen und Wäscherinnen 8.
Von den vom Kölner Verein zur Verpflegung
Genesender 1918/19 in Kurorte bzw. Heilstätten
geschickten 476 weiblichen Lungenkranken sind
unter der Rubrik der Putzfrauen, Wäscherinnen,
Büglerinnen 21 aufgeführt.
Also in den Heilstätten, in welchen die
Wäscherinnen allein unter einer besonderen
Rubrik aufgeführt sind, 0—%, in denjenigen
Heilstätten, in welchen zugleich mit den Wäsche¬
rinnen auch Plätterinnen aufgeführt sind, ^—1%.
Die Zahlen vom Kölner Verein zur Ver¬
pflegung Genesender sind kaum zu verwerten, da
außer Plätterinnen auch noch Putzfrauen in der
Rubrik der Wäscherinnen aufgeführt sind.
Man kann aus solchen Angaben keine ver¬
wertbaren Schlüsse ziehen, auch nicht etwa den
derjenigen steigernden Tendenz in den Kriegs-
zeiten, welche etwa auf Mangel an Seife zurück¬
geführt werden könnte. Aber selbst wenn es
sich lediglich um Wäscherinnen handelte, käme
für den steigenden Prozentsatz mindestens ebenso
sehr, wenn nicht noch mehr, die Ernährungsnot
in Betracht.
120 ' Dk; Therapie-'der ^Qegemvatt. 192.1' Mät-z
Jedenfalls aber lassen die statistischen An¬
gaben aus den hier herangezogenen Jahres¬
berichten erkennen, daß in den Heilstätten der
verschiedensten Gegenden Deutschlands überall
dieselben Zahlenverhältnisse vorherrschen:
0-^/7 %.
Das Bild wird sich auch wohl kaum ändern,
wenn man noch mehr Frauenheilstätten in den
Kreis der Erwägung zieht. Es ergibt sich also,
daß die Zahl der lungenkranken Wäscherinnen
in allen Frauenheilstätten eine tatsächlich ganz
auffallend geringe ist.
Ob man aber berechtigt ist, aus diesen
Verhältnissen den allgemeinen Schluß
zu ziehen, daß die Tuberkulose unter
den Wäscherinnen überhaupt sehr selten
sei, dürfte trotzdem noch sehr fraglich
sein; denn gar manche Arbeiterfrau be¬
schäftigt sich neben ihrer Hausfrauen¬
tätigkeit m-it Waschen. Und von diesen
Frauen sind viele nicht mehr in der Lan¬
desversicherung, haben also keinen An¬
spruch mehr auf Heilstätten-Heilver¬
fahren durch die Landesversicherung.
Dem steht allerdings gegenüber, daß
vielen solcher Frauen im Erkrankungs¬
falle Heilverfahren auf Kosten der Armen¬
verwaltung und wohltätiger Vereine, na¬
mentlich derjenigen zur Bekämpfung der
Tuberkulose gewährt werden.
In Anbetracht der nicht ganz sicheren
Faktoren der Berechnung habe ich mich
der Mühe unterzogen, die Sterberegister
der Stadt Andernach vom Jahre 1913 bis
1919 einer genauen Durchsicht zu unter¬
ziehen.
Es ist unter den an der Tuberkulose gestorbenen
weiblichen Personen nicht eine einzige Wäscherin
aufgeführt. Dabei ist aber zu bedenken, daß unter
anderen eine Anzahl verheirateter Frauen in
Betracht kommt, bei denen nur das Gewerbe
bzw. der Stand des Mannes angegeben ist. Wenn
auch in manchen dieser Fälle aus dem Stande
und Gewerbe des Mannes, wie z. B. Baumeister,
Regierungssekretär, Postsekretär, Lokomotiv¬
führer, Schlossermeister usw., zu schließen ist,
daß sich die Frauen wohl nicht mit Waschen
nebenbei Geld verdient haben, so bleiben die
Sterberegister doch leider eine solche Unterlage
für die in Betracht kommenden Statistiken,
daß sie für sich allein nicht ausreichend sind.
Man kann aber auf Grund dieser Unterlagen doch
zu einem sehr brauchbaren Resultat gelangen,
wenn man bezüglich der an Tuberkulose ge¬
storbenen Arbeiterfrauen in deren Familie oder
sonstwo nachforscht, ob sie etwa Waschfrauen
gewesen sind. Das liegt durchaus im Bereiche der
Möglichkeit und es wäre sehr zu wünschen, daß
es geschehe, wenn nicht bereits dem Verfasser
unbekannte Statistiken vorliegen, aus denen sich
ergibt, daß die Wäscherinnen genau in demselben
Verhältnis oder noch mehr an Lungentuberkulose
erkranken, wie die andern Berufsklassen.
Da jedoch die Sterberegister überall denselben
Mangel der Angabe des Gewerbes verheirateter
Frauen aufweisen wie in Andernach, so werden
maßgebende Statistiken über die hier inter¬
essierende Frage bis jetzt wohl kaum irgendwo
existieren.
Ehe. man mit sicheren Verhältnissen
im positiven Sinne re.chnen kann, dürfte
es als verfrüht erscheinen, sich .Reflexi¬
onen darüber hitizugeben, woran es zu¬
treffend enfalles liege, daß so wenig
Wäscherinnen, der Tuberkulose zum Opfer
fallen. Da es indessen dazu dienen könnte,
die in Betracht kommenden Behörden,
die Verwaltungen der Städte und Ge¬
meinden zur Aufstellung brauchbarer Sta¬
tistiken aufzumun.tern, so dürfte es doch
nicht ganz zwecklos seip.
Zuvor möchte ich jedoch noch anführen, daß
ich mich aus meiner Studentenzeit einer zur vor¬
liegenden Frage sehr interessanten Sektion er¬
innere. Es handelte sich um eine Wäscherin.
Sie war nicht an Tuberkulose gestorben,, sondern
an irgendeiner anderen Krankheit.
Es war eine ziemlich kräftige Person. In
beiden Lungenspitzen befanden sich Kavernen.
Dieselben waren aber vol.lständig ausgeheilt.
Ihre schiefrig verfärbten Wandungen bestanden
aus Bindegewebe und zeigten an einzelnen
Stellen leichte narbige Einziehungen.
Es hatten also bei dieser Person sogar bereits
tuberkulöse Einschmelzungsprozesse, und- zwar
in beiden Lungenspitzen, stattgefunden, un.ddoch.
war die Tuberkulose noch zur Ausheilung gelangt.
Ob die Gestorbene schon lange Zeit Wäscherin
gewesen war und ob die Tuberkulose während,
dieser Zeit oder schon vorher ausgeheilt- war,
weiß ich allerdings leider nicht. Jedenfalls aber
ermuntert.auch dieser Fall zur Herstellung einer
brauchbaren Statistik.
Wenn genaue statistische Erhebungen
unsere Resultate aus üen Heilstättenbe¬
richten bestätigen, dann kann es kein
blinder Zufall sein, daß so wenig Wäsche-
rinnen der Tuberkulose zum Opfer fallen,
trotzdem sie doch der Gefahr der In¬
fektion wie kaum eine andere Berufsklasse
außer Krankenpflegepersonal ausgesetzt
sind. Dann könnten wir nichts Besseres,
tun, als die Tuberkulösen -eben dasselbe
tun zu lassen, was die Wäscherinnen tun:
Stundenlange Einreibungen der Haut mit
Seifenlauge und stundenlange Inhala¬
tionen von Seifenlaugendämpfen. Wir
hätten dann eine Therapie der Tuber¬
kulose entdeckt, welche, nicht mehr erst
erprobt zu werden brauchte, sondern
längst erprobt wäre. Je größer das zu
erhebende statistische Material sein wird,
desto kleiner werden die Fehler und desto
sicherer und zuverlässiger werden die
Schlußfolgerungen sein, welche man dar¬
aus ziehen kann.
Wenn also nicht bereits durch ein¬
wandfreie Unterlagen das Gegenteil er¬
wiesen ist, \vürde es sich empfehlen, die
notwendigen statistischen Erhebungen
wenigstens in einigen größeren Städten
vornehmen zu lassen.
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Die Therapie der Gegenwart
1921
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
April
Nachdruck verboten.
Die Grundlagen der Lichttherapie i).
Von Dr. Fritz Schanz,
Das Licht ist ein Gemisch von Strahlen
verschiedenster Wellenlänge, deren Wir¬
kung auf unseren Körper wir ganz ver¬
schiedenartig empfinden.. Ein Teil wird
von unserer Haut als Wärme wahrgenom¬
men, ein Teil vermag unsere -Netzhaut
als Licht zu erregen, ein dritter Teil
vermag weder in unserer Haut, noch in
unserem Auge eine Empfindung auszu¬
lösen, für seine Wahrnehmung fehlt uns
das Sinnesorgan, und doch ist er für
unseren Organismus außerordentlich wich¬
tig. Er wird gebildet von den Strahlen,
die im Spektrum jenseits von Violett
liegen. Diese ultravioletten Strahlen
verraten sich durch ihre chemische Wirk¬
samkeit. Mittels der photographischen
und der fluorescierenden Platte lassen
sich diese Strahlen wahrnehmen. Einsen
hat zuerst erkannt, daß ihnen besondere
Heilwirkungen zukommen. Er hat den
Lupus der Haut geheilt dadurch, daß er
Licht, das besonders reich an solchen
Strahlen war, auf diese Krankheitsherde
konzentrierte. Seine Behandlung hat
zu glänzenden Resultaten geführt und
allenthalben Anerkennung gefunden.
Seine Erfolge gaben Veranlassung, auch
bei anderen Tuberkuloseformen die Licht¬
behandlung zu erproben. So war es vor
allem Dr. Bernhard in St-. Moritz, der
zeigen konnte, daß Wunden aller Art
unter der Einwirkung des. Sonnenlichtes
auffallend rasch heilen. Während Bern¬
hard noch vorwiegend den Krankheits¬
herd und seine nächste Umgebung be¬
lichtete, konnte Rolli er in Leysin zeigen,
daß man die beste Wirkung bei Bestrah¬
lung des ganzen Körpers erreicht. Die
Ergebnisse dieser Behandlung sind viel¬
fach nachgeprüft und bestätigt worden.
Wir sind um ein neues Heilmittel reicher.
Wir kennen jetzt die Allgemeinbehand¬
lung innerer Leiden mit Licht. Mit Be¬
geisterung wird sie geübt, und doch gilt
es erst noch, die Grundlagen dieser The¬
rapie genauer festzulegen. Das Aller-
T Vortrag, gehalten in der Gesellschaft für
Natur- und Heilkunde zu Dresden am 5. No¬
vember 1920.
Augenarzt in Dresden.
. erste muß sein das Studium des Lichts.
Mit welchem Licht erreichen wir praktisch
. die besten Erfolge?
Bernhard hat seine Erfolge in
St. Moritz, Ro liier in Leysin mit direkter
Sonnenstrahlung erzielt. Es sind dies
Orte in Höhenlagen von 1200 bis 1500 m.
Das Sonnenlicht im Hochgebirge ist
in seiner Wirkung dem Licht in dem Tief¬
land weit überlegen. Worin bestehen die
Unterschiede zwischen dem Licht im
Hochland und in der Tiefebene? Ist es
lediglich die verschiedene Intensität des
Lichts, dem diese Wirkung zukommt?
Wäre dies der Fall, so müßte durch
längere Exposition auch in der Ebene
gleiche Wirkung zu erzielen sein. In
Wirklichkeit stehen die Wirkungen im
Tiefland denen im Hochgebirge so wesent¬
lich nach, daß man annehmen muß,
daß die verschiedene Zusammensetzung
des Lichtes dabei eine Rolle spielt. Das
Licht im ultravioletten Teil des Spektrums
muß erhebliche Unterschiede zeigen. Das
Ultraviolett beginnt bei 2 400 und
reicht im Sonnenspektrum günstigen¬
falls bis 2 290 Auch bei Ballon¬
fahrten bis 2 8000 hat man dieselbe
Ausdehnung des Spektrums gefunden.
Wenn auch die Ausdehnung des Spek¬
trums sich nicht ändert, so erleidet das
Strahlengemisch beim Durchgang durch
die Atmosphäre doch sehr erhebliche Ver¬
änderungen dadurch, daß die Strahlen
je nach ihrer Wellenlänge verschieden
stark beeinflußt werden. Je kurzwelliger
sie sind, desto stärker werden sie absor¬
biert, reflektiert und diffundiert. Wolken,
Nebel, Verunreinigungen der Luft ver¬
ändern die Zusammensetzung des Lichtes,
aber schon die Moleküle der Luft allein
wirken in diesem Sinn. Sie zerplittern
den Lichtstrahl, diese Absplitterung des
Lichtes an den Molekülen der Luft ist
bedeutend stärker für die blauvioletten
und ultravioletten als für die roten
Strahlen. Auf dieser erhöhten Absplitte¬
rung des kurzwelligen Lichtes an den
Molekülen der Luft beruht die gelbe
Farbe der Sonne und die blaue Farbe
16
122
Die Therapie der Gegenwart 1921
• April
des Himmels. Wenn unsere Erde ohne
Atmosphäre wäre, müßte der Himmel
schwarz aussehen. Dadurch, daß das
direkte Sonnenlicht bei dem Durchgang
durch die Luft blauyiolette Strahlen in
erhöhtem Maße verliert, erscheint, die
Sonne unserem Auge gelb. Beim Sonnen¬
aufgang und -Untergang erscheint sie
rot, ihr Licht hat eine größere und dich¬
tere Luftschicht zu passieren und ver¬
liert in erhöhtem Maße die blauvioletten
Strahlen. Die blauvioletten Strahlen,
die vom direkten Sonnenlicht abgesplit¬
tert werden, bedingen die blaue Farbe
des Himmels. Je mehr das direkte
Sonnenlicht in die Atmosphäre vordringt,
desto mehr wird es an solchen Strahlen
verlieren, diese kommen dabei immer
mehr dem diffusen Himmelslicht zugute.
In dem verschiedenen Gehalt des Lichtes
an kurzwelligen Strahlen liegt die Er¬
klärung der Heilerfolge bei den Ver¬
suchen von Bernhard und Rollier und
den ungenügenden Ergebnissen bei den
ähnlichen Versuchen, die in der Ebene
ausgeführt worden sind. Im Hochgebirge
hat man die glänzendsten Erfolge zur
Winterszeit. Im Sommer sind dort die
entzündungserregenden Strahlen im Licht
zu intensiv. Zu dieser Jahreszeit erzeugt
dort das Licht heftige Entzündungen an
der Haut und den Augen. Gletscherbrand,
Schneeblindheit sind dann allgemein be¬
kannte Wirkungen des Lichtes. Im
Winter treten diese Wirkungen nicht so
hervor, die Patienten können länger dem
Licht ausgesetzt werden, dem die heilende
Wirkung zukommt. Rollier betont ganz,
ausdrücklich, daß er selbst Entzündungen
der Haut bei seinen Patienten möglichst
zu vermeiden sucht dadurch, daß er sie
erst allmählich an das Licht im Hoch¬
gebirge gewöhnt.
Wenn wir im Tiefland versuchen
wollen, das Sonnenlicht therapeutisch
besser auszunützen, so wird es nötig, das
Sonnenlicht im Hochgebirge mit dem im
Tiefland vor allem in seinem Gehalt an
Ultraviolett zu vergleichen. Dafür be¬
saßen wir bis vor kurzem kein Instrument.
Ich habe deshalb auf einem biologischen
Weg zu zeigen versucht, daß das Ultra¬
violett im Tageslicht auch bei uns einen
mächtigen Energiefaktor darstellt, den
wir weit unterschätzen. An den Pflanzen
sehen wir am besten die Wirkungen des
Lichtes, und darum habe ich diese für
meine Versuche gewählt. Ich habe den
Pflanzen in Treibbeeten durch Gläser das
ultraviolette Licht entzogen. Die Pflanzen
zeigten auffällige Veränderungen in ihrer
Gestalt. Sie wurden länger, die Blätter
wurden schmäler, dünner, die Zwischen¬
glieder der Stengel länger und dünner.
An allen Pflanzen waren bei ausgedehnten
mehrere Jahre* wiederholten Versuchen
ganz gesetzmäßig dieselben Veränderun¬
gen festzustellen. Das Ultraviolett des
TageHichtes beeinflußt die Gestaltung
unserer gesamten Vegetation. Das Edel¬
weiß, das von dem Hochgebirge in das
Tiefland versetzt wird, zeigt diese Ver¬
änderung, es wird ein langaufgeschossenes
Gewächs, das damit seine alpine Tracht
verliert. Ich glaube auch die Erklärung
für diese Erscheinung gefunden zu haben.
In dem Biol. Zbl., Bd. 36, in den Berichten
der Deutschen Botanischen Gesellschaft
1918 und 1919 und in Pflüg. Arch.,
Bd. 181, sind diese Versuche ausführlich
besprochen.
Als ich diese Versuche angefangen
hatte, hörte ich, daß Prof. De mb er einen
Spektralphotometer für Ultraviolett kon¬
struiert hatte, mit dem er nach Teneriffa
reiste, um dort Lichtmessungen vprzu-
nehinen. Er wurde während des Krieges
dort zurückgehalten, und so entschloß
ich mich, mir selbst einen solchen Apparat
zu bauen. Der Apparat, der in meiner
Arbeit: Der Gehalt des Lichtes an Ultra-
violett^) genauer beschrieben ist, ge¬
stattet nicht nur, das Sonnenlicht an
verschiedenen Orten und zu verschie¬
denen Tageszeiten auf seinen Gehalt an
Ultraviolett zu vergleichen, sondern auch
mit dem Licht künstlicher Lichtquellen
in Vergleich zu bringen. Mit dem Quarz-
spektrographen hatte ich das Licht der
für die Lichtbehandlung in Frage kommen¬
den Lichtquellen schon verglichen, das
Dembersehe Instrument bot mir Ge¬
legenheit, diese Vergleiche weiter durch¬
zuführen.
Fig. I .zeigt die Spektren der vier
Lichtwellen, die für die Lichttherapie
in Frage kommen. Das erste Spektrum
ist dasjenige des Sonnenlichtes in Dresden.
Das äußerste Ende im Ultraviolett ist
bei der kurzen Expositionszeit nicht zum
Ausdruck gekommen. Im Hochgebirge
hat dies höhere Intensität, Das Spektrum
reicht aber auch dort nicht weiter als
etwa / 290 fifi.. Als Ersatz für das Licht
im Hochgebirge wird das Licht der Quarz¬
lampe empfohlen, die mit einem Glüh¬
lampenring und einem Reflektor umgeben
ist. Sie wird als ,,Künstliche Höhen-
0 V. Graefes Arch. f. Ophthalm. Bd. 103.
Die Therapie der Gegenwart 1Q21
April
123
sonne“ allgemein angepriesen. Das
dritte Spektrum ist dasjenige der Quarz¬
lampe. Es reicht bis gegen 220 ///<,
60Ü 500 400
300
2 .
Vso sec.
Fig. 1.
600
Spektren 1.
500 400 350
des Sonnenlichts,
4.
300
250
Qi
520 500
1*50
während das Sonnenspektrum nur bis
/ 290 //// sich erstreckt. Das Spektrum
des Sonnenlichtes ist kontinuierlich, das
Spektruni des
Quarzlichtes ist ein
ausgesprochenes
Linienspektrum,
einige Lichtarten
erreichen sehr hohe
Intensitäten, wäh¬
rend andere voll¬
ständig fehlen. Ge¬
rade die ultra¬
violetten Strahlen,
die im Sonnenlicht
fehlen, sind beson¬
ders intensiv darin
vertreten. Dieser Überschuß an Strahlen
ist es, der rasch die Entzündungen der
Haut erzeugt und verhindert, daß Sich
die Patienten
länger dem Licht
aussetzen kön¬
nen, das vor
allem heilend
wirkt. Dem
Sonnenlicht viel
ähnlicher ist das
Licht der offenen
Bogenlampe.Das
zweite Spek¬
trum stammt
von einer solchen
Lampe. Es ist
viel gleichmäßi¬
ger als das Spek¬
trum der Quarz¬
lampe. Wenn es
auch ebenso weit
in das Ultra¬
violett reicht wie jenes, so enthält cs
doch in diesem Spektralbereich keine
Banden von einer Intensität wiedas Quarz¬
licht. Das vierte Spektrum ist das einer
SOOOkerzigen Nitralampe. Der glühende
Draht ist mit einer Glashülle umgeben,
die das Spektrum des Lichtes, das der
Glühfaden aussendet, stark verkürzt.
Diese vergleichenden Untersuchungen
„1 der Lichtquellen
Beiichtzeit habe ich mittels
des De mb ersehen
Spektralphoto¬
meters für Ultra¬
violett weiter fort¬
zusetzen vermocht.
Das Resultat wird
illustriert durch die
Kurven in Fig. 11.
Kurve 1 ist diejenige
des Sonnenlichtes, sie steigt bis zu einem
Maximum, das bei / 370 /<// liegt, an¬
nähernd gradlinig an, dann fällt sie
2. des offenen Bogenlichts, 3. der Quarzlampe
der Nitralampe.
g
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1 ^1' . .
WO
350
fju fju l/^ellen/angen
300
250
200
F'ig. II. 1. SonnvnlichU 11. Offene Bogenlampe. III. Quarzlampe. IV. Nitralampe.
I
steil abwärts bis' / 320 mx und verläuft
sich gegen / 300 ////. Die Kurve 11 ist
j diejenige der offenen Bogenlampe, Kurve
111 diejenige der Quarzlampe, Kurve IV
d’e der 3000kerzigen Nitralampe. Die
Kurven dieser drei künstlichen Licht¬
quellen sind in Fig. 111 besonders wieder¬
gegeben. Um die Einzelheiten besser
darzustellen, wurde die Ordinate gegen
16*
124
Die Tiierapie der .Gegenwart 1921 April
Fig. II um das Vierfache vergrößert.
Die Kurve (II) der offenen Bogenlampe
zeigt ein langsames Ansteigen bis l 410
unter Ausbildung einiger kleiner Maxima.
Von X 410 f^i .1 steigt sie steil an und er¬
reicht ihr Maximum bei >1385 Dann
fällt die Kurve ebenso rasch bis X 260
bildet nochmals ein Maximum bei X 250
und erreicht den Nullwert bei X 220
Die Kurve (111) der Quarzlampe zeigt
einen sehr wechselnden Verlauf. Es liegt
dies daran, daß das Spektrum des Quarz-
lichtes ein Linienspektrum ist. In dem
Ultraviolett, das im Sonnenlicht gar nicht
mehr enthalten ist, zeigt diese Kurve
noch zwei hohe Maxima. Hier liegt die
Ursache, daß das Quarzlicht so rasch
entzündungserregend wirkt.
Die Kurve (IV) der Nitralarnpe steigt
zu einem flachen Maximum bei X 460 (.m
an und fällt dann langsam bis X 330
auf den Nullwert.
'Wenn man sich nach diesem Vergleich
die Frage vorlegt, mit welcher Licht¬
quelle läßt sich am ehesten ein Licht her-
stellen, das das Sonnenlicht in der Thera¬
pie ersetzen kann, so wird kein Zweifel
sein, daß man das Licht der offenen
Bogenlampe vor allem für diese
Zwecke a u s z u n ü t z e n versuchen
muß.
Mit dem Spektralphotoineter von
Dember sind wir jetzt imstande, das
Ultraviolett des Sonnenlichtes im Hoch¬
land mit dem im Tiefland und in allen
Breitenlagen zu vergleichen. Wenn wir
jetzt sehen, wie das Licht an verschiedenen
Stellen der Erde Verschiedenartig wirkt,
mit diesem Instrument vermögen wir
zu- ermitteln, worauf diese verschieden¬
artigen Wirkungen beruhen. Mittels dieses
Instrumentes werden wir auch heraus¬
finden, welchen Strahlen des Sonnen¬
lichtes vor allem die heilenden Wirkungen
zukommen.
Haben wir uns über die Eigenschaften
des Lichtes, das für die Verwendung in
der Therapie in Frage kommt, ein Urteil
gebildet, so gilt es, sich die Frage vor¬
zulegen, wie wirkt das Licht auf unseren
Organismus. Wenn wir darüber ein
Urteil erlangen wollen, so müssen wir
auf die elementarsten Wirkungen des
Lichtes zurückgehen, wir müssen prüfen,
welche Veränderungen die lebende Sub¬
stanz durch Licht erleidet. Mit dieser
Frage habe ich mich zuerst^) befaßt,
Wirkungen des Lichts auf die lebende
Substanz, Pflügers Arch. f. Physiol. Bd. 161, 1
als ich sah, wie die Augenlinse unter Ein¬
wirkung des Lichtes fluoresciert. Die
Fluorescenz besteht darin, daß unsicht¬
bares, ultraviolettes Licht in länger-
welliges, sichtbares verwandelt wird. Eine
solche Umwandlung der Energie ist —
rein physikalisch gedacht — undenkbar
ohne Veränderung des Mediums, in dem
die Umwandlung stattfindet. Ich legte
mir daher bei^ der Augenlinse die Frage
vor, wie kommt es, daß diese während
des ganzen Lebens im Licht fluoresciert
und daß uns an derselben keine Verände¬
rungen bekannt sind, die mit dieser Fluo¬
rescenz Zusammenhängen. Die Erwägung
dieser Frage drängte mir die Vermutung
auf, daß die Veränderungen in der Linse,
die sich bei allen Menschen im Laufe des
Lebens aüsbilden, mit dieser Umwand¬
lung der strahlenden Energie Zusammen¬
hängen. Es lagen schon Beobachtungen
vor, die darauf hinwiesen. Ich habe sie
systematisch weitergeführt; ich konnte
schließlich zeigen, daß nicht nur Linsen¬
eiweiß, sondern auch andersartige Ei¬
weißlösungen durch Licht Veränderungen
erleiden, die darin bestehen, daß aus
leichtlöslichen Eiweißkörpern schwerer
lösliche werden. Dann konnte ich zeigen,
daß es zahlreiche Stoffe (Sensibilisatoren)
gibt, die imstande sind, diesen Prozeß im
positiven oder negativen Sinne zu beein¬
flussen.
Welche Lichtstrahlen sind es, die
diese Wirkungen erzeugen? Nur die
Lichtstrahlen können in einem Medium
zur Wirkung gelangen, die von ihm ab¬
sorbiert werden. Um festzustellen, welche
Lichtstrahlen auf die lebende Substanz
wirken, wurde es daher nötig, zu prüfen,
welche Strahlen von ihr absorbiert we'rden.
Die lebende Substanz besteht im wesent¬
lichen aus Eiweiß. Dialysierte Eiwei߬
lösungen sind leicht gelblich gefärbt, sie
verraten dadurch schon, daß sie in Blau
und Violett anfangen, Licht zu absor¬
bieren. Prüft man sie mittels eines
Quarzspektrographen, so zeigt sich, daß
ihr Absorptionsvermögen in Ultraviolett
besonders intensiv ist^). Daraus ergibt
sich, daß die Wirkungen des Lichtes, die
wir an Eiweißlösungen wahrnehmen, vor
allem von den ultravioletten Strahlen
erzeugt werden. Sichtbare Strahlen wer¬
den nur dann wirksam, wenn ein Farb¬
stoff als Sensibilisator zugegen ist. ■ Dann
werden diejenigen S.trahlen wirksam, die
Lichtreaktion der Eiweißkörper, Pflügers
Arch. Bd. 164 und Biochemische Wirkungen des
1 Lichtes, ebenda Bd. 170.
April
Die Therapie der Gegenwart 1921
125
ZU der Farbe des Farbstoffes komple¬
mentär sind.
. Das, was ich hier für das leblose Ei¬
weiß gefunden, war an lebenden Organis¬
men zum Teil schon festgestellt. Wir
wissen es schon aus den Arbeiten von
Tappeiner und seinen Schülern. Ihnen
war aufgefallen, daß -Infusorien bei sehr
großer Verdünnung gewisser Farbstoffe
zugrunde gingen, während sie manchmal
bei viel höherer Konzentration am Leben
blieben. Als Ursache stellte sich heraus,
daß dies davon abhing, ob gleichzeitig
Licht auf die Infusorien wirkte oder nicht.
Von einer großen Anzahl Farbstoffe wurde
dies festgestellt. Die Fluorescenz solcher
Stoffe erschien Bedingung. Im Dunkeln
sind solche Stoffe häufig völlig wirkungs¬
los. Sie wirken erst in Gegenwart von
Licht, sie werden nicht etwa wirksam,
weil sich im Licht eine Substanz bildet,
die giftig wirkt. Man bezeichnet diesen
Vorgang als optische Sensibilisation. Es
liegen schon ausgedehnte Versuche vor,
die zeigen, daß diese Sensibilisation auch
bei den Warmblütern Vorkommen kann.
Eosin ist ein vielfach erprobter Sensibili¬
sator. An diesem Farbstoff hat HerteU)
gezeigt, daß es die zur Farbe komplemen¬
tären Strahlen sind, die dabei wirksam
werden. Ein Farbstoff, der sich im Körper
bildet und der einen sehr intensiven
Sensibilisator darstellt, ist das Haemato-
porphyrin. Meyer-Betz®) hat dies
auch für den Menschen durch einen
Selbstversuch bestätigt.
Ganz besonders intensiv wirken auf
die Eiweißlösungen die ultravioletten
Strahlen, die im Tageslicht der Tiefebene
so gut wie nicht enthalten sind. Ihre
Wirkungen sind destruktuierend. Schon
wenn wir aus dem Tiefland ins Hochland
kommen und die Intensität der Strahlen
um X 300 iiii zunimmt, sehen wif Ent¬
zündungen der Haut auftreten, beim
Quarzlicht sehen wir solche Entzündungen
schon nach kurz dauernden Belichtungen.
Entziehen wir dem Quarzlicht durch
Vorschalten eines Glases die Strahlen
von weniger als X 300 so verliert es
fast vollständig die Fähigkeit, entzün¬
dungserregend zu wirken. Wir müssen
demnach zwei Arten von ultravioletten
Strahlen unterscheiden: die Strahlen von
X 400—300 /t/t und die von X 300—200
Die letzteren fehlen dem Sonnenlicht in
der Tiefebene fast vollständig, die ersteren
sind in ihm viel intensiver vertreten als
ö) Zschr. f. allgem. Physiol. 4—5.
. 6) D. Arch.f. klin. Med. Bd. 112, S. 476, 1913.
im Licht jeder künstlichen Lichtquelle.
Den ersteren hat man bis jetzt zu wenig
Beachtung geschenkt. Man hat sich nicht
klar gemacht, daß zwischen den sicht¬
baren und . den destruktuierend auf die
lebende Substanz wirkenden Strahlen
noch ein großer Spektralbereich liegt,
der biologisch besonders wirksam ist und
bei dem wir die heilenden Wirkungen des
Lichtes vor allem zu suchen haben.
Wenn wir die Lichtstrahlen nach ihren
Wirkungen auf die lebende Substanz
einteilen wollen, so müssen wir vier
Arten unterscheiden:
1. die ultraroten: sie wirken auf die
Moleküle, sie erhöhen deren Schwin¬
gungen und steigern die Temperatur,
in die Moleküle selbst vermögen sie
nicht einzudringen, chemische Ver¬
änderungen werden durch diese Strah¬
len nicht erzeugt;
2. die sichtbaren: von diesen wirken
auf die lebende Substanz diejenigen
chemisch, die durch einen Farbstoff,
der mit dem Plasma der Zelle eine
innige Verbindung bildet, absorbiert
werden. Es sind dies die Strahlen, die
zu der Farbe komplementär sind.
Die übrigen Strahlen aus diesem
Wellenlängenbereich vermögen nur
thermisch die lebende Substanz zu
beeinflussen;
3. die ultravioletten von etwa X 400 bis
gegen X 300 mr. sie wirken direkt
chemisch auf die lebende Substanz;
sie vermögen ohne Vermittlung eines
Sensibilisators in das Molekül einzu¬
dringen und dasselbe zu verändern;
sie sind biologisch besonders wirksam;
4. die ultravioletten Strahlen von weniger
als X 300 ^i(i\ sie dringen auch in das
Molekül, sie bewirken lebhafte chemi¬
sche Veränderungen, sie wirken
destruktuierend auf die lebende Sub¬
stanz. Der Aufbau der lebenden Sub¬
stanz wird zerstört. Die Veränderun¬
gen, die diese Strahlen erzeugen, kann
der Organismus nicht mehr ausnützen.
Das Gewebe geht da, wo sie in erheb¬
licher Intensität einwirken, zugrunde.
Aus diesen Untersuchungen ersehen
wir, wie das Licht im allgemeinen auf
die lebende Substanz einwirkt. Können
wir solche Wirkungen des Lichtes auf
unseren Körper im speziellen feststellen?
An der Linse des Auges glaube ich diesen
Prozeß zuerst genauer erkannt zu haben 7).
Mit zunehmendem Alter verhärtet sich
’) M. m. W. 1914, Nr. 34.
Die Therapie der Gegenwart 1921
April
126
der Linsenkern. Er absorbiert am meisten
ultraviolettes Licht. Auf Kosten der
leichtlöslichen Eiweißkörper bilden sich
dort schwerer lösliche, die Linse verliert
dadurch ihre Accommodationsfähigkeit,
wir werden weitsichtig. Dadurch, daß der
Kern der Linse verhärtet und in der
Peripherie die Linsenfasern durch be¬
ständig wechselnde Anspannung des Ac-
commodationsmuskels Verschiebungen er¬
leiden, kommt es zur Lockerung der
Linsenstruktur und mit der Zeit zu
Trübungen. Es kommt zur Bildung des
Altersstars. Die eigenartige Verteilung
der ultravioletten Strahlen in der Linse,
die mehr oder weniger homogene Struktur
derselben, die durch Licht bedingten Ver¬
änderungen des Kapselepithels beein¬
flussen den Prozeß. Die Wirkungen des
Lichtes auf die Linse müssen sich durch
das ganze Leben summieren, weil die
Linse nicht imstande ist, auf Lichtreize
zu reagieren, sie ist nerven- und gefäßlos.
Anders liegt es bei der Haut.Diese reagiert
lebhaft auf Lichtreize und doch bleiben
mit der Zeit Veränderungen bestehen.
Man vergleiche nur die Haut, die viel der
Lichtwirkung ausgesetzt ist, mit der¬
jenigen, die gewöhnlich vor Licht ge¬
schützt wird. Die Veränderungen der
Augenlinse sind mit diesen Veränderungen
der Haut in Analogie zu stellen.
Ultraviolette Strahlen wirken am
Auge auch auf die Netzhaut. Diese
Strahlen sind direkt nicht sichtbar. Sie
bewirken aber ebenso wie in der Linse
Fluorescenz in der Netzhaut. Von der
Hoeve^) hat gezeigt, daß diese Strahlen
imstande sind, gegen Ende des Lebens
auch in der Netzhaut Schädigungen zu
erzeugen. Er zeigte, daß sich die senile
Degeneration der Netzhautmitte bei sol¬
chen Menschen fand, die eine auffallend
klare Linse besaßen. Er fand einen ge¬
wissen Gegensatz zwischen sensiblem Star
und seniler Makuladegeneration. Er
erklärt dies aus der Heterogenität der
Linse. Eine sehr homogene Linse läßt
das Ultraviolett besser durch, sie ist
ein geringerer Schutz der Netzhaut als eine
heterogene, die letztere neigt mehr zur
Starbildung als jene.
Eigentümliche Sehstörungen sehen wir
bei den toxischen Amblyopien. Die Mittel,
die toxische Amblyopien erzeugen, absor¬
bieren erheblich im Ultraviolett. Das
legte den Gedanken nahe, daß es sich
bei diesen Erkrankungen um optische
®) V. Graefes Arch. f. Ophthalm. 98.
Sensibilisationen der Netzhaut handelt?).
Um dies zu prüfen, habe ich Kaninchen
Optochin und Methylalkohol in den
Rachen geträufelt, habe ihnen das eine
Auge lichtdicht geschlossen und das
andere Auge dem Tageslicht exponiert.
Auf den dem Licht ausgesetzten Auge
erhielt ich Veränderungen der Netzhaut
und des Sehnerven, ,an den dunkel ge-
gehaltenen Augen waren keine Verände¬
rungen festzustellen. Durch die Einver¬
leibung des Optochins und Methylalkohols
hatte Licht, dem wir uns sonst ungefähr¬
det aussetzen, die Fähigkeit erlangt, die
Netzhaut schwer zu schädigen. Meine
Vermutung wurde durch diese Versuche
bestätigt, bei den toxischen Amblyopien
handelt es sich um optische Sensibili-
sation der Netzhaut.
Das Licht vermag im Serumeiweiß
auf Kosten der leichtlöslichen Eiwei߬
körper schwererlösliche zu bilden. Auch
im Serumeiweiß vermögen Sensibilisa¬
toren, die sich im Körper bilden.oder ihm
mit der Nahrung zugeführt werden, diese
■Veränderungen zu beeinflussen. Das
hatten mir schon früher vorgenommene
Untersuchungen gelehrt, und ich hatte
auch schon früher^o) gezeigt, daß solche
Vorgänge beim Sonnenstich-Hitzschlag
eine Rolle spielen. Jetzt habe ich eine
Untersuchung über die Wirkung des
Lichtes auf das Blut abgeschlossen
in der ich zeigen konnte, daß das Licht
auch die Haemolyse und den Zerfall des
Blutfarbstoffes beeinflußt, und daß auch
dabei den Sensibilisatoren besonderer Ehi-
fluß zukommt. Eosm, Haematoporphyrin,
Optochin, Chinin, vermögen die Wirkung
des Lichtes auf die Haemolyse und die
Zersetzung des Blutfarbstoffes wesentlich
zu steigern.
Bei diesen Versuchen beschäftigte
mich besonders das Nitrobenzol. Während
des Krieges sind bei Arbeitern in Muni¬
tionsfabriken eigenartige Erkrankungen
beobachtet worden, die durch Nitrobenzol
erzeugt waren. Nitrobenzol absorbiert
sehr intensiv Ultraviolett, es wirkt als
mächtiger Sensibilisator auf das Blut im
Reagenzglas. Ich bin der Ansicht, daß
es auch im lebenden Körper in gleicher
Weise zur Wirkung gelangt. Die Zahl
der Erkrankungen bei Munitionsarbeitern
war im Winter gering und hat im Sommer
Wirkungen des Lichtes bei den toxischen
Amblyopien, Ztschr. f. Augenheilk. Bd. 43.
1®) Sonnenstich—Hitzschlag, M. m. W. 1915,
Nr. 29.
Ztschr. f. phys. u. diätet. Therapie, Bd. 24.
Die Therapie der Gegenwart 1921
April
127
stark zugenonimen. Koelsch, der diese
Erkrankungen eingehender bearbeitet hat,
nimmt an, daß die Wärme die starke
Zunahme der Erkrankungen bedingt hat.
Nach meinen Versuchen ist anzunehmen,
daß die erhöhte Lichtwirkung die Zu¬
nahme der Erkrankungsfälle im Sommer
verursacht hat. Meiner Überzeugung
nach handelt es sich bei den Nitrobenzol¬
vergiftungen auch um optische Sensibili-
sation des Blutes.
Nitrobenzol wirkt auch als Sensibili¬
sator auf die Netzhaut, bei derartigen
Munitionsarbeitern sind vielfach auch
toxische Amblyopien zur Beobachtung
gekommen.
Auch bei dem haemolytischen Ikterus,
dessen Aetiologie noch sehr im Dunkeln
liegt, wäre zu prüfen, ob nicht auch da
die optische Sensibilisation eine Rolle
spielt. Das Krankheitsbild der Nitro¬
benzolvergiftung ist diesem sehr ähnlich.
Bei der Behandlung der Malaria mit
Chinin erwähnten Ziemann und Nocht,
daß mehrfach nach Chinin Albuminurie
aufgetreten ist, die sich stets als Zeichen
beginnender Haemolyse herausstellte.
Chauffert und Ziemann beobachteten
bei Chininbehandlung zuweilen Urobili-
nurie, sie erklärten diese aus dem ver¬
mehrten Zerfall infizierter roter Blut¬
körperchen. Könnte nicht auch das
Licht bei Gegenwart von Chinin den ver¬
mehrten Zerfall der Blutkörperchen be¬
dingt haben?
Als Folgeerkrankung der Malaria wird
das Schwarzwasserfieber angesehen. Fast
ausschließlich wird die weiße Rasse davon
betroffen. Chinin wird bei Malaria all¬
gemein gebraucht, es ist ein ausgezeich¬
neter optischer Sensibilisator.. Könnte
es sich bei dem Schwarzwasserfieber nicht
auch um eine optische Sensibilisation
handeln? Die Frage ist von einer Seite
schon einmal aufgeworfen worden, von
anderer wurde dies bestritten, weil solche
Erkrankungen auch zu Zeiten vorkämen,
wo nicht die größte Sonnenglut herrscht.
Dieser Grund braucht nicht stichhaltig
zu sein. Nur die Strahlen an der Grenze
der Sichtbarkeit kommen für eine solche
Sensibilisation in Frage, denn nur diese
können bis zum Kapillarnetz der Haut ein-
dringen. Diese Strahlen aber sind infolge
der eigentümlichen Verteilung des Lichtes
durch die Atmosphäre bei leicht bedeck¬
tem Himmel in diffusem Tageslicht
stärker vertreten als im blauen Himmels¬
licht. Ohne genaueres Studium der
Lichtverhältnisse in den Tropen läßt
sich die Möglichkeit, daß das Schwarz¬
wasserfieber eine Sensibilisationserkran-
kung ist, nicht abweisen. Untersuchungen
mit dem oben erwähnten Apparat von
Dember wären geeignet, diese Frage zu
klären.
Aus der I. medizinisclieii Klinik der Universität Berlin (Direktor: Geh. Med.-Bat Prof. Dr.JHis).
Über „Lytophan‘S eine Phenylchinolindicarbonsäure.
Von Prof, D.r. F. Gudzent und cand. med. Toh. Kein.
Von der Firma C. A. F. Kahlbaum,
Adlershof, wurde uns zur klinischen Prü¬
fung eine Phenylchinolin-Dicarbonsäure
übergeben, von folgender Konstitutions¬
formel:
COOH
I I \=C,,HnNO,
\/\/
N COOH
Das Präparat unterscheidet sich von
dem bereits bekannten Atophan dadurch,
daß es eine Carboxyl-Gruppe mehr ent¬
hält, als die Phenylchinolin-Carbonsäure.
Es ist demnach zu erwarten, daß es auch
in seiner biologischen und therapeutischen
Wirkung dem Atophan ähnlich ist. Da
es aber mancherlei Vorzüge sowohl hin¬
sichtlich seiner Giftigkeit, als auch seiner
Bekömmlichkeit haben sollte, glaubten
wir das Präparat einer klinischen Prüfung
unterziehen zu dürfen. Die pharma¬
kologische Prüfung des Präparates wurde
von Dr. Joachimoglu vom pharmako¬
logischen Institut der Universität Ber¬
lin vorgenommen und ergab folgendes
Resultat:
,,Es wurde eine Lösung benutzt, die
3 % Dicarbonsäure in Sodalösung (2^/4 %
Soda) enthielt; die Lösung reagierte gegen
Lackmus ganz schwach alkalisch.
Frösche: Bei Injektion an Land¬
fröschen (25 g) in den Brustlymphsack
in Mengen von 15 bis 30 mg reiner Di¬
carbonsäure traten auch nach drei Tagen
keinerlei Symptome auf.
Bei Atophan beobachtete Starken-
stein^) nach Mengen von 20 mg Atophan-
Natrium erst erhöhte Reflexerregbarkeit
und dann Lähmung.
D Biochem. Zschr. Bd. 106, H. 416, S. 172
bis 189, 1920.
128
Die Therapie der Gegenwart 1921
April
Kaninchen: Bei Kaninchen mit
einem Körpergewicht von 1, 8 kg treten
bei subcutaner Injektion von 0,5 bis
1,0 g reiner Dicarbonsäure in der oben
erwähnten Sodalösung keinerlei, Sym¬
ptome hervor. Das Körpergewicht bleibt
unverändert, nahm sogar in einem Falle
in den nächsten Tagen noch zu. Ein
Kaninchen (1,76 kg) erhielt an einem Tage
in vier Injektionen insgesamt 2,4 g Di¬
carbonsäure. Auch hier traten keinerlei
Krankheitssymptome hervor.
Nach Starkenstein ruft 0,5 g Ato-
phan pro Kilogramm bei Kaninchen
Paresen hervor, die gleiche Dosis zwei bis
drei Tage hintereinander gegeben, führte
bei subcutaner Injektion zum Tode.
Hunde: 5,9 g bis 12 g Dicarbonsäure
in obiger Lösung Hunden mit einem
Körpergewicht von 6 bis 7 kg per os ge¬
geben, rufen keinerlei Symptome hervor,
ln einem Falle trat nach Applikation von
12 g sechs Stunden später Erbrechen auf.
Bei einem Hunde, der 24 g Dicarbonsäure
an einem Tage per os erhalten hatte, war
in den nächsten Tagen die Freßlust
geringer, das Körpergewicht nahm ab.
Andere Symptome traten nicht auf.
Nach Starkenstein rufen 1 bis 2 g
Atophan per os Hunden appliziert Er¬
brechen und ein bis zwei Stunden später
Paresen und allgemeine Lähmung hervor.
Zusammehfassend ist also zu sagen,
daß diese Substanz ganz erheblich weniger
giftig ist als das Atophan. Wenn auch
diese Versuche noch in mancher Richtung
vervollständigt werden müssen, so ge¬
statten sie doch den Schluß, daß auch
beim Menschen die untersuchte Dicarbon¬
säure in bezug auf Nebenwirkung sich
weniger different erweisen wird, als das
Atophan.''
Wir prüften nun zunächst die Ein¬
wirkung des Lytophan auf den Purinstoff¬
wechsel. Es wurden vier stoffwechsel¬
gesunde Patienten purinfrei ernährt
und ihnen dann an zwei aufeinander¬
folgenden Tagen je 3 beziehungsweise
4 g per os verabfolgt. In laufenden
Untersuchungen wurde die vierund-
zwanzigstündige Menge des Harnes, das
specifische Gewicht, die Phosphoraus¬
scheidung, der Gesamtstickstoff nach
Kjeldahl, Harnsäure- und Purinbasen
nach Krüger-Schmidt, und die Harn¬
säure im Blute nach Zondeck-Maase
bestimmt. Aus redaktionellen Gründen
geben wir nur die Harnsäure- und Purin¬
basenausscheidung wieder.
1. Patient: Bu. Ulcus ventriculi.
Urin.
Vorperiode: 0,354 g U (Mittelwert der
0,014 g Purinbasen tgl. Ausscheid.)
Versuchsperiode:
1. Tag: 0,646 g U = -}- 0,292 g U
0,019 g P = H- 0,005 g P
2. Tag: 0,641 g U = + 0,287 g U
0,019 g P = + 0,005 g P
3. Tag: 0,482 g U = + 0,128 g U
0,017 g P = + 0,003 g P
4. Tag: 0,619 g U = + 0,265 g U
0,023 g P = + 0,009 g P
= + 0,972 g U
= -j- 0,022 g P.
Blut-U. . in 100 ccm
Tag vor der Darreichung mittags 4,1 mg U
1. Tag nach Darreichung mittags 3,5 mg U
2. Tag nach Darreichung morgens 4,6 mg U
3. Tag nach Darreichung mittags 3,2 mg U
Demnach haben wir im Urin eine Mehraus¬
scheidung von 0,972 g U und 0,022 g Purinbasen.
Aus dem Blutbefund ist irgendein gesetzmäßiger
Gang nicht zu erkennen.
2. Patient: Bd. Ulcus ventriculi.
In diesem Falle konnten wir eine Mehraus¬
scheidung nicht beobachten; ob für diesen Pa¬
tienten die Menge des Präparates zu klein war
oder ob es von ihm nicht vorschriftsmäßig ge¬
nommen ist, läßt sich nicht entscheiden.
3. Patient: Ha. Ulcus ventriculi.
Urin.
Vorperiode: 0,292 g U, 0,019 g P
Versuchsperiode:
1. Tag: 0,299 g U = + 0,007 g U
0,020 g P = + 0,001 g P
2. Tag: 0,224 g U
0,015 g P
3. Tag: 0,356 g U = -f 0,064 g U
0,017 g P
4. Tag: 0,295 g U = + 0,003 g U
0,020 g P = -f 0,001 g P
5. Tag: 0,392 g U = -f 0,104 g U
0,022 ,g P = -f 0,003 g P
= + 0,178 g U
= -I- 0,005 .g P.
Blut-U. in 100 ccm
Tag vor der Darreichung mittags 5,0 mg U
1. Tag nach Darreich, d. Mittels mittags 4,0 mg U
„ ,, „ „ abends 3,9 mg U
2. „ „ „ „ „ morgens 4,1 mg
2. „ „ „ „ „ mittags 4,5 mg U
2. ,, ,, ,, ,, abends 2,6 mg U
3. ,, ,, ,, j, ,, mittags 2,8 mg U
3. „ „ „ „ „ abends 2,5 mg U
Auffällig ist, daß dieser Patient, ohne daß ein
sonstiger Versuchsfehler in Frage kommt, erst
nach zwei Tagen mit einer Mehrausscheidung auf
das Präparat antwortet. Vom Blut gilt auch
hier dasselbe wie beim ersten Patienten.
4. Patient: Tp. Pankreas Ca.
. Urin.
Vorperiode: 0,361 g U, 0.020 s- P
Versuchsperiode:
1. Tag: 0,493 g U = + 0,132 g U
0,025 g P = -I- 0,005 g P
2. Tag: 0,360 g U
0,052 g P = + 0,031 g P
3. Tag: 0,392 g U = -f 0,031 g U
0,021 g P = + 0,001 g P
4. Tag:i 0,456 g U = -f- 0,095 g U
0,016 g P =
= -4- 0,258 g U
= + 0,038 g P.
ApiHlV. ^ ■ b%.Therapie 129
Bliit-U. in 100 ccm
Tag vor d. Darreich, d. M. mittags 1,5 mg U
1. „ nach „ „ „ „ .mittags 3,5 mg U
1. „ „ • „ „ „ „ abends 2,2 mg U
2. „ „ „ „ „ „ morgens 2,8 mg U
2. „ „ „ „ „ „ mittags 4,0-mg U-
2. „ „ „ . „ „ „ abends 2,7 mg U
3. „ „ „ „ „ „ mittags 2,5 mg U
3. „ „ „ „ „ „ abends 2,9 mg U
Mit Ausnahme vom zweiten Patienten
Bd. konnten wir stets eine Mehraus¬
scheidung von Harnsäure und Purinbasen
im Harn feststellen. Im Blut dagegen
sahen wir mit Ausnahme von Patient 4,
der eine Erhöhung zeigte, keine deutlichen
Ausschläge.
Es ist nicht unsere Absicht, auf die
Theorie der Wirkung der Phenylchinolin-
Dicarbonsäure einzugehen, wir möchten
aber hervorheben, daß die Wirkung auf
den Purinstoffwechsel deutlich in Er¬
scheinung tritt.
Die klinische Prüfung nahmen wir in
einem ziemlich weitgesteckten Rahmen
vor, indem wir das Präparat nicht nur
Gichtkranken und Rheumatikern gaben,
sondern auch Patienten mit allerlei
Schmerzen anderer Ätiologie. Wir prüften
den Einfluß des Präparates auf Gicht,
Migräne, Rheumatismus, Neuralgie, Lum¬
bago und Arthritiden aller Art. .
Das Präparat wurde in der von uns
verabfolgten Dosis beschwerdelos ver¬
tragen, nur zwei Patienten klagten über
etwas Magendruck.
Um die therapeutische Wirkung des
Lytophan rein hervortreten zu lassen
und Täuschungen, verursacht durch spon¬
tane Besserung, möglichst vorzubeugen,
gaben wir zunächst das Präparat — in
einer Dosis von 3 bis 4 g täglich—nur zwei
Tage lang. Wir achteten vornehmlich
darauf, ob die Schmerzen gelindert oder
beseitigt wurden. Wir behandelten zu¬
nächst 21 Patienten und hatten in diesem
Sinne einen ausgesprochenen Erfolg bei
14 Patienten, die an Migräne, Rheumatis¬
mus, Neuralgie, . Gicht, Lumbago, Ar¬
thritis und Neuritis litten. Bei sieben
Patienten, die Gicht, Migräne, Rheuma¬
tismus, Arthritis deformans, Arthritis
chronica und Polyarthritis chronica hatten,
sahen wir keinen Erfolg.
Von einer Wiedergabe der Kranken¬
geschichten müssen wir aus redaktionellen
Gründen Abstand nehmen.
Nachdem wir uns so von der thera¬
peutischen Wirkung überzeugt hatten,
gaben wir einer Patientin im Verlauf
von acht Wochen in Pausen von drei,
dann vier, schließlich von fünf Tagen
je zwei Tage lang, im ganzen 60. g
Lytophan. Die Patientin litt an Ar¬
thritis deformans. Wir konnten irgend¬
eine schädliche Wirkung trotz der hohen
Dosis nicht feststellen, vielmehr bemerk¬
ten wir eine bedeutende Abschwellung
der Gelenke, auch gab Patientin an, daß
sie, nachdem sie ungefähr acht Tage mit
dem Mittel behandelt war, keine Schmer¬
zen mehr hätte.
Auf Grund unserer Beobachtungen
hat sich also das Präparat als wirksam
bei Gicht, subacutem Rheumatismus,
Neuralgie und Migräne erwiesen, während
bei dem chronischen Gelenkrheumatismus
in vielen Fällen, wie dies ja auch bei
anderen Mitteln der Fall ist, eine prompte
schmerzlindernde Wirkung nicht immer
eintrat. Da wir das Mittel aus den schon
vorher angeführten Gründen nur einmal,
und zwar zwei Tage hindurch ge¬
geben hatten, muß es einer späteren
Prüfung Vorbehalten bleiben, ob auch
hier nicht mit größeren Dosen Erfolge zu
erzielen sind. Die von uns mitgeteilte
eine Beobachtung ermutigt zu derartigen
Versuchen, zumal einer so ausgedehnten
Medikation bei der beobachteten guten
Bekömmlichkeit und geringen Giftigkeit,
wodurch das Lytophan sich von ähnlichen
Präparaten so vorteilhaft heraushebt,
keine Bedenken entgegenstehen.
ÜberTerpichin bei entzündlichen Erkrankungen der Harnorgane v.
•Von Dr. Wilhelm Karo (Berlin.)
M. H.! Die im Jahre 1917 erschienene
Arbeit Klingmüllers über die Behand¬
lung von Entzündungen und Eiterungen
durch Terpentineinspritzungen rollt ein
uraltes Problem auf, das schon in der Medi¬
zin des 18. Jahrhunderts eine bedeutende
Rolle gespielt hat, ich meine das Problem
1) (Vortrag, gehalten in der Berliner Urolö-
gisehen Gesellschaft am 1. Februar 1921).
2) D. m. W. 1917, Nr. 41.
der Ableitung der Krankheit in Form von
Haarseilen, Fontanellen, Moxen oder Fixa-
tionsabscessen.
Wie dieses Problem im Laufe der
Jahrhunderte trotz aller grundlegenden
Aenderungen im medizinischen Denken
immer und immer wieder die Therapie zu
beeinflussen wußte, das zu erörtern liegt
nicht im Rahmen meiner heutigen Aus¬
führungen, ebensowenig will ich mich auf
17
130
Di^' Therapie def Gegenwart 192^1
eine Besprechung der schon recht be¬
trächtlichen Literatur über die Terpentin¬
ölbehandlung einlassen. Ich verweise
vielmehr lediglich auf die vortreffliche
Arbeit von Becher aus der Bruckschen
Klinik in Altona (Dermat. Wschr. 1920,
Bd. 71), in der Sie alle historischen und
literarischen Daten kritisch besprochen
finden.
Vornehmlich Dermatologen und Gy¬
näkologen haben sich mit Eifer und oft
bemerkenswertem Erfolge der Terpentin-
ölbehandluhg angenommen, während von
urologischer Seite, wenn ich von meinen
eigenen Arbeiten absehe, bisher keinerlei
nennenswerte Veröffentlichungen vor¬
liegen.
Der anfängliche Enthusiasmus, mit
dem die oft ganz wunderbaren Erfolge der
Terpentinölbehandlung in Fällen von in¬
fektiösen Hautkrankheiten sowie bei der
Gonorrhöe begrüßt worden waren, wich
nun bald einer gfößeren Skepsis, als sich
herausstellte, daß die Klingmüllerschen
Terpentininjektionen in einer großen An¬
zahl von Fällen sehr schwere, unangenehme
Nebenerscheinungen bewirkten. Aus¬
gedehnte, hartnäckige Infiltrate, die die
Kranken oft jeglicher Bewegungsfähig¬
keit beraubten, Abscesse, hohes Fieber
sowie Lähmungen traten durchaus nicht
selten im Anschluß an die Injektionen auf,
so daß viele Autoren die Terpentinein¬
spritzungen wieder aufgaben. So schrieb
Poehlinann (Med. Klin. 1919): ,,Es ist
bedauerlich, daß diese zweifellos sehr wirk¬
same Methode wenigstens in ihrer jetzigen
Gestalt zur Behandlung der Bartflechte
nicht empfohlen werden kann.'‘
In dem Bestreben, die zweifellos über¬
aus wirksame Terpentinöltherapie für
unsere Kranken weiter nutzbar zu machen,
suchte ich den Ursachen dieser so lästigen
Nebenerscheinungen nachzugehen und
konnte durch eingehende Kontrollver-
suche einwandsfrei feststellen, daß die
oben genannten Komplikationen lediglich
durch Verunreinigung des im Handel
befindlichen Terpentinöls bedingt werden.
Langwierige chemische Versuche mit
den verschiedensten Terpentinölen des
Handels ergaben die große Verschieden¬
heit dieser Präparate und es stellte sich
heraus, daß nur ein völlig gereinigtes und
säurefreies Öl, das keine monocyklischen
Terpenkohlenwasserstoffe enthalten darf,
für unsere Zwecke brauchbar ist.
Als Frucht dieser ausgedehnten Ver¬
suche wurde das Ter pich in dargestellt.
In diesem Präparat besitzen wir ein
April
absolut reines, oxydfreies Terpentinöl,
dessen Wirkung durch Kombination mit
Chinin und Anästhesin gesteigert ist. Seit
zwei Jahren verwende ich ausschließlich
Terpichin wohl fast täglich und habe nie¬
mals irgendwie nennenswerte unange¬
nehme Nebenwirkungen im Anschluß an
die Injektionen auftreten sehen. Die Ein¬
führung des Terpichins bedeutet aber
auch eine Vereinfachung der Technik.
Denn während das gewöhnliche Terpentin¬
öl nach Klingmüllers eigenen Angaben
zur Vermeidung von Abscessen mit langer
Nadel auf die Knochenfascie deponiert
werden muß, kann das Terpichin ohne
jeden Schaden für den Kranken in belie¬
biger Tiefe intraglutäal eingespritzt wer¬
den. Mit fortschreitender Erfahrung habe
ich mich auch davon überzeugt, daß es
vollkommen gleichgültig ist, ob einmal
bei der Injektion, zufällig ein Blutgefäß
getroffen wird. Daher habe ich die ur¬
sprünglich geübte Vorsicht, nach Ein¬
stechen der Nadel die Spritze abzunehmen,
um zu sehen, ob etwa aus der Kanüle
Blut tropft, wieder aufgegeben. In der
Regel werden die Injektionen jeden zwei¬
ten Tag gemacht, doch habe ich auch,
namentlich bei klinischen Kranken, in
Fällen, in denen ich eine intensivere
Wirkung erstrebte, eine Woche hindurch
täglich injiziert, ohne daß es zu Intoxi¬
kationserscheinungen oder lästigen Neben-
wirljungen gekommen wäre.
Über meine praktischen Erfahrungen
mit der Terpichinbehandlung möchte ich
mich in Ihrem Kreise heute kurz fassen,
denn einmal setze ich meine mehrfachen
Publikationen über dieses Thema als
Ihnen bekannt voraus, dann aber ver¬
weise ich auf meine jüngste Arbeit in der
,,Zeitschrift für Urologie^* Bd. 15, H. 1,
die bereits abgedruckt war, als die Auf¬
forderung zu meinem heutigen Vortrag
seitens des Herrn Schriftführers an mich
erging.
Als Basis für die Diskussion möchte
ich meine praktischen Erfahrungen in
folgende Sätze zusammenfassen:
Die Terpichintherapie ist indiziert in
allen Fällen von entzündlichen Erkran¬
kungen der Harn- und Sexualorgane, in
denen ein operativer Eingriff nicht in
Frage kommt. Zunächst also bei der
Gonorrhöe und deren Komplikationen.
Oft gelingt es, durch nur wenige Terpichin-
injektionen den eitrigen Ausfluß aus der
Harnröhre auf ein Minimum zu reduzieren,
in vereinzelten Fällen ihn sogar voll¬
kommen zu unterdrücken. Indessen ist
• Apm
Die Therjipie der Gegenwart 1921
^31
die Terpichintherapie keine Kaüsalthera-
pie der Gonorrhöe, sie ist lediglich eine
sehr wertvolle Unterstützung der all¬
gemein üblichen lokalen antiseptischen
respektive internen^) Behandlung, aber
als solch eüberaus wirksam. Denn durch
systematische klinische Kontrollversuche
konnte festgestellt werden, daß unter dem
Einfluß des Terpichins der Verlauf der
Gonorrhöe ein milderer und kürzerer ist,
als in den Fällen, die lediglich der lokalen
Therapie unterworfen werden. Kompli¬
kationen der Gonorrhöe scheinen durch
eine systematische Terpichintherapie ver¬
meidbar zu sein. Dies gilt sowohl für die
Gonorrhöe des Mannes, als auch für die
der Frau.
Etwa schon bestehende Komplika¬
tionen, wie Epididymitis, Prostatitis, Cysti-
tis colli, Spermatocystitis usw., werden in
kurzer Zeit zur Rückbildung gebracht.
Besonders hervorheben möchte ich die
günstige Beeinflussung der Polyarthritis
gonorrhoica, die oft schon durch wenige
Terpichininjektionen zu kupieren ist.
Eklatanter noch als bei der Gonorrhöe
ist der günstige Einfluß der Terpichin¬
therapie bei der Coliinfektion der Harn¬
wege. Sowohl die Colicystitis der Kinder
wie die Colipyelitis der Erwachsenen
reagiert überraschend prompt auf die
Terpichininjektionen. Ebenso bildet die
chronische Cystitis, namentlich die Bla¬
sentuberkulose, ein dankbares Objekt für
die Terpichintherapie. Selbstverständlich
muß vor Einleitung der Behandlung eine
exakte urologische Diagnose gestellt wer¬
den, die festzustellen hat, ob nicht die
Cystitis lediglich ein Symptom respektive
eine Folge einer einseitigen descendieren-
den Niereneiterung ist. Man wird also
eine einseitige Nierentuberkulose zunächst
exstirpieren und erst nach der Nephrekto¬
mie, falls erforderlich, die restierende
Blasentuberkulose durch Terpichin zu be¬
einflussen versuchen. Ebenso wird man
Konkremente oder Tumoren chirurgisch
angreifen und abwarten, ob nicht schon
durch die Operation eine Ausheilung
der Sekundärinfektion der Blase zu er¬
reichen ist.
Welche Wirkungen üben nun die
Terpichininjektionen aus? Nur ganz
Anmerkung bei der Korrektur: Neben dem
in meinen früheren Arbeiten genannten Buccos-
perin verordne ich neuerdings mit ausgezeich¬
netem Erfolge den Eukystol-Tee, der infolge
seiner eigenartigen Zusammensetzung nicht nur
diuretisch, sondern auch harndesinfizierend und
reizmildernd wirkt.
selten kommt es bei längerer Terpichin¬
therapie zu subjektiven Beschwerden, wie
allgemeiner Mattigkeit, Schlaffheit und
Schlaflosigkeit. Im Gegenteil tritt meist
eine auffallende Besserung des Allgemein-
iDefindens und eine Steigerung des Körper¬
gewichts ein. Objektiv können wir stets
zweierlei feststellen: Die erste Folge ist
eine deutliche Steigerung der Diurese,
und zwar handelt es sich nicht nur um
eine vermehrte Wasserausscheidung durch
die Nieren, sondern auch um eine erhöhte
Salzausscheidung, denn die Konzentra¬
tion des Harns nimmt nicht prozentualiter
der Steigerung der. Harnmenge ab. Die
Steigerung der Harnmenge dauert bei
einzelnen Kranken bis 24 Stunden, sie
tritt bei gesunden Nieren schon etwa eine
Stunde nach der Injektion auf, während
bei Nephritikern eine Verzögerung einzu¬
treten pflegt. Meine ursprünglichen Be¬
denken, bei Nephritikern Terpichininjek¬
tionen zu machen, habe ich bald auf¬
gegeben, nachdem ich mich davon über¬
zeugen konnte, daß niemals eine Exacer¬
bation des nephritischen Prozesses als
Folge der Injektion auftrat. Im Gegen¬
teil habe ich oft den Eindruck gehabt,
als ob in manchen Fällen das Terpichin
die Nephritis günstig zu beeinflussen
vermag. Diese Frage bedarf aber noch
weiterer "Klärung.
Die zweite Folge der Terpichininjek-
tion ist eine ausgesprochene Hyperleuko-
cytose, die schon eine halbe Stunde nach
der Injektion nachweisbar ist und meist
24 Stunden andauert und in einzelnen
Fällen eine Zunahme der Leukocyten bis
auf aas Dreifache der. normalen Menge
bedingt.
Versuchen wir nun, uns über, die
Wirkungsweise des parenteral einverleib¬
ten Terpichins eine Vorstellung zu machen:
Handelt es sich bei der ganzen Terpichin-
theiapie um das eingangs erwähnte Pro¬
blem der Ableitung der Krankheit, oder
hat das Terpichin eine specifisch bacteri-
cide Eigenschaft? Wirkt etwa das Terpi¬
chin analog den Vaccinen durch Bildung
von Antikörpern? Beruht etwa das
Geheimnis der Terpichintherapie auf der
durch die Injektion bedingten Hyper-
leukocytose, die den Organismus im
Kampf gegen die Bakterien unterstützt?
All diese Anschauungen finden in der
Literatur ihre Vertreter, ohne überzeu¬
gend wirken zu können, wenn man sich
vergegenwärtigt, bei welcher Menge von
untereinander total verschiedenen Krank¬
heitsgruppen die Terpichintherapie sich
17*
iä2
April
Dl« Therapie der Gegenwart 1921
als wirksam erwiesen hat. Abgesehen von
den verschiedenartigsten parasitären und
exsudativen Hautkrankheiten sind posi¬
tive Erfolge bei gynäkologischen Krank¬
heiten berichtet, zu denen sich, als ein
weiterer Indikationskreis, die vielen ent¬
zündlichen Prozesse im System der Harn-
und Sexualorgane gesellen. Ebenso liegen
Erfolge bei entzündlichen Erkrankungen im
System der Gallenwege vor. Weiterhin wira
von einwanafreier Seite über auffallende
Heilungen des chronischen Gelenkrheuma¬
tismus berichtet. Auch bei der Gicht, der
Ischias und Lumbago liegen positive
Resultate vor. Die Tuberkuloseärzte be¬
richten über günstige Resultate in Fällen
von Bronchiektasen und Kavernen, hier
soll das eitrige fötide Sputum oft über¬
raschend schnell sich verdünnen respektive
ganz sistieren; und schließlich wird von
zahnärztlicher Seite berichtet, daß schwere
Fälle von Stomatitis ulcerosa oft fast
specifisch auf Terpichin reagieren.
Aus dieser etwas summarischen Zu¬
sammenstellung ergibt sich also, daß wir
es bei der Terpichintherapie weder mit
einer bestimmten Gruppe von Organen,
noch mit einer eng umschriebenen Klasse
von Krankheitserregern zu tun haben.
Es kann s’ch also nicht um eine specifi-
sche Therapie handeln, weder im organo-
tropen noch im bakteriotropen Sinne.
Es drängt sich daher der Gedanke auL
die Wirkung des Terpichins in Parallele
zu stellen mit der anderer parenteral ein-
verleibter Medikamente, speziell mit der
Proteinkörpertherapie. Bei dieser wird
bekanntlich Milch oder deren Surrogate
wie Caseosan usw. injiziert, während in
unserem Falle es sich um ein pharma¬
kologisch eng umschriebenes Produkt wie
Terpentin handelt. Der Effekt ist biolo¬
gisch jedenfalls der nämliche. Wenn wir
uns nämlich die Theorie Weichardts
zu eigen machen, kommt es durch die
Injektion zu einer parenteralen Verdauung
zerfallener Eiweißkörper, die auf den
Organismus als Protoplasmaactivierung,
d. h. als Steigerung der Leistungsfähigkeit
der verschiedensten Organsysteme nach
verschiedenen Richtungen hin wirkt. Es
kommt also zu einer Mobilisierung aller
im Organismus schlummernden Abwehr¬
möglichkeiten, als deren klinischen Aus¬
druck wir in unserem Falle die Hyper-
leukocytose und die Steigerung der Diu¬
rese anzusprechen haben! Es handelt sich
also um eine omnicelluläre biologische
Therapie, deren Wirksamkeit in letzter
Linie abhängig ist von der Reaktions¬
fähigkeit des Gesamtorganismus. Wenn
wir von diesem Gesichtspunkt aus an die
Bewertung der Terpichintherapie heran-
gehen, werden wir uns auch durch Mi߬
erfolge, die ja, wie bei jeder Therapie, un¬
ausbleiblich sind, nicht abhalten lassen,
diese Therapie immer und immer wieder
zu versuchen und die Grenzen ihrer
Leistungsfähigkeit zu studieren. Jeden¬
falls glaube ich, daß man auch bei größter
Skepsis die parenterale Terpichintherapie
als eine wertvolle Bereicherung unserer
therapeutischen Hilfsmittel auch in der
Urologie bewerten wird.
Über psychogenen Fluor albus.
Von Dr. Bunnemann, Ballenstedt (Harz).’
Im ersten Bande der Zschr. f. Hypnot.
(1992/93) berichtet Moll über einen von
Renterghem (Clinique de Psychothera¬
pie suggestive, Compte rendu bisannuelle
1887—1889) beobachteten Fall von Fluor
albus, den letzterer in der Hypnose geheilt
haben will.
,,Es handelt sich um einen Fall, wo Erosionen,
an der Cervix Uteri, Endometritis cervicalis und
schwere Leukorrhoe Vorlagen. Die anatomischen
Veränderungen wurden durch spezialistische Be¬
handlung gebessert, aber der Ausfluß blieb be¬
stehen, ja er nahm zu. Die Kranke klagte außer¬
dem darüber, daß sie von der Vorstellung be¬
herrscht würde, das Schicksal ihrer Mutter teilen
zu müssen, die an Gebärmutterkrebs gestorben
war. Diese Zwangsvorstellung konnte durch
Suggestion im somnambulen Zustande entfernt
werden. Nun wird als Schlußsatz erwähnt, daß
einige Sitzungen genügten, um die Krankheit
vollständig zu heilen. Da als Krankheit hier
nicht zuerst die Zwangsvorstellung, sondern eine
Uteruskrankheit angegeben ist, so besagt dieser
Schlußsatz eigentlich, daß auch die letztere
Affektion geheilt wurde und der Ausfluß schwand.
Indessen würde ich, auch wenn dies der Fall war,
nicht ohne weiteres die Suggestion als Ursache
hiervon betrachten, wenn nicht genauere weitere
Mitteilungen über die Dauer der Heilung vor¬
liegen. Ich halte es nicht für unmöglich, daß
lediglich der Nachlaß der lokalen Behandlung
eine Verminderung des Ausflusses bewirkte, zu¬
mal da mir Fälle bekannt sind, wo die sogenannte
lokale Therapie bei Schleimhautaffektionen nur
Unheil anrichtete.“
Ist eine Erkrankung sicher durch Sug¬
gestion zu beseitigen, so kann man sie
eben so sicher als psychogen ansprechen.
Man m.uß Moll recht geben, daß der er¬
wähnte Fall, so wie ihn Renterghem
berichtet hat, nicht als sicher psychogen
angesehen werden kann. Es gibt in der
Literatur noch einige Hinweise auf eine
mögliche suggestive Beseitigung des Fluor
April
Die Therapie der Gegenwart. 1921
133
albus, auf die wir noch zurückkommen
werden, aber auch an ihnen ist kein bin¬
dender Beweis für ihre Psychogenese er¬
bracht. Ich habe nun durch Jahre einen
Fall von Fluor albus beobachtet,' der
zwölf Jahre allen möglichen gynäkologi¬
schen Mitteln widerstanden hatte, als es
mir gelang, ihn in einer Hypnose völlig
zu beseitigen. Derselbe blieb dann ein
ganzes Jahr fort, um dann im Anschluß
an eine sexuelle Erregung im Traum
wieder aufzutreten, verschwand abermals
auf eine hypnotische Suggestion und,
nachdem er wieder über ein halbes Jahr
sich nicht gezeigt hatte, gelang es mir, den¬
selben in einer hypnotischen Suggestion
in alter Stärke wieder hervorzurufen.
In diesem Falle müssen wohl die Be¬
denken Molls und müssen, meine ich,
alle wissenschaftlichen Bedenken zurück¬
treten, wenn man die Objektivität der
Beobachtung nicht anzweifeln will.
Frau E. B. aus H. kam 1916 in mein Sana¬
torium mit der Diagnose: „Depressionszustand,
der eine Reihe hysterischer Momente in sich
birgt.“ Sie war Mitglied einer disponierten
Familie, der besondere Grund aber ihrer Er¬
krankung lag wohl darin, daß ihr Mann an einer
luetischen Optikusatrophie seit zwölf Jahren er¬
krankt war, und die Pflege des unverträglichen,
schwer zu behandelnden Mannes in der bewußten
Erwartung einer kommenden Paralyse sie zer¬
rieben hatte. Die Patientin blieb zunächst in
meinem Sanatorium bis zum 4. Dezember 1916
und gesundete, ohne daß Hypnose angewandt
wurde, soweit, daß ein Versuch, sie auf Wunsch
ihrer Angehörigen nach Hause zurückkehren zu
lassen, möglich erschien. Aber schon auf der
Reise bekam sie einen Weinkrampf, offenbar aus
Angst, daß sie den alten Verhältnissen nicht ge¬
wachsen sein könne. Am 27. April 1918 kam sie
wieder in einem ganz traurigen Zustande, gewöhnt
an Pantoponeinspritzungen und täglich öftere
Hypnosen. Ich möchte mich gleichwohl ganz an
das einzelne Krankheitssymptom halten und, nur
erwähnen, daß es mir wohl gelang, ihr in einiger
Zeit ihre Medikamente abzugewöhnen, daß es
mir aber nicht ratsam erschien, bei der großen
Schwäche, welche bestand, und der großen Er¬
regung, welche keinen natürlichen Schlaf auf-
kommen ließ, die abendlichen Schlafhypnosen
auszusetzen.
Der Fluor, an dem sie schon bei ihrem ersten
Hiersein gelitten hatte, bestand in mäßigem
Grade weiter, als die Patientin wiederkam. Am
6. März 1919 berichtete mir unsere Schwester,
daß derselbe sich sehr verschlimmert habe. Am
8. abends klagte die Kranke selbst über den
starken Ausfluß und sagte, daß sie in den letzten
Tagen viel an ihren Mann habe denken müssen,
der sich damals mit den Zeichen der progressiven
Paralyse in der Anstalt befand. Ich hypnotisierte
sie nun, wie alle Abend und sagte ihr, daß ihr
Ausfluß mit ihren Gedanken an ihren Man» zu¬
sammenhinge, sie würde sich beruhigen und der
Ausfluß würde am nächsten Tage verschwunden
sein. Am nächsten Tage berichtete mir die
Kranke, daß der Ausfluß besser geworden sei,
und am Nachmittage, daß er ganz verschwunden
sei. Darauf erzählte sie nun, daß ihr in einer der
vorangehenden Nächte, in deren Gefolge sich der
Ausfluß verschlimmert habe, dreimal Männer,
ihr Mann und andere, .im Traume mit sexuellen
Gelüsten genaht seien. Am selben Abend sagte
ich ihr in der Hypnose, daß, wenn der wollüstige
Traum, den sie einige Nächte vorher gehabt habe,
mit irgendwelchen Erlebnissen Zusammenhänge,
ihr diese einfallen würden und daß sie mir die¬
selben am anderen Morgen erzählen würde. Es
ist das eine von Kohnstamm angegebene sehr
verläßliche Methode, Angstkomplexe aufzu¬
decken und beim Patienten selbst eine Wieder¬
erinnerung (Palimnese) von im Unbewußten
fixierten ängstlichen Erlebnissen zu erzeugen, auf
welche viele Psychotherapeuten großen Wert
legen. Mir selbst will die Palimnese an sich nicht
so wertvoll erscheinen, als daß der ideelle Inhalt
einer im Unbewußten fixierten Angst dem Arzte
dadurch bekannt wird und er nun die Möglichkeit
hat, durch geeignete Gegenvorstellungen darauf
einzuwirken. Durch die einfache Wiedererinne¬
rung läßt sich meiner Ansicht nach ein Angst¬
komplex nicht auslöschen. Am 10., morgens,
erzählte mir nun die Patientin, daß ihrem Manne
vor 12 Jahren in Tölz vom Arzte wegen seiner
überstandenen Geschlechtskrankheit jeder ge¬
schlechtliche Verkehr verboten sei. Er habe ihr
das mitgeteilt, habe aber gleichwohl nicht auf¬
gehört, sie zu bitten, und auch ihr selbst sei es
nicht möglich gewesen, wirksam zu widerstehn.
Jedesmal aber, wenn es zum geschlechtlichen
Akte gekommen sei, habe sie große Angst gehabt.
Der Hausarzt habe ihr mehrfach Mittel gegeben
zur Verhütung der Empfängnis, aber gleichwohl
sei sie wieder schwanger geworden, und die Angst
um die Gesundheit des werdenden Kindes habe
sie nicht mehr verlassen. Zunächst habe der
Arzt davon gesprochen, daß er ihr das Kind
nehmen wolle, dann aber habe er gesagt, daß sie
die Schwangerschaft geduldig austragen müsse,
und sie habe sie in ständiger Angst ausgetragen.
Schon in Tölz habe sich der Ausfluß gezeigt,
der besonders in der ersten Zeit stark gewesen
sei. ln der Heimat habe zuerst der Hausarzt und
dann ein Spezialarzt sie örtlich behandelt, zu¬
nächst mit Ausspülungen, dann aber auch mit
Beizungen. Noch im Jahre 1917 sei in einer
Frauenklinik wegen starker Blutungen und
wegen des Ausflusses eine Auskratzung der Gebär¬
mutter vorgenommen, aber beides habe sich
nachher in alter Stärke wieder eingestellt. (Auch
die Menstruationsanomalien ließen sich hier in
der Hypnose regeln.) Sie habe seitdem dauernd
Ausspülungen machen müssen.
Nach diesen Kundgebungen und nach dem
Erfolge der Suggestion konnte die Psychogenese
des Krankheitssymptomes nicht mehr zweifelhaft
sein. Um aber allen Zweifeln begegnen zu können,
um zu zeigen, daß unmöglich zufällig mit der
hypnotischen Einwirkung das Auf hören des Aus¬
flusses zusammengefallen sei, kam ich nach mehr
als Jahresfrist darauf, nach dem Beispiele von
Nonne 1) und Kohnstamm, welch letzterer Fieber
in der Hypnose beseitigt und um Irrtümer zu
vermeiden, auch in der Hypnose wieder hervor¬
gerufen hatte (M. Friedmann und 0. Kohn¬
stamm’: Zur Pathogenese und Psychotherapie
bei Basedowscher Krankheit, zugleich ein Beitrag
zur Kritik der psychoanalytischen Forschungs-
richtung; Zsch. f. d. ges. Neurol., Bd. 23, Heft 4/5,
S. 379), den Ausfluß in der Hypnose wieder-
’•) Nonne: Referat auf d. 8. Jahresvers. il.
Gesellschaft d. Nervenärzte.
134
Die Therapie der- Gegenwart 1921
April
erstehen zu lassen.. Nachdem, wie schon gesagt,
nach Jahresfrist derselbe wieder aufgetreten und
in der Hypnose wieder beseitigt war, hatte er sich
über ein halbes.Jahr abermals nicht gezeigt. Am
15. Oktober 1920 nun suggerierte ich der Patientin
in der Hypnose, daß sie ihren Ausfluß wieder¬
bekommen würde. Zufällig geschah dieses einen
Tag vor Eintritt der Menstruation. Als ich daher
am anderen Morgen die Kranke besuchte, er¬
zählte sie mir, daß sie rechtzeitig unwohl ge¬
worden sei. Sie habe in der vergangenen Nacht
geträumt, daß ihr Ausfluß wieder da sei und habe
sich im Traume ebenso schlecht gefühlt als zu der
Zeit, wo er wirklich bestanden habe. Auf meine
Frage, ob sie denn Ausfluß habe, verneinte sie.
Nun wissen wir ja, daß der gewöhnliche Ausfluß
zurücktreten kann, wenn die Menstruation ein-
tritt. Ich nahm daher an, daß der Ausfluß in
meinem Falle sich nach Aufhören der Menstruation
zeigen werde. Ich hatte /mich nicht geirrt, am
18., als dem letzten Tage des Unwohlseins, sagte
die Kranke, daß sie Schmerzen im Leibe habe und
sich so fühle, als ob sie Ausfluß bekommen würde.
Am nächsten Morgen war derselbe, ohne daß die
hypnotische Suggestion wiederholt worden wäre,
im stärksten Masse vorhanden, mit allen subjek¬
tiven Beschwerden, welche ihn sonst begleiten.
Auf einmalige hypnotische Suggestion am folgen¬
den Abend war er wieder vollständig beseitigt.
Es ist mir seitdem kein weiterer Fall
von der Beweiskraft des angeführten be¬
gegnet, gleichwohl mögen hier noch zwei
weitere Fälle angeführt werden, an die
ich einen Fall aus der Literatur ankniVpfen
möchte.
Bei einer Dame, bei der ich ausgesprochene
hysterische Anfälle zu beobachten Gelegenheit
hatte, schwand der viele Jahre seit der Ver¬
lobungszeit bestehende Fluor durch Wachsug¬
gestion. Ich eröffnete derselben, sie würde in der
Verlobungszeit irgendwelche sie sehr erregende
und ängstigende Erlebnisse gehabt haben, die
Angst, welche sich im Unbewußten fixiert habe,
habe den Ausfluß veranlaßt. Wenn sie sich über¬
zeugen lasse, daß kein anderer, vor allem kein
körperlicher Grund dafür mehr vorliegend sei,
so würde derselbe bald verschwunden sein. Die
Dame war ganz glücklich, als sie mir einige Tage
nachher berichten konnte, daß sie von ihrem
schon so viel behandelten Übel befreit sei. Sie
hat mir später aus der Heimat noch Nachricht
über den Fortbestand ihrer Heilung gegeben.
Was sie erregt hatte, konnte oder wollte sie mir
nicht sagen, vielleicht bringt uns der folgende Fall
auf die richtige Vermutung.
Es handelt sich um eine Dame, die zum
zweiten Male verheiratet, mit ihrem Manne in
Scheidung lag, weil ein hartnäckiger, vielfach
behandelter Ausfluß, der auch nicht besser wurde,
als ein Professor die Unterlassung jeglicher
lokaler Behandlung verordnet hatte, und ein
damit verbundener Vaginismus ihr unmöglich
gemacht hatte, sich ihrem Manne hinzugeben.
In diesem Falle war das Sekret in dem Universi¬
tätslaboratorium mikroskopisch untersucht und
frei von pathogenen Erregern gefunden. Die
Kranke reagierte auf den Versuch, sie zu hypnoti¬
sieren so, daß sie in krampfhaftes Weinen aus¬
brach. Als dies das zweite Mal auch der Fall war,
unterblieben weitere Versuche. Wachsuggestion
hatte keinen Erfolg. Am Schluß ihres Aufent¬
haltes konnte ich die Anamnese dahin vervoll¬
ständigen, daß der Ausfluß am Tage vor der
Hochzeit entstanden war. Die Kranke beteuerte,
daß sie nie vorher, auch in ihrer ersten Ehe nicht,
die durch den Tod des Ehemannes ihrön Ab¬
schluß gefunden hatte, an Ausfluß gelitten habe.
In ihrer Prozeßstimmung sagte.sie in weiner¬
lichem Tone: ,,Er hat ja selbst, gesehn, daß ich
keinen Ausfluß hatte.“ Als ich über diese ihr
unwillkürlich entfahrene Bemerkung erstaunt
war, gab sie zu, daß ihr Mann in der Verlobungszeit
die mannigfachsten Versuche, sie zum Coitus zu
bewegen, wenn auch ohne Erfolg, gemacht und
sie jedesmal damit in Angst und Erregung ver¬
setzt habe. Damit schien mir eine psychogene
Wurzel des Krankheitssymptomes gefunden und
ein Analogieschluß auf den vorangehenden Fall
möglich.
ln der Monographie von Tucky und
Tatzel (,,Psychotherapie“, Berlin-Leipzig
Heusers Verlag, 1895) berichtet Tatzel
• über folgenden Fall:
Frau E., 26 Jahre alt. Sie ist eine starke, abeia
bleichsüchüge Frau. Sie hat vor 6 Monaten ge¬
heiratet und seitdem sehr starken Weißfluß
gehabt. Durch denselben ist eine solche Schmerz¬
haftigkeit und brennendes Jucken in den äußeren
Geschlechtsteilen eingetreten, daß sie kaum
gehen kann. Einen Monat lang war sie in Be¬
handlung eines Frauenarztes, der ihr schließlich
eine Operation vorschlug, zu der sie sich aber
nicht entschließen konnte. Schon nach wenigen
Sitzungen war sie von ihrer Verstopfung befreit,
der Weißfluß war hartnäckiger, er verlor sich erst
nach und nach, sodaß erst nach drei Wochen die
Heilung vollständig war.
WilLman in diesem Falle nicht an¬
nehmen, daß die Dame von ihrem Ehe¬
manne in der ersten Nacht gonorrhöisch
infiziert gewesen sei, wogegen spricht,
daß eine Behandlung eines Frauenarztes
von einem Monate ohne Erfolg blieb —
so wird auch hier auf pränuptiale psy¬
chische Traumen geschlossen werden
können.
dn dem letzten Falle wird berichtet,
daß die betreffende Dame bleichsüchtig
gewesen sei. Dazu möchte ich noch einige
Zitate anführen aus einer Arbeit von
Wetterstrand: ,,Der Hypnotismus und
seine Anwendung in der praktischen Me¬
dizin“ (Wien und Leipzig, Urban u.
Schwarzenberg, 1891).
S. 67 ff., 16. Kapitel: „Anämischer Zustand
Bleichsucht.“ — ,,Alle diese anämischen Zu¬
stände, welche ihre Quelle nicht in einem schweren
inneren Leiden haben, sind der Behandlung mit
hypnotischer Suggestion zugänglich.“ S. 68: „Mit
Bestimmtheit kann ich sagen, daß sich der Zu¬
stand nach wenigen Sitzungen bessert, der Appetit
größer wird, die sonst kalten Hände und Füße
warm werden, die Kopfschmerzen verschwinden
und das Merkwürdigste von allem, der Fluor
aufhört.“ S. 68, unten: ,,Es erscheint merk¬
würdig, daß ein so rebellisches, so vielen Mitteln
trotzendes Übel, wie der Fluor, der Suggestion
weicht. Ich behandelte im Frühjahr 1887 ein
17jähriges Mädchen, bei welcher der Fluor sehr
. hartnäckig war und allen Mitteln trotzte, nach
der 5. Sitzung jedoch aufhörte.“ S. 69, Kranken¬
geschichte 75: „Der Fluor verschwunden.“ 76:
Die Therapie, der Gegenwart’ 1921
135
^,Der Fluor und alle Nervenschmerzen sind ver¬
schwunden.“
Die Entwicklungsjahre junger Mäd¬
chen geben Anlaß zu mannigfachen sexu¬
ellen Traumen, doch kann man mit Sicher¬
heit aus der Analogie der vorangehenden
Fälle keinen Schluß a,uf derartige ursäch¬
liche psychische Momente machen. Immer¬
hin zeigen auch diese Fälle, daß in der
Literatur mehrfacher Anhalt gegeben ist,
für die Annahme einer Psychogenese des
Fluor albus; beweisend ist erst mein Fall
gewesen.
Während der Drucklegung ist noch
folgender Fall zur Beobachtung ge¬
kommen:
Fräulein W. M., 30 Jahre alt, aus 0., kam
10. Januar i921 in Behandlung. Hysterie. Starker
IFIuor albus. Innenseite der Oberschenkel wund.
3. Mär2 hypnotische Palimnese. An ihr ist im
-Februar 1919 ein Versuch gemacht, sie zu ver¬
gewaltigen. Darnach Ausfluß und wochenlang
-dauernde Krankenhausbehandlung. Aufhören des
Ausflusses. Dezember 1920 wieder starker Aus¬
fluß. Sei sexuell erregt gewesen, von Haus fort¬
gelaufen und an den Ort des Vergewaltigungs-
A^ersuches gekommen. Da habe sie einen Ruck
durch den Körper verspürt und gemerkt, daß
sie unwohl geworden sei. Am Abend habe sich
herausgestellt, daß nicht Blut, sondern weißer
Fluß sich gezeigt habe. 4. März hypnotische
:Suggestion: der Ausfluß hat keine körperliche
Ursache, sondern ist nur aus der Erinnerung an
die im Anschluß an den Vergewaltigungsversuch
vorhandene Angst hervorgegangen. Er wird am
nächsten Tage verschwunden sein. 5. März Aus¬
fluß völlig beseitigt. 24. März St. id.
Wollen wir nun versuchen, tiefer in
das Verständnis der Psychogenese einzu¬
dringen und darüber uns klar werden, in
welchem Verhältnis ein bakterieller und
ein psychogener Fluor albuS steht, so j
müssen wir uns von vornherein sagen, daß
•ein Verständnis mit unserer gewöhnlichen
materialistisch-mechanistischen Betrach¬
tungsweise nicht zu gewinnen ist. (S.
Bunne mann: ,, Verschi edene Betrach¬
tungsweisen und die Neurosenfrage'‘,
•Monatsschr. f. Psych. u. Neur., Bd. 41).
Alle katarrhalischen Erscheinungen der
Schleimhäute haben offenbar den Zweck,
Produkte von körperlichen Schädigungen,
Krankheitsstoffe, körperfremde Substan¬
zen nach außen zu befördern, so der
Schnupfen, der Katarrh der Luftröhre
und der Bronchien, der Durchfall und ein
gleiches müssen wir auch von dem Ka¬
tarrh der Scheide annehmen. Die darin
liegende Anschauungsweise entspricht
nicht der gewöhnlichen, mit der die nor¬
male und die pathologische Physiologie
rechnen. Wir sind von Haus aus gewöhnt,
anzunehmen, daß Ursache und Wirkung
3n einem direkten Zusammenhänge stehen,
die einfache Folge des schädigenden
Reizes ist der Katarrh. Der Reiz nun, den
irgendeine Schädigung setzt, ist zunächst
weiter nichts als eine materielle,.das heißt
eine räumlich-zeitliche Veränderung, Als
solche pflanzt er sich auf Nervenbahnen
fort. Aber an irgendwelcher Stelle muß
das räumlich-zeitliche Material umge¬
wertet, zum vitalen Bedürfnisse des Or¬
ganismus in Beziehung gesetzt werden.
Es erhält eine Bedeutung, die der An¬
nahme der Schädigung entspricht, nicht
dieser selbst. Dem vitalen Werte, das
heißt dem angenommenen Werte ent¬
sprechend, macht sich eine Äußerung
wieder im räumlich-zeitlichen Sein gel¬
tend, erwächst produktiv wieder eine
materielle Veränderung in ihrer zweck¬
mäßigen Form. Das Krankheitsprodukt
ist so ein dem organischen Bedürfnisse
entsprechendes Mittel, ist dem schädigen¬
den Reize gegenüber organischer Abwehr¬
mechanismus. Das gleiche gilt von dem
Vaginismus, welcher sich bei der Digital¬
untersuchung mit einer krampfhaften Zu-
sammenziehung der Adduktoren verge¬
sellschaftet erwies, die die Alten ja Cu-
stodes Virginüm zu nennen pflegten.
Beide, Vagmismus und Adduktoren¬
krampf, lassen sich leicht als in der Angst
vor Vergewaltigung fixierter Abwehr¬
mechanismus verstehen. Im Renter-
ghemschen Falle geht der Fluor aus der
Angst vor körperlicher eigener Schädi¬
gung, in meinem Falle aus der Angst vor
Schädigung des keimenden Lebens, in
den Fällen pränuptialer sexueller Traumen
aus Angst vor Schädigung der ethischen
Persönlichkeit hervor, in jedem Falle ist
er als Abwehraktion aufzufassen, wie der
Vaginismus und der Adduktorenkrampf.
Zwischen Ursache und Wirkung liegt also
in jedem Falle im organischen Getriebe
ein innerer subjektiver Faktor. Wie für
unsere Orientierung in unserer Umwelt
nicht die Welt in Frage kommt, so wie
sie ist, sondern so wie wir sie anschauen,
so wie sie für uns mit menschlichen Er¬
kenntnismitteln ist, so kommt auch in
der organischen Entwicklung nicht das
in Frage, was ist, so wie es ist, sondern
so wie es sich in subjektiver Umwertung
darstellt. Dieser Satz vermag in allen
seinen Konsequenzen durchdacht für
unsere Lebens- und Leidensbetrachtung
von gründstürzender Bedeutung zu wer¬
den; er allein ermöglicht uns die Er¬
fahrungstatsachen, welche wir oben be¬
schrieben haben mit unserem vorherigen
Wissen in Einklang zu bringen, er setzt
136
Die Therapie der Gegenwart 1921
Aprifi
uns erst in den Stand, das Verhältnis von
bakteriellem und psychogenem Fluor albus
richtig zu erkennen.
Der Unterschied zwischen beiden ist
danach nun der, daß das räumlich-zeit¬
liche Material den umwertenden Zentren
auf zwei verschiedenen Wegen zugeht,
und dieses auf das ihm so zugehende
Material verschieden eingestellt ist. Wäh¬
rend in dem einen Falle der Weg durch
die nervöse Verbindung von reizgetroffe¬
ner Stelle der Cervikalschleimhaut und
umwertenden Hirnzentren gegeben ist, so
^eht derselbe in dem anderen Falle durch
unsere Sinnesorgane zu ebendenselben
umwertenden Hirnzentren. Wenn die
Kranke hört, daß ihr Mann luetisch infi¬
ziert gewesen sei und daß ein geschlecht¬
licher Verkehr für sie und das keimende
Leben gefahrvoll sei, und wenn sie gleich
wohl die sexuelle Berührung fühlte, so
sind die dementsprechenden auralen und
taktilen Reize ebenso räumlich-zeitliches
Material, wie die Reizung der Cervikal¬
schleimhaut, sie werden ebenso auf
Nervenbahnen fortgeleitet und harren
ebenso einer subjektiven Umwertung
wie jene.
In dem nervösen, hysterischen Zen¬
tralorgan ist nun eine ungewöhnliche
Reaktivität vorhanden, die ich subjek¬
tive Überwertigkeit genannt habe. (Siehe
Bunnemann: ,,Der Begriff des Mittels
in der Hysterielehre“, Archiv f. Psych. u.
Nervenkr., Bd. 59 Heft 1 und ,,Die Neu¬
rosenfrage und das Arndtsche biologische
Grundgesetz“, Neuro log. Zentralbl. 1916
Nr. 5.) Vermöge dieser besonderen Re¬
aktivität, die sich sowohl in der erkenn¬
baren Richtung der Funktion als auch
in der intensiven Aft der Entäußerung
zu erkennen geben kann, ist in den vor¬
liegenden Fällen die instinktive Phan¬
tasietätigkeit besonders auf den durch
die Sinnesorgane führenden Weg einge¬
stellt und da zu Übertreibungen geneigt.
Es ist von Befürchtungen, die auf diesem
Wege erweckt werden, besonders ab¬
hängig, auf Gefahren, die von dieser
Seite gemeldet werden, besonders auf
merksam aber auch besonders eingestellt
auf den sich dieses Weges bedienenden
Hypnotiseur, durch ihn auf diesem Wege
weit über die Grenzen normaler Beein¬
flußbarkeit beeinflußbar, zumal, wenn
im Schlafe jede kritische Gegenvorstel¬
lung wegfällt. Schlaf aber und Hypnose
unterscheiden sich ebenfalls durch weiter
nichts, als durch den Weg, welchen
Schlaf und Hypnose auslösende Reize
nehmen. Die organische Funktion fällt
verschieden aus, je nachdem auf welchen
Weg die umwertenden Zentren vorwie¬
gend eingestellt sind. Der Schlaf ist ein
dissoziativer Prozeß von organischer
Zweckmäßigkeit, ein organisches Mittel^
das auf der instinktiven Annahme seiner
Notwendigkeit fußt, diese letztere aber
wieder ist sowohl durch im Blute krei¬
sende Abbauprodukte und Ermüdungs¬
körper zu beeinflussen, als durch die
den Worten und Gesten des Hypnoti¬
seurs entsprechenden Sinneserregungen.
Verstehen wir also, daß zwischen Ur¬
sache und Wirkung im organischen Leben
in jedem Fall ein innerer subjektiver
Faktor liegt, der auf verschiedenen Wegen
zu beeinflussen ist, so ist das Verhältnis
von infektiösem und psychogenen Fluor
für uns verständlich, so erkennen wir, daß
zwischen beiden kein wesentlicher, sondern
nur ein formaler Unterschied besteht.
Zusammenfassende Übersicht
über Encephalitis lethargica.
Von G. Klemperer.
Aus dem Kreise der Leser sind zahl¬
reiche Anfragen über das neuerliche Auf¬
treten der epidemischen Encephalitis,
insbesondere ihre Ursachen, ihre Erken¬
nung und Behandlung an mich gelangt,
die ich durch das folgende Übersichts¬
referat beantworten möchte; dabei stütze
ich mich ebensowohl auf die bisherige
Literatur wie auf die eigene Beobachtung
von etwa 40 Fällen im Krankenhaus und
in der privaten Praxis. Ich verweise auch
auf die Aussprache des vorjährigen Kon¬
gresses für innere Medizin, über welche
in dieser Zeitschrift (1920 S. 260) berich¬
tet ist.
Die Geschichte der neuen Seuche
beginnt für uns mit der Beschreibung, die
Economo im Jahre 1917 von ihrem Auf¬
treten in Wien gemacht hat; aber es
scheint, daß die sogenannte Nona, welche
vor 30 Jahren in Norditalien, der Schweiz
und dem südlichen Österreich geherrscht
hat, der Lethargica wesensgleich gewesen
ist und in einzelnen Fällen sich erhalten
hat, bis es aus unbekannten Gründen im
Donaureich zu einem erneuten Ausbruch
April
Die Therapie der Gegenwart 1921
137
gekommen ist, der sich alsdann über ganz
Europa fortgepflanzt hat.
Der Name der Krankheit, welcher von
Econom 0 herrührt, darf als sehr glück¬
lich bezeichnet werden, da er die anato¬
mischen Veränderungen des Gehirns und
-das Hauptsymptom der Schlafsucht in
gleicher Weise hervorhebt. Die Laien
•Sprechen meist' von ,,Schlafkrankheit“.
Es braucht an dieser Stelle nicht gesagt
;zu werden, daß die neue Krankheit nichts
mit der afrikanischen Schlafkrankheit zu
tun hat. Denn diese ist streng auf die
Tropen beschränkt, da sie nur durch den
Stich einer tropischen Fliege übertragen
wird (Glossina palpalis); man kennt die
Protozoenart, welche das Contagium dar-
5tellt, Trypanosoma gambiense, welches
im Blut des Erkrankten kreist und leicht
nachzuweisen ist. Nichts von alledem gilt
bei der europäischen Schlafkrankheit.
Und auch die klinischen Verlaufsformen
sind deutlich unterschieden, insofern als
die afrikanische Schlafkrankheit das letzte
Stadium einer mit Drüsenschwellungen
•einhergehenden langsam verlaufenden In¬
fektion darstellt, während unsere Lethar-
■gica ohne längere Vorkrankheit einsetzt.
Schließlich endet die afrikanische Seuche
immer tödlich, während bei uns die
Prognose um so besser ist, je langsamer
'die Krankheit abläuft.
Die Ätiologie unserer Encephalitis
ist noch nicht geklärt; sie schließt sich
manchmal an Influenza an; aber wieweit
'ein Zusammenhang mit derselben besteht,
ist ganz unsicher; ich möchte mich denen
.anschließen, welche diese ursächliche Be¬
ziehung in Abrede stellen, da schwer zu
verstehen ist, warum gerade das Auf¬
flackern der neuen Seuche bei uns mit
•dem Schwinden der Grippeepidemie zu¬
sammenfällt; übrigens sind die Fälle, in
^denen die Encephalitis mit grippeartigen
Symptomen beginnt, doch selten, und
:schließlich: welche Infektionskrankheit
setzt nicht gelegentlich wie eine Influenza
■ein? Die bisherigen bakteriologischen
Befunde sind nicht entscheidend. Der
sogenannte Streptococcus pleomorphus
{Wiesner), der vielfach festgestellt wor-
'den ist, findet sich auch bei anderen
Infektionskrankheiten und das gelegent¬
liche Vorkommen der sogenannten In¬
fluenzabacillen kann nichts beweisen. Aus¬
schlaggebend für die Beurteilung der
Grippeätiologie scheint mir die Tatsache,
daß die hierbei oft nach wirklicher Influ¬
enza beobachtete Encephalitis sowohl
klinisch als auch namentlich anatomisch
andere Befunde ergeben hat als die
Lethargica.
Der Übertragungsmodus ist uns
unbekannt. Eine Kontaktinfektion scheint
ausgeschlossen. Ich habe weder auf den
Krankenhaussälen, wo die Patienten in
keiner Weise isoliert wurden, noch auch
in Familien jemals eine direkte An¬
steckung beobachtet. Man wird wohl
annehmen dürfen, daß die Infektion durch
Einatmung geschieht und daß die Erreger
auf dem Blutwege dem Gehirn zugeführt
werden. Welcher Umstand sie gerade in
diesem Organ und in diesem besonders im
Mittelhirn haften läßt, vermögen wir nicht
zu erklären.
Die, anatomischen Veränderungen
sind von bemerkenswerter Geringfügig¬
keit; makroskopisch ist oft so wenig zu
sehen, daß unser Prosektor Geheimrat
Benda in den meisten Fällen die Diagnose
mit Sicherheit erst nach der Mikroskopie
des gehärteten Gehirns stellen konnte.
Verdachterregend ist Hyperämie und
Ödem der Hirnhäute und der grauen
Substanz, gelegentlich sieht man miliare
Blutungen. Beweisend sind die mikro¬
skopischen Befunde von Lymphocyten-
infiltraten um die Gefäße, kleinste Hämor-
rhagien sowie lokalisierte Gangliendegene¬
rationen und Gliawucheruungen, welche
besonders im Thalamus, Corpus Striatum,
Hirnschenkel und Brückenhaube, aber
auch in andern Hirnpartien konstatiert
werden. Einschmelzungs- oder Erwei¬
chungsherde werden nicht gefunden. In
den Fällen meiner Beobachtung, die zur
Obduktion kamen, enttäuschte jedesmal
die relative Geringfügigkeit des anatomi¬
schen Befundes gegenüber der außer¬
ordentlichen Schwere des klinischen Ver¬
laufs; sicherlich beruhte derselbe zu nicht
geringem Teil auf einer rein toxischen
Beeinträchtigung der Hirnsubstanz, aus
der sich auch der häufige Wechsel der
klinischen Erscheinungen erklären dürfte.
Nach Verlauf und Symptomen
möchte ich drei Formen der Krankheit
unterscheiden, zwischen denen natürlich
Übergänge Vorkommen: die schwerste,
akut komatöse Form, die mittlere Form
der eigentlichen Schlafkrankheit (lethar¬
gische Form), und die leichte fast abor¬
tive Form der nervösen Reiz- und Schwä¬
cheerscheinungen (rudimentäre Form).
Diese Einteilung scheint mir praktisch
brauchbarer als die von den hauptsäch¬
lichen Symptomen des Einzelfalles ab¬
geleitete Unterscheidung eines lethargi¬
schen, Paralysis-agitans-artigen und cho-
18
m
Die Therapie der Gegenwart 1921
Aprili
reiformen Krankheitstypus; denn die ver¬
schiedenen Reizerscheinungen kommen
ebenso wie die Lähmungen sehr wechselnd
bei leichtem wie bei schwerem Krank¬
heitsbild vor.
Die komatöse Form beginnt plötzlich,
mit sehr kurzer Prodrome von Mattigkeit
und Kopfschmerzen. Der Übergang von
blühender Gesundheit in schwerste Krankr
heit ist so unvermittelt, daß es den Laien
schwer wird, an natürliche Ursachen zu
glauben. In einem meiner Fälle brach ein
junger Monteur auf dem Wege zur Ar¬
beitsstätte plötzlich zusammen, wurde
bewußtlos ins Krankenhaus gebracht und
starb nach zwei Tagen; ein zweiter Fall
betraf eine junge Ehefrau, die sich des
Abends noch im Familienkreise lebhaft
unterhalten hatte, am nächsten Morgen
aber anscheinend aus festem Schlaf nicht
zu erwecken war und unter Vergiftungs¬
verdacht ins Krankenhaus gebracht wur¬
de; sie starb am vierten Tage im tiefem
Koma. Das Symptomenbild bietet außer
der absoluten Bewußtlosigkeit nichts Cha¬
rakteristisches. In einzelnen Fällen sind
schwere Delirien beobachtet. Das Fieber
schwankt zwischen 38 und 40®; die Herz¬
tätigkeit ist im Anfang kräftig und regel¬
mäßig, um allmählich zu erlahmen; auch
die Atmung ist im Anfang nicht gestört.
So bietet die Diagnose sehr große Schwie¬
rigkeiten; Verwechselungen sind ebenso¬
wohl mit apoplektischem oder paralyti¬
schem wie mit urämischem Koma, mit
Hirntumor, ja mit jeder möglichen Hirn¬
krankheit 1) vorgekommen. Die Unter¬
scheidung von epidemischer wie tuber¬
kulöser Cerebrospinalmeningitis ist schwer
möglich, wenn neben Genickstarre und
positivem Kernig die Lumbalpunktion
erhöhten Druck im Liquor aufweist; so
habe ich es in zwei Fällen gesehen, in
denen bei der Obduktion neben den
0 Ich habe bei einer Patientin fälschlich En- •
cephalitis lethargica diagnostiziert, welche bewußt¬
los aufgefunden war und bei welcher die Unter¬
suchung neben hohem Fieber nur geringfügige
bronchopneumonische Herde und eine endarteri-
itische Gangrän der Zehen des rechten Fußes ergab.
Der Exitus trat nach zwei Tagen ein und die
Obduktion ergab eine ausgedehnte Hirnerweichung
aus Hirnembolie infolge des seltenen Ereignisses
einer luetischen Narbenbildung in der rechten
Carotis, die zur vollständigen Thrombosierung
derselben geführt hatte; die Zehengangrän, die ich
auf Thrombosierung der Arteria poplitea durch in¬
fektiöse Endarteriitis zurückgeführt hatte, beruhte
ebenfalls auf Embolie. Ein anderer Fall von ver¬
meintlicher Encephalitis ergab als Todesursache
einen Cysticercus am Boden des vierten Ventrikels.
In beiden Fällen war das Fieber auf terminale
Bronchopneumonie zurückzuführen.
typischen encephalitischen Herden in der;
Haube des Hirnstammes eine ausge¬
sprochene meningitische Reizung gefun¬
den wurde. In allen anderen Fällen sahen,
wir ebenso wie alle anderen Autoren den.
Liquor cerebrospinalis im wesentlichen
normal, ein Zeichen, das für die Diffe¬
rentialdiagnose oft sehr wichtig ist. In
mehreren Fällen haben wir reflektorische
Pupillenstarre bei negativer Wassermann¬
reaktion gefunden. Der Verlauf der akut,
komatösen Form scheint in der über-^
wiegenden Mehrzahl der Fälle schnell,
tödlich zu sein; von meinen Fällen ist
keiner gerettet worden. Doch ist auch
Vorübergehen der Bewußtlosigkeit und
Übergang in die Mittelform beobachtet.^
Von der Häufigkeit des Auftretens dieser
schwersten Form ist die Mortalität der
Gesamtepidemie bedingt; daraus, daß;
zumeist die schweren Fälle ins Kranken¬
haus kommen, erklärt sich die Sterblich¬
keitsziffer einzelner Statistiken von 25 bis
50 %. In Wirklichkeit dürfte der Anteil
der schweren Fälle an der Gesamtmorbi¬
dität bedeutend geringer sein und sich
aus der Gesamtzahl eine Sterblichkeit vom
etwa 10% ergeben.
Aus dem Gesagten geht ohne weiteres--
hervor, daß die Diagnose der komatösen
Form der Encephalitis mit Sicherheit
eigentlich erst durch die Autopsie gestellt
werden kann. Die Behandlung muß sich
auf Pflege, Ernährung und Excitation
beschränken. Alle Versuche sero- und
chemotherapeutischer Einwirkung sind
fehlgeschlagen; speziell haben auch alle-
Heilmittel, die bei der Grippe gelegent¬
lich Erfolg zu haben schienen, bei der-
Encephalitis vollkommen versagt.
Viel mannigfaltiger ist der Verlauf der'
lethargischen Mittelform. Hier ist meist
der Beginn ein allmählicher, mit all¬
gemeinen Infektionsprodromen einher¬
gehend. Kopfschmerzen, Schwindel, Er¬
brechen, Gliederschmerzen, allgemeines
Unbehagen, oft auch Schlaflosigkeit wer¬
den berichtet; in mehreren Fällen war
Doppeltsehen das erste charakteristische-
Symptom, das die Diagnose auf die
richtige Spur lenkte. Sehr wechselnd ist
der Fieberverlauf; in einzelnen Fällen
waren von Anfang an hohe Temperaturen
vorhanden, meist schwankte das Fieber
zwischen 37,5 und 39 in ganz unregel¬
mäßiger Weise, zweimal habe ich wie auch
andere Autoren ganz fieberlosen Verlauf
beobachtet. Mehr oder weniger schnell,
geht diese Form in das charakteristische
Stadium der Lethargie über, welche durchs
April
Die. Therapie, der Gegenwart. 1921
139
encephalitische Herde im sogenannten
Schlafcentrum bedingt zu sein scheint
(nach Trömner im Thalamus opticus,
nach Mauthner im Boden des dritten
Ventrikels). In der Mehrzahl der Fälle
scheinen die Patienten wirklich dauernd
zu schlafen; auf Anruf erwachen sie,
geben auf Befragen Antwort, sind aber
teilnahmlos und sinken alsbald wieder in
Schlaf zurück; dabei verlangen sie nicht
nach Speise und Trank, schlucken aber
gut, wenn sie nach dem Erwecken ge¬
füttert werden; lassen von selbst nicht
Urin, tuen es aber meist auf Anruf. In
vielen Fällen aber handelt es sich weniger
um wirklichen Schlaf, als vielmehr um
einen eigentümlichen Zustand von Mattig¬
keit und allgemeiner Erschlaffung, in
welchem die Kranken an nichts Anteil
nehmen und in welchem sie durch die
gleichzeitige Ptosis beider Augenlider den
Eindruck von Schlafenden machen. In
diesem Stadium kommen die verschieden¬
sten Formen von Hirnnervenlähmung vor;
insbesondere sind die Kerne des Oculo-
motorius, Trochlearis, Abducens, seltener¬
weise auch Facialis und Trigeminus, so¬
wie Hypoglossus und Glossopharyngeus
beteiligt. Es wurden neben der erwähnten
Ptosis Doppeltsehen, verlangsamte Pu¬
pillenreaktion, Akkomodationsparese, auf¬
gehobene Corneal- und Conjunctival-
reflexe, Sprachstörung, Erschwerung der
Kau- und Schlucktätigkeit beobachtet;
oft verschwinden diese Symptome nach
mehrtägiger Dauer. Charakteristisch ist
vielfach eine mehr oder weniger aus¬
gesprochene Muskelsteifigkeit, die sich
sowohl in einem maskenartigen Gesichts¬
ausdruck als in der Haltung der Extremi¬
täten zu erkennen gibt. Man hat die Fälle
von besonderem Hervortreten der Muskel¬
steifigkeit als eigenen Typus der extra¬
pyramidalen motorischen Funktionsstö¬
rung (lethargisch-rigiden Symptomenkom-
plex) herausgehoben. Strümpell weist
darauf hin, daß die Regungslosigkeit, mit
der diese Kranken zu Bett liegen, auf
einer Bewegungsarmut infolge mangeln¬
den Bewegungstriebes, also auf psycho¬
motorischen Hemmungen beruht. Darauf
beruhen auch die oft beschriebenen Dauer¬
stellungen, welche man den Kranken ähn¬
lich wie im kataleptischen Tonus oder wie
bei schwerer Hysterie geben kann. Wenn
sich der Zustand der Rigidität und des
maskenartigen Gesichtsausdrucks mit zit¬
ternden Bewegungen vereint, so kann die
Krankheit das getreue Abbild der Para¬
lysis agitans darbieten. Andere Fälle, in
welchen choreaartige Zuckungen und all¬
gemeine Muske-lunruhe im Vordergrund
stehen, werden als choreatisch-athetoti-
sche Form der Encephalitis zusammen¬
gefaßt. Wieweit eine solche Trennung
•zweckmäßig ist, erscheint fraglich an¬
gesichts der neuerdings besonders von
Bonhoeffer hervorgehobenen Tatsache,
daß man die beiden extrapyramidalen
Motilitätsstörungen sich ablösen und
nebeneinander bestehen sieht. Besondere
motorische Reizerscheinungen, die mehr¬
fach beobachtet sind, stellen die Myo-
clonien, wie z. B. isolierte Bauchmuskel¬
krämpfe, vor allem aber der Sin-
gultus, dar. Das epiderriische Auftreten
des Schluckauf ist neuerdings an ver¬
schiedenen Orten, zuerst in Wien, später
in Frankreich und der Schweiz beobachtet
worden; er dürfte auf einer vorüber¬
gehenden, wahrscheinlich toxischen Schä¬
digung im cervicalen Kerngebiet des
Phrenicus beruhen. Als wirkliches Sym¬
ptom der Encephalitis wird man den
Singultus nur bei zweifellosem Vorhanden¬
sein anderweiter Reiz- oder Lähmungs¬
erscheinungen deuten dürfen und nicht
vergessen, daß dies Symptom, abgesehen
von seiner terminalen Bedeutung, auch
auf psychischer Ursache und auf degene-
rativer Rückenmarkserkrankung beruhen
kann.
Das subjektive Befinden der Kranken
ist bei der Mittelform ein wechselndes;
werden sie aus dem Schlafe erweckt, so
antworten sie auf Befragen wie Typhus¬
kranke, daß es ihnen gut gehe. Aber
auch hier gilt, daß es ihnen erst wirklich
gut .geht, wenn sie sich schlecht fühlen.
Viele äußern dauernd ein peinliches Er¬
müdungsgefühl. Manche machen auch
nach überstandenem Schlafzustand noch
lange einen blöden Eindruck. Es sind
auch Traumzustände und leichte Delirien
beobachtet. Wirkliche Schmerzen oder
auch nur stärkere subjektive Beschwerden
scheinen nicht vorzukommen.
Die Dauer der Krankheit ist wechselnd
und dürfte im allgemeinen zwischen drei
Wochen und drei Monaten schwanken.
Rezidive von unberechenbarer Dauer sind
nicht selten. Die Krankheitsdauer wird
manchmal wesentlich beeinflußt durch
das Auftreten einer Pneumonie, die als die
einzige gefährliche Komplikation der
Krankheit bezeichnet werden darf. Es
handelt sich anscheinend immer um
Bronchopneumonien mit dem klinischen
und anatomischen Charakter der Grippe¬
erkrankung; doch sind auch Aspirations-
18*
140
Die Therapie der Gegenwart 1921
April
pneumonien durch Schlucklähmung beob¬
achtet. Einen Beweis der Zusammen¬
gehörigkeit von Encephalitis und Grippe
darf man aus dem Auftreten der Pneu¬
monie keinesfalls entnehmen; Wiesner
betrachtet eine Schädigung der dorsalen
Vaguskerngruppe durch den encephali-
tischen Prozeß als Ursache der Lungen¬
komplikationen.
Die Diagnose der Mittelform ist aus
dem charakteristischen Schlafzustand in
Verbindung mit der okulomotorischen und
der extrapyramidalen Motilitätsstörung
leicht zu stellen.
Die Prognose der Mittelform ist ad
bonam vergens; die Möglichkeit eines
ungünstigen Ausgangs ergibt sich aus dem
immerhin beobachteten Übergang in die
schwere Form und aus der gelegentlich
noch spät einsetzenden, immer gefähr¬
lichen Pneumonie.
Die Behandlung hat allen Indikationen
der Allgemeintherapie der Infektions¬
krankheiten, nicht anders wie beim Abdo¬
minaltyphus, zu genügen. Nur die Anti-
pyrese tritt ganz zurück; kühle Bäder
kommen kaum in Frage. Von besonderer
Bedeutung ist die Sorge für die Ernäh¬
rung. Zumeist genügt es ja, die Patienten
.aufzurütteln und zu füttern; oft aber ist
.Nahrungszufuhr durch den Schlauch not¬
wendig. Sorgfältige Überwachung des
Eßaktes ist noch lange nach dem Schwin¬
den der eigentlichen Lethargie von Be¬
deutung, weil die Patienten oft beim Essen
cinduseln und die Nahrung halbgekaut im
Mund behalten, ohne zu schlucken. Eben¬
so ist die Sorge für regelmäßige Urin¬
entleerung,eventuellen Katheterismus,
und die Überwachung des Stuhles von
Wichtigkeit. Trotzdem eine kausale
Therapie nicht möglich ist, sind doch viel
Einwirkungsmöglichkeiten gegeben; von
der ärztlichen Aufmerksamkeit und der
sorgsamen Pflege hängt nicht selten das
Schicksal des Kranken ab. Eine spezielle
Indikation können die motorischen Reiz¬
zustände darbieten, welche nach Ab¬
klingen der Schlafstörung eventuell die
Anwendung von Opiaten und Schlaf¬
mitteln notwendig machen. Man hat in
solchen Zuständen auch von der Hypnose
Gebrauch gemacht (Späth), welche z. B.
bei unstillbarem Singultus Anwendung
verdienen dürfte.
^ Die leichte, rudimentäre Form ist da¬
durch ausgezeichnet, daß die fieberhaften
Erscheinungen kurz und unbedeutend
sind, und die eigentliche Schlafstörung
vollkommen fehlt, während cerebrale Reiz-
und Schwächeerscheinungen von wech¬
selnder Dauer und Intensität beobachtet
werden. Gewöhnlich erkranken die Pa¬
tienten grippeartig mit mehrtägigem Fie.-
ber, dessen Natur nicht festzustellen ist;
danach sind sie wochenlang auffallend
matt, teilnahmslos, ohne Energie und
Initiative. Gleich im Beginn oder erst im
weiteren Verlauf kommt es häufig zu
okulomotorischen Störungen, besonders
zu Ddppeltsehen, zu Unfähigkeit des Nah¬
lesens, zu Facialislähmung oder zu Sin¬
gultus. Die Diagnose dieser Fälle ist sehr
schwer, wenn man nicht an die gleich¬
zeitige Epidemie denkt. Zur Verwechslung
fordert namentlich die Lues auf.' In
einem Fall von vorübergehendem Doppelt¬
sehen eines jungen Kaufmannes, der nach
fünftägiger unklarer Fieberkrankheit sich
schwer erholte, war von drei verschiedenen
Ärzten hintereinander Wassermannreak¬
tion gemacht und trotz negativen Aus¬
falles antiluetische Kur verordnet worden,
weil bei dem Doppeltsehen Lichtstarre
der Pupillen konstatiert war. Sehr richtig
sagt Bonhöffer: ,,Die fast pathogno-
mische Bedeutung der Lichtstarre der
Pupillen für centrale Lues ist durch die
Erfahrungen beiEncephalitis erschüttert.“
Zur richtigen Diagnose führt, neben der
Bewertung der Wassermannreaktion na¬
mentlich im Liquor, die Beobachtung des
Verlaufs, die bei der rudimentären Form
der Encephalitis ein relativ schnelles
Schwinden der Erscheinungen ohne speci-
fische Therapie ergibt. — Wenn die Kern¬
symptome zurücktreten und die all¬
gemeine Leistungsunfähigkeit und das
subjektive Schwächegefühl im Vorder¬
grund der Klagen stehen, ist man leicht
geneigt, an Neurasthenie zu denken. Hier
wird die Würdigung des früheren Ver¬
haltens, die anamnestische Feststellung
des stattgehabten Fieberanfalls, zuletzt
der Verlauf die Entscheidung brihgen.
Die Behandlung der rudimentären For¬
men wird sich auf hygienische und diäte¬
tische Verordnungen beschränken; wichtig
ist die psychische Beruhigung der Kran¬
ken durch die diagnostische und pro¬
gnostische Klärung des Falles; bei den an
Neurasthenie erinnernden Fähen ist für
lange Ruhezeit zu sorgen; das mangelnac
Kraft- und Selbstgefühl wird ebenso durch
Zuspruch wie durch klimatische Ein¬
wirkung und Arsenmedikation allmählich
wieder hergestellt.
Die Therapie der Gegenwart 1921
141
April
Repetitorium der chirurgischen Therapie.
Von M. Borchardt.
Die Behandlung frischer Verletzungen.
Von M. Borchardt und S. Ostrowski. (Fortsetzung.).
\ Erfrierungen.
Wenn wir Erfrierungen noch ganz
frisch während der Kältestarre zu be¬
handeln haben, so läßt sich zunächst noch
nicht- absehen, in welchem Umfange die
Kälteschädigung bleibend sein wird. Erst
nach dem Aufhören des eigentlichen Er¬
frierungsvorganges zeigt es sich, ob eine
Erfrierung ersten Grades (Rötung der
Haut und Schwellung), zweiten Grades
^(Blasenbildung, oberflächliche Substanz¬
verluste) oder dritten Grades (Gangrän
der Haut, eines Gliedabschnittes oder
einer ganzen Extremität) die Folge sein
wird. Es ist eine alte Regel, frostbeschä¬
digte Körperteile erst allmählich aus der
Kälte in die Wärme zu überführen. Man
erwärmt die erfrorenen Körperteile sehr
langsam in einem mit Schnee oder Eis
versetzten Wasserbade. Rötet sich da¬
nach der geschädigte Teil wieder, so läßt
das auf eine weniger schwere Gewebs-
•schädigung schließen. Bleibt er blaß und
empfindungslos, so handelt es sich um
eine bedrohliche Circulationsstörung.
Hier leistet, wie Kroh und Bundschuh
zeigen konnten, die Streich- und Knet¬
massage bisweilen gute Dienste. Sie
wird in halbstündigen Intervallen wäh¬
rend des ersten Tages wiederholt.' Bleibt
der Erfolg aus, so kann die Saugbehand-
Jung nach Bier oder die rhythmische
Stauung nach Thies (3 Minuten Stauung,
2 Minuten Staupause), bisweilen zur
Wiederherstellung der Circulation führen.
Es darf aber nicht verhehlt werden, daß
von manchen Autoren die Stauung ab¬
gelehnt wird, weil sie nach ihrer Meinung
•die gefürchtete venöse Stase begünstige.
Von hyperämisierenden Mitteln sei wei¬
ters die Heißluftbehandlung genannt, die
auch bei der Beschleunigung der Demarka¬
tion der dem Gewebstod verfallenen
Teile eine günstige Wirkung entfaltet.
Die leichtesten Grade der Erfrierung
heilen ohne weitere besondere Maßnah¬
men, eine Sonderstellung nehmen die so¬
genannten Frostbeulen ein, chronische,
zumeist bei jedem Kälteeintritt rezidi¬
vierende Gefäßstörungen, diffus oder cir-
CLimscript an der Streckseite der Hände
und Füße — besonders an den Gro߬
zehenballen — auftretende Rötungen und
Schwellungen der Haut mit heftigem
Juckreiz in der Wärme und besonders
nach Malträtieren durch Kratzen auf¬
tretenden Geschwürsbildungen. Anänli-
sche Individuen sind am häufigsten von
dieser Affektion befallen, die oft ein
schwieriges Behandlungsobjekt sein kann.
Wichtig ist vor allem die Prophylaxe.
Bei Personen, deren Tätigkeit lang¬
dauernden Aufenthalt in der Kälte oder in
der Nässe erfordert, ist auf gutsitzendes,
nicht schnürendes Schuhwerk und weite
Strümpfe zu achten, Von.Dreyer ist für
Soldaten ein Schuh angegeben worden,
der als lockerer Schaftstiefel leicht und
bequem angezogen werden und durch
breite Lederspangen genügend festen Sitz
erhalten kann. Von alters her wird als
Prophylaktikum gegen die Erfrierung der
Füße bei Soldaten das sogenannte Leimen
der Füße empfohlen. Strümpfe oder
Fußlappen werden mit folgender Mi¬
schung dick bestrichen und noch warm
auf die Füße gezogen: Glycerin 500,0,
Brunnenwasser 350,0, Leim 150,0 (durch
Kochen gemischt). Ein gutes Vor-
beugungsmittel soll auch das von' den
Münchener Luitpoldwerken hergestellte
Dermotherma sein, eine Verbindung von
Formaldehyd, Acid. lacticum, Campher-
Menthol-Thymol, Extract. arnic. fluid.,
Extract. capisci fluid, und Sapo dialysat.
Mit Geschwürsbildungen einhergehende
Frostbeulen erfordern die Behandlung
mit feuchten Verbänden, später Salben¬
verbänden (Langenbeck'Sche Salbe).
Handelt es sich um die schwersten
Formen der Erfrierung, die Frostgangrän
ganzer Gliederabschnitte oder Glieder, so
hat unsere Hauptsorge zunächst der Ver¬
meidung der Infektion zu gelten, die bis
zur Vollendung der Demarkation des
irreparabel geschädigten Gewebes die
Hauptgefahr bildet. Feuchte Gangrän
ist durch rechtzeitige Entfernung der
Oberhaut und austrocknende Verbände
in eine trockene zu verwandeln.
Ausgezeichnetes leistet hierbei die
Dosquetsche offene Wundbehandlung.
Zu warnen ist vor der Anwendung des
Jodanstriches. Unter den sich bildenden
Krusten kann der Brand wieder feuchter
werden. Austfocknungsmittel sind das
Kaolin, das Dermatol, Airol, Kieselsäure¬
pulver und die pulverisierte Tierkohlc.
142
Aprir
Die ,Therapie der Gegenwart 1921*
Solange die Infektion ausbleibt, sei man
nicht zu voreilig mit der Absetzung er¬
frorener Teile, sondern schiebe diese bis
zur endgültigen Demarkierung auf. Häu¬
fig gelingt es so unter Zuhilfenahme von
Suspension der erfrorenen Glieder noch
Abschnitte zu erhalten, die man vor der
Beseitigung der venösen Stauung durch
die Suspension schon verloren glaubte.
Versagt dieses Hilfsmittel, so bleibt
noch als ultima ratio vor der verstüm¬
melnden Operation das Verfahren /Jer
multiplen Incisionen nach Nöske. Über
den Finger- und Zehenkuppen werden
bis auf den Knochen reichende, quere
Incisionen angelegt, eventuell noch Längs-
incisionen auf Finger-, Hand-, Fuß- und
Zehenrücken hinzugefügt, und nun mehr¬
mals am Tage die Saugglocke zum Ab¬
saugen des stagnierenden Venenblutes an¬
gesetzt. In Campheröl getauchte und in
die Wunden gelegte Tampons verhüten
eine Verklebung derselben. Der Erfolg
ist der, daß die Demarkationslinie oft
weiter distalwärts rückt und, wenn über¬
haupt, doch viel weniger Gewebe ge¬
opfert zu werden braucht.
Daneben sind auch Wechselbäder,
kohlensaure Bäder, Wechselluftduschen
und Faradisation von Nutzen.
Das Beherrschende in der Therapie
der Erfrierungen ist also die konservative
Therapie. Der Hauptzweck der Früh¬
operationen (Abkürzung des Heilverfah¬
rens) wird zumeist doch nicht erreicht.
Nachoperationen lassen sich oft trotzdem
nicht vermeiden. Nur wenn bei feuchter
Gangrän die Gefahr der fortschreitenden
Phlegmone oder Sepsis droht, muß der
gangränöse Gliedabschnitt frühzeitig ge¬
opfert werden. Als Prinzip gilt hierbei,
möglichst einfache Wundverhältnisse zu
schaffen. Nie sollte die primäre Wund¬
naht gemacht werden. Sehnenscheiden
sind einige Zentimeter proximalwärts zu
spalten und offen zu halten, weil die Ge¬
fahr der in ihnen fortschreitenden Eite¬
rung droht. Die Besprechungen der ge¬
nauen Indikationen, wo zu amputieren
ist, die Prognose der einzelnen Formen
der Stumpfbildung soll hier als zu weit¬
gehend unterbleiben. Auf die Stumpf¬
deckungen kann meistens primär keine
Rücksicht genommen werden, sie muß
fast immer plastischen Nachoperationen
Vorbehalten bleiben und wird bei diesen
an den Beinen am besten durch gestielte
Lappen von der anderen Extremität, an
den Armen durch gestielte Brust- oder
Bauchlappen bewerkstelligt. Zwei plasti¬
sche Operationen wollen wir aber als be¬
sonders wichtig noch erwähnen. Das ist
erstens die Bildung der sogenannten.
Mittelhandfmger bei Verlust aller Finger
durch Spaltung der Intermetacarpalräu¬
me und Auskleidung derselben mit Haut.
Zweitens die sogenannte Fingerauswechse¬
lung oder Fingerzehenauswechselung. Ihr
Zweck ist, funktionell wichtige, verlorene
Finger plastisch durch einen weniger
wichtigen erhaltenen Nachbarfinger oder
die Großzehe zu ersetzen.
Die Behandlung des akuten traumatische»
Shocks.
Während das klinische Bild des Shocks
im allgemeinen ein einheitliches und
wohlbekanntes ist, läßt sich das von
der Art seiner Entstehungsursache nicht
aussagen. Und doch ist gerade die
Differenzierung der ihn auslösenden Mo¬
mente für eine rationelle Therapie des
Shocks von großer Bedeutung. Nach
der einen Ansicht (Erschöpfungstheorie)
reagieren Rückenmark und verlängertes
Mark auf außergewöhnlich mächtige peri¬
phere Reizungen mit einer Art von
Stupor, das heißt einer allgemeinen funk¬
tionellen Hemmung, die sich auf Herz¬
tätigkeit, Atmung, Gefäßinnervation,kurz
den gesamten vitalen Tonus erstreckt..
Nach der Theorie von Fischer steht die
reflektorische Lähmung der vasomotori¬
schen Nerven im Vordergrund. Durch die
Parese der Vasocqnstrictoren kommt es
zu einer starken Überfüllung der Venen,,
besonders im Bereiche des Pfortader¬
systems. Es erfolgt gewissermaßen eine
Verblutung in die Visceralgefäße hinein
und durch diese akute Plethora abdomina¬
lis eine gewaltige Blutdrucksenkung im
extravisceralen Teile des Gefäßsystems,
die schließlich sekundär durch Anämie
des Hirns und verlängerten Markes zum
Herzstillstand führt. Daneben-übt aber
auch die Reizung des Sympathicus und
Vagus auf die Hemmungscentren des
Herzens unmittelbar eine bedeutende Wir¬
kung aus.
Die Erscheinungen des Shocks werden
einerseits durch jähe Gewalteinwirkungen
auf räumlich sehr ausgedehnte Körpef-
gebiete, andererseits durch Wirkung auf
besondere Nervengebiete hervorgerufen.
Im ersten Falle kommen als Ursache
schwere Verletzungen (Artilleriegeschoß-
wirkungen, Maschinenverletzungen,
schwere Verbrennungen, Explosionstrau¬
men usw.). in Frage, im zweiten Ver-
April
Die Therapie dör Gegenwart :1921
143
letzungen mit besonderen Angriffspunkten
(Brust- und Bauchtraumen) durch
stumpfe oder scharfe Gewalt, spontan
erfolgende akute Magendarm Perforationen
oder Blutungen, das Zerren an der
Mesenterialwurzel .durch Manipulationen
an den Därmen beim Auspacken und Ab¬
suchen derselben.
Auch plötzlicher schwerer Blutverlust
oder hochgradige Erregungen durch Angst
oder Freude können zu den gleichen
Folgen führen. Sehr zu beachten ist
auch das Angstgefühl des Patienten vor
operativen Eingriffen.
Besonders von französischen Autoren
wird neben dem nervösen Shock und dem
sogenannten Verblutungsshock bei schwe¬
ren Verwundungen noch eine weitere
Form, der sogenannte Verletzungsshock
beschrieben. Er unterscheidet sich von
den ersteren Formen dadurch, daß er erst
etwa 3—10 Stunden nach dem Trauma in
die Erscheinung tritt. Er wird am häufig¬
sten bei multiplen Verletzungen oder soli¬
tären Wunden mit ausgedehnter Gewebs¬
zerstörung beobachtet und setzt ein, wenn
die Entwicklung von bakteriellen Giften
in der Wunde oder von schädlichen
Stoffen, die intermediär aus den abge¬
bauten Gewebstrümmern entstehen, zur
Resorption gelangt sind und zur Toxämie
geführt haben (toxämischer Shock).
Unter den klinischen Erscheinungen
des Shocks treten hervor: Ein zunehmender
Kräfteverfall, Abnahme der Herztätigkeit,
kaum fühlbarer, oft unregelmäßiger, mei¬
stens verlangsamter, seltener mehr oder
wenig beschleunigter Puls, oberflächliche,
oft jagende Atmung, Abkühlung besonders
der prominenten Körperteile, Leichen¬
blässe der Haut, Weite und Reaktions-
losigkeit der Pupillen, Erbrechen, unfrei¬
williger Kot- und Urinabgang. Oft be¬
gleiten hochgradige motorische Unruhe
bei angstvollem Gesichtsausdruck, lautes
Schreien, Wiederholen derselben Worte
diese Symptome (erethischer Shock), oder
es bleibt bis zum Tode ein Zustand völliger
Apathie bestehen (torpide Form des
Shocks). Das Sensorium pflegt meist un¬
getrübt zu sein, im Gegensatz zu dem Ver¬
halten bei der gewöhnlichen Ohnmacht
oder dem Kollaps.
Was nun die Behandlung des Shocks
betrifft, so vermögen wir in vielen Fällen
mit Hilfe gleich zu erörternder Ma߬
nahmen ihn überwinden zu helfen. Es
bleiben leider aber genug Fälle übrig, in
denen, die Wirkung des Shocks trotz aller
gegen seine verschiedenen Symptome ge¬
richteten Mittel fortbesteht und selbst bei
anfangs anscheinend leichteren Graden
der tödliche Ausgang nicht abzuwenden
ist. Nicht immer kommt in diesen Fällen
der Shock allein als Ursache in Frage. Es
ist für eine erfolgreiche Therapie von vorn¬
herein .von größter Wichtigkeit, festzu-
stellen, welcher Anteil der Erscheinungen
bei einem unter dem Bilde des Shocks in
unsere Behandlung kommenden Kranken
ätiologisch diesen zufällt und welcher
Anteil anderen Ursachen zugeschrieben
werden muß. Als solche sind in erster
Linie zu nennen: Innere Blutungen,
Lungenembolie, Perforationsperitonitis.
Die Zeichen dieser Erkrankungen können
von denen des Shocks so überlagert sein,
daß eine Entscheidung sehr schwierig sein
kann. Besonders trifft das für die Diffe¬
renzialdiagnose des Shocks und der inneren
Blutung zu. Im allgemeinen muß aber
einige Stunden nach seinem Einsetzen
der Shock einen deutlichen Rückgang
seiner Erscheinungen erkennen lassen.
Geschieht das nicht, so haben wir allen
Grund, an eine innere Blutung, z. B. bei
einem Bauchtrauma, oder an eine be¬
ginnende Bauchfellentzündung zu denken
und uns für ein sofortiges operatives Ein¬
greifen einzurichten. Dabei ist zu be¬
merken, daß der durch Perforation eines
Hohlorganes in die Bauchhöhle bedingte
Schmerzshock in der Narkose zu schwinden
pflegt und alle als Shocksymptome ge¬
deuteten Zeichen während des Operations¬
verlaufes weiterhin nachlassen. Wichtig
für uns und zugleich ein Zeichen von übler
Vorbedeutung ist die Senkung der Tempe¬
ratur unter normale Werte und eine zu¬
nehmende Pulsverschlechterung trotz aller
Stimulierung des Herzens.
Glauben wir erkannt zu haben, daß'
eine reineShockwirkungvorliegt,so kommt
es zunächst darauf an, den Kranken vor
der Einwirkung äußerer Reize zu schützen.
Grelles Licht ist abzublenden, Geräusche
sind nach Möglichkeit durch Verbringung,
des Kranken in einen ruhig gelegenen
Raum abzudämpfen, der zur Vermeidung
stärkerer Abkühlung des Patienten ge¬
nügend erwärmt sein muß. Im letzten
Kriege wurden hierzu besonders auf fran¬
zösischer Seite Heißluftkammern einge¬
richtet. Bei Mangel an solchen tut auch
die Erwärmung des Bettes durch Ther¬
mophore oder die Einpackung des Kran¬
ken in heiße Tücher ihren Dienst. Der
Kopf des Kränkendst tief, die Beine sind
erhöht zu lagern. Eventuell ist die oben
144
Die Therapie der Gegenwart 1921
April
erörterte bedrohliche Blutdrucksenkung
durch Autotransfusion, das heißt Aus¬
treibung des Blutes aus den elevierten,
von der Peripherie rumpfwärts elastisch
cingewickelten Extremitäten und dadurch
hervorgerufene Verkleinerung des Blut¬
kreislaufs zu bekämpfen. Gegen die be¬
drohliche Blutdrucksenkung durch Über¬
füllung des visceralen Gefäßsystems käme
folgerichtig die intravenöse Kochsalz¬
infusion in Betracht. Über die bisweilen
wunderbare Wirkung der Infusion, die
besonders augenfällig wird, wenn ihr das
den Blutdruck steigernde Adrenalin oder
Pituitrin zugesetzt wird, kann wohl kaum
ein Zweifel sein. Dennoch wird ihr Nutzen
von V. Man teuffei beim Shock bestritten
und nur dann zugegeben, wenn neben dem
Shock auch starker Blutverlust entstanden
ist. In diesem Falle können wir noch nach
dem Versagen der Kochsalzinfusion die
Blutüberpflanzung als lebensrettenden
Eingriff heranziehen. In der Bauch- und
Brusthöhle Vorgefundenes Blut kann even¬
tuell durch das Verfahren der Eigenblut¬
transfusion, das später bei der Beschrei¬
bung der Bluttransfusionstechnik genauer
mitzuteilen sein wird, wieder in das Gefä߬
system des Kranken zurückgegeben wer¬
den. Bei dem oben erwähnten, von fran¬
zösischer Seite beschriebenen toxämischen
Shock versagen die gewöhnlichen Ma߬
nahmen (Kochsalzinfusion, Aufenthalt in
der Heißluftkatnmer, , Bluttransfusion
usw.) vollkommen. Weitgehende chirur¬
gische Eingriffe scheinen mehr zu schaden
als zu nützen. Dagegen sahen französi¬
sche Chirurgen durch frühzeitige Ein¬
spritzung eines polyvalenten Immun¬
serums Nutzen. Wurden je 20 ccm
dieses- Serums mit je 20 ccm Tetanus¬
serum gespritzt, so trat kein Shock auf.
Zur Erhöhung des Gefäßtonus kann
man Strychninum nitricum zu 0,005 sub-
cutan verabfolgen, zur He.rzstimulierung
Campher, Coffein, Äther, zur Blutdruck¬
erhöhung Adrenalin und Pituitrin ver¬
abfolgen. Belebend wirkt die Verab¬
reichung von heißem Glühwein und
Kaffee.
Bei großer psychischer und motori¬
scher Unruhe werden wir das Morphin
nicht entbehren können. Auch kann man
in diesen Fällen nach Bergmanns Vor¬
schlag den Kranken einige Züge Äther
I einatmen lassen, bis der Puls voller und
der Kranke ruhiger wird. Tiefe Narkose
sowie jeder langdauernde und große ope¬
rative Eingriff haben zu unterbleiben, bis
der Shock überwunden ist, es sei denn, daß
unaufschiebbare Eingriffe, wie Gefä߬
unterbindungen, Bauchoperationen, Tra-
cheotomJe dazu nötigen. Alle diese Ein¬
griffe sind auf das Mindestmaß des Not¬
wendigen zu beschränken und möglichst
schnell und zart auszuführen.
Therapeutisclies aus Vereinen u. Kongressen.
Prof. Aug. Bier: Heilentzündung und Heilfieber mit besonderer
Berücksichtigung der parenteralen Proteinkörpertherapie.
(Berliner Medizinische Gesellschaft. Sitzung vom 2. Februar 1921. M. m. W. 1921 Nr. 6.)
Besprochen von Prof. Felix Kleraperer. . (Fortsetzung.)
Aus der umfangreichen Diskussion,
die sich an Biers Vortrag anschloß, sei
folgendes wiedergegeben:
Goldscheider sieht die Protein¬
körpertherapie als celluläre Reizthera¬
pie an, wobei unspecifische Zellreize spe-
cifische Wirkungen hervorbringen (speci-
fische Abwehrprodukte). Die Protein¬
körpertherapie bringt besonders bereits
vorhandene Bereitschaften der Zellen zum
stärkeren Ausdruck. Goldscheider
schreibt ihr auf Grund eigener Beobach¬
tungen große Bedeutung zu, betont je¬
doch, daß sie die specifische Therapie
nicht verdrängen oder ersetzen kann.
Weichardts ,,Protoplasm.aactivierung“
bedeutet Erhöhung der Reizbarkeit des
Protoplasmas als Zellbestandteil; dabei
wird das lebendige reizbare Eiweißmolekül
für sich betrachtet, gleichsam wie eine
Zelle (wie dies auch in Ehrlichs Seiten
kettentheorie der Fall ist), — Voraus¬
setzung aber ist der celluläre Zusammen¬
hang. So betrachtet, bildet diese For¬
schungsrichtung keinen Gegensatz, zu
Virchow, sondern eine weitere Fort¬
setzung seiner Lehre. Protoplasmaactivie-
rung ist nichts anderes als Erhöhung des
cellulären Reizzustandes. Ein solcher
liegt bei den Erkrankungen, bei denen
die Proteinkörpertherapie angewandt
wird, bereits vor. Sie soll diesen Zustand
der erhöhten^ Reizbarkeit und Tätigkeit
der Zellen (Überempfindlichkeit, Hyper¬
ergie), welcher als Reaktion auf die krank¬
machende Schädigung erfolgt ist, weite»
steigern. Sie kommt daher hauptsächlich
bei Insuffizienz der natürlichen Abwehr-
April
Die Therapie der Gegenwart 1921
145
reaktion des Körpers, also bei chronisch
gewordenen Krankheiten in. Betracht,
kann aber auch bei akuten nützlich sein.
Die Zustände erhöhter Erregbarkeit sind
sehr häufig mit funktioneller Schwäche
vergesellschaftet. Die krankhafte Über¬
empfindlichkeit .läßt sich auf die physio¬
logische Überempfindlichkeit zurück¬
führen, wie sie durch Reiz und Reiz¬
summation erzeugt wird. Der dissimila-
torischen Wirkung des Reizes folgt eine
assimilatorische (Verworn), die oft als
Überschußreaktion sich gestaltet. Von.;
der physiologischen Funktionssteigerung
durch Reizung unterscheidet sich die
pathologische nur durch ihre Intensität
und ihre Fixierung. Die gesamte Reiz¬
therapie wirkt im Sinne der Erhöhung
der krankhaften cellulären Überempfind¬
lichkeit, wo diese insuffizient ist, oder
ihrer Dämpfung, wo sie exzessiv gewor¬
den ist. Die Proteinkörpertherapie ist
nur eine besondere Anwendungsform der
Reiztherapie. Für sie gilt, wie für die ge¬
samte Reiztherapie, daß allgemeine Reize
specifische Wirkungen auszulösen ver¬
mögen. Denn die Reaktion hängt von der
Eigenart des gereizten Organs oder Zell¬
komplexes ab; auch in der physikalischen
Therapie zeigt es sich überall, daß der
Reizerfolg nicht allein von der Qualität
der Reize, sondern von der specifischen
Energie der gereizten Teile abhängt.
Die Johannes Müllersche Lehre von
der specifischen Energie der Sinnessub¬
stanzen zeigt sich in größter Verall¬
gemeinerung gültig. — Hinsichtlich der
Dosierung, welcher sowohl bei der spe¬
cifischen wie der Proteinkörpertherapie
stets die größte Bedeutung zugeschrieben
wurde, betont Goldscheider, daß das
Arndtsche Gesetz nur ein grobes Schema
gibt, in Wirklichkeit aber die Beziehungen
viel komplizierter liegen. Jeder Reiz hat
erregende und erregbarkeitsherabsetzende
(bahnende und hemmende) Wirkungen.
Dieselben hängen nicht allein von der
Intensität der Reize, sondern auch von
der vorhandenen Reizbarkeit des gereiz¬
ten Organs, also vom Verhältnis der Reiz¬
stärke zur bestehenden Reizbarkeit ab.
A. P1 e h n wendet sich gegen Biers Auf¬
fassung, daß es gleichgültig sei, was man
einspritze, und daß es nur auf die Reak¬
tion, namentlich die örtliche, ankomme.
Für die ,,inneren“ Krankheiten trifft
das nicht durchweg zu. Es mag gleich¬
gültig sein, ob Serum, Casein oder Milch
injiziert wird, aber gewiß ist es nicht das¬
selbe, ob man Casein oder Tuberkulin
spritzt. Es kommt doch auf die Voraus¬
setzungen an, die im gespritzten Organis¬
mus gegeben sind, und da spielen die *
komplizierten Fragen der Anaphylaxie,
der örtlichen Gewebssensibilisierung und
andere hinein, welche noch in weitem
Maße undurchsichtig und unberechenbar
sind. Bei der Heilwirkung der Metalle,
von Salvarsan und Kollargol beispiels¬
weise, spielt auch eine Proteinwirkung
mit, indem ein Teil der Parasiten zu¬
grunde geht und das aus ihrem Zerfall
herrührende Eiweiß zur Wirkung kommt.
Wenn dies meist unter AMgemeinreaktion
und Fieber geschieht, so ist nicht die
Reaktion Ursache der Heilung, son¬
dern die Heilung, i. e. Parasitenvernich¬
tung, Ursache der Reaktion. — Als
Beispiel für die Kompliziertheit der in
Frage kommenden Verhältnisse führt
Plehn an, daß Caseininjektionen trotz
starker Allgemeinreaktion wirkungslos
bleiben können, während sie in anderen
Fällen ohne solche günstig wirken.
Zimmer, ein Assistent Biers, hält
die Art des Präparates für weniger wich¬
tig, er sah von den verschiedensten Mit¬
teln ähnliche Wirkungen. Da das Ca-
seosan häufig sich als verdorben erwies
und üble Nebenwirkungen ausübte, wird
an der Bi ersehen Klinik neuerdings
Yatren mit Casein gespritzt. Was die
Dosierung betrifft, so sind dreierlei Ge¬
webe zu unterscheiden: das gesunde, das
akut entzündete und das chronisch er¬
krankte. Auf das erstere hat das art¬
fremde Eiweiß keine Wirkung, bei dem
akut entzündeten ruft es eine schnell
vorübergehende Steigerung der Entzün¬
dung hervor, bei dem chronisch erkrank¬
ten eine sehr langsam verschwindende.
Deshalb sind chronische Erkrankungen
mit sehr viel kleineren Dosen zu behan¬
deln, insbesondere bei der Gicht geht
Zimmer bis zu den allerkleinsten, fast
homöopathisch anmutenden Dosen her¬
unter. Überdosierung kann zu starker
Schädigung führen. Die Dosierung rriuß
im Einzelfalle empirisch gewonnen wer¬
den, sie soll immer an der Schwelle der
wirksamen Reizung bleiben. Zimmer
schlägt daher den Namen ,,Schwellen¬
reiztherapie“ für die Proteinkörper¬
therapie vor.
Benda, der, wie vorher V/esten-
hoeffer und später Lubarsch, inter¬
essante Ausführungen zur Frage der
Entzündung machte, wies darauf hki,
daß die Reaktionen, welche das Wesen
der Entzündung ausmachen, in einem
19
146
Die Therapie der Gegenwart 1921
April
zwangsläufigen Verhältnis zu den aus-
lösenden Reizen stehen, welches zunächst
‘ von der Frage unabhängig ist, ob die
Reaktionen für das betroffene Individuum
zweckmäßig sind oder nicht. An Einzel¬
beispielen legt erklär, daß.die Wanderung
-der Leukocyten und Phagocyten und
selbst die produktiven Vorgänge, also
Vorgänge, deren defensorische und repa-
ratorische Tendenz klar zutage liegt,
Schaden stiften können. Daraus geht
hervor, ,,daß auf die Gutartigkeit der
spontanen Reaktionen kein unbedingter
Verlaß ist und der Arzt mit ihrer Ent¬
fesselung zu Heilzwecken im Sinne Biers
einige Vorsicht üben muß“.
Auch S. Bergei wendet sich dagegen,
die Entzündung als eine stets ■ gleich¬
bleibende Reaktion und als immer gleich¬
artig wirkende Heilmaßnahme der Natur
.aufzufassen. Klinische Erfahrungen wie
pathologisch-anatomische Befunde wider¬
sprechen solcher Anschauung. Beide
lehren, daß die Entzündungsformen nicht
überall die gleichen sind, sondern daß
bestimmte Krankheitsursachen gesetz¬
mäßig auch bestimmte Entzündungs¬
erscheinungen hervorrufen, die oft wesent¬
lich voneinander differieren. Die entzünd¬
liche Reaktion ist bei Staphylokokken-
und Streptokokkenerkrankungen eine
andere, als bei Tuberkulose und Lues, und
wieder eine andere bei Diphtherie- oder
Pneumokokkeninfektion; die Entzün¬
dungsform ist abhängig von der Entzün¬
dungsursache. Gerade wenn man den
natürlichen Entzündungsvorgang als das
Heilsame ansieht und in der Therapie das
Heilprinzip der Natur nachahmen und
unterstützen will, muß man also zu dem
Schluß kommen, daß man mit einer ver¬
einheitlichten, immer gleichartig wirken¬
den künstlich erzeugten Entzündungsform
unmöglich alle Krankheitsursachen beein¬
flussen kann. Nicht bloß die Intensität,
die Dosierung des Reizmittels ist von gro¬
ßer Bedeutung, sondern vor allem muß
auch die Qualität des die jeweilige
Reaktion bedingenden Reizes berücksich¬
tigt werden. & handelt sich nicht um
eine gleichartige therapeutische Wirkung
der Proteinkörper auf die verschiedensten
Krankheiten durch Erzeugung einer ein¬
heitlichen, für alle Krankheiten heilsamen
Entzündung, sondern die Proteine üben
bei den verschiedenen Krankheitszustän¬
den eine ungleichmäßige Wirksamkeit aus,
und es ist zweckmäßig und notwendig,
durch Auswahl des jeweilig passenden
Proteinkörpers bei verschiedenen Erkran¬
kungen auch verschiedene, der Art der
Krankheitserreger annähernd angepaßte
Reaktionen hervorzurufen.
Fr. Meyer bringt experimentelle Be¬
weise dafür, daß unspecifische Substanzen
eine specifische Reaktion auslösen können;
er hält unspecifische und specifische
Therapie für im Wesen identisch.
Ziemann dagegen führt klinische Er¬
fahrungen dafür an, daß es sehr wohl
auf die Art des Mittels ankommt; es
bedarf noch vieler Versuche in der Klinik,
um bestimmte Indikationen für die An¬
wendung der verschiedenen Proteinkörper
zu gewinnen; bisher haben wir in der
Proteinkörpertherapie, wie in der Anwen¬
dung der metallischen Verbindungen, z. B.
Kollargol, noch keinen festen Boden unter
den Füßen. — Hallauer warnt vor indi¬
kationslosem und zu hoch dosiertem Ein¬
spritzen der Proteinkörper. Er hat in
Tierversuchen mit Casein, Albumosen
und anderen Eiweißstoffen festgestellt,
daß es sich dabei keineswegs um indiffe¬
rente Stoffe handelt, sondern daß sie alle
als Parenchymgifte wirken, Entzündungen
in Leber und Niere hervorrufen, und daß
sie zum großen Teil unverändert durch
Galle und Urin wieder ausgeschieden
werden. — A. Meyer weist auf die Bedeu¬
tung der Konstitution und Kondition hin,
deren Verschiedenheit eine ungleiche Wir¬
kung gleicher Dosen desselben Protein¬
körpers bei verschiedenen Menschen —
z. B. verschiedene pyrogenetische Reak¬
tionsfähigkeit — bedingt. Schließlich
wendet sich Morgenroth gegen die ver¬
schwommenen ,,mythologischen“ Vor¬
stellungen, die mit dem Ausdruck Proto-
plasmaactivierung verbunden werden; er
sieht in der ganzen Richtung der Protein¬
körpertherapie eine schädliche Abkehr
von dem festen Boden der alten specifi-
schen Immunitätstherapie und der
Chemotherapie.
Aus dem Gesamt des Bi ersehen Vor¬
trags und der anschließenden Aussprache
ergibt sich, daß die ganze Frage der
Proteinkörpertherapie noch sehr in Fluß
ist und gesicherte Indikationen rowohl
hinsichtlich der Krankheiten, bei denen
sie anzuwenden ist, wie hinsichtlich der
Wahl der Präparate und ihrer Dosierung
bisher nicht gegeben werden können. Der
Praktiker möge daraus die Mahnung zu
großer Zurückhaltung entnehmen. Die
bestechenden Vorstellungen der ,,omni-
cellulären“ Reiztherapie, der allgemeinen
,,leistungssteigernden“ Wirksamkeit der
Die Therapie der Gegenwart 1921
147
-April
parenteralen Eiweißkörperzufuhr verfüh¬
ren leicht zu übertriebener Anwendung.
Demgegenüber sei noch einmal hervor¬
gehoben, daß die subcutane und noch
mehr die intravenöse Zufuhr von Ei¬
weißstoffen kein indifferenter Eingriff
ist. Eine Allgemeintherapie zur Hebung
des Allgemeinzustandes, j ein Allheil¬
mittel für Krankheitszustände überhaupt
•darf die Proteinkörpertherapie nicht
werden, dazu haben wir andere weniger
•eingreifende Mittel und Methoden zur
Verfügung. Die unspecifische Eiwei߬
therapiemuß weiter erprobt und erforscht
werden, aber vor ihr und über ihr muß
die specifische Therapie Ziel und Gegen¬
stand der Forschung bleiben. Wo eine
.solche sich bietet, verdient sie den Vor¬
zug — so ist beispielsweise das Diphtherie¬
serum bei Diphtherie dem normalen
Pferdeserum, das Tuberkulin in der Be¬
handlung der Tuberkulose der Milch¬
behandlung vorzuziehen. Bei den ent¬
zündlichen und Infektionskrankheiten, bei
denen eine specifische Handhabe bisher
nicht gegeben ist, so besonders bei den
chronischen Gelenkentzündungen und bei
schweren septischen Erkrankungen, sind
Versuche mit der Proteinkörpertherapie
berechtigt. Die Warnung Biers vor Über¬
dosierung ist dabei zu beherzigen und
auch Zimmers Empfehlung fallender
Dosen verdient Berücksichtigung. Das
wichtigste Erfordernis auf diesem ganzen
Gebiete aber ist eine kritische Beurteilung
der Behandlungsresultate.. Ob die Gicht,
die Blutkrankheiten u., a. m. überhaupt
ein Betätigungsfeld der Proteinkörper¬
therapie darstellen, steht noch sehr dahin.
Nicht jede Besserung oder vorübergehende
Heilung, die im einen oder anderen Falle
nach einer Subcutaninjektion eintritt, ist
ihr auf das Konto zu schreiben; erst eine
größere Reihe von Erfolgen berechtigt zur
Annahme eines ursächlichen Zusammen¬
hanges. Die alte Transfusionstherapie
krankte und scheiterte an der kritik¬
losen Verallgemeinerung und der Protein¬
körpertherapie droht dieselbe Gefahr.
Die befremdende ,,Ehrenrettung“, die
Prof. Bier in seinem Schlußworte den
bekannten Güstrower Ärzten Krull zu¬
teil werden ließ, zeigt die Größe dieser
Gefahr.
Bücherbesprechungen.
Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen
Gesellschaft für innere Medizin. Herausgegeben
von dem Vorsitzenden Professor 0. Minkowski
(Breslau). München, Verlag von J. F. Bergmann.
Die Verhandlungen des inneren Kongresses,
welche in früheren Jahren meist zu Beginn des
Herbstes erschienen, sind durch die Ungunst der
Zeit erst jetzt fertig geworden. Obwohl unsere
Leser über ihren wesentlichen Inhalt unterrichtet
sind (vgl. Mai- und Juniheft 1920), wird doch der
vorliegende Band manchem willkommen sein.
•Schittenhelms ausführliches Referat über die
specifische Behandlung der Infektionskrankheiten
bietet weit mehr, als in unserem gedrängten Bericht
gegeben werden konnte; viele eingehende Dis¬
kussionen, z. B. über die Encephalitis leth^rgica,
bringen sehr interessantes Material. Die Einzel-
A'orträge bieten ein vollkommenes Spiegelbild der
Avissenschaftlichen Tätigkeit, die auch in der
Kriegszeit in den Kliniken nicht geruht hat, und
Averden vielen willkommene Anregung gewähren.
Es ist zu hoffen, daß der Band, der diesmal die
Vorträge und Aussprachen in besonders präziser
Form enthält, weit über den Kreis der Mitglieder
der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin
Verbreitung finden und manchen Kollegen zum
erwünschten Eintritt in die Gesellschaft anregen
Avird. G. K.
Lust, Diagnostik und Therapie derKinder-
krankheiten. Mit speziellen Arzneiver¬
ordnungen für das Kindesalter. Ein Taschen¬
buch für den praktischen Arzt. Zweite neu¬
bearbeitete Auflage. Berlin-Wien 1920. Urban
& Schwarzenberg. 471 Setten. 54 M.
Kaum ein Jahr nach der erstmaligen Heraus¬
gabe des vorliegenden Buches erscheint eine
•zweite Auflage. Vieles ist umgearbeitet worden,
zum Teil neu bearbeitet, wie z. B. die Kapitel
über die infektiösen Darmerkrankungen, über
die Ernährungsstörungen bei künstlicher Er¬
nährung und über die Luesbehandlung. Die Dar¬
stellung der einzelnen Krankheitsbilder zeigt eine
gut verständliche Fassung, die therapeutischen
Ratschläge sind in willkommener Klarheit präzi¬
siert. Dem in der Praxis stehenden Arzt, der
bereits einige Kenntnisse der Kinderkrankheiten
besitzt, ist hier ein gutes Nachschlagebuch ge¬
geben, das ihm in allen Fragen der Kinderheil¬
kunde das praktisch Wissenswerte vermitteln
kann. Man darf wohl glauben, daß dem vor¬
liegenden Buche weite Verbreitung beschieden
sein wird. Feuerhack.
Göppert u'-’d Langstein, Prophylaxe und
Therapie der Kinderkrankheiten. Berlin.
Julius Springer.
Es gibt zahlreiche Neuerscheinungen auf dem
Gebiete der Kinderheilkunde, und bei den bereits
erschienenen Lehrbüchern waren in kurzer Zeit
immer wieder Neuauflagen notwendig. Man hat
darin sicherlich einen Beweis dafür zu erblicken,
daß das Bedürfnis der Ärzte, ihre Kenntnisse
auf dem Gebiete der Kinderheilkunde zu ver¬
tiefen, von Jahr zu Jahr wächst. Im vorliegenden
Werk von Göppert und Langstein finden wir
eine wertvolle Ergänzung des bisher Gebotenen.
Über den Rahmen eines therapeutischen
Vademekums hinaus gibt dieses Werk in aus¬
führlicher Weise Einzelheiten in der Indikation
und Ausführung an, die zum Erfolg der Therapie
notwendig sind. Kaum ein anderes Werk vermag
eine so vollständige Anschauung der Behandlungs¬
lehre im Kindesalter zu geben und zwar unter
Berücksichtigung der mannigfaltigsten Verhält¬
nisse. Daß hier eine reiche, besonders auch
19*
148
Die Therapie der Gegenwart 1921
April
persönliche Erfahrung auf therapeutischem
Gebiet zusammengefaßt niedergelegt ist, dafür
bürgen die Namen der Verfasser.
Vorausgeschickt wird dem speziellen Teil der
Behandlungsmethoden der einzelnen Krank¬
heiten ein allgemeiner Teil, der die Grundzüge der
Ernährung, Pflege und Erziehung des gesunden
und kranken Kindes behandelt. Wertvolle
Auskunft geben die Kapitel der therapeutischen
Technik — unterstützt von anschaulichem Bild¬
material. Im medikamentösen Teil findet sich
ein übersichtliches und leicht verständliches,
alphabetisches Verzeichnis der gebräuchlichsten
Arzneimittel mit Dosierung für die verschiedenen
kindlichen Alterstufen. Der Schluß gibt ein
erschöpfendes Verzeichnis der zu besonderen
Kurzwecken geeigneten Anstalten und Erholungs¬
stätten Deutschlands und Österreich-Ungarns. —
Feuerhack.
Rudolf Leidler, Ohrenheilkunde für den prak¬
tischen Arzt. Mit 36 Abbildungen (18.— M
ohne jeglichen Teuerungszuschlag). . Urban
& Schwarzenberg, Berlin und Wien 1920.
Das Buch will den Kollegen, die sich die für
die allgemeine Praxis notwendigen Kenntnisse
durch Arbeit an einer Ohrenstation angeeignet
haben, in allen otologischen Fragen ein Berater
und Helfer sein. In Kürze und Klarheit werden
auf 278 Seiten, dem modernen Stande der Fach¬
wissenschaft entsprechend, alle wichtigen Kapitel
der Ohrenheilkunde ausgezeichnet dargestellt, so
daß die vom Verfasser gestellte Aufgabe als gelöst
zu betrachten ist. Das Buch ist infolgedessen
dem praktischen Arzt zur Anschaffung dringend
zu empfehlen. G. Brühl (Berlin).
Di. Karl Neuwirlh, Gynäkologische Strahlen¬
effekte und eine merkwürdige Alopecie.
143 Seiten. Berlin 1919. Verlag von Alfred Hölder.
Neuwirth gibt eine sehr fleißige Übersicht
über die Wirkung der Röntgenstrahlen, wie die
Radium- und Mesothoriumeffekte, wobei er auch
die neuesten Typen der Röntgenröhren (Coolidge)
bespricht. Veranlassung zu dieser Arbeit war ihm
ein Fall, bei dem nach einer intensiven Röntgen¬
bestrahlung eine Alopecie der Kopfhaare eintrat;
im Anschluß daran verbreitet er sich auch noch
im allgemeinen über die Alopecie. Die‘diesbezüg-
lichen Publikationen, besonders über die Neben¬
wirkungen der Röntgenstrahlen, sind gut verwertet,
so daß der Arzt, welcher sich über einschlägige
Fälle orientieren will, genügende Auskunft erhalten
wird. In einem Anhang ist die zu jeder Seite
gehörige Literatur genau angeführt.
Pulvermacher (Charlottenburg).
Fürstenau, Immelmann und Schütze, Leitfaden
des Röntgenverfahrens für das rönt¬
genologische Hilfspersonal. Dritte, ver¬
mehrte und verbesserte Auflage. Stuttgart.
Ferd. Enke.
Der Kreis, für den das Buch bestimmt ist,
kann unbedingt erweitert werden, da der Arzt,
welcher sich mit den Grundbegriffen des Röntgen¬
verfahrens vertraut machen will, eine sehr klare
Darstellung aller Einzelheiten findet, ohne daß
besondere physikalische Kenntnisse vorausgesetzt
werden. Der Abschnitt über die gasfreien Röhren
ist sehr lesenswert. Wer sich mit der Strahlen¬
therapie beschäftigen will, kann aus diesem Leit¬
faden sehr viel lernen.
Pulvermacher (Charlottenburg).
Referate.
Ursprünglich wurde das Verfahren der
Bluttransfusion mit defribiniertem Blut
ausgeführt, wobei vielfach Nebenerschei¬
nungen, wie Schüttelfröste, Ikterus, Ne¬
phritis und andere auftraten. Als erster
berichtete Garrel über direkte Blut¬
transfusion. Auf Grund der alten Beob¬
achtung, daß jedes menschliche Blut auf
das Blut eines anderen hämolytisch oder
agglutinierend wirken kann, empfahl
Garrel vor jeder Transfusion das Blut
auf diese Eigenschaft zu untersuchen. In
den letzten Jahren ist die direkte Blut¬
transfusion vielfach ausgeführt worden,
ohne daß der Frage der biologischen Vor¬
prüfung des Blutes immer genügend Auf¬
merksamkeit geschenkt worden ist. Man
hat vielfach das Blut eines ,,gesunden
Menschen“ oder ,,Blutsverwandten“ als
geeignet vorausgesetzt, ohne zu berück¬
sichtigen, daß auch bei blutsverwandten
Menschen gewisse biologische Reaktionen,
wie z. B. Hämolyse und Agglutination
auftreten können. Die wichtige Forderung,
daß unangenehme Transfusionsreaktionen
nach Möglichkeit auszuschalten sind,
scheint am leichtesten dann erfüllbar,
wenn mit dem zu transfundierenden Blute
möglichst wenig eingreifende Prozeduren,
wie z. B. Defibrinieren oder Zusatz von
Natrium citricum, vorgenommen werden.
Je nativer das Blut ist, umso günstiger
wird seine Wirkung auf den Empfänger
sein. Die Bluttransfusion kommt vor
allem beim Morbus maculosus Werlhofii
in Frage, aber auch bei perniziöser
Anämie ist ihre günstige Wirkung be¬
kannt, und es ist zu hoffen, daß auch
bei Leukämie — möglichst frühzeitig
angewandt — heilsame Beeinflussung
auftreten wird. Grütz berichtet über
einen schweren Fall von Morbus macu¬
losus Werlhofii bei einem 20jährigen
Manne, bei dem nach der ersten Trans¬
fusion, die mit dem Blut eines ungeeig¬
neten Spenders vorgenommen wurde,
keine Änderung auftrat, nach der zweiten
jedoch eine stetig fortschreitende Besse¬
rung einsetzte, die zur vollständigen Hei¬
lung führte. Erwähnt sei noch, daß
Garrel die Bluttransfusion von der
Mutter auf das Kind bei Barlowscher
Krankheit zweimal mit — wie er glaubt —
lebensrettender Wirkung ausgeführt hat.
Kamnitzer.
(Berl. KI. Woch. 1921, Nr. 3.)
April
Die Therapie der Gegenwart 1921
149
Dr. Hunaeus (Hannover) empfiehlt
das Kalk-Magnesiä-Präparat Camagol, das
er bei 150 Kindern in der Anstalts- und
Privatpraxis während eines Zeitraumes
von 1% Jahren angewandt hat, als ,,eine
Bereicherung unseres Arzneischatzes in
der Kinderpraxis“. - Er sah bei an¬
geborener und frühzeitig erworbener
Rachitis, sowie auch bei Frühgeborenen
meist schon' nach zwei Monaten unter
Darreichung von dreimal einer halben
bis einer Tablette nachweislichen Erfolg;
bei den Rachitikern im zweiten und dritten
Lebensjahr gab er neben der üblichen
antirachitischen Diät (nicht mehr als
ein halber Liter Milch, frisches Gemüse
und Obst), entsprechender Freiluft-, bzw.
Sonnenbehandlung mit Massage viermal
täglich eine Tablette. Kalkleberthran-
behandlung wirkt in vielen Fällen ebenso
günstig, indeß stößt der Lebertran oft
auf Widerstand, besonders in den heißen
Monaten, während das gutschmeckende
Camagol von den jüngeren Kindern in
Milch, von den älteren in Tablettenform
als Nachtisch meist gern genommen und
gut vertragen wird. Auch bei spasmo-
philerDiathese erwies sich Camagol als
nützlich, endlich bei den fälschlicherweise
oft auf Anämie oder latente Tuberkulose
bezogenen Beschwerden älterer Kinder
im Alter von sechs bis vierzehn Jahren,
die jetzt so häufig sind und wahrscheinlich
mit der mangelhaften Ernährung in und
nach dem Kriege (Fehlen von Milch,
Genuß des Kriegsbrotes u. a.) in Zu-
samm.enhang stehen. Diese schlaffen und
blassen Kinder, die über Müdigkeit,
Kopfschmerzen, auch Schmerzen in der
linken Seite und in den Waden u. a. m.
klagen, meist einen Hämoglobingehalt
von 70 bis 80 % haben, und mehr an
Circulationsstörung als an wirklicher
Anämie leiden, wurden durchschnittlich
in drei Monaten bei viermal täglich
zwei Camagoltabletten wesentlich ge¬
bessert, bzw. geheilt, nachdem Eisen-
und ähnliche Präparate vorher vergeblich
angewandt wären. F. Kl.
(M. Kl. 1921, Nr. 10.)
Zu den Beobachtungen, welch eine
Schädigung Tuberkulöser durch die
Friedmannsche Heilmethode wahrschein¬
lich machen, fügt Dr."* Groß, Oberarzt
des Tuberkulosekrankenhauses in Som¬
merfeld, zwei neue Fälle' hinzu. Er
berichtet zuerst über eine Frau, bei der
wegen eben beginnender Tuberkulose
künstlicher Abort ausgeführt und die von
Friedmann selbst mit seinem Bacillen¬
emulsion behandelt worden war; drei
Monate nach der Impfung starb sie an
ausgedehnten ‘ käsig-pneumonischen Pro¬
zessen. Bei einem zweiten Fall mittel¬
schwerer Tuberkulose trat zehn Tage
nach der Friedmann-Impfung stark:re¬
mittierende Temperatur ein, unter deren
Fortdauer der Patient nach drei Monaten
stirbt. Wenn auch die Fälle nicht den
Beweis erbringen, daß die Behandlung
an der Verschlechterung und dem töd¬
lichen Ausgang schuld ist, so geht doch
aus ihnen wie aus vielen früheren Be¬
richten ganz einwandfrei hervor, daß das
Friedmannsche Mittel den Fortschritt der
Tuberkulose nicht aufhalten kann. Des¬
wegen verdienen sie wohl einem weiteren
Kreis mitgeteilt zu werden.
Wahrmund (Berlin)-
Da in der letzten Zeit häufiger über
gute Erfolge, die mit Salvarsan bei
Lungenabscessen und Lungengangrän er¬
zielt worden sind, berichtet worden ist,
teilt J. Alsberg vier Fälle von Lungen¬
gangrän mit. Von diesen gelangten zwei
ohne eine besondere Therapie zur spon¬
tanen Ausheilung ohne irgendwelche
Nachwirkungen. Bei dem dritten Fall
liegt eine deutliche Beeinflussung der
Heilung durch Neosalvarsan vor; un¬
mittelbar nach der ersten - Injektion
nahmen die Auswurfsmengen auffallend
schnell ab. Der vierte Fall, bei dem es
eine Zeitlang den Anschein hatte, als
wollte der Prozeß spontan ausheilen,
wurde durch Neosalvarsan nicht günstig
beeinflußt; es trat vielmehr eine Ver¬
schlechterung ein, die einen chirurgischen
Eingriff erforderte. In zwei Fällen von
Bronchiektasen wurde durch Neosal¬
varsan einmal nur eine vorübergehende
Besserung, das andere Mal gar kein
Erfolg erzielt. Neosalvarsan ist bei den
betreffenden Lungenerkrankungen ein
Mittel, das nicht unbedingt eine heilende
Wirkung ausübt, obwohl man nach den
Mitteilungen mancher Autoren den Ein¬
druck gewinnt, als sei es geradezu ein
Specifikum. Horovitz (Berlin).
(D. m. W. 1920, Nr. 29.)
Es ist eine alte Erfahrung, daß nicht
jeder sogenannte Lungenspitzenkatarrh
auf Tuberkulose beruht und in neuerer
Zeit wird mancher Arzt Fälle von
Dämpfung über einem Oberlappen mit
Bronchialatmen und kleinblasigen Rassel¬
geräuschen gesehen haben, in denen das
Sputum frei blieb von Tuberkelbacillen
und die ohne specifische Kuren glatt
geheilt sind. Es ist wohl kein Zweifel,
150
Die Therapie der
daß unter den Fällen von angeblich
geheilter Tuberkulose nicht wenige sind,
die nichts mit Tuberkulose zu tun hatten,
sondern in Wirklichkeit unspecifische
Bronchopneumonien gewesen sind.
Gerade in unserer Zeit, wo so zahlreiche
verschleppte Grippeerkrankungen Vor¬
kommen, sind diese fälschlich als Tuber¬
kulose diagnostizierten Oberiappenpneu-
monien nicht selten. Es ist sehr dankens¬
wert, wenn solche Fälle mit genügendem
'Beweismaterial immer wieder bekannt¬
gegeben werden, denn sie tragen ins¬
besondere zur Stärkung der Kritik gegen¬
über den sogenannten specifischen Heil¬
methoden bei. ln diesem Sinne berichten
wir über die Erfahrungen, welche neuer¬
dings G. Liebermeister (Düren) mit¬
teilt. Er verfügt über 14 Beobachtungen
vonOberlappendämpfung,.deren sämtliche
Zeichen eine Spitzentuberkulose sehr
wahrscheinlich machten, bei denen aber
Bacillen im Sputum fehlten und die Tuber¬
kulinreaktion bis zu 10 mg negativ blieb.
Alle 14 Fälle, die der Verfasser für
Grippe-Bronchitiden- bzw. Bronchopneu¬
monien erklärt, sind vollkommen aus¬
geheilt. In der Diagnose einer nicht¬
tuberkulösen Affektion soll man sich aber
auch durch eine positive Tuberkulin¬
reaktion nicht beirren lassen, wenn das
Sputum bacillenfrei ist, denn die Reaktion
kann ja von alten vernarbten Tuberkulose¬
herden herrühren. Auch hierfür führt
Li.ebermeister einen beweisenden Fall
an. Die Mitteilung mahnt von neuem zur
möglichst vorsichtigen Beurteilung tuber¬
kuloseverdächtiger Fälle, namentlich ehe
man sich zur Einleitung einer specifischen
Kur entschließt. Zweifler (Berlin).
(D. m. W. 1921, Nr. 10.)
Über die Behandlung des Lupus vul¬
garis mit dem Friedmannschen Mit¬
tel berichtet Buschke (Berlin) an der
Hand von 16 durch ihn beobachteten
Fällen mit dem Ergebnis, daß durch
dieses Mittel ein nachweisbarer Fortschritt
bisher nicht erzielt sei; höchstens ih ganz
leichten Fällen von Hauttuberkulose seien
Heilwirkungen zu beobachten, die aber
auch ebensogut durch die bisherige Be¬
handlung mit Excision, Ätzung und Sal¬
benverbänden in Verbindung mit Höhen¬
sonnenbestrahlung erreicht worden seien.
Verf. bringt das Friedmannsche Mittel
in Parallele zu dem Alttuberkulin,
bei dem auch die anfangs sehr über¬
schätzte Heilwirkung zugunsten einer
biologisch-diagnostisch verwertbaren Re¬
aktion zurückgetreten sei. Aber auch
*; Gegenwart .1921=
hierin habe das Alttuberkulin noch einen
Vorzug vor dem Friedmannschen Mittel,
da ersteres nach probatorischer Injektion
einen deutlichen, über die sichtbare
Hautaffektion hinausreichenden reak¬
tiven Hof aufweist, der die notwendige
Excisionsgrenze angibt. Beim Fried¬
mannschen Mittel hingegen ist diese
vergrößerte Herdreaktion nicht deutlich
aufgetreten. Wenngleich schon Fried¬
mann selbst, im Jahre 1912, erklärte,
daß die Hauttuberkulose der Behandlung
die größten Schwierigkeiten darböte, und
obgleich in 39 vom Verfasser zusammen¬
gestellten Fällen anderer Autoren bei 38
keine Heilwirkung angenommen werden
konnte, rät Verf. doch, frühere nach
Fried mann behandelte Fälle von Haut¬
tuberkulose noch einmal nachzuprüfen,
da ja auch bei der chirurgischen Tuber¬
kulose das Friedmannsche Mittel erst
später seine Heilkraft entwickelt und be¬
wiesen habe. Klauber (Berlip).
(B. kl. W. 1921, Nr. 1.)
Über den Einfluß der Menstruation
auf das leukocytäre Blutbild hat Gar-
li n g Untersuchungen vorgenommen. Nach
neueren Forschungen soll das Ovarium
eine vagotonisierende Funktion haben,
die während der Menstruation gesteigert
ist. Als Ausdruck dieser vermehrten Er¬
regung des autonomen Systems soll eine
Veränderung des weißen Blutbildes, be¬
sonders eine Eosinophilie auftreten. Doch
blieben diese Ansichten nicht unwider¬
sprochen. Garling hat nun an einer
Reihe von gesunden Frauen und Patien¬
tinnen einen genauen Blutstatus während
der Periode erhoben. Er fand niemals
Zunahme der Gesamtzahl der Leuko-
cyten, die Lymphocyten und Monocyten
zeigen in dem größeren Teil der Fälle
eine geringe Vermehrung. Die Eosino¬
philen waren zwar in der Hälfte der Fälle
vermehrt, aber nur in so geringem Maße,
daß von einem konstanten Zusammen¬
hänge zwischen Eosinophilie und Men¬
struation keinesfalls gesprochen werden
kann. Für die Klinik ist dies Ergebnis
deshalb wichtig, weil das Bestehen oder
Fehlen einer Eosinophilie trotz gleich¬
zeitiger Menses diagnostisch verwertbar
bleibt. - Nathorff.
(D. Arch. f. klin. M. 1921, Bd. 135, H. 5 u. 6.)
Die Klinik der Periarteriitis nodosa be¬
spricht Kroetz an der Hand eines auf
der Rombergschen Klinik beobachteten
Falles unter Berücksichtigung der ge¬
samten vorliegenden Literatur. Im ganzen
151
^Äpfil ' ‘ ' Die:Th€Tapie4er
sind bis jetzt 52 Fälle der Krankheit be¬
schrieben worden. Es handelte sich um
einen 39 Jahre alten Kaufmann, der
sechs. Monate vor dem Beginn seines
Leidens sich luetisch infiziert hatte, aber
ausreichend mit SalVarsan und Queck¬
silber behandelt worden war. Die Krank¬
heit begann plötzlich mit beiderseitiger
Peroneuslähmung und langdauernder
Pneumonie. Die Temperatur blieb auch
nach Abklingen der Pneumonie subfebril,
der Puls beschleunigt. Der Kranke
magerte rasch ab und verfiel zusehends,
kolikartige Leibschmerzen stellten sich
ein. - Schließlich entwickelte sich das Bild
einer schweren Nierenerkrankung mit
Hypertonie. Vor dem nach 4%monatlicher
Krankheitsdauer eintretenden Tode traten
noch heftige Schmerzen zu beiden Seiten
des zweiten Lendenwirbels und blutiger
Auswurf auf. Vermutungsdiagnose: pri¬
märer Rückenmarkstumor mit Lungen¬
metastasen. Die Sektion ergab Peri¬
arteriitis nodosa mit multiplen Aneurys¬
men und typischen Veränderungen an
fast allen kleineren Arterien. Dieser Fall
beweist also, wie schwierig die Dia¬
gnose der Periarteriitis nodosa intra vitam
sein kann; auch aus der Literatur geht
hervor, daß ein eindeutig umschriebenes
und allgemein gültiges Krankheitsbild
nicht aufstellbar ist, da besondere patho-
gnomonisch wichtige Symptome fehlen
können. Am besten unterscheidet man
zwei Symptomgruppen: einmal die All¬
gemeinerscheinungen, wie Fieber, Milz¬
tumor, Polynucleose, Anämie, Schweiße
und der akute Krankheitsbeginn. Alles
Zeichen ohne jede specifische Ausprägung.
Größerer diagnostischer Wert ist den in
manchen Fällen nachweisbaren Gefä߬
veränderungen beizulegen. Jedoch sind
deutlich tastbare subcutane Knötchen
nur in drei Fällen beobachtet worden, in
denen dann nach Probeexcision die Dia¬
gnose bestätigt wurde. Alle sonstigen
Organbefunde sind uncharakteristisch.
Von Bedeutung ist aber zweifellos das
klinische Syndrom: epigastrischer Krampf¬
schmerz, Neuritis und Nephritis, das in
einem Fünftel der Fälle auftrat und hier
und da auch ohne Hautknötchen die
richtige Diagnose hat vermuten lassen.
Eine sichere klinische Diagnose ist aber
meist unmöglich. Erwähnt sei, daß aus¬
gebreitete anatomische Periarteriitis no¬
dosa klinisch völlig latent bleiben kann.
Das Leiden führt in elf Zwölftel der Fälle
schubweise zum Tode, die Dauer schwankt
zwischen sieben Monaten .und zehn Tagen.
• Gegenwart 192t
Aber auch längere Remissionen sind be-
schirieben worden. Bei dem klinisch ge¬
heilten Zwölftel der Fälle waren nur Haut
und Muskelgefäße betroffen. Die Er¬
krankung beruht nicht auf degenerativen
Vorgängen, sondern, wie heute allgemein
anerkannt wird, auf einer primären Ent¬
zündung. Es handelt sich wahrscheinlich
um eine Kombination angeborener Gefä߬
hypoplasie mit erworbenen Schädigungen
der Gefäßwände. Diese sind durch alle
Infekte, besonders aber durch die Lues
bedingt. Eine specifische Therapie ist
unbekannt. Nathorff.
(D. Arch. f. klin. M. 1921, Bd. 135, H. 5 u. 6.).
Ihre Erfahrungen mit den von Ko Ile
in die Syphilistherapie eingeführten Sal-
varsanverbindungen, Si Ibersalvarsan
und Sulfoxylatsalvarsan, teilen E.
Nathan und E. Flehme mit. Sie haben
in den letzten zwei Jahren 1000 Patienten
mit ungefähr 15 000 Injektionen von
Silbersalvarsan und ungefähr 3000 In¬
jektionen von Sulfoxylatsalvarsan be¬
handelt. Bei der reinen Silbersalvarsan-
therapie wird bei florider Syphilis mit
0,05 g Silbersalvarsan begonnen, um
stürmische Reaktionen zu vermeiden.
Je nachdem die erste Injektion ver¬
tragen wurde, wird am zweiten Tage
nach der ersten Injektion die Dosis auf
0,1, am zweiten bis dritten Tage danach
auf 0,2 g, am dritten bis vierten Tage
danach auf 0,3 g Silbersalvarsan erhöht,
um nunmehr jeden vierten bis fünften
Tag eine Injektion von 0,3 g Silber¬
salvarsan folgen zu lassen, bis die Gesamt¬
menge von 3 bis 4 g Silbersalvarsan
erreicht ist. Bei Fällen von latenter bzw.
etwas älterer Syphilis wird gleich mit
der Dosis 0,1 g Silbersalvarsan begonnen.
Treten irgendwelche stärkere Reaktions¬
erscheinungen auf, so muß man mit der
Dosis wieder heruntergehen und sich
mit einer kleineren Dosis wieder ein¬
schleichen. Bei der Kombination von
Silbersalvarsan und Sulfoxylatsalvarsan
verfuhren die Verfasser nach mannig¬
fachen Variationen der Methode schlie߬
lich derart, daß sie mit Silbersalvarsan
beginnend jeden dritten bis Vierten Tag
abwechselnd in steigender Menge eine
Injektion von Silbersalvarsan (Höchst¬
dosis 0,3 g) und Sulfoxylatsalvarsan
(Höchstdosis 0,4 g) Vornahmen, bis zu
einer Gesaintdosis von ca. 2,0 bis 2,5 g
Silbersalvarsan und 2,0 bis 3,0 g Sulfoxy¬
latsalvarsan. Eine Anzahl von Patienten
wurden einer kombinierten Quecksilber-
salvarsankur unterzogen, und zwar derart.
i^2 Die Therapie der
daß zuerst 0,05 und 0,1 ccm Hydrar-
gyrum salicyL, dann Silbersalvarsan und
Quecksilber abwechselnd bis zur Er¬
reichung der Gesamtmenge von 0,85 bis
1,00 ccm Hydrargyrum salicyl. und
3,0 g Silbersalvarsan injiziert wurden.
Das Silbersalvarsan ist bei alleiniger
Anwendung ein äußerst wirksariies Prä¬
parat zur schnellen Beseitigung aller
infektiösen Symptome der Syphilis. Es
dürfte hinsichtlich seiner therapeutischen
Fähigkeit dem Altsalvarsan entsprechen,
übertrifft aber das Neosalvarsan in dieser
Beziehung zweifellos. Für das Sulfoxylat-
salvarsan ist charakteristisch die Lang¬
samkeit und die Gleichmäßigkeit der
Rückbildung der floriden Erscheinungen.
Von 81 mit Silbersalvarsan allein be¬
handelten Fällen wurden 10 durch
Mengen bis zu 1,0 g, 16 durch Mengen
bis zu 2,0 g, 24 durch Mengen bis zu
3,0 g, 2 durch Mengen bis zu 3,5 g,
Silbersalvarsan wassermannegativ. Von
30 mit Sulfoxylatsalvarsan allein be¬
handelten Fällen wurden 5 durch Mengen
bis zu 2,0 g, 10 durch Mengen bis zu
3,0 g, 6 durch Mengen bis zu 4,0 g
Sulfoxylatsalvarsan negativ. Einige
Fälle, bei denen durch eine Reihe kom¬
binierter Neosalvarsan-Hydrarg. salicyl.-
Kuren und durch Silbersalvarsankuren
ein Negativwerden der Wassermannschen
Reaktion nicht erzielt werden konnte,
wurden schließlich durch eine Sulfoxylat-
salvarsankur wassermannegativ. Im
allgemeinen wurde das Silbersalvarsan
von der weitaus überwiegenden Zahl
aller Patienten völlig reaktionslos ver¬
tragen, sowohl bei reiner Salvarsan-
therapie als auch in Kombination mit
Sulfoxylatsalvarsan oder Hydrargyrum
salicyl. Von Nebenwirkungen sind zu
nennen Fieber, welches besonders bei
florider Frühsyphilis relativ häufig auf¬
trat; Erbrechen wurde in einigen Fällen
bald nach der Injektion beobachtet.
Nur in ganz wenigen Fällen wurde über
Brechreiz, Magenschmerzen und Druck¬
gefühl in der Magengegend geklagt.
Ikterus trat nur bei zwei Fällen auf.
Hauterscheinungen (toxische Erytheme,
urticarielle Erytheme und mittelschwere
Toxidermien) wurden in zwölf Fällen
gesehen. Neurorezidive wurden fünfmal
beobachtet, je zwei Fälle nach Silber-
salvarsankur und Silbersalvarsan-Sulf-
oxylatsalvarsankur, ein Fall nach kom¬
binierter Silbersalvarsan- Quecksilberkur.
[Horovitz (Berlin).
[(TherjMh.J920, Nr. 21.)
Gegenwart 1921 . April
Um die yon Th. Büdingen be¬
gründete • Ernährungstherapie des Herz-,
muskels mittels 15- bzw. 20 prozentiger
Traubenzuckerinfusiorien auch für hy.
dfopische Herzkranke nutzbar zu ge¬
stalten, versuchte Dr. Roger Korbsch
(Breslau) auf der Krankenhausabteilung
von Prof. Ercklentz, die Konzentration
der Zuckerlösung zu steigern. Er gelangte
dabei zu 50 prozentigen Glykoselösungen,
die intravenös zu 20 ccm' verabfolgt,
anstandslos vertragen wurden. Man kann
diese hochprozentigen Dextroselösungen
als Träger für Strophanthin benutzen,
auch besteht gegen die Steigerung der In¬
jektionsmenge auf 50 ccm und darüber
keine Kontraindikation. Ein besonderer
Vorteil der stärkeren Lösung, die nament¬
lich, wenn sie angewärmt ist, sich sehr
leicht injizieren läßt, besteht darin, daß
sie steril bleibt; daß die Methode mit
einer einfachen 20 ccm Spritze auskommt
und jeden größeren Infusionsapparat über¬
flüssig macht, läßt sie für die Praxis
besonders geeignet erscheinen. f, k.
(D. m. W. 1921, Nr, 12.):
, Die Behandlung der Trigeminusneur¬
algie mit Chlorylen (Trichloräthylen
Kahlbaum) wird von Kramer warm
empfohlen. Nach einer Beobachtung aus
dem Jahre 1915 waren Arbeiter in einer
Fabrik mit Trichloräthylen, das als Fett¬
lösungsmittel zum Reinigen von Metall¬
teilen benutzt wurde, in Berührung ge¬
kommen und hatten es in großen Mengen
eingeatmet. Sie erkrankten an Schwindel,
Übelkeit und Erbrechen, außerdem fand
sich ein leichtes Ödem der Sehnerven¬
papille und eine Anästhesie des Trige¬
minus ohne Schädigung des motorischen
Anteils dieses Nerven. Auch nach Ab¬
klingen der sonstigen Vergiftungserschei¬
nungen blieb die sensible Lähmung be¬
stehen. Einer Anregung Oppenheims
folgend, versuchte Pleßner, der diese
Vergiftungsfälle beschrieben hatte, das
Trichloräthylen zur Behandlung der Tri¬
geminusneuralgie zu verwenden, und hatte
bei zwölf Fällen vollen Erfolg, ohne daß
dabei ungünstige Nebenerscheinungen sich
zeigten. Kramer hat diese Resultate
im allgemeinen bestätigen können. Erbe¬
handelte 108Kranke mit echterTrigeminus-
neuralgie. Das Mittel wurde auf Watte
getropft und dem Patienten so lange zum
Einatmen gegeben, bis ein Geruch nicht
mehr zu spüren war. Es wurden 25 bis
30 Tropfen verwandt, in manchen Fällen
auch zweimal 20 Tropfen in Abständen
von fünf bis zehn Minuten. Die Behänd-
Die Therapie der Gegenwart 1921
153
April
lung erfolgte in den ersten Wochen meist
täglich, später gewöhnlich nur zwei- bis
dreimal die Woche. Von den nachunter¬
suchten Kranken konnten 58 Fälle ver¬
wendet werden. In sieben Fällen erfolgte
eine völlige Heilung, ohne daß später ein
Rezidiv wieder eintrat. In fünf Fällen
trat ebenfalls völlige Heilung ein, der
jedoch nach einigen Monaten, in einem
Fall erst n^ach einem Jahre, Rezidive folg¬
ten. In 14 Fällen trat erhebliche Besse¬
rung, jedoch ohne völliges Schwinden
der Schmerzen ein, ohne daß Rezidive
folgten, während in 20 Fällen vorüber¬
gehend eine mehr oder minder erhebliche
Besserung eintrat, der auch später wieder
Rezidive folgten. Zwölf Fälle blieben un¬
beeinflußt. Die Erfolge, die teils bald,
teils erst nach Wochen eintraten, waren
bei frischen akuten Neuralgien besser, als
bei chronischen Fällen. Hayward.
(B. kl. W. 1921, Nr. 7.)
Die Behandlung des Ulcus cruris mit
hochprozentiger Kochsalzlösung emp¬
fiehlt Kraus, veranlaßt durch die im
Felde damit erzielten guten Heilergeb¬
nisse. Die Behandlung wird derart ge-
handhabt, daß nach sorgfältiger Ab¬
spülung des Geschwürs mit 10%iger
Kochsalzlösung jeden Morgen ein feuch¬
ter Verband mit derselben Lösung ange¬
legt wird. Abends wird nach Entfernung
der Binde und des Zellstoffes die auf dem
Geschwür liegende Mullkompresse nur
mit -10% Kochsalzlösung angefeuchtet.
Die sich reichlich entwickelnden Granu¬
lationen werden alle zwei bis drei Tage
mit Ifem Höllensteinstift geätzt. Auf
diese Art sind auch größere Geschwüre
in zirka zehn Tagen abgeheilt.
Kamnitzer (Berlin).
(M. m. W. 1920, Nr. 50.)
Albert Kocher liefert eine vortreff¬
liche Übersicht über die Diagnose und
chirurgische Therapie des Ulcus ventfi-
culi und duodeni. Die Arbeit gibt an Hand
von 180 sehr genau beobachteten Fällen
die Theodor Kocherschen Anschau¬
ungen wieder. Es werden die wirklichen
Dauerresultate der Behandlung des Ulcus
mit der Gastroenterostomie und die Dia¬
gnose des Ulcus besprochen. Hier soll vor
allem über den Abschnitt über dieTherapie
berichtet werden. Die Mitteilung der
Dauerresultate in der vorliegenden Ar¬
beit ist um so wertvoller, als es sich um
Beobachtungen handelt, die bis zu neun¬
zehn Jahren zurückreichen. Ursprüng¬
lich wurde die Gastroenteiostomie als
die Operationsmethode beim Ulcus ven-
triculi empfohlen. Mißerfolge und die
Vervollkommnung der Technik der Resek¬
tion führten dazu, daß ein Teil namhafter
Chirurgen sich von der Gastroentero¬
stomie abwandte und die Resektion be¬
vorzugte; den Standpunkt der mittleren
Linie nahmen diejenigen ein, die im all¬
gemeinen der Gastroenterostomie treu
blieben, aber für das Ulcus callosum die
Resektion forderten. Kocher hält diese
Auffassung nicht für richtig, da auch
beim Ulcus callosum seine Erfolge mit
der Gastroenterostomie keineswegs hinter
denen der Resektion zurückstehen. Zu¬
gunsten der Gastroenterostomie für alle
Fälle spricht die Beobachtung, daß keines
der mit diesem Verfahren behandelten
Geschwüre später perforiert ist, auch
waren spätere Blutungen sehr selten. Es
liegen von 180 Fällen über 144 Operierte
Nachrichten vor. Die Resultate werden
in drei Kategorien eingeteilt. Zur ersten
Gruppe gehören diejenigen Fälle, welche
angeben, daß sie seit der Operation nie¬
mals mehr Schmerzen gehabt haben..
Gruppe II hat zeitweise Beschwerden,
namentlich nach Diätfehlern: Druck,
leichte Schmerzen, Aufstoßen. Die
Kranken der dritten Gruppe haben
wieder typische Ulcusbeschwerden, Blu¬
tungen, Ulcus pepticum jejuni oder Car-
cinom. Sieben Kranke (3,9%) sind an
der Operation gestorben. Zu Gruppe I
gehören 111 Fälle (78,7 %), zu Gruppe II
14 (9,9%), zu Gruppe IH 15 (11,4%).
Arbeitsfähig sind 88,6%. Zu Gruppe III
ist zu bemerken: fünf Patienten (alles
Ulcera callosa ventriculi) sind an Magen-
carcinom gestorben, darunter einer zwölf
Jahre nach der Operation. Zwei Kranke
leiden wieder an Blutungen, man muß
also annehmen, daß das Geschwür nicht
geheilt ist. Ulcusrezidive wurden zweimal
gesehen. Vier Fälle zeigten das Bild des
Ulcus pepticum jejuni (2,3 %). Die
Gastroenterostomie wird genau an der
großen Kurvatur stets im Antrumteil als
Gastroenterostomia jetrocolica ausge¬
führt. Die Länge der Öffnung soll 6—7 cm
betragen. Das Loch im Mesokolon muß
reichlich bemessen werden, um Ein¬
schnürungen zu verhüten, und muß später
sorgsam wieder verschlossen werden. Es
wird eine durchgreifende Seidennaht und
eine Lembert-Seidennaht angelegt.
Hayward.
(Arch. f. klin. Chir., Bd. 115, Heft 1/2.)
Den gegenwärtigen Stand der Lehre
vonderVagotonie und der Sympathikotonie
unterzieht Frank einer eingehenden kri-
20
J54
Die Therapie der 'Gegenwart -1921- Aprit
tischen Würdigung. Bekanntlich werden
alle glatten Muskeln und Drüsen doppelt
innerviert und zwar vom Sympathicus
und vom Parasympathicus. Letzterer
wird auch als kranio-sakrales autonomes
System oder erweiterte Vagusgruppe be¬
zeichnet. Die Einheitlichkeit dieser Ner¬
vengruppen, die stets antagonistisch wir¬
ken, besteht nicht anatomisch, wohl aber
ist sie physiologisch zu beweisen. Ihre
Unterscheidung ist durch pharmakolo¬
gische Prüfung möglich, da wir Sub¬
stanzen kennen, die elektiv alle parasym¬
pathischen Nerven reizen: das Cholin,
und solche, die nur den Sympathicus zu
erregen vermögen: das Adrenalin. Unter
dem Einflüsse des Cholins beziehungs¬
weise des ihm gleichsinnig wirkenden
Muskarins, Pilokarpins und Physo¬
stigmins werden alle sekretorischen Ele¬
mente in lebhafte Tätigkeit versetzt, es
tritt Speichelfluß und vermehrte Ab¬
sonderung aller Verdauungssekrete ein,
ferner wird nicht nur der Tonus der glatten
Muskulatur aller Organe erhöht, sondern
auch derjenige der Skelettmuskeln bis
zur Rigidität gesteigert. Im Gegensatz
hierzu besteht die Adrenalinwirkung in
der Verminderung und Hemmung aller
Sekretionen, in der Erschlaffung der
Organmuskulatur und Sistieren der ryth¬
mischen Organtätigkeit. Ferner tritt
durch Gefäßcontraction Blutdrucksteige¬
rung ein, während umgekehrt Parasym-
pathicusreizung von Gefäßerschlaffung
und Blutdrucksenkung gefolgt ist. Es
ist nun eine Eigentümlichkeit des vege¬
tativen Nervensystems nicht nur kurze,
starke Impulse, sondern einen dauernden
tonischen Erregungsstrom auszusenden.
Auf Grund der erwähnten Tatsachen
hatten nun seinerzeit Eppinger und
Heß in . großer Verallgemeinerung der
Ansicht Ausdruck gegeben, daß das ganze
sympathische und parasympathische
System sich stets in einen tonischen Er¬
regungszustand befände und daß durch
Tonuserhöhung im Gebiete einer der
beiden Nervengruppen eine Gleichge¬
wichtsstörung in der Innervation ein-
treten müsse. Den Zustand, bei dem alle
parasympathisch versorgten Organe ab¬
norm reizbar sind, bezeichneten sie als
Vagotonie, den Zustand dauernder Tonus¬
erhöhung im Sympathicusgebiete als Sym-
pathikotonie. An der Hand zahlreicher
Untersuchungen kamen sie zu dem Schluß,
daß alle Menschen, die auf Pilokarpin
eine starke Reizbarkeit des Parasym¬
pathicus aufweisen, auf Adrenalin nicht
reagieren, und daß starke Reaktion auf
Adrenalin andererseits eine Pilokarpin¬
wirkung ausschließe. Diese von Eppin¬
ger und Heß behauptete Gesetzmäßig¬
keit ist nun von einer großen Reihe Nach¬
untersuchern nicht bestätigt werden: es
gibt vielmehr viele ganz gesunde Men¬
schen, die auf Adrenalin oder auf Pilo¬
karpin oder gar auf beide Mittel reagieren.
Ausgesprochene sogenannte Vagotoniker
reagieren wohl stark auf Pilokarpin, aber
bei ihnen ist auch Adrenalin durchaus
nicht ohne Wirkung. Und ferner reagieren
keineswegs immer sämtliche Organe, son¬
dern die Wirkung beschränkt sich häufig
nur auf ein markantes Symptom: so be¬
wirkt Pilokarpin manchmal Speichelfluß,
ohne daß bei dem Untersuchten sich
sonst eine Übererregbarkeit parasympa¬
thisch innervierter Organe einstellt. Es
zeigt sich also, daß die strenge schema¬
tische Scheidung, wie sie Eppinger und
Heß vorgenommen haben, nicht mehr
aufrechtzuhalten ist. Die abnorme Er¬
regbarkeit braucht nicht nur auf gestei¬
gertem Nerventonus zu beruhen, sondern
auch organische und funktionelle Er¬
krankungen, ^ besonders erhöhte Inan¬
spruchnahme durch Hormone, können
ein ähnliches Ergebnis der pharmako¬
logischen Prüfung verursachen. Nach
der Ansicht Franks sind die Vagotoniker
als Neurastheniker aufzufassen, bei denen
vaso- und viszeromotorische Symptome
im Vordergründe stehen, die wir mittels
unserer erweiterten Kenntnisse jetzt leich¬
ter auffinden können. Wenn auch bei
diesen Menschen die Zeichen parasym¬
pathischer Erregbarkeit überwiegen, so
fehlen sympathische Reizerscheinungen,
besonders nach Adrenalinanwendung, bei
ihnen keineswegs. Sind dagegen in, der
Mehrzahl Symptome vorhanden, die als
sympathicotonisch gedeutet werden müs¬
sen, so besteht meist der Verdacht einer
Thyreotoxikose zu Recht, da das Schild¬
drüsenhormon das gesamte autonome
System in einen dauernden Erregungs¬
zustand zu bringen vermag. Daher ist es
nicht verwunderlich, daß bei^ Thyreo¬
toxikose neben sympathischer Übererreg¬
barkeit auch Zeichen parasympathischer
Reizung meist mit vorhanden zu sein
pflegen. Es mag daher zweckmäßiger er¬
scheinen, an Stelle von Vagotonie und
Sympathikotonie von allgemeiner vege¬
tativer Neurose zu sprechen. Bei der
Aufnahme eines vegetativ-nervösen Sta¬
tus, der nach Frank heute bei vielen
Krankheiten zu einem integrierenden Be-
ApHl
Die Therapie def Gegenwart 1921
155
standteile einer tiefer schürfenden Kran¬
kenuntersuchung gehört, kann man dann
durch pharmakodynamische Prüfung er¬
mitteln, ob und welche Zeichen, .sym¬
pathischer oder parasympathischer Über¬
erregbarkeit vorhanden sind. Dabei ist
freilich zu beachten, daß diese Prüfung
manchmal von unangenehmen Zuständen
begleitet ist. Wenn nun auch die Lehre
Eppingers und Heß' nicht mehr völlig
aufrechtzuhalten ist, so ist es aber
wiederum viel zu weitgehend, sie ganz
zu verwerfen, da in ihr zweifellos ein
richtiger Kern steckt. Es war nur eine
ungerechtfertigte Verallgemeinerung, an¬
zunehmen, daß das gesamte autonome
System stets tonisch erregt sei. Es ist
vielmehr sehr wohl möglich, daß an
einigen Organen jeder Tonus völlig fehlen
kann, an anderen einer vom den beiden
Antagonisten nur einen hemmenden Ein¬
fluß zu haben braucht. Ob nun ein uni¬
verseller oder nur ein partieller Sym-
pathicotonus vorhanden ist, müßte sich
zeigen lassen, wenn es gelänge, den ge¬
samten Sympathicus. elektiv auszüschal-
ten, da dann durch Fortfall der sympa¬
thischen Erregung geradezu ein ,,pseudo-
vagotonischer“ Symptomenkomplex ent¬
stehen müßte. Daß es sich aber dabei
nicht um parasympathische Übererreg¬
barkeit handelt, ginge daraus hervor, daß
die Funktionen derjenigen Organe, bei
denen ein Sympathicotonus gar nicht
Vorgelegen hat, nicht; geändert sein dürf¬
ten. Solch ein Mittel, den ganzen Sym¬
pathicus elektiv zu lähmen, besitzen wir
nun tatsächlich in dem. Histamin, einem
der wichtigsten Bestandteile des Mutter¬
korns, das aber auch im Organismus leicht
entstehen kann und ebenfalls einer der
wirksamen Faktoren bei der Vergiftung
mit Wittepepton und bei der Erzeugung
des anaphylaktischen Shocks zu sein
scheint. Bei Anwendung des Histamins
entsteht nun durch völlige Sympathicus-
ausschaltung ein sich je nach Art der
Dosierung mehr oder weniger rasch ent¬
wickelndes Bild eines parasympathischen
Symptomenkomplexes: Blutdrucksen¬
kung, Bronchialmuskelkrampf, beschleu¬
nigte Peristaltik, Temperatursturz. Da¬
gegen werden zumeist Vermehrung der
Sekretionen und eine Herzschlagverlang¬
samung vermißt, die doch bei Reizung
des Parasympathicus deutlich vorhanden
sein müßten. Der Beweis, daß es sich
bei der Histamintoxikose wirklich um
Sympathicushypotonie und Pseudovago-
tonie, nicht um echte Vagotonie handelt.
wird aber außerdem noch ex juvantibus
erbracht: denn zur Beseitigung ist das
sympathicusreizende Adrenalin dem Para¬
sympathicus lähmenden Atropin weit
überlegen. Die Entstehung der Sym-
pathicohypotonie wäre nun aber außer
durch Lähmung durch Histamin .durch
Verminderung des im Blute kreisenden
Adrenalins denkbar, das ja die Aufgabe
hat, die Funktion des Sympathicus elektiv
anzuregen. Zu verminderter Adrenalin¬
produktion kommt es bei Hypoplasie des
gesamten chromaffinen Systems, die
wiederum eine Teilerscheinung derjenigen
Konstitutionsanomalie ist, die man als
Status thymico-lymphaticus bezeichnet.
So erklärt sich (iie häufig beobachtete
Tatsache, daß der Status thymico-lympha¬
ticus mit parasympathicotonischen Er¬
scheinungen, die ihren Grund in Sym¬
pathicushypotonie haben, kombiniert ist.
Und auch jene plötzlichen Todesfälle im
kalten Bad oder bei der Narkose, bei .
denen die Sektion einen Status thymico-
lymphaticus ergibt, lassen sich nunmehr
eher deuten, wenn man die häufige Kom¬
bination dieser Konstitutionsanomalie
mit Sympathicohypotonie kennt. Die
sogenannte exsudative Diathese wäre
nach Franks Ansicht vielleicht .durch
eine Kombination einer konstitutionellen
Histamintoxikose mit Hypoplasie des
chromaffinen Systems und Sympathico¬
hypotonie zu erklären. Bei allen er¬
wähnten Krankheitsbildern ist demnach
der parasympathische Symptomenkom¬
plex lediglich eine Erscheinungsform der
Sympathicushypotonie, da nur solche
parasympathischen Gebiete betroffen
sind, die durch einen physiologischen
Sympathicustonus gehemmt zu sein
pflegen. Außer dieser Pseudovagotonie
gibt es aber doch eine echte Vagotonie.
Während Eppinger und Heß aber
meinten, daß diese in der Hauptsache
bei jugendlichen Individuen vorkommt,
ist Frank der Ansicht, daß sie gerade
dem höheren Alter eigentümlich ist.
Die echte Vagotonie gehört zum Bilde
der Paralysis agitans, die nach neueren
Forschungen bekanntlich auf einer
Erkrankung der Linsenkerne beruht,
deren regulierender Einfluß auf die
Centren des Muskeltonus aufgehoben
wird. Bei der Paralysis agitans finden
sich neben vielen Zeichen parasympathi¬
scher Übererregbarkeit, wie Speichel¬
fluß, Supersekretion, Tränenträufeln, vor
allem Rigidität der gesamten querge^
streiften Muskulatur, die Frank auf
20*
156
Die Therapie der Oegenwart 1921
Apri 1
Grund eigener Forschungen als para¬
sympathische Reizerscheinung anspricht.
Gestützt werden diese Anschauungen
durch Tierversuche. Im Tierexperiment
hat Sherrington gezeigt, daß nach
Durchtrennung des Hirnstammes in der
Vierhügelgegend nicht nur Muskelstarre
und Rigidität, sondern auch deutlich er¬
höhter Vagustonus hervorgerufen wird.
Es läßt sich also durch Ausschaltung der
Einflüsse des Vorderhirns experimentell
eine ,,klassische Vagotonie“ erzeugen.
So hat die Lehre von der Vagotonie
wesentlich andere Gestalt angenommen,
als ursprünglich Eppinger und Heß
ihr sie gaben. Das Verdienst dieser
beiden Forscher bleibt aber darin be¬
stehen, die Fortschritte auf den Ge¬
bieten der experimentellen Erforschung
des vegetativen Nervensystems für die
Klinik und auch für die Therapie in
weitem Umfange fruchtbar gemacht zu
haben. Nathorff.
(D. m.W. 1921, Nr. 6 u. 7.)
Therapeutlsctier Meinungsaustausch.
Mitteilung aus Dr. L. Schmidt und Dr. ;E. Weiß Kuranstalt Bad Pistyen.
Beitrag zu den Kopfschmerzen peripheren Ursprungs und deren
Heilung.
Von Dr. L. Schmidt, Bad Pistyen/
Diese Art Kopfschmerzen gehören
eigentlich in jene - Kategorie, die man
gemeinhin mit dem Namen ,,reflektorisch‘‘
bezeichnet. Das Wort ,,reflektorisch“
verschleiert jedoch den eigentlichen Sitz
der Erkrankung, oder betont denselben
nicht zur Genüge.
Nachdem die Lokalisation dieses
eigenartigen Leidens nicht nurdiagnostisch
von Interesse, vielmehr die einzige Mög¬
lichkeit ist, hartnäckige und jahrelang
bestehende Kopfschmerzen, die bisher
jeder Behandlung trotzten, in wenigen
Wochen mit absoluter Sicherheit auszu¬
heilen, haben wir schon in der Über¬
schrift an Stelle des üblichen Ausdruckes
,,reflektorische“ Kopfschmerzen lieber die
Bezeichnung ,,Kopfschmerzen peripheren
Ursprungs“ gewählt.
Im Prinzip sind diese Art Kopf¬
schmerzen ziemlich bekannt. Die Be¬
ziehungen zwischen Peripherie und zentral
gelegenen Organen sind namentlich in
den letzten Jahren klinischbesondersdurch
die Headschen Zonen, therapeutisch vor¬
züglich durch die Nervenpunkte von
Cornelius in das Bereich ärztlichen
Denkens und Handelns mit Erfolg ein¬
getreten und sollen hier nicht weiter er¬
örtert werden.
Es kommt uns diesmal nur darauf an,
die Aufmerksamkeit auf den Zusammen¬
hang zu lenken, der zwischen gewissen
Infiltraten der Nackengegend und
oft jahrealten Kopfschmerzen,
manchmal bis zur Kindheit zurück¬
reichend, bestehen und den' Kranken
fast keinen Tag oder keine Woche des
Lebens froh werden lassen.
Diese Infiltrate sind manchmal schon
bei der Inspektion zu erkennen, indem
man die Nackenpartien des Kranken einer
genauen Besichtigung unterzieht. (Strenge
zu achten ist auf die peinlich symme¬
trische Haltung des Kopfes, weil selbst
geringe Abweichungen in der Haltung
leicht pathologische Differenzen zwischen
beiden Seiten Vortäuschen könnten.)
Durch genaue Übersicht gelingt es
selbst noch so feine Unterschiede zwischen
der rechten und linken Seite wahrzu¬
nehmen, welchen bei der Betastung auch
fühlbare Unterschiede der Konsistenz
entsprechen. Wir bedienen uns der drei
mittleren Finger, die breitspurig erst auf
der einen Seite, dann auf der anderen,
von oben nach abwärts gleiten, zunächst
mit Vermeidung eines jeden tieferen
Druckes. Schon bei diesem Vorgänge
lassen sich auch geringe Unterschiede in der
Konsistenz der beiderseitigen Gewebe
leicht nachweisen. Auf der Suche nach
genauerer Orientierung, wie weit diese
Unterschiede in die Tiefe führen, ver¬
stärken wir allmählich den Druck, doch
stets mit Bedacht, durch Anwendung von
zu viel Kraft unser Tastgefühl nicht zu
schädigen. Die Betastung zieht so immer
weitere und tiefere Gebiete in die Unter¬
suchung ein.
Haben wir auf diese Weise den ganzen
Nacken abgetastet — anatomisch handelt
es sich dabei hauptsächlich um das
vom Cucullaris bespannte Gebiet —
finden wir häufig bald da, bald dort eine
kleinere, oder größere infiltrierte Stelle,
von der der Kranke keine Ahnung hatte,
und die' interessanterweise auch nicht
immer sonderlich druckempfindlich zu
sein scheint.
April
Die Therapie der Gegenwart 1-921
157
Was nun die Beschaffenheit dieser
Infiltrate betrifft, sind dieselben stets
diffus. Also nicht circumscript, wie etwa
,,Punkte“ oder ,,Knoten“. Flächenhaft
können sie die Größe eines Kindhand¬
tellers erreichen und der Tiefe nach kutan,
subkutan liegen, oder, durch die Muskeln
hindurch, bis an die Knochen reichen.
Einigermaßen nähern sie sich der Vor¬
stellung, die wir von den sogenannten
,,rheumatischen Schwielen“ haben.
Hinsichtlich des eigentlichen Sitzes
dieser chronischenVeränderungen,zweifel¬
los entzündlicher Natur, sind wir mangels
jeder Autopsie an jene Vorstellungen ge¬
bunden, die wir von den rheumatischen
Erkrankungen im allgemeinen haben.
Dies führt zu der Annahme, daß es
wahrscheinlich die präformierten Ge¬
bilde bindegewebiger Art sind, die zu
einem Ansatz von Bindegewebe in¬
folge Entzündung besonders disponiert
scheinen, also vorzüglich: subkutanes
Bindegewebe, Fascien und Sehnenenden,
das Bindegewebe zwischen den Muskel¬
fibrillen und Auflagerungen am Periost.
Schließlich ist ja die Endstation jeder
kleinzelligen Infiltration, so weit sie nicht
in Eiter übergeht, die bindegewebige
Entartung.
Die Kopfschmerzen, worüber die
Kranken seit Jahr und Tag klagen,
haben zumeist keinen einheitlichen Typus.
Die Kranken werden fast alltäglich oder
nur in Zwischenpausen von wenigen
Tagen durch dieselben befallen, oft schon
des morgens beim Erwachen. Die In¬
tensität der Schmerzen ist auch recht
verschieden, manchmal nur recht unan¬
genehm, ein anderes Mal geradezu
quälend. Auffallend ist, daß nur ein
Perzentsatz der Kranken über ausge¬
sprochene Abhängigkeit von schlechtem
Wetter klagt.
Das Verhältnis dieser, von Nackenin¬
filtraten irradiierten Kopfschmerzen zum
Rheumatismus überhaupt ist durchaus
nicht klar. Tatsache ist, daß ein großer
Teil der Rheumatiker, gleichviel welcher
Natur, selbst bei vorhandenen Nacken¬
infiltraten, eigentlich nicht gar zu oft
über Kopfschmerzen zu klagen pflegt.
Andererseits sei hervorgehoben, daß es
sich öfters auch um Leute handelt, die
den Badeort nicht zum Zwecke der
Heilung aufsuchen und nur als Begleit¬
personen wegen ihrer Kopfschmerzen uns
gelegentlich konsultieren. Mit anderen
Worten: es können auch Kopfs chm er¬
zen bei ,,Nichtrheumatikern“ ihren
Ursprung in N a c k e ji i n f i 11 r a t e n
haben. Ein Umstand, der scheinbar
häufiger vorkommt und die Aufmerksam¬
keit in hohem Maße verdient.
Haben wir das Leiden einmal genau
lokalisiert, gelingt es mit Leichtigkeit,
jahrealte, quälende Beschwerden in weni¬
gen Tagen, zumeist in ein bis zwei Wochen
zu heilen, ohne daß es bei der Kürze der
Zeit immer gelingt, auch die Infiltrate
restlos zur Resorption zu bringen.
Die Behandlung besteht in lokalen
Schlammapplikationen in Form von Um¬
schlägen von 40—45^ C, 32—36° R, eine
halbe bis eine Stunde lang täglich.
Ferner in eingehender — allerdings sach¬
kundiger — Massage des Infiltrates und
seiner Umgebung, wobei man sich auch
der Hilfe eines nicht zu starkenVibrations-
apparates bedienen kann.
Nach-unseren Erfahrungen gibt es in
der Medizin, wohl nicht viel gleich dankbare
Aufgaben, die mit relativ wenig Mitteln
so leicht gelöst werden können.
Erfahrungen mit Staphar (Maststaphylokokkeneinheitsvakzine)
nach Strubell.
Von Stadtarzt Dr. Dfenemann, Dresden.
Seit Jahren behandelte ich Furunkel
in meiner Praxis mit Injektionen von
Opsonogen. Ein gegen dieses Mittel sich
refraktär verhaltender Fall erinnerte mich
an eine Arbeit von Prof. StrubelP) über
Maststaphylokokken Vakzine. Da damals
das Präparat nicht im Handel war, über-
0 D. m. W. 1919, Nr. 38: Strubell, Über
Staphar. Weitere Veröffentlichungen: D. m. W.
192Ü, Nr. 18: Krebs, Über Erfahrungen mit
Staphar. Derm. Wschr. 1910, Galewsky, Über
Behandlung von Pyodermien und ähnlichen
Affektionen mit Staphar.
ließ mir Prof. Strubell größere Mengen
von ihm hergestellten ,Staphars“ (der
gesetzlich geschützte Name) zu Ver¬
suchen. Meinen Dank für diese kollegiale
Liebenswürdigkeit möchte ich ihm durch
Veröffentlichung meiner Erfahrungen be¬
weisen. Jetzt ist das Präparat im Handel
zu haben. Es wTd hergestellt von der
Abteilung Impfstoffwerke der Deutschen
Celluloidfabrik, Eilenburg.
Strubell, als Verteidiger und Weiter¬
bilder der Wrightschen Lehre bekannt,
glaubte auf die Forschungsergebnisse von
158 Die Therapie der
Deycke und Much hin, auch aus dem
StaphylQkokkenkörper Partialantigene
isolieren zu können. Es gelang ihm, auch
hier einen Eiweißkörper, einen Fettsäure¬
lipoidkörper und Neutralfettbestandteile
nachzuweisen. Die starke Giftigkeit des
Staphyloalbumins und die nachgewiesene
Wirksamkeit der übrigen* Bestandteile
gegen Staphylokokkenerkrankungen legte
ihm den Gedanken nahe, ob es nicht mög¬
lich sei, durch ein von ihm ausgearbeitetes
Mästungsverfahren eine Vermehrung der
Lipoidbestandteile im Bakterienkörper zu
erreichen. Das Gelingen dieses Versuchs
ließ ihn nun nicht nur ein weniger giftiges
Produkt gewinnen, sondern ermöglichte
auch die Anwendung im großen. Diese
Maststaphylokkeneinheitsvakzine nannte
er ,,Staphar“ (Staphylokokkenaufschlie-
ßungsrest).
Staphar kommt in den Handel in
Aufschwemmungen 1 : 1000. Seine An¬
wendung ist sehr einfach: Intrakutane
oder intramuskuläre Injektionen in der
Nähe der Infektionsstelle. Die Dosis ist
von Strub eil auf 0,2—0,5ccm angegeben:
ich und andere haben unbeschadet bis
1 ccm gegeben, ja sogar 2—4 ccm sind
schadlos vertragen worden.
Wenn ich Erfahrungen mit Staphar
zuf allgemeinen Kenntnis bringe, so ist
es nicht meine Absicht, die Wirksamkeit
der Staphylokokkenvakzine überhaupt zu
bekräftigen. Hierüber ist genug ge¬
schrieben. Es werden aber dem Prak¬
tiker ebenso Wie mir Fälle von Staphylo¬
kokkenerkrankungen begegnen, bei denen
die bisher bekannten Präparate wirkungs¬
los sind. An solchen Fällen vermag dann
das Staphar, seine Überlegenheit zu be¬
weisen.
Ich habe im Laufe eines Jahres mir
über 40 Fälle Notizen gemacht, fast alle
betrafen eine Folge von Furunkelbil¬
dungen. Wenn nicht das Auftreten neuer
Furunkel mit einigen Einspritzungen ver¬
hindert wurde, erfolgte doch die Bildung
dann unter weniger stürmischen und
schmerzhaften Erscheinungen, schließlich
kam es nur zu kleinen Follikulitiden, die
reaktionslos eintrockneten. Unangenehme
Nebenwirkungen habe ich nie erlebt.
Der erste Fall, der mich zur Verwendung von
Staphar veranlaßte, betraf einen Oberleutnant,
der im Felde 1918 an einer Furunkulose erkrankte,
die jeder Behandlung trotzte. Er hatte auch in
früheren Jahren Öfters an Furunkuloseanfällen
gelitten. Außer Anämie bestanden keine Krank¬
heitszeichen. Er trat im Mai 1919 in meine Be¬
handlung. Es fanden sich mehrere große Furunkel
mit starker Infiltratbildung. Eröffnung erfolgte
Gegenwart 1921 ^ April'
meist spontan. Allgemeinstörung bestand nicht,
die früheren Erkrankungen hatten dem Körper
eine gewisse Resistenz verschafft. Ich begann
mit den von mir damals verwendeten Opsono-
geninjektionen. Eine lokale Behandlung außer
Schutzverbänden erfolgte nicht. Anfangs guter
Erfolg. Bald traten neue Furunkel auf. Schwefel¬
bäder und Schwefelsalbe, Alkoholresorcin,,Queck¬
silberpräparate und andere lokale Maßnahmen
wirkungslos. Auch eine erneute Opsonogenkur
mit stärksten Dosen im Oktober blieb ohne Erfolg.
Da entsann ich mich Strubells Veröffentlichung.
Das von ihm zur Verfügung gestellte Präparat
wurde in Dosen von 0,4 im Dezember angewendet.
Es erfolgten 10 Injektionen bis zur Menge von
1,0 ccm. Die Fu'runkel verschwanden ziemlich
rasch, um bis 27. Dezember 1920 nicht wieder
aufzutreten. An diesem Tage erschien Patient
mit einem Furunkel an der Hand. Viermal
Staphar 0,5 brachte Spontaneröffnung und
Heilung ohne Folgeerscheinung.
Vom Dezember 1919 ab habe ich nunmehr
nur Staphar gegen Staphylokokkenerkrankungen
angewandt. Wirkungslos erwies es sich bei einem
Fall von Alveolarpyorrhoe, bei Akne juvenilis,
Mastitis. Eine gute Einwirkung erzielte ich auf die
1920 so häufigen, mit Pustelbildung einhergehen¬
den Pyodermieen.
Erwähnenswert erscheint mir der Fall eines
Arbeiters, der am 24. August 1920 an diffuser
Schwellung, Rötung und Schmerz der rechten
Hand erkrankt war. Ein Chirurg machte eine
tiefe Incision zur Entleerung des Panaritiums.
Vorübergehender Besserung folgte Lymphangitis
mit starker Schwellung des ganzen Unterarmes,
die Incision entleerte keinen Eiter mehr. Nach
der dritten Injektion Staphar Rückgang der
Erscheinungen, nach fünfter Incision Arm völlig
abgeschwollen. Auf eine circurnskripte fluk¬
tuierende Stelle wird eingestochen. Nach Ent¬
leerung des Eiters: Heilung.
Auch drei Fälle von erysipelartiger Haut¬
rötung und Schwellung an den Fingern nach
kleineren Verletzungen, ohne daß es zur Eiter¬
bildung kam, wobei sich die Entzündung von Tag
zu Tag zentralwärts ausbreitete, kamen auf drei
S.taphareinspritzungen zu Stillstand und Heilung.
Ein 60 Jahre alter Diabetiker litt seit Wochen
an Nackenfurunkeln. Behandlung bisher erfolglos.
5 Staphätinjektionen brachten kurze Besserung.
Nach STagen erneut karbunkelartiges tiefsitzendes
Infiltrat. Nach weiteren 5 Injektionen Spontan¬
eröffnung und glatte Heilung. 6 Wochen später
erneuter tiefsitzender Furunkel am Nacken.
Staphar beseitigt schnell Schmerz und Allgemein¬
erscheinungen. Am dritten Tage Spontanentlee¬
rung. Acht Wochen darnach wieder Furunkel
im Nacken. Erneut 5 Staphar. Darnach seit
Monaten kein Rezidiv.
Am 6. Juli 1920 trat ein 71 Jahre alter Herr
mit Karbunkel des Nackens in Behandlung. Der
angeblich kleine Furunkel hatte sich zwar unter
Umschlägen spontan eröffnet, es bestand aber ein
nur blutiges Serum absondernder Krater und
eine starke Infiltration der Umgebung, die sich
rasch weiter auf Kopf und Schultern ausbreitete.
Ein Chirurg exzidierte ein kleinfingergroßes Ge-
websstück und lehnte weitere Behandlung des sich
bösartig ausbreitenden Karbunkels ab. Das In¬
filtrat ging bis zum Wirbel, bis zu den Ohr¬
muscheln und zu den Spinae. Die Gewebs-
interstitien in der Excision entleerten auf Druck
Eitertröpfchen. Es bestand Fieber und große
Hinfälligkeit. Staphar 0,5 erleichterte Patienten
so, daß er in die Sprechstunde kommen konnte.
159
April • Die Therapie der Gegenwart 1921
Auf weitere Injektionen fiel Fieber ab, AUgemein-
zustand besserte sich. Es erfolgte Abgrenzung
des erkrankten Gewebes und im Verlauf von
vier Wochen stieß sich ein 15 cm breiter und
10 cm langer gangränöser Teil des Haut- und
Unterhautzellgewebes unter profuser Eiterung
ab. Es erfolgte gute Heilung ohne störende
Narbenbildung. Besonders auffällig war hier
dcs dauernd gute Allgemeinbefinden d(s Patienten
trotz der schweren Erkrankuhg.
Einen interessanten Verlauf nahm die Behand¬
lung von Schweißdrüsenabszessen der rechten
Achselhöhle bei einem 33 Jahre alten Arbeiter.
Mehrere bis taubeneigroße Tumoren mit großer
Schmerzhaftigkeit und Rötung der Haut und
diffuser Infiltration der Achselhöhle verloren auf
4 Staphar ihre weiche teigige Beschaffenheit, die
fühlbaren Tumoren wurden kleiner, derber. Die
ganze infiltrierte Partie der Achselhöhle
schrumpfte zu einer derben, harten, brettartig
den Rippen anliegenden Platte zusammen, sodaß
ein Heben des Armes ähnlich wie bei einer Narben¬
schrumpfung unmöglich wurde. Es bestand
andauernd Fieber. Es wurde schließlich durch
Incision ein fühlbarer Abszeß entleert und Heilung
trat ein.
Bei einem 30Jährigen Patienten mit Sykösis
parasitaria, welche bis zu haselnußgroßen, derben,
umschriebenen, tiefsitzenden Knoten geführt
hatte, waren die verschiedenen Behandlungen
wirkungslos geblieben. Ich verzichtete auf jede
äußere Behandlung außer Bepinselung mit Jod¬
tinktur und injizierte Staphar. Nach vierwöchiger
Kur waren die Knoten bis auf Reste verschwunden
und keine neuen mehr aufgetreten. Vier Wochen
später stellte sich Patient völlig erscheinungslos
vor und blieb so bis heute.
Wie gesagt, verzichte ich in diesem
Bericht auf Anführung aller der Fälle von
Furunkulose, in denen eine schnellere
Heilung als sonst erreicht oder das Auf¬
treten neuer Erscheinungen unterbunden
wurde; aber je länger ich mit Staphar
arbeite, um so sicherer fühle ich mich in
der Behandlung der Furunkulose, sodaß
ich Spaltungen, wenn es sich nicht um
sehr leicht erreichbare verflüssigte Eiter¬
herde handelt, stets unterlasse und auch
jede Lokalbehandlung, abgesehen, von
Bädern und Alkoholumschlägen in man¬
chen Fällen und Schutzverbänden, für
überflüssig halte. Einen eigentlichen Mi߬
erfolg mit Staphar habe ich bisher nicht
erlebt:
Aus der Privatfrauenkliuik Dr. Scklickting-Wernigerode.
Unsere Erfahrungen mit Nirvanol bei Narkosen.
Von Dr. Schlichting.
Wenn ich meine Erfahrungen mit
Nirvanol bekannt gebe, so bin ich dazu
veranlaßt dadurch, daß jetzt wiederholt
über Nirvanolvergiftungen berichtet
wurde und Autoren wie Reye (Ham¬
burger Ärztlicher Verein 9. März 1920)
und Atzrott (Ther. d. Gegenw. 1920,
Heft 10) in ihrer Verurteilung des Mittels
so weit gehen, daß sie es dem freien
Handel ganz entzogen sehen möchten.
,,Nirvanol ist nicht als ein Schlafmittel
anzusehen, das ähnlich wie Veronal, Ada-
lin, Luminal eine sichere Wirkung beim
Menschen erzielt. Bei seiner Anwendung
werden häufiger schwere Nebenerschei¬
nungen, die einer Art Serumkrankheit
— Anaphylaxie — ähneln, beobachtet.“
(Atzrott.)
Die Erfahrungen an dem Material
meiner Frauenklinik mit Nirvanol recht-
fertigen dies ablehnende Urteil nicht. Ich
habe die Notizen über die von uns an¬
gewandten Schlafmittel gesammelt. Die
Beobachtungen dürften darum noch wert¬
voller sein, weil in dem kleinen Betrieb
der behandelnde Arzt seine Kranken
zweimal täglich sieht und deshalb alle
Wirkungen und Beschwerden genau beob¬
achten kann, besser, als es in der Privat¬
praxis und auf großen Krankenabtei¬
lungen möglich ist.
Vom Januar 1919 bis Ende November
1920 haben wir Nirvanol 215 mal (0,5,
einmal 1,0) gegeben. Seitdem noch weitere
24 mal.
Selbstbeobachtung: Zweimal habe ich
in schlaflosen Perioden je 0,5 Nirvanol
genommen und danach einen festen zehn-
bis elfstündigen ruhigen, träum losen
Schlaf gehabt, aus dem ich erquickt und
mit Wohlbehagen aufwachte. Zunächst
fällt auf, daß man noch etwas unorientiert
ist. Nach dem Waschen ist jede Spur
von Müdigkeit geschwunden. Von keinem
anderen Schlafmittel habe ich bei der
gleichen Dosis solch ausgiebige Wirkung
verspürt. (Ähnliches berichtet Br es 1er
von seinem Selbstversuch.) Üble Neben¬
oder Nachwirkungen irgendwelcher Art
sind bei den 239 Fällen in meiner Klinik
nicht beobachtet bis auf einen Fall (all¬
gemeines Exanthem nach lokaler Rönt¬
genbestrahlung d. M. W. 1920 S. 1337),
bei dem ich an eine Nirvanolwirkung
auch gedacht habe.
Was uns das Nirvanol so wertvoll ge¬
macht hat, ist die narkosesparende Wir¬
kung. Wir geben einige Stunden vor der
Operation 0,5 Nirvanol. Von Schwestern
unterstützt, erscheint die Patientin leicht
taumelig und sehr müde im Operations¬
saal; sie hat kein Interesse an den Dingen
160
Die Therapie der Gegenwart 1921
April
der Umwelt und will nur schlafen. Das
Unangenehme der Stunden kurz vor der
Operation und der Vorbereitungen im
Operationssaal ist für die Patientin nicht
vorhanden. In dieser seelischen Schonung
erblicke ich einen besonders wichtigen
Faktor zur Empfehlung dieses Mittels.
Die Narkose verläuft leicht und fast
immer ohne Störungen. Der Verbrauch
an Narkosematerial ist sehr gering, auch
bei langdauernden Operationen. Wir ver¬
wenden in der Regel das Gemisch II
(Chloroform 37,8, Äther 55,0, Aethyl-
chlorid 6,3), bei dem wir in den letzten
Wochen das Aethylchlorid fortgelassen
haben, weil es nicht immer in einwand¬
freier Qualität in den Handel kommt.
(Narkoseschwester und Assistenz klagten
über Reizungen der Schleimhäute und
auch bei den Kranken wurden postope¬
rative Reizungen der Augenbindehäute
und oberen Luftwege beobachtet.) Seit
dem Gebrauch von Nirvanol sind wir von
Einspritzungen vor der Operation — wir
gaben früher Morphiumscopolamin oder
Morphium in den üblichen Dosen — ganz
abgekommen, weil sie überflüssig sind.
Dadurch ist das postoperative Erbrechen
ganz erheblich eingeschränkt.
Wer zum ersten Male nach Nirvanol-
gaben Narkosen macht, täuscht sich
immer über die Tiefe der Narkose, weil
die Kranken schon ohne Narkose schlafen
und, wenn keine Erfahrung des Narkoti¬
seurs vorliegt, erlebt man bei Beginn der
Operation Abwehrbewegungen. Ein Ex-
citationsstadium wird nur selten beob¬
achtet.
Aus der sehr umfangreichen Literatur,
die ich zur Verfügung habe, kann man
folgendes über Nirvanol entnehmen:
1. Die meisten Autoren loben das
Mittel wegen seiner guten Wirkung, es
wird ein langdauernder, fester Schlaf er¬
zielt. Auch die völlige Geschmacklosig¬
keit wird hervorgehoben.
2. Aus Irrenanstalten liegen zahlreiche
gute Beobachtungen vor. Es hat sich
u. a. in der Therapie der Epilepsie und als
Anaphrodisiakum bewährt.
3. Auch in der Kinderheilkunde ist
Nirvanol mit Erfolg angewendet (Röder).
4. Es sind eine Reihe von Vergiftungen
ohne tödlichen Ausgang beobachtet; es
wurden 1,5+ 2,4 g (Pensky), 5—6 g
(Oolliner), 2,7 g (Schlichtegroll) ent¬
gegen ärztlicher Verordnung auf einmal
genommen.
5. Häufiger wird eine leichte Tempe¬
raturerhöhung und nicht selten ein typi¬
sches Arzneiexanthem (am häufigsten von
Gei 11 unter 85 Patienten 17 mal) beob¬
achtet. Dies Exanthem tritt nach mehr¬
fachen Dosen häufiger auf, selten nach
einer Gabe.
6. Es sind mehrere Todesfälle nach
Nirvanolgaben bei Kranken beobachtet
(Majerus, Reye).
Vergiftungen nach Einnahme größerer
Mengen eines Schlafmittels sind in der
Literatur über fast alle Schlafmittel be¬
schrieben, ich will hier nur den Todesfall
nach einer geringen Gabe Veronal bei
gleichzeitiger Darreichung von Filix
(Harnack, Vrtljschr.f.gerichtl. M., Bd.38
Heft 1) anführen.
Diese Vergiftungen können nur da¬
durch emgeschränkt werden, wenn Schlaf¬
mittel nicht mehr in viel zu großen Ori¬
ginalpackungen in die Hand des Kranken
kommen, sondern der Arzt nur so viel
verschreibt, als für ein oder zwei Gaben.
nötig ist und gegen den Apotheker un-
nachsichtlich in jedem Fall eingeschritten
wird, wo entgegen der Verordnung mehr
abgegeben wurde.
Arzneiexantheme werden nach vielen
unserer gebräuchlichen Mittel (Jod, Ada-
lin, Antipyrin u. a. m.) beobachtet. Daß
sie bei meinen zahlreichen Nirvanolfällen
nicht auftraten, mag vielleicht daran
liegen, daß wir das Mittel vor oder auch
nach den Operationen auf nüchternen
Magen oder bei flüssiger Kost gaben.
Sehr interessant ist die Mitteilung von
GeiII, der in einem Fall, wo im März
nach 11 Dosen (in toto 4,6 g) Exanthem
auftrat, im August nach 17,6 g in 29 auf¬
einander folgenden Dosen kein solches
beobachtete. Kurse h mann empfiehlt
gleichzeitig Anwendung von Calcium bei
Idiosynkrasie.
Die Todesfälle mahnen natürlich zu
großer Vorsicht, dies gilt besonders für
die freie Praxis.
Möglichst schnell muß klinisch genau
studiert werden, wann normalerweise eine
Nirvanolgabe ausgeschieden ist; darüber
fehlen noch Erfahrungen. — Zur Ein¬
leitung der Narkose kann ich das Mittel
auf Grund meiner Erfahrungen emp¬
fehlen, zumal wo die Ersparnis an Nar-
.kosemitteln, neben dem Vorteil für die
Kranken, wirtschaftlich auch ins Gewicht
fällt.
F ür die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, BerlinW57.
1921 , .> ■ Therapie der Gegenwart. Anzeigen. ' • ... , 5. Heft
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Die Therapie der Gegenwart
1921
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Mai
Nachdruck verboten.
Eröffnungsrede zum XXXIII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für innere Medizin, Wiesbaden, 18.—21. April 1921.
Von G. Klemperer.
Nie ist unsere Gesellschaft in tieferer
Bewegung zu ihrer Tagung zusammen¬
getreten als heute, da wir zum ersten
Male nach dem Schicksalsjahre 1914 uns
in unserer Geburts- und Heimatstadt zu¬
sammenfinden. So mag dem Sohne zumute
sein, welcher nach langer Frist ins Eltern¬
haus heimkehrt, das vom verheerenden
Blitzstrahl getroffen worden ist. — Die
Trauer der Brüder ist seine Trauer.
Tiefe Erschütterung läutert und be¬
freit den Menschen; er kehrt zurück zum
Urständ der Natur und fühlt, wie innig
und untrennbar er dem Boden der Heimat
verwachsen ist.
Wir sind versammelt als Ärzte zur
Aussprache über unsere beruflichen Ziele,
zur Förderung unserer Kunst und Wissen¬
schaft. Aber wir sind deutsche Ärzte.
Nie haben wir inniger die Heimat geliebt,
als da wir sie im Unglück wissen, und
übermächtig ist in uns der Wunsch, mit¬
zuhelfen am Wiederaufbau des gestürzten
Vaterlandes. Mit freudigem Stolz emp¬
finden wir, daß kein Stand mehr dazu
berufen ist als der ärztliche. Wenn jede
Hand und jedes Hirn in Deutschland sich
rühren muß, um die Heimat aufzurichten,
welche Bedeutung kommt dann dem
Stande zu, der für die Gesundheit der
Schaffenden zu sorgen hat? Was wir für
das gemeine Wohl im Krieg und Frieden
geleistet haben, liegt offen vor aller Augen.
Hätte unser unbesiegtes Heer wohl vier
lange Jahre, die Heimat vor dem über¬
mächtigen Feinde schützen können, wenn
nicht ratend, helfend und heilend ihm
die Ärzte zur Seite gestanden hätten,
von denen so viele ihre Treue mit dem
Tode besiegelt haben!
Und die Heimat selbst, gewiß, es steht
schlimm um sie; aber wie würde es wohl
in Deutschland aussehen, wenn nicht
ärztliche Kunst die Seuchen ferngehalten
hätte, die unsere Grenzen tagtäglich be¬
drohten? Gar mancher, der heute im
rosigen Lichte atmet, ahnt wohl nicht,
daß er das Leben nur der unermüdlichen
Arbeit der Ärzte verdankt.
Wenn wir heute in dieser feierlichen
Stunde das Gelübde ablegen würden,
dem Vaterlande zu dienen wie bisher,
wahrlich, wir dürften uns damit ^be¬
gnügen. Aber begreiflich ist es in der
Hochspannung unserer vaterländischen
Begeisterung, daß wir uns fragen, ob wir
irgendwie die bessernde Hand anlegen
können, um das Maß unserer Leistungen
zu vermehren.
Könnte vielleicht eine noch stärkere
Einwirkung der Ärzte auf die Gesundheit
der Volksgenossen stattfinden, wenn eine
andere Ordnung des Verhältnisses von Arzt
zu Patienten in Frage käme? Wenn der
Arzt aufhörte, der freigewählte Berater
des Einzelnen zu sein, um der vom Staat
eingesetzte Versorger einer Gemeinschaft
zu werden ? Die &örterung dieser Stan¬
desfrage fällt nicht ganz aus dem Rahmen
der Probleme, mit denen wir uns satzungs¬
gemäß zu befassen haben; da wir für
den Fortschritt der Krankenbehandlung
sorgen, ist es der Stand der Kranken,
dessen Wohlfahrt wir dienen. In deren
Interesse darf gesagt werden, daß kein
menschliches Verhältnis so wie das von
Arzt zu Patient ganz individualistisch,
nur auf Persönlichkeit basiert ist und
jeder planwirtschaftlichen Ordnung wider¬
strebt. Es darf als eine der Natur dieses
Verhältnisses entsprechende Entwicklung
bezeichnet werden, daß selbst in den
Organisationen, welche nach ihrem Wesen
und ihrem Aufbau zur beamtlichen Ord¬
nung des ärztlichen Berufes hinstreben,
sich mit zwingender Gewalt die un¬
begrenzte freie Arztwahl durchzusetzen
beginnt.
Viel näher indes liegt uns die Frage,
ob die Leistungen der Ärzte gesteigert
werden können dadurch, daß wir ihre
Ausbildung verbessern. Sicherlich ist
diese Frage nicht dringend, denn die
Leistungen der deutschen Ärzte werden
willig oder widerwillig von der 'Welt
anerkannt und wo sie bezweifelt worden
sind, hat sich die Falschheit der Be¬
schuldigungen stets erweisen lassen.
21
162
Die Therapie der Gegenwart 1921
Mai
Aber es entspricht dem deutschen
Wesen, namentlich in der jetzigen Zeit,
wo der Ruf nach Reform an Haupt und
Gliedern durchs Volk tönt, daß wir
unseren Blick prüfend auf unser ,Unter¬
richtswesen richten. Einig sind *alle in
der Grundfrage, daß am System unserer
Ausbildung, an der innigen Verschwiste-
rung von Wissenschaft und Praxis nicht
gerüttelt werden darf. Stets hat es den
Inhalt der Eröffnungsreden unseres Kon¬
gresses gebildet, in welchem Maße Theorie
und Praxis sich im ärztlichen Leben zu
ergänzen haben. Es besteht volle Einig¬
keit darüber, daß die Fortschritte der
Praxis von der Vertiefung der wissen- ,
schaftlichen Durchbildung ablrängen. Was
die ;ärztlichen Reformbestrebungen in
letzter Zeit kennzeichnet, sind organisa¬
torische Fragen, die sich zum Teil zu
gewissen Forderungen verdichtet haben,
welche mit dem Anspruch nach gesetz¬
licher Formulierung auftreten.
Von diesen Forderungen scheint mir
eine allgemeiner Zustimmung wert zu
sein. Daß nämlich der angehende Medi¬
ziner in der Krankenpflege praktisch
unterrichtet werde. Ich habe diese
Forderung seit Jahren mehrfach mit
Erfolg praktisch durchgeführt und glaube,
daß es nützlich und förderlich für den
jungen Studenten der Medizin ist, wenn er
im Beginn des ersten und zweiten Studien¬
jahres je sechs Wochen als Wärter im
Krankenhause dient. Diese Einrichtung ,
scheint mir nicht nur wichtig für die
Grundlagen der Berufsbildung, d. h. für
die Erlernung der Krankenpflege, die die
unentbehrliche Grundlage der Kranken¬
behandlung ist. Ich denke mir den
Pflegedienst vor allem als ein Mittel der
Auswahl und der Siebung. Unser Beruf
ist überfüllt, er bietet nur noch wenigen
Platz, immer dringender wird die Pflicht,
Auswahl zu halten unter denen, die sich
dem Dienst der Heilkunst widmen. Eine
behördliche Auswahl oder ein Numerus
clausus scheint mir nicht möglich. Um
so wichtiger ist die Pflicht der Selbst¬
prüfung des Nachwuchses, ob er die
innere Eignung für den ärztlichen Beruf
besitzt. Dazu bedarf es nicht nur der
Gaben des Wissens und des Denkens,
sondern vor allem der Fähigkeit der
Hingabe, die notwendig ist, um die
niedrigsten Dienste auch dem geringsten
Mitmenschen zu leisten. Die ärztliche
Helmzier heißt: ,,Ich dien’!“ Die ärzt¬
liche Kunst ist auf Menschenliebe basiert,
und nur wer so innige Liebe zum Men¬
schen besitzt, daß ihn das Bewußtsein,
gedient und geholfen zu haben, über
Mühsal und Enttäuschungen hinweghebt,
der ist geeignet, Arzt zu werden.
Neben der seelischen Eignung aber
diene der Krankenpflegedienst der Aus¬
wahl im Sinne der körperlichen Auslese.;
indem jede Anforderung im Tages- und
Nachtdienst gestellt wird, zeige es sich,
ob die Körperkraft des Anfängers den
außerordentlichen Anforderungen des
ärztlichen Berufes gewachsen ist. Hierbei
denke ich namentlich an unsere weib¬
lichen Kolleginnen, für welche die körper¬
lichen Anforderungen neben den geistigen
und seelischen vielfach zu hoch sind.
Ich selbst bin von jeher für die Freiheit
des Frauenstudiums, auch des ärztlichen,
eingetreten, aber die Erfahrung berech¬
tigt mich zu der Mahnung an alle Eltern
und Erzieher, sie sollen aufs reiflichste
überlegen und insbesondere die Körper¬
eignung prüfen, ehe sie ihre Töchter dem
schwersten aller Berufe zuwenden, j ’•
So sehr, ich einem praktischen Kran¬
kendienst zustimme, ,so wenig kann ich
mich mit einer zweiten Forderung be¬
freunden, welche das ärztliche Studium
auf sieben Jahre verlängern will. Gewiß
sind die theoretischen Anforderungen an
die Ärzte von Jahr zu Jahr gewachsen,
hat der wissenschaftliche Stoff erheblich
zugenommen. Aber dennoch muß sich
durch Abstoßung von Überflüssigem die
Möglichkeit ergeben, das Studium zu¬
sammenzudrängen. Es auf sieben Jahre
verlängern, heißt unseren Beruf zu einem
pliitokratischen zu machen, heißt, die
wirtschaftliche Selbständigkeit der jungen
Ärzte, speziell ihre Heiratsmöglichkeit
in schmerzlicher Weise hinausschieben.
Ich glaube, daß der leitende Gedanke
bleiben muß, daß der junge Arzt die
Grundlagen der Berufsübung zu lernen
hat; daß er ein vollkommener Arzt
werde, das kann ihn nur das Leben, nur
die verantwortliche Ausübung ärztlicher
Tätigkeit lehren. Es muß gelingen, die
theoretische Vorbildung in zwei Jahre
zusammenzudrängen. Bei fleißiger Aus¬
nutzung der Ferien für das Selbststudium
müssen vier Semester für Anatomie,
Physiologie, Chemie und Physik aus¬
reichen; insbesondere wenn die Präpa¬
ri er Übungen auf ein Semester beschränkt
und dafür wahlweise physikalische oder
chemische Laboratoriumsarbeit ein¬
gesetzt wird, kann der Unterricht den
jungen Mediziner genügend naturwissen¬
schaftlich denken lehren und so weit
Die Therapie der Gegenwart 1921
163
Wai
vorbilden, daß auf der gegebenen Grund¬
lage das ärztliche Lehrgebäude mit Vor¬
teil aufgerichtet werden kann. Weitere
sechs Semester müssen für die ärztliche
Ausbildung ausreichen; für die Innere
und chirurgische und Frauenklinik halte
ich je vier Semester für unbedingt not¬
wendig. In dieser Zeit lernt der Medi¬
ziner zur Genüge ärztlich denken und
handeln. Wenn der klinische Lehrer
stets auf der physiologischen Grundlage
aufbaut und dem Schüler Gelegenheit
gibt, durch eigene Beobachtung und
Untersuchung das Verständnis der Ur¬
sachen und des inneren Zusammenhanges
der Krankheitszeichen zu erlangen, dann
reichen sicherlich vier Semester, um Er¬
kennung, Beurteilung und Behandlung
der Krankheiten zu lernen; dann gewinnt
der Schüler die innere Kritik und die
innere Freiheit, sich auf jedem Gebiete
ärztlicher Kunst selbständig zurechtzu¬
finden. In sechs klinischen Semestern
bleibt neben -dem eigentlichen klinischen
Unterricht Zeit genug, um die notwen¬
digen Kurse der physikalischen und chemi¬
schen Diagnostik, der praktischen Chi¬
rurgie und Geburtshilfe durchzumachen,
um pathologische Anatomie und Physio¬
logie zu lernen und von den wichtigsten
Nebenfächern wahlweise so viel Kennt¬
nisse zu erringen, als für den Beginn'der
ärztlichen.-Praxis notwendig sind.
Ich stehe auf dem Standpunkt derer,
welche den gründlichen Unterricht in
Spezialfächern nicht der eigentlichen ärzt¬
lichen Studienzeit zuweisen; die spezia-
listische Ausbildung kann nur durch
Assistenz in Spezialkliniken und bei
Spezialärzten gewonnen werden.
Bei mfeinem Plane ist freilich not¬
wendig, daß die Studierenden die Ferien
genügend ausnützen. Aber ich glaube,
den Luxus von fünf Monaten Ferien
dürfen sich unsere Studenten nicht mehr
leisten. Sie sollten sechs Wochen in den
Osterferien und zehn Wochen in den
Herbstferien in den Hospitälern ver¬
bringen. Und damit komme ich zu
einer der Hauptfragen, die jetzt zur
Diskussion stehen: Soll das praktische
Jahr auch in Zukunft von den Ärzten
abgeleistet werden? Ich unterschätze
nicht die Bedeutung der Gründe, welche
dafür sprechen und dennoch ist es meine
feste Überzeugung, daß die Nachteile der
Verlängerung eines erwerbslosen Zustan¬
des allzu schwerwiegend sind, w’ährend
die Vorteile der Hospitalausbildung auch
innerhalb der fünfjährigen Studienzeit
'erreicht werden könnten. Ich wäre dafür,
daß die jungen Mediziner in den drei
Jahren ihrer klinischen Studienzeit in
jedem Jahr sechs Oster- und zehn Herbst¬
wochen als Famuli im Krankenhaus tätig
sein müssen. Diese 48 Wochen prakti¬
schen Krankenhausdienstes sollen das
praktische Jahr ersetzen. Man hat ge¬
sagt, daß es nicht Anstalten genug in
Deutschland gäbe, die Zahl der Studie¬
renden in dieser Zeit unterzubringen.
Aber die Zahl wird bestimmt ausrei.chen,
wenn man auf zwanzig Krankenbetten
einen Famulus einstellt. In der eingehen¬
den Beschäftigung mit je zwanzig Kran¬
ken wird der Famulus Fühlung mit den
Kranken gewinnen und die medizinische
Technik sich aneignen, die er notwendig
braucht. Es ist außerordentlich erfreu¬
lich, daß unsere großen Kommunen die
Krankenhäuser der ärztlichen Ausbildung
zur Verfügung stellen. Unsere Stadt-
Väter haben erkannt, daß der Nutzen
für die Kranken um so größer ist, je ein¬
gehender die ärztliche Untersuchung und
Versorgung stattfindet, und daß sie sich
selbst einen Dienst leisten, wenn sie für
die Heranbildung eines leistungsfähigen
Ärztestandes sorgen.
Wenn also das Studium in fünf
Jahren abgeschlossen ist, müßte freilich
die Ableistung des Examens in möglichst
kurzer Zeit ermöglicht werden. Es sollte
nur in den Hauptfächern stattfinden und
sich auf die unbedingt notwendigen Er¬
fordernisse der wissenschaftlichen Grund¬
lagen und der ärztlichen Praxis be¬
schränken unter bewußtem Verzicht auf
Gedächtniswerk und Ornamentik.
Wenn ich diese Wünsche für die
Organisation des Unterrichts der Schüler
ausspreche, so möchte ich einen weiteren
für den Nachwuchs der Lehrer äußern.
Die Tr'äger des medizinischen Unterrichts
in Deutschland stehen heute auf einer
anerkannten Höhe. Wir dürfen mit
Befriedigung sagen, daß es da keiner
Erneuerung bedarf. Die Hochschul¬
reform wird sicherlich nützlich sein, in¬
dem sie den Kreis der bevorrechteten
Lehrer vergrößert und ihre Auswahl er¬
leichtert, aber auch hier handelt es sich
um organisatorische, nicht um prinzipielle
Änderung. Aber es war in der Vergangen¬
heit leichter möglich, die wissenschaft¬
liche Qualität des akademischen Nach¬
wuchses sicherzustellen, als es in Zukunft
sein wird. Die meisten Kliniker ver¬
langten von ihren Assistenten, daß sie
21*
164
Die Therapie der Gegenwart 1921
Mai
eine abgeschlossene methodische Aus¬
bildung in irgendeinem Gebiete der Wis¬
senschaft durchmachten, ehe sie zur
Klinik übertraten. So großer Zeitauf¬
wand wird in Zukunft kaum mehr mög¬
lich sein und es wird auch nicht den
Prinzipien unserer Zeit entsprechen, sie
nur den Söhnen der Reichen zuteil
werden zu lassen.
Deswegen möchte ich den Wunsch
aussprechen, daß an jeder Klinik von
Staatswegen eine überzählige Assistenten¬
stelle eingerichtet werde, deren jeweiliger
Inhaber ein volles Jahr zu rein wissen¬
schaftlicher Ausbildung einem theore¬
tischen Institut überwiesen würde. Die
Früchte solcher Arbeit werden dem kli¬
nischen Dienst, dem Unterricht und vor
allen Dingen der Selbstentwicklung der
künftigen Kliniker zugute kommen.
So sehr ich gesucht und geprüft habe,
ich habe im Gebiet der ärztlichen Aus¬
bildung ■ keine anderen Stellen finden
können, an denen wir verbessern köhjiten,
um unseren Stand zu befähigen, dem
deutschen Volke intensiver und wirkungs¬
voller zu dienen als bisher.
Es geht in der Medizin wie auf anderen
Gebieten deutschen Geisteslebens; wir
brauchen uns unserer Leistungen nicht
zu schämen. Die deutsche Politik hat
die Niederlage erlitten, an deren Folgen
wir so entsetzlich schwer zu tragen
haben; die deutsche Kultur steht fest.
Die deutsche* Eiche ist entlaubt und vom
Sturm umtobt, aber tief greifen ihre
Wurzeln ins Erdreich, und drinnen im
Stamme, da lebt die schaffende Gewalt.
Möge auch dieser Kongreß zeigen, daß
in uns die guten Geister lebendig sind,
die Deutschlands Zukunft verbürgen, der
Geist der Einigkeit, der Hoffnung und
der Arbeit. In diesem Geist erkläre ich
den Kongreß für eröffnet.
Ans der Medizinisclien Klinik der Universität Freihnrg i. B.
Die Röntgenbehandlung der Lungentuberkulose^).
Von 0. de la Camp.
Mein Referatthema lautet: ,,Die Rönt¬
genbehandlung der Lungentuberkulose“.
Die allgemeine Fassung ,,Strahlen¬
behandlung der Lungentuberkulose“ hätte
durch Bezugnahme auf die physikalischen
und biologischen Verwandtschaftsbezie¬
hungen zwischen Sonnenlicht-, ultra¬
violetter, Radium- und Röntgenbestrah¬
lung einen breiteren Aufbau des vorlie¬
genden Erkenntnisstoffes ermöglicht und
vor allem die notwendige Betrachtung des
wechselseitigen Verhältnisses zwischen ört¬
licher und allgemeiner Strahlenwirkung
in den Vordergrund gerückt. Die zur
Verfügung stehende kurze Zeit verlangt
jedoch die obige thematische Beschrän¬
kung und gleichzeitig Verzicht auf einiger¬
maßen vollständige Literaturberücksichti¬
gung. Letztbeztiglich verweise ich auf die
in jüngster Zeit besonders in der ,,Strah¬
lentherapie“ erschienenen umfangreichen
Abhandlungen von Heußner, Manfred
Fraenkel, Strauß, Wetterer, Ste¬
phan, V. Schrötter und Anderen.
Die schon bald nach der Entdeckung
der Röntgenstrahlen von französischen
und später deutschen Forschern unter¬
nommenen Versuche, die menschliche
Lungentuberkulose mit der neuen Form
strahlender Energie zu beeinflussen,kamen
U Referat, gehalten auf dem 33. Kongreß für
innere Medizin zu Wiesbaden am 18. April.
mangels klarer Erkenntnis der Vorgänge
am Wirkungsort nicht über allgemeine,
auf Ablehnung oder Empfehlung der Me¬
thode eingestellte Werturteile hinaus.
Auch die frühzeitig von verschiedenen
Seiten begonnenen klinischen und histo¬
logischen Forschungen über den Röntgen¬
strahleneinfluß auf die periphere Tuber¬
kulose der Haut, Drüsen und des Skelett¬
systems bedurften für die Bestrahlungs¬
fragen internerTuberkulose der Ergänzung.
Wertvoll waren in dieser Beziehung die
Beobachtungen von Brünings und
Alb recht an experimentell erzeugter
Larynxtuberkulose, grundlegend für die
Frage der Beeinflußbarkeit tuberkulösen
Gewebes durch Röntgenstrahlen in der
Lunge die Untersuchungen von Küpferle
und Bacmeister.
Diese stellten an einem großen Tier¬
material fest, daß durch methodisch be¬
stimmte Anwendung harter filtrierter
Röntgenstrahlen eine sowohl auf dem
Blut-, wie auf dem Atmungswege beim
Kaninchen durch den Typus humanus
erfolgte tuberkulöse Lungenerkrankung
im Beginn zu unterdrücken, im Verlauf
heilend zu beeinflussen sei, und zwar da¬
durch, daß das relativ schnell wachsende
tuberkulöse Granulationsgewebe in Nar¬
bengewebe umgewandelt wird. Eine ab¬
tötende Einwirkung der Röntgenstrahlen
Mai
Die Therapie der
auf den Erreger selbst ließ sich nicht fest¬
stellen.
Damit war ein für allemal festgelegt —
und das hat sich auf Grund vielfältiger
klinischer Erfahrung als durchaus zu¬
treffend erwiesen —, daß es sich bei dem
Röntgenbestrahlungsproblem der Lun¬
gentuberkulose nur um die Unterstützung
eines Naturheilvorgangs handeln kann
und daß alle Fälle, in denen nicht die
örtliche und zeitliche Beeinflussungs¬
möglichkeit eines specifischen produktiv¬
entzündlichen Zellmaterials vorliegt, aus¬
zuscheiden haben. Überträgt man die
von vielen Seiten am bestrahlten Drüsen¬
gewebe erhobenen Befunde, daß schon
auf kleine Strahlenmengen der produktiv
entstandene Tuberkulöse Zellkomplex
unter sich weiterhin bildender Vernarbung
reagiert, daß exsudativ erkranktes Drü¬
sengewebe zerfällt und die verkäste Drüse,
in ihrem nekrobio-tischen Zellbrei nicht
mehr radiosensibel, sich mehr oder minder
refraktär verhält, so ist für die Lunge
therapeutisch verwendbar offensichtlich
nur die erste Reaktion, die Vernarbungs¬
begünstigung. Eine Einschmelzung eines
tuberkulösen Herdes in der Lunge würde
alle Gefahren einer schnell entstandenen
Kaverne herauf beschwören.
Man hat nun meiner Meinung nach
nicht mit viel Glück und Berechtigung
schließlich einen zu prinzipiellen Gegen¬
satz zwischen einer Zerstörung des tuber-
. kulösen Gfanulationsgewebes durch Rönt¬
genstrahlen einerseits und einem Strahlen¬
reiz auf das proliferierende junge Ersatz¬
bindegewebe andererseits geschaffen. Das
sich im tuberkulösen Granulationsgewebe
zur Abwehr des eingedrungenen Feindes
’ zusammenfindende und weiter im Hei¬
lungsfalle der Vernarbung anheimfallende
Zellmaterial entstammt, worauf die von
Aschoff und seiner Schule mit der vi¬
talen Karminfärbung angeselltten Unter¬
suchungen neuerdings wieder verweisen,im
wesentlichen dem Bindegewebe.Stephan
wendet sich deshalb in einer jüngst erschie¬
nenen Arbeit über die Steigerung der Zell¬
funktion durch Röntgenenergie mit einigem
Recht gegen die Forderung der Zerstörung
dieses später endgültig bindegewebig um¬
zuwandelnden und abzuschließenden Re¬
aktionsgewebes. Der Begriff Zerstörung
des tuberkulösen Granulationsgewebes
darf sich naturgem äß ebensowenig zur Vor¬
stellung der Herbeiführung eines Sub¬
stanzverlustes, wie derjenige der Reizung
des proliferierenden Bindegewebes zu der
einer Art spontaner Gewebswucherung I
Gegenwart 1021 165
versteigen. Nur in fließenden Übergängen
und dauernden Zellfunktionsbeziehungen
läuft die gewebliche Metamorphose efnes
Vernarbungsvorgangs ab.
Viel zitiert und benutzt wird in der
Strahlenforschung das Arndtsche ^bio¬
logische Grundgesetz: Schwache Reize
föxdern die Lebenstätigkeit, stärke hem¬
men sie und sehr starke heben sie auf.
Im vorliegenden Falle würde sich also
die Aufgabe ergeben, eine Röntgenenergie¬
menge zur Verfügung zu stellen, die die
Weiterentwicklung des tuberkulösen Grä-
nulationsgewebes hemmt und die Ent¬
wicklung des mobilisierten Bindegewebes
fördert. Niemals kann sich aber daraus
der Begriff einer uniformierten ,,Tuber¬
kulosedosis“ entwickeln, denn auf der
anderen Seite der Gleichung stehen ört¬
lich und in ihrer Wechselbeziehung zum
Gesamtorganismus jeweils veränderliche
individuelle Lebensvorgänge in einem
unter besonderen Bedingungen entstan¬
denen und wieder verschwindenden Zell¬
komplex. Mithin kann auch der Begriff
der ,,Vernichtungsdosis“ für das radio¬
sensible schnell wuchernde Granulations¬
gewebe und der der ,,Reizdosis“ für das
mobilisierte Bindegewebe keine klare Ab¬
grenzung finden. Ob beide Vorgänge
Folgen eines einheitlichen Reaktions¬
geschehens, etwa einer Hyperämie, wie
Menger meint, sind, erscheint nach den
vorliegenden histologischen Bildern zum
mindesten zweifelhaft.
Der schon oben erwähnte Grundsatz,
daß es sich bei der Röntgenbehandlung
der Lungentuberkulose nur um eine sehr
feinfühlige Unterstützung des natürlichen
HeilungsVorganges handeln kann, findet
aber durch die eben angestellten kurzen
Überlegungen neuerliche Betonung.
Wie sich die seinerzeit schon von
Finsen durch Anwendung des ultra¬
violetten Lichtes erhoffte Abtötung der
Tuberkelbacillen ini lebenden Gewebe
nicht erreichen ließ, so scheint auch eine
gleichsinnige Röntgenwirkung illusorisch.
Die Beobachtung von Küpferle über
geringfügigere Virulenz beim Überimpfen
des aus bestrahlten Tierlungen gewon¬
nenen Materials lassen jedoch indirekte
auf dem Gebiete der Allgemeinwirkungen
liegende Strahleneinflüsse vermuten. Auch
scheint die Frage nach neuesten For¬
schungen, die sich auch mit Zusätzen be¬
sonderer radioaktiver Substanzen oder
unter Strahleneinwirkung im Organismus
entstandener Zellabbau- und inter¬
mediärer Stoffwechselprodukte zu den
m *
Die Therapie der Gegenwart 192.1
Mai
Nährböden befassen, noch nicht abge¬
schlossen.
'Beweise für Allgemeinwirkungen bei
der Bestrahlung der Lungentuberkulose
sind ferner der Leukocytensturz, der etwa
in 24 Stunden wieder Ausgleich findet,
sowie die häufig beobachtete geringfügige
Temperatursteigerung, der erst die er¬
wünschte Temperatursenkung folgt. Die
Temperatursteigerung ist, ebenso wie die
öfters eintretende Husten-, Sputum-
und Krankheitsgefühlsvermehrung, ent¬
sprechend den Vorgängen bei der Tuber¬
kulinreaktion als eine durch die lokale
Strahlenwirkung bedingte Autotuber-
kulinisierung aufzufassen und übermittelt
wiederum die Verpflichtung sorgfältiger
Dosierung unter Beachtung der zweifellos
komplizierten Immunisierungsvorgänge.
Der Erfolg in geeignet ausgesuchten
und bestrahlten Fällen menschlicher Lun¬
gentuberkulose läßt sich nun dahin zu¬
sammenfassen, daß die bekannten Zeichen
klinischer Heilung in schnellerem Tempo
und besonderer Vollständigkeit erreicht
werden. Führende Kriterien sind die
Körpergewichts- und Temperaturkurven,
örtliche Befundsbesserung und zunehmen¬
des Gesundungs- und Leistungsgefühl.
Welches sind nun die geeigneten Fälle
und welches ist die geeignete Technik?
Entsprechend den dargelegten Wir¬
kungen der Röntgenstrahlen auf das tuber¬
kulöse Gewebe in der Lunge sind ledig¬
lich die zur Latenz neigenden, stationären
oder mindestens langsam fortschreitenden
Fälle der knotigen und cirrhotischen, also
der an sich schon zur Vernarbung neigen¬
den Lungentuberkulose, bezüglich Phthise
Gegenstand der Bestrahlung. Auszu¬
scheiden haben alle miliaren, pneumoni¬
schen und exsudativen Formen und
Mischformen, bei denen der Organismus
der Masse oder der Giftproduktion des
Erregers gegenüber machtlos, nicht die
Abwehrmaßnahmen seines Zellstaates in
Funktion treten oder verharren lassen
kann.
Vorbedingung jeder Bestrahlung ist
mithin eine nicht nur quantitativ, sondern
auch qualitativ unter Beziehung auf
sorgfältige klinische Beobachtung ein¬
schließlich kritischer Röntgendiagnostik
erfolgte Analyse des Falles, wie sie die
durch die Arbeiten von Albrecht und
Albert Fraenkel, Aschoff, Nicol,
Küpferle, Gräff, Ranke, Bacmeister
und Andere geschaffenen Kriterien er¬
möglichen und verlangen.
Kontraindikatiönen sind also die er¬
wähnten Verlaufsarten, nicht aber an
sich das Vorhandensein von Kavernen,
Neigung zu Blutungen, Pleurakompli¬
kationen usw. Die durch die heilende
Schrumpfung der Lungen- und Bronchial¬
drüsenherde veranlaßten neuralgiformen
Schmerzen dürfen übrigens nicht fälsch¬
lich auf Pleurareizung bezogen werden.
Und welches ist die geeignete Technik?
Die oben kurz erwähnten allgemeinen
Gesichtspunkte über die Erfolgsdosis be¬
leuchteten die Schwierigkeit der Aufgabe.
Die Einschmelzung einer tuberkulös er¬
krankten Drüse oder eines Skelettherdes
kann durch Fistelauskehr des Zellbreies
zur Heilung führen; in dem resorptiv
besonders begabten Lungenorgan kann
ein solcher Vorgang schlimmste Folgen
haben. Es verlangt daher das radiosen¬
sible tuberkulöse Granulationsgewebe für
den gewünschten Strahlenerfolg eine
scharfe optimale Dosierung mit bester
Technik. Weiter setzt ein Strahlenerfolg
nicht nur eine quantitative, sondern auch
eine qualitative Charakterisierung des
Strahlenpharmakons voraus, wie sie die
Spektralanalyse im konstanten Betrieb
ermöglicht.
Bei Verwendung geeigneter Filter
(10—15 mm Aluminium, 0,5 mm Zink
oder 1 mm Kupfer) und gasfreier Röhren
ist bei nicht tiefliegendem tuberkulösen
Lungenherd unter Verwendung eines Fel¬
des von 10:10cm zunächst eine relativ ge¬
ringe Dosis =i/io H.E.D= 14—15 elektro¬
statische Einheiten nach Friedrich zu
verwenden. Die Empfehlung mit klei¬
neren Dosen zu beginnen und nur langsam
zu steigen, entspricht der erst durch viele
Mißerfolge teuer erkauften Tuberkulin- *
erfahrung. Im übrigen richtet sich Felder¬
größe und -Verteilung, Reaktionspausen,
Wiederholung der Bestrahlungsdosis ganz
nach dem Einzelfall. Der eben ange¬
zogene Vergleich - mit dem Tuberkulin
verpflichtet ebenso zum Individualisieren
und zur Vermeidung eines engen Schema¬
tismus. Erschwert wird das Bestrah¬
lungsproblem dadurch, daß nach noch
nicht veröffentlichten Untersuchungen von
Küpferle das Lungengewebe ganz andere
Strahlenresorptionsbedingungen hat, als
der übrige Körper. Man kann also die
Tiefendosierung nicht mit dem sonst
gebräuchlichen Wasserphantom vorneh¬
men.
Nur bei stationärer Beobachtungs¬
möglichkeit und bester sonstiger Versor¬
gung des reaktionsfähigen Lungenkranken
Die Therapie der Gegenwart 1921
167
Mai,,
darf eine Bestrahlungsbehandlung unter-7
nommen werden. . Ambulante Bestrah¬
lungen sind zu verwerfen.
Einen beachtenswerten und begründe¬
ten Vorsphlag hat M. Fraenkel gemacht:
Die mit besonderer Technik vorgenom¬
mene, Lungenbestrahlung mit Reizdosen
auf Milz und lymphatisches System zu
verbinden. Eigene diesbezügliche Er¬
fahrungen stehen mir nicht zur Ver¬
fügung.
Auch sonst hat man, um den lokalen
Strahlenerfolg mit allgemeineren Wir¬
kungen strahlender Energie zu verbinden,
empfohlen die Röntgenbestrahlung mit
Sonnenlicht-, Quarzlampenbestrahlung,
innerlicher Anwendung von Emanationen
•usw. zu verbinden. Bacmeister z. B.,
der wohl auf dem Gebiete der Lungen¬
tuberkulosebestrahlung zur Zeit die größte
klinische Erfahrung besitzt, läßt Quarz¬
lampenbestrahlung der Röntgenbehand¬
lung vorangehen ünd folgen. Der Ge¬
samterfolgkann wohl so gesteigert werden,
die Kritik muß naturgemäß Erschwerung
erfahren. Gute Aussichten scheint die
Bestrahlung einer ira Pneumothorax still¬
gestellten Lunge zu bieten.
In der gesamten Strahlenbiologie ste¬
hen wir noch am Anfang der Erkenntnis.
Wer den Umfang der sich aufdrängenden
Probleme ermessen will, möge. den vor
etwa Jahr erschienenen Aufsatz von
V. Schrötter über Theorie und Praxis
der Strahlenbehandlung der Tuberkulose
lesen, in dem der Verfasser auf fünf klein
bedruckten Seiten lediglich einschlägige
offene Fragen rein thematisch zur Bear¬
beitung empfiehlt.
Die Röntgenstrahlen sind kein All¬
heilmittel für Lungentuberkulose, nur in
kritisch ausgesuchten Fällen können sie
in der Hand des wohl ausgerüsteten und
wissenden Arztes die Naturheilung unter¬
stützen.
Lernen wir vom Tuberkulin uns vor
jedojin überschwänglichen Optimismus
fernzuhalten! Erkennen wir aber ebenso
an, daß hier ein wertvolles Hilfsheilmittel
für die sozial wichtigste Infektionskrank¬
heit weitere Erforschung erfahren soll!
Zwei Grundsätze hippokratischer ärzt¬
licher Ethik verpflichten dabei zur doppel¬
ten Vorsicht: das ,,primum non nocere“
und das ,,natura sanat, medicus curat“!
Über renalen Diabetes und seine Bedeutung für die Therapie
der Zuckerkranken^).
Von Prof. Dr. E. Frank, Breslau.
M. H. Wenn im Rahmen dieser Aus¬
sprache auf Wunsch der Kongreßleitung
auch vom renalen Diabetes die Rede sein
soll, so erscheint mir dies ein Ausdruck
dafür zu sein, daß aus, einer vor wenigen
Jahren noch sehr akademischen Frage
eine praktisch wichtige Angelegenheit
geworden ist. Seitdem Lepine und
Klemperer vor 25 Jahren die Möglich¬
keit eines Nierendiabetes .in der mensch¬
lichen Pathologie als erste erwogen haben,
ist die Frage zwar öfters diskutiert wor¬
den, eine entscheidende Wendung hat sie
aber erst genommen, als der Fortschritt
der Untersuchungstechnik die quantita¬
tive Verfolgung des Zuckers im Blute zu
einer leicht zu handhabenden und beim
einzelnen Individuum häufig wiederhol¬
baren Methode gemacht hat. In der
Weltliteratur sind wohl jetzt (abgesehen
von der Schwangerschaftsglykosurie) min¬
destens 100 Fälle niedergelegt^).
1) Referat, gehalten auf dem 33. Kongreß für
innere Medizin zu Wiesbaden am 20. April.
2) Im Jahre 1913 waren es noch kaum zehn
Fälle. Der erste beweisende Fall ist 1901 von
Lüthje publiziert worden. Weitere Beobachtungen
Wir sprechen von ,,renalem Dia¬
betes“, wenn trotz der Unversehrtheit
aller am Schicksal der Kohl-enhydrate im
Organismus beteiligten Organe dennoch
Traubenzucker im Harn auftritt^). Da¬
bei kann es sich darum handeln, daß die
Nieren dem Plasma ihrer Capillaren deh
Zucker entreißen, so daß das gesamte
Blut bis auf Spuren an Zucker verarmen
kann. Das ist der Fall beim Hungertiere
im Phlorhizindiabetes, der durch dauernde
Erschöpfung der Kohlenhydratvorräte des
Organismus zu Leberverfettung, schwerer
Acidose und einer sonst unbekannten
Steigerung der Zuckerbildung aus Eiweiß
führt.
Glücklicherweise scheint der Phlor-
stammten von Naunyn, Bönniger, Weiland,
Tachau, Frank. Jetzt verfügen einige Autoren
bereits über ein gut untersuchtes eigenes Material
von etwa 20 Fällen (Salomon, Wynhausen,
Elzos und Jacobsen).
