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Full text of "Therapie der Gegenwart 61.1920-62.1921"

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DIE THERAPIE DER GEGENWART 

MEDIZINISCH-CHIRÜRGISCHE RDNDSCHÄD 

FÜR PRAKTISCHE ÄRZTE. 

(61. Jahrgang.) 

Unter Mitwirkung hervorragender Fachmänner 
herausgegeben von 

Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer 

BERLIN. 

Neueste Folge. XXII. Jahrgang. 


URBAN & SCHWARZENBERG 

BERLIN WIEN 

Friedrichstraße 105 B. I., Maximilianstraße 4. 

1920. 




Geclnickt bei Max StacUhägen, Berlin W57 




Die Therapie der Gegenwart 

.herausgegeben von ^ 

ei- Jahrgang Qgl,, Med.-Rat Prof. Dr. G. Kloinperer 1* Heft 

Neueste Folge.-XXII.Jahrg. BERLIN Januar 1920 

W 62, Kleiststraße 2 * 

• - Verlag von TJIIBAN & SOHW ABZElffBEBQ- in Berlin E 24 und WienI 


Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementspreis für den 
Jahrgang 20 Mark. Einzelne Hefte 2 Mark. Man abonniert bei allen größeren Buchhandlungen» 
• sow-'e direkt bei den Expeditionen in Berlin oder Wien. Wegen Inserate und Beilagen wende 
man sich an den Verlag in Berlin N, Friedrichstr. 105 B 


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- Diesem Heft liegen Prospekte folgender Firmen bei: - 

Kalle & Co., A.-O., Biebrich, betr.: „Orexin“ bzw. „Neuronal“. — Gehe & Co., Dresden, betr.: „Liquitalis“. — Krewel & Co., 
0.m.b.H., Köln, betr.: „Sanguinal“. — Dr.Ludwig Oestreicher, Berlin W 35, betr.: „Testijodyl“ und „Tulisan“. — Dr. Eder & Co., 

Berlin N 39, betr.: „Amalah“*Erzeugnisse. 






















INHALTS-^VERZEICHNIS. 


Öriginalmitteilungen, Repetitorium der Therapie, zusammenfassende 
Übersichten, Kongreßberichte und therapeutischer Meinungsaustausch. 


Acidosis, Fettarme Tage zur Bekämpfung. 

R. Uhlmann 132. 

Allgemeinbehandlung des kranken Menschen. 

G. Klemperer 28. 

Anaesthesin als entzündungswidriges Mittel. 

P. Gast 415. 

Aperitol in der Kurpraxis. E. Geyer 47. 
Arekolinartig wirkende Verbindungen (Cesol). 

A. Loewy ti. R. Wolffenstein 287. 

ArgoChrom und Sepsis. W. Wendt 98. 
Arteriosklerose. Grunime 151. 

Arthritiden, Ambulante Casein-(Caseosan)be- 
handlting chronischer —. A. Zimmer 276. 
Arthritis, Behandlung der chronischen — mit 
Sanarthrit und Proteinkörpern. G. Denecke 
216. 

Arzneimittel-Prüfungamt, Ein deutsches—. 
. - G. Klemperer 377. 448. 

Arzneiwirkungen, Bewertung von — imbe¬ 
sonderen bei Lungenabsceß. G. Klemperer 127. 
Atemgymnastik. M. Mosse 86. 

Augenkrisen bei. Tabes. Leo Jacobsohn 373. 

Bai neologische Gesellschaft, 36. öffentliche 
Versammlung 156. 

Blutkrankheiten, Behandlung. G. Klemperer 
293. 327. 

Blutstillende Maßnahmen in der Frauenheil¬ 
kunde. Ferd. Binz 314. 

Blutungen aus weiblichen Genitalien, Physio¬ 
logische und pathologische. A. Döderlein 129. 

Candiolin in der Kinderpraxis. M. Adam 204. 
Chirurgie, Bericht über die 44. Versammlung 
der Deutschen Gesellschaft für —. 192. 266. 
Cretinenbehandlung und Rassenhygiene. 

■ Finkbeiner 350. 389. 433. 

Depressionen, Wesen und Behandlung. W. 
Stekel 253. . 289. 321. 

Diabetes, Unterernährung als Heilfaktor. H. 

Strauß 6. 

—, Moderne individualisierende Diätbehandlung 
des —. M, Lauritzeh 209. 

-, Diätetische Behandlung. A. Albu 222. 

Diabetiker diät. Technische Vereinfachung in 
der Handhabung. F. Moritz 49. 
Dialacetin, ein neues Kombinationspräparat 
des Dials. H. Hirschfeld 447. 

•Diät, Indikationsgebiet der vegetarischen —. 
(Fettleibigkeit und Diabetes mellitus.) A. 
Albu 89. 

Dijodyl, Versuche. J. Sakheim 374. 


Eisen- und Arsenpräparate. Neuere —. Meid- 
ner 358. ' 

Eukystoltee bei gynäkologischen und uro- 
logischen Erkrankungen. J. SFakianakis 335. 

Gelenkentzünd Lingen, Behandlung der chroni¬ 
schen — mit Sanarthrit. G. Reimahn 93. 
Gelenkerkrankungen, Behandlung subakuter 
und chronischer G. Klemperer und L. 

Dünner 400. 

Geschwülste, Trypaflavin und Trypaflavin- 
silber bei malignen —. C. Lewin 10. 
Grippe, Beiträge zur Kenntnis, E. Steinitz 168. 
Gynäkologie, Verhandlungen der Deutschen 
Gesellschaft Berlin. 296. 329. 

Herdreaktion, Gefahren der unspezifischen —. 

L. Veilchenblau 239. 

Heufieber, Vaccinetherapie. R. Eskuchen 57. 
Höhensonne, Erfahrungen mit künstlicher —. 
V. Sohlern 284. 

Hypertonie, Wesen und Behandlung der dau¬ 
ernden vasculären. Egmont Münzer 417. 

Infektionskrankheiten, Behandlung. G. 

Klemperer und L. Dünner 70. 1Ö9. 146. 185- 
Influenzanephrose,' Gutartige —. G. Klem¬ 
perer 241. 

Innere Medizin, Rede zur Eröffnung des 
22. Kongresses in Dresden. 0. Minkowski 169. 

-, Bericht von G. Klemperer 187. 230. 260. 

Intravenöse. Therapie, Zwei technische Neue¬ 
rungen —. M. Sussmann 303. 

Kieselsäure, Ausscheidung der — durch den 
Harn nach Eingabe verschiedener Kiesel¬ 
säurepräparate. F. Zuckmayer 344. 

Kind, Durch geburtshilfliche Operationen be¬ 
dingte Schädigungen des —es und Verhütung. 
E. Sachs 16. 67.^105. 

Kollargolinjektion, Zufälle bei der intra¬ 
venösen —. H. Eytli 207. 

Konstitution, Neue Werke über — von 
Bauer — Martins — Kraus. B. Laquer 113. 

Luftröhre, Zur Kenntnis und Behandlung der 
subkutanen Zerreißung. G. Golm 311. 
Lungenabsceß, Selbstheilung. H. Schulze 126. 
-, Bewertung von Arzneiwi rkungen bei —. 

G. Klemperer 127. 

— und Bronchiektasien, Behandlung mit Salvar- 
san. Fritz Hirsch 55. 

L u n g e n g a n g r ä n, Salvarsanbehandlung. W.Weis 
423. 



Inhalts - Verzerchnisl 


IV 


Lungenspitzenkatarrh und chronische Tonsil¬ 
litis. C, Kraus 12. 

Magnesiiimperhydrol bei Magen- und Darm- 
beschwcrden. G. Sandberg 47. 

Mechanotherapie, II. öffentliche Versammlung 
der ärztlichen Gesellschaft für —. Berlin, 
20. Januar 1920. 76. 

Milchbehandlung, insbesondere bei Tuber¬ 
kulose. R. LewIn 138. 

Nährstoffe, Accessorische Zusammenfassung. 
Übersicht 355. 

Naturforscher und Ärzte, 86. Versammlung 
deutscher — in Nauheim 405. 

Nirvanolvergiftungen. E. H. G. Atzrott 375. 

Novasurol als Antisyphilitikum. * H. Auer 445. 

— als Diureticum. Lange 251. 

—, Diuretische Wirkung. V. Kollert 340. 

Partigene, Diagnostischer und therapeutischer 
Wert der Deycke-Muchschen —. S. Tuszewski 
243. 

Placenta praevia und Landarzt. Fuhrmann 424. 

Pneumothorax, Künstlicher—. K. Grein 393. 

Polycythämie, Strahlenbehandlung. 0. Strauß 
180. 

Proteinkörpertherapie, Fortschritte auf dem 
Gebiete der —. A. Zimmer 276. 

Pseudoleukämie, Röntgenbehandlung. J. 
Blumenthal 280. 

Pylorospasmus der Säuglinge, Atropinbehand¬ 
lung. Kretschmer 15. 

Repetitorium der Therapie. 28. 70. 109. 146. 
185. 225. 257. 293.. 327. 400. 

Riß im Scheidengewölbe intra coitum sechs 
Wochen post partum. Voltolini 336. 

Röntgentiefentherapie, Grundlagen. Ad. 
Calm 385. 

Solarson bei Herzkrankheiten. W. Cohn 415. 

Solarsontherapie, Technik. K. Gerönne 128. 


Stearinfremdkörper in der Blase, Entfernung 
jTiit intravesicaler Auflösung durch Benzin. 
nach Lohnstein. H. Bonin 46. 

St ei nach sehe Versuche, Bemerkungen zu A. 
Loewys Aufsatz über Verjüngung. B. Laquer 
371. 

Stoffwechselkrankheiten, Behandlung. G. 
Klemperer 225. 257. 

Strikt Urformen und Fisteln der männlichen 
Harnröhre, Behandlung'der schwersten. J. J. 

Stutzin 21. 

Strychninbehandlung. G. Blank 305. 

Terpichin bei entzündlicher Erkrankiftig der 
Harnwege. W. Karo 103. 

Tiefentherapie, Neuzeitliche in Gynäkologie. 

E. Opitz 1. 62. 

Tonsillitis, Beziehungen zwischen chronischer— 
und Allgemeinerkrankung und über Tonsil¬ 
lektomie nach Kl-app. G. Blank 173. 
Toramin, Hustenmittel. Striepecke 208. 
Trypaflavin als internes Therapeutikum. K. 
Ruhnau 220. 

— bei Geschwülsten. C. Lewin 10. 

— bei septischen Aborten. A. Mahlo 414. 
Tuberkulose, Praktisch wichtige Kapitel der 

chirurgischen —. H. Harttung 34. 72. 
Typhus, Diagnostisch bemerkenswerter, trotz 
Schutzimpfirng letal verlaufener Fall von —. 
Voltolini 87. 

Ulcus cruris, Behandlung als Nebenbeschäftigung 
für Ärzte, besonders Kriegsbeschädigte. E. 
Glasen 142. 

Ulcus parapyloricum. H. Strauß 379. 

Vergiftungen, Behandlung. G. Klemperer 338. 
Verjüngung, Steinachsche Versuche durch 
Beeinflussung der Pubertätsdrüse. A. Loewy 
273. 

Wunden, Behandlung infizierter mit Pyoctanin- 
gaze. E. L. Blumann 183. 




Sachregister. 


Abort 200. 

—, Sept. 414. 

Acidosis 132. 

Adam-Stockescher Anfall 236. 
Adnextumoren 124. 

Ärztebriefe aus vier Jahrhunder¬ 
ten 364. 

Alkohol 365. 
Allgemeinbehandlung 28. 
Alveolarpyorrhöe 270. 
Amöbenruhr 160. 

Amputierte, Mechanotherapie77. 
Anämie, Einfache 293. 

—, Pernieiöse 295. 371. 

Anästhesin 415. 

Angina 109. 

Apcritol 47. 

Argochrom und Sepsis 98. 
Arteriosklerose 151. 

Arthritis 216. 


Arthroplastik 300. 

Arthritiden, Chronische 276. 
Arzneimittelprüfungsamt 377. 
448. 

—exantheme 78. 

—Wirkungen, Bewertung 127. 
Atemgymnastik 86. 
Atmungsgymnastik und At- 
mungslherapie 76. 
Atmungsorgane 156. 

Atophan, Nebenwirkung 78. 
Atropin bei Pylorospasmus 15. 
Augenheilkunde, Lehrbuch 199. 
—krisen 373. 

— Taschenbuch 438. 

Bacillenträger 161. 

1 Badekuren, Physiologische Be¬ 
wertung 159. 

Bauchabscesse 367. 


Basedow, Beziehungen zur Hy¬ 
pophyse 200. 

—behandlung 201. 

—sehe Krankheit 200. 332. 
Bauchdruck 118. 

Bestrahlung der Hoden und 
Ovarien 367. 

Bewegungsorgane, Behandlung 
159. 

—Übungen 79. 
Blasengeschwülste 41. 

—tumoren 270. 

Blutbild bei Fleckfieber 410. 

—krankheiten 293. 327. 

—stillende Maßnahmen 314. 

—transfusionen 192. 

Blutungen an weiblichen Geni¬ 
talien 129. 

— in Nachgeburtsperiode 236. 
Bronchiektasien 55. 







Inhalts --VefzoLChnis. 


V 


Brustkrebsbehandlung 119. 
Buttermehlnahrung 79. 

Calduititherapie der Lungen¬ 
tuberkulose 237. 

Campher 438. 

Candiolin 204. 

Caramel 438. 

Carcinom, Immunotherapie 161. 
—, Röntgenbestrahlung 332. 
Caseosan 276. 

Centralnervensystem, Chirurgi¬ 
sche Erkrankungen 232. 
Cesol 161. 208. 287. 
Chemotherapie 190. 

Chinidin 162. 

Chirurgie, Lehrbuch 408. 

—, Grundriß 438. 

Chlorose 293. 

Cholera asiatica 150. 
Cholevalspülungen 201. 
Chorionepitheliom 41. 
Cretinenbehandlung 350. 389. 
433. 

Darmresektionen bei Säuglingen 
301. 

Depressionen 253. 289. 321. 
Diabetes, Diätbehandlung 209. 
222. 262. 

— insipidus 162. 260. 

— mellitus 89. 

—, Unterernährung als Heil¬ 
faktor 6. 

Diabetiker, Caramel bei 438. 
Diabetikerdiät 49. 

Dialacetin 447. 

Diät, Vegetarische 89. 
Diathesen, Hämorrhagische 328. 
Dickdarm und Mastdarm 409. 
Digitalis 162. 

Dijodyl 374. 

Diphtherie HO. 
Doppeloberschenkelamputierte 
80. 

Dysbasia angiosklerotica inter- 
mittens 162. 

Dysenterie 149. 

Eisen- und Arsenpräparate 358. 
Eiweißminimum 120. 

Eklampsie 80. 332. 

—behandlung 42. 

Empyeme, Grippe— 42. 
Encephalitis 80. 

— letharg. 260. 

Eosinophilie 163. 

Epilepsie '163. 233. 
Ernährungslehre, Handbuch 364. 
—Störungen des Kleinkindes271. 
Erysipel 185. 

Erythromelalgie 439. 
Essigsäurevergiftung 163. 
Eukystoltee 335. 

Experimentelle Medizin, Ein¬ 
führung 39. 

Febris herpetica 164. 
Fettleibigkeit 89. 

—sucht 258. 

Fieberhafte Erkrankung 42. 
Fisteln der männlichen Harn¬ 
röhre 21. 

Fistula ani 443. 

Fleckfieber, Bekämpfung 43. 


Fleckfieber, Blutdruck 43. 
Föhnwirkung 301. 
Frauenheilkunde 409. 
Frühgeburt 410. 

Furunkeln und Karbunkeln'410. 
Furunkulose des Säuglings 411. 

'Gallenblasenerkrankungen 411. 
Gastroenterostomie- 333. 

Gastro- und Nephroptose 267. 
Geburtseintritt 201. 

—hilfe 365. 

Gelbsucht 164. 

Gelenkbehandlung in Diather¬ 
mie 77. 

—entzündungen. Chronische 93. 
—erkrankungen 400. 

—rheumatismus 146. 
Geschwülste, Maligne 10. 

Gicht 257. 

—, Pathologie 2’62. 

Glottisödem 81. 

Gonorrhöe, Weibliche 121. 367. 
Grippe 168. 

—, Chronische 440. 

Haar, Wachstum 164. 

—Schwund 270. 

—ausfall, Lichtbehandlung 199. 
Hand, künstliche 197. 

—schütz, Geburtshilfe 81. 
Harnwegeerkrankungen 103. 
Haut- und Geschlechtskrank¬ 
heiten 409. 

Herdreaktion 239. 

Herzfunktion 159. 

—krankheiten 415. 

Heufieber 57. 

Hirnphysiologische Erfahrungen 
233. 

—Störungen 235. 
Hirschsprungsche Krankheit236. 
Höhensonne 284. 

—, Grenzen der Leistungsfähig¬ 
keit künstlicher — 77. 
Horngebilde, Wachstum 164. 
Humaglosan 270. 

Hustenmittel 208. 

Hypertonie 417. 
Hypophysenextrakt 368. 

Ikterus 412. 

—, Hämolytischer 196. 
Impotenz 437. 

Infektionskrankheiten 70. 109. 
146. 363. 

—, Immuno- und Chemothera¬ 
pie 188. 

Influenza 112. 

—nephrose 241. 
Inhalationskuren 158. 

—therapie 265. 

Innere Medizin 169. 

Intravenöse Therapie 303. 

Kieselsäure 344. 

Kind, Schädigungen 16. 67.105. 
—er. Anomale 39. 

Klumpfuß, Fernresultate 195. 
—bildung 165. 
Knochenerkrankungen 82. 
Kollargolinjektion 207. 
Kollateralzeichen 192. 
Kolon-descendens-Fistel 368. 
Konstitution 1 r3. 


Kranker, Was ein — lesen soll 
.409. 

Kreislauf, Pathologie 263. 

—Organe 158. 412. 
Kriegsverletzte, Nachbehand¬ 
lung 77. 

Leberfieber 333. 
Leitungsanästhesie, Cervicale 
236. 

Leukämie 327. 

Linimentbehandlung der Tuber¬ 
kulose 272. 

Lipoidsubstanzen 201. 

Lues -83. 

—behandlung 413. 

Luftembolien 193. 

—röhrenzerreißung 311. 

Luminal 163. 332. 

Lungenabsceß 55. 126. 127. 

—entzündung 268. 

—gangräne 121. 237. 423. 

—Steckschüsse 269. 

—Spitzenkatarrh 12. 
—tuberkulöse 237. 403. 408. 

-, Chirurgische Behandlung 

440. 

Magenblutungen 265. 

—Darmbeschwerden 47. 

—geschwür 83. 121. 333, 441. 
—Pathologie 261. 
Magnesiumperhydrol 47. 

Malaria 186. 

-^rezidive 44. 

Masern 109. 

Mastdarmcarcinom 269. 

— Untersuchung 441. 
Mechanotherapie 76. 

Meningitis 186. 

Metastasen des Krebses 367. 
Metrasthenie 442. 
Milchbehandlung 138. 

—Injektionen 44. 165. 
Mineralwässer, Verweildauer 159. 
Muskelsperrung 197. 

Myome und Metropathien 330. 

Nährstoffe, Accessorische 355. 
Nasenspitze, Ersatz 83. 
Nearthrosen 122. 

Nephrose 166. 

Nervenplastik 193. 

—System 160. 

Neurasthenie 368. 

Neurologie 262. 

Niere, Freilegung bei —nge- 
schwülsten 44. 

—ndekapsLilation 159. 

—entzündung 45. 

—leiden in Schwangerschaft 123. 
Nirvanol 84. 

—Vergiftungen 375. 

Novasurol 251. 340. 445. 

Obstipation 267. 

Ödeme, Angioneurotische 40. 
Optochin 203. 

Organtherapie bei Infektions¬ 
therapie 190. 

Orthopädische Arbeit, Aus 25 
Jahren 198. 

— Hilfsarbeiterinnen, Lehrbuch 
198. 

Ösophagusfremdkörper 442. 
Osteomyelitis 197. 



VI 


Inhalts - Verzeichnis. 


Partigene 243. 

—.therapie 403. 

Pathologie und Therapie, Spe- 
. cielle 39. 

Pericolitis membrana 268. 
Periproktitis 443. 

Pertussis 112. 

Phosphorsäure 84. 

Placenta praevia 424. 
Pleurapunktionen 166. 

—empyemc 264. 
Pneumokokkenmeningitis 191. 
203. 

Pneumonien 438. 
Pneumothorax, Künstlicher 393. 
Polycythämie 180. 296. 
Prostatektomie 269. 
Proteinkörpertherapie 190. 276. 
403. 

Pseudo-Appendicitis 45. 

—leukämie 280. 
Puerperalprozeß 40. 
Pylorospasmus der Säuglinge 15. 
Pyoctaningaze 183. 

Rachitis 238. 271. 
Rassenhygiene 350. 389. 
Raynaudsche Krankheit 123. 
Resistenzschwankungen 190. 
Rheumatismen und Mechano- 
therapie 76. 

Riß im Scheidengewölbe 336. 
Röntgendiagnostik der Unter¬ 
leibsorgane 264. 

—tiefentherapie 365. 385. 
Ruhekuren 157. 

Ruhr 167. 302. 

Salpingo-Stomatoplastik333. 
Salzlösung, Physiologische 238. 
Sanarthrit 77.'93. 216. 
Sarkombehandlung 194. 
Säuglingsernährung 271. 

—nahrung 239. 

Schanker 413. 

Scharlach 109. 

Schlafmittel 84. 


Schulterluxation 194. 
Secaleersatz 302. 

Secalopan 302. 

Sepsis 148. 

•— s. Argochrom 98. 

Septische Erkrankung, Chemo¬ 
therapie 203. 

Solarson bei Herzkrankheit 415. 
—therapie 128. 

Somnacetin 84. 

Sonnen- und Himmelsstrahlung 
Physik 408. 

Splanchnicusanästhesie 269. 
Stearinfremdkörper in der Blase 
46. 

Steinachs Versuche 371. 
Sterblichkeitsverhältnisse 369. 
Sterilisierung der Frau, Künst¬ 
liche 199. 

Stoffwechsel 262. 

—krankheiten 225. 257. 
Strahlenbehandlung 414. 

—therapie 296. ^ 
Streptothrixerkrankung der At¬ 
mungsorgane 167. 
Strikturtormen 21. 
Strophantinanwendung 334. 
Struma 123. 

Strychninbehandlung 305. 
Styptysat 371. 

Tenotomie und Muskel 197. 
Terpentineinspritzungen bei Ad¬ 
nextumoren 124. 

—öl 371. 

Terpichin 103. 371. 

Tetanus 186. 

Thelygan 124. 

Thlaspan 302. 

Tiefen therapie I. 62. 

—thermometrie 204. 
Tintenstiftverletzungen 272. 
Tonsillektomie 173. 

Tonsillitis 173. 

—, Chronische 12. 

Toramin 208. 

Trauma des Nervensystems 371. 




Trichinenkrankheit 264. 
Trypaflayin 85: 214. 220. 414.. ' 

— bei malignen Geschwülsten 

10 . 

Tuberkulin 272. 

Tuberkulose 138. 157. 167. 204. 
230. 

—, Chirurgische 34. 72. 

— des Kindesalters 444. 

—mittel, Friedmanns 124. 
Tumoren, Maligne 299. t 
Typhus 87. 

— abdominalis '148. 

—bacillenträger 45. 

Ulcus cruris 142. 

— parapyloricurn 379. 

— ventriculi 266. 

Unterernährung siehe Diabetes. 
Unterschenkel, Rachitische Ver¬ 
krümmung 334. 

—^fraktur 19.8. 

Urologisches Praktikum 40. 

Vaccinetherapic 57. 

Variola 85. 187. 

Vereisung von Nerven 236. 
Vergiftungen 338. 

Verjüngung 273. 

Verstaatlichung 125. 

Vitamine 355. 

Vorderarm Plastiken 197. 
Vorhofflimmern 162. 

Vuzin 334. 

— bei Tiefenantisepsis 191. 

Wasserhaushalt des Körpers 260. 
Weilsche Krankheit 239. 
Winterkuren in Deutschland 157. 
Wunddiphtherie 193. 

Wunden, Infizierte 183. 
Wundliegen 125. 

Wurstsorten 85. 

Zigarettenmißbrauch 265. 
Zuckerkrankheit 226. 


Autorenregister. 

(Die Seitenzahlen der Original-Mitteilungen sind fett gedruckt.) 


Adam, C. 438. 

Adam, M. 204. 

Albu, A. 89. 222. 
Anschütz u. Weinert 
193. 

Aschheim 296. 
Assmann 263. 

Atzrott, E. H. G. 375. 
Auer, H. 445. 

Baer 333. 

Bam berge r 162. 
Baetzner 194. 

Bauer 441. 

V. d. Bergh 412. 

Betz 201. 

Bestelmeyer 197. 
Bieling 160. 


Bier 122. 

Binz, F. 314. 

Bittorf 163. 

Blank, G. 173. 305. 
Blaschko 270. 
Blumann, E. L. 183. 
Blumenthal (Berlin) 77. 
Blumenthal, J. 280. 
Bock Li. Mayer 166. 
Bohland 85. 

Böhm (Berlin) 77. 
Böhme 83. 

Bolten, C. 40. 

Bonin, H. 46. 
Borchardt 190. 
Bornstein ii. Griesbach 
263. 

Bossert, L, u. 0. 124. 


Bratz Li. Renner 409. 
Brauns 121. 

Breslauer 232. 

Brewitt 368. 

Bruck u. Becker 413. 
Brugsch 120. 159. 
Bruns 158. 

Bumke u. Teubern 45. 
Bürgers 369. 

Cade Li. Rüutier 367. 
Calm, A. 385. 

Cassel 45. 411. 

Clasen, E. 142 
Cohn, J. 40. 

Cohn, Th, 167. 

Cohn, W. 415. 

Colmers 194. 


Coenen 192. 

Debruniier 198. 
Decker 161. 
Denecke, G. 216. 
Döderlein, A. 129. 
Dorno, C. 408. 

Ebstein, Er. 364. 
Einhorn 411. 

V. Eiseisberg 266. 
Eliasberg 444. 
Engel 238. 

Engel, St. 411. 
Erd heim 272. 
Eskuchen, T<. 57. 
Eunicke 83 
Eyth,* H. 207. 




Inhalts-Verzeichnis. 


Vll 


Fabian, E. 201. 
Feuerhak 355. 
Finkbeiner 350. 389. 
433. 

Fischer (Kiel) 160. 
Flesch-Thebesius 166. 
Flockemann 197. 
Franckenthal 159. 
Frank 262. 

Frankel 195. 
Friedberger 86. 
Friedländer 163. 

Fries 410. 

Fromme 82. 

Fuchs 124. 

Fuhrmann 424. 

Garre u. Borchard 408. 
Gast, P. 415. ■ 
Gerönne, K. 128. 
Gessner 80. 

Geyer 47. 

Goldscheider 157. 
Golm, G. 311. 

Grabley 83. 

Grassl 125. 

Grein, K. 393. 

Groedel 158. 

Groß 121. 

Großmann 272. 

Grote 410. 

Gruber 122. 

Grumme 151. 

Gudzent 262. 

Gulecke 233. 

Guradze 76. 

Gust 84. 

Gustafsson 41. 

Haeberlin 160. 

V. Haberer 266. 

V. Hacker 83. 

Halban ti. Köhler 40. 
Hammesfahr 45. 

Härtel 236. 

Hartert 123. 

Hartog 371. 

Harttung, H. 34. 72. 
Harzer 239. 

Helley 301. 

Hermel, H. 160. 
Heubner 265. 

Hirsch 159. 

Hirsch, F. 55. 
Hirschfcld, H. 447. 
Hochstettcr 82. 
Hoffmann 78. 
Hoffmann (Warm- 
brunn) 159. 
Hofmann, K. 44. 
Hofstätter 200. 
Hiilschinski 271, 

Jacob, Ch. 84. 
Jacobsohn, L. 373. 
Jacoby, Mart. 39. 

V. Jaksch 260. 

Jarisch 162. 

V. Jaschke u. Pankow 
365. 

Jehn 269. 


Joseph 41. 

Joseph, E. 194. 270. 
Jürgens, Gg. 363. 

Käppis 269. 

Karo, W. 103. 159. 
Kaznelson 163. 

Kelling 265. 

Keppich 367. 

Keppler u. Hof mann 
334. 

Keysser 196. 

Kirchberg, B. 76. 
Kirschner 266. 

Klee 261. 

Klein 438. 

Kleinschmidt 79. 266. 
Klemperer, F. 403. 408. 
Klemperer, G. 28. 127. 
187. 225. 230. 241. 
257. 260. 293. 327. 
338. 377. 

Klemperer, G., u. Dün¬ 
ner 70. 109. 146. 
185. 400. 

Klewitz 162. 263. 
Klink 192. 232. 266. 
Klotz 239. 

Koblanck 409. 

Kolle 191. 

Kollert, V. 340. 
Königer 190. 
Kotzenberg 197. 

Kraus, C. 12. 

Kraus u. Brugsclv 39. 
Krause, Fed. 233. 
Kretschmer 15. 

Külbs 265. 

Kümmel 1 268. 

Küttner 269. 

Lange 251. 

Laquer, B. 113. 371. 
Laqueur (Berlin) 77. 
Lauritzen, M. 209. 
Laewen 236. 

Leschke 191. 203. 
Lewin, C. 10. 161. 
Lewin, R. 138. 
Lieberineister 230. 
Lilienstein 160. 

Lindig 165. 

Lippmann u. Samson 
42. 

Loeb, Edm. 83. 

Loewy, A. 273. 

Loewy u. Wolffcnstein 

287. 

Mahlo, A. 414. 

MaendJ 237. 

Mansfeld 442. 

Meidner 358. 

Melchior 118. 

Meyer, C. 81. 

V. Miltner 332. 
Minkowski, 0. 169. 
Mittweg 42. 

Möller 157. 204. 

Momm 201. 

Mommsen, F. 80. 


Morgenroth 190. 
Moritz, F. 49. 

Mory 334. 

Moskowicz 443. 

Mosse, Max 86. 

Müller, E. F. 44. 
Müller, Otfr. 191. 
Müller, E., u. Brandt 
271. 

Munk 264. 

Münzer, E. 417. 

Naef 80. 

Naegeli 440. 
Nagelschmidt 199. 
Neisser, E. 333. 
Niemann, A. 271. 

V. Noorden 84. 

V. Noorden u. Salomon 
364. 

Nürnberger 162. 367. 

Off rem 167. 

Opitz, E. 1. 62. 
Oppenheim 371. 
Ostermann 197. 

Partsch 83. 

Pässler 412. 

Paul, G. 85. 

Payr 195. 267. 300. 
Perthes 119. 234. 
Petren 262. 

Petruschky 302. 
Pfeiffer, A. 43. 
Pfleiderer 441. 

Plcnz 301. 

Prendl 409. 

Pulay 200. 

Pulvermacher, L. 409. 

Quincke 79. 

Rennstierna 413. 
Rehfisch 159. 

Rehnjr. 197. 

Reich 193. 

Reimann, Gg. 93. 
Reimer 438. 

Retzlaff 237. 

Ritter 196. 197. 

Römer 83. 

Römer, P. 199. 
Rosenow 203. 
Rosenstein 191. 

V. Rothe 267. 

Ruhnau, K. 220. 

Sachs. E. 16. 67. 105. 
Sakheim 374. 
Samolewski 167. 
Sandberg, G. 47. 
Sänger 368. 

Schaffer 262. 

Schenk 368. 
Schepelmann 165. 
Schittenhelm 188. 
Schlemmer 442. 
Schlesinger 124. 
Schloffer 198. 

Schmid 236. 


Schmidt (Prag) 190. 
Schmincke 159. 

Scholz-Gregor 39. 
Schoemaker- 268. 
Schöne 192. 

Schott 236. 

Schulze, H. 126. 
Schweisheimer 366. 
Seitz 270. 333. 

Seitz u. Wintz 365. 
Seuffert 414. 

Seyfarth 262. 
Sfakianakis, J. 335. 
Siebelt 158. 

Sieben 123. 

Simon 83. 

V. Sohlern 42. 284. 
Sommer 198. 

Sonntag 438, 

Springer, C. 334. 

Stein (Wiesbaden) 77. 
Steinitz, E. 168. 
Stekel, W. 253. 289. 

321. 437. 

Stemmler 156. 

Stepp 201. 237. 262. 
Sterling-Okuniewski 43. 
Steyerthal 160. 

Stiefler 78. 

Straßmann, G. 81. 
Straub, W. 238. 

Strauß 157. 

Strauß, H. 6. 379. 
Strauß, 0. 180. 332. 
Striepecke 208. 
Strümpell 368. 

Stutzin, J. J. 21. 
Sußmann, M. 303. 

Treupel 440. 
Tuszewski, S. 243. 

Uhlenhut u. Zuelzer 
164. 

Uhlmann, R. 132. 
Umber 262. 

Unger 193. 

Veil 123. 260. 
Veilchenblau, L. 239. 
Völeker 196. 269. 
Voltolini 87. 336. 
Vulpius 198. 

Walterhöfer 44. 
Walther 302. 

Weis, W. 423. 

Wendt, W. 98. 
Wieting 125. 

Winter 199. 

Winter, K. 200. 
Wolffenstein, R. 208. 

Zacharias 410. 

Zadek, J. 371. 
Zimmer, Arn. 276. 
Zlocisti 164. 

Zondek 204. 439. 
Zuckmayer, F. 344. 
Zuntz, N. 164. 

Zweig 333. 





Die Therapie der Qe§:enwart 


1920 


herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer 
in Berlin. 


Januar 


Nachdruck verboten. 


Aus der Frauenkliuik der Universität Freiburg. 

Die neuzeitliche Tiefentherapie in der. Gynäkologie. 

Von E. Opitz. 


Der Aufforderung der Redaktion dieser 
Zeitschrift, über den Stand der Tiefen¬ 
therapie in der Gynäkologie zu.berichten, 
komme ich um so lieber nach, als mir 
scheint, daß der gegenwärtige Zeitpunkt 
zu einem Rückblick und zusammenfas¬ 
senden Berichte besonders geeignet ist. 
Gewisse Gebiete der gynäkologischen Tie¬ 
fentherapie sind als abgeschlossen zu be¬ 
trachten. Andere haben durch die neuen 
Forschungsergebnisse und Verbesserungen 
der Technik neuen Aufschwung genom¬ 
men. 

In physikalische und biologische Vor¬ 
gänge haben wir einen besseren Einblick 
gewonnen, sodaß wir auch von unseren 
therapeutischen Maßnahmen Fortschritte 
erhoffen dürfen. 

Dasjenige Gebiet, auf dem wir wohl 
die möglichen Erfolge erreicht haben, das 
man daher in der Hauptsache als abge¬ 
schlossen betrachten kann, ist das Gebiet 
der Behandlung der Myome und der 
funktionellen Uterusblutungen. Hier sind 
wir heute in der Lage, mit einer einmali¬ 
gen kurzen Behandlung ohne irgend¬ 
welche bisher bekannt gewordenen Schä¬ 
digungen der Kranken eine vollständige 
Heilung herbeizuführen. Wenn man als 
das Ideal einer Behandlungsart das tuto 
cito et jucunde bezeichnet hat, so kann 
hier dieses Ideal als erreicht gelten. Die 
Technik, die dabei befolgt wird, ist denk¬ 
bar einfach. »Die Frauen erhalten von je 
einem Felde vom Bauch und vom Rücken 
aus die Ovarialdosis, die mit einem in die 
Scheide eingeführten Meßapparat (Jonto- 
quantimeterkammer) festgestell t wird. 
Mit den neueren leistungsfähigen Appa¬ 
raten und ganz besonders dann, wenn, wie 
es vielfach möglich ist, gleichzeitig vön 
zwei Seiten aus bestrahlt wird, nimmt das 
nur wenige Stunden in Anspruch. Die 
Kranken verlassen dann sofort geheilt die 
Klinik. Schwankungen in der Zeitdauer 
kommen vor. Dicke Frauen bedürfen 
einer längeren Bestrahlungsdauer als ma¬ 
gere, aber anderweitige individualisierende 


Abänderung wird nicht nötig, es sei denn, 
daß wir bei mageren Frauen öfters mit 
einem Feld auskomm'en, ohne doch die 
Haut in einen Entzündungszustand zu 
versetzen. 

Das ist zweifellos ein großer Fort¬ 
schritt, wenn man sich vergegenwärtigt, 
vor wie kurzer Zeit noch eine durch Mo¬ 
nate hindurch ständig wiederholte Be¬ 
handlung notwendig war, an deren Ende 
schließlich doch noch die Frage offen 
bleiben mußte, ob nun wirklich auch das 
erstrebte Ziel endgültig erreicht war oder 
ob noch weitere Bestrahlungen notwendig 
sein würden, um Rezidiven vorzubeugen. 

Man hat freilich diesem Verfahren 
allerlei vorgeworfen und es mit dem 
Namen ,,Intensivbestrah’lung‘‘ belegt, um 
damit anzudeuten, daß ungeheure Men¬ 
gen von Röntgenstrahlen notwendig seien, 
um zum Ziele zu kommen, oder das offen 
ausgesprochen. Diese Vorwürfe sind völlig 
haltlos. Das genaue Gegenteil ist richtig. 
Wir wissen durch biologische Unter- ’ 
suchungen ganz genau, daß dieselbe Menge 
Röntgenlicht bei einmaliger Anwendung 
viel intensiver wirkt, als wenn dieselbe. 
Dosis auf mehrere Bestrahlungen verteilt- 
und so auseinandergerissen wird (Gesetz 
der verzettelten Dosis). Schon das be¬ 
weist, daß bei wiederholter Bestrahlung 
zur Erreichung desselben Zweckes mehr 
Röntgenlicht verbraucht werden muß, 
als bei wiederholten Sitzungen. Wenn 
man aber diejenigen Mengen von Röntgen¬ 
energie berechnet, die bei dem alten Ver¬ 
fahren benötigt worden sind, so ist man 
erstaunt, zu sehen, wie viel von diesem 
differenten Mittel dem Menschen einver¬ 
leibt worden ist im Vergleiche zu den ver¬ 
blüffend geringen Dosen, die wir bei der 
einmaligen Bestrahlung brauchen. Das 
letzte Wort in dieser Angelegenheit wer¬ 
den praktisch selbstverständlich die Kran¬ 
ken zu sprechen haben. Mir scheint es 
nicht im geringsten zweifelhaft, welches 
Verfahren bevorzugt werden wird, wenn 
die Frauen die Wahl habe», entweder 

1 





2 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Januar 


monatelang in* verschieden langen Pausen 
bestrahlt oder mit einer kurzen Sitzung 
endgültig von ihren Beschwerden befreit 
zu werden. Mit gleicher Sicherheit wie 
durch Röntgenbestrahlung läßt sich mit 
Radiumbestrahlung und zwar am besten 
intrauteriner, die Amenorrhoe herbei¬ 
führen. Das Verfahren hat gewisse Vor¬ 
züge und Schattenseiten, auf die hier 
nicht eingegangen werden kann, jeden¬ 
falls ist der Erfolg ebenso sicher wie mit 
Röntgenbehandlung. 

Diese Fortschritte sind erzielt worden 
durch genaue Erforschung der Bedin¬ 
gungen physikalischer und biologischer 
Art, unter denen die von den Röntgen¬ 
röhren und von den strahlenden Metallen 
ausgesandte Energieform wirkt. Ge¬ 
naueres über die älteren Forschungsergeb¬ 
nisse findet sich in dem Buche von 
Krönig und Friedrich über die physi¬ 
kalischen und biologischen Grundlagen 
der Strahlentherapie (Berlin, Urban & 
Schwarzenberg). 

Zum Verständnis des nachfolgenden 
muß ich kurz auf das Wichtigste aus 
diesen und unseren weiteren Unter¬ 
suchungen eingehen. 

Was zunächst die physikalischen Bedingungen 
betrifft, so gehorchen Röntgen- und Radium¬ 
strahlen dem quadratischen Gesetz, welches be¬ 
sagt, daß die auf die Flächeneinheit auffallenden 
Strahlenmengen sich umgekehrt verhalten, wie 
die Quadrate der Entfernung von der Strahlen¬ 
quelle, solange diese als punktförmig angesehen 
werden kann. Durchsetzen die Strahlen feste 
Körper, so werden sie zum Teil absorbiert. Die 
Höhe der Absorption ist im allgemeinen ab¬ 
hängig von der Dichte der Körper- bzw. Atomzahl. 
Nicht maßgebend ist die chemische Zusammen¬ 
setzung. 

Das Verhältnis der an der Oberfläche und in 
der gewünschten Tiefe vorhandenen Strahlen¬ 
energie, bezeichnen wir als Dosenquotient. Der 
Dosenquotient ist günstiger bei großer Entfernung 
.des bestrahlten Körpers von der Strahlenquelle 
als bei geringer Entfernung, wie sich ohne weiteres 
aus dem quadratischen Gesetze ergibt. (Die 
Quadrate von 10 und 14 verhalten sich annähernd 
wie 1 :2, die von 100 und 104 wie 1 : 1,08.) 