3) Im Tierexperiment ist nach Minkowskis
Vorgang zu fordern, daß nach doppelseitiger
Nierenexstirpation keine Hyperglykämie eintritt.
Das ist für den Phlorhizindiabetes von Min¬
kowski und für die Uranglykosiirie von Frank
bewiesen.
1,68
Die, Therapie der Gegenwart .1921 i
.Mai
hizindiabetes kein Analogon in der
menschlichen Pathologie zu haben. Die
Existenz des Nierendiabetes beim Men¬
schen ist vielmehr dadurch gegeben, daß
der Blutzucker zu denjenigen Stoffen des
Blutes gehört, welche eine Sekretions¬
schwelle haben, das heißt von den Nieren
nicht unter allen Umständen, sondern erst
dann ausgeschieden werden, wenn ein
nicht allzu niedriger Grenzwert über¬
schritten wird. Zahlreiche Untersuchun¬
gen mit Amylaceenbelastung und Trau¬
benzuckerüberschwemmung haben ge¬
lehrt, daß dieser Grenzwert vom Normal¬
wert des Blutzuckers ziemlich weit ent¬
fernt ist, daß eine breite Zone von Hyper¬
glykämie existiert, welche für die Nieren
noch keinen Anreiz zur Zuckersekretion
bedeutet. Hamann und Hirschmann^)
setzen den Schwellenwert auf Grund' der
Untersuchung an 50 gesunden Personen
wie manche Voruntersucher auf 0,17 bis
0,18% im Gesamtblut an. Verfolgt maii,
wie dies Paula Grünthal auf meine
Veranlassung getan hat, den Blutzucker
nach oraler Zufuhr von 100 g Trauben¬
zucker in viertelstündlichen Intervallen
mittelst der Bangschen Mikromethodik,
so findet man, daß Werte von 0,18% bis
zu 0,2% vorübergehend gar nicht selten
erreicht werden^), ohne daß — auch für
unsere schärfsten Reagentien — Zucker
im Harn nachweisbar würde; Isaac und
Traugott kommen an einem großen
Material zu dem nämlichen Resultat.
Studiert man umgekehrt z. B. bei der
Entzuckerung von Diabetikern an Hun¬
gertagen oder beim Nachlassen einer
alimentären oder Adrenalinglykosurie das
Absinken des Blutzuckers, so werden die
letzten Spuren Traubenzucker häufig erst
bei viel niedrigeren Werten des Blut¬
zuckers ausgeschieden. Es erscheint mir
aber nicht angängig, aus diesen ,,Ab-
klingungskurven“ die Schwellenwerte zu
ermitteln, wie das Knud Faber und
A. Norgaard neuerdings für Diabetiker
tun; denn die beim Diabetes dauernd,
bei Kohlenhydrat-Überlastung vorüber¬
gehend zu höchster Aktivität angesporn¬
ten Nierenepithelien kommen offenbar
nicht sofort zur Ruhe, sondern setzen auch
bef aufhörender Überschwemmung des
Blutes mit Zucker dessen Abscheidung
noch eine kurze Zeit fort (,,posthyper-
glykämische“ renale Glykosurie).
0 Zitiert nach Hagedorn, Acta Scandinavica
Medica Bd. 53.
Die Kurve steigt übrigens meist nicht gerad¬
linig an, sondern zeigt zwei Spitzen.
Wir definferen den mensch¬
lichen renalen Diabetes als inter¬
mittierende oder dauernde Ab¬
sonderung traubenzuckerhaltigen
Harnes, welche vor sich geht bei
einem unterhalb des Schwellen¬
wertes sich bewegenden Zucker¬
gehalt des Blutplasmas. Der Nieren¬
diabetes des Menschen verläuft demnach
nicht eigentlich mit Hypoglykämie, son¬
dern man findet niedrig normale Werte
(0,06%) bis hinauf zu einer Hyperglykä¬
mie von 0,18%. Die Nieren pflegen dabei
im allgemeinen weder morphologisch noch
funktionell geschädigt zu sein, aber im
Tierexperiment erweisen sich diejenigen
Gifte (Uran, Chrom, Sublimat) als Er¬
zeuger einer renalen Glykosurie, welche
bei intensiverer Einwirkung das klassische
Bild der reinen Nephrose machen.
Über die Ursachen des renalen Diaf
betes sind wir noch ganz im unklaren.
Einen ersten -Weg des Verständnisses
weisen vielleicht die Beobachtungen von
Lepine, daß die intravenöse Einver¬
leibung von Organextrakten eine Glyko¬
surie ohne Hyperglykämie hervorruft: im
Zusammenhänge hiermit ist die Ent¬
deckung von Frank und Nothmann zu
betrachten, daß die Niere des menschli¬
chen Weibes für Zucker durchläs'sig wird
fast unmittelbar nachdem das befruchtete
Ei die gewebslösenden Zotten seines
Chorions in die Schleimhaut der Gebär¬
mutter gesenkt hat. Möglicherweise be¬
wirken solche ins Blut gelangenden
Organextraktstoffe lonenverschiebungen
und Alkalinitätsänderungen im Proto¬
plasma der Nierenzellen. Denn nach den
Untersuchungen von Hamburger und
Brinkmann an den Glomerulis der
Froschniere ist die Fähigkeit des Glome-
rulusepithels, Glukose zurückzuhalten, so¬
wie die Größe des retinierten Quantums
durchaus abhängig von dem gegenseitigen
Mengenverhältnis des Kaliums und Cal¬
ciums sowie von der Titrationsalkalinität
in der Durchströmungsflüssigkeit.
Die klinische Erscheinungsform des
renalen Diabetes hat man früher gern
aprioristisch konstruiert, man hat das
Postulat aufgestellt, die Zuckerausschei¬
dung müsse von der Kohlehydratzufuhr
völlig unabhängig sein, in dem doppelten
Sinne, daß Kohlehydratzulagen keine
Steigerung,Kohlehydratentziehungen kein
Verschwinden des Harnzuckers zur Folge
habe. Eine imnier wachsende Erfahrung
hat die mangelnde Stichhaltigkeit dieses
Kriteriums gelehrt. Wir wissen heute,.
Mai Di« Therapie der öegentort 1921 169
daß der normale Blutzuckerwert keine
starre Größe ist, daß schon jede reichliche
Kohlehydratmahlzeit, erst recht Trauben¬
zuckerzufuhr, ihn nicht unbeträchtlich
erhöhen, daß umgekehrt Kohlehydrat¬
karenz und gar Hunger ihn deutlich
senken kann. Je nach der Empfind¬
lichkeit der abnorm funktionie¬
renden Nierenzelle wird wahr¬
scheinlich der eine schon beieinem
subnormalen Blutzuckerspiegel,
der andere erst bei einem der
Schwelle sich nähernden Werte
Zucker im Harn ausscheiden. So
erklärt es sich, daß häufig früh nüchtern
und selbst bei gleichmäßiger über den
Tag verteilter Amylaceenkost der Harn
zuckerfrei ist, während nach einer vor¬
wiegend aus Amylaceen bestehenden
Mahlzeit oder nach dem Genuß von
Mono- und Disacchariden die Störung
alsbald manifest wird, und andererseits
zeigen Fälle, die sich selbst bei völliger
Nahrungsentziehung nicht entzückern,
eine von der Größe und Art der Kohle¬
hydratzufuhr merkbar abhängige Schwan¬
kung der ausgeschiedenen Zuckermenge,
insbesondere darf es nicht befremden,
daß die Blutzuckerkurve nach Trauben¬
zuckereinverleibung denselben Verlauf
zeigt wie in der Norm: alimentäre ,,Hy¬
perglykämie“ darf also nicht ohne weite¬
res gegen die Diagnose eines* renalen
Diabetes ausgespielt werden. ’ In den
klassischen Fällen allerdings erscheint
Zucker im Harne bei einem Zuckergehalt
des Plasmas von 0,07—0,11%.
Beim Studium der bei einer jeden
Frau in der Schwangerschaft sich
entwickelnden physiologischen re¬
nalen Glykosurie kann man sich mit
leichter Mühe davon überzeugen, daß
diese verschiedenen Formen lediglich gra¬
duelle Unterschiede der nämlicheh, im
Wesen stets gleichen Störung darstellen.
Bei der nicht seltenen heredo-famili-
ären Gruppe haben sich ebenfalls alle
Abstufungen innerhalb einer Familie fin¬
den lassen (Salomon, Jacobson).
Das klinische Bild des renalen
Diabetes ist mit wenigen Strichen ge¬
zeichnet. Zufällig — bei einer schulärzt¬
lichen Untersuchung, bei der Gestellung,
bei der Begutachtung für eine Versiche¬
rung, während einer Gravidität — wird
Traubenzucker im Harn gefunden; meist
ist es weniger als 1 % in der 24stündigen
Menge, mehr (1,5—2%) wohl nur in Ein¬
zelportionen oder in spärlichem Gesamt¬
harn. Auch bei abundanter Kohlehydrat¬
zufuhr sind 20—30 g das Höchstmaß des
ausgeschiedenen Zuckers, und dennoch
will auch bei strenger Diät die Entzucke¬
rung nicht gelingen. In anderen Fällen
schwindet der Zucker mit der Beschrän¬
kung der Kohlehydrate rasch; es fällt
auf, daß er früh nüchtern fehlt, während
nach den Mahlzeiten der Harn deutlich
reduziert. Einev Abhängigkeit von der
Kohlehydratmenge der Nahrung wird
also merkbar, die bei eigens darauf ge¬
richteter Untersuchung sehr demonstrabel
werden kann und dann auch bei den
Fällen der ersten Gruppe nachweisbar
ist. Doch sollen natürlich von der Art
der Ernährung unabhängige, offenbar
auf wechselnder Einstellung der Niere
beruhende Schwankungen der ausgeschie¬
denen Zuckermenge nicht geleugnet wer¬
den. Die Diagnose gewinnt an Wahr¬
scheinlichkeit, wenn Geschwister, Ascen-
denten des Untersuchten nach seiner
Kenntnis ebenfalls an ,,leichtem Diabetes“
leiden; sie wird fast sicher, wenn erst auf
Grund seines Harnbefundes bei anderen
Familienmitgliedern die Anomalie eben¬
falls aufgedeckt wird^).
Beschwerden, über welche diese Men¬
schen klagen, haben unmittelbar mit ihrer
Glykosurie wohl nichts zu tun. Leichte
Ermüdbarkeit und Schwäche, auffälliges
Durstgefühl, Potenzstörungen haben ge¬
wiß in manchem dieser Fälle die Unter¬
suchung des Harnes veranlaßt; es handelt
sich aber lediglich um neurasthenische
Begleiterscheinungen, die vielleicht nicht
immer zufällig, sondern in einer allge¬
meineren Konstitutionsanomalie mit ver¬
wurzelt sind. Gelegentlich mögen sie
auch, wie Wynhausen und Elzas sehr
hübsch ausführen, die suggestiven Folgen
der Entdeckung der Zuckerkrankheit
beziehungsweise eingehender anamnesti¬
scher Erhebungen des Arztes sein, der
auf frühdiabetische Symptome fahndet.
Furunkulose, Alveolarpyorrhoe, Neuritis
coincidieren manchmal rein zufällig mit
der renalen Glykosurie und können dann
leicht zu Mißdeutungen Veranlassung
geben. Ob leichte Albuminurie und
Hämaturie, die mehrfach beschrieben ist,
ebenfalls ein Zufallsbefund ist oder doch
D Brugsch und Dresel (Med. Kl. 1919)
haben über eine Familie berichtet, in der von
55 Deszendenten 13 (darunter ein Säugling) die
Zückerausscheidung zeigten. Jarlöw (Acta
Medica Scandinavica, Bd. 54) stellte renale
Glykosurie bei sieben von 15 Familienmitgliedern
fest, Salomon fand sie bei füiif Geschwistern,
deren Vater ebenfalls an leichtem Diabetes ge¬
litten hatte.
22
170
Die Therapie der
in selteneren Fällen die Funktionsäno-
nialie der Niere greifbar fundiert, ist vor
der Hand wohl nicht zu entscheiden:
bei ausgeprägter Nephritis oder Ne¬
phrose kommt renale Glykosurie kaum
vor.
Vom prognostischen Standpunkte
aus darf die renale Glykosurie nach dem
nunmehr vorliegenden, recht großen Ma¬
terial als eine harmlose Anomalie bezeich¬
net werden, etwa wie die orthostatische
Albuminurie [Diabetes innocens (Salo-
mon) oder innocuus (Rosenfeld).
Die-Schwangerschaftsglykosurie hört mrt
der Entbindung auf. Die Feststellung der
renalen Natur einer Zuckerausscheidung
geschah mehrfach zehn bis zwanzig Jahre
nach ihrer erstmaligen Entdeckung. Sa lo -
monhatbei seinen 13 im Jahre 1914 mit¬
geteilten Fällen nach fünf und sechs
Jahren eine Nachprüfung vorgenommen
und dabei eine Änderung des Status nicht
wahrgenommen, wiederum den niedrigen
Blutzuckergehalt während der gering¬
fügigen Zuckerausscheidung konstatiert,
vor allem niemals den Übergang in einen
echten Diabetes melitus gesehen. Für
den Therapeuten ergibt sich daraus die
Konsequenz — und deshalb ist die Kennt¬
nis dieser Fälle praktisch so wichtig —,
daß bei sicher festgestelltem re¬
nalen Diabetes von diätetischen
Beschränkungen abgesehen werden
darf. Welchem Zwecke sollten sie auch
dienen 1 Weder eine Steigerung der Tole¬
ranz, noch eine Herabsetzung der Hyper¬
glykämie kommt hier in Frage, der Zucker¬
verlust ist kaum hoch anzuschlagen und
eine Schädigung der Nieren scheint aus
ihrer abwegigen Partialfunktion nicht zu
resultieren.
Alles spitzt sich also auf die Frage zu,
ob es möglich ist, durch eine kurzfristige
Beobachtung — zumal bei jüngeren In¬
dividuen — den harmlosen Nierendiabetes
mit derjenigen Sicherheit zu erkennen,
welche es dem seiner Verantwortung sich
bewußten Arzte gestattet, den Rat des
laissez faire, laissez aller zu erteilen.
Es fehlt nicht an Stimmen, die zur
Vorsicht mahnen; v. Noorden glaubt,
daß der Diabetes der Jugendlichen, der
nachher eine, schlimme Wendung nimmt,
sich in seinen ersten Anfängen als gering¬
fügige Glykosurie ohne Hyperglykämie
präsentieren könne. Lauritzen be¬
hauptet sogar, daß der echte Diabetes
der Kinder und jüngeren Leute nicht
selten als beträchtliche Glykosurie bei.
Blutzuckerwerten von 0,06 bis 0,08 %
Gegenwart 1921 'Mai
beginne, während erst im Laufe der'
Krankheit die erhebliche Hyperglykämie
hinzukomme, welche die wahre ^ Natur
des Prozesses verrät.
Meine persönliche Meinung ist fol¬
gende: Der renale Diabetes geht niemals
in einen gewöhnlichen Diabetes melitus
über; wohl aber kann der hyperglykä-
mische Diabetes leichten Grades,
sei es, daß er dauernd bleibt, sei es, daß
er als Vorstadium einer schweren Form
auftritt, mit dem renalen Diabetes
verwechselt werden. Es ist nämlich
nicht ungewöhnlich, daß der echte Dia¬
betes intermittierend verläuft, das heißt
nur nach Kohlehydratbelastung für
einige Stunden einen Anstieg des Blut¬
zuckers zeigt. Ein zu einer beliebigen
Tageszeit festgestellter Normalwert des
Blutzuckers bei Zucker im Gesamtharn
des Tages beweist also wenig für die renale
Natur des betreffenden Falles; es muß
vielmehr, der Nachweis erbracht werden,
daß der Zucker auch wirklich zu einer
Zeit sezerniert wurde, in welcher der Blut¬
zucker sich unterhalb des Schwellen¬
wertes befand und nicht etwa mit einem
der Beobachtung entgangenen, wesentlich
höheren Blutzuckerwerte koinzidierte.
Wenn v. Noor den in zehn Fällen früh
nüchtern einen niedrigen Blutzucker¬
spiegel fand, so braucht es nicht wunder¬
zunehmen, daß einige von diesen sich
später zu einem Diabetes ernsten Grades
auswuchsen.
Zur Zeit der Absonderung zuckerhal¬
tigen Harn.es pflegt man beim echten
Diabetes auch sehr milder Art eine be¬
trächtliche Hyperglykämie (mehr als 0,2 %
im Plasma) nicht zu vermissen, und
Schwierigkeiten dürften dann nur die
Fälle machen, bei denen man Blutzucker¬
werte nahe der Grenze (0,17—0,19%)
findet: hier wird (wenn ein solcher Be¬
fund, z. B. nach 100 g Traubenzucker
per OS erhoben wird), zunächst in der
Tat nicht zu entscheiden sein, ob die
leichteste Form der renalen Glykosurie
oder ein Diabetes hyperglykämicus levis-
simus vorliegt. Auch die Verfolgung der
Blutzuckerkurve, die im Falle des ge¬
wöhnlichen Diabetes doch ein längeres
Verweilen auf der Höhe und ein lang¬
sameres Abklingen zeigt, kann differen-
tialdiagnostisch verwertet werden.
Für die Diagnose erscheint es also
dringend erwünscht, die Produktion
zuckerhaltigen Harnes unmittelbar vor
und nach der Blutentnahme zu erweisen,
das heißt die Blutentnahme vorzunehmen,
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1Q21
171
nachdem der durch Katheter entleerte
Harn der letzten Viertelstunde sich
zuckerhaltig erwiesen hatte, und nach
einer weiteren Viertelstunde eine neue
Harnportion zu untersuchen. Die gleiche
Prozedur wird etwa anderthalbe Stunde
nach einer Mahlzeit mit 200 g Kohle¬
hydrate oder eine Stunde nach Genuß
von 100 g Traubenzucker zu wiederholen
sein. Die Bestimmung des Zuckers ge¬
schieht am besten im Blutplasma.
Sehr schwierig zu beurteilen sind die
seltenen, neuerdings aber von mehreren
Seiten (Salomon, Wynhausen und
Elzas, Faber und Noorgaard) mit¬
geteilten und eingehend untersuchten
Fälle, in welchen bei normalem Blut¬
zuckerspiegel Einzelportionen und Tages¬
harne mit höheren Zuckerprozenten (3 bis
8%) entleert werden, so daß täglich
80—100 g Zucker in Verlust gehen
können. Auch solche Fälle sind durch
Jahre hindurch stationär geblieben; auch
sie können familiär sein, wobei beachtens¬
werterweise einzelne Familienmitglieder
die übliche Form der leichten renalen
Glykosurie aufweisen. Man wird bei der
weiteren Untersuchung derartiger In¬
dividuen sein Augenmerk darauf zu rich¬
ten haben, ob nicht hier echte Störun¬
gen der Zuckerverwertung durch
die Kombination mit einem renalen
Diabetes maskiert werden. Wenn
aus einem solchen Fall sich schließlich
doch gelegentlich eine bösartige Form des
Leidens entwickelt, wäre scheinbar der
Übergang eines renalen in einen pankrea-
tischen Diabetes vollzogen, der doch in
nuce stets vorhanden war. Jedenfalls
möchte ich vorerst nicht entscheiden, ob
auch für diese merkwürdigen Fälle ein
ganz liberales Regime zulässig ist, wie
es Faber und Norgaard ihrer Patientin
schließlich mit gutem Erfolge gestatteten.
Schließlich wäre noch zu erwähnen,
daß natürlich Diabetes melitus und
renalis rein zufällig bei dem gleichen In¬
dividuum Zusammentreffen können. So
habe ich eine Patientin beobachtet, bei
welcher ein latenter Diabetes erstmalig
während einer Schwangerschaft zur Gly¬
kosurie führte, die sogar nach der Ent¬
bindung wieder verschwand. Genauere
Untersuchung der Blutzuckerkurve tind
der weitere Verlauf lehrten, daß bei der
aus einer Diabetikerfamilie stammenden
Dame ein echter Diabetes vorlag, der in
seinen Anfängen erst durch das temporäre
Hinzutreten einer renalen Komponente
manifest wurde. Doch dies ist ein seltenes
Vorkommnis, das nur die Fülle der. in
Wirklichkeit anzutreffenderi Formen illu¬
strieren soll. Im allgemeinen wird man
daran festhalten dürfen, daß eine Glykos¬
urie mäßigen Grades in.der Schwanger-,
Schaft fast stets rein renalen Ursprungs
ist, selbst dann, wenn gleichzeitig Aceton
im Harn gefunden wird. Nach Novak
und Borges kommt eine Acidosis in der
Schwangerschaft sehr leicht zustande,
auch wenn die Kohlehydrate noch nicht
vollständig entzogen sind. Das Neben¬
einander einer Schwangerschaftsacidose
und einer renalen Schwangerschaf tsglykos-
urie ist damit gegeben. .
M. H.! Im Handbuch der Pathologie
des Stoffwechsels zog v. Noorden 190b.
bei Besprechung des sogenannten Nieren¬
diabetes das damals nur zu berechtigte
Resume: Was man bis jetzt darüber
lehrte, ist ein luftiges Kartenhaus. Die
klinische Symptomatologie der Krankheit
renaler Diabetes muß noch von Grund
aus aufgebaut werden. Ich glaube, dieser
Forderung ist heute entsprochen: Der
renale Diabetes ist eine Realität, eine
Krankheit sui generis, die — durchaus
abgetrennt vom Diabetes melitus — als
eigenes Kapitel der Nosologie und der
Therapie — zu behandeln ist.
Literatur: E. Frank, Der renale Diabetes
der Menschen und Tiere (Verh. d. Kongr. f.
innere Med. 1913). Derselbe, Über experi¬
mentelle und klinische Glykosurien renalen
Ursprungs (Arch. f. exper. Path. u. Pharm.
Bd. 72, )913; Literatur bis 1913). Der^
selbe. Über harmlose Formen der Zucker¬
krankheit bei jüngeren Menschen (Ther. d.
Gegenw. 1914). Derselbe u. Paula Grünthal,
siehe der letzteren Dissertation (Breslau 1920).
Beiträge zur Frage des renalen Ursprunges der
Schwangerschaftsgiykosurie (unter Zugrunde¬
legung der Blutzuckerkurven). Derselbe und
M. Nothmann, Über die Verwertbarkeit der
renalen Schwangerschaftsgiykosurie zur Früh¬
diagnose der Schwangerschaft (M. m, W. 1921).
H. Salomon, Über Diabetesinnocens der Jugend¬
lichen (D. m. W. 1914). Derselbe, Weitere Er¬
fahrungen über Diabetes innocens (W. kl. W.
1919). 0. J. Wynhausen und M. Elzas, Diabetes
innocens (Arch. f. Verdauungskrankh. 1920,
Bd. XXVI). K. Faber und Norgaard, Chron.
renale Glykosurie (Acta Medica Scandinavica,
Bd. 54; Verhandl. des 9. nordischen Kongr. f.
innere Med. 1919, Acta Medica Scandinavica,
Bd. 53). Derselbe und A. Jacobson, Fälle von
mildem Diabetes (Ibid.). Lauritzen, Diskussi¬
onsbemerkungen zu diesen Vorträgen, v. Noor¬
den, Die Zuckerkrankheit (7. Aufl., 1917).
Lepine, Glykosurie durch Organextrakte. Le
Miabete sucre (Paris, Alcan frtos, 1909). Ham¬
burger und Brinkmann, Das Retentions¬
vermögen der Niere für Glucose (Bioch, Zschr^
Bd.88).
22*
172
Die Therapie .der Gegenwart "1921
AJai
Aus dem Sanatorium Grroedel, Bad Nauheim.
Ungünstige Chinidinwirkung bei vollkommenem Herzblock?
Von Privatdozent Dr, Franz M. Groedel, Frankfurt a. M.-Bad Nauheim.
Der Patient, über den ich berichten
will, hat mit 20 Jahren einen schweren
Gelenkrheumatismus durchgemacht, der
ihn neun Wochen lang ans Bett fesselte.
Es soll damals auch das Herz ergriffen
gewesen sein. Mit 23 Jahren wurde viel¬
leicht Lues akquiriert. Dem Hausarzt war
diese Tatsache verheimlicht worden. WaR
war aber später negativ. Im Jahre 1914,
mit 64 Jahren traten die ersten Beschwer¬
den auf, so daß Patient den starken Alko¬
holkonsum (Brauereibesitzer) und den
übertriebenen Nikotingenuß einschränken
mußte. Zunächst bestand nur Kurz¬
atmigkeit. Im Laufe der nächsten Mo¬
nate stellte sich auch Gefühl unregel¬
mäßiger Herztätigkeit ein. Die Puls¬
frequenz sank von 60 auf 30 p. M. Nach
Ansicht des Hausarztes Symptome dro¬
hender Urämie. Nach einer Nauheimer
Kur etwa drei Jahre lang relatives Wohl¬
befinden. Durch äußere Verhältnisse
Wiederholung der Kur vorerst unmög¬
lich.
1917 im Mai erster Ohnmachtsanfall.
Seitdem Gefühl der Pulsationen bis in
den Kopf und dauernd etwas Schwindel.
Zweite Ohnmacht Anfang Juni, dritte
leichtere Ende Juni. Nach der zweiten
Kur in Nauheim wieder relatives Wohl¬
befinden. Im Juni des nächsten Jahres
(1918) Grippe. Trotzdem keine beson¬
deren Herzbeschwerden. Während der
dritten Nauheimer Kur einmal im Kino
schwerer Anfall. Trotzdem Kurverlaut
sehr gut. Relatives Wohlbefinden bis
Juli 1919. Angeblich durch Überarbei¬
tung ausgelöst zahlreicheAnfälle, davon
drei sehr schwer, mit Nausea, Erbrechen
usw. ohne vollkommenen Bewußtseins¬
verlust. Pulsfrequenz bei den Anfällen
bis zu 25 p. M. Seitdem dauernd ein¬
genommener Kopf, Gefühl der Herz¬
pulsationen, Gefühl von Unsicherheit.
Nach der Kur in Nauheim vollkommenes
Wohlbefinden. Keine Anfälle. Einzige
Belästigung: der hafte Herzschlag im
ganzen Körper und das sehr ,,ängstliche
Gefühl“. Neuerliche Kur 1920 in Nau¬
heim. Während derselben ohne vorher¬
gehendes Unwohlsein abends nach •einem
etwas zu reichlichen Abendessen und
etwas größerer Flüssigkeitsaufnahme *
schwerster Anfall von Herzangst. Pa¬
tient sitzt vollkommen pulslos starr auf
seinem Stuhl, die Zigarre ist ihm ent- |
fallen, nur auf Anruf atmet er tief. Spre¬
chen unmöglich. Nach wenigen Minuten
Exitus trotz Campher usw.
Die Auskultation des Herzens er¬
gab bis zum Jahre 1919 nur Unreinheit
des ersten Tones, und leichte Akzentua-
tion des zweiten Aortentons; vom Jahre
1919 an bestand ein systolisches Aorten¬
geräusch und starke Akzentuation des
zweiten Tones.
Die orthodiagraphisch ermittelten
Herzmaße waren:
1914Juli: 5,8-1-12,5 = 18,3 cm Transversal¬
dimension bei 28,5 cm basaler Lungenbreite
1914 Dezember: 5,8-f 12,6 = 18,4 cm Trans¬
versaldimension bei 28,5 cm basaler Lungenbreite.
1917 Juli: 5,2-1-12,0 = 17,2 cm Transversal¬
dimension bei 28 cm basaler Lungenbreite.
1918 August: 5,2-fl2,6 = 17,8 cm Trans¬
versaldimension bei 28,7 cm basaler Lungenbreite.
1919 September: 5,4+13,5 = 18,9 cm Trans¬
versaldimension bei 27,8 cm basaler Lungenbreite.
Die Aorten maße betrugen:
1918: 3,0+ 3,7 = 7,5 cm Aortenbreite bei
10,5 cm Ascendenslänge.
^ 1919: 4,0+ 3,0 = 7,0 cm Aortenbreite bei
10.5 cm Ascendenslänge.
1920: 4,3+ 3,7 = 8,0 cm Aortenbreite bei
9.5 cm Ascendenslänge.
Die Blutdruckzahlen lauteten
1914: diastolisch
100,
100,
systolisch
220
mm.
1917: diastolisch
230 mm.
systolisch
250
bis
1918: diastolisch
75,
systolisch
220
bis
170 mm.
1919: diastolisch
55,
systolisch
200
bis
160 mm..
1920: diastolisch
150 mm.
50,
systolisch
210
bis
Der Urin enthielt, abgesehen von
selten auftretenden Eiweißspuren, keine
pathologischen Bestandteile.
Lunge, Leber und sonstige Organe
ohne Befund. Durch Inspektion keine
Abnormität nachweisbar.
Die Pulszahlen wurden während der
verschiedenen Kuren ebenso wie die Blut¬
druckwerte täglich ein- oder mehrmals
in Kurven eingetragen. Ich gebe von
den ersteren nur einige Durchschnitts--
werte.
1914: 40—50, Ende der Kur 70.
1917: 30, 33, 30, 30, 36, 28, 36, 36.
1918: 36, 36, 32. 30, 36, 38, 36, 36, 40.
1919: 33, 38, 34, 40, Ende der Kur 33, am
Herz 66.
1920: 30, 28, 28, 39, 26, 38, 40.
Neben allgemeiner Regulierung der
Lebensweise, Alkoholeinschränkung und
Reduktion der Zigarrenzahl, bekam Pa¬
tient seit 1914 ziemlich kontinuierlich
Mai
Die' Therapie der Gegenwart 1921
173
etwas Digitalis. 1917 gab ich an Stelle
von Digitalis dreimal täglicF^ 0,2 Cam-
pher und 0,00025 Atropin, offenbar mit
subjektiv gutem Erfolg. Alle anderen
Medikamente wurden vom Patienten als
unbekömmlich zurücjcgewiesen. Eine
längere Jodkur wurde aber trotzdem
jedes Jahr durchgeführt. 1919 wurde
einige Tage lang Atropin injiziert. Es
verursachte Hitze und Kopfdruck. Da¬
gegen bekam Physostigmin sehr gut.
Ebenso Pilocarpin. Es provozierte Bige-
^minie, so daß am Ende der Kur bei
33 Pulsen 66 Herzcontractionen zu hören
waren (siehe Elektrokardiogrammschilde-
ru]^). Nach monatelangem Aussetzen
wurde 1920 wieder versucht, mit Injek¬
tionen die Pulsfrequenz zu heben. Zu¬
nächst wurde wieder einigemal Atropin,
dann Physostigmin versucht. Teils un¬
angenehme, teils garkeine Reaktion. Da¬
nach wieder zwei bis dreitägig mit gutem,
subjektivem Erfolge Pilokarpin.
Die fünf Badekuren brachten dem
Patienten subjektiv und wohl auch ob¬
jektiv die größere Erleichterung. Er
fühlte sich nach jedem einzelnen Bad
wohler. Über die günstige Wirkung der
G02-Bäder bei Leitungsstörungen hat
Theo Groedel vor Jahren berichtet.
Ich verweise auf die betreffende Publika¬
tion. Entsprechend der Schwere des
Falles, dem hohen Blutdruck und dem
Alter des Patienten wurden die Bader
sehr vorsichtig gegeben: Halbbäder, in¬
different warm, kurze Badedauer von
acht bis zehn Minuten, drei bis vier Bäder
pro Woche, lange Ruhezeit nach dem
Bad, Überwachung im Bad.
Im Laufe der sechsjährigen Beobach¬
tung wurden wiederholt Elektrokardio¬
gramme aufgenommen. Ich will einige
derselben kurz charakterisieren.
Juli 1914: typisches Ekg.-Bild eines Blocks.
5. Juli 1917: typischer Block. Etwa 2:1
Rhythmus.
Abi. I: Vorhofzacke (A)-f, Vorschwankung
der Ventrikelinitialzacke (Ja) + , aber klein, die
Initialschwankung (J) selbst groß und —, die
Nachschwankung von J, Jp deutlich ausgeprägt
und +, die Ventrikelfinalzacke (F) ziemlich groß
und -f.
6. Juli 1917, Abi. I: wie vorstehend; Abi. II:
A + , J + , normal groß, Jp klein und —, F.
normal; Abi. III: A-f, Ja vorhanden —, j -f,
dreimal so groß wie bei II, Jp klein —, F + aber
klein.
12. Juli 1917: Abi. I ergibt das gleiche Bild
wie Abi. II am 6. Juli, also J -|-.
• 16. Juli 1917: Abi. I ergibt das gleiche Bild
wie Abi. I am 6. Juli, also' J —.
24. Juli 1917: Ebenso wie vorstehend.
30. Juli 1917: Ebenso. Die Größe von J ist
sehr verschieden. Einmal eine Extrasystole.
20. August. 1918,: Abi. I wie 1917; Abi. II
fast wie I, Abi. III Initialgruppe besteht nur
aus einer gespaltenen positiven Zacke.
23. August, 3. September, 9. September,
14. September, 15. September, 22. September
1919 wie vorstehend.
27. September 1919 ausgesprochene Bigemini.
27. Juli 1920 gleiches Bild wie 1918 und 1919,
aber F—. ^
Es zeigt also das Ekg.^'seit 1914 das
typische Bild eines Herzblo'cks. 1917
ist das Bild des Ventrikel-Ekg. vom
linken Herzen in Abi. I entschieden vor¬
wiegend, während in Abi. H das normale
Ekg. erscheint. Also umgekehrtes Ver¬
halten wie normal. Vorübergehend tritt
auch noch einmal das normale Ekg.-bild
in Abi. I auf. Dauernd vorhanden sind
die Symptome einer kompletten Disso¬
ziation. Etwa 2:1 Rhythmus. Das Bild
des Blocks bleibt bis zum Tode unver¬
ändert. Während aber 1917 die Form
des Kammer-Ekg. noch nicht dauernd
verändert erscheint, bleibt vom nächsten
Jahre an der Zustand stets der gleiche.
Inzwischen hat auch Abi. H und HI
eine anormale Form angenommen. Es
ist also die Vermutung berechtigt, daß
der Prozeß zunächst einseitig anfing.
Sehr interessant ist die Begimini des
Ventrikels nach Pilocarpininjektionen
im Jahre 1919. Und ebenso ist das Ne-
gativwerden der Finalzacke, im letzten
Lebensjahre wichtig.
Herr Prof. Mönckeberg hat das
Herz von seinem Schüler cand. med.
Schneider genau untersuchen lassen
und mir folgenden Bericht geschickt:
^ „Die Untersuchung auf Serienschnit¬
ten ergab eine totale Unterbrechung des
Systems im Grus commune, von dem
stellenweise überhaupt nichts mehr nach¬
zuweisen war. Die Unterbrechung war
zweifellos durch eine auf das System be¬
schränkte Myomalacie mit nachfolgender
Narbenbildung zustande gekommen, und
diese Myomalacie hatte ihre Ursache
wiederum in einem bereits bei der makro¬
skopischen Präparierung zutage treten¬
den Verschluß des, Ramus septi fibrosi
aer rechten Kranzarterie.‘‘
Dieser Befund läßt immerhin daran
denken, daß zwischen dem anfangs zeit¬
weise auftretendem, später dauernd vor¬
handenem Überwiegen des Kammer-Ekg.-
bildes vom linken Ventrikel und der
pathologisch-anatomisch festgestellten Ur¬
sache des Leidens und des Symptom¬
komplexes — dem Verschluß des Ramus
septi fibrosi der rechten Kranzarterie —
ein Zusammenhang besteht.
174
Die Therapie der Gegenwart 1921
- Mai
Kehren wir nochmals zur Besprechung
de,r Therapie zurück. Da Patient durch,
die Bradykardie sehr geplagt wurde,
suchte ich immer wieder nach eihem
Mittel zur Beschleunigung der Ventrikel¬
frequenz. Ausgehend von der Beobach¬
tung, daß Chinidin in der Mehrzahl der
Fälle, bei denen es sich mir für die Be¬
handlung der Vorhoftachykardie und des
Vorhofflimmerns günstig erwiesen, eine
Ventrikeltachykardie erzeugt hatte, wo¬
durch es dem Vorhof quasi ermöglicht
wurde, sich dem Ventrikeltempo wieder
anzupassen, wollte ich Chinidin auch bei
Herzblock versuchen.
Ich verordnete dem Patienten am
ersten Tage neben dem bereits erprobten
Pilocarpin dreimal 0,1 Chinidin. Am
nächsten' Tage bekam er dreimal 0,2;
am folgenden wieder mit Pilocarpin drei¬
mal 0,3 Chinidin. Am vierten Tage hatte
er bereits zweimal 0,4 Chinidin genom¬
men. Abends trat, wie oben geschildert,
der Exitus ein. Pulsfrequenz und Blut¬
druck waren gegenüber den vorhergehen¬
den Tageij nicht merkbar verändert.
Für eine Schädigung des Zentralnerven¬
systems durch Chinidin lagen keine An¬
haltspunkte vor. Ob zwischen Chinidin
und Exitus ein Zusammenhang bestand,
bleibe dahingestellt.
Ich habe meine Erfahruiigen mit
Chinidin bei diesem Falle von Herzblock
auf dem letzten Kongreß deutscher,
Naturforscher und Ärzte in Bad Nauheim
in der Diskussion kurz bekannt gegeben,
nachdem Winterberg ebendort aus ähn-^.
liehen Überlegungen wie ich Chinidin bei,
Herzblock empfohlen, aber die Fälle mit
schneller Ventrikelfrequenz ausgeschlossen
hatte. Bei meinem Falle bestand Brady¬
kardie und etwa 2:1 Rhythmus. Die
Chinidinwirkung bei perpetueller Irregu¬
larität ist noch nicht restlos geklärt. Wir
werden auf Grund meiner Erfahrung
jedenfalls mit der Chinidinverwendung
bei Blockfällen'" vorerst noch zuwarten
müssen.
Aus dem Pharmakologischen Institut der Universität Erlangen.
Über Hefeextrakt als Stomachicum und seine medizinische
Verwendbarkeit.
Von Prof. Dr. Heinz.
Die Extraktivstoffe des Fleisches sind
nach den berühmten Pawlowschen Ver¬
suchen die stärksten Anreger der Sekre¬
tion des Magensaftes. Nach den Ver¬
suchen von Bickel sind es nicht die aus
dem Muskelfleisch in heißes Wasser
(,,Fleischbrühe‘‘) reichlich übergehenden
Kreatin und Kreatinin, sondern andere
Purinstoffe — sowie wohl auch andere
,,höhere Eiweißabbauprodukte“ —, die
als Säurelocker wirken.
,,Fleischextrakt“ (z. B. Liebigsches
Fleischextrakt) wirkt stärker auf die
Magensaftsekretion als ,,Fleischbrühe“.
Die technische Herstellung von Liebig-
schem Fleischextrakt erfolgt durch Er¬
hitzung des zerkleinerten Fleisches mit
Wasser im Autoklaven. Dabei bilden
sich — durch hydrolytische Spaltung —
Eiweißabbauprodukte; und diese sind es,,
die, im Verein mit den Purinstoffen, die
Sekretion des Magensaftes so mächtig
anregend).
Aus Hefe, d. h. aus gereinigter, ent-
bitterter Bierhefe, nach demselben tech¬
nischen Verfahren wie Fleischextrakt (Er¬
hitzung im Autoklaven)gewonnener Hef e-
Vergleiche v. Noorden-Salomon, ,,All¬
gemeine Diätetik“, Berlin 1920, Springer, S. 273.
extrakt enthält ganz dieselben Extrak¬
tivstoffe wie das Fleischextrakt: Fleisch¬
milchsäure, Purinstoffe (außer Kreatin
und Kreatinin!), durch hydrolytische
Spaltung entstandene höhere Eiwei߬
abbauprodukte usw. Tadellos hergestell¬
ter Hefeextrakt, z. B. der ,,Cenovis-
Extrakt“ der Cenovis-Nährmittelwerke
München hat ganz ähnlichen Geschmack
wie Liebigsches Fleischextrakt; ja sein-
Wohlgeschmack ist bedeutend größer:
es fehlen ihm nämlich die in den'Fleisch¬
extrakt übergehenden, bitterlich schmek-
kenden Collagenstoffe des Bindegewebs-
anteiles des Fleisches. Ich habe, als ich
das Cenovis-Extrakt vor zwei Jahren
zufällig kennen lernte, sofort an mir (wie
späterhin an verschiedenen Kollegen) die
außerordentliche appetitanregende Wir¬
kung des Cenovis-Extraktes konstatiert.
Durch Versuche mit Magenausheberung
an verschiedenen meiner Schüler stellte
ich ferner fest, daß auf Zufügung von .
Cenovis-Extrakt zur Mahlzeit die Magen-/
Saftabsonderung stark vermehrt wurde.
Der Hefeextrakt ist, wie der Fleisch¬
extrakt, ' zäh und klebrig. 'Cenovis-
Extrakt enthält (der Haltbarkeit wegen)
ca-. 14 % Kochsalz, schmeckt daher stark
Mai
.175
Die Therapie der Gegenwart 1921
salzig. Um den ■ Hefeextrakt in genau
dosierbare, bequem und angenehm zu
nehmende Form zu bringen, habe ich
aus demselben mit Hefepulver Tabletten
geformt. Diese „Magen-Tabletten‘‘, 1 g
wiegend und 25 % Cenovis-Extrakt und
75 % Nährhefe enthaltend, sind leicht
herzustellen, halten sich gut, sind gut
zu zerkäuen oder auch im ganzen zu
schlucken und schmecken sehr angenehm.
Mit'diesen Magen-Tabletten hat in
letzter‘Zeit Hr. Kleeblatt (München)
in meineni Institut Untersuchungen an
sich selbst, einem Studierenden der Medi¬
zin und vier Insassen der Heil- und
Pflegeanstalt Erlangen angestellt.
Hr. Kleeblatt machte an sich fol¬
gende, in ihren Resultaten sehr über¬
zeugende Versuche:
Er nahm^ morgens nüchtern 500 ccm Wasser
von 37,5® C. Nach zehn Minuten Ausheberung:
Gesamtacidität zirka %. Am nächsten Morgen
wurden zu der gleichen Menge Wasser vier Magen¬
tabletten (gleich 1 ,g Hefeextrakt) gekaut und
geschluckt. Magenausspülung nach zehn Mi¬
nuten: Gesamtacidität 12= freie HCl (bei der
Flüssigkeitsmenge von % 1 Wasser sehr viel!).
Hefeextrakt ist also ein stärkster Säurelocker.
In einem dritten Versuch wurden wieder 500 ccm
Wasser getrunken, und. unmittelbar darauf vier
Magentabletten zerkaut und wieder ausgespien.
Nach zehn Minuten Probeausheberung: Gesamt¬
acidität 6. Hier ist also reiner „Appetitsaft“ ent¬
standen.
Dieselbe Versuchsreihe ist von mir bereits vor
einem Jahre an einem Cand. med. mit ganz dem¬
selben Resultat ausgeführt worden. (1. Gesamt¬
acidität 1 —, 2. Gesamtacidität 14 —,3. stark
positive HCl-Reaktion.).
Kleeblatt stellte dann folgende Versuche
an sich selbst an: Er nahm jeweils morgens nüch¬
tern das übliche Probefrühstück (300 ccm Tee
und eine Semmel) einmal ohne, und am nächsten
Tage mit je vier Magentabletten. An den ersten
zwei Versuchstagen Ausheberung nach fünfzehn
Minuten; an dem zweiten Tagespaar nach 30 Mi¬
nuten; am dritten nach 45 Minuten, am vierten
nach 60 Minuten. An den Tagen, an welchen die
Magentabletten eingenommen wurden, erfolgte
beträchtliche Vermehrung der Gesamtacidität,
wie auch der Magensaftmenge. Auch hier zeigt
also der Hefeextrakt seine starke safttreibende
Wirkung.'
Schließlich stellte Kleeblatt noch folgende
Versuchsreihen an sich an. Er nahm (auf nüch¬
ternen Magen) je 300 ccm Haferschleimsuppe, be¬
reitet aus 15 g Hafermehl, 300 ccm Wasser
und 3 g Kochsalz. An je einem Tage wurden 5 g
Cenovisextrakt in der Suppe verrührt (es wurden
dann 0,7 g Kochsalz weniger zugegeben, da ja
der Cenovisextrakt 14% NaCl enthält). Aus¬
heberung nach je 15, 30, 45 und 60 Minuten.
Auch hier wieder die gleichen Resultate: starke
Vermehrung der Gesamtacidität wie auch der
Magensaftmenge.
Kleeblatt stellte schließlich an vier Insassen
der Erlanger Heil- und Pflegeanstalt Versuche
mit Probefrühstück, mit und ohne je vier-;Magen¬
tabletten, an. Ausheberung nach einer halben
Stunde. Auch hier zeigte sich wieder die starke
safttreibende Wirkung des Hefeextraktes: in
einem Falle stieg die Gesamta'cidität von 14
auf 72!
Die Versuche von Kleeblatt am
Gesunden erweisen aufs deutlichste die
safttreibende Wirkung des Hefeextrak¬
tes. Der Hefeextrakt ist tatsächlich das
wirksamste, ja geradezu das gegebene —
weil ,;physiolögische'‘ — Stomachicum.
Anstatt zehn Tropfen Acidum hydro-
chloricum dilutum vor dem Essen zu
geben, ist es doch richtiger, durch die
vier unmittelbar vor dem Essen ge¬
nommenen Magen-Tabletten 100 oder
mehr ccm Pepsinsalzsäure vom Magen
selbst erzeugen zu lassen..
Die Magen-Tabletten wirken zugleich
stark appetitanregend. Sie sind, wie der
Hefeextrakt, aus dem sie hergestellt sind,
von großem Wohlgeschmack. Der Ceno-
vis-Extrakt wird ja überall in der Küche
in ausgedehntem Maße zum Würzen von
Suppen, Saucen, Gern üsen usw. angewandt.
Wichtiger als die Benutzung als kulina¬
risches Mittel durch den Gesunden er¬
scheint für den Arzt die Verwendung
beim Kranken: zunächst beim Magen¬
kranken; dann aber auch als Mittel gegen
Appetitlosigkeit bei den verschiedensten
pathologischen Zuständen. Die aus dem
Ceno vis-Extrakt hergestellten, genau do¬
sierten, bequem zu verwendenden Magen-
Tabletten stellen ein einfachstes, „physio¬
logisches“ Stomachicum .von sicherer Wir¬
kung dar, das bei allen Formen von
Appetitlosigkeit beziehungsweise man¬
gelnder Magensaftsekretion, bei akutem
und chronischem Magenkatarrh usw.,
dann aber auch — zwecks vermehrter
Aufnahme und verbesserter Ausnützung
der Nahrung — bei Rekonvaleszenten
von fieberhaften oder sonstigen ,,kon¬
sumierenden“ Krankheiten, wie über¬
haupt bei schwächlichen Individuen, deren
Nahrungsaufnahmevermögen gesteigert
werden soll, indiziert erscheint.
Der Hefeextrakt eignet sich in hervorragender
Weise noch für einen anderen wichtigen medizini-
nischen Zweck, nämlich, in Kombination mit
Hefepulver, zur Herstellung von Pillengrund¬
masse. Pillen können ja auf verschiedenste Weise
hergestellt werden. Wenn vom Arzt die Pillen¬
grundmasse nicht speziell angegeben wird, schreibt
das deutsche Arzneibuch vor, im allgemeinen
Succus Liquiritae depuratus plus Pulvis Liqui-
ritiae zu nehmen. Auf andere Weise hergestellte
Pillen werden sehr oft hart und in Magen- be¬
ziehungsweise Darmsaft unlöslich. Die bekannten
Blaudschen Pillen, und zwar gerade dann, wenn
sie genau nach der Vorschrift des deutschen (oder
englischen) Arzneibuches hergestellt sind, ver¬
lassen den Magen-Darmkanal fast genau so, wie
sie aufgenommen worden sind. Hierüber hat
176
Die Therapie der Gegenwart 1921
Mai
Dr. Grönberg, Viborg (Finnland), sehr inter¬
essante Untersuchungen angestellt. Er bezog aus
120 verschiedenen europäischen Apotheken Pilulae
ferri carbonici Blaudii. Er fand, daß die nach;
der deutschen, wie auch der englischen Pharma¬
kopoe hergestellten Blaudsehen Pillen unver¬
ändert im Stuhl zu finden waren und 90 bis 97%
des gegebenen Fe enthielten. |
Nur die schweizerische Pharmakopoe hat die
— sehr vernünftige — Bestimmung, daß vom
Apotheker hergestellte Pillen erst abgegeben
werden dürfen, nachdem der Apotheker sich über¬
zeugt hat, daß einige Probepillen, mit warmen
Wasser öfter geschüttelt, im Reagensglas zer¬
fallen.
Die aus Hefeextrakt und Hefepulver (gereinig¬
ter, entbitteter Bierhefe) hergestellten Pillen zer¬
fallen leicht und sicher im Magen-Darmkanal.
Man findet keine ungelöste Pille im Stuhl wieder.
Aus den Pillen beginnt sich schon im Munde Hefe¬
extrakt zu lösen und erzeugt angenehmen Ge¬
schmack. Im Magen betätigt der Hefeextrakt
seine stomachische Wirkung und ist daher be¬
sonders geeignet für Medikamente, die leicht den
Magen „lädieren“ (Eisen, Arsen, Chinin, Digi¬
talis usw.). Ich habe im Pharmakologischen In¬
stitut Erlangen Pillen aus Hefeextrakt und Hefe¬
pulver hergestellt mit Ferrum reductum (0,05
pro Pille), Arsen-Pillen (mit 0,001 As pro Pille),
Digitalis-Pillen nach dem Skodaschen Rezept:
Digitalis-Pulver, Chinin und- Extr. Valerianae
(0,05 *Plv. fol. Dig. titr. pro Pille), sowie Kreosot-
Pillen (0,05 pro Pille).
Zur Herstellung der Pillen verwandte ich Nälir-
hefe von der Pharmazeutischen Fabrik Schönniger
(Erlangen) und Hefeextrakt der Cenovis-Nähr-
mittelwerke, München. Der „Cenovis-Extrakt“,
wie er in der Küche verwendet wird, ist als Con-
stituens für Pillen ohne weiteres nicht geeignet,
weil nach längerer Lagerung die Pillfen trocken,
wenn auch nicht unlösbar werden, Es wird des¬
halb von den Ceriovls-Werken ein Medizinalhefe¬
extrakt zur Anfertigung von Pillen' hergestellt
(ohne Suppenkräuterzusatz), welcher heller in der
Farbe ist, geschmeidig bleibt, und daher für die
Herstellung von Pillen geeigneter ist.
Es lassen sich tatsächlich mit keinem anderen
Constituens Pillen technisch leichter und, bezüg¬
lich der Dosierung, sicherer herstellen als mit
Hefee:jftrakt und Hefepulver. Die Herstellung
ist bequemer und sauberer als mit Succus und
Pulvis Liquiritiae. Diese Rohstoffe müssen wir
zudem' für teueres Geld aus dem Auslande (Süd¬
europa) beziehen; Hefeextrakt und Hefepulver
stellt unsere einheimische Industrie dar. Aus
diesen beiden Grundmassen hergestellte Pillen
von Eisen, Arsen usw. stehen wegen ihrer leichten
Zerfallbarkeit und der stomachischen Wirkung
des Hefeextrakts den bisher gebräuchlichen
Eisen-, Arsen- usw. Pillen weit.voran.
Psychotherapie in der ärztlichen Praxis unter besonderer
Berücksichtigung der Hypnose.
Von Sanitätsrat Dr. Disque, Kreisarzt a. D., Nervenarzt, Potsdam.
Die Psychotherapie wendet man ^be¬
sonders bei Psychoneurosen an, bei denen
es sich vor allem um psychische Störungen
handelt. Zu den Psychoneurdsen zählt
man neuerdings die Neurasthenie und
Hysterie, die Organneurosen des Herzens,
des Magens, des Darms, der Blase, die
traumatischen Neurosen, dann psychische
Krankheitssymptome, die mit Zwangs¬
vorstellung, Angstgefühlen (Platzangst
usw.) mit psychischen sexuellen Störungen
einhergehen. Wir sehen, daß diese Krank¬
heiten, die Psychoneurosen, die Mehrzahl
bilden von allen Patienten, die zum prak¬
tischen Arzt, ins Sprechzimmer kommen,
während in den Krankenhäusern mehr
organisch Kranke vorhanden sind.
Bei\der Behandlung der Psychoneuro¬
sen und yor allem der Neurasthenie, sind
zunächst" durch eine Ruhekur und Über¬
ernährung die Erschöpfungszustände zu
beseitigen. Wägungen müssen von Zeit
zu Zeit vorgenommen werden. Gewichts¬
zunahme wirkt auch psychisch günstig
auf den Patienten, (jeringe Gewichts¬
abnahme wird man darum auch nicht mit-
teilen.
Sind keine großen Erschöpfungszu¬
stände vorhanden, so ist eine Arbeits¬
therapie zweckmäßig. Leichte Garten¬
arbeiten, nicht anstrengende geistige Ar¬
beiten, Anlegen von Sammlungen, Aus¬
züge aus wissenschaftlichen Werken, eine
regelmäßige Beschäftigung sind von Be¬
deutung. Eine Zeiteinteilung, an die sich
der Patient halten muß, ist am besten
vom Arzt vorzuschreiben.
Selbstverständlich muß jede Ursache
der Psychoneurosen beseitigt werden. Bei
anhaltenden Erregungen und geistigen
Überanstrengungen ist Patient von zu
Hause zu entfernen. Bei Magen- und Herz¬
neurosen nicht nach einem Badeort, z. B.
Karlsbad, Nauheim u. a.^), am besten in
ein klinisch geleitetes Sanatorium, um
psychisch behandelt zu werden, oder
aufs Land, um die nötige Ruhe zu
haben, eventuell auch besser ernährt zu
werden. Die Angehörigen wirken auf den
Patienten oft nicht günstig ein, dadurch,
daß sie nicht verstehen,.daß er wirklich,
wenn auch nur psychisch krank ist, und
daß es sich bei ihm nicht um Einbildung
handelt. Man muß eben auf die Klagen ein-
gehen und sich nicht abstoßend verhalten,
wenn man dem Patienten helfen will.
1) Disqiie, ,,Organische und funktionelle
Acliylia gastrica“ (Arch. f. Verdauungskr. 1914,
H. 3) und ,,Therapie der Magen- und Herzneu¬
rosen“ (Ther. d. Gegenw. 1916, Heft. 7).
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1921
\
177 ‘
Bei der so wichtigen psychischen Be¬
handlung der Psychoneurosen hat ein
»vernünftiges Zureden großen Wert. Auch
die] Aufklärung ist von Bedeutung. Dies
nennt man Persuasion. Wenn zum Bei¬
spiel Patient Stiche in der Herzgegend hat,
wird man demselben nach Flatau
sagen, weil sie die Überzeugung haben,
sie seien herzkrank, haben sie die Stiche
in der Brust. Es liegt aber kein solches
Leiden vor. Der Puls mag noch so rasch
schlagen, eine Gefahr jst damit niemals
verbunden. Derselbe wird allmählich
langsamer, sobald die Furcht und Er¬
regungen nachgelassen haben. Wenn die
feste Überzeugung bei ihnen vorhanden
ist, daß sie kein Herzleiden haben, werden
auch nachts keine Beschwerden vor¬
handen und der Schlaf besser sein. Kann
Patient nicht schlafen, so wird man ihn
zu überzeugen haben, daß es gar nichts
zu bedeuten hat, wenn er einige Nächte
nicht oder überhaupt schlecht schläft.
Er soll nur ruhig auf dem Rücken liegen
bleiben, ruhig und tief atmen und sich
fest vornehmen einzuschlafen. Der Schlarf
wird dann nach und nach schon kommen.
— Bei Schmerzen und Kopfdruck wird
man sagen, daß dies mit den nervösen
Beschwerden zusammenhängt, daß kein
organisches Leiden vorliegt. Bei Angst¬
gefühlen und Platzangst muß man dem
Patienten Zureden, und ihn ermuntern,
allein und ohne Begleitung über einen
Platz zu gehen.
Auch bei manchen organischen Leiden
ist die Psychotherapie in Verbindung mit
Übungstherapie zweckmäßig, so z. B. bei
Tabes. Es ist hier die Grundlage der
ataktischen Störung die Störung der
Sensibilität. Patient wird auf einem
Kreidestrich auf dem Fußboden psychisch
mit aller Willenskraft die Ataxie zu unter¬
drücken suchen und so besser gehen
lernen.
Bei Tic und Chorea werden durch
Übungen am Spiegel die Zuckungen und
unwillkürlichen' Bewegungen mit festem
Willen unterdrückt.
Auch die elektrischen Anwendungen
gehören bei den Psychoneurosen zur
Psychotherapie, wenn sie auch bei organi¬
schen Nervenleiden mit Lähmungen und
Atrophien somatisch mit Erfolg ange¬
wandt werden. Kann bei einem Psycho-
neurotiker angeblich der Arm nicht ge¬
hoben werden, zeige ich durch den fara-
dischen Strom, daß derselbe gehoben
-) Flatau, „Kursus der Psychotherapie und
des Hypnotismus“, 3. Auf]., Berlin 1920, Karger.
wird, so wirkt dies auf denselben psy¬
chisch ein. Er kommt zu der Über¬
zeugung, daß er denselben doch heben
kann. Kauffmann hat durch fara-
dische Ströme beim Militär sehr schöne
Erfolge erzielt. Dieselben sind aber
sehr schmerzhaft und deshalb in der
Privatpraxis, wo man mit dem Patienten
nicht im Kommandotone reden kann, und
nicht die Autorität des Vorgesetzten hat,
schwer durchzuführen. Hier sind die
schwachen faradischen Ströme, welche
der Patient fühlt und, die galvanischen
Ströme, wobei die schmerzstillende Ano¬
de auf den schmerzhaften Körperteil, die
. Kathode auf einen anderen Körperteil ge¬
setzt wird, anzuwenden. Dies wirket nicht
nur somatisch, sondern vor allem auch
psychisch, da Patient sieht, daß etwas
mit ihm geschieht, besonders wenn man
ihm noch sagt, daß die elektrischen An¬
wendungen von günstiger Wirkung bei
ihm sind, und daß die Beschwerden so
verschwinden. (Suggestive Präparation.)
Die so wichtige Psychotherapie mit
verändertem Wachzustand, die Hypnose,
ist nur ein Ast an dem großen Baume der
Psychotherapie. Manchmal kommen wir
mit einfachen Suggestionen im Wach¬
zustand nicht zum ZieH), dann, aber nur
dann sollte nach meiner Ansicht die
Suggestion im veränderten Wachzustand
in der Hypnose, und zwar nur durch den
Arzt zur Heilung von Psychoneurosen
stattfinden. Jede Hypnose in den Händen
eines Laien, auch zu Schauzwecken, sollte
behördlich verboten sein. '
Als ich vor 25 Jahren das Buch von
Fo'reH), „Der Hypnotismus und die
Psychotherapie 1895“, anschaffte, war ich
überrascht über die durch Psychotherapie
zu erzielenden Erfolge. Ich habe in den
letzten 25 Jahren an mehreren tausend
Patienten auch bei meiner sechzehn¬
jährigen Tätigkeit im Sanatorium Hyp¬
nose angewendet und nicht in einem
einzigen Falle schädliche Folgen beob¬
achtet, wie dies auch Flatau hervorhebt.
Selbstverständlich muß man die Tech¬
nik der Hypnose vollständig-beherrschen
und dem Patienten jedesmal vor dem
Erwachen sagen, daß er sich sehr wohl
fühlt, daß Kopfschmerzen und Müdigkeit
nicht vorhanden sind. Damit keine Auto-
3) Disqii6, „Behandlung der Kriegsneurosen
durch Hypnose, Wachsuggestion n. elektr. An¬
wendung“, Ther. d. Gegenw., Mai 1918 und „Be¬
handlung der Krankheiten durch Wasserheilver¬
fahren, Massage, Gymnastik, Diät, Elektrizität,
Hypnose“. 7. Aufl. Leipzig 1904, 0. Spamer.
0 9. Aufl., Stuttgart 1919, Enke.
23
Die Therapie der, Qegenwah 1921,
178
Mäi
Suggestionen entstehen, und auch von
Unberufenen Hypnosen nicht ausgeführt
werden sollen, füge ich noch hinzu, daß
der Patient nur vom Arzt hypnotisiert
werden kann. Wie ich beobachtet habe,
ist die Hypnose um so leichter durchzu¬
führen, und die Suggestion um so tiefer,
je öfter man dieselbe beim Patienten an¬
wendet. Die ersten Male tritt oft keine
oder keine Hypnose ein.
Bei Geisteskranken ist sie leider nicht
möglich, weil der Geisteskranke seine
Gedanken leider nicht genügend kon¬
zentrieren kann. Auch wenn vorher
Patient erklärt, daß er nicht hypnotisiert
werden will, oder daß er eine Abneigung
dagegen hat, rede ich ihm nie zu und
wende die Hypnose nicht an, da man
dann keinen &folg damit hat. Nach
Lewandowski^) ist die Hypnose eine
medizinisch recht wirksame Handlung
und bei 90 % aller Menschen anwendbar.
Bei der Ausführung fixiere ich den
Patienten mit den Augen, oder lasse ihn
einen glänzenden Kopf eines Perkussions¬
hammers fixieren. Ich sage ihm, daß ich
ihn, um seine Nerven zu beruhigen in
einen schlafähnlichen Zustand versetzen
will, er wird dabei alles hören, was ich
spreche. Ich lege meine Hand auf die
Stirne des Patienten, drücke die Augen¬
lider leicht herunter und sage, daß die
Augenlider immer müder und schwerer
werden, daß die Arme, welche auf den
Knien aufliegen, bleischwer werden. Bei
diesen Worten hebe ich die Arme in die
Höhe und lasse dieselben' mit einem
leichten Ruck wieder fallen. Der Patient
hat nun tatsächlich mehr oder weniger
ein Gefühl von Müdigkeit. Ich bitte ihn
nun, die Augen zu schließen, oder schließe
ihm dieselben mit der Hand selbst und
sage in befehlendem Tone: ,,Schlafen
Sie.‘‘ Dabei kann man, um die Müdigkeit
noch mehr zm-suggerieren, leichte Strei¬
chungen der Arme oder Beine vornehmen.
Nun läßt man die Suggestionen folgen,
welche auch eine posthypnotische Wir¬
kung haben sollen. Einem Mädchen z. B.,
das an spastischer Obstipation litt, habe
ich die posthypnotische ' Suggestion ge¬
geben, daß sie jeden Morgen um 8 Ühr
zu Stuhl gehen wird. Dies ist auch
prompt geschehen. Man sagt dem Patient,
daß die Stimmung, der Schlaf, der
Appetit, der Stuhl usw. nach .und nach
besser werden wird, daß vorhandene
Schmerzen, krampfartige Anfälle und
5) „Praktische Neurologie für Ärzte“. Berlin
1920, Springer.
Angstgefühle u. a. verschwinden. Nach
meiner Ansicht soll nicht gleich das erste
Mal zu viel versprochen werden, sonst ver¬
liert der Patient das Vertrauen zur Hyp¬
nose, wenn der Erfolg nicht nach der
ersten Anwendung eintritt. Man wird die
Wirkung beobachten und bei den weiteren
Hypnosen, wepn eine Besserung zu kon¬
statieren ist, erst bestimmt sagen, daß
die Beschwerden vollständig verschwin¬
den. — Bei dem Erwecken legedch die
Hand dem Patienten auf die Stirne und
sage, wenn ich auf drei zähle, wird
das Gefühl von Müdigkeit verschwun¬
den sein, er werde die Augen öffnen
können und gar keine Beschwerden haben.
Die Dauer der Hypnose beträgt einige
Minuten bis eine Stunde. Es gibt auch
Däuorhypnosen, bei denen man den Pa¬
tienten mehrere Stunden oder die ganze
Nacht in der Hypnose liegen läßt. Dies
geschieht aber besser in Sanatorien, wo
eine größere Beobachtung möglich ist. —
Wer kann hypnotisieren? Jeder Arzt ist
dazu imstande, am besten der, der die
größte Autorität den Kranken gegen¬
über besitzt. Hoffmann sagt in seinen
Vorlesungen über allgemeine Therapie
S. 314: ,,Man irrt sich, wenn man
glaubt, durch abweisendes Schweigen
solche Probleme aus der Welt schaffen
zu können, es wäre eitel Torheit, wenn
der Arzt diese Waffen nicht gebrauchen,
oder gar aus der Hand geben, oder
andern überlassen wollte.“ — Erst in
den letzten Dezennien hat das Wesen
der Hypnose wissenschaftlich durch die
Fortschritte der Physiologie und Psycho^
logie eine Erklärung gefunden. Forel,
Braid, Charcot, Liebault und viele
andere haben hier aufklärend gewirkt.
Doellken hat nachgewiesen, daß die
Funktion der Sinnesorgane Auge und
Ohr in der Hypnose herabgesetzt sind.
Die Flüstersprache kann nicht so weit
gehört, auch Buchstaben nicht so weit
gesehen werden als im Wachzustände.
Auch der Geruch, die Muskel-Gefühls¬
und Schmerzempfindung sind in der
Hypnose nach Kauffmann herabgesetzt.
Die Pupillen sind erweitert, der Puls und
die Atmung beschleunigt. Die Augen
treten hervor*^).
Es gibt nach Forel drei Grade der
Hypnose. Im ersten Grad können die-
Augen noch geöffnet, Patient kann aber
schon beeinflußt werden. Im zweiten
Grade können die Augen nicht rnehr ge-
®) Kauffmann, ,,Suggestion und Hypnose“.
Berlin 1920, Springer.
Mai
Die Therapie Gegenwart 1921
179
öffnet werden. Man kann dann schon
Muskelstarre hervorrufen. Im dritten
Grad der Amnesie weiß Patient nicht
mehr nach der Hypnose, was mit ihm
geschehen ist. Die gegebenen Suggestionen
haften aber posthypnotisch.
Dauererfolge bei der Hypnose habe
ich wie J. H. Schultz’) sehr viele ge-
•srehen.
Für die Hypnose sind nach Forel und
Flatau vor allem diejenigen Krankheiten
geeignet, deren wesentlicher oder einziger
Ursprung psychischer Natur ist: 1. die
Zwangsneurosen, Angstzustände, Platz¬
angst und anderes, 2. Enuresis nocturna,
3. Krampfformen allgemeiner oder lokaler
Natur, hysterische Krämpfe, auch zum
Unterschied von Epilepsie, dann bei Tic¬
formen und Chorea mit Übungstherapie,
4. Morphiumsucht, Alkoholsucht, 5. Ma¬
gen-, Herzneurosen, nervöses Asthma,
6. Störungen des Schlafs, 7. sexuelle
Störungen, 8. manche Stotterformen, be¬
sonders psychischer Natur. Dazu kommt
noch 9. bei Narkosen die Hypnonarkose®),
um das Excitationsstadium vor der Opera¬
tion, die Menge des Betäubungsmittels
--—
’) J. H. S c h u 11 2 ,,,Seelische Krankenbehand¬
lung“, Fischer, Jena, und ,,Über Schnellheilung
von Friedensneurosen“, M. KI. 1921, Nr. 13.
8) Friedländer, „Die Hypnose und Hypno-
narkose“. Stuttgart 1920, Enke.
und die postnarkotischen Wirkungen da¬
durch herabzusetzen.
Wenn ich alles zusammenfasse, möchte
ich sagen, die suggestive Behandlung ist
bei Psychoneurosen von vorzüglicher Wir¬
kung. Man soll aber mit der Hypnose bei
Psychoneurosen nicht alles machen wollen,
man soll dieselbe nur anwenden, ‘ wenn
die Wachsuggestion,’ die mekamentöse,
physikalische, elektrische und diätetische
Behandlung nicht .zum Ziele führen.
Jedenfalls sind alle Organe des Pa¬
tienten, besonders Magen und Herz und
das Nervensystem, sowohl vom prakti¬
schen Arzt als auch vom Spezialarzt
genau zu untersuchen, damit auch in be¬
zug auf organische Krankheiten nichts
versäumt wird. Schon diese genaue Un¬
tersuchung erweckt Vertrauen, und der
Arzt hat es dann leicht, auf den Patienten
psychisch einzuwirken, besonders wenn
er ihn bei Psychoneurosen überzeugt, daß
kein organisches Leiden vorhanden ist.
Auch die chirurgische und vor allem die
antiluetische Therapie ist bei der Neurolo¬
gie nicht zu vernachlässigen. Die Psy¬
chotherapie kann bei den Psycho¬
neurosen in der ärztlichen Praxis
durch keine andere Therapie er¬
setzt werden und ist darum für
den praktischen Arzt von der
größten Bedeutung.
Therapeutisclies aus Vereinen u. Kongressen.
45. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie,
Berlin, 30. März bis 2. April 1921.
Bericht von W. Klink, Berlin.
Die Versammlung tagte unter dem
schneidigen Vorsitz von Sauerbruch und
war reich , an vaterländischen Kund¬
gebungen, besonders bei der Mitteilung
des Ausschlusses der deutschen Chirurgen
aus der Internationalen Gesellschaft für
Chirurgie. 70 Schweizer und 7 holländische
Chirurgen haben gegen diesen Ausschluß
scharfen Einspruch erhoben. Es war \er-
freulich, die Einmütigkeit zu sehen, mit der
die Versammlung ihren deutschen Stand¬
punkt über den internationalen stellte.
Bier und Fritz König berichteten über die
Abgrenzung der konservativen und chirur¬
gischen Behandlung der Knochen- und
Gelenktuberkulose. — Bier stellte folgenden
Satz auf: Die operative Behandlung der chirur¬
gischen i Tuberkulose ist, von wenigen Fällen
abgesehen,, nicht mehr berechtigt, weil die Er¬
folge der konservativen Behandlung viel besser
■sind. Eine Indikation zur Operation gibt drohende
amyloide Entartung, hinzutretende Sepsis,
schwere kavernöse Lungentuberkulose bei gleich¬
zeitiger Gelenktuberkulöse. Der extrakapsuläre
Herd braucht nicht operiert zu werden, denn er
heilt mit großer Sicherheit, ob er ins Gelenk
durchbricht oder nicht, und zwar besser, als
wenn man ihn operiert. Die Entfernung eines
großen Sequesters ist ganz überflüssig, sogar
schädlich, denn er resorbiert sich mit großer
Sicherheit, ja, er scheint sogar zum Wiederaufbau
mit verwandt zu werden. Ein subluxiertes Ge¬
lenk soll nicht reseziert werden, denn es kann
durch Verband in gute Lage gebracht werden
und gut heilen. Tiefliegende kalte Abscesse re¬
sorbieren sich von selbst, oberflächliche werden
punktiert, ohne Einspritzung. Für die Henlesche
Operation an der Wirbelsäule hat er nie eine In¬
dikation gesehen; sie ist stets schädlich. Auch
Leute über 70 Jahre kann man konservativ be¬
handeln. Es läßt sich darüber streiten, ob man
einen alten Menschen mit Gelenktuberkulose
jahrelang konservativ behandeln soll oder lieber
sofort amputieren soll. Natürlich kann auch die
konservative Behandlung versagen. Das wich¬
tigste Mittel der konservativen Behandlung ist
das Sonnenlicht. Beim Lupus ist die bakterien¬
tötende Wirkung des Sonnenlichts das wirksame.
Für tiefe Herde gilt das nicht. Das Pigment ist
23*
Mai .•
180 , Die Therapie der Gegenwart 1921
es auch njcht.^ Wer-sich nicht pigmentiert, ver¬
trägt die Lichtbehandlung nicht, er reagiert mit
Fieber und Entzündung. Das kam aber nur ein¬
mal, bei einem Albino, vor. Das wesentliche der
Lichtwirkung ist ihre Entzündungserregung. Fie¬
ber und Temperatursteigerung sind nicht gleich¬
bedeutend. Vor dem Licht hat Bier andere ent¬
zündungserregende Mittel angewandt: Wärme,
Stauung, die eiweißzersetzende Wirkung art¬
fremden Blutes. Die allgemeine Wirkung des
Lichtes bekommt man auch durch die Protein¬
körpertherapie; die Wirkung ist dieselbe. Auf
die Wundheilung wirkt die Sonne nicht besser
als andere Dinge, es fällt nur hierbei das ewige
Tamponieren und Drainieren und Losreißen des
Verbandes weg. Mit der Stauungsbehandlung in
Verbindung mit Jodkali kann m^n dieselben Er¬
folge, wie mit der Sonnenbestrahlung erzielen.
Jod allein wirkt gar nicht auf den tuberkulösen
Prozeß, aber ganz vortrefflich in Verbindung mit
Stauung oder Sonnenlicht. Die kalten Abscesse
und mächtigen granulösen Wucherungen werden
dadurch vermieden. Jodismus tritt dabei nicht
auf oder schwindet, wenn man das Mittel einige
Tage aussetzt. Tuberkulin hat er in der Anstalt
in Hohenlychen verlassen, gebraucht es aber
noch in der städtischen Poliklinik. Das Material
setzt sich aus lauter schweren Fällen mit hohem
Fieber, über 70% aufgebrochene Tuberkulose,
zusammen. Das gute Aussehen der Kranken in
Hohenlychen kann nicht durch die leider sehr
schlechte Verpflegung bedingt sein. Von dem
Friedmannschen Mittel hat er keine Erfolge ge¬
sehen. Die Tuberkulose fordert keine feststehen¬
den Verbände, sondern nur Entlastung. Die
oberen Gliedmaßen brauchen keinen Verband.
Die unteren Gliedmaßen werden mit Bettruhe
behandelt, brauchen also auch keine Entlastung.
Aber die Richtigstellung muß durch Verbände
erfolgen. Feste Verbände haben leicht Ankylose
zur Folge. Mit methodischen Bewegungen wird
begonnen, wenn die Schmerzen geschwunden
sind, was nach ein bis zwei Wochen erreicht ist.
Dann ist die Gefahr der Knochenzerstörung vor¬
bei. Es genügen ganz geringe Bewegungen. Die
wichtigste Frage ist die, ob man auch in der
Ebene Erfolge haben kann. Bei 1300 bis 1400
Tuberkulösen hat er dieselben Resultate, wie im
Hochgebirge. Ein neuer Versuch wird mitten
in Berlin auf einem Exerzierplatz gemacht.
400 Kranke werden da dauernd ambulant behandelt
werden. Bier ist überzeugt, daß die Erfolge
ebensogut wie in Hohenlychen sein werden.
Man soll nicht dauernd besonnen, sondern mit
den Mitteln wechseln, und dosieren. Kranke
Kinder von der See soll man in die Soolbäder und
solche aus dem Binnenlande an die See schicken.
Umstimmung ist nötig. Die Vermehrung der
Blutkörperchen irn Hochgebirge ist nur An¬
passung ah die verdünnte Luft. Der Sonnen reiz
in der Ebene verursacht auch Vermehrung der
Blutkörperchen. Jeder tuberkulöse Herd am
Körper wird durch die Sonnenbehandlung kon-
gestioniert, das heißt in einen Zustand der Ent¬
zündung gebracht. In Hohenlychen heilen etwa
70%. Es werden ohne Unterschied die schwersten
Fälle genommen, auch amyloide. Wenn aus
äußeren Gründen Ungeheilte die Anstalt ver¬
lassen müssen, werden sie in derselben Weise
zu Hause weiterbehandelt, mit gutem Erfolg.
Die Sterblichkeit betrug 3,8%, darunter viele
Amyloide; bei den meisten bestand das Amyloid
schon bei der Aufnahme. Es läßt sich nicht
diagnostizieren, denn Eiweiß und Cylinder schei¬
den viele aus, die später ganz ausheilen. Es
handelt sich dabei um ein^ toxische Nephritis.
Fast ebenso '^iele starben ^n Meningitis, selbst
nach Heilung des primären Herdes. Also die
Neuentstehung tuberkulöser Herde wird durch
die Sonhenbehaudlung nicht verhindert. Die
übrigen starben an sonstiger Tuberkulose und
anderen Krankheiten. Außer der chirurgischen
Tuberkulose war die Tuberkulose des Darmes,
des Bauchfells, der Hoden und des Urogenital¬
apparats einschließlich der Nieren am dankbar¬
sten für die Sonnenbehandlung. Seit einem Jahr
wird auch die Lungentuberkulose besonnt, wie
Bier hofft, mit gutem Erfolge, doch muß man
individualisieren. In der Prophylaxe spielt die
Gymnastik, wie sie die Griechen trieben, eine
große Rolle. Sie ist um so nötiger, als die mit
der allgemeinen Wehrpflicht verbundene Gym¬
nastik, weggefallen ist.
König führte folgendes aus: Der tuberkulöse
Herd ist eine Gefahr für den Körper und muh
entfernt werden, denn er kann zu einer Verall¬
gemeinerung der Tuberkulose führen. Dieser
Grundsatz ist 1872 von Hueter aufgestellt. Die
operative Entfernting kranker Drüsen brachte
nur 60% Heilung* Es wurde auch nicht die
Lungentuberkulose und der postoperative Tod
dadurch verhindert. Die konservative Behand¬
lung ist der Operation der Drüsen vorzuziehen.
Eine Umfrage bei 22 Chirurgen ergab drei Gruppen
bezüglich ihrer Stellungnahme gegenüber der
Knochentuberkulose; die erste Gruppe bildet
Bier allein. Es nähern sich ihm einige Chirurgen,
bei jugendlichen Kranken. Die zweite -Gruppe
operiert bei Versagen der konservativen Behand¬
lung. Hier hat sich gezeigt, daß auch das Schwei¬
zer Klima die Kniegelenkstuberkulose nicht heilen
kann. Die dritte Gruppe entfernt den kranken
Herd sofort. Es fehlt leider eine Kritik über die
Erfolge der Stauung. Eine Statistik hat keinen
großen Wert, da die meisten Chirurgen nur die
schwersten Fähe resezieren. Von 1900 Nach¬
untersuchten waren 371 gestorben, von denen
ein großer Teil im Gelenk ausgeheilt war. Dauernd
geheilt sind 68%. Schlottergelenk bestand bei
1%. Das Handgelenk zeigte 75% gute Erfolge.
Die Nachbehandlung ist ausschlaggebend für den
Erfolg. Werden die Knochenherde im Gesunden
ausgeräumt, so sind die Erfolge wunderbar. Die
Epiphysenlinie muß möglichst geschont werden.
Bei örtlicher Tuberkulose am Knochen, besonders
in Gelenknähe, muß man den Herd entfernen.
Wenn er in das Gelenk durchbricht, muß reseziert
werden. Bei schwerer tuberkulöser Mischinfek¬
tion muß erlaubt sein, sofort zu operieren. Wenn
bei konservativer Behandlung der Prozeß weiter¬
schreitet, muß man eingreifen dürfen, ehe Am¬
putation nötig wird. Auch bei alten Leuten muß
man resezieren dürfen. Die Resektion ist nur
eine Episode neben der Allgemeinbehandlung
der Tuberkulose.
Garre bekennt sich als überzeugter An¬
hänger der konservativen Behandlung. Er wendet
jetzt reichlich Röntgenbestrahlung an und seine
Erfolge sind besser als 1913. In kalte Abscesse
wird Jodoform eingespritzt. Stauung und Jod
verwendet er nicht, wohl aber fixierende Ver¬
bände, da es sich ja meist um ambulante Kranke
handelt. Die Heilungen bei konservativer Be¬
handlung zeigen oft Rückfälle, da die Herde
nicht, wie bei Resektion, geheilt, sondern nur
abgekapselt sind. Das gilt auch für Biers Fälle.
Bei Kindern ist er konservativer geworden. Aber
Sequester in Gelenknähe und eiternde Fisteln
werden operiert, ebenso ausgedehnte Gelenkzer¬
störung, denn bei diesen regeneriert sich nur
. M ai
Die Therapie der Gegenwart 1921
181
wenig und ohne Operation treten Rückfälle auf.
Abscesse, die das Rüc^kenmark komprimieren,
sind zu entleeren. Eiseisberg: Bei Kindern ist-
möglichst konservativ zu verfahren, doch werden
gelegentlich Sequester entfernt. Quarzlampe
und Röntgenbestrahlung, besonders die erstere,
geben gute Erfolge bei Drüsen, weniger bei Kno¬
chentuberkulose. Der fixierende Verband ist in
der'ambulanten Behandlung unentbehrlich. Wo
möglich keine Resektion im Sprung-, Hand- und
Ellbogengelenk, nur bei lange bestehender Eite¬
rung. Die Amputation muß auch gelegentlich aus¬
geführt werden. Nach ihr geht Lungentuberkulose
oft schnell zurück. Auch die soziale Indikation
•ist zu berücksichtigen. Bei kalten Abscessen
wird gespalten, Jodoformglycerin eingefüllt und
zugenäht. Spondylitische Abscesse müssen lange
konservativ behandelt werden. Müller (Rostock)
hat sich von der^ufsaugung großer Sequester
durch konservative Behandlung in Hohenlychen
überzeugen lassen. — Anschütz: Die Röntgen¬
bestrahlung wirkt bei dem Hüftgelenk schlecht,
bei Knie-, Hand- und Fußgelenk recht gut. —
Borchard hat trotz ausgedehnter Sonnen¬
behandlung die Resektion und ‘Sequestrotomie
nicht aufgegeben. — He nie berichtet über 70%
Dauerheilung nach acht Jahren bei konservativer
Behandlung. Hat in der Stadt Dortmund mit
Sonnenbestrahlung auch gute Erfolge. —
Kümmell ist großer Anhänger der Stauung, der
Luft- und Sonnenbehandlung. Kalte Abscesse
spaltet er, füllt mit Jodoform und näht zu. —
Nach Shoemakers Ansicht kann die Sonne
das Entstehen der Tuberkulose verhüten, denn
in den holländischen Kolonien kennt man keine
Tuberkulose. — Gocht hält es für nötig, daß
die ambulante konservative Behandlung durch
Zeiten stationärer Behandlung unterbrochen wird.
— Goebei hat seit acht Jahren das Friedmann-
sche Mittel bei verschiedenen chirurgischen Tuber¬
kulosen angewandt, hat keine Schädigung, aber
viele Dauerheilungen gesehen. — Das Tuberkulin
wird bei Bier seit acht Jahren in der ambulanten
Behandlung verwandt. Es hat eine große Heil¬
kraft, aber auch gewisse Gefahren. Die Methode
von Dönitz ist ungefährlich. Alttuberkulin wird
bis zum Auftreten einer Herdreaktion eingespritzt.
Dann wird unterbrochen und allgemeine Reiz¬
mittel angewandt. Nach vier bis acht Wochen
wird wieder eingespritzt und so abwechselnd fort¬
gefahren. Die Kranken dürfen nicht zu elend
sein, die Herde nicht zu ausgedehnt sein. Am
besten eignen sich Tuberkulose der Weichteile,
Drüsen und Skrophuloderma. Bei Knie-, Hüft-
und Wirbelsäulentuberkulose ist es verboten.
Bei Behandlung des Fußes sind entlastende Vet-
bände nötig. — Tilmann impft jeden Tuberku¬
losen im Abstand von vier Wochen nach Deycke-
Much. Bleibt der Titer unverändert oder hat
er zugenommen, so ist das ein gutes Zeichen und
die Behandlung ist konservativ; hat aber der
Titer abgenommen, so verfährt er radikal. —
Clairmont wendet die Wildbolzsche Methode
der Eigenharnreaktion bei Tuberkulosen zur
Pirquetschen Reaktion an. Der Urin wird einge¬
dickt. Das Antigen kann im Harn fehlen, kann
zu spärlich vorhanden sein; es kann ferner eitle
positive Reaktion durch Harnstoff oder Salze
entstehen, ohne Anwesenheit von Antigen; und
schließlich gibt es Kranke, bei denen die Reaktion
versagt. Bei florider Tuberkulose ist die Reaktion
meistens positiv, doch manchmal schwach. Nicht¬
tuberkulöse reagieren nicht, oder nur schwach.
Sie ist positiv im Frühstadium. Im chronischen
Stadium läßt sie^m Stich. Das Alter spielt keine
Rolle. Bei fünf radikal Operierten, die vorher
stark positiv waren, war die Reaktion nachher
negativ. Konservativ Behandelte zeigen die
Reaktion gewöhnlich weiter, aber abnehmend.
Kulenkampf beschreibt eine Krankhei,t,-die
er Staphylokokkenerysipel nennt. Sie tritt
im Gesicht auf, sieht aus, wie Rose, nur ist die
Färbung blaurot. Grenzen verwaschen» Häufig
Bläschen. Durch die Röte ziehen sich perlschnur¬
artige Stränge. Hohes Fieber. Puls niedrig, voll.
Euphorie. Schüttelfrost bisweilen im Beginn oder
Verlauf. Dauer 5 bis 24 Tage. Prognose schlecht.
90% Mortalität. Durch zahlreiche Thromben
kommt es zur Sepsis. Nur frühzeitige Incisi’on
hilft. Der Erreger ist der Staphylokokkus. —
Müller (Rostock) möchte die Krankheit als
Furunkulose und Phlegmone bezeichnet wissen^
doch berechtigten die vorgeiührten Bilder die
Bezeichnung Staphylokokkenerysipel.
Vogt berichtet* über die Grundlage und
die Leistungsfähigkeit der intrakardialen
Injektion zur Wiederbelebung. Es komtnt
nur die intraventrikuläre Form in Betracht. Das
Medikament muß am Herzen selbst angreifen
und darf das Myokard nicht schädigen. Spätestens
zehn Minuten nach dem Herzstillstand muß die
Injektion erfolgen, sonst spricht das -Großhirn
nicht mehr an, wenn auch das Herz wieder an¬
fängt zu arbeiten. Auch für die Herzmassage ist
15 Minuten nach Stillstand der späteste Zeitpunkt.
Campher, Coffein, Digitalis sind zu schwach oder
reizen das Myokard. Strophantin schädigt das
Myokard schwer. Die Nebennierenpräparate
wirken großartig, werden auch vom Herzmuskel
gut vertragen. Das Suprarenin hebt die sechsfache
tödliche Chloroformdosis auf. Maximaldosis
1 ccm. Hypophysin steht ihm an Wirkung kaum
nach; man kann es auch bei Blutdrucksteigerung
anwenden, das Suprarenin aber nicht. Die In¬
jektion erfolgt im vierten und fünften Intercostal-'
raum am oberen- Rippenrand. Er erlebte fünf¬
zehn Dauererfolge.
Oehlecker berichtet über 150 Bluttrans¬
fusionen von Vene zu Vene, mit Hilfe einer
Spritze. Im ganzen 800—1000 ccm transfundiert.
Erst 10 ccm und wenn dann keine gefährlichen
Symptome als Zeichen von Hämolyse auftreten,
wird weiter gespritzt. Die serologischen Vorunter¬
suchungen lassen oft im Stich. Verwandtschaft,
Geschlecht, Rasse spielen keine Rolle. Man kann
auch denselben Spender zweimal nehmen. Der,
allerdings nur vorübergehende, Erfolg bei sekun¬
dären Anämien bei Carcinom war oft überraschend.
Auch bei perniziöser Anämie ist der Erfolg nur
vorübergehend, doch gut. Ein Kranker hat sich
35 Transfusionen machen lassen. — Hotz legt
wohl Wert auf vorhergehende serologische Unter¬
suchung. Einer Hämolyse geht immer Aggluti¬
nation vorher und die Untersuchung läßt sich
schnell ausführen, wenn man immer Serum vor¬
rätig hat.
Ostermann berichtet über Instrumente
aus rostfreiem Stahl, die bei Krupp in Essen
hergestellt werden. Dieser Stahl enthält 20%
Chrom und 7 bis 8% Nickel. Er wird nicht einmal
von Salpetersäure angegriffen. Die Instrumente
sehen schön aus, haben sich bei längerer Probe
gut bewährt. Ihr Preis ist etwa der dreifache
von gewöhnlichen, vernickelten.
Sudeck unterscheidet bei der Basedowschen
Krankheit die klassisehe Basedowkrankheit,
den Thyreoidismus und die Fo.rmes frustes.
Die Basedowkrankheit ist eine Dysthyreose. Der
Unterschied gegen Thyreoidismus kann durch
einen quantitativen Unterschied der Sekretion
182
Die
Therapie
der Gegenwart
1921 ;
Mär
gegeben sein. Formes frustes haben mit. der
Schilddrüse wenig oder nichts zu tun, wenn auch
ein Kropf besteht; es handelt sich um Sekretions¬
störungen anderer innerer Organe. Die Opera¬
tionsergebnisse sind bei ihnen schlecht. Seit vier
Jahren entfernt Sud eck bei Basedow beide
Schilddrüsenhälften bis auf einen kleinen Stumpf
mit Unterbindung der Arterien. In einem Falle
trat Tetanie auf, nachdem vor der Operation
lange Röntgenbehandlung durchgeführt worden
war. Alle weniger radikalen Methoden geben
schlechte Erfolge. In fünf ganz besonders schweren
Fällen hat er die Schilddrüse gänzlich entfernt.
Bei Schilddrüsenfütterung fühlten sich alle fünf
wohl. Herzvergrößerung blieb bestehen. Aber
diese Methode ist nicht als Regel zu empfehlen.
Er hatte bei 280 Basedowoperationen mit nicht
radikalen Methoden 52%, mit radikalen Methoden
90%, mit der Totalexstirpation 100% Heilung.
Die Heilung hängt von dem Zustand der Schild¬
drüse ab. Die gleichzeitige Entfernung der
Thymus ergab keinen Unterschied im Erfolg.
Die Operation beim Thyreoidismus ergab in
letzter Zeit noch ein Drittel Mißerfolge. Das
liegt an diagnostischen Fehlern. — Eiseisberg
und Sauerbruch warnen vor der bewußt aus-
geführteu Totalexstirpation.
Kirschner füllt bei alten fistelnden Em¬
pyemen nach Freilegung von vorn die am
schwersten auszufüllende Kuppe der Höhle
durch die eingelegte Mm. pector. mai. und
min. aus. — Götze läßt eine kleine Maske
dauernd tragen, die die Lunge dehnt. — Küm-
mell empfiehlt bei kleineren Höhlen die Fistel
auszukratzen, nicht zu tamponieren, mit un¬
durchlässigem Stoff zu bedecken. Nach vierzehn
Tagen schließt sich die Fistel, die vier bis fünf
Monate bestanden hat. — Jänkel hat in einem
Vierteljahr eine ungeheure Höhle zum Schwund
gebracht durch Spülungen und Eingießung von
Pepsin 1 % — Borsäurelösung. Jedenfalls wurde
dadurch die dicke Schwarte aufgelöst.
Von Bronchektasen sind etwa 80% ange¬
boren und auf den linken Unterlappen beschränkt;
elfmal ist dieser Lappen reseziert. Die ersten
sechs sind gestorben. Bei weiteren sieben hat
S'auerbruch in mehreren Sitzungen operiert.
Von ihnen sind sechs geheilt.
Braun berichtete über die Abgrenzung
der allgemeinen, derLumbal- und derört-
lichen Betäubung. Die Lumbalanästhesie hat
eine viel größere Mortalität im Gefolge, als die
Allgemeinnarkose. Die Gefahr nimmt mit der
Ausbreitung des Mittels nach oben zu. Sie ist
zu beschränken auf Operationen im‘ Bereich der
untersten Rückenmarkssegmente. Mit dieser
Beschränkung dürfte die Sterblichkeit erheblich
sinken.' Sie ist ein wertvolles Ausnahmeverfahren
mit beschränktem Anwendungskreis. Nur in
1% der Operationen ist sie angezeigt. Die* hohe
Sakralanästhesie steht der Lumbalanästhesie an
Gefahr kaum. nach. Die Gefahr besteht in der
schnellen Aufsaugung des Novocains. Sie wird
hart bedrängt durch die parasakrale Anästhesie.
Die Venenanästhesie hat wenig Anhang gefunden.
Die Lokalanästhesie -ist in ihrer ursprünglichen
Form ungefährlich. Sie wird in manchen An¬
stalten, in 90% aller Operationen ausgeführt. Er
selbst wendet sie in 50% an. Toxische Neben-*
Wirkungen des Novocain bestimmen die Grenzen
der Lokalanästhesie. Hier scheinen örtliche
Unterschiede zu herrschen. So klagen manche
Chirurgen über Erbrechen und Nierenreizung.
Novocainvergiftung, kommt bei der alten Art
selten vor. Erst nach sehr großen Dosen oder
Einspritzung dicht an der Wirbelsäule treten
Vergiftungserscheinungen auf. Bedenklich ist die
Einspritzung ins Ganglion Gasseri. Die örtliche
Betäubung hat die Lungenerkrankungen nach
Bauchoperationen nicht vermindert. Bei lange
dauernden Bauchoperationen empfiehlt er Mor-
phin-Scopolamin, Lokalanästhesie, und wenn
nötig, zwischengeschobene kurze Allgemeinnarkose.
Die paravertebrale Anästhesie ist viel zu umständ¬
lich, die Nadelführung zu unsicher, die Dosis zu
hoch, Kollapse nicht selten. Die gervicalanästhesie
muß auch noch verbessert wÄden. Über die
Splanchnicusanästhesie läßt sich noch kein
sicheres Urteil fällen. Die Anästhesie des Plexus
brachialis hat sich weit verbreitet, es besteht bei
ihr allerdings die Gefahr der Verletzung von
Lunge und Pleura.
Denk berichtete über die allgemeine Nar¬
kose. Ihre Gefahr hat bedeutend abgenommen.
Der Aether wird immer mehr als Narkoticum
der Wahl verwandt, da er viel harmloser als
Chloroform ist. Ein primärer Herztod tritt bei
ihm wohl nicht ein. Am besten sind die offenen
Narkoseapparate oder offene Masken mit Tropfen¬
methode. Lungenkomplikationen sind meist
auf behinderte Atmung infolge Wundschmerz
zurückzuführen. Daher ihr häufiges Auftreten
nach Operationen der oberen Bauchgegend. Die
Aspirationspneumonie läßt sich durch gute Tech¬
nik vermeiden. Scopolamin-Morphin wird in
größeren Dosen nicht mehr gegeben. In Wien
lassen sie es wegen Einwirkung auf das Herz weg.
Sie geben Atropin mit Morphin oder Pantopon.
Nach der Operation sind Atemübungen und steile
Lagerung • angezeigt. Gegen den Wundschmerz
Morphin. Auch Chinin ist ein gutes Prophylak-
ticum. Chloroform soll möglichst vermieden
werden. Besonders verboten ist es bei Opera¬
tionen an der Leber und im Bereich der Pfort¬
ader. Längeres Fasten vor der Operation schä¬
digt die Leberzellen. Die Billrothmischung ist
sehr zu empfehlen. Auch die Narkose im ver¬
kleinerten Kreislauf ist gut, doch ist eine Neigung
zu Phlebitis festzustellen. Chloräthyl wird zürn
Rausch ausgedehnt angewandt; in größerer Dosis
und für längere Operationen ist es ein schweres
Gift.
Ein Diskussionsredner hat mehrfach durch die
Bauchdecken Novocain-Suprarenin in die Bauch¬
höhle gespritzt, bis zu großen Mengen, ohne üble
Folgen. Es trat fast immer völlige Unempfind¬
lichkeit der Bauchhöhle ein. In einigen Fällen
trat eine allgemeine Anästhesie bei erhaltenem
Bewußtsein auf, in zwei Fällen Erregungszustände.
— Kausch macht nur noch 20% Lokalanästhe¬
sien. Er gibt 1,5 mg Scopolamin. — Eiseis¬
berg hatte in 1000 Lumbalanästhesien keine
Schädigung, Kopfschmerzen in 7%. — Müller
(Rostock) erlebte bei 5000 Lumbalanästhesien
einen Todesfall.
Mm Die Therapie der Gegenwart 1921 • 183'
■ - . ■ — ■ . - \ — ■ — ■ ■ - ■ • — , ■ . -
33. Kongreß der Deutsclien Gesellschaft für innere Medizin,
Wiesbaden, 18.—21. April 1921.
Bericht von G. Kiemperer.
Seitdem ich diese Zeitschrift heraus¬
gebe, seit 21 Jahren, habe ich mit wenig
Ausnahmen alljährlich einen Bericht über
den Kongreß für innere Medizin geschrie¬
ben. Nun wird mir die Freude-^uteil über
die Tagung zu berichten, ^er ich selbst
Vorsitzen durfte. Bei ihrer’^Vorbereitung
Jhabe ich mich von der Meinung leiten
lassen, die ich von dem Begründer des
Kongresses, meinem un verge ß li chen
Lehrer Leyden, überkommen habe, daß
alles Forschen und Streben der inneren
Medizin in der Therapie gipfeln müsse,
und habe deswegen, mit Zustimmung der
berufenen Gesellschaftsorgane, als Gegen¬
stände der großen Referate therapeuti¬
sche Probleme gewählt, die ich ebenso
vom wissenschaftlichen wie vom prak¬
tischen Standpunkt erörtert wissen wollte.
Es waren als Verhandlungsgegenstände
die Behandlung der Lungentuberku¬
lose und des Diabetes mellitus be¬
stimmt, zwei Gebiete, auf denen in den
letzten Jahren viele wichtige neue Fragen
der Entscheidung harrten, an denen in
gleicher Weise die wissehschaftlichen For¬
scher wie die ärztlichen Praktiker inter¬
essiert waren.
An die großen Referate mit deh'an¬
schließenden Mitteilungen und Aus¬
sprachen reihten sich fast 100 Einzelvor¬
träge besonders aus den Gebieten des
Stoffwechsels und der Verdauung, der
Hämatologie, und der Herz- und Nieren¬
krankheiten; durch Gruppierung^ und
Verständigung gelang es, fast alle Vor¬
tragenden zu Gehör und zur Wirkung
gelangen zu lassen. In mir ist bei der
Ordnung und Leitung der Verhandlungen
stets das Gefühl lebendig gewesen, das
jede öffentliche Wirksamkeit beherrschen
und durchdringen muß: Ehrfucht vor der
Leistung. So traten bedeutsame Mit¬
teilungen jüngerer Forscher, die zum
Teil praktische Fortschritte brachten,
gebührend in den Vordergrund und ver¬
schafften auch den ärztlichen Teilnehmern
wirkliche Anregung und Förderung. Es
gereicht mir zur größten Genugtuung, daß
eine überaus große Anzahl ausübender
Ärzte an der Tagung teilgenommen und
die Mitgliedschaft erworben hat; die
Deutsche Gesellschaft für innere Medizin
dient in gleicher Weise den Interessen
der Praktiker wie der Kliniker; denn die
innere Medizin, deren Fortschritt aus so
vielen Quellen der reinen Wissenschaft
gespeist wird, ist das Hauptarbeitsgebiet
des praktischen Arztes. Möchte der- fol¬
gende Bericht in vielen Lesern die Vor¬
stellung lebendig und wirksam werden
lassen, daß es eine vornehme Pflicht der
deutschen Ärzte ist, sich einer Gesell-,
Schaft anzuschließen, welche den Beruf
hat, das Hauptstück ärztlicher Lebens¬
arbeit zu fördern und auszugestalten.
Die Verhandlungen wurden eingeleitet durch
die Eröffnungsrede, welche in diesem Hefte ab¬
gedruckt ist. Das Hauptreferat begann mit dem
Vortrag von Aschoff (Freibürg) über die natür¬
lichen Heilungsvorgänge bei der Lungenphthise.
Die Absicht des Vortragenden war es, unter
Zusammenfassung der neueren Untersuchungen
die Wege anzudeuten, auf denen sich in der Frage
der natürlichen Heilungsvorgänge der Lungen-'
phthise die zukünftigen pathologisch-anatomischen
Forschungen bewegen müssen. Auch hier wie
auf fast allen Gebieten der Nosologie hat sich
die pathogenetische am fruchtbarsten .erwiesen:
wo und wie entwickeln sich die verschiedenen
Formen? Man unterscheidet an der Lunge ein
exkretorisches oder Bronchial- und ein respirie¬
rendes oder Alveolarsystem. Dieses gliedert sich
in Lappen, Läppchen und Azini. Über letztere
besitzen wir noch kein ganz klares Bild. Die hier
noch bestehenden Widersprüche gründen sich
auf eine nicht genügende Unterscheidung der
Bronchioli respiratorii verschiedener Ordnung.
Durch die zunehmende Zahl dieser Alveolen
unterscheiden sich die in kurzen dichotomischen
Verästelungen ineinander übergehenden respira¬
torischen Bronchioli 1., II. und III. Ordnung.
Erst mit dem überall von Alveolen besetzten
Gängen beginnt das rein respiratorische System.
Aus dieser Komplikation des Aufbaues ergibt sich
die Schwierigkeit, seine Funktion zu analysieren.
Dieses respiratorische System im engeren
Sinn ist es, in welchem siqhdie wichtigsten Ent¬
zündungen abspielen. Die Wirbelbildungen hinter
dem Engpaß der Bronchioli terminales und der
Bronchioli respiratorii I, die zunehmenden sack¬
artigen Ausbuchtungen der Wandungen im Gebiet
des Bronchiolus respiratorius II. bedingen leicht
ein Liegenbleiben von allerlei Fremdkörpern, also
auch Von Mikroorganismen. Hier beginnen fast
alle aerogenen Entzündungen der Lunge: Mit
dem von Rindfleisch eingeführten Begriff der
acinösen Herdbildung soll aber nicht nur eine
räurnliche, sondern auch eine funktionelle Vor¬
stellung verbunden werden, da der reaktive Pro¬
zeß trotz der Verstopfung der respiratorischen
Bronchiolen sehr bald auf die Alveolengänge über¬
zugreifen pflegt. Demgemäß, versteht der Vor¬
tragende unter Acinis die von einem Bronchiolus
respiratorius beherrschte, durch dessen Teilung
in die vorerwähnten Gebiete bis zu den Alveolar¬
säcken zum Ausdruck kommende letzte Einheit
des respiratorischen Systems. Was sich vor¬
wiegend hier ausbreitet, ist ein acinöser Prozeß.
Neben diesen räumlichen Begriffen kommt
es zum Verständnis der Heilungsvorgänge auf
die Kenntnis der Reaktionsformen des phthisisch
affizierten Organismus an. Neben dem Sitz der
Erkrankung muß uns die Eigenart des phthisi-
184 Die Therapie der
scheh Prozesses interessieren; Es gilt zwei Haupt¬
formen defensiver Reaktion, die produktive und
die exsudative, die teils gemischt, teils rein auf-
treten können. Die erste Reaktion wird, wie man
^allgemein annimmt, von den Bacillen selbst, die
zweite durch die aus ihrem Zerfall frei gewordenen
Gifte bestimmt.
Bei Unterscheidung der produktiven von der
exsudativen Phthise und bei Berücksichtigung
ihrer Lokalisation im exkretorischen und im re¬
spiratorischen System ergibt sich zwanglos fol¬
gende Einteilung: Beide Gruppen beginnen mit
acinösen Formen, um sich dann über Läppchen
und Lappen auszubreiten. Für die äcinös-pro-
duktive Phthise ist die knötchenförmig vor¬
springende Kleeblattform charakteristisch. Durch
Infektion von Nachbarbronchiolen häufen sich
die acinösen Herde zu Knoten an. Diese häufigste,
meist mit Indurationsvorgängen verbundene Form
der chronischen Lungenphthise wird als acinös-
nodöse Plrthise bezeichnet, die sich zum Bild
der cirrhotischen Phthise entwickeln kann.
Ähnlich entwickelt sich die exsudative
Phthise, die sich neben ihrer stärkeren Neigung
zur Verkäsung gegenüber der produktiven Form
durch größere Konfluenz ihrer Herde auszeichnet,
zumal Ausheilungsvorgänge erst spät und un¬
vollkommen einsetzen. Es kommt also, besonders
bei stärkerer Infektion, zur lobulär- und
lobär-exsudativen Phthise beziehungsweise
zur lobulär und lobär verkäsenden Phthise.
Bei beiden phthisischen Reaktionsformen läßt
sich von einer defensiven und von einer pro¬
liferativen Phase sprechen. In allen Entwick¬
lungsstadien der defensiven Prozesse, schon vor
oder erst nach eingetretener Verkäsung kann
nun der Umschlag in die Heilung, in die repa-
ratorische Phase eintreten. -
Bei der produktiven Form der defensiven
Reaktion zeigt die histologische Beobachtung,
da'ß die Reparation in einer ganz spezifischen
Narbenbildung besteht. Die Epitheloidzellen
bilden ein hyalin geschwollenes Faser- und Band¬
system. Ist das Centrum des Tuberkels schon
verkäst, so geht der sich eindickende Käse ganz
allmählich in das specifische hyalin-fibröse Narben¬
gewebe über. Das verkäste'Centrum kann sich
mit Kalk beladen, durch zunehmende Eindickung
kleiner werden, eine Organisation des Käses etwa
wie die des gewöhnlichen Fibrins lehnt der Vor¬
tragende ab. Deshalb die unvollkommene Heilung
phthisischer Herdbildungen. Der Herd wird ab¬
gekapselt, aber nicht umgewandelt (obsolete
Phthise). Auch der ursprünglich perifokale
Reaktionshof kann sich an diesen Ausheilungs¬
vorgängen beteiligen. Die nicht resorbierten
Exsudatmassen werden organisiert. So ent¬
wickelt sich, und zwar unter teilweiser besonders
starker Zerstörung des elastischen Gewebes, eine
zweite nicht specifische Kapsel. Diese doppelte
Einscheidung eines Käseherdes mit specifischer
und nichtspecifischer Kapsel ist ein Gesetz.
Bei der exsudativen Form spielen beim Über¬
gang der defensiven zur reparativen Phase die
Resorptionsprozesse eine besondere Rolle (Reso¬
lutionsform der Phthise). Klinisch nachweisbare
umfangreiche Aufhellungen sprechen dafür. Die
bereits verkästen Exsudatmassen unterliegen
solcher Resolution nicht mehr; es kann Erweichung
eintreten, die aber vorwiegend zur gefährlichen
Entleerung an geeigneten Abführstellen führt.
In der Regel entwickelt sich mit Stillstand des
exsudativ-verkäsenden-Prozesses an der Grenze
der Verkäsung ein specifisches Granulati’ons-
gewebe, welches nun seinerseits auf die Um-
' Gegenwart 1921 Mat
gebun^ fortschreiten kann. Kommt auch dieser
Prozeß zum Stillstand, so können nun im Bereich
des specifischen Granulationsgewebes die gleichen
Vorgänge, d. h. die Umwandlung in eine speci-
fische hyalin-fibröse Narbe einsetzen wie bei der
obsoleszierenden Form. Ihr schließt sich nach
außen wieder.eine nicht specifische Narbe an.
Diese reparativen Reaktionen bei der Phthise
sind ungemein -häufig. Ausheilung bildet die
Regel, Nichtausheilung die Ausnahme. Doch
gehen von s'ölchen unvollkommen ausgeheilten
Herden außerordentlich leicht neue phthisische
affektiv-reaktive'Prozesse aus.
Zu den genannten Defensiv-, Reparativ- und
Rezidivformen tritt noch eine als Komplika¬
tionsform bezeichnete, .von der Erweichung
der verkästen Massen ihren Ursprung nehmend.
Diese im defensiven wie auch noch im reparativen
Stadium mögliche. Erweichung führt zur Bildung
von Kavernen. Immerhin muß das Urteil betreffs
einer wirklichen Reinigung sehr zurückhaltend
sein, da anscheinend gereinigte Kavernen bei
genauer mikroskopischer Durchmusterung oft
genug proliferative, vielfach verkäsende Prozesse
auf weisen.'
Die Frage der Ausheilbarkeit einer Lungen¬
phthise hängt also wesentlich von ihrem Charakter
ab. Wenig wissen wir dann, warum sich das
eine Mal vorwiegend produktive, das andere Mal
vorwiegend exsudative Prozesse entwickeln, wa¬
rum die ersteren bald zur frühzeitigen Induration,
die letzteren zur schnellen Resorption gelangen
oder beide zur Verkäsung fortschreiten, warum
einmal die käsigen ^Massen sich eindicken, ver¬
kalken und abgekapselt werden können, ein ander¬
mal aber erweichen. — Man denkt zunächst an
verschiedene Virulenz, Menge, Suspensionsform
der Phthisebacillen, an Mischinfektionen usw.
Doch ist diese Erklärung nicht für alle Fälle aus¬
reichend, z. B. für Infektionen, die bald mit
produktiver, bald mit exsudativer Defensivform
verlaufen. Bestimmte Stoffwechselstörungen, wie
der Diabetes, bestimmte physiologische Um¬
stimmungen, wie das Puerperium, lassen die
exsudativen Formen stärker hervortreten. Um¬
gekehrt geben Reizzustände, z. B. durch die ver¬
schiedenen Koniosen, einen günstigen Boden für
die produktive Reaktionsform. Andere ^Autoren
betonen den Antagonismus zwischen Nephritis,
Carcinom, Vitium cordis und der proliferierenden
Phthise. Andererseits befördert die Krebs¬
kachexie die Rezidivbildung aus verkreideten und
verkästen Herden. Jede Erschöpfung läßt die
exsudative Reaktion lebhafter werden. Die Er¬
weichung ist zweifellos mit abhängig von stärkeren
Durchströmungen, wie das die Durchbruchs¬
prozesse nach Masern, Grippe, Keuchhusten
zeigen. Wovon die erwünschte schnelle Ver¬
kalkung abhängt, ist unbekannt.
Der Morphologe kann jedoch zu dem letzten
noch übrigbleibenden Problem, ob im Ablauf der
Phthise selbst gesetzmäßige Schwankungen der
Reaktionsformen, anscheinend abhängig von den
durchlaufenen Immunitätsstadien Vorkommen,
anatomische Belege beisteuern.
Während nämlich die kindliche Phthise
durch unregelmäßige Lokalisation, starke Mit¬
beteiligung der Drüsen und große Neigung zu
Generalisation gekennzeichnet ist, so die der
Erwachsenen durch den Ausgang von den Spitzen
und die vorwiegende Beschränkung auf die Lunge.
Man hat versucht, diese Unterschiede mit ana¬
tomischen Differenzen der kindlichen und der
erwachsenen Lunge zu erklären. Der Vortragende
glaubt, daß beim Erwachsenen dem stärkeren
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1921
185
Rußgehalt, der zunehmenden Verlegung der
Lymphgefäße, der fortschreitenden Reduktion des
lymphatischen Gewebes, also besonderen Alters¬
umstimmungen, die entscheidende Rolle zukommt,
wobei auch zu bedenken ist, daß der Mensch mit
zunehmendem Alter gegen die phthisische Infek¬
tion weniger empfänglich wird. Trotzdem- aber
genügen diese Altersdifferenzen und pathologi¬
schen Veränderungen nicht, um die großen Ver¬
schiedenheiten der beiden Ablaufsformen zu
erklären. Mit Ranke unterscheidet man den
Primäraffekt, die allergische, besser anaphylak¬
tische Periode und die Periode der relativen
Immunität. Man pflegt nun die kindliche Phthise
mit den beiden ersten Perioden, die des Erwach¬
senen mit der dritten zu identifizieren.
Das Charakteristische des phthisischen Primär-
.affektes im Säuglings- und Kindesalter ist sein
unregelmäßiger Sitz und sein typischer Aufbau.
Er stellt stets eine acinöse oder lobulär-exsudative,
schnell verkäsende Phthise mit auffallend großer
Heilungstendenz und raschen Stillständen dar.
Doch erwirbt nicht jedes Kind einen Primäraffekt
der Lunge. Die positive Pirquetreaktion kann
auch auf andere lokalisierte Phthiseinfektion zu¬
rückgeführt werden. Ein Teil der Primäraffekte
geht direkt oder nach kurzer Pause in ein ulceröses
Stadium' über mit unregelmäßig lokalisierten
Kavernen inmitten käsig-pneumonischer Herd¬
bildung. Charakterisiert ist diese Pejriode durch
Metastasenbildung auf lymphogenem und häma-^
togenem Wege mit Einbruch in den Bronchial¬
baum und endobronchialer Ausbreitung; kurzum
Entwicklung einer generalisierten Phthise, die in
der hämatogenen miliaren Phthise als in der
septisch metastasierenden Form ihren Höhepunkt
erreicht.
Die Häufigkeit ausgeheilter phthisischer In¬
fektionen bei der letzten Gruppe, der isolierten
Phthise, besagt nichts, wenn man nicht weiß, ob
es sich dabei um ausgeheilte Primäraffekte oder
ausgeheilte Reinfekte handelt. In allen Fällen
von Lungenphthise muß nach dem kindlichen
Primäraffekt gesucht werden zur Vergewisserung,
daß tatsächlich die kindliche Infektion erst die
isolierte Lungenphthise ermöglicht.
Nimmt man nun den Reinfekt in einer durch
Primäraffekt disponierten Lunge als Ausgangs¬
punkt der fortschreitenden Lungenphthi-se des
Erwachsenen, so betritt man ein Gebiet, wo die
Mannigfaltigkeit der Form das einzig Gesetz¬
mäßige zu sein scheint. Diese Form neigt mehr
zur Chronizität und zur Heilung, eben als Ausdruck
einer relativen Immunität. Da es bei den Re-
infekten mehr zur Bildung von Nachbarherden
kommt, so entstehen oft strahlige isolierte, oder
bei gleichzeitigem Einsetzen mehrerer Reinfekte,
zusammenhängende schwielige Narben. Das da¬
zwischenliegende Gewebe kann emphysematös
oder atelektatisch sein.
Die Bedingungen, die zur Lokalisation des
Reinfektes gerade in den Spitzen führen, hängen
mit der Frage der Heilbarkeit aufs innigste zu¬
sammen. Da biochemische Unterschiede in den
einzelnen Lungenabschnitten unter gewöhnlichen
Umständen nicht angenommen werden können,
so bleiben nur physikalische Erklärungen übrig.
Bei Voraussetzung einer nicht allzustarken In¬
fektion scheint nicht nur ihr Haften, sondern auch
ihre Heilung von einem bestimmten Maße respi-’
ratorischer Energie abhängig, die ein bestimmtes
Maß von Bewegungsenergie im Blut- und Lymph-
strom voraussetzt. Sinkt die respiratorische Kraft,
kommt der Zeitfaktor für eine genügende ört¬
liche Wechselwirkung stärker zur Geltung, so wird
die Infektion effektiv. Sinkt die respiratorische
Kraft noch weiter, so wird damit die Ausbreitung
des Virus, die Giftdiffusion beschränkt, die
Selbsthemmung der Bacillen begünstigt, die
Heilung bei sonst gesunden Körperkräften ge¬
fördert. Der Sitz des Reinfektes scheint jeden¬
falls für die Heilung oder Nichtheilung nicht in
Betracht zu kommen.
Es käme, da der Sitz des Reinfektes nicht
das Entscheidendeist, noch seine Ausbreitungs-
größe in Betracht. Die Zahl der acinösen und
acinös-nodösen Herde, die sich aus einem solchen
Reinfekt entwickeln, ist verschieden groß, zweifel-
• los mit abhän^g von der Ausdehnung des infekr
tiösen Prozesses im Bronchialsystem. Aus diesem
können immer wieder neue acinöse Infektionen
erfolgen. Die Behauptung, daß jede Phthise,
die die dritte Rippe (v. Hansemann) oder die
fünfte Rippe (Tendeloo) überschreitet, klinisch
unheilbar sei, mag praktisch zutreffen, doch sieht
man ohne weiteres, die gleichen Heilungsvorgänge
wie im Ober- und Mittelgeschoß auch im Unter¬
geschoß einsetzen, wenn es sich um die acinös-
nodöse Phthise handelt. Das Entscheidende liegt
in dem Hinzutreten komplizierender Er¬
weichungsvorgänge. Selbst bei ausgedehnter
Verkäsung der acinös-nodösen Herde, bei aus¬
gesprochener käsiger Bronchitis, kann durch
obsoleszierende Prozesse die Ausschaltung des
infektiösen Herdes von der übrigen Lunge Zu¬
standekommen. Entstehen aber klinisch nach¬
weisbare Kavernen, dann ist der Fall klinisch ver¬
loren; denn die Fälle von klinisch geheilter Phthise
mit nachgewiesenen Kavernen stellen noch immer
Ausnahmen dar, ebenso die Selbstheilungen von
Kavernen durch Druck größerer Exsudate, wie
auch durch kreidige Verödung des abführenden
Bronchus.
Auf die Frage also: warum könnten bestimmte
Phthisen ziemlich leicht, andere nur schwer,
andere gar nicht zur Heilung gebracht werden,
kann der pathologische Anatom folgende Ant¬
worten geben: Nicht so sehr Sitz und Aus¬
breitung als Charakter derselben entscheidet
über die klinische Heilbarkeit. Insbesondere für
die Therapie ist zu bemerken:
1. Bei unkomplizierten proliferieren-
den Phthisen hängt die Ausheilbarkeit außer von
den immunisatorischen Kräften und dem Gesamt¬
zustand voir einer genügenden Schonung des er¬
krankten Lungengebietes durch möglichste Ruhe¬
stellung ab.
2. Bei den exsudativen Formen der un¬
komplizierten prolif erierenden Phthisen
Vermeidung aller Reizmethoden, welche die Lunge
mobilisieren (Bestrahlungen, bestimmte Anti¬
körperbehandlungen), während die gleichen Me¬
thoden bei den produktiven, zumal nodös-
zirrhotischen Formen die natürliche Neigung zur
Induration unterstützen können.
3. Bei den ausgeheilten (indurierten oder
zirrhotischen) Phthisen: systematische Durch¬
lüftung der atelektatisch-bronchiektatischen Par¬
tien.
4. Bei komplizierter Phthise kann Scho-
nungs- oder specifische Kur die kavernösen Pro¬
zesse, die sich auch in mehr oder weniger immo¬
bilisierten Lungenabschnitten rücksichtslos aus¬
breiten, nicht .beeinflussen. Die Behandlung
könnte nur eine chirurgische sein.
5. Die mit anatomischen Belegen zu stützende
Annahme eines Zusammenfallens der produktiven
und exsudativen, proliferierenden und indurieren-
den anatomischen Formen der Phthise mit
bestimmten Allergiezuständen muß sich
24
^86
Die, Therapie der Gegenwart 1921
Mai
auch für die immun biologische Therapie fruchtbar
erweisen.
Es folgte das Referat von Uhlenhuth (Ber¬
lin) über die experimentellen Grundlagen der
specifischen Behandlung der Tuberkulose. Eine
echte Immunität kennen wir bei der Tuberkulose
nicht. Wie bei der Syphilis haben wir hier eine
sogenannte „Infektionsimmunität“, d. h. eine
relative Resistenz gegenüber einer Neuinfektion,
solange lebende Tuberkelbacillen im Körper vor¬
handen sind.
Es handelt sich also um eine Resistenz in einem
Körper, bei dem die Infektion noch besteht, nicht
wie bei anderen Infektionskrankneiten um eine
Immunität, bei der das Individuum die Krankheit
überstanden hat. Diese relative Immunität be¬
ruht in erster Linie auf einer durch virulente
lebende Tuberkelbacillen erzeugten Umstimmung
der Körperzellen, die wir als Überempfindlichkeit
zu bezeichnen pflegen (allergische Resistenz).
Insofern kann allerdings auch sie als eine Immu¬
nitätserscheinung angesehen werden.
Der sichtbare und experimentelle Ausdruck
der specifischen Überempfindlichkeit ist die Tu-
berkelinreaktion, die als diagnostisches Mittel in
der Tier- und Humanmedizin von unschätzbarem
Werte ist. Das Tuberkulin wirkt nicht direkt auf
die Tuberkuln, sondern, auf das lebende tuberku¬
löse Gewebe, das mit Hyperämie und Entzündung
reagiert. Die specifische Tuberkulösetherapie
beim Menschen macht sich diese von Koch ge¬
schaffene experimentelle Grundlage zunutze, in¬
dem durch schwache Herdreaktion (Hyperämie
und Entzündung) die Heilung des tuberkulösen
Prozesses gefördert wird. Dabei muß betont
werden, daß Tierversuche an Meerschweinchen
und Kaninchen für solche Heilversuche wenig
geeignet sind, und daß auch die Beobachtungen
am Menschen (z. B. bei Lupus) als experimentelle
Grundlagen zu dienen haben. Es soll jedoch nicht
verkannt werden, daß auch gewisse antitoxische
Blutantikörper durch ihre entgiftende Wirkung
symptomatisch von Nutzen sein können. Die
bei der Behandlung entstehenden antibakteriellen
Blutantikörper scheinen eine wesentliche Bedeu¬
tung nicht zu haben, ob sonst uns noch unbekannte
Antikörper bei der Tuberkulosetherapie eine
Rolle spielen, wissen wir nicht, es fehlt dafür die
experimentelle Grundlage.
Auch die Deyke-Muchsche Partigentherapie
ist eine Tuberkulosetherapie mit kleinsten Dosen.
Eine echte Immunisierung mit durch Lecithin
oder Milchsäure aufgeschlossenen Tuberkelbacillen
und der Summe der Partigene (Eiweiß, Fett¬
körper, Gifte) ist im Tierversuch und beim Men¬
schen nicht gelungen. Der Nachweis von Fett¬
antikörpern steht noch aus. Ob die planmäßige
Erzeugung von Partialantikörpern gegenüber den
von Much in nicht sehr schonender Weise will¬
kürlich dargestellten milchsäure- und wärme¬
resistenten Partigenen vorteilhaft oder notwendig
ist, erscheint zweifelhaft. Eine Immunisierung
gegenüber Tuberkelbacillen tritt sicher dadurch
nicht ein. Die viel einfachere Behandlung mit den
von Koch in denkbar schonender Weise herge¬
stellten Tuberkulinpräparaten (Neutuberkulin,
Bacillen-Emulsion) wird nach den bisherigen Er¬
fahrungen auch durch das Partigenverfahren zum
mindesten in ihrer Wirkung nicht übertroffen.
Die prophylaktische Immunisierung mit Tu¬
berkulinpräparaten gegenüber der Tuberkulose-
Infektion ist im Experiment nicht gelungen, und
auch die Erfahrungen beim Menschen sprechen
nicht dafür, eine therapeutische Wirkung von
totem Bacillenmaterial beruht in erster Linie
auf der geschilderten Tuberkulinwirkung.
Die therapeutische Verwendung von viru¬
lenten' lebenden Tuberkelbacillen ist experimen¬
tell noch wenig versucht und auch wohl nicht un¬
gefährlich. Die Schutzimpfung mit lebenden
Tubefkelbacillen ist experimentell begründet und
theoretisch der einzige Weg, auf dem eine Immu¬
nität, wie sie die Natur uns vermacht, erzielt
werden kann. Man würde aber dadurch den Or¬
ganismus, wenn auch nur leicht, infizieren. Die
Immunisierung mit kleinen Dosen artgleicher
virulenter Tuberkelbacillen dürfte zwar wenig¬
stens für den Menschen zu gefährlich sein. Hin¬
gegen dürfte man vielleicht mit lebenden abge-
schwächt^en Bacillen zum Ziele kommen, wie die
Rinderversuche von Calmette mit durch Galle'
abgeschwächten Bacillen beweisen. Die Schutz¬
impfung der Rinder mit lebenden menschlichen
Tuberkelbazillen (Behrings-Bovovaccin, Kochs
Tauruman) hat zwar in der Praxis keine befrie¬
digende Ergebnisse gezeitigt^ doch wird durch sie
ein beachtenswerter zeitlich begrenzter Schutz
erzielt, der zu weiteren Versuchen in dieser Rich¬
tung auff ordert.
Die Schutzimpfung des Menschen, die unter
bestimmten Verhältnissen angezeigt wäre, mit
virulenten Rindertuberkelbazillen dürfte ebenso,
wie die therapeutische Anwendung zur Zeit noch
zu gefährlich sein, doch wären auch vielleicht
durch geeignete Abschwächung Fortschritte zu
erzielen.
Die Schutz- und Heilimpfung mit säurefesten
Bacillen (Friedmann u. a.) hat im Tierversuch
beim Meerschweinchen und Kaninchen versagt,
doch scheinen Versuche an Rindern zur Klärung
der Frage notwendig. Es fehlt dabei offenbar die
zur Umstimmung des Gewebes notwendige Reiz¬
wirkung. Über Schutzversuche an Menschen
wissen,wir noch nichts Bestimmtes. Die Heil¬
erfolge am Menschen sind noch zweifelhaft. Dar¬
über muß der Kliniker entscheiden.
Die Serumtherapie upd Prophylaxe entbehrt
noch der experimentellen Grundlage, wenigstens
insofern, als eine Wirkung auf die Tuberkulose¬
infektion nach- unseren Kenntnissen über die
Immunitätsverhältnisse in Frage kommt. Sie ist
auch bei einer so chronischen Krankheit nicht
aüssictitsreich. Allenfalls kann eine symptoma¬
tische Serumbehandlung in einzelnen Fällen in
Frage kommen.
Die Tuberkuloseforschung und experimentelle
Therapie kann nur gefördert werden, wenn wir
nicht bei Versuchen an Meerschweinchen und Ka¬
ninchen stehen bleiben, sondern bei der Rinder¬
tuberkulose anfangen, bei der ähnliche Verhält¬
nisse vorliegen \^äe beim Menschen. Zunächst
scheint das experimentelle Studium der Schutz¬
impfung bei Rindern Aussicht auf Erfolg zu ver¬
sprechen. Vor allem dürfte die Chemotherapie,
die zur Zeit allerdings noch der sicheren expe¬
rimentellen Grundlage entbehrt, aussichtsreich
sein; sie ist wohl der-einzige Weg, auf dem es viel¬
leicht noch einmal gelingen,.wird, den Erreger der
Tuberkulose an der Wurzel zu treffen und sie
wie die Syphilis zur Ausheilung zu bringen.
Vorläufig sollten wir aber an der Tuberkulin¬
therapie festhalten, die noch das beste ist, was
wir von spezifischen Mitteln besitzen.
Die Gesichtspunkte der klinischen Therapie
wurden von Gerhardt (Würzburg) vorgetragen.
Aus dem Gebiete der Tuberkulose-Behandlung
greift der Berichterstatter drei Fragen heraus:
1. Wie weit können wir den einzelnen Fall ge-
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1921
187
nügend beurteilen, um die Einwirkung der an¬
gewandten Heilmittel zu kontrollieren, 2. die Heil¬
stättenbehandlung, 3. die Tuberkulinbehandlung.
1. Die Verlaufsweise der Lungentuberkulose
ist sehr verschieden: spontane Heilung, schwan¬
kender, zumeist fortschreitender Verlauf, rasch
zum Tode führende Formen; entsprechend ver¬
schieden ist auch die Bedeutung des ärztlichen
Handelns. Gibt es neue Anhaltspunkte -für die
Prognose des einzelnen Falles zur Ableitung be¬
stimmter Indikationen? Hereditäre Belastung
und Habitus phthisicus spielen für die Erkennung
der Virlaufsart eine geringere Rolle. Wesentlicher
sind schon frühere anderweitige tuberkulöse Er¬
krankungen, indem aus voller Gesundheit tuber¬
kulös Erkrankende meist eine ungünstige Prog¬
nose haben. Einen gewissen Maßstab für. den wei¬
teren Verlauf bildet die räumliche Ausdehnung
des Prozesses, wichtiger aber ist die Frage, ob die
Krankheit still steht oder fortschreitet und in
welchem Tempo. Neben der Feststellung der kli¬
nischen Symptome wird jetzt auf das anatomische
Bild der vorliegenden Erkrankung mehr geachtet,
und dies besonders an der Hand der röntgenolo¬
gischen Befunde: ob zirrhotische (Hilusstränge),
ob pneumonische (diffuse Beschattung), ob kno¬
tige Form überwiegen (mehr oder weniger scharf
begrenzte Schatten, je nach dem, ob es sich um
die mehr benignen produktiven oder die maligneren
exsudativen Formen handelt). — Neuerdings ist
man bestrebt, auf das immunbiologische Ver¬
halten nach Tuberkulinproben, besonders auf die
Beeinflußbarkeit der Reaktion durch die Behand¬
lung ein prognostisches Urteil zu gründen, das
aber keinesfalls grob schematisch erfolgen darf.
So bedeutet Abnahme der Überempfindlichkeit
bei zunehmenden Krankheitserscheinungen er¬
lahmende Antikörper-Produktion, somit üble
Prognose; Abnahme der Überempfindlichkeit bei
klinischer Besserung dagegen zunehmende Un¬
empfindlichkeit gegen das Krankheitsgift, An¬
näherung an den Zustand der Allergie, gute Prog¬
nose. — Alle diese Bestrebungen geschehen unter
der Voraussetzung, daß die bisherige Verlaufsweise
keine Änderung erfährt, was für die Mehrzahl der
Fälle zutrifft. Trotzdem bleibt ein großer Anteil
unberechenbarer, völlig unvermuteter Wendungen
übrig. Bei einfacher Spitalbehandlung nach
wochenlangem continuierlichen Fieber allmähliche
Entfieberung und Gewichtszunahme; Verschwin¬
den ausgedehnter Infiltrationen, bei schwerem
Kriegs- oder Arbeitsdienst Heilung von typischen
käsigen Pneumonien, und schließlich die große
Zahl der autoptisch festgestellten Tuberkulosen,
ohne daß von ernsteren Erkrankungen oder be¬
sonderen Behandlungen berichtet wird. Um so
zurückhaltender muß man mit der Bewertung
spezieller Methoden sein und nur auf Grund großer
Zahlen und längerer Beobachtung wird man ur¬
teilen dürfen, zumal noch die meisten neueren Me¬
thoden auf initiale oder doch zur Zirrhose neigende
Fälle angewendet sein wollen. So wird es auch ver¬
ständlich, daß der einzelne Beobachter kaum im-
.stande ist, über mehrere neuere Methoden, wie
etwa die Verwendung von Kupfer- und Gold¬
salzen, Injektionen von körperfremdem Eiweiß
ein eigenes Urteil zu gewinnen.
2. Brehmer wollte die Disposition zur Tuber¬
kulose bekämpfen, er suchte die Herzkraft durch
die verdünnte Gebirgsluft und durch dosierte
Körperbewegungen zu heben; gleichzeitig ver¬
weist die erste Vorbedingung, einen tuberkel-im¬
munen Anstaltsort zu wählen, abermals aufs Ge¬
birge. Nach Entdeckung des Tüberkelbacillus
bestand ein gewisser Gegensatz zwischen den Heil¬
stättenärzten und den Anhängern der neuen Lehre,
die ganz direkt den Infektionserreger bekämpfen
wollten und in den Heilstätten baöillenreiche, ge¬
fährliche Orte erblickten, bis man mehr und mehr
einsah, daß die Heilstättenhygeine und die . Er¬
ziehung zu ihr kein geringes Kampfmittel auch
außerhalb der Heilstätten bedeute. Wirkliche Än¬
derungen erfolgten durch die von Dettwei 1er ein¬
geführte Freilüftliegekur; sodann durch die Ein¬
sicht, daß das Höhenklima im Heilplan nichts
absolut Notwendiges darstelle. Anfangs glaubte
man die Luftverdünnung mit ihren Wirkungen
der Atmungserleichterung und Blutneubildung
sei das wichtigste Moment und suchte Ersatz in
der pneumatischen Kammer und in der Kuhn-
schen Saugmaske. Später wurde der Hauptwert
der intensiven Belichtung beigelegt, die den Stoff¬
wechsel und die Blutbildung anregen sollte. Sorg¬
fältige Ausnutzung der Sonnentage im Tiefland,
künstliches Licht mit besonderem Reichtum an
pltravioletten Strahlen werden als Ersatz ange¬
führt. Schließlich ist die Reinheit der Gebirgs¬
luft, ihr geringer Staub- und Bakteriengehalt,
ihre seltene Nebelbildung von Bedeutung. — Es
ergibt sich nun die Frage, ob Heilstättenkuren in
der Zeit von ^ Jahr vollkommen ihre Wirkung
entfalten können. Die Statistiken antworten
hierauf, daß von den Behandelten nach fünf
Jahren etwa 60 %, nach zehn Jahren etwa
40—55%, nach fünfzehn Jahren etwa 40%. voll
arbeitsfähig waren. Dabei erhält die alte For¬
derung, Fälle aus dem ersten Stadium zu
schicken, immer neue Bestätigung. Aus dieser
Beschränkung der Heilstättenbehandlung und
aus ihrer Befristung folgt einerseits die Not¬
wendigkeit von Tuberkulosekrankenhäusern zur
Isolierung der Schwerkranken und andererseits
die Notwendigkeit von Fürsorgeeinrichtungen.
Fraglich bleibt, ob die Heilstätten,die in Deutsch¬
land bei Vierteljahrskuren 64000 Patienten im
Jahr aufnehmen können, eine wirklich ausschlag¬
gebende Rolle im Kampf gegen die Volksseuche
spielen können. Denn die Zahl der Behandlungs¬
bedürftigen wird auf 800000 geschätzt. Anderer¬
seits wird auf die allgemeine Abnahme der Tuber¬
kulosesterblichkeit, die in allen Kulturländern
schon lange vor der Heilstättenbewegung be¬
gonnen habe, hingewiesen. Der Abfall dieser
Kurve ist seitdem nicht steiler geworden und so
beruht der Rückgang der Tuberkulose wohl am
meisten auf eine Verbesserung der Hygienie im
weitesten Sinn. Deshalb bleibt auch eine weit¬
gehende, gut zusammenarbeitende Fürsorgetätig¬
keit das erste Erfordernis, besonders für die
Jugend.
3. Am Lupus hatte sich erwiesen, welche ge¬
waltigen Reaktionserscheinungen sich innerhalb
des Heilungsvorganges abspielen konnten, und
weitere Erfahrungen an der Lungentuberkulose
forderten zu kleinen und kleinsten Tuberkulin-
Dosen auf. Zweifellos gibt es Fälle, die unter der
Behandlung mit Tuberkulindosen auffallend gün-^
stig verliefen. Größere vergleichende. Beobach¬
tungsreihen lassen jedoch den erwarteten Aus¬
schlag zugunsten des Tuberkulins nur mäßig
deutlich hervortreten. Den heutigen Stand der
Tuberkulinfrage bezeichnet vielleicht am besten
die Angabe von Ritter, daß er in 10—20%
wahrscheinlich, in 60—70% vielleicht günstigen
Einfluß sah, in 10% keinen. Von den Verbesse¬
rungsbestrebungen am Tuberkulin, z. B. die wirk¬
samen Stoffe aus den Bacillen besser in Lösung
zu bringen, giftige unspecifische Begleitkörper
zu entfernen, haben besonderes Interesse Deyke-
Muchs Partialantigene erweckt. Die Berichte
24»
188
Die'Therapie der Gegenwart 1921' .
Mai
über die praktischen Erfolge lauten verschieden.
— Eine allgemeine neuere Tendenz ist es, die
Tuberkulin-Therapie dem immunbiologischen Ver¬
halten des Einzelfalles anzupassen. So geht
Hayek von folgender Überlegung aus: Bei ab¬
wehrkräftigem Körper ist es nützlich, durch reich¬
liche Giftzufuhr die lokalen Reaktionen^u steigern.
Bei Versagen der natürlichen Gegengiftproduktion
muß Gegengiftbildung an anderer Stelle pro¬
voziert werden, die dann an den floriden Herden
als Unterstützungsmittel wirksam werden können.
Im ersten Fall mit deutlich lokaler aber auch all¬
gemeiner Reaktion, im zweiten kleine einschlei¬
chende Dosen. Die Einordnung in diese beiden
Hauptgruppen vollzieht sich auf Grund der lo¬
kalen Reaktionen bei Tuberkulinproben, und
dementsprechend soll sich die Therapie die be¬
sonderen Eigenschaften der verschiedenen Tuber¬
kuline zunutze machen, zum Teil mehr Avidität
zum floriden Herd, zum Teil mehr zu den gründen
Zellen des kranken Organismus zu äußern. Ob¬
schon keine ausgedehnten Erfahrungen vorliegen,
scheint diese Art immunbiologischer Anpassung
und Verfeinerung für die Behandlung des Einzel¬
falles wichtig zu werden. — Eine neue Art speci-
fischer Therapie bildet die Impfung mit Kalt¬
blüter-Tuberkulin deren methodische Grund¬
lagen gesichert erscheinen. Die Beurteilung der
klinischen Wirksamkeit ist noch nicht abgeschlos¬
sen. — Einen anderen Weg geht man jetzt mit
der Bekämpfung der Sekundärinfektionen durch
specifische Vaccine-Therapie, an die sich die Tu¬
berkulinkur anschließen soll. — In bezug auf die
Frage, ob vorbeugende Impfung schützen kann,
ist zunächst auf den negativen Ausfall des Tier¬
versuchs hinzuweisen, sodann aber auch darauf,
daß von der überwundenen leichten .Kindheits-
.Infektion her ein gewisser Schutz gegen Tuber¬
kulose besteht. Wahrscheinlich überwinden Neu¬
infektionen mit übergroßen Bacillenmengen (es
wird an die Häufigkeit der Tuberkulose beim
Pflegepersonal in Tuberkulose-Lazaretten er¬
innert) diese Schutzkräfte, aber ebenso möglich
ist auch, daß ohne Reininfektion, lediglich durch
Erlahmen der Schutzkräfte die latenten Herde
sich in sekundären und tertiären Erkrankungen
manifestieren können. Petruschky ist seit
langem dafür eingetreten, durch kleine, aber län¬
gere Zeit eingeführte Tuberkulinmengen den auch
durch alltägliche Gesundheitsschwankungen leicht
veränderlichen Durchseuchungswiderstand anzu¬
regen. Wenn beim klinisch gesunden Kind die
positive Hautreaktion einen Kampfzustand
zwischen Tuberkelbacillen und Körperzellen an¬
zeigt, soll z. B. durch Hauteinreibungen von Tu¬
berkulinglycerin die Schutzkörperbildung angeregt
werden; ärztliche Kontrolle solle alle halbe Jahr
erfolgen. Zusammenfassend bemerkt der Vor¬
tragende, daß die hygienisch-diätetische Behand¬
lung der Heilstätten, Sonne, Luft, Lichtbad,
Hydrotherapie; aber auch Medikamente, Fieber¬
mittel, Expektorantien, Narcotica und anderes
bei vielen Tuberkulösen den HeilungsVorgang
begünstigen oder den Fortschritt der Krank¬
heit hemmen können. Specifische Mittel in aller¬
hand Modifikationen wie Kochs Tuberkulin wer¬
den umsomehr nützlich, je besser wir lernen, sie
dem Einzelfall anzüpassen. Zur Prophylaxe sind
vor allem die Fürsorgestellen berufen, wenn sie
mit reichlichen Mitteln zu tatkräftiger Hilfe
ausgestattet werden. Zu hoffen ist, daß auch für-
die Prophylaxe im Tuberkulin ein wesentliches
Unterstützungsmittel entstehen wird. —
Als Ergänzung des Gerhardt sehen Referates
diente der Vortrag von de la Camp (Freibürg)
-über Röntgentherapie der Lungentuberkulose,
welcher in diesem Heft abgedruckt ist.
Zum Schluß erstattete Brauer (Hamburg)
das Referat über die chirurgische Behandlung
der Lungentuberkulose. Dieselbe ist
in den letzten zwei Dezennien von vielen Seiten
und mit mannigfacher Fragestellung in ^An¬
griff genommen. Nach anfänglicher Skepsis haf
sich die Erkenntnis gefestigt, daß bei richtiger
Auswahl der Fälle und passender Technik sehr
befriedigende Resultate erzielt werden; nur muß
man sich yor Vielgeschäftigkeit und Schematismus
hüten. Jeder Fall erfordert besondere Überlegung
und Erfahrung. Die Freund sehe Operation
hat man fallen lassen. Große Hohlräume können
ausnahmsweise eröffnet werden, am b'esten nach
vorheriger Plastik. Die gewichtigste Umgestaltung
der Anschauungen und die besten Resultate brachte
die Lungenkollapstherapie in ihren verschiedenen
Formen, Pneumothorax und ausgedehnte Thoraco-
plastik. - Beide Methoden befördern nicht nur die
Schrumpfungstendenz in der kranjken Lunge,
sondern bringen auch aktiv wirkende Heilmomente
zur Geltung. Voraussetzung ist, daß die andere
Lunge gesund ist. Der Lungenkollaps wirkt durch
Änderung der Blut- und Lymphzirkulation, sowie
durch Begünstigung der Entleerung des Auswurfs.
Es kommt zur Bindegewebsneubildung und
Schrumpfung, sowie zur Abstoßung der kranken
Teile. Der künstliche Pneumothorax erfordert eine
sorgfältige Auswahl der Fälle, richtige Technik
bei Anlegung und Fortführung der Behandlung,
Vermeidung zu großer Druckwerte, passende Aus¬
wahl des Zeitpunktes, wann der Lunge wieder die
Entfaltung zu ermöglichen ist, Behandlung der
auftretenden Exsudate u. a. m. Die Einzelheiten
werden ausführlich besprochen.
Die Thoracoplastik kann in mehrfachen Formen
ausgeführt werden. Hier kommt es ganz besonders
auf richtige Technik an. Die Operation kommt
dort in Frage, wo breite Rippenfellverwachsung die
Lufteinblasungen unmöglich macht. Der Lungen¬
kollaps ist dann durch Herausnahme von Rippen
zu bewirken, wobei es wichtig ist, sowohl die Aus¬
dehnung wie die Lokalisation richtig zu wählen,
damit unter möglichst großer Schonung des Kranken
eine weitgehende Verkleinerung der kranken Lunge
erreicht wird. Nach vielfältigen mehrjährigen Er¬
fahrungen zahlreicher Autoren, unter denen der
Vortragende besonders Friedrich Wilms,
Lucius Spengler und Sauerbruch nennt, ist
man auch hier jetzt zu leidlich- gefestigten An¬
schauungen gekommen. Brauer veranschaulicht
das Vorgehen an einem Patienten, bei dem er
die Operation vor dreiviertel Jahren ausgeführt
hat. Von technischen Einzelheiten abgesehen,
kommt es hauptsächlich darauf an, die Lungeti-
verkleinerung dadurch zu erreichen, daß das
Schulterblatt tief in den Brustkorb hineinsinkt,
und daß die Entnahme der ersten bis elften resp.
zweiten bis zehnten Rippe ;,so ausgeführt wird,
daß hiernach zwar der Brustkorb seitlich einge-
dellt, aber doch nicht.des Haltes in fehlerhafter
Weise beraubt ist. Röntgenbilder sowie ver¬
schiedenartige Präparate erläutern die Einzelheiten.
An die Referate schloß sich eine Reihe von
Einzelvorträgen.
E. Reiß (Frankfurt a. M.) sprach über Spon¬
tanheilung schwerer Lungenphthisen. Er
betonte die zweifellose Tatsache, daß nicht allzu¬
seltene Fälle von Lungentuberkulose III. Grades
mit schwerstem Allgemeinzustand eines Tages
wieder aufleben und einer dauernden klinischen
Heilung entgegengehen. Wenn solche schwere
Fälle spontan heilen können, so müssen sie durch
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1921;
ein wirkliches Heilmittel aüch künstlich beein¬
flußbar sdn, sie sind also der eigentliche Prüf¬
stein für Wert oder Unwert jeder Tuberkulose¬
therapie. Wer die schweren Fälle ausschließt,
verzichtet von vornherein auf den^einzigen Beweis
für die Heilkraft seiner Methode. Es sollte also
als Richtlinie für jedes Tuberkulose-Heilverfahren
allgemein gefordert werden, daß es auch schwere
Fälle in einem nicht geringen Prozentsatz heilt.
So bringt die künstliche Pneumothorax anerkann¬
termaßen mindestens .25 % auch schwerster Fälle
noch zur Heilung- Heilverfahren, die neu be¬
ginnende Fälle beeinflussen, übertreffen die All-
gemeinbehandlung nicht.
Hofbauer (Wien) besprach die Atmungs¬
therapie der Lungentuberkulose,, die er als spe-
cifische Behandlung bezeichnete, insofern, als
Atembewegungen das im Körper befindliche
Autotuberkulin- mobilisieren und zur ver¬
mehrten Resorption bringen. Hofbauer ver¬
weist darauf, daß hochfieberhafte Phthisiker bei
respiratorischer Ruhigstellung entfiebern, wäh¬
rend fieberfreie Patienten bei starken Atem¬
bewegungen sowohl Fieberbewegungen als auch
namentlich im Bereich ihres Lungenherdes Lokal¬
reaktionen aufweisen. Die „Autotuberkulinisa-
tion“ soll durch vorsichtige ganz allmähliche Stei¬
gerung der Atemleistung erzielt werden; auch die
schweren Fälle sind dieser Therapie zugänglich.
Sie muß unter steter Kontrolle der Temperatur
iind^es Gewichtes durchgeführt werden. Es han¬
delt sich keineswegs immer um eine Verstärkung,
sondern in manchen Fällen um Herabsetzung bzw.
Lahmlegung der Atemtätigkeit. In allen Fällen
ist Erziehung zu dauernder nasaler Atmung nötig
wegen der dadurch erreichten Lüftung der Spitzen
und centralen Lungenpartien. Im übrigen muß
sich die Atmung nach der Lokalisation des Pro.-
zesses richten, denn nur lokale Veränderung der
Atemtätigkeit ruft die Beeinflussung des Krank¬
heitsherdes hervor. So werden die Hiluspartien nur
durch Bauchatmung beeinflußt. Schwere All¬
gemeinerscheinungen erfordern stärkere Atmung
der gesunden Teile, nur in seltenen Fällen Schweige¬
behandlung oder Pneumothorax bzw. chirurgische
Behandlung. Neigung zu Hämoptoe ist keine
Kontraindikation für richtig durchgeführte respi¬
ratorische Mehrleistung; Schaden ist durch Atem¬
therapie niemals entstanden; dagegen berichtet
Vortragender über eine Reihe ganz erstaunlicher
Heilerfolge von teilweise schon zehnjähriger Dauer.
R. Stephan (Frankfurt) sprach über biologische
Richtlinien für die Röntgentherapie. Während
frühere Autoren die Einschmelzung des speci-
fischep Granulationsgewebes durch sehr starke
Bestrahlung forderten und davon sekundäre Um¬
wandlung in festes Narbengewebe erhofften, ging
Referent von der Vorstellung aus, daß eine funk¬
tioneile Leistungssteigerung der epithelividen Zell¬
elemente durch die kleinste, eben noch als wirksam
erkannte Strahlenmenge zu erstreben sei. Die
Möglichkeit einer homogenen Bestrahlung des
gesamten Krankheitsherdes wurde erfüllt durch
Fernfeldbestrahlung mit einem Fokushautabstand
von 1 m, wobei der ganze Thorax sich im Strahlen¬
kegel befand und der Verlust an Strahlung durch
Dispersion und Absorption praktisch vernach¬
lässigt werden konnte. So erhielt die erkrankte
Lunge in allen Partien durchschnittlich V 20 bis V 40
der H. E. D. Zur Kontrolle der pathologisch¬
anatomischen Wirkung wurden in achttägigen
Pausen Blitzaufnahmen gemacht. Es ergab sich
eine ganz zweifellose Beeinflussung der tuberku¬
lösen Infiltration, kenntlich an einer Verkleinerung
und Verdichtung vorher großfleckiger, wolkiger
\m
Trübungen und an strangförmiger Streckung peri-
bronchitisch angeordneter breiter Schattenzonen.
Die Veränderungen, welche durchaus dem
Röntgenbild .der Narbenherde bei. spontaner Aus¬
heilung, glichen, traten schon wenige Tage nach
der Bestrahlung auf und sind zweifellos als
Röntgenstrahlenwirkung zu deuten. Danach sind
die Bestrebungen abzulehnen, welche auf eine
primäre Nekrotisierung des Granulationsgewebes
abzielen. Vortragender macht keine statistischen
Angaben, betont aber, daß den oft überraschenden
Heilungserfolgen auch zahlreiche Versager gegen¬
überstehen, namentlich bei vorgeschrittenen
Prozessen. Nach einer Theorie von der Leistungs¬
steigerung macht er die Heilwirkung zwangsläufig
abhängig von der Reaktionsfähigkeit des Organis¬
mus überhaupt und von der Vitalität und An-
sprechbarkeit des tuberkulösen Granulations¬
gewebes im besonderen; erst größere Erfahrung
wird über die praktische Anwendbarkeit der
Röntgentherapie entscheiden.
Auch Alwens (Frankfurt a. M.) sprach über
. Röntgentherapie; er macht auf die große Schwierig¬
keit aufmerksam, die die Vergleichung ver¬
schiedener Röntgenplatten macht, da es kaum
möglich ist, zwei vollkommen gleichwertige Auf¬
nahmen zu machen. Auch die Auswahl der Fälle
macht Schwierigkeiten, da sich Zumeist nicht
reine zur Schrumpfung neigende, sondern mit
exsudativen Prozessen kombinierte Formen Vor¬
kommen. Auch die Dosierung ist nicht so einfach,
da eine exakte Tiefendosis auch mit einem
Instrumentarium von bekannter Leistungsfähig¬
keit nur schwer zu ermitteln ist. Da nach dem
physikalischen Befund und dem Röntgenbild nicht
mit Sicherheit festzustellen ist, wie tief unter der
Oberfläche die einzelnen Herde liegen, so kann
dieselbe Dosis auf denselben Herd einmal von
vorn und einmal von hinten appliziert ganz ver¬
schiedene Reaktionen auslösen. Selbst bei An¬
wendung der Stephanschen Methode des Fern¬
felds und filtrierte harte Strahlung von etwa
10 bis 20 % H. E. D. erscheint die von Bac-
meister empfohlene Einleitung des Heilver¬
fahrens mit Höhensonne ratsam, weil Reaktionen
auf dieselbe zur großen Vorsicht mit Röntgen¬
strahlen mahnen. Besondere Zurückhaltung ist
bei Hilustuberkulose ratsam, weil danach miliare
Dissemination beobachtet wurde. Ambulante Be¬
strahlung ist ZU widerraten. Alwens' Material
umfaßt 23 Fälle, von denen 14 günstig beeinflußt
wurden; sechsmal trat Verschlimmerung ein,
vier davon starben. A. hält die Röntgentherapie
für eine Unterstützung der Naturheilung, die unter
Vermeidung jeder stärkeren Reaktion durchge¬
führt werden sollte.
Liebermeister (Düren) macht auf die großen
Täuschungsmöglichkeiten aufmerksam, die bei der
Betrachtung von Röntgenbildern zwecks Be¬
urteilung von Hei lungs Vorgängen unterlaufen
können. Schon kleine Veränderungen in der
Aufnahmetechnik können sichtbare Verände¬
rungen im Bild erzeugen, die die Illusion von
Heilung hervorrufen. L. verlangt danach, daß
auf jeder Platte ein aus Metall- und Knochen¬
stückchen bestehendes Testplättchen so angebracht
wird, daß es, ohne von Körpersubstanz bedeckt
zu sein, mit röntgenographiert wird. Diese Test¬
plättchen geben auf jeder Platte der Gesamt¬
wirkung aller äußeren Umstände im Bild Aus¬
druck. Es dürfen also nur solche Originalplatten
miteinander verglichen werden, deren Test¬
plättchen in derselben Schärfe und Abgrenzung
auf den Platten erscheint.
190
Die Therapie de r Gegenwart 1921
vMal
Wie schwierig übrigens die klinische Deutung
der Röntgenbilder tuberkulöser Lungen ist, wurde
besonders deutlich durch die zahlreichen Demon¬
strationen anatomisch-röntgenologischer Diaposi¬
tive, die Küplerle (Freiburg) am folgenden Tage
machte; er zeigte das Charakteristische der Schat¬
tenbildung der einzelnen Erscheinungsformen, aus
denen sich das komplizierte’ Bild der fortschreiten¬
den Lungenphthise zusammensetzt. Gelingt es,
die ineinander übergehenden Veränderungen in
ihren Einzelerscheinungen aufzulösen, so kann
man das Bild auch qualitativ nach anatomischen
Vorstellungen beurteilen. Aber auch dann ist die
Beurteilung etwaiger therapeutischer Verände¬
rungen von der gleichzeitigen Bewertung des
klinischen Bildes abhängig.
Auch F. Klemperer (Berlin) macht auf die
großen Schwierigkeiten bei der Deutung von
Röntgenbildern aufmerksam. Er demonstriert ein
Lüngenpräparat, in dem die beiden Formen der
Tuberkulose, die produktive und die exsudative,
sich überlagern; solche Fälle sind nicht selten;
eine diagnostische Trennung beider Formen ist
durch Röntgenstrahlen ebensowenig als durch
andere physikalische Methoden möglich.
Die Tuberkulin Wirkung machte Erich Meyer
(Göttingen) zum Gegenstand einer interessanten
Mitteilung. Er ging von der Tatsache aus,
daß bei manchen Tuberkulösen eine auf¬
fallende Eintrocknung der Gewebe besteht,
während es im kachektischen Stadium zu einer
Hypalbuminose mit Verwässerung des Blutes
kommen kann. Diese verschiedenen Stadien
unterscheiden sich in ihrem Verhalten gegenüber
einer Tuberkulininjektion. Die Fälle mit ein-'
gedicktem Blut reagieren meist mit Wasser¬
retention und Gewichtszunahme, selten mit zu¬
nehmender Bluteindickung und Gewichtsverlust.
Die kachektische Tuberkulose zeigt keine Reaktion
bezüglich des Wasserhaushalts. Nur die Fälle,
bei denen die pathologische Eindickung unter
Gewichtszunahme beseitigt wird, reagieren gut
auf Tuberkulin. Da hierzu relativ große Tuber¬
kulindosen nötig sind, deren Wiederholung sich
verbietet, ging M. zu unspecifischer Behandlung
mit 2 ccm 10%iger Kochsalzlösung über, welche
bei mehrfacher Wiederholung zu großer Gewichts¬
zunahme führt (durch Wasserretention und Ansatz
von Körpersubstanz). Dabei werden die Blut¬
werte allmählich normal; auch der allgemeine
Zustand hebt sich; am auffallendsten ist das
schon von anderen beobachtete Sistieren der
Nachtschweiße. Dieselbe Wirkung wird auch
durch hypertonische Traubenzuckerlösung, aber
auch durch Darreichung größerer Mengen von
Rohrzucker per os erzielt. Man kann also durch
unspecifische Mittel eine specifische Wirkung des
tuberkulösen Giftes .beseitigen. Die Wasser¬
reaktion der Tuberkulose kann als Kriterium dafür
benutzt werden, wie sich der Patient gegenüber
der Tuberkulinkur verhalten wird. Nur bei
solchen, die auf NaCl-Injektionen eine Körper¬
gewichtszunahme unter Besserung der Blutwerte
zeigen, ist eine specifische Therapie mit kleinsten
Dosen angezeigt.
• Aus der Aussprache seien folgende Mit¬
teilungen hervorgehoben:
Hei nz (Erlangen) hat mit Extrakt von Kälber-
lymphdrüsen bei Versuchstieren eine Steigerung
der Lymphocyten im Blut erzeugt und hofft da¬
durch einen Einfluß auf tuberkulöse Erkrankungen
zu gewinnen, da Lymphocyten angeblich die
Tuberkelbacillen vernichten, wofür H. freilich
nur wenig Beweise beibringt. Von anderer Seite
wird diese Meinung denn auch bestritten.
Leschke berichtet über therapeutische Ver¬
suche mit Tuberkelbacillen, die er mit Wasser¬
stoffsuperoxyd aufgeschlossen hat, wodurch er
ein dem Muchschen Partigen anscheinend über¬
legenes Tuberkulin erhielt; die Erfolge waren aber
nicht größer als die mit gewöhnlichem Tuberkulin.
Auch die früheren Tierversuche mit den Partial¬
antigenen haben negative Ergebnisse gehabt.
Lommel (Jena) erinnert an den Satz des
Hippokrates, daß Lungenkranke, die Abscesse
bekommen, gesund werden; oft verläuft Phthise
nach Drüsenabscessen, Rippencaries usw. be¬
sonders günstig; die Eiterung scheint die Rolle
eines primären Herdes zu spielen und eine Durch¬
seuchungsresistenz herbeizuführen. Deswegen
sollten Eiterungen nicht chirurgisch entleert
werden; man könnte sie als specifische Fontanelle
bezeichnen. In therapeutischer Beziehung ist das
wirksamste Antigen zur Erzeugung specifischer
Resistenz der lebende Bacillus; aber die An¬
wendung lebender Bacillen ist zu gefährlich. Der
Fortschritt wird durch die Vermeidung dieser
Gefahr erzielt werden.
Felix Klemperer hebt hervor, daß die
Tuberkulmbehandlung in keiner Weise immuni¬
siert. Die Muchschen Partigene haben ein Tuber¬
kulinwirkung; es fehlt ihnen die gesicherte Grund¬
lage der experimentellen Immunisierung, Much
baut Hypothese auf Hypothese so hoch, daß man
oben vergißt, daß der feste Boden unten fehlt.
Wichtige Mitteilungen zur Lehre von den
Fettpartigenen macht Bürger (Kiel). Er macht
darauf aufmerksam, daß die Antigennatur chemi¬
scher Körper von ihrer Komplexität abhängt;
einfache Körper, wie Aminosäuren oder Glyceride,
die im Stoffwechsel vieler Tiergattungen ohne
chemische und biologische Differenzierung erzeugt
werden, haben keine Eignung zum Antigen. B.
hat nun mehrere Tuberkelbacillenfette chemisch
rein dargestellt und als hochmolekulare Fettsäuren
bzw. Ester und Kohlenwasserstoffe identifiziert;
antigene Eigenschaften ließen sich an ihnen nicht
nachweisen. Auch die neuerdings aus 430 g Perl¬
suchtbacillen gewonnenen und analysierten Fett¬
körper hatten keine antigene Eigenschaften. Da¬
nach bleibt von den Muchschen Lehren nicht viel
übrig. — Erwähnt sei noch die Mitteilung Lönings
(Halle) zur medikamentösen symptomatischen
Therapie; er verwendet zur Antipyrese und gleich¬
zeitigen Schmerzstillung einen Abkömmling des
Melubrins, welchen die Höchster Farbwerke unter
der Bezeichnung Novalgin in den Handel bringen,
weiches bei subkutaner Injektion auch als un¬
schädlicher Morphiumersatz wirken kann.
Aus der Diskussion über den künstlichen
Pn e u m 0 1 h 0 r a X sei die Statistik von Zinn (Berlin)
über 160 Fälle hervorgehoben; hiervon waren nur
1 °/o verschlechtert, vorzeitig der Behandlung ent¬
zogen 16 Vo» ^'licht wesentlich gebessert 28%
(die meisten dieser Fälle sind später gestorben),
wesentlich gebessert bis zur Arbeitsfähigkeit 33®/o,
■ länger dauernde Erfolge (über drei Jahre hinaus)-
22 o/o. Im ganzen sind in der Berichtszeit von
10 Jahren 53 Kranke gestorben.
F. Klemperer (Berlin) stellt die Indikation
weiter als Brauer und hat auch bei akuten
Fällen käsiger Pneumonie Erfolge erzielt.
Stürtz (Köln) hob die Vorteile des Sauerstoff-^
gases hervor, bei dessen Einblasung insbesondere
die Emboliegefahr viel geringer sei als bei Luft
oder N. Jedenfalls sollte bei der ersten Sitzung
stets ö, und erst später N eingeblasen werden.
I Nach dieser Methode hat Stürtz in 300 Pneu-
I mothoraxfällen keinen Embolietodesfall erlebt.
Mai
Die Therapie'der Gegenwart 1921 '
191
Das Ende der Besprechung bildete ein Schlu߬
wort von, Brauer, welcher der Meinung Ausdruck
gab, daß über alle wichtigen Fragen in den letzten
Jahren weitgehende Einigung erzielt ist. Bezüg¬
lich der Luftembolie dürfe man nicht die Ver-
^ hältnisse verwechseln bei Einbringung von Sauer¬
stoff in die Körpervenen oder in die Lungenvenen.
In letzterem Falle kommt das, Gas so rasch in
das Herz und eventuell in lebenswichtige Zentren,
daß von einer Resorption gar nicht gesprochen
werden kann. Die Untersuchungen von Wever
haben dieses über allem Zweifel sichergestellt.
Die Indikation darf jetzt weiter gefaßt werden.
Sehr vorsichtig sei man bei dem Bestände frischerer
Prozesse, ältere fibröse Prozesse gestatten sehr
wohl die Pneumothoraxtherapie. Während früher
bei Beurteilung der für die Behandlung in Frage
kommenden Banken. Seite starker Nachdruck
darauf gelegt werden mußte, nur bereits schwerere
Prozesse unter Pneumothorax zu setzen, hat sich
gezeigt, daß man recht wohl verantworten kann,
auch mittelschweren, vielleicht sogar gelegentlich
leichteren Krankheitsprozessen gegenüber die Be¬
handlung anzuwenden. Nur muß man immer
wieder sich vor Augen halten, daß das Pneumo¬
thoraxverfahren nicht ohne Schattenseiten und
von recht langer Dauer ist. Prozesse also, die
in ein bis zwei Jahren mit einiger Wahrschein¬
lichkeit auch ohne Operation heilen bieten, keine
Indikation. (Fortsetzung folgt im nächsten Heft.)
Referate.
Auf Grund sehr günstiger Erfahrungen
an 40 Fällen empfiehlt Dr. L. Disque jun.
(Potsdam) die Behandlung der Oxyuriasis
mit Butolan, einem Benzyl-Phenol-Ab-
kömmling, das die Bayerischen Farben¬
fabriken in Tablettenform von 0,5 g in
Handel gebracht haben. Erwachsene
nehmen sechs Tage hintereinander dreimal
täglich eine Tablette, Kinder unter sechs
Jahren zweimal täglich eine Tablette.
Dadurch werden die jungen Oxyuren im
unteren Dünndarm unschädlich gemacht.
Zur Bekämpfung der in den tieferen Darm¬
abschnitten lebenden Würmer werden vom
vierten Tage ab täglich Einläufe mit
einem Liter Wasser , von 20® mit Zusatz
von einem Eßlöffel Liqu. Alum. acetici
gemacht; das Wasser läßt man langsam
in linker Seiten- oder Knieellenbogenlage
einlaufen. In einigen Fällen, in denen
Disque aus äußeren Gründen von der
Verwendung der Klistiere absehen mußte,
erzielte er mit Butolan allein prompte
Wirkung. Zur Verhütung des Kratzens
am After während des Schlafes, das zur
Reinfektion führt, empfiehlt Disque die
Anwendung einer weißen Präzipitatsalbe
mit 10% Cycloformzusatz, die den Juck¬
reiz beseitigt und weitere Schutzma߬
nahmen (Badehose u. dgl.) überflüssig
macht. Auf peinlichste Händereinigung
nach jeder Defäkation und vor jedem
Essen (mit Nagelreiniger, Seife und Bürste)
ist natürlich zu achten. • f. K.
(M. Kl. 1921, Nr. 13.)
Zur Proteinkörpertherapie der Gelenk¬
erkrankungen sprach Gerönne (Wies¬
baden) auf dem diesjährigen Balneologen-
tag, wobei er seine Erfahrungen an der
Krankenhaus-' und Badehausabteilung
verwertete. Er hat in dem letzten Jahre
zehn chronische Gelenkerkrankungen nach
Art des primär chronischen und sekundär
chronischen Gelenkrheumatismus sowie
der Arthritis deformans mit Caseosan,
und 14 Fälle mit Sanarthrit nach ganz
gleichen Richtlinien behandelt. Er
kornmt zu dem Schluß, daß das Caseosan
mindestens die gleichen, wenn nicht bes¬
sere Effekte entfaltet, wie das Sanarthrit;
in der Sanarthritbehandlung sieht er keine
kausale und specifische Behandlung der
Gicht und anderer chronischen Gelenk¬
erkrankungen, sondern lediglich eine be¬
sondere Form der Proteinkörpertherapie.
Einzelnen glänzenden Erfolgen dieser
Therapie stehen eine größere Anzahl Ver¬
sager gegenüber; insbesondere wurde die
echte Arthritis deformans weder vom
Caseosan noch vom Sanarthrit auf die
Dauer günstig beeinflußt, am besten
waren die Erfolge beim primär chroni¬
schen, weniger gut beim sekundär chro¬
nischen Gelenkrheumatismus. Außerdem
hat G. noch.sechs Fälle von akutem
gonorrhoischen Gelenkrheumatismus mit
Caseosan behandelt; die Erfolge waren
durchaus gute. Immerhin gestalteten sich
die Erfolge bei 22 mit Gonokkenvaccine
behandelnden Fällen doch zweifelsohne
günstiger. Die Gonokokkenvaccine wird
am besten intravenös in großen Dosen
gegeben; je frischer die Erkrankung, desto
besser die Aussichten. Eigenvaccine
zeitigte bessere Resultate, wie Arthigon
und Gonargin. Zweifellos aber entfaltet
auch die Iso-Vaccine-Behandlung beim
gonorrhöischen Gelenkrheumatismus ihre
therapeutischen Wirkungen in der Haupt¬
sache auf dem Wege der Heilentzündung,
des Heilfiebers (Bier), der Protoplasma¬
aktivierung (Weichardt). Von uner¬
wünschten Nebenwirkungen der Protein¬
körpertherapie sah Gerönne im An¬
schluß an 2 ccm Caseosan intramuskulär
bei einem Fall von Rheumatoid (nach
Staphylokokkensepsis) Auftreten einer
hämorrhagischen Nephritis, die vorher
nicht vorhanden gewesen war. Offenbar
also Aufflackern einer Herdnephritis. Er
192
^ Die Therapie der Oegentwart 1921
Mai
rät also zur Vorsicht bei Anwendung der.
Proteinkörpertherapie, die ja nur bei
Erzwingung" einer Allgemein- und Herd¬
reaktion zu Erfolgen führt. Im Gegen¬
satz zu dieser brüsken Protoplasmaakti¬
vierung mit Caseosan, Sanarthrit und
stark wirkenden Vaccinen steht die
schonende Art der Protoplasmaaktivie¬
rung, die durch mannigfache physikali¬
sche Heilverfahren, insbesondere auch
durch heiße Thermalbäder zu erzielen ist.
Anschließend an die esophylaktischen
Vorstellungen von Hoff mann und
W. Krebs sieht Gerönne in der Bade¬
reaktion, die ja bei den Gelenkerkrän¬
kungen nach den ersten Thermalbädern
so häufig auftritt und die subjektiv und
objektiv . eine Verschlimmerung des
Krankheitsbildes darstellt, die negative
Phase der Protoplasmaaktivierung, der
dann meist die positive, heilsame zu
folgen .pflegt. Übrigens will Gerönne
nicht jeden Erfolg der Thermalbäder als
Protoplasmaaktivierung deuten,- vielmehr
sprechen nocii mannigfache andere Fak¬
toren bei der Heilwirkung der Bäder mit;
z. B. die schmerzstillende Wirkung des
heißen Bades, die in den erkrankten Ge¬
lenken aktive Bewegungen ermöglicht und
damit der arthrogenen Muskelatrophie ent¬
gegenwirkt. Vielleicht wird dadurch auch
in geeigneten Fällen die Abscherung des
kranken und die Neubildung jungen, ge¬
sunden Knorpelgewebes ermöglicht. O. R.
Für die operative Behandlung der
Retroflexio uteri gibt nach Seitz nicht
die pathologische Lage, sondern das Vor¬
handensein von Komplikationen und
gleichzeitige Erkrankung anderer Organe,
welche eine Operation erfordert, die Ver¬
anlassung. Wenn dem Anscheine nach
eine inkomplizierte Retroflexio vorliegt,
so können doch noch immer Kompli¬
kationen, wie Pericolitis, Perisigmoiditis
adhäsiva, falls sie nicht beachtet werden,
das Endresultat einer Operation sehr
illusorisch machen. So ist auch zu er¬
klären, daß nach vielen Operationen, wie
z. B. Alexander-Adams, weder in
subjektiver noch objektiver Beziehung
eine Heilung festzustellen ist, da die
komplizierenden Erkrankungen nicht be¬
seitigtsind. Ein operatives Verfahren, das
fast immer eine absolute Heilung herbei¬
führt, ist die Ventrofixation nach Doleris-
Schauta-Eröffnung des Peritoneums, Be¬
festigung der Lig. rotunda in Schleifen¬
form auf dem Rectus.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(Arch. f. Gynäk., Bd. 114, H. 1.)
In einer Abhandlung über Ruhr im
'Kindesalter gibt G. Kuntze eine zu¬
sammenfassende Darstellung der Er¬
fahrungen, die gelegentlich der Epi¬
demien der letzten Jahre in verschiedenen %
Kinderkrankenhäusern gemacht wurden.
Gegenüber den deutlichen Ruhrsym¬
ptomen älterer Kinder sind die Erschei¬
nungen im SäuglingsaRer schwieriger zu
bewerten, zumal ähnliche Krankheits-'
bilder unter den Sommererkrankungen
der Säuglinge nicht ohne weiteres eine
specifische Infektion voraussetzen lassen.
Bei Häufung der Krankheitsfälle, bei un¬
gewöhnlicher Infektiosität ist der Verdacht
der ,,Ruhr in engerem Sinne“ berechtigt.
Über ihre Erreger ist der einzelnen
Autoren Ansicht nicht einheitlich, der
bakteriologische Nachweis im Stuhl mi߬
lingt häufig.
Man scheidet zweckmäßig die ein¬
heimische Ruhr im Kindesalter in echte
Dysenterie und Pseudodysenterie.
Differentialdiagnostisch ist bei Be¬
wertung der blutig-eitrigen Stühle zu
beachten, daß ähnliche Erscheinungen
auftreten bei der Grippe (gastro-intesti-
nale Form), bei Sepsis, Genickstarre, bei
tuberkulösen Darmgeschwüren, beim
Barlow, sowie auch bei Masern. Hier ist
indessen das klinische Bild durch beson¬
dere Merkmale gekennzeichnet. Die In¬
fektionsquelle ist der von den Kranken ent¬
leerte Kot, als Überträger sind die Fliegen
zu bekämpfen. Besonders häufig und
schwer erkranken Kinder im alimentär
gefährdeten Alter, vor allem die künstlich
ernährten. Die Sterblichkeit der Säug¬
linge ist doppelt so groß wie die der äl¬
teren Kinder, auch steht kindliche Pseudo¬
dysenterie der Shiga-Kruse-Ruhr nur
wenig nach an Schwere des Verlaufs.
Vielfach beobachtet man bei Kindern
Fälle mit schleichendem Beginn, die Kin¬
der zeigen sich unleidlich, trinken schlech¬
ter, haben hin und wieder Fieberzacken,
einigemal wird schleimiger Stuhl entleert,
dann wieder guter Stuhl, schließlich setzt
eines Tages die manifeste Ruhr ein. Toxi¬
sche Formen der Ruhrerkrankung sind
sowohl bei Shiga-Kruse-Fällen, als auch
bei Flexner-Fällen, als auch bei Pseudo¬
dysenteriefällen beobachtet worden, mit
Krämpfen, mit Benommenheit, auch mit
völliger Bewußtlosigkeit. • Die Fieber-
bewegung ist uncharakteristisch, zuweilen
fehlt Fieber. Schleimbeimengungen findet
man fast immer im Stuhl der Erkrankten,
nicht immer Blut, andererseits wiederum
reichlich vermehrte blutig-eitrige Stühle.
Mai
Dte‘ Therapie der Gegenwart 1921
193
Aus Zahl und Aussehen der Stühle läßt
sich kein Rückschluß auf die Dauer und
Schwere der Krankheit machen.
Bei jüngeren Kindern beobachtet man
zuweilen initiales Erbrechen. Zu Kompli¬
kationen der Ruhr kommt es im Kindes¬
alter kaum, Rezidive wurden mehr oder
weniger schwer sowohl bei Pseudodysen¬
terie, als auch bei Shiga-Ruhr, als auch bei
Y-Ruhr von einzelnen Autoren'berichtet.
Der bakteriologische Nachweis der Ruhr
ist nur in geringem Prozentsatz zu er¬
zielen, trotz aller Kautelen. Zur Diagnose¬
stellung mag. auch bei älteren Kindern
die Serumagglutininprobe herangezogen
werden, doch als Frühsymptom ist sie
nicht verwertbar.
Als therapeutische Maßnahme ist
gründliche Entleerung des Darmes in
den ersten Krankheitstagen erforderlich,
auch bei Säuglingen ist mindestens ein
Eßlöffel Ricirtusöl auf einmal oder ein
bis anderthalb Teelöffel dreistündlich zu
verabfolgen. Vielfach empfohlen werden
zu Beginn der Erkrankung Darmspülun¬
gen (Kamillentee öder Tonlösung ein bis
zwei Liter), im weiteren Verlauf, hier
gegen die Tenesmen, in kleinerer Menge,
auch Tannineinläufe (^%) bei älteren
Kindern. Gegen Koliken kann Atropin
gegeben werden (im ersten bis sechsten
Lebensjahre dreimal —3 mg), bei äl¬
teren Kindern am besten Opiumzäpfchen
(0,01 Extr. opii aqua, 0,2 Anaesthesin),
oder 6 Tropfen Tinctufa opii auf 100 aqua,
davon ein- bis zweistündlich ein Teelöffel
bis zur Beruhigung, eventuell auf zwölf
Tropfen steigend, bei starker Unruhe
Chloralhydrat. Tannin oder Tierkohle
per OS ist wegen Beeinträchtigung des
Appetits nicht-zu empfehlen. Nützlich
sind lokale Wärmeapplikationen, doch
auch kühle Aufschläge, zuweilen Eisblase
vorteilhaft, Von der Behandlung mit
Ruhrserum sind nur wenig Erfolge be¬
richtet.
Für das alimentär gefährdete Alter
ist nach kurzer Teepause Eiweißmilch gut
anwendbar, nach anderen Angaben Kel-
lersche Malzsuppe, wertvoll auch die
Molketherapie nach Göppert, der auch
bei älteren Kindern, bei denen die Ernäh¬
rungsmethode sich kaum von der Er¬
wachsener unterscheidet, zwei Drittel
Molke-, ein Drittel Haferschleimgemische
mit Plasrnonzusatz empfiehlt.
Bei jungen Kindern in schweren
Fällen muß Frauenmilch gegeben werden,
auch müssen schwerste Fälle eventuell
mit Schlundsonde ernährt werden. Eichel¬
kakao wird, anfangs mit Wasser, später
mit Milch gekocht, von älteren Kindern
gern genommen, auch kann man diesen
konzentrierte Eiweißmilch und Mehl¬
suppe zu gleichen Teilen geben. Zur Be¬
hebung der Appetitlosigkeit gibt man
vorteilhaft frühzeitig rohen Fleischsaft,
ein bis zwei Eßlöffel Apfelsinensaft oder
zweimal täglich durchgerührtes saccha¬
ringesüßtes Blaubeerkompott, wenn mög¬
lich 50—100 g feingewiegtes Fleisch.
Bald kann man Brei geben, auch Quark
und Eier verwenden. Feuerhack.
(M. Kl. 1921, Nr. 11.)
Daß eine Spina bifida occulta die
Ursache mehr oder weniger schwerer
ischiasartiger Erkrankung seinkann,
berichtet Gudzent an der Hand von
zwei Fällen. Bei dem ersteren handelt
es sich qm eine 33jährige Patientin, die
vor neun Jahren nach dem ersten Wochen¬
bett mit Schmerzen im linken Bein er¬
krankt war; im zweiten Wochenbett ge¬
sellten sich hierzu Schmerzen gleicher
Art auch im andern Bein. Beide Male
wurde die Diagnose Ischias gestellt, doch,
trotz sachgemäßer Therapie trat keine
Besserung auf. Bei der jetzigen Unter¬
suchung fanden sich beiderseits typische
Ischiassymptome. Auffallend war eine
Druckempfindlichkeit des letzten Lenden¬
wirbels, eine merkwürdige Veränderung
an den Füßen, an denen die Sehnen des
Muse, extensor hallucis longus verkürzt
erscheinen, und eine Extension der großen
Zehen bedingte. Die übrigen Organe
ließen keine Veränderung erkennen. Die
Röntgenaufnahme der Kreuzbeingegend
und Lendenwirbelsäule ergab eine große
Spalte im fünften Lendenwirbel. Im
zweiten Falle handelt es sich um einen
jungen ehemaligen Offizier, der erst nach
dreijähriger Kriegszeit eine Ischias be¬
kam, die gleThfalls aller Behandlung
trotzte. Auch hier wurde röntgenologisch
eine Spaltbildung des fünften Lenden¬
wirbels festgestellt. Es dürfte sich emp¬
fehlen, in allen Fällen von Ischias oder
ischiasähnlichen Erkrankungen, besonders
dann, wenn die bekannten therapeuti¬
schen Maßnahmen nicht zum Ziele führen,
nach Spaltbildungen zu fahnden. Thera¬
peutisch kommt die Deckung des Spaltes
durch Knochenplastik in Frage.
(B.kl. W.Nr. 11,1921.) Kamnitzer.
Vor einigen Jahren berichtete Pleß-
ner über Vergiftungen mit Trichlor-
aethylen bei Fabrikarbeitern, die diesen
Stoff als Fettlösungsmittel zum Reinigen
von Metallteilen benutzt hatten. Die
25
194
. Die Therapie der Gfeg.enwatt.-1*921 / “ ‘ ^ ‘ ^ - l^ai
Vergiftung äußerte sich einmal in
Allgemeinerscheinungen, wie Schwindel,
Übelkeit und Erbrechen, und dann in
einer Anästhesie des Trigeminus ohne'
Schädigung des motorischen Anteiles der
Nerven. Die Empfiridungsstöriing betraf
das ganze vom Trigeminus versorgte Ge¬
biet, blieb jedoch streng auf dieses be¬
schränkt und hielt auch nach Abklingen
der' sonstigen Vergiftungserscheinungen
an. Oppenheim'regte an, diese Eigen-
.schaft des Trichloraethylens zur Behand¬
lung der Trigeminusneuralgie nutzbar
zu machen, was auch geschah und gün- '
s.tige Resultate zeitigte.* Kramer hat
im ganzen 108 Kranke auf diese Art be¬
handelt, alles echte Trigeminusneuralgien.
Fälle mit zweifelhafter Diagnose wurden
nicht berücksichtigt. Die Behandlung
besteht darin, daß das Mittel auf. Watte
getropft und dem Patienten zum Ein--
atmen gegeben wird, so lange, bis. kein
Geruch . mehr zu spüren ist. Als ;Dosis .
wetden 20—30 Tropfen verwandt, •
, manchnlal auch zweimal 20 Tro.pfen iii
Abständen von fünf bis zehn Minuten.
Die ^Behandlung erfolgt in den ersteh
Wochen täglich, später zwei-'bis dreimal
wöchentlich. - Ungünstige Nebenwirkun¬
gen sind nicht beqbacht'et worden. Ver¬
fasser kommt zu dem Resultat, daß in
einem erheblichen Teil der Fälle eine
ausgesprochene günstige' Wirkung auf
die Trigeminusneuralgie zu erkennen ist;
insbesondere hat es sich in Fällen, die
gegenüber” der sonstigen Behandlung re¬
fraktär waren, bewährt. Kananitzer,'
(B.kl.W. 1921, Nr,7.) ’
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Aus der’ HI. medizinisclien Kliuik der Universität Berlin
' (Direktor: Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Gold sch eider).
Über titrierte Digitaiistinktur (Digititrat Kahlbaum).
Von Priv.-Doz. Dr. H. Guggenheimer.
Die Bemühungen, Reinglykoside aus
den Digitalisblättern darzustellen, sind
bisher fehlgeschlagen. Auch Krafts
Gitalin, unter dem Namen Verodigen im
Handel, ist kein chemisch einneitlicher
Körper, sondern ein Gemenge von meh¬
reren Stoffen. Es erhebt sich auch immer
wieder die Frage, ob wir bei der Ver¬
wendung derartiger Reinsubstanzen der
Digitalisblätter am Krankenbett die¬
selbe Wirkungsstärke erreichen, wie mit
Extrakten der Gesamtdroge. Mehrfach
günstigen Erfahrungen mit Verodigen
stehen Beobachtungen von Maisei aus
der Erlanger medizinischen Klinik gegen¬
über, der bei periodischer Darreichung an
denselben Patienten die Wirkung von
Folia Digitalis mit der des Verodigens
verglich. Dabei pflegte die therapeuti¬
sche Wirkung der Gesamtdroge rascher
und intensiver in Erscheinung zu treten
als bei Verodigen, Letzteres hatte auch
den Nachteil, bei größeren Dosen häu¬
figer unangenehme Nebenwirkungen zur
Folge zu haben. '
Bei der Anwendung von Digitalis in
der ärztlichen Praxis kommt es in erster
Linie darauf an, ein wirksames Präparat
in Händen zu haben, das auch stets
gleichwertig ist, wollen wir nicht in
dem einen Fall durch Unterdosierung,
im anderen Falle durch Überdosierung
den optimalen therapeutischen Effekt in
Frage stellen. Ein gleichmäßiges Prä¬
parat-gewährleistet einstweilen nur die
pharmakologische Auswertung der Blätter
durch den Tierversuch. Wiejoachiraoglu
in systematischen Untersuchungen ge¬
zeigt hat, ist die Ausbeute an Digitalis¬
glykosiden in hohem Maße abhängig von
der Art der Extraktion. Den wirksam¬
sten Extrakt, erhielt 'er bei Extraktion
mit absolutem Alkohol im Soxhletapparat.
.Die’ Extraktion mit kaltem Wasser, ergibt
nur zirka 60%, die Bereitung der Digi¬
talistinktur, nach den Vorschriften des
D. A. B. 5 vorgenommen, etwa 75 % der
bei Soxhletextraktion erhaltenen Glyko¬
sidmenge. Durch gleichmäßige Methodik
der Auswertung der Alkoholextrakte, der
der systolische Herzstillstand beim Frosch
zugrunde gelegt ist, gelingt es nach diesem
Verfahren, ein konstant wirksames Prä¬
parat herzustellen, dessen Wirkungsstärke
nach den auch für die neue Auflage des
D. A. B. vorgesehenen Vorschriften so
eingestellt sein muß, daß der Wert der
verwendeten Digitalisblätter sich nur
zwischen 1600 bis 2000 Froschdosen, die
Wertigkeit der Tinktur zwischen 100 bis
160 Froschdosen bewegen darf. Die
methodischen Fehlerquellen bei dieser ver-
vollkommneten Art der Auswertung sind
gering und betragen nicht mehr als 10%.
Nach diesem Vorgehen wird von der
Chemischen Fabrik Kahlbaum (Adlers-
Promptere Sedaiivwirkung
Erschwerte Gewöhnung
Bessere Verträglichkeit
Länger andauernde Wirkung
Schonung des Atmungszentrums
dem Op um
Schnellere Stopfwirkung
Rasche Resorption
Reizlose Injizierbarkeit
Abwesenheit oon Nebenwirkungen
Gleichmäßigere Zusammensetzung
Proben nnd Literatur durch
BVK-OULDENWERKE
CKem.FAbrIR ARtlenoesellscRs^fi
BFRFI N NWT
C N 795 27000 11.21
LUeraitiir^ Auszüge
„Wie ich mich überzeugt habe, tritt infolge Abwesen¬
heit der verzögernden Ballaststoffe die volle Opium¬
wirkung außerordentlich rasch und ausgiebig ein, ohne
daß andererseits die Dauer der Wirkung irgendwie be¬
einträchtigt wäre, im Gegenteil schien häufig insbeson¬
dere die narcotische Wirkung verlängert zu sein.“
Prof. Dr. Blumenthal, Berlin, Berl. Klin.Wschr. 1916 Nr.3
„Holopon ist bei entzündlichen oder congestlven
Dysmenorrhöen ausgezeichnet wirksam bei subcutaner
Injektion oder noch besser bei rektaler Anwendung
in Form der Suppositorien. Diese letztere Methode
arbeitet auch am besten der Morphiumsucht entgegen."
Professor Dr. Kroemer, Greifswald,
Zeitschr. f. ärztliche Fortbildung 1916 Nr. 4
„In 13 Fällen von Daimtuberculose in voi geschrit¬
tenen Stadien zeitigte die Behandlung teils Holopon-
tabletten allein, teils mit Holopontabletten und In-
I jectionen, oder nur mit Injectionen gute Erfolge. Die
Schmerzen wurden ganz wesentlich herabgemindert
und statt der flüssigen Entleerungen stellten sich
2—3 mal täglich breiige Stühle ein.“
Dr. Handtmann, Lungenheilstätte Beelitz bei Berlin
Zeitschr. für Tuberculose 1916 Nr. 4
„In 24 Fällen von inoperabelem Carcinom zeigte sich
das Holopon dem Morphium überlegen, als nach seiner
Darreichung Kopfschmerzen, Erbrechen und Herz¬
klopfen gar nicht oder nur in geiingerem Grade auf¬
traten als nach Morphium.“
Oberarzt Dr. Welnreb, Berlin
Münchner Med. Wochenschrift 1916 Nr. 16
„Das Holopon hat vor dem Morphium die recht
schätzenswerte Eigenschaft voraus, daß es so gut wie
gar keine Nebenerscheinungen, wie Kopfschmerz oder
Erbrechen, verursacht, daß eine Beschleunigung der
Herztätigkeit nicht eintritt und daß es eine gleich¬
mäßige, vor allem rasch auftretende Wirkung bezüg¬
lich der Schmerzstillung ausübt.“
Dr. Bruck, Aerztliche Rundschau Nr. 44 1919
„In dem Ultrafiltrat des Opiums haben wir ent¬
schieden einen äußerst wertvollen Zuwachs zu den
bereits bekannten Derivaten des Opiums und zu den
verwandten Medicamenten erhalten und zwar um so
wertvoller, als in der Tat dieses Präparat von allen
üblen Ligenschaften, welche den bisher gebräuchlichen
, Opiaten innewohnten, frei zu sein scheint.“
Dr. Arnheim, Berlin, Fortschr. d. Med. 1920 Nr. 2 ^
Mär • - . ^ Die^'Therapie-dfer öegeawart 1921 - '
. hof) unter Kontrolle des hiesigen,pharma¬
kologischen, Instituts eine Digitalistinktür
unter dem Namen Digititrat hergestellt,
die wir auf ^unserer klinischen Abteilung
bereits 0ber ein Jahr mit bestem Erfolg
erprobten. Wenn .sich bisher die offi^'nelle
Digitalistinktür nicht so recht einbürgerte,
so mag dies, wie Heffter kürzlich mit
Recht h^rvorhob, nicht allein in der Un-
glei chmäßigkeit des Ausgangsmaterials,
sondern vor allem auch mit der unzu¬
länglichen iForm der beliebten Dosierung
nach Tropfenzahl Zusammenhängen. Ähn¬
lich wie bei der üblichen Verwendung des
Digalens,'die'sich meist auf die Verord-
nunjg von mehrmals täglich 10 bis
20 Tropfen beschränkt, gab man unter
Vernachlässigung der alkoholischen Lö¬
sung des Präparats im allgemeinen viel
zu geringe Dosen. Im übrigen ist die auf
1 ccm der Tinktur, .entsprechend 0,1 Folia
Digitalis, fallende Tropfenmenge, je nach
der Form der verwendeten-Tropfflasche
oder Tropfpipette, recht verschieden. Sie
kann zwischen 30 und 70 Tropfen schwan¬
ken. Als Grundlage einer exakten Do¬
sierung muß deshalb die Abmessung nach
Kubikzentimeter vorgenommen werden,
wofür ein entsprechend geeichtes Glas¬
röhrchen dem Handelapräparat beige¬
geben werden soll. -
Halten wir uns an die von Edens
angegebene Indikationsstellung für die
wirksamste Anwendung- der Digitalis, so
ist die Beeinflussung des Kreislaufes bei
insuffizienten hypertrophischen Herzen
unter täglichen Gaben von 2 bis 3 ccm
Digititrat eine ausgezeichnete. Bei der
auf Vorhofflimmern beruhenden Ar-
rhythmia perpetua. genügten meistens
ähnliche Gaben, um bei vorhandener
Tachykardie die Pulszahl herabzudrücken
und die Qualität der einzelnen Pulse zu
verbessern. Bei gleichzeitiger Bettruhe
und unter Berücksichtigung diätetischer
Maßnahmen gelang es uns, selbst der¬
artige Kranke mit nicht unbeträchtlicher
Stauungsleber in ein kompensiertes Sta¬
dium zu bringen und auch bei ambulanter
Weiterbehandlung noch lange so zu er¬
halten. Wir pflegen in solchen Fällen
dauernd Dosen von etwa zweimal % ccm
der Tinktur weiter nehmen zu lassen und
beobachteten davon bisher keinerlei un¬
angenehme Nebenwirkungen. Aber auch
die Verträglichkeit ^größerer Dosen bis
zu 3 ccm ist eine gute, Übelkeit und Er¬
brechen sahen wir bei der von uns ge¬
übten Art der Dosierung dabei bisher bei
keinem Patienten auftreten. Daß man
die diuretische Wirkung häufig erst durclr
gleichzeitige Verabreichung von Theo¬
brominpräparaten voll erzielen kann, ent¬
spricht einer auch bei anderen Digitalis¬
präparaten gemachten Erfahrung. Dies
gilt vor allem für die kardial dekom-
pensierten Hypertonien. Auch die mitunter
bei Myodegeneratio cordis bestehenden,
wohl nicht lediglich kardial bedingten
beträchtlichen Ödeme können sich, wie
erst neuerdings von Eppinger wieder
hervorgehoben wurde, Digitalis gegenüber
refraktär verhalten.
Sehen wir von diesen einer weiteren
Medikation bedürfenden Zuständen ab,
s:o möchten wir die nach den exakten
«Untersuchungen Joachimoglus einge¬
stellte titrierte Digitalistinktur als ein
Präparat bezeichnen, das frei von un¬
angenehmen Nebenwirkungen in der an¬
gegebenen Dosierung eine volle Digitalis¬
wirkung erzielen läßt und in der Kon-
stanz^einer Zusammensetzung sich auch
nach klinischen Erfahrungen als zuver¬
lässig erwies. Namentlich für die An¬
wendung in Krankenhäusern fällt auch
der niedrig gehaltene Preis von Digititrat
ins Gewicht.
Aus dem Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Barmbeck (Abteilung: Prof, Erich Plate).
Eine einfache Behandlungsmethode der Arthritis gonorrhoica im
Prühstadium.
Von Dr. Friedrich Lahmeyer, ehemals Assistenzarzt der Abteilung,
jetzt Badearzt in Wildbad i. Schwarzwald.
Der in Nr. 2 dieses Jahrgangs er¬
schienene Aufsatz von Schlesinger über
,,Diagnostische und therapeutische Irr-
tümer bei der gonorrhöischen Arthritis“
hat uns veranlaßt, auch an dieser Stelle
noch einmal kurz auf eine Behandlungs¬
weise der Arthritis gonorrhoica hinzu¬
weisen, wie sie sich auf unserer Abteilung
bei einem sehr großen Material an Gelenk¬
fällen auf das beste bewährt hat. "Nähere
Ausführungen hierüber mit Beschreibung
technischer Einzelheiten haben wir in
Nr. 32 der dermatologischen Wochen¬
schrift 1920 gegeben, es soll hier nur kurz
das wesentliche Prinzip angedeutet wer¬
den. Wie auch Schlesinger betont, ist
25^
196
Dte Therapie.‘der Gegenwart 192X
Mai
die Hauptgefahr bei jeder Arthritis go¬
norrhoica die der Ankylosierung^
diese muß sich vor allem unser therapeu¬
tisches Handeln richten. Die Neigung
zur Ankylosierung ist bei der Arthritis
gonorrhoica deshalb so groß, weil es schon
ganz ungewöhnlich früh zu Usuren und
weiter zur völligen Zerstörung des Ge¬
lenkknorpels kommt, so wie wir es sonst
nur bei schweren Strepto- oder Staphylo¬
kokkenempyemen der Gelenke sehen.
Durch Schrumpfung des stark geschwol¬
lenen periartikulären Gewebes wird das
Gelenk immobilisiert, die erkrankten
Knorpelflächen werden aneinanderge¬
preßt, gelangen zur Verklebung, und bald
resultiert die Ankylose. Dieser Knorpel-
Schädigung vorzubeugen oder den schon
teilweise zerstörten Knorpel zur Regene¬
ration anzuregen, muß unser Ziel sein,
eine Aufgabe, die ja auch Heilner,
wenn auch auf einem ganz anderen Wege,
zu lösen versucht hat. Wir gingen in
unseren Erwägungen von entwicklungs¬
geschichtlichen und physiologischen Tat¬
sachen aus. Nach den Untersuchungen
von Roux werden bei jeder Bewegung
eines normalen Gelenks Teile der Ober¬
fläche des Knorpels losgerieben. Diese
Abscherung des Knorpels regt denselben
gleichzeitig zur Regeneration an, sie ist,
wie Roux sagt, der ,,specifische Tätig¬
keitsreiz für die Chondroblasten“. Eine.
Knorpelneubildung kann also nur herbei¬
geführt werden durch Bewegung im Ge¬
lenk, und zwar durch eine Bewegung, wie
sie unter normalen physiologischen Be¬
dingungen zustande kommt. Im Verfolg
dieses Gedankens hat Plate i) schön vor
längerem den Grundsatz ausgesprochen,
nur ein richtig gebrauchtes Gelenk kann
gesund bleiben oder gesund werden. Für
unseren Fall angewandt heißt das also,
daß wir schon frühzeitig versuchen müssen,
einen regenerativen Reiz auf den dem
krankmachenden Virus besonders aus¬
gesetzten Gelenkknorpel auszuüben. Die¬
sen Reiz können wir nur durch aktive
Bewegung des Gelenks erzielen. Das
Haupthindernis für die praktische Aus¬
führung der Bewegung bilden die heftigen
Schmerzen und hartnäckigen Muskel¬
spasmen. Das beste Mittel, beide zu
beseitigen, ist das körperwarme Bad. Wir
bringen deshalb unsere Patienten von
dem Tage ihres Eintritts in unsere Be¬
handlung an, in jedem Stadium der Er¬
krankung, trotz schmerzhaftester Gelenk¬
entzündung, trotz hohen Fiebers in ein
1) Plate, D. m. W. 1912, Nr. 51.
Bad von 37 Grad, unterstützen sie ge¬
nügend und fordern sie auf, das erkrankte
Gelenk zu bewegen. Man ist immer wieder
von neuem erstaunt, wie Patienten, die
im Bett nicht die geringste Bewegung aus-
führeh, jetzt im Bade das Gelenk, wenn
auch anfänglich nur um wenige Grade
bewegen. Mit immer größer werdendem
Zutrauen der Patienten werden auch die
Fortschritte in der Bewegungsmöglichkeit
täglich größer. Schmerzen dürfen auf
keinen Fall entstehen und entstehen auch
nicht bei.der Methode, deshalb machen
wir niemals, auch nicht im Bade, passive
Bewegungsversuche, wie sie Schles'inger
empfiehlt, denn die Spasmen, die wij ja
doch gerade vermeiden wollen, treten da¬
bei unweigerlich auf, und Zerrungen,
Blutungen im Gelenk, akute Exacer¬
bationen sind die Folge. Gewöhnlich
genügt es, die Patienten vor- und nach¬
mittags je eine Stunde in das Bewegungs¬
bad zu bringen, nach einigen Tagen fangen
dann die Patienten von selbst an,*auch
im Bett vorsichtige Bewegungen zu ma¬
chen. Mit diesen frühzeitigen Bewegungen
wird gleichzeitig dem Zustandekommen
der Muskelatrophie auf das beste vor¬
gebeugt und eine Besserung der ganzen
CircLilations-' und Resorptionsverhältnisse
erzielt, so daß außer der günstigen Beein¬
flussung des Knorpels eine beschleunigte
Resorptiön des periartikulären Infiltrates
erzielt wird, ehe Schrumpfungsprozesse
einsetzen.
Außerdem wenden wir zur Unter¬
stützung Arthigon an, später Massage
und andere resorptionsbefördernde physi¬
kalische Methoden, in der Hauptsache
aber legen wir Gewicht auf eine von
Anfang an durchgeführte Bewegungs¬
therapie.
Um ein klares Bild der therapeutischen
Wirkung unseres Verfahrens zu erhalten,
haben wir im vorletzten Jahr 18 Fälle
von Arthritis gonorrhoica, schwerer und
mittelschwerer Art, mono- und polyarti-
kuläre, akute und subakute Fälle, nur mit
Biewegungsbädern ohne jedes andere Hilfs¬
mittel behandelt. Eine Behandlung der
Schleimhautblennorrhöe ging selbstver¬
ständlich nebenher. Abgesehen von vier
Fällen, die noch andere Komplikationen
aufwiesen, kamen alle Patienten mit völlig
tadelloser Funktion zur Entlassung. Die
Behandlungsdauer überstieg keinmal acht
Wochen. Auf Einzelheiten ist in der oben
zitierten Arbeit von mir näher eingegan¬
gen. Besonders schön zeigt sich der Ein¬
fluß auf die Temperaturkurve. Hohe
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1Q21
197
Temperaturen fielen innerhalb weniger
Tage zur Norm, trotz — oder vielleicht
gerade infolge — der Bewegungen. Eine
Patientin, welche auf einer anderen Ab¬
teilung über drei Wochen Temperaturen
zwischen 38 und 39 Grad hatte, kam bei
uns prompt zur Eri'tfieberung, nachdem
weiter nichts mit ihr gemacht war, als
daß sie ins Bad gesetzt wurde und sich
bewegen mußte. Ausdrücklich sei noch
betont, daß wir nur Bäder von 37 Grad,
keine heißen Bäder verabfolgen.
Diese Behandlung der Arthritis gonor¬
rhoica mit Bewegungsbädern führen wir
seit einer langen Reihe von Jahren syste¬
matisch durch. Wir betrachten sie allen
anderen Methoden gegenüber als über¬
legen und möchten sie dringendst emp¬
fehlen.. Ein g;'oßer Vorteil der Methode
ist ihre Einfachheit, sie* kann in jedem
Haushalt, wo eine Badewanne ist, durch¬
geführt werden und bedarf jedenfalls bei
weitem nicht in dem Maße der ständigen
ärztlichen Überwachung, wie die Stau¬
ungsbehandlung, auch ist letztere bei
Erkrankungen des Hüftgelenks nicht an¬
wendbar.' Ein weiterer Vorteil ist auch
ihre Schmerzlosigkeit, die dem Patienten
zu einer baldigen Belastung und richtigen
Benutzung den Mut gibt. Die richtige
Benutzung eines Gelenkes ist aber, wie
Plate immer wieder betont, die unum¬
gängliche Voraussetzung, nicht nur ein
Gelenk gesund zu erhalten, sondern auch
ein krankes Gelenk wieder zu einem
normalen zu machen.
Zur Therapie des Ulcus ventriculi — Sodbrennen.
Von Dr. med. Hugo Schmidt, Bad Liebenstein, früher Straßburg i. Eis.
Das Ulcus ventriculi wird noch immer
fast ausschließlich durch Bettruhe und
Schonungsdiät, die offenbare Blutung
wohl mit einer Gelatinelösung bekämpft.
Von einem direkten Heilmittel hört man
kaum etwas. Ich möchte deshalb die
Aufmerksamkeit der Kollegen auf das
reine Glycerin lenken, das schon bei
äußeren Wunden eine ausgesprochen blut¬
stillende Heiltendenz hat. Glycerin kann
auch innerlich genommen werden und
hat sich mir in den letzten Jahren gerade
bei Magenblutungen, beim Magengeschwür
als ausgesprochenes Heilmittel mehrfach
ganz ausgezeichnet bewährt. Es wird
kaffee- bis eßlöffelweise mehrmals am
Tage jedesmal vor der Nahrungsaufnahme
genommen und zwar entweder pur oder
mit Zusatz von 5 bis 10 % Bismuthum
subnitricum. Es entfaltet dabei sowohl
subjektiv eine beruhigende, schmerz¬
lindernde, das Druckgefühl mindernde
Wirkung als auch objektiv die Wirkung,
daß die Resistenz und Auftreibung der
Magengegend in wenigen Tagen mit der
fortschreitenden Heilung nachläßt und
der entzündliche, fühlbare Tumor kleiner
wird und allmählich schwindet. Das
Glycerin hat hierbei nur Vorzüge: es
erweist sich als Heilmittel ohne Nach¬
teile; denn es kann auch in großen Dosen
genommen werden, ohne irgendwie schäd¬
lich zu wirken, es hat einen süßen Ge¬
schmack, der wohl von keinem Patienten
verweigert wird. Trotzdem hat es bis
heutzutage meines Wissens in der Thera¬
pie des Ulcus ventriculi auch bei den
maßgebenden Autoren nicht die Rojlc
gespielt, die seinen ausgezeichneten Eigen¬
schaften entspricht. Es ist Zweck dieser
Zeilen, zur weiteren Prüfung und An¬
wendung dieses Medikamentes bei Magen¬
geschwür anzuregen.
Die blutstillende, heilende Wirksam¬
keit des Glycerins geht übrigens soweit,
daß es auch bei ambundanten carcino-
matösen Magenblutungen in demselben
Sinne wirkt und zur ununterbrochenen
Blutstillung, also zu einer relativenWund-
heilung führen kann. Eine solche starke
Magenblutung beobachtete ich am
20. Februar 1920 bei einer 63jährigen
Patientin, die secundär nach Lebercarci-
nom (chronischer Ikterus) an Magen-
carcinom erkrankte. Es wurde neben
Adrenalintropfen und Gelatine innerlich
nur Glycerin (dreimal einen Eßlöffel
voll, später weniger) gereicht. Die Blu¬
tung wurde dadurch prompt gestillt und
trat auch bis zu dem am 13. Juli 1920
erfolgten Exitus nicht wieder auf.
Im Anschluß hieran möchte ich zur
Therapie des Sodbrennens der All¬
gemeinheit eine Anregung geben, die nach
meiner Erfahrung und Erprobung nicht
nur sicher wirksam ist, sondern auch in
seinem Erfolg leicht erklärt werden kann.
Das Sodbrennen kommt nämlich nicht
vom Essen, sondern vom Trinken; es ver¬
dankt seine Entstehung nicht etwa den
Speisen, die gekaut werden müssen, son¬
dern der reichlichen oder kalten oder
heißen oder sauren Flüssigkeit, die der
Patient bei der Mahlzeit zu sich nimmt.
Es gibt Leute, die sogar von Milch Sod¬
brennen bekommen können.
198 ^
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1921
Läßt man die Leute, die zu Sodbrennen
neigen, trocken essen, so tritt kein Sod¬
brennen mehr auf. Zur Trockenkost ge¬
hören auch alle Breie, sofern sie nur
körperwarm genossen werden. An
Flüssigkeit darf so viel getrunken werden,
als zur Herstellung eines Breies im Magen
notwendig oder dienlich ist oder das
Bedürfnis des Patienten nach Flüssig¬
keit zur Stillung seines Durstes es ver-
■ langt. Es ist selbstverständlich, daß auch
die Flüssigkeit am besten dabei körper¬
warm genommen wird. Unter diesen
Voraussetzungen bedarf es einer weiteren
Therapie des Sodbrennens mittels alka¬
lischer Wässer nicht. Ja, der Patient
kann sogar unter Umständen ein umfang¬
reiches Menu ohne Magenstörung und
ohne Sodbrennen bewältigen.
Wie ist das zu erklären? Das Sod¬
brennen verdankt seine Entstehung der
Hyperacidität des Magensekrets, indem
kleine Mengen des flüssigen, stark sauren
Mageninhalts in die Speiseröhre regur-
gitieren. Vermeidet man aber durch die
beschriebene Einschränkung der Flüssig¬
keitszufuhr, daß der Mageninhalt dünn¬
flüssig wird, und sorgt dafür, daß er nur
Breiform hat oder annehmen kann, so
kann auch der hyperacide Magensaft
nur ganz langsam und kriechend den
Speisebrei durchsetzen; die Verdauung
kann eventuell schneller erfolgen wie
gewöhnlich, aber eim Regufgitieren des
Mageninhalts in die Speiseröhre, ist
mechanisch und physikalisch einfach
unmöglich.
Ist der Mageninhalt aber dünnflüssig,
so ist leicht einzusehen, daß der stark
saure Magensaft seine (Salz-)Säure bald
und gleichmäßig der ganzen Flüssig¬
keit mitteilt: letztere wird insgesamt
stark sauer und wird durch, den dadurch
gesetzten Reiz auf die muskulöse Magen¬
wand kleine Teile der stark sauren Flüs¬
sigkeit nach der Speiseröhre hin aus¬
pressen können. Dadurch ist auch gut
der Erfolg zu verstehen, den v. Leyden
seinerzeit bei Hyperacidität des Magens
dadurch erzielte, daß er viele trockene
Semmel essen ließ. Diese trockenen
Semmeln mußten zunächst gut gekaut
und eingespeichelt werden: kamen sie
so in den nüchternen oder leeren Magen,
so bildeten sie dort einen dicken Brei,
gesellten sie sich zu einem dünnflüssigen
Mageninhalt, so machten sie vermöge
ihrer leichten Aufnahmefähigkeit für flüs¬
sige Speisen letztere zu einem dickflüs¬
sigen Brei. In beiden Fällen war dann
von Sodbrennen, dem unangenehmen
Begleitsymptom der Hyperacidität, keine
Rede mehr: Sodbrennen konnte einfach
mechanisch nicht mehr auftreten.
Tenosin in der Frauenpraxis.
Von Dr, Georg Katz, Frauenarzt in Berlin-Friedenau
(aus der Frauenklinik des Verfassers).
Nachdem die Mutterkornpräparate wie
so viele galenische Medikamente während
und nach dem Kriege immer seltener und
teurer geworden waren, wurde der Wunsch
nach einem gleichwertigen Ersatz, der
zudem die wirksamen Bestandteile nicht
in einer von Jahr zu Jahr schwankenden
Menge enthielt, immer reger. Den Farben¬
fabriken vorm. Friedr. Bayer & Co.,
Leverkusen, ist es nun gelungen, auf
synthetischem Wege ein Präparat herzu¬
stellen, das die wirksamen Bestandteile
des Mutterkorns in Reinsubstanz enthält.
Es handelt sich hierbei um die beiden
chemisch reinen Basen, das .Beta-Imid-
azolylaethylamin und das p-Oxyphenyl-
aethylamin, beides Stoffe, die schon
1909/10 von den englischen Forschern
Barger und Dale aufgefunden worden
sind. Das Beta-Imidazolylaethylamin ist
der wirksamere Bestandteil, es 'bewirkt
stets starke Contractionen der Uterus¬
muskulatur. Daneben sinkt, trotzdem
das Herz stärker arbeitet, der Blutdruck
in den-Arterien infolge einer peripher an¬
greifenden Vasodilatation. Di eseBlutdruck-
senkung wird aber aufgehoben durch den
zweiten Bestandteil, das p-Oxyphenyl-
aethylamin, welches auffällige Blutdruck¬
steigerung hervorruft. In seiner chemi¬
schen Zusammensetzung und pharmakolo¬
gischen Wirkung ähnelt das letzte sehr
dem Adrenalin. Neben der Gefäßwirkung
kommt dem p-Oxyphenylaethylamin eine
specifische Uteruswirkung zu, und zwar
bewirkt es Contractionen des graviden
Uterus, während beim virginellen Uterus
Erschlaffung eintritt. Die Vereinigung
dieser beiden Körper stellt nun das
Tenosin dar.
Bei uns fand das Mittel die gleiche
Anwendung wie die Mutterkornpräparate.
In Fällen von Nachgeburtsblutungen wie
auch bei allen atonischen Blutungen
nach Abortausräumungen stellte sich stets
eine kräftige Contraction der Uterus-
Mal . Die Therapie der Qegei4wart 1921
199
muskulatur ein. In der Regel injizieren
wir 1 ccm Tenosin. Aus dem uns vor¬
liegenden Material erwähnen wir folgen¬
den typischen Fall:
Bei Frau L. (beginnender Abort Ende dritten
Monats) hatte ein Schädelknochen, als er mit
dem Abortlöffel herausgezogen wurde, durch seine
scharfe Kante die Wand des Uterus verletzt.
Trotz leerer Gebärmutter bestand völlige Atonie
und reichliche abundante Blutung, die ihren Ur¬
sprung zum größeren Teil aus der deutlich fühl¬
baren Rißwunde nahm. Zehn Minuten nach In¬
jektion von Tenosin stand die Blutung. Uterus
gut contrahiert,
Ferner verabreichen wir das Tenosin
mit Vorliebe nach Adnexoperationen so¬
fort nach beginnender wiedereinsetzender
Menstruation, da diese erfahrungsgemäß
sehr oft stärker zu' verlaufen pflegt. Die
specifische’ Wirkung des Präparates hat.
sich auch in solchen Fällen stets ge¬
zeigt.
Bei Adnexblutungen selbst bewährte
sich Tenosin vorzüglich in Verbindung
mit Hydrastinin. Wir geben dreimal
täglich je zehn Tropfen Tenosin und
Liquidrast.
Fräulein B. hat nach kriminellem Abort eine
rechtsseitige Adnexentzündung zurückbehalten.
Die menstruelle Blutung dauert zehn Tage, ist von
großer Intensität, zwischendurch Menorrhagien.
Nach Verabreichung von Tenosin in Kombination
mit Liquidrast in der angegebenen Dosis, die
Fräulein B. während der Blutung täglich nahm.
nahm die Menstruation an Dauer und Intensität
ab. Keine Menorrhagien mehr. Die dritten regel¬
mäßig einsetzenden Menses dauerten vier Tage,
doch wurde gleich zu Beginn Tenosin genommen.
Patientin ist jetzt nach einem halben Jahre ge¬
sund.
Auch bei Menorrhagien infolge Endo¬
metritis haben wir Tenosin versucht und
durch richtige Anwendung fast immer eine
Auskratzung der Gebärmutter vermiede;!.
Bei Frau A. F. dauerten die Menses durch¬
schnittlich zehn Tage mit reichlichem Blutabgang.
Sie erhält vor der Regel dreimal zehn Tropf eh
täglich drei Tage lang, bei Beginn der Regel
dreimal täglich 25 Tropfen Tenosin bis zum
Schluß des Blutens. Dauer der Menses daraufhin
sechs Tage. Deutliche Verminderung des Blutes.
Zum Schluß sei noch einer profusen
Blutung gedacht, die sich ebenfalls unter
dem Einfluß des Tenosin wesentlich
besserte.
Frau G., 34 Jahre alt, leidet an heftigen pro¬
fusen Blutungen, die den Verdacht einer Metro-
pathia haemorrhagica hervorrufen, da weder eine
Endometritis, noch ein anderer krankhafter
Genitalbefund erhoben wird. Auch hier lassen
auf Tenosindarreichung die Blutungen nach, die
nächste Regel, während der Tenosin dreimal
täglich 25 Tropfen eingenommen werden, verläuft
normal.
Auf Grund unserer Erfahrungen kön¬
nen wir für die gynäkologische Praxis
Tenosin als ein vollwertiges stets konstant
zusammengesetztes Mutterkorn-Ersatz-
präpärat empfehlen.
Aus dem Dematologisclieii Institut von Dr. Bab uud Dr. Treitel.
Über intravenöse kombinierte Neosalvarsan-Novasurol-
Injektionen.
Von Dr. Treitel.
Seit neun Monaten habe ich, veran¬
laßt durch die Versuche von Bruck und
Mulzer, in meiner eigenen Praxis die
kombinierten Neosalvarsan - Novasurol-
Injektionen angewandt. Wenn mir auch
die gleichzeitige Anwendung von Queck¬
silber und Neosalvarsan außerordentlich
verlockend erschien, so trat ich an die
Versuche doch mit Vorsicht heran, zumal
man ja nicht weiß, was chemisch aus der
Mischung beider Medikamente entsteht.
Im ganzen habe ich etwa 500 Injektionen
gemacht. Ich habe solche Fälle zu den
Versuchen benutzt, bei denen eine frische
Infektion vorlag, und die noch unbe¬
handelt waren, oder solche Fälle, bei
denen trotz energischer Behandlung mit
mehreren Kuren der Wassermann immer
noch positiv war. Zu einer Kur verwandte
ich acht Injektionen, die in vier Wochen,
zweimal ^ wöchentlich, gegeben wurden,
von je 0,45 Neosalvarsan. Anfangs setzte
ich den ersten beiden Neosalvarsaninjek-
tionen nur 1 ccm Novasurollösung, ent¬
sprechend 0,1 Novasurol hinzu, nahm
dann erst von der dritten Spritze ab den
vollen Inhalt der Novasurol-Original-Am-
pullen, 2,2 ccm entsprechend 0,22 Nova¬
surol, hinzu. Nach einigen Wochen be¬
reits ging ich dazu über, von Anfang an
den vollen Inhalt der Novasiirolampullen
zu allen acht Injektionen hinzuzusetzen.
Die Herstellung ist sehr einfach; man
zieht zu dem in etwa 5 ccm Wasser ge¬
löstem, in die Spritze aufgezogenen Neo¬
salvarsan den Inhalt der NovasurolampuIIe
durch die Kanüle hinzu und schüttelt
den Inhalt der Spritze, solange Luft in
derselben ist, ein paarmal kräftig um.
Die helle Neosa.Ivarsanlösung verwandelt
sich dabei in eine undurchsichtige, grau¬
grünliche Mischung. Nach Entfernung
der Luft erfolgt dann sofort die Injektion.
Besonderen Wert habe ich auf die mög-
200 ,
Die Therapie der Gegenwart 1021
Mai
liehst sofortige Anwendung nach der
Fertigstellung der Lösung gelegt. Die
Injektion in die Vene bietet technisch
nicht die geringste Schwierigkeit, sie
ähnelt insofern der Injektion von Silber-
salvarsan, als es sich ja auch hier um
einen undurchsichtigen Stoff handelt.
Während andere Autoren behaupten,
daß keine so intensive Mundpflege nötig
sei als bei anderen Hg-Kuren und auch
das Rauchen erlauben, habe ich auf die
Mundpflege den größten Wert gelegt, und
zwar besonders deshalb, weil bei einer
jungen Patientin, die ihren Mund über¬
haupt nicht gespült hatte, um zu Hause
nichts von ihrer Krankheit merken zu
lassen, Erscheinungen einer typischen
Hg-Vergiftung auftraten.
Die Patienten, die doch fast alle wäh¬
rend der Behandlung ihrem Berufe nach¬
gingen, klagten vielfach über Mattigkeit,
die oft so groß sei, daß sie froh seien,
wenn sie sich abends ins Bett legen könn¬
ten. Übelkeit und Erbrechen traten nicht
öfter als nach reihen Salvarsaninjektionen,
besonders aber dann auf, wenn die Pa¬
tienten entgegen meinem Rate gleich
nach dem Essen zur Behandlung kamen.
Zwei besonders schwächliche und auch
sonst neurasthenisch veranlagte Patienten
klagten über Schmerzen in der Nieren¬
gegend. Es habe sie nach den Ein¬
spritzungen, besonders nach den beiden
ersten, die ganze Nacht hindurch ordent¬
lich gerissen; da es sich in diesem Fall
um sehr wohlhabende Patienten handelte,
die sich trotzdem zur Fortsetzung der
Kur bereit erklärten, wird wohl ein guter
Teil der Klagen der Veranlagung der
Patienten zuzuschreiben sein. Besonders
auffällig ist es, daß viele der Patienten
gegen Ende und nach Schluß der Kur
über ein Gefühl des Kribbelns und des
Juckens besonders in den Beinen klagten,
daß öfters in der Folge durch ein Gefühl
des Einschlafens abgelöst wurde und erst
nach einigen Wochen verschwand. Der
Urin wurde ständig kontrolliert, wies
aber in keinem Falle Besonderheiten auf.
Auch Ikterus trat in keinem Falle auf.
Die äußeren Erscheinungen der Lues,
Exantheme, Papeln, verschwanden sehr
schnell nach der ersten Injektion, das
Ulcus durum selbst bei frischen. Infek¬
tionen war nach spätestens zwei bis drei
Injektionen abgeheilt. Die * Wirkung
übertrifft in dieser Beziehung noch die
des Silbersalvarsans. Ich habe im ganzen
50 Patienten behandelt, von denen, wie
wir es leider oft erleben, elf vor Vollen¬
dung der Kur nach einigen Injektionen
aus der Behandlung wegblieben, da ihre
Erscheinungen geschwunden waren. So
bleiben 39 Fälle übrig. Davon waren
16 frische Infektionen, neun mit schon
positivem Wassermann, sieben mit noch
negativem. Zwei von diesen 16 Patienten
erschienen nicht zur Blutuntersuchung
nach der Kur. Bei den übrigen 14 war
der Wassermann nach beendeter Kur
negativ. Sieben dieser Patienten er¬
schienen nach zwei bis drei Monaten zu
einer zweiten Blutuntersuchung, die auch
negativ ausfiel. Trotzdem habe ich in
all diesen Fällen eine zweite Kur mit je
sechs reinen Neosalvarsaninjektionen von
je 0,45 durchgeführt.
Bei den 23 Patienten, bei denen es
sich um ältere Infektionen handelte, war
der Wassermann in allen Fällen vor der
Behandlung positiv. Nach der Behand¬
lung erschienen vier von diesen 23 Pa¬
tienten nicht mehr zur Blutuntersuchung.
Von den übrigen Fällen blieb der Wasser¬
mann in neun Fällen positiv, bei einem
dieser Kranken war es die siebente anti¬
luetische Kur. In den übrigen zehn Fällen
war der Wassermann nach. Beendigung
der Kur negativ, ln sechs Fällen konnte
durch eine zweite Blutuntersuchung sechs
Wochen später festgestellt werden, daß
der Wassermann negativ geblieben war.
Es wird natürlich längerer Beobach¬
tung bedürfen, um den Kuren mit kom¬
binierten intravenösen Hg-Salvarsan-In¬
jektionen den Platz zuzuweisen, den sie
unter den antiluetischen Kuren verdienen.
Schon heute aber muß ich sie nach meinen
Erfahrungen als eine äußerst wirksame
und angenehme Behandlungsform be¬
zeichnen, die bei sachgemäßer Anwen¬
dung nicht mehr Gefahr bietet, als die bis
jetzt angewandten Mittel, insbesondere
die reine Salvarsanbehandlung.
Druckfehlerberichtigung.
Auf Seite 72, 2. Spalte, 24. Zeile von als ,,Gonostyli-Bayer“ anstatt ,,Gö¬
nnten, sind die unter dem Nameii ,,Go- nostyli-Beiersdorf“ bezeichnet,
nostyli“ hergestellten Urethralstäbchen
Ffir die Redaktion verantwortlich Geh.Med.*Rat Prof.Dr. G.Klemperer in Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berlin W57,
JUL 14 192»
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Die Therapie der Gegenwart
herausgegeben von
62. Jahrgang Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
Neueste Folge. XXIII. Jahrg. BERLIN
6. Heft
Juni 1921
W 62, Kleiststraße 2
Verlag von UBBAN & SOJkiWABZEKBEBG in Berlin UT 24 und WienI
Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementspreis in Deutschland und
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Die Therapie der Gegenwart
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herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. ö. Klemperer
in Berlin.
Juni
Nachdruck verboten.
Wie vor 21 Jahren der greise Altmeister Kuß maul einen seitdem berühmt ge-
%vordenen Aufsatz in der .^Therapie der Gegenwart'' veröffentlichte, so wird unserer Zeit¬
schrift heute die Auszeichnung zuteil, eine Äußerung unseres großen Lehrers Naunyn
über die Wiesbadener Diabetesaussprache publizieren zu dürfen. Die Deutsche Gesellschaft
für innere Medizin huldigte anläßlich dieser Aussprache ihrem Ehrenmitgliede, „dessen
Arbeiten die heutige Therapie des Diabhtes begründet haben". Wir möchten dieser Huldi¬
gung den Dank an den hochverehrten Meister anschließen, daß er nicht verschmäht, aus
seiner Zurückgezogenheit hervorzutreten, um den deutschen Ärzten die praktischen Folge¬
rungen aus seinen Lehren von neuem ans Herz zu legen.
Epilog zur Diabetesdebatte.
^ Von B. Naunyn.
Es war mir leider nicht vergönnt, dem
Kongresse beizuwohnen, so sehr mich das
diesjährige Programm, nicht allein durch
die Diabetesdebatte, anzog, und ich muß
dem Herrn Präsidenten sehr dankbar sein,
daß er mir ermöglicht, mich nachträglich
zu äußern. *
Die Besprechung der Diabetestherapie
war für die medizinische Welt ein wich¬
tiges Ereignis; sie war sehr an der Zeit.
Dank einiger Übertreibungen und ein
wenig lauter Anpreisungen von allerhand
Sonderkuren begann sich in ärztlichen
Kreisen eine gewisse Unruhe zu zeigen;
es drohte zu Unsicherheit über die
Grundlagen und Grundsätze der Diabetes¬
therapie zu kommen, und doch waren
diese Grundlagen längst gelegt, seit zwei
Jahrzehnten standen sie bei uns in
Deutschland fest. Sie sind nun kodifiziert,
für jedermann zugänglich und hoffentlich
verbindlich.
Es ist gute ernste Arbeit. Wie jetzt
unsere Diabetestherapie so nett und rund
dasteht, merkt man kaum, wieviel frucht¬
bare Arbeit darin steckt und was an Vor¬
urteilen überwunden werden mußte; doch
sind ja noch genug unter uns, die schon
im letzten Jahrzehnt des verflossenen Jahr¬
hunderts die allgemeine Nahrungsein¬
schränkung und bald auch die Fleischbe-
^ Schränkung — weit überXantani hinaus
— als Grundlage jeder Behandlung ernster
Diabetesfälle vertraten, und sie haben
es damals erlebt: selbst verdienstvolle
Forscher glaubten, nachdrücklich und laut,
den Vorwurf erheben su sollen, daß der Dia¬
betische bei solch allseitig eingeschränkter
Diät „verhungern“ müsse. Und gar die
Hungertage! Hat man sie damals als
„unmenschlich“ verpönt so geht man
jetzt darin sehr weit auch einmal weiter,
als nötig und gut ist Denn man darf
nicht vergessen, daß jeder Hungertag, selbst
einem mageren Diabetiker, ein Kilogramm
seines Körpergewichtes kosten kann, und
daß der Verlust schwer wieder einzubringen
ist Jetzt war „Nahrungsbeschränkung“
Stichwort doch wäre es gut gewesen, noch
nachdrücklicher zu betonen, wie es nicht
nur, und in manchen Fällen sogar weniger,
ankommt auf die qualitative Zusammen¬
setzung, auf den geringen Zuckerwert der
Nahrung, als auf die quantitative Beschrän¬
kung im ganzen: in leichten Fällen bedarf
e^ oft nur einer solchen, und zwar einer
sehr mäßigen, und wieder in manchen
schweren Fällen mit nur noch geringer
Zuckerausscheidung geht es ohne strenge
Beschränkung des Gesämmtkalorien-
wertes der Nahrung nicht ab: erst diese
erzwingt die Aglykosurie, nachdem die
qualitative Regulierung vielleicht keinen
vollen Erfolg erreicht hatte. Und bei
der Besprechung des Zuckerwertes der
Nahrung hat man einer schwer zu
schätzenden Fehlerquelle kaum gedacht.
Für ihn kommt nur die Menge des vom
Darme resorbierten Zuckers in Betracht,
und diese braucht keineswegs gleich
dem Kohlehydrat der Nahrung zu sein.
Denn die Kohlehydrate können im Darme
vergären; die meisten nur zu einem
kleinen Teil, doch einige viel stärker. Die
Menge des so für den Zuckerwert verlore¬
nen Kohlehydratanteils ist nicht sicher zu
bemessen -— doch dürfte sie bei einigen
Mehlarten, so dem Hafermehl, besonders
groß sein, und groß genug, u m für den Zucker¬
wert der Nahrung in Betracht zu kommen.
Die Diskussion beschränkte sich, sehr
weise, auf die Therapie; doch kann man
26
202
Die Therapie der Gegenwart 1921
Juni
als Praktiker nicht wohl von Therapie
reden, ohne sich über die Prognose zu
verständigen. Es liegt in der Natur der
Krankheit, daß sie von der einen Seite
leicht zu rosig, von der'andern zu trübe
erscheint. Denn auch schwere Fälle sind
erfolgreicher Behandlung zugängig, doch
ergeben sie selten einen guten Dauer¬
erfolg, und das gleiche gilt von sehr
vielen Fällen, die, nach ihrer Toleranz
bemessen, anfangs kaum als schwer
anzusprechen, bereits längere Zeit be¬
stehen, inveteriert sind, Auch bei
ihnen muß man damit rechnen, daß die
Krankheit trotz allem sich hinschleppt
und in der einen oder andern Form zum
vorzeitigen Ende führt. Deshalb ist es vor
allem Pflicht des Arztes, in jedem Falle
sofort eine ernste Behandlung einzuleiten,
die dann Klarheit schafft über die Natur
des Falles und über das, was weiter zu
geschehen hat.
Doch sollte dies ein Epilog und nicht
eine Epikrise sein oder gaf wieder eine
•* ‘Ti
neue Diskussion einleiten! . Es war die
Erinnerung an die Entwicklung des nun
Erreichten, der ich dienen wollte, und da
drängt sich die an einen Mann auf, dessen
Name mir in den Aussprachen nicht
begegnet ist: W. Weintraud, der lang¬
jährige Sekretär und in seiner selbstlosen
begeis'terungsfähigen Art der eifrigste För¬
derer unserer Gesellschaft, nimmt auch
in der Geschichte der Diabetestherapie
eine erste Stelle ein. Seine gi'oße Arbeit,
in der bibliotheca medica aus dem Jahre
18931 bringt zu dem stattlichen Bau zwei
Ecksteine: er hat, als erster, bewiesen,
mit wie wenig Proteinsubstanz der Diabe¬
tiker auch auf die Dauer auskommt, und
er hat die Rolle des^Fettes in der Diabetes¬
ernährung festgestellt. Die erste Tat¬
sache wurde eine der allerfolgenreichsten
und auch über die andere bedarf es
keines Wortes; die störende Rolle, die
das Fett hier und da durch Steigerung
der Acidose spielt, kann daran nichts
ändern.
Über die Grundlinien der diätetischen Behandlung der Zucker«
krankheit.
Von Prof. Carl von Noorden, Frankfurt a. M.
Unter Anlehnung an ein, größeres
Referat, welches ich kürzlich auf der
Tagung der Deutschen Gesellschaft für
innere Medizin erstattete, sollen hier die
Grundlinien der diätetischen Therapie
des Diabetes mellitus besprochen werden.
Alle anderen Methoden, insbesondere alte
und neue Formen medikamentöser Be¬
handlung dieser Krankheit sind Hilfs¬
mittel untergeordneten Ranges. Bei
Ärzten und Laien, die mit der Geschichte
der Diabetestherapie nicht vertraut sind,
können manche neuere Veröffentlichungen
den Anschein erwecken, als ob die Diä¬
tetik des Diabetes in den letzten Jahren
völlig neue, früher unbekannte Wege ein¬
geschlagen habe. In Wirklichkeit handelt
es sich aber teils nur um ernährungs¬
technische Weiterentwicklung alter For¬
men, teils um einseitige Übertreibung
wohlbekannter Grundsätze.
Von den wechselnden Theorien über
die Art der diabetischen Stoffwechsel¬
störung ist die diätetische Therapie un¬
berührt geblieben. Sowohl dje Theorie
der Nichtoxydation wie die Theorie der
Überproduktion des Zuckers wußten sich
mit den empirisch gefundenen und er¬
probten Richtlinien der Diätetik abzu¬
finden. Dies trat deutlich auf dem Wies¬
badener Kongreß zutage, wo 0. Min¬
kowski und C. von Noorden trotz
entgegengesetzten theoretischen Stand¬
punktes hinsichtlich therapeutischer Fra¬
gen völlig übereinstimmten. Neueste
Untersuchungen aus dem G. Embden-
schen Institute machen es übrigens wahr*
scheinlich, daß bei der diabetischen Stoff¬
wechselstörung die Kohlenhydratvor¬
stufen (Glykogen und Enol-Zwischen-
form) in übertriebenem und verstärktem
Maße in . Traubenzucker übergehen
{= Überproduktion von Zucker) und daß
der zum Transporte durch das Blut
dienende Traubenzucker nur in abge¬
schwächtem Maße in reaktionsfähigere
und leichter oxydable Kohlenhydrat¬
formen zurückgeführt wird (Nicht-Oxy¬
dation). Diese neuen Befunde schlagen
eine wichtige und erwünschte Brücke
zwischen den beiden umstrittenen älteren
Theorien.
1. Allgemeiner Gang einer plan¬
mäßigen diätetischen Behandlung.
Alle Formen der diätetischen Behand¬
lung tragen den Charakter der Schon¬
kuren, die einen in höherem, die anderen
in geringerem Grade. Die strengeren
Formen sind nur für kurze Fristen ge¬
eignet. Sie bilden den wesentlichen Be¬
standteil der ,,einleitenden Behandlung“.
20ä
Juni>Die Therapie der Gegen^yart 1921
In der ,,Dauerkosf' erscheinen sie mehr
als periodisch wiederkehrende Ein¬
schiebsel.
A. Strenge. Schonungsku^en als ein¬
leitende Behandlung. ^
Sie sind unbedingtes Erfordernis, wenn
die Gesamtlage des Kohlenhydrat-Stoff¬
wechsels hinter dem erreichbaren Opti¬
mum zurücksteht. In dieser Lage be¬
finden sich alle noch nicht behandelten
Diabetiker und fast alle Diabetiker, die
bisher mit unzulänglichen Maßnahmen
behandelt wurden. Diese bilden die große
Mehrzahl aller Kranken. Denn von sel¬
tenen Ausnahmen abgesehen greift die
allgemeine ärztliche Praxis nur zu halben
Maßnahmen. Nur aus diesem Grunde
wachsen viele gutartigen Fälle allmählich
zu schlimmeren Formen aus. Sich selbst
und den Patienten damit zu trösten, es
handle sich bei den anfänglich nur transi¬
torisch auftretenden kleinen Zuckermen-
gen um ,,alimentäre'* oder „neurogene"
Glykosurie und nicht um Diabetes, ist
ein verwerfliches Verfahren. Für den
Diabetes ist es gerade charakteristisch,
daß Glykosurie auf solche alimentären
und nervösen Reize hin auftritt, welche
beim Gesunden diese Folge nicht bringen.
. Unmittelbare Aufgabe der Schonungs¬
kuren* ist es, die abnorme Erregüng und
Erregbarkeit des zuckerbildenden Appa¬
rates zu dämpfen und dadurch eine
größere Toleranz für die Erreger der
Zuckerbildung zurückzuerobern. Bei “
dieser Gelegenheit wird gleichzeitig fest¬
gestellt, wie der Kranke auf Kohlen¬
hydrate und auf Proteine reagiert. Solche
Ermittlungen werden unter dem Worte
,,Toleranzprüfung" zusammengefaßt.
Die einleiten'den strengen Schonkuren
und Toleranzbestimmungen erfordern
sachkundige Leitung und scharfe Auf¬
sicht. Sonst können sie leicht zu irriger
Beurteilung der Lage und damit zu bleiben¬
den Nachteilen für die Kranken führen.
Mit steigender Häufigkeit pflegt man sie
daher in klinische Anstalten zu verlegen.
Selbst der erfahrenste Spezialarzt wird
Bedenken tragen, diese verantwortungs¬
vollen Kuren ambulatorisch durchzu¬
führen.
B. Aufbau der Dauerkost.
Nachdem die einleitende Schonungs¬
kur ihren Zweck erfüllt, und nachdem
man den Einfluß verschiedener Kost¬
formen auf Hyperglykämie, Glykosurie
und Acetonurie festgestellt hat, wird
langsam tastend die Dauerkost aufgebaut.
Wenn möglich wird dieselbe so geordnet,
daß der Urin zuckerfrei bleibt. Dies ist
natürlich nur in einem Teil der Fälle er¬
reichbar. In anderen Fällen wären dazu
so scharfe Maßnahmen erforderlich, daß
mit der Zeit. schwere Nachteile ent¬
stehen (Kräfteschwund, Anstieg der Ace¬
tonurie usw.). Man hat drei Ziele ins
Auge zu fassen: 1. möglichst geringe
Glykosurie; 2. möglichst geringe Aceton¬
urie; 3. Aufrechterhaltung guten Kräfte¬
zustandes. Wie man diese Aufgabe am
besten und vollkommensten löst, ist fall¬
weise verschieden. Kaum daß zwei Dia¬
betikern genau die gleichen Verordnungen
dienlich sind. Auf geschickter, indivi¬
dualisierender Einstellung beruhen alle
Dauererfolge. In der Spezialbehandlüng
des Diabetes weiß man dies seit Jahr¬
zehnten; die allgemeine ärztliche Praxis
berücksichtigt es leider noch immer nich't
zur Genüge. Man bedenke aber, daß man
diabetische Menschen zu behandeln hat
und nicht nur die diabetische Stoff¬
wechsellage. Es ergeben sich daraus zahl¬
reiche weitere Vorschriften über die ganze
Lebensweise, über Tätigkeit, über Ver¬
teilung von Ruhe, und Arbeit, ferner
physikalische und medikamentöse Ma߬
nahmen. Hierauf kann ich hier nicht
näher eingehen. In der Regel ist es rat¬
sam, die Kranken nicht auf stets gleich¬
bleibende Dauerkost einzustellen, sondern
nach bestimmtem Plane verschiedene
Kostformen sich ablösen zu lassen (Wech-
sclkost). Zum Beispiel läßt man eiwei߬
reiche und kohlenhydratarme Kost ab¬
wechseln mit eiweißarmer und kohlen¬
hydratreicher Kost. Auch andere* Mög¬
lichkeiten bestehen. Von äußerster
Wichtigkeit ist das periodische Ein¬
schalten strengerer Schonungskuren,deren
Dauer nach einzelnen Tagen bis zu
mehreren Wochen schwankt, und deren
Form und Fofge sich nach den Erforder¬
nissen des Einzelfalles richtet. Diese Ein¬
schiebsel verstärken den Charakter der
Wechseldiät; sie haben ferner den Zweck,
etwaige leichtsinnige oder unfreiwillige
Überschreitungen.der Vorschriften wett¬
zumachen und etwa wiederkehrende Über¬
erregung der Zuckerproduktion zu ver¬
hüten. Von Zeit zu Zeit müssen neue
Ermittlungen feststellen, ob das früher
Verordnete noch zu Recht besteht oder
abgeändert werden muß. Jederzeit muß
kraft hinreichender Kontrolle die Kost
sich elastisch nicht nur der jeweiligen
Stoffwechsellage anschmiegen, sondern
26*
204
Die Therapie der Gegenwart 192.1 ‘ ' Juni
.auch anderen körperlichen Verhältnissen,
etwaigen Komplikationen, äußeren Um¬
ständen und der Psyche Rechnung tragen.
II. Die Einzelformen der Schon¬
kuren.
A. Die kohlenhydratfreie Diät.
' Eine wirklich kohlenhydratfreie Kost
läßt sich praktisch nicht durchführen;
auch Fleisch und grünes Gemüse ent¬
halten. gewisse Mengen Kohlenhydrat.
Genauer ist es also, wenn wir von ,,mög¬
lichst kohlenhydratfreier Kost“ sprechen.
Von organischen Nährstoffen enthält sie
im wesentlichen nur Proteine,, Fette und
Lipoide. Wir unterscheiden folgende
Formen:
1. Volle Fleischkost (= volle Ei-
weiß-Fettdiät oder = gewöhnliche strenge
Diät). Sie enthält etwa 140—150 g Pro¬
tein, entsprechend etwa 500 g zubereite¬
tem Fleisch. Das Fleisch wird^-teilweise
durch andere Eiweißträger (Eier, Käse
u. a.) ersetzt. Im übrigen enthält die Kost
konlenhydratarme Gemüse, Luftbret aus
Pflanzenkleber (Glidine, Gluten); der
Kalorienbedarf wird durch Fett gedeckt.
2. Halbe Fleischkost (B, Naunyn)
mit etwa 75 g Protein. Im übrigen wie
oben.
3. Gemüse-Eierkost (von Noor-
clen) ohne Fleisch, Fisch und Käse. Mit
vier.bis fünf Eiern führt die Kost .50 bis
60 g Protein zu.
4. Verschärfte Gemüsekost (von
Noor den). Mit 4 bis fünf Eidottern
enthält die Kost 35—45 g Protein.
Bei den beiden ersten Formen sollte
die Gesamtfettzu?uhr 150 g, bei den I
beiden letzten Formen 120 g täglich nicht
übersdireiten, da bei Ausschluß von
Kohlenhydraten höhere Fettgaben das
Entstehen von Acetonkörpern begün¬
stigen-.
In der angeführten Stufenfolge liefern
uns die kohlenhydratfreien Kostformen
äußerst wirksame und erprobte Hilfs¬
mittel, um abnorme Steigerung der
Zuckerproduktion zu dämpfen und zu
verhüten.
Für scharfe Schonkuren ist die erste
Form ungeeignet; ihr Proteingehalt ist
viel zu hoch. Als Dauerkost bildete sie
früher eine sehr beliebte, gleichsam die
klassische Form der Diabetesdiät. Als
wahre Dauerkost wird sie. aber schon seit
langem nicht mehr benutzt; in leichteren
Fällen würde man damit dem Kranken
unnötige Entbehrungen auferlegen, in
schwereren Fällen hätte man mit den
Gefahren der Acetonurie zu rechnen.
Wohl aber ist die erste Form äußerst
wertvoll und brauchbar, wenn sie zeit¬
weilig von anderen, kohlenhydratreichen
Kostformen abgelöst wird. Ich verweise
auf ^spätere Beispiele. Von leichtesten
und unzweifelhaft gutartigen Fällen ab¬
gesehen, sollte man aber niemals die volle
Fleischkost längere Zeit hindurch vereint
mit Kohlenhydratträgern nehmen lassen.
Denn eiweißreiche Kost zusammen mit
Kohlenhydraten ist niemals eine
Schonungs-, sondern stets eine Reizkost.
R. Kö lisch begründete diesen Satz
bereits vor,mehr als 20 Jahren.
Die zweite Form der kohlenhydrat¬
freien Kost wird ebensowenig und aus
gleichen Gründen wie die volle Fleisch¬
kost als wahre Dauerkost benutzt. Für
leichtere Fälle ist sie als Schonkost ver¬
wendbar, und sie erfüllt hier oft deren
Zweck in ausreichendem Maße; Aller¬
dings sollte sie dann stets, von einzelnen
Tagen anderer Schonkost unterbrochen
werden. Wegen ihres geringeren Protein¬
gehaltes eignet sich die zweite Form auch
zur Unterlage für ,,gemischte Kost“, in¬
dem man sie als ,,Hauptkost“ behandelt
und eine gewisse Menge von Kohlen¬
hydratträgern als ,,Nebenkpst“ hinzufügt.
Die .dritte und vierte Form sind
Schonkost erster Ordnung. Wegen ihrer
außerordentlichen Armut an Protein
dürfen beide Formen nicht in längerer
Folge verabreicht werden. Sonst leidet
der Kräftezustand. Um so brauchbarer
sind sie als Einzelschontage oder in kurzer
Folge von zwei bis drei Tagen. Sie be¬
währten sich trefflich als Schaltstücke
vor und nach sogenannten ,,Kohlen¬
hydratkuren“. Breiter Anwendung fähig
— namentlich in schwereren Fällen — ist
die Kombination von Gemüsetagen mit
Kohlenhydratträgern. Wenn auch nicht
gerade Schonkost, ist diese Gruppierung
doch keine ,,Reizkost“. Für lange Dauer
ist sie freilich zu eiweißarm. Die Ei¬
weißarmut fällt um so mehr in die Wag¬
schale, als die N-Substanz fast ausschlie߬
lich in vegetabilen Nahrungsmitteln steckt
und nicht so gut resorbiert wird, wie aus
animalischem Material. Die Verluste
durch den Kot schwanken zwischen 20
und 30 % und mehr.
B. Hungertage. — Hungerkuren. —
Unterernährung.
1. Hungertage stellen den vorge¬
schobensten Posten der Schonungskuren
dar. Ihre Empfehlung stammt von A.
Juni
Die Therapife der
Cantani (1870); ihm schloß sich mit be¬
sonderem Nachdruck B. Naunyn, später
auch ich selbst an. Die“mit Bettruhe ver¬
bundenen Fasttage, welche alle Nahrungs¬
reize von der Leber fernhalten ynd die
Ansprüche der-Qewebe an Versorgung mit
Zucker möglichst herabdrücken sollen,
verglich ich mit den Sonntagen, die die
werktägliche Arbeit unterbrechen und der
Erholung dienen (1912). Sowohl bei den
einleitenden, die übermäßige Erregung
der Zuckerproduktion dämpfenden stren¬
gen Schonkuren wie später als Ein¬
schiebsel in der Dauerkost leistet 40- bis
OOstündiges Fasten treffliche Dienste.
Nur leeres Getränk (Tee, schwache
Fleischbrühe, Branntwein mit Wasser)
wird dabei gestattet. Bei drohender Ge¬
fahr des Säurekomas gibt es kein besseres
Mittel, die Acidosis zu bekämpfen.
2. Hungerkur. Zu planmäßigen und
länger sich hinziehenden Kuren benutzte
zuerst M. Guelpa .d^s Fasten. Sorg-
fälfiger und mit besserer “Stütze auf theo¬
retische Grundlagen baute F. M. Allen
■die Hungerkuren aus, und zwar im Wesent¬
lichen für die Zwecke der einleitenden
strengen Schonkuren. Sogleich im Be¬
ginne derselben folgen sich mehrere Fast¬
tage. Auf eine einmonatige Kur fallen
im Durchschnitt zehn Fasttage. Es ergibt
^ich daraus eine höchst kalorienarme Er¬
nährung. In der ersten Kurwoche ent¬
fallen vier bis acht, in der letzten Kur¬
woche 18—22 Kalorien täglich auf 1 kg
Körpergewicht. Nachdem mittels dieser
scharfen Kur Hyperglykämie, Glykosurie
und Acetonurie auf das erreichbare Opti¬
mum zurückgeführt worden sind, wird
langsam und vorsichtig die Dauerkost
aufgebaut. Auch sie ist knapp bemessen
und führt nur so viel Nahrung zu, wie
zur Aufrechterhaltung befriedigenden
Kräftezustandes unbedingt nötig ist. Sie
folgt dabei dem Grundsätze A. Bou-
chardat’s: ,,Demanger le point possible“
Als Schonkur leistet das Allensche
Verfahren zweifellos Vortreffliches. Es
faßt, ohne grundsätzlich neues zu bringen,
von den schon früher bekannten Scho-
nungsmethodeil die weitestgehenden in
besonders scharfer Form zusammen. Es
fragt sich nur, ob diese außerordentliche
Härte des Vorgehens notwendig ist. Für
eine kleine Minderzahl von Fällen, wo
Gefahr im Verzüge, ist dies ohne
weiteres zuzugeben. Da ist der kürzeste
Weg zugleich der sicherste. Nach eigenem
Urteil und nach dem Urteil aller Redner
..auf dem Wiesbadener Kongresse führen
Gegenwart 1921 205
— ,.i..
in der großen Mehrzahl der Fälle aber
mildere Verfahren ebenso .sicher und in
kaum längerer Zeit zu dem gleichen Ziele.
Auch diese älteren, milderen Verfahren
bedienen sich nach dem Vorbilde A. Can¬
tanis einzelner Fasttage; es wird aber
keine ,,Hungerkur“ daraus.
3. Knappe Dauerkost. Bei der
Al len sehen Methode bildet knappe Er¬
nährung ein Hauptstück der Dauerkost;
d. h. der Kalorienwert der Gesamtkost
rückt unter das sonst übliche Maß- der
Erhaltungskost (J. P. Joslin). Obschon
bereits von Prout, Cantani, Bou-
chardat, v. Düring, Naunyn u. a.
Vorbereitet, wurde die Diaeta parca doch
zuerst von R. Ko lisch vor mehr als
20 Jahren planmäßig zur Behandlungs¬
methode erhoben. In der Annahme, daß
beim Zuckerkranken der Gesamtstoff-
Wechsel abnorm niedrig sei oder doch zu
abnorm niedriger Einstellung gezwungen
werden könne, sind manche in dieser
Hinsicht zu Weit gegangen. Eine spezi¬
fisch-diabetische Erniedrigung des Ka¬
lorienumsatzes gibt es nicht. Auf das
richtige Maß zurückgeführt, kehrt die
Forderung knapper Ernährung in allen
neueren Schriften der Diabetesliteratur
wieder. Auf zwangsmäßig knapper Kost
beruhte die günstige Einwirkung der
Kriegsernährung auf den Diabetes. Hier
machte sich insbesondere auch die Be¬
schränkung des Fleischverzehrs und über¬
haupt der Proteinträger geltend. Knappe
Eiweißzufuhr schafft höhere Toleranz für
Kohlenhydrate (R. Ko lisch). Die neuere
Diabetestherapie hat den Grundsatz an¬
genommen; sowohl der gesamte Kalorien¬
wert wie der Proteingehalt der Kost ist
auf dasjenige Maß zu beschränken, wel¬
ches zur Aufrechterhaltung eines be¬
friedigenden Kräfte- und Ernährungs¬
zustandes gerade hinreicht. Mit wohl¬
gemeinter Überfütterung wird stark ge¬
sündigt und viel geschadet, oft gegen
den Willen der Ärzte. Fälschlich wird
das-Parallelgehen von Ernährungszustand
(großenteils Fett!) und Kräftezustand als
etwas selbstverständliches angenommen.
Sehr oft verläuft aber die Entwicklung
dieser beiden Größen in entgegengesetzter
Richtung. Es ist also sehr verkehrt, jeden
Gewichtsanstieg des Zuckerkranken als
erfreulichen Gewinn zu buchen.
C. Kohlenhydratkuren.
Die Kohlenhydratkuren datieren von
der Empfehlung der Haferkuren (v. No Or¬
den, 1903). Die Theorie von einer Sonder-
r2Ö6 Die Therapie der
Wirkung der Haferstärke fiel .schon bald.
Inzwischen wurde erkannt, daß man an
Stelle des Hafers andere Kohlenhydrat¬
träger -verschiedenster Art wählen kann
(E. Lampe 1909, L. Blum 19iru. a.).
Während man sich früher auf einheitliche
Kohlenhydratträger beschränkte, zeigte
W. Falta, daß sich bei gleicher Wirkung
.auch Amylaceengemische verwenden
lassen. Dies ist von Vorteil, wenn man
die Kohlenhydratkuren sehr lange aus¬
dehnen will, bedeutet aber keine grund¬
sätzliche- Neuerung. Ein Vorläufer der
Haferkur war die Mossesche Kartoffel¬
kur. Daß sie sich nicht durchsetzte und
alles in allem ein Fehlschlag war, hat
durchsichtige Gründe; sie wurde viel zu
lange ununterbrochen fortgesetzt. Sehr
häufg kam es. zu Überlastung und zu
Verschlechterung der ganzen Stoffwechsel¬
lage.
Zum Unterschied von Mosse faßte
ich die Haferkuren von vornherein zu
kurzfristigen Kuren, d. h. zu einer Gruppe
von drei bis höchstens vier Tagen zu¬
sammen. Jede solche Periode ward von
Schontagen erster Ordnung, d. h. von
Gemüsetagen, häufiger von verschärften
Gemüsetagen^ umrahmt. An Stelle eines
der Gemüsetage trat später meist ein
Hungertag. Die Gesamtdauer der so ge¬
stalteten Kur erstreckt sich im Durch¬
schnitt auf sieben Tage. Wenn die Sach¬
lage es fordert, folgen sich zwei bis drei,
selten noch mehr solcher Perioden. Der
Wiederaufbau anderer Kost vollzieht sich
stets langsam und vorsichtig über Ge-
müsetage. Wie lange es dauert, bis man
der Gemüsekost wieder Fleisch oder
Kohlenhydrat oder beides zulegen darf,
richtet sich ganz nach Lage des Einzel¬
falles. Dies alles ist auf andere Formen
der Kohlenhydratkuren übernommen wor¬
den und beherrscht auch die Kostordnung
Faltas.
Kohlenhydratkuren, in der beschrie¬
benen Weise verabfolgt, sind Scho¬
nungskuren. Das schonende Prinzip ist
hier die außerordentliche Eiweißarmut
der Kost, während bei der gewöhnlichen
strengen Diät es die Kohlenhydratarmut
ist. Als zweifellos erwiesen gilt der Satz:
die Kost einer Kohlenhydratkur muß
proteinarm sein, wenn man auf gute Be¬
kömmlichkeit rechnen will. Der Gehalt
an Nährstoffen, welche eine Kohlenhydrat¬
kur bietet, hängt natürlich von Wahl und
Menge des Materials ab und auch davon,
ob man einen der Geniüsetage durch
einen Fasttag ersetzt. Für eine sieben¬
Oegenwart 192,1 ’ ^ Juna
tägige Haferkur (drei Gemüsetage, drei
Hafertage, ein Fasttag) ergab sich mir
selbst als täglicher-Durchschnitt: 35—40 g:
Protein, 50—55 g Kohlenhydrat und in
Anbet^-acht des beigefügten Fettes 1500>
Kalorien. Den Kalorienwert könnten
größere Fettgaben an den Amylaceen-
und Gemüsetagen beliebig steigern.
Obwohl niedriger Proteingehalt der
Kost Voraussetzung für günstige Wirkung
der Haferkur auf Glykosurie und Aceton-
urie ist, harren noch manche Fragen der
Lösung. Bei gleicher Kohlenhydratzufuhr
besteht keineswegs ein konstantes, um¬
gekehrt proportionales Verhältnis zwischen
Proteingehalt und Wirkungsgrad. Nicht
nur die Menge von Protein und von
Kohlenhydrat beherrscht den Erfolg, son¬
dern auch die Art des Kohlenhydrat¬
trägers und die Art etwaiger-begleitender
Eiweißträger sind von Einfluß. Zum Bei-'
spiel stören 400 g Fleisch (Rohgewicht)
die Wirkung einer Haferkur viel mehr als
100 g Glidine (Weizenkleber), trotz glei¬
chen Proteingehaltes. Ich nehme an, daß
sowohl in den Kohlenhydratträgern wie
in etwa begleitenden Eiweißträgern noch
Nebenstoffe vorhanden sind, die als po¬
sitiv bzw. negativ wirkende Reizkörper
die Zuckerproduktion beeinflussen, und
zwar unter Umständen im entgegenge¬
setzten Sinne wie die Proteinkörper. Die
Erkundung über die wechselseitige Be¬
einflussung der verschiedenen Eiweiß- und
Kohlenhydratträger ist eine der wichtig¬
sten Aufgaben für die Weiterentwicklung
der Diabetikerkost. Denn allem Anscheine
nach spielen diese wechselseitigen Be¬
ziehungen nicht nur bei den Kohlen¬
hydratkuren, sondern auch bei gewöhn¬
licher gemischter Diabeteskost eine große
Rolle.
Die Kohlenhydratkuren wurden an¬
fangs stark angegriffen, erfreuen sich aber
seit längerer Zeit zunehmender Wert¬
schätzung. Was ich schon bei ihrer Ein¬
führung voraussagte, hat sich bestätigt.
Sie wurden zu einem unentbehrlichen
Hilfsmittel für die Bekämpfung der Aci-
dosis. Man hat hier nur die Wahl zwischen
dem Heranziehen von Kohlenhydratkuren
und strengsten Hungerkuren. Wo Gefahr
im Verzüge, habe ich selbst empfohlen,,
sich der Hungertage zu bedienen. Dies
geschah im Jahre 1912 (New Aspects on
Diabetes, New York, J. B. Treat and Co.,
1912); die Allenkur datiert erst aus
späterer Zeit. Man soll in acidotischen
Fällen auch immer wieder auf einzelne
Hungertage zurückgreifen; aber immer
Juni . ^ , Die Therapie der Gegenwart 1921 207
aufs neue zu den scharfen Hungerkuren
Aliens zurückzukehren, geht nicht an.
Da treten die Kohlenhydratkuren in ihr
Recht. Ich möchte sagen, daß es heute
keine rationelle Behandlung schwerer
Diabetesfälle gibt, die auf Kohlenhydrat-
kuren verzichten könnte.
Der schwache Punkt der Kohlen¬
hydratkuren.ist ihre große Eiweißarmut.
Wir können dies nicht umgehen; denn
auß Verbindung von viel Eiweiß mit viel
Kohlenhydrat entsteht unter allen Um¬
ständen eine schädliche Reizkost. Jene
Eigenschaft der Kohlenhydratkuren be¬
dingt, daß wir sie in der Dauerkost des
Diabetikers nur als Einschiebsel ver¬
wenden dürfen. Mosse dehnte die Kar¬
toffelkuren über lange Zeiten aus und
scheiterte damit. Neuerdings kommt W.
Falta in seinem Buche über. ,,'Mehl¬
früchtekuren“ wieder auf langgedehnte
Perioden höchst 'eiweißarmer, kohlen¬
hydratreicher Kost zurück (wochen- und
monatelang!). Obwohl die Vorschriften
Faltas eigentlich eine Verherrlichung der
von mir eingeführten Haferkuren dar¬
stellen — freilich mit einigen unwesent¬
lichen technischen Modifikationen —, muß
ich seinen Kostplan doch bekämpfen, weil
die Kost viel zu eiweißarm ist. Ich hatte
auf dem Wiesbadener Kongreß.die Genug¬
tuung, daß sich alle Redner dem an¬
schlossen.
III. Die Ordnung der Dauerkost.
, Auch die Dauerkost muß eine Scho¬
nungskost sein. Wir stellen sie aus den
verschiedenen Formen der Schonungskost
zusammen. Wie wir diese Formen grup¬
pieren, hängt von der Lage des Einzel¬
falles ab. Ich gebe im. folgenden einige
Beispiele für leichte, mittlere und schwere
Fälle. Es sind aber eben nur Beispiele,
die für einzelne Fälle passen, für die Mehr¬
zahl gründlicher Umformung bedürfen.
Wir müssen die Gesamtkost so gestalten,
daß der Ernährungs- und Kräftezustand
befriedigend bleibt. Der durchschnitt¬
liche Eiweißverzehr sollte beim Er¬
wachsenen mittleren Körpergewichtes
nicht wesentlich unter 0,9—0,1 g pro kg
sinken, vorausgesetzt, daß ein großer Teil
des Proteins in animalischer Form ge¬
reicht wird. Wenn ausschließlich Vege-
tabilien die Eiweißträger sind, muß die
Kost etwas reicher mit Protein ausge¬
stattet werden. Wenn wir sehr große
Proteinmengen geben, müssen wir Kohlen¬
hydrate weglassen und umgekehrt. Lang¬
gestreckte eiweißarme Perioden vermeiden
wir, machen dagegen von eingeschalteten
eiweißarmen Tagen (Gemüsetagen mit
und ohne'^ Beigabe von Kohlenhydraten),
von Hungertagen, von Kohlenhydrat¬
tagen und von ganzen Kohlenhydratkuren
planmäßigen Gebrauch. Wir ziehen aber
auch kohlenhydratfreie. Kost (sogenannte
,,strenge Diät“) heran und statten die¬
selbe mit reichlichen Mengen Eiweiß'aus.
Wenn die Stoffwechsellage, insbesondere
das Verhalten der Acetonkörper, es irgend¬
wie erlaubt, sollte man dies nicht nuran^
vereinzelten Tagen, sondern periodisch
eine oder mehrere Wochen lang tun. Bei
hinreichender Vorsicht ist strenge, eiwei߬
reiche Kost auch in schweren acidotischen
Fällen anwendbar. Nur schalte man stets
nach je vier bis sieben Tagen strenger Diät
einen Kohlenhydrattag mit nachfolgen¬
dem Hungertage oder verschärftem Ge-
i^setage ein.
1. Beispiel für leichte Fälle:
Vier bis sieben Tag^e kohlenhydratfreie Diät
und je nach Sachlage werden täglich oder jeden
zweiten Tag Kohlenhydratträger hinzugefügt. Wie
viel, ergibt sich aus den vorausgegangenen Tole-
ränzbestimmungen. An den Kohlenhydraftagen
soll die Proteinmenge 100 Gramm nicht wesent-
l ich ü berschreiten. Dann;
Ein Tag: strenge Diät ohne Zulage von Koh¬
lenhydrat.
Ein Tag: Kohlenhydrattag (vorzugsweise^
Obsttag oder Obst-Reistag).
Ein Tag: Gemüsetag (einfach oder verschärft.
Mehrfache Wiederholung dieser Reihe.
Aller sechs bis zehn Wochen eine Kohlenhydrat¬
kur (Hafer oder andere Amylaceen).
2, Beispiel für Fälle mittelschwerer
Glykosurie.
Fünf Tage: Strenge Diät mit 90 bis maximo
100 Gramm Eiweiß, größtenteils animalischerArt.
" Ein TagKohlenhydrattag (meist Obsttag;
vergleiche darüber E. Lampe, Therap. Mo¬
natshefte 1918, Septemberheft).
'ETn Tag: Fasttag (oder verschärfter Gemüse¬
tag).
Die Reihe beginnt von neuem.
Aller vier bis acht Wochen eine Kohlenhydrat¬
kur.
Der Schwerpunkt dieser Kostordnung
liegt darin, daß man unter dem Schutze
der wöchentlich wiederkehrenden Kohlen¬
hydrat-und Hungertage die wirkungsvolle
strenge Diät viele Monate, sogar Jahre
hindurch, ohne Gefahr der Acidosis, fort¬
führen kann. Die eingeschobenen Kohlen- .
hydratkuren sichern dies. Die beschrie¬
bene Kostordnung nebst ihren durch Lage
des Einzelfalles bedingten Abarten be¬
zweckt, mittelschwere Formen, die infolge
nachlässiger Behandlung aus leichten For-
^08
. Juni
Die Therapie der Gegenwart 1921
men sich entwickelten, wieder auf gün¬
stigere Stoffwechsellage zurückzuschrau¬
ben. Dies gelingt oft; aber es gelingt
niemals, wenn man auf strenge Diät ganz
verzichtet. Fälle mittelschwerer Glyko-
surie, die an sich gutartig waren und nur.
wegen schlechter Vorbehandlung aus¬
arteten,, sind sehr häufig. Bei keiner
anderen Form ist die Verantwortung
des Arztes größer. Ändere Fälle mittel¬
schwerer Glykosurie sind unaufhaltsam
auf dem Wege zur schweren Form. Sie*
sind nach den für schwere Formen gül¬
tigen Grundsätzen zu behandeln.
3. Beispiel für schwere Fälle.
/ Erster Tag: Strenge Diät (Eiweiß in der Regel
zwischen 100 und 120 Gramm. Gegen gelegent¬
liche Überschreitungen ist nichts einzu wenden) .
Zweiter Tag: Eiweißarme Kost mit Ausschluß
von Fleisch und Käse. Der Proteingehalt der
Kost soll 50 bis 60 Gramm nicht übersteigen. Diese
Kost erhält eine Zulage von Kohlenhydratträgern
im Gesamtwert von etw'a 100 Gramm Brot. Wir
macheniiierbei von der Erfahrung Gebrauch, daß
eiweißarme und besonders fleischfreie Kost eine
größere Gabe von Kohlenhydraten gestattet.
Dritter Tag: wie erster Tag.
Vierter Tag: wie zweiter Tag.
Fünfter Tag: wie erster Tag.
Sechster Tag:' Kohlenhydrattag (Auswahl der
Kohlenhydratträger nach erprobter Bekömmlich-
ke'it und nach Übereinkunft mit dem Patienten).
Siebenter Tag: verschärfter Gemüsetag oder
Hungertag).
Achter Tag: wie zweiter Tag.
Neunter Tag: wie erster Tag.
Zehnter Tag: wie zweiter Tag.
Elfter Tag: wie erster Tag.
Zwölfter Tag: wie zweiter Tag.
DreizehnterjjTag: Kohlenhydrättag (vergleiche
sechster Tag).
Vierzehnter Tag: Hungertag (oder verschärfter
Gemüsetag).
Die Reihe beginnt von neuem. —
Hieran schließen sich als weitere Ma߬
nahmen :
a) Mit Rücksicht auf bestellende oder
drohende Acidosis aller ein bis zwei
Monate, selten nach längeren Pausen,
ein bis zwei typische Kohlenhydrat¬
kuren, nach Art der Haferkuren oder
ihrer Abarten geordnet.
b) Wenn es die Lage des Falles, ins¬
besondere das Verhalten der Acidosis,
irgendwie erlaubt, sei dringend empfohlen,
von Zeit zu Zeit ein- bis zweiwöchige
Perioden eiweißreicher, strenger
Diät einzuschalten, in jeder Woche von
einem Kohlenhydrattag und einem folgen¬
den Hunger- oder verschärftem Gemüse¬
tag unterbrochen. Es ist oftmals erstaun¬
lich, wie sehr sich dabei der allgemeine
Kräftezustand hebt.
c) Jährlich ein- bis zweimal müssen
die Patienten schärfere Schonkureh
sich unterziehen; dies am besten unter
klinischer Aufsicht.
Trotz der Einzeltage mit hoher Pro¬
teinzufuhr ist die Kost im ganzen eiwei߬
arm. Der Eiweißumsatz, gemessen am
Harnstickstoff, beläuft sich in der
14 tägigen Wechselperiode erfahrungsge¬
mäß auf durchschnittlich 60—65 g. Die
Häufung der Proteine auf . bestimmte
Tage, die Häufung der Kohlenhydrate auf
andere Tage befriedigt einerseits das Ver¬
langen der Patienten nach Eiweiß- bzw.
Kohlenhydratträgern besser und hat an¬
dererseits ausgesprochenere Schonwir¬
kung, als wenn beide Gruppen von Nähr¬
stoffen stets gleichmäßig verteilt wären.
An dieser Stelle muß ich mit beson¬
derer Schärfe hervorheben, daß die auf¬
gestellte Kostordnung nur ein Beispiel
und kein allgemein gültiges Programm
sein soll. Wer bei schweren Fällen
schematische Vorschriften gibt, wird nichts
Gutes erreichen und sogar häufig schaden.
Sobald man sieht, daß die Kranken
fortschreitender Acidosis verfallen und
unrettbar dem Ende entgegengehen, soll
man sehr liberal sein. Jede Kost ist dann
die richtige, welche dem Kranken ge¬
schmacklich liegt und dabei doch grobe
Überlastungen mit Kohlenhydraten und
. Proteinen verhütet. Wöchentlich einge¬
schaltete Bett- und Fasttage pflegen auch
diesen, in dauernder Gefahr schwebenden
Kranken gut zu bekommen. Manchmal
halten sich bei solchen liberalen Vor¬
schriften die Kranken überraschend lange
in leidlichem Zustande. Patienten dieser
Art, welchen die an Proteinträgern höchst
arme, an Mehlspeisen und grünen Ge¬
müsen reiche Kostordnung Faltas be-
hagt, können natürlich auch davon Ge¬
brauch machen. Für die meisten ist es
aber eine entbehrungsreiche Zwangskost.
Eine genauere Begründung der in
diesem Aufsatze erteilten Ratschläge
findet sich in den Verhandlungen des
33. Kongresses für innere Medizin.
Juni' j . Die Therapie der Gegenwart 1921 ' 209‘
Alis der Chirurgisdieii Klinik der Universität Frankfurt a. M.
" Zur Frage
der Dosierung und des Intervalls bei der Proteinkörpertherapie.
Von Dr. med. F. Kleeblatt, Bad Homburg, früher Assistent der Klinik.
Bei der ausgebreiteten Anwendung der
Proteinkörpertherapie in den letzten Jah-"
ren ergab sich volle Übereinstimmung"der
Autoren darin, daß in dieser Behandlungs¬
methode der, unspecifischen Leistungs¬
steigerung eine wertvolle Bereicherung
des allgemeinen Arzneischatzes gewonnen
ist, die sich sicher noch eine ganze Reihe
, Anwendungsgebiete erobern wird. Keine
einheitliche Anschauung besteht aber über
die Dosierung, man hat den Eindruck,
als hätten die Autoren auf den Erfahrun¬
gen bei der Diphtherieserumanwendung
fußend, durchschnittlich Dosen von fünf
bis. zehn Kubikzentimeter Milch, Aolan,
Kaseosan usw. angewandt. Es ist zu
verwundern, daß man, obwohl schon
R. Schmidt die Parallele mit der Tuber¬
kulinanwendung- zog, nur selten ver¬
suchte, ähnlich wie hier mit kleinen und
kleinsten Dosen zu arbeiten, obwohl man
doch bei der Tuberkuliribehandlung ge¬
lernt hatte, daß man nur hierbei die
Möglichkeit der feinen und individuellen
Abstufung hat. (Lindig weist allerdings-
eindringlich auf die, Wichtigkeit der indi¬
viduellen Dosierung hin und beginnt
häufig mit kleinen Dosen von Kaseosan.)
Besonders Sahli zeigte aber, daß schon
mit minimalen Injektionsmengen von
Tuberkulin genügende, wenn auch nicht
klinisch ohne Blutuntersuchung erkenn¬
bare Reaktionen erzielbar sind. Und wenn
auch, abgesehen von der Tuberkulose,
das Erzeugen einer manifesten Herd¬
reaktion, ja das Manifestmachen eines
latenten Entzündungszustandes, beson¬
ders bei Neuralgien unbekannter Ätiologie
häufig ein durch die Proteinkörperbehand¬
lung zu wünschendes Resultat ist, so ist
dieser Reiz auch bei kleinen Dosen oft
schon intensiv genug, um im Sinne
Schmidts eine Herdreaktion zu erzeu¬
gen. Dazu kommt noch das konstitu¬
tionell durchaus verschiedene Verhalten
der einzelnen Organismen, die sich nach
Schmidt besonders im pyrogenetischen
Reaktionsvermögen ausspricht, um eine
individuelle Dosierung zu verlangen. Den
Anstoß zur starken Verminderung aer
üblichen Injektionsmengen erhielt ich
durch Beobachtung zweier nebeneinander
behandelter Fälle von cnirurgischer Tuber¬
kulose, die ich nocn als Assistent der
Frankfurter chirurgischen Universitäts¬
klinik unter Herrn Prof. Schmieden
behandelte^). Es handelte sich um einen
Fall von Rippencaries mit großem Absceß
und um einen Fungus des rechten Hand¬
gelenkes. In beiden Fällen spritzte ich
je einen Kubikzentimeter steriler Milch
intramuskulär ein. Im ersten Falle er¬
folgte nach sechs Stunden Schüttelfrost,
hohes Fieber, starke allgemeine und
Lokalreaktion. Am nächsten Tage waren
alle Erscheinungen abgeklungen, der Pa¬
tient befand sich wohl. Im Verlauf von
sechs Wochen kam bei wöchentlichen
Injektionen von je einem Kubikzentimeter
Milch der Rippenabsceß zur Resorption.
Im zweiten Falle aber, der dieselbe Dosis
zur gleichen Zeit erhielt, trat danach drei
Wochen anhaltendes hohes, remittieren¬
des Fieber auf, wobei der Patient sich
sichtlich verschlechterte. (Also eine bei
unrichtiger Tuberkulindosierung oft ge¬
sehene Folge, die aber unbedingt ver¬
mieden werden mußte.) Nach mehreren
Wochen begann icf bei dem Patienten
die Kur nochmals, diesmal aber mit dem
zehnten Teil der Dosis, also mit 0,1 Kubik¬
zentimeter Milch, jetzt mit gutem Erfolg.
Es trat kein Fieber mehr auf,, das All¬
gemeinbefinden hob sich, der Appetit
wurde ausgezeichnet, das Gewicht nahm
zu, und der lokale Befund ging sichtlich
langsam zurück. Ich habe seitdem in
allen folgenden Fällen die Behandlung
mit 0,1 bis 0,2 Kubikzentimeter Milch
intramuskulär begonnen und hatte zur
Erzielung einer ausgesprochenen Herd¬
reaktion nie nötig, auf über einen Kubik¬
zentimeter zu steigen. Wo ich mit kleinen
Dos,en keinen Lokalerfolg erzielte, hatte
ich ihn auch mit großen nicht. (Die all¬
gemeine funktionssteigernde Wirkung war
jedoch in allen Fällen bis auf einen, den
wir noch näher besprechen, auffällig.)
Blutuntersuchungen, die ich im Verlaufe
der Kuren anstellte, brachten mich der
^Frage des Behandlungsintervalles
näher. Die allgemeinen Blutveränderun¬
gen nach Milchinjektionen sind schon von
Schmidt und Kaznelson in ihren
ersten Arbeiten beschrieben, ich gehe
hierauf nicht näher ein, weil Literatur¬
studium und eigene Untersuchungen mir
1) Ich danke Herrn Prof. Schmieden auch
an dieser Stelle bestens für die freundliche Über¬
lassung der Krankengeschichten.
27 ]
210
Die Therapie; der
ergaben, daß es nur auf die individuelle
Reaktion ankommt. Besonders Ar¬
no Idi wies auf die individuelle leukocy-
totische Reaktion im Anschluß an Arthi-
gonovaccinierung hin. Diese individuelle
Blutverschiebung erkennt man am besten
im gefärbten Blutäusstrich; die Leuko-
cytenzählung als solche sagt nichts Speci-
fisches über die jeweilige individuelle
Reaktion aus, dagegen ließ sich aus der
Beobachtung der Verschiebung des weißen
Blutbildes im Prozentverhältnis die Dauer
der Reaktion und deren Abklingen er¬
kennen und damit der Zeitpunkt, wann
wieder gespritzt werden konnte. Also
ganz analog dem Sahlischen Behand¬
lungsschema bei Tuberkulinkuren, wo die
nächstfolgende Injektion erst nach Ab¬
klingen aller Erscheinungen erfolgen darf.
Die Blutveränderung ist schon nach Stun¬
den erkennbar und hält durchschnittlich
bis zu fünf Tagen an. Die Hauptver¬
schiebungen betrafen die Lymphocyten,
meist war eine vorübergehende Verminde¬
rung zu beobachten, aber auch Vernieh-
,rungen kamen vor. Auf eine Verall¬
gemeinerung der Befunde kommt es hier
aber nicht an, jeder Fall muß für sich
betrachtet werden und erfordert indivi¬
duelle Behandlung.
Mein Schema ist also: Vor der Be¬
handlung Blutausstrich. Wenn möglich
nach sechs Stunden erneuter Ausstrich und
dann nach zwei und vier Tagen. Ist die
Blutzusammensetzung wieder dem Aus¬
gangspunkte angenähert, kann erneut ein¬
gespritzt werden. Durchschnittlich ist
dies nach fünf Tagen der Fall. Nachdem
die individuelle Reaktion feststeht,
braucht man bei dermächsten Injektion
das Blut nicht zu untersuchen. Ändern
sich die manifesten lokalen und All¬
gemeinerscheinungen, werden sie zum
Beispiel schwächer, erfolgt erneuter Blut¬
status und Erhöhung der Dosis. Das
weitere Fortschreiten ergibt sich von
selbst aus dem Vorhergesagten. Bei
diesem vorsichtigen Vorgehen, daß auch
an die Arbeitskraft des Arztes keine
allzu hohen Anforderungen stellt (die
serologische Methode Salomo ns dagegen
erscheint mir für die Praxis durchaus
illusorisch), können auch geeignete Tuber¬
kulöse behandelt werden und dann auch
mit Erfolg. Es gelten hierfür geradeso
die Worte Sahlis, die er in seinem Buche
über die Tuberkulinbehandlung schreibt:
,,Es handelt sich keineswegs darum, hoch
zu steigen, sondern vielmehr für jeden
Fall das therapeutisc^'>e Optimum der
r Gegenwart 1921 \ . Juni
Dosierung zu finden“ und ebenso können
analog seine weiteren Worte für unser
Kapitel übertragen werden: „Eine kor¬
rekte Tuberkulintherapie erfordert eine
sehr genaue Beobachtung des Kranken,
geradesb gut wie eine Digitalisbehand¬
lung.“ Mit der Anwendung der kleinsten
uncf kleinen Dose bleiben wir auch im
Einklang mit dem Arndt-Schulzschen
Gesetz, auf das Bier neulich so eindring¬
lich wieder hinwies.
Welche ausgezeichneten. Wirkungen
mit den kleinen Dosen erzielt werden
können, sollen einige kurze Kranken¬
geschichten zeigen.
Fall 1. K. G., vor 15 Jahren Diphtherie,
seitdem Armneuralgien, die mit gelegentlichen
Intermissionen auftreten.. In letzter Zeitjieftige
nächtliche Exacerbationen der Schmerzen in
beiden Armen. Erste Injektion von' 0,2 Milch
am 2. August 1920. Nach sechs Stunden begin¬
nende Reaktion, Steifigkeit, kann die Arme kaum
heben. Nachts heftige Schmerzen in den Schultern
und im Rücken. Temperatur 37,8. Nach 24 Stun¬
den alles vorbei. Danach nur noch dumpfes Ge¬
fühl in den Armen. Kann wieder schlafen. Am
10. August zweite Injektion. 0,2 ccm Milch. Tem¬
peratur 37,1. Sehr heftige Lokalreaktion. Wieder
ganz steif und Anschwellung des rechten Hand¬
gelenkes, Schmerzen im linken Kniegelenk. Dauer
der Reaktion diesmal 48 Stunden. Danach keine
Schmerzen mehr. Nur noch etwas dumpfes Ge¬
fühl in den Schultern. 16. August dritte Injektion
0,2 ccm Milch. Reaktion geringer. Wieder große
Steifigkeit, nachts einige Stunden heftige Schmer¬
zen. Danach fast völlig beschwerdefrei. Pa¬
tientin machte eine Badekur, während der sie
sich sehr gut erholt. Da nach der Rückkehr ge¬
legentlich noch Schmerzen auftreten, am 29. Sep¬
tember vierte Injektion 0,2 ccm Milch. Nach¬
mittags Magen- und Kopfweh, Temperatur 37,2,
Schmerzen in den Armen, Steifigkeit und span¬
nendes Gefühl in beiden Handgelenken, Schmerzen
im rechten Schultergelenk. Nach dieser Injektion
dauernd schmerzfrei bis zum Februar 1921, wo
mit dem Rückfälligwerden einer Bleichsucht
auch wieder leichte Schmerzen in den Armen
auftraten. Zur Zeit deswegen abwechselnd Milch-
(0,2) und Elektroferroleinspritzungen (0,5 ccm).
Zurzeit im März sowohl die chlorotischen, wie
die neuralgischen Beschwerden fast ganz ver¬
schwunden.
Blut Untersuchungen: Vor der Behandlung
697o Neutro, 5% gr. Ly., 24% kl. Ly., 2% Übg.,
07o Eos.
Sechs Stunden nach der Einspritzung 57%
Neutro, 2% gr. Ly., 38% kl. Ly., 1% Eos,
2% Mono.
Zwei Tage danach 777o Neutro,
Ly., 15%% kl. Ly., 2% Mono und 0,57o Übg.
Nach sechs Tagen normal.
Fall 2. Frau S., Arthritis urica. Seit vielen
Jahren ziehende „lange“ Schmerzen, besonders
im rechten Arm, aber auch im linken und in den
Beinen. Häufig Kribbeln in den Fingern und in
den Zehen. Gelegentlich Anschwellungen der
Fingergelenke. Schmerzen besonders nachts
heftig. 27. Februar 1921: 0,2 ccm Milch. All¬
gemeinreaktion minimal, kein Fieber, schläft
nachts zum erstenmal. 31. Januar: 0,4 ccm Milch,
keine Allgemeinreaktion aber Blutreaktion. Vor-
Juni Die Therapie der Gegenwart 1921 211>
übergehend schwellen nach zwei Tagen das rechte
Sternoclaviculargelenk, das rechte Schultergelenk
und einige Fingergelenke rechts an und werden
schmerzhaft, dagegen sind die „langen“ Schmerzen
im Arm völlig verschwunden. 6J Februar: Ge¬
lenke abgeschwollen und schmerzfrei. Patientin
erhält im ganzen noch fünf Milchinjektionen zu
0,5 ccm in fünftägigen Abständen. Die Schmerzen
sind bis auf kleine Mahnungen vollkommen ver¬
schwunden. Blutunter'suchung vor der Ein¬
spritzung :
Neutro öS^/o, gr. Lv. 5%, kl. Ly. 25%, Eos
5%, Mono 12%.
Ein Tag danach
Neutro 67%, gr. Ly. 8% kl. Ly. 30%, Eos
1%, Mono 27 o.
Vier Tage danach
Neutro 647o, gr. Fy. 8%, kl. Ly. 15%, Eos
0%, Mono 67o, Mastellen 1%, also annähernd
normal.
Merkwürdig war hier das vorübergehende i
Zurüchtreten . der Eosinophilen, was auch in 1
einigen anderen Fällen beobachtet wurde, in
einem Versager (siehe Fall 7) stiegen sie dagegen
gerade excesslv an.
Fall 3. M. K., Chlorose, Muskelrheumatismus.
In letzter Zeit- viel Schwindel, Ohnmächten,
Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit. Knötchenförmige
•sehr schmerzhafte Infiltrate der Schultermuskeln
(Myogelose nach Schade). Behandlung: Hei߬
luft, Massage, Milchinjektionen.
10. Februar: 0,1 ccm Milch, sehr starke All-
gemeinreaktion, Müdigkeit, reißende Schmerzen
in den Gliedern. Nach 36 Stunden Wohlbefinden.
Noch zwei Spritzen von 0,1 und 0,2 ccm Milch
in wöchentlichen Abständen. Schon nach der
ersten Spritze guter Appetit, keine Ohnmächten
mehr. Nach vier Wochen gutes Allgemeinbtfin-
den, Muskelinfiltrate verschwunden, obwohl die
Massage nicht fortgesetzt wurde. Der Hämo-
globingehalt, der vor der Behandlung 60% be¬
trug, stieg jedoch nicht an. Dies stimmt mit
den Befunden von Schmidt und. Kaznelson
überein. Daher werden jetzt Blaudsche Pillen
gegeben.
Blutbefund vorher:
Neutro 507o, gi'- Fy. 3%,, kl. Fy.35%, Eos
77o, Mono 37o, Mast 2%,.
- Zwei Tage danach
Neutro 587o, gr. Ly 5%, kl. Ly. 27%, Eos
•6%, Mono 37o> Mast 1%. Nach'fünf Tagen
normal.
Fall 4. M. S., Thyreogene Asthenie. Leichte
Struma, leicht aufgeregt, anfallsweise arbeits¬
unfähig, mit Schmerzen im Epigastrium, in den
Oberschenkel ausstrahlende Schmerzen; röntgeno¬
logisch Magenatonie. Erregte Herzaktion, häufig
Lufthunger. Im ganzen fünf Milchinjektionen,
steigend von 0,1 auf 1 ccm. Allgemeinreaktion
gering. Lokal im rechten Bein Schmerzen, keine
Einwirkung auf den Krankheitszustand, dagegen
14 Pfund Gewichtzunahme. In diesem Falle
tritt also nur die allgemeine funktionsteigernde
Wirkung der Milch hervor. Auch die Blutreak-
tion war hier nicht ausgesprochen, keine ver¬
wertbare Verschiebung.
Fall 5. P. K., sekundäre Anämie bei Colitis
gravis ulcerosa und Polyneuritis. Zuerst 1 ccm
Elektroferrol intramuskulär, da dieses sehr starke
Schmerzen machte, wird jetzt in wöchentlichen
Pausen siebenmal je 0,25 Elektroferrol intra¬
venös verabreicht. ■ Nach drei Stunden trat
Jedesmal ziemlich starke Allgemeinreaktion auf,
ziehende Schmerzen in den Beinen, leichter Druck
üm Kopf, Temperatur bis 37,6. Also ähnliche 1
Wirkungen wie bei den Milchinjektionen. Heinz
machte ja schon darauf aufmerksam, daß mit
Elektroferrol ähnliche Wirkuiigen, wie mit Pro¬
teinkörpern zu erzielen sind. Der Hämoglobin¬
gehalt stieg von 48% auf annähernd 70% in
fünf Wochen. Die Blutreaktion war sehr aus¬
gesprochen.
Vorher
Neutro 49%, gr. Ly., 4,6V„, kl. Ly. Eo?
4,6%, Mono 3,37o, Ubg. 0,37„, Mast \
Anderthalb Stunden danach
Neutro 62%, gr. Ly. 6%, kl. Ly. 21%, Eos
2%, Mono 97o, Übg.0% Mast
Ein Tag danach
Neutro 657o; Ly. 87o. kl. Ly. 16%, Eos
.2%, Mono 87o, Übg.07o, Mast 17o.
Sechs Tage danach
Neutro 45,57o, gr. Ly. 57o, kl. Ly. 37,5, Eos
3,5%, Mono 5,57o, Übg. P/o, Mast 1%.
Auch das Allgemeinbefinden besserte sich in
diesem Falle. Auf den Lokalprozeß wurde je-
doch kein we s entlich er Einfluß ausgeübt.
Fall 6. H. D., 34 Jahre.. Atypische Lfnter-
lappentuberkulose, links zweiten Grades. An¬
fangs chronischer Verlauf, unter bronchopneui
monischen Erscheinungen ’ akutes Aufflammen
des Prozesses mit starker Ausbreitung. Tuber¬
kelbacillen + . Nach Abklingen der akuten Er¬
scheinungen Beginn mit Caseosaninjektionen.
15. Dezember: 0,2 Caseosan intramuskulär.
Temperatur 38,1 rectal, geringe-Allgemeinerschei-
nungen, keine vermehrten Lokalerscheinungen. -
20. Dezember: 0,2 Caseosan. Temperatur
38,1, etwas mehr Husten. Leichtes Beklemmungs¬
gefühl.
29. Dezember: 0,2 Caseosan. Abends 38,5
rektal. Starke Allgemeinreaktion, Müdigkeit,
Schwere der Glieder, etwas vermehrte lokale
Geräusche. ■
6. Januar: 0,2 Caseosan nachmittags, nachts
gut geschlafen, am^ nächsten Abend 38,1 rectal.
8. Januar: Reaktion abgeklungen.
Schon nach dem Abklingen der zweiten
Spritze wurden die sonst allgemein leicht erhöhten
Temperaturen normal. Die Nachtschweiße hörten
ganz auf. Das subjektive Wohlbefinden des
psychisch sehr labilen Patienten wurde wesent¬
lich besser. Die Kur wurde nicht fortgesetzt, da
der Patient sich nach einem Sanatorium im
Schwarzwald begab, wo die Besserung anhält,
B1 u t u n te r s u ch Li n g e n. Vorher:
71 % Neutro, 7 7o gr. Ly., 9 % kl. Ly., 10 %
Mono, 0 % Eos, 1 % Mast, 2 7o Übg.
Gesamtleukocytenzahl: 4000.
Sechs Stunden nach der Einspritzung:
63 7o Neutro 1 % gr. Ly., 30% kl. Ly., 1 %
Eos, 5 7o Mono.
Gesamtleukocytenzahl: 8000.
Drei Tage später:
73.5 Neutro, 4,5 7o §r. Ly., 16,5 kl. Ly., 0,5 7o
Eos, 7,5 % Mono, 1 7o Übg., 0,5 % Mast, 0,5 7o
Myelo.
Auszählung nach Arneth: Starke Linksver¬
schiebung.
Sechs Tage nach der zweiten Injektion:
72.5 Neutro 3% gr. Ly,,' 8,5% kl. Ly., 3 %
Eos, 11% Mono, 1,5% Übg., 0,5 7o Mast.
Also fast das Ausgangsblutbild, aber ver¬
mehrtes Auftreten von Eos;; was nach Brösam-
len und Zeeb prognostisch günstig ist.
Einen Tag nach der dritten Injektion keine
Blutreaktion mehr. Da auch die Allgemein¬
erscheinungen sehr gering waren, könnte' jetzt
mit der Dosis gestiegen werden.
27*
212 Pi€ Therapie der
Auf einen Versager der Behandlung möchte
ich aber wegen seiner paradoxen Reaktion be¬
sonders hinweisen.
Fall 7. H. S., 47 Jahre. Nervöse Dyspepsie,
Askariden, Neuritis des Plexus lumbalis.
; Vier Wochen’ nach Entstehung der Neuritis,
die mit heftigen Schmerzen und Atrophie einher¬
ging, Versuch einer Milchbehandlung: 0,25 Milch
irjtramuskulär. Blutausstrich vorher:
60% Neutro, 27% kl. Ly., 6% Eos., 6%
Mono, 2 % Ubg.
Zwei Tage danach .noch dauernde Schmerzen,
die eher heftiger wie vorher sind. Blutausstrich:
40 % Neutro, 1 % gr. Ly., 25,5 % kl. Ly.,
15,5% Eos, 10% Mono, 4,5% Übg., 3,5%
Mast.
Also eine exzessive Vermehrung der Eos.,
auch die Mono- und die Mastzellen waren stark
vermehrt.
Nach sechs Tagen:
41 7o-Neutro, 4% gr. Ly., 41 % kl. Ly., 9%
Eos, 4% Mono, 1 % Mast.
Also immer noch starke Vermehrung der Eos.
Die Schmerzen sind etwas geringer geworden, die
{<ur wird aber nicht fortgesetzt.
Wir sehen also in diesem Falle die gesteigerten
Erscheinungen nicht am zweiten oder dritten
Tage wieder verschwinden, sondern anhalten und
erst in etwa zehn Tagen wieder zurückgehen.
Außerdem ist die exzessive Ausschwemmung der
Eosinophilen auffällig. Vielleicht kommen wir
dem Verständnis dieser paradoxen Reaktion
näher, wenn wir bedenken, daß bei dem Patienten
Wurmeier nachgewiesen waren, und daß sich
schon vor der Behandlung 6% Eos. fanden. Der
Patient wat also schon mit einem Eiweißwurmgift
sensibilisiert, und die parenterale Zufuhr von
Milch verursachteeine anaphylaktische Reak¬
tion, die^sich in den vermehrten Schmerzen und
der Eosinophilie äußerte. Hierbei ist an das Aus¬
lösen von Erscheinungen der ex'sudativen Diathese
bei Kindern mit latenter Veranlagung zu erinnern,
die durch Vaccination und Tiiberkulinisierung
erfolgen kann (Pfaundler). Auch hierbei tritt
ja Eosinophilie auf. Vermutlich sind auch er¬
wachsene Diathetiker hierher zu rechnen. Auch
an diesem Falle ergibt sich die Wichtigkeit der
Blutuntersuchung. Patienten mit Eosinophilie
wären also nur mit Vorsicht zu behandeln, zum
mindesten vorher nach den Ursachen derselben
zu forschen, eventuell eine Wurmkur durchzu¬
führen. (ln Fall 2 und 3 war trotz der Eosino¬
philie der Erfolg gut.) Es bleibt weiterer Er¬
fahrung überlassen, herauszufinden, welche Orga¬
nismen primär von einer Proteinkörperbehandlung
auszuschließen sind.
Aus unseren Fällen ist also zu ent-
, nehmen, daß es nicht auf stürmische Reak¬
tionen zum Erfolg ankommt: ,,Mit jeder
Injektionsbehandlung sind plötzliche re¬
aktive Wirkungen notwendigerweise ver¬
bunden, auch wenn sie grob-klinisch
nicht zu erkennen sind. Nur der Häma¬
tologe erkennt sie.“ (Sahli.)
Es ist nicht im Rahmen dieser kurzen
Mitteilung gelegen, hier auch noch auf
die Indikationen der Proteinkörperbehand¬
Gegenwärt 1921 . . \ ' ' Juni
lung einzugehen, zumal diese Fragen
noch im Fluß sind. Aber es ist ganz klar,
daß diese Therapie nicht das Allheilmittel
sein kann, daß kritik- und bedenkenlos
angewandt werden kann. Ha Hauer hat
in der Diskussion zu Biers Berliner Vor¬
trag eindringlich auf die Gefahren der
Proteinkörpefanwendung hingewiesen, be-^
sonders auch auf das hochdosierte Spritzen.
Ich habe den Eindruck, daß die Behand¬
lung besonders geeignet ist für Fälle von
,,Entzündungstorpor“, wo. dieses ,,große
Heilmittel der Natur“ (Bier) nicht in¬
tensiv genug wirkt, um mit der Schäd¬
lichkeit fertig zu werden. Bei diesen
Fällen, scheint mir die Proteinkörper¬
therapie vorzüglich zu wirken, besonders
da sie auch latente Herde des öfteren
ans Licht bringt und damit weitere Fin¬
gerzeige zur Behandlung gibt. Nicht zu
unterschätzen ist die allgemein roborie-
rende Wirkung, die besonders bei der
Chlorose auffällig ist.
Zusammenfassend wäre also zu
sagen:
1. Die Proteinkörperbehandlung hat
individuell wie bei der Tuberkulinkur zu
erfolgen.
2. Zum Auslösen von heilenden Reak¬
tionen genügen sehr häufig schon Dosen
von 0,1 bis 0,3 ccm Milch. Die Steige¬
rung der Dosis muß den klinischen Er¬
scheinungen angepaßt werden. Auch
Caseosan und Elektroferrol wirken in
kleinen Dosen.
3. Das Behandlungsintervall ergibt
sich aus der Beobachtung der Verschie¬
bung im weißen Blutbild. Erst nach Ab¬
klingen der reaktiven Bluterscheinungen
wird weiter gespritzt. Die Blutreaktion
ist durchaus individuell, es läßt sich nur
für den betreffenden Fall ein Schema
aufstellen.
4. Bei Eosinophilie im Blute ist Vor¬
sicht am Platze. Exsudative Diathese
und Wurmkrankheit,können eine GegeiiT
anzeige abgeben.
Literatur: Arnoldi, Zschr.f.klin.Med. 1918,.
Bd.86. Bier, M.m.W. 1921, Nr. 6. Brösamlen
und Zeeb, D. Arch. f. klin. Med. 1916, Bd. 118.
Hallauer, M. m. W. 1921, Nr. 10. Kaznelson,
Zschr. f. klin. Med. 1916, Bd. 83. Derselbe,
Tlier. Mh. 1917. Lindig, M. m. W. 1920, Nr. 34.
Pfaundler, Lehrb. d. Kinderheilk. v. Feer,.
6. Aufl., Jena 1920. Salomon, M. m. W. 1920,
Nr. 52. Sahli, Tuberkulinbehandlung, 4. Aufl.,
Basel 1913. R. Schmidt u. Kaznelson, Zschr.
f. klin. M. 1916, Bd. 83. R. Schmidt, D. Arch.,
f. klin. M. Bd. 131.
jjuni :Die Tfa«rapie der Gegenwart 1921 213
Aus der Medizinischea Kliaik der TJaiversität Gießea (Direktor: Prof. Dr. Voit).
Über den Wert der Behandlung der Psyche bei inneren
Erkrankungen, ihre Methoden und Erfolge^).
Von Dr. Erwin Moos, Assistent der Klinik.
Es ist begreiflich, wenn es zunächst
merkwürdig anmutet, wenn von der
inneren Klinik eingehend über die Be-
■liandlung der Psyche* .gesprochen wird.
.So selbstverständlich es erscheint, daß
■jeder gute Arzt bei der Behandlung eines
-organischen Leidens gleichzeitig die
Psyche seines Patienten in Beobachtung
hält, so wenig wird es uns in manchen
Fällen klar, wie weitgehend die mensch-
fSiche Psyche auf körperliche Erkrankungen
einwirken kann. Die nicht genügende
■diagnostische Bewertung des Psychischen
^hat oft Konsequenzen in der Therapie,
■die nicht wünschenswert erscheinen. Wir
-sehen es immer wieder, daß die Kranken,
'deren organische Krankheitssymptome
'psychogenen Ursprungs sind oder solche,
die psychische Heilhemmungen organi-
.scher Leiden haben, aller medikamen¬
tösen Therapie trotzen. Es ist deshalb
begreiflich, daß man für diese oft ver¬
zweifelten Fälle nach anderen therapeu¬
tischen Wegen sucht.
Von einer ganzen Reihe interner
.Autoren, wie Kraus, Goldscheider,
Krehl, Strümpell, Matthes,Fleiner,
Rosenbach und Curschmann dem
Jüngeren, ist auf die Wichtigkeit des
Psychischen in der inneren Medizin hin-
^ewiesen worden und auf die Zusammen¬
hänge organischer Leiden mit psychischen
Insulten. Auf den Wert des Psychischen
' wurde aufmerksam gemacht, aber es
blieb mehr bei diagnostischen Hinweisen.
■‘Nonne, Schultz (Jena), Ernst Weber
{Berlin) ebneten die Wege zu systema¬
tischer Psychotherapie auch in den nicht
psychiatrischen Disziplinen.
F. Mohr (Coblenz) hat die theore¬
tisch erwogenen Möglichkeiten in die in¬
terne Praxis übertragen und in mehreren.
Arbeiten auf die Verwertbarkeit beson¬
ders der neueren psychotherapeutischen
Methoden bei inneren Erkrankungen hin¬
gedeutet. Durch ihn wurde ich auf die
Therapie aufmerksam, die sich bei allen
meinen hierzu geeigneten Fällen be¬
währte. Ich selbst ging zunächst skep¬
tisch an die Nachprüfung seiner Aus¬
führungen. Bevor ich über behandelte
-Fälle berichte, möchte ich kurz erwähnen,
•^) Nach einem Vortrag, gehalten in der medi-
^^inischen Gesellschaft zu Gießen.
wie ich allmählich in die Behandlung der
Psyche hereingedrängt wurde. Zunächst
sah ich, daß ich bei einer schwer herz¬
kranken Patientin, mit Ödemen an allen
Extremitäten, mit Ascites, Pleuratrans-
südat, also einer Herzinsuffizienz mit
schwerster Dekompensation, durch
Hypnose für eine ganze Nacht tiefen
Schlaf erzielen konnte, wo große Dosen
Morphium wirkungslos geblieben waren.
Dieser Fall ermunterte zur Anwendung
der Hypnose bei anderen organischen
und gemischt psychisch-organischen Kran¬
ken. Nach zeitweisem Versagen der Hy¬
pnose suchte ich nach anderen psycho¬
therapeutischen Möglichkeiten, die ich
in der Persuasions- und Aufklärungs¬
methode von Dubois und Rosenbach
und vor allem in der von Breuer, Freud
und den Schülern Freuds angegebenen
Psychoanalyse auch bei meinen intern
Kranken als verwertbar schätzen lernte.
Ein Bericht über eine Anzahl behandelter
Fälle erscheint mir unerläßlich, er kann
allerdings nur einen bescheidenen Aus¬
blick auf die angewandte Psychotherapie
bringen, deren Methoden grundsätzlich
bekannt sein dürften.
Fall I. Frau M. W. aus B., 42 Jahre. Dia¬
gnose: Asthma bronchiale, Hysterie.
Die Patientin war im Jahre 1898 bereits in
unserer Klinik mit der Diagnose Chlorose, 1908
mit der Diagnose Hysterie, 1909 als Asthma bron¬
chiale. ln den alten Kranken blättern ist von
einer ganzen Reihe nervöser Beschwerden be¬
richtet, so von Schlaflosigkeit, dauernder Müdig¬
keit, Ekelempfindung vor dem Essen, von ner¬
vösen Kopfschmerzen, Globus hysterikus, Hitze-
und Frostempfindungen. Bei der Aufnahme am
23. März 1920 gibt Patientin an, daß sie sich nicht
erinnern kann, seit zwölf Jahren auch nur einen
Tag ohne Anfall gewesen zu sein. Schlimmer
noch als die ununterbrochenen Asthmaanfälle
seien die quälenden Angstzustände, unter denen
sie beständig zu leiden habe. Zu Hause habe sie
sich wochenlang schon nicht mehr gelegt, auch
über Nacht im Stuhl gesessen, weil schon, wenn
sie das Bett sah, Angstgefühl und mit diesem
Asthmaanfälle ausgelöst wurden. An irgend
welche Arbeit sei nicht mehr zu denken gewesen.
Befund bei der jetzigen Aufnahme: Voll¬
kommen heruntergekommener Ernährungszu-
S'tand, fast Kachexie. Auch in anfailsfreiem Zu¬
stand deutlicher Exophthalmus. Thorax: fa߬
förmig, ganz hochgezogen, starr. Epigastrischer
Winkel stumpf. Wirbelsäule stumpf, kyphotisch.
Hochgradiges Emphysen der Lunge mit ausge¬
dehnter diffuser Bronchitis, die jeweilig im Anfall
stärker wurde. Überlagerung des Herzens durch
Lungengewebe. An beiden Oberschenkeln zahl¬
reiche Narben und Schorfe von unsauberen In-
214
Die Therapie der
jektionen (Patientin hatte zu Hause von einem
zwölfjährigen Töchterchen nach eigner Angabe
täglich bis zu 10 Spritzen Morphium und Asth-
molisin bekommen). Eosinophilie im Blut 12^ %.
In den ersten vier Wochen unserer klinischen
Behandlung erschöpften wir unsere gewohnten
asthmatherapeutischen Maßnahmen. Jod, Kali,
Atropin, Asthmolisin, mehrere Spritzen am Tage,
Adrenalin, Morphium, Saengersche Heilmethode
erzielten keine oder ‘nur ganz vorübergehende
Besserung. Brom, Digitalis hatten den gleichen
negativen Erfolg. Die Patientin war nicht zu
bewegen, ins Bett zu gehen, sie saß nachts
nach heftigen Anfällen, bei denen sie schrie,
daß man es im ganzen Hause hören konnte,
im Stuhl; tagsüber konnte sie nur mit Mühe
von einem Zimmer ins andere gehen. Da es
uns immer schon aufgefallen war, daß die Ner¬
vosität und die Miterkrankung der Psyche das
Krankheitsbild beherrschten und wir uns mit
Medikamenten nicht mehr zu helfen wußten,
wollte ich wenigstens den Versuch machen,
durch Psycho-Therapie eine Besserung zu er¬
zielen. Bei dem erregten Zustand der Patientin
mißlang eine Hypnose zunächst vollständig. Ich
beschäftigte mich mit der Frau in den ersten
Wochen täglich oft einige Stunden. Schon in den
ersten Tagen beobachtete ich, daß ich einigen Ein¬
fluß bei der Patientin erzielte. Dadurch ermun¬
tert, ging ich an eine eingehende Analyse des
ganzen Seelenzustandes. Dabei gelang es, die
Angstzustände sehr bald zu beheben. Unter
langsamer, aber konsequenter Entwöhnung vom
Morphium und allen anderen Medikamenten
brachte ich sie soweit, daß sie tagsüber ganz von-
Anfällen frei wurde, in der Küche und iiti Saal
mitarbeitete. Der Schlaf wurde auf Hypnose
befriedigend, die nunmehr gut gelang. Auch die
schlimmen abendlichen Anfälle blieben fort, bis
ich den Fehler beging und die Frau über Pfing¬
sten zu ihrer Mutter beurlaubte, wo durch den
Anblick der gleichfalls abends auftretenden müt¬
terlichen Asthmaanfälle die alten Associationen
bei der Patientin wieder so angeregt wurden, daß
sie in wesentlich schlimmerem Zustande in die
Klinik zurückkam. In der Klinik gelang es, die
einzelnen Anfälle wieder zu koupieren. Mein Be¬
streben ging dahin, die krankhaften Gedanken¬
associationen der Frau so umzustellen, daß sie
selbst fähig wurde, die Angstzustände zu hem¬
men und eingetretene Anfälle zu koupieren. Das
gelang so weit, daß die Frau ihren großen Haus¬
halt zu Hause jetzt versorgen und stundenweit
gehen kann. Die abendlichen Anfälle konnte ich
hier verhindern, aber sie ist zu Hause über sie
nicht immer Herr geworden. Die Eosinophilie
ging im Verlaufender Behandlung von 1232 /o
5 % zurück. Die bronchitischen Geräusche über
die Lungen waren weniger geworden, das Em¬
physem gleich geblieben. Nach Beseitigung von
Diarrhöen, die beständig die Anfälle begleiteten,
5 Pfund Gewichtszunahme.
Es wird interessieren, was die Psycho-Ana-
lyse der Frau ergab.
Der erste Asthmaanfall trat während ihrer
sechsten Schwangerschaft auf. Schon eine ganze
Zeitlang vorher war die Patientin in einer nieder¬
geschlagenen Stimmung. Sie ärgerte sich darüber,
daß sie wieder in Hoffnung war und mußte immer
wieder denken, daß ihr schlechtes Ergehen eine
Strafe dafür sei, daß sie ihrer Mutter nicht ge¬
folgt war, die die Heirat absolut nicht hatte zu¬
geben wollen. Auf einem Ausflug mit ihrem
Manne kam sie in ein stark gefülltes Eisenbahn¬
Gegenwart 1921 Jun»
abteil, in dem schlechte Luft war. Sie fühlte sich^
besonders infolge ihrer vorgeschrittenen Gravi¬
dität sehr beengt und konnte nicht genügend^
Luft bekommen. Mit einem Male nun tauchte in«
ihr eine fürchterliche Angst auf, daß sie einem
solchen Anfall bekommen könnte, wie sie ihn
zu Hause abends oft bei ihrer Mutter gesehen^
hatte. Es entstand augenblicklich ein erstmaliger
schwerer Asthmaanfall, der sich nun immer abends^
sowie bei jedem Ärger zu Hause wiederholte. Merk¬
würdigerweise hatte, die Mutter auch wie sie
die Hitze- und Frostempfindungen und eine
Reihe anderer nervöser Symptome, über die die
Kranke klagte. Die Patientin gab mir eine mark¬
stückgroße schmerzhafte Stelle rechts unter dem-
Rippenbogen an, für deren Ursache ich organisch’»
keine Anhaltspunkte finden konnte. Infolge¬
ähnlich gerichteter zahlreicher Ideen Verbindun¬
gen, die ich kannte, fragte ich sie, wo denn ihre-
Mutter eine solche schmerzhafte Stelle habe. Sie-
antwortete mir prompt, an derselben Stelle und*
genau so groß. Aus allen Krankheitssymptomen^
ließ sich eine starke Bindung der Kranken an die-
Mutter erkennen. Es bestanden ausgesprochene-
Mutterkomplexe. Diese starke Bindung an die
Eltern fand ich auch bei meinen anderen Fällen-
oft als auslösende Ursache für psychogene Krank-
heitssymptome, die auftreten, sobald diese In¬
dividuen im Leben in schwierige Lagen kommen,,
in denen sie allein keinen Ausweg finden und in
denen dann die Sehnsucht nach dem Geborgen¬
sein in der früheren Umgebung mit geradezu
elementarer Gewalt auftaucht. Es scheint, daß^
die Krankheitssymptome geliebter Menschen des¬
halb übernommen werden, weil unbewußt an¬
genommen wird, daß diese für eigene überstandene
Krankheiten am meisten Verständnis, Mitleid
und infolgedessen Liebe und eventuell Hilfe auf-
bringen, die ersehnt wird. Bei der Analyse der
Appetitlosigkeit associerte die Patientin ein Er¬
lebnis, das einige zwanzig Jahre zurücklag, Sie
hatte gesehen, ’ wie der Hund ihrer damaligen
Herrin von ihrem Teller zu fressen bekam. Sie
war daraufhin tagelang appetitlos. Durch das^
Wiedererleben, Erkennen und Abreagieren des¬
damaligen Affektes wurde der Appetit der Pa¬
tientin bei uns wieder normal. Die Analyse der
Diarrhöen, die alle Asthmaanfälle der Patientin*
begleiteten, ergab folgendes: Die Patientin saß»
vor einigen Jahren bei einem längeren Kranken¬
lager auf ihrem Nachtstuhl zu Defäkation. Sie
sah, wie eine Frau aus dem Nachbarhaus auf ihr
Haus zulief, augenscheinlich um sie zu besuchen..
Sie wurde von einer plötzlichen Furcht ergriffen,,
daß diese Frau sie in dem ihr peinlichen Zustande¬
sehen würde; sie konnte nun erst recht nicht von*
ihrem Nachtstuhl herunter und hatte augenblick¬
lich Durchfall. Dieser Durchfall trat von da at>
bei jedem Anfall auf, so daß die Patientin in der
Klinik nie ohne Stechbecken sein konnte. Nach'
Wiedererleben des damaligen Affektes ver¬
schwanden die Durchfälle und die Kranke nahm<
nunmehr fünf Pfund zu.
Nach der Entlassung hat mir die Patientin
mitgeteilt, daß es ihr zu Hause noch besser er¬
gangen sei als hier. So blieb es vier Monate, bis-
vor vier Wochen heftige erneute psychische
Traumen (schwere Erkrankungen zweier Kinder-
und eine Phthise des Mannes) neue abend¬
liche Anfälle hervorriefen. Auf neue ambulante
Behandlung geht es der Kranken wieder besser*
im ganzen genommen wurde wesentliche Bes¬
serung, keine Dauerheilung erzielt.
Fall II. Frau M. K., 30 Jahre. Diagnose::
Asthma bronchiale.
Juni Die Therapie der
Patientin war zuerst in der Klinik im März
1920 wegen schwerer Grippe, Broncho-Pneu-
ihonie mit sekundärem Pleura-Exsudat. Vor
ihrer Entlassung aus der Klinik mußte wegen
eines leichten Lungenspitzenkatarrhs ein Heil¬
stättenantrag gemacht werden. Vor Genehmigung
desselben vier Monate nach ihrem Fortgang aus
der Klinik erfolgte abermalige Aufnahme der
Patientin bei uns wegen typischer Asthmaan¬
fälle, mit denen sie schon gut vierzehn Tage lang
zu Hause zu tun gehabt hatte. Sie waren auf¬
getreten bei Anstrengung, Ärger und Aufregung
und besonders bei trübem Wetter.
Aufnahmebefund: Typische Asthmalunge
mit tiefstehenden Lungenspitzen und diffuser
Bronchitis; Eosinophilie im Blut 16%. Alter
Spitzenkatarrh.
Die psycho-analytische Anamnese ergab: vier¬
zehn Tage vor der Aufnahme trat der erste Asth¬
maanfall auf unter folgenden Umständen: der
Ehemann, der beim Bau eines Brunnens be¬
schäftigt war, hatte versprochen, um acht Uhr
abends zurückzusein. Als er eine Stunde später
noch nicht gekommen war, überfiel sie plötzlich
der schreckhafte Gedanke, ihr Mann sei in den
bereits acht Meter tiefen Brunnen gefallen und
tot geblieben. Mit dem Angstgefühl, daß sie bei
diesem Gedanken empfand, trat, wie das wohl
schon jeder bei schreckhaften Erlebnissen em¬
pfunden hat, ein intensives Beklemmungsgefühl
auf der Brust ein. Vielleicht leise bewußt tauchte
die Erinnerung an ihre früher überstandene Lun¬
genentzündung, deren Schmerzen und Luftnot
auf. Sie mußte nach Luft ringen und so wurde
der erste richtige Asthmaanfall, der bis tief in die
Nacht hinein dauerte, bis der nunmehr eingetrof¬
fene Ehemann mit allen ihm bekannten Mitteln
endlich eine Besserung erzielte. Die nächsten An¬
fälle traten auf bei Wortwechsel mit ihrem Mann,
wenn sie die Kinder schlagen mußte oder sonst
bei irgendwelchen Aufregungen. Es kam auch
in diesem Falle gelegentlich zu der von Freud
so benannten Flucht in die Krankheit. Ich denke
mir den psychologischen Vorgang so: die Kranke
hatte beobachtet, wie sie beim ersten Anfälle in
hohem Maße Mitleid und Liebe des Mannes er¬
weckte. Die Anfälle treten nachher zum gleichen
Zwecke auf, um Ärger zu vermeiden und dann
automatisch bei Jeder intensiven Gemütserregung.
Anfänglich mag ein leises Bewußtsein des zu er¬
reichenden Zwecks bei den Kranken dabeisein.
Nachher tauchen die psychischen Vorgänge ganz
unter die Bewußtseinsschwelle, sie geschehen
zwangsrnäßig. Die Kranken sagen uns, ich kann
keinen Ärger mehr vertragen, dann wird es mir
immer so beklommen auf der Brust, ich muß
nach Luft ringen, ich kann nicht hinter den Atem
kommen tisw. Bei Erhebung der Anamnese kam
sicher durch Gedankenassociation ein Anfall,
so daß ich am Schreibtisch in vier bis fünf Meter
Entfernung die giemenden und brummenden
Geräusche auf der Brust der Patientin hören
konnte. Ich machte der Patientin klar, daß es
darauf ankäme, dep angstvollen Gemütsaffekt zu
hemmen und wie man das machen müsse. Der
Anfall war in wenigen Minuten koupiert. Nach
drei analytischen Sitzungen erreichte ich unter
gleichzeitiger Aufklärung der Patientin, daß jetzt
sechs Monate kein Anfall aufgetreten ist.
Die Eosinophilie ging von 16% auf 4% zu¬
rück. In mehreren Briefen teilt mir die Frau mit,
daß sie keine Anfälle mehr habe. Bei einem Dorf¬
brand im Odenwald sei sie sehr erschrocken, sie
habe Beklemmungsgefühl auf der Brust gehabt.
Gegenwart 1921 215
aber einen Anfall infolge meiner Aufklärung ver¬
mieden.
Dieser Fall war infolge der Jugend der Pa¬
tientin und der verhältnismäßig kurzen Krank¬
heitsdauer unvergleichlich günstiger als das zwölf
Jahre alte Asthma der vorhin erwähnten Patientin
von zweiundvierzig Jahren im Klimakterium.
Frau K. war irh übrigen frei von nervösen Symp¬
tomen, Frau W. hatte der hervösen Symptome
über fünfzehn, unter ihnen als das schlimmste das
Asthma. Wehn wir bedenken, daß alle diese
Symptome einmal die Asthmaanfälle beständig
begleiten, dann aber auch, wenn eines von ihnen
auf associativ psychogenem Wege ausgelöst wurde,
mit Sicherheit gleichzeitig alle anderen und be¬
sonders einen Asthmaanfall im Gefolge hatte, so
verstehen wir, wie bei dieser Frau, wie sie sich
selbst ausdrückte, ein Anfall den anderen jagen
mußte. Wir verstehen weiter, wie schwer es ist,
solche krankhaften Associationen umzuarbeiten ^
Klinisch besonders wichtig für uns ist das Ver¬
schwinden des sehr reichlichen Auswurfes bei der
ersten Frau und-der Rückgang der Eosinophilie
im Blut der beiden Patientinnen.
Eine weitere Asthmapatientin habe ich eben
noch in ambulanter Behandlung. Sie ist jetzt
drei Wochen anfallfrei.
Fall IV.- Frau A,, 38 Jahre alt. Diagnose:
spastische Obstipation. Beschwerden: Seit vier
Monaten beständige Müdigkeit, schlechter Schlaf,
Herzklopfen, Schmerzen in der Herzgegend.
Hartnäckige Stuhlverstopfung mit zeitweisen
Schleim- und Blutbeimengungen im Stuhl. Ap¬
petitlosigkeit, seelisch -depressive Verstimmungen.
Befund : Lunge, Herz o. B. Abdomen: Ent¬
lang des Colon transversum und descendens fühl¬
barer harter druckschmerzhafter Strang.
Im Stuhl zeitweise etwas frisches hellrotes
Blut und Schleim. Bei der Rektoskopie war, so¬
weit das Rektoskop reichte, eine intakte Schleim¬
haut zu sehen. Die Röntgenuntersuchung ergab
an Magen und Dünndarm nichts Besonderes, da¬
gegen starke spastische Contractlonen am Quer¬
dickdarm.
Vier Wochen lang versuchten wir vergeblich
mit Laxantien, Brom den Zustand der Patientin
zu bessern. Wir kamen zu keinem Erfolg. Die
Kranke wurde immer mehr verstimmmt, die Be¬
schwerden blieben.
Nach einer Hypnose wurde für eine Nacht
guter Schlaf und vorübergehende Besserung der
anderen Beschwerden erzielt. Dann kehrte der
alte Zustand wieder.
Nach dreitägiger psycho-analytischer Be¬
handlung hatte Patientin täglich ohne Laxantien
Stuhl. Auf weitere psychische Behandlung hin
verschwanden der Reihe nach die Schlaflosigkeit,
der Appetitmangel, die Herzbeschwerden.
Der Dickdarm war bei erneuter Durchleuch¬
tung auch im Querteil breit und nicht mehr
spastisch kontrahiert.
Die Frau kam einige Male ambulant wieder,
fühlt sich seit sechs Monaten vollkommen wohl.
Die Analyse ergab starke Bindung an ein Kind,
das sie ein Jahr wegen Hals- und Nasendiphtherie
mit ■ schwerer Herzerkrankung gepflegt hatte.
Sie war körperlich und seelisch ganz herunter¬
gekommen, hatte die immer geklagten Beschwer¬
den des Kindes so mitempfunden, daß sie selbst
nach Gesundung des Kindes mit diesem erkrankte:
Herzklopfen, Stechen in der Herzgegend, Mü¬
digkeit, Schlaflosigkeit, auf denen dann 1914 erst¬
malig gehabte Darmerscheinungen, Verstopfung,
Blutbeimengungen im Stuhl, Appetitlosigkeit
auf pfropften. (Schluß folgt im nächsten Heft.)
"21‘6
Die Therapie der Gegenwart 1921
Juni
Aspochin, eine neue Salicylchininyerbindung.
Von Dr. Felix Mendel^ Essen (Ruhr).
■Es ist das große Verdienst Bürgis,
als Erster die hervorragende Bedeutung
der Arzneimittelsynthesen für die
Therapie erkannt und ihre praktische
Handhabung durch die Formulierung eines
allgemein gültigen Gesetzes aus der ein¬
fachen Empirie heraus auf eine wissen¬
schaftliche Basis gestellt zu haben. Der
vou Bürgi aufgestellte Lehrsatz, daß
gleichgerichtete Arzneimittel bei Kombi¬
nation ihre Wirkung addieren, Medika¬
mente hingegen mit verschiedenen An¬
griffspunkten ihre Wirkung über die Ad¬
dition hinaus potenzieren, hat nicht nur
dem Praktiker den Weg gewiesen, aus
seinen eigenen Erfahrungen heraus Medi¬
kamente -erfolgreich zu kombinieren, son¬
dern vor allem auch die pharmazeutische
Industrie zur Herstellung einer großen
Reihe von Arzneimittelkombinationen an¬
geregt, in denen der Synergismus ihrer
Einzelbestandteile therapeutisch ausge¬
nutzt wird. Bei dieser praktisch frucht¬
bringenden wissenschaftlichen Erkenntnis
•erschien es mir besonders interessant, eine
Arzneikomposition als Erster klinisch er¬
proben zu dürfen, welche von dem be¬
kannten Erfinder des Thermitverfahrens,
Professor Dt. Hans Goldschmidt zuerst
dargestellt wurde, und, obwohl sie als
besonders naheliegend bezeichnet werden
muß, merkwürdigerweise in der Phar¬
mazie, wenigstens in brauchbarer und
wirksamer Form, bisher keine Anwendung
gefunden hat.
Es handelt sich um. eine chemische
Verbindung der Acetylsalicylsäure
und des Chinin, also um eine Kom¬
bination zweier unserer wirksamsten und
gebräuchlichsten Heilmittel,, die neben
ihren verschiedenartig gerichteten speci-
fischen Eigenschaften auch eine Reihe
anscheinend gleichgerichteter Wir¬
kungsfolgen besitzen, die aber pharma¬
kologisch auf abweichende Angriffspunkte
zurückgeführt werden müssen. Ihr bisher
noch nicht erforschter Synergismus ver¬
sprach von vornherein besonders inter¬
essante und für die Praxis brauchbare
Resultate.
Verbindungen zwischen der ein¬
fachen Salicylsäure und Chinin bestan¬
den bereits, aber infolge des hohen Mole¬
kulargewichts des Chinin charakterisierten
sich die betreffenden Körper in der
Hauptwirkung als Chininpräparate, in
denen die Salicylwirkung nur ganz unter¬
geordnet oder überhaupt nicht zum Aus¬
druck kam. So weist das Salochinin
die einzige in der Therapie bekannt ge¬
wordene Salicylchininverbindung bei
72,5 %Chinin nur 26,5' % Salicylsäure-
rest auf und besitzt, auch infolge seiner
schweren Resorbierbarkeit, nur eine
schwache Chinin- und gar keine Salicyl¬
wirkung, An dem gleichen Fehler' der
überragenden Chininwirkung leidet auch
das Chineonal, eine Verbindung von
Chinin und Diätylbarbitursäure, das fast
70 % Chinin und nur 30 % der schlaf¬
machenden Säure enthält.
Die veresterungsfähige OH-Gruppe
des Chinin einerseits und der Alkaloid¬
charakter des Chinin andererseits bieten
aber die Möglichkeit,, dem Chininkern
zwei Acetylsal.icylsäurereste anzu¬
gliedern, ein Umstand, Welcher bisher
bei der Herstellung von Kombinations-
-produkten nicht berücksichtigt wurde.
Unser Kombinationsprodukt von Chinin
und , Acetylsalicylsäure, vom Erfinder
Aspochin genannt, das diese beiden
Möglichkeiten ausnutzt, enthält mehr als
die Hälfte (51,6 %) Acetylsalicylsäure und
weist einen Chininrest von fast gleicher
Höhe (48,4 %) auf, also einen für die
therapeutische Wirksamkeit beider. Kom¬
ponenten rnöglichst günstige Zusammen¬
setzung.
Die technisch nicht einfache Dar¬
stellung des Aspochin, die in der zu
Ehren von Hans Goldschmidt heraus¬
gegebenen Festschrift 1) von Oskar
Neuß eingehend geschildert wird, inter¬
essiert mehr den Chemiker als den Arzt.
Chemisch ist das Aspochin das acetyl-
salicylsaure Salz des Acetylsalicylsäure
Chininesters. Es stellt ein weißes kristal¬
linisches Pulver dar mit einem Schmelz¬
punkte von 162®. Es ist leicht löslich
in Chloroform und Alkohol, löslich in
Äther, aber schwer löslich in Wasser
und von bitterem Geschmack.
Nach der Zusammensetzung des Mit¬
tels war a priori eine stark fieberherab-
setzende Wirkung bei den verschieden¬
artigsten Infektionskrankheiten von ihm
zu erwarten, insbesondere bei solchen, die
sonst auf Aspirin oder Chinin mit starkem
Fieberabfall reagieren, wie Angina, Grip-
Beiträge zur Metallurgie und andere Ar¬
beiten auf chemischem Gebiete. Herausgegeben
V. O. Neuß. Verl. Th. Steinkopp, Dresden u. Lpz.
1921.
Juni
Die Therapie der
pe, Pneumonie. Wider Erwarten ver¬
sagte das Mittel bei allen diesen fieber¬
haften Erkrankungen entweder vollstän¬
dig oder seine antifebrile Wirkung war
wenigstens in den von uns angewandten
Dosen so gering, daß irgend ein Vorzug vor
der Darreichung der einzelnen Kompo¬
nenten und den übrigen bisher, bekannten
Fiebermitteln nicht konstatiert werden
konnte. Es wurden deswegen weitere
Versuche, das Mittel als ein besonders
wirksames Antifebrile zu erproben, bald
aufgegeben. Damit war die Erwartung
des Erfinders, im Aspochin ein Mittel
gegen Grippe, sei es specifischer oder auch
nur palliativer Wirkung gefunden zu
haben, hinfällig geworden.
Auch beim akuten fieberhaften Ge¬
lenkrheumatismus war eher ein Ein¬
fluß aüf die Gelenkschmerzen als auf den
Fieberverlauf zu konstatieren. Jeden¬
falls leistete bei dieser Erkrankungsform
das-Aspirin in genügender Dosis verab¬
reicht mehr als das Kombinations¬
produkt.
Bei der chronischen Form des Ge¬
lenkrheumatismus, auch bei den aku¬
ten Schmerzattacken der Arthritis de¬
form ans gelang es dagegen in mehreren
Fällen, mit einem Gramm Aspochin, des
Abends gereicht, dem Patienten eine
ruhige schmerzfreie Nacht zu verschaffen,
ohne daß ein Einfluß auf die Gelenk¬
schwellungen zu konstatieren war. Der
Erfolg muß also mehr der analgesie-
renden als der antirheumatischen Wir¬
kung des Mittels zugeschrieben werden.
Die hervorragend schmerzlindern¬
de Wirkung, die der Acetylsalicylsäure
in weit höherem Maße als den einfachen
Salicylaten zukommt, und welche auch
dem Chinin eigentümlich ist, mußte
Veranlassung geben, gerade bei den¬
jenigen schmerzhaften Erkrankungen
das Kombinationsprodukt der beiden
Pharmaka zu versuchen, bei denen ihre
Einzelbestandteile sich bereits bewährt
haben, zumal gerade hier ein ausge¬
sprochener Synergismus der den beiden
Mitteln eigenen zentralanalgetischen
Wirkung zu erwarten war.
Bei Neuralgie des Trigeminus
und einzelner Äste desselben, wie sie nicht
selten im Gefolge der Grippe und anderer
Infektionskrankheiten auftreten, erwies
das Aspochin schon in Einzeldosen von
0,5 eine schnelle und sichere Wirkung,
selbst in solchen Fällen, in denen Migrä-
nin, Pyramiden und ähnliche Mittel
Gegenwart 1921. 217
keinen oder doch keinen so ausgesproche¬
nen und sicheren Erfolg gezeitigt hatten.
Hervorragend bewährte sich das
Mittel bei Migräne, besonders in solchen.
Fällen, in denen Flimmerskotom, He¬
mianopsie, Blässe des Gesichts und andere.
Symptome dem Auftreten des Kopf¬
schmerzes vorangehen und auf einen Ge¬
fäßkrampf als Ursache des Leidens hin-
weisen. Wenigstens bei diesen sogenann¬
ten angiospastischen, sympathiko-
tonischen Migräneformen kann man
von einer gewissermaßen specifischea
Wirkung des^ Aspochin sprechen, denn
der überraschend prompte Erfolg des
Mittels bei den einzelnen Anfällen ist in
der Hauptsache seiner gefäßerweiternd
den Wirkung zuzuschreiben, welche so¬
wohl die Acetylsalicylsäure als auch, wie
neuerdings LatzeH) nachgewiesen, das.
Chinin in ausgiebigsten Maße besitzt.
Eine Dosis, besonders gleich in der Aura
oder bei Beginn des Anfalles genommen^
genügte • meist schon, um in. kürzerer
Zeit, als es andere Mittel vermögen, ein
Abklingen des Schmerzes und seiner Be¬
gleiterscheinungen zu bewirken.
Auch bei den verschiedensten Arten
von Cephalalgie, mochte sie nun auf
Chlorose, Neurasthenie, Hysterie zurück-
. zuführen sein, oder als sogenannter habi-’
tueller Kopfschmerz aufgefaßt werden,
erwies sich das Aspochin als vorzüg¬
liches Palliativmittel. Auch in zwei
Fällen von syphilitischem Kopf¬
schmerz im 2. Stadium war es yon über¬
raschend schneller Wirkung, als Jod¬
kalium und Quecksilberinjektionen selbst
nach mehreren Tagen noch keine Besse¬
rung gebracht hatten, so daß es in solchen
Fällen zur Linderung der nächtlichen
Exacerbationen direkt empfohlen werden
muß.
Die ausgesprochen sedative Wir¬
kung des Aspochin, die sich besonders bei
' den Neuralgien konstatieren ließ und
seine prompte. Einwirkung auf Hemikra-
nie mußte einen Versuch auch bei An¬
fällen von '«Bronchialasthma mit unse¬
rem Mittel rechtfertigen, besonders wenn
wir mit den neueren Autoren diese Er¬
krankung als eine Vagusneuros^ mit
tonischen Krampfzuständen der Bron¬
chialmuskeln auffassen. In drei typi¬
schen Fällen von Bronchialasthma, in
denen die gebräuchlichen Mittel (Atropin,
Asthmolysin, Jodkalium) versagt hatten,
'^) Latzei, Die gefäßerweiternde Wirkung des
Chinin. W. kl.'W. 1920, Nr. 3.
28
218
Die Therapie der Gegenwart 1921
Juni
ließ schon nach einer Dosis Aspochin die
quälende Atemnot nach, und nach zwei
weiteren im Laufe des Tages verabreichten
Dosen war der Anfall in der Hauptsache
überwunden. Da aber die bekannte
psychische Labilität der meisten
Asthmatiker die Beurteilung des Einzel¬
erfolges sehr erschwert, so genügt die
geringe Anzahl unserer Fälle natürlich
nicht, um ein allgemein gültiges Urteil
über die asthmolytische- Wirkung des
Aspochin zu fällen, sondern weitere Be¬
obachtungen müssen erst ergeben, wie
weit die suggestive Wirkung des „neuen
Mittels“ oder die direkte Herabstim¬
mung des Vagotonus durch das Aspo¬
chin für die Wirkung in Anrechnung
kommt. Auffallend war besonders der
Erfolg bei einem vierzehnjährigen Mäd¬
chen, das seit Jahren an schweren Asthma¬
anfällen litt, die, wenn sie eintraten, eine
mehrere Nächte anhaltende schwerste
Atemnot hervorriefen. Zum ersten Male
wurde durch unsere Medikation, der Anfall
so gemildert, daß die Patientin schon in
der ersten Nacht das Bett nicht zu ver¬
lassen brauchte.
Aspirin wie Chinin haben bekannter
Weise eine Einwirkung auf den Uterus.
Aspirin wird schon seit langem zur
Schmerzlinderung der Wehen der Wöch¬
nerinnen empfohlen. Es ist wohl auch,
das gebräuchlichste Mittel bei den ver¬
schiedensten Arten der Dysmenorrhoe.
Seit alters her kennt man die wehen¬
fördernde Wirkung des Chinin, das
zu diesem Zwecke besonders in der
neuesten Zeit sowohl intravenös, intra¬
muskulär aber auch enteral Verabreicht
wird. Nach einer neuesten Veröffent¬
lichung aus der Breslauer Hebammen-
lehranstalt^) übertraf sogar die ein¬
fache Darreichung des Chinin per os
die beiden anderen komplizierteren An¬
wendungsmethoden und ist in ihrer
Wirkung der subcutanen Injektion von
Hypophysenpräparaten gleichzustellen.
Dabei hat das Chinin vor dem Sekale und
den Hydrastispräparaten dell Vorzug,
niemals tetanische Kontraktion
des Uterus hervorzurufen.
Auch Salipyrin, ein in seiner Zu¬
sammensetzung dem Aspochin ähnliches
Kombinationsprodukt, soll Gebärmutter¬
blutungen, soweit sie mit der Menstrua¬
tion in Zusammenhang stehen, nach
Stärke und Dauer günstig beeinflussen.
3) Muschallik, Mschr. f. Geburtsh., Heft 6,
Dezember 1920,
Außerdem soll es schmerzstillend bei
gleichzeitiger Dysmenorrhoe . wirken,
Wenn aber eine Kombination eines ein¬
fachen Salicylats mit Antipyrin schon
diese Wirkung ausübt, so muß min¬
destens ein gleicher, wenn nicht gar ein
stärkerer therapeutischer Effekt von
einem Kombinationsprodukt aus Aspirin
und Chinin, dem Aspochin, zu erwarten
sein, da das Aspirin stärkere analgetische
Wirkung besitzt, als das einfache Salicy
lat und Chinin in seiner Wirkung,
schmerzlose Uteruscontractionen hervor¬
zurufen, gerade in neuerer Zeit sich be¬
sonders bewährt hat und sicher dem
Antipyrin nach dieser Richtung hin an
Wirksamkeit überlegen ist.
Unsere zahlreichen praktischen Er¬
fahrungen haben die Richtigkeit dieser
theoretischen Überlegung bestätigt, was
ich aus einer großen Reihe von Beob¬
achtungen durch einige besonders präg¬
nante Krankengeschichten beweisen
möchte.
Fall eins: Einundzwanzigjährige Frau, seit
einem Jahre verheiratet. O para, Menses alle drei
Wochen mit unerträglichen, meist zwei Tage an¬
haltenden krampfartigen Schmerzen, die zur Bett¬
ruhe zwingen und bis fünf Tage anhaltenden
starken Blutungen. Status: Besonders nach
den Menses sehr blaß und elend aussehende Frau
ohne sonstige Besonderheiten. Uterus und seine
Anhänge normal. Therapie: Sofort bei Be¬
ginn der Menses Aspochin dreimal täglich 0,5.
Die Menses verlaufen schmerzlos, sind schon nach
drei Tagen beendet, ohne wie bisher den Orga¬
nismus zu schwächen. Derselbe Verlauf bei der
nächsten Periode.
Zweiter Fall: Zweiundvierzigjährige Frau, III
para, sehr anämisch, mit vergrößertem, sich prall
anfühlendem, mäßig retroflektiertem' Uterus. Die
letzten beiden Menses trotz Hydrastis und Secale
so stark und anhaltend, daß ein Frauenarzt wegen
der das Leben bedrohenden Blutung zur Exstir¬
pation des Uterus riet. Bei Beginn der nächsten
Periode dreimal täglich 0,5 Aspochin drei Tage
lang. Darauf normaler Blutverlust von drei¬
tägiger Dauer. Derselbe Erfolg bei der nächsten
Periode. Seitdem ständig normale Menses, auch
ohne Aspochin.
Dritter Fall: Vierzigjährige Frau, sehr leicht
erregbar. Alle vierzehn Tage starke Blutungen,
nachher großes Schwächegefühl und Schlaflosig¬
keit. Status: Uterus etwas vergrößert retro-
vertiert, Erosion am Muttermund; eitriger Fluor.
Therapie : Neben Lokalbehandlung der Endome¬
tritis chronica sofort bei Beginn der nächsten Pe¬
riode Aspochin. Blutverlust und Dauer der Menses
auf die Hälfte reduziert, allmählich Besserung der
Lokalerkrankung und Nachlassen der Blutungen,
die aber am schwächsten sind, wenn noch weiter
Aspochin genommen wird.
Vierter Fall: Blasses schlecht genährtes,
sechsunddreißig Jahre altes Fräulein, aber im
übrigen gesund, klagt über heftige Schmerzen
während der Menses und meistens in der Mitte
zwischen zwei Menstruationen. Organbefund:
negativ, wird aber schon seit zwei Monaten wegen
angeblicher Oophoritis mit Diathermie behandelt.
Die Therapie der Gegenwart 1921
219
Juni
f)urch Aspochin Beseitigung der Schmerzen und
.allmähliche Besserung des Allgemeinbefindens.
Fünfter Fall: Zweiunddreißigjähriges Fräu-
deih hat bei jeder Menstruation rasende Schmerzen
‘.mit heftigen! Erbrechen und nervösen Herzstö-
vrungen, die eine Morphiuminjektion durch den
j\rzt schon seit Jahren erfordern. Dabei starker
Blutverlust. Organbefund: abgesehen von einer
Heichten Retroflexio negativ. Aspochin sofort bei
Einsetzen der Schmerzen gegeben, beseitigt diese,
rso daß keine Morphiuminjektion nötig wird. Es
ikommt auch nicht zum Erbrechen und den an-
'deren Komplikationen von seiten des Herzens.
Die Blutungen bleiben hingegen so stark
wie bisher.
Sechster Fall: Zweiunddreißigjährige Frau,
III para, hat vor sechs Wochen abortiert. Wegen
anhaltender Blutung Curettement vor drei Wochen,
•trotzdem noch ständiger Abgang von Blutgerinsel
.unter wehenartigen Schmerzen. Therapie: Bett-
iruhe, Sandsack auf den Leib und Aspochin. Auf-
.^ hören der Beschwerden nach drei Tagen.
Siebenter Fall: Achtunddreißigjährige Frau,
II para, menstruiert regelmäßig und ziemlich
iStark, klagt über heftige neuralgische Schmerzen
dm Kopfe und beiden Beinen während der Periode,
»die oft mehrtägige Bettruhe notwendig machen.
Pyramiden, Salipyrin, Aspirin ohne Erfolg. Nach
.Aspochin völliges Nachlassen der nervösen Be¬
nsch werden.
Die Zahl dieser frappanten Heil-
-erfolge besonders bei der Dysmenorrhoe,
.bei der das Aspochin fast nie versagte,
.‘könnte beliebig vermehrt werden, wäh-
irend die Wirkung auf die Blutung in
•einzelnen Fällen eine überraschende ist,
Jn anderen dagegen weniger wirksam
;.zutage tritt, wenn auch eine mäßige
Herabsetzung des Blutverlustes fast stets
.zu konstatieren war. Diese Unsicher-
JJieit des Erfolges bei Blutungen
ist selbstverständlich auf die verschiede¬
nen Grundursachen der Menorrhagie zu¬
rückzuführen. Eine sichere Wirkung ist
"wohl weniger in den Fällen zu erwarten,
^-die auf Störungen der Ovarialfunktion
;zu beziehen sind, als in den Wirklichen
Metropathien, den organischen oder
funktionellen Störungen der Uterus¬
muskulatur oder der Mucosa uteri.
Durch die peristaltischen Contrac-
tionen, die das Chinin, was sowohl physio-
äogisch als auch klinisch festgestellt ist,
.auch am nicht graviden Uterus hervor¬
ruft, werden die Gefäße verengert, die
menstruelle Fluxion herabgesetzt und die
congestiven Zustände beseitigt und damit
•die eigentliche Ursache der Menorrhagie“
;in solchen Fällen behoben, wo sie in
‘Störungen der Contractilität der Uterus¬
muskulatur oder in einer Hyperplasie
der Uterusschleimhaut begründet sind.
Ich bin überzeugt, daß mit diesen Dar-
ilegungen, die das Resultat von mehr als
Huindert Einzelbeobachtungen darstellend
der Indikationskreis des Aspochin noch
lange nicht geschlossen ist. Aber unsere
zahlreichen Erfahrungen auf den ver¬
schiedensten Gebieten der praktischen
Medizin haben doch schon den Beweis er¬
bracht, daß das neue Kombinationspro-
dukt von Acetylsalicylsäure und Chinin,
das Aspochin, bei manchen Erkrankun¬
gen überraschende Wirkungen zeitigt, die,
wenn sie auch meist nur symptomatischer
Natur sind, doch diesem Mittel einen
dauernden Platz in unserem Arzriei-
schatze sichern. Vor allem ist neben
seiner centralanalgetischen Wirkung
auch die sedative Beeinflussung des
vegetativen Nervensystems hervor¬
zuheben, die sich bei Hemicranie, Asthma
und Dysmenorrhoe in überraschender
Weise geltend macht. Wegen der gleich¬
zeitigen menostatischen Wirkung ver¬
dient es vor anderen ähnlichen Medika¬
menten besonders in solchen Fällen den
Vorzug, in denen Menorrhagi-e und
Dysmenorrhoe, wie es bei Jugend¬
lichen sehr häufig der Fall ist, kom¬
biniert auftreten und das um so eher,
als es' bei richtiger Dosierung und An¬
wendung frei ist von irgendwelchen
störenden Nebenwirkungen.
Die Darreichung des Aspochin ge¬
schieht am besten in Tabletten oder auch
in Kapseln. Die Dosis für Erwachsene
muß natürlich den vorliegenden Indi¬
kationen angepaßt werden. In den meisten
Fällen genügt aber 0,5 pro dosi, und über
2,0 pro die braucht in keinem Falle
hinausgegangen zu Werden. Bei Kindern
und schwachen Personen genügen selbst¬
verständlich entsprechend kleinere Dosen.
über das Verhalten des Aspochin im Magen¬
darmkanal sind in dem Privatlaboratorium von
Hans Goldschmidt eine Reihe von Versuchen
angestellt worden, die zu folgendem Ergebnis ge¬
führt haben:
Die Salzsäure des Magens spaltet mit größter
Wahrscheinlichkeit jenes Molekül Aspirin, welches
in Salzbindung mit dem Chinin steht, schon im
Magen ab, derart, daß die Salzsäure des Magens
an Stelle dieses Aspirinmoleküls tritt und nun
also neben der freien Acetylsalicylsäure, die erst
im Darm gespalten und resorbiert wird, ein salz¬
saurer Aspirinchininester im Magen verbleibt.
Das zweite Molekül Aspirin, welches an den Ester
gebunden und viel fester mit dem Chininkern ver¬
ankert ist, wird den Magen unverändert passieren
und erst durch die alkalischen Darrpsäfte in seine
Componenten zerlegt respektive verseift werden.
Wir können also annehmen, daß so¬
wohl das abgespaltene Aspirin wie die
aus dem Ester in alkalischer Flüssigkeit
sich trennenden Komponenten, Chinin
und Aspirin erst vom Darm aus zur
Wirkung gelangen. Diese verlangsamte
28*
220
Die Therapie der Gegenwart 1021
Juni}
Resorption ist als die Ursache der.
schwachen antifebrilen Wirkung unseres
Mittels anzusehen. Sie hat aber den
großen Vorteil, daß das Aspochin nicht
dre unangenehmen Nebenwirkungen auf
den Magendarmkanal besitzt, die dem
Chinin eigentümlich sind und in keinem
einzigen Falle seiner Darreichung Symp¬
tome von Schädigungen des Verdauungs-
contractus, wie wir sie so oft beim Chinin
erleben, im Gefolge hat. Wir müssen also
annehmen, daß der Aspirinchininester
gerade wegen seiner Schwerlöslichkeit im
Magen, obwohl er wie das Chinin basische
Eigenschaften besitzt, doch eine weit
schwächere Reizwirkung als dieses auf
die Magenschleimhaut ausübt. Auch die
übrigen störenden Nebenwirkungen auf
das Nervensystem, wie Ohrensausen,
Schwerhörigkeit, Schwindelgefühl, Er¬
brechen, welche so oft die Chininmedika¬
tion erschweren, fehlen bei der Aspochin-
darreichung. Nur vereinzelt klagten be¬
sonders empfindliche Patientinnen nach
größeren Dosen über Ohrensausen,welches
wohl, teils dem Aspirin,' zum anderen
Teile dem Chinin zugeschrieben werden
muß. Diese langsame Resorption des
Aspochin, die durch die eigenartige Dop¬
pelbindung des Chinin an die Acetyl¬
salicylsäure bedingt ist, verhütet ein zu
schnelles Eindringen des Chinin in die
Blutbahn und damit seine störender^'
Nebenwirkungen. Schon diese Eigen¬
schaft des Aspochin, die es. vor allen bis¬
her bekannten Chininpräparaten aus¬
zeichnet, macht es zu einer für die Praxis
besonders brauchbaren Chininsalicyl-
Verbindung, die sich, bei allgemein seda¬
tiver Wirkung, vor allem als als ein
Specificum gegen. Menstruations¬
beschwerden der verschiedensten Art
erwiesen hat^).
Aspochin wird hergestein in dem Labora¬
torium von Prof. Dr. Hans Goldschmidt, Char¬
lottenburg 5, und ist zu beziehen von der Han¬
delsgesellschaft Deutscher Apotheker m. b. H.,.
Berlin NW 21.
Repetitorium der chirurgischen Therapie.
Von M. Borchardt.
Die Behandlung frischer Verletzungen.
Von M. Borchardt
Blutstillung
und Behandlung des Blutverlustes.
A. Blutstillung.
Die erste Stillung von traumatischen
Blutungen (die sogenannte provisorische
Blutstillung) ist eine Aufgabe, die ebenso
häufig dem Laien wie dem Arzt zufällt.
Sie erfordert Geistesgegenwart und die
Kenntnis einer Reihe von Handgriffen,
die bei aller Primitivität, schnell und sach¬
gemäß angewendet, den Verblutungstod
abwenden können. Bei schwersten trau¬
matischen Blutungen kann, wenn über¬
haupt noch Hilfe möglich ist, nur die au¬
genblickliche digitale Kompression den
tödlichen Ausgang durch Verblutung ver¬
hindern. Blutet es aus einer Extremitä¬
tenwunde in rythmischem Strahle und
zeigt sich, daß ein größeres Arterienrohr
verletzt ist, so komprimieren wir sofort
den Hauptarterienstamm oberhalb der
blutenden Steile am Orte der Wahl.
Typische Stellen für die wirksame Kon>
pression sind an der unteren Extremität
die Gegend des Hunterschen Kanals
an der Innenseite des Oberschenkels,
noch besser der horizontale Schambein¬
ast, an der oberen Extremität der sulcus
und S. Ostrowski. (Fortsetzung)
bicipitalus internus, Axilla und noch,
weiter pjoximal die erste Rippe. Nur
wenn der Sitz der Blutung so weit rumpf-
wärts gelegen ist, daß eine weiter proxi¬
mal stattfindende digitale Kompression
technisch unmöglich ist, wird die direkte-
Kompression in der Wunde das einzige
Rettungsmittel sein. Bei Blutungen im
Bereich der unteren Rümpfhälfte kann
immerhin noch die Kompression der
Bauchaorta durch die mit größter Energie,
in Nabelhöhe in den Leib gestemmte^
Faust Rettung bringen. Blutungen aus
Venenwunden sind durch Kompression
oberhalb und unterhalb der Verletzungs¬
stelle im Bereich der Extremitäten relativ
leicht zu stillen. An der unteren Extre¬
mität genügt bei den so häufigen und
bedrohlich aussehenden Blutungen aus
geplatzten Varixknoten bisweilen schon
die steile Hochlagerung des Beins zum
Sistieren der Blutung. Anders bei Ver¬
letzungen der großen Halsvenen. Hier'
können Blutungen häufig schwerer zu
beherrschen sein als bei arteriellen Ver¬
letzungen. Handelt es sich um offene Ver¬
letzungen, so ist manchmal die einzige
Möglichkeit, der Blutung Herr zu werden,
die, daß man kurzerhand mit dem in die--
Die Therapie der Gegenwart 1921 •
22f
Juni'
Wunde eingeführten Finger das Loch in
der Vene verschließt. Damit ist zugleich
auch' eine Hauptgefahr bei Venenver¬
letzungen — die Luftembolie durch Luft¬
aspiration — beseitigt.
Da die digitale Kompression anstren¬
gend ist und nur kurze Zeit mit Erfolg
ausgeübt werden kann, so muß sie mög¬
lichst bald durch eine Umschnürung des
Gliedes mittelst einer Binde oberhalb der
blutenden Wunde ersetzt und gesichert
werden. Im Notfall genügt ein aus den
Kleidern des Verletzten gerissener Zeug¬
streifen oder eine mit einem Holzknebel
zusammengedrehte Schnur. Der von Es¬
ki arch angegebene Hosenträger dürfte
nur in den seltensten Fällen zur Verfügung
stehen. Der Arzt verwendet am besten
den elastischen Schlauch nach Esmarch
oder eine 5—6 cm breite kräftige, aus
Gummi oder aus mit Gummi durchwirk-
. tem Stoff bestehende Binde. Beide werden
bei senkrecht eleviertem Gliede angelegt.
Blutsparung durch Auswicklung des in
der Extremität vorhandenen Blutes in zen¬
tripetaler Richtung vor der Abschnürung
mit der elastischen Binde wird bei starker
arterieller Blutung wegen der Erfordernis
des schnellen Handelns zu unterlassen
sein. Die erste Tour, allenfalls noch die
zweite besorgen die eigentliche Abschnü¬
rung, sie müssen deshalb unter stärkster
Ausnutzung der elastischen Kraft der
Binde gewickelt werden. Die übrigen
Touren wirken nur unterstützend. Die
letzte dient unter schlaufenartiger Aus¬
ziehung zum Durchstecken und zur Be¬
festigung des noch nicht abgerollten
Bindenteiles. Die Muskulatur muß beim
Anlegen der Binde nach Möglichkeit ent¬
spannt sein. Blaß-livide Verfärbung, des
distalen Gliedabschnittes, weißliche Ver¬
färbung der Finger oder Zehen zeigen den
Eintritt der Blutleere an. Starke Venen¬
füllung, tiefblaue bis schwarzblaue Ver¬
färbung der Haut unter Zunahme des
Volumens der Extremität bedeutet nicht
genügende Arterienkompression bei völ¬
ligem Abschluß des venösen Rückstrom¬
weges, also Stauung und erfordert Ab¬
nahme der Binde und Wiederholung der
Abschnürung. Eine leichte Blaufärbung
spricht nicht gegen die Vollkommenheit
der arteriellen Blutunterbrechung, sie ist
bedingt durch das stagnierende venöse
Restblut, wenn die Extremität nicht aus¬
gestrichen oder ausgewickelt war. Am
Arm hat die elastische Umschnürung
stets oberhalb der Umschlagstelle des
N. radialis zu erfolgen, um diesen von der
folgenschweren Drucklähmung zu bewah¬
ren, vermeidbar ist sie trotzdem nicht
immer. Für die oberen Extremitäten ver¬
wenden wir am besten die elastische Bin¬
de, .für die unteren den stärkerer Bean¬
spruchung ausgesetzten Schlauch, neuer¬
dings lieber als den Esmarchschen'
Hohlschlauch den dauerhafteren Voll¬
gummischlauch. Die Intensität der Um¬
schnürung soll nicht stärker sein, als zur
Aufhebung des Blutstromes eben not¬
wendig ist. Sie wird bei einem muskel¬
schwachen Individuum geringer sein müs¬
sen als bei einem muskelstarken. Im all¬
gemeinen nimmt man an, daß die Dauer
der Umschnürung ohne Schädigung der'
Gewebe zweieinhalb bis drei Stunden be¬
tragen kann.
Bei dem empfindlichen Mangel an
Gummi, der leichten Zerreiblichkeit und
häufigen Ergänzungsnotwendigkeit der’
Gummibinden und Schläuche ist das von
Sehrt angegebene Kompressarium ais¬
willkommener Ersatz zu betrachten, nach
mancher Richtung sogar als eine Verbes¬
serung. Der Kompressor besteht aus
zwei ein Oval bildenden gebogenen Bran¬
chen, die an der Spitze leicht nach außen'
abgebogen sind und durch eine Schrau¬
benvorrichtung gespreizt und genähert
werden können. Das Instrument wird
über ein mehrfach zusammengefaltetes
Handtuch so um die Extremität gelegt,
daß die eine Branche sich stets auf der
Seite der großen Gefäße befindet. Durch
Andrehen der Schraube werden die Bran¬
chen geschlossen und können je nach Be¬
darf fest aneinander gebracht oder schnell
wieder gelockert werden. (In unserer
Klinik verwenden wir einen Leitring, der
die Spitzen der Branchen umfaßt und
ein Vorbeischeren derselben verhindert.)
Auch für die Kompression der Bauchaorta
ist das Instrument geeignet und ent¬
sprechend abgeändert. Das Aortenkom-
pressarium trägt an der Innenfläche des
den Bauchdecken anliegenden Arms eine
Metallpelotte, die den Druck auf die^
Aorta auszuüben hat.
Der Anwendungsbereich der elastischen
Blutleerbinde und der Sehrtschen Klam¬
mer reicht am Arm bis zur Axilla, am-
Bein bis zur Leistenbeuge. Hier muß ihr
Sitz in besonderer Weise gesichert werden..
An der oberen Extremität helfen wir uns«
gegen die Gefahr des Abrutschens der
Binde dadurch, daß wir sie in Form vom
Achtertouren, die sich auf der Schulter¬
höhe kreuzen, anlegen oder sie durch zur
gesunden Axilla hinziehende Bindenzügel
222
Die Therapie der Gegenwart 1921
Juni
^befestigen. Am Bein erzielen wir sicheren
Sitz entweder gleichfalls durch Achter-
iouren um das Becken mit Kreuzung an
-der Hüfte oder mit Hilfe des Trendelen¬
bur gschen Spießes. Das etwa 40 cm
lange stilettartige Instrument wird vom
Trochanter major aus bis auf den Knochen
vor diesem und hinter den großen Ge¬
mäßen vorbei ein- und dicht unterhalb des
Dammes ausgestochen. iTber ihm wird
;nun die blutleere Binde angelegt. Ein¬
facher und weniger brüsk ist das Ein-
■■schlagen eines Nagels an der oberen Ex¬
tremität in das Tuberculum majus, an
der unteren in den Trochanter major, um
ein Abwärtsrutschen des abschnürenden
Schlauches zu vermeiden.
Ein souveränes Mittel zur Bekämpfung
lebensbedrohlicher Blutungen aus den
großen Gefäßstellen des Oberschenkels
nahe dem Becken oder dem Becken selbst
besitzen wir in der Momburgschen
Blutleere. Nach dem Vorgang Mom-
burgs wird zwischen Rippenbogen und
Darmbeinkamm ein fingerdicker etwa
-eineinhalb Meter langer starker Schlauch
nnter festem Anziehen so um den Leib
gelegt, daß eine richtige „Wespentaille“
resultiert. Ein Assistent kontrolliert wäh¬
nend des Anziehens des Schlauches den
Femoralispuls. Im Augenblick seines Ver¬
schwindens ist die Aortenkompression
gelungen. Neben den unleugbaren Vor¬
teilen des Verfahrens in Fällen höchster
Not gebieten gewisse Gefahren, die es mit
sich bringt (Beobachtung von Todesfällen)
boch größte Vorsicht und seine Aufspa¬
rung im allgemeinen für die Notfälle. Die
Gefahren bestehen erstens in einer Schä¬
digung der Herzfunktion durch die zu¬
nächst erfolgende Überlastung und nach
Lösung der Blutleere entstehende plötz¬
liche Entlastung des Herzens, zweitens in
der Möglichkeit einer direkten Schädigung
der Aortenwand und des Darmes. (Es ist
nach der Momburgschen Blutleere Blut¬
abgang aus dem Rectum beobachtet wor¬
den). Während der Narkose ist von Be¬
ginn der Blutleere an infolge der Ver¬
kleinerung des Blutkreislaufes durch die-
rselbe die Dosierung des Narkoticums zu
vermindern. Arteriosklerose, überhaupt
degenerative Prozesse des Herzmuskels
und der Gefäße, Erkrankungen der Nie¬
ren, bei deren Vorhandensein im allge¬
meinen die Momburgsche Blutleere
nicht angewendet werden soll, können
wir nur als relative Kontraindikationen
gelten lassen, die wir in Fällen der Not
doch vernachlässigen müssen.
Zu erwähnen is't noch ein Handgriff,
der sich bei der Abnahme der Blutleere
empfiehlt. Läßt man dem durch den
Mo m bürg-Schlauch gestauten Blute
nach seiner Abnahme ungehemmten Zu¬
strom zu den unteren Extremitäten, so
kann ein schwerer Herzcollaps die Folge
der’momentanen Blutdrucksenkung sein.
Man vermeidet dies, indem man die Ex¬
tremitäten vor der Abnahme des Bauch¬
schlauches an ihrer Wurzel umschnürt
und diese Umschnürung erst einige Zeit
nach Lösung des Momburg-Schlauches
abnimmt. Der Schlauch kann zweck¬
mäßig durch das bereits beschriebene
Aortenkompressarium nach Sehrt er-v
setzt werden. Der Sehrtsche Aorten¬
kompressor hat den Vorteil, daß er durch
geringste. Verminderung des Schrauben¬
zuges einen ganz allmählichen Ausgleich
der künstlich geschaffenen Blutkreislauf¬
verkleinerung gestattet.
Schwierigkeiten bereitet bisweilen die
Versorgung blutender Knochengefäße, be¬
sonders, wenn sie sich in die sie beher¬
bergenden Knochenkanäle zurückgezogen
haben.
Gelingt es nicht, durch Verhämmern
des die Knochenkanalmündung umge¬
benden Knochengewebes mit Hilfe von
Hammer und einem stumpfen Meißel,
eventuell eines eigens dazu konstruierten
Kantenmeißels die Kanalmündung zu
verschließen, so führt sicher das Eintrei¬
ben eines kleinen Elfenbeinstiftes, von
dem man verschiedene Dicken vorrätig
hält, zum Ziele. Stetige diffuse schwer
stillbare Blutungen sehen wir häufig bei
Amputationen aus der Markhöhle des
Kochenstumpfes auftreten. Ein aus dem
fortfallenden Knochen genommener Bol¬
zen schließt, in den Markraum fest ein¬
gekeilt, diesen dicht ab und verhindert
zugleich die unerwünschte, zu lästigen
Exostosen führende Knochenneubildung
aus dem Mark. Die Zahnärzte stillen
alveoläre Blutungen nach Zahnextrak¬
tionen durch Einpressen von Guttapercha
oder sterilem Kork. Bei mehr diffusem
Charakter der Knochenblutung, z. B. in
ausgemeißelten Höhlen oder bei Trepa¬
nationen verstreicht man die Spongiosa¬
maschen am besten mit sterilisiertem
Bienenwachs, oder fährt mit dem Glüh¬
eisen oder mit dem Thermokauter (Kugel¬
brenner) leicht über die blutenden Kno¬
chenwundfläche. Verzichtet man von
vornherein auf einen vollständigen pri¬
mären Wundschluß, weil die Beherrschung
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1921
223
<ler Blutung nicht vollkommen gelungen
ist, so ist für die meisten Fälle eines der
■sichersten und gebräuchlichsten Mittel
<iie feste Jodoformgazetamponade. Über¬
zeugt man sich einige Tage später nach
Entfernung der Gaze, daß die Blutung
steht, so läßt sich durch die Sekundärnaht
-oder durch- Zusammenziehen der Wund¬
ränder mit Heftpflaster noch unter Um¬
ständen eine Heilung per primam er¬
zielen.
Als besonders bei Sinusverletzungen
angegebenes Tamponadematerial wollen
wir das zu einem Knäuel geballte und in
die Sinuswunde eingepreßte Catgut er¬
wähnen. (Fortsetzung folgt im nächsten Heft.)
Therapeutlscties aus Vereinen u. Kongressen.
33. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin,
Wiesbaden, 18.
Bericht von
Das zweite große Referat über den jetzigen
Stand der Therapie des Diabetes wurde von
Prof, von Noorden erstattet, den wesentlichen
Inhalt desselben hat der Vortragende in dem
.Aufsatz zusammengefaßt, der in diesem Heft
-S. 202 veröffentlicht ist.
Die Aussprache über dies Referat wurde auf
Ersuchen des Vorstandes von einigen Forschern
-eingeleitet, deren Arbeiten zum Fortschritt der
Lehre vom Diabetes erheblich beigetragen haben.
An erster Stelle sprach der Entdecker des Pan¬
kreasdiabetes Prof. Minkowski (Breslau) über
das Neue und Alte in der Diabetestherapie. Er
hob hervor, daß er sich trotz verschiedener
theoretischer Auffassungen doch in bezug auf die
Behandlung nicht allzuweit von dem Referenten
-entferne. In den neuen praktischen Maßnahmen
sieht er weniger eine Revolution, als vielmehr
-eine folgerichtige Evolution, zum Teil allerdings
auch die Überhebung alter Erkenntnisse. Be¬
kanntlich hat Naunyn nicht nur Einschränkung
-der Kohlehydratkost, sondern auch Regelung der
Eiweißzufuhr und Einschränkung des gesamten
'Stoffumsatzes gefordert. In welcher Weise die
Eiweißentziehung auf die Zuckerzersetzung ein¬
wirkt, ist noch unklar. Der Fortschritt der
Therapie liegt darin, daß man in der Beschränkung
der Eiweißzufuhr und des Gesamtkostmaßes viel
weiter gehen kann, als man früher für möglich
‘gehalten hat, und daß man durch längere Eiwei߬
beschränkung eine Hebung der Toleranz- für
Kohlehydrate erzielt. Auch die Faltasche Mehl-
■früchtekur ist neben Eiweißarmut durch Kohle¬
hydratbeschränkung charakterisiert, da sie nur
•^twa ein Sechstel der zugeführten 2800 Kalorien
durch Kohlehydrate deckt. Die Bezeichnung
.„Kohlehydratkuren“ ist irreführend; unbe-
;schränkte Kohlehydratzufuhr ist nach wie vorab-
^ulehnen. Im übrigen muß man fes4;stellen, wie
■weit man im Einzelfall mit der Einschränkung
des Kostmaßes, des Eiweißes und der Fette gehen
kann. Eine günstige Wirkung der Schonungs¬
therapie ist nur zu erwarten, wenn die Funktions-
■störung nicht zu stark ist; bei vollkommen aus¬
geschaltetem Pankreas ist auch den neueren
Methoden kein Erfolg beschieden. Das Haupt¬
gebiet der Kohlehydratkuren bilden die schweren
Fälle mit Acidosis; in den mittleren Fällen ist
öfterer Wechsel zwischen der alten Eiweißfett¬
diät und Faltascher Kost ratsam; für die
leichteren Fälle, die die überwiegende Mehrzahl
bilden, bleibt es bei der Einschränkung der
Kohlehydrate bis zur Toleranzgrenze, unter Ver¬
meidung reichlicher Kost, aber jedenfalls unter
Wahrung der körperlichen Leistungsfähigkeit;
gelegentliche negative Nahrungsbilanzen sind
21. April 1921.
Q. Kletnperer. (Fortsetzung.)
gestattet, können sogar nützlich wirken. So
erklärt sich die gute Wirkung der Alienschen
Hungerkuren, die übrigens in Naunyns Hunger¬
tagen ihren Vorläufer finden. Das besondere ist
nur, daß Allen die Kur mit Hunger beginnt,
sie längere Zeit fortsetzt und so langsam mit der
Nahrungszufuhr ansteigt, daß das Wiederauf¬
treten der Glykosurie vermieden wird. Die
Hungerkur wird bei täglicher Zufuhr von 50 bis
100 g Cognak überraschend gut vertragen, sollte
aber nur in schweren Fällen angewendet werden.
Dabei müssen die Patienten absolut ruhen und
sind zu beobachten, damit die Kur bei drohender
Entkräftung rechtzeitig abgebrochen werden kann.
Etwa in allen Fällen Hungerkuren anzuwenden
wäre eine Übertreibung. Minkowski schließt
mit der Feststellung, daß durch die* neueren Be¬
handlungsmethoden unsere alten und bewährten
Grundsätze keineswegs erschüttert sind, daß keine
der neueren Methoden etwas prinzipiell Neues
bietet, daß aber in ihren technischen Einzelheiten
manche Bereicherung unseres, therapeutischen
Rüstzeuges enthalten ist; sie bieten namentlich
der individualisierenden Behandlung einen
größeren Spielraum. Eine schematische und mi߬
bräuchliche Anwendung der neuen Methoden
könnte sicher mehr Unheil stiften, als es die über¬
triebene Kohlehydratentziehung jemals getan hat.
Denn diese bietet eine Gefahr nur für die schweren
Fälle mit großer Acidosis, die nicht so zahlreich
sind wie die leichten Fälle, die durch übertriebene
Kohlehydratzufuhr in schwere übergeführt oder
durch Unterernährung geschädigt werden könnten.
Hiernach sprach Falta (Wien) über seine
sogenannte Mehlfrüchtekur. Er geht davon aus,
daß der Zuckerwert einer Kost, d. h. die Menge
des aus dieser Kost im Organismus entstehenden
Zuckers ebenso von dem Eiweiß- wie von dem
Kohlehydratgehalt derselben abhähgt. Aus 100 g
Eiweiß entstehen nach Falta 80 g Zucker, also
auf 1 g N 5 g D. Er faßt dies Verhältnis in die
Formel ZW = 5 N -f K. Die Assimilationsgröße
erhält man, wenn man die Menge des ausgeschie¬
denen Zuckers von dem Zuckerwert der zu¬
geführten Nahrung abzieht. Auch bei der Tole¬
ranzbestimmung muß der Eiweißgehalt berück¬
sichtigt werden; die Toleranz entspricht dem
Zuckerwert derjenigen Kost, die ohne Zucker¬
ausscheidung vertragen wird. Eiweiß und Kohle¬
hydrate können nach dem in der Formel für ZW
enthaltenen Schlüssel vertauscht werden; nur
darf man unter das Eiweißminimum nicht herab¬
gehen. Die strenge Kost stellt sich nach Faltas
Formel so dar: 26 N -f 20 Kh. ZW = 150. Die
Mehlfrüchte (Amylaceenkost) so: 5 N -f 125 Kh.
ZW = 150. Der Rest wird stets durch Fett ge-
224
Die Therapie der Gegenwart 1921
Junt.
deckt. Die Acidosis wird durch Eiweißgehalt
gesteigert, durch Kohlehydrate herabgesetzt.
Nahrungsfett übt auf die Acidosis bei niedriger
Eiweißzufuhr keinen Einfluß; deswegen ist die
Kalarienbeschränkung in solchen Fällen falsch.
Da das Wesen der diätetischen Behandlung in
der Schonung der Funktion der Zuckerverbren¬
nung liegt, so kann in Fällen hohen Assimilations¬
wertes eine vorwiegende Eiweißkost nicht schaden;
doch ist das gelegentliche Angebot von Kohle¬
hydrat auch hier nützlich. Bei mittlerer Assi¬
milationsgrenze ist Eiweißnahrung erlaubt, doch
durch Schontage (Gemüsekost) zu unterbrechen;
bei sehr niedriger Assimilationsgrenze tritt die
ketoplastische Wirkung des Eiweißes zu sehr her¬
vor, dazu sind längere Mehlfrüchtekuren, durch
Schontage unterbrochen, zu verordnen, auch
Hungertage sind dazwischen zu legen. Je größer
die Acidosis, desto geringer soll die Eiweißzufuhr
sein. Selbst die schwersten Fälle sind durch aus¬
schließliche Mehlfrüchtekost noch längere Zeit zu
erhalten. Für die Beurteilung der Schwere eines
Falles ist aber nicht nur die Reaktion auf die
Kostordnung, sondern auch die natürliche Pro¬
gressivität entscheidend. Neben dem alimentären
Faktor tritt wesentlich der nervöse hervor; es
gibt auch Fälle von höchst geringer Progressivität
(sogenannte gutartige Diabetes), die anscheinend
vegetative Neurosen darstellen. Auch bei vascu-
lärer Hypertonie findet sich harmlose Glykosurie,
die übrigens durch Aderlässe zum Verschwinden
gebracht werden kann. Falta schließt mit der
Empfehlung seiner Mehlfrüchtekuren für die vor¬
geschrittenen und schweren Fälle. Die Anhänger
der Naturheillehre haben ähnliches schon lange
gepredigt; die Schulmedizin hat sich dem lange
Zeit verschlossen. Mit der Empfehlung der
Haferkur hat No o rd e n den Bann gebrochen; seit¬
dem ist dieser Weg weiter verfolgt worden; durch
die Einführung der Mehlfrüchtekuren ist er
theoretisch verständlich und praktisch in weite¬
stem Ausmaß gangbar geworden.
Die danach folgenden Ausführungen von
Frank (Breslau) über renalen Diabetes sind im
Maiheft (S. 167) veröffentlicht.
Schließlich sprach Grafe (Heidelberg) über die
Behandlung von Diabetikern mit cara-
melisierten Kohlehydraten.
Die von ihm zuerst auf der Wiesbadener
Tagung 1914 empfohlene Therapie des Diabetes
mit caramelisiertem Zucker hat sich auch seitdem
weiter bewährt. Die wichtigsten Vorteile, keine
oder nur geringe steigernde Wirkung auf die
Zuckerausscheidung bei oft sehr günstigem Ein¬
fluß auf Acidose und Zuckertoleranz haben alle
Nachuntersucher bestätigen können. Da die
Wirkung eine individuell etwas verschiedene sein
kann, empfiehlt es sich, Caramel wenigstens bei
jedem mittelschweren und schweren Diabetiker
erst auszuproben, ehe man den Genuß in beliebiger
Menge gestattet. Zu achten ist vor allem auch
auf die Darmwirkung. Caramel kann in Form
einer Kohlehydratkur analog etwa der Haferkur ge¬
geben werden, oder als Sonderzulage zu der übrigen
Kost. Ein besonderer Vorteil ist, daß ohne Ge¬
fahr der Acidose sehr rasche Entzuckerung oft
erreicht wird. Eine befriedigende Deutung der
Wirkung fehlt vorläufig ganz, da sowohl die Ver¬
änderungen des Zuckers beim Rösten wie der
Abbau im Organismus noch fast vollkommen un¬
bekannt sind. Grafe ist in letzter Zeit mit
Erfolg dazu übergegangen, auch andere Kohle¬
hydrate (Brod, Kartoffeln, Reis, Hafer, Gries,
Weizenmehl usw.) zu caramelisieren. Da bei zu
langer Röstung und bei Anwendung zu hoher
Temperaturen leicht partielle Verkohlung ein-
tritt und der Geschmack zu sehr leidet, hat sichF*
eine vollkommene Caramelisierung bisher noch,
nicht als durchführbar erwiesen, doch ist die
Wirkung auf die Glykosurie meist weit geringerj,,
als dem Gehalt an noch verzuckerbarer Stärke
entspricht. Aus den mitgeteilten Beobachtungen’
ergibt sich, daß nach der Caramelisierung der
Kohlehydrate die Glykosurie meist auf ein VierteJ»
bis ein Zehntel der Menge herabsinkt, welche ohne
diese Vorbehandlung ausgeschieden wird.
So eröffnet sich die Möglichkeit auf einfache
Weise die Ernährung der Diabetiker viel rationeller
und für den Zuckerhaushalt schonender zu ge¬
stalten, als es bisher möglich war.
Die anschließende Reihe der Einzelvorträge
über Diabetes, welche vorwiegend theoretisches
Interesse boten, wurde eröffnet durch Mittei¬
lungen von Brugsch, Dresel und'Lewy (Berlin)-
über cerebrale Veränderungen und deren Einfluß-
auf den Zuckerstoffwechsel. Die Autoren hatten>
schon früher gezeigt, daß durch Verletzung eines
dorsalen Vaguskernes Innervation der Nebenniere
und Glykogenmobilisierung mittels des Adrenalins¬
erzielt werden konnte; auch umfangreiche Ver¬
letzungen, welche den vegetativen Oblöngatakern"
nicht treffen, haben keine Erhöhung des Blut¬
zuckers zur Folge. Dagegen war nicht zu erklären,,
warum unter gewissen Bedingungen ein Absinken,
des Blutzuckerspiegels eintrat. Die neueren
Untersuchungen haben ergeben, daß zur Erzie¬
lung eines verminderten Blutzuckers eine Ver¬
letzung im vorderen Ende des vegetativen Oblon-
gatakernes erforderlich ist, daß hier also ein.
Hemmungscentrum für die Glykogenausschwem¬
mung gelegen sein mußte. Die Exstirpations¬
versuche zur Feststellung, welche Centren ia
dieser vjorderen Abteilung des so ausgedehnten-
vegetativen Oblohgatakerns gelegen wären, haben
ergeben, daß nach Exstirpation des Pankreas, so¬
weit sich übersehen läßt, insbesondere seines
Hilus, Zellgruppen in der genannten Gegend
retrograd degenerieren. Daraus ergibt sich, daß-
im vegetativen Oblöngatakern unter anderm so¬
wohl die Centren für vermehrte Zuckeraus¬
schwemmungmittels Adrenalin, durch Innervation,
der Nebenniere über den Sympathicus, als auch
die für einen vermehrten Glykogenaufbau durch
Innervation der specifischen Tätigkeit des Pan¬
kreas über den Vagus gelegen sind. In diesem'
Sinne kann man also mit Bezug auf die specifische
Funktion die Nebenniere ein sympathisches, das
Pankreas ein vagisches Organ nennen, obwohl,
nach Exstirpation des letzteren auch symphatische
Ganglienzellen retrograd degenerieren.
Anschließend an diese experimentellen For¬
schungen wurden histologische Untei:suchungem
an Diabetikergehirnen vorgenommen. Die Durch¬
forschung von Serienschnitten ergab umschriebene
schwere Erkrankungsherde an einer bestimmten.
Stelle der Medulla oblongata (äußeres Glied des
Glob. pall.). Die Autoren nehmen drei überein¬
andergeordnete Centren für den Zuckerstoff¬
wechsel an, analog der Wärmeregulation; die
relative Höhe des Zuckerspiegels wird im Nucletis
periventricularis, die absolute Höhe im Glob.
pall. reguliert.
La quer (Frankfurt a. M.) hat im Embden-
schen Laboratorium neue Untersuchungen über
den Abbau der Kohlehydrate im Muskel angestellt;;
er fand, daß die Menge der Milchsäure, welche
bekanntlich das Maß der Kohlehydratzersetzung
darstellt, durch Zusatz von Glykogen zum Muskel¬
brei wesentlich gesteigert wird, während Trauben¬
zuckerzusatz die Milchsäure nicht vermehrt. Es
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1921
225
'ist also Traubenzucker im Muskel unverbrennbar,
er stellt die Transportform, nicht die Reaktions-
Torrn dar; erst durch Umwandlung oder Abbau
wird Traubenzucker verbrennungsfähig. Es wird
elurch diese Versuche die alte Annahme Min¬
kowskis gestützt, daß die Umwandlung der
'Dextrose in Glykogen eine Vorbedingung für den
Zuckerverbrauch ist und daß im Diabetes gerade
diese Funktion geschwächt ist.
Löffler (Basel) hat das Verhalten des Blut-
..zuckers im höheren Alter studiert. Er ging von
• der bekannten Tatsache des höheren Blutzucker¬
spiegels im Alter aus und fand nach Einnahme von
'20 g Traubenzucker in 100 g Wasser durch schnell¬
folgende Blutzuckerbestimmungen, daß regel¬
mäßig eine Steigerung der Glykämie erreicht wird,
die erheblich höher ist, als unter gleichen Be¬
dingungen bei Jugendlichen und auch länger
dauert, ohne von Glykosurie gefolgt zu sein.
Toenniessen' (Erlangen) besprach die Be¬
ziehungen des Blutzuckers zur Blutacidose. Er
.unterscheidet eine primäre Acidosis durch An¬
häufung von normalen Abbaustufen des Trauben¬
zuckers, die infolge der diabetischen Stoffwechsel¬
störung nicht zersetzt werden können, und die
•sekundäre' Acidosis durch überstürzten Eiweiß-
und Fettabbau. Er konnte eine Abhängigkeit des
Blutzuckers von der Blutacidose nachweisen; die¬
selbe sinkt durch Alkalizufuhr zugleich mit dem
Blutzucker, während beide bei Säurezufuhr
steigen. Als vermutliche Ursache der Acidosis
•spricht Toenniessen die Brenztraubensäure an,
•deren mangelhafte Zerlegung als primäre Ursache
des Diabetes in Betracht kommt.
Eisner (Berlin) besprach die Beziehungen
zwischen Hyperglykämie und Glykosurie. Er
fand gewisse Typen, die auf alimentäre Kohle¬
hydratbelastung mit besonders starker Hyper-
glykämie reagieren; dieselben stehen inZusammen-
hang mit besonderer Erregung des autonomen
Nervensystems, der Sympathicotonie. Also
kommt die alimentäre Hyperglykämie wahr¬
scheinlich auf nervösem Wege zustande; übrigens
ist nicht nur die Höhe, sondern auch die Dauer
• der Hyperglykämie von Bedeutung. Die Nieren¬
zellen scheinen dieselbe Aufnahmefähigkeit für
Glykogen zu haben, wie die übrigen Körperzellen,
Avie aus ihrem schon von Ehrlich gezeigten
Glykogengehalt bei Diabetes hervorgeht.
Stepp (Gießen) hat früher bei acidotischen
Diabetikern Substanzen mit Aldehydeigenschaften
nachgewiesen; er bringt in seinem Vortrag den
Beweis, daß es sich dabei wirklich um Acetaldehyd
handelt; dieser Beweis wurde mit einer tadellosen
.-chemischen Exaktheit geführt, es ließ sich z. B. aus
der Aldehydverbindung .auch das Anhydrid mit
•dem geforderten Schmelzpunkt darstellen. Stepp
konnte auch aus normalem Harn Acetaldehyd
in Spuren gewinnen, sodaß er diese Substanz wohl
mit Recht als normales intermediäres Abbau¬
produkt des Kohlehydratstoffwechsels anspricht.
Da das Acetaldehyd bei schwerem Diabetes bis
;zu 50 % der sogenannten Ketonkörper beträgt,
wird man sich in Zukunft sowohl theoretisch wie
praktisch etwas näher mit dieser Substanz be-
'.schäftigen müssen.
Grote (Halle) hat den Einfluß innerer Sekrete
i(Inkrete) auf die Phloridzinglykosurie geprüft.
Er zeigt, daß mit Phloridzin gleichzeitige Ein¬
spritzung voll Schilddrüsenextrakten stark för¬
dernd, von Thymus stark hemmend auf die
.Zuckerausscheidung wirkt. In der Klinik zeigten
Fälle von Athyreosis (Myxödem und Fettsucht)
:sowie Hypophysenerkrankungen sehr geringe
'Glykosurie nach Phoridzinjektion, während die
Harnzuckerwerte bei Basedow und anderen Thy-
reotoxikosen, insbesondere auch manchen Neuro¬
sen sehr hoch waren. Aus den Feststellungen
scheint sich eine Möglichkeit zu ergeben, eine
Funktionsprüfung der inkretorischen Drüsen,
vielleicht „eine individuelle Blutdrüsenformel“
zu erreichen.
Löning (Halle) berichtet in seinem Vortrag
über Organotherapie des Diabetes Heilversuche
mit Metabolin, einer von Vahlen aus Hefe
dargestellten Substanz, welche so)vohl die alkoho--
lische Zuckergärung beschleunigt als auch bei
experimentellen Glykosurien die Zuckerausschei¬
dung herabsetzt. Die von Löning berichteten
Einwirkungen des Metabolins auf die Glykosurie
verschiedener Diabetiker, namentlich auch die
Nachhaltigkeit derselben, erscheinen so augen¬
fällig, daß weitere Prüfung des Mittels sicherlich
geboten erscheint; bei immer wiederkehrender
Wirkung in großen Beobachtungsreihen wird die
allgemeine Anerkennung dem neuen Mittel nicht
versagt bleiben.
Schließlich sparch Bürger (Kiel) über die
experimentellen Grundlagen einer Arbeits¬
therapie des Diabetes. Es ist seit langem be¬
kannt, daß Muskelarbeit die Zuckerausscheidung
vermindert, daß aber schwere Fälle die Arbeit
schlecht vertragen und oft mehr Zucker danach
ausscheiden. Bürger hat nun in sehr eingehenden
Versuchen das Schicksal intravenös injizierten
Zuckers bei der Arbeit verfolgt und hat einmal
verminderte Zuckerausscheidung im Arbeitsver¬
such gegenüber dem Ruheversuch gefunden, an¬
dererseits nach vorheriger Gemüsekost und Ka¬
renzzeit, welche die Leber glykogenarm machten,
eine stärkere Arbeitshyperglykämie. Eine gleiche
Erhöhung des Blutzuckergehalts nach Arbeit
findet sich nur bei Diabetikern; sie scheint ein
neues Symptom der Zuckerkrankheit darzustellen.
Für das Eintreten derselben ist der Glykogen¬
bestand der Leber sowie der Charakter des Dia¬
betes, schließlich die Erregbarkeit des Nerven¬
systems maßgebend. Der Zeitpunkt für eine
systematische Arbeitstherapie ist gekommen,
wenn eine negative Arbeitsreaktion, das heißt
Absinken des Blutzuckers nach der Arbeit, er¬
reicht ist. Praktisch wird sie dadurch erkannt,
daß der agiykosurisch gemachte Diabetiker, bei
mäßiger Überschreitung der Toleranzgrenze, durch
Arbeit zuckerfrei wird, während er bei gleicher
Kost im Ruhezustand zuckerfrei geblieben war.
Das Ziel der Arbeitstherapie ist Zunahme der
Muskulatur, deren Schwinden für Diabetes
charakteristisch ist und damit Zunahme der dem
Muskel eigentümlichen antidiabetischen Wirk¬
samkeit (Glykogenfixation, Kohlehydratabbau)
Der klinische Erfolg der Muskelübungskuren ist
augenfällig; sie unterstützen die diätetische Be¬
handlung; durch die Arbeitstherapie wird die To¬
leranz so gesteigert, daß Brotzulagen gewährt
werden können, ohne daß Glykosurie entsteht.
Über das Maß der zu leistenden Arbeit müssen
noch Erfahrungen gesammelt werden; einfache
Spaziergänge in der Ebene genügen jedenfalls
nicht; schwer acidotische Fälle sind von Arbeits¬
therapie auszuschließen.
Nachdem noch Schild (Hörde) einige^ gute
Erfolge von Pituglandolinjektion berichtet
hatte, wurde die Aussprache von Kolisch
(Karlsbad) eröffnet, welcher darauf hinweisen
konnte, daß er den Grundsatz der Nahrungsein¬
schränkung und der Eiweißverminderung bereits
1899 mit voller Deutlichkeit ausgesprochen hat;
er hat diese Grundsätze aus den praktischen Er¬
folgen vegetarischer Diät abgeleitet. Auch hat
29
226
Die Therapie der Gegenwart 1921
Jun®
er in systematischer Weise Eiweiß durch Kohle¬
hydrat ersetzt und dadurch das damals paradox
erscheinende Resultat des Absinkens der Glyko-
surie erzielt. Faltas Regime ist nur eine Wieder¬
holung seiner Kostvorschriften. Kolisch schließt
sich im allgemeinen den Noor den sehen Vor¬
schriften an, will aber keineswegs Fleisch für
längere Zeit missen, da der Mensch als geborener
Fleischfresser du^ch vegetarische Kost auf die
Dauer geschwächt wird. Mit großer Schärfe
wendet sich Kolisch gegen die Hungerkuren, die
teilweise dem Grundsatz der Humanität wider¬
sprächen; er zitiert ein Protokoll von Allen, der
als Erfolg notiert, daß ein diabetisches Kind nach
einer längeren Hungerkur zuckerfrei starb. Wenn
Kolisch alle Hungerkuren als ,,fanatische
Excesse“ bezeichnet, schießt er zweifellos weit
übers Ziel hinaus, denn der Hunger bewährt sich
oft als wertvolles Heilmittel; i-n Übereinstimmung
mit den Kranken eingeleitet und durchgeführt,
kann die Hungerkur jeder Härte entkleidet wer¬
den. Auch in der Polemik gegen seinen glück¬
licheren Nachfolger Falta war Kolisch wohl zu
scharf, indem er dessen Konsequenz und Energie
in der Durchführung des neuen Regimes unter¬
schätzt.
Oehme (Bonn) berichtet über den Einfluß
des Extrakts der Duodenalschleimhaut (Sekre¬
tin) auf den Blutzuckergehalt. Solche Versuche
sind deswegen von großem Werte, weil das Se¬
kretin das Haupterregungsmittel der Pankreas¬
funktion darstellt, sodaß der Sekretinreiz der
Einwirkung der Nahrungszufuhr auf Pankreas
und Leber entsprechen dürfte. Es gelang nun
Öhme durch besonders feine Versuchsanordnung
eine Hypoglykämie durch Sekretininjektion bei
Hunden und Kaninchen nachzuweisen, auch nach
Pankreasexstirpation kam es dazu; gleichbereitete
Extrakte anderer Organe hatten diesen Effekt
nicht. Es finden sich also im Duodenalschleim¬
hautextrakt Stoffe, welche die Zuckerverwertung
im Körper begünstigen, offenbar durch Hem¬
mung der Zuckerbildung in der Leber.
Gorke (Breslau) machte nähere Angaben
über Durchführung von Hungerkuren, die später
von Minkowski ergänzt wurden. Die Behand¬
lung.begann mit zwei bis drei hintereinander lie¬
genden Hungertagen, in denen bei Bettruhe reich¬
liches Trinken und größere Alkoholmengen ge¬
stattet waren. Nach den Fasttagen wurde zunächst
in steigenden Mengen ausgekochtes Gemüse, dann
Eiweißzulagen und zuletzt Fett gewährt. Die
Unterernährungsperiode, in der höchstens 1500 Ca-
lorien zugeführt wurden, dauerte drei bis vier
Wochen. Darauf Steigerung bis höchstens
2000 Calorien unter Zulage von Cerealien und Kar¬
toffeln. Die wichtigsten Vorzüge der langfristigen
Hungerkur sind schnelles Schwinden der objek¬
tiven und subjektiven Symptome und vor allem
der Acidosis. Gewöhnlich ist Patient am- dritten
Tage zuckerfrei und am siebenten Tag ist der
Blutzucker normal. Der Nachteil der Gewichtsab¬
nahme wird durch folgende N-Retention-kompen¬
siert. Störende Nebenerscheinungen wurden nicht
beobachtet. Kontraindiciert ist die Hungerkur
jenseits des 65. Lebensjahrs, bei schwerer Neur¬
asthenie und progresser Tuberkulose oder Nieren¬
schrumpfung. Bei leichten Formen kommt Hun¬
ger nicht in Frage. In Gegensatz zu Allen er¬
strebt die Breslauer Klinik keineswegs eine Re¬
duktion des Körpergewichts, sucht vielmehr bei
möglichster Erhaltung desselben die Toleranz zu
vermehren und die Acidosis auszuschalten.
Traugolt (Frankfurt a. M.) berichtet, daß
Diabetiker ein anderes Verhalten als Gesunde
gegenüber aufeinanderfolgenden Zuckergaben^
zeigen. Während bei diesen.20 g Zucker Hyper¬
glykämie machen, die durch nachfolgende 100 gi
nicht .mehr ansteigt, wird bei Diabetikern durch
die zweite Dosis von 10 g D der Zuckerspiegel noch
erhöht. Renaler Diabetes verhält sich wie der
Gesunde. Therapeutisch folgt daraus, daß man^
Diabetikern Kohlehydrate in sehr kleinen Einzel-
dosen geben soll, die die Reizschwelle der Leber
nicht erreichen.
Elias (Wien) berichtet zuerst die physiologisch
bedeutsame Tatsache, daß Hefezellen je nach der
Menge zugefügten Alkali in einem zuckerfreien?
Medium steigende Mengen von Glykogen bilden..
Weiter hat er die praktisch wichtige Beobachtung:
gemacht, daß die diabetische Hyperglykämie
durch intravenöse Injektionen von saurem oder
alkalischem Natriumphosphat um 20—40% herab¬
gesetzt wird. Die Glykosurie bleibt danach drei
Tage stark vermindert.
Hoppe-Seyler (Kiel) spricht über die Diät
arteriosklerotischer Diabetiker, die augen¬
scheinlich an interstitieller Pankreatitis leiden;
diese vertragen schlecht Fleisch und Fett, und
werden am besten mit breiiger Kost, insbesondere
Milchspeisen, Eiern und Gemüse genährt..
Nahrungsentziehung ist in solchen Fällen oft
durch Beschränkung der Darmgärung nützlich..
Ein Versuch mit spezifischer Kur sollte bei
früherer Lues gemacht werden, wenngleich die-
Aussichten meist gering sind.
Goldscheider (Berlin) macht darauf auf¬
merksam, daß beim Diabetes eine Cberempfind-
lichkeit vorliege, die durch die Reizbarkeit des*
Gesamtorganismus wie durch die Summe der
überhaupt zufließenden Reize beeinflußt wird..
Die Generalisation derselben vollzieht sich tcils-
durch die Hormone, teils durch nervöse .Ver¬
bindungen. Dabei nimmt Goldscheider in Über-
einstimmung mit den heutigen Mitteilungen von,
Brugsch einen nervösen Transpositionsapparat
an, welcher das zentrale mit dem trophischen (den
Kohlehydrat-Stoffwechsel beherrschenden) Ner¬
vensystem verbindet und sowohl psychische wie
physische Reize nach beiden Richtungen leitet..
Es ist deswegen auch für die Diätetik wichtig, irr
welchem Reizbarkeitszustand sich der Gesamt¬
organismus befindet. Alle Reizungen, sowohl die
der äußeren Lebensbedingungen als auch die der
Ernährung kommen in Betracht. Deswegen wirkt
bloße Ruhekur oft sehr günstig, ebenso Badekuren.
Auch bei der Behandlung des Diabetes ist die-
Persönlichkeit zu berücksichtigen.
Gigon (Basel) rät, bei Mehlfrüchtekuren
zeitweise Fleischtage einzuschalten, um dem,
Nahrungsbedürfnis zu genügen. In bezug auf die-
Heredität des Diabete's macht er die Bemerkung,,
daß der Diabetes der Frau für die Nachkommen¬
schaft gefährlicher sei als der des Mannes.
Collatz (Darmstadt) läßt an Hunger tagen
50—80 g Gelatine in Form von wohlschmecken¬
den Gelees (Wein-, Fleisch-, Fruchtgelees) ver¬
zehren. Danach schwindet die Glykosurie wier
nach absolutem Hunger. Gelatine wirkt diuretisch
wie Harnstoff. Die Aminosäuren der Gelatine
sind anscheinend keine Zuckerbildner, vermögen
aber das Nahrungsbedürfnis zu decken und ver¬
hindern die Ketonurie. Bei schwerer Acidosis gibt
Collatz daneben 50 g Traubenzucker täglich als
Tropfklistier. An Stelle von Gelatine kann man
auch das sogenannte Glucopan, ein aufge¬
schlossenes Gelatinepräparat, geben.
Lichtwitz (Altona) weist darauf hin, daß^
die eiweißarme Kost der Kriegszeit insbesondere
auf die Leber und die Inkretdrüsen schwächeqdi
Juni
Die Therapie der .Gegenwart 1921
227
eingewirkt hat. Daher die große Häufung von
Ikterusfällen, sowie von endogener Adipositas und
Störungen des Wasserhaushalts auf endokriner
Basis. Die günstige Beeinflussung mancher
Diabetesfälle im Krieg mag auf die Schwächung
der Thyreoidafunktion durch Aminosäurenmangel
zu beziehen sein. Andererseits bedarf auch das
Pankreas zur Erhaltung seiner zuckerzersetzenden
Funktion der Aminosäuren, es darf also die Zu¬
fuhr des animalischen Eiweiß keineswegs zu sehr
beschränkt werden.
Volhard (Halle) hat seit zwölf Jahren in jedem
Fall von Diabetes die Kur mit Hungertagen be¬
gonnen, um Glykosurie, Acidosis und Hypergly¬
kämie zum Verschwinden zu bringen. Als Al len-
sehe Kur dürfte man höchstens das strenge
Schema bezeichnen, nach welchem die Diät auch
nach den Fasttagen noch geregelt wird. Auch
ohne Fasttage kann man die Hyperglykämie be¬
seitigen, „indem man den Hahn des Zuckergefäßes
einfach aufdreht und den Überschuß ablaufen
läßt“. Das gelingt durch intramuskuläre Injektion
von 1 cg Phlorizin. — Weiter weist Volhard
darauf hin, daß die fälschlich al^ Arteriosklerotiker
bezeiebneten Patienten mit Hypertonie oft Glyko¬
surie haben; dabei genügt eine einfache Ein¬
schränkung der Gesamtnahrungszufuhr bei ge¬
mischter Kost zum schnellen Verschwinden des
Zuckers. .
Im Schlußwort setzte sich Grafe mit Licht¬
witz auseinander, der gegen die Eigenschaften
des Caramels polemisiert hatte. Grafe betonte
die festgestellte Tatsache, daß Caramose zu 80 bis
90% ausgenutzt würde, daß die-Acidose danach
absinkt und daß eine spezifisch-dynamische
Wirkung durch den Respirationsversuch bewiesen
wäre. Auch Frank konnte Einwände, welche
gegen die sichere Abgrenzung des renalen Diabetes
erhoben waren, auf Grund seiner Beobachtungen
zurückweisen. Falta betonte die gute Verträg¬
lichkeit seiner langfristigen N-armen-Diäten, ist
aber durchaus nicht gegen gelegentlichen Wechsel..
Er kann nicht zugeben, daß das laisser aller bei
ganz schweren Fällen erlaubt sei; haben sie auch;
keine Zukunft, so müsse man ihnen doch die
Gegenwart erträglich machen. Minkowski
gegenüber betont er, bei aller Anerkennung der
Naunynschen Lehre, daß er doch mit der Kohle¬
hydratkost beträchtlich weiter gehe als die
Naunynsche Schule.
Minkowski beschränkte sich im wesentlichen
auf Ergänzungen der Bemerkungen seines Assi¬
stenten Gorke über die Hungerkur.
No Orden hob die praktische Übereinstimmung
mit Minkowski hervor bei weitgehenden theore¬
tischen Differenzen; in diesem Betracht begeg¬
neten sie sich in der Erkenntnis, daß sie beide-
nicht genau wüßten, ob sie Recht hätten.
Falta gegenüber betonte Noorden, daß die
Hauptdomäne der Mehlspeisediät bei verlorenen
Fällen liege, denen man auf verschiedene Weise
Erleichterung schaffen könne; hier gelte das Wort:
morituri te salutant. Scharf wendete er sich
gegen Faltas ZW-Formel, die er für willkürlich
erklärte. Zahlen sind etwas Heiliges; aber das;
Umtauschverhältnis zwischen Eiweiß und Kohle¬
hydrat wechsele nach Auswahl des Materials und
nach Aufbau der Gesamtkost. Die Hungerkuren
erklärte er nochmals für erlaubt und nützlich, nur
die Warnung vor Übertreibungen war berechtigt.
V. Noorden schloß, indem er den Diskussions¬
rednern für die Ehrenrettung des Proteins dankte,
das man in gemessenen Zwischenräumen und.
Mengen dem Diabetiker gönnen sollte.
Der Schlußberichi: im nächsten Heft wird'
über die zahlreichen Einzelvorträge berichten,,
welche am 2. und 4. Kongreßtage besonders über
die Pathologie des Kreislaufs und des Stoff¬
wechsels gehalten« werden.
45. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie,
Berlin, 30. März bis 2. April 1921.
Bericht von W. Klink, Berlin. (Schluß.)
Beim Kardiospasmus empfehlen die meisten
Chirurgen die Hellersche Operation, das heißt
die extramucöse Spaltung der verengerten Strecke.
Doch warnt Bier vor zu häufigem Operieren.
Man soll erst ein Vierteljahr lang Schluckver¬
suche durchführen und wird in den meisten Fällen
mit dem Faden zum Ziel kommen ohne Operation.
Kreuter berichtet über 473 Gastroenter¬
ostomien wegen callösem und penetrierendem
Magengeschwür, davon 19 vordere, der Rest
hintere. 80—90% gute Erfolge. Zweimal post¬
operative Blutung. Wegen Ulcus pepticum
ieiuni mußten sie nie operieren, es konnte also
nur vermutet werden, vielleicht wurden die Be¬
schwerden durch ein rückfälliges Magengeschwür
bedingt. Höchstens 2% sind bösartig gewesen
oder geworden. Bei mehrfachen Geschwüren trat
nur in 55% Heilung ein. Beim pylorischen Uleus
wurde der Pylorus mit dem Lig. teres geschlossen.
Die Bedeutung des Pylorus für das Zustande¬
kommen des postoperativen Jeiunalgeschwüres
besprach Habe rer. Unter 710 Resektionen er¬
lebte er keines, nach 71 Pylorusausschaltungen 14,
nach 265 Gastroenterostomien dreimal Ulcus
ieiuni. Namentlich der künstlich verengerte Py¬
lorus, besonders beim Ulcus duodeni, gibt Ver¬
anlassung zum peptischen Jeiunalulcus. Nach
Operation des Jeiunalulcus sah er in 18 Fällen
zwei Rückfälle. Einmal hat er bei der zweiten
Operation das Duodenalgeschwür und den Pylorus
entfernt und seitdem ist der Kranke geheilt. Bier
war früher großer Anhänger der Resektion beim*
callösen Geschwür und hat die Gastroenterosto¬
mie nur gemacht, wo die Resektion unmöglich
war und gerade diese scheinbar aussichtslosen
Fälle gaben ausgezeichnete Ergebnisse. Die Frage
Resektion oder Gastroenterostomie hält er noch
nicht für geklärt und empfiehlt die Gastroenter¬
ostomie. — Eiseisberg sah das Jeiunalgeschwür
in 10% der Gastroenterostomien auf treten..
36 mal mußte wegen desselben wieder operiert
werden; selbst nach großen Resektionen trat es
wieder auf. Also kann im Pylorus nicht die Ur¬
sache liegen. Es gibt auch heute noch Chirurgen,
die kein Jeiunalulcus erlebt haben. Die großen
Querresektionen liefern schlechte Ergebnisse. Die
einfache Gastroenterostomie muß mit strenger
Indikation öfter ausgeführt werden. —• Gar re'
hat erst in letzter Zeit einigemale ein Jeiunal¬
geschwür auftreten sehen trotz zahlreicher Gastro¬
enterostomien. Auch er hatte mit der Gastro¬
enterostomie in den schwersten Fällen gute Er¬
folge. Pylorusverschluß macht er nur beim Duo¬
denalgeschwür, sonst schaltet er den Pylorus
nicht aus.
Seifert hat Untersuchungen über die Bio¬
logie des großen Netzes angestellt. Es zeigt einen
ähnlichen Funktionswechsel, wie das Knochen-
29»
:228
Die Therapie der Gegenwart 1921
Jünl
-mark. Beim Foetus finden sich Milchflecken im
.Netz, die sich später in Fettknoten umwandeln.
.Aber bei Ansprüchen örtlicher oder allgemeiner
Natur können sich wieder Milchflecken bilden.
Die Zellen dieser Milchflecken sind die eigent¬
lichen specifischen Organelemente des Netzes.
Sie sind phagocytischer Natur und Vermittler
von Stoffwechselprozessen. — In der Diskussion
wird auf die große Rolle hingewiesen, die das
große Netz bei der Bekämpfung der Peritonitis
• spielt. ' Aus seinem festen Zellverband mobilisiert
es in Minuten eine Unmenge freier Zellen, die
-die Bakterien auf nehmen und wegführen, ebenso
-wie eingespritzte Tusche.
Brüning spricht über Bauchschmerz. Die
Hohlorgane haben ihr Schmerzcentrum im Gan-
■ glion coeliacum, der Uterus im Ganglion sacrale.
Nach Kümmells Erfahrungen ist der lokale
Druckschmerz ungeheuer wichtig, besonders bei
Gallenblase und Wurmfortsatz; weniger sicher
ist Duodenum und Magen. Der McBurneysche
Punkt stimmt oft nicht, besonders bei der larvierten
Appendicitis; hier sitzt der Schmerzpunkt in der
Nähe des Nabels. Auch Magenschmerzen kann
•der chronisch erkrankte Wurmfortsatz auslösen,
■ die mit der Entfernung des Wurmfortsatzes
schwinden.
Colmers empfiehlt bei Peritonitis und Ileus
eine zeitige Enterostomie zur Entleerung des
Darmes. Auch Braun ist Anhänger derselben.
Rust empfiehlt zur Ausspülung der Bauchhöhle
10%ige heiße Kochsalzlösung, bis zu 1 1. Sie
ergibt eine ungeheuere Blutdrucksteigerung, bis
zu zwei Tagen, eine starke, schnelle und anhal¬
tende Kontraktion des ganzen Darmes und Magens.
tEs bildet sich ein Transsudat, das nach fünf
Stunden wieder geschwunden ist. Eingeklemmte
'•Darmteile erholen sich sehr schnell. Erholen sie
sich nicht, so dürfen sie nicht versenkt werden.
Bei Peritonitis ist die Methode verboten, weil
dann Bakterien und Toxine schnell aufgesaugt
würden. Die Eingießung darf nur in Narkose
erfolgen, weil sie furchtbar schmerzhaft ist.
Das vierte Hauptreferat wurde von Perthes
erstattet über Röntgen- und Radiumbehandlung
der bösartigen Geschwülste. Er zieht nur ope¬
rable Carcinome in den Kreis seiner Betrachtung.
Kombination von Röntgenstrahlen und Radium
leisten das beste. — Hautcarcinome und die
ihnen nahestehenden Lippencarcinome können
zur Rückbildung gebracht werden. Auch da ist
man zur Verwendung harter, hochgefüterter
Strahlen übergegangen und hat besonders gutes
vom Radium gesehen. Die guten Erfolge be¬
treffen das Basalzellen- und das verhornende
Plattenzellencarcinom. Die kosmetischen End¬
ergebnisse sind sehr gut. Für Lippencarcinome
• ergibt Bestrahlung und Operation nach drei
Jahren 80% Heilung. Weniger günstig als an
Haut und Hautschleimhautgrenze liegen die Ver¬
hältnisse beim Carcinom der Schleimhaut selbst.
Nach Röntgenbestrahlung sind keine Heilungen
beobachtet, wohl aber nach Radiumbestralilung.
Beim Zungencarcinom ist die papillare Form
günstiger, als die infiltierende. Bei ihm ist man
‘berechtigt, weitere Versuche mit Bestrahlung
an Stelle der Operation zu machen. Auch beim
Kiefercarcinom sind längere Radiumheilungen
beobachtet worden, doch soll man von der Ope¬
ration wegen Jhrer oft guten Erfolge nicht ab-
’gehen. Ähnlich liegt die Frage beim Wangen-
carcinom. — Pharynx- und Larynxcarcinom
kamen durch Bestrahlung zur klinischen Heilung,
.aber es traten fast regelmäßig Rückfälle auf oder
sekundäre Metastasen vereitelten den Erfolg.
Günstiger waren die Erfolge beim Carcinom des
Larynxeingangs. Die kleinen Carcinome der
Larynx selbst, die durch halbseitige Exstirpation
entfernt werden können, sprechen auf Bestrahlung
schlecht an und sollen operiert werden. — Beim
Oesophaguscarcinom hat ihm die kombinierte
Radiumröntgenbehandlung beachtenswerte Er¬
folge gebracht. Der operativei^ Behandlung ist es
jedoch sehr schwer zugänglich. Infolge auf treten¬
dem Glottisödem bei der Bestrahlung kann die
Tracheotomie nötig werden. — Carcinome des
Magen-Darmkanals' sollen, wenn operabel, mög¬
lichst bald operiert werden. Nur beim Rectum-
carcinom ergibt die Bestrahlung recht beachtens¬
werte Erfolge; doch liegen keine abschließenden
Ergebnisse vor. — Mammacarcinome können
durch Bestrahlung zur Rückbildung und klini¬
schen Heilung gebracht werden. Es liegen wenig
Nachuntersuchungen vor. Die operative Heilung
dreimal so groß, wie bei Bestrahlung. Einstweilen
sollen alle operablen Mammacarcinome operiert
werden. — Beim Uteruscarcinom sind die Ergeb¬
nisse der Bestrahlung nicht besser als die der
Operation. Die Frage ist noch unentschieden.
Im ganzen kann man sagen: Man soll nur be¬
stimmte ausgesuchte Fälle bestrahlen, also Car¬
cinome am Oesophagus, ausgewählte Fälle an
Haut und Lippen, das Carcinom der Zunge und
oberhalb der Stimmbänder und vielleicht vor¬
sichtig tastend das des Rectum. Umso freudiger
sind die Leistungen der Bestrahlung beim inope¬
rablen Carcinom zu begrüßen: Das Einschmelzen
bei großen Mammacarcinomen, wie Geschwüre
vernarben, wie die Ödeme zurückgehen. Leider
ist der Erfolg nur vorübergehend und Dauererfolge
nur Ausnahmen. Es bilden sich Rückfälle oder
Metastasen. Inoperable Carcinome können durch
Bestrahlung in operative Formen übergeführt
werden. Ob dieser Weg beim Magencarcinom sich
bewährt, bedarf der weiteren Prüfung. Rückfälle
können durch Bestrahlung niedergehalten werden.
Das sehen wir besonders beim Mammacarcinom.
Auch beim Oberkiefer sah er einen beweisenden
Fall. Die prophylaktische Nachbestrahlung nach
der Operation ergab an der Tübinger Klinik
weniger langdauernde Heilung und mehr Rück¬
fälle, vor allem, im ersten Jahr, als die Operation
ohne Nachbestrahlung. — Vom Sarkom reagieren
die Lymphosarkome gut auf die Bestrahlung.
Es sind Heilungen bis zu fünf Jahren beobachtet.
Bei periostalen Sarkomen der Röhrenknochen,
des Beckens und Schultergürtels ist Bestrahlung
zu versuchen. Bei myelogenen Riesenzellen¬
sarkomen besteht Konkurrenz zwischen Bestrah¬
lung und Resektion. Bei Osteosarkomen des
Schädels hat die Bestrahlung lange Heilung ge¬
bracht, bei Oberkiefersarkomen keine wesent¬
lichen Erfolge; sie sind zu operieren. Bei inope¬
rablen Sarkomen ist ein Versuch mit Röntgen
dringend angezeigt, desgleichen bei Gliosarkomen
des Gehirns. Sehr nennenswert sind die Erfolge
bei Geschwülsten der Hypophyse und Fibromen
des Nasenrachenraumes. — Außer den primären
Röntgenschädigungen, die sich durch geeignete
Dosierung bekämpfen lassen, gibt es sekundäre
Schädigungen, die sich noch nach Jahren zeigen
können. Es kann zu einer Röntgenkachexie
kommen. Zum Glück sind sie selten. Aber die
Unsicherheit des Erfolges der Bestrahlung muß
doch immer stark in Rechnung gesetzt werden. —
Eine Carcinomdosis für alle Carcinome gibt es
nicht. Es bestehen große Unterschiede. Manche
Carcinome schmelzen leicht ein und andere
sprechen auf die vielfache Dosis nicht an. Es
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1921
229
kann nur eine Carcinominindestdosis geben.
Noch größer sind die Unterschiede beim Sarkom.
Lymphosarkome sprechen leicht an, Melano-
sarkome und Oberkiefersarkome nur schwer. Die
Verschiedenheit der Sensibilität ist auch nicht
durch, Verschiedenheit der Histologie zu begrün¬
den. Sogar innerhalb desselben Tumors gibt- es
verschieden reagierende Zellen. Man muß in
einer Sitzung oder durch wenige starke Be¬
strahlungen sein Ziel zu erreichen suchen. Der
Hauptangriffspunkt ist die Zelle selbst. Die
Bestrahlung kann außer einer Schädigung der
Vitalität der Zelle auch eine Steigerung derselben
bringen; aber nur bei sehr kleiner Dosis. Diese
Wirkung auf die Zelle selbst ist elektiv. Man
kann aber auch durch die Bestrahlung das Wach¬
sen neuer Carcinomknoten anregen, und zwar bei
starker Bestrahlung durch Schädigung des nor¬
malen Gewebes der Umgebung und dadurch Ver¬
nichtung des Schutzes. Auch durch Schädigung
des allgemeinen Körperschutzes kann das Carci-
nom neu zu wuchern anfangen.
ln der Besprechung führte Jüngling folgendes
aus: Bei den Cancroiden ist der Erfolg im all¬
gemeinen an die auf einen Schlag verabreichte
Mindestdosis geknüpft. Die Strahlenwirkung ist
rein lokal. Ein Erfolg ist nur dann zu erwarten,
v/enn es möglich ist, die ganze Gefahrenzone mit
einer für die Bekämpfung des Carcinoms nötigen
Strahlendosis zu durchsetzen. Voraussetzung
für die Anwendung ist, daß das Carcinom über¬
haupt schon einmal durch Bestrahlung geheilt
ist. In einem Fall trat 1^ Jahr nach der Be¬
strahlung ein Geschwür auf, das Nekrose des
ganzen Unterkiefers verursachte. Wegen der
Gefährlichkeit der Dosis lehnt er die .Nach¬
bestrahlung beim Lippen- und Magencarcinom ab.
Beim Rectumcarcinom wird man sich sehr über¬
legen, den geschwächten Kranken nach der
Operation noch durch die Bestrahlung zu gefähr¬
den. Beim Mammacarcinom ist die Technik sehr
schwierig, der Erfolg unsicher. Die Mehrzahl der
Rückfälle im ersten Jahr tritt im bestrahlten
Gebiet auf. Sie sind eine Folge der Schädigung
des Gewebes durch die Bestrahlung und die größte
Gegenanzeige gegen die Nachbcstrahlung. Die
Erfolge der Operation sind an den meisten Kliniken
durch Nachbestrahlung nicht nennenswert ge¬
bessert. Die Frage der Zweckmäßigkeit der
Nachbestrahlung ist noch im Versuchsstadium.
Weder Grundlage noch Methode liegen fest. Für
die ^große Allgemeinheit ist sie abzulehnen.
M^arnekros wendet die Großfeldermcthode
mit vier Feldern an. Das Gebiet muß homogen
durchstrahlt werden. Eine intensive Bestrahlung
greift natürlich den Kranken an. Von einer
lebenbedrohenden Komplikation kann man nicht
sprechen. Neben den Erfolgen gibt es Mißerfolge.
Es gibt keine Sarkom- oder Carcinomdosis, auch
nicht in der Gynäkologie. Seine Dauererfolge von
1912 bis 1916 sind 9 % inoperable, 33 % operable
Collumcarcinome; 2% inoperable Vaginacarci-
nome. Auch bei inoperablen Mammacarcinomen
sind seit fünf Jahren Heilungen beobachtet. Ein
inoperables Rezidiv eines Magencarcinoms ist seit
sieben Jahren geheilt. — Wintz hält an der
Carcinomdosis fest. Für operable Carcinome hat
er-eine klinische Heilung von 50 % für fünf Jahre,
von 83 % für drei Jahre. Solche Erfolge hat man
bei Operationen nicht. — Die Nachbestrahlung
wird von Kiel, Rostock, Frankfurt, Würzburg,
Wien empfohlen, von den anderen Kliniken niebt.
Eiseisberg hat 41 inoperable Carcinome und
Sarkome bestrahlt; 13 sind gebessert, 17 un-
gebessert, in 15 Fällen ist die Geschwulst seit
drei Vierteljahren geschwunden. Unter 50 nach¬
bestrahlten Mammacarcinomen traten nach einem
Jahr zwei Rückfälle auf, nach drei Jahren 35;
23 sind über sieben Jahre rückfallfrei. Er emp¬
fiehlt eine mehrmonatige ausgedehnte Nach¬
bestrahlung. Auch bei der Radiumbestrahlung,
sah er mehrere außerordentliche Erfolge. — Bier
hat noch kein inoperables Carcinom durch Be¬
strahlung heilen sehen. Uterus- und Mamma-
carcinome reagieren besser auf Bestrahlung als
die anderen. Er ist ein radikaler Anhänger der
Operation, operiert auch Rückfälle, selbst mehr¬
mals. Empfiehlt das alte Glüheisen wieder. —
Schmieden empfiehlt mit wenig Ausnahmen
für operable Geschwülste Operation und Be¬
strahlung. Er hält es sogar für möglich, daß durch
die Bestrahlung der Geschwulst selbst Fern¬
metastasen zum Schwinden kommen.
Keysser hat seit acht Jahren durch aktive
Immunisierung die Rezidive bösartiger Ge¬
schwülste zu verhüten gesucht. Es handelte sich
um Carcinome, Sarkome, Grawitzschen Tumor,
Fälle, in denen ein Rückfall zu erwarten war.
Nach radikaler Exstirpation wurde aus der Ge¬
schwulst mit Kochsalzlösung eine Emulsion her¬
gestellt, Carbolsäure zugesetzt und diese Mischung
in steigender Menge injiziert. Diese Nachbehand¬
lung dauert vier bis fünf Monate. Die meisten
sind über sieben Jahre rezidivfrei geblieben. Von
14 Fällen sind zehn geheilt, vier bekamen Rezidive,
doch waren diese gutartig und kapselten sich ab
an Stelle des infiltrierenden Wachstums des
ersten Tumors. — Bier weist darauf hin, daß die
Versuche, eine Geschwulst durch Umstimmung
zu beeinflussen, von ihm selbst ausgegangen sind,
nicht durch Zuführung anderer Stoffe, sondern
durch Beeinflussung des Körpers selbst. Durch
die Bestrahlung stirbt die Krebszelle nicht ab.
Was man einspritzt, ist einerlei, es muß nur eine
Reaktion des Körpers hervorrufen. Große Krebse
verschwinden danach; sie stoßen sich oft ab.
Aber der Mensch heilt nicht. Es entstehen Rück¬
fälle oder der Mensch geht an Vergiftung zu¬
grunde. Die Rückfälle können noch während der
Behandlung auftreten. Die Röntgenbestrahlung
bringt den alten Krebs weg, aber sie hindert
nicht das Entstehen neuer, oft noch während der
Bestrahlung. Bei seiner Bluteinspritzung hat er
niemals serologische Wirkung gesehen, sondern
nur Wirkung entzündlicher Reaktion.
Nord mann empfiehlt die Operation ,der
akuten Cholecystitis im Anfall; sie ist im akut
entzündlichen Stadium viel leichter, als im Zu¬
stand chronischer Entzündung. Über 90.% aller
Morphinisten sind Gallenkranke. — Körte hat
bei seinen Operationen auch gute Erfolge. Er
tamponiert nicht mehr, da die Tamponade nichts
nützt, aber sehr schadet. Es wird nur ein Glas¬
drain für 24 bis 48 Stunden eingesetzt.
Franz weist auf die schlechten Erfolge der
Behandlung der Oberschenkelschußfrakturen im
letzten Kriege hin; es starben in den vorderen
Formationen 42,5 %, zu Hause 9 %. Es sind die¬
selben Zahlen wie im Kriege 1870/71. Unsere
Feinde hatten im Anfang 80 bis 95 % Sterblich¬
keit, sind dann aber auf 20 % gesunken, nachdem
sie 25 bis 30 % amputierten. Wir hätten mehr
primär amputieren sollen.
Zum Vorsitzenden für das nächste Jahr wurde
Hildebrand (Berlin) gewählt.
230
4 -
Die Therapie der Gegenwart 1921/
' Juni
Vom XVI. Orthopädenkongreß, Berlin, 18.—20. Mai 1921
Bericht von San.-Rat Dr. Georg Möller, Berlin.
Der diesjährige Orthopäden-Kongreß brachte
mancherlei, das auch den Nichtfacharzt inter¬
essiert.
SSpitzy (Wien): Frische Fälle von kalten
Abscessen mit Herdreaktionen auf Tuberkulin¬
impfung sind der Klimato- und Serumtherapie
zugänglich und erfordern, auch wenn sie Fisteln
zeigen, keine örtlichen Eingriffe. Ältere Fälle mit
nur schwacher Herdreaktion können durch ortho¬
pädische Behandlung, Strahlentherapie, Stauung,
Wärmeapplikation insoweit beeinflußt werden,
daß eine Abdrosselung des tuberkulösen Herdes
sich erreichen läßt. Es tritt raschere Verflüssigung
des Herdinneren ein. Abscesse werden entleert
Hoher Heilungsprozentsatz. Alte Herde ohne
Herdreaktion sind den genannten Therapien nicht
mehr zugänglich.
Wittek (Graz): Heliotherapie ist indirekt bei
allen tuberkulösen Erkrankungen, insbesondere
der sogenannten chirurgischen Tuberkulose
<Knochen, Gelenke, Drüsen, Peritoneum, Haut),
bei fast allen Blutkrankheiten (Anämie, Chlorose,
Leukämie) bei peripheren Neuralgien, bei Osteo¬
myelitis, bei Rachitis, ulcus cruris, Morbus Base-
dowii. Die Heliotherapie ist überall möglich und
soll überall durchgeführt werden. In der sonnen¬
armen Zeit durch Quarzlampen- und Röntgen¬
bestrahlung zu unterstützen.
Stein (Wiesbaden); .Das wirksame Prinzip
der künstlichen Lichtquellen ist wahrscheinlich in
den ultravioletten Strahlen zu suchen. Die natür¬
liche HDchgebirgssonne ist jeder künstlichen Licht¬
quelle überlegen. Die besten Erfolge werden bei
einer geeigneten Kombination der Röntgenbe¬
handlung mit künstlichen Lichtquellen bzw. natür-
iicher Sonne erzielt. Neben der Strahlen- und
Röntgenbehandlung ist die rein orthopädische
Behandlung in allen Fällen von Knochen- und
Gelenktuberkulose unerläßlich.
Gocht (Berlin): Die ambulante orthopädische
Behandlung wird bei tuberkulösen Knochen- und
Gelenkprozessen am Schultergürtel am bequem¬
sten mit Schienen- und Hülsenapparaten durch¬
geführt, am Hüftgelenk und der unteren Extre¬
mität durch entlastende, extendierende und ruhig¬
stellende Qipsverbände und Schienenhülsenappa¬
rate, an der Wirbelsäule und am Kreuzbein durch
entlastende und inklinierende Gips- und sonstige
Korsette, eventuell mit Kopfextensionsvorrich-
tungen.
Stossei (Mannheim) verwirft jedes gewalt¬
same Redressement bei koxitischen und goniti-
schen Kontrakturen. Für die Hüfte empfiehlt er'
Etappenverbände ohne Narkose, für das Knie
Ruhe, Wärme, vorsichtige Extension im Bett.
Bei starker Kontraktur Tenotomie und Osteotomie.
Georg Müller (Berlin) hat in zwei Fällen
schwerster gonkischer Kontraktionen durch paren¬
teraler Proteinkörpertherapie — er spritzte alle 2
bis 3 Tage 10 g Aolan (Ernst Fr. Müller) intra¬
muskulär ein"— günstige Erfolge erzielt
Erich Müller (Berlin): Die Rachitis, ist eine
allgemeine Stoffwechselkrankheit; sie tritt in den^
ersten Lebenswochen, vielleicht öfter schon vor
der Geburt, auf. Vitaminreiche* Nahrungsmittel
wirken günstig ein. Bestimmte endokrine Drüsen
stehen in Beziehung zum Knochenwachstum und
Kalkstoffwechsel. Zu den innersekretorischen
Drüsen scheint auch die Haut zu gehören, damit
wäre auch die erstaunliche Wirkung des Lichtes
zu erklären. Vitamine und Licht würden also auf
die Rachitis mittelbar durch die endokrinen
Drüsen wirken. Die diätetische Behandlung muß
schon in den ersten Lebenswochen, ja sogar schon
in den letzten drei Schwangerschaftsmonaten, in
denen das Skelett hauptsächlich gebildet wird,
einsetzen.
Huldschinsky (Berlin-Dahlem): Die Theorie
der Ultraviolettwirkung bei Rachitis verlangt
eine neue Theorie der Aetiologie. Diese muß inr
Lichtmangel begründet sein (Fehlen der Rachitis ^
bei Farbigen und Naturvölkern). Ferner; alle
Rachitis-Heilmittel haben Beziehungen zum Licht
(Phosphor, Sonne, Aetorophyle, Lebertran). Die
Prophylaxe muß schon im Säuglingsalter einsetzen
zur Verhütung der sogenannten orthopädischen
Rachitis und der sozial-hygienischen Schäden:
Zahncaries, Gesichtsverbildung, Zwergwuchs,
Plattfuß, Skoliose. Das Ziel der Strahlentherapie
muß das modellierende Redressement sein, d. i.
die allmähliche Einwirkung auf den verbildeten
Skeletteil im Erweichungszustand, unter Fixierung
des Resultates durch die Bestrahlung. Die Ultra-
violettherapie der Rachitis ermöglicht, statt die
Abheilung der Knochenweichheit abzuwarten, zu
angreifenden Methoden (gewaltsames und etappen-
weises Redressement) überzugehen.
Referate.
Der greise Begründer der wissenschaft¬
lichen Pharmakologie Prof. 0. Schmie¬
deberg überrascht seine Verehrer durch
eine inhaltreiche Abhandlung über die
Vorgänge bei der Zuckerausschei¬
dung im Diabetes, in der er die Ergeb¬
nisse zusammenfaßt, zu denen er mit
seinen Schülern im Laufe der Jahre ge¬
kommen ist. Es ist von großem Inter¬
esse, die Anschauungen des Altmeisters
kennen zu lernen, welche für uns auch
dann lehrreich sind, wenn wir uns ihnen
nicht vollkommen anschließen können. —
Zu den im Organismus leicht und voll¬
ständig verbrennbaren Stoffen der Fett¬
reihe gehört der Traubenzucker, die d-
Glykose, der unter den Stoffen dieser
Reihe, insofern eine Sonderstellung ein¬
nimmt, als er das einzige, als direkte
Energiequelle dienende Kohlehydrat ist.
Normalerweise wird keine Glykose im
Harn ausgeschieden. Selbst wenn man
größere Mengen davon direkt ins Blut
spritzt, geht nur sehr wenig in den Harn
über. Während bei unverändertem Oxyda¬
tionsvermögen des. Organismus und er¬
haltener Verbrennbarkeit der Glykose ein
richtiger Diabetes nicht entsteht und da
selbst in den schwersten Fällen von Dia¬
betes das Oxydationsvermögen unver-
231
Juni • Die Therapie der Gegenwart 1921
-___s___-- - - •_^_i!_^_^_^
’ ändert erhalten ist, muß im Diabetes der
Traubenzucker u/nverbrennbar und da¬
mit auch für die Zwecke des Organismus
unbrauchbar geworden sein. Dies ist
bisher in den Erörterungen über das Zu¬
standekommen der diabetischen Glykos-
urie nur wenig in Frage gekommen, und
doch ist es nach Schmiedeberg eine un¬
abweisbare Forderung für alle Diabetes-'
formen, deren Ursachen nicht in einer
Veränderten Nierentätigkeit zu suchen
sind. -Verfasser betrachtet zunächst den
Kohlenoxyddiabetes. Straub hat als
erster an Hunden festgestellt, daß bei
der Kohlenoxydvergiftung nur dann
Zucker im Harn auftritt, wenn die Tiere
vorher ausreichend mit Fleisch oder mit
Eiweiß oder Leim gefüttert waren. Bei
eiweißarmer, doch an Traubenzucker oder
Stärke reicher Kost blieb die Zuckeraus¬
scheidung aus. Rosenstein stellte aus
den Verdauungsprodukten des Fibrins
durch Pankreasgewebe ein möglichst leii-
cin- und peptonfreies alkoholisches Ex¬
trakt (diabetogene Substanz) dar, das
bei alleiniger Verfütterung keine, bei
Kohlenoxyd Vergiftung nach vorheriger
Verfütterung regelmäßig Glykosurie be¬
wirkte. Die Forderung der UnVerbrenn¬
barkeit des Zuckermoleküls kann beim
Kohlenoxyddiabetes dadurch erfüllt wer¬
den, daß die diabetogene Substanz mit
dem Zucker eine unverbrennbare Ver¬
bindung eingeht, aber erst bei der Ver¬
giftung. Durch einen derartigen Vorgang
läßt sich auch am einfachsten das Zu¬
standekommen der Glykosurie beim
Pankreasdiabetes und beim Diabetes me-
iitus erklären. Für die Bildung der un¬
verbrennbaren Zuckerverbindung kom¬
men drei Faktoren in Betracht; die Gly-
kose, die diabetogene Substanz und ein
aus dem Pankreas stammendes Ferment,
das aller Wahrscheinlichkeit nach unter
‘gewöhnlichen Umständen die Verbiiädung
der beiden ersten Substanzen verhindert.
Im normal ernährten Organismus sind
alle drei nebeneinander enthalten und im
Gleichgewicht; bei Änderung des gegen¬
seitigen Mengenverhältnisses kommt es
zur Störung desselben. Bei allen drei
Diabetesformen ist demnach die Zucker¬
ausscheidung sowohl von dem Fortfall
oder der Verminderung der Ferment¬
wirkung und vom Zuckergehalt des Or¬
ganismus als auch von einer verstärkten
oder verminderten Bildung von diabeto-
gener Substanz abhängig. Naunyn hat
wiederholt betont, daß in Fällen von
schwerem Diabetes melitus der Zucker-
I _ ■ .
gehalt des Harns meist umso größer ist,
je mehr Fleisch gegessen wird und daß
in vielen Fällen der Harn nur bei geringen
Fleischrationen zuckerfrei wird. Was
die Wirkung des Plilorizins anbetrifft,
so denkt Schmiedeberg an eine., läh¬
mende Wirkung des Phlorizins auf das
Pankreas, wodurch die Wirkung des
eben erwähnten Ferments unterdrückt
werden würde. Es wäre danach der Phlo-
rizin- ein Pankreasdiabetes. Dagegen
spräche nur das Fehlen der Hypergly¬
kämie, die jedoch nach Schmiedeberg
keine notwendige Bedingung für das Zu¬
standekommen eines Diabetes ist. Sie
hängt von der Geschwindigkeit der Ab¬
spaltung des Zuckers und der diabeto-
genen Zuckerverbindung und seiner Aus¬
scheidung in den Nieren ab; aber die
Geschwindigkeit besteht nur im Ver¬
hältnis zur Geschwindigkeit der Bildung
der diabetogenen Zuckerverbindung. —
Der Adrenalindiabetes ist höchstwahr¬
scheinlich ein Pankreasdiabetes, da experi¬
mentelle Untersuchungen eine' lähmende
Wirkung des Adrenalins auf das Pankreas
ergeben haben. Dadurch kommt es auch
hier zum Fortfall der Fermentwirkung
und zur Bildung der unverbrennbaren
Zucker Verbindung. Kamnitzer (Berlin).
(Zschr. f. exper. Path. ii. Pharmakol., Bd. 90,
H. 1 u. 2.)
Zur Frage der Verletzung der großen
Halsgefäße und ihrer Behandlung berich¬
tet H. Gödde (Oberhausen). Nach einer
Zusammenstellung Weises aus der neue¬
ren Literatur wurde nach Carotisver¬
letzungen mit Aneurysmabildung, also
älteren Verletzungen, fünfzehnmal die
Unterbindung ausgeführt, achtmal an
der Carotis communis, siebenmal an der
Carotis interna. Davon wurden sieben
Patienten geheilt, vier starben, vier er¬
litten schwere centrale Lähmungen. Von
fünfzehn Verletzungen, bei denen die
Gefäßnaht ausgeführt wurde, heilten vier¬
zehn, einer starb.
Bei frischen Carotisverletzungen wurde
fünfzehnmal unterbunden, davon zweimal
Carotis interna. Fünf wurden geheilt,
drei starben, sieben trugen schwere Läh¬
mungen davon. Zweimal wurde die
, primäre Naht mit sehr gutem Erfolg aus¬
geführt.
In Göddes Fall, Minensplitterver-
letzLing, die zwei Stunden nach dem Un¬
fall zur Operation kam, war die Vena
jugularis interna vollkommen zerfetzt, die
Carotis communis ganz durchschlagen.
Beide Gefäße wurden unterbunden. Glatte
232 Pie Therapie der Gegenwart 1921 ' VJitnl
Heilung ohne Lähmungserscheinungen.
Der drohende Zustand des Patienten er¬
laubte nicht, die Gefäßnaht auszuführen,
die sonst die Methode der Wahl sein
muß. W. Heyn (Berlin).
(D. Zschr. f. Chir., Bd. 161, Heft 3/5.)
Um aus der weiblichen Harnröhre
Sekret zu entnehmen, ohne die Patientin
irgendwie zu belästigen, gibt Ottow
einen neuen Handgriff an, der sich sehr
bewährt hat: Nach dem üblichen Reinigen
der äußeren Geschlechtsteile mit einem
Sublimatwattebausch wird ein Sims-
sches rinnenförmiges Scheidenspecctilum
eingelegt, wodurch die Vulva entfaltet
und das Ostium ext. der Harnröhre frei¬
gehalten wird. Sobald nun der Zeigefinger
der linken Hand in der Rinne vorgeführt
und hinter der Schoßfuge in .sagittaler
Richtung auf die Harnröhre aufgelegt
ist, soll er nicht ausstreichend oder aus¬
drückend vorgezogen werden, sondern
an Ort und Stelle liegen bleiben, wobei
nur eine kräftige sukzessive von der
Fingerspitze zur Fingerwurzel fortschrei¬
tende Druckbewegung ausgeübt wird.
Auf diese Weise gelingt es, den Sekret¬
tropfen herauszubekommen, ohne daß
eine Gefahr des Verwischens besteht.
Die rechte Hand kann nun mühelos in
üblicher Weise das Sekret entnehmen.
Pul Vermacher (Charlotenburg).
(Zbl.f. Gyn; 1921,. Nr. 16.)
Gustave Dar de 1 (Bern) beschreibt
einen Fall von doppelseitiger Hydro-
nephrose mit Anurie bei Wandernieren.
Gegenüber den Anschauungen früherer
Autoren, die die Wandernieren im all¬
gemeinen als unschädliche Anomalien an¬
sahen, wissen wir heute, daß die Ren
mobilis in nicht seltenen Fällen, sei es
durch den Schmerz, sei es durch die Ver¬
änderungen, die sie den Nieren selbst
oder den benachbarten Organen verur¬
sacht, oft die Veranlassung sehr ernster
Krankheitsbilder sein kann.
Die erworbene Hydronephrose gehört
zu denjenigen Nierenerkrankungen, die am
häufigsten doppelseitig Vorkommen. Auch
die Wanderniere findet sich, obwohl sie in
der überwiegenden Mehrzahl der Fälle auf
der rechten Seite lokalisiert ist, nicht
selten doppelseitig. Eingehende Berück¬
sichtigung der diesbezüglichen Literatur.
Sehr instruktiv ist in Dardels Fall
die Anamnese. (Zeitweise vollkommene
Anurie, dann wieder Entleerung sehr
großer Mengen Urins, sehr wechselnde
Harnmengen, Schmerzen, sichtbare Vor¬
wölbung des Abdomens usw.)
Nach mehreren vorausgegangenen ty¬
pischen Anfällen rechtsseitiger inter¬
mittierender Hydronephrose hatte sich
die Hydronephrose plötzlich definitiv ge¬
schlossen. Operation: Einnähung des
rechtsseitigen hydronephrotischen SackeS
in die Haut. Ureter ließ sich nicht bis zur
Blase sondieren.
Nun anscheinend linksseitige ,,r€flek-
torische‘' Anurie — und auch linksseitige
Nierenbeckendraiiiage nach außen. Auch
hier gelang es nicht, den Ureter bis zur
Blase zu sondieren. Patientin (64jährige
Frau) starb sieben Stunden nach der
zweiten Operation.
Autopsie ergab folgenden Befund:
Linke Niere leicht vergrößert, Kapsel
adhärent, Schnittfläche gelblich, leicht
getrübt. Rinde 4 mm breit. Mark¬
pyramiden klein, Nierenbecken sehr er¬
weitert. Der linke Ureter, der spitz¬
winklig vom Becken abgeht, ist sehr eng,
aber bis zur Blase durchgängig.
An der Stelle der rechten Niere fand
sich nur ein großer, schlaffer, dünnwandi¬
ger Sack. Am unteren Pol noch ein
kastaniengroßer Nierenrest. "Der rechte
Ureter ist vollkommen abgeknickt, je¬
doch auch gut durchgängig.
Zum Schluß der Arbeit zwei Röntgen¬
bilder kollargolgefüllter hydronephroti-
scher Nierenbecken und Mitteilung der
Krankengeschichten.
Verfasser kommt zu der Überzeugung,
daß es sich empfiehlt, Wandernieren früh¬
zeitig zu behandeln, bevor es zur Aus¬
bildung einer Hydronephrose kommt.
Führt konservative (orthopädische) Be¬
handlung nicht zum Ziel, Nephropexie 1
W. Heyn (Berlin).
(Arch. f. klin. Chir., Bd. 115, Heft 1/2.)
Dr. Elisabeth Michaelsen schreibt
über- Invaginationen. Im Kranken¬
haus St. Georg kamen in den letzten
15 Jahren 343 Ileusfälle zur Beob¬
achtung, hiervon waren 43 = 12,5%
durch Invagination verursacht. Mehrere
Tabellen geben eine gute Übersicht über
die Dauer der Erkrankung, Therapie (Ein¬
lauf, Operation, die in Desinvagination
oder Resektion oder Anus praeter besteht)
und über die Häufigkeit in den verschie¬
denen Lebensaltern. Verfasserin kommt
am-Schluß ihrer Arbeit zu folgender Zu¬
sammenfassung:
Die meisten Invaginationen fallen auf
das Säuglingsalter (56%), auf das Kindes¬
alter 28%, auf Erwachsene 16%. Am
häufigsten ist die Invaginatio ileocoecalis,
bei den Säuglingen 100 %, bei größeren.
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1921
233
Kindern. 33%, bei Erwachsenen 14%.
Bei den beiden letzten Gruppen überwiegt
die iliacale Form.
Auf 43 Invaginationen kommen 3
{== 7%) doppelte Einscheidungen.
Ätiologie bleibt meist ungeklärt. Darm¬
katarrhe bei Säuglingen scheinen nur eine
untergeordnete Rolle zu spielen. Prädis¬
ponierend scheint ein mobiles Coecum oder
Sigmoid zu sein.
Ein die Invagination veranlassender
Tumor braucht nicht dauernd an der
Spitze derselben zu sitzen.
Nicht alle Invaginationen lassen sich
nach der spastischen Theorie Nothnagel-
Proppings erklären. Bei infiltrierenden
Tumoren muß man die Leichtenstern-
.sche Theorie der paralytischen Ent¬
stehungsweise heranziehen.
Der Krankheitsbeginn ist bei Kindern
meist viel stürmischer und schwerer, viel¬
leicht wegen des engeren Darmlumens.
Die Mortalität ist bei Säuglingen am
größten = 75%, bei größeren Kindern
33%, bei Erwachsenen 43%, im Durch¬
schnitt 58,1 %. Als Therapie verdient die
operative Desinvagination, even¬
tuell nach vorher versuchten Einläufen,
hei Säuglingen und Kindern den Vorzug.
Bei Erwachsenen gibt auch die. Resektion
gute Resultate. M. Borchardt (Berlin).
(D. Zschr. f. Chir., Bd. 161, Heft 3/5.)
Die elementare Gefahr jeder tiefen
Narkose besteht in der Überdosierung,
wobei die Wirkung auf die Medulla ob-
longata übergreift, was zum Atemstill¬
stand führt. Hierzu disponiert besonders
das Chloroform, das eine nur geringe Nar¬
kosenbreite hat. Ferner dem Chloroform
eigentümlich ist die meist tödlich endende
Herzsynkope, die eintreten kann, ehe es
überhaupt zur Allgemeinnarkose gekom¬
men jst. Außerdem beobachtet man nach
Chloroformnarkosen toxische Spättodes-
■fälle, die auf der Affinität des Chloro¬
forms zu dem Parenchym 'der großen Drü¬
sen sowie der Skelett- und Herzmuskulatur
beruhen. Hierbei können Zellschädigun¬
gen dieser Organe auch nach Ausschei¬
dung des Narkoticunis weiter zunehmen
und rasch zum Tode führen. Vorwiegend
dem Äther eigentümlich sind entzünd¬
liche Nachkrankheiten der oberen Luft¬
wege und der Lunge. Bel vorhandenen
Katarrhen ist deshalb die Narkose zu ver¬
meiden. Unbedingt dafür zu sorgen ist,
daß die Kranken nach Beendigung der
Narkose, während der jede Abkühlung
zu verhindern ist, nicht noch lange im
Halbschlaf liegen bleiben, sondern bald
wach werden und gehörig atmen. Auch
in den nachfolgenden Tagen ist eine
methodische Atemgymnastik fortzusetzen.
Ein wirksames Mittel zur Herabsetzung
der Reizwirkurig des Äthers besteht in der
gleichzeitigen Verabreichung von Atropin
(Morph, mtir. 0,2, Atrop. 0,01, Aq. dest.
ad 20,0, 20 Minuten vor Beginn der
Narkose 1 bis 2 ccm subcutan). Eine ge¬
legentliche Gefahr stellt die akute Magen¬
lähmung dar, die meist nach Bauchopera¬
tionen auftritt und deren erste und einzige
Symptome vielfach gesteigerter Durst,
Unruhe, leichter Anstieg des Pulses
sind. Weiterhin kann es zu gußweisem,
galligen Erbrechen, Auftreibung des
Leibes, Singultus und schließlich zum
Exitus kommen. Diese Komplikation
läßt sich durch Vermeidung allzu langer
Karenz vor der Operation und durch Zu¬
rückhaltung bei der Wiederaufnahme der
Nahrung verhindern. Sowohl nach Äther
als auch nach Chloroform kommt es viel¬
fach zu vorübergehender Acidose, die be¬
sonders beim Diabetiker bedenklich ist.
Wenn möglich, soll man deshalb bei
Zuckerkranken die Narkose zugunsten
der peripheren Anästhesie vermeiden.
Letztere ist in neuerer Zeit erheblich aus¬
gebaut worden. Wenngleich man auch
hierbei vor Komplikationen nicht absolut
sicher ist, so hat sie doch vor der Nar¬
kose mancherlei Vorteile. Für bestimmte
Operationen, wie z. B. solche des Ge¬
sichtes, des Schädels, des Halses, bei
Brustfellempyem ist sie besonders ge¬
eignet. Während bei Bruchoperationen
kleinere Eingriffe, wie z. B. Bauchopera¬
tionen, gut unter örtlicher Schmerzstil¬
lung vorgenommen werden können, ist
die für größere erforderliche Splanch-
nicusanaesthesie noch oft unvollständig.
Ebenso ist die bei Eingriffen am Hals
und am Rumpf in Beti-acht kommende
Paravertebralanästhesie nicht frei von
Zwischenfällen. Kamnitzer.
(Ther. Hmh. 1921, Nr. 6.)
Eppinger bespricht die Indika¬
tionen zur chirurgischen Behand¬
lung der Nephritis. Dieselbe sucht
durch Dekapsulation die extreme Span¬
nung der Nierenkapsel und die dadurch
herbeigeführte Nierenstauung aufzuheben.
Sie kommt im Verlaufe der akuten Ne¬
phritis in Betracht, wenn Anurie einge¬
treten ist. Am günstigsten sind die Aus¬
sichten, wenn die Operation innerhalb
der ersten 24 Stunden vorgenommen
wird. Ferner soll man dekapsulieren,
wenn die Obligurie im Verlauf einer aku-
30
'.234
Die Therapie der Gegenwart 1921 . Juni
ten Nephritis stark zunimnit. Auszu¬
schließen ist eine eventuelle Herzinsuffi¬
zienz. Außerdem, wenn das bedroh¬
liche Stadium der akuten Nephritis mit
hohem Blütdruck, Oligurie, Hämaturie
und Druckempfindlichkeit der Nieren
länger als einen Monat dauert. Bei chro¬
nischen Nephritiden wird man nur dann
eine Dekapsulätion erwägen, wenn es zu
einer akuten Exacerbation mit Anurie
und Hämaturie gekommen ist. Nieren¬
sklerosen kommen für die chirurgische
Behandlung nicht in Frage. Bei der aku¬
ten Nephrose läßt sich eine Anurife oft
durch die Dekapsulation bannen, ebenso
wie man damit bei nephritischer Massen-
blutung mit bedrohlicher Hämaturie
meist günstige Erfolge erzielen wird. Bei
nephritischer Nephralgie gelingt es ge¬
wöhnlich, durch die Dekapsulation die
Schmerzen zum Verschwinden zu bringen.
Bei sicherer einsichtiger Nephritis soll
man schon deshalb die Operation aus¬
führen, weil mit der Möglichkeit einer
nephrotoxischen Schädigung der bis da¬
hin gesunden Niere gerechnet werden
muß. Ebenso soll bei Nephritis aposte-
matosa die Dekapsulation unbedingt aus¬
geführt werden. Früher war die Eklam¬
psie in graviditate ein Indikationsgebiet
für die Entkapselung, doch ist dieser
Standpunkt allgemein verlassen,
JTher. Hmti. 1921, Nr. 8). Kamnitzer.
Mft Placenta-Opton, welches nach den
Angaben Abderhaldens von der Firma
Merck aus menschlichen Placenten her¬
gestellt wird — jede Ampulle enthält
0,05 Placenta-Opton —, hat Martin
(Elberfeld) recht zufriedenstellende Ver¬
suche angestellt. Zu beachten ist, daß
es im Gegensatz zu den Hypophysen¬
präparaten nur bei den Fällen angewandt
wurde, bei welchen ohne voraufgegangene
Wehentätigkeit die Fruchtblase ge¬
sprungen war. Während man vorher
durch die aufgelegte Hand keine Wehen
beobachten konnte, traten letztere sofort
nach der ersten Einspritzung auf, wobei
sonstige Mittel zur Anregung der Geburt
nicht herangezogen wurden. Es konnte
so festgestellt werden, daß durch das
Placenta-Opton rhythmische Zusammen¬
ziehungen des Hohlmuskels ausgelöst
wurden. Wenn auch in den einzelnen
Fällen die Wirkung verschieden war, so
tritt' doch deutlich hervor, daß im all¬
gemeinen ein Eintritt der Wehen erzielt
wurde. War erst das erreicht, so ließen
die Wehen nicht mehr nach; meist wurden
vkv Ampullen innerhalb acht Stunden in
die Glutäen - injiziert. Weder für die
Mutter, noch für das -Kind trat eine
Schädigung ein. Demgegenüber war das
Mittel bei überfälligen Schwangeren. er-
Jolglos.. Über die Art der Wirkung läßt
sich bis jetzt noch nichts sagen, nur das
steht fest, daß im Placenta-Opton Be¬
standteile enthalten sind, welche rhyth¬
mische Zusammenziehungen des Hohl--
muskels auslösen. Zu gleichem Resultat
ist auch Puppe 1 bei seinen Versuchen
mit dem Placenta-Opton gekommeUj,
dessen Arbeit in demselben Heft steht.
Pulver mach er (Charlotten bürg.)
(Mschr. f. Geburtsh. 1921, Heft 5.)
In einer bemerkenswerten Abhandlung
zur Heilbarkeit des Tabes teilt uns
G. L. Dreyfus seine langjährigen Er¬
fahrungen in der Behandlung dieser
Krankheit mit. Während er anfänglich
(1911—1913) abwechselnd Salvarsan und
Quecksilber gab, ist er seit sechs Jahren
von der kombinierten Kur abgekommen,
weil er beobachtet hatte, daß diese dort
schadete, wo das Salvarsan allein später
noch Nutzen brachte. Das Jod dagegen
soll in den behandlungsfreien Zwischen¬
räumen gegeben werden. Wenn man bei
der Behandlung der Tabes Erfolge er¬
zielen will, darf man in der Wahl des
Salvarsanpräparates und der Einzeldosis
sich an kein Schema halten. Für alle
Tabiker aber gilt die Grundforderung:
,,große Gesamtdosis (4—5 g Silbersal-
varsan, 8—10 g Neosalvarsan usw.) wäh¬
rend einer Kur bei vorsichtigster Einzel¬
dosierung, und chronisch intermittieren¬
der Behandlung“. Die behandlungsfreien
Zwischenräume sollen etwa 3—6 Monate
betragen, die ganze Kur währt durch¬
schnittlich drei bis fünf Jahre. Nur äu¬
ßerste Zähigkeit des Arztes und unent¬
wegte Ausdauer ermöglichen Besserung
oder gar Heilung. An dem Krankheits-^
verlauf eines Tabikers, den D. in der
Lage war, über mehr als zehn. Jahre zu
beobachten, wird gezeigt, w^as durch eine
konsequent durchgeführte Kur erreicht
werden kann. Während der ersten vier
Beobachtungsjahre, während welcher
Zeit eine Schmierkur, eine einmalige intra¬
muskuläre Salvarsaninjektion und eine
Kalomelkur deutliche Verschlimmerung-
hervorriefen, schritt das Leiden unauf¬
haltsam fort. Im Verlauf und nach dee
ersten Salvarsankur trat jedoch einr
deutliche Besserung ein, die anhielt und'
bei konsequent durchgeführter Weiter¬
behandlung zum Verschwinden nahezir
aller subjektiven und objektiven Sym-
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1921
235
ptome ' führte. Entsprechend dem kli-
nischp Verhalten wurde die Wassermann¬
reaktion im Blut negativ und der Liquor,
der früher die für Tabes charakteristischen
Veränderungen' aufwies, zeigte wieder
einen normalen Befund.
(Wir sind auch Anhänger specifischer
Therapie der Tabes und sind ebenfalls der
•Meinung, .daß das Heil in häufig erneuter
Behandlung liegt, bei möglichster Be¬
achtung des Allgemeinbefindens. Wir
haben aber auch von Schmierkur ‘ und
Kalomel oft gute Erfolge gesehen. Die
Einzelbeqbachtung, auf die Dreyfus sich
beruft, kann nicht viel beweisen; Ver¬
schlimmerungen ebenso wie langdauernde
Stillstände sieht man auch ohne Behand¬
lung. Nur lange Beobachtungszeiten ent¬
scheiden. Aus solchen entnehmen wir
im Krankenhaus Moabit die Lehre, daß
zwischen Hg und Salvarsan in der Tabes¬
therapie kein wesentlicher Unterschied
besteht). Horovitz (Berlin).
Dr. C. Mau (Kiel) berichtet über
die Tuberkulindiagnostik in der chir¬
urgischen • Tuberkulose. Ein Material
von 99 Fällen mit 111 teils sicher tuber¬
kulösen, teils . tuberkuloseverdächtigeri
Erkrankungsherden. Fälle mit klinisch
nachweisbarem Lungenbefund wurden
ausgeschlossen. Technik: In allen Fällen
zunächst Pirquet, bei negativem Ausfall
desselben noch intracutan 0,1 mg und
1,0 mg Alttuberkulin Koch, bei positivem
Ausfall gleich die subcutanen Proben.
Ursprünglich Beginn mit 0,2 mg, in den
letzten Fällen gleich mit 1,0mg,dann 5,Obis
10,0 mg. Die Probe wurde abgebrochen,,
wenn deutliche Herdreajction eintrat.
. Injektionszeit morgens. Injektionsstelle:
Bauchhaut (ausgenommen die Fälle von
Bauchtuberkulose). Bei fieberhaften Reak¬
tionen Wurden vor der nächsten Injektion
zwei temperaturnormale Tage abgewartet.
Die behandelten Fälle umfassen das
ganze Gebiet der chirurgischen Tuber¬
kulose. Die Ergebnisse faßt Verfasser
einerseits nicht so optimistisch wie Kopp¬
ler, Bromeyer u. a., aber auch nicht
so pessimistisch wie Sundt und Duth-
weiler in ihren Arbeiten auf. Verfasser
konnte eine positive Herdreaktion in etwa
zwei Drittel der Fälle chirurgischer Tuber¬
kulose beobachten. Geschlossene Tuber¬
kulosen reagierten häufiger positiv als
fistelnde und mit Abscessen komplizierte;
Ausgeheilte Fälle gaben keine Herd¬
reaktion. Nur subjektive. Angaben einer
Herdreaktion sind nicht eindeutig. Bei
negativem Ausfall sämtlicher Reaktionen
ist Tuberkulose mit Sicherheit auszu¬
schließen, beim negativen Ausfall von
Temperatur- und Herdreaktion- bei posi¬
tiver Stichreaktion mit großer Wahr¬
scheinlichkeit abzulehnen.
Eine negative Herdr^ktion bei posi¬
tiver Temperaturreaktion spricht nicht
gegen Tuberkulose. Jedenfalls ist die
diagnostische Tuberkulininjektion, wenn
sie auch nicht in allen Fällen zum Ziel:
führt, doch eine wertvolle Bereicherung,
der Diagnostik und, wenn sie genau tech¬
nisch ausgeföhrt wird, jedenfalls un¬
schädlich.’ M. Borchardt (Berlin).
(D. Zschr. f. Chir., Bd. 161, Heft 3/5.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Aus dem städtischeii Krankenhaus Südufer-Eerlin (leitender Arzt: Dr. Georg Eisner)
Über Optarson, eine Solarson«Strychninmischung.
Von Dr. Georg Eisner.
Von den Farbenfabriken vorm. Bayer
& Co., Leverkusen, ist mir seit etwa
drei viertel Jahren ein Präparat zur Ver¬
fügung gestellt worden, das in 1 ccm neben
0,01 g Solarson (= 4 mg ASoOg) zunächst
0,75 mg, später 1 mg Strychninum nitricum
enthielt und jetzt unter dem Namen
Optarson in Ampullen zur subcutanen
Injektion in den Handel gekommen ist.
Das Anwendungsgebiet ergibt sich ohne
weiteres aus der Art der Zusammensetzung
des Mittels. Ich brauche deshalb nicht
näher darauf einzugehen und will nur auf
die Arbeit von Blank (1) hinweisen, der
kürzlich die Anwendungsmöglichkeiten des
Strychnins näher auseinandergesetzt hat.
Es sei nur noch erwähnt, daß Wenke-
bach (2) das Strychnin sehr für die Be¬
handlung der Extrasystolie empfiehlt, und
daß kürzlich von W. Cohn (3) und Firn¬
haber (4) die Bedeutung des Solarsons
für die Behandlung gewisser Herzkrank¬
heiten, besonders solcher nervöser Natur,
hervorgehoben wurde.
Ganz neu ist die kombinierte Behand¬
lung mit Arsen und Strychnin nicht. Ab¬
gesehen davon, daß viele Ärzte schon
immer bei ihren Verordnungen derartige
Zusammenstellungen gemacht hatten, gab
es auch bereits im Handel ähnliche Ver-
30*
236
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1921
binduligeii. Burrougli-We llcome hatten
mehrere derartige Präparate hergestellt.
Das Asthonin (MBK.) und das Strych-
notonin (ein ungarisches Präparat) sind
Verbindungen von Arsen, Strychnin und
glycerinphosphorsaurem Natron. Beide*
Mittel gelten als gute roborierende und
tonisierende Präparate. — Der Vorzug
des Optarsons beruht auf der nunmehr
von zahlreichen Autoren anerkannten be¬
sonderen Wirkung des Solarsons.
Über den Wert des Optarsons kann
ich mich sehr kurz fassen. Ich habe bei |
40 bis 50 Kranken, bei denen eine dem
Mittel entsprechende Indikation vorlag,
die Behandlung durchgeführt und fast
immer gute, mitunter sogar ausgezeichnete
Erfolge gesehen. Meist wurden allerdings
20 bis 25 Injektionen, mehrmals sogar 30
vorgenommen, bei einigen Kranken täg¬
lich, bei anderen alle zwei Tage. Ohne
auf Einzelheiten näher eingehen zu wollen,
sei nur hervorgehoben, daß die meisten
Patienten sich schon nach wenigen Ein¬
spritzungen frischer und kräftiger zu
fühlen begannen, sie wurden ruhiger,
schliefen gut, bekamen vor allem Appetit
und nahmen infolgedessen schnell an Ge¬
wicht zu'. Es wurden Körpergewichtszu¬
nahmen bis zu 20 bis 25 Pfund in wenigen
Wochen gesehen. Zunahme des Hämo¬
globingehaltes und Steigen der roten Blut¬
körperchenzahlen war stets in mehr oder
weniger hohem Grade festzustellen. Nach
den bisherigen Beobachtungen war der
Erfolg auch kein schnell vorübergehender,
sondern hielt lange Zeit an.
Zwei Fälle seien kurz besonders er¬
wähnt. Es handelte sich um Erschöp¬
fungszustände nach Encephalitis le-
thargica mit noch deutlich vorhandenen
Zeichen dieser Erkrankung, sehr größer
Mattigkeit, Teilnahmslosigkeit und einer
gewissen Schlafsucht. In beiden Fällen
trat nach Optarsonbehandlung eine auf¬
fallende Besserung ein. Die Kranken er¬
holten sich schnell, sie würden lebhaft
und munter und bekamen Interesse für
die Vorgänge um sie herum. Ich empfehle
das Optarson für die postencephalitischen
Zustände, wie überhaupt für postinfektiöse
Schwächezustände, besonders. — Einen
ganz ausgezeichneten und noch besonderer
Erwähnung werten Erfolg hafte ich bei
einer 42 jährigen Patientin mit perniziöser
Anämie. In zweieinhalb Monaten stieg
unter Verabfolgung von insgesamt 66 ccm
Optarson der Hämoglobingehalt von 20%
auf 80% (nach Sahli), die Erythrocyten-
zahl von 1 172000 auf 3390000. Das
Blutbild, das anfangs Anisocytose,
Poikilocytose, Megalocytose, Polychrom-
atophilie und vereinzelte Normoblasten
aufwies, wurde fast ganz normal. Der
Allgemeinzustand besserte sich ent¬
sprechend. Die Patientin fühlte sich
völlig gesund und zeigte eine frische
Gesichtsfarbe.
Die bisher mitgeteilten günstigen Beob¬
achtungen von G. Klemperer (5) und
Lange (6) kann ich auf Grund meiner
Resultate bestätigen.
Literatur: 1. Blank (Th. d. Geg. 1920, 9).
— 2. Wenkebach, Die unregelmäßige Herz¬
tätigkeit und ihre klinische Bedeutung. Verlag
W. Engelmann. 1914. — 3. W. Cohn (Th. d. Geg.
1920, 11). — 4. Firnhaber (Th. d. Geg. 1921, 1).
— 5. G. Klemperer (Th. d. Geg. 1921, 3). —
6. Lange (D. m. W. 1921, 17).
Zur Therapie des Erysipelas migrans.
Von Dr. Hugo Schmidt, Bad Liebenstein, früher Straßburg i. Eis.
•Jedermann weiß, daß sowohl die
essigsaure Tonerde, wie auch der Alkohol
•ein gutes Desinfektionsmittel ist. Beide
Mittel werden zur Behandlung des Ery¬
sipels mit Recht empfohlen. Besser aber
ist noch die Kombination beider,
etwa in folgender Verbindung:
Rp. Liqu. aliim. acet. 5,0
Aqu . 50,0
Spir, dil ad , . 100,0
Statt Spir. dil. kann auch der 75 %ige
Alkohol oder der gewöhnliche Brenn¬
spiritus verwendet werden. Beide Vari¬
anten scheinen mir in praxi die gleiche
desinfektorische Kraft zu besitzen, die —
soviel mir bekannt — auch wissenschaft¬
lich erprobt und bestätigt ist.
Diese Kombination von verdünnter
essigsaurer Tonerde mit Spiritus ist zwei¬
fellos ein kräftigeres Desinfektionsmittel
als seine Komponenten einzeln ver¬
wendet. Es bewährt sich ganz ausge¬
zeichnet bei Phlegmonen der Haut mit
fortschreitendem, bösartigem Charakter,
und vermag den entzündlichen Prozeß
auffallend schnell zu lokalisieren. Deshalb
verwendete ich es in obiger Form kürzlich
bei einem Erysipel eines dreimonatigen
Säuglings, das von einem Halsintertrigo
aus bereits über die ganze Brust und beide
Schultern vorgedrungen war. Das Mittel
wurde zu Umschlägen verwandt, die über
das ganze Gebiet der entzündeten Haut
gelegt und jedesmal dann wieder erneuert
Die Therapie der Gegenwart 1921
237
Jani
wurden, sobald sie trocken geworden |
"waren: Der Erfolg war prompt. Innerhalb
drei Tagen war das Erysipel an allen
Stellen zum Stillstand gebracht und nur
wenig über die oben beschriebenen An¬
fangsgrenzen hinausgewa'hdert.
Bald darauf probierteMch das Mittel
auch bei einer Mastitis acuta puerperalis,
die in der Nähe des Warzenhöfes be¬
gonnen hatte, mit dem Erfolg, daß die
Phlegmone in ganz engen Grenzen lokali¬
siert blieb, die eitrige Reifung innerhalb
z)yei Tagen erfolgte und nach der In-
cision der ganze Prozeß in acht Tagen
abgeheilt war. Dabei brauchte das Kind
nicht abgesetzt zu werden, sondern trank
I vermittels eines .Warzenhütchens an der
erkrankten Brust weiter.
Wenn man bedenkt, welch’ heikle Er¬
krankung eine phlegmonöse Mastitis
puerperalis darstellt, so muß man ge¬
stehen, daß mit dem genannten Mittel
hier cito, tuto et jucunde geheilt worden
war. Eine Empfehlung der glücklichen
Kombination, der verdünnten essigsauren
Tonerde mit Spir. dil. beziehungsweise
Brennspiritus erscheint mir aber gerade
für Erysipel angebracht und zwar um so
mehr, als die einzelnen Bestandteile
leicht zu beschaffen, unter. Umständen
sogar in der Familie selbst alle vorrätig
sind.
Aus dem Dermatologisclien Institut von Dr. Bah und Dr. Tr eitel, Berlin.
Mitigal, ein neues Krätzemittel.
Von Dr. Wilhelm Stein, Assistenzarzt.
Unter den zahlreichen Mitteln zur
Krätzebehandlung sind die meist be¬
währten für den Patienten, der nament¬
lich in der Privatpraxis die ambulante
Durchführung der Kur wünscht, dadurch
unangenehm, daß sie die lästige Neben-
^wirkung starken Geruches oder unan-
"genehmer Beschmutzung der Wäsche mit
sich bring'en. Antiscabiosa, denen diese
Nachteile nicht anhaften, sind in letzter
Zeit im Preise so gestiegen, daß wir un¬
sere Erfahrungen mit Mitigal hier zur
Kenntnis bringen, da es sich uns durch
seine gute Wirkung, seine Unschädlich¬
keit für den Patienten und seine Billig¬
keit bewährt hat.
Chemisch stellt Mitigal eine organische
Schwefelverbindung mit fest im Kern ge¬
bundenen Schwefel dar. Der Gehalt an
Schwefel ist ungefähr 25 %. Mitigal ist
ein hellgelbes, dickflüssiges Öl, das fast
als geruchlos zu bezeichnen ist. In der
Kälte manchmal vorhandene Trübung
der Flüssigkeit verschwindet bei mäßiger
Erwärmung.
Wir haben Mitigal in folgender Weise
angewandt:
Der ganze Körper, der Hals bis zum
Schildknorpel ausgenommen, wurden
gründlich mit der Flüssigkeit eingerieben.
Der^ Patient, der in den meisten Fällen
di€ Einreibung selbst vornahm, rieb sich
mit der Hand fest ein. Wir. ließen die
Patienten die Einreibung abends vor dem
Schlafengehen vornehmen und am darauf¬
folgenden und dritten Tag, im ganzen
dreimal, wiederholen. Am fünften Tage
gaben wir ein Reinigungsbad, den Ange¬
hörigen der Krankenkassen meist ein
Schwefelbad. In einzelnen Fällen mußte
die Kur wiederholt werden, da infolge
wochenlangen Bestehens der Scabies Aus¬
schläge vorhanden waren. Auch diese
'Pustelbildungen heilten unter Mitigal-
anwendung sehr schnell ab. Bei einem
hartnäckigen Fall wurden die nach der
Kur noch vorhandenen Borken mit er¬
weichenden Salben nachbehändelt.
Meist beseitigte schon die erste Ein¬
reibung den Juckreiz, nach dreimaligem
Einreiben gaben alle Patienten an, daß
derselbe geschwunden sei. Rezidive wur¬
den bei den von uns nachuntersuchten
Patienten nicht beobachtet. Bei einigen
Patienten, die nach sechs Wochen wegen
anderer Erkrankung wieder erschienen,
konnten wir uns von dem Dauererfolg der
Behandlung überzeugen.
Schädigende Nebenwirkungen traten
bei Durchführung der Behandlung nicht
auf. Intensive Entzündungserscheinungen
der Haut, wie Ekzeme, Dermatitis und
andere, wie sie andere Krätzemittel öfter
hervorrufen, konnten wir nicht feststellen.
Die Urinkontrolle ergab ebenfalls die
Unschädlichkeit des Mittels, im Gegensatz
zum Perubalsam und seinen Ersatzmit¬
teln, die öfter die Nieren in Mitleiden¬
schaft ziehen. Was die Patienten in An¬
betracht der Knappheit an Wäsche be¬
sonders angenehm empfanden, war der
Umstand, daß Mitigal nur wenig Flecken
hervorrief und keinerlei störenden Geruch
besitzt.
238
Die Therapie der Gegenwart 1921. ^ , Juni
Zittmannin, ein Unterstützungsmittel bei Salvarsan und Hg-Kuren.
^ ' Von Dr. med. Fritz Fulda, Mannheim.
Gerade in unserer Zeit, welche die I
Erfolge der Salvarsanbehandlung in ihren |
verschiedenen Formen voll anerkennt, |
erscheint es angebracht, auf ein Präparat |
hin'zuweisen, welches dazu angetan ist, i
die Wirkung dieses vorzüglichen Heil¬
mittels zu verstärken und zu erleichtern.
In einer großen Reihe von Fällen muß
wegen Zeit- oder Geldmangel von Bade¬
kuren abgesehen werden, in vielen Fällen
kann nur eine leichte intercurrerite Jod¬
oder Quecksilberkur angewandt werden.
Deshalb ist es um so erfreulicher, wenn
man zur Unterstützung der Heilwirkung
und als Mittel zur Nachkur zu einem
Medikamente greifen kann, das sich ohne
jede Berufsstörung und unangenehme
Nebenerscheinungen anwenden läßt. Es
ist dies das seit langen Jahren erprobte
und anerkannte Sarsaparillepräparat, das
schon im Jahre 1536 von Nikolaus
Monardos in Sevilla als wirksames Heil¬
mittel gegen Syphilis erwähnt wurde.
Nach Europa kam die Sarsaparille durch
die Spanier, welche bei den Eingeborenen
von Amerika die Droge als hochgeschätz¬
tes Mittel gegen Haut- und Geschlechts¬
krankheiten kennengelernt hatten. Spä¬
ter hat die Sarsaparille als Mittel gegen
Lues und auch als Blutreinigungsmittel
im Arzneischatz aller Länder Aufnahme
gefunden. In Deutschland erschien das
bekannteste Präparat, das Dekokt Zitt-
manni, nach dem Dresdener Arzte Dr.
Zittmann so genannt; es fand so auch in
den Arzneimittellehren Aufnahme und
hat auch bis heute dort seinen Platz be¬
hauptet. Seltsamerweise liegen exakte
Forschungen über die Sarsaparille trotz
ihres großen Verbrauchs nicht vor. Ihre
Anhänger betonen die große durch¬
greifende Blutreinigung und fassen in
diesem Begriff die erhöhte Anregung von
Diurese und Schweiß, sowie die Ver¬
mehrung von Speichel- und Schleim¬
absonderung zusammen.
Der Hauptgrund, warum die An¬
wendung der Sarsaparille in Deutschland
im Vergleich zum Ausland, wo sie weit
verbreiteter ist, weniger Anhänger hat,
liegt in der veralteten Darreichungsform ,
des Dekokt Zittmanni. Deshalb war es,
notwendig, die Präparate der Sarsaparille
in eine bequeme, leicht anzuwendende
Form zu bringen, wie es nun tatsächlich
durch die Zittmannintabletten gelungen
ist. Diese sollen als Nachkur nach Sal-
I varsan und Quecksilber während der
I Karenzzeit oder in Fälten, wo eine Gegen-
I indikation gegen Salvarsan besteht, an-
I gewendet werden. Besonders zu emp-
I fehlen ist das Zittmannin auch bei Patien¬
ten, die schlechter Ernährungsverhältnlsse
halber gegen Salvarsan in größeren Men¬
gen empfindlich sind, sodaß die kleinen
Dosen zu einer vollständigen Heilwirkung
nicht genügen. ' Auch als Kombination
mit einer Schmierkur werden die Zfft-
mannintabletten mit Erfolg angewandt.
Außerdem haben die Tabletten noch den
nicht geringen Vorzug der billigeren Ver¬
ordnungsweise. Sie kommen in Schach¬
teln zu 40 und 80 Tabletten in den Handel.
Die Dauer der Kur soll vier bis sechs
Wochen währen, nht Verordnung von
dreimal zwei bis dreimal vier Tabletten
täglich.
Die Absicht, die Heilkraft der Sarsa¬
parille vollkommen auszunutzen, dabei
aber ein Mittel herzustellen, das sich
leicht und bequem nehmen läßt, ohne
Berufsstörung zu erzeugen, darf durch
die angestellten Versuche wohl als ge¬
lungen betrachtet werden. Dabei darf
nicht vergessen werden, daß das Präparat
völlig ungiftig ist, und somit ohne schäd¬
liche Nebenwirkung in vorgeschriebener
Dosis monatelang genommen werden kann.
Mit Sicherheit ist anzunehmen, daß Zitt¬
mannin den Körper auf nachfolgende,
anstrengende Salvarsan-und Quecksilber¬
kuren langsam vorbereitet; auch nach
beendeter Salvarsankur konnte beob¬
achtet werden, daß sich die Patienten
unter dem Einfluß von Zittmannin rascher
erholten. Alte luetische Geschwüre heil¬
ten schneller ab und verschwanden bald
ganz ohne Anwendung von anderen Heil¬
faktoren.
Zusammenfassend kann wohl behaup¬
tet werden, daß in dem Zittmannin ein
Mittel gefunden wurde,, das gute und zu¬
verlässige Dienste leistete, anstrengende
antiluetische Kuren einzuleiten, Salvar¬
san und Quecksilberkuren wirksam zu
unterstützen und zu einer befriedigenden
Nachkur'zu dienen.
Zur Beleuchtung der guten Heil¬
erfolge dienen , die fachärztlichen- Beob¬
achtungen von Dr. med. Richter in Ber¬
lin, welche in der Klin. ther. Wschr. 1920,
Nr. 29/30, veröffentlicht wurden, und
der Bericht des Dr. med. Graemer in
Juni ’ Die Therapie der Gegenwart 1921 239
Chemnitz in äen ,,Fortschr. d. M.“ 1920,
-Nr. 11. Den dort geschilderten Fällen
kann ich eine weitere Anzahl von Krank¬
heitsfällen anschließen, in welchen die
Zittmannintabletten spezifische, Kuren
in vorteilhafter Weise unterstützt haben;
wegen des Raummangels nehme ich von
der Wie^dergabe Abstand.
Nach den bisher gemachten Erfah¬
rungen darf angenommen werden, daß
die Zittmannintabletten, deren wirk¬
sames Prinzip ja schon lange geschätzt
wird, in ihrer angenehmen Datreichungs-
form ein wertvolles. Hilfsinittel bei der
spezifischen Behandlung der Lues in
allen Stadien darstellen.
VeroiFentlichiiiig der Arzneimittelkommission der Deutschen Gesellsohaft
für innere Medizin.
Die neuen Abkömmlinge des Chinins.
Während wir gegen Protozoenkrank¬
heiten im Chinin, im Salvarsan, im
Emetin zuverlässige ätiotrope Heilmittel
besitzen, war das gegenüber Bakterien¬
infektionen nicht der Fall, wenn wir von
der Salicylsäure absehen, die wahrschein¬
lich auf den unbekannten Erreger des
Gelenkrheumatismus ätiotrop wirkt.
Durch die Untersuchungen von Morgen-
roth und seinen Schülern haben sich in
gewissen Abkömmlingen des Chinins Stoffe
gefunden, die in anscheinend elektiver
Weise gegen Staphylokokken, Strepto¬
kokken, Pneumokokken und Diphtherie¬
bacillen ätiotrop wirken. Die von der
Chininfabrik Zimmer & Co., Frankfurt
a. M. hergestellten Stoffe sind Abkömm¬
linge des Hydrocupreins. Ihre chemische
Zusammensetzung und ihre Beziehungen
zum Chinin zeigt die folgende Zusammeng-
stellung:
Chinin; CiBHaoN 2 |
Cuprein; C 19 H 20 N 2 | q|^
r o H
Hydrocuprein: C19H22N2 |
Aethylhydrocuprein / OC 2 Hr)
(Optochin): C19H22N2 i OH
Isoamylhydrocuprein / OCöHu
(E ucupin): C19H22N2 (OH
Isooctylhydrocuprein / COsHi:
(Vuzin): C19H22N2 ( OH
Bei den Untersuchungen Morgen-
roths hat sich ergehen, daß allen eine
abtötende Wirkung, z. B. für Strepto¬
kokken gemeinsam ist, daß sich aber der
Grad der Wirksamkeit innerhalb der
homologen Reihe verschieden verhält.
Besonders empfindlich siiKl die Pneumo¬
kokken gegen Aethylhydrocuprein,
bekannt unter dem Namen Optochin.
Es kommt als im Wasser unlösliches Opto-
chinum basicum und als dessen salzsaures
Salz Optochinum hydrochloricum in
Wasser im Verhältnis 1:8 löslich, in den
Handel. Auch das schwerlösliche Opto-
cWnum tannicum und der Optochinsali-
' cylester wurden versucht. Es zeichnet
sich vor dem Chinin durch seine specifi-
sche Wirkung auf Pneumokokken aus,
die es bereits in Lösung vor 1:300 000 ab¬
tötet. Es hat sich daher bei der Pneumo¬
kokkeninfektion der Hornhaut, dem Ulcus
corneae serpens, in Einträufelung einer
0,5—l,0%igen Lösung als sehr wirksam
gezeigt. Auch bei der Pneumokokken¬
pneumonie ist es vielfach innerlich ange¬
wendet worden. Doch sind in der Be¬
urteilung die Ansichten der Ärzte immer
noch geteilt. Während die einen dein;
Optochin bei der Behandlung der Pneu¬
monie eine, specifische Wirkung zu
sprechen, bestreiten andere vollständig
das Vorhandensein derselben und schrei¬
ben ihm höchstens eine fiebervermin¬
dernde Wirkung zu. Man sieht aus den
I zahlreichen vorliegenden Veröffentlichun¬
gen, daß von der im Tierversuch und bei
der örtlichen Anwendung am Auge be¬
fundenen Wirkung bis zum Heilerfolge
bei der menschlichen Pneumonie noch
ein eben so weiter Schritt ist, wie bei der
Anwendung von Salvarsan zur Bekämp¬
fung der Syphilis des Menschen im späten
Stadium. Wenn wir uns. nun aus den
vorltegenden Mitteilungen ein Bild über
die klinischen. Erfahrungen machen wol¬
len, so stößt das auf verschiedene Schwie¬
rigkeiten, denn die Arbeiten sind außer¬
ordentlich ungleich, manche enthalten nur
wenige Fälle, der Anfang der Behandlung
war bald früh, bald spät und das Kranken¬
material je nach dem Alter und anderen
Umständen wechselnd. Die Anwendung
der statistischen Methode zur Beurteilung
des Heilwertes ist nur ausnahmsweise be¬
folgt. Um die Wirksamkeit eines Arznei¬
mittels richtig zu beurteilen, müssen eine
größere Anzahl von möglichst gleich¬
artigen Fällen abwechselnd teils ohne,
teils mit dem zu pfüfenden Mittel behan-
240
Die Therapie der Gegenwart 1921
Juni
delt werden. Diesen Grundsatz scheinen
mir zwei Autoren (Hess und L. Jakob)
befolgt zu haben. Der bekannte frühere
Erlanger Kliniker Penzoldt hat durch
Befragen einer größeren Anzahl von Kol¬
legen, auch auf Grund von Kranken¬
blättern aus Lazaretten und eigenen Er¬
fahrungen, sich ein ziemlich umfangreiches
Bild von der Wirkung des Optochins zu
machen versucht. Er kommt ebenso wie
wie die beiden genannten Autoren zu dem
Schluß, daß eine ätiotrope Wirkung auf
die menschliche Pneumonie bisher noch
nicht erwiesen ist. Das geht daraus her¬
vor, daß die Abkürzung der Krankheit
durch Optochin sich kaum nachweisen
läßt, wie eine statistische Zusammen¬
stellung zeigt. Man darf also vielleicht
nur zugeben, daß eine günstige Beein¬
flussung des Fiebers und auch des sub¬
jektiven Befindens des Kranken zu er¬
zielen ist, besonders dann, wenn die Be¬
handlung recht frühzeitig einsetzt.
Bezüglich der Dosierung ist in den
letzten Jahren insofern eine gewisse
Übereinstimmung unter den Ärzten fest
zustellen, als die Einzeldose von 0,2 g
Optochin. hydrochlor. oder 0,2—0,3 g Op¬
tochin. basicum angewandt wurde. Bei
letzterem hat man außerdem durch be¬
sondere diätetische Maßnahmen oder Dar¬
reichungen von Alkalien eine rasche Re¬
sorption infolge rascher Lösung im Magen
zu verhindern gesucht.
Von den Nebenwirkungen des Op¬
tochin, die bei der innerlichen Anwendung
verschiedentlich berichtet worden sind,
ist die am meisten gefürchtete die vorüber¬
gehende oder andauernde Schwächung i
des Sehvermögens, bis zur völligen Amau¬
rose. Bis vor drei Jahren waren etwa
60 Fälle von schweren Augenerkrankungen
infolge der innerlichen Optochinanwen-
dung bekannt geworden. Ob diese starke
Verminderung durch die zunehmende Ver¬
wendung der schwerlöslichen Optochin-
präparate und die Befolgung der diäteti¬
schen Vorschriften verursacht worden ist,
wie manche Ärzte annehmen, ist fraglich,
denn in der Mehrzahl der Fälle scheint noch
immer das Optochin. hydrochlork. be¬
nutzt worden zu sein, und außerdem hat
man auch bei der Verwendung des
Optochin. basicum vereinzelte Schädi¬
gungen des Sehvermögens beobachtet.
Viel mehr scheint der Hauptgrund der
Abnahme der schweren Sehstörungen
darin zu bestehen, daß die Ärzte den
ersten Zeichen auftretender Nebenwir¬
kungen, wie Ohrensausen und Augen-
flimmern, größere Aufmerksamkeit zu
schenken und durch sofortiges Aussetz«n
des Mittels schwere Vergiftungserschei¬
nungen zu verhüten gelernt haben. Jeden¬
falls erfordern weitere Versuche mit Op¬
tochin am kranken Menschen wegen der
damit verbundenen Gefahren eine ständige
und sorgfältige ärztliche Aufsicht und
sollen daher nur in Krankenhäusern und
Kliniken angestellt werden.
Aus neuerer Zeit liegen einige Mit¬
teilungen vor über die Behandlung der
durch Pneumokokken verursachten Me¬
ningitis mit Optochin. Da es sich hier bei
' um Injektionen von sehr kleinen Optochin-
dosen (0,03—0,04 Optochin. hydrochlor.)
in den Lumbalsack handelt, so ist die
Gefahr einer Schädigung des • Sehver¬
mögens ausgeschlossen.
Das Euktipin (Isoaniylhydrocuprein)
ist ein weißes, in- Wasser unlösliches
Pulver. Das salzsaure Salz löst sich in
Wasser.' Es hat eine örtlich schmerzstil¬
lende Wirkung und ist deshalb bei Tenes-
miis und Hämorrhoiden empfohlen wor¬
den. Die örtliche Behandlung der Mund-
und Rachenhöhle durch Austupfen mit
alkoholischer und wässeriger Lösung zur
Beseitigung der Diphtheriebazillen hat
sich anscheinend nicht besonders bewährt,'
namentlich wird über Schädigungen der
Schleimhaut geklagt. Über die innerliche
Anwendung des Eukupins bei Grippe, in
Dosen von 1,2 bis 1,5 g täglich etwaMrei
Tage lang, sind bisher noch nicht genügend
umfangreiche Erfahrungen initgeteilt wor-
. den, insbesondere ist wohl kaum ’einc
etwaige ätiotrope Wirkung anzunehmen.
Das IsooctylhydrocLiprein. hydrochlo-
ricum, bekannt als Vuzin, besitzt gegen¬
über den verbreiteten Erregern der Wund¬
krankheiten, den Streptokokken und Sta¬
phylokokken eine sehr starke bakterizide
Wirkung und hat sich im Tierversuch in
Konzentrationen von 1 : 2000 auch bei
Gasbrandinfektionen gut bewährt. Von
einer Reihe von Chirurgen ist es zur In¬
filtration der Gewebe (sogenannte Tiefen¬
antisepsis) benutzt worden. Indessen be¬
findet sich die Anwendung noch i'm Ver¬
suchsstadium. Wenn man auch bei der
Anwendung verdünnter Lösungen (1:2000)
schon einigen Nutzen sieht, so scheint die
Anwendung stärkerer Lösungen durch die
nekrotisierenden Eigenschaften des Vuzins
beschränkt zu sein. A. Hefter.
Für die Redaktion verantwortlich Geh.Med.-Rat Prof.Dr. G.Klempercrin Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berlin W57.
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Die Therapie der Gegenwart
herausgegeben von
62. Jahrgang Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer 7. Heft
Neueste Folge. XXIII. Jahrg. Berlin Juli 1921
W 62, Kleiststraße 2
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herausgegel)en von Geh. Med.-Rai Prof. Dr. G. Klemperer
In Berlin.
Juli
Nachdruck verboten.
Aus der Medizinisclien Klinik der Universität Göttingen.
Über die Ätiologie der
Von Richard
Die Untersuchungen der letzten Jahre
über die Ursache der perniziösen Anämie,
auf die ich an dieser Stelle nicht näher
eingehe, haben ergeben, daß alle Stoffe,
die man bisher für die Ursache dieser
Krankheit gehalten hat,-wie z. B. Öl¬
säure und lipoide Substanzen, als solche
nicht in Betracht kommen. Diese Lipoide
lösen zwar die roten Blutkörperchen im
Glase auf, es ist aber nicht gelungen,
mit ihnen im Tierversuch eine perniziöse
Anämie zu erzeugen.
Es besteht wohl heute kein Zweifel
mehr darüber, daß das Symptomenbild
der perniziösen Anämie als Folge einer
‘Giftwirkung aufzufassen ist, mag es sich
dabei um die Bothriocephalus-Anämie
oder um die kryptogenetische perniziöse
Anämie des Menschen handeln. Es
müssen dies Gifte sein, die vor allem das
Knochenmark in ganz bestimmter und
exquisiter Weise schädigen und daneben
auch zu einer gesteigerten Hämolyse
führen.
Was sind dies für Gifte und woher
stammen sie ? Frühere Untersuchungen 2 )
über eine analoge Anämie bei Tieren
Vorgetragen auf dem 33. Kongreß der
Deutschen Gesellschaft für innere Medizin, Wies¬
baden, 21. April.
2 ) R. Seyderhelm, Über die perniziöse
Anämie der Pferde (Beitrag zur vergleichenden
Pathologie der Blutkrankheiten). (Beitr. z. path.
Anat., Bd. 58, S. 285/318.) — K. R. Seyder¬
helm und R. Seyderhelm, Die Ursache der
perniziösen Anämie der Pferde (Arch. f. exper.
Path. u. Pharm., Bd. 76, S. 149/201). — Die¬
selben, Wesen, Ursache und Therapie der perni¬
ziösen Anämie der Pferde (Arch. f. wiss. Tierhlk.,
Bd. 41, 1914). — Dieselben, Experimentelle
Untersuchungen über die Ursache der perni¬
ziösen Anämie der Pferde (Berlin. tierärztl.Wschr.
1914, Nr. 34). — R. Seyderhelm, Über echte
Blutgifte in Parasiten der Pferde und des Men¬
schen und ihre Beziehung zur perniziösen Anämie
(Münch, tierärztl. Wschr. 1917, Nr. 29 u. 30). —
Derselbe, Über die Eigenschaften und Wir¬
kungen des Oestrins und seine Beziehungen zur
perniziösen Anämie der Pferde (Arch. f. exper.
Path. u. Pharm., Bd. 82, S. 253). — Derselbe,
Zur Pathogenese der perniziösen Anämien (D.
Arch. f. kl. Med. Bd. 126, S. 95). — Ausführliche
Publikation im nächsten Band der Erg. d. Inn. Med.
perniziösen Anämie^).
Seyderhelm.
hatten mir ergeben, daß in verschiedenen
Parasiten Gifte enthalten und nachweis¬
bar sind, mit denen es im Tierversuch
gelang, eine schwere Anämie zu erzielen,
die vor allem in der Art der Beeinflussung
des Knochenmarks eine außerordentlich
weitgehende Analogie mit den charakte¬
ristischen Erscheinungen bei der perni¬
ziösen Anämie des Menschen aufweisen.
Besonders auffallend war die Tatsache,
daß diese Parasitengifte im Gegensatz
zu den Lipoiden die roten Blutkörper¬
chen im Glase nicht auf lösen, sondern
völlig intakt lassen. Es erinnert dies an
die allgemein bekannte Tatsache, daß
auch die sogenannten experimentellen
Blutgifte, wie z. B. das Pyrodin, in vitro
keine Hämolyse erzeugen.
Aber nicht nur in gewissen Parasiten
der Tiere, sondern vor allem auch im
Bothriocephalus war es mir gelungen,
eine Fraktion zu gewinnen, die ein ganz
analog wirkendes Gift enthält, und mit
dem man leicht im Tierversuch eine
schwere Knochenmarksschädigung, Mega-
loblastose und hyperchrome Anämie, er¬
zielen kann. Aber noch mehr: Auch im
Darminhalt respektive in den Faeces des
gesunden Menschen ließen sich ganz
analoge Gifte nachweisen, Gifte, deren
Provenienz aus den Darmbakterien, vor
allem der Colibacillen, durch ^analoge
Untersuchungen von Darmbakterien-
Reinkulturen sichergestellt werden konn¬
te. Bemerkenswert war auch hier wieder¬
um, daß solche zum Beispiel aus Coli-
reinkulturen gewonnenen toxischen Frak¬
tionen außerhalb des Tierkörpers, also
in vitro, die roten Blutkörperchen nicht
auflösen und die experimentellen Anä¬
mien, die man mit ihnen erzeugen konnte,
waren die gleichen, wie sie sich mit dem
Bothriocephalusgift gewinnen ließen, d. h.
auch sie erwiesen sich als schwerste Blut-
und Knochenmarksgifte, führten zu einer
megaloblastischen Entartung und zum
Bilde einer durch hochgradige Aniso-
cytose, vor allem Megalocytose, aus¬
gezeichneten hyperchromen Anämie. Daß
31
242
Die Therapie der Gegenwart 1021 Juli
es sich hierbei nicht, wie von anderer
Seite eingewendet worden ist, um Ana¬
phylaxieerscheinungen handelt, geht aus
der weiter festgestellten Tatsache her¬
vor, daß sich aus Reinkulturen von nicht
pathogenen Mikroorganismen (B. sub-
tilis, Hefe) keine derartigen Gifte ge¬
winnen ließen.
Das alte Problem der Bothriocephalus-
anämie, warum nämlich von tausenden
Menschen, die einen Bothriocephalus in
sich tragen, nur ganz wenige an einer
Anämie erkranken, wiederholt sich hier
in analoger Weise. Nicht die Anwesen¬
heit bestimmter Gifte allein führt zur
Entstehung der perniziösen Anämie, son¬
dern es gesellt sich dem noch ein wei terer
Faktor hinzu, ein Faktor, ,in dem wir
die eigentliche Ursache der perniziösen
Anämie zu erblicken haben. Ebenso wie
zwischen dem Bothriocephalus des ge¬
sunden und des an Anämie erkrankten
Menschen bezüglich des Giftgehaltes kein
Unterschied besteht, ebenso beherbergt
der gesunde Mensch die gleiche Menge
hochgradig toxischen bakteriellen Darm¬
inhaltes wie der an perniziöser Anämie
erkrankte.
Die Fragestellung ließe sich also nicht
nur bei der Bothriocephalusanämie, son¬
dern auch bei der kryptogenetischen perni¬
ziösen Anämie so formulieren:
Aus welchem Grunde führt in einem
Falle die Anwesenheit der Gifte zur
perniziösen Anämie, in tausenden Fällen
hingegen nicht?
A priori ließen sich zur Erklärung
dieser Frage zwei Möglichkeiten erörtern:
Entweder es ist ein normalerweise vor¬
handener Entgiftungsvorgang gestört oder
aber es werden diese Giftstoffe durch die
Darmwand hindurchgelassen, d. h. re¬
sorbiert im Gegensatz zum Normalen,
wo die Beschaffenheit der Darmwand
eine Passage verhindert. Diesem letz¬
teren Gedankengange folgend, ging ich
der Frage nach, ob sich bei perniziös¬
anämischen Menschen außerhalb des Be¬
reiches des Darmes durch entsprechende
chemische Verarbeitung der betreffenden
Organe analoge Giftstoffe nachweisen
lassen. Und es gelang hierbei in vier
daraufhin untersuchten Fällen von kryp¬
togenetischer perniziöser Anämie analog
wirksame Gifte in den mesenteriellen
Lymphdrüsen aufzufinden. Die analoge
Untersuchung dieser Drüsen bei- zehn
anderen Patienten, die an anderen Krank¬
heiten gestorben waren, darunter Fälle
von Carcinom,- Tuberkulose, Status thy-
molymphaticus und Pseudoleukämie, ließ
derartige Gifte in' keinem einzigen Falle
nachweisen. Die aus den mesenterialen
Lymphdrüsen bei perniziöser Anämie ge¬
wonnenen toxischen Fraktionen verhiel¬
ten sich wiederum völlig analog jenen aus
dem Bothriocephalus und aus den Darm¬
bakterien. Im Vordergrund stand auch
hier wiederum die exquisite Knochen¬
marksschädigung und megaloblastische
Entartung der erzielten hyperchromen
Anämien. Diese Ergebnisse dürften in
dem Sinne zu verwerten sein, daß allein
im Falle der kryptogenetischen pernizi¬
ösen Anämie die in Frage kommenden
Gifte aus dem Darminhalt durch die
Darmwand hindurchgelangen, und dann
das Knochenmark schädigen, daneben
aber zu gesteigerter Hämolyse führen.
In der weiteren Verfolgung dieses
Gedankenganges sollte festgestellt wer¬
den, ob es vielleicht gelingt, durch völlige
Ausschaltung des als Giftquelle anzu¬
sehenden Koloninhalts den Verlauf der
perniziösen Anämie zu beeinflussen. Zu
diesem Zwecke wurde bei verschiedenen
Patienten in der Weise vorgegangen, daß
durch Anlegung eines kompletten Anus
praeternaturalis in der Cöcalgegend das
Kolon in seiner gesamten Ausdehnung
ausgeschaltet und durch Spülungen von
oben und unten keimfrei gemacht wurde.
Ich möchte ganz kurz über den Erfolg
zweier auf diese Weise operativ behandel¬
ter Fälle berichten:
Beide Fälle hatten bereits zwei Remis¬
sionen hinter sich, wurden seit mehreren
Wochen klinisch behandelt, ohne daß
dabei durch Arsen, Tierkohle oder Blut¬
transfusion eine Beeinflussung der ^An¬
ämie erzielt werden konnte. Beide Fälle
waren fast moribund und extrem an¬
ämisch, wie aus den Kurven zu ersehen
ist. ln beiden Fällen trat unmittelbar
im Anschluß an die Ausschaltung des
Kolons ein exquisiter Umschwung auf.
Nicht nur das subjektive Befinden besserte
sich, nicht nur der völlig brachgelegene
Appetit kehrte plötzlich wieder, sondern
auch die Blutwerte gingen rapid aufwärts
und nach Verlauf weniger Monate boten
beide Patienten das Bild blühender Ge¬
sundheit. In beiden Fällen wurde nach
Ablauf von fünf respektive sieben Mona¬
ten der Anus praeternaturalis wieder ge¬
schlossen und wie in einem Experimente
trat auch jetzt wiederum ein völliger
Umschwung auf. Das alte schwere Bild
der chronischen Intoxikation kehrte wie-
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1921
243 '
der und die Blutwerte sanken-wiederum
auf extrem niedrige Werte. Und obwohl
.es bei dem einen Patienten durch Ver¬
abreichung von Tierkohle, d. h. durch
Adsorption der Giftstoffe gelungen war,
eine vorübergehende Besserung zu er¬
zielen, kam wenige Monate später dieser
Patient zum Exitus und auch der andere
Fall steht kurz vor der Auflösung.
Aus ‘ dem Verlauf dieser Fälle folgt
selbstverständlich nicht, daß die An¬
legung eines Anus praeternaturalis als
therapeutischer Eingriff bei der perni¬
ziösen Anämie in Frage* kommt. Aber
wenngleich mir bekannt ist, daß plötz¬
liche Remissionen oft ganz unerwartet
bei der perniziösen Anämie das Bild von
heute auf morgen völlig verändern kön¬
nen, so glaube ich doch in diesen beiden
Fällen annehmen zu dürfen, daß sowohl
die geschilderten Remissionen wie Rezi¬
dive bei ihnen nicht nur zeitlich, sondern
auch ursächlich mit den operativen Ein¬
griffen in Zusammenhang zu stellen sind.
Und sowohl aus dem Verhalten der
beiden operierten Fälle, als auch aus dem
Nachweis der Knochenmarks- und Blut¬
gifte in den mesenterialen Lymphdrüsen
bei perniziöser Anämie glaube ich die.
vorhin gestellte Frage nach der Ursache
der perniziösen Anämie dahin beantworten
zu dürfen, daß eine für gewöhnlich nicht
stattfindende abnorme Resorption von
Darmgiften bakterieller Provenienz das
ätiologische Moment in der Genese der
perniziösen Anämie darstellt, voraus¬
gesetzt selbstverständlich, daß weitere
Untersuchungen an einem größeren Ma¬
terial, wie es dem einzelnen nicht zur
Verfügung steht, diese Befunde bestä¬
tigen.
Es liegt sehr nahe, zur Erklärung die¬
ser abnormen Darmdurchlässigkeit all¬
gemein dispositioneile Momente, Momente
der Konstitutionspathologie, heranzu¬
ziehen. Daß speziell vielleicht der Achylia
gastrica in diesem Zusammenhang eben¬
falls eine besondere Bedeutung zukommt,
möchte ich hier nur andeuten.
Für die Ziele der Therapie folgt aus
diesen Untersuchungen, daß sie weiter
in der Richtung zu verfolgen sind, die
im Darmkanal vorhandenen bakteriellen
Giftstoffe zu beseitigen. Adsorption der
Giftstoffe durch indifferente Medien, Des¬
infektion, Umstimmung der bakteriellen
Flora und eventuelle Herstellung eines
Immunserums liegen auf diesem Wege,
der trotz der bisherigen bekannten Mi߬
erfolge weiter beschritten werden muß.
Aus dem Städtischen Krankenhause am Urhan zu Berlin.
Über die intravenöse Behandlung mit kolloidalen Silberlösungen.
Von Prof. Dr. Plehn, ärztlichem Direktor.
Kolloidale Silberpräparate wurden zu¬
erst 1896 von Crede in Salbenfo'rm an¬
gewendet. Später, außer zu Einreibungen,
als Lösung zum Einträufeln in den Con-
junctivalsack an Stelle von Argentum
nitricum, und zur Wundbehandlung; ver¬
einzelt auch innerlich, sowie als Klysma.
Ihre eigentliche Bedeutung hat die Silber¬
therapie aber erst gewonnen, seit die
in tra venöse Darreichungsweise, wie
anderer Medikamente, so auch des Silbers,
allgemeinere Verbreitung in der Klinik,
wie in der Ärzteschaft gefunden hat. Nur
von der intravenösen Silberbehandlung
soll im folgenden die Rede sein; jede
andere tritt ihr gegenüber, wenigstens
für den inneren Kliniker, vollständig zu¬
rück.
Die kolloidalen Silberlösungen stellen,
Suspensionen allerfeinster, ultramikro¬
skopischer Silberteilchen in Wasser dar.
Die feine Verteilung wird durch chemische
oder elektrische Zerstäubung erreicht, und
die Teilchen werden durch ein ,,Schutz¬
kolloid“ — meist Gummizusatz —
daran verhindert, zu verklumpen und sich
niederzuschlagen. Das Schutzkolloid um¬
gibt die einzelnen Silberpartikel mit einer
dünnsten Schicht und stabilisiert das
Suspensoid gegenüber der Salzwirkung
der Körpersäfte (Elekrolyte). Bei den
anderen, namentlich den auf elektrischem
Wege hergestellten Präparaten, ist die
Größe der Teilchen so gering, daß die ab¬
stoßende Wirkung ihrer negativ elektri¬
schen Ladung genügt, um sie dauernd
in der Schwebe zu erhalten, und es des¬
halb, wenn überhaupt, so doch nur ge¬
ringster Mengen von Schutzkolloid be¬
darf.
Die physikalische Wirkung kolloidaler
Lösungen ist von der Gesamtoberflächen¬
größe der einzelnen Teilchen abhängig.
Für eine bestimmte Silbermenge ist sie
deshalb um so größer, je feiner die Teil¬
chen sind. Für die physiologische, be¬
ziehungsweise therapeutische Wirkung
kommt außerdem aber auch die Menge
31 *
244
Die Therapie der Gegenwart 1921 - ' Juli
Silber in Betracht, welche im gleichen
Volumen Lösung enthalten ist. Ich muß
nach eigenen Erfahrungen jedenfalls sa¬
gen, daß das älteste, auf chemischem Wege
gewonnene Collargol-Heyden und das
Dispargen-Reis holz mit höherem Dis¬
persionsgrad, dem deutschen Elektrargol
an Wirksamkeit mindestens nicht nach¬
steht, sondern es wahrscheinlich noch
übertrifft. Das meistversprechende Prä¬
parat müßte danach theoretisch das neue
,,Elektrocollargol zehnfach stark“
von hfeyden sein, welches auf elek¬
trischem Wege hergestellt wird und hohen
Silbergehalt mit geringster Teilchengröße
verbindet (0,6% Ag gegen 0,06 des alten
Elektrocollargol- Heyden). Uns fehlen
noch ausreichende Erfahrungen mit diesem
Mittel, um vergleichen zu können. Ob das
für die älteren Elektrafgole als Vorteil
betrachtete Fehlen der fieberhaften
Reaktion tatsächlich ein solcher ist,
erscheint fraglich, denn wahrscheinlich
stehen Heilwirkung und Reaktion in ge¬
wissen Beziehungen zu einander, wie wir
noch sehen werden.
Das Anwendungsgebiet der kolloiden
Silberlösungen ist sehr groß, —wenn man
die Literatur durchsieht. Es gibt wenige
Infektionskrankheiten, bei welchen es
nicht versucht wurde, und Erfolge be¬
richtet sind:
Scharlach, Masern, Typhus, Paratyphus, Cho¬
lera, Pneumonie, Grippe und Grippepneumonie,
Pest, Erysipel sind hier zu nennen. Bei Menin-
•^jitis gab Cholievina Dispargen intralumbal.
Der Kritik halten die berichteten Erfolge meist
nicht stand. Der Verlauf, den diese akuten In¬
fektionskrankheiten ohne Silbertherapie ge¬
nommen hätten, läßt sich um so weniger voraus¬
sehen, als überall darauf hingewiesen wird, daß
die Anwendung im ersten Beginn erfolgen müsse,
um wirksam zu sein.
Ernster scheinen die günstigen Berichte von
Chayla über die Wirksamkeit bei Blattern
und von Denman zu sein^). Auch die Angaben
von Richter2) über specifische Wirkung beim
Wolhynischem Fieber sind überzeugend.
" Teichmann®), Kersten^) und Colievina
loben das Fulmargin beim Fleckfieber. Wider¬
sprechend werden die Erfolge bei der Endo¬
karditis beurteilt. Engelen®) betrachtet das
Fulmargin auf Grund von 16 günstig verlaufenen
Fällen als Specificum gegen dieses Leiden. Schind¬
ler dagegen erlebte einen Todesfall mit Dispargen
und warnt davor* bei Beteiligung des Herzens.
Es handelte sich um eine Puerperalinfektion,
wobei die Silberkolloide auch sonst am meisten
gebraucht und gerühmt werden®) [Aron"^),
1 ) M.m. W. 1906, S. 1790.
2 ) Ther. d. Gegenw. 1917, Heft 3.
®) D. m. W. 1916, Nr. 41.
^) Ebenda Nr. 27.
®) Aerztl. Rdsch. 1914, Nr. 22.
®) Mschr. f. Geburtsh., Bd. 44.
') D. m. W. 1920, Nr. 35.
' Saalfeldt®), Mertens*), Rudolf^®) und
viele Andere]. Auch Böttner warnt wegen der
oft großen Schwere der Reaktiom Er beobachtete
Erscheinungen, die er. als anaphylaktische deu- ’
tet^^). Wir selber haben das Kollargol anfangs
vielfach bei Endokarditis gegeben, ohne ein¬
deutige Erfolge erzielen zu können, und haben
diese Behandlung deshalb schon seit Jahren auf¬
gegeben, sofern die Diagnose sicher ist. Anders
liegen die Dinge bei manchen Formen der Sepsis
(zu welchen auch das Puerperalfieber gehört).
Trotz des lebhaften Eintretens von Kausch^“)
und vorher PageD®) und der anerkennenden
Mitteilungen von Reichmann hat die intra¬
venöse Silberbehandlung septischej Allgemein¬
infektionen bei den deutschen Chirurgen bisher
keinen Eingang gefunden. Sie paßt auch keines¬
wegs für alle Fälle. Überall dort, wo ein dem
Messer unzugänglicher Eiter- oder Entzündungs¬
herd immer neue Schübe von Toxinen oder
Bakterien in den Blut- oder Lymphkreislauf lie¬
fert, behandelt man auch mit Silber vergebens.
So bei Pylephlebitis, bei Phlebitis in der Um¬
gebung des Uterus, schweren Entzündungen von
dessen Wand und seiner Adnexe, bei Lungen-
abscessen. Eine Ausnahme scheinen Eiterungen
im Gewebe der Nieren zu bilden. Wolff^^) be¬
richtet über zwei solche Fälle, und ich selber
behandelte eine Frau, bei welcher sich nach
einem septischen Abort unter wochenlang
wechselnden Fieberbewegungen an verschiedenen
Körperstellen lymphangitische und phlebitische
Entzündungsherde bildeten, bis schließlich unter
stärkerem Fieber und .Auftreten von Eiweiß,
Blut und Eiter im Harn, die rechte Niere hoch¬
gradig schmerzhaft wurde und zu^ doppelter
Mannsfaustgröße anschwoll. Bereits nach der
ersten intravenösen Kollargölinjektion verschwan¬
den die Schmerzen; nach zwei weiteren, im Laufe
der nächsten Woche gegebenen, die krankhaften
Ausscheidungen. Der Tumor wurde auch für
die Palpation unempfindlich, sollte aber entfernt
werden, da wieder Fieber auftrat, doch entzog
sich die Kranke weiterer Beobachtung.
Es gibt aber auch ,,echte“ Septikämie-
fälle, wo die Bakterien im Blute kreisen,
ohne — wenigstens zunächst — einen
Locus minoris resistentiae zu finden, an
welchem sie sich ansiedeln und örtliche
Entzündungsherde schaffen können. In
solchen nicht eben häufigen Zuständen
wirken die Silberlösungen direkt heilend,
gleichgültig, ob es sich um Streptokokken
oder Staphylokokken handelt. Wir wenden
sie also stets an, wenn sich bei fieberhaften
Krankheiten Bakterien aus dem Blut
züchten lassen, ohne daß es gelingt,
irgendwo im Körper die Quelle aufzu¬
finden, aus welcher sie stammen könnten.
Wo sie versagten, da zeigte die Obduktion
noch stets diese der Diagnose im Leben
entgangene Quelle in Form etwa einer
8 ) Zbl.f. Gyn. 1917, Nr. 23.
*) Akad. f. prakt. Med. Cöln 1918.
^®) M. KI. 1920, Nr. 35.
^^) M.m. W. 1920, Nr. 12.
12 ) M. KI. 1911, Nr. 35.
1 ®) Ebenda 1911, Nr. 33.
1^) Zschr. f. ärzf. Fortbild. 1916, Nr. 4.
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1921
245
ulcerösen Endokarditis, eines schwer in¬
fizierten Uterus, einer Pylephlebitis oder
dergleichen.
Wenn Genesung eintrat, sind wir be¬
rechtigt anzunehmen, daß solche ört¬
lichen Bakterienbrutstätten gefehlt haben.
Hierfür ein Beispiel:
Prof. D., bekannter Operateur, verletzte sich
bei der Operation eines jauchenden Carcinoms.
Die kleine Stichwunde heilte glatt. Bald darauf,
zuweilen mehrmals täglich, Schüttelfrost und
Fieber, anfangs bis 41 ® C; später etwas weniger.
Klinische Untersuchung durch verschiedene Auto¬
ritäten ohne Ergebnis. Prof. H. züchtete aus
dem Blut wiederholt Reinkulturen hämolytischer
Streptokokken. Nach drei Tagen 3 ccm 5%iges
Kollargol abends, ln der Nacht drei Stunden
lang sehr schwerer Frost; Beklemmungen; Herz¬
schwäche. Schlaf nach Morphium. Am nächsten
Morgen fieberfrei; große Prostration, aber kein
Fieber wieder. Die Streptokokken waren schon
am nächsten Tage verschwunden und blieben es,
obgleich Patient weitere Injektionen ablehnte.
Langsame Rekonvaleszenz; nach acht Tagen
nochmaliger kurzer Fieberanstieg ohne Strepto¬
kokken im Blut. Endgültige Heilung.
Eine Beobachtung wie diese — und
sie steht nicht allein — legt es nahe, das
Kollargol oder entsprechende Präparate
auch bei Bakteriämien anzuwenden, wo
bereits örtliche Entzündungsherde ent¬
standen sind, falls diese chirurgisch an¬
gegriffen werden können. Es läßt sich
so vielleicht verhüten, daß neue Herde
an weniger zugänglichen Stellen vom
Blut aus sich bilden. ,
Dem Kliniker fehlen hier eigene Er¬
fahrungen. Ein weites Anwendungsgebiet
haben die Silberkolloide bei der Gonor¬
rhöe gefunden. Nach Menzi kürzen
sie bei intravenöser Injektion die Dauer
der frischen Urethral- und Cervixgonor¬
rhöe des Weibes und der bekanntlich so
hartnäckigen Blennorrhoe der Kinder
außerordentlich ab Franzmeyer
bestätigt diese AngabePakuscher
fand das Silber bei männlicher Gonorrhöe,
namentjich bei Epididymitis, wirksam,
während es bei Prostatitis im Stich ließ.
Auf die Gelenkerkrankungen kommen wir
noch. Weber^’^) und Oekart loben
die intravenöse Silberbehandlung gerade
bei Prostatitis; wenigstens bei manchen
Formen. Bei Epididymitis ließ es Weber
im Stich. Da stets noch Lokaltherapie
getrieben wurde, so ist es schwer, ein
Urteil abzugeben. Eigene Erfahrung steht
mir nicht zu Gebote. Die Literatur ist
mit den zitierten Beispielen nicht an¬
nähernd erschöpft.
1°) M. Kl. 1918, Nr. 36.
16) Zbl. f. Gyn. 1919, Nr. 31.
17) Derm. Wschr. 1919, Nr. 11.
16) Ebenda Bd. 68.
Die praktisch weitaus Wichtigste Rolle
spielt die Silberbehandlung bei den Ge¬
lenkentzündungen, vor allem beim
akuten Gelenkrheumatismus, bei
welchem das Silber ein Specificurp dar¬
stellt, wie das Salicyl, nur daß es fast
ausnahmslos auch dann noch wirkt, wenn
Salicyl, Atophan, Antipyrin usw. ver¬
sagen. Seit ich 1908 über die Behandlung
des akuten Gelenkrheumatismus bericln
tete 19), haben sich meine Erfahrungen
an weiteren Hunderten von Kranken
di-eser Art vermehrt, ohne daß ich das
damals Gesagte einzuschränken brauchte.
Seit der Silberbehandlung kommt es
nicht mehr vor, daß selbst verschleppte
Fälle nicht geheilt werden. Beim ersten
Anfall, und rpeist auch noch beim ersten
etwa auftretenden Rezidiv, wird eine
energische Salicylkur'durchgeführt. Bei
unvollständiger Wirkung oder beim zwei¬
ten Rezidiv tritt dann das Silber in seine
Rechte.
Aber auch sonst erweist das Silber
eine besondere Wirksamkeit bei entzünd¬
lichen Gelenkaffektionen aus unbekannter
Ursache, oft selbst in chronischen Zu¬
ständen. Wo eine Heilung aus anatomi¬
schen Gründen ausgeschlossen ist, da
wird doch häufig noch eine Besserung der
subjektiven Beschwerden und der Funk¬
tion erzielt. Für die specifische Wirkung
auf die Gelenke hier ein Beispiel:
Herr W., cand. med. Von Stich in den Finger
vor drei Wochen nach Lymphangitis und Achsel¬
drüsenschwellung ausgehehde Allgemeininfek¬
tion. Hohes Fieber, keine Fröste; Pleuritis rechts;
schmerzhafte Schwellung der Gelenke, beson¬
ders hochgradig im linken Knie- und Handgelenk;
systolisches Geräusch am Herzen; Puls: 130;
Milzdämpfung verbreitert; Leber nicht nachweis¬
bar vergrößert; Harn: Alb. -f, Urbgn. -f-h,
Urbln.
28. März 1913: 3 Uhr: 3,5 ccm 5 %iges Kol¬
largol intravenös; 7 Uhr: Temperatur: 39,7;
Puls: 141; kein Frost. 29. März: Temperatur:
38,2; Puls: 108; starker, anhaltender Schweiß.
Gelenke abgeschwollen und weniger
schmerzhaft; Appetit gut; abends wieder
höheres Fieber. 30. März: Leidliche Nacht nach
Pantopon, 10 Uhr: Ödem der rechten Brust¬
seite; 4,5 ccm 57oiges Kollargol. 7 Uhr: Frost;
Temperatur 40,4; Odemgebiet zeigt stellenweise
Fluktuation; Phlegmone en cuirasse. 31. März:
Vielfache Eröffnung und Spaltung der Phlegmone
im Ätherrausch (Prof. Z.). 1. April: „Knie- und
Handgelenk in bester Verfassung“; Allgemein¬
zustand unverändert schlecht. 5. April: Unter
fortdauernd hohem Fieber und Delirium Exitus
letalis.
Bei einem schwersten pyämischen
Prozeß hat hier also das Kollargol die
beteiligten Gelenke in kürzester Frist zu
dauernder Heilung gebracht, ohne freilich
16) D. m. W. 1908.
246
Die Therapie der Gegenwart 1921
Juli
den rasch tödlichen Ausgang abwenden
zu können. Reichmann teilt einen
ähnlichen Fall mit Nach.d^r Literatur
scheinst es, als wenn die Silberpräparate
bei öelenkerkrankungen unverdienter¬
weise nicht soviel angewendet werden, wie
bei septischen Prozessen. Ich fand nur
relativ wenige kurze Mitteilungen dar¬
über 21) 22 ) 23) 24) 25) 26 ) 27) 28) 29)^ Häu¬
fige Versager — neben einzelnen Erfolgen
,— haben wir bei der gonorrhoischen
Arthritis gehabt, bei welcher das Silber
von verschiedenen Dermatologen beson¬
ders gerühmt wird. Freilich sind es
meist veraltete Fälle, die der Kliniker
sieht. Aber ich habe den Eindruck, daß
wir mit-Bi er'scher Stauung und Arthigon
rascher und sicherer zum .Ziel kommen.
Wie soll man sich die Wirkungsweise des
kolloidalen Silbers vor^tellen? Das unbefriedigte
Kausalitätsbedürfnis des deutschen Arztes ist hier
ein Haupthindernis für die allgemeinere Auf¬
nahme der Silberbehandlung. Ganz einfach ist
der Zusammenhang jedenfalls nicht. Zunächst
steht fest, daß das Silber die Blutbahn sehr rasch
verläßt. Es wird von den Sternzellen (Retikular-
endothelien) in Leber, Milz, Knochenmark ab¬
gefangen und lagert sich besonders auch in den
Nierenepithelien ab®°). Marie und Petre
Ni CU 1 es CU konnten sieben Minuten nach der
Injektion von 2 ccm Fulmargin keine Silber¬
körnchen im Blut mehr nachweisen Das
beweist nichts, auch nicht gegen die Wirksamkeit
im Blut selber, denn aus den Zelldepots wird
fortgesetzt Silber an die Körpersäfte abgegeben,
und es dauert sehr lange, bis das Metall den
Organismus vollständig wieder verlassen hat.
Sehr denkbar wäre es, daß das feinzerstäubte
Silber mit seiner ungeheuren Oberfläche adsorp-
tiv auf die giftigen Stoffwechselprodukte der
Krankheitserreger — vielleicht »auf diese selbst —
wirkt. Das Silber ist direkt bactericid, wie
Cernovadeanu und Henri feststellten ^ 2 ); es
könnte also die adsorbierten Bakterien töten.
Friedenthal vermutet, daß „verhältnismäßig
lösliches Oxyd und Hydroxyd“ des Silbers bei
Herstellung des „Suspensoids“ entsteht und die
starke desinfizierende Wirkung hat, welche auch
er anerkennt33) Johannessohn sah Wirkung
auf verschiedene Bakterien, die in zehn Minuten
von einer %%igen Lösung abgetötet wurden34).
Von anderen Untersuchern wird nur entwicklungs¬
hemmende Fähigkeit zugegeben. Die Tatsache,
daß in vielen mit Silberlösungen günstig beein-
20) 1. c.
21) Junghans (M.m. W. 1912, Nr. 45. —
22) Moewes (Ther. d. Gegenw. 1917, Heft 8). —
23) Eberstadt (M. m. W. 1917, Nr. 35). —
2 ^) Böttner (M. m. W. 1920, Nr. 12). —
2fi) Ewald (M. Kl. 1912, S. 1923). — 26 ) Göbel
(M. Kl. 1915, S. 683). — 27 ) Witthauer (M. Kl.
1907, S. 1266). —28) Uhlmann (Schweiz. Korr.Bl.
1915, Nr. 40). — 29 ) Schönfeld (D. m. W. 1913,
S. 146).
30) Voigt (Biochem. Zschr. Bd. 62, 63, 68, 73.).
31) Zitiert bei Engelen (Aerztl. Rdsch. 1912,
Nr. 52 und 1913, Nr. 1).
32) Zitiert nach Engelen (1. c.).
33) Ther. d. Gegenw. 1918, Heft 7.
3^) Zitiert nach Schindler, 1. c., S. 15.
flußten Fällen von Bakteriämie die Bakterien
alsbald aus dem Blute verschwinden, ist jeden¬
falls unbestreitbar. Vielleicht wird diese Wirkung
indirekt noch dadurch befördert, daß die Substanz
der zunächst nur zum Teil abgetöteten Krank¬
heitskeime die reaktive Bildung specifischer Gifte
herbeiführt, die weitere Parasiten vernichten.
Immerhin dürfte die adsorbierende und zer¬
störende Wirkung auf die im Leben von ihnen
gebildeten Toxine und die bei ihrem Untergang
freiwerdenden Endotoxine die wichtigste sein.
Die kolloidale Silberlösung scheint hier nach Art
eines anorganischen Fermentes als Katalysator
zu wirken, indem sie die natürliche giftbindende
und (wahrscheinlich durch Oxydation) zerstörende
Tätigkeit des Organismus steigert. Darauf
deutet auch die vermehrte N-Ausscheidung hin35).
Aggazzotti fand, daß kolloidales Silber Kanin¬
chen gegen die zehnfach tödliche Dosis von
Diphtherie-, Tetanus- und Dysenteriegift schützte,
während es diese Stoffe in vitro nicht verändert®«).
Als Giftbindung und Zerstörung ist wohl folgende
eigene Beobachtung zu deuten: Ein kräftiger
Mann mittleren Alters erkrankte an schwerer
Staphylokokkensepsis mit Schüttelfrösten
und täglichen Fieberanfällen, ohne daß es gelang,
einen örtlichen Entzündungsherd aufzufinden.
Aus dem Blut wurden mehrfach Staphylokokken
in Reinkultur gezüchtet. Unter Kollargolinjek-
tionen Entfieberung und Heilung. Rasche
Rekonvaleszenz und starke Gewichtszunahme.
Während dieser ergaben wiederholte weitere
Blutuntersuchungen die fortdauernde Anwesen¬
heit sehr zahlreicher Staphylokokken in Rein¬
kultur, ohne irgendeine Störung des Wohl¬
befindens.
Ich möchte das damit erklären, daß die Aus¬
scheidungen der in ihren vitalen Funktionen
vielleicht geschwächten Mikroorganismen durch
das aus den Depots nach dem Krankheitsablauf
weiter abgeschiedene Silber paralysiert wurden.
Die beschriebenen Vorgänge werden weiter
dadurch gefördert, daß nach kurzdauerndem
Leukocytensturz eine starke Leukocytose ein-
tritt (Waitz, C. A. Hoffmann u. A.). Dünger
verfolgte den Vorgang auch experimentell beim
Kaninchen; er zitiert Achard und Weil, welche
eine Leukocytenabnahme von 20 bis 59 % un¬
mittelbar bis zwei Stunden nach der Injektion,
allerdings sehr großer Gaben, feststellten. Dann
trat für etwa fünf Tage Hyperleukocytose infolge
eines Reizzustandes des Knochenmarks ein. Der
Wechsel betrifft ausschließlich die polymorph¬
kernigen Leukocyten, und Dünger will die
„Reaktion“ (von welcher gleich die Rede sein
wird) auf den raschen Untergang dieser Zellen,
und das Freiwerden von Fermenten dadurch,
zurückführen. Diese „Reaktion“, eine meist
mit Frost, selbst Schüttelfrost, einhergehende,
oft von Unbehagen, Kopfschmerzen, Abgeschla-
genheit begleitete Temperaturerhebung um ein
bis mehrere Grade, beginnt eine Viertel bis mehrere
Stunden nach der Einspritzung, und dauert einige
Stunden bis zu einundeinhalb Tagen. Sie steht
in einem gewissen Zusammenhang mit den
Heilungsvorgängen. Noch mehr gilt das von der
örtlichen Reaktion, welche sich im Auftreten
oder in der Steigerung etwa vorhandener Schmer¬
zen und Schwellungen in dem kranken Gelenk
oder Entzündungsherd äußert. Die von ver¬
schiedenen Seiten berichteten und zum Teil auf An¬
aphylaxie bezogenen lebenbedrohenden Zustände
35) Schindler (I. c.).
3 ®) Zitiert nach Engelen (1. c.).
Dk Therapie- der Gegenwart 1921
247
Juli
und selbst Todesfälle, haben wir nach tausenden
seit 15 Jahren gemachten Injektionen niemals be¬
obachtet. Aber Schindler ^7), Engelen ^®),
Arnold 39) berichten darüber. Löwenberg
sah nach 10 ccm 2%igem Kollargol mehrtägige
Anurie mit urämischen Erscheinungen, und
Cohn berichtet über statke uterine Blutungen,
die feste Tamponade erforderten
Die Reaktion ist keineswegs zum Heilerfolg
erforderlich. Namentlich beim Gelenkrheumatis¬
mus ist es die Regel, daß nach der ersten Ein¬
spritzung eine deutliche bis kräftige Allgemein¬
reaktion auf tritt und auch die örtliche wenigstens
angedeutet ist. Nach der zweiten, von uns meist
nach fünf Tagen gegeben, bleibf sie bereits oft
aus, oder pflegt doch schwächer auszufallen, und
später ist sie kaum bemerkbar, selbst wenn man
mit der Dosierung steigt. Dabei sind die weiteren
Einspritzungen für die endgültige Heilung doch
nicht überflüssig. Bei septischen Erkrankungen
ist ähnliches zu beobachten. Ich kann hier die
Angaben von anderer Seite bestätigen, daß gewisse
Beziehungen zwischen der Schwere der Erkran¬
kung und der Stärke der Reaktion bestehen. Die
alte Anschauung, daß im Fieber selbst die Ursache
der Heilwirkung zu suchen sei (,,Heilfieber“),
k^nn schon deshalb nicht für alle Fälle zutreffen,
weil diese Wirkung, wie gesagt, auch ohne Fieber
eintreten kann, und weil ein auf anderem Wege
erzeugtes Fieber (Proteintherapie) keineswegs
immer die gleiche Heilwirkung hat. Ich bin eher
geneigt, zu glauben, daß das Fieber und seine
Begleiterscheinungen eine Folge der Heilung,
d. h. des Parasitenunterganges, und der von den
Endotoxinen (Antigerien) ausgelösten Antikörper¬
bildung sind. Auf alle Fälle bedeutet es eine ge¬
steigerte Abwehrbetätigung des Organismus gegen
Schädlichkeiten. Es ist deshalb nicht ohne
weiteres als Ziel der Arzneimittelindustrie zu be¬
trachten, Silberpräparate herzustellen, welche
keine ,,Reaktionen“ auslösen. Das wurde z. B.
von dem ersten deutschen Elektrargol gerühmt
und traf bei unseren Versuchen zu. Leider war
aber auch die Heilwirkung so unbefriedigend, daß
wir bald zum fiebererregenden Kollargol zurück¬
kehrten. In meiner Arbeit über die Behandlung
des Gelenkrheumatismus (1908, I. c.) führte ich
die Fieberwirkung des Kollargol auf die ziemlich
beträchliche Menge „artfremdem Eiweiß“ zurück,
die ihm als „Schutzkolloid“ beigefügt ist (0,75%
Silber, 0,25% Eiweiß). Heute möchte ich, wie
gesagt, mindestens eine starke Teilhaberschaft
der Parasitenantikörperbildung annehmen. Nach
unseren heutigen Anschauungen über Protein¬
körpertherapie ist es sehr wohl denkbar, daß die
Eiweißbeigabe die Silberwirkung im Kollargol
wesentlich befördert. Denn so berechtigt wir
nach den Arbeiten von Friedenthal, Engelen,
Schindler u. A. über Fulmargin sind, in d^r
Theorie von dem auf elektrischem Wege feinst
verteilten Silber von annähernd vollkommener
Reinheit therapeutisch das Bessere zu erwarten,
so wenig zeigen sich diese Präparate doch in
der Praxis dem alten Kollargol mit den gröberen
Silberpartikeln und dem relativ hohen Eiwei߬
gehalt überlegen. Auf die geringere Silbermenge
im gleichen Volumen läßt sich das kaum zurück¬
führen, denn höhere Dosierung dürfte da aus-
gleichen. Größere Erfahrung mit dem neuen
37) 1. c.
3«) 1. c.
33) Zbl. f. inn. M., Nr. 43.
^3) D. m. W. 1916, S. 1461.
*1) M. m. W. 1909, S. 532.
Heydenschen „Elektrocollargol-Heyden konzen¬
triert zehnfach stark“ wird da vielleicht aufklären.
Bis jetzt kann ich nach eigenen Er¬
fahrungen und nach Würdigung der Mit¬
teilungen in der Literatur nicht behaup¬
ten, daß ein deutlicher Untefschied in der
Wirkung der gebräuchlichen Silberkolloide
sich feststellen läßt; außer vielleicht einer
geringeren Wertigkeit der älteren auf
elektrischem Wege hergestellten Präpa¬
rate mit ganz schwachem Silbergehalt,
wie das von Clin, Elektrocollargol Heyden,
Lysargin usw. Hervorzuheben ist, daß das ’
Fulmargin auch subcutane Anwendung
zuläßt und auch dabei wirksam sein soll.
Im übrigen ist hier nur von intravenö¬
sem Gebrauch die Rede, und auch kein
Grund vorhanden, ihn durch ein anderes,
auf alle Fälle weniger wirksames Ver¬
fahren zu ersetzen.
Was die Technik betrifft, so ist sie
heute, nach allgemeiner Einführung der
Salvarsantherapie, wohl jedem Arzt ge¬
läufiger, als noch vor 15 Jahren. Von
der Notwendigkeit, die Vene vor der In¬
jektion freizulegen (Kausch), kann nicht
ernsthaft mehr die Rede sein. Um so
sorgfältiger ist darauf zu achten, nichtnur,
daß die Nadel zur Zeit der Einspritzung
richtig liegt, sondern auch, daß nicht
schon beim Einstechen die gegenüber¬
liegende Gefäßwand verletzt wird. Auch
muß die Nadel vor dem Einführen gründ¬
lich von der Silberlösung befreit werden,
mit der sie außen etwa benetzt ist. Die
Stauung geschieht am besten durch Stoff¬
binde (Taschentuch) und Knebel, wenn
es sich um Arm oder Bein handelt. Sie
kann so von jedem Laiengehilfen leicht
ausgeführt und ohne Veränderung der
Lage des Gliedes gelöst werden. Wir
haben gefunden, daß Verletzungen der
Venenwand am sichersten vermieden wer¬
den, wenn man erst die freie Nadel ein¬
führt und dann, wenn das Blut gleich¬
mäßig aus ihr abtropft, die Binde lockern
läßt und die vorher m.it der Lösung be¬
schickte Spritze aufsetzt. Ihre Ent¬
leerung soll sehr langsam geschehen. Hat
es sich nicht vermeiden lassen, daß Lösung
ins Gewebe gelangte, so äußert der
Kranke sofort lebhafte Schmerzen. Die
Operation ist dann abzubrechen, und
man versucht, möglichst viel von der
Flüssigkeit durch Streichen und Massieren
aus der Stichöffnung wieder zu entfernen,
oder doch im Gewebe zu verteilen. Kühle
Umschläge mit essigsaurer Tonerde lin¬
dern die Schmerzen', verhindern aber
nicht, daß sich eine entzündliche Schwel-
248
Die Therapie der Gegenwart 1921
Juli
lung um die Stichstelle bildet, welche erst
nach Tagen zurückgeht und weitere Be¬
nutzung der Vene ausschließt. Eiterungen
und Nekrosen haben wir nie gesehen.
Die kolloiden Silberlösungen sind nicht
isotonisiert. Zusatz von Salzen aber würde
das Silber ausfallen lassen (Elektrolyt-
wirkung). Man darf deshalb keine zu
großen Mengen einführen, da sich sonst
die roten Blutkörperchen auflösen und
,,Kalivergiftung eintritt“ (??), Wir be¬
nutzen noch immer vorwiegend das alte
Kollargol-Heyden, aber fast nur in fünf¬
prozentiger Lösung, von der wir 3 bis
5 ccm einspritzen. Sonst wird meist
zweiprozentige Lösung gebraucht, und
bis 15 und 25 und mehr eingeführt
(Kausch u. A.). Was sich überhaupt
erzielen läßt, wird schon mit geringeren
Mengen erreicht. Im übrigen scheint es
auch auf die Konzentration anzukommen
und nicht gleichgültig zu sein, ob man
z. B. 0,2 g Kollargol in 5 % oder 2 %
Lösung gibt. Wenn man sich erinnert,
daß die primäre Abtötung einer gewissen
Menge von Krankheitserregern und die
dadurch ausgelöste Antikörperbildung
wahrscheinlich ein wichtiger Heilfaktor
ist, so wird das verständlich. Wir ver¬
meiden tägliche Anwendung des Kollargol
und machen meist jeden fünften, höch¬
stens (in manchen Fällen von Sepsis)
jeden zweiten Tag eine Injektion. Der
Organismus soll sich nicht an den Reiz
gewöhnen, welcher die Antikörperbildung
auszulösen hat. Zu lang dürfen die
Intervalle aber auch nicht sein, weil man
sonst mit unerwünschter Anaphylaxie^
rechnen muß, die Böttner nach 11 Tagen
auftreten und bis zum 41. Tage andauern
sah (Tierversuch).
Zum Schiu&sei noch die von A. Edel¬
mann und V. Müller angegebene Ver¬
bindung von Metylenblaunitrat und Sil¬
bernitrat erwähnt, welche Merck als
,,Argochrom“ in den Handel bringt. Die
parasiticiden Eigenschaften beider Sub¬
stanzen sollen durch ihre Verbindung
noch gesteigert werden und die der reinen
Silberkolloide noch übertreffen. Anfangs
wurde das „Argochrom'‘ auch gegen die
Malaria empfohlen. Wir fanden es hier
ebensowenig nachhaltig wirksam, wie die
anderen Silberpräparate. Da es außer¬
dem trotz aller Vorsicht fast regelmäßig
zum Verschluß der Vene führt, in welc^
es gespritzt wird, so haben wir aufgehört,
es zu versuchen.
Dagegen sahen wir ausgezeichnete
Wirkung vom Jodkollargol-Heyden.
Sie scheint in Fällen älterer Gelenk¬
affektionen die der einfachen Silber¬
lösungen in der Tat noch zu übertreffen.
Das Präparat wird in Substanz zu 0,02
Jodsilber in zugeschmolzeneu Ampullen
versandt und ist nach Zusatz von 10 ccm
sterilen Wassers, in dem es sich leicht
löst, gebrauchsfertig.
Böttner (I. c.).
Aus der Medizinisclieu Klinik der Universität Grießen (Direktor: Prof. Dr. Voit).
Über den Wert der Behandlung der Psyche bei inneren
Erkrankungen, ihre Methoden und Erfolge.
Von Dr. Erwin Moos, Assistent der Klinik. (Schluß.)
gegenüber dem Angreifer im Gefolge
haben.
Die psychische Einwirkung auf den
Organismus kann man sich am besten
klar machen am einfachen Beispiel des
Erschreckens. Denken wir uns einen
Überfall auf einen Menschen.. Der psy¬
chisch feste, gesunde Mensch wird mit
richtigen, schnellen Associationen und den
aus ihnen folgenden logischen Maßnahmen
reagieren. Er ergreift die Flucht oder
findet sofort den richtigen Gegenstand
und setzt sich mit diesem in geeigneten
Verteidigungszustand. Auf den psychisch
labilen Menschen wirkt der schreckhafte
Sinneseindruck so, daß er eine Gemüts¬
bewegung erzeugt die falsche körperliche
Reaktionen: Erstarren der Muskulatur,
Weinen, Zittern usw. und damit Abwehr¬
unfähigkeit und sofortiges Unterliegen
Nach Art des Errötens bei Scham¬
gefühl oder des Erblassens bei Wut oder
Schrecken werden bei psychisch labilen
Menschen nicht immer Vasomotoren oder
Dilatoren im Gesicht sondern auch in
Brust-, Bauch- und Unterleibsorganen
innerviert; es kommt zu spasmophilen
Zuständen, die das eine Mal ein Bronchial¬
asthma, das andere Mal entsprechende
Magen- und Darmsymptome usw. im Ge¬
folge haben können.
Bei der obstipierten Frau A. war es auf psy¬
chogenem Wege zu Dickdarmspasmen gekommen.
Gleichzeitige Sekretionshemmung führten zu
Eindickung und Verhärtung der Fäcesmassen, die
nun rein mechanisch derartige Reizungen der Dick¬
darmschleimhaut bewirkten, daß es zu Blut- und
Juli
Die Therapie, der Gegenwart 1921
249
V Schleimabsonderungen kam. In diesem Falle ist
das Primäre die psychogen bedingte Contractur
' des Darmes und daran schließt sich die organische
Seite der Symptome an, Blutungen eventuell Ent¬
zündungsvorgänge. Hier wird es verkehrt sein
und es erwies sich auch in unserem Falle als
falsch, die organische Seite zuerst oder ausschlie߬
lich in Angriff zu nehmen, da das nicht an der
Wurzel des Übels anfaßt. Einfügen möchte ich
hier noch einen Fall von Oesophagospasmus, der
nach meinem Vortrage aufgenommen wurde,
zunächst aller internen Therapie trotzte und dann
auf Psychoanalyse in vier Wochen heilte.
Fall V. Dr. X., Student, Diagnose: habi¬
tuelle Obstipation.
Patient litt seit sieben Jahren unter hart¬
näckiger Obstipation, gibt an, in letzter Zeit nie
mehr Hunger verspürt zu haben. Tiefe Depres¬
sionszustände haben ihm die Lust am Leben ge¬
nommen. Seit längerer Zeit bestand Mogigra-
phie, die gemeinsam mit den anderen Symptomen
fast jegliches Arbeiten unmöglich machte.
In diesem Falle bestanden keine Dickdarm-
spasmen. Die Fäcesmassen wurden lediglich wie
die Röntgendurchleuchtung ergab, in der Ampulle
retiniert.
Die Psycho-Analyse erzielte unter anfänglichen
sehr heftigen psychischen Reaktionen, die bei
jeder Behandlung auftreten und den Arzt nicht
schrecken dürfen, Heilung in wenigen Wochen.
Dem Patient geht es nach vier Monaten jetzt
vollkommen gut; er kann ungehemmt arbeiten
und hat keine Beschwerden mehr. Der Therapie
zu Hilfe kam in diesem Falle die hohe Intelligenz
des Kranken, der schnell auffaßte und nach an¬
fänglichen Widerständen intensiv mitarbeitete,
teilweise an Hand von Büchern, die ich ihm
empfahl.
Fall VI. Anna E., Hausmädchen. In der
Klinik vom 10. November bis 3. Dezember 1920.
Anamnese: Patientin hatte als Kind Schar¬
lach, Masern, Gelenkrheumatismus, Nierenent¬
zündung. 1916 Typhus, 1917 Blutvergiftung vom
rechten Zeigefinger ausgehend, der amputiert
werden mußte. Nach der Blutvergiftung noch¬
mals Nierenentzündung mit Erscheinungen von,
Atemnot und Herzschwäche.
Jetzige Beschwerden: Herzklopfen, Schmer¬
zen in der Herzgegend, Kopfschmerzen, depres¬
sive Verstimmungen.
Befund : Etwas blasses Mädchen in normalem
Ernährungszustand; Hämoglobin 70%. Über
.der linken Lugenspitze leichte Schallverkürzung
und bei rauhem etwas verschärftem Atem nach
Hustenstößen einige feinblasige Rasselgeräusche.
Keine orthodiagraphische Herzverbreiterung;
geringe Tropfenherzform im Röntgenschirm. Lei¬
ses sysfolisches Geräusch über der Herzspitze.
Zweiter Pulmonalton etwas klappend.
Abdomen: Appendixwunde noch etwas secer-
nierend, fast verheilt.
Bei den vielen Infektionen, die vorausgegangen
waren, wagte ich zunächst nicht, die Tachykardie
als nicht organisch ani^usprechen, besonders auch,
weil die Patientin eine Lungenspitzenaffektion
hatte, bei denen wir tachykarditische Erschei¬
nungen beobachten. Am 18. November machten
wir auf den Nachweis von Taenia-saginata-Glie¬
dern im Stuhl mit Filmaron-Chloroform eine er¬
folgreiche Bandwurmkur. Als die Tachykardie
auch daraufhin gleich blieb, die Blinddarmwunde
inzwischen geheilt war, und wir außer Tempe¬
raturfälschungen einen typischen hysterischen
Anfall sahen, hielt ich eine Psycho-Analyse für
angebracht. Nach acht Tagen waren sämtliche
Beschwerden gebessert, sowohl die psychischen
Erscheinungen als auch die Kopfschmerzen, die
Pulsbeschleunigung und die Herzsensationen be¬
seitigt.
Kurz berichten möchte ich über drei chronische
Ischiasfälle, von denen der erste und letzte akut
mit Fieber begonnen hatte. In allen drei Fällen
handelte es sich um Frauen, Mitte bzw. Ende def
vierziger Jahre. Bei- der ersten Frau waren die
Ischiasdruckpunkte vom Wadenbeinköpfchen
ah aufwärts stark schmerzhaft, der Las^gue wai
fraglich, die Achillessehnenreflexe waren beider¬
seits gleichmäßig vorhanden. Bei der zweiten Frau,
deren Leiden ein halbes Jahr bestand, waren am¬
kranken linken Bein alle Ischiasdruckpunkte in
typischer Weise schmerzhaft, der Lasegue deut¬
lich positiv. Der Wadenumfang betrug am
wohl physiologisch etwas schwächeren linken Bein
einen halben Zentimeter weniger als rechts. Die
dritte Frau war acht Monate ischiaskrank; sämt¬
liche Ischiasdruckpunkte bis zur Austrittsstelle
des Nervus ischiadicus am Foramen ischiadicum
stark positiv. Lasögue positiv. Unterschenkel¬
umfang am kranken linken Bein ein Zentimeter
weniger als rechts. Achillessehnenreflex fehlte am
kranken linken Bein. Bei allen drei Frauen
wandten wir bis zu vier Wochen lang vergeblich
alle gewohnten klinischen medikamentösen und
mechanischen Heilmaßnahmen an. Ich konnte
bei allen drei Frauen dann durch Hypnose fest¬
stellen, daß die Krankheitserscheinungen auf
psychogenem Wege festgehalten wurden. Die
Kranken gingen in Hypnose und posthypnotisch
im Wachzustand vorübergehend ohne Hinken
und ohne Schmerzen. Bei den beiden ersten
Frauen blieben auf weitere Hypnosen mit nach¬
folgender Aufklärung nach Dubois und Rosenbach
die Beschwerden und Erscheinungen an dem
kranken Bein fort. Nur der Wadenumfang bei der
zweiten Frau blieb am linken .Bein wie er gewesen
war. Bei der dritten Frau, die eine sehr schwere
Hysterika war, glich sich durch Massage, Elek¬
trisieren usw. die Atrophie am kranken Bein aus,
trotzdem wurde irgendwelche Besserung nicht
zugegeben. Sie hinkte nach wochenlanger Be¬
handlung in gleicher Weise weiter und war kaum
zum gehen zu bewegen. Nach einigen tiefen Hyp¬
nosen ging sie gut, sie wurde gebessert nach Hause
entlassen, um nach sechs Wochen mit den alten^
Beschwerden wieder in der Klinik zu erscheinen.'
Ich ging nun auch bei dieser Patientin an eine
ganz eingehende Psycho-Analyse, durch die er¬
reicht wurde, daß die Patientin jetzt stundenweite
Gänge ohne Hinken und Ermüdung machen und
ihren Haushalt mit zwei Kindern versorgen kann.
Andere hysterische Symptome besserten sich
wesentlich, doch dürften sie nicht geheilt sein.
Fall X. Frau S., 35 Jahre. Diagnose: Neur¬
asthenie. Dysmenorrhöen, Vaginismus (aus der
Frauenklinik zu uns überwiesen). In der Klinik
vom 21. Juli bis 31. Juli 1920. Kinderkrankheiten
für uns belanglos. September 1919 Operation in ,
der Frauenklinik wegen Gebärmutterknickung.
Die Schmerzen im Leib, besonders bei den Menses,
besserten sich nach der Operation nicht; da in
der Frauenklinik neue Anhaltspunkte nicht ge¬
funden wurden, kam Patientin zu uns, besonders
deshalb, weil Schleim und Blutabgang im Stuhl
beobachtet worden war.
Befund : Abdomen weich, Brustorgane o. B.
Von der Symphyse aufwärts links am Nabel
vorbeigehend eine 15 cm lange, auf der Unterlage
nirgends verwachsene Narbe. Druckempfind¬
lichkeit zwischen Nabel und Leiste links. Probe¬
frühstück ergab normale Säurewerte bei • etwas
32
250
Die Therapie der Gegenwart 1921
erhöhtem Rückstand. Sanguis negativ. , Mikro¬
skopisch 0 . B. Die Magen- und Darmdurch¬
leuchtung zeigte einen Stierhornmagen miti star¬
kem Tonus, guter; Peristaltik; der Pylorus war
etwas weit rechts, Teidlich beweglich. Motilität
des Magens normal. Die Breipässage durch den
Darm ließ krankhafte Veränderungen nicht er¬
kennen. Ebenso war die Darmschleimhaut, so¬
weit das Rektoskop reichte, intakt. 1
Die Psychoanalyse ergab folgende interessante
Anhaltspunkte. Die Patientin hatte von 1913 bis
1916 Tag und Nacht ihren Vater zu pflegen, der
1916 an Magen- und Darmkrebs starb. Derselbe
hatte besonders in der letzten Zeit immer viel
Blut und Schleim im Stuhl. Bei seinem Tode war
die Patientin durch körperliche und seelische
Anstrengung vollkommen heruntergekommen.
Schon bei den ersten Menses nach dem Tode
des Vaters fiel ihr auf, daß diese länger dauerten,
daß sie stärker blutete und daß sie mehr Schmer¬
zen hatte, als dies früher der Fall gewesen war.
Sie machte sich Sorge, daß es ihr einmal so gehen
könnte, wie. ihrem verstorbenen Vater. Nach
Rückkehr des Mannes hatte sie vom ersten Bei¬
schlaf ab heftige Schmerzen in der Vaginal¬
gegend, die jetzt so stark geworden waren, daß
ihr der Verkehr kaum noch möglich und direkt
zum Ekel geworden ist. Schon nach einigen
wenigen auf klärenden Sitzungen berichtet die
Patientin über wesentliche Besserung zu Hause;
sie mußte die Behandlung unterbrechen und kam
neun Tage zur Nachbehandlung wieder. Jetzt
hat sie keine Schmerzen beim Coitus mehr. Die
Regelbeschwerden sind gebessert, vorhanden ge¬
wesene nervöse Beschv/erden verschwunden.
Analogie zwischen ihren vermehrten Blutungen
und den Symptomen ihres Vaters. Die Patientin
kam immer wieder auf die starke Bindung an
ihren Vater zu sprechen, der ihr beständig als
das Idealbild eines Mannes vorschwebe, mit dem
auch ihr Mann, den sie sehr verehre, keinen Ver¬
gleich vertrage. ^
Die Patientin war noch zweimal ambulant in
letzter Zeit in der Klinik. Sie gab an, daß die
früheren Beschwerden nicht mehr vorhanden
seien. Merkwürdigerweise haben die vorletzten
Menses nur einen Tag, die letzten Menses nur zwei
Tage gedauert, während sie früher immer acht
Tage anhielten. Beschwerden und Schmerzen
hat sie nicht mehr dabei. Ob die Besserung der
dysmenorrhoischen Beschwerden auch durch die
Psychotherapie eingetreten ist, entzieht sich
meiner Kenntnis. Jedenfalls trat sie auffällig
gleichzeitig mit der Behandlung ein.
Fall XI. Patentin Kar. Kr., Näherin, 18 Jahre,
imbezille Patientin. Diagnose: Hysterie, kommt
wegen Schmerzen in der Magengegend,' spürt
Brennen im Leib direkt nach den Mahlzeiten, kein
saueres Aufstoßen, kein Erbrechen, Appetitlosig¬
keit, Kopfschmerzen. Probefrühstück o. B.
Röntgendurchleuchtung ergibt Angelhaken¬
magen mit gutem Tonus, normaler Peristaltik und
Motilität. Pylorus frei beweglich. Breipassage
durch Darm o. B. Stuhl o. B. 14 Tage nach der
Aufnahme typischer hysterischer Anfall mit ver¬
mehrten Leib schmerzen, Luftmangel und Zuckun¬
gen am ganzen Körper.
Auf zwei Hypnosen alsbaldige Besserung des
Appetits. Patientin konnte alles essen. Der
Belag auf der Zunge, der vorher durch nichts zu
beseitigen war, verschwand. Ebenso vergingen
die Kopfschmerzen und das Brennen im Leibe.
Entlassung beschwerdefrei mit vier Pfund Ge¬
wichtszunahme.
Juli
Fall XII. Frl. K-, 42 Jahre. Diagnose: Neur¬
asthenie, Klimakterium, Colicystitis.
Nach der Colicystitisbehandlung nach Haas,
bei der durch sehr anstrengende Lichtbäder,
Gaben von Phosphorsäure und Salicyl eine Über¬
säurung des Harns und dadurch ein schnelleres
Absterben der Colibazillen erzielt wird, traten
infolge der eingetretenen Schwäche derartig ner¬
vöse Schwindelanfälle auf, daß die Patientin nicht
mehr auf sein konnte. Sie blieben noch lange
Zeit, daß schließlich eine Auslösung durch körper¬
liche Schwäche infolge der. Schwitzkuren nicht
mehr in Betracht bleiben konnte und ein psycho¬
genes Festhalten angenorhnien werden mußte. In
einer Sitzung ließ sich analysieren, daß diese
Schwindelanfälle seit 17 Jahren mit wechselnder
Häufigkeit und Stärke aufgetreten waren, so daß
sie die Patientin öfter arbeitsunfähig gemacht
hatten. Erstmalig waren sie entstanden infolge
intensiven Wunsches nach einem geliebten Manne,
der der Patientin infolge Verheiratung nicht er¬
reichbar war. Die Entdeckung ihrer Neigung
erschien ihr verbrecherisch; bei dem Gedanken
an sie wurde es ihr-erstmalig schwindelig. Nach¬
dem sie diesen im Unterbewußtsein vergraben
gewesenen Affekt wiedererlebt hatte, konnte sie.
ihn augenblicklich selbst abreagieren und die
Schwindelerscheinungen verschwanden, die tage¬
lang anderer Behandlung trotzten.
Fall XIn. Helene S., 25 Jahre. In der
Klinik vom 11. Juni bis 31. Juli 1920. Diagnose:
Basedow.
Anamnese: Ich gehe auf diese Anamnese wieder
etwas ausführlicher ein, weil sie mir außerordent¬
lich charakteristisch erscheint für den Aufbau
einer psychogenen Erkrankung. Mutter starb
an Herzschlag, Vater und ein Bruder sind gesund.
Als Kind Masern, außerdem zweimal Diphtherie. •
Der jetzigen Erkrankung ging ihre Entlobung im
Winter 1919 voraus. Ihr Bräutigam heiratete ein
anderes Mädchen aus ihrem Dorf. Die Patientin
kam alsbald in eine tiefgehende Gemütsverstim-
mung. Es verging ihr jegliche Lust zum Arbeiten.
Der Umgang mit ihrem Vater, der diese Heirat
hintertrieben hatte, war ihr ein Greuel. Sie
konnte ihn nicht mehr sehen. Abends konnte sie
infolge der Gedanken, die sie sich machte, nicht
mehr einschlafen und schlief bald überhaupt
schlecht. Wenn sie nachts wach lag, stellte sich
Herzklopfen und Beklemmungsgefühl ein, das
sich um die Weihnachszeit immer mehr steigerte.
Alsbald litt sie auch unter häufigem nächtlichem
Schwitzen und wurde nun auch über Tag bei
den kleinsten Anlässen leicht aufgeregt und spürte
in sich eine beständige Unruhe. Erst nachdem
alle diese Erscheinungen vorhanden waren, fiel
ihr auf, etwa im Februar 1920, daß ihr Hals zu
schwellen anfing und daß ihre Augen größer
wurden. Der Schlaf wurde immer schlechter, der
Appetit verschwand. Zu dem Herzklopfen ge¬
sellten sich stechende Schmerzen in der Herz¬
gegend.
Befund: Große Patientin in reduziertem Er¬
nährungszustand. Starke Verdickung des Halses,
besonders in der Schilddrüsengegend. Augen
glasig-glänzend, stark aus den Augenhöhlen her¬
vorgetrieben. Stellwag+, Möbius -|-, Graefe
schwach -f-. Einige feuchte feinblasige Rassel¬
geräusche über der leicht schallverkürzten linken
Lungenspitze. Sonst Lunge o. B. Röntgenolo¬
gisch über der Lunge kein Befund. Herzmaße:
31/2 :7y2 cm.
1
Spitzenstoß im fünften Interkostlaraum, ziem¬
lich stark hebend, innerhalb der Mammillarlinie.
Jijli ^ . Die Therapie der
Leichtes systolisches Geräusch über der Mitralis.
,Zweiter Pulmonalton etwas akzentuiert. Wech¬
selnde Tachykardie. Abdomen o. B. Reflexe
gesteigert. Tremor der Hände. Dermographie
sehr stark positiv. Gewicht bei 1,68 m 56,7 kg.
Zickzacktemperatureri abends bis 37,5 im An¬
fang. Blutbild: 72 % Neutrophile, 18 % Lympho-
,zyten, große Mononukleäre und Übergangsformen
je 5%. Blutdruck 110 mm Hg.
26. Juni 1920: Auf Bettruhe anfangs leichte
Besserung des Schlafes und Allgemeinbefindens.
7. Juli immer wiederkehrende Beschleunigung
der Herztätigkeit, häufige psychische Alterationen.
14, Juli dauernde Unruhe, Klagen über Schmerzen
in der Herzgegend, deutliches systolisches Ge¬
räusch über der Herzspitze, Spitzenstoß sehr
stark hebend. 16. Juli: Über dem Cor ist jetzt
ein ausgesprochener Galopprhythmus erkennbar.
Starkes Hautschwitzen. Exophthalmus, Augen¬
symptome, Halsumfang wie im Anfang. __
21. Juli: Trotzdem die Patientin sehr auf¬
geregt ist und starkes Herzklopfen hat, wird
Hypnose versucht, die sofort gelingt. Dabei war
interessant zu sehen, wie drei Minuten nach der
Hypnose das Herz vollkommen ruhig schlug bei
normaler Pulsfrequenz. Posthypnotisch schlief
die Kranke in der nächsten Nacht von abends
9 Uhr bis morgens ununterbrochen, nachdem
vorher durch Sedativ^a absolut kein Schlaf mehr
zu erzielen war und die Patientin ganze Nächte
wach im Bett lag. Dies brachte mich darauf,
die psychotherapeutische Behandlung fortzu¬
setzen, weil ich mir sagte, es erscheint möglich,
daß man durch Beseitigung der jetzt hauptsäch¬
lich hervorstechenden nervösen Symptome Ein¬
fluß auf die endokrinen Drüsen, hier speziell auf
die Schilddrüse, erzielen kann. Eingehende täg¬
lich ein bis zwei bis zu einer Stunde dauernde
psycho-analytische Sitzungen hatten eine über¬
raschende Besserung zur Folge.
29. Juli: Die Patientin schläft jede Nacht, ist
im allgemeinen ruhig und stets fröhlich gestimmt,
die lästigen Schweiße haben aufgehört, die Herz¬
aktion ist dauernd normal geworden mit einer
Ausnahme morgens, wo sie von einem schreck¬
haften Traume vom Tode ihrer Mutter wach
geworden war. Nach diesem Traume wurden
108 Pulsschläge gezählt. Halsumfang ist bis jetzt
von 38 auf 36 cm zurückgegangen^ dazu der
Exophthalmus Vollkommen, aber erst, das sei
nochmals bemerkt, unter der psycho-therapeuti-
schen Behandlung. Entlassung gebessert. Ambu¬
lante Weiterbehandlung. Es geht der Patientin
jetzt sehr gut. Sie kann zu Hause alle Arbeit
tun, klagte im Anfang noch etwas über Herz¬
klopfen, das jetzt auch vollkommen verschwunden
ist. Starke Gewichtszunahme, zu Hause noch
weitere 12 Pfund.
Es ist wohl kaum nötig, davor zu warnen,
nun alle Basedowerkrankungen psycho-therapeu-
tisch heilen zu wollen. Dieser Fall war mittel¬
schwer und sicher psychogenen Ursprunges.
Nonne fand unter 39 Basedowfällen zehn mit
sicherer psychogener Ätiologie. Er erwähnt einen
Fall von Schnellheilung von Lenhartz durch
einmalige intensive Suggestion.
Bei den vielen vorkommenden ge¬
eigneten Fällen dürfen wir uns der Not¬
wendigkeit nicht verschließen, daß auch
die innere Medizin einer Systematisierung
ihrer Psychotherapie bedarf. Gerade die
innere Klinik mit ihrem reichlichen Unter¬
suchungsmaterial scheint mir berufen
Gegenwart 1921 1 251
und verpflichtet, die neueren psychOr
therapeutischen Methoden auf ihre Ver-*
wertbarkeit zu prüfen. Sie wird Physi¬
sches und Psychisches vor Anwendung
jeglicher Psychotherapie streng scheiden
und so vor Enttäuschungen bewahrt
bleiben.
In einer Reihe geeignet befundener
Fälle und zwar vor allem solchen, bei
denen wesentlich Einzelsymptome zu be¬
seitigen sind, wird die Hypnose mit Erfolg
heranzuziehen sein, die mir auch noch
gute Dienste leistete, wenn ich differen¬
tial-diagnostische Zweifel hatte, ob es
sich um organische oder um psychogene
Erscheinungen handelte. Im übrigen
verwandte ich die Hypnose zeitweise zur
Unterstützung der Psychoanalyse.
Weiterhin ist bei leichteren Fällen die
Persuasionsmethode mit einfacher Auf¬
klärung über das Zustandekommen vor¬
handener Symptome, sowie es Rosen¬
bach und Dubois geübt haben, mit
gutem Erfolg verwendbar.
Bei allen Patienten, bei denen es sich
um komplizierte tief im Unterbewußtsein
verankerte Zustände handelt, werden wir
irpmer nur durch die Psychoanalyse' zum
Ziele kommen, die auch bei meinen Fällen
eine weitaus größere Rolle spielt, als es
in diesem Berichte scheinen mag. Das
Wesen der analytischen Behandlung be¬
steht darin, daß man durch geeignete
Methoden im Unterbewußtsein veran¬
kertes, nicht bewußtseinsfähiges Material
an die Oberfläche des Bewußtseins treten
läßt, dadurch den früher damit verbunden
gewesenen Affekt zum Abreagieren bringt,
falsche Ideenassoziationen löst, und so
den Kranken instand setzt, mit den In¬
stanzen seines bewußten Denkens und
Wollens das Triebhafte in sich zu über¬
winden und einer höheren Verwertung
zuzuführen. Bei den komplizierten Fällen
müssen wir uns des ganzen Rüstzeuges
der Erforschung unbewußter Zustände
bedienen und dementsprechend Wochen
und Monate an ihnen arbeiten.
Das erste meiner Ansicht nach wich¬
tigste Hilfsmittel der Psychoanalyse ist
das Auftauchenlassen sogenannter freier
Einfälle, ein zweites das Assoziations¬
experiment, das von Jung (Zürich) aus¬
gebaut worden ist. 'Ein drittes Hilfsmittel
endlich haben wir in der Verwertung der
Träume, Wie jeder von sich selber weiß,
offenbart sich uns im Traume häufig
ein Streben, eine Triebregung, die wir
uns im wachen Leben infolge moralischer
und konventioneller Hemmungen nicht
32*
252
Die Therapie der Gegenwart 1921
Juli
klar machen können, mit ejner Deutlich¬
keit, vor der es kein Ausweichen gibt.
Man braucht da gar keine gekünstelten
Deutungen, wie sie ein Teil der sogenann¬
ten strengen Freudschen Analytiker
üben,,um den Patienten klar zu machen,
was in ihnen vorgeht. Wir müssen uns
vorstellen, daß im leisen Schlafzustand
der Träume die intensivsten Sinnesreize
und Gemütsbewegungen des Taglebens
nach Ausschaltung des Oberbewußtseins
noch oder dann erst recht vorhanden
sind und Reflexe auslösen. Diese Reize
sind-im Tagleben überdeckt, überwuchert
und greifen gleichwohl dirigierend in das
menschliche Denken und Handeln sein.
Die Schwierigkeiten der Psycho¬
analyse sind manchmal ungeahnt große
und das ist wohl auch ein Hauptgrund,
weshalb sie bei Patienten und Ärzten auf
Widerstand stößt. Dafür führt uns aber
die Analyse bei genügender Ausdauer
zum Ziele, wenigstens muß ich das von
meinen Fällen sagen. Ich habe außer den
angeführten eine ganze Reihe anderer
behandelt.
Bei der Behandlung müssen wir uns
frei halten von aller Mystik, andererseits
dürfen wir aber auch besonders als Ärzte
nicht davor zurückschrecken, Dinge, die
uns die Erfahrung immer wieder erkennen
läßt, in der Therapie mit Takt und großer
Rücksichtnahme auf den Seelenzustand
der Kranken zu verwenden.
Man darf selbstverständlich nicht so
weit gehen und nun wie Freud alles auf
das Sexualleben zurückführen wollen.
Neben dem Sexual- beziehungsweise Art¬
erhaltungstrieb gibt es einen Ernährungs¬
trieb, einen Trieb nach Machtstellung
und so viele andere ererbte und erworbene
lustbetonte Streben und Triebregungen,
deren Nichtbefriedigung zu Ausfalls¬
erscheinungen führen kann. Darüber aber
müssen wir uns im klaren sein, daß wir
die meisten unserer Regungen frei und
ohne Hemmungen offenbaren können,
während fast alle Kulturmenschen die
Neigungen, die in die Sexualsphäre ge¬
hören, nicht offenbaren. Hier sind die
meisten Menschen vor sich und anderen
unfrei und gehemmt. Das ist der Grund,
warum es im Sexualleben eher zu ein¬
geklemmten Affekten und auf diesen
auf gepfropften psychogen bedingten
Krankheitssymptomen kommt.
Literatur: v. Krehl, Über nervöse Herz
erkrankungen und den Begriff der Herzschwäche
m.rn.W. 1906, Nr. 48, S. 2333). Goldscheider,
Über psycho-reflektorische Krankheitssymptome
(D.m.W. 1907, Nr. 17, S. 665). Flein er, Verdau¬
ungsstörungen und Psychoneurosen (M. m. W.
1909, Nr. 10, S. 489). Möbius, Tatsächliches und
Hypothetisches über das Wesen der Neurasthenie
(Neurol. Beitr. 1894). Kraus, Die Abhängig¬
keitsbeziehungen zwischen Seele und Körper in
I Fragen der inneren Medizin (Erg. d. Inn. Med.
1908, Bd. 1). Strümpell, Einige Bemerkungen
über das Wesen und die Diagnose der sogenannten
nervösen Dyspepsie (D. Arch. f. klin. M. 1902,
Bd. 73). W. Wiindt, Grundriß der Psychologie
(zwölfte Auflage, Leipzig 1914). Derselbe,
Grundzüge der physiologischen Psychologie. Du-
bois. Die Psychoneurosen und. ihre psychische
Behandlung (Bern 1905). Rosenbach, Nervöse
Zustände und ihre psychische Behandlung (Berlin
1903). Freud, Vorlesungen zur Einführung in
die Psychoanalyse (Leipzig und Wien 1916).