Von noch größerem Einfluß auf den Dosen¬ 
quotienten ist die Qualität der Strahlen. 'Aus 
allen Röntgenröhren, einerlei ob sie als hart 
oder weich bezeichnet werden, kommt stets ein 
Strahlengemisch von harten und weichen Strahlen. 
Auch die Lilienfeldröhre macht davon keine 
Ausnahme. Freilich sind die Unterschiede in der 
Qualität der von den Röhren gelieferten Strahlen 
je nach der Beschaffenheit der Röhre selbst und 
der Belastung, unter der sie betrieben wird, sehr 
groß. Jedoch sind auch bei den härtesten Röhren 
noch immer weiche Strahlen vorhanden. Beim 
Durchgang durch feste Stoffe, also auch durch 
den menschlichen Körper, bleiben von den 
weichen Strahlen viel mehr stecken, werden ab¬ 
sorbiert, als von den harten Strahlen, die ja 
wegen ihrer Durchdringungskraft so heißen. 
Da nun die Tiefentherapie darauf beruht, in der I 


' Tiefe des. Kprpers gelegenes • Gewebe'zü treffen, 
so muß das oberflächlich darüber gelegene Ge¬ 
webe bei weicher Strahlung sehr viel mehr er¬ 
halten, als in der Tiefe gelegenes. — Eine zweck- 
. mäßige Tiefentherapie muß also die weichen 
Strahlen nach Möglichkeit ausschalten, und das 
gelingt durch Filterung. Welche Stoffe man 
dazu nimmt, ist an sich gleichgültig. Sehr durch¬ 
lässige Stoffe müssen nur in entsprechend dickeren 
Schichten benutzt werden. Bei uns ist nach 
vielen Versuchen 1 mm Kupfer als das zweck¬ 
mäßigste Filter für die Tiefentherapie erprobt 
worden. Es wird dadurch zwar die von der Röhre 
ausgesandte Energie sehr stark vermindert, 
das Ergebnis ist aber, daß wir eine im technischen 
Sinne völlig ausreichende qualitative Homogenität 
der Strahlen erzielen. Wir verstehen darunter 
die Eigenschaft der Strahlen, durch weitere Fil¬ 
terung nicht mehr wesentlich in ihrer Qualität 
verändert zu werden. Das Maß der Heterogenität 
stellen wir fest durch Vergleich der Dicke der 
Schicilten, welche erforderlich sind, um eine 
Strahlung immer wieder auf die Hälfte der auf 
das Filter auffallenden Energie herabzusetzen. 
Werden z. B. aus der Röhre austretende Strahlen 
durch eine Schicht von 1 cm Wasser auf die 
Hälfte ihrer ursprünglichen Energie herabgesetzt, 
so ist für die Herabsetzung der nunmehr durch 
das Wasser gefilterten Strahlen wiederum auf 
die Hälfte ihrer Energie vielleicht eine Schicht¬ 
dicke von cm Wasser erforderlich. Das Maß. 
der Heterogenität wäre dann das Verhältnis von 
1 % zu 1 oder von 3 zu 2. Mit 1 mm Cu. gefilterte 
Strahlen weisen eine Heterogenität von 1,01 auf 
und sind daher praktisch als homogen zu bezeich¬ 
nen, was aber durchaus nicht besagen soll, daß 
wir nun etwa nur Strahlen von einer Wellen¬ 
länge hätten. 

Wir benutzen deshalb zur Tiefentherapie 
ausschließlich gefilterte Strahlung und zwar in 
der Mehrzahl der Fälle mit 1 mm Cu. gefilterte 
Strahlen. 

Sind die eben erörterten Verhältnisse wohl 
jetzt unter den Fachleuten als allgemein be¬ 
kannt zu bezeichnen, so gilt das viel weniger 
von der großen Bedeutung, welche die Sekundär¬ 
strahlung für die Tiefentherapie besitzt. 

Wir kennen dreierlei Arten von Sekundär¬ 
strahlung: 1. Die sogenannte specifische oder 
Fluorescenzstrahlung, die, unter der Erregung 
durch Röntgenstrahlen ähnlich wie das Licht 
an bestimmten Körpern eine Fluorescenz erzeugt, 
von den getroffenen Stoffen ausgesandt wird. 
Diese Fluorescenzstrahlung ist eine Funktion 
des Atoms und hat praktisch, wenigstens für 
Röntgenbestrahlung, keine Bedeutung. 

Ähnliches gilt von der sekundä!-en ^ff-Strahlung. 
Diese entsteht in jedem durchstrahlten Körper,, 
also auch in dem bestrahlten menschlichen Gewebe, 
und ist jedenfalls die Hauptursache der biolo¬ 
gischen Wirkung, weil auf sie alle chemischen, 
Wärme- und andersartigen Wirkungen der Strah¬ 
len in der Hauptsache zurückgeführt werden' 
müssen. Diese sekundäre |5-Strahlung ist jedoch,, 
soweit wir bis jetzt darüber unterrichtet sind, 
proportional der auftreffenden Menge der Rönt¬ 
genstrahlen. Sie kommt deshalb für die Größe^ 
des Dosenquotienten nicht in Betracht. 

Um so wichtiger ist die dritte Art der sekun¬ 
dären Strahlung, die Streustrahlung. Sie kann 
verglichen werden mit der diffusen Verteilung 
des Lichtes, das ein trübes Medium, z. B. Zigarrenr 
rauch, durchsetzt. Sie hat genau die gleichen 
Wellenlängen wie die primäre Strahlung und 
entsteht unabhängig von der chemischen Qua- 




Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


3 


lität in jedem bestrahlten Stoffe. Diese Sekundär¬ 
strahlen werden nach allen Richtungen ausge- 
’sandt und vermehren ganz erheblich die Tiefen¬ 
dosis, in geringerem Grad auch die Oberflächen¬ 
dosis. Einige Beispiele werden* den gewaltigen 
Einfluß dieser Sekundärstrahlung am besten er¬ 
läutern. Wenn man mit 50 cm Fokushautab¬ 
stand unter Filterung durch 10 mm Aluminium 
bestrahlt, so würde der in 6 cm Tiefe unter der 
Oberfläche aus quadratischem Gesetz und Absorp¬ 
tion berechnete Betrag der Tiefendosis 22 % 
der Oberflächendosis betragen. In Wirklichkeit 
-aber wird er auf den Betrag von 51 % durch die 
Sekundärstrahlung erhöht. In 8 cm sind die 
entsprechenden Zahlen 13,8 bzw. 42%; in 10 cm 
Tiefe 8,4 und 31 %. Benutzen wir statt 10 mm 
Aluminium 1 mm Cu. als Filter, so lauten die 
entsprechenden Zahlen: 25 und 67,5% in 6 cm 
Tiefe, 17 und 54 % in 8 cm und 10 bzw. 44 % in 
10 cm Tiefe. Die Tiefendosis übertrifft also in 
10 cm Tiefe um nicht weniger als 440% den 
allein nach dem quadratischen Gesetz und Ab¬ 
sorption berechneten Betrag der Strahlung. 

Fast ebenso einflußreich ist infolge der Se¬ 
kundärstrahlung die Feldgröße. Auch hier einige 
Beispiele. Der Dosenquotient beträgt unter im 
übrigen gleichbleibenden Verhältnissen in 5 cm 
Tiefe bei einer Feldgröße von 5 x 5 cm 0,56; bei 
10 X 10 cm 0,64 und bei 15x 15 cm = 0,73. In 
10 cm Tiefe sind die entsprechenden Zahlen 0,31, 
0,38 und 0,43. 

Dieses Steigen des* Dosenquotienten erstreckt 
sich bis zu einer Feldgröße von etwa 20 x 20 cm. 
Eine weitere Vergrößerung des Feldes dürfte, 
nach dem Verlauf der Kurve zu schließen, einen 
wesentlich verstärkenden Einfluß nicht mehr 
besitzen. 

Abgesehen von dieser erheblichen Vergröße¬ 
rung des Dosenquotienten mit der Feldgröße 
ist aber noch ein anderer Einfluß dieses Faktors 
auf die Ausbreitung der Strahlenenergie in der 
Tiefe festzustellen. Wenn wir nämlich den Abfall 
der Energie vom Zentralstrahl aus nach den 
Seiten messen,, so ergibt sich, daß der Energie¬ 
abfall um so schneller erfolgt, je kleiner das Feld 
gewählt wurde. Am besten dürften das die beiden 
bei gegebenen Kurven erläutern. 



Verteilung der Dosis bei einer Feldgröße von 8X8 cm. 












r 



















r 





i 







/ 











V 















r 




3 







J 








r 





3 




U!--n 









n 










i'J '3 ft f t V z 0 3 \t. ti f ft f* ft 


Abb. 2. 

Verteilung der Dosis bei einer Feldgröße von 20X20 cm. 

Wir sehen, daß bei einer Feldgröße von 
8 X 8 cm nur in 1 cm Entfernung vom Zentral¬ 
strahl noch die gleiche Stärke der Strahlung in 
der Tiefe gemessen werden kann, daß sie aber 
dann schnell nach den Seiten abfällt. Wählt 


man ein Feld von 20 x 20 cm Größe, so finden 
wir noch in 6 cm seitlicher Entfernung vom 
Zentralstrahle genau die gleiche Dosis. Der Abfall 
erfolgt dann nach den Seiten viel allmählicher 
als bei kleinerer Feldgröße, wie das am besten 
aus den beigefügten Kurven ersichtlich ist. 

Wollen wir also einem ausgedehnten Herd 
in der Tiefe mit möglichst geringer Schädigung 
der darüber gelegenen Gewebe eine starke Dosis 
verabreichen, so ist es zweckmäßig, mit der Rönt¬ 
genröhre in weiter Entfernung von der Haut¬ 
oberfläche zu bleiben, die Strahlen stark zu filtern 
und ein möglichst großes Feld zu wählen. Wir 
werden dann den günstigsten Dosenquotienten 
für die Tiefe erzielen und die Wirkung der Strahlen 
wird sich in der Tiefe auf einen möglichst großen 
Raum ausdehnen. Letzterer Umstand ist gerade 
bei Bestrahlung von Carcinomen, die ja häufig 
ihren Ausgangspunkt schon überschritten haben, 
von großer Bedeutung. 

Während die Dosierung der Röntgen-, 
strahlen, wenigstens für uns, schon seit 
längerer Zeit ein abgeschlossenes Kapitel 
ist, galt das bisher nicht für die Dosie¬ 
rung des Radiums. Man hat sich im all¬ 
gemeinen gewöhnt, die Dosis des Radiums 
nach Milligrammelementstunden zu be¬ 
rechnen, das heißt anzugeben, welche 
Menge Radium, beziehungsweise Meso¬ 
thorium ausgedrückt in Äquivalenten Ra¬ 
diumelement, angewandt wurde, und die 
Zahl der Milligramme mit der Zahl der 
Stunden multipliziert. Fügt man noch 
die Angabe der Filterung hinzu, so ist 
im allgemeinen alles erschöpft, was man 
über die Verabreichung des Radiums in 
der Literatur finden kann. Man hat dann 
von verschiedenen Seiten, am ausführ¬ 
lichsten von Kehrer, zu berechnen ver¬ 
sucht, welche Strahlenmengen in ver¬ 
schiedenen Entfernungen von dem Strah¬ 
lenkörper wirksam gewesen seien. Diese 
sämtlichen Berechnungen sind durchaus 
irreführend, denn es ist dabei völlig außer 
acht gelassen worden der Einfluß der 
Gestalt des Strahlenkörpers und vor allen 
Dingen der Sekundärstrahlung, der sich 
selbstverständlich auch bei Anwendung 
des Radiums bemerkbar machen muß. 
Wir haben uns bemüht, diese Lücke aus- 
zuftillen. Durch die Untersuchungen von 
Friedrich und Glasser im Radiologi¬ 
schen Institut meiner Klinik ist es nun 
in der Tat gelungen, durch genaue Unter¬ 
suchungen, auf die hier nicht näher ein¬ 
gegangen werden soll, die Verteilung der 
Energie um den Strahlenkörper herum 
festzustellen. Die Stellen, an denen 
gleiche Energie herrscht, sind von Fried¬ 
rich mit dem Namen „Isodosen'* belegt 
worden. Diese Isodosen verlaufen durch¬ 
aus nicht, wie man früher anzunehmen 
geneigt war, in Form von Kugelschalen 
um den Körper herum, sondern haben 

1* 








4 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Januar 


eine davon erheblich abweichende Ge¬ 
stalt, die in weitem Maße abhängig ist 
von der Gestalt des Strahlenkörpers. 
Besser als lange Beschreibungen werden 
die beigefügten Abbildungen das erläu- 



Abb. 3. Verlauf der Isodosen bei einem einfachen Dome- 
niciröhrchen. 



Abb. 4. Verlauf der Isodosen bei drei hintereinander 
liegenden Domeniciröhrchen von gleichem Radiumgehalt. 

tern. Daß sie in der Tat der Wirklich¬ 
keit entsprechen, dürfte die in Abb. 5 
dargestellte Licht- _ 


Wirkung eines 
I Strahlenkörpers 
auf der photo- 
graphischenPlatte 
zeigen, die ganz 
die gleichen For¬ 
men aufweist. Vor- ^^b. s. 

läufig sind diese 

Isodosenkurven berechnet wotden in 
Form von Prozenten der Energiemenge, 
die in 1 cm Entfernung von der Mitte 
des Strahlenkörpers herrscht. Wollen 
wir aber zu therapeutischen Zwecken 
das Radium verwenden, besonders in 
Kombination mit Röntgenstrahlen, so 
ist es natürlich notwendig, die Energie 
mit dem gleichen Maße, das wir für Rönt¬ 


genstrahlen gebrauchen, auszudrücken. 
Das ist uns mit Hilfe der biologischen 
Eichung mitzunächstgenügender Genauig¬ 
keit gelungen. Wir wissen, daß 30 mg 
Radium in 1 V*cm Entfernung von der Haut 
innerhalb von 70 Stunden eine Blasen¬ 
bildung hervorzurufen imstande sind. 
Nach der üblichen Berechnung wären das 
2100 mg Stunden Radiumelement. Die 
gleiche Wirkung haben 300 e Röntgen¬ 
strahlen. Wir können also die 300 e mit 
den 2100 mg-Stunden vergleichen und 
bekommen dann für die in IV 2 cm Ent¬ 
fernung von der Mitte eines 30 mg hal¬ 
tenden Radiumträgers herrschende Ener¬ 
gie den Betrag von 7 e bei Einwirkung in 
70 Stunden. Diese Größe können wir 
auf die Kurve eintragen und danach die 
Energiegröße in e berechnen. Wir be¬ 
nutzen dieses Verfahren praktisch seit 
längerer Zeit und sind damit in der Lage, 
die Intensität der Strahlung an allen 
Punkten im Becken durch Einzeichnung 
der Kurve in einem Schema festzustellen, 
wie es auf der untenstehenden Abb. 6 deut¬ 
lich ersichtlich ist. ^ 

Daß bei der Radiumstrahlung die 
Sekundärstrahlung auf die Dosis ähnlich 
wie bei Röntgenbestrahlung von erheb¬ 
lichem Einfluß ist, geht aus der beifolgen¬ 
den Tabelle klar hervor, die ein Beispiel 
aus vielen Untersuchungen ist. 


Abstand 
in cm 

Gemessene 

Dosis 

Berechnete] 

Dosis 

Unterschied in 
®/oder berech¬ 
neten Dosis 

1 

108 

90 

20 

2 

35 

20,26 

73 

3 

17 

8,1 

110 

4 

10 

4,1 

144 

5 

6,0 

2,36 

154 

6 

4,5 

1,48 

204 

8 

2,6 

0,65 

300 

10 

1,6 

0,35 

357 


Von den biologischen Grundlagen 
müssen einige der wichtigsten hier kurz 
erörtert werden. Voraussetzung für jede 
Strahlenbehandlung ist, daß die Gewebe 
nicht gleichmäßig für die Strahlen emp¬ 
findlich sind. Diese Voraussetzung trifft 
in der Tat zu. Wir wissen, daß verschie¬ 
dene Gewebe sich gegenüber den Strahlen 
ganz außerordentlich verschieden ver¬ 
halten. Im allgemeinen sind im jugend¬ 
lichen Zustande befindliche Gewebe und 
solche, die einen besonders regen Stoff¬ 
wechsel aufweisen, empfindlicher als aus¬ 
gereifte, hochdiffenenzierte Gewebe mit 
geringem Stoffwechsel. Man hat für diese 
Tatsache das Wort ,,Elektivität“ der Ge¬ 
webe geprägt, was zu großen Mißverständ- 



Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


5 


nissen Veranlassung gegeben hat, weil 
man-darunter verstanden hat, daß ein¬ 
zelne Gewebe garnicht und andere sehr 
empfindlich für die Strahlung seien. Das 
wäre eine irrtümliche Auffassung. Es 
gibt wohl kein Gewebe, das nicht auf die 
Strahlung reagierte, nur ist eben der Grad 
der Reaktionsfähigkeit außerordentlich 
verschieden. Wenn wir nun aber den 
Grad der Empfindlichkeit bestimmen 
wollen, wie für eine zielbewußte Therapie 
natürlich unumgänglich notwendig ist, 
so müssen wir erstens die Strahlung genau 
messen können und zweitens uns darüber 
ein Urteil verschaffen, ob nicht die Qua¬ 
lität der Strahlung, das heißt langwellige 
oder kurzwellige Strahlen in verschiedener 
Weise wirken. Was den ersten Punkt an¬ 
betrifft, so scheint uns nach unseren 
Untersuchungen das weitaus beste In¬ 
strument das Jontoquantimeter zu sein, 
und zwar in der von Friedrich modifi¬ 
zierten Form, bei der die Kammer aus 
Stoffen von sehr niedrigem Atomgewicht 
aufgebaut ist. Bei dem Jontoquantimeter 
wird die Eigenschaft der Luft, durch die 
Strahlen ionisiert und damit für die 
Elektrizität leitfähig zu werden, als Maß 
benutzt. Als Maßeinheit ist von Fried¬ 
rich das „e‘' aufgestellt worden, welches 
diejenige Strahlenmenge bezeichnet, die 
imstande ist, bei Sättigungsstrom einen 
Leiter von der Kapazität 1 auf die Ein¬ 
heit des Potentials (300 Volt) aufzuladen. 
Diese Einheit hat vor allen anderen bisher 
vorgeschlagenen Einheiten den Vorzug, 
daß sie ein objektives Maß darstellt, das 
jederzeit an anderer Stelle unter den 
gleichen Bedingungen wieder benutzt 
werden kann und das sich auf bereits in 
der Physik übliche Maßeinheiten aufbaut. 
Wir benutzen es ausschließlich. Die 
Wichtigkeit der besonderen Einrichtung 
der Meßkammer beruht darauf, daß Kör¬ 
per von höherem Atomgewichte, selbst 
schon Aluminum, anders auf verschiedene 
Qualitäten der Strahlen reagieren, als 
tierische Gewebe, in denen wir ja die 
Wirkung der Strahlen messen wollen. Der 
Einfluß der Beschaffenheit der Kammer¬ 
wand des Jontoquantimeters auf die 
Messung ist sehr erheblich. Mit einem 
solchen einwandfreien Meßinstrumente 
hat sich nun bisher stets gezeigt, daß es 
bei der biologischen Wirkung lediglich 
auf die Menge und nicht auf die Qualität 
der Strahlen, also hart oder weich, an¬ 
kommt. Das war von vornherein durch¬ 
aus nicht so wahrscheinlich. Wir wissen 
a vom Lichte, daß rotes Licht ganz an¬ 


dere biologische Eigenschaften besitzt, 
als violette oder gar ultraviolette Strahlen, 
und so wäre wohl anzunehmen, daß ver¬ 
schieden harte Röntgenstrahlen, die noch 
mehr voneinander unterschieden sind als 
die genannten Lichtqualitäten, auch ver¬ 
schiedene Wirkungen äußern würden. 
Soweit aber die bisherigen Untersuchun¬ 
gen ein Urteil gestatten, ist ein solcher 
Unterschied nicht vorhanden. Wenn man 
nun mit einem solchen geeigneten Me߬ 
instrument die verschiedene Empfindlich¬ 
keit der Gewebe prüft, so ergeben sich 
ganz gewaltige Unterschiede. Als Tast¬ 
objekt wird ganz allgemein die Haut be¬ 
nutzt. Durch vielfache Messungen ist 
festgestellt worden, daß regelmäßig die 
Epidermis bei einer Dosis von 160 bis 170 e 
mit einer entzündlichen Veränderung 
reagiert, die als ,,Erythem“ bezeichnet 
wird. Man hat deshalb die entsprechende 
Dosis als „Erythemdosis“ oder ,,Haut¬ 
dosis“ bezeichnet und diese Dosis als Ver¬ 
gleichswert benutzt. Man hat z. B. fest¬ 
gestellt, daß die Carcinomdosis annähernd 
gleich der Hautdosis sei. Leider sind dabei 
Unklarheiten entstanden, die sich auch 
in der Therapie störend bemerkbar ge¬ 
macht haben. Denn bei der Hautdosis 
ist es eine leichte, fast spurlos abklingende 
Entzündung, welche die Dosis bestimmt, 
beim Carcinom die vollständige Zerstö¬ 
rung der Carcinomzellen. Wir haben des¬ 
halb genauere Bezeichnungen eingeführt 
und nennen diejenige Dosis, die ein Ge¬ 
webe in einen entzündlichen Zustand ver¬ 
setzt, die Entzündungsdosis „E. D.“ für 
die betreffenden Gewebe. Danach ist die 
E. D. für Epidermis = 170 e, verstärken 
wir die Einwirkung auf die Haut bis zu 
etwa 300 e, dann hebt sich die Oberhaut 
in Blasen ab und geht zugrunde. Es ist 
damit also das Epidermisgewebe abge¬ 
tötet worden. Diese Dosis bezeichnen wir 
als tödliche Dosis „T. D.“, die also für 
die Epidermis nach unserer Ausdrucks¬ 
weise 300 e beträgt. 

Für die Bekämpfung der Uterusblu¬ 
tungen benutzen wir eine Strahlendosis, 
die gerade hinreicht, um den gesamten 
Follikelapparat des Ovariums vollständig 
zu vernichten. Diese Dosis beträgt nach 
unseren Messungen durchschnittlich 50 e, 
die T. D. für Ovarialparenchym ist also 
nach unserer Ausdrucksweise 50 e, d. h. 
also nur sein reichliches Sechstel von der¬ 
jenigen Dosis, die gerade hinreicht, um 
die Epidermis zu vernichten. 

In gleicher Weise kann man Dosen für 
anderes Gewebe feststellen, doch sind dabei 




6 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Januar 


die Schwierigkeiten sehr erheblich, weil 
infolge der Bestrahlung allgemeine Wir¬ 
kungen auf den Körper sich zeigen, die 
die genaue Berechnung der Dosen schwie¬ 
rig, zum Teil unmöglich machen. Immer¬ 
hin wissen wir so viel, daß die T. D. für 
Bindegewebe wesentlich höher liegt, als 
die für die Epidermis. Denn das binde¬ 
gewebige Corium, das von der gleichen 
Dosis, wie die Epidermis, getroffen wor¬ 
den ist, reagiert bei einer Dosis von 300 e 
noch nicht mit Nekrose, sondern mit 
einer entzündlichen Reizung. Zur Nekro¬ 


tisierung des Bindegewebes sind also höhere 
Dosen erforderlich, nach vorläufiger 
Schätzung etwa 350 bis 400 e. 

Praktisch wichtig, wegen der Nach¬ 
barschaft zum Uterus, ist die Feststellung 
der E. D. und T. D. für Blasen- und Mast¬ 
darmschleimhaut, doch ist uns dies noch 
nicht mit völliger Sicherheit gelungen. 
Die E. D. für Mastdarmschleimhaut 
scheint nur wenig höher zu liegen als 
diejenige für die Haut, also etwa bei 180 
bis 190 e; die T. D. ist wohl entsprechend 
höher. (Schluß im nächsten Heft.) 


Aus der inneren Abteilung des jüdischen Krankenhauses zu Berlin. 

Unterernährung als Heilfaktor bei Diabetes. 

Von Prof. H. Strauß. 


Daß chronische Unterernährung für 
zahlreiche Fälle von Diabetes, insbe¬ 
sondere der leichten und mittelschweren 
Form, einen Heilfaktor darstellt, hat der 
Krieg aufs deutlichste erwiesen^). Hier¬ 
über haben in dieser Zeitschrift G. Klem- 
perer^), P. F. Richter^), Brugsch^) 
und an anderer Stelle G. Rosenfeld^) 
und ich selbst®) berichtet. Diese Fest¬ 
stellung ist jedoch nicht völlig neu. 
Denn es hat schon im Jahre 1820, also 
schon vor einem Jahrhundert, Prout die 
quantitative Einschränkung der Nahrung 
als besonders wichtig empfohlen und es 
hat Bouchardat vorwiegend auf Grund 
seiner gerade vor einem halben Jahr¬ 
hundert bei der Belagerung von Paris 
gemachten Erfahrungen sein ,,mangez 
le moins possible'^ als Grundsatz für 
die Behandlung der Diabetes ausge¬ 
sprochen. Auch in gewissen Kuren ist 
schon lange in zielbewußter Weise der 
Grundsatz der Unterernährung betätigt 
worden. Es sei hier nur an die auf Unter- 

0 Anmerkung: Schwere Diabetiker sind 
von der Kriegsernährung nach meinen Erfah¬ 
rungen nur selten günsUg beeinflußt worden. 
Coma war allerdings in der zweiten Hälfte des 
Krieges seltener als früher zu beobachten, da¬ 
gegen sah ich häufiger als sonst schwere Dia¬ 
betiker an Herzinsuffizienz oder Tuberkulose ster¬ 
ben. Von den erst während des Krieges diabetisch 
gewordenenHeeresangehörigen entfiel nach meinen 
Beobachtungen etwa ein Drittel auf die schwere 
Form und noch nicht die Hälfte auf die leichte 
Form. 

2) G. Klemperer (Ther. d. Gegenw. 1918, 
Märzheft). 

2) P. F. Richter (Ther. d.- Gegenw. 1918, 
Aprilheft). 

^) Brugsch (Ther. d. Gegenw. 1919, August¬ 
heft). 

5) G. Rosenfeld (B. ki. W. 1917, Nr. 28). 

®) H. Strauß (Münch. Jahresk. f. ärztl. Fort¬ 
bild. 1918). 


ernährung beruhenden Kartoffelkur von 
Mosse, an die Milchkur von Donkin’) 
und an die Ausführungen von Ko lisch®) 
über vegetabilische Ernährung bei Dia¬ 
betes erinnert. In der Richtung der 
Fleischfreiheit und Eiweißunterernährung 
und nur zum geringeren Teil in der Rich¬ 
tung einer Kalorienarmut streben auch 
die Gemüse-Eiertage, wie sie von Noor¬ 
den empfohlen hat, einem gleichen Ziele 
zu. In radikalster Weise ist aber das 
Prinzip der Unterernährung in den kurz¬ 
fristigen Hungertagen und in den pro¬ 
trahierten Fastenkuren vertreten. Wir 
haben hier vor allem die Hungertage von 
Cantani und Naunyn im Auge, die 
sich selbst in Form von ,,Trinktagen“ von 
36-stündiger Dauer (d. h. mit Ausdeh¬ 
nung von Abends bis zum übernächsten 
Morgen) mit oder öhne Zulagen von 
ganz geringen Mengen von kohlehydrat- 
und eiweißarmer Nahrung (ein bis zwei 
Apfelsinen und eine geringe Menge [etwa 
50 bis 80 g] von Nüssen oder Mandeln) zu 
Wasser, Tee, Kaffee, Wein, Cognac und 
Bouillon durchzuführen pflege. Schon vor 
acht Jahren habe ich®) auf die günstige 
Wirkung solcher — bei Bettruhe durch¬ 
zuführender — Trinktage bei schweren 
Fällen von Diabetes, und zwar nicht nur 
zum Zwecke einer Verminderung der 
Zuckerausscheidung, sondern, was ich 
ganz besonders betonen möchte, auch 
im Sinne der Acetonverminderung, ein¬ 
dringlich hingewiesen und auch in der 

0 Wiederholt habe ich bei guter Milchtoleranz 
auch typische Karellkuren zum Zwecke tempo¬ 
rärer Unterernährung bei Diabetikern ausgeführt. 

®) Ko lisch (Lehrb. d. diätet. Ther. chron. 
Krankh., Leipzig und Wien 1899 Deuticke, 
u. a. a. O. 

ö) H. Strauß (D. m. W. 1912, Nr. 10). 





/ ** 


Januar 


Die Thetäpie der Gegenwart 1920 


7 


Zwischenzeit habe ich mich so häufig 
VOQ der Wirksamkeit der Hunger- be¬ 
ziehungsweise Fast- oder Trinktage in 
Fällen, welche der sonstigen Behandlung 
Widerstand geleistet hatten, überzeugen 
können, daß ich es für angebracht halte, 
von neuem ihren großen Wert zu be¬ 
tonen. Auch von Noorden ■ spricht 
in der letzten, vor zwei Jahren erschiene¬ 
nen Auflage seines Buches^^) bei Er¬ 
örterung der Gemüse-Eiertage davon, 
daß er ,,seit etwa sieben Jahren die ent¬ 
schieden wirksameren Hungertage (die er 


obachtung’en will ich hier nur ein Beispiel 
ihrer Wirkung anführen. 

M. Sch., 36 Jahre alt, stammt aus gesunder 
Familie. Seit sechs Jahren klagt • Patient über 
Mattigkeit und Gewichtsabnahme sowie über 
erhöhtes Hunger- und Durstgefühl, sowie Zu¬ 
nahme der Urinmenge. Damals wurde schon 
Zuckerausscheidung im Urin festgestellt. Seit 
drei Wochen besteht Zunahme der Mattigkeit und 
allgemeine Schwäche. ^ 

Bei der objektiven Untersuchung zeigt sich 
als auffällig nur ein redizierter Ernährungszustand 
sowie verschärftes Atmen und Abkürzung des 
Klopfschalls über der rechten Lungenspitze. 
Über das Verhalten des Urins gibt folgende 
Tabelle Auskunft; 


Datum 

Menge 

Spez. ■ 
Gew. 

Zucker 
% 1 Gesamt 

A c 

% 

e 1 0 n 

Gesamt 

Acet- 

essig- 

säure 

Diät 

Körper¬ 

gewicht 

Pfund 

27. 8. 

3850 

1028 

1,6 

61,6 

0,169 

6,5065 


Gemüse-Eiertag 

101,4 

28. 8. 

3300 

1025 

1,7 

56,1 

0,180 

5,940 

— 

f) 

ff 

29. 8. 

2650 

1027 

2,5 

66,2 

0,154 

4,081 

— 

}> 

ff 

104,3 

30. 8. 

3250 

1015 

1,7 

55,2 

0,050 

1,6250 

— 

ff 

ff 

107.3 

106.4 

31.8. 

4200 

1016 

1,8 

75,6 

0,047 

1,974 

— 

ff 

ff 

1.9. 

3300 

1017’ 

1,4 

46,2 

0,054 

1,782 

— 

ff 

ff 

106,2 

2. 9. 

3800 

1007 

Spur 

— 

Spur 

— 

— 

Trinktag 

107 

3. 9. 

3550 

1010 

0,2 

7,1 

0,072 

2,556 

— 

Gemüse-Eiertag 

104,3 

4. 9. 

3650 

1012 

0,4 

14,6 

Spur 

Spur 

ff 

ff 

105,2 

104 

5. 9. 

3500 

^ 1010 

0,6 

21,0 


— 


ff 

ff 

6 . 9. 

3300 

1012 

0,8 

26,4 


— 


ff 

ff'~ 

103 

7. 9. 

3800 

1015 

0,7 

26,6 

ji 


ff 

ff ff 

mit Zulage von 

50 g Hafermehl 

102,3 


mitvierzigstündiger Dauer durchführt) viel 
öfter als früher an die Stelle der Gemüse- 
Eiertage gesetzt“ und sie für schwere Fälle 
von Diabetes dringend empfohlen habe. 
Von den anderen Autoren, welche für die 
Anwendung von Hungertagen in schweren 
Fällen von Diabetes eingetreten waren, 
will ich hier besonders Umber^^) nennen, 
welcher schon in der ersten Auflage 
seines Buches die Vorzüge der Hunger¬ 
tage eindringlich betont hat und bemerkt, 
daß einzelne Tage vorübergehender Unter¬ 
ernährung unbesorgt verordnet werden 
dürfen ,,sofern es sich nicht um Fälle mit 
besonders bedrohlicher Acidosis und 
Komagefahr handelt. Die Acidosis an 
sich ist jedenfalls kein Gegengrund Unter¬ 
ernährungstage einzuschieben und man 
kann nicht selten sehen, daß gerade durch 
Einschieben eines Hungertages die Aceton¬ 
körper aus dem Harn verschwinden.“ 

V. Noorden hält 1—2 Hungertage ge¬ 
rade für die Vorstufen des Koma für be¬ 
sonders geeignet. 

Aus vielen von mir gemachten Be- 

V. No Orden, Die Zuckerkrankheit, T.Aufl., 
Berlin 1917, Hirschwald. 

Umber, Ernährung u. Stoffwechselkrank¬ 
heiten, Berlin und Wien 1909, 1. Aufl., Urban 
& Schwarzenberg. 


An den Gemüse-Eiertagen bestand die Diät 
aus acht Eiern, drei großen Portionen Gemüse, 
200 ccm Rotwein, etwas Kognak, reichlichen 
Mengen Bouillon, Tee, Kaffee und Fachinger 
Wasser und einer Fettzufuhr von etwa 150 g. 

Freilich verliefen nicht alle meine 
Beobachtungen in gleich günstiger Weise. 
Allein unter etwa drei Dutzend kli- 
^ nisch beobachteter Fälle zeigte doch die 
Mehrzahl einen recht günstigen Erfolg. 
Von den Versagern entfiel die Mehrzahl 
auf Diabetiker meiner Lazarettbeobach¬ 
tung. Fast stets wurden die Trinktage, die 
immer bei Bettruhe durchgeführt worden 
sind, gut vertragen und sie erwiesen sich 
auch keineswegs als so angreifend, als 
es a priori erscheinen könnte. Dagegen 
konnte ich mich für protrahierte 
Fastenkuren, wie sie von einigen ameri¬ 
kanischen Autoren für die Behandlung 
renitenter Fälle von Diabetes empfohlen 
worden sind, nur wenig erwärmen. Allen^^), 
Hill und Sherrick^^), Christian^^) so¬ 
wie J o s 1 i n^^) haben bekanntlich berichtet. 

Allen (Boston Med. and Surg. Journ 1915, 
S. 241). 

Hill und Sherrick (Boston Med. and 
Surg. Journ. 1915, S. 696). 

^^) Christian (Boston Med. and Surg. Journ. 
1915, S. 929). 

^5) Joslin (American Journ. of the med. 
Sciences 1915, k 485). 








8 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Januar 


daß sie mit der Durchführung mehrerer 
aufeinander folgender Fasttage und mit 
Fortsetzung dieser Kur zunächst unter An¬ 
fügung von mehreren Gemüsetagen, dann 
mit fetthaltiger aber ei weiß- und kohle¬ 
hydratarmer Kost (Kaloriengehalt nur 
selten über 2200) sehr eindrucksvolle 
Ergebnisse erzielt hab.en. Diese protra¬ 
hierte Fastenkur habe ich allerdings nur 
an vier Fällen versucht, da drei der be- 
^ treffenden Fälle trotz entsprechender 
Flüssigkeitszufuhr solche Gewichtsstürze 
zeigten und sich so elend fühlten, daß 
ich meine Nachprüfungen auf die ge¬ 
nannten Fälle beschränkt habe. A. 
Schmidt^®) scheint allerdings mit den 
Ergebnissen von mehrtägigen Fasten¬ 
kuren zufriedener gewesen ,zu sein und 
auch von Noorden spricht (1. c.) dem 
Prinzip, nach Absolvierung der Hunger¬ 
periode die Nahrung nur langsam wieder 
aufzubauen und etwaige Gewichtsver¬ 
luste nicht allzu ängstlich zu beurteilen, 
das Wort. In Analogie zu den bereits 
früher von mir erwähnten ,,Kurwochen‘‘^'^) 
bin ich allerdings mit Rücksicht auf die 
hier erwähnten Erfahrungen sowie in 
Hinblick auf Ausführungen von von 
Noorden in einer Reihe von Fällen so 
vorgegangen, daß ich drei Tage lang 
Gemüse-Eiertage mit einem annähernd 
normalen oder nur wenig verminderten 
Kaloriengehalt — wie ich sie seinerzeit 
bei der Besprechung von „Diätproblemen 
im Lazarettbetrieb**^®) erörtert habe 
(Kaloriengehalt 2240, Eiweißgehalt 26 g) 
— durchführen ließ, dann einen Trinktag 
einfügte und dann wieder drei Gemüse- ^ 
Eiertage mit einer — allerdings ohne Sche¬ 
matismus durchgeführten — Reduktion 
des Fettgehaltes (etwa um ein Viertel bis 
ein Drittel) verordnete. Dann fing ich 
in der Regel an, die Kohlehydrattoleranz 
zunächst durch Zulage progredienter 
Mengen von Mehlsuppen und erst später 
durch Brotzulagen auszutarieren und je 
nach dem Ausfall dieser Versuche die 
Höhe des zuzulegenden Mehlsuppen¬ 
quantums zu bestimmen. Diese Art des 
Vorgehens erwies sich mir jedenfalls als 
schonender, wie die Befolgung der von 
den amerikanischen Autoren gegebenen 
Anweisungen. 

Die vorstehenden Beobachtungen halte 


A. Schmidt (Kölner Tagung für Knegs- 
beschädigtenfürsorge 1916, s. Ref. in D. m. W. 
1916, Nr. 37, S. 1147. 

, H. Strauß (Münch. Jahreskurse f. ärztl. 
Fortbildung 1913). 

18) H. Strauß (D. m. W. 1917, Nr. 6 


ich im jetzigen Zeitpunkt deshalb einer 
Betrachtung wert, weil sie mir in ge¬ 
wissem Sinne eine Ergänzung zu den bei 
der Kriegsernährung der Diabetiker ge¬ 
machten Erfahrungen zu liefern scheinen. 
Sie regen nämlich die Frage an, ob man 
es bei den hier ^ur Erörterung stehenden 
Beobachtungen und bei den zu Anfang 
erwähnten, als Folge langfristiger Kriegs¬ 
ernährung bei Diabetikern ganz allgemein 
gemachten, Feststellungen mit der Wir¬ 
kung eines im Prinzip gleichartigen Vor¬ 
ganges zu tun hat. Diese Frage dürfte 
meines Erachtens bejaht werden. Aller-' 
dings ist der Vorgang an sich nicht ganz 
leicht zu deuten. Ich selbst möchte, wie 
ich es bereits früher getan habe'^), den¬ 
jenigen Autoren beitreten, welche in dem 
Vorgang die Folge einer durch Ein¬ 
schränkung des Gesamtstoffwechsels er¬ 
zeugten Bremsung beziehungsweise Ent¬ 
lastung der im Zustand einer Über¬ 
erregung befindlichen zuckerproduzieren¬ 
den beziehungsweise zuckermobilisieren¬ 
den Apparate gegenüber alimentären 
Reizen^®) erblicken. Von alimentären Rei¬ 
zen spreche ich deshalb, weil die Kriegs- 
erfahrung gezeigt hat, daß andere mit 
dem Krieg zusammenhängende Insulte 
direkt geeignet waren, einen Diabetes 
auszulösen. Nach einer sehr umfang¬ 
reichen Statistik, auf die ich in anderem 
Zusammenhang eingehen werde, ist näm¬ 
lich die weit überwiegende Mehrzahl 
der bei Heeresangehörigen zur Beob¬ 
achtung gelangenden Fälle von Diabetes 
erst während des Krieges in die Er¬ 
scheinung getreten. Bei einer solchen 
Brems- oder Entlastungswirkung scheint 
mir vor allem die Minderung der Eiweiß- 
insbesondere der Fleischzufuhr wirk¬ 
sam zu sein und es geben die hier erörter¬ 
ten Erfahrungen in diesem Punkte den 
Auffassungen Kolischs, die er schon 
früher und zuletzt in einer jüngst er¬ 
schienenen Broschüre^) in ausführlicher 
Weise niedergelegt hat, eine Stütze. Wenn 
man erwägt, daß eine an Eiweiß und 
Fleisch reiche Nahrungauch bei zahl¬ 
reichen anderen durch endocrine Stö¬ 
rungen bedingten Krankheitszuständen 


. ^®) Strauß (Münchener Jahreskurse f. 
ärztl. Fortbildung 1918 und D. m. W. 1919, 
Nr. 15). 

2®) Anmerkung: Für die Wirksamkeit von 
Erregungsreizen spricht u. a. anch der in manchen 
Fällen von Diabetes zu beobachtenefe Erfolg einer 
Opiumbehar.dlung. 

*^) Kolisch, Die Reiztheorie und die modernen 
Behandlungsmethoden des Diabetes (Berlin-Wien 
1918, Urban & Schwarzenberg). 