Derselbe, Über Psychoanalyse: Fünf Vor¬
lesungen, gehalten zur 20 jährigen Gründungsfeier
der Clark University in Worcester, Mass., Sep¬
tember 1909 (Keipzig-Wien 1920). A. Forel,
Der Hypnotismus oder die Suggestion und die
Psychotherapie (Enke, Stuttgart 1918). Ernst
Weber (Berlin), Der Einfluß psychischer Vor¬
gänge auf den Körper, insbesondere auf die Blut¬
verteilung (Berlin 1910). Wilh. Stekel, Nervöse
Angstzustände und ihre Behandlung (3. Aufl.,
Wien-Berlin 1921). F. Mohr (Koblenz), Die Be¬
deutung des Psychischen in der inneren Medizin
(M. Kl. 1909, H. 31 u. 32). Derselbe, Entwick¬
lung und Ergebnisse der Psychotherapie in neuerer
Zeii: (Erg. d. Inn. Med. 1912, Bd. IX). Derselbe,
Das Wesen und die therapeutische Bedeutung
der Psychoanalyse (Zschr. f. ärztl. Fortbild. 1920,
H. 4). Derselbe, Die Beziehungen der Psycho¬
therapie zur Gesamtmedizin (Zschr. f. ärztl. Fort-
I bild. 1908, H. 19 u. 20).
Aus der L cMrurgisclien Abteilung (Direktor: Prof. Dr. R. Mübsam) und der Bakterio-
logiscben Abteilung (Dr. Kurt Meyer) des städtischen Rudolf-Vircbow-Krankenbauses.
über eine neue Methode der Hautdesinfektion mittels „Junijot“.
Von Dr. Albert Rosenburg, Volontärassistent der Klinik.
Die im Jahre 1908 von Grossich
eingeführte Desinfektion der Haut mittels
Jodtinktur hat sich' allmählich zu der
universellen Methode entwickelt, und.hat
in fast allen Kliniken alle anderen Des¬
infektionsmethoden verdrängt. Im all¬
gemeinen hat sich die Joddesinfektion
der Haut sehr gut bewährt, ihr Haupt¬
nachteil ist aber die nicht seltene Über¬
empfindlichkeit der Haut vieler Kranken,
die auf einmaligen Jodanstrich schon mit
einem hochgradigen, mitunter bullösem
Ekzem reagiert. Es ist deshalb nicht
verwunderlich, daß manche Operateure
sich anderer Desinfektionsmittel bedienen.
Hierzu kommt, daß D öder lein fest¬
stellte, daß auch die Jodtinktur die Haut
nicht völlig keimfrei macht. Er versuchte
253
Juli Die Therapie der Gegenwart 192i
■deshalb durch Herstellen eines sterilen
Überzuges die Bakterien für die Dauer
Ader Operation zu fixieren, indem er über
den Jodanstrich einen Überzug von Gau-
danin (einer Lösung von Paragummi in
Formanbenzin) bringt. Alle Verfasser,
die diese Methode nachprüften, kamen
zu den besten Resultaten: es wurde fast
völlige Keimfreiheit erzielt. Zu gleicher
•Zeit hat v. Herff 50.%’gen Aceton-
Alkohol mit sekundärem Anstrich von
Dermagummit zur Hautdesinfektion emp¬
fohlen. — Der kurze Zeit gebrauchte
Chirosoter, eine Lösung von wachs-
'Und- balsamartigen Stoffen in Tetra¬
chlorkohlenstoff, hat wegen der hoch¬
gradigen Reizung der Haut sich nicht
einführen können. — Der Unterschied der
Desinfektionsmethoden Döderleins und
v. Herffs einerseits und Grossichs ande¬
rerseits ist der, daß bei dem Vorgehen
der' genannten Gynäkologen eine in¬
differente Gummihaut die bei Bauch¬
schnitten eventuell vorquellenden Darm-
schlingen gegen die Desinfektionsmasse
schützt. Ob die Jodtinktur die Darm¬
serosa angreift, wie obige Autoren an¬
nehmen, und so zu Verwachsungen Anlaß
gibt, ist noch heute nicht eindeutig
•entschieden.
Schon 1911 machte Propping auf
■das vermehrte Vorkommen mechanischer
Darmverschlüsse seit Einführung der Jod¬
desinfektion aufmerksam. Er konnte
nachweisen, daß eine halbe Stunde nach
Jodanstrich ein befeuchteter Kochsalz¬
tupfer noch Jod von der Haut annimmt
.und eine befeuchtete Stärkebinde 'eine
starke Jodreaktion gibt. Hingegen findet
nach Beendigung der Operation, beson¬
ders wenn das Operationsfeld und seine
Umgebung mit Feuchtigkeit in Berüh¬
rung gekommen und dadurch auch ent¬
färbt ist, keine Jodreaktion mehr statt.
Im Tierexperinient konnten Propping
und Heinz nachweisen, daß, wenn man
Jodtinktur mit der Darmserosa in Be¬
rührung bringt oder minimale Mengen
von Jodtinktur in die Bauchhöhle der
Versuchstiere einspritzt, sich in kurzer
Zeit Fibrinauflagerungen, sowie feste
Membranen und Stränge zwischen den
Darmschlingen bilden. Verfasser beob¬
achteten innerhalb eines halben Jahres
bei 70 einfachen oder mit Absceßbildung
komplizierten Appendicitiden sechsmal
Abknickungen oder Adhäsionen, während
sie in dem Jahre vor Einführung der
Joddesinfektion bei 300 Appendicitiden
nur fünfmal mechanische Darmver¬
schlüsse beobachten konnten. Propping
empfahl, die Darmserosa durch feuchte
Kompressen vor der Berührung mit der
Jodtinktur zu schützen, was auch nach
den Erfahrungen anderer Autoren die
Nachteile der Methode in vielen Fällen
aufhebt. Die Rehnsche Klinik jedoch
ersetzte 1914 die Jodtinktur durch das
von Bechhold angegebene Frovido-
form, das aber den Nachteil hat, daß
es farblos ist, und daß es sich nur 24 Stun¬
den hält. In seiner im Januar 1921 er¬
schienenen Publikation weist Propping
erneut auf die Nachteile der Jodtinktur¬
desinfektion hin. Er vergleicht die in
letzter Zeit aus der Schmiedenschen
Klinik von Flesch-Thebesius ver¬
öffentlichten 22 Fälle von Adhäsionsileus
mit den zwölf Fällen des Rehnschen
Materials. Er glaubt, daß selbst eine
achtfache Lage feuchter Kompressen die
Darmserosa nicht genügend schützt, da
das Jod von der warmen Haut verdunstet
und die Maschen ohne weiteres durch¬
dringt. Er empfiehlt besonders die 5 %ige
Providoformtinktur, die, wie-er im Tier¬
experiment nachweisen konnte, keinerlei
Adhäsionen macht, obgleich sie dieselbe
Desinfektionskraft hat, wie die Jod¬
tinktur. Außerdem bildet sie nach Ver¬
dunsten des Alkohols einen feinen harzigen
Überzug auf der Haut und fixiert da¬
durch auch rein mechanisch die Bak¬
terien.
Hierzu kommt, zur Zeit jedenfalls,
noch ein wirtschaftlicher Gesichtspunkt:
der hohe Preis, der Jodtinktur, die aus
dem Auslande eingeführt werden muß.
Man verwendet deshalb zur Zeit aus Spar¬
samkeitsrücksichten an den Berliner Klini¬
ken zur Hautdesinfektion eine 5%ige
Jodtinktur an Stelle der 10 bis 12%igen,
die Grossich ursprünglich angab. —
Angeblich soll ihre Desinfektionskraft
dieselbe sein.
Die Firma Aktiengesellschaft für medi¬
zinische Produkte Berlin hat nun unter
dem Namen ,,Junijot“ ein Präparat
herausgebracht, das einen spirituösen,
durch ein besonderes zum Schutze an¬
gemeldetes Perkolätionsverfahren ge¬
wonnenen Auszug aus einer in Deutsch¬
land wild wachsenden Pflanzenart (Cu-
pressineae: Retinospora plumosa) dar¬
stellt und deshalb in unbeschränkter
Menge lieferbar ist. Das Junijot ist
eine grünlich fluoreszierende Flüssigkeit,
die, dünn aufgetragen, beim Verdunsten
ein dünnes, hellgrünes Häutchen auf der
Haut bildet. Zwei Minuten nach dem
254
Öie Therapie
det* Gegenwart
19211
JitlT
Aufstrich ist das anfangs klebrige Häut¬
chen trocken. Juni jo t hat gegenüber der
bisher auf unserer Abteilung gebräuch¬
lichen Jodtinktur den Vorteil, daß es die
Haut nur ganz leicht grün färbt und so
jede Rötung und Kontur der Haut deut¬
lich erkennen läßt. Da so die äußeren
Eigenschaften diese Tinktur besonders
zur Hautdesinfektion geeignet erscheinen
ließen, habe ich auf Veranlassung von
Herrn Dir. Prof. Dr. R. Mühsam in der
bakteriologischen Abteilung des Rudolf-
Virchow-Krankenhauses (Leiter: Dr. Kurt
Meyer) die Desinfektionskraff des neuen
Mittels ausprobiert. Die chemische Ana¬
lyse ergab, daß die Tinktur nur 20%
Alkohol neben vielen Harzen enthält, so
daß hier von einer Alkoholdesinfektion
nicht die Rede sein kann.
Um die Desinfektionskraft des Junijots im
Vergleich mit der 5%igen Jodtinktur zu prüfen,,
wurden zuerst zwei gehäufte Ösen von Staphylo¬
kokkenkulturen in die Originallösung gebracht
und nach einer Minute Einwirkung zwei Ösen
des infizierten Desinfektionsmittels in Bouillon
überimpft. In beiden Fällen blieb die
Bouillon steril.
Als zweiter Versuch wurde 1 ccm Junijot mit
1 ccm Staphylokokkenaufschwemmung, die durch
Abschwemmung einer 24stündigen Schrägagar¬
kultur mit 10 ccm physiologischer Kochsalzlösung
und nachherige Filtration durch Glaswollfilter
hergestellt war, versetzt und ebenfalls nach einer
Minute Einwirkung zwei Ösen überimpft. Die
Bouillon blieb steril. Es hatte also diese
Mischung, in der sich Junijot, respektive 5%ige,
Jodtinktur, in einer Verdünnung von 1 :2 be-'
findet, die Bakterien innerhalb einer Minute ab¬
getötet (vgl. auch Tabelle I).
Ebenso tötet Junijot in einer Verdünnung
von 1 : 3 Staphylokokken nach einer Minute Ein¬
wirkung ab. In einer Verdünnung 1 :4 (1 ccm
Junijot, 1 ccm steriles Wasser und 2 ccm Staphylo¬
kokkenaufschwemmung) werden die Bakterien
erst nach 15 Minuten abgetötet (vgl. Tabelle I).
Eine Verdünnung 1 ; 5 tötet selbst nach einer
Stunde Einwirkung nicht mehr ab, hat also für
eine Desinfektion keinerlei praktischen Wert mehr.
Tabelle I.
Die bakterientötende Kraft des Junijots.
(Testbakterien: Staphylokokken.)
Ver¬
dünnung
1
3
5
nach Minuten
10 15 30 45 60 120
180
240
1 : 2
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
1 : 3
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
1 : 4
■ +
+
+
+
0
0
0
0
0
0
0
1 : 5
+
+
+
+
+
+
+
+
1 : 10
+
+
+
+
0 steril -|- Wachstum
Üm weiterhin die Versuchsbedingur.gen den
Verhältnissen im Körper anziinähern, wurde zu
• Junijol eine Bakterienaufschwemmung in Ascites¬
flüssigkeit, anstatt in Kochsalz, zugesetzt. Die
Wirkung w'ar eine entschieden schwächere, da
eine Verdünnung von 1 :4 selbst nach vier
Stunden noch keine Abtötung der Keime herbei¬
führte. Eine Verdünnung von 1 :2 w'ar nach
einer Minute steril.
Der zweite. Versuch in dieser Richtung, bei
dem ich in einer | Verdünnung von J :3 eim
Sechstel sterilen.Wassers durch Humanol, .bei
Operationen gewonnenes menschliches Fett, er¬
setzte, beeinflußte die Desinfektionskraft nicht..
Da die bakterientötende Konzentration, des
Junijöts im Körper wohl nur selten erreicht
Wird, so ist ^ür die Praxis die entwicklungs¬
hemmende Wirkung des Mittels von viel größerer
Bedeutung, da der Körper mit einmal geschädig¬
ten Keimen wohl immer fertig wird.
Die entwicklungshemmende Wirkung des Ju¬
nijots wurde im Vergleich mit der gebräuchlichen
Jodtinktur (5 %) und mit einer 5 %igen Karbol¬
kochsalzlösung (Phenol) geprüft, indem Bouillon¬
röhrchen mit fallenden Mengen der Desinfektions¬
flüssigkeiten versetzt wurden, so daß die Gesamt¬
menge jedesmal 5 ccm Mischung beträgt. In
dieses Gemisch wurden, zwei Ösen Bakterien--
kulturell eingeimpft. Die Kulturen wurden siebem
Tag^ hindurch beobachtet, da aber nach dem>
vierten Tage keine Änderung des Ergebnisses^
mehr eintrat, so habe ich in den Tabellen ILundj
III nur die ersten vier Tage eingetragen. Bei
Tabelle II waren die Testbakterien Staphylo¬
kokken, bei Tabelle III Streptokokken.
Tabelle II (Staphylokokken).
Ver¬
dün¬
nung
Junijot
nach Tagen
12 3 4
Jodtinktur
nach Tagen
12 3 4
Phenol
nach Tagen
12 3 4
1 : 10
1 0 0 0 0
0 0 0 0
0 0 0 0
1: 25
0 0 + +
+ + + -(-
4- 4- 4- 4-
1: 50
+ + + +
+ + + +
4- 4- 4- 4-
1:100
+ + + +
_ 1 _ - 1 _
4- 4- 4- +
1:250
4- + -f- -f
4- -f 4- 4-
1:500•
+ + + +
"T + + -4“
4- -h 4- --4
0 steril
4 - Wachstum
Tabelle III (Streptokokken).
Ver-
Junijot
Jodtinktur
Phenol
dün-
nach
Tagen
nach
Tagen
nach
Tagen
nung
1 2
3
4
1
2
3 4
1
2
3
4
1: 10 i
0 0
0
0
0
0
0 0
0
0
0
0
1.: 25
0 0
4-
4-
0
4-
4- 4-
0
0
0
0
1: 50 !
-L
4-
4-
4- -4
+
4-
4-
4“
l: 100
4_
4~
4-
4-
4-
4- -f
4-
4-
4-
4-
1: 250
4- 4-
4~
1
1
+
4"
4- -f-
-h
4-
4-
4-
1:500
4- 4-
4-
4_
4-
4-
4- 4-
4-
+
4-
4-
0 steril + Wachstum
Wir sehen also, daß das Junijot erst in einer-
Verdünnung von T : 10 entwicklungshemmend,
w'irkt, seine Desinfektionswirkung ist also in Ver--
dünnung eine relativ geringe.
So gut nach den bakteriologischen
Untersuchungen das Junijot zur Haut¬
desinfektion geeignet erscheint, so
muß doch seine Eignung als Wundtinktur
mit Reserve aufgenommen werden. Es
liegen mir einige Gutachten von prakti¬
schen Ärzten vor, die mit Junijot bei
eiternden Wunden gute Resultate erzielt
'haben. Meine eigenen klinischen Erfolge
sind bisher noch nicht eindeutig, so daß-
ich hierzu keinerlei Stellung nehmen will.
Es ist möglich, daß Junijot, das in nicht
zu großen Massen in die Wundhöhle ge-
Juli _ Die Therapie der Gegenwart 1921 • 255'
bracht, ein Häutchen bildet, so durch
Luftabschluß und durch lokale Des¬
infektion soweit wie es mit den Bakterien
in Berührung kommt, entwicklungshem¬
mend wirkt. Ich will aber ausdrücklich
nochmals erwähnen, daß ich meine Stel¬
lungnahme zu den klinischen Erfolgen für
später aufschiebe.
Um nun die Hautdesinfektionskraft
des Junifots unter Umständen, die
möglichst denen bei Operationen an¬
geglichen sind, zu erproben, habe ich die
Paul- Sarweysche Versuchsanordnung
wie'folgt entsprechend modifiziert.
, Es wurden bei Frauen beide Oberschenkel an
ihrer Vorderseite mit sterilem Wasser angefeuch¬
tet und ein Drittel der vorher abgegrenzten
Fläche zur Bestimmung des Keimgehaltes der
Haut mit sterilen Stäbchen abgekratzt. Diese
Stäbchen wurden in 3 ccm Bouillon heftig aus¬
geschüttelt und von dieser Bouillon Platten
I gegossen. (Platte I.) Jetzt wird 2) die ganze'
.übrige Fläche, rechts mit 5%iger Jodtinktur,,
links mit „JuniJot“ überstrichen und 2a) nach
zwei Minuten, 2b) nach zehn Minuten ein weiteres^
Drittel der Fläche mit sterilen Stäbchen abgekratzt
und die Stäbchen wie oben verarbeitet. (Platte
Ila und Ilb.) Um nun 3) die Tiefenbakterieh,.
die bei länger anhaltenden Operationen und bei
eventuellen Schweißausbrüchen des Patienten an
die Oberfläche kommen, in ihrer Wirkungskraft
nach dem Anstrich mit obigen Desinfektions¬
mitteln beurteilen zu können, wurde auf die
Oberschenkel je ein Tupfer aufgelegt, und Patient
unter einem Lichtkasten zum Schweißausbruch
gebracht. Die Innenseite des Lichtkastens war
mit einem sterilen Tuch bespannt. Die Tupfer
mußten etwa 15 bis 25 Minuten liegen, wenn im
Lichtkasten sechs Birnen in Tätigkeit waren, bis¬
ein genügender Schweißausbruch erfolgte. Die
Tupfer werden zerschnitten und in 30 ccm Bouillon:
ausgeschwemmt, je 3 ccm dieser Ausschwemmung
dann zu Platten verarbeitet. (Platte HI.) 'Zu¬
letzt werden 4) beide Flächen nochmals mit
sterilen Stäbchen abgekratzt und zur Platte IV
verarbeitet.
Tabelle IV.
Versuch I.
16jähriges Mädchen (in Behandlung wegen Absceß am
linken Oberschenkel).*
Versuch 11..
27jährige Frau (in Behandlung wegen’
linksseitigem Bubo nach Appendicitis).
Junijot
Jodtinktur
Junijot
Jodtinktur
Platte I
187
371 Kolonien
"280'
106 Kolonien
Platte 11 a
3
2 „
8
3 „
Platte Ilb
4
1 ■ „
13
0 ,,
Platte III
4
26 „
2
2 „
Platte IV
12
4
10
3
Versuch III.
25jähriges Mädchen; vor zehn Tagen Herniotomie.
Platte I
1 Jodtinktur
80 Kolonien
65 „
Platte Ila ‘
i-iatte iia . Jodtinktur
2 „
4 ..
2 X Sporenbildner
3 X Kokken, 1 x Pseudodiphtherie
Platte llb
1 '
Sporenbildner
riatte 11 D Jodtinktur
3 „
2 X Kokken, 1 große Kolonie Sporenbildner
Junijot 1
15 „
9 verschiedene Sporenbildner, 1 Xgram-nega-
Platte III
tive Stäbchen
Jodtinktur
4 „
Sporenbildner, 'davon viele schon frei
Junijot
15 „
9 verschiedene Sporenbildner, 1 große Kolonie
Platte IV
Sporenbildner
Jodtinktur
4 „
3 verschiedene Kokken, 1 x Streptothrix
Versuch IV.
28jährige Frau mit operierter Nabelhernie.
lunijot
Platte I
Jodtinktur
56 Kolonien
24 „
darunter große Kolonien (Heubacillen), die das
Wachstum der andern hemmen
darunter eine große Kolonie, die das Wachstum
der andern hemmt
•Platte Ila ^
Jodtinktur
3 „
0 „
2 verschiedene Sporen, 1 gram-negatives Stäbch.
Platte Ilb ■
Klane iid jodtmktur
00 CO
2 Sporenbildner, 6 Kokken
1 -Sarcine, 5 Sporen, 8 verschiedene Kokken
Platte III
Kiatte 111 Jodtinktur
4 „
2 „
2 Sporenbildner, 2 verschiedene Kokken
1 Sarcine, 1 Kokke
Platte IV J^^ririot
riaue IV Jodtinktur
- 2 ' „
5 „
2 verschiedene Sporenbildner
3 verschiedene Kokkenarten
I
256
Die Therapie der Gegenwart 1921..
JuU
Es wurden’ die Kolonien gezählt und durch 1
mikroskopisches Präparat bestimnit, um festzu- 1
stellen, wie sich die vegetativen Formen verhalten, -I
da wir ja nur diese abtöten können. Eine Wachs- i
tumshemmung oder Desinfektion von Sporen-
bildnern, die ja durch kein anderes Haut¬
desinfektionsmittel abzutöten sind, können wir
also auch nicht erwarten.
Aus obigen Tabellen ersehen wir, daß
das Junijot selbst sehr bakterienreiche
Hautschichten bis auf einige Sporen¬
bildner keimfrei macht. Im Gegensatz
zur Jodtinktur finden wir in den mit
Junijot desinfizierten Hautpartien fast
keine Kokken, Während Wir, wie wir oben
sehen, in den mit Jodtinktur desinfizier¬
ten Partien immer Kokken gefunden
haben. Da es bisher auch nicht gelungen
ist, mit irgendeinem anderen Haut¬
desinfektionsmittel Sporenbildner abzu¬
töten, so kann für die Praxis die Haut¬
desinfektion durch Junijotanstrich inner¬
halb der möglichen Grenzen als voll¬
ständig angesehen werden. Das bei
diesen Versuchen vorgenommene Ab¬
kratzen des Desinfektionshäutchens läßt
beim nachfolgenden Schweißausbruch die
Tiefenbakterien leichter an die Oberfläche
kommen, Was in der Praxis nicht der Fall
ist, so daß also die Resultate in der
Praxis bedeutend günstigere sein werden,
als bei diesen Versuchen.
, Während die Jodtinktur vermöge ihrer
fettlösenden Eigenschaften bis in die
kleinsten Spalten eindringt, besonders da
nicht nur der Alkohol das Fett löst,
sondern auch das Jod mit den Fett¬
molekülen eine lösliche Verbindung ein¬
geht, ohne seine keimtötende Wirkung zu
verlieren (Grossich) und dort die Bak¬
terien tötet, wirkt ,,Junijot“ durch Ab¬
töten der Bakterien der Oberfläche und
durch Bildung eines Häutchens, das die
Tiefenbakterien genügend gegen das Ope¬
rationsfeld abschließt. Würde die Jod¬
tinktur nach einmaligem Anstrich die
Kokken völlig abtöten, so würde dieses
eine vollständige, ideale Desinfektion be¬
wirken. Leider aber ist dieses nicht der
Fall, wie meine obigen Tabellen zeigen.
In letzter Zeit hat Seedorf in den Acta
chirurgica Skandinavica die Desinfektions¬
kraft der Jodtinktur untersucht und fest¬
gestellt, daß ein einmaliger Jodanstrich
zur Hautdesinfektion nicht genügt. Er
empfiehlt eine zweizeitige Methode, die
zwölf Stunden vor der Operation mit
Bürste und Seife erst oberflächlich reinigt,
dann mit 70%!gem Äthylalkohol des¬
infiziert, jetzt wird ein steriler Tupfer
aufgelegt und erst eine halbe Stunde
vor der Operation in Abständen von fünf
bis, zehn Minuten das Operationsfeld mit
einer einprozentigen, Jodäthylalkohol¬
oder Propylalkohollösung desinfiziert.
Auch für die dringenden Operationen hält
er den dreimaligen Jodanstrich für un¬
bedingt erforderlich, eine Methode, die
sich klinisch wegen der noch gesteigerten
Gefahr der Hautekzeme Wohl von selbst
verbietet. Diese Versuche weisen uns
also immer wieder auf die Suche nach
neuen, besseren Mitteln hin. Daß Wir
ein solches gutes Ersatzmittel für Jod¬
tinktur in dem Juni jo t gefunden haben,
glaube ich an der Hand obiger Versuche
bewiesen zu haben. Es kommen noch
die sehr, günstigen physikalischen Eigen¬
schaften hinzu, besonders die Bildung
eines Häutchens, das die Bakterien fixiert
und vom Operationsfeld fernhält. Ferner
ist ein weiterer Vorteil, daß bei Laparo¬
tomien aus dem Abdomen herausgelagerte
Darmschlingen nur mit dem Häutchen,
das keine Desinfektionskraft mehr hat
und deshalb auch keine Reizwirkung aus¬
üben kann, in Berührung kommen. Es
können also auch nicht Adhäsionen durch
die Berührung entstehen. Wenn der Jod¬
tinkturanstrich von dem Operateur wegen
des vollständigen Verdeckens jeder ent¬
zündlichen Rötung und jeder Kontur mit¬
unter vermieden Werden muß, so ver¬
wischt Juni jo t die Farbe der Haut fast
gar nicht und gibt ihr nur einen feinen
grünlichen Schimmer, was einen großen
Vorteil besonders für die Poliklinik be¬
deutet, um so mehr, als Juni jo t sich mit
Wasser und Seife n^ach einigen Stunden
völlig entfernen läßt. Eine Reizung
der Haut Wurde noch nie beob¬
achtet. Das Mittel wirkt, da es sehr
stark nach Fichtennadeln riecht, stark
desodorisierend, was bisweilen ebenfalls
von Vorteil ist.
Unter diesen Umständen glaube ich
Junijot für die Hautdesjnfektion Warm
empfehlen zu können, um so mehr, als
auch die bis jetzt angestellten klinischen
Versuche kein ungünstiges Resultat ge¬
zeitigt haben. Zu einem abschließenden
Urteil über die klinischen Versuche ist
bis jetzt die Versuchsdauer noch zu kurz,
obgleich auch hier keinerlei Nachteile be-,
obachtet wurden.
So glaube ich, daß Juni jo t unseren
Erwartungen entspricht und daß seine
Einführung in die chirurgische Praxis
dringend empfohlen werden muß.
Literatur: 1. Bechhold, M. m. W. 1914,
Nr. 37. 2. V. Brunn, Beitr. z. klin. Chir. 1907,
Juii , Die Therapie der Gegenwart T921 257
S. 630. 3. Gr OS sich, Zbl. f. Chir. 1908, Nr. 44.
4. Derselbe, B. klin. W. 1909, Nr. 43. 5. Der¬
selbe, Zbl. f. Chir. 1910, Nr. 21. 6. Derselbe,
Allg. Wien. m. Ztg. Jahrg. "55, 1910, Nr. 45,
5. 489. 7. V. Herff, Zbl. f. Chir. 1909, Nr. 52.
8 . Kolle-Wassermann, 2. Auf]., Bd.III, S.443ff.
9. Littauer, M. m. W. 1907, S. 1031. 10. Prop-
ping, Zbl. f. Chir. 1911, Nr. 19. 11. Derselbe,
M. m. W. 1921, Nr. 1, S; 11. 12. Schenk und
Scheib, M. m. W. 1907, S. 1976. 13. Seedorf,
Acta chirurgica Scandinavica Bd. 52, H. 5, S. 436,
1920. 14. Wedei:hake, Zbl. f. Chir. 1907, Nr. 23.
Neues zur Lehre von der Enuresis nocturna.
Von Kreisarzt a. D. Dr. Finckh", Arendsee i. M.
Der nachstehende Bericht fußt auf
einer fast vier Jahre umfassenden Beob¬
achtung eines Falles von Enuresis noc¬
turna, der zur Mitteilung geeignetscheint,
da die dabei gemachten Erfahrungen ein
neues Licht auf die Ursachen des Lei¬
dens werfen.
Es handelt sich um ein 9%jähriges Mädchen,
das neuropathisch belastet, aber weder epileptisch
noch hysterisch ist. Es ist sonst völlig gesund,
leidet auch, wie vielfache Untersuchungen er¬
gaben, an keiner Form von Kreislaufstörungen;
keine Kriegsernährungsschäden. Die Enurese
besteht seit früher Kindheit und hat -sich im
Laufe der Jahre insofern etwas gebessert, als sie
seltener wurde, ohne aber je ganz zu verschwinden.
Sie tritt vollkcmmen unregelmäßig auf, früher
bis zu dreimal in einer Nacht, mehrere Tage hinter
einander oder auch ganz vereinzelt, nie aber in
regelmäßig wiederkehrenden Perioden oder im
Gefolge periodischer Verstimmungen. Eine Ände¬
rung des Bildes war allmählich noch insofern zu
erkennen, als die Menge des im Schlafe entleerten
Urins sich nicht unwesentlich verringerte. Er¬
ziehungseinflüsse, Gewöhnung, Regelung der Diät
blieben ohne erkennbaren Erfolg.
Gelegentlich einer leichten Angina im März
1917, die Bettbehandlung erforderte, wurde zum
ersten Male länger dauernde Sauberkeit fest¬
gestellt, die zu genauerer Beobachtung Anlaß
gab. In der Folge stellte sich das Bettnässen
wieder ein, verschwand aber regelmäßig, meist
für kürzere Zeit, sobald für ^ oder 1 Tag Bett¬
behandlung eintrat. Eine über mehrere Tage
ausgedehnte Bettbehandlung im Jahre 1920 hatte
denselben Erfolg. Als nach 12 Tagen noch einmal
eingenäßt wurde, kam Suggestionsbehandlung,
erst im Wachen, dann in leichter Hypnose hinzu,
die zu einem bisher recht befriedigenden Erfolg
führte.
Das auffälligste in mehreren Beobachtungs¬
reihen war die bei Tag und Nacht gelassene Urin¬
menge. Als auffälligste Abweichung von der
Norm zeigte sich ein Überwiegen der Urinabsonde¬
rung bei Nacht, nämlich in der ersten Beob¬
achtungsreihe von 11 Nächten wurde achtmal
bei Nacht 50—87% der Gesamturinmenge ent¬
leert, in einer zweiten von 29 Nächten achtzenmal,
in einer dritten von 56 Nächten dreiunddreißigmal,
also direkt eine Umkehrung des normalen Typus,
Bettruhe änderte daran im Jahre 1917 nichts,
während Ende 1920 die nächtliche Urinmenge
dabei auf 25—48% herabgedrückt wurde, ein
Verhältnis, das sich regelmäßig wiederholte^ wenn
sich in den Kreislauf der Schul- und anderen
Pflichten der Sonntag als Ruhetag einschob. Am
Sonntag belief sich die nächtliche Leistung auf
36—48%, zuweilen setzte sich diese Senkung auf
die nächsten zwei bis drei Nächte fort, um bis zum
Wochenende die durchschnittliche Höhe von
55—58% wieder zu erreichen. Kontrollunter-
su'chtingen bei gesunden Kindern ergaben als
Durchschnitt ca. 33%. Merkwürdig War sodann
der sprunghafte Wechsel der Gesamturinmengt,
im Jahre 1917 derart, daß von einem Tag zurri
anderen Spannungen bis zu 660 ccm Differenz sich
ergaben. Die Kurve erhielt so das Aussehen einer
Fieberkurve von abendlichem Anstieg und mor¬
gendlicher Remission. Im Jahre 1920 wurde ein
einziges Mal eine Spannung von ca. 600 ccm auf¬
geschrieben, sonst betrug die Differenz zwischen
zwei Tagen nie mehr als 200, höchstens einmal
bis 250 ccm. Außerdem waren Steigerungen der
Menge innerhalb 24 Stunden von mehrtägigen
ganz erheblichen Senkungen gefolgt und endlich
muß hinzugefügt werden, daß 1917 in der ersten
Beobachtungsreihe von 11 Nächten (einschließlich
achttägiger Bettruhe) einmal eingenäßt wurde,
in der zweiten von 34 Nächten siebenmal und
endlich 1920 während 89 aufeinanderfolgenden
sechsmal, und zwar 1920 in ganz geringfügiger
Menge. Besonders hervorgehoben zu werden ver¬
dient, daß zugleich mit dem Bettnässen schwerer,
bloierner Schlaf beobachtet wurde, aus dem das
Kind kaum zu erwecken war, um Urin zu lassen
(in der Regel um 10 Uhr nachmittags). Endlich
sei noch erwähnt, daß gleichzeitig auch hin und
wieder, meistens aber unabhängig von der Enurese,
im ganzen selten^ Schlafwandeln auftrat.
Es war endlich von Interesse, zu wissen, wie
Sich die Urinmergen vor und nach Mitternacht
verteilten. Zuvor sei bemerkt, daß nach Landois
die Urinabsonderung nachts zwischen 2 und
4 Uhr am geringsten und nachmittags zwischen
2 und 4 Uhr em stärksten ist. Tobler in Feers
I Lehrbuch der Kinderheilkunde gibt an, daß der
Harnabgang im Schlafe am häufigsten in den
ersten Nachtstunden, meist vor Mitternacht er-
folgei Ich verfüge in dieser Richtung über ein
reiches Beobachtungsmaterial, da das Kind
regelmäßig gegen 10 Uhr nachmittags auf ge¬
nommen wurde. Sie wurde jeden Abend zwischen
7 und 7%|Dhr zu Bett gebracht, so daß sie bis
10 Uhr etwa 3 Stunden geschlafen hatte. Es war
geradezu die Ausnahme, wenn bis dahin schon
eingenäßt worden war. Was die Urinverteilung
vor und nach Mitternacht betrifft, so verfüge ich
nur über eine Beobachtungsreibe von sechs auf¬
einanderfolgenden Nächten. Die Menge verteilte
sich wie[ folgt:
Von 7 Ea. bis 7 h p. 255 ccm, bis 11 h p. 75 ccm,
bis 7"a. 285 ccm, zus. 615 ccm.
von 7 h a. bis 7 h p. 300 ccm, bis 11 h p. 75 ccm,
bis 7 ha. 185 ccm, zus. 560 ccm
von 7 h a. bis 7 h p. 520 ccm, bis 11 h p. 130 ccm,
bis 7 ha. 435 ccm u. E., zus. 1025 ccm u. Emir,
von 7 h a. bis 7 h p. 225 ccm, bis 12 h p. 240 ccm,
bis 7 ha. 130 ccm u. E., zus. 600 ccm u. Enur.
von 7 h a. bis 7 h p. 210 ccm, bis 12 h p. 240 ccm,
bis 7 h a. 290 ccm, zus. 740 ccm
von 7 h a. bis 7 h p. 420 ccm, bis 3 ha. 215 ccm,
bis 7 ha. 270 ccm, zus. 900 ccm.
Teilen v. H. ausgedrückt heißt dies, daß nach
11 oder 12 Uhr fünfmal bis zum Morgen 60 bis
77% der nächtlichen Urir.menge entleert wurden,
33
258 / ' Die Therapie der Gegenwart 1921 ' . Juli
wahrscheinlich auch das sechste Mal, genaue
Feststellungen ließen sich wegen des Einnässens
in dieser Nacht aber nicht machen. Anhangsweise
sei noch beigefügt, daß in der. Zeit zwischen
2 und 4 Uhr'nachmittags überhaupt kein Urin
gelassen wurde, sondern in der Regel um ca. l>‘h p.
und dann erst wieder am späten Nachmittag.
Die Hauptabsonderung des Nachturins in den
Nachmitternachtsstunden steht mit der weiteren
Beobachtung im Einklang, daß das Einnässen
recht häufig erst nach Mitternacht erfolgte, ohne
indes gerade zur Regel zu werden.
« Am interessantesten und auffälligsten
an diesem Fall ist die Umkehrung des
Sekretionstypus des Urins, der gegen alle
Regel ist und fraglos,als Ergebnis der
neuropathischen Belastung gelten muß.
Daß bei dem Kinde auch sonst vasomo¬
torische Störungen wirksam waren, zeigte
sich an ihrem nicht selten recht blassen
Aussehen bei nervöser Ermüdung, ohne
daß sonst Anzeichen von Blutarmut Vor¬
lagen. Im Einklänge mit dieser Auf¬
fassung steht die Tatsache, daß im Jahre
1920 mit der Sicherheit des Experiments
die Sekretion sich der Norm näherte,
sobald kürzere oder längere Ruhepausen
eingeschoben wurden. Da es sich dabei
um Befreiung von Schulbesuch und -auf-
gaben handelte, die körperliche Bewegung
aber so ziemlich die gleiche blieb, mußten
nervöse Faktoren für diesen Ausgleich
maßgebend sein. Daß psychische Ein¬
flüsse auf die Urinsekretion einwirken,
z.' B. Angst, Schreck, Erwartung, einen
steigerr;den Einfluß haben, ist ja hin¬
länglich bekannt. Wenn die in meinem
Falle gemachte Beobachtung richtig ist —
und sie konnte oft genug auf ihre Richtig¬
keit geprüft und regelmäßig bestätigt
werden —, so würde also die neuropathi-
sche Belastung in dem Sinne gewirkt
haben, daß das Nervensystem des Kindes
von geringer Widerstandskraft, also leicht
erschöpfbar ist und daß diese Erschöpf¬
barkeit die letzte Ursache für die nächt¬
liche Mehrleistung im Gang der täglichen
Nierenarbeit ist. Naturgemäß wird die
nervöse Erschöpfung abends am stärksten
und also die Harnmenge bei Nacht am
größten sein müssen. Beleg für die Wahr¬
scheinlichkeit dieser Behauptung ist fer¬
ner, daß ganz regelmäßig zwischen 7h a.
und 1 h. p. kein Urin gelassen wird und
ebensowenig, wie schon erwähnt, zwischen
1 h. und den späten Nachmittagsstunden,
vielleicht deswegen, weil in der Regel auf
die Mittagsmahlzeit eine zweistündige
Ruhepause folgt, die meist im Bett zuge-
gebracht wird, das heißt die Nerven sind
durch die Bettruhe ausgeruht. Daß die
Erschöpfung des Centralnervensystems i
im Sinne einer erhöhten Reizbarkeit mit
der Zunahme des Urins antwortet, stehf
im Einklang nicht nur zu dem Urimdrang
bei starker seelischer Erregung, sondern
auch mit der Steigerung der Schwei߬
absonderung bei derselben psychischen
Verfassung, der Erhöhung der Reflexe in
nervösen Zuständen und gesteigerter, ge¬
mütlicher Erregbarkeit in der Nervosität.
Es liegt nun nahe, das Bettnässen
lediglich auf das Konto der nächtlichen
Harnflut zu setzen, und diese Annahme
würde wesentlich an Wahrscheinlichkeit
gewinnen, wenn die Enurese immer nur
auf die Zeiten einer besonders gesteigerten
Urinabsonderung fiele. Viermal war in
der Tat auch an den Enuresetagen die
Gesämturinmenge übef 1000 ccm, natür¬
lich ohne en ins Bett gegangenen Urin
gesteigert. Aber ihnen stehen ebenso
viele Beobachtungen gegenüber, in denen
die Gesamtmenge ganz wesentlich ge¬
ringer war. Außerdem war in den ersten
vier Fällen der Nachturin im Verhältnis
keineswegs so besonders reichlich, in
zwei von den letzten vier aber gegen oder
über 60% der Gesamtmenge. Wenn es
nun auch nicht zu leugnen ist, daß bei
starker Urinabsonderung an sich auch
die Gefahr des Einnässens größer ist, so
ist eine große Gesamtmenge doch sicher
nicht der einzige und wahrscheinlich nicht
einmal sein wichtigster Grund. Beweis
dafür ist die Tatsache, daß wenigstens
ebensooft bei einer hohen Gesamtmenge
und Beteiligung der Nacht bis zu 60 und
mehr Prozent das Bett trocken blieb. Es
müssen also notwendig noch andere Ur¬
sachen zum Zustandekommen der Ejnu-
rese mitwirken. Es ist hier zweierlei
möglich, entweder eine besonders starke
Schlaftiefe oder eine erhöhte Reizbarkeit
der Blase, die Urindrang und -entleerung
auch Zustandekommen läßt, wenn der
Grad der Blasenfüllung an sich noch keine
Entleerung verlangen würde. Für die
erste spricht die oft gemachte Wahr¬
nehmung, daß in den kritischen Nächten
das Kind nur mit äußerster Mühe wach
zu bekommen war, um seine Notdurft zu
verrichten, und oft genug kam sie aus
der Schlaftrunkenheit überhaupt gar
nicht heraus. Die Schlaftiefe war für die
Eltern sogar ein recht brauchbarer Grad¬
messer für die Wahrscheinlichkeit des
Einnässens. Daß andererseits Harndrang
auch ohne starke Blasenfüllung in seelisch¬
nervösen Reizzuständen vorkommt, wurde
schon wiederholt betont. Ich glaube, daß
die nervöse Er.schöpfung dasselbe Er-
> Juli ^ th6fäpie def O^geiiwäfl: 1021 , __ _259
gebnis zeitigen kann und daß beim Zu-
istandekommen des Einnässens bald die
^ine, bald die.andere Ursache und zu¬
weilen sogar vielleicht die eine zusammen
rnit der anderen wirksam ist.
In dem vorliegenden Falle hätten wir
somit als Ursache des Bettnässens die
neuropathische Belastung anzusehen, die
sich äußert in einer abnormen nervösen
Erschöpfbarkeit. Diese wird ihrerseits
Ursache für eine Umkehrung des Sekre-
■fionstypus, der die Haupturinmenge auf
die Nacht verlegt, ferner für abnorme
Schlaftiefe entsprechend der Schwejre der
Erschöpfung und, endlich für nervöse
Reizzustände der Blase mit abnormem
Urindrang.
Was den spontanen Verlauf des Lei¬
dens angeht, so ist eine gewisse Besserung
nicht zu verkennen, sowohl was die Häufig¬
keit des Bettnässens .als auch die Menge
des dabei entleerten Urins bestrifft. Viel¬
leicht wird man sogar behaupten dürfen,
daß die tägliche Urinmenge anfängt sta¬
biler zu werden und nicht mehr so abnorm
hoch ist. Denn es ist festgestellt worden,
daß die tägliche Harnmenge mit den
Jahren nicht gewachsen, sondern eher
icleiner geworden ist. Wenn man 1917
sicher von einer Polyurie reden mußte,
ist dies jetzt im Durchschnitt nicht mehr
der Fall, jedenfalls sind jetzt Werte über
1000 ccm eine große Seltenheit. Während
1917 die tägliche Durchschnittsmenge
•etwa 900 ccm betrug, überschreitet sie
jetzt 850 ccm nicht mehr, sondern bleibt
recht häufig unter diesem Wert. Jeden¬
falls ist es nicht gezwungen, hierfür eine
nervöse Ursache aufzusuchen in der Rich¬
tung einer geringeren nervösen-Erschöpf¬
barkeit des Gehirns, die dann auch für
die seltenere Enurese in Anspruch zu
nehmen wäre. Als Stütze für diese An-,
-Sicht ist anzuführen, daß jetzt die geistige
Anspannung durch die Schule ungleich
"größer ist, als 1917, wo der Schulbesuch
für das Kind erst begann. Trotzdem war
1920 keine Zunahme der Krankheits-
•symptome, vielmehr eine unverkennbare
Besserung zu konstatieren.
Wenn also diese Erklärung richtig ist,
so wäre die Besserung des abnormen Zu-
•standes auf Rechnung einer erhöhten
Widerstandsfähigkeit des Centralnerven¬
systems zu setzen, und in der Tat bewegt
sich die Behandlung seit Jahren nach
■dieser Richtung. Auf diesem Wege wäre
■also, mit fortschreitender Ertüchtigung
■des Nervensystems, die endgültige Hei¬
lung des Leidens zu erwarten und die
Voraussage somit eine günstige. Immer¬
hin aber würden hach dem bisherigen
Gang der Anomalie noch mehrere Jahre
bis zu diesem Erfolge vergehen, und es
erhebt sich die Frage, ob dieser Weg nicht
durch ein weiteres ärztliches Eingreifen
erheblich abzukürzen wäre.
Damit kommen wir zum Schluß auf
die Behandlung zu sprechen. xDaß die
sorgfältige Berücksichtigung der Jeichten
Erschöpfbarkeit der Nerven nicht ohne
Erfolg bleibt, lehrt die vorliegende Beob¬
achtung zur Genüge. Sie ist so wichtig,
daß sie meines Erachtens die Grundlage
jedes aktiven V-orgehens bleiben'muß.
Aber auch sie führt nur langsam zum Ziel.
Ich habe daher, wie schon viele Andere
vorher, mit der Suggestion einen weiteren
Behandlungsfaktor einzuführen versucht.
Soweit die bisherigen Beobachtungen
, einen Schluß zulassen, ist der Erfolg er¬
mutigend. Freilich wird die Suggestion,
sei es Wach- oder Schlafsuggestion, darauf
verzichten müssen, die vorhandene Dis¬
position, also die nervöse Erschöpfbar¬
keit und damit die Sekretionsanomalie zu
beseitigen; diese muß vielmehr allmählig
von selbst, unter Nachhilfe durch ent¬
sprechende Behandlung, sich ausgleichen.
Die Suggestion beseitigt bekanntlich ja
auch nur Krankheitssymptome, aber nicht
die Anlage zu einer Krankheit oder diese
selbst, am wenigsten eine angeborene
Anlage. Sie hat. sich' vielmehr darauf zu
beschränken, daß der Wille, in der Nacht
aufzuwachen, sooft sich Urindrang meldet,
geweckt und gestärkt wird. Diese Sug¬
gestion muß durch wiederholte Eingebung
so kräftig werden, daß die dementspre¬
chende Autosuggestion ein nie versagen¬
des Mahnzeichen wird; diese Aufgabe
kann die Suggestion wohl erfüllen.^
Ich glaubt diesen Fall den Ärzten
nicht vorenthalten zu dürfen, einmal
weil er wissenschaftlich nicht ohne Inter¬
esse ist und eine neue und, wie ich meine,
eine befriedigendere und restlosere Er¬
klärung der Enuresis nocturna zuläßt,
sodann weil er die Wege zu einer immerhin
nicht aussichtslosen Bekämpfung des
Leidens weist, was besonders dem be¬
handelnden Arzt erwünscht sein muß, der
ja vor derartigen oft geradezu verzweifel¬
ten Fällen direkt ratlos steht. Als eine
Schwäche meiner Arbeit kann der Um¬
stand gelten, daß meine ganze Beobach¬
tung scheinbar nur auf diesem einen Fall
beruht, den man von anderer Seite viel¬
leicht als einzigen in seiner Art bezeichnen
könnte. Das ist aber sicher nicht richtig,
33*
260 ; Die Therapie der Gegenwart 1921. Juli
denn seitdem ich auf die Eigenart dieses
Leidens durch den vorliegenden Fall auf¬
merksam geworden bin, sind mir schon
eine ganze Reihe von Beobachtungen
entgegengetreten, die den oben geschil¬
derten Fall geradezu photographisch treu
kopieren. Also einzig in seiner Art ist der
Fall sicher nicht. Ich wage sogar zu be¬
haupten, daß diese Fälle sich um so mehr
häufen werden, je mehr die Aufmerksam¬
keit auf sie gelenkt wird. Das war ein
weiterer Grund, der mich zur Veröffent¬
lichung meiner Erfahrungen veranlaßte.
Freilich stehen einer genauen Feststellung
in der Praxis schwere, oft unüberwind-
-liche Hindernisse entgegen. Der prakti¬
sche Arzt wird nicht leicht Zeit und Ge¬
legenheit zu so ins Einzelne gehenden
Beobachtuhgen haben, auch gehört sehr
viel Geduld und Interesse von seiten der
Angehörigen dazu, da sie sich in de r Rege
an den verschiedenen Beobachtungen be¬
teiligen müssen. Endlich wird das Kran¬
kenhaus,,sonst der gegebene Ort für ein¬
gehende und länger dauernde Unter¬
suchungen, für solche vorliegender Art
recht wenig Material liefern können, weil
ihm eine wesentliche Grundbedingung,
die Beobachtung in den alltäglichen
Lebensbedingungen mit dem gewöhn¬
lichen Tageslauf, den Arbeiten und Pflich¬
ten des täglichen Lebens und den sich
daraus ergebenden Schädlichkeiten für
das Nervensystem fehlt'. Auch aus diesem
Grunde sah ich mich zur Veröffentlichung
meines Materials veranlaßt. ' '
ZusammeDfassende Übersicht.
Neue Wege
der chirurgischen Behandlung der Krampfkrankheiten.
Von Dr. med. StephatT iVestmann, Berlin.J
Die Beobachtung, daß nach einem
Kopftrauma Zuckungen und Krämpfe
einzelner Körperteile, unter Umständen
sogar des ganzen Körpers auftreten kön¬
nen, legte die Vermutung nahe, daß vom
Cerebrum oder genauer von der Hirn¬
rinde der Krampfimpuls ausgehen müsse.
Ich will hier nicht näher auf die Ge¬
schichte der chirurgischen Epilepsie¬
behandlung eingehen, die eben durch
das .Moment des Kopftraumas immer
wieder angeregt- wurde, die Epilepsie
durch operative Maßnahmen zu behan¬
deln. Alle Operationen, die wie bisher
den Schädel beziehungsweise das Gehirn
und seine Häute als den ätiologischen
Herd der Epilepsie angriffen, hatten den
Zweck, etwa vorliegende Veränderungen,
die imstande sind, einen Reiz auf die
Hirnrinde auszuüben, zu beseitigen oder
das Centrum, das dem in ^Zuckung ge¬
ratenden Körperteile entspricht, zu exstir-
pieren. Aber keine von den zahllosen
vorgeschlagenen Methoden konnte bisher
zu einem voll befriedigenden Resultate
führen, wie ja überhaupt die.ganze Lehre
von der Kopfverletzung als Ätiologie der
Epilepsie auf schwachen Füßen steht.
Wie käme es sonst, daß bei einem Men¬
schen ein leichteres Kopftrauma Krämpfe
nach sich zieht, Während bei einen> an¬
deren schwere Verletzungen ohne Folgen
ausheilen. Wohl mit Recht sieht Auer¬
bach neben Entzündungsprozessen, Heri-
dität und Kopftrauma in einem unbe¬
kannten Etwas eine unumgänglich not¬
wendige ätiologische Komponente, die
Krampffähigkeit des Organismus zur
Krampfbereitschaft zu steigern, und er
nennt dieses Etwas „epileptische Dia-
these“ oUer ,,spasmophile Disposition“.
War bei den nach Kopftraumen auf¬
tretenden Krämpfen noch ein mutma߬
licher Zusammenhang zwischen Krampf
und exogener Reizung zu erkennen, so>
war man bei den zum Krankheitsbilde
der genuinen Epilepsie gehörigen Krampf¬
anfällen ganz auf Theorien und Hypo¬
thesen zu ihrer Erklärung angewiesen
und versuchte, mit Hilfe des Experi¬
ments Licht in das Dunkel zu bringen.
Kußmaul und Nothnagel glaubten
im Vasomotoreneentrum den Sitz der
Krampferregung gefunden zu haben, und
als Wiechowski und Jensen die bis
dahin geleugnete Existenz von Vaso¬
motoren im Gehirn nachgewiesen hatten,,
glaubte man eine Brücke zwischen dem
Vasomotorencentrum und der von
Kocher als kram pfauslösendes Moment
angesprochenen Druckschwankung im
Liquor cerebrospinalis gefunden-zu haben
und sich so die teilweisen Erfolge der
Koch er sehen Ventiloperation erklären
zu können.
Mit der Lehre von den Drüsen mit
innerer Sekretion kamen dann auch Er¬
klärungsversuche, die auf Grund experi¬
menteller Ergebnisse in der Überfunktion
einzelner endokriner Drüsen oder in dem
Juli.
261
t Die Therapie der
Ausfall anderer Drüsen eine Beeinflus¬
sung der Krämpfe suchten. Ich erinnere
hierbei an die Glandulae parathyreoideae,
bei deren Insuffizienz oder gänzlichem
Fehlen es zu konvulsivischen Reizzu¬
ständen und zu tetanischen Krämpfen
kommt, oder an die Schilddrüse selbst,
deren Exstirpation beim Hunde ein akutes
Krankheitsbild rhit klonischen und toni¬
schen Krämpfen hervorzurufen imstande
ist, und auch die von Lundborg unter
dem Namen der Myoklonie beschriebene
Krankheit wird von ihm als eine endogene
Intoxikationskrankheit hervorgerufen
durch eine Insuffizienz der Glandula
thyreoidea aufgefaßt. Auch auf Zusam¬
menhänge zwischen einem Ausfall der
Hodensekretion und Epilepsie hat Fi¬
scher bei ■ Frühkastrationen und bei
Eunuchoidismus hingewiesen.
Einen neuen Gesichtspunkt in der
Beurteilung der Epilepsie wie der’ Krampf¬
krankheiten überhaupt, nimmt H. Fi¬
scher im Jahre 1920 in seiner Arbeit
,,Ergebnisse zur Epilepsiefrage“ ein, in¬
dem er den Krampfmechanismus sowohl
central, das heißt veln Gehirn aus, wie
auch peripher für angreifbar hinstellt.
Der Krampf an sich ist eine von der quer¬
gestreiften Körpermuskulatur geleistete
exzessive Arbeit. Da nun die Reiz-
ansprechbarkeit der Körpermuskulatur
nicht nur central, sondern auch peripher
beeinflußbar ist, wie .besonders die Beob¬
achtungen über die Nebennierenhyper¬
beziehungsweise Hypofunktion ergeben
haben, so ist es interessant, zu unter¬
suchen, welche Bedeutung dem Neben¬
nierensystem für den Krampfmechanis¬
mus zukommt, da ja eine Wechselwirkung
.zwischen Nebennierenfunktion und Mus¬
keltonus unverkennbar ist. Ich denke
hierbei an die muskuläre Asthenie bei
Addisonscher Krankheit, oder umge¬
kehrt hat Langlois festgestellt, daß
durch Nebennierenextrakt die Zuckungs¬
kurve Addisonkranker zur Norm zurück¬
gebracht werden kann, und daß das sub¬
jektive Gefühl der Muskelermüdung nach¬
läßt, während beim normalen Menschen
bei Adrenalininjektionen die Muskelkraft
erhöht wird.
H. Fischer benutzte nun diese Er¬
gebnisse physiologischer Forschung zu
Tierexperimenten, bei denen er zu dem
Resultat kam, daß die Krampffähigkeit
der Tiere mit Reduzierung der Neben¬
nierensubstanz im Körper proportional
abnimmt, und daß an Stelle des tonisch¬
klonischen Krampfes mehr ein /grob¬
' ■ ■ . • ■ /
Gegenwart 1921*
schlägiger Tremor der Extremitäten auf-
tritt. Als Krampfgift verwandte er
Arnylnitrit und als Versuchstiere Kanin¬
chen.
Bei doppelseitiger Nebennierenexstir¬
pation konnte er, vorausgesetzt, daß-
keine, accessorischen Nebennieren im Or¬
ganismus Waren, mit. Arnylnitrit keine
Krämpfe^ mehr auslösen. Fischer hält
die Nebennierenrindensubstanz für die
Krampffähigkeit für unerläßlich, während
das Mark, das ja dem im ganzen Körper
verbreiteten chromaffinen System ' an¬
gehört, nur sekundär für die Krampf¬
fähigkeit von Belang ist, da seine Sekre-
tionsarbeit von der Rinde abhängig ist.
Interessant ist auch die Beobachtung:
Fischers, daß nicht nur die motori¬
schen Entladungen, sondern auch die-
ihnen parallel gehende Bewußtlosigkeit
nach Nebennierenexstirpat'ion ausbleiben;
er folgert hieraus, daß das Auftreten von
Bewußtseinsstörungen an andere cen¬
trale Vorgänge als nur an direkte Gift-
Wirkungen auf das Cerebrum und speziell
auf die Hirnrinde gebunden ist.
Das Tierexperimient beweist weiter,,
daß man auch praktisch direkt eine peri¬
phere und eine centrale Komponente des-
Krampfmechanismus trennen kann. Zur
Prüfung der peripheren Komponente be¬
nutzte Fischer eine Form traumatischer
Krämpfe, indem er durch elektrische-
Hirnrindenreizung eine größere Krampf¬
fähigkeit des Organismus herbeiführte,,
die analog den traumatischen Krämpfen
beim Menschen erst nach einem bestimm¬
ten Zeitintervall eintrat. Durch Neben¬
nierenreduktionen, also durch einen peri¬
pheren Eingriff, gelang es ihm, die
Krämpfe bedeutend abzuschwächen, bei
völliger Exstirpation reagierten die Tiere
nur solange m'it Krämpfen auf . selbst
starke Hirnrindenreizungen, wie diese
direkt einwirkten. Umgekehrt zeigte
Fischer durch Steigerung der Neben¬
nierenfunktion, die er durch Kastration
oder Alkoholintoxikation herbeiführte,,
daß sich die periphere Krampffähigkeit
nicht nur herabsetzen, sondern auch
steigern läßt.
Wie kommt nun diese Wirkung des
Nebennierensystems auf die Krampf¬
reaktion zustande? H. Fischer glaubt,
daß in der anisotropen Substanz der
quergestreiften Muskulatur eine für den
Adrenalinangriff receptive Substanz, die
sogenannte ,,Myoneuraljunktion“ vor¬
handen ist, die zwischen die Muskelsub¬
stanz und die von Boeke im Jahre 1909
262 ' . . , _Die Therapie der Gegen%ft‘ 1921 __ ' JuÜ
entdeckten accessorischen, marklosen und
autonomen Nervenfasern in der quer-
getreiften Muskulatur, ihrem ,,Tonusan--
teir‘, eingeschaltet ist.
Es gibt demnach eine doppelte An¬
griffsfläche der Muskeltonusfunktion; ein¬
mal im autonomen Nervensystem (Boeke)
.als rein nervöse Beeinflussung des Muskel¬
tonus und zweitens in der receptiven Sub¬
stanz der quergestreiften Muskulatur als
Beeinflussung biochemischer Natur.
Das Sekretionsprodukt des chrom-
.affinein Systems greift peripher die recep-
tive Substanz an; da nun dieses chrom-
affine System als innersekretorische Drüse
in die ganze innersekretorische Korrela-
.tion eingeschaltet ist und in enger Be-'
Ziehung zur Nebennierenrinde steht, so
-erklärt sich der Einfluß des ganzen,
Nebennierensystems auf die Muskelarbeit
.und — durch seine Wirkung auf den
Tonusanteil — auch auf den Krampf-
.anfall, wc^bei durch die Nebeneinander-
schaltung auch anderer endokriner Ap¬
parate neben die Nebenniere auch der
Einfluß dieser Apparate auf die funk¬
tionellen Zusammenhänge zwischen
Nebenniere und quergestreifter Musku¬
latur gesichert ist.
Die praktische Folgerung für die
therapeutische Ausbeutung dieses experi¬
mentell nachgewiesenen Anteils des Neben¬
nierensystems an der Krampffähigkeit
beziehungsweise Krampfbereitschaft des
Körpers zog Brüning, und entfernte
in geeigneten Fällen eine Nebenniere.
Schon im Jahre 1856 berichtet
Brown-Sequard über die Erfolge von
^in- und doppelseitigen Nebennierenexstir¬
pationen an Säugetieren verschiedener
Art, die sämtlich binnen weniger Stunden
— höchstens 37 Stunden — tötlichen Er¬
folg hatten. Ihm traten Gratiolet und,
Philippeaux entgegen, welche die
Schuld am letalen Ausgange der opera¬
tiven Technik zuschoben und bewiesen,
•daß einseitige beziehungsweise unvoll¬
ständige Entfernung das Überleben der
Versuchstiere veranlassen kann, sofern nur
'ein Achtel der Nebennierensubstanz er¬
halten bleibt.
Brüning entfernte die linke Neben¬
niere, da der Zugang zu ihr technisch
einfacher ist als zur rechten, deren Exstir¬
pation infolge der Nähe der Gallenblase
und der Leber gefahrvoller zu sein kheint.
Er wählte von den drei Zugangswegen,
nämlich 1. dem von einem Lumbalschnitt
wie zu einer Nierenoperation aus, 2. einem
seitlichen in der vorderen Axillarlinie
den dritten, transperitonealen, der ihm
die beste Übersicht und Orientierungs¬
möglichkeit zu geben schien. Er führte
den Schnitt vom Processus xiphoideus
ungefähr 10 cm nach abwärts, durch¬
trennte dann den linken Rectus quer und
ging im Musculus obliquus externus einige
Zentimeter nach unten. Nach Verdrängen
der Milz und des Magens nach oben und
des Colon transversum nach unten legte
er das hintere Peritoneum frei, das er
durchtrennte und im retroperitonealen
Fettgewebe die etwas medial von der
linken Niere liegende Glandula supra-
renalis aufsuchte und exstirpierte. Bisher
Wurden nach dieser Methode von Brü¬
ning neun Patienten mit epileptischen
Anfällen und teilweise mit bereits be¬
ginnender Demenz operiert. Nach den
von ihm gemachten Angaben ist zum
mindesten die Aussprechbarkeit des
Muskelsystems für Krampfanfälle be¬
deutend herabgesetzt worden, so zwar,
daß in einzelnen Fällen die Krämpfe über¬
haupt nicht mehr auftraten, in anderen
die Reizschwelle so weit erhöht werden
konnte, daß es mit geeigneten Medika¬
mente, wie z. B. Sedobrol oder Luminal
bei sonst unbeeinflußbaren Fällen ge¬
lang, Anfälle zu unterdrücken oder ganz
zu verhüten.
Was das Blutbild anlangt, das ja bei
Epileptikern eine Verschiebung zur neutro¬
philen, poJynucleären Leukocytose auf¬
weist, so bildete es sich nach dem Ein¬
griff zur Norm zurück. Auch zeigte
Schlund, daß im Gegensatz zu der
sonst bei Adrenalininjektionen auftreten¬
den relativen Lymphocytose nach der
durch die Nebennierenreduktion plötzlich
einsetzenden Unterfunktion des Adrenal-
systems eine Herabsetzung der relativen
Lymphocytose eintritt. Sofort nach der
Operation sank im Duchschnitt die
Lymphocytenzahl von zirka 40 % auf
etwa 15%, um dann Wieder die Tendenz
zu einer Einstellung auf normale Werte
zu zeigen. Eine Erhöhung des Blut¬
zuckerspiegels tritt nach den Unter¬
suchungen Bauschs bei den operierten
Patienten in keinem Fall auf. Betreffs
der Prognose der mit Nebennierenexstir¬
pation behandelten Fälle von genuiner
Epilepsie ist natürlich der EinWand einer
späteren vicariierenden Hypertrophie der
anderen (rechten) Nebenniere berechtigt,
jedoch ist nach Brüning mit dieser
Möglichkeit bei Individuen, die bereits
das Pubertätsalter überschritten haben,
kaum zu rechnen. Andererseits ist selbst-
Juli
i Die Therapie der Gegenwart X921
263
verständlich' nur ein Teilerfolg zu erwar¬
ten, wenn etwa accessorische . Neben¬
nieren besonders aus Rindensubstanz
längs des Vom Testis beim Deszensus
zurückgelegten Weges Vorkommen und
nicht entfernt worden sind.
Wenn in der Behandlung der Epilepsie
auf Grund der von H. Fischer einge¬
führten Trennung zwischen cerebralem
und peripherem Krampfkomponenten die
Nebennierenentfernung angeraten wird,
so ist diese natürlich nur als ein Mittel
•anzusehfen, ein Symptom zu beseitigen,
freilich ein solches, das den Kranken
unsozial macht und ihn verhindert einen
geregelten Beruf nachzugehen.
Literatur: Auerbach, Mitt. Grenzgeb.
Bd. 19. Bausch, Blutzuckerspiegel vor und nach
der therapeutischen Nebennierenreduktion bei
Krampfkranken nach Heinrich Fischer, D. m.
W. 1920, Nr. 49. Biedl, Innere Sekretion, 1916.'
Brown-Sequard, Cpt. r. de Biol. 1856. Brü¬
ning, Die Exstirpation der Nebenniere zur Be¬
handlung von Krämpfen, Zbl. f.'Chir. 1920, Nr. 43.
Derselbe, Die Nebennierenredüktion als krampf¬
heilendes Mittel, D. m. W. 1920, Nr. 49. H. Fi¬
scher, Psychopatologie des- Ennuchoidismus und
dessen Beziehungen zur Epilepsie, Zschr. f. d.
ges. Neurol. 1919, Bd. 59. Derselbe, Zum Ausbau
der tierexperimentelien Forschung in der Psychi¬
atrie, Mschr. f. Psych. 1920. Derselbe, Ergeb¬
nisse zur Epilepsiefrage, Zschr. f. d. ges. Neurol,
1920, Bd. 56. Derselbe, Die Bedeutung der
Nebennieren für die^ Pathogenese und Therapie
des Krampfes, D. m. W. 1920, Nr. 52. Jensen,
Pflüg. Arch. Bd. 103. Möller, Kritisch experi¬
mentelle Beiträge zur Wirkung des Nebennieren-
extraktes, Inaug.-Diss. Würzburg 1906. Nagel,
Handbuch der Physiologie 1907. Schlund, Über
das Verhalten des relativen morphologischen
weißen Blutbildes vor und nach der operativen
Nebennierenreduktion bei Krampfkrankheiten
nach H. Fischer, D. m. W. 1920, Nr. 46.
Repetitorium der chirurgischen Therapie.
Von M. Borchardt.
Die Behandlung frischer Verletzungen.
Von M. Borchardt und S. Ostrowski. (Fortsetzung.)
Sehr wirksam ist besonders bei paren¬
chymatösen Blutungen die Tamponade
mit in Wasserstoffsuperoxyd getränkter
Gaze, der aus den aufperlenden Gas¬
blasen sich bildende Schaum dringt in
alle Buchten und Nischen der Wunde und
verschließt durch den Druck der Gas¬
blasen kleinste Gefäßlumina und Ge-
websspalten. Manche Autoren warnen
vor der Gefahr der Gasembolie. Diffuse
Blutungen aus großen Wundflächen (Am¬
putationsflächen, Wundflächen bei Mam¬
maamputationen) beherrscht man oft ge¬
nug schon durch Aufdrücken mit heißer
physiologischer Kochsalzlösung befeuch¬
teter Gazekompressen. Das .früher häufig
angewendete Eisenchlorid mit seiner blut¬
stillenden Eigenschaft wird in der mo¬
dernen Chirurgie kaum noch ^gebraucht.'
Für die Blutstillung in accidentellen oder
operativ gesetzten Wunden am Schädel¬
dach, am Gesichtsschädel, in der Mund¬
höhle und der Nasenhöhle ist die Anämi-
.sierung durch Nebennierenpräparate (Ad--
irenalin, Suprarenin oder Epirenan) un-
■entbehrlich geworden. Man umspritzt das
‘Operationsgebiet bzw. Wundgebiet mit
■einer physiologischen Kochsalzlösung, der
‘etwa 20 Tropfen einer Lösung der genann-'
ten Nebennierenpräparate 1 : 1000 auf
100 Kochsalzlösung zugesetzt sind oder
tamponiert die Wunde mit in IVoo Adre¬
nalinlösung getränkten Gazebäuschen.
Über die Kombination von Nebennieren¬
präparaten in anästhesierenden Lösungen
wird später bei der Besprechung der ört¬
lichen Betäubungsmethode zu reden sein.
Alle die eben beschriebenen Ma߬
regeln sind nur Notbehelfe bzw. vorläu¬
fige Maßnahmen, die endgültige Versor¬
gung der verletzten Gefäße fällt der defi¬
nitiven Blutstillung zu. Wir unterschei¬
den hierzu zweckmäßig offene und sub¬
kutane Blutungen, die letzteren sind die
Folgen stumpfer Gewalteinwirkungen und
erheischen bisweilen eingreifende Opera¬
tionen zu ihrer Stillung. Beispiele hierfür
mögen folgende Kategorien von Blutun¬
gen sein:
Zerreißung der Arteria meningea me-
dia bei Schädelbrüchen, Sinusblutungen,
Zerreißungen von Lungengefäßen bei
stumpfen Verletzungen des Thorax, von
Eingeweidegefäßen bei Traumen der
Bauchhöhle (Mesenterialgefäßblutungen
durch Abriß des Mesenteriums bei Über¬
fahrungen, Puffer- und Stierhornverletz¬
ungen). Bei subcutanen Blutungen ist es
unsere Aufgabe, durch operative Frei-
legLÜig des blutenden Gefäßes zunächst
die gleichen Verhältnisse zu schaffen, wie
sie bei den offenen Gefäßverletzungen
bereits vorliegen. Hierzu ist, wie gezeigt
wurde, unter Umständen eine Trepa¬
nation, eine Laparotomie oder Thora-
kotemie erforderlich. Wo es angängig
ist, z. B. an den Extremitäten im kleinen
Becken, werden wir untei Blutleere ar-
^4
Die Therapie der Gegenwart 1921*
Juli
beiten. Wo dies nicht möglich ist, bei Ver¬
letzungen des Kopfes, Halses, Bauches
und des Thor^ax leistet die Tamponade
für den Augenblick gute Dienste. Eine
Gazekompresse wird in die blutende
Wunde hineingedrückt und für einige
Minut< n fest angepreßt. Sehr häufig be¬
herrscht man dadurch/schon Blutungen
aus Gefäßen niederer Ordnung. Nach
einiger Zeit wird unter langsamem Lüften
eines Endes der Kompresse Schritt für
Schritt jedes blutende^Lumen mit Schie¬
bern oder Pincen geschlossen. Die
Hauptsache ist, daß immer nur eine
kleine leicht übersehbare Fläche auf¬
gedeckt wird. Erheischt der Zustand des
Patienten schnelle Beendigung be¬
ziehungsweise Abbruch der Operation,
so kann die Tamponade unter , einem
Druckverband als zuverlässiges Blut¬
stillungsmittel liegen bleiben. Ersetzen
wir sie bei der Operation durch nach¬
folgende Unterbindungen, so ist die
Hauptsache, daß immer nur ein kleiner
Teil der von der Tamponade beherrschten
Fläche aufgedeckt wird. Kleine verletzte
Gefäße in Gewebe von normaler Kon¬
sistenz, mögen sie teilweise oder ganz
durchgetrennt sein, versorgt man, indem
man die korrespondierenden Enden auf¬
sucht, diese mit Gefäßklemmien ver¬
schließt und durch Fadenumschnürung
versorgt. Die hierzu verwendeten In¬
strumente, das Unterbindungsmaterial
und die Technik der gewöhnlichen Ligatur
dürfen als bekannt vorausgesetzt werden.
Retrahieren sich die Gefäßstümpfe in
das sie umgebende Gewebe oder ragen sie
nur wenig über die Wundfläche hervor,
was z. B. in schwartig um'gewandelten
Gewebspartien (Narben usw.) vorkommt,
so fassen die gewöhnlichen Instrumente
nicht. Wir bedienen uns hier der Um¬
stechung. Mit der mit einem Faden
armierten Nadel durchdringen wir eine
dünne Gewebsschicht neben dem Gefä߬
lumen kreuzweis und schnüren durch
Anziehen und festes Knoten der Faden¬
enden das Gefäß mit einem kleinen Be¬
zirk vom Nachbargewebe ab. Das Liegen¬
lassen von Gefäßklemmen in der Wunde
und Mithineinnehmen in den Verband
peihorreszieren wir im allgemeinen. Den¬
noch werden wir diesen Notbehelf bei
tiefen buchfgen Wunden, in denen die
Ligatur manchmal technisch unmöglich
ist, besonders, wenn es sich um zerreiß-
liche, durch die Blutung zerwühlte Ge¬
webe handelt, nicht gänzlich entbehren
können.
Blutungen aus kleineren Gefäßen, ins¬
besondere Hautgefäßen kann m.an durch
Abdrehen oder Quetschung mit der
Blunkschen Klemme beherrschen. Beiden
Methoden bewirken eine Aufrollung der
Gefäßintima und dadurch einen Ver¬
schluß des Gefäßlumens, sparen Unter¬
bindungsmaterial und ermöglichen da¬
durch eine lückenlosere Adaption der
Hautränder bei der Naht. Ein Nachteil,
ist, daß sie nicht absolut vor Nach¬
blutungen sichern. ‘
Das beste Mittel zur Vermeidung von.
solchen oder zur Beherrschung bestehen¬
der Blutungen wenigstens aus Gefäßen,
größerer Ordnung ist die radikale Methode
der Unterbindung. Sie kann im Bereich
der Wunde, möglichst nahe der Gefäß--
wunde selbst ausgeführt werden und
wird dann als Unterbindung am Ort der
Not bezeichnet. Suchen wir die ver¬
letzten Arterien oberhalb, die Vene unter¬
halb der Läsionsstelle auf und ligieren.
sie hier fern von der Wunde, so haben
wir am Orte der Wahl unterbunden. Wenn
nun auch die erste Methode der letzteren
nach Möglichkeit vorzuziehen ist, weil
diese unter Umständen wegen des Mit¬
verschlusses wichtiger Collateralbahnen
meist viel erheblichere Zirkulationsstö¬
rungen zur Folge haben muß, so werden
wir die Methode der Wahl doch in den
Fällen nicht entbehren können, wo in
großen vielbucht^gen unübersehbaren
Wundhöhlen zahlreiche Gefäße bluten'
und die Blutung durch Tamponade nicht
beherrscht werden kann. Über ihre Be¬
deutung als präliminarer Eingriff zur
Blutsparung bei gewissen Operationen
wird später zu sprechen sern. Stets ist
bei Verletzungen (Durchtrennung) größe¬
rer Gefäße das zentrale und periphere
Ende zu unterbinden, da, wenn nur eme
verschlossen wird, die Blutung aus dem
anderen durch collateralen Blutzufluß
weiter fortdauern kann. Zwischen den
Ligaturen einmündende Collateralgefäße
müssen gleichfalls durch Ligierung ver¬
sorgt werden. Die anatomischen Ge¬
sichtspunkte, nach denen die Gefäße
bei Verletzungen an typischer Stelle
aufzusuchen sind, sollen hier nicht
eingehender behandelt werden, da die
Technik der typischen Unterbindungen
in den einschlägigen Operationslehren
festgelegt ist.
Handelt es sich um die Versorgung
der Stümpfe größerer Gefäße, z. B. von
Arterien, die nach dem Verschluß mit
der Klemme eine stäikere Pulsation
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1921
265
zeigen, so ist die Unterbindung besonders
sorgfältig auszuführen. Hierbei muß
kurz die Frage gestreift werden, ob Cat¬
gut oder Seide, zur Ligatur verwendet
werden. Seidenligaturen halten wegen der
rauhen* Oberfläche der Seide besser und
gleiten weniger leicht ab, als das durch
die Gewebsfeuchtigkeit bald quellende
und schlüpfrig werdende Catgut. Das
letztere gewährt wegen seiner leichten
Resorbierbarkeit nicht die Haltbarkeit
der Ligatur, Wie die unresorbierbare Seide,
wenn man sie auch durch stärkere Jod¬
imprägnation verzögern kann. Dafür ver¬
schuldet der Seidenfadenknoten besonders
bei Verwendung stärkerer Nummern
häufig langdauernde Fadeneiterungen,
die man besonders häufig bei Laparoto¬
miewunden und an Amputationsstümpfen
wahrnehmen kann. Diese sehr lästige
Komplikation läßt sich dadurch ver¬
meiden, daß man feinere antiseptisch
imprägnierte Seide benutzt und diese
vornehmlich in aseptischen Wundgebieten
verwendet. Kocher unterband nur in
eitrigem Terrain mit Catgut. Gebraucht
man im infizierten Wundterrain dennoch
Seide als das sichere Unterbindungs-
material, so kann man den oben be¬
schriebenen Fadeneiterungen dadurch Vor¬
beugen, daß man starke Fäden lang und
zur -Wunde heraushängen läßt. Nach
einiger Zeit überzeugt man sich von Zeit
zu Zeit durch leisen Zug, ob die Ligatur
bereits so weit gelockert ist, daß man sie
ohne Gefahr einer' Nachblutung entfernen
kann.
Bei der Unterbindung größerer Ge¬
fäßstümpfe ist es Wichtig, sie vor^ An¬
legung der Fadenschlingen gut zu iso¬
lieren, um zu verhindern, daß periyasculä-
res Gewebe mit eingebunden wird und
die Sicherheit der Unterbindung ge¬
fährdet. Die Isolierung des Gefä߬
stumpfes erfolgt durch Fassen, seines
Endes mit der anatomischen Pincette
und Zurückstreifen der Gefäßscheide mit
einem zweiten gleichartigen Instrument.
Hinter der quer angelegten Pincette erfolgt
die Unterbindung. Bei Gefäßstümpfen
mit veränderter Wandung (z. B. ab¬
normer Brüchigkeit oder Erweichung
durch Infektion) besteht die Gefahr, daß
die Fäden schnell durchschneiden. Da¬
gegen hilft die Anlegung einer Doppel¬
ligatur, und zwar so, daß beide Fäden
sich berühren und die Druckfläche der
Ligatur dadurch vergrößert wird. Den
gleichen Effekt erzielt man, wenn man
einen Gewebspfropf, z. B. ein Muskel¬
stückchen in das Gefäßlumen einführt
und über diesem den Schnürfaden knotet,
oder wenn man das Gefäßstumpfende so
umlegt, daß man die Unterbindung nach
Art der Bummschen Nabelschnurligatur
am gedoppelten Gefäßrohr ausführt.
Therapeutisches aus Vereinen u. Kongressen.
33. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin,
Wiesbaden, 18^— 21. April 1921.
BerichtaVO^G. Klemperer. (-Schluß.)
Die ersten Einzel vertrage betrafen die Patho¬
logie des Stoffwechsels. Groß (Greifswald) begann
mit Mitteilungen über Cholesterinstoffwechsel.
Der Vortragende, welcher in früheren Unter¬
suchungen gezeigt hatte, daß bei der soge|iannten
Fettdegeneration der Nieren dieselben für'Lipoide
durchgängig seien, berichtet diesmal über quan¬
titative colorimetrische Bestimmung des Chole¬
steringehalts im Blut und Urin. Im normalen
Harn werde niemals Cholesterin gefunden, auch
nicht bei reichlicher Zufuhr, während es bei
allen Nephropathien, auch den Glomerulus-
entzündungen, im Harn nachweisbar ist. Bei
Nephrosen steigt die- Urincholesterinmenge auf
über 1 g. Die Höhe der Ausscheidung hängt von
der Nahrungszufuhr ab: fettreiche Kost steigert
die Cholesterinmenge des Blutes von 120 mg auf
370 mg in 100 ccm Blut, des Urins von täglich
80 mg bis 1,2 g pro die; bei cholesterinreicher
Kost betrugen die Zahlen 400 mg und 1,8 g.
Bei Nephrosen ist trotz der erhöhten Ausscheidung
der Cholesterinblutspiegel erhöht. Bei Amyloid¬
niere ist im Harn auffallenderwcise kein Cholesterin
nachweisbar, während die Blutwerte sehr hoch
sind (bis 1 g in 100 ccm Blut). Die Amyloid¬
niere ist also für Cholesterin undurchgängig. Die
hohen Cholesterinzahlen des Urins bei Nephrosen
wurden von mehreren Seiten bestätigt, die Er¬
höhung des Blutspiegels dagegen bestritten.
No Orden betonte die therapeutische Bedeutung
dieser Frage, indem fettreiche Kost die Nieren
anstrengt; zur vollkommenen Nierenschonung
seien fettarme Kohlehydratträger (Reis, Obst,
Zucker, allenfalls abgerahmte Milch, aber nicht
Vollmilch) empfehlenswert.
Die Pathogenese der Gicht, die auf früheren
Kongressen oft im Mittelpunkt der Besprechungen
stand, wurd» diesmal nur durch einen Vortrag
von Gudzent berührt, welcher neues Material
für Begründung der alten Lehre von der Ge-
websbindung der Harnsäure bei brachte; hierfür
hat er den neuen Namen Uratohistechie geprägt.
Er zeigt, daß Mononatriumurat, welches nach
intravenöser Einspritzung von .Gesunden durch
den Urin ausgeschieden wird, bei Gichtkranken
nach einiger Zeit weder im Urin noch im Blut
nachweisbar, also sicherlich von den Geweben
an sich gerissen wird. Der gegen die Gewebs-
bindung von Thannhauser (München) vor¬
gebrachte Einwand, daß die Ödeme Gichtkranker
34
266
Dk Therapie der Gegenwart 1921
Juli.
nicht reicher an Harnsäure seien als die von
Nichtgichtikern ist offenbar nicht beweiskräftig.
Gudzent teilte noch Befunde mit, nach denen
im Blut von Gichtkranken die Harnsäure nicht
immer vermehrt sei; damit rüttelt er an einem
Lehrsatz, den wir schon als gesichert, sogar dia¬
gnostisch verwenden zu dürfen glaubten; Brugsch
bezweifelte denn auch diese Angaben Gudzents,
ebenso wie er die theoretischen Folgerungen ab¬
lehnte; nach Brugsch kommt die Harnsäure
durch Diffusion aus dem Blut in die Gicht¬
organe. Im übrigen teilte Gudzent zahlreiche
Befunde über den Harnsäuregehalt von Leichen^
Organen und solchen von Hühnern und Tauben
mit, die für die Physio-Pathologie von erheblicher
Bedeutung sein dürften. —.Den Zusammenhang
des Purinstoffwechsels mit dem Nervensystem
besprach Ul 1 mann (Berlin), indem er im Tier¬
versuch die Allantoinausscheidung nach Coffein
zu analysieren suchte. Es zeigte sich, daß die
durch Coffein beziehungsweise Diuretin beim
Kaninchen bewirkte Mehrausscheidung von Allan-
toin nach Splanchnicusdurchschneidung fort¬
fällt, d. h. also, daß der Reiz zur Allantoinaiis-
schwemmung, den das central angreifende Coffein
verursacht, über die Splanchnicusbahn zur Leber,
wahrscheinlich unter Vermittlung der Nebenniere,
verläuft. Zur Illustrierung seiner Befunde ver¬
weist Ul 1 mann auf anderweite Angaben, daß
Adrenalin eine Mehrausscheidung von Allantoin
macht, sowie daß man aus der künstlich durch¬
bluteten Leber durch Adrenalin eine Purinaus¬
schwemmung erzielen kann. — Schließlich be¬
richtete Rother (Berlin), daß Röntgenbestrah¬
lung der Thymusdrüse zu erheblicher Ver¬
mehrung der Harnsäureatisscheidung führe; es
wäre vielleicht möglich, diese Tatsache bei
Basedowfällen diagnostisch für die Beteiligung
des Thymus zu verwerten.
Ganz neue Tatsachen wurden in den Vor¬
trägen von Frank (Breslau) über Guanidlnver-
giftung und Lange (Frankfurt) über Adrenalin¬
wirkung bekanntgegeben.
Frank ging von der Pekelharingschen Ent¬
deckung aus, daß bei der tonischen Innervation des
Skelettmuskels (Haltung, Rigidität, Starre) Kreatin
frei wird, während dies bei tetanischen Krämpfen
nicht der Fall ist. Kreatin ist Methylguanidin¬
essigsäure.. Guanidin wirkt als Krampfgift, wie
bereits früher von englischen Autoren nach¬
gewiesen ist, in ähnlicher Weise wie die Epithel¬
körperexstirpation. Frank hat die Vergiftung
mit Dimethylguanidin näher studiert und hat
alle Zeichen der Tetanie dadurch erzeugt; unter
andern auch hochgradige galvanische Übererreg¬
barkeit. Durch einmalige oder selten wieder¬
holte Injektion des Giftes wurden allmählich
hervortretende langdauernde Wirkungen hervor¬
gerufen. Diese Eigenschaft der Haftung und
Cumulation erinnert an die Wirkungsweise der
Digitalis oder des Thyreoidins. Ferner wirkt das
Guanidin nicht erregend, sondern es steigert die
Erregbarkeit zahlreicher nervöser C^itra und der
parasympathischen Endapparate.
Lange berichtete über Wirkungen des Ad¬
renalins auf die Skeletimuskulatur, welche er
im Embdensehen Institut festgestellt hatte. Er
wandte neue Methoden an zur Feststellung der
Permeabilität der Muskelfasergrenzschichten, in¬
dem er den Austritt von Phosphorsäure aus dem
Innern der Muskelfaser chemisch feststellte,
andererseits den Eintritt von Kaliumionen in
die Muskelfaser durch die Beobachtung des
Lähmungsverlaufs ermittelte. Es ließ sich zeigen,
daß Adrenalin die Durchgängigkeit der Grenz¬
schichten für ein- und austretende Stoffe herab¬
setzt; der Permeabilitätszustand ist aber ma߬
gebend für Erregbarkeit und Leistungsfähigkeit
des Muskels. Diese Feststellung ist klinisch sehr
bedeutungsvoll; sie kann z. B. die sekretions¬
vermindernde Wirkung des Adrenalin beim Bron¬
chialasthma erklären; die Hyperglykaemie nach
Adrenalininjektion beruht danach vielleicht auf
der erschwerten Aufnahmefähigkeit der Musku¬
latur für Traubenzucker.
Die Reihe der Vorträge über Blutzusaaunen-
Setzung wurde eröffnet durch Mitteilungen von
Erich Meyer und Seyderhelm über den Ein¬
fluß derselben auf die Herzgröße. Vor einiger
Zeit hatte E. Meyer über einen Fall berichtet,,
bei dem infolge starker Verminderung der Blut¬
menge durch Magenblutung das Herz ganz klein
geworden war, um in der Rekonvaleszenz wieder
zur normalen Größe zurückzukehren. Zur
weiteren Aufklärung über dies Verhältnis wurde
das Herz von Kaninchen vor und nach dem Ader¬
laß -beziehungsweise nach' Kochsalzinfusion rönt-
gologisch kontrolliert; es zeigte sich, daß ein
Aderlaß von 30 bis 40 ccm die Herzgröße ver¬
kleinert, und daß die frühere Größe sich nach
24 bis 36 Stunden wiederherstellt; Ersatz des-
Blutes durch physiologische Kochsalzlösung,
ändert nichts an der Herstellung; 6% Gummi¬
lösung führt ebenso wie zu längererBlutverdün-
nung so auch zu schneller Herzvergrößerung,,
welche über das ursprüngliche Maß hinausgehen
kann. Die Herzgröße wird also durch den Colloid-
gehalt der zirkulierenden Blutmenge mitbestimmt.
Durch Einlaufenlassen einer Gummilösung in
die Gefäße kann man jeden beliebigen Grad von
Herzvergrößerung erzeugen, während Infusion
selbst von 50 ccm Kochsalzlösung ohne vorher¬
gehenden Aderlaß das Herz in keiner Weise ver¬
größert. Die Regula'tion der Herzgröße erfolgt
nicht central, sondern peripher, denn wenn das
Halsmark unterhalb des Vasomotorencentrums
durchschnitten war, so verhalten sich die Tiere
nach dem Aderlaß bezüglich der Herzgröße wie
normale. Die Abhängigkeit der Herzgröße von
der Blutmenge und dem Colloidgehalt des Blutes
ist als tonogener Faktor zu bezeichnen, zu wel¬
chem sich in der klinischen Betrachtung als
Ausdruck der Muskelschädigung der myogene
Faktor hinzugesellt. Diese bemerkenswerte Mit¬
teilung gab Wenckebach Veranlassung, darauf
hinzuweisen, daß die Herzgröße durchaus nicht
so abhängig ist von der Intaktheit der Herz¬
funktion wie allgemein angenommen wird. Auch
bei ganz normalem Herz ist die Funktion ebenso-
wie Foimi und Größe von der Größe des Blut¬
zustroms, d. h. von der diastolischen Füllung ab¬
hängig. Die Dauer der diastolischen Periode,,
die Atembewegung, die arteriellen Widerstände
und die vasomotorische Regulierung der Blut¬
verteilung beeinflussen die Herzgröße. Man darf
also die Abweichungen von der als normal er¬
kannten Herzfigur nicht ohne weiteres auf Herz¬
krankheit beziehen. Diese Betonung der Variabili¬
tät der Herzgröße rief Moritz (Köln) zum Wider¬
spruch hervor; er brachte zum Ausdruck, daß.
solche programmatische Erklärung namentlich
den Praktiker verwirren müsse, der gewohnt sei,
die Dilatatio cordis als eine gegebene und dia¬
gnostisch verwertbare Größe zu betrachten. Die
Wahrheit sei, bei aller Anerkennung des Wencke--
b ach sehen Standpunkts, daß es darauf ankomme,
das Herz stets unter den gleichen Bedingungen
zu untersuchen; bei glcichbleibenden äußeren
Faktoren ist die Herzgröße als konstant anzu¬
sehen. Später wies Strasburg er (Frankfurt) dar-
Juli
Die Therapie der Gegen\;^art 1921
2&r.
auf hin, daß Verkleinerung des Herzens, wie sie
der Aderlaß verursacht, die Herzarbeit verringert
und also bei Herzschwäche den vorher bestehen¬
den Schaden kreis durchbricht; die Herzver¬
kleinerung durch Aderlaß wäre um so bedeutender,
je schneller das Blut aus der Ader entwiche.
Es empfehle sieh also, das Blut im vollen Strahl
aus der Ader spritzen zu lassen, worauf schon
Kußmaul hingewiesen habe. Frey wies auf
die Herzvergrößerung so vieler Gravidae hin, die
nach der Geburt verschwinde und wahrscheinlich
mit der vermehrten Blutmenge Zusammenhänge.
Es folgte eine Reihe von speziellen Mitteilungen
über Blutveränderungen unter experimentellen
und pathologischen &dingungen. Nonnenbrach
(Würzburg) zeigte, daß Infusion von 6 % Gummi¬
lösungen durchaus nicht, wie Bayliss angenom¬
men hatte, den Abstrom des injizierten Wassers
in die Gewebe hemmt; die Zahl der roten Blut¬
körperchen ist zwei bis drei Stunden nach In¬
fusion einer Gummilösung dieselbe wie nach
Infusion einer Ringerlösung; auch bei entnierten
Tieren ließ sich keine längerdauernde Plethora her- |
vorrufen. Es ließ sich weiter zeigen, daß das Ei¬
weiß sich weitgehend am Austausch zwischen Blut
und Geweben beteiligte, daß aber die Kurve der
Blutmenge und des Serumeiweißes keineswegs
parallel liefen, daß vielmehr Eiweißeinstrom und
Ausstrom durchaus vom Flüssigkeitsaustausch
unabhängig war, so daß die üblichen Refrakto¬
meterbestimmungen, welche auf konstantem Ei-
weißgehalt aufgebaut sind, kaum als zuverlässig
gelten dürfen. Nach Purinkörperdarreichung
konnte Nonne^ibruch regelmäßig einen Eiwei߬
einstrom im Blut feststellen.
Auch Jansen (München) berichtete über das
Verhältnis zwischen Blut und Gewebsflüssigkeit,
indem er verschiedene Salzlösungen in den
menschlichen Unterarm injizierte, gleichzeitig das
Blut aus der zugehörigen Armvene untersuchte
und nach wechselnden Zeiten den durch Capillar-
drainage gewonnenen blutfreien Gewebssaft auf
seine Bestandteile prüfte. Der Kochsalzspiegel
war nach zwei bis drei Stunden stets 10 bis 20 mg
höher als im Blut, der Rest-N entsprach dem¬
jenigen des 'Blutes. Diese Einstellung erfolgte
vor beendeter Resorption, hängt also nicht von
^den osmotischen Gleichgewichtszuständen ab.
'Die kolloidalen Körper stiegen im Verlauf der
ganzen Resorption in ihrer Konzentration; die
. Eiweißmenge erreichte kurz vor beendeter Re¬
sorption Werte von 0,7 bis 1 %. Man darf diese
Zahl nicht als Annäherungswert der wahren Ei-
weißkonzentrationen im normalen Gewebssaft
ansprechen, da das Eiweiß auf den Injektionsreiz
auch aus den Gewebszellen stammen kann.
Schade (Kiel) hat mit der Methode der
■Messung der H-Ionenkonzentration den Säure¬
grad in Blut und Gewebe festgestellt; dabei fand
er im normalen Gewebe dieselben W6rte wie im
Blut; im erschöpften Muskel wurde Säuerung
konstatiert. Ödemfliissigkeit hat dieselbe Reak¬
tion wie Gewebssaft; akute Entzündung führt zu
örtlicher Acidose, insbesondere eitriger Exsudate.
Ähnlich gerichtete Versuche von Pohle (Wies¬
baden) zeigten, daß die Ausscheidung saurer
Farbstoffe durch den Harn durch die gleich¬
zeitige Darrei-chung von Säuren befördert werden
kann, während Ausscheidung alkalischer Farb¬
stoffe durch Alkali beeinflußt wird. So wäre es
vielleicht therapeutisch möglich, durch gleich¬
zeitige Gaben analog reagierender Substanzen
Speicherungen basischer oder saurer Substanz im
Körper zu erreichen.
Eine analoge Methode hat Frl. Clofilde Meier
(Halle) zur Beleuchtung der Wirksamkeit nar¬
kotischer Mittel benutzt. Wenn die Erregung
als Änderung von Colloidzuständen aufzufassen ist,
so verursacht die Narkose eine Hemmung der¬
selben. Die Erregungen werden von elektrischen
Erscheinungen begleitet, die an den Grenzflächen
durch Veränderungen in der Salzkonzentration
entstehen. Durch Titration mit Kohlensäure kann
man die Ladung der Plasifiahautcolloide mensch¬
licher Blutkörperchen prüfen. In reiner physiolo¬
gischer Kochsalzlösung macht die COg-Bindungs-
kurve bei der Wasserstoffzahl 6,67 einen Knick,,
der die plötzliche Mehraufnahme von CO 2 an das-
Hämoglbbin infolge der Entladung der Plasma-
hautcclloide bedeutet. Bei Zusatz von Urethan
oder Alkohol zur Waschflüssigkeit der roten Blut¬
körperchen, tritt die Entladung bei einer niedri¬
geren Wasserstoffzahl, einer mehr alkalischen
Reaktion, auf. Mittels der CO.g-Bindung hat
Straub (Halle) das Blut der Nierenkranken
untersucht und dabei die Bindungskurve gegen¬
über der Norm oft erheblich erhöht, oft herab-
1 gesetzt gefunden; durch Analyse des Alveolar--
gases wurde auch COg-Spannung des arteriellen
Blutes festgestellt. Die Herabsetzung der COgr
Bindung bedingt keine Änderung der normalen
H-Ionenkonzentration. In manchen Fäflen wurde'
echte Acidosis konstatiert, welche nicht auf patho¬
logischer Säurebildung beruht wie beim schweren.
Diabetes, sondern auf Niereninsuffizienz, wodurchi
die normalen Säuren des Stoffw.echsels an der
Ausscheidung gehindert werden. Zur Prüfung
dieser Hypothese hat Straub die Chloride und
Bicarbonate, den säurelösliche P und Rest N,
ferner durch Gefrierpunktbestimmung die Ge¬
samtsumme bestimjnt. Bei Gesunden ist nicht
nur die Reaktion, sondern auch die Konzentration
der einzelnen Säureanionen nahezu konstant. Den-
Nierenkranken geht diese Fähigkeit oft verloren;*,
bei ihnen ist die Gesamtsumme der Säureanionen
bunt zusammengesetzt, was Straub als Poikilo-
pikrie (nach Analogie von Poikilothermie) be¬
zeichnet.
Morawifz und Denecke (Greifswald) haben
refraktometrisch die Konzentration des Blut¬
serums in den Armvenen vor und nach völliger
Abschnürung des Arms untersucht und bei Nor¬
malen eine etwa 5 %ige Abnahme des Eiweiß-
gehaltcs gefunden; bei Nierenkranken, aber auch
bei akuten Infektionskrankheiten, war die Serum¬
dichte dagegen erhöht. Aus diesen Befunden
schließen die Autoren auf den Grad der Durch-
i lässigkeit der Gefäße.
U. Friedemann hat bei der Serumkrankheit
eine starke Retention von Wasser und Kochsalz
gefunden; die NaCl-Zurückhaltung ist relativ
stärker als die des Wassers; das Kochsalz wird be¬
sonders in der. Haut retiniert. Es scheint, als ob
reichliche Kochsalzgaben in der Nahrung den
Ausbruch der Serümkrankheit hemmen; intra¬
venöse Injektion 10%iger NaCl-Lösting beein¬
flußt die Symptome günstig, insbesondere den
Juckreiz.
Hoeßlin (Berlin) hat die Frage zu klären ge¬
sucht, ob bei bestehenden Ödemen und knapper
Eiweißzufuhr in erster Linie das Ödemeiweiß
angegriffen wird oder ob es wieder in den Kreis¬
lauf zurückkehrt und als Zellmaterial verwendet
wird. Durch Feststellung des Verhältnisses von N,-
NaCl, Phosphorsäure, Kreatinin und^ löslichem
Schwefel in Urin entwässernder Ödematösis
suchte er sich über den Verbleib der Ödembestand¬
teile zu vergewissern und kam zu dem Resultat,,
daß das Öde'meiweiß an Stelle des Körpereiweißes-
34*
*268
Die Therapie der Gegenwart 1921^
Juli
versetzt wird, wobei der Gesamt-N-Umsatz ein
auffallend geringer ist.
Dünner (Berlin) hat die Möglichkeit, Koch¬
salz durch ßromsalze zu substituieren und zur
Ausscheidung zu bringen, dazu benutzt, das Koch¬
salz aus den Ödemen zu verdrängen und dadurch
Diurese zu erzeugen. In der Tat hatte Brom¬
natrium eine stark diuretische Wirkung, die nach
intravenöser Injektion von 10—20%igen Lö¬
sungen noch stärker htervortrat. In mehreren
Fällen überdauerte die Diurese noch längere Zeit
die Brommedikation.
Singer (Wien) hebt weniger die diuretische,
als vielmehr die blutdruckheräbsetzende Wirkung
der Bromsalze hervor. Derselbe Autor bespricht
den Einfluß" des Calciums aufs Herz; er ver¬
wendet 10 % CaClg-Lösung und ' beobachtet
danach eine der Digitalis analoge Wirkung, welche
•sich freilich selbst in günstigen Fällen rasch er¬
schöpft; insbesondere wird die Digitaliswirkung
durch vorhergehende oder gleichzeitige Calcium¬
therapie befördert. „Kalk scheint als Peitsche
^und Zügel für Digitalis zu wirken.*^
Aus der Diskussion möchte ich die Bemerkung
won Frey hervorheben, daß die Feststellung
Morawitz* von der erhöhten Gefäßdurchlässig¬
keit bei Purpura und Endokarditis gegen die
vasculäre Natur der Ödeme sprechen, denn bei
diesen Krankheiten gibt es keine Ödeme. Wie
•.ungeklärt diese Verhältnisse noch sind, ergab sich
.aus den folgenden Auseinandersetzungen von
/Haas (Gießen), welcher aus den wechselnden
Unterschieden des Eiweißgehalts der Ödeme und
aus dem fehlenden Verhältnis zwischen NaCl und
Eiweiß gerade auf den vasculären Ursprung der
■Ödeme schließt.
Klewitz wies nach, daß die Albumosen im
Blut Fiebernder nicht vermehrt seien.
Volhard zeigte, daß die sogenannte Retinitis
.albuminurka nur bei Blutdrucksteigerung ein-
tritt; der Grad der Veränderung ist abhängig vom
.Zustand der Gefäße im Verhältnis zur Herzkraft.
Die Netzhautgefäße sind stärkst kontrahiert.
Zwischen den Nierenveränderungen und der Netz¬
haut bei Nierenkrankheiten besteht ein Parallelis¬
mus. Auch die Nierengefäße sind bei der akuten
Nephritis stark ischämisch.. Bei der genuinen
Hypertonie beteiligen sich die Arterien nicht an
.der aktiven Contraction. L. Hahn (Teplitz-
Schönau); berichtet über einen Fall plötzlicher
Erblindung auf beiden Augen bei einem 5 jährigen
Mädchen, bei welcher in einer Universitäts-
Augenklinik „akute Netzhautnekrose infolge
Endarteriitis obliterans der Centralarterien“
diagnostiziert war. Das Kind hatte Herzhyper¬
trophie, Blutdruck 120. Pat. wurde durch hohe
Papaverindosen in 3 Wochen völlig geheilt. Blut¬
druck ging auf 80 zurück. Es hat sich in diesem
bemerkenswerten Fall um eine angiospastische
Gefäßsperre in der Retina als Teilerscheinung
einer allgerheinen Hypertonie bei gesunden Nieren
•gehandelt.
Das vegetative Nervensystem war der Gegen¬
stand der folgenden Vorträge. Der Erlanger
Kliniker L. R. Müller sprach sich für die Wahr¬
scheinlichkeit aus, daß das Wachstum des Fett¬
gewebes von einem Zentrum im Zwischenhirn
beeinflußt wird. Hierfür sprechen Fälle von
Dystrophia adiposo-genitalis ohne Beteiligung der
Hypophyse. Es kommen Fälle von halbseitiger
beziehungsweise von Fettsucht beider Unter¬
extremitäten vor; bei letzteren ist eine Beteiligung
des Rückenmarks wahrscheinlich. Bei der Sklero¬
dermie findet sich Schwund des Fettgewebes.
Fälle von Hemiatrophia facialis beweisen die Be¬
teiligung des Centralnervensystems an den tro-
phischen Vorgängen; das trophische Centrum ist
in dem 3. Ventrikel zu suchen. Greving (Er¬
langen) verlegt auf Grund seiner histologischen
Studien die Centren für alle vegetativen Funk¬
tionen in Zwischenhirn und Hypothalamus; die
Centren entsprechen in ihrer cellularen An¬
ordnung nicht den Hirnkernen, es handelt sich
vielmehr um Anhäufung bestimmter Zelltypen, wie
,sie sich im visceralen Vagus kern finden. Leschke
(Berlin) besprach die Abhängigkeit des Stoff-
austausches zwischen Blut und Gewebe vom
Nervensystem. Dieser Austausch sowohl in bezug
auf Flüssigkeit wie gelöste Substanzen unterliegt
der peripheren Regulation durch die Kapillaren,
wie sich aus fortlaufenden Prüfungen der Blut¬
zusammensetzung nach Injektion hypertonischer
Lösungen ergibt. Aber der Stoffaustausch ist
auch abhängig vom Nervensystem, denn nach
Einstich in die Basis des Hirnstammes bei Ka¬
ninchen bekommt man je nach der Stichstelle
bald vermehrten Blutkochsalzgehalt mH oder ohne
Polyurie, bald verminderten Kochsalzgehalt. Salz-
und Wasserbahnen verlaufen getrennt, die Be¬
wegung des Wassers und der gelösten Salze wird
unabhängig von einander reguliert. Auch an
Fröschen kann man die Bedeutung des Zwischen¬
hirns für die osmotische Regulation beweisen,
indem nach Durchtrennung der medianen Zwi¬
schenhirnteile erhebliche Wasseraufnahme und
Retention stattfindet im Gegensatz zur fort¬
schreitenden Gewichtsabnahme hungernder
Kontrolltiere. Bauer (Wien) trug seine Beob¬
achtung vor, daß bei Patienten mit dauernd er-
höntem Blutdruck (permanenter Hypertonie) der
Austausch zwischen Blut und Geweben anders
wie bei Normalen vor sich geht, indem bei den
Hypertonikern die Blutverdünnung nach Injektion
hypertonischer Salzlösungen relativ gering ist. Er
nahm diese Beobachtung zum Anlaß weiterer
Mitteilungen über die Klinik der essentiellen
Hypertonie, die erlauf Gemütsbewegungen zurück¬
führt und bei der er sowohl cerebellare als rheuma¬
toide Symptomenbilder beschreibt (Hochdruck¬
rheumatismus). Für die Behandlung erweist sich
oft der Aderlaß sehr heilsam, oft das Capillargift
Colchicin oder Theobrominpräparate:
Weitere Vorträge waren der Magenpathologie
gewidmet. Heyer (München) wählte zur Prüfung
des psychischen Einflusses auf die Magensekre¬
tion den originellen Weg der Hypnose, indem er
den tief hypnotisierten Patienten die Speisen¬
aufnahme suggerierte und dann dauernd mittels
der Duodenalsonde den Magensaft absaugte.’ Es
sollte auf diese Weise sicherer als bisher fest¬
gestellt werden, ob-die von Pawlow beim Hunde
gefundene überwiegende Bedeutung der Psyche
für Sekretion des Magensaftes und Entleerung des
Mageninhalts auch für den Menschen Geltung
habe. Es gelang, ein Bild vom Verlauf der psy¬
chisch bedingten Magenverdauung zu gewinnen.
Im leeren Magen wurde fast immer eine beträcht¬
liche Menge Inhalts von hoher eiweißverdauender
Kraft gefunden;'auf die Suggestion der Speisung
erfolgte nach kurzer. Latenzzeit Sekretion von
40—80 ccm Magensaft. Dieser Saft war ver¬
schieden nach Suggestion von Bouillon, Fleisch,
Brot* und Milch. Bei Bouillon zum Beispiel kam
es schnell zu lebhafter Sekretion, die bald nach¬
ließ, nach Milch kam die Sekretion langsamer in
Gang und versiegte langsamer. Milch und Brot
bewirkten weit größere Pepsinabsonderung als
Bouillon. Ein Zusammenhang zwischen Menge
des Magensafts und Gehalt an Salzsäure, wie ihn
Pawlow in umgekehrter Proportion gefunden
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1921
269
hatte, ließ sich nicht nachweisen. Die Wirkung
von Affekten auf die Sekretion war sehr deutlich;
Angst und Schrecksuggestionen verminderten die
Saftabsonderung bis zum Stillstand; freudige
Affekte wirkten weniger deutlich, öfter im nega¬
tiven, niemals im vermehrenden Sinn. Mit der
Zeit trat bei allen Versuchspersonen starke
Schleimsekretion ein, die wohl von der dauernden
Benetzung des leeren Magens mit Salzsäure her¬
rührte.
Pongs (Frankfurt) suchte die schmerzstillende
Wirkung des Atropin bei Magengeschwür zu
analysieren; er fand sie unabhängig von dem
Salzsäuregehalt, der nach Atropin nicht ver¬
mindert, eher vermehrt wird. Man wird doch
wohl, trotz der bisherigen Negierung seitens der
Pharmakologen, eine direkte Lähmung sensibler
Fasern durch Atropin annehmen müssen, welche
der motorischen Hemmung parallel gehen dürfte.
Kolter (Berlin) trug über den Einfluß der
Röntgenstrahlen auf die Magensaftsekretion
vor, indem er eine günstige Wirkung der Be¬
strahlung auf Magengeschwür und Pylorospasmus
als gegeben ansah; die Untersuchung geschah an
schleimgefütterten Hunden mit Pawlowscher
Fistel. Bestrahlungen mit geringen Röntgendosen
ergaben keine Einwirkung; bei Übersteigen der
üblichen therapeutischen Dosis kam es zu Stei¬
gerung der Saftmenge bei prozentual gleich¬
bleibender HCl-Menge, die von einer Schädigung
der Magendrüsen gefolgt war. Noch weitere Er¬
höhung der Röntgendosis führte zu Hautver¬
brennung, schließlich zu Darmverbrennung und
Kräfte verfall. Die Obduktion des Versuchs¬
tiers zeigte eine dem Einfallsfeld entsprechende
atrophische Zone auf der Magenschleimhaut mit
Schwund des Drüsenparenchyms; Rundzellen¬
infiltration war nicht nachweisbar.
Katsch hat in Röntgenbildern festgestellt,
wie weit beim Menschen von einer Magenstraße
die Rede sein kann, ob schattengebende Flüssig¬
keit an der kleinen Kurvatur bis zum Pylorus
läuft. Es ergab sich, daß die Magenstraße be¬
ziehungsweise der Sulcus gastricus weder konstant
das Ausgangslumen beim Füllungsvorgang des
Magens darstellt, noch als bevorzugter Weg für
den Flüssigkeitstransport für den vollen Magen
ist. Die Flüssigkeit umfließt auf vielen Wegen
den festen Mageninhalt. Von der kleinen Kurvatur
ist nur ein kurzer Abschnitt unmittelbar unter der
Cardia stärker bestr'chen. Ohne die Mitwirkung
mechanischer Momente bei der Ulcusgenese zu
bestreiten, muß man nach Katschs Feststellungen
doch sagen, daß die Entstehung un'd Chronicität
des Ulcus an der kleinen .Kurvatur durch die
größere Inanspruchnahme derselben nicht mehr
zu erklären ist. Singer wandte freilich dagegen
ein, daß die Magenstraße nur bei Gastrospasmus
ausgeprägt erscheint und daß ihre Formation von
den Tonusverhältnissen abhängig ist; die Lokali¬
sation des Ulcus an der kleinen Kurvatur hängt
von der Hypertonie beziehungsweise dem Spas-
m US ab.
Das Gebiet der Darinpathologie betraf der
Vortrag des Greifswalder Dozenten v. d. Reis
über die Autosterilisation des Dünndarms. Die
originelle Methode, mittels deren er das Bakterien-
wachstüm mitten im Darm prüfte, besteht im
Verschluckenlassen sinnreich konstruierter cylin-
drischer Hülsen, die durch einen Eisenkern ge¬
schlossen sind. Sind diese Patronen im Darm
angelangt, was man vor dem Röntgenschirm kon¬
trollieren kann, so werden sie durch einen vor den
Bauch gebrachten Elektromagneten geöffnet und
können sich mit vDarminhalt vollsaugen; während
nach Entfernung des Elektromagneten eine innen
befindliche Feder die Hülse wieder schließt. Diese
sogenannten „Darmschiffchen“ waren geeignet,
die Frage zu entscheiden, ob darmfre'mde Bakte¬
rien im Dünndarm abgetötet werden. Bekannt
war schon, daß verschluckte Prodigiosuskulturen
nicht im Stuhl nachweisbar sind. Dasselbe
Resultat erhielt v. d. Reis, wenn er Prodigiosus-
bouillon aus seinen Schiffchen direkt in den
Dünndarm eintreten ließ. Er fand weiter, daß'
Prodigiosus auf Seidenfäden, in Darmschiffchen
eingeschlossen, abgetötet wurde, wenn die be¬
ladenen Schiffchen im Dünndarm mit Darminhalt
sich füllten. Wenn die Schiffchen ungeöffnet den
Darm durchliefen, war der Prodigiosus an den
darin enthaltenen Seidenfäden lebend geblieben.
Dasselbe Resultat wurde auch mit Staphylokokken
und mit Bac. subtilis, ja sogar mit Bact. coli
erzielt; die Abtötung geschah ebenso im Hunger¬
zustand, als wenn dib Schiffchen im speisebrei¬
gefüllten Darm geöffnet wurden. Da weder Galle
noch Pankreassaft bakterizid wirken, auch der ,
Einfluß der Peristaltik ausgeschlossen ist, so kann
die Sterilisation nur als Leistung des gesamten
Dünndarminhalts angesprochen werden.
Die Verhandlungen wandten sich alsdann den
Leberkrankheiten zu, in deren funktionelle
Diagnostik Full (Frankfurt) die Messung des
Blutfibrinogens einführen will, da die Leber nach
physiologischen Feststellungen das einzige Organ
ist, in dem Fibrinogen gebildet wird und die Menge
desselben in Leberkrankheiten nachweisbar ab¬
nimmt. Full brachte eine Reihe interessanter
Fälle, in welchen durch die relativ leicht ausführ¬
bare quantitative Fibrinogenbestimmung (nach
Wohlgemuth) Diagnose und Prognose von
Leberaffektionen wesentlich gefördert wurden.
Dem neuerdings viel erörterten Ikterus-
problem galten die Feststellungen von Beckmann
(Halle). Bekanntlich nimmt Hymans v. d. Bergh
im Blutserum Ikterischer zwei verschiedene Arten
von Bilirubin an, die er durch die Diazoreaktion
unterscheidet; der Vortragende zeigte nun, daß
die physikalisch-optische Analyse der spektralen
Absorption keine.Verschiedenheiten zwischen den
beiden Bilirubinformen aufzeigt; das Bilirubin
eines Serums vom katarrhalischen Ikterus gab
dieselbe „Serumkurve“ wie die von hämolytischem
Ikterus mit stark verzögerter indirekter Diazo¬
reaktion. Die Ursache der von Hymans gezeigten
Verschiedenheiten der Bilirubinreaktion ist da¬
nach noch ganz ungeklärt.
An der Hand dieser Reaktion versuchte Lipp-
mann (Frankfurt) die Natur des Ikterus der
Herzkranken aufzuklären. Oft ist derselbe ein
reiner Stauungsikterus, wie aus der Entfärbung
der Stühle und der fehlenden Urobilinurie hervor¬
geht; oft aber ist der Urobilingehalt des Harns
sehr erhöht, und es besteht Bilirubinämie mit
sehr verzögerter schwacher Hymans-Reaktion;
für diese Fülle ist eine funktionelle Leberschädi¬
gung wahrscheinlich und der Ikterus durch Para-
pedese nach Minkowski zu erklären; in den
schweren Formen ist eine Miterkrankung der fein¬
sten Gallenwege anzunehmen.
■Schließlich wurde die Milzpathologie be¬
leuchtet durch den Vortrag von Rosenow
(Königsberg) über den Einfluß der Milz auf die
Reaktionsfähigkeit des Knochenmarks. Bisher
war ein hemmender Einfluß der Milz auf die
erythropoetische Funktion des Knochenmarks be¬
kannt; insofern als nach Milzexstirpation die Zahl
der roten Blutkörperchen zunahm und namentlich
kernhaltige sogenannte Jollykörperchen reichlich
270
Die Therapie der Gegenwart 1921
Juli
im Blut erscheinen. Rosenow hat nun den
Einfluß der Milzexstirpation auf den leukomyelo-
ischen Apparat geprüft, indem er den Effekt
leukotaktischer Injektionen (Na. nucleinicum) bei
Tieren vor und nach der Entmilzung verglich; es
ergab sich eine erheblich höhere Nucleinleuko-
cytose beim milzfreien als beim Milztier; die
Unterschiede betragen bis über 150 %. Je jünger
die Versuchstiere waren, desto größer zeigte sich
.die Wirkung der Milzexstirpation auf den Leuko-
cytenanstie’g nach Nucleineinspritzung. Durch
diese Experimente erhält die therapeutische Milz¬
exstirpation in allen Zuständen von Leukopenie
und Thrombopenie eine zuverlässige Stütze.
Der letzte Tag des Kongresses war vor allem
der Pathologie des Kreislaufs und der Häma¬
tologie gewidmet. Trotz des vorwiegend theore¬
tischen Charakters ergaben sich doch aus vielen
Vorträgen auch für die ärztlichen Zuhörer viele
anregende Zusammenhänge. Zur Theorie- der
Reizleitungsstörung des Herzens sprach Edens
(St. Blasien), über elektrokardiographische Fragen
Groedel (Nauheim). Die praktisch-prognostische
Bedeutung der Arhythmien beleuchtete Magnus-
Alsleben (Würzburg), indem er die Beeinflussung
des Schlagvolumens durch dieselben experimen¬
tell prüfte. Er verglich Carotisdruck und plethys-
mographiertes Zeitvolumen, während er mit dem
faradisehen Strom Extrasystolen und Arhythmia
perpetua erzeugte. Es zeigte sich, daß die Kom¬
pensation in den Perioden der Arhythmie fast
vollkommen- war und meistens nicht um mehr
als 10% von der Norm differierte; auch bei
Arhythmia perpetua blieben die ausgeworfenen
Blutmengen fast gleich hoch; selten trat Ver¬
minderung bis zu 30 % auf. Nur wenn tiefe
Chloroformnarkose das Herz schädigte, oder bei
direkter frequenter Reizung der Ventrikel ver¬
minderte sich das Schlagvolumen bis auf die
Hälfte. Auch nach Durchschneidung von Vagus
und Accelerans wurden die Schlagvolumina durch
künstlich erzeugte Arhythmie nicht vermindert.
Die Versuche dürften die alte ärztliche Meinung
stützen, daß Pulsunregelmäßigkeiten an und für
sich prognostisch nichts bedeuten, daß ihre
Würdigung viel mehr von dem Gesamtzustand
des Herzens und des Nervensystems abhängt.
Über die Ursache der Dekompensation
bei Herzfehlern sprach Jungmann (Berlin); oft
beginnt die Kompensationsstörung mit Fieber¬
bewegungen, die auf infektiöse Myocarditis durch
Streptococcus viridans zurückzuführen sind. Zur
Verhütung von Nachschüben bei Klappenfehlern
empfiehlt sich Durchmusterung und eventuelle
Ausschaltung aller Infektionsquellen, insbesondere
in Nase und Rachen. Andererseits empfiehlt sich
auch die unspecifische Behandlung mit Caseosan.
An diese therapeutischen Bemerkungen,schloß
sich zwanglos die Mitteilung von Böttner
(Königsberg) über die Wirkungsweise des Kollar-
gol, welchem ja eine besondere antibakterielle
Kraft zugeschrieben wird, so daß viele Ärzte dres
Mittel gleichsam als specifisches Mittel gegen
septische Prozesse verwenden. Böttner hat nun
das Schutzkolloid in derselben Konzentration,
in welcher es im Kollargol die feinsten Silber¬
teilchen in physikalischer Lösung hält, ohne Silber
zu Injektionen verwendet und hat festgestellt,
daß dies Schutzkolloid allein die typischen Wir¬
kungen des körperfremden Eiweiß auslöst. Das
ungeschützte ■ feinyerteilte Silber, freilich in ge¬
ringerer Konzentration als sie durch den Zusatz
des Kolloids zu erhalten ist, hat keine derartigen
Einwirkungen ausgeübt, selbst nach intravenöser
Injektion von 50 ccm fein verteilten Silbers trat
keine. Temperatursteigerung ein. Man kann
danach sicher sagen, daß die Kollargolwirkung
nicht etwa eine specifische Silberwirkung ist,,
sondern daß es sich um einen nichtspecifischen
Gewebsreiz handelt. Ob daneben noch das im
Körper deponierte Silber bei seiner allmählichen
Resorption spätere Wirkungen ausüben kann,
muß dahingestellt bleiben.
Zur Pathologie des Kreislaufs zurück führte
die Mitteilung von L. Frank (Berlin), welcher
durch eine besondere Kombination von -Reck-
linghausenscher Manschette mit einer Marey-
schen Trommel die dauernde Registrierung des
Blutdrucks in verschiedenen Höhen erreicht hat
und auf diese Weise in der Lage war, kurzdauernde
arterielle Druckschwankungen zu demonstrieren.
Von besonderem praktischen Interesse war der
Nachweis eines fast regellosen Schwankens,
Sinkens und Steigens bei den funktionellen
Schwankungen der vasomotorischen Neurosen;
dabei zeigt sich in diesen Fällen die Herzaktion,
nach dem Zeitabstand der Systolen gemessen und
nach Maßgabe des Elektrokardiogramms, ganz
normal und es fehlen auch die Zeichen der Über¬
erregbarkeit des Vagus.
Bruns (Göttingen) .berichtete über den Ein¬
fluß der Arbeit auf Herzgröße, Blutdruck und
Puls. Während wir gewöhnt waren, Vergrößerung
des Herzens durch Überanstrengung als sicher
anzusehen, zeigte der Vortragende, daß mit
steigendem Blutdruck sich der Herzschatten im
Röntgenbild regelmäßig verkleinert; nur in etwa
10 % wurde das Herz bei der Arbeit größer, in
etwa 20 % schwankte es zwischen Vergrößerung
und Verkleinerung; auch nach der Arbeit blieb
das Herz in 80% dauernd kleiner; die seltene
Vergrößerung war stets auf psychische Einflüsse
zurückzuführen; auch die Abhängigkeit der Blut¬
druckschwankungen von ^psychischen Einflüssen
wurde von neuem konstatiert. Die Unterschiede
zwischen diesen klinischen Feststellungen und
den Tierexperimenten dürften größtenteils auf
die beim Menschen überwiegenden nervösen
Momente zurückzuführen sein.
Es folgen nunmehr die hämatologischen Vor¬
träge. Griesbach (Hamburg) berichtete über
eine klinisch brauchbare Methode zur Bestimmung
der Blutmenge; er benutzt dazu intravenöse
Injektion indifferenter Farbstoffe, indem er nach
einer bestimmten Zeit, bevor die Ausscheidung
des Farbstoffes begonnen hat, die Konzentration
im Serum kolorimetrisch bestimmt und daraus
mittels des Hämatokrit ohne weiteres die Blut¬
menge berechnet. Kongorot war gut benutzbar,
weil es vom Menschen im Gegensatz zum Hund
nur langsam ausgeschieden wird, so daß Be¬
stimmungen vier Minuten Postinjektionen ver¬
wertbare Resultate ergeben. Es ergab sich eine
mittlere Blutmenge von 6,2 % des Körper¬
gewichts. Bei Polycythämie betrug die Blut¬
menge 10 %, Erhöhung auch bei Herzfehlern
(höchster Wert bei Pulmonalstencse 18 %),
Zurückgehen bei besserer Kompensation, Er¬
höhung auch bei sekundärer Anämie.
Über die Permeabilität der roten Blut¬
körperchen für verschiedene chemische Sub¬
stanzen sprach Wiechmann (München); die
wertvolle Arbeit hat vorläufig nur physiologisches
Interesse. Mehr klinisch verwertbar erscheinen
•die Mitteilungen von Beltz (Köln) über Resi¬
stenzprüfung roter Blutkörperchen mittels der
von Groß eingeführten Methode der Ariimoniak-
hämolyse, welche wegen ihrer relativ großen Ge¬
schwindigkeit und Konstanz anderen Resistenz¬
bestimmungen überlegen ist. Es ergab sich, daß
Juli
Dk Therapie der Gegenwart 1921
271
das Serum gesetzmäßig hemmend wirkt; diese
hämolysehemmende Fähigkeit des Serums erwies
sich erhöht bei Hypertonien und Nephropathien.
Schilling (Berlin) machte weitere Mitteilungen
über seine bekannten Bestrebungen, die Leuko-
cyten in vier Klassen einzuteilen (Myelocyten,
Jugendliche, Stabkernige und Segmentkernige)
und aus dieser Klassifizierung praktisch verwert¬
bare Schlüsse abzuleiten. Er empfiehlt, das
qualitative Leukocytenbild bei jeder Blutunter¬
suchung mitzubestimmen und hält die' Fest¬
stellung der neutrophilen Kernverschiebung für
eine außerordentlich wichtige Methode, die symp¬
tomatisch, diagnostisch und prognostisch wert¬
voll ist. Schilling hat sich eine eigene Sprache
gebildet, an die man sich nur mühsam gewöhnt.
Neben den normalen Leukocytenbildern sieht er
hyperregenerative (Leukämie), regenerative (ju¬
gendliche Verschiebung akuter Infektionen und
Intoxikationen), chronisch-stabkernige (chronische
neutrophil-beeinflussende Prozesse) • und degene-
rative Bilder (neutrophilschädigende Prozesse);
den Anteil der verschiedenen Formen bestimmt
er prozentisch. Er geht von der Lehre aus, daß
der Kern der Neutrophilen sich vom Bläschen
im Myelocyten streckt über den jugendlichen
Wurst- zum reiferen Stabkern und sich schließlich
in Segmente einteilt; diese bilden'eine Kette mit
fädigen Verbindungen. Schilling demonstrierte
eine Reihe schöner Mikrophotogramme, welche
den Kernumwandlungsprozeß als eine innere
Reifung vom Rundkern zur Segmentierung zu
erweisen schienen, wobei die Segmente in beliebi¬
ger Form und gleichzeitig an mehreren Steilen
angelegt werden. Man hatte den Eindruck, als
ob durch diese Bilder der Einwand, daß es sich
hierbei um künstliche Erzeugnisse handeln könne,
zurückgewiesen sei. Man wird wohl den Ar net h-
Schillingschen Differenzierungen auch in der
klinisch-hämatologischen Diagnostik in Zukunft
größeren Wert beilegen müssen. — Um über
Abstammung der Blutplättchen zur Klarheit
zu gelangen, hat Rosenthal (Breslau) die be¬
kannten Immunitätsreaktionen herangezogen. Von
den Versuchskaninchen wurden die einen mit
Erythrocyten, die andern mit Leukocyten, die
dritten mit Blutplättchenaufschwemmungen in¬
jiziert und danach die Agglutinationsfähigkeit
ihres Serums gegenüber den "verschiedenen Kör¬
perchen geprüft. Es ergab sich, daß nur nach
Injektion von Weißen oder Plättchen Immun¬
stoffe gegen Blutplättchen erzeugt wurden, nicht
durch Injektion von Roten, und daß nach In¬
jektion von Blutplättchen das Immunserum nur
Leukocyten beziehungsweise Blutplättchen agglu-
tinierte, nicht aber Erythrocyten. Danach müssen
zwischen Blutplättchen und Leukoppese nähere
Beziehungen walten als zur Erythropoese, wie
dies der älteren Wriglitschen Anschauung ent¬
spricht. — Ein überraschendes Licht fiel auf
die hämolytischen Blut-, Milz- und Leberkrank¬
heiten aus den sehr bedeutsamen Studien von
Isaak und Bieling (Frankfurt a. M.) über intra-
•vitale Hämolyse. Sie bewiesen durch schöne
Versuche an Mäusen, deren Beweisstücke zum Teil
bildlich demonstriert wurden, daß die Auflösung
des Blutes nach Injektion specifischer Hämolysine
nicht, wie man bisher annahm, innerhalb der
Blutbahn erfolgt, sondern daß dort nur die Bin¬
dung des Ambozeptor stattfindet, während die
wirkliche Auflösung der Blutkörperchen in der
Milz stattfindet. Dies ist mit vollkommener
Sicherheit festzustellen, weil das Mäüseblut
komplementfrei ist. Übrigens findet ein Auf¬
fressen roter Blutkörperchen in der Milz nicht
statt, es ist ein rein humoraler Vorgang, bei dem
in kurzer Zeit ein Viertel der gesamten Blutmeng^
in der Milz aufgelöst wird. Dieser akute Blutzerfall
führt auch zu Hämoglobinurie. Neben der Milz
beteiligt sich funktionell gleichartiges Gewebe in
anderen Organen an der Hämolyse, so daß Milz¬
exstirpation diese Funktion nicht ganz aufhebt.
Auf Grund dieser experimentellen Feststellungen
ist es möglich, die Pathogenese hämolytischer
Anämien des Menschen besser aufzuklären als
bisher; man darf annehmen, daß durch Gifte
chemischer oder bakterieller Natur geschädigte
Blutkörperchen die Produktion von Autolysinen
in der Milz auslösen; außerdem wird das in der
Milz erfolgende Zusammentreffen der ambozeptor¬
beladenen Erythrocyten mit dem Komplement
Ursache anaphylaktischer Erscheinungen werden,
die sich vorwiegend im splenohepatischen Gebiet
abspielen müssen. So sind die schweren Leber¬
veränderungen im Tierexperiment erklärlich und
so ist vielleicht auch der hämolytische Ikterus
zu erklären. Aus dieser originellen Betrachtung
fällt auch Licht auf das Entstehen der akuten
Leberatrophie im Verlauf der Lues und anderer
Infekte.
E. Fr. Müller (Hamburg) behandelte die Bedeu¬
tung des blutbildenden Markes der Röhrenknochen
für den Ablauf der akuten Infektionskrankheiten.
Er fand in allen Infektionskrankheiten, die mit
Bakteriämie einhergehen, auch das Knochenmark
der Wirbelkörper von den Bakterien durchsetzt.
Dagegen waren die Röhrenknochen, in denen sich
neues funktionsfähiges Mark entwickelt hatte,
fast immer keimfrei, was der Vortragende als
Beweis keimhemmender Energie zugleich mit
vermehrter Leukopoese anspricht. Beim Typhus
zeigte sich das Mark keimhaltig, während zu¬
gleich Leukopenie bestand, das ist als Zeichen
herabgesetzter Abwehrkraft zu deuten.
Den Abschluß der hämatologischen Reihe
bildete der Vortrag von Seyderhelm (Göttingen)
über perniziöse Anämie; ich bin dem Herrn
Verfasser sehr zu Dank verpflichtet, daß er mir
den Abdruck dieser praktisch bedeutsamen Mit¬
teilung in diesem Heft gestattet hat.
Es folgten einige Mitteilungen über die dia¬
gnostischen Verfeinerungen der Liquorunter¬
suchung. Bonsmann (Köln) hat die Goldsol-
und Mastixmethode angewandt und durch wieder¬
holte Untersuchungen die sogenannten Kurven¬
typen bei Lues und Meningitis kontrolliert; er
kommt zu dem Resultat, daß es diagnostisch ver¬
wertbare Typen in diesen Krankenheiten, ebenso
bei der Encephalitis gibt. Weinberg (Rostock)
hat den Liquor in verschiedenen Portionen auf¬
gefangen und gefunden, daß man in den verschie¬
denen Gläschen sowohl nach Eiweißgehalt wie
Zellzahl, aber auffälligerweise auch in bezug auf
Wassermannreaktion verschiedene Resultate be¬
kommt. Danach muß man annehmen, daß die
Zellvermehrung im Liquor der Ausdruck eines
lokalen Prozesses der Meningen ist. Die Wasser¬
mannreaktion kann sich stufenförmig ändern.
Auch bei Lumbalpunktionen, die in mehrtägigen
Zwischenräumen folgen, kann die Wassermann¬
reaktion in den beiden Punktaten vollkommen
verschiedene Resultate geben. Um sicher ver¬
wertbare Ergebnisse zu erhalten, wird man danach
in Zukunft die einzelnen Untersuchungen in ver¬
schiedenen Liquorportionen vornehmen müssen.
Das Gebiet der Infektionskrankheiten, welches
den vorherigen Kongreß beherrscht hatte, wurde
diesmal nur flüchtig gestreift. Ein argentinischer
Arzt, Carlos Heuser, berichtete über gute
272
Die Therapie der Gegenwart 1921
Juli
Resultate der Typhusbehandlung mit Xhinosol;
Königer (Erlangen) sprach über Wirkung und
Methodik der allgemeinen kausalen „unspecifi-
schen“ Behandlung Infektionskranker. Unspeci-
fische Mittel können je nach der Zeit und Häufig¬
keit einerseits die Infektion steigern, andererseits
eine Resistenzsteigerung herbeiführen. Die Be¬
achtung der Pausengröße ist nach Königer bei
der Anwendung jeder Behandlungsart von be¬
sonderer Bedeutung. .Unspecifische Mittel in
kurzen Pausen angewendet, führen zu kontinuier¬
licher Anregung und Tonussteigerung, während
jede Behandlung in größeren Intervallen an¬
gewendet eine Resistenzabschwächung nach sich
zieht.
Damit war das Programm erledigt und der
Vorsitzende konnte zur festgesetzten Zeit den
Kongreß schließen, indem er in kurzer .Rede die
Summe der geleisteten Arbeit hervorhob und zu¬
gleich mit dem Hinweis auf die starke Teilnahme
der Ärzte die Doppelnatur der Gesellschaft be¬
tonte, welche ebenso sehr den wissenschaftlichen
Grundlagen als der praktischen Ausgestaltung der
inneren Medizin zu dienen habe. Mit herzlichen
Dankesworten von Schwalbe (Berlin) an den
Vorsitzenden klang die Tagung aus.
•-i:
Die Mitgliederversammlung bestimmte als
nächstjährigen Tagungsort wiederum Wiesbaden;
für eins der folgenden Jahre wurde unter warmen
Sympathiebezeugungen für die deutsch-österreichi¬
schen Kollegen Wien in Aussicht genommen.
Den Vorsitz für das nächste Jahr übernimmt
Gerhardt (Würzburg). An Stelle des aus¬
scheidenden Vorsitzenden wurde Brauer (Ham¬
burg) in den Vorstand gewählt, an Stelle des
verstorbenen Schriftführers Weintraud dessen
Amtsnachfolger Gerönne. Die freiwerdenden
Plätze im Ausschuß der Gesellschaft wurden
durch die Zuwahl von Volhard (Halle), La quer
(Wiesbaden), Stähelin (Basel), Hymans v. d.
Berg (Utrecht), Felix Klemperer (Berlin)
besetzt. — Der Ausschuß hat neben anderen
geschäftlichen Verhandlungen einen Antrag Hoff-
mann (Düsseldorf) angenommen, wonach die
bisherigen Vorsitzenden der Gesellschaft dauernd
Mitglieder des Ausschusses sein sollen, so wie es
auch bei der Gesellschaft für Chirurgie und der
Deutschen Naturforscher und Ärzte der Fall ist.
Dieser Antrag, welcher für die Tradition und das
Gedeihen der Gesellschaft nicht ohne Bedeutung
ist, wird, . da er eine Satzungsänderung bedingt,
der nächsten Mitgliederversammlung zur Annahme
empfohlen werden.
Bücherbesprechungen.
Walter Lehmann, Die Chirurgie der periphe¬
ren Nervenverletzungen mit besonderer
Berücksichtigung der Kriegsnervenver¬
letzungen. Mit einem Geleitwort von Prof.
Dr. Rudolf Stich. Berlin-Wien 1921, Urban
& Schwarzenberg. XII und 271 Seiten mit 66
teils mehrfarbigen Abbildungen und drei mehr¬
farbigen Tafeln.
Verfasser, ein Schüler Stichs, hat während
der Kriegsjahre das große Nervenmaterial der
Göttinger Klinik und Lazarette beobachtet, und
wenn nötig, 'operiert. Über seine eigenen Erfolge
und Erfahrungen bei 115 Nervenoperationen
hat er vor einigen Jahren in einer Arbeit berichtet
(Bruns Beitr., Bd. 112).
In dem vorliegenden Werk handelt es sich
um eine monographische Darstellung des Gesamt¬
gebiets der Chirurgie der peripheren ^Nervenver¬
letzungen — um eine kritische Zusammenfassung
des bisher Erreichten und, wie Stich in dem Vor¬
wort zu dieser Arbeit treffend bemerkt, vielleicht
auf Jahrzehnte hinaus Erreichten.
Das Erscheinen eines solchen Werkes ist auf
das freudigste zu begrüßen, wenngleich die darin
behandelten Fragen nicht mehr zu den aktuellen
Tagesfragen unseres Faches gehören. Sehen wir
von den großen Referaten Edingers und För¬
sters, auf der neunten Jahresversammlung der
Gesellschaft deutscher Nervenärzte, Bonn, Sep¬
tember 1917, ab, die also mitten in den Krieg fielen,
so ist noch das ausgezeichnete kritische Sammel¬
referat Wexbergs, der mit der Besprechung der
einschlägigen Literatur bis zum Beginn des Jahres
1919 abschließt, zu erwähnen. Lehmann gibt
uns in anderer Form ein zusammenfassendes
Werk über die Chirurgie der peripheren Nerven¬
verletzungen, in dem alles, was bis jetzt als un¬
bestrittener und dauernder Besitz unserer Wissen¬
schaft gelten kann, die eingehendste Berücksich¬
tigung findet. Das Buch zerfällt in drei große
Teile und elf Abschnitte. Im ersten Teil werden
die allgemeine Ätiologie und Symptomatologie,
die pathologisch-anatomischen Grundlagen der
Nervenverletzungen, die Diagnose, Indikalions-
stellungTzu konservativem und operativemTVer-
fahren kurz aber erschöpfend besprochen, der
zweite Teil behandelt die Therapie der Nerven¬
verletzungen und ihre Folgezustände, wobei aus¬
führlich die allgemeine operative Technik, sowie
im speziellen die Technik der Resektion und Naht,
der äußeren und inneren Neurolysis und ihr An¬
wendungsgebiet, die Operationsmethoden bei
großen Nervendefekten (die plastischen Nerven¬
operationen) und ihre Erfolge, .^die Prognose
der {Nervenoperation, Ursachen der Mißerfolge
besprochen wird. Der dritte Teil umfaßt die
spezielle Ätiologie, Symptomatologie und Thera¬
pie der Nervenverletzungen (ChTrurgie der Hirn-
nerven, des Plexus brachialis und lumbosacralis
und der großen peripheren Nerven der oberen
und unteren Extremität. trUm nicht den Rah¬
men eines Referats zu [überschreiten, greifen
wir , aus dem reichhaltigen Inhalt der j Mono¬
graphie einige Fragen heraus, die seinerzeit
Gegenstand lebhafter Diskussionen waren. So
z. B. die Frage des Zeitpunktes einer Nerven¬
operation. Verfasser ist Gegner der unbedingten
Frühoperation und hält in^Übereinstimmung mit
Borchardt, Förster, Spielmeyer und An¬
deren den frühesten Termin, wenn die Indukation
richtig ist, nicht vor drei bis fünf Monaten. In¬
dessen soll die einmal als notwendig erkannte
Operation nicht über den sechsten Monat hinaus¬
geschoben werden. Als äußerste Grenze, der
Wartezeit sind nach Lehmann zwei Jahre nach
der Verletzung zu betrachten, denn nach noch
längerem Warten würde eine nachher erfolgreiche
Naht (im anatomischen Sinne mit Durchwachsen
der Nahtstelle von Nervenfasern) nicht zum Ziele
führen, denn die neugebildeten Nervenfibrillen
würden auf keine funktionsfähigen und kontrak¬
tilen Muskelreste treffen, wie das Lehmann an
der Hand eines histologischen Präparats beweist.
Die Nerventubulisation zur Überbrückung
größerer Defekte, sei es nach Edinger oder nach
Enderlen, Steinthal (Eigenserum) verwirft
Lehmann vollkommen, da alle diese Methoden
im Widerspruch stehen mit den Ergebnissen
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1921
27ä
exakter Forschung. Die einfache Tubulisatioh
dagegen liefert die besten Resultate, aber auch
nur dann, wenn die Diastase kleiner als 2 cm ist.
In allen anderen Fällen soll man gar keinen Ver¬
such damit machen.
Von den plastischen Operationen mit homoio-
oder autoplastischem Material sagt Lehmann,
daß wir von Transplantationserfolgen beim Men¬
schen noch weit entfernt sind. Diese Auffassung
bedarf noch der Korrektur! (Ref.).
Auch viele andere sehr wichtige Fragen, so
z. B. die beste Art oder Umscheidung (vielleicht
ausführlicher S. 96), die Indikation zur plastischen
Ersatzoperation (mit ausführlicher Schilderung
der Perth.es sehen Methode zur Beseitigung der
irreparablen Radialislähmung). und andere mehr
finden eine eingehende und kritische Erörterung.
Zu den Untersuchungen Stoffels über den ana¬
tomischen Bau der peripheren Nerven nimmt
Lehmann eine bestimmte Stellung ein. In
Übereinstimmung mit den bekannten neueren'
Untersuchungen von Borchardt und Wjas-
menski und anderen meint Lehmann, daß der
Bau des Nerven durchaus nicht so einfach ist,
wie ihn Stoffel glaubte darstellen zu können
und daß das „Schlagwort von der Kabelnatur des
Nerven“ unzutreffend ist. Die Untersuchungen
von Borchardt und Wjasmenski fanden in
den Kapiteln .über die Chirurgie am Medianus
und Radialis eine eingehende Würdigung. Dem
Buche ist ein Literaturverzeichnis ■ beigegeben,
das die wichtigsten Arbeiten deutscher Autoren
bis zum Beginn des Jahres 1920 enthält. Die
Ausstattung des Buches, Druck und Papier sind
vorzüglich. Die Sprache des Autors überall klar
und präzise. Das Buch gibt für alle Interessenten
eine ausgezeichnete Orientierung.
W. Heyn (Berlin).
G. Holzknecht (Wien), Röntgenologie. Eine
Revision ihrer technischen Einrichtungen und
praktischen Methoden. Teil II, Heft 1. Berlin-
Wien 1921. Urban & Schwarzenberg. -
Das vorliegende, von Hatidek (Wien) verfaßte
Heft behandelt die Röntgendiagnostik des Herzens
und der großen Gefäße, der Lungen und der Ver¬
dauungswege und ist der wertvolle Niederschlag
der Erfahrungen, die der Verfasser im reichen
Maße in der internen röntgenologischen Massen¬
praxis des Krieges gesammelt hat. Durch die
Zeitereignisse "überholt, ruht die bleibende Be¬
deutung des Buches darin, daß es in prägnanter
Form und scharfer Heraushebung des Wesent¬
lichen über den Rahmen der militärischen Begut¬
achtung hinaus Richtlinien für röntgenologische
Gutachtertätigkeit bei Rentenverfahren, Versiche¬
rungen usw. gibt. Zu diesem Zwecke erscheint es
mir bei einer folgenden Auflage nur wünschenswert
lediglich unter dem Gesichtspunkte militärischer
Tauglichkeit und Untauglichkeit zusammengefaßte
Krankheiten zu trennen und in ihrer Bedeutung
für die Leistungsfähigkeit des erkrankten Indi¬
viduums einzeln zu würdigen. — Aus dem Herz¬
kapitel sei die neuartige Anlage von Tabellen zur
Beurteilung der Herzgröße erwähnt, denen im
wesentlichen Körpergewicht, Neigungswinkel des
Herzens und Thoraxbreite zugrunde liegen. Es
ist der Versuch, die jetzt noch vorherrschende
große normale Schwankungsbreite bei der Ortho¬
diagraphie auszuschalten, um jederzeit einen Herz¬
befund nachprüfen, bzw. vergleichen zu können.
In dem Kapitel der-Lungenuntersuchungen scheint
mir die Ansicht des Verfassers, daß die photo¬
graphische Aufnahme neben der Durchleuchtung
meistens entbehrlich ist, zu weit gegangen zu sein.
Die Fülle feinster Details auf der Platte, die „die
Grenzen zwischen Normalem und Pathologischem
verwischt“, soll auch für den Geübten eine
Mahnung zur vorsichtigsten Beurteilung des
Lungenbefundes und ein Antrieb zur weiteren
Forschung sein, nicht aber dazu dienen, den Kopf
einfach in den Sand zu stecken. Der Ungeübte
möge im Interesse des Patienten seine Deutungs¬
kunst nicht an der Lungenplat-te versuchen. Dem
Urteil, daß es meist nicht gelingt, aus dem Lungen¬
befund ein Einteilungsschema der Tuberkulose in
scharfer Begrenzung vorzunehmen, ist nur bei¬
zustimmen. Aus dem Kapitel über die Ver¬
dauungswege sei die rechte Seitenlage mit Becken¬
hochlagerung bei mangelnder Füllung des Pylorus
und Biilbus duodeni als empfehlenswert hervor¬
gehoben. Ein von Lilienfeld geschriebener An¬
hang orientiert in übersichtlicher Weise über die
Ausführung der gangbaren Aufnahmen. — Das
sehr flüssig geschriebene Buch wird auch dem
Kliniker eine willkommene Bereicherung seines
Wissens sein und ihn mit dem Wert und Nutzen
des Röntgenbefundes vertrauter machen.
Ca Im (Berlin).
Prof. Assmann, Röntgendiagnostik innerer
Krankheiten. Verlag von C. F. Vogel. Leip¬
zig 1921.
Das Werk'von Assmann stellt den Nieder¬
schlag der klinisch-röntgenologischen Beobach¬
tungen der Leipziger inneren Klinik dar. Ein
groß angelegtes Werk, das dadurch eine Besonder¬
heit darstellt, daß von einem Kliniker das ge¬
samte Gebiet der Röntgenologie in der inneren
Medizin dargestellt ist. Das "^Material, das hier
zusammengetragen ist, stellt ohne Zweifel die
gut gesichtete Arbeit von vielen Jahren dar, um
so mehr anzuerkennen, als der Autor während
des ganzen Krieges im Felde stand und seine
Arbeiten unterbrechen mußte. Verfasser legt
besonderen Wert darauf, hinzuweisen, daß die
Röntgendiagnostik nur ihre volle Auswirkung
haben könne, wenn sie in engster Beziehung zur
klinischen Beobachtung steht. Das werden auch
alle Röntgenologen gern anerkennen, und es wäre
nur zu wünschen, daß diese Zusammenarbeit in
höherem Maße als bisher gepflegt werde. Der
Referent muß allerdings betonen, daß Kliniker,
die wie Assmann die Röntgenologie beherrschen,
zu den größten Seltenheiten gehören. Die innere
Klinik wie die Röntgenologie kann ihre Freude
darüber nur aussprechen, daß ein an Vielseitig¬
keit so reiches Material in so vorzüglicher Dar¬
stellung der Allgemeinheit zugänglich gemacht
worden ist. Vorteilhaft fiel es auf, daß die schema¬
tische Darstellung und der Vergleich zwischen
anatomischem und Projektionsbild in hervor¬
ragend klarer Weise gelungen ist. Es kommt
immer wieder zum Ausdruck, daß Assm'ann von
den Vergleichen des Röntgenbildes mit dem
anatomischen Befunde reichen Nutzen gezogen
hat. Jedem Kapitel ist eine reiche Literatur¬
angabe angeschlossen. In dem Kapitel über das
normale Lungenbild, das die Grundlage für die
röntgenologische Tuberkulosediagnostik bildet,
glaubt Referent in der Würdigung seiner grund¬
legenden Arbeit auf diesem Gebiete schlecht weg¬
gekommen zu sein. Man liest da nichts, daß
schon im Jahre 1909 von ihm eine experimentelle
Arbeit erschienen ist, die einwandsfrei nachweist,
daß die Gefäße der röntgenologischen Lungen¬
zeichnung entsprechen. Assmann ist erst im
Jahre 1911 mit derselben logischen Begründung
diesem Problem nähergetreten. Auch im Literatur¬
verzeichnis ist die Arbeit des Referenten nicht
35
274
r Die Therapie der Gegenwart 1921
Jul
erwähnt, während diejenige vom Jahre 1911 ver¬
merkt ist.
Besonderes Lob verdient die ausgezeichnete
Ausstattung des Buches. Verlag und Verfasser
sind von der Ansicht ausgegangen, daß die Wieder¬
gabe von Röntgenaufnahmen nur einen Zweck
hat, wenn man dasjenige, das geschrieben wird,
auch auf den Bildern sieht. Die Tfextabbildungen
sind ebenso vorzüglich wie diejenigen der Tafeln.
Wenn man das vorliegende Werk studiert, so
kommt man erst zu der rechten Erkenntnis, wie¬
viel uns in den letzten fünf Jahren gefehlt hat.
Die photographische Darstellung ist zum ersten¬
mal wieder in Aufnahme gekommen. Die Her¬
stellung solcher Tafeln ist außerordentlich kost¬
spielig. Darauf ist es zurückzuführen, daß das
ungebundene Exemplar 330 M. kostet. Trotzdem
wird es seinen Weg finden und namentlich im
Ausland der deutschen Wissenschaft Ehre ein-
legen. Max Cohn.
Robert Lenk, Röntgentherapeutisches Hilfs¬
buch für die Spezialisten der übrigen
Fächer und die praktischen Ärzte.
Berlin 1921. Julius Springer. 8 M.
In diesem Leitfaden, in dessen Vorworte
Holzknecht die wichtige Stellung des prakti¬
schen Arztes zu den Spezialisten betont, sind
nach einem allgemeinen Teile mit der Erklärung
der Behandlungsformel in alphabetischer Reihen¬
folge die Krankheiten aufgeführt, die sich für
die Bestrahlung eignen; in äußerst klarer Weise
erhält hier der Arzt die Möglichkeit im Verein mit
dem. Röntgenologen seine Patienten behandeln
zu können. Ein unbedingt brauchbares Büchlein.
Pulvermacher (Charlottenburg).
Referate.
Steinkamm (Essen) berichtet über
drei Fälle von Aktinomykose des Ge¬
sichtes, die nach erfolgloser Behandlung
mit Jodkali, Salvarsan und operativen
Eingriffen der Röntgenbehandlung
unterzogen wurden. Nach anfänglicher
Lokalreaktion trat in allen drei Fällen
nach wiederholter Bestrahlung restlose
Heilung ein. Max Cohn.
(Strahlenther. Bd. XII, Heft II.)
G. Hoffmann berichteten mono¬
graphischer Darstellung über Hirsch-
spfungsche Krankheit unter besonderer
Berücksichtigung der in der Leipziger
chirurgischen Klinik seit dem Jahre 1911
operierten Fälle. Hoff m anns eigene Beob¬
achtungen betrafen 13 Männer, 3 Frauen,
2 . Kinder. Sieben endigten letal. Ver¬
fasser ist der Ansicht, daß die kongenitale
Veranlagung, d. h. die angeborene oder
in frühester Jugend erworbene Verlänge¬
rung, Erweiterung^und Verdickung eines
Dickdarmteils, insonderheit der Flex. sig-
noidea, bei weitem nicht so selten ist, wie
dies von den meisten Autoren bisher an¬
genommen wurde. Wenn auch die volle
Ausbildung des Symptömenkomplexes
meist erst in späteren Lebensjahren zu
mehr oder minder großer Vollendung ge¬
deiht, wenn auch sekundäre Ursachen
schließlich das auslösende Moment der
Krankheitserscheinungen hervorrufen, so
liegt eben doch primär eine Verlängerung,
Erweiterung oder Verdickung vor, ohne
die die sekundären Ursachen nicht ihre
volle Wirksamkeit entfalten können. In
einem (bisher nicht beobachteten) Falle
lag bei einem Kind ein congenitaler
Schnürring an der Flex. recto-romanum
vor, der den typischen Symptomenkom-
plex auslöste.
Als Therapie kommt Entero-Anasto-
mose (eventuell zweifach nach Schmieden)
oder Resektion in Frage. Letztere soll
die Methode der Wahl seih und nach
Möglichkeit rnehrzeitig ausgeführt werden.
Willibald Heyn (Berlin).
(D. Zschr.f. Chir. Bd. 161, S. 175.)
Bei der außergewöhnlich hohen Konta-
giosität'der Masern, schon im katarrhali¬
schen Prodromalstadium, ist es praktisch
unmöglich, die Ansteckung zu verhindern.
Da sich aber die Erkrankung in vielen
Fällen durchaus nicht als harmlos erweist,
insbesondere Kinder in den ersten drei
Lebensjahren, vor allem rachitische Säug¬
linge und Kleinkinder der Armenbevölke¬
rung, sehr gefährdet sind, ist es angezeigt,
eine wertvolle Masernprophylaxe, auf
die Pfaundler hinweist, in Anwendung
zu bringen. Sie ist mit einer an Sicherheit
grenzenden Wahrscheinlichkeit imstande,
den Ausbruch der Krankheit zu ver¬
hindern. Es handelt sich um die intra¬
muskuläre Injektion von Masernrekon¬
valeszentenserum, über dessen Anwen¬
dung Degkwitz vor einem Jahr berich¬
tete, ein Verfahren, das sich bei Be¬
kämpfung von Masern-Hausepidemien in
Säuglingsheimen, Krippen und ähnlichen
Einrichtungen ganz besonders wertvoll
erwies. Das Rekonvaleszentenblut wird
von einem kräftigen sonst gesunden ins¬
besondere von Lues und Tuberkulose
freien Kranken gewonnen, und zwar mög¬
lichst am siebenten bis neunten Tag nach
der Entfieberung und nach unkomplizier¬
tem Verlauf. Das Serum ist mehrere
Monate haltbar, wenn es unter Phenol¬
zusatz im Vakuum getrocknet wird, aber
auch im flüssigen Zustand steril gewonnen
und aufbewahrt, längere Zeit. Zweck-
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1921
275
mäßig wird Mischserum von verschiedenen
Kranken genommen. Nach den bisherigen
Erfahrungen beträgt die Schutzdosis etwa
3%—4 ccm. Diese Dosis genügt bei In¬
jektionen vor dem fünften Tage nach
stattgehabter Ansteckung bzw. nach erst¬
maligem Kontakt mit einem ansteckungs¬
fähigen Masernkranken. Am fünften und
sechsten Tage nimmt man die doppelte
Menge. Wird zu spät injiziert, d. h.
zwischen dem siebenten und elften Tag
der Inkubation, so erreicht man in der
Regel nichts. Wie lange der durch die
Injektion von Masernserum verliehene
Schutz dauert, steht noch nicht fest,
jedenfalls handelt es sich um Monate.
Serum beliebiger gesunder Erwachsener
kommt wegen seiruer geringen Konzen¬
tration der Schutzstoffe gegen Masern
nicht in Betracht. Kinder, die am
sechsten Inkubationstag erfolgreich gegen
den Ausbruch der Masern durch Injektion
geschützt wurden, liefern ihrerseits ein
wirksames Schutzserum. Irgendwelche
Schädigungen sind bisher nicht beob¬
achtet worden, Serumkrankheit und ana¬
phylaktische Erscheinungen andere'r Art
blieben aus, da es sich um arteigenes Ei¬
weiß handelt. Die Gewinnung des Serums
außerhalb von Anstalten ist schwierig,
es wird zweckmäßig in Krankenanstalten
bezogen. Feuerhack.
(M.m. W. 1921, Nr. 9.) ]
Die Ursachen des Röntgenkaters, _ der
sich in Kopfschmerzen, Schwindel, Übel¬
keit, Erbrechen äußert, sind nach den
Untersuchungen von Rieder (Frankfurt
a. M.) einmal in exogenen Momenten zu
suchen, wie Ozon Vergiftung, elektrischer
Aufladung des Patienten. Diese Schädi¬
gungen sind durch hohe, gut gelüftete
Räume, durch die Ventilfunkenstrecken
einschließende Glasröhren, durch hoch¬
polierte Hochspannungsleitung und durch
Ableitung der elektrischen Aufladung des
Patienten zur Erde (Erdungsbinde) zu
vermeiden. Als endogenes Moment spielt
die Größe des durchstrahlten Körper¬
raumes (Ferngroßfelderrnethode!) mit der
entsprechenden Schädigung der getroffe¬
nen Körperzellen und der daraus resul¬
tierenden Allgemeinvergiftung nach Mei¬
nung des Verfassers die Hauptrolle. Daher
Einengung des Bestrahlungsfeldes im
Rahmen des Zulässigen. Das bei Be¬
strahlung des Splanchnicusgebietes fast
immer auftretende Erbrechen läßt sich
durch sehr hohe Laudanon-Scopolamin-
dosen hintanhalten, durch die auch sonst
die motorische Unruhe des Patienten bei
Dauerbestrahlungen behoben wird. Ich
vermisse die nähere Würdigung der drü¬
sigen Organe, insbesondere des Ovariums
und der Milz, bei deren Bestrahlung häufig
eine schwere Nausea bei disponierten In¬
dividuen trotz kleiner Dosen und Felder
auftritt. Das im Verhältriis zum Nutzen
der Bestrahlung kleine Übel soll zwar
tunlichst vermieden werden, muß aber
oft wie die Narkosenachwehen bei einer
Operation mit in Kauf genommen werden.
(Strahlenther. Bd. Max Cohn.
Aus der Prager Deutschen chirur¬
gischen Klinik berichtet R. Pamperl
über Entstehung und Behandlung der
postoperativen Tetanie. In den Jahren
von 1911—1920 wurden dort 630 Kropf¬
operationen ausgeführt. In fünf Fällen,
in denen postoperative Tetanie (p. o. T.)
auftrat, wurden zu deren Bekämpfung
Schilddrüsenpräparate (entweder Pferde¬
epithelkörperchen oder Parathyreoidin-
tabletten) gegeben. Als aussichtsreichstes
Verfahren muß jedoch immer die freie
Transplantation von Epithelkörperchen
(E. K.) angesehen werden. Hinsichtlich
der' Operationstechnik an der Prager
Klinik ist hervorzuheben, daß ,,stets die
Hinterfläche der beiden Seitenlappen der
Schilddrüse mit Rücksicht auf die E. K.
und den Recurrens zurückgelassen
wird“. Die Art. thyreoidea inferior wird
sehr selten unterbunden. Zusammen¬
fassend ist zu sagen, daß die postoperative
Tetanie durch Verabreichung von E. K.-
Präparaten und Narkoticis auch in schwe¬
ren Formen gebessert, vielleicht Sogar ge¬
heilt werden kann. Man wird durch diese
Therapie unter anderem die Einleitung
einer Frühgeburt vermeiden können und
für die Transplantation von E. K. Zeit
gewinnen. Das Auftreten der p. o. T.
scheint außer durch Schädigung der E. K.
durch ausgedehnte Reduktion von Schild¬
drüsengewebe, durch chronische Stö¬
rungen der Herzaktion und durch Stö¬
rungen der inneren Sekretion bei Morbus
Basedowii begünstigt zu werden. Die
p. 0 . T. wird meist bei Frauen beobachtet.
Willibald Heyn (Berlin).
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 161, S. 258.)
Im Anschluß an das vorstehende
Referat seien die anatomischen Unter¬
suchungen berichtet, welche Drüner über
die Epithelkörperchen- Überpflan¬
zung bei postoperativer Tetanie an¬
gestellt hat. Bei 20 frischen Leichen hat
der Autor die Epithelkörperchen aufge-
35*
276
Die Therapie der Gegenwart 1921
Jul!
sucht und diejenigen Gewebsstücke, wel¬
che makroskopisch als solche ange¬
sprochen werden mußten, mikroskopisch
untersucht. Dabei ergab sich das über¬
raschende Resultat,' daß in mehr als
.einem Drittel der Fälle die ,,Epithel¬
körperchen“ aus Lymphdrüsen oder Stru¬
magewebe bestanden. Auch wenn der
ganze Situs (Epithelkörperchen und
Schilddrüse) der Leiche entnommen
wurde, fand mehrfach eine Verwechslung
mit Lymphdrüsen statt. In einem der
Fälle war diese Drüse tuberkulös infiziert,
ohne daß sonst eine Tuberkulose an der
Leiche nachweisbar gewesen wäre. Dem¬
nach ist die Wahrscheinlichkeit, daß es
sich bei Gebilden, die mit bloßem Äuge
als Epithelkörperchen gedeutet und über¬
pflanzt werden, auch wirklich um' solche
handelt, sehr gering, vielmehr versprechen
nur solche Operationen Aussicht auf Er¬
folg, bei denen größere Gewebsstücke
überpflanzt werden, welche die Epithel¬
körperchen sicher enthalten, das heißt
im allgemeinen diejenigen Teile, die man
bei der Strumektonie zurückläßt. Drüner
schlägt vor, beide hinteren Kapsel¬
abschnitte ganz frischer Leichen zu ver¬
wenden, die am besten in Knochenmark
oder Muskulatur verpflanzt werden. Von
besonderer Bedeutung für das Gelingen
der, Transplantation ist eine möglichst
schnelle Wiederherstellung des Kreislaufs
der Epithelkörperchen, da deren Lebens¬
fähigkeit sehr schnell erlischt. Bei den
hiernach sehr geringen Aussichten der
Operation muß mit aller Entschiedenheit
die Schonung der Epithelkörperchen bei
der Strumektomie gefordert werden.
(Zbl. f. Chir. 1921, Nr. 7.) Hayward.
Während die Röntgenstrahlen bis¬
her nur zur Behandlung der Gonarthritis
und Adnexitis herangezogen wurden, hat
Dr.J. Wetterer diese auch zur Behand¬
lung des akuten und chronischen
Trippers verwandt. Verfasser berichtet
zuerst über seine äußerst günstigen Er¬
fahrungen bei Arthritis gonorrhoica, Per-
costitis blennorhagica, Adnexitis blennor-
hagica, Prostatitis, Spermatocystitis, Epi-
didymitis. Auch zur Behandlung der Me-
tritis, Salpingitis und Oophoritis blennor¬
hagica erscheinen ihm seine bisherigen
Versuche ermutigend. Bei der Behand¬
lung des akuten und chronischen Trippers
reagieren die frischesten Fälle am gün¬
stigsten. Der Erfolg äußert sich im Nach¬
lassen der Schwellung und Druckempfind¬
lichkeit der Penis, Nachlassen der sexu¬
ellen Reizerscheinungen und im schnel¬
leren Eintritt der Akme' des Prozesses,
sowie raschem Abklingen der Reaktion.
Die chronischen Fälle verhalten sich nach
Bestrahlung wie akute, indem sozusagen
ein Rezidiv der akuten Infektion eintritt,
das dann wie ein akuter Fall ohne Kom¬
plikationen abheilt. Auch zur Provo¬
kation hat Verfasser die Röntgenstrahlen
mit bestem Erfolg verwendet. Die Tech¬
nik ist einfach. Verfasser arbeitete mit
harten Strahlen, wobei er unter 1 mm
Kupfer + 1 mm Al auf jedes Hautfeld
ungefähr 350 F gab. Max Cohn.
(Strahlenther. Bd. XII, Heft II.)
Bei den vielen widersprechenden Re¬
sultaten in der Behandlung der Tuber¬
kulose nach Friedmann erscheinen die
theoretischen Erörterungen Rietschels
beachtenswert über die Frage, ob den
Friedmannschen Tuberkelbacillen ein spe-
cifischer Einfluß auf die Tuberkulose zu¬
geschrieben werden soll, oder wie ihr Ein¬
fluß gedeutet werden kann. Die Tier¬
versuche zahlreicher Experimentatoren
sprechen gegen jede specifische Immuni¬
sierung. Der Friedmannsche Bacillus muß
nach den Tierversuchen wahrscheinlich
nicht als Tuberkelbaclllus angesehen wer¬
den, sondern mehr oder weniger als^Sa-
prophyt gelten. Theoretisch ist aber denk¬
bar, daß die Behandlung nicjit völlig
v/irkungslos ist. Spricht man zum leichte¬
ren Verständnis der Heilungsvorgänge der
Tuberkulose bei immun-biologischer Be¬
trachtung -von Antigen- und Antikörper¬
reaktionen, wobei Antigen als biologischer
Reiz aufgefaßt werden soll, der die Kör¬
perzellen trifft, und die Antikörper als
die hypothetischen Träger der Abwehr¬
funktion der bedrohten Körperzellen, so
sollten die Friedmannbacillen in diesem
Sinne als Antigen wir.ken und damit die
Bildung echter Tuberkuloseantikörper
zellulär oder humoral anregen. Tuber¬
kulöse Herde können nicht nur mit spe-
cifischen aus Tuberkelbacillen entstande¬
nen Zufallsprodukten beeinflußt werden,
sondern auch durch andere Antigene,
auch durch Substanzen, die überhaupt
keinen Antigencharakter tragen (Terpen¬
tin, Zucker, Salze). Man ist daher be¬
rechtigt, von einer unspecifischen Reiz¬
körpertherapie zu sprechen, bei der man
zwischen echten Antigenen und Nicht-
Antigenen unterscheiden kann. Alle diese
Stoffe stellen Reize für die Zelle dar und
regen durch ihre parenterale Einverlei¬
bung eine augenblicklich in Gang befind-
Juli Die Therapie der Gegenwart 1921 ' 277
liehe Aritikörperbildung an. Je nach der
Resistenz des Körpers können diese Reize
auch Schaden stiften, und praktisch ist
diese Frage daher ein Dosierungsproblem.
Nun könnte man annehmen, daß mit den
Friedmannbacillen kein wirkliches Tuber¬
kuloseantigen, sondern ein unspecifisches
Antigen injiziert wird. Im Körper ist
damit ein Herd angelegt, aus dem durch
Zerfall der saprophytischen Bakterien
dauernd Stoffe frei werden, die einen Reiz
auf die Zelle ausüben und damit eine Anti¬
körperbildung gegen diese Stoffe veran¬
lassen. Gleichzeitig wird die Zelle ver¬
anlaßt, auch mehr Abwehrstoffe gegen
die Tuberkulose zu produzieren. Als Vor¬
zug des Friedmannantigens könnte man
annehmen, daß es ein lebendes Antigen
ist, daß diese Bakterien für den mensch¬
lichen Körper so-gut wie avirulent sind,
daß sie mit ihrer längeren Lebensdauer
und damit länger dauernden Produktion
von Zerfallsprodukten längere Reizwir¬
kung ausüben. Das Infiltrat, das Wochen
und Monate lang bestehen kann, zeigt eine
Reaktion des Körpers an, ein Wachstum
der säurefesten Stäbchen findet statt und
zu gleicher Zeit ein Zerfall durch die
reaktive Tätigkeit des Körpers. Daß der
Reiz, der die Zelle trifft, sie auch außer
der Antikörperbildung gegen die säure¬
festen Bacillen zur Produktion von Ab¬
wehrstoffen gegen eine bestehende Tuber¬
kulose veranlaßt, ist durchaus wahr¬
scheinlich. Ist die Zelle nicht mehr fähig,
Antikörper zu bilden, besteht sogenannte
,,negative Anergie'*, ' so können auch
geringe Reize schädliche Wirkung haben
und Fortschreiten der Tuberkulose be¬
günstigen. Zweifelhaft erscheint es, ob
es möglich ist, mit Friedmannbacillen den
Säugling vor Tuberkuloseinfektion zu
schützen unter der erörterten Voraus¬
setzung der Wirkungsweise. Zur Stützung
dieser Hypothese durch klinische Er¬
fahrung gilt es festzustellen, ob auch
andere saprophytische, säurefeste, für den
Menschen unschädliche Stäbchen ähn¬
liche oder gleiche Wirkung haben, die
ebenfalls so lange im Körper als Depot
liegen bleiben und längere Zeit antigen¬
bildend sind, und ferner zu untersuchen,
ob nicht auch andere chronisch sich hin¬
ziehende Infektionen durch Friedmannr
bacillen zu beeinflussen sind.
(M. m. W. 1921, Nr. 15.) Feuerhack.
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Aus der inneren Abteilung des St. Vincenzbanses zu Köln (Chefarzt: Prof. Dr. Hnismans).
Das neue Apyron, Magnesium acetylosalicylicum.
Von Helnr, Fischer.
Als Ersatzmittel für Aspirin wurde
vor einigen Jahren von Johann A. Wül¬
fing (Berlin) ein Präparat hergestellt,
bei dem die Acetylsalicylsäure an Lithium
gebunden war. Unter dem Namen
Apyron kam dies Medikament in den
Handel. Neuerdings hat nun dieselbe
Fabrik eine Verbesserung vorgenommen,
indem sie das Lithium durch Magnesium
ersetzte. Das Magnesium acetylosali^yli-
cum hat den Namen Apyron behalten.
Es setzt sich zusammen aus 93,8 % Acetyl¬
salicylsäure und 6,2 % Magnesium. In
betreff des Acetylsalicylsäuregehaltes
unterscheidet es sich von dem Lithium
acetylosalicylicum, das 96,26% Acetyl¬
salicylsäure enthielt, nur wenig. Das neue
Apyron kommt in der gleichen Form wie
das frühere als Tabletten zu 0,5 g und als
Pulver in Ampullen zu 1,0 g, letzteres zur
intramuskulären und subcutanen Injek¬
tion, in Gebrauch.'
Bei der chemischen Nachprüfung des Apyrons
wurde zuerst festgestellt, ob das Präparat noch
freie Säure enthielte oder völlig neutral reagiere.
Zu diesem Zweck wurden zwei Tabletten oder
eine Ampulle in ein Meßglas mit 50 ccm destil¬
liertem Wasser gebracht. Das Medikament löste
sich in dieser Wassermenge restlos auf. Nach Zu¬
satz von Phenolphthalein wurde dann die Lösung
mit Vio n NaOH titriert. Bei Apyron in Tabletten
wies nur die erste Sendung geringe Spuren von
freier Säure auf. Bei den späteren Proben färbte
sich die Lösung schon beim Zusatz des Indikators
schwach rosa. Ein Tropfen NaOH genügte, um
eine deutliche Ratfärbung zu bewirken. Die
Apyrontabletten waren also ein völlig neutrales
Pulver. Auch nachdem die Tabletten 14 Tage
frei gelegen hatten, war keine Säure nachzuweisen.
Anders war das Ergebnis bei Apyron in Ampullen.
Bei wiederholten Untersuchungen von verschie¬
denen Sendungen ergab sich immer ein konstanter
Wert von freier Säure. Eine Rotfärbung trat stets
erst nach Zusatz von 0,6 ccm Vio n NaOH auf.
Es handelte sich hier um minimale Mengen von
Acetylsalicylsäure, die durch das Magnesium nicht
gebunden waren. Diese Spuren von Säure sind
aber für die Anwendung des Präparates völlig be¬
langlos. Nie trat bei den intramuskulären Ein¬
spritzungen außer einem geringen Schmerz, durch
den. Druck der Flüssigkeit im Gewebe hervor¬
gerufen, eine Hautrötung oder sonst ein Zeichen
einer örtlichen Reizung auf. Daß die Spuren von
Säure keine freie- Salicylsäure. darstellten,-ergab
2 , 1 § * . Die, Therapie der Gegenwart 1921 Juli
eine Probe mit Eisenchlorid. - Bei Zusatz eines
Tropfens Eisenchlofid zu einer Apyronlösung trat
ein fleischfarbener Niederschlag von acetylsalicyl-
saurem. Eisen aüf. Eine Violettfärb'ung, wie sie
charakte/istisch für Salicylsäure ist, stellte sich
nicht ein.
Um nun die Vorgänge bei einer Medikation
per OS zu verfolgen, wurde die Einwirkung des
Magensaftes auf eine Apyronlösung 1,0: 50,0 fest¬
gestellt. Die.gleiche Menge filtrierten Magensaftes,
dessen Säureverhältnisse freie Salzsäure 27 , Ge-
samtacidität 47 waren, wurde mit ebensoviel
Apyronlösung vermischt. Die sofortige Probe mit
Eisenchlorid ergab nur acetylsalicylsaures Eisen.
Die Lösung wurde jetzt in einen Thermostaten
von • Körpertemperatur gebracht.' Nach fünf
Minuten trat bei einer zweiten Untersuchung
neben dem fleischfarbenen Niederschlag auch eine
geringe Violettbraunfärbung auf. Nach zehn
Minuten sah man nur diese violette Farbe. Bei
einem zweiten Magensaft von der Acidität 5:18
konnte dasselbe beobachtet werden. Da der Ge¬
danke nahe lag, die freie Salzsäure bewirke die
Zersetzung des Apyrons, wurde die gleiche Ver¬
suchsanordnung mit Magensaft ohne freie Salz¬
säure vorgenommen. In zwei Fällen, bei einem
Magensaft von der Acidität 0:15 und einem 0: 20,
trat noch nach 30 Minuten keine Violett¬
färbung auf.'
Nach diesem Ergebnis wurde der Einfluß der
Salzsäure auf Apyron festgestellt. Bei Zusatz von
ein paar Tropfen Salzsäure zu einer konzentrierten
Apyronlösung 1,5 :30,0 sah man einen feinkristalli¬
sierten weißen Niederschlag sich entwickeln. Bei
Schütteln der Flüssigkeit oder Schlagen mit einem
Glasstab wurde die Aiisfällung sehr lebhaft. Dieses
Pulver wurde abfiltriert und zweimal mit destil¬
liertem Wasser ausgewaschen. Um nun nachzu¬
weisen, ob dies Pulver Acetylsalicylsäure oder
Salicylsäure därstelle, wurden zwei Proben in ein
Reagenzglas gebracht. In das erste Röhrchen
wurde nur Wasser", in das zweite etwas Wasser
und Alkohol gegossen. Im ersten Glas bildete sich
eine Aufschwemmung, während sich das Pulver
in der alkoholischen Lösung glatt auflöste. Bei
Zusatz von Eisenchlorid trat in beiden Fällen
Violettfärbung ein. Der kristallinische Nieder¬
schlag, der bei Zusatz von Salzsäure ausgefallen
war, erwies.sich also als Salicylsäure. Die Fähig¬
keit, aus einer Apyronlösung Salicylsäure zu bilden,
besaß nun die Salzsäure nicht allein, auch Schwefel¬
säure und Phosphorsäure vermöchten das gleiche.
Zum vollkommenen Beweis, daß die Salzsäure im
Magen Salicylsäure abspalten kann, fehlte nun
noch ein Versuch. Es mußte untersucht werden,
ob die Salzsäure in so geringen Mengen, wie sie
sich im Magensaft findet, imstande ist, Salicyl¬
säure zu bilden. Es wurde deshalb eine so dünne
Lösung hergestellt, daß 10 ccm bei Zusatz von
2,0 Vio n NaOH einen Farbenumschlag gaben. Die
Lösung überstieg also, die normale Acidität des
Magensaftes nicht. Die Untersuchung verlief in
derselben Weise, wie bei den Prüfungen des Magen¬
saftes. Bei Zusatz von Eisenchlorid sah man nach
fünf Minuten einen fleischfarbigen Niederschlag
neben einer violetten Färbung. Nach zehn Minuten
war nur noch eine Violettfärbung zu erkennen.
Das Resultat stimmte also genau mit dem Er¬
gebnis überein, das die Versuche mit Magensaft
gezeitigt hatten.
Man würde aber fehlgehen, wenn man auf
Grund dieser chemischen Nachprüfungen Be¬
fürchtungen wegen der Bekömmlichkeit des Prä¬
parates. hegen würde. Alle Patienten, auch die¬
jenigen, die Apyron in größeren iVlengen längere
Zeit hindurch erhielten, hatten keinerlei Magen¬
beschwerden. Eine Erklärung hierfür kann
die schnelle Resorption bieten. Schon 15 bis
20 Minuten nach der Apyrongabe wurde die aus¬
geschiedene Salicylsäure im Harn nachgewiesen.
Immerhin ist aber die Möglichkeit nicht ausge¬
schlossen, daß' es auch einmal zu einer Reizung
des Magens kommt, besonders wenn der Patient
an einer Hyperacidität leidet. In einem solchen
Falle empfiehlt es sich, vor der Apyrongabe
Natrium bicarbonicum zu verordnen oder das Prä¬
parat! n Milch oder Mineralwasser gelöst zu geben.
Sollte es aber doch nicht vertragen werden, so
bietet sich noch immer durch die Wasserlöslich¬
keit des Apyrons die Möglichkeit einer subcutanen
oder intramuskulären Injektion.
Was nun die therapeutische Wirksam¬
keit des Apyrons anbetrifft, so steht sie
in keinem Punkte der Acetylsalicylsäure
nach. Bei einem Fall von akutem Gelenk¬
rheumatismus war am folgenden Tage die
Temperatur schon zur Norm abgesunken,
auch die Schwellungen der Gelenke sowie
die Schmerzen hatten wesentlich nach¬
gelassen. Nach 20 Tagen war der Patient
völlig beschwerdefrei. Er hatte dreimal
täglich zwei Tabletten sowie täglich ein¬
mal im Anschluß an eine Apyrongabe
eine halbe Stunde lang Heißluftkasten
erhalten. Dieselbe Therapie wurde auch
bei Patienten m.it chronisch recidivieren-
dem Gelenkrheumatismus angewandt.
Alle Patienten bekundeten, daß schon
kurz nach der Einnahme des Apyrons die
Schmerzen nachließen, um 3—4 Stunden
lang völlig zu schwinden. Die gute anti¬
neuralgische Wirkung konnte bei ver¬
schiedenen Patienten mit Occipital- und
Trigeminusneuralgie beobachtet werden.
Die Kopfschmerzen ließen in kürzester
Zeit nach. Selbst veraltete Fälle wiesen
einen guten Heilerfolg auf.
Eine Krankheit muß besonders her¬
vorgehoben werden, bei der mit Apyron
auffallend gute Erfolge erzielt wurden.
Es war dies die Ischias. Diese Patienten
erhielten keine Tabletten, sondern zwei¬
mal täglich eine Injektion in den Gesä߬
muskel. Hierfür wurde 1,0 g Apyron in
3—5 ccm sterilem Wasser aufgelöst. Täg¬
lich bekamen die Kranken nach einer
solchen Apyrongabe eine halbe Stunde
lang Heißluftkasten. Selbst sehr heftige
■ Schmerzen ließen gleich nach und die
Heilung schritt schnell voran. Ein Patient,
der vor Schmerzen nicht im Bett liegen
konnte, war schon nach fünf Tagen bei
ruhiger Lage schmerzfrei. Nach weiteren
14 Tagen konnte Patient schon das Bett
verlassen. Bemerkenswert war, daß eine
vorübergehende Apyrongabe in Tabletten
bei weitem nicht so wirksam empfunden
wurde, wie die Injektion. Nach einer Ein-
Juli ' Die* Therapie-der OegeriwM. 1901 .. . ....... _-.:^79
Spritzung waren die Schmerzen’ 4—6 |
Stunden lang fast völlig geschwunden.
Durchschnittlich waren die Kranken mit
erst kürzlich aufgetretener Ischias in
wenigen Tagen wieder beschwerdefrei, bei
chronischer Ischias dauerte die Heilung
3—4.Wochen. Nur ein Patient, der schon
seit einem Jahr an Ischias litt, und- bei
dem alle Mittel erschöpft waren, wurde
zwar so weit gebessert, daß er umherging.
Eine völlige Heilung War aber nicht zu
erzielen.
Unangenehme Nebenerscheinungen,
wie Herzbeschwerden, Ohrensausen,
Magenkatarrh oder Nierenschädigungen
konntea in keinem Falle beobachtet wer¬
den. Alle Patienten hoben clen\ ange¬
nehmen, schwach bitteren Geschmack des
Präparates hervor und nahmen daher
das Apyron lieber als Aspirin., Zusammen¬
fassend läßt sich sagen, daß das. neiie
Apyron ein gut lösliches, leicht verdau¬
liches Salicylpräparat ist, das in seiner
therapeutischen Wirkung der Acetylsali¬
cylsäure gleichsteht,, diese aber in der
Behandlung der Ischiaserkrankung noch
übertrifft Einen besonderen Vorteil bietet
die Möglichkeit der Injektion, da man es
hierdurch auch den Patienten mit emp¬
findlichem Magen, geben kann.
Osteomalade — Behandlung mit Asthmolysin — klinische Heilung,
Von Dr. Walther Blumenthal, Coblenz.
Die Seltenheit der Erkrankung, auf
der anderen Seite die prompte Wirkung
der Behandlung mögen die Veröffent¬
lichung eines Einzelfalles entschuldigen.
Frau H., 50 Jahre alt. Fünf Kinder, davon
zwei klein gestorben. Eine Fehlgeburt. Seit
etwa zehn Jahren schießende Schmerzen in den'
Beinen. Kann seit vier Jahren kaum mehr
gehen, ist seit etwa einem Jahre ständig bett¬
lägerig. Rücken wurde krumm, Gestalt kleiner.
Am rechten Unterarm schmerzhafte Verdickung,
die für gichtisch gehalten wird. Beine können
in der Hüfte nicht gestreckt werden. Menfcs
stark gewesen, seit einem Jahr Menopause.
Befund: Typische, ziemlich vorgeschrittene
Osteomalacie mit federndem Brustbein, Karten¬
herzbecken, schlecht geheilter Spontanfraktur
der rechten Elle. Unterschenkel federn, ih der
Adduktorenmuskulatur schmerzhafte Spasmen.
Streckung des Beines in der Hüfte, auch passiv,
wegen großer Schmerzhaftigkeit und Spannung
unmöglich. Allgemeinzustand schlecht, Anämie,
Weinerlichkeit, Willensschwäche.
Konzil mit Frauenarzt (Dr. Kreisch in
Coblenz): Operative Kastration in Rücksicht auf
den schlechten Allgemeinzustand abzulehnen.
Röntgenkastration unsicher, da man bei dem
verbogenen Becken nicht weiß, wo die Ovarien
liegen. Außerdem wären bei der erheblichen
Schwächung der Widerstandsfähigkeit Strahlen¬
schädigungen zu fürchten. Versuch mit Organo¬
therapie erscheint angebracht. Der Konsiliarius
schlug Pituglandol vor. Ich war dafür, das sonst
gegen Asthma viel verwandte Asthmolysin
(Weiß-Kade) zu wählen, ein Gemisch von Hypo¬
physenextrakt mit Suprarenin. Die Gründe
waren folgende: zunächst waren mit beiden
Komponenten des Präparats früher bei Osteo¬
malacie Heilerfolge erzielt. Dann sprach aber
stärk auch ein rein wirtschaftliches Moment mit.
Zwölf Ampullen eines reinen Hypophysenpräpa¬
rats kosteten damals je nach Herkunft etwa
100 bis 170 M>.; die gleiche Menge Asthmolysin
war für 16,50 M. erhältlich! *
Therapie: Täglich eine Ampulle Asthmolysin
subcutan, daneben Phosphorleberthran, pflajnz-
liche Kost, später milchsaurer Kalk. *
Der Erfolg war verblüffend. Beginn der Be¬
handlung am 25. Februar 1921. 1. März: Schmer¬
zen in den Beinen geringer, Beweglichkeit größer.
7. März: Keine Schmerzen mehr in den Beinen.
Diese können spontan gestreckt werden. Die
Adduktorenspasmen sind geschwunden. Psycho¬
gene Momente kommen hierfür nicht in Betracht,
da die Kranke nicht wußte, daß diese Spasrrien
zum Krankheitsbilde gehörten und da absichtlich
niemand danach gefragt hatte. 12. März: Steht
allein an einem^ Stuhl, was sie seit über einem
Jahre nicht gekonnt hatte. 4. April 21 (nach
38 Injektionen): Geht gestützt gut, auch einige
Schritte allein. Knochen überall vollkommen
fest, Kreuzbein tragfähig, keine Schmerzen beim
Gegen oder Stehen.
Die Kranke wäre binnen kurzem imstande
gewesen, allein zu stehen und länger zu gehen,
wenn ihre große Ängstlichkeit und Energielosig¬
keit dem nicht im Wege gestanden hätte. Unter
Einflüssen, die ich nicht zu beurteilen vermag,
hatte sie zudem heimlich ab 4. April 1921 die von
einer Krankenschwester gemachten Einspritzun¬
gen inhibiert. Am 19, April 1921, wo ich sie zu¬
letzt sah, war der klinische Befund wie am
4. April 1921, besonders waren keine Schmerzen
da. Fortschritte im Gehen waren nicht zu ver¬
zeichnen, ärztlich geleitete Geh Übungen stießen
auf heftigen Widerstand bei der Kranken. Ich
legte daraufhin die Behandlung’ nieder.
über Erfahrungen mit Milanol bei Hautkrankheiten.
Von Dr. Fritz M. Meyer und cand. med. Franz Karl Meyer.
Durch die Fortschritte, die in der
Behandlung von Hautkrankheiten durch
die Ausbildung der Strahlenbehandlung
erzielt worden sind, ist die Zahl derjenigen
Dermatosen, bei denen die Medikamenta-
tion im Vordergründe der therapeutischen
Maßnahmen steht, erheblich eingeengt
worden. Aber abgesehen davon,, daß
viele Dermatologen und vor allem Zähl-
reiche praktische Ärzte aus den ver-
^2^ ’ Die Therapie der öeg^wart 1921 \ ;JuIi
schiedensten Gründen nicht in der Lage
sind, in geeigneten Fällen ihre Kranken
der Strahlenbehandlung zuzuführen, gibt
es doch noch eine Reihe von Haut¬
krankheiten, bei denen die Auswahl der
richtigen Salbe von nicht zu unter¬
schätzender Bedeutung ist. Überdies
wird man auch dann, wenn man Röntgen¬
oder Quarzlichtstrahlen anwendet, sei es
als Adjuvans, sei es aus hygienischen
Gründen, die physikalische Therapie mit
einer Salbenapplikation verbinden.
Die unleugbare Tatsache, daß zahl¬
reiche, nicht fachärztlich ausgebildete
Ärzte bei der Rezeptur einer Salbe sich
nicht von bestimmten, auf die betreffende
Hautkrankheit gerichteten Gedankengän¬
gen leiten lassen, sondern, ganz, wenige
Salben, geradezu in einem Turnus wieder¬
kehrend, verordnen, läßt es wünschens-
Y^ert erscheinen, wenigstens über eine
Salbe zu verfügen, die in vielen Fällen
Nutzen zu schaffen vermag und selbst
da, wo sie' an und für sich nicht indiziert
ist, infolge ihrer chemischen Struktur
keine Schädigungen, insbesondere in der
Fdrm unerwünschter Irritationen, hervor-
ruft.
Eine solche Salbe hat vor mehreren
Monaten die Firma Athenstaedt u. Re-
deker, Hemelingen uns zu Versuchs¬
zwecken zur Verfügung gestellt. Der
wirksame Körper in dieser Salbe ist das
Milanol, das basische trichlorbutylmalon-
saure Wismut. Es ist ein weißes, wasser¬
unlösliches Pulver, in Chloroform und
vegetabilischen Ölen löslich. Wir haben
die Salbe mit 2, 5 und 10% Milanol an¬
gewendet. Da wir uns sehr bald über-
^zeugten, daß die Salbe auch in höherer
Konzentration, selbst bei empfindlichster
Haut, keine Reizungen hervorruft,
andererseits die durch die 10% Salbe
erzielten Resultate nicht besser waren
als diejenigen, welche die 5% Salbe
zeitigte, so haben wir sehr bald nur die*
letztere Form für unsere Versuchsreihen
gewählt.
Das große Quantum, das uns im
Laufe der Zeit zur Verfügung stand, er¬
möglichte uns, an sechzig Kranken unsere
Erfahrungen zu sammeln, die sich bei
Niederschrift dieser Arbeit auf vier Mona¬
te erstrecken. Um die Verhältnisse der
täglichen Praxis völlig nachzuahmen, ha¬
ben wir uns nicht nur auf die ausschlie߬
liche Verordnung von ,,Milanol“ be¬
schränkt, sondern da, wo es angebracht
erschien, ^^Milanol“ mit anderen thera¬
peutischen Vorschriften beziehungsweise
der Strahlenbehandlung kombiniert. Be¬
züglich der Erfolge steht im Vorder¬
gründe das. Ekzem, und zwar im akuten
wie im subakuten und chronischen Sta¬
dium. Bei dieser Erkrankung decken sich
unsere Erfahrungen mit denen, die Taen-
zer in der Derm. Wschr., Jahrgang 1920,
bekanntgegeben hat. Nicht nur, daß
die Kranken regelmäßig, ganz gleich, um
welche Form des Ekzem es sich handelt,
selbst wenn sie in Konnex mit Wasser
und Seife bleiben müssen, sehr bald einen
deutlichen Rückgang des Juckreizes und
des Spannungsgefühles feststellen, nein,
auch der objektive Befund zeigt auf¬
fallenden Rückgang sämtlicher Symp¬
tome: Abblassen der Entzündungser¬
scheinungen, Versiegen der Sekretion,
Schließung vorhandener Risse usw. Es
gelang uns, viele Fälle von Ekzem in
wenigen Wochen zur Heilung zu bringen,
ohne daß eine Strahlenbehandlung Platz
greifen mußte.
Ein weiteres Indikationsgebiet stellen
die starken Hautreizungen dar, die fast
regelmäßig im Anschluß an energische
Krätzekuren auftreten und wegen des
heftigen Juckreizes den Kranken be¬
trächtliche Beschwerden machen. Auch
hier sehr bald ein völliges Verschwinden
aller Erscheinungen. Sehr günstige Re¬
sultate erzielten wir auch bei der gerade
in letzter Zeit besonders häufigen Im¬
petigo contagiosa, vor allem bei der
schweren und ausgedehnten Form. Wir
haben mehrfach feststellen können, daß
da, wo die sonst meist vorzügliche 5%
weiße Präziitatsalbe nicht prompt genug
die Herde zum Schwinden brachte, auf
Anwendung von ,,Milanol“ das Bild sich
änderte und die Krankheit schnell be¬
seitigt wurde.
Wenn wir noch kurz erwähnen, daß
bei vielen Pyodermien, kleinen Furunkeln
und bei nicht sehr ausgedehnten Unter¬
schenkelgeschwüren die Salbe einen gün¬
stigen Önfluß ausübte, so ist damit
natürlich noch nicht der Anwendungs¬
kreis geschlossen, sondern wir sind über¬
zeugt, daß bei weiterer Nachprüfung,
zu der unsere Veröffentlichung anregen
möge, noch manche Dermatose erfolgreich
reagieren wird. Jedenfalls steht für uns
schon heute fest, daß das „Milanol“ in
der Therapie der Hautkrankheiten eine
wesentliche Bereicherung darstellt.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berlin W57,
Iledrcat lA. 5 £P 2 9 ^921
Die Therapie der Qeg^enwart
'herausgegeben von
62. Jahrgang Geh. Med.-Rat Prof. Dr. 0. Klemperer
Neueste Folge; XXIII. Jahrg. BERLIN
8. Heft
August 1921
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Verlag vonUHBAN & SCJblWARZENBBBG in Berlin N 24 und Wienl
Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementspreis in Deutschland und
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Diesem Heft liegt je ein Rundschreiben der Firma Kalle & Co. A.-G., Biebrich am Rhein, betr.: „Bioferrin“ und verschiedene
andere Präparate, und der Firma Q. Pohl, Danzig-Langfuhr und Berlin, betr.: „Mutaflor“ bei.
Die Therapie der Gegenwart
1921
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
^ in Berlin.
August
Nachdruck verboten.
Aus der Ghirnrgisclieu Klinik zu München (Direktor: Geh. Bat Prof. Dr. F. Sauerhruch).
Die chirurgische Behandlung der Lungentuberkulose i).
Von Dr. W. Jehn, Oberarzt der Klinik.
M. H.! Die günstige Wirkung ^es Ex¬
sudates der Pleura auf gewisse Formen
einseitiger Lungentuberkulose ist bekannt.
Sie gab den Anstoß zu operativen Me¬
thoden der Tuberkulosebehandlung: dem
therapeutischen Pneumothorax sowie der
extrapleuralen Thorakoplastik.
Beide Methoden verfolgen das gleiche
Ziel, durch ,,Kollaps“ und Ruhigstellung
der erkrankten Lunge die anatomischen
Verhältnisse und biologischen Vorgänge
in ihr so zu beeinflussen, daß schließlich
die Tuberkulose ausheilt. Die Erfah¬
rungen vergangener Jahre haben gezeigt,
daß in der Tat durch diese mechanische
Beeinflussung der Lunge bestimmte, vor¬
wiegend cirrhotische Formten der Tuber¬
kulose mit und ohne Kavernen ausheilen
können. Das beweisen die Arbeiten aus
der Tuberkuloseliteratur über den the¬
rapeutischen Pneumothorax und die ex¬
trapleurale Thorakoplastik.
Heute möchte ich Ihnen in kurzen
Zügen über die großen Erfahrungen un¬
serer Klinik berichten. Meinen Ausfüh¬
rungen liegen zugrunde die Erfahrungen
und Beobachtungen Sauerbruchs an
rund 450 Kranken, die von ihm in den
Jahren 1907 bis 1921 an den Kliniken zu
Marburg, Zürich, Greifswald, München,
sowie in den Sanatorien zu Davos, Arosa,
St. Blasien, Ambri Piotta, St. Remo und
Bischofsgrün operiert wurden. Dabei muß
betont werden, daß das Material vom
Jahre 1907bis 1918 —im ganzen 380 Fälle
— abgeschlossen ist, während das Mate¬
rial der letzten 2^4 Jahre aus unserer
Münchener Zeit — im ganzen 70 Fälle —
noch nicht als definitiv abgeschlossen an¬
gesehen werden kann.
Von vornherein muß dem Iirtum ent¬
gegengetreten werden, daß die chirur-
Vorgetragen auf dem 33. Kongreß der
Deutschen Gesellschaft für innere Medizin am
18. April 1921. Da wir leider nicht in der Lage
waren, den Vortrag seiner Bedeutung entsprechend
in unserem Bericht wiederzugeben, bringen wir
ihn jetzt mit gütiger Erlaubnis des Verfassers
zur ausführlichen Publikation.
gische Behandlung der Lungentuberkulose
nur den Patienten begüterter Kreise zu¬
gute kommt. Im Gegenteil, es finden
sich unter unseren Kranken Menschen
aller Volksschichten und Berufsklassen.
Darin liegt die große soziale Bedeutung
dieser operativen Maßnahmen, gerade in
heutigerZeit, wo die Tuberkulose in er¬
schreckender Weise die Gesundheit der
gesamten Nation bedroht.
Hinzu kommt, daß durch die opera¬
tiven Maßnahmen selbst größte Kavernen
der Lunge ausheilen können und somit
einmal das Betreffende Individuum in
relativ kurzer Zeit arbeits- und erwerbs¬
fähig, sodann aber vor allem als ,,Ba¬
zillenträger“ für seine Umgebung aus¬
geschaltet wird. Es liegt auf der Hand,,
daß unsere operativen Eingriffe nur für
einseitige oder vorwiegend einseitige Er¬
krankungen in Frage kommen. Nach
Brunner erfüllen etwa 10%d^r tuberku¬
lösen Lungenerkrankungen in Davos diese
Bedingung. Nehmen wir an, daß in etwa
der Hälfte dieser Fälle ein wirksamer thera¬
peutischer Pneumothorax sich anlcgen
läßt, so bleiben für eigentlich chirurgische
Eingriffe noch etwa 5% übrig. Scheinbar
eine kleine Zahl, die jedoch im Hinblick
auf Hunderttausende von Lungenkranken
in Deutschland zu enormer Größe an¬
wächst. Für einen chirurgischen Eingriff
kommen vor allem die chronisch fibrösen
Formen der Lungentuberkulose mit und
ohne Kavernen in Frage. Infolge der
natürlichen HeilungsVorgänge bei diesen
Formen kommt es zu ausgedehnter Binde-
gewebsentwicklung vom peribronchialen,
perivaskulären und subpleuralen Binde¬
gewebe aus. Die Folge davon ist eine
gewaltige Schrumpfung der erkrankten
Lunge. Es projiziert sich bei diesen
Kranken der Charakter ihres Leidens ge¬
wissermaßen auf ihre Brustwand, indem
die erkrankte Seite sich einzieht, die
Interkostalräume sich verkleinern, das
Zwerchfell in die Höhe gezogen und das
Mediastinum nach der erkrankten Seite
‘ hin verzogen wird. Im Rcntgcnbilde
36
282
Die Therapie der Gegenwart 1921
August
sehen wir daher ein Zusammenrücken der
Rippen, eine starke Verziehung des Mittel¬
feldes und einen Hochstand des Zwerch¬
fells auf der kranken Seite. Daneben
sehen wir das Lungenfeld je nach dem
Grade der Erkrankung verdichtet, bei
kavernösen Formen der Tuberkulose sich
scharf abgrenzend die Reservoire des
Sputums, die Kavernen. Klinisch sind
diese Fälle dadurch charakterisiert, daß
sie einen äußerst chronischen Verlauf
nehmen. Je nach Größe und Zahl der
Kavernen wechseln die Sputummengen,
von Zeit zu Zeit weisen unerwartet auf¬
tretende Hämoptysen auf den langsam
fortschreitenden Zerfall des Lungenge¬
webes hin. Fast alle unsere Kranken
haben, ehe sic einem chirurgischen Ein¬
griff unterzogen werden, längerdauernde
Kuren in Sanatorien una Heilstätten
durchgeinacht, ohne daß es zu einer de¬
finitiven Ausheilung ihrer Tuberkulose
gekommen ist. Es ist daher unsere Auf¬
gabe, dieser Schrumpfungstendenz der
Lunge entgegenzukommen und durch
Entspannung des Lungengewebes auch
größeren Höhlen die Möglichkeit zu geben,
‘ auszuheilen. Rein einseitige Tuberkulosen
vorgeschrittenen Grades kommen kaum
in unsere Behandlung. Geringgradige alte
Prozesse der anderen Seite stellen keine
Gegenindikation. Sehr wichtig ist die
Frage, oK diese Prozesse wirklich inaktiv
sind. Hier sind wir auf das Urteil aller
Fachärzte für Tuberkulose angewiesen.
Ein wer tvo lies Un terstützungsm om en t
stellt die von Stürtz angegebene Phreni¬
kotomie dar. Sie wird nach Sauer¬
bruchs Vorschlag in unsicheren Fällen
als ,,Funktionsprüfung“ bei der Ein¬
leitung der Behandlung ausgeführt. Oft
schon genügt eine geringe Einengung der
kranken Seite durch die Phrenikotomie
und damit eine unbedeutende Mehrbe¬
lastung der sogenannten gesunden Seite,
um einen ruhenden Prozeß, wenn auch
nur für kurze Zeit, zum Aufflackern zu
bringen. Tritt Fieber auf oder ändert
sich der physikalische Befund, so er¬
scheint der Fall für eine weitere operative
Behandlung ungeeignet. In anderen Fäl¬
len kann schon nach der Phrenikotomie
•eine wesentliche Besserung im lokalen und
Allgemeinbefund des Patienten auftreten,
so daß damit die allgemeinen Bedingungen
für den Patienten sich bessern. Wir haben
^.Iso in der Phrenikotomie eine Methode
der operatiyen Behandlung der Tuber¬
kulose kennengelernt, die einmal ein
wichtiger Indikator sein kann für das
Verhalten der anderen Seite, sodann aber
auch den Prozeß auf der kranken Seite
leidlich günstig beeinflussen kann. Sie
kommt daher für uns nur als probatorische
oder auch als Unterstützungsoperation in
Frage, eine selbständige Bedeutung hat
sie nicht.
Dagegen stehen uns zur Einengung
und Ruhigstellung der erkrankten Seite
verschiedene Verfahren- zur Verfügung:
der therapeutische Pneumothorax sowie
die extrapleurale Thorakoplastik. Bei
freiem Pleuraspalt ist unbestritten der
therapeutische Pneumothorax das' Ver¬
fahren der Wahl. Auf seine große Be¬
deutung" für die Ausheilung der Tuber¬
kulose hinzLiw’eisen erübrigt sich. Sie ist
fast allgemein anerkannt. Dagegen darf
nicht verschwiegen werden, daß dem Ver¬
fahren eine Reihe von Komplikationen
und Gefahren anhaften, die vor allem,
wenn ein Pneumothorax nicht nach ab¬
soluter Indikation angelegt wui^de, für
den Kränken verhängnisvoll werden
können.
Dem einzelnen Spezialisten für die
Tuberkulosebehandlung begegnen diese
schweren Komplikationen vielleicht nicht
so häufig, er verfügt meist über kein allzu
großes Material an Beobachtungen. Selbst
großen Sanatorien entgehen vielfach diese
Fälle. Dagegen sind sie leider in relativ
großer Anzahl in den chirurgischen Ab¬
teilungen der einzelnen Krankenhäuser
an zu treffen.
Sehen wir ab von den leicht zu ver¬
meidenden Zwischenfällen beim Anlegen
eines Pneumothorax: dem Pleurareflex,
dem interstitiellen Emphysem der Lunge,
der Luftembolie sowie der Überdosierung
des Druckes-, unter dem der Pneumo¬
thorax angelegt wird, so sind es die
Exsudate, welche sich in einer großen
Anzahl der Fälle früher und später im
Pneumothoraxraum entwickeln und so
verhängnisvoll werden können. Sie treten
in fast 50 % -aller Pneumothoraxfälle auf
und haben'verschiedene Bedeutung. Wir
kennen sie als seröse Ergüsse, als eitrige
rein tuberkulöse Exsudate ohne Bei¬
mengung von Mischinfekten, sowie vor
allem als die verschiedenste Form der
bland oder schwer mischinfizierten Em¬
pyeme. Allerr gemeinsam ist, daß sie
unter Umständen äußerst schnell sich
entwickeln können, daß somit die Druck¬
verhältnisse im Pneumothoraxraum er¬
heblich hohe positive Werte erreichen
und somit rasch eine lebensbedrohende
Mediastinalverdrängung auftreten kann.
283
August Die Theriäpie der Gegenwart 1921
Die einzelnen Formen haben daneben je
nach der Art ihrer Entstehung sowie vor
allem nach Gehalt an Bakterien eine
besondere Bedeutung. Sei es nun, daß
durch Lösen von Adhäsionen, durch
Durchbruch von Kavernen in denPneumo-
thoraxraum, durch Infektion von der
Lunge aus auf dem Lymphwege sich
bland oder schwer infizierte Ergösse im
Pneum'othoraxraume bilden, so ändert
sich mit einem Schlage die Gesamt¬
situation für das betreffende Individuum.
Die schwersten Formen sind entschieden
diejenigen, bei denen es zum Durchbruch
von Kavernen in die Pleura kommt; sie
bilden das Bild der allerschwersten Misch¬
infektion. Diese Patienten gehen in der
Mehrzahl der Fälle zugrunde. Auch der Ver¬
such, sie operativ zu retten, schlägt meist
fehl. Wir verfügen über eine große An¬
zahl von Beobachtungen eines von anderer
Seite angelegtem Pneumothorax, bei
denen diese Komplikationen und in der
Mehrzahl der Fälle der Tod eintrat. Auf
die Behandlung dieser einzelnen Exsudat¬
formen kann ich an dieser Stelle nicht
eingehen, sie ist von Brauer und Speng¬
ler, sowie von Sauerbruch, Jehn und
V. Muralt niedergelegt worden. Wich¬
tiger erscheint mir darauf hinzuweisen,
daß in vielen Fällen diese Exsudate eben
dann entstehen, wenn von nicht genügend
geschulter Seite Pneumothoraxversuche
unternommen werden und daß anderer¬
seits eine große Anzahl dieser Exsudate
nicht beobachtet werden, wenn der thera¬
peutische Pneumothorax nur von Sach-
verständ^’gen nach sorgfältiger kritischer
Untersuchung angelegt wird.
Wir haben entschieden an der Hand
eines großen Materiales den Eindruck,
daß in dieser Hinsicht manches geschieht,
das geeignet sein kann den Wert und die
Bedeutung des therapeutischen Pneumo¬
thorax in Mißkredit zu bringen. Unsere
Auffassung ist, daß unter allen Umständen
in gee'gneten Fällen unter sorgfältiger
kritischer Bewertung aller eben be¬
sprochener Momente der therapeutische
Pneumothorax bei freiem Pleuraspalt an¬
zulegen ist. Besteht diese Möglichkeit
infolge partieller oder totaler Verwach¬
sungen der Lunge mit ihrer Pleura
parietalis und pulmonalis nicht, so tritt
die Erwägung an uns heran, durch eine
extrapleuiale Thorakoplastik der Lunge
die Möglichkeit zu geben sich zu retra-
hieren.
Für alle diejenigen Fälle, bei denen
infolge von Verwachsungen über der i
Lungenspitze nur ein partieller Pneumo¬
thorax über dem Unterlappen angelegt
werden kann, ist so vorzugehen, daß über
dem nicht retrahierten Teile der Lunge
eine partielle extrapleurale Thorakoplastik
ausgeführt wird, mit anderen Worten,
daß wir die kombinierte xMethode eines
partiellen therapeutischen Pneumothorax
mit einer Thorakoplastik anwenden. Dieses
Verfahren können wir mit Ranke als
ein Idealverfahren bezeichnen.
In weitaus der größten Zahl der Falle
wird unser Bestreben dahingehen, die
erkrankte Lunge durch eine Totalthorako-
plastik zum Kollaps zu bringen. Klinische
Erfahrungen und Beobachtungen haben
uns gelehrt, daß wir stets bei allen aus¬
gedehnten Brustwandresektionen bei Lun¬
gentuberkulose über dem Unterlappen
zu beginnen haben. Denn bei umgekehr¬
tem Vorgehen ist die Gefahr der Aspi¬
ration außerordentlich groß. Daß die
extrapleurale Thorakoplastik, selbst wenn
sie in großer Ausdehnung ausgeführt wird
nie zu einem so vollständigen Kollaps
der Lunge führt wie der Totalpneumo¬
thorax, ist aus anatomischen Gründen
verständlich. Trotzdem werden selbst
durch partiellen Lungenkollaps die mecha¬
nischen und biologischen Verhältnisse in
der Lunge so beeinflußt, daß wir selbst
bei schwersten Fällen einseitiger Tuber¬
kulose einen guten Erfolg eintreten sehen,
wenn wir sie nach Sauerbruchs Vor¬
schlag als paravertebrale Rippenresektion
äusführen. Es werden 4 bis 8 cm lange
Stücke aus jeder Rippe subperiostal re¬
seziert. Die Operation wird je nach Lage
der Fälle in einer, zwei, gelegentlich auch
mehreren Sitzungen ausgeführt, immer so,
daß über den unteren Thoraxpartien be¬
gonnen wird.
Die einseitige Operation ist gelegent¬
lich ein großer Eingriff. Plötzliche Atem¬
behinderung durch Mediastinalflattern
können unter Umständen in den ersten
Stunden nach der Operation den Tod
des Operierten zur Folge haben. Sie wird
von uns nur in ausgewählten Fällen mit
kräftigem Herzen und möglichst fixiertem
Mittelfell ausgeführt. Weitaus die Mehr¬
zahl aller Fälle wird zweizeitig operiert:
der Eingriff wird so dosiert und der Or¬
ganismus kann so sich leichter an die
neuen mechanischen und biologischen
Veihältnisse anpassen. Während wir
früher ausschließlich in Lokalanästhesie
operierten, führen wir jetzt bei geringen
Sputummengen — bis 30 ccm — die
Operation in Narkose aus. Einige üble
36*
284
Die Therapie der Gegenwart 1921
August X
Zwischenfälle bei Verwendung von.Novo¬
kain haben uns mehr Vorsicht in der An¬
wendung dieses Mittels geboten.
. Wichtig ist, daß diese Operationen
ln größter Geschwindigkeit ausgeführt
werden. Hier sind Minuten gelegentlich
von großer Bedeutung. Bei einiger Übung
gelingt es in 15 bis 20 Minuten die Opera¬
tion aiiszuführen.
Ebenso wichtig ist eine sachgemäße
Nachbehandlung. Eine aufmerksame
sachverständige Pflege sichert den Er¬
folg. Meist tritt nach der Operation für
einige Tage Temperatur bis zu 39® auf.
Üer Puls geht bis 120 Schläge in der
Minute in die Höhe. Die Temperaturen
sind fast typisch und wohl so aufzufassen,
daß es infolge des Lungenkollapses zu
einer Toxinüberschwemmung des Körpers
kommt. Der Hauptwert der* Nachbe¬
handlung ist darauf zu legen, daß die
Operierten vom ersten Tage an genügend
expektorieren. Zur Erleichterung wird
Morphium in großer Dosis gegeben. Es
nimmt die Schmerzen und wirkt so als
Expektorans.
Neben dieser Methode der extra¬
pleuralen Thorakoplastik verfügen wie,
noch über einige Verfahren, die nur als
unterstützende Operationen ausgeführt
werden. Eine praktische Bedeutung.haben
sie unseres Eerachtens als selbständige
Methoden nicht mehr. Über die Phreni¬
kotomie wurde oben bereits das Wesent¬
liche vorgetragen. Wir warnen dringend
vor der intrapleiiralen Pneumolyse zur
Beseitigung von Strängen bei inkomplet¬
tem therapeutischem Pneumothorax. Wir
sahen schwierige Zwischenfälle. Für dieses
Verfahren bietet die oben besprochene
Kombination von Pneumothorax mit
extrapleuraler Thorakoplastik einen vol¬
len und sicheren Ersatz.
Wird bei großen starrwandigen Ka¬
vernen durch die extrapleurale Thorako¬
plastik kein vollständiger Erfolg erzielt,
so kann die extrapleurale Pneurnolyse mit
der Thorakoplastik kombiniert werden.
Sie ist ungefährlich: die Lunge wird nach
Resektion einiger Rippen stumpf vom
Brustkorb losgelöst. Die so entstehende
Höhle kann tamponiert oder der sekun¬
dären Heilung überlassen werden. Auch
können Plomben mit Fett und Paraffin
eingelegt werden. Wegen der Gefahren
dieser Methoden, die darin beruhen, daß
vor allem die Plomben nach außen oder
gar in die Lunge durchbrechen können,
verwenden wir sie nur äußerst selten.
Ebenso reserviert verhalten wir uns
gegenüber der Kaverneneröffnung. Sie
sollte nur vorgenommen werden bei starr¬
wandigen Hohlräumen, welche durch ein¬
fache Thorakoplastik nicht zum Kollaps
gebracht werden können und bei denen
infolge jauchigen Zerfalles ihres Inhaltes
durch Resorption der Allgemeinzustand
schwer geschädigt würde. Nach vorheriger
Rippenresektion wird die Kaverne wie
ein Absceß eröffnet. Etwaige bestehen¬
bleibende Lungen- bzw. Bfonchialfisteln
werden später plastisch verschlossen.
M. H.! Ich'konnte Ihnen in großen
Zügen die Gesichtspunkte schildern, nach
denen in unserer Klinik die'operative
Behandlungder Lungentuberkulose durch¬
geführt wird. Wenn ich jetzt dazu über¬
gehe, Ihnen über unsere Resultate zu
berichten, so betone ich, daß, wie ein¬
gangs erwähnt, nur das Material der
Jahre 1907 bis 1919, im ganzen 380 Fälle,
hier besprochen werden soll. Die Re¬
sultate der folgenden Jahre werden dem¬
nächst von Brunner bekanntgegeben.
Von 380 Kranken wurden 134 = 35%
geheilt. Die Operationsmortalität inner¬
halb der ersten Tage ist gering und beträgt
2%. Größer ist dagegen die Anzahl der
Todesfälle in den ersten Wochen. Sie
beträgt 12®/o. Von den somit übrig¬
bleibenden weiteren 50% verteilen sich
die Verhältnisse so, daß etwa 20 % wesent¬
lich gebessert, weitere 20 % gebessert und
der Rest von 10% nach anfänglichem
Stillstand oder Besserung später ge¬
storben ist.
Der Skepsis und den Bedenken, die
im Anfänge der operativen Behandlung
der Lungenituberkulose entgegengebracht
\vurden, sind jetzt diese Zahlen entgegen¬
zuhalten. Sie’beweisen, daß einmal unsere
anatomischen und klinischen Vorstel-
lungm von der Heilbarkeit der einseitigen
Lungentuberkulose durch operative Ma߬
nahmen richt'g sind, sodann aber, daß
es gelingt, bei richtiger Auswahl der Fälle
mindestens ein Drittel aller Operierten
aus vorher Schwerkranken zu arbeits¬
fähigen Menschen zu machen.
August
Die Therapie der Gegenwart 1921
" 28 ^
Aus der 11. mediziuisclieii Universitätsklinik in München (Direktor: Prof. Fr. Müller).
Psychische Einflüsse auf die
Von <L
Es ist gewiß kein „Rückschritt'*,
wenn in Vergessenheit geratene Kennt¬
nisse der früheren wieder ins Bewußtsein
gehoben werden, um nun im Verein mit
den inzwischen gefundenen Tatsachen
.zu einem tieferen und umfänglicheren
Erfassen der lebendigen Vorgänge zu
führen. Die medizinische Forschung der
letzten Jahrzehnte war mit der Aus¬
wertung von Möglichkeiten, die sich durch
Verfeinerung technischer Hilfsmittel und
die Fortschritte der Nachbarwissenschaf¬
ten boten, derart beschäftigt, daß über
der Fülle der Arbeitsgebiete, und der Ent¬
deckungen manches alttiberkommene ärzt¬
liche Wissen stark in den Hintergrund
gedrängt Wurde; ja, nicht nur dies: Die
Sehweise dieser Epoche war mit der¬
artiger eifriger Einseitigkeit auf ihre Ar¬
beitsmittel eingestellt, daß sie diese für
die einzigen Arbeitsmöglichkeiten, ihre
Ergebnisse für die allein ,,exakten" hielt.
. Wie unter den |roßen Erfolgen der
Virchowschen cellular- und organpatho¬
logischen Betrachtiingsart der Blick für
den Organismus als Ganzes, so versank
im Lichte der zahllosen chemischen und
physikalischen Forschungen das Wissen
ins Dunkel, daß der Mensch — als
Mensch! — dadurch nicht erfaßt wird,
daß man ihn als ein ,,höheres Tier" oder
als chemisch-physikalischen Prozeß allein
betrachtet; das Wissen um die psychi¬
schen Vorgänge, ihre Wechselseitigen Be¬
ziehungen zum Physischen und ihre emi¬
nent wichtige Rolle gerade auch bei allen
krankhaften Prozessen versank.
Es würde den zur Verfügung stehen¬
den Raum weit überschreiten, sollte hier
eine ausführliche Definition dessen ge¬
geben werden, was diese ,,Psyche" ist;
es genügt zu sagen, daß darunter eine
primäre lebendige Kraft verstanden wird,
die zwar ohne greifbare physische Vor¬
gänge nicht gedacht werden kann und
nicht existiert (also nicht etwa der alten
„Lebenskraft" gleichzusetzen ist, welche
man als eine reine Hypothese kausal vor
den Ablauf der lebendigen Prozesse setzen
wollte), die aber ebensowenig aus diesen
chemischen und physikalischen Verände¬
rungen erklärt werden kann. Diese
psychischen Vo/gänge (und ihr physi¬
sches Korrelat) haben in ihrer prinzi¬
piellen Bedeutung neuerlich zuerst die
Psychotherapeuten wieder betont; ge-
menschliche Ma^ensekretion.
L Heyer.
wußt von ihnen und vor allem mit den
resultierenden Möglichkeiten gearbeitet
hat der gute Arzt immer. Die Erfolge des
„alten Practicus", der so oft mit den
ällerneuesten Errungenschaften nichts an¬
zufangen gewußt und doch seinen Pa¬
tienten geholfen hatj beruhen unter an¬
derem auf dem geschickten Erfassen und
oft unbewußten Eingehen auf solche
psychischen Verhältnisseseiner Patienten.
Das Wissen um diese Dinge ist auch von
einsichtigen Wissenschaftlern immer wie¬
der betont worden. So weist Fleiner jn
seiner Arbeit über die Darmerkrankungen
in Kraus-Brugschs Sammelwerk un¬
zählige Male auf die Rolle psychogener
Komplikationen hin und führt Erfolge,
die ihm neuerlich beschieden waren/’auf
seine gewachsene psychotherapeutische
Erfahrung zurück. Aber in breiten Mittel¬
schichten ist es fast Mode geworderi,
solche Anschauungen mit einer Skepsis zu
bedenken, wie sie dem täglichen Markt
chemisch-physikalischer Operationen n icht
entgegengebracht wird.
Daran mag mit Schuld sein^ daß
heutigentages die Kurpfuscher sich — in
phantastischer Manier freilich — der aus
der Suggestibilität, den inneren Bedürf¬
nissen der Kranken, ergebenden Möglich¬
keiten zum Erfolg weitgehend bedienen;
ebenso wie die offizielle Medizin sich
dieser dankbaren Waffen entledigt hat.
Das vollkommen falsche Vorurteil, daß
alle psychogenen Komponenten krank¬
hafter Zustände „hysterisch" seien, trägt
wohl auch viel zu der allgemeinen Ab¬
neigung bei, solche Verhältnisse zu be¬
rücksichtigen und therapeutisch auf dem
psychischen Wege anzugehen. Muß das
aber so sein?
Es kann sich für uns nicht darum
handeln, heute einfach vergangene An¬
schauungen wieder aufzunehmenj son¬
dern im Rahmen unserer heutigen An¬
schauungen müssen Wir streben, jenes
große einstige Wissen — wie es z. B. in
Hufelands immer noch lesenswerten
Werken lebt — in unserer Form wieder
lebendig zu machenj sollte dabei irgend¬
eine herrschende Vorstellung sich als
revisionsbedürftigerweisen, wäre das nicht
zu bedauern 1
Mit den exakten Methoden des Experi¬
ments gilt es zu forschen. So gewonnene-
Resultate werden dann auch dem Arzt
Die Therapie der Gegenwart 1921
August
am Krankenbett helfen können und ihn
lehren, wie oft mit ein paar Worten^
einigen Suggestionen oder richtig ge¬
wählten Anordnungen mehr erreicht wer¬
den kann, als mit vielen und teueren
Medikamenten. Zu diesem Erfolg muß
aber neben dem einfachen seelischen Takt
— -"eine Voraussetzung — das Wissen
kommen. Um dieses ist es noch dürftig
bestellt: Was wissen wir von den Ein¬
wirkungen der psychischen Vorgänge auf
die physiologischen Abläufe und umge¬
kehrt? Hier harrt ein großes Arbeits¬
gebiet noch der Erforschung. Wir wissen,
daß — neben und in Verbindung mit den
endokrinen Drüsen — das vegetative
Nervensystem es ist, in welchem solche
Prozesse großenteils vor sich gehen.
Webers Arbeiten über die Blutverschie-
hungen bei geistigen Vorgängen geben da
bereits wertvolle Aufschlüsse; aber zahl¬
lose Fragen sind noch unbeantwortet.
Ich bin der Aufforderung der Schrift¬
leitung deshalb gern gefolgt, hier über
die Ergebnisse von Arbeiten zu berichten,
die sich mit den sekretorischen Leistungen
des menschlichen Magens beschäftigen.
Sie geben einigen vorläufigen Aufschluß
über die mannigfaltige Abhängigkeit dieser
Arbeit von psychischen Vorgängen und
ermöglichen auch bereits gewisse thera¬
peutische Konsequenzen, auf die hier der
Hauptakzent gelegt werden soll.
Schon Pawlow hatte die große Rolle
des Appetits für die Magensekretion des
Hundes bewiesen; „Appetit ist Saft“.
Viele spätere Studien bestätigten und er¬
weiterten seine genialen Forschungen.
Für den Magen des Menschen aber wurde
die Rolle der Eßlust — von Einigen
z. B. als ,,zu animalisch“ — abgelehnt;
Experimente an Magenfistelpatienten
-ergaben keine eindeutigen Resultate. Mit
der üblichen klinischen Prüfung mittels
Probeessen war hier Klärung unmöglich.
Niemand weiß, wieviel von dem Ausge¬
heberten Appetitsaft und wieviel später
durch chemische Einwirkungen abgeson-
’derter Saft, wieviel Mengenteile über¬
haupt Magensaft und Speichel, Nahrung
oder Gallerückfluß sind. Andererseits
würde die Feststellung, daß schon die
einfache innere Beschäftigung mit der
Speise — also ihr Anblick, Geruch und
Verlangen usw. — wirksam ist, wichtige,
physiologische und therapeutische Finger¬
zeige geben.
Wir haben, um Aufschluß hierüber zu
bekommen, geeignete magengesunde Indi¬
viduen hypnotisiert, ihnen in tiefer Hyp¬
nose scharf präzisierte Suggestionen von
Speisung gegeben und durch eine in der
Hypnose, also ohne Wissen der Patienten,
eingeführte Sonde (ähnlich der üblichen
Duodenalsonde) die Wirkung solcher
Suggestinonen untersucht^).
Es darf an dieser Stelle erwähnt wer¬
den, daß auch der ,,leere“ Magen stets
mäßige Mengen meist sauren Inhalts auf¬
wies.
Wir stellten fest, daß ohne Ausnahme
auf solche suggerierte — also rein fiktive.—
Speisung hin, stets lebhafter Fluß von
Magensaft auftrat. Bis zum Beginn dieser
Sekretion verging eine individuell ver¬
schiedene Latenzzeit von ein bis sieben
Minuten, die Menge des abgesonderten
Saftes, welcher 20—25 Minuten, mitunter
noch länger floß, schwankte, und zwar
schien sie abhängig zu sein von der Leb¬
haftigkeit, mit der die Suggestion auf¬
gefaßt war, also eine Appetitwirkung.
Im ganzen erhielten wir pro Versuch zwi¬
schen 20—100 ccm reinen Saft. Ist schon
diese psychogene SÄretion interessant^
so ist es noch mehr der Umstand, daß
ihr jeweiliger Ablauf ganz verschieden
war, je nachdem welche Speise wir sug¬
geriert hatten. Schon PaWlow teilte
Kurven mit, die zeigten, daß bei Fleisch-,
Brot- oder Milchfütterung in der Zeit¬
einheitganzunterschiedliche Mengen Saft
abgesondert werden. Bei Fleisch- oder
bei uns aus versuchstechnischen Gründen
bei Bouillon — folgt einer sofortigen
hohen Sekretion ein alsbaldiger Abfall
und Stillstand. Bei Milch steigt die Se¬
kretion langsamer an und fällt auch lang¬
samer wieder ab; bei Brot verläuft die
Saftmengenkurve noch protrahierter, ist
nicht so gleichmäßig und namentlich in
ihrem Abfall stark schleppend.
Ein Vergleich der Pawlowschen Kur¬
ven mit den unseren wird diese Verhält¬
nisse am besten illustrieren (S. 287):
Hierin haben wir einen weiteren Bei¬
trag zu den Abhängigkeiten psycho¬
physischer Vorgänge. Aber auch die fer¬
mentative Eiweißverdauungskraft in
diesen Magensäften ist specifisch einge¬
stellt auf die Art der suggerierten Nah¬
rung. Auch hier geben Kurven wieder
das beste Bild.
1) Die Einzelheiten der angewendeten Technik
sind ausführlich im Archiv für Verdauungskrank¬
heiten Bd. XXVII, Heft 4/5ff., mitgeteilt, dort
auch die Literatur.
August
Die Therapie der Gegenwart 1921
287
stunden-
Periode
Fig. 2. Saftmengen in Stunden-Perioden beim Hund.
(Nach Pawlow.)
verdaute
Eiweißsäule
Die Rolle des Appetitsaftes für den
folgenden Teil der Verdauung ist außer¬
ordentlich groß. Er ermöglicht, wie
Pawlow gezeigt hat, die Vorgänge erst^
die dann zu Freiwerden von Proteinen,
Extraktivstoffen usw. führen, und damit
zum Erguß weiteren Saftes durch die
chemische Reizwirkung dieser Verdau-
ungsprodukte. Der Appetit ist also nicht
etwa eine gleichgültige angenehme Emp¬
findung, sondern notwendigfür den ganzen
Akt der Magen Verdauung!
Fig. 3. Ei weiß verdauende Kraft des menschlichen Magensaftes.
I Diese Untersuchungen gaben die posi-
I tiven Grundlagen ab für weitere Experi¬
mente, die sich mit der Frage beschäf¬
tigten, wieweit nun dieser psychogene
Saftfluß auf psychischem oder pharma¬
kologischem Wege wieder gebremst wer¬
den kann. Daß Angst vor der Prozedur
der nachfolgenden Ausheberung die Säure¬
verhältnisse nachträglich beeinflußt, hat
Li. A. Gradnauer^) in einer hübschen
2) D. Arch. f. kl. Med. 1911, 101 u. 102.
288
Die Therapie der Gegenwart 1921
August
■ Arbeit gezeigt. Können dies aber auch
.andere seelische Emotionen, die während
•der Arbeit des Magens im Patienten vor-
.gehen? Oder ist es gleichgültig, in wel¬
cher Verfassung sich der Essende befindet?
Wir bewirkten durch geeignete Sug¬
gestionen den Fluß von Appetitsaft;
wenn dieser kräftig im Gange war, unter¬
warfen wir die V.-P. lebhaften Vorstel¬
lungen von einerseits Furcht, Schrecken
•oder Besorgnissen, von andererseits freu¬
digen Ereignissen, wie sich das in der
Hypnose leicht erzielen läßt. Sie schafft
ja gerade die gewünschte Versuchslage,
•daß sich unsere V.-P. nicht in dem un¬
durchschaubaren Tausenderlei der be¬
wußten und unterbewußten seelischen
Schwingungen des Wachen befindet, son-
•dern ein eingeengtes inneres Leben hat,
das wir weitgehend kennen, ja (suggestiv)
beherrschen können. Die dann von uns
gewollten seelischen Prozesse verlaufen
dadurch denkbar intensiv. Es zeigte sich,
daß so erzeugte Affekte eine störende
Wirkung auf den Saftfluß hatten, wobei
es sich im wesentlichen als gleichgültig
erwies,, ob sie eu- oder dysphorischer Art
waren. Es liegt allerdings im Wesen der
freudigen Sensationen, daß sie langsamer
aufklingen; die Vorstellung der Todes¬
gefahr (etwa durch eine Verschüttung im
Kriege) überfällt den Menschen erklär¬
licherweise mit plötzlicherer und un¬
widerstehlicherer Gewalt als etwa die
eines Lotteriegewinnes; in dem
ersteren Falle ist die innere Situation als
eine force majeure sofort da, in dem
zweiten kann eine langsamere innere Ein¬
stellung stattfinden. Demgemäß War das
Versiegen der Sekretion auch bei den
angenehmen Sensationen etwas lang¬
samer — von etwa drei bis fünf Minuten
Dauer —, während der Eintritt dysphori¬
scher Vorstellungen in den meisten Fällen
schlagartig den Saftfluß sistieren ließ;
selten flössen noch einige Kubikzentimeter
Saft. Nur einmal, interessanterweise bei
einem ausgesprochenen ,,Vagotoniker“
(Asthma bronch., Hypersecretio und
motilitas ventriculi), trat mit dem Er¬
lebnis einer Verschüttung ein momen¬
taner abundanter Saftfluß ein, der zwei
Minuten anhielt; dann war jede Sekre¬
tion erloschen.
Wurden die Suggestionen rechtzeitig
wieder beseitigt, erholte sich die Sekretion
meist wieder, der Saft floß von neuem.
Daß solche Störungen des normalen
Ablaufes auch weitergehend von ner¬
vösen Anomalien des Gesamtstatus be¬
wirkt werden können, bewies ein Epilep¬
tiker: dieser zeigte vor und nach dem
Anfall ganz atypische Verläufe.
Wir erblicken in diesen Resultaten
einen deutlichen Hinweis darauf, daß
eine Ablenkung der inneren Aufmerksam¬
keit vom Eßakt dem Verdauungsverlauf
auch dann noch schädlich ist, wenn der
Verdauungsprozeß schon begonnen hat.
Diese Störung ist sicher zum Teil durch
Tonusverlagerung im autonomen Nerven¬
system bewirkt (siehe die bereits genann¬
ten Web ersehen Studien über die Blut¬
verschiebungen bei geistigen Vorgängen).
Es scheint aber noch eine aktive Hem¬
mung vorzuliegen, denn wie die gleich
zu berichtenden Versuche mit Medika¬
menten beweisen, ist eine einfache Blockie¬
rung des sekretionserregenden Nervus
vagus nicht imstande zu bremsen, wenn
die fördernden Impulse die in der Magen¬
wand gelegenen Systeme nervöser Art
erst einmal erreicht und in Tätigkeit ge¬
bracht haben.
Wir untersuchten nämlich den Ein¬
fluß von Atropin (beziehungsweise dem
gleichsinnig wirkenden ungefährlicheren
Eumydrin)und Pilokarpin. Die Resultate
mit letzterem wechselten so stark, daß
sich Schlüsse daraus nicht ziehen lassen.
Seine medikamentöse Verwendung scheint
noch nicht spruchreif, dazu ist es gefähr¬
lich, weil eine auffallende Neigung der
Magenschleimhaut zu Blutungen zu beob¬
achten war. — Mit Atropin dagegen
konnten wir wenigstens einen Teil der
Ursachen, weswegen auch diese bisher
mitunter verschiedene Wirkungen ergeben
hat, aufklären. Es ist nämlich von großer
Wichtigkeit, wann die Belladonna ge¬
geben wird. Gaben wir das Medikament,
ehe die Suggestion erfolgte oder unmittel¬
bar nach dem Beginn der ersten Sekre¬
tion — höchstens ein bis zwei Minuten
später —, so wurde die Menge des Magen¬
saftes ganz bedeutend geringer und seine
freie Säure unter die sonstige Norm ge¬
drückt. Gerade bei sonst stark hyper-
aciden Patienten war diese Wirkung am
deutlichsten. Wenn wir jedoch ein¬
spritzten, nachdem der Fluß schon im
vollen Gange war, konnten wir diese
zweifache Wirkung nicht mehr konsta¬
tieren: Weder Menge noch Acidität wurde
irgendwie nachweisbar beeinflußt. Die
Größe der gegebenen Dosen erwies sich
als ohne sicheren Einfluß.
Diese Verhältnisse entsprechen recht
gut unseren derzeitigen Vorstellungen.
Den Angriffspunkt des Atropins verlegen
August
Die Therapie der . Gegenwart. 1921'
289>
wir in die Endigungen des. Vagus in der
Magenwand. Werden diese gelähmt, ehe
noch der psychogene Impulsstattgefunden
hat oder wenigstens ehe er in ausreichender
Intensität wirksam werden konnte, so ist
damit der Weg ins intramurale System
des Magens versperrt oder wenigstens er¬
schwert. Wir haben dann — ganz oder
teilweise — den Erfolg Pawlows bei
Vagusdurchschneidung, mach welcher kein
Appetitsaft mehr fließt. Ist aber die Er¬
regung in dies System bereits überge¬
gangen, so kann die nachträgliche Sperre
nichts mehr nützen, bei der offenbar
weitgehend selbständigen Tätigkeit dieses
Organs ist ein Einfluß nicht mehr mög¬
lich. Nun kann nur noch positive Hem¬
mung etwas ausrichten. Diese glauben
wir in den Affektversuchen wirksam zu
sehen (siehe oben).
Daraus ergibt sich, daß die Atropin¬
behandlung von Hypersekretion und -aci-
dität auf durchaus richtigen Voraus¬
setzungen basiert. Doch muß die Ordina¬
tion darauf Rücksicht nehmen, daß der
Patient seine Pille nicht erst nimmt,
wenn er schon am Eßtisch sitzt oder gar,
wenn die Beschwerden schon eingetreten
sind, sondern rechtzeitig zu festbestimm-
ten Zeiten, ehe irgendwelche Situationen
oder Assoziationen zur Sekretion des
Appetitsaftes geführt haben.. Denn wenn
natürlich die Vagussperre bei der spä¬
teren ,,chemischen“ Sekretion in jedem
Falle noch nützlich ist, so ist doch, wie
oben bereits betont, der Appetitsaft in
engem Zusammenhang auch mit der
zweiten Periode der Sekretion zu denken.
Weitere Studien betrafen die Frage
der Säurekonzentration. Bekanntlich ist
es noch strittig, ob der Magen immer
gleichkonzentrierten Saft ergießt oder ob
er diese Konzentrationsbreite weiter¬
gehend ändern kann. Wir titrierten un¬
seren — ja nur mit Magenschleim ver¬
mischten — Saft mit Dimethylparaamido-
benzol und Phenophtalein in der von
Michaelis angegebenen Weise; wir
sagten uns, daß wir ein umgekehrt pro-
gortionales Verhalten der freien und der
gebundenen Säure und eine etwa gleich¬
mäßige Gesamtsäure zu erwarten hatten,
wenn der Saft ursprünglich etwa in der
gleichen Konzentration ergossen worden
war. Dies war aber nicht der Fall; mit¬
unter entsprach einem Absinken der
freien HC 1 in derselben Probe ein An¬
stieg der gebundenen, aber ausschlag¬
gebend war diese Beziehung nicht, beide
Kurven liefen weitgehend unabhängig
nebeneinander her. Die Kurve für die
gebundene Säure blieb annähernd kon¬
stant; die für freie unterliegt starken
Schwankungen. Gesetzmäßigkeiten ini
diesem Verlauf zu finden, ist uns nicht
gelungen. Die Meinung Pawlows, daß.
je rascher der Saft an der alkalischen
Magenwand herabfließe, desto höher die
freie Säure sei,bestätigte sich nitht. Super¬
sekretion und Superacidität sind nicht
dasselbe, wenn beide natürlich auch ver¬
eint Vorkommen können.
Schließlich prüften wir den von Man¬
chen behaupteten Einfluß von Eingießun¬
gen ins Rectum auf die Sekretion von
Mafgensaft. Nicht immer, aber in den
meisten Versuchen erfolgte bei solchen
Eingießungen ein fast sofortiger lebhafter
aber nur fünf bis zehn Minuten dauernder
Fluß von Saft. Dieser kann nicht durch
Resorption von Extraktivstoffen auf dem.
Blutweg zustandegekommen sein; denn
mit warmem Leitungswasser trat der
gleiche Erfolg ein, wie mit Bouillon. Es.
mußten jedoch größere Mengen (einhalh
bis ein Liter) gegeben werden, um den
Fluß zu erzielen; wir möchten den Anraz
in dem Füllungsgefühl des unteren Darmes
erblicken.
Wenn schließlich kurz das Ergebnis
der skizzierten Versuche in diätetischer
und therapeutischer Hinsicht zusammen¬
gefaßt werden soll, so läßt sich — indem
wir die Pawlowschen und sonstige Er¬
fahrungen mit einbeziehen — folgendes
sagen:
Der Appetit, das Verlangen nach
Speisung und ihre genußreiche Aufnahme
ist von großer Bedeutung für die Menge
des ergossenen Appetitsaftes. Wir wissen
aber, vor allem äus Pawlows genialen
Arbeiten, daß dieser für die weitere Ab¬
wicklung der Magen- und Pankreassekre¬
tion unentbehrlich ist. Durch seine Wir¬
kung erst werden diejenigen Stoffe in
ausreichender Menge aus der genossenen
Speise freigemacht, die zu der nach¬
folgenden chemischen Erregung führen.
Dagegen bewirkt Fehlen des Appetit¬
saftes überlanges Verweilen der Nahrung
im Magen — mit allen seinen üblen
Folgen — und schlechte Ausnützung des
Genossenen. Je reichlicher dieser initiale
Saftstrom, desto besser die Verdauung!
Den Appetit zu heben, muß also in allen
Zuständen von Krankheit und Schwäche
ein Hauptbestreben des Arztes sein.
Diese Hebung kann einmal durch die
bekannten Mittel, insbesondere die Amara,
erfolgen. Die Wirkung dieser Stoffe ge-
37
200 .
Die Therapie der Gegenwart 1921'
August
schiebt sicher auch großenteils auf psychi¬
schem Wege; ihre direkte vom Magen
aus ist schwach; sie dürften.im wesent
liehen dadurch 'anregen, daß sie wie
Fleischextrakt wohlschmeckend oind und
damit Appetitvorstellungen wecken, oder
wie die Bittermittel, daß sie den Zustand
von Indifferentismus der Geschmacks¬
empfindung durch scharfe Kontrastwir¬
kung überwinden. Zum anderen sollte
man von diesen Mitteln nicht alles Heil
erwarten! Es gilt vielmehr, die äußeren
Bedingungen zu prüfen, diese so zu ge¬
stalten, daß sie nicht wie so oft eine Er¬
schwerung, sondern ein Optimum der
Verdauung bedeuten. Unruhe, Erre¬
gungen und anderweitig ablenkende Ein¬
drücke während der Mahlzeiten sind
schädlich (Zeitungslesen, innerlich Weiter¬
arbeiten an den Tagesgeschäften). Da¬
gegen können gewohnheitsmäßige, ja zere¬
monielle Gebräuche, die regelmäßig die
Mahlzeiten begleiten, auf dem Weg der
bedingten Reflexe von großem Vorteil
sein. .(Ich erinnere an das Kind mit der
Magenfistel: dem man längere Zeit
regelmäßig vor dem Essen einen Trom¬
petenton vorblies, bis schließlich auf den
Ton der Trompete allein schon Magensaft
aus der Fistel floß.) Diesen Erfolg hat
das Glas Wasser oder Tokayer, hat das
besondere Eßzimmer, der schön gedeckte
Tisch, der besondere Anzug (England),
ja schließlich das Tischgebet. Die Tafel¬
musik dient ähnlichen Zwecken: eine
wohlgefällige Stimmung hervorzurufen,
Welche die Ablenkungen des Alltäglichen
wegnimmt und dem Vorgang des Essens
eine gewisse Feierlichkeit und Wichtigkeit
verleiht.
Davon scharf verschieden, ja das
gerade Gegenteil hiervon wäre etwa Auf¬
merksamkeit auf den Eßakt und den
Verdauungsprozeß als solchen!
In welchem Kontrast zu dem steht
das Leben vieler Menschen, namentlich
in den Großstädten! Kein Wunder, daß
da die ,,schwachen Mägen“ an der Tages¬
ordnung sind. Symptomatische Therapie
ist in solchen Fällen natürlich nutzlos;
Bei den täglichen Gewohnheiten hat die
Kur anzusetzen. Und tut es unbewußt
ja auch oft, etwa mit der Empfehlung der
alljährlichen Badereise, wo dann der
Mensch mit einem gewissen Verpflich¬
tungsgefühl, sich ausgiebig zu erholen und
heraufzuesisen, die Mahlzeiten mit Ruhe,
Zeit und Genuß begeht. Von den kom¬
plizierteren Affektionen infolge schwerer
gemütlicher Verwirrungen (bei Neurosen
z. B.) kann hier nicht die Rede sein;
diese gehören zur Behandlung ihrer
,,Magen leiden“ in die Sprechstunde des
Psychotherapeuten.
Aber auch anderweitig Kranken, am
Magen-Darm nur sekundär Mitbetroffene
vermag Berücksichtigung dieser psychi¬
schen Verhältnisse günstig zu beeinflus¬
sen. Kleine Gaben häufigerer Mahlzeiten,
diese geschickt ausgewählt, gefällig ge¬
reicht, werden ganz anders wirken, als
noch so ausreichend berechnetes aber
widerwillig oder gar nicht verzehrtes
Calorienfutter. Mitunter kann die direkte
Suggestion oder Hypnose die vermin¬
derte Eßlust heben; ein Fall von Typhus
abdominalis, den ich hypnotisch über
seine Kopfschmerzen völlig hinweg¬
brachte, nahm die gegebenen Appetit¬
suggestionen lebhaft an.
Von der speziellen therapeutischen
Indikation der Atropinkur ist bereits ein¬
gehend gesprochen worden.
Aus der sekretionserregenden Wirkung
größerer Rectaleinläufe ergibt sich die
Konsequenz, diese etwa bei Ulcus ven-
triculi, nicht in Form großer Klysmen,
sondern zu Ernährungszwecken als Tropf¬
klistier und zur Darmentleerung als klei¬
nere Klistiere zu verabfolgen, die man
ganz langsam einlaufen läßt. Das Flei-
nersehe Ölklistier würde sich wohl be¬
sonders empfehlen. _
Die neuerlich angegebene Verwendung
der Duodenalernährung bei Ulcus ventri-
culi unter Umgehung des Magens scheint
irrig in ihren Voraussetzungen: der ,,psy¬
chische“ Saft wird ohne im Magen durch
Speise abgesättigt zu sein, sicher trotzdem
ergossen, also der umgekehrte Effekt er¬
reicht werden!
So ermöglicht die Berücksichtigung
der psychophysischen Zusammenhänge
dem Arzt neue Wirkungsmöglichkeiten.
Die .Wechselbeziehungen zu psychischen
Vorgängen, die man als ,,funktionell“
vielfach so ungern konstatiert, heißt es
nur benutzen, um sich gerade aus ihnen
neue Hilfsmittel zu schaffen.
August Die Therapie der Gegenwart 1921 29i
\ ' '
Aus der zweiten inneren Abteilung des städtischen Krankenhauses Neukölln
(dirigierender Arzt: Oberarzt Dr. Zadek).
Coliindexbestimmungen und Mutaflorbehandlung bei perniziöser
Anämie.
Von I. Zadek.
Durch die Prüfung verschiedener Coli-
rassen sowie der gegenseitigen Wachs¬
lumsverhältnisse von Coli- und Typhus-
Jbakterien ist Nißle^) die Feststellung
wesentlicher Unterschiede im biologi¬
schen Verhalten menschlicher Colistämme
•gelungen. Sie wurden gefunden beim
Zusammenbringen von Coli- und Typhus¬
bacillen in bestimmten Mengenverhält-
.nissen, wobei sich zeigte, daß bestimmte
CoUrassen sehr bald die Typhusbacillen
in fh-rem Wachstum beeinträchtigen und
schließlich kulturell ganz verdrängten,
während- ändere Colistämme diese Eigen¬
schaften in sehr viel geringerem Grade
oder gar nicht aufwiesen. Ohne vor¬
läufig eine Erklärung für dieses unter¬
schiedliche -Verhalten der Colistämme ab¬
geben zu können, besteht also die Mög¬
lichkeit, unter Anwendung einer be¬
stimmten, hier nicht ausführlicher wieder¬
zugebenden Methodik und Auszählung,
«durch Feststellung des „antagonistischen
Index“, den Grad der antagonistischen
Fähigkeiten eines Colibakterium zu be¬
stimmen und damit kräftige ,,hoch-
wertige‘‘ Colirassen von schwächeren
,,minderwertigen“ zu trennen.
Nißle hat in vergleichenden Stuhl¬
untersuchungen bei der Mehrzahl der
Gesunden (und auch bei akuten Darm¬
infektionen) antagonistisch mittelmäßige
Colistämme gefunden; einzelne Personen,
die auffallend wenig zu Darmstörungen
neigen und trotz reichlicher Gelegenheit
Darminfektionen gegenüber dauernd re¬
sistent bleiben, beherbergen sehr häufig
einen besonders hochwertigen Colistamm,
• während bei länger anhaltenden Magen-
' darmkrankheiten, wie überhaupt bei
chronischen Krankheitszuständen, die
auf eine abnorme Zusammensetzung der
Darmflora zurückzuführen sind, neben
der bakteriologischen Bestätigung dieser
Beimengung aller möglichen Mikroorga¬
nismen in den Faeces (eigentliche In¬
fektionserreger, Proteusbacillen, Strepto-
Nißle: a) Über die Grundlagen einer neuen
ursächlichen Bekämpfung der pathologischen
Darmflora (D. m. W. 1916, Nr. 39); b) Die ant¬
agonistische Behandlung chronischer Darmstö¬
rungen mit Colibakterien (M. Kl. 1918, Nr. 2);
c) Weiteres über die Mutaflorbehandlung unter
besonderer Berücksichtigung der chronischen
Ruhr (M. m. W. 1919, Nr. 25).
kokken usw.) ein auffallend minderwerti¬
ger Coliindex besteht, oft in Verbindüng
mit Coliarmut oder fast völligem Coli-
mangej, dann meist vergesellschaftet mit
verschiedenen Saprophyten.
Den naheliegenden Weg, in solchen
Fällen mit vermindertem Coliindex durch
perorale Verabreichung eines hochwerti¬
gen Colistammes therapeutisch vorzu¬
gehen, hat Nißle ebenfalls .beschriften.
Das Präparat ,,Mutaflor“2) enthält in
zwei verschiedenen Packungen Rein¬
kulturen von Colibakterien, die zur Ver¬
meidung der Magensaftwirkung in Gelo-
duratkapseln eingeschlossen sind: ‘Die
,,Normalpackung“ birgt eine blaue Kap¬
sel als Anfangsdösis, d. h. den Belag
einer Agarplatte von 10 cm Durchmesser,,
und 19 rote Kapseln mit der dreifachen
Bakterienmenge; die ,,Schwach dosierte
Packung“ weist 4 kleine und 6 große
(blaue und rote) auf; sie ist für solche
Fälle bestimmt, die ein vorsichtiges An¬
steigen der Tagesdosis ratsam erscheirieri
lassen und dient daher hauptsächlich
zur Vorbereitung für den' Gebrauch, der
Normalpackung. Neuerdings existiert
noch eine ,,Kinderpackung“, über die
ich keine eigene Erfahrung besitze.
Die mit diesem Mittel beharidelteri
Fälle von chronischer Ruhr und anderen,
auch nichtinfektiösen Colitiden mit ab¬
normer Darmflora und minderwertigem
Coliindex, ergaben Nißle und Gei Be®)
günstige Resultate, besonders auch in
vorher erfolglos behandelten Fällen.
Neben der Besserung der subjektiven
Beschwerden gelang es objektiv, den er¬
hofften Erfolg zu erzielen, das heißt
durch Verabreichung des hochwertigen
Colistammes per os und Verdrängung
des primär vorhandenen krankhaften,
minderwertigen den Mutaflorstamm zur
Ansiedlung im Darm zu bringen, damit
einen hochwertigen antagonistischen Coli¬
index zu erzielen und etwa vorhandene
infektiöse Keime oder Saprophyten aus¬
zumerzen. Die Ansiedlung des Behahd-
lungsstammes sowie der höherwertige
2) Hersteilende Firma G. Pohl, Berlin NW.ßT,
Turmstraße 68.
®) A. Geiße: Behandlung infektiöser Darm¬
erkrankungen mit „Mutaflor“ (Th. d. O. IQ!?!,
März).
37*
2^
Die Therapie der Gegenwart 1921
August
Coliindex lassen sich nach Nißle dabei
kontrollieren durch Agglutinationsproben
der aus dem Stuhl gezüchteten Coli-
bakterien mit einem von Kaninchen
gewonnenen, in üblicher Weise gegen
Coli immunisierten Serum; denn während
die schwachen Colistämme überhaupt
keine brauchbaren Agglutininmengen lie¬
ferten, zeigten im Gegensatz dazu die
stärkeren Colirassen ausgesprochene An¬
tigeneigenschaften mit einem hohen Ag¬
glutinationstiter, und ihre agglutinieren¬
den Sera verhalten sich specifisch, das
heißt sie reagieren außer mit den homo¬
logen nur mit den Colistämmen von
ähnlich hohem antagonistischen Index
bis zur vollen oder annähernd vollen
Tffergrenze,
Aus der bisher über diesen Gegen¬
stand sowie weitere Behandlungsresultate
erschienenen Literatur seien hier Lan-
ger^,^ Rörig^) und Mertz®) genannt.
Bei der Prüfung des Coliindex ver¬
schiedener Stuhlgänge hat man sehr bald
antagonistisch auffallend minderwertige
Colirassen auch in einzelnen Krankheits¬
gruppen. gefunden, die Organverände¬
rungen außerhalb des Magendarmtraktus
betrafen, z. B. bei Ruhrrheumatismus,
Milchschorf, Gicht u. a. Die dadurch
erneut in den Vordergrund tretende
wissenschaftliche Frage eines etwaigen
Kausalnexus zwischen ungünstiger Darm¬
flora und jenen Krankheitslokalisationen
hat schon deswegen eminent praktisch-
klinisches Interesse, weil konstante Be¬
funde dieser Art ein nicht unwichtiges
diagnostisches Hilfsmittel darstellen
könnten und außerdem durch Verab¬
folgung von Mutaflor und Verdrängung
jener minderwertigen Colirassen die Mög¬
lichkeit zu therapeutischen Erfolgen, und
bei ihrer Bestätigung der Beweis ätiologi¬
scher, bisher vermuteter oder ganz un¬
bekannter Beziehungen zwischen ant¬
agonistisch minderwertigen Colistämmen
zu jenen pathologischen Veränderungen
gegeben ist.
Zu diesen Krankheiten, bei der Nißle
in .13 Fällen einen auffallend minder¬
wertigen Coliindex fand, gehört auch die
perniziöse Anämie. Es mußte hierbei
die Untersuchung des Stuhles und' die
Behandlung mit Mutaflor entsprechend
*) Langer: Der antagonistische Index der
Cölibazillen (D. m. W. 1917, S. 1317).
*) Rörig: Behandlung der Coliinfektion der
Hamwege mit Mutaflor (M. m. W. 1919, S. 1142).
*) Mertz: Behandlungsversuche bei er¬
nährungsgestörten Säuglingen mit Mutaflor (Mschr.
f'Kindhlk., Bd. 18, H, 5).
den eben skizzierten Gesichtspunkten
für denjenigen von vornherein das größte
Interesse bieten, der die Bildungsstätte
des noch kryptogenetischen Toxins beim
Morbus Biermer in den Magendarm^
traktus zu verlegen geneigt ist’); um so
mehr, als der konstante Befund der
neuerdings wieder vielfach diskutierten
Achylia gastrica dringend dazu auffor^
derte, auf ähnliche Verhältnisse im Darm
zu fahnden, die biologisch-funktionell derr
Magenveränderungen gleich zu setzem
wären und als deren Ausdruck der ant-
agpnistisch minderwertige Coliindex, even¬
tuell in Verbindung mit einer pathologi¬
schen Darmflora, anzusehen wäre.
Als vor zirka zwei Jahren an die
Untersuchung dieser Verhältnisse bei der
Perniziosa gegangen wurde, war es vom
vornherein klar, daß einmal in dia-^
gnostischer Hinsicht das antagonistische
Verhalten der Colistämme fortlaufend,,
das heißt in den verschiedenen Stadien
der Krankheit, während der Rezidive
und * Remissionen, geprüft und in Be¬
ziehung gesetzt werden mußte zu den
klinischen Geschehnissen; dabei wurde
besondere Beachtung der Frage einer
aus dem Verhalten des Coliindex abzu¬
leitenden Möglichkeit prognostischer Be¬
urteilung geschenkt, sowie ob etwa in
den Fällen von perniziöser Anämie mit
bekannter Ätiologie (Lues, Botriocepha-
lus, Gravidität) durch die Stuhlunter¬
suchung Unterschiede und differential¬
diagnostische Anhaltspunkte gegenüber
den viel zahlreicheren Fällen von krypto¬
genetischem Morbus Biermer gewonnen
wurden. Fernerhin wurden bei der thera¬
peutischen Verabfolgung des Mutaflor
der zeitliche Eintritt der Ansiedlung
des Behandlungsstammes, die Bedin¬
gungen für dieses Zustandekommien uncf
etwaige Abhängigkeiten von anderen Me¬
dikamenten beziehungsweise der Nah¬
rungszusammensetzung, sowie vor allem
geprüft, ob sich die Verdrängung des
antagonistisch minderwertigen Coli-
stammes tatsächlich von eklatantem und'
nachhaltigem Einfluß auf den Verlauf
und die klinische Besserung erwies.
Die regelmäßige Untersuchung der
Stühle wurde ausschließlich im Institut
von Professor Nißle in Freiburg i. B.
’) Zadek: a) Beiträge zur Aetiologie, Klinik
und Hämatologie der perniziösen Anämie (B. k. W.
1917, Nr. 53); b) Zur Therapie der kryptogeneti¬
schen perniciösen Anämie (D. m. W. 1919, Nr. 41);
c) Trauma des Nervensystems und perniciöse
Anämie (M. m. W. 1920, Nr. 33).
^ August
293
Die Therapie der Gegenwart 1921
vorgenommen, der in freundlichster Weise
'die Befunde kontrollierte und eingehende
Berichte übermittelte. So kann heute
iiber ein Material von zwanzig Fällen mit
perniziöser Anämie berichtet werden, von
^denen zunächst kurze Auszüge®) folgen.
Fall 1: 67jähriger Invalide, klinisch-hämato-
^ogisches Vollbild einer kryptogenetischen perni-
-ziösen Anämie, seit kurzem bestehend. Achylie.
Im September 1919 ergab die Stuhluntersuchung
'einen außerordentlich minderwertigen Coliindex
5und neben Coli sehr zahlreiche uncharakteristische
‘Saprophyten, sowie vereinzelte Proteusbacillen.
Nach dreiwöchentlicher Mutaflortherapie und
'eiweißarmer Ernährung Besserung des Befindens,
Blutbefundes und Coliindex bei reichlichem Sapro-
phytenbefund, auch Proteus. Ein halbes Jahr
»ohne Behandlung: leidliches Befinden, mittel-
anäßiger Blutstatus, mittlerer Coliindex mit vielen
Saprophyten und Proteus. Sechs Wochen Muta-
•flor: dabei Verschlechterung des Befindens, kli¬
nischen und hämatologischen Bildes und Auf¬
treten eines sehr verminderten Coliindex mit
‘Saprophyten und Proteusbacillen. Kurz darauf
Exitus.' Sektion.
Resum6: Bei einer noch nicht lange be¬
stehenden kryptogenetischen perniziösen Anämie
wird nach einer sehr kurzen Mutaflordarreichung
ohne andere Therapie die Besserung des Krank¬
heitsbildes und Blutbefundes sowie Colündex an-
^ebahnt, der ohne Behandlung ein halbes Jahr
mittelmäßig bleibt(Remission). Bei sechswöchent¬
licher Mutaflortherapie tritt ein zum Tode führen¬
des Rezidiv auf (bestätigender Obduktionsbe¬
fund) mit sehr minderwertigem Coliindex ante
-exitum.
Fall 2: 36jähriger Arbeiter, kryptogenetische
perniziöse Anämie im ziemlich schlechten Zustand
des ersten Rezidivs. Achylie. Im September 1919
zeigt die Stuhluntersuchung einen minderwertigen
Coliindex und neben Coli zahlreiche Kokken, meist
In Diploform, Proteusbacillen und mäßig zahl¬
reiche uncharakteristische Saprophyten. Während
®) Der Raumersparnis halber mußte von der
^eingehenden Wiedergabe des klinischen, hämato-
logischen und anatomisch-histologischen Bildes
abgesehen und der Hauptwert auf die Mitteilung
der Stuhlbefunde vor, bei und nach verschiedenen
Behandlungskombinationen in den einzelnen
Stadien gelegt werden. Die Diagnose, das Stadium
der Krankheit und der Verlauf wurde nach gleich¬
mäßiger Bewertung klinisch-hämatologischer Kri¬
terien beschrieben, wie sie anderen Ortes (cf. 7)
ausführlich auseinandergesetzt sind. In sieben
Fällen liegen bestätigende Sektionsbefunde vor. —
In therapeutischer Hinsicht sei vorweg bemerkt,
daß gewisse, in der Behandlung der Perniciosa
■Gemeingut gewordene Maßnahmen, ohne hier
regelmäßig angeführt zu sein, in jedem Falle zur
Durchführung gelangten; dahin gehören völlige
Bettruhe bis zur Remission, reichliche, leicht ver¬
dauliche Nahrung, Mundpflege usw. Vermieden
wurde während der Mutaflordarreichung alles,
was die verabfolgten Colibakterien in der vollen
Entfaltung ihrer Wirksamkeit und Ansiedelung
beeinträchtigen konnte, also keine Behandlung
mit Salzsäure oder Adstringentien (Tierkohle
usw.). Außerhalb der stationären Behandlung
konnte die Mutaflortherapie — schon wegen des
für unsere Klientel sehr hohen Preises — oft nicht
durchgeführt werden; so erklären sich die langen
Zwischenpausen in einzelnen Fällen.)
der folgenden drei Monate Behandlung mit eiwei߬
armer Diät, Mutaflor, Magendarmspülungen®),
Injektionen von Neosalvarsan und Natrium arseni-
cosum, dabei bessert sich das Allgemeinbefinden
und der Blutstatus langsam aber ständig derartig,
daß im Februar 1920 das klinische und hämatolo-
gische Bild der Polyglobulie (mit sieben Millionen
Erythrocyten) besteht, während der Coliindex ziem¬
lich minderwertig bleibt bei dauernder Anwesen¬
heit zahlreicher Saprophyten. Um dieselbe Zeit
eingetretener Durchfall zwingt zur Absetzung
des Mutaflor. Ein halbes Jahr ohne jede Behand¬
lung: Dabei tritt allmählich wieder das klinisch-
hämatologische Syndrom der Perniziosa auf,
während im Juli 1920 die Agglutinationsprobe
einen vollwertigen Colistamm ergibt mit Über¬
wiegen der Coli in den Faeces. Seitdem besteht
bis heute ohne Therapie eine stationäre perniziöse
Anämie mit gleichmäßig schlechtem Allgemein-
und Blutstatus bei recht minderwertigem Coli¬
index mit zahlreichen Saprophyten und Proteus
Res um 6: Bei einem Morbus Biermer im
ersten Rezidiv tritt nach dreimonatlicher Muta-
florbehandlung in Kombination mit einer stark
stimulierenden Therapie und Magendarmspü¬
lungen volle klinische Remission ein, sogar mit
Erscheinungen der Polyglobulie, während die An¬
siedelung des Colistammes erst später gelingt, als
bereits aufgetretener Durchfall zur Absetzung des
Mutaflor gezwungen hatte und wieder das klinisch-
hämatologische Bild der Perniziosa eingetreten
war. Sehr bald wurde bei leidlichem Befinden
ein verminderter Index bei vielen Saprophyten
und Proteus konstatiert.
Fall 3: 32jährige Ehefrau, kryptogenetische
perniziöse Anämie im schwersten Zustand djes
zweiten Rezidivs. Achylie'. Im November 1919
außerordentlich minderwertiger Coliindex mit
ganz spärlichen, nicht völlig typischen Coli und
massenhaften uncharakteristischen Saprophyten.
Drei Monate Mutaflor, wobei unter häufigen
Durchfällen, die ohne völlige Aufgabe der Muta¬
flortherapie zur vorübergehenden Abgabe einer
blauen Kapsel veranlassen,, klinisch-hämatolo-
gisch volle Remission eintritt, während die
Besserung des Coliindex damit nicht gleichen
Schritt hält; Mitte Februar 1920 ist er noch
ziemlich'minderwertig, wenn auch gegenüber dem
früheren deutlich gesteigert; auch finden sich im
Stuhl mehr Colibakterien. Erst im Juli 1920,
als Mutaflor längst abgesetzt ist, erweisen sich
die Colibakterien als vollwertig, überwiegen in
den Faeces und stimmen serologisch fast völlig
mit dem Behandlungsstamm überein. Seitdem
besteht ein geradezu glänzendes Allgemeinbe¬
finden mit entsprechend günstigem kaum mehr
die Charakteristika der Perniziosa aufweisenden
Blutbild, und auch der Coliindex erweist sich —
ohne weitere Mutaflorgaben — innerhalb der
nächsten dreiviertel Jahre als vollwertig, wobei
die Colibakterien im Stuhl weit überwiegen neben
spärlichen Saprophyten.
Resum6: Unter Mutaflor tritt bei einer
Anämia perniciosa im schwersten Stadium des
zweiten Rezidivs nach drei Monaten volle, lange
Zeit anhaltende Remission ein, wobei die Ansiede¬
lung des Behandlungsstammes nur langsam ge¬
dingt, nachdem das Mittel bereits abgesetzt ist.
Der hochwertige Coliindex bleibt in der Folgezeit
ohne Therapie bei glänzendem Befund bestehen.
Fall 4: 46jähriger Gasarbeiter. Vollstadium
einer kryptogenetischen perniziösen Anämie;
®) Die Magendarmspülungen wurden vor der
Verabreichung des Mutaflor vorgenommen.
294
Die Therapie der Öege.n^rt 1921 August’.
übereinstimmendes schweres klinisches und häma-
tologisches Bild. Achylie. Im Novemjber 1919
erweist sich der Coliindex als sehr minderwertig;
neben, spärlichen Coli finden sich im Stuhl zahl¬
reiche uncharakteristische Saprophyten und
massenhaft Kokken in Diploform, keinerlei In¬
fektionserreger. Behandlung mit Mutaflor, eiwei߬
armer Diät und Magendarmspüluhgen. Dabei
tritt eine wesentliche Besserung des Allgemein¬
befindens und Blutbildes ein. Indessen erweist
sich nach zwei Monaten der Coliindex als außer¬
ordentlich minderwertig mit derselben Bakterien¬
flora wie oben. Beim Versuch, zwei rote Kapseln
Mutaflor zu geben, tritt nach drei Tagen Durch¬
fall auf, so daß auf eine rote pro die zurück¬
gegangen wird. Unter Verschlechterung des
klinisch-hämatologischen Bildes finden sich Ende
Januar 1920 im Stuhl bei deutlich minder¬
wertigem Coliindex etwas zahlreichere Coli bak¬
teriell mit ziemlich vielen Saprophyten. Ohne
wesentliche Änderung tritt kurz darauf der
Exitus ein.
Resum^; Trotz dreimonatlicher Behandlung
mit Mutaflor in Verbindung mit eiweißarmer
Diät und Magendarmspülungen tritt bei einer
schweren, keine Tendenz zur durchgreifenden
Besserung zeigenden und zum Tode mit be¬
stätigendem S'ektionsbefund führenden krypto¬
genetischen perniziösen Anämie keine Änderung
des Coliindex ein.
Fall 5: 47jährige arbeitende Ehefrau. Völlig
benommen im schwersten Stadium einer perni¬
ziösen Anämie im September 1919 eingeliefert.
Achylie. Der Coliindex ist sehr minderwertig,
neben Coli finden sich mäßig zahlreiche uncha¬
rakteristische Saprophyten, von denen ein Teil
in schleimigen Kolonien wächst, außerdem sehr
reichliche Proteus. Spontane Remission aus
schwerstem Koma. Gleich darauf Beginn der
Mutaflortherapie vier Monate lang. Nach einigen
Wochen auftretender Durchfall zwingt zur tage¬
weisen Absetzung des Mittels. Das klinische Bild
sowie der Blutstatus bessert sich zusehends bis
zur vollen Remission, während noch Ende Ok¬
tober atypische Coli mit stark vermindertem
Index, Mitte Dezejmber ein nur wenig höherer
Coliindex gefunden wird. Entlassen mit der
Weisung, Mutaflor weiter zu nehmen, wird die
Patientin schon nach wenigen Wochen mit
schwerem Recidiv wieder eingeliefert und stirbt
trotz sofortiger Mutaflorverabreichung nach vier¬
zehn Tagen.
Resum^: Nach spontaner Remission aus
tiefstem Koma einer kryptogenetischen perni¬
ziösen Anämie tritt unter Mutaflor klinisch und
hämatologisch volle Remission ein, während der
Coliindex bei abnormer Darmflora sich nur wenig
hebt und minderwertig bleibt. Trotz Weitergabe
des Mutaflor setzt nach wenigen Wochen ein zum
Tode führendes Rezidiv mit bestätigendem Sek¬
tionsbefund ein.
JFall 6: 54jähriger Arbeiter. Ausgesprochene
perniziöse Anämie auf dem Boden einer Lues.
WR. positiv. Spinale Symptome. Achylie. Coli¬
index minderwertig, wenn auch nicht so hoch¬
gradig wie sonst bei perniziöser Anämie, fast reine
Coliflora neben vereinzelten uncharakteristischen
Saprophyten. Einjährige ununterbrochene kli¬
nische Behandlung mit Mutaflor, wobei von Zeit
zu Zeit auftretende Durchfälle zur vorübergehen¬
den Verabreichung einer blauen Kapsel Veran¬
lassung geben. Dazu Injektionen von Natrium
arsenicosum subcutan, Neosalvarsan in der hier
üblichen Dosierung intravenös. Sehr langsame
Besserung des Befundes und Blutes, Nerven¬
erscheinungen und WR. bleiben positiv. Mehr¬
fache Stuhluntersuchungen zeigen bei derselben
Darmflora einen mittelmäßigen Coliindex, bis.
nach fast di;ei Vierteljahren Anzeichen für eine
teilweise Ansiedelung des Behandlungsstammes^.
auftreten (serologische Prüfung), der einen Monat
später bei hochwertigem Coliindex im Stuhl vor¬
herrscht. Um diese Zeit ist die Injektionskur
beendet, die WR. zweifelhaft geworden, der Blut¬
status sowie das klinische Bild erheblich gebessert..-
Bei alleiniger Behandlung mit Mutaflor tritt dann
allmählich im Laufe von vier Monaten eine ge¬
ringe Verschlechterung im klinisch-hämatologi¬
schen Befunde ein, die WR. ,wird wieder positiv
und der Coliindex erweist sich bei ziemlich reich¬
lichem Saprophytenbefund in den Faeces nur als
gut mittelmäßig. Der Patient wird jetzt erneut
unter Fortsetzung der Mutaflortherapie mit
Neosalvarsan und Modenol (mildes Quecksilber-
Arsenpräparat) behandelt.
Resume: Bei einer auf Lues basierenden
perniziösen Anämie bringt eine einjährige un¬
unterbrochene Mutaflortherapie, kombiniert mit
Neosalvarsan- und Arseninjektionen, sehr lang¬
same, aber fast völlige Remission mit Ansiede¬
lung des Behandlungsstammes und Besserung des-
Coliindex. Trotz Weitergabe des Mutaflor all¬
mähliche Verschlechterung des Befindens, Blutes
und Coliindex.
Fall 7: 54jährige Ehefrau. Schweres Stadium
eines Morbus Biermer. Achylie. Im Stuhl massen¬
haft uncharakteristische Saprophyten und schwach
milchsäurebildende Colibakterien, die sich ant¬
agonistisch deutlich minderwertig erweisen. Sechs
Wochen lang bis zum Tode Behandlung mit
Mutaflor, zwei Bluttransfusionen, Injektionen
von Natrium arsenicosum subcutan und Neo¬
salvarsan intravenös. Acht Tage ante exitum ist
der Behandlungsstamm angesiedelt, der Coliindex
vollwertig bei Vorherrschen der Coli neben spär¬
lichen Saprophyten. Dabei fortdauernde Ver¬
schlechterung des Allgemeinbefindens und Blut¬
bildes mit Exitus.
Resume: Bei einer foudroyant verlaufenden,
trotz Mutaflor, Arsen- und Neosalvarsaninjek-
tionen sowie Bluttransfusionen nach sechs Wochen
zum Tode führenden kryptogenetischen perni¬
ziösen Anämie ist der Coliindex kurz ante exitum
vollwertig und die Ansiedelung des Mutaflor-
stammes gelungen.
Fall 8: 53jährige Ehefrau. Klinisches und
hämatologisches Vollstadium einer kryptogene¬
tischen perniziösen Anämie. Achylie. Der Coli¬
index ist sehr minderwertig; im Stuhl finden
sich neben spärlichen uncharakteristischen Sapro¬
phyten überwiegend Bakterien, die sich in
mancher Beziehung kulturell coliähnlich ver¬
halten, doch in der Kolonie deutlich vom Aus¬
sehen der Colikulturen abweichen und dement¬
sprechend mehr als ein Ersatz fehlender Coli¬
bakterien, nicht als atypische, anzusehen sind
(Nißle). Behandlung mit Mutaflor (drei Wochen
eine blaue, dann eine rote Kapsel pro die). Na-
trium-arsenicosum-Injektionen, eiweißarmer Diät
und Magendarmspülungen. Nach vier Wochen
volle Remission mit entsprechendem Blut- und
Allgemeinstatus und vollwertigem Coliindex, wo¬
bei die serologische Prüfung Ansiedelung des
Behandlungsstammes ergibt mit fast reiner
Coliflora im Stuhl neben spärlichen uncharakte¬
ristischen Saprophyten. Ein halbes Jahr un¬
unterbrochen lediglich mit Mutaflor behandelt,
wobei vorübergehende Durchfälle zur gelegent-
August
Die Therapie der Gegenwart 1921.
295
liehen Darreichung nur einer blauen Kapsel ver¬
anlassen. Befinden, Blutbild und Coliindex
bleiben gut. Vier Wochen außerhalb des Kranken¬
hauses ohne Mutaflor; danach eingeliefert mit
schwerem Rezidiv und entsprechendem schlechten
klinisch-hämatologischen^Bild, während der Coli¬
index vollwertig und die Darmflora gegen früher
unverändert gefunden wird. Sofort Mutaflor,
eiweißarme Diät, allwöchentlich 10 ccm Blut¬
injektionen intramuskulär. Sehr langsame Besse¬
rung der klinischen und hämatologischen Sym¬
ptome; der Coliindex bleibt bei wiederholter
Prüfung andauernd vollwertig bei reiner Coliflora.
Resurn^: Bei einer ausgesprochenen krypto¬
genetischen perniziösen Anämie tritt sehr rasch
nach vier Wochen unter Mutaflorbehandlung in
Verbindung mit Arseninjektionen und Magen¬
darmspülungen bei eiweißarmer Diät volle Re¬
mission und vollwertiger Coliindex mit Ansiede¬
lung des Behandlungsstammes und Verdrängung
der atypischen Colibakterien ein. Die Remission
hält ein halbes Jahr unter Beibehaltung lediglich
der Mutaflortherapie an. Nach vierwöchigem
Aussetzen des Mittels setzt ein schweres Rezidiv
mit sehr langsamer Erholung ein, während der
Mutaflorstamm im Darm fest angesiedelt und
der Coliindex vollwertig bleibt.
Fall 9: 22jährige Kontoristin. Als beginnen¬
der Morbus Biermer entdeckt. Achylie. Sehr
minderwertiger Coliindex mit reichlichem Sapro-
phytenbefund im Stuhl. Nach vierwöchentlicher
Behandlung mit Arsacetin per os und Mutaflor
tritt glänzende Remission mit gutem Allgemein¬
befinden und völlig verändertem Blutstatus auf.
Dabei ist der Coliindex vollwertig, und die neben
zahlreichen Saprophyten in den Faeces befind¬
lichen Colibakterien erweisen sich als mit dem
Mutaflorstamm übereinstimmend. Ein Viertel¬
jahr außerhalb des Krankenhauses ohne Muta¬
flor. Danach Verschlechterung des Allgemein¬
status mit typischem perniziösen Blutbild und
mittelmäßigem Coliindex neben reichlichem Sapro-
phytenbefund im Stuhl. Steht zur Zeit erneut
uhter Mutaflortherapie.
Resume: Bei einer perniziösen kryptogene¬
tischen Anämie im Beginn bei einer Jugendlichen
tritt nach vierwöchiger Behandlung mit Muta¬
flor und Arsacetin volle Remission ein unter
Ansiedelung des Behandlungsstammes und ent¬
sprechendem vollwertigem Index. Nach Ab¬
setzen des Mittels aus äußeren Gründen rapide
Verschlechterung unter erneutem Auftreten eines
minderwertigen Coliindex.
Fall 10: 46 jährige Ehefrau. Schwerstes
komatöses Stadium einer kryptogenetischen perni¬
ziösen Anämie. Achylie. Coliindex ziemlich
minderwertig, etwas geringerer Grad als sonst
bei Perniziosa. Mäßiger Saprophytenbefund in
den Faeces. Sofort Mutaflor bei eiweißarmer Diät
und Natrium-arsenicosum-Injektionen. Nach
wenigen Tagen spontane Remission mit rascher
Besserung des klinisch-hämatologischen Bildes
(Blutkrise). Nach vier Wochen völlig verändertes
Bild mit glänzendem Allgemeinzustand, während
der Coliindex mittelmäßig ist und in der Darm¬
flora sich ziemlich reichliche uncharakteristische
Saprophyten und Proteusbacillen finden. Nach
weiteren vier Wochen fast reine Coliflora, die einen
guten Index aufweist und bei der serologischen
Prüfung sich als angesiedelter Mutaflorstamm
herausstellt. Andauernd gutes Befinden unter
Mutaflor (im ganzen vier Monate gegeben). Ein¬
einhalb Monate außerhalb des Krankenhauses
ohne Mutaflor. Danach unverändert gutes All¬
gemeinbefinden, weitere Besserung des Blut-
' Status, aber ziemlich minderwertiger Coliindex; die
Colibakterien zeigen serologisch keine deutliche
Reaktion gegenüber specifischem agglutinieren¬
dem Serum und sind vergesellschaftet mit spär¬
lichen uncharakteristischen Saprophyten.
Res um 6: Bei einem schweren Morbus Biermer
tritt spontane Remission aus Koma heraus ein,
die durch Mutaflor und Arsen gefördert wird, so
daß bereits nach sechs Wochen bei günstigem
klinisch-hämatologischem Status der Coliindex
'vollwertig wird. Nachdem nach viermonatiger
•Mutaflorbehandlung das Mittel eineinhalb Monate
aus- äußeren Gründen ausgesetzt wird, erweist
sich der Coliindex als ziemlich minderwertig bei
unverändertem Fortbestehen eines guten klinisch-
hämatologischen Bildes.
Fall 11:41 jährige Ehefrau. Schweres Stadium
einer kryptogenetischen perniziösen Anämie.
Achylie. Coliindex minderwertig; neben Coli
finden sich im Stuhl sehr reichliche große und
kleine uncharakteristische Saprophyten sowie
spärliche Proteusbacillen. Behandlung mit Muta¬
flor, Arsacetin per os und Neosalvarsan-In¬
jektionen. Nach fünf Wochen gute Remission
mit entsprechend günstigem Blutbild, aber plötz¬
lich Auftreten von genuiner Pneumonie, der die
Kranke nach wenigen Tagen erliegt. (Über den
Fall, insbesondere über den wichtigen Sektions¬
befund erfolgt anderen Ortes eine genaue Mit¬
teilung.)
Res um 6: Bei einer schweren kryptogeneti¬
schen perniziösen Anämie tritt nach Eintritt
voller, durch Mutaflor, Arsacetin und Neosalvar¬
san bedingter Remission Exitus letalis an inter¬
kurrenter Lungenentzündung ein.
Fall 12: 50jährige Ehefrau mit kryptogene¬
tischer perniziöser Anämie. Achylie. Sechs¬
wöchige Bettruhe bei eiweißarmer Diät, Pepsin-
Salzsäure und Tierkohle per os sowie Magen¬
darmspülungen bringen leidliche Besserung des
Blutbildes und Allgemeinbefindens. Der Coli¬
index erweist sich trotzdem als sehr minderwertig,
neben Colibakterien finden sich im Stuhl massen¬
haft uncharakteristische Saprophyten. Die Kranke
wird ambulant mit Mutaflor, Diät und Solutio
Fowleri weiter behandelt, nimmt aber offensicht¬
lich die Mittel nie regelmäßig und ist therapeuti¬
schen Maßnahmen überhaupt wenig zugänglich.
Während eines Jahres wechseln Zeiten besseren
Befindens und Blutbildes mit schlechteren ab,
bis ziemlich unvermittelt Koma auf tritt, in dem
die Patientin trotz Bluttransfusion und Mutaflor
(zwei rote Kapseln täglich!) nach drei Tagen
stirbt. Typischer Sektionsbefund.
Resumö: Bei einer ohne Mutaflorbehandlung
eingetretenen leidlichen Remission eines Morbus
Biermer'zeigt sich der Coliindex bei pathologischer
Darmflora sehr minderwertig. Bei unzulänglicher
Mutaflortherapie tritt innerhalb eines Jahres
keine wesentliche Besserung im Krankheitsbilde
ein, bis plötzlich Koma mit tödlichem Ausgang
erfolgt.
/ Fall 13: 52jähriger Fleischer. Kryptogene¬
tische perniziöse Anämie. Achylie. Besonders
schwere und anhaltende Glossitis. Nach acht¬
wöchiger Behandlung mit eiweißarmer Diät,
Tierkohle und Solutio Fowleri per os sowie
Magendärmspülungen setzt volle, ein halbes Jahr
anhaltende Remission ein. Während dieser Zeit
erste Stuhluntersuchung: es finden sich reich¬
liche, meist schleimige Kolonien bildende Sapro¬
phyten und nur spärliche Colibakterien, die sich
antagonistisch sehr minderwertig verhalten. Bei
296
Die Therapie der Gegenwart 1921
August
langsam einsetzender Verschlechterung des Blut-
- bildes und Allgemeinstatus tritt nach mehr¬
wöchiger Verabfolgung von Mutaflor eine schwere,
fieberhafte, rasch zum Tode führende Cysto-
pyelitis e|n. (Auch über diesen Fall, besonders
über den Sektionsbefund erfolgt besondere Mit¬
teilung.)
Res um 6: Ohne Mutaflorbehandlung rascher
Eintritt der ein halbes Jahr anhaltenden Re¬
mission eines Morbus Biermer bei der üblichen
Therapie, wobei ein sehr minderwertiger Coliindex
bei pathologischer Darmflora gefunden wird.
Während des langsam einsetzenden Rezidivs
unter Mutaflortherapie tritt plötzlich der Exitus
an interkurrenter Erkrankung ein.
Fall 14: 42 jähriger Arbeiter mit krypto¬
genetischer perniziöser Anämie. Achylie. Im
Stuhl reichliche uncharakteristische Saprophyten
neben spärlichen Colibakterien, die sich ant-
agopistisch als deutlich minderwertig erweisen.