Jatluar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


schädlich wirkt, so liegt der Gedanke 
nahe, besonders in dem Wegfall größerer 
Fleisch- und Eiweißmengen eine Scho¬ 
nungstherapie der beim Zuckerstoff¬ 
wechsel beteiligten endocrinen Or¬ 
gane zu. suchen. Kolisch steht aller¬ 
dings bezüglich dei Deutung der Wirkung 
einer Einschränkung der Eiweißzufuhr 
auf dem Standpunkt, daß der Eintritt 
vön Nahrungseiweiß in den Stoffwechsel 
eine erhöhte Abspaltung von Zocker 
aus dem Protoplasma provoziert und 
daß außerdem noch der Zerfall des Ei¬ 
weißmoleküls selbst und die Zucker¬ 
bildung aus den beim Eiweißzerfall ent- 
standehen Kohlenstoffketten eine Rolle 
spielt. Ohne die Bedeutung des letzteren 
Vorganges irgendwie zu unterschätzen, 
scheint mir aber doch auch eine nur die 
beim Zuckerstoffwechsel beteiligten endo¬ 
crinen Organe ins Auge fassende Theorie 
geeignet zu sein, die für die praktische 
Therapie so wichtige Erscheinung zu 
erklären, daß Minderung der^ Eiwei߬ 
zufuhr bei niedriger aber gerade noch 
ausreichender Einstellung der Kalorien¬ 
zufuhr geeignet ist, die Toleranz für die 
Kohlehydratzufuhr zu heben. Schon in 
dieser Feststellung liegt meines Erachtens, 
unabhängig von ihrer Deutung, ein be¬ 
gründeter Anlaß, für die Nahrung der 
Diabetiker den Rahmen der ,,Fleisch¬ 
empfindlichkeit“ beziehungsweise „Ei¬ 
weißempfindlichkeit“ erheblich weiter als 
bisher zu ziehen. Allerdings wäre es auch 
auf dem vorliegenden Gebiete grundfalsch, 
alle Diabetiker nach der gleichen Schab¬ 
lone zu behandeln, denn kaum eine Krank¬ 
heit verlangt für die Behandlung des 
einzelnen Patienten ein solches Indivi¬ 
dualisieren und Ausprobieren als die 
Behandlung der Diabetiker. Allein es 
scheint mir doch bei der Einschränkung 
der Gesamtkalorienzufuhr die Reduktion 
des Eiweißes und speziell des Fleisches, 
das bisher in vielen Fällen auf ärztliche 
Anordnung in überreichem Maße gereicht 
wurde, viel wichtiger als diejenige der 
Fette. Ich habe deshalb schon vor dem 
Kriege das Eiweißquantum für die Er¬ 
nährung vieler auch der mittelschweren 
und der leichten Form angehöriger 
Diabetiker möglichst in der Gegend von 
60 bis 80 g pro die normiert und das Fett¬ 
quantum bei fehlender Toleranz für Kohle¬ 
hydrate unter Berücksichtigung des Er¬ 
nährungszustandes mit etwa 180 bis 
200 g eingesetzt. Für eine abnorm starke 
Herabsetzung des Fettgehaltes sah ich 
jedoch in der Regel keine zwingenden 


Gründe, sondern wählte die Höhe des 
Fettgehaltes meist auf Grund des indi^ 
viduellen Ernährungszustandes' dßs be^ 
treffenden Patienten , unter Erwägung 
der bereits durch die Untersuchungen 
Weintrauds bekannten Erfahrung, daß 
manche Diabetiker mit 25 Kalorien ihr 
Auskornmen finden können, sowie unter 
Berücksichtigung der^durch den Zucker^ 
gehalt des Urins bedingten Kalorienver¬ 
luste. Im Hinblick auf eine bereits in man¬ 
chen ärztlichen Kreisen zu beobachtende 
Tendenz, auch weiterhin die Diabetiker 
ohne Unterschied des Einzelfalles ,,kriegs¬ 
mäßig“ zu ernähren, möchte ich nicht 
unterlassen zu bemerken, daß ich für die 
Auffindung des für den Einzelfall not¬ 
wendigen Ernährungsmodus auch heute 
noch Toleranzbestimmungen genau so 
notwendig finde, als früher, wobei es 
allerdings zu pfehlen ist, für die kohle¬ 
hydratfreie Stamrrkost nicht den Ei¬ 
weiß- und Fleischreichtüm früherer 
Zeiten zu wählen, sondern ihm den oben¬ 
genannten Charakter zu geben. Ebenso 
erscheinen mir auch Blutzuckerbestim¬ 
mungen zur Beurteilung der Schwere der 
einzelnen Fälle sehr wichtig, seitdem wir 
über Methoden verfügen, welche die Aus¬ 
führung derartiger Untersuchungen ohne 
Venenpunktion nur an einem Bluts¬ 
tropfen gestatten. Für leichtere Fälle 
empfiehlt sich sogar die Untersuchung 
auf alimentäre Hyperglykämie und wird 
hierüber aus meiner Abteilung eine 
umfangreiche Untersuchungen wieder¬ 
gebende Mitteilung von Hahn und 
Offenbacher erscheinen. Sind doch 
die einzelnen Fälle von Diabetes in bezug 
auf Entstehung lüid Intensität zu un¬ 
gleichartig, als daß sich für die Ernährung 
und Behandlung der Diabetiker ein einheit¬ 
liches und allgemein gültiges Rezept auf- 
steilen ließe. Ich würde es sogar für eine 
sehr bedenkliche Kriegsfolge halten, wenn 
die Übertragung der Kriegslehren der 
Diabetikerernährung zu einem unkri¬ 
tischen Schematismus und Schabionismus 
führen würde, so sehr es auch zu wünschen 
ist, daß bei weitgehender Individuali¬ 
sierung doch die durch die Kriegserfah¬ 
rungen nahegelegte Reform > der Ernäh¬ 
rung von Diabetikern, das heißt die Ein¬ 
schränkung der .Eiweißzufuhr und Ge¬ 
währung des gerade notwendigen Kalo¬ 
rienquantums mit Vermeidung jeder 
Luxuskonsumtion bald überall durch¬ 
dringt. Neu gewonnene Kenntnisse sollen 
zwar willige Nutzanwendung finden, aber 
doch nicht dazu führen, alte bewährte 

2 



10 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Jaiiuär 


Erfahrungen ohne weiteres über Bord zu 
warfen. Denn Neues und Altes lassen sich 
oft recht gut aneinander anpassen. Was 
speziell die Fast- oder Trinktage betrifft, 
80 sollten diese aber für die Behandlung 
renitenter Fälle in den Kreisen der Prak¬ 
tiker weit mehr Anwendung finden, als 
man dies vielfach sieht. Denn es macht 
sich oft auch in ^denjenigen Fällen, in 
welchen der Effekt solcher Trinktage 
ein nur vorübergehender ist, ein unver¬ 


kennbarer Nutzen auf die Psyche der 
Patienten bemerkbar, indem der be¬ 
treffende Patient sieht, daß eine thera¬ 
peutische Beeinflußbarkeit seines Leidens 
immerhin noch möglich ist. Auf der 
anderen Seite gibt aber auch .das Aus¬ 
bleiben eiiter therapeutischen Wirkung 
dem behandelnden Arzte manchen ver¬ 
wertbaren Fingerzeig zur Beurteilung 
des Falles im^ Sinne einer ungünstigen 
Prognose. 


Aus dem üuiversitätsiustitut für Krebsforscliuiig der Charite in Berlin. 

Trypaflavin und Trypaflavinsilber (Argoflavin) in der Therapie 

maligner Qeschwülste. 

' Von Prof. Dr. Carl LewIn. 


Das Argoflavin, eine Kombination 
des Trypaflavins mit Silber wird uns 
auf unsere Veranlassung von der Firma 
Leop. Cassella & Go. in Frankfurt a. M., 
der Herstellerin des Trypaflavins, zu 
chemotherapeutischen Versuchen bei ma¬ 
lignen Geschwülsten seit über einem 
Jahre zur Verfügung gestellt. Wir haben 
es seit vielen Monaten sowohl auf der Poli¬ 
klinik wie auf der klinischen Abteilung 
in ausgedehntem Maße intravenös an¬ 
gewendet und haben uns davon über¬ 
zeugen können, daß es in außerordentlich 
großen Dosen ohne Schaden vertragen 
wird. Bobland, der das Mittel intravenös 
bei bakteriellen Infektionen, z. B. auch 
bei Gonorrhoe, angewendet hat, teilt mit, 
daß die Dosis von 0,025 g keine besondere 
Wirksamkeit entfaltet hat, wie er glaubt, 
weil diese Dosis zu wenig Trypoflavin 
enthält. Nimmt man aber, so meint er, 
die zwei- bis vierfache Dosis, so können 
doch schon durch die größeren Mengen 
von Silber >Schädigungen d'er Leber und 
der Niere eintreten und man verliert eben 
den Vorteil, daß wir in dem Trypaflavin 
ein Mittel besitzen, das ganz frei ist von 
giftigen Metallen. 

Diese Bedenken Bohlands sind nach 
unseren Erfahrungen vollkommen un¬ 
begründet. Wir sind mit der Dosis von 
0,025 auf 0,05 und neuerdings auf 0,075 
gestiegen, haben diese Dosis zvv^ei- bis 
dreimal wöchentlich intravenös injiziert, 
ohne daß wir bei sehr dekrepiden Kranken 
mit schweren Herzfehle^-n oder mit aus¬ 
gedehnten Zerstörungen der Lunge durch 
metastatische Tumoren auch nur den 
geringsten schädlichen Einfluß oder auch 
nur irgendeinen unangenehmen Zwischen¬ 
fall gesehen haben. Ja selbst bei einem 
Falle von Melanosarkom mit Gravidität 


im fünften Monat bei einer Frau von 
28 Jahren, über die ich an anderer Stelle 
noch berichten werde, habe ich trotz 
dreimonatiger Injektion des Mittels zwei¬ 
mal wöchentlich zu 0,05 g, zuletzt von 
0,075 g dreimal wöchentlich nicht nur 
keine Schädigungen gesehen, sondern es 
ist auch bemerkenswert, daß die Gravi¬ 
dität ungestört weiter ging und daß am 
Ende des achten Monats-bei gutem Be¬ 
finden der Frau ein vollkommen normal 
entwickeltes lebendes Kind geboren wer¬ 
den konnte, welches allerdings nach acht 
Tagen, wie unter den gegebenen Um¬ 
ständen nicht wunderbar ist, gestorben ist. 
Die Bedenken Bohlands brauchen uns 
also nicht zu hindern und seine Befürch¬ 
tung, daß Schädigungen der Leber und 
der Niere sich einstellen könnten, ist, 
wie wir uns durch mikroskopische Unter¬ 
suchungen überzeugen konnten, grund¬ 
los. Ich will über die Einwirkung des 
Mittels auf den Krankheitsprozeß der 
malignen Geschwülste selbst mich vor¬ 
läufig nicht ausführlich äußern. Es sei 
nur so viel bemerkt, daß wir ohne Zweifel 
in manchen Fällen, insbesondere bei 
gleichzeitiger Strahlenbehandlung, den 
Eindruck einer unverkennbaren Beein¬ 
flussung der malignen Tumoren haben im 
Sinne einer Rückbildung bzw. des Wachs¬ 
tumstillstandes, ohne daß ich freilich 
sagen kann, daß bisher schon eklatante 
Erfolge vorliegen. Doch sind wir ja erst 
im Beginn unserer Versuche, sind damit 
beschäftigt, diese auch auf Kombinatio¬ 
nen des Trypaflavins mit anderen Metallen 
auszudehnen, die von der Firma Leop. 
Cassella & Co. in dankenswerter Libe¬ 
ralität nach unseren Wünschen hergestellt 
werden. 

Bei unseren Arbeiten mit dem 





Januar 


Die Therapie der Gegenwart’1920 


11 


Argoflavin konnten wir nun von einer 
-sehr erwünschten, offensichtlich mit der 
besonderen Struktur des Mittels zu¬ 
sammenhängenden Wirkung des Präpa¬ 
rates bei sekundären Krankheitsprozessen 
und Symptomen der malignen Geschwülste 
Gebrauch machen, die uns für die The¬ 
rapie dieser Erkrankung von außerordent¬ 
lichem Werte zu sein scheinen. Das 
Argoflavin ist, wie das ja für das Try- 
paflavin bekannt ist, ein ausgezeichnetes 
inneres Antisepticum. Davon konnten 
wir uns in einem sehr instruktiven Falle 
überzeugen. 

Eine vierzigjährige Frau, vor mehre¬ 
ren Wochen wegen Mamma-Carcinom 
operiert, wird fünf Wochen nach der 
Operation mit folgendem Befunde auf 
jdie Station gelegt: An der Operierten 
Mamma tadellose Heilung, Narbe in 
schönster Ordnung, weder lokales Rezidiv 
noch regionäre Metastasen. Dagegen 
besteht komplette Lähmung beider Beine 
mit Unmöglichkeit spontaner Urin- und 
Stuhlentleerung. Der neurologische Be¬ 
fund ergibt Querschnittslähmung ent¬ 
sprechend dem fünften bis sechsten Dor¬ 
salsegment mit schlaffer Parese beider 
Beine und den entsprechenden Erschei¬ 
nungen von Blasen und Mastdarm. Die 
Blase ist prall gefüllt, reicht bis fast zum 
Nabel und muß sofort bei der Aufnahme 
katheterisiert werden. Der Urin ist stark 
getrübt, leicht blutig gefärbt. Am näch¬ 
sten Tage hohes Fieber, der katheteri- 
sierte Urin sieht fast wie reines Blut aus, 
im Bodensatz gangräneszierende Fetzen. 
Es werden Blasenspülungen mit 3%iger 
Borsäurelösung gemacht. Gleichzeitig 
Argoflavin intravenös zu 0,05 g. Nach 
der zweiten Injektion vollkommenes Ver¬ 
schwinden der blutig-gangräneszierenden 
Beimengungen, der Urin ist noch getrübt, 
beginnt aber immer mehr klar zu werden. 
Nach jeder Injektion Heruntergehen der 
Temperatur zur Norm. Es wird nunmehr 
innerlich Hexamethylentetramin 6,0 : 200 
dreimal täglich ein Eßlöffel gegeben, 
gleichzeitig Blasenspülungen mit T/oqiger 
Lösung von Trypaflavin. Unter dieser 
Therapie gelang es, die Ausscheidung 
eines vollkommen klaren Urins zu er¬ 
zielen, ohne jede Beimengung von Blut 
und Eiter. Daß der ganze septische 
Prozeß durch weitere intravenöse Injek¬ 
tionen von Argoflavin nicht aufgehalten 
werden konnte, wird dadurch erklärt, daß 
es infolge der durch die Wirbelmetastasen 
bedingten trophoneurotischen Störungen 
zu ausgedehntem schweren Decubitus 


kam, von dem aus die Überschwemmung 
des Körpers mit immer neuen Infektions¬ 
stoffen dauernd vor sich ging, ohne daß 
es unter den gegebenen Verhältnissen 
gelang, der Infektion Herr zu werden. 
Doch wiederholte sich auch hier die Er¬ 
scheinung, daß nach jeder intravenösen 
Injektion von Argoflavin die Temperatur 
kritisch abfiel. Leider konnte unter den 
vorliegenden Umständen die Wirkung des 
Mittels auf den Infektionsprozeß keine 
dauernde sein. Die Kranke hat das 
Krankenhaus inzwischen verlassen, der 
Ausgang der Erkrankung ist nicht zweifel¬ 
haft. 

Die innere antiseptische Wirkung des 
Argoflavins hängt offenbar nicht allein ab 
von der vielfach behaupteten Beeinflus¬ 
sung septischer Prozesse durch Silberver¬ 
bindungen. Sie ist wohl nicht minder be¬ 
dingt durch die experimentell wie klinisch 
sichergestellte antiseptische Eigenschaft 
des Trypaflavins. Wir sind aus diesem 
Grunde dazu übergegangen, die anti- 
bakterielle Eigenschaft des Trypaflavins 
bei einer Reihe von unangenehmen, den 
Verlauf der Geschwulstkrankheiten außer¬ 
ordentlich schwer komplizierenden Zu¬ 
ständen uns nutzbar zu machen. 

Das Trypaflavin ist auf Veranlassung 
von P. Ehrlich von L. Ben da im Speyer¬ 
haus des Instituts für experimentelle 
Therapie hergestellt worden. Den Namen 
erhielt es von Ehrlich wegen seiner 
tödlichen Einwirkung auf Trypanosomen. 
Chemisch ist es Diaminomethylakridi- 
niumchlorid. Es ist ausgezeichnet durch 
seine enorme bactericide Wirkung, über 
die eine große Reihe von Beobachtungen 
besonders bei eitrigen Prozessen in der 
Chirurgie vofliegen. Die bakterizide 
Wirkung des Trypaflavins ist von Brow¬ 
ning, einem früheren Mitarbeiter Ehr- 
lichs, entdeckt worden. In ausgedehnten 
Versuchen stellten dann Neufeld und 
Schiemann fest, daß die Akridinfarb¬ 
stoffe von der Blutbahn aus im lebenden 
Körper Bakterien abzutöten vermögen 
und empfahlen das Trypaflavin, das 
bereits beim Menschen ohne schädliche 
Nebenwirkungen angewendet worden war, 
zum Zwecke der inneren Desinfektion. 
Bohland hat es intravenös in Mengen 
von 10 bis 40 ccm der Lösung 1 : 200 
mehrere Tage hintereinander angewendet 
und sah gute Erfolge bei einer Reihe von 
Infektionskrankheiten (Influenza, Pneu¬ 
monie usw.). In einer weiteren Arbeit 
empfahl Bohland das Trypaflavin bei 
infektiösen Erkrankungen der Niere und 

2* 




12 Die Therapie der Gegenwart 1920 , , Janträr 


Harnwege, der Leber und Gallengänge, in den. Fällen, wo es zur Perforation in 
da das Mittel hier ausgeschieden wird und das Rectum und in die Blase gekommen, 
also lokal desinfizierend wirken kann. war, konnten wir den Jauchun^sprozeß 

Wir haben unabhängig von Bohland immer noch auf ein erträgliches Maß zu- 
dieSe desinfizierende Wirkung des Try- rückdrängen. Bei einem Uteruscarcinom 
paflavins beziehungsweise des ArgofJa- mit Durchbruch ins Rectum hatten intra- 
vins in dem geschilderten Falle schwerster venöse Argoflavininjektionen allein die 
Infektion der Harnwege beobachtet, sehr erwünschte Nebenwirkung einer un- 
Auch in einem Falle von Blasencarcinom verkennbaren Einschränkung der stinken¬ 
sahen wir eine gute Beeinflussung den Absonderungen.- 
des Eiterungsprozesses durch intravenöse Bei zerfallenen Mammacarcinomen 
Injektionen des Argoflavins bei gleich- verwendeten wir Trypaflavingaze oder 
zeitiger Blasenspülung mit einer Lösung Trypaflavinstreupuder, welches die Firma 
von iVoo Trypaflavin. Das Trypaflavin, selbst herstellen läßt. In letzter Zeit 
das ijm Argoflavin enthalten ist, wird, erhielten wir eine 2%ige Trypaflavin- 
wie wir uns überzeugen konnten, außer- salbe, die wir mit gleichem Erfolge an¬ 
ordentlich schnell durch den Harn wieder wandten. Es gelang uns so, die übel- 
ausgeschieden, während das Silber, wie riechenden jauchenden Zerfallserschei- 
wir das von anderen Silberpräparaten nungen des Mammakrebses ebenfalls in 
kennen, in den inneren Organen, vor günstigster Weise zu beeinflussen. Die 
allem in der Leber, aufgespeichert wird. Sekretion wurde geringer, der üble Ge- 

Für die Therapie der malignen Ge- rtich verschwand mehr und mehr und die 
schwülste war es für uns von großem Wunden reinigten sich in ausgezeichneter 
Werte, die desinfizierende, desodorierende Weise. Ein leichtes Brennen, über das 
und sekretionsbeschränkende Wirkung des zuweilen bei Verwendung der Tryp^- 
Trypaflavins bei einer Reihe von sekun- flavingaze und des Puders geklagt wird, 
dären Zerfallsprozessen, die mit stinken- ist bei der ausgezeichneten Wirkung des 
der Eiterabsonderung einhergehen, zu Mittels leicht in Kauf zu nehmen. Auch 
erproben. Wir verwendeten das Mittel bei jauchenden Carcinomen sonstiger Art, 
in Form von Spülungen 1 : 1000 bei die einer lokalen Therapie zugänglich 
Uteruscarcinomen. In letzter Zeit haben sind, wird sich die äußerliche Anwendung 
wir die von der Firma uns gelieferte des Trypaflavins (Spülungen mit l%o iger 
fertig hergestellte Trypaflavingaze in Lösung, Trypaflavingaze oder -puder und 
Streifen in die Zerfallshöhle des Uterus- nicht zuletzt die Trypaflavinsalbe) außer- 
krebses eingeführt. ordentlich empfehlen. Namentlich bei 

Die übelriechenden, durch sonstige Blasencarcinomen und bei Uteruskrebs 
Behandlungsmethoden schwer einzu- scheint mir aber seine Verwendung eine 
schränkenden Absonderungen wurden in dankenswerte Bereicherung unserer sym- 
der günstigsten Weise beeinflußt. Selbst ptomatischen Krebstherapie zu sein. 

Lungenspitzenkatarrh und chronische Tonsillitis. 

Von Medizinalrat Dr. Carl Kraus, Kurhaus Semmering-Wien. 

Dieses Thema ergab sich aus dem rungen, die, wenn sie auch an und für sich 
reichen Material einer Höhenkuranstalt geringfügig sind, äußerst unangenehm 
förmlich von selbst. Es handelt sich um empfunden werden; sie sind blaß, fühlen 
nicht seltene Fälle von scheinbar leichten sich hinfällig und klagen über ein oft 
Lungenspitzenkatarrhen und Hiluspro- schmerzhaftes Ziehen in den Gliedern und 
zessen, die bei Darbietung aller Heil- Gelenken. Das Mißverhältnis zwischen 
behelfe, die das Höhenklima und ein gut dem Befunde — z. B. einer ,,toten“ 
eingerichtetes Sanatorium zu leisten ver- Dämpfung über einer Spitze, zeitweiligen 
mögen — Freiluftliegekur, Überernäh- spärlichen Ronchi, ausgesprochenem 
rung usw. —, nicht recht vorwärts kom- Spitzen- oder Hilusschatten — und den 
men, obgleich die physikalische Unter- unangenehmen Krankheitsmanifestatio- 
suchung nach einigen Wochen des Höhen- nen gibt dem beobachtenden Arzte zu 
aufenthalts nur einen äußerst gering- denken, zumal wenn kein positiver Ba- 
fügigen Befund oder gar das vollständige cillenbefund vorliegt. Die Glieder- und 
Zurückgehen der früher manifesten Lun- besonders die Gelenkschmerzen führen 
generscheinungen ergibt. Die Kranken leicht irre und werden in Anlehnung an 
haben nach wie vor Temperatursteige- die Analogie des von Poncet beschrie- 



'Januar 


Die Therhßh der Gegenwart 1920 


13 


benen Rheumatisipus tuberculosus als 
durch specifische Toxipe veranlaßte 
Krankheitserscheinungen ‘ gedeutet oder 
zusammen mit den häufigen neuralgischen 
Kopf- und Nackenschmerzen, der lästigen 
Mattigkeit sowie der allgemeinen Erreg¬ 
barkeit in den stets dienstbaren großen 
Topf der nervösen Beschwerden geworfen, 
wie sije Lungenspitzenkatarrhe tatsäch¬ 
lich so oft zu begleiten pflegen. 

Und doch ist das septische Moment 
unverkennbar und fordert in erster Linie 
zur Untersuchung des Schlundlymphrings 
auf, der, wie wir aus den Beobachtungen 
von Paeßler u. A. gelernt haben, so 
oft die Quelle einer allzu leicht verkann¬ 
ten kryptogenen Sepsis ist. Ein typischer 
Fall sei hervorgehoben, der uns vor sieben 
Jahren auf die in Rede stehenden Inter¬ 
ferenzerscheinungen von Lungenspitzen¬ 
affektionen und chronischer Tonsillitis 
aufmerksam gemacht hat. 

B. Sch., 18 Jahre alt, erblich belastet, 
wurde von einem hervorragenden Klini¬ 
ker dem Sanatorium mit linksseitigem 
Lungenspitzenkatarrh zugewiesen. Patien¬ 
tin blaß, dabei in leidlich gutem Ernäh¬ 
rungszustände. Links hinten oben kürzerer 
Schall, rauhes Athmen, deutliche Ronchi. 
Temperatursteigerungen bis 38,2, durch¬ 
schnittliches Maximum 37,5, kein Sputum, 
geringer Hustenreiz. Nach einigen Wochen 
Freiluft-Liegekur, über den Lungen bis 
auf die Schallverkürzung nichts Abnormes 
zu finden, aber die Temperaturen, Krank¬ 
heitsgefühl, besonders die Mattigkeit und 
das Ziehen in den Gliedern halten an. 
Leichte Halsbeschwerden machen auf die 
Tonsillen aufmerksam, die zerklüftet sind 
und öfters charakteristische Pfröpfe ber¬ 
gen, die sich bei Druck entleeren. Deut¬ 
liche kleine Drüsenschwellungen am Halse. 
Manchmal treten akute Exacerbationen¬ 
des Prozesses auf und verraten sich durch 
Erhöhung der Temperaturmaxima. An¬ 
geregt durch die Paeßlersehen Publika¬ 
tionen über Mundsepsis entschließen wir 
uns, in den Tonsillen die Quelle der un¬ 
zweideutig septischen Erscheinungen zu 
suchen und den ruhenden Lungenspitzen¬ 
katarrh als Hauptkrankheitsfaktor aus¬ 
zuschalten. Prof. Hajek bestätigt diese 
Auffassung und rät zur Enucleation der 
Tonsillen, die bei direktem Drucke mit 
dem Mandelquetscher von rückwärts her 
viel rahmig-eitrigen Detritus entleeren. 
Der interne Consiliarius entscheidet für 
eine weitere expektative Behandlung in 
Höhenluft, die aber nach fast zehnmona- 
tigem Aufenthalte zu keinem Erfolg 


führt. Der Druckversuch auf die Mandeln 
ergibt stets .dasselbe Resultat: Chronisch¬ 
eitrige Tonsillitis. Endlich wird der Zu-, 
sammenhang der Temperatursteigerungen 
mit der Tonsillitis anerkannt und die 
Operation gestattet. Vier Wochen nach 
derselben (Prof. Hajek) — sie ergab eine 
ausgebreitete peritonsilläre Eiterung und 
beträchtliche Verwachsungen — völlige 
Entfieberung, Schwinden aller subjek¬ 
tiven Krankheitsgefühle und blühendes 
Aussehen der Patientin. ' 

Der hier beschriebene Musterfall 
hat uns zu weiteren klinischen Beob¬ 
achtungen über die Interferenz von Lun¬ 
gentuberkulose und chronischer Tonsillitis 
angeregt. Zu unserer größten Über¬ 
raschung hat sich dieses Zusammentreffen 
weit öfter ergeben, als man ahnen konnte, 
und dabei stellte es sich heraus, daß es 
nicht genügt, sich auf manifeste Erschei¬ 
nungen von s,eiten der Mandeln (Schwel¬ 
lungen, Pfröpfe), sowie auf anamnestische 
diesbezügliche Daten zu stützen, es haben 
sich vielmehr Fälle ergeben, wo die Api- 
citis scheinbar allein das Krankheitsbild 
erschöpft, bei näherer fachgemäßer Unter¬ 
suchung aber eine latente Mandelentzün¬ 
dung mit reichlichem Exsudat an para¬ 
tonsillärem Gewebe konstatiert wird, ohne 
daß die geringsten Beschwerden in dieser 
Richtung vorlägen. Die kaum je fehlenden 
kleinen submaxillaren Drüsenschwellun- 
gen sind immerhin ein brauchbarer Fin¬ 
gerzeig und sollten nicht mit den ausge¬ 
sprochen indolenten größeren, specifisch 
tuberkulösen verwechselt werden. Die 
Untersuchung der Tonsillen muß lege 
artis vor sich gehen, am besten durch 
Druck innerhalb des Arcus palatoglossus 
und ergibt dann im positiven Falle das 
reichliche Hervorquellen eines rahmig¬ 
eitrigen Detritus aus den umgebenden 
Gewebsnischen. Dabei darf die Rachen¬ 
tonsille, besonders bei Kindern und Adol- 
escenten als Infektionsherd nicht über¬ 
sehen werden, ebensowenig die auf ihn 
hinweisenden charakteristischen Drüsen¬ 
schwellungen am Nacken. Wird doch in 
der amerikanischen Literatur, insbeson¬ 
dere von Freer, sogar der Standpunkt 
verteidigt, daß Allgemeininfektionen häu¬ 
figer von der Rächentonsille als von den 
Gaumentonsillen ausgehen. Von derselben 
Seite wird ferner die mit den neuesten Er¬ 
fahrungen von Glas sich deckende For¬ 
derung aufgestellt, in allen suspekten 
Fällen nach etwaigen versprengten lym- 
phoiden Inseln zu suchen, die nicht nur 
im Bereiche des Rachens zumeist ent- 




14 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Januar 


sprechend den Seitensträngen als ent¬ 
zündliche infiltrierte Granuola (Inflam- 
matio pharyngis adenoidalis), sondern“ 
selbst am Zungengrund als entzündete 
und exulcerierte Follikelanhäufungen 
(Glas) zum Ausgangspunkt einer schein¬ 
bar kryptogenetischen Sepsis — sozu¬ 
sagen im kleinen Stile — werden können. 
Inwieweit das von John geübte ,,Ab¬ 
saugen“ der erkrankten Tonsillen — ähn¬ 
lich wie das konservative Schlitzen — 
als therapeutische Maßregel genügt, mag 
dahingestellt bleiben. Jedenfalls ver¬ 
dienen seine diesbezüglichen Beobach¬ 
tungen aus einem Kriegslazarett Beach¬ 
tung, insbesondere jene Fälle, die den 
Verdacht einer Tuberculosis incipiens 
nahelegten und durch Behandlung der 
Tonsillen körperlich leistungsfähig und 
beschwerdefrei wurden. 

Sind derartige versteckte Entzün¬ 
dungsprozesse schon bei Nichttuberku¬ 
lösen eine ergiebige Quelle von chroni¬ 
schen Temperatursteigerungen und damit 
verbundenen allgemeinen Beschwerden, 
so darf es nicht wundernehmen, daß sie 
bei Tuberkulösen um so sicherer Fieber 
mit allen Begleiterscheinungen verur¬ 
sachen. Der tuberkulöse Organismus 
neigt ja an und für sich zu Temperatur-' 
Steigerungen, selbst wenn der Prozeß ruht 
oder im klinischen Sinn ausgeheilt ist, er 
behält auch dann gewissermaßen ein „sen¬ 
sibilisiertes“ Temperaturcentrum. Diese 
Sensibilisierung des Temperaturcentrums 
macht sich ja so oft verräterisch geltend, 
wenn derartige Individuen durch einen 
inneren oder äußeren Reiz aus dem Gleich¬ 
gewichte gebracht werden. Hierher ge¬ 
hört die prämenstruelle Temperaturstei¬ 
gerung bei ausgeheilter oder okkulter 
Tuberkulose, das Fieber nach einer In- 
jectio vacua zu Beginn einer mit Vorsicht 
eingeleiteten Tuberkulinkur bei Nervösen, 
nach angestrengter körperlicher Bewe¬ 
gung, nach oft geringfügigen Aufregungen, 
im Zusammenhänge mit einer Indigestion 
usw. Auch eine forcierte Liegekur, der 
sich die empfindliche seelische Konstitu¬ 
tion so manches Lungenkranken nicht 
anpassen kann, vermag, so paradox es 
auch klingen mag, die Neigung zu Tem¬ 
peratursteigerungen zu erhöhen. Selbst 


das Rätsel der oft Jahre hindurch Fie¬ 
bernden, aber sonst leidlich gedeihenden 
„Hiluskinder“ mag in diesem Sinn eine 
zwanglosere Erklärung finden als durch 
die bloße Annahme einer neuropathischen 
Konstitution (Czerny), diefwir allerdings 
als Summationsfaktor gelten lassen 
müssen. 

Wenn nun die oben besprochenen mehr 
oder weniger versteckten infektiösen Ent¬ 
zündungsherde im Bereiche des lym- 
phoiden Schlundrings in einem tuber¬ 
kulösen Organismus zur Entwicklung 
kommen, so sind die Bedingungen für 
hartnäckige Fiebersteigerungen mit Sicher¬ 
heit gegeben. Derartige Kranke ver¬ 
halten sich natürlich gegenüber den besten 
hygienisch-physikalischen Faktoren der 
Höhenluftbehandlung völlig refraktär. 
Selbst wenn alle lokalen Erscheinungen 
des Spitzenkatarrhes weichen, die Tem¬ 
peraturen kommen immer wieder zurück, 
Blässe, Hinfälligkeit, die rheumatologi- 
schen Beschwerden bleiben unverändert 
und die Kranken verbringen Monate ihres 
Lebens unter großen Opfern ohne Nutzen 
im Sanatorium. Jeder erfahrene Anstalts¬ 
arzt weiß, was dies besonders bei Adol- 
escenten zu bedeuten hat, die in ihrer 
Ausbildung Schaden leiden und durch 
eine aufgezwungene- träge Lebensweise 
dem praktischen Leben entfremdet wer¬ 
den. Schon im Jahre 1913 hat Brauer 
auf dem Kongreß für innere Medizin an- 
läßlicn der Debatte über das,,Bewegungs¬ 
fieber“ festgestellt, wie häufig demselben 
leichte chronische Entzündungen der 
oberen Luftwege, ganz besonders der 
Tonsillen, zugrunde liegen und darüber 
Klage geführt, daß zahlreiche Kranke 
dieser Art ganz ungerechtfertigt in die 
Lungenheilstätten und Kindersanatorien 
geschickt werden. Derartige accessorische 
Fieberquellen in den in Betracht kom-“ 
menden Fällen zu finden und zu besei¬ 
tigen, erscheint uns also als eine überaus 
dankbare therapeutische Aufgabe und 
soziale Pflicht. 

Literatur: Paeßler, Verhandlungen d. D. 
Kongresses f. i. M. 1911 (Ther. d. Gegenw. 1915, 

1. c.).— Brauer, Verhandlungen d. D. Kongresses 
f. i. M. 1913. — Jahresversammlung der Amerik. 
Larynx Association 1915. — John (M.m. W. 1916, 
Nr. 34, Beil.). — Glas (W. kl. W. 1916, Nr. 34). 





Januar 


' / 

Die Therapie der Gegenwart 1920 


15 * 


Aus der III. mediziuisclieu Universitätsklinik zu Berlin 
(Direktor: Gek. Rat Prof. Dr. Goldsckeider). j 

über Atropinbehandlung des Pylorospasmus der Säuglinge. 

Von Dr. Kretschmer. Assistent. 


Bei der Behandlung des Pylorospas¬ 
mus der Säuglinge spielte bisher nur die 
Diätetik und die Operation eine Rolle. 
Bei beiden Behandlungsmethoden war 
die Sterblichkeit bisher leider noch eine 
recht große. Von einer Unterstützung 
der inneren Behandlung durch Medika¬ 
mente hat man im allgemeinen wohl mit 
Rücksicht auf die • starke Wirkung der 
in Betracht kommenden Arzneimittel 
abgesehen. Zum Teil ist die erhoffte Wir¬ 
kung der Medikamente ausgeblieben, weil 
die verabreichten Gaben zu klein waren, 
um einen Erfolg zu bewirken. So emp¬ 
fiehlt Finkeistein beispielsweise einen 
Versuch mit Tinct. Opii, Belladonna, 
Brom öder Chloral, ohne sich über die 
damit zu erzielenden Erfolge oder Art 
und Dauer der Anwendung näher zu 
äußern. 

Sehr gute Erfolge hat in neuester Zeit 
die Anwendung zweier Arzneimittel bei 
der Behandlung des Pylorospasmus ge¬ 
bracht, nämlich die des Papaverin und 
Atropin. Das Papaverin, ein Opium¬ 
alkaloid, wirkt nach Pal wahrscheinlich 
direkt hemmend auf den Tonus der 
glatten Muskulatur. Knöpfeimacher, 
Jantischke und Zweig haben davon 
bei subcutaner Anwendung in Dosen von 
0,005 bis 0,01 gute Erfolge in der Be¬ 
handlung des Pylorospasmus gesehen. 
Das Atropin wirkt lähmend auf den 
Vagus, der dem Auerbachschen Plexus 
peristaltikfördernde Erregungen zuführt. 
Die motorischen Ganglien des Auerbach¬ 
schen Plexus selbst werden, nach Meyer 
und Gott lieb, durch kleine Atropin¬ 
dosen nicht gelähmt. Eine völlige Läh¬ 
mung der Magenperistaltik tritt also 
nicht ein, sondern nur eine Herabsetzung 
derselben. St ölte empfiehlt im Rezept¬ 
taschenbuch von Rabow (1914) als Ver¬ 
ordnung bei Pylorospasmus der Säug¬ 
linge drei- bis viermal täglich einen bis 
drei 'Tropfen Atropin sulf. 0,01/10,0 
vor der Mahlzeit. Ochsenius hat in 
zwei Fällen mit sehr gutem Erfolg die 
gleiche Verordnung angewendet. Durch 
ein Mißverständnis ,wurde einem seiner 
Kranken kurze Zeit 1,2 mg Atropin 
pro die verabfolgt, ohne daß eine Schädi¬ 
gung eintrat. Ohne Kenntnis der Stolte- 
Ochseniusschen Verordnung habe ich, 
angeregt durch gute Erfolge bei Er¬ 


wachsenen, bei einem schweren Pyloro¬ 
spasmus im Marz dieses Jahres eine 
Atropinkur eingeleitet. Der Erfolg war 
ein sehr guter. Da außer der Veröffent¬ 
lichung von Ochsenius keine'ausführ¬ 
lichen Krankenberichte vorliegen und 
bei der verhältnismäßig großen Seltenheit 
des Pylorospasmus will ich die Kranken¬ 
geschichte meines Falles kurz mitteilen. 

Erich K., geboren am 20. Januar 1913, wurde 
am 10. Februar in die Augusta-Viktoria-Krippe 
des Berliner Krippen-Vereins aufgenommen. Erb¬ 
liche Belastung besteht nicht. Geburtsgewicht 
3500 g; Gewicht bei der Aufnahme 3250 g. Nach 
kurzer Halbmilchperiode wurde er wegen des zu¬ 
tage tretenden Pylorospasmus auf Ammenmilch 
gesetzt. Das Kind nahm dabei etwas zu, doch 
verschlechterte sich der Zustand, obwohl die 
Nahrung in häufigen kleinen Mahlzeiten verab¬ 
reicht wurde. Am 2. März übernahm ich das Kind 
in einem sehr elenden Zustande: Sehr blasses 
Kind, in äußerst abgemagertem Zustande. Die 
Haut läßt sich in großen Falten abheben und 
hängt an den Oberschenkeln an der dünnen 
Muskulatur in weiten Falten herab. Am Gesäß, 
Skrotum und der Innenseite der Oberschenkel 
starke Intertrigo. Auf dem Kopfe leichtschup¬ 
pendes, trockenes Ekzem. Muskulatur schlecht 
entwickelt, doch auffallend hypertonisch. Patellar- 
reflexe gesteigert. Pupillen auffallend eng. 
Sofort nach Jeder Mahlzeit wird der größte Teil 
der Nahrung erbrochen. Das Erbrochene reagiert 
stark sauer. Die Magengegend ist bei dem Er¬ 
brechen versteift und vorgewölbt, und man sieht 
starke peristaltische Wellen über den Magen hin¬ 
laufen; das Kind ist dabei sehr unruhig und 
wimmert vor Schmerzen. Die Ernährung erfolgte 
in acht Mahlzeiten ausschließlich mit abgezogener 
Amrrienmilch. Bis 26. März erfolgte allmähliche 
Gewichtsabnahme bis 2800 g. Vom 27. März 
ab zunächst dreimal täglich, dann viermal täg¬ 
lich fünf Tropfen Sol. Atropinsulf. 0,001 /10,0 vor 
der Mahlzeit. Der Zustand besserte sich sofort. 
Bei der betreffenden Mahlzeit hörte das Er¬ 
brechen auf, die Peristaltik war geringer, das 
Kind weniger unruhig. Die Reaktion auf das 
Atropin in Gestalt von lebhafter Hautrötung 
und Pupillenerweiterung war ziemlich stark. 
Auch bei den Mahlzeiten ohne Atropinverab¬ 
reichung hatten die Pflegerinnen den Eindruck, 
als ob das Erbrechen geringer war. Vom 1. April 
ab mußte aus Mangel an Ammenmilch die Hälfte 
der Mahlzeiten in Eiweißmilch verabfolgt werden, 
ohne däß eine Änderung im Befinden eintrat. 
Vom 12. April ab ließ ich versuchsweise 
gleiche Atropinlösung subcutan geben und zwar 
dreimal 0,2. Die Wirkung auf das Erbrechen bei 
den einzelnen Mahlzeiten war gleichmäßiger. 
Bis zum 30. April hatte sich das Gewicht, da 
immerhin noch ziemlich viel erbrochen wurde, 
auf 3300 g gehoben. Es war jetzt aber möglich, 
sechs Mahlzeiten zu 120 ccm zu verabfolgen. 
Ohne daß das Erbrechen stärker wurde. Vom 
7. Mai ab wurde versuchsweise das Atropin aus¬ 
gesetzt. Die Gewichtszunahme erfolgte trotzdem 
regelmäßig, wenn auch langsam. Das Erbrechen 




16 


Die Therapie der Gegenwart 1920< 


Janiiar 


nahm nicht wesentlich zu. • Am 20. Mai begann 
ich erneut Atropin zu geben und zwar dreimal 
acht Tropfen 0,001 /10,0 per os. Das Gewicht betrug 
jetzt 3600- g. Die Nahrungsmenge konnte jetzt 
ohne Verstärkung des Erbrechens auf 6 mal 
1.60 ccm (zweimal Ammenmilch, viermjal Eiwei߬ 
milch) gesteigert werden. Vom 7. Juni’ab mußte 
die Eiweißmilch, vom' 30. Juni ab die Ammen¬ 
milch fortfallen. Es wurde zunächst als Ersatz 
Halbmilch, bald auch Breinahrung gegeben. 
Beides wurde gut vertragen. Vom 14. Juni ab 
wurde das' Atropin ganz abgesetzt. Das Kind 
spie jetzt noch ab und zu. Am Magen konnte 
man nach der Mahlzeit noch eine leichte Peristal¬ 
tik beobachten. Bis 1. August erfolgte eine 
Gewichtszunahme bis 4700 g, täglich im Durch¬ 
schnitt 15 g vom 20. Mai gerechnet. Der Körper¬ 
zustand hatte sich ganz erheblich gebessert, ins¬ 
besondere war das Fettpolster jetzt gut, die 
großen Hautfalten völlig ausgefüLt. Am Gesäß 
und Skrotum bestand noch leichte Intertrigo. 
Nach Aussetzen des Atropins waren die Pupillen 
wieder auffallend eng. Die Hypertonie der 
Muskulatur hatte sich nicht geändert. 