Während sechsmonatiger stationärer Behandlung
mit eiweißarmer Diät, Natrium-arsenicosum- und
Neosalvarsaninjektionen sehr langsame Besserung
des klinisch-hämatologischen Bildes, wobei die
Darmflora zwar allmählich zahlreichere Coli¬
bakterien ergibt, der Coliindex indessen minder¬
wertig bleibt. Ein halbes Jahr draußen ohne
Mutaflor mit Arsen per os behandelt, wobei Blut-
und Allgemeinstatus befriedigend bleibt. Der
Coliindex erweist sich nunmehr als ziemlich hoch¬
wertig, während die Colibakterien durch speci-
fisches Serum nicht agglutinierbar sind.
Res um 6: Bei einer während des ganzen
Verlaufs der Krankheit niemals mit Mutaflor be¬
handelten kryptogenetischen perniziösen Anämie
tritt unter der- hier üblichen Therapie zwar lang¬
same, aber volle, jetzt schon ein Jahr anhaltende
Remission ein, und der zuerst und lange Zeit bei
pathologischer Darmflora gefundene antago¬
nistisch minderwertige Coliindex macht spontan
einem vollwertigen Platz.
Fall 15: 31jährige Ehefrau mit einer seit
drei Jahren beobachteten, fast geheilten perni¬
ziösen Anämie auf syphilitischer Basis. Achylie.
Bei gutem Allgemeinbefinden und fast normalem
Blutbild treten tertiäre Ulcera specifica am linken
Oberarm auf. Der zum ersten Male um diese Zeit
untersuchte Stuhl weist neben reichlichen un-
charakteristischen Saprophyten Colibakterien auf,
die antagonistisch einen etwas minderwertigen
Index zeigen. Auf erneute antisyphilitische Be¬
handlung (Modenol- und Neosalvarsaninjektionen
in Verbindung mit Jod per os) rasche Heilung der
Ulcera bei unverändert günstigem Blut- und All¬
gemeinstatus. Die seitdem im Darm befindliche
Coliflora weist stetig einen minderwertigen Index
auf, und die Colibakterien zeigen bei der
Agglutinationsprobe auch nach mehrmaligem
Überimpfen keine Reaktion mit einem dem
Mutaflorstamm homologen Serum.
Resum^: Bei einer ätiologisch durch Lues
bedingten, fast geheilten perniziösen Anämie mit
tertiären, durch antisyphilitische Therapie rasch
geheilten Ulcera, besteht bei fast normalem .Blut¬
bild und entsprechend günstigem Allgemeinbefund
(ohne Mutaflorbehandlung) dauernd ein minder¬
wertiger Coliindex.
Fall 16: 57 jährige Ehefrau. Anfang 1919
schwere kryptogenetische perniziöse Anämie.
Achylie. Im Frühjahr 1919 bei geringer Besserung
des Allgemeinbefindens und BlutstatuS (nach
Arsen per os und Magendarmspülungen) Splenek-
tomie. Zunächst gar kein Erfolg, eher Verschlech¬
terung bei andauernder Bettlägerigkeit. Erst
nach einem Jahre beginnt ohne spezielle Therapie
die Besserung. Die um diese Zeit zum ersten Male
vorgenommene Stuhl Untersuchung ergibt neben
uncharakteristischen Saprophyten, Streptokokken
und vereinzelten Proteusbacillen überwiegend
Colibakterien mit einem antagonistisch außer¬
ordentlich minderwertigen Index. Ohne weitere
besondere Behandlung hat sich ein Jahr später
das Allgemeinbefinden weiter gehoben, der Blut¬
befund ist noch sehr charakteristisch für Perni¬
ziosa, wenn auch erheblich gebessert. Der Coli¬
index erweist sich jetzt als gut mittelmäßig, jedoch
finden sich neben Colibakterien ziemlich reich¬
liche uncharakteristische Saprophyten und der
Colistamm zeigt mit specifischem agglutinierendem
Serum keine deutliche Reaktion.
R e s u m 6: Bei einer schweren, keine Tendenz
zur Remission zeigenden kryptogenetischen perni¬
ziösen Anämie tritt nach Milzextirpation sehr
spät und langsam Besserung im Befinden und
Blutbilde ein. Ohne Mutaflorbehandlung ist der
Coliindex ein Jahr post splenectomiam noch sehr
minderwertig bei pathologischer Darmflora, erst
ein weiteres Jahr später hebt er sich bei ent¬
sprechender Besserung des klinisch-hämatolo¬
gischen Bildes unter starkem Dominieren der Coli¬
bakterien im Darm, wenn auch nicht zur Voll¬
wertigkeit.
Fall 17: 52 jährige Ehefrau im schweren
Stadium eines Morbus Biermer, fast komatös.
Achylie. Die neben sehr zahlreichen uncharak¬
teristischen Saprophyten im Stuhl vorhandenen
Colibakterien wiesen einen außerordentlich min¬
derwertigen Index auf. Sechsmonatige Muta¬
flortherapie bei eiweißarmer Diät und Natrium-
arsenicosum-Injektionen bringt langsame, aber
stetige Besserung des klinisch-hämatologischen
Bildes, indessen hat die Remission schon vor Be¬
ginn der Mutaflorbehandlung spontan eingesetzt.
Allmonatliche Stuhluntersuchungen zeigen eine
sehr langsame, der klinischen Besserung nach¬
hinkende Hebung des Coliindex, wobei lange Zeit
massenhafte Proteusbacillen neben zahlreichen
uncharakteristischen Saprophyten im Stuhl über¬
wuchern. Erst die letzte Untersuchung nach halb¬
jähriger Mutaflortherapie weist einen .fast voll¬
wertigen Coliindex mit Überwiegen der Colibak¬
terien im Darm auf, die allerdings beim Abimpfen
von der Platte keine Reaktion mit specifischem
agglutinierendem Serum ergeben.
Resumd: Bei der aus Koma heraus spontan
einsetzenden Remission einer kryptogenetischen
perniziösen Anämie mit schließlich erreichtem
leidlichen klinischen Zustand bringt eine sechs¬
monatige Mutaflorbehandlung in Kombination
mit Arseninjektionen einen fast vollwertigen Coli¬
index unter Verdrängung der pathologischen
Darmflora und serologisch nachweisbarer biolo¬
gischer Abänderung des Behandlungsstammes.
Fall 18: 56jährige Ehefrau. Vollstadium
eines Morbus Biermer, vor kurzem anderwärts
mit der Fehldiagnose Carcinoma ventriculi lapa-
rotomiert. Achylie. Die Stuhl Untersuchung er¬
gibt trotz vielfacher Versuche überhaupt keine
Colibakterien; neben zahlreichen uncharakte¬
ristischen Saprophyten und ebenso zahlreichen
Proteusbacillen finden sich spärliche Pyocyaneus-
bacillen. Während der — im ganzen bisher fünf
Monate durchgeführten Mutaflorbehandlung —
in Verbindung mit eiweiß- und bakterienarmer
Ernährung (nur gekochte Speisen!) tritt eine
Blutkrise mit entsprechendem Blutbild und be¬
ginnender klinischer Remission auf; die nunmehr
nachweisbaren Colibakterien erweisen sich als
. 297
August - Die Therapie der Gegenwart 1921 .
nicht agglutinierbar mit specifischem Serum.
Dabei treten bei Verabreichung einer roten Kapsel
jedesmal so profuse Diarrhöen auf, daß immer
wieder von der Darreichung der roten Kapsel
Abstand genommen werden muß und nur eine
blaue Kapsel gegeben wird. Trotz Fortsetzung
der Mutaflortherapie tritt bereits nach vier
Wochen ein schweres Rezidiv mit erheblichem
Erythrocytensturz und sehr schlechtem Allge¬
meinbefinden auf, während die zu gleicher Zeit
vorgenommene Stuhluntersuchung einen ziemlich
vollwertigen Coliindex äufweist, wobei allerdings
keine Agglutination der Colibakterien mit speci¬
fischem Serum zu erzielen ist. Fortsetzung der
Mutaflortherapie in Kombination mit wöchent¬
lichen iritraglutäalen Blutinjektionen von 10 ccm.
Dabei sehr langsame Hebung des Allgemein¬
befundes mit schlechtem Blutbild und ausge¬
sprochenen hämolytischen Erscheinungen, wäh¬
rend der Coliindex nunmehr vollwertig ist und
die Colibakterien positive Agglutination mit spe¬
cifischem Serum ergeben.
Resume : Im Vollstadium einer kryptogene¬
tischen perniziösen Anämie werden im Stuhl
keine Colibakterien gefunden. Nach dreiwöchiger
Mutaflorbehandlung in Kombination mit bak¬
terienarmer Nahrung, wobei die nach einer roten
Kapsel regelmäßig auftretenden Durchfälle nur
die Darreichung einer blauen Kapsel zulassen,
tritt eine Blutkrise mit rascher klinisch-häma-
tologischer Remission auf, die indessen bei fort¬
gesetzter Mutaflorbehandlung nach vier Wochen
einem schweren Rezidiv Platz macht. Trotzdem
zeigen die Colibakterien jetzt eine Steigerung
ihres antagonistischen Index, ohne agglutinierbar
zu sein, und nach weiteren drei Monaten Muta¬
flortherapie mit Blutinjektionen ist der Coliindex
vollwertig, während das klinisch-hämatologische
Bild eine schwere Perniziosa zeigt.
Fall 19: 38jähriger Arbeiter. Beginnender
Morbus Biermer mit charakteristischem Blut¬
bild. Achylie. Stationärer Zustand trotz Arsen¬
injektionen. Nach einem halben .Jahr ergibt die
erste Stuhluntersuchung neben zahlreichen un-
charakteristischen Saprophyten Colibakterien,
die einen deutlich minderwertigen Index auf¬
weisen. Wird anderwärts ambulant mit Arsen
weiterbehandelt, ohne daß bisher eine klinische
Änderung eingetreten wäre.
Res um 6: Ohne Mutaflorbehandlung findet
sich bei einem Fall von beginnender kryptogene¬
tischer perniziöser Anämie nach halbjähriger
Arsendarreichung derselbe klinisch-hämatolo¬
gische Status bei minderwertigem Coliindex und
pathologischer Darmflora.
Fall 20: 64 jähriger Invalide. Ausge¬
sprochene kryptogenetische perniziöse Anämie.
Achylie. Achtwöchige Behandlung mit ^weiß-
armer Diät und Natri um-arsenicqsum-Injek¬
tionen bringt fast völlige Remission'. Die um
diese Zeit zum ersten Male vorgenommene Stuhl¬
untersuchung ergibt nur spärliche Saprophyten
und Colibakterien mit einem gut mittelmäßigen
Index. Seitdem besteht mehrere Monate gutes
Allgemeinbefinden mit entsprechendem Blut¬
befund; indessen hat sich der Coliindex wieder
verschlechtert und neben den serologisch nicht
agglutinierbaren Colibakterien finden sich zahl¬
reiche uncharakteristische Saprophyten.
Resume: Ohne Mutaflorbehandlung tritt
nach achtwöchiger Arsentherapie bei eiwei߬
armer Ernährung in einem Fall von Morbus
Biermer eines Greises gute Remission mit gut
mittelmäßigem Coliindex auf, der sich bei an¬
haltend günstigem Allgemeinbefinden bald wieder
verschlechtert.
Sucht man nach den eingangs auf¬
gestellten Richtlinien die für die Dia¬
gnose, Prognose, Ätiologie und Therapie
der perniziösen Anämie aus diesen zwan¬
zig Fällen sich ergebenden Resultate ab¬
zuleiten, wäre zunächst folgendes zu be¬
merken über:
I. Die diagnostische Bedeutung
des antagonistischen Coliindexbei
der perniziösen Anämie.
In obigem Material ist die praktisch
wertvolle generelle Tatsache eines minder¬
wertigen Coliindex der perniziös Anämi¬
schen durchweg festgestellt worden. Es
kann demnach die Angabe Nißles be¬
stätigt werden, daß der antagoni¬
stisch minderwertige Colistamm
zu den diagnostischen Kriterien
der perniziösen Anämie gehört
mit der Einschränkung, daß dieses aus¬
nahmslose Verhalten einmal bei allen
unbehandelten, das ausgeprägte klinisch-
hämatologische Bild aufweisenden Fällen
(Nr. 1 bis 17, 19 und 20), fernerhin,in
jenen refraktären, meist foudroyant ver¬
laufenden, trotz energischer Therapie
keine Tendenz zur Erholung zeigenden
Fällen (Nr. 4, 18, 19) zutrifft, schließlich
bis auf vereinzelte Ausnahmen (Fälle 8
und 18) in den rezidivierenden Stadien
der Krankheit. Dagegen kann und wird
in der Regel während der Remission
dieses oft jahrelang sich hinziehenden
Leidens, sei sie spontan (Fall 10), nach
alleiniger Mutaflorbehandlung (Fälle 1
und 3), nach sonstiger Therapie ohne
(Fälle 14, 16, 20) oder mit Kombination
von Mutaflor (Fälle 6, 8, 9, 17) erfolgt,
ein mittelmäßiger oder vollwertiger Coli¬
index gefunden werden; mit anderen
Worten: hierbei geht der — gleichgültig
aus welchen Ursachen zustande gekom¬
menen — klinisch-hämatologischen Besse¬
rung die des antagonistischen Coliindex
parallel. Dabei darf nicht unerwähnt
bleiben, daß vereinzelt die Hebung des
antagonistisch minderwertigen Coliindex
zu einem höherwertigen der klinisch-
hämatologischen Besserung in der Re¬
mission zeitlich nicht unbeträchtlich
nachhinkt (Fälle 2, 3, 14, 16, 17).
Fernerhin ist bemerkenswert, daß ge¬
rade in den beiden auf Lues basierenden
Fällen (Nr. 6 und 15) ante therapiam
eine zwar minderwertige Col'irasse ge¬
funden wurde, deren antagonistischer
Index indessen ausdrücklich als nicht so
38
298
Die Therapie der Gegenwart 1921
August
minderwertig bezeichnet wurde wie sonst
bei perniziösen Anämien. In diesem
Zusammenhang ist die Beobachtung inter¬
essant, daß die eihe dieser beiden ätio¬
logisch durch Syphilis bedingten perni¬
ziösen Anämien (Nr. 15) im gesamten
Material dadurch eine Sonderstellung ein¬
nimmt, daß hier allein trotz fast völliger
Heilung ein dauernd etwas minderwerti¬
ger Coliindex beharrlich festgehalten
wird. Die Feststellung eines nur mäßig
minderwertigen Coliindex bei den syphili-
schen Anämien reiht sich den übrigen
klinisch-differentialdiagnostischen Merk¬
malen an, die neuerdings diese Formen
der Perniciosa mit bekannter Genese
(Lues, Gravidität, Botriocephalus) von
dem eigentlichen kryptogenetischen Mor¬
bus Biermer abgrenzen helfen, als da
sind: Die fehlende Achylie bei der Botrio-
cephalusanämie (Pappenheim^®),Nicht¬
auftreten der Glossitis (Sakheim^^), bei
den Luesfällen u. a.; im Grunde sind
diese charakteristischerw’eise den Ver-
dauungstraktus betreffenden Symptome
nur ein Hinweis, daß für diese ätiologisch
klarliegenden perniziösen Anämien die
Pathogenese eine vermutlich völlig andere
ist, als beim Morbus Biermer, indem das
Hämotoxin bei jenen primär offenbar
nicht im Magendarmkanal angreift, wäh¬
rend bei diesem eine gastro-intestinale
Entstehung sehr wohl im Bereich der
Möglichkeit liegt. Ich bedaure es gerade
mit Rücksicht auf diese wichtige Frage
sehr, daß in meinem Material außer den
syphilitischen Anämien keine Fälle mit
einer bezüglich der Pathogenese der Per¬
niziosa sich allgemeiner Anerkennung er¬
freuenden bekannten Ätiologie (Gravi¬
dität, Botriocephalus) enthalten sind.
Am stärksten dokumentiert sich das
krankhafte Verhalten der Darmbakterien
bei der perniziösen Anämie dann, wenn
die Feststellung des antagonistischen Coli¬
index einfach an der Unmöglichkeit der
kulturellen Auffindung von Colibakterien
im Stuhl scheitert. Ein solches, anschei¬
nend nicht häufiges Vorkommnis, zeigt in
obigem Material der Fall 18, bei dem trotz
mehrfacher Versuche in den Faeces keine
Pappenheim: Die Anämien in Spezielle
Pathologie und Therapie innerer Krankheiten,
herausgegeben von Kraus und B rüg sch.
Sakheim: Die Glossitis Hunteri bei der
perniziösen Anämie. Folia hämatologica. 1921.
Colibacillen »gefunden wurden und die
Darmflora neben zahlreichen uncharakte¬
ristischen Saprophyten aus massenhaften
Proteus- und spärlichen Pyocyaneus-
bacillen bestand. Aber auch sonst setzt
sich die Darmflora bei der perniziösen
Anämie aus einer abnormen Wucherung
von Mikroorganismen zusammen, neben
Coli in der Regel aus Saprophyten ver¬
schiedenster Art (Fälle 3, 6, 7, 9, 10, 12,
13, 14, 15, 17, 19, 20), häufig vergesell¬
schaftet mit Proteusbacillen (Fälle 1, 2,
5, 11, 16, 18), seltener mit Pyocyaneus
(Fall 18), Diplokokken (Fälle 2, 4) oder
Streptokokken (Fall 16). In Verbindung
mit der fast stets feststellbaren Coliarmut
(Fall 8) wird der hieraus resultierende
antagonistisch minderwertige Coliindex
verständlich.
Insbesondere scheinen Proteusbacillen
häufig in der Darmflora Perniziös-An¬
ämischer vorzukommen und eine be¬
stimmte Rolle zu spielen; nach einer
mündlichen Mitteilung Nißles kann bei
ihrem dominierenden Nachweis von vorn¬
herein auf ein antagonistisch minder¬
wertiges Verhalten des begleitenden Coli-
Stammes geschlossen werden. Mit der
einer klinisch-hämatologischen Besserung
der Perniziosa in der Regel Hand in Hand
gehenden Hebung des Coliindex ist unter
entsprechendem allmählichen Überwiegen
der Colibakterien im Stuhl ein Zurück¬
treten jener abnormen Keime verbunden.
Indessen ist in einzelnen, nicht ganz we¬
nigen Fällen trotz zustande gekommener
klinisch-hämatologischer Remission der
Coliindex bei entsprechender pathologi¬
scher Darmflora minderwertig geblieben
(Fälle 12, 13, 15, 20), und zwar auch nach
Mutaflorbehandlung (Fälle 2 und 5), und
umgekehrt sind, wenn auch entschieden
seltener, nach Mutaflortherapie antago¬
nistisch vollwertige Colibacillen bei deso¬
latem klinischen Zustande, sogar direkt
ante exitum gefunden worden (Fälle 7
und 18); da die Stuhluntersuchungen in
den letzten beiden Fällen während der
Mutaflorverabreichung vorgenommen
wurde, ist es sehr wohl möglich, daß we¬
nigstens ein Teil der genommenen Muta-
florbakterien den Darm ohne direkte Be¬
rührung mit dem schädigenden Agens
passiert uno den hochwertigen Coliindex
bewirkt hat.
(Schluß folgt im nächsten Heft.)
-August
Die Therapie* der Gegenv^art 1921
299
Aus der OMrurgiscleu Abteilung des Krankenhauses Moabit
(Direktor: Geh. Rat Prof. Dr. M. Borchardt).
Abortbehandiung.
Von Dr. S. Joseph, Assistent.
Die Behandlung des Aborts ist für den
-Arzt, besonders für den praktischen Arzt,
von allergrößter Wichtigkeit. Doch ist
-die Abortfrage nicht nur eine rein medi¬
zinische, sondern auch eine bevölkerungs¬
politische. Ungeheuer groß ist die Zahl
.der Aborte, die, trotzdem wir nur auf
Schätzung angewiesen sind, uns doch ein
Bild geben, wieviel Menschenleben jähr-
Jich dem Staate verlorengehen. Nach
Bumm beträg ihre Zahl 400 000, nach
.anderen Autoren (Fehling, Kr ohne)
sogar 500 000, zirka 15—20% aller-
Schwangerschaften. Sachgemäße Be¬
handlung des Aborts bewahrt eine große
Zahl der Frauen vor lebenslänglichem
Siechtum. Von den drei großen Gruppen,
den Spontamborten, den ärztlich beab¬
sichtigten oder künstlichen Aborten und
den kriminellen, nehmen die kleinste Zahl
die Spontanaborte ein; leider sind uns
die Ursachen hierfür meistens unbekannt
oder, wenn wir sie wissen, bleiben sie
trotz aller Maßnahmen unbeeinflußt. Sie
werden hervorgerufen durch Anomalien
und Erkrankurtgen des mütterlichen Or-
;ganismus, wie Lues und Gonorrhöe, durch
Lageabweichungen und Geschwülste des
■ Uterus, durch Veränderungen am Foetus
und seinen Anhängen. Zwei unserer Be¬
einflussung zugänglichen Ursachen der
spontanen Aborte sind Lues und nach
•einigen Autoren die Berufstätigkeit der
Frau. 70—80% aller Schwangerschafts¬
unterbrechungen kommen auf das Konto
der Lues, 10—20% davon sind Aborte.
Eine andere durch entsprechende Ma߬
nahmen vermeidbare Ursache ist die Be¬
rufstätigkeit der Frau. Körpererschütte¬
rungen infolge schwerer Arbeit können
durch Blutungen den Haftapparat des
Eies lockern. In einigen Berufsarten
können Gifte, wie Blei und Phosphor die
Gravidität stören; so soll bei Arbeiterin¬
nen in der Schriftgießerei jede dritte
Schwangerschaft mit einer Fehlgeburt
•enden.
An zweiter Stelle stehen die beab¬
sichtigten, künstlichen, aus Gesundheits¬
rücksichten ärztlich eingeleiteten Aborte.
Ihre Zahl wird auf 1 % aller Aborte ver¬
anschlagt, ist aber wahrscheinlich noch
höher. 70% aller künstlichen Aborte
kommen auf das Konto der Lungentuber¬
kulose. Inwieweit die Unterbrechung der
Gravidität bei den einzelnen Krankheiten
berechtigt ist, will ich hier unberücksich¬
tigt lassen.
„Jeder Abort einer Frau zwischen
dem 31. und 36. Jahr ist ein krimineller.'*
Eine Anschauung, die in ihrem Urteil
doch etwas zu weit geht. Einige Autoren
vertreten den Standpunkt, daß der Ab¬
gang des Eies in Stücken für den krimi¬
nellen Abort charakteristisch sei.. Auch
diese Auffassung ist anfechtbar. Nach
anderen Autoren soll Fieber typisch sein
für die Folgen der Abtreibung. Diese An¬
sicht scheint mir überholt zu sein, wenn
man bedenkt, daß auch die Abtreiber in
der Technik und Asepsis Fortschritte ge¬
macht haben. Allerdings spricht Fieber
im höchsten Grade für eine Manipulation.
Ein sicheres Zeichen für ein Krimen
haben wir nicht, es sei denn, daß man
deutliche Verletzungen am Genitale nach-
weisen kann. Nicht jede Blutung einer
gebärfähigen Frau braucht ein Abort zu
sein, selbst wenn die Anamnese die Ver¬
mutung nahelegt. So häufig werden Pa¬
tienten wegen Blutungen kürettiert, ohne
daß überhaupt eine intrauterine Schwan¬
gerschaft bestanden hat. Solch übereilter
Eingriff kann oft recht unangenehme
Folgen haben. Auf die verschiedenen
Ursachen der Blutungen bei Frauen will
ich nicht näher eingehen. Aber auch
Blutungen während der-ersten Schwanger¬
schaftsmonate brauchen nicht immer zum
Abort zu führen. Die Blutungen bei sol¬
chen als Abortus imminens' bezeichneten
Fällen kann manchmal recht erheblich
sein. Solche Fälle, bei denen sonst kein
Zeichen einer unterbrochenen Gravidität
vorhanden ist, durch irgendeine Mani¬
pulation, sei es durch häufiges Unter¬
suchen, durch Sondieren oder Tampo¬
nieren, letzteres wird recht häufig ge¬
macht, anzugreifen, wäre falsch. Die The¬
rapie für den drohenden Abort ist sehr
einfach: Fort mit jedem Instrument, ein¬
malige Untersuchung, strenge Bettruhe
und vielleicht etwas Opium genügen
schon, um oft recht erhebliche Blutungen
zum Stillstand zu bringen und somit die
Gravidität zu erhalten. Allerdings gehört
hierzu sehr viel Geduld. Gibt es doch
Schwangerschaften, die während der
ganzen Schwangerschaft wegen Blutun¬
gen das Bett hüten müssen, dafür aber
38*
. 300.,
/ • -• :
Die Therapie der Gegenwart 1921 ^ ^ , Augus^r
auch ein lebendes Kind zur Welt bringen.
Ist nun der Abort nicht mehr aufzu¬
halten, verliert die Patientin dauernd
größere Stücke Blut, wie die Patientinnen
anzugeben pflegen, so gelten,.wenn ein
Eingriff vorgenommen werden muß, die
Grundsätze, die man bei einem richtigen
Partus zu beachten hat. Strengste Asep¬
sis ist die Hauptforderung. In einem Teil
der Fälle wird es nicht notwendig sein,
einzugreifen, da spontane Ausstoßung
erfolgt. Diese kann durch wehenanre¬
gende Mittel, wie Pituglandol, Pitruitin,
Hypophysin und Chinin unterstützt
werden. Eine ausgezeichnete Wirkung
übt das Chinin in der Kombination mit
dem Ersatzpräparat Tenosih aus. Das
so häufig angewandte Secale zur An¬
regung der Wehen vor Ausstoßung der
Frucht bleibt ohne Wirkung, ja, ist
sogar kontraindiziert, da es durch seine
kontrahierende Wirkung einen eventuellen
Eingriff sehr erschwert.
ln der operativen Behandlung des
Abortes hat man streng zu scheiden zwi¬
schen aseptischen und fieberhaften Abor¬
ten. Bis heute gibt es eine einheitliche
Behandlung des Abortes noch nicht. Beim
aseptischen Abort ist ein sofortiger Ein¬
griff nur bei ganz bedrohlichen Blutungen
angezeigt. In dem größten Teil der Fälle
wird der Foetus spontan ausgestoßen.
Eine ausgedehnte Desinfektion der Va¬
gina ist nicht erforderlich, da es selbst
bei fortgesetzten Spülungen, wie man es
früher gemacht hat, nicht gelingt, die
Vagina keimfrei zu machen. Die von
vielen Praktikern so häufig angewandte
Tamponade zur Anregung von Wehen
und zur Erweiterung des Muttermundes
hat so gut wie gar keinen Erfolg, führt
zur Stauung von Sekreten, bietet einen
güns’tigen Nährboden für die Keime und
erhöht so die Infektionsgefahr. Emp¬
fehlen würde ich sie nur bei sehr starken
Blutungen für den Transport zum.Kran¬
kenhaus, wo Tamponade sofort entfernt
werden kann und die Operation gleich
angeschlossen wird. Recht häufig wird
der operative Eingriff in der Sprech¬
stunde oder im Privathause begonnen.
Während der Operation fängt die Pa-'
tientin sehr stark zu bluten an, dann wird,
ohne die Operation zu beenden, die Pa¬
tientin in die Klinik geschickt, nachdem
in aller Eile locker tamponiert ist, so daß
es in den Uterus ruhig hinein bluten kann.
Das ist ein Kunstfehler. Jede angefan¬
gene Operation muß beendet werden.
Die stärksten Blutungen stehen meistens,
wenn der Uterus leer ist, vorausgesetzt,^
daß sonstige Verletzungen nicht ent¬
standen sind. Ist die Blutung nicht so^
ernst, daß sofort eingegriffen werden^
muß, so verfährt man am schonendsten,^
indem man ein bis zwei gut sterilisierte-
Laminariastifte in die Cervix legt. Für
den Praktiker am bequemsten sind die
steril in Glasröhrchen aufgehobenem
Stifte. Meistens ist nach einigen Stunden/
der, Muttermund schop soweit, daß mam
bequem mit einem Finger in die Uterus-
höhle kommt. Sollte der Muttermund'
jetzt noch nicht genügend weit sein, so»
kann man mit zwei bis drei Hegarstiften
dilatieren. Muß sofort eingegriffen wer¬
den, so dilatiert man sofort mit dem
Hegarschen Metalldilatatoren. Hierbei
ist die größte Vorsicht geboten. Der
Dilatator ist ein gefährliches Instrument,,
mit dem man sehr leicht die während der
Gravidität aufgelockerten Gewebe ver¬
letzen kann. Die Blutung solcher Ver¬
letzung ist oft sehr schwer. So wurde-
vor kurzem ein Fall eingeliefert, bei dem
mit dem Dilatator die rechte Cerviswand’
dicht vor dem inneren Muttermund per¬
foriert war. Der ’ behandelnde Arzt:
glaubte, er sei im Uterus und diktierte-
weiter. Bei der Curettage setzte eine-
sehr starke Blutung ein. Die hier vor¬
genommene Laparotomie ergab eine Zer¬
reißung der Arteria und Vena uterina.
und der Vena hypogastrica.
Man dilatiert gewöhnlich so weit, bfe
man mit dem Finger gut in den Uterus-
hineinkommt, dann löst man vorsichtig:
die an der Uteruswand sitzenden Placen-
tateile, indem man sich den Uterus vom
den Bauchdecken aus auf den Finger
stülpt, und sucht die gelösten Teile sofort
zu entfernen. Darauf kurettiert man mit
einer großen, scharfen, breitbasigen Cu-
rette recht vorsichtig so lange, bis mam
das knirschende Geräusch der Musku¬
latur hört. Gelingt es nicht, manuell dem
Föten oder den Kopf des Föten, der*
häufig abreißt, durch den engen Mutter¬
mund herauszubefördern, so eignet sichi
zum Fassen desselben sehr gut die Winter-
sche Abortzange. Es gibt nun viele-
Autoren, die jedes Instrument verwerfen.
Zweifellos bringt diese Behandlungsart
am wenigsten Gefahren mit sich. Doch-
ich halte die Anwendung dieser beiden
Instrumente für ganz ungefährlich, nach¬
dem man vorher manuell alles gelöst
und zum Teil Entfernt hat, und sich so
über die Lage des Uterus, Ansatzstelle'
der Placenta genau orientiert hat. Das.
August^
Die Therapie der Gegenwart 1921
301
schlechteste, gefährlichste, aber doch leider
noch so häufig angewandte Instrument
ist die Kornzange. Gerade hiermit sind
die meisten Verletzungen angerichtet wor¬
den. Ebenso ist vor den beliebten kleinen
Curetten, die nicht weniger gefährlich
sind, als die Kornzange, zu warnen. Auch
mit der Abortzange sind Verletzungen
von Bumm, Sellheim, Herz und andern
beschrieben worden, bei denen die Uterus¬
wand mitgefaßt und zerrissen, ja sogar
Darmschlingen hervorgezogen sind. Des¬
halb ist es dringend notwendig, mit der
Abortzange nur vorher gelöste Teile zu
entfernen, ohne auch nur die geringste
Gewalt anzuwenden. Die nach der Aus¬
räumung einsetzende Blutung steht' mei¬
stens, wenn der Uterus ganz leer ist. Eine
Tamponade des Uterus ist sehr- schwer,
und nur bei ganz bedrohlichen Blutungen
angebracht. Die Contractioii des Uterus
kann durch mechanische Mittel, wie heiße
beziehungsweise kalte Spülungen, durch
Reiben des Uterus und durch medika¬
mentöse Mittel, wie Sekale beziehungs¬
weise Tenosin und Hypophysin, noch
unterstützt werden. Andere Mittel zur
Blutstillung sind Ätzen der Uteruswand-
mit 50 %iger Eisenchloridlösung oder
Carbolsäure. Eine Vergiftung tritt nicht
ein, weil der sich bildende Schorf die
Resorption verhindert. Auf einen Fehler,
der so häufig begangen wird, möchte ich
aufmerksam machen. Nachdem derUterus
curettiert und schon gespült ist, wnrd oft
nachgefühlt, ob noch Reste zurück¬
geblieben sind. Hierdurch werden wieder
Keime, sei es von der nicht mehr sterilen
Hand des Operateurs, sei es aus der
Scheide, die eine große Bakterienflora
enthält, in die in eine frische Wundhöhle
umgewandelte Uterushöhle gebracht.
Nach dieser eben angegebenen Methode
wird verfahren, wenn größere Reste
im Uterus enthalten sind. Nimmt man
aber nach dem Untersuchungsbefund an,
daß nur kleine Brocken im Uterus zu¬
rückgeblieben sind oder daß es sich um
eine Endometritis post abortum handelt,
dann genügt es, mit einer kleineren aber
doch breiten Curette zu curettieren, nach¬
dem man vorher vorsichtig mit einigen
niedrigen Nummern der Hegarschen Me¬
talldilatatoren erweitert hat.
Dieser Behandlunsgmethode des «asep¬
tischen Abortes stehen einige Autoren
gegenüber, die dem Instrument allein den
Vorrang geben. Sie verschmähen das
lange Herumkneten auf dem Bauch der
Patientin bei der manuellen Ausräumung
und sind der Ansicht, daß durch den
Finger die Keime noch mehr in die Wand
des Uterus hineingedrückt werden.
Ich komme jetzt zu der zweiten Kate¬
gorie der Aborte, zu den fieberhaften.
Gerade in den letzten Jahren haben sich
hier zwei Therapien herausgebildet, deren
Anhänger sich schroff gegenüberstehen.
Das ist die aktive und exspektative Be¬
handlung. Bis vor etwa zehn Jahren gab
es nur eine Ansicht, aktiv vorzugehen,,
aus dem Uterus möglichst schnell* die
infizierten Reste zu entfernen. Die
Infektion des Abortes erfolgt sowohl
durch aktiven Keimimport auf die Wund¬
fläche im Uterus, als auch durch spontane
Keimassension. Eine Übertragung durch
das Blut ist sehr selten.
Die von den verschiedenen Autoren
vorgenommene Einteilung des fieber¬
haften Abortes nach dem Bakterienbefuncf
hat nur wissenschaftlichen Wert, ist für
den Praktiker undurchführbar und hat
praktisch nicht so große Bedeutung. Auch
die Trennung der Aborte in akut-fieber¬
hafte und chronisch-fieberhafte, wie
Warnekros sie angibt, kommt nur für
die Klinik in Betracht. Für den Praktiker
kann es nur eine Einteilung geben, solche,,
bei denen die Infektion noch auf dem
Uterus beschränkt ist und solche, bei
denen die Entzündung schon weiter vor¬
geschritten ist. Diese Trennung allein
kann dem Praktiker für seine Eingriffe
als Richtschnur gelten. Ja, einige Autoren
gehen sogar noch weiter: ,,Nicht der
Nachweis bestehenden oder vorausgegan¬
genen Fiebers, nicht die bakteriologische
Untersuchung, sondern einzig *und allein
der Palpationsbefund soll das thera¬
peutische Vorgehen bestimmen.“
Ich beginne mit der letzten Art von
Aborten, bei denen die Infektion schon
weiter gegangen ist. Hierin sind sich alle
Autoren einig, diese Kategorie von
Aborten muß exsp^ktativ behandelt wer¬
den, wenn durch manifeste pathologisch¬
anatomische Veränderungen neben dem
Uterus ein Fortschreiten der Infektion
nachweisbar ist. Diese Aborte sind als
kompliziert zu betrachten. In diesen
Fällen hat man nicht den Abort, sondern
den dadurch entstandenen Entzündungs¬
prozeß, die Salpingitis, Parametritis und
Peritonitis, zu behandeln. Zum Zustande¬
kommen einer Infektion sind disponie¬
rende Momente notwendig, und hierzu
gehört an erster Stelle die Retention
infizierter Eireste, so daß durch den utero-
placentaren Kreislauf eine dauernde
302
Die Therapie der Gegenwart 1921
' August
Brücke zwischen infiziertem fötalen Ge¬
webe und mütterlichem Organismus auf-
rechterhalten wird. Solange diese Ver¬
bindung besteht, ist auch die Möglichkeit
vorhanden, daß immer wieder frische
Keime von diesem ,,Anreicherungsver¬
fahren'* in das mütterliche Blut über¬
gehen. — Der positive Blutbefund besagt
nichts, solange die Circulation hier er¬
halten ist. Ich will hier vorwegnehmen,
daß.in sehr vielen Fällen, sofern der utero-
placentare Kreislauf unterbrochen ist,
die Blutbefunde negativ ausfallen. Des¬
halb stehen heute die meisten Autoren
^uf dem Standpunkt, möglichst schnell
schonend den Uterus zu entleeren. Ob
der Föt schon abgegangen ist oder nicht,
ob die ganze Placenta oder größere
Placentastücke im Uterus enthalten sind,
ist auch hier für den operativen Eingriff
ohne Bedeutung. Es gilt nur der Grund¬
satz auszuräumen, ohne neue Verletzun¬
gen zu verursachen, da nach der Aus¬
räumung eine Wundhöhle entstanden ist,
die ohnehin genügend Infektionsmöglich¬
keiten bietet.
Bei offenem Muttermund gestaltet
sich die Operation genau so, wie beim
aseptischen Abort. Es ist wichtig, mit
dem Finger auch die kleinsten Teile zu
ontfernen, da sie den weiteren Heilungs¬
verlauf nur stören können. Ist der Mutter¬
mund geschlossen, so ist der Eingriff
komplizierter. Man muß jetzt sofort mit
den Hegarschen Metalldilatatoren erwei¬
tern und dann wieder manuell ausräumen.
Schonender ist auch hier die Laminaria-
behandlung, doch soll hierbei infolge
Stauung des Sekretes häufig Fieber auf-
freten. Die Schäden der Laminaria-
behandlung werden zweifellos über-
schätzt. Der Laminariastift liegt ja nur
wenige Stunden. Die Sekretstauung kann
man etwas verhindern indem man Hohl¬
stifte verwendet. Durch die Laminaria-
^tifte wird die Cervix leicht gedehnt und
nachgiebiger. Einrisse, wie sie sonst auf-
treten müssen, werden vermieden, wenn
man nach Entfernung des Laminaria-
stiftes noch mit dem Hegar erweitert.
Ich rate davon ab, nach manueller Aus¬
räumung mit der Curette nachzukuret-
fieren oder gar ohne vorherige Lösung der
Placenta zu kurettieren. Es gibt Autoren,
die auch beim septischen Abort die
manuelle Ausräumung verwerfen und der
Curette den Vorzug geben aus Gründen,
wie ich sie beim aseptischen Abort an¬
geführt habe. Es werden aber wohl
sicher mehr Keime in die weiten Blut- und
Lymphgefäße- gelangen, die durch die
Curette eröffnet werden. Außerdem
betone ich nochmals, daß die Curette
ungefährlich ist in der Hand des Geübten.
Und selbst der Geübteste kann mit der
Curette gerade beim septischen Uterus,
der noch weicher und deshalb leichter zu
perforieren ist, als der aseptische, Ver¬
letzungen yerursachen. Man muß be¬
denken, daß manchem Praktiker die
Übung fehlt und daß jede Perforation das
Leben der Patientin aufs schwerste ge¬
fährdet. An jede Ausräumung eines
fieberhaften Abortes schließe man eine
heiße Alkoholspülung, die die Kontraktion
des Uterus anregt.
Zum Schluß noch ein Wort über dm
expectative Behandlung des septischen
Abortes. Wie bereits hervorgehoben, war
bis vor zirka zehn Jahren die aktive
Therapie die Methode der Wahl, bis
Winter mit einer neuen Behandlungsart
hervortrat, ganz konservativ zu verfahren.
Nach seiner Ansicht ist die Methode des
Eingriffes nicht abhängig von dem Fieber,
sondern vom bakteriologischen Befund
des Uterus beziehungsweise Scheiden¬
sekretes und des Blutes. Winter räumte
allen mit hämolytischen Streptokokken
infizierten Aborten wegen der Pathogeni¬
tät und Virulenz der Keimart eine Sonder¬
stellung ein. ,,Es gibt nur eine bakteriolo¬
gische Indikationsstellung." Walthard
geht noch weiter. Er will in diese Kate¬
gorie die mit Gonokokken und Staphylo¬
kokken infizierten Aborte eingereiht wis¬
sen. Die Autoren sind der Ansicht, daß
sich bei diesen Aborten ein sogenannter
Demarkationsfall bildet, der bei der Aus¬
räumung zerstört wird, sodaß es leicht
infolge der diesen Keimen eigenen ,,Pene¬
trationsfähigkeit" zu einer Sepsis kommen
muß. Es ist aber demgegenüber fest¬
gestellt worden, daß die große Pene¬
trationsfähigkeit keine besondere Eigen¬
schaft der Streptokokken ist, sondern
daß sie auch andere Keime besitzen. Die
Gegner dieser expectativen Methode
stützen sich darauf, daß selbst bei streng¬
stem konservativen Verhalten Sepsis ein-
treten kann, während andererseits trotz
aktiven Vorgehens die Streptokokken-
Bakteriämie verschwindet. So konnte
oft festgestellt werden, daß die vor der
Ausräumung im Blut vorhandenen Keime
nach dem Eingriff nicht mehr nachweisbar
waren. Es ist klar, daß diese genaue
bakteriologische Untersuchung für den
Praktiker nicht möglich ist. Außerdem
ist die Dauer dieser Behandlung wesent-
August
Die’ Therapie der Gegenwart 1921
303
lieh länger. Der" Zeitraum, bis das end-
-gültige Ergebnis der bakteriologischen
Untersuchung vorliegt, beträgt, wie Neu,
ein Anhänger der konservativen Behand¬
lung zugibt, 2—5 Tage. Eine dringende
Indikation zur sofortigen Ausräumung
fieberhafter Aborte gibt es nach Neu
selbst bei schweren Blutungen nicht
mehr. Doch hierin stimmen die Anhänger
der konservativen Therapie nicht überein.
Benthin, ein eifriger Verteidiger der
^xpectativen Methode, gibf/zu, daß in
8—10% aller Fälle wegen zu starker
Blutung eingegriffen werden muß. Gerade
in letzter Zeit hatte ich Gelegenheit, sehr
stark ausgeblutete Aborte zu beobachten.
Und wenn die Blutung auch durch gründ¬
liche Tamponade zu beherrschen ist, so
ist wohl kaum zu zweifeln, daß bei der
großen Infektionsgefahr, die die Tam¬
ponade bietet, solche ausgebluteten Pa¬
tientinnen eher einer Infektion erliegen
werden.
Nach der eben ausgeführten aktiven
Methode sind im Krankenhause Moabit
gegen 450 Aborte behandelt worden.
Von diesen 450 Aborten ist ein septischer
Fall ad exitum gekommen, ein zweiter
Fall, der ad exitum kam, war vorher be¬
reits ankurettiert worden, war bei der
Einlieferung schwer septisch, kann also
wohl nicht dieser Behandlungsmethode
zur Last gelegt werden. Die Zahl der be¬
handelten Fälle scheint mir groß genug zu
sein, um auf den Wert der Methode einen
Rückschluß machen zu können.
Ans der vormals Lassar’schen Klinik in Berlin.
Zur Trockenbehandlung der weiblichen Gonorrhoe und des Fluor.
Von Dr. Walter Treuherz, Assistent der Klinik.
In unserer Klinik sind bis jetzt die
verschiedensten Mittel zur Beseitigung
der weiblichen Gonorrhoe und des Fluor
angewandt worden. Es wurden in 15 %iger
Ichthynatlösung getränkte Tampons gegen
die Cervix gelegt, die Urethra wurde mit
Ichthynat gepinselt, Formaldehydtam¬
pons in Verbindung mit Spülungen mit
Liq. Alum. acet., AgNOg-Spülungen wur¬
den appliziert, Holzessig und vieles mehr.
Von allen diesen Mitteln ist festgestellt
worden, daß sie sehr wohl die Gonorrhoe
oder den Fluor beseitigen können; aber
sie tun das nicht sicher und ihre Appli¬
kation ist nicht selten mit Schädigungen
der Vaginal-, Urethral- und vor allem
der Cervicalschleimhaut verbunden, ganz
abgesehen davon, daß man den einst¬
weilen noch auf Urethra und Cervix be¬
schränkten Prozeß durch die Spülungen
oft genug nach den Tuben treibt. Häufig
war die Anwendung dieser Mittel auch
noch recht schmerzhaft (Urethralpinse¬
lungen mit Ichthynat usw.), so daß es
oft genug vorkam, daß die Patientinnen
sich nur unregelmäßig zur Behandlung
•einfanden.
Es lag daher der Gedanke nahe, ein
Mittel zur Beseitigung der beiden Krank¬
heiten heranzuziehen, das die Gefahr
•der Verschleppung der Gonorrhoe oder
des mit Bakterien überladenen Sekretes
ausschließt, dabei aber möglichst gut in
alle Falten und Buchten der Genital¬
schleimhäute einzudringen vermag; nach
diesen Überlegungen War von vornherein
unerwünscht jede Behandlung, zu deren
Unterstützung Ausspülungen irgend¬
welcher Art notwendig gewesen wären,
jedes Mittel dagegen erwünscht, das
trocken anwendbar und wirksam ist.
Die Trockenbehandlung der Gonorrhoe
ist — aus den schon angedeuteten Grün¬
den — zuerst von Nassauer durchgeführt
worden; als einziges Mittel, das hierzu ge¬
eignet sein sollte, machte Nassauer
Bolus alba bekannt. Dies ist eine sehr
gut absorbierende, aber nur sehr unzu¬
länglich desinfizierende Substanz, die
bald noch weitergehende Fehler aufwies,
infolge deren sie als unzweckmäßig ab¬
gelehnt wurde. Zu diesen Fehlern gehört
die Tatsache, daß die mit Bolus behandelte
Schleimhaut im Laufeder Behandlung mit
Krusten und Bolusbröckeln bedeckt wird,
die nur sehr schwer entfernbar sind, daß
weiterhin das Einführen von Speculis in
die völlig trockene und rissig gewordene
Vagina Schmerzen und Blutungen her¬
beiführt, welche nur vermieden werden
können, wenn auf die von Nassauer
selbst verpönte Methode der Spülungen
zurückgegriffen wird. Diese letzte Not¬
wendigkeit entzog der Bolusbehandlung
völlig den Boden und nicht zuletzt auch
die Berechtigung, als Trockenbehandlung
aufgefaßt zu werden.
Von einer wirklichen Trockenbehand¬
lung kann doch nur dann die Rede sein,
wenn das in die Vagina oder in die Cervix
gebrachte Medikament sich von selbst
in den dort vorhandenen Sekreten auf¬
löst, diese desinfiziert und von
selbst nach außen befördert.
304
Die Therapie der Gegenwart 1921
August
Diese Forderung wurde vor einigen
Jahren durch zwei Präparate annähernd
erfüllt, die in Form von Stylis oder
Tabletten in die Vagina eingeführt wur¬
den, sich dort unter Entwicklung von
Kohlensäure auflösten und dabei noch
ein blutstillendes oder ein antiseptisches
Mittel als Zusatz enthielten (Ensemori
und Tampospuman).
Den Gedanken, Wunden oder wunde
Stellen der Schleimhäute usw. mit Mit¬
teln zu behandeln, die nach ihrer Applika¬
tion Kohlensäureschaum entwickeln und
dadurch am besten geeignet sind, in jede.
noch so verborgen liegende Stelle der
Wunde einzudringen, hat Mendel (Essen)
vor mehreren Jahren ausgesprochen (M.
m. W. 1915, Nr. 27, S. 932—934); er hat
die Durchführbarkeit dieses Gedankens
Während des Krieges bewiesen, und es hat
sich gezeigt, daß die von ihm hergestellten
„Kohlensäurewundstifte“ sich sehr gut
bewähl*t haben.
Die Auffassung, daß der Sauerstoff
in statu nascendi besonders günstige Wir¬
kungen auf Wunden beziehungsweise
Schleimhäute ausübe, teilte er nicht; er
wies nach, daß der Sauerstoff so gut wie
gar nicht desinfizierend wirke, und daß
erstarke Reizwirkungen ausübt; die letzt¬
genannte Eigenschaft dürfte sehr störend
bei der Anwendung eines Sauerstoff ent¬
wickelnden Mittels wirken.
Das schon vorher zur Wundbehand¬
lung in Form von Stylis benutzte Mittel
wandte Mendel bald darauf in Pulver¬
form zur Behandlung des Fluors und der
weiblichen Gonorrhoe mit Erfolg an (M.
m. W. 1916, Nr. 39, S. 1386—88). Er
Wählte die Pulverisierung deshalb, weil
das in Form von Stylis in die Vagina ge¬
brachte Medikament sich seiner Ansicht
nach nicht fein genug in alle Spalten und
Buchten der Schleimhaut hineinbringen
ließ. Das von ihm angegebene Kohlen¬
säurewundpulver (Dr. Klopfer) besteht
aus einem Gemenge von 9 Teilen Wein¬
säure, 10 Teilen doppeltkohlensaurem
Natron und 19 Teilen Zucker und ist
durch die Fabrik Dr. Klopfer (Dresden)
zu beziehen. Die beiden ersten Bestand¬
teile wirken (wie schon lange bekannt
ist) anästhesierend und desinfizierend und
veranlassen das Aufbrausen des Gemi¬
sches bei Berührungen mit irgendwelchen
Sekreten aus der Vagina, der Cervix usw.,
der Zucker hat, nach den Arbeiten von
Spiro und von Herff eine stark des¬
infizierende Wirkung.
Dieses Mittel habe Ich nun drei Mo¬
nate lang bei den Patientinnen unserer
Poliklinik auf seine Wirksamkeit geprüft
und ich habe dabei sehr günstige Resul¬
tate gesehen. Für das Mittel sprechen:
1. die leichte Form der Anwendung:
das Pulver wird mittels eines Gebläses
in die entfaltete Vagina und auf die Cervix
geblasen^),und zwar einmal täglich. .
2. die völlige Schmerzlosigkeit, sogar
bei der Einführung des Mittels in die
Urethra; die Behandlung der Urethra
habe ich mit kohlensauren Wundstiften
ausgeführt, welche sich mit Leichtigkeit
in die Urethra hineinschieben lassen und
dort natürlich dieselben Wirkungen ent¬
falten, wie das Wundpulver an der Cer¬
vix. Es kommt vor, daß die Stifte un¬
mittelbar nach dem Einführen in die
Urethra wieder nach außen gleiten; dies
wird am besten dadurch vermieden, daß«
man einen Augenblick die Öffnung der
Urethra zudrückt; sobald der Stift be¬
gonnen hat sich auf zulösen, gleitet er
nicht mehr nach außen.
Das in die Vagina gebrachte Pulver
entwickelt dort sofort- einen stark des¬
infizierenden Schaum unter hohem Druck
(CO-Innendruck), welcher den Schaum
in alle Spalten und Buchten der Schleim¬
haut treibt und so in idealer Weise das
Medikament in alle Stellen der infizierten
Schleimhaut trägt. Hierbei hat es noch
die (von Mendel in der obenerwähnten
Arbeit angegebenen) Vorteile, daß es die
Vitalität der Schleimhaut aufrechterhält;
hierdurch kommt der mechanischen und
chemischen Wirkung des Mittels die Ab¬
wehrtätigkeit der Schleimhaut zu Hilfe.
Bei vielen Patientinnen ging die Menge
des Sekretes schon nach acht Tagen stark
zurück und nach vier bis sechs Wochen
war das Sekret vollständig verschwunden.
Zur Illustration zwei kurze Kranken¬
geschichten:
Frl. D. Gonorrhoe, Fluor, seit etwa zwei'
Monaten in Behandlung. Therapie bis dahin r
Ichthynattampons, Ichthynatsupositorien, Aus¬
spülungen mit Liq. Alum. acet. und Formalin¬
tampons. Am Ende dieser zwei Monate langen
Behandlung hat der Ausfluß nur wenig an Stärke
nachgelassen, im mikroskopischen Präparat des-
Cervixsekretes finden sich reichlich Leukocyten.
Seit dem 26. Januar Kohlensäurewundpulver
(Mendel), sonst keine anderen Maßnahmen.
1. Februar: Cervix ein wenig gerötet, Fluor
vermindert, enthält reichlich Leukocyten.
5. Februar: Cervix blaßrot, wenig Fluor.
8. Februar: Fluor wieder stärker geworden.
1) Ein hierfür besonders geeignetes Gebläse
ist von Gebrüder Lappe in Essen (Ruhr) nach der
Angabe von Sanitätsrat Dr. Mendel in Essen
hergestellt worden und von dort zu beziehen.
August
305
Die Therapie der Gegenwart 1921'
15. Februar: Fluor vermindert.
23. Februar: Fluor fast völlig verschwunden.
14 Tage gar keine Behandlung.
8., März: Wenig Sekret, glasig, enthält ganz
vereinzelte Leukocyten.
15. März: Kommt unregelmäßig; Befund wie
am 8. März.
20. März: Geheilt entlassen.
Frl. T., Prostituierte, Gonorrhöe und Fluor.
26. Januar bestand mäßig starker Fluor, Cervix
Gonorrhoe. Mikroskopisch: Gonokokken nach-
igewiesen. Im Cervixsekret sehr viel Leukocyten.
1. Februar: Fluor nachgelassen.
8. Februar: Fluor fast völlig verschwunden,
mikroskopisches Präparat enthält nur noch ver¬
einzelte Leukocyten, keine Gonokokken, über¬
haupt keine Bakterien irgendwelcher Art
<das erste Präparat hatte neben Gonokokken die
übliche ungeheure Menge von anderen Bakterien
enthalten).
Kommt unregelmäßig vom 10. bis 25. Februar,
daher nur schlechte Behandlung. Seit dem
26. Februar wieder regelmäßig.
26. Febrvar enthält das Präparat viel Leuko¬
cyten, keine Gonokokken.
2. März: Nur noch ein glasiger Tropfen an der
Cervix, vereinzelte Leukocyten.
Seitdem nicht wiedergekommen.
Diese beiden aus meinen übrigen
Krankengeschichten herausgegriffenen Be¬
funde zeigen einerseits, daß das Kohlen¬
säurewundpulver die Fähigkeit besitzt,
da günstig und verhältnismäßig schnell
zu wirken, wo schon monatelange Be¬
handlung nur geringe Erfolge gehabt hat,
dann aber auch, daß es, gleich von vorn¬
herein angewendet, in sehr kurzer Zeit
den Fluor beseitigt und das Cervixsekret
überhaupt völlig bakterienfrei
macht (dieser ^Befund kehrt bei allen
meinen Untersuchungen wieder) was nach
den Arbeiten von v. Herff und Spiro
allerdings nicht verwunderlich ist.
Wenn ich mir auch nach einer verhält¬
nismäßig kurzen Zeit der Untersuchungen
nicht gestatten darf, ein abschließendes
Urteil über die Wirkungen des Kohlen¬
säurewundpulvers bei der Bekämpfung
der Gonorrhoe und des Fluor zu fällen,
so sind die bis jetzt erzielten Resul¬
tate doch' so ermutigend, daß ich es
für angezeigt halte, das Interesse der
Allgemeinheit auf dieses Mittel zu
lenken.
Repetitorium der chirurgischen Therapie.
Von M. Borchardt.
Die Behandlung frischer Verletzungen.
Von • M. Borchardt
Gute Wirkung hat besonders bei pa¬
renchymatösen Blutungen das Andrücken
von in 3%igem Wasserstoffsuperoxyd
getränkter Gaze. Der aus den aufperlen¬
den Gasblasen sich bildende Schaum
dringt in alle Buchten und Nischen der
Wunde und schließt durch den von ihm
ausgeübten Druck allerdings nur kleinste
Gefäßlumina. Diffuse Blutungen aus
großen Wundflächen (Amputationsflächen
an Extremitäten, Mammaamputations¬
wunden) beherrscht man oft schon durch
Aufdrücken von mit warmer physiologi¬
scher Kochsalzlösung befeuchteten oder
auch trockenen Gazekompressen. Man
muß das Manöver nur in Ruhe einige
Minuten fortsetzen und dann die Kom¬
pressen möglichst sanft entfernen. Sachs
und Barfurth empfehlen die Tamponade
mit nichtentfetteter Rohwatte. Diese
hat, im Gegensatz zur hydrophilen Gaze
oder Watte, die Eigenschaft, völlig trocken
zu bleiben. Dadurch wirkt sie nicht
gleichzeitig drainierend, sondern gewähr¬
leistet einen festen, wirklichen Abschluß
der zu komprimierenden blutenden Wund¬
fläche. Die Watte ist in Beutel von nicht
hydrophiler Gaze eingchüllt und in dieser
Form in sterilen Packungen fertig im
und S. Ostrowski. (Fortsetzung.)
Handel zu beziehen. Die Rohwattetam¬
ponade kann, da die Watte sich nicht
vollsaugt und deshalb nicht zersetzt wird,
mehrere Tage — bis zu acht Tagen und
mehr — liegen bleiben. Über eigene Er¬
fahrungen damit verfügen wir nicht. Das
früher in der Chirurgie häufiger ange¬
wandte Eisenchlorid mit seiner verschor-
fenden, darum blutstillenden Eigenschaft,
wird jetzt kaum noch gebraucht. Da¬
gegen erweist sich besonders bei diffusen
Blutungen aus der Nasen- und Blasen¬
schleimhaut das Antipyrin als ein brauch¬
bares Mittel. Im ersteren Falle wird es
in Substanz angewendet, im letzteren in
2 %- bis 5 %iger Lösung in die Blase in¬
jiziert. Von den in der Gynäkologie ge¬
bräuchlichen Hämostypticis seien hier
die Hydrastis- und Mutterkornpräparate
sowie das Styptol (Cotarnin. phtaliciim)
und das Stypticin (Cotarnin. hydrochlari-
cum) erwähnt, weil sie in der Blasen¬
chirurgie bei der Behandlung von Schleim¬
hautblutungen, lokal oder subcutan ein¬
gebracht, doch einen gewissen Nutzen
bringen können.
Unstreitig den ersten Rang in der
Zahl der örtlichen medikamentösen Blut¬
stillungsmittel nehmen die Nebennieren-
39
306
Die Therapie der Gegenwart 1921
August
Präparate ein. Bei der Blutstillung von
akzidentellen oder operativ gesetzten
Wunden des Schädeldaches des Gesichts¬
schädels, der Mund- und Nasenhöhle,
des Pharynx und Larynx ist die Anämi-
sierung durch Adrenalin (organisches Ex¬
trakt), Suprarenin oder Epirenan (syn¬
thetische Präparate) ein wichtiges Hilfs¬
mittel. Man umspritzt das Wundgebiet
mit einer physiologischen Kochsalzlösung,
die auf je 100 ccm etwa 16 bis 20 Tropfen
einer Adrenalinlösung I : 1000 enthält,
oder tamponiert die Wunde mit Gaze¬
bäuschen, die in 1 Adrenalinlösung
getränkt sind.
In neuerer Zeit hat man unter Aus¬
nutzung der jüngsten Forschungen über
die Vorgänge bei der Blutgerinnung mit
Erfolg hartnäckige Blutungen besonders
aus parenchymatösen Organen (Leber,
Milz, Niere) dadurch zum Stillstand ge¬
bracht, daß man Organsäfte oder Organ¬
stückchen auf die blutende Stelle appli¬
zierte: Preßsaft auf Strumen oder Blut¬
serum (Menschen- oder Rinderserum, im
Notfälle das stets zur Verfügung stehende
Diphterieserum, wirken, mit der bluten¬
den Stelle in Berührung gebracht, oftmals
augenblicklich blutstillend.
Man weiß heute, daß fast alle Gewebs-
arten gerinnungsfördernde Substanzen,
sogenannte Thrombenzyme, enthalten.
Den gleichen Erfolg hat das Aufnähen
oder Austamponieren einer Wunde von
frei transplantiertem Muskel-, Fascien-
oder Fettgewebe. Durch die Einführung
dieses Verfahrens in die Chirurgie der
Leber und Milz ist die Beherrschung von
Blutungen aus diesen Organen weit siche¬
rer und vollkommener geworden. Seine
Wirkung beruht auf der örtlichen Zu¬
führung von Thrombenzymen, die eine
beschleunigte Blutgerinnung herbeiführen.
Die Reihe der weiteren zur Bekämp¬
fung parenchymatöser Blutungen ange¬
gebener Methoden findet, um Wieder¬
holungen zu vermeiden, ihre Besprechung
am zweckmäßigsten ’-m Zusammenhang
mit der Darstellung der Theraj^ie solcher
Blutungen, die durch pathologische Ver¬
änderungen des Gerinnungsvorganges be¬
dingt sind.
Kann eine Blutung aus der Schwere
der vorliegenden Verletzung nicht erklärt
werden, beziehungsweise gelingt es nicht,
eine Blutung mit den oben beschriebenen
Mitteln zu beherrschen, so müssen wir an
das Vorliegen einer Hämophilie denken,
zumal wenn wir erfahren, daß der Kranke
auch sonst schon bei geringfügigen Ver¬
letzungen zu außergewöhnlichen Blu^
tungen neige. Die neueren Behandlungs¬
arten der Hämophilie beziehungsweise
der hämorrhagischen Diathesen fußen auf
den Ergebnissen der jüngsten Forschungen
über die Blutgerinnung und bewegen sich
demgemäß in biologischer Richtung.
Die Blutgerinnung wird normalerweise
durch eine Anzahl^ von Substanzen be¬
wirkt, die im Blute zum Teil fertig vor¬
gebildet vorhanden sind oder erst bei
dem Gerinnungsakt selbst entstehen.
Diese Substanzen sind:
1. Das im Plasma gelöste Fibrinogen.
2. Kalksalze.
3. Das Fibrinferment Thrombin, das
sich erst während der Gerinnung aus einer
Vorstufe, dem Thrombogen, bildet.
4. Die Thrombokinase, wejche das
Thrombin aus dem Thrombogen bei
Gegenwart der Kalksalze entstehen läßt.
Im unverletzten Gefäßrohr bleibt die
Gerinnung aus, weil 1. die intakte Gefä߬
wand keine für die Ablagerung von Fibrin¬
belag notwendigen Unebenheiten auf¬
weist, 2. die Thrombokinase in den un¬
versehrten Zellen eingeschlossen ist. Die
aus den physiologisch zugrunde gehenden
Zellen freiwerdende Kinase wird, so
nimmt man an, durch das im Blut
kreisende Antithrombin unwirksam ge¬
macht. Tritt nun eine Verletzung eines
Gefäßes ein, so wi-rd aus den zertrümmer¬
ten Endothelzellen Thrombokinase frei.
Durch ihre Bindung mit dem Throm¬
bogen und den voihandenen Kalksalzeii
entsteht das Thrombin, welches das schon:
vorhandene Fibrinogen in Fibrin um¬
wandelt. Bei der hämophilen Blutge¬
rinnung ist das von der Norm Abweichende
die Gerinnungsverzögerung, die man sich
durch eine ungenügende Kinaseabschei-
dung verursacht denkt:
Schema der Blutgerinnung nach Fuld-
Rosin:
Blutplasma Organzellen
I . 1
Thrombogen Thrombokinase
Kalksalze
Thrombin \
+ Thrombogen J
= Fibrins
Eine dieser Anschauung von dem
Wesen der Blutgerinnung Rechnung tra¬
gende Therapie kann also auf zweierlei
Weise einsetzen. Sie kann entweder als
August
Die Therapie der Gegenwart 1921
307
fehlend angenommenen Gerinnungsfaktor
direkt in die Blutbahn oder auf die
blutende Stelle bringen oder indirekt
dem Blut Substanzen einverleiben, die
eine Beschleun'guhg des Gerinnungsvor-
ganges bewirken. Reine Kinasen darf
man nicht in die Blutbahn einbringen,
weil ihre gerinnungsmachende Wirkung
so groß sein kann, daß Thrombosen ent¬
stehen können. Zur Einspritzung geeignet
sind: Frisches Menschen- oder Tierserum,
im Notfälle auch älteres, abgelagertes,
aber weniger wirksames Serum (Di¬
phtherieserum) oder das allerdings schwer
zu beschaffende Plasma aus gesundem
Blut, weiter Extrakte aus zelligen Or¬
ganen (Leber, Niere), die reichlich Kinase
enthalten. Sehr wirksam ist ferner die
Einverleibung von frischem, nativem, ge¬
sundem, vollständigem oder in bestimmter
Weise vorbehandeltem Blut mit seinen
kinasereichen zelligen Bestandteilen in
die Blutbahn des Hämophilen oder intra¬
muskulär. (Siehe nächsten Abschnitt:
„Behandlungdes Blutverlustesdurch Blut¬
transfusion“.) Das mit Natrium-citricum-
Lösung zur Gerinnungshemmung ver¬
setzte Spenderblut fördert, wie Tierver¬
suche gezeigt haben, die Gerinnung des
Hämophilikerblutes nicht weniger als
natives oder defibriniertes Blut. Dem
letzteren werden ganz besonders gerin¬
nungsfördernde Eigenschaften nachge¬
rühmt. Alle diese (Blutungs-)Stoffe wirken
auch bei lokaler Applikation am Orte
der Blutung.
Für die örtliche Anwendung eignen
sich aber besonders die rein hergestellten
Thrombokinasen. Man kann sie entweder
selbst hersteilen, indem man frische Leber
oder Niere fein verreibt, in Kochsalz¬
lösung emulgiert und die'Emulsion durch
ein Filter passieren läßt, oder aber man
benutzt zweckmäßiger die von Strong
aus der Schafslunge unter aseptischen
Kautelen hergestellte, unter dem Namen
„Clauden“ im Handel befindliche Kinase,
die als Pulver auf die blutende Stelle auf¬
geblasen wird. Von vielen Chirurgen wird
das von Fonio aus Säugetierthrombocyten
gewonnene Koagulen zur Blutstillung
benutzt. Das weißliche thermostabile,
wasserlösliche Pulver wird im Verhältnis
1 : 10 in physiologischer Kochsalzlösung
gelöst, kurz aufgekocht und mittels Tam¬
pon oder unmittelbar auf die blutenae
Stelle aufgebracht, nachdem diese sorg¬
fältig von Gerinnseln befreit ist. Nach
unserer Erfahrung wird die Bedeutung
dieser Stoffe vielfach überschätzt.
Von indirekt wirkenden thrombo-
kinetischen Stoffen ist eine ganze Anzahl
im Gebrauch. In erster Linie das Pepton-
Witte, das merkwürdigerweise die Ge¬
rinnungsfähigkeit normalen Blutes herab¬
setzt, die des Hämophilikerblutes jedoch
erheblich steigert. Man injiziert etwa
10 ccm einer 5%igen Lösung 0,5 Pep¬
ton in die Blutbahn.
Seltener zur Anwendung kommende
Mittel sind Injektionen von Schilddrüsen¬
extrakt sowie einer 2 %igen Lösung von
nucleinsaurem Natron.
Von den Behandlungsmethoden, bei
aenen mit einem Mangel an Kalksalzen im
Hämophilikerblut gerechnet wird, ist viel¬
fach die Anwendung der Kalksalze im
Gebrauch. Zumeist werden große Dosen
von Calcium lacticum (10 bis 15 g pro die)
per OS oder intravenöse Injektionen von
Calcium chloratum in Lösung (wenige
Kubikzentimeter einer* 1- bis 2%igen
Lösung) empfohlen. Wir verwenden die
Calciumsalze hauptsächlich prophylak¬
tisch gegen cholämische Blutungen. Be¬
weisende Erfolge haben wir aber davon
nicht gesehen. Bei Lungenblutungen und
solchen aus dem Magendarmkanal haben
intravenöse Injektionen von hypertoni¬
scher 5- bis 10%iger Kochsalzlösung
eventuell in Kombination mit Cal¬
cium chloratum (van der Velden) bis¬
weilen einen eklatanten Erfolg. Bekannt
und immer wieder empfohlen ist die
lokale, subcutane, intramuskuläre An¬
wendung, sowie die Verfütterung von
Gelatine, obwohl die Meinungen über
ihren tatsächlichen therapeutischen Wert
geteilt sind. Zur Injektion haben sich die
sterilen, ampullären', nach Erwärmung auf
Körpertemperatur gebrauchsfertigen, 20-
bis 30 %igen Gelatinelösungen ,,Merk“ gut
bewährt. Gelatinelösungen, die gleich¬
zeitig eine Beimengung von Kalksalzen
enthalten, sind unter dem Namen „Cal-
cine“ im Handel erhältlich.
In der jüngsten Zeit ist nun durch die
Entdeckung Stephans von der Be¬
schleunigung der Gerinnungszeit des Blu¬
tes und der Erhöhung des Gerinnungs¬
fermentes im Blute durch Röntgenbe¬
strahlung der Milz der praktischen Chi¬
rurgie ein neues Hilfsmittel zur Blut¬
stillung gegeben worden. Wenn seine
weitere Erprobung an einem umfang¬
reicheren Material seine Zuverlässigkeit
erweisen sollte, so wird dem Verfahren in
der Therapie der kapillären und parenchy¬
matösen Blutungen sowie der Hämo¬
philie und hämorrhagischen Diathesen
39*
308
Die Therapie der Gegenwart 1921
August
ein hervorragender Platz eingeräumt wer¬
den müssen. Aus den Versuchen Step¬
hans, deren Resultate schon durch eine
Reihe praktischer Erfolge gestützt sind
puracz u. A.), geht hervor, daß der Milz,
tind zwar ihrem reticulo-endothelialen
Anteil für die Blutgerinnung eine wesent¬
liche Bedeutung zukommt, und daß man
hieraus in therapeutischer und prophy¬
laktischer Hinsicht Nutzen ziehen kann.
In Frage kommen für die Behandlung
mit einer Röntgenbestrahlung der Milz
alle Fälle von Hämophilie, hämorrha¬
gische Diathesen, cholämische Blutungen,
schwer stillbare parenchymatöse Blu¬
tungen bei Magen-:, Nieren-, Leber-, Stru¬
maoperationen während des Eingriffes
und postoperativ. Die Indikation zur
prophylaktischen Milzbestrahlung ist vor
allen operativen Eingriffen gegeben, bei
denen man auf schwer zu beherrschende,
parenchymatöse bzw. kapilläre Blutun¬
gen gefaßt sein muß oder vor deren Aus¬
führung man, allgemein gesagt, durch
eine der Methoden zur Bestimmung der
Blutgerinnungszeit (Fonio-Schulz) eine
Verzögerung der Gerinnungszeit festge¬
stellt hat. Auf alle Einzelheiten kann hier
nicht genauer eingegangen werden. Die
Bestrahlung wird in rechter Seitenlage des
Patienten nach Abgrenzung des Milz¬
feldes bei einem Focusabstand von 28 cm
vorgenommen. Für therapeutische Wir¬
kung ist ein Drittel, für prophylaktische
ein Viertel der Erythemdosis erforder¬
lich. Wird prophylaktisch bestrahlt, so
ist zu beachten, daß nach den Erfah¬
rungen von Juracz der günstigste Zeit¬
punkt zur Bestrahlung hinsichtlich der
Höhe der Bildung von Gerinnungsfer¬
menten etwa 15—20 Stunden vor dem
Operationstermin liegt, so daß ein Patient,
der am Morgen operiert werden soll, be¬
reits am Abend vorher zu bestrahlen wäre.
Therapeutisches aus Vereinen u. Kongressen
12. Kongreß der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft
zu Hamburg, Pfingsten 1921.
Bericht von Dr. Ernst Friedrich Müller, Hamburg.
Der seit der letzten Tagung zu Wien im Jahre
1913 erstmalig nach dem Kriege anberaumte Kon¬
greß der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft
hatte als Hauptverhandlungsgegenstände zwei
Themen auf die Tagesordnung gesetzt, die durch
ihre Wahl zeigen, wie eng die dermatologische
Wissenschaft mit den großen Fragen der allge¬
meinen medizinischen Forschung zusammenhängt.
Der erste Tag des von mehr als 400 Teilneh¬
mern aus allen Teilen Deutschlands, sowie aus
-dem neutralen und zum Teil auch feindlichen Aus¬
land besuchten Kongresses, der in den Räumen
der Hamburger Universität abgehalten wurde,
war dem Thema: „Liquor und Syphilis“ ge¬
widmet.
’ Als erster sprach Nonne (Hamburg) in einem
großzügig angelegten Referat über die mikro-
■skopischen, chemischen und biologischen Reak¬
tionen der Spinalflüssigkeit und ihre verschieden¬
artigen Kombinationen bei den organischen
syphilitischen Erkrankungen des Nervensystems.
Trotz ihres für die Diagnostik nicht hoch genug
einzuschätzenden Wertes hält er daran f3st, daß
sie nur Hilfsmittel und keinesfalls allein aus¬
schlaggebend für die Diagnose und Therapie sein
können, jedoch sei der weitere Ausbau der be¬
sonders durch die neue Mastixreaktion noch objek¬
tiver und einheitlicher zu gestaltenden Liquor-
Diagnostik in möglichst weitem Umfange er¬
wünscht. Den Änderungen der Liquorreaktion
bei syphilitischen Nervensysiemerkrankungen in
bezug auf die Bewertung der Syphilisheilung steht
er noch skeptisch gegenüber, besonders da sie in
der Deutung der einzelnen Symptome noch nicht
restlos erkannt sind. Seinem mit außerordent¬
lichem Beifall aufgenommenen Referat schloß
sich ein Vortrag von Kyrrle (Wien) an, der be¬
sonders auf Liquorveränderung im Frühstadium
der syphilitischen Erkrankung einging, um an
Hand eines riesenhaften Materials von über zehn¬
tausend Lumbalpunktionen über die Veränderung
und die Beeinflussung der pathologischen Liquor¬
befunde durch die spezifische Behandlung be¬
richtet. Aus dieser Statistik schien die Über¬
legenheit des Salvarsans allein und kombiniert
den anderen Methoden gegenüber deutlich hervor¬
zugehen.
Nach ihm sprach Sachs (Heidelberg) über die
Deutung und Auffassung der Wassermannschen
Reaktion als Krankheitsreaktion, an welche sich
Mitteilungen Kaff kas (Hamburg) über biologisch¬
serologische Untersuchungsmethoden des Liquor
und deren Ergebnisse anschlossen. Von höchstem
Interesse waren die von Ko Ile gemachten Aus¬
führungen über die Aktivierungsmöglichkeiten
des Salvarsans bei der Kaninchensyphilis. Sie
gaben nach seinen eigenen Worten dem Hörer
einen großartigen Einblick in die gewaltigen Ex¬
perimentalarbeiten des Georg Speyer-Hauses
unter Mitarbeit der verschiedenen Disziplinen.
Wenn auch noch nicht zu einem praktisch brauch¬
baren Abschluß gekommen, so zeigte sich doch
die Wichtigkeit der noch wenig bekannten Wech¬
selwirkungen der Metall- und Salvarsanpräparate
im menschlichen und tierischen Körper und die
große Bedeutung der Kolloidchemie für die Er¬
forschung und Verwertung dieser neu entdeckten
Zusammenhänge.
Als letzter berichtet Rost (Freiburg) über
die sogenannte Abortivbehandlung an Hand einer
durch die Deutsche Dermatologische Gesellschaft
veranstaltete Sammelforschung, die es immerhin
für möglich erscheinen läßt, die beginnende
Syphilis durch eine einzige Kur zu heilen und eine
Allgemeindurchseuchung des Organismus von
vornherein zu verhindern.
Gerade zur letzten Frage zeigte die äußerst
lebhafte Diskussion die Wichtigkeit der noch un-
August
Die Therapie der Gegenwart 1921
30Ö
geklärten Frage der Salvarsandosierung, die erst
einer wirklichen Abortivheilung die Voraus¬
setzung geben müßte. Unter den Vorträgen der
am Nachmittag des ersten Tages in den verschie¬
denen Sälen tagenden Versammlungen seien be¬
sonders angeführt Vorträge von Stern (Düssel¬
dorf) über die Infektionsmöglichkeiten durch
Paralytiker, von Brock (Kiel) über den Zusam¬
menhang von Hautkrankheiten und innerer Se¬
kretion, von Lipschütz (Wien) über Unter¬
suchungen über den fieberhaften Bläschenaus¬
schlag und vomWichmann (Hamburg) über die
Hauttuberkulose.
Der zweite Tag brachte zunächst als zweites
Hauptthema die feferate über die Behand¬
lung der Haut- und Geschlechtskrank¬
heiten mit Organismus Waschungen und
Einspritzungen unspecifischer Stoffe.
Weichardt (Erlangen) sprach über die theo¬
retischen Grundlagen der Wirkungsweise dieser
Heilmethoden, die er nicht einem bestimmten
Organsystem zuschreibt, sondern in einer Lei¬
stungssteigerung aller Zellfunktionen zu sehen
glaubt. Er glaubt weiter, der Kolloidstabilität
und ihren Schwankungen besondere Wichtigkeit
für den Wirkungsablauf einräumen zu müssen.
Klingmüller (Kiel) spricht über die Terpentin¬
behandlung und schloß daran unter Voraus¬
setzung der Weichardt sehen Theorien eine
Besprechung der Anwendungsgebiete der Ter-
pentininjektion bei parasitären Hautkrankheiten
und Trichophytien. Er hält das Terpentin, dessen
angeblich schmerzlose Einspritzung in der Dis¬
kussion vielfach bestritten wird, für einen be¬
sonders aussichtsreichen Stoff in der Protein¬
körpertherapie. Nach Linser (Tübingen), der
über die von' ihm zuerst eingeführten Einsprit¬
zungen von normalem und schwangerem Serum
berichtet, gibt R. Müller (Wien) ein ausgedehntes
Referat über die Einführung, Ausdehnung und die
heutigen Anwendungsgebiete der Milchinjek¬
tionen, wobei er sehr genau über Behandlungs¬
arten und Erfolge, besonders bei eitrigen Haut¬
affektionen und den gonorrhoischen Komplika¬
tionen berichtet. Auch hier war die Aussprache
äußerst rege. Neben einfacher Anerkennung
bzw. Ablehnung der unspezifischen Behandlungs¬
methoden wurde von einzelnen Rednern be¬
sonders die Notwendigkeit einer Erkennung der
Wirkungsweise in den Vordergrund gestellt.
E. F. Müller (Hamburg) wies auf die hohe Be¬
deutung des myeloischen Systems innerhalb
dieses Wirkungsablaufes hin und verlangte die
Benutzung toxinfreier Präparate, um nicht durch
Nebenwirkungen auf Irrwege in der Erkenntnis
zu kommen.
Mit dem Schlußwort Klingmüllers über die
enorme Wichtigkeit der neuen unspecifischen
Behandlungsmethoden, die auch in der Veterinär¬
medizin außerordentlich schnell an Umfang ge¬
wannen, schloß die Besprechung dieses zweiten
Themas.
Es folgten am Nachmittag des zweiten Tages
Einzelvorträge über Syphilis (unter diesen sei
Richter' (Hamburg) über das von ihm ange¬
gebene kolloide Hg.-Präparat, Kontraluesin, und
Ri ecke (Göttingen) über das Verhalten der
roten Blutkörperchen bei Syphilis erwähnt).
Weiter wurde die Vaccinebehandlung des Schan¬
kers und Fragen auf dem Gebiet der Gonorrhöe
behandelt.
E. Ho ff mann (Bonn) zeigte seine neuen
Leuchtbildmethoden. Nachdem am Abend des,
zweiten Tages ein Festmahl im Uhlenhorster
Fährhaus die Teilnehmer vereinigt hatte, galt der
dritte Verhandlungstag im Hörsaal der Dermato¬
logischen Universitätsklinik des Krankenhauses
St. Georg (Prof. Arning) der Vorstellung von
Fällen. Der vierte und letzte Tag begann mit
einer Schlußsitzung in dem von Prof. Nocht ge¬
leiteten Tropeninstitut, wo seltene Hautkrank¬
heiten der tropischen Zonen gezeigt und be¬
sprochen wurden, und endete mit der Besichtigung
des bekannten Dermatologikums, des Privat-
fcrschungsinstituts von Prof. Dr. P. G. Unna
sowie anderer wissenschaftlicher Institute.
Mit dem Beschluß, die nächste Tagung in
Dresden stattfinden zu lassen, ging der Kongreß
nach einer wissenschaftlich äußerst anregenden
und in bezug auf die Hauptthemen nach einer den
heutigen Stand der Forschung klärenden Tagung
auseinander.
Referate.
Über neurologische Untersuchungen
an Amputierten mit willkürlich beweg¬
lichen Prothesen wird von Veraguth
(Zürich) berichtet. Während früher ein
z. B. am unteren Drittel eines Oberarmes
Am putierter wegen Inaktivitätsatrophie
außer den verlorenen auch die noch
restierenden Muskeln eingebüßt hatte,
werden letztere nach der neuen Sauer¬
bruch sehen Methode wieder zur Tätigkeit
gerufen. Jede Motilitätserneuerung nun,
sagt Verfasser, ist undenkbar ohne die
Mitwirkung von Sensibilitäten. Wichtig
sind dabei, vor allem zur Auslösung
koordinierter und sinnvoller Bewegungen,
die mnemischen Deposita, die im Gehirn
in Form von Erfahrungen über die Folgen
der Bewegung seit Anbeginn seiner Lei¬
stung aufgestapelt sind. Ausgehend von
diesen beiden wichtigen Feststellungen
mußte Verfasser nun herausfinden, welche
Sensibilitäten dem amputierten Oberarm
noch zur Verfügung standen. An sechs,
zum Teils links, zum Teil rechts Ampu¬
tierten prüft Verfasser die Oberflächen-
und Tiefensensibilitäten, die Exkursionen
in den künstlichen Gelenken, stellt Zeige¬
versuche mit der und an die Prothese an
und läßt schließlich noch Scheibenwürfe
ausführen. Die Ergebnisse trägt Verfasser
genau in Scheiben und Tafeln ein. Ver¬
fasser kommt zu dem Schluß, daß unter
optimalen Bedingungen neue Koordi¬
nationsmöglichkeiten in vielfacher Ver¬
mehrung denkbar sind. Es müßten eben,
was gewiß schwierig ist, genügend Kraft¬
quellen geschaffen werden. Man könnte
sich nach Ansicht des Verfassers z. B. vor¬
stellen, daß die Kombinationsmöglich¬
keiten am Oberarm dadurch vergrößert
310
Die Therapie der Gegenwart 1921
August
werden könnten, daß man durch höhere |
Spaltung des Biceps oder Triceps deren
einzelne Hälften als mehr oder weniger
selbständige Kraftquellen wirken ließe.
Friedmann (Berlin).
(D. Zschr. f. Chir., Bd. 161.)
Einen Beitrag zur Technik des
Thoraxverschlusses bei großen
Brustwanddefekten liefert Jehn. Die
Erfahrungen, welche seiner Mitteilung
zugrunde liegen, entstammen der Sauer-
bruchschen Klinik in Zürich und Mün¬
chen. Während des Krieges hat sich die
Einnähung der Lunge in den Brustwand¬
defekt gut bewährt. Immerhin darf dieses
Verfahren nur als ein Notbehelf angesehen
werden. Die jetzt geübte Methode besteht
darin, daß zur Deckung des Defektes das
Zwerchfell verwendet wird. Das Ver¬
fahren kommt zur Anwendung bei breiter
Eröffnung des Thorax nach Schußver-
ietzuhgen, ferner bei der Entfernung
großer Tumoren der Brustwand oder bei
ausgedehnten Brustwandresektionen we¬
gen chronisch entzündlicher Prozesse.
Die Operation gestaltet sich folgender¬
maßen: Nach Entfernung der erkrankten
Abschnitte wird unter Druckdifferenz
die Pleurahöhle weit eröffnet. Es gelingt
nun leicht nach Beiseiteschieben der
Lunge den Nervus phrenicus in der Tiefe
aufzusuchen und zu durchschneiden. Das
Zwerchfell wird dadurch gelähmt und
kann dann ohne Schwierigkeiten in das
Thoraxfenster hineingezogen werden. Hier
wird es an den Rippen festgenäht. Dieser
Verschluß der Pleurahöhle wird noch da¬
durch verstärkt, daß die umgebenden
Weichteile auf das Zwerchfell aufgenäht
werden, eventuell nach deren Mobilisie¬
rung. An zwei Krankengeschichten zeigt
der Verfasser die Wirksamkeit des Ver¬
fahrens. Hayward.
(Zbl. f. Chir. 1921, Nr. 14.)
Hart leib wirft die Frage auf: Ist
der Chloräthylrausch so ganz ungefährlich ?
Zwei Zufälle, von denen der eine einen
unglücklichen Ausgang nahm, sind Ver¬
anlassung zu der Veröffentlichung. Bei
der ersten Kranken, bei der eine Opera¬
tion wegen Gallensteinen vorgenommen’
werden sollte, wurde der Chloräthylrausch
zur Einleitung der Narkose verwendet.
Nachdem die Kranke 20 Tropfen erhalten
hatte, setzte die Atmung aus und der
Puls wurde unregelmäßig. Die Unter¬
suchung des Herzens ergab eine gewaltige
Irregularität, von der der Verfasser sagt,
daß sie derart war, wie er sie noch nie
gehört habe und für die er auch keinen
/
Vergleich heranziehen kann. Von der
Operation wurde Abstand genommen.
Die Patientin gab später an, daß trotz¬
dem sie äußerlich einen ruhigen Ein¬
druck machte, sie doch sehr aufgeregt
gewesen sei. Für diese Fälle birgt, wie
das auch schon anderweits beschrieben
ist, der Chloräthylrausch gewisse Gefahren
in sich. Der zweite Fall soll hier genauer
beschrieben werden: Es handelte sich
um einen 46jährigen Mann, der an einer
Appendicitis acuta perforativa (36 Stun¬
den) litt. Auch hier wurde die Narkose
mit Chloräthyl eingeleitet. Nach 40 Trop¬
fen wurde der Puls unregelmäßig. Jetzt
wurde die Narkose mit Äther fortgesetzt:
Es fand sich die Appendix an mehreren
Stellen perforiert, das Coecum phleg¬
monös. Nach der Operation setzte die
Atmung zeitweilig aus und es mußte
künstliche Atmung gemacht werden. Der
Kranke kam nicht wieder zum Bewußt¬
sein, obwohl schließlich Puls und Atmung
regelmäßig sind. Nachts erfolgt plötzlich
der Tod. Leider konnte eine Obduktion
nicht vorgenommen werden. Die beiden
Fälle mahnen durchaus zur Vorsicht, und
es erscheint geboten, daß ähnliche Fälle
mitgeteilt werden, damit es gelingt, auch
für den Chloräthylrausch, den wohl nie¬
mand mehr missen möchte, genaue Gegen¬
indikationen festzulegen. Hayward.
(Zbl. f.Chir. 1921, Nr. 20.)
Nach Gastroenterostomie ist die interne
Nachbehandlung das wertvollste Vor¬
beugungsmittel gegen nachträgliche Ent¬
wicklung von Ulcus pepticum jejuni.
Wie diese sich zu gestalten hat, setzt
V. Noorden im einem lehrreichen Auf¬
satz auseinander. Wenn überhaupt, so
entsteht das Ulcus jejuni meist in den
ersten Wochen oder Monaten nach der
Operation. Während dieser Zeit soll
die Ernährung mit schwachen ' Säure¬
lockern geschehen. Hierbei ist auch die
,,psycho-reflektorische Saftsekretion“ zu
berücksichtigen, welche die Fernhal¬
tung gerade der sogenannten ,,Lieblings¬
speisen“ verlangt. Man gebe häufig kleine
Mahlzeiten; Verfasser weist besonders auf
die sekretionshemmende Kraft der Fette
und die stark säurehemmende des Kaseins
hin, die sich besonders bei frischem Top¬
fenkäse geltend macht. Von Fetten eignen
sich am besten Suppenflcischfett, frische
und zerlassene Butter, pflanzliche Öle.
Außerdem können auch weichgekochte
oder zu lockeren Speisen verarbeitete
Eier, Weizenbrot, Suppen aus feinen
Zerealien- oder aufgeschlossenen Legu-
August
Die Therapie der Gegenwart 1921
311
minosenmehlen gegeben werden. Alkohol
ist bedenklich. Diese laktovegetabile Kost
schraubt die Saftsekretion des Magens
auf das denkbar geringste Maß zurück.
Frühestens nach drei Wochen kann man
anderen milden Käse, Kartoffelbrei, Ge¬
müse und gekochtes Obst, darauf Nudeln,
Mehlspeisen, Teegebäck zulegen. Alles
muß sorgfältig gekaut werden. Durch
diese Kost wird das Jejunum an die Auf¬
nahme pepsinsäurereicheren Magenin¬
haltes gewöhnt. An Medikamenten könn¬
te man vielleicht Antipepsin, z. B. Amy-
nin (dreimal täglich ein Teelöffel, eine
halbe Stunde nach den Mahlzeiten) oder
Atropin verwenden. Häufiger als Ulcus
jejuni postoperativum sind Darmdyspep¬
sien, die sich gewöhnlich erst in späteren
Monaten oder Jahren einstellen, wenn die
Operierten zur freigewählten Kost zu¬
rückkehren. Zur Vermeidung dieser Stö¬
rungen muß von animalischen Stoffen
rohes oder geräuchertes Bindegewebe aus-
scheiden. Das Fleisch soll zart, bindege-
websarm und abgelagert sein. Gebra¬
tenes Fett ist zu vermeiden. Gemüse,
Salate, Obst dürfen nicht in rohem Zu¬
stande genossen werden; dies führt leicht
zur Gährungsdyspepsie. Vor den Genuß
rohen Materials ist auch deshalb zu
warnen, weil bei Gastroenterostomose
dauernd erhöhte Gefahr des Einschleppens
der Nahrung anhängender, schädlicher
Keime in den Darm besteht. Bei einiger
Vorsicht kann der Gastroenterostomierte
seinen Darm dauernd gesund erhalten.
(Ther. Hmh. 1921, Nr. 7). Kamnitzer.
Über die Behandlung der Hämor¬
rhoiden macht Prof. Völker (Halle) für
die Praxis wertvolle Ausführungen. Die
Anfangszustände, welche durch Jucken,
Stuhlbeschwerden, Katarrhe usw. gekenn¬
zeichnet sind, bei denen aber die eigent¬
lichen schweren Erscheinungen, Blutun¬
gen usw., fehlen, erfordern folgende sym¬
ptomatische Behandlung; Laxantien zur
Regelung des Stuhlganges, kühle Wa-'^
schungen des Afters, Einspritzungen von
adstringierenden Lösungen (Höllenstein
I rlOOO) in den unteren Darmteil, Hantel¬
pessare. Für die ausgebildeten Hämor¬
rhoidalknoten empfiehlt Völker folgende
Einteilung mit Rücksicht auf die Wahl
der Therapie: 1. Hämorrhoiden mit freier
Blutcirculation, 2. aseptisch thrombosierte
Hämorrhoidalknoten, 3. Hämorrhoidal¬
knoten mit Prolaps der Schleimhaut,
4. eingeklemmte Hämorrhoidalknoten.
Von den Hämorrhoidalknoten mit
freier Blutcirculation, eingeteilt in innere
und äußere, sind die inneren die Ursache
der Beschwerden und Blutungen, während
die äußeren meist nur geringe Beschwer¬
den machen. Die Behandlung der inneren
Hämorrhoidalknoten ist sehr wichtig.
Statt des Abbrennens mit dem Thermo¬
kauter unter Benutzung der Langenbeck-
schen Zange, wobei nach Lösung der
Zange die Gefahr der Nachblutung be¬
steht, wendet Völker Carboiinjektionen
an (Acidum carbolicum liquefactum). Für
die Technik zu beachten ist, daß die In¬
jektion richtig in den erweiterten Venen¬
knoten gemacht wird, und daß die in¬
jizierte Menge Carbolsäure so gering als
möglich ist. Technik: Pressen lassen und
Einstich in den sichtbaren Knoten mit
ganz feiner Nadel, nicht zu tief und nicht
hinten wieder heraus. Um möglichst
wenig zu injizieren, benutzt Völker
Spritzen mit Einteilung in zwanzigstel
Kubikmillimeter. Jeder Teilstrich ent¬
spricht ungefähr einem Tropfen. Ein
halber Teilstrich, also ein halber Tropfen
genügt. Wird zuviel eingespritzt, wird
nicht nur die Intima verätzt, sondern es
kommt zur Gangrän und sekundärer
Eiterung. Ist die Technik richtig ge¬
lungen, kommt es zur aseptischen Throm¬
bosierung des Knotens und aus der
thrombosierten Vene wird ein binde¬
gewebiger Strang. Nach einigen Tagen
verlieren sich die bisherigen Schmerzen.
Die Dauererfolge sollen gut sein. Diese
Operation wird nicht ambulant vor¬
genommen, sondern besser mit 24 Stunden
Bettruhe. Die äußeren Hämorrhoidal¬
knoten werden am besten abgebrannt oder
excidiert; das Abbinden lieber vermeiden,
da der abgebundene Knoten gangränös
wird und eventuell zu einer Phlebitis
Veranlassung gibt.
Die thrombosierten Hämorrhoidal¬
knoten, charakterisiert durch ihr ziemlich
plötzliches Auftreten mit lebhaftem
Schmerz, durch ihre Lokalisation an der
Grenze zwischen äußeren und inneren,
von Kirschgröße und harter Konsistenz,
behandelt man am besten durch Schlit¬
zung mit einem feinen Messerchen nach
vorheriger Injektion von einem oder zwei
Tropfen Novocainlösung. Das kleine,
schwarze Coagulum tritt aus dem Knoten
heraus und die Erscheinungen lassen so¬
fort nach.
Bei prolabierten Hämorrhoiden sind
die Carboiinjektionen ungeeignet. Exci-
sion des Hämorrhoidalkranzes nach dem
Whiteheadschen Verfahren unter Scho-
312
Die Therapie der Gegenwart 1921
August
nung des Sphincter ani zur Vermeiaung
sekundärer Afterstrikturen.
Bei den eingeklemmten Hämorrhoiden
kommt es zur Blutstauung, die oft sogar
zur Gangrän führt. Die Knoten sind
mißfarbig, entzündet, die eingetretene
Thrombosierung ist nicht aseptisch, son¬
dern treten mehr oder weniger Erschei¬
nungen von septischem Fieber auf. In
diesem Falle keine Einspritzungen oder
Operationen, sondern Dehnung des
Sphincter zur Erleichterung der Circu-
lation und feuchte Umschläge. Nach Ab¬
klingen der Entzündungen und Fieber¬
erscheinungen Excision.
(M. KI. 1921, Nr. 14.) Seiler (Berlin).
Mit Hohlgiaspessaren, welche von der
Badisch-Thüringischen Glasinstrumenten-
fabrik C. Hülsmann in Thomas- und
Hodgeform hergestellt werden, ist Opitz
sehr zufrieden, da sie sehr leicht sind,
sich leicht reinigen lassen, absolut nicht
reizen. und erheblich billiger sind, als
Hartgummipessare. Wenn vielleicht be¬
fürchtet wird, daß diese Hohlglaspessare
beim Tragen zerbrechen könnten, so ist
dem gegenüberzuhalten, daß bis jetzt
noch kein derartiger Fall gemeldet wurde,
und daß auch mit der Möglichkeit nicht
zu rechnen ist; es sei denn, daß eine so
große Gewalt angewendet würde, bei der
auch sonstige schwere Verletzungen Vor¬
kommen müßten.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(Zbl.f. Gyn. 1921, Nr. 16.);
Dr. H. Graetz berichtet über 11 Fälle
von angeborener Hüftverrenkung, bei
denen zwecks Retention des eingerenkten
Hüftkopfes intrakapsuläre Einspritzungen
von reinem Alkohol angewandt wurden.
Es wurden 1—3 ccm in Narkose an der
hinteren und oberen Kapselpartie inji¬
ziert, darnach die Kapsel kräftig massiert.
Vor der Injektion muß die Spritze ange¬
saugt werden, damit die Kanüle nicht in
ein Blutgefäß gerät. In 7 Fällen war das
anatomische und ^funktionelle Resultat
ein ideales, in 2 Fällen ein gutes. In
2 Fällen blieb das Resultat aus. Es wird
weiter zu prüfen sein, ob die erreichten
Resultate lediglich den Alkoholinjektionen
zu verdanken sind, und nicht, wie wir das
häufig sehen, eine zweite Reposition mit
nachträglichen Gipsverbänden das der
ersten Reposition versagte Resultat er¬
reichte. [Georg Müller.
(Zschr. f. orthop. Chir., Bd. 41, Heft 1/2.)
Auf den Wert der Lichttherapie
bei der Luesbehandluag weist Dr. E.
Hesse hin. Ausgehend von der Er¬
fahrungstatsache, daß in den tropischen
Ländern die Lues bedeutend gutartiger
verläuft, die Tabes und Paralyse meistens
sogar gänzlich fehlen und von den anderen
auch bereits wissenschaftlich erforschten
Einflüssen des Lichtes auf die verschie¬
denen Zellschichten der Haut, kommt
der Verfasser auf die Tätigkeit der ver¬
schiedenen Funktionen einer normalen
gesunden Haut zu sprechen. Außer ihrer
Aufgabe als Schutzorgan nach außen
wird auf ihre Bedeutung als Schutzorgan
nach innen, nämlich als Hauptbildung¬
stätte der Antikörper, hingewiesen. Der
adäquate Reiz für das Hautorgan ist
nach dem Verfasser das Licht. Es kommt
daher besonders als Unterstützung für
die Behandlung der Lues II, deren Haupt¬
erscheinungen in der Haut liegen, in Frage..
Auch für die Vorbeugung der Tabes und
Paralyse hält Verfasser die Lichttherapie
neben der chemotherapeutischen für
äußerst wichtig. Über Wahl der Licht¬
quelle und genaue Dosierung werden
keine Angaben gemacht. Max Cohn.
(Strahlenther. Bd. XII, Heft II.)
Die Heilbarkeit des Mastdarmkrebses
ist durch die rechtzeitige Erkennung be¬
dingt; immer wieder muß auf die Wichtig¬
keit der Frühdiagnose hingewiesen
werden, wie es in dankenswerter Weise
jüngst A. Krecke in München getan hat.
Diese Frühdiagnose bereitet selbst dem
Ungeübten keine Schwierigkeit, sofern
er es nicht scheut, den Finger in den
Mastdarm einzuführen und den Mastdarm
nach allen Seiten gut abzutasten. Selbst
ein kleines Carcinom wird ihm in diesem
Falle nicht entgehen. Die digitale Mast¬
darmuntersuchung gehört eigentlich zu
jeder sorgfältigen Allgemeinuntersuchung,
sie ist angezeigt, wenn Klagen über ganz
leichte Unregelmäßigkeiten der Stuhl¬
entleerung, oft monatelang die einzigen
Zeichen des beginnenden Krebses, vor¬
liegen. Die digitale Untersuchung ist
unbedingt notwendig, wenn örtliche Be¬
schwerden von seiten des Mastdarmes
vorliegen: leiser Druck im Mastdarm,
geringe Schmerzen bei der Defäkation,
Abgang von Schleim und leichten Blut¬
spuren. Ist die Fingeruntersuchung in
diesem Falle ergebnislos, so tritt das
Rektoskop in Anwendung. Die Rekto¬
skopie ist ferner erforderlich, wenn bei
einem Kranken unklare Störungen der
Magen- und Darmtätigkeit auftreten, be¬
sonders, wenn sie mit unbestimmten
August
Die Therapie der Gegenwart 1921
313.
Empfindungen im ganzen Leibe, mit Gas¬
sperre, leichter Abmagerung einhergehen,
oder wenn aus dem Darm nur wenig Blut
abgeht, das auf andere Weise nicht er¬
klärt werden kann. Plötzlich aus dem
Mastdarm einsetzende Blutung deutet mit
großer Wahrscheinlichkeit auf ein hoch¬
sitzendes Carcinom hin.
Um bei der Anwendung des Rekto-
skops keine Darmperforation zu verur¬
sachen, ist jede Gewaltanwendung zu
vermeiden und muß genaue Kontrolle
mit dem Auge geübt werden. Nie in
Narkose rektoskopieren, da in diesem
Falle die notwendige Schmerzäußerung
des Patenten fortfällt, die den Arzt
darauf aufmerksam macht, wenn er auf
falschem Wege ist! Seiler (Berlin).
(M. m. W. 1921, Nr. 16.)
Über die Behandlung des Mastdarm-
•vorfalles bei Kindern schreibt Plenz.
Er hat im Verlauf von zwei Jahren
14 Fälle von Mastdarmvorfall bei Kindern
mittels der freien Fascientransplantation
operiert und geheilt. Der Verfasser hat
über diese Fälle auf einem der letzten
.Abende der Berliner Gesellschaft für
Chirurgie berichtet, fand hier jedoch für
•das operative Vorgehen nicht allgemeine
Zustimmung. Wohl mit Recht betont
er, daß mit der Mitteilung an die Mütter,
daß das Leiden mit der Zeit von selbst
-ausheilt, wenig Nutzen gestiftet werde.
Einmal ist es der Mutter lästig, stets den
Prolaps zurückzubringen, dann aber auch
leidet das Befinden der Patienten dar¬
unter, da die Kinder mit der größten
Angst jeder Stuhlentleerung entgegen¬
sehen. Es ist darum nicht nur die Be¬
seitigung des Leidens sondern vor allem
auch die Hebung des Allgemeinbefindens,
welche das operative Vorgehen als an-
gezeigt erscheinen lassen. Hayward.
(Zbl.f.Chir. 1921, Nr. 20.)
Dr. L. Aubry berichtet über Ergeb-
uisse der supracöndylären Osteotomie bei
Beugecontracturen des Kniegelenkes. Es
wurden im ganzen 104 Fälle in der
Langeschen Klinik (München) mit line¬
arer, keil- und bogenförmiger Osteotomie
behandelt. Bei 40 Fällen konnte das End¬
resultat, das durchweg als günstig zu be¬
zeichnen ist, nachgeprüft werden. Die
Beweglichkeit im Kniegelenk war nach
der Operation geringer, als vor derselben.
Zu Rezidiven neigten am meisten die
tuberkulösen Fälle. Sie ließen sich ver¬
meiden durch ein- bis mehrjähriges Tragen
von Stütz- und Nachtapparaten. Ver¬
fasser verlangt mit Recht, daß der prak¬
tische Arzt von diesen Dingen so viel ver¬
stehen solle, um wenigstens die Kontrolle
über die operierten Fälle zu üben, und sie
so vor Rezidiven zu schützen.
Georg Müller.
(Zschr. f. orthop. Chir., Bd. 41, Heft 1/2.)
Das Indikationsgebiet der Pneumo¬
thoraxtherapie ist neuerdings von - U.
Friedemann in einem kühnen Versuch
auf die Behandlung der kruppösen
Pneumonie ausgedehnt worden. Aus¬
gehend von dem Grundsatz der Chirurgie,
ein akut entzündetes Glied möglichst
ruhigzustellen, bezweckt Friedemann
durch Anlegung eines Pneumothorax die
entzündete Lunge von der Atembewegung
zu befreien. Diese bedingt ja die wech¬
selnde Erweiterung und Kompression der
Lymphspalten, wodurch angeblich die in
der Lymphe enthaltenen Bakterien und
Toxine in den Lymphstrom hinein¬
gepumpt werden. Die Atembewegungen
führen auch zu Gewebsläsionen, indem
sie die durch Fibrin verklebtenAlveolar-
Wände voneinander reißen und also der
Heilung entgegenwirken. Das alles soll
durch einen Pneumothorax vermieden
Werden. Besonders aber werden die sehr
quälenden Pleuraschmerzen aufgehoben,
die durch die Reibung der Pleurablätter
entstehen. Akute tuberkulöse Prozesse
haben sich freilich für eine Pneumothorax¬
therapie ungeeignet erwiesen, es kam da¬
nach zu Progredienz und sogar miliarer
Aussaat. Im Gegensatz hierzu hält
Friedemann die kruppöse Pneumonie
für durchaus geeignet, allerdings unter
der Voraussetzung, daß es sich um eine
einseitige Pneumonie handelt und keine
Verwachsungen bestehen. Bei Über¬
greifen der Erkrankung auf die andere
Lunge wurde der Verlauf durch den
Pneumothorax keineswegs in ungünstiger
Weise beeinflußt. Was die Technik
anbelangt, so wählt man am besten die
vordere und mittlere Axillarlinie in Höhe
des fünften I.K.R. und läßt 400 bis
600 ccm Stickstoff einblasen. Unter¬
brechung der Füllung bei Oppressions-
gefühl. War die Pneumonie nicht in¬
zwischen abgeklungen, dann zweit§ Fül¬
lung nach zwei Tagen von gleicher Menge.
Friedemann gibt die Krankengeschich¬
ten von sieben Fällen an, bei denen er
überall einen guten Erfolg verzeichnen
konnte. Häufig ließen schon während
der Füllung die Schmerzen nach und
wurde die Atmung freier. Die Ein¬
wirkung auf den Krankheitsprozeß machte
40
314
Die Therapie der Gegenwart 1921
Augüst
sich dahin bemerkbar, daß bald nach der
Füllung die Temperatur schnell lytisch her¬
abging und die toxischen Erscheinungen
nachließen, ln einem Falle wurde sogar
am zweiten Krankheitstage die Pneu¬
monie kupiert und am vierten Tage begann
die Resolution.
Friedemanns Krankengeschichten
sind ermutigend genug, um dem in der
Methodik geübten Arzt die Anlegung
des Pneumothorax bei kruppöser Pneu¬
monie versuchsweise zu gestatten.
(D. m. W. 1921, Nr. 16.) Seiler (Berlin).
Die Dauerberieselung der Blase
vor und nach der Prostatektomie, ins¬
besondere der zweizeitigen, wird von
Roedelius nach den Erfahrungen der
Kömmellschen Klinik in Hamburg emp¬
fohlen. Die Resultate der Prostatektomie
haben sich ganz wesentlich gebessert, seit¬
dem allgemein vor der Operation der
Zustand der Nieren einer genauen Prü¬
fung unterzogen wird und in denjenigen
Fällen, bei denen schlechte Werte bei der
Nierenfunktion gefunden werden, oder
sonst der Allgemeinzustand als nicht be¬
friedigend bezeichnet werden muß, zu¬
nächst eine Blasenfistel angelegt wird.
Der Zweck dieses Verfahrens besteht
darin, daß durch die Fistel die Ent¬
lastung der Nieren eine allmählichere sein
soll, wie es bei der sofortigen Entfernung
der Prostata der Fall ist, und dann darin,
daß durch die Fistel der infolge der
Cystitis oft stark eitrige Urin eine bessere
Beschaffenheit erhält. Trotzdem gelingt
es nicht immer, dieses Ziel vollkommen
zu erreichen, da auf dem Blasenboden
sich der Eiter festsetzt. Hier hat sich
die Dauerberieselung auf das beste be¬
währt. Der Verfasser legt ein dickes Drain
in die Blasenfistel ein, durch welches man
die Dauerberieselung in der Weise ein¬
richtet, wie es vom Kochsalztropfeinlauf
bekannt ist. Durch die Harnröhre wird
ein Dauerkatheter eingeführt. So gelingt
es in verhältnismäßig kurzer Zeit, die
Blase hinlänglich rein zu bekommen, daß
eine Vereiterung des Prostatabettes nach
der Prostatektomie nicht mehr zu be¬
fürchten ist. Auch nach der Operation
wird mit der Berieselung fortgefahren,
wobei die Berieselung als Blutstillungs¬
mittel dient. Man läßt nun heiße Koch¬
salzlösung in der gleichen Weise, wie
oben beschrieben, einlaufen. Wenige Tage
nach dem Eingriff wird das dicke Drain
durch einen Spülkatheter ersetzt. Im
ganzen dauert die Zeit der Berieselung
drei bis acht Tage. Durch die Dauer¬
berieselung wird der Heilungsverlauf
wesentlich günstiger gestaltet und ’ das-
Krankenlager erheblich abgekürzt.
(Zbl. f. Chir. 1921, Nr. 13.) Hayward.
Die rectale Untersuchung während
der Geburt, deren Technik Krönig
seinen Hebeammenschülerinnen schon
innerhalb 2% Monaten beibringen zu
können erklärte, wird von Liegner am
Material der Breslauer Universitätsklinik
einer kritischen Würdigung unterzogen,
wobei sich folgende Ergebnisse zeigten:
Nur derjenige wird imstande sein, durch
die rectale Untersuchung eine Diagnose
zu stellen, welcher in der vaginalen voll¬
kommen sicher ist; es sind unbedingt für
den Untersucher Erinnerungsbilder not¬
wendig, welche durch die bisherige Me¬
thode gewonnen sind-und zum Vergleich
herangezogen werden müssen. Wenn
also die Untersuchung durch den Mast¬
darm allein den an sie gestellten Anforde¬
rungen nicht gerecht wird, so muß doch
zugegeben werden, daß der erfahrene
Geburtshelfer in vielen Fällen durch sie
eine angenehme Zugabe erhält, wenn er
gezwungen ist, während der Geburt des
öfteren zu untersuchen, oder wenn er
in Anbetracht eines eventuellen Kaiser¬
schnittes den Geburtskanal nicht be¬
rühren will.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(Zbl. f. Gyn. 1921, Nr. 6.)
Während die Röntgenschädigung der
Haut genau erforscht und beschrieben ist,
hat man über unbeabsichtigte Schädi¬
gungen anderer Organe nur sehr ver¬
einzelt publiziert. ' Aus der gynäkologi¬
schen Bestrahlungspraxis sind Darm¬
schädigungen beschrieben worden, wobei
aber die. alleinige Schuld der Röntgen¬
strahlen noch teilweise geleugnet wird.
Über zwei Fälle, bei denen außer
Hautschädigungen noch Schädigun¬
gen anderer Organe nachgewiesen
wurden, berichtet Dr. E. Wetzel. Bei
dem ersten Fall handelt es sich um die
Bestrahlung von tuberkulösen Halsdrüsen,
wobei infolge eines Dosierungsfehlers ein
Ulcus des Kehlkopfes, das zum Verlust
der Stimmbänder geführt hatte, auftrat.
Bei dem zweiten Fall handelt es sich um
eine Magenca, wobei nach normaler In¬
tensivbestrahlung ohne "Überdosierung
Exitus unter peritonitischen Erschei¬
nungen eintrat. Der Sektionsbefund ergab
eine Durchschmelzung der Magenwand
von außen nach innen und des linken
Leberlappens von innen nach außen, als
At^ust
Dfe Therapie der Gegenwart 1921
315
deren einwandfreie Ursache der Verfasser
die Röntgenstrahlen annimmt. Bei dieser
Gelegenheit weist Verfasser auf die Be¬
deutung der Netzschwankungen hin, die
im zweiten Fall die einzige Ursache der
Überdosierung sein müssen, da in diesem
Fall mit jzwei verschiedenen Röhren be¬
strahlt wurde, von denen eine besonders
stark durch Netzschwankungen beein¬
flußt wurde.
Über den Einfluß der Röntgenstrahlen
auf die Magensekretion berichtet Dr.
F. Wächter. Er fand bei acht Fällen
mit normalen Säurewerten einheitlich
eine Herabminderung der Säurewerte
außer bei zwei Fällen von Magenneurose,
bei denen er den umgekehrten Effekt be¬
obachtete. Auch bei Hyperacidität trat
eine Herabminderung der Säurewerte
nach Bestrahlung ein mit der gleichen
Ausnahme bei einem Fall von Neurose.
Fälle von Anacidität, die selbst bei Salz¬
säuregaben keine freie Säure aufwiesen,
ließen nach Bestrahlung langsam eine
Steigerung der freien Säurewerte nach-
weisen. Allgemein gültige Regeln glaubt
Verfasser nicht aufstellen zu können.
Über Schädigungen des Auges
durch Röntgenstrahlen berichtet
Prof. Birch-Hirschfeld. Er unter¬
suchte einen Patienten, der wegen Ader¬
hautsarkom intensiv bestrahlt w’orden
war und fand neben Gefäßwandzerstö¬
rungen eine starke Trübung der Horn¬
haut, während Iris und Linse keine Ver¬
änderungen aufwiesen. Bedeutend un¬
günstiger erwies sich der Einfluß der
Röntgenstrahlen bei dem vorher nor¬
malen Auge eines wegen Lidcancroids
bestrahlten Patienten. Hier stellte sich
eine starke entzündliche Schwellung der
Conjunctiva bulbi et tarsi, eine Trübung
der Hornhaut und eine bedeutende Steige¬
rung der Tension bis zu 40 mm Hg ein,
die zur vollständigen Erblindung des
Auges führt. Verfasser hält das Glaukom
für eine Folgeerscheinung der Bestrah¬
lung und rät daher zu größter Vorsicht
bei Bestrahlungen des Auges.
Max Cohn.
(Strahlenther. Bd. XII, Heft II.)
Den Ausdruck Selbstinfektion wünscht
Salomon beseitigt zu sehen; in Zukunft
soll nur noch von einer endogenen Spon¬
taninfektion in der Gynäkologie die Rede
sein. Wenn nun auch anerkannt wird,
daß es eine endogene Infektion gibt, so
darf man sich zum Beweise hierfür nicht
damit begnügen, das gleiche Verhalten
der Keime auf Hämolyse vor der Ope¬
ration und im sekundären Infektionsherd
festzustellen. Es müssen noch zahlreiche
andere Differenzierungsmethoden heran¬
gezogen werden, welche die Mikroben¬
identität klarstellen. Nicht anders hat
man sich der Selbstinfektion in der Ge¬
burtshilfe gegenüber zu verhalten. Die
endogene Infektion kommt verhältnis¬
mäßig recht häufig vor; sie betrug bei
dem Material, das aus der Gießener
Klinik dieser Arbeit zugrunde gelegt
wurde, 11,1%. Das Wesen der endogenen
Infektion besteht nun darin, daß bisher
latent lebende Scheiden- und Cervixkeime
durch eine Verschiebung des Gleich¬
gewichts zwischen Organismus und Mi¬
kroben plötzlich ihre virulenten Eigen¬
schaften entfalten können, und zwar be¬
sonders dadurch, daß die immunisieren¬
den Kräfte des Körpers nicht mehr das
Übergewicht über die toxischen Kräfte
der Scheidenmikroben haben. Aus diesem
Grunde ist es nun geboten, vor jedem
gynäkologischen Eingriff die Scheide auf
virulente Mikroben und das Blut auf
seinen Gehalt an Toxineri zu untersuchen,
um eine eventuell eintretende endogene
Infektion auszuschalten. Ist eine endo¬
gene Infektion festgestellt worden, so
soll hierdurch nicht der operierende Arzt
ganz entlastet werden, vielmehr ist es
notwendig, ihm die Möglichkeit zu geben
gegen die endogene Infektion anzu¬
kämpfen, das heißt Unschädlichmachen
der Scheidenmikroben, künstliche Er¬
höhung der immunisierenden Kräfte des
Körpers durch Autovaccine und Beein¬
flussung des Zeitpunktes der Operation.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(Arch. f. Gynäk., Bd. 114, H. 1.)
Über Unstimmigkeiten zwischen
der Wassermann- Reaktion und dem
klinischen Befund hat Prof. Heller
(Charlottenburg) kürzlich sehr beachtens¬
werte Mitteilungen gemacht. Der AII-
geineinpraktiker pflegt häufig Diagnose
und Therapie der Lues allein von dem Aus¬
fall der Wassermann-Reaktion abhängig zu
machen und dem klinischen Bild zu wenig
Bedeutung beizulegen. Während Laien
gewöhnlich der Ansicht sind, daß Lues
nur bei positiver Wassermann-Reaktion
behandelt werden muß, darf der Arzt
diesen Standpunkt auf keinen Fall teilen.
Die Wassermann-Reaktion ist ein biolo¬
gischer Vorgang, der auf der Einwirkung
sehr labiler Substanzen beruht, eine ganz
exakte Wassermann-Reaktion gibt es
nicht; die Resultate von gleichen Pa-
40*
316
Die Therapie der Gegenwart 1921
August
tientinseren bei verschiedenen Instituten
sind oft ungleich, selbst wenn die Reaktion
vorschriftsmäßig ausgeführt war. Trotz
sicheren Bestehens von Syphilis ist die
Wassermann-Reaktion doch in einigen
Fällen negativ. 1. In der Zeit 4—6 Wo¬
chen post infectionem werden im Blute
noch keine Reagine gebildet. Die Wasser¬
mann-Reaktion ist also negativ.' In
diesem Falle ist allein der Spirochäten¬
nachweis sichere Methode. 2. Im Se-
Icundärstadium fällt im allgemeinen die
Wassermann-Reaktion positiv aus, doch
beobachteten wir,häufig einen negativen
Ausfall. F. Zimmern^), Hamburg, gab'
noch in letzter Zeit mehrere solcher Fälle
bekannt. Die Ursache sucht er in einer
gewissen Salvarsan- und Hg-Festigkeit
der Spirochäten. 3. Nach Ablauf der
Sekundärsymptome tritt oft eine Art
Selbstreinigung des Blutes ein, die eine
negative Wassermann-Reaktion zur Folge
hat. 4. Im Tertiärstadium fällt die
Wassermann-Reaktion nur in etwa 45 %
positiv aus. 5. Bei der malignen Lues ver¬
läuft der Prozeß so stürmisch, daß es nicht
zur genügenden Bildung von Antistoffen
kommt und ein negativer Ausfall der
Wassermann-Reaktion die Folge ist. 6. Bei
den Müttern syphilitischer congenitaler
Kinder zeigt ein verhältnismäßig hoher
Prozentsatz der Mütter, nach Heller
15—18 %, niemals Syphilissymptome und
reagiert wassermannnegativ. Der Theorie
nach sind diese Frauen syphilitisch. Sie
sollen aber nur bei sicheren Indikationen
behandelt werden. Expectatives Ver¬
halten kann nach Heller nicht schaden.
Die Wassermann-Reaktion kann aber
auch positiv ausfallen, selbst wenn kli¬
nisch kein Anhalt für Syphilis vorliegt.
Bei Fleckfieber, Rückfallfieber, Lepra,
Pellagra, Scharlach, nach Narkosen und
bei Malaria ist oft eine positive Wasser¬
mann-Reaktion zu verzeichnen, gelegent¬
lich auch bei Lupus erythematodes und
bei Ulcus molle. Setzt in solchem Falle
die spezifische Behandlung ein, so ist sie
natürlich von Erfolg begleitet, aber der
Kranke lebt in dem trüben Gedanken, an
Syphilis erkrankt zu sein. Auch bei
Tumoren kann die Wassermann-Reaktion
positiv ausfallen; hierbei kann auch gleich¬
zeitig Syphilis bestehen. Heller steht
auf dem Standpunkt, daß auch sonst noch
gelegentlich unspecifische Reaktionen Vor¬
kommen, die, wenn sie von dem Arzt
kritiklos verwertet werden, den Kranken
in schwere seelische Not stürzen können.
In jedem Fall ist die Wassermann-Re¬
aktion mit Kritik und Skepsis zu ver¬
werten. Wenn der serologische und
klinische Befund nicht mit einander über¬
einstimmen, so wird eine negative Wasser¬
mann-Reaktion gegenüber einem sicheren
klinischen Befund nichts sagen und die
Therapie wird die„ Diagnose sichern. Bei
zweifelhafter Diagnose wird die positive
Wassermann-Reaktion die Diagnose
stützen. Bei negativem Ausfall ist die
Untersuchung zu wiederholen. Wenn
klinisch nichts für Syphilis spricht, die
Wassermann-Reaktion aber positiv aus¬
fällt, so ist auf eine ganz schwache Re¬
aktion kein Gewicht zu legen; bei starker
und stärkster Reaktion untersuche man
wiederholt. Ein vorsichtiges Abwarten
in diesem Fall wird keinen Schaden
bringen. Seiler (Berlin).
(Zschr. f. ärztl. Fortbild. 1921, Nr. 11; M. Kl.
Nr. 16.)
Dr. Elisabeth Schmid weist an der
Hand eines sinnreich erdachten Modelles
nach, daß das X-Bein (was übrigens allen
erfahrenen Orthopäden längst bekannt ist)
ursächlich mit einem stets vorhandenen
Knickfuß zusammenhängt. Therapeutisch
ist deshalb zunächst der Knickfuß durch
Fußstützen, eventuell in Verbindung mit
Innenschienen, zu beseitigen. Ferner
kommen Tag- und Nachtschienen, sowie
Übungen in korrigierendem Sinne zur An¬
wendung. Georg Müller.
(Zschr. f. orthop. Chir., Bd. 41, Heft 1/2.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Aus der Medizinischen Abteilung des Landeskrahkenhauses zu Brauuschweig.
Über die Behandlung schwerer Pneumonien mit Pferdeserum und
Aderlaß.
Von Prof. Dr. Adolf Bingel.
Es ist vielfach beobachtet worden,
daß die Injektion von Pferdeserum einen
günstigen Einfluß auf den Ablauf yon
Pneumonien, insbesondere auch von Grip¬
pepneumonien ausübt. Wir selbst sahen
das bei manchen Fällen, während wir
uns bei andern von einem Einfluß nicht
überzeugen konnten.
August
Die Therapie der Gegenwart 1921
317
Der Aderlaß spielte früher in der Be-
liandlung der Pneumonie eine nicht un¬
bedeutende Rolle, während er heute
weniger geübt und meist auf.die Fälle
von Insuffizienz des. rechten Ventrikels
mit beginnendem Lungenödem beschränkt
wrd.
Wenn das eine Mittel nicht sicher
wirkt und das andere in seiner Wirkung
zweifelhaft erscheint, so ist es eine ziem¬
lich grobe Überlegung, beide zu kombi¬
nieren.
Wir haben das in der Weise getan,
daß wir dem Patienten 12 bis 20 ccm
Pferdeserum intramuskulär verabfolgten,
nach einigen Stunden einen ausgiebigen
Aderlaß von etwa 600 ccm machten und
nach einigen Stunden die Serumgabe
wiederholten. Wir haben das Verfahren
bisher bei zwanzig schweren das Leben
unmittelbar bedrohenden croupösen Pneu¬
monien angewandt und zwar mit dem
erfreulichen Erfolge, daß am Tage nach
dem Eingriff die Krisis beziehungsweise
die Lysis einsetzte. In einigen Fällen war
der Erfolg nur von kurzer Dauer, eine
Wiederholung des Verfahrens hatte dann
endgültige-Wirkung. Daß dabei die üb¬
liche Therapie mit Umschlägen und Herz¬
mitteln, insbesondere Campher, nicht
außer acht gelassen wurde, ist selbst¬
verständlich.
Von einer Aufführung der Kranken¬
geschichten sehe ich ab..
Ich weiß sehr wohl, daß auch bei den
schwersten scheinbär verlorenen Pneu¬
monien jederzeit ein Umschwung zum
Bessern auch unter der gewöhnlichen oder
.gar keiner Therapie einsetzen kann. In
den meisten meiner, wie gesagt, sehr
schweren Fälle war aber das Krankheits¬
bild ein so schweres, die Besserung setzte
so prompt und regelmäßig nach der
Serum-Äderlaß-Therapie ein, daß ich an
einen ursächlichen Zusammenhang glau¬
ben muß und daß ich es bereits nicht mehr
wagen möchte, eine schwere Pneumonie
ohne diese Behandlung zu lassen.
Folgende Vorstellung habe ich mir
von Art und Weise der Wirkung der
^ Therapie gemacht. Während der pneu¬
monische Prozeß in der Lunge spielt,
besteht im Körper ein Säftestrom vom
Blut in die Gewebe, es werden eine Anzahl
von Stoffen in den Geweben zurück¬
gehalten, vom Wasser und dem Kochsalz
ist ja das allgemein bekannt. Ich stelle
mir hun vor, daß die im artfremden Ei¬
weiß des Pferdeserums enthaltenen ,,Reiz¬
körper“ ebenfalls in die Gewebe abfließen
und daher am Orte der Erkrankung in
den Lungen nicht zur Wirkung kommen
können. Wird nun durch einen aus¬
giebigen Aderlaß — darauf, daß er 50Q
bis 700 ccm beträgt und daß diese Menge
in möglichst kurzer Zeit entnommen wird,
lege ich besonderen Wert — ein Säfte¬
strom aus den Geweben in das Blut an¬
geregt, so gelangen damit auch.^lie ,,Reiz¬
körper“ in das Blut und können ihre
Wirkung in der erkrankten Lunge ent¬
falten. Es wäre auch möglich, daß nicht
das Pferdeserum an sich, sondern die
durch seine Einverleibung hervorgebrach¬
ten Reaktionskörper im weitesten Sinne
das wiiksame Agens darstellen, dem durch
die Säftestromumkehrende Wirkung des
Aderlasses der Angriff auf die erkrankte
Lunge ermöglicht wird.
Genaueres Studium unter gewissen
Variationen der Therapie wird uns klarer
sehen lassen, möglich auch, daß die Er¬
klärung der Wirkung eine ganz andere
sein muß.
Zweck dieser kurzen Zeilen ist zu-^
nächst nur, zu einer Nachprüfung auf¬
zufordern, um rein empirisch festzu¬
stellen, ob ich mich nicht in meinen Beob¬
achtungen getäuscht habe.
Optarson als appetitanregendes Mittel bei Lungenkranken.
Von Chefarzt Dr. Schuftes, Lungenheilstätte Grabowsee.
Im Jahre 1921 brachten die Elber-
felder Farbwerke unter dem Namen
Optarson ein Präparat in den Händel, das
im ccm 1 cg Solarson (= 4 mg ASgOg)
und 1 mg Strychninnitrat enthielt. Im
Märzheft dieser Zeitschrift berichtete
G. Klemperer über seine Beobach¬
tungen bei Schwächezuständen während
und nach Infektionskrankheiten, bei
nervösen Herzstörungen, bei Angstzu¬
ständen und Schwindel ohne organischen
Herzbefund. Wenn er auch gute Ergeb¬
nisse von Arsen allein (Solarson) schon
vorher gesehen hatte, so neigt er doch zu
der Ansicht, daß die schneller eintretende
Wirkung der Komponente des Strychnins
zuzuschreiben ist.
Es lag deshalb nahe, das Optarson
auch bei Schwächezuständen einer chro¬
nischen Infektionskrankheit, nämlich
der Lungentuberkulose, zu versuchen und
hierbei den Einfluß zu prüfen, den es auf
318
Die Therapie der Gegenwart 1921
August'
die Anregung des Appetits übte.
Klagen über ,,schlechten Appetit bei vor¬
handenem Hunger“ sind ja bei Phthi¬
sikern so häufig, daß sie für den Kranken
im Vordergrund seines Leidens stehen
und die im übrigen hinsichtlich des
Hauptleidens vorhandene Euphorie zu
unterdrücken scheinen. Gelingt es uns,
den Appetit anzuregen, und das Gewicht
zu heben, so handeln wir — wenigstens
bei den beginnenden Erkrankungen —
auch kausal. Denn darüber bestehf'Wohl
kein Zweifel, daß als Folge der Unter¬
ernährung die Lungentuberkulose in den
letzten Jahren viel schneller den Tod der
Kranken herbeigeführt hat, als wir es
früher gesehen haben.
Optarson wurde bei neun Patienten,
die an Lungentuberkulose litten, bei all¬
gemeiner Schwäche und Appetitlosigkeit
angewandt, nachdem alle sonst üblichen
Mittel ohne Erfolg geblieben waren. Alle
Fälle waren fieberfrei. Es handelt sich um
sechs offene und drei geschlossene Formen..
In allen Fällen waren die Ein-^
Spritzungen schmerzlos und Wurden reiz¬
los vertragen.
Bei zwei vorgeschrittenen Fällen mit
positivem Bacillenbefund vermochte das.
Mittel nicht aen Appetit zu heben, in den
anderen Fällen, auch b§i einer Reihe vom
Schwerkranken, war eine günstige Wir¬
kung unverkennbar, mehrfach war sie-
von Dauer, bei einzelnen ließ mit dem
Aussetzen des Mittels auch der Appetit
nach. Ab und zu trat, und dies dürfte-
der tonisierenden Wirkung des Strychnins
in erster Linie zuzuschreiben sein, schon
nach 1—2 Spritzen eine auffällige Besse¬
rung des Appetits ein, die von langer
Dauer war, ohne daß die Behandlung¬
fortgesetzt wurde.
Det Eindruck, den wir gewonnen
haben, war recht gut.
Aus der II, medizinisclieu .Universitätsklinik inJiWien (Vorstand: Hofrat Prof. Ortner)..
Über den
Einfluß des Alters auf die Stärke von Tuberkulinlösungen,
Von V. JKollert und M. Burger.
Wenn wir eine einschleichende,^ mög¬
lichst reaktionslose Tuberkulinbehandlung
durchführen wollen, so kommt es dabei,
abgesehen von dem individuellen immuni¬
satorischen Zustand des Kranken, haupt-
sä:chlich auf die exakte Dosierung des
Mittels an. Zunächst unverständliche,
fieberhafte Reaktionen im Verlaufe einer
Kur sind nicht selten darauf zurück¬
zuführen, daß tatsächlich eine andere
Menge Tuberkulin dem Kranken injiziert
wurde, als es beabsichtigt war. Verwendet
man z. B. nicht stets die gleiche Spritze,
so muß man auf Abweichungen bis zu
40 % zwischen zwei Tuberkulinspritzen
rechnen. Wir wollen uns in den folgenden
Ausführungen nur mit jenem Dosierungs¬
fehler beschäftigen, der durch die Ver¬
änderung der Stärke lange aufbewahrter
Tuberkulinlösungen bedingt ist. Die Ver¬
anlassung zur Anstellung der Unter¬
suchungen gab folgender Umstand: Apo¬
theken, ja Institute, bringen Verdünnun¬
gen in den Handel, die von den praktischen
Ärzten im Vertrauen auf die Konstanz
der Präparate benützt werden. Anderer¬
seits liegen Angaben in der Literatur vor,
die auf eine starke Abschwächung der
Lösungen nach kurzer Zeit hinweisen.
Es erschien untersuchenswert, welcher
Standpunkt gerechtfertigt ist.
Die Angaben in der Literatur, soweit:
wir sie überblicken können, sind darüber
recht spärlich. Riviere und Morland (1)^
geben für eine steril bereitete, an einem
kühlen Ort aufbewahrte Lösung eine Halt¬
barkeit von 14 Tagen an. E. Merck (2)
liefert nur konzentriertes Tuberkulin und
begründet dies damit, daß Verdünnungen
nicht länger als 8 bis 14 Tage brauchbar
seien. Dem gegenüber empfehlen Ban¬
delier und Röpke (3) für Alttuberkulin,
für Neutuberkulin TR und Neutuberkulin
Bacillenemulsion die gebrauchsfertigen
Verdünnungen von Fresenius, für sen¬
sibilisierte Bacillenemulsion analoge Prä¬
parate der Höchster Farbwerke. Auch
das Tuberkulin B^raneck kommt be¬
kanntlich in 15 verschiedenen Verdün¬
nungen in den Handel.
Unsere Versuche beziehen sich nur auf
das Alttuberkulin Koch des Wiener Sero¬
therapeutischen Instituts. Als Verdün¬
nungsflüssigkeit wurde 0,25 %ige Karbol¬
säure verwendet. Die Lösungen waren
in dunklen Wrightschen Fläschchen auf-
bewahrt. Verdunstungsfehler wurden
durch Markierung des Flüssigkeitsspiegels
vermieden. Die Prüfung der Stärke eines.
Präparates erfolgte derart, daß ein Kran¬
ker mit einer frisch bereiteten und einer
alten Lösung am Oberarme in 10 bis 15 cm'
-August
Die Therapie der Gegenwart 1921
329
Entfernung je eine intrakutane Injektion
von 0,1 ccm Inhalt erhielt und daß dann
4er Ablauf der nachfolgenden Reaktionen
.studiert wurde. Es War stets die gleiche,
•entsprechend gereinigte Spritze und die-
-selbe Platiniridiumnadel in Verwendung.
Wir benutzten nur solche Reaktionen
zum Endurteile, die. sich aus korrekt an-
;gelegten intracutanen Papeln entwickel¬
ten; dabei galten die gleichen Kriterien
wie sie der eine von uns (4) früher zum
Vergleich der Stärke verschiedener Tuber-
:«kulinpräparate ausgearbeitet hatte. Ver-
^glichen wurde die Größe und Farbe des
Erythems, die Größe, Härte und Höhe
des Infiltrates. Die Ablesungen erfolgten
nach 24 und 48 Stunden; auf etwaige
Spätreaktionen Wurde geachtet. Jeder
Fall war nur einmal in Verwendung. Mit
Tuberkulin vorbehandelte Kranke waren
ausgeschlossen.
Die aus ^en Versuchen abgeleiteten
Folgerungen stützen sich auf 70 verwend¬
bare Fälle. Geprüft wurden Verdün¬
nungen 1 : 10, 1 : 100, 1 : 1000. Auf
höhergradige Verdünnungen mußte ver¬
zichtet werden, da diese bei der Intra-
•cutanmethode zu häufig negative Resul¬
tate ergaben.
Bei den geschilderten Verdünnungen
konnten Abschwächungen nachgewiesen
werden in Proben, die 51, 48, 28 Tage
alt waren. Dagegen zeigten Lösungen im
Alter von 9, 14, 21 Tagen keinen Unter¬
schied gegenüber frisch bereiteten. Der
Grad der Verdünnung des Tuberkulins
scheint in den oben genannten Grenzen
keine Rolle für die Raschheit der Ab¬
schwächung des Präparates zu spielen.
Wurde eine Lösung in einer weißen,
verschlossenen Wrightschen Flasche auf¬
gehoben, dem diffusen Tageslichte aus¬
gesetzt und in Zimmertemperatur gehal¬
ten, so ergab sich bei der geschilderten
Methodik keine deutlich nachweisbare
Abschwächung gegenüber einer gleich
alten Lösung, die in dunkler Flasche vor
Licht geschützt aufbewahrt worden war.
Der Vergleich einer in Ampullen ein¬
geschmolzenen, mehrere Monate, ja viel¬
leicht Jahre alten Tuberkulinlösung mit
einer frischen ergab eine mäßige Ab¬
schwächung der alten Verdünnung.
Zusammenfassend läßt sich sagen:
Tuberkulinlösungen können ohneSchaden,
falls sie steril und gegen Verdunstung
geschützt sind, drei Wochen aufbewahrt
werden. Alte Lösungen büßen etwas an
Stärke ein und sind deshalb bei Kranken,
bei denen wegen hochgradiger Tuber¬
kulinempfindlichkeit sogenannte kritische
Punkte in der Behandlung vermieden
werden müssen, nicht angezeigt.
Literatur: 1. Riviere and Morland,Tuber-
culin treatment, London 1912. — 2. E. Merck^
Med. Spezialpräparate 1916, S. 340. — 3. Ban¬
delier'und Röpke, Lehrb. d. spez. Diagnostik
1920. — 4. Kollert, Brauers Beitr. z. KHn. d.
Tbc., Bd. 30.
-Aus der L medizinischen Klinik derjUniversität in Budapest (Direktor: Prof.Dr^R.Balint).
[Zur Frage der Adrenalinbehandlung des Asthma bronchiale.
Von Dr. Karl Csepai, Assistent der Klinik.
Seit den Untersuchungen von Kaplan
=wird das Adrenalin bei der Behandlung
'des Asthma bronchiale vielfach angewen-
4et. Im allgemeinen wird die ausgezeich¬
nete Wirkung auf den asthmatischen
Anfall überall anerkannt. Das Mittel hat
aber den Nachteil, daß es auf den Orga¬
nismus nicht indifferent ist. Die Unter¬
suchungen von Josue, A. v. Koränyi
usw. zeigen, daß die wiederholten Injek¬
tionen von Nebennierenextrakten eine
schwere degenerative Gefäßschädigung
bei Kaninchen hervorrufen. Bei einer
Erkrankung, wie Asthma bronchiale, wo
die Anfälle oft sich häufen, wo deshalb
ziemlich oft die Adrenalinanwendung not¬
wendig sein kann, muß diese nachteilige
Wirkung des Mittels in Betracht gezogen
werden. Man sollte daher bestrebt sein,
mit möglichst geringen Adrenalinmengen
4ie erwünschte therapeutische Wirkung
zu erzeugen. Das Asthmolysin, welches
neben Adrenalin auch Pituitrin enthält,
scheint auch diesen Zweck zu haben,
wobei allerdings noch immer ziemlich
viel Adrenalin zur Anwendung kommt.
Wie ich gezeigt habe, wird die Blut¬
drucksteigerung nach Adrenalininjektion
bei Menschen durch Papaverin nicht nur
nicht aufgehoben, sondern sogar gestei¬
gert. In der Annahme, daß das Papaverin
auch andere Wirkungen des Adrenalins
unterstützt, habe ich die beiden Mittel
bei dem Asthma bronchiale kombiniert
angewendet, indem ich 0.04 g Papaverin
und 0,25 bis 0,5 mg Adrenalin gegeben
habe. Die Versuche haben gezeigt, daß
das Papaverin auch in dieser Hinsicht
die Wirkung des Adrenalins fördert, in¬
dem durch die Anwendung der beiden
Mittel trotz der geringen Adrenalindosen
eine ausgezeichnete Wirkung zu erreichen
320
Die Therapie der Gegenwart 1921
August
war. Das Mittel wird zur subcutanen
Injektion von Richter mit dem Namen
Spasmolysin in den Verkehr gebracht.
Ich glaube, daß die Anwendung des
Mittels mehrfache Vorteile hat. In der
von Richter hergestellten Form ist es
durchaus beständig, kann in unbeschränk¬
ter Menge und billiger als Asthmolysin
(Lysasthmin) hergestellt werden. Das
Papaverin hat daneben schon selbst ge¬
wisse spasmolytische Eigenschaften und
nach meinen Versuchen fördert es be¬
deutend die Adrenalinwirkung, so daß-
alles in allem mit bedeutend weniger
Adrenalin derselbe Effekt zu erreichen
ist. Das Mittel wirkt nach meinen Beob¬
achtungen bei anderen vagotonischen Er¬
krankungen, wie Colica mucosa, Ein¬
geweidespasmen usw., auch recht günstig.
Literatur: Kaplan, Med.News86,19, p.871,,
1905. — Josue, C. R. de la Soc. Biol. 55, 1903.
— A. von Koränyi, D. m. W. 1906. — Cs6pai„
W. kl. W. Nr. 16, 1921.
„Zur Therapie des Erysipelas migrans.‘*
Von Dr. med. Alfred Salinger, Schnackenburg (Elbe).
Im 6. Heft der von mir hochgeschätz¬
ten „Therapie der Gegenwart“ lese ich
einen Artikel „Zur Therapie des Erysipelas
migrans“ von Dr. Hugo Schmidt.
Darin wird eine Mischung von essigsaurer
Tonerde und verdünntem Alkohol zur
Behandlung des Erysipel und phlegmo¬
nöser Entzündungsprozesse warm emp¬
fohlen. Verfasser führt einen Fall von Ery¬
sipel bei einem dreimonatigen Säugling
und eine Mastitis akuta puerperalis an. Das
Erysipel kam auf die Umschläge mit des
Verfassers Mittel hin bald zum Stillstand,
die Mastitis lokalisierte sich schnell und
heilte nach einer Incision bald ab. Wenn
man die beiden vom Verfasser angeführten
Fälle einigermaßen kritisch betrachtet,
so wird man ohne weiteres sagen müssen.
daß ein Erysipel besonders bei einem
Säugling auch ohne Therapie rasch zum
Stillstand kommen kann, ja daß dies
sogar die Regel ist. Zu dem zweiten Fall
wird man bemerken müssen, daß die
Mastitis verschieden in Erscheinung tritt,
und zwar verläuft die ein^ Brustdrüsen¬
entzündung leicht, kapselt sich sehr
schnell in einem Absceß ab, nach dessen
Incision die Heilung auffallend schnell
erfolgt, während die andere von vorn¬
herein stürmisch beginnt, von dem einen
Quadranten auf den anderen überspringt
und bald die ganze Mamma eitrig unter¬
miniert. Die vom Verfasser angeführten
Fälle können somit auch ohne An¬
wendung seines Mittels ebenso günstig,
verlaufen sein.
Bemerkung zu dem Aufsatz des Herrn Dr. Stein „Mitigal, ein
neues Krätzemittel,“ in Heft 6 dieser Zeitschrift.
Von Dr. Stephan, Brandenburg.
Herr Dr. Stein sagt im Schlußabsatz:
. im Gegensatz zum Perubalsam und
seinen Ersatzmitteln, die öfter die
Nieren in Mitleidenschaft ziehenEine
solche Behauptung ohne Beweise aufzu-
stellen, ist nicht recht. Vom käuflichen
Perubalsam ist erwiesen und bekannt, daß
er in einer Anzahl von Fällen die Nieren
gereizt (Gaßmann, M. m. W. 1904,
Nr. 30; Richarz, M. m. W. 1906, Nr. 9)
und sogar den Tod an Nierenentzündung
zur Folge gehabt hat (Deutsch, Zschr. f.
Medizinalbeamte 1905, Nr. 13). Solche
üblen Wirkungen hat aber nicht der echte,
natürliche, sondern nur der verfälschte,
mit schädlichen Harzen vermischte Peru¬
balsam (Kakowski, Arch. f. Denn.,
Bd. 15, H. 3). Weil nun der Perubalsam
schon seit längerer Zeit so Iiäufig ver¬
fälscht wird, daß es ziemlich schwer hält,
garantiert reinen, sicher unschädlichen
Perubalsam zu bekommen, hat sich die
Industrie bemüht, dem echten Perubalsam
gleichwertige Ersatzpräparate herzu¬
stellen, deren absolute Reinheit garan¬
tiert werden sollte. Die Bemühungen
waren von Erfolg gekrönt.
Ich persönlich verwende Perugen, das
— nebenbei bemerkt — dreimal niedriger
im Preise ist als Perubalsam. Perugen ist in
hunderttausenden von Fällen angewendet
worden; es liegt eine sehr reichhaltige
Literatur darüber vor; aber nicht ein
einziger Fall von Nierenreizung ist jemals
berichtet worden. Perugen ist absolut
ungefährlich für die Nieren. So
lange Herr Dr. Stein nicht in der Lage ist,,
mir das Gegenteil aus der Literatur oder
aus seiner Praxis zu beweisen, bestreite
ich ihm das Recht, zu behaupten, daß der
Perubalsam und seine Ersatzmittel
öfter die Nieren in Mitleidenschaft ziehen.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg'
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berfin W57.
1921
Therapie der Gegenwart. Anzeigen. . ' 9. Heft
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Diesem Heft liegt je ein Rimdschreiben der Firma C. F. Boehringer & Soehne ö. m. b. H.,Maanheim-Waldhof, über verschiedene
Jh\'.»)arate, und des Verlages des „Anzeiger für Ärzte und Apotheker, Nürnberg,“ über „Ermer, Medizin.Taschenhandbuch“ bei.
Die Therapie der Gegenwart
herausgegeben von fleh. Med.-Rat Prof. Dr. ü. Klemperer ^
1921 taBerJin. September
Nachdruck verboten.
Aus der 1. medizMsclien und der cMrurgischen Abteilung des Städtischen Kranken-.
hauses Moabit (Prof. G. Klemperer und Prof. M. Borchardt).
Zur biologischen Diagnostik der Schwangerschaft.
Von Dr. Kamnitzer und Dr. Joseph, Assistenzärzten.
iWir wissen durch die Arbeiten von
E. Frank, daß die während der Schwan¬
gerschaft vorkommende Ausscheidung von
Traubenzucker durch den Harn eine Form
des renalen Diabetes darstellt So nennen
wir nach dem Vorgang von G. Klempe-
Ter die Glykosurie, welche in weiten
Grenzen von dem Zuckergehalt der Nah¬
rung und des Blutplasmas unabhängig ist,
und welche bei vollkommener Intaktheit
der zuckerbildenden und zuckerzerset¬
zenden Organe augenscheinlich auf einer
besonderen Reizung der Nieren beruht
Daß eine solche wirklich bei der Schwan¬
gerschaf tsglykosurie vorliegt, hat Frank
durch gleichzeitige Feststellung des Zuk-
kergenalts von Harn und Blut bewiesen;
der Traubenzucker trat im Harn der
Schwangeren auf, während im Moment
der Absonderung der Blutzucker normale
oder unternormale Werte aufwies. Frank
konnte ferner zeigen, daß es bei jeder
Schwangeren gelingt, durch Ernährung
mit 100 g Traubenzucker oder reichlicher
Mehlkost eine Glykosurie zu erzeugen.
Dies Phänomen hat er in Gemeinschaft
mit No th mann für. die Frühdiagnose
der Schwangerschaft verwertet Es
scheint mit Sicherheit für bestehende .
Schwangerschaft zu sprechen, wenn eine
Frau oder ein Mädchen nach nüchternem
Genuß von 100 g Traubenzucker alsbald
Traubenzucker im Urin ausscheidet, ins¬
besondere wenn dabei der Blutzucker¬
gehalt nicht über die Norm erhöht ist
Frank berichtet über 22 Frauen, welche
er mit dieser Methode auf Schwanger¬
schaft prüfte; 19 reagierten auf 100 g
Traubenzucker mit einer Glykosurie —
diese erwiesen sich als sicher schwanger;
drei bekamen nach 100 g Traubenzucker
keine Glykosurie, und die weitere Beob-
Anmerkung des Herausgebers: Das dia¬
gnostische Problem, welchem die vorstehende
Arbeit sich widmet, ist so innig mit vielen Fragen
der Therapie verknüpft, daß ihre Veröffentlichung
in dieser Zeitschrift wohl gerechtfertigt sein
dürfte.
achtung erwies sie als nicht schwanger.
Bei sieben positiv reagierenden Frauen
war die Gravidität in einem so frühen
Stadium, daß die gynäkologische Unter- '
suchung sie nicht sicher feststellen konnte.
Die Blutzuckeruntersuchung ergab jedes¬
mal zur Zeit der Glykosurie Werte unter
0,19 %, welche Frank als obere Grenze
normalen Blutzuckergehaltes anspricht
(Nur bei wirklichem, aber latentem Dia¬
betes^ bei Leberkrankheiten und bei thy¬
reotoxischen Zuständen komijien höhere
Blutzuckerwerte nach Traubenzucker¬
zufuhr vor.) Frank und Nothmann
haben dann an Stelle des Traubenzuckers
eine aus Mehlspeisen bestehende Probe-.
kost eingeführt; indem sie je 160 g Sem¬
mel, 60 g Mehl und 200 g Kartoffeln dar¬
reichten und nach dieser Mahlzeit die
Schwangerschäfts-Verdächtigen auf Gly¬
kosurie untersuchten. Dies Verfahren
erwies sich aber als weniger zuverlässig,
indem von zehn schwangeren Frauen nur
sechs mit Glykosurie reagierten, vier
nicht. Von diesen bekamen zwei nach
100 g Traubenzucker ■ Glykosurie, eine
dritte entzog sich der Beobachtung, die
vierte reagierte auch auf 100 g Trauben¬
zucker nicht; diese Frau war im vierten
Monat schwanger, und Frank hält es für
möglich, daß bei vorschreitender Gravi¬
dität die Probe versagte.
Wir haben uns zur Aufgabe gemacht,
die Franksche Methode nachzuprüfen,
indem wir den Zuckergenalt des Urins
und des Blutes bei möglichst zahlreichen
nichtschwangeren und schwangeren. Frau¬
en nach Zucker- bzw. kohlehydratreicher
Kost verglichen. In bezug auf die Metho¬
dik folgten wir zuerst den Angaben von
Frank und Nothmann, indem wir
zuerst die Zuckerfreiheit des Urins fest¬
stellten und den Nüchternwert des Blut¬
zuckers bestimmten, hiernach die Probe¬
kost gaben und den Urin zuerst nach-
einer halben Stunde, dann in viertelstün¬
digen Abständen prüften, bis der even-
41
322
Die Therapie der Gegenwart 1921
September
tuen vorhandene Traubenzucker nicht
mehr nachweisbar war. Gleichzeitig mit
dem ersten positiven Urinzuckerbefund
wurde die zweite Blutzuckerprobe, in
vielen Fällen nach Verschwinden des
Harnzuckers eine letzte Blutzuckerprobe
angestellt.
Folgendes Protokoll zeigt den'Verlauf
eines Versuches.
Frau Sp. klagt über Schmerzen im Unterleib;
letzte Menses vor 6 Wochen. Kein sicherer gynäko¬
logischer Befund.
11. Februar 1921: Im Urin kein Zucker.
12^: Blutzuckergehalt nach Bang 0,09%. Trinkt
500 g Tee, darin gelöst 100 g Traubenzucker.
P®: Urin zuckerfrei.
P®: 28 ccm Urin mit 0,2% Glykose. Blut¬
zuckergehalt 0,247o.
P®: 32 ccm Urin mit 0,2% Glykose.
P®: 16 ccm Urin mit 0,4% Glykose.
2*°: 15 ccm Urin mit 0,27o Glykose.
2®®: Urin zuckerfrei.
74 Stunden nach 100 g Traubenzucker begann
eine geringfügige Glykosurie, welche 114 Stunden
anhielt; im ganzen wurden 0,214 g Traubenzucker
ausgeschieden. Der vorher normale Blutzucker
betrug bei Beginn der Glykosurie 0,24%.
Nach dem positiven Ausfall der Versuche be¬
trachteten wir die Patientin als schwanger. Die
weitere Entwicklung bestätigte diese Annahme;
die Menses traten nicht wieder ein, und nach vier
Wochen war auch der gynäkologische Befund
beweisend.
Bemerkenswert ist in diesem Fall der hohe
Blutzuckerbefund, welcher die von Frank für
renalen Diabetes angegebene Grenze übersteigt.
Wir werden auf die Deutung dieses Befundes
zurückkommen.
Mit Traubenzucker haben wir nur
wenig Versuche an Schwangeren ange-
steJIt; alle reagierten, wie der eben berich¬
tete, mit Glykosurie. Es schien uns aber
praktisch, an Stelle des Traubenzuckers
eine andere Kohlehydrat-Probekost an-
7uwenden, da der Traubenzucker nicht
gern genommen wurde und auch für sehr
häufige klinische Versuche zu teuer war.
Die von Frank und Nothmann ange¬
gebene Probemahlzeit aus Semmel, Mehl
und Kartoffel wurde von den Frauen nur
mit Widerwillen verzehrt. Wir sind nach
vielem Ausprobieren zu einer Probemahl¬
zeit gekommen, welche aus einer Mischung
von 75 g Reis (Rohgewicht) mit 100 g
Rohrzucker und viel Tee bestand. Diese
Mahlzeit ist verhältnismäßig billig, wird
gut genommen und scheint an Kohle¬
hydratgehalt die unterste Grenze' des
Notwendigen darzustellen; mit weniger
Rohrzucker werden die Resultate un¬
sicher.
Folgende Protokolle zeigen den Ver¬
lauf einiger Versuche.
Fr. R., gravida im 3. Monat.
10^®: Urin frei von Zucker, Blutzucker 0,13%,
75 g Reis, 100 g Rohrzucker und 500 g Tee.
10^®: Urin zuckerfrei.
II®°: Im Urin Spuren von Zucker, Blutzucker
0,188 7o.
, lU®: Im Urin 0,4% Zucker.
■n®o:0,2 7o.
IP®: Spur.
12<«: Spur.
12^®: Urin zuckerfrei, Blutzucker 0,117%.
Fr. O., 35 Jahre, gravida im 2.' Monat.
12®®: Urin zuckerfrei, Blutzucker 0,069%. 75 g-
Reis, 100 g Rohrzucker, 500 g Tee.
12®®: Urin 0,2% Zucker, Blutzucker 0,164 %.
1245; Urin positive Zuckerreaktion.
1®®: Ebenso.
P^:0,8 7o.
P®: 0,2 7o.
2®®: Urin zuckerfrei, Blutzucker 0,061 %.
Frl. K., 22 Jahre, gynäkologisch: Gravidität
im 1. Monat fraglich.
10®®: Urin zuckerfrei, Blutzucker 0,103%.
10^®: 75 g Reis, 100 g Rohrzucker, 500 g Tee.
11®®: Urin 0,6% Zucker.
12®®: Blutzucker 0,235%.
P®: Urin 0,2 % Zucker.
P®: Urin zuckerfrei.
2®®: Blutzucker 0,09 %.
Mit der Reis-Zuckermahlzeit haben
wjr 20 Fälle von sicherer Gravidität unter¬
sucht, darunter einige, bei denen die kli¬
nische Diagnose zur Zeit der Unter¬
suchung noch unsicher war und erst durch
die weitere Beobachtung sichergestellt
wurde; es waren auch zwei Aborte da¬
runter. Von den Graviden waren fünf irti
ersten, fünf im zw^eiten, sechs im dritten,,
eine im vierten Monat, eiiieTubargravidät,
bei welcher die klinische Diagnose erst
durch Punktion und Operation gesichert
wurde.
Alle'20 Gravidae reagie.teii mit posi¬
tiver Zuckerausscheideung; dieselbe be¬
gann dreiviertel Stunde nach der Probe¬
mahlzeit und hielt bis lu zwei Stunden,,
bei einigen Fällen etwas- länger an. Im
Gegensatz dazu trat bei 30 sicher nicht
schwangeren Frauen und Mädchen nach
der Reis-Zuckermahlzeit keine Glyko¬
surie auf.
Unsere Nachprüfung^ setzt uns also
in die Lage, die Franksche Methode der
Schwangerschaftsdiagnostik ,als praktisch
brauchbar zü empfehlen. Dabei möchten
wir freilich hervorheben, daß die Zahlen
natürlich noch viel zu gering sind, um die
absolute Verwertbarkeit der Methode zu
beweisen. Es handelt sich dabei um den
Nachweis einer erhöhten Reizbarkeit der
Nierenepithelien; dabei haben wir es mit
einem Schwellenwert der Empfindlich¬
keit zu tun, welche wahrscheinlich indi¬
viduellen Schwankungen unterw^orfen sein
dürfte. Dafür spricht einmal der nega¬
tive Ausfall in Frank-Nothmanns Fall
von Gravidität im vierten Monat; dafür
September Die Therapie der Gegenwatt 1921 323
spricht auch die Abhängigkeit der Reak¬
tion von einer bestimmten Höhe des
Zuckergehalts der Probenahrung. In meh¬
reren unserer Versuche genügten 75g Rohr¬
zucker mit 75 g Reis, um positive Zucker¬
reaktion im Urin der Schwangeren zu er¬
halten; in anderen wiederum blieben 75 g
Rohrzucker ergebnislos, während 100 g
eine prompte Reaktion hervorriefen. -
Schließlich möchten wir darauf . hin-
weisen, daß es nicht sicher ist, ob die
Entstehung der Schwangerschattglyko-
surie in allen unseren Fällen ausschließlich
renalein Ursprungs ist. Ein solcher ist nur
mit Bestimmtheit anzunehmen, wenn
der Blutzuckergehalt die Norm nic]it
überschreitet. Als solche bezeichnet
Frank 0,19 %. Unter unseren 20 Fällen
überstieg der Blutzuckergehalt nicht we¬
niger als zehnmal diese Grenze, indem er
zur Zeit der Glykosurie bis zu 0,26 %
anstieg. Es ist hiermit die renale Natur
der Glykosurie keineswegs als ausge¬
schlossen zu betrachten Denn wir kennen
zahlreiche Fälle von solcher Hypergly¬
kämie, ohne daß es zur Zuckerausschei¬
dungkäme; die Schwelle der Nierendurch¬
lässigkeit liegt in diesen Fällen eben über
0,26% Blutzucker, und es bedeutet die
Glykosurie dann doch eine Nierenreizung.
Aber man betritt damit einen schwan¬
kenden Boden. Man könnte sich ebenso¬
gut vorstellen, daß dieselben syncytiären
Reizstoffe, die auf die Nieren in beson¬
derer Weise wirken, auch andere Organe
beeinflussen und z. B. auf die Leber im
Sinne erhöhter Zuckerproduktion ein¬
wirkten. Wie nun auch weitere Unter¬
suchungen über die ursächlichen Ver¬
hältnisse der Schwangerschaftsglykosurie
nach Kohlehydratbelastung entscheiden
mögen, so zeigt sicherlich das starke
Schwanken des Blutzuckergehalts ein
Moment des Individuellen, welches eine
gewisse Vorsicht in der praktischen Aus¬
wertung der Frankschen Schwanger¬
schaftsprobe zur Pflicht macht.
Wir haben nun versucht, dasselbe
Ziel wie Frank auf einem ähnlichen Weg
zu erreichen, ohne den Blutzuckergehalt
in so wechselnder Weise zu beeinflussen.
Es erschien uns wünschenswert, von der
Probekost loszukommen, auch deshalb,
weil dieselbe auch in der von uns gege¬
benen Zusammensetzung an die Will¬
fährigkeit der Patientinnen noch immer
große Anforderung stellte. Es gab noch
eine andere Möglichkeit, eine besondere
Nierenreizung hervorzurufen, welche sich
zu der syncytiären hinzuaddieren muß, um
die Glykosurie zu erzeugen, das ist die Dar¬
reichung kleinster Gaben von Phloridzin.
Dies Glykosid erzeugt bekanntlich im
Tierversuch eine Glykosurie, ohne den
Blutzuckerspiegel zu erhöhen, oft unter
Erniedrigung des Blutzuckergehalts. Die
Meringsche Phloridzinglykosurie wurde
vor 25 Jahren von G. Klemperer als
Modell des menschlichen Nierendiabetes
angesprochen; es lag nahe, das Phloridzin
als specifisches Reizmittel zu benutzen,
um die. zur Auslösung der Schwanger¬
schaftsglykosurie notwendige Schwellen¬
wertserhöhung der Nierenreizbarkeit her¬
beizuführen.
Um bei gesunden und normalen Men¬
schen mit Sicherheit eine Glykosurie
herbeizuführen, braucht man gewöhnlich
0,01 g; geht man mit der Phloridzindosis,
herab, so wird das Ergebnis unsicher.
Bei 4 mg gibt es zahlreiche Versager, mit
3 mg Phlörid 2 ^in gelingt es nur selten, bei
normalen Menschen Glykosurie hervor¬
zurufen. Bei 2,5 mg Phloridzin scheint die
untere Grenze der Phloridzinempfindlich-
keit normaler Nieren erreicht zu sein.
Während nun die meisten gesunden
Menschen nach Injektion von 2,5 mg
Phloridzin keinen Zucker ausscheiden, ruft
die Injektion dieser Menge bei Schwan¬
geren anscheinendregelmäßignach
einer halben Stunde eine deutliche
Glykosurie hervor.
Wir gebrauchten eine 0,l%ige Lösung, indem
wir 0,03 g Phloridzin in 30 ccm Wasser auf¬
kochten und davon 2,5 ccm intramuskulär in¬
jizierten. Die Lösung muß unmittelbar vor der
Injektion frisch hergesteilt werden, da das Phlo¬
ridzin beim Erkalten ausfällt. Die Einspritzung:
ist schmerzlos oder nur ganz wenig und schnell
vorübergehend schmerzhaft. Die Probe wurde
stets nüchtern angestellt. Der Urin wurde mit
Xylanders Reagens geprüft. Es wurden keine
Arzneimittel gereicht, die etwa eine positive
Reaktion her vorrufen konnten.
30 von uns untersuchte Schwangere-
haben eine halbe Stunde nach Injektion:
von 0,0025 g Phloridzin positive Zucker¬
reaktion im Urin gezeigt. Die Mehrzähl)
der untersuchten Schwangeren befand sich,
im ersten Monat der Gravidität, sieben im
Zweiten, fünf im dritten, eine im vierten.
Bei vielen der geprüften Patienten war
die Schwangerschaft noch ganz fraglich,,
zum Teil sogar unwahrscheinlich, erst
der positive Ausfall der Phloridzinppbe-
bestimmte uns, die Diagnose zu
Bei einer Patientin bestanden unsichere'
Zeichen der Tubargravidität. In
diesen Fällen positiver Phloridzinprooe
41*
324
September
Die Therapie der G^enwart 1921
wurde die Schwangerschaft durch den
Verlauf 2 :weifelsfrei bewiesen. Hinzu¬
traten neun Aborte mit positiver Zucker¬
ausscheidung nach 0,0025 g Phloridzin.
Bei diesen Aborten blieb die Phloridzin¬
probe noch sechs bis acht Tage positiv, in
einem Falle bis zu zehn Tagen, aber länger
als zehn Tage haben wir in keinem Falle
nach geschehenem Abort Phloridzingly-
kosurie erhalten. Gegenüber diesen 30
Schwangeren und 9 Aborten haben wir
70 Kontrollen bei nichtschwangeren
Frauen und 10 Kontrollen bei Männern
angestellt.
Die zehn Männer reagierten negativ.
Unter den 70 weiblichen nichtschwan¬
geren Frauen und Mädchen haben 63
nach 2,5 mg Phloridzin keine Glykosurie
gehabt. Einige derselben wären klinisch
sehr verdächtig auf Schwangerschaft, die
Menses waren ausgeblieben, sie selbst,
zum Teil auch die behandelnden Ärzte,
nahmen Gravidität an. Aber nach der
negativen Phloridzinprobe bewies der Ver¬
lauf bei allen 63, daß sie in Wirklichkeit
nicht schwanger waren. Einige hatten
regelmäßige Blutungen und es bestand
Verdacht auf Abort; aber auch hierbei
ergab die weitere Untersuchung, daß die
negative Phloridzinprobe uns zu Recht
bestimmt hatte, einen Abort auszu¬
schließen. Nach dem bisherigen Ergebnis
unserer Prüfungen glauben wir also mit
einer großen Wahrscheinlichkeit aus¬
sprechen zu dürfen, daß das Ausbleiben
einer Glykosurie nach Injektion
von 2,5 mg Phloridzin das Bestehen
einer Schwangerschaft ausschließt.
Weniger sicher ist die positive Probe
zu •verwerten. Unter unseren 70 weib¬
lichen KontroIIpersonen haben sieben nach
Injektion von 2,5 mg Phloridzin Glykos¬
urie gezeigt, ohne daß sich Schwanger¬
schaft bei ihnen nachweisen ließ. Einige
konnten nicht genügend lange beobachtet
werden, um die Schwangerschaft sicher
ausschließen zu können, aber bei mehreren
bewies der weitere Verlauf mit Bestimrht-
heit, daß sie nicht schwanger waren. Bei
der Mehrzahl dieser positiv reagierenden
Nichtschwangeren trat die Zuckerreaktion
erst nach 1—1% Stunden im Urin auf,
während sie bei Schwangeren ausnahmslos
prompt nach einer halben Stunde ein¬
trat. ^ Mehrere dieser nichtschwangereh
Frauen wurden während der Menstruatian
untersucht; es wäre weiter zu prüfen, ob
der menstruelle Erregungszustand auf die
Nieren in ähnlicher Weise wie die Gravi¬
dität gewisserniaßert glykotrop zu wirken
vermag. Obwohl die geringe Zahl unserer
bisherigen Untersuchungen eine prak¬
tische Verwertung noch nicht gestattet,
möchten wir doch schließen, daß die
Urinzuckerprobe nach intramuskulärer In¬
jektion von 2,5 ccm einer 0,1 %iger Phlo¬
ridzinlösung bei der Untersuchung auf
.Schwangerschaft angestellt zu werden
verdient Bleibt hiernach der Urin in den
nächsten zwei Stunden zuckerfrei, so
scheint der Schluß erlaubt, daß eine
Schwangerschaft nicht besteht. Ist eine
halbe Stunde nach der Phloridzininjektion
die Zuckerprobe positiv, so ist eine hohe
Wahrscheinlichkeit für Schwangerschaft
vorhanderf; tritt die Zuckerreaktion erst
nach einer Stunde auf, so ist sie nicht in
positivem Sinn verwertbar.
Es ist möglich, daß die weitere Herab¬
setzung der Phloridzindosis den positiven
Ausfall der Zuckerprobe bei Nichtschwan¬
geren verhindern wird; aber es besteht
dabei die Gefahr, daß sie gelegentlich
auch bei Schwangeren negativ wird. Ohne
uns zu präjudizieren, möchten wir vor¬
läufig im Gegensatz zu anderen biologi¬
schen Reaktionen bei der Phloridzin¬
diagnostik der Schwangerschaft nur dem
negativen Ausfall der Probe entscheiden¬
den Wert beimessen.
Aus der Universitäts-Frauenklinik in Königsberg i. Pr.
(Direktor: Gek. Rat Prof. Dr. Winter).
Die Grundlagen der künstlichen Schwangerschaftsunterbrechung^).
Von Prof. Dr. Benthin.
Es kann keinem Zweifel mehr unter¬
liegen, 'daß die Zahl der Schwanger¬
schaftsunterbrechung ständig zunimmt.
Statistische Erhebungen an dem Material |
unserer Klinik ergaben, daß wir gegen¬
über’-piner Abortfrequenz von 15—18%
yo^demJKriege, nach dem Kriege eine
f) Vortrag, gehalten auf der Nordostdeutschen
öesel Isch af t f ür Gy näko iogi e, Da nzi g, 2 5. J uni 1921.
solche von 30% zu verzeichnen hatten.
Während die Abortfrequenz früher all¬
gemein nach Hegar 8—10% betrug, hat
sie sich heute auf 20% verdoppelt.
(Bumm 20%, Nürnberger 17,8%,
Siegel 8—9%.)
Ist auch der Hauptgrund für die
sprunghafte Zunahme der Fehlgeburten
zwanglos in dem Umsichgreifen derkrimi-
September
Die Therapie der Gegenwart 1921
325
nellen Fruchtabtreibung in erster Linie
zu suchen, so steht es* doch gleichfalls
außer Diskussion, daß ärztlicherseits die
Indikation zur Schwangerschaftsunter-,
brechung nicht selten zu weit gestellt
wird.
Alan kann sich des Eindrucks nicht
erwehren, daß durchaus nicht immer die
Frage der Schwangerschaftsunterbrech¬
ung mit dem wünschenswerten, sittlichen
Ernst behandelt wird, daß sogar zuweilen
recht laxe Ansichten herrschen und in
Einzelfällen direkt fahrlässig gehandelt
Wird. Ein weiterer Grund dafür, daß in
praxi häufiger ein Abortus arteficialis
eingeleitet wird, liegt darin, daß die
medizinische Indikation, die allein aus¬
schlaggebend sein kann, zugunsten ande¬
rer Momente, insbesondere sozialer Natur,
in den Hintergrund gestellt wird. Neben
einer mangelhaften Kenntnis des Ein¬
flusses der Gravidität auf beste|hende Er¬
krankungen ist es besonders die Über¬
wertung der Gefahren bei. Bestehenlassen
der Schwangerschaft. Nur so findet die
Tatsache ihre Erklärung, daß bei sorg¬
samer, klinischer Prüfung bei mehr als
der Hälfte der Fälle die ärztlicherseits
geforderte Unterbrechung von, uns abge¬
lehnt Werden mußte. (Von 78 zur Unter¬
brechung eingewiesenen Fällen aus den
Jahren 1910—1915 wurde nur 42 mal =
58% die Unterbrechung ausgeführt. Ähn¬
lich lauten übrigen^^ die Feststellungen
V. Jaschkes, nach dem in 278 Fällen
von 385 der Abortus arteficialis als un¬
begründet angesehen werden mußte. Tat¬
sächlich ist die Schwangerschaftsunter¬
brechung aus medizinischer Indikation
verhältnismäßig selten nötig. Als Beweis
dafür möchte ich erwähnen, daß an der
Königsberger Klinik innerhalb von 23
Jahren nur 210 Aborte eingeleitet wurden.
Der Überschätzung der Gefahren durch
Fortbestand der Schwangerschaft, des
Nutzens durch eine Unterbrechung steht
andererseits eine Unterschätzung der Ge¬
fahrlosigkeit eines solchen Eingriffs gegen¬
über. In Wirklichkeit ist der Nutzen der
Schwangerschaftsunterbrechungnicht sel¬
ten nur ein scheinbarer. Die Schäden
aber werden verkannt. Sie sind sicherlich
in der Außenpraxis größer als in der
Klinik. Ich habe das Material unserer
Klinik darauf durcharbeiten lassen. Da¬
nach betrug die Gesamtsterbeziffer 7,14%,
3,81% der Frauen starben an den Folgen
des operativen Eingriffs. Erhebliche
Verletzungen kamen in 3,81 % der Fälle
vor. Übergroße Blutverluste wurden bei
8,57% ■ mit 2,38% Todesfällen beob¬
achtet, 45,14% fieberten wenn auch
meist nur einen Tag, In 6,1% traten
Nacherkrankungen außerhalb der Gebär¬
mutter auf. Von den Fällen, bei denen
eine Verschlimmerung des Grundleidens,
auftrat, sehe ich dabei vollkommen ab.
Das sind doch Zahlen, die bedenklich
stimmen müssen. Um so mehr ist es
notwendig Grundlagen zu schaffen und
Richtlinien festzulegen.
Wann ist nun die Indikation zur
Schwangerschaftsunterbrechung gegeben
und wann nicht? Für den Arzt besitzt
auch heute noch der Leitsatz alleinige
Gültigkeit, daß eine Unterbrechung nur
dann berechtigt ist, wenn bei Fortbestehen
^ der Schwangerschaft aller Voraussicht
nach inoperable Schäden gesetzt werden
bzw. durch kein anderes Mittel die Besse¬
rung eines Leidens zu erwarten steht. Im
einzelnen kann es allerdings manchmal
schwierig sein, den richtigen Weg zu
I finden.
! Verhältnismäßig einfach liegen die
Dinge bei Erkrankungen des Eis und der
Genitalorgane.
Die Behandlung des Grundleidens bei
Erkrankung der Genitalorgane (Lage¬
veränderungen, Entzündungen, Tumoren)
ist in diesem Falle das gegebene. Nur bei
fixiertem, incarcerierten, retroflektierten
Uterus wird, wenn der abdominale Weg
nicht mehr beschritten werden kann,
die Unterbrechung nicht zü umgehen
sein. Desgleichen wird man bei Carcinom
des Uterus im Interesse der Mutter
radikal vorzugehen haben. Ebenso kon¬
servativ wird man im allgemeinen bei
Erkrankungen des Eis namentlich bei
Blutungen verfahren können. Auch bei
abgestorbener Frucht liegt zunächst kein
Grund zum Eingreifen vor. Indiziert ist
die künstliche Unterbrechung nur bei
langdauernden Blutungen mit sekundärer
Anämie (50% Haemoglobin), bei Placenta.
prävia, Blasenmole und bei Foetus mor-
tuus dann, wenn ärztliche Beobachtung
unmöglich ist oder Intoxikationserschei-
niingen auftreten. Bei akutem Hydram-
nion ist die Unterbrechung selbstverständ¬
lich am Platze.
Schwieriger schon ist die Indikations¬
stellung bei Leiden, die bei sonst ge¬
sundem Körper durch die Schwanger¬
schaft hervorgerufen werden, bei den
Schwangerschaftstoxikosen.
Bei der Eklampsie als der gefährlich¬
sten Komplikation haben sich die ge¬
wonnenen, konservativen, therapeutischeri
226 \
Die Therapie der Gegenwart 1921
September
Richllinien wohl allgemeine Geltung ver-,
schafft, weil erfahrungsgemäß die in
früheren Monaten auf tretende Eklampsie
an und für sich eine relativ gute Prognose
bietet und durch konservative Stroganoff-
therapie gewöhnlich erfolgreich bekämpft
wird. Nur in den seltenen schweren und
■bei den atypischen Fällen, bei denen die
Krämpfe fehlen, wird, ohne sich indessen
großen Nutzen versprechen zu dürfen,
eingegriffen werden müssen. Viel größeres
praktisches Interesse erfordert die viel
häufiger vorkommende Hyperemisis. Je¬
dem ist es eine geläufige Tatsache, daß
in den jneisten Fällen, auch Wenn sie
scheinbar schwer sind, oft schon durch
Änderung der äußeren Lebensbedingun¬
gen z. B. allein durch Transferierung in
eine andere Klinik, durch Klimawechsel,
Aufstellung eines Ernährungsregims
manchmal ein schlagartiger Umschwung
zur fortschreitenden Besserung auftritt.
Trotzdem aber gibt es, wenn auch sehr
selten, Fälle, die, sobald nicht rechtzeitig
eingegriffen, unter zunehmender Ver¬
schlechterung das Allgemeinbefinden und
Auftreten von Intoxikationserscheinun¬
gen, Erhöhung des Pulses und der Tem¬
peratur, Albuminurie Ikterus, cerebrale
Reizerscheinungen, zuweilen überraschend
rasch tödlich enden. Bei Anzeichen von
Intoxikation ist die Unterbrechung selbst¬
verständlich. Will man nicht kritiklose
Prophylaxe treiben und andrerseits nicht
zu spät eingreifen, so muß man zugeben,
•daß es schwierig sein kann, den Zeitpunkt
zur begründeten Unterbrechung richtig
zu stellen. Tatsächlich folgen die aus¬
geprägten Intoxikationssymptome ein¬
ander gewöhnlich sehr rasch, wenn sie
nicht gemeinsam auftreten. Soviel steht
aber fest, daß bei erstem Auftreten der
Albuminurie und des Ikterus, der ge¬
legentlich beobachtet wird, wegen der
dann ernsten Prognose sofortiges, aktives
Vorgehen geboten ist. Von vier Patienten
•starben trotz Unterbrechung zwei. Man
wird sich deshalb, will man nicht schaden,
doch unter Umständen schon früher zur
Unterbrechung entschließen müssen. Hier
aber setzen die Schwierigkeiten der Be¬
urteilung ein, denn es hat sich gezeigt,
daß auf die Erhöhung der Pulsfrequenz
allein, ja selbst auf Temperatursteige¬
rungen allein, nicht allzuviel zu geben ist.
Erweist sich aber bei Bestehen dieser
Symptome die Hyperemesis trotz sorg¬
fältiger klinischer Behandlung als un¬
beeinflußbar, so glaube ich, daß be¬
sonders, wenn cerebrale Symptome hin¬
zutreten, mit der Unterbrechung nicht
länger zu warten ist. Wichtig ist jedoch
zu betonen, daß solche schweren Fälle
doch zu den großen Seltenheiten gehören.
Häufiger taucht die Frage der Schwan¬
gerschaftsunterbrechung auf bei Koinzi¬
denz der Schwangerschaft mit der Trias
der wichtigsten Organerkrankungen; des
IJerzens, der Lungen und der Nieren.
So unerwünscht diese Komplikationen
an sich sind, so verschieden sind sie er¬
fahrungsgemäß zu bewerten. Besonders
trifft das zu für die namentlich von inter¬
nistischer Seite gefürchteten Herz¬
krankheiten. Kritische Durchsicht
und Bearbeitung haben doch ergeben
daß die Gesamtmortalität nur 2—4% be¬
trägt, daß die älteren Statistiken die
Dinge viel zu schwarz sahen und daß es
bei der Beurteilung der Frage, ob unter¬
brochen werden soll oder nicht, auf die
Art der Erkrankung und vor allem auf
die Leistungsfähigkeit des Herzens an¬
kommt. Stellt die Gravidität auch an das
Herz große Anforderungen, so steht es
doch fest, daß bei kompensiertem Herz¬
klappenfehler eine Unterbrechung ein
Kunstfehler ist; selbst bei der ungünstigen
Mitralstenose kann bei Fernhaltung aller
Schädlichkeiten die Schwangerschaft ohne
Gefahr für die Mutter zu Ende gehen.
Anders liegen die Dinge bei herabgesetzter
Leistungsfähigkeit des Herzens bezie¬
hungsweise des Herzmuskels, bei vor¬
handener Dekompensation. Sind bereits
lebensbedrohliche Erscheinungen (Lun-
genoedem, Nephritis) vorhanden, so ist
jedes zu lange Warten natürlich schädlich,
ln den leichteren Fällen aber ist, wenn es
sich nicht um eine Herzmuskelerkrankung
selbst handelt, ein konservatives Verhalten
nicht nur gestattet, sondern geboten.
Die interne Herztherapie ist das zunächst
Gegebene. Erst bei ihrem Versagen ist
bei erneutem Auftreten von Dekompen¬
sationsstörungen der Abortus artificialis
am Platze.
Fast noch verantwortungsvoller ist
die Indikationsstellung bei der Tuber¬
kulose. Fest steht, daß eine Tuberkulose
der Lunge durch eine Gravidität sich
verschlimmern kann und daß umgekehrt
die Fortnahme des Eis nicht selten
einen günstigen Einfluß ausübt, derart,
daß selbst bei vorgeschrittener Gravidität
durch die künstliche Frühgeburt wenig¬
stens beim ersten Turbanstadium noch in
66 ^ 3 % Besserung erzielt werden kann.
Und doch wäre es unstatthaft, generell
ciie Unterbrechung zu befürworten, schon
September
Die Therapie der Gegenwart 1921'
32T
deswegen, weil die Aussichten, auf Besse¬
rung von der Schwere und Ausdehnung
der Erkrankung und von dem Zeitpunkte,
wann unterbrochen wird, abhängig ist.»
Bei einer progredienten Lungentuber¬
kulose, wie übrigens auch bei Kehlkopf¬
tuberkulose darf freilich nicht gezögert
werden. Nur in hoffnungslosen Fällen
wird man von einer Unterbrechung Ab¬
stand nehmen, weil durch einen Eingriff
mehr geschadet als genutzt wird. Kon¬
servativ aber hat man sich in allen jenen .
Fällen zu verhalten, bei denen eine
latente Tuberkulose vorliegt. Die Be¬
rechtigung ergibt sich aus der Fest¬
stellung, daß. bei den Frauen, bei denen
wegen Tuberculosis latens die Unter¬
brechung von uns abgelehnt wurde, durch
das weitere Bestehen der Schwanger¬
schaft keine Verschlechterung konstatiert
wurde und daß durch die Geburt oder
Wochenbett nur selten und dann niemals
-eine dauernde Schädigung eintrat.
Schwieriger sind die Fälle von manifester
Tuberkulose zu beurteilen, wenn eine
Progredienz nicht erwiesen ist. Denn
auch bei manifester Tuberkulose ist ein
ungünstiger Einfluß doch nur in der
Hälfte der Fälle zu erwarten. Hier kann
nur die klinische Beobachtung unter
internistischer Kontrolle den Zweifel, ob
«in leichter oder schwerer Fall vorliegt,
beheben. Wichtig ist, daß weder der
positive Bacillenbefund noch eine Ge¬
wichtsabnahme noch ein kurzer Tempe¬
raturanstieg, selbst nicht ein Haemoptoe
allein die Unterbrechung indiziert. Die
Pflicht zu unterbrechen haben wir nur
dann, wenn starker Gewichtssturz bei
■gleichzeitigem, schlechten Allgemeinzu¬
stand, hereditärer Belastung auftritt oder
liohes Fieber beziehungsweise Jang¬
dauernde subfebrile Temperaturen be¬
obachtet werden. Ist eine Progredienz
des Prozesses nicht anzunehmen, so wird
man unter sorgfältiger Beobachtung, be¬
sonders wenn Schonung oder gar Heil¬
stättenbehandlung möglich ist, ohne
Schaden abwarten.
Eine planmäßige Indikationsstellung
ist auch bei den Nierenerkrankungen
in der Schwangerschaft notwendig. Wir
wissen, daß die Eiweißausscheidung an
sich sehr häufig ist und nach Zange¬
meister bis zu 79% noch als physiolo¬
gisch anzusehen ist. Es wird deshalb
darauf ankommen zu differenzieren, ob
es sich lediglich um eine durch die Gra¬
vidität bedingte auf toxischer Basis ent¬
standene, sogenannte Nephropathie han¬
delt oder um eine akute oder chronische
Nierenentzündung. Daß zu einer chroni¬
schen Entzündungauch noch ein Schwan¬
gerschaftsalbuminurie oder auch eine
akute Nephritis sich aufpfropfen kann,
kompliziert die Diagnose allerdings, aber
solche Fälle sind doch sporadisch zu
finden. Freilich ist auch ohnehin die
Differentialdiagnose zwischen diesen pro¬
gnostisch ganz verschieden zu bewerten¬
den Krankheitsbildern nicht immer leicht.
Jedoch schützen genaue Anamnese, rich¬
tige Einschätzung des objektiven Be¬
findens und nicht zu vergessen eine ge-
nüegnde Beobachtung meist vor Irr-,
tümern. Ist für die Nephropathie das
späte Auftreten von hohem Eiweißgehalt
in der Gravidität mit granulierten und
hyalinen Cylindern und das relativ früh¬
zeitige Auftreten cerebraler Symptome
(Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen,
Augenflimmern) von Wichtigkeit, so fin¬
den sich bei der echten Nephritis haupt¬
sächlich Epitheleylinder. Bei der akuten
sieht man häufig rote Blutkörperchen,
Bei der chronischen Nephritis geben
wiederum der hohe Blutdruck, der relativ
geringe Eiweißgehalt, die nicht selten
vorhandene Herzhypertrophie auffällige
Hinweise. Die weitere Grundlage für
die Indikationsstellung ist von der ver¬
schiedenen prognostischen Wertigkeit ab- \
hängig. Nach den bisherigen Erfahrungen
kann es keinem Zweifel unterliegen, daß
die an Nephropathie Erkrankten nahezu
stets völlig-gesunden. Komplikationen
ernster Art können nur auftreten in
Form der Eklampsie, die aber nur in 8%
der Fälle und dann meist leicht in die
Erscheinung tritt, durch Blutungen in¬
folge vorzeitigen Placentabruchs, durch
Augenstörungen, die aber auch, wenn es
sich' allein um eine Amaurose handelt
und Augenhintergrundsveränderungen
fehlen, restlos abheilen. Nur die fort¬
schreitende Retinitis albuminurica bei
voraussichtlich langer Dauer bis zur
Niederkunft und vor allem die Ablatio
retinae erfordern sofortiges Eingreifen,
sonst aber wird man entsprechend den
günstigen Erfahrungen mit der internen
Therapie ruhig abwarten können. Gleich
konservatives Verhalten erfordert die
akute Nephritis, die leaiglich mit internen
Mitteln anzugreifen ist. Anders liegen die
'Dinge bei der chronischen Nephritis,
weil in der Schwangerschaft eine Ver¬
schlechterung eintreten kann und Urämie,
Apoplexie, Komplikationen von Seiten
des Herzens gelegentlich irreparable
328 Die TtierapieMer
Schäden setzen können. Zu betonen ist
jedoch, daß durch Schonung und richtige
Behandlung auch hierbei dauernde Schä¬
den verhütet werden können, so daß eine
prophylaktische Unterbrechung auch bei
dieser Krankheit unberechtigt .ist. Un¬
umgänglich notwendig ist die Unter¬
brechung bei Exacerbation der Erkran¬
kung in früheren Graviditätsmonaten, bei
dekompensiertem Nierenherz, Urämie
Retinitis und trotz Behandlung steigender
Oedeme.
Klarer ist der Weg bei der Pyelitis
vorgezeichnet, weil diese Erkrankung
unter sachgemäßer Behandlung oft schon
in der Gravidität abklingt. Selten liögt
eine vitale Indikation zum Eingreifen
bei zunehmender Verschlechterung des
Allgemeinzustandes und bei Nierenab-
scessen, wenn ein chirurgisches Eingreifen
nicht mehr möglich ist, vor.
Kürzer kann ich mich bei den Stoff¬
wechselerkrankungen, bei Störungen der
inneren Sekretion, bei den Leber- und
Blutkrankheiten fassen, weil die An¬
sichten sich hier meist schon seit langem
gefestigt haben.
Die guten Resultate mit der Thy-
reoidectomie bei der Struma geben uns
an die Hand, daß die chirurgische Thera¬
pie zur Bekämpfung auftretender Stö¬
rungen das Verfahren der Wahl ist, ein
Verfahren, das übrigens auch bei dem
Basedow in Frage kommt, sobald die
innere Therapie versagt hat, und gefahr¬
drohende Erscheinungen von Seiten des
Herzens (hochgradige Erregungszustände,
Entkräftigung, Dyspnoe) vorhanden sind.
Eine Unterbrechung wäre nur dann indi¬
ziert, wenn ein chirurgischer Eingriff als
zu gefährlich abgelehnt wird.
Besondere Vorsicht erheischt dagegen
der Diabetes, weil doch die Gefahr des
Comas häufiger in als außerhalb der
Gravidität vorliegt. Die weitere Tat¬
sache aber, daß ein Coma doch nur aus¬
nahmsweise auftritt, und dann auch stets
Vorboten die Gefahr rechtzeitig anzeigen,
gestattet auch bei Diabetes abzuwarten,
um so mehr, als durch strikte diätische
Behandlung die Erkrankung erfolgreich
bekämpft werden kann. Der springende
Punkt liegt darin, die Vorboten eines
Comas rechtzeitig zu erkennen. Ohne zu
schaden wird man erst dann unter¬
brechen, wenn trotz Diät der Zucker¬
gehalt steigt, Acidosis oder gar eine
steigende Albuminurie auftritt.
Bei der so seltenen Tetanie ist bei
Versagen der interneh Behandlung, Häu-
Gegenwart 1921 September
füng und Schwererwerden- der Anfälle
das aktive Verfahren nicht zu umgeheuv.
* Dagegen verlangt die Osteomalacia
eine Unterbrechung nie, da in schweren
Fällen allein die Kastration als Heil¬
faktor in Betracht kommt.
Auch,bei den Lebererkrankungen
ist die Indikationsstellung' verhältnis¬
mäßig einfach, wenn erst die Genese des
Ikterus geklärt ist. Die Fälle von Chole-
lithiasis,accidentellen und katarrhalischen
Ikterus scheiden aus. Geboten ist die
Unterbrechung nur bei der akuten, gelben
Leberatrophie.
Nahezu unverändert sind die An¬
schauungen bei den Blutkrankheiten
geblieben, insofern es sich erneut gezeigt
hat, das sowohl bei der Leukämie wie bei
der perniziösen Anämie die Unter¬
brechung stets vorgenommen werden muß.
Als letzte Gruppe der Erkrankungen
sind noch die Erkrankungen des Nerven¬
systems und der Psyche zu besprechen.
Die Forderung, bei der Frage der Schwan¬
gerschaftsunterbrechung jedesmal einen
Spezialisten hinzuzuziehen, ist natürlich
hierbei besondere Notwendigkeit. All¬
gemein haben die Studien der führenden
Psychiater ergeben, daß eine Unter¬
brechung auch bei diesen Erkrankungen
selten vorzunehmen ist, um so mehr, als.^
die Unterbrechung durchaus nicht immer
den erwünschten Umschwung zur Besse¬
runggewährleistet und andererseits durch
den Fortbestand der Gravidität zumeist
nicht eine ungünstige Beeinflussung zu
konstatieren ist. Bei der Epilepsie
beobachtet man allerdings zuweilen eine
Häufung der Anfälle durch die Gravidität.
Für gerechtfertigt erscheint jedoch eine
Unterbrechung nur bei starker Vermeh¬
rung der Anfälle, bei zunehmenden psychi¬
schen Störungen und allerdings ohne
Verzug bei dem gefährlichen Status epi-
lepticus. Auch bei der Chorea haben
sich die früheren Anschauungen über
den Nutzen der Schwangerschaftsunter¬
brechung, die auch in dieser Beziehung
kein Allheilmittel darstellt, geändert. Un¬
umstößliche Richtlinien lassen sich nicht
aufstellen. Sicher ist nur, daß bei der
Chorea acutissima alles umsonst ist und
andererseits nur die schweren, rezidivie¬
renden Fälle mit gleichzeitig einher¬
gehender Psychose und komplizierenden
Organerkrankungen. (Herz, Nieren) Ein¬
griffe notwendig machen. Desgleichen
ist auch bei der Polyneuritis nur in den
schwersten Fällen bei erheblicher Be-
September
' fi
Die Therapie der. Gegenwart 1921
329,
teiligung des Nervus opticus eine Unter¬
brechung erlaubt.
■ Bei den Psychosen kommt die Fort-
nahme des Eies nur in Frage bei den
schweren Depressionszuständen.
Dieser Standpunkt gilt auch für die
Dementia praecox, bei der Kon¬
zessionen im Sinne dner Unterbrechung
lediglich bei Auftreten neuer Schübe zu
machen sind.
Sind damit in kurzen Zügen die
'Grundlagen für die Unterbrechung aus
medizinischer Indikation gegeben, so fragt
es sich, ob noch andere Indikationen dem
Arzt zu einer Schwangerschaftsunter¬
brechung die Berechtigung geben..
Die Mehrzahl der Ärzte hat sich in¬
zwischen dazu bekannt, daß es für den
Arzt andere Indikationen als die medizi¬
nischen nicht geben darf, wenn nicht die
Ethik des ärztlichen Standes Schaden
nehmen soll. In vollejr Erkenntnis der
vielfach vorhandenen äußeren Not der
Frauenwelt ist trotzdem die Anerkennung
einer sozialen Indikation zur Schwanger¬
schaftsunterbrechung eine Unmöglich¬
keit. Es würde zu weit führen, hier alle
Gegengründe anzuführen; Tatsache ist
jedenfalls, daß der Willkür Tür und Tor
geöffnet würden, um so mehr, als wir
Ärzte gar nicht in der Lage sind, den
wirtschaftlichen Notstand zu beurteilen,
daß der Frauenwelt nur damit geschadet
würde und daß ein Raubbau am Volks¬
körper inauguriert Würde, . den unser
ohnehin geschwächter Volkskörper be¬
sonders heutzutage sich nicht gestatten
kann.
In der ausgiebigen Diskussion, die
sich an mein in Köln auf dem bevöl¬
kerungspolitischen Kongreß gehaltenes
Referat über den Schutz des keimenden
Lebens anschloß, ist es denn auch — von
Einigen parteipolitisch engagierten Un¬
entwegten abgesehen — zum Ausdruck .
gekommen, daß die soziale Indikation
als einziger Grund für die Einleitung eines
Abortes doch abzulehnen sei, weil es einen
einwandfreien Weg, ihr zum Siege zu ver¬
helfen, nicht gibt. Selbstverständlich
wird man als Arzt den sozialen Verhält¬
nissen Rechnung tragen, aber nur dann,
wenn eine Erkrankung ohnehin vorliegt
und Zweifel bestehen, ob auf Grund der
eben erörterten Richtlinien eine Unter¬
brechung vorzunehmen ist oder nicht.
Noch einmütiger kam man^an gleicher
Stelle zur Ablehnung der eugenischen
Indikation, der vorläufig noch größten¬
teils die. volle Wissenschaftliche Unter¬
lage fehlt. Selbst Vorkämpfer der Euge¬
nik, wie z. B. Hirsch, geben zu, daß
diese Indikation noch nicht reif wäre,
anerkannt zu werden.
Und schließlich die Notzuchtsindika¬
tion. Unsere Erfahrungen, die wir nach
den Russeneinfällen sammeln konnten,
erhärteten die schon oft ausgesprochene
Ansicht, daß Empfängnis aus Notzucht
zu den Seltenheiten gehört. Ob Notzucht
vorliegt oder nicht, hat der Richter zu
entscheiden!
Dies sind in großen Zügen die Grund¬
lagen, die die Königsberger Klinik unter
Verwerturig der Literatur, gestützt auf
reichliche Erfahrung, bei kritischer Beur¬
teilung, gewonnen hat. Weiterarbeiten
und Modellieren ist naturgemäß not-
. wendig. Trotz Strebens nach möglichster
Klarheit verbietet sich ein Schematisieren.
Die Wirklichkeit stellt stets neue Pro¬
bleme. Der individuellen Behandlung
bleibt noch weiter Spielraum. Sie ist
sogar bei genügender Selbstkritik un¬
bedingtes Erfordernis, sie darf aber nicht
dazu führen, daß ärztliche Ethik Schiff¬
bruch erleidet. Nihil nocere — aber
semper lege artis! •
Über das Erythroltetranitrat in der Behandlung
der Coronarsklerose und mancher Formen von Hypertonie.
Von Prof. Dr. W. Zinn”und Dr. K. Liepelt in Berlin.
Langjährige günstige Erfahrungen mit
dem Erythroltetranitrat veranlassen uns,
dieses Medikament, das in der allgemeinen
Praxis noch Wenig eingeführt ist, für die
Behandlung der Angina pectoris und bei
manchen Hypertonien an dieser Stelle zu
empfehlen. Wir haben seit mehr als zehn
Jahren.das E. teils in gemeinsamer Tätig¬
keit, teils jeder von uns an Kranken der
eigenen Beobachtung in ausgedehntem
Maße angewandt. Das E. lernte der eine
von uns (Z.) kennen, als sein Lehrer Karl
Gerhardt von seiner Ehrenpromotion in
Edinburg das Präparat im Jahre 1898
nach Berlin mitbrachte. Es konnten
leider nur Wenige Versuche Wegen der
geringen Menge des Mittels gemacht
werden. Das E. Wurde damals nur in
England hergestellt und war wegen seiner
Explosionsgefährlichkeit schwer zu be¬
schaffen und zu verarbeiten.
In der deutschen Literatur wird das
42
330
Die Therapie der Gegenwart 1921
September
E. unseres Wissens zum ersten Male von
Ortner 1911 besprochen und auf Grund
zahlreicher guter Erfahrungen bei Coro-
narsklerose warm empfohlen. Es ver¬
mochte in manchen Fällen einen steno-
kardischen Anfall zu unterdrücken, be¬
sonders hat es sich als Prophylacticum
gegen neu wiederkehrende anginöse An¬
fälle bewährt. Wir haben auf diese An¬
regung hin das E. wieder aufgenommen
und sind in einer umfangreichen Er¬
fahrung an mehreren hundert Kranken
(es sind mehr als 500) in den letzten zehn
Jahren zu günstigen Ergebnissen gelangt,
die hier kurz mitgeteilt seien.
In der neueren Literatur der Herz¬
krankheiten findet das E. bei mehreren
Autoren in Lehrbüchern und Aufsätzen
bereits die entsprechende Erwähnung, so
in der eben erschienenen Neuauflage
des bekannten Rombergschen Werkes,
in dem Aufsatz von Edens: Die medika¬
mentöse Behandlung der Kreislauf¬
schwäche und an anderen Orten. Trotz¬
dem ist das Mittel noch wenig gewürdigt
und hat in der Praxis noch nicht die Be¬
deutung erlangt, die es verdient. Ins¬
besondere fehlen Berichte über jahrelange
Erfahrungen.
Zunächst einige Worte über die che¬
mischen und pharmakologischen Eigen¬
schaften des Mittels. Wir verdanken diese
Angaben der Firma Merck in Darmstadt,
die unsere Wünsche, zu einer brauchbaren
und bequemen Dosierung zu gelangen,
stets gefördert hat.
Das Erythrolum tetranitricum (Ery-
throltetranitrat QHß [0 . NOg] 4 ) ist das
Nitrierungsprodiikt des vieratomigen Al¬
kohols Erythrit, der sich als solcher in
einer Algenart Protococcus vulgaris findet
und ferner auch bei Zersetzung des Ery¬
thrins entsteht, das in manchen Flechten,
besonders in Rocellaarten vorkommt.
Das Erythroltetranitrat bildet große, in
kaltem Wasser unlösliche, in Alkohol
leicht lösliche, bei 61 schmelzende
Kristallblätter, die, ähnlich dem Nitro-
glyceiin, durch Stoß und rasches Er¬
hitzen explodieren.
Nach den Untersuchungen von J. B.
Bradbury gehört das E. zu der Klasse
der gefäßerweiternden Mittel, aus der das
Amylnitrit und das Nitroglycerin schon
lange in größerem Maßstabe praktisch
verwertet werden. Wie diese beiden Prä¬
parate wird das E. bei Angina pectoris,
Asthma cardiale und verwandten Zu¬
ständen verordnet. Bradbury gibt das
Mittel in der Dosis von 4 ccm einer alko¬
holischen Lösung"(1 : 60) vier- bis,sechs¬
stündlich in einem kleinen Weinglas voll
Wasser. Die explosive Eigenschaft des
E. erfordert bei "der Dispensation die
größte Vorsicht Die Firma Burroughs,
Wellcome and Co. und die Firma Thurner
in London fertigten deshalb Tabletten zu
je .0,03 der Substanz mit etwas Schoko¬
ladenmasse gemengt an.
Bradbury empfahl das E. an Stelle
der gebräuchlichen Nitrite besonders des¬
halb, weilseine gefäßerweiternde Wirkung,,
wiewohl weniger energisch eintretendV
doch weit länger andauert als beim Nitro¬
glycerin, Amylnitrit und anderen Nitriten.
G. Oliver sah die gefäßerweiternde
Wirkung des Nitroglycerins schon nach
15 Minuten —nach unseren Erfahrungen
meist schon nach fünf Minuten — ein-
treten. Während sich ein gleicher Effekt
bei 0,06 E. erst nach 30 Minuten zeigte.
Indessen besteht dessen Wirkung nach
einer Stunde noch fort, wenn die Nitro-
glycerinwirkung bereits völlig erloschen
ist, und hält bis zu 3% Stunden, ja noch
länger, in der gleichen Höhe an. Ähnlich
äußert sich A. Bruntoh. Bradbury
berichtet über einen Fall von Angina
pectoris bei einem 75 jährigen Greise, bei
dem das E., in sechsstündigen Pausen und
den Dosen von je 0,06 genommen, an¬
dauerndes Wohlbefinden sowie Aus¬
bleiben der Anfälle bewirkte, während
Nitroglycerin dieselben nicht zu bannen
vermochte.. Bradbury betont, daß er
das E. nicht empfohlen habe, um das
Amylnitrit und Nitroglycerin in einem
bereits bestehenden Anfalle von Angina
pectoris zu ersetzen, sondern daß das neue
Mittel sich vorzugsweise dazu eigne, das
Eintreten der Anfälle zu verhüten.
Simon und C. Schmidt haben bei
Adams-Stokesscher Krankheit Dosen von
0,0015 g Atropin, sulfur. neben E. mit
Erfolg verabreicht. Es zeigte sich sehr
bald eine Abnahme der Schwindel- und
Ohnmachtsanfälle und die Patienten wur¬
den wieder arbeitsfähig. Das E. für sich,
allein brachte den geschilderten Effekt
nicht zustande. Denn bei alleiniger Ver¬
wendung des E. kehrten die Krankheits¬
symptome wieder.
Bei unseren eigenen Beobachtungen
zeigte sich bald, daß die Dosierung der
englischen Literatur für unsere Fälle meist
zu hoch war. Wir verwandten deshalb
zunächst Pillen in^ der Einzelgabe von*
0,005 g. Doch machte die Explosiv¬
gefahr des E. große Schwierigkeit in der
Pillendispensierung in den Apotheken.
September
Die Therapie der Gegenwart 1921
33J
Wir begrüßten es daher als einen großen
Fortschritt für die praktische Einführung
des Mittels, als unter den bekannten
M.B.K.-Compretten (Merck, Boehringer,
Knoll) auch gebrauchsfertige E.-Tabletten
in den Handel kamen.
Das Hauptindikationsgebiet des E.
sind nach unseren Erfahrungen gleichfalls
die oft sehr quälenden Beschwerden der
Coronarsklerose außerhalb der eigent¬
lichen stenokardischen Anfälle. Viele
dieser Kranken haben eine große Zahl
von sehr lästigen, oft dauernden Be¬
schwerden, die mit großer Mannigfaltig¬
keit in den Einzelheiten geklagt werden
und bei jedem Patienten eine individuelle
Note haben. Wir erwähnen nur einzelne
der bekannten Beschwerden: mehr oder
weniger starker Druck und Schmerz in
der Gegend der Brustbeins, des Herzens,
schmerzhafte Ausstrahlungen in die Arme,
besonders den linken, in den Leib, Steige¬
rung bei der geringsten Anstrengung
körperlicher und geistiger Natur, Angst,
vermehrte vasomotorische Erregbarkeit
usw.
Im stenokardischen Anfall selbst war
in unseren zahlreichen Versuchen das
Nitroglycerin dem E. überlegen. Die
Wirkung des Nitroglycerins zeigt sich
hier am schnellsten bei der mehrfach emp¬
fohlenen Anwendung der alkoholischen
Lösung (am besten auf Zucker), die schnell
zur Resorption und nach Wenigen Minuten
zur nachweisbaren deutlichen Wirkung
kommt: entweder von der 1% alkoholi¬
schen Lösung zwei- bis viermal zwei bis
zehn Tropfen oder in der besonders ge¬
eigneten Form nach Ros in Nitroglycerin
0,02, Spiritus vini 20,0, davon zehn
Tropfen = % mg ein- bis viermal auf
leeren Magen. Die Dauer der Nitrq-
glycerinwirkung beträgt etwa eine Stunde.
Die Wirkung des E. tritt bei dem
üblichen Einnehmen in Tabletten lang¬
samer ein, in etwa einer halben bis einer
Stunde. Die.Wirkung ist dafür Wesent¬
lich nachhaltiger und erstreckt sich über
mehrere Stunden hin. Dadurch ist man
leicht in der Lage, durch eine täglich etwa
dreimal Wiederholte Dosis eine lange an¬
dauernde Wirkung zu erzielen. Die Nitrit¬
wirkung äußert sich in Gefäßerweiterung
mit Blutdrucksenkung und Pulsbeschleu¬
nigung und zeigt sich beim E. oft sehr
deutlich, ln günstigen Fällen geht dieses
Verhalten aus der Beobachtung und den
Angaben der Kranken klar hervor. Wird
die Dosis zu hoch gewählt, so ist die Er¬
weiterung der sichtbaren Gefäße, be¬
sonders des Kopfes, Weicherwerden und
Beschleunigung des Pulses leicht erkenn¬
bar, und von dem Patienten wird ein leb¬
haftes Gefühl von Hitze, Unbehagen im'
Kopfe, vermehrtes Klopfen der Gefäße
angegeben. Daraus geht hervor, daß auch.
die übrigen Nitritwirkungen, nämlich die
Erweiterung nicht nur der Haut-, sondern,
auch der Kranz-, Hirn- und Darm gef äße
zustande kommt. Dieser Einfluß auf das-
Gefäßsystem ist nach Fijehne die Folge
der Reizung der Vasomotorenzentren und
Wohl auch ein peripherer direkt auf die
Gefäßwände (siehe bei Poulsson, Lehr¬
buch der Pharmakologie "s.“ 188). Über¬
große Gaben wirken auf das Herz wie
auf die allgemeine Muskulatur lähmend
(Edens).
Die zweite Hauptgruppe für die An¬
wendung des E. sin.d diejenigen Fälle, bei
Welchen stärkere Symptome der Hyper¬
tonie bestehen. Die dauernd vermehrte
Gefäßspannung bedingt häufig erhebliche
Beschwerden wieKopfdruck,Kopfschmerz,
Schwindel (Gefahr der Apoplexie), Herz¬
beschwerden, Reizbarkeit und andere. In.
der Verminderung der Tension wird natür¬
lich nur ein Symptom bekämpft. Es ist
selbstverständlich, daß bei diesen Fällen,
eingehend die Ursache (Adipositas, Al¬
kohol-, Nikotinabusus, geistige Über¬
anstrengung, Nierensklerose, allgemeine
Angiosklerose usw.) für die Aufstellung:
des therapeutischen Planes berücksichtigt
werden muß. Die diätetische, hydrothera-
peutischeunddie Schonungsbehandlungist
zuerst genau zu regeln. Danach fragt sich,,
ob und welche medikamentöse Therapie
zur Herabsetzung des abnorm hohen Blut¬
drucks für den einzelnen Fall angezeigt
ist. Neben Diuretin, Jod, Papaverin,,
Kalksalzen kommt hier das E. zu seinem
Recht. Wir richten uns für seine Ver¬
ordnung mehr nach den subjektiven Be¬
schwerden der Kranken als nach der Höhe
des Blutdruckes. Selbst höherer Blut¬
druck (180 und mehr mm Hg Riva-Rocci)
Wird von manchen Kranken jahrelang
ohne wesentliche Klagen ertragen. Wäh¬
rend andere schon bei niedrigerem Drucke
(160—170 mm Hg) unter den oben ge¬
nannten Symptomen sehr leiden. Diese
Dinge sind bekanntlich abhängig von der
Ausbreitung und der Intensität der Ar¬
terienveränderungen. Bei der ausge¬
sprochenen Nierensklerose, bei aer die
Hypertonie mit ein Kompensations¬
vorgang sein kann, kommt die medika¬
mentöse Herabsetzung des hohen Blut¬
druckes kaum in Frage, erfordert jeden-
42»
332
September
♦ Die Therapie der Gegenwart 1921
falls besondere Vorsicht. Wir wollen
dabei die Streitfrage, ob die dauernde
beträchtliche Hypertonie ohne Erkrankung
des Nierengefäße oder nur bei einer
solchen (Romberg) vorkommt, hier
außer acht lassen.
Auf das E. reagieren naturgemäß am
günstigsten die Fälle von Hypertonie, bei
denen ein erhöhter Gefäßspasmus noch
ohne schwere anatomische Veränderungen,
besonders Starre, der Arterien besteht.
Hier kann das Mittel seine-^pharmako-
logische Wirkung, Erweiterung der Ge¬
fäße, Herabsetzung der Tension, am besten
entfalten. Der therapeutische Erfolg oder
Mißerfolg kann in solchen Fällen die
klinische Diagnose, die im Anfang die
Unterscheidung eines funktionellen Ge¬
fäßspasmus von einer dauernden Hyper¬
tonie durch allgemeine Angiosklerose nicht
immer gestattet, direkt fördern. -
Welche Stellung man auch zu der
komplizierten theoretischen Frage der
Hypertonie einnehmen mag, die Not¬
wendigkeit ihrer medikamentösen Be¬
handlung (im Rahmen der übrigen Thera¬
pie) ergibt sich in nicht wenigen Fällen
mit den geschilderten Beschwerden für
den Praktiker als notwendig.
Viele unserer Kranken, bei denen sich
das E. bewährte, zeigten irrt Verlaufe der
Behandlung eine Herabsetzung des Blut¬
drucks von verschieden langer Dauer.
Leitend für die Beurteilung des Erfolges
waren ferner für uns die Angaben einer
deutlichen Besserung von seiten der
Kranken, die ganz überwiegend in ambu¬
lanter Behandlung standen.
Wir verordnen das E. in Form der
M.B.K.-Compretten, und zwar 25 Com¬
pretten je 0,005 in Originalpackung (Preis
zur Zeit 3,50 M.). Dieses Präparat ist
durch die bei der Comprettenpressung
benutzte Grundmasse nach der Mitteilung
der Firma Merck frei von jeder Explosions¬
gefahr, so daß es sich weder durch Druck,
Schlag oder Stoß noch selbst beim Halten
in die offene Flamme entzündet.
Wir geben dreimal täglich eineXom-
prette, mit einem Schluck Wasser vor
dem Essen zu nehmen. In den günstigen
Fällen zeigt sich die Wirkung meist vom
zweiten bis dritten Tage an und wird von
den Kranken, namentlich denen mit
Stenokardie, oft sehr anschaulich ge¬
schildert. Wir verzichten wegen Raum¬
ersparnis auf dieWiedergabe von Kranken¬
geschichten.
Wir verfügen über eine sehr große
Zahl von Beobachtungen von Coronar-
sklerose und Hypertonie im Alter von
40 bis 75 Jahren. Die beruflichen Ver¬
hältnisse der großen Stadt bringen es mit
ihren großen Anstrengungen mit sich,
daß die' Schädigung des Gefäßsystems,
auch in relativ jüngeren Jahren, hier so
häufig ist.
Notwendig ist der lange fortgesetzte
und wiederholte Gebrauch des E. über
Monate und eventuell Jahre hin. Die erste
Periode der E.-Verordnung dauert meist
drei Wochen, sie wird mit kurzen Pausen
von je 8—14 Tagen monatelang wieder¬
holt, je nachdem sich ein Erfolg zeigt.
BeiAdams-StokesscherKrankheitkann
gelegentlich die Kombination von E. mit
Atropin nach Simon und Schmidt ver¬
sucht werden.
Wir haben von der vorgeschlagenen
Dosierung (drei- bis viermal 0,005 täglich)
die besten Erfolge gesehen. Ein indivi¬
duelles Vorgehen ist aber bei dem vielge¬
staltigen Krankheitsbilde der Coronar-
sklerose und der Hypertonie unerläßlich.
Dosierung, Zeit der Einnahme des Mittels,
Dauer der Anwendung muß je nach Be¬
darf geändert werden. Es empfiehlt sich
auch nicht, die Behandlung zu schnell
abzubrechen, da der Erfolg zuweilen erst
gegen Ende der ersten Woche einsetzt.
Wo er vorhanden ist, gibt der Kranke
die Wendung zum Besseren nach oft qual¬
vollen, lange bestehenden Beschwerden
meist sehr charakteristisch an.
Neben den 0,005 Compretten sind die
stärkeren Compretten zu 0,03 im Handel.
Die beiden Dosierungen ermöglichen einen
weiten Spielraum für ihre Anwendung.
Die hohe Dosierung der englischen Ärzte
(0,03 bis 0,07 g) widerraten wir, möchten
sie jedenfalls nur für einzelne Fälle zu-
[ lassen. Wir sahen nach den größeren
Gaben von über 0,03 mehrmals fast regel¬
mäßig erhebliche, sehr lange anhaltende
Gefäßerweiterung und allgemeine Er¬
regung verbunden mit starken Beschwer¬
den, die recht unangenehm und gelegent¬
lich nicht gefahrlos erschienen. Die gleiche
Erfahrung’erwähnt Ortner. Die Gründe
der Differenz in der Dosierung zwischen
den englischen Ärzten und uns konnten
Wir nicht aufklären. Jedenfalls zeigt das
M.B.K.-Präparat die besten Wirkungen
in weit geringerer Dosis als das englische.
Manche Patienten sind schon gegen
die Tagesdosis von dreimal 5 mg emp¬
findlich und klagen über Kopfschmerz
und Gefäßklopfen. In den Fällen, die auf
dreimal 5 mg nicht reagieren, nehme man
September Die Therapie der Gegenwart 1921 333-
die Steigerung der Dosis nur langsam vor.
Jede Verwendung eines differenten Medi¬
kaments erfordert einige Übung/und Er¬
fahrung. . DicN richtige Individualisierung
ist ärztliche Kunst.
Selbstverständlich ist das E. auch
nicht in jedem Falle wirksam,'eine Anzahl
von Kranken verhält sich refraktär. Daß
das ganze Regime jedes Patienten genau
geregelt werden muß, wurde bereits be¬
tont.
Wir haben das E. auch bei Verenge¬
rungen der Splanchnicusgefäße (Dys-
pragia intermittens Ortner) hin und wieder
mit Nutzen, bei der Dysbasia angiosclero-
tica intermittens dagegen in der Regel
ohne Erfolg gegeben.
Ganz vorwiegend sind die Beschwerden¬
der Coronarsklerose und mancher Fälle
von Hypertonie das Anwendungsgebiet
des E. , • !
Literatur: 1. Ortner, Circulationskrank-
heiten. IL Medikam. u. physik. Ther. d. Arterio¬
sklerose. (Jahreskurse f. ärztl. Fortbild. 1911,
H. 2, S. 46; J. F. Lehmanns Verlag, München.) —
2. Romber.g, Lehrbuch der Krankheiten des
Herzens und der Blutgefäße. (Stuttgart 1921.) —
3. Edens, Die medikam. Beh. d. .Kreislauf¬
schwäche. (Zbl. f. Herz- u. Gefäßkrankh. 1920^
H. 17 bis 19). — 4. J. B. Bradbury (Brit. m.
Journ. 1895, Nr. 1820),— 5. G. Oliver (Brit. m.
Journ. 1896, I., S. 1375).—6. A. Brunton (Brit.
m. Journ. 1897, Nr. 1892, S. 851). — 7. Brad¬
bury (Brit. m. Journ. 1897, Nr. 1893, S. 907). —
8. Simon u. E. Schmidt (Bull. med. 1905,.
Nr. 18, S. 205). — 9. Rosin, Der gegenwärtige
klin. Stand d. Herz- ’u. Gefäßlues (D. m. W. 1920,
Nr. 40, S. 1116):— 10. Edens, a. a. O.
Die physiologische Herzmassage.
Von Dr. Johannes Haedicke,
Besitzer und leitender Arzt des* Sanatoriums Kurpark in Oberschreiberhau.
Der Fall der Krankenpflegerin Minna
Braun, die am 28. Oktober 1919 in
selbstmörderischer Absicht Morphium und
Veronal eingenommen hatte, bewußtlos
mit nur noch schwachen Lebenszeichen
im GruneWald aufgefunden, von einem
Arzt eingehend untersucht, lege artis ge¬
setzlich für tot erklärt und eingesargt,
dann aber, als der Sarg polizeilich zurFest-
stellung ihrer Persönlichkeit geöffnet
Wurde, atmend vorgefunden^ in ein Kran¬
kenhaus gebracht und dort völlig wieder¬
belebt worden war, hat dem im Volke trotz
aller Beschwichtigungsversuche zäh fest¬
gehaltenen Glauben an den Scheintod
und der Furcht, lebendig begraben zu
werden, eine gewisse Unterstützung ver¬
liehen.
Es ist daher unverständlich, wenn
gerade mit Bezug auf diesen Fall Professor
Dr. C. Harfi) führenden Zeit¬
schrift von neuem versucht, Scheintod
und Wiederbelebung zu leugnen: ,,Indem
man zugeben mußte, daß noch nach dem
gesetzlichen Tode des Individuums deut¬
liche Lebenserscheinungen an den einzel¬
nen Körperteilen und Organen sich nach-
weisen lassen, kam man sogar bei diesen
rein wissenschaftlichen Betrachtungen
dazu, von einem Scheintode zu sprechen.
Es gebe eben vom letzten Herzschlag und
Atemzuge bis zum völligen Erlöschen aller
Lebensvorgänge im Körper einen Zu¬
stand, in dem das Individuum weder be-
^) Die Zeichen des unzweifelhaft eingetretenen
Todes. Zschr. f. ärztl. Fortbild. Nr. 22 v. 15. No¬
vember 1919, S. 633.
stimmt dem Leben noch dem Tode an¬
gehöre. Aber mit Recht hat Jo res diese
Vorstellung abgelehnt, weil das Wort
,Scheintbd‘ mit der Möglichkeit der Wie¬
derbelebung rechne, die in Wahrheit nicht
mehr, vorhanden ist. Vielmehr sei mit
dem ' Aufhören der Atmung und dem
Stillstände des Herzens der allmähliche
Eintritt auch desjenigen Zustandes un¬
abwendbar, den man bei dem Erlöschen
aller Lebensfunktionen sämtlicher Ele-
meiltarbestandteile des Organismus wis¬
senschaftlich als Tod bezeichnen, müsse.
Wie solche Bekundungen mit der medi¬
zinischen Wissenschaft vereinbar sind,
nachdem durch Erfahrung und zahlreiche
Versuche einwandfrei festgestellt worden
ist, daß Scheintod und eigenmächtige
Wiederbelebung (Autobiosis) bei Pflanzen
und Tieren bis hinauf zu den Wirbeltieren
eine weitverbreitete Erscheinung sind,
die auch beim Menschen nicht nur nichts
Wunderbares und Unmögliches ist, son¬
dern, wie auch der Fall Braun beweist,
auch wirklich vorkommt, muß dem Urteil
der Akademiker überlassen bleiben. Für
den praktischen Arzt sind sie jedenfalls
völlig wertlos; denn dieser muß die be¬
stimmte und verantwortliche Entschei¬
dung treffen, ob Tod oder Scheintod vor¬
liegt, und er ist nicht in der bequemen
Lage, aus rein theoretischen Spekula¬
tionen den Scheintod einfach leugnen zu
können. Vielmehr ergibt sich für ihn die
Pflicht, dem Wesen des Scheintodes una
der Wiederbelebung auf den Grund zu
genen, damit künftig das Lebendigbe-
334
Die Therapie der G^enwart 192J
Septettiber
graben nur Scheintoter mit voller|Sicher-
heit vermieden wird.
Für die bisher physiologisch weder er¬
klärte noch auch verständliche Tatsache,
daß ein ,,scheintoter“ Mensch, dessen
„Gemeinleben“ infolge des Erlöschens
von Bewußtsein, Atmung, Herztätigkeit
und ..Blutkreislauf völlig urtterbrochen,
aber infolge Erhaltung der Lebensfähig¬
keit seiner lebenswichtigen Zellen wieder
herstellbar ist, durch die ,,künstliche At¬
mung“ wieder zu vollem Leben erweckt
werden kann, habe ich an anderer Stelle^)
als die bisher übersehene mechanische
Grundlage nachgewiesen, daß das Blut
auch noch auf eine andere Weise in Fluß
gebracht werden kann,’ als allein durch
die Zusammenziehungen des Herzens.
Der Atmungsmechanismus, der in dem
•Zusammenwirken von Zwerchfell und
Brustkorb besteht, und für den ich die
Bezeichnung „Brustpumpe“ vorgeschla¬
gen habe^) in Anlehnung an denAüsdruck
„Bauchpresse“ für das Zusammenwirken
von Zwerchfell und Bauchwand, besitzt
nicht nur entsprechend der heutigen An¬
schauung für das Herz und aen Blutkreis¬
lauf die Bedeutung eines mechanischen
Hilfsmittels, sondern er wirkt auch un¬
abhängig vom Herzen bewegend auf das
Blut ein und erzeugt einen regelmäßigen
Blutkreislauf zwischen Herz und Lungen,
der unabhängig ist von der Herztätigkeit.
Dieser selbständige „Atmungsblutkreis¬
lauf durch die Lungen“ begleitet jeden
Atemzug das ganze Leben hindurch vom
ersten Schrei des Säuglings bis zum
letzten Seufzer des Greises, und bei
fehlender Herztätigkeit bildet er die
mechanische Grundlage für die Wieder¬
belebung durch die künstliche Atmung.
Diese vollzieht sich demnach so, daß
zuerst das Blut zwischen Lungen und
Herz Wieder in Bewegung gesetzt wird,
das sich in den Lungen von der über¬
schüssigen Kohlensäure reinigt und
frischen Sauerstoff aufnimmt, den es dem
Herzen zuführt. Dadurch wird das Herz
wiederbelebt, und erst an dritter Stelle
folgt nach Wiederbelebung des Atem¬
zentrums im Gehirn durch das Blut die
Wiederherstellung der selbständigen At¬
mung.
2) Haedicke, Über Scheintod, Leben und
Tod. Ein Beitrag zur Lehre vom Leben und
von der Wiederbelebung. Verlag von Hans
Pusch, Berlin 1921.
2) Haedicke, Über die Bedeutung der „Brust-
pumpe'‘ für Atmung und Blutkreislauf. Fortschr.
d. M., Nr, 3 vom 15. Februar 1921.
Bisher teilt man umgekehrt die An¬
sicht von 'E§marchs, daß zuerst die
Atmung\und dann erst Herztätigkeit und
Blutumlauf zurückgerufen ^werden könn¬
ten und müßten: ,,Die erste und dringend¬
ste Aufgabe ist es, die Atmung Wieder-
herzusteilen; erst wenn dies gelungen ist,
darf man den Blutkreislaufund die Wärme
des Körpers zurückzurufen suchen., sonst
gefährdet man den Erfolg“^).
. Zu diesem Zwecke werden mechanische
Reize empfohlen. So schreibt von Es-
march^): „Um die Herztätigkeit wieder^
herzustellen, stellt man sich so an die
rechte Seite des Scheintoten, daß man
ihm das Gesicht zukehrt, und führt mit
dem Daumenballen der rechten Hand
möglichst kräftige und schnelle Schläge
gegen die Herzgegend aus (Herzmassage
nach Maß).“ — Rühlemann®) emp¬
fiehlt zu demselben Zweck: „Wenn der
Scheintote zu atmen beginnt, ist durch
Reiben des Körpers und durch Schlagen
der Herzgegend mit einem feuchten zu¬
sammengedrehten Tuche der Blutkreis¬
lauf anzuregen“. — Blume’^) hält eben¬
falls ,,zur Anregung des Blutkieislaufes
Schlagen der Herzgegend mit einem
nassen, zusammengelegten Taschen- oder
Handtuche“ für wirksam.
Diese genannten Mittel sind Wohl
bestenfalls dazu geeignet, einen noch be¬
stehenden Blutkreislauf durch Reizung
des Herzens zu fördern oder einzelne Zu¬
sammenziehungen des noch reizfähigen
Herzens auszulösen, aber niemals ver¬
mögen sie einen schon erloschenen Blut¬
kreislauf bei einem infolge Sauerstoff¬
mangels erstickten Herzen ,,ziirückzu-
rufen“.
In der ,,künstlichen Atmung“ da- *
gegen besitzen wir ein Mittel, das nicht
nur als künstliche Luftpumpe für die
Lungen, sondern auch als künstliche
Blutpumpe für Herz und Lungen, sowie
drittens als physiologische Herzmassage
wirkt. Denn das Herz wird dadurch auf
physiologischem Wege zu seiner physio¬
logischen Tätigkeit angeregt, und außer¬
dem durch Zuführung von Nahrung und
Sauerstoff gekräftigt und wieder zur selb¬
ständigen Tätigkeit befähigt.
'*)von Esmarch, Die erste Hilfe bei plötz¬
lichen Unglücksfällen. Leipzig 1906, S. 69.
s) Ebenda, S, 73.
®) Ruhlemann, Unterrichtsbuch für Sa¬
nitätskolonnen vom Roten Kreuz. Dresden 1913,
S. 187.
Blume, Der Samariter. Karlsruhe 1912,
S. 42.
September . Dfe Therapie der Oegenwart 1921 < 335
Diese physiologische Herzmassage,
'durch künstliche Betätigung der Brust¬
pumpe ist den bisher geübten Verfahren
grundsätzlich überlegen. Denn sowohl
der elektrische Strom als auch mecha¬
nische Erschütterungen der Brust wie
Eingriffe am Herzen selbst mit oder ohne
Eröffnung der Bauch- oder Brusthöhle
lassen sich erfolgreich anwenden nur
bei einem auf diese Weise noch reizbaren
Herzen und regen nur die Zusammen¬
ziehung des Herzmuskels selber an.
Dagegen kaiin nach C. Ludwig die
erloschene Reizbarkeit des Herzens wie- :
<i€fhergestellt werden durch Zuführung
sauerstoffhaltigen Blutes. Sogar der
Sauerstoff der Luft wirkt in demselben
Sinne, denn nach Landois wird ein |
Herz, das in einem sauerstoffreien Medium
wie Wasserdampf oder im Vakuum zu
schlagen aufgehört hat, in sauerstoffhal¬
tiger Luft aufs neue zu Bewegungen än-
geregt.
Abgesehen davon, daß diese mecha¬
nischen Reize die Nerven und Muskeln
des Herzens auch zur Unzeit treffen, z. B.
erfolglos Während aer refraktären Phase
oder vor Eintritt der normalen Systole,
und dadurch die Herztätigkeit stören und
das Herzgewebe schädigen können, bleibt
diese Art der Herzmassage ohne unmittel¬
baren Einfluß auf die eben so wichtige
Entfaltung und Füllung der Herzhöhlen
durch das Einsaugen neuen Blutes. —
Die physiologische Herzmassage dagegen
erleichtert bei noch schlagendem Herzen
sowohl die Entleerung besonders des
rechten Herzens inv.die Lungen als auch
seine Füllung durch unmittelbares An¬
saugen von Blut aus den Hohladern und
den der Brust benachbarten Körper¬
te ilen/.
Beim Scheintoten ohne Atmung und
Blutkreislauf müssen die mechanische
und die physikalische Herzmassage des¬
wegen völlig versagen, weil sie von dem
an Sauerstoffmangel.erstickten und wegen
des unterbrochenen Blutstromes auch
nicht mehr ernährten Herzen eine Arbeit
verlangen, zu der dies gar nicht mehr
fähig ist. — Die physiologische Herz¬
massage dagegen setzt das Blut unmittel-
L)ar in Bewegung und versorgt dadurch
das Herz soWohT mit Nahrung als auch
mit frischem Sauerstoff, so daß es sich
erholen kann, sofern dies noch mög-
Jich ist.
Die physiologische Herzmassage kann
aber nur dann Erfolg haben, wenn
1. nur die Gefahr der Erstickung in¬
folge Mangels an Sauerstoff vorliegt,
2. die Zuführung frischer, sauerstoff¬
haltiger Luft bis in die Lungenbläs¬
chen möglich ist,
3. die Luft durch die Wandungen der
Lungenbläschen und der Haargefäße
ausreichend mit dem Blut in Be¬
ziehung treten kann,
4. die roten Blutkörperchen den Sauer-
' Stoff sowohl ausreichend aüfnehmen
als ihn auch an die Gewebe des
Körpers wieder abgeben,
5 . das Herz noch belebungsfähig ist und
durch seine Tätigkeit das Blut wieder
dauernd in Umlauf bringen kann,
6. in den Blutgefäßen kein wesentliches
Hindernis für den Kreislauf besteht,
7. das Atemzentrum und,andere lebens¬
wichtige Gewebe nicht bereits zer¬
stört sind,
8. die Ausführung möglich und für den
Kranken nicht schädlich ist.
Ist von diesen Voraussetzungen auch
nur eine nicht erfüllt, dann mag man noch
soviel Luft und Blut in die Lungen zu
purhpen versuchen — es ist umsonst.
Systematische Atemübungen werden
selbständig oder als Teil der ,,schwedi¬
schen Massage“ bereits vielfach ange¬
wendet und sind in Deutschland besonders
durch Gerte 1 in die Behandlung der
Herz- und Kreislaufstörungen eingeführt
worden. Zu diesen bekannten und be¬
währten Verfahren tritt die physiologische
Herzmassage nicht in Gegensatz, sondern
enthält und ergänzt sie in akuten Fällen
bedrohlicher Herzschwäche und Herzstö¬
rungen, wo sie allein noch helfen kann,
wofern Hilfe überhaupt noch möglich ist.
Die physiologische Herzmassage dient
nicht nur zur Übung eines noch leistungs¬
fähigen Herzens, sondern sie unterstützt
in erster Linie das versagende Herz; sie
ist wie die ,,künstliche Atmung“ eine
Hilfeleistung zur Rettung des unmittelbar
bedrohten Lebens. Deshalb muß sie mehr
als jedes andere Mittel zugleich wirksam
und gefahrlos sein. Aus diesem Grunde
tritt sie in bewußtem Gegensatz zu den¬
jenigen gymnastischen Atmungsübungen,
die vornehmlich mit einer Vertiefung der
Einatmung verbunden sind. Bei tiefen
Einatmungen wird durch den sich schnell
verstärkenden negativen Druck im
Brustfellraüm das Blut stärker in die
Brusthöhle aus der oberen und besonders
unteren Hohlader eingesaugt und da-
33Ö \ Dk Therapie der
durch allerdings die Bewegung des Blutes
gefördert^ sö daß tiefe Einatmungen sehr
wohl geeignet sind, Störungen, der Blut¬
bewegung im großen Körperkreislauf
gßnstig zu beeinflussen. Aber die Steige¬
rung des negativen Druckes wirkt, wie
vielfach übersehen wird, gleichzeitig auf
das Herz im entgegengesetzten Sinne ein,
indem sie das Blut in der rechten Herz¬
hälfte wie auch in den Lungen festhält,
deren Entleerung vermindert und die
Zusammenziehung der Herzwandungen
hemmt. Das Herz wird durch Vertiefung
und Verlängerung der Einatmung ge¬
zwungen, verstärkte passive Widerstands¬
bewegungen' auszuführen, die zwar ein
ausreichend leistungsfähiges Herz üben
und kräftigen können, aber bei einem
erschöpften und versagenden Herzen eine
unnötige und schädliche Mehrarbeit be¬
deuten und bei diesem daher unbedingt
vermieden werden müssen.
Damit erledigt sich unter anderem das
Verfahren der künstlichen Atmung von
Brosch—Meyer—Loewy, bei dem die
physiologischen 16 Atemzüge in der Minute
von etwa 500 ccm ersetzt werden durch
nur sechs bis acht künstliche Atemzüge
von je 2—3000 ccm Luftgehalt. ^
Für das kranke und schwache Herz
trifft in erhöhtem Grade zu, was nach
Landois^) für das gesunde gilt: „Die
Stellung des Brustkorbes in mittlerer
Lage, wobei der elastische Zug der Lungen
nur mittlere Stärke hat, nämlich 7,5 mm
Quecksilber (Donders), liefert für die
Herzaktion somit die günstigsten Ver¬
hältnisse: einerseits hinreichende diasto¬
lische Ausdehnung der Herzhöhlen sowie
andererseits unbehinderte Entleerung der¬
selben bei der Systole.“
Wir müssen uns daher auch bei der
physiologischen Herzmassage an die
physiologische Mittellage halten und,
wenn eine Steigerung der Atemgröße
angezeigt und möglich erscheint, diese.
Wie auch Herz empfiehlt, vornehmlich
durch Vertiefung der Ausatmung be¬
wirken, weil dabei keine gefährlichen
Druckverhältnisse für das Herz entstehen.
Aus diesen Erwägungen ergibt sich
folgende einfache Vorschrift für die Aus¬
führung der physiologischen Herzmassage:
1. Der Brustkorb des liegenden Kranken
wird durch Erheben der Arme seit¬
lich des Kopfes und Verschränkung
der Unterarme oberhalb des Kopfes
s) Lehrb. d. Phys. 1900. 10. Aufl., S. 121.
Gegen^rt 1921 ' September
in dauernde Silvestersche Einat¬
mungsläge gebracht.
2. Dann legt man die Hände so auf die
mittleren Rippen, etwa die fünften
bis neunten feppenpaare, daß die
Endglieder der Daumen in der Höhe
des Schwertfortsatzes den Rippen¬
knorpeln auf liegen, während die ge¬
spreizten Finger nach schräg abwärts
möglichst viele Rippen umfassen,,
und die Daumenbällen und Hand¬
wurzeln dicht an den Rippenbogen
heranreichen.
3. Alsdann drückt man die Rippen in
der Richtung^auf die Wirbelsäule
beiderseits kräftig, aber elastisch zu
sammen (Ausatmung, Entleerung des
rechten Herzens und der Lungen).
4. Ohne Kunstpause läßt man darauf
mit dem Druck etwas langsamer
nach, bis die Rippen ihre Anfangs¬
lage wieder erreicht haben. Die unter
, Entspannung der Armmuskeln leicht
gelüfteten Hände des Arztes ver¬
bleiben in Berührung mit der Brust
des Kranken (Einatmung, Füllung
des i;echten Herzens und der Lungen)..
5. Dieses elastische abwechselnde Zu¬
sammendrücken der Rippen wird
entsprechend der Atmung des Kran¬
ken etwa 20—30 Mal in der Minute
wiederholt.
Die physiologische Herzmassage kann
auch sehr bequem und Wirksam mittels
des „Atmungsgürtels“ als eines jederzeit
und überall leicht herzustellenden Ersatzes
für den Roßbachschen Atmungsstuhf
nach der in meiner Schrift über Scheintod
und Wiederbelebung angegebenen Vor¬
schrift ausgeführt werden.
Diese physiologische Herzmassage nach
unserer Vorschrift durch abwechselndes
Zusammendrücken und Freigeben der
mittleren Rippen in Einatmungslage be¬
sitzt eine gewisse Ähnlichkeit mit der
Herzmassage nach Oertel. Aber dieser
verstärkt in Ausatmungslage lediglich
die selbständige Ausatmung und erzielt
daher eine gute Wirkung nur bei erhal¬
tener kräftiger Atmung, vveniger bei
schwacher und gar nicht bei fehlender des
Scheintoten. Die physiologische Herzmas¬
sage dagegen stützt sich vor allem auf
eine kräftige Einatmung und erstrebt
neben der guten Entleerung des Herzens
und der Lunge auch eine bessere Neufül¬
lung derselben mit Blut und Luft. Der
Druck auf die Rippen hat vornehmlich
den Zweck, den Druck- und Raumunter-
September
Die Therapie der Gegenwart 1921
337
schied Zwischen Ein- und Ausatmung
herzüstellen und zu vergrößern; zugleich
wirkt er mechanisch anregend auf den
Herzmuskel und als Reiz auf das Gehirn.
Die physiologische Herzmassage ist daher
wirksam sowohl beim Lebenden als auch
beim Scheintoten.
Die beim Lebenden erhaltene Atmung
Lann bei gewöhnlicher Beschaffenheit
der Lunge, der Leber und des Magens
auch dazu benutzt werden, um die Atem¬
größe etwas zu steigern.
Die ersten hundert Kubikzentimeter
Ergänzungsluft beeinträchtigen noch eben¬
sowenig die Arbeit des Herzens wie die
ersten hundert Kubikzentimeter Reserve¬
luft die Leber gefährden. Man kann daher
unbedenklich mit Hilfe der eigenen At- •
miing des Kranken und eines mäßigen,
sich der Ausatmung anschließenden Druk-
kes auf die Rippen außer den 500 ccm
Atmungsluft noch je 250 ccm Ergänzungs-
luftund Reserveluft wechseln,und so durch
die physiologische Herzmassage einen
Luftwechsel von 20—^30 x 1000 ccm oder
20—30 Minutenlitern und damit eine
ausgiebige Lüftung der Lungen und des
Blutes sowie eine kräftige Unterstützung
der Herztätigkeit und des Blutkreislaufes'
erzielen.
Infolgedessen genügt es, die physiolo¬
gische Herzmassage immer nur etwa
1—2 Minuten lang auszuführen und dann
eine Pause einzuschieben, währenü der
man den Kranken sorgfältig beobachten
muß. In dieser Weise ist so lange fortzu¬
fahren, bis sich der Zustand des Kranken
entweder gebessert hat oder sich als aus¬
sichtslos erweist.
Wenn der Kranke unwillkürlich in¬
folge Überladung seines Blutes mit Koh¬
lensäure die Einatmung verfielt und
selbst kräftig einatmet, kann man auf die
Silve st ersehe Einatmungslage verzich¬
ten und durch den Rippendruck lediglich
die Ausatmung vertiefen, um Herz und
Lungen besser zu entleeren und den Blut¬
umlauf zu beschleunigen. Man fordert
alsdann den Kranken auf, auch selbst
kräftig auszuatmen. Dadurch wird seine
Aufmerksamkeit von den subjektiven
Beschwerden und Empfindungen abge¬
lenkt sowie eine leichtere und ergiebigere
Ausatm.ung und Entleerung des Herzens
erreicht als allein durch den passiven
Druck auf die Rippen. Als günstige Fol¬
gen machen sich, sofern eine Hilfe über¬
haupt noch möglich ist, allmählich eine
Besserung des Blutumlaufes, Förderung
des Blutgaswechsels, Verminderung der
Cyanose, Linderung der Atemnot und
Milderung der für das Herz so Verhängnis-'
vollen tiefen Einatmungen sowie Erleich¬
terung des Auswurfes bemerkbar.
Ist aber die selbständige Atmung des
Kranken nur flach und matt, dann darf
auf die dauernde Einatmungsstellung der
Brust nicht verzichtet werden. Denn das
Wesentliche der physiologischen Herzmas¬
sage wie der künstlichen Atmung besteht
nicht nur in einer mechanischen Einwir¬
kung auf den Herzmuskel, aucn nicht nur
in der Entleerung des Herzblutes in die
großen Gefäße durch Verengerung des
Brustraumes bei der Ausatmung, sondern
vor allem in aer Ansaugung von Blut in
Herz und Lungen durch die Einatmungs¬
bewegung Lina in der Entleerung des
Lungenblutes in das linkt Herz durch die
Ausatmungsbewegung des Brustkastens,
also in def Verstärkung bzw. Erzeugung
des ,,Atmungs-Blutkreislaufes“.
Wenn man entsprechend aer Atemnot
des Kranken den Druck auf die Rippen
etwa 30 mal in der Minute ausführt, so
bewirkt man eine sechzigmalige Förde¬
rung der Blutbewegung und der Herz¬
tätigkeit. Denn bei den 30 Einatmungen
wird Hauptsächlich die Füllung des rech¬
ten Herzens und durch Ansaugung seines
Inhaltes auch die der Lungen erleichtert,
während bei den 30 Ausatmungen die
Entleerung aller Herzhöhlen und die Fül¬
lung des linken Herzens durch Entleerung
des^ Lungenblutes in den linken Vorhof
begünstigt wird.
So ersetzt die physiologische Herzmas¬
sage beim Scheintoten die Atmung und
die Herztätigkeit; beim Lebenden fördert
sie unter Mitwirkung dessen eigener At¬
mung den Gasaustausch zwischen Lun¬
genblut und Lungenluft, ferner die Ent¬
leerung und Füllung des rechten Herzens
wie der Lungen mit Blut, drittens die
Blutbewegung im Herzen, im kleinen
Lungenkreislauf und in den großen Ge¬
fäßen nahe dem Herzen, vieitens den Zu¬
fluß von Lymphe und ChyLis in die Brust¬
höhle und zum Herzen, insgesamt also
den Säftestrom im ganzen Körper.
Die physiologische Herzmassage ist da¬
her angezeigt sowohl bei der erloschenen
Herztätigkeit und Blutbewegung des
Scheintoten als auch bei Herzschwäche
und Verlangsamung des Blutkreislaufes
infolge unzureichender Lüftung des Blu¬
tes. Diese Zustände vermag sie unter
günstigen Umständen zu beseitigen. Bei
43
338
I
Die Therapie der Gegenwart 1921 ,
September
Herzschwäche aus anderen Ursachen kann
die physiologische Herzmassage wohl vor¬
übergehend kräftigend und regelnd, aber
nicht heilend wirken.
Die physiologische Herzmassage ver¬
spricht aber nur dann Erfolg, ohne selbst
zu schaden, wenn im wesentlichen eine
Beeinträchtigung nur der Herztätigkeit
vorliegt ohne wesentliche Veränderungen
der Lungen oder anderer lebenswichtiger
Organe. ^Ansammlung von Luft oder
Flüssigkeit im Brustfellraum schließt im
allgemeinen ebenso Wie Lungenentzün¬
dung ihre erfolgreiche Anwendung aus.
Würde sie bei Entzündung oder Ver¬
dichtung der unteren Lungenlappen aus¬
geführt, dann droht ebenso eine tödliche
Zerreißung der Lunge wie eine Quet¬
schung der Leber bei in Salzwasser Er-
tiunkenen.
Dagegen bildet das Lungenödem kein
Hindernis, sondern vielmehr eine drin¬
gende Anzeige für ihre Anwendung, wenn
es die Folge zunehmender Herzschwäche
ist und den Kranken daher ebenso un¬
mittelbar mit dem Tode bedroht wie das
Lungenwasser den in Salzwasser Ertrun¬
kenen. Die physiologische Herzmassage
kann daher auch bei beginnendem Lun¬
genödem das Leben retten, wenn es in
der gewonnenen Zeit gelingt, das ver¬
sagende Herz wieder leistungsfähig zu
machen, wobei auch andere, chemische
wie physikalische Mittel zu benutzen
sind.
Die physiologische Herzmassage er¬
laubt also dem Arzt, die Anzeigen für
Rettungs- und Wiederbelebungsversuche
zu erweitern. Lassen sich erstickte Ver¬
unglückte und ertrunkene Neugeborene
wieder beleben, dann ist dies auch bei
Kranken nicht völlig ausgeschlossen, de¬
ren Herz lediglich wegen mangelhafter
Blutlüftung schließlich versagt, Während
das Atemzentrum und andere lebens¬
wichtige Gebiete noch nicht unwider¬
ruflich zerstört sind.
Hufelandberichtetnach vanEyssel-
steijn^) von einem Mädchen, das
nach einer Schädelverletzung 45 Minuten
lang scheintot war und doch noch durch
Elektrizität dem Leben wiedergegeben
*) Die Methoden der künstlichen Atmung.
Berlin 1912. Springer.
wurde. Kuliabko^®) gelang es, das Herz:
eines vierjährigen an Lungenentzündung:
verstorbenen Kindes nach 20 Stunden
völlig zu beleben (Tigerstedt). H. E.
Hering hat das Herz eines 35 Jahre
alten, an Dementia paralytica gestorbenen
Mannes 11 Stunden nach dem Tode wie¬
derbelebt und 3 %: Stunden hindurch den
Herzschlag beobachtet. Böhm^^) hat
„Katzen, deren Atmung und Herzschlag
durch Erstickung oder Vergiftung durch
Kalisalze oder Chloroform bereits 40 Mi¬
nuten völlig aufgehört hatten, und bei
denen der Druck der Carotis auf Null ge¬
sunken war, durch rhythmische Kom¬
pression des Herzens in Verbindung mit
künstlicher Respiration wiederbelebt.“
Der Arzt sollte daher nicht nur bei
Unglücksfällen, sondern auch bei Schlag¬
anfällen, Schädelverletzungen, Gehirner¬
schütterungen, Shock nicht minder als
bei Verblutungen (hierbei in Verbindung
mit Kochsalz-Eingießungen) die physio¬
logische Herzmassage ernstlich versuchen^
Auch beim plötzlichen Versagen eines
kranken oder bisher anscheinend ge¬
sunden Herzens („Herzschlag“) ist ein Er¬
folg nach den guten Erfahrungen mit der
mechanischen und physikalischen Herz¬
massage bei gewissen Herzleiden nicht
mit Sicherheit auszuschließen.
Bei der Behandlung von Herzleiden
und besonders der Kreislaufschwäche ist
die physiologische Herzmassage in Form
systematischer Atemübungen mit mäßiger
Vertiefung der Ein- und Ausatmung ein
physiologisches, sehr einfaches und wirk¬
sames Hilfsmittel zur Entlastung und
Kräftigung des Herzens, zur Regelung der
Herztätigkeit, zur Förderung des Blutkreis¬
laufes und zur Milderung der subjektiven
Beschwerden, insbesondere der teilweise
psychogenen Atemnot Sie läßt sich in
dieser bekannten und bewährten Form^
nicht nnr von dem Facharzt, sondern
auch von jedem praktischen Arzt und
sogar von dem Kranken selbst nach ärzt¬
licher Anleitung und Anordnung jederzeit
und überall, auf Spaziergängen bei Terrain¬
kuren wie im Bett, leicht ausführen und
verdient daher, in allen geeigneten Fällen
angewendet zu werden.
C. Hirsch in Penzold-Stintzing, Hand¬
buch der Therapie. Jena 1910. Fischer. 4. Aufl.
Bd. 3.
Landois, Physiologie. 1900.
. September.
Di^ Therapie^ider Gegenwart 19!2i
339
Aus dem Knappscliaftskraiikeuliause Bleicherode a. Harz.
Zur intrakardialen Injektion.
Von Dr. Walther Schulze, Chefarzt.
Seit einer Veröffentlichung von den
Veldens in Nr. 10 des Jahrgangs 1919
der Münchener Medizinischen Wochen¬
schrift ist in ärztlichen Kreisen • das
Interesse an der intrakardialen Injek¬
tion erwacht, die wohl überhaupt zuerst
von V. d. Velden angegeben Wurde, da
er sie seit etwa zwölf Jahren anwendet
und lehrt. Schon vor oben genannter
Arbeit erschienen während des Krieges
einige Veröffentlichungen über diesen
Gegenstand: Szubinski teilte drei Fälle
mit, wo er mit dem Verfahren bei völligem
Kollaps eine Wiederbelebung der Herz¬
tätigkeit erzielen konnte, deren längste
Dauer aber nur zehn Stunden betrug.
Ruediger (1916) hatte das Glück, einen
vollen Erfolg zu erzielen, indem die
Kranke noch fünf Monate in erträglichem
Zustande lebte. In Volkmanns 1917
mitgeteiltem Falle konnte das Leben nur
um 1% Stunden durch die intrakardiale
Injektion verlängert werden.
Als Indikation für die Anwendung der
intrakardialen Injektion bezeichnet von
den Velden selbst die Fälle, Wo ,,bei
träge oder nicht mehr fließendem Lymph-
und Blutstrom an die Erfolgsorgan¬
elemente im Herzen, und zwar itn Herz¬
muskel, mit einem excitierenden Arznei¬
mittel“ herangekommen werden soll, d. h.
also Fälle im Stadium höchstgradiger
Circulationsstörung, unmittelbar vor dem
Herztode oder sogar während und nach
demselben, wo die intrakardiale Injek¬
tion als ultima ratio dienen soll. Auch in
den kurz nach v. d. Veldens Arbeit
folgenden Veröffentlichungen von Zuntz
und Hesse sind ähnliche Indikationen
aufgestellt Worden, besonders Wurde von
diesen auch noch die Anwendung bei
Operations- und Narkosekollapsen emp¬
fohlen, von Zuntz sogar ein Fall von
dauernd erfolgreicher Wiederbelebung
etwa fünf Minuten nach Tod intra opera-
Anmerkung des Herausgebers: Verfasser emp¬
fiehlt die intrakardiale Injektion unter Erweite¬
rung der bisher zur Diskussion stehenden In¬
dikationen zur allgemeinen Anwendung in Fällen
von Herzschwäche, wenn die intravenöse Injek¬
tion untunlich ist. Ich möchte nicht verfehlen,
dieser Empfehlung ein Wort der Warnung mit¬
zugeben, da vorläufig die geringe Zahl der vor¬
liegenden Beobachtungen es nicht gestattet, die
Gefahr des Eingriffs abzuschätzen. Bis auf
weiteres würde ich der intrakardialen Injektion
nur in Fällen dringendster Lebensgefahr zu¬
stimmen.
tionem durch Einspritzung von Supra-
renin in das Herz mitgeteilt. Dieser Fall
ist einer der wenigen, die bisher bei der
üblichen strengen Indikationsstellung von
Dauererfolg begleitet gewesen sind.
Da mir durch persönliche Mitteilung
V. d. Veldens die intrakardiale Injektion
bekannt geworden war und ich sie im
Felde durch ihn hatte ausführen sehen,
Wandte ich sie in dem von mir geleiteten
Krankenhause an, allerdings auch nur als
letztes Mittel, den schwer danieder¬
liegenden Kreislauf wieder in Gang zu
bringen. Ein Dauererfolg war mir dabei
bisher versagt. Narkosekollapse bezie¬
hungsweise -todesfälle erlebte ich in den
letzten Jahren infolge weitgehender An¬
wendung von Lokal-, Leitungs- und
Lumbalanästhesie und möglichst weit-
gshender Vermeidung des Choroforms
zugunsten des Äthers bei der Narkose
glücklicherweise nicht, so daß die An¬
wendung der Herzeinspritzung in solchen
Fällen von mir nicht geübt zu werden
brauchte.
Da ich nun durch vielfache Ein¬
spritzungen die Überzeugung gewonnen
hatte, daß der Einstich in Herzmuskel
oder Herzhöhle völlig ungefährlich und
ohne schädliche Folgen ist, wenn man nur
die Vorsicht gebraucht, feine Kanülen
zu verwenden, so hielt ich es für ohne
weiteres möglich, die Indikationen für diese
Art der Einspritzung weiter zu stellen,
als der Urheber der Methode selbst es
empfiehlt, und zwar für solche Fälle, wo
Digitalis- beziehungsweise Strophanthin¬
therapie angezeigt ist, eine kräftige,
schnelle Wirkung gewünscht wird und es
unmöglich ist, Venen zur Injektion zu
benutzen.
Ein solcher Fall' bot jsich mir, als kürzlich
ein siebenjähriges Mädchen eingeliefert wurde
mit schwerem dekompensierten Herzfehler, der
nach einer in diesem Frühjahr überstandenen
doppelseitigen Lungenentzündung zurückgeblieben
sein sollte. Seit sechs Wochen war das Kind in¬
folge von Herzbeschwerden dauernd bettlägerig,
seit drei Wochen sind Beine und Leib stark an¬
geschwollen, Kurzatmigkeit und Blausucht auf¬
getreten. Objektiv fand sich bei dem schwer¬
kranken, abgemagerten Kinde ein enorm erweiter¬
tes Herz, lautes systolisches Geräusch über dem
ganzen Herzen, besonders über der Spitze, faden¬
förmiger, kaum fühlbarer, unregelmäßiger Puls
von etwa 140 Schlägen in der Minute, starke
Cyanose, Dyspnöe, hochgradige Schwellungen an
allen abhängigen Partien, besonders Unterschen¬
keln und Füßen, starker Ascites, fast völlige
43*
340
Die Therapie der Gegenwart 1921
September
Anurie, Stauungsleber und -milz. Sofort vor-: i
genommene Punktion des Ascites, subcutane
Einspritzungen von Campher und Coffein in
großen Dosen brachten keine Besserung, nament¬
lich trat keine Steigerung der Diurese auf. Ich
wollte daher gern einen Versuch mit Strophanthin
machen, doch war es unmöglich, eine zur Injek¬
tion geeignete Vene zu finden. Deshalb entschloß
ich mich zur intrakardialen Injektion, die in der
Folge, da sie gute Wirkung hatte, im ganzen
15 mal bei dem Kinde angewendet wurde. Sehr
bald nach den ersten Einspritzungen besserten
sich die Harnausscheidung und die Dyspnoe, die
Ödeme verringerten sich, und der Allgemein¬
zustand veränderte sich merklich zum Guteh.
Vier Wochen nach der Aufnahme machte die Pa¬
tientin ein Erysipel durch, und die dadurch natür¬
lich vermehrte Herzschwäche vermochten auch
•die intrakardialen Strophanthineinspritzungen
nicht mehr zu bessern, so daß das Kind nach
sechswöchigem Krankenhausaufenthalt an Ver¬
sagen der Herzkraft starb.
In der Technik richtete ich mich nach
den Vorschriften v. d. Veldens.und stach
im 4. Intercostalraum, etwa 1—2 Finger
breit links vom linken Sternalrand, ein,
kontrollierte,'ob die Nadel die Bewegungen
des Herzmuskels mitmachte, und in¬
jizierte dann in das Myokard. Wie Volk¬
mann und Hesse, habe ich mich im
Gegensatz zu v.^ d. Velden wiederholt
davon überzeugt; daß es nicht schwer ist,
in den Ventrikel zu kommen, da man
durch Aufsaugen von Blut mit der Spritze
leicht feststellen kann, ob man im Herz¬
muskel oder in der Herzhöhle ist. Bei
noch schlagendem Herzen wähle ich die
Injektion in das Myokard, deren richtige
Ausführung mir die drehende Bewegung
der Nadel ohne Austritt von Blut beweist.
Bei dem Versuch, ein schon stillstehendes
Herz wieder in Gang zu bringen, über¬
zeuge ich mich durch Ansaugen von Blut,
daß ich in der Herzhöhle und nicht etwa
bloß in der Thorax-Muskulatur bin, und
spritze entweder in den Ventrikel oder
ziehe die Nadel ein wenig zurück und
spritze in den Herzmuskel.
Während Hesse es für falsch hält, in
das rechte Herz und in das Myokard des
rechten Ventrikels zu spritzen, halte ich
es für weniger wichtig, in welchen Teil des
Herzens die wirksame Substanz kommt,
sondern für die Hauptsache, daß sie über¬
haupt in das Herz kommt. Am bequem¬
sten jedenfalls ist wohl die Einspritzung
in das rechte Herz, in das man auf die
oben beschriebene Weise ohne großes
Suchen und Abtasten kommen muß.
Henschen empfiehlt sogar die Ein¬
spritzung in den Herzbeutel, und gerade
bei seinem einzigen dauernd erfolgreichen
Falle will er in diesen gespritzt haben.
Ich möchte aber doch bezweifeln, ob man
bei einom nicht durch Erguß ausgedehnten
und vom Epikard abgehobenen Herz¬
beutel mit Sicherheit sagen kann, ob man
mit der Nadel in diesem oder in dem
Herzen selbst sich befindet.
•Die von Hesse, Volkmann, Szu-
binski bevorzugte Auflösung des Stro¬
phanthins oder Suprarenins in 20—30 ccm
Kochsalzlösung halte ich nicht für nötig,
vielleicht sogar füf ungünstig. Erstens
wird die wirksame Substanz dadurch zu
sehr verdünnt, während es doch bei der
intrakardialen Injektion gerade auf eine
starke Reizwirkung ankommt, dann aber,
wird auch das Herz durch die Zuführung
der Flüssigkeitsmenge noch mehr belastet,
obgleich es ja durch die Überdehnung der
Herzmuskulatur in den in Frage kom¬
menden Fällen gewöhnlich schon reichlich
mit Blut angefüllt ist. Zum mindesten
würde ich empfehlen, vor der Einspritzung
der Flüssigkeitsmenge von 20—30 ccm
erst die gleiche Quantität Blut abzu¬
saugen. Daß das leicht gelingt, davon
konnte ich mich gelegentlich an einer im
Augenblick der Einlieferung sterbenden
Patientin (toxische Herzlähmung nach
Diphtherie) überzeugen, bei der ich einen
— leider vergeblichen — Versuch mit der
intrakardialen Injektion und Entlastungs¬
punktion des rechten Herzens machte.
Henschen, dessen Arbeit ich damals
noch nicht kannte, empfiehlt sogar die
Absaugung von 200—400 Blut aus dem
rechten Herzen, was sicher nur bei noch
zirkulierendem Blute möglich ist, in Ver¬
bindung mit Infusion von Kochsalzlösung
oder ähnlichem.
Vielleicht eröffnet sich auch noch ein
Ausblick, die intrakardiale Injektion nicht
nur für das Herz, sondern auch für die
Lunge nutzbar zu machen. Knauer und
Enderlen empfehlen, zur Behandlung
der Paralyse und Hirnlues die Salvarsan-
injektionen nicht intravenös, sondern in
die Caroticfen zu machen, damit das wirk¬
same Mittel nicht erst auf Umwegen, son¬
dern direkt an das kranke Organ heran¬
geführt wird. In Analogie dazu halte ich
es nicht für ganz unmöglich, das Sal-
varsan durch die intrakardiale Injektion
in den rechten Ventrikel auf dem direk¬
testen Weg durch die A. pulmonalis und
ihre Verzweigungen, die ja auch mit denen
der Bronchialarterien ein gemeinsames
Capillarnetz haben, zur Lunge zu bringen,
um Lungensyphilis, die ja nach den Ver¬
öffentlichungen von Rößle und Anderen
gar nicht so selten ist, wie sie klinisch
diagnostiziert wird, und Lungengangrän,
September
Die Therapie der Gegenwart 1921
341
für die ja Salvarsan ebenfalls specifisch
wirken soll, zu heilen. Es fehlt mir die
Gelegenheit, um im Tierversuch festzu¬
stellen, ob Salvarsan -beij direkter Ein¬
führung in das Herz auf'dieses irgend¬
welche schädigenden Wirkungen hat, aber
ich halte es für sohr wohl möglich, daß
solche nicht eintreten, wenn man nicht
zu große Dosen vorsichtig anwendet. ^
Zusammenfassend möchte ich emp¬
fehlen, die Indikationen für die An¬
wendung der intrakardialen Injektion zu
erweitern und diese nicht nur als ultima
ratio, sondern überall da zur Anwendung
zu bringen, wo schnelle Herzwirkung
nötig ist und die Venen zur Einspritzung
ungeeignet sind. Außerdem möchte ich
hinweisen auf die eventuelle Verwertung
zum Zwecke der Beeinflussung von Lun¬
genkrankheiten (Lues oder Gangrän) mit
specifischen Mitteln. Die intrakardiale
Injektion ist meiner Überzeugung nach
völlig ungefährlich und vom praktischen
Arzte genau so gut auszuführen wie die
intravenöse Injektion.
Literatur: 1. Henschen (Schweiz, m. W.
1920, Nr. 14). — 2. Hesse (M. m. W. 1919,
Nr. 21). — 3. Knauer (M. m.’ W. 1919, Nr. 23).
— 4. Ruediger (M. m. W. 1916, Nr. 4). —
5. Szubinski (M. m. W. 1915, Nr. 50). —6. von
den Velden (M. m. W. 1919, Nr. 10). — 7. Volk¬
mann (M. Klin. 1917, Nr. 52). — 8. Derselbe
(D. m. W. 1919, Nr. 35. — 9. Zuntz (M. m. W.
1919, Nr. 21).
Ans der zweiten inneren Abteilung des städtischen Krankenhauses Neukölln
(dirigierender Arzt: Oberarzt Dr. Zadek).
Colündexbestimmüngen und Mutaflorbehandlung bei perniziöser
Anämie.
Von I. Zadek. - (Schluß)
II. Die prognostische Bedeutung
aes antagonistischen Coliindex bei
der perniziösen Anämie.
Wenn also in den Vollstadien der
perniziösen Anämie stets und zur Zeit der-
Rezidive fast immer ein antagonistisch
minderwertiger Coliindex bei pathologi¬
scher Darmflora gefunden wird, ist aus
dem Grad dieser festgestellten Minder¬
wertigkeit und der qualitativen und quan¬
titativen Beteiligung von mehr oder
weniger pathogenen Mikroorganismen kein
diagnostisch-prognostischer Rückschluß
auf das Stadium und die Dauer des vor¬
liegenden Krankheitsbildes zulässig; denn
es können klinisch-hämatologisch die
schwersten Symptome bei nur wenig ge¬
schwächtem Colistamm und geringen Bei¬
mengungen artfremder Pilze vorhanden
sein — besonders bei den nicht krypto¬
genetischen perniziösen Anämien (Fälle 6
und 15), aber auch im Koma des Morbus
Biermer (Fall 10) — andererseits Re¬
missionen der Krankheit bei antagonistisch
recht minderwertigem Coliindex und
massenhafter Wucherung von abnormen
Keimen Vorkommen (Fälle 2, 5, 10, 12,
13, 15). Da es sich in diesen letzteren
Fällen mit Ausnahme der auf Lues ba¬
sierenden und daher eine Sonderstellung
einnehmenden perniziösen Anämie (Nr.15)
entweder um nur kurzdauernde Besserun¬
gen mit rasch erneut einsetzenden und
tödlich endigenden Rezidiven handelt
(Fälle 5 und 13) oder um unvollständige
Erholungen mit schleichendem Verlauf
(Fälle 2 und 12), während der Fall 10
wegen zu kurzer Beobachtungszeit pro¬
gnostisch nicht beurteilt werden kann,
gestattet ein trotz klinisch-hämatologi-
scher Remission gefundener konstant
minderwertiger poliindex, meist mit ent¬
sprechendem Überwiegen einer patho¬
logischen Darmflora, eine ungünstige
Prognose zu stellen.
Der umgekehrte Schluß — gute Pro¬
gnose, d. h. lange Dauer einer einge¬
tretenen Remission beim Befunde ant¬
agonistisch vollwertiger und überwiegender
Colibakterien und spärlichem Nachweis
besonderer Keime im Darminhalt — ist
nicht mit derselben Sicherheit und nur
unter Vorbehalt erlaubt. Er trifft zu für
die längere Zeit (meist jahrelang) an¬
haltenden Besserungen bei glänzendem
Allgemeinbefinden und Vollwertigem Coli¬
index (Fälle 3, 8, 14, 17), weniger schon
für diejenigen perniziösen Anämien mit
nur einige Monate anhaltenden Re¬
missionen und antagonistisch mittel¬
mäßigen oder auch vollwertigen Coli¬
bakterien (Fälle 1, 6, 9), gar nicht für die
sprunghaft verlaufenden, aus gutem Zu¬
stand bei entsprechend günstigem Ver¬
halten der Colibacillen plötzlich in mehr
oder minder schwere Rezidive, meist mit
^^wieder minderwertigem Coliindex, zurück¬
fallenden perniziösen Anämien (Fälle 7,
18, 20).
Für die prognostische Beurteilung und
Bedeutung des antagonistischen Coliindex
scheiden infolge von unzureichenden
342
Die Therapie der Gegenwart 1921
September
Untersuchungen die Fälle 11, 12 und 19
aus, da hierbei aus äußeren Gründen
immer nur je eine Stuhlprüfung vorge¬
nommen werden Konnte.
III. Die ätiologische Bedeutung
des antagonistischen Coliindex bei
der perniziösen Anämie.
Gerade diejenigen unter den zuletzt
angeführten Fällen (Nr. 7 und 18), die bei
unverändert schlechtem klinisch-hämato-
logischen Befunde trotz energischer The¬
rapie unter Anwendung von Mutaflor
auffälligerweise ein rasches Umschlagen
des vor der Behandlung minderwertigen
in einen konstant festgehaltenen voll¬
wertigen Coliindex zeigen, weisen ebenso
wie diejenigen, bei denen die Besserung
des antagonistischen Coliindex hinter der
klinischen Remission zeitlich erheblich
zurückbleibt (Fälle 2, 3, 14, 16), zwingend
auf die schon allgemein aus dem bisher
geschilderten, wechselvollen antagonisti¬
schen Verhalten der Colibakterien bei der
perniziösen Anämie abzuleitende Folge¬
rung hin, daß die jeweilige Zusammen¬
setzung der Darmflora und der Grad der
antagonistischen Fähigkeiten der Coll-
bakterien bei der Perniziosa nicht etwa
primär das klinisch-hämatologische Bild
und das Stadium des Leidens bestimmen,
also auch nicht als primäre oder etwa
alleinige Ursache der Krankheit in Be¬
tracht kommen, sondern vielmehr den
sekundären Ausdruck der einen so ver¬
schiedenen Krankheitsverlauf bedingen¬
den, bislang unbekannt gebliebenen Fak¬
toren darstellen, also letzten Endes ab¬
hängig sind von dem nach wie vor krypto¬
genetischen Toxin des Morbus Biermer.
Damit wird das antagonistische Verhalten
der Colibakterien sowie die bakteriologische
Prüfung des Stuhles auf ein den übrigen
klinisch-hämatologisctien Erscheinungen
der perniziösen Anämie koordiniertes
Symptom zurückgeführt, dessen erheb¬
liche diagnostische und, wie hier gezeigt
wurde, oft genug auch prognostisch zu
verwertende Bedeutung vor allem für die
praktische Erkennung und Behandlung
nunmehr feststehen dürfte. Darüber
hinaus verdient es, ähnlich wie die in
meinem Material durchweg bestätigte
Achylie, für die wissenschaftliche For¬
schung der Perniziosa als ein weiteres
,,intestinales Stigma'‘ die größte Be¬
achtung, besonders von seiten der An¬
hänger der Theorie einer ätiologisch pri¬
mär gastro-intestinal angreifenden hämo-
toxischen Noxe.
IV. Die Therapie der perniziösen
Anämie mit Mutaflor.
Bei dem so generell festgestellten
antagonistisch minderwertigen Verhalten
der meist spärlich vorhandenen und mit
massenhaften Mikroorganismen vergesell¬
schafteten Colibakterien bei der perni¬
ziösen Anämie erschien von vornherein
eine Verfütterung von Mutaflor, also von
besonders starken Colistämmen, in be¬
stimmter Menge umso mehr angebracht,
als die bisherigen, so vielfachen thera¬
peutischen Versuche bei dieser Krankheit
— ganz abgesehen von den auf das Blut
und Knochenmark wirkenden Maßnahmen
(Arsen, Salvarsan, Bluttransfusionen,
Milzexstirpationen usw.) —durch Diätetik,
Medikamente oder Magendarmspülungen
in der beabsichtigten Entgiftung des
Organismus das biologische Verhalten der
Colibakterien mit unzureichenden Mitteln
zu beeinflussen bestrebt waren; denn so¬
wohl die üblichen Stomachica (Salzsäure,
Pepsin etc.) und die so beliebten Ad-
sorbentien (Tierkohle, Bolus alba usw.)
wie eine noch so sorgfältig und zweck¬
mäßig ausgewählte Nahrung können
immer nur neben der vorerst nicht fa߬
baren, hypothetischen Giftabsorption, auf
die quantitative Zusammensetzung der
Darmbakterienflora günstig wirken, nie¬
mals aber den antagonistisch als minder¬
wertig festgestellten Colistamm in einen
starken umwandeln.
Wie schon Nißle gefunden hat, ver¬
langt die Therapie der perniziösen Anämie
ein vorsichtiges Ansteigen der Mutaflor-
dosis (mindestens 6, am besten 10 bis
20 Tage lang je eine blaue Kapsel, also
zunächst Verwendung der schwachdo¬
sierten Packung). Im Gegensatz zu den
Darminfektionskrankheiten ist ein hier
öfters versuchtes Ansteigen über eine rote
Kapsel pro die hinaus (cf. Fall 4) wegen
der Gefahr profuser Diarrhöen im allge¬
meinen nicht zweckmäßig und in obigem
Material nur in einem Fall besonders be¬
drohlicher Art (Nr. 12) angewendet und
anstandslos vertragen worden. Die Dosis
optima der Mutaflortherapie bei der per¬
niziösen Anämie ist demnach eine rote
Kapsel pro die vor dem Mittagessen. Es
ist nicht zu leugnen, daß selbst dabei
nicht selten stärkere Durchfälle auftraten
(Fälle 2, 3, 5, 6, 8, 18), die zwar meist
vorübergehender Natur waren, aber doch
zur zeitweiligen (Fälle 3, 6, 8) oder dau¬
ernden (Fall 18) Verabreichung nur einer
blauen Kapsel öfters Veranlassung gaben;
nur einmal (Fall 2) mußte wegen regel-
September
Die Therapie der Gegenwart 1921
343
mäßig nach schwächsten Dosen von Muta¬
flor auftretender unstillbarer Durchfälle
von der Behandlung mit dem Mittel über¬
haupt Abstand genommen werden. Mög¬
licherweise empfiehlt sich in solchen Fällen
die Benutzung noch geringerer Coli-
bakterienmengen, wie sie in der hier nicht
erprobten Kinderpackung gegeben sind.
Diese relative Empfindlichkeit des
Darmes perniziös Anämischer gegen Muta¬
flor stimmt überein mit dem schon lange
bekannten erhöhten Reaktionsvermögen
dieser Kranken gegen Medikamente, z. B.
Abführmittel'und scheint uns ein weiterer
Hinweis auf die beim Morbus Biermer
generell vorhandene, möglicherweise ätio¬
logisch eine Rolle spielende, funktionell¬
biologische Minderwertigkeit des Magen-
darmtraktus zu sein. Darüber hinaus sei
aber ausdrücklich bemerkt, daß nach den
mehrjährigen Erfahrungen mit Mutaflor
— in Einzelfällen (Nr. 6) ununterbrochene
Anwendung über ein Jahr hinaus — in
keinem einzigen Falle irgendwelche ern¬
steren oder nachhaltigen Störungen, ge¬
schweige denn Schädigungen durch das
Mittel beobachtet worden sind. Selbst¬
verständliche Voraussetzung ist die Ein¬
haltung besonderer, oben bereits in der
Hauptsache angeführter Vorschriften:
■täglich eine einmalige Gabe vor der Haupt¬
mahlzeit unter Vermeidung von irri¬
tierenden Medikamenten, insbesondere
von Stomachica und Adsorbentien, sowie
stete Benutzung frischer, am besten im
Eisschrank aufzubewahrender Kapseln:
wenn irgend möglich keine Unterbrechung
der Mutaflortherapie vor der erreichten
Wirkung.
Wenden wir uns der Hauptfrage nach
der Wirksamkeit des Mutaflor bei der perni¬
ziösen Anämie zu, ist von vornherein daran
zu erinnern, daß die kritische Bewertung
jedweder Therapie beim Morbus Biermer
nicht mit Unrecht ihren entscheidenden
Einfluß auf den Verlauf der bis heute
unheilbaren Krankheit in Abrede stellt.
Abgesehen von den ätiologisch bekannten,
nach Entfernung der Noxe einer wirk¬
lichen Restitutio ad integrum zugäng¬
lichen perniziösen Anämie, kann es sich,
da die Behandlung mit Mutaflor das Wort
von der Unheilbarkeit des kryptogene¬
tischen Morbus Biermer leider nicht auf¬
gehoben hat, bei den therapeutischen Be¬
strebungen nach wie vor immer nur um
das Ziel zeitlich möglichst rasch ein¬
setzender und anhaltender Remissionen
lind Intermissionen, mit Hinausschieben
des Rezidivs, handeln. An diesem Ma߬
stab gemessen genießt das Arsen bei den
Ärzten einen unumstrittenen Ruf, wän-
rend alle übrigen Medikamente und Be¬
handlungsverfahren (einschließlich . der
Milzexstirpation) von den besten Kennern
der Perniziosa nicht einheitlich und zu¬
meist recht skeptisch beurteilt werden;
mir selbst haben bisher die Bettruhe,
Diätetik, konsequent durchgeführte
Magendarmspülungen in Kombination mit
Arsen die besten Dienste geleistet (cf. 7b).
Wie steht es in dieser Beziehung mit
dem Mutaflor? Zur Illustration seiner
Wirksamkeit beim Morbus Biermer sind
drei Fälle (Nr. 1, 3, 5) lediglich damit
behandelt worden; der tödliche Ausgang
bei dem ersten (Nr. 1) könnte auf Rech¬
nung einer naph eingetretener Remission
zeitlich unzulänglichen Mutaflordarrei-
chung gesetzt werden, was bei Nr. 5 nicht
angängig ist, da hier das Mittel fünf Mo¬
nate lang bis zum ziemlich plötzlich aus
der Remission heraus erfolgenden Exitus
gegeben wurde. In beiden Fällen hat man
übrigens den Eindruck, daß sowohl die
Besserung als auch das Rezidiv unab¬
hängig von den verabreichten Coli-
stämmen zustande gekommen ist. Ledig¬
lich im Falle 3 ist eine erhebliche und an¬
haltende Remission zu konstatieren; in¬
dessen hat sich diese seit fast vier Jahren
beobachtete Patientin durch eine nach
dem ersten Rezidiv sehr rasch einsetzende
Besserung und drei Jahre (!) ohne jede
Therapie bestehende Intermission aus¬
gezeichnet! Und vergleicht man diese
drei lediglich mit Mutaflor behandelten
perniziösen Anämien mit jenen, zur Kon¬
trolle absichtlich unter Beiseitelassen
dieses Mittels anderweitig therapeutisch
beeinflußten (Fälle 13, 14, 15, 16, 19, 20),
so lassen sich bei ähnlicher Sachlage be¬
züglich des zwischen Remissionen und
Rezidiven völlig unregelmäßigen zeit¬
lichen Verlaufes nirgends irgendwelche
entschiedene Vorzüge bei den ,,Mutaflor-
fällen‘' quoad vitam et restitutionem fest¬
stellen.
Kann Mutaflor Rezidive zeitlich auf¬
halten? Bei der Durchsicht des Materials
kommt man zu einer Verneinung der
Frage, da mehrfach (Fälle 1, 5, 6, 7, 8, 18)
trotz Darreichung von Mutaflor nach er¬
folgter klinisch-hämatologischer Re¬
mission, oft in kurzer Zeit, Rezidive und
Todesfälle eintraten.
Da demnach die alleinige Mutaflor¬
therapie bei der perniziösen Anämie keine
entscheidenden Erfolge aufzuweisen hatte,
ist das Mittel mit den verschiedensten
344
Die Therapie der Gegenwart 1921
September-
anderen Behandlungsmethoden kombi¬
niert worden, vor allem mit Arsenpräpa¬
raten. Zur Anwendung gelangten die
Splutio Fowleri (Fall 12) und das Arsacetin
per OS (Fall 9), sowie Natrium arsenicosum
in subcutanen Injektionen (Fälle 10 u. 17)
und Neosalvarsan intravenös, in Ver¬
bindung mit Arsacetin (Fall 11), Natrium
arsenicosum (Fall 6) oder Bluttransfusi¬
onen (Fall 7). Abgesehen davon, daß die
Solutio Fowleri bei der Behandlung der
Perniziosa den übrigen hier genannten
Arsenpräparaten unseres Erachtens unter¬
legen ist, scheidet der Fall 12 für die Kritik
wegen unzulänglicher Anwendung der
Medikamente aus. Diese stark stimu¬
lierende Therapie hat zweimal keine Er¬
folge gezeitigt, nämlich einmal in einem
schleichend (Nr. 6) und fernerhin bei einem
foudroyant (Nr. 7) verlaufenden Fall. Im
übrigen konnte bei dieser kombinierten
Behandlungsmethode auch in schwersten
Stadien der Krankheit — vergleiche die
im Koma befindlichen Fälle 10 und 17 —
nach oft recht kurzer Zeit eine länger¬
dauernde Remission erzielt werden.
Die hierin zum Ausdruck kommende
günstige und in der Therapie der Per¬
niziosa unentbehrliche Wirkung des Arsen
findet weitere Bestätigung durch die Fälle,
die, abgesehen von diesen Mitteln, gleich¬
zeitig mit Magendarmspülungen behandelt
wurden (Fälle 2 und 8); hier ist nach auf¬
fallend kurzer Zeit, in wenigen Wochen,
jedesmal prompt anhaltende Besserung
erreicht worden und ich habe den Ein¬
druck, daß sich die Verbindung von Arsen,
Magendarmspülungen und Mutaflor unter
allen hier versuchten therapeutischen
Kombinationen als die glücklichste her¬
ausgestellt hat, wenn also stark stimu¬
lierende, blutregenerierende Maßnahmen
(Arsen) sich den entgiftenden (Magen¬
darmspülungen plus Mutaflor) hinzu¬
addieren. Es scheint mir ein wertvolles
Ergebnis dieser schwierig zu entwirrenden
vielseitigen Versuche zu sein, daß beide
Komponenten zur erfolgreichen Herbei¬
führung vollständiger und anhaltender
Remissionen, wenigstens in den schweren
Stadien des Leidens, notwendig sind:
immer unter Anerkennung der Tatsache,
daß recht häufig bei der perniziösen
Anämie Verbesserungen und Verschlech¬
terungen unberechenbar und anscheinend
spontan einsetzen können. Lediglich ent¬
giftende Verfahren, sei es daß sie in
Magendarmspülungen (Fall 4) oder Muta-
florverabfolgung (Fälle 1 und 5) allein
bestünden, erreichen das Ziel noch
schwerer oder garnicht als ausschließlich
auf die Blutregeneration gerichtete thera¬
peutische Bestrebungen.