Der Erfolg der Atropinbehandlung in 
unserem Falle war ein recht guter, wenn 
auch nicht so rascher wie in den Fällen 
von Ochsenius. Doch war die Dosierung 
bei meinem 1 Falle nur die Hälfte der 
Stolteschen Verordnung und das Atropin 
wurde nicht bei jeder Mahlzeit, sondern 
nur dreimal am Tage verabfolgt. Das 
Erbrechen hörte infolgedessen nicht ganz 
auf und die Körpergewichtszunahme war 
eine sehr langsame. Trotzdem war doch 
eine deutliche Einwirkung des Atropins 
auf den Tonus des Vagus zu beobachten, 
denn nach einmal sechs Wochen, dann 
dreieinhalb Wochen dauernder Atropin¬ 
darreichung in kleinen Dosen waren die 
Symptome des Pylorospasmus beseitigt. 
Schon bei der geringen Dosierung, äe 
wir anwendeten, trat stets eine lebhafte 
Hautrötung und Erweiterung der Pupillen 
auf,' Die Furcht vor einer Intoxikation 
hielt mich deshalb ab, größere Gaben zu 


verabfolgen; nach den Erfahrungen von 
Stolte und Ochsenius ist diese Gefahr 
nicht groß. Ich selbst habe jetzt * bei 
einigen Säuglingen mit starkem habi¬ 
tuellen Erbrechen Atropin nach der 
Stolteschen Verordnung ohne Schädigung 
verordnet und glaube, daß es im Interesse 
einer rascheren Reparation bei Pyloro- 
pasmus sich empfiehlt, das Atropin in 
großen Dosen nach Stolte zu geben und 
nach Eintritt der Wirkung allmählich zu 
kleineren Dosen überzugehen. 

Das Krankheitsbild zeigte in meinem 
Falle zwei Symptome’, die ich in der mir 
vorliegenden Literatur nicht gefunden 
habe. Besonders auffallend war die 
starke Hypertonie der Muskulatur,- die' 
auch nach Abklingen des Pylorospasmus 
bestand. Spasmophile Symptome waren 
nie zu beobachten. Eine Prüfung der 
elektrischen Erregbarkeit war aus äußeren 
Gründen nicht möglich. Wönn die 
Hypertonie auf die Inanition zurück¬ 
zuführen gewesen wäre, hätte sie sich 
mit der Körpergewichtszunahme bessern 
müssen. Das zweite auffallende Symptom 
waren die engen Pupillen, ein Symptom, 
das für eine allgemeine Vagotonie spricht 
Es wäre wünschenswert, daß bei Fällen 
von Pylorospasmus auf dieses Symptom 
geachtet würde. Sein Vorhandensein in 
der Mehrzafil der Fälle wäre ein Beweis 
für die Richtigkeit der Voraussetzungen 
der Atropintherapie des Pylorospasmus. 

Literatur: Finkeistein, Lehrbuch der 
Säuglingskrankheiten 1912. — Januschke, Ther. 
Mh., April 1914. — Knöpfelmacher, Gesell¬ 
schaft f. innere Med. u. Kinderhlkde, Wien, 
22. Januar 1914; Ref. D. m. W. 1914, Nr. 23. — 
Meyer und Gottlieb, Experimentelle Pharmako¬ 
logie 1910. — Ochsenius, D. m. W. 1915, Nr. 51. 
— Derselbe, M. m. W. 1915, Nr. 43. — Zweig, 
Arch. f. Verdauungskr. 1913. 


Aus der geburtsMlflicli-gyiiäkologisclieu Abteilung des Krankeubauses der jüdisebeu 

Gemeinde in Berlin. 


über die durch geburtshilfliche Operationen bedingten 
Schädigungen des Kindes und ihre Verhütung^). 

Von Prof. Dr. E. Sachs, dirigierendem Arzt der Abteilung. 


Meine Herren! Daß unsere geburts¬ 
hilflichen Operationen in erster Linie 
zur Verminderung der Kindersterb¬ 
lichkeit in der Geburt führen, bedarf 
keines Wortes. Tausende von Kindern 
werden durch eine rechtzeitig angelegte 
Zange vor dem Erstickungstod in der 
.Austreibungsperiode gerettet, von den 
Operationen bei den in Quer- und Becken- 

1) Vortrag, gehalten am 16. Oktober 1919 im 
ärztlichen Hansabezirksverein, Berlin. 


endlage liegenden Kindern ganz zu schwei¬ 
gen. Es ist deshalb verständlich; daß 
gerade während des Krieges, wo der Wert 
des Kindeslebens besonders stieg, sich 
Stimmen erhoben, die zu einer vermehrten 
Anwendung der Beckenausgangszange 
aufferderten. Nichts liegt mir ferner als 
dies gesunde Bestreben zu bekämpfen. 
Nur scheint mir, daß bei der einseitigen 
Betrachtung des Nutzens der entbinden¬ 
den Operationen übersehen wird, daß 




Januar 


Di^ Therapie der Gegenwärt 1920 


J7 


4 . 

diese nicht stets ganz gefahrlos für 
das Kind sind, in dessen Interesse sie doch 
gerade vorgenommen werden. Der Ein¬ 
druck, daß so manches vorher ganz un- 
geschädigte, mehr noch manches vorher 
schon leicht geschädigte Kind erst durch 
>die entbindende Operation in akute 
Lebensgefahr kommt, verdichtete sich 
mir während meiner Tätigkeit an der 
Königsberger Universitätsfrauenklinik so 
stark, daß ich es unternahm, diese Frage 
genau zu untersuchen. 

Es handelt sich dabei in erster Linie 
um die drei großen Operationen: Zange, 
Wendung und Extraktion. 

1. Die Zangenoperation. 

Daß Zangenoperationen für das Kind 
eine Gefahr bedeuten können, ist all¬ 
bekannt. Denken wir nur an unsere 
etsten Zangenversuche! Dabei seien als 
Schädigungsursachen alle schwereren Ver¬ 
letzungen des Schädels ausgeschlossen, 
die von der einfachen Knochenimpression 
bis zur Zerreißung der Nähte mit internem 
Kephalhämatom, zum Tentoriumriß mit 
tötlicher innerer Blutung, zur Scheitel¬ 
beinzertrümmerung oder Absprengung der 
Hinterhauptschuppe führen können; 
ebenso andere Schädigungen, wie Fa¬ 
zialislähmung, Erbsche Lähmung, Ver¬ 
letzung, ja Abreibung des Ohres, Ver¬ 
letzung des Auges, Kompression der um den 
Hals geschlungenen oder der vorgefallenen 
Nabelschnur usw. Bei diesen Verletzun¬ 
gen ist jedem die schädigende Wirkung 
des operativen Eingriffs klar, nicht so 
bei einer großen Zahl anderer Fälle, 
bei denen die Zangenwirkung nicht so 
offensichtlich, darum aber nicht weniger 
sicher ist. 

Bei Gelegenheit einer Untersuchung 
über die kindlichen Herztöne als Grund¬ 
lage für die Indikation zur Beckenaus¬ 
gangszange konnte ich folgendes fest¬ 
stellen: Von 68 im mütterlichen Interesse 
bei völlig normalen Herztönen mit Zange 
entwickelten Kindern kamen nur 43 
lebensfrisch zur Welt, 15 wurden leicht, 
8 schwer asphyktisch und 2 tot geboren. 
Von den schwer asphyktisch geborenen 
Kindern starb noch eines nach der Ge¬ 
burt (siehe Fall 1). Diese Zahlen ver¬ 
größern sich noch, wenn ich die Kinder 
mit nur erhöhten Herztönen, die im 
mütterlichen Interesse mit Zange ent¬ 
wickelt wurden, hinzurechne. Dann sind 
es 90 Kinder, von denen nur 56 lebens¬ 
frisch, 21 leicht, 11 (10) schwer asphyk¬ 
tisch waren, 2 (3) starben im Anschluß 




an die Zangenoperation und in deren 
Folge. Die Ursache der Schädigung 
durch die Operation war selbstverständ-. 
lieh meistens irgendein Kunstfehler; 
aber nicht stets ließ sich die Schädigung 
vermeiden. Bei den beiden gestorbenen 
Kindern z. B. handelte es sich in dem 
einen Fall um das Mitfassen der Nabel¬ 
schnur beim Anlegen der Tarnierschen. 
hohen Zange, in dem anderen Fall aller¬ 
dings um ein mehrfaches Abgleiten der 
Zange, die von einem Studenten angelegt 
war. So augenfällig braucht der Fehler 
aber nicht stets zu sein. Schon der bei 
der Durchführung der Zange lege artis 
angewandte Druck kann unter Umstän¬ 
den genügen, um das Kind in Gefahr zu 
bringen. 

So führten zu straffe Weichteile in 
folgendem Falle zum Tode des Kindes. 

1. 972/16. 40jährig. I. p. Mitralinsuffiziens. 
Nephritis. Kind vollkommen ungeschädigt. Die 
Zange wird nur im Interesse der Mutter angelegt. 
Der Kopf, der noch ziemlich hoch steht, tritt 
nach Cervixincisionen etwas tiefer. Die Zange 
wird bei den engen Weichteilen der alten 1, p. 
mit ziemlich großer Kraft ausgeführt und führt 
zur Tentoriumzerreißung, der das schwer asphyk¬ 
tisch geborene Kind nach einer Stunde erliegt. 

Verführten hier die engen Weichteile 
den Operateur dazu, zu stark zu drücken, 
so lag die Gefahr der Zange in folgendem 
Fair in einem zu engen Becken. 

2. 106913. 32jährig. III. p. Enges Becken. 
Der Kopf ist auf den Beckeneingang aufgepreßt. 
Pfeilnaht steht quer, etwa 1% Querfinger von 
der Symphyse entfernt. Beide Fontanellen gleich 
tief. Drohende Gefahr der Uterusruptur. Die 
Meinungen über den Stand der größten Circum- 
ferenz des Kopfes zur Beckeneingangsebene sind 
geteilt. Während ein Untersucher eine hohe Zange 
für möglich hält, da die enge Stelle des Becken¬ 
einganges schon überwunden sei, glaubt der 
andere, daß die Vorbedingungen für eine hohe 
Zange noch nicht gegeben seien. Die danach aus¬ 
geführte Zangenoperation führt zum Tode des 
Kindes infolge einer Tentoriumzerreißung, die 
dadurch zustande gekommen war, daß die sagittal 
am Schädel anliegende Zange den durch die ver¬ 
engte Conjugata vera hindurchgehenden Schädel 
in seinem Querdurchmesser verbreitern mußte, 
wodurch das Mißverhältnis zwischen Becken und 
Schädel noch vergrößert wurde. 

In einem dritten Falle dagegen han¬ 
delte es sich um eine unsachgemäße Durch¬ 
führung der Zange durch einen Anfänger. 

3. 511/13. 41 jährig. I. p. Kopf steht auf 
dem Beckenboden. Pfeilnaht quer. Die Herztöne 
sinken unter 100. Beim Anlegen der Zange ent¬ 
leert sich Mekonium. Die Zangenextraktion 
gelingt dem Praktikanten nicht. Dabei hören die 
Umstehenden ein leichtes aber deutliches Krachen, 
das von ihnen als Fraktur des Schädels gedeutet 
wird. Auch dem die Operation leitenden Assisten¬ 
ten gelingt die Beendigung der Operation nicht, 
da die Zange wiederholt abgleitet. Aus didakti¬ 
schen Gründen wird die nur im kindlichen 
Interesse begonnene Geburt an dem nunmehr 

3 



18 


Die Therapie der Gegehwärt 1920 


Januar 


sicher toten Kinde nicht mittels Perforation be¬ 
endet, sondern die Spontangeburt abgewartet. Die 
^anatomische Untersuchung des kindlichen Schä¬ 
dels ergibt eine ausgedehnte Fraktur des rechten 
Scheitelbeins. ^ 

. Welch ^große Bedeutung die Technik^ 
der Zangenausführung für den Zustand 
des Kindes hat, ergibt sich aus folgender 
Überlegung. Unter den elf zur schweren 
Asphyxie führenden Zangenentbindungen 
waren nur drei von mehr oder weniger ge-^ 
übten Assistenten ausgeführt, an den 
anderen acht waren ungeübte Studenten 
beteiligt. 

Bei Kindern, deren Herztöne schon 
vor Anlegen der Zange nicht mehr normal 
waren, läßt sich der schädigende Einfluß 
der entbindenden Operation natürlich 
nicht so sicher beweisen. Ich denke aber, 
daß die folgende Zusammenstellung als 
ein ausreichender Beweis für die Schädi¬ 
gung durch die Zange angesehen werden 
kann. 

Von 31 Kindern, deren Herztöne i. p. 
schwankten, wurden 17 lebensfrisch, 10 
leicht, 3 schwer asphyktisch und 1 tot 
geboren. An den 17 Zangen der ersten 
Gruppe waren fünf Lernende gegenüber 
zwölf Assistenten beteiligt, an den zehn 
zur leichten Asphyxie führenden war das 
Verhältnis dagegen acht Lernende zu 
zwei Assistenten.. Die drei anderen Fälle, 
die zur schweren Asphyxie führten, 
nehmen eine Sonderstellung, ein. Bei 
zwei von ihnen waren schon vor der 
Operation die Kinder schwer geschädigt, 
und im dritten Falle war durch die Kiel¬ 
landzange die Nabelschnur mitgefaßt und 
während der fünf Minuten dauernden 
Operation gedrückt worden. 

Diese Gefahr läßt sich meiner Meinung 
nach bei der Kiellandzange nicht sicher 
ausschalten, da diese hoch in das Gebiet 
des unteren Uterinsegmeints eingeführt 
wird und vor allem infolge der intrauterin 
stattfindenden Drehung des vorne liegen¬ 
den Löffels die Uteruswand vom kind¬ 
lichen Kopf abhebt und so einer etwa 
in der Nähe liegenden Nabelschnur Ge¬ 
legenheit zum Herabsinken gibt, wodurch 
sie leicht in das Gebiet der Zange geraten 
kann. 

Für beachtenswert halte ich weiter¬ 
hin folgende Zusammenstellung. Unter 
den acht Kindern, die mit vollkommen 
normalen Herztönen im mütterlichen 
Interesse mittels Zange entwickelt, 
schwer asphyktisch zur Welt kamen, 
fanden sich sieben Kinder eklamptischer 
Frauen. Das zeigt, daß Kinder, die 
irgendwie geschädigt sind, eine 


neu hinzukommende Schädigung,, 
wie sie die Operation bedeutet, 
schlechter als andere aushalten. 

Unter 25 Kindern, die wegen Eklamp¬ 
sie der Mutter mittels Zange entbunden 
wurden, kamen nur 11 völlig lebensfrisch 
zur Welt. Neunmal war diese Operation 
von Ärzten ausgeführt worden, nur zw^- 
mal von Lernenden. Unter sieben leicht 
asphyktischen Kindern dieser Reihewaren 
schon vier von Lernenden entbunden, 
unter sieben schwer asphyktischen da¬ 
gegen sechs. Dabei ist selbstverständlich, 
daß den Studierenden nur die leichten 
Zangenoperationen überlassen wurden und 
daß es sich in allen Fällen um Kinder 
handelte, deren Herztöne völlig normal 
waren, die also klinisch als' ungeschädigt 
angesehen werden mußten. 

Die Gefahr der hohen Zange ist 
zu bekannt, als daß ich erneut darauf 
hinzuweisen brauche. Baisch^) hatte 
bei 285 Fällen 43,8% Kindesmortalität, 
bei nicht fixiertem Kopfe sogar 50,4%. 
Diese Operation wird in der Königs¬ 
berger Frauenklinik so selten ausgeführt, 
und dann wohl meistens von dem er¬ 
fahrensten Operateur, daß, abgesehen 
von den oben erwähnten Fällen, mir 
Beweise für die Schädigung des Kindes 
durch sie aus den letzten Jahren nicht 
zu Gebote stehen. Wir haben gelernt, 
die hohe Zange durch eine kurz vor 
der Operation gegebene intravenöse 
Pituglandolinjektion zu einer Zange 
am im Becken stehenden Kopf umzu¬ 
gestalten, oder in Fällen, in denen dieser 
Versuch mißlingt oder aussichtslos er¬ 
scheint, sie durch die perkutane.Sym- 
physeotomie in der von mir modifi¬ 
zierten Frankschen Technik, einer meiner 
Meinung nach sehr segensreichen, sicheren 
und einfachen Operation zu ersetzen. 

Die Gefahren der Zangenopera¬ 
tion für das Kind bestehen also in 
zweierlei: 

1. in der schwierigen Ausführbarkeit 
und 

2. in der unsachgemäßen Ausführung. 

Eine Möglichkeit, die Schäden der 

Zangenentbindung einzuschränken, ist da¬ 
durch gegeben, daß die Zange, besonders^ 
jede irgendwie schwere Zange nur nach 
strengster Indikation ausgeführt 
wird. Es ist eine Tatsache, daß gerade 
die nicht dringend indizierten Zangen-^ 
Operationen technisch die schwersten 

2) Zitiert nach Benthin, Die Erhaltung des 
Kindeslebens in,der Geburt. Berlin 1919. S. 34.. 






Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


•19 


sind, weil sie zu einem Zeitpunkte der 
Gebürt ausgeführt zu werden pflegen, 
in dem die Weichteile noch nicht genügend 
vorbereitet sind oder der Kopf noch nicht 
zangengerecht steht. 

Wenn eine dringende mütterliche oder 
kindliche Indikation vorliegt, so muß die 
Operation eventuell auch unter ungünsti¬ 
gen Verhältnissen ausgeführt - werden. 
Bei den Indikationen im Interesse der 
Mutter sind es die Gefälligkeitszan¬ 
gen, die bisweilen für das Kind schlecht 
ausgehen; aber auch die Indikationen im 
Interöise des Kindes werden oft zu weit 
gestellt. 

Die kindliche Indikation zur Beendi¬ 
gung der Geburt ist in erster Lmie ge¬ 
geben durch das Absinken der^Herz- 
töne unter 100 Schlägen in der 
Minute in mehr-als in einer Wehen¬ 
pause, falls die Entbindung nicht anders, 
als durch die Zange zu Ende geführt wer¬ 
den kann, wie z. B. durch den Hinter¬ 
dammgriff oder durch eine intravenöse 
Pituglandolinjektion. In seltenen Fällen 
muß schon das Absinken in einer ein¬ 
zigen Wehenpause zur sofortigen Ent¬ 
bindung auffordern, wenn nämlich gegen 
das Ende der Austreibungsperiode die 
Herztöne plötzlich unter 100 sinken, wo¬ 
durch eine akute Kreislaufstörung beim 
Kinde angedeutet ^wird, die meistens in 
einer . Nabelschnurzerrung oder Kom¬ 
pression besteht. 

Leichtes Schwanken der Herztöne 
in normalen Grenzen indiziert keine 
künstliche Entbindung; starkes 
Schwanken in großen Zahlenabständen 
dagegen wohl, besonders dann, wenn die 
Herztöne dabei unter 100 herabgehen. 

Eine Erhöhung der Herztöne 
über 160, selbst bis zu 200 ist keine 


dringende Indikation zur Zangen¬ 
anlegung, besonders, wenn die Zange 
nicht ganz leicht und einfach durchzu¬ 
führen ist*^). 

, Nach meinef Erfahrung führt eine 
Erhöhung der 'Herztöne über 160 be¬ 
sonders häufig zur- unnötigen Anlegung 
der Zange; Derartig nicht ganz streng 
indizierte Z'angenoperationen sind nur 
erlaubt, wenn sie ganz sicher leicht sind 
,und wenn der Operateur über eine ab¬ 
solut sichere Technik verfügt. Besondere 
Vorsicht ist bei Kindern eklamptischer 
Mütter geboten und in ähnlichen Ver¬ 
hältnissen, in denen es sich um wider¬ 
standgeschwächte Kinder handelt. 

Wie lassen sich nun die beiden oben 
genannten Gefahren vermeiden oder doch 
verringern? 

Eine unsachgemäße Ausführung 
der Zangenoperation kann nur dadurch 
vermieden werden, daß im Unterricht 
immer wieder und wieder auf die Gefahr 
des Drückens bei der Extraktion hin¬ 
gewiesen Vv^ird. Hierin scheint mir aller¬ 
dings auch jetzt schon alles getan zu 
werden, w^as getan werden kann. Die 
durch unsachgemäße AuUührung be¬ 
dingte Gefahr wird aber verringert, die 
Verführung, allzu stark zu drücken, wird 
kleiner, wenn die Zange technisch leicht 
ist. Wir müssen also technisch schwere 


3) Zur Kontrolle der Herztöne sind in der 
Königsberger Universitäts-Frauenklinik Herzton¬ 
kurven eingeführt, auf denen die Herztöne alle 
Viertelstunden, oder bei Bedarf auch häufiger 
notiert werden, und die eine sehr plastische Dar¬ 
stellung des kindlichen Befindens ergeben. Ich 
gebe hier als Beispiel eine Kurve, die einer weiteren 
Erklärung nicht bedarf. Die Kurve ist einer in 
der Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie 
Bd. 82 S. 284 erschienenen Arbeit „Untersuchung 
über die kindlichen Herztöne“ entnommen. 


Frau T., 226/18. 



Sehr starke Unregelmäßigkeit der Herztonkurve in der Eröffnungsperiode, bedingt durch Mißbildung der Frucht. 
1. Blasensprung. Mekoniumabgang. 4. Herztöne sinken nach der Wehe bis auf 20. 

• 2. Muttermund, kaum zweimarkstückgroß. 5. Der Kopf wird sichtbar. 

3. Herztöne sinken nach der Wehe bis auf 80. 6. Geburt. 















20 


Die Therapie der 'Gegjehwart 1920 


Januar^ 


Zangenoperationen in technisch 
leichte mtizuwandeln suchen. 

Die Schwierigkeit kann darin liegen, 
daß die Weichteile zu straff odei noch- 
nicht genügend vorbereitet sind, daß 
der Muttermund noch nicht ganz er¬ 
weitert ist, oder darin, daß mit oder 
ohne Beckenverengerung der Stand des 
Kopfes noch nicht für eine Zange günstig 
ist. 

degen Weichteilschwierigkeiten, seien 
sie^ durch den Stand der Geburt be¬ 
dingt oder durch Besonderheiten des 
Falles, hilft stets eine genügend große 
Incision, die sich aber, besonders wenn 
die Hindernisse dadurch bedingt sind, 
daß die Wehen noch nicht lange genug 
zu wirken Gelegenheit hatten, oft genug 
durch ein Wehenmittel vorteilhaft er¬ 
setzen läßt (z. B. Muttermundincisionen), 
ebenso wie die durch noch ungünstige 
Kopfeinstellung bedingten Schwierig¬ 
keiten der Zange. In einer Arbeit ,,Über 
intravenöse Pituglandolbehandlung in der 
Geburtshilfe (Mschr. f. Geburtsh. 1917 
Bd.XLV, Heft 5) habe ich folgenden Fall 
erwähnt, der die, schnelle Erweiterung des 
Muttermundes bei Mehrgebärenden, so¬ 
bald er handtellergroß ist, nach intra¬ 
venöser Pituglandolinjektion zeigt: 

306/16. Fieber. Drohende Asphyxie. Multi¬ 
para. Muttermund fast handtellergroß. Kopf 
in Beckenmitte. Injektion von 1 ccm Pituglandol 
intravenös. Nach fünf Minuten ist der Mutter¬ 
mund ganz erweitert, und der Kopf steht so, 
daß eine ganz leichte Operation ohne Incision 
möglich wird. ^ 

Diese Fälle sind keine Ausnahmen. 

In einer früheren Arbeit über Pitu¬ 
glandol (Mschr. f. Geburtsh. 1914 Bd. XL 
S. 544), hatte ich schon auf folgendes 
hingewiesen. In drei Fällen von tiefem 
Querstand stellte sich der Kopf nach 
Pituglandolinjektion und Seitenlagerung 
zangengerecht ein und konnte mit leichter 
Beckenausgangszange entwickelt werden. 
In zwei weiteren Fällen konnte infolge 
der Spontangeburt durch jlie Injektion 
die Zange ganz vermieden werden. Bei 
tiefem Querstand, wo es mehr auf €ine 
Dauerwirkung, als auf plötzliches dnd 
schnelles Eintreten der Wirkung an¬ 
kommt, ist die intramuskuläre In¬ 
jektion übrigens der intravenösen vor¬ 
zuziehen. 

Auch eine hohe Zange mit ihren 
Gefahren für Mutter und Kind haben wir 
durch Pituglandolinjektion mehrfach ver¬ 
meiden können, so daß sich Gelegenheit 
zu einer sehr viel leichteren Zange im 
Becken oder gar zu eiher Beckenausgangs¬ 


zange bot. Selbstverständlich bedingt 
das Pituglandol, wenn es nicht zur so¬ 
fortigen Geburtsbeendigung genügt, bei 
schon geschädigtem Kinde oder bei un- 
überwincilichen Widerständen an sich 
eine Gefahr, und man sollte es im Inter¬ 
esse des Kindes und bei rigiden Weich¬ 
teilen nur geben, wenn man dielGeburts- 
beendigung jederzeit in der Hand hat. 
Dann aber, bei prophylaktisch ausge¬ 
kochter Zange und bei Beendigung aller 
zur sofortigen Operation nötigen Vor¬ 
bereitungen, ist der energische Einfluß 
der intravenösen Pituglandolinjektion eine 
große Unterstützung für jede Zange; ge¬ 
rade in diesen Fällen ist die intravenöse 
Injektion wegen ihrer stärkeren Wirkung 
und wegen ihres prompteren Eintiitts 
der intramuskulären und der ebenso wie 
diese wirkenden subcutanen Injektion 
vorzuziehen. (Die intravenöse Injektion 
von 0,5 oder 1 ccm Pituglandol ist völlig 
gefahrlos, wenn man sie sehr langsam 
ausführt. Die Injektion von 1 ccm dauert 
eine halbe bis eine Minute. Schnelle Injek¬ 
tion führt zu vorübergehendem Erblassen 
und zu Übelkeit und sollte daher unter¬ 
lassenwerden. Einen Schaden habe ich aber 
auch hiervon nie gesehen.) Ich rate also, 
vor jeder voraussichtlich schvyeren Zan¬ 
genoperation eine intravenöse Pituglan¬ 
dolinjektion zu machen; andererseits aber 
auch vor der Injektion stets alles zur 
sofortigen Zangen entbindung vorzube¬ 
reiten, um eingreifen zu können, falls bei 
schon geschädigtem Kinde die Injektion 
zur Geburtsbeendigung nicht genügen 
sollte. 

Um also die Gefahren der Zangen¬ 
operation für das Kind möglichst zu 
verringern, rate ich folgendes: 

1. Jede Zange darf nur nach strengster 
Indikation angelegt werden. 

2. Eine rechtzeitig ausgeführte medi¬ 
ane Episiotomie erleichtert die Zange 
sehr, vermindert den Druck auf den Kopf 
und schont die mütterlichen Gewebe. 
Man schützt die Frau dadurch vor dem 
sonst doch häufig nicht zu vermeidenden 
multiplen Verletzungen am Introitus, 
die eine viel schlechtere Heilungstendenz 
haben, als eine glatte Schnittwunde.’ 

3. Wenn die Zange nicht sehr leicht 
zu sein scheint, so soll sie durch die von 
oben treibende Kraft eines guten Wehen¬ 
mittels unterstützt werden. Hierfür 
empfehle ich ganz besonders das intra¬ 
venös gegebene Pituglandol. 

(Schluß folgt im nächsten Heft.) 





Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


21 


Zur Behandlung der schwersten Strikturformen und Fisteln 
der männlichen Harnröhre^). 

Von Dr. J. J. Stutzin, Facharzt für Urologie und Chirurgie, Berlin. 


Zu den schwersten Strikturformen 
gehören die sogenannten fibrösen, auch 
callöse und cartilaginöse genannt. Größere 
Strecken der Harnröhre und der an¬ 
liegenden Gewebsschichten sind in eine 
derbe bis knorpelharte Masse verwandelt. 
Das Lumen ist stellenweise bis auf einen 
stecknadeldünnen Spalt verengt, dabei 
deviiert und oft in zahlreiche innere 
Fisteln auslaufend, stark an Ameisen¬ 
gänge erinnernd. Bei der Betastung fühlt 
man ein schwieliges, von mehreren buck¬ 
ligen Erhöhungen durchsetztes Gewebe. 
Das Messer dringt in eine harte, kaum 
blutende Masse. 

Die Methode der Wahl für jede Strik- 
tur ist stets die langsam graduierte Dila¬ 
tation. Erst wenn diese versagt, tritt 
die operative Behandlung in ihre Rechte. 
Das’ ist aber bei den geschilderten Strik¬ 
turformen nicht selten der Fall. Die 
harte callusartige Masse gibt nicht nach, 
die durch die Dehnung zunächst erzielte 
Wirkung geschieht auf Kosten der an¬ 
liegenden noch relativ gesunden Gewebs- 
teile und verschwindet bald mit dem Auf¬ 
hören der Dilatation. Oft aber ist eine 
Dehnung überhaupt nicht möglich, weil 
die Durchführung einer Sonde durch 
den bis auf ein Minimum verengten, in 
fast allen Richtungen diviierten, fistulös 
zerklüfteten Kanal auch dem Geübtesten 
und Geduldigsten nicht gelingt. In 
solchen Fällen stehen uns drei Wege 
offen 

a) die innere Incision (Urethrotomia 

interna); 

b) die äußere Incision (Urethrotomia 

externa) und 

c) die Radikaloperation. 

Es liegt nicht im Rahmen dieser Arbeit 
auf die Methoden a und b näher einzu- 
gehHi. Möglich sind sie in den schwersten 
Fällen, die innere Incision aber mit der 
Einschränkung, daß eine Filiform durch¬ 
geht. Sie sind beide Palliativoperationen, 

1) Das Material entstammt den von mire, in 
den letzten fünf Jahren gesammelten Beobach¬ 
tungen: 1914 bis 1917 aus den Sanitätsformatio¬ 
nen, die ich als beratender Chirurg und Urologe 
in der Türkei geleitet habe, 1917 bis Anfang 1919 
der mir unterstellten chirurgischen und urolo- 
gischen Abteilung im Bereiche des XVIII. Armee¬ 
korps. Ein Fall von Uretralplastik ist von mir 
auf der chirurgischen Abteilung des Herrn M. Bor- 
chardt (Städtisches Krankenhaus Moabit, Berlin) 
ausgeführt worden. 


in dem Sinne/ daß sie das Hindernis nur 
vorübergehend beseitigen. Es ist Sache 
der nachfolgenden dauernden Bougierung, 
den Urethralkanal für die Miction offen 
zu halten. Der äußere Harnröhrenschnitt 
steht in diesem Falle nicht über dem 
inneren. 

Bei einem Teil der callösea Verenge¬ 
rungen .kommt man aber mit keiner der 
unter a und b genannten Behandlungs¬ 
methoden zum Ziele. Die retraktive 
Tendenz der Narbenschwiele ist so groß, 
daß sie nach jeder Durchschneidung sich 
rasch wieder retrahiert, manchmal scheint 
der operative Reiz die Wachstumsenergie 
der Narbe noch zu verstärken. Solche 
rezidivierenden Fälle sind 'es vor allem, 
die zu einer radikalen Operationsweise 
drängen. 

Die bisher geübten radikalen Ver-' 
fahren zerfallen in zwei große Gruppen: 

a) in die Exstirpation alles Narbigen 
und Vereinigung der Schichten mitein¬ 
ander; 

b) in den Ersatz des operativen De¬ 
fektes durch plastische Methoden: durch 
Entnahme von Lappen in loco oder durch 
Transplantation (Vene, Appendix). 

Es war besonders Marion, der das 
unter a genannte Verfahren systematisch 
ausbildete. Das ^ Hauptgewicht legt er 
auf die Weglassung des Dauerkatheters, 
der die Wunde irritiere und die Prima 
intentio verhindere. Nach Resektion 
größerer Stücke der Harnröhre werden 
'die Stümpfe, besonders der vordere, 
mobilisiert und vereinigt. Der Urin 
wird durch einen in die Blase eingeführten 
Schlauch abgeleitet. — Zuckerkandl 
hat über auf ähnliche Weise operierte 
Fälle berichtet. Ich habe ebenfalls nach 
der bei Marion selbst erlernten Technik 
eine größere Anzahl von Fällen nach 
der gleichen Methode behandelt. 

Die unmittelbaren Erfolge sind oft 
recht zufriedenstellend. Der Kranke 
kann spontan urinieren und braucht zu¬ 
nächst nicht bougiert zu werden. Bei 
längerer Beobachtung habe ich aber nicht 
selten die Erfahrung gemacht, daß die 
mit diesem Verfahren erzeilten Dauer¬ 
erfolge weit geringer sind als die 
Früherfolge, auch hier treten Rezidive 
ein, wie ich es an den von mir und anderen 
operierten Fällen beobachten konnte, und 



22 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Januar 


machen entweder ein konsequentes Bou- 
gieren oder weitere Operationen not- 
Vv^endig. Tritt aber bei einem mit der 
beschriebenen Methode .operierten Kran¬ 
ken ein Mißerfolg ein, so'^ gesellen sich 
weitere Übelstände hinzu: die Folgen 
der durch die radikale Resektion ver¬ 
kürzten Urethra und der Sectio alta, einem 
chirurgisch zwar kleinen aber für den 
Kranken nicht immer belanglosen Eingriff. 
Die gleichen Nachteile machen sich be¬ 
merkbar, wenn trotz Sectio alta und Weg¬ 
lassens des Dauerkatheters im vornherein 
eine Prima intentio nicht eintritt, was 
durchaus nicht selten ist. 

Die Ursache dieser letzteren Erschei¬ 
nung erklärt sich unschwer aus dem Um¬ 
stande, daß man bei Operationen wegen 
Urethralstrikturen in einem entzündlich 
veränderten Gebiet arbeitet, also im 
Unaseptischen. Die seit Jahren be¬ 
stehende Urethritis, die zu den Striktur¬ 
bildungen geführt hat, hat auch außer¬ 
halb der strikturierten Stelle die Harn¬ 
röhre infiziert, als deren Produkte die 
entzündlichen Infiltrate in der Stufen¬ 
folge ihres Entwicklungsstadiums anzu¬ 
sehen sind. Aus der Pathologie der Ure¬ 
thritis wissen wir, daß sich Infektion, 
Reinfektion und Auto(Sekundär)infektion 
andauernd abwechseln und folgen. Dem 
entspricht auch die Verschiedenheit der 
nebeneinander sich befindlichen 'Einzel¬ 
stadien: Strikturen (callöse Infiltratforni), 
weiche und harte Infiltrate. Trotz aus¬ 
giebiger Resektion alles sichtbar patho¬ 
logisch Veränderten arbeiten wir oft 
doch nicht im Gesunden, sondern im 
Latent- oder sogar ini Floridinfektiösen, J 
und es hängt nur vom Zusammentreffen, 
der für die Entstehung einer jeden In¬ 
fektion notwendigen Faktoren ab, ob 
die op'erativ gesetzte Wunde primär 
heilt oder nicht. In ungünstigem Sinne 
wirkt bei der ausgiebigen Harnröhren¬ 
resektion die Erektion, namentlich im 
Wundheilungsstadium. Sie übt einen 
mechanischen Zug aus auf die unter 
Umständen bedeutend verkürzte Urethra, 
der sich natürlich in der schwächsten 
Stelle, der circulären Naht, besonders 
stark bemerkbar macht. Auch die ab¬ 
solute Freihaltung der Urethralwunde vom 
Urin halte ich trotz Nichtanwendung 
eines Verweilkatheters und Drainage von 
oben noch nicht für bewiesen. Die 
Blasensonde löst ebenfalls manchmal 
Tenesmen aus, und dabei ist der Eintritt 
von kleinen Mengen Harn in die Urethra 
die häufige Folge. 


Aber auch die primär geheilte Urethral¬ 
wunde gibt noch keine Sicherheit gegen 
das Wiederauftreten einer Verengerung. 
Wir haben in keinem Fall eine Gewähr 
beziehungsweise Kontrolle für eine linien¬ 
artig lumenwärts zu erfolgende Heilung 
der Urethralwunde. Die Formveränderung 
der Wunde beziehungsweise Wundränder 
kann noch einige Zeit nach' der scheinbar 
primär erfolgten Heilung eintreten, ins¬ 
besondere durch die bereits erwähnte 
Wirkung der erektilen Vorgänge. Mit 
dieser mechanischen Reizung der Wunde 
geht die langsame Infektion derselben 
durch die in der Harnröhre aus den ge¬ 
schilderten Gründen fast nie fehlenden 
Infektionserreger Hand in Hand. Auf 
die Infektion folgt im Endstadium das 
bindegewebige Organisat, des Vorläufers 
der neuen Striktur mit ihren Eolge- 
erscheinungen. Wenn diese aber, zumal 
nach einer gelungenen Operation, über¬ 
sehen werden, können sie die durch ^^die 
Operation auch traumatisch veränderte 
Harnröhre leicht in einen Zustand bringen, 
der die Dilatation unmöglich macht. Ein 
neuer Eingriff bei einer durch radikale 
Resektion veränderten Harnröhre , ge¬ 
staltet sich naturgemäß komplizierter 
und weniger aussichtsreich als zu Anfang. 
Ist aber an der Hand dieser Überlegungen 
und der klinischen Erfahrungen auch 
bei der Radjkaloperation mit supra- 
pubischer Cystotomie ein Rezidiv durch¬ 
aus nicht selten, so muß die Indikation 
zu diesem Eingriff infolge der ihm an¬ 
haftenden, erwähnten Nachteile stark 
eingeschränkt werden. 

Hierbei darf nicht unerwähnt bleiben, 
daß trotz der theoretischen Bedenken 
Urethralwunden auch bei eingelegtem 
Dauerkatheder heilen können, wie es die 
Praxis nicht selten lehrt, und ebenso, 
daß trotz der Unvollständigkeit des 
äußeren Harnröhrenschnittes bei geeig¬ 
neter, lange fortgesetzter Nachbehand¬ 
lung klinisch eine Wirkung erzielt werden 
kann, die in ihrer praktischen Wertung 
einem Dauererfolg gleichkommt. Ein 
solcher ist zumindestens dann anzu¬ 
nehmen, wenn der Kranke mehr als zehn 
Jahre beschwerdefrei bleibt, was ich 
nicht selten gesehen habe. Aus all dem 
ergibt sich, daß die Anzeige zur Vornahme 
einer Radikalop'Cration nur da vorliegt, 
wenn alle anderen Maßnahmen — Dila¬ 
tation, innerer oder äußerer Schnitt — 
sich bereits als erfolglos erwiesen haben 
oder mit größter Wahrscheinlichkeit nach 
Lage des Falles erfolglos bleiben dürften. 




Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


23 


X 


Das erste ist zweifellos der Fall bei den ent¬ 
weder nicht dilatationsfähigen oder nach 
den Palliativeingriffen stets rezidivieren¬ 
den Strikturen, das letztere bei den durch 
ausgedehnte derbe Narbenschwielen ge¬ 
bildeten Verengerungen, seres in der als 
Tumeurs urineuses bezeichneten Form, 
wie sie sich nach schweren entzündlichen 
Verengerungen, meist nach einer größeren 
Reihe von Jahren, zu bilden pflegen, sei 
es nach direkten Traumen, nach denen sie, 
wie uns insbesondere die Verletzungen 
dieses Krieges gelehrt haben, ganz rasch, 
innerhalb weniger Monate, entstehen 
können. 

Welche Radikaloperation ist in solchen 
Fällen zu wählen? 

Ich glaube, auch hier gibt es keine 
einzige, für alle Fälle geltende Methode, 
sondern das Verfahren muß der Indi¬ 
vidualität der Situation angepaßt werden. 
Ich halte an folgenden Richtlinien fest: 

1. ist es möglich, alles sichtbar Nar¬ 
bige zu resezieren, ohne einen größeren 
Defekt zu setzen, wobei die Uretra durch 
die circuläre Resektion nicht mehr als 
etwa 3 cm verkürzt wird, dann ist die 
oben geschilderte Methode nach der 
Marion’schen Art das beste. Dabei 
halte ich die Einlegung eines Dauer¬ 
katheters nicht für kontraindiziert. Die 
Weglassung desselben und die Hinzu¬ 
fügung der suprapubischen Blasenfistel 
ziehe ich nur bei jugendlichen, kräftigen 
Individuen in Erwägung, bei denen dieses 
Plus an großer Noxe aller Berechnung 
nach keine schädlichen Folgen haben 
dürfte. (Meine früheren an anderer Stelle 
gemachten Vorschläge über den gleichen 
Gegenstand werden durch diese Angaben 
nicht unwesentlich modifiziert.) — Be¬ 
sonders wertvoll ist es, wenn es möglich 
ist, einen Rest der Uretralwand als 
Brücke stehen zu lassen und die volle 
Circulärresektion zu vermeiden, ln sol¬ 
chem Falle pflege ich die längsgerichtete 
Wunde quer zu vernähen. Daraus ergibt 
sich eine wesentliche Verbreiterung des 
Lumens an der Nahtstelle, dergestalt, 
daß bei eventuell später eintretender 
Verengerung doch noch ein für die Ab¬ 
wicklung des Mictionsgeschäftes genügend 
großer Hohlraum übrig bleiben dürfte. 

2. Erfordert die Auslösung der cal- 
lösen Narbenmassen die Schaffung einer 
solchen Lücke, daß die Vereinigung der 
Wundränder ohne eine gewisse Spannung 
nicht möglich- ist, und ist insbesondere 
beim Adaptieren der Urethralstümpfe es 
notwendig, dieselben ausgiebig zu ,,mo¬ 


bilisieren'S das heißt sie auf weite Strecken 
von der Unterlage abzulösen, um sie 
dann unter Zugwirkung aneinander zu 
bringen, dann wird von einer Vereinigung 
überhaupt abgesehen. Es wjrd im Gegen¬ 
teil eine regelrechte Ürethrostomie her¬ 
gestellt, solcherart, daß die beiden Harn¬ 
röhrenstümpfe ausgiebig an die Haut 
genäht werden. In die Blase kommt ein 
Verweilkatheter, damit der neue Harn¬ 
röhrenmund möglichst glatt anheift. Ist 
dieser Fall eingetreten, dann wird die 
Fistel geschlossen nach den Grundsätzen, 
wie sie später auseinahdergesetzt werden 
sollen. 

3. Besteht überhaupt keine Möglich¬ 
keit alles Narbige zu entfernen, weil die 
Narbenmassen zu ausgedehnt sind — sei 
es uretralwärts oder dammwärts (ich 
habe Narbenmassen gesehen, die sich 
wie gewaltige Keile bis tief ins kleine 
Becken zogen) —, dann pflege ich eben-" 
falls eine Fistel anzulegen und zunächst 
so zu verfahren wie in 2 angegeben ist. 
Die besondere Art des Fistelschlusses 
'in diesem Falle wird ebenfalls weiterhin 
auseinandergesetzt werden. 

Wenn wir hiermit zur Behandlung 
der Harnröhrenfisteln übergehen, so sei 
vorausgeschickt, daß die Fisteln geringen 
und mittleren Grades, die durch syste¬ 
matische Dehnung beziehungsweise Auf¬ 
frischung und Naht zur Heilung gebracht 
werden können, nicht in den Rahmen 
dieser Betrachtung fallen. Nur die mit 
größeren Substanzverlusten verbundenen 
Uretrostomren sollen hier abgehandelt 
werden. 

Eine plastische Deckung der Harn- 
röhrendefekte^.wird versucht auf zweierlei 
Art: durch Überpflanzung oder durch 
gestielte Lappen. 

Bei der Überpflanzung werden ver¬ 
schiedenartige Gewebsteile genommen. 
Es war naheliegend, solche zu wählen, 
die ein Lumen haben, im Inneren von 
Schleimhaut beziehungsweise mit schleim¬ 
hautähnlichem Epithel bekleidet sind und 
außerdem im Gesamtorganismus ent¬ 
behrlich sind. Als solche sjnd die Wurm¬ 
fortsätze und einzelne periphere Venen¬ 
stücke zu bezeichnen. 

# Über diese Art Fistelbehandlung kön¬ 
nen wir hier nur kurz resümieren, daß 
sie als Behandlung der Wahl kaum in 
Betracht kommt. Die Venentransplan¬ 
tationen haben sich nicht bewährt. In 
den meisten Fällen stößt sich das über¬ 
pflanzte Stück aus. Aber wenn es zunächst 
anheilt, stellen sich vielfach ganz rasch 



24 


Die T^herapie der Gegenwart 1920 


Januar 


neue Schrumpfungserscheinungen und da¬ 
mit zuletzt neue Strikturen ein. Noch 
ungünstiger sind die Resultate mit der 
transplantierten Appendix. Damit er¬ 
zielte Dauererfolge sind mir nicht be¬ 
kannt, wohl aber volle Mißerfolge. Zieht 
man noch in Betracht, daß zur Aus¬ 
führung dieses in den allermeisten Fällen 
ergebnislosen Eingriffes immerhin der 
operativen Plastik noch eine Laparotomie 
(Appendektomie) vorausgehen muß, so 
ist es erklärlich, daß von diesem Ver¬ 
fahren als Opefationsmethode Abstand 
genommen werden muß. 

Es bleibt uns also für die Deckung 
der Harnröhrenfistel größeren Umfangs 
nur die plastische Deckung in loco übrig. 
Der Erfolg ihrer Anwendung hängt von 
der sor^ältigen Beobachtung mehrerer 
Einzelheiten ab sowohl hinsichtlich der 
Operation selbst wie ihrer Vorbereitung 
und Nachbehandlung. Es ist nicht immer 
nötig, neue Methoden zu erfinden. Viel 
nützlicher ist es oft, die alten sorgfältig 
und in individueller Anpassung auszu¬ 
führen. 

Die ungünstigen Faktoren der Harn¬ 
röhr enplastiken, zumal im Dammteil der 
Harnröhre (ihrem häufigsten Sitz) sind 
der relativ enge Raum, innerhalb dessen 
sie sich abspielen müssen, die unzuver¬ 
lässige Asepsis, weil die Harnröhre als 
solche und geschweige denn nach voraus¬ 
gegangenen Entzündungen (und um 
solche Fälle handelt es sich ja in der Regel) 
nicht als keimfrei beziehungsweise keim¬ 
arm zu betrachten ist. Hinzu kommt noch 
die Nähe des Rektums, die zunächst 
intra operationem und dann noch während 
der Nachbehandlung die Wunde infi¬ 
zieren kann. Es ist dabei selbst die 
Möglichkeit nicht auszuschließen, daß 
ohne direkten Kontakt unter besonderen 
pathologischen Umständen Keime, ins¬ 
besondere Coliarten, aus dem hart an¬ 
liegenden Rectalteil durchwandern und 
zur Entstehung einer Infektion Veran¬ 
lassung geben können. Komplizierend 
kommt noch der irritierende Reiz des 
trotz Dauerkatheter und suprapubischer 
Drainage doch hin und wieder die Wunde 
benetzenden Urins und bei eingelegtem 
Dauerkatheter sicherlich die traumatisie- 
rende Wirkung desselben. — Zwar finddi 
wir beispielsweise bei operativen Vorgän¬ 
gen im Munde stark infektiöse Verhältnisse, 
während es doch trotzdem (oder gerade 
deswegen) selbst beim Hinzutreten eines 
Erysipels schnell zur Heilung von Mund¬ 
wunden zu kommen pflegt. Indes scheint 


i 

es, daß in der Urethra - solch günstige 
immunisatorische beziehungsweise repära- 
torische Vorgänge wie im Munde nicht 
vorliegen. 

Diese ungünstigen Faktoren veranlas¬ 
sen pns aber die plastischen Maßnahmen 
so sicher als möglich zu gestalten und 
andererseits im vornherein mit der Mög¬ 
lichkeit des Mißlingens oder des nur teil¬ 
weisen Gelingens zu rechnen. 

Im speziellen sind folgende Grund¬ 
sätze bei Urethralplastiken zu beachten: 

1. Der Stiel soll so bteitbasig als 
irgend zulässig und der Lappen selbst 
so kurz als möglich sein. 

2. Ist ein im Verhältnis zum Stiel sehr 
langer Lappen notwendig, so kann der 
Lappen in mehreren Zeiten vorbereitet 
werden. 

3. Besteht keine Möglichkeit, alles 
Narbige zu exstirpieren und ist nicht 
genügend freies Lappenmaterial in der 
Umgebung vorhanden, so kann die Narbe 
selbst zur plastischen Deckung heran¬ 
gezogen werden. 

4. Man soll mit einem einmaligen 
Totalerfolg nicht rechnen, vielmehr sind 
häufig Ergänzungsplastiken notwendig. 

Ohne auf die Einzelheiten des opera¬ 
tiven Vorganges hier einzugehen, sei die 
Ausführung kurz gestreift. Zu bevor¬ 
zugen sind Lappen aus der Scrotalhaut, 
weil sie sehr dehnbar, nachgiebig und 
gut versorgt sind. Ihre Retractilität 
hat keinen wesentlichen Nachteil, wenn 
man bei der Abmessung des Lappens im 
vornherein dies berücksichtigt, anderer¬ 
seits eignet sie sich gerade deswegen für 
den Ersatz der Urethralwand, weil sie 
ähnlich wie diese' bei der infolge des 
Erektionsvorgang es bedingten starken 
Flächenveränderung ,,mitgeht‘'. Nur 
muß man bei der Zuschneidung der 
Scrotallappen darauf achten, daß die 
Schnitte nicht senkrecht zu den Gefäßen 
ausfallen, sondern in einer der Parallele 
möglichst gleichkommenden Linie sich 
bewegen. (Ich habe an anderer Stelle 
diese Schnitte als Faltenschnitte be¬ 
zeichnet und ausführlicher beschrieben: 
vgl. Zeitschrift für Urologie, Jahrgang 18, 
Bd. 12.) — Die Epilierung der in die 
Uretra, mit der Epithelfläche uretral- 
wärts, einzupflanzenden Scrotalhaut muß 
sorgfältig vorbereitet werden, wenn gleich 
ich nach vielen endoskopischen Beob¬ 
achtungen des Transplantats den Ein¬ 
druck habe, daß der zum Bestandteil 
der Harnröhre gewordene Hodenhaut¬ 
lappen durch die funktionellen Verrich- 



Januar 


25 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


tungen der Urethra — im Schleimhaut¬ 
lumen als Harnkanal und in toto als 
Erektivobjekt — regressiv verändert und 
auch die dicke Oberschicht des Scrotal- 
epithels sich dauernd verfeinert. 

Steht aber nicht genügend Scrotal- 
material zur Verfügung, so wird man 
versuchen, sich den Lappen aus der 
übrigen Umgebung zu holen, der Femur- 
und Inguinalhaut. Hierbei macht es sich 
nicht selten ^notwendig, um ohne Span¬ 
nung die Gewebe aneinanderzubringen, 
den Lappen besonders vorzubereiten. 
Dies besteht darin, daß man den Lappen 
nicht gleich überpflanzt, sondern ihn in 
ein oder zwei vorausgegangenen Sitzungen 
in^der notwendigen Länge abnimmt und 
mit den Wundrändern zunächst wieder 
vereinigt. (Ein Anwachsen an die Wund¬ 
fläche wird durch ein untergeschobenes 
Gazestück verhindert.) Die Gefä߬ 
sprossung in diesem Lappen ist m der 
Regel eine ganz vorzügliche. 

Es gibt aber Fälle, wo es durchaus an 
plastischem Material in der Umgebung 
fehlt. Das ist besonders bei den schweren 
Kriegsverletzungen der Fall, wo vielfach 
Damm, Scrotum und Inguinalgegend in 
eine einzige Narbenmasse verwandelt ist. 
In solchen Fällen habe ich versucht, die 
Narbe selbst zur plastischen Deckung 
heranzuziehen, und habe öfter Erfolg 
gesehen. Man muß dabei die plastischen 
Regeln noch schärfer erfüllen, insbeson¬ 
dere nur kleine und breite Lappen ver¬ 
wenden. Sehr gefährdet ist die Plastik, 
wenn man den Lappen um seine Längs¬ 
achse drehen muß. Aber auch da gelingt 
es mit vieler Geduld, den Defekt zu 
schließen. Allerdings sind nicht alle 
Narben vom plastischen Gesichtspunkt 
aus gleichwertig, und darauf muß im 
vornherein Bedacht genommen werden. 
Es gibt harte, starre, schwielige Narben, 
nahezu im Zustand der Verhornung, mit 
äußerst geringer Gefäßversorgung, nur 
soweit, daß sie gerade vor der Nekroti¬ 
sierung bewahrt werden. Aber es gibt 
auch weiches, gut durchblutetes Narben¬ 
gewebe, mit einem gewissen Grad von 
Verschieblichkeit. Man wird daher mög¬ 
lichst die letztgenannte Art zu plastischen * 
Zwecken heranzuziehen suchen. Daß 
dabei das eine oder andere Mal ein Lappen 
nekrotisch wird, muß man mit in Kauf 
nehmen. ^ 

Die Erfolge bei der Schließung von 
größeren Urethraldefekten sind nicht leicht 
zu erzielen. Neben wirklich guten Resul¬ 
taten mit einer einmaligen Operation 


sieht man auch solche, bei denen nach 
jedem Eingriff nach vorübergehendem 
Schluß eine neue offene Stelle sich bildet, 
Abeir man muß sich nicht entmutigen 
lassen. Gelingt es nur mit dem- Eingriff 
den Defekt zu verkleinern, so ist 'das 
schon ein Erfolg. Mit den folgenden 
Encheiresen wird die Fistel schon ver¬ 
schwinden. 

Die Krankengeschichten, die ich im 
Auszug hier anfüge, sollen die geschil¬ 
derten Richtlinien illustrieren. 

Fall 1. Alb. Br., 3. März 1917. Oberschenkel¬ 
damm-Granatschuß, ausgedehnte Weichteil Ver¬ 
letzung am Damm (Rectum ist gestreift) und in 
der rechten Leistenbeuge und ferner quere Zer¬ 
reißung der Harnröhre im Verlauf der Schu߬ 
richtung. — Operation im Feldlazarett: Um¬ 
schneidung der Wundrähder in der Leistenbeuge 
und Analfalte, Aufsuchung und Vereinigung der 
beiden Harnröhrenstümpfe, Dauerkatheter. Nach 
Entfernung desselben uriniert Patient spontan, 
nur einige Tropfen kommen aus der Wunde. 

27. März. Aufnahme in die mir unterstellte 
chirurgische Abteilung des Reservelazaretts III, 
Darmstadt. Befund: 1. Eine bräunlich verfärbte, 
kleinfinger beerengroße Narbe in der ersten unteren. 
Gesäßhälfte. 2. Eine klaffende, unregelmäßige 
Wunde mit stark verdickten. callusartigen Rän¬ 
dern in der Perianalgegend, etwa* 2 cm oberhalb 
des Analringes. 3. Am Oberschenkel, an der 
typischen Unterbindungsstelle der großen Ge¬ 
fäße eine etwa 3 cm lange, in die Tiefe führende 
Wunde, in der ein dünner, 5 cm langer Gummi¬ 
drain steckt. — Der in die Perianalwunde ein¬ 
geführte (behandschuhte) Finger gelangt in eine 
nach dem Rectum führende Höhle, deren Ende 
mit dem Finger nicht erreichbar ist. — Die Harn¬ 
röhre mit fünf Char. unter Schwierigkeiten 
bougierbar, in der Höhe der Perianalwunde stößt 
die Sonde auf harten, holprigen Widerstand. — 
Es besteht eine offene Damm-Rectumfistel. — 
Am 6. April ist es nicht mehr möglich, durch die 
Urethra ein Filiform durchzuführen. 

10. April, t Operation: Einführung einer 
Metallsonde bis zur Striktur, dann Längsincision 
durch hartes „knirschendes“ Gewebe. Harn¬ 
röhre als solche ist nicht zu erkennen. Es gelingt 
aber doch, durch die gewaltige Narbenmasse 
einer durch die Wunde vorgeführten haarfeinen 
Sonde folgend, in die Blase zu kommen. Darauf¬ 
hin Dehnung der hinteren Urethra, bis Nr. 20 
passiert. — Es wird versucht, alles Narbengewebe 
bis ins Gesunde zu entfernen. Dies zeigt sich 
aber als nicht durchführbar, weil die breiten 
Narbenstränge in einen großen Teil des Rectum 
und des kleinen Becken verlötet sind. Unter Be¬ 
nutzung des beweglicheren Teils der Narbe als 
Deckungsmittel wird zunächst nach möglichster 
Umschneidung im Narbengewebe die Damm- 
Rectumfistel geschlossen, hingegen wird eine 
kleine Uretralfistel gebildet, weil ihre augen¬ 
blickliche Schließung die Rectalfisteloperation 
gefährden würde im Hinblick auf den Mangel an 
plastischem Material. Dauerkatheter. — Verlauf 
günstig. Nach Entfernung des Verweilkatheters 
fließt der größte Teil des Harns per vias na¬ 
turales, ein kleiner Teil durch die Harnröhren¬ 
fistel. Dammrectumfistel geheilt. — Fortgesetzte 
Bougierung der Urethra. Fistel verkleinert 
sich. Patient verweigert die plastische Schließung 
derselben, da sie „von selbst heilt“. Am 24. Juli 

4 





26 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Januar 


Tnuß er aus militärischen Gründen in sein Heimats- 
iazarett verlegt werden. Entlassungsbefund: 
Nr. 21 passiert ohne Schwierigkeiten. Am Damm 
l)esteht noch eine geringgradige Urethralfistel. 

Nachurteil: Die Wiedervereinigung 
der durchtrennten Harnröhre ist indi¬ 
ziert, wenn dies ohne größere Spanniing 
möglich ist und wenn es sich um eine 
glatte, nicht infizierte Wunde handelt, 
nicht aber, wenn es sich, wie in diesem 
Falle, um eine ausgedehnte Zertrüm- 
xnerungswunde handelt, wo zugleich eine 
Kommunikation mit dem Rectum be- 
■stand. Auf die anfangs scheinbar primäre 
Heilung folgte eine still verlaufende In¬ 
fektion, die zur impermeablen callösen 
Striktur führte. Der Narbenlappen hat 
sich hier ganz gut bewährt. 

Fall 2. Th. D., 23 Jahre. Angeborene Striktur 
am Meatus exturnus. Schon als Kind andauernd 
Harnbeschwerdep. Mit 12 Jahren Phimosen¬ 
operation, geringe Besserung, dann Verschlimme¬ 
rung. Mit 19 Jahren erste Strikturoperation. 
Nach kurzer Besserung erneute Verschlimmerung. 

— Befund bei der Aufnahme am 12. Juli 1917: 
Starker Urindrang, wobei der Urin unter heftigen 
Drucken tropfenweise austritt. Schmerzen in 
der Blasengegend, im Rücken, lebhafte Kopf¬ 
schmerzen. Temperatur 39,4°. Urin stark eitrig. 
14. Juli Operation: Spaltung der fast blind 
-endenden Urethra, Excision des circularen callösen 
Wulstes, Mobilisierung der Harnröhre und Ver- 
nähung mit der Haut. Verlauf: Glatte Heilung. 

— Starke cystische Erscheinungen. Cystoskopie 
zeigt chronisch entzündete Blasenschleimhaut mit 
ausgesprochener Balkenbildung, daneben Ver¬ 
dacht auf einen eitrigen Prozeß in der ersten 
Niere beziehungsweise Nierenbecken. (Dieser 
Verdacht hat sich nicht bestätigt.) Unter der 
üblichen Behandlung gehen die entzündlichen 
Erscheinungen der Blase zurück. Es tritt aber 
trotz regelmäßiger Bougierung erneut eine 
Tendenz zur Verengerung ein und damit bald 
wieder allgemeine und lokale Reaktions- be¬ 
ziehungsweise Folgeerscheinungen (Dyurie, eitriger 
Urin, Schüttelfröste). Zweite Operation am 
26. September: Es wird jetzt der umgekehrte 
Weg beschritten. Statt die Harnröhre zu mo¬ 
bilisieren und nach außen zu ziehen, wird die 
gesunde Penishaut röhrenförmig nach innen ge¬ 
stülpt und mit der ängefrischten Urethra vernäht. 
Alles Narbengewebe war vorher sorgfältig ent¬ 
fernt worden. Dauerkatheter. Verlauf: Glatte 
Heilung, Mictionsbeschwerden verschwinden, 
cystische Erscheinungen bessern sich rasch unter 
desinfizierender Behandlung. — Dieser Zustand 
bleibt anhaltend günstig bis zum 27. Dezember, 
dem Tage der Entlassung. 

Nachurteil: Aus dem Umstande, daß 
auf die früheren Eingriffe schon binnen 
weniger Wochen Rezidive folgten, ist 
anzunehmen, daß die letzte bereits drei 
jMonate bestehende ,,innere iVIuffplastik“ 
von Dauer sein wird. Indes- sind gerade 
die angeborenen Meatusstrikturen die 
vielleicht am häufigsten rezidivierenden, 
Darum ist in der Prognose Vorsicht 
geboten und consecutive Kontrollmaß- 


nahmen -dringend über Jahre hinaus 
anzuraten. 

Fall 3. I. B. Vor 22 Jahren eine vier Wochen 
dauernde Uretritis. Später Urinfistel am Damm. 
Zwei Jahre darauf Harnbeschwerden, vor fünf 
Jahren 14 Tage bougiert. Befund: Impermeable 
Striktur beginnend in der Pars praebulbosa. 
Operation am 27. September 1917: Sectio alta, 
retrograder Katheterismus, Spaltung der Striktur 
zwischen zwei — retrograd und durch den Meatus 
externus -v eingeführten Metallsonden. Die 
Striktur erstreckt sich der Länge nach von der 
Pars praebulbosa bis zur Pars '* praeprostatica, 
nach der Tiefe dammwärts bis zum Anus. Dabei ^ 
ist die ganze Urethra und das Periurethralgewebe 
im Bereich eder Striktur in eine derbschwielige 
callöse Masse Verwandelt. Eine Entfernung der 
ganzen Narbe erscheint nicht angängig. Es wird 
eine lokale Lappenplastik vorgenommen zur Er¬ 
weiterung des strikturierten Urethrateiles. Dauer- 
" katheter, Schluß der Blasenwunde. — Verlauf: 
Die Heilung wird kompliziert durch eine eitrige 
Epidydimitis, deren eigentümliches Aussehen und 
Verlauf — rasche Besserung nach Jodkali — an 
eine gleichzeitige Lues denken lassen (tiefe 
gummaähnliche Nekrosen). Wassermann. — Es 
bildet sich ferner am Damm eine stecknadelkopf¬ 
große Urinfistel, die sich spontan schließt. 2. Ja¬ 
nuar 1918 entlassen mit dem Hinweis, sich regel¬ 
mäßig bougieren zu lassen. 

Nachurteil: Es hat sich hier um einen 
mit schwerer Cystopyelitis komplizierten 
Fall "gehandelt als Folge der schweren 
Urethralstriktur. Die mangelnde Prima- 
intentio hat die Anheilung der . Plastik 
nicht wesentlich gehindert, wie wir es 
auch anderswo, besonders bei Mund¬ 
plastiken, sehen. 

Fall 4. W. Br., 32 Jahre. Angeborene Striktur 
des Meatus externus, komplizi'ert durch Cystitis 
und relative Inkontinenz. — Operation: Excision 
und Hautlappeneinstülpung. Heilung. Da bei 
der Entlassung seit der Operation nur sechs 
Wochen vergangen waren, ließ sich über einen 
Dauererfolg nichts sagen. 

Fall 5. Joh. H., 23 Jahre. 27. August 1917. 
Granatschußverletzung: Zerreißung des Damm¬ 
teils der Harnröhre, Bruch des aufsteigenden 
Schambeinastes, ausgedehnte Zertrümmerung der 
Damm- und Gesäßmuskulatur. — Im Feldlazarett 
Urethrotomie und Dauerkatheter, der nach drei 
Tagen entfernt worden war. — Aufnahmebefund 
am 19. Oktober: Blasenglutealfistel: Der Ge¬ 
samtharn entleert sich unter starken Tenesmen 
durch ein Loch in der linken Gesäßhälfte. Um¬ 
gebung typisch urinös-septisch. Dammgegend 
von derbem Narbengewebe ausgefüllt. Uretra 
nicht bOLigierbar. Bougie stößt in der Damm¬ 
gegend auf ein unüberwindliches Hindernis, 
Ozration: Versuch, per uretram die Blase 
»mittels Druckspritze zu füllen; mißlingt, weil die 
injizierte Flüssigkeit durch die Glutealfistel aus¬ 
läuft. Sectio alta etwas schwierig, weil die nicht 
gefüllte, geschrumpfte Blase tief im kleinen 
Becken liegt. Retrograder Katheterismus. Ure- 
trotamia ext, Dauerkatheter, einer pla¬ 

stischen Operation in der stark septischen Um¬ 
gebung wird Abstand genommen. — Verlauf: 
Fistel heilen gut. Die anfänglich aufgetretene 
Neigung zur erneuten Strikturierung geht auf 
Dilatation zurück. Nr. 21 wird konstant leicht 
durchgeführt. Darüber hinaus keine stumpfe 






Januar 


I Die Therapie der Gegenwart, 1920 


27 


Dehnung möglich, Allgemeinbefinden gut. — 
Patient wird auf seinen Wunsch in di'esem Zustand 
entlassen. — 

Nachurteil: Wenn auch die Uretrotomie 
nur ein Notbehelf ist, so kann sie in 
vielen Fällen, bei unausgesetzter Bougie- 
kontrolle einen durchaus befriedigenden 
Zustand schaffen. 

Fall 6. Heinr. G. Granatverwundung an der 
linken Gesäßhälfte, Damm und Penis. Zerreißung 
der Dammharnröhre und des Mastdarms, Blasen¬ 
mastdarmfistel, Urindammfistel. Verlust eines 
größeren Teiles der linken Scrotalhälfte. (9. Ok¬ 
tober 1916.) Im Feldlazarett Sectio alta, retro¬ 
grader Katheterismus, Naht der Uretralstümpfe 
" (! der Verf.). Dauerkatheter. (Vor der Operation 
hat am Damm eine größere Urininfiltration be¬ 
standen.) Aus dem Verlauf ist zu ersehen, daß die 
Urinfistel am Damm sowie die Bl^senmastdarm- 
fistel bestehen blieb. Am 23. Januar 1917 wurde 
noch „äußere komplette Mastdarmfistel“ ge¬ 
spalten. Der Zustand hat sich dadurch nicht 
wesentlich geändert. 

Am 15. Juni 1917 wurde wegen impermeabler 
Striktur der Dammharnröhre und Mastdarm¬ 
blasenfistel folgender Eingriff ausgeführt: Durch 
Horizontalschnitt wird unter Schonung des 
Sphinkters das Rectum bis über die mit stark 
callösen Rändern umgebene Fistel abpräpariert, 
die Narbe excidiert, der Defekt quer geschlossen, 
Durch Heranziehung einiger Levatorbündel wird 
eine Dammschicht darüber gebildet. In die 
Blase kommt ein Dauerkatheter, Harnröhren¬ 
wunde wird wegen ihrer Größe und wegen callös 
beziehungsweise septisch veränderter Umgebung 
nicht geschlossen. Verlauf: Blasenmastdarm¬ 
fistel glatt, Urindammfistel per grariulationem 
geheilt. Bestehende Cystitis durch übliche Be¬ 
handlung wesentlich gebessert. Regelmäßige 
Bougierung. Abgangsbefund vom 13. November: 
Sämtliche Wunden geschlossen. Cystoskopie 
ergibt nahezu normale Blasenverhältnisse. Urin 
und Kot spontan, per vias naturales. Regelmäßige 
Bougiekontrolle empfohlen. 

Nachurteil: In diesem Falle hat eben¬ 
falls die unmittelbar nach der Verwundung 
in durch Urininfiltration und Infektion 
veränderter Umgebung vorgenommene 
Urethralplastik kein Resultat ergeben kön¬ 
nen. Die Spaltung der Mastdarmfistel 
war eine Folge der irrigen Annahme einer 
solchen und verursachte eine unbegrün¬ 
dete Verletzung des Sphincters. — Die 
durch Urethrotomie usw. ohne nachfol¬ 
gende Plastik ausgeführte Operation kann 
trotz ihres Notcharakters bei geeigneter 
dauernder Bougierung auch einen Dauer-' 
wert haben. 

Fall 7. I. R., 25 Jahre. Ahgeboreiie Striktur 
der hinteren Harnröhre.* Nur mit Mühe für ein 
Filiform durchgängig. Dilatationsversuch gelingt 
nicht. Operation am 4. Dezember 1917: Re¬ 
trograder Katheterismus. Da fast die ganze 
hintere Harnröhre strikturiert erscheint, ist eine 
völlige Strikturresektion nicht durchführbar. 
Quere Vereinigung der Längsincision. Dauer¬ 
katheter. — Verlauf ohne Zwischenfälle. Patient 
wird drei Monate später entlassen. Harnröhren¬ 
lumen für 25 leicht durchgängig. Die vorher 


bestandene Cystitis besserte sich schnell, hingegen 
blieben pyelitisclie Erscheinungen bestehen. 

Fall 8. W. E., 19 Jahre. — Verwundet am 
24. Mai 1917: Tiefe Wunde mit großem Substanz¬ 
verlust an beiden Oberschenkeln, Damm und 
Skrotum. — Harnröhre total durchtrennt. — 
Im Feldlazarett wurde zuerst nach Erweiterung 
der Dammwunde die Harnröhre genäht. Es 
trat Gangrän der genähten Teile ein. Später 
wurden die Harnröhrenehden genähert, mit 
'nadezu gleichem Erfolg. ^ Bei der Einlieferung 
ins Reservelazarett III, Darmstadt, am 22. No¬ 
vember 1917 bestand eine stecknadelkopfgroße 
Fistel am Damm, aus der der Kranke mit vieler 
Mühe den Harn herauspreßte, vor der Fistel 
befand sich eine impermeable, derb callöse 
Striktur. Aus dem Meatus ext. entleerte sich 
reiner Eiter. Außerdem bestand eine hochgradige 
Cystitis mit Py- und Pollakiurie. Operation am 

23. November: Die Freilegung der Harnröhren¬ 
enden zeigt eine Distanz von etwa 8 cm. Die 
Narbenschwiele erstreckt sich einerseits tief in 
die Corpora cavernosa, andererseits in die Levator¬ 
gruppe. Es wird nur der Fistelgang excidiert, 
dann die äußere Haut nach innen eingestülpt. 
Verlauf-anfangs günstig, wird später kompliziert 
durch eine oberhalb (distal) von der Fistel sich 
bildende Striktur, die exstirpiert wird. Zur 

' Deckung der Fistel — die cystischen Erschei¬ 
nungen waren inzwischen zurückgegangen — 
werden noch zwei lokale Plastiken ausgeführt, 
immer in dem Sinne, daß ein Hautlappen mit dem 
Epithel uretralwärts eingenäht wird und darüber 
die beiden seitlichen geschlossen werden. Es er¬ 
folgt keine Prima intentio, aber jedesmal bildet 
sich eine bedeutende Verkleinerung der Fistel 
bei gleichbleibender Durchgängigkeit der Harn¬ 
röhre für mindestens Charriere 25. Der Kranke 
läßt den Gesamturin per vias naturales, nur einige 
Tropfen entleeren sich bisweilen aus der Fistel. 
Inzwischen wird energische Bougierung fort¬ 
gesetzt. Es ist anzunehmen, daß die kleine Fistel 
sich unter dieser Behandlung ganz schließen wird, 
aber es kann dies leider nicht abgewartet werden, 
da der Kranke infolge militärischer Verfügung 
verlegt werden muß. — Es ist auch hier im Nach¬ 
urteil zu sagen, daß die im Feldlazarett aus¬ 
geführte Naht und spätere „Annäherung“ der 
Harnröhrenenden bei der Beschaffenheit des an¬ 
grenzenden Gewebes und bei dem septischen 
Zustande desselben kein Resultat ergeben konnte. 

Fall 9. J. K., 31 Jahre. — Verwundet am 

24. April 1918: Unregelmäßige Tiefenwunde 
(Granatverletzung) am linken Oberschenkel, 
Damm, Pars pendula. Es bildete sich eine Urin¬ 
infiltration, die die ganze Genitalpartie und die 
angrenzenden Teile des Abdomens einnahm. 
Sectio alta, Blasendrainage. Incision der in¬ 
filtrierten Stellen. — Bei der Einlieferung in meine 
Abteilung bestand eine gut fünf Pfennig große 
Fistel am Damme, die wie folgt angegangen wurde 
(28. Juli 1918): Anfrischung der beiden verengten 
Harnröhrenstümpfe und Vernähung derselben mit 
der Haut. Circuläre Umschneidung der Haut und 
Einstülpung derselben durch versenkte Nähte. 
Die ganze Wunde wird durch einen dreieckigen 
Lappen aus dem Präputium geschlossen. Heilung 
per primam. Entlassung sechs Wochen später. 
Es besteht weder Fistel noch Striktur —. Eine 
Heilung per primam bei einer so ausgedehnten 
Fistel ist nicht häufig. 

Fall 10. B. L., 34 Jahre. Wird am 10. Mai 
1917 unter der Diagnose Nierenbeckeneiterung 
und Blasenentzündung eingeliefert. Befund: 
Striktur in der Bulbusgegend, die mit großer Mühe 

4* 



28 


Die Therapie der Gegenwart. 1920 


Januar 


für ein Filiform passierbar ist. Versuchte Dila¬ 
tation schreitet schnell vorwärts. Am 10. Sep¬ 
tember passiert Nr. 22. Cystoskopie ergibt starke 
Balkenbildung, sonst ohne Befund. — An diesem 
Fall ist das Bemerkenswerte die nicht selten 
vorkommende Erscheinung, daß über den Folge¬ 
erscheinungen der Striktur — Cystitis, Pyelitis — 
diese selbst übersehen wird. 

Fall 11. K. R., 47 Jahre. Seit 1900 Gon., 
1905 Uretrotomie. — 6. Mai 1918 im Anschluß 
an eine Bougieryng mit Metallkatheter starke 
Hämorrhagie, Urinretention und vergeblicher 
Katheterismus. Daraufhin Verlegung auf die 
urologische Abteilung, am 6. Mai 1918 Befund: 
Aus der Urethra hellrotes Blut, Blase bis zur 
Nalpelhöhe, Katheterismus fördert 1% 1 hellroter 
Flüssigkeit zutage. Dauerkatheter. Da die 
Blutung trotz Kompression und Styptica nicht 
steht, zwei Tage später Sectio alta, heiße Irrigation, 
Ausräumung zahlreicher Coagula, retrograder 
fester Katheterismus, Tamponade. Blutung stand 
bald. Später methodische Bougierung (nach 
Schluß der Blasenfistel). — Hier war die durch 
die wohl etwas forzierte Dilatation aufgetretene 
starke Blutung und die erfolgte Urinretention 
bemerkenswert (wohl als Folge Sphinkterkrampfes). 

Fall 12. W. D., 19 Jahre. Becken-, lDamm-, 
/BlasenVerletzung am 21. Oktober 1919. Sectio 
alta, retrograder Katheterismus. — Es bleibt eine 
Damm- und Blasenfistel zurück, aus denen sich 
der Gesamtharn entleert, wobei, je nachdem sich 
die eine Öffnung verstopft, die andere für die Aus¬ 
scheidung kompensierend eintritt. Zugleich be¬ 
steht eitrige Cystopyelitis mit starken Fieber¬ 
remissionen. Katheterismus nicht möglich infolge 
impermeabler Striktur vor der Dammfistel. — 
6. Dezember 1918 neue Urethrotomie mit nach¬ 
folgendem Dauerkatheter. Cystopyelitis geht 
zurück. Bougierung rasch vorwärts, aber nur bis 
18 Charriere möglich. Fisteln schließen sich. — 
Dieser Mißerfolg und später nur relative Erfolg 
der Urethrotomie zeigt wiederum, daß, wo sie an¬ 
gewandt werden muß, sie ihren Wert nur durch 
die nachfolgende gründliche Dilatation erhält. 

Fall 13. Karl K., 67 Jahre. Seit 15 Jahren 
Beschwerden bei der Miction. Vor acht Jahren 
Urethrotomie ext. Urinstrahl blieb dünn. Im 
Januar 1919 Urinverhaltung. Sectio alta, drei 


Steine ehtfernt. Nach einigen Monaten wieder 
Harnretention. Daraufhin Dauerblasenfistel, dann 
entlassen. Es trat bald ein elender Zustand ein: 
Aus der Fistel entleerte sich infizierter Urin, der 
die Umgebung stark irritierte. Nachdem angeblich 
eine Aufnahme in das Krankenhaus, in dem er 
zuletzt operiert worden war, wegen Unheilbarkeit 
des Leidens abgelehnt wurde, erfolgte die Auf¬ 
nahme auf die äußere Abteilung des Kranken¬ 
hauses Moabit. — Aufnahmebefund (auszugs¬ 
weise): Alter Mann im fortgeschrittenen Kräfte- 
verfall. Bronchitische Herde, Blasenfistel und in 
dieser Dauerkatheter-, neben welchem stark 
eitriger Harn abläuft, Umgebung stark entzündet. 
Am Damm alte Operationsnarbe. Im Sediment 
massenhafte Leukocyten und vereinzelte Erythro- 
cyten. Prostatahypertrophie per rectum nicht 
festzustellen. Bougierung der Harnröhre gelingt ' 
trotz verschiedener Versuche nicht, Striktur in 
der Pars bulbosa. Infolge des aussichtslosen Zu¬ 
standes wird durch äußeren Harnröhrenschnitt 
eine Wegbarmachung der Urethra versucht. Ope-^ 
ration am 26. Juli 1919: Nach Erweiterung der 
Blasenfistel retrograder Katheterismus, Spaltung 
der Striktur, Entfernung des sichtbar Narbigen, 
Schrägnaht der Harnröhre; Schluß der Damm¬ 
wunde bis auf einen kleinen Tampon. Dauer¬ 
katheter. — Verlauf: Dammwunde heilt primär, 
Harnröbre gut durchgängig, Blasenfistel ver¬ 
kleinerte sich stetig. Am 30. August trat eine^ 
Pneumonie hinzu, welcher der stark herab¬ 
gekommene Kranke am 13. September erlag. 

Im Nachurteil ist hier zu sagen, daß 
die Anlegung einer endgültigen Cysto- 
tomie in diesem Falle nicht berechtigt 
erscheint, da sich durch erneute Urethral¬ 
operation die Harnröhre sehr gut wegsam 
machen ließ. Die Blasendauerfistel ist 
nur auf ganz desolate Fälle zu beschränken. 

Die hier angeführten 13 Fälle sind 
nur ein Teil einer größeren Zahl in ähn¬ 
licher Weise behandelter Strikturen be¬ 
ziehungsweise Fisteln. Ihre Aufzählung 
würde eine stete Wiederholung bedeuten. 


Repetitorium der Therapie. 

Die Allgemeinbehandlung des kranken Menschen. 

Von G. Klemperer. 


Dem Heilbestrebei;! des Arztes sind 
zwei Aufgaben gestellt, die als gleich¬ 
berechtigt Erfüllung heischen. 

Die eine Aufgabe verlangt, daß der 
Kranke von seiner Krankheit befreit 
wird. Der Arzt sucht ihr zu genügen, 
entweder indem er die Ursache und den 
Sitz der Krankheit angreift (kausale be¬ 
ziehungsweise organotrope Therapie), oder 
indem er die Kräfte des Kranken stärkt, 
damit der erkrankte Organismus selbst 
die Krankheit überwindet (allgemeine 
Therapie). 

Die zweite Aufgabe verlangt, daß der 
Kranke während der Dauer seiner Krank¬ 


heit von seinen Beschwerden befreit 
werde. Dieser Aufgabe sucht der Arzt zu 
genügen; indem er auf die einzelnen Kla¬ 
gen des Kranken eingeht und sie be¬ 
handelt (symptomatische Therapie). 

- Die Erfüllung beider Aufgaben setzt 
als unumgängliche Vorbedingung voraus, 
daß der Kranke kunstgerecht untersucht 
und die Eigenart der Krankheit so gut 
als möglich erkannt wird. Grundlage der 
Therapie ist die Diagnose. Selbstver¬ 
ständlich gilt das für die kausale und 
organotrope Therapie. Aber auch die An¬ 
wendungen der allgemeinen und sympto¬ 
matischen Behandlung sind unsicher und 



Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


29 


gefahrvoll, wenn sie nicht von dia¬ 
gnostischer Sachkenntnis geleitet werden. 

Die folgenden Auseinandersetzungen 
über die Behandlung von Krankheiten 
sind nur für medizinisch durchgebildete 
Leser 'geschrieben, welche sich genügende 
Erfahrungen über Erkennung und Be¬ 
urteilung der Krankheiten angeeignet 
haben. 

Die Einteilung des Stoffes ist so 
getroffen, daß die Regeln der Allgemein¬ 
behandlung vorausgenommen sind, weil 
sie sinngemäß in allen Krankheiten An¬ 
wendung finden, auch in denen, welche 
der kausalen und organotropen Therapie 
zugänglich sind. Hierbei wird auch die 
Behandlung einiger Hauptsymptome be¬ 
sprochen, insofern ihre Beseitigung zur 
Kräftigung und schnelleren Heilung des 
Kranken beiträgt; die meisten Einzel¬ 
heiten der symptomatischen Therapie 
werden bei den betreffenden Organkrank¬ 
heiten ab gehandelt. 

Der Besprechung der Allgemeintherapie 
folgen die Kapitel über die Therapie der 
Organkrankheiten^), welche die Grund¬ 
sätze und Anwendungen der kausalen, 
organotropen und symptomatischen The¬ 
rapie enthalten. 