Zweifellos treten dabei die toxin¬
hemmenden Methoden gegenüber den
roborierenden etwas in den Hintergrund
und sind ihnen in der Endwirkung unter¬
legen: das beweisen die günstig ver¬
laufenen, unter Ausschluß von Mutaflor
im ^ wesentlichen mit Arsen behandelten
Fälle (Nr. 14, 15, 20) und umgekehrt die
nicht recht , wirkungsvolle Therapie mit
Adsorbentien und Magendarmspülungen
allein (Fall 12), während wieder die Kom¬
bination dieser Verfahren mit dem Arsen
(Fall 13) sich als besonders effektvoll er¬
weist. Andererseits illustrieren jene trotz
energischer Arsendarreichung (Fall 19),
auch in Verbindung mit Mutaflor (Fälle 6
und 7), und trotz Bluttransfusionen (Fall 8)
keine Tendenz zur Besserung zeigenden
perniziösen Anämien die Notwendigkeit
der Mitanwendung stark entgiftender
Maßnahmen in ernsteren Fällen, die ers't
durch die Verbindung von Mutaflor mit
Magendarmspülungen gewährleistet ist.-
Es scheint mir kein Zufall zu sein, wenn
in den interessanten Fällen 5 und 18 nach
Mutaflor allein bereits in kurzem, ium
Teil unter den Erscheinungen der Blut¬
krise, eine volle Remission einsetzt, die
indessen auffälligerweise bereits nach vier
Wochen einem schweren, nur sehr langsam
der Besserung zugänglichen Rezidiv Platz
macht; offenbar hat sich hier die Nicht¬
benutzung von Blutstimulantien als ver¬
hängnisvoll und das lediglich entgiftend
wirkende Mutaflor als nicht ausreichend
für eine anhaltende Intermission erwiesen.
Von besonderem Interesse ist schlie߬
lich die Einwirkung der im Mutaflor ver¬
abfolgten antagonistisch besonders starken
Colistämme auf die Bakterienflora und die-
spärlichen, primär stets m.inderwertigen
Colibacillen der perniziös Anämischen.
Da an einer intestinal erfolgenden Auf¬
schließung der Mutaflorbakterien nicht zu
zweifeln ist, andererseits die Untersuchung-
des Stuhles nach wochen- und monate¬
langer Verabreichung des Mittels sehr
häufig einen gar nicht oder nur wenig
veränderten Coliindex ergibt, erhellt hier¬
aus, daß die kräftigen Colibakterien durch
die Darmpassage in mehr oder weniger
schwache biologisch umgestimmt werden;
selbst wenn sie bei der antagonistischen
Prüfung als ganz oder nahezu vollwertig
befunden werden, dokumentieren sie durch
die serologische Agglutinationsprobe oft
genug (Fälle 16, 17, 18) Eigenschaften,
September
Die Therapie der Gegenwart 1921
345
die von den ursprünglichen der Mutaflor-
bakterien abweichen. Somit besteht bei
der perniziösen Anämie eine hartnäckige
Neigung zur Modifikation verabfolgter,
antagonistisch starker Colistämme. Es ist
oben bereits darauf hingeA\iesen worden,
daß diese so schwer vor sich gehende
Daueransiedelung unveränderter Muta-
florbakterien abhängig ist von den uns
vorläufig unbekannten, den Verlauf des
Leidens bestimmenden Faktoren; das zeigt
in diesem Zusammenhänge wiederum die
Tatsache einer in der Remission ohne
Mutaflorbehandlung spontan. vor sich
gehenden Umwandlung des während des
vorangegangenen Rezidivs minderwertigen
Coliindex in einen vollwertigen (Fall 14).
Einer kurzen Besprechung bedürfen
die unternommenen Versuche, die zeitlich
rasch einsetzende Daueransiedelung des
Mutaflorstammes zu begünstigen. Neben
der durchweg angewendeten eiweißarmen
Kost ist dieses Ziel in einem Fall (Nf. 18)
durch Verabreichung einer bakterien¬
armen Nahrung erstrebt worden, indem
nur gekochte Speisen und Getränke ge¬
geben wurden. Diese Technik ist nicht
leicht durchzuführen und stellt vor allem
an die Geduld des Patienten nicht geringe
Anforderungen. Hierbei ist die zeitliche
Ansiedelung des Behandlungsstammes
nicht sonderlich verkürzt worden (fünf
Monate), wobei allerdings zu berück¬
sichtigen bleibt, daß einmal beim Fehlen
von Colibakterien überhaupt die Darm¬
flora aus den verschiedensten Mikro¬
organismen bestand, also das Haften des
Mutaflorstammes von vornherein mit
größeren Schwierigkeiten zu kämpfen
hatte als sonst bei Perniziösen, fernerhin
die beabsichtigte Wirkung erschwert
wurde durch die Unmöglichkeit der Ver¬
abreichung ausreichender Mutaflorgaben
(nur eine blaue Kapsel täglich). Ohne
daher aus dieser einen Beobachtung
irgendwelche Schlüsse ziehen zu wollen,
ist doch in diesem in mehrfacher Be¬
ziehung interessanten Fall sehr bemer¬
kenswert, daß die Ansiedelung des Be¬
handlungsstammes seitdem, trotz einge¬
tretenen klinisch-hämatologischen Re¬
zidives, dauernd weiter besteht.
Weiterhin geht man wohl nicht fehl
in der Vorstellung, daß durch die vor der
MutaBordarreichung vorgenommenen Ma¬
gendarmspülungen die Ansiedelung des
Behandlungsstammes erleichtert wird
:.(Fälle 2, 4, 8). Während die ersten beiden
Fälle (Nr. 2 und 4) keinen bevorzugten
Verlauf genommen haben, scheint es kein
zufälliges Ereignis zu sein, wenn in dem
dritten. (Nr. 8) bei dieser Behandlungs¬
methode auffällig rasch, nämlich bereits
nach vier Wochen, der antagonistische
Coliindex sich als vollwertig herausstellte
und die serologische Prüfung Überein¬
stimmung mit dem Behandlungsstamm
ergab. Die damit Hand in Hand gegan¬
gene klinisch-hämatologische Rernission
hielt unter Beibehalten der Mutaflot-
therapie % Jahr an und bei dem nach
Absetzen des Mittels eingetretenen Re¬
zidiv blieb der Behandlungsstamm im
Darm fest angesiedelt und dement-'
sprechend der Coliindex vollwertig. Die
oben bereits theoretisch gefolgerte und
praktisch erwiesene günstige Kombination
von Magendarmspülungen und Mutaflor
(am besten in Verbindung mit Arsen) er¬
fährt dadurch erneute Bestätigung.
Versucht man nach diesen kritischen
Darlegungen und Analysen vorliegender
Fälle die Stellung des Mutaflor in der
Therapie der perniziösen Anämie abzu¬
grenzen, so wäre kurz etwa folgendes zu
sagen: Entscheidende Einflüsse auf den
Verlauf, insbesondere den zeitlichen Ein¬
tritt der Remissionen kommen dem Mittel
nicht zu; als vermutlich intestinal ent¬
giftend wirkende Maßnahme ist sein Platz
in der Therapie der Perniziosa neben den
übrigen ähnlich wirkenden Verfahren, wie
vor allem den Magendarmspülungen, ge¬
geben und seine bevorzugte Anwendung,
innerhalb dieses therapeutischen Rah¬
mens, in breiterem Maße umso eher ange¬
zeigt, als der beim Morbus Biermer
generell bestehende antagonistisch minder¬
wertige Coliindex seine Benutzung ge¬
bieterisch fordern sollte, ln diesem Sinne
wirkt er als zweifellos unterstützendes
Moment und trägt zum raschen und nach¬
haltigen Eintritt der Remjssionsstadien
der Krankheit bei, ohne jedoch, gleich¬
zeitig die dafür unerläßliche stimulierende
und die Blutregeneration fördernde Wir¬
kung des Arsen oder der Blutinjektionen
entbehren zu können.
Im Ganzen hat sich die für die Schaf¬
fung des Präparates und seine Anwendung
bei der perniziösen Anämie ursprünglich
gegebene Grundlage, nämlich der ant¬
agonistisch minderwertige Coliindex, für
die Diagnose und Prognose des Morbus
Biermer wertvoller erwiesen als die The¬
rapie mit Mutaflor. Das kann nicht
wundernehmen, da bei der perniziösen
Anämie, im Gegensatz zu denLDarm-
infektionskrankheiten, wie hier gezeigt
wurde, der minderwertige Colistamm in
44
346 Die Therapie der
sekundärer Abhängigkeit von dem krypto¬
genetischen Toxin steht, also die Therapie
mit Mutaflor nicht ursächlich anzugreifen
und bessernd zu wirken imstande ist. Die
Behandlung mit antagonistisch starken
Colirassen wird aber umso sicherer Erfolge
und völlige Heilungen erzielen, je aus¬
schließlicher die bakterielle Wucherung
primär das Darmleiden beeinflußt. Daß
diese Verhältnisse bei der perniziösen
Anämie nicht ebenso 'liegen, kann als
indirekt gewonnenes, aber nicht minder
wertvolles Ergebnis dieser Behandlungs¬
versuche mit Mutaflor gebucht werden.
In praktischer Hinsicht ergibt sich aus
alledem die Notwendigkeit, Mutaflor bei
der perniziösen Anämie ununterbrochen
und lange Zeit, wochen- und monatelang,
bis zur anhaltenden und möglichst voll¬
ständigen Remission zu' verabreichen,
besser noch einige Zeit darüber hinaus.
Die am besten in Abständen von zirka
vier Wochen erneut vorzunehmende Coli-
•indexbestimmung bildet einen wertvollen
Fingerzeig'für die Weitergabe oder Ab¬
setzung des Mittels. Die Fälle (z. B. Nr: 9),
die nach einem m^istaus äußeren Gründen
erfolgten frühzeitigen Abbruch der The¬
rapie einen raschen Umschlag des voll¬
wertigen Coliindex in einen minder¬
wertigen unter den klinisch-hämatologi-
schen Erscheinungen des Rezidivs auf¬
weisen, können als Warnung dienen, das
in einer einmaligen bakteriologischen und
serologischen Stuhluntersuchung während
der Remission zustande gekommene gün¬
stige Resultat als ausreichend zu be¬
trachten. Erst mehrmalige Stuhlunter-
suchüngsbefunde von antagonistisch und
serologisch mit dem Behandlungsstamm
übereinstimmenden Colibakterien geben,
bei gleichzeitigem Bestehen eines klinisch-
hämatologisch günstigen Befundes, eine
Indikation zum versuchsweisen Aufgeben
der Mutaflortherapie, die indes auch ohne
irgendwelche Schädigungen dauernd an¬
gewendet werden kann.
Zusammenfassung.
I. Bei der unbehandelten perniziösen
Anämie findet sich stets ein antagonistisch
minderwertiger Coliindex, in höherem
Grade beim kryptogenetischen Morbus
Biermer als bei der auf Syphilis beru¬
henden Perniziosa. Unter entsprechendem
Zurücktreten der Colibakterien setzt sich
die Darmflora aus den verschiedensten
Mikroorganismen zusammen, unter denen
Proteusbacillen besonders häufig Vor¬
kommen.
'\ ■
Gegenwart 1921 September
2. Im Stadium der Rezidive besteht
fast immer, unabhängig von der ange¬
wandten Therapie (auch nach Mutaflor-
behandlung) ein antagonistisch minder¬
wertiger Coliindex; Während der Re¬
missionen ist er zumeist, ebenfalls unbe¬
einflußt von der jeweiligen Behandlung,
höherwertiger; bleibt er Während der
klinisch-hämatologischen Besserung kon¬
stant minderwertig, ist mit großer Wahr¬
scheinlichkeit ein baldiger Eintritt eines
neuen Rezidives vorauszusagen. Dagegen
schließt ein nach der Behandlung in der
Remission vollwertig gewordener Coliindex
das baldige Wiedereinsetzen klinisch-
hämatologischer Verschlechterung nicht
aus.
3. Der festgestellte Grad der Minder¬
wertigkeit des antagonistischen Coliindex
geht nicht ohne Weiteres der Schwere des
Krankheitsbildes parallel. Vereinzelt wird
der Coliindex, unabhängig von der ange¬
wandten Therapie, vollwertig bei schlech¬
tem, keine Tendenz zur Besserung zei¬
genden Allgemeinbefinden.
4. Das Wechselvolle Verhalten des
antagonistischen Coliindex sowohl Wie der
pathologischen Darmflora in den einzelnen
Stadien der Krankheit wird ursächlich
durch die vorläufig noch unbekannten,
jenen Krankheitsverlauf bedingenden Fak¬
toren bestimmt; die primäre Noxe für die
perniziöse Anämie stellt der antagonistisch
minderwertige Coliindex nicht dar.
5. Die Feststellung des antagonisti¬
schen Coliindex hat erhebliche diagnosti¬
sche und prognostische Bedeutung für die
perniziöse Anämie.
6. Mutaflor wird am besten in einer
Dosis von einer roten Kapsel täglich ver¬
abreicht. Die in jedem Fall mehrere Tage
oder Wochen vorher abzugebende Dosis
nur einer blauen Kapsel muß beim Auf¬
treten von Durchfällen und in einzelnen,
besonders empfindlichen Fällen, dauernd
beibehalten werden. Eine völlige Unter¬
brechung der Mutaflortherapie ist uner¬
wünscht und unnötig, da irgendwelche
Schädigungen, selbst bei jahrelangem Ge¬
brauch, nicht zu befürchten sind.
7. Auch bei mehrmonatlichem Ge¬
brauch des Mittels gelingt es öfters nicht,
den Mutaflorstamm zur dauernden An¬
siedelung zu bringen; selbst.bei nach¬
weisbar vollwertigem Coliindex erweist
die serologische Agglutinationsprüfung oft
genug vom Behandlungsstamm abwei¬
chende biologische Eigenschaften. Die bei
der perniziösen Anämie bestehende hart¬
näckige Neigung zur Modifikation der ver-
September
Die Therapie der Gegenwart 1921
347
abfolgten starkwertigen Colirassen fordert
zur möglichst langwährenden Behandlung
mit Mutaflor auf, bis die Remission sich
als vollständige und anhaltende erweist
und der Coliinüex dauernd vollwertig
bleibt.
8. In seiner Wirkung wird das Mutaflor
als entgiftende Maßnahme aufgefaßt und
ähnlichen Behandlungsverfahren mit dem¬
selben Endzweck an die Seite gestellt, vor
allem den Magendarmspülungen. Ebenso
wenig wie diese vermag Mutaflor allein
entscheidende Erfolge bei der perniziösen
Anämie zu erzielen. Dazu bedarf es neben
der Unterstützung durch anderweitige
toxinzerstörende Mittel vor allem der
blutregenerierenden Wirkung des Arsens.
Am besten hat sich für die Behand¬
lung der schwereren Formen der
perniziösen Anämie die kombinierte
Anwendung von Arsen, Mutaflor
und Magendarmspülungen bewährt.
Zusammenfassende Übersicht.
Der jetzige Starid der Radiumemanationstherapie.
Von Dr. Engelmann, Kreuznach.
Vor sieben Jahren hatte ich Gelegen¬
heit, hier an dieser Stelle mich über
Radiumemanationstherapie äußern zu
dürfen. Damals war die für die breitere
medizinische Öffentlichkeit als jung gel¬
tende Therapie, die in Wirklichkeit schon
in reiferem Alter stand — waren in Kreuz¬
nach doch schon seit fünf Jahren, wie
ich damals feststellen konnte, also jetzt
zwölf Jahre, an anderen Orten seit zehn
Jahren, allerdings nicht so systematisch
wie hier, reichlichste therapeutische Er¬
fahrungen mit Radiumemanationsbehand-
iung gesammelt worden — eine viel be¬
sprochene und auch viel umstrittene
Therapie.
Es ist jetzt stiller geworden in dieser
Hinsicht in der Tagesliteratur. Ab¬
geschlossene Lehrbücher und Monogra¬
phien zeugen aber dafür, daß die Therapie
flügge geworden ist und sich ihren festen
Platz erobert hat.
Ein einigermaßen abgerundetes Bild
haben wir jetzt von der biologischen
Wirkungsweise der Radiumemanation,
und es ist uns gelungen, die therapeuti¬
schen Erfolge damit in plausiblen Zu¬
sammenhang zu bringen, so daß die
Therapie und Indikationsstellung, wenn
sie sich auch nicht im wesentlichen seit
meinen damaligen Ausführungen geändert,
doch an Sicherheit gewonnen hat.
Physikalisches.
Die Anschauungen über die physika¬
lischen Eigenschaften der Radiumemana¬
tion haben sich im großen und ganzen
nicht geändert. Die Radiumemanation
Avird von Radium beziehungsweise Ra¬
diumsalzen abgegeben. Sie ist ein gas¬
förmiges Zerfallsprodukt in .der Zerfalls¬
reihe des Radium. Emanation ist ein
Edelgas, geht keine chemischen Ver¬
bindungen .ein, ist in verschiedenen Me¬
dien verschieden löslich (in Lipoiden sehr
bedeutend). Emanation zerfällt weiter,
seine Lebensdauer beträgt nach der Hal¬
bierungszeit berechnet 3,85 Tage. Bei
diesem Zerfall in weitere Elemente wird
Energie in Form von dunkeln Strahlen
abgegeben, a-, /?- und y-Strahlen, welche
verschiedene Eigenschaften haben und
therapeutisch Wirken.
Der praktische Vorgang ist nun der,
daß diese Emanation aufgefangen Wird,
sei es in Luft, in Wasser oder in sonstigen
Medien, und nun therapiebereit ist: sie
kann dann in den Organismus hinein
und an ihn herangebracht werden, sei
es, im ersten Fall durch die Inhalations¬
methode, durch Trinken von radium¬
emanationshaltigem Wasser, durch In¬
jektionen stark emanationshaltig gemach¬
ter Flüssigkeiten, sei es, im zweiten Fall,
durch Bäder, Umschläge, Eingießungen
und Ausspülungen solcher radioaktiver
Flüssigkeiten.
Aus der kurzen Lebensdauer der
Emanation ergibt sich eine gewisse Un¬
sicherheit in der Verordnung. Man kann
dieser Unsicherheit dadurch begegnen,
daß man das emanationshaltige Wasser,
darum Wird es sich meist handeln, immer
frisch beschaffen läßt oder es konzentrier¬
ter verschreibt, als es genommen werden
soll, und den Tagesverlust berechnet.
Bei Inhalation muß die Emanation dem¬
gemäß stets frisch zugeführt werden.
Das Wirksame bei der Emanation
sind die Strahlen, die undy-Strahlen,
die beim Abklingen, wie erwähnt, ent¬
stehen, und deren Wirkungsweise wir uns
ähnlich den Radium- und Thorium¬
strahlen, auch ähnlich den Röntgen¬
strahlen, vorzustellen haben, in abge-
44*
348
Die Therapie der Gegenwart 1921
September:
schwächter Form, da es sich um geringe
Energien handelt. Emanationstherapie
ist also Strahlentherapie, innere Strah¬
lentherapie, wenn wir von Bädern und
Umschlägen absehen, wo die äußere
Strahlenwirkung dazu kommt.
Biologisches.
Um die biologisch-therapeutische Wir¬
kungsweise zu verstehen, müssten wir
theoretisch folgendes wissen: wie wirken
die Becquerel-Strahlen und wo wirken
sie?, d.h. wie und wo verteilt sich die
Emanation im Organismus, daß die Bec¬
querel-Strahlen zur Wirkung kommen
können? Verfolgen wir ihren Weg.
Beim Trinken von Emanationswasser
wird die Emanation im Magendarmkanal
bei der Resorption des Wassers mit
resorbiert und kommt in den venösen
Kreislauf durch die Pfortader. Ein
kleinster Teil wird beim Trinken inha¬
liert, und kommt direkt in die Lungen,
der größere Teil auf deni Wege durch ,
das Herz in dieselben, hiervon geht ein
gewisser Teil durch die Atmung vermut¬
lich verloren, der größte Teil gelangt in
den arteriellen Blutkreislauf, wie Messun¬
gen zahlreicher Autoren gezeigt haben.
Nach einmaligem Trinken von mittel¬
starkem Emanationswasser konnte ich
beispielsweise in Tierversuchen noch nach
zwei Stunden Emanation im arteriellen
Blut feststellen. Wird langsam getrunken,
läßt sich ein gewisser Emanationsspiegel
noch länger im Blut erreichen. Durch
den Darm (rectal) eingeführtes Emana¬
tionswasser läßt sieh ebenfalls bald und
längere Zeit in der Ausatmungsluft nach-
weisen. In dem Emanationsgehalt der
Ausatmungsluft haben wir überhaupt ein
■gewisses Kriterium für den Emanatioiis-
gehalt des Körpers.
So kommt die Emanation zu den
Zellen. Im allgemeinen können wir uns
vorstellen, daß die Verteilung im Körper
eine gleichmäßige ist. Jedoch konnte
ich bei einer bestimmten Versuchsanord¬
nung feststellen, daß die Emanation bei
Durchfließen eines Capillarsystems in
dem Gewebe sofort absorbiert wird. So
daß also an der ursprünglichen Eintritts¬
stelle der Emanation in den Organismus
die Gewebe stärker unter Emanations¬
einwirkung stehen — bei Trinken also
die Leber beispielsweise — wie die peri¬
pheren Körperstellen. Durch den all¬
mählichen Nachschub bei langsamer und
häufiger Zufuhr wird sich das zum großen
Teil ausgleichen. Das zeigen auch klini¬
sche Beobachtungen. Trinken Gichtiker
kleinste Mengen Radiumwasser, so treten
Reaktionserscheinungen ebenso an den
nahen wie an den entfernteren Gelenken
auf und ebenso werden an diesen Stellen
später im Verlaufe der Kur Resorptions¬
vorgänge (Einschmelzen von Tophi) beob¬
achtet.. Durch eine Wirkung seitens des
Centralnervensystems ist das nicht zu
erklären. Da wirkt Emanation an Ort
und Stelle.
Etwas anders ist die Verteilung der
Emanation und das Verhalten ihres Spie¬
gels, wenn sie durch Inhalieren auf dem
Wege des Respirationstraktus in das Blut
und in den Organismus gebracht wird.
Geschieht diese Einatmung mit Hilfe
der sogenannten Emanatorien (kleine
Räume, die mit Emanation in gewisser
Konzentration angefüllt sind und Vor¬
richtungen zur Erneuerung der Luft
haben), dann wird eine recht restlose
Ausnützung der Emanation erzielt. Die.
mit einem Atemzuge beispielsweise inha¬
lierte Emanation würde, wenn man in
emanationsfreie Atmosphäre exhalierte,
zum Teil mit ausgeamtet werden und
nur der Teil, der vom Blut aufgenommen
ist, in den Körper weiter transportiert
werden. Nun atmet man aber in Emana-
toriumsluft derselben Dichtigkeit aus und
so wird die Emanation festgehalten, mit
dem zweiten Atemzug die des ersten
Atemzuges wieder zurückgerissen und so
fort. So kommt es sogar fast zu einer
gewissen Anreicherung des Blutes mit
Emanation, zum mindesten halten sich
Emanation im Blut und in dem Emana-
torium die Wage. Messungen haben
ergeben, daß durch die Adsorptionsfähig¬
keit der Blutkolloide für Radiumemana¬
tion der Gehalt des Blutes an Emanation
den des Emanatorium erreicht, ihn bis¬
weilen sogar übertrifft. Die Vorzüge
und Nachteile der beiden Methoden,
Emanation dem Körper zuzuführen, er¬
geben sich daraus von selbst. Ich komme
noch darauf zurück.
Die chemische Wirkung der Radium¬
emanation ist als eine oxydierende fest¬
gestellt. In welchem Sinne Radium¬
emanation chemisch wirkt, das zeigt uns
die Beeinflussung organischer Substanzen
durch Becquerel-Strahlen analoger aller¬
dings stärkerer Präparate von Radium,
Thorium oder Aktinium: der Molekular¬
verband der Zellen wird durch Hydrolyse
und Desamidierung gelockert. Es kommt
sehr auf die Konzentration der Emana¬
tion an. Auf der anderen Seite sind auch
September
349
Die Therapie .der Gegenwart . 1921,
synthetische Prozesse unter Emänations-
einwirkung beobachtet.
Die Becquerel-Strahlen ähneln in ihrer
chemischen Wirkungsweise den ultra¬
violetten und Röntgenstrahlen. Alle
Strahlengattungen (auch die Sonnen¬
strahlen) vermögen exo- und endoenerge-
tische Prozesse. einzuleiten und zu be¬
schleunigen. Der Unterschied zwischen
den dunkelen Strahlen und den Licht¬
strahlen liegt hauptsächlich darin, daß bei
ersteren die lythischen, zerstörenden Pro¬
zesse bedeutend überwiegen (Fa Ita). Doch
auch nur mit Einschränkung darf dieser
Satz bestehen, denn schwächere Strahlen,
Becquerel oder Röntgen, wirken zweifellos
anregend, andererseits wirken stärkste
Sonnenstrahlen zweifellos zerstörend.
Ob diese chemische Wirksamkeit der
Emanation zur Erklärung aller biologi¬
schen Beeinflussungen, die zahlreich ex¬
perimentell nachgewiesen sind, zu ver¬
wenden ist, muß die Zukunft lehren.
Vorläufig ist nicht immer ein rechtes
System in die vorliegenden Forschungs¬
ergebnisse zu bringen. Die Versuche sind
so verschiedenartig angelegt; bei ihrer
Bewertung müssen Wir uns immer vor
Augen halten, daß es in der Natur der
Emanation liegt, daß ihre Stärke ständig
wechselt, so daß ohne ständige kontrol¬
lierende Messungen des jeweiligen Ema¬
nationsgehaltes keine Gewähr ist über
die gerade im Augenblick des Experiments
entwickelte Energie, und daß schließlich
die Meßmethoden und Stärkebezeichnun¬
gen nicht immer ganz einheitlich waren.
Denn die Versuche sind in einer längeren
Zeitperiode vorgenommen, in der die
Kenn'tnisse der Becquerel-Strahlen sich
dauernd fortentwickelt haben, so daß die
Versuchsanordnungen der letzten Jahre
ganz anders gewertet werden müssen,
wie weiter zurückliegende. ln diesem
Punkte liegt eine Erschwerung gegen¬
über biologischen Untersuchungen ande¬
rer pharmakologischer Substanzen.
Unter kritischer Berücksichtigung die¬
ses Moments können wir aber doch eine
Linie erkennen, in der die biologische
Wirkungsweise der Emanation liegt: in
nicht zu starken Dosen, bei mittlerer
zeitlicher Einwirkung, hat sie eine för¬
dernde Wirkung auf eine große Anzahl
biologischer Vorgänge; höhere Dosen wir¬
ken hemmend, starke und stärkste Dosen
zerstörend.
So ist es bei der Beeinflussung der
Fermente, so bei. anderen biologischen
Vorgängen.
Falta macht wohl nicht mit Unrecht
darauf aufmerksam, daß man bei Be¬
wertung der Fermentversuche,' die in
recht großer Anzahl vorgenommen wurden
(das diastatische Enzym, das fettspal-,
tende Ferment, das tryptische Ferment,
Invertin und Emulsin Wurden von Bik-
kel, Löwenthal, Wohlgemut, Da-
nyß und anderen untersucht, das glyko-
lytische Ferment von Wohlgemut und
mir usw.), unterscheiden muß zwischen
der Beeinflussung der Fermente und des
Substrats. Ferment und Substrat reagie¬
ren verschieden auf die Becquerel-Strah¬
len, daraus mögen sich die oft unverständ¬
lich erscheinenden differierenden Werte
erklären, indem man einmal eine Hem¬
mung, einmal Förderung der fermenta¬
tiven Prozesse beobachtete.
Bei den endocellulären Fermenten
glaubt ebenderselbe Autor immer Förde¬
rung annehmen zu müssen. Warum
sollte aber nicht bei starker oder langer
Einwirkung Hemmung beziehungsweise
Zerstörung festzustellen sein? So oft
sind die Versuche auch nicht variiert.
Verläuft doch auch die Einwirkung der
Becquerel-Strahlen auf niedere pflanz¬
liche Organismen in diesem Sinne. Mal
Hemmung oder gar Zerstörung, bei langer
intensiver Einwirkung, mal Förderung.
Es ist die Kunst, die Dosis herauszu¬
finden, die fördernd auf die Wachstums¬
vorgänge wirkt, denn nur fördernde Dosen
werden anregend auf den Organismus,
also im letzten Sinne therapeutisch gün¬
stig, einwirken und den Therapeuten
interessieren. Die zerstörenden oder
hemmenden Dosen nur in dem negativen
Sihne, daß man weiß, wie man sie ver¬
meiden kann.
Die Grenze zwischen Förderung und
Hemmung liegt allerdings bei den niederen
Organismen sehr tief. Mucor mucedo und
Hefe werden z. B. nur durch kleine Dosen
Radiumemaiiation günstig, d. h. im an¬
regenden Sinne, beeinflußt'.größere Dosen
vvirken sofort hemmend und' zerstörend.
Ähnlich ist es bei höheren pflanzlichen
Organismen. Eine große Reihe recht
interessanter Versuche sind da von Bec¬
querel, Körnicke, Stoklasa und
anderen vorgenommen worden, inter¬
essant deswegen, weil die Ergebnisse prak¬
tische Konsequenzen haben könnten, und
Weil man eine dosierbare Beeinflussungs¬
methode auf das Wachstum der Pflanzen
hat, wie selten, und zwar das Wachstum
der verschiedensten Pflanzenteile (Wurzel,
Blüten, Stengel usw.), je nach Anlage des
350’^ _ - _Die Therapie der Gegenwart 1921_ • September
Versuchs. Ich greife zur Illustrierung
eine charaktefistische Versuchsandrdnung
von Stoklasa heraus. Stoklasa stellte
bei gewissen Pflanzen fest, daß Radium¬
emanationswasser in schwachen Dosen
(15 bis 30 Macheeinheiten) einen günstigen
Einfluß auf Keimung hat. Bei höheren
Dosen (schon bei 50 bis 100 Macheein¬
heiten) wirkt das radioaktive Wasser
hemmend. Er hat in großangelegten
Versuchen unter Einfluß von radioakti¬
vem Wasser größere Pflanzenmassen (bei
Felderversüchen) geerntet wie sonst (30
bis 60 Macheeinheiten). Bei höheren
Dosen stellte er allerdings schädigenden
Einfluß auf das Wachstum der Pflanzen
fest. — In einem Emanatorium von 20
bis 30 Macheeihheiten pro Liter wurden
in Pflanzenversuchen die Erträge von
30 % auf 90 % erhöht. Bei Kultur¬
pflanzen öffnen sich die Blätter früher.
Die Atmung der Pflanzenzellen wird an¬
geregt. Kurz, seine Versuche ergaben,
daß Radiumemanation in schwachen Do¬
sen die Karyokinese der Zellen, die ganze
Entwicklung der Pflanze, ferner die Me¬
chanik des Stoff- und Gasaustausches,
photodynamische Assimilation im Chlo-
renchym, Blütenbildung und Befruchtung
äußerst günstig beeinflussen. Zu starke
Dosen verursachten toxische Erschei¬
nungen.
Bei Kresse konnte ich sehr wohl das
Konzentrationsoptimum von Emanati¬
onswasser feststellen, um Wachstums¬
beförderung zu sehen. Die Dosis ist im
Verhältnis zu den getrunkenen Dosen
gering und hängt natürlich von dem
Volumen der Erde und der Anzahl der
Keime ab. In einem Blumentopf bei
20 bis 30 Samenkörnern wirkte Gießen mit
40 ccm Wasser von 50 bis 100 Mache¬
einheiten günstig, schon bei 400 Mache¬
einheiten war Hemmung zu sehen.
Auf niedere tierische Organismen
wirkte Radiumemanation in eben dem¬
selben Sinne: in kleinen Dosen fördernd,
bei hohen Dosen hemmend. Es kann
nicht oft genug darauf hingewiesen
werden, wie ungemein wichtig exakte
Angaben der Emanationsstärke und der
Dauer der Einwiikung (ein nicht zu
unterschätzender Faktor, wie wir nach¬
her sehen werden), bei allen derartigen
Versuchen sind. Denn sie erlauben nur,
die Resultate richtig zu gruppieren und
mit Sicherheit einen Rückschluß auch
auf die praktische Verwertung und auch
auf die Kenntnisse der Mechanik der
biologischen Wirkungsweise zu ziehen.
Bei höheren -tierischen Organismen
ist die Beeinflussung naturgemäß eine
viel kompliziertere.
Die Wirkungsweise der Becquerel-
Strahlen in hohen Dosen, wie sie im all¬
gemeinen durch die Bestrahlungen mit
Radium, Thorium und Mesothorium ge¬
läufig sind, ist als eine in der Hauptsache
zerstörende bekannt: denn durch Zer¬
störung von Zellen oder Zellkomplexen
wurden Geschwülste geheilt, Drüsen zur
Resorption gebracht, Hauterkrankungen
beseitigt usw. Allerdings auch da sind
die Anschauungen im Fluß, viele, so vor
allem Stephan^), wollen die therapeu¬
tische Wirkung, beispielsweise der Rönt-
gehstrahlen, in einer Anregung der Zell¬
funktion der die kranken Stellen um¬
gebenden Zellen, ja unter Umständen des
ganzen Organismus sehen.
Bei innerer Bestrahlung, wie man die
Anwendung von Radiumemanation viel¬
fach bezeichnet hat, handelt es sich meist
um unverhältnismäßig geringe Strahlen¬
energien (in der Hauptsache, von Aus¬
nahmen, starken Injektionen, abgesehen),
und demgemäß müssen wir eine biologi¬
sche Wirkungsweise im anregenden Sinne
im tierischen Organismus erwarten.
Ich kann und will nur skizzenhaft
einiges andeuten und nur das bringen,
was exakte Versuchsanordnungen ergeben
haben und Was vor kritischer Betrachtung
bestehen kann.
Emanation bewirkt im lymphatischen
Apparat sehr häufig eine Hyperleukocy-
tose, nie eine Leukopenie. Der Ery-
trocytenapparat wird nicht so häufig
beeinflußt, manchmal im Sinne einer
Hyperglobulie. Ich selbst beobachtete
eine auffallende Zunahme der roten Blut¬
körperchen in einem Falle von perniziöser
Anämie, wo Thorium vorher nicht gewirkt
hatte.
Herz und Gefäßsystem sind erst in
spärlichen Versuchen unter Emanations¬
wirkung beobachtet. Man fand meist
eine Blutdrucksenkung 2). Kernen und
Kisch stellten in neusten Beobachtungen
zum mindesten keine Blutdrucksteigerung
bei Fröschen fest.
Das chromaffine Gewebe wird in Mit¬
leidenschaft gezogen. Pigmentierungen
sind beobachtet worden unter dem Ein¬
fluß großer Dosen oder bei langandauem-
der Applikation. Als Nebenbefund machte
ich ähnliche Beobachtungen. Nach länger
1) M. m. W. 1920, Nr. 11.
2) Zbl. f. Herzkrkh, 1919, Nr. 16.
September
Dte Therapie der Gegenwart 1921
351
dauernder Anwendung von mittelstarken
Emanationswasserkompressen fand ich in
mikroskopischen Schnitten stärkere Pig¬
mentierung der Haut wie bei Kontroll-
versuchen
. Auf die Magenfunktion scheint Emana¬
tion auch unter Umständen fördernd zu
wirken (Achylie).
Die Diurese wird angeregt, manchmal
kommt es zu Albuminurie.
Auf Keimdrüsen wirkt Emanation
zweifelsohne fördernd. Tierversuche und
Beobachtungen bei therapeutischen Ma߬
nahmen sprechen dafür ganz eindeutig.
Der respiratorische Stoffwechsel steigt
sowohl nach Trinken von Emanations¬
wasser, wie nach Inhalieren von Emana¬
tion, wie exakt nachgewiesen. Die Wärme¬
bildung wird gesteigert, daher auch manch¬
mal leichte Temperaturerhöhungen. Die
Beeinflussung des PurinstoffWechsels
spielt in der Emanationstherapie eine
ganz besondere .Rolle. Die Einwirkung
auf den U-Stoffwechsel im Sinne einer
erhöhten Ausscheidung ist sehr eklatant
und daher erklärt sich als Hauptindika¬
tion für. Emanationstherapie die Gicht.
Die Beobachtungen sind ganz eindeutig
und so übereinstimmend, daß man nicht
allein eine mittelbare Wirkung (durch
Anregung des Stoffwechsels im all¬
gemeinen, Beeinflussung der Funktion des
Lymphocytenapparates und damit ge¬
wisser Fermente), sondern eine unmittel¬
bare Wirkung auf die Harnsäure anneh¬
men muß.
Da die bisherigen Reagenzglasver¬
suche betreffend chemischer Zersetzung
von Harnsäure unter Emanationswirkung
nur bei Anwendung sehr aktiver Präpa¬
rate, also ungleich höherer Dosen, in
diesem Sinne verliefen, glaubte man nicht
ohne weiteres Analogieschlüsse auf die
therapeutischen Dosen, die ja viel
geringer sind, ziehen zu dürfen, besonders
wenn man beoenkt, in welcher Verdün¬
nung die Emanation an der Zelle wirkt.
Man kann nun sehr wohl diese Resultate
mit den menschlichen Stoffwechselver¬
suchen in Einklang bringen, Wenn man
die beobachtete Tatsache zu Hilfe nimmt,
daß die kolloiden Gewebssäfte günstigere
Löslichkeitsverhältnisse, bieten und so
geringere Emanationsmengen erfordern.
Eine ausgesprochene Wirkung auf das
Nervensystem, also Nervengewebe,scheint
entsprechend den später zu erörternden
klinischen Beobachtungen bei nervösen
Verh. D. Kong. f. inn. M. 1913.
Störungen oder auch bei Nervengesunden
anzunehmen zu sein und ist bei größeren
Dosen auch histologisch nachzuweisen.
Aus den bisher vorliegenden biolo¬
gischen Beobachtungen läßt sich un^
gezwungen ein Grundgesetz erkennen, das
sich in den Satz formulieren läßt, daß
die Becquerel-Strahlen in kleinen Dosen
die im Protoplasma sich abspielenden
Prozesse fördern, in großen Dosen auf das
Protoplasma zerstörend wirken (Falta).
Über den Mechanismus dieser Ein¬
wirkung können Wir uns auch eine ge¬
wisse Vorstellung machen, wenn wir an
die fördernde Wirkung auf die Pflanzen¬
entwicklung denken, an die Beeinflussung
der Harnsäureausscheidung, an die Wir¬
kung auf gewisse chemische Prozesse.
Diesen Vorstellungen glaube ich durch
eine Reihe von Versuchen aus dem
Chemismus des intermediären Stoff¬
wechsels einen gewissen weiteren Unter¬
grund gegeben zu haben, die der Kenntnis
des Mechanismus der Einwirkung radio¬
aktiver Stoffe ein gutes Stück näher¬
bringen und andererseits sehr wohl zu
den obigen Resultaten passen.
Beim künstlich durchbluteten über¬
lebenden Organe lassen sich gewisse
Lebensvorgänge unter fast normalen
Lebensbedingungen, wie man annehmen
kann, beobachten, ebenso auch Abwei¬
chungen natürlich. Beobachtungen. .am
intermediären Stoffwechsel sind so mög¬
lich.
Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
waren bei Anwendung einer genügend
feinen Methode Resultate zu erwarten,
wenn die chemisch-biologische Wirksam-,
keit derart war, wie man sie sich vor¬
stellte.
Die Leber ist bei Trinken von Emana¬
tionswasser sehr intensiv, wie Messungen
gezeigt haben, durch Emanation zu be¬
einflussen. Beobachtungen des Chemis¬
mus des intermediären Stoffwechsels inner¬
halb der überlebenden Leber durften als
aussichtsvoll erscheinen, um den Mecha¬
nismus der Strahlenwirkung möglichst
nahe an der Zelle zu studieren. Dem¬
gemäß wurden die Versuche, die in dem
chemisch-physiologischen Institut von
Prof. Embden vorgenommen Wurden*),
angestellt. Versuchstiere erhielten einige
Tage Radiumwasser von bestimmter Kon¬
zentration mit Schlundsonde, Wurden
nach einer 24stündigen Hungerperiode
entblutet, die Leber samt zu- und ab-
0 Strahlenther., Bd. IX, 1920.
352
Die Therapie der Gegenwart 1921
September
führenden Gefäßen herausgenommen und
in den Durchströmungsapparat gebracht.
Dann wurde Isovaleriansäure oder Tyrosin
zu dem Durchströmungsblüt zugesetzt
und nun die Acetessigsäurebildung beob¬
achtet, In zahlreichen Versuchen haben
Embden, Michaud und andere eine
ziemliche Konstanz der Acetessigsäure¬
bildung unter konstanten Verhältnissen
festgestellt. Es fand sich nun bei dieser
Versuchsanordnung, daß die Leber der
Versuchstiere (Hunde), die der Radium¬
emanation ausgesetzt waren, höhere Acet-
essigsäuremengen bildeten, wie die von
unbehandelten Kontrolltieren und wie die
der zahlreichen früheren Versuche von
Embden und seinen Schülern.
Die Resultate dieser Versuchsanord¬
nungen schienen also unsere Vermutung,
daß eine Beeinflussung der Zeflfunktion
bestände und auch nachzuweisen sei, zu
bestätigen. Da die Acetessigsäurebildung
aus Isovaleriansäure im wesentlichen ein
Oxydationsvorgang ist, so dürfen wir
aus der Vermehrung der Acetessigsäure
in der isolierten Leber der mit Radium-
emanationswasser behandelten Tiere ein
Hinweis darauf erblicken, daß durch die
Becquerel-Strahlen die Leberzellen ein
erhöhtes Oxydationsvermögen für
zugesetzte Isovaleriansäure gewonnen ha¬
ben. Wenn wir diese für die Leberzellen
im speziellen Falle nachgewiesene Ein¬
wirkung der Becquerel-Strahlen, die in
einer Steigerung des Oxydations¬
vermögens zu bestehen scheint, auch
für andere Zellen und Zellengruppen an¬
nehmen würden, so würde dies in Einklang
stehen mit den vermuteten, beobachteten
und auch in dem Ergebnis nachgewiesenen
fördernden Einfluß der Emanation auf
mannigfache Lebensvorgänge.
Im übrigen sind die Anschauungen
über die verschiedenen Strahlenwirkungen
noch im Fluß. Die Erscheinungen der
Latenz, Fernwirkung und Nachwirkung
scheinen nach Falta bei den verschiede¬
nen Strahlengattungen eine Rolle zu
spielen. D'ie Frage ist bei der Indikations¬
stellung und Anwendungsform nicht ganz
unwichtig. Die Wirkungsweise der Ra¬
diumemanation besteht nicht nur in dem
fördernden oder hemmenden Einfluß auf
die Zellen, sondern auch in seiner Eigen¬
tümlichkeit, bei längerer Einwirkungunter
Umständen auch bei geringerer Konzen¬
tration energischer zu wirken, wie bei
kürzerer Anwendung und hoher Kon¬
zentration. An anderer Stelle machte ich
schon darauf aufmerksam, daß die Funk¬
tionssteigerung der Zellen unter , Emana¬
tionseinwirkung eine Analogie darstellt,
zu der von Stephan vertretenen An¬
schauung, daß allgemeine Röntgenisie-
rung des Organismus auf die Zelle"funk¬
tionsanregend wirkt und darin die Wir¬
kungsweise der Röntgenstrahlen zu su¬
chen ist.
Messung und Dosierung.
Ein Wort hier über die Maßbezeich¬
nung. Als Konzentrationseinheit wird
meist die Mache ein heit verwendet. Es
hat sich eingebürgert, sie auch für die
Dosierung der Trinkkuren und sonstigen
Anwendungsformen zu benutzen, obwohl
es sich hierbei nicht um Konzentrations¬
einheiten, sondern um absolute Mengen
handelt. Abgekürzt wird meist M.E.
geschrieben. Man versteht darunter eine
Stromeinheit, und zwar in Tausendstel
der elektrostatischen Einheit, welche den
Betrag angibt, den die in einem Liter
Luft oder Wasser enthaltene Emana¬
tionsmengen zu unterhalten vermag.
Die Maßeinheit Curie ist eine Mengen¬
einheit und Wäre zweckentsprechender
zur Angabe der Stärke der Dosierungen
in der Therapie zu verwenden wie Mache¬
einheiten. Doch ist letztere Bezeichnung
einmal eingebürgert. Mikrocurie ist gleich
Viooooo Curie und entspricht etwa 2670
Macheeinheiten.
Die Messung hat zwei Aufgaben zu
erfüllen, die vorhandenen Strahlenarten
zu definieren und den Gehalt an radium¬
aktiven Substanzen zu bestimmen. Die
Strahlenarten setzen wir bei der prak¬
tischen Anwendung als bekannt voraus.
Den Therapeuten interessiert es zu wissen,
wie stark der Emanationsgehalt eines
Präparates, eines Wassers, einer Flüssig¬
keitsmenge ist, wie er die Stärke messen
und wie er sie bezeichnen kann. Daß
Emanation, dieses färb- und geruchlose
Gas, dessen Anwesenheit wir mit unserem
Sinn nicht feststellen können, gemessen
Werden kann, beruht unter anderem auf
seinem lonisierungsvermögen, d. h. Luft,
die mit Emanation in Berührung kommt,
von den Strahlen derselben beeinflußt
wird, wird leitend für den elektrischen
Strom gemacht. Ist beispielsweise ein
Elektroskop geladen und bringt man es
in Verbindung mit Luft, welche durch
Emanation ionisiert ist, so wird die
Schnelligkeit der Entladung ein Maßstab
für die Ionisation, d. h. Leitfähigkeit
der Luft und damit für die Strahlungs¬
intensität.
September
, Die Therapie der Gegenwart 1921
353^^
Solche Messungen sind mit Elektro-
skop und Meßeinrichtungen z. B. nach
Elster-Geitel, sehr einfach auszufüh¬
ren, die Technik diiffte in einigen Stunden
erlernt sein. Dadurch ist es möglich,
jederzeit Stichproben über den Emana¬
tionsgehalt eines Präparates anzustellen.
Nur so können Über- oder Unt^rdosie-
rüngen, sei es durch lässige Behandlung
der Apparate seitens des Unterpersonals
oder irgendwelche Versehen oder durch
Versagen des betreffenden Apparates ver¬
mieden und rechtzeitig entdeckt werden.
Bei allen klinischen - und biologischen
Beobachtungen halte ich derartige Eigen¬
kontrollen für unumgänglich notwendig.
Ich versäumte nie, bei Tier- und Menschen¬
versuchen in jedem Stadium der Ver¬
suche eine Kontrolle des jeweiligen Ema¬
nationsgehaltes. Eine solche Forderung
liegt schon in der physikalischen Un¬
beständigkeit des Mittels gegenüber ande¬
ren pharmakologischen Präparaten.
Wie ich aus Erfahrung weiß, sind die
Vorstellungen in breiten Ärztekreisen
nicht ganz klar, wieviel Macheeinheiten
die gebräuchlichsten Bäder, Quellen, Ein¬
richtungen, Apparate usw. enthalten bzw. |
produzieren, und welche Anforderungen i
an eine Emanationskur bezüglich der
Stärke zu stellen sind.
Die stärksten Quellen von Joachinis-
thal enthalten an der Anwendungsstelle
(Bäderhaus) ca. 600 Macheeinheiten pro
Liter, das wären für ein Bad 180 000
Macheeinheiten. Solche Bäder sind zu¬
meist zu stark, sie müssen verdünnt wer¬
den. Andererseits ist für eine Trinkkur
solches Wasser zu schwach, bei 200 g bei¬
spielsweise hätten wir nur 30 Macheein¬
heiten. Man muß mindestens 2000 bis
10 000 Macheeinheiten pro die für eine
vollwertige Trinkkur verlangen. Sonst ist
sie wirkungslos und der Erfolg ist nur ein
eingebildeter. Für Inhalationskuren ist
eine .Stärke von mindestens 10 Mache¬
einheiten pro Liter Luft zu verlangen.
Hieran knüpft sich die Frage für
den praktischen Arzt, der sich für die
Therapie interessiert, der sie in den Kreis
seiner Behandlungsmethoden ziehen will,
wo Radiumemanationskuren vorgenom¬
men werden sollen. Falta beantwortet
die Frage, die auch er stellt, so: zu einer
Radiumemanationskur gehört unbedingt
Ruhe, sie soll daher in einem Kurort vor¬
genommen werden. Verfügt der betref- I
fende Kurort nicht über die (soeben ari-
gedeuteten) notwendigen starken Quellen,
so soll er durch entsprechende Einrich¬
tung dafür sorgen, daß beliebig dosier¬
bare Kuren vorgenommen werden können.
Schwere Fälle sollen in Krankenhäusern
und Sanatorien behandelt werden, -r- Ich
möchte dem noch hinzufügen: leichte
Emanationskuren, die ambulant neben
dem Berufe durchgeführt werden sollen
und können, könpen überall vorgenommen
werden. Trinkkuren, Inhalationskuren,
Kompressenbehandlung lassen sich jeder¬
zeit überall ausführen; Vorbedingung ist
selbstverständlich, daß das Wasser, die
Inhaliereinrichtung zur Verfügung steht..
Apparate, die genügend starkes Ema¬
nationswasser produzieren, könnten in
ausgedehnterem Maße wie bisher von d.en
Fabriken geliefert in Apotheken, zur Ver¬
fügung stehen. Es ist zu hoffen, daß dieser
Teil der Industrie sich nun in ruhigeren
Zeiten wieder entwickelt, Wieder ansetzt
dort, wo vor dem Kriege aufgehört Wurde,
und daß entsprechend den neueren An¬
schauungen der Anwendung stärkerer
Dosen auch dementsprechende Apparate
zu mäßigen Preisen auf den Markt ge¬
bracht werden.
Die weitere Forderung Falta’s, daß
in Kurorten genügend starke Heilmittel
zur Verfügung stehen müßten, ist eigent¬
lich selbstverständlich und wird hoffent¬
lich erfüllt werden. Man soll sich nur frei
machen von dem Vorurteil, als ob nur
natürliche Heilmittel zur Verwendung
kommen dürften. Die Wirkung eines
Bades von beispielsweise 60 000 Mache¬
einheiten ist nach dem heutigen Stande
unserer Anschauung keine andere, ob das
Wasser nun aktiviert ist oder aus der
Quelle stammt (selbstverständlich nur
bezüglich der Strahlenwirkung). Es
kommt darauf an, daß die Therapie an
einem Orte heimisch ist und reichliche
Erfahrungen bestehen, dann schicke man
seine Patienten getrost dorthin.
Die Beurteilung, Welche Kurorte über
die genügend starken therapeutischen
Mittel verfügen, wdrd nicht ganz leicht
sein. Das zur Verwendung kommende,
sei es natürliche, sei es künstliche Ema¬
nationswasser muß pro Liter mindestens
10 000 Macheeinheiten enthalten, davon
gehe man aus. Dies gilt für Trinkkuren.
Ein Bad soll, wie schon erwähnt, min¬
destens 30 000 Macheeinheiten enthalten.
(Fortsetzung folgt iiri nächsten Heft.)
45
354
Die Therapie der Gegenwart 1921
September
Repetitorium der chlrurglsclien Therapie.
Von M. Borchardt.
Die Behandlung frischer Verletzungen.
\ Von M. Borchardt und S. Ostrowski. (Fortsetzung.)
B. Die Behandlung des Blut¬
verlustes.
Im allgemeinen verhält sich das Indi¬
viduum innerhalb gewisser Grenzen Blut¬
verlusten gegenüber recht verschieden.
Männer scheinen empfindlicher zu rea¬
gieren als Frauen, die z. B. bei Ruptur
der graviden Tube oft ungeheure Blut¬
verluste öhne besondere Maßnahmen zum
Ersatz des verlorenen Blutes überstehen.
Bei den Blutverlusten leichteren und mitt¬
leren Grades bedarf es meist keiner
momentanen, einen Blutersatz schaffen¬
den Behandlung. Die mehr oder weniger
ausgesprochene Anämie, die diesen Blu-.
tungen häufig folgen kann, heilt von selbst
oder unter der üblichen, in der Darreichung
von Eisen- und Arsenpräparaten be¬
stehenden, Therapie. Anders bei der
Behandlung akuter, lebensbedrohender
Anämien. Hier spielt die Frage eines
schnellen Ersatzes für das zu Verlust
gegangene Blut eine entscheidende Rolle.
Die Fähigkeit, des Organismus, auch bei
schweren Gefäßverletzungen die Blutung
durch die aus' Mangel einer vis a tergo
.schließlich erfolgende Blutdrucksenkung
zum Stillstand kommen zu lassen, darf
uns nicht zur Untätigkeit beziehungsweise
einer abwartenden Haltung bestimmen.
Wollen wir aber durch eine der dem
Blutersatz dienenden Behandlungsmetho¬
den Erfolg sehen, so muß zuvor möglichst
eine Hauptbedingung erfüllt sein:'Die
Quelle der Blutung muß verstopft sein.
Ohne vorausgehende Blutstillung ist ein
Versuch des Blutersatzes unrationell und
wenig aussichtsvoll. Die Gefahren schwe¬
rer Blutverluste für den Körper bestehen
einmal in dem absoluten Flüssigkeits¬
verlust (Entwässerung), dann dem Defizit
an endokrinen Stoffen und Salzen, dem
Ausfall an Sauerstoffträgern und der da¬
durch bedingten Insuffizienz des Gasstoff¬
wechsels, weiter aber auch in einer Her¬
absetzung des Blutdruckes durch die
Entleerung der Gefäße und die dadurch
für das Herz und die Atmung direkt und •
indirekt (mangelhafte Reizung ihrer ner¬
vösen Centren) sich ergebenden Folge¬
erscheinungen. Alle niese Punkte muß
eine rationelle Therapie des Blutverlustes
berücksichtigen.. Seit langem dienen
diesem' Zweck in der Chirurgie drei Haupt¬
verfahren: 1, die Autotransfusion, 2. die
Infusion blutisotonischer Lösungen, 3. die
Bluttransfusion.
Die Autotransfusion ist ein behelfs¬
mäßiges Verfahren, das wir für Fälle
höchster Not, die uns zunächst keine
Zeit zu anderen Maßnahmen lassen, nicht
entbehren können. Der Kranke wird da¬
bei mit dem Kopf tief gelagert, seine
Extremitäten werden eleviert und von
der Peripherie her zum Rumpf hin aus¬
gewickelt. Die so bewirkte Einengung
des Kreislaufes durch Zusammendrängüng
des Blutes auf ein engeres Stromgebiet
sorgt dafür, daß lebenswichtige Körper¬
gebiete in ausreichender Weise durch¬
strömt, der Blutdruck gehoben, die Herz¬
kraft gebessert und die Atmung durch
ausgiebigere Durchblutung des Atem¬
centrums in der Medulla oblongata an¬
geregt wird. Für sich allein kann das
Verfahren nur vorübergehend für kurze
Zeit seinen Zweck erfüllen. Im Vergleich
zu den beiden anderen Methoden verhält
es sich etwa wie die provisorische Blut¬
stillung zur definitiven.
Ist- die Kreislaufdynamik durch zu
starke Entleerung der Gefäße gröber be¬
einträchtigt und droht dem Herzen durch
das dadurch bedingte ,,LeerIaufen‘' Ge¬
fahr, so bedarf es einer schleunigen Auf¬
füllung des Gefäßsystems.
Die Infusion blutisotonischer Lösungen
zum Ausgleich von Blutverlusten ist eine in
der praktischen Chirurgie überaus häufig
notwendige und unentbehrliche Ma߬
nahme. Neben dem schnellen Ersatz
des Flüssigkeitsverlustes hilft sie uns die
durch Vasokonstriktorenlähmung hervo'r-
gerufene bedrohliche Blutdrucksenkung
überwinden, durch Durchspülung des
Körpers (innere Organismuswaschung) die
Ausscheidung von Toxinen bei Infektionen
beschleunigen und durch Alkalizufuhr den
Gasstoffwechsel des Blutes gewährleisten.
Außer der am häufigsten gebrauchten,
0,9 %igen physiologischen Kochsalz¬
lösung erfüllt diesen Zweck noch eine
Reihe zum Teil aus anderen Gesichts¬
punkten zusammengesetzter Lösungen,
zum Teil in noch vollkommnener Weise.
Die 0,9 %ige Lösung entspricht von den
beiden Forderungen nach physikalischer
und physiologischer Isotonie streng ge-
September
Die Therapie der Gegenwart 1921
355^
Tiomnien nur der ersten; der zweiten in¬
sofern nicht genau, als neben dem NaCl
in den Geweben noch andere Salze eine
Rolle spielen. Für die Erklärung von
Fieberbewegungen nach Infusion physio¬
logischer Kochsalzlösungen ist hierdurch
vielleicht ein Hinweis gegeben. Bei der
•einer physiologisch isotonischen Lösung
in strengem Sinne am nächsten kommen¬
den Ringerschen Lösung fehlt diese Be¬
obachtung. Sie hat nach der Empfehlung
Lockes folgende Zusammensetzung:
NaCl 0,9, KCl 0,042, CaCls 0,024, NagCÖg
0,03, aq. dest. ad 100,0.
Thieß hat folgende Änderung der Zu¬
sammensetzung vorgeschlagen und ex¬
perimentell begründet:
NaCl 0,85, KCl 0,03, CaClg 0,03.
Anstatt der Eitaigießung dieser Lö¬
sungen kann unter bestimmten Verhält¬
nissen die Infusion von Zucker-Salz¬
lösungen oder reinen Traubenzucker-
iösungen geboten sein. Die Kuhnsche
Alkalisacharatlösung enthält 4,0 Dex¬
trose, 0,04 Calciumsacharat und 0,85 |
Natriumchlorat auf 100,0 aq. dest. |
Sie soll, da Traubenzucker gerinnungs- |
hemmend wirkt, die Thrombosengefahr
bei der Infusion verhindern. Die Ein¬
gießung reiner Zuckerlösungen (5 bis 7 %
Traubenzucker enthaltend) ist geboten.,
wenn gleichzeitig Nierenerkrankungen mit
Salzretention eine' Gegenanzeige gegen
Infusion von Salzlösungen abgeben oder
bei bedrohlicher Herzschwäche eine Be¬
lebung des Herzmuskels erwünscht ist.
Diese sehr bemerkensweite Wirkung des
Traubenzuckers auf den funktionsschwa¬
chen Herzmuskel ist neuerdings von
Büdingen zur Grundlage einer Ernäh¬
rungstherapie des kranken Herzmuskels
gemacht worden, die auch in der Chirurgie
Beachtung finden muß. Büdingen in¬
fundiert bei Erschöpfungszuständen des
Herzmuskels 15 bis 20 %ige Trauben-
zuckeriösungen, eventuell mehrfach,
und meint danach eine merkliche Er¬
holung desselben gesehen zu haben. In
letzter Zeit ist man dazu überge¬
gangen, wesentlich konzentriertere Lö¬
sungen (50 %ige Dextroselösungen) zu
infundieren. In der Chirurgie kämen für
eine solche Behandlung toxische Schwä¬
chezustände des Herzmuskels bei Infek¬
tionen oder Herzmuskelschwäche ex a -
aemia bei schweren Blutungen in Frage.
Die Technik der Infusion sowie die
dazu gehörige Apparatur sollen hier nicht
eingehender beschrieben werden. Sie sind
jedem Praktiker wohl bekannt. Sehr
zweckmäßig sind die im Handel erhält¬
lichen Glastuben, die, zugeschmolzen, ab¬
gemessene Mengen steriler Infusions¬
lösungen enthalten und nach Erwärmung
im Wasserbade auf 40® die sofortige In¬
fusion gestatten. Verbindet man das zu¬
gespitzte Tubenende nach Abbrechen der
Spitze mit einem sterilen Schlauch, der
mit der Infusionsnadel armiert ist, so hat
der Praktiker somit die Möglichkeit, ohne
besondere Mühe und technische Schwie¬
rigkeit die Infusion auszuführen. Die
isotonischen Salz- und Zuckerlösungen
werden, körperwarm, in Mengen von 500
bis 1000 ccm subcutan, rectal oder intra¬
venös infundiert. Die Art der Einführung
hängt von der Dringlichkeit des Falles
ab. Bei akuter Anämie oder plötzlicher,
bedrohlicher Blütdrucksenkung ist die
intravenöse Infusion die Methode der
Wahl, in weniger eiligen Fällen einer der
beiden zuerst genannten Wege. Das
Hauptkriterium ist und bleibt in jedem
Falle die Beschaffenheit aes Blutdruckes,
Wenn bei weit unternormalen Werten
desselben die Resorption aus dem sub-
cutanen Gewebe oder durch die Rectal-
khleimhaut in Frage gestellt ist, so wäre
es unzweckmäßig, den subcutanen oder
rectalen Weg zu wählen.
Wichtig ist die Dosierung der einzu¬
führenden Lösungsmengen und die Re¬
gulierung des Önflußtempos. Es ist
durchaus nicht gleichgültig, ob 500, 1000
oder 2000 ccm einlaufen. Übersteigt die
eingeführte Menge, was sehr bald unter
gewissen Umständen eintreten kann, den
augenblicklich . notwendigen Bedarf, so
muß der Organismus die plötzliche, für
ihn schädliche Überlastung des Gefä߬
systems auszugleichen suchen. Er tut
dies teils durch Herabsetzung des Gefä߬
tonus und wirkt dadurch gerade unserer
Absicht, den Blutdruck zu heben, ent¬
gegen oder dadurch, daß die überschüssige
Flüssigkeit in die GeVv^ebe diffundiert und
hier gleichfalls eine Überlastung für den
Flüssigkeitsaustausch in den Geweben
bedeutet. Deshalb lassen wir unter ge¬
nauer Pulskontrolle so lange Flüssigkeit
einfließen, bis der Pulsdruck sich merk¬
lich gebessert hat. 500 bis höchstens
1000 ccm werden hieizu meistens hin¬
reichen. Läßt die Wiiküng nach, so
wiederholen wir die Infusion oder schließen
an die erstmalige Infusion die neuerdings
empfohlene intravenöse Dauerinfusion an.
Sie bewirkt eine langsame Nachfüllung
des Gefäßsystems und vermeidet jede
schädliche Überlastung desselben. Die
45*
356
Die Thej^apie der Gegenwart 1921
September
Apparatur ist ähnlich der gleich bei der
rectalen Dauertropfinfusion zu beschrei¬
benden. Die Infusionsnadel bleibt durch
einen zweckmäßigen, die Venaesectio-
wunde schützenden Verband fixieit, in
die Ellbogenvene eingebunden, liegen.
Der Vorzug des Verfahrens ist der, daß
jederzeit in schonendster Weise, wenn es
nötig wird, aus einem etwa 50 cm über
der Einflußhöhe in einem Wärmeisolier-
mante.1 stehenden Reseivoir Flüssigkeit
nachfließen kann. Schaltet man in dem
Zuleitungsschlaiich die Martinsche Tropf¬
kugel ein und drosselt den Schlauch durch
den sogenannten Tropfenregulator, so
kann man bei genau regulierter Tropf¬
folge Flüssigkeit in die Vene eintropfen
lassen. Bei bedrohlicher Herzschwäche
ist es ein leichtes, durch Beifügung von
herzstimulierenden und blutdruckstei¬
gernden Mitteln (wie Strophantin, Digi¬
talispräparaten, Adrenalin oder Pituri-
trin) schnelle Wirkung zu erzielen. Die
Möglichkeit, durch Adrenalinzusatz den
sinkenden Blutdruck schnell zu heben,
ist ein weiterer Vorteil der intravenösen
Infusionsmethode; denn bei den anderen
sind wir gezwungen, das die Resorption
hemmende Adrenalin wegzulassen. Die in¬
travenöse Dauerinfusion läßt sich aber nur
bei ruhigen Patienten und unter Wahrung
sorgfältigster Asepsis durchführen.
Durch die rectale Dauerinfusion ver¬
mögen wir gleichfalls in schonendster
Weise dadurch dem Körper mit Leichtig¬
keit größere Flüssigkeitsmengen zuzu¬
führen, daß wir durch Tropfenregulierung
mit den gleichen Apparaten, wie sie oben
beschlieben winden, durch ein Darmrohr
nur so viel einfließen lassen, als die Mast¬
darmschleimhaut eben aufsaugen kann.
Dem eigentlichen Tropfeinlauf ist ein
Reinigungseinlauf vorauszuschicken.
Die subcutane Infusion erfolgt‘meist
unter die Haut der Biust (Infraclavi-
culargruben), des Bauches oder der
Oberschenkel. Die Einverleibung größe¬
rer, d. h. wirksamer Flüssigkeitsmengen
unter die Haut ist jedoch häufig recht
schmerzhaft. Daneben muß noch auf
einige Punkte aufmerksam gemacht wer¬
den, deren Nichtbeachtung zu allerlei
Schädigungen für den Patienten iühren
kann. Die Hautspannung darf nicht zu.
hohe Grade erreichen, da in einzelnen
Fällen schon Gangrän der Haut beob¬
achtet wurde. Deshalb empfiehlt es sich,
von Anbeginn der Infusion durch eine
sanfte Streichmassage für ■ eine hin¬
reichende Verteilung der Flüssigkeiten im
Subcutangewebe zu sorgen und gleich¬
zeitig diese Verteilung durch ein häuii-
geres Verschieben der' Infiisionsnadel im
Unterhautzellgewebe zu erleichtern. Zu
langes Liegenlassen der Nadel bringt, die
Gefahr der Infektion mit sich und ist
deshalb tunlichst zu vermeiden. Neuer¬
dings ist geraten worden, von der In¬
fusion unter die Brusthaut abzusehen, da
hier die * Hautspannung trotz der oben
genannten Hilfsmaßnahmen doch recht
empfindliche Grade erreichen kann. Es
ist erklärlich, daß dadurch die Atmung
mechanisch und willkürlich behindert und
dem^ Entstehen oder der Förderung schon
bestehender Limgenkomplikationen Vor¬
schub geleistet (wird. Wir infundieren
an unserer Klinik subcutan fast aus¬
schließlich bei Kindern und bevorzugen
aus den dargelegten Gründen die intra¬
venöse und rectale Infusion mit befriedi¬
gendem Resultat. Trotzdem ist die sub¬
cutane Infusion die Methode der Wahl
für die Praxis und hier unentbehrlich,
weil sie wirksam und technisch einfach
zugleich ist.
Referate.
Für die Behandlung der entzündlichen
Adnextumoren hat sich das Terpentin,
wie aus der reichhaltigen Literatur zu
ersehen ist, sehr bewährt. Die von einigen
Autoren gemeldeten Mißerfolge sind nach
Sonnenfeld darauf zurückzuführen, daß
die Einspritzungen in zu großen Ab¬
ständen erfolgten, und daß auch während
der Menses eine Pause eintrat. Bei den
tuberkulösen Adnextumoren hat dieses
Mittel völlig versagt; auch das hierfür
empfohlene Caseosan ergab nur Mi߬
erfolge. Um nun zu prüfen, ob das Ca¬
seosan überhaupt bei der Behandlung ent¬
zündlicher Erkrankungen in Frage komme,.
wurde es als Caseosan-Heyden außer
bei drei tuberkulösen noch bei 37 Adnex¬
erkrankungen, die teils im akuten, teils
im chronischen Stadium waren, von
Sonnenfeld angew^andt; der Erfolg war
folgender: Das Caseosan, welches nur in
der Klinik intravenös eingespritzt wer¬
den kann und den Patienten große Be¬
schwerden macht, ist dem Terpentin sehr
unterlegen, welches gereinigt und entharzt
z. B. als Terpichin zur Injektion genom¬
men wird, und das an Wirksamkeit und
Schnelligkeit des Erfolges alle übrigen kon-
■September
Die Therapie der Gegenwart 1921
357
5ervativen Behandlungsmethoden über¬
trifft. Pulvermacher (Charlottenburg).
(Zbl.f. Gyn. 1921, Nr. 19.)
Zur Frage der Verminderung der Blu-
'tung bei Operationen nach prophylak¬
tischer Röntgenbestrahlung der Milz be¬
richtet Kurtzahn aus der Königsberger
chirurgischen Klinik (Kirschner) über
experimentelle Untersuchungen am Men¬
schen und kommt zu dem Schluß, daß
nach den'doitigen Erfahrungen die Frage,
•ob durch prophylaktische Milzbestrah-
iung bei dem gewöhnlichen Operations¬
material eine praktisch wesentliche Blut¬
ersparnis zu erzielen ist, verneint werden
muß. Willibald Heyn (Berlin).
(Zschr.f. Chir. Bd. 162, H. 5/6, S. 373.).
In der Gruppe der Sondernährstoffe
oder Vitamine nimmt nach den Unter¬
suchungen von Wacker und Beck das
Cholesterin eine wichtige Stellung ein,
indem es \vahrscheinlich zu jenen Körpern
jgehört, die eine antirachitische Wirkung
.ausüben. Das Cholesterin, das sich in
^llen Körperzellen, besonders in den
Leukocyten, im Nervengewebe und in
der Galle findet, kann im Serum ver¬
mindert sein, so bei den meisten Infek¬
tionskrankheiten, oder es kann, wie bei
Ikterus und manchen Nierenerkrankungen,
vermehrt sein. In seiner Begleitung be¬
findet sich ein Lipochrom, das den athe-
romatösen Cholesterinesterablagerungen
und den Xanthomen ihre Farbe gibt.
Eine physiologische Hypercholesterin-
ämie kommt außer im Senium während
-der letzten Mon'ate der Schwangerschaft
vor; bei der Hündin unter gleichzeitiger
Verminderung des Gallen-Cholesterins.
Der Durchschnittswert der Frauenmilch
an Cholesterin ist 0,14 g pro Liter, der des
-Colostrums etwa das Dreifache davon.
Prozentual auf das gesamte Milchfett be¬
rechnet, ist die Frauenmilch cholesterin-
reicher als die Kuhmilch und steht an
Cholesteringehalt dem Lebertran nahe.—
Klinisch beobachteten die Verfasser an
Säuglingen bei Cholesterinzulagen grö¬
ßeren Widerstand gegen Infekte ver¬
schiedenster Art, raschere Gewichtszu¬
nahmen bei Atrophikern, Besserung der
Stühle. Die Stoffwechselversuche geben
“hierfür die Erklärung, nämlich erstens
durch den Zusammenhang zwischen pho-
lesterin und Fettstoffwechsel. Bei Über¬
schreitung der Fettoleranz, also bei
schlechter Resorption, kommt es zu
n ega ti ven Cho les te rinb ilan zen, ebenso
bei Durchfällen. Dies gibt auch einen
^gewi^sen Hinweis auf das Zustande¬
kommen der Rachitis beim überernährten
Kinde. Ferner vermindert Cholesteriri-
darreichung die Ausscheidung von Erd¬
seifen im Stuhl. Andere Autoren fanden
bereits bei Lebertranbehandlung niedri¬
gere Kalkwerte im Stuhl, höhere im Blut.
Entsprechend sind wohl auch jene An¬
gaben zu deuten, nach welchen Kinder —
wie z. B. auf den Hebriden — unter küm¬
merlichsten Luft- und Lichtverhältnissen
aufwachsen, aber vollkommen frei von
Rachitis sind; diese Kinder bekommen
im ersten Jahr nur die Brust, auch die
spätere Ernährung ist cholesterinreich.
Die Folgezustände bei Cholesterin-Karenz
stehen mit dem Tierexperiment im, Ein¬
klang. Das aus Gallensteinen durch Alko¬
hol-Extraktion gewonnene Cholesterin
Wurde längere Zeit verabreicht in Tages¬
dosen von 0,15, in Milch suspendiert. Es
ist angezeigt bei allen Ernährungsstö¬
rungen nach fettarmer Ernährung und
bei allen Durchfällen, e. joei (Berlin).
(B.kl. W. 1921, Nr. 18.)
Die Behandlung der Pleura-Em¬
pyeme hat aus der Kriegs- und Grippezeit
neue Erfahrungen gewonnen, die W. John
(Münchner chirurgische Klinik),eingehend
bespricht. Daß die chirurfrische Behand¬
lung wie früher den ersten Platz einnimmt,
bleibt außer Zweifel, aber sie sollte sich
nient bloß mit ■'Entleerung aes Exsudats
begnügen, sondern als wichtigstes Ziel
die Wiederentfaltung der Lunge und die
Vermeidung einer partiellen oder totalen
Empyemresthöhle vor Augen haben. Von
aen verschiedenen Empyemen, den trau¬
matischen, autochthonen, para- und meta¬
pneumonischen, den Empyemen bei Lun-
genabseeß und -gangrän und den durch
Perforation entzündlicher Prozesse aus
der Nachbarschaft entstandenen Ergüssen
neigen einige zur Selbstheilung: Durch¬
bruch unter die Haut oder — besonders
bei den interlobäien Empyemen — in
einen Bronchus. In dor Regel aber würde
der Patient ohne Behandlung an Infektion
oder Mediastinalverdrängung zugrunde
gehen. Die Therapie gestaltet sich dann
folgendermaßen: Führt einmalige oder
wiederholte Punktion nicht zur Entfiebe¬
rung und Resorption, so wird zur Thorako¬
tomie geschritten mit dem allgemeinen
Plan einer schonenden Entlastung der
Pleuia bei gleichzeitiger Blähung aer
Lunge, um einen offenen Pneumothorax
möglichst zu vermeiden. Nach ausgiebiger
Punktion am Vorabend wird am nächsten
Tage in Lokalanästhesie und unter Druck¬
differenz von 10 bis 12 ccm Wasser durch
358
Die Therapie der Gegenwart 1921
September
Resektion von zwei bis drei Rippen breit
eröffnet und entleert. Unter Belässung
eines gewissen Zwischenraums zwischen
geblähter Lunge und parietalem Brustfell
Einführung eines großen Mikulicztampons
und Anlegung eines durch Mastix be¬
festigten abdicTitenden Perthesschen Bill-
rothbattistverbandes. Nach etwa drei
Tagen unterWasserdruckVerbandwechsel,
desgleichen wieder nach acht bis 14 Tagen.
Nach etwa 2% Wochen Abnahme des
abdichtenden Verbandes. Gelegentliche
kleine Komplikationen, wie z. B. Reten¬
tionen durch zu schnelle Verklebung oder
Temperaturanstiege durch zu lebhafte
Resorption seitens der geblähten Lunge,
sind leicht zu beseitigend Das Verfahren
ist besonders bei para- und metapneump-
nischen Empyemen angezeigt; bei trau¬
matischen, Absceß- und Gangränempy¬
emen sowie bei stark verdrängenden Er¬
güssen erst einige Tage nach gewöhnlicher
Thorakotomie. Das Druckdifferenzver¬
fahren bewährt sich besonders dadurch,
daß es die entstellenden und oft lebens¬
gefährlichen plastischen Nachoperationen
überflüssig macht. Was für die nicht¬
tuberkulösen Empyeme Ziel der Behand¬
lung ist: die Wiederentfaltung der Lunge,
muß bei den tuberkulösen Empye¬
men vermieden werden. Die Thorako¬
tomie hat aber hier noch die andere
Gefahr, den Weg für eine schwere Misch¬
infektion der Pleura zu bahnen. Nur wo
diese besteht, darf die Thorakotomie
ausgeführt werden, indem hier'die Gefahr
der allgemeinen Sepsis höher zu veran¬
schlagen ist, als die Gefahr der fort¬
schreitenden ^Lungentuberkulose. Man
Wird auch hier mit Tamponade vergehen,
die gleichzeitig auf die Lunge kompri¬
mierend und auf das Exsudat absaugend
wirkt. Die bald nach der Thorakotomie
aasgeführte Thorakoplastik zeitigt hier
und da gute Erfolge. Ein anderer Weg
ist der von Spengler angegebene, lach
ergiebiger Punktion auren eine exfcra-
pleurale Plastik den Brustkorb so einzu¬
engen, daß sich ein neues Exsudat aus
Raummangel nicht mehr oder doch nicht
zur bisherigen Größe entwickeln kann.
Gleichzeitig wird dadurch die Lunge in
Retraktion gehalten. Seröse und bland¬
eitrige Exsudate soll man punktieren und
durch Einspritzungen von Lugolscher
Lösung keimärmer zu machen suchen.
Mischinfizierte Empyeme wird man thora-
kotomieren, um die drohende Intoxikation
abzuwenden. Die plastische Deckung des
Defektes wird man in solchen Fällen mihr
dosieren, wenngleich die Aussichten auf
Heilung gerade hier ungünstig sind.
E. Joel (Berl.n).
(M. m. W. 1921, Nr. 12 u. 18.
• Die Nebennierenreduktion in der
Behandlung der genuinen Epilepsie, über
welche in dieser Zeitschrift ausführlich
berichtet worden ist (S. 260), ist neuer¬
dings von zwei.-verschiedenen Chirurgen
mit sehr verschiedenem Erfolg ausgeführt
worden. Steinthal (Stuttgart) berichtet
über sieben Fälle von genuinei Epilepsie,,
welche bisher erfolglos mit den bekannten
Mitteln behandelt worden sind und b^i.
denen er sich zu dem immerhin recht
schweren Eingriff entschlossen hat. Es
handelte sich um fünf männliche und zwei
weibliche Individuen, die im Alter von
15 bis 29 Jahren standen. Bei einem
Kranken war ein Kopftrauma voran¬
gegangen, welches vielleicht für die Epi¬
lepsie als ursächliches Moment in Frage
kam, die anderen zeigten die echte genuine
Form. Die Dauer der Erkrankung betrug;
stets mehrere Jahre. Alle Fälle waren
unter die schweren Formen zu rechnen.
Steinthal hielt sich bei der Wahl des
Operationsverfahrens an die Vorschriften
von Küttner, der nach Wegnahme der
zwölften Rippe zunächst die Niere und
dann an deren oberen Pol die Nebenniere
freilegt. Der Autor gibt diesem Weg
vor dem transperitonealen den Vorzug,,
in erster Linie deshalb, weil das Peri¬
toneum geschont bleibt, dann aber auch,
wegen der Möglichkeit einer zweckmäßi¬
gen Drainage im Falle einer nicht voll-
komm^men Blutstillung. Nur vier Fälle
heilten reaktionslos, zweimal mußte wegen
Verhaltung die Wunde wieder geöffnet
werden, bei einem weiteren Kranken, bei
dem die Nierenvene bei der Operation
verletzt worden war, mußte die Niere
später entfernt werden. Die Haupt¬
schwierigkeit der Operation liegt darin,,
daß es nicht leicht ist, die Nebenniere
vollkommen zu entfernen, ohne daß Reste
Zurückbleiben. In keinem der Fälle
ist ein durchschlagender Erfolg
erzielt worden. Wohl zeigte es sich,
daß die nächste Zeit nach der Operation
die Anfälle zunächst ausblieben, aber
dann stellten sie sich wieder genau wie
früher ein. Zusammenfassend erklärt
nach diesen Erfahrungen der Autor, daß-
die Nebennierenreduktion bis jetzt keines¬
wegs als ein Heilmittel gegen die genuine
Epilepsie betrachtet werden kann.
Zu dem gleichen Gegenstand schreibt
Sändor (Ujpest, Ungarn). Er hat vier
September
Die Therapie der Gegenwart 1921
359
Fälle operiert. Auch dieser Autor hebt
die Schwierigkeiten der Operation hervor.
Er ei lebte zweimal im Anschluß an die
Operation pneumonische Erscheinungen
mit Empyem; einer dieser Kranken ist
gestorben. Bei zwei Kranken, deren Be¬
obachtungszeit allerdings nur eine sehr
kurze ist (vier Wochen beziehungsweise
zwölf Tage), haben sich bisher keine
neuen Anfälle gezeigt. Bei einem weiteren
Kranken, bei dem die Operation mehrere
Monate zurückliegt und bei welchem eine
schwere schon zur Verblödung führende
Form bestand, sind die Anfälle sehr selten
geworden und auch in ihrem Charakter
wesentlich milder als vor der Operation.
Immerhin gibt Sändor selbst an, daß
seine Beobachtungszeit für eine Beur¬
teilung eines wirklichen Erfolges zu kurz
ist, glaubt jedoch, daß man nicht nur
berechtigt, sondern verpflichtet ist, auf
diesem verheißungsvollen Wege fortzu¬
fahren. Havward.
(Zbl. f. Chir. 1921, Nr. 25.)
Ernst Müller veröffentlicht aus der
Leipziger Klinik einen Fall von Fraktur
beider Großzehensesambeine am linken
Fuße. In den meisten Fällen, besonders
beim Fehlen eines vorausgegangenen Trau¬
mas ist die Differentialdiagnose recht
schwierig, ob es sich um eine Fraktur
oder eine kongenitale Teilung^ dieses klei¬
nen Knochens handelt. Stumme hat
deshalb folgende Unterscheidungsmerk¬
male zusammengestellt:
1. Die Frakturen zeigen scharfe Ecken
und Spitzen, die kongenitalen Tei¬
lungen dagegen Abrundungen an den
einander zugekehrten Trennungs¬
linien.
2. Den Frakturlinien fehlt die Corti-
calis, die Teilungen haben sie.
3. Die Bruchstücke können die mannig-
fachsteForm zeigen, die kongenitalen
haben fast stets rundliche oder ovale
Form.
4. Die Bruchstücke werden nach einiger
Zeit Zeichen einer Verheilung dar¬
bieten bzw. ganz verwachsen. Die
kongenitalen Teilungen bieten bei
wiederholten Aufnahmen immer das
gleiche Aussehen.
Im vorliegenden Fall konnte hiernach
einwandfrei eine Fraktur festgestellt
werden. Außerdem waren noch die
Grundphalangen I—IV sämtlich frak-
turiert. (Patienten war ein vier Zentner
schweres Eisenstück auf den linken Fu߬
rücken gestürzt.) Besonders erwähnens¬
wert ist hier die Fraktur beider Sesam-
beine. ^-Willibald Heyn (Berlin).
(Zschr. f. Chir. Bd. 162, H. 5/6, S. 392.)
Neuerdings berichtet Mayer-Bisch .
(Med. Klinik Göttingen) über die erfolg¬
reiche Behandlung chronisQn deformieren¬
der Gelenkerkrankungen mit Schwefel,
welche in Frankreich seit zwei Jahren
.sehr empfohlen wird. Angewandt wurde
1,0 g Sulfur, depurat. in 100,0 g Ol.
Olivarum, wovon intraglutäal in Ab¬
ständen von sechs bis sieben Tagen zu¬
nächst je 2 ccm danach allmählich über
5 bis 10 ccm injiziert wurde. Die Injek¬
tionen wurden so häufig wiederholt, als
es der Zustand des Patienten erforderte.
Diese Behandlungsweise wurde in 15 Fäl¬
len, und zwar bei primär chronischer
Arthritis und Osteoarthritis deformans,
bei Polyarthritis chronica rheumatica und
bei chronischer Versteifung der Wirbel¬
säule teilweise mit sehr gutem Erfolg;
angewandt. *'12 bis 24 Stunden nach der
Injektion trat bei allen Patienten Fieber
(bis 39 ®) mit schwerem Krankheitsgefühl
auf. An der Injektionsstelle gelbliche Ver¬
färbung der Haut und im Urin Urobilin.
Mit Beginn des Fiebers Nachlassen der
Schmerzen in aen Gelenken und Zunahme
der Beweglichkeit. Entfieberung trat
nach 24 bis 48 Stunden ein. Bei erneuter
Injektion Nachlassen der Reaktion ohne
Beeinflussung des therapeutischen Effekts^
Nur in einem Falle mußte wegen un¬
günstiger Beeinflussung des Allgemein¬
zustandes von der Kur Abstand genom¬
men werden.
Es wurden von fünf Fällen von primär
chronischer Arthritis vier völlig be¬
schwerdefrei; bei einem Falle von Osteo¬
arthritis chronica deformans wurde keine
Besserung erzielt, ebenso in einem Falle
von Osteoarthritis deformans des Hüft¬
gelenks; vier Fälle von chronischer Poly¬
arthritis rheumatica wurden geheilt. Bei
einem Falle von subakuter Arthritis
rheumatica trat trotz der Schwefelbehand¬
lung ein Rezidiv aus. Bei drei Fällen von
chronischer Versteifung der Wirbelsäule
wurde einer fast völlig beschwerdefrei,
zwei etwas gebessert. Mithin erscheinen
für die Schwefelbehandlung geeignet alle
Fälle von primär chronischer Arthritis,
chronische Arthritis rheumatica und be¬
dingt chronische Versteifungen der Wir¬
belsäule, dagegen ungeeignet die Fälle
von Osteoarthritis deformans, die sich
hauptsächlich auf die gioßen Gelenke
lokalisiert. E. Borchart (Berlin).
(M.m. W. Nr. 17.)
360
Die Therapie der Gegenwart 1921
September
Diagnostische Irrtümer auf gynä¬
kologischem Gebiete werden nach Peter-
son dadurch begangen, daß man nicht
daran denkt, daß Abdominalorgane ver¬
lagert sein können. An der Hand von fünf
Fällen wird gezeigt, welche Fehldiagnosen
gestellt werden können, wenn man nicht
an einen abnormen Situs denkt. So wurde
der durch eine Öffnung im hinteren
Scheidenraum vorgefallene ampulläre Teil
der Tube mit einem Granulom verwechselt,
mehrmals wurden Nierencysten für Ova-
rialcystome angesehen; bei einer Wander¬
milz, welche auf einem retroflektierten
Uterus saß, wurde die Diagnose auf Myom
gestellt. Am Schluß seiner Arbeit kommt
Petersen zu folgenden Schlußfolge- i
Tungen: Irrtümer in der gynäkologischen
Diagnose, welche durch dislozierte Or¬
gane entstehen, sind nicht ungewöhnlich,
wenn auch die Literatur hierüber wenig
berichtet; daß sie Vorkommen, ist da¬
durch zu erklären, daß oft Oberflächlich¬
keit und vorgefaßte Meinungen vor¬
herrschen, wodurch wichtige Angaben
in der Anamnese und physikalische Be¬
funde übersehen oder unbekannt sind.
D,em für die Patientin oft verhängnisvollen
Übel kann dadurch abgeholfen werden,
daß sämtliche diagnostischen Hilfsmittel
herangezogen werden. In jedem Falle
sollte eine Diagnose gestellt und schrift-
hch fixiert werden, um aus Irrtümern,
die sich bei der Operation heraussteilen,
2 u lernen.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(Amer. Journ. of Obst, and Gyn. 1920, Nov.).
Zum Kapitel der interstitiellen Drüse
nimmt Meyer auf Grund seiner lang¬
jährigen Forschungen Stellung. Es gibt
nach seiner Meinung beim Menschen
eine solche Drüse überhaupt nicht
und für ihn ist Pubertätsdrüse nur
ein leeres Schlagwort. Wenn in Be¬
tracht gezogen wird, daß zur Aus¬
bildung sekundärer weiblicher Merkmale,
der körperlichen und geistigen, keine
• Ovarien notwendig sind, und daß die
Funktion der Thecazellen, aus denen an¬
geblich diese Drüse besteht, unbekannt,
ja die Bedeutung für den übrigen Körper
höchst fragwürdig ist, so wird man den
diesbezüglichen Veröffentlichungen gegen¬
über recht skeptisch sein. Was nämlich
als interstitielle Drüse geschildert wird,
ist nichts anderes, als eine Masse völlig
zurückgebildeter, sehr bald kernloser Zell¬
reste, deren Lipoidgehalt keine Funktion,
sondern eine schwere Resorbierbarkeit
erklären läßt, Meyer erklärt ausdrück¬
lich, daß eine Pubertätsdrüse beim Men¬
schen in Gestalt irgendwie auffälliger
Thecamengen oder einer echten Zell¬
anhäufung bis jetzt noch nicht nach¬
gewiesen worden sei, und daß ihre Un¬
wichtigkeit für die Weibwerdung zur
Genüge daraus hervorgehe, daß weibliche
Wesen ohne Ovarien und ebensolche mit
Hoden zur vollen Entwicklung an Körper
und Geist kommen.
Pulvermacher (Charlottejiburg).
(Zbl. f. Gyn. 1921, Heft 17.)
Über die Erfahrungen mit dem Loose¬
filter bei der Strahlenbehandlung des
Brustkrebses, das im Gegensatz zu den
verschiedenen Metallfiltern aus Metall¬
salzkristallen besteht, berichtet Dr. H.
Hirsch. Er stellte fest, daß die Erfolge
bei der Behandlung unter Loosefilter
sich in keiner Weise von den mit der bis¬
herigen Technik erreichten unterscheiden.
Besonders sah Verfasser keine besondere
Einwirkung auf den Brustkrebs, auf die
Loose vorzüglich hingewiesen hatte.
Max Cohn.
(Strahlenther. Bd. XII, Heft II.)
!
Über die zweite Billrothsche Methode
der Magenresektion und ihre Resultate
berichtet W. F. Suermondt aus der
Leidener chirurgischen Klinik (Prof.
Zaaijer) an der Hand von 100 operierten
Fällen, von denen 82 Fälle Ulcera-, 14Car-
cinom- und 4 Ptosis-Erkrankungen be¬
trafen. 50 Fälle konnten genau nach¬
untersucht werden. Verfasser ist der An¬
sicht, daß, wenn man schon die Ulcera
chirurgisch angeht, die Resektion nach
Billroth II vor allen anderen Methoden
den Vorzug verdient. Die besten Ergeb¬
nisse gibt die Modifikation nach Reichel,
wobei der Magenstumpf, sei es im ganzen
— oralis totalis —, sei es teilweise — ora-
lis inferior —, retrokolisch mit der ober¬
sten Jejunumschlinge verbunden wird,
die dann möglichst kurz genommen wird.
Geht dies Verfahren nicht, mache man
eine G. E. antecolica oralis ohne Entero-
anastomose. Beim Anlegen der G. E. re-
trocolica muß auf gehörige weite Mobi¬
lisierung der kleinen Kurvatur und darauf
geachtet werden, daß der Darm ohne Ab¬
knickung oder Verdrehung längs des Ma¬
genstumpfes läuft. Dadurch ist in dem
einen Fall die Öffnung mehr nach links,
im anderen mehr nach rechts gerichtet.
Sowohl bei der Resektion wie bei der Aus¬
schaltung bekommt man niedrige Säure¬
werte. Hierdurch wird die Rezidivgefahr
bedeutend herabgesetzt. Die nachunter-
September
Die Therapie der Gegenwart 1921
361
suchten Patienten wiesen größtenteils
namhafte Gewichtszunahme auf.
Willibald Heyn (Berlin).
^ (Zschr. f. Chir. Bd. 162, H. 5/6, S. 299.)
^"Prof. Langstein bespricht auf Grund
der eigenen Erfahrungen die Indikationen
für die eventuelle Operation des kind¬
lichen Pylorospasmus. Die chirur¬
gische Behandlung soll nur bei schweren
Fällen Anwendung finden. Die leichteren
Formen, bei denen das Erbrechen keine
starken Dimensionen zeigt, bei denen die
Kinder niemals so entkräftet werden, daß
ihre Saugkraft an der Brust erlahmt,
können bei zweckmäßiger Technik der
Ernährung in 8—12 Wochen restlos zur
Heilung kommen. Man wird sie nicht den
Gefahrenchancen einer Operation aus-
setzeji. Von den schweren Fällen ist ein
Teil auch bei zweckmäßigster Behandlung
und Pflege nicht zu retten, ein anderer
Teil, der ein langes Krankenlager durch¬
zumachen hat, hat nur Aussicht auf Ge¬
nesung, wenn die notwendigen For¬
derungen der Therapie und Pflege pein-
lichst durchgeführt werden. Mögen auch
die Gefahrenchancen der Operation nicht
völlig beseitigt sein, ihr Prozentsatz an
Todesfällen ist nicht größer als bei bester
innerer Behandlung, die einen außer¬
ordentlichen, kostspieligen Apparat viele
Wochen hindurch erfordert, während die
Operation das Krankheitsbild in Kürze
beheben kann. Es gilt, schnell zu einem
Urteil zu kommen über den voraussicht¬
lichen Verlauf des Krankheitsfalles, denn
durch Verschleppen könnte das Kind zu
einem Inanitionszustand kommen, der
es für operativen Eingriff ungeeignet
werden läßt Als schwer gilt ein Fall,
wenn das Erbrechen schon sehr früh auf-
tritt, sich rasch steigert, und bereits am
Ende der dritten Lebenswoche ein voll
entwickeltes Krankheitsbild zeigt; außer¬
dem dann, wenn die zwei Tage hindurch
fortgesetzte Wägung des Erbrochenen in
vorher abgewogenen Speitüchern ergibt,
daß 2/3 und mehr der aufgenommenen
Nahrungsmenge erbrochen wird; schlie߬
lich dann, wenn das Leiden familiär auf-
tritt.
Wenn auf Grund dieser Kriterien der
Fall als ein schwerer angesehen werden
muß, so ist der Versuch einer Pylorus-
sondierung gerechtfertigt. Gelingt sie,
so ist von der Operation abzusehen,
andernfalls ist operativ vorzugehen. Rönt¬
genologische Untersuchung vor der Opera¬
tion ist zweckmäßig, doch nicht unbedingt
notwendig, um eventuelle Krankheits¬
ursachen auszuschließen, welche einen
Pylorospasmus Vortäuschen.
Die Entscheidung muß innerhalb 4—6
Tagen erfolgen, wenn der Fall frisch zur
Beobachtung kommt Bei wochenlangem
Bestehen der Erkrankung ist die Ent¬
scheidung schwieriger, da die Operation
bei der hochgradigen Abmagerung
schlechte Aussichten bietet Voraus¬
setzung für Überweisung in operative
Behandlung ist ein guter, schnell und
sicher operierender Chirurg, . Gewähr¬
leistung guter Nachbehandlung und
Pflege. Feuerhack.
(B. kl. W. 1921, Nr. 13.)
Die neuerdings mehrfach erörterte An¬
nahme, daß die kindliche Rachitis auf
einem Mangel an accessorischen Nähr¬
stoffen (Vitaminen) beruhe, wird von dem
Kinderarzt Klotz (Lübeck) bekämpft
Die Anhänger der Vitaminlehre glauben
sich bezüglich der Rachitis zu ihren Be¬
hauptungen berechtigt durch den Rück¬
schluß, daß gemischte Kost, frische Vege-
tabilien Rachitis heilen und sie verhüten,
ebenso die an fettlöslichen, antirachi¬
tischen Faktoren^)reichen Nahrungsstoffe:
Vollmilch, Sahne, Butter, Leberthran.
Ihre Theorie finden sie gestützt durch*
zahlreiche Beobachtungen an Menschen
und an Tierexperimenten, die jenseits
des Ozeans wie auch in Deutschland aus¬
geführt wurden. Von den Amerikanern
kamen aber Heß und Unger in bezug
auf den antirachitischen Faktor zu voll¬
kommen entgegengesetzten Anschauungen
wie ihre Landsleute. Heß und Unger
prüften an einem großen Kindermaterial
in New York die Behauptung der Gowland-
Hopkins-Schüler nach. Sie fanden, daß
eine an antirachitischen Faktoren sehr
reiche Nahrung (Vollmilch, Sahne, Butter
mit Leberthran) Rachitis nicht verhüten,
sie auch nicht heilen konnte. Im Gegen¬
satz dazu hatte eine an antirachitischen
Vitaminen arme, dagegen an den Faktoren
B und C reiche Nahrung (Magermilch,
Mehl, Hefeextrakt, Zucker, Apfelsinen¬
saft u. dgl.) keineswegs die erwartete
Häufung der Rachitis zur Folge. Als be¬
sonders bemerkenswerter Einwand gegen
die Avitaminosetheorie muß betont wer¬
den, daß gerade Säuglinge, die frühzeitig
mit Vollmilch, besonders roher Vollmilch
oder sahneangereichertef Vollmilch er¬
nährt sind — also den antirachitischen
Faktor reichlich erhalten haben —, an
Vergleiche die Übersicht über die Vitamine
in dieser Zeitschrift. 1920. S. 355.
46
362
Die Therapie der Gegenwart 1921
September
schwerster Rachitis erkranken. Ferner
kann häufig beobachtet werden, daß von
Kindern, die mit Milch von derselben
Frau ernährt worden sind, eins an Ra¬
chitis erkrankt, das andere von Rachitis
geheilt wird. Ferner ist einwandfrei nach¬
gewiesen, daß mit Quarzlichtbestrahlung
schwere Rachitis bei völlig gleichbleiben¬
der Ernährung in zwei bis drei Monaten
geheilt werden kann. Eine außerordent¬
liche Bedeutung hat die rachitische Dis¬
position. Das Erblichkeitsmoment in
gewissen Rachitikerfarnilien durchkreuzt
jegliche, auch intensivste • Prophylaxe.
Trotz vitam'inreichster Ernährung kann
der Ausbruch der Krankheit nicht ver¬
hütet werden.
Unter Berücksichtigung aller dieser
Tatsachen ist es verfrüht, die Rachitis
kurzweg als Avitaminose zu bezeichnen;
gilt es doch, noch zahlreiche Widersprüche
auf diesem Gebiet zu lösen.
(B. kl. W. 1921, Nr. 19.) Feuerhack,
Für die Therapie der Säuglingsanä-
mien erscheinen Mitteilungen von Marga
Frouzig aus dem städtischen Säuglings¬
heim in Breslau beachtenswert. Aus¬
gehend von der Annahme, daß die ge¬
mischte Kost, speziell die Gemüse, deren
heilsame Wirkung bei Säuglingsanämien
seit längerer Zeit bekannt ist, diese Wir¬
kung vermöge'ihres Gehaltes an Extrakt¬
stoffen auszulösen vermögen, wurden
sechs Fälle von typischer Säuglingsanämie
mit Mohrrübenextrakt Rubio (Aron
und Samelson) behandelt. Es handelt
sich um den sogenannten ,,chior-anämi-
schen“ Typ der Säuglingsanämien, wie
er mehr oder weniger ausgesprochen bei
vielen zu lange einseitig mit Kuhmilch
ernährten Kindern auftritt. Die Anämie
war in erster Linie eine Oligochromämie,
weniger war die Erythrocytenzahl ver¬
mindert, mehr reduziert der Blutfarb¬
stoff, Alle mit Mohrrübenextrakt be¬
handelten Kinder erhielten ausreichend
Milch, auch sonst reichlich Calorien, aber
in Form extraktstoffarnier Nahrungs¬
mittel (Zucker, Nährzucker, Mehl), aber
keinerlei Gemüse, kein Fleisch oder Brühe.
Die Extraktstoffe wurden ausschließlich
in Form von Rubio gegeben, von den Kin¬
dern sehr gern genommen und vorzüglich
vertragen. Die Kinder nahmen an Ge¬
wicht zu, sahen b'esser aus, zeigten größere
Lebhaftigkeit und ausgesprochene Hämo¬
globinvermehrung. Diese Resultate zei¬
gen, daß solche Anämien sehr gut thera¬
peutisch zu beeinflussen sind durch kon¬
zentrierte Extraktstoffe, ohne daß die
bisher nötige Milchreduktion erforderlich
wird, die einer Unterernährung gleich¬
kommt. Feuerhack.
(D.m. W. 1921, Nr. 15.)
Die starke Hitze und die kritiklose
Übertreibung der an sich nützlichen
Sonnenbäder haben auch in diesem Som¬
mer vielfach zu gefährlichen Erscheinun¬
gen von Sonnenstich geführt. Während
die Behandlung sich gewöhnlicb auf Ab¬
kühlung und Herzkräftigung beschränkt,
berichtet neuerdings Rehdes (Trave¬
münde) von aer Heilkraft wiederholter
Lumbalpunktionen. Er geht von der An¬
nahme aus, daß das serös zellhaltige
Transsudat der Hirnhäute sehr rasch bei
schwerer Insolation zu erhöhtem, oft
lebensgefährlichem Hirndruck führt, der
durch rechtzeitige Lumbalpunktion be¬
seitigt werden kann. Gleichzeitig glaubt
ei hierdurcn die von den Zellen gebildeten
toxischen Abbauproaukte zum Teil ab¬
leiten zu können. Rehdes Fall betraf
.einen 36jährigen Herrn, welcher nach
einem fünfstündigen Sonnenbad drei Stun¬
den später unter den schweren Sympto¬
men der Insolation erkrankte und weitere
zwei Stunden später in Behandlung kam.
er zeigte Insolationserythem und Ver¬
brennung zweiten Grades und war be¬
nommen; Brechreiz, Puls 48. Nacken¬
steifigkeit, laterale Augenbewegung un¬
möglich, Bulbi druckempfindlich. Lum¬
balpunktion (Anfangsdruck 330, End¬
druck 80, abgelassen 28 ccm, Liquor etwas
trübe). Nach der Punktion subjektive
Besserung', Sensorium klar. Nach 16
Stunden Wiederholung aer Lumbalpunk¬
tion wegen erneuter Beschwerden (Druck
100 bis 85, abgelassen 6 ccm, 92 Zellen,
vorwiegend Lymphocythen). Nach der
Punktion allgemeines Wohlbefinden. Am
dritten Krankheitstage Stauungspapille
links, Neuritis optici rechts. Am zwölften
Krankheitstage allgemeines Wohlbefin¬
den. Obwohl in einem solchen Falle
natürlich nicht zu sagen ist, ob der Patient
nicht auch ohne Lumbalpunktion genesen
wäre, wird man sich in gefahrdrohenden
Fällen von Insolation mit Hirndruck-
erscheiniingen doch mit Vorteil dieses
Verfahrens erinnern.
(M. Kl. Nr. 19.) E. Borchart (Berlin).
Ernst König gibt einen Beitrag zum
Nachweis aktiver Tuberkulose durch
die intracutane Eigenharnreaktion
(Wildbolz). Wildbolz^ Verfahren be¬
ruht auf der Annahme, daß in einem
‘September
^Die Therapie der Gegenwart 1921
363
Organismus, der eine aktive Tuberkulose
"beherbergt, Tuberkuloseantigene im Serum
circulieren und im Harn ausgeschieden
werden, was nach Latentwerden der Tu¬
berkulose nicht mehr geschieht. Wild-
bolz bezeichnet seine Reaktion als
specifisch. Lanz (Leysin) berichtet über
günstige Erfahrungen mit der Wildbolz-
schen Reaktion. König legte am Ober¬
arm drei intracutane Quaddeln an, zwei
mit dem Harn, eine als Kontrolle mit
Alttuberkulin (1 : 3000).
Nach Königs Erfahrungen ist die
Eigenharnreaktion nach Wildbolznicht
specifisch. Ihr positiver Ausfall ist
kein Beweis für aktive Tuberkulose, ihr
negativer Ausfall läßt Tuberkulose nicht
mit Sicherheit ausschließen.
Die Wildbolzsche Reaktion hat nach
K. noch keinen sicheren Beweis für die
Ausscheidung tuberkulinähnlicher Körper
im Harn erbracht. M.Borchardt.
(D. Zschr. f. Chir., Bd. 161, Heft 3/5.)
Thepapeutlsctier Meinungsaustauscli,
Aus der
Medizinischeu Klinik der Universität Breslau (Direktor &eli. Med. Rat Prof. Dr. Minkowski).
Über die Anwendung des Neucesols beim Diabetes insipidus.
Von Dr. Erhard Deloch.
OjDgleich bei der medikamentösen Be¬
handlung des Diabetes insipidus die Hy-
pophysenhinterlappenextrakte als das sou¬
veräne Mittel allgemein Anerkennung ge¬
funden haben, haften ihm doch einige
Mängelan, vor allem der teure Preis. Denn
wenn man auch mitunter bei geeigneter
Diät durch längere Behandlung mit Hypo¬
physenextrakten den Zustand der Wasser-
Tiarnruhrkranken auch über die Zeit der
Injektionen hinaus günstig beeinflussen
Rann, ist eine andauernde Besserung wohl
kaum zu erwarten. Es käme noch die
Zuführung von Hypophysenextrakt per os
in Frage, die aber, wie allgemein bekannt,
nicht einmal symptomatisch irgendwel¬
chen Einfluß auf den Krankheitsverlauf
hat. Es erschien daher berechtigt, ein
Arzneimittel zu erproben, das infolge der
Möglichkeit peroraler Zufuhr dem Pa¬
tienten auch ohne ärztliche Inanspruch¬
nahme, wenn auch nur symptomatisch,
.gewisse Erleichterung verschaffen kann.
Dieses Medikament ist das Neucesol
(Merck) Während bisher bei Durst¬
zuständen das C-sol, ein Pyridinderivat,
in der inneren Medizin von Umber, in
•der Chirurgie von Osterland und Dek-
ker empfohlen wurde, ist neuerdings von
Loewy und Wolffenstein durch Re¬
duktion des Cesols ^in neues Präparat,
Neucesol, hergestellt worden, das bereits
in kleineren Dosen wirken und weniger
lästige Nebenerscheinungen haben soll.
Pharmakodynamisch steht es dem Pilo¬
carpin am nächsten, zeigt aber nicht wie
dieses, selbst bei Leuten mit labilem vege-
Dieses, sowie Cesol wurde mir von der
Firma E. Merck (Darmstadt) freundlichst zur
Verfügung gestellt.
tativen Nervensystem die starke Wirkung,
insbesondere nie starken Schweißaus-
brauch, Erbrechen, Leibschmerzen. Wir
haben in drei Fällen von Diabetes insipidus
sowohl Cesol (0,2 : 1 in Form der In¬
jektion), als auch Neucesol in den Stärken
0,01, 0,025, 0,05 : 1 subcutan und zu 0,05
peroral (in Tablettenform) angewendet
und kommen zu folgendem Ergebnis:
1. Auf den Wasserhaushalt und die
Blutzusammensetzung haben weder Cesol
noch Neucesol einen wesentlichen Ein¬
fluß. Menge und specifisches Gewicht des
Harns, Molenkonzentration aes Harns und
Blutes zeigen keine wesentliche Verände¬
rung.
2. Die Magen-Darmsymptome wurden
nicht beeinflußt. Nach Loewy und
Wolffenstein soll das Neucesol die
Darmperistaltik erhöhen.
3. Günstig beeinflußt wird bis zu ge¬
wissem Grade das Durst- und Trocken¬
heitsgefühl im Munde, indem regelmäßig
nach der Daireichung für längere Zeit die
stark eingeschränkte Speichelsekretion in
Gang gebracht wird. Besonders bei einem
Patienten, der über sehr lästiges Trocken¬
heitsgefühl frühmorgens klagte, besserte
sich diese Erscheinung, wenn er abends
ein bis zwei Tabletten Neucesol nahm.
4. Mitunter :ritt leichte Schwei߬
absonderung auf, die aber als durchaus
angenehm empfunden wurde.
5. Was die Wirkung des Cesols und
Neucesols in der verschiedenen Dar¬
reichungsform und Dosierung miteinander
verglichen anlangt, so ist festzustellen,
daß die subcutane Zufuhr schnellere und
nachhaltigere Wirkung bei beiden Präpa-
46*
September
364
Die Therapie der Gegenwart 1921
raten zur Folge hatte, als die perorale
Darreichung. Ferner traten nach Cesol
(0,2) mitunter zehn Minuten bis eine halbe
Stunde dauernde Kopfschmerzen sowie
stärkere Schweißausbrüche auf. Auf Neu-
cesol sahen wir selbst in aer Dosierung
0,05 : 1 (bei subcutaner Injektion) nie
diese lästigen Nebenerscheinungen.
Wir kommen, demnach zu dem Schluß,
daß Neucesol sowohl in Form der Injek¬
tion (0,025 und 0,05 : I) als ganz besonders
in Form peroraler Darreichung bei der
Dauerbehandlung aes Diabetes insipidus
zu empfehlen ist. Sowohl tagsüber kann
es dem Wasserharnruhrkranken in ge¬
wisser Hinsicht Erleichterung verschaf¬
fen; besonders möchten wir aber Gaben
von ein bis zwei Tabletten Neucesol vor
dem Schlafengehen empfehlen, aa es bei
den Kranken, wie wir wiederholt beob¬
achten konnten, das Durstgefühl während
der Nacht herabsetzt, so daß aiese bei
mäßiger Wasseraufnahme am Abend ihren
Schlaf doch nicht so oft zu unterbrechen
gezwungen sind. Betreffs der Tagesdosis
sahen wir bei Darreichung von fünf, sechs
bis acht Tabletten (0,25 bis 0,4 g) pro dfe
(auch mehrere Tage hindurch) keine
irgendwelche üble Nachwirkung. Tech¬
nisch sei noch bemerkt, daß die Tabletten
am besten in Fläschchen mit paraffinier¬
tem Korken (wie sie auch von der Firma
geliefert werden) aufzubewahren sind, «da
sie sehr hygroskopisch sind und, der Luft
ausgesetzt, leicht zerfallen.
Literatur: Loewy und Wolffenstein, Th.
d, G. 1920. —Umber,Th. d. G. 1919. — Decker^
M. m. W. 1919. — Osterland, M. m. VV. 1920-
Aus der I. chimrgisclien Abteilung des städtischen Rudolf-Vircbow-Krankenbauses Berlin-
.... . (Direktor: Prof. Dr. R. Miiksani)
Zur Herstellung
eines haltbaren, gebrauchsfertigen Lokalanaesthetikums.
Von Dr. Friedrich von Delbrück.
Seit den ersten Anfängen der örtlichen
Betäubung ist es das Ziel pharmazeuti¬
scher Bestrebungen gewesen, ein Lösungs¬
mittel für Novocain-Adrenalin zu finden,
das eine möglichst lange andauernde
Haltbarkeit der Lösung garantiert. Ge¬
lang es auch, Novocain allein in Lösung
haltbar zu machen, so gingen diese Ver¬
suche fehl, wenn der Lösung Adrenalin
zugemischt wurde. Das farblose Adre¬
nalin hat nämlich die Eigenschaft, sich
bei Anwesenheit minimaler Mengen Alkali
sofort in Oxy-Adrenalin umzusetzen, das
kenntlich an seiner rosaroten Farbe eine
Unwirksamkeit der Lösung verbürgt.
Man hat versucht, das in fast allen
Anästhesie-Lösungen sich abspaltende
Alkali unwirksam zu machen, indem man
offizinell einige Tropfen Salzsäure zu¬
setzte, was jedoch die ,,sogenannte phy¬
siologische Kochsalzlösung“ kaum phy¬
siologischer machen dürfte. — Da seit
kurzem eine bekannte Fabrik sogar ein
Präparat einer ,,unbegrenzt haltbaren“
Novocain-Adrenalin-Lösung in farblosen
Ampullen in den Handel bringt, dessen
Haltbarkeit durch das zehnfache (!) des
offizineilen Gehalts an freier Salzsäure
(0,1 %) hervorgerufen wird, erscheint es
mir nicht unwichtig, in einer Kombination
des Serumsalzes „Normosal“ mit Novo¬
cain-Adrenalin ein Anaestheficum ent¬
deckt zu haben, daß außer seiner Haltbar¬
keit den Vorzug hat, zugleich das un¬
schädlichste und wirksamste aller bisher
dargestellten Anaesthetica zu sein.
Die Herstellung geschieht auf folgende
Weise: In einem Erlenmeyer-Kolben wird
eine möglichst geringe Menge (20—40ccm)
Normosallösung gegossen, in die dann die
betreffende Anzahl Novocainsupremin-
Tabletten hineingeworfen wird. (Bei¬
spielsweise: für 500ccm 2%iger Anästhe¬
sie 80 Tabletten ,,A“ der Höchster Farb¬
werke.) Man läßt die Flüssigkeit im
Kolben einmal aufkochen, gießt sie sofort
in einen Meßzylinder und füllt diesen mit
kalter Normosallösung bis 500 auf. Man
hat nun eine farblose, unzersetzte licht¬
empfindliche Lösung, die ich in eine sterile,
braune, mit einem Mullpfropfen ver¬
schlossene Flasche abfülle und aufbe¬
wahren kann. 125 ccm dieser 2%igen
Stammlösungkann ich zwecks Herstellung
einer %%igen 375 ccm-Normosallösung
zugießen und ich habe 500 ccm %%ige
Anästhesie. Beide Lösungen sind nun
jederzeit gebrauchsfertig, und halten sich
mindestens eine Woche lang unzersetzt,
kenntlich daran, daß die Flüssigkeit
Wasserklar und farblos ist.
Auf meine Anregung hin sind die
Sächsischen Serumwerke damit beschäf¬
tigt, das pulverförmige Normosal mit
Novocain-Adrenalin derart zu kombi¬
nieren, daß man das Pulver nur in sterilem
September
Die Therapie der Gegenwart 1921.
36Q
Wasser zu lösen braucht, um eine stets
^gebrauchsfertige haltbare Anästhesie her¬
zustellen, wodurch meine jetzige Zube¬
reitungsweise, die ja kaum von der sonst
■üblichen abweicht, eine große Verein¬
fachung erfährt.
Während bisher vor jeder Operation
<was besonders bei eiligen äußerst störend
wirkte) das Anaestheticum jedesmal frisch
zubereitet werden mußte, steht nunmehr
jederzeit gebrauchsfertige Lösung in allen
Konzentrationen zur Verfügung.
Während bisher die oft schon nach
•einer halben Stunde völlig verdorbenen
Lösungen fortgegossen werden mußten,
ist ein sehr viel sparsamerer Anästhesie¬
verbrauch durch Benutzung meiner Zu¬
bereitungsweise garantiert.
Ich stellte innerhalb neun Wochen
zehnmal Anästhesielösung her, bei zwei
dieser Lösungen beobachtete ich nach Ab¬
lauf einer Woche eine Zersetzung. Mit
diesen Anästhesien Wurden 38 Ope¬
rationen in örtlicher Betäubung ausge-
Tührt.
Bei diesen 38'Fällen mußte bei fünf
Patienten Narkose zu Hilfe genommen
werden: bei einer Strumektomie, Weil die
Patientin äußerst nervös und ungebärdig
war, bei zwei Thorakoplastiken, bei denen
die Interkostalnerven statt mit 2%iger
mit %%ig€r Lösung blockiert waren, bei
einem Anus praeter bei Zerrung des
parietalen Bauchfells und im Verlauf
einer Sektio alta während Entfernung
eingekeilter Blasensteine.
Bei den übrigen 33 konnten wir fest¬
stellen,' daß nach Gebrauch meiner Lö¬
sung:
1. die Anästhesie sofort einsetzte und
sich die übliche Wartezeit von zehn
Minuten erübrigte;
2. daß die Tiefe der Unempfindlichkeit
sehr viel größer War, als bei unseren
früheren Lokalanästhesien mit NaCl-
Lösung;
3. daß man ungleich blutleererpperierte.
Diese auf den ersten Blick merkwürdig
erscheinenden Tatsachen, lassen sich leicht
erklären:
Da die ,,physiologische NaCl-Lösung“
nach den Berichten Straubs lähmend
a^uf die Zellfunktionen Wirken soll, muß
die Resorption des Anaesthesicums lang-*
sanier vor sich ,gehen, als wenn das
Anaestheticum auf die ihrer physiologi¬
schen Tätigkeit ungeschädigte Zelle trifft,
Wie das bei Einspritzung von Serumsalz¬
lösung der Fall ist. Daher die schnellere
Wirkung. Wird doch nach den Versuchen
von Eckstein die Normosallösung sehr
viel rascher resorbiert als die NaCl-Lösung,
folglich auch die in ihr enthaltenen Stoffe.
Da Adrenalin durch die gefäßver¬
engernde Wirkung einmal den Grad der
Unempfindlichkeit selbst erhöht, anderer¬
seits den Abtransport des Novocains ver¬
hindert; ist es klar, daß die Anästhesie,
tiefer, länger und unschädlicher sein muß,
wenn man ein chemisch völlig intaktes
Adrenalin einspritzt als eines, das (wie
bei der bisher üblichen Lösung) zum Teil
zersetzt ist und somit auch nur einen Teil
seiner Wirksamkeit hat.
Hierdurch wird auch die vollkomme¬
nere Blutleere der Gewebe erklärt.
Denken wir nach diesen Erwägungen
noch daran, daß im Gegensatz zur ,,phy¬
siologischen Kochsalzlösung“ Professor
Straubs Normosal keine Funktionsschädi¬
gung des Gewebes hervorruft, was bei
der Wundheilung doch recht erheblich
ins Gewicht fällt, dürfte eine Zubereitung
der Anästhesie mit Normosallösung in
Zukunft ein Erfordernis bedeuten.
Caseosanbehandlung in der dermatologischen Praxis.
Von Dr. H. Krösl, Innsbruck.
Das Caseinpräparat Caseosan hat sich
ganz besonders bei Ulcera mollia, veneri¬
schen Bubonen und bei lokalisierten
eitrigen Prozessen der Haut wie Furunkeln
und Abscessen sehr bewährt. Es sei mir
gestattet, im folgenden ganz kurz über
eine Anzahl von mit Caseosan behandelten
Fällen zusammenfassend zu berichten.
Angewendet wurde es vor allem bei den
gonorrhoischen Komplikationen. Bei der
Gonorrhoea ant. acuta wurde von einer
Anwendung des Präparates abgesehen,
da die Unbeeinflußbarkeit derselben durch
ähnlich wirkende, wie Collargolund Gono-
kokken-vaccine, erwiesen ist. Bei Fällen
von Urethritis gonorrh. posterior trat
nach den Injektionen eine Klärung der
zweiten Urinportion meist prompt ein,
doch war die Wirkung keine anhaltende,
nach Aussetzen der Injektionen traten
fast durchwegs Rückfälle auf. Auch bei
Epididymitis und Prostatitis war nicht
die gewünschte Wirkung zu erzielen. Da¬
gegen bewährte sich das Mittel sehr gut
366
Die Therapie der Gegenwart 1921
September
bei Ulcus niolle und venerischen Bubonen.
Die Ulcera reinigten sich sehr rasch und
zeigten bald die Tendenz abzuheilen. Bei
venerischen Bubonen trat oft nach den
Injektionen — besonders wenn dieselben
im Frühstadium begonnen wurden —
eine Resorption ein, ohne daß die Pa¬
tienten Bettruhe halten mußten. Kam
der Fall spät in Behandlung, so daß eine
Resorption nicht mehr zu erzielen war,
so habe ich den sicheren Eindruck ge¬
wonnen^ daß durch die Caseosanbehand-
lung die Reinigung und Abheilung der
inzidierten Drüse rascher erfolgte. Auch
hier gingen die Patienten bei ambulanter
Behandlung ihrem Berufe nach, die
Schmerzen im Entzündungsherd waren
geringer, das subjektive Wohlbefinden
wurde bedeutend gehbben. Selbstredend
wurde bei allen Fällen neben der Verab¬
reichung von Caseosan auch die lokale
Therapie eingeleitet und durchgeführt.
Bei eitrigen Prozessen der Haut, be¬
sonders bei Furunkeln und Carbunkeln,
waren die Erfolge sehr zufriedenstellend.
Auch hier ging die Erweichung und
schließliche Abstoßung der nekrotischen
Gewebsteile viel rascher vor sich als bei
den nur lokal behandelten Fällen, die
raschere Reinigung und das schnelle Er¬
scheinen gesunder Granulationen war
deutlich zu konstatieren. Besonders her¬
vorheben möchte ich noch einen Fall von
Purpura haemorrhagica der äußeren-Haut
und der Schleimhäute mit stark blut¬
haltigem Harn. Derselbe war schon
längere Zeit mit allen möglichen Medika¬
menten, zuletzt mit einer Serie von Elec-
trargolinjektionen erfolglos behandelt
worden. Er kam mit einer frischen
Gonorrhoea posterior zur Behandlung und
bekam zur Unterstützung der Therapie
derselben Caseosan. Nach einigen In¬
jektionen waren die Haemorrhagien an
den Beinen verschwunden, nach kurzer
Zeit war der Harn nicht mehr bluthaltig,
nach acht Injektionen war die Purpura
geheilt, ohne bis heute — nach viermonat¬
licher Beobachtungszeit — zu rezidi-
vieren.
Was die Technik der Verwendung an¬
belangt, so wurde das Präparat intravenös¬
verabreicht, und zwar in.die vorher ge¬
staute Cubitalvene in zweitägigen Inter¬
vallen. Da durch die intravenöse Dar¬
reichung eine bessere und raschere Aus¬
nutzung und Wirksamkeit des Mittels zu
gewärtigen war, gelangten kleinere Posen,
als bei intramuskulärer Injektion zur Ver¬
wendung, und zwar bei Männern be¬
ginnend mit 1 ccm, bei Frauen und
jugendlichen Individuen mit 0,5 ccm,,
steigend um 0,5 ccm bei jeder Injektion
bis 2 ccm pro dosi. Um das Auftreten
eines anaphylaktischen Shoks, wie er bef
Milchinjektionen von mehreren Autoren
beobachtet wurde, zu vermeiden, wurden
nie größere Pausen zwischen zwei auf¬
einanderfolgenden Injektionen gemacht
als zwei bis drei Tage, und war auch tat¬
sächlich kein einziges Mal ein solcher zu
beobachten, wie ich auch sonstige unan¬
genehme Nebenerscheinungen nie wahr¬
nehmen konnte. Gewöhnlich reagierten
die Patienten auf die erste Injektion mit
geringen Temperatursteigerungen, die mit¬
unter von Kopfschmerzen beglertet waren,
jedoch nie länger als einige Stunden an¬
hielten, die zweite und die folgenden In¬
jektionen wurden fast durchweg reaktions¬
los vertragen, ja, das subjektive Wohl¬
befinden war stets gebessert. -
Zusammenfassend möchte ich nun
sagen, daß die Verwendung des Caseosan
vor allem in der ,dermatologisch-venero-
logischen Praxis bei eitrigen Prozessen
indiziert ist, wo es allein eine raschere-
Einschmelzung eines bereits erweichten
oder erweichenden Herdes, wenn nicht
eine Rückbildung desselben bewirkt, also-
besonders bei Furunkeln, Carbunkeln,.
Abscessen, venerischen Bubonen und in¬
fektiösen Prozessen der Haut überhaupt.
Es soll mit diesen Zeilen kein ab¬
schließendes Urteil über die Verwendbar¬
keit und Wirksamkeit des Caseosan gefällt
werden, soviel läßt sich aber wohl heute
schon sagen, daß es eine wertvolle Be¬
reicherung unseres dermatologischen Arz¬
neischatzes darstellt.
Choleval^) bei infektiösen Hauterkrankungen.
Von Dr. med. Goldmann, Reinheim.
Die Häufigkeit und Hartnäckigkeit,
mit der die Furunkulose in letzter Zeit
auftrat, veranlaßte mich, nach einer
1) Besteht aus kolloidalem Silber und gallen¬
saurem Natrium.
xMcthode zu suchen, diese rasch und wirk¬
sam zu bekämpfen. Zu dieser Zeit teilte
Prof. Walther (Gießen) seine Behand¬
lung der Endometritis mit Choleval mit.
Ausgehend von dem Gedanken, daß die
September
Die Therapie der Gegenwart 1921
S67
Mischinfektionen der Haut vielleicht auf
analoge Art durch dieses stark bakterizide
Mittel zu beeinflussen wären, versuchte
ich das Choleval bei Furunkulose. Er¬
mutigend wirkten dabei die Prüfungs¬
ergebnisse des Cholevals von Du.faux
und -Bernhard gegenüber Staphylo¬
kokkenkulturen, sowie die mannigfache
desinfizierende Wirkung, die das Choleval
nach den Untersuchungen von Betz und
Walther, sowie Neumann bei Ruhr
ausübt. Am interessantesten waren für
mich die Veröffentlichungen von Pran-
ter, der das Choleval bei Ulcus cruris
und ekzematösen Hauterkrankungen mit
Erfolg verwandte.
Ich benutzte das, Choleval bei den
verschiedensten Formen der Furunkulose
und sonstigen Hauterkrankungen.
Beobachtungen an acht Kranken
ergeben, daß Choleval bei den verschie¬
densten Hauterkrankungen infektiöser
Natur, insbesondere bei Furunkulose,
eine auffallend rasche und sicher heilende
Wirkung ausübt, die zweifellos auf die
starke bakterizide Kraft des Mittels zu¬
rückzuführen ist. Es wirkt also nicht nur
gonokokkentötend, sondern hat eine eben¬
so stark abtölende Wirkung auf Staphylo¬
kokken und sicher auch auf Misch¬
infektionen verschiedenster Art. Es ist
2) Die Krankengeschichten haben der Redak¬
tion Vorgelegen; wegen des Raummangels wird
auf den Abdruck verzichtet.
anzunehmen, daß die vielseitig bakteri¬
zide Wirkung des Cholevals auf seiner
Doppelfunktion beruht, indem zunächst
das gallensaure Natrium den Z^ellkomplex
stört, keimtötend und adstringierend
wirkt, und so die Entzündungserreger
dem bakteriziden Silber zugänglich
macht.
Die Einfachheit seiner Applikation
und die Billigkeit machen das Choleval
bei seiner prpmpten Wirkung zu einem
wertvollen Mittel im Kampf gegen die
so oft jeder Behandlung trotzende Furun¬
kulose.
Es wäre noch darauf hinzuweisen, daß
die Wäsche durch ^raunfärbung geschä¬
digt wird. Zur Entfernung solcher
Flecken genügt Befeuchtung mit 10%iger
Lösung von unterschwefligsaurem Natron
(Fixiersalz) und nachheriges Auswaschen
mit Wasser. Bei Furunkulose an behaar¬
ten Körperstellen wird man zweckmäßig
zuerst enthaaren, wozu sich das C lasen-
sehe Mittel eignet:
Baryi sulfarati . . 50,0
AmyL _
Zinc. oxydat aa . 25,0,
das man vor Gebrauch mit warmem Was¬
ser zu Brei verrührt und auf die Haut
aufträgt.
Literatur: Walther, M. m. W. 1921, Nr. 4.
Dufaux, M. m. W. 1915, Nr. 39. Bernhard,
Zbl. f. Bakt. 1920, Heft. 1. Betz, M.m. W. 1920,
Nr. 13. S. Neumann, M. KI. 1918, Nr. 26.
Pranter, W. kl. W. 1920, Nr. 39. ,
II. Beitrag zur Lehre von dem infektiösen Ursprung des Carcinoms.
Von Dr. Emanuel Sachs, Hostomitz a. d. Biela.
Gestützt auf meine kleine statistische
Arbeit in der Prager medic. Wochen¬
schrift 1915 Nr. 9 gestatte ich mir, neuer¬
lich auf das gehäufte Auftreten von Car-
cinom in der kleinen Ortschaft Krzemusch
(974 Einwohner) die Aufmerksamkeit der
Ärzte zu lenken.
Vom Jahre 1915 an kamen folgende
Fälle von Carcinom zur Beobachtung:
a) in Krzemusch:
1. Frau L., Bergmannsfrau, 58 Jahre alt,
Carcinom ventriculi, t 1916-
2. Frau D., Maurersfrau, 62 Jahre alt, Car¬
cinom ventriculi, f ^916 (durch Suicid).
3. Frau R., Landwirtsfrau, 42 Jahre alt,
Carcinom oesophagi, f Januar 1921.
4. Frau K., Obergärtnersfrau, 62 Jahre alt,
Carcinom ventriculi, t April 1921.
5. Frau Kl., Hausdienersfrau, 53 Jahre alt,
Carcinom ovarii, t April 1921 (Werkskolonie).
6. Frau Sch., Bergmannsfrau, 47 Jahre alt,
Carcinom uteri, f 1921 (dz. im Duxer Spital).
b) In der fünf Minuten von Krzemusch ent¬
fernten Ortschaft Kniebitschken (15 Nummern)
starben :
7. Anton Ha., Bergmann, 52 Jahre, Car¬
cinom ventriculi et hepottis, j 1919.
8. Anton Häuf . . ., Landwirt, 72 Jahre,
Carcinom recti, f 1918.
9. F. Ho. . ., Bergmann, 60 Jahre, Car¬
cinom recti, t 1916.
Da die Orte Krzemusch und Knie-
bitschkeanur fünf Minuten von einander
entfernt sind und in gleichem Niveau
liegen, so können sie als zusammengehörig
und der Ausgangspunkt der Carcinomfälle
als auf gemeinsamer Grundlage beruhend
(Grundwasser?) betrachtet werden.
Man wende nicht ein, daß die im Jahre
1915 und oben beschriebenen neun Car¬
cinomfälle auf ein zufälliges Zusammen¬
treffen zurückgeführt werden können, daß'
auch anderwärts häufig Carcinom beob-
. Dk Therapie der Gegenwart. 1921, September
achtet wird und dann wieder längere Zeit Tätigkeit Carcinomerkrankungen nur
nicht. Der Umstand jedoch, daß Falll, ganz sporadisch vorkamen. Da die Ein-
3/4 und 6 in den an den Teich angren- wohner (meist Bergleute, Professionisten
zenden Häusern vorkamen, weist wieder- oder landwirtschaftliche Arbeiter) durch
um auf meine in der ersten Arbeit geäu- die ganzen 20 Jahre der Beobachtungsz^it
ßerte Ansicht hin, daß das Teich- oder unter den gleichen Bedingungen lebten
beim Teiche befindliche Brunnen- wie die in Krzemusch, in allen Ortschaften
Wasser beziehungsweise das. Grund- rpeines dichtbevölkerten Rayons zusam-
wasser das uns noch unbekannte m’engenommen nicht so viel Carcinonr-
yirus enthalte. Der in der Werks- fälle beobachtet wurden wie in dem Dörf-
kolonie (Fall 5) und die in Kniebitschken chen Krzemusch mit Kniebitschken
vorgekommenen Fälle (7, 8 und 9) weisen allein, so liegt doch für einen denkenden
auf eine durch das gleiche Grundwasser Arzt die Vermutung, man könnte schon
zu erklärende gemeinsame Infektions- sagen, die Gewißheit nahe, daß in diesem
quelle hin. letzteren Orte unbedingt ein Carcinom-
In allen diesen Fällen (man beachte in herd vorhanden sein müsse und daß es
Krzemusch nur Frauen, in Knie- nur einer gründlichen Untersuchung aller
bitschken nur Männer) ist hereditär in Betracht kommenden Faktoren (vpr
— bis auf Fall 6, deren’Vater Potator war allem des Grundwassers und Teichwas-
— nichts Belastendes nachzuweisen. Alle sers, sowie des Erdbodens) bedürfe, um in
diese Carcinomkranken lebten, solange diese so hochwichtige und heiß umstrit-
ich sie kannte — seit 20 Jahren — unter tene Frage über den Ursprung des Gar¬
den gleichen Bedingungen, Lues, Aus- cinoms Klarheit zu bringen. Es stehen
Schweifungen und dergleichen waren nicht mir als Landarzt weder Laboratorien noch
zu erweisen, die Lebensweise aller war sonstige wissenschaftliche Behelfe zur
als mäßig zu bezeichnen. Daß die oben .Verfügung, ich will, soweit ich imstande
angeführten Erkrankungen wiederum für bin, an Versuchstieren meine Beobach¬
eine Infektion im Orte sprechen, be- tungen sammeln und falls ein Ergebnis zu¬
weist der Umstand, daß in der Nachbar- tage tritt, später veröffentlichen, aber
gemeinde Nemetschken (viel tiefer gelegen, Sache der neugegründeten Krebsgesell-
•ca. % Stunde entfernt, mit der gleichen schaft in Prag wäre es, hier auf diesem
Einwohnerzahl und in der gleichfalls heißen Boden zu schürfen und zu
tiefer gelegenen Marktgemeinde Hosto- forschen, und vielleicht gelingt es
mitz (mit 4000 Einwohner) sowie in den meiner Anregung, den ersten Lichtstrahl
15 umliegenden Ortschaften während in das Dunkel des Carcinomursprungs
meiner mehr als 20 jährigen ärztlichen zu werfen.
Drehbare Liegehallen.
Von Sanitätsrat Karl Gerson, B^rlin-Schlachtensee,
Eine Behandlung Tuberkulöser ohne kaum in Frage kommen, und die höheren
Liegehallen ist heute nicht mehr denkbar. Kosten einer drehbaren Liegehalle fielen
Brehmer hat gezeigt, daß die natürlichen gar nicht ins Gewicht gegenüber aen Vor-
Heilfaktoren, Licht, Luft una Sonne, zur teilen für die Kranken. Denn infolge der
Heilung der Tuberkulose unentbehrlich längeren Besonnung könnte auch die
sind. Je länger diese natürlichen Heil- Behandlungszeit der Kranken abgekürzt
faktoren, vor allem die Sonne, täglich auf werden, weil' die Heilung ceteris paribus
die Kranken einwirken, um so besser sind in kürzerer Zeit zu erwarten wäre. An
die Erfolge. Die bisher übliche stabile sonnenlosen und windigen Tagen hätte
Bauart der Liegehallen eriaubt_die Be- die Drehbarkeit der Halle den Vorteil,
sonnung der Insassen täglich aber nur daß die Kranken vor scharfen Winden
eine gewisse Anzahl von Stunden. Um geschützt werden könnten, ohne ihr
nun die ganze Sonnenscheindauer Lager verlassen zu müssen. Die so be-
für die Kranken auszunutzen, liegt wirkte längere Ruhehaltung der Kranken
der Gedanke nahe, die Liegehallen dürfte gleichfalls ihre Genesung beschleu-
drehbar zu gestalten, um sie nach dem nigen.
Stand der Sonne einstellen zu können. Die drehbaren Liegehallen können
Technische Schwierigkeiten dürften dabei auch in mehreren Etagen errichtet werden.
Für die Redaktion verantwortlich Geh.Med.-RatProf.Dr. G.Klemperer in Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berlin W57.
!'xr.' 'jp.
1 ■■ 192 ?.
Die Therapie der Gegenwart
herausgegeben von
62. Jahrgang Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Q. Klemperer 10. Heft
Neueste Fdige. XXIII.Jälifg. . BERLIN Oktober 1921
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Eder & Co., jetzt Dr. Haase «5c Co., G. m. b. H., B<;i lin-Weißcnsee, über „.4maIah“-Präparate.
1921
herausgegeben von Geh. Med.-Rat ProL Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Oktober
Nachdruck verboten.
Aus der I. inneren Abteilung des Stadtkrankenbauses Friedrickstadt zu Dresden
(Prof. Dr. Päßler).
Zur Frage der Kieselsäurebehandlung bei Lungentuberkulose.
Von Dr. med. Max Roth.
Durch die Arbeiten Koberts und
seiner Schüler hat die Kieselsäuretherapie
der Lurigentuberkulose in den letzten
Jahren viele Anhänger gefunden, wenn
sie auch schon früher, zum Teil allerdings
unbewußt, getrieben wurde, aä zahlreiche
Lungen- oder Auszehrungstees alter Me¬
dizinbücher sich als außerordentlich SrOg-
haltig erwiesen haben. Im folgenden solh
vornehmlich auf Grund eigener Unter¬
suchungen und Beobachtungen, die Frage
nach den Grundlagen der Si 02-Therapie
einer kritischen . Betrachtung unterzogen
Werden.'
Die Si02 wurde bisher in den verschiedensten
Formen therapeutisch und experimentell verab¬
reicht. Die einfachste Darreichung besteht
zweifellos in einer möglichst Si02-haltigen
Kost. Kobert empfiehlt hierzu auf Grund
seiner Analysen als besonders geeignete Nahrungs¬
mittel Hirse und Gerste. In einem Teller Hirse¬
mus, der etwa 20 g trocknen Samens entspricht,
sind fast 100 mg Si02, in derselben Menge Gerste
in Form von Brot oder Grütze über 160 mg Si02
in löslicher Form enthalten. Gerstenmalz und
Gerstenbier enthalten ebenfalls beträchtliche Men¬
gen gut löslicher Si02. Außerdem stehen eine
Anzahl sehr SiOg-reicher Wildgemüse, von denen
besonders die Brennessel und die Ackermelde zu
nennen sind, in Form von Spinat oder Salat zur
Verfügung. Die Nahrungsmittelhot der Kriegs¬
jahre hat viele Kreise auf diese mit Unrecht
vernachlässigten Pflanzen aufmerksam werden
lassen. Kobert ist ferner für die Verabreichung
SiOg-haltiger Mineralwässer eingetreten. In
einem Liter der Glashäger Mineralquelle sind z. B.
53 mg SiOa enthalten. Andere Quellen sind nach
einer ebenfalls von Kobert mitgeteilten Tabelle
noch weit reicher an Si02,. die Wernerfeldquelle
in Brückenau soll s^ar 509 mg im Liter ent¬
halten. Weiter habeff’sich, wie schon erwähnt,
eine Anzahl von Tees als Si02-reich erwiesen,
jedoch ist ihr Si02-Gehalt je nach dem Standort
der Pflanzen und der Jahreszeit der Einsammlung
erheblichen Schwankungen unterworfen. In drei
Tassen der am meisten üblichen Teemischung aus
Herba Eqüiseti, Herba Galeopsidis und Herba
Polygoni sind 43bis 272mg Si02 gefunden worden.
Von anorganischen und organischen
Si02-Verbindungen erwies sich das zuerst
therapeutisch angewandte Nä-Wasserglas in¬
folge seines Gehaltes an überschüssiger Na-Lauge
als schädlich (Kobert), während das von Merck
hergestellte Natr. silic. puriss. als thera¬
peutisch verwertbar erkannt- wurde. Das Präpa¬
rat reagiert alkalisch, enthält aber.keine Na-Lauge.
47
Neuerdings hat jedoch Schuhbauer bei Fütte¬
rungsversuchen an weißen Mäusen festgestellt,
daß diese bei Verfütterung von etwa 0,1 mg des
Natr.. silic. puriss. Merck pro Gramm Körper¬
gewicht meist schon nach acht bis zehn Tagen
erkrankten und nach 14 Tagen bis drei Wochen
unter dem klinischen und pathologischranatomi-
schen Bilde einer Darmentzündung verendeten.
Schuhbauer nimmt an, daß sich bei Zutritt
von H 2 O durch hydrolytische Spaltung freie
Natronlauge im Darm bildet und ätzend auf die
Schleimhaut wirkt. Im Dünndarm soll infolge
der physiologischen alkalischen Reaktion des
Darmsaftes diese freie Natronlauge erst recht zur
Geltung kommen. In einer zweiten Versuchsreihe
stellte Schuhbaüer weiterhin fest, daß man
den Tieren bis zu 1 mg pro Gramm Körpergewicht
von einem neutralisierten, d. h. bis zur neutralen
Reaktion der Lösung mit einer physiologisch un¬
wirksamen Säure versetzten Merckschen Natrium-
Silicat ohne schädliche Wirkung verfüttern kann.
In. Verbindung mit einer Arbeit von Breest
konnte gleichzeitig gezeigt werden, daß die’ Re¬
sorption des Merckschen Präparats’ durch die
Neutralisation erhöht wird. Breest hat gleich¬
altrigen, engverwandten weißen Mäusen zum
Grundfutter verschiedene Si02-Präparate zu¬
gesetzt und durch Aschenanalysen der ganzen
Tiere feststellen können, daß der SiO 2 -Gehalt des
Körpers durch geeignete Si02-Zufuhr mit dem
Futter erhöht werden kann. Die Mengen der
zurückgehaltenen. Si 02 sollen gering sein, er¬
scheinen aber doch bedeutend, wenn man berück¬
sichtigt, daß der Si02-Gehalt normaler weißer
Mäuse etwa 1 mg, der nach SiOg-Fütterung ver¬
aschter Mäuse aber 3,5 bis 4 mg betrug. Da es
sich bei diesen Versuchen um gesunde Tiere
handelte, bleibt die Frage offen, ob bei. einem
kranken Organismus die Verhältnisse anders
liegen — sei es im Sinne einer erhöhten Speiche¬
rung oder aber im Sinne einer „Deminerali¬
sierung“. Ferner stellt Breest in seiner Arbeit
fest,, daß Si02 in Hydratform vom Organismus
nicht resorbiert wird.
Eine Reihe fester Kolloider, aber an AmylOt
dextrin beziehungsweise Eiweiß gebundener Prä¬
parate (koll. Si02-Eivveiß, koll. Si02-Amylo-
dextrin und koll. Si02-Kasein-Metaphos-
phat) hat Zuckmayer unter gleichen Versuchs¬
bedingungen am Menschen geprüft und — nach
der Ausscheidung im Harn zu urteilen — be¬
sonders vorteühafte Resorptionsverhältnisse für
das letztgenannte Präparat gefunden, das den
anderen Präparaten auch dadurch überlegen sein
. soll, daß es im Magensaft unlöslich ist, den Magen
nicht reizt, und unverändert an die Resorptions¬
stelle im Darm gelangt. Das Präparat ist identisch
mit den Si 1 icol-Tabletten- der Lecinwerke-
Hannover, und ist insbesondere von Kühn
therapeutisch verwendet und empfohlen worden.
370 ßk Therapie der
Jede TaMette: enthält 0,J g koH. SiOa:. Kühn:
hat sich nach neueren Mitteilungen auch der Dar¬
reichung reiner Si02 in kolloidalem Zu¬
stand zugewendet. Er injizierte jeden zweiten
Tag instramuskulär 0,5 bis 2,0 ccm einer von den
Lecinwerken-Hanriover hergestellten 0,8 bis 1 pro-
zentigen Lösung. Das würde einer Dosis von
.4 bis 20 mg SiOz pro injectione entsprechen.
Außer geringer Schmerzhaftigkeit und schnell
schwindender Infiltration wurden keine Nachteile
beobachtet.
Zuckmayer hat bei seinen Untersuchungen
gefunden, daß. frische kolloidale SiOa am schnell¬
sten und ausgiebigsten von allen untersuchten
Präparaten im Harn ausgeschieden wurde (bis
69,7 % der Eingabe).
Bedenken gegen die therapeutische Verwend¬
barkeit der kolloidalen Si 02 ließen sich aus den
Arbeiten von Alessaudrini und Scala über die
Ätiologie und Pathogenese der Pellagra herleiten.
Diese Autoren sehen nämlich als Ursache der
Pellagra eine chronische Säureschädigung des
Organismus mit Störungen im Mineralstoff¬
wechsel, hervorgerufen durch kolloidale Lösung
der Si02 im Trinkwasser der Pellagragegenden.
Im Tierversuch sollen bei Kaninchen, Meer¬
schweinchen, Hunden nnd Affen nach Verab¬
reichung von Wasser aus Pellagragegenden und
ebenso nach oraler, intraperitonealer und sub-
cutaner Zufuhr von kolloidaler Si02 die klinischen
und anatomischen Kennzeichen der Pellagra auf-
treten. Eine Bestätigung dieser Ansichten ist
unseres Wissens bisher nicht erfolgt.
Die folgenden Untersuchungen be¬
schäftigen sich mit einem von der che¬
mischen Fabrik v. Heyden zur Verfü¬
gung gestellten Präparat, das nach den
Angaben der Herstellerin ca. 1 % koll.
Si Og und als Dispersionsmittel ein Ei¬
weißschutzkolloid enthält. Das Präparat
stellt eine schwer bewegliche, fast wasser¬
helle Flüssigkeit von saurer Reaktion und
uncharakteristischem, leicht adstringie¬
rendem Geschmack dar. Nach mehrtä¬
gigem Stehen bilden sich häufig am Boden
kleine Fetzen und Flocken, die aus aus¬
gefallener Si Og bestehen sollerti Die Halt¬
barkeit des Präparates ist demnach be¬
grenzt.
Seine intravenöse Zuführung schied
von vornherein aus. Sie kommt ja bei
einer Behandlung, die sich über Monate
und Jahre erstrecken soll, schon aus rein
praktischen Gründen kaum in Frage. Zu¬
dem bildet sich — Wie zu erwarten war —
im ReagenzglasversuchbeiZusatz vonkoll.
Si Og zu Blutserum, serösen Exsudaten
oder Transsudaten je nach deren Eiwei߬
gehalt ein mehr oder minder dicker Nie¬
derschlag, offenbar Albumin- und Glo¬
bulinverbindungen der Si 0^, Wie sie Ro¬
bert und Siegfried bei analogen Ver¬
suchen mit dem Merckschen Natr. silic.
puriss. nachgewiesen haben. Die Gefahr
embolischer Organschädigungen ist dem¬
nach außerordentlich groß.
Gegenwart 1921\ Oktober
Auf das .eigenartige Verhalten der
Si Og gegenüber den roten Blutkörperchen
kann hier nicht eingegangen Werden.
Kleinste Dosen Si Og können jedenfalls
den Ablauf biologischer Reaktionen (Hä¬
molyse) in weitgehendem Maße beein-
hussen.
Französische Arbeiten von Scheffler,
Sartory und Pellisier haben sich Übri-’
gens in neuerer Zeit mit der intravenösen
Injektion von kieselsaurem Natrium be¬
schäftigt, in der Absicht, dadurch eine
günstige Beeinflussung der Stoffwechsel-
vorgänge bei Arteriosklerose, besonders
in Fällen mit gesteigertem Blutdruck zu
erzielen. Es Wurde zunächst festgestelit,
daß Meerschweinchen pro Kilo Körper¬
gewicht 2/io mg ohne Schädigung ver-'
tragen. Bei mg zeigten sich Vergif¬
tungserscheinungen, bei 7io gingen die
. Tiere zugrunde. Beim Menschen Wurden
anfangs 0,001 mg pro. die, später 0,01 bis
0,015 mg ohne Nebenwirkungen mehr¬
mals injiziert, angeblich mit gutem Er¬
folge auf arteriosklerotische Beschwerden
wie Dyspnoe, Angina pectoris, cerebrale
Störungen. Es handelt sich also bei den
Versuchen dieser Autoren nur um ganz
außerordentlich geringe Dosen, von denen
man sich für die Therapie der Lungen¬
tuberkulose keinerlei Ergebnisse ver¬
sprechen könnte.
Mit dem v. Heydenschen Präparat
wurden versuchsweise einige intraglutä-
ale Injektionen von 0,5 cm (= ca. 5 mg
Si O 2 ) vorgenommen. Die Injektionen
schienen unmittelbar nicht besonders
schmerzhaft zu sein. Nach einigen Stun¬
den trat jedoch meist eine sehr erhebliche,
bis 24 Stunden und länger anhaltende
Schmerzhaftigkeit auf. Besonders magere
Patienten klagten sehr, konnten schlecht
auf der injizierten Seite liegen, Schlaf und
Gang Waren zum Teil stark beeinträchtigt.
Infiltrate konnten nicht gefühlt werden,
Wohl aber bestand sehr erhebliche Druck¬
ern pfindlichkeit. Die Durchführung einer
durch längere Zeit fortgesetzten Injek¬
tionsbehandlung erschien danach ausge¬
schlossen.
Subcutane Injektion beim Kaninchen
schien schon in kleinsten Mengen sehr
schmerzhaft zu sein.
Wir verzichteten nach diesen Erfah¬
rungen auf die parenterale Einverleibung
des Mittels und gaben es per os. Die Pa¬
tienten bekamen zweimal täglich 5 ccm
des Präparates, meist in einem Schluck
Kaffee. Dies entspricht einer Tagesmenge
von 100 mg Si Og. So konnte das Mittel
Oktobfi^f Die Therapie 4er Öegems^ärt* 1921
371
monatelang ohne Schwierigkeiten und
Nebenerscheinungen verabreicht werden.
Nur bei offenkundigen Darmerscheinungen
wird es anscheinend nicht gut vertragen.
Um auch leichteste NierSischädigun-
gen nicht zu ubersehen, Wurde der Urin
der ersten Fälle täglich mit der Sulfosali-
cylsäureprobe untersucht. Die Probe fiel
immer negativ aus.
Zur Behandlung kamen 20 Fälle aller
Stadien der Lungentuberkulose, meist
natürlich mehr oder minder schwere mit
und ohne Fieber, wie sie das Durch¬
schnittsmaterial einer Krankenhauslun¬
genstation'bilden. Die Hälfte der Fälle
Wurde — Worüber noch zu sprechen sein
wird — gleichzeitig mit Kalzan (Calc.
natr.-lact.) behandelt.
Besonderer Wert Wurde auf die Fest¬
stellung der jResorptionsverhältnisse der
per os verabreichten koll. Si.Og gelegt,
indem die Si O^-Ausscheidiing im Harn
vor und nach regelmäßiger Zufuhr ge¬
prüft wurde. Daß nach den Unter¬
suchungen von Kobert und Gonner-
mann neben den Nieren auch die Leber
(Galle) und die Dickdarmschleimhaut als
Austrittsptorten der Si Oo in Fragu
kommen, konnte für unsere Zwecke un¬
bedenklich vernachlässigt werden.
Die Literaturangaben über die täglich im Harn
ausgeschiedehe Si02-Menge schwanken ziemlich
erheblich. Neuberg gibt in seinem Buche über
den Harn nur unwägbare Spuren an, bei Neu¬
bauer-Huppert ist ebenfalls nur von f„sehr
kleinen Mengen“ ohne Zahlenangabe, die Rede.
Auf der anderen Seite wurde von Hammarsten
0,3 g Si02 in 1000 ccm Harn gefunden.
H. Schulz bekam in Selbstversuchen Durch¬
schnittstageswerte von 0,1 bis 0,15 g Si02 und
wies auf die weitgehende Abhängigkeit dieser
»Werte vom Si02-Gehalt der Nahrung hin: nach
Zufuhr nicht kleiehaltigen Brotes betrugen die
entsprechenden Werte nur 0,061 bis 0,09 g. Den
von Schulz gefundenen Tagesdurchschnitt von
0,1 g Si02 konnten Kahle und Salkowski
bestätigen.
Kahle fand nun weiter bei Tuberkulösen und
Krebskranken sehr viel geringere Werte. Sie
schwankten zwischen 0,01 bis 0,007 g Si02 in der
• Urintagesmenge. Inwieweit diese niedrigen Werte
durch die namentlich bei Krebskranken doch
häufig sehr geringe Nahrungsaufnahme beeinflußt
worden sind, steht dahin. Im Zusammenhang mit
früheren Untersuchungen von Kunkel und
Rohden, die auf Grund ihrer Pankreasanalysen
in diesem Organe eine Art Si02-Speicher für den
Organismus sahen, hat Kahle weiterhin bei
Tuberkulösen einen verminderten, bei — nicht
operierten —. Carcinomkranken einen erhöhten
Si02-Gehalt des Pankreas, gefunden. Er nahm
daher bei beiden Krankheiten eine Störung der
Si02-Bilanz des Organismus an, für deren Zu¬
standekommen er mehrere hypothetische Mög¬
lichkeiten auf stellte. Nachuntersuchungen von
Schulz haben diese angeblichen Beziehungen des
&•
Pankreas zum Si02-StoffWeichsel nicht bestätigt.
Seine Befunde sind aber neüerdings wieder von
Kahle unter ausführlicher Mitteilung seiner zahl¬
reicheren Untersuchungsprotokolle angegriffen
worden. Nach diesen würden sich bei käsiger
Pneumonie und hemmungsloser Phthise die
geringsten, bei ausgeheilter Lungentuberkulose
die höchsten SiOa- Werte im Pankreas finden.
Ferner gibt Zuckmayer als durchschnitt¬
liche Tagesmenge — bei anscheinend gesunden
Individuen — 0,03 bis 0,06 g Si02 im Harn an.
Als Maximum fand er 0,063, als Minimum 0,015 g
SiOa pro die.
Weiterhin hat Gonnermann bei Patienten
von Kühn, — also bei Tuberkulösen —, die noch
nicht mit SiOa behandelt waren, 0,013 bis 0,08 g,
in anderen Fällen 0,03 bis 0,045 g SiOa im Liter
Harn gefunden.^'* Für Tuberkulöse, die zwei be¬
ziehungsweise viör Monate lang SiOa Tee ge¬
trunken haben, führt Kobert zwei Analysen an,
durch die 0,07 beziehungsweise 0,18 g Si 02 in der
Urintagesmenge festgestellt wurde. Die ent¬
sprechenden Werte vor Einsetzen der SiOa-
Behandlung sind nicht bestimmt worden.
Eine Nachprüfung dieser Verhältnisse
durch Harnanalysen war infolge des weit¬
gehenden Entgegenkommens der Firma
V. Heyden möglich. Die Analysen er¬
folgten im Fabriklaboratorium, und zwar
in der W>.ise, daß dem untersuchenden
Chemiker (Herr Dr. Kegel) die Herkunft
des Harns (Tuberkulöser oder Nicht¬
tuberkulöser, vor oder nach Si Og-Zufuhr)
völlig unbekannt war.
Um zunächst bei nicht mit SiO^ be¬
handelten Tuberkulösen einen Durch¬
schnittswert zu erhalten, wurde von
17 Fällen aller Stadien, darunter sechs
schweren,die imTagesurin ausgeschiedene,
aus der Nahrung stammende Si Og be¬
stimmt. Wir erhielten bei der gewöhn¬
lichen gemischten Krankenhauskost diese
Werte: zweimal 0,03, achtmal 0,04, je
dreimal 0,05 und 0,06 g Si Og pro die.
Offenbare Darmstörungen, die die Re¬
sorptionsverhältnisse hätten stören kön¬
nen, bestand bei keinem der Kranken.
Die Ausscheidungswerte bei den Schwer¬
kranken erwiesen sich weder als besonders
hoch noch als besonders niedrig. Ein Fall,
der auf Milchdiät gesetzt war, schied nur
0,01 g Si Og in 24 Stunden aus. Der Si Og-
Gehalt der Milch wird nach Kobert sehr
verschieden angegeben. Pfyl fand nur
0,0019 g Si Ogim Liter Kuhmilch, während
Kobert auf Grund der von ihm veran-
laßten Analysen die entsprechende Zahl
auf 0,028 g Si Og berechnet. Die bei'
reiner Milchdiät zugeführte Si Og-Menge
ist also auf jeden Fall recht gering.
Nach Einsetzen regelmäßiger Zufuhr
von kolloidaler SiOg (0,1 g pro die per os)
wurden 22 Harnanalysen ausgeführt. Sie
ergaben wesentlich höhere Werte, wie
47*
372
Die Therapie .der iGtegenwart: 1921
man aus nachstehender Tabelle ersieht.
Es wurde gefunden eine
Tagesmenge SiOs von 0,04 g in fünf Fällen
}) }> 0,05 g ,, drei ,,
,, 0,06 g „ zwei „
» M „ 0,07 g „ drei
>> n „ 0,08 g „ drei
• » 0,09 g „ zwei „
„ „ „ 0,10 g „ zwei „
« » „ 0,16 g „ zwei „
Zweifellos kann also eine nennenswerte
Resorption der koll. SiOg stattfinden, die
sich dann in einer erhöhten SiOg-Aus-
scheidung durch die Niere geltend macht.
Dies geht besonders deutlich aus den bei
den einzelnen Patienten vor und während
der SiOg-Behandlung gefundenen Werten
hervor. In einigen Fällen verdoppelte
sich der ursprüngliche SiOg-Wert nach
regelmäßiger SiOg-Zufuhr z. B. von 0,04
auf 0,08 und 0,09 g, von 0,05 auf 0,1. In
anderen Fällen war der Unterschied
weniger groß, die entsprechenden Werte
betrugen z. B. 0,Ö4 vor und 0,05 g nach
SiOg-Zufuhr. Die Fälle verhalten sich
also ohne ersichtliche Ursache recht un¬
gleich. Auf weitere Einzelheiten einzu¬
gehen würde jedoch zu weit führen.
Zum Vergleich wurden die Ausschei¬
dungsverhältnisse der SiOg bei 15 Nicht¬
tuberkulösen — meist Leuten, die von
interkurrenten Krankheiten genesen
waren geprüft. Wir fanden folgende
Werte: einmal 0,02, zweimal 0,03, sieben-
m a 10,04, zweimal 0,05 und zweimal 0,07 g
SiOg in der Tagesmenge. Die niederen
Werte erhielten wir durchweg bei Leuten,
die statt des üblichen Schwarzbrotes
Weißbrot bekamen. Einigen dieser 15
Fälle wurde für ein paar Tage SiOg in
der* üblichen Form in einer Gesamtmenge
von etwa 1,5 g zugeführt. Danach ergaben
die Analysen von sechs Harnen: einmal
0,04, dreimal 0,05 und zweimal 0,06 g
SiOg pro die. Ein einwandfrei deutlicher
Unterschied der vor und nach der SiOg-
Behandlung gewonnenen Werte zeigte
sich hieibei allerdings nicht. Die Zahl
der Analysen ist jedoch zu klein, um
hieraus irgendwelche Schlüsse ’ableiten
zu können.
' Es sei hier noch eine Frage berührt,
die in der neueren SiOg-Literatur eine
gewisse Rolle spielt: die Frage nach den
Resorptions- und Ausscheidungsverhält¬
nissen der SiOg bei kombinierter SiOg-
Kalkbehandlung.
Helwig hat (in der Arbeit von Robert)
Versuche an Kaninchen mit rectalen Einläufen
eines Si 02 -Quellwassers gemacht und glaubt
festgestellt zu haben, daß der Einfluß auf die
Phagocytose bei diesen Tieren gleich hoch blieb,
'Oktober
ob' nun eine synthetische Quellösung mit oder
ohne Calciumgehalt verwandt würde. Auf Grund
dieser gleichen auf Si 02 -Wirkung zurückgeführtehi
biologischen Reaktion nimmt Helwig die gleichen
von der Calciumkomponente unbeeinflußten Re-
sorptionsverh^Wtnisse der SiOg an.
Dagegen's.oll nach Zuckmayers schon mehr¬
fach erwähnten Untersuchungen durch gleich¬
zeitige Kalkgabe (Chlorcalcium oder Tricalcol) die
Si02-Ausscheidung bei Darreichung aller unter¬
suchter SiOg-Verbindungen herabgesetzt und auch
die aus der Nahrung stammende Si02-Menge ver¬
mindert sein. Die "Ursache dieser Erscheinung
ist noch ungeklärt und auch Üurch die üblichen
Versuche am Menschen nicht zu klären. Zwei
Möglichkeiten kommen zunächst in Frage: einmal
können sich im Darm unlösliche Calciumsilicate
bilden, die nicht resorbiert werden, oder aber die
Si02 wird resorbiert, aber die Ca lei um Wirkung im
Organismus zurückgehalten. Theoretisch wäre
noch eine vermehrte Ausscheidung der Si02 durch
den Dickdarm möglich.
In der Praxis wih Kühn von der kombinierten
Calcium-Si02-Behandlung Günstiges gesehen ha¬
ben, empfiehlt aber, beide Medikamente getrennt
zu geben, in der Weise, daß nach mehrwöchiger
energischer Si02-Behandlung während einer Si02^
Pause Kalk in genügender Dosierung gegeben,
oder daß die Kalkdarreichung mit intramusku¬
lären Si02-Injektionen verbunden wird.
Wir selbst behandelten — wie schon
erwähnt — zehn unserer Patienten gleich¬
zeitig mit SiOg und Kalzan. Beide Mittel
wurden jedoch zu verschiedenen Tages¬
zeiten gegeben, so daß die Wahrschein¬
lichkeit der Bildung unlöslicher Ca-Sili-
cate im Darm gering ist. Bei diesen
Patienten wurden acht Harnanalysen
ausgeführt. Die Ergebnisse wichen in
keiner Weise von denen nicht mit Kalk
behandelter Patienten ab. Bei zwei
Fällen, deren SiOg-Werte erst ohne gleich¬
zeitige Kalkwirkung festgestellt Worden
waren, fanden sich im Gegenteil, während
einer SiOg-Kalkperiode, sogar auffallend
hohe SiOg-Tagesmengen. Diese Unter-,
suchungen lassen also eine durch Kal-®
ziumwirkung verminderte Resorption be¬
ziehungsweise Ausscheidung der SiOg
nicht erkennen.
Zusammeiifassend ergibt sich also aus
unseren Untersuchungen folgendes: I. Die
tägliche SiOg-Ausscheidung bei Tuber¬
kulösen beträgt bei gewöhnlicher ge¬
mischter Kost im Durchschnitt 0,04 g.
Als Maximum werden 0,06, als Minimum
0,03 g gefunden. Den gleichen Durch¬
schnittswert erhielten wir bei Nichttuber¬
kulösen in Übereinstimmung mit Ana¬
lysen von Gonnermann und Zuck¬
mayer, im Gegensatz zu den Befunden
von Schulze, Kahle und Salkowski,
die einen erheblich höheren Wert (0,1 g)
angeben. Eine Störung im SiOg-Stoff¬
wechsel TubeTkulöser konnte auf diese
Weise also nicht nachgewiesen werden.
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1921
373
Die erhaltenen Werte sind offenbar in
erster Linie vom SiOg-Gehalt der Nahrung
•abhängig.
II. Nach medikamentöser Zufuhr
kollodialer SiOg findet eine erhebliche
Erhöhung der Ausscheidungswerte statt.
Das Präparat wird also ausgiebig resor¬
biert, der Organismus erhält reichlich
SiOg angeboten. Anscheinend besteht
•auch in der Resorption der SiOg zwischen
Tuberkulösen und Nichttuberkulösen kein
Unterschied. Inwieweit die vermehrt auf¬
genommene SiOg vom tuberkulösen Or¬
ganismus zur Einleitung von Heilungs¬
vorgängen ausgenutzt werden kann, muß
zunächst offen bleiben. '
III. Die von Zuckmayer behauptete
verringerte SiOg-Ausscheidung bei gleich¬
zeitiger Darreichung von SiOg und Kalk
konnte nicht bestätigt werden.
Nachdem die gute Resorbierbarkeit
der koll. SiOa erwiesen war, konnte man
mach ihrer Verabreichung physiologische-
Reaktionen erwarten, die als SiOg-Wir-
kiing gedeutet worden sind.
Insbesondere kam hierbei der Einfluß der
•Si02 in Frage, der nach den Untersuchungen von
Schülern Roberts auf die Zahl der Leukocyten
und ihre prozentuale Zusammensetzung bestehen
soll. So hatte Zickgraf nach Verabreichung
Si02-haltiger Glashäger Mineralquelle eine starke
Vermehrung der Leukocyten, speciell der neutro¬
philen bis um 200 % und gleichzeitig eine auf¬
fallende Zunahme der mehrkernigen, gegenüber
den ein- und zweikernigen neutrophilen Zellen
gefunden. Also eine Verbesserung des Blutbildes
im Sinne Arneths. Das Maximum der Wirkung
trat meist am zweiten oder dritten Tage ein.
Schwarz und Ladendorf (zit. nach Robert)
bestätigen diese Angaben nach eigenen Unter¬
suchungen. Helwig (zitiert nach Robert) kam
^um gleichen Ergebnis an klinisch gesunden
Menschen und stellte außerdem im Tierversuche
eine deutliche Steigerung des opsonischen Index
■fest. Helwig glaubt demnach, daß die Abwehr¬
kräfte des Organismus im Rampf gegen Infek¬
tionen durch geeignete Si02-Darreichung erhöht
werden könnten.
Aus neuerer Zeit liegen Blutuntersuchungen
von Resseler vor, die dieser an fünf Fällen nach
Einnahme von täglich drei Teelöffel Sil. veget.
-clialysat. Golaz (entspricht 43 bis 212 mg Si02)
und ferner an elf Fällen ausgeführt hatte, die
Ralk und Si02 (0,75 mg) enthaltende Tabletten
bekommen hatten. Die durchschnittliche Leuko-
cytenzahl vor dem Einnehmen der SiO^-Präparate
betrug 9206. Sie stieg nach zwölf Stunden auf
durchschnittlich 10 384. Die entsprechenden
Zahlen für die Neutrophilen waren 58.8% vor,
61,1 % nach SiOs-Zufuhr, während die Lympho-
■cyten durchschnittlich von 30,3 % auf 27,9 %
.zurückgingen. Das sind freilich so minimale
■ Zahlenunterschiede, daß man sie ohne weiteres
als innerhalb der Fehlergrenzen beziehungsweise
der physiologischen Schwankungen liegend an-
sehen kann. Resseler hält aber diese Reaktion
der leukocytären Elemente für geeignet, einen
heilsamen Einfluß auf die Lungentuberkulose aus¬
zuüben. Er sieht ihn in Erhöhung der Stoff-
wechselvorgänge und der Schutzkörperbildung im
Organismus.
Die Nachprüfung dieser Angaben ge¬
schah an zwölf mittelschweren, unkom¬
plizierten, meist ganz fieberfreien Fällen
von Lungentuberkulose, die in den ersten
Tagen 200 mg, später lOO mg koll. SiOg
per OS täglich erhielten. Um vermeidbare
Fehlerquellen auszuschalten, wurden am
frühen Morgen zwei Füllungen der
Bürckerschen Kammer gezählt. DieBlut-
entnahme geschah in der gleichen Körper¬
stellung (Jörgensen). Einige Kontroll-
zähltingen an nicht mit SiOg behandelten
Patienten ergaben trotz dieser Vorsichts¬
maßnahmen Schwankungen der Leuko-
cytenzahlen an aufeinanderfolgenden
Tagen nach oben und unten bis zu 1500.
Von den Objektträgerausstrichen wurden
400 Leukocyten differenziert unter Be
rücksichtigung ihrer verschiedenen pro¬
zentualen Verteilung in den Rand- und
Centralfeldern (Meu lengrach t, Ste¬
phans). Die Zählungen wurden vor der
SiOg-Zufiihr und in den nächstfolgenden
vier bis fünf Tagen vorgenommen. Bei
den meisten Patienten wurde das Blut¬
bild im Verlaufe der Behandlung in ge¬
wissen Abständen weiter verfolgt.
Eine deutliche Zunahme der Leuko-
cytenzahl (um 3000—5000) wurde nur in
zwei Fällen und auch hier nur an einzelnen
Tagen beobachtet. " In vier Fällen war
eine Tendenz der Leukocytenzahl zum
Steigen vielleicht vorhanden, hielt sich
aber in sehr bescheidenen Grenzen. Vier
weitere Fälle wurden überhaupt nicht
erkennbar beeinflußt, und bei zweien zeigte
sich eher eine Neigung zum Sinken der
Leukocytenzahl. Die aus den zwölf Einzel¬
werten ge\yonnene Durchschnittszahl der
Leukocyten vor der SiOg-Behandlung be¬
trug 8979, die entsprechenden Zahlen der
nächstfolgenden Tage nach Einsetzen der
Si0.2-Wirkung waren 9200, 9417, 9606
und 9717. Eine geringe Tendenz zur Ver¬
mehrung der Leukocyten könnte man
aus diesen Durchschnittszahlen neben
herauslesen. Ob dieser geringe zahlen¬
mäßige Unterschied praktisch lür den
Organismus in Frage kommt, ist jedoch
mindestens sehr zweifelhaft.
Bei der Differenzierung der Ausstriche
ergab sich zunächst, daß fünf Fälle keine
Änderung der prozentualen Leukocyten-
zusammensetzung von Belang erkennen
ließen. Eine Klassifizierung der Neutro¬
philen nach Arneth haben wir nicht
vorgenommen. Auffälliges Verhalten der
374
Die Therapie der Gegenwart 1921 >
Olctober
Kernlappung wurde bei der Durchsicht
der Präparate jedoch nicht beobachtet.
Eine Zunahme der Neutrophilen auf
Kosten aer Lymphocyten fanden wir nur
in zwei Fällen und nur in Höhe von 8 bis
9%. Dagegen konnte in fünf Fällen eine
stetige Zunahme der Lymphocyten und
Abnahme der Neutrophilen festgestellt
werden,’die meist auch wieder. 7—9%
betrug. Nur in einem dieser Fälle stiegen
die Lymphocyten kontinuierlich von 14
auf 32 %, während die Neutrophilen von
74—57% sanken. Die Gesamtzahl der
Leukocyten blieb dabei unbeeinflußt.
Auch bei den übrigen Fällen war ein
irgendwie gesetzmäßiges Verhalten zwi¬
schen Änderung der Gesamt- und Ver¬
hältniszahl der Leukocyten nicht erkenn¬
bar. Ebensowenig wurden die Werte für
die Eosinophilen und großen Mononucle-
ären, durch die Si 02 -Zufiihr beeinflußt.
Die im weiteren Verlaufe der SiOg-
Behandlung erfolgten Zählungen ent¬
sprachen durchaus dem jeweiligen Stande
der Krankheit, indem sich vor allem bei
den günstig.verlaufenden Fällen eine zum
Teil recht erhebliche Lymphocytose ent¬
wickelte.
Endlich wurden Leukocytenzählungen
bei vier Fällen vorgenommen, die einen
in der Krankenhausapotheke hergestellten
Tee mit täglich 50—90 mg SiOg bekamen.
Die erhaltenen Werte ließen keine Be¬
einflussung des wei-ßen Blutbildes er¬
kennen.
Das Ergebnis dieser Untersuchungen
ist demnach folgendes:
I. Tägliche Zufuhr von 200 mg koll.
SiOg per OS bewirkt im Durchschnitt nur
eine ganz geringe Tendenz der Leuko-
cytenzahl zum Steigen. Nur in einzelnen
Fällen ließ sich eine Vermehrung der
Leukocyten um 3000—5000 nachweisen.
II . Die prozentuale Zusammensetzung
der Leukocyten wird durch die SiOg ent¬
weder gar nicht beeinflußt (fünf unter
zwölf Fällen), oder es kommt zu einer
stetigen, meist aber unter 10 % betragen¬
den Zunahme der Lymphocyten auf
Kosten der Neutrophilen (fünf unter
zwölf Fällen). Das umgekehrte Verhalten
wurde im Gegensatz zu den Beob¬
achtungen früherer Autoren nur zweimal
festgestellt.
III. Das Blutbild im weiteren Verlaufe
der SiOg-Behandlung entspricht durchaus
dem jeweiligen Stande der Krankheit.
IV. Der Einfluß der koll. SiOg auf das
weiße Blutbild, der bei der erwiesener¬
maßen guten Resorption des verwendeten
Präparats nach aen bisherigen Mittei¬
lungen auf diesem Gebiete zunächst zu
erwarten war, kann also nur in sehr be¬
schränktem Umfange bestätigt werden.
Es erscheint daher sehr gewagt, erhöhte
Abwehrmöglichkeit des Organismus im
Kampfe gegen die Infektion, gesteigerte
Stoffwechselvorgänge usw. auf Grund von
biologischen Blutreaktionen nach SiOa-
Darreichung zu erhoffen.
Aus der sonstigen klinischen Beob¬
achtung der mit koll. SiOg behandelten
Fälle sei nur noch kurz erwähnt: floride
Formen der Lungentuberkulose wurden,,
wie ja zu erwarten, gar nicht beeinflußt,
zeigten auch bei der Sektion keinerlei
auffällige Neigung zur Vernarbung. Ob
an sich gutartige Fälle, auch wenn sie
schon vorgeschritten waren, in ihren
Heilungsbestrebungen durch Si02-Zufuhr
unterstützt wurden, vermag ich auf Grund
meines klinischen Materials weder zu be¬
jahen noch völlig abzulehnen. Ein ein¬
deutiger Einfluß der SiOg-Therapie auf
die manifesten klinischen Krankheits¬
erscheinungen (Lungenbefund, Tempera¬
turverlauf, Sputum- und Bacillenmenge,
Schweiße usw.), der als ein wesentliches
Abweichen von dem sonst zu erwartenden
Verlauf der einzelnen Fälle zu deuten
gewesen wäre, war weder unmittelbar
noch nach monatelanger Darreichung,
des Mittels erkennbar. Eine günstige
Deutung ließ allenfalls der pathologisch¬
anatomische Lungenbefuna zweier zur
Sektion gekommener Fälle von chronisch¬
kavernöser Phthise zu, insofern der Obdu¬
zent, der von der vorausgegangenen SiOg-
Behandlung keine Kenntnis hatte, das
derbe schwielige Narbengewebe in den
zum Teil mit größeren Hohlgeschwüren
durchsetzten Lungen als auffallend stark
entwickelt bezeichnete. Einen ähnlichen
Befund beschreibt Kesseler in einem
Falle, der sich nach halbjähriger SiOs-
Zufuhr das Leben genommen hatte und
bei dem sich ebenfalls eine überraschend
starke bindegewebige Umwandlung und
Abkapselung der tuberkulösen Herde fand.
Es darf jedoch nicht verschwiegen werden,
daß in dem einen unserer Fälle eine frische
peribronchitische Aspirationsaussaat in
bisher gesunde Lungenteile ohne erkenn¬
bare Heilungstendenzen nicht verhütet
worden war und das Ende herbeigeführt
hatte.
Von besonderem Interesse sind in
diesem Zusammenhänge Arbeiten aus
dem Rößleschen Institut, insbesonaere
die tierexperimentellen Studien
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1921
375
Kahle, der schwer mit Tuberkulose in¬
fizierte Meerschweinchen ijiit einem SiOg-
Präparate behandelte und schon nach
kurzer Zeit so deutliche Vernarbungs¬
vorgänge feststellen konnte, daß man
anatomisch mit Sicherheit unbehandelte,
gleich schwer infizierte Kontrolltiere und
behandelte Tiere zu unterscheiden ver¬
mochte. Die fortschreitende Bindege¬
webs- und Narbenbildung in den tuber¬
kulösen Prozessen soll direkt propor¬
tional der Länge der Behandlungsdauer
und der Menge des verabreichten SiOg-
Präparates sein. Rößle gibt außerdem
in seiner letzten Veröffentlichung be¬
merkenswerte Mitteilungen über die Tu¬
berkuloseerkrankungen bei Staubarbeiten,
insbesondere im Porzellangewerbe, wäh¬
rend sein Schüler Vollrath durch aus¬
gedehnte statistische Erhebungen über
Lungenerkrankungen unter den Porzellan¬
arbeitern Thüringens der verbreiteten
Anschauung über die Schädlichkeit des
SiOg-haltigen S^taubes und seiner zur
Lungentuberkulose disponierenden Eigen¬
schaften entgegentritt.
Unsere Stellung zur Frage der SiOg-
Behandlung der Lungentuberkulose möch¬
ten wir zum Schluß auf Grund dieser
Untersuchungen und Beobachtungen da¬
hin festlegen; Für die Lungentuberkulose
des Menschen ist ein ernsthaftzu nehmen¬
der Beweis für narbenfördernde Wirkung
der SiOg noch nicht erbracht. Die gün¬
stige therapeutische Beeinflussung der
exp e'r im en t e 11 en M e ers c h w e i nc h en t u b e r-
kulose durch SiOg-Darreichung (Kahle)
läßt sich nicht ohne weiteres auf die Ver¬
hältnisse beim Menschen übertragen. Auch
die bisher meist gerühmte Eigenschaft der
SiOg, auf das leukocytäre Blutbild günstig
einzuwirken und damit den Organismus
in seinen Heil- und Abwehrbestrebungen
zu unterstützen, hat sich bei unserer Nach¬
prüfung zum mindesten als sehr unsicher
erwiesen. Sicher nachgewiesen ist nur,
daß es eine Anzahl SiOg-Präparate gibt,
die nach ihrer Ausscheidung im Harn
zu urteilen in ausreichendem Maße vom
Organismus aufgenommen werden. Bei
der leicht durchführbaren, ohne Schäden
über lange Zeit fortzusetzenden Dar¬
reichung eines solchen Präparates steht
der Organismus dauernd unter einem er¬
höhten Angebot von SiOg. Die Möglich¬
keit ihrer Verwendung zur narbigen Um¬
wandlung tuberkulösen Granulationsge¬
webes ist damit gegeben. Trotz der noch
recht unsicheren wissenschaftlichen Basis
möchten wir daher die auch von der
Volksmedizin gestützte SiOg-Therapie der
Lungentuberkulose nicht einfach für er-'
ledigt halten. Vollkommen unklar ist
natürlich die Frage nach der zu einer
optimalen Wirkung dem Organismus not¬
wendigen Menge der SiOg., Es fragt sich
sogar, ob nicht eine einfache diätetische
Behandlung mit SiOg-reicher Kost — wie
sie z. B. Kühn als unterstützendes Moment
neben der medikamentösen SiOg-Zufuhr
angegeben hat — zur Bereitstellung der
zur Vernarbung notwendigen SiOg-Mengen
ausieichend sein würde. Statistische Fest¬
stellungen, die sich hierfür verwerten¬
ließen, über die Tuberkuloseverhältnisse
in bestimmten Bevölkerungen, deren
Nahrung notorisch sehr reich an SiOg ist
(Gerstenbrot, Bier, Hirse), sind meines
Wissens nicht bekannt. Man wird jedoch
namentlich bei den nicht von vornherein
bösartig verlaufenden Fällen von Lungen¬
tuberkulose unbedenklich ein gut resrr-
bierbares SiOg - Präparat in möglichst
.handlicher Form reichen können.
Literatur: 1. Alessandrini u. Scala, Bei¬
trag zur Ätiologie und Pathogenese der Pellagra
(Zschr. f. Chemother. u. verw. Geb. 1914, Bd. 2,
H. 2/4, S. 156). — 2. Dieselben, Contributo
nuovo alla etiologia e patogenesi della pellagra
(Memoria. Ann. d’ig. sperim. 1914, Bd. 24, Nr. I,
S. 12. Ref. K. Z. Bl. 1914, Bd. XI, S. 468). —
3. Breest, Zur physiol. Wirkung der Kieselsäure.
Über die Resorption der Kieselsäure (Biochem.
Zschr. 1920, Bd. 108, H. 4—6, S. 309—316). —
4. Gerhartz u. Striegel, Über Kieselsäure¬
behandlung (Brauers Beitr. z. Klin. d. Tuber¬
kulose. Bd. 10, H. 1). — 5. Hammarsten, Lehr¬
buch d. phys. Chem. 1907, 6. Aufl.). — 6. Jör¬
gensen, Abhängigkeit der Leukocytenzahl von
der Körperstellung (Zschr. f. klin. Med. 1921,.
Bd. 90, H. 3/4). — 7. Kahle, Einiges über den-
Kieselsäurestoffwechsel bei Krebs und Tuber^
kulose und seine Bedeutung für die Therapie der
Tuberkulose (M. m. W. 1914, Nr. 14, S. 753). —
8. Derselbe, Über die Beziehungen des Pankreas-
zum Kieselsäurestoffwechsel u. Versuche über
therapeut. Beeinflussung experimenteller Meer¬
schweinchentuberkulose durch Kieselsäuredar¬
reichung (Beitr. z. Klin. d. Tbc. Bd. 47, H. 2,
5. 296). — 9. Kesseler, Zur Frage der Kiesel¬
säuretherapie bei Lungentuberkulose (D. m. W.
1920, Nr. 9, S. 239). — 10. Kobert, Über kiesel¬
säurehaltige Heilmittel insonderheit bei Tuber¬
kulose (Rostock-M., Warkentiens Verlag). —
11. Kühn, Zur Behandlung der Lungentuber¬
kulose mit Kieselsäure (M. m. W. 1918, Nr. 52,
S. 1459). — 12. Derselbe, Kieselsäure und
Tuberkulose (Ther. Mh. 1919, H. 6). — 13. Der¬
selbe, Zur Methodik der Kieselsäuredarreichung’
bei Lungentuberkulose (M' m. W. 1920, Nr. 9,
S, 253—255). — 14. Derselbe, Neue Probleme
in der Behandlung der Lungentuberkulose mit
besonderer Berücksichtigung der Kieselsäure¬
frage (Zschr. f. Tbc. 1920, Bd. 32, H. 6, S. 321). —
15. Kunkel, Sitzungsber. d. phys. med. Ges. zu
Würzburg. 1898, S. 78. — 16. Meulengracht,
Bemerkungen zur Technik der Differentialzählung
der weißen Blutzellen. Deckglaspräparate contra
Objektglaspräparate (Acta med. scandin. 1921,
376
Die Therapie der Gegenwart 1Q21
Oktober
Bd.54, H.3. Ref. K. Z. Bl. 1921, Bd. 17, H.2).—
17. Neubauer-Huppert, Analyse des Harnes
<Wiesbaden 1910, S. 69 u. 147). — 18. Neuberg,
Der Harn, Teil I (Berlin 1911, S. 74). — 19. Roh¬
den, 20.'Kongr.f. inn. Med. 1902. — 20. Rössle,
Zur Siliciumbehandlung der Tuberkulose (M. m.
W. 1914, Nr. 14, S. 756). —21. Derselbe, Über
die Tuberkulose bei Staubarbeitern, im besonderen
im Porzellangewerbe (Beitr. z. Kl. d. Tbc. Bd. 47,
H. 2, S. 325). — 22. Salkowski, Über den Nach¬
weis der Kieselsäure im Harn ohne Veraschung
desselben (Zschr. f. phys. Chem. 1913, Bd. 83,
S. 143). — 23. Sartory u. Pellisier, Über die
Anwendung des kieseis. Natriums bei intra¬
venöser Injektion (Ref. K. Z. Bl. 1921, Bd. 15,
H. 9, S. 536). — 24. Scheffler, Sartory u.
Pellisier, Les injections intraveineuses de silicate
de soude (Presse med. 1920, Jahrg. 28, Nr. 82,
S.806. Ref. K.Z. Bl. 1921, Bd. 16, H. 6, S. 288).—
25. Schuhbauer, Zur phys. Wirkung der Kiesel¬
säure. Die Einwirkung der Kieselsäure auf den
tierischen Organismus (Biochern. Zschr. 1920,
Bd. 108, H.4—6, S.304—308). —26. H. Schulz,
Einige Bemerkungen über Kieselsäure (M. m. W.
1912, S. 440).— 27. Derselbe, Die quantitative
Ausscheidung der Kieselsäure durch den mensch¬
lichen Harn (Pflüg. Arch. f. d. ges. Phys. 1912,
Bd. 144, S. 350). — 28. Derselbe, Über den
Kieselsäuregehalt der menschl. Bauchspeichel¬
drüse mit Bemerkungen über die Gewichtsver-
hältnissc der Drüse in den verschiedenen Lebens¬
altern (Biochern. Zschr. 1915, Bd. 70, S. 464). — *
29. Stephans usw., Have differential leucocyte
coLints any value? (Ann. of trop. med. a. para-
sitolog. 1921, Bd. 14, S. 371. Ref. K. Z. Bl.
Bd. 17, H. 5, S.282). —30. Vollrath, Die Tuber¬
kulose der Porzellanarbeiter Thüringens (Beitr.
z. Kl. d. Tbc. Bd. 47, H. 2, S. 237). — 31. Zick¬
graf, Über die Darreichung von kieselsäure¬
haltigem Mineralwasser in Lungenheilstätten
(Zschr. f. inn. Med. 1908, Nr. 29). — 32. Zuck¬
mayer, Ausscheidung der Kieselsäure durch den
Harn nach Eingabe verschiedener Kieselsäure¬
präparate (Ther. d. Gegenw. 1920, H. 10).
über parenterale Kieselsäurezufuhr.
Von Dr. phil. F. Zuckmayer, Hannover.
Während die innerliche Verabreichung
der Kieselsäure von Kobert und seinen
Mitarbeitern, Kühn und anderen genau
bearbeitet ist, und über die Ungiftigkeit
der Kieselsäure auch durch die vor kurzem
erschienenen Arbeiten von Schuh-
bauer^) und Breest^) kein Zweifel be¬
steht. finden wir über die parenterale An¬
wendung derselben nur wenige Angaben.
Kobert^) spritzte einem Kaninchen eine kurz
vor der Anwendung mittels verdünnter Salzsäure
neutralisierte Lösung von Natr. silicic. puriss.
Merck (3 Tage lang 50 mg und über einen Monat
lang 100 mg, zusammen 3,8 g des Präparates) unter
die Haut; das Tier frißt, nimmt nicht ab, im Harn
findet sich kein Eiweiß, aber*reichlich Si02. Von
Botschareffü fand bei subcutaner Einspritzung
eine nur mäßig konzentrierte Lösung desselben
Präparates nur wenig wirksam; erst lOprozentige
Lösungen wirken nekrotisierend auf das Unter¬
hautzellgewebe. Bei diesen hohen Dosen kam es
in den gewundenen Kanälchen der Niere zur Ab¬
lagerung von Silicaten, die sich in Ätznatron
lösten. Kobert stellte bei erneuten Versuchen
fest, daß ein Kaninchen von 3 kg 68 mg des
Natr. silicic. puriss. Merck unter die Haut einge¬
spritzt ohne Eiweißharn oder sonstige patho¬
logische Veränderungen ertrug, nur die Harn¬
menge war vermehrt. Eine Katze gleichen Ge¬
wichtes schädigten 90 mg des Präparates, sub-
cutan gegeben, nicht. Kobert u. Siegfried^)
stellten fest, daß eine neutralisierte Natrium¬
silicatlösung auf rote Blutkörperchen aggluti¬
nierend wirkt, mit Serum sowie mit undefibri-
niertem Blut einen Niederschlag bzw. ein volumi¬
nöses mit agglutinierten roten Blutkörperchen
vermischtes Fibringerinnsel gibt.
Sie ziehen hieraus den Schluß, daß intravenöse
ü Biochern. Zschr. 1920. Bd. 108.
^) Ebenda
Ü Kobert, Über kieselsäurchaltige Heilmittel
insonderheit bei Tuberkulose. 2. Aufl. S. 8.
Ü Botschareff, Beiträge zur Frage über die
Wirkung der Kieselsäure auf den Nieren-Organis-
mus. Diss. St. Petersburg 1902, zit. n. Kobert^).
Einspritzungen von Natriumsilicat, sofern sie
nicht außerordentlich langsam und verdünnt vor¬
genommen werden, nicht pharmakologisch, son¬
dern grob mechanisch wirken, das heißt, daß sie
durch Embolisierung in lebenswichtigen Organen
oder schwere Schädigungen der Ausscheidungs¬
stellen den Tod herbeiführen dürften. Als Be¬
stätigung fand Siegfried in einem Versuch bei
einer Katze von 2875 g nach Einspritzung von
10 ccm einer fast neutraien Lösung des
Merck sehen Präparates — 150 mg, entsprechend
81 mg Si02 (das heißt pro Kilo Körpergewicht
20 mg SiOs) in eine Fußvene langsam innerhalb
10 Minuten, daß das Tier während 24 Stunden
keine Atemnot hatte, reichlich Milch zu sich
nahm, nach 40 Stunden jedoch starb, nachdem
es schon vorher mehrere Stunden apathisch ge¬
legen hatte. Die Sektion ergab kleine Blutaus¬
tritte unter dem Endokard des linken Ventrikels,
größere in die Magenschleimhaut, zahllose in die
Dünndarmschleimhaut, sowie in nach unten ab¬
nehmender Anzahl auch im Dickdarm, offenbar
infolge kleiner Gefäßverlegungen und dadurch
hervorgerufener Stauungen: Im Darminhalt fand
sich Blut, der Harn war blutig, und die Niere wies
hochgradige Blutüberfüllung und hämorrhagische
Durchsetzung des abgesonderten Gewebes auf.
Auch Picot und von VogH) sahen schon nach
kleinen Dosen ihrer allerdings wohl nicht so reinen
Präparate bei intravenöser Einspritzung den Tod
eintreten. Kobert sagt zum Schluß dieser Aus¬
einandersetzung, daß für Natriumsilicat ebenso¬
wenig wie für Tannin die intravenöse Injektion
paßt, während innerlich beide gut vertragen
werden.
Kobert bringt in der gleichen Abhandlungü
ein Autoreferat HelwigsÜ ,,Über die Wirkung
der Kieselsäure auf das Blutbild und die phago-
cytäre Kraft des Blutes'. Helwig verwendet
zu seinen Versuchen Kaninchen, denen er teils
rectal, teils subcutan, sowie intravenös Kiesel¬
säure einveiieibt, und zwar in Form einer Kiesel¬
quelle oder einer reinen Ki^^selsäurelösung als
Natr. silicic. Merck. Er verabreicht subcutan oder
^) Zitiert nach Kobert.
®) Veröffentlichungen der Zentralstelle für
Balneologie. 1918, Bd. 3, H. 4, S. 75. Zitiert nach
Kobert.
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1921 •.
377
intravenös 0,00005 bis 0,01 g pro dosi und findet
eine große Anregung der Phagocytose. Auch die
Kieselsäurebehandlung von Tieren, welche durch
Vorbehandlung mittels Öpsonogen (= Staphylo¬
kokkenvaccine) in ihrer bakteriellen Schutzkraft
gewissermaßen geschwächt waren, ergab über¬
einstimmend, und zwar wachsend mit der Dosis
der Si02 eine deutliche Steigerung des phago-
cytären Index. Helwig verwendet teilweise die
als Hämolysedosis im Reagenzglase festgestellte
Menge von 0,005 g pro 1 ccm uhd 0,01 g pro
-1 ccm sogar intravenös, ohne daß eine’ schlimme
Wirkung auf das Tier (wenigstens nicht im Auto¬
referat, das Original steht mir nicht zur Ver¬
fügung) erwähnt wird.
Kühn'^) verwendete kolloidale Kieselsäure¬
lösung intramuskulär beim Menschen, und zwar
0,004—0,008 g SiOg pro dosi speziell bei Lungen¬
tuberkulose an Stelle der peroralen Si 02 -Dar-
reichung oder zugleich mit derselben, ohne daß
außer einer vorübergehenden Schmerzhaftigkeit
Nebenerscheinungen auftreten. Kühn hatte, die
Unschädlichkeit dieser Einspritzungen zuvor an
Tierversuchen klargestellt. Durch Vorbehandlung
von Meerschweinchen mit Injektionen von kollo¬
idaler Kieselsäure®) konnte Kühn die Tiere gegen
Tuberkulose immunisieren.
Mit Ausnahme der oben erwähnten Fälle, in
welchen Kobert und Siegfried einer Katze
90 mg Natr. silicic., der anderen 20 mg Si02pro
Kilo Gewicht in gleicher Form einspritzten, sind
die Tierverusche an Kaninchen ausgeführt. Da
der SiOg-Stoffwechsel beim Kaninchen infolge der
Pflanzenkost quantitativ in ganz anderen Bahnen
abläuft und es nicht ausgeschlossen schien, daß
dies von einem gewissen Einfluß auf die Wirkung
auch parenteral gegebener SiOg sein könnte, wählte
ich einen Hund von 19 kg Gewicht als Versuchstier.
Außer von Kühn, der kolloidale Kieselsäure¬
lösung verwendet, wurden zu den oben ange¬
führten Versuchen Lösungen des Merckschen
Natr. silicic. puriss. oder kurz vor der Injektion
mit Säure neutralisierte Lösungen dieses Präpa¬
rates angewandt.
Daß Natr. silicic. nicht nur Si02-Wirkung ent¬
faltet, sondern infolge hydrolytischer Spaltung
auch die Ätznatronwirkung zutage tritt, geht aus
den Versuchen SchuhbauersD hervor, der die
im Dünndarm auftretenden Verätzungen der
Schleimhaut nach Eingabe von Natr. silicic. durch
Neutralisation dieser Salzlösungen mittels Säure
aufhebt. Fraglos ist jdie Giftigkeit der kiesel¬
sauren Salze, die in älteren Arbeiten erwähnt wird,
auf die Natron Wirkung der Präparate zurück¬
zuführen; die SiOo an sich ist ungiftig (Breest-).
Da die hydrolytisch gespaltenen Lösungen des
Natr. silicic. daher auch für die parenterale Dar¬
reichung wenig geeignet erschienen, wurden
kolloidale Kieselsäurelösungen, in reinem Zustande
mittels Dialyse aus reinstem kristallisierten
Natriumsilicat (Nag SiOj -}- aq) und Salzsäure
erhalten, zu den folgenden Versuchen angewandt.
Aber auch die Losungen kolloidaler SiOg
können von ihrer Herstellungsart herrührende
Verschiedenheiten aufweisen, die ihre thera¬
peutische Wirkung beeinflussen. Die Kieselsäure
fällt bekanntlich aus den Lösungen ihrer Salze
durch Zusatz von verdünnter Säure meist in Form
eines voluminösen Niederschlages aus, jedoch
nicht immer. Mitunter wird durch Säurezusatz
zu Lösungen kieselsaurer Salze eine wasserklare
Lösung erhalten; es hängt dies von der Ver-
0 M. m. W. 1920. No. 9, S. 254.
8 ) Zschr. f. Tbc. 1920. Bd. 32, H. 6
düniiLing, der Säuremenge und der Arbeitsweise
ab.' Derartige Lösungen lassen sich nach gewissen
Methoden regelmäßig darstellen und enthalten die
Kieselsäure in kolloidaler Form gelöst. Auch die
mittels Säure erhaltenen voluminösen Nieder¬
schläge bestehen aus kolloidaler Kieselsäure; der
Unterschied zwischen der kolloidalen Lösung und
dem kolloidalen Niederschlage liegt nur in der
Größe der Kieselsäureteilchen, das ist dem Disper¬
sitätsgrade. Durch mancherlei Einflüsse, z. B.
Salze, Gefäße aus weichem Glase, geht eine kollo¬
idale Kieselsäurelösung (Kieselsäure-Sol) leicht in
eine feste Form (Kieselsäure-Gel) über, sie ge¬
latiniert.
Daß aber eine Substanz anders wirken kann,
wenn ihre Teilchen größer oder kleiner sind bzw.
wenn sie gelöst oder unlöslich ist, dürfte außer
Zweifel sein. Es kommt daher bei der Fest¬
stellung der Si 02 -Wirkungen vor allem darauf an,
daß zu den Versuchen die Kieselsäure immer in
derselben Form, d. i. von gleicher Teilchengröße
verwendet wird. Dies läßt sich aber nicht er¬
reichen, wenn man kurz vor der. Injektion eine
Natriumsilicatlösung mit Säure neutralisiert, da
die Bedingungen immer verschieden sind (es
kommt hierbei auf geringe Unterschiede an) und
da auf diese Weise nur selten Lösungen gleicher
DispersTät erhalten werden. Ich stellte mir
Kieselsäurelösungen aus kristallisiertem Natrium¬
silicat (Na 2 SiOg -f- aq) durch Einlaufenlassen
solcher Lösungen in etwas überschüssige verdünnte
Salzsäure bei 10® C und nachfolgende schnelle
Dialyse her. Die dialysierte Lösung wurde auf
1 Prozent Si02-Gehalt eingestellt und nach zu
Patent angemeldetem Verfahren durch Zusatz
äußerst geringer Mengen von Säuren oder von
Alkalien (für 100 ccm Lösung 0,005—0,05 ccm
Normalsäure oder Alkali) stabilisiert; ohne diese
Zusätze gelatinieren die Lösungen meist nach
kürzerer oder längerer Zeit. Zwecks Herstellung
der von Bakterien lei bern freien SiOo-Lösungen
wurde unter aseptischen Kautelen gearbeitet und
gegen frisch destilliertes Wasser dialysiert. Die
kolloidalen Si02-Lösungen wurden in strömendem
Dampf sterilisiert. Zu den Versuchen wurden
Si02-Lösungen verschiedener Darstellungen ange¬
wandt, um zu ermitteln, ob sich selbst unter den
gleichmäßig hergestellten kolloidalen Lösungen
noch Unterschiede in der Wirkung äußern würden.
Zu Beginn der Versuche wurde mit SiOg-
Lösungen gearbeitet, die mittels sehr geringer
Säuremengen stabilisiert, aber nicht dauernd
haltbar waren, sondern die teils nach Wochen,
teils nach Monaten die SiOg in gelatinöser Form
ausschieden. Derartige Versuche sind nicht mit
aufgeführt, da sie keine übereinstimmenden Er¬
gebnisse lieferten.
Es ergab sich nämlich, daß bei der subcutanen
und intramuskulären Injektion kolloidaler Kiesel¬
säurelösungen ==- 0,005—0,01 g Si02 an dem 19 kg
schweren Hunde nach einigen Stunden Fieber
auftritt, das je nach Menge der kolloidal gelösten
Si02 bis über 40,5® C steigt und 5—15 Stunden
anhält, um innerhalb 1—2 Stunden wieder zur
Norm abzusinken. Alle haltbaren Kieselsäure¬
lösungen zeigten dabei ein ähnliches Verhalten,
während die Lösungen, welche nach längerer oder
kürzerer Zeit gelatinierten, d. h. die Si02 in
fester Form abschieden, manchmal Fieber mach¬
ten, manchmal aber auch nicht, offenbar je nach
dem Grade, wie die Teilchengröße der kolloidalen
SiOs sich verändert hatte. Vorher schon gelati¬
nierte Kieselsäurelösung, die also feste kolloidale
SiOo in Suspension enthielt, ergab bei subcutaner
rder intramuskulärer Injektion überhaupt kein
48
378 ' , ^ Die Therapie der (jegenwart 1921 .. ^ " 'ÖletöWr , .
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1921
379
Fieber. Hieraus geht hervor, daß die Erhöhung
der Körpertemperatur nach parenteraler Si02-
Zufuhr mit der Teilchengröße der kolloidalen
SiOg, d. i. dem Dispersitätsgrade des Si02-Kolloids
konform geht.
Ich führe nur die Versuche an, welche mit
aseptisch hergestellten und sterilisierten kollo¬
idalen Si02-Lösungen angestellt wurden. Die
Einspritzung der Lösung wurde abwechselnd am
rechten und linken Hinterlauf des Tieres subcutan
an der von Haaren befreiten, gut mit Wasser und
Alkohol gereinigten Stelle mittels steriler Glas-
Spritze ausgeführt.
Die Körpertemperatur der Versuchstiere wurde
mehrmals in —Istündigen Intervallen vor der
Injektion im After festgestellt und ebenso nach
der Injektion —1 stündlich gemessen. Die Ta-
t)elle zeigt die erhaltenen Resultate.
Heryorzuheben ist, daß auch mit den
gleichen Si Og-Lösungeh nicht immer die
.gleichen Zahlen erhalten wurden, wie die
Versuche I und VI ergeben; in Versuch I
wurden nicht so große Werte bezüglich
der Erhöhung der Temperatur wie in Ver-
'Such VI erreicht; dafür ist die Temperatur¬
erhöhung in Versuch I von längerer Dauer
als in Versuch VI.
Die Versuche II und V zeigen, daß die
Dauer der Temperaturerhöhung von der
Menge der hochdispersen Si Og abhängig
ist, während 10 mg der kolloidalen Si Og-
Lösung Nr. 22 in Versuch II eine sech¬
zehnstündige Erhöhung um 2,7 o C er¬
gaben, zeigten 5 mg der gleichen Lösung
in Versuch V nahezu dieselbe Erhöhung
aber nur von acht Stunden Dauer.
Die. Versuche III und VIII sind, um
•einen etwaigen Unterschied zwischen einer
mittels Spuren Alkali und einer durch
Spuren Säure stabilisierten Lösung fest¬
zustellen, mit der kolloidalen Si Og-Lö¬
sung Nr. 18, die mittels Spuren - Säure
stabilisiert war, ausgeführt. Diese Lö¬
sung wurde aus einer mit Spuren Alkali
haltbar gemachten Si Og-Lösung Nr. 18
durch Zusatz von Normalsäure so herge¬
stellt, daß 100 ccm der Lösung 0,04 ccm
Normalsäure enthielten. Zu Versuch III
wurde die zweimal 20 Minuten in strö¬
mendem Dampf sterilisierte Lösung so¬
fort nach der Fertigstellung verwendet;
in Versuch VIII, nachdem sie über zwei
Monate aufbew'ahrt war. Diese Versuche
zeigen, daß eine hochdisperse Si Og-Lö-
sung durch .die Aufbewahrung nicht an
Wirksamkeit bezüglich der Temperatur¬
erhöhung verliert. Auffällig ist nur, daß
die ältere Lösung eine größere Erhöhung
der Körpertemperatur hervorrief als die
frische. Eine Erklärung dafür fehlt; es
dürfte wohl ein Zufall dabei eine Rolle
spielen. In Versuch IV wurde die mittels
Alkali stabilisierte Si Og-Lösung Nr. 18,
welche zur Herstellung der Lösungen für
Versuch III und VH diente, benutzt.
Es zeigte sich hierbei, daß eine dem Ver¬
such VIII sehr ähnliche Wirkung er¬
halten wurde. Es hängt also das Auf¬
treten der Temperaturerhöhung nicht
von dem Stabilisierungsmittel, sondern
von der Teilchenkleinheit der kolloidalen
Si'Og ab.
In Versuch VII werden gleichzeitig
mit der kolloidalen SiOg-Lösung Nr. 22
(= 0,005 g SiOg) 0,1 g krystailisiertes
Chlorcalcium injiziert, um eine etwaige
Modifikation der Wirkung — vielleicht
eine Entgiftung — durch die Kalkgabe
festzustellen. Wenn auch so hohe Werte
wie bei Kieselsäuregaben allein nicht er¬
reicht wurden, so ist doch wohl eine Ab¬
schwächung der SiOg-Wirkung durch
Kalk hieraus nicht zu entnehmen, sonst
hätte bei der im Vergleich zur SiOg-Menge
hohen Kalkgabe ein größerer Unterschied
gefunden werden müssen. Vielmehr
scheint es nicht ausgeschlossen, daß durch
die große Kalksalzmenge ein Teil der SiOg
sich an der Injektionsstelle in fester kol¬
loidaler Form ausschied und so der Wir¬
kung entzog. Ein Vorgang, wie er beim
Aufbewahren eines solchen Gemisches
von kolloidaler SiOg-Lösung und Chlor¬
calcium nach einigen Stunden sich in
vitro abspielt.
In Versuch IX wurde eine in einer
Ampulle zur gelatinösen Masse erstarrte
SiOg-Lösung Nr. 17 verwendet, um fest¬
zustellen, ob grobdisperse kolloidale SiOg
die gleichen Erseneinungen wie hoch-
Qisperse SiOg-Lösungen auslöst. Um diese
gelatinöse Masse injizieren tu können,
wurde sie durch Aufsaugen und Aus¬
spritzen gemischt, bis sie ganz gleich¬
mäßig war. Es zeigte sich eine Erhöhung
der Körperwärme von nur 0,3 ® C und
zwar nur drei Stunden lang, woraus zu
schließen ist, daß die Wirkungen der SiOg
von ihrem Dispersitätsgrade abhängig
und grobdisperse kolloidale SiOg Wohl
ohne Einwirkung auf die Körperwärme
ist Die Temperaturerhöhung ist so ge¬
ring, daß sie nicht mit Sicherheit als SiÖg-
Wirkung angesehen werden kann.
Die Versuche X und XI Wurden an
einem Kaninchen von 3,7 kg vorgenom¬
men zur Feststellung, ob an einem Orga¬
nismus, dessen Mineralstoffwechsel auf
die Bewältigung größerer Mengen SiOg
eingestellt ist, die parenterale SiOg-
Zufuhr die gleichen Erscheinungen wie
beim Hunde auslösen würde. In Versuch
X wurde mit einer Menge kolloidaler
48*
380
j
)
Die Therapie der Gegenwart 1921
Oktober
SiOo-Lösung, welche unter Berücksich¬
tigung aes Körpergewichtes dem Versuch
II beim Hunde entspricht und dort
16 Stunden lang eine Erhöhung der Kör¬
perwärme um 2,7 ® C hervorrief, keine
meßbare Temperatursteigerung erzielt.
Die Während 28 Stunden fortgesetzten
Messungen ergaben nahezu gleiche Werte;
die höchste Differenz betrug einmal 0,2 ^C.
Zu Versuch XI wurae die dreifache Menge
der gleichen Lösung wie in Versuch X
verwendet und dabei eine deutliche Er¬
höhung der Körperwärme erreicht. Diese
Dosis von 0,0075 g SiOg erzeugte nur
eine Steigerung um 1 ^ C etwa sieben
Stunden lang, während sie beim Hunde
von 19 kg nach obigen Versuchen sicher
eine zehnstündige Erhöhung um zwei bis
2,5 ® C bewirkt hätte. Das Kaninchen re¬
agiert also auf die subkutane SiOs-Gabe
viel schwächer als der Hund. Es ist somit
verständlich, oaß bisher die Wirkung pa¬
renteral zug^führter SiOg auf die Körper¬
wärme in der Literatur nicht erwähnt ist,
da die Injektion von SiOg meist an Ka¬
ninchen vorgenommen wurde und bei
diesen Tieren die geringe Wärmesteige¬
rung nicht auffiel.
Von besonderem Interesse war es
nunmehr, auch beim Menschen die Wir¬
kung subkutaner Si Og-Gaben festzu¬
stellen. Ein gesunder 46 jähriger Mann
zeigt nach subkutaner Injektion von
14 ccm der kolloidalen mittels Spuren Al¬
kali stabilisierten Kieselsäurelösung Nr. 22
= 0,005 g SiOg eine nach fünf Stunden
einsetzende Temperaturerhöhung um 1,8
bis 2 ® C, die etwa vier Stunden anhielt
und dann in annähernd 1% Stunden ver¬
schwunden war. Eine gewisse Abge-
schlagenheit und Müdigkeit dauerten
Während der Wärmeerhöhung; kein Ei¬
weiß im Harn, kein Zucker. Nach Ab¬
sinken der Temperatur trat wieder Wohl¬
befinden ein.
Einem 20jährigen an Furunkulose
leidendem Manne wurde 1 ccm der kolloi¬
dalen Kieselsäurelösung Nr. 22 0,01 g
SiOg intramuskulär ins Bein injiziert.
Wobei sich eine sieben Stunden anhal¬
tende Temperaturerhöhung von 2,2 bis
2,4 ^ C zeigte. Mattigkeit, Durst sowie
Spannung an der Injektionsstelle wurden
bemerkt; der Harn war eiweißfrei; Leu-
kocyten 13000. Die lästige Furunkulose
heilte in kurzer Zeit ab.
Ferner wurde eine subkutane Injek¬
tion von gelatinierter kolloidaler Kiesel¬
säure, also von grober Dispersion, mit
physiologischer Kochsalzlösung aufge-
schjemmt entsprechend 0,005 g
(Nr. 17 wie in Versuch IX der Tabelle) am
gesunden Manne vorgenommen, Wobef
außer einigen Schwankungen von 0,1 bis
0,2 ö C keine Erhöhung der Körperwärme
gefunden Wurde. Auch beim Menschen
zeigt sich also, daß hochdisperse kolloi¬
dale Kieselsäurelösung (Kieselsäure-Sol)
wesentliche Steigerung der Körperwärme
hervorruft. Während grobdisperse kolloi¬
dale Kieselsäure (Kieselsäure-Gel) un¬
wirksam ist, d. h. die Wirkung der Kiesel¬
säure auf die Temperatur von ihrem Dis¬
persitätsgrade abhängt.
Zusammengefaßt zeigen die Versuche
also, daß nach subkutanen Gaben von
einigen Milligramm SiOgals hochdisperse
kolloidale Kieselsäurelösung Erhöhung der
Körpertemperatur auftritt. Die Tempe¬
ratursteigerung bleibt mehrere Stunden
bestehen und fällt dann in einigen Stunden,
zur Norm ab. Vor allem ist diese Er¬
scheinung von dem Dispersitätsgrade der
SiOo abhängig; hochdisperse SiOg, alsa^
in dem Zustande, in Welchem sie sich uns
als klare Lösung dokumentiert (SiOa-
Sol), erzeugt Temperaturerhöhung; kol¬
loidale SiOg geringer Dispersität, in Form
der gelatinierten Kieselsäure (SiOg-Gel)
gibt keine Änderung der Körpertempe¬
ratur. Sowohl beim Fleischfresser, dem
Hunde, als auch beim Pflanzenfresser, dem
Kaninchen, zeigt sich diese Wirkungp
ebenso beim Menschen. Bei dem Kanin¬
chen geben jedoch erst wesentlich größere
Mengen (auf das Körpergewicht bezogen)
als beim Hunde eine Reaktion. Es spielt
dabei keine Rolle, ob die hochdisperse
SiOg mittels Spuren Alkali oder Säuren
stabilisiert ist. Da die kolloidalen SiOg“-
Lösungen oftmals durch den Einfluß des.
Glases sehr leicht gelatinieren, das heißt
in gröber disperse SiOg übergehen und
somit bei der Injektion die Körpertem¬
peratur nicht mehr erhöhen, ist es wichtig,,
nur solche Lösungen zu verwenden, die
dauernd haltbar sind, was am sichersten
durch Stabilisierung mit äußerst geringen
Alkalimengen erreicht wird.
Durch gleichzeitige Verabreichung von
im Verhältnis zur angewandten SiO^
großen Mengen Chlorcalcium ist es nicht
möglich, die temperaturerhöhende, Wir¬
kung der SiOg beim Hunde zu unter¬
drücken. Besonders die Dauer, weniger
die Größe der Steigerung der Körper¬
wärme ist abhängig von der verabreichten
Menge kolloidaler Kieselsäurelösung.
Subkutane Gaben kolloidaler SiOg-
Lösung können die interne Darreichung
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1921
381
der SiOg nicht ersetzen, weil so große
Mengen SiOg, Wie sie bei peroralen Gaben
zur Resorption gelangen, ohne Gefähr¬
dung subkutan nicht einverleibt werden
können. Während beim Menschen Einzel¬
gaben von 200 bis 400 mg SiO^ als hoch¬
disperse kolloidale Lösung peroral gut
vertragen und bis 70 % innerhalb 24
Stunden mit dem Harn ausgeschieden
werden, also jedenfalls in erheblicher
Menge im Blute kreisen, rufen subkutan
verabreicht 5—10 mg wesentliche Tem¬
peraturerhöhung hervor und machen
schon 20 mg heftige Erscheinungen.
Welche Prozesse sich durch subku¬
tane Zufuhr hochdisperser kolloidaler Si Ög
im Organismus abspielen und sich uns in
einer Erhöhung der Körpertemperatur
zeigen, ist unbekannt. Ob und welche
Zusammenhänge mit der Luithlenschen
Kolloid-Therapie oder mit Weichhardts
Protoplasmaaktivierung bestehen, ob die
Erscheinungen auf der physikalischen
Natur der kolloidalen Kieselsäure oder
auf biophysikalischen Zustandsänderun¬
gen beruhen, müssen künftige Arbeiten
entscheiden.
Die vorliegenden Versuche geben für
die therapeutische Prüfung der kolloidalen
Kieselsäurelösung den Fingerzeig, die
Mengen für die subkutanen und intra¬
muskulären Gaben für den Menschen
nicht höher als 5—10 mg .SiOg zu wählen.
Die Prüfung selbst erhält die Berechtigung
dadurch, daß in der kolloidalen SiOg-
Lösung ein in jeder Hinsicht, selbst be¬
züglich des Dispersitätsgrades, gut defi¬
nierbarer, einfacher Körper vorliegt, dem
alle unkontrollierbaren Eigenschaften feh¬
len, welche z. B. den Proteinkörpern, dem
Terpentin und dergleichen eigen sind pnd
welche die Forschung erschweren. Über
die intravenöse Darreichung hochdis¬
perser kolloidaler Kieselsäurelösungen und
über die dabei auftretenden Erscheinun¬
gen, welche wegen ihrer Heftigkeit be¬
sondere Vorsicht gebieten, soll demnächst
berichtet werden.
Aus der II. medizinisclieu Universitätsklinik in Wien
(Vorstand: Hofrat Prof. Dr. N. Ortner).
Erfahrungen mit Cesol und Neucesol bei inneren Krankheiten*
Von V. Kollert und K, Bauer.
Gegen quälendes Durstgefühl besitzen
wir kein in jedem Falle wirksames Arznei¬
mittel. Deshalb wurde das von Loewy
und WoIffenstein dargestellte und von
Umb er empfohlene Cesol beziehungsweise
Neucesol von uns aufs wärmste begrüßt.
Da die Veröffentlichungen der genannten
Autoren in dieser Zeitschrift erschienen
sind, können wir ihren Inhalt als bekannt
voraussetzen; das gleiche gilt v^^ohl von
den Mitteilungen Deckers und Oster¬
lands. Wir möchten nur kurz erinnern,
daß die Cesole dem Arecolin nahestehen;
ihre Wirkung soll sich hauptsächlich auf
die Speichelsekretion und Darmperistal¬
tik beziehen; Pupillenverengerung und
Schweißsekretion dagegen sollen in den
Hintergrund treten.
Wir haben das Mittel zur Bekämpfung
des Durstgefühles vorwiegend bei Nieren-
und Herzerkrankungen durch längere
Zeit verwendet sowie seine die Peristaltik
anregende Wirkung mehrfach geprüft und
möchten unser Urteil in folgender Weise
zusammenfassen: Man kann durch die
Cesole den bei den oben genannten Krank¬
heiten im Stadium der Ödembildung auf-
tretendeh Durst - gelegentlich etwas zu¬
rückdrängen, doch ist ein vollständiger
Behandlungserfolg selten. Wegen mehr¬
facher Nebenwirkungen lehnen die Kran¬
ken eine durch längere Zeit fortgesetzte
Anwendung des Mittels häufig ab. Gün¬
stiger ist unser Eindruck hinsichtlich der
Förderung der Darmperistaltik. Die
Cesole kommen zwar nicht als Abführ¬
mittel in Betracht, erleichtern dagegen
manchmal wesentlich den Abgang von
Darmgasen. Wegen etwa geringerer
Nebenwirkungen ist das Neucesol dem
ursprünglichen Präparate vorzuziehen.
Durch das Entgegenkommen der Fir¬
ma E. Merck standen uns von Cesol
Ampullen zu 0,25, 0,2 und 0,05, von
Neucesol solche zu 0,01, 0,025 und 0,05 g
zur Verfügung. Weiter benutzten wir
Neucesol in Tabletten zu 0,05 g, teils in
dieser Form, teils in der entsprechenden
Menge Wassers gelöst als subkutane In¬
jektionen oder als Tropfen.
Die von Umber empfohlene Verab¬
reichung des Cesols in Gelatinekapseln
ist nach E. Merck wegen der hygrosko¬
pischen Eigenschaft dieses Mittels wieder
verlassen. Die subkutanen Injektionen
rufen keine lokale Reizung hervor; die
Tabletten wirken ebenso wie die Ein¬
spritzungen. Der bittere Geschmack des
382 Die Therapie der
Präparates wurde manchmal unangenehm
empfunden.
Die Dosierung ist aus mehrfachen
Gründen etwas schwierig. Zunächst ver¬
ursacht die * gleiche Menge des Mittels
nicht stets dieselben Erscheinungen, was
vielleicht teilweise von leichten Tonus¬
schwankungen des autonomen Nerven¬
systems abhängig ist. Auch tritt nach
•mehrtägiger Verabfolgung manchmal eine
Erschöpfung der Wirkung ein; nach einer
kur 2 :en Pause ist dies wieder behoben.
Geringe Unterdosierungen machen die
Verabreichung des Mittels oft nutzlos;
leichte Überdosierungen erzeugen bereits
unerwünschte Nebenerscheinungen. Als
optimale Dosis beim Menschen möchten
wir für Cesol 0,1, für Neucesol 0,025 bis
0,03 g bezeichnen. Eine einmalige Wieder¬
holung dieser Gabe im Laufe des gleichen
Tages erwies sich häufig als zweckmäßig.
Nicht selten sahen wir Kranke, bei denen
eine größere oder kleinere Dosis besser
wirkte.
Der Erfolg der subkutanen Injektion
setzt bezüglich der vermehrten .Speichel¬
sekretion manchmal in zwei bis drei
Miauten ein, in anderen Fällen vergehen
10 bis 15 Minuten bis zu ihrem Eintritt.
Die Nebenwirkungen, deren häufigste der
Brechreiz ist, sind gewöhnlich nach 30 Mi¬
nuten am stärksten ausgeprägt; nach
einer Stunde sind sie stets geschwunden.
Die speicheltreibende Wirkung des Mittels
währt vier bis zwölf Stunden. Hie Imd
da, im ganzen jedoch selten, stellt sich
nach dem Abklingen ein erhöhtes Durst¬
gefühl ein.
Wir wollen nunmehr die Wirkung der
Cesole nach Organen geordnet besprechen.
Während das Arecolin bekanntlich Miosis
erzeugt und die Konjunktiven reizt,
konnten Loewy und Wolffenstein in
der erwähnten Abhandlung diese Wirkung
am Auge bei den Cesolen kaum nach-
weisen. Auch wir sahen beim Menschen
durch 5%ige in den Konjunktivalsack
eingeträufelte Lösung weder Hyperämisie-
rung der Bindehäute noch Verengerung
der Pupille. Nach der Cesolgabe ein¬
getropftes Homatropin erzeugte im vor¬
behandelten Auge gleich starke Mydriasis
wie im Kontrollauge. Wurde im Stadium
der abklingenden Homatropinwirkung Ce¬
sol in den Bindehautsack geträufelt, so
konnte nur selten eine etwas raschere
Rückkehr der Pupille zur normalen Größe
beobachtet werden.
Vermehrte Nasensekretion sahen
wir einmal im Verlaufe einer Nausea.,
Gegenwart 1921 Oktober
Auftreten von Speichelfluß gab,
wie schon erwähnt, Veranlassung zur Ein¬
reihung der Präparate in den Arzneischatz.
Wir verwendeten das Mittel, wenn Kranke
über Trockenheit im Munde klagten; diese
war auch oft objektiv nachweisbar. Weni¬
ge Minuten nach der Injektion wurde die
Durchfeuchtung besser. Hatte eine leichte
Überdosierung stattgefunden, so sah man.
nach einer viertel bis einer halben Stunde
den Kranken häufig schlucken oder den
Überfluß des Speichels nach außen ent¬
leeren. Diese Reaktion war meist nach
•einer Stunde geschwunden, die vermehrte
Durchfeuchtung des Mundes blieb jedoch,
allerdings in einem abnehmenden" Maße,
durch mehrere Stunden erhalten. Pituitrin
(,,Dr. Heisler“), das nach Pal die Tätig¬
keit der Drüsen mit äußerer Sekretion
hemmt, scheint in Dosen von 0,25 g die
Wirkung von 0,05 g Neucesol paralysieren
zu können. Schwellung der Parotiden
während der Speichelsekretion wurde
nicht bemerkt. Diesbezüglich erscheint
eine Kranke mit Parotisschwelluhg und
Speichelfluß, Vergrößerung der Glandulae
submaxillares, myxödematöser Haut¬
beschaffenheit und Osteoporose bemer¬
kenswert. Sie erinnerte vielfach an den
durch Baumstark beschriebenen Fall
von beiderseitiger Speicheldrüsenvergrö¬
ßerung und Myxödem. Bei unserer
Patientin traten zeitweise spontane
Schwellungen namentlich der linken
Speicheldrüse auf; durch 0,2 Cesol
konnte eine solche Volumzunahme trotz
reichlichen Speichelflusses nicht erzielt
werden.
Vermehrte Bronchialsekretion sa¬
hen wir einmal mehrere Stunden nach
Injektion von Cesol; daraufhin angestellte
Versuche, bei Kranken mit trockenem,
zähem Bronchialsekret durch Cesol die
Expektoration zu erleichtern, schlugen
fehl.
Starker Schweißausbruch auf der
Höhe der Cesolwirkung ist selten, kommt
aber vor.
Von einiger Bedeutung erscheint die
Reaktion des Magens auf Cesolverab-
reichung, da Nausea und Erbrechen die
häufigsten unerwünschten Nebenerschei¬
nungen des Mittels sind. Sieben bis zehn
Minuten nach einer zu hohen Dosis setzt
das Gefühl des Unwohlseins ein und er¬
reicht, wie bereits erwähnt, ziemlich rasch
seine grö-ßte Stärke, um dann wieder ab¬
zuklingen. Die Ptyalorrhöe dürfte nicht
die einzige Ursache des Unbehagens sein.
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1921
383
da man' diese Empfindung in seltenen
Fällen auch ohne vermehrte Speichel¬
bildung beobachten kann. Nicht selten
klagen die Kranken gleichzeitig über
heftiges Sodbrennen. Wir vermuteten
daher eine vennehrteSalzsäureproduk’tion,
fanden aber bei mehrfacher Untersuchung
:20 Minuten nach der Cesolgabe herab¬
gesetzte Säurewerte im Magen. Im
- Röntgenbild des Magens wurde auch zur
Zeit der Nausea nichts Charakteristisches
gefunden.
Arecolin erregt bekanntlich die Darm¬
peristaltik und wird deshalb in der Tier-
arzneikunde gebraucht, in der Human¬
medizin jedoch wegen seiner Nebenwir¬
kungen nicht verwendet. Auch nach Cesol
•isahen wir einige Male bald eine nicht
diarrhöische Stuhlentleerung auftreten;
dies war aber nur ausnahmsweise festzu-
stellen'. Dagegen berichteten viele Kranke
über vermehrtes Abgehen von Flatus. Wir
verwendeten daher das Mittel mehrfach
gegen Meteorismus und konnten oft mit
dem Erfolge zufrieden sein. Gelegentlich
versagten die Cesole jedoch auch in dieser
Hinsicht. Wie bekannt, sind die Ursachen
der Gasansammlungen im Darm mannig¬
facher Art; nur dort, wo eine etwas ver¬
mehrte Peristaltik den Zustand erleichtern
kann, ist ein Erfolg der Cesoldarreichung
.zu erwarten. Am bemerkenswertesten in
•dieser Hinsicht war ein Kranker mit
Pylethrombosis, dem Ascites und Meteo-
Tismus hochgradige Beschwerden verur¬
sachten. Es gelang bei ihm oft durch
Neucesol, die Spannung des Bauches be¬
deutend zu verringern. Auch die Schmer¬
zen, unter denen ein anderer Kranker litt,
dessen Leiden als Dyspraxia intermittens
^rteriosclerotica gedeutet wurde, schwan¬
den jedesmal rasch nach Anwendung des
Mittels.
Ferner scheinen die Cesole manchmal
Kontraktionen »der Harnblase zu
bewirken. So sahen wir bei einem Kranken
einige Minuten nach der Injektion einen
heftigen Harndrang auftreten; ein anderer
Patient, ein 13 jähriger Knabe, der schon
mehrere Gaben des Mittels ohne irgend¬
welche Nebenwirkungen vertragen hatte,
klagte nach 0,1 g Cesol auf der Höhe der
Wirkung über einen so heftigen krampf¬
artigen Schmerz in der Blasengegend,
daß ihm Morphin verabreicht werden
mußte.
Am Herzen und an den Gefäßen
konnten wir klinisch keine Veränderungen
nachweisen; der Puls bleibt unverändert.
Eine Verschiebung des weißen Blut¬
bildes tritt nicht ein. Pyridin führt nach
Heinz zur Bildung yon lichtbrechenden
Körperchen in den Erythrocyten. Im
Hinblick darauf haben wir mehrfach das
Blut nach Cesolinjektionen auf derartige
Gebilde untersucht, ohne jedoch ein posi¬
tives Ergebnis zu erhalten.
Da die Firma E. Merck uns auf eine
eventuelle wurmtreibende Wirkung
der Cesole aufmerksam machte, möchten
wir erwähnen, daß wir in einem Falle nach
Cesol den Abgang eines Ascaris sahen; ob
es sich dabei um die Wirkung des Prä¬
parates handelte, könnte nur durch wei¬
tere diesbezügliche Beobachtungen ent¬
schieden werden.
Literatur: Baumstark, M. m. W. 1917,
S. 840. — Deckek, M. m. W., S. 1494. — Heinz
nach Kunkel, Handb. der Toxikologie 1901.—
Loewy und Wolffenstein, Th. d. Geg. 1920.
— Osterland, M.m.W. 1920, S. 1315. — Pal,
D. m.W. 1916, S. 1030. — Um.ber, Th. d. Geg.
1919.
Aus dem Waisenhaus und Kinderasyl der Stadt Berlin
(LeitenderArzt: PrivatdozentDr. L. F.Meyer.)
Luminaltherapie beim Säugling.
yon Dr. Leonie Salmony.
Arzneiliche Verordnurigen beim Säug¬
ling werden in der Praxis oft vermieden,
-weil über die Dosierung in diesem Lebens-
' alter Unsicherheit herrscht. Entschließt
man sich aber zu einer medikamentösen
Therapie, dann geschieht es oft mit allzu¬
großer Vorsicht, so daß man unter Um¬
ständen unter der wirksamen Dosis bleibt,
■wie es — um nur zwei wichtige Beispiele
herauszugreifen — so häufig bei der Be¬
handlung mit Atropin und Chloralhydrat
geschieht. So kommt man fast nie zu
dem gewünschten Erfolg, wenn man bei
schwerer Eklampsie unter 0,25 g Chloral¬
hydrat pro dosi gibt; am besten verordnet
man — beim älteren Säugling — sogar
0,5 g Chloralhydrat, das man gleichzeitig
mit 0,25—0,5 g Urethan kombiniert.
Ähnliche Gesichtspunkte müssen bei der
Atropintherapie maßgebend sein. Ist doch
gerade der Säugling relativ viel unemp¬
findlicher als das ältere Kind und der
Erwachsene gegen dieses Arzneimittel.
Beschränkt man sich beim Atropin nicht
384
Die'Therapie der Gegenwart 1921
Oktober
I
auf homöopathische Dosen, sondern gibt
täglich von einer Lösung 0,01 : 10,0 drei¬
mal 2—5 Tropfen (Extr. Belladonna die
entsprechend zehnfache Menge), so er¬
zielen wir Erfolge, z. B. bei Ruhr (Be¬
seitigung der Darmspasmen und Ver¬
minderung der Entleerungen), bei Pyloro-
spasmus 'und Erbrechen auf anderer
Grundlage, bei asthmatischen Zuständen
und Ekzem, die bei kleineren Dosen nie¬
mals zu erwarten sind. Freilich gehen die
Ansichten betreffend Dosierung der eim
zelnen Arzneimittel noch sehr auseinander
und selbst über ein relativ ungefährliches
Medikament wie Luminal herrscht in
dieser Hinsicht noch keine Einigkeit.
Während z. B. Friedländer bis zum
zweiten Lebensjahr nur Mengen Von 0,005
bis 0,01 empfiehlt, geben Klotz und Como
0,01—0,05 pro dosi in demselben Alter
und Göppert rät zu 0,03—0,05 für die
Zeit vom siebenten bis zwölften Monat.
Es schien daher wünschenswert, an einer,
größeren Reihe von Säuglingen Dosierung
und Wirkungsweise dieses Sedativums
klinisch zu untersuchen. Angewandt
wurde das Mittel bei Spasmophilie,
Asthma bronchiale., bei chronisch-spasti¬
schen Zuständen (Mikrocephalie), bei
Pneumonie, Keuchhusten, bei den Jak¬
tationen der ernährungsgestörten Kinder,
bei zwei Fällen von schmerzhafter Otitis
media.
Trotzdem uns für diese Zustände, bei
denen bald eine erhöhte Erregbarkeit des
Nervensystems und der Muskulatur, bald
Husten, Atemnot, Schmerzen, bald all¬
gemeine Unruhe und Schlaflosigkeit mehr
im Vordergrund waren, eine große Reihe
erprobter Hypnotika und Narkotika zur
Verfügung stehen, scheint uns das Lu¬
minal infolge seiner hypnotischen und
vielleicht auch hypalgetischen Wirkungs¬
weise der Anwendung wert zu sein. Lu¬
minal ist bekanntlich ein Derivat des
Veronals, löst sich kaum in Wasser, aber
leicht in verdünnten Alkalien. Wir be¬
dienten uns vorzugsweise des (wasser¬
löslichen) Luminalnatriums (in der Lö¬
sung 1 : 250,0), das 90 % reines Luminal
enthält. Die Luminaltabletten — ä 0,1
und 0,3 in Originalröhrchen von F. Bayer
& Co. — waren wegen ihres kleinen For¬
mates (das die genaue Teilung in die für
den Säugling notwendigen Einzeldosen
erschwerte) und wegen ihrer Wasser¬
unlöslichkeit nicht sehr geeignet für unsere
Zwecke. Von der oben ei wähnten Lösung
von Luminalnatrium wurden je nach Be¬
darf zwei- bis viermal 10 g (0,04) im ersten
Lebensjahre gegeben, vereinzelt sogar un(f
ohne Nachteil Einzeldosen bis zu 15 . g:“
(0,06). Bei debilen oder neugeborenem
Kindern soll man sich auf Mengen von-
je 5 g (0,02) beschränken und bei Klein¬
kindern kann man, wenn Gaben vom
0,Ö5 g wirkungslos bleiben, auf einmalige-
Mengen von 0,1 Luminalnatrium über¬
gehen, die aber dann nicht öfter als einmal
in 24 Stunden zu geben sind. Ein Schema,
für die Dosierung beim Kleinkind könnert
wir noch nicht geben; dazu sind unserer
Erfahrungen vorerst zu klein; wir haben'
jedoch den Endruck, daß die Empfind¬
lichkeit — ähnlich wie bei Atropin —
oberhalb des ersten Lebensjahres ver¬
hältnismäßig größer zu sein scheint als
beim Säugling. Ist eine Verabreichung:
per OS nicht möglich, so soll man dieselbe
Menge in der nämlichen Konzentration
per klysma einführen. Ferner kann mam
von einer 20 %igen sterilen. Lösung von-
Luminalnatrium (gebrauchsfähig nur wenn
wasserklar) 2—3 Teilstriche subcutan in¬
jizieren; bei letztererForm der Anwen¬
dung muß betont werden, daß niemals-
eine lokale Reaktion (Nekrose), vor der
in der Literatur vielfach gewarnt wird,
auftrat. Bis zum Eintritt der Wirkung:
des Luminals vergingen durchschnittlich
20 Minuten, selten weniger (10 Minuten)*
und nur vereinzelt mehr (30 Minuten)..
Die Art der Einführung hatte auf die-
Schnelligkeit des Eintrittes der Wirkung'
keinen Einfluß.
Ohne deutliche Überlegenheit gegen¬
über der bisher üblichen Therapie blieb*
das Luminal im akuten Krampfanfall des
spasmophilen Säuglings, abgesehen vom
den Fällen, bei denen wegen der momen¬
tanen Unmöglichkeit der rektalen oder
oralen Zuführung (von Chloral und Ure-
than) Luminal als subcutane' Injektion,
von Vorteil war.
Ebenso beobachteten wir einen Mi߬
erfolg des Luminals bei einem Kinde mit
Asthma bronchiale, das sich z. B. bei.
nachträglicher Anwendung von Adrenalin?
sofort besserte und nach einigen Tagen«
abklang. Wohl konnte man auch hier
durch Luminal Schlaf herbeiführen und
somit zeitweise das K’nd von seiner-
quälenden Atemnot befreien. Erwachte
das Kind jedoch aus seinem (Luminal-)
Schlaf, so traten die Bronchialmuskel¬
krämpfe in ihrer ursprünglichen Inten¬
sität auf.
Nun zu den Krankheitsgruppen, be^
denen das Luminal den bisherigen Thera-
Oktober i Die Therapie der' Gegenwart 1921
"peiiticas gleichwertig, vielleicht sogar
Silber legen, ist!
So sahen wir bei chronisch-spastischen
Zuständen der Muskulatur (durch. Mikro-
-cephalie oder Geburtsträumen bedingt),
bei denen die Säuglinge durch den dauern¬
den Muskelkrampf heftige Schmerzen
haben und sich dadurch schlaflos, laut
schreiend, bei minimaler Nahrungsauf¬
nahme stunden- und tagelang im Bett
mmherwerfen, eine prompte Beeinflussung;
•die Kontrakturen ließen nach und die
Kinder fanden endlich den langentbehr-
len, ruhigen Schlaf. Gerade bei diesen
Fällen, bei denen ja oft technisch eine
-orale oder rektale Zuführung unmöglich
•oder unzureichend ist, tat uns das Luminal
•'Wiederum, als Injektion angewandt, gute
Dienste.
Sehr zu empfehlen ist das Luminal
bei der Bronchopneumonie des Säuglings,
sowohl gegen die durch Schmerzen und
Lufthunger bedingte Unruhe als auch
::gegen den Husten und die Dyspnoe; es
•wirkt dabei zwar nur symptomatisch, ist
jedoch trotzdem ein wertvolles thera¬
peutisches Mittel, da durch zwei- bis drei¬
malige tägliche Gaben von 0,04 g^ die
Kinder einen dauernden, nicht zu tiefen
Schlaf finden, aus dem nur selten der
Husten sie aufschreckt; die schnelle At-
rmung wird gleichzeitig langsamer. Die
Nahrung wird besser aufgenommen und
v^erwertet, da die Mahlzeiten, zu denen
• der kleine Kranke meist spontan erwacht
•oder leicht zu wecken ist, durch die
Herabsetzung des Hustens besser ge¬
nommen und behalten werden.
Einen deutlich günstigen Einfluß hat
• die Luminalverabreichung auf die Anzahl
— nicht auf, die Stärke — der Husten-
•anfälle bei Pertussis. Bei Säuglingen
gaben wir dreimal 0,04 Luminalnatrium
m achtstündigen Pausen innerhalb
24 Stunden^ während wir beim Klein¬
kind eine einmalige Dosis von 0,1 (sogar
•einmal 0,15) vorzogen, die wir abends vor
•dem Schlafengehen verabreichten. Wir
sicherten dadurch dem Kinde die ihm so
besonders notwendige Nachtruhe, konn-
"ten aber keineswegs erreichen, daß die
Zahl oder Intensität der Anfälle am
^-nächsten Morgen irgendwie günstig be¬
einflußt wurden.
Die dauernden Jaktationen des er-
mährungsgestörten Säuglings konnten öf¬
ters durch eine einmalige Gabe von 0,04
Luminalnatrium behoben werden und das
noch eben unruhige Kind fiel bald in
einen mehrstündigen Schlaf.
Ein erfolgreicher Versuch mit Luminal
wurde ferner in zwei Fällen von schmerz¬
hafter Otitis media gemacht, bei denen
dieses Sedativum den Kindern die schon
mehrere Tage entbehrte Nachtruhe ver¬
schaffte. 'Wir wissen wohl, daß wir mit
einem der üblichen Opiate dieselbe Wir¬
kung hier erreicht hätten. Uns war es
aber interessant, daß wir auch in diesen
Fällen, wo die Schmerzen im Mittelpunkt
standen, Schlaf erzielten.
Vergiftungserscheinungen haben wir
nur in einem Falle in Form eines typischen
Luminalexanthems, wie^ es schon öfter
beschrieben ist, gesehen* und zwar nach
einer Dosis von 0,1 Luminal (die vier Tage
hintereinander immer abends gegeben
worden war) bei einem sechsjährigen
(vagotonischen?) Kinde. Das Sensorium
war — entgegen Beobachtungen anderer
Autoren — nicht getrübt, jedoch war eine
Fiebersteigerung bis zu 40® vorhanden.
Nach'Absetzen des Mittels fiel die Tem¬
peratur lytisch innerhalb drei Tagen zur
Norm ab und trat nach einer zufälligen
Wiederholung der Luminalmedikation, in
der man zu diesem. Zeitpunkt noch nicht
die Ursache des Krankheitszustandes er¬
kannt hatte, nebst dem Exanthem sofort
wieder auf. Diese Intoxikation, die wir
nie bei den zahlreichen mit Luminal be¬
handelten Säuglingen sahen, weist uns
meines Erachtens nachdrücklich darauf
hin, die Dosierung beim Kleinkind mit
Vorsicht und an einem größeren Material
auszuprobieren.
Bei kurzer Zusammenfassung der Wir¬
kungsweise des Luminals auf den Säug¬
ling muß zugestanden werden, daß das
Luminal ein Sedativum ist, bei dem neben
seiner beruhigenden und schlafmachenden
Wirkung außerdem eine direkte Beein¬
flussung von Schmerz und Atmung eine
Rolle zu spielen scheint. Eine elektiv
antispasmodische Wirkung konnte nicht
festgestellt werden.
Literatur: 1. Friedländer: Die Behand¬
lung epileptischer Anfälle (Ther. Hmh. 1919/24)^
2. Como: Über Luminal (Inang. Dissertation.
Würzburg 1914). 3. Fortschritte in der medika¬
mentösen Therapie der Kinderkrankheiten (Ther.
Hmh. 1915/3). 4. Meyer, Gottlieb: Experi¬
mentelle Pharmokologie (Urban & Schwarzen¬
berg 1914).
49
386' ' ■ Die Therapie der Gegenwart ;1921; . j • Oktober-
Zusammenfassende Übersicht.
Der jetzige Stand der Radiumemanationstherapie.
Von Dr. Engelmann, Kreuznach. (Fortsetzung.)
Therapeutische Anwendung. -
Die Radiumenianation kommt in fol¬
genden therapeutischen Formen zur An¬
wendung: durch Trinken, durch Inha¬
lieren, Bäder, Umschläge, Packungen,
Einläufe, Spülungen und Injektionen.
Wir sahen oben, wie Wir uns die Einver¬
leibung der Em.anation bei Trinken
. vorzustellen haben, daß ein gewisser Teil
wohl durch die Lungen exhaliert wird,
aber noch reichlich Emanation zurück¬
bleibt, um in den Arterienkreislauf über¬
zugehen und noch nach über zwei Stunden
daselbst nachgewiesen zu Werden. Wenn
wir alle zwei bis drei Stunden Emanations¬
wasser zuführten, könnten wir theoretisch,
und man tut es hier und da auch praktisch,
den Körper den ganzen Tag über unter
Emanationswirkung setzen. Doch da dies
störend und lästig wäre, und da anderer¬
seits gar nichts gesagt ist, daß eine
dauernde Überschwemmung des Organis¬
mus das therapeutisch Wirkungsvollste
ist, so begnügt man sich, den Patienten
zwei- bis dreimal täglich eine bestimmte
Dosis trinken zu lassen. Messungen haben
ergeben, daß bei gefüllten Magen die Re¬
sorption eine verzögerte ist, also möglichst
lange Radiumemanation, von dem Magen,
der gewissermaßen ein Depot darstellt,
abgegeben wird. Die Vorschrift lautet
also: zwei- bis dreimal täglich nach dem
Essen langsam z. B. 2000 Macheeinheit'en
trinken.
Eine weitere sehr* zweckmäßige und
wiikungsvolle Anwendungsform ist die In¬
halationsmethode. Die oben erwähn¬
ten theoretischen Eiwägungen machen
dies plausibel, zahlreiche Messungen haben
die Vermutungen bestätigt, klinische Er¬
fahrungen gesichert. In Emanatorien,
kleinen Räum.en, die luftdicht abge¬
schlossen sind, damit keine Emanation
entweichen kann, mit entsprechender
Sauerstoffzuführung und Einrichtung zur
Reinigung der verbrauchten Luft, sind
in verschiedenen Größen und in ver¬
schiedener Ausführung konstruiert und
enthalten die Emanation in der geforder¬
ten Stärke: beispielsweise pro Liter Luft
4 —6—18 Macheeinheiten. Der Patient
(oder die Patienten, es handelt sich ja
um Gesellschaftsinhalation) hält sich ein
bis zwei Stunden dort täglich auf, atmet
die emanationshaltige Luft ein und macht
sein Blut und damit den Körper radio--
aktiv. Kurorte wie Joachimsthal, Baden-
Baden, Kreuznach und wohl noch andere
mehr, die in der Lage sind, über natür¬
liche Emanation, sei es aus Quellen, sei
es aus der Luft, zu verfügen, sind in der
Lage, geräumige, bequeme und luftige-
Räume zu bieten.
So ;at beispielsweise Kreuznach ein-
sehr komfortables Naturemanatorium,.
das aus einer Höhle Emanationsluft irr
beträchtlichen Mengen, pro Liter 20 Mache¬
einheiten mindestens ständig erhält. Es -
muß verlangt Werden, daß solche Emana¬
torien allermindestens 8—10 Mache--
einheiten enthalten, damit der Aufenthalt
darin eine specifische Wirkung ausübt_
Mit einstündigem Inhalieren täglich Wird
man auskommen,* unter Umständeri wird
man zwei Stunden verschreiben. Bei
entsprechenden Indikationen kommen.
stärkere Inhalationsgehalte in Betracht.
Es ist Falta beizustimmen, daß die
Möglichkeit voihanden sein muß, die •
Dosen innerhalb einer gewissen Breite
zu variieren. Die Wiener Klinik gibt bis
1200 Macheeinheiten pro Liter Luft. Die-
oben angegebene Stärkezahl 10 bis 12'
iVfacheeinheiten wird im allgemeinen aus¬
reichen.
Um Bettlägerigen und Wegunfähigen
die Vorteile einer Inhalationskur zu¬
kommen zu lassen, hat man transportable
Einzelinhalationsapparate konstruiert,,
deren sich die Industrie vielleicht auch
Wieder annehmen wird.
Ich habe seinerzeit einen solchen kleinen Ap¬
parat®) nach Anregung von Salinendirektor Neu¬
mann ' verbessert, ausprobiert und mit Prof.
Bickel der medizinischen Gesellschaft in Berlin
vorgeführt. Man atmet mittels einer Gesichts¬
maske Luft ein, die durch Radiumemanations¬
wasser streicht und dadurch radioaktiv wird.
Einfache Bedienung erlaubt es, daß der Patient
selbst durch schnelleres oder langsameres Zulaufen
von Emanationswasser die Stärke variiert. Da- -
durch, daß Emanationswasser benutzt wird, ist
man von anderen Präparaten unabhängig, denn
dieses ist immer leicht zu verschaffen. So ist der
Apparat denkbar primitiv. Man exhaliert in die
Maske, die zweckmäßig Nase und Mund bedeckt, .
und so gegen die dort ständige vorhandene Ema¬
nationsluft, dadurch wird eine zu schnelle Abgabe
der Emanation vermieden. Laufende Blutmes—
sungen haben mich überzeugt, daß der Emana-
tionsgehalt des Blutes groß ist. Der Apparat ist
als Zusatzapparat zu einem Emanationswasser
bereitenden Apparat gedacht, einem Emanator,.
Aktivator oder wie man denselben nennen wilL-
‘) B. kl. W. 1911, Nr. 15.
Oktober , Die Therapie der Gegenwart 1921 387
In diesem Falle speziell als Zusatzapparat zu dem
Neu mann'sehen Aktivator, der auch denkbar
primitiv, übersichtlich und vor allem sehr zuver¬
lässig ist. Eine solche Kombination ermöglicht
eine erschöpfende Emanationstherapie jeglicher
Form: Trinkkuren, Inhalationskuren, Bäder,
Packungen, Kompressen, Ausspülungen und Ein¬
läufe.
Über die Wertigkeit der beiden An¬
wendungsformen ist man sich jetzt wohl
im allgemeinen einig. Beide Therapien
sind Wirksam, Welche man anWendet ist
Geschmatksache, wenn man nicht durch
äußere Verhältnisse auf eine angewiesen
ist. Bei intensiv gewünschter Anwendung
ist Kombination zweckmäßig. Wenn die
Gelegenheit es zuläßt, verbinde man eine
von den beiden Anwendungsformen oder
beide mit Radiumemanationsbädern.
Während die alten Erfahrungen mit
radioaktiven Quellen, durch die man ja
eigentlich auf den Heilfator Emanation
kam, darauf hinwiesen, Bäder zu geben,
kam man eine Zeitlang davon ab, durch
die Erwägung, daß im Bade Emanation
vermutlich nicht so leicht und intensiv
einverleibt würde, wie durch die Methode
des Trinkens oder Inhalierens. Nachdem^
ich zuerst bei Strasburger nachwies,
daß Emanation im Bade nicht nur durch
Einatmen der über dem Badewasser
ruhenden Emanationsluft wiiksam würde,
sondern daß auch die Haut Emanation
in den Körper eindringen läßt, begann
man die Bäder, gewissermaßen innerlich
Wissenschaftlich beruhigt, wieder zu dem
Rechte kommen zu lassen, das alte Er¬
fahrung empirisch zugestanden hatte und
kam mehr und mehr sorgfältig beob¬
achtend zu der Überlegung, daß zweifel¬
los auch die direkte Einwirkung des die
ganze Haut wie einen Mantel umgebenden
Emanationswasser durch die direkte
Strahlenwirkung ein nicht zu vernach¬
lässigender therapeutischer Frktor sei.
Die entthronten Bäder Wurden wieder
eingesetzt und es war gut. Wenn Kom¬
pressen eindeutig wirken, dann sicher
auch Bäder. Es kommt eben nicht nur
der Einatmungsfaktor in Betracht. Die
Komponente des Wasserbades als solches
ist dabei noch nicht mal in Rechnung
gesetzt.
Über die ganz besondere Wirkung der
Emanationsbäder auf den Blutdruck
spreche ich Weiter unten. Ein Ema¬
nationsbad soll eine Stärke von mindestens
12000 Macheeinheiten haben, um den
Namen als solches zu rechtfertigen.
Schwächere Bäder dürfen auf keinen
Fall als Radiumbäder gelten. Stärkere
Bäder sind häufig bei individualisierender
Verwendung zweckmäßig: 20000—30t)00
Macheeinheiien Wird die Norm sein.
Stärkere Bäder sind oft nicht gleichgültig,
aber . häufig nützlich. Radiumbäder
haben vielfach eine ausgesprochene/augen-
blicklich zur Erscheinung kommende, be¬
ruhigende und SGhlafbefördernde Wirkung.
Sie Werden dabei angenehm und er¬
frischend befunden. - Die Wirkung und
der Enderfolg ist entsprechend der
Wirkung der Emanation,.- Wie er oben
skizziert ist.
Kommen örtliche begrenzte Erkran¬
kungen in Betracht und Wollen wir eine
längere Einwirkung haben, wie die der
über eine gewisse Zeitdauer nicht mög¬
lichen Bäder, sind Kompressen von
gutem Erfolg. Ein Tuch Wird mit Ema¬
nationswasser getränkt, recht lange und
ausgiebig, ausgerungen und in Form des
Priesnitz auf den betreffenden Körper¬
teilbefestigt. Derartige Umschläge wirken
subjektiv lindernd und objektiv heilend.
Entsprechende Ganzpackungen mit
Radiümemanationswasser sind außer¬
ordentlich Wiikungsvoll und können Bä¬
der, Wo solche technisch nicht möglich
sind, zum Teil ersetzen.
Die Anwendung trockener Kom¬
pressen übergehe ich hier, da dabei
die reine Strahlenwirkung zur Geltung-
kommt, Weniger die Emanation, von der
hier die Rede sein soll. Es ist dies mehr
eine Form der Bestrahlung mit radio¬
aktiven Stoffen, nur mit schwächeren
Präparaten. Darunter Würden auch die
vielfach gebräuchlichen Radiumsalben,
Radiumkugeln und Radiumsuppositorien
(für vaginale und rectale Therapie) fallen.
Will man Körperhöhlen dem Einfluß
von' Emanation aussetzen, wie Mund¬
höhle, Nasenhöhle, Scheide und Darm,
so haben Wir in den Spülungen mit Ema¬
nationswasser eine denkbar bequeme
Form und in der Tat sind schöne Erfolge
damit erzielt. Zahnärzte berichten über
Spülungen mit Emanationswasser, bei
Nasenerkrankungen ist ein Versuch mit
Emanation erfahrungsgemäß erfolgver¬
sprechend, Spülungen der Scheide sind
erprobt. Ein warm.er Befürworter der
sogenannten Bleibeklistiere war Eich¬
holz. Er wollte durch dieselbe vom
Mastdarm aus auf die Beckenorgane
wirken und sah von den resorptionsbe¬
fördernden Eigenschaften der Emanation
schöne Erfolge. Die Therapieform wird
in Kreuznach viel ausgeübt.
49*
3^8
Die Therapie der Gegenwart 1921 /
Oktober
Blieben noch die Injektionen in
Haut, Bindegewebe, Muskeln und die
Venen zu besprechen. Da es sich meist
hierbei um Radiumlösung handelte,
soweit Erfahrungen vorliegen, nicht Ra-
diumemanati'onslösungen, jene An¬
wendungsform also streng genommen
zur Radiumtherapie gehört, erübrigte
sich eine Erörterung hier. Doch muß ich
der Injektion von Emanationslösungen
Erwähnung tun. Es ist dies eine Anwen¬
dungsform, die noch in den Kinderschuhen
steckt und vielleicht noch ausgebaut
werden kann. Die Vorteile der Injektion
von Emanationslösung gegenüber den
bisher angewandten Radiumlösungen, bei
denen wie bei Thoriumlösungen, jä reich¬
liche Erfahrungen vorliegen, sehe ich ein¬
mal in dem Kostenpunkt. Vorausgesetzt,
daß es gelänge kleinste Mengen Injek¬
tionsflüssigkeiten so mit Emanation an¬
zureichern, aaß sie ähnlich stark wie
Radiumlösungen würden, wäre das Ver¬
fahren wesentlich billiger wie jenes. Aber
auch im Sinne einer intensiven Emana¬
tionsbehandlung, also starken und schnel¬
len Überschwemmung des Körpers mit
Radiumemanation, um gewaltige Ein¬
wirkungen bei hartnäckigen Fällen (viel¬
leicht auch bei gewissen Stoffwechsel¬
erkrankungen!) zu erzielen, halte ich die
Anwendungsform für aussichtsvoll. Über
therapeutische Erfahrungen mit solchen
Emanationslösungen ist mir nichts be¬
kannt; ich selbst habe nur in Tierver¬
suchen starke emanationshaltige Koch¬
salzlösungen zur Prüfung des Blutdrucks
und der Emanationsverteilung in die
Venen, in Arterien und in den Lumbal¬
sack infundiert. Es würde mich freuen,
wenn die Zeilen die Anregung zur Ausar¬
beitung einer Methode zur Herstellung
und Ausprobierung solcher Emanations¬
lösungen geben würden. Im staatlichen
Radiuminstitut zu London erinnere ich
mich solche Lösungen gesehen zu haben.
Ich fasse zusammen: Trinkkur, In¬
halation, Bäder, Kompressen (Ganz¬
packungen) und Spülungen der Körper¬
höhlen sind die Formen, mit denen wir
die Emanation zur therapeutischen Wir¬
kung bringen können. Ob man Trinkkur
oder Inhalation anwendet, entscheiden
jeweils äußere Umstände; vorsichtiger
dosieren kann man mit ersterer, inten¬
siver einwirken mit letzterer. Ist sehr
intensive Einwirkung eiwünscht, kom¬
biniert man beides zweckmäßig. Zur
Verstärkung der Wirkung komm^en Bäder,
die bei Hauterkrankungen, multiplen Er¬
krankungsstellen, bei Einwirkung auf die
Gesamtkonstitution und den Kreislauf,
von unbestrittenem Wert sind. Bei ört¬
lichen Erkrankungen tritt dazu die An¬
wendung von Kompressen und Aus¬
spülungen.
Wann sind Emanationskuren anzu¬
wenden?
Indikationen.
Die drei Hauptkrankheitsgruppen sind:
Erkrankung der Gelenke und Mus¬
keln, Gicht und Nervenerkrankun¬
gen. Es sind dies zugleich die Haupt¬
indikationsgruppen für einen großen Teil
unserer Badeorte. Und wie sich aus der
baineologischen Erfahrung heraus mit
der Erkenntnis der Radioaktivität man¬
cher Quellen die bewußte therapeutische
Anwendung der Emanation bei gewissen
Erkrankungen und dann ihr systematischer
Ausbau entwickelte, so bleiben diese
Krankheitsgruppen auch Weiterhin die
Hauptdomäne für erfolgreiche Emana¬
tionstherapie.
Gelenkerkrankungen.
Gelenkerkrankungen im akuten Sta¬
dium sind im allgemeinen keine geeig¬
neten Behandlungsobjekte, obwohl von
Noorden und Falta mit hohen Dosen
gelegentlich respektable Erfolge dabei
gesehen haben.
Dagegen die primär chronischen Ar¬
thritiden und zwar weniger die Arthritis
deformans, mit der aktiven Wucherung
der Knochen — und Knorpelsubstanz,
den regressiven Vorgängen, Wie Verfall
des Knorpels, Aufsaugung und Rarifi-
kation des Knochens und schließlich der
Sklerosierung der Gelenke, Wie die Gruppe
der primär chronischen Polyarthritiden,
die sich anatomisch durch den Beginn der
Erkrankung an der Synovialis und der
Kapsel, übergreifend auf das periartiku-
läre Gewebe, sogar Sehnenscheiden und
Schleimbeutel, charakterisiert. —- Dabei
sind die exsudativen, nicht zu alten
Formen die therapeutisch dankbarsten.
Weiterhin spielen natürlich Alter und
Konstitution eine Rolle. Zum kleinenTeil
kommt es zu Heilungen, zum größeren
Teil zu Besserungen, zu einem Stillstand
der Prozesse, zum kleinsten Teil zu keiner
sichtlichen Beeinflussung des Krankheits¬
prozesses. Zu ' dieser letzten, kleinsten
Gruppe zählen die Formen, die ätiologisch
auf Lues, Gonorrhöe una Tuberkulose
zurückzuführen sind. Hinsichtlich des
Alters werden von allen Autoren als gut
beeinflußbar die Gelenkerkrankungen der
Oktober
D4e Therapie der Gegenwart 1921
38Ö
Jugend, als schlecht beeinflußbar die des
Alters bezeichnet.
Dies ist etwa die Anschauung, die
sich auf jahrelange Emanationstherapie
gründet, wie sie His, Gudzent, Falta,
Strasburger, um nur einige Namen zu
nennen, an einem reichen Krankenmaterial
festgelegt haben. Für Falta, einen der
kritischsten Kenner der Emanations¬
therapie, gehört die Emanationsbehand-
iung, ,,bel manchen der oben be¬
sprochenen Krankheitsformen zu
dem Wirksamsten, was wir in die¬
ser Beziehung besitzen, sie über-
trifft ' in einzelnen Fällen alle
andern Behandlungsmethoden“.
Aus meiner Erfahrung und der meiner
hiesigen Kollegen kann ich aus einem"
reichhaltigen Krankenmaterial dies be¬
stätigen. Bei einer Badeklientel ist es
allerdings nur roher Eindruck und kann
^s nur sein; so exakte Feststellungen wie
an klinisch streng beobachtetem Material
liegen nicht vor, und die anderen be¬
kannten Heilkomponenten kommen dazu.
Ich persönlich kann nur sagen, daß ich
meine hiesigen Erfahrungen an auswärti¬
gem Krankenhausmaterial verschiedener
Kliniken bei Kuren nach meinen Anord¬
nungen bestätigt gefunden habe.
Die Sachlage ist also die: Emanations-
Iherapie ist bei diesen Gelenkerkrankun¬
gen nicht die Therapie sondern eine
Therapie und zwar eine, mit der auf jeden
Fall ein Versuch gemacht werden soll,
vor allen Dingen, wenn andere Therapien
versagt haben.
Die Methode der Behandlung ist:
trinken oder inhalieren, wenn größere
Mengen Emanation nötig sind, beides,
Bäder, falls die Möglichkeit gegeben und
vor allem Kompressen. Mit kleinen Dosen
beginnen, einschleichen, da fast immer die
den Balneologen geläufige Reaktion ein-
tritt, am vierten bis sechsten Tag, die
meist guten Erfolg verspricht und nicht
zu Unterbrechungen veranlassen soll. Die¬
se Reaktion kann sich auch in der Weise
äußern, daß Schmerzen in Gelenken und
an Stellen auf treten, die vor kürzerer
oder längerer Zeit befallen waren, ja
auch da, wo früher noch nie Krankheits-
orscheinungen manifest gewesen waren.
Es rührt und regt sich im ganzen Körper.
Jedenfalls ist schon die Reaktion bzW.
ihr Ausbleiben differentialdiagnostisch zu
verwerten.
Vielleicht, daß man bei sorgfältigerer
Auswahl der beeinflußbaren Fälle noch
bessere Heilerfolge sieht. Mir fällt in der
Literatur auf, zufällig ist es gerade die
ausländische, die sich anfangs weniger
mit der Frage der Radiumemanation
beschäftigte, daß betont wird, p^riarti-
kuläre Affektionen gäben günstigere Heil¬
erfolge. Die Italiener Teissier und
Rebattu®) heben dies hervor, sie sahen
ihrerseits weiterhin bei trophoneuri-
tischen Arthropathien mit hemiplegischer
und symmertischer Deformation weniger
Erfolge, dagegen guten Erfolg bei den
diathetischen und toxischen Arthropa¬
thien, bedeutende Erfolge bei den gonor¬
rhoischen, den tuberkulösen und den
syphilitischen. Das widerspricht eigen¬
tümlicherweise den deutschen Erfah¬
rungen. Zu ähnlichen Resultaten bzw.
der günstigen Heilerfolge, bei periartiku-
lären Prozessen vorzüglich, kommt ein
Bericht aus dem staatlichen Radium¬
institut zu London ’). Bemerkenswert
ist, daß die Engländer und Italiener
.verschiedene Methoden anwandten: die
Italiener lassen inhalieren, nach der
His'sehen Schule, die Engländer bevor¬
zugten die Trinkkur, und zwar gaben sie
Wie von Noorden, Falta und neuer¬
dings auch Strasburger, sehr hohe,
Dosen, täglich bis zu 700000 Mache-
Einheiten und mehr. Wie Falta sahen
sie bei Fällen, die sonst jeder Therapie
trotzten, mit diesen Dosen gute Erfolge.
Die Dosierungsfräge für gewisse Indika¬
tionen ist zweifellos noch im Fluß. Der
Krieg unterbrach auch hier die Forschung.
Mir selbst stehen keine Erfahrungen
über höhere Dosen zu Verfügung. Stär¬
kere Bäder, über 50000 Macheeinheiten
scheinen mir zum Mindesten nicht gleich¬
gültig. — Eine Gruppe von Gelenk¬
erkrankungen möchte ich noch hervor¬
heben, die durch die Art ihres Verlaufes,
durch schnell wechselndes Auftreten von
Schwellungen, durch das Auftreten bei
nervös veranlagten Individuen, und da
abwechselnd in ihren Symptomen, oft
parallel zu dem Verhalten des ganzen
nervösen Apparates, darauf hindeuten,
daß die sensiblen Nerven dabei eine große
Rolle spielen. Diese Gruppe von Gelenk¬
erkrankungen halte ich besonders für
Emanationstheraphie geeignet, sie spricht
auf alle Anwendungsformen, Trinken,
Inhalieren, Bäder, vor allem Kompressen
sehr gut an, verlangt aber mit Rücksicht
auf das nervöse Moment vorsichtige Do-
®) Strahlenther., Bd. IV, S. 244 ff.
’) Strahlenther., Bd. IV, S. 734ff.
390
Die Therapie der Gegenwart 1921
Oktober
sierung. Mittlere Dosen, 4000—6000
Macheeinheiten Trinkkur, ca. 12 Mache¬
einheiten im Liter Luft Emanatoriurn,
sind wirksam und ausreichend.
’ Muskelrheumatismus.
Diese Erkrankungen der sensiblen
Nerven der Gelenke leiten , über zu den
entsprechenden Erkrankungen der Mus¬
kelnerven und der Anwendung der
Emanationstherapie bei dem Muskel-
rheumatis-mus Im weiteren Sinne, sei
es, daß man für seine Entstehung Ver¬
änderungen im Muskelgewebe, sei es
Neuralgien der sensiblen Muskelnerven
(nach Ad. Schmidt) annimmt. Die
guten Erfoge bei dieser Erkrankungs¬
gruppe waren nach der Erfahrung der
Balneologen zu erwarten und haben sich
bestätigt.
Als eine eigentliche Kriegskrankheit
wird sie vermutlich bei manchem Kriegs¬
teilnehmer als Folge der durchgemachten
Strapazen und Erkältungen auftreten
und so ein dankbares Objekt für Emana¬
tionstherapie sein.
Behandlung, Wie bei den rheuma¬
tischen Gelenkerkrankungen, also mög¬
lichst alle Formen, unter Betonung, daß
Trinkkuren allein oft zum Erfolge führen.
Mittlere Dosen sind ausreichend, vor¬
sichtige Anwendung wegen oft schmerz¬
hafter Reaktionen am Platze, individuell
steigernd, bei refraktären Fällen zu hohen
Dosen. — Bei der neuralgischen Form
vermutet Falta promptere Reaktionen
auf die Therapie alsbeidermyalgischen.
Periphere Nervenerkrankungen.
Nächst diesen Erkrankungsgruppen,
die man gemeiniglich unter dem Sammel¬
namen Rheumatismus zusammenfaßt.
Wären Neuralgien im weiteren Sinne,
in noch weiterem alle Erkrankungen
der pheripheren Nerven, Gegen¬
stand der Emanationsbehandlung.
Während man bei dem Rheumatismus .
den Heilfaktor der Emanation, den man
als entzündungswidrig, entzündungs¬
hemmend zu bezeichnen pflegt, als das
Wirksame Moment ansprechen darf, in
dem Bedürfnis, die Wirkungsweise aus dem
Charakter des Stoffes zu erklären und
auch bei Neuralgien und Neuritiden, Wo»
pathologisch-anatomische Veränderungen
vorliegen, solche Wirkungsweise an¬
nehmen darf, ist bei der Neuralgie strictidri
sensu die bekannte sichtlich beruhigende
Wirkung der in geringer Stärke an¬
gewandten Strahlen ein Erklärungs¬
versuch. Die typischen Neuralgien, so
vor allem Ischias, wobei'nach überein¬
stimmenden Berichten unbedingt ein
Versuch mit Emanationstherapie gemacht
werden sollte, sind durchweg dankbare
Behandlungsobjekte.
^ Mehr Wie Trinkkuren und Inhalations¬
kuren, die aber auffallenderweise häufig
allein schon zum Ziele führen. Wirken
hier Bäder und Kompressen.
(Schluß folgt.)
Repetitorium der inneren Therapie.
Behandlung der Nervenkrankheiten.
Von G. Klemperer.
I. Organische Gehirn- und Rücken¬
markskrankheiten.
Allgemeine Behandlung. Derfein
ausgebildeten neurologischen Diagnostik,
welche sowohl das Wesen als auch nament¬
lich den Ort der Krankheit mit oft er¬
staunlicher Sicherheit feststellt, steht
eine Behandlung gegenüber, welche eigent¬
lich nur in zwei Beziehungen die Früchte
der Diagnose erntet, nämlich wenn es
sich um Lues handelt oder wenn die
Möglichkeit eines chirurgischen Eingriffs
besteht. Die Fragen der antiluetischen
oder der chirurgischen Behandlung
müssen freilich so oft im Verlauf von
Hirn- und Rückenmarkskrankheiten auf¬
geworfen werden, das hieraus allein schon
die Abhängigkeit des Behandlungsplans
von der diagnostischen Durchbildung
und Übung des Arztes auch auf diesem
Gebiet zu erkennen ist. Hiervon ab¬
gesehen aber ist die ärztliche Therapie
im wesentlichen eine pflegerische, welche
die besten äußeren Bedingungen des Aus¬
gleichs herzustellen und Schädlichkeiten
fernzuhalten sucht, durch welche die
Krankheit verschlimmert oder die Natur¬
heilung verzögert werden könnte. Zu der
allgemeinen Besorgung — der Reinigung
und Überwachung des Kranken — treten
die besonderen Pflichten der Kranken¬
pflege, welche sich aus Bewußtlosigkeit,
Empfindungsstörungen und Lähmungen
ergeben; in vieler Beziehung grenzen, die
Aufgaben des Pflegers oft an die des
Arztes und oft decken sie sich miteinander.
Von der exakten Ausübung dieser spe¬
ziellen Pflege ist oft der Krankheitsverlauf
39£
Oktober ' Die Therapie der Gegenwart 1921
unmittelbar bedingt. Stets sollte der
Arzt ihre Ausübung bis- ins einzelne vor¬
schreiben und nie verschmähen, sich ihr
selbst zu widmen, da sie in Wirklichkeit
ein Teil der ärztlichen Kunst ist. Rein¬
haltung des Mundes durch häufiges Aus-
^wischen, Bewahrung der Conjunctiven
durch Augenklappen, Schutz der an¬
ästhetischen Haut vor Verbrennung durch
zu heiße Wärmflaschen, Pflege aller auf¬
liegenden Körperteile vor Decubitus durch
geeignete Unterlagen und abhärtende
Waschung, regelmäßiges Katheterisieren
und eventuelle Blasenspülung, das Setzen
von Klysmen, die Verhütung von Ver-'
unreinigung bei Sphincterenlähmung von
Darm und Blase, vor allem die künstliche
Fütterung, am besten mittels Milch-
eing'eßung durch die Nasenchoane, dazu
die Überwachung von Puls und Atmung
und die rechtzeitige Excitation, das alles
sind Pflichten, die die stete Sorge des
Arztes und die Hingebung des Pflegers
Tag,und Nacht in Anspruch nehmen.
Apoplexie. Die Verhütung von Hirn¬
blutungen kommt in allen Zuständen er¬
höhten Blutdruckes in Frage, besonders
wenn schon einmal ein Schlaganfall statt¬
gefunden hat, und besteht in regel¬
mäßiger Lebensführung, insbesondere in
der Vermeidung tonussteigerndex Schäd¬
lichkeiten (Alkohol, Kaffee, Rauchen,
psychische oder sexuelle Erregung, enge
Halskragen, heiße Bäder), sowie in der
Beeinflussung der primären Krankheits¬
zustände, welche zu Apoplexien führen
können (Herz- und Nierenleiden, Arterio¬
sklerose, Gicht und Diabetes, Fettleibig¬
keit, Bleivergiftung).
Die Behandlung besteht in zweck¬
mäßiger Lagerung (am besten halbsitzend)
und Sorge für vollkommene iRuhe, die
bei erhaltenem Bewußtsein beziehungs¬
weise in Erregungszuständen am besten
durch Morphiuminjektion erzielt wird.
Gewöhnlich legt man dem Patienten eine
Eisblase auf den Kopf. Bei sehr gespann¬
tem Puls ist ein Aderlaß von 2- bis 300 ccm
wohl zu empfehlen; bei frequentem klei-
neni Puls Camphär- oder Coffeininjektion.
Bei Bewußtlosigkeit ist neben der Mund¬
pflege in manchen Fällen für Erleichte¬
rung der Atmung durch Vorziehen der
Unterkiefer und der Zunge zu sorgen, bei
eventuellem Erbrechen durch zweck¬
mäßige seitliche Kopflagerung das Ver¬
schlucken zu verhüten. Die Sorge für
Ernährung tritt in den Hintergrund; bei
gutem Bewußtsein gibt man Milch und
breiige Kost in kleinen Portionen, in
größeren Zwischenräumen; bei erschwer^
tem Schlucken teelöffelweise Fütterung;
bei Bewußtlosigkeit und erschwertem
Schlucken wartet man am besten ein.
bis zwei Tage ab und begnügt sich:
mit rectaler, langsamer Wasserzufuhr,,
später hat die nasale Fütterung einzu¬
setzen. Bei Bewußtlosigkeit ist auch so¬
fort der Blasenstand zu kontrollieren und
im Bedarfsfall zu katheterisieren. Mit der
Stuhlentleerung ist es nicht so eilig, Ab¬
führung eventuell durch ein leichtes Ab¬
führmittel (Bitterwasser) oder Klistier
am dritten Tage. Wichtig ist in jedem
Fall bei erhaltenem Bewußtsein die Sorge
für psychisches Gleichgewicht und für
Schlaf; neben der ärztlichen Einwirkung:
erweist sich oft regelmäßiger Gebrauch
von Mixt, nervin. nützlich und aus¬
reichend; oft sind des Abends öfters
Schlafmittel (Adalin oder Veronal) not¬
wendig. Medikamente sind nicht indi¬
ziert; die Verordnung von kleinen Jod¬
dosen (Kal. jodat. 5/200, zweimal täglich
ein Eßlöffel) geschieht in dem Wunsch,,
die Resorption des cerebralen Blut¬
ergusses zu beschleunigen. Anders liegt
die Sache bei sicherer oder wahrschein¬
licher luetischer Ursache; in diesem Falle
ist sofortige Einleitung einer kombinierten.
Neosalvarsan- und Hg-Spritzkur geboten.
Der Behandlung der Lähmungen ist
gleich von Beginn insofern Aufmerksam¬
keit zu widmen, als durch geeignete Lage¬
rung der Glieder der drohenden Con-
tractur zu begegnen ist; es ist demgemäß
der gelähmte Arm so zu lagern, daß der
Oberarm nicht adduciert und nach innen,
rotiert ist, daß der Arm nicht im Ellen¬
bogen und die Hand weder im Hand-
noch in den Fingergelenken gebeugt ist,
auch die Prona^tion des Unterarmes ver¬
hütet wird; am Bein ist durch knierollen
und Fußstützen der Streckung des Unter¬
schenkels wie der Plantarflexion des Fußes
entgegenzuwirken. Die systematische Be¬
handlung der Lähmungen beginnt erst
nach etwa 14 Tagen, indem man in regel-
mäß-gen Übungen drei- bis viermaPam
Tage jedes Glied in jedem Gelenk soweit
als möglich beugt und streckt; die anfäng¬
liche Schmerzhaftigkeit kann durch kleine
Gaben antineuralgischer Medikamente¬
unterdrückt werden. Diese passive Gym¬
nastik wird durch tägliche regelmäßige
Massage aller Muskeln unterstützt; die
Massage sei im Beginn sehr vorsichtig
und werde ganz allmählich energischer.
Von der dritten bis vierten Woche beginnt
die elektrische- Behandlung des gelähmten
392
Die Therapie der’Gegenwart 1921
Oktober
Gliedes, welche in galvanischer Hervor-
Tufung besonders von Streckung, Abduc-
tion und Supination am Arm, von Beu-
igung im Knie und Dorsalflexion des
Fußes besteht. Hierzu braucht man
labile Kathoden-Galvanisation oder Unter¬
brecherelektrode. Im Gegensatz dazu
iDehandelt man die zur Contractur neigen-
<len Muskeln (am Arm Beuger, Adduc-
toren und Pronatoren; am Bein Strecker
des Unterschenkels mnd Wadenmuskeln)
mit stabiler Anodengalvanisation. Nach
mehrwöchiger Behandlung mit pas¬
siver Gymnastik und Elektrisierung wer¬
den unter ärztlicher Aufsicht und Leitung
vorsichtige aktive Bewegungen vom Pa¬
tienten begonnen; zweckmäßig finden sie
.zuerst im lauen Vollbad statt, da der
Auftrieb des Wassers die Bewegungen
erleichtert. Die Assistenz des Arztes ist
bei den aktiven Bewegungen nicht nur
deswegen wichtig, weil Anstrengung des
Patienten besonders vermieden werden
muß, sondern auch weil die Willens¬
impulse anfänglich eher in die zur Con¬
tractur neigenden Gruppen gehen und
also durch falsche Übung die Beuge-
contractur verstärkt werden könnte. Es
ist sehr zweckmäßig, wenn der Arzt die
gesamte orthopädisch-elektrische Behand¬
lung der postapoplektischen Lähmungen
eigenhändig ausführt; sie kostet sehr viel
•Zeit, dauert viele Monate, bringt aber oft
bei unermüdlicher Geduld selbst in an¬
scheinend aussichtslosen Fällen noch be¬
merkenswert gute Resultate. Es ist aber
auch nichts dagegen einzuwenden, wenn
die einzelnen Prozeduren gehörig ein¬
geübten und dauernd kontrollierten Pflege¬
kräften überlassen werden.
Wenn der Patient das* gelähmte Bein
einigermaßen gebrauchen kann, darf er
allmählich das Bett verlassen; der Zeit¬
punkt des ersten Aufstehens hängt also
von der Schwere des Falles ab und wird
mit derselben Sorgfalt wie nach Infektions¬
krankheiten überwacht. Der geschwächte
Arm wird in der Mitelia getragen. Der
Patient wird zuerst für kurze Zeit auf
einen bequemen Stuhl gesetzt und lernt
allmählich, sich selbständig zu erheben;
•es folgen vorsichtige Steh- und Geh-
-übungen, wobei die einzelnen Tempi der
Kniebeugung, des Fußhebens, des Bein-
vorsetzens systematisch eingeübt werden.
— Bleiben trotz aller Sorgfalt wesent¬
liche Contracturen zurück, so ' können
chirurgische Eingriffe (Durchschneidung
der Sehnen beziehungsweise der motori¬
schen Nerven, sogar der Rückenmarks¬
wurzeln) in Frage kommen; hierüber ist
spezialistischer Rat einzuholen.
Besondere Behandlung erheischen die
die Apoplexie überdauernden Sprach¬
störungen. Während die Anarthrie als
bulbäres Symptom der Therapie unzu¬
gänglich ist, bietet ihr die Aphasie müh-.
selige aber dankbare Aufgaben. Sowohl
die motorische wie die sensorische
Aphasie beruhen auf dem Zugrunde¬
gehen der centralen Hirnpartien einer
Seite, während die homologen Teile
der anderen Hirnhälfte wohl erhalten
sind; diese sind augenscheinlich befähigt,
die Funktion der zerstörten Partie in
weitem Umfang zu übernehmen; es
kommt darauf an, durch Einübung die
fehlenden Wortbilder und Wortbegriffe
dem aufnahmefähigen Hirncentrum ein¬
zuprägen. Der aphatische Patient muß
also wie ein junges Kind von neuem
sprechen lernen, wozu ihm in mühseligem
Unterricht zuerst die Buchstaben, dann
die einzelnen Worte vorgesprochen .und
erläutert, beziehungsweise vorgehaltene
Gegenstände benannt werden müssen.
Diese Unterrichtsstunden erfordern sehr
lange Zeiträume und mehr als gewöhn¬
liche Geduld von seiten des Lehrers wie
des Schülers, aber es sind auch sehr schöne
Erfolge zu erzielen.
Häufig überweist man gehfähige Pa¬
tienten zur Nachbehandlung der post¬
apoplektischen Folgezustände Spezial¬
sanatorien, oder läßt sie gewisse Bade¬
orte aufsuchen mit indifferenten Thermen
(Wildbad, Gastein, Teplitz) oder koch-
salz- beziehungsweise CO^ haltigen Quellen
(Nauheim, Wiesbaden, Oeynhausen). Es
ist nur zu sorgen, daß die Patienten nicht
auf die Reise gehen, ehe die Gefahr des
Rezidivs mit einiger Sicherheit auszu¬
schließen ist und die Patienten sich
einigermaßen frei bewegen können.
Hirn- und Rückenmarkstumor. In
therapeutischer Beziehung dürfen die Ge¬
schwulstbildungen von Hirn- und Rücken¬
mark gemeinsam besprochen werden, so
verschieden auch die Erscheinungen und
die diagnostischen Erwägungen in beiden
Krankheiten sein mögen. Aber sobald
maßgebende Symptome den Gedanken
an eine das Centralnervensystem be¬
drängende Geschwulstbildung nahelegen,
ergeben sich fast zwangsläufig zwei Indi¬
kationen, gleichviel an welcher Stelle der
fragliche Tumor sitzen mag, antiluetische
Behandlung und chirurgischer Eingriff.
Die erstere ist ja in allen unklaren Er¬
krankungen des Centralnervensystems an-
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1921
393
gebracht; der operative Eingriff ist nur
auf Grund klarer neurologischer Dia¬
gnostik möglich. Nichts beweist dem
Arzt klarer die Notwendigkeit, bis zu
einem gewissen Grade die Diagnose der
Nervenkrankheiten zu studieren, als die
oft ausgezeichneten Erfolge der chirur¬
gischen Behandlung der Hirn- und
Rückenmarkstumoren, denen eine An¬
zahl von Todesfällen gegenübersteht,
welche bei rechtzeitiger Tumordiagnose
vermeidbar gewesen wären. Es genügt,
wenn der Arzt frühzeitig zu dem Verdacht
des Tumors kommt; dann soll er jeden¬
falls Hg-Schmier- oder Spritzkur, even¬
tuell zugleich mit Neosalvarsan anwenden.
Lumbalpunktion soll bei der Möglichkeit
von Hirntumor als lebensgefährlich unter¬
bleiben. Verbessert die antiluetische Kur
das Befinden des Kranken nicht, so emp¬
fiehlt sich die Zuziehung eines neurologisch
durchgebildeten Klinikers zur Feststellung
der topischen Diagnose und damit der
chirurgischen Indikation. Ob die Ope¬
ration möglich und aussichtsreich ist,
unterliegt dann dem Urteil des Chirurgen;
man wird sich auch bei geringer Hoffnung
zum Eingriff entschließen, wenn die
Schmerzen dem Patienten das Leben zur
unerträglichen Qual machen. Wird die
Operation abgelehnt, so bleiben zur Stil¬
lung von Schmerz und Erbrechen, auch
von Krampfanfällen, nur Morphium, mit
dem man in so traurigen Fällen nicht
sparen wird; auch Schlafmittel sind reich¬
lich zu geben.
Hydfocephalus. . Bei Säuglingen soll
der Wasserkopf mit antiluetischer Kur
behandelt werden; die Kinderärzte ver¬
ordnen täglich dreimal 2 mg Calomel, im
ganzen 12 Dosen, oder von einer 2 %igen
Jodlösung dreimal täglich einen Teelöffel
inMilch. Geht der Hydrocephalus hiernach
nicht zurück, so soll die große Fontanelle
punktiert werden, indem am vorderen
Rand derselben 1 cm neben der Mittel¬
linie mit dünner Nadel 3—4 cm tief ein¬
gestochen wird. Bei größeren Kindern
und bei Erwachsenen ist die Lumbal¬
punktion das Verfahren der Wahl; man
läßt 30—40 ccm Liquor langsam ab¬
fließen und wiederholt den Stich nach
einigen Tagen, wenn neue Erscheinungen
von Hirndruck eintreten. Die Lumbal¬
punktion kann sehr oft vorgenommen
werden.
Tabes dorsalis. Die Tabes ist der
Typus eines chronischen, meist Jahrzehnte
dauernden Leidens, mit welchem ein
Kranker oft bei vernünftiger Lebensweise
die natürliche Altersgrenze erreichea
kann; alles kommt darauf an, ihn zu
einer solchen Lebensführung zu bringen,,
welche Verschlimmerungen der Krank-
heit möglichst ausscjiließt. Vor allem soll
er sich vermeidbaren psychischen Er¬
regungen fernhalten. Einen außerordent¬
lichen psychischen Shock bringt den
meisten Patienten die Erkenntnis der
eigenen Krankheit, deren Verlauf sich
der populären Betrachtung ja meist
düsterer darstellt, als er in Wirklichkeit
ist; auf vielen lastet das Krankheits¬
bewußtsein zeitlebens als ein quälender
Druck, der sicherlich den Verlauf un¬
günstig beeinflußt. Deswegen möge der
Arzt die Diagnose, die er möglichst früh¬
zeitig stellen soll, solange als möglich
dem Patienten verheimlichen; man kann
alle hygienischen Anordnungen durch¬
setzen, ohne den ominösen Namen zu
nennen; die Bezeichnung Nervenschwäche
genügt durchaus. Erfährt der Patient
die wahre Natur der Krankheit, so spielt
die psychische Therapie eine. wichtige
Rolle, die bei der ganzen Behandlung der
Tabes ein sehr reiches und vielseitiges
Betätigungsfeld findet. Neben der psychi¬
schen Beeinflussung ist die Sorge für das
körperliche Verhalten wichtig. Der Pa-,
tient soll viel ruhen, in bestimmten
Zwischenräumen auch am Tage, und jede
körperliche Anstrengung. vermeiden.
Dieser Rat muß besonders kontrolliert
werden, weil diese Kranken kein Er¬
müdungsgefühl haben. Es ist ihnen gut,,
öfters laue Bäder mit folgenden Ruhe¬
stunden zu gebrauchen. Für die Diät
bedarf es keiner besonderen Ratschläge,.-
auch hier ist Mäßigkeit geboten; in der
Kleidung soll sich Patient vorsichtig:
warm halten. Vorsichtige Massagekuren,,
auch zeitweise Elektrisierungen sind er¬
laubt. -Unter der nötigen Überwachung;
dürfen auch Badekuren in Oeynhausen,.
Nauheim, Wiesbaden unternommen wer¬
den. Seebäder und Hochgebirge sind ver¬
boten. Neben diese allgemeine Beratung;
tritt in jedem Fall die Frage der anti¬
luetischen «Therapie. In früh diagnosti-
ziertenFällensollsiesofortgründlich durch¬
geführt werden. Man darf davon nicht Hei¬
lung oder auch nur in vielen Fällen ent¬
scheidende Besserung erwarten; aber es ist
wohl sicher, daß viele Beschwerden da¬
durch vermindert und sehr oft der Verlauf
gemildert wird. Geht es einem Tabiker
leidlich gut, so würde ich raten, die Kur
in dreijährigen Zwischenräumen zu wie¬
derholen; ebenso betrachte ich eine
50
394
Die Therapie der Gegenwart 1921
Oktober
■weseiitliche Verschlimmerung in einem
üs dahin ruhigen Verlauf als Indikation
.zu neuer Kur. Zu empfehlen ist kombi¬
nierte Kur von Hg salicyl. und Neosalvar-
san, zwischendurch in jedem Jahre ^eine
Jodkur, wenn Jod irgend vertragen wird.
t(Kal. jodat. 10/200, im ganzen zehn
Flaschen.)
Außer der hygienisch-diätetischen und
<ler specifischen Kur bietet der Verlauf
•der Tabes viele Indikationen für sympto¬
matische Behandlung. Bei den Schmer¬
zen soll man sich möglichst mit physika¬
lischen Methoden, Anwendung von Wärme
und Licht oder den gebräuchlichen Anal-
:geticis begnügen, die man in den verschie¬
densten Kombinationen verordnen kann,
und Morphium möglichst zurückhalten,
denn Tabiker werden allzuleicht Morphi¬
nisten. Nur bei den gastrischen Krisen
ist es nicht zu vermeiden; diese qual¬
vollen Zustände sind nur mit großen Dosen
Morphium einigermaßen erträglich zu ge-
istalten. In jedem Falle von gastrischen
Krisen rate ich noch einmal, sehr energi¬
sche antiluetische Kuren, z. B. mitCalomel-
injektion, zu versuchen, die sich doch
manchmal noch hilfreich erweisen; auch
das sehr unsichere Mittel der Förster-
schen Operation, die Durchschneidung
der hinteren Wurzeln des Rückenmarks,
Avelche aus den drei untersten Brustwirbeln
.austreten, darf angewendet werden.
Auch die übrigen Krisenzustande der
Tabes lassen sich nur mit Morphium er¬
tragen. Sorgfältige Behandlung verdient
der Blasenkatarrh und die Nierenbecken-
^entzündung, welche sich allmählich an
die Blaseninkontinenz anschließen, inner¬
lich mit reichlichem Getränk und Uro¬
tropin oder Salol, dazu mit regelmäßigen
Blasenspülungen mit 3 %igem Borsalicyl-
wasser oder Argentumlösung.
Je mehr sich Anästhesien entwickeln,
desto sorgfältiger muß die Haut ^ vor
Schädigung durch Druck oder Über¬
hitzung geschützt werden; die Verhütung
des Durchliegens durch Luftkranz oder
Wasserkissen, eventuell die sachgemäße
Wartung des beginnenden Decubitus ist
besonders wichtig.
Sehr eingehende Behandlung verdient
die Ataxie. Bekanntlich beruht die für
Tabes charakteristische Unfähigkeit, die
•gesunden Gliedmaßen zu geordneten Be¬
wegungen zu gebrauchen, auf dem Ver¬
lust der sensiblen Leitungsbahnen, durch
welche auch die Bewegungsempfindung
vermittelt wird und also das Maß für die
Kraft der Bewegung gewonnen wird.
Für die Behandlung kommt es darauf an,
die übriggebliebenen sensiblen Bahnen
durch Übung zu kräftigen, so daß Lage-
und Bewegungsempfindung gestärkt wird.
Auf der anderen Seite suchen wir für die
nicht wiederzugewinnenden Verluste des
Muskel- und Gelenksinns kompensatorisch
den Gesichtssinn einzusetzen, damit die
Patienten nunmehr in kritischer Weise
durch das Auge ausführen, was sie vorher
unbewußt taten: nämlich die für die
Bewegung notwendige Muskelkraft abzu¬
schätzen. Die zur Besserung der Ataxie
geeigneten Übungen sind in systemati¬
scher Weise ausgebildet worden und
werden mit einer besonderen Apparatur
spe-ialistisch betrieben. Man kann sie
aber auch in der Praxis in ausreichender
Weise anwenden, wenn man sich der
Prinzipien bewußt bleibt, daß die Pa¬
tienten vorgeschriebene Bewegungen mit
begrenzter Kraftaufwendung so oft üben
sollen, bis sie ohne Kontrolle der Augen
überschüssigen Kraftaufwand meiden
lernen. Es dient diesem Zwecke, wenn
die Patienten zuerst im Bett Bewegung
und Streckung der Beine üben, danach
Gehbewegungen im Liegen machen, nach
einiger Zeit Stehübungen versuchen, zu¬
erst mit Festhalten, dann selbständig, mit
geschlossenen Augen, schließlich aüf einem
Bein; wenn sie dann allmählich unter
Führung wieder gehen lerhen, und wenn
sie schließlich ä\if Kreidelinien, die am
Boden gezogen sind, abgemessene Schritte
machen, oder wenn sie mit einer am
Faden befestigten Kugel nach einem Ziele
werfen, oder w^^nn sie Treppenstufen stei¬
gen u-sw. Die Übungen sind täglich mehr¬
mals unter steter Aufsicht des Arztes
oder geschulten Personals vorzunehmen,
weil .einerseits fortwährendes Korrigieren
der Übenden notwendig ist, andererseits
jede Überanstrengung vermieden werden
muß. Der Erfolg ist von größter Aus¬
dauer und Geduld des Arztes und Energie
des Patienten abhängig.
Auch die in vorgeschrittenen Stadien ’
vorhandene Paraplegie bed.arf sorgsam¬
ster Übungsbehandlung; auch hier liegt
keine organische Lähmuhg vor, sondern
eine psychogene Schwäche, bedingt durch
die Hilflosigkeit infolge der sehr großen
Ataxie. Hier spielt neben den systema¬
tisch betriebenen Übungen die Psycho¬
therapie eine Hauptrolle, welche Mut und
Selbstvertrauen der. oft ganz unglück¬
lichen Kranken zu heben versteht.
Myelitis. Es ist für absolute Ruhe,
vorsichtige Lagerung und allgemeine, ‘die
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1921'
395
Bedingungen der Lähmungen berück¬
sichtigende Pflege zu sorgen. Danach ist
•die Frage der antiluetischen Therapie
z:li beantworten; im Zweifelsfalle ist sie
durchzuführen; nicht ganz selten führt
sie zu eklatantem Erfolg. Bei plötzlichem,
insbesondere fieberhaftem Beginn ist
•energische Schwitzkur mit grüßen Dosen
Aspirin oder andere Methoden zur An¬
regung des Gesamtstoffwechsels ratsam;
auch in anscheinend verzweifelten Fällen
werden gelegentlich unerwartete Erfolge
erzielt. Ist die Erkrankung ins chronische
Stadium getreten, so tritt die Allgemein¬
behandlung ins Recht. Laue Vollbäder, die
freilich nur mit genügenden Wartekräften
möglich sind, vorsichtige Massage und
Elektrisierung, innerlich zeitweise Jod¬
kali, eventuell Arsen und Strychnin, sind
anzuwenden. Immer wieder ist das
diagnostische Problem aufzuwerfen, ob
wohl eine Wirbelerkrankung oder eine
Geschwulstbildung nachzuweisen ist, die
chirurgischer Behandlung zugänglich sein
könnte. Die Behandlung der Lähmungen
beziehungsweise Contracturen folgt den
oben gebenen Regeln. Solange die Pa¬
tienten reisefähig sind, werden sie oft in
diö genannten Badeorte geschickt, wobei
stets vor Übergeschäftigkeit zu warnen ist.
Polyomyelitis acuta (Kinderlähmung).
Entsprechend ihrem infektiösen Ursprung
und ihrem akuten fieberhaften Beginn
muß diese Krankheit in ihrem ersten Sta¬
dium nach den für akute Infektionskrank¬
heiten geltenden Regeln mit Bettruhe,
i^urückhaltender flüssiger Diät, im Be¬
darfsfall mit kleinen Gaben antipyretischer
Mittel behandelt werden. Mehrfache
Schwitzprozedur ist in der ersten Woche
zu empfehlen; bei großen Schmerzen
Narkotica in kleinen Gaben. Zugleich sind
von Anfang an die Gesichtspunkte zur
Verhütung von Contracturen gelähmter
Glieder zu beobachten. Bewegungsver-
versuche dürfen im fieberhaften Stadium
noch nicht gemacht werden. Erst wenn
etwa eine Woche nach dem Fieber ver¬
gangen ist, setzt bei gleichzeitiger An¬
näherung an Rekonvaleszentenkost eine
vorsichtige Behandlung der Lähmungen
mit passiven Bewegungen, Massagen und
Elektrizität ein (vergleiche Seite 392).
Doch sei man im Anfang mit dieser Be¬
handlung recht zurückhaltend und stelle
erst nach etwa vier Wochen größere An¬
forderungen an den Patienten, ohne ihn
zu ermüden. Es ist üblich, zur Unter¬
stützung der Ernährung Arsen oder
Strychnin zu geben. Auch laue Bäder,
eventuell mit Salz oder aromatischen Zu¬
sätzen, sind zu empfehlen. Badeorte, die
aber erst viele Monate nach Ablauf des
akuten Prozesses aufgesucht werden
dürfen, sind neben den mehrfach er¬
wähnten auch die Soolbäder (Kösen,
Kreuznach usw.). Lähmungen, die ein
halbes bis dreiviertel Jahr trotz systema¬
tischer physikalischer und gymnastischer
Therapie nicht behoben sind, galten früher
als irreparabel und wurden mit, orthopä¬
dischen Behelfen (Korsetts, Schienenappa¬
rate) nach Möglichkeit ausgeglichen.
Neuerdings vermag die chirurgische Be¬
handlung mittels Sehnen- und Nerven¬
durchschneidung beziehungsweise Über¬
pflanzung in manchen Fällen erstaunliche
Hilfe zu bringen.
Multiple Sklerose. Die allgemeine und
psychische Behandlung folgt den bei der
Tabes entwickelten Grundsätzen. Größte
Schonung, besonders auch in den Remis¬
sionszeiten, ist oberstes Gebojt. Im übri¬
gen wird man gelegentlich Bäder, Mas¬
sage, elektrische Anwendungen, robo-
rierende Medikamente, auch vorsichtige
Übungsbehandlung verordnen, aber bei
jeder Anwendung unbedingte Vermeidung
etwaiger Anstrengung zur Pflicht machen.
Die skandierende Sprache kann durch
systematische- Übungen oft wesentlich
gebessert werden. Antiluetische Kuren
kommen nur bei unsicherer Diagnose in
Frage; beim Besuch von Badeorten ist
besonders vor eingreifenden Kuren zu
warnen.
Bei der spastischen Spiralsklerose, der
Syringomyelie und den verschiedenen For¬
men der Muskelatrophien ist nach den für
die Tabes und Myelitis gültigen Behand¬
lungsregeln sinngemäß za verfahren.
2. Krankheiten der peripheren Nerven.
Multiple Neuritis (Polyneuritis).
Diese Krankheit bespreche ich zuerst, ob¬
wohl sie uns viel seltener beschäftigt als
die Neuralgien, weil ihre Behandlung sich
vielfach mit der Therapie centraler Krank¬
heiten deckt, von denen sie auch dia¬
gnostisch nicht immer leicht abzugrenzen
ist: im ersten Stadium mit der akuten
Poliomyelitis, in den Spätstadien mit
Lähmungen cerebralen und spinalen Ur¬
sprunges. Wenn die Krankheit also mit
den Zeichen akuter Infektion beginnt,
ist nach den für diese maßgebenden
Regeln zu verfahren. Bei stürmischem
schweren Verlauf ist vor allem das Herz
zu excitieren; bei ruhigerem Beginn ist
täglich Schwitzprozedur, auch Behand-
50*
396
Die Therapie der Gegenwart 1921
Oktober
lung mit Salicylaten ratsam, im übrigen
von vornherein für gute Lagerung und
Schmerzstillung zu sorgen. Die Behand¬
lung des Lähmungsstadiums deckt sich
durchaus mit den bei Myelitis und Tabes
angegebenen Regeln. Trotzdem ist die
Therapie leichter und erfreulicher. Ein¬
mal fehlen die Blasen- und Mastdarm¬
störungen, vor allem aber fällt der Unter¬
schied der Prognose erheblich ins Gewicht.
Wenn die Besserung bei der Neuritis auch
oft sehr langsam vorwärts geht, so sind
nach einiger Zeit doch immer wieder
kleine Fortschritte der Beweglichkeit und
der Fühlfähigkeit zu bemerken, welche
Zuversicht und Mut des Patienten in
ganz anderer Weise beeinflussen lassen
als bei den centralen Lähmungszuständen.
Die physikalische Therapie mittels Mas¬
sage und Elektrizität setzt ebenso wie
die passive Gyitinastik etwa in.der vierten
Woche der Erkrankung ein und ist lang¬
sam und vorsichtig zu betreiben; die
aktiven Bewegungsübungen sollen erst-
viele Wochen später beginnen; die Un¬
geduld der Patienten ist zu zügeln, da
Bewegungsversuche in der Zeit unzu¬
reichender Innervierung zu erhöhter psy¬
chischer Reizbarkeit führen; erst wenn
die Muskeln dem Willensimpuls ohne
Hinderung Folge geben, führt vorsichtige
Übung durch Bahnung zur Funktions¬
verbesserung.
Die beschriebene Behandlung ist von
der Ätiologie der Polyneuritis unabhängig.
Die Berücksichtigung der Ursache führt
insofern zu besonderen Maßnahmen, als
bei anscheinender Erkältung die Schwitz¬
kuren besonders wichtig sind, bei primärer
Infektion die Rachenbehandlung und
eventuelle specifische Anwendungen, wie
bei Sepsis, in Frage kommen, bei vor¬
aufgegangener Diphtherie noch einmal zur
Anwendung großer Serumdosen (12 bis
20 000 I.-E.) zu raten und im übrigen
das Herz besonders zu schonen und
eventuell zu excitieren ist, während bei
alkoholistischer Polyneuritis natürlich der
sonst zur Kräftigung gestattete Alkohol
in jeder Form verboten werden muß.
Neuralgien. Allgemeines. Die Be¬
handlung dauernder oder anfallsweiser
Schmerzen im Verlauf sensibler Nerven
soll mit der Feststellung der Ursache
beginnen und die Möglichkeit einer kau¬
salen Therapie erwägen. Es ist also fest¬
zustellen, ob es sich um Erschöpfungs¬
zustände durch Anämie oder Kachexie
oder mangelhafte Blutversorgung durch
Arteriosklerose handelt, ob chronische
Vergiftungen ursächlich anzuschuldigen
sind, wobei ebenso an Diabetes und Gicht
wie an chronische Mandelentzündung oder
chronische Nephritis, auch an chronische
Obstipation zu denken ist. Örtlich ist
zu untersuchen, ob ein Trauma oder der
Druck eines Tumors oder einer Narbe
oder eine fortgeleitete Entzündung ursäch¬
lich in Frage kommt; schließlich kann
durch Neurasthenie oder Hysterie eine
wirkliche Neuralgie vorgetäuscht werden.
Wenn eine dieser Ursachen sich als
wirksam nachweisen läßt, gipfe^lt jede
Behandlung in dem Bestreben, sie zw
beseitigen. Aber gleichzeitig sind vorn¬
herein die physikalischen und chemischen
Mittel anzuwenden, welche die Empfind¬
lichkeit der Nerven zeitweise oder dauernd
beeinflussen, sei es, daß man auf einen
Ausgleich der augenscheinlich moleku¬
laren Veränderungen hinwirkt, sei es, da&
man wenigstens vorübergehende Analge¬
sie hervorruft. Die überwiegende Mehr¬
zahl der Neuralgien, die mangels einer
besonderen Ätiologie auf unklare Er-
k'ältungseinflüsse zurückgeführt werden
müssen, ist auf die physikalischen und
chemischen Behandlungsmethoden allein
angewiesen. Zu ihnen gehört vor allem
Ruhe, danach Hitzeanwendung jeder Art,,
sei sie trocken oder feucht, durch Auf¬
lagen oder Umschläge, heiße Luft oder
Elektrizität erzeugt, ferner nach Ablauf
des. akuten Stadiums Massage, Gym¬
nastik und Elektrisierung. Chemisch wirk¬
sam ist die große Zahl der bekannten
Antineuralgica, vom Antipyrin bis zum
Atophan, zu denen als nachgewiesener¬
maßen in die Nervensubstanz eindringen¬
des Mittel das Methylenblau gehört.
Augenscheinlich durch lokale Infiltration
wirken die endoneuralen Injektionen
schwächster Cocainlösungen. In be¬
sonders schweren Fällen appelliert man
an den Chirurgen, welcher eventuell durch
Ausschneidung des leidenden Nerven Hei¬
lung herbeiführt. Zwischen der physi¬
kalischen. und chirurgischen Methodik
stehen die Alkoholinjektionen.
Ischias. Lokale Ursachen, auf dererü
eventuelle Beseitigung die Aufmerksam¬
keit zu richten ist, sind einerseits gynäko¬
logische Affektionen, besonders Retro-
flexio Uteri, oder Beckentumoren, Darm-
leiden, inklusive Obstipation, auch Pro¬
statahypertrophien, Wirbelsäulenaffek¬
tionen und Rückenmarkserkrankungeny
seltenerweise Plattfuß und Varicen. Im
übrigen bedarf jeder Ischiaskranke der
Bettruhe, da auch leichte Fälle bei
OktolDer
Dk Therapie der Gegenwart 1921
397
Bewegung oft zur Verschlimmerung kom¬
men. Obligatorisch ist die Wärme¬
behandlung, am besten mit angelegten
Sandsäcken oder heißen Kruken oder
Thermophor, gut wirken auch heiße
Bäder oder Packungen mit Moor, Fango,
Lohtannin, des Nachts mit Prießnitz-
umschlägen. Nützlich sind mehrfache
Schwitzprozeduren nach Bädern oder in
Heißluftschwitzkasten; ebenso Einrei¬
bungen mit spirituösen Flüssigkeiten
(Ameisen-, Campherspiritus) oder salicyl-
haltigen Mitteln (Salit, Rheumasan, Meso-
tancreme, Spirosallösung). Auch die
Lichtbestrahlung der schmerzenden Ner¬
ven’ ist wirksam, teils mit künstlicher •
Höhensonne, teils mit blauem Licht. Oft
angewandt wird die galvanische Elek¬
trizität. Sehr wirksam ist ferner die
elektrische Wärmeentwicklung durch die
Diathermie.
Während in der ersten Zeit voll¬
kommene Ruhe erwünscht ist, geht man
früher oder später, je nach der Schwere
des Falles, zu vorsichtiger Gymnastik
und zu regelrechter Massage über. Manch¬
mal bewährt sich die regelmäßige Über¬
streckung des Beines, welche täglich
einmal zwei bis drei Minuten vorgenom¬
men wird. Ebenso ist die regelmäßige
Anwendung von faradischer und galva¬
nischer Elektrizität von Nutzen (mit dem
faradischen Pinsel, so stark er vertragen
wird, oder galvanisch sechs bis zehn
Stromwendungen).
Wohl in jedem Falle ist neben einer
physikalischen Behandlungsmethode die
gelegentliche oder öftere Anwendung eines
Antineuralgicüms notw'-endig; man hat
die Wahl und w^echselt zwischen Anti-
pyrin, Phenacetin, Aspirin, Pyramiden,
Diplosal, Atophan und anderen. Oft er¬
weist sich Methylenblau heilsam. Welches
Mittel beziehungsweise welche Kombi¬
nation derselben man wählt, ist gleich¬
gültig; die persönliche Empfindlichkeit
und Empfänglichkeit der Patienten ist
sehr verschieden. Man hüte sich auch
hier vor zuviel und beachte die Neben¬
wirkungen. Morphium suche man mög¬
lichst zu vermeiden, aber es gibt so
schwere Fälle, in denen alle leichteren
Mittel versagen, daß man zur Morphium¬
injektion gezwungen wird. In lang¬
wierigen und zu Rezidiven neigenden
Fällen ist der Besuch von Kurorten be¬
liebt; Wiesbaden, Teplitz, Oeynhausen,
aber auch die Moorbäder Franzensbad,
Elster, Polzin, die Schwefelbäder in Nenn¬
dorf werden mit oft gerühmten Erfolgen
aufgesucht. Wenn die üblichen Behand¬
lungsmethoden nicht helfen, geht-man
zweckmäßig bald zu den endoneuralen
Injektionen über, die in der großen Mehr¬
zahl der Fälle zur schnellen Heilung
führen. Man injiziert unter gehöriger
Asepsis direkt in den Ischiadicus an einem
typischen Druckpunkt, am besten in
der Mitte der Verbindungslinie zwischen
Trochanter und Tuber ossis ischii, während
der Patient auf der gesunden Seite liegt,,
xfas Bein in Knie und Hüfte gebeugt,,
indem man auf einer 10 ccm Spritze eine
lange starke Injektionskanüle- senkrecht
in die Tiefe sticht, bis ein blitzartiger
Schmerz angegeben wird (etwa 7 cm tief)..
•Die Injektionsflüssigkeit ist .^^-Eucain 0,I„
Nat chlorat. 1,0, Aq. dest. ad 100; hier¬
von spritzt man langsam 10 ccm ein.
Die Injektion wird in vier- bis sechs¬
tägigen Zwischenräumen fünfmal wieder¬
holt. Diese Kur bringt viele, auch schwere
Ischiasfälle zur vollkommenen Heilung.
Bleiben diese Einspritzungen erfolglos,,
so kann man manchmal noch eine Wir¬
kung erzielen, indem man nach längerer
Ruhepause die ganzen 100 ccm in einer
einzigen Sitzung einspritzt; hierbei vari¬
iert man die Tiefe der Injektion, indem
man die Nadel zwischen 4 und 8 cm hin-
und herbewegt; oft folgt ein ganz un¬
gefährlicher Schüttelfrost. Diese Massen¬
einspritzung scheint durch Lösung peri-
neuritischer Verwachsungen zu wirken;,
auch sie kann mehrfach wiederholt werden.
Ebenso wie die endo- und perineuralen
Injektionen ohne besondere Schulung
von jedem Arzt auszuführen und sehr
zu empfehlen sind, so darf auch ohne
besonderen Apparat in besonders hart¬
näckigen Fällen eine epidurale Injektion
versucht werden'; wer eine Lumbalpunk¬
tion ausgeführt hat, wird auch hierbei
keine Schwierigkeit finden. Dabei lagert
der Patient mit stark angezogenen Knien
auf der kranken Seite. Der Arzt tastet
den Eingang zum Sakralkanal, welcher
eine Vertiefung unterhalb der sakralen
Dornfortsätze darstellt, die seitlich von
je einem Knochenvorsprung begrenzt ist
u^id sich elastisch anfühlt. Hier wird eine
lange starke Nadel in einem Winkel von
20® eingestochen, beim Berühren eines
Widerstandes gesenkt und im ganzen
etwa 6 cm in der Mittellinie vorgeschoben.
Injiziert werden 10 ccm der 0,l%igen
Eucainlösung; Patient bleibt einen Tag
zu Bett liegen. Auch diese Injektion
kann nach drei bis vier Tagen wieder¬
holt werden.
398
Die Therapie der Gegenwart 1921
Oktober
Trigeminusneuralgie. Für die ätio¬
logische Behandlung kommen viele akute
Infektionskrankheiten in Frage; in diesem
Fall ist dem rekonvaleszenten Patienten
lange Ruhe und Erholung zu schaffen;
Malaria-Neuralgie (gewöhnlich des ersten
Astes) wird mit Chinin behandelt, toxische
Einflüsse (Blei, Arsen, Nikotin), Stoff¬
wechselkrankheiten (Diabetes) müssen be¬
kämpft werden. Von größter Bedeutung
ist die sachverständige Untersuchung und
eventuelle Behandlung der Zahn- und
Kieferkrankheiten sowie der Neben¬
höhlen; so notwendig eine spezialistische
Behandlung im Fall vorhandener Er¬
krankung, so ist doch vor unbegründeten
Eingriffen zu warnen; gesunde Zähne
sollten nicht gezogen werden. Oft wird
die Erkrankung erst im Röntgenbild
sichtbar. Im übrigen physikalische und
medikamentöse Behandlung analog der
bei Ischias. Die Ernährung ist besonders
zu regeln, weil das Kauen oft unmöglich
ist; dann nur flüssige Diät mit Ein¬
führung des Löffels auf der gesunden
Mundseite. Die Injektionsbehandlung
nach Art der Ischiastherapie wird aus¬
geführt, indem die Nadel auf die Ein¬
trittsstelle des erkrankten Astes aus dem
Gesichtsschädel eingestochen wird. Die
Erfolge bleiben hinter denen bei Ischias
oft zurück. In vielen schwer zu beein¬
flussenden Fällen sind Morphiuminjek¬
tionen nicht zu vermeiden. Für die
schweren Fälle sind Injektionen von 1 bis
2 ccm 80%igem Alkohol empfohlen wor¬
den; auch diese sind nicht sicher wirksam
und erschweren die spätere Operation.
Diese, welche in den schwersten Fällen
augenscheinlich nicht zu umgehen ist, be¬
steht in der Ausrottung möglichst großer
Stücke des Nerven oder als ultima ratio
in dem schweren Eingriff der Exstirpation
des Ganglion Gasseri.
Bei der Behandlung der Occipital-,
Brachial- und Intercostal-Neuralgien dür¬
fen die physikalischen und medikamen-,
tösen Mittel und Methoden angewandt
werden; aber öfter noch als bei den bisher
beschriebenen Formen handelt es sich
hier um die Folge organischer Erkran¬
kungen, zu deren Diagnostik gute kli¬
nische Schulung gehört. Insbesondere
kommen Erkrankungen des Rückenmarks
und seiner Häute, oder der Halswirbel
oder Aortenaneurysma oder Erkrankungen
der Lungen und Pleura in Frage. Erst
nach sorgfältigster Untersuchung, zu der
auch das Röntgen verfahren gehört, wird
man sich in diesen Fällen entschließen,
eine Neuralgie aus nervösen Ursachen
anzunehmen und dementsprechend zu
behandeln.
Peripherische Nervenlähmungen. Wie
bei den Neuralgien, ist es notwendig, zu¬
erst die Ursache der Erkrankung fest¬
zustellen, welche der Behandlung oft ent¬
scheidende Richtung gibt. Nur wenn der
Nerv in seiner Kontinuität unverletzt
und die Ursache der Lähmung bereits
beseitigt ist (Druck durch Fesselung oder
Verbände, im Schlaf oder in der Narkose,
durch Krücken oder durch Werkzeuge bei
der Arbeit, oder z. B. bei Druck des
mütterlichen Ichiadicus durch den bei
der Geburt durchtretenden Kopf), oder
wenn es sich um die Folge fortgeleiteter
Entzündung oder Erschöpfungszustände
oder Hysterie handelt, darf man hoffen,
durch Ruhe, spätere Übung und Elektro¬
therapie die Funktion wieder herzustellen.
Wenn die Ursache als fortwirkend fest¬
gestellt wird, wenn also Tumoren, Frak¬
turen oder Luxationen, Drüsen, Aneurys¬
men die Ursache sind, so ist in den meisten
Fällen an chirurgische Hilfe zu appel¬
lieren. Ganz auf den Chirurgen ange¬
wiesen sind die Lähmungen, welche durch
blutige Kontinuitätstrennung (Stich,
Schuß, Hieb) verursacht sind, und bei
welchen in neuerer Zeit primäre oder
sekundäre Nervennaht sowie die Nerven-
pfropfung zum Teil außerordentliche Re¬
sultate erzielt haben.
In allen Fällen peripherer Lähmung,
bei denen chirurgische Behandlung nicht
in Betracht kommt oder aussichtslos er¬
scheint, ist neben der eventuellen ätiolo¬
gischen Therapie systematische Ubungs-
behandlung einzuleiten; diese besteht
einerseits in regelmäßigen passiven Be¬
wegungen, welche zugleich der Atrophie
der Muskeln und der Versteifung der Ge¬
lenke entgegenwirkt, andererseits beson¬
ders bei längerem Bestehen in der Be¬
wegungshilfe beim aktiven Bewegungs¬
versuch, wobei der Willensimpuls bahnend
und trophisch kräftigend wirkt. Hinzu
kommt vorsichtige Massage der gelähmten
Muskeln, sowohl durch Streichen und Kne¬
ten als auch durch Vibration (wobei aber
der gelähmte Nerv nicht berührt werden
darf), auch Wasseranwendung mittels
Prießnitz und Bädern, vor allem aber die
elektrische Behandlung, welche nach
allgemeiner Annahme die Regeneration
des Nerven beschleunigt. Man verwendet
den galvanischen Strom (mit Milliampere¬
meter und Widerstand), und zwar die
Oktober
L)ie Therapie der Gegenwart 1921
399
stabile KathodenlDehandlung, im Anfang
mit sehr schwachen (2 M.-A.), allmählich
stärkeren Strömen (3—6 M.-A.); nur bei
hochgradiger Herabsetzung der Erreg¬
barkeit werden ganz starke Ströme (bis
10 M.-A), auch Galvanofaradisation und
•Stromwendung angewandt.
(Schluß folgt im nächsten Heft.)
Repetitorium der chlpurgischen Therapie.
Von M. Borchardt.
Die Behandlung frischer Verletzungen.
Von M. Borchardt
B. Die Bluttransfusion.
Es liegen Untersuchungen darüber
vor, wieviel Blut der Organismus ver¬
lieren könne, ohne zugrunde zu gehen,
und wieweit man die verlorene Blutmenge
durch Infusion von physiologischer Koch¬
salzlösung ausgleichen könne. Der Blut-
-gehalt des Körpers beträgt etwa 5—5,32 %
seines Gesamtgewichts. Bei Blutv-erlüsten
von mehr als 3 %, bezogen auf das Kör¬
pergewicht, war beim Versuchstier das
Leben durch die übliche Kochsalzinfusion
nicht mehr zu erhalten. Etwas günstigere
Resultate ergeben sich unter den gleichen
Versuchsbedingungen mit der Infusion
des Küttnerschen Sauerstoff-NaCl-Lö¬
sungsgemisches (von 100 ccm Sauerstoff
lösen sich beim Umschütteln 20 ccm in
1 Liter NaCl-Lösung). Es ist aber zum
mindesten zweifelhaft, ob diese geringe
Sauerstoffmenge die Wirkung haben kann,
die wir durch 0-Inhalation , bei akuter
Sauerstoffverarmung des Blutes erzielen
können. Bei hochgradigster Ausblutung
nun, selbst noch bei durch hochgradigsten
Ausfall von Sauerstoffträgern hervorge¬
rufenen Erstickungskrämpfen, sieht man
noch durch die Bluttransfusion von
Mensch zu Mensch überraschende Erfolge.
Nach Hotz, der sich um die Einführung
der in Deutschland fast in Vergessenheit
geratenen Methode besonders verdient
gemacht hat, ist die Anzeige zur Blut¬
transfusion gegeben, wenn ein Ausfall von
roten Blutkörperchen zu erheblicher In¬
suffizienz des Gasstoffwechsels geführt
hat. Die Frage nach dem therapeutischen
Wert der Bluttransfusion ist in den letzten
Jahren gerade besonders lebhaft erörtert
worden. An dieser Stelle soll nur in
großen Zügen eine Darstellung der wich¬
tigsten Verfahren der Blutübertragung
zum Ausgleich von akuten Blutverlusten
gegeben werden.
Zur Bluttransfusion von Mensch zu
Mensch steht eine Reihe von Methoden
zur Verfügung, unter denen drei Haupt¬
typen den Vorrang behaupten. Es sind
dies:
und S. Ostrowski. (Fortsetzung.)
1. Die homoioplastische, direkte (arte¬
riovenöse oder venovenöse) Transfusion;
2. die homoioplastische indirekte (Ci¬
tratblutmethode oder Def ib! inierungs-
methode) und
_3. die autoplastische (Eigenbluttrans¬
fusion) Methode.
Durch das erste der drei Verfahren
kann unverändertes Blut überpflanzt
werden, mittels des zweiten Blut, das zur
Beseitigung seiner Gerinnungsfähigkeit
mit gerinnungshemmenden Substanzen
vorbehandelt sein muß, mittels des dritten
Verfahrens wird Eigenblut in die Gefä߬
bahn des Empfängers einverleibt, das bei
inneren Blutungen in den serösen Körper¬
höhlen vorgefunden wird und seine Ge¬
rinnungsfähigkeit durch seinen Kontakt
mit den serösen Häuten spontan verloren
hat. Allen drei Arten ist die Einbrin¬
gung des Blutes unmittelbar in die Blut¬
bahn des Empfängers gemeinsam. Die
rect^le oder intramuskuläre Blutübertra¬
gung, deren Nutzeffelt nicht überzeugend
und zum Teil in anderer Richtung zu
suchen ist (Proteinkörperreizung des
Knochenmarkes bei der intramuskulären
Injektion von Blut) seien der Vollständig¬
keit halber erwähnt. . •
Daß von der Bluttransfusion in praxi
w^eniger Gebrauch gemacht wird, als
ihrem tatsächlichen Nutzen entspricht,
liegt einesteils an der Subtilität der
Technik, andererseits an der Scheu vor
gewissen Gefahren, die bei ihrer Anwen¬
dung im Bereich des Möglichen liegen,
wie: Anaphylaxie durch Unstimmigkeit
der Blutarten, Möglichkeit der Throm¬
bose und Embolie, sowie die Übertragung
von Krankheiten. Die Schwierigkeit der
Technik kann als Hinderungsgrtind nur
bei der Transfusion durch arteriovenöse
Nahtanastomose von Ein- und Auslei¬
tungsgefäß gelten. Die venovenöse Trans¬
fusion nach Oehlecker z. B. reduziert
diese Schwierigkeiten auf ein Mindest¬
maß. Die Fährlichkeiten der Blutüber¬
tragung wiederum können bis zu einem
gewissen Grade durch die serologische
400
Die Therapie der Gegenwart 1921
Oktobe'
Vorprüfung auf Hämolyse oder Agglutr-
nation der zu mischenden Blutarten,
durch Anstellung der Wassermannreak--
tion und Pirqiietschen Probe bei der Wahl
des Blutspenders und durch schnelles
Arbeiten vermieden werden. In Notfällen
freilich wird die schnelle Auswahl eüies
nach Anamnese und grober klinischer
Untersuchung als gesund zu bezeichnen¬
den Gebers alle diese zeitraubenden Prü¬
fungen ersetzen müssen.
Bei der Besprechung der Gefahren
der Transfusion und der Wege zu
ihrer Vermeidung sei gleich vorwegge¬
nommen, daß wir uns trotz eines um¬
fangreichen'Tatsachenkomplexes in ^sero-
logisch-hämatologischer Hinsicht über
den gesetzmäßigen Zusammenhang der
verschiedenen Reaktionen noch sehr im
unklaren befinden. Ähnlich liegen die
Verhältnisse bei der Dosierungsfrage. Ob¬
wohl wir heute zu Transfusionszwecken
nur artgleiches Blut verwenden, treten
beim Zusammentritt beider Blutarten
doch relativ häufig als Zeichen der Un¬
stimmigkeit Hämolyse oder Agglutina¬
tion ein. In der Tat haben Ehrlich und
seine Schüler im menschlichen Blutserum
sogenannte Isohämolysine nachweisen
können. Ehrlich fand auch, daß fast
jedes menschliche Serum die roten Blut¬
körperchen eines anderen Individuums zu
agglutinieren vermag. Nähere oder fernere
Verwandtschaft ist dabei ohne Belang. Es
kann sich sogar das Blut von Müttern
agglutinierend gegenüber dem Blut ihrer
neugeborenen Kinder verhalten. Aber
auch das Resultat sorgfältigster serolo¬
gischer Vorprüfung auf Verträglichkeit
des Spender- und Empfängerblutes
braucht für die Praxis nicht stichhaltig
zu sein. Es kann z. B. Vorkommen, daß
im Vorversuch in vitro bei der Mischung
beider Blutarten Hämolyse eintritt, die
Transfusion selbst aber ohne die gering¬
sten Anzeichen einer solchen verläuft und
umgekehrt; von der Agglutination ganz
zu schweigen. Es liegen hier noch un¬
klare Verhältnisse vor. Weshalb unter
sonst gleichen Verhältnissen die eine
Blutart die andere toleriert, die andere
nicht, kann zurzeit nicht erklärt werden.
Trotz dieser Widersprüche aber tun wir
in praxi doch gut, durch bestimmte Vor¬
prüfungen eine gewisse Auswahl in Bezug
auf den Spender zu treffen, um den Er¬
folg der Transfusion durch die Wahl zu
blutheterogener Spender nicht in Frage zu
stellen (hämolytische Vernichtung der
Spenderblutkörperchen).
Es stehen dazu mehrere Methoden
zur Verfügung, die aber für eilige Fälle
noch größerer Vereinfachung bedürfem
Es sind dies Reagenzglasprüfungen und
Vitalreaktionen. Für die Untersuchung;
in vitro sind etwa je 20 ccm Spender- und
Empfängerblut in defibriniertem Zustande
erforderlich. Nach der Trennung der
Erythrocyten vom Serum durch energi¬
sches Zentrifugieren und gründlicher Aus¬
waschung der ersteren mittels physiologi¬
scher Kochsalzlösung wird eine 5 %ige
Emulsion der roten Blutkörperchen her¬
gestellt. Zu gleichen Volumina Emulsion
werden nun steigende Serummengen hin¬
zugesetzt, danach wird mit Kochsalz¬
lösung bis zu gleichen Volumina aufge¬
füllt. In der einen Versuchsreihe wird
die Wirkung des Empfängerserums auf
die Spenderblutkörperchen, in der an¬
deren die des Spenderserums auf die
Empfängerblutkörperchen beobachtet.
Nach 24stündigem Verweilen der Rea¬
genzröhrchen im Brutschrank kann das
Resultat des Versuches abgelesen und
aus dem Eintritt oder Ausbleiben der
Hämolyse oder Agglutination die Eig¬
nung des Spenders zur Transfusion er¬
kannt werden.' Schneller orientiert das
Verfahren des Amerikaners Moss. Nach
seinen Untersuchungen enthält das.
menschliche Blut zwei Isohämolysine und
Isoagglutinine. Mit zwei Standartseren,,
die je ein Isohämolysin und Isoagglutinin
enthalten, prüft man Geber- und Nehmer¬
blut. Zeigen beide Blutarten die gleiche
Reaktion mit den Seris, so können beide
als aufeinander abgestimmt gelten.
Bei der Vitalreaktion nach- Abel¬
mann wird zunächst eine Bluttransfu¬
sion im kleinen vorgenommen. Es werden
dem Empfänger zunächst 20 ccm Spen¬
derblut, mit 40 ccm 2 %iger Natrium¬
nitratlösung versetzt, intravenös infun¬
diert. Beim Eintritt einer positiven Re¬
aktion zeigen sich folgende Symptome:
Erblassen, Brustbeklemmung, dumpfes
Gefühl im Kopf, Puls- und Respirations¬
beschleunigung, Kreuzschmerzen. Diese
Reihe der primären Symptome, die in ein
bis fünf M'nuten aufzutreten pflegen,
zeigt Disharmonie von Geber- und Neh¬
merblut an. Die Reaktionsstärke kann
durch das Infusionstempo beeinflußt wer¬
den. Nach 25 bis 40 Minuten werden
sekundäre Zeichen wahrgenommen. Sie
bestehen in Schüttelfrost, Gähnen,
Schweißausbruch, Temperaturerhöhung.
Bisweilen treten diese Sekundärzeichen
auch nur allein auf.
I
Oktobe.r , Die Therapie der Gegenwart 1921 401
Technik der Infusion. DieBrauch-
barkeit einer Transfusionsmethode hängt
in erster Linie von zwei Faktoren ab:
Von der Einfachheit der Technik und der
Möglichkeit, die übergeleitete Blutmenge
quantitativ genau zu bestimmen. Die
arteriovenöse Übeiieitungsmethode er¬
füllt diese Bedingungen nur unvollständig.
Als Spendergefäß dient wohl allgemein
die Arteria radialis. Nachdem Geber
lind Nehmer auf zwei Tischen so neben¬
einander gelagert sind, das Kopf des
Empfängers bei Fuß des Spenders und
die Ellenbeuge des ersteren neben die
Handbeuge des letzteren zu liegen kommt, *
wird die Radialarterie des Gebers in ört¬
licher Betäubung dicht oberhalb des
Handgelenks freigelegt, unterbunden,
•durchtrennt und proximalwärts auf etwa
10 cm Länge freipräpariert. Vor der
Durchtrennung erfolgt dicht oberhalb der
Ligatur der temporäre Verschluß, des Ge¬
fäßes durch eine federnde Gefäßklemme.
Die Arterie soll möglichst schonend be¬
handelt werden, damit nicht durch Alte¬
ration der Intima Anlaß zur Begünsti¬
gung von Gerinnungsvorgängen gegeben
wird. Häufig ist das Arterienrohr sehr
•eng. Es empfiiehlt sich dann, von vorn-
here'n eine Vene in der Armbeuge des
Empfängers von annähernd gleichem Ka¬
liber auszuwählen, damit bei der Anasto-
inosenbildung keine zu große Differenz
der Gefäßlumina besteht. Ist es unmög¬
lich, eine kalibergleiche Vene zu finden,
so ist es zweckmäßig, das Arterienrohr
■etwas schräg zu durchtrennen, analog der
Technik, wie sie bei der Vereinigung quer¬
schnittsungleicher Darmlumina gebräuch¬
lich ist. Die Anästhesielösung enthält am
besten kein Adrenalin oder solches wenig¬
stens in sehr kleinen Mengen, damit zu
starke Contractionszustände der Gefäße
vermieden werden. Die Vereinigung durch
die Gefäßnaht erfolgt durch die früher
schon beschriebene Methode Carell-
Stich. Es ist ratsam, die komniunizie-
renden Gefäße während der Dauer der
Transfusion mit warmer physiologischer
Kochsalzlösung zu berieseln, damit eine
Schrumpfung derselben durch Aus¬
trocknen an der Luft vermieden wird.
Nach der Nahtvereinigung wird die Ver¬
schlußklemme der Arterie geöffnet. Jeder
Pulsschlag des Spenders treibt nun eine
gewisse Blutmenge in die Empfängervene
hinein. Die zarte Venenwand bläht sich
unter dem Drucke jeder Blutwelle, die
hellrot durch sie hindurch ^ scheint, auf,
•ein sicheres Zeichen für den ungestörten
Bliitübertritt. Eine Rückstauung aus der
Empfängervene her ist bisher nicht beob¬
achtet worden. Sie wird mit Sicherheit
vermieden, wenn man das Arterienblut
mit Gefälle in die Vene ein treten läßt,
was man leicht durch Elevieren des
Spenderarmes und Senken des Enipfäii-
gerarmes erreichen kann.
Das Tempo des Bluteinflusses darf,
besonders zu Anfang der Transfusion,
nicht ungehemmt sein, denn es sind beim
schnellen Überfließenlassen größerer Blut¬
mengen — zumal bei Kindern — schwere
Störungen der Herztätigkeit beobachtet
worden, offenbar durch akute Dilatation
des rechten Herzens bedingt.
Neben anderen Bedenken ist ein
Hauptnachteil des Verfahrens die Un¬
möglichkeit, eine exakte Messung der
überfließenden Blutmenge durchzu¬
führen. Macht man die Dauer der Trans¬
fusion von der Reaktion des Spenders ab¬
hängig und überträgt ohne zahlenmäßige
Bestimmung so viel, wie dieser ohne ernst¬
liche Schädigung Blut hergeben kann, so
ist‘die Transfusion abzubrechen, wenn
Ohrensausen, Schwindel, Gähnen, ver¬
tiefte, blasende Atmung oder gar Ohm
macht auftritt. Einen besseren Anhalt
gibt die vergleichende Beobachtung des
Blutdruckes beim Spender und Empfän¬
ger. Der Pulsdruck des ersteren soll nicht
unter 90 mm Hg Druckhöhe sinken, der
des letzteren mindestens. 80 mm Hg er¬
reichen. Auf eine Reihe weiterer, aber
auch als ungenau zu bezeichnender Me߬
methoden kann im Rahmen dieser Arbeit
nicht eingegangen werden.
Einfacher als die Anastomosierung
durch arteriovenöse Naht ist die Methode
Sauerbruchs. Hier wird die Spender¬
arterie — gleichfalls die Radialarterie —
nur soweit freigelegt und mobilisiert, daß
sie bequem in einen Längsschlitz der frei¬
präparierten, sonst unverändert gelas¬
senen Empfängervene proximalwärts ein¬
geschoben werden kann. Blutausfluß
aus dem Venenschlitz oder Luftembolie
ist bei guter Ausfüllung des Venenlumens
durch die eingeführte Arterie nicht zu
befürchten.
Bei septischen Zuständen des Nehmers
ist die unmittelbare Anastomosierung des
Aus- und Einleitungsgefäßes wegen der
Gefahr der Infektionsübertragung kontra;
indiziert. In solchen Fällen können die
Gefäße durch Schaltprothesen (Payer
nimmt gehärtete Kalbsarterien, Eloesser
einen dünnen Gummischlauch mit kurzen
Glasklauen zum Einbinden in die Gefäße)
51
402
Die Therapie der
1
miteinander verbunden werden. Sie
müssen aber, weil sie eine vergrößerte
Fläche für Gerinnselbildungen bieten^
eine besonders glatte Innenwandung ha¬
ben. Besteht keine Infektionsgefahr für
den Geber, so können die Gefäße anstatt
durch die zeitraubende Gefäßnaht durch
Schaltstücke vereinigt werden, die eine
genaue Adaption der Intimen beider Ge¬
fäße ermöglichen und im wesentlichen
nach dem Prinzip der von der Gefäß-
anastomosierung her bekannten Payer-
schen Magnesiaröhrchen gebaut sind.'
Eine wesentliche Vereinfachung der
Technik bedeutet nun die Methode der
veno-venösen Transfusion. Wir kön¬
nen Zwischen Verfahren unterscheiden,
durch die unvorbehandeltes, und solchen,
bei denen mit gerinnungshemmenden Sub-'
stanzen versetztes Blut übertragen wird.
Die Überpfla.nzung kann ferner direkt
oder indirekt geschehen und schließlich
ist eine Kombination beider Methoden
möglich. Von den zahlreichen Varianten
der veno-venösen Transfusionsmethoden
soll hier nur diejenige genauer beschrieb*en
werden, die am meisten Anspruch auf
Brauchbarkeit erheben kann und auch
von uns selbst erprobt worden ist, näm¬
lich die Blutübertragung von Vene zu Vene
nach Oehlecker. Dieses Verfahren hat
neben seiner einfachen Technik und Zu¬
verlässigkeit, den Vorzug der genauen
Meßbarkeit der übergeleiteten Blutmenge.
Es hat sich aus vielfachen, günstigen Er¬
fahrungen mit der Methode ergeben, daß
ein prinzipieller Unterschied in der Ver¬
wendung arteriellen und venösen Blutes
für Transfusionszwecke praktisch nicht
besteht. Ein weiterer Vorteil ist, daß zu
den beiden für unsere Zwecke notwendigen
Antrieben des venösen Spenderblut¬
stromes — Stauung mittelst Staifbinde
und verstärkte Muskelaktion durch Schlie¬
ßen und Öffnen der Hand — noch ein
dritter, die Saugkraft einer eingeschalteten
besonderen . Spritze kommt, durch’ die*
Störungen des Blutzuflusses so gut wie
ausgeschlossen werden. Der Oehlecker-
sche Apparat besteht aus einem bogen¬
förmigen Metallrohr, dessen Halbteile
von einem Zweiwegehahn mit einem An¬
satz für eine gut passende, 50 ccm fassende
Luerspritze mit weiter Bohrung ausgehen.
Von den beiden Armen führen kurze
Gummischaltrohre zu zwei Glaskanülen,
die zum Einbinden in die Venen bestimmt
sind und in verschiedener Stärke vorrätig
sein müssen. Die Transfusion geht
folgendermaßen vor sich. Geber und
Gegenwart 1921 Oktober
Nehmer werden auf zwei Tischen so
nebeneinander gefahren, daß Kopf bei
Fuß und die Arme der gleichen Seite auf
der Diagonalen eines zwischen beiden
Lagern stehenden Zwischentischchens
bequem liegen. Nunmehr wird unter
örtlicher Betäubung eine Ellbeugenvene
des unter gut abgestimmter Stauung ge--
haltenen Spenderarmes freigelegt und
nach proximaler Unterbindung in sie
distal die eine Glaskanüle eingebunden.
Am Empfängerarm erfolgt die Ligatur
der Vene distal und die Einbindung der
anderen Glaskanüle proximal. Das ganze
^Rohrsystem einschließlich der Spritze
wird vor dem Gebrauch in einprozentiger
Natriumcitricumlösung gekocht und mit
der gleichen Lösung gefüllt. Während der
Einführung der beiden Glaskanülen wird
langsam Lösung ausgespritzt, so daß
Luftansammlung im System vermieden
wird. Bei richtiger Stauung des Spender¬
armes füllt sich nun die Spritze zumeist
automatisch. So stark ist der Druck des
gestauten Venenblutes. Durch entspre¬
chende Umstellung des Dreiwegehahnes
kann Blut aus dem Geber angesogen
und in den Empfängerkreislauf hinüber¬
gedrückt werden. Für d4e Überleitung
von 50 ccm Blut sind 10 bis 15 Sekunden
erforderlich. Die Spritzen können bei
leichten Stockungen des Kolbenlaüfes
gewechselt werden, nachdem das Ansatz¬
stück des Metallrohres durch Hahn¬
umstellung verschlossen ist. Jede neue
Spritze enthält 5 ccm Natriumcitrat¬
lösung. Sie kann im allgemeinen drei bis
fünfmal gefüllt werden, ohne daß sie aus¬
getauscht zu werden braucht.
Technisch geringere Anforderungen
ohne den Bedarf einer besonderen Appa¬
ratur stellen die indirekten Transfusions¬
methoden. Dafür aber haben sie den
Nachteil, daß durch sie nicht unver¬
ändertes, natives Blut, sondern gewisser¬
maßen denaturiertes Blut übertragen
wird. Man sollte annehmen, daß durch
das zu seiner Ungerinnbarmachung not¬
wendige Defibrinieren oder seine Mi¬
schung mit gerinnungshemmenden Sub¬
stanzen das Blut in seiner physiologischen
Zusammensetzung so sehr geändert würde,
daß es dadurch weniger geeignet zur
Transfusion sei. Dazu erfüllen diese
Methoden die Hauptvorausseizungen für
das Gelingen einer Transplantation —
schnelle Übertragung und möglichste
Schonung des Transplantates — nicht.
Aber schließlich lehrt die Erfahrung, daß
auch mit diesen Verfahren einwandfreie
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1921
Erfolge zu erzielen sind: Um die Blut¬
gerinnung außerhalb der Gefäßbahn zu
verhindern, gibt es zwei Hauptverfahren:
Den Zusatz gerinnungshemmender Sub¬
stanzen und das Defibrinieren des Blutes.
Eine ganze Reihe von Stoffen ver¬
mag gerinnungshemmend zu wirken.
Bekannt ist diese Wirkung von den
citronensauren, oxalsauren und meta¬
phosphorsauren Salzen, dem Trauben¬
zucker, dem Hirudin (Blutegelextrakt)
11 . a. mehr. Am meisten wird für die
Zwecke.der Transfusion seit Hustin das
citronensaure Natron verwendet. Nach
dem Vorgang von Levison werden von
einer 1 bis 2%igen Lösung 10 ccm mit
100 ccm Blut gemischt. Zur Transfusion
ist außer dem Venaepunktions- oder
Sektionsbesteck kein weiterer chirurgi¬
scher Apparat erforderlich. Durch Venae-
punctio oder -sectio wird eine hinreichende
Menge Spenderblut (500 bis 800 ccm) ent¬
leert. Es wird in einem sterilen, vorher
mit Citratlösung ausgespülten Gefäß auf¬
gefangen, das am besten gleich mit dem
erforderlichen Quantum Natriumcitrat¬
lösung beschickt ist. Durch Schwenken
wird das Blut mit der Lösung gut ge¬
mischt und im Wasserbade auf Körper¬
temperatur gehalten. Einzelne Autoren
(Dziembowski) schlagen das Blut noch
hinterher, um sicher zu sein, daß sich
keine Gerinnsel bilden. So vorbereitet
kann die Blutmischung ganz nach Art
einer gewöhnlichen intravenösen Infusion
dem Empfänger einveiieibt werden. In
der oben angegebenen Konzentration —
auf das Blut bezogen 0,2% — ist eine
toxische Wirkung des Citrates nicht zu
befürchten. Brauchbar ist noch zur
Gerinnungshemmung der von Hustin
empfohlene Traubenzucker in 5 %iger
Konzentration. Die anderen aitticoagu-
lierenden, oben genannten Substanzen
finden wegen ihrer toxischen Eigen¬
schaften keine Verwendung.
Die Defibrinierung von Blut zu Trans¬
fusionszwecken wird so vorgenommen,
daß das in einer erwärmten Schale auf¬
genommene Spenderblut fortgesetzt mit
einem schaumschlägerartigen Instrument
so lange geschlagen wird, bis sich kein
Fibrin mehr an ihm absetzt. Ist dies der
Fall, so wird das Instrument mit dem
ihm anhaftenden Fibrin entfernt. Geeignet
sind auch zwei häufig zu wechselnde
Pinzetten. Danach wird das von Fibrin
befreite Blut durch mehrfache sterile
4da
Gazelagen filtriert, wobei nach Oehl-
eck er etwa 10% zu Verlust gehen. Bis
zur Infusion müssen mindestens 40 Minu¬
ten vergangen sein, damit das bei der
Fibrinausfällung sich bildende Fibrin¬
ferment unwirksam wird. Dieses wird
als Ursache der nach der Transfusion
nicht genügend abgestandenen, frisch-
defibrinierten Blutes häufiger beobachte¬
ten Transfusiönskrankheit betrachtet. Das
ursprünglich venöse Blut wird durch die
längere Berührung mit der Luft zugleich
ausgiebig arterialisiert. Die Einver-
•leibung des defibrinierten Blutes geschieht
gleichfalls nach Art der gewöhnlichen
Infusion.
Es bleibt schließlich als Abschluß der
Besprechung der Methodik der Trans¬
fusion . die Schilderung der sogenannten
Eigenbluttransfusion übrig: Sie wird un¬
genauerweise bisweilen auch als Auto¬
transfusion bezeichnet. Dieser Name ist
Vorbehalten für die Verkleinerung des.
Blutkreislaufes durch Auswickelung der
Extremitäten bei schweren Blutverlusten.
Der Vorschlag, den Verblutungstod bei
Ruptur der schwangeren Tube durcb
Rücktransfusion des in die Bauchhöhle
ergossenen Blutes in das Gefäßsystem der
Kranken zu verhindern, stammt von*
Thies und Lichtenstein. Mehr als die
Gynäkologen aber haben die Chirurgen
diese Methode bei Brust- und Bauchhöhlen¬
blutungen angewendet. Die Technik ist
relativ einfach. Das in der Brust- oder
Bauchhöhle Vorgefundene Blut ist, soweit
es flüssig geblieben ist, ungerinnbar.
Blutergüsse in serösen Körperhöhlen ge¬
rinnen nur zu einem kleinen Teile und
sehr verzögert.' Das in'sie ergossene Blut
eignet sich deshalb vortrefflich zur Wieder¬
einverleibung in den Organismus. Das.
Ausbleiben der Blutgerinnung von Blut¬
extravasaten in serösen Körperhöhlen
kann dadurch erklärt werden, daß die
Serosaepithelien ja den Gefäßendothelien
gleichen und deshalb die Adhäsion zwi¬
schen den Serosaflächen und dem Blut
unter den gleichen Verhältnissen wie in
der geschlossenen Gefäßbahn ausbleibt.
Es wird mittels eines Schöpflöffels in
ein bereit gehaltenes, steriles Gefäß ge¬
füllt, zur Hälfte mit physiologischer Koch¬
salzlösung oder Ringerlösung verdünnt,
durch ein Gazefilter geseiht und ohne
weitere Präparation körperwarm, mit
Hilfe eines gewöhnlichen Infusionsinstru¬
mentariums intravenös infudiert.
51*
404
Die Therapie der Gegenwart 1921
Oktober
Bücherbesprecliungen.
•Friedrich Voltz, Die physikalischen und
technischen Grundlagen der Messung
und Dosierung der Röntgenstrahlen.
Mit 173 Abb. Berlin u. Wien 1921. Urban
und Schwarzenberg. 48 M., geb. 66 M.
Voltz, der sich schon durch seine Dosierungs¬
tabellen vorteilhaft bekannt gemacht hat, läßt
•als VI. Sonderheft der „Strahlentherapie“ ein
unfangreiches Buch über die Grundlagen der
•Messung und Dosierung der Röntgenstrahlen er¬
scheinen. Während der theoretische Teil sich
sehr eingehend mit den physikalischen Eigen¬
schaften der Röntgenstrahlen befaßt, stellt der
praktische Teil, der die Messung der Qualität, der
Quantität und die Messung der absorbierten
Röntgenstrahlenenergie behandelt, eine Fund-
:grube exakter Forschung dar, aus deren Ergeb¬
nissen der Röntgenologe reichen Nutzen ziehen
wird. Wenn man bedenkt, bis zu welcher Genauig¬
keit die Dosierung des Heilmittels gelangt ist, so
muß man nur bedauern, daß die Hauptkrankheit,
bei der die Röntgenstrahlen angewandt werden,
‘der Krebs, noch so viele Probleme in bezug auf
Ursache und Verschiedenheit der Krankheit
bietet. Die außerordentliche Mühe und Arbeit,
‘die auf die Dosierungsfrage verwandt wird, ver¬
liert an Wert, wenn das Krebsproblem nicht durch
‘eine technische Lösung der Bestrahlungsfrage
•erledigt ist. Nur wenige Röntgenologen und Klini¬
ker werden aber die biologische Wertung des
Krankheitsfalles ausschalten wollen. Andererseits
kann nicht dringend genug davor gewarnt werden,
mit hochwertigen Apparaten zu bestrahlen, ohne
•die von Voltz verlangten Messungen und Er¬
wägungen zu berücksichtigen. Zum Schluß ver-
'gleicht der Verfasser die verschiedenen Röntgen¬
strahlenmeßmethoden und beschließt sein Buch
mit dem Hinweis, daß die Seitz-Wintzsche und
die Krönig-Friedrichsche Methode die Grund-
Sage für die Weiterentwicklung der Röntgen-
estrahlung darstellt. Max Cohn.
Josef Weiterer, Handbuch der Röntgen-
und Radiumtherapie. Bd. II. Ein Lehr¬
buch für Studierende und Ärzte. München-
Leipzig 1920. Otto Nemnich-Verlag.
Es ist das unbestreitbare Verdienst des Ver¬
fassers, auch in dem vorliegenden zweiten Bande
-eine Fülle kasuistisch-historischen Materials zu-
:sammengetragen zu haben. Dadurch gibt er dem
Röntgenologen ein quellenreiches Nachschlage-
%verk in die Hand, in dem dieser sich über das
Für und Wider der Strahlentherapie in den ein¬
zelnen medizinischen Disziplinen orientieren kann.
Es fehlt die kritische Zusammenfassung der vielen
zitierten Arbeiten, der organische Guß im Werke
— darum ist es als Lehrbuch weniger geeignet. Als
besonders gelungen möchte ich die Kapitel über
die Haar- und Hauterkrankungen hervorheben,
denen die reichen eigenen Erfahrungen des Ver¬
fassers zugute gekommen sind. Warum sind aber
im Kapitel über maligne Tumoren und über
gynäkologische Affektionen die Technik und die
Erfolge der Erlanger Schule vollständig über¬
gangen ? Die Erfolge, die der Verfasser bei
gonorrhoischen Arthritiden und bei geeigneten
Fällen von chronischem Gelenkrheumatismus
durch die Strahlenbehandlung erzielt hat, kann
ich aus eigener .Erfahrung bestätigen. Die An¬
wendung der Röntgenstrahlen in diesen Fällen
sei daher einem weiteren Kreise zur Nachprüfung
empfohlen. Ca Im (Berlin).
G.Bucky, Berlin, Anleitung zur Diathermie¬
behandlung. Mit 129 Abb. Berlin-Wien
1921. Urban u. Schwarzenberg. 21 M.
Das in einen theoretischen und einen prak¬
tischen Teil gegliederte Buch gibt in dem zuerst
angeführten Abschnitte auch dem mit den elektro¬
physikalischen Gesetzen weniger Vertrauten eine
sichere theoretische Grundlage über das Wesen
der Diathermieströme, wie sie für die praktische
Anwendung dieser Behandlungsmethode unerlä߬
lich ist. "Der praktische Teil, aus dem die reiche
persönliche Erfahrung des Verfassers zu uns
spricht, zerfällt in die allgemeine und spezielle
Behandlungsmethodik; anhangsweise ist die chi¬
rurgische Anwendung der Diathermie abgehandelt.
Durch einfachen, klaren Aufbau, der sich von
theoretisch-komplizierenden Erörterungen fern¬
hält und nur das Wesentliche, in der Praxis Be¬
währte in leicht faßlicher Ausdrucksweise bringt,
erfüllt das Buch den beabsichtigten Zweck, dem
Praktiker ein guter Wegweiser zu sein. Gegen¬
über dem in der Vorrede vom Verfasser geäußerten
Standpunkte, daß das Schriftchen allein jeden
Arzt zur erfolgreichen Diathermiebehandlung be¬
fähigen soll, bin ich, trotz der Güte des Buches,
der Meinung, daß praktische Erfahrung und Übung
die conditio sine qua non für eine erfolgreiche
Behandlung sind. Sie müssen in der Schule des
Erfahrenen gewonnen werden. Dafür sprechen
auch die Kapitel über Kontraindikationen und
Schädigungen durch die Diathermie.
Ca Im (Berlin).
Referate.
Auf Grund der guten Erfolge, welche
'Seelmann mit der Terpentinbehand¬
lung der Adnexerkrankungen erzielt hat,
stellt er sich die Aufgabe, auch den Grund
dieser Heilwirkung zu eruieren. Das
Resultat seiner Forschungen war die
' Erkenntnis, daß nur dann eine Besserung
respektive eine Heilung zu erzielen ist,
wenn am Ort der Einspritzung eine Herd¬
reaktion entsteht, wobei er sich auf die
Forschungen Biers über die Reiztherapie
stützt. Von diesem Standpunkt aus muß
•auch die Therapie geregelt werden. Es
dürfen demnach nicht mehr eine Reihe
von Einspritzungen in bestimmten Zwi¬
schenräumen gemacht werden, vielmehr
ist geboten, mit der Terpentinbehandlung
sofort abzubrechen, wenn Zeichen einer
Herdreaktion (z. B. äußerst heftige
Schmerzen im Bein, Lähmungsgefühl in
der Wade usw.) auftreten. Die Zahl der
zu dieser Reaktion notwendigen Spritzen
ist individuell sehr verschieden; die chro¬
nischen Fälle erfordern im allgemeinen
vier bis fünf Spritzen, während bei den
akuten und subakuten Erkrankungen
OJctob^r
Die Therapie der Gegenwart 1921
405
meist zwei bis drei genügen. Verboten ist
bei , Herz- und Lungenkranken Terpentin
zu injizieren. Über die eigentlichen Vor¬
gänge bei der Wirkung des Terpentins
kann sich Seelmann nur hypothetisch
äußern; ob dieses Mittel den Entzündungs¬
herd direkt reizt oder erst auf dem Um¬
wege von Zerfallsprodukten des körper¬
eigenen Eiweißes wirkt, ist noch nicht
festgestellt.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(Zbl.f. Gyn. 1921, Nr. 4.)
Das Entstehen der Analfissuren wird
entweder auf eine Erosion oder das Ein¬
reißen des Analrandes durch einen harten
Kotballen zurückgeführt. Dieser weit¬
verbreiteten Ansicht tritt Koßmann auf
Grund von Beobachtungen an der Mainzer
Hebammenlehranstalt entgegen, der als
wichtigstes ätiologisches Moment die Ge¬
burtsschädigung ansieht, zumal schon
die Anamnese auf einen solchen Zu¬
sammenhang hinweist. Als Zeitpunkt der
Entstehung der Analfissuren muß das
Ende der Austreibungsperiode angesehen
werden: Der Afterring wird bis über
Eünfmarkstückgröße erweitert, und seine
Schleimhaut wulstartig hervorgewölbtund
überdehnt, wobei ein Einreißen des vor¬
deren Pols des Analringes oft erfolgt. Im
Laufe der Zeit verschlimmert sich der
Zustand, zumal die Frauen Angst vor dem
Stuhlgang haben; der intensive, bei der
Entleerung entstehende und nachher noch
stundenlang anhaltende Schmerz ist in
diagnostischer Beziehung für die Anal¬
fissur wichtig gegenüber dem Defäka-
tionsschmerz bei Hämorrhoiden und ent¬
zündlichen Affektionen der Rectum-
gegend, der bald nach der Entleerung ver¬
schwindet. Was nun die Therapie anbe¬
trifft, so soll erst dann chirurgisch vor¬
gegangen werden, wenn Ölklistiere und
Abführmittel neben örtlicher Ichthyol¬
oder Cycloformsalbenanwendung ver¬
sagten. Pulvermacher (Charlottenburg).
(Zbl.f. Gyn. 1921, Nr. 36.)
Über erfolgreiche Behandlung eines
Falles von Gonokokkensepsis mit Me¬
ningokokkenserum berichtet Citron.
Es handelte sich um eine mit Gelenk¬
rheumatismus beginnende Sepsis, die
durch Salizyl- und Eucupinbehandlung
unbeeinflußt blieb, und die durch Blut¬
aussaat als Gonokokkensepsis erkannt
wurde. Patient hatte kurz vor der in-
cipienten Gelenkerkrankung eine Gonor¬
rhöe gehabt, von der auch durch speziali-
stische. Untersuchung lokal nichts mehr
nachweisbar war. Blasenspülungen und
intravenöse Injektionen von Jodkollargol
blieben ohne Erfolg. Auf Grund der
nahen Verwandtschaft zwischen Meningo-
ünd Gonokokken wurde zweimal je 50ccm
Meningokokkenserum eingespritzt.Danach
schwand das Fieber sehr schnell und
Patient wurde nach 14 Tagen geheilt
entlassen. Der Fall weist von neuem auf
die Bedeutung der bakteriologischen Blut¬
untersuchung hin, die den Fall aufklärte
und den Weg zu einer zweckmäßigen
Therapie zeigte. Zu beachten ist weiter¬
hin, daß Fälle von akutem Gelenkrheu¬
matismus, wenn sie ' aüf starke Salicyl-
präparate nicht bald erfolgreich reagieren,
hinreichend verdächtig auf Gonokokken¬
rheumatoid sind. C. hält die vorliegende
Wirkung für eine specifische; eine un-
specifische Wirkung nach Art der Pro¬
teinkörpertherapie hält er für ausge¬
schlossen, da das den Proteinkörperinjek¬
tionen entsprechende Jodcollargol wir¬
kungslos geblieben war. Seiler.
(D. m.W. 1921,'Nr. 31.)
H. Gödde macht aus dem Evangeli¬
schen Krankenhaus Oberhausen (Rhein¬
land) eine kurze Mitteilung über Lym¬
phangiome mit besonderer Berücksichti¬
gung des tiefen Sitzes am Halse: Es
handelte sich um ein cystisches Lym¬
phangiom am Hals, das weit bis ins Me¬
diastinum hineinragte und durch Druck¬
erscheinungen Veranlassung zu Fehl¬
diagnosen gegeben hatte. Partielle opera¬
tive Entfernung brachte vollkommene
Heilung. Es empfiehlt sich, wenn an¬
gängig, den Tumor im Anfangsstadium
zu entfernen. Willibald Heyn (Berlin)
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 163, Heft 1/2, S. 135.)
Zur Klinik der Lymphosarkoleukämie
berichtet Th. Di ein er aus der Freiburger
Universitätsklinik (Lexer) über einen
entsprechenden Fall. Es handelt sich um
einen 42jährigen Eisenbahnarbeiter, bei
dem zunächst eine allgemeine Schwellung
sämtlicher palpablen Drüsen zusammen
mit einem lymphatisch-leukämischen Blut¬
bild auftrat. Später erfolgten Spon¬
tanfrakturen des Schenkelhalses beider¬
seits und der Wirbelsäule. Bei der Sek¬
tion ergab sich, daß der ganze lymphati¬
sche Apparat von einer sarkomatösen Er¬
krankung befallen war, die mit einem in¬
filtrierenden kleinzelligen Rundzellen¬
wachstum in Muskulatur und Knochen¬
mark einherging und die Spontanfrak¬
turen hervorgerufen hatte. Wegen des in
vivo bestehenden leukämischen Blut-
406
Die. Therapie der Gegenwart 1921
Oktober
bildes faßt Diemer das Krankheitsbild
unter den Begriff der Lymphosarko-
leukämie zusammen.
Das Literaturverzeichnis umfaßt 43 Ar¬
beiten. Willibald Heyn (Berlin).
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 163, Heft 1/2, S. 1.)
Prof. Se Ite r in Solingen berichtet über
seihe guten Erfolge mit Butolan gegen
Oxyureit, das er bei 17 Fällen angewendet
hat. , Er bezeichnet dieses Mittel als ein
gut wirkendes und unschädliches, das
die lästigen alten Kurmethoden über¬
flüssig macht. Butolan ist ein Karbamin-
säureester des p-Oxydphenylmethans, das
ähnlich wie Thymol ein substituiertes
Phenol ist. Es schmeckt nicht schlecht,
riecht auch nicht unangenehm und ruft
keine Reizerscheinungen im Darmkanal
hervor wie dieses. Man gibt dreimal täg¬
lich 0,2—-0,5 g, je nach dem Alter, für
2—3 Tage, dann 1 Tag lang ein Abführ¬
mittel; sodann wird ein zweiter Turnus
in derselben Weise angeschlossen. Nach
14 Tagen Wiederholung der Kur. Die
Vorsichtsmaßregeln gegen erneute Selbst¬
infektion, d. h. Reinhaltung der After¬
gegend (Badehose, Windel) müssen be¬
achtet werden. Klistiere werden nicht
verwendet. Unangenehme Nebenerschei¬
nungen des Mittels hat S. nicht gesehen.
Der Erfolg blieb in vier Fällen aus, bei
denen eine erneute Selbstübertragung
wahrscheinlich war. Seiler (Berlin).
(D. m.W. 1921, Nr. 27.
Die Röntgenbehandlung der Polycyt-
hämie wurde von Böttner in drei Fällen
angewandt. Der erste Fall wurde durch
zwei Bestrahlungskuren auf die Unter-.
Schenkel, Unter- und Oberarme, Brust¬
bein (Volldosen) und Milz (Reizdosen)
völlig geheilt. Nach der Bestrahlung
wurde Patient 1 % Jahr lang beobachtet.
Er blieb beschwerdefrei, arbeitsfähig und
hatte normalen Blutbefund. In zwei
weiteren Fällen war der Bestrahlungs¬
erfolg weniger gut. Das Knochensystem
wurde mit Volldosen bestrahlt, die Milz
mit halber Hauteinheitsdosis. Die Haut¬
einheitsdosis war bei dem angewendeten
Instrumentarium nach 50—60 Minuten
Bestrahlung erreicht. Bei beiden Pa¬
tienten erfolgte auf Röntgen tiefenbe-
strahlung des Knochensystems und der
Milz ein Zurückgehen der Erythrozyten
auf fast normale Werte und ein Kleiner¬
werden des Milztumors, aber eine Heilung
wie beim ersten Fall blieb aus. Das Aus¬
bleiben der vollständigen Heilung bezieht
B. auf die/bestehende iCjefäßdUatation
der äußeren Haut und Schleimhäute,
A^ilztumor usw. Es wäre denkbar, daß
die kompensatorisch erweiterten Gef äßefm
Verlaufe der Zeit durch die ständige
Überdehnung die Fähigkeit verloren
haben, sich auf die Weite des alten Ge¬
fäßlumens zurückzubilden. Wenn nun
die Erythrocyten normale Werte wieder
erreicht haben, dann könnte das weite
Strombett eine kompensatorische Neu¬
bildung von.Erythrocyten veranlassen.
An dieser Stelle sei auch der medi¬
kamentösen Therapie Erwähnung ge¬
tan, welche die überschüssigen Blutkör-
pe.chen zu zerstören sucht. In solchem
Bestreben gibt man nach Eppinger Phe-
nylhydracin. Taschenberg hat einen
Fall damit behandelt. Nach insgesamt
7,25g Phenylhydracin per os während der
Zeitdauer von zwei Monaten kam ein
leichter Abstieg der Erythrocyten und
Absinken des Hämoglobins, unter Ader¬
lässen Absinken von 14 Millionen auf
6,5 Millionen der roten Blutkörperchen.
Nach Wiederaufnahme der Phenylhydra-
cintherapie mit geringerer Dosierung als
früher kam es zu schwerer Anämie (eine
Million Rote, 30% Hämoglobin) mit
gleichzeitigem myeloischem Blutbild.
Dabei kam es zu extremer Blässe,
starken Oedenien an beiden Beinen, die
zum Teil auf einer Nierenschädigung, zum
Teil aber auch Thrombose beruhten, und
schließlich Gangrän der Zehen des rechten
Fußes. Nach Abklingen der schweren
Symptome stieg das Blutbild wieder auf
6 Millionen roter Blutkörperchen und
95% Hämoglobin. Weitere Versuche mit
Phenylhydracin blieben erfolglos. Phenyl¬
hydracin ist also nicht ungefährlich,
während die Wirkung auf die Poly-
cythämie sehr unsicher ist.
Seiler (Berlin).
(D. m. W. 1927, Nr. 27, S. 773 u. 774.)
Die Brauchbarkeit des Tenosin als
Secaleersatz hat Jaeger durch die
klinischen Erfahrungen, welche mit den
experimentellen Ergebnissen in allen
wesentlichen Punkten übereinstimmen,
in einer größeren Arbeit beweisen können.
Gegenüber den Hirtentäschelpräparaten,
welche zur Zeit im Handel sind, müssen
diesem Mittel folgende Vorzüge züge-
sprochen werden: gleichbleibende Zu¬
sammensetzung, Möglichkeit einer genauen
Dosierung und eine prompte und gleich¬
mäßige Wirkung. Es hat sich bei den
Untersuchungen herausgestellt, daß die
Hoffnungen, welche man in die anderen
Oictober
Die Therapie der Gegenwart l02l
407
Präparate gesetzt hat, nur teilweise er¬
füllt wurden.-. Überdies ist ja immer daran
zu denken, daß die synthetischen Secale-
präparate gar nicht das Mutterkorn völlig
verdrängen sollen, das doch sicherlich
Wieder leichter zu haben sein wird.
Außerdem können auch beide Mittel ganz
gut nebeneinander bestehen, wie dies ja
bei Digitalis und den Ersatzpräparaten
schon lange "der Fall ist.
Pulvermacher (Charlottenburg).
' (Arch. f. Gynäk., Bd. 38.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Zur intravenösen Quecksilber=Salvarsanbehandlung der Lues.
Von Dr. Siegfried Reines, Wien.
Baccelli hat als erster im Jahre 1894
die intravenöse Quecksilberbehandlung der
Lues in Form intravenöser Sublimatinjek¬
tionen empfohlen. Trotz der günstigen
Resultate hat sich die Methode nicht eiri-
bürgern können, auch dann nicht, als die
intravenöse Salvarsanbehandlung Gemein¬
gut der Ärzte geworden war. War es die
größere Wirksamkeit der unlöslichen, für
intravenöse Injektionen nicht verwend¬
baren Quecksilbersalze oder äußere Gründe,
jedenfalls blieb man- bei der Kombination
intramuskulärer Quecksilbereinspritzungen
mit intravenösen Salvarsaninjektionen.
Erst Linser hat im Jahre 1919 die kom¬
binierte Quecksilber-Salvarsanbehandlung
der Lues wesentlich verändert durch Ein¬
führung seiner „einzeitigen“ Sublimat-
Neosalvarsanbehandlung. Das Wesen
dieser Methode besteht darin, daß frisch
bereitete Mischungen von Sublimat und
Neosalvarsan intravenös eingespritzt und
jede andere Quecksilberbehandlung aus¬
geschaltet wird. Die therapeutischen Er¬
folge waren, wie auch andere Autoren
bestätigen konnten, günstig. Immerhin
haftete dieser Kombination der Nachteil '
an, daß der Patient nur eine relativ ge¬
ringe Gesamtmenge Quecksilber erhielt,
deren Erhöhung durch größere Einzel¬
dosen nicht immer möglich war infolge
der irritierenden, eventuell sogor oblite¬
rierenden Wirkung des Sublimats auf die
Venenwand (Varicenbehandlung Linsers!).
Es war daher sehr zu begrüßen, daß
Bruck und Becher im Jahre 1920 das
Salvarsan statt mit Sublimat mit Novasu-
rol kombinierten und so für die neue
Behandlungsart ein Quepksilberpräparat
einführten, das auch in höheren Einzel¬
dosen ohne 'jede Venenschädigung ver¬
abfolgt werden konnte. Zieler und nach
ihm eine Reihe anderer Autoren bestätigten
die guten klinischen und serologischen
Resultate sowie die Unschädlichkeit dieser
intravenösen Novasurol-Neosalvarsan-Be-
handlung. Im weiteren Ausbau der ein¬
zeitigen Quecksilber-Salvarsan-Behandlung
wurden nun verschiedene,mehroder weniger
naheliegende Modifikationen und Kom¬
binationen versucht, so das Neosalvarsan
gegebenenfalls durch Silbersalvarsan er¬
setzt oder andererseits die bereits ge¬
nannten Quecksilberpräparate durch andere
lösliche Quecksilbersalze, z. B. durch Em-
barin, Cyarsal u. a. Immerhin scheint,
soweit ich die Literatur übersehe, der
Linserschen und der Bruck-Becher-
schen Kombination die größte Aufmerk¬
samkeit zugewendet zu werden. Da sich
meine Erfahrungen ebenfalls auf diese
beiden Methoden beschränken, will ich
kurz das für den praktischen Arzt Wich¬
tigste bezüglich Technik, Dosierung, An¬
wendungsweise U8W. mitteilen.
Technik: Die Mischung wird selbstverständlich
jedesmal frisch bereitet, und zwar am besten in
der Spritze selbst. Das Neosalvarsan wird wie
gewöhnlich in 5—8 ccm destillierten Wassers gelöst
und dann in eine lO-g-Spritze aufgezogen. Sodann
wird durch die Nadel die entsprechende Menge
Novasurol oder Sublimat nachgesaugt. Ersferes
kommt ausschließlich in sterilen Ampullen zu
2,2 ccm in den Handel, die bei eventueller Ver¬
wendung einer geringeren Menge leicht wieder an
der Bunsenflamme zugeschmolzen werden können.
Auch für das Sublimat möchte ich unbedingt
empfehlen, sich der überall erhältlichen sterilen
Ampullen zu 1 ccm einer 1—2%igen Lösung zu
bedienen; die für je eine Injektion meist ausreichen.
Größere, nicht luftdicht verschlossene Quantitäten
der Sublimatlösung vorrätig zu halten, scheint mir
nicht ratsam.
Ist nun die gründliche Durchmischung der
beiden Flüssigkeiten durch mehrmaliges Um¬
schwenken der Spritze nach zirka einer halben
Minute vollendet, so zeigt die Sublimat-Salvarsan-
Mischung ein schwärzliches, die Novasurol-Salvarsan-
Mischung ein je nach der Menge des verwendeten
Novasurols lichteres oder dunkleres Grün. Die
intravenöse Injektion selbst wird dann unter den¬
selben Kautelen ausgeführt wie die des^ dunklen
Silbersalvarsans. Wer Erfahrung und Geschick
in der Injektion des gewöhnlichen Neosalvarsans
hat, wird au.ch bei der Injektion dunkelgefätbter
Flüssigkeiten keine besonderen Schwierigkeiten
finden. Jedenfalls soll der Mindergeübte beim
Arbeiten mit der gewöhnlichen Spritze und Nadel
erstere unmittelbar nach dem Einstich abnehmen,
um sich vom Ausfließen des Blutes aus der Nadel
zu überzeugen; das bloße Zurückziehen des
Stempels bei aufsitzender Spritze wie bei der
einfachen Neosalvarsaninjcktion möchte ich hier
m
^ t)ie Therapie der Gegenwart .19^1
Oktober
deshalb 'nicht raten, weil das einströmende Blut
durch die dunkle Farbe der Mischung mehr oder
weniger verdeckt wird. Auch während der ganzen
Injektion ist peinliche Aufmerksamkeit nötig, um
beim geringsten subjektiven oder’objektiven An¬
zeichen einer Quaddelbildung sofort aufzuhören.
Dosierung: a) Einzeldosierung: Das Neosalvar-
san wird steigend in der Dose II—III bis maxi-
mum IV, also 0,3—0,45—0,6 verwendet (Silber-
salvarsan 0,1—0,3). . Vom Sublimat habe ich
niemals mehr oder weniger als 1 ccm einer
1— 2%\gen Lösung verwendet, welche Dosis stets
beschwerdefrei vertragen wurde. Mit der gleichen
Dosis beginne man bei dem intensiver wirkenden
Novasurol, um dann bald auf IV 2 ccm und
schließlich auf die Volldosis von 2,2 ccm zu
steigen. Diese einschleichende Dosierung des
Novdsurols, das mehr Quecksilber zur Wirkung
gelangen läßt als die entsprechende Menge Subli-
ihat, vermeidet mit Sicherheit die geringgradigen
Nebenerscheinungen (leichtes Fieber, Brechreiz),
d.e sich manchmal einstellen können, wenn man
gleich mit der Volldosis beginnt.
b) Gesamtdosierung: Zu wenig Neosalvarsan
ist schädlich! Es kann auf den Krankheitsprozeß
irritierend wirken und den Boden für Neurorezi-
dive aller Art und aller Stadien bereiten. Anderer¬
seits kann auch ein Zuviel an Neosatorsan die
natürlichen Heilungsvorgänge des Organismus un¬
günstig beeinflussen. Eine Gesamtmenge von
3—4,5 g Neosalvarsan, je nach Verträglichkeit,
Alter, Geschlecht usw. dürfte stets ent prechen,
wenn nicht besondere Indikationen, wie Abortiv¬
behandlung, Neurolues usw., vorliegen. Es werden
also in der Mehrzahl der Fälle sieben bis
maximum zehn Injektionen, gegeben in sechs-
bis achttägigen Intervallen, für eine Kur voll¬
kommen genügen, wobei sich die Injektionszahl
selbstverständlich auch nach der Größe der je¬
weiligen Einzeldosis des Neosälvarsans zu richten
hat.
Mit zehn derartigen Mischungsinjek¬
tionen wird also dem Organismus wohl
eine nach unseren derzeitigen Erfahrungen
vollkommen entsprechende Gesamtmenge
Neosalvarsan einverleibt; wie verhält es
sich aber mit der merkuriellen Kompo¬
nente? Die für eine Kur verbrauchte Ge¬
samtquecksilbermenge erscheint bei An¬
wendung der bloßen Mischungsinjektionen
immerhin recht mäßig, wenn man in Be¬
tracht zieht, daß bei intramuskulärer
Quecksilberbehandlung durchschnittlich
15 2%ige Sublimatinjektionen ä 1 ccm oder
ebenso viel Novasurolinjektionen ä 2,2 ccm
gegeben werden. Eine reichliche Merku-
rialisierung, die trotz mancher Gegner¬
schaft wohl ebenso nötig und nützlich
ist wie eine entsprechende Menge.Salvarsan,
wird also durch die Originalmethoden
Linsers und Bruck-Bechers wohl nicht
erzielt. Ich habe nun im Dezember 1920
über eine Methode berichtet, welche zwecks
ausgiebigerer Quecksilberzufuhr die Bruck-
Becherschen einzeitigen Novasurol-Neo-
salvarsan-Injektionen mit einer- Anzahl
reiner, intravenöser Novasurolinjektionen
kombiniert (W. m. W. 1920, Nr. 50). Man
kann nach meinen Erfahrungen unbe¬
denklich vor und zwischen den einzelnen
Mischungsinjektionen noch 8—10 intra¬
venöse Novasurolinjektionen, täglich oder
jeden zweiten Tag (Dosierung siehe oben),
geben. Dadurch wird eine rasche und
kräftige Merkurialisierung erreicht, ohne
den Patienten zu schädigen; denn das
stark quecksilberhaltige und daher intensiv
wirkende Novasurol wird rasch wieder
ausgeschieden, so daß die Gefahr der
Kumulierung nicht zu befürchten ist. Ein
weiterer Vorteil liegt in der Sicherheit,
durch einige vorausgeschickte Novasurol¬
injektionen eventuelle Reaktionserschei¬
nungen nach der ersten Salvarsandosis
zu vermeiden. Solche sind manchmal,
besonders bei frisch sekundären Fällen
und ungenügender Vorbehandlung mit
Quecksilber, zu gewärtigen und beruhen
wahrscheinlich auf den plötzlichen, durch
Salvarsan hervorgerufenen Zerfall größerer
Mengen von Spirochaeten.
Schließlich wäre noch anzuführen, daß
von der Mehrzufuhr von Quecksilber sicher¬
lich eine Verstärkung und Stabilisierung
des Behandlungseffektes zu erwarten ist.
Die mit den Mischungsinjektionen kom¬
binierten Novasurolinjektionen sind also
eine Art Sicherheitskoeffizient für das
Endresultat, ohne dabei die Behandlungs¬
zeit zu verlängern. Dieser Umstand zu¬
gleich mit dem Vorteil der raschen und
kräftigen Wirksamkeit läßt die in Rede
stehende Kombination besonders für ab¬
ortive und sonstige dringende Fälle emp¬
fehlenswert erscheinen.
Ich habe hiermit versucht, die rein
intravenöse Behandlung der Lues, wie sie
seit Linser im Flusse ist, kurz zu skiz¬
zieren. Ueber ihre klinische und serolo¬
gische Dauerwirkung läßt sich derzeit
noch nichts Sicheres aussagen, ebenso¬
wenig, ob nicht die nachhaltige Wirkung
der unlöslichen Quecksilbersalze, wie Ka-
lomel oder graues Oel, die Vorteile der
rein intravenösen Behandlung überwiegt.
Diese Vorteile aber, unter welchen voll¬
kommene Schmerzlosigkeit, schnelle Wir¬
kung und Zeitersparnis an erster Stelle
zu nennen sind, machen jedenfalls im
Verein mit den bisher erzielten Resultaten
eine gründliche Prüfung der hier geschil¬
derten Methoden wünschenswert.
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Die Therapie der Gegenwart
*
1021 herausgejgeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer y© jxib6P
' Nachdruck verboten.
Diabetes und chirurgischer Eingriff i).
Von Marius Lauritzen, Kopenhagen.
Ich will zunächst auseinandersetzen,
wie ich vom Standpunkt des Internisten
die Indikationen für chirurgische Ein¬
griffe bei Diabetes zu stellen pflege und
dann eine Orientierung über die spezielle
Diagnose beim Diabetes geben und über
die jetzige individualisierende Diät¬
behandlung dieser Kranken vor und
nach der Operation.
I.
Die Besprechung der Indikationen
vom internen Gesichtspunkt habe ich in
zwei Abschnitte geteilt.
A. Die Indikationen für chirurgische
Eingriffe bei den eigentlichen diabetischen
Komplikationen und
B. Die Indikationen für chirurgische
Eingriffe bei anderen Krankheiten der
Diabetiker.
A. Die eigentlichen diabetischen
Komplikationen, um die es sich hier
handeln kann, sind: 1. Furunkulose, sub-
cutane Phlegmone und Karbunkel, 2. Ent¬
zündungen mit Gangrän an den Extremi¬
täten, 3. Cataracta diabetica, 4. Otitis'
media diabetica s. necrotica, 5. diabetische
Neuralgien und Neuritiden.
Die diabetische Furunkulose heilte
sehr bald unter einer antidiabetischen Be¬
handlung, die in kurzer Zeit die Glykos-
Lirie und die Hyperglykämie zu be¬
seitigen vermag. Außer der Diät wende
ich nur Bettruhe, trockene Verbände
mit Borsäure und Spiritusabwaschungen
an. Bei subcutaner Phlegmone oder Kar¬
bunkel kann natürlich die Incision indi¬
ziert sein, aber erst, wenn der Kranke
hyperglykämiefrei gemacht ist. Da sich
diese diabetischen Komplikationen meist
in frischen Diabetesfällen finden, besteht
hier keine Schwierigkeit, den Kranken
schnell zuckerfrei zu machen; aber auch
in nicht frischen, schweren Diabetesfällen
mit Furunkulose ist es mir immer ge-
1) Vortrag in der Dänischen ^ chirurgischen
Gesellschaft in Kopenhagen.. Übersetzt von
Dr. Misch, Charlottenburg.
lungen, diese durch eine energische anti¬
diabetische. Kur und trockene lokale Be¬
handlung zu heilen.
Entzündungen mit Gangrän an
den Extremitäten begegnet man besonders
bei älteren Diabetikern, nach jahrelanger
Dauer der Krankheit und mangelhafter
Behandlung. Hier muß man sich nicht
von dem oft ganz hoffnungslos erscheinen¬
den lokalen Befund abschrecken lassen,
sondern man muß sich volle Klarheit
darüber verschaffen, welchem Grad von
Diabetes man gegenübersteht. Die spe¬
ziellere Diagnose des Falles kann erst ge¬
stellt werden, wenn man einige Zeit diä¬
tetisch behandelt hat. Zeigt es sich, da(3
man mit einer strengen Diät — die später
besprochen werden soll — die Glykosurie
und die Hyperklykämie beseitigen kann,
so kann man selbst bei sehr ausgedehnten
Entzündungen unter trockener Behand¬
lung die Demarkation und Ausheilung
ganz ruhig abwarten. Selbst wenn es mit
der Diät nicht ganz gelingt, eine vor¬
handene Acidose zu beseitigen, d. h.,
wenn Acetonurie und schwache Diacet-
urie in saurem Urin und eine mäßige
Acetonämie zurückbleibt (Totalaceton¬
konzentration von unter 0,15 pro mille
mit der Widmarkschen Methode^) ge¬
funden), kann man doch die Heilung er-
hoffen^). Nach erzielter Heilung muß man
sehen, dem Kranken eine Diät -zu ver¬
ordnen, die ihn glykosurie- und hyper¬
glykämiefrei halten kann, und kann
man seine Acidose nicht diätetisch unten
halten, .muß man täglich Alkalien ver¬
ordnen (darüber s. später).
Sieht man — nach einigen Wochen
rationeller diätetischer Behandlung —,
daß es nicht gelingen will, die Glykosurie
und Hyperglykämie zu beseitigen, und
daß die Acidose auf diese Weise auch,
nicht in den erwähnten niedrigen Grenzen
gehalten werden kann, muß man lieber
2) Erik M. P. Widmark, Die Acetonkon¬
zentration im Blut, Urin und in der Alveolärluft
(Lund 1917, S. 16).
0 Vgl. G. Klemperer, Th. d. Geg. 1907,
S. 24.
52
410
Die Therapie der Gegenwart 1921
Novßmber
schnell sich entschließen, dem Patienten
zu einer Amputation zu raten^).
Die Amputation muß dann im Gewebe
mit gesunden Arterien gemacht werden,
da man sonst Gefahr läuft, später höher
oben amputieren zu jnüsseri.
Die Amputation kann bei einem so
schwachen Kranken natürlich gefährlich
^ sein. Wo, wie hier, stärkere Acidose be¬
steht, ist die Gefahr des Komas groß und
Herzschwäche kann zu jeder Zeit ein-
treten. Da der Zustand ohne Operation
jedoch hoffnungslos ist, muß die Ampu¬
tation vorgenommen werden.
In den Fällen, wo außer Diabetes
chronische Nephritis besteht, kann es —
selbst wo man einem leichteren Grade
von Glykosurie gegenübersteht — schwer
oder vielleicht unmöglich sein, Demar¬
kation oder Heilung'* einer gangränösen
Entzündung zu erreichen. ' Zunächst ist
die Hyperglykämie in solchen Fällen
hartnäckig oder kann, überhaupt nicht
beseitigt werden, und dann ist die Wider¬
standsfähigkeit des Gewebes gegenüber
Bakterien bedeutend herabgesetzt, wenn
längere Zeit Nephritis und Hypergly¬
kämie bestanden hat.
Daher wird selbst in leichten Diabetes¬
fällen mit Gangrän, die durch Nephritis
kompliziert sind, wo kein normaler Blut¬
zuckerprozent erreicht werden kann, die
Indikation zur Amputation bestehen, die
dann vielleicht das Leben des Kranken
retten kann.
Der diabetische Katarakt, der oph¬
thalmoskopisch nicht von anderen Kata¬
raktformen unterschieden werden kann,
aber der schneller in seinem Verlauf ist,
soll gerade in seinem Beginn von einem
antidiabetischen Regime beeinflußbar sein,
so daß eine leichte Trübung in der Linse
sich aufhellt. Ich habe keine Erfahrung
hierüber; aber es ist wahrscheinlich, daß
eine diätetische Behandlung, die die
Hyperglykämie verhindert, den Verlauf
eines diabetischen Katarakts beeinflussen
kann, so wie sie auf andere diabetische
' Komplikationen günstig wirkt. Die In¬
dikation zur Operation entsteht ja erst,
wenn der Katarakt reif und wenn Agly-
kosurie und normaler Blutzuckerprozent
V. Noor den teilt jedoch einen Fall von
Gangrän zweier Zehen und einer gangränösen
Entzündung des Mitteifußes mit, wo er und ein
anderer Kliniker und zwei erfahrene Chirurgen zur
sofortigen hohen Unterschenkelamputation rieten.
Patient lehnte die Operation ab. Nach vier Wo¬
chen kam es zur Demarkation und das zerstörte
Gewebe wurde samt Knöcheln abgestoßen. Der
Fuß blieb gebrauchsfähig.
erreicht ist. Da der Katarakt meist bei
älteren Diabetikern und in Fällen ohne
Acidose vorkommt, wird die Operation
in der Regel nicht kontraindiziert sein.
Bei einem 26jährigen jungen Mädchen
mit schwerem Diabetes und. doppelseiti¬
gem Katarakt, die ich einige Jahre lang
ab und zu sah. War eine Operation aus¬
geschlossen. Sie starb im Koma.
• Otitis media diabetica s. necro-
tica mit Neigung zu schnellem Knochen¬
zerfall im Processus mastoideus ist eine
sehr ernste diabetische Komplikation, die
eine energische diätetische, Behandlung
und zeitigen chirurgischen Eingriff er¬
fordert.
Otitis nVed. suppurativa bei Dia¬
betikern kaiin einen hartnäckigen Verlauf
haben und. mahnt, den Kranken ständig
glykosurie- und hyperglykämiefrei zu
halten, um chirurgisches Eingreifen zu
vermeiden.
Neuralgien, die eine häufige diabeti¬
sche Komplikation sind, sind bekanntlich
ein äußerst dankbares Feld für eine recht¬
zeitig angewandte diätetische Behandlung,
besonders, weil Neuralgien vorzugsweise
bei älteren Leuten mit leichteren Graden
von Diabetes auftreten. Die diabetische
Neuralgie ist meist doppelseitig, aber
ähnelt im übrigen den Neuralgien anderen
.Ursprungs. In frischen Fällen schwindet
eine diabetische Neuralgie unter Bett¬
ruhe sehr bald, wenn die Glykosurie und
Hyperglykämie beseitigt ist. In solchen
Fällen handelt es sich wohl nur um auf
'toxischer Basis entstandene Nerven¬
schmerzen. In anderen Fällen, wo viel¬
leicht eine eigentliche Neuritis mit Zer¬
störung des Nerven besteht, oder bei
Neuralgie in sehr schweren Graden von
Diabetes, wo man die Hyperglykämie
nicht dauernd entfernen kann, ist kaum
Hoffnung auf Heilung auf diätetischem
Wege.
Wieweit in. diesen letztgenannten Fäl¬
len sich eine Indikation für chirurgische
Behandlung ergeben kann, kann ich nicht
entscheiden; ich hatte niemals Gelegen¬
heit, chirurgisch behandelte Fälle zu
sehen.
B. Indikation zu chirurgischen
Eingriffen bei anderen Krankheiten
der Diabetiker.
Als eine Hauptregel darf man hier
wohl aufstellen: Vermeide Operationen
an Diabetikern und besonders Opera¬
tionen mit Narkose. Ich denke hierbei
zunächst an Operationen, die aus kos¬
metischen und ähnlichen Gründen vor-
411
'November. ' * Die Therapie der Gegenwart 1921
genommen werden; z. B. an Operation |
von Deformitäten, gutartigen Geschwül¬
sten, Hernien, Struma; dann an Operation
wegen Akromegalie, adenoiden Vege¬
tationen, Morbus Basedowii, Basedowoid,
Lithiasis, Fissura ani, Hämorrhoiden und
Strikturen.
Abweichungen von dieser Hauptregel
gibt es zweierlei Art:
1. Die Fälle, wo der Diabetes so leichten
Grades ist, daß man den Kranken ohne
Schwierigkeit frei von Glykosurie, Hyper¬
glykämie und Acidose vor und nach der
Operation halten kann, und wo sonst
keine Kontraindikation für die Operation
(Mb. cordis, Nephritis) vorliegt, und wo
man universelle Narkose vermeiden kann.
2. Die Fälle, wo die komplizierende
Krankheit des Patienten solcher Art oder
solchen Grades ist, daß man versuchen
muß, den Patienten operativ von seinem
Leiden zu befreien.
Bei der Art der Krankheit dreht es
sich natürlich um maligne oder suspekte
Tumoren, incarcerirte Hernien, Darm-
invagination, akute Appendicitis, akute
Osteomyelitis. .
, Bei dem Grad der Krankheit handelt
es sich um: große adenoide Vegetationen,
schwere Fälle von Struma, Mb. Basedo¬
wii, Lithiasis, die durch andere Behand¬
lung nicht wesentlich zu bessern oder zu
beheben sind.
C. Als Anhang zu diesem Abschnitt
sollen operative Eingriffe bei graviden
Diabetikern besprochen werden. Meiner
Erfahrung nach haben Diabetiker, die
gravide werden — bei der gleichen Diät —
stärkere Acidose als außerhalb der Gra¬
vidität. Das ist ein Faktor, mit dem man
bei operativen Eingriffen bei diesen
Kranken rechnen muß, und man mirß
so weit wie möglich eine Operation an
Diabetikern während der Gravidität
vermeiden. Aber auch die sonst un¬
schuldige ,Schwängerschaftsglykosurie‘,
wo sich keine Hyperglykämie findet,
mahnt zur Vorsicht bei operativen Ein¬
griffen, weil auch diese sonst gesunden
Menschen eine auffallend stärkere Neigung
zur Acetonurie als gesunde Leute haben.
Sie scheiden oft Aceton im Urin bei einer
Kohlehydratzufuhr aus, die sonst immer
die Acetonurie zu verhindern vermag.
Auf die Frage der Unterbrechung der
Gravidität will ich hier nicht näher ein-
gehen, sondern nur sagen, daß meine Er¬
fahrungen in die Richtung gehen, daß,
wenn eine «Diabeteskranke nur gleich bei
Beginn der Gravidität unter richtige anti¬
diabetische Behandlung kommt, die Gra¬
vidität selbst in schwereren Fällen nor¬
mal verläuft. Nur soll man ^ mit Rück¬
sicht auf die Neigung zur Acidose —
vorsichtig mit der plötzlichen Entfernung
der Kohlehydrate der Kost sein.
Die Behandlung nach dem Partus soll
ebenso sorgfältig wie während der Gra¬
vidität sein, da es sonst leicht zu einer
Verschlimmerung des Diabetes kommen
kann.
H. .
Vor der Besprechung der diäteti¬
schen Behandlung halte ich es für nötig,
etwas über die spezielle Diagnose beim
Diabetes zu sagen^J.
In den Fällen, ^ wo der Kranke im
Augenblick keine Glykosurie hat, oder
wo der Urin nur eine ganz schwache Re¬
aktion bei den Reduktionsproben gibt,
wo aber der Patient angibt, früher Glykos-'
urie gehabt zu haben, muß man vor einer
Operation sich die Diagnose durch Ver¬
abfolgung einer gemischten, zuckerreichen
Mahlzeit sichern und dann auf Glykosurie
untersuchen. Kann dabei gleichzeitig
eine Blutzuckerbestimmung vor der Mor¬
genmahlzeit gemacht werden, so ist das
das beste; denn Patienten, die jahrelang
intermittierende leichte Glykosurie ge--
habt haben, können gut — besonders wa
eine Albuminurie oder Nephritis besteht
— . eine recht starke Hyperglykämie
haben.
Gerade umgekehrt können die Ver¬
hältnisse in frischen Diabetesfällen
liegen, wo man wohl recht hohe Glykosurie
nachweisen kann, aber wo die Hyper¬
glykämie (bei nüchternem Magen) fehlt,
das heißt, wo die Glykämie im Augenblick
so niedrig ist, daß man versucht ist, zu
glauben, daß der Patient nicht einen
richtigen beginnenden Diabetes hat, son¬
dern eine einfache Zuckerausscheidung
ohne Hyperglykämie oder wie einige das
zu nennen lieben, einen ,,renalen Dia¬
betes“. In einem solchen frischen Dia¬
betesfall kann man nach einer Operation
in Narkose durch eine Vermehrung der
Glykosurie und Glykämie und folgendes
Auftreten einer bedeutenden Acidose un¬
angenehm überrascht werden.
") Mit Rücksi^t auf die Differentialdiagnose
der verschiedenen Zuckerarten, die im Urin auf-
treten, möchte ich mir erlauben, auf meine Ab¬
handlung hinzuweisen: Om Sukkerudskilning
i Urinen og dens Forhold til Livs- og Ulykkes-
forsikring. Nord.- Tidskr. t, Terapi, VI. Aarg.
1907—08 und Ugeskrift f. Laeger, 1908.
52*
412
Die Therapie der
Bei der einfachen chronischen
Glyko surie ohne Hyperglykämie (bei
nüchternem Magen) oder dem sogenannten
„renalen Diabetes'* wird man kaum durch
eine pbstoperative, für den Kranken ge¬
fährliche Verschlimmerung der Krank¬
heit überrascht werden. Aber ich habe
in solchen unzweifelhaften Fällen von
„renalem Diabetes" die Heilung der
Wunde sehr langsam und unter, nach
Aussage des Operateurs, abnormem Ver¬
lauf vor sich gehen sehen. Es handelte
sich hier um Operationen wegen Appen-
dicitis.
Die einfache transitorische Glyko-
surie nach Traumen sieht man ja be¬
sonders auf chirurgischen Abteilungen.
Sie kann in zwei Gruppen geteilt werden:
1. Die transitorischen Glykosurien, die
nach Schädeltraumen, besonders des Hin-
terhaupi.ts entstehen. Sie zeigen sich sehr
bald (bis zwei bis drei Wochen nach dem
Trauma) und beginnen mit Polyurie, die
manchmal länger als die Glykosurie
dauert. Der Verlauf ähnelt der experi¬
mentellen Glykosurie Claude Bernards.
2. Die transitorischen Glykosurien bei
Frakturen der Extremitäten und der
Wirbelsäule. Die Glykosurie dauert
wenige Tage oder höchstens eine Woche
und ist nur selten von Polyurie be¬
gleitet.
Wenn solche transitorischen Glykos¬
urien chronisch werden und den Charak¬
ter der diabetiscjaen Glykosurie anneh¬
men, ist dieser Übergang vielleicht nur
scheinbar; es hat sich vorher um einen
latenten Diabetes gehandelt, der sich
nach dem Trauma offenbart, oder es hat
sich nur Diabetes entwickelt, weil das
Trauma ein dazu disponiertes Indivi¬
duum traf. Die Anamnese muß dann
Aufklärungen geben, ob früher diabetische
Symptome oder Komplikationen vor¬
handen gewesen.
Schließlich kommen’ wir zu den aus¬
gesprochenen Fällen von Diabetes
mit den verschiedenen Graden von Glykos¬
urie und ohne oder mit dauernder Aci-
dose.
Klinisch tritt die diabetische Acidose
in verschiedenen Graden auf: leichte,
mittlere und starke Acidose, die natürlich
keine ganz scharfen Grenzen haben:
1. Bei leichter Acidose gibt der Urin
positive Legalsche Reaktion auf Aceton,
quantitativ bis zu 0,5 g. Die Gerhardt-
sche Reaktion auf Diacetsäure ist in der
Regel ganz schwäch, hängt aber ja von
Gegenwart 1921 November'
der Größe der Diurese ab. Die Ammo¬
niakmenge®) ist fast 1 g.
2. Bei mittelstarker Acidose ist die
Acetonurie. recht stark (1 g) und die
Gerhardtsche Probe gibt eine kräftige
burgunderrote Farbe. Die Ammoniak¬
menge ist 2—3 g. Im Blut findet man
mit Widmarks Methode über 0,15 %
Totalaceton. .
3. Bei kräftiger Acidose findet man
starke Gerhardtsche Reaktion, so daß
die Flüssigkeit undurchsichtig ist. Die
Ammoniakmenge ist über 4 g. Die Aceton¬
konzentration des Biutes liegt zwischen
0,15—0,30 %•
Bei Acetonkonzentration von über
0,30 % kann es sich schon um drohendes
Koma handeln.
Bei leichteren Graden von diabetischer
Glykosurie besteht bekanntlich keine
dauernde Acidose, aber man kann,auch
hier vorübergehende Acidose antreffen,
wenn der Patient auf Eiweißkost und
Fett oder auf Hunger gesetzt ist, genau
so wie man das bei gesunden Menschen
sieht.
Die Zugabe von mehr Eiweiß oder
Zulage von Kohlehydraten wirkt hier
ebenso wie bei gesunden Menschen: die
Acetonurie schwindet'^).
Bei schwereren Graden von diabeti¬
scher Glykosurie finden wir also die
dauernde Acidose, die noch eine Zeitlang
durch Diät beseitigt werden kann, die
aber früher oder später wieder inren
Lauf nimmt und in ihrem Wesen pro¬
gredient ist.
Vom innerniedizinischen Standp^unkt
scheiden wir scharf sowohl diagnostisch
und prognostisch wie auch therapeutisch
zwischen diesen beiden Kategorien: Dia¬
betes ohne dauernde Acidose und Dia¬
betes mit dauernder Acidose, Weil Ver¬
lauf und Diät so verschieden sind. Aber
vom praktisch-chirurgischen Standpunkt
meine ich, daß man die Grenzen nicht so
scharf ziehen soll, daß man glaubt, dia¬
betisches Koma ist ausgeschlossen bei
Diabetes ohne Acidose.
Die Erfahrung zeigt nämlich, daß ein
leichterer Diabetesfall nach einem chi¬
rurgischen Eingriff in Narkose (und be-
Die Bestimmung erfolgt am schnellsten mit
Biorn-Andersens und M, Lauritzens Titrie¬
rungsmethode (C. Neuberg: Der Harn, I. Teil,
1911, S. 97—98),
Vorübergehende Acidose trifft man auch
bei leichtem Diabetes, wenn eine fieberhafte Er¬
krankung oder eine fieberhafte Entzündung vor¬
liegt. ' «
l^oveiTiber
413
Dk Therapie der Gegenwart ;192T
isonders in Chloroformnarkose) den Cha¬
rakter wechseln , und mit einer Acidose
:auftreten kann, die, vernachlässigt, mit
•einem diabetischen Koma enden kann.
Und andererseits soll ein leichterer
Grad von Acidose die Operation nicht
köntraindizieren, weil die moderne Be-
Tiandlung des diabetischen Komas die
Acidose derart zu bekämpfen vermag,
•daß der chirurgische Eingriff ohne Le¬
bensgefahr für den Patienten gemacht
werden kann.
Die sichere Diagnose der Klassifika¬
tion eines Falles kann nicht durch eine
.-ganz kurze Beobachtung gestellt werden,
man muß vielmehr den Patienten einige
Zeit diätetisch behandelt haben, um zu
^entscheiden, welchen Grad diätetischer
Glykosurie er hat und zu welcher Gruppe
er gehört: ob es ein Diabetes ohne dauernde
oder mit dauernder Acidose ist.
III.
Die diätetische Behandlung des Dia¬
betes hat infolge zahlreicher klinischer
Versuche und langer Stoffwechselver¬
suche sich in den letzten Dezennien zu
der jetzigen individualisierenden Behand¬
lung entwickelt.
In den neunziger Jahren und gegen
den Jahrhundertwechsel trat ein großer
Fortschritt in der Diabetestherapie ein,
da wir allmählich die schweren Diabetes¬
fälle so zu behandeln lernten, daß sie
sich jahrelang glykosuriefrei und frei von
Hyperglykämie und Acidose oder wenig¬
stens stärkeren Graden von Acidose
halten.
Einer der Gründe für den starken
Umschwung in den Resultaten war, daß,
•während diese Kranken früher — infolge
einer verkehrten Auffassung ihres Stoff-
'wechsels — mit Nahrung und besonders
mit Eiweißstoffen überladen wurden,
jetzt in ihrer Diät das Kostminimum und
•speziell die Eiweißration bekomrren, die
für den Krankheitsgrad jedes einzelnen
Kranken geeignet ist.
Fortlaufende Versuche^ im Beginn
-dieses Jahrhunderts lieben nämlich ge¬
zeigt, daß die Eiweißmenge der Diät und
die ganze Kostratiofi in den progredienten
Diabetesfällen allmählich derart einge¬
schränkt werden muß, daß die Kranken
mit den schwereren Graden von Diabetes
nur 5 bis 6 g N und in den schwersten
Krankheitsgraden nur 3 bis 4g N in vier¬
undzwanzig Stunden ausscheiden dürfen,
und daß solche Patienten nur das Kost-
m in im um bekommen dürfen, das ihr
Gewicht bewähren oder jähen Gewichts¬
verlust verhindern kann.
Meiner Erfahrung nach gibt es bei
schwerem Diabetes kein konstantes Ei-.
Weißminimum, sondern es ist das die
Proteinmenge in der Kost, bei der der
Patient im gegebe^n Augenblick frei
von Glykosurie und Hyperglykämie ist
und so geringe Acidose wie möglich hat.
Durch Kombination dieser Protein¬
menge mit der Fett- und Kohlehydrat¬
menge (in- Form von Gemüse und even¬
tuell Wurzelfrüchten und eiweißarmem
Brot, die im einzelnen Fall paßt, hat man
die für den Patienten ideelle Diät. Denn ^
die praktische' Erfahrung zeigt, daß diese
Kranken sich jahrelang bei einer solchen
Diät am besten befinden, ohne Hyper¬
glykämie und.arbeitsfähig sind und nicht
die diabetischen Symptome bekommeri,
die von einer mit Kohlehydraten und '
Eiweißstoffen überladenen Diät hervor¬
gerufen werden.
Ein anderer Grund der neuerdings
verbesserten Behandlung der schwereren
Diabetesgrade ist die regelmäßigere An¬
wendung von V. Noordens Gemüse¬
tagen (grüne Gemüse, Butter, Speck,
Rotwein und eventuell Kognak), die er
1898 an Stelle der Cahtani-Naunyn-
schen Hungertage einführte, um einen ,
bestehenden Rest von Glykosurie und
Hyperglykämie Zu entfernen und die
etwas später eingeführte Hafersuppen¬
diät, die, kombiniert mit Gemüsetagen
oder Hungertagen, sich in nicht allzu
vorgeschrittenen Fällen als vorteilhaft
erwiesen hat, wo sich plötzlich stärkere
Acidose und drohendes Koma zeigte.
Vor etwa sieben Jahren machte ich
auf der Klinik den Versuch, unter Bett¬
ruhe mehrere Tage hintereinander strenge
Gemüsediät (grüne Gemüse mit Butter,
Bouillon, Rhabarberkompott und danach
^Zulage von Speck) anzuwenden, um
schnell die Glykosurie, Hyperglykämie
und Acidose zu entfernen.
Dieser Modus hat sich als praktisch
in Fällen erwiesen, wo diabetische Kom¬
plikationen wie Gangrän, Entzündungen,
akutes Ekzem bestanden, oder wo stei¬
gende Acidose infolge Überernährung mit
eiweißreicher Kost vorhanden war.
1915 schlug der Amerikaner Allen
die Anwendung prolongierten Hungers
oder Fasten (Kaffee, Whisky, Soda¬
wasser) vor, um in schwereren Fällen die
diabetischen Symptome schnell zu be¬
seitigen.
414
Dk Therapie dej Gegenwart 1921
Mövemheir;
Bei vergleichenden Versuchen auf
meiner Klinik hat es sich herausgestellt,
daß die strenge Gemüsediät im wesent¬
lichen prompt wie der prolongierte Hun¬
ger wirkt, und da sie leichter durchführ¬
bar ist und von nervösen Patienten besser
bei Bettruhe vertragen wird, ziehe ich
die Anwendung der Gemüsekur vor; aus
Mitteilungen der letzten Zeit aus unseren
Krankenhäusern ersehe ich übrigens, daß
man auch dort jetzt die Qemüsekur dem
prolongierten Hunger vorzieht.
Aber es kann doch Fälle geben, wo
es zweckmäßiger oder sogar notwendig
ist, einige Hungertage anzuwenden. Dar¬
über später.
Wir wollen nunmehr sehen, wie man
die Diabetiker in chirurgischen Fällen
diätetisch behandeln soll.
A. Diätbehandlung bei diabeti¬
schen Komplikationen.
. Bei einem Kranken, der einen leichten
Grad von Diabetes ohne Nephritis und
ohne dauernde Acidose zu haben scheint
und der eine der oben erwähnten diabe¬
tischen Komplikationen hat: Furunku¬
lose, Karbunkel oder Gangrän, ist es
ratsam, sofort — unter Bettruhe und
trockenen Verbänden, eventuell mit Pul¬
ver — strenge Gemüsediät zu verordnen:
'50Ö g grüne, gekochte Gemüse (mit 2 bis
5 % Kohlehydrate im rohen Zustand),
30 bis 60 g Butter, 75 bis 150 g Rhabarber¬
kompott mit Saccharin gesüßt, ein bis
zwei Tassen Bouillon und Tee, Kaffee,
SodaW-asser und ein bis zwei Glas Rot¬
wein.
Im Laufe weniger Tage schwindet die
Glykosurie und Hyperglykämie, in älteren
Fällen kann es etwas länger dauern, bevor
die Hyperglykämie schwindet. In leichten
Fällen — von denen hier die Rede ist —
kann man sehen, daß der Urin, der früher
frei von Aceton und Diacetreaktion war,,
jetzt diese ’ Reaktionen gibt, aber sie-
schwinden sofort wieder, wenn die Kost¬
rationen vermehrt werden. N im Uriit
fällt von der eventuellen Höhe (13 bis-
18 g) gradweis bis zu 5 bis 8 g herab.
Das Körpergewicht sinkt um 1 kg:
O-der mehr, in anderen Fällen bleibt das
Gewicht unverändert; es kann steigen,,,
wenn der Patient mit der Gemüsediät
zuviel Salz ißt oder doppelkohlensaures.
Natron bekommt, was Wasserretention.
veranlaßt.
Der Übergang von der Gemüsediät
zur mehr gemischten, für den Patienten
geeigneten Diabetesdiät muß langsam
vor sich gehen.
In den leichteren Fällen ist die erste
Zulage zur Gemüsediät Eiweiß: ein bis-
zwei Eier, 50 g Braten oder Fisch, dann
durchwachsener Speck 25 bis 50 g bis
zu 100 g und schließlich, an Stelle eines
Teiles des Gemüses oder zusammen mit
diesem 30 bis 45 g Glutenbrot (mit 20%.
Kohlehydrate und 25% Eiweiß), Mit der
Vermehrung der Kostrationen schwindet
in diesen Fällen allmählich die .Diacet¬
reaktion und das Aceton aus dem Urin,,
und N im Urin und Faeces entspricht nun
dem eingeführten Proteinstoff oder ist
geringer als dieser.
Täglich Wird die Zuckerreaktion des
Urins mit der Almen-Nylanderschen
Probe gemacht; ist auch nur Andeutung
von Färbung des Phosphatbodensatzes,
muß ein strenger Gemüsetag eingeschobeii
werden und dann wieder langsame Stei¬
gerung mit Zulage.
Ein erhöhter Blutzuckerprozent, d. h.
über 0,08'bei einer solchen Kost, indiziert
einen strengen Gemüsetag oder einen:
Hungertag.
Tabelle 1.
H. N.-P., 30 Jahre alter Mann. Diabetes, Acidosis (Bettruhe).
Datum
Urinzucker
g
Blutzucker
%
Ammoniak
g
N
g
Gewicht
kg
30. Juni
Gemischte Kost. .
10
123
0,14
'2,4
10,6
63,2
1. Juli
1. Gemüsetag®) . .
20
30
—
2,5
10,8
—
2. „
2. „
20
21
—
1,68
—
—
3. „
3. „
20
22
—
. 1,2
5,8
—
4. „
4. „
20
12
— ’
—
—
5. „
5. „
20
Spur
—
—
4,3 ,
—
6. „
6. „
20
0
—
0,25
4,8
—
7. „
7. „ «) . .
20
0
0,07
0,25
4
63,2
®) 500 g Gemüse, 75 g Butter, 1 Ei, 200 g Bouillon, 150 g Preiselbeeren, Tee, Kaffee.
«) Darnach ging Patient zu „gemischter Gemüsediät“ über und bekam zuletzt Zulage von?
50 g Braten und 30 g Käse. Er gebraucht kein Natron mehr; ist ständig zuckerfrei mit normalem
Blutzucker und hat schwache Acetonurie. Er ist arbeitsfähig.
NovemberDie Therapie der Gegenwart 1921 415
Tabelle 2.
A. H., 55jährige Frau. Leichter Diabetes, Gangrän.
Datum
Kost
Zucker
Zucker
Blutzucker
Diaceturie
Ammoniak
N
o/o
g
% '
g
g
4. Juli
Gemischte Kost. .
7,0
70 ^ ■
.
5. „
Diät mit 100 g
Glutenbrot . . .
1
12
0,17
- 1 -
—
—
9. „
1. Fastentag . . .
—
Spur
-f-
—
6,24
10. „
2.
—
Spur
—
+
0,52
6,94
11. „
3. „
—
0
0,07
+ +
0,75
5,92
12. „
Gemüsetag ....
—
0
—
+ +
■ 1,6
9,09
13. „
,, ....
—
0
' —
+ +
1,2
5,96
14. „
Gemischte Diät^»).
—
0
—
+
■1,12
5,49
16. „
UN
)) ) '
—
0
r
0,08
0,7
—
Tabelle 2: Eine 55jährige Frau mft Adipo¬
sitas, leichtem Diabetes und Gangrän am Unter¬
schenkel. ' Sie litt schon mehrere Jahre an Dia¬
betes und hatte kurz vor der Aufnahme 7 %
Zucker, keine Albuminurie oder Acetonurie. Pa¬
tientin hatte bei der Aufnahme ein gangränöses
Geschwür von Handtellergroße am linken Unter¬
schenkel. Nach drei Fasttagen war der Urin frei
von Zucker und die Hyperglykämie geschwun¬
den. Es trat nun Acetonurie und Diaceturie auf,
die während der folgenden Gemüsetage anhielten
und erst bei gemischter Kost mit 30 g Gluten¬
brot und 300 g Gemüse schwanden. Bei dieser
Diät blieb sie glykosurie- und hyperglykämiefrei.
Das gangränöse Geschwür heilte vollständig.
- Im wesentlichen dasselbe Resultat wie
mit strenger Gemüsediät kann man auch
mit Hungertagen (vergleiche Tabelle II)
erreichen und nach dem Hunger geht man
zur Gemüsediät und dann langsam zur
gemischten Diabetesdiät über.
Bei leichterem Diabetes mit gleich¬
zeitiger Nephritis oder Mb. cord, und
Neigung zu Ödem muß man mit Gemüse¬
diät vorsichtig sein ihd nam.entlich Salz
vermeiden. Hier können Hungertage
indiziert sein und dann Gemusediät mit
300 g Gemüse und schließlich gemischte,
knappe Diät; daneben Tinct. Strophant.
und Theocin 0,2 dreimal täglich.
Will man mit Rücksicht auf die
Ödeme, wo die Nephritis oder das Herz¬
leiden im Krankheitsbild dominiert, die
Gemüsediät ganz vermeiden, kann einige
Tage absolute Milchdiät: ein Liter Milch
oder Buttermilch, ein Viertel Liter Sahne
und ein halbes Liter Wasser am Platze
sein. Der Übergang von der Milchdiät
zur gemischten Kost geschieht dann
durch Einschiebung eines Hungertages
und darauf folgende Einschränkung der
Milchration und Verabreichung von: ein
bis zwei Eiern, 25 g Braten oder 50 g
Fisch, Kompott von Rhabarber und
^0) 50 g Braten, 50 g Schinkenspeck, 1 Ei, 60 g
Butter, 300 g Gemüse, 150 g Preißelbeeren, V» Fb
Rotwein, Tee, Kaffee.
+ 30 g Glutenbrot.
Preißelbeeren, kleine Portionen Gemüse
mit Butter, 30 bis 50 g Glutenbrot oder
eiweißarmes Kleienbrot und Kleienkeks
oder Aleuronatbrot (18% Eiweiß und
30% Kohlehydrate) und schließlich Rog¬
gen- oder Graubrot.
Die absolute, knappe Milchdiät macht
in solchen Fällen den Urin in der Regel
zuckerfrei und läßt die Ödeme schwinden.
Der Blutzuckerprozent wird erst unter
der folgenden Diät und meist langsam
normal. Geht es zu langsam, werden
Hungertage eingeschoben.
In mittelschweren Fällen mit A cid ose
sind die ersten Zulagen nach einer strengen
Gemüsediät: Fettstoffe: 25 g gebratener
Speck tcglich, der in meinen Versuchen
die Glykosurie nicht vermehrt, aber oft
einen Rest von Zucker im Urin durch
Verminderung des N im Urin entfernen
kann und gleichzeitig verringert sich da¬
bei die Acidose oder wird ganz beseitigt.
Danach gibt man gekochten, durch¬
wachsenen Speck, ein bis zwei Eier, Fisch
und schließlich Fleisch, aber stets kleine
Zulagen.
Ist die Diaceturie und dann die
Acetonurie geschwunden, kann man ver¬
suchen, etwas mehr Fisch und Fleisch, bis
zu 100 g, zu geben.
In schweren Fällen mit starker Aci¬
dose muß man manchmal die Gemüsediät
eine Woche lang fortsetzen und am
ehesten kohlehydratarme Gemüse (2 bis
3% Kohlehydrate) und 30 bis 45 g gut
in Wasser geknetete Butter verabreichen.
Gelingt die Beseitigung der Hypergly¬
kämie nicht, so kann man einen Hunger¬
tag und dann wieder strenge Gemüsediät
+ 60 g Whisky oder Kognak versuchen
oder man gibt kleine Speckzulagen in
steigenden Mengen.
Wenn es trotz einer solchen alkali¬
schen Diät nicht gelingt, die Ammoniak-
416
Die Therapie der Gegenwart 1Q21
November
menge des Urins auf niedrige Zahlen zu
halten, d. h. % bis 1 g in 24 Stunden,
und wenn das Blutaceton mit der Wid-
marksehen Methode über 0,15% ist,
muß man Alkalien verabfolgen (Natr.
bicarb., Natr. citr. und kohlensauren
Kalk und Magnesia), zuerst 5 g und dann
langsam steigende Dosen, bis die Wirkung
erreicht ist. Bei Neigung zu Ödem wird
sofort Tinct. Strophanti oder Digalen
(dreimal täglich sieben Tropfen) eventuell
Theocin dreimal täglich 0,20 g gegeben.
Bei der Nachbehandlung heißt es,
die Überernährung vermeiden. Man
kann für die Diabetiker keine bestimmte
Kaloriensumme der täglichen Kost fest¬
setzen, man muß individualisieren und
durch Kontrolle des Körpergewichtes und
des N im Urin die richtige Minimums¬
kost zu finden suchen, d. hj die, die
keine Hyperglykämie und keine stärkere
Acidose hervorruft; so wird sich denn
der Kranke Wohlbefinden, wird imstande
sein zu arbeiten und wird Komplikationen
vermeiden.
B. Die diätetische Behandlung vor
und nach der Operation.
Bei akut sich entwickelnden Krank¬
heiten der Diabetiker, z. B. bei Appendi-
citis, incarcerierten Hernien, Darminva-
gination ist keine Zeit zu vorbereitender
Diätbehandlung. Hier muß nur die
Nahrungszufuhr vor der Operation ver¬
mieden werden und gleich nach der
Operation wird man auch keine Nahrung
geben. Nach dieser kurzen Hunger¬
periode darf man knappe Hafersuppen¬
diät gebrauchen, da diese von den stärke¬
reicheren Kostformen erfahrungsgemäß
die geringste Glykosurie und nur geringe
Steigerung der Glykämie macht und da¬
neben am besten der Acidose entgegen¬
arbeitet. Man gibt 50 bis 100 g Hafer
mit Wasser zu dünner Suppe gekocht.
Die Hafersuppe wird warm oder kalt
mit Zusatz von einigen Tropfen Ci-
tronensaft verabreicht. Sonst darf nur
Wasser, Tee, Whisky und leichter Rot¬
wein gegeben werden. In leichten Fällen
kann man, wenn gewünscht, 100 bis
200 g Hafer oder absolute Milchdiät in
knappen Mengen geben, aber nicht beides
zusammen, und besteht stärkere Acidose,
so nur Hafersuppe, da kleine Portionen
Milch leicht die Acidose vermehren.
Der Übergang zu der für den Kranken
passenden Diät geschieht, wie oben an¬
gegeben, nach Einschiebung eines Ge¬
müse- oder Hungertages.
Bei chirurgischen Eingriffen, wo ge¬
nügend Zeit zu Vorbereitungen ist, muß
man sich zunächst über die spezielle
Diagnose des Falles orientieren und da¬
nach die Prognose ohne und mit Opera¬
tion erwägen.
Die Diätbehandlung vor der Operation
ist die erwähnte strenge Gemüsediät,
wenn sie nicht kontraindiziert oder schwer
durchführbar ist, wie z. B. bei gewissen
Darmleiden, Fieberzuständen, Cystopye-
litis, Nephritis, starkem Mb. Basedowii,
Tuberkulose, malignen Tumoren, Gravi¬
dität.
Wenn man also keine Gemüsediät
und keine Hungertage gebrauchen will
(z. B. bei Mb. Basedowii, starker Nervo¬
sität, malignen Krankheiten und Gravi¬
dität), muß man die Glykosurie und
Hyperglykämie durch eine allmähliche
Einschränkung der Kohlehydrate und
Eiweißstoffe der Kost beseitigen und
dabei die Fettration erhöhen.
In leichteren Fällen kann folgende
Anfangsdiät verordnet werden: 200 g
gebratenes oder gekochtes Fleisch (ohne
Mehlsauce) oder Fisch, zwei Eier, 60 g
Butter, 50 g Käse, 300 g grüne Ge¬
müse, 100 g Rhabarberkompott, eine
Tasse Bouillon, zwei Tassen Tee, zwei
Tassen Kaffee, % Siphon Sodawasser und
eine Drittel Flasche Rotwein +100 g
Roggenbrot oder Graubrot.
Nach ein paar Tagen wird ein Ge¬
müsetag eingeschoben: 600 g Gemüse, ein
Ei, 60 g Butter und Bouillon.
Danach die frühere Diät ohne Brot
und Käse und mit 400 g Gemüse.
Nach kurzer Zeit wird in der Regel die
Glykosurie verschwunden und der Blut¬
zuckerprozent bis auf 0,08 bis 0,09 %
herunter sein. Ist das nicht geschehen,
muß wieder ein Gemüsetag eingeschoben
werden und dann wieder die frühere Diät
mit etwas weniger Gemüse oder etwas
Fleisch mit Speck getauscht werden.
In den schwereren Fällen muß man
einen Gemüsetag einlegen und dann die
Eiweißration der Kost auf die Hälfte
einschränken oder noch weniger Eiweiß
geben.
In den schwersten Fällen muß man
nach einem Gemüsetag oder einem Hun¬
gertag Fleisch und Ei entfernen und
schließlich nur geben: Gemüse, Butter,
Speck, Rharbarberkompott, Bouillon, Tee,
Kaffee, Sodawasser, Whisky.
Unmittelbar vor den Operationen ist
es am richtigsten, einen Gemüsetag oder
November
Die Therapie der Gegenwart 1921-
417
einen Hungertag zu machen und gleich¬
zeitig Alkalien zu geben, so daß der Urin
alkalisch wird, und die nächsten Tage
nach der Operation wird die dem be¬
treffenden Fall am meisten entsprechende
Diät gegeben: Hafersuppendiät oder Ge¬
müsediät oder gemischte Diabetesdiät
und Alkalien, so daß der Urin alkalisch
oder neutral wird, bis jede Komagefahr
überstanden ist.
Nach der Operation muß der Kranke
natürlich ständig beobachtet und auf
Symptome beginnenden diabetischen Ko¬
mas untersucht werden: schneller Puls
ohne Temperaturerhöhung, stärkerer
Durst, Andeutung tieferer Atmung als
gewöhnlich, unruhiger Schlaf, Kopf¬
schmerzen, Kongestion zum Kopfo und
kühle Hände und Füße.
In diesem ersten Stadium des Komas
gelingt es mit einer energischen Behand¬
lung immer, den Kranken über die ernste
Situation hinwegzubringen.
Die Behandlung besteht in absoluter
Ruhe, Wärmflaschen, häufigen Campher-
injektionen, ein Teelöffel doppeltkohlen¬
saures Natron in Wasser alle Viertel¬
stunden. Bessert sich der Zustand im
Laufe weniger Stunden und ist Puls und
Respiration normal, kann man alle halbe
Stunden Natron geben und die Injek¬
tionen einschränken, aber man darf mit
ihnen nicht aufhören, bevor jede Gefahr
überstanden ist; dann muß man ohne
Anstrengung für den Patienten den Darm
entleeren und darauf wieder eine Campher-
injektion machen.
Sollte trotz anscheinend überstande¬
ner Gefahr die Herzaktion schwächer
werden, wird Digalen oder Strophantin
bis 1 mg intravenös) gegeben, und bei
sinkender Diurese zwei bis dreimal täg¬
lich 0,2 Theocin.
Ist der Kranke nach Unruhe und
Schmerzen im Abdomen und Erbrechen
vor Beginn energischer Behandlung in
das somnolente Stadium gekommen, dann
ist die Situation weit schwieriger, aber
noch besteht die Möglichkeit der Heilung,
wenn man schnell handelt und wenn es
gelingt, anhaltend Alkalien zuzuführen
und die Diurese in Gang zu bringen.
Die Diät bei beginnendem Koma: in
den ersten Stunden, manchmal die ersten
24 Stunden, gebe ich keine Nahrung,
sondern suche nur soviel Alkali wie mög¬
lich zuzuführen. Doch gibt es Patienten,
die von Alkohol mit Wasser verdünnt
Nutzen haben; bei eventuellem Er¬
brechen muß man sofort davon Abstand
nehmen. (Anästhesin 0,15 g kann gegen
das Erbrechen helfen, aber ich vermeide
am liebsten alle Narkotica und Pulver.
Als Schlafmittel wird nur verdünnter
Alkohol benutzt.) Wenn die ersten ein-
oder zweimal 24 Stunden gut über¬
standen sind und der Urin alkalisch ist,
gebe ich während ein bis zwei Tagen
Hafersuppendiät von 50 bis 100 g Hafer¬
grütze (ohne anderen Zusatz als etwas
Citrone'nsaft). Hat der Kranke Appetit
— man kann ihn eventuell mit Mixtur,
amaro-alkalina stimulieren wird außer
Hafersuppe einmal Fleischsuppe mit
Gemüse und 150 g Gemüsegerichte
mit 10 g (ausgewaschener) Butter ge¬
geben.
Der Übergang zur gemischten Gemüse¬
diät geht sehr langsam vor sich, indem
man allmählich den Hafer durch Gemüse,
Butter, etwas Speck, Ei und zuletzt
Fisch und Fleisch ersetzt. Die Bettruhe
dauert’mindestens vier Wochen.
Gelingt es nicht, den Kranken über
das somnolente Stadium hinwegzubrin¬
gen, tritt vielmehr tiefes Koma ein, ^o
ist es mir' einige Male für kurze Zeit
gelungen, den Kranken durch intravenöse
Injektionen von 500 bis 1000 ccm einer
3 bis 4%igen Natr. bicarb. Lösung ins
Bewußtsein zurückzubringen (die Lösung
wird in einem nicht hermetisch ver¬
schlossenen Kolben über Feuer zehn Mi¬
nuten lang sterilisiert).
An Operierten, die meist gutgenährt
und kräftig sind, muß man ja jedes
Mittel versuchen, aber bei sehr mageren
Diabetikern im letzten Stadium tut man
am klügsten daran, von intravenösen
Injektionen abzusehen.
Narkose muß, wenn irgendmöglich,
vermieden werden, und Chloroform darf
nicht angewandt werden. Diabetiker mit
Acidose vertragen Morphium und Anti-
pyretica schlecht, die besonders vor und
nach der Operation vermieden werden
müssen.
Es ist für mich außer Zweifel, daß die
Häufigkeit der eigentlich diabetischen
Komplikationen und die Prognose von:
Furunkel, Karbunkel, Phlegmonen und
Gangrän in den letzten zwei Dezennien
sich bedeutend gebessert haben, wo es
mit der Diabetesbehandlung der Neuzeit
möglich geworden ist, die Patienten lange
Zeit frei von Glykosurie nnd Hyper¬
glykämie zu halten.
53
418
Die Therapie der Gegenwart 1921
'B?’
NovemBer
Aber auch die Behandlung der diabe¬
tischen Acidose durch Diät und Alkalien
hat großen Anteil an den günstigen
Resultaten der Behandlung der diabe¬
tischen Komplikationen gehabt.
An den Operationsresultaten werden
die neueren Behandlungsmethoden auch
noch ihre Wirkung tun in dem Maße,
wie diese Methoden auf den chirurgischen
Kliniken allgemeiner eingeführt werden.
Aus der Medizinischeu Universitäts-Poliklinik in Breslau (Leiter: Prof. Dr. Bittorf).
Über einige Atropinvergiftungen.
Von R. Meißner.
Vergiftungen mit Bestandteilen der Atropa
Belladonna sind in Europa ebenso lange bekannt
wie die Pflanze selbst. Matthiolus^) beschrieb
sie ais erster im Jahre 1570 unter dem Namen
Solanum majus sive herbae Belladonnae, und er
selbst berichtet auch schon über Vergiftungen mit
ihr. Bald häuften sich diese Intoxikationen, denn
abgesehen davon, daß Beeren der Tollkirsche
aus Unkenntnis öfter gegessen wurden, gab auch
die Sitte der Venezianer, Belladorina als Kosme-
tikum zu verwenden und der öftere Gebrauch der
Belladonna als Abortivum reichlich Gelegenheit
dazu. Ganz eigentümlich erscheint uns heute
schließlich die Gewohnheit einiger Gastgeber des
sechzehnten Jahrhunderts, ihren gefräßigen
Gästen absichtlich etwas Belladonna in den Wein
zu mischen und so künstlich Schlingbeschwerden
hervorzurufen, die die Gäste am Weiteressen ver¬
hinderten. Die erste Atropinvergiftung mit dem
reinen Alkaloid erfolgte wenige Jahre nach der
Einführung desselben in die Therapie durch
WhUe Cooper (1844) und betraf einen von
SelTs berichteten Selbstmord.’ Größere Zusam¬
menstellungen über Atropin- resp. Belladonna¬
vergiftungen finden sich in der ausführlichen Ar¬
beit von J. Kratter^)^ ferner bei F. A. Falk®)
und über re*ne Atropinvergiftungen in einer Dis¬
sertation von Feddersen^). Letzterer berichtet
über 103 Vergiftungsfälle mit reinem Atropin und
teilt sie in folgender Weise ein:
19 absichtliche
84 zufällige
davon durch
Giftmorde ....
. . . . 9
Selbstmorde . . .
. ... 10
ökonomische . . ,
. ... 43
medici nale.
. ... 41
Schuld des Arztes . .
„ „ Apothekers
.. Patienten
26
2
13
In bezug auf die Form, in welcher das Atropin
genommen wurde, verteilten sich diese 103 Ver-
giftungsfälle folgendermaßen:
In Form von Pulver.
5 mal
ft
von Pillen.
7
tt ft
des Suppositorium . .
1
tt
der Salbe .
2
t) ft
des Linimentes . . .
1
tt
tt tt
des Syrups.
1
tt
tt tt
der Lösung in Wasser
86
tt
und diese verteilen sich weiter auf:
Tropfen innerlich zu nehmen . . 3
^) Franziscus Calceolarius Veronensis bei
Matthiolus (Petri Andreae Mathioli, Senensis
medici Commentarii in sex libros Pedacii Dios-
coridis Anazarbei de medica materia etc. Venetiis
ex officina Valgrisiana 1570.)
2) Vrtljschr. f. gerichtl. M., Bd. 44, S. 52.
®) Lehrb. d. prakt. Toxikologie, Stuttgart 1880.
*) Ingwer Meinhard Feddersen, „Bei¬
trag zur Atropinvergiftung“. Aus dem Labora¬
torium der pharmakol. Sammlung in Kiel.
Inaug. Diss. Berlin 1884.
Lösung in den Gehörgang zu appli¬
zieren .1 mal
Lösung zur subcutanen Injektion 4 „
Augentropfen.53 „
Unbestimmt (wahrscheinlich Col-
lyried.25 „
Wie diese Zusammenstellung zeigt, sind jene
Atropin Vergiftungen relativ selten — und ähnlich
ist es auch bei den Belladonnavergiftungen —, die
durch ein Versehen des Verkäufers (Apotheker^
Drogist) verursacht wurden. Ich bin in der Lage,
über drei solcher Fälle aus den letzten Jahren zu
berichten.
1 .
Im ersten Falle handelte es sich um eine
Intoxikation durch einen Tee, der uns von einem
Arzt mit folgenden Angaben zur' Untersuchung
übersandt wurde:
„Gestern abend wurde ich zu einer vierzig¬
jährigen Frau aus meiner Klientel gerufen. Sie
hatte mit gutem Appetit zu Abend gegessen, um
halb neun eine Tasse obigen Tees getrunken, den
sie als Beruhigungstee gekauft hatte und war
etwa eine Stunde später plötzlich erkrankt. Es
wurde ihr übel und schwindelig, so daß sie tau¬
melte, als ihr Mann sie zu Bett brachte, und sie
konnte nicht mehr recht sehen, was sie las. Was
danach mit ihr geschah, weiß sie nicht anzugeben.
Ich fand sie in einem Zustand hochgradiger hallu¬
zinatorischer Verwirrtheit im Bett sitzen, sie
sprach mit leiser Stimme unverständliches Zeug,
griff auf der Bettdecke herum und hatte zweifellos
Gesichtshalluzinationen. Die Pupillen waren maxi¬
mal erweitert und ohne Reaktion auf Lichteinfall,
der Blick starr, der Puls beschleunigt, über hun¬
dert, das Gesicht nicht gerötet. Zuweilen Auf¬
stoßen und Würgen, kein Erbrechen. Auf 0,02
Morphium subcutan schlief sie gegen drei Uhr
ein. Heute früh war sie orientiert, nur das Nach¬
denken ging noch schwer, sie konnte sich auf
nichts besinnen, seit ihr Mann sie ins Bett gebracht
hatte, klagte über Trockenheit im Munde, fühlte
sich müde, hatte einen Puls von einhundertdreißig
und unverändert weite, reaktionslose Pupillen.
Letztere waren auch mittags noch so, Puls und
Allgemeinbefinden dagegen besser.“
Zur Untersuchung wurden geschickt ungefähr
250 g einer klein geschnittenen Wurzel von 5 cm
Breite und 2—3 cm Dicke im Durchschnitt, die
außen gelblichgrau, wenig runzelig, innen wei߬
lich und etwas weich erscheint. Beim Zerreiben
der einzelnen Stückchen bemerkt man etwas
Staub. Bei mikroskopischer Betrachtung zeigte
sich die charakteristische Trennung von Mark,
Holzkörper und Rinde mit den stärkehaltigen
Parenchym- und Krystallsandzellen, wie sie für
die Radix Belladonnae charakteristisch sind.
Aus diesem Tee wurde nun ein 5%iger Infus
bereitet und von diesem bekam eine Katze um
12 Uhr; 5 Tropfen in den Konjunktivalsack
rechts.
I^ovember
Die Therapie der Gegenwart 1921
419
12^5: Spur Erweiterung, gute Lichtreaktion.
3®®: Totale Mydriasis, keine Lichtreaktion
Tnehr.
Gegen 5®®: maximale Mydriasis.
Weiter wurde mit dem nach Stas-Otto be-
:fiandelten Extrakt die Vitalische Reaktion an-
:gestellt, die stark positiv ausfiel. Schließlich
wurde auch noch auf ein mit Muscarin zum Still-
•stand gebrachtes Froschherz einige Tropfen des
Infuses aufgeträufelt und hierdurch eine Minute
^später ein erneutes Schlagen des Herzens bewirkt.
All diese Reaktionen sprechen einwandfrei für
Atropin, und auch die ganze Art der Vergiftung
läßt auf eine Atropinwirkung schließen. Die Ver-
-giftungen mit der Frucht und den Blättern der
Belladonna sind in der Literatur häufiger genannt
^Is die mit der Wurzel, immerhin sind solche auch
bekannt. Ich verweise auf den von Hunzikery
>und auf den von v. Placer») veröffentlichten Falf
II.
Viel seltener und vielleicht einzig in der Lite¬
ratur ist eine Atropinvergiftung, die durch Ver¬
mischung von Atropin oder Belladonnabestand-
4eilen mit einem Nährgrieß hier beobachtet wurde.
Vor einiger Zeit erkrankten in einem der hie-
jsigen Krankenhäuser abends plötzlich drei Per¬
sonen zu gleicher Zeit mit starken Magendarm¬
beschwerden und Erbrechen, bald stellte sich eine
starke Trockenheit im Halse und eine leichte
JVlydriasis ein. Alle drei Patienten hatten von
einem Grießbrei abends gegessen; der Grieß zu
^diesem Brei war kurz vorher von der Verwaltung
angekauft worden,' und so war es naheliegend,
<laß man von Anfang an auf eine Verunreinigung
dieses Grießes fahndete, um so mehr, als zwei der
Patienten längere Zeit kein Fleisch zu sich
:genommen hatten.
Zur Untersuchung wurden ungefähr 500 g
eines mittelfeinen, grauweißen, mit einigen brau¬
nen Stippchen vermischten Grießes übersandt.
Hauptbestandteile: Große runde oder linsen¬
förmige und kleine polygonale Stärkekörner (die
sich mit Jod sofort blau färben), zum Teil konzen¬
trische Schichtung zeigen und in der Form der
Weizenstärke entsprechen; außerdem vereinzelte
zertrümmerte Zellen von der Form des Weizen-
'perisperms und der braunen Samenhaut des
Weizens.
Eine Probe desselben wurde mit heißem Alko¬
hol, dem eine Spur verdünnter Schwefelsäure
zugesetzt war, eine halbe Stunde am Rückfluß-
Wühler extrahiert, erkalten gelassen, klar filtriert,
'das Filtrat zur Trockene auf dem Wasserbade
verdampft, der Rückstand mit einigen Kubik¬
zentimeter Wasser wieder aufgenommen und
mit Natriumcarbonat bis zur neutralen Reaktion
abgestumpft. Hiervon bekam eine Katze’ einige
Tropfen in den' Konjunktivalsack geträufelt,
einige andere Tropfen wurden "auf das frei-
.gelegte und mit Muscarin zum diastolischen
Stillstand gebrachte Herzeines Frosches gebracht.
Das so behandelte Katzenauge zeigte nach einer
/halben Stunde beginnende, nach zwei bis drei
Stunden eine deutliche Mydriasis, das gelähmte
Froschherz bekam sofort nach Betupfen mit dem
wässerigen Grießauszug wieder seine regelmäßige
Schlagfolge. Der Rest dieses Extraktes wurde nun
mit Natriumcarbonat alkalisch gemacht und mit
Chloroform im Scheidetrichter gut ausgeschüttelt,
'der Chloroformauszug dann auf dem Wasserbad
zur Trockene verdampft, wieder mit wenigen
®) Korr. Bl. Schweizer Ärzte, Bd. 46, S. 684.
®) s. oben bei Kratter, S. 93.
Tropfen Wasser aufgenommen, filtriert, einge¬
dampft und dann die Reaktionen nach Vitali .
und Gerard angestellt, die beide deutlich
positiv ausfielen. Damit war die Anwesenheit
von Atropin (eventuell von Hyoscyamin) fest- ’
gestellt und die Ursache der Vergiftung erklärt.
III.
Als dritten Fall erwähne ich eine durch den
Irrtum des Apothekers entstandene Atropinver¬
giftung, die eine Klage nach sich zog und mir
vom Gericht zur Begutachtung überwiesen wurde.
Auf einige sich daran anschließende medizinische
Fragen möchte ich noch etwas näher eingehen.
In den letzten Dezembertagen des vergangenen
Jahres konsultierte der Kläger dieses Prozesses
einen Arzt, um bei ihm einen Verwandten unter¬
suchen zu lassen. Nach dieser Untersuchung —
wie der Kläger angibt, ganz zufällig — bat er
den Arzt, ihn selbst zu untersuchen, da er sich
zwar völlig frisch fühle, aber öfters an größeren
Schweißausbrüchen leide. Die Untersuchung ergab
ganz gesunde Organe des Klägers, die Schwei߬
absonderung wurde auf eine Anomalie der
Schweißdrüsen zurückgeführt und ihm gegen
diese Schweiße 100 Atropinpillen ä 0,5 mg ver¬
ordnet. Von diesen Pillen sollte der Kläger am
Abend zwei Stück nehmen. An einem der nächsten
Tage wurde derselbe Arzt dringend in die Wohnung
des Klägers gerufen und fand ihn dort schwer er¬
krankt unter folgenden Symptomen: Großer Er¬
regungszustand, Halluzinationen, undeutliche,
lallende Sprache, maximal erweiterte Pupillen,
Doppelsehen, Trockenheit im Halse, sehr stark
beschleunigten Puls, Lähmung von Blasen- und
Mastdarmfunktion. Es wurde ihm mitgeteilt,
daß der Kläger am Abend vorher vorschrifts¬
mäßig zwei der verordneten Pillen eingenommen
habe, darauf wäre ihm plötzlich schwindelig und
sehr elend geworden, bis der jetzige Zustand ein¬
getreten sei. Ein Teil der Pillen wurde sofort
chemisch untersucht, und es ergab sich darin ein
zwanzigmal stärkerer Atropingehalt, als der Ver¬
ordnung entsprach. Nach vier bis fünf Tagen
waren die Hauptsymptome dieser Vergiftung ab¬
geklungen; Kläger äußerte dann noch folgende
Beschwerden: Große Schwäche auf körperlichem
wie auf geistigem Gebiete, Angstzustände, be
sonders darüber, daß er nie mehr gesund werden
würde, mangelndes Konzentrationsvermögen
Schlafsucht, Apathie und Arbeitsunlust. 14 Tage
blieb er im Bett. Der behandelnde Arzt schlug
ihm dann vor, baldmöglichst einen mehrwöchigen
Aufenthalt in einem Sanatorium unter ärztlicher
Aufsicht anzutreten. Patient reiste auch bald ab,
aber nicht in das Sanatorium, sondern in ein Dorf
eines Mittelgebirges, wo sehr viel Wintersport ge¬
trieben wird. Dort unternahm er auch einige
Rodelpartien und Hörnerschlittenfahrten und ist
dann nach neun Tagen, angeblich mit einer
leichten Besserung, an seinen Wohnort zurück¬
gekehrt. Er will jedoch damals auch noch völlig
erwerbsunfähig gewesen sein, und seine Versuche,
Geschäfte anzubahnen, insbesondere auf der Pro¬
duktenbörse sich geschäftlich zu betätigen, seien
völlig mißlungen, weil das lebhafte Reden vieler
Menschen BeWemmungen und Angstzustände bei
ihm bewirkte und er unfähig war, seine Gedanken
einige Zeit hintereinander zu konzentrieren. Seine
Arbeitsfähigkeit habe er erst Anfang Mai, also
ungefähr vier Monate nach der Vergiftung,
wiedererlangt. Ungefähr zur selben Zeit erst ist
er in das ihm von seinem Arzt bezeichnete Sana¬
torium mit den eben erwähnten Klagen gekommen.
Angstzuständp wurden hiernicht mehr beobachtet^
53*
420 Die Therapie der Gegenwart 1921 November
es fanden sich aber in den ersten Tagen eine ge¬
wisse motorische Unruhe, außerdem Zittern der
vorgestreckten Zunge und der Finger, Nachröten
der Haut, Lidflattern, Steigerung der Reflexe. Er
machte nach den Aussagen des Sanatoriumsarztes
den Eindruck eines Neurasthenikers. Von einer
Atropinvergiftung war nichts mehr vorhanden.
Nach vierwöchigem Aufenthalte wurde Kläger
nochmals von dem behandelnden Arzt in der
Heimat untersucht, und dieser bezeichnete ihn
jetzt auch als völlig gesund.
Der Patient strengte nun Klage an gegen den
Apotheker, in dessen Offizin die Pillen dispensiert
waren. Wie die Akten ergaben, ist zur Herstellung
der Pillen eine Atropinverreibung, angeblich
1 :100 verwendet worden. Wie das Versehen aber
zustande gekommen ist, konnte in Einzelheiten
bis jetzt nicht aufgeklärt werden. Der Kläger
klagte nun auf Schadenersatz wegen einer Atropin¬
vergiftung, die ihn dem Tode nahegebracht und
ihn mehrere Monate lang verhindert habe, seinen
Geschäften nachzugehen. Er klagte zunächst um
Schadenersatz in der Höh^ von 10000 Mark
unter ausdrücklichem Vorbehalt weitergehender
Ansprüche.
Auf folgende, von dem Gericht ge-
gestellten Fragen möchte ich nun noch
mit einigen Worten näher eingehen. Ich
sehe ab von den zahlreichen Frage¬
stellungen, die zur Orientierung des Ge¬
richts dienten, sich aber ganz klar aus
den Sachverständigen-Antworten er¬
gaben, und hebe nur folgendes hervor:
1. Enthielten die verordneten 100
Pillen 1 g Atropin, d. h. eine Pille im
Durchschnitt 1 cg?
Diese Frage konnte von dem ver¬
eidigten Chemiker durch wiederholte
Untersuchungen bestimmt bejaht werden.
2. Konnten die festgestellten Krank¬
heitserscheinungen die Folge einer Atro¬
pinvergiftung sein, und ist aus den Be¬
obachtungen des Arztes mit einiger
Sicherheit zu schließen:
a) auf Atropinvergiftung als Ursache,
b) auf anweisungsmäßige Einnahme
der Pillen oder auf Einnahme von
mehr wie zwei Pillen?
c) Welche von dem Kläger behaup¬
teten und von dem behandelnden
Arzt beobachteten Folgen lassen
sich mit einiger Sicherheit auf die
vorbezeichneten Ursachen zurück¬
führen ? '
Zu 2a sei folgendes bemerkt: Starke
Erregungszustände, maximal erweiterte
Pupillen, Sehstörungen, Störungen der
Sprache, Trockenheit im Halse, sehr be¬
schleunigter Puls, Lähmung der Darm¬
und Blasenfunktion, Erscheinungen, wie
sie bei dem Kläger nach der Vergiftung
festgestellt wurden, können Symptome
der Atropinvergiftung sein. Differential¬
diagnostisch kommt besonders jene Ver¬
giftung nach Wurst- und Fleischwaren
in Frage, die durch Toxine des Bacillusc
botulismus hervorgerufen werden. Hier¬
bei fehlen aber gerade die Erregungszu¬
stände, wie Delirien, Halluzinationen, und
außerdem die hochgradige Pulsbeschleuni¬
gung meistens. Ferner setzen die Er¬
scheinungen bei Botulismus erst all¬
mählich mitMagendarmbeschwerdeft ein;,
in unserem Falle aber bestand nach:
Einnahme der Pillen das Bild einer außer¬
ordentlich schnell eintretenden heftigen.
Vergiftung. Weiter hätte man diffe¬
rentialdiagnostisch zu scheiden die Ver¬
giftung mit Hyoscin resp. mit Scopolamin^.
^ei der auch eine starke Erweiterung der
Pupillen, aber niemals eine Reizung der
Hirnrinde und auch nur selten eine Be¬
schleunigung des Pi^lses hervorgerufen
wird. Das R-Hyoscyamin, das ja be¬
kanntlich einen Teil des Atropins bildet —
Atropin ist inaktives Hypscyamin —
wirkt dem Atropin fast in allen Sym¬
ptomen ähnlich, vielleicht noch etwas
stärker, und kommt deshalb hier nicht
besonders in Frage. Man könnte höch¬
stens noch erwägen, ob die Vergiftung:
durch Tollkirschen oder andere Bella¬
donna-Bestandteile hervorgerufen wurde.
Dann aber hätten im Vordergründe der
Vergiftung auch wie beim Botulismus er¬
hebliche Magendarmbeschwerden ge¬
standen, und die nervösen Störungen
würden nicht so plötzlich eingetreten,
sein. Da die differentialdiagnostisch in
Frage kommenden Erkrankungen somit
alle wohl mit Recht ausgeschlossen werden
können, scheint es als sicher, daß die
Vergiftung durch Atropin hervorgerufen:
wurde, und zwar, da Kläger Atropin in
anderer Form nicht genommen haben
will, durch die Atropinpillen.
Bei 2b kommt vor allem in Betracht,^
daß die Wirkung von Atropin auf den
Menschen individuell sehr verschieden
ist. In der Literatur sind Fälle berichtet,,
bei denen z. B. Atropin-Augentropfen
schon Vergiftungserscheinungen her¬
vorriefen, in Mengen, wie sie sonst stets
gut vertragen werden. Andere Personen
zeigten aber keinerlei Intoxikationser¬
scheinungen nach Atropinquantitäten, die
gewöhnlich als tödliche Dosis bezeichnet
werden. Es ist ja bekannt, daß Atropin¬
vergiftungen trotz schwerster Erschei¬
nungen nur relativ selten zum Tode
führen. Die Falcksche Zusammen¬
stellung ergab eine Mortalität von 11,6%.
Als kleinste letale innerliche Dosis Atropin-
wird für Erwachsene 130 mg, für ein
ungefähr dreijähriges Kind 95 mg an-
JNovember
Dk.Therapie der Gegenwart t921
421 .
genommen. 50 mg wurden von Kindern
mehrfach überstanden. Im allgemeinen
kann man wohl annehmen, daß für Er¬
wachsene 5 cg Atropin lebensbedrohend
und 1 dg tödlich wirken. Im vorliegenden
. Falle waren pro Tag zwei Pillen ä 0,5 mg
verordnet worden, die aber nach dem
Outachten des vereidigten Chemikers in
Wirklichkeit das Zwanzigfache der ver-
ordneten Dosis, also 2 cg enthielten.
Es war nun von der Partei des Klägers
behauptet worden: drei Pillen-der von
dem Beklagten gelieferten Beschaffen¬
heit würden unfehlbar unter allen
Umständen zum Tode des Klägers ge¬
führt haben müssen. Drei derartige
Pillen würden also 3 cg Atropin enthalten.
Nach dem oben Ausgeführten erscheint
es aber durchaus nicht sicher, daß 3 cg
Atropin unter allen Umständen zum
Tode führen müssen; bei einer größeren
gegen Atropin bestehenden Idiosynkrasie
kann das der Fall sein, es muß es aber
nicht, wie eben die zahlreichen schweren,
aber nicht tödlich endigenden Vergif¬
tungen in der Literatur beweisen. Die
Frage des Gerichts, ob der Patient zwei
oder mehrere Pillen genommen habe,
ließ sich aus den Erscheinungen der
* Erkrankung hier nicht mit Sicherheit
beantworten.
Die Frage 2c, welche von dem Kläger
behaupteten und von dem Arzt beobach¬
teten Folgen sich mit einiger Sicherheit
auf die vorbezeichneten Ursachen, d. h.
auf die Atropinvergiftung, zurückführen
lassen, ist, soweit es die ersten vier bis fünf,
eventuell die ersten 14 Tage betrifft,
sehr einfach zu beantworten. Sicher sind
als solche anzusehen die Störungen an
den Augen, an der Sprache, die Trocken¬
heit im Halse, die Pulsbeschleunigung
und die Blasen- und Darmstörungen. Für
die Begutachtung war es aber besonders
wichtig, festzustellen, ob außer diesen die
leichteren,noch längeranhaltenden Krank¬
heitserscheinungen bei dem Patienten
mit der Atropinvergiftung in Zusammen¬
hang gebracht werden konnten, mit an¬
deren Worten den Zeitpunkt anzugeben,
wo die letzte Spur der Atropinvergiftung
erloschen war. Sämtliche Symptome,
die der Kläger nach seiner Reise in den
Luftkurort bis zu seinem Eintritt ins
Sanatorium zeigte, können rein neur-
asthenischer Art sein, und finden sich
bei vielen Menschen, die aber trotzdem
ihren Beruf voll ausfüllen. Sie zeigten
sich auch bei einer genauen spezial¬
ärztlichen Untersuchung des Klägers
noch ungefähr ein Jahr nach der Ver- -
giftung, nachdem er schon ein halbes
Jahr von seinem Hausarzt als voll er¬
werbsfähig betrachtet und seiner ge¬
schäftlichen Tätigkeit wieder in vollem
Umfange nachgegangen war.
Leichte motorische Unruhe und man¬
gelndes Konzentrationsvermögen, die den
Gesundheitszustand des Klägers noch
längere Zeit beeinträchtigt haben sollen,
werden zwar in der Literatur der Atropin-,
Vergiftungen auch einige Male als Nach¬
wirkung bei Atropinvergiftung angesehen ;
aber auch sie sind ja so häufig bef neur-
asthenischen Personen zu finden, daß
sie hier nicht mit der Atropinvergiftung
in Zusammenhang gebracht wurden. Ob
vor der Vergiftung bei dem Patienten nie
nervöse Symptome bestanden hatten,
war natürlich am schwersten zu ent¬
scheiden. Die vor der Atropinvergiftung
stattgehabte Untersuchung des Patienten
erwähnt keine Einzelheiten über den
Nervenbefund und bezeichnet seinen Zu¬
stand als gesund. Nur eine Anomalie
der Schweißdrüsen bestehe. Wären hier¬
mit nun eventuell sekretorische Störungen,
wie man sie bei Vasomotorikern so oft
findet, gemeint, so könnte man ja diese
Schweiße schon als Ausdruck einer vor
der Vergiftung bestehend^en Nerven¬
schwäche ansehen. Diesen Überlegungen
folgend wurde angenommen, daß deut¬
liche Zeichen einer Atropinvergiftung bei
dem Kläger vorhanden, daß sie aber zum
größten Teil schon nach 14 Tagen abge¬
klungen waren. Die leichten nervösen
Störungen, die sich dann noch zeigten,
beeinträchtigten einige Zeit lang teil¬
weise wohl die Erwerbsfähigkeit des
Klägers noch, es muß aber mit der Mög¬
lichkeit gerechnet werden, daß auch
dieser letzte Teil der Erkrankung schneller
vorübergegangen wäre, wenn der Patient,
dem Rat des Arztes folgend, sofort ein
Sanatorium und nicht einen Winterkurort
aufgesucht hätte, da die sportliche Be¬
tätigung durchaus nicht immer beruhi¬
gend, sondern oft erregend auf ein ge¬
schwächtes Nervensystem wirkt. Nach
alledem wurde das Gutachten dahin ab¬
gegeben: der Kläger hat eine Atropin¬
vergiftung erlitten, war etwa 14 Tage
voll erwerbsunfähig und im Anschluß
daran noch zwei Monate lang um 33^3 %
in seiner Arbeits- und Erwerbsfähigkeit
beeinträchtigt. Wäre er, den Anordnun¬
gen des behandelnden Arztes folgend,
alsbald nach dem Sanatorium gegangen,
so würde er in der eben genannten Zeit
422
Die Therapie der Gegenwart 1921
November
zweifellos gänzlich hergestellt sein. Daß
er unzweckmäßigerweise nach dem Luft¬
kurort reiste und erst reichlich drei Monate
später nach dem Sanatorium, kann mit
der Vergiftung nicht in Zusammenhang
gebracht werden.
3. Mit einem Worte will ich nun
noch auf die Beantwortung der Frage
eingehen: Ist zu den verordneten Atro¬
pinpillen eine Verreibung (1 : 100)
benutzt worden?
Hierzu möchte ich zu überlegen geben,
ob die auch schon früher manchmal ge¬
übte Gewohnheit einzelner Apotheker
zu befürworten ist, von stark wirkenden
Arzneien, besonders von Alkaloiden Ver¬
reibungen vorrätig zu halten’). Es hat
an und für sich etwas Bestechendes,
wenn man in großen Apothekenoffizinen
bei starker Rezeptur solche Verreibungen
.vorrätig findet und sich nicht mit dem
feinen Abwägen kleinster Mengen stark
wirkender Stoffe aufzuhalten braucht.
Aber es ist auch der Einwurf nicht von
der Hand zu weisen, daß solche Alkaloid-
’) In der Betriebsordnung deutscher Apotheken
werden Vorschriften über ,,Verreibungen“ nur für
Morphin und Hydrargyr, chlorat. angegeben; für
andere Substanzen bestehen keine Verordnungen,
und sie sind deshalb wohl als gesetzlich zulässig
zu betrachten.
mischungen bei längerem Aufbewahren,
selbst wenn man eine Zersetzung der be¬
treffenden Substanz für ausgeschlossen
hält, leicht zu Irrtümern Veranlassung
geben können. So wurde in diesem Falle
mit der Möglichkeit gerechnet, daß sicher
wohl zuerst die hier in Frage kommende
Verreibung exactissime dargestellt, daß
aber vielleicht später versehentlich’ auf
die Verreibung etwas reines Atropin ge¬
schüttet worden war und sie so einen viel
größeren Atropingehalt zum Teil be¬
kommen haben könnte, als ihrer Signatur
entsprach.
4. Als letztes möchte ich die Frage
streifen: War es überhaupt nötig, daß bei
einem gesunden Organismus und bei nur
bestehender Anomalie der Schweißdrüsen
sofort Atropin verordnet werden mußte,
und zwar gleich 100 Atropinpillen in
höheren Dosen zu 1 mg pro die? Nach
den bestehenden gesetzlichen Verord¬
nungen hat der behandelnde Arzt in jeder
Hinsicht ärztlich einwandfrei gehandelt,
aber da man eben mit großer Überemp¬
findlichkeit einzelner Menschen gegen
• Atropin rechnen muß, wäre es vielleicht
besser, für solche Fälle einfachere, weniger
giftige Arzneimittel zu wählen, wie z. B.^
Essigwasserwaschungen, Camphersäure
und eventuell Agaricin.
Aus dem Stadtkrankenhaus Offeuhack a. M. (Direktor: Medizinalrat Dr. Eebentisck).
Über Ernährungsstörungen und ihre Behandlung
mit Tonophosphan als Stoffwechselstimulans unter besonderer
Berücksichtigung der Rachitis.
Von Dr. Carl Hoffmann, Assistenzarzt der Inneren Abteilung.
Die Verwendung des Phosphors als
Therapeutikum blieb bis zu den Kriegs¬
jahren eine beschränkte und umstrittene.
Meyer und Gottlieb geben in ihrem
vorzüglichen Lehrbuch der Pharmakolo-
gie^) den Stand der Frage dahin wieder:
,,Man sollte versuchen, in derTherapie den
Phosphor fallen zu lassen und durch das
sicher dosierte Arsenik zu ersetzen.“ Der
Krieg mit seinen Entbehrungen und mit
der Verschlechterung der Nahrungsmittel
zeitigte eine große Reihe von Ernäh¬
rungskrankheiten, die ehedem in Deutsch¬
land fast unbekannt oder wenigstens von
einer nur geringen Ausbreitung gewesen
waren. Mit ihrer Bekämpfung trat
gleichzeitig die Phosphortherapie neuer¬
lich auf den Plan. Die Resultate der
Phosphor- Lebertran-Behandlung waren
vielfach durchaus sinnfällig und ließen
III. Aufl. 1914.
sich durch ähnliche Mittel — wie Arsen
usw. — nicht in gleicher Weise erreichen.
Fraglich konnte sein, welcher Anteil dem
Lebertran und welcher dem Phosphor
bei den Erfolgen zuzusprechen war. Diese
Frage mußte um so mehr erörtert werden,
als sich in unseren Anschauungen in den
letzten Jahren ein Begriff eingebürgert
hat — der Vitamingehalt der Nahrungs¬
mittel —, der nach mancher Richtung
geradezu bestimmend für die Wertigkeit
der jeweiligen Speise zu sein scheint. Wir
haben triftige Gründe anzunehmen, daß
viele der im Kriege und in den Notjahren
danach beobachteten Ernährungsstörun¬
gen mindestens zu einem Teil dem Mangel
an Vitaminen in der Nahrung zuzu¬
schreiben sind. Der Lebertran aber gilt
als ein besonders vitaminreiches Mittel.
Hat nun der Phosphor daneben sein
eigenes Wirkungsfeld? Betrachtet man
November
Die Therapie der Gegenwart 1921
423
die Winzigkeit der Dosen, die wir verab¬
folgen,. sowie die Mangelhaftigkeit der
Resorption, dann müßte man entweder
dem Phosphor eine sehr beträchtliche
Wirksamkeit zusprechen oder man muß
den Erfolg der Therapie im wesentlichen
auf das Konto des Lebertrans setzen. Ist
aber nachweisbar, daß an den Phosphor
sich die eigentliche Wirksamkeit bindet,
dann müssen wir ihm oder seinen Ab¬
kömmlingen im Organismus eine beson¬
dere Stellung zuweisen, die derjenigen der
Vitamine durchaus ähnlich ist. Von_sol-
chen Vorstellungen geleitet, hat Prof.
Blum, Direktor des biologischen Instituts
zu Frankfurt a. M. die chemischen Werke
L. Cassella & Co., Mainkur, veranlaßt,
bestimmte organische Phosphorderivate
herzustellen, die geeignet erschienen, die
Frage der Wirksamkeit der • Phosphor¬
therapie aufzuklären und auszubauen.
Das uns überlassene, im Tierversuch vor¬
her von Blum in weitgehender Weise als
ungiftig erprobte Präparat ,,Tonophos-
phan“^) beschlossen wir an dem großen
Material des Städtischen Krankenhauses
Offenbach a./M. zunächst bei solchen
Kranken zu erproben, die gerade jene
Störungen aufwiesen, bei denen bisher
Phosphor-Lebertran mit einem gewissen
Erfolg gegeben wurde. Ich nehme vorweg,
daß die Frage nach der Wirksamkeit des
Phosphoranteils in der Behandlung heute
auf Grund unserer Erfahrungen durchaus
eindeutig dahin entschieden werden kann,
daß auch ohne jeden Lebertran allein
durch das Phosphorpräparat der volle
Erfolg erzielt wird. Im Interesse einer
exakten Darreichung haben wir das Tono-
phosphan durchweg in steriler, wäßriger
Lösung subcutan verabfolgt, und zwar in
Dosen von 5 bis 10 mg, die nur einen
kleinen Bestandteil an Phosphor enthal¬
ten. Die Rachitis tarda, erschien uns für
die ersten Studien am geeignetsten, da
man im gewissen Sinn auf die Mitbeob¬
achtung der Patienten dabei rechnen
konnte. Eine objektive Kontrolle ver¬
blieb uns im genauen Verfolgen des
Blutbefundes, des Gewichtes und in geeig¬
neten Fällen des Röntgenbefundes. Von
letzterem darf man wohl nur-bei langer
Beobachtungsdauer und auch dann nur
bei charakteristischen Veränderungen, wie
etwa Osteopsathyrose, nachweisbare Besse¬
rungen erwarten. Später haben wir dann
2) Aus äußeren zwingenden .Gründen ist die
Fabrik vorläufig nicht in der Lage, die Zu¬
sammensetzung des Präparats bekanntzugeben;
doch soll dies bald geschehen.
die Frührachitis mit dem Mittel behandelt
und sollen im folgenden einige unserer
Krankengeschichten wiedergegeben wer¬
den. Daneben ist das Tonophosphan ent-.
sprechend seinem Indikationsgebiet als
Stoffwechselstimulans vielfach bei Er¬
nährungsstörungen mehr allgemeiner Na¬
tur mit gutem Erfolg gegeben worden.
Es ist bekannt, wie schwer es oft ist,
die Wirksamkeit therapeutischer Fak¬
toren sicher zu beurteilen und wurde daher
bei dem großen Material am Stadt¬
krankenhaus Offenbach auf eine richtige
Auswahl der Fälle besonderer Wert gelegt,
um zu eindeutigen Resultaten zu gelangen.
Fälle, in denen z. B. eine Oxyuriasis-
komplizierend vorlag, waren für unsere
Zwecke mit Rücksicht auf die Bewertung
des Blutbildes nicht geeignet. Bei den
von uns stationär behandelten Patienten
handelte es sich in der Mehrzahl der Fälle
uiti Rachitiden mit besonderer Berück¬
sichtigung der Spätform der Rachitis
bei jugendlichen Personen der arbeitenden
Klasse, die teils durch Berufsschädlich¬
keiten, teils durch unzweckmäßige oder
mangelhafte Ernährung und ungünstige
häusliche Verhältnisse über Erschöpfungs¬
zustände neben örtlichen Beschwerden
klagten. Im Vordergrund der subjektiven
Beschwerden standen Müdigkeit, Gefühl
der Abgeschlagenheit, Kraftlosigkeit, so¬
wie mangelnder Appetit und seelisch:
fehlende Initiative; in ausgesprochenen
Fällen bei Jugendlichen Klagen über
Schmerzen nach längerem Gehen und
Stehen, besonders in den Kniegelenken,
Behinderung des Ganges; in einigen weni¬
gen Fällen waren die Patienten sogar da¬
durch bettlägerig. Psychisch fiel die mi߬
mutige, teilweise fast apathische Ver¬
fassung mit geringerer Ansprechbarkeit
auf. Nicht unerwähnt mag bleiben,
daß die bei der Aufnahme vorgenommene
Erythrocytenzählung meist noch Werte
ergab, die an der Grenze des Normalen
lagen, ein Befund, der bei einer größeren
Zahl sehr anämisch aussehender Kinder
auch hinsichtlich des Hämoglobingehaltes
immerhin auffallend war. In den Arbeiten
über Blutuntersuchungen von Gump-
recht und Stinzing wie auch Sahli
wird auf diese Beobachtung schon hin¬
gewiesen. Die Hämoglobinwerte wurden
mit dem Sahlischen Hämoglobinometer
ermittelt. Die Zählung der Blutkörper¬
chen erfolgte in der Zeißschen Zähl¬
kammer in regelmäßigen Abständen und
zu derselben Zeit vormittags. Uns kam
es weniger darauf an, Vergleiche mit
424
. bk Therapie der Gegenwart 1921
November'
Normalwerten anzustellen, als vielmehr
die an demselben Patienten gefundenen
Werte gegenüberzustellen.
Bevor ich im Folgenden eine kleine
Kasuistik aus den von uns beobachteten
Fällen gebe, möchte ich noch voraus¬
schicken, daß wir, um die Resultate besser
verwerten zu können, sämtlichen Patien¬
ten während der Dauer der Beobachtungs¬
zeit täglich je 5 mg Tonophosphan subcutan
injiziert haben. Um eventuell auftretende
Reizerscheinungen gut beobachten zu
können, wurden vorzugsweise die Arme
als Injektionsstellen gewählt. Die Injek¬
tionen riefen keinerlei Reizerscheinungen
hervor und wurden stets gut vertragen.
Die Zahl der verabfolgten Injektionen
betrug stets 28 und wurde bei allen
Patienten derselbe Turnus eingehalten.
Um einwandfreie Resultate über den Er¬
folg des Mittels zu bekommen, wurde
abgesehen von Bettruhe bei frischen
Fällen, keinerlei sonstige Behandlung noch
roborierende Ernährung vorgenommen.
Als Kost wurde die übliche Normalform
ohne jegliche Sonderverordnung gereicht.
Einige charakteristische Krankengeschich¬
ten mögen folgen.
Fall 1. Erich S. 17 Jahre alt, Hilfsarbeiter:
Rachitis tarda. Seit drei Monaten Klagen über
Behinderung des Ganges, Schmerzen in beiden
Kniegelenken, auch in Ruhelage. Leichte Ermüd¬
barkeit. Mattigkeit und Unlustgefühl.
Status: Reduzierter Ernährungszustand,
blasses Aussehen. Kein besonderer Organbefund.
Keine früheren rachitischen Stigmata. Beider¬
seits geringe Genua valga.
Gewicht 42 kg. Sahli 75%. Erythrocyten
4 200 000. Leukocyten 9 800. —
Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan wesent¬
liche Besserung des Allgemeinbefindens. Trotz
objektiv unveränderter Genua valga-Stellung.
Gang fast normal und ohne Anstrengung für den
Patienten. Subjektives Wohlbefinden.
Gewicht 47 kg. Sahli 78 %. Erythrocyten
4 587 000. Leukocyten 6600.
Fall 2. Hans S. 16 Jahre alt, Schriftgießer:
Rachitis tarda. Seit ca. zwei Monaten- Klagen
über Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen, sowie
Schmerzen in den Beinen, besonders in den Knie¬
gelenken. Bei Lagewechsel mitunter unbestimmte
Schmerzen in den Gliedmaßen. Ausgesprochene
Behinderung des Ganges.
Gracil gebauter Junge von anämischem Aus¬
sehen. Innere Organe ohne Besonderheiten.
Geringe Genua valga. Tibia und Femur leicht
druckempfindlich.
Gewicht 311/2 kg. Sahli 70 %. Blutbild ohne
Besonderheiten. Erythrocyten 4 680 000. •
Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan sub¬
jektives Wohlbefinden. Die Kopfschmerzen haben
sich verloren. Keine Gliederschmerzen mehr.
Gang mühelos, normal. Gewicht 34 kg. Sahli
75%, Erythrocyten 4 975 000.
Fall 3. Joseph N. 17 Jahre alt, Arbeiter.
Kinderzeit englische Krankheit, späterhin keine
Beschwerden. Seit fast einem Jahre Klagen über
Schmerzen in den Beinen, besonders nach körper¬
lichen Anstrengungen. Schmerzen besonders
in beiden Kniegelenken.
Patient von schwächlichem Körperbau in
reduziertem Ernährungszustand von anämischem
Aussehen. Innere Organe ohne Besonderheiten.
Von der Kinderzeit herrührend Genua vara, jetzt
beginnende Verbiegung im Sinne der Genua-valga-
Stellung. Gang wesentlich behindert. — Gewicht
42 kg. Sahli 65%.
Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan
erhebliche Gewichtszunahme, 45,700 kg. Bes¬
serung des Appetits. Patient subjektiv beschwerde¬
frei, bei gleichzeitiger Besserung des Blutbefundes.
Fall 4. Heinrich D. 16 Jahre alt, Arbeiter.
Vater an Tbc. pulm. gestorben. — Kinderzeit
viel kränklich gewesen. Mit 14 Jahren Klagen
über „rheumatische“ Schmerzen in den Gliedern,
besonders den Beinen. Die vorher geraden Beine
seien krumm geworden. Rasche Ermüdbarkeit.
Appetitlosigkeit. — Anämisches Aussehen. Zur
Zeit kein Befund an Organen oder Urin. Röntgen-
durchleuchtimg ohne Befund. Gewicht 50 kg.
Sahli 69 %. Erythrocyten 4 300 000. Leuko¬
cyten 9 200.
Nach 12 Injektionen mit Tonophosphan Zu¬
nahme des Appetits, frischere Gesichtsfarbe,
subjektiv beschwerdefrei. Gewicht 51 kg 700 g.
Sahli 75 %. Erythrocyten 5 762 000.
Fall 5. Peter W. 17 Jahre alt, Schlosser.
Vor einem Jahre Grippe. Seit ca. einem Monat
Klagen über Schmerzen besonders in den Knie¬
gelenken und Unterschenkeln. Mattigkeit. Gra-
ciler Körperbau. Blasses Aussehen, engbrüstig.
Über linker Apex Schall Verkürzung, geringe Lor¬
dose. Alte rachitische Deformität (genua vara)
beginnende genua valga-Stellung. Treppensteigen
mühsam.
Gewicht 53% kg. Sähli 75%.
Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan erheb¬
liche Zunahme des Gewichtes: 60,200 kg. Bes¬
serung des Appetits. Knochendeformität unver¬
ändert. Gang gebessert. Subjektives Wohl¬
befinden. Sahli 80 %.
Fall 6. Heinrich P. 14 Jahre alt, Schlosser¬
lehrling. Seit vier Wochen Klagen über Ab¬
geschlagenheit, schnelle Ermüdbarkeit. Nach
körperlichen Anstrengungen unbestimmte Glieder¬
schmerzen. Gang schwerfällig. Blasses Aussehen.
Wirbelsäule im Lendenteil leicht druckempfind¬
lich. Röntgenaufnahme ohne besonderen Befund.
Sahli 70%. Erythrocyten 4 212 000. Nach 28 In¬
jektionen mit Tonophosphan erhebliche Gewichts¬
zunahme sowie Besserung des Appetits. Sahli 75%.
Erythrocyten 5 750 000. Leukocyten 9000.
Fall 7. Konrad St. 16 Jahre alt, Eisendreher.
Kinderzeit englische Krankheit, späterhin be¬
schwerdefrei. Seit mehreren Wochen Unlust¬
gefühl, gesteigertes Schlafbedürfnis. Schmerzen
in den Beinen, besonders in den Kniegelenken. —
Reduzierter Ernährungszustand. Sichtbare
Schleimhäute blaß. Geringe Struma. Pectus
carinatum. Innere Organe ohne Besonderheiten.
Genua vara.. Alte rachitische „Säbelscheiden“.
Gewicht 52,100 kg. Sahli 70 %.
Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan
frischeres Aussehen. Kein Müdigkeitsgefühl mehr.
Gang müheloser. Rasches Ansteigen des Körper¬
gewichtes 58 kg, bei gleichzeitiger Besserung des
Hämoglobingehaltes wie des Blutbildes.
Fall 8. Heinrich E. 2% Jahre alt: Schwere
Anämie bei Rachitis. Mutter an Tbc. pulm.
leidend. Siebentes Kind. Große Blässe von
Haut und Schleimhaut. Muskulatur hypotonisch.
November
Die Therapie der Gegenwart 1921
425
Bronchitis. Trommelbauch. Gewicht 18 Pfund
400 g. Sahli 50 %. Erythrocyten 4 669 000.
Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan
Aussehen gebessert. Das Kind ist wesentlich
munterer geworden, Appetit gut, Gewicht' 22
Pfund. Sahli 60%. Erythrocyten 5 198 000.
, NHg = 0,136 %.
Fall 9. Richard B. 3 Jahre alt, Rachitis.
Zurückgebliebenes Kind in mäßigem Ernährungs¬
zustand. Blasse Gesichtsfarbe. Caput quadratum.
Auftreibung der Epiphysenlinien. Trommelbauch.
Verbiegung beider Unterschenkel. Innere Organe
ohne Befund. Anorexie, leicht apathisch. Gewicht
29 Pfund. Sahli 65 %. Erythrocyten 4 390 000.
Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan
wesentliche Besserung des Allgemeinbefindens,
Das früher auffallend ruhige und ängstliche
Kind ist lebhafter geworden. Gewicht 31 Pfund.
Sahli 80 %. Erythrocyten 4 927 000.
Fall 10. Elise S. 14 Jahre alt. Mit zwei
Jahren Rachitis. 1912 Osteotomie. Klagen
über Gliederschmerzen, besonders in den Beinen.
Appetitlosigkeit und Müdigkeit. — Blasses etwas
zurückgebliebenes Kind, allgemeine Muskel-
schlaffheit, Genua valga, Gewicht 20 kg. Sahli
65 %. Erythrocyten 4 506 000.
Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan:
Patient ist munter. Appetit gut, keine sub¬
jektiven Klagen. Trotz unveränderter Genua
valga Gang wesentlich gebessert. Gewicht
21% kg. Sahli 85%. Erythrocyten 5 075 000.
Urin ohne besonderen Befund.
Ammoniakbestimmung nach Schlösing NHg ==
0,0469%- bei einer Tagesmenge von 1170 g =
0,543 g NHo.
Fall 11. Marie H. Vier Jahre alt, Coxa vara
(Rachitica); Vater an Tbc. pulm. leidend.
Patient leidlich entwickelt, unterernährt. Coxa
vara, sonst keine rachitischen Stigmata. Innere
Organe ohne Besonderheiten.^ Gewicht 24 Pfund
300 g. Sahli 70%. Erythrocyten 4175 000.
Urin: Albumen geringe Trübung.
Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan
Allgemeinbefinden wesentlich gebessert, auffallend
munter, lebhafter Appetit, bei subjektivem Wohl¬
befinden. Gewicht 26 Pfund. Urin alkalisch.
Kein Albumen. Ammoniakbestimmung nach
Schlösing NH 3 = 0,102 g pro die bei einer Diurese
von 600 g = 0,018 %.
Fall 12. L. K. Vier Jahre alt. Vater an
Lungentuberkulose erkrankt. —Zurückgebliebenes
Kind. Latente Tuberkulose, leicht rachitische
Schädelform. — Epiphysenauftreibung. Genua
vara. Stilles Kind von anämischem Aussehen.
Anorexie.—Afebril. Urin ohne Befund. Gewicht
13,5 kg. Sahli 53 %. Erythrocyten 4 719 000. —
Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan
Rötung der Wangen, lebhafter Appetit, bedeutende
Besserung des Allgemeinbefindens. Gewicht 15 kg.
Sahli 78%. Erythrocyten 4 712 000. Das rasche
Ansteigen des Hämoglobingehaltes neben der
stetigen Zunahme des Körpergewichtes war in
diesem Falle besonders auffallend.
Wenn ich nunmehr auf Grund meiner
Beobachtungen die Resultate der neuen
Phosphormedikation mit Tonophosphan
** überblicke, so scheint mir festzustehen,
daß wir in diesem Präparat ein Mittel
besitzen, das durchweg, auch bei länger
fortgesetztem Gebrauche, gut vertragen
wurde. Bei Anwendung feinster Kanü¬
len war niemals auch nur irgendwelche
lokale Reizerscheinung zu bemerken. Fie¬
ber und Temperatursteigerung kamen nie
zur Beobachtung. Die Gliederschmerzen
und die sonstigen Klagen der Beeinträch¬
tigung des subjektiven Wohlbefindens
waren meist nach acht bis zehn Tagen
erheblich gebessert. Suggestive Wirkun¬
gen der Injektionen dürften-bei den von
uns behandelten Fällen nicht in Betracht
kommen. Das Allgemeinbefinden wurde
in allen Fällen sehr günstig beeinflußt.
Das Gefühl der Mattigkeit wie Unlust¬
gefühl schwanden bald. Der Appetit
besserte sich zusehends. Die Patienten
wurden wieder munter und unterneh¬
mungslustiger; • bei Kindern erhöhte
Freude am Spielen. Bei den vorliegenden
näher beschriebenen Fällen wurde stets
eine nicht unerhebliche Zunahme des
Körpergewichtes sowie eine Vermeh¬
rung des Hämoglobingehaltes konsta¬
tiert. Auch in den Fällen, wo der Hämo¬
globingehalt langsamer 'änstieg, ließ- bei
den meisten Patienten die Zählung der
Erythrocyten erkennen, daß das fast
völlige Verschwinden, besonders der sub¬
jektiven Beschwerden mit der Besserung
des Blutbildes einherging. Vergleiche
mit den anderen Patienten derselben
^ Station, die unter durchaus gleichen Ver¬
hältnissen, jedoch ohne Anwendung dieser
Phosphormedikation behandelt wurden,
ergaben in demselben Zeitraum weit
weniger günstige'Resultate.
Es läßt sich also durch die alleinige
Phosphormedrkation, und darauf ist der
Hauptwert zu legen, eine relative rasche
Steigerung des Hämoglobingehaltes
wie eine nicht unerhebliche Zunahme
des Körpergewichtes erreichen, sowie
eine weitgehende Besserung des Allgemein¬
befindens in kurzer Zeit, ein Moment, das
bei der arbeitenden Klasse Jugendlicher
besonders zu berücksichtigen ist.
Wenn auch die Versuche noch nicht
als abgeschlossen gelten können — unsere
Erfahrungen erstrecken sich jetzt über
einen Zeitraum von etwa zehn Monaten —
und zudem wir zunächst nur-eine Seite
der Stoffwechselbeeinflussung berücksich¬
tigt haben, so wird doch durch sie bereits
erwiesen, daß wir in der Anwendung des
Tonophosphans ein wichtiges therapeu¬
tisches Hilfsmittel im Sinne einer Hebung
des Stoffweclisels besitzen, dessen weiteres
Studium auch auf anderen einschlägigen
Gebieten wir anregen möchten.
54
426 ' . ‘ Die Therapie der Gegenwart 1921 . üiovember
Digitalis bei chronischen Lungenkrankheiten, besonders bei der
Schwindsucht 1).
Von C. Focke, Düsseldorf.
Alle wichtigeren Krankheiten, bei
denen die ersten Vertreter einer wissen¬
schaftlichen Digitalisanwendung, die eng¬
lischen Ärzte, vor 140—120 Jahren dieses
Mittel empfohlen hatten, sind hinsichtlich
dieser Behandlungsart während des letzten
Jahrzehnts im deutschen Schrifttum be¬
sprochen worden, nur die chronischen
Lungenleiden noch nicht. Was damals
• die Engländer darüber veröffentlicht
haben, finden wir ausführlich und vor¬
urteilslos zusammengestellt von dem Fran¬
zosen Bidault de Villiers in seinem
Essai sur le^ Proprietes rnedicinales de la
Digitale pourpree, dessen 3. Auflage aus
-Paris von 1812 mir Vorgelegen hat. Die
unbestreitbare Beobachtung, daß die Di¬
gitalis beim Hydrops das Wasser abtreibt,
hatte zu der Vermutung geführt, sie könne
auch die Absonderung des Schleims in der
Lun^e vermindern oder seine Aufsaugung
beschleunigen. In diesem Gedanken hatte
man sie angewandt beim bronchialen
Asthma und bei der Phthise.
Beim Asthma waren die Versuche
besonders ausgeführt worden von Eras¬
mus Darwin, dem als Arzt, Dichter und
Naturforscher nicht unbedeutenden Gro߬
vater des bekennten Charles Darwin.
Ferner meinte Sugrue in Cork, daß dabei
die Verschleimung und der Auswurf mehr
abgenommen habe als nach den antimon¬
haltigen Arzneien. Da nun von den
letzteren ja nichts Großes zu erwarten ist,
so will das Lob nicht viel bedeuten. Es
sind dabei immer hohe Gaben Digitalis
gereicht worden; infolgedessen kamen
ohne Absicht auch manche Vergiftungen
vor. Eine solche aus Versehen entstan¬
dene hat B. de Villiers selbst beob¬
achtet und 1817 ziemlich genau veröffent¬
licht. Während der schweren Vergiftung
trat der asthmatische Zustand fast ganz
zurück. Aber noch vor ihrem völligen
Ablauf begann das Asthma wieder. Auch
sonst nützte das Mitteigegen diese Krank¬
heit so wenig, daß es dabei später nur
noch in Verbindung mit anderen Mitteln
gebraucht wurde. — Dem entspricht auch
meine Erfahrung. Ich habe mir mehrere
Jahre hindurch alle Mühe gegeben, asth¬
matische Anfälle mit Digitalis zu bessern,
und zwar in kräftigen Gaben. Selbstver-
Nach einem am 18. Oktober 1920 in der
Medizinischen Gesellschaft in Düsseldorf ge¬
haltenen Vortrag.
ständlich nützte das Mittel etwas, wenn
eine Herzstörung mitspielte; wo an deren
Stelle neben dem neuropathischen Zu¬
stand ein chronischer Katarrh bestand,
war der Nutzen schon recht zweifelhaft;
in den reinen Fällen de§ Bronchial¬
krampfes aber habe ich von der Digitalis
gar keinen Vorteil gesehen. Hier bleibt
eine der bekannten narkotischen Ein¬
spritzungen das Beste; und um bei einer
solchen das augenblicklich etwa ange¬
griffene Herz zu beleben, schien mir dann
eine Tasse starken Kaffees zweckmäßiger
zu sein.
Weit ^zahlreicher und im allgemeinen
günstiger waren die Befunde der Eng¬
länder bei der Phthise. Es ist natürlich
im Auge zu behalten, daß unter diesem
Namen damals nicht nur die Tuberkulose
der Lunge, sondern jedenfalls noch etwas
öfter, als es heute vorkommt, gutartige,
wenngleich schwächende Katarrhe zu¬
sammengefaßt wurden.
Wenigstens zehn namhafte ärztliche Schrift¬
steller haben sich damals in England rühmend
über die Digitalis' bei Schwindsüchtigen aus¬
gesprochen. Wenn nicht Heilung, so sollte
mindestens eine Verlängerung des Lebens erreicht
werden, und wo der Tod 'erfolgte, sei er mit
geringerem Kampf oder Schmerz eingetret^n.
Moßmann in Bradford lehrte, seinen Zeit¬
genossen vorauseilend, daß diese Wirkung in
allen Organen nur erklärbar sei durch derf Ein¬
fluß der Digitalis auf das Herz und die Arterien.
Auf diesem Wege vermindere sie die Anschoppung
in der Lunge sowie den Schleim, die Beklemmung
und den Hustenreiz; selbst das hektische Fieber
könne gemäßigt werden.
Von den vier bedeutendsten Arbeiten habe
ich die Originale durchsehen können. Über
John Ferriar, der besonders auf die vorzügliche
Digitaliswirkung bei spontanen Blutungen, also
auch bei der Hämoptoe hinwies, habe ich schon
früher berichtet (1912 in der ,,Ther. d. Geg.“).
Deshalb gehe ich darauf hier nicht ein. Aller¬
dings möchte ich bemerken, daß bei Hämoptoe
die ganz vortreffliche Wirkung der Digitalis, die
mir seitdem auch von vielen Kallegen bestätigt
worden ist, doch verdient, noch allgemeiner be¬
kannt zu werden. Etwas näher möchte ich hier
die drei anderen Autoren besprechen, zuerst
Thomas Beddoes in Clifton^). Dieser, damals
47 Jahre alt, hatte seit drei Jahren viele Schwind¬
süchtige aus allen Ständen einer Behandlung
unterworfen, bei der ein warmes Zimmerklima
mit dem Digitalisgebrauch vereinigt wurde.
Anfangs hatte er die Wärme von Kuhställen
benutzt, indem er entweder die Kranken im Stalle
2) Th. Beddoes, M. D,, Observations on the
medical and domestic management of the con-
sumptive; on the powers of Digitalis purp., and
on the eure of scrophula. London 1801.
November
Die Therapie der Gegenwart 1921
427
schlafen ließ oder die Stalluft durch eine weite
Röhre in den naheliegenden Wohnraum über¬
leitete; später begnügte ,er sich mit verstärkter
Zimmerheizung der gewöhnlichen Art.
Als Beispiel seiner Erfolge erzählt er drei
Krankengeschichten, am genauesten die von
einem 22jährigen schmächtigen Herrn und einer
ebensolchen Dame, die beide aus Familien stamm¬
ten, in denen die Schwindsucht bereits zahlreiche
Opfer gefordert hatte. Alle Zeichen traten so
auf, daß auch heute-daraus auf den Beginn
einer wirklichen Phthise geschlossen worden wäre.
Es wurden dreimal täglich einige Tropfen der
Tinktur genommen; bei'dem Herrn ist ihre Zahl
nicht angegeben, bei der Dame waren es zuerst
vier, dann sechs, dann acht Tropfen, mehr ver¬
trug sie nicht. Die Kranken nahmen die Tropfen |
mindestens fünf Wochen lang, der Herr über
ein Viertel Jahr lang!! Es trat volle Heilung
ein, so daß der Herr ein Jahr später nach Ost¬
indien reisen konnte.
Es ist zu betonen, daß Beddoes einen Erfolg
nur dann erwartete, wenn die Lunge noch nicht
ulceriert war, also nur im Beginn der Krankheit.
Dann rechnete er auf Heilung bei drei von fünf
Fällen gleich 60 %. Er sagt: wenn unter Digitalis
erst das Fieber, der Husten und Auswurf ge¬
schwunden sind und die Gewichtsabnahme auf¬
hört, so daß nur noch die Zeichen der Chlorose
bestehen, dann ist zwar viel gewonnen, aber die
Phthise noch nicht geheilt; deshalb müsse die
Digitalis weiter gebraucht werden, jedoch ver¬
bunden mit Eisen! Die Kunst sei, von dem
Mittel nur so viel zu geben, daß es nicht störend
wirke, um recht lange genommen werden zu
können. Während die Blutbewegung gckräftigt
werde, würden auch die Nerven beruhigt, ohne
Unterschied, ob man die Tinktur oder die ge¬
pulverten Blätter nehmen lasse. Er erklärt die
Wirkung dadurch, daß infolge der Anregung des
Kreislaufs (excitement of the System) die innere
Oberfläche der Lunge weniger absondere und die
Lymphgefäße mehr aufsaugen; damit zugleich
vermindert sich die Reizung der Nerven und
folglich nehme auch der Husten ab. (Pulmonary
surfaces discharge less mucus and matter; the
lymphatics absorbe more; the nerves lose their
acquired sensibility and the cough abates.) Er
stellt den Digitalisgebrauch im Beginn der
Schwindsucht ebenso hoch wie die damals noch
junge Schutzimpfung gegen die Pocken.
Ich komme zu Kinglake in BristoP). Auch
dieser rät, mit kleinen Mengen zu beginnen, gibt
aber etwas mehr als Beddoes. Ein Erwachsener
soll zum Beispiel, falls die Tinktur gewählt wird,
gewöhnlich zuerst zehn Tropfen dreimal täglich
nehmen und diese steigern, solange Übelkeit,
Schwindel oder Herzklopfen ausbleiben; sobald
derartiges sich zeigt, wird die Gabe vermindert.
Die Tinktur wurde auf Grund der drei damals in
England geltenden Pharmakopoen entweder im
Verhältnis von 1 :5 oder I ;6 hergestellt; aber
sie hatte wegen der unsicheren Blätterverhält¬
nisse eine sehr schwankende und oft geringe
Stärke. Seine 15 Fälle sind nicht so klarerzählt
wie die seiner Vorgänger. Auch er erwartet
Hilfe nur im Anfangsstadium und rechnet dann
auf Heilung bei einem von drei Kranken gleich
33%.
Robert Kinglake, M. D., Gases and
observations on the medicinal efficacy of Digi¬
talis purp, in Phthisis pulmonalis etc. — Appendix
zu dem Buch von Beddoes, 1801.
Der dritte Autor ist Sanders in Edinburgh*).
Spine Krankengeschichten, bei denen er nur
kleine Dosen gegeben hatte, zeigen hauptsächlich,
daß er die Beschleunigung des Pulses, die, ja
nach Digitalis manchmal (besonders nach der
Tinktur) anfangs auftritt, als etwas Regelmäßiges
und Wesentliches ansah. Bei der Phthise unter¬
scheidet er mehrer^e Verlaufsarten. Die gewöhn¬
liche ist die inflammatorische. In deren erstem
Stadium ist die Entzündung eben deutlich ge¬
worden ; das zweite und dritte wird durch Eiterung
und Gangrän erkennbar. Auf Grund seiner
theoretisch vorausgesetzten Pulsbeschleunigung
nimmt er an, daß bei allen Entzündungen die
Digitalis nicht geeignet sei, also auch nicht im
ersten Stadium der inflammatorischen Phthise.
Aber wenn der Auswurf jauchig wird, seien die
stärkendsten Mittel erforderlich; dazu rechnet er
Wein, Cinchona, Campher und Digitalis. Letztere
sei also im dritten Stadium (wie wir sagen würden,
als symptomatisches Mittel) unbestreitbar nütz¬
lich.
Kurz gefaßt läßt sich aus den ein¬
gehenden englischen Untersuchungen fol¬
gendes Ergebnis ableiten: Die Digitalis
trägt im Anfangsstadium der Phthise in
lange gegebenen kleinen Dosen merklich
zur Heilung bei; im zweiten, längsten
Stadium ist von ihr wenig zu erwarten;
im Schlußstadium kann sie manche Be¬
schwerden erleichtern.
In der folgenden Zeit achtete man
nicht mehr auf die Regeln jenei ausge¬
zeichneten Beobachter. Der planlose Ge¬
brauch der Digitalis bei allen Formen der
Schwindsucht führte bald zu großen Ent¬
täuschungen und zu völliger Mißachtung
der Heilanzeige. Das geschah besonders
in Deutschland, als Virchows anato¬
mischer Lehrsatz durchgedrungen war,
daß jede Krankheit eine örtliche Ursache
habe und am besten örtlich zu behandeln
sei; erst recht, als die bakteriologischen
Entdeckungen Kochs und seiner Schüler
auf das Ziel hinwiesen, vor allem den
Bacillus zu bekämpfen.
Aber wir Heutigen müssen an die ver¬
schüttet gewesene Indikation ohne Vor¬
urteil herantreten. Die 'Engländer waren
mit ihrer Wertschätzung der Digitalis
gegen die Schwindsucht entschieden zu
weit gegangen; aber von ihren teilweise
vorzüglichen Beobachtungen bleibt doch
manches beachtenswert. Der Zusammen¬
hang der Organerkrankungen mit dem
Allgemeinzustand ist heute wieder allge¬
mein anerkannt. Auch örtliche Krank¬
heiten suchen wir durch Vermittlung der
Körpersäfte und durch Hebung des Kreis¬
laufs heilsam zu beeinflussen. So sind wir
*) James Sanders, M. D., one of the Pre-
sidents of the royal medicinal and physical
societies of Edinburgh. — Treatise on pulmonary
Consumption, etc. Edinburgh 1808.
54*
428
Die Therapie der Gegenwart 1921
NavembeV
berechtigt, unser mächtigstes Kreislauf¬
mittel auch bei der Schwindsucht neu zu
prüfen. Das gilt besonders, weil die Di¬
gitalis ja so harmlos ist, wenn sie als Prä¬
parat von bekannter Stärke in kleinen
Gaben verwandt wird. Ich betone die
Harmlosigkeit, wejl M. Sänger-Magde¬
burg in seiner Arbeit über Gefäß- und
Herzmittel bei Bronchialkatarrhen sagt,
er habe dabei eine Prüfung der Digitalis
nicht versucht wegen ihrer größeren
Giftigkeit gegenüber Coffein, Adrenalin
und Hydrastis^). Er bekennt aber von
der Hydrastis, daß sie bei längerem Ge¬
brauch manchmal zu Blutspeien führe.
Ich habe nun seit etwa 15 Jahren die
Digitalis bei chronischen Lungenleiden
versucht. Vom Asthma ist schon eingangs
gesprochen. Bei chronischen Bronchial¬
katarrhen, besonders älterer Leute, habe
ich jährlich mehrere Male, im ganzen
vielleicht bei 50 Fällen, gerne der sonstigen
Arznei etwasr Digitalis zugesetzt, nämlich
dann, wenn mir bei dem Katarrh die
Circulation irgendwie gestört erschien,
auch ohne daß ein Herzfehler vorlag. Ich
vereinige die Digitalis mit anderen stark
wirksamen Mitteln nur dann, wenn die
Digitaliswirkung von den anderen Wir¬
kungen gut unterschieden werden kann.
So habe ich öfter ein Infus aus Ipecacuanha
mit Fol. Digit, titr. gegeben (z. B. Ipecac.
0,4 und Föl. Digit, titr. 0,8 ad 200,0),
natürlich nicht mit Liqu. ammon. anis.,
dagegen zur Konservierung mit etwas
Spiritus und als Corrigens 5,0 Glycerin.
Bei starkem Hustenreiz fügte ich noch
ein Narkoticum in kleiner Dose hinzu.
Wenn derartiges längere Zeit nötig wurde,
so gab ich Tropfen, nämlich Digitalysat
14,0, Tinct. op. 4,0, Spiritus 2,0, täglich
dreimal fünfzehn Tropfen. — Auch Pul¬
vern oder Pillen kann man Fol. Digit,
titr. mit Vorteil zusetzen. Niemals habe
ich von diesem Zusatz einen Nachteil
gesehen. Andererseits konnte ich in
manchen Fällen mich davon überzeugen,
daß die Wirkung mit dem Zusatz besser
war als ohne ihn. Dies erklärt sich dar¬
aus, daß gerade bei älteren Leuten, soviel
häufiger als man denkt, eine Schwäche
der Herztätigkeit neben dem chronischen
Katarrh besteht.
Was die Phthise betrifft, so kann ich
aus deren Anfangsstadium leider kein
Ergebnis berichten. Wenn der praktische
Arzt in der Großstadt eine beginnende
Phthise erkannt hat, so ist es meines Er-
M.m, W. 1914, Bd. 18, S. 985.
achtens seine wichtigste Aufgabe, den
Kranken möglichst bald in eine Heilstätte
zu bringen. Bis zur Aufnahme, auf die
ja gewöhnlich mehrere Monate gewartet
wird, habe ich in einigen Fällen kleinste
Digitalismengen wochen lang gegeben.
Jedes der heutigen gleichmäßigen Präpa¬
rate wird dafür geeignet sein. Ich wählte
entweder die Fol. Digit, titr. und hielt
mich dabei zwischen 6 und 10 cg täglich,,
oder ich gab Digitalysat (Bürger) mit
täglich 10 Tropfen, weil es milder ist als
die Tinktur und ich mich an den Tropfen¬
gebrauch der alten Engländer anlehnen
wollte. Derartig kleine Mengen kann
man viele Wochen lang ohne jeden Nach¬
teil geben, und sie sind doch nicht wir¬
kungslos, wie man bei Herzstörungen
sehen kann. Über die Ergebnisse kann
ich nichts Sicheres berichten,"weil die
Kontrolle gefehlt hat. Die betreffenden
jungen Leute fühlten sich nur wenig
krank, so daß es ungewiß blieb, ob sie
die Verordnung befolgten und ob ihr
nicht andere Schädlichkeiten ' entgegen¬
wirkten. Und wenn die Kranken sich
wieder wohl fühlten, so haben sie die
Arbeit wieder aufgenommen und sich aus
dem ärztlichen Gesichtskreis verloren.
Deshalb werden Beobachtungen solcher
Fälle besser in kleinen Orten angestellt,,
wo der Arzt seine Leute jahrzehntelang
um sich sieht, oder in Heilstätten, wo
die Kranken mehrmals einzukehren pfle¬
gen und von wo sie brieflich erreichbar
sind.
Im zweiten, längsten Stadium der
Phthise habe ich öfter Digitalis gegeben,,
wenn Kreislaufstörungen hervortraten.
Aus solchem Anlaß tut das wohl jeder
Arzt mehr oder weniger; deshalb gehe ich
darauf nicht näher ein.
Aus dem letzten Stadium der Phthise
habe ich in der Atemnot, die ja nicht
selten besonders des Nachts auftritt, ein
Symptom gefunden, bei dessen Be¬
kämpfung ein Digitalispräparat von
hohem Wert ist. Gegen solche Atemnot
oder Beklemmung habe ich am häufigsten
die Tinct. Stroph. titr. gegeben,^ weil hier
ein Mittel nötig ist, das schnell wirkt, ohne
daß es lange zu wirken braucht. Wenn
über Beklemmung am Tage geklagt wurde,,
so verschrieb ich z. B. Tinct. Stroph-
titr. 1,0 als Zusatz zu einem Ipecac.-In.
fus. Wo sie aber gewöhnlich nur nachts
auftrat, verordnete ich Tinct. Stroph.
titr. 3,0, Tinct. opii 5,0, Tinct. aurantü
8,0, davon abends fünfzehn bis zwanzig
Tropfen in Wasser zu nehmen.
November
Die Therapie der Gegenwart 1921
429
Über einen dieser Fälle möchte ich etwas
Genaueres berichten. Ein jtmger Bankbeamter
war im'Sommer 1912 von einem rechtsseitigen
Spitzenkatarrh in einem Sanatorium so gut her¬
gestellt worden, daß er wieder 2% Jahre lang
vollen Dienst tun konnte. Aber im Winter
1915/16 brach er zusammen. Die ganze rechte
Lunge war jetzt krank. Es fanden sich reichlich
Bacillen. Dazu bestand ein Larynxgeschwür.
Trotz aller therapeutischen, auch fachärztlichen
Bemühungen rascher Verfall. Ende Februar
1916 öfter Blutspucken. Im Mai ein Anfall von
Lungenödem. Seitdem begannen die nächt¬
lichen Beklemmungen. Er bekam die obigen
Tropfen und fühlte sich damit bedeutend besser,
obgleich die Abendtemperaturen meistens hoch
waren. In den folgenden Monaten zeitweise ein
Geschwür in der rechten Nasenöffnung und ein
Decubitus am linken Schulterblatt, ein paarmal
Darmblutung; im Anfang des Winters ein Anal¬
geschwür und nachher eine paranale Ifistel.
Während dieser Zeit wurde mehrere Male ver¬
sucht, die Tropfen ohne Strophanthus zu geben;
dann litt er jedesmal durch die Beklemmungen
mehr als durch seine sonstigen Leiden. Er hing
am Leben und war froh, daß die Tropfen es ihm
verlängerten. Erst Ende Februar 1917 wurde
Morphium unumgänglich, worauf er dann Mitte
März starb. f|
Hier hatten die drei bis vier Tropfen
der Tinct. Stroph. titr. jeden Abend zu¬
sammen mit 5—7% Tropfen Opium¬
tinktur sich so'bewährt, daß der Schwer¬
kranke sie neun Monate lang keinen Abend
missen wollte. Man darf diese geringe
Menge der starken Tinktur bei schwachen
empfindlichen Kranken nicht unter¬
schätzen. Im übrigen hat schon de Vil-
liers gesagt, daß der günstigste Zeit-
p.unkt, bei vorgeschrittener Phthise Digi¬
talis zu geben, der Abend sei. Wahr¬
scheinlich wird auch er die Erleichterung
solcher Beklemmungen gekannt haben.
Und wenn er meinte, man solle sie
,, ^Stunde vor der gewohnten Fiebersteige¬
rung“ geben, so galt dies für die langsamer
wirkende Digitalistinktur, während ich
für die schneller wirkende 'Strophanthus-
tinktur die Mitte zwischen Abendessen
und Schlafenszeit als das Beste gefunden
habe.
Nach alledem war bei mir der Wunsch
entstanden, daß die Digitalisgruppe ein¬
mal gründlich in einer Lungenheilstätte
geprüft würde. Im Winter 1919/20 unter¬
nahm auf'meinen Vorschlag Loges, der
Leiter der nahen Heilstätte Hösel, die
damals nur mit Männern belegt war,
einige Versuche mit Digitalysat. Aber
durch äußere Hemmungen ungeduldig
geworden, begingen wir zwei Fehler:
wir verzichteten auf eine Auswahl der
Fälle, und wir gaben dreimal täglich
10 Tropfen. Letzteres wurde einigen
Leuten bald unangenehm, so daß der
Versuch nach 14 Tagen abgebrochen
werden mußte. Ich halte das für sehr
lehrreich. Man sollte sich möglichst an
die vorerwähnten kleinsten Gaben halten,
die auch bei langem Gebrauch nicht
lästig werden, und man sollte die Fälle
auswählen nach den Grundsätzen, die
aus der reichen Erfahrung der früheren
Engländer abgeleitet werden durften.
Zur Begründung solcher Versuche muß
man sich den Hergang bei der Wirkung
klar machen. Ich halte die Ansicht nicht
für richtig, die z. B. Länder Brünton
vor 40 Jahren vertreten hat, daß die un¬
mittelbar arterienverengende Kraft der
Digitalis in therapeutischen Dosen ein
Abschwellen der gereizten Schleimhäute
bedinge®). Wenn beim Tier nach Digi¬
taliseinspritzung eine Verengung der Me¬
senterialarterien beobachtet wird, so nennt
der Pharmakologe die dazu nötige Dosis
klein, aber auf das Tiergewicht ^ be¬
rechnet ist sie doch für eine chronische
Kur noch zu groß. (In dem eingangs
erwähnten Vergiftungsfall bei Asthma
mag die Arterienverengung mitgespielt
haben.) Viel näher liegt der Gedanke,
daß der Lungenkreislauf • auch nach
kleinen länger gebrauchten Dosen ent¬
lastet wird, einfach infolge der auf kar¬
dialem Wege hervorgerufenen besseren
Verteilung des Blutes, immer voraus¬
gesetzt, daß der Kreislauf vorher irgend¬
wie gestört war. Diese Annahme, die
schon von Schmiedeberg aufgestellt
worden ist’), reicht vollkommen aus.
Bei der Pneumonie ist leider eine solche
Entlastung kaum zu erwarten, weil von
der anhaltend hohen Temperatur die
Reserven des Herzens schon angespannt
werden und das Herz durch die Toxine
geschädigt wird. Aber bei den chroni¬
schen Leiden mit nur abendlich vorüber¬
gehender Temperatursteigerung ist immer
ein Überschuß an Herzkraft vorhanden,
der von der Digitalis herangeholt werden
kann.
Die Voraussetzung des vorher ge¬
störten Lungenkreislaufs wird gewöhn¬
lich erfüllt sein. Zunächst bewirkt die
tuberkulöse Erkrankung doch jedesmal
eine örtliche Störung. Für noch wichtiger
halte ich es, daß' bei der Anämie des
Anfangsstadiums überhaupt das Herz
schlaff zu sein pflegt und weniger arbeitet
®) Nach H. Schulz, Digitalis, in Eulen¬
burg, Real-Enzyklopädie, 3. Aufl., VI. Bd.
(1895), S. 13.
’) 0. Schmiedeberg, Grundriß der Pharma¬
kologie, 5. Aufl., 1906, S.281.
430
Die Tljerapie der Gegenwart 1921'
November
als es könnte. Mancher Anreiz, den es
beim Gesunden vom regsamen Körper
empfängt, fällt beim kränkelnden Körper
fort und wird dem Herzen vielleicht
gerade durch die therapeutische Scho¬
nung vorenthalten. So entsteht hinter
dem linken Herzen, also in der Lunge,
eine erhebliche allgemeine Kreislaufstö¬
rung. Diese zu beheben, das Herz mit
sanftem Zwang zu erhöhter Leistung zu
führen, haben wir im Fingerhut den
mächtigen Mahner. Das lebhafter tätige
Herz ernährt sich > selbst besser; die
relative Stauung in der Lunge wird auf¬
gehoben und ihr ganzes Parenchym
kommt unter günstigere Bedingungen.
Wie ich einem kürzlich von Brugsch
gehaltenen Vortrag^) entnehme, kann
man rechnen, daß nach voller Digitali¬
sierung ein Herz, das vorher schwach ge¬
arbeitet hat, sein Schlagvolumen auf das
Zweieinhalb- bis Dreifache steigert. Wenn
wir bei monatelanger kleiner Digitali¬
sierung die Herzarbeit von 100 nur auf
150% steigern, so ist das schon ein ge¬
waltiger Zuwachs. Und wenn ent¬
sprechend diesem Grad der besseren
Lungendurchblutung die Zahl der Aus¬
heilenden stiege, so wäre der Gewinn
bedeutend.
Ich möchte das Besprochene zusam¬
menfassen. Die historischen, praktischen
und theoretischen Ergebnisse stimmen
ergänzend gut zu einander. Zunächst ist
die Digitalis kein Specificum gegen irgend¬
ein Lungenleiden. Überhaupt sollte der
Bereich ihrer Anwendung nicht sehr weit
gezogen werden, damit sie nicht auch
dort in Mißachtung gerät, wo sie ange-
8) D. m. W. 1920, Nr. 34.
bracht ist. Bei vielen chronischen Lun¬
genleiden spielt eine Kreislaufstörung
mit, die durch Digitalis gebessert werden
kann. Welche Formen sich zu solcher
Beeinflussung besonders eignen, müßte
noch genauer festgestellt^ werden. Was
sich bis jetzt sagen läßt, ist folgendes:
Beim bronchialen Asthma ist ein Erfolg
mit Digitalis im allgemeinen nicht zu er¬
warten, außer in den selteneren Fällen,
wo neben dem bronchialen Krampf und
Katarrh eben eine Herzstörung mit zu¬
grunde liegt. — Häufig lassen sich die
chronischen Bronchialkatarrhe älterer
Leute durch eine Verbindung der Digi¬
talis mit anderen Mitteln (z. B. Campher,
Opium) günstig beeinflussen. — Bei der
Phthise ist zwischen den drei Stadien zu
unterscheiden. Sehr wahrscheinlich kann
im Beginn der Krankheit neben jeder
anderen nicht zu vernachlässigenden all¬
gemeinen Therapie die Digitalis eine
merkliche Hilfe sein. Dazu würde eine
monatelange Anwendung nötig sein in
so kleinen einmaligen Tagesgaben, daß
keine Magenbelästigung entsteht. Sollte
sich nicht ein Heilstättenarzt finden, der
die Geduld zu solchem Versuch hat? —
Bei den meisten Phthisikern, die sich
ja im mittleren Stadium befinden, ist
von der Digitalis nur ausnahmsweise
etwas zu erwarten, nämlich wenn zeit¬
weilig besondere Kreislaufstörungen auf-
treten; eine solche wird z. B. angezeigt
durch Blutspeien (vgl. Th. d. Geg. 1912).
— Im letzten Stadium der Phthise er¬
scheint gegen die dyspnoischen Beklem¬
mungen die titrirte Strophanthustinktur,
gemischt mit etwas Opium, als sehr ge¬
eignet.
Zusammenfassende Überslclit.
Der jetzige Stand der Radiumemanattonstherapie.
Von Dr. Engeltnann, Kreuznach. (Schluß.)
Gicht.
Wir kommen nun zu einem weiteren,
fast möchte man sagen, dem Indikations¬
gebiet der Radiumemanationstherapie,
am geläufigsten aJs solchem dem breiteren
Arztekreise, fast populär auch dem Laien:
der Gicht.
Die oben erwähnten beobachteten
Beeinflussungen des Stoffwechsels unter
Emanationswirkung machten die alt¬
bekannten Heilerfolge mancher Badeorte,
soweit sie sich nachträglich als Radium¬
bäder herausstellten, plausibel. Aller¬
dings andere Stoffwechselerkrankungen
ließen eine entsprechende Beeinflussung
vermissen.
Die bei normalen Individuen fest¬
gestellte Sjteigerung der sogenannten en¬
dogenen U-Ausscheidung bei ^ einer Ra¬
diumemanationskur scheint bei Gichti-
kern in erhöhtem Maße stattzufinden.
Es liegen da eine ganze Reihe sehr sorg-
fäjtiger Beobachtungen aus den ver¬
schiedensten Kliniken vor, so daß daran
nicht mehr gezweifelt werden kann. Eine
andere Frage ist, wie und ob das Ver¬
halten des Harnsäurespiegels des Blutes
mit der Gicht in Zusammenhang ge-
November , ' ' Die Therapie der
bracht werden darf. Die Anschauungen
sind da noch widersprechend, ob Gicht
und harnsaure Diathese eins sind, oder
ob, wie andere meinen, verschiedene, ja
gegensätzliche Störungen.
Weintraud z. B. faßt die harnsaure
Diathese als eine Stoffwechselstörung auf,
dank welcher viel Harnsäure gebildet
und ausgeschieden wird. Wenn im Urin
ungenügende Lösungsbedingungen vor¬
liegen, kommt es zu Niederschlägen. Bei
der Gicht, sagt Weirftraud, liegt eine
Störung vor, derart, daß Harnsäure im
Organismus zurückgehalten wird.
Schiften he Im führt seine Hypo-'
these noch weiter zurück, indem er sagt,
die Umbildung der Purinbasen in Harn¬
säure wird geschädigt und die weitere
Verbrennung der Harnsäure im Körper
durch mangelhafte Funktion des uri-
kolytischen Ferments gestört.
Jedenfalls, wie dier chemisch-biolo¬
gischen Prozesse im einzelnen sind, bei
der Pathogenese der Gicht spielen pri¬
märe Anomalien des Puriiistoffwechsels
eine große Rolle. Eine Beeinflussung des
Purinstoffwechsels im steigerndem Sinne
durch Radiumemanation ist, wie Wir oben
sahen, einwandfrei festgestellt, somit ein
Zusammenhang gegeben. — Eine.Beein¬
flussung der Körperfermente im fördern¬
den Sinne unter Emanationswirkung be¬
steht, wie eine große Reihe Versuchsan¬
ordnungen ergeben haben. Eine Beein¬
flussung eines supponierten urikoly-
tischen Ferments (nach Schittenhelm)
wäre also wohl verständlich. Die An¬
wendung von Emanation bei gichtischer
Diathese ist also wissenschaftlich wohl
fundamentiert.
Die klinischen Erfahrungen und Be¬
obachtungen entsprechen dem voll¬
ständig. Nach einer fast stets auftreten¬
den Reaktion, in den ersten Tagen, die
sehr heftig werden kann und zu aller¬
kleinsten Dosen auffordert, die sich auch
noch ein zweites, drittes Mal wiederholen
kann, sieht man häufig schon während
der Kur geringe Besserung: Zurück¬
gehen von Schwellungen, Steifigkeiten,
Abnahme der Schmerzen, Zurückgehen
der Tophi und Besserung des Allgemein¬
befindens. Die eigentliche Besserung
setzt dann erst später ein, gewissermaßen
wenn der Organismus durch Überschwem¬
mung mit Radiumemanation umgestimmt
ist. Die Anfälle bleiben weg, das All¬
gemeinbefinden bessert sich dauernd
und vor allem der Harnsäuregehalt im
Blut geht zurück.
Gegenwart 1921 ~ . 431
So hochgradige gichtische Veränderun¬
gen wie bei einem Krankenmaterial in
einem Badeorte mag man wohl selten an
Kliniken sehen. Ich erinnere mich an
Zustände, wo fast kein Gelenk verschont
War, wo der ^Körper übersät war mit
Tophi. Da kann man nicht vorsichtig
genug Vorgehen mit der Dosierung,
kleinste Dosen bringen das ganze System
schon in Erschütterung, den Eindruck hat
man, und lösen schwere als Reaktionen
zu betrachtende Anfälle aus, die auf der
andern Seite demonstrieren, wie ein¬
greifend die Emanation auf den gichti¬
schen Organismus wirkt.
Vor einigen Jahren konnte ich in
Tierversuchen demonstrieren, wie künst¬
liche Tophi unter Emanationseinfluß be-'
schleunigt zur Resorption kamen. Harn¬
säurekristalle unter die Haut gebracht,
geben nach einiger Zeit das histologische
Bild von Tophi. Die physiologisch lang-
.sam und nicht völlig zur Resorption
kommenden Depots werden erheblich
schneller und fast restlos aufgesaugt,
wenn die Tiere bei denen die Depots
angelegt sind, Emanationswasser ein¬
geflößt erhielten. Ein sorgfältiger Beo¬
bachter wie Strasburger, hat nach
Trinkkuren, die bemerkehswerte Erfolge
bei einer Reihe gut kontrollierter Gicht¬
fälle hatten, auch das Verschwinden von
Tophi festgestellt und darauf aufmerksam
gemacht.
Was die Methodik anbetrifft, so sind
Trinkkuren und Inhalationen angezeigt,
je nach Geschmack. Falta, His und
G.udzent sahen ihre Erfolge zumeist bei
Inhalationen,- Strasburger und die
Londoner Autoren nach Trinkkuren.
Bei den emanationsempfindlichen Orga¬
nismen empfiehlt sich wegen der Vor¬
sichtigeren Dosierungsmöglichkeit viel¬
leicht die Trinkkur, der Wir Kreuz-
nacher Ärzte mehr zuneigen. Wo höhere
Dosen vertragen werden und indiziert
sind, nach meinem Eindruck nicht so
häufig, wie bei den Arthritiden, kombi¬
niere man beide Methoden und ordiniere
selbstverständlich, wo die Verhältnisse
es erlauben, Bäder und Kompressen.
In der Gichttherapie dürfte die Be¬
handlung mit Radiumemanationen
wissenschaftlich und klinisch fest fundiert
sein, als aetiologische, nicht sympto¬
matische Behandlungsmethode, wie wenig
andere.
Andere Erkrankungen.
Bei andern Stoffwechselerkran¬
kungen, Diabetes, Fettsucht konnte
Die "Therapie der Gegenwart 1921
432
man bisher nicht zu eindeutigen und prä¬
zisen Resultaten kommen, obwohl die
experimentellen Ergebnisse dafür spre¬
chen. Es klafft da noch eine Lücke
zwischen Theorie und Praxis wie so oft.
Vielleicht bringen höhere'Dosen weiter.
Was bisher in dem Sinne beobachtet ist,
beschränkte sich auf Besserungen des
Zustandes durch Hebung des Allgemein¬
befindens. Es wäre dann die Ursache
nichts Specifisches, was auf die betreffen¬
den Stoffwechselstörungen regulierend
wirkt, sondern eine- ganz allgemeine An¬
regung des Stoffwechsels, die sich auch bei
Stoffwechselgesunden bemerkbar macht
im Sinne einer Erfrischung, einer Ver¬
jüngung des Organismus. Dieses Er¬
frischungsmoment läßt sich ja durch eine
allgemeine Umstimmung des Organismus
infolge der die Zelltätigkeit anregenden
Emanation zwanglos erklären und ist
verständlich.
Aus derselben Erwägung verstehen '■
wir es auch, daß Emanation bei allen den
Erkrankungsarten indiziert ist, wo
Resorptionsvorgänge angeregt, un¬
terstützt und beschleunigt werden sollen,
ln der Tat sehen wir günstige Beein¬
flussungen beispielsweise bei Narben und
Verwachsungen,bei chronischen weiblichen
Beckenerkrankungen: Exsudate, Narben¬
reste, Vernarbungen, wo eine Kombina¬
tion von Bädern, Kompressen, Scheiden¬
spülungen und den, von Eich holz vor
allem inaugurierten Bleibeklistieren mit
Emanationswasser (Eichholz nennt es
ein Bombardement der betreffenden
Stellen mit Strahlen von allen Seiten),
sehr wirkungsvoll ist.
Der Vollstänaigkeit halber nenne ich
noch Hauterkrankungen, verschie¬
denster Art, besonders solche, denen
vermutlich Stoffwechselstörungen zu¬
grunde liegen, und die vermöge univer¬
seller Ausbreitung für örthche Therapie
ungeeignet sind, Magenerlcrankungen,
die in einer Subfunktion der Drüsen ihre
Ursache haben, Asthmaund chronische
Bronchialkatarrhe, für Inhalationen
und alle die Erkrankungen, wo eine lange
fortgesetzte anregende Wirkung auf die
Zellen eine heilsame Wirkung ver¬
sprechen.
Auf eine oft nicht unerwünschte Ne¬
benwirkung will ich nicht unterlassen auf¬
merksam zu machen: die Anregung des
sexuellen Bedürfnisses, der^ Libido
sexualis. von Noorden und Falta
machten etwa zur selben Zeit darauf auf¬
merksam, wie es uns hier in Kreuznach
Novembef-.
auffiel; ich verfüge über ganz eindeutige
Beobachtungen in der Hinsicht, nicht
nur aus Badekurmaterial. Manchen
Kollegen wird die Kenntnis solcher Ne¬
benwirkung für ihren Therapieschatz nicht
unlieb sein. Ob dabei mehr die experi¬
mentell beobachtete elektive Wirkung der
Becquerelstrahlen auf die Keimdrüsen
eine Rolle spielt, oder erst mittelbar die
von Strasburger u. a. betonte, auch am
Kreuznacher Krankenmaterial bestätigte
Wirkung auf Nervengewebe, zum Teil
in anregendem, zum Teil in beruhigendem
Sinne, je nach dem individuellen Tonus
des Nervensystems, bleibt dahingestellt.
Auch da ist das letzte Wort noch nicht
gesprochen. Ein gewisser Parallelismus
im Befinden nervöser Personen und der
elektrischen Spannung der • Luft, wobei
nach Grab ly die Erdemanation eine
Rolle spielen soll, nach Steffen die durch
a- und /?-Strahlen hervorgerufene Ioni¬
sierung der Luft (worauf er seine thera¬
peutisch bemerkenswerte Anionenbehand¬
lung aufbaut), deutet auf eine zweifellos
bestehende Überempfindlichkeit des
Nervensystems gegenüber Strahlen und
daher therapeutische Beeinflußbarkeit.
Symptomatisch schöne Erfolge werden
von vielen Seiten bei Nervenerkrankungen
zentralen Ursprungs (oben wurden nur
die peripheren erwähnt), berichtet, eine
Emanationsbehandlung kann nur drin¬
gend anempfohlen werden. Man muß
als Therapeut dankbar sein, bei diesen
oft Behandlungswechsel erheischenden Er¬
krankungen eine, wenn auch mehr oder
weniger symptomatische, so doch zu¬
verlässige Therapioform an der Hand zu
haben, die unter Umständen auch Bade¬
kuren, die aus irgendeinem Grunde (und
wie oft wird das jetzt Vorkommen) nicht
durchführbar sind, ersetzen.
Gastrische Krisen der Tabes,
die Nervenschmerzen bei dieser Krankheit
Trophoneurosen, so die Raynaud-
sche Krankheit, werden günstig be¬
einflußt; Herpes zo-ster sahen ich und.
andere sich bessern, Lähmungen und
Apoplexien gingen schneller zurück.
Ein Erfrischungsgefühl, das auch
nicht suggestible, recht schwerfällige,
temperamentlose Personen nicht leugnen
konnten, ist schon durch eine Trinkkur
beziehungsweise Inhalationskur allein zu
erreichen. Verständlich durch die sup-
ponierte, nach den Versuchen mit einer
gewissen Berechtigung, anregende Ein¬
wirkung auf die Zellfunktion. Emana¬
tionskuren wirken belebend, erfrischend,
November
Die Therapiö der Gegenwart 1921
433
sie -haben geradezu den Ruf von Ver¬
jüngungskuren bekommen.
Emanation und Kreislauf.^
Erkrankungen '-oder Störungen
des Kreislaufs galten anfangs nicht
als Indikationsgebiet für Emanations¬
kuren. Lag doch bei dem Vorhandensein
bewährter Bäderformen, Kohlensäure,
natürliche und künstliche, Sauerstoff,
Vierzelten usw.^keine Veranlassung vor,
nach neuer Therapie zu fahnden. Die Er¬
wägung, ob nicht am Ende diese Erkran¬
kungen des Kreislaufs als Kontraindi¬
kation zu gelten hätten, da man bei
stärkeren Kuren manchmal unliebsame
Zufälle sah, ließ die Aufmerksamkeit auf
diese Erkrankungen in ihrem Verhältnis
zur Emanation lenken, bei Erkrankungen,
wo dieser Befund ein sekundärer war und
Glicht im Vordergrund der Behandlung
stand. Man kontrollierte und stellte
messend fest, daß Blutdruck und Herz¬
tätigkeit günstig beeinflußt würden, und
beobachtete zugleich in Tierversuciien ver¬
schiedenster Art eine blutdrucksenkende
Wirkung auf das Circulationssystem. So
wurde man gewissermaßen auf dieses bi-
dikationsgebiet gestoßen und wandte die
Aufmerksamkeit intensiver auf diese Seite
der Emanationswirkungsweise.
Es scheint sich da ein ganz ausge¬
sprochenes Indikationsgebiet aer Strahlen¬
therapie zu eröffnen, auf das ich be¬
sonders hinweisen möchte, zur Nach¬
prüfung anregend.
Die gelegentlich beobachtete, blut¬
drucksenkende und herzregulierende Wir¬
kung von Radiumbädern und Emana-
toriumbehandlung erhält eine gewisse
systematische Unterlage, wenn man Blut¬
druckmessungen konsequent anstellt und
die Resultate mit den entsprechenden
Tierversuchen in Beziehung bringt.
Vor dem Kriege nahm ich eine Reihe
von Blutdruckmessungen vor, um ein
Bild vom Verhalten des Blutdrucks und
der Herzarbeit während des Aufenthaltes
in Radiumbädern zu bekommen.
Es handelte sich vorläufig um Herz¬
beziehungsweise Gefäßgesunde. Die Mes¬
sungen sollten an Krankennlaterial weiter-
gefüh4't werden. Der Krieg unterbrach
wie so vieles-auch diese Pläne, die Kohlen¬
not erlaubte auch später noch nicht, die
Messungen abzuschließen. Vielleicht ge¬
schieht Weiterführung und Abschließung
der Versuche von anderer .Seite.
Die Blutdruckmessungen sind ver¬
mittelst des Apparates von Riva-Rocci
un ter Anwendung derRecklinghauserr-
schen Manschette vorgenommeri. Ich war
mir bewußt, daß. die Methode ihre Un¬
zulänglichkeiten hat und nicht Jrei von
subjektiven Einflüssen ist. Doch da die
Nachteile sich bei allen Messungen, also
auch bei den Vergleichsmessungen im ge¬
wöhnlichen Wasserbade (hier jedesmal
als Süßwasserbqd bezeichnet) wieder¬
holen, können sie füglich unbeachtet
bleiben. Blutdruckmessungen haben wohl
meist einen relativen Wert, Messungen
desselben Beobachters sind miteinander
vergleichbar, aber nicht ohne weiteres
mit denen anderer Beobachter. Weiter
ist zu bemerken, daß naturgemäß eine
absolute, ,,eine Standardkurve“, durch
Verbindung aer einzelnen Bestimmungen
und Eintragung in ein Schema, nicht auf¬
gestellt werden kann, weder für die Sü߬
wasserbäder verschiedener Wärme und
Kältegrade, noch für Radiumemanations¬
bäder. Dazu sind die äußeren Verhält¬
nisse, von denen der Blutdruck abhängig
ist, zu variabel. Doch kann man sich
wohl aus einer gioßen Anzahl Messungen
annähernd eine Standardkurve konstru¬
ieren.
Ich habe dem Beispiel Strasbargers
(,,Einführung in die Hydrotherapie und
Thermotherapie“) und (,,Über Blutdruck,
Gefäßtonus und Herzarbeit bei Wasser-
bädern“)folgend jedesmal den systolischen
und diastolischen Blutdruck bestimmt,
die Pulszahl, den Pulsdruck (auch Puls¬
amplitude), der nach Strasburger als
ein annähernd relatives Maß für aas
Schlagvolumen des Herzens angesehen
werden kann. Setzt man weiterhin Puls¬
druck und Gesamtdruck zueinander in
Beziehung und vergleicht diesen mit dem
Maximaldruck, so lassen sich auch ge¬
wisse Anscnauungen darüber gewinnen,
inwieweit Herz und Gefäß jedes für sich
an der Veränderung des Druckes beteiligt
sind. Steigt der Quotient (aus Pulsdruck
und Maximaldruck) und nimmt der Ge¬
samtdruck ab, dann spricht das für eine
Verringerung des Gefäßtonus und um¬
gekehrt. Und gibt uns weiter die Puls¬
amplitude einen Anhalt für die relative
Größe des Schlagvolumens, so läßt sich
natürlich weiter durch Multiplikation der¬
selben mit dem Blutdruck und der Puls¬
zahl eine gewisse Anschauung über die
relative Größe der Herzarbeit in der Zeit¬
einheit ableiten (Strasburger).
Ich habe zwei Serien von Messungen
vorgenommen. Einmal war die Versuchs¬
anordnung so, daß die Blutdruckverhält-
55
'434
Die Therapie der Gegenwart 1921
November
nisse derselben Person zuerst im Sü߬
wasserbad, dann im Radiumbad geprüft
wurden, naturgemäß zu verschiedenen
Tageszeiten oder Tagen. Bei der zweiten
Serie ließ ich nach Aufenthalt und Mes¬
sung in einem Süßwasserbad nach einiger
Zeit Radiumemanationswasser zusetzen,
auch gelegentlich noch einen zweiten Zu¬
satz nach einer Zeitspanne machen, und
prüfte den Blutdruck im Verhältnis zum
unmittelbar vorhergegangenen Wasser¬
bad. Bei der Zugrundelegung der oben
definierten Begriffe fand ich folgendes.:
Im Radiumbad sank der Druck fast
durchweg, -blieb einige Male ziemlich un¬
beeinflußt, stieg aber im Verhältnis zum
Anfangswerte nie. Die Pulszahl nahm
ab, wenn sie nicht'gleich blieb. Der
Pulsdruck blieb ziemlich gleich, der
Quotient hatte eine steigende Tendenz,
die Herzarbeit nahm in dem größten
Teile der Fälle ab.
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systolischer
diasto¬
lischer
Blut¬
druck
Fig. 1. Süßwasserbad Fig. 2. Radiumbad 34» C.
340 c. = 60000 M.E.
Berberich (gesund) 30 J. Katzenberger (gesund) 30 J.
• Puls -Pulsdruck (Relat.
-Relat. Herzarb. Schlagvolumen)
i. d. Minute —••— Blutdruckquotient
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systolischer
diasto¬
lischer
Fig. 3. Süßwasserbad 34° C,
dann 2 mal Radiumzusatz
(je 60000 M.E.)
Selbstversuch (gesund 36 J.)
• • Puls
-Relat. Herzarb.
i. d. Minute
Blut¬
druck
Fig. 4. Radiumbad 34° C.
stark (180000 M.E.)
Bademeister X. (gesund).
— •— Pulsdruck (Relat.)
Schlagvolumen
— ••— Blutdruckquotient
Vergleichen wir damit die
Verhältnisse im Süßwasserbad,
so finden wir bei derselben
indifferenten Temperatur den
Blutdruck meist wenig beein¬
flußt, oder auch anfänglich
steigend, dann fallend, aber
nicht unter die Anfangswerte
herabgehend. Die Pulszahl
nimmt meist etwas ab, aber
nicht so stark und stetig wie
bei den Radiumbädern, der
Pulsdruck bleibt meist unbe¬
einflußt oder steigt, der Quo¬
tient steigt und die Herzarbeit
nimmt zu oder bleibt gleich.
Otfried Müller findet in
Wasserbädern unterhalb des
Indifferenzpunktes (33—35®C)
(mir sind leider die Arbeiten im
Augenblick nicht zugänglich,
daher die Zitate nicht er¬
schöpfend), Steigen des Blut¬
druckes bei Herabsetzung der
Pulsfrequenz. Daerbei Wasser¬
bädern über dem Indifferenz¬
punkt nach kurzem Sinken
wieder Steigen feststellt, müßte
bei 34°C, der Temperatur mei¬
ner Bäder, der Effekt auf Blut¬
druck in der Mitte liegen, mehr
nach den kühlen Bädern zunei¬
gend, also eher steigend wie
sinkend sein.
Zu ähnlichen Resultaten wie
Müller kommt Strasburger.
Also bei den Radiumbädern
sehen wir ein ausgesprochen an¬
deres Verhalten wie bei indiffe¬
renten Süßwasserbädern in be¬
zug auf den Blutdruck.
Bei Bewertung dieses Re¬
sultates nach obigen Deduk¬
tionen deutet dies bei Berück¬
sichtigung der Pulszahl darauf
hin, daß bei Radiumbädern
von 34° C der Gefäßtonus sel¬
ten oder nicht erhöht, meist
November
Die Therapie der Gegenwart 1921
435
herabgesetzt ist, und die Herzarbeit in
der Mehrzahl der Fälle geringer wird.
Der Widerstand der Blutgefäße nähme
also eher ab wie zu, die Herzkraft Würde
geschont, zugleich bei Herabsetzung der
Pulszahl, was auch eine Erholung für die
Herzkraft bedeutete.
Es ergäbe sich daraus, daß Radium¬
emanationsbäder vori 34® C und einer
Stärke bis 60000 Macheeinheitem bei
gesundem Organismus nicht allein keine
schädigende Einwirkung auf das Herz- und
Gefäßsystem ausüben, sondern im Gegen¬
teil so schonend wirken, daß anzunehmen
ist, daß auch bei herz- oder gefäßkranken
Personen keine Schädigung, eher ein
wohltätiger Einfluß auf die Circulations-
organe zu erwarten ist.
Dies würde sich mit unseren Er¬
fahrungen decken. Wir haben immer
schon die Radiumemanationswirkung als
blutdrucksenkend bei der hier (in Kreuz¬
nach) üblichen Dosierung aufgefaßt, jeden¬
falls eher gute wie schlechte Einwirkung
bei Hypertonien verschiedenster Art und
Herzinsuffizienzen gesehen. Wie es bei
höheren Dosen ist, bleibt dahingestellt.
Kurve Fig. 4 und sonstige Beobachtungen
könnten dafür sprechen, mit stärkeren
Bädern vorsichtig zu sein; Blutdruck und
Herzarbeit steigen anscheinend. Zum
mindesten sind sie für Herz- und Gefä߬
kranke nicht mehr gleichgültig.
Bei Tierversuchen, die einige Jahre
zurückliegen, fand ich nach Injektion
von isotonischer Kochsalzemanations¬
lösung (35000 Macheeinheiten) in die
Schenkelarterie, mit dem Gad - Gowschen
Tonometer, eine Verlangsamung der Herz¬
tätigkeit und eine Abnahme des Gefä߬
tonus (vgl. Kurve Fig. 5).
Vor der Injektion.
Während der Injektion.
Fig. 6. Blutdruckkurven, aufgenommen vermittelst des Qad-
Gowschen Tonometers von radioaktiv gemachter Kochsalz¬
lösung = 35000 Macheeinheiten.
Das würde zu den vorliegenden Re¬
sultaten passen.
Es liegen verschiedene derartige Tier¬
versuche, an Kaltblütern und Warm¬
blütern vorgenommen, vor; sie müssen
vorsichtig bewertet und miteinander ver¬
glichen werden, da jedesmal die Technik
eine andere war und die Radium- be¬
ziehungsweise Emanationsmenge ver¬
schieden groß war.
Diese meine Messungen sollen, wie
gesagt, nur orientierende sein, und sa
kann ich nur mit aller Reserve resü¬
mieren: Radiumemanationsbäder
von 34® C und bis 60000 Mächeein-
heiten Stärke wirken nicht schäd¬
lich auf Herz- und Gefäßsystem.
Es hat sogar den Anschein, als ob
sie direkt herz-und gefäßschonend
wirken, also bei den entsprechen¬
den Erkrankungen nicht allein
nicht kontraindiziert, sondern in¬
diziert sind.
Endgültiges läßt sich erst nach weite¬
ren Messungen, vor allem auch bei Per¬
sonen mit mehr oder minder großen In¬
suffizienzen der Kreislauforgane sagen.
Ich wollte damit die Aufmerksamkeit
auf das Wichtige, große, verschlungene
Gebiet der Circulationsstörungen und ihr
Verhalten unter EmanationseinWirkung„
insbesondere unter Emanationsbäder¬
wirkung, gelenkt haben.
Nierenerkrankungen galten, ganz
allgemein, das heißt ohne Specifizierung
der Form, als Kontraindikationen für
Emanationstherapie. " Die Anschauung
dürfte auch nicht mehr zu Rechte be¬
stehen. Es bleibt Aufgabe genauerer*'
Beobachtungen, weiterhin festzustellen,
welche Arten von Nephropathien und
Nephrosen auszuschließen sind.
Zunahme der Eiweißausscheidung ist
beobachtet und mahnt zur Vorsicht.
• Auch Blutungen gelten als Kontra¬
indikation. Zu Hämoptoe und Menor¬
rhagien neigende Individuen sind mit
Vorsicht Emanationskuren zu unter¬
ziehen. Häufig sah ich leichte Hämoptoe
auftreten und unerwünschte Uterusblu¬
tungen.
Zweifellos bedeutet die Radiumema¬
nationstherapie eine wertvolle Bereiche¬
rung unseres therapeutischen -Schatzes,,
deren Berechtigung sich nicht allein aus
einer in der Eigentümlichkeit des Heil¬
mittels liegenden besonders intensiven
Durchforschung der physikalischen und
biochemischen Eigenschaften herleitet,
sondern aus einer sehr reichhaltigen prak¬
tisch-therapeutischen Erfahrung heraus.
Eine abgeklärte, abgeschlossene Therapie
für das alte oben skizzierte Indikations¬
gebiet. Eine Therapie, die aber auch noch
gewisse Entwicklungsmöglichkeiten hat.
Leider fehlt es noch an dem genügen¬
den Vorhandensein von Heilmitteln selbst,
an genügenden Therapiemöglichkeiten.
55*
436
Die Therapie der Gegenwart 1921
Noverribef
Bessere Zeiten mögen der Industrie Ge--
legenheit geben, preiswerte Präparate in
leistungsfähiger Form und gut ausdosiert
auf den Markt zu bringen und den Ärzten
zur Verfügung zu stellen.
Erschöpfende Literaturangaben im „Grund¬
riß der Radiumtherapie“ von S. Löwenthal,
im „Handbuch der Radium-Biologie und The¬
rapie“ von Lazarus und „Die Behandlung inne¬
rer Krankheiten mit radioaktiven Substanzen“
von Falta.
Repetitorium der Inneren Therapie.
Behandlung der Nervenkrankheiten.
Von G. Klemperer. (Schluß.)
3. Neurosen.
Neurasthenie und Hysterie. Obwohl
Neurasthenie und Hysterie in Wirklich¬
keit verschiedene Krankheitszustände dar¬
stellen, so sollen sie doch in bezug auf
die Behandlung gemeinsam gewürdigt
werden. — Sicherlich ist es das periphere
Nervensystem, welches bei der Neu¬
rasthenie leidet, indem entweder die sen¬
siblen Nerven überreizt oder die motori¬
schen Nerven schnell ermüdbar sind,
während bei der Hysterie das centrale
Nervensystem den leidenden Teil dar¬
stellt, indem die Empfindungen von den
peripheren Reizungen einmal gar nicht,
das andere Mal übertrieben stark ziim
Bewußtsein kommen, oder motorische
Impulse von übertriebener Stärke aus¬
gesendet werden, oder der Bewußtseins¬
inhalt in krankhafter Erregung verzerrt
wird. Für die Behandlung fließen beide
Zustände ineinander über, indem beide
Kategorien von Kranken häufig von
heftigen Schmerzen gequält werden, beide
oft von unbegründeten Erregungs- und
Angstzuständen heimgesucht werden und
unfähig sind, eine geregelte Tätigkeit in
nutzbringender Weise auszuüben. Eine
schematische Scheidung wird bei dem
Neurastheniker den Nachdruck auf kör¬
perliche Behandlung, nämlich auf den
Wechsel von Ruhe und Arbeit, die Ge¬
wöhnung an Reize und die Übung der
Muskulatur legen, während sie bei der
Hysterie den erzieherischen Gesichts¬
punkt, die Psychotherapie, in den Vorder¬
grund stellt, ln Wirklichkeit aber werden
beide Methoden bei beiden Krankheits¬
zuständen zur Anwendung gelangen. Die
Scheidung ist um so weniger aufrecht zu
halten, als zwischen reiner Hysterie und
Neurasthenie vielfache Übergänge Vor¬
kommen. Immerhin wird die sorgfältige
Analyse des Krankheitsbildes je nach
dem Überwiegen der peripheren oder
centralen Ursache die eine oder andere
Behandlungsmethode bevorzugen, wobei
dann freilich nicht zu verkennen ist, daß
bei jeder somatischen Behandlung des
Nervensystems auch der psychische Fak¬
tor zur Geltung kommt^ während die
Psychotherapie der Hysterischen der so¬
matischen Behelfe nicht entraten kann.
1. Psychotherapie. Diese Methode
soll als die wirksamste an die Spitze ge¬
stellt werden. Ihre Ausübung bedarf der
Erfahrung und besonderer Schulung, weil
sie eine-eindringende Kenntnis des Seelen¬
lebens Gesunder und Kranker voraus¬
setzt. Sie geht von der sicher erwiesenen
Tatsache aus, daß alle Nervenfunktionen
unter der Oberherrschaft centraler Vor¬
stellungen stehen, welche durch die Gel¬
tendmachung eines fremden Willens
wesentlich beeinflußt werden können.
Die zu beeinflussenden Nervenfunktionen
betreffen einesteils die Schmerzempfind¬
lichkeit, andererseits die sekretorischen
Funktionen sowie den Bewegungsablauf
der glatten Muskulatur; ja auch die quer¬
gestreifte Muskulatur ist dem Einfluß
nicht ganz entrückt. Die centralen Vor¬
stellungen, auf welche die Behandlung
Einfluß zu nehmen sucht, sind zum Teil
bewußter Art, indem sie sich einerseits
in der Willensbildung, andererseits in der
gesamten Stimmimgslage zu erkennen
geben. Es ist aber auch eine centrale
Beeinflussung ohne erkennbare Mitwir¬
kung des Bewußtseins möglich, indem sie
sich in dem sogenannten Unterbewußtsein
vollzieht. Die Beeinflussung geschieht
zum Teil durch erzieherische Einwirkung,
das heißt durch die verstandesmäßige
Darlegung der Nützlichkeit oder Schäd¬
lichkeit von Vorgängen und Handlungen,
welche Gesundheit oder Krankheit be¬
dingen. Sie sucht den Patienten zu über¬
zeugen, daß es von Nutzen für seine Ge¬
nesung sei, bestimmte Dinge zu tun oder
zu lassen und auf diese Weise seine
Willensbildung zu stärken. Andererseits
sucht die erzieherische Einwirkung die
centrale Empfindlichkeit für periphere
Reize herabzusetzen, indem sie die Gering¬
fügigkeit derselben und ihre Bedeutungs¬
losigkeit gegenüber höherwertigen Ein¬
wirkungen ins rechte Licht setzt und da-
November
V.
Die Therapie der Gegenwart iQ21
437
durch einerseits die Reizbarkeit ver¬
kleinert, andererseits die gesamte Fühl-
und Stimmungslage verbessert — Eine
zweite Art der Einwirkung ist die sug¬
gestive, welche weniger an die bewußten
Denk- und Empfindungsvorgänge des
Patienten appelliert, als an den geheimnis¬
vollen Mechanismus des Unterbewußt¬
seins. Es gelingt nämlich, durch ein¬
drucksvolles Vorbild oder durch energi¬
schen Anruf, manchmal durch Blick,
Miene und Haltung eine solche Einwir¬
kung auf den Patienten zu gewinnen, daß
dieser, ohne es bewußt zu wollen, in
seinen Empfindungen und Funktionen
qualitative und quantitative Verände¬
rungen erleidet. Die suggestive Beein¬
flussung des Unterbewußtseins verstärkt
sich in der Hypnose, bei welcher durch
vorhergehende taktile Reize oder sonstige
Vorbereitung das Normalbewußtsein aus¬
gelöscht und nur das Unterbewußtsein
übrigbleibt. Hypnotische Beeinflussun¬
gen können den hypnotischen Zustand
lange überdauern und lange im Wach¬
zustände wirksam bleiben. Die Empfäng¬
lichkeit für Suggestion und Hypnose ist
bei den verschiedenen Menschen ver¬
schieden. Doch pflegen Neurastheniker
meist suggerierbar. Hysterische außerdem
entsprechend dem Grade ihrer Krankheit
hypnotisierbar zu sein. Während die
suggestive Heilmethode in jedem Falle
von Hysterie und Neurasthenie weitest¬
gehende Anwendung verdient, wird die
eigentliche Hypnose für schwere Fälle
von Hysterie'beschränkt und nur unter
besonderen Vorsichtsmaßregeln ange¬
wandt werden.
Praktisch beginnt die Psychotherapie
eines Schmerzes oder einer Funktions-
störjmg damit, daß man dem Patienten
die Überzeugung beibringt, daß eine orga¬
nische Krankheit nicht vorliegt. Damit
setzt man die centrale Reizempfindung
herab. Man vermeide freilich den Aus¬
druck, daß die Schmerzen in Wirklichkeit
nicht existieren oder eingebildet wären;
denn diese Unterstellung kränkt den
Patienten und reizt ihn zum Widerspruch
und verstärkt unbewußt die Beharrung
im centralen Schmerzgefühl. Man zeige
vielmehr durch eingehende Würdigung
der Klagen und sorgfältige Untersuchung,
daß der Symptomenkomplex sachliche
Behandlung verdient. Die ins einzelne
gehende Aussprache dient auch dazu, dem
Arzt das besondere Vertrauen der Pa¬
tienten zu sichern, durch welches seine
Suggerierbarkeit vorbereitet wird. Die
Besprechung geht von dem besonderen
Symptomenkomplex zu den allgemeinen
Verhältnissen des Patienten, zu der Er¬
forschung seiner Sinnesart, seines Tem¬
peraments und leitet allmählich zur Be¬
einflussung desselben über, in dem sie die
oben entwickelten Gesichtspunkte von
der Notwendigkeit ablenkender Beschäf-
tigüng und erhebender Gemütseindrücke
in den Vordergrund schiebt. In wieder¬
holten Besprechungen pädagogischen und
philosophischen Inhalts wird das Ver¬
hältnis persönlicher Beziehung zwischen
Arzt und Patient vertieft. Dann mu&
der Zeitpunkt kommen, in welchem die
direkte Suggestion ausgesprochen und
damit dem Patienten die feste'^ Überzeu¬
gung verschafft wird, daß die Ursache
der Krankheit nunmehr geschwunden sei.
Während des ganzen Verlaufs der Behand¬
lung kann das Vertrauen des Patienten
durch mannigfache medikamentöse und
physikalische Eingriffe gestärkt werden,,
die ihrerseits zur somatischen Unter¬
stützung der psychischen Wirkung bei¬
tragen. — In vielen Fällen genügt eine
kurze psychische Einwirkung, einen vollen
Erfolg zu erzielen. Oft vergehen Herz¬
klopfen, Magenschmerzen usw., wenn
der Patient nach gehöriger Untersuchung
die bestimmte Zusicherung erhält, daß
das gequälte Organ gesund ist und daß
die Krankheit nur in Angstvorstellung
begründet ist. Die Sicherheit, gesund zu
sein, läßt den Patienten seine Beschwer¬
den ruhiger ertragen und schließlich ver¬
gessen. In hartnäckigen Fällen bedarf es
oft wiederholter Untersuchung und Be¬
einflussung, auch durch somatische Be¬
handlung, ehe das Ziel erreicht ist.
Hygienische Therapie. Für die
Erzielung eines Heilerfolges ist die Er-
möglichüng einer gesundheitsgemäßen
Lebensweise unter Fernhaltung aller schä-
d'genden Momente von Bedeutung. Wenn
es möglich ist, sollen die Patienten für
einige Zeit aus ihrem Berufe genommen
und in gutes Klima versetzt-werden. Da¬
bei ist der Genuß von Luft und Licht
wesentlich; ebenso ausreichende und
zweckmäßige Ernährung. Im übrigen
sind Fehlerhaftigkeiten des körperlichen
Zustandes möglichst ausgleichend zu be¬
einflussen: Unterernährte und Blutarme
sind aufzufüttern. Fettleibige magerer
zu machen. Durch Naturgenuß, beson¬
ders Wanderungen^ auch mäßige sport¬
liche Betätigung wird die Stimmungslage
und die Empfindlichkeit für suggestive
Einflüsse verbessert. Sicherlich wird die
438 Die Therapie der Gegenwart 1921 November '
. . ■ — ' ' . — — .. . • .— ■ — ^
Gesamtheit der hygienischen Einflüsse
am besten in Sanatorien gewährt, welche
die Vorteile des Klimas mit hygienisch¬
diätetischen Einflüssen vereinigt und in
welchen die Persönlichkeit des Arztes die
Gewähr geeigneter Psychotherapie dar¬
bietet.
Besch äftigun gsth er apie. ^enn
der krankhafte Zustand durch die Über¬
schätzung geringfügiger Reize gegeben
ist, kann die Heilung auch dadurch er¬
folgen, daß der Patient durch die Er¬
kennung des höheren Wertes anderer
Faktoren zur richtigen Bewertung der
bisher überschätzten Eindrücke gelangt.
Dies geschieht durch die Gewöhnung an
■eine regelmäßige Tätigkeit, welche von
einem nutzbringenden Werte ist. Dabei
kann es sich um geistige Arbeit handeln,
durch welche der Bildungsstand erhöht
wird. Hierbei wächst das innere Selbst¬
bewußtsein und die Kraft der Selbst¬
beherrschung, aber auch die Kritik gegen¬
über den Eindrücken der Außenwelt. Es
wirkt aber auch körperliche Arbeit heil¬
sam, einesteils indem sie Kraft-, und Er¬
müdungsgefühl erzeugt, welche die Un¬
lustgefühle übertönen, andererseits durch
den erzielten Nutzen beim Patienten see¬
lische Rückwirkung äußern. Geistige wie
körperliche Arbeit haben auch deswegen
Heiiwert, weil ihre Bewältigung die Auf¬
merksamkeit erheblich in Anspruch nimmt,
also von krankhaften Vorstellungen ab¬
lenkt. Die Wahl der Arbeit ist dem
körperlichen und geistigen Zustand an¬
zupassen. Für gebildete Patienten kommt
ausgewählte Lektüre in Frage, wobei
sachlicher Inhalt, insbesondere Lebens¬
beschreibungen und geschichtliche Werke
mit Memoiren, auch Romane ernsten
Inhalts bevorzugt werden, während ero¬
tische Stoffe besser vermieden werden.
Aber auch ernstere Arbeit, Erlernung von
Sprachen, Ausarbeitung von Aufsätzen,
Referaten kommen in Frage. Regelmäßige
Unterhaltung über die Fortschritte der
Arbeit erhöht den Heilwert derselben.
Im Wechsel mit der geistigen Arbeit
empfiehlt sich körperliche Betätigung:
Spaziergänge, Sport und Gartenarbeit.
Wo keine geistige Anteilnahme zu er¬
zielen ist, beziehungsweise geistige Arbeit
infolge allzu großer Reizbarkeit vorläufig
nicht in Betracht kommt, besteht die
körperliche Arbeit je nach der Eignung
in Werkstättentätigkeit oder Garten- und
Landarbeit, ln den modernen größeren
Sanatorien sind die Möglichkeiten für
solche geordnete Beschäftigungstherapie
vielfach gegeben. Auch in der privaten
Tätigkeit lassen sich die Prinzipien der
Beschäftigungstherapie unter Ausnutzung
vorhandener Gelegenheiten meist durch¬
führen. Einen besonderen Zweig der¬
selben bildet die soziale Betätigung der
Frauen, wobei die sittliche Würde und
das Nutzbringende der Tätigkeit in den
Vordergrund zu rücken und spielerische
Betätigung zu vermeiden ist.
Physikalische Therapie. Jede Art
von Hydrotherapie, Umschläge und
Packungen, kühle, warme und Schwitz¬
bäder, COg-, Og-, Fichtennadel-usw. Bäder,
Übergießungen, jede mechanische An¬
wendung, also Massage, aktive und pas¬
sive Gymnastik, medico - mechanische
Übungen an den verschiedensten Appa¬
raten, jede Art von Elektrizität: Faradi-
sation, ’ Galvanisation, Franklinisation,
Diathermie können Heilwirkung ent¬
falten. Die Wahl der Methode hängt von
Eigenart und Schulung des Arztes ab
und soll auch den Anforderungen und
Stimmungen des Patienten angepaßt wer¬
den. Es kommt besonders darauf an, daß
die Beliandlung nach einem vorher fest¬
gesetzten Plane in systematischer Weise,
auch nicht ohne suggestive Förmlichkeit,
geschieht. Es ist Sache des ärztlichen
Geschicks, das Maß der Behandlung zu be¬
stimmen.
Medikamentöse Therapie. Jede
Arzneianwendung kann zum Träger sug¬
gestiver Heilwirkung werden. So wird
es kaum ein Medikament geben, welches
nicht gelegentlich angewendet werden
könnte. Doch hüte man sich vor diffe¬
renten Verordnungen, die durch ihre
Nebenwirkungen Schaden anrichten.
Morphium und andere Opiate sollten prin¬
zipiell vermieden werden. Erfahrungs¬
gemäß bewähren sich leichte Sedativa,
Baldrian, oft auch Brom, während die
Schlafmittel nur unter bestimmten Indi¬
kationen anzuwenden sind, sowie die
Tonica und Roborantien, unter denen
Arsen, Eisen und Strychnin an erster
Stelle stehen. Hierzu gesellt sich die
Kalktherapie, welche ebenfalls geeignet
ist, die Reizbarkeit des Nervensystems
■herabzusetzen.
Epilepsie. Der Reizzustand der Hirn¬
rinde , welcher zu regelmäßig wieder¬
kehrenden Krampfanfällen führt, beruht
-in seltenen Fällen auf anatomischen Ver¬
änderungen des Gehirns, welche durch
chirurgische Eingriffe rückgängig gemacht
werden können. An die Möglichkeit einer
chirurgischen Therapie ist besonders zu
November ' Die Therapie der
'‘ti * -- —. . —
denken, wenn die epileptischen Anfälle
nach einem Trauma auftreten, oder wenn
Tumoren und entzündliche Veränderungen
einen Druck auf die Hirnrinde ausüben.
Im übrigen sind alle Ursachen zu be¬
seitigen, von denen anzunehmen ist, daß
sie die Reflexerregbarkeit des Gehirns er¬
höhen, z, B. adenoide Wucherungen, Ein¬
geweidewürmer. In der überwiegenden
Mehrzahl sind die epileptischen Krämpfe
der funktionelle Ausdruck einer Zustands¬
änderung der grauen Rindensubstanz,
iiuf die wir nur durch allgemeine Be¬
ruhigung und narkotische Mittel zu wirken
vermögen. Dementsprechend sind Epi¬
leptiker möglichst frühzeitig für längere
Zeit aus der regelmäßigen Tätigkeit zu
nehmen, Kinder vom Schulunterricht zu
befreien oder in besonderen Hilfsklassen
zu unterrichten, jede geistige und körper¬
liche Anstrengung und Erregung fernzu¬
halten und unter einer reizlosen und
fleischarmen, an Vegetabilien reichen Er¬
nährung und reichlichem Luftgenuß zu
pflegen. Alkohol ist in jedem Falle streng
zu untersagen. In jedem Falle ist für
lange Zeit eine regelmäßige Bromkiir
durchzuführen, indem die Patienten je
nach dem Lebensalter 3 bis 10 g von
Bromalkalien täglich zu sich nehmen,
täglich etwa drei Eßlöffel der Mixtura
nervina oder täglich eine halbe Flasche
Erlenmeyersches Bromwasser oder das
relativ gut schmeckende Sandowsche
brausende Bromsalz. Auch die (teuren)
Sedobroltabletten (dreimal täglich zwei
Stück) werden gern genommen. Brom
^wird verschieden gut vertragen. Manch¬
malnötigen empfindliche Hautaffektionen
<gegen welche tägliche Kochsalzgaben von
-3 bis 5 g als Heilmittel verordnet werden),
oder Magenstörungen zu schnellem Aus¬
setzen. Oft gibt man es monatelang
hintereinander. Allmählich leiden Ge¬
dächtnis- und Verstandeskräfte wesent¬
lich. Dann muß man wochen- bis monate¬
lang die Brommedikation aussetzen.
Während der Bromkur ist die Nahrung
kochsalzarm zu halten, weil dadurch die
Bromfixation in den Nerven erleichtert
wird; man kann au:h Bromnatrium
selbst als Speisesalz gebrauchen. In
schweren Fällen gibt man mit dem Brom
gleichzeitig Opiate (Flechsigsche Kur),
täglich dreimal 0,01 bis 0,03 Extr. Opii.
Während der Brom-Opiumkur werden
die Patienten am besten im Bett gehalten,
da die einschläfernde Wirkung sie doch
jfür jede Tätigkeit unbrauchbar macht.
Die Herabsetzung des Appetits und die
Gegenwart 1Q21 439
Verstopfung verlangen, besondere Auf¬
merksamkeit in bezug auf Diät und Ab¬
führung. In Zwischenräumen der Brom¬
kur kann man dreimal täglich 0,5 Borax
geben, von dem manchmal ein anti¬
epileptischer Einfluß zu bemerken ist.
Besonders wichtig sind die erzieheri¬
schen Maßnahmen, welche auf die eigen¬
tümliche geistige Beschaffenheit bezie¬
hungsweise wirklichen Geistesstörungen,
epileptischer Kinder genügend Rücksicht
nehmen. Oft sind solche Patienten nicht
in Familien zu halten und müssen in
Erziehungsheimen beziehungsweise Spe¬
zialanstalten untergebracht werden.
Während des epileptischen Anfalls
selbst sind die Patienten zu überwachen,
damit sie sich nicht im bewußtlosen Zu¬
stand durch Sturz oder Stoß beschädigen.
Sie sind bequem zu lagern, schnürende
Kleidungsstücke sind zu öffnen. Von dem
Versuch, den Mund zu öffnen, um'Zungen¬
biß zu verhüten, ist abzusehen, da der
krampfhafte Zahnschluß hierfür zu fest
ist. Nach dem Anfall soll der Patient
möglichst einige Stunden ruhen.
Basedowsche Krankheit. Die Berech¬
tigung, den Morbus Basedowii unter der
Rubrik der Nervenkrankheiten zu be¬
handeln, begründet sich auf der wohl
sichergestellten Anschauung, daß die cha-
rakteristischeMehrfunktion derThyreoidea
sich unter dem übergeordneten Einfluß
nervöser Erregungen vollzieht, die augen¬
scheinlich in sympathischen Bahnen ver¬
laufen. Diese Anschauung begründet auch
die Aufgabe, die Behandlung in jedem
Falle mit der gründlichen Aufklärung der
Ätiologie zu beginnen. Wenn sich An¬
haltspunkte für ursächliche psychische
Einflüsse ergeben, steht die Psycho¬
therapie in erster Linie. Soweit es mög¬
lich ist, sollen die Patienten schädlichen
Erregungen in Haus und Beruf entrückt
beziehungsweise in ihrer Sinnes- und
Fühlrichtung zur tapfern Auffassung ihres
Schicksals beeinflußt werden. Oft dienen
Ortsänderungen diesem Zweck, mögen nun
Sanatorien oder Kurorte aufgesucht wer¬
den; mit ihnen wird meist eine Ruhe¬
beziehungsweise Liege- und Luftkur ver¬
bunden. Gern läßt man Höhenkurorte
aufsuchen, aber ein wirkliches Heilklima
gibt es nicht. Meist kommt der Basedow¬
kranke da zur Genesung, wo er voll¬
kommenen inneren Frieden findet. Im Haus
und in der Klinik läßt man viele Wochen
lang vollkommene Bettruhe innehalten,
mit regelmäßigem Gebrauch lauer Bäder,
am besten mit Fichtennadelextrakt, unter
44Ö
Die Therapie der Gegenwart 1921
.November
Innehalten fleischfreier, laktovegetabiler
Diät. Unterstützend wirken tägliche
Solarsoninjektionen. Man kann auch
Brompräparate geben oder Natr. phos-
phor. 6 :200, dreimal täglich einen E߬
löffel. Digitalis ist zu widerraten. Auch
elektrische Anwendungen sind nützlich,
meist in Form scl\wacher galvanischer
beziehungsweise faradischer Einwirkungen
auf die seitlichen Halspartien.
Eine specifische Beeinflussung wird
mit der Darreichung des Serums ent-
kropfter Tiere versucht (da sich darin die
normaliter von dem Schilddrüseninkret in
Anspruch genommene Substanz ansam¬
melt). Man gibt das sogenannte Anti-
thyreoidin Moebius zu dreimal täglich
30 Tropfen, mit unsicherem Erfolg.
Innere Behandlung führt oft erst nach
mehrfacher Wiederholung zur Heilung.
Die chirurgische Behandlung ist indiziert,
wenn die Basedowkrankheit zu schneller
Abmagerung führt oder der wachsende
Kropf die Luftröhre verengt oder die
sozialen Verhältnisse zur schnellen Her¬
beiführung der Erwerbsfähigkeit drängen.
Die Ausschneidung eines Lappens der
Schilddrüse bietet schnellere und relativ
große Heilungsaussichten. In sehr lang¬
wierigen Fällen darf man n’cht mit der
Operation warten, bis hochgradige Herz¬
schwäche eingetreten ist. Die Röntgen¬
behandlung gibt wenig sichere Resultate
und erschwert nach Ansicht der ma߬
gebenden Chirurgen durch Verwachsungen
die eventuell später notwendige Opera¬
tion.
Chorea. Obwohl der Veitstanz wahr¬
scheinlich auf einer infektiösen herd¬
förmigen Hirnerkrankung beruht, stehen
nervöse Erregungssymptome so sehr im
Vordergründe des therapeutischen Inter¬
esses, daß auch diese Krankheit hier ein¬
geordnet werden darf. In leichten Formen
beschränkt sich die Beeinflussung der
Unruhe und der Zuckungen auf allgemeine
Beruhigung und konsequente Ermahnung.
Die Kinder dürfen nicht zur Schule gehen,
bleiben morgens lange im Bett, ruhen
auch nach Tisch und gehen früh schlafen,
dürfen aber unter Aufsicht im Freien sein
und an leichten Spielen teilnehmen. Die
pädagogische Beeinflussung darf nicht
strenge sein, Schlagen kann sehr schaden.
Laue Bäder mehrmals in der Woche.
Gemischte, an Vegetabilien reiche Kost.
Als Medikament ' dienen kleine Arsen¬
gaben, am besten Eisenelarson, bei ver¬
mehrter Unruhe auch Brom. In schwere¬
ren Formen, insbesondere bei Fieber, ist
dauernde Bettruhe notwendig, bei ge¬
häuften Zuckungen muß das Bett ge¬
polstert und der Patient durch dauernde
Übeiwachung vor Verletzungen geschützt,
auch regelmäßig gefüttert werden. Je
schwerer der Fall, desto notwendiger die
häufige Darreichung von Schlafmitteln
oder Chloralklysmen oder Opiaten. Regel¬
mäßige Morphiuminjektionen s-nd be¬
sonders nützlich; für die Injektion soviel
Milligramme, als das Kind Jahre hat, bis
zu 10 mg, zwei- bis dreimal täglich.
Übrigens ist die Größe der Morphiumgabe
und die Notwendigkeit der Wiederholung
in jedem Falle auszuprobieren. Nach der
Heilung ist noch lange körperliche und
geistige Schonung notwendig und eine
längere Nachkur im Mittelgebirge oder an
der See ratsam.
Paralysis agitans. Für die Allgemein¬
behandlung gelten sinngemäß die bei der
Tabes entwickelten Grundsätze mit Aus¬
nahme der specifischen Kuren; leichte
Bewegungsübungen sind zeitweise am
Platze. Medikamentös darf man von
Baldrian- oder Brompräparaten, gelegent¬
lich von Analgeticis, auch Schlafmitteln
Gebrauch machen. Gegen das Zittern
pflegt man besonders Skopolamin in
Pillen zu 0,3 bis 0,5 mg oder in Injek¬
tionen zu geben. Manchmal ist Morphium
nicht zu entbehren. In den vorgeschritte¬
nen Stadien tritt die Krankenpflege in
den Vordergrund,
Referate.
Zur Erleichterung der abdominellen
Untersuchung bei starker Bauchdecken¬
spannung gibt Hirsch aus der Döder-
leinschen Klinik einen neuen Handgriff
an, der sich in vielen Fällen gut bewährt
hat, wenn man durch intensive Ablen¬
kung der Frauen nicht zum Ziele kam.
Es kann immer festgestellt werden, daß
bei einer rectovaginalen Untersuchung
eine auffallende Entspannung der Bauch¬
muskeln eintritt. Dies könnte man viel¬
leicht auf folgende Weise erklären: Die
Muskulatur des Beckenbodens und die der
Bauchdecken stehen in einem antago¬
nistischen Verhältnis; läßt man die
Frauen pressen, sodaß der Sphinkter er¬
schlafft, so werden die Bauchdecken sehr
hart, fordert man sie hingegen auf, die
Analöffnung fest zu verschließen, so tritt
die starke Entspannung der Bauch-
November
Die Therapie der Gegenwart 1921
441
muskeln zutage. Darauf fußend, wurden
-den Frauen Hegarsche Stifte von 1 % bis
2 cm Durchmesser eingelegt mit der Auf¬
forderung, dieselben fest zu umschließen.
Prompt setzte die Bauchdeckenentspan¬
nung ein, sodaß eine abdominale Unter¬
suchung in der leichtesten Weise mög¬
lich war. Pulvermacher (Charlottenburg).
(M. m. W. 1921, Nr. 36.)
Für die Behandlung der Adnexer¬
krankungen kann Tutscheck aus der
zweiten Münchener Universitäts-Frauen¬
klinik die Diathermie als bestes kon¬
servatives Verfahren empfehlen. Wenn
auch zugegeben werden muß, daß in
vielen Fällen eine vollständige Beseiti¬
gung der entzündeten Geschwülste nicht
erzielt werden konnte, so konnte doch
immer festgestellt werden, daß nach
•einigen Sitzungen die Schmerzen bald
verschwanden, sodaß die Patientinnen in
verhältnismäßig kurzer Zeit wieder ar¬
beitsfähig Wurden. — Zeigte sich wieder
ein Aufflackern des Prozesses, so ge¬
nügten wenige Applikationen, um wieder
die Schmerzen zu beseitigen. Es Wurden
meist füi jed^ Sitzung nur .15 Minuten ge¬
braucht, bei einer Stromstärke von 1 bis
1 % Ampere — große Bauchdecken¬
platte, Scheiden- oder Mastdarmelektrode.