Die allgemeine Behandlung umfaßt 
alle Anwendungen, welche geeignet sind, 
die Hindernisse der Genesung zu be¬ 
seitigen und die natürlichen Abwehrkräfte 
des Organismus zu vermehren, damit es 
ihm aus eigener Kraft gelinge, der Krank¬ 
heit Herr zu werden. Hierzu gehört die 
Krankenpflege, die Ernährung, die psy¬ 
chische Beeinflussung, die Anregung des 
Gesamtstoffweckseis durch physikalische 
und medikamentöse Anwendungen, die 
Überwachung der lebenswichtigen Funk¬ 
tionen des Herzens, der Atmung, sowie 
der Exkretionen, die Beseitigung ge¬ 
nesunghemmender Beschwerden, insbe¬ 
sondere der Schmerzen, sowie die Sorge 
für den Schlaf. In den letztgenann¬ 
ten Indikationen deckt sich die All¬ 
gemeinbehandlung teilweise mit der 
symptomatischen Therapie. 

1. Krankenpflege. Die Krankenpflege 
umfaßt die Anordnungen und Verrich¬ 
tungen, durch welche dem Kranken 
Schädlichkeiten ferngehalten und solche 
äußeren Bedingungen gewährt werden. 

Die Kapitel über Behandlung der Herz-, 
Nieren-, Lungen- und Magendarmkrankheiten 
sind im vorigen Jahrgang erschienen. 


welche dem^ günstigen Ablauf der Krank¬ 
heit förderlich sind. Die Ausführung der¬ 
selben ist Sache der zur Krankenpflege 
bestellten Persönlichkeit; die Verant¬ 
wortung für die Pflege hat der Arzt, er 
hat sie bis ins einzelne anzuordhen und 
zu überwachen. 

Die Pflege sorgt für Lüftung und 
Temperatur des Krankenzimmers, für 
Bereitung und Reinhaltung des Bettes, 
für /Beobachtung und Bewachung des 
Kranken, für seine peinliche Sauberkeit, 
für die Befriedigung seiner Bedürfnisse, 
für die regelrechte Darreichung der ver- 
ordneten Ernährung und der Medika¬ 
mente. Die Ausübung der Krankenpflege 
bedarf berufsmäßiger Schulung, sie ist die 
Grundlage ärztlicher Eingriffe und sollte 
nur in kurzdauernden Krankheiten oder 
, im Notfall ungeschulten Familiengliedern 
anvertraut werden. Schwerkranke, diebe¬ 
rufsmäßiger Krankenpflege entbehren, ge¬ 
hören ins Krankenhaus. In gut ein¬ 
gerichteten Krankenhäusern sieht der 
angehende Arzt die Kranken unter gün¬ 
stigen Pflegebedingungen; er macht sich 
oft nicht klar, welche Summe von Arbeit 
nötig ist, um die Kranken in solchem Zu¬ 
stande zu halten; im Haushalt hat der 
Arzt die Pflicht, bei der Übernahme der 
Krankenbehandlung für Einrichtung ge¬ 
ordneter Krankenpflege zu sorgen. 

2. Ernährung. Die Sorge für regel¬ 
mäßige Zufuhr einer dem Krankheits¬ 
zustand angemessenen Nahrung ist eine 
Hauptpflicht des Arztes. Sie ist be¬ 
sonders dringend in langdauernden Krank¬ 
heiten, welche die Gefahr der Inanition 
mit sich bringen. Indem die Nahrungs¬ 
zufuhr die Kräfte erhält, bringt sie den 
Kranken überhaupt erst in die Lage, die 
Krankheit üb erstehen, zu können. Die 
Ernährung ist stets ein wesentlicher Be¬ 
standteil der Behandlung. Darüber hin¬ 
aus wird sie zur Behandlung selbst in 
solchen Krankheiten, welche durch fehler¬ 
hafte Ernährung verursacht, durch rich¬ 
tige Nahrungswahl geheilt werden, oder 
in solchen, bei welchen Anomalien des 
Stoffwechsels durch qualitative Diät¬ 
festsetzung zur Norm zurückgeführt oder 
ihrer schädlichen Wirkung entäußert wer¬ 
den. Zu einem vollständigen Heilplane 
gehört ein genauer Speisezettel, der Art 
und Mengen der Speisen in ihrer Vertei¬ 
lung für den Tag verzeichnet. Im all¬ 
gemeinen soll jeder Kranke soviel Nah¬ 
rung erhalten, als der jeweilige Zustand 
der Verdauungsorgane gestattet, wobei 
die qualitative Auswahl durch die be- 





30 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Januar 


sondere Art der Krankheit bestimmt wird. 
Im Begini^e von Krankheiten, ^^i un¬ 
sicherer Diagnose, verordne man sparsame 
Diät, am besten aus dünnem Getränk, 
Suppen und Brei bestehend; die Klärung 
der Sachlage wird allmählich bestimmtere 
Ratschläge gestatten, welche in den fol¬ 
genden Kapiteln ausführlich dargelegt 
werden. - j 

Der Überwachung des Arztes unter¬ 
steht auch die Beschaffenheit der^ver- 
0 ¥dneten Speisen und die Art ihrer Dar¬ 
reichung; er soll genug von der Kunst 
der Küche verstehen, um die Zubereitung 
angeben und kontrollieren ^zu können. 

Anregung des Appetits. Die Anregung des 
darniederliegenden Appetits ist besonders bei 
chronisch Kranken als Vorbedingung der un¬ 
umgänglich notwendigen Nahrungsaufnahme von 
größter Bedeutung. Da der Appetit von der 
normalen Funktion des komplizierten Räder¬ 
werks der Magenverdauung abhängt, so kommt 
es bei Appetitmangel auf die Feststellung an, 
wo das Räderwerk gestört ist, ob der Magen 
selbst anatomisch verändert ist, oder ob sein 
Blutumlauf unter venöser Stauung leidet, oder 
ob' eine Verschlechterung der Blutmischung 
durch anderweite Organerkrankung eingetreten 
ist oder ob es sich um allgemeine Nervenstörung 
handelt. Liegt eine feststellbare ursächliche 
Erkrankung vor, so sucht man ihr beizukommen, 
worüber in den verschiedenen folgenden Kapiteln 
gehandelt wird. Unabhängig von der speziellen 
Therapie der Herz- oder Lungen- oder anderer 
Krankheit sucht man auf die Magenfunktionen 
zu wirken, einmal durch psychische Anregung der 
Stimmung und Laune des Patienten, andererseits 
durch gewisse Medikamente, welche erfahrungsge¬ 
mäß die Saftsekre^on und die motorische Tätigkeit 
des Magens vermehren. Als einfachstes Stomachi- 
cum wirkt verdünnte Salzsäure, tropfenweisgegeben 
oder in Mixtur mit Pepsin, auch in Tabletten von 
Betainchlorhydrat (Acidolpepsin); auch Pankreas¬ 
tabletten können appetitanregend wirken. Viel 
verordnet werden die Bittermittel Chinarinde, 
Condurango, Gentiana, Rhabarber, Nux vomica 
in verschiedenen Mischungen. Folgende Rezepte 
kommen in Frage: 

j. Acid. hydrochlor. dilut. 30,0 

Ds. Dreimal täglich 13 bis 20 Tropfen in i Wein¬ 
glas Wasser eine halbe Stunde nach dem Essen. 

2. Ac. hydrochlor. äil. 2,0 
Tct. Aivrant. 5,0 

Sir. simpl. ad. 200,0 

Ds. Stundheh i Eßlöffel. 

3. Mixt. Pepsini F. M. B. 

(Peps^n 5,0 

Actd. hydrochlor. dAl. 2,0 
Tct. Atirant 5,0 
Sir. spl. 20,0 
Aq. dest. ad 200 o 

Ds. stündlich i Eßlöffel.) 

4. Tinct. stomachica F. M. B. 

(Tinct. Chin. comp. 

Tinct. Rhei. vinos 
Tinct. Zingiher aa 10,0 

Ds. Dreiynal täglich vor dem Essen 20 bis 30 
Tropfen.) 


5. Tct. F^uc. vomic. 

Tct. Rhei. vinos. 

Tct. Gentian aa^ 5,0 

Ds. Dreimal täglich 13 Tropfen vor dem Essen.. 

6. Decoct. Chinae F. M. B. 

(Decoct. cort. Chinae lojiyo 
Coq%ie c. ac. mur. dil. 2,0 
Sir. simpl. ad. 200,0 

Ds. Dreimal täglich i Eßlöffel vor dem Essen.} 

7. Decoct. cort. Condurango io,oji8o,o 

Ac. hydrochlor 1,0 

Syr. simpl. ad. 200,0 

Mds. Dreimal täglich i Eßlöffel. 

Künstliche Ernährung. Wenn Bewußtlosigkeit 
oder unstillbares Erbrechen oder Undurchgängig¬ 
keit der Speisewege die gewöhnliche Nahrungs¬ 
zufuhr unmöglich machen, so ist künstliche Er¬ 
nährung einzuleiten. Bei Bewußtlosigkeit führt 
man einen Nelatonkatheter durch die untere 

Nasenchoane in die Speiseröhre bis zur Höhe 
des Ringknorpels und gießt mittels eines kleinen 
Trichters dreimal täglich je einenhalbenLiterMilch 
mit zwei eingerührten Eiern in den Magen. Ist 
das nicht möglich, so geschieht die unbedingt 
nötigeFlüssigkeitszufuhram besten durch lang¬ 
same Mastdarmeinläufe, mehrmals täglich je einen 
halben Liter Wasser, eventuell durch subcutane' 
Einspritzung oder auch intravenöse Infusion von 
300 bis 500 ccm steriler 0,9%iger Kochsalzlösung.. 
Eine wirkliche Nahrungszufuhr ist bei Ausschluß 
des Magens nur in sehr beschränktem Maße möglich,, 
weil der Mastdarm nur wenig Eiweiß und fast gar 
kein Fett resorbiert und die sogenannten Nähr¬ 
klistiere bald zu örtlicher Reizung führen. Gut 
resorbiert werden' Wasserklysmen von 300 bis 
400 ccm, in denen zwei Teelöffel Traubenzucker 
und zwei Teelöffel Cognac gelöst sind. Ab¬ 
wechselnd damit wendet man Peptonklistiere an 
(300 ccm Wasser, 2" Teelöffel Somatose oder 
Wittepepton oder Nährstoff Heyden, 2 Teelöffel 
Cognac). In Notfällen kann man die Ernährung 
durch intravenöse Infusion von einem Liter 
10 prozentiger Traubenzuckerlösung verbessern; 
der Schüttelfrost, welcher der Infusion zu folgen 
pflegt, ist bedeutungslos. 

3. Psychische Behandlung^). Wie die 

Ernährung den Organzellen das Material 
zu Aufbau und Arbeit zuführt, so fließen 
ihnen aus den geheimnisvollen Tiefen der 
Seele bewußt und unbewußt die Reize zu,, 
welche die Kraft und den Rhythmus ihrer 
Tätigkeit bedingen. Indem der Arzt auf 
die Seelenstimmung des Kranken Einfluß 
gewinnt, vermag er auch auf psychischem 
Wege Heilung von Krankheiten zu be¬ 
schleunigen und ErtragenWon Leiden zu 
erleichtern. 

Dies geschieht einmal durch die see¬ 
lische Fühlung mit dem Kranken, aus 
welcher dieser erkennt, daß der Arzt es 
herzlich gut mit ihm meint, und welche 
also eine Art psychischer Krankenpflege 
darstellt. Denn namentlich in langen 
Krankheiten ist das Wohlbefinden des 


In diesem und einigen folgenden Ab¬ 
schnitten gebe ich Darlegungen aus meinem 1906 
erschienenen ,,Lehrbuch der inneren Medizin“ 
Bd. I wieder. 



Januar' 


Die Therapie der^ Gegenwart 1920 


31 


Kranken hur zum Teil von den körper¬ 
lichen Umständen abhängig; eine große 
Bedeutung haben auch seine Gedanken 
und seine Empfindungen; er grübelt über 
den möglichen Ausgang der Krankheit 
nach und wird von Angst und Furcht be¬ 
wegt. Die Depression der Fühllage wirkt 
schädlich zurück auf viele körperliche 
Funktionen. Hier vermag der Zuspruch 
des Arztes, sein Trost, unter Umständen 
sein Scherzwort, manchmal auch seine 
bloße Haltung zu wirken. Es ist nicht 
nur eine Redensart, wenn die Kranken 
oft'genug versichern, daß schon der An¬ 
blick des Arztes ihnen eine Besserung 
brächte. 

Neben diese Emanation der ärztlichen 
Persönlichkeit tritt odie bewußte Sug- 
gestivbehand’ung, das ist die Beein¬ 
flussung des Willens, der Vorstellungen 
und Empfindungen des Kranken zwecks 
Erzielung von Heilerfolgen. Nicht nur 
die dem Willen unterstellten Tätigkeiten 
der Organe lassen sich durch Befehl und 
moralische Beeinflussung ordnen; auch 
das automatische Arbeiten der Organe, 
innere und äußere Drüsensekretion, Pe¬ 
ristaltik, Herztätigkeit und Gefäßtonus 
ist wirksam durch seelische Einwirkungen 
zu beeinflussen. Wie Schreck, Angst und 
Sorge die Pulsfrequenz beschleunigen, so 
wird dieselbe durch zuversichtliche Stim¬ 
mung zur Norm gebracht; die Erzeugung 
der Vorstellung, daß gewisse Organe in 
verstärktem Maße arbeiten, vermag wirk¬ 
lich die Leistungsfähigkeit derselben zu 
beeinflussen. Auch kann durch die Ein¬ 
wirkung auf Wollen und Fühlen der 
Kranken das Bewußtsein störender Organ¬ 
empfindungen, ja sogar das Gefühl von 
Schmerzen derart vermindert werden, 
daß die Patienten trotz bestehender ana¬ 
tomischer Veränderungen dieselben zu 
vernachlässigen und zu ignorieren lernen. 

Die psychische Behandlung erzielt 
ihre größten Erfolge bei den funktionellen 
Erkrankungen, welche ohne anatomische 
Organveränderung auf einer Krankhaftig¬ 
keit oder Ermüdung der Nerven beruhen;, 
sie darf aber auch bei organischen Er¬ 
krankungen nicht vernachlässigt werden, 
weil sich einerseits zu diesen oft nervöse 
Begleiterscheinungen hinzugesellen, an¬ 
dererseits auch wirklich organische Ver¬ 
änderungen der Psychotherapie in ge¬ 
wissem Grade zugänglich sind. 

4. Anregung des Gesamtstoffwechsels* 
Wie wir in der Psychotherapie ein Mittel 
sehen, die Zellarbeit zu beeinflussen, so 
suchen wir auch durch physikalische und 


chemische Anwendungen auf sie zu wirken.. 
Es kommt darauf an, den Ernährungs¬ 
strom des Blutes und der Lymphe zu 
den von der Krankheit angegriffenen 
Zellgebieten zu lenken, zugleich für den' 
unbehinderten Abfluß verbrauchten Zell- 
materials zu sorgen. Solches geschieht, 
durch die Methoden der Hydrotherapie 
in Gestalt von Ganz- und Teilbädern, 
Waschungen und Abreibungen, Packun¬ 
gen und Schwitzprozeduren, durch Heiß- 
Iqftbehandlung, und künstliche Stau¬ 
ungen, sowie durch die Methoden der 
Mechanotherapie, Massage, aktive und' 
passive Gymnastik. All diese Heil¬ 
methoden wirken aber nicht nur durch 
mechanische Erzeugung von Blutfülle 
und Blutumlauf, sie rufen von den Haut¬ 
nerven aus reflektorische Wirkungen 
hervor, in dem sie Gefäßzusammenzie¬ 
hung und -Erweiterung in tiefgelegenen 
Organen erzeugen; wahrscheinlich ver¬ 
mögen sie auch auf die Zellarbeit stärkend 
einzuwirken; das darf für die Niereh¬ 
tätigkeit als erwiesen gelten und ist für 
andere Organe sehr plausibel. 

Die hier genannten Methoden leisten 
dem Arzt die besten Dienste in der Be¬ 
handlung sehr vieler innerer Krankheiten; 
ihre Anwendung erfordert genaue Kennt¬ 
nis ihrer Wirkungen, wie sie nur durch 
vielfältige Übung und Beobachtung ge¬ 
wonnen werden kann, ihre Technik wird 
später besonders beschrieben. 

Auch durch chemische Anwendungen 
versucht man die Zellen im Kampf gegen 
Krankheit zu kräftigen, indem man 
Arzneisubstanzen zuführt, die erfahrungs¬ 
gemäß gleich Katalysatoren den Ablauf 
der Umsetzungsprozesse beschleunigen. 
In dieser Beziehung wirkt insbesondere- 
Arsen, das sowohl während der Krank¬ 
heit als namentlich in der Rekonvaleszenz. 
Anwendung ^^erdient. 

Empfehlenswert sind tägliche subku¬ 
tane Injektionen von Natrium arseniqo- 
sum subtilissime neutralisatum 0,1 : 10,0, 
zu V 2 Spritze, oder das in sterilen Am¬ 
pullen vorrätige Solarson. 

5. Überwachung der lebenswichtigen 
Funktionen. Wie der Kranke gepflegt 
und ernährt werden muß, um mit der 
Krankheit fertig zu werden, so müssen 
auch seine körperlichen Hauptfunktionen 
vor Gefährdung und Erlöschen bewahrt 
werden. In erster Linie bedarf das Herz 
sorgfältiger Überwachung, besonders in 
solchen Krankheiten, die es erfahrungs¬ 
gemäß bedrohen. Wird der Puls frequent 
und klein, so sind die Herzstärkungsmittel 





32 


Die Therapie Gegenwart 1920 


Janüai* 


Alkohol und Kaffee, Campher und Coffein 
zu reichen. Digitalis scheint nur zu 
wirken, wenn es sich um hypertrophische 
und dilatierte'Herzen handelt. 

Wein und Kognak sind ausgezeichnete Mittel 
zur Anregung des ermüdenden Herzens in Krank¬ 
heiten; auch wer im gewöhnlichen Leben für Ab¬ 
stinenz ist, sollte in der Krankenbehandlung auf 
diese tonisierende Wirkung nicht verzichten. In 
be^ug auf Menge und Sorte des Weins wird man 
sich nach den Gewohnheiten des Kranken und 
der Art der Krankheit richten. Auch starker 
Kaffee leistet vorzügliche Dienste zur Excitation 
des Herzens und erhöht bei vielen Kranken das 
subjektive Wohlbefinden; wegen seiner oft 
schlafscheuchenden Wirkung sollte er abends 
Kranken nicht gegeben werden. Kampher und 
Coffein sind unentbehrliche .Mittel zur Bekämpfung 
drohender Herzschwäche; sie werden nach Bedarf 
in wiederholten subcutanen Injektionen gegeben. 

OL camphorati io,o. 

Ds. Zur Injektion, 

Sol. Coffein natr. salicylic. 2,0:10,0. 

Ds. Zur Injektion. 

Ferner sucht der Arzt die beschleunigte 
und mühsame Atmung zu erleichtern. 
Selbstverständlich ist bei bestehender 
Dyspnoe eine genaue Erforschung der 
Ursache und eine auf diese gerichtete Be¬ 
handlung unbedingt notwendig; aber un¬ 
abhängig davon hilft man durch kleine 
Gaben narkotischer Mittel, eventuell 
durch Einatmen von Sauerstoff, bei sehr 
bedrohlicher Atemnot durch einen Aderlaß. 

Die Einatmung von reinem Sauerstoff mittels 
eines leihweis zu erhaltenden Inhalators aus einer 
Stahlbombe gehört zu den Erleichterungsmitteln, 
welche Dyspnoischen subjektiv wohftuen, oft auch 
obj'ektiv nützen, indem ein erhöhter 0-Partialdruck 
im Blute die Oxydationen vermehrt. Man läßt 
die Einatmung in kurzen Pausen minutenlang 
vornehmen. Der Aderlaß ist eine ultima ratio 
bei schwerer Dyspnöe; er wirkt durch Entlastung 
des kleinen Kreislaufs, doch ist die Wirkung 
weder eklatant noch anhaltend, da die innere 
Ursache ja nicht beeinflußt wird. 

Auf der Grenze zwischen Kranken¬ 
pflege^ und ärztlicher Behandlung liegt 
die Überwachung der Ausscheidungen, 
insbesondere der Stuhl- und Urinent¬ 
leerung, für die in jeder Krankheit zu 
sorgen ist. Ist der Stuhl angehalten, so 
hilft man durch Wassereinlauf oder 
leichte Abführmittel, bei Harnverhaltung 
ist zu katheterisieren. 

Für Stuhlgang sollte jeden Tag oder we¬ 
nigstens einen Tag um den anderen gesorgt wer¬ 
den, wenn nicht die Art der Krankheit (Bauch¬ 
fellentzündung und andere) es verbieten. Man 
gibt dreiviertel Liter lauwarmes Wasser, eventuell 
mit Seife oder Salz. Als Abführmittel kommt 
Ricinusöl oder Karlsbader Salz oder Bitterwasser, 
auch Sennainfus oder Rhabarber in Frage (ver¬ 
gleiche das Kapitel über Verstopfung). — Der 
Stand der Harnblase ist zu kontrollieren; etwaige 
Verhaltung sucht man mit warmen Leibumschlä¬ 
gen zu beseitigen, eventuell ist zwei bis drei Mal 
täglich zu katheterisieren, unter vorsichtigster 
Asepsis. 


6. Beseitigung genesunghemmender 
Symptome. Jede Krankheitsäußerung, 
die den Kranken quält oder belästigt, 
sollte durch Unterdrückung der Ursache 
beseitigt werden. Aber die Ursache ist 
oft langsam, manchmal gar nicht zu be¬ 
seitigen, der Patient aber heischt schnelle 
Linderung seiner Beschwerden. Vor allem 
aber kann das Zeichen einer Krankheit, 
wie Schmerz oder Fieber oder Bluthusten 
oder Erbrechen, ganz unabhängig'von der 
Ursache den Kranken so angreifen, daß 
es seine Kräfte verzehrt und also die 
Heilung aufhält oder verhindert. So 
wird die Beseitigung der einzelnen Sym¬ 
ptome zur Unterstützung der Heiltendenz 
und verdient deshalb als Teil der All¬ 
gemeinbehandlung besprochen zu werden. 
Man wäre berechtigt, die ganze sympto¬ 
matische Therapie an dieser Stelle ab¬ 
zuhandeln. Doch erscheint es aus äußeren 
Gründen zweckmäßig, hier nur über Be¬ 
handlung von Schmerzen zu sprechen, 
die Einzelsymptome aber der Organ¬ 
therapie zuzuweisen. 

Schmetzstillung. Von Schmerzen be¬ 
freit zu werden ist eine der Hauptforde¬ 
rungen des Kranken, Schmerzen zu lin¬ 
dern wesentliche Pflicht und schönstes 
Vorrecht des Arztes. Wenn es angeht, 
wird man die Ursache des Schmerzes zu 
ergründen und zu beseitigen suchen. 
Aber einerseits ist die ursächliche The¬ 
rapie sehr oft unausführbar, andererseits 
verlangt der Patient schnelle Linderung 
seiner Schmerzen, während die Verfolgung 
der Kausalindikation lange Zeit in An¬ 
spruch nimmt. Bei der Wahl der Behand¬ 
lung berücksichtigt man die Art, Inten¬ 
sität und Lokalisation der Schmerzen 
und die Persönlichkeit des Kranken. Bei 
erträglichen Schmerzen, die nicht den Ein¬ 
druck schweren Leidens hervorrufen, die 
das Allgemeinbefinden, die Nahrungsauf¬ 
nahme, den Schlaf nicht wesentlich 
stören, wird man mit lokaler Wärme¬ 
anwendung auszuko.mmen suchen, welche 
durch Hyperämie die Nerven beruhigt, 
auch wohl dem Entzündungsreiz entgegen¬ 
wirkt. Jedenfalls empfehlen sich warme 
oder heiße Applikationen in Form von 
feuchten Umschlägen, mit heißem Wasser 
gefüllten Gefäßen, Sandsäcken, Thermo¬ 
phoren in den meisten Fällen örtlichen 
Schmerzes. Bei der Auswahl der Form 
und des Hitzegrads richtet man sich 
nach den Gewohnheiten und Erfahrungen 
des Patienten. Manchmal werden ganz 
kalte oder Eisumschläge besser vertragen, 
in anderen Fällen dreischichtige Um- 



Januat 


Die Therapie der Gegenwart 192(0 


33 


Schläge' aus nasser Leinwand, Gummi- 
'papier, Wolle (Prießnitzkompressen, belei¬ 
hen sechs bis zehn Stunden liegen). 
Auch warme Bäder können bei örtlichen 
Schmerzen beruhigend wirken. Die Wir¬ 
kung der Wärme wird unterstützt durch 
die innerliche Anwendung der Analgetika, 
welche sicherlich die Empfindlichkeit des 
Centralnervensystems für einige Zeit 
herabsetzen; auch hier pflegt man sich 
in der Auswahl zwischen Aspirin 0,5, 
Antipyrin 1,0, Pyramiden 0,3, Atophan 
0,5 u. a. oft von früheren Erfahrungen 
der Patienten bestimmen zu lassen; die 
Wirkung der einzelnen MitteL ist in¬ 
dividuell verschieden, sodaß bei der Er- 
folglosigkejt des einen das andere sich 
hilfreich erweisen kann; eventuell werden 
hartnäckige Schmerzen durch Kom¬ 
bination kleinerer Gaben mehrerer Mittel 
besänftigt. Sehr häufig werden diese 
Mittel ohne ärztliche Verordnung an¬ 
gewendet, und es ist Sache des Arztes, auf 
die Schädlichkeit allzuhäufigen Gebrauchs 
hinzuweisen. Den eigentlichen Analgeticis 
reiht sich Methylenblau^) an, welches 
sich der Nervensubstanz direkt einlagert 
und augenscheinlich die Schmerzempfin¬ 
dung abstumpft. 

Schmerzen, die von entzündeter oder 
wunder Schleimhaut herrühren, werden 
durch Aufpinseln schwacher Cocain¬ 
lösung ^) oder Aufpulvern von Anäthe- 
sin^) beruhigt; dem Mastdarme werden 
diese Medikamente in Form von Suppo- 
sitorien dargeboten. 

Bei sehr heftigen, namentlich plötz¬ 
lich einsetzenden Schmerzen wirkt als 
zauberhaftes Beruhigungsmittel die sub- 
cutane Injektion von Morphium. 

Man gibt 0,01 bis 0,02 g. Die innerliche An¬ 
wendung beruhigt langsamer und weniger sicher. 
Die üble Nebenwirkung des Erbrechens wird 
manchmal durch vergrößerte Dosis vermieden; 
darauf beruht die gute Wirkung der angeblichen 
Ersatzmittel, welche in Wirklichkeit erhöhten 
Morphiumgehalt haben (z. B. Trivalin). Man kann 
auch an Stelle des Morphiums dessen Derivate 

Methylenblau medicinale o,i 
D. in caps. gelat. Nr. 20 

I Stück dreistündlich zu nehmen (macht öfters 
Dysurie und muß dann mit Sem. Myristic. 0,1 zu¬ 
sammen gegeben werden). 

Cocain mur. o,2lio,o 
zum Pinseln. 

Cocain mur. 0,03 
Butyr. Cacao 2,5 
F.' supp. D. tal. dos. X. 

Anaesthesin 20 
F. pulv. Ds. Äußerl. 

Pulv. Anaesthesin 0,03 
dos. X 

Ds. Dreimal täglich i Pulver. 


Heroin^) oder Dionin®) versuchen, oder das 
Morphium mit Atropin ®) kombinieren. Schlie߬ 
lich stehen die künstlichen Mischungen der 
Opiumalkaloide (Pantopon, Narcophin, Lau- 
danon) zu Gebote. 

Die Morphiumwirkung hält mehrere 
Stunden an; unter sorgfältiger Indika¬ 
tionsstellung kann die Injektion wieder¬ 
holt werden. Bei häufiger Anwendung 
tritt Gewöhnung ein und die Dosis muß 
vergrößert werden. Darin ist bei chro¬ 
nischen Krankheiten die Gefahr des ver¬ 
derblichen Morphinismus gelegen. In 
jedem Falle soll Mofphiuminjektion nur 
vom Arzt oder auf besondere ärztliche 
Anordnung gegeben werden. 

7. Sorge für Schlaf. Der Schlaf stärkt 
Kranke wie Gesunde; Schlaflosigkeit be¬ 
kämpfen heißt die Kräfte im Kampfe 
gegen Krankheit vermehren. Der Eintritt 
des Schlafes wird durch Fernhaltung 
innerer wie äußerer Sinnesreize gegeben. 
In Krankheiten heißt es also, alle schlaf¬ 
störenden Zeichen zur Nacht möglichst 
zu beseitigen; Schmerzen und Dyspnöe 
sind durch Morphium, Husten ist durch 
Kodein, Fieber durch Antipyretica, die 
Kopfschmerzen der Luetischen durch Jod, 
Druckschmerzen der Herzkranken und Ar- 
teriosklerotiker durch Diuretin zu mildern. 
Wenn irgend möglich, soll mit der sym¬ 
ptomatischen auch die kausale Therapie 
der schlafstörenden Krankheit einsetzen. 

Besondere Erwägung fordert die 
Schlaflosigkeit als Hauptzeichen krank¬ 
hafter Nervenbeschaffenheit. Dann be¬ 
weist die Schlaflosigkeit ein Mißverhältnis 
zwischen Nervenkraft und Beanspruchung 
des Nervensystems. Es gilt dann, der be¬ 
sonderen Art dieses Mißverhältnisses nach¬ 
zuforschen und festzustellen, welche be¬ 
sondere Ursache auf das Nervensystem 
eingewirkt hat, ob es sich um quantitativ 
gesteigerte Arbeit oder qualitativ be¬ 
sondere Traumen handelt, oder ob eine 
Unterwertigkeit des Nervensystems be¬ 
steht, welche dasselbe normale Lasten 
nicht ertragen läßt. Dementsprechend 
muß der Arzt Erlebnisse und Lebensweise 
schlafloser Patienten genau durchfor¬ 
schen, um die Ursache aufzudecken, die 
beseitigt werden muß. Handelt es sich 
um allzu große Beanspruchung, so ist die 
Lebensweise zu ändern, indem man ver- 

Sol. Heroin, mur. 0,05/10,0 

Ds. — I Spritze zu injizieren. 

®) Sol. Dionin. mur. 0,1/10,0 

Ds. Zur subcutanen Injektion. 

®) Morph, mur. 0,1 

Atropin sulf. 0,01 
Aq. dest. 10,0 

Ds. Zur subcutanen Injektion. 


5 




34 


I 

I 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Januar 


sucht, die Tätigkeit der Leistungsfähig¬ 
keit anzupassen und vor allem für aus¬ 
giebige Ruhezeit sorgt. Sind Gemüts¬ 
bewegungen die Ursache, die entweder 
zeitlich abgeschlossen oder fortwirkend 
nicht zu ändern sind, so kommt die 
pädagogische ^ Therapie zur Geltung, 
welche geeignetenfalls dem Patienten 
höhere Lebensziele enthüllt und die ver¬ 
gleichsweise Nichtigkeit der niederziehen¬ 
den oder erregenden Eindrücke nach¬ 
weist. Neben die Psychotherapie, welche 
die Beanspruchung des Nervensystems 
vermindern will, tritt der Versuch, die 
Kraft des Nervensystems zu steigern 
durch wahlweise Anwendung physika¬ 
lischer und medikamentöser Behandlung, 
wie sie im Kapitel der Nervenkrankheiten 
näher beschrieben wird. 

Die Wirkung der psychischen und 
antineurasthenischen Therapie ist nur 
langsam zu erwarten; oft wollen wir 
dem Kranken schnell erquickenden Schlaf 
verschaffen. Dann ist die Verordnung 
eines sicher wirkenden Schlafmittels 
manchmal unerläßlich. Wir haben die 
Wahl zwischen 0,5 g Adalin, Veronal, 
Medinal, Bromural, 0,3 g Luminal. Keines 
dieser Mittel ist ganz frei von Neben¬ 
wirkungen, doch wirken sie meist nach 
Wunsch. Alle haben die Eigenschaft, 
bei öfterer Anwendung allmählich ihre 
Wirkung zu verlieren, sodaß immer 
größere Dosen notwendig werden. Man 
tut deswegen gut, bei der Notwendigkeit 
häufiger Verordnung mit dem Präparat 
zu wechseln, oder auch Kombination 
kleinerer Dosen von Schlafmitteln mit 
Analgeticis und Narkoticis zu verordnen, 
z. B. Veronal 0,3, Phenacetin 0,25, Kodein 
Phosphor. 0,03. 


Die hier beschriebenen Methoden sind 
für die Behandlung kranker Menschen 
unentbehrlich; je besser der Arzt mit 
ihnen Bescheid weiß, desto sicherer wird 
er die Wege der ärztlichen Praxis wan¬ 
deln. Aber wenn auch die Allgemein¬ 
behandlung oft genug Triumphe feiert, 
so möge sich der Arzt doch stets bewußt 
bleiben, daß ihre Anwendung oft nur 
ein Bekenntnis unserer Resigna ion ist. 
Wir machen uns die natürlichen Heil¬ 
kräfte des Organismus dienstbar, weil 
unsere Kunst bessere Methoden anzu¬ 
wenden im Einzelfall nicht gestattet. 
Die Allgemeinbehandlung ist ebenso ein 
Teil der ärztlichen Kunst wie die kau¬ 
sale und die organotrope Behandlung, 
aber wer seine Sache nur auf die All¬ 
gemeinbehandlung stellen wollte, der 
würde doch vielfach die sichersten Waf¬ 
fen im Kampf gegen Krankheiten ent¬ 
behren. Wer gar wahllos nur die eine 
oder andere Methode der Allgemeinbe¬ 
handlung zur Anwendung bringt, ohne 
sich um die Diagnose der Krankheit zu 
kümmern, der sinkt zur Stufe des Kur¬ 
pfuschers herab. 

Am zweckmäßigsten erscheint der Rat, 
die Behandlung jeder Krankheit mit den 
Methoden der Allgemeinbehandlung zu 
beginnen und dabei das Krankheitsbild 
so genau zu erforschen, daß möglichst 
bald die spezielle Diagnose gestellt werden 
kann, welche oft die Möglichkeit einer 
kausalen und organotropen Therapie ge¬ 
stattet. Freilich gibt es Krankheiten 
genug, in denen trotz der Diagnose eine 
erfolgreiche spezielle Therapie nicht mög¬ 
lich ist und das unerbittliche Gesetz der 
Natur auch den gelehrtesten Arzt zwingt, 
sich mit den Methoden der Allgemein¬ 
behandlung zu begnügen. - 


Zusammenfassende Übersicht. 


Aus dem Knappscliaftskraukeuliaiis zu Emanuelsegen. 

Über einige praktisch wichtige Kapitel der chirurgischen 

Tuberkulose’). 

. Von Dr. H. Harttung, leitender Arzt, 


Der kalte Absceß kommt äußerst- 
selten ohne jede Erkrankung eines 
Knochens, einer Drüse oder eines son¬ 
stigen Organs zur Beobachtung. Der 
kalte Absceß ist meist der Ausdruck für 
die Erkrankung eines tiefergelegenen Ge¬ 
webes, wobei es gar nicht notwendig ist. 

Aus einem Vortrage, gehalten im Ärzte¬ 
verein des Kr. Pleß (O./S.). 


daß der Absceß sich direkt über der er¬ 
krankten Partie entwickelt. Ich erinnere 
Sie an die Senkungsabscesse, die viel¬ 
fach unter einer Fascie oder Muskel- 
aponeurose an Orten zum Vorscheine 
kommen, welche weit entfernt von dem 
primären Herde gelegen sind. Spaltet 
man einen solchen Absceß, so findet man 
in ihm einen dünnen, bröckligen Eiter oder 




Januar 


35 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


'aber ein .Konglomerat schwammiger, von 
käsigen Massen durchsetzten Granula¬ 
tionen. Mikroskopisch enthält dieser 
Eiter sehr wenig Eiterkörper, wohl aber 
massenhaft kernige und fettige Zerfalls¬ 
produkte, die eben dem Verkäsungsprozeß 
zuzuschreiben sind. Die Absceßwand 
besteht aus einem tuberkulösen Granu¬ 
lationsgewebe, das sich oft sehr gut gegen 
die Umgebung abgekap^elb hat. , 

Klinisch präsentiert sich ein solcher 
Absceß in Gestalt eines Tumors, welcher 
deutlich in der größten Mehrzahl der Fälle 
Fluktuation aufweist. Alle Zeichen der 
akuten Entzündung fehlen, solange hicht 
eine Mischinfektion hinzugetreten ist. 
Es fehlt vor allen Dingen die Schmerz¬ 
haftigkeit, das hervorstechendste Sym¬ 
ptom für die heißen Abscesse. Finden sich 
andere tuberkulöse Erkrankungen, läßt 
sich vor allen Dingen eine Knochener¬ 
krankung, eine Gelenkaffektion, eine 
Drüsentuberkulose nachweisen, dann wird 
die Diagnose auf keine Schwierigkeiten 
stoßen; Befinden sich derartige Abscesse 
auf dem Schädeldache, so muß an ein 
Gumma gedacht werden. Allgemein 
kann man hierzu bemerken, daß es sich 
in solchen Fällen bei Kindern meist um 
Tuberkulose, bei Erwachsenen meist um 
Gumma handelt. Differentialdiagnostisch 
ist weiterhin eine Neubildung in Frage 
zu ziehen, wenn die Spannung in dem 
Absceß einen derartigen Umfang ange¬ 
nommen hat, daß Fluktuation nicht mehr 
nachweisbar ist, daß der Absceß als ein 
kompakter Tumor imponiert. Solche 
Fälle sind für die Therapie außerordent¬ 
lich günstig, die radikale Entfernung 
gelingt meist ohne Schwierigkeit und 
führt sehr schnell zur vollkommenen 
Heilung. In der großen Mehrzahl der 
Fälle, namentlich für die Brustwand 
liegen die Verhältnisse jedoch nicht so 
günstig. Ist bereits eine Mischinfektion 
eingetreten, dann muß man sich mit der 
Spaltung des Abscesses, der Auskratzung 
der Granulationsgewebe, Tamponade der 
Wundhöhle begnügen, die dann per secun- 
dam zur Heilung kommt. Hierfür ein 
Beispiel: 

58jähriger Patient. Aufgenommen; 22. Juli 
1919, entlassen; 30. Juli 1919. 

Diagnose: Abscessus frigidus humeri. 

Bemerkt seit zwei Wochen einen Tumor auf 
der Innenseite des rechten Oberarms. Befund: 
Mittelkräftiger Mann. Innere Organe: Ohne 
nachweisbaren Befund. Hühnereigroßer Tumor 
auf der Innenseite des rechten Oberarms dicht 
über dem Cubitalgelenke. Haut stark gerötet. 
Keine besondere Schmerzhaftigkeit. Keine Drüsen 
in der Achselhöhle. Diagnose: Abscessus frigidus. 


25. Juli: Plexusanästhesie. Spaltung, bröck¬ 
liger Eiter, starke Absceßntembran. Auskratzung 
der Granulationen, Tamponade. 

30. Juli: In ambulante Behandlung entlassen. 
Wunde hat sich später vollkommen geschlossen. 

Hier kommt als primäre .Ursacfie 
des kalten Abscesses nux die Cubital- 
drüse in Frage, welche wohl sicher auf 
dem Blutwege von irgendeinem Lungen¬ 
herd infiziert worden ist. 

Wenn ich so kurz die radikalen 
Methoden der Behandlung besprochen 
habe, so muß ich betonen, daß in vielen 
Fällen dieses Vorgehen nicht angängig 
ist, sondern hierselbst konservative Me¬ 
thoden angewendet werden müssen. Das 
ist in erster Linie bei multiplem Auf- ^ 
treten der kalten Abscesse, namentlich 
an der Brustwand der Fall, weiterhin 
kommt das schonende Vorgehen für 
solche Patienten in Frage, welche durch 
ein anderes, besonders Lungenleiden, ge¬ 
schwächt sind. 

• Ohne zunächst auf die primären Ur¬ 
sachen eingehen zu wollen, möchte ich . 
schon hier bemerken, daß die kalten 
Abscesse der Brustwand vielfach der 
Ausdruck für eine tuberkulöse Pleura¬ 
infektion sind. Aber auch dann erreicht 
man durch Punktion des Abscesses, die 
am besten mit einem mittelstarken Troi- 
kart vorgenommen wird, mit nachfolgen¬ 
der Injektion von 10% Jodoformglycerin 
oft Heilung. Es ist aber wichtig, die Menge 
des Jodoformglycerins zu dosieren, bei 
Kindern nicht über 10 ccm hinauszu¬ 
gehen, bei Erwachsenen nicht über 30 ccm, 
sind doch Fälle von Jodoformintoxication 
beobachtet worden. Die Punktion muß 
zunächst nach 14 Tagen wiederholt wer¬ 
den, wobei sich dann ein mehr dünn¬ 
flüssiger, schokoladenähnlicher Eiter, 
untermischt mit Jodoformteilchen, ent¬ 
leert. 

Es ist kein Zweifel, daß bei einer der¬ 
artigen Behandlung auch eine Wirkung 
auf den primären Herd beobachtet wird, 
sei es, daß sich Jodoformglycerin durch 
den Fistelgang bis zum Hzrd ergießt, sei 
es, daß die mächtige Leukocytose, an¬ 
geregt durch das Jodoformglycerin, einen 
Einfluß auf den Knochenherd hat. Auch 
hierfür ein Beispiel: 

Sehr elende Patientin. Deutliche Zeichen einer 
Pleuritis. Unter dem Schulterblattwinkel rechts 
faustgroßer, kalter Absceß. Zweimal Punktion 
mit folgender Injektion von je 20 ccm Jodoform¬ 
glycerin in Abständen von drei Wochen. 

Absceß kommt zur Ausheilung; nach zehn 
Wochen nur noch ein Infiltrat zu fühlen, inzwi¬ 
schen war von anderer Seite ein pleuritisches 
Exsudat abgelassen worden. 


5* 



36 


Die Therapie der • öegenv^rart 1920 


Januar 


Die Patientin hat sich nach allgemeiner Be¬ 
handlung und - Pflege sehr gut erholt. 

Auch dieser Fall stützt die schon 
oben ausgesprochene Ansicht, daß' die 
kalten Brustwandabscesse nicht immer 
von einem Rippenherd ihren Ausgang 
nehmen, sondern vielfach von tuberku¬ 
lösen Pleuritiden. 

Die tuberkulösen Erkrankungen des 
Skeletts können lokale Prozesse sein, 
die aber meist als Metastase aufzufassen 
sind.' Lieblingssitz sind die spongiösen 
Teile des Skeletts und diejenigen mit 
reichlicher Spongiosa: Wirbelkörper, Epi¬ 
physen der Röhrenknochen, die kurzen 
Knochen der Hand- und Fußwurzel; 
Beckenknochen, Schädelknochen. Das 
Trauma spielt zweifellos für die Ent¬ 
stehung der Knochentuberkulose eine 
Rolle. Einmal kann es günstige Bedin¬ 
gungen im Sinn eines Locus minoris 
resistentiae für die Ansiedlung der Tuber¬ 
kelbacillen schaffen, zum anderen aber 
kann ein latenter Herd durch das Trauma 
zur Entwicklung gebracht werden. Es 
ist dem Pathologen ganz gebräuchlich, 
daß sie bei der Sektion von Lungentuber¬ 
kulosen häufig chronische Miliartuber¬ 
kulosen des Knochenmarks finden, 
Herde, die im Leben nie eine Erscheinung 
gemacht haben. 

Die tuberkulöse Osteomyelitis ist eine 
rein destruktive Erkrankung, die Telea 
ossea wird zerstört und Knochenneubil¬ 
dung fe}ilt im Gegensatz zur syphilitischen 
Ostitis ganz, da auch das Periost, sei es 
primär, sei es sekundär, an dem tuber¬ 
kulösen Prozeß beteiligt ist. An den 
Epiphysen der Röhrenknochen find'en 
wir häufig keilförmige Herde, die mit 
der Basis hach dem Gelenkinnern, mit 
der Spitze nach der Diaphyse zu reichen. 
Dieser Ausschreitungsprozeß entspricht 
mit Sicherheit einer kleinen Arterie, 
und so fst die Annahme berechtigt, 
daß es sich hier um einen embolischen 
Prozeß handelt, das heißt daß käsiges 
Material als Embolus das Gefäß verlegt 
hat. Gerade dieser Prozeß spielt auch für 
die Entstehung der Gelenktuberkulose 
eine bedeutende Rolle, auf die ich heute 
nicht eingehen kann. Weiterhin kommt 
eine tuberkulöse Arteriitis in Frage, die 
zu allmählichem Verschlüsse des Gefäßes 
und somit zu einem Infarkt geführt hat. 

Die Knochentuberkulose ist stets eine 
hämatogene Infektion. Der primäre 
Herd sitzt mit Vorliebe in einer Drüse, 
denn gerade die tuberkulösen Lymph- 
drüsen haben eine besondere Neigung, 


mit den Blutgefäßen zu verwachsen und 
in diese ein'zubrechen. Dor jugendliche 
Knochen ist sehr reich an Gefäßen, und 
so erklärt sich vielleicht die Tatsache, 
daß namentlich jüngere Individuen von 
der Knochentuberkulose befallen werden. 
Bis zum Abschlüsse des Knochenwachs¬ 
tums, nach welchem sich reichlich Colla- 
teralen ausbilden, sind die Äste der Arteria 
nutritia als Endarterien aufzufassen. Eine 
primäre Knochentuberkulose gehört wohl 
zu den größten Seltenheiten. Das Trauma 
spielt bei der Tuberkulose der Knochen 
keine so große Rolle als bei der Osteo¬ 
myelitis, vielfach wird ein latenter Herd 
erst durch das Trauma zur Entwicklung 
gebracht. 

Für die Entstehung einer Tuberkulose 
des Knochens kommen drei Wege in 
Frage. Einmal können die Tuberkel¬ 
bacillen in den Gefäßen der Knochen 
haften bleiben, zweitens kann ein tuber¬ 
kulöser Embolus einen Gefäßbezirk ver¬ 
legen und drittens kann ein tuberkulöser 
Herd der Nachbarschaft auf die Knochen 
übergreifen. Auf Grund dieser Ent¬ 
stehungsarten unterscheiden wir drei 
Haupttypen: 

1. den tuberkulösen Granulationsherd,. 

2. den embolischen tuberkulösen Se¬ 
quester, 

3. die infiltrierende, progressive Tu¬ 
berkulose. 

An denjenigen Knochen, welche nur 
eine sehr geringe Weichteilbedeckung 
haben, also der Clavikel, der Ulna, der 
Tibia sind auch tuberkulöse Periostiden 
beobachtet worden. Und so muß auch 
die Möglichkeit zugegeben werden, daß 
auch von solchen Herden aus der Knochen 
infiziert werden kann. Die Knochen¬ 
tuberkulose befällt mit Vorliebe die Epi-' 
physen der langen Röhrenknochen, wie 
die kurzen und die platten Knochen. Es 
dürfte zu weit führen, wenn ich auf die 
Klinik der Knochentuberkulose einginge, 
ich tue das bei Besprechung einzelner 
Formen und komme damit zunächst auf 
ein Gebiet der Knochentuberkulose zu 
sprechen, das ja praktisch eine hervor¬ 
ragende Bedeutung hat: 

Die Caries der Rippen. Wenn 
früher allgemein der Anschauung ge¬ 
huldigt worden ist, daß die kalten Ab- 
scesse der Brustwand stets ihre primäre 
Ursache in einer Rippencaries haben, 
so besteht diese Ansicht auf Grund 
neuerer Untersuchungen, wie namentlich 
praktischer Beobacht^ung nicht mehr zu 
Recht. 




357 


s/ 

Januar 4Dle Therapie,.der 


Zweifellos ist ein cariöser Herd in der 
Rippe in vielen Fällen die eigentliche 
Ursache für den kalten Absceß, gleich¬ 
gültig, ob es sich um eine primäre oder 
sekundäre Infektion des Knochens ge¬ 
handelt hat. 

Der tuberkulöse Prozeß greift von 
den Knochen auf die Weichteile über 
und nun entleert sich der Eiter unter 
die Weichteile, um nach Durchbrechung 
der Fascie unter die Haut zu treten und 
hier den kalten Absceß zu etablieren. 
Bleibt der Prozeß sich selbst überlassen, 
dann bricht der Eiter nach außen durch, 
und auf diese Weise kommt es zur Fistel, 
welche oft erstaunlich gewundene Gänge 
aufweist. Viel seltener ist der Vorgang 
der, daß der Eiter sich vom Knochenherde 
nach innen in die Fascia endothoracica 
und^den Brustkorb ausbreitet. Ich bin 
in der Lage, Ihnen an ^ einem Beispiel 
zu zeigen, daß sich von einem cariösen 
Herd der Rippe aus der Prozeß sowohl 
nach innen wie nach außen entwickeln 
kann: 

J. R., 18 Jahre. Aufgenommen 7. Juli 1919, 
entlassen 16. August 1919. 

Familienanamnese ohne Befund. Bemerkt seit 
einem Jahre eine Anschwellung unter dem rechten 
Schulterblatte. Schmerzen, Aufbruch, reichliche 
Eiterentleerung. Vorher auch öfters stechende 
Schmerzen beim Atmen. Nach Entleerung des 
Eiters Aufhören der Schmerzen, eine Fistel bleibt 
bestehen. 

Befund: Blasser Jüngling. Herz ohne Befund. 
Lungen: Rechts leises Atmen, Zeichen einer Pleura¬ 
schwarte. In der hinteren rechten Axillarlinie 
über der elften Rippe eine kaum pfennigstück¬ 
große Fistel, die nach oben zu führt und die 
Sonde auf rauhen Knochen gelangen läßt. 

Urin: Eiweiß —, Zucker —. 

Diagnose: Rippencaries mit Fistelbildung. 

Operation: 12. Juli in Lokalanästhesie. Ver¬ 
folgung des sehr gewundenen Fistelgangs, d^r 
zunächst in eine wallnußgroße Höhle über der 
zehnten Rippe führt. Resektion der cariösen 
Rippe. Entleerung von dünnflüssigem Eiter, der 
nun unter der zum Teil cariösen neunten Rippe 
hervorquillt. Resektion derselben. Nunmehr 
liegt eine gut wallnußgroße Höhle vor, die von 
zartem Gewebe umkleidet wird (Fascia endo- 
’thoracica mit Pleura). Vorsichtige Auskratzung, 
sorgfältige Blutstillung nach Entfernung allen 
tuberkulösen Gewebes. Teilweiser Nahtver¬ 
schluß. Drainage. 

Verlauf: Gut. Nachbehandlung mit Höhen¬ 
sonne und Jodkali und Eisen. 

Am 16. August mit frisch granulierender Wunde 
in sehr gebessertem Allgemeinzustand entlassen. 

Die Krankengeschichte zeigt zur Ge¬ 
nüge einmal die Entwicklung der Fistel, 
zum anderen die Ausbreitung eines tuber¬ 
kulösen Abscesses nach der Fascia endo¬ 
thoracica zu. 

Neuerdings ist von Iselin auf Grund 
eines großen Materials von Brustwand- 


Qegßriwaft -1920 


tuberkulöse an der chirurgischen Klinik 
zu Basel nachgewiesen worden, daß in 
der Tat tuberkulöse Brustwandabscesse 
und Fisteln nicht immer von Knochen¬ 
herden auszugehen brauchen. Hierfür 
spricht einmal die Tatsache, daß die 
tuberkulösen Brustwandabscesse bei-kon¬ 
servativer Behandlung vielfach zur Aus¬ 
heilung komm.en, vor allen Dingen die 
Erfolge der Röntgentherapie, daß den 
Abscessen nicht immer Rippentuber¬ 
kulose mit Sequesterbildung zugrunde 
liegt. Denn es liegt auf der Hand, daß 
eine Fistel nicht zur Heilung kommen 
kann, solange die eigentliche Ursache, 
der Sequester nicht beseitigt ist. Iselin 
hat weiter nachgewiesen, daß das Rönt¬ 
genbild in der größten Mehrzahl der Fälle 
eine tuberkulöse Knochenerkrankung ver¬ 
missen läßt oder aber den Charakter der 
sekundären Rippentuberkulose zeigt. 
Weiterhin ist als Beweis für die oben aus¬ 
gesprochene Ansicht der Umstand anzu¬ 
führen, daß die Brustwandabscesse sich 
häufig im Anschluß an eine Pleuritis oder 
Lungentuberkulose entwickeln. Hier kann 
der tuberkulöse Prozeß sich direkt auf 
die Weichteile zwischen die Rippen fort¬ 
setzen und so zu einem Brustwandabsceß 
führen. Fernerhin ist der Beweis er¬ 
bracht, daß im Anschluß an Punktion 
von pleuritischen Ergüssen sich Brust¬ 
wandabscesse gebildet haben, die ihre 
Ursache dann in der direkten Infektion 
durch die Punktionsnadel haben. Alle 
diese Erwägungen dürften Sie über¬ 
zeugen, daß in der Tat die kalten Ab- 
scesse der Brustwand nicht immer von 
den Rippenknochen ihren Ausgang neh¬ 
men, sondern daß auch Pleuritiden und 
Lungentuberkulose in der Ätiologie der 
genannten Abscesse eine hervorragende 
Rolle spielen. 

ln manchen Fällen ist die Ursache 
der Brustwandabscesse oft nicht nachzu¬ 
weisen; ich erlaube mir. Ihnen dies an 
folgendem Beispiel zu zeigen: 

K. B., 45 Jahre. Aufgenommen: 9. April 1919, 
entlassen: 19. Mai 1919 geheilt. 

Anamnese: ohne Befund. Seit Anfang März 
bemerkt Patiertt in der Gegend der linken unter¬ 
sten Rippen eine Geschwulst, die sehr schnell 
gewachsen ist, ihm aber gar keine Beschwerden 
machte. 

Befund: Mittelkräftiger Mann. Innere Organe 
ohne Befund. 

Urin: Eiweiß —, Zucker —. 

In der Gegend der elften und zwölften linken 
Rippe zwischen hinterer und vorderer Schulter¬ 
blattlinie findet sich ein faustgroßer Tumor von 
derber Resistenz, der keine deutliche Fluktuation 
erkennen läßt. Sitzt mit breiter Unterlage den 
Rippen auf. Keine Drüsen in der Achselhöhle. 




38 


Die Therapie der Qegenwdrt 1920 


Januar 


Röntgenbild: Man hat den Eindruck, als 
ob ein Teil der zwölften Rippe in dem Tumor 
aufgegangen ist. 

Diagnose: Sarkom der Rippen oder kalter 
Absceß. 

16. April: Operation in Narkose: Es han¬ 
delt sich um einen typischen kalten Absceß, dessen 
Eiter unter mächtiger Spannung steht. Keine 
Veränderung an den Rippen. Seine Wand wird 
zum Teil exstirpiert, zum Teil ausgekratzt, die 
Wunde größtenteils geschlossen. 

Verlauf: 19. Mai mit glatt geheilter Wunde 
arbeitsfähig entlassen. 

Dieser Fall ist insofern wichtig, als 
hier die Diagnose Schwierigkeiten be¬ 
reitete und mit.Sicherheit vor der Ope¬ 
ration nicht gestellt werden konnte. 

Handelt es sich urh einen prall ge- ^ 
füllten Absceß, bei welchem Fluktuation 
nicht mehr nachzuweisen ist, dann kommt 
differentialdiagnostisch ein kompakter 
Tumor, und zwar in erster Linie ein Sar¬ 
kom in Frage. 

In vorliegendem Falle wurde an ein 
solches gedacht, und zwar vom Periost 
der Rippe ausgehend. 

Die Operation wie die folgende mikro¬ 
skopische Untersuchung ließ an der Dia¬ 
gnose ,,Tuberkulose'‘ keinen Zweifel, und 
ebenso ist es ohne Zweifel, daß hier ein 
kalter Absceß entstanden war, ohne daß 
die genaueste Untersuchung nach allen 
Richtungen hin einen primären Herd 
aufdecken konnte; ein Fistelgang wurde 
nicht gefunden, die Rippe war voll¬ 
kommen intakt und die Heilung erfolgte 
in kurzer Zeit. 

Was die Diagnose anbelangt, so habe 
ich schon erwähnt, daß in manchen Fällen 
ein Tumor in Frage gezogen werden muß, 
in der größten Anzahl der Fälle wird 
aber die Diagnose der kalten Abscesse 
wieder Fisteln an der Brustwand nicht auf 
Schwierigkeiten stoßen, wenn namentlich 
ein primärer Herd, sei es am Knochen, 
sei es in der Lunge oder den Pleuren nach¬ 
zuweisen ist. Differentialdiagnostisch 
käme weiterhin ein Gumma in Frage, 
aber auch hier wird die genaue Anamnese 
nach einer luetischen Infektion, wie 
namentlich die Wassermannsche Reaktion, 
die Diagnose klären. 

Auf die Behandlung des kalten Ab- 
scesses bin ich schon im ersten Teil 
meiner Besprechung eingegangen. Hier 
betone ich nur, daß die tuberkulöse 
Fistel, ausgehend von einem Knochen¬ 
herd, Aufgabe der chirurgischen Therapie 
ist. Handelt es sich um primäre Tuber¬ 
kulose des Knochens, so ist die erkrankte 
Rippe zu resezieren. Liegen dem kalten 
Absceß Lungenleiden oder Erkrankungen 


der Pleura zugrunde, dann sind diese 
zu behandeln, der Absceß wird nach 
dem angegebenen Verfahren punktiert. 
Die Iridikationsstellüng zur Operation 
der Rippencaries ist weiterhin von dem 
Allgemeinzustande des Patienten abhän¬ 
gig. Wenn man es mit bereits geschwäch¬ 
ten Individuen zu tun hat, so muß auch 
hier die Rippencaries konservativ be¬ 
handelt werden, insbesondere ist die 
Aufmerksamkeit auf die Hebung ^es All¬ 
gemeinzustandes zu lenken. 

Ich wende mich nunmehr" zu der 
Tuberkulose des Schlüsselbeins. 

Hier wird am häufigsten die Tuber¬ 
kulose des Sternoclaviculargelenks beob¬ 
achtet, viel seltener ist die Caries der 
Diaphyse des Schlüsselbeins. Ich bin 
in der Lage, Ihnen eine Tuberkulose des 
acromialen Teils der Clavicel zu demon¬ 
strieren. 

Die Weichteile über der Clavicel sind 
äußerst dünn, und so kommt es hier 
sehr selten zu einem kalten Absceß, da 
sehr bald von dem Knochen aus die 
Perforation nach außen erfolgt. 

Differentialdiagnostisch kommen hief 
in erster Linie Gumma und maligne Neu¬ 
bildung -in Frage, unter welchen das 
Sarkom die Hauptrolle spielt. 

Die Syphilis, sowohl die hereditäre 
wie auch die aquirierte, lokalisiert sich 
mit Vorliebe in Gestalt von gummösen 
Auftreibungen am Sternalende, den so¬ 
genannten „Trophi“, die dann im weiteren 
Verlauf zur Erweichung und Fisteleite¬ 
rung führen. 

So kann die Diagnose auf Schwierig¬ 
keiten stoßen, aber mit Hilfe der mikro¬ 
skopischen Untersuchung von Gewebs- 
massen, der Wassermannschen Reaktion, 
einer genauen Anamnese, wird man auch 
hier zum Ziele kommen. 

Bei der fistulösen Tuberkulose der 
Clavikel kommen in erster Linie opera¬ 
tive Eingriffe in Frage, also Auskratzun¬ 
gen und totale und partielle Resektionen. 

Die Erfolge sind, namentlich auch nach 
der funktionellen Seite hin, gute, wenn 
nicht als Grundleiden eine schwere Lun¬ 
generkrankung vorhanden ist. Die Kran¬ 
kengeschichte unseres Falles ist kurz 
folgende: 

22 Jahre alt. Auf genommen: 10. Juli 1919. 

Diagnose: Caries des Schlüsselbeins (acro- 
mialer Anteil). Seit März dieses Jahres Schmerzen 
über dem linken Schlüsselbein, Entwicklung einer 
„Beule, die von allein aufging“. Seit dieser Zeit 
keine Schmerzen mehr; ein Unfall hat nicht Vor¬ 
gelegen. 




39 


-Januar Die Therapie der Gegenwart 1*920, 


Befund: Sehr kräftiger Jüngling; Herz ohne Die Diagnose war somit gesichert. Am 16. Juli 
Befund, an der Lunge kein Befund. ^eration in Äthernarkose, Auskratzung der 

Urin: Eiweiß —, Zucker —. Granulationen, Resektion des Schlüsselbeins bis 

Über dem akromialen Teil des Schlüsselbeins zur Mitte unter Erhaltung von dem vorhandenen 
handtellergroßer Hautdefekt, Grund schmierig Periost.’ 

belegt, die Haut 3 bis 4 cm unterminiert. Nachbehandlung mit Höhensonne^ Die große 

Sonde gelangt auf rauhen Knochen. Röntgen- Wundhöhle hat sich mächtig verkleinert. Zur¬ 
bild zeigt Defekt am akromialen Teil des Schlüs- zeit besteht nur noch ein zweimarkstückgroßer 

selbeins, Verschmälerung desselben bis zur Mitte, Defekt, der gute Heilungstendenz zeigt. 
Aufhellung der Knochen, fast keine Knochen- Funktion des Schultergelenks normal, 
neubildung. (Schluß im nächsten Heft.) 

Bücherbesprechungen. 


Prof. Friedrich Kraus und Prof.Th.Brugsch. 

Spezielle Pathologie und Therapie 
in ir Bänden, Berlin-Wien, Urban 
& Schwarzenberg. 

Die Ausführung des großen Unter¬ 
nehmens, das Gesamtbild der heutigen 
innern Medizin in wissenschaftlich kriti¬ 
schen und praktisch erschöpfenden Dar¬ 
stellungen ^ darzubieten, ist durch den 
Krieg verzögert, aber nicht unterbrochen 
worden. Es liegen jetzt drei Bände, die 
Konstitutions- und Infektionskrankheiten 
enthaltend, ganz abgeschlossen vor. Von 
den übrigen Bänden sind zahlreiche Liefe¬ 
rungen erschienen, so die Beschreibung 
der Magenkrankheiten, der Cholelithiasis, 
der hauptsächlichsten Blutkrankheiten. 
Jetzt stellen die Herausgeber ein schnelles 
Weitererscheinen in Aussicht, sodaß das 
Gesamtwerk in etwa zwei Jahren voll¬ 
ständig sein wird. Nachdem wir vor 
sechs Jahren (Oktober 1913) das Werk 
zum Gegenstand einer empfehlenden Be¬ 
sprechung gemacht haben, möchten wir 
heute noch einmal unsere Leser auf die 
hohe Bedeutung desselben hinweisen. Die 
neu erschienenen Beiträge zeigen, daß die 
Intentionen der Herausgeber, ein wissen¬ 
schaftlich vollständiges, praktisch nütz¬ 
liches und dabei gut lesbares Werk zu 
schaffen, von den meisten Mitarbeitern er¬ 
füllt worden sind. In allen Darstellungen 
ist überdies die Therapie zu ihrem vollen 
Recht gekommen. Wir möchten die Kraus- 
Brugsch’sche Pathologie und Therapie 
den Kollegen aufs wärmste empfehlen. Das 
Werk wird an seinem Teil dazu beitragen, 
das Ansehen der deutschen Medizin bei 
alten Anhängern von neuem zu befestigen 
und auch bei übelwollenden Gegnern zu 
Ehren zu bringen. G. K. 

Prof. Martin Jacoby. Einführung in 
die experimentelle Medizin. Zweite, 
neubearbeitete Auflage. Berlin, Springer 
1919. 

Das ausgezeichnete Werk, dessen Be¬ 
deutung bei seinem ersten Erscheinen 
(Januar 1911) in dieser Zeitschrift ge¬ 


würdigt worden ist, liegt jetzt in zweiter 
Auflage vor, deren Erscheinen durch den 
Krieg verzögert worden ist Das Pro¬ 
gramm des Buches ist das alte geblieben: 
aus den therapeutischen Experimenten 
am Tier soll der Arzt lernen, was in der 
Therapie naturwissenschaftlich feststeht 
Dadurch wird er befähigt zu unterscheiden, 
ob eine neu empfohlene Heilmethode sach¬ 
lich fundiert ist oder ob ein dilettanti¬ 
scher Irrweg eingeschlagen wurde, dessen 
Beschreiten für den ärztlichen Stand eben¬ 
so schädlich ist wie für den erkrankten 
Menschen. Der größere Teil des Werkes 
ist der antiparasitären, Immuno-, Serum- 
und Chemotherapie gewidmet; der übrige 
Inhalt umfaßt Neoplasmen, Entzündung, 
Blutkrankheiten, Diabetes, Gicht, Fieber, 
Magendarmfunktionen. Das wissenschaft¬ 
liche Material ist bis auf die jüngste Zeit 
verwertet; die wesentliche Bedeutung der 
Qualität der Ernährung, über die der Ver¬ 
fasser jüngst in dieser Zeitschrift referiert 
hat, ist ebenso eingehend dargestellt wie 
die letzten Untersuchungen Morgenroths 
über die bactericide Wirkung der Chinin¬ 
derivate. Alles was ich vor neun Jahren 
zum Lobe und zur Empfehlung dieses 
Buches gesagt habe, das der deutschen 
Literatur zur Zierde gereicht, möchte ich 
heute verstärkt wiederholen. So inLalt- 
reich es ist, so fesselnd ist es geschrieben, 
und es wird sicherlich jedem Leser nütz¬ 
lich sein, indem es dazu beiträgt, ihn 
zum „kritischen Optimismus“ zu erziehen. 

G. Klemperer. 

Scholz-Gregor. Anomale Kinder. 
Zweite neubearbeitete Auflage. Berlin 
1919. S, Karger. Preis gebund. 16,50M., 
brosch. 14,00 M. 

Das bei seinem ersten Erscheinen 
glänzend rezensierte Buch vermeidet in 
glücklichster Form die ,,Klippen zwischen 
Überwissenschaftlichkeit und Trivialität“. 
Es will sich an die Gebildeten aller 
Stände wenden, die an der Jugendfür¬ 
sorge interessiert sind und ist wohl wirk¬ 
lich ein vorzüglicher Leitfaden für jeden, 




40 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Jarna^är 


der'Ausnahmezustände des Kindesalters 
mit Verständnis erfassen will. Was das 
Buch aber gerade dem Arzte wertvoll 
macht ist: er findet darin im Gegen¬ 
sätze zu den meisten seiner wissenschaft¬ 
lichen Werke einmal in flüssiger, nie 
ermüdender Sprache alles auch für seine 
gesteigerten Ansprüche Wissenswerte be¬ 
schrieben. ' 

In zweiter von Gregor umgearbeiteter 
Auflage ist manche Länge gekürzt und 
das Buch wieder auf gleichen Schritt 
gebracht mit der rasch vorwärtsschreiten¬ 
den Tugen dfürsorgebewegung. 

, J. V. Roznowski, 

Prof. Dr. J. Cohn-Berlin, Urologisches 
Praktikum, mit besonderer Berück¬ 
sichtigung der instrumentellen Technik, 
für Ärzte und Studierende. Mit 79 
zum Teil farbigen Abbildungen im 
Text und auf drei Tafeln/. 8®. X'u. 
391 S. ' Berlin-Wien 1919, Urban & 
Schwarzenberg. Preis 16 M. 

Das für den allgemeinen Praktiker 
bestimmte, aus zahlreichen Demonstra- 
tions- und Übungskursen hervorgegan¬ 
gene Buch des geschätzten Berliner Uro¬ 
logen ist als eine willkommene Ergänzung 
des im gleichen Verlage erschienenen der¬ 
matologischen Werkes von J. Schaeffer 
warm zu begrüßen und dürfte voraus¬ 
sichtlich einem ähnlichen Erfolge ent¬ 
gegensehen. In mustergültig klarer, durch 
vorzügliche Abbildungen illustrierte 
Weise behandelt Verfasser das Gesamt¬ 
gebiet der Urologie, Diagnostik, Sym¬ 
ptomatologie und Therapie der Harn¬ 
krankheiten, wobei er insbesondere auf 
die genaueste Darlegung der Ein¬ 
zelheiten der instrumentellen Tech¬ 
nik den größten Wert legt und so das 
gerade auf diesem diffizilen Gebiete be¬ 
sonders bedeutungsvolle ,,Nil nocere'^ 
überall gebührend hervortreten läßt. 
Einen weiteren Vorzug des Buches bil¬ 


det die überaus sorgfältig behandelte 
subtile Differentialdiagnostik, die 
auf der langjährigen Erfahrung und viel¬ 
seitigen Beobachtungskunst des Verfassers 
beruht und so z. B. Abschnitte wie die 
über den Harndrang und über die Harn¬ 
verhaltung nach allen Seiten hin durch¬ 
leuchtet. In den Kapiteln über funk¬ 
tionelle Nierendiagnostik und • Röntgen¬ 
untersuchung sind die neuesten wissen¬ 
schaftlichen Fortschritte berücksichtigt 
worden (Kryoskopie, Indigo- Karmin¬ 
probe, experimentelle Polyurie, 'Pyelo¬ 
graphie). So kann das Buch ohne 
Uebertreibung als eine ganz vortreffliche 
Einführung in die Urologie allen Ärzten 
und Studierenden bestens empfohlen 
werden. Iwan Bloch. 

Halban und Köhler, die pathologische 
Anatomie des Puerperalpro¬ 
zesses und ihre Beziehungen 
zur Klinik und Therapie. Leipzig, 
Wilhelm Braumüller. 205 Seiten mit 
73 farbigen Textabbildungen. 

An der Hand sehr instruktiver Zeich¬ 
nungen werden die Verbreitungswege der 
Puerperalinfektion gezeigt. Hieran 
schließt sich die Beschreibung der pa¬ 
thologischen Veränderungen der Organe, 
worauf die chirurgische Indikations- 
stellüng folgt. Das Resultat, welches 
durch die chirurgische Behandlung er¬ 
zielt wurde, wird als wenig zufrieden¬ 
stellend hingestellt. Es wird in dieser 
äußerst fleißigen Arbeit gezeigt, daß 
man heute, mehr als je auf dem Stand¬ 
punkt stehen müsse, daß die Zukunft der 
Therapie des Wochenbettfiebers nicht 
in der Chirurgie liegt. Dem Praktiker wird 
so immer intensiver voirgeführt, daß die 
Prophylaxe immer noch den Haupt¬ 
anteil . an der Bekämpfung des Puer¬ 
peralfiebers hat. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 


Referate. 


Über das angioneurotische Ödem be¬ 
richtet C. Bqlten. Das meist mit dem 
Namen Quinckes verbundene, nicht 
eben häufige Leiden ist bereits früher von 
Milton und Graves beschrieben worden. 
Besonders hervorgehoben werden vom Ver¬ 
fasser dm Beziehungen des angioneuro- 
tischen Ödems zur Gicht, Migräne und 
Ischias, die Bolten als gichtische Äqui¬ 
valente ansieht. Wie in anderen Statistiken 
überwiegt auch im'Material Boltens das 
weibliche Geschlecht, dabei das Alter bis 


zu 30 Jahren. Bolten unterscheidet zwei 
Krankheitsgruppen; die eine ist auf eine 
angeborene Anlage zurückzuführen, wäh¬ 
rend bei der anderen toxisch infektiöse 
Momente im Spiele sind. So schließt sich 
das angioneurotische Ödem zuweilen an 
Magen-Darmstörungen, akute Infektio¬ 
nen, Lues, Krebskachexie, Alkoholismus, 
Nikotinvergiftung an. Im Gegensätze zu 
Cassirer, der das Quinckesche Ödem 
als Krankheit sui generis ansieht, hält 
Bolten das Leiden für einen sekundären. 




Januar 


Die Therapie der, Gegenwart 1920 


41 


auf Sympathicusschädigung beruhenden 
Zustand. Diese Sympathicushypotonie 
ist entweder auf eine endogene Grundlage 
oder infektiös-toxisch neuritische Ver¬ 
änderungen im Sympathicus zurückzu¬ 
führen. Therapeutisch kommen daher 
Reizmittel des syrnpathischen Systems in 
Anwendung, vor allem die sympathico- 
tonisierenden Drüsensäfte der Thyreoi¬ 
dea, Hypophyse sowie der Nebennieren. 
Nach Bolten erklärt sich der Mechanis¬ 
mus der angioneurotischen Schwellungen 
in folgender Weise: Die vorhandeneSym- 
pathicohypotonie führt infolge der engen 
Beziehungen des Sympathicus zur Schild¬ 
drüse zu einem Hypothyreodismus* Dies 
bedeutet im intermediären Stoffwechsel 
eine Verzögerung der im Blute sich ab¬ 
spielenden fermentativen Prozesse. Nach 
Boltens Ansicht befinden sich unter 
den toxischen, abnorm lange im Körper 
verweilenden Abbauprodukten auch 
Stoffe, die die Permeabilität der Capillar- 
gefäße erhöhen und so die Entstehung des 
angioneurotischen Ödems begünstigen. 
Hierfür sprechen auch die nahen Bezie¬ 
hungen von Gicht, Migräne und Sym- 
pathicohypotonie einerseits, Gicht, Mi¬ 
gräne und angioneurotischem Ödem an¬ 
dererseits. Leo Jacobsohn. 

(Zschr. f. Psych. u. Neur. 1919, H. 4.) 

Eine neue Methode zur Behand¬ 
lung der Blasengeschwülste empfiehlt 
Joseph. Er hat sein Verfahren erfolg¬ 
reich mehrfach an der chirurgischen Uni¬ 
versitätsklinik in Berlin angewendet. Die 
Thermokoagulation der Blasengeschwülste 
hat sich einen dauernden Platz in der 
Therapie gesichert. Immerhin erfordert 
dieses Verfahren eine große Menge Ge¬ 
duld von seiten des Patienten und des 
Arztes. Außerdem ist die Apparatur 
wiederholt Reparaturen ausgesetzt, die in 
der jetzigen Zeit besondere Schwierig¬ 
keiten verursachen. Die Ähnlichkeit der 
Blasenpapillome mit den Warzen der 
äußeren Haut gab Veranlassung zu dem 
neuen therapeutischen Vorschlag, der 
dahin geht, die Papillome nicht auf physi¬ 
kalischem, sondern chemischem Weg 
anzugreifen. Die Technik gestaltet sich 
folgendermaßen: Es wird ein mit einem 
Ureterenkatheter armiertes Ureteren- 
cystoskop eingeführt und unter Leitung 
des Auges die Spitze des Ureterkatheters 
bis auf den Tumor herangebracht und 
hier angedrückt. Dann wird von dem 
Assistenten mittels einer Spritze 0,1 ccm 
einer gesättigten Lösung von Trichlor- 
essigsäure langsam eingespritzt und so bei 


jedem einzelnen der kleinen. Tumoren 
verfahren. Es ist nötig, daß man von dem 
Ureterkatheter vorher die Spitze ab¬ 
schneidet, damit die Flüssigkeit nicht aus 
dem seitlichen Auge des Katheters heraus¬ 
läuft, sondern wirklich nur durch die 
Spitze auf den Tumor wirkt. Die Prozedur 
ist schmerzhaft, sodaß vorher eine An¬ 
ästhesierung der Blase vorgenommen 
werden muß. Die cystoskopische Kon¬ 
trolle in den nächsten Tagen nach dem 
Eingriff läßt deutlich erkennen, daß eine 
Nekrotisierung der Geschwulst eintritt, 
die sich dann vollkommen abstößt. Eine 
Schädigung der übrigen Blasenwand ist 
nicht beobachtet worden. Hayward. 

(Zbl. f. Chir. 1919, Nr. 47.) 

Über ein Chorionepitheliom, das wäh¬ 
rend der Gravidität entstanden ist, be¬ 
richtet Gustafsson aus der Erlanger 
Klinik: Bekanntlich entsteht diese Ge¬ 
schwulst meist nach einer Blasenmode. 
Zwischen ihrem Auftreten und der 
Schwangerschaft liegt ein mehr oder 
minder großer Zeitraum. Das gleich¬ 
zeitige Vorkommen von Schwangerschaft 
und dieser Neubildung ist noch nicht 
beobachtet worden. Es handelte sich um 
eine 34 Jahre alte Frau, bei der etwa 
sieben Monate die Menses ausgeblieben 
waren, worauf alle acht Tage Blutungen 
von verschiedener Dauer eintraten. Die 
Untersuchung ergab folgenden Befund: 
Uterus etwa kindskopfgroß, Portio zer¬ 
klüftet, Muttermund für die Fingerkuppe 
durchgängig. Im Speculum sieht man 
zwei jauchende, bläulich durchschim¬ 
mernde walnußgroße Geschwülste. Bei 
der nach einigen Tagen vorgenommenen 
Sektion findet man in beiden Lungen, 
besonders in den Unterlappen, große 
Metastasen. Bei dem in der Längsrich¬ 
tung halbierten Uterus kann auf der 
Schnittfläche keine Stelle gefunden wer¬ 
den, in der das Chorionepitheliom in die 
Muskulatur eingedrungen wäre; aus der 
Fruchtblase wird ein ganz frisch aus¬ 
sehender, 4 cm langer Embryo geholt. 
Beim vorsichtigen Abziehen der Placenta 
wird festgestellt, daß von ihr ein kleiner 
Strang in der Mitte des Körpers direkt 
in die hintere Uteruswand hineinwächst 
und am Fundus die Placenta in ganzer 
Ausdehnung mit der Uterusmuskulatur 
verwachsen ist. Das an dieser Stelle 
heraiisgeschnittene Stück zeigt im mikro¬ 
skopischen Bilde ein typisches Chorion¬ 
epitheliom. Mit Sicherheit ist zwar nicht 
festzustellen, ob das Chorionepitheliom 
vor der Schwangerschaft schon zur Ent- 





42 


-Die Therapie der Gegenwart 1920 


Januar 


Wickelung kam, aber das Vorhandensein 
des Tumors bei bestehender Gravidität 
ist ohne Zweifel. Die Choriohepitheliom- 
bildung trifft entweder zeitlich zusammen 
mit dem Beginn der Schwangerschaft 
oder setzt efnige Zeit später ein; es handelt 
sich um eine ausgesprochene Chorion¬ 
epitheliombildung während der Gravi¬ 
dität. Pulvermacher (Charlottenburg). 

(M. f. G., Heft 2.) 

Über die Therapie der Grippe- 
Empyeme mit Bülauscher Heberdrainage 
berichten A. Lippmann und G. Samson. 
Die Bülausche Heberdrainage eignet sich 
vorzüglich zur Behandlung der Grippe¬ 
empyeme, besonders der frischen Formen 
mit großem dünnflüssigen Exsudat, bei 
denen die überaus schonende, auch in 
schwersten Fällen anwendbare Methode 
vielfach lebensrettend wirkt. Die Rippen¬ 
resektion ist für frische Fälle ungeeignet, 
da die schwerkranken Patienten an dem 
plötzlich eintretenden großen Pneumo¬ 
thorax im Shock zugrunde gehen, sei es, 
daß Atmung und Kreislauf direkt ge¬ 
schädigt werden, sei es, daß die stets 
vorhandenen pneumonischen Infiltrate 
unter dem Einflüsse des Lungenkollapses 
ungünstig verlaufen. Die einfache Punk¬ 
tion ist ein nur für kurze Zeit entlastender 
Notbehelf, da sich der Eiter meist schnell 
ergänzt; die häufige Wiederholung der 
Punktion ist für die Patienten lästig und 
beseitigt den Eiter nicht vollständig. 
Auch die Anwesenheit von Streptokokken 
ist keine Gegenindikation für die An¬ 
wendung der Bülauschen Heberdrainage. 
Die große Mehrheit der Grippeempyeme 
heilt bei Anwendung der Heberdrainage 
ohne Entstellung aus. An unangenehmen 
Zwischenfällen wurde außer gelegent¬ 
lichen Infiltraten um den Katheter, die 
meist schnell unter feuchten Verbänden 
heilten, nur einmal bei einem sehr schweren 
Fall eine tiefe Brustwandnekrose ge¬ 
sehen, die ihren Grund wohl in der be¬ 
sonderen Virulenz der beteiligten Strepto¬ 
kokken hatte. Falls jedoch nach etwa 
dreiwöchiger Anwendung der Bülauschen 
Methode keine völlige Entfieberung ein- 
trift, Appetit und Gewichtszunahme man¬ 
gelhaft bleiben, dann ist eine Kammer¬ 
bildung im Exsudat oder eine Beteiligung 
der Lungen (Gangränherd, Sequester¬ 
bildung) anzunehmen. In diesen Fällen 
ist eine alsbaldige ausgiebige Rippen¬ 
resektion, nötigenfalls mit nachfolgender 
Plastik, notwendig. Beim aktiven Saugen 
ist in solchen Fällen an die Gefahr zu 
denken, daß eine morsche absceßdurch- I 


setzte Lunge einreißen könnte. Einen 
Schaden hat jedoch auch in solchen 
komplizierten Fällen die Vorbehandlung 
mit der Heberdrainage nicht gebracht, 
die sehr schweren Kranken wurden durch 
sie über die erste große Lebensgefahr 
hinweggebracht und^ konnten später, 
nachdem die Lunge verwachsen war, 
leicht der Resektion unterworfen werden. 
Sehr energische Saugmethoden, wie der 
Perthessche Apparat scheinen jedoch für 
Grippeempyeme weniger empfehlenswert. 

Raschdorff (Berlin). 

(D. m. W. 1919, Nr. 37). 

Für die Eklampsiebehandlung gibt 
Mittweg folgendes Verfahren an: 

1. Luminalnatrium, 2 ccm einer 
20%1gen Lösung (0,4 Substanz) sub- 
cutan, eventuell alle drei bis vier Stunden, 
bis zu drei, höchstens vier Injektionen 
in 24 Stunden (1,2 bis 1,6 Substanz). 

2. In schweren Fällen außerdem 
Tropfklystiere von 20 g Bittersalz auf 
einen halben bis einen Liter Wasser oder 
Injektionen von 10 bis 20 ccm einer 
25% igen Magnesiumsulfatlösung (sub- 
cutan oder intramuskulär) mehrmals täg¬ 
lich. 

3. Eventuell kräftiger Aderlaß (zu 
berücksichtigen ein eventuell schon bei 
der Geburt stattgehabter Blutverlust). 

4. Eventuell Früh-Schnellentbindung 
in schweren Fällen neben der Ltiminal- 
usw. Therapie. 

5. Ernährung der Kranken anfangs 
ausschließlich mit dünnem, salzfreiem 
Haferschleim. 

Pilivermacher (Charlottenburg). 

(Zbl. f. Gyn. 1919, Nr. 51.) 

Um Encephalitis handelte es sich 
wahrscheinlich bei einer eigenartigen 
fieberhaften Erkrankung mit Doppelt¬ 
sehen, über welche v. Sohlern jun. be¬ 
richtet: 

37 Jahre alter nervös belasteter hypochon¬ 
drischer Neurastheniker, der außer den Kenn¬ 
zeichen seiner Konstitution keine pathologischen 
Merkmale aufweist, wenn man von schwach 
positivem Lasögue rechts und einigen Drüsen 
am Hals und in den Leistenbeugen absieht. 
Keine Lues. Etwa sechs Wochen, nachdem 
dieser Status erhoben worden war, klagte er 
über undeutliches Sehen, das am nächsten Tage 
bis zur Unmöglichkeit zu Arbeiten zunahm. 
In den folgenden Tagen dann Doppeltsehen 
rechts (?) und zunehmender Stirnkopfschmerz. 
Die ophthalmologische Untersuchung ergibt un¬ 
deutliche und inkonstante Parese des Rectus 
'externus (wohl des rechten? Referent). Sonst 
kein Augenbefund. Am vierten Tage seiner 
Beschwerden schweres Krankheitsgefühl und 
Doppeltsehen mit vermehrtem Kopfdruck. Rec¬ 
tale Temperatur 38,7, ein somatischer Befund 





Jannar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 ' 


43 


r 


ist nicht zu erheben, auch das Doppeltsehen 
ist objektiv nicht mit Sicherheit’und nicht kon¬ 
stant nachweisbar. Im Urin dem Fieber ent¬ 
sprechend etwas Eiweiß und einCylinder, Wasser¬ 
mann trotz der negativen Anamnese 
Positiv (++). Harnentleerung etwas träge, 
erschwert. Am sechsten Tage das gleiche, Augen¬ 
bewegungen frei. Am folgenden Tage rechte 
Pupille etwas weiter als linke und träger rea¬ 
gierend, Patient hält sich auffallend steif, Blick 
und Kopf mit starrem Ausdruck in einer Richtung 
gehalten. Sensorium etwas benommen, doch 
stets korrekte Antworten (!). Keine meningalen 
Symptome, Temperaturen unter 37,5. Am 
achten Tage Lumbalflüssigkeit in jeder Hinsicht 
normal, sonst gleicher Zustand, Temperaturen 
bis 37,9. Am folgenden Tage leichte Desorientiert¬ 
heit und halliuzinatorische Verwirrtheit, aber 
auf Anruf klare Antworten. Doppeltsehen. 
Das rechte Auge bleibt bei der Konvergenz 
etwas zurück, sonst keine Veränderungen gegen 
den Vortag, Temperaturen bis 37,5; Urin frei. 
Am 13. Tage Sensorium etwas freier, Kopf¬ 
druck läßt nach. Amnesie für die letzten neun 
Tage fast vollständig. Temperaturen sind normal, 
Schlafbedürfnis (vorher meist nur Dämmern). 
Am 23. Tage nur noch rheumatische Schmerzen 
in Nacken und Schultern. Sensorium frei, Trübung 
der Erinnerung besteht fort. Kein Kopfdruck, 
aber noch „Schwäche und Unsicherheit beim 
Sehen“, wenn auch kein Doppeltsehen mehr. 
Mattigkeit trotz guter Nahrungsaufnalyne wäh¬ 
rend der ganzen Krankheitszeit. Am 35. Tage 
nach der Erkrankung Temperaturen normal, 
kräftig, Sehen wie durch einen leichten Schleier, 
kein Doppeltsehen mehr; die sehr geringe Pupillen¬ 
reaktion ist rechts geringer als links. Rheu¬ 
matische Beschwerden. 

Die Erklärung des Krankheitsbildes 
ist nicht leicht. Dem positiven Wasser¬ 
mann möchte Verfasser keine sehr er¬ 
hebliche Bedeutung beilegen. Am wahr¬ 
scheinlichsten scheint ihm die Annahme 
eines toxisch wirkenden Virus (Grippe). 
In einem von mehreren ähnlichen Fällen 
Schlayers, der tödlich verlief, wurde 
außei ganz geringfügigen meningealen 
Blutungen an der Unterseite des Pons 
und Kleinhirns nichts gefunden, in einem 
anderen, der mit Meningismus und ab¬ 
soluter Pupillenstarre verlief, nicht ein¬ 
mal diese. Trotz des Fehlens katarrhali¬ 
scher Befunde denkt Verfasser an eine 
Encephalitis bei Grippe, die ja ähnliche 
Erscheinungen machen kann. Allerdings 
pflegen im allgemeinen bei derselben 
Herde in der grauen Substanz des Gehirns 
nicht zu fehlen, auch die Temperatur 
höher zu sein. Aber bei dem vielgestaltigen 
Charakter der Influenza wird man nicht 
zu großes Gewicht darauf legen dürfen. 
(Schon vor der großen Grippeepidemie 
voi 1918 wurden übrigen'^ hier und da 
Fälle von schwersten meningealen Er¬ 
scheinungen, die völlig gesunde Menschen 
wie aus heiterem Himmel trafen, be¬ 
obachtet, die in den Fällen, die Referent 


entweder selbst sah oder von denen er 
durch die betreffenden Beobachter hörte, 
tödlich waren, aber wie die Fälle von 
Schlayer auch nicht die Spur eines 
anatomischen Befundes boten, wenn man 
von einem ganz leichten Hirnödem, wie 
es jede fieberhafte Erkrankung einmal 
bieten kann, absah. Ob diese Fälle in 
die Gruppe der Influenza gehören, wie 
anscheinend der v. Sohlernsche und die 
Fälle Schlayers, bleibe unentschieden.) 

(M. KI. 1919, Nr. 22.) Waetzoldt. 

Über seine Erfahrungen bei der Fleck- 
fieberbekämpfung in Polen berichtet 
A. Pfeiffer (Breslau). Exanthemlose 
Fälle sah er bei einem Krankenmaterial 
von 800 Fällen niemals. Das Exanthem 
ist oft sehr flüchtig und wird daher leicht 
übersehen. Beim Abklingen der Epide¬ 
mien wird sehr oft ein auffällig leichter 
Verlauf der Krankheit beobachtet. Die 
Fieberdauer beträgt aber auch hier wie 
bei den schweren Fällen regelmäßig zwölf 
Tage. Die leichten, ambulanten Fälle 
sind aber epidemiologisch wegen der 
leichten Virusverbreitung besonders wich¬ 
tig. Bezüglich der Übertragungsmöglich¬ 
keit wäre gegen die Entlassung der Rekon¬ 
valeszenten vom sechsten Tage nach der 
Entfieberung ab nichts einzuwenden; der 
Allgemeinzustand der Kranken verbot 
jedoch meist die Entlassung vor dem 
zehnten Tage. Therapeutisch wird neben 
täglichen kühlen Bädern von etwa 28 bis 
30^ C die frühzeitige Anwendung von 
Herzmitteln empfohlen. 

Hetsch (Frankfurt a. M.). 

(Beitr. z. KHn. d. Infekt. Krkh. Bd. 3, H. 1—2, 
1919.) 

Untersuchungen über den arteriellen 
Blutdruck bei Fleckfieber, die von 
St. Sterling-Okuniewski angestellt 
wurden, ergaben folgende Resultate: Im 
Verlaufe der zweiten Krankheitswoche 
tritt meist eine auffallende Drucksenkung, 
sowohl des systolischen wie des diastoli¬ 
schen Druckes, auf. Die geringste Sen¬ 
kung des systolischen Druckes findet 
man ungefähr zwischen dem 6.—14. 
Tage, des diastolischen nicht später als 
am zehnten Tage; es ist aber nicht 
unbedingt notwendig, daß beide Sen¬ 
kungen an demselben Tage stattfinden. 
Gewisse Zeit nach dem Temperaturabfall, 
also schon in der Rekonvaleszenzperiode, 
folgt eine Druckerhöhung, und zwar des 
systolischen wie des diastolischen Druckes, 
wobei die Maximumzunahme gewöhn¬ 
lich die Minimumzunahme übertrifft, d. h. 

6* 





44 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Januar 


die Senkung des systolischen Druckes 
größer ist als die des diastolischen. Der 
Pulsdruck (die Pulsamplitude) in der 
Mitte der zweiten Krankheitswoche ver¬ 
ringert sich manchmal bis zur Hälfte 
’ der normalen Werte. Ob die Blutdruck¬ 
senkung beim Fleckfieber auf eine 
Schwächung des Herzmuskels oder auf 
eine unmittelbare Paralyse der Gefäße, 
eventuell des vasomotorischen Centrums 
^ zurückzuführen ist, ist schwer zu ent¬ 
scheiden* Die Rückkehr normaler Blut¬ 
druckwerte nach Ablauf der Krank¬ 
heit, die klinischen Beobachtungen über 
die Aktion des Herzens nach der Krank¬ 
heit und die Wirkung gewisser pharmako¬ 
logischer Mittel berechtigen wohl zur 
Annahme, daß eine Paralyse der Gefäße 
beziehungsweise des vasomotorischen 
Centrums vorliegen dürfte, wofür auch 
die Experimente von Romberg, Päßler 
und andere sprechen. Hetsch. 

(Beitr. z. KHn. d. Infekt.-Krankh. u. z. Immun.- 
Forsch. 1919, Bd.7, Heft 3—4.) 

Klinische und epidemiologische Beob¬ 
achtungen über Malariarezidive bei 
Kriegsteilnehmern berichtet G. Wal¬ 
terhöf er. Rückblickend auf ein Material 
von 1700 Fällen kann er in der Tatsache 
allein, daß man bei einer allerdings be¬ 
trächtlichen Zahl Malariakranker hart¬ 
näckige Rückfälle nicht verhüten kann, 
einen Mißerfolg der Chininbehandlung 
nicht erblicken. Das nach wenigen 
Gramm Chinin einsetzende Hinaufschwel¬ 
len der tief gesunkenen Erythrocytenzahl, 
der rapide Anstieg des bis zu 20 reduzierten 
Hämoglobins und ein Hand in Hand 
gehendes Aufblühen des Patienten er¬ 
scheinen als therapeutische Äußerungen, 
wie sie in ihrer Sinnfälligkeit jedem durch 
Beseitigung eines Krankheitsherdes ge¬ 
glückten Eingriff vollwertig an die Seite 
gestellt werden können. Die Chinin¬ 
therapie versagte nur dann, wenn die 
Parasiten sich vorzugsweise in einem 
lebenswichtigen Organ lokalisiert hatten. 
Von den 1700 Kranken starben zehn, und 
zwar fünf infolge schwerster dysen¬ 
terischer Dickdarmveränderungen, drei 
infolge diffuser Encephalitis mit massen¬ 
hafter Anhäufung von Tropikaparasiten 
in den Gehirncapillaren, einer infolge 
Schwarzwasserfieber, einer infolge einer 
Dermatitis exfoliativa generalisata. In 
allen anderen Fällen gelang es durch 
Chinin — und nur durch Chinin allein —, 
der hartnäckigsten Wiederkehr der Re¬ 
zidive zum Trotz, die Kranken vor schwer¬ 


wiegenden Schädigungen der Gesundheit 
zu bewahren. Hetsch (Frankfurt a. M'.). 

(Beitr. z. Klin. d. Infekt.-Krankh. u. z. Im- 
munit.-Forschg. 1919, Bd. 8, Heft 1 bis 2). 

Untersuchungen über die myeloische 
Wirkung der Milchinjektion stellte 
E. F. Müller (Hamburg) an. Die Leu- 
kocytose, wie sie als myeloische Reaktion 
aktiv vom Knochenmark auf den Reiz 
der Milchinjektion in die Blutbahn ge¬ 
worfen wird, kann als Hauptfaktor eines 
immunisierenden Vorgangs willkürlich 
und mit genauer Indikationsstellung the¬ 
rapeutisch nutzbar gemacht werden. Die 
Milchinjektion ist jedesmal dann an¬ 
gezeigt, wenn der natürliche Reizleitungs¬ 
ring dadurch unterbrochen ist, daß der 
auf die Funktion des Markes anreizend 
wirkende chemotaktische Faktor seine 
Wirksamkeit verloren hat oder wenn eine 
reine Knochenmarkschwäche vorliegt. Ob 
eine komplizierte Knochenmarkserkran¬ 
kung wie bei dem Symptomenkomplex 
der perniziösen Anämie u. a. die Milch¬ 
therapie verbietet, muß der Versuch er¬ 
geben. Hetsch (Frankfurt a. M.). 

(Beitr. z. Kün. d. Infekt.-Krankh. u. z. Im- 
munit.-Forschg. 1919, B.d 8, Heft 1 bis 2). 

K. Hofmann-Kalk bei Cöln hat einen 
neuen Weg eingeschlagen zur Freilegung 
der Niere bei Nierengeschwülsten, 
den extraperitonealen Bauchschnitt. Zur 
Klarstellung der Verwachsungen mit der 
Umgebung z. B. bei Nierentuberkulose, 
oder der Ausdehnung des Wachstums bei 
einem malignen Tumor macht man mit 
Erfolg von der vorherigen Laparotomie 
Gebrauch, da es nicht möglich ist, sich 
von dem Lumbalschnitt aus Rechenschaft 
über diese Dinge zu geben. Andererseits 
ist die Schwierigkeit der Freilegung des 
Gefäßstiels bei größeren Nierengeschwül¬ 
sten, Hydronephrose, Tuberkulose usw. 
jedermann bekannt. Diese Tatsachen 
haben Hof mann dazu geführt, eine 
Schnittführung zu suchen, bei der das 
Peritoneum geschlossen bleibt, aber die 
Vorteile der Freilegung der Niere von 
vorn her möglich ist. Die von ihm geübte 
Methode der extraperitonealen Nieren¬ 
freilegung wird noch wesentlich dadurch 
erleichtert, daß in den einschlägigen 
Fällen der abdominalwärts wachsende 
Tumor den Peritonealsack‘nach vorn und 
auf die gesunde Seite hinüberdrängt. Er 
macht einen pararektalen Schnitt bis auf 
das Peritoneum und schiebt den Perito¬ 
nealsack dann stumpf nach der Mittel¬ 
linie zu ab. Es ist so ohne jede Schwierig- 



Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


45 


keit möglich, den Nierenstiel unter Lei¬ 
tung des Auges freizulegen und zu unter¬ 
binden. Erst jetzt wird von dem gleichen 
Schnitt aus die erkrankte Niere nach der 
Seite hin luxiert und zuletzt der Ureter 
unterbunden. Die Verhältnisse zu der 
Vena cava kommen besonders übersicht¬ 
lich zur Anschauung. Ein weiterer Vor¬ 
teil des Verfahrens ist darin zu suchen, 
daß die Operation in Rückenlage aus¬ 
geführt wird. Ist es nach Lage des Falles 
notwendig, zu drainieren, dann wird das 
Drain nach rückwärts von einem Knopf¬ 
loch aus durchgeleitet. Hayward. 

(Zbl.f. Chir. 1919, Nr. 42.) 

Zur operativen Behandlung der 
akuten Nierenentzündung liefert Prof. 
Cassel einen kasuistischen Beitrag. Ein 
Kind von 9% Jahren war ohne voraus¬ 
gegangene Infektion an schwerer doppel¬ 
seitiger akuter Nephrose erkrankt. Die 
innerliche Behandlung brachte keine 
Besserung, und als nach zwei Monaten 
die Ödeme einen riesigen Umfang an- 
nahmen, die Harnmenge immer mehr 
sank und urämische Erscheinungen auf¬ 
traten, wurde als Ultima ratio die De- 
kapsulation beider Nieren ausgeführt. 
Dieselben waren stark vergrößert, von 
braunroter Farbe, die Kapsel stark ge¬ 
spannt. Gleich nach der Operation 
besserte sich die Diurese, dagegen blieben 
die Ödeme bestehen und der Ascites 
nahm sogar zu. Nach der Bauchpunktion 
besserte sich das Allgemeinbefinden, die 
Urinmenge stieg bis auf 1100 ccm; die 
Ödeme nahmen ab. Eine Trink- und 
Badekur in Bad Brückenau wirkte ganz 
vorzüglich. Die Diurese hob sich bis auf 
2y^ 1 täglich; die Ödeme nahmen er¬ 
heblich ab, das Körpergewicht sank hin¬ 
gegen nur wenig. Im Laufe der nächsten 
Monate besserte sich der Allgemein¬ 
zustand weiter, die Oedeme schwanden 
ganz, der- Eiweißgehalt sank bis auf 
^®/oo. Der Wasser- und Konzentrations¬ 
versuch ergab ein vorzügliches Resultat. 
Die Patientin kann heute — das heißt 
sechs Jahre nach der Operation — bis 
auf eine Restalbuminurie als gesund an¬ 
gesehen werden. 

Nach den Angaben in der Literatur 
kommt die Nierendekapsulation bei akuter 
Nierenentzündung dann in Frage, wenn 
die innerliche Behandlung versagt, etwa 
dreitätige Oligurie oder Anurie besteht 
und urämische Erscheinungen drohen. 
Der operative Eingriff selbst wird als 
durchaus ungefährlich bezeichnet, häufig 
hat man schon durch einseitige De- 


kapsulation den beabsichtigten Zweck 
erreicht. ' Schmalz. 

(D. m. W. 1919, Nr. 39). 

Über Pseudo-Appendicitis nach infek¬ 
tiösen Darmerkrankungen schreibt 
Hammesfahr: Ein Soldat hatte sich 
drei Wochen vor der Einlieferung ins 
Feldlazarett etwas müde gefühlt und litt 
unter leichten Durchfällen. Dieser Zu¬ 
stand, der ungefähr sieben Tage gedauert 
hatte, nötigte ihn jedoch nicht, sich krank 
zu melden. Ein Tag vor der Einlieferung 
entwickelten sich plötzlich die Zeichen 
einer akuten Appendicitis. Unter dieser 
Diagnose wurde operiert und es fand sich 
in der Bauchhöhle ein bernsteinklares 
Exsudat, der Wurmfortsatz selbst war 
gesund. Dagegen zeigten sich eine erheb¬ 
liche Rötung des Dünndarms und eine 
Schwellung der Lymphknoten im Mesen¬ 
terium. Nunmehr war an der Diagnose 
eines Typhus nicht mehr zu zweifeln. 
Nach Einlegung eines Gazestreifens wurde 
die Bauchhöhle geschlossen und nach 
steilem Temperaturabfall trat bald Gene¬ 
sung ein. Offenbar lag ein Wiederauf¬ 
flackern einer Typhusinfektion vor, welche 
vor drei Wochen zuerst in die Erscheinung 
getreten war. Hayward. 

Zbl. f. Chir. 1919, Nr. 27. 

Über Heilversuche bei Typhus- 
und Paratyphusbacillenträgern be¬ 
richten Bumke und v. Teubern. Von 
ihren 92 Heilversuchen scheiden 15 aus 
der Beurteilung aus, da augenscheinlich 
ein spontanes Aufhören der Ausscheidung, 
zeitlich zusammenfallend mit dem Beginn 
der Therapie, vorlag. Bei den 77 ver¬ 
wertbaren Heilversuchen wurde keinerlei 
Wirkung festgestellt in 70 % der Fälle, 
eine ausscheidungshemmende oder vor¬ 
übergehend heilende oder dauernd hei¬ 
lende Wirkung in 30 % der Fälle. Ein 
Dauerheilerfolg wurde bei 12 % an¬ 
genommen. Die von den Autoren an¬ 
erkannten Heifferfolge- verteilten sich an¬ 
nähernd gleichmäßig auf sechs verschie¬ 
dene Mittel: Urotropin (bei Harnaus¬ 
scheidern), Formyl-Gallensäure, Thymo- 
form, eine Kupfer-Eiweißverbindung der 
Troponwerke, Calomel und Lactobacillin. 
Das besagt zum mindesten, daß es ein 
bestimmtes Heilmittel für die Daueraus¬ 
scheidung noch nicht gibt. 

Noch schlechter waren die Ergebnisse, 
welche Bumke in Heilversuchen an 
Bacillenträgern mit ,,starken“ Coli- 
stämmen nach Nißle erzielte. Geheilt 
wurde von elf Fällen nur ein Kranker, bei 
dem aber wegen der kurzen Ausschei- 



46 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Januar 


dungsdauer ein spontanes Aufhöreri wahr¬ 
scheinlicher war. Bei sechs Kranken 
konnte keinerlei Wirkung festgestellt wer¬ 
den, obwohl bis zu 259 Kapseln in 64 Ta¬ 
gen verabfolgt wurden. Die in den 
übrigen vier Fällen beobachtete vorüber¬ 


gehende Verminderung der Bacillenmenge 
kommt auch bei unbehandelten Dauer¬ 
ausscheidern vor. 

Hetsch (Frankfurt a. M.). 

(Beitr. z. KHn. d. Infekt. Krkh. Bd. 8, H. 1—2, 
1919.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Aus der chirurgiscli-urologiselieii Privatklinik von Dr. A. Frendenberg in Berlin. 

Stearinfremdkörper in der Blase; Entfernung mittels intra= 
vesikaler Auflösung durch Benzin nach Lohnstein. 

Von Dr. H. Bonin, Assistent der Klinik. 


Das Vorkommen von Fremdkörpern 
in der Blase, die nur aus fettartigen Sub¬ 
stanzen bestehen, gehört zu den selteneren 
urologischen Krankheitsbildern. Im Jahre 
1907 hat Lohnstein^) eine Methode der 
intravesicalen Auflösung dieser Fremd¬ 
körper durch Injektion von Benzin in die 
Blase angegeben, die doch nicht überall 
bekannt zu sein scheint, obwohl sie nach 
dem, was bisher darüber veröffentlicht 
wurde, verdient, die Methode der Wahl 
zur Beseitigung der genannten Fremd¬ 
körper zu werden. Die auf diesem Gebiet 
in den nächsten Jahren erschienenen 
Publikationen stellt Posner^) anläßlich 
eines von ihm selbst im Jahre 1909 nach 
Lohnstein behandelten Falles zu¬ 
sammen; es handelt sich um je einen Fall 
von Lenk ^), Po Hak ^)undFranzWeiß5). 

In allen drei Fällen wurden „Wachs¬ 
kerzen in die männliche Harnröhre ein¬ 
geführt und gelangten so in die Blase. 
Jedesmal gelang die Auflösung mittels 
der Benzinmethode ohne Schwierigkeiten 
und ohne Nebenwirkungen. Der Docht 
wurde dann spontan ausuriniert. Der 
von Posner selbst veröffentlichte Fall 
unterschied sich durch die Ätiologie. 
Hier waren zu Behandlungszwecken 
Ichtharganstäbchen in eine entzündlich 
veränderte, weibliche Harnröhre ein¬ 
geführt worden. Dabei war es zum Nie¬ 
derschlage der Fettmassen in der Blase 
gekommen, die starke cystitische Be¬ 
schwerden verursacht hatten. Die Cysto- 
skopie ergab das typische Bild der auf 
der Flüssigkeit schwimmenden Fettkugel. 
Die Behandlung nach Lohnstein hatte 
auch hier prompten Erfolg. 

In der späteren urologischen Literatur 
finde ich keine hierher gehörigen Angaben 

1) Lohnstein, B. kl. W. 1907, Nr. 23. 

2) Posner, B. kl. W. 1909, Nr. 34. 

2) Lenk, W. kl. W. 1908, Nr. 21. 

4) Pollak, W. kl. W. 1908, Nr. 23. 

5) Franz Weiß, W. kl. Rdsch. 1909, Nr. 27. 


mehr, abgesehen von einigen Veröffent¬ 
lichungen über fettartige Fremdkörper 
mit peripherer Inkrustation, zu deren 
Beseitigung die Lohnsteinsche Methode 
nicht angewandt wurde, und für die sie 
natürlich auch nur dann geeignet ist, 
wenn es sich nicht um zu umfangreiche 
Niederschläge, also die Bildung eines 
wirklichen Blasensteins um die Fett¬ 
massen herum handelt. 

Die spärlichen Literaturangaben dürf¬ 
ten die Veröffentlichung des nachstehen¬ 
den, in der Privatklinik von Dr. A. 
Freudenberg beobachteten Fallesrecht¬ 
fertigen. 

Der 35 Jahre alte Patient hatte sich vor zehn 
bis elf Tagen ein etwa 12 cm langes Stück Stearin, 
das er durch Erwärmen und Kneten mit den 
Fingern aus einer Kerze geformt hatte, in die 
Harnröhre eingeführt. Nachdem die wurstförmige 
Masse vollkommen darin verschwunden war, 
schob er sie von außen noch weiter vor, ,,um zu 
probieren, wie weit sie sich vorschieben ließe“, 
in der Meinung, das Stück würde beim urinieren 
wieder zum Vorschein kommen. Masturbations- 
zweck wurde geleugnet. Seitdem bestanden 
Schmerzen am Schluß der Miktion und heftige 
Blasenbeschwerden beim Gehen und Treppen¬ 
steigen. Der Urin soll stark trübe, niemals blutig 
ausgesehen haben. Häufigkeit der Miktion, am 
Tage zweimal, nachts 0. 

Bei der Aufnahme in die Klinik am 15. August 
1919 ist der Urin bei Zweigläserprobe in beiden 
Portionen stark trübe, von alkalischer Reaktion, 
er enthält weder Eiweiß noch Zucker. Auf der 
Oberfläche schwimmen eine Anzahl von Fett¬ 
kügelchen. 

Die Cystoskopie am 18. August ergab folgenden 
Befund: Schleimhaut katarrhalisch gerötet, 
sonst Blase normal. Auf der Oberfläche der Fül¬ 
lungsflüssigkeit schwimmt eine weiße, glänzende 
Masse von der Größe einer Kirsche und ungefähr 
kugelförmiger Gestalt. Die Oberfläche des Fremd¬ 
körpers zeigt an einer Stelle eine Einkerbung, an 
mehreren Stellen schwärzliche Flecken (Teile 
des Dochtes?). 

Nach vollkommener Entleerung der Blase 
werden durch den Katheter 15 ccm reines Benzin 
injiziert, das reaktionslos vertragen wird. Nach 
15 Minuten wird die Injektionsflüssigkeit aus¬ 
uriniert, dabei wird nur leichtes Brennen emp¬ 
funden. Im Glase setzt die Flüssigkeit sich sofort 
in zwei Schichten ab. In der oberen, aus dem 




Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


47 


specifisch leichteren Benzin bestehenden Schicht 
sieht man zahlreiche Fettkügelchen, auf dem 
Boden des Glases schwarze Dochteile. 

19. August: Aus der ersten Urinportion nach 
der Behandlung hat sich nach Verdunsten des 
Benzins reichlich Stearin abgesondert, das in 
zirka 3 mm starker, fester Schicht auf der Ober¬ 
fläche liegt. Auch die nächste Urinportion ent¬ 
hält noch etwas Stearin, außerdem ein 3 cm 
langes Stück Docht. Heute ist der Urin nur 
wenig trübe, enthält kein Eiweiß. Keine Fremd¬ 
körperbeschwerden mehr, nur noch etwas Brennen 
in der Harnröhre. 

Unter Behandlung mit Blasenspülungen klärte 
,der Urin sich weiter. Die Cystoskopie am 25. 
August zeigte noch Spuren von Schleimhaut¬ 
rötung, sonst nichts Abnormes. 


Der Patient wurde am 30. August vollkommen 
beschwerdefrei entlassen. Der Urin zeigte noch 
eine leichte Trübung, die nur von Phosphaten 
herrührte, sonst keinen abnormen Befund. Bei 
einer Wiedervorstellung am 22. 11. war der 
Patient ohne Beschwerden, der Urin absolut klar 
und eiweißfrei. 

Der angeführte Fall zeigt wie alle 
früher bekannt gewordenen die prompte 
Wirkung der Benzininjektion auf den 
fettartigen* Fremdkörper. Auch bei uns 
war, wie auch Posner betont, die Injek¬ 
tion absolut reizlos und hatte keinerlei 
Schädigungen der Blasenschleimhaut oder 
toxische Nebenwirkungen zur Folge. 


Das Magnesiumperhydrol 
in der Therapie der Magen=Darmbeschwerden. 

Von Georg Sandberg, Berlin. 


In der symptomatischen Therapie der 
Magenbeschwerden spielt in der täglichen 
Praxis wohl die Hauptrolle die Linderung 
der ,,Hyperaciditätsbeschwerden“. 
Auch wenn, wie mitunter, die genaue 
Diagnose noch nicht feststeht, werden 
therapeutische Maßnahmen getroffenwer¬ 
den müssen. Diesem Faktor muß der 
Arzt besonders in der kassenärztlichen 
Tätigkeit Rechnung tragen. Er wird 
daher zunächst mit möglichst wenig 
eingreifenden Maßnahmen auszukom¬ 
men suchen, und in erster Reihe diäte¬ 
tische Verordnungen treffen. Doch wird 
ein völliger Verzicht auf medikamen¬ 
töse Therapie schon deshalb nicht mög¬ 
lich sein, weil die genaue Befolgung des 
diätetischen Regimes oft an äußeren 
Schwierigkeiten scheitert. 

Von den Medikamenten, welche im 
Laufe der letzten Jahre gegen die Hyper¬ 
aciditätsbeschwerden empfohlen* worden 
sind, hat sich das Magnesiumperhydrol 
Merck mit am besten bewährt. 

Ich habe das Mittel recht häufig an¬ 
gewandt, .und zwar in erster Linie bei 
Hyperacidität mit ihren zahlreichen 
funktionellen Beschwerden. Zunächst 
spricht für seine Anwendung der Um¬ 
stand,* daß die Kohlensäureentwicklung 
im Magen im Gegensatz zum Natrium 
bicarbonicum ausbleibt. In den doch 
nicht ganz seltenen Fällen, in denen das 
Ulcus ventriculi in seinem Beginn nicht 
sogleich als solches erkannt wird, würde 


die Bildung von Kohlensäure im Magen 
die Beschwerden steigern. 

Gleichzeitig hat meist das Magne¬ 
siumperhydrol eine mild abführende 
Wirkung, was • durchaus erwünscht ist, 
da ja die Hyperacidität häufig mit 
Obstipation einhergeht. Diese Eigen¬ 
schaft, ein angenehmes und mildes Ab¬ 
führmittel zu sein, indiziert seine An¬ 
wendung bei Magengeschwür in der 
Rekonvaleszenz, bei Icterus, gutarti¬ 
ger. Pylorusstenose, Gastrosuccorrhöe 
und auch malignen Erkrankungen des 
Magens, also in' Fällen, in denen nach 
Möglichkeit eine Schonung des Magens 
angestrebt werden muß. Auch bei der 
Gärungsdyspepsie mit Flatulenz sieht 
man gute Erfolge. 

Die Höhe der Dosis muß ausprobiert 
werden. 

Bei bestehender Obstipation gibt 
man das Medikament am besten auf 
nüchternen Magen: einen gehäuften 
Teelöffel in einem Weinglas Wasser. 

Die übliche Dosis ist dreimal täglich 
ein bis zwei Tabletten oder in Pulver¬ 
form, dreimal täglich einen Teelöffel 
eine halbe Stunde nach der Mahlzeit. 
Ein Zusatz von Menth'ol (0,5:50,0) 
wirkt leicht kalmierend. Doch hat das 
Magnesiumperhydrol nach meinen Beob¬ 
achtungen eine schmerzstillende Wir¬ 
kung nicht. Ist solche beabsichtigt, wird 
man zu Codein und Belladonna greifen 
müssen. . 


Aperitol in der Kurpraxis. 

Von Dr. med. Ernst Geyer, Arzt in Krummhübel, Kurarzt von Brückenberg im Riesengebirge. 


Als Arzt eines Kurortes ist man oft 
in die Lage versetzt, gelegentlich ein 
Abführmittel zu verordnen, das milde 


wirkt und dabei ein gutes Ergebnis 
zeitigt. Als solches hat sich mir das 
Acetyl - Valeryl - Phenolphthalein be- 





48 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Januar 


Währt, das unter dem Namen „Aperitoh* 
von der Firma Riedel hergestellt wird. 

Die rein theoretisch einleuchtende 
Tatsache, daß die Baldriankomponente 
des Mittels ihren kalmierenden Einfluß 
gegenüber der schmerzhafte Sensationen 
hervorrufenden Nebenwirkung des Phe¬ 
nolphthaleins geltend macht, sodaß nur 
eine abführende Wirkung ohne unan¬ 
genehme Nebenerscheinungen’ bestehen 
bleibt, hat sich bei der praktischen An¬ 
wendung bestätigt. Ein Umstand, auf 
den die Patienten eines Kurortes, beson¬ 
ders die weiblichen, Wert legen. 

Ich hatte bisher Gelegenheit, eine 
Reihe von Patienten mit Aperitol zu 
behandeln. Eine negative Wirkung des 
Mittels ist mir bis jetzt nicht berichtet 
worden. Fast ausschließlich wurde die 
reichliche Menge des Stuhles gelobt und 
die Leichtigkeit, mit der er erzielt wurde. 
Die Ansicht, daß man nicht die Emp¬ 
findung habe, ein Abführmittel genom¬ 
men zu haben, sondern daß der Stuhl 
„wie von selbst“ eingetreten sei, wurde 
einige Male geäußert. 

Bestätigt fand ich gleichfalls durch 
die Praxis, daß eine augenscheinliche 
Gewöhnung an das Mittel in keinem Falle 
eingetreten war. In Fällen inter¬ 
kurrenter Obstipation, in denen Ape¬ 
ritol eine Reihe von Tagen täglich ge¬ 
nommen worden war, brachte ein brüskes 
Fortlassen des Mittels keine nennens¬ 
werte Veränderung in der Häufigkeit des 
Stuhles hervor. Nur die Konsistenz war 
eine festere, infolgedessen die Menge 
geringer scheinend. 

Erwähnen möchte ich noch, daß die 
leicht zerfallenden Tabletten stets gern 
genommen wurden, auch von solchen 
Patientinnen, die erklärten, eine Abnei¬ 
gung gegen „jedes Einnehmen“ zu haben. 
Aperitolbonbons, bei denen dies in noch 
höherem Grade zutreffen dürfte, sind 
von mir bisher nicht verordnet worden.. 

Ein wirklich brauchbares Abführmittel 
scheint in dem Aperitol dem Arzt an die 
Hand gegeben zu sein in Fällen chroni¬ 
scher Obstipation, bei denen man 
sonst nur ungern zu einem Abführmittel 
griff aus Furcht, der Kranke könne sich 
an das Mittel gewöhnen und die an sich 
geringe Neigung zum Stuhlgang-sich nach 
Fortlassen des Mittels noch verstärken. 
Während ich früher nur mit großer Vor¬ 
sicht hier ein Laxans (Cascara Sagrada, 
Rheum u. a.) verordnete, gebe ich jetzt 


unbedenklich Aperitol, da es keine Be¬ 
schwerden verursacht, eine .gute abfüh¬ 
rende Wirkung zeitigt und vor allem das 
gleiche Ergebnis hat, wie es mich die 
Erfahrungen bei der interkurrenten Ob¬ 
stipation gelehrt haben: es tritt keine 
offensichtliche Gewöhnung an das Mittel 
ein. Das heißt nun nicht, daß, wenn 
Aperitol öfter genommen wurde, der 
Stuhlgang nach Fortlassen des Mittels 
sogleich dauernd regelmäßig und reich¬ 
lich ist — ist er dies doch vor dem Ein¬ 
nehmen des Aperitols nicht gewesen. 
Immerhin tragen einem die Kranken die 
überraschende Nachricht zu, daß nach 
Fortlassen des Mittels der Stuhlgang 
etwas besser wäre als vorher. Doch scheint 
mir diese Wirkung nicht von nachhalten¬ 
dem Einfluß zu sein, wenn Aperitol nur 
kürzere Zeit gegeben wurde. Eine lang¬ 
dauernde, bis Monate währende Anwen¬ 
dung von Aperitol in einem • einzelnen 
Falle ist von mir bisher nicht versucht 
worden. Ich halte das Aperitol nach 
meinen bisherigen Ergebnissen für ein 
gutes Hilfsmittel bei der Heilung chroni¬ 
scher Obstipationen, zusammen mit den 
bekannten hygienisch-diätetischen Ma߬ 
nahmen, wie sie von mir auch seinerzeit 
in der Deutschen Krankenpflege-Ztg. 
(XVII. Jahrg. Nr. 7) und in den Ärzt¬ 
lichen Ratschlägen zur ,, Krankenkost“ 
(Verlagsbuchhandlung Hahn, Wernige¬ 
rode) dargelegt worden sind. Die über 
eine längere Zeit ausgedehnte Anwendung 
des Aperitols als Darmheilmittel, die bei 
chronischer Obstipation als Ersatz der 
Massage empfohlen wird, ist von mir 
noch nicht versucht worden. 

Die Ergebnisse sind bei spastischer 
wie bei paretischer Obstipation die 
gleichen. Auch bei nervöser Stuhl¬ 
trägheit eines Neurasthenikers hat es 
gute Dienste geleistet. 

Einen besonderen Fall möchte ich 
noch anführen, bei dem die lindernde 
Komponente des Mittels klar hervortrat: 
seine Anwendung bei einer Erkrankung 
an Hämorrhoiden. Hier war nach Aperitol 
der gefürchtete Stuhlgang bei akuter 
Entzündung eines Hämorrhoidalknotens 
im Verhältnis zu sonst bedeutend weniger 
schmerzhaft — eine Tatsache, die zu 
weiteren Versuchen ermutigt. 

Zusammenfassend kann bisher gesagt 
werden, daß das Aperitol sich in jedem 
Falle als sehr gutes Abführmittel bewährt 
hat. 


Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urb an & Schwarzen berg 
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, BerlteWS 






SEP 3 


Die Therapie der Gegenwart 


herausgegeben von 


61. Jahrgang 

Neueste Folge. XXII. Jahrg. 


gang ßeh, Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer ■ • 

XXII.Jahrg. , BERLIN Febi 

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Februar 1920 


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1 


Die Therapie der Gegenwart 


1920 


herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Q. Klemperer 
in Berlin. 


Februar 


Nachdruck verboten. 


Aus der Medizinischen Klinik der Universität Köln. 

über technische Vereinfachungen in der Handhabung 
jder Diabetikerdiät. 

Von F. Moritz. 


In einer kleinen Schrift „Über ver¬ 
vereinfachte Handhabung der Kalorien¬ 
werte bei praktischen Ernährungsfragen“ 
(J. F. Lehmann, München 1919) habe 
ich einen Weg anzugeben versucht, um 
bei der Festsetzung einer Diät nach 
ihrem kalorischen und nach ihrem Eiwei߬ 
werte bei praktisch völlig genügender 
Genauigkeit rascher und bequemer zum 
Ziele zu kommen, als das mit Hilfe der 
gewöhnlichen Nahrungsmitteltabellen 
möglich ist. Es wurden zu diesem Zwecke 
die wichtigsten Nahrungsmittel, unter 
Berücksichtigung ihrer inneren Verwandt¬ 
schaft zueinander und ihrer animalischen 
oder vegetabilischen Herkunft, in eine 
Anzahl von Gruppen tabellarisch zu¬ 
sammengefaßt, für die der mittlere Ge¬ 
halt an Kalorien’und Eiweiß berechnet 
war. Es wurden diese Werte auch nicht, 
wie gewöhnlich üblich, nur für eine 
Menge von 100 g Substanz, sondern von 
10 zu 10 g bis 100 g, von da ab von 100 
zu 100 g bis 1000 g und endlich von 1000 
zu 1000 g bis 10 000 g ermittelt. Es 
lassen sich aus den Tabellen demnach 
unmittelbar ohne weitere Rechnung alle 
Angaben entnehmen, die bei der Fest¬ 
setzung einer Einzeldiät sowohl, als bei 
Massenversorgungsfragen nötig sind. Die 
Zahlen für die Zusammensetzung der 
Nahrungsmittel waren den"^ bekannten 
Nahrungsmitteltabellen von Schall und 
Heisler^) entnommen. Die dort ge¬ 
gebenen Zahlen beziehen sich auf resor¬ 
bierbare Mengen der Nahrungsstoffe, 
berücksichtigen also schon die durch¬ 
schnittlichen Ausnutzungsverhältnisse im 
Darme. Eine weitere Vereinfachung wurde 
in meinen Tabellen dadurch erzielt, daß 
nicht die Einzelkalorien aufgenommen, 
sondern als Einheit der Wert von 100 
Kalorien als „Hektokalorie“, oder kurz 
,,Hektokal“ eingeführt wurde. Dabei 
wurden Werte von 1 bis 50 Kalorien ver¬ 
nachlässigt, solche von 51 bis 150 aber 


als Hektokal (Hk), solche von 151 bis 
250 als zwei Hk usw. angesetzt. Die 
Ungenauigkeit, welche hierin liegt, wird 
durch den Umstand, daß eine Diät aus 
verschiedenen Nahrungsmitteln in ganz 
verschiedenen Mengen zusammengesetzt 
wird, und daß diese Zusammensetzung 
häufig wechselt, praktisch beseitigt. Das 
kalorische Minus bei einer Nahrungs¬ 
mittelquote pflegt durch eirr kalorisches 
Plus bei einer arideren ausgeglichen zu 
werden. Eine Genauigkeit bis auf einzelne 
Kalorien hat übrigens bei der indivi¬ 
duellen Verschiedenheit der Ausnutzungs¬ 
größe der’ einzelnen Menschen und bei 
deren Beeinflussung durch die Art der 
Zubereitung und der Mischung der Nah¬ 
rung überhaupt keinen Sinn. Wenn man 
indessen von der Bequemlichkeit, nur mit 
ganzen Hektpkal zu rechnen, absehen 
will, so lassen sich die Tabellen leicht 
auch in genauerer Weise benutzen. Wenn 
z. B. in einer Tabelle für 10 g mittelfettes 
Rindfleisch 0 Hk, für 100 g 2 Hk, für 
1000 g aber 16 Hk angegeben sind, so er¬ 
sieht man daraus, daß der genauere Wert 
für 10 g 0,16 Hk = 16 Kalorien und für 
100 g 1,6 Hk = 160 Kalorien ist. 

Ich bin auf diese Dinge um deswillen 
etwas näher