Demgegenüber stehen jedoch die Fälle,
bei denen die Untersuchung ergab, daß
es sich nur um wenig vergrößerte Adnexe
handelt, die auffallend hart und mit der
Umgebung fest verwachsen waren. Hier
half die Diathermie gar nichts, weder eine
Verringerung der Schmerzen, noch eine
Beweglichkeit der Geschwülste konnte
beobachtet werden. Es mußte zur Ope¬
ration geschritten werden, wobei recht
gute Resultate erzielt wurden.
Pul Vermacher (Charlottenburg).
(M. m. W. 1921, Nr. 36.)
Irrtümer bei der Erkennung
und Behandlung der Arsenikvergif¬
tung spielten, wie Heffter neuerdings
ausführt, in der praktischen wie in der
forensischen Medizin schon oft eine un¬
heilvolle Rolle; vor allem deshalb, weil
das vielfältige Krankheitsbild mit natür¬
lichen Krankheiten und andern Vergif¬
tungen mannigfache Züge gemeinsam hat.
— Die akute Vergiftung kann in drei
Formen auftreten. 1. Die paralytische
oder cerebrospinale Form, unter
komatösen Zuständen und Krämpfen
meist innerhalb zehn Stunden zum Tode
führend. Sie kann leicht mit Alkohol-,
Chloralhydrat- und Blausäurevergiftung
•
verwechselt werden. Sie ist selten. Nur
die chemische Untersuchung von Harn
und Stuhl oder der Organe kann sichere
Aufklärung schaffen. 2. Die gastro¬
intestinale Form; sie erinnert an das
Bild der asiatischen Cholera. Kenn¬
zeichnend ist für sie aber das Gefühl einer
brennenden Rauhigkeit im Halse, die
heftigen Leibschmerzen, das starke Er¬
brechen vor den Durchfällen. Die choleri-
formen Fleisch- und Fischvergiftungen
kommen noch differentialdiagnostisch
in Betracht, ebenso Antimon-, Kupfer-
und Bleivergiftungen. Kupfer und Blei
machen aber fast nie wäßrige, sondern
mehr blutige Stühle, sie färben das
Erbrochene grünlich-blau beziehungsweise
weißlich-grau und können Wegen ihres
metallischen Geschmacks kaum unwissent¬
lich genommen sein. Gleiches gilt vom
Sublimat, das sich noch durch weiße
oder rosa Ätzschorfe kenntlich macht.
3. Die subakute Form. Für sie ist
das im Beginn auftretende anhaltende
Erbrechen ein wichtiges Zeichen. Die
subchronische Vergiftung, Wie sie
von öfters dargereichten Mengen zwischen'
20 und 100 mg bewirkt wird, ist die
Form, wie sie von Giftmischern an¬
gewendet wurde, welche ihre Opfer unter
unverdächtigen Krankheitserscheinungen
töten wollten. Magendarmstörungen,
häufiges Erbrechen, zuweilen Durchfälle
beherrschen das Bild. Meist wird dann
starker Magendarmkatarrh, bei Tempe-
laturerhöhung ,,gastrisches Fieber“ dia¬
gnostiziert werden. Gesellt sich aber
diesen Störungen ein Exanthem, eine
Conjunctivitis, eine Parese der Beine
hinzu, so sollte die^ den Verdacht auf
Arsenik erregen, der durch chemische
Analyse leicht bestätigt oder widerlegt
werden kann. — Die chronische Ver¬
giftung, meist als Folge zu lange fort¬
gesetzter Arsenbehandlungen, seltner
durch gewerbliche Schädigungen verur¬
sacht, kann mannigfaltige Krankheits¬
bilder erzeugen. An den Schleim¬
häuten kommt es zu lebhaften Reizungs¬
erscheinungen, besonders chronischen Ma¬
gen- und Darmkatarrhen, nicht selten be¬
gleitet von Fieber, Husten, Heiserkeit,
Kopfweh, Conjunctivitis und Stomatitis.
Zuweilen lenkt sich der Verdacht auf
eine Intoxikation durch die Besserung
der Beschwerden bei Aufenthaltswechsel,
durch ihre Versdilechterung bei Rück¬
kehr in die gewohnte Umgebung. So
wurden in einigen Fällen die Tapeten der
Wohnräume, in einem Falle Zeichenkreide
56
442
Die Therapie der Gegenwart 1921
November
als Ursache eruiert. — Die Haut Ver¬
änderungen von exanthemartigem Cha¬
rakter sind vreniger kennzeichnend als
die Keratose der Handflächen und Fu߬
sohlen und die Melanose, die auch an
bedeckten Hautstellen auftreten kann
und nicht selten mit Morbus Addisonii
verwechselt worden ist. — Schließlich
wirdnoch die Arsenik-Neuritis erwähnt,
eine symmetrische, meist die unteren
Extremitäten betreffende, mit heftigen
Schmerzen einsetzende Lähmung, be¬
gleitet von rascher Atrophie der be¬
fallenen Muskeln. Hier muß die Ana¬
mnese, besonders die Angabe gastro-intesti-
naler Störungen, außerdem auch noch
etwaige Hautveränderungen den Weg zur
Diagnose leiten.
Mit der Entfernung der Ursache ist
die Hauptaufgabe der Therapie erfüllt.
Die Polyneuritis freilich stellt große An¬
sprüche an die Geduld von Arzt und
Patient. Man sei wegen des langen Ver-
laufs mit Morphium sparsam.
E. Joel (Berlin).
(D. m. W. 1921, Nr. 30).
Die Bluttransfusion hat sich F. Herzog
bei einem schweren Falle von Hämophilie
bewährt. Der betreffende 20jährige Pa¬
tient, der aus einer Bluterfamilie stammte,
war nach Ohroperation durch andauernde
Blutungen aufs äußerste erschöpft. Vor
der Operation hatte er Gelatine erhalten
und außerdem war nach Stephan eine
Milzbestrahlung vorgenommen worden —
ohne Erfolg. Erst nach einer körper¬
warmen Transfusion von 200 ccm Blut
(mit 4% Natr. citric.-Lösung gemischt),
das die Schwester des Patienten spendete,
trat ein deutlicher Umschwung ein.
(M. m. W. 1921, Nr. 4L) 'Dünner.
Auf Grund von Untersuchungen am
Material der Brandenburgischen Heb¬
ammenlehranstalt über die Frage, ob ein
Ursächlicherzusammenhang zwischen Con¬
junctivitis neonatorum und Mastitis puer-
perarum vorliegt, kommt Lang zu dem
Schlüsse, daß ein gegen früher gehäuftes
Auftreten der Mastitis bei Wöchnerinnen
nicht nachweisbar ist, wenn auch fest¬
gestellt werden kann, daß die Conjunc¬
tivitiden der Neugeborenen in erheblicher
Zahl zunehmen. In ganz seltenen Fällen
kommt es wohl zu einer gonorrhoischen
Infektion der Brust durch den Augen¬
katarrh des Säuglings; deswegen ist man
noch nicht berechtigt von der Augen¬
eiterung der Neugeborenen als der wich¬
tigsten Ursache der puerperalen Mastitis
zu sprechen, wie dies Feilchenfeld ge¬
tan hat, dessen Maßnahmen zum Schutze
der Brust aus. diesem Grunde auch nicht
erforderlich sind.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(Zbl. f. Gyn. 1921, Heft 21.)
Zur Lehre vom Diabetes insipidus,
dessen Pathogenese noch immer un¬
geklärt ist, gibt Erich Meyer zusammen
mit Meyer-Birch einen recht auf¬
schlußreichen Beitrag. Ein junges Mäd¬
chen, das an einer trotz Aufhörens jeder
Flüssigkeitszufuhr zwangsläufigen Poly¬
urie leidet, wobei die Kochsalzkonzen¬
tration im Harn stets weit unter dem
Blutkochsalzspiegel bleibt, wird einer
Pituglandol-Dauerbehandlung unterwor¬
fen,^ und zwar mit folgender Wirkung:
Der Kochsalzspiegel des Blutes sinkt, die
Kochsalzkonzentration des Urins über¬
steigt die des Blutes ums Doppelte, die
zwangsläufige Polyurie verschwindet. Daß
es sich dabei nicht nur um eine renale
Wirkung handelt, sondern daß die wasser¬
bindende Kraft der Gewebe gleichzeitig
erhöht wird, machten die Autoren durch
das Tferexperiment wahrscheinlich. Wenn
sie nämlich die Lymphe des Ductus
thoracicus unterm Einfluß von Pitu-
glandolinjektionen untersuchten, so be¬
kamen sie stets eine eiweiß- und koch¬
salzreichere Lymphe bei gleichzeitiger
Eindickung auch des Blutes. Wenn die
Berechnung der Autoren den tatsäch¬
lichen Verhältnissen annähernd nahe¬
kommen sollte, so würde es bedeuten, daß
während eines mit der Kranken vor¬
genommenen Durstversuches nicht nur
aus dem Blut in den Harn, sondern auch
aus den Geweben ins Blut eine hypoto¬
nische Kochsalzlösung herübergeströmt
ist. Demnach wäre eine gleichartige
Störung für den Austausch zwischen Ge¬
webe und Blut wie auch zwischen Blut
und Niere anzunehmen. E. Joel (Berlin).
Arch. f. klin. Med. Bd. 137, H. 3 ti. 4.)
Kauffmann berichtet über ein neues
Verfahren, das ohne große Apparatur, nur
durch Beobachtung der Diurese, dem prak¬
tischen Arzt gestattet, Kranke mit be¬
ginnender Stauung im Kreislauf richtig zu
bewerten bzw. sie überhaupt zu erkennen.
Das Prinzip seiner Methode beruht darauf,
daß ein gesunder Mensch die eingenom¬
mene Menge Flüssigkeit ohne Rücksicht
auf die Körperhaltung ausscheidet^ und
daß Menschen mit Neigung zu Ödem
größere Urinmengen produzieren, wenn
bei ihnen die Circulation des Blutes und
November
Die Therapie der Gegenwart 1921
443
damit der Austausch des Blutes mit den
•Geweben durch Hochlagerung der Beine
erleichtert wird. Es ist ohne weiteres ein¬
leuchtend, daß bei sehr starken Ödemen
dieses Unterstützungsmittel nicht helfen
kann, so daß die Urinmengen durch Hoch¬
lagerung nicht gesteigert werden. Die Be¬
deutung des ganzen Verfahrens liegt da<Fin,
daß es die initiale Stauung aufdeckt und
eine Funktionsprüfung des Kreislaufs dar¬
stellt. K. geht folgendermaßen vor: Die
Patienten erhalten bei Bettruhe und
horizontaler Lage von morgens 7 Uhr an
stündlich 150 ccm Flüssigkeit per os zu¬
geführt und werden aufgefordert, stündlich
Urin zu lassen. Bis 11 Uhr wird eine vier¬
stündige Vorperiode gewonnen, dann wird
das hintere Bettende durch Unterschieben
stets gleicher Klötze hochgestellt. In
dieser Quinckeschen Lagerung müssen
die Patienten bis 1 Uhr verharren und
wiederum stündlich Wasser lassen. K.
bestimmt dann in jeder Urinportion die
Gesamtflüssigkeit, ebenso das specifische
Gewicht und das Kochsalz. Auf die
Kochsalzbestimmung wird der Praktiker
freilich verzichten müssen. Wie die in
der Arbeit aufgeführten Tabellen lehren.
Wird auch schon allein die Kenntnis der
Harnmenge upd des specifischen Ge¬
wichts genügenden Aufschluß geben. Bei
gesunden Individuen wird im großen und
ganzen die pro Stunde gelieferte Harn¬
menge in der Vorperiode, also bis 11 Uhr,
die gleiche sein, wie im Hauptversuch bei
hochgelagerten Beinen. Dahingegen wird
bei Personen mit mäßig gestörter Circu-
lation in der Hauptperiode, also nach
11 Uhr, die Urinmenge das Vielfache der
Vorperiode übersteigen. K. führt eine
Reihe von Beispielen zum Beweise an.
Die Methode hat sich ihm nicht nur bei
Herzkranken, sondern auch bei Nieren¬
leiden als brauchbar erwiesen. Inter¬
essant ist, daß die Probe auch bei ein¬
zelnen Fällen von Krampfadern positiv
ausfällt. - -Dünner.
(B. kl. W. 1921, Nr. 42 u. D. Arch. f. kl. M.,
Bd. 137, H. 1 u 2.)
Junkel empfiehlt die Behandlung
alter Empyemfisteln mit saurer Pepsin¬
lösung. Bei einem 18jährigen Patienten
war nach einer Empyemoperation eine
Fistel zurückgeblieben, die nicht zur Aus¬
heilung kommen wollte, trotz Ausspülung
mit den verschiedensten Flüssigkeiten,
wie Dakinsche Lösung, Vuzin, Jodoform¬
glycerin und anderen. Nach ISmonatigem
Bestehen der Fistel füllte Verfasser die
große Empyemhöhle mit saurer l%iger
Pepsinlösung (Pepsin 1^,0, Acid. boric. 3,0
auf 100 Aqua), angeregt durch die Erfolge
der Dermatologen bei Beseitigung aus¬
gedehnter Hautnarben nach Verbrennun¬
gen, mittels dieser Lösung. Anfangs wurden
alle zwei Tage 30 bis 50 ccm in die Fistel“
hineingespritzt. Unterstützt wurde diese
Behandlung durch systematische Atem¬
übungen. Nach etwa viermonatiger Dauer
war die Empyemhöhle durch Erweichung
und Verdauung der die Ausdehnung der
Lunge hindernden Pleuraschwarten zur
Verödung gebracht; die Lunge dehnte
sich völlig wieder aus. Verfasser empfiehlt
diese Behandlung besonders in den Fällen,
in denen wegen des Allgemeinzustandes
die plastischen Operationen nicht aus¬
geführt werden können.
(M. m. W. 1921, Nr. 36.) Kamnitzer.
Die Behandlung der Gelenkerkran-
kungenmit Schwefel verdient nach E. L,
Mo ln är-Budapest Verwendung. Man be¬
nutzt ein Schwefelöl, das in 100 g Oleum
olivarum 1 g Sulfur depuratüm enthält.
Von dieser Emulsion wird in Zwischen¬
räumen von 5—7 Tagen steigend von
3—10 ccm in den Glutaeus injiziert. Diese
Therapie ist namentlich bei Polyarthritis
chronica deformans und bei der langsam
heilenden subakuten Polyarthritis rheu-
matica indiziert. Allerdings können sehr
unangenehme Nebenerscheinungen sich
einstellen. M. spricht von Erbrechen, das
oft kaum zu stillen sei, so daß die Kranken
während der Kur 1—2 kg abnehmen. Man
kann die Einspritzungen daher bei herab¬
gekommenen, entkräfteten Menschen nicht
machen. Außerdem bestehen an der In¬
jektionsgegend oft sehr heftige Schmer¬
zen. Daneben stellt sich noch Fieber ein,
das in der Regel von Erösteln qnd Schüt¬
telfrost begleitet wird und das nach art-
f änglichemWeichen wieder auftreten kann.
Als ein für den Erfolg günstiges Symptom
sind die Schmerzen in den befallenen Ge¬
lenken aufzufassen. Diese Reaktions¬
erscheinungen werden manchmal erst nach
der dritten Einspritzung beobachtet.
Wenn man Patienten mit chronischer
Arthritis vergeblich mit den bekannten
Methoden behandelt hat, so wird man sich
trotz der geschilderten Nebenwirkungen
zu einer Schwefelkur entschließen; denn
die Berichte von M. über Kranke, die
zum Teil schon jahrelang an ihren Ge¬
lenkaffektionen litten, sprechen für die
Wirksamkeit des Verfahrens. Dünner.
(B. kl. W. 1921, Nr. 43.)
56*
444
Die Therapie der Gegenwart 1921
November
Zur Provokation der Gonorrhöe bei
Frauen empfehlen Blaschko und Groß
die fünffach verdünnte Lugolsche Lö¬
sung, welche etwa 1 % bis 1 Minute in der
Harnröhre gelassen wird, wobei sie sich
auf die guten Resultate stützen, welche
•sie bei der männlichen Gonorrhöe er¬
zielt haben. Es ist ja bekannt, daß die
Frauen anfangs weniger auf die Gonor¬
rhöe reagieren, als die Männer, da einer¬
seits die klinischen Erscheinungen ge¬
ringfügiger sind und hiermit eine lang¬
dauernde Latenz verknüpft sein kann,
andererseits sich die Gonokokken an den
verschiedensten Stellen einlagern können.
Nach der allgemeinen Verordnung soll
eine Frau*, welche wegen Gonorrhöe in
Behandlung kommt, nach zwei aufein¬
anderfolgenden Menstruationen auf das
Vorhandensein von Gonokokken unter¬
sucht werden. Dies läßt sich aber oft
in der Praxis nicht durchführen, da eine
schnelle Entscheidung verlangt wird.
Hierfür ist nun das jetzt beschriebene
Verfahren äußerst praktisch; nur soll
man nicht zu früh provozieren, da sonst
ein schweres Rezidiv auftreten kann.
Als Regel muß man festhalten, daß etwa
drei Wochen, nachdem die letzten Gono¬
kokken in der Urethra, im Bartholini-
schen Drüsenausgang, in der Cervix ge¬
funden worden sind, verstrichen sind.
Während man, wie gesagt, in die Urethra
die fünffach verdünnte Lösung einspritzen
darf, ist dies bei der Cervix verboten,
welche vielmehr mit einem in die Lösung
eingetauchten Wattebausch ausgewischt
Wird, wonach sich auch eine reichliche
Sekretion einstellt, in der eventuell Gono¬
kokken gefunden werden. Zur Unter¬
stützung können noch die anderen Pro¬
vokationsmethoden angewandt werden,
wie Gonargon und Arthigon, in letzter
Zeit auch Terpentin, doch kommt man
in den meisten Fällen auch ohne diese
aus. Was nun die Technik der Sekret¬
abnahme anbetrifft, so ist es am, besten
sich des stumpfen Aschschen Löffels zu
bedienen, während man vor der An¬
wendung der Platinöse absehen muß, mit
der man Verletzungen herbeiführen kann.
Pul Vermacher (Charlottenburg).
(D. m. W. 1921, Nr. 40.)
Mit einem neuen Hypophysen präpa-
rat Physormon, das nach einem Alko¬
hol - Chloroformextraktionsverfahren aus
dem Hinterlappen und dem intermediären
Teil der Hypophyse von frisch geschlach¬
tetem Rindvieh gewonnen wird, hat Hell¬
muth an 45 Fällen der Hamburger Uni¬
versitäts-Frauenklinik Versuche ange¬
stellt, wobei er SOmal einen prompten
Erfolg hatte. Wenn auch den Forderun¬
gen Guggisbergs, die Leistungsfähig¬
keit eines Wehenmittels nach den Ergeb¬
nissen der tierexperimentellen Unter¬
suchung zu beurteilen, aus finanziellen
Gründen nicht genügt werden kann, so
ist es doch möglich, die Wirkung eines
Wehenmittels festzustellen, wenn eine
exakte klinische Beobachtung durchge¬
führt wird. Unbedingt ist an dem Grund¬
sätze festzuhalten, daß Hypophysenprä¬
parate erst in der Austreibungsperiode
oder doch wenigstens kurz vor der Be¬
endigung der Eröffnungspe.iode gegeben
werden dürfen. Von der intramuskulären
zur intravenösen Injektion soll dann über¬
gegangen werden, wenn eine gefahr¬
drohende Verschlechterung der kindlichen
Herztöne am Ende der Austreibungs¬
periode festgestellt wird. Recht gute Re¬
sultate wurden auch erzielt bei Aborten,
wenn der Uterus sensibilisiert war, ferner
bei verhaltenem Lochialfluß, Urinbe¬
schwerden im Wochenbette, schließlich
bei Darmlähmungen nach Operationen.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(Zbl.f. Gyn. 1921, Nr. 37.)
Über Veränderungen des weißen Blut¬
bildes nach intravenösen Infusionen hat
Nürnberger eine Reihe von Versuchen
angestellt. Unmittelbar nach intravenöser
Lävuloseinfusion fand er ejnen deutlichen
Abfall des Gesamtleukocytenwertes. Nach
einer Stunde war die Leukozytenzahl noch
mehr gesunken, um in den folgenden
Stunden einen steilen, über den vor_der
Infusion konstatierten Wert hinausgehen¬
den Anstieg zu zeigen. Die Neutrophilen,
die unmittelbar nach der Infusion einen
deutlichen Abfall aufwiesen, hatten nach
einer Stund(^ ihren tiefsten Wert erreicht.
Dann trat ein exzessiver, 90% über¬
steigender Anstieg auf. Genau das ent¬
gegengesetzte Verhalten zeigten die Lym-
phocyten. Der nach der Infusion ein¬
setzende Leukocytensturz läßt sich zwang¬
los auf die Verdünnung des Blutes durch
die infundierte Flüssigkeit zurückführen.
Ungleich schwieriger ist die neutrophile
Leukocytose mit Lymphopenie zu er¬
klären. Den Untersuchungen Nürn-
bergers nach läßt sich dafür weder
eine Erhöhung des Blutzuckerspiegels
noch das Bestehen einer Hydrämie ver¬
antwortlich machen. Nach intravenöser
Traubenzuckerinfusion zeigt das leuko-
445
INovember
Die Therapie der Gegenwart 1921
cytäre Blutbild im großen ganzen die
gleichen Veränderungen wie nach einer
Lävuloseinfusion, nur daß die Lympho-
penie nicht so hochgradig wird und in
kürzerer Zeit abläuft. Auch mit intra¬
venöser Infusion von physiologischer Koch¬
salzlösung tritt eine Alteration des weißen
Blutbildes auf, die — abgesehen von
■einigen Abweichungen —der nach Zucker¬
infusionen ziemlich identisch ist. Eine
Überschwemmung des Körpers mit Wasser
— es wurde in einem Selbstversuch mor¬
gens nüchtern innerhalb zehn Minuten
ein Liter ganz dünnen, warmen Tees ge¬
trunken — zeigte wohl eine Verdünnungs¬
leukopenie, aber keine sekundäre Leuko-
•cytose. Verfasser zieht daraus den Schluß,
daß diese Leukocytose ihre Ursache in den
gelösten Stoffen (Traubenzucker, Lävu-
lose, Chloinatrium) hat. Kamnitzer.
(D. Arch. f. kl. M. 1921, Bd. 136.)
Über lonengleichgewicht und
Giffwirkung im Organismus haben neuere
physikalisch-chemische Untersuchungen,
wie Zondek berichtet, eine Reihe von
bemerkenswerten Tatsachen gelehrt. Man
hat gesehen, daß, wenn den anorganischen
Bestandteilen des Organismus auch keine
Bedeutung als Energiequellen zukomme,
sie doch als Regulatoren des Milieus, in
welchem sich alle biologischen Vorgänge
abspielen, großen Einfluß haben. So
brauchte, um ein bekanntes Beispiel zu
wählen, das isolierte Froschherz nicht nur
NaCl-Lösung, sondern die Ringerlösung
zeichnet sich ja gerade dadurch aus, daß
sie auch K- und Ca-Salze enthält. Diese
aber müssen in einem ganz bestimmten,
für die Herzarbeit optimalen Mengen¬
verhältnis stehen; geringe Störungen die¬
ses Gleichgewichts führte zu Dys¬
funktion, wirken also wie ein Gift. Und
gleiches gilt. Wie Zondek feststellte, auch
für andere Organe, für Uterus z. B. und
Darm. — Will man Giftwirkungen stu¬
dieren, so geht man im allgemeinen von
dem im Normalzustand befindlichen Or¬
gan aus. Ändert man aber das Gleich¬
gewicht der Ionen, z. B. der antagonisti¬
schen K- und Ca-Ionen, so kann sich wie
bei Chloralhydrat und bei Muskarin am
Herzen eine völlige Umkehrung der be¬
kannten Giftwirkung einstellen. Hierher
gehören auch die Versuche von Kon-
schey und 0. Loewi, die gezeigt haben,
daß das Calcium das Herz überhaupt erst
für Digitalis sensibiliere. Wenn zwischen
so verschieden gebauten chemischen Kör¬
pern, Metallen, Nichtmetallen, Alkaloiden
und Glykosiden, so nahe biologische Be¬
ziehungen bestehen,^ so wird man weniger
an rein chemische als vielmehr an physi¬
kalisch-chemische Wirkungen, besonders
elektrischer Art, denken müssen. * Eine
Pharmakologie, die zum Verständnis der
Giftwirkungen mehr als bisher physi¬
kalisch-chemische Gesichtspunkte heran¬
zieht, wird auch auf therapeutische Grund¬
sätze Einfluß gewinnen, j. joei (Berlin).
(D. m. W. 1921, Nr. 30).
Unter Narkolepsie versteht man das
Auftreten von Schlafanfällen bei ganz
gesunden Menschen, die erwachen oder
erweckt werden, und sofort die unter¬
brochene Tätigkeit wieder aufnehmen
können. Ein Zusammenhang mit einer-
Epilepsie oder Hysterie liegt nicht vor.
Daß solche Anfälle auch in der Schwan¬
gerschaft Vorkommen, beweist Never-
mann an einem Falle aus der Hamburger
Universitäts-Frauenklinik, bei dem fol¬
gende Beobachtungen gemacht wurden:
In der Mitte der Schwangerschaft Auf¬
treten von Schlafanfällen, welche trotz
ihrer Häufigkeit keine Störung der Nacht¬
ruhe bedingten; bis etwa zur 32. Woche
trat eine Steigerung ein, um dann lang¬
sam abzuklingen, so daß zur Zeit der
Entbindung die Frau anfallsfrei war.
Von verschiedenen Autoren sind nun
Erklärungsversuche unternommen wor¬
den, wie neurasthenische Basis, psycho¬
pathische Konstitution, Neurose auf dege-
nerativer Basis, Sympathicuserschlaffung,
Störung der endocinen Drüsenfunktion,
besonders der Hypophyse. Letzter Hypo¬
these glaubt Nevermann sich mit einem
gewissen Rechte anschließen zu dürfen,
Wobei er sich von folgenden Überlegungen
leiten läßt: durch die Schwangerschaft
wird das Gleichgewicht, welches zwischen
den einzelnen Organen besteht, gestört,
da die Anforderungen gesteigert sind.
Kommt es nun im Laufe der - folgenden
Monate zu einem Ausgleich, so ver¬
schwinden alle krankhaften Erscheinun¬
gen, wie auch in diesem Falle die Schlaf¬
sucht. Es muß zugegeben werden, daß
man noch nicht weiß, welche endokrinen
Drüsen am meisten alteriert sind, doch
soviel steht fest, daß von einer Neurose
sowie von veränderten Strömungsver¬
hältnissen in den Capillaren keine Rede
sein kann. Pulvermacher (Charlottenburg).
(D. m. W. 1921, Nr. 39.)
Trivalin ist bekanntlich reines Mor¬
phium mit einem spurenweisen Zusatz
446
Die" Therapie der Gegenwart 1921
November
von Coffein und Cocain; es ist daher
wohl verständlich, daß es auch schon zu
Trivalin-Mißbraucli gekommen ist, wo¬
zu Reichmann einen sehr lehrreichen
Fall berichtet. Ein 50jähriger Patient
hatte wegen rheumatischer Beschwerden
Trivalin erhalten, und zwar mit gutem
therapeutischen Erfolg. Später, durch
häusliche Verhältnisse überreizt, brauchte
er den Rest auf, stieg allmählich bis zu
15 ccm täglich und beschaffte sich das
Präparat mühelos ohne Rezept von den
Apotheken immer wieder aufs neue. Zu¬
nehmende körperliche und seelische Er¬
schlaffung, nur noch durch Trivalin-
injektionen vorübergehend gebessert, Ar¬
beitsunlust und starke Gewichtsabnahme
veranlaßten ihn zur Entziehungskur, die
nach Überwindung erheblicher Ausfallsr
erscheinungen auch glückte. Wir refe¬
rieren diesen Fall, um auch an dieser
Stelle darauf hinzuweisen, daß zwischen
Trivalin und Morphium ein reeller Unter¬
schied nicht besteht; selbstverständlich
sind die Gefahren beider Mittel dieselben
und es bedeutet eine kaum verständliche
Spekulation auf die Unwissenheit des
Publikums, wenn Trivalin zu Morphium¬
entziehungskuren empfohlen wird. Im
übrigen soll nicht unterschätzt werden,
daß es gelegentlich praktisch nützlich
sein kann, Morphium unter fremder Be¬
zeichnung zu verschreiben.
E. Joel (Berlin).
(D. m. W. 1921, Nr. 30.)
Kretschmer berichtet über zwei
Fälle, in denen das Friedmannsche
Tuberkulosemittel als Schutzmittel völlig
versagt hat. In dem einen Falle handelt es
sich um einen Knaben, der wegen Bron¬
chialdrüsentuberkulose nach Friedmann
behandelt Worden war und bei dem, ohne
daß in der Zwischenzeit irgendwelche*
Zeichen objektiver oder subjektiver Besse-
rpng sich gezeigt hatten, nach zweieinhalb-
Monaten eine Nebenhodentuberkulose auf¬
trat. Bei einem zweiten Knaben, der,,
stark tuberkulös belastet, keine klinischen
Krankheitszeichen bot, bei dem aber der
positive Pirquet und die Röntgenplatte
das Bestehen einer zur Zeit inaktiven.
Bronchialdrüsentuberkulose bewiesen,
wurde eine Friedmannsche Einspritzung:
gemacht. Nach sieben Monaten trat eine
tuberkulöse Rippencaries auf, nachdem in
der Zwischenzeit das Impfdepot sich stark
entzündet hatte und abscediert war. In
beiden Fällen War es weder zu inter¬
kurrenten Krankheiten noch zu Traumen
gekommen, die für eine Störung der
Immunkörperbildung hätten verantwort¬
lich gemacht werden können. Ebenso¬
wenig kam eine falsche Dosierung in-
Frage. Ähnliche Fälle, bei denen nach
einer Friedmannschen Einspritzung an
anderen Organen tuberkulöse Herde auf¬
traten, sind bereits von Bacmeister,,
Specht und Un verricht mitgeteilt Wor¬
den. Kamnitzer.
(D. m. W. 1921, Nr. 31.)
Therapeutischer Meinungsaustausch ^).
Caseosan bei akutem Dickdarmkatarrh.
(Beobachtung am eigenen Körper.)
Von Dr. Gröpler, Arzt in Dessau.
Das Milcheiweißpräparat „Caseosan"
hatte ich bisher nur bei chron. rheumati¬
schen Leiden und zur Hebung des All¬
gemeinbefindens mit sehr gutem Erfolge
angewandt. Eine Erkrankung an Dickdarm¬
katarrh im Juli 1921 gab mir Gelegenheit,
die Wirkung des Caseosans bei dem noch
1) Anmerkung des Herausgebers. Die
„Therapie der Gegenwart“ steht jedem Kollegen
zur Mitteilung therapeutischer Kasuistik offen.
Aber jeder Autor deckt sein Gut mit seiner per¬
sönlichen Flagge. Die Redaktion steht weder für
die Theorien noch für die praktischen Ergebnisse
ihrer Mitarbeiter ein. Sie rechnet auf nach¬
denkende Leser, die sich immer wieder fragen,
ob post hoc auch propter hoc bedeutet, und die
sich stets den wechselvollen Verlauf auch unbe¬
einflußter Krankheiten vor Augen halten.
akuten Prozeß am eigenen Körper zu be¬
obachten.
Die Krankheit begann mit dünnschleimigerr
Entleerungen verbunden mit heftiger Darmkolik..
Die Betastung des Leibes, namentlich in der Gegend
des Querkolons, war äußerst empfindlich. Starke
Kreuzschmerzen. Die Temperatur stieg im Laufe
des nächsten Tags bis 38,1®. Die üblichen Ma߬
regeln, zuerst Abführung, dann Opium, schließlich
Adstringentien, Diät, blieben völlig wirkungslos.
Die Temperatur erhöhte sich am folgenden Tag
nur noch bis 37,6®, am vierten Tag in der Frühe
betrug sie nur noch 37,3®. Dabei nahmen jedoch
die Krankeitssymptome dauernd zu und das All¬
gemeinbefinden wurde immer schlechter. Der Dick¬
darmkatarrh schien bereits in ein subacutes und
vielleicht schließlich in ein chronisches Stadium
übergehen zu wollen, wie es mir selbst schon zwei¬
mal, einmal vor 3, einmal vor 7 Jahren, passiert
war, wodurch ich wochenlang arbeitsunfähig wurde.
November
Dk Therapie der Gegenwart 1921
447
Schnelle Hilfe also tat not, und diese er¬
wartete ich nur noch von der parenteralen An¬
wendung' artfremden Eiweißes: Schnelle Herbei-
‘führung eines künstlichen Heilfiebers und einer
Heilentzündung im Sinne Biers.
Am 4. Tag %8 Uhr vormittags. Injektion von
1 g Caseosan subcutan in den linken Oberschenkel.
Die Temperatur, die bis ^ 2 ^ mittags weiter
bis auf 37,2 0 gefallen war, stieg von da ab als
dem Beginn der Reaktion auf die Caseosaninjektion
plötzlich wieder an und erreichte bis ^/2 3 Uhr
nachmittags ihren höchsten Stand von 38,8°.
Das Allgemeinbefinden war sehr stark beein¬
trächtigt, die Darmschmerzen sehr heftig. Mit
dem allmählichen Sinken der Temperatur inner¬
halb von 3 Stunden schwanden handinhandgehend
■die Krankheitssymptome. Bei 37,5 ^ angekommen,
begann plötzlich die Temperatur 2 Stunden lang
bis 38,2® wieder anzusteigen wiederum unter Zu¬
nahme der Allgemeinbeschwerden, aber unter
weiterer Besserung der Krankheit.
Dieses nochmalige Ansteigen der Temperatur
■führe ich auf die erst später erfolgte Mitbeteiligung
der oberen Hautschichten an der Reaktion, sicht¬
bar an der jetzt erst auftretenden ausgebreiteten
entzündlichen Rötung, zurück.
Als Anhänger der Cutanimpfung mit
konzentriertem Alttuberkulin nach Dr.
Ponndorf (Weimar), die ich seit Jahren
an Tausenden von Patienten zum Teil
•mit ans Wunderbare grenzenden Erfolgen
angewandt habe, glaube ich, daß speziell
die Haut als das große Schutz- und
Immunisierungsorgan, in Entzündungs¬
zustand versetzt, reichliche Abwehrstoffe
zu bilden vermag. Ob man auch mit
Ponndorf scher Cutanimpfung bei akutem
Dickdarmkatarrh einen gleichen Erfolg
wie mit Caseosaninjektion erzielt hätte,
lasse ich dahingestellt. Ich selbst habe
die Ponndorf sehe Methode bei derartig
akuten Erkrankungen bisher noch nicht
versucht, jedenfalls werde ich die sub-
cutanen Eiweißinjektionen stets den intra¬
venösen oder intramuskulären vorziehen,
um eben zugleich die Haut zu aktiver
Beteiligung an der Bildung von Schutz¬
stoffen ,zu Veranlassen. Die entzündliche
Rötung der Haut war auch noch den
ganzen ö.iTag sowohl fühl- wie sichtbar,
fortgesetzte Bildung von Abwehrstoffen
also anzunehmen.
Die Temperatur sank am Injektionstag
bis abends 10 Uhr wieder bis auf 37,5^;
die Nacht war bis auf dreimaliges kurzes
Erwachen gut^ am andern Morgen war
die Temperatur unter 37®, und so blieb
es auf die Dauer.Abgesehen von großer
Mattigkeit bestand Wohlbefinden, der
Stuhlgang war wieder normal, Diät wurde
wie schon am Tage zuvor, dem Tage der
Caseosaninjektion, nicht mehr eingehalten.
Der Zufall wollte es, daß ich in meinen
Krankheitstagen die jüngst- erschienene
Broschüre von Hugo Schulz, Greifs¬
wald, „Similia similibus curantur“ zu
lesen bekam, wodurch das Interesse an
der eigenen Erkrankung und Genesung
noch bedeutend gesteigert wurde. Kommen
in der Studie von Schulz doch Gedanken
zum Ausdruck, die mich in gleicher Weise
schon stets bei Anwendung moderner Heil¬
verfahren, wie z. B. der parenteralen
Proteinkörpertherapie, bewegten.
Körperliche Schmerzen, ihre Bedeutung und Behandlung.
(Aus einem populären Vortrage.)
Von Dr. Martin Sußmann, Berlin.
Stellen Sie sich einen Menschen vor, der
ein umfangreiches Hausgrundstück besitzt;
zahlreiche Mieter bewohnen das ausge¬
dehnte Gebäude. Der Besitzer des Grund¬
stücks ist zugleich sein Verwalter; er muß
den Betrieb aufrechterhalten, hat für die
Ordnung im Innern zu sorgen und das
Ganze nach außen zu schützen, ln dem
Büro, das er im Hause selbst hat, ist er
mit all diesen Aufgaben hinreichend be¬
schäftigt; da er aber noch in anderer
Weise, mit Lektüre, privaten Liebhabereien
usw., sich betätigen will, so kann er allein
der Aufgabe des Schutzes und der Ord¬
nung, nach außen und im Innern, nicht
gerecht werden. Er hat sich daher eine
große Zahl von Hunden angeschafft und
sie in alle Stockwerke, in die Gänge, an
die Türen, auf den Hof, auch ins Innere
mancher Wohnräume — kurz überallhin
verteilt, wo sie aufzupassen haben. Die
Hunde sind äußerst wachsam, aber auch
gut dressiert; bei dem regelmäßigen, ohne
Störung ablaufenden Betrieb verhalten sie
sich ruhig; bei jeder Störung aber, bei
jeder Unregelmäßigkeit, selbst der aller¬
geringsten, melden sie dies sofort durch
Lautgeben, durch Knurren und mehr oder
weniger lautes Bellen. Nun läßt sich
leicht denken, daß in dem großen Grund¬
stück täglich allerlei geringfügige Ab¬
weichungen von dem normalen, gewöhn¬
lichen Ablauf des Betriebes Vorkommen
werden, und da die Hunde, wie gesagt,
sehr wachsam sind, werden sie alle diese
kleinen Abweichungen, die noch nicht
einmal den Namen ,,Störung“ verdienen,
registrieren und durch ihr Gebell anzeigen.
So z. B. wenn jemand einmal eine Tür
heftig zuwirft, ein lebhafter junge mit
446 'Die Therapie der Gegenwart 1921 November
starkem Gepolter die Treppen hinunter¬
läuft, zwei Nachbarinnen sich streiten,
außen am Zaun, der das Gehöft umgibt,
ein mutwilliger Knabe mal beim Vorüber¬
gehen mit einem Stock klirrend dagegen¬
streift und dergleichen mehr — stets
melden es die Hunde durch Knurren oder
Bellen an. Natürlich werden sie erst recht
aufmerksam machen, wenn etwas Ernst¬
haftes passiert: wenn eine glühende Kohle
aus dem Ofen gefallen ist und der Fu߬
boden zu schwelen anfängt, oder gar ein
Feuer auszubrechen droht, wenn ein Dieb
sich einschleichen will oder wenn zwei
verfeindete Mieter sich mit scharfen In¬
strumenten zu Leibe gehen usw. Nun
ist es natürlich, daß die Hunde ganz
anders bellen, wenn sie eine der erst¬
genannten Abweichungen melden wollen
oder wenn eine ernsthafte Störung vor¬
liegt: im ersten Falle lassen sie ein mehr
oder weniger heftiges Knurren oder kurzes
Bellen hören, im letzten Fall ein lautes,
vor allem auch anhaltendes Gebell oder
durchdringendes Heulen. Wollte nun der
Besitzer, der in seinem Büro arbeitet, bei
jedem Lautgeben der Hunde, das er hört,
sofort aufspringen und nachsehen, was
geschehen ist, dann würde er nie zur
Ruhe kommen; denn es ist bereits gesagt,
daß bei dem großen Grundstück und der
reichen Zahl von Hunden kaum der Bruch¬
teil einer Minute vergeht, wo nicht der
eine oder der andere Hund etwas zu melden
hat. Ein vernünftiger Besitzer muß aus
eigener Überlegung heraus wissen oder
aus der Erfahrung gelernt haben, ob ein
Gebell eine besondere Bedeutung hat, und
wird bei dem geringen Lautgeben der
Hunde ruhig sitzen bleiben, es schließlich
ganz überhören, indem er gelernt hat, sich
zu sagen: laß die Hunde bellen, es bedeutet
nichts; nur bei stärkerem, anhaltendem
Bellen wird er sofort sich erheben, nach
dem Rechten sehen und die nötigen Ma߬
regeln zur Beseitigung der Störung ergreifen.
So geht es uns Menschen mit unserem
Besitz, unserem Körper: auch wir haben
in unserem Innern eine ungeheure Anzahl
wachsamer Hunde, guter Wächter, die
uns von allen, auch den geringsten Ab¬
weichungen und Störungen Kunde geben —
es sind die sensiblen, d. h. Empfindungs¬
nerven. Da nun im Körper nie Ruhe
herrscht — Herz und Lungen arbeiten
ununterbrochen, das Blut wird im Ader¬
system dauernd umhergeworfen, die Drüsen
geben stetig Stoffe zur Verarbeitung der
eingeführten Nahrung ab, Darm und
Nieren sind in unablässiger Aufnahme-
und Abgabetätigkeit —, so gibt es bei
all diesen zahlreichen Arbeiten und Be¬
wegungen hier und da kleine Abweichun¬
gen, die von den Nerven zum empfin¬
denden Centrum, dem Bewußtsein, geleitet
werden und sich als Unbehagen oder
Schmerzen bemerkbar machen können.
Ein vernünftiger Mensch nun, d. h. ein
solcher, der seine Gefühle, seine Emp¬
findungen mit Hilfe seiner Vernunft
kontrolliert, gibt sich entweder^ über
solche geringfügigen Schmerzen gar nicht
erst Rechenschaft — er empfindet sie
zwar, aber er „überhört“ sie absichtlich—^
oder er wird den Arzt zu Rate ziehen,
der ihn untersuchen und über die Be¬
deutungslosigkeit der Schmerzen aufklären
wird. Es ist dabei noch etwas Wichtiges
zu beachten. Haben — in dem obigen
Beispiel — die Hunde gemerkt, daß der
Besitzer auf geringes Knurren und Bellen
nicht achtet, nicht reagiert, dann werden
sie sich auch dieses allmählich abge-
wöhnen; haben sie im Gegenteil be¬
merkt, daß ein unruhiger Besitzer bei
jedem Gebell hinzukommt, so werden
sie erst recht ihre Wachsamkeit beweisen
wollen und noch öfter bellen als vorher.
Gerade so ist es mit den Empfindungs¬
nerven: wenn man geringfügige Schmer¬
zen oder Abweichungen vom Normalen
nicht beachtet, dann stumpfen die Nerven
allmählich ab, die Empfindung für diese
oder jene Schmerzen geht dem Menschen
überhaupt verloren; es tritt dasjenige ein,
was man Abhärtung nennt, d. h. eben
Gewöhnung an einen Reiz. Achtet
man jedoch auf alle kleinen Schmerzen
und Störungen, dann ist es wie bei allen
Funktionen, die man oft übt: sie werden
durch Übung nur noch stärker und kräf¬
tiger. So wird auch die Funktion der
Nerven, das Empfinden von Schmerzen
und Unbehagen, „gestärkt“, die Nerven
machen sich öfter und immer stärker,
zum Schaden und zur Qual des Menschen,
bemerkbar.
Machen Sie sich diese Erkenntnis
über die Bedeutung der körperlichen
Schmerzen zunutze, und Sie werden ein-
sehen, daß ein nicht geringer Teil der
Lebenskunst des Menschen darin besteht,
sich beizeiten über eins klar zu werden:
zu lernen, wann man sich um das Gebell
der Hunde kümmern muß, und wann man
ruhig sagen darf: Laß die Hunde bclleni
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urb an & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berlin W57.
Die Therapie der Geg^enwart
herausgegeben von
62. Jahrgang Oeh. Med.-Rat Prof. Dr. 0. Klemperer 12. Heft
Neueste Folge. XXIII.Jahrg. BERLIN Dezember 1921
W 62 , Kleiststraße 2
Verlag von UBBAW & SOHWABZBNBBBG in Berlin N 24 und WienI
Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementsprela in Deutschland und
den untervalutigen Landern halbjährlich 18 Mark postirei, im übrigen Ausland 40 Mark und 6 Mark Porto.
Einzelne Hefte 3,50 Mark, bzw. 8 Mark. Man abonniert bei allen größeren Buchhandlungen, sowie direkt
bei den Expeditionen in Berlin oder Wien. Wegen Inserate und Beilagen wende man sich an den Verlag
in Berlin N, Friedrichstr. 105B, für solche aus der Schweiz und Italien an Rudolf Mosse, Zürich
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von „Brugsch-Schittenhelm, Lehrbuch klinischer Diagnostik und Untersuchungsraethodik.“
Die Therapie der Gegenwart
1021 herausgcgeben von Geh, Med.-Raf Prot Dr. G. Klemperer J) 02 ©m'l)©j»
Nachdruck verboten.
Hippokratische Medizin.
Gesprochen bei Beginn des Wintersemesters in der IV. medizinischen Universitätsklinik
von Prof. Georg Klemperer.
Meine Herren! Wie in den ver¬
gangenen Semestern, so möchte ich auch
diesmal zur Einleitung einige Worte über
die Methode sprechen, nach der ich den
Unterricht in der Klinik abzuhalten ge¬
denke. Unsere Methode soll einem Vor¬
bild nachstreben, das seit mehr als zwei
Jahrtausenden der ärztlichen Kunst vor¬
anleuchtet. Es ist der „Vater der Heil¬
kunde“, der große griechische Arzt Hippo-
krates, der 400 Jahre vor dem Beginn
unserer Zeitrechnung den ärztlichen Be¬
ruf so ausübte und lehrte, daß wir seine
Methode noch heute als nachahmenswert
rühmen dürfen. Hippokratischen Geist
möchte ich in der Klinik pflegen und in
Ihnen lebendig machen.
Lassen Sie mich aus den Werken
des Hippokrates darlegen, worin seine
Kunst besteht und worin wir ihm nach¬
eifern wollen.
Vorbildlich ist uns zuerst die Hippo¬
kratische Methode der Krankenunter¬
suchung.
Sie beginnt mit der Anamnese.
Der Arzt soll von dem Kranken %ä
jiQoyeyovömy das Vorangegangene, erfor¬
schen; er soll durch Ausfragen erfahren
{jivd'öfievov EiÖEvai)y ob die Krankheit
angeboren ist, ob sie von der Landes¬
gegend abhängt, von der Lebensweise,
von der Konstitution, von den Jahres¬
zeiten; und wenn die Kranken etwas ver¬
gessen haben {öycöaa ök naqa^EinovoLv ol
dad'EVEovTEg) soll es der Arzt durch
Nachfragen zu ergänzen suchen.
Eine so vollkommene Anamnese von
den Kranken zu gewinnen, sei auch in
der Klinik unser erstes Bemühen. Wer
aber eine brauchbare Anamnese bekom¬
men will, der muß bei der Erzählung des
Kranken das Wesentliche vom Unwesent¬
lichen zu trennen, er muß auch richtige
Fragen zu stellen wissen. Dazu gehört
1) Übersetzungen von Grimm, Altenburg
1781—92, und von Fuchs, München 1895. Die
griechischen Texte zitiere ich nach der allen
Medizinern besonders zu empfehlenden Antho¬
logie von Beck: Hippokrates’ Erkenntnisse,
Jena 1907.
ein gewisser Grad von allgemeinen Kennt¬
nissen über Wesen und Verlauf der
Hauptkrankheiten. Die Klinik, meine
Herren, gibt keinen systematischen Unter¬
richt in der speziellen Pathologie; sie
zeigt Ihnen einzelne Kranke mit einem
individuellen Krankheitsbild, dessen Be¬
sonderheit sich Ihnen einprägen soll. Erst
wenn Sie verschiedene Kranke mit an¬
scheinend gleicher Krankheit gesehen und
beobachtet haben, gewinnen Sie die leben¬
dige Vorstellung des Krankheitstyps. Aber
es ist nützlich und empfehlenswert, daß
Sie die klinischen Vorstellungen durch
begleitendes Studium eines Lehrbuches
der speziellen Pathologie ergänzen, aus
dem Sie die Hauptdaten der Krankheits¬
lehre sich zu eigen machen. Bei der Auf¬
nahme einer Anamnese werden Sie be¬
merken, wieviel sicherer Sie zum Ziel
kommen, wenn Sie dem zu erfragenden
Krankheitsbild nicht mehr ganz fremd
gegenüberstehen.
An die Anamnese schließt sich die
Feststellung des Status praesens, das
heißt die genaue körperliche Unter¬
suchung, welche die unerläßliche Vor¬
aussetzung jeder ärztlichen Einwirkung
ist. Die unbedingte Notwendigkeit der
eingehendsten Untersuchung betont Hip¬
pokrates an vielen Stellen seiner Schrif¬
ten. Der Arzt soll das Gegenwärtige
(Ta naQEÖvTa) erkennen und [iriÖEv
tjvEQOQrjv (nichts übersehen); er soll den
ganzen Körper sowie die einzelnen Teile
besehen, befühlen und beriechen. Farbe,
Ausschläge und Schwellungen der Haut und
der Schleimhäute, Haare und Nägel, Zunge,
Zähne und Mundhöhle, Beschaffenheit
des Pulses, Urin und Auswurf, Erbrechen
und Darmentleerung, etwaiges Fieber und
Frostanfälle, Hunger, Durst und Schmer¬
zen, alles ist sorgfältig festzustellen, in
jede zugängliche Körperhöhle ist zu
tasten, ja das Ohr ist an die Brustwand
anzulegen, ob man vielleicht ein Kochen
oder Reiben hört, und der Oberkörper ist
zu schütteln, um ein etwaiges Plätscher¬
geräusch hervorzurufen.
57
450
Die Therapie der Gegenwart 1921
DezembeV
Diese gründliche Untersuchung ist
noch heute für uns maßgebend; immer
wieder werde ich Gelegenheit nehmen,
auf ihre Wichtigkeit hinzuweisen. Ja
wir folgen direkt den Spuren des Hippo-
krates, wenn wir uns bei der Aufnahme
des Status an die Reihenfolge eines be¬
stimmten Schema halten, das Sie am
besten Ihrem Gedächtnis ein für allemal
einprägen. Freilich ist die Zahl und Art
unserer Untersuchungsmethoden viel
reichhaltiger, als sie den alten Griechen
zur Verfügung stand; wir haben eine voll¬
kommene Perkussion und Auskultation;
wir vermögen die Absonderungen und
Ausscheidungen mit chemischen und mi¬
kroskopischen Methoden zu untersuchen;
wir lenken das Licht in viele Tiefen des
Körpers, die den Alten unerhellt und
verschlossen blieben. In all diesen
Künsten müssen Sie sich in besonderen
Kursen üben; aber sie bringen Ihnen
doch nur den rechten Nutzen, wenn Sie
sie in steter Verbindung mit der grund¬
legenden -^einfachen Methode der klini¬
schen Beobachtung anwenden; je mehr
Sie mit den Sinnen unmittelbar wahr¬
nehmen, desto präziser ist die Frage¬
stellung für die eingehendere Unter¬
suchung. Es wird eine meiner Haupt¬
aufgaben sein, Sie durch steten Hinweis
in der Erfassung einfach zu beobachtender
Symptome zu üben.
Aber Sie sehen wohl ein, meine Herren,
daß für diese Schulung die kurze Zeit der
klinischen Vorstellung nicht ausreicht.
Wenn ich vorher sagte, daß Sie zur Er¬
lernung der Krankheitstypen des Lehr¬
buchstudiums nicht entbehren können,
so füge ich nun hinzu, daß die fort¬
laufende Krankenbeobachtung noch viel
wichtiger ist. Das berühmte Wort des
Paracelsus: „Die Kranken sollen des Arztes
Bücher sein“ entspricht durchaus der
Hippokratischen Methode. Um Kranke
zu studieren, müssen Sie unbedingt die
Krankensäle aufsuchen! Dazu wollen wir
Ihnen behilflich sein. Es war der be¬
sondere Gründungszweck dieser Klinik,
seminaristischen Unterricht zu erteilen;
unser Krankenhaus bietet einem Jeden
von Ihnen Gelegenheit, jetzt oder später
zwei bis drei Monate als Famulus am
Krankendienst teilzunehmen. Nur wenn
Sie diese Zeit mit wachen Sinnen fleißig
ausnutzen, wird der klinische Unter¬
richt für Sie Wahrhaft fruchtbringend
sein.
ln der Unterrichtsstunde werde ich
den Praktikanten anleiten, aus den beob¬
achteten Hauptsymptomen die Diagnose
abzuleiten. Oft wird das leicht sein. Oft
aber wird die Deutung der Zeichen
Schwierigkeiten machen, und es wird
meine Aufgabe sein, das geistige Band vor
Ihren Augen erstehen zu lassen, das die
Symptome verbindet und erklärt. Wir
werden „pathologische Physiologie“ am
Krankenbett treiben. Aber auch damit
treten wir nicht aus dem Rahmen des
Hippokratismus; in den Schriften des
griechischen Meisters treffen wir stets das
Bestreben, den Grund der krankhaften
Erscheinungen aufzuklären. Selbstver¬
ständlich waren ihm die Grenzen eng
gezogen, und viele seiner Theorien muten
uns sonderbar an; aber es ist doch nur
ein quantitativer Unterschied zwischen
Hippokrates und uns, die wir aus dem
Reichtum der hochentwickelten Natur¬
wissenschaft schöpfen dürfen. Gemein¬
sam ist uns das Bestreben, die praktische
Medizin auf wissenschaftlicher Grundlage
aufzubauen. Ich will, so viel als ich ver¬
mag, zu zeigen versuchen, wie sich die
physiologischen Gesetze im erkrankten
Organismus auswirken. Ich denke, es
wird eine Quelle wahrer Befriedigung für
Sie sein, was Sie beobachten, auch zu
verstehen. Und wenn die begrenzte Zeit
mich oft auf Andeutungen beschränken
wird, so werden Sie früher oder später
Gelegenheit nehmen, durch das Studium
eines Lehrbuchs der „Pathologischen Phy¬
siologie“ Ihren ärztlich-wissenschaftlichen
Gesichtskreis zu erweitern.
Durch die gedankliche Erfassung der
Krankheitsbilder werden Sie auch am
besten in die Lage kommen, den Verlauf
vorauszusagen, das heißt die Prognose
der Krankheit zu stellen. Auch dieser
Teil der ärztlichen Tätigkeit, dem wir
große Aufmerksamkeit widmen wollen,
ist von Hippokrates hoch bewertet wor¬
den; er hat ihr eine besondere Schrift
gewidmet. Erst mit wachsender Er¬
fahrung, meine Henen, werden Sie es
in der Prognostik zu einiger Sicherheit
bringen.
Wenn wir so, meine Herren, nach
Beobachtung, Untersuchung und Über¬
legung, Diagnose und Prognose gestellt
haben werden, so haben wir doch erst
die Grundlage für unsere Hauptarbeit
geschaffen.
Die Hauptaufgabe der Klinik ist der
Unterricht in der Behandlung der
Kranken. Das ist hippokratische Me¬
thode: neql nXelaxov jiOLelad'at önojg
i)yiä noLijaeiQ rbv voaevvTa. Höchste
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1921
451
Pflicht ist es, den Kranken gesund zu
machen. „Heilmittel und Methoden zur
Behandlung der Krankheiten sind der
ärztlichen Kunst Anfang und Ende.'‘
,,Eine chronische Krankheit bedarf auch
chronischer Behandlung/* Ich könnte
leicht noch mehr Sätze zitieren, welche be¬
weisen, daß wir altgriechischen Geist pfle¬
gen, wenn wir die „Therapie**, d. h. den
Dienst am Kranken als unsere höchste
Aufgabe betrachten. Unser deutscher
Berufsname Arzt ist aus dem griechischen
Archiater, Erzheiler, entstanden, das im
mittelalterlichen Liede Wolframs noch
Arzät heißt.
Da Sie sich diesen Heilberuf erwählt
haben, meine Hefren, müssen Sie vieles
lernen, um sich auf ihn vorzubereiten.
Aber Hippokrates lehrt Sie, daß Sie vor
allem der Menschenliebe bedürfen.
""Hv yaQ naqrjv q)Uavd'QO)nlri, jtaqiaTL
xai cpUoTexvLri. Wo Liebe zur Menschheit,
da ist auch Liebe zur Kunst. Nicht For¬
scherdrang noch Liebe zur Wissenschaft
können Ihnen allein den Antrieb geben,
sich dem Studium der Heilkunst zu wid¬
men ; auch die Aussicht auf irdische Güter
kann Sie nicht locken. Weniger wohl als
früheren Ärztegenerationen werden Ihnen,
meine Herren, äußere Erfolge beschieden
sein. Nur der heiße Drang, sich dienend
den Menschen hinzugeben, kann Sie vor¬
wärts leiten, nur das erhebende Bewußt¬
sein, Menschen gestützt und gerettet zu
haben, wird Sie für schwere Mühen be¬
lohnen. Nur wahre Liebe zu den Menschen
kann Sie dazu führen, sich so sehr in das
Wesen des Kranken zu vertiefen, wie es
unser heiliger Beruf verlangt. Sein Kör¬
per wie seine Seele sind in gleicher Weise
Gegenstand unserer Fürsorge, in sein
Denken und Fühlen suchen wir uns einzu¬
leben, um den Einfluß auf ihn zu gewin¬
nen, der zur Erzielung des Heilzweckes
notwendig ist. Ich will Versuchen, meine
Herren, im Unterricht zu zeigen, daß es
auch unter den wenig günstigeren Ver¬
hältnissen des Hospitalbetriebs möglich
ist, die Persönlichkeit des Kranken in den
Mittelpunkt der Behandlung zu stellen;
ich will bei jedem Kranken erkennen
lassen, daß all unser Untersuchen nur
dem einen Ziel zusteuert, den Kranken
gesund zu machen, ihn von Schmerzen
und Beschwerden zu befreien, ihm das
Bewußtsein zu verschaffen, daß er von
Freunden umgeben ist, die alles aufbieten,
ihm zu helfen. In allen Zeiten sind die
besten Ärzte von solcher Gesinnung er¬
füllt gewesen; lassen Sie mich die schönen i
Worte Zimmermanns zitieren, des aus¬
gezeichneten Leibarztes Friedrichs des
Großen: Ich habe Ärzte gekannt, die
nicht große Gelehrte, nicht berühmte
Schriftsteller waren und von denen mir
immer mein Herz sagte: „Dich möchte
ich an meiner Seite haben, wenn ich Hoff¬
nung hätte, zu genesen, und in deinen
Armen möchte ich gern sterben.**
Selbstverständlich, meine Herren,
Menschenliebe allein tut es nicht. Mit ihr
verschwistert sich das Streben, aus allen
Gebieten der Natur und der Kunst herbei¬
zuholen, was zum Helfen geeignet ist.
Beginnen soll die Therapie mit
der Prophylaxe, 'byiaivövxoyv
(pqovxi^eiv, dvoairjg. Es ist gut
für die Gesunden zu sorgen, wegen des
Nichtkrankwerdens. Die prophylak¬
tische Therapie, welche die allgemeine
Körperhygiene und die Hygiene der
einzelnen Organe umfaßt, hat durch die
Bakteriologie einen neuen Inhalt er¬
halten.
Für die Behandlung der entwickelten
Krankheit kommen in erster Linie die
natürlichen Heilmittel, Luft und Licht,
Wasser, Bewegung und Diät in Betracht;
ihre Anwendung hat Hippokrates zu
großer Mannigfaltigkeit entwickelt. Er
verordnete Bäder, Waschungen und
Übergießungen, heiße und kalte Um¬
schläge und Packungen, läßt schwitzen,
frottieren und massieren, verordnet
systematische Gymnastik. Besonderen
Wert legt er auf die Verordnung der Nah¬
rung; der Diätetik hat er nicht weniger
als vier Schriften gewidmet. All diese
Heilmethoden, deren Anwendung einen
besonderen Ruhmestitel der hippokra¬
tischen Medizin bildet, sind im Mittel-
alter von den gelehrten Ärzten wenig ge¬
schätzt und von der Schulmedizin der
Neuzeit fast vergessen worden; sie haben
im Volke fortgelebt und sind zum Teil von
ungelehrten Laien wieder entdeckt und
verbreitet worden. Erst im Ausgang des
vorigen Jahrhunderts hat die Klinik ihr
altes hippokratisches Erbe wieder ange¬
treten, alsbald dessen Bestand bereichert
und durch Wissenschaftliche Unter¬
suchungen vertieft. Jetzt bildet die
hygienische wie physikalische und diä¬
tetische Therapie einen ganz wesent¬
lichen Teil der Krankenbehandlung, den
Sie in unserem Krankenhaus eifrig ge¬
pflegt finden werden und den ich Ihrem
Studium besonders empfehle.
Wir treiben ferner Hippokratische
1 Therapie, wenn wir unseren Kranken auch
57*
452
Die Therapie der Gegenwart 1921
Dezember
mit Arzneimitteln zu helfen suchen;
freilich sind wir hierin kritischer und
skeptischer als die griechischen Ärzte. Nur
wenige von den Medikamenten, die Hippo-
krates empfiehlt, gelten uns noch etwas;
die meisten sind verlassen; es ist ja selbst¬
verständlich, daß gerade hierin sich der
wissenschaftliche Fortschritt besonders zu
erkennen gibt. Wir empfinden andererseits
mit Freude, wie viel reicher wir geworden
sind, wie viel wirksame Arzneimittel wir
besitzen, die die Alten entbehren mußten.
Aber ein wichtiges Prinzip ist uns von
Hippokrates überkommen, das ich Ihnen
oft einprägen werde: nünoxe dlxpsXifiöv
iativ fitjöev (pdQfiaxov nQO^cpiQEiv. Manch¬
mal ist es nützlich, kein Heilmittel zu
reichen. Darin erblicken wir eine Meister¬
schaft des Arztes, daß er weiß, wann er
ohne Arzneimittel auskommen kann. Wir
wollen uns von dem natürlichen Ablauf
unbehandelter Krankheiten, von der Mög¬
lichkeit ihrer Selbstheilung, Rechenschaft
geben, um vor Selbsttäuschung und vor
Schädigung der Kranken bewahrt zu
bleiben; wir wollen von den Forschungs¬
ergebnissen der experimentellen Phar¬
makologie Kenntnis nehmen, um das
richtige Verständnis für die Wirkung der
Arzneimittel zu erlangen.
Schließlich ist Hippokrates der Vater
der operativen Therapie innerer Krank¬
heiten. Von ihm stammt das berühmte
Wort, das der junge Mediziner Schiller
seinen Räubern vorgesetzt hat: 6v,6aa
(päQiiana oiv. iifvai, aidrjQÖg ifjtai. Was
Arzneien nicht heilen, heilt das Eisen.
Hippokrates hat gelehrt, das Pleura¬
empyem durch Operation zu heilen, erst
die großen Chirurgen des 16. Jahr¬
hunderts haben diesen Eingriff, der im
Mittelalter vergessen war, wieder zu
Ehren gebracht. Unter dem Schutz
der Antisepsis und der Asepsis ist die
operative Therapie immer weiter in die
innere Medizin vorgedrungen. Wir rufen
die Chirurgen zur Hilfeleistung, aber es
ist unsere wichtige Aufgabe, die Indi¬
kation für den chirurgischen Eingriff
zu präzisieren.
Sie sehen, meine Herren, es wird viel
von Ihnen verlangt. Der Arzt soll viel
wissen, sagt Hippokrates. Aber er ver¬
langt nicht nur das Fachwissen, das uns
zum* rechten Eingriff zur rechten Zeit be¬
fähigt, er fordert vom Arzte auch einen
hohen Grad allgemeiner Bildung, deren
schönste Blüte in gedanklicher Schulung,
in der Fähigkeit selbständigen Denkens
gelegen ist.
’laTQÖg yäQ g>Maoq>og iaö&^eog.
Der philosophisch gebildete Arzt ist
gottgleich. Dieser höchsten Stufe der
Vollkommenheit durch höchste Geistes¬
bildung soll der Arzt zustreben,' weil die
Erhebung seiner Persönlichkeit zu¬
gleich seine ärztliche Kraft und Bedeu¬
tung steigert. Das ist eine der hippokra¬
tischen Grundanschauungen,, zu der auch
wir uns bekennen, daß die Persönlichkeit
des Arztes ein wertvolles Mittel zur Be¬
einflussung des Kranken bedeutet. yexv'i]
öiä tqmv, tb vöarifia xai ö voascov xal ö it}-
TQÖg. Drei Dinge sind der Inhalt der Kunst,
die Krankheit, der Kranke und der Arzt.
Innige Menschenliebe soll sich mit Wissen
und Können vereinen, aber vollkommen
wird der Arzt erst, wenn sein ganzes We¬
sen seinem Berufe dient. Er sei freundlich
und doch bestimmt, taktvoll und zurück¬
haltend, die Hoheit und Heiligkeit seines
Amtes soll sich in der Wurde seines Auf¬
tretens aussprechen, auf seinem Antlitz soll
die Harmonie innerer Abgeklärtheiterkenn¬
bar sein. An vielen Stellen der hippokra¬
tischen Schriften sind solche Ratschläge zu
lesen, die die Ethik der ärztlichen Persön¬
lichkeit als wesentlich für die Krankenbe¬
handlung hervorheben. Am schönsten
aber sind die sittlichen Anforderungen
in dem Eid zusammengefaßt, den die
Schüler des Meisters abzulegen hatten, ehe
sie als selbständige Ärzte wirken durften:
,,lch schwöre bei Apollon, dem Arzte,
bei Asklepios, Hygiea und Panakeia,
bei allen Göttern und Göttinnen, daß
ich nach Kräften und Gewissen diesen
Eid erfüllen werde; meinen Lehrer in
dieser Kunst will ich achten gleich meinen
Eltern. Die Lebensweise will ich
zum Nutzen der Kranken anordnen und
dieselben vor Nachteil und Unrecht schüt¬
zen. Ich werde keinem, wenn auch ge¬
beten, ein tätliches Arzneimittel reichen
noch dazu eine Anleitung geben. Rein
und fromm will ich leben und meine Kunst
üben.... In welche Häuser ich kornme,
da will ich hineingehen zum Heile der
Kranken, fern von jeder absichtlichen
Schädigung und Verführung.... Was
ich bei der ärztlichen Behandlung sehe
und höre oder auch außerhalb derselben
im gewöhnlichen Leben, das will ich ver¬
schweigen und als ein Geheimnis be¬
wahren. Wenn ich diesen Eid vollkommen
halte und ihn nicht verletze, möge Glück
mir beschieden sein im Leben und in
meiner Kunst; möge Ruhm ich erlangen
bei allen Menschen, auf ewige Zeiten;
wenn ich aber diesen Eid übertrete
Dezember
Die Therapie der öegenwarf 1921’
und falschschwöre, so möge mich das
Gegenteil davon treffen/*
Ich beginne unsere Arbeit in diesem
Semester mit dem Wunsche, daß es uns
453
gelingen möchte, dem hohen Ideal der
hippokratischen Medizin nahezukommen,
die von jeher der Leitstern der besten
Ärzte gewesen ist.
Aus der I. inneren Abteilung des Krankenhauses Moabit in Berlin (Prof. G. Klemperer).
Zur Diagnose und Therapie der Perikarditis^),
Von Lasar Dfiimer.
Bei ausgesprochenen Symptomen wie
hörbaren Reibegeräuschen oder bei sehr
großem Exsudat ist die Diagnose Peri¬
karditis wohl kaum zu verfehlen. Da¬
neben gibt es zahlreiche Fälle, die leicht
übersehen werden können, für deren
Erkennen aber gute diagnostische Hin¬
weise zur Verfügung stehen. — Wir*
wissen, daß im Verlaufe jeder Infektions¬
krankheit Endokarditis eintreten kann.
Diese verläuft meist schmerzlos für den
Kranken. Stiche in der Herzgegend
sollen den Verdacht auf ein gleichzeitiges
Befallensein des Perikards erwecken.
Ebenso wie fast immer bei der Pneumonie
die Schmerzen der Kranken auf eine
Pleuritis zurückzuführen sind, so dürfte
der Schmerz bei der Endokarditis das
Symptom einer Perikarditis sein. Wenn
man sich daran gewöhnt, in solchen
Fällen besonders sorgfältig auf Reibe¬
geräusche zu achten, so wird man sie
tatsächlich nicht selten sofort oder im
Verlaufe der weiteren Beobachtung fest¬
stellen können. Aber selbst wenn der
Nachweis nicht gelingt, so ist der Ver¬
dacht auch weiter berechtigt, weil ja die
Entzündung an einer Stelle des Perikards
sein kann, an der sie für das Ohr nicht
erreichbar ist. — Dieser Schmerz wird
manchmal schon im Beginn der Er¬
krankung so unerträglich, daß der Patient
kaum zu atmen wagt, mit ängstlichem
Gesichtsausdruck und Nasenflügelatmen
daliegt. Mit fortschreitendem perikardi¬
tischen Prozeß, gleichgültig, ob er rein
serös oder fibrinös ist, nimmt das Ge¬
sicht einen ganz typischen Ausdruck an:
Die Gesichtsfarbe wird blasser und er¬
hält schließlich ein Kolorit, das entfernt
an das der perniziösen Anämie erinnert
und das als „marmorn“ zu bezeichnen
ist. Diese Physiognomie ist häutig so
ausgeprägt, daß sie allein schon die
Diagnose gestattet. — Dazu kommt ein
weiteres Moment, das merkwürdigerweise
schulmäßig nicht genügend betont wird.
Es ist eine auffällige Tatsache, daß
gerade jugendliche Individuen bis etwa
Gekürzte Wiedergabe eines Fortbildungs¬
vortrags.
zum 18. Lebensjahre, in erster Linie aber
Kinder mit Endokarditis gleichzeitig auch
eine Perikarditis durchmachen müssen.
Ich habe mich immer wieder von der
Richtigkeit dieser Tatsache an der ziem¬
lich großen Zahl von Herzkranken in
unserem Krankenhause überzeugen kön¬
nen. Vielfach deckte erst die Autopsie
die Perikarditis auf, von der wir klinisch,
ohne direkte Anhaltspunkte zu haben,
nur vermutungsweise gesprochen hatten.
Man sollte sogar jeden Erwachsenen, der
anamnestisch einen in der Jugend durch¬
gemachten Gelenkrheumatismus angibt,
bei dem auch „etwas am Herzen“ war,
genauestens auf überstandene Perikarditis
untersuchen.
Was die weitere Diagnostik betrifft,
so ist hier auch das Nasenbluten zu er¬
wähnen. das gelegentlich Frühsymptom
ist. Wenn dann im weiteren Verlaufe
Reiben oder die Vergrößerung der Herz¬
dämpfung eintritt, so ist ein Zweifel an
der Diagnose nicht möglich. Diese Sym¬
ptome gelten zwar als charakteristisch,
sie sind es aber in nur beschränktem
Maße: Das Reiben ist unkonstant und
unter Umständen vorübergehend; es ist
vielfach nur im Beginn der Entzündung
zu hören, wenn die beiden Perikardblätter
noch aneinander liegen und wenn ihre
rauhen Flächen aneinander vorbeireiben.
Wächst das Exsudat, so muß es ver¬
schwinden. Auch bei fibrinöser Peri¬
karditis ist es bei Ausbreitung des Pro¬
zesses oft nur ab und zu feststellbar. Was
nun die sogenannte typische Herzfigur
anlangt, so soll ihr Vorkommen nicht
geleugnet werden. Ohne Zweifel ist aber
die Atypie ebenso häufig. Wer sich die
Entstehung eines Perikardialergusses klar
macht und namentlich die Faktoren be¬
rücksichtigt, die dabei eine Rolle spielen,
der wird ohne weiteres verstehen, daß
•jede Dämpfungsfigur möglich ist. Die
Lage des Exsudates wird, abgesehen von
der Schwerkraft, bedingt von den Ad¬
häsionen im Herzbeutel. Das Exsudat
muß ihnen ausweichen. So kommt es,
daß das eine Mal, wenn an der Rückseite
des Herzens Verwachsungen bestehen.
454
Die Therapie der Gegenwart 1921
Dezember
die Flüssigkeit mehr seitlich und an der
Vorderseite sich ansammelt. Sind die
Adhäsionen vorn oder fehlen sie, so füllt
das Exsudat der Schwere folgend die
rückwärtigen Partien des Herzbeutels.
Natürlich ist dabei die Stellung des
Kranken mitbestimmend. Jedenfalls sind
viele Variationen möglich. Deshalb ist
es zu weit gegangen, von einer typischen
Figur bei Perikarditis zu sprechen. Sehr
interessant sind nun die klinischen Sym¬
ptome, die sich ergeben, wenn der Erguß
sich vornehmlich an die Hinterseite lagert.
Kommt nämlich der Entzündungsprozeß
nicht zum Stillstand, so wird das Exsudat
die Lunge allmählich bei Seite drängen
und schließlich sogar sich an die Rück¬
seite des Thorax direkt anlegen können.
In anderen Fällen wird das Exsudat die
Lunge vor sich hertreiben, nach hinten
unten drängen und hier komprimieren.
Dann hört man unter Umständen Bron¬
chialatmen und Bronchophonie, während
bei direkter Anlagerung des Exsudates
an die Brustwand hinten unten kein
Atmen zu hören ist und der Pectoral-
fremitus mindestens abgeschwächt ist.
Der Perikarderguß kann sogar derartige
Dimensionen annehmen, daß er bis an
die hintere Axillarlinie reicht, also voll¬
ständig eine Pleuritis Vortäuschen. Ich
habe im Laufe der Jahre viele Fälle ge¬
sehen, die von anderen als Pleuritis ge¬
deutet waren, de facto aber eine Peri¬
karditis waren. Man sollte sich daher
bei jedem Fall von Pleuritis, der nach
unseren Ausführungen Anlaß zu der Ver¬
mutungsdiagnose Perikarditis gibt, fra¬
gen, ob das Exsudat vielleicht ein peri¬
karditisches ist. Das gilt namentlich für
linksseitige Exsudate. Man sieht sogar
gelegentlich links- und rechtsseitig Er¬
güsse, die durch sehr große Ausdehnung
des Herzbeutels vorgetäuscht werden.
Natürlich kommen neben Perikarditis
auch reguläre Pleuritiden vor. Wenn man
den Perikarditiskranken im Anstieg des
Exsudates sorgfältig untersucht, so wird
man das Heranrücken des Ergusses an
die rückwärtige Pleura oft schon frühzeitig
an dem Kompressionsatmen erkennen.
Zu den nicht gerade häufigen Sym¬
ptomen bei Perikarditis gehört die Heiser¬
keit infolge Recurrenslähmung. Früher
glaubte man, daß die großen Exsudate
mechanisch auf den Nerven drücken. Es
handelt sich aber sicherlich um ein Über¬
greifen des Entzündungsprozesses vom
Perikard auf das Mediastinum und das
Gewebe um den Recurrens herum. In
diesem Zusammenhänge sind die Fälle von
Mitralstenose und Heiserkeit zu erwähnen.
Auch hier ist das mechanische Moment
— Druck des großen Vorhofes — abzu-
.lehnen. Es handelt sich oft um Peri¬
karditis mit gleichzeitiger Mediastinitis,
bei der auch eine Mitralstenose besteht.
Schließlich ist von dem Leiserwerden
der Herztöne Zu sagen, daß es keineswegs
regelmäßig zu erwarten ist. Wenn wir
oben ausgeführt haben, daß das Herz so¬
wohl dicht der Brustwand anliegen wie
auch durch eine mehr oder weniger dicke
Entzündungsschicht von ihr getrennt
• sein kann, je nach der Lage des Exsu¬
dates, so wird auch verständlich, daß
dementsprechend die Herztöne laut be¬
ziehungsweise leise sein können.
Bei der Mannigfaltigkeit der Syrii-
ptome kommt es in erster Linie darauf
an, überhaupt an Perikarditis zu denken.
Man wird sie sicherlich häufiger dia¬
gnostizieren, wenn man die angeführten
Momente berücksichtigt.
Für die Therapie trennt man zweck¬
mäßig die akut entzündliche Erkrankung
von den Folgezuständen, die das chroni¬
sche Stadium darstellen. Bei den akuten
Prozessen sorgen wir, abgesehen von der
Behandlung der Grundursache, für
Schmerzlinderung mit Narkoticis, für
Erhaltung der Herzkraft durch früh¬
zeitige Verabfolgung von Digitalis, Coffein
und Campher. Von besonderer Bedeutung
ist die richtige Wahl des Zeitpunktes der
Herzbeutelpunktion. Sie soll nicht zu
früh gemacht werden. Es ist begreiflich,
wenn der Arzt die oft enormen Be¬
schwerden seines Kranken durch Ab¬
lassen der Flüssigkeit zu beseitigen hoffte.
Es ist aber zu bedenken, daß die Be¬
schwerden nur dann durch das Exsudat
bedingt sind, wenn es durch seine Größe
starke Kompression auf die umliegenden
lebenswichtigen Organe ausübt, d. h.
wenn die Herzdämpfung sehr groß ist
beziehungsweise wenn die Zeichen der
Pseudo-Pleuritis bestehen und gleich¬
zeitig Dyspnöe, Cyanose und kleiner
frequenter Puls die Herzinsuffizienz be¬
weisen. Anderenfalls sind Verklebungen
oder das Übergreifen des Entzündungs¬
prozesses auf Pleura, Diaphragma und
Mediastinum die Ursache der Beschwer¬
den; hier sind Narcotika am Platze.
Gelingt es durch Morphiuminjektionen,
dem Patienten Erleichterung zu schaffen,
so deutet das darauf hin, daß nicht ein
großer Erguß, sondern die Entzündung
als solche die Beschwerden hervorgerufen
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1921
455
hat. Als Regel g^lte, die Perikard- Tagen machen, in der Idee, entstehendes
Punktion nur dann vorzunehmen, wenn oder entstandenes Bindegewebe aufzu-
das Exsudat so groß ist, daß man bequem lösen; man kann adch nach dem Vorgänge
Entfernt vom Herzen einstechen kann. Mendels die Injektionen intravenös vor-
Bei dieser Indikationsstellung ist die nehmen. Desgleichen wird man physika-
Punctio pericardii nicht mehr als eine lische Applikationen, die eine Hyperämie
gewöhnliche Pleurapunktion. Die bis bewirken, anwenden können. Aber die
zur rückwärtigen Thoraxwand reichenden eventuellen Erfolge sind sehr kritisch zu
Exsudate punktieren wir wie eine Pleu- bewerten. — Wesentlicher ist die Be-
ritis von hinten her. Bei dieser unserer ratung der Kranken, die eine Perikarditis
Stellungnahme ist es nicht erforderlich, überstanden haben. Der Arzt hat das
bestimmte Einstichstellen als besonders Maß von Arbeit zu bestimmen, das das
geeignet anzugeben, weil man bei ihnen Herz zu leisten vermag. Da nach unseren
nicht Gefahr läuft, das Herz selbst oder Erfahrungen die Perikarditis in der Haupt-
die Arteria riiammaria zu verletzen. Man Sache eine Erkrankung in der Jugend ist
könnte gegen diesen abwartenden Stand- und sie hier zum Teil recht schwer ver-
punkt einwenden, daß auch nicht aus- läuft und unter Zurücklassen von Ver-
gesprochen große Exsudate die Herz- wachsungen ausheilt, so macht man die
tätigkeit beeinträchtigen können. Dem- traurige Feststellung, daß nicht wenige
gegenüber ist aber zu beachten, daß ein- dieser Individuen dem Kampfe im täg-
mal die Ausdehnungsfähigkeit des Herz- liehen Leben nicht gewachsen sind. Es
beutels eine sehr große ist und daß ferner ist deshalb oft erforderlich, junge Per-
die Bewegungsfreiheit des Herzens in dem sonen einem Berufe zuzuführen, der ein
entzündeten Beutel bei nicht großer Minimum von körperlicher Arbeit ver-
Flüssigkeitsansammlung weit mehr durch langt, nötigenfalls einen Berufswechsel
gleichzeitige adhäsive Prozesse gehindert zu empfehlen. Es ist eingehend zu er-
wird. Es ist jedenfalls zwecklos, das wägen, ob man Frauen Geburten zu-
Exsudat zu punktieren, weil die Erfah- muten kann. Diese und ähnliche Fragen
rung lehrt, daß es sich dann sehr schnell sind relativ leicht zu erledigen, wenn ein¬
neubildet. Dann hat man dem Kranken wandfreie Symptome von Verwachsungen,
unter ungünstigen Bedingungen für einige Wie z. B. eingezogener Spitzenstoß, nach-
Stunden Linderung verschafft, die man zuweisen sind. Aber wir wissen auch,
vielleicht ebensogut durch Morphium daß bei normalem klinischen Befund
hätte erzielen können. Synechien bestehen können. Gerade
Das Ziel unserer therapeutischen Maß- diese Fälle können sich lange Zeit arbeits¬
nahmen, die restitutio ad integrum, wird fähig fühlen, bis ein akuter Zusammen-
sicherlich in vielen Fällen rein seröser bruch einsetzt. Wenn man derartige
Perikarditis erreicht, aber leider keines- Beobachtungen wiederholt gemacht hat,
wegs in allen. Besonders häufig aber ent- so wird man. den Etnst einer abgelaufenen
stehen- Verwachsungen nach fibrinöser Perikarditis ganz würdigen und in der
Perikarditis, denen gegenüber wir fast Beratung seiner Kranken besonders vor¬
machtlos sind. Wir müssen mit müßigen sichtig werden und man wird jeden
Händen es der Natur überlassen, ob die Patienten, der in der Jugend eine Herz-
Perikardverwachsüngen ausbleiben oder krankheit etwa im Anschluß an Poly¬
entstehen. Gewiß kann man den Ver- arthritis ha.tte, unter dem Gesichtswinkel
such mit 10 bis 14 Fibrolysininjektionen möglicher perikarditischer Verwachsungen
in Zwischenräumen von vier bis fünf betrachten.
Die Therapie des Puerperalfiebers.
Von Dr. Stephan Westmann, Berlin.
Die Forschung nach den Quellen und Nichtinfektion bei dem ohne Kunsthilfe,
Wegen der puerperalen Infektion ist zu also physiologisch beendeten Geburtsakte
immer neuen Erklärungsversuchen an- gegeben sein sollte. „Wäre kein Geburts¬
geregt worden durch jene häufig genug helfer bei der Kreißenden, so würde die
auftretenden Fälle von Wochenbettfieber, Geburt vielleicht lange dauern, das Kind
bei denen der Nachweis eines Imports vielleicht tot sein, die Mutter vielleicht
von Keimen in den Geburtskanal nicht einen Dammriß davontragen, aber in¬
gelang, und bei denen nach dem Veit- fiziert würde sie nicht werden.“ Auf der
sehen Ausspruche die Sicherheit einer anderen Seite stehen jedoch die Beob-
456
Die-Tlierapie der Gegenwai-t 1921
DeztmbeT
achtungen Ahlfeldts und vieler anderer,
die immer von neuem die Schuld mancher
Sepsis oder Pyämie der Selbstinfektion
des puerperalen Genitaltraktus zuschie¬
ben. So spricht beispielsweise Scanzoni
von etwa 21,6 % fieberhafter puerperaler
Erkrankungen bei Fällen, die nachweis¬
lich von jeder Untersuchung usw. frei¬
geblieben waren. Man muß" hierbei
zwischen einer Selbstinfektion vom prak¬
tischen Gesichtspunkte aus, also der durch
■äußere Berührung des Genitales seitens
der Frau selbst, ihrer Kleidung usw.,
und der vom wissenschaftlich bakterio¬
logischen Standpunkte unterscheiden und
man wird zugeben müssen, daß zwischen
beiden eine scharfe Trennung unmög¬
lich ist, schon allein wegen der Un¬
möglichkeit einer scharfen Definition des
Wortes: Scheidenkeime. Denn die Ab¬
grenzung der Scheide nach außen ist
derart unsicher und ihre Verschlüsse der¬
artigen Veränderungen ausgesetzt, daß
man von einer klaren Entscheidung, ob
intravaginal oder extravaginal, absehen
muß. Wenn auch die „Seeschlange'‘ der
Selbstinfektion von vielen Autoren be¬
stritten wird, schon allein um einem
Fatalismus und einer Lässigkeit der Asep¬
sis zu steuern, so berichtet die Literatur
doch immer wieder von Fällen, bei denen
die Infektionsquelle unauffindbar ist, und
die wir der endogenen Infektion zur Last
zu legen versucht werden.
Wie interessant die Erklärungsver¬
suche der Selbstinfektion dem Wissen¬
schaftler sein mögen, ob Import von
Keimen von außen oder Aufsteigen von
Scheidenkeimen in die Uterushöhle oder
Virulenzsteigerung schon vorhandener
pathogener Keime, den Praktiker inter¬
essiert die Prognose und Therapie neben der
Prophylaxe —nämlich der Asepsis —, zu
deren Vollständigkeit er selbst am meisten
beizutragen hat, und ohne deren absolute
Sicherheit eben von einer rein endogenen
Infektion keine Rede mehr sein kann.
Auch bezüglich der Prophylaxe, be¬
sonders intra partum, gehen die An¬
regungen und Auffassungen so ausein¬
ander, daß man von einer einheitlichen,
allgemeingültigen Regel nicht sprechen
kann. Ich denke hierbei an die Diskussion
der Frage: Scheidenspülung vor und
während der Geburt, wie sie von Hof-
meier seiner Zeit eingeleitet und von
Krönig, Menge und anderen fortgeführt
worden ist.
Was zunächst auch die Prognose und
ihre Beziehung zum Vorhandensein be¬
sonders von hämolytischen Streptokokken
im Vaginalsekret ante partum anlangt,
so ist ein Unterschied zwischen* dem
Verhalten von Nicht 5 .treptokokkenträge-
rinnen und dem der Frauen mit Strepto¬
kokken nicht nachweisbar, ebensowenig»
wie die Hämolyse für die Pathogenität
eines Streptokokkenstammes beweisend
ist. Eine Entscheidung vollends auf Grund
der hämolytischen Kraft eines Stammes
zu treffen, ob man beispielsweise bei
einem fieberhaften Abort exspektativ oder
aktiv Vorgehen solle, ist meines Erachtens
nach den Arbeiten Goldstroms viel
zu schematisierend und zu wenig auf
die Individualität des Falles eingehend.
Bei den septischen, das heißt mit
Puerperalfieber einhergehenden Aborten,
kommen für den Praktiker zwei Kate¬
gorien in Betracht, nämlich erstens die-
jenigen Aborte, bei denen die Infektion
noch auf den Uterus beschränkt ist, und
zweitens die, welche bereits ein Fort¬
schreiten der Entzündung anzeigen. Ob
diese Entzündung sich nun in bestehen¬
dem oder vorausgegangenem Fieber mani-
festieit, oder ob der bakteriologische oder
der Palpationsbefund ihre Diagnose si¬
chert, immer ist der durch sie herbei¬
geführte Prozeß, sei es eine Salpingitis,
Parametritis oder gar Peritonitis, vom
Abort getrennt zu behandeln. Eine andere
Frage ist es hierbei, ob von seiten des
Uterus der Entzündung immer wieder
neue Erreger zugeführt werden, die auf
dem Wege des uteropläcentaren Kreis¬
laufes auf den mütterlichen Organismus
übergehen. Es kommen hierbei besonders
infizierte Placentastücke und Eireste in
Betracht. Wenn ihr Vorhandensein durch
den Befund sichergestellt ist, so heißt es,
die Brücke zwischen fötalem und mütter¬
lichem Gewebe zu zerstören, der Uterus
muß schnell unter möglichster Schonung
entleert werden. Erst nach seiner Aus¬
räumung kann man dann die restierenden
Entzündungserscheinungen therapeutisch
angreifen.^
Abweichend von diesem Standpunkte
der Aktivität empfiehlt Winter und
seine Schule allein die konservative Me¬
thode. Er glaubt, daß durch das operative
Vorgehen in der mit hämolytischen Strep¬
tokokken — nach Walthard auch in
der . mit Gonokokken und Staphylo¬
kokken — infizierten Gebärmutter der
Leukocytenschutzwall zerstört und durch
die geschaffene neue Wundfläche ein
größeres Angriffsfeld für die pathogenen
Keime geschaffen werde, so daß es durch
Dezember
Die-Therapie der Qegeriwart 1921
457
deren Penetrationsfähigkeit leicht zu einer
Sepsis kommen kann. Die Erfahrung
lehrt jedoch, daß es auch bei der expekta-
iiven Behandlungsmethode zu einer Py-
ämie kommen kann, während andererseits
die vor dem Eingriffe im Blute vor¬
handenen Keime nach der Ausräumung
nicht mehr nachweisbar waren. Aber ab¬
gesehen von der Schwierigkeit, ja oft Un¬
möglichkeit der bakteriologischen Unter¬
suchung für den Praktiker und ihrer langen
Dauer, zwingen in mindestens 10% der
Fälle starke Blutungen zum Angriff, und
hier würde die etwaige Tamponade die
Infektionsgefahr nur noch komplizieren.
Die Technik der Ausräumung des in¬
fizierten Uterusinhaltes führe ich in der
iiblichen Weise nach Erweiterung des
Cervicalkanals mittels Hegarschen Dila¬
tatoren oder Laminariastiften digital aus
und schließe hieran eine etwa 40%ige
heiße Alkoholspülung zum Zwecke der
schrtelleren Contraction der Uteruswand
und dem damit verbundenen Verschlüsse
der Gefäßlumina.
Die in den Uterusadnexen und in den
Lymphspalten des parametranen Gewebes
bereits installierte Entzündung wird zu¬
nächst mit antiphlogistischen Mitteln, zu
denen ich besonders die Eisblase zähle,
bekämpft oder zum mindesten ihre weitere
Ausbreitung verhindert. Absolute Ruhig¬
lage der Kranken schränkt die Gefahr
einer Embolie der fast immer in den
Beckenvenen auftretenden, septisch in¬
fizierten Thromben oder einzelner Be¬
standteile ein und damit eine zeitweise
sich in Schüttelfrösten äußernde Be¬
reicherung des Blutes mit pathogenen
Keimen. Die Fieberkurve bei dieser
thrombophlebitischen Form zeigt nach
einer mehr oder weniger langen Continua
plötzliche,mit Schüttelfrost einhergehende
Emporschnellungen, die sich in den näch¬
sten Tagen wiederholen, und zwischen
denen tiefe Remissionen auf oder unter
der Norm liegen. Das primäre Fieber
wird als von einer lokalen Endo¬
metritis, die plötzlichen Temperaturzak-
ken von der septischen Thrombophlebitis
herrührend zu erklären sein. Für diese
Annahme spricht auch der Blutbefund:
bei einer lokalisierten Endometritis
werden keine Keime gefunden werden, bei
der thrombophlebitisch-pyämischen Form
wird ein Keimgehalt des Blutes während
der Schüttelfröste zu beobachten sein.
Über die Therapie der Pyämie infolge
einer septischen Thrombophlebitis sind
die verschiedensten Vorschläge gemacht.
passive und aktive Methoden versucht
und miteinander verglichen worden. Die
passive Behandlungsart habe ich schon
oben beschrieben, sie besteht in Ruhig¬
lage der Patienten und antiphlogistischen
Mitteln. Bei den von uns beobachteten
Fällen sahen wir zwar ein Seltenerwerden
der Remissionen, sodaß wir schon mit
einer Organisation der Thromben und
einer Abtötung der pathogenen Keime
rechnen zu können glaubten, da zerstörte
in einer großen Anzahl von Fällen ein
neuer Schüttelfrost, ein neuer Fieber¬
anstieg die Hoffnung von Arzt und
Kranken. So entschloss man sich denn
in einer Reihe von Fällen zur Opera¬
tion und unterband die Vena iliaca
communis derjenigen Seite, auf der
durch den geschilderten klinischen und
bakteriologischen Befund die Gefä߬
erkrankung sicher diagnostiziert war.
Eine Circulationstörung ist nach erfolgter
Venenunterbindung selbst der der Vena
cava — bei Höherhinaufreichen der
Thromben — nicht zu befürchten, da
Viele Fälle von Unterbindung der Cava
gelehrt haben, daß kompensatorisch ein
funktionstüchtiger Kollateralkreislauf ein¬
zuspringen pflegt. Ein von Fromme be¬
schriebener Fall von Unterbindung der
Vena cava dicht unterhalb der Einmün¬
dungsstelle der Venae renales zeigt, daß
selbst bei so weitgehender Rücklaufsaus¬
schaltung die Gefahr einer Stauung nicht
besteht.
Die Erfolge mit der geschilderten
Venenunterbindung sind die denkbar be¬
sten; bei den trombophlebitischen For¬
men hörte die Neuüberschwemmung des
Blutes mit Keimen auf, und die Elimina¬
tion der ins Blut gelangten Keime konnte
stattfinden. Die Prognose bei diesen
Fällen ist daher weitaus günstiger als
bei jenen, die schon ein ständiges Vor¬
handensein von Keimen im Blute zeigen.
Aber auch hier kann man durch die
Venenunterbindung noch einen Erfolg
erzielen, da der Körper mit den inter¬
kurrent circulierenden Keimen fertig wird,
sobald kein neuer Nachschub erfolgt.
Auf gänzlich anderer anatomischer
Grundlage basiert nun die große Zahl
der puerperalen Infektionen, die in ihrem
Verlaufe nach einem mehr oder weniger
langen atypischen Fieber eine hohe, ohne
Schüttelfröste einhergehende Continua
aufweisen. Hier muß man eine direkte
Invasion der Bakterien durch die Pla-
centarstelle oder durch eine zufällige
Schleimhautverletzung annehmen ohne
58
4^ ' Die Therapie -der
eine primäre Thrombose,. Das Blutbild
dieser als Septikämie bezeichneten Form
leigte e‘ne dauernde Überschwemmung
mit Keimen, vorwiegend hämolytischen
Streptokokken. Die ungeheure Zahl der
Behandlungsmethoden beweist schon un¬
sere Ratlosigkeit in der Therapie und die
Ungunst der Prognose. Von einem lo¬
kalen den Genitalien kann
natürlich nur die Rede sein, wenn sich
im Uteruscavum noch Placehtarreste und
dergleichen ^befinden und hier ein gün¬
stiges Substrat für pathogene Keime ab¬
geben. Meinen Standpunkt in dieser
Hinsicht habe ich oben dargelegt. Das
Hauptangriffsfeld der Therapie wird aber
im großen und ganzen das Blut selbst
sein, und eine ganze Legion von Mitteln
ist tausendfach angepriesen und ebenso
oft wieder als unwirksam verworfen wor¬
den. Hierbei sind analog den Impf¬
theorien zwei große Gruppen zu unter¬
scheiden, erstens diejenigen, die den
Körper in seinem Abwehrkampfe von
sich aus unterstützen wollen, und zwei¬
tens die, welche eine Leistungssteigerung
zu erzielen bestrebt sind.
Zu den ersteren gehört jene unüber¬
sehbare Menge von Silberpräparaten, die
von der CredAschen Salbe angefangen
mit der Verbesserung der Zubereitungs¬
und Applikationstechnik in immer kom¬
plizierteren Kombinationen angewendet
werden. Neben dem Kollargol und dem
Elektrokollargol versuchten wir in Fällen
schwerer Sepsis das mit Methylenblau
verbundene Silberpräparat, das Argo-
chrom. Sein Prinzip besteht in einer
Schädigung der Widerstandskraft der
Bakterien gegen das Silber durch die
Farbe. Erfolge hatten wir nur in den
wenigsten Fällen zu verzeichnen.
Stark verdünnte Lösungen von Subli¬
mat oder Formalin sahen wir im Tierver¬
such das Gewebe und die Blutbestand¬
teile zu stark schädigen und nahmen von
derartigen Infusionen Abstand. Gleich¬
falls ohne Erfolg gaben wir das Chinin
und seine Derivate in der Erinnerung an
seine Wirksamkeit auf die Malariapara¬
siten. Auch Versuche mit Salvarsan in
den verschiedensten Verbindungen nach
Art einer Therapia magna sterilisans
schlugen fehl.
Das Bestreben des Körpers, die In-
fekfonserreger mittels profuser Schweiße
und Diarrhöen auszuscheiden, hat man
durch Drastica zu unterstützen versucht,
doch steht die Schwächung des Allgemein¬
zustandes in keinerlei Verhältnis zum
Gegenwart 1921 Dezember
Erfolge. Andererseits sahen wir nach reiche
liehen. Gaben von physiologischer Koch¬
salzlösung intravenös subcutan und rectal
als Tropfklysma „zur Auswaschung des
Blutes“ gegeben, -Hebung des Befindens
und Senkung der Temperaturen.
'. Wie bei anderen Infektionskrankheiten
hat man auch bei bakteriellen Wund¬
infektionen den Versuch gemacht, Heil¬
sera zu verabreichen, die entweder die
Bakterien selbst vernichten oder die von
ihnen gebildeten Giftstoffe neutralisieren
sollen. Beim Streptokokkenserum, und
dieses kommt bei puerperaler Sepsis fast
nur in Frage, handelt es sich um eine
bakteriotrope Wirkung, derart, daß die
Kokken durch das Serum gleichsam ge¬
bunden werden und so der stark ange¬
regten Phagocytose leichter erliegen.
Wenn auch der Tierversuch einen Erfolg
erhoffen ließ, so zeigte die Praxis beim
Menschen, daß das Serum höchstens im
Beginn der Erkrankung eine Hemmung,
ja sogar einen^ Stillstand des Infektions¬
prozesses vollbringen, niemals aber be¬
reits vorgeschrittene Veränderungen, wie
eine allgemeine Peritonitis oder eine
Pyämie selbst in Dosen von 150—300 g
rückgängig machen kann. Es lassen sich
dagegen Erfolge bei auch schweren For¬
men von septischer Endometritis oder
bei Phlegmasia alba nicht leugnen, und
da üble Nachwirkungen höchstens in
Form von bald zurückgehenden Gelenk¬
reizungen und erythematösen Ausschlägen
auftreten, so ist die frühzeitige Serum¬
behandlung immerhin eines Versuches
wert.
Neben der Specifität des Serums ist
es vor allem das artfremde Eiweiß, das
wie überhaupt in der Proteinkörperthera¬
pie die Leistungsfähigkeit des Körpers zu
steigern scheint. Das Dunkel zu heben,
das über der unspecifischen Protein¬
körpertherapie liegt, ist noch nicht ge¬
lungen, aber ein günstiger Einfluß der
Proteine auch auf die im Puerperium auf¬
getretenen septischen Prozesse ist unver¬
kennbar. So ist in vielen, jeder anderen
Therapie unzugänglichen Fällen mit fo.rt-
gesetzten Caseosaninjektioneri . eine er¬
hebliche ' Besserung erzielt worden, und
neueste Versuche mit einer Kombination
von Caseosan und dem Jodbenzolaerivate
Yatren scheinen einen bedeutenden Fort¬
schritt zu verheißen.
Über jeder specifischen oder unspeci-
schen Therapie ist die wichtigste Aufgabe
nicht zu vergessen, den Körper im Kampf
mit den pathogenen Keimen bei guten
5)ezembet:
459
pie 'Therapie d€r.j.Qeg'e] 5 ^ar.jt' 1921}
Kräften zu erhalten, denn um so eher ist
eine 'Überwindung der Krankheitserreger
zu erwarten, je energischer die Lebens¬
vorgänge in den Zellen verlaufen. Reich¬
liche Flüssigkeitszufuhr, leicht verdau¬
liche Nahrung und in zweiter Linie Alko-
holica, wie Kognak, Sekt, Wein in wech¬
selnder Folge sind in großen Mengen zu
verabfolgen. Ob der Grund für die sicher
günstige Alkoholwirkung in dem Ersatz
wichtiger Eiweißverbindungen, in der
Brennkraft oder in dem Anreiz auf die
Zelltätigkeit zu einer energischen Reak¬
tion zu Suchern ist, oder aber ob der
Alkohol für sich antiseptisch wirkt, bleibe
dahingestellt.
Einer besonderen Behandlung des
Fiebers an sich bedarf es nicht, im Gegen¬
teil ist es als ein Zeichen einer kräftigen
Reaktion als heilsam anzusehen. Niemals
sahen wir einen Erfolg in der durch Anti-
pyretica erzielten Temperatursenkung,
höchstens ist bei drohender Herzmuskel¬
schwäche infolge einer langen Continua
durch kühle Bäder ein Absinken der
Temperatur, ein Kräftigerwerden des
Pulses und der Atmung zu erreichen.
Von verschiedenen Seiten sind auch
bei nicht abgegrenzten Infektionspro¬
zessen operative Eingriffe an den Geni¬
talien, zum Beispiel die Uterusexstirpa¬
tion empfohlen worden, doch hat die
Erfahrung gelehrt, daß bei der Zweck¬
losigkeit des Verfahrens noch dazu den
Keimen der Zutritt zu der bisher ver¬
schonten Bauchhöhle geöffnet wird. Auch
bei bereits ausgedehnter Peritonitis hat
sich selbst breite Eröffnung und aus¬
giebige Drainage nicht bewährt, dagegen
leistete mir bei frühzeitig durch Probe¬
punktion diagnostizierter Peritonitis die
vom Douglasschen Raume aus vorgenom¬
mene vaginale Eröffnung der Bauchhöhle
und ihre Drainage gute Dienste, der Pro¬
zeß konnte fast immerjauf das Pelveo-
peritoneum beschränkt werden. ^
Auch die bactericide .Wirkung des
Sonnenlichtes respektive dtr künstlichen
Höhensonne . ist bei septischen All¬
gemeininfektionen und bei Peritonitis
verschiedentlich zur Behandlung heran¬
gezogen worden. Man hat sich hierbei
nicht nur auf äußere Bestrahlungen be¬
schränkt, sondern hat auch nach Eröff¬
nung des Bauchfells die künstliche Höhen¬
sonne zur Anwendung gebracht, doch sind
die Erfolgsmeldungen bisher äußerst spär¬
lich und nur mit Vorsicht zu bewerten.
Die Erfolgsstatistik aller therapeuti¬
scher Maßnahmen bleibt verglichen mit
der Prophylaxe der puerperalen In¬
fektionen weit hinter dieser zurück. Aus
der bekannten Boehrschen Statistik geht
hervor, daß in Preußen innerhalb eines
60jährigen Zeitraumes über 300 000
Frauen an Puerperalfieber starben, weit
mehr als an Pocken und Cholera zu¬
sammen. Erst mit dem Einsetzen der
anti- beziehungsweise aseptischen Aera
ist die Mortalität an Kindbettfieber auf
0,25% gesunken, eine Zahl, die sich durch
nicht gemeldete Fälle von Puerperalfieber
nach Aborten und Totgeburten auf 0,35%
erhöhen dürfte und in dieser Höhe noch
unerträglich groß ist.
Literatur: Ahlfeldt, Quellen und Wege
der puerperalen Selbstinfektion, Zschr. f. Ge-
burtsh. 1913. — Bondy, Scheidenkeime und en¬
dogene Infektion, 1916. — Bumm, Grundriß
zum Studium der Geburtshilfe, 1914.— Fromme,
Venenunterbindung bei puerperaler Pyämie, Zschr.
f. Geburtsh. 76. — Goldstrom, Über die pro¬
gnostische Bedeutung des Nachweises von Strep¬
tokokken im Vaginalsekret Kreißender, Zschr. f.
Geburtsh. 1913.. — Hamm, Die puerperale
Wundinfektion, 1912.— Hartmann, B. kl. W.
1911. — Joseph, Abortbehandlung, Th. d. Geg.
1921.— Trendelenburg, Über die chirurgische
Behandlung der puerperalen Pyämie, M. m. W.
1902. — Warnekros, Puerperale Pyämie, Arch.
f. Gynäk. 1912. .
Aus der I. medizimschen und der chirurgisclieu Abteilung des Städtischen Krankenhauses
Moabit (Prof. Gr. Klemperer und Prof. M. Borchardt).
Zur Phloridzindiagnostik der Frühgravidität.
11. Mitteilung.
Von Dr. Kamnitzer und
Im Septemberheft dieser Zeitschrift
haben wir mitgeteilt, daß ein sehr bemer¬
kenswerter Unterschied zwischen Schwan¬
geren und Nichtschwangeren in der Re¬
aktion der Nieren auf kleine Gaben Phlo¬
ridzin besteht. Während die überwie¬
gende Mehrzahl Nichtschwangerer nach
Injektion von 2,5 mg Phloridzin keine
Glykosurie darbot, haben Schwangere
Dr. Joseph, Assistenten.
ausnahmslos nach dieser Injektion posi¬
tive Zuckerausscheidung im Urin dar.-
geboten. * Wir-konnteh mit Sicherheit das
Bestehen von Schwangerschaft ausschlie¬
ßen,-wenn nach Injektion von 2,5 mg Phlo¬
ridzin die Glykosurie ausblieb, aber bei
positivem Ausfall der Reaktion kamen wir
nicht über eine freilich hohe WahrscheiiiT
lichkeit hinweg. Unter 70 nichtschwan-
58*
460
Die Therapie der Gegenwart 1921
Dezember
geren Kontrollpersoneii hatten 7, also
^0%, positive Phlorid’zinreaktion, ohne
daß Schwangerschaft nachweisbar war.
Es war bemerkenswert, daß der zeitliche
Ablauf bei Phloridzinglykosurie Nicht¬
schwangerer gegenüber dem Schwangerer
verlangsamt war.
Wir konnten also anscheinend nur den
negativen Ausfall der Phloridzinprobe mit
Sicherheit in der Schwangerschaft dia¬
gnostisch verwerten, während bei posi¬
tivem Ausfall zwar eine hohe Wahrschein¬
lichkeit, aber'doch keine Sicherheit der
Schwangerschaft vorhanden war.
Zur Erlangung größerer Zuverlässig¬
keit haben wir nun die Phloridzindosis
noch verkleinert. Wenn es bekannt ist,
daß die normale Zuckerdichtigkeit der
Niere in der Schwangerschaft abnimmt,
so daß sie schon bei normalem Blut¬
zuckergehalt Zucker hindurchläßt, wenn
man also in den syncitiären Stoffen die
Niere' zur Zuckerausscheidung reizende
Substanzen erblicken darf, so lag es nahe
anzunehmen, daß so minimale Mengen
Phloridzin, wie sie die normale Niere noch
nicht glykosurisch machen können, die
Nieren Schwangerer, additioneil zu dem
syncitiären Reiz, zur Glykosurie bringen
können. Wir haben also in den heut zu
berichtenden Versuchen 2 mg Phloridzin
(2ccm einer 0,1 %igen Lösung, welche leicht
herstellbar und haltbar ist) zu Injek¬
tionen benutzt. Es wurden 47 Gravidae
(davon zwei tubar), zehn Aborte und 143
nicht schwangere Frauen untersucht. Es
befanden sich unter den Graviden elf im
ersten, 19 im zweiten, zehn im dritten,
eine im vierten, drei im sechsten, eine im
siebenten und eine im achten Monat. Bei
sämtlichen Graviden bis einschließlich
des dritten Monats, ebenso bei den Tubar-
schwangeren und den zehn Aborten, war
die Zuckerausscheidung nach 2 mg Phlo¬
ridzin positiv. Von 143 nichtschwangeren
Frauen reagierten nur fünf, d. h. 3,5%,
positiv, d, h. 138 Nichtschwangere hatten
nach 2 mg Phloridzin keine Glykosurie.
Wir dürfen also unter dem Vorbehalt
weiterer Prüfung sagen, daß 2 mg Phlorid¬
zin insofern ein sicheres Prüfungsmittel auf
Schwangerschaft darstellt, als das Fehlen
von Glykosurie das Bestehen einer solchen
ausschließen läßt. Die positive Glyko¬
surie nach 2 mg spricht mit großer Wahr¬
scheinlichkeit für Gravidität; die Wahr¬
scheinlichkeit beziffern wir bisher auf
96,5 %. Diese Phloridzinglykosurie findet
sich bei,Schwangeren augenscheinlich be¬
reits in sehr frühem Stadium; wir konnten
sie mehrfach 14 Tage nach dem Aus¬
bleiben der'Menses feststellen. Sie scheint
mit Ende des dritten Monats aufzuhdren;
jenseits dieses Monats wird ihr Vorkom¬
men sfehr unsicher. Nachweisbar wird
die Glykosuria gravidarum 34—^ Stunde
nach Injektion von 2 mg Phloridzin,
sie hält meist nicht länger als zwei Stun¬
den an. Bei Aborten erscheint sie nur,
solange frische Placenta in engem Zu¬
sammenhang mit dem mütterlichen Or¬
ganismus steht. Nach der Ausräumung
ist die Glykosurie nach 0,002 g Phloridzin
meist schon am nächsten Tage negativ.
Welche wertvollen Dienste die Probe in
zweifelhaften Fällen leistet, mögen einige
Protokolle zeigen.
Nr. 98. Frau W., 32 Jahre alt, Ill-Para, letzte
Menses vor sieben Wochen. Patientin gibt ah,
daß ihre Brüste stärker geworden sind. Sie klagt
über morgendliches Erbrechen, hat selbst das
Empfinden, gravid zu sein. Klinisch beginnende
Gravidität nicht ausgeschlossen. Urin bleibt nach
der Injektion negativ. Kurze Zeit darauf bekommt
Patientin ihre normalen Menses. Auch die weitere
Beobachtung ergibt, daß sie nicht gravi^ist. __
Nr. 76. Frau Gr., 40 Jahre alt. Menses un¬
regelmäßig. Befund: Tumor oder Gravidität im
dritten Monat, Schleimhaut livide verfärbt, Ge¬
webe stark aufgelockert. Urin nach Injektion
von 0,002 g Phloridzin immer negativ. Trotz zehn¬
tägiger Beobachtung nicht möglich, sichere Dia¬
gnose zu stellen. Darauf nochmalige Injektion,
die wieder negativ ausfällt. Spätere Laparotomie
ergibt Tumor.
Nr. 115. frau G., 21 Jahre alt, letzte Menses
vor sechs Wochen. Gravidität fraglich, Urin nach
einer halben Stunde stark positiv. Drei Wochen
später wegen fortschreitender Tuberkulose Gra¬
vidität unterbrochen.
Nr. 145. Frau A., 30 Jahre alt, letzte Menses
vor sechs Wochen, seit einigen Tagen Blutungen,
seit 24 Stunden heftige Schmerzen im Leib, Übel¬
keit und Erbrechen. Patientin kommt zu Fuß
ins Krankenhaus. Abdomen etwas aufgetrieben,
Genitalbefund o. B., Puls klein, es besteht Ver¬
dacht auf Tubargravidität, trotzdem Patentin
nicht den Eindruck einer soi ^nma^'ht ln cktion
von 0,002 g Phloridzin; nach einer halben Stunde
positiv, Operation: rupturierte Tubargravidität.
Die Injektion der Phloridzinlösung
ist völlig schmerzlos, wenn man 0,5%
Novocain zusetzt. Die Lösung wird
durch Aufkochen von 0,03 g Phloridzin
in 30 ccm Wasser unter Zu-atz von
0,15 g Novocam hergestellt; diese Lösung
ist haltbar.
Die Probe ist am besten nüchtern an¬
zustellen, da es sich herausgestellt hat,
daß schon der Genuß geringer Kohle¬
hydratmengen ein falsches Resultat be¬
dingt. Es hat sich als zweckmäßig er¬
wiesen, die Patienten vor der Injektion
erst urinieren und dann zirka 200 ccm
Flüssigkeit (Wasser, Tee, Kaffee ohne
Zucker) trinken zu lassen, welche Menge
Dezember
Die; Therapie der Qegenwart 1921
461
eine halbe Stunde nach der Injektion
noch einmal gegeben wird. Die Patienten
müssen dreimal in Abständen von je einer
halben Stunde Urin lassen. Als positiven
Ausfall der Nyander sehen Probe be-
zeichneten wir eine beim Kochen oder
gleich darauf auftretende Schwarzfär¬
bung. Es ist bekannt, daß einige Medi¬
kamente, wie Antipyrin, Campher, Chloro¬
form, Chloralhydrat,“Terpentin, Sacharin,
Salicylsäure, Hypophysin, Adrenalin einen
positiven Ausfall der Nylanderprobe ge¬
ben können.
Wir hoffen, daß die Phloridzinprobe, mit
2 mg angestellt, sich für die Frühdiagnose
der Gravidität in der Praxis bewähren
wird; der negative Ausfall läßt Gravidität
ausschließen, der positive die Diagnose mit
großer Wahrscheinlichkeit stellen. Es ist
zweifelhaft, ob eine noch Weitere Ver¬
minderung der Pnloridzindose die Ergeb¬
nisse noch entscheidender gestalten wird,
da anzunehmen ist, daß bei allzukleiner
Phloridzindose auch wirklich Schwangere
nicht mehr positiv reagieren werden.
Gebrauchsfertige Phloridzinlösung in Am¬
pullen ä 2 ccm wird demnächst unter dem Namen
„Maturin‘‘ (Schwangerschaftsdiagnosticum nach
Kamnitzer und Joseph) von der Chemischen
Fabrik auf Aktien vorm. E. Schering in den
Handel gebracht.
über die soziale, eugenetische und Notzuchtsindikation zur
Einieitung des künstlichen Abortus.
Von Dr. med. W. Wiegels,
Frauenarzt in Schwerin i. M., früher ^Assistent der Bremer Frauenklinik^).
Wie aus zahlreichen Kliniken und
Krankenhäusern berichtet wird, ist die
Zahl der kriminellen Aborte und mit
ihnen naturgemäß die der dadurch be¬
dingten Todesfälle in den letzten Jahren,
besonders aber seit dem Zusammenbruch
unseres deutschen Vaterlandes, außer¬
ordentlich im Steigen begriffen. Mir
scheint, direkt proportional der sinkenden
Moral und Kraft unseres Volkes!
Daß wir den kriminellen Abort nie¬
mals werden völlig aus der Welt schaffen
können, ist uns Ärzten wohl allen klar;
ebenso aber wohl auch, daß die Zunahme
desselben ein Symptom der sinkenden
Kraft unseres Volkes ist, weil er ein Ver¬
brechen ist, weil er das Nichtwollen zum
Kinde dokumentiert, weil er oft ein Pro¬
dukt des gesteigerten außerehelichen ge¬
schlechtlichen Verkehrs darstellt und weil
durch ihn die Geburtenzahl verringert
wird, so wie sie es wird durch Syphilis,
Gonorrhöe und Präventivverkehr. Und
der ständige Abfall der Geburtenziffer
muß allmählich unweigerlich zum Unter¬
gänge eines Volkes führen, sowie es
bereits im Altertum war, als die Germanen
infolge Übervölkerung in die Geschichte
eintreten, die Römer infolge Entvölke¬
rung aus derselben verschwanden (Fuhr¬
mann). Und dieser Wechsel von Über¬
völkerung bei einem Volk und Entvölke¬
rung bei einem anderen hat sich in der
Geschichte bereits mehrmals vollzogen
^) Die Ansichten Benthins, die er in einer
Arbeit in der Th. d. Geg. 1921, Heft 9, äußert,
die aber erst nach Fertigstellung meiner Arbeit
zu meiner Kenntnis kamen, decken sich im all¬
gemeinen mit den meinigen.
und mußte notwendigerweise durch Er¬
starken des einen und Verfall des anderen
den Aufstieg respektive Abstieg zur Folge
haben.
Daß die Seuche des' kriminellen Ab¬
orts überhaupt nicht eher wird erheb¬
lich eingedämmt werden können, ehe
nicht die Moral unseres Volkes und der
Wille zum Kinde gestärkt und neu belebt
ist, diese meine Ansicht habe ich bereits
früher einmal ausgesprochen, und wird
auch von Kahl mit den Worten: ,,Die
Auffassung von der Würde der Mutter¬
schaft steht allgemein tief“ bekräftigt.
Trotz der zur Zeit recht trüben Aussichten
für eine erfolgreiche Bekämpfung dürfen
wir Ärzte, die wir doch Bewahrer und
Hüter der Völksgesundheit und des Volks¬
wohls sein wollen, unsere Bemühungen
nicht aufgeben, sondern müssen stets
weiterkämpfen im Sinne eines Aufbaues
auch in dieser Beziehung. Und so sind
ja auch verschiedene Vorschläge gemacht
und zahlreiche Einrichtungen zur Ein¬
schränkung des kriminellen Abortus ge¬
schaffen, die zum Teil allerdings wohl
heutzutage wegen der angeführten Gründe
keine große Aussicht auf Erfolg bean¬
spruchen können [Aufklärung über Ge¬
fahr der Abtreibung, moralisch-ethische
Vorträge, Verbreitung und Behauptung
religiöser Ideen (Dietrich, Köln)]; zum
Teil aber auch einen praktischen Wert
haben mögen (Bekämpfung des Kur¬
pfuschertums, Verbot abtreibender Mittel,
Verbesserung sozialer Einrichtungen, Be¬
vorzugung und bessere Besoldung kinder¬
reicher Familien). — Nebenbei sei hier
bemerkt, daß der Verein Mecklenburg!-
^2 Die Therapie der öegeflwärt 1921 D^zembe^
scher Ze'itungsverleger’^am 16. Februar
1921 auf seiner Tagung in Rostock folgen¬
den Beschli|ß gefaßt hat: Der Verein be¬
schließt, daß die Mecklenburgischen Zei¬
tungsverleger Inserate, welche Geheim-
mittel betreffen, sowie solche unsittlichen
Inhalts vom 1. April 1921 ab nicht mehr
aufnehmen sollen.
Daß eine Verringerung des kriminellen
Abortus durch gesetzgeberische Maßnah¬
men wohl kaum möglich sein wird, dieser
Ansicht, die von vielen Autoren vertreten
wird, trete auch ich bei.
Was die Zahl der Aborte und speziell
der kriminellen anbetrifft, so können die
zahli eichen darüber veröffentlichten Sta¬
tistiken wohl nur relativen Wert haben,
weil das zur Statistik herangezogene
Material immer nur einen Teil, allerdings
den größten, der Gesamtfälle umfaßt,
eine große Reihe derselben aber ohne
jede ärztliche Hilfe, ja oft ohne Kenntnis
einer zweiten Person von statten geht.
Daß zu diesen letzten vornehmlich wieder
die kriminellen Aborte gehören, leuchtet
wohl ein. Die veröffentlichten Statistiken
differieren, was die Zahl der Aborte und
den Prozentsatz der kriminellen angeht,
erheblich.
Ich erinnere nur an die Statistiken
von Bumm, Nürnberger, Hirsch,
Siegel und anderen, ferner an die Ver¬
öffentlichung von D öder lein aus der
Münchener Kommission und an neuere
Statistiken aus der letzten Zeit, welch
letztere fast sämtlich ein starkes Sinken
der Geburtenzahl und Ansteigen der
septischen Aborte betonen.
Im allgemeinen wird eine Abortzahl
von 300 000 bis 500 000 im Jahre (Bumm,
Döderlein, Opitz, Winter)! an¬
genommen, eine Zahl, die sicherlich aber
noch nicht die wahre Menge derselben
trifft.- Die Verschiedenheit in den Ergeb¬
nissen der Statistiken beruht wohl auf
der Verschiedenheit der Methoden, mit
Hilfe deren dieselben gewonnen sind.
Jedenfalls haben diese zahlreichen, mit
großer Genauigkeit durchgeführten Ar¬
beiten sehr viel zur Klärung der ganzen
schwierigen Abortfrage beigetragen, und
steht das eine fest, daß die Zunahme der
Aborte immer erschreckender wird.
Es sei mir nur die kurze Zwischen¬
bemerkung gestattet, daß von 15 Aborten,
die ich in den letzten fünf Monaten
meiner ganz jungen Praxis ausräumen
mußte, mir zwölf ohne großes Zögern als
kriminell zugegeben wurden, und daß
auch von den ahdoreii drei Frauen eine
verbrecherische- Handlung nicht'mit kate¬
gorischer Sicherheit abgeleügnet wurd^-.
Während der kriminelle Abort eine
verbrecherische Handlung, die von seiten
der Frauenwelt, von Kurpfuschern oder
auch in wenigen Fällen von dunkler.
Elementen unter den Ärzten vorgenom¬
men wird, darstellt, ist-der Abortus arte-
ficialis eine Operation, die nur von Ärzten
ledigjich nach medizinischen Gesichts¬
punkten vorgenommen werden soll.
Nach Bumm soll die Zahl der von
ärztlicher Seite eingeleiteten Aborte nur
1 % der Gesamtaborte betragen, eine
Zahl, die mir reichlich niedrig erscheint.
Winter schätzt (1917!) diese Zahl auf
5000 bis 10 000.
Der Arzt darf eine Gravidität nur
unterbrechen, wenn bei einer Frau infolge
einer bereits bestehenden Erkrankung
eine als unvermeidlich erwiesene schwerste
Gefahr für Leben und Gesundheit vor¬
handen ist, die durch kein anderes Mittel
als durch Unterbrechung der Schwanger¬
schaft abgewendet werden kann.
Von Kahl (Jurist) wird in einer Ver¬
handlung der Berliner medizinischen Ge¬
sellschaft im Jahre 1917 eine Unter¬
brechung der Schwangerschaft nur dann
als nicht rechtswidrig, also straflos be¬
zeichnet, wenn sie von einem approbierten
Arzte aus medizinischer Indikation zur
Rettung der Mutter aus Lebensgefahr
oder Abwendung schwerer Gesundheits¬
schädigung nach den Regeln der ärzt¬
lichen Wissenschaft vorgenommen wird.
Das Strafgesetzbuch sieht, für Ab¬
treibungen in den p 218 bis 220 die
schwersten Gefängnis- und Zuchthaus¬
strafen vor, schützt also durch solche
Strafen die Leibesfrucht, die ja das Recht
auf Leben besitzt, wenn sie auch juristisch
noch nicht rechtsfähig ist.
Während Winter 1917 noch schrei¬
ben konnte: ,,Der Staat bereitet von
neuem und in schärferer Weise den
Kampf gegen den künstlichen Abort und
gegen Abtreibung vor“ ging bereits im
Februar 1919 eine Petition auf Abände¬
rung dieser Gesetze an die Nationalver¬
sammlung ein; und zwei weitere Anträge
auf Aufhebung beziehungsweise Abände¬
rung dieser Paragraphen sind im Juli
1920 von unabhängiger beziehungsweise
mehrheitssozialistischer Seite an den
Reichstag eingebracht.
Ein von Dr. Geuer (Köln) im ärzt¬
lichen Vereinsblatt Nr. 1223 erlassener
Dei&eftfbef^
Oie Thetapir.dö* ßegenjätcarC 1921;.
Aufruf beleuchtet die vorhandenen Ger.
fahren .und-fordert von der deutschen'
Ärzteschaft eine entschiedene, energische
Stellungnahme/ Der Ruf ist nicht ver¬
hallt! Der deutsche Ärztevereinsburtd
hat einen energischen Einspruch gegen'
Straffreiheit der Abtreibung an den
Reichsminister des Innern und an den
Deutschen Reichstag gerichtet, in dem
auf die außerordentlich^ schweren Ge¬
fahren für die Vo-lksgesundheit und den
Bestand des Volkes eingehend hinge¬
wiesen wird. Inzwischen haben auch ver¬
schiedene medizinische Gesellschaften, so
z. B. die Gesellschaft für Geburtshilfe und
Gynäkologie, in Berlin und Leipzig, die
-.Ärztekammern in Sachsen öffentlich zu
den Anträgen Stellung genommen und
jede Änderung der §§ 218—220 abgelehnt.
Möchte den Protesten der Erfolg nicht
versagt sein, sondern möchte der Deutsche
Reichstag die gestellten Anträge ebenso
ablehnen wie es in wahrer Erkennung der
schweren Gefahren der Große Rat in der
Schweiz im Jahre 1919 getan hat! Die
Folgen wären sonst nicht abzusehen!
Ein geradezu widerlicher Artikel von
Maximilian Harden findet sich in Nr. 12
der Zukunft von 1920. Derselbe legt
Zeugnis ab von einer außerordentlich
niedrigen Denkungsart eines Menschen,
der jeder Frau die freie Verfügung und das
Selbstbestimmungsrecht über die Leibes¬
frucht gemäß dem Antrag der Unabhän¬
gigen gesetzlich zugestanden wissen will,
und ergeht sich in zahlreichen Injurien
gegen uns Ärzte.
Es ist tief traurig, daß ein solcher
Mensch, der sich auch noch das Mäntel¬
chen des Vorkämpfers für einen ver¬
nünftigen Wiederaufbau Deutschlands
umhängt, folgende Worte schreiben kann:
Ethos und Wirtschaft, einzelmenschliche
und soziale Vernunft spricht mit eherner
Zunge gegen den Fortbestand der Ab--
treibungsparagraphen (der wahren
Schmachparagraphen)! —
Die Weitherzigkeit in der Indikations¬
stellung zur Einleitung eines künstlichen
Abortus ist an verschiedenen Orten und
bei verschiedenen Ärzten sehr verschieden
groß, wenn man bedenkt, aus welchen
Gründen bisweilen eine Gravidität unter¬
brochen wird. Eine auf das bloße Aus¬
sehen der Frau gestellte Diagnose von
Blutarmut, von Nervenschwäche, Körper¬
schwäche, eine physiologische Hyper¬
trophie der Schilddrüse in der Gravidität
und viele andere leichte Fehler und Er¬
krankungen sind für manche Ärzte schon
ein. Grund,^ das keimende. Leben :2u:V^-
nichten. Ich erinnere hier nur an das,
Opitz in seinem 1917 erschienenen.
Aufsatz über ,',Bevölkerungspolitik: und
ärztliche Tätigkeit‘-‘ schreibt: Die schlaffe
Auffassung von den sittlichen-Verpflich¬
tungen gegenüber dem keimenden Leben,-
die unser ganzes Volk verseucht hat, ist
auch auf die Ärzte wie auf die Richter
übergegangen. Die Ansinnen, die dem
Facharzte auch selbst von seiten als
gewissenhaft und tüchtig bekannter prak¬
tischer Ärzte gestellt werden, sind oft
geradezu haarsträubend. Mir sind zürn
Beispiel Fälle zur Einleitung des Abortus
zugewiesen worden wegen Varicen, wegen
eines Beingeschwürs, wegen sich wieder¬
holender Ausschläge, weil es bei der letzten
Geburt stark geblutet habe und ähnliche
mehr.‘'
Ferner schreibt Döderlein:. :,,Es
ist aber nicht zu verkennen und durch
amtliche Umfrage festgestellt, daß die
ärztlicherseits vorgenommenen Unter¬
brechungen der Schwangerschaft" in
dauerndem Wachstum begriffen sind/*
Crohne zitiert in einem Referat für
die wissenschaftliche Deputation eben¬
falls Beobachtungen aus mehreren Frauen¬
kliniken über Zunahme des künstlichen"
Abortus. Winter weist ebenfalls auf die
starke Vermehrung hin und sieht den
Grund hauptsächlich darin, daß ein großer
Teil der Ärzte den Boden der Wissenschaft
verlassen hat.
Und Kahl schreibt: ,,Zweifellos, viele
Ärzte und zwar ohne grundsätzliche Ver¬
schiedenheit von Groß- und Mittelstadt,
von Stadt und Land, haben in pflicht¬
widriger Weise sich Unterbrechungen ge¬
leistet, die vorbehaltlos als kriminelle Ab¬
treibungen anzusprechen sind. Nicht
immer haben unehrenhafte Motive dabei
eine Rolle gespielt, öfter einfache eigen¬
willige Weltanschauung.
Die Unterbrechung einer durch ge¬
ringfügige Fehler und Erkrankungen kom¬
plizierten Schwangerschaft wird, abge¬
sehen von wenigen Fällen, meiner An¬
sicht nach sicherlich nicht-aus bösem
Willen ausgeführt, sondern weil es einem
großen Teil der Ärzte — ich spreche nicht
von der Allgemeinheit — an den nötigen
Kenntnissen über die Wirkung einer
Schwangerschaft auf eine bestehende
Komplikation mangelt, oder auch, weil
sie oft — was wohl für weibliche Ärzte
noch mehr zutrifft als für männliche ---
nicht die nötige Energie besitzen, um
Patientinnen, die mit solch einem An-^
464
Die Therapie der Gegenwart' 1921
Dezember
sinnen kommen, in die richtigen Schran¬
ken zurftckzuweisen und sie mit den ge¬
bührenden Aufklärungen und Zurecht-
Meisuilgen wieder zu entlassen.
Wir Ärzte haben — und dies muß
immer wieder betont werden — lediglich
nach medizinischen Gesichtspunkten zu
handeln, ganz abgesehen davon, daß uns
ja die Achtung vor den Gesetzen ein an¬
deres Handeln selbstverständlich ver¬
bieten muß.
Die wissenschaftlichen theoretischen
Forschungen und praktischen Erfah¬
rungen haben in den letzten Jahren die
Frage der Indikationsstellung außer¬
ordentlich gefördert und soweit geklärt,
daß für viele Krankheiten bereits ziem¬
lich feststehende Indikationen vorhanden
sind, während man bei anderen (z. B.
Tuberkulose, Herzfehler, Nierenerkran-
kung usw.) nach großen Richtlinien han¬
deln und jeden Fall individuell be¬
urteilen muß. Es ist natürlich, daß nicht
jeder Arzt in allen Komplikationen, die
während einer Schwangerschaft auf-
treten können, große Erfahrungen haben
kann, da eben die Zahl derselben nicht
nur relativ, sondern auch absolut gering
ist. Er muß sich deshalb, was seltene Er¬
krankungen betrifft, darauf beschränken,
seine Erfahrungen und Kenntnisse aus
der Literatur zu sammeln, um sie im ge¬
gebenen Falle nutzbringend verwerten
zu können. Zu diesem Zwecke erscheint
das Zusammenarbeiten von Praktikern
und Fachärzten, welch letztere die Wir¬
kungen einer Schwangerschaft auf Krank¬
heiten, die ihr Spezialfach betreffen, am
besten beurteilen können, dringend ge¬
boten. So wird ein Ophthalmologe am
besten die eventuellen Schädigungen einer
Gravidität auf eine Netzhautablösung
usw., ein interner Mediziner solche auf
die Tuberkulose, Herz- und Nierener¬
krankungen am sichersten abwägen
können. Das Konsilium mit einem Gynä¬
kologen erscheint mir stets von Nutzen,
da dieser ja die mannigfachsten Kompli¬
kationen während der Gravidität zu sehen
bekommt und außerdem zu entscheiden
hat, welche Operation in jedem einzelnen
Falle zur Unterbrechung vorzunehmen ist.
Wenn auch bereits vorher diese wich¬
tige Frage Oft genug Gegenstand von Vor¬
trägen und Diskussionen in ärztlichen
Vereinen und Gesellschaften und von
wissenschaftlichen Arbeiten gewesen ist,
so sind doch die vor allem von Winter
und seinen Schülern und von anderen
Königsberger Kliniken aufgestellten Leit¬
sätze im allgemeinen grundlegend ge¬
worden und schon von zahlreichea medi¬
zinischen Vereinen und Gesellschaften,
bisweilen mit geringen Abänderungen an¬
erkannt worden. — ln neuester Zeit ist
nun die Diskussion überdie nichtmedizini¬
schen Indikationen sehr rege, und über
diese möchte ich im folgenden meine
Ansicht äußern.
Soziale Indikationen.
Die soziale Indikation, die man früher
überhaupt nicht kannte, wurde erst all¬
mählich, zunächst zusammen mit der
medizinischen, bei der Beurteilung krank¬
hafter Zustände in Erwägung gezogen.
Allmählich erweiterte sich ihr Gebiet
immer mehr und mehr, so daß die Sach¬
lage heute die ist, daß schlechte pekuniäre
Verhältnisse, Kinderreichtum usw. für
manche Ärzte der Grund sind, eine
Schwangerschaft zu unterbrechen. Da¬
mit hat, wie Winter sehr richtig bemerkt,
der Arzt aufgehört, Arzt zu sein und sich
zum Helfer bei sozialen und familiären
Notständen gemacht.
Die Gründe der aufgekommenen so¬
zialen Indikationen liegen teilweise un¬
zweifelhaft in steigenden wirtscliaftlichen
Schwierigkeiten; zum größten Teil aber —
und das muß ganz energisch betont wer¬
den — sind sie ganz anderer Natur. Nach
Fuhrmann sind die Gründe, die den
modernen Menschen, den Westeuropäer,
veranlassen, seine Kinderzahl zu be¬
schränken, rein selbstsüchtiger Art und
bestehen in Bequemlichkeit und Genu߬
sucht. ,,Diese egoistischen Triebe haben
im neuzeitlichen Leben eine hemmungs¬
lose Steigerung erfahren, vor welcher'alle
höheren Gesichtspunkte (Vaterland, Fa¬
milie) und alle Schranken (Schamhaftig¬
keit, Sittlichkeit, Ruf) fallen.“ Selbst¬
süchtigen Beweggründen, wenn auch
anderer Art, entspringt nach Fuhrmann,^
auch die Frauenemanzipation. Dies
schrieb Fuhrmann 1917. Jetzt liegen
die Verhältnisse in dieser Beziehung in¬
folge der gesteigerten materialistischen
Lebensauffassung noch bedeutend schlim¬
mer. — Teilweise Wird die Beschränkung
der Kinderzahl auch propagiert durch die
Lehre vom Neomalthusianismus, einer
zweiten verbesserten Auflage der Lehre
des Engländers Malthus, nach welcher es
ein schweres geschlechtliches Verbrechen
für Männer und Weiber ist, mehr Kinder
in die Welt zu setzen, als sie ernähren,
erziehen und beherbergen können. Wenn
auch in heutigen Zeiten die Wirtschaft-
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1921
465
liehen Verhältnisse oft recht schwierig, ja
trostlos sein können, so dürfen sie doch
unter keinen Umständen für uns Ärzte
ein Grund zu einer Schwangerschafts¬
unterbrechung sein. Und wie können
die Ärzte überhaupt mit einigermaßen
großer Sicherheit beurteilen, ob die soziale
Lage einer Frau wirklich schlecht ist?!
Ich glaube, das ist heute schwieriger denn
je! Zu diesem Zwecke müßten wir einen
genauen Einblick in die Vermögens- und
Lohnverhältnisse usw. haben!
Ich kann auch den Standpunkt, den
M. Hirsch in einem Aufsatz über die
soziale und eugenetische Indikation 1918,
und den er neuerdings in einer Arbeit über
die Fruchtabtreibung vertritt, absolut
nicht teilen.
Wenn Hirsch schreibt, die Beschrän¬
kung der Kinderzahl habe in den aller¬
meisten Familien ihre Ursache in wirt¬
schaftlichem Notstand, sei es direkter
oder indirekter Art, und wenn er dies
auch eingehend zu beweisen versucht,
indem nämlich die Fruchtabtreibung ein
Mittel im Kampf ums Dasein, im kul¬
turellen Wettbewerb sein soll, daß ferner
der Unterschied zwischen Einkommen
und Lebensbedarf zu groß sei, daß die
Folge davon eine stärkere Beteiligung
der Frauen am Erwerbsleben sei, so mag
dies für viele Fälle zutreffen; für die
meisten trifft es meiner Ansicht nach
sicherlich nicht zu. Sondern der wahre
Grund zum Nichtzeugenwollen liegt, wie
schon bemerkt, in Bequemlichkeit, Ge¬
nußsucht, Sichauslebenwollen und ande¬
ren ähnlichen Dingen, die ich nicht anders
als Degenerationserscheinungen nennen
kann. Man braucht ja nur mit offenen
Augen um sich zu schauen, um die De-
kadenze des Vokes zu sehen.
Wenn Hirsch ferner schreibt, daß es
Tatsache sei, daß das in allen Kultur¬
staaten bestehende Strafgesetz gegen die
Fruchtabtreibung in einem scharfen Gegen¬
satz zu der in den weitesten Kreisen des
Volkes bestehenden Auffassung von Sitt¬
lichkeit und Recht stehe, so bedarf dies
doch einer erheblichen Einschränkung
insofern, als oieser Gegensatz früher nicht
in den weitesten Kreisen des Volkes be¬
standen hat, sondern erst als eine Folge
der allgemein gesunkenen Moral und der
gesteigerten materialistischen Lebensauf¬
fassung entstanden ist.
Das VoI/< weiß sehr wohl, daß die Ab¬
treibung ein Verbrechen ist. Es ist nicht
die Auffassung des Volkes, daß jede Frau
mit der Leibesfrucht machen könne, was
sie wolle; diese Auffassung wollen nur
einige Vertreterinnen der Frauenemanzi¬
pation und andeie propagiert wissen.
Das Volk möchte jetzt vielleicht gerne
von einem unbequem“en Gesetz, durch
das es in seinen selbstsüchtigen Trieben
eingeengt ist, sich befreit wissen!?
Wenn der Staat die Leibesfrucht
schützt und die Abtreiber mit hohen,
schweren Strafen belegt, so tut er es eben
aus dem Bewußtsein heraus, daß die
wirkliche Abtreibung — also die, die nicht
aus medizinischer Indikation vorgenom¬
men ist — ein Verbrechen ist, weil
durch dieselbe f^in keimendes Leben, das
Anspruch auf Leben lYat, getötet wird.
Es erwächst dem Staat allerdings
daraus auch die Pflicht, für den Nach¬
wuchs genügende Existenzmöglichkeit zu
schaffen. Er hat aber niemals das Recht,
die Vernichtung eines keimenden Lebens
aus sozialer Indikation zu gestatten, auch
nicht in der Form, wie Hirsch es auf
dem. Wege einer für diesen Zweck zu
schaffenden behördlichen Instanz im Auge
hat. Dem Staate stehen andere Mittel
und Wege zur Verfügung! Das ist meine
Ansicht! Und deswegen müssen wir uns
unbedingt auf den Boden dei Wissen¬
schaft stellen, wir dürfen nur nach medi¬
zinischen Grundsätzen handeln und auf
keinen Fall soziale Momente bei der Be¬
urteilung mitspielen lassen. Den Boden
der sozialen Indikation zu betreten, halte
ich für außerordentlich gefährlich. Wenn
man überhaupt anfangen wollte, dieselbe
Hiit einem Schein des Rechts zu um¬
kleiden, so wäre dem künstlichen Abort
und dem Verbrechen Tür und Tor ge¬
öffnet, denn die soziale Indikation ließe
sich doch wohl mit etwas gutem Willen
in fast jedem Falle herausfinden.
Ich kann auch dem Artikel von Lenn-
hoff (Berlin) im ärztlichen Vereinsblatt
über die Straffreiheit der Abtreibung, in
dem er s:agt, daß er noch zu der über¬
wältigenden Mehrheit der Ärzte gehöre,
von welcher der Geschäftsausschuß des
deutschen Ärzteyereinsbundes in seinem
Protest spricht, nicht für taktisch richtig
halten, denn die Argumente, die für eine
soziale Indikation andererseits hier an¬
geführt werden, sind zu groß; und ich
glaube, zwischen'den Zeilen zu lesen, daß
Lennhoff von der Anerkennung der
sozialen Indikation nicht mehr allzuweit
entfernt ist. Die gute Absicht soll an¬
erkannt werden, für klug halte ich es
nicht, einen solchen Artikel jetzt in einem
Blatt der ärztlichen Fachpresse zu ver-
59
466
^ Die Therapie der Gegenwart 1921
Dezember
öffentlichen. Für außerordentlich gefähr¬
lich halte ich die Vorschläge, die von
Lahns^'teiner (Berlin) im ärztlichen
Vereinsblatt Nr. 1229 gemacht werden.
Was soll das heißep: „Es könnte von den
Ärzten aus das Volk zu einer gesunderen
Basis der Abtreibung geführt werden,
welche dem Volkswillen und der Wissen¬
schaft gerecht werde?“ Das ist glatte
Propagierung der Abtreibung! Und ich
kann mich betreffs dieses Artikels nur
auf den Standpunkt der Schriftleitung
des Vereinsblattes stellen, die eine kurze
Zusatzbemerkung zu diesen Zeilen ge¬
macht hat. Wir müssen also die soziale
Indikation strikte ablehnen. Der Staat
ist derjenige, der die sozialen Verhältnisse
zu bessern hat; und wir Ärzte müssen
den Staat in diesen Bestrebungen auf
allen Gebieten unterstützen, aber nicht
so, daß wir traurige soziale Zustände durch
Vernichtung eines keimenden Lebens zu
bessern suchen!
Es kann nun Vorkommen, daß
schlechte soziale Verhältnisse eine wäh¬
rend einer Schwangerschaft bestehende
Erkrankung besonders schlecht beein¬
flussen. Hier spricht man dann von
einer kombiniert sozial-medizinischen In¬
dikation. Diese ist auch von der ober¬
rheinischen Gesellschaft für Geburtshilfe,
und' Gynäkologie in Leitsätzen, die von
Freund aufgestellt waren, erwähnt, und
es soll danach eine soziale Indikation im
Verein mit bestehenden ernsten Erkran¬
kungen berücksichtigt werden.
Meiner Ansicht nach ist diese kom-
biniert-sozialm.edizinische Indikation eine
Umgehung der sozialen; und hiermit ist
der erste Schritt zur sozialen Indikation
überhaupt getan! Entweder ist eine In¬
dikation medizinisch oder sozial! Ich
halte jedenfalls die Kombination für ge¬
fahrvoll aus dem einfachen Grunde, weil
bei derselben in den meisten Fällen sicher¬
lich die sozialen Gründe mehr berück¬
sichtigt werden würden als die medi¬
zinischen; und möchte hinzufügen, daß
ich der Ansicht bin, daß die soziale In¬
dikation in sehr zahlreicjien Fällen weiter
nichts bedeutet als eine Veischleierung
der Schlappheit mancher Ärzte, dem
Publikum offen die Meinung zu sagen, be¬
ziehungsweise der Furcht, einmal eine
Patientin zu verlieren!
, Die soziale Indikation Avird von allen
namhaften Autoren abgelehnt; und auch
der deutsche Ärztevereinsbund hat sich
in seiner Eingabe an den Reichsminister
des Innern, in der aufs schärftse Protest
erhöhten wird gegen die Abänderung der
§§ 2\% —220, auf diesen Standpunkt ge¬
stellt. Er lehnt die soziale ebenso ab wie
die eugenetische Indikation.
Von juristischer Seite (Kahl) wird
gesagt: Jede aus sozialen oder rasse¬
hygienischen Indikationen vorgenommene
Unterbrechung ist glatte kriminelle Ab¬
treibung!
Eugenetische Indikation.
Eugenik ist die Lehre von der Fort¬
pflanzungsauslese, die sich auf botani¬
schen und zoologischen Studien und den
Erfahrungen am Menschengeschlecht auf¬
baut. Für sie kommt nur Verhinderung,
Einschränkung oder Begünstigung der
Fruchtbarkeit der untüchtigen be¬
ziehungsweise tüchtigen Personen in
Fiage. Die Vererbungslehre ist die trag¬
fähige GrundUge für eine Vererbungs¬
hygiene oder Eugenik (Schallmayer).
Unsere Kenntnisse über die ganzen Ver¬
erbungsgesetze stehen aber noch auf der-
aitig schwachen Füßen, daß wir vor¬
läufig nicht berechtigt sind, auf Grund
der bisherigen Erfahrungen für einen
Einzelfall eine Entscheidung über eine
Schwangerschaftsunterbrechung zu fällen.
Nur in ganz seltenen Fällen wird es einem
Kollegium psychiatrischer Fachleute Vor¬
behalten bleiben, eventuell einmal einen
künstlichen Abort einzuleiten.
Bonnhöfer meint, daß den Ärzten
nicht nur das Recht, sondern auch die
Befähigung abgeht, in Vererbungsfragen
Vorsehung zu spielen. Er sagt ferner:
Wenn man seine psychiatrischen Er¬
fahrungen über die Kinder endogen
Geisteskranker überblic.vt, so sähe man
namentlich bei der Deszendenz Manisch-
Depressiver so viel Gesundes, soviel Ta¬
lent, künstlerische Begabung und starke
gemütliche Empfänglichkeit mit hoher
Intelligenz verbunden, daß das Psycho¬
pathische, das in der Erbmasse ist, oft
reichlich aufgewogen ist. Selbst auch bei
der Dementia präcox, bei der die Erb-
verhältnisse ungünstiger liegen, fände
man soviel Gesundes und sozial Brauch¬
bares in der Descendenz, daß keine
sichere, ja nicht einmal eine größere
Wahrscheinlichkeit vorläge, durch Ver¬
nichtung des keimenden Lebens gerade
das rasseverderbende Element zu treffen.
Und Meyer sagt, daß die Lehre von
der Eugenik bei der Vornahme des
Abortus, bei Geistes- und Nervenkrank¬
heiten volle Beachtung erfordere, zu
greifbaren Anzeigen gäben uns aber die«
Dezember
467
Die Therapie der Gegenwart 1921
i
bisherigen Forschungsergebnisse auf die¬
sem Gebiet keinen Anhalt.
Als Befürworter einer Eugenik im
Sinne der Sterilisation möchte ich Stro-
mayer (Jena) nennen, der m manchen
Fällen von manisch-depressivem Irresein
und Dementia präcox dieselbe empfiehlt.
Er begründet seine Ansichten am Schluß
seiner Abhandlung im Handbuch von
Placzek und schaut mit einem gewissen
Neid auf Amerika, wo die Sterilisierung
bei gewissen Geisteskrankheiten und bei
manchen Verbrechen schon zum Gesetz,
erhoben sei. ,
Die angeführten Gründe, daß die
Fortpflanzung geistig und moralisch Ent¬
arteter für Rasse und Staat das größte
Unglück sei, ist gewiß größter Beachtung
wert; aber es muß noch einmal betont
werden, daß vorerst unsere Vererbungs¬
gesetze, auch nach den Mendelschen
Forschungen, noch zu sehr in den An¬
fängen stecken. Vorläufig müssen wir
die eugenetische Indikation im allge¬
meinen ablehnen; die Zukunft wird das
Weitere lehren. Was für Amerika in
diesen Dingen recht ist, ist für uns noch
lange nicht billig.
Ich stelle mich, was die soziale und
eugenetische Indikation anbetrifft, im
allgemeinen auf den strengen Standpunkt
von Menge und mache nur die Ein¬
schränkung, daß die Eugenik höchstens
in ganz seltenen Fällen zu berücksich¬
tigen wäre, wo z. B. in einer Familie in
der Descendenz bereits mehrere Epilep¬
tiker vorhanden sind und immer wieder
epileptische und idiotische Kinder ge¬
boren werden. Ebenfalls wäre in ganz
seltenen Fällen die Sterilisation auszü-r
führen.
Die eugenetische Indikation wird auch
von sämtlichen führenden Gynäkologen/
PsycTiiatern und Klinikern abgelehnt/
Notzuchtsindikationen.
Die Notzuchtsindikation ist eigentlidi*
erst mit Beginn des Weltkrieges akut ge¬
worden, als infolge des Russeneinfalles
in Ostpreußen zahlreiche deutsche Mäd¬
chen von russischen Horden geschwängert
wurden.
Der Standpunkt von D öd er lein:
,,Die Unterbrechung bei gerichtlich fest-'
gestellter Notzucht ist nicht strafbar“,
erscheint mir der richtige. Notzucht fest¬
zustellen ist außerordentlich schwierig;,
es kann nur durch Zeugenaussagen mög¬
lich sein; denn auf die Angaben der
Frauen ist wohl in solchen Fällen begreif¬
licherweise wenig Verlaß, da man natür¬
lich nie entscheiden kamt, ob die be¬
treffende Frau Wirklich genotzüchtigf
ist oder freiwillig den Beischlaf gestattet
hat.
Von manchen wird behauptet,, daß.
bei äußerstem Widerstande einer Fraii
Notzucht durch einen einzelnen infolge der
starken Adduktion der Oberschenkel über¬
haupt nicht möglich sei.
Kommt einmal die Einleitung eines
Abortus wegen Notzucht, wie es jetzt ja
vor allem im besetzten Gebiet eintreten.
könnte, in Frage, dann würde es wohl
das Zweckmäßigste sein, den Fall einem
Kollegium, von Fachärzten zur Bepr-.
teilung vorzustellen.
Repetitorium der chirurglsclien Therapie.
Von M. Borchardt.
Die Behandlung der Varicen und ihrer Folgezustäride.
Von M, Borchardt und S. Ostrowski.
Die varicöse Entartung der Venen an
I den Unterextremitäten mit ihren Folge-
j erscheinungen, dem Ekzema cruris, dem
I Ulcus cruris varicosum, chronisch-hyper-
l plastischen Prozessen, der Thrombo-
' phlebitis, dem rezidivierenden Erysipel,
' sklerodermieartigen Veränderungen der
Haut und schließlich der Elephantiasis,
die wir unter dem Bilde des varicösen
! Symptomenkomplexes zusammenfassen,
‘ ist eine in weitesten Schichten der Be-
tvölkerung verbreitete Erkrankung. Sie Ist
eine Volkskrankheit im wahrsten Sinne
des Wortes und deshalb ein ebenso häufiges
wie wichtiges Behandlungsobjekt für den*
Arzt, oft aber auch deswegen ein mindbr«
dankbares .zugleich, weil nur in einer
Minderzahl von Fällen aus sozialen Grün¬
den sich eine Kausaltherapie von Grund-
auf durchführem läßt. Immerhin be¬
sitzen wir doch eine Anzahl von Heil-,
methoden, die, wenn sie sachgemäß und-
konsequent angewendet werden, auch bei/
ambulatorischer Behandlung, was prak->
tisch von großer Bedeutung ist, innerhalb:
gewisser Grenzen Gutes erreichen, ohne/
den Kranken seinem Berufe zu entziehen;
Die Prophylaxe ist auch hier die beste,
59*
468
Die Therapie der Gegenwart 1921
Dezember
Therapie. Sobald die ersten Anzeichen
d^er Ektasie, verstärkte Zeichnung der
Venen, das Gefühl leichter Ermüdbarkeit
inder Beinmuskulatur, ziehende Schmerzen
entlang den Venenstämmen, bei Frauen
besonders in der prämenstruellen Zeit, sich
bemerkbar machen und vielleicht auch
andere Zeichen, wie Varicocelen- und
Hämorrhoidenbildung, Hautvenenekta¬
sien an anderen Stellen des Körpers auf
eine Schwäche der vasculären Stütz-
gewebe hinweisen, hat die Prophylaxe ein¬
zusetzen. Sie hat sich gegen die Fern¬
haltung aller derjenigen schädigenden
Momente zu richten, die erfahrungsgemäß
zur Bildung von Varicen führen oder ver¬
schlimmernd auf schon bestehende, im
Anfangsstadium befindliche einwirken
können. Wenn möglich, sind bei nach¬
gewiesener familiärer Disposition bei der
Berufswahl alle mit Beschäftigungen im
Stehen oder mit schweren körperlichen
Anstrengungen verbundenen Berufe aus¬
zuschalten. Zum mindesten ist dafür
Sorge zu tragen, daß der mit Krampf¬
adern Behaftete sfch während der Tages¬
arbeit hinreichend Ruhepausen gönnen,
und während dieser den Beinen eine er¬
höhte Lage geben kann. Auch während
der Nacht sind die Unterextremitäten
höher zu lagern als das Gesäß, während
sie am Morgen, vor dem Aufstehen, nach
^iner für einige Minuten vorgenommen,
möglichst steilen Elevation, sorgfältig von
den Zehen an rumpfwärts mit einer der
späterhin zu besprechenden Bandagen
cinzuwickeln sind. Denn das Haupt¬
prinzip der Therapie, das allen Stadien
des varicösen Symptomenbildes gemein¬
sam ist, ist die möglichst vollständige Be¬
seitigung der Stauungsvorgänge in den
venösen Abflußwegen. Besonderes
Augenmerk ist auf die Wegräumung me¬
chanischer Hindernisse für den Blutabfluß
zu richten. Schlechte, die Venen kompri¬
mierende, circuläre Strumpfhalter sind zu
entfernen, den intraabdominellen Dfuck
erhöhende Tumoren, wie Uterusmyome,
Ovarialcystome, große parametrane Exsu¬
date, retrouterine Blut- oder Eiteransamm-
tungen sind eventuell operativ zu besei¬
tigen. In der Hygiene derSchwangerschaft
und des Wochenbettes ist die Gefahr blei¬
bender Varicositäten zu beachten. Eine
wirksame Schutzmaßnahme, auf die nicht
eindringlich genug hingewiesen werden
kann, ist die peinliche Hautpflege der
varicösen Extremitäten. Zwischen der
Verschlimmerung bestehender Phlebekta¬
sien und dem Mangel einer hinreichenden
Hautreinigung besteht ein sicherer ur¬
sächlicher Zusammenhang. Unreinlich¬
keit erhöht die Infektionsgefahr. Von
kleinen, unscheinbaren Häutläsionen, wie
sie besonders bei den arbeitenden Klassen
gerade an den, Traumen in erster Linie .
ausgesetzten, Extremitäten ein häufiges ;
Vorkommnis sind, wandert die Infek-
tion entlang den kleinen Hautgefäßen in
die Wand der großen Gefäßbahnen ein
und-muß hier bei häufiger Wiederholung'
des infektiösen Insults zu einer Entartung
•der Gefäßwand führen, die wiederum von
einer Erweiterung des Gefäßes gefolgt sein
kann. Wichtig ist ferner die Erfahrungs¬
tatsache, daß die Haut varicöser Unter¬
schenkel eine besondere Empfindlichkeit
gegen Medikamente zeigen kann. Sei es
nun, daß ein komplizierendes Ekzem, ent¬
zündliche Prozesse oder die häuEgste
Komplikation der Varicen, des Ulcus
varicosum, eine medikamentöse Behand¬
lung erfordern, ist Vorsicht bei der Aus¬
wahl und Dosierung der zu applizierenden
wirksamen Stoffe zu üben, erst tastend
mit milderen Mitteln zu beginnen und
allmählich zu stärkeren überzugehen.
Die Behandlung des varicösen Sym-
ptomenkomplexes richtet sich einmal nach
den sozialen Verhältnissen des Kranken,
und dann nach dem Grade der vorliegen¬
den Veränderungen der Venen. Die in¬
terne Therapie, von der man bei leichteren
Erkrankungsformen früher Nutzen er¬
hoffte, ist wohl fast völlig verlassen worden.
Die Versuche, durch medikamentöse Zu¬
fuhr, wie von Extr.. Hamamelidis virgin.,
Liq.Ferri sesquichlorati und anderen styp-
tischen beziehungsweise gefäßkontrahie¬
renden Mitteln, die erweiterten Venen
dauernd wieder zu verengern, führten zu
Fehlschlägen und dürften kaum noch
wieder aufgenommen werden. Von man¬
chen Seiten wird immer wieder die gün¬
stige Wirkung des Ichthyols bei inner¬
licher Darreichung von 0,3 g mehrmals
täglich hervorgehoben, ohne daß diese
Angaben sich bei einer näheren Nach¬
prüfung aufrechterhalten lassen.
Die lokalen Maßnahmen dienen in
erster Linie der Beseitigung der venösen
Stase in den venösen Abflußwegen der
unteren Extremitäten. Von den konser¬
vativen Mitteln ist vor allem die systema¬
tische Kompression durch geeignete Ban¬
dagierung anzuwenden, durch die eine
Entlastung der entarteten Venenwände
beziehungsweise ein Ersatz der insuffi¬
zienten Venenklappen bewirkt werden
soll. Wenn es sich noch um beginnende
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1921
469
Venenerweiterung, sogenannte cirsoide Er¬
weiterung, handelt, so kann selbst bei
Fortführung der Berufstätigkeit noch den
schwereren Graden der Entartung, den
sack- und wulstförmigen Varicositäten,
vorgebeugt werden. Wichtig ist, daß
der Arzt den Kranken oder noch besser
einen Angehörigen in der Anlegung der
Bandage gehörig, unterweist. Solchen Pa¬
tienten, die sich nicht täglich der ärztlichen
Verbandkontrolle unterziehen können,
werden am besten abnehmbare Wickel¬
verbände, z. B. die Tetrabinde, verordnet.
Die Zahl der im Gebrauch befind¬
lichen Bandagen ist sehr groß. Es werden
Cambricbinden über Wattepolsterung zur
Verstärkung ihrer geringen Eigenelasti-
^ität, die sehr dehnbaren Idealbinden, die
mehr in ihrer Quer- als Längsrichtung
ausziehbaren, sehr brauchbaren Trikot¬
schlauchbinden und schließlich als ein
■elastisches Ganze das Bein umschließende
Gummistrümpfe verwendet. Unerläßlich
"für einen Erfolg ist bei allen Wickelver¬
fahren die richtige Anlegung der Ban¬
dage. Das varicöse Bein wird am Morgen,
bevor der Kranke das Bett verläßt, etwa
drei bis fünf Minuten steil eleviert ge¬
halten, beziehungsweise werden die Ve¬
nen beim Fehlen entzündlicher Verände¬
rungen rumpfwärts ausgestrichen. Nun
wird unter festem Anziehen der Binde die
Einwicklung des Beines von der Zehen¬
basis .mit sich zur Hälfte oder einem
Drittel deckenden Touren Ober das Knie¬
gelenk hinauf bis zur Grenze des mitt¬
leren und oberen Oberschenkeldrittels
vorgenommen. Der Druck der Binde
muß in allen Höhenlagen gleichmäßig sein,
nirgendwo darf der Bindenrand einschnü¬
ren. Der Kranke gewöhnt sich bald an
stärkere Kompression, merkt, wie die
Schwere und Ermüdbarkeit des Beines
schwinden und kann seine Bandage kaum
mehr entbehren. Sind die Varicen mit
Ulcus oder Ekzem kompliziert, so werden
zunächst diese Affektionen versorgt (Sal¬
benbedeckung usw.) und darüber die
Binde gelegt. Die genauere Technik wird
später angegeben werden. Neben den
Bindenverbänden — wir empfehlen be¬
sonders die sehr dauerhafte Trikot¬
schlauchbinde — können auch Pflaster¬
verbände appliziert werden. Von alters her
im Gebrauch ist der Bayntonsche Heft¬
pflasterverband. Er besteht aus dach¬
ziegelförmig sich deckenden, 2—3 cm
breiten Diachylonpflasterstreifen, die sich
über einem etwa bestehenden Ulcus kreu¬
zen und zunächst nur unter losem Zug
angelegt werden. Jeden Morgen nun
werden die Streifen vom Arzt oder dem
Kranken selbst fest angezogen, bis eine
hinreichende Kompression erzielt ist. Über
den eigentlichen Heftpflasterverband
kommt eine genügend dicke Watte- oder
Mullschicht; die wiederum von einer gut
anliegenden Binde gedeckt wird. Für die¬
jenigen Fälle, in denen die Varicen nur
bis zur Kniebeuge reichen, ist von Bü-
dinger der sogenannte Piasterstrumpf¬
verband empfohlen worden. Dicht unter¬
halb der Kniekehle umschließt den aus¬
gestrichenen Unterschenkel eine hand¬
breite Mullbinde in vier- bis fünffacher
Lage. Sie wird von 3—4 cm breiten Pfla¬
sterstreifen, die sich nicht decken, son¬
dern gerade mit den Rändern berühren,
überlagert. Die Streifen werden so fest
angezogen, daß die oberflächlichen Ve¬
nen eben noch komprimiert sind, aber
keine Stauung im distalen Gliederab¬
schnitt auftritt.
An Stelle der Binden- und Pflaster-
Verbände, die eine tägliche Erneuerung
beziehungsweise Revision erfordern, sind
dann die von Unna eingeführten Deck¬
firn ißverbände getreten. Während näm¬
lich die oben beschriebenen Deck- und
Kompressionsverbände nur dann ange¬
legt werden können, wenn Komplika¬
tionen der Varicen wie Dermatitiden und
Ekzem, tiefergreifende crustöse Prozesse
durch entsprechende Vorbehandlung
beseitigt sind, bilden diese Erkrankungen
ebensowenig wie die chronisch-entzünd¬
lichen Gefäßprozesse eine Gegenanzeige
für die Firnißverbände. Im Gegenteil,
Ulcus und andere Komplikationen haben
unter anderen Behandlungsmethoden
kaum einen günstigeren Heilungsverlauf.
Dabei ist für die ambulante Praxis der
Dauerverband höchst bequem und an¬
genehm für Arzt und Patienten, von
der Sparsamkeit des Materialverbrauchs
ganz abgesehen. Besonders haben sich
die Zinkleimverbände eingeführt. Ihre
Vorteile sind mannigfach. Bei'gleich-
mäß’ger Kompression, Durchlässigkeit für
Wundsekret, unbehinderter Wasserver¬
dunstung kommen alle entzündlichen
Hauterscheinungen schneller zur HeUung.
Alle subjektiven Beschwerden der Pa¬
tienten schwinden schneller. Die Technik
des Verbandes ist mannigfach modifiziert
worden. Wi<geben hier die ursprünglich
von Unna angegebeneVorschrift für seine
Herstellung wieder: Selbst beim Fehlen
von Hautveränderungen ist es geboten,
die Haut vor Anlegung des Verbandes
470
Die Therapie der Gegenwart 1921
Dezember
gründlichst durch Seifenwaschung und
nachfolgender Alkohol- oder BenzinabVei-
bung zu desinfizieren, die Versorgung der
bestehenden Hautaffektionen muß ge-'
sondert vorgenommen werden (medika¬
mentöse Überschichtung, Salbenfleck
usw.). Bei starker Behaarung muß das
Bein rasiert werden. Zur Verwendung
kommt folgende Mischung, die man sich
entweder selbst herstellt oder in ähnlicher
Zusammensetzung fertig beziehen kann:
Gelatin. alb . 30,0
Zinc oxyflat . 30,0
Glycerin . 50,0
Aq . 90,0
M.D.S., Vor dem Gebrauch im
Wasserbad zu erwärmen!
Beiersdorf in Hamburg liefert Zink¬
leimtafeln, die vor dem Gebrauch im
Wasserbade geschmolzen werden. Die
Jünnflüssige, warme Leimmasse wird mit
einem weichen Borstenpinsel auf die
Beinhaut aufgetragen, darüber wird mög¬
lichst faltenlos eine Mullbinde gewickelt.
Das gleiche wiederholt sich so, daß
immer eine Leimschicht mit einer Mull¬
binde abwechsellt. Drei bis vier Lagen
genügen meist zur Erzielung eines festen
und dauerhaften Verbandes. Über stark
secernierende Ulcera wird besonders
reichlich Mull geschichtet. Nach dem
Trockenwerden beschließt eine glatt an¬
gewickelte Mullbinde den Verband. Für
die Häufigkeit des Verbandwechsels ist
der Grad der bestehenden Komplika¬
tionen maßgebend. Oft genügt es, den
Verband alle drei bis vier Wochen zu
wechseln, in anderen Fällen ist alle acht
bis zehn Tage ein Wechsel erforderlich.
Für den Praktiker besonders geeignet
sind die gebrauchsfertig zu beziehenden
Leimbinden. Empfehlenswert ist die
Collaminbinde (aus mit Zincoxydsuspen-
sion bestrichenem Mull bestehend), die
allerdings nicht so dauerhaft ist wie der
Originalzinkleimverband.
Zur Anwendung von Gummibinden¬
oder Strümpfen können wir nicht in glei¬
cher Weise raten. Erstens sind sie nur für
varicöse Extremitäten mit intakter Haut
zu gebrauchen, zweitens leidet die Haut¬
verdunstung unter ihrer Uhdurchlässig-
keit für Feuchtigkeit. Vorteilhafter sind
die Stephanschen Strümpfe. Sie be¬
stehen aus einem Leinengewebe, in das
Dochte zur Verstärkung eingenäht sind.
Unter der Bezeichnung ,,Clebrobinde“ ist
ein elastisches, poröses Gewebe im Handel
erhältlich, das am zweckmäßigsten in der
Form von fünf bis sechs Zentimeter brei¬
ten Binden benutzt wird. Das elevierte
Bein wird mit der Binde unter mäßigem
Zug in gut sich deckenden Touren bis
zur Oberschenkelmitte eingewickelt, ein
Trikotschlauchstrumpf erhält den gut an¬
modellierten Verband, der bis zu drei bis
vier Wochen liegen kann, in seiner Lage:
Die operative Behandlung der
Varicen tritt dann in ihr Recht, wenn
trotz der Ausnutzung aller konservativen
Maßnahmen erhebliche subjektive Be¬
schwerden bestehen ‘bleiben oder aus
sozialen Gründen sich eine langdauernde
konservative Therapie verbietet. Die
Zahl der zur operativen Beseitigung
der Varicen angegebenen Methoden
ist sehr groß. Die Mehrzahl ist, wie
Klapp richtig sagt, bereits historisch
geworden. Aber auch mit den jn den
Dauerbesitz der Chirurgie übergegangenen
Verfahren, mag man nun die Verlagerungs¬
methoden, die Resektions- und Exstir¬
pationsmethoden, die Verödungsmetho¬
den durch Injektionen medikamentöser
Stoffe, offene und subcütane Ligaturen
anwenden, sind Rezidive, wenn auch in
ihrer Häufigkeit einzuschränken, so doch
nicht zu vermeiden. Das Resultat von
statistischen Erhebungen über Rezidive
nach Varicenoperationen ist ganz be¬
sonders abhängig von der Zeit, die zwi¬
schen Operation und Nachuntersuchung
verstrichen ist. Bei einer auf 12 Jahr
sich erstreckenden Beobachtung der
Dauerresultate des Trendelenburg-
Verfahrens (hohe Ligatur der Vena sa¬
phena) ergab sich z. B. die ungeheure
Rezidivhäufigkeit von 55%. Der Grunde
für diese hohe Rückfallzahl ist fast stets
in einer Restitution resezierter Venen¬
stücke oder einer Kanalisierung verödeter
Venenstücke bis zur Wiederdurchgängig¬
keit zu suchen. Genauere Angaben über
die experimentelle Feststellung dieser
Vorgänge können im Rahmen dieser Ar¬
beit hier nicht gemacht werden. Auch
die varicöre Entartung beider Stromab¬
führungsbahnen, der tiefen und ober¬
flächlichen, das Erhaltenbleiben von Kol-
lateralen bei der Operation kann den
Ausgangspunkt für Rezidive bilden.
Dennoch bleiben genug Fälle, in denen
bei richtiger Indikationsstellung die ope¬
rative Behandlung dauernden Erfolg,
bringt. Es werden bei uns häufiger die
Ligatur-, Resektions- und Exstirpations¬
verfahren geübt, die Verlagerungsmetho¬
den (Katzenstein) seltener angewendet.
Es ist das Prinzip der letzteren, die nur
durch dünne, atrophische Haut gestützten.
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1921
471
Venen in tiefere Gewe|)'e — subfascial
oder intramuskulär — zu verlegen, um
dadurch einen festeren Halt für die
Venenwände zu gewinnen und durch ihre
Elastizität eine Art Klappenersatz zu
schaffen. Es empfiehlt sich dabei, Haut¬
streifen, besonders solche, die durch
Periphlebitis mit den kranken Venen ver¬
lötet' sind, mit herauszuschneiden. Die
bei der Hautnaht dann entstehende Span¬
nung der Haut wirkt gewissermaßen wie
ein Komprimierender Verband auf die von
ihr umschlossenen Weichteile.
Während man durch das Verlagerungs-
Verfahren im allgemeinen zwar keine
Rückbildung der Varicen, immerhin doch
aber eine Besserung der subjektiven Be¬
schwerden — vor allem des Ermüdungs¬
gefühles in den Beinen — erreichen kann,
gelingt mit den Verödungsmethoden auch
die Ausschaltung der varicösen Venen¬
geflechte. Die zahlreichen Ob literations¬
verfahren der älteren Zeit (Ako- und Igni-
punktur, Galvanopunktur, intravenöse In¬
jektionen von Entzündung machenden Mit¬
teln usw.) sind zum allergrößten Teile ob¬
solet geworden. In neuerer Zeit hat Scherf
versucht, durch Sublimatinjektionen in
die varicösen Venen Schrumpfung der er¬
weiterten Venenabschnitte herbeizufüh¬
ren. Es Wurden mehrmals mit 0,5 bis
5 ccm einer Sublimatlösung 1 :3000
intravenöse Durchspülungen vorgenom-
men^). Nie ging es in den günstigsten
Fällen ohne stärkere Entzündungspro¬
zesse ab, in einigen ungünstig verlaufen¬
den trat Gangrän auf oder eine Pyo-
phlebitis mit Thrombenverschleppung.
Daraus wird schon ersichtlich, daß diese
Methode ohne präliminare, hohe Ligatur
der Vena saphona sehr gefahrvoll ist. Sie
hat deshalb wenig Nachahmer gefunden.
Von denJVerödungsverfahren wollen
wir noch eines erwähnen, das in aller¬
jüngster Zeit von Klapp wieder emp¬
fohlen ist und die Konkurrenz mit
den sonst bei uns üblichen Verfahren
nicht scheuen zu brauchen scheint. Es
ist dies die percutane, multiple Ligatur
der Vena saphena (Kuzmik, Schede,
Kocher, Klapp). Die von Klapp an¬
gewandte Technik ist folgende: Er ope¬
riert in Allgemeinnarkose oder Lumbal¬
anästhesie; vor der Operation macht man
In jüngster Zeit wurde von Mattheis zur
Injektion in die varicösen Venen die Pregelsche
Jodlösung benutzt und danach eine deutliche
Schrumpfung der ektatischen Gefäße beobachtet.
Die Methode ist aber noch zu wenig nachgeprüft,
als daß sie hier empfohlen werden könnte.
sich den Venenverlauf dadurch sichtbar,
daß man durch , Hängelage der Beine
eine starke Füllung der entarteten Venen
herbeiführt. Man muß so aber später
strotzend volle Venenstücke herausschnei¬
den und deshalb länger auf die Thrombo¬
sierung beziehungsweise Verklebung der
Venen warten. Es ist daher besser, in
Höchlagerung der Beine zu operieren und
sich vor der Operation den Venenverlauf
dadurch sichtbar zu machen, daß man die
Venen auf der Haut zunächst mit Stärke¬
kleister nachzieht und dann einen Jod¬
anstrich macht, wodurch eine Blau¬
färbung der Zeichnung eintritt. Zunächst
erfolgt die hohe Unterbindung der Vena
saphena, eventuell auch die subcutane
Extraktion ihres Obersehenkelteiles. Am
Unterschenkel wird stets umstochen. Da¬
zu wird eine gestielte, mit einem Öhr
versehene Nadel neben der Vene ein¬
gestochen und jenseits derselben aus¬
gestochen, und zwar wird die Nadel ein¬
mal hinter der Vene, das anderemal vor
der Vene vorbeigeführt. Beide Male wird
derselbe Ein- und Ausstich benutzt. Nach
Knotung des Fadens verschiebt die Haut
sich runzelig über der Ligatur. Streift
man sie glatt, so verschwindet der Knoten
durch den Einstich ünter die Haut.
40 bis 50 Umstechungen, besonders sorg¬
fältig unterhalb des inneren Kniegelenk¬
spaltes von der Verbindungsstelle von
Vena saphena major und minor aus¬
geführt, sind meistens ausreichend. Gut
granulierende Ulcera sind keine Kontra¬
indikation gegen den Eingriff. Man muß
sich nur etwas fern von ihnen halten.
Sie verkleinern sich nach dem Eingriff
bald. Durch ekzematöse Haut soll nicht
gestochen werden. Der Heilungsverlauf-
ist günstig. Bisweilen zeugen in den
ersten Tagen Ödeme für den vollkomme¬
nen Verschluß vieler Abflußwege. Auf¬
stehen und Bewegungsübungen sind schon
nach einigen Tagen erlaubt.
Häufig genügt zur Beseitigung der
Varicen beziehungsweise der ein Ulcus
varicosum unterhaltenden Stauung in
den venösen Abflußwegen des Unter¬
schenkels die hohe Unterbindung der
Saphena, die Trendelenburgauf Grund
seiner Studien über die Klappenverhält¬
nisse und die durch die geringe Klappen¬
zahl in ihr bedingten besonderen hämo-
statischen Verhältnisse zuerst ausgeführt
hat. Bedingung für den Erfolg ist der
positive Ausfall des Trendelenburg-
schen Versuches. Man eleviert das Bein
des horizontal liegenden Kranken senk-
472
Die Therapie der Gegenwart 1921
Dezember
recht, unterstützt durch Ausstreichen den
venösen Blutabfluß und läßt den Patien¬
ten nach digitalem Verschluß der Saphena
sich erheben. Bleiben bei hängendem
Bein die ektatischen Venen ungefüllt
oder tritt erst etwa ein drittel bis eine
halbe Minute später eine schwächere
Füllung derselben ein. so kann man an¬
nehmen, daß die Stauung nur das ober¬
flächliche Venennetz betrifft, nicht aber
die tieferen Abflußwege. Der operative
Eingriff gestaltet sich einfach. Die Vene
wird dicht unterhalb ihrer Einmündung
in die große Schenkelvene in örtlicher
Betäubung freigelegt, doppelt unterbun¬
den und zwischen den Ligaturen durch¬
trennt. Nach Anlegung eines leicht
komprimierenden' Verbandes wird die
Extremität für einige Tage hochgelagert.
Der Erfolg besteht zwar nicht in einem
völligen Schwinden, aber doch in einer
•erheblichen Abflachung der vordem stark
gefüllten Gefäße.
Da die einfache Ligatur trotz Durch¬
trennung bisweilen die Wiederdurch¬
gängigkeit der Vene nicht verhindern kann,
hat Trendelenburg noch die Resektion
größerer Abschnitte der Saphena hinzu¬
gefügt. Man führt sie zweckmäßig im
mittleren Oberschenkeldrittel, am Condy-
lus internus und am Unterschenkel aus.
Noch radikaler ist die Methode Made¬
lungs. S'e entfernt hauptsächlich auch
die cruralen Sammelbahnen, legt diese
und das Hauptgefäß am Oberschenkel
frei und exstirpiert von zwei großen
Schnitten aus durch Ausschälung in der
Richtung von oben nach unten das ganze
Gefäß unter sorgfältiger Ligatur aller
Kollateralen, besonders der zu den tiefen
Bahnen führenden Äste. Will man die
sehr großen Narben, die die Madelung-
sche Operation hinterläßt, vermeiden, so
kann man fast mit derselben Gründlich¬
keit die Exstirpation auch nach der
Carrel-Karewski sehen Knopfloch¬
methode ausführen. Die Saphena wird
nach hoher Unterbindung durch mehr¬
fache über ihr angelegte, isolierte Schnitt¬
chen freigelegt und nach der Durch¬
trennung hoch oben von Schnitt zu
Schnitt in distaler Richtung heraus¬
gezogen. Die Kollateralen straffen sich
beim Anziehen des Hauptstammes deut¬
lich unter der Haut an, werden durch
kleine Incisionen möglichst fern vom
Verlauf des Hauptgefäßes freigelegt, dop¬
pelt ligiert und durchtrennt. Ist der
Hauptstamm der Saphena am Ober¬
schenkel nicht durch Thrombosierung
verlegt und bestehen keine entzündlichen
Veränderungen der Venenwand oder ihrer
Umgebung, so kann man auch die Opera¬
tion nach Babcock machen. Die Vene
Wird hoch oben durch einen kleinen
Schnitt wie bei der Trendelenburg-
schen Operation freigelegt und einfach
unterbunden. In das distale Ende wird
nach der Durchtrennung der Vene peri¬
pher von der Unterbindungsstelle eine
lange, biegsame, mit einem durchbohrten
Endknopf versehene Sonde so weit distal-
wärts wie möglich eingeführt. Unten wird
über dem fühl- und sichtbaren Spnden-
knopf die Vene wiederum freigelegt und
nach distaler Unterbindung durchschnit¬
ten. Das proximale Ende wird mit einem
durch das Sondenöhr geführten Faden
umschnürt, und nun die Vene durch
Zurückziehen der Sonde subcutan durch
den oberen Schnitt herausgerissen. Die
Blutung der mitdurchrissenen Kollate¬
ralen stillt ein fester Druckverband und
eine für einige Tage durchgeführte Hoch¬
lagerung des Beines.
Die Methode der sapheno-femoralen
Anastomosierung, die von einigen Auto¬
ren immerhin mit Erfolg ausgeführt wor¬
den ist, dürfte dennoch nur wenige An¬
hänger haben, weil sich ihr doch manche
Bedenken entgegenstellen. Sie will die
Rückstauung in der Saphena dadurch
beseitigen, daß sie diese unterhalb der
für gewöhnlich dicht unter der Einmün¬
dungsstelle der Saphena befindlichen
Klappenpaare einpflanzt. Abgesehen von
der Infektionsgefahr für die Gefäßnaht¬
stelle und der aus einer Infektion mög¬
lichen Thrombosierung und Embolie dürf¬
te auch die Subtilität der Technik keine
Empfehlung für die Methode sein.
Mit der Erwähnung der spiraligen
Unterschenkelumschneidung nach Rind¬
fleisch wollen wir die Besprechung der
operativen Behandlungsmethoden der Va-
ricen abschließen. Mit ihrer Hilfe er¬
reichen wir eine vollständige Unter¬
brechung des gesamten oberflächlichen
Unters chenke 1 venennetzes. Auch hier
wird zuvor die hohe Unterbindung der
Saphena vorgenommen; dann wird
in sechs bis sieben den Unterschenkel
aufwärts laufenden Spiralen ein überall
bis auf die Fascie dringender, manchmal
auch ein Stück auf den Oberschenkel
übergreifender Schnitt geführt. Etwaige
Ulcera sollen zwischen-zwei Schnitt¬
windungen zu liegen kommen. Die Wund¬
ränder werden bis zu starkem Klaffen
auseinandergezogen und alle durchtrenn-
Dezember
Die Therapie d^r Qegenwart 1921
473
ten Venenlumina oberhalb der Fascie
ligiert, die unter ihr sichtbaren Venen
umstochen. Die große Wunde wird durch
Tamponade offen gehalten und der Hei¬
lung per secundam überlassen. Verkle¬
bungen der Wundränder sollen unter
allen Umständen verhindert werden und
später gerade Furchen Zurückbleiben, auf
deren Grund das Epithel gewissermaßen
herunterkriechen soll. — Die Methode er¬
reicht viel. In einer Reihe von Fällen
wurden Ulcera zur Überhäutung gebracht,
Varicenbildungen beseitigt, wo alle ande¬
ren Methoden versagt hatten. Auch
Elephantiasis der unteren Extremitäten
als Folge varicöser Blutstauung konnte
günstig dadurch beeinflußt werden. Die
kosmetisch sehr entstellenden Narben
dürften allerdings doch bewirken, daß die
Rindfleischsche Methode nur für die
hartnäckigsten und schwersten Fälle Vor¬
behalten bleibt.
_ 'V . S 3. ^^
Therapeutisches aus Ver^nen^u. Kongressen.
Therapeutisches vom Karlsbader Fortbildungskurs.
Von Dr. Julian Marcus e, Ebenhausen-München.
Der vom 11. bis 17. September in Karlsbad
stattgehabte internationale Fortbildungskurs, der
durch die außerordentlich geschickte Auswahl der
Themen wie Referenten einen sehr starken Be¬
such aufwies, erbrachte auch für die Therapie
viele wertvolle Gesichtspiuikte, die an dieser Stelle
in gedrängter Zusammenfassung skizziert werden
sollen,
In dem einleitenden Vortrag von Holmgreen
(Stockholm) über Diagnose, Prognose und
Therapie des Basedow stellte er folgende
Leitsätze auf: Weitaus am wirksamsten ist die
Operation, jedoch ist die Frage, ob immer operiert
werden soll, mit Nein zu beantworten. Hyper-
thyreosistrumen sind meist leichte Fälle, die
nicht in Basedow übergehen, daher die Operation
kontraindiziert. Beim Basedow sensu strictiore
sollen schwere Fälle operiert werden. Für die Zeit
der Operation ist der Allgemeinzustand ma߬
gebend; ferner wenn bei von vornherein nicht
schweren Fällen Verschlimmerung der Erschei¬
nungen auftritt. Bei jugendlichen Individuen
wie im Klimakterium ist besondere Vorsicht in
der Indikationsstellung der Operation notwendig.
An zweiter Stelle steht _die Röntgenbehandlung,
bei hyperthyreosen und leichten Strumen ist sie
günstig, bei schweren erfolglos. Die Ruhigstellung
des Kranken ist eine kardinale Forderung, und
zwar^Bettruhe von mindestens einem Monat, ver¬
bunden mit sedativen Bädern, lakto-vegetabiler
Kost, eventuell Quarzlampenbestrahlungen. Medi¬
kamentös empfiehlt Holmgreen das von Ho che
angegebene Natr. phosph. ein halbes Jahr lang
pro die 3 ccm, ferner bei leichten Fällen Injektionen
von nucleinsaurem Natron (5% Lösung zweimal
wöchentlich ein bis zwei Ampullen) ein bis zwei
Monate lang. Jodpräparate sind nach ihm bei
Hyperthyreosis wie einfachem Basedow schädlich.
Holst (Christiania) gab ein klinisches^Bild der
Angina pectoris, deren vielgestaltige Ätiologie
(Veränderungen im Coronarsystem, der Herz¬
ganglien, sowie der Herzklappen) die therapeu¬
tischen Maßnahmen bedingt. Sie sind konform
denen des Asthma bronchiale: Sedativa (Brom
in erster Reihe) bei Anginaphobien, Jodkali in
anfallsfreien Zeiten. Im Anfall selbst heiße Um¬
schläge, heiße Bäder der Arme und Beine, Nar-
cotica (Opium, Papaverin, Morphium mit Atropin),
ferner Diuretin. Die Wirkung der einzelnen Mittel
läßt Schlüse auf die Ätiologie des Anfalls zu.
Das Narcoticum in der einen Hand, das Stimulans,
iiuder anderen, ist maßgebendes Prinzip.
In seinem tiefschürfenden Abriß über „Wand¬
lungen in der Nephritislehre“kamVolhard
(Halle) zu folgenden Schlüssen: Das Kennzeichen
der Niereninsuffizienz ist der Verlust der Variabi¬
lität der Harnabscheidung, es werden in der Zeit¬
einheit gleiche Mengen eines gleich dünnen Harnes
entleert, dessen specifisches Gewicht dem des
enteiweißten Blutes entspricht. Akute’Konzen¬
tration schließt Niereninsuffizienz aus, keine
Insuffizienz ohne Isosthenurie. Die Polyurie ist
nur eine Folge des Unvermögens der Konzentra¬
tion, die Wassersucht extrarenal bedingt und hat
nichts mit Niereninsuffizienz zu tun. Die Be¬
handlung der akuten Nephritis erfolgt auf der
Grundlage dieser Erkenntnis statt mit Milchkuren
und Wildunger Wasser mit strengster Einhaltung
von Flüssigkeit, ja sogar in den ersten Tagen mit
Hunger- und Durstkuren. In engem Zusammen¬
hang mit diesen Ausführungen standen die
Referate von Lichtwitz (Altona) über Hyper-^
tonie und von Erich Meyer'(Göttingen)überden
Einfluß vermehrter Flüssigkeitseinfuhr
auf den Organismus. Nach einer sehr instruk¬
tiven Darstellung der Beziehungen des Blut¬
druckes zur Niere und der Charakterisierung der
essentiellen, genuinen und vasculären Hypertonie
.folgte ein kurzer Überblick über die Therapie:
Prophylaktisch strenge Berücksichtigung des
Milieu, der Ernährung und vor allem der Ver¬
dauung, medikamentös lokal wirkende Gefä߬
mittel wie Diuretin, Papaverin, Adalin, klima-
tologisch Höhenkurorte des Schwarzwalds.
Erich Meyer ging von einer kritischen Be¬
trachtung der bisherigen Lehre der Wasserzufuhr
und ihres präsumierten Zusammenhanges mit der
Polyurie v/ie des Fettansatzes aus und stellte dem¬
gegenüber fest, daß vermehrte Zufuhr von Wasser
keine Blutverdünnung herbeiführt, und daß selbst,
wenn dies der Fall ist, in kurzem Überkompen¬
sation eintritt. Bei abundanter Steigerung der
Wasserzufuhr blieb das Körpergewicht gleich, die
Kochsalzausscheidung nahm zu, das Blut dickte
sich ein, es traten also Veränderungen im Salz¬
haushalt auf, damit ist die Wirkung von Mineral¬
kuren bei Retention von Salzbestandteilen er¬
wiesen. Diese Versuche zeigen aber weiterhin,
daß durch das Trinken an sich die Belastung von
Herz und Kreislauf in der Norm außerordentlich
gering ist, denn es tritt keine Blutdrucksteigerung,
keine Herzvergrößerung ein. Zur Erzielung
dauernder'^Plethora gehört außer der Resorption
von Flüssigkeit noch etwas anderes, cs handelt
sich jedenfalls hierbei um Verschiebungen des
Mineralstoffwechsels.
Ausgehend einerseits von der neueren Erkennt¬
nis, daß der im Blut und den Säften kreisende
Traubenzucker lediglich die Transportform des
Kohlehydrates im Organismus ist, daß er aber
60
474
Di’£ kTherapr^, cfer ©egermi^C ^1921^
Dezember!
nicjiti aK .die. zelläquate Form betrachtet werden
darf^ anderersei.ts von den Kriegserfahrungen und
den Ergebnissen der Ellenschen .experimenteULeh
Therapie will Frank (Breslau) in seinem Vortfag
über„Theörie>und Therapie des Diabetes'*
b^' mittelschweren und schweren. Fällen eine
extreme- Unterernährung durchgeführt wissen.
Im Anschluß an die einleitende Hungerkur wird
die Erhaltung^diät'zu erreichen gesucht (20 bis
30 Kalorien pro Kilo Körpergewicht). Die bis¬
herigen Fettgaben bedeuten Belastung, die wieder
zur GI>rkämie und auch zur Acidose führen, denn
in ihrer specifisch dynamischen Wirkung, die sie
mit dem Eiweiß teilen, stacheln sie den Zellstoff¬
umsatz an; es tritt eine Art Luxuskonsumption
ein^ Eine falsche Ernährung schädigt das Pankreas,
es kommt zur hydropischen Degeneration der
Langerhansschen Zellinseln. Man muß die Eiwei߬
mengen (nach Ellen 50 bis 75 g) genau dosieren,
ebenso die Fettmengen, der Maximal- muß auf
einen Minimalstand herabgedrückt werden.
V. d. V61den (Berlin) behandelte das Thema:
,,Stoffaustausch zwischen Blut und Ge¬
werben“. Nach einer Betrachtung der treibenden
Kräfte der Saftströmung und der Variabilität der
Zellmembranpermeabilität wird die Wirkung der
hämatogenen Faktoren besprochen (Aderlaß und
Aderlaßersatz, die intravenöse Zufuhr hoch¬
prozentiger Kochsalz- und Zuckerlösungen), von
den vasogenen Momenten die physikalischen wie
phärmakotherapeutischen Mittel, die dilatierend
oder konstringierend einen lokalisierten Stoff-
aiistausch veranlassen. Die Rolle des Kalks und
der Antiphlogistica wird berührt und schließlich
werden die histogenen Momente (inneren'Sekrete
und Proteinkörpertherapie) und ihre therapeu¬
tischen Indikationen vor Augen geführt.
Letztere sind .gegeben in. dem Bestreben, das
Gewebe zu ' entlasten (innere Waschung)- oder,
durch akute Gleichgewichtsstörungen im Blute
bestimmte Funktionen des Blutes'(besonders die'
Gerinnung) zu beeinflussen. Die Grenzen dieser
Eingriffe sind gezogen durch die vielfachen Be-i
dingungen, denen in nicht übersehbarer Weise
der Stoffaustausch normalster unterworfen ist
Außer einer großen Reihe weiterer Referate,
die vor allem auch die Physiologie und Biochemie
der Kreislauf Organe betrafen und abgerundete
monographische Darstellungen erbrachten, ist
noch Langstein (Berlin) zu erwähnen, der über
Trinkkuren bei Kindern sprach. Zwei Eigen¬
arten des kindlichen Organismus erfordern direkt
den Gebrauch alkalischer Wässer, das Wachstum
mit seinem Mineralstoffbedarf und die acidotische
Konstitution. Eine eklatante Wirkung der Trink¬
kuren ist vor allem bei den konstitutionell minder¬
wertigen Kindern zu beobachten, wo der nervöse
Symptomenkomplex meist mit dem der Anfällig¬
keit in Form von Magenattacken kombiniert ist.
Hierfür kommen in erster Reihe SchwefeItrink-
kuren in Frage, dreimal pro Jahr von je 6 Wochen
mit einem Tagesqüantum von 60 bis 80 ccm. Ein
weiteres Indikationsgebiet ist der chronische
Rheumatismus der Kinder, dagegen heiße Schwe¬
felquellen und heiße Moorbäder, und endlich der
rezidivierende Lichen scrophulosus als Manifesta¬
tion einer exsudativen Diathese, seine Behandlung
besteht in monatelang fortgesetzter Trinkkur mit
alkalischen Mineralwässern (Karlsbader Mühl¬
brunnen usw.) sowie fast milch- und eifreier Kost.
Dem inneren Werte der Fortbildungsvorträge
trug auch der äußere Rahmen voll und ganz Rech¬
nung, so daß der Verlauf derselben ungeteilte
Anerkennung fand.
Referate.
Bei der Behandlung des fieberhaften
Abortes nimmt v,jaschke einen anderen
Standpunkt ein als Winter, der die
Ausräumung nur vom Vorhandensein
oder Fehlen hämolytischer Streptokokken ^
abhängig macht. Wenn auch Winter
zugestanden werden muß, daß die An¬
wesenheit ' hämolytischer Streptokokken
häufig ein gefahrdrohendes Zeichen ist,
so muß doch auch hervorgehoben werden,
daß es Fälle gibt, die trotz hämolytischer
Streptokokken gut enden, während in
anderen trotz Fehlens dieser Kokken
durch andere Bakterien eine tödliche All¬
gemeininfektion eintritt. Es hängt näm¬
lich oft von Zufälligkeiten oder Schwierig¬
keiten ab, die sich bei der Ausräumung
ergeben, ob im Anschluß an diese eine
schwere Allgemeininfektion zustande
kommt oder nicht, gleichgültig, welche
Bakterien im Einzelfalle gefunden wurden.
Der Nachweis gleichviel welcher möglichen
Erreger sagt nichts Positives über die
Widerstandsfähigkeit des befallenen Orga¬
nismus aus und ermöglicht daher auch
keine Prognose, wie der Kampf ausgehen
wird. Zugegeben muß ja werden, daß
die aktive Behandlung fieberhafter Aborte
ganz allgemein und unabhängig von dem
bakteriologischen Befunde schlechtere Re¬
sultate ergibt, als eine abwartende oder
dauernd konservative. Für den Praktiker
ist es von Wichtigkeit, darauf zu achten,
daß er erst dann bei einem fieberhaften
Abort die Ausräumung vornimmt, wenn
die Entfieberung eingetreten ist; auf den
bakteriologischen Befund hat er keine
Rücksicht zu nehmen. •
Pulvermacher (Charlottenburg).
(Zbl. f. Gyn. 1921, Nr. 44.)
H. Klose berichtet über die Grund¬
sätze der Rehnschen Klinik bei der
operativen Behandlung der Basedow¬
schen Krankheit. Diese wird durch
gleichzeitige Erkrankung der Schild- und
der - Thymusdrüse hervorgerufen. Zur
Diagnose Basedow berechtigt uns die
folgende Trias von Krankheitssympto¬
men: 1. Störungen des Centralnerven¬
systems, 2. des Stoffwechsels, und 3. des
kardiovasculären Apparats einschließlich
seines Inhalts. Exophthalmus kann in
50% aller Fälle fehlen, zählt also nicht
zu den wichtigsten Zeichen. Die genaue
bezembet
Die Therapie der 19Ö1
475
Untersuchung eines Basedowkranken läßt
ausnahmslos: .Symptome aus den drei
ob engen ahnten. Systemen erkennen. Daß
sie an Zähl und Stärke wechseln, berech-.
tigt ünä nicht, Von' Basedowoid, Formes
frUstes usw> zu sprechen. .
, Die opetativen Erfolge der Schild-
drüserrentfemung und Thymusverkleine¬
rung bei Basedowscher Krankheit deuten
mit Sicherheit darauf hin, daß mit den
kranken Organen ein Gift entfernt wird.
Nach den Erfahrungen der Chirurgen ist
der rein thyreogene Basedow selten, viel¬
mehr läßt sich in 70—80% sollet Fälle
von primären kompletten Basedow eine
Thymushyperplasie nachweisen. Nach
alleiniger Kropfoperation gehen diese
Kranken häufig unter den Erscheinungen
des Herzjagens, mit hohem Fieber und
Vergiftungsdelirien zugrunde. Es ist
nicht bekannt, warum der Tod eintritt,
wenn die erkrankte Thymus zurückbleibt.
Seitdem aber auch diese Drüse verklei¬
nert wird, sind die Resultate besser.
Irreparable Veränderungen werden durch
die Operation nicht beseitigt, es ist daher
dringend zur Frühoperation zu raten, die
in etwa 80% der Fälle Heilung herbei¬
führt. Die Gefahren der Operation werden
durch psychische und diätetische Vor¬
behandlung vermindert. Die Operation
selbst findet in Lokalanästhesie statt,
nach dem Grundsätze, möglichst viel der
^ erkrankten Drüse zu entfernen. Bei kno¬
tigen Kröpfen gilt als Operation der Wahl
die Enucleation des entarteten Gewebes,
bei parenchymatösem Basedow die Resek¬
tion des rechten Lappens, bei schweren
Formen eventuell auch des linken unteren
Poles mit Erhaltung der Epithelkörper¬
chen. Die Unterbindung der vier Schild¬
drüsenarterien wird nicht mehr geübt.
Die Technik der Thymusexstirpation ist
sehr einfach vom gewöhnlichen Kragen¬
schnitt aus und geschieht streng intra-
kapsulär. Schmalz.
(M. Kl. 1919, Nr. 40.)
Für die Behandlung des Cervical-
Katarrhs empfiehlt Kennedy (New York)
folgende Methode; Zuerst Austrocknung
des Cervicalkanals und Desinfektion der
Portio mit Jodtinktur; dann wird vordere
und hintere Muttermundslippe angehakt,
mit einer Pravazspritze 1 bis 2 ccm einer
25 % wäßrigen Äthylalkohollösung inji¬
ziert. Bei diesem Vorgehen ist darauf
zu achten, daß die Kanüle parallel dem
Cervicalkanal eingestochen wird, und daß
die Spitze nicht den Cervicalkanal er-
reicht^ das Depot der Lösurtg' muß M
interstitiellen Gewebe:sein. '
Pulvermacher (Charlöttenburg). •
(The Amer. j. of Obst.', Juni fÖ2I.) . ‘
Die Behandlung Herzkranker rriit
Chinin ist nicht neu. Sie hat in der äl¬
teren Medizin namentlich iir'Kombination,
mit Digitalis eine gewisse Bedeutung,,
Neuerdings hat Wenkebach zwei Fälle
von Vorhofsflimmern erfolgreich mit Chi¬
nin behandelt. Frey hat dann gezeigt,
daß Chinidin wirksamer als Chinin die
absolute Irregularität beseitigt. Seitdem
ist die Behandlung dieser Herzströmurig
mit Chinm oder Chinidin sehr verbreitet.
Boden und Neukirch haben Beobach¬
tungen mit Chinidinum sulfur. ah
Herzgesunden und bei Rhythmusstörun¬
gen vorgenommen. Das Mittel wurde
zum Teil peroral in Dosen von dreimal
0,2 bis fünfmal 0,4, in seltenen Fällen'"
in höheren Dosen bis dreimal 1 g per os
pro die gegeben, zum Teil intravenös in
Dosen von 0,2—0,4 g. Bei Herzgesunden
zeigte sich in 14 Fällen bei peroraler Dar¬
reichung keine sichere Wirkung auf
Schlagfrequenz, Blutdruck, Diurese und
Elektrokardiogramm. Bei intravenöser
Injektion treten in vier von acht Fällen
leichte, kurze Zeit anhaltende Frequenz¬
steigerungen ein. Zwölf intravenös und
peroral behandelte Sinustachycardien
zeigten keinerlei Änderungen. 22 Fälle von
Extrasystalie scheinen günstig beeinflußt.
Überleitungsströmungen zeigten keine
sichere Wirkung. Sehr günstige Resultate
sehen Verfasser von intravenöser Chinidin¬
behandlung bei atreoventriculären und
ventrikulären Tachykardien, von denen
vier Fälle prompt kupiert wurden. In
17 Fällen von absoluter Irregularität
wurde Chinidin per os gegeben. Von
diesen blieben zehn unbeeinflußt; sieben
Fälle wurden regelmäßig. Einer blieb es
neun Monate lang, die andern verfielen
nach längerer oder kürzerer Zeit wieder
in i^Vorhofsflimmern oder -flattern.- Ein
günstiger Einfluß des Mittels auf De¬
kompensationszustände Wurde nicht beob¬
achtet. In acht Fällen traten als störende
Nebenerscheinungen bei der Medikatian
Appetitlosigkeit, . Übelkeit, Erbrechen,
Durchfälle oder Kollaps ein.
Kamnitzer. .
(D. Arch. f. klin. M. 1921, Bd. 136.)
Karl Boese teilt aus dem Stolper
Städtischen Krankenhaus (Prof. Creite)
an der Hand von zwölf eigenen Fällen
seine Erfahrungen über Collatgol, seine
60*
Die Therapie der». Gegenwart 1921.
Dezembejr
m
Anwendung und seine Erfolge in der
Chirurgie und G)aiäkologie mit. Verf.
hält das Collargol für das beste specifische
Mittel gegen schwere Eiterungen des
menschlichen Körpers. In allen Fällen
wurde das Collargol in Form einer 2%igen
Lösung in Mengen von 10 ccm intravenös
injiziert. Meist wurde Temperaturabfall,
bessere Granulationsbildung, vermehrte
Eitersekretion, schnellere Resorption para-
metritischer Exsudate beobachtet.
Auch in einer Reihe von Polyarthritis¬
fällen wurden Erfolge erzielt, ebenso bei
einem Fall von schwerem akuten Gelenk¬
rheumatismus. Im Anschluß an die In¬
jektion tritt meistens eine vorübergehende
Zunahme der Leukocyten auf. Diesen
sehr guten Erfahrungen stehen bekannt¬
lich eine überaus große Reihe von schweren
Fällen von Sepsis und Polyarthritis gegen¬
über, in denen Collargol ohne sichtbaren
Erfolg angewandt worden ist. Es ist
wohl nach den Feststellungen von Bött-
ner nicht zu zweifeln, daß an der Collar-
golwirkung das Eiweiß des"Schutzkolloids
den Hauptanteil hat und daß es sich
dabei um eine unspezifische wenig sichere
Einwirkung handelt.
Willibald Heyn (Berlin)
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 163, Heft 1,2, S. 6^.)
Prof. Strümpell macht auf die in
letzter Zeit beobachtete Zunahme von
Icterus catarrhalis, akuter gelber Leber-
atrophie und Icterus lueticus (speziell bei
Salvarsanbehandlung) aufmeiksam. Ob
der Salvarsanicterus auf einer durch
Leberschädigung gesteigerten Disposition
des Körpers zu anderen ikterischen Er¬
krankungen beruht, oder als Hepato-
rezidiv (durch lebhaftere Re’zwirkung
der Spirochäten bedingt) aufzufassen ist,
steht noch nicht fest. An Hand seiner
Fälle von akuter gelber Leberatrophie
kommt Strümpell zu folgenden Schlüs¬
sen und Beobachtungen.
Die Krankheit befällt vorwiegend ju¬
gendlichere Frauen und beginnt mit un-
charakteristischen Prodromen (allgemei¬
ner Unruhe, Kopfweh, leichte dyspep¬
tische Erscheinungen), die Tage bis
Wochen anhalten können. Als Charakte¬
ristika der Krankheit sind zu nennen:
Ikterus, psychische Erscheinungen (Koma,
Delirien), motorische Unruhe (Zuk-
kungen in den Extremitäten), stereotype
Bewegungen der Gesichts- und Mund¬
muskulatur, bei normalen Reflexen. Per¬
kussion und Palpation ergeben eine Ver¬
kleinerung der Leber. Eine Ausscheidung
von Leucin und Tyrosin im Harn konnte
Verfasser nicht nachweisen, dagegen fand
er oft Ikteruscylinder. Fast regelmäßig
findet man einen frequenten Puls und
normale Temperatur, die fast immer 5ub
finem eine Steigerung (manchmal 40 bis
41 ®) zeigt. Die voll ausgebildete Krank¬
heit verläuft wohl immer letal. Es kom¬
men auch chronische Formen (drei- bis
viermonatige Dauer) vor, die mit Sym¬
ptomen von Pfortaderstauung (Milztumor,
Ascites) einhergehen. Die akute gelbe
Leberatrophie ist eine anatomische, nicht
eine ätiologische Einheit, sie kann Wahr¬
scheinlich durch verschiedene Ursachen
bedingt sein. Die Fieberlosigkeit und die
Lokalisation auf das Leberparenchym
macht eine specifisch-infektiöse Ursache
unwahrscheinlich, wahrscheinlicher eine
schwache toxische Schädigung. Zum
Schluß macht Verfasser auf die Analogie
der ikterischen Krankheiten mit den
Nierenerkrankungen aufmerksam. Ein ge¬
wisser Unterschied herrscht in der Ent¬
stehung: hämatogener bei Nierenkrank¬
heiten, cholangiogener bei den ikterischen.
Der Icterus catarrhalis würde den leich¬
teren Nephritiden und Nephrosen ent¬
sprechen. ' Den schwersten Grad der
toxischen Zellschädigung stellt die akute
gelbe Leberatrophie dar, und die bei dieser
Krankheit auftretende „Cholämie“ sieht
Strümpell als Analogon der Urämie an.
Untersuchungen über die Blutver¬
änderungen bei Ikterus und akuter gel¬
ber Leberatrophie hat Weigeldt
angestellt; er kommt zu folgenden Er¬
gebnissen: ein typisches Blutbild für
Ikterus gibt es nicht, meist ist die Ery-
throcytenzahl vermehrt, bei schweren und
langdauernden Krankheiten kommt es,
infolge des Versagens der Erythropo¬
ese, zur Anämie. Die Resistenz der Ery-
throcyten und die Hämoglobinwerte sind
erhöht, die Blutplättchen unverändert,
die Gerinnbarkeit verlangsamt. Die
Leukocyten bleiben unverändert. Die¬
selben Veränderungen finden sich auch
bei der akuten gelben Leberatrophie, nur
sind die Leukocyten vermehrt(I2—30000).
In einzelnen Fällen fand Weigeldt in
den polynukleären Neutrophilen aus Cho¬
lesterinestern bestehende Vakuolen.
(D. m. W. 1921, H. 41.) Grunke.
Erich Sonntag gibt aus der chirur¬
gischen Universitäts-Poliklinik Leipzig
Beiträge zur Koehlerscheti Krankheit
des Kahnbeins am Fuße _bei Kindern.
Mitgeteilt werden zwei Fälle von Koehler-
scher Krankheit bei sechsjährigen Knaben
mit typischen klinischen Symptomen und
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1921
477
mit typischem l^öntgenbild. Im ganzen
konnten bisher 50 Fälle dieser Erkrankung
gesammelt werden. Verfasser kommt zu
folgenden Schlußsätzen:
Das Leiden befällt Knaben doppelt
so oft als Mädchen, meist im Lebensalter
von fünf bis neun Jahren, mehrfach tritt
es doppelseitig auf. Klinische Symptome
sind meist: Schmerz, Hinken, Druck¬
empfindlichkeit, Weichteilschwellung, be¬
ziehungsweise auch erhöhte Hauttempe¬
ratur und leichte Rötung. Im Röntgen-
b i Id erscheint das Kähnbein verschmälert,
unregelmäßig gestaltet und verdichtet.
Differentialdiagnostisch kommt häu¬
fig Tuberkulose in Frage. Prognose ist
gut, Therapie soll konservativ sein.
Wahrscheinlich handelt es sich um eine
Knochenentwicklungsstörung. Fraktur
ist manchmal nicht ganz auszuschließen,
aber für die Mehrzahl der Fälle abzu¬
lehnen. Willibald Heyn (Berlin).
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 163, Heft 3/4, S. 145.)
In einem sehr lehrreichen Aufsatz über
die Behandlung des Kropfes fordert der
Münchener Chirurg Prof. Kr ecke zunächst,
daß man die Patienten aus einer Kropf¬
gegend in eine kropffreie Gegend bringen
muß, respektive, wenn dies nicht mög¬
lich, ihnen strengstens den Genuß von
Leitungswasser untersagt, bevor man
ihnen Medikamente verschreibt oder sie
operiert. Die Joddarreichung hat nur bei
den weichen, diffus angeschwollenen Kröp¬
fen der jungen Mädchen in den Entwick¬
lungsjahren Aussicht auf Erfolg, da, wie
von Bruns nachgewiesen, Jod nur
auf funktionsfähiges Schilddrüsengewebe
wirkt, während es die schon entarteten,
kolloiden, cystischen und fibrösen Gewebe
in der Regel nicht zu beeinflussen vermag.
Bei älteren Leuten ist fast stets das Zu¬
rückgehen des Kropfes mit hochgradiger
Abmagerung und erheblicher Schädigung
der Herztätigkeit verbunden. Die Jod¬
dosis soll nie mehr als zweimal täglich
5 bis 10 cg betragen. Für die Schild¬
drüsentabletten gilt dasselbe wie für das
Jod, das ja als wirksamster Bestandteil
in ihnen enthalten ist. Jodsalben werden
von Krecke grundsätzlich abgelehnt, da
er sich bei späteren Operationen immer
wieder von starken Verwachsungen über¬
zeugen mußte. • Er empfiehlt vielmehr
Ichthyol- und Borsalben. Bircher wen¬
det wegen seiner geringen Nebenwirkun¬
gen Lipojodin an, respektive neben der
Joddarreichung Chinin und Calcium. Auch
die Röntgenbehandlung der Struma wird
von Krecke als erfolglos widerraten, da
die Strahlen kolloide, cystische und fibröse
Gewebe nicht zu beeinflussen vermögen
und Verwachsungen schaffen, die für
spätere Operationen höchst unangenehm
sind. Bei Versagen der inneren Therapie
kommt die Operation in Frage. Die
Indikationen hierfür sind außerdem Atem¬
beschwerden, thyreo«tische Erscheinungen
und kosmetische Rücksichten, aus denen
man bei dem heutigen Stande der opera¬
tiven Technik wohl berechtigt ist, einen
derartigen Eingriff vorzunehmen. Bei den
Thyreotoxikosen muß man sehr genau ein¬
fache nervöse Erscheinungen von den
thyreotischen unterscheiden. Gegenindi-
kp+ionen sind nur schwere Erkrankungen
Qer Atmungs- und Kreislauforgane. Le¬
bensalter bleibt unberücksichtigt. Rezi¬
dive nimmt Krecke in 10 bis 20 % aller
Fälle an. Die Betäubungsart überläßt er
seinen Patienten zur Entscheidung.
Die prophylaktische Behandlung in
Kropfgegenden, wie sie in der Schweiz
durch Darreichung von Jodostarin (Kin¬
der Wöchentlich 0,06 =0,03 Jod) getrie¬
ben wird, würde, wenn sich dieses Ver¬
fahren bewährt, auch in unseren Kropf¬
gegenden bei den Schulkindern zu emp¬
fehlen sein. Ernst Borchart (Berlin).
(M. in. W. Nr. 44.)
H. Scheuermann (Kopenhagen) be¬
schreibt eine besondere Form von Ky¬
phose, welche sich bei Jünglingen im Ent¬
wickelungsalter im Anschluß an schwere
Arbeit (besonders Landarbeit) in kurzer
Zeit entwickelt. Er hält sie nicht für
identisch mit der von Schanz beschrie¬
benen zu Kyptose führenden Insuffizienz
der Rückenmuskeln, ist vielmehr der
Meinung, daß es sich um ein Leiden in
der Wachstumslinie der Wirbelkörper
zwischen Corpus und der Epiphysierung
handelt. Als Behandlung empfiehlt er
Bettruhe für ein bis zwei Wochen, dann
Gipspanzer in Suspension oder lordotischer
Haltung für mehrere Monate, daran an¬
schließend Massage und Gymnastik. Eine
Heilung konnte er nicht erzielen; das
Leiden führte stets trotz Behandlung zu
bleibender Deformität. Georg Müller,
(Zschr. f. orthop. Chir., 41. BO., 4. Heft.)
Böen he im macht auf die diagnosti¬
sche und therapeutische Bedeutung der
Blutdrüsen für die Magenpathologie
aufmerksam, indem er den Zusammen¬
hang zwischen Magenfunktion und Blut¬
drüsentätigkeit ins rechte Licht setzt.
Der Mechanismus der Chlorausscheidung
in den Magen und den Harn ist nach neue-
m
DieTTJierapie/d^r ;0eg^tiwatt 192i'
De^em^f
ren AUSehautingen etwa folgender: Mo-
bilfeieruixg der Cltlordepots, Hyperchlor-
äm'fe, Ausscheidung des tiberschüssigen
Chlors durch Magen und Niere. Abwei¬
chungen von diesem Mechanismus kom¬
men bei Magen- und Nierenkrankheiten
sowie' bei Tuberkulose vor, bei letzter
als Folge der Hypochloränne und Ver¬
armung des Körpers an Chlor. Die Ma¬
gensuperacidität resultiert aus folgenden
Ursachen: 1. Erkrankung der Drüsen¬
zellen selbst, 2-. organische Magenkrank¬
heiten, 3. Versagen der Nieren, 4. Hyper-
chlorämie infolge zu starker Chlormobi-
lisierung. Für die Chlormobilisierung ist
aber die Tätigkeit der endokrinen Drüsen
von großer Bedeutung, also auch für die
aus 4. resultierende Superacidität. Zu
den die Chlormobilisierung fördernden
Drüsen gehören die Schilddrüse, das Pan¬
kreas, die Hypophyse und die Keim¬
drüse, letzte bedingt gleichzeitig mit der
Chlormobilisierung eine Hemmung an den
Ausscheidungsorganen. Die größte kli¬
nische Bedeutung kommt der Schilddrüse
zu. Bei den mit Hyperthyreose einher¬
gehenden Krankheiten (Morbus Basedowii,
Tuberkulose) wird meist, in incipienten
Fällen fast regelmäßig, eine Superacidität
beobachtet. Auch durch Injektion von
Thyreoideaextrakt wird eine Hyperchlor-
ämie erzielt. Therapeutisch indiziert ist
ihre Anwendung bei Myxödem und ähn¬
lichen Krankheitsbildern. Hemmend wir¬
ken auf den Chlorstoffwechsel die Thy¬
mus, die nach neueren Anschauungen
auch bei Erwachsenen funktionstüchtig
bleiben soll, und die Nebenniere. Die
Anwendung der Thymus ist indiziert bei
Hyperthyreose und Infantilismus mit
Superacidität, desgleichen bei der bei
Tuberkulose vorkommenden Subacidität
infolge von toxischer Hypofunktion der
Magendrüsen, kombiniert mit Hyper-
chlorämie. . Durch Hemmung der Chlor¬
mobilisierung und dadurch bedingte Ver¬
minderung der Chlorausscheidung durch
die Niere wirkt Thymus als Chlorsparer
und beeinflußt günstig den Appetit in
Fällen, wo die gebräuchlichen Sto-
machica versagen. Bei richtiger und'schar-
fer Indikation kann die Darreichung
eines Blutdrüsenpräparats eine günstige
Umstellung der Magenfunktion erzwingen.
(D. m. W. 1921, H. 42.) Grunke.
Das Novasufol ist eine lösliche Queck¬
silberverbindung (oxymerkurichlorphe-
nylessigsaures Na. + Diaethylmalonyl-
hamstoff), die ursprünglich nur in der
Luestherapie verwendet wurde/ Es wird
sehr rasch wieder ^usgeschieden und ist
deshalb relativ unschädlich. In letzter
Zeit hat es eine immer größere Bedeu¬
tung als Diureticum gewonnen. Besbn-.
ders geeignet für die Novasurolbehand-
lung sind die Hydropsien nicht renalen
Ursprungs, bei denen die gebräuchlichen
Mittel versagen. Das Mittel macht in
günstigen Fällen eine schon ein bis andert¬
halb Stunden post inject, einsetzende und
nach zirka zwölf Stunden abklingende
Harnflut mit ^ gleichzeitiger reichlicher
Kochfalzausschwemmung. Man Soll die
Injektion zwecks Vermeidung schädlicher
Wirkungen erst am vierten bis siebenten
Tage wiederholen. Nonnenbruch hat
die Wirkung des Novasurols am Nor¬
malen geprüft, bei dem nach den bis¬
herigen Mitteilungen die diuretische Wir¬
kung — wenn überhaupt vorhanden —
nur gering sein sollte. Er fand, daß auch
hier eine starke wasser- und kochsalz-
diuretische Wirkung von kurzer Dauer
vorhanden ist. Man darf jedoch nicht
die 24-Stunden-Menge des Harns, son¬
dern muß die dreistündig gemessene
Urinmenge am Vortag und am Novasurol-
tag vergleichen. Das Novasurol wirkt
auch, wie Versuche des Verfassers er¬
geben haben, bei dem durch kochsalz¬
arme Vortage wasser- und kochsalzarm
gemachten Organismus. Was die bei den
Versuchen beobachteten Veränderungen
im Blut anbetrifft, so ließ sich nur eine
absolute,-nicht durch Wasseraustritt-e in
die Gewebe zu erklärende Vermehrung
des Serumeiweißes feststellen, denn die
Blutkörperchen, die den sichersten - An¬
haltspunkt für den Wasserwechsel zwi¬
schen Blut und Geweben abgeben, blie¬
ben gleich — ebenso die Serumkochsalz-
Werte. Die Wirkung des Novasurols wird
hauptsächlich in einer Mobilisierung von
Wasser und Kochsalz in den Geweben
erblickt. Ob daneben hoch eine spe'cifi-
sche Wirkung auf die Nieren vorhanden
ist, muß vorläufig dahingestellt bleiben.
(M. m. KI. 1921, Nr. 40) Kamnitzer.
Über einen Fall von rezidivierender
Pankreatitis verbunden mit Xanthoma¬
tose berichtet Wijnhausen. Es han¬
delt sich um einen etwa 100 Kilo schwe¬
ren, 35jährigen Patienten, bei dem eine
hereditäre Belastung mit Diabetes und
Adipositas vorlag. Im Laufe des Jahres
vor dem ersten Krankheitsanfall hatte.
Pat. zweimal ein Trauma in der Magen¬
gegend. Die Anfälle, symptomatisch fast
t>ezeml)er
Die iTkerapie.^da- ,Qegeo\mrtll9S^i
übereinstimmend, wiederholten sich in
Zeitabständen von einigen Monaten. Ei¬
nige Wochen vor dem eigentlichen Anfall
bildeten sich immer an denselben Körper¬
teilen Xanthome, die sich während des
Anfalles vergrößerten, der Stuhl wurde
hell, von besonders üblem Geruch und
enthielt viele unverdaute Muskelfasern,
doch keine großen Fettmengen, im sonst
zuckerfreien Harn trat Zucker auf (un¬
mittelbar vof und während des Anfalles
8—12 %). Patient klagte dabei über
Magensäure, Magenschmerz und Flatu¬
lenz. Während des Anfalles, der häufig
mit Erbrechen eingeleitet wurde, hatte
Patient heftige Schmerzen (spontan und
auf Druck) drei Finger unterhalb des
proc. ensiformis, welcher Punkt auch
nach den Anfällen empfindlich blieb. Bei
der drei Jahre nach dem Krankheitsbe¬
ginn ausgeführten Operation zeigte sich
das Pankreas geschwollen, fest und ge¬
spannt. Es wurde dekapsuliert. Am Ma¬
gen, Duodenum und Gallenblase wurden
keine krankhaften Veränderungen ge¬
funden. Die mikroskopische Untersuchung
eines aus dem Pankreas entfernten Knöt¬
chens ergab ein nekrotisches Zentrum mit
Fettsäurekristallen, an dessen Rand Bin¬
degewebe und kleinzellige Infiltration,
weiter peripher ödematöses, hauptsächlich
aus Fettzellen bestehendes Gewebe, was
alles für eine Pankreatitis sprach. In den
sieben Jahren nach der Operation hatte
Patient drei mildere Anfälle nach Genuß
von allzu großen Quantitäten Fett und
Kohlehydrat. Die nach der Operation
zurückgegangene Kohlehydrat-Toleranz
wurde ungünstig durch Genuß von Fett
und Eiweiß beeinflußt. Als Krankheits-
uisache sieht Verfasser das Trauma des
Pankreas bei einem mit Diabetes belaste¬
ten Menschen an. Was die Xanthome an¬
belangt, so bestanden sie aus Cholesterin,
welches auch im Blut vermehrt war
(während eines Anfalles 0,86 %). Ver¬
fasser nimmt an, daß die Hypercholeste-
rinämie in diesem Fall, vielleicht auch
be< einigen Diabetes-Fällen, auf einer
durch das Pankreas bedingtem Hemmung
der Cholesterinausscheidung durch die
Leber beruhen könnte. Grunke.
(B. kl. w. 1921, H. 43.)
Als kasuistischen Beitrag zu den Spon¬
tanfrakturen der Patella fügt Wagner
aus dem S.t-Georg-Krankenhause Leipzig
(Tieller) den sechs bisher in der Literatur
beschriebenen einen neuen eigenen Fall
hinzu: Es handelte sich um einen 50jäh¬
rigen Patienten mit schwerer progressiver
Muskeldystrophie, der beim Treppen'-^
herabsteigen plötzlich zusammenknicktev
wodurch die rechte Patella in drei Stücke
zerrissen wurde. Die Fälle von Spontan-
fraktur der Patella sind sehr selten, meiät
haben sie eine Tabes als Ursache.
Willibald Heyn (Berlin)
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 163, Heft 3/4, S. 208;>
Ed. Birt berichtet aus der medizini¬
schen Hochschule in Shanghai über
Dekapsulation bei Phosphaturie. Verfasser
hat in fünf Fällen durch obige Operation
die schwersten phosphaturischen Kolik¬
anfälle vollkommen verschwinden sehen
und vollkommene Heilung erzielt. Es wird
nicht g sagt wie lange die Anfälle fort¬
geblieben sind. Eine Erklärung für die
Wirkung der Operation wird nicht ge¬
geben. Es ist vielleicht möglich daran
j zu denken, daß die Phosphaturie stets Teil¬
erscheinung allgemeiner neuropathischer
Disposition ist und daß Phosphaturiker
verhältnismäßig leicht der Suggestion
unterliegen. Man kann - Phosphaturie
auch mit Hypnose behandeln. So wäre
vielleicht die Deutung erlaubt, daß die
Operation eine besonders eindringliche
psychische Einwirkung darstellt. Es wäre
nur die Frage, ob diese Suggestion nicht
besser auf unblutigem Wege erzielt wird.
Willibald Heyn (Berlin).
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 163, Heft 3/4, S. 278.)
Das neue Heft der Strahlentherapie
bringt ein'ge Mitteilungen über theo¬
retische und praktische Fortschritte
im Gebiete des Röntgenverfahrens. In
einer sehr fleißigen Arbeit hat Zumpe
beim Gesunden sowie bei den ver¬
schiedensten Krankheiten die Verände¬
rungen des Blutbildes nach Röntgen-
bestrahlurrgen studiert.- Bei malignen Tu¬
moren geht die Blutbildveränderung der
Erkrankung parallel. Bei vorgeschritte¬
nen Fällen ist der Verlauf ein typischer:
die Veränderung setzt unmittelbar nach
der Bestrahlung als Reizwirkung auf die
blutbildenden Organe ein und zwar unter
dem Bilde der Leukopenie. Die Prognose
ist abhängig von der vorläufigen Restitu¬
tion des Blutbildes. Die Wirkung thera¬
peutischer Bestrahlungen auf Blut und
blutbildende Organe besteht bei peri¬
pheren Bestrahlungen in einer indirekten
Reizung, bei Kopf-, Hals-, Rumpfbestrah¬
lungen in einer direkten und indirekten
Reizung der lymphoiden und myeloiden
Organe.- Die Stärke der Leukopenie ist
abhängig vmn (fern Gefäßreichtum der
480
Die Therapie der öegenwart 1921
Dezember
bestrahlten Stellen, von dem Wachstum
der bestrahlten Zelle bei jungen Blut¬
zellen und von der Strahlendosis. Eine
genaue Blutbildkontrolle wäre in den
Betrieben wünschenswert, wo wegen
stärken Krankenandrangs mehr minder
schematisiert werden muß.
Über die Tiefenwirkung der Rönt¬
genstrahlen haben Dessauer und Vier¬
heller neue schöne Untersuchungen an¬
gestellt. Sie kommen zu dem Schlüsse,
daß Dessauers schon frühzeitig ge¬
äußerte Ansicht, daß das Problenr der
Tiefenbestrahlung davon abhänge, eine
möglichst homogene Röntgenstrahlung
in den Körper zu senden, wissenschaftlich
sichergestellt sei. Früher war dieser Satz
ein frommer Wunsch, heute ist er zum
Teil ausführbar. Es gelingt mit den
jetzigen Apparaten, qualitativ das Homo¬
genitätsprinzip durchzuführen. Quanti¬
tativ ist es noch nicht erreicht, aber seine
Erfüllung in greifbare Nähe gerückt. Auf
Grund der neuen Forschungen muß jeder
einzelne Fall, der der Tiefentherapie zu¬
geführt wird, auf die anzuwendenden
physikalischen Bedingungen durchdacht
werden. Man wird dann für bestimmte
Typen und Lokalisationen der Tumoren
eine mehr schematische Regelung der
Bestrahlungsart festlegen können.
.Einen bemerkenswerten technischen
Fortschritt der Röntgenbestrahlung be¬
deutet ein neues Bestrahlungsgerät, wel¬
ches Lehmann zur gleichzeitigen Be¬
strahlung mit zwei Röhren konstruiert
hat; dasselbe ist an den Veifaapparat
angeschlossen und gestattet daher die
gleichzeitige Anwendung von zwei Röhren.
Dies neue Gerät scheint berufen zu sein,
in mannigfacher Beziehung in der mo-.
dernen Tiefentherapie Verwendung zu
finden. Man ist imstande, zu gleicher
Zeit von oben und unten ■ ein großes
Fernfeld zu bestrahlen und ebenso, wenn
man zwei Röhren von oben her wirken
läßt, zu gleicher Zeit zwei Nahfelder zu
geben. Vermieden wird vor allem die
unangenehme Bauchlage. Die Bestrah¬
lungszeit wird um mindestens die Hälfte
herabgesetzt. Referent meint, daß ge¬
nauere Messungen noch feststellen müs¬
sen, wie sich in der Tiefe Röntgenstrahlen
verhalten, die von oben und unten gleich¬
zeitig auf den Körper treffen.
Max Cohn.
(Strahlenther. Bd. XII, Heft 3, 1921.)
Silbersalvarsan bei multipler Skle¬
rose hat in jüngster Zeit Meyersohn
angewandt, nachdem die bisherigen in
der Literatur niedergelegten Erfahrungen
ein unzweideutiges Urteil nicht gestatten.
Das kann freilich nicht wundernehmeny
weil, die' multiple Sklerose schon spontan
oft weitgehende Besserungen, die dem
weniger Erfahrenen als Heilungen impo¬
nieren, zeigt. Aus diesem Grunde sind
die bei m. S. empfohlenen Arzneimittel
mit besonderer Skepsis zu verwerten. —
Per Verfasser wendet eine Anfangsdosis
von 0,01—0,05 an und steigt allmählich
auf 0,1, seltenerweise auf 0,15 bis. zu einer
Gesamtdosis von etwa 2,0. Bei einzelnen
Kranken beobachtet man a4s Nebenwir¬
kungen ziehende Schmerzen im ganzen
Körper, allgemeines Unbehagen, mehr¬
tägige leichte Temperaturerhöhungen oder
einmaligen hohen Fieberanstieg. Bevor
weitere Injektionen gemacht werden,
müssen diese Nebenreaktionen abge¬
klungen sein. Jedenfalls ist Vorsicht ge¬
boten; die Polysklerotiker vertragen die
Silbersalvarsaninjektionen anscheinend
schlechter als andere Kranke. Meyer¬
sohn kommt in der Epikrise seiner 16 Fälle
zu einem ziemlich resignierten Urteil.
Wenn man die Krankengeschichten liest,
muß man sich sagen, daß die Besse¬
rungen, die nach den Einspritzungen
notiert sind, auch ohne diese hätten ein-
treten können. M. glaubt aber doch, daß
Spasmen, Koordinationsstörungen und
Schwindelgefühl günstig beeinflußt wer¬
den, daneben auch die Sensibilitäts¬
störungen und die Blasenschwäche. Auch
pathologische Reflexe können zurück¬
gehen. — Bei der trostlosen Lage der
m. S. ist jeder Versuch mit einem neuen
Mittel berechtigt, wenn die nötige
Kritik angewandt wird. Ich möchte auf
Grund der von anderer Seite veröffent¬
lichten und eigener, freilich nur geringen
Erfahrungen meinen, daß Silbersalvarsan
ebenso wie Fibrolysin nicht nutzt und
nicht schadet, sondern nur auf den
Kranken einen gewissen psychischen Ein¬
druck macht. Dünner.
(B. kl. W. 1921, Nr. 43.)
Prof. Fritz Lange (München) be¬
richtet über einen Fall von schwerer ver¬
steifter LumbodorsalskoHose, bei wel¬
cher von Sauerbruch in zwei Sitzungen
je ein 5 cm langes Stück von der
achten bis elften Rippe (erste Operation)
und von der ersten bis siebenten (zweite
Operation) an ihrem Wirbelansatz auf
der konkaven Seite entfernt wurde. Nach
Abheilung der Wunden wurden gymnasti¬
sche Übungen vorgenommen. Der Erfolg,
481
Dezember Die Therapie der Gegenwart 1921
den Lange selbst als zu keinen großen
Hoffnungen berechtigend bezeichnet, be¬
stand nach der ersten Operation in einer
Mobilisierung des versteiften Wirbelsäu¬
lenteils, die aber später wieder verloren
ging, und einer Verschiebung des ganzen
Rumpfes nach der konkaven Seite (nach
der zweiten Operation), wodurch der Ge-
sanitumriß des Körpers ein günstiger
Wurde. Ähnliche Eingriffe sind früher
schon wiederholt versucht worden, je¬
doch stets ohne den erhofften Erfolg.
Georg Müller.
(Zschr. f. orthop. Chir., 41. Bd., 3. Heft.)
Solarson, das jetzt wohl meist ange¬
wandte lösliche Arsenpräparat, wird von
Wiener Autoren neuerdings besonders
bei Malaria empfohlen. So erklärt
Müllern, der Primärarzt des Haupt¬
malariaspitals, die Solarsontherapie bei
der Malaria für nicht weniger wichtig als
die kausale Therapie selbst; nach seinen
Erfahrungen erholen sich die mit Solarson
und Chinin behandelten Malariakranken
rascher und neigen weniger zu Rezidiven
als die mit Chinin behandelten; er meint
sogar, daß die kombinierte Therapie die
Erreger auch bei der Tropica schneller
aus dem Blut verschwinden läßt. Ebenso
verschwinden die Parasiten aus dem Blut,
wenn nach eingetretener. ,,Chininab¬
stumpfung“ das Chinin einige Zeit aus¬
gesetzt und durch Solarson ersetzt wird.
Die Malaria-Anämie wird, wie jede andere
Form von Blutkrankheit, durch Solarson-
injektionen besonders günstig beeinflußt;
ebenso auch hartnäckige Malarianeur¬
algien. Gleich rühmliche Erfolge be¬
richtet Balcarek von der kombinierten
Solarsbn-Chininkur, die er bei 36 Fällen
schwerer Tropica und 48 Fällen von Ma¬
laria tertiana angeordnet hat; sie erfolgte
in täglichen subcutanen Solarsoninjek-
tionen neben der Nochtschen Chinin¬
darreichung. 73 Fälle wurden glatt ge¬
heilt, auch die nach zwei bis fünf Monaten
in elf Fällen eintretenden Rezidive blie¬
ben nach Wiederholung der Doppelinjek-’
tionen anfalls- und beschwerdefrei. Ver¬
fasser möchte das Solarson mit seiner
außerordentlich tonisierenden Wirkung
bei der Behandlung der Malaria in kei¬
nem Fall mehr missen. — Schließlich hebt
Scheint den eklatanten Erfolg der Solar-
sonbehandlung bei schwerer Malaria¬
anämie und hartnäckiger Malarianeur¬
algie hervor; auch er bezeichnet das So¬
larson als vorzügliches Arsenpräparat und
wertvolles Heilmittel in der Malariathe¬
rapie.
Im Zusammenhang hiermit sei die
Arbeit von Löwinger aus der Abteilung
Strasser in Wien referiert, welcher das
Solarson als wertvolles Unterstützungs¬
mittel von Tuberkulinkuren empfiehlt;
die kombinierte Behandlung hat eine
gleich günstige Einwirkung auf das All¬
gemeinbefinden wie auf die Zunahme
des Körpergewichts gezeigt. Insbesondere
verdienen Solarsoninjektionen bei fie¬
bernden Tuberkulösen angewandt zu wer¬
den und sollten hier als Roborans den
eigentlichen Tuberkulinkuren voraus¬
geschickt werden. Berger.
(W. m.W. 1921, Nr. 2, 3, 4, 9.)
Dr. J. Goerres berichtet über 60Fälle
von Spondylitis tuberculosa^ die in der
Vulpiusschen Klinik mit der Albeeschen
Operation behandelt wurden. Das Ver¬
fahren besteht darin, daß ein dem Schien¬
bein entnommener Span in die erkrankte
Partie der Wirbelsäule einschließlich je
eines über unter derselben gelegenen ge¬
sunden Wirbels, und zwar in’ die gespal¬
tenen Dornfortsätze eingepflanzt wird.
Die Operation wurde von den Patienten
gut überstanden, der Span heilte gut ein.
Im ganzen waren nur zwei Todesfälle
zu verzeichnen, in zwei Fällen schlossen
sich langdauernde Fisteln an, bei 55 Fäl¬
len konnte wesentliche Besserung und
Heilung erzielt werden. Die Patienten
wurden durchweg mit Stützkorsetten ent¬
lassen,so daßsich die Voraussage Albe es,
daß solche orthopädische Apparate durch
seine Operation überflüssig würden, nicht
erfüllt hat. Sehr richtig wäre es, wenn
Kliniken mit großem Krankenmateriale
Parallelreihen ohne Operation mit den
von Rollier, Bernhard, Spitzig, Bi-
salski, Bier und Anderen vertretenen
Methoden behandelten und in ihrem
Verlauf und Endresultaten miteinander
vergleichen würden. Erst dann könnte
ein abschließendes Urteil über den Wert
der Albeeschen Operation gefällt werden,
die zweifellos* sehr viel bestechendes hat,
den Referenten aber, und wie es scheint,
auch die Mehrzahl deutscher Orthopäden
enttäuscht hat. Georg Müller.
(Zschr. f. orthop. Chir., XL. Bd., 6. Heft.)
Werner Siemens berichtet aus der
Jadassohnschen Hautklinik über einen
Fall von resistenter Syphilis. Da in
der Literatur nur wenige derartige Fälle
bekannt sind, ist es unzweifelhaft von
großem Interesse, durch ihre genaue
Untersuchung und Verfolgung die Ur-
61
482
Die Therapie der Gegenwart 1921
Dezember
sach^ dieser Resistenz aufzuklären. Es
handelt sich um einen Fall von psoriasi¬
formem Syphilid, vornehmlich an den
Handflächen, Fingern und Nägeln lokali¬
siert, das bisher jod-, Quecksilber- und
salvarsanresistent geblieben ist.
35 jähriger Arbeiter, Februar 1919. Ulcus
molle mit Bubo.
Erste Kur Juli—August 1919, Neosalv. 3,6,
erscheinungsfrei. Nach vier Wochen Ausschlag
an den Händen.
Zweite Kur November—Dezember 1919.
Neosalv. 4,35 + Hg (Kalomel 0,13; Hg-Salicyl
0,5), WaR. -f, spirochätenhaltige Efflorescenzen
an beiden Palmae, Paronychien. Am Ende der
Kur WaR. —. Exanthem fast abgeheilt.
Dritte Kur März—Juni 1920. Neosalv.
4,65 + Hg 0,6, WaR. +, papulöses Syphilid,
psoriasiforme Efflorescenzen (Patient hat nie an
Psoriasis gelitten.) Nach der Kur WaR.—, noch
einzelne psoriasiforme Herde trotz Behandlung
mit Jodkali intern, >Salicyltrikoplast, Röntgen-
und Mesothoriumbestrahlung.
Vierte Kur August—September 1920. Neo-
silbersalvarsan 3,5 -f Neosalv. 1,5; Jodkali intern,
WaR. negativ, der soeben geschilderte Befund.
Nach der Kur Status idem, energische Röntgen¬
bestrahlung und Salicyltrikoplast.
Fünfte Kur November 1920—Januar 1921.
Jodkur (Natr. jodat. 80,0, 25 % i.v.). WaR.+,
massenhafte Spirochaetae pallidae in allen Krank¬
heitsherden. Nach der Kur Status idem.
Sechste Kur Januar—Februar 1921. Neo¬
salv. 4,6 -f 0,2 Novasurol, WaR. -f-. Nach der
Kur WaR. —. Syphilide noch stärker.
Siebente Kur April—Juni 1921. Kalomel-
kur 0,45 Hg, WaR. —. Nach der Kur Besserung,
jedoch nach vier Wochen erneutes Auftreten von
psoriasiformen Efflorescenzen mit Spirochäten.
Von Interesse dürfte noeh sein, daß bisher die
Ehefrau und drei Kinder des Patienten nicht von
ihm infiziert sind. Ernst Borchart.
' (M.m. W. 1921, Nr. 44.)
A. Schanz (Dresden) teilt 33 Kran¬
kengeschichten von an Insufficientia
vertebralis leidenden Patienten mit, unter
welchem Namen er schon vor einer Reihe
von Jahren einen sehr variablen Sympto-
menkomplex zusammenfaßte.' Es han¬
delt sich physiologisch um eine Störung
des Verhältnisses zwischen Tragfähigkeit
der Wirbelsäule und der ihr zugemuteten
Traglast. Die Symptome sind neben der
sich stets findenden Druckschmerzhaftig¬
keit eines oder mehrerer Wirbel nervöse
Beschwerden, die am häufigsten unter
dem Bilde der Ischias, oft als Magen-,
Darm-, Unterleibs-, Blasen- und so weiter
Beschwerden auftreten. Die aus den
Krankengeschichten ersichtlichen oft ge¬
radezu überraschenden Heilungen wurden
erzielt durch einen einleitenden Rumpf-
Gipsverband, der oft schon in den ersten
Tagen die Beschwerden beseitigte, dem
dann eine längere Behandlung mit Gips¬
bett und orthopädischem Stützkorsett
folgte. Öeorg Müller.
(Zschr. f. orthop. Chir., 41. Bd. 5. Heft.)
Therapeutischer Meinungsaustausch,
Ans der Inneren Abteilnng des Krankenhauses der jüdischen Gemeinde
(Direktor; Geh. Kat Prof. Strauß).
Zur Frage der Sanarthritbehandlung chronischer Gelenk»
affektionen.
Von Erna Herrmann. Volontärärztin.
Über die von Hei ln er begründete
Sanarthritbehandlung ist bereits eine
Reihe von Veröffentlichungen erfolgt, so
daß ich mich in folgendem nur auf eine
kurze Schilderung der auf der Strauß-
schen Abteilung gemachten Erfahrungen
beschränken möchte. Ich will nur voraus¬
schicken, daß Hei ln er die Ursache der
verschiedenen chronischen Gelenkaffek¬
tionen in einem Versagen des physiolo¬
gischen Schutzapparates sucht, der nach
seiner Meinung normalerweise imstande
ist, zu verhindern, daß bestimmte schäd¬
liche Stoffe die Gelenkenden verändern.
Die Versuche Heilners richten sich dem¬
gemäß auf Wiederherstellung des Schutz¬
apparates der Gelenke.
Sein Präparat „SanarthriU‘ ist ein
Extrakt aus jungem Knorpelgewebe und
soll die erwähnten Schutzstoffe, die das
normale Gelenk zur Abwehr von Schäd-^
lichkeiten liefert, enthalten. Durch die"
Einverleibung dieser Schutzstoffe wird
eine Wiedererweckung beziehungsweise
Verstärkung des lokalen Gewebschutzes
in den erkrankten Gelenken erstrebt.
Sanarthrit ist eine farblose, kolloidale Flüssig¬
keit, über deren chemische Zusammensetzung
keine genaueren Angaben vorliegen. Sanarthrit
wird intravenös verabreicht. Es sollen 6—15 In¬
jektionen, je nach der Eigenart des Falles gemacht
werden. Die Injektionen verlaufen entweder ganz
symptomlos oder rufen mehr oder weniger starke
Reaktionen hervor, das heißt: Fieber mit oder ohne
Schüttelfrost, Kreuz- und Kopfschmerzen, Durst,
Diarrhöe, Brechreiz. Bei Eintritt von Reaktionen
soll das Intervall zwischen zwei bis sechs Tage
betragen, je nach der Stärke der Reaktion.
Hei ln er berichtet über günstige Er¬
folge des Sanarthrits bei den verschie-
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1921
483
densten chronischen Gelenkentzündungen.
Jedoch sind die Erfolge nicht immer von
der Stärke der Reaktion abhängig. Auch
Umber teilt Günstiges über Sanarthrit
mit; jedoch nur bei Periarthritis de-
struens, Osteoarthritis deformans und
bei chronischen sekundären Gelenkerkran¬
kungen. Bei Gicht versagte Sanarthrit
vollständig. Reinhart beschreibt 23 mit
Sanarthrit behandelte Fälle aus der Klinik
von Schittenhelm. In fünf Fällen sah
er „überraschend gute Wirkung'‘ nach
zwei bis drei Injektionen. Eine bedeu¬
tende Besserung ist auch noch da erzielt
worden, wo andere Mittel versagten. Vor¬
übergehende Stunden oder Tage anhal¬
tende Wirkung war in elf Fällen zu ver¬
zeichnen, während in sechs Fällen gar
keine Wirkung zu erzielen war. Finger
hat Sanarthrit angewandt 1. bei Arthritis
chronica deformans, 2. bei Periarthritis
chronica destruens, 3. bei Polyarthritis
rheumatica im chronischen Stadium,
4. bei Osteochondritis def. juv., 5. bei
Coxitis tuberculosa, 6. bei akuten eitrigen
Gelenkerkrankungen, 7. bei sonstigen Er¬
krankungen. Er sah ziemlich gute Er¬
folge, auch wenn keine starke Reaktion
eintrat, nur bei Arthritis chronica defor¬
mans und bei. Periarthritis chronica de¬
struens.
Bei den Fällen, die auf unserer Abtei¬
lung mit Sanarthrit behandelt wurden,
handelte es sich nur um solche Patienten,
bei denen vorher andere bekannte Mittel
nur mit geringem Erfolg angewandt wor¬
den waren. Wir haben uns genau an die
Gebrauchsvorschrift gehalten, bezüglich
der Einschaltung der Intervalle zwischen
den Injektionen.
Von unseren neun mit Sanarthrit be¬
handelten Fällen hatten sechs Arthritis
deformans und drei Arthritis chronica
rheumatica. Die Injektionen wurden in¬
travenös gegeben, ohne daß sie irgend¬
welche Schmerzen verursachten. Die
Zahl der Injektionen betrug meist vier
bis sieben; die Dosierung wurde nach
Vorschrift gemacht. Die Reaktionen
waren ganz verschieden. Bei einigen Pa¬
tienten trat nach einer kleineren Dosis
schon eine starke Reaktion auf, während
sich bei anderen auch bei größeren Gaben
nur schwache oder gar keine Reaktionen
einstellten. Bei sieben Fällen war eine
deutliche Besserung zu verzeichnen, und
zwar wurden die Schmerzen geringer und
die Beweglichkeit der Gelenke nahm zu.
Bei je zwei Fällen hat sich aber — trotz
starker Reaktionen —in dem einen Falle
nichts im Befunde geändert.
Wir haben außerdem noch eine I^eihe
von Fällen von chronischer Gelenkerkran¬
kung mit Sanarthrit behandelt; doch
mußten wir bei diesen die Behandlung
wegen sehr starker Reaktionen oder weil
sie das Krankenhaus zu früh verließen,
aussetzen. Wir haben deshalb diese Fälle
hier nicht mitgerechnet.
Nach diesen Erfahrungen erscheint
auch uns die Sanarthritbehandlung eines
Versuches wert, wenn die andere Be¬
handlung versagt hat. Wir haben eine
solche — immerhin etwas reservierte —
Beurteilung der Behandlungsmethode
deshalb gewonnen, weil die Nebenwir¬
kungen unter Umständen große Anforde¬
rung an die Widerstandskraft der Pa¬
tienten stellen. Freilich ist dies nicht
stets der Fall, und wie es scheint ist ein
Erfolg der Behandlung auch nicht direkt
von der lokalen oder Allgemein-Reaktion
abhängig. In ähnlichem Sinne äußern
sich auch Umber und Finger. Ob ein
prinzipieller Unterschied in Art der Wir¬
kung gegenüber der Proteinkörpertherapie
besteht, können wir zur Zeit noch nicht
mit Sicherheit entscheiden; denn unsere
an mehreren Fällen mit Caseosan ange-
stellten Beobachtungen berechtigen uns
noch nicht zu einer sicheren Entscheidung
dieser Frage. Immerhin halten Wir es für
möglich, daß die Wirkung des Sanarthrits
mehr oder weniger enge Beziehungen zur
sogenannten Proteinkörpertherapie be¬
sitzt.
Wir möchten aber nicht unterlassen,
zu bemerken, daß wir stets neben der
Sanarthritbehandlung eine systematische
physikalische Therapie in den Pausen
zwischen den Injektionen (speziell Be¬
wegungen, Massage und Thermotherapie)
durchgeführt haben. Da aber vorher mit
dieser oder ähnlicher Therapie ein Erfolg
ausgeblieben war, so glauben wir doch
behaupten zu dürfen, daß die Sanarthrit¬
behandlung in unseren Fällen die Wir¬
kung der physikalischen Maßnahmen un¬
terstützt hat. Jedenfalls halten wir es
für zweckmäßig, im Falle der Anwendung
der Sanarthritbehandlung, auf die physi¬
kalische Therapie nicht zu verzichten.
Literatur: Heilner (M. m. W. 1916, Nr.28;
M. m. W. 1917, Nr. 29; M. m. W. 1918, Nr. 36). —
Umber (M.’m. W. 1918, Nr. 36). — Reinhart
(D. m. W. 1919, Nr. 49). — Finger (Mitt. Grenz¬
geb. 1921, Bd.36).
61*
484 . Dfe THwäpt^ der OegenTOFt 1921 • ' ■ 'S * ^ßSanvI^r-
Aus der ü. chkurgisclen Abteilung des städtiseleu ßudolf-Virchow-Krankenhauses, Berlin.
(Dirigierender Arzt; Prof, TJnger.)
Intravenöse Campherölinjektion.
Von Dr. Kurt Wohlgemuth, Assistenzarzt.
Vor kurzem hat B. Fischer (B. kl. W.
1921, Nr. 31) darauf hingewiesen, daß im
allgemeinen unsere Anschauungen über
die Gefahren der Luft- und Fettembolie
wohl nicht ganz den Tatsachen, die er
durch Tierexperimente bewies, ent¬
sprechen. Er zeigte, daß er beim Kaninchen
0,2 ccm Olivenöl pro Kilogramm Körper¬
gewicht intravenös injizieren konnte;
ohne tödliche Embolie hervorzurufen;
das wurde beim Menschen einer Dosis von
etwa 10 ccm entsprechen. Er führt u. a.
einen Fall an, bei dem versehentlich
einem Patienten 50 ccm Olivenöl intra¬
venös gegeben wurden, ohne daß dieser
ad exitum kam. Mithin kommt er zu dem
Schluß, daß nur sehr große Mengen von
Fett eine tödliche Embolie beim Menschen
hervorzurufen imstande sind, und daß die
meisten Fälle von Fettembolie Völlig sym¬
ptomlos und ohne Schädigung verlaufen.
Als praktische Auswertung dieser Tat¬
sachen empfiehlt Fischer, das Campher-
öl beim Menschen intravenös zu appli¬
zieren. Ich habe, dieser Anregung fol¬
gend, zunächst an Moribunden und Pa¬
tienten mit inoperablen malignen Tu¬
moren diese Injektionen vorgenommen.
Ich injizierte zunächst 1 ccm, dann 1 % ccm
und schließlich 2 ccm. Die Injektion
erfolgte stets langsam, etwa I Minute
dauernd. Bei keinem dieser Patienten
(20 Fälle) traten klinisch die Erschei¬
nungen einer Embolie auf; 12 Fälle davon
kamen zur Sektion (Dr. ChristeIler);
auch hier zeigte die genaue Untersuchung
keine Fettembolie. — Nach diesen.Vor¬
versuchen haben wir die intravenöse
Campherölinjektion in einer großen An¬
zahl von Fällen therapeutisch angewandt.
Mehr als 2 ccm habe ich nicht injiziert;
die Injektion kann nach 24 Stunden wie¬
derholt werden. Die Wirkung War stets
eine außerordentlich schnelle und inten¬
sive. Das Anwendungsgebiet ist selbst¬
verständlich das gleiche wie bei den sub-
cutanen Injektionen. Die Vorzüge der
intravenösen Applikation, auf die auch
schon Fischer hinweist, sind ja sehr
einleuchtend:
1. Von den subcutanen Öldepots geht
die Resorption oft nur sehr langsam von¬
statten. Bei der jntravenösen Injektion
verteilt sich das Öl sofort in dem ganzen
Circulationssystem.
2. Die schmerzhaften Campherab-
scesse fallen fort.
3. Mit einer weit geringeren Dosis wird
eine viel intensivere Wirkung erzielt.
Wir können demnach die experimen¬
tellen Erfahrungen Fischers klinisch
durchaus bestätigen und die intravenöse
Campherölinjektion in allen dringenden
Fällen empfehlen.
Aus dem Sanatorium Groedel Bad-Nauheim.
(Leitender Arzt: Privatdozent Dr. med. F. Groedel.)
Eine neue Art der Nitroglycerin-Darreichung.
Von Dr. Carl Winkler, Hausarzt.
Eine nicht unwichtige Rolle in der
Therapie der Herz- und Gefäßkrank¬
heiten spielt das Nitroglycerin. Von
Natur aus ein heftiges Gift, erheischt
seine Anwendung die alleräußerste Vor¬
sicht, vor allem exakte Dosierung. Seine
physiologische Hauptwirkung in schwa¬
cher Dosis von 0,001 beruht auf der Dila¬
tation der Gefäße. Es wirkt anhaltender
als das ’Amylnitrit. Es ist also in allen
Fällen indiziert, wo man eine allgemeine
Gefäßerweiterung erzielen will, insbe¬
sondere sonach bei Angina pectoris, vera
und nervosa, bei Stenokardie, Dyspnöe,
sonstigen Folgen sklerotischer Verände¬
rungen der Gefäße und Erkrankungen des
Myokards.
Die bisherige Darreichung erfolgte
teils in alkoholischer Lösung, teils in Tab¬
letten. Letztere haben sich uns nicht be¬
währt. Abgesehen davon, daß sie sehr spät
resorbiert werden — also der Effekt dem¬
entsprechend langsam eintritt —, ist auch
der Wirkungsgrad nicht immer gleich.
Diese Beobachtung veranlaßte uns,
seit jeher die Tropfenform auch für
Taschengebrauch zu verordnen, mit der
Weisung, bei Bedarf 4—6 Tropfen alko¬
holischer Nitroglycerinlösung (Ö,05: 15,0)
auf die Hand zu träufeln und mit der
Zunge abzulecken. Die Nachteile dieser
Verordnungsweise legten Dr. Groedel den
Gedanken nahe, das Nitroglycerin in einer
Form Zu geben, die schnelle Resorption
485
/ ' . ■
Dezember Die Therapie, der Gegenwart 1921
gewährleistet und außerdem bequem vom
Patienten mit sich zu führen ist, nämlich
in Kapseln.
G. Pohl in Danzig-Langfuhr stellt
auf unsere Veranlassung derartige Kap¬
seln, die Nitroglycerin in ätherischer Lö¬
sung enthalten, her, und zwar Original¬
packungen zu 3Ö Stück. Die erst ange¬
fertigten Kapseln enthielten 0,008 Nitro¬
glycerin, jedoch ist ins Auge gefaßt,
Kapseln von verschiedener Stärke her¬
zustellen und durch Zusatz von Pfeffer¬
minzöl den Geschmack zu verbessern.
Bei Bedarf werden in Abständen oder
auch auf einmal ein, zwei, drei oder mehr
Kapseln im Mund zerkaut, ausgesaugt
und die Kapselhüllen ausgespuckt.
Nach unseren bisher in der Privat¬
praxis und bei unseren Sanatoriums¬
patienten gesammeltem recht großen Er¬
fahrungen haben sich die Kapseln in ,
jeder Beziehung bewährt. Die Wirkung
setzt sofort ein und ist nach den Aus¬
sagen der Patienten stärker, als die, der
alkoholischen Nitroglycerinlösung, da es
unverdünnt in voller Dosis von der
Schleimhaut resorbiert wird. Nach selbst
angestellten Versuchen am Gesunden tritt
15—20 Sekunden nach der Einnahme
die Wirkung ein. Besonders angenehm
wurde das bequeme Mitsichführen der
Kapseln und das angenehme Einnehmen
von den Patienten hervorgehoben.
Ich glaube bestimmt, daß die von
Dr. Groedel eingeführte Darreichung des
Nitroglycerins in Gelatinekapseln sich in
der Praxis Eingang verschaffen und allen
mit anginösen und stenokardischen Be¬
schwerden geplagten Patienten ein wert¬
volles Linderungsmittel sein wird.
Esalcopat (Extr. Salviae cps.).
Ein Beitrag: zur Wirkung: der Salvia.
Von Apotheker Stöcker und Dr. med. A. Mahlo, Hamburg.
Salvia (Salbei) ist ein uraltes Volks¬
mittel, das im neuen Gewände, dem
Bedürfnis der Gegenwart entsprechend,
der Vergessenheit entzogen werden soll.
Extr. salviae cps. (Esalcopat) stellt eine
dunkelbraune, klare, aromatisch riechende
und schmeckende Flüssigkeit dar, die
sich in Zuckerwasser angenehm nehmen
läßt. Selbst wochenlanger Gebrauch
löste keinen Widerwillen von seiten der
Patienten aus und irgendwelche unan¬
genehme Nebenwirkung konnte bis jetzt
in keinem Falle beobachtet werden, so
daß auch der Anwendung des Präparates
in der Kinderpraxis nichts im Wege steht.
Bei den Nachtschweißen der Phthisiker
kann es mit Vorteil mit Codein, Heroin
oder Morphium verordnet werden. Auch
als Zusatz zu Sir. kal. sulfoguajacol. oder
zum Infus. Ipecac. usw. käme es in
Frage. Die Verordnungsmöglichkeit ist
also eine sehr vielseitige. Dem Salbei¬
auszug haben wir als Geschmackskorri-
gentien weitere Mitglieder der Labiaten
beigegebert.
Wir haben besonders die Wirkung der
Salbei bei Tuberkulosen beobachtet, weil
es von größter Wichtigkeit ist, in der
Therapie der Lungentuberkulose ein völlig
unschädliches Mittel zu haben. In der
Literatur sind nur wenig Beobachtungen
über Nebenerscheinungen der Salv. offic.
bekannt geworden. Pidoux^) berichtet
1) Zitiert nach Krahn.
über starken Schweiß, Pulsfrequenz, leb¬
haften Durst, Trockenheit im Munde,
Verstopfung. Krahn2) hat den Selbst¬
versuch von Pidoux durch Trinken
eines kalten Teeaufgusses von 15 g Salv.
offic. wiederholt. Er beobachtet nur die
Trockenheit im Munde. Frische Salbei¬
blätter können nach Lewin 3) unan¬
genehme Erscheinungen, die sich im
wesentlichen mit den Beobachtungen von
Pidoux decken, hervorrufen. Eine Über¬
dosierung War von vornherein nicht zu
befürchten.
Wir gaben das Fluidextrakt bei schwe¬
ren kavernösen Phthisen monatelang, ohne
eine Nebenerscheinung, die zum Aus¬
setzen des Mittels zwang, zu beobachten.
Die Wirkung auf die Nachtschweiße der
Phthisiker war keine ganz gleichmäßige.
Schwere kavernöse Phthisiker reagierten
in den ersten drei bis vier Tagen über¬
haupt noch nicht, dann ließ jedoch die
Schweißsekretion erheblich nach und hielt
so lange an, wie das Mittel gegeben wurde.
Die Patienten fühlten sich freier und
hatten einen erquickenden Schlaf. Bei
einigen elenden Patienten hatten wir den
Eindruck einer leichten euphorischen Wir¬
kung, besonders wenn der Fluidextrakt
in Verbindung mit Codein verabreicht
wurde. Ein völliges Aufhören der Nacht-
2) Di SS. Greifswald.
Zitiert nach Krahn.
Dezember
48,6 ' Die Therapie der Gegenwart 1921
schweiße haben wir nur in einigen'Fällen
von kavernöser Phthise beobachtet. Die
Wirkung des Esalcopat hielt nicht lange
an; kurze Zeit nach Aussetzen des Mittels
traten die Nachtschweiße wieder auf, ver¬
schwanden dann aber sofort wieder bei
neuerlichen Salbeigaben.
fQanz anders wirkt das Esalcopat
jedoch in initialen Fällen und solchen,
die dem Turban-II-Stadium entsprechen.
Das Esalcopat kupiert hier schon nach
einigen Gaben mit einer fast völligen
Sicherheit die Nachtschweiße. Wir gaben
dreimal täglich 20 Tropfen in Zucker¬
wasser. Bei vielen Patienten trat die
Wirkung schon am zweiten Tage ein.
Trotz des Aufhörens der Nachtschweiße
gaben wir das Mittel solange weiter, bis
30 g eingenommen waren, und sahen dann
in den meisten Fällen, daß die Nacht-
schweiße bei Aussetzen des Mittels nicht
wiederkehrten. Größtenteils wurden die
Patienten zu gleicher Zeit einer Tuberku¬
lin- oder Höhensonnenkur unterworfen,
aber auch bei sonst gänzlich unbehandel¬
ten Fällen blieben die Nachtschweiße
aus. Bei progredienter Tuberkulose war
jedoch die Regel, daß einige Wochen nach
Aussetzen des-Mittels sich die Nacht¬
schweiße wieder einstellten, so daß mah
gezwungen War, das Esalcopat weiterzu¬
geben. Auch bei Nachtschweißen, die in
keinem Zusammenhänge 'mit einer tuber¬
kulösen Erkrankung standen, wurden
gleichfalls gute Wirkungen beobachtet,
insbesondere im Rekonvaleszenten¬
stadium von akuten Infektionskrank¬
heiten.
Bei Anwendung der Salbei in Form
eines Teeaufgusses oder als Tinktur wer¬
den die gleichen Wirkungen beobachtet,
wie man von altersher weiß, doch erscheint
uns die Wirkung des Esalcopats eine
intensivere und vor allem schneller wir¬
kende zu sein. Und gerade dieser beiden
nicht zu unterschätzenden Faktoren we¬
gen haben wir uns fast ausschließlich des
Esalcopats bedient. Unsere Erfahrungen
lassen uns bei alten Phthisen der Salbei
den Vorzug vor dem Atropin geben:
Erstens wegen der Unschädlichkeit, zwei¬
tens wegen der zum Teil über die Zeit des
Einnehmens hinaus nachweisbaren Wir¬
kung.
Über einen Jod-Ichthyolanstrich (Astaphylol)^).
Von Dr. Siegfried Lissau, praktischem Arzt in Reichenberg.
, Der Jodtinkturanstrich auf die Haut
^ hat sich als Prophylacticum wie als
Heilmittel gegen alle Entzündungszu¬
stände der Haut und ihrer Anhangs¬
gebilde erwiesen und allgemeine Anwen¬
dung erreicht. Zahlreiche Dermatologen
treten für die Jodtinktur als vielseitiges
Remedium für alle mit follikulärer Herd¬
bildung einhergehenden Entzündungszu¬
stände der Haut ein, wobei besonders
auf die beträchtliche Tiefenwirkung des
Jodtinkturanstriches hingewiesen wird.
Paul Unna jr. sagt in seiner Arbeit
,,Die Behandlung der Furunkulose“ (Zschr.
f. ärztl. Fortbild. 1917, Nr. 2) folgendes:
„Besonders günstig wirken Kombi¬
nationen zweier Mittel, wobei das eine
mehr als Oberflächen-, das andere mehr
als Tiefenmittel wirkt, oder wo sich die
günstigen Wirkungen summieren unter
Abschwächung ihrer Reizwirkung, z. B.
Quecksilberkarbol, Jodichthyol.“ Ferner:
„Die reine Jodtinktur in 2 bis 10%iger
Lösung ist ein vorzügliches Furunkel-
Diese Publikation war noch für die Kriegs¬
zeit bestimmt, mußte jedoch aus äußeren
Gründen zurückgestellt und einem späteren Zeit¬
punkt Vorbehalten werden.
mittel und imstande, in dieser sparsamen
Zeit sämtliche teuren Präparate zu er¬
setzen.“
Schon im Jahre 1915 habe ich im
Barackenspital in Feldbach (Steiermark)
angesichts der erdrückenden Menge von
infolge von Verschmutzung, Verlausung
usw. aufgetretenen Dermatosen, mit denen
die von der Front kommenden Kranken
behaftet waren, angesichts der endlosen
Kette von pyodermatischen Prozessen,
denen mit den hergebrachten Mitteln
nicht beizukommen war, eine Lösung
zusammengestellt, welche, als Anstrich
auf die kranke Haut gebracht, rasch und
einfach in der Anwendung, mit möglich¬
ster Potenzierung der Wirkung, die Auf¬
gabe erfüllt: ein bequem zu gebrauchen¬
des, rasch trocknendes, externes Appli¬
kationsmittel zu sein, welches bactericid,
resorbierend und antiphlogistisch zu¬
gleich ist.
Da die Pyodermie und Furunkulose
zum weitaus überwiegenden Teil auf
Staphylokokkeninfektion beruht, habe ich
das Mittel Astaphylol genannt. 'Es be¬
steht aus Jodtinktur, welcher in einem
bestimmten Mengenverhältnis Ichthyol,
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1921
487
flüssiger Teer, Campher und Perubalsam
zugesetzt ist. Das Resultat dieser Mi¬
schung ist ein schwarzbrauner dünn¬
flüssiger Lack von angenehmem, aroma¬
tischem Gerüche, welcher, auf die Haut
aufgestrichen, binnen wenigen Minuten
trocknet und einen firnisartigen Überzug
bildet. Die bactericide, speziell staphylo¬
kokkentötende Eigenschaft des Mittels
,,AstaphyloT' wurde im Jahre 1916 von
Dr. med. Brief, Leiter des hygienischen
Feldlaboratoriums Nr. 7 der 5. Armee in
Stern thal (Steiermark) bakteriologisch
geprüft und bestätigt.
Brief fand bei Staphylococcus pyo¬
genes aureus in Reinkultur nach Zusatz
von „Astaphylol“ Abtötung der Bacillen
nach fünf Minuten, deutliche Wachstums¬
hemmung nach drei Minuten, sodaß die
bactericide Kraft von „Astaphylol“, ver¬
glichen mit einer 1 %o^gen Sublimat¬
lösung (nach fünf Minuten noch nicht
vollständige Abtötung von Staphylokok¬
ken) in die Augen springt.
Aus der weit über 200 Fälle umfassen¬
den Versuchsreihe mit ,,Astaphylor‘, wel¬
che durchgehends das Verwundeten- und
Krankenmaterial des Kriegsspitales in
Sternthal (Süd-Steiermark, heute unter
jugoslawischer Hoheit) umfaßte, seien
nur einige wenige, markante Beispiele
herausgehoben. Wenn ich seit damals,
also vier bis fünf Jahre, in meinen weite¬
ren Beobachtungen stillgestanden bin, so
liegt das nur an äußeren Gründen, ins¬
besondere daran, daß die Verhältnisse
der Nachkriegszeit eine Herstellung des
Mittels in der ursprünglichen Zusammen¬
setzung nicht erlaubten, was jetzt endlich
wieder der Fall ist.
Michael D., 27jähriger Infanterist, kommt am
10. Dezember von der Isonzofront, wo er durch
Explosion der eigenen Handgranate am 7. De¬
zember eine Verletzung des linken Ellenbogens
erlitt.
Stat. praes.: Eiternde, schmierig belegte Ri߬
quetschwunde der Haut der linken Ellenbogen¬
beuge. Die Ränder der Wunde gerötet und ge¬
schwollen, ebenso die Weichteile der nächsten
Umgebung. Streckung des Gelenkes wegen der
schmerzhaften Spannung sehr erschwert. Tem¬
peratur 38,0.
Therapie: Reinigung der Wunde mit Wasser¬
stoffsuperoxydlösung, Auftragung von „Asta-
phylol“ auf die Wundränder und zirka zwei
Finger breit auf die Umgebung der Wunde, ruhig¬
stellender, antiphlogistischer Verband. Nach
24 Stunden bedeutende Abschwellung, Nachlaß
der Schmerzen und der Sekretion, die phlegmo¬
nöse Beschaffenheit der Umgebung geschwunden,
die Therapie wird fortgesetzt. Patient nach drei
Tagen mit reiner Wunde, die wenig secerniert,
ins Hinterland abgeschoben.
Josef M., 19 Jahre, Infanterist, mit seit zirka
acht Tagen bestehendem impetiginösem Ekzem
des Stammes, insbesondere am Rücken, ßegen
die Kreuzgegend zu zahlreiche confluierende
Eiterpusteln mit Entzündungshof. Der ganze
Rücken wird mit „AstaphyloF* angestrichen,
ebenso die in kleineren Gruppen vorhandenen im-
petiginösen Stellen der Brust, Achselgegend usw.
Nach Aufträgen des Mittels promptes Abblassen
der entzündeten Haut, Nachlassen des Juckens,
Eintrocknung der Pusteln. Nach drei Tagen
(10. Dezember 1916) der Rekonvaleszentenabtei¬
lung übergeben.
Johann H., 19 Jahre, Jäger, hat vor drei
Monaten an der Front ein Panaritium des linken
Zeigefingers akquiriert, wurde am Hilfsplatz und
im Feldspital mit Incision und Verbänden be¬
handelt.
Status praes.: Die Eiterung abgelaufen, jedoch
noch immer starke Schwellung der Weichteile,
welche livide verfärbt sind, bei Druck schmerzen
und noch etwas secernieren. Nach Aufträgen von
„Astaphylol“ rasche Besserung der entzündlichen
Erscheinungen und Abblassen der Haut, welche
bald wieder ihr normales, rosiges Aussehen zeigt.
Franz P., 43 Jahre, Landsturmmann, kommt
am 10. Juli 1916 von der Isonzofront, wo er am
6. eine Verletzung durch Granatsplitter am Gesäß
und am linken Knie erlitt, nachdem er bereits
einige Tage zuvor an multiplen Hautabscessen
und furunkulösen Erscheinungen der unteren
Körperhälfte erkrankt war.
Stat. praes.: Über der linken Hüfte, gegen die
Gesäßfalte zu zwei flache, etwa taubeneigroße
Substanzverluste der Haut mit stark infiltrierter
Umgebung, am linken Knie mehrfache ähnliche
Stellen, nur kleiner, hier mehr den Charakter
des furunkulösen Infiltrates zeigend. Dazwischen
und auch am anderen Bein eine Unzahl kleiner
und größerer Hautabscesse von Hanfkorn- bis
Erbsengröße, also zwischen Impetigopustel und
kleinerem Furunkel sich bewegend. Es ist schwer
zu sagen, was an diesen erkrankten Hautstellen
traumatischen Ursprungs (durch die Granat¬
splitterverletzung) und was rein bakteriellen Ur¬
sprungs ist, in solchem Maße ist die Vermischung
beider Kategorien vorhanden.
Nach Astaphylolanstrich in großea Flächen,
gesunde Haut inbegriffen, zeigt sich bereits nach
zwei Tagen ein auffallender Rückgang der Er¬
scheinungen, Die Rötung hat stark nachgelassen,
die follikulären und furunkulösen Infiltrate weisen
Abschwellung und Eintrocknungstendenz auf,
Spannungs- und Juckgefühl der Haut geschwun¬
den, Patient wird wesentlich gebessert trans¬
feriert.
Stipo K., 29 Jahre, bosnischer Tragtierführer,
16. Juli 1916 aufgenommen mit der vom Feld¬
spital angegebenen Diagnose: Phlegmone der
Nackengegend.
Stat. praes.: Ödematös entzündliche Schwel¬
lung, starke Rötung des Nackens von der Haar¬
grenze bis zum Interscapularraum, in der Mitte
der Geschwulst eine 3 cm lange Incisionsöffnung,
aus der sich nach Entfernung eines langen Gaze¬
streifens noch reichlich Eiter entleert, ebenso
fließt dünnflüssiger Eiter aus mehreren fistulösen
Öffnungen, welche nahe der Operationswunde
liegen. Temperatur 38,1, abends zuvor Schüttel¬
frost und 40,2.
Diagnose: Phlegmone, Wunderysipel.
Behandlung der Absceßhöhle nach chirurgi¬
schen Grundsätzen, außerdem Astaphylolanstrich
der ganzen erysipelatös veränderten Hautpartie.
Nach 24 Stunden bereits Temperatur normal.
488
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1921
Rötung, Schwellung und Spannung der Haut
stark zurückgegangen. Patient fühlt sich sehr
wohl und verlangt spontan nach neuerlicher Ein¬
reibung mit dem „schwarzen Mittel“. Am dritten
Tage Erysipel geheilt. Patient wird bedeutend
gebessert transferiert.
Ich glaube, in „AstaphyloT* ein vor¬
zügliches, externes Mittel kombiniert zu
haben, welchem sicherlich eine bedeut¬
same Rolle in der dermatologischen Thera¬
pie und auch in der kleinen Chirurgie
beschieden ist.
Das Mittel wird von der Münchener Phar¬
mazeutischen Fabrik (Johann Verfürth) München
hergestellt.
Die Behandlung der Ulcera cruris mit Pyoktanin.
Von Dr. Franz Seiler, Berlin.
Das Ulcus cruris ist ein in der ärzt¬
lichen Praxis wohlbekanntes Leiden, des¬
sen Behandlung viel Geduld und Geschick
erfordert, häufig aber von Kollegen nicht
sehr geschätzt wird. Und doch kann die
Behandlung eine äußerst dankbare und
von schnellem Erfolg gekrönte sein, wenn
man therapeutisch richtig vorgeht! Ich
gestatte mir an dieser Stelle eine Art
der Behandlung anzugeben, die ich von
einem erfahrenen alten Praktiker gelernt
habe, der ganz hervorragende Erfolge
damit erzielt hat. Ich selbst habe etwa
60 Fälle von • Ulcus cruris nach dieser
Methode behandelt und alle, oft schon
nach überraschend kurzer Zeit, zur Hei¬
lung bringen können. Es handelte sich
meistens um schwere chronische Unter¬
schenkelgeschwüre auf varicöser Basis mit
chronischer Stauung, chronischem Ödem,
Thrombosierung und Entzündung, mit
Hautveränderungen, wie Schwund des
Fettpolsters und papierartiger Verdün¬
nung. Die Behandlung ist eine ambulante
und läßt die Patienten unbehindert ihrem
Berufe nachgehen. Therapeutisch wird
das Ulcus selbst angegriffen und die Ur¬
sache desselben, die Örculationsstörung.
Man geht wie folgt vor:
Nach gründlicher Reinigung der Um¬
gebung des Ulcus mit Benzin wird die
ulcerierende Fläche ebenfalls mit einem
benzingetränkten Mulltupfer gründlich ab¬
getupft, nicht gerieben. Hierauf pinselt
man mit einem kleinen Haarpinsel eine
10%ige Pyoktaninlösung auf die Wunde
und deren Rand. Pyoktanin ist ein in
Wasser und Alkohol gut löslicher Anilin¬
farbstoff (Methylviolett) und findet in
der Pferdepraxis (Mauke) viel Verwen¬
dung. Man läßt trocknen und trägt .xun
dick Zinksalbe auf die mit Pyoktanin
bepinselte Fläche und die umgebende
Haut, tut mehrere Schichten glatten
Mulls darüber und fixiert mit einigen
Mullbindentouren. Jetzt sucht man die
Circulati’on zu bessern und bedient sich
dazu einer gut elastischen Trikotschlauch¬
binde, die vom Fuß an, die Zehen frei-,
lassend, aufwärts unter gleichmäßigem'
sanften Zuge herauf bis dicht unterhalb
des Knies geführt wird. Darüber kommt
eine Stärkebinde. Dieser Verband, an
den sich die Patienten schnell gewöhten
und der nicht lästig wird, wenn er gutgep,
macht ist, bleibt sechs Tage liegen. Die
Patienten können unbehindert ihrem Beruf
nachgehen. In wöchentlichen Abständen,
nur bei starker Sekretion durch den Ver¬
band hindurch einen bis zwei Tage früher,
erfolgt Erneuerung des Verbandes Wie oben.
Ich empfehle sehr diese Behandlungs¬
art, weil ich immer damit Erfolg gehabt
habe, auch in den Fällen, wo von anderer
Seite schon alles mögliche erfolglos ver¬
sucht worden war.
Selbstheilung eines perivesikalen Steckschusses
durch Austreten aus der Harnröhre.
Von Dr. Pankow, Eberswalde.
Am 17. März 1917 Verwundung in¬
folge Krepierens einer Granatwerfergra¬
nate im Lauf zwei Steckschüsse in den
Hinterbacken. Durch Röntgenstrahlen
Lage der Sprengstücke dicht vor der
Blase festgestellt.
Februar 1920 Schmerzen in der Blase
und teilweise Urinverhaltung. Nach Hexal
Besserung. Oktober 1921 das gleiche.
Ich stelle am 16. Oktober dicht hinter
der Harnröhrenmündung eine etwa erb¬
sengroße, harte Geschwulst fest mit ge¬
ringer eitriger Absonderung. Eindruck
eines harten Schankers. Am 30. Oktober
wird auf starken Urindrang durch Pressen
ein 9 mm im Kubus großes, vierkantiges,
scharfes Eisenstück, mit Salzen bedeckt,
herausgeschleudert.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. K1 e m p e r e r in Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berlin W57.
Inhaltsverzeichnis.
A. Originalarbeiten. s«te
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Georg Klemperer: Hippokratische Medizin . 449
Aus der I. inneren Abteilung des Kranke^ihauses Moabit in Berlin:
Dr. Lasar Dünner: Zur Diagnose und Therapie der Perikarditis . . 453
Dr. Stephan Westmann: Die Therapie des Puerperalfiebers .... 455
Aus der I. ‘inediz. u. Chirurg. Abteil, d. Städtischen Krankenhauses Moabit in Berlin:
Dr. Kamnitzer und Dr. Joseph: Zur Phloridzindiagnostik der Früh¬
gravidität .459
Dr. W. Wiegelö: Über die soziale, eugenetische und Notzuchtindikation
zur Einleitung des künstlichen Abortus.461
B. Repetitorium der chirurgischen Therapie.
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. M. Borchardt und Dr. Ostrowski, Berlin:
Die Behandlung der Varicen und ihrer Folgezustände.467
C. Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen.
Dr. Julian Marcuse, Ebenhauscn-Münchcn: Therapeutisches vom Karls¬
bader Fortbildungskurs.473
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Aus dev Inneren Abteilung des Krankenhauses der jüdischen Gemeinde Berlin:
Dr. Erna Herrmann: Zur Frage der Sanarthritbehandlung chronischer
Gelenkaffektionen.482
Aus d. II. Chirurg. Abteil, d. Rudolf-Virchow-Krankenhauses Berlin:
Dr. Kurt Wohlgemuth: Intravenöse Campherölinjektion.484
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Dr. Carl Winkler; Eine neue Art der Nitroglycerin-Darreichung . , 484
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Dr. Siegfried Lissau, Reichenberg: Über einen Jod-Ichthyolanstrich
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Dr. Franz Seiler, Berlin: Die Behandlung der Ulcera cruris mit P^^oktanin 488-
Dr. Pankow, Eberswalde: Selbstheilung eines pcrivesicalen Steck¬
schusses durch Austreten aus der Harnröhre.488
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Pankreatitis (Wijnhausen), S. 478.
Perikarditis, Diagnose und Therapie. S. 453.
Pho.sphaturie (Birt). S. 479.
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Vgl. Dtsch. raed. Wochenschr. 1912 Nr. 38. — Dtsch. med. Wochenschr. 1915 Nr. 48, 1916 Nr. 43. — Das Rote Kreuz
1915 Nr. 7. — Therap. der Gegenw. 1913, Juli u. 1921 JulL Dtsche. zahnärztl. Wochenschr, 1919 Nr, 4 .
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phthise und Syphilis bei allen kachekiischen Individuen).
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Monographie den gegenwärtigen Stand unserer
Kenntnisse über dieses keineswegs so sehr seltene
Leiden zu schildern. Sowohl die theoretischen
Grundlagen der Lehre vom hämolytischen Ikterus
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und klar besprochen. Ein Literaturverzeichnis ent¬
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Th^Vapie-’der’ Gegenwart:" Anzeigen.
12. Heft
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Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berlin W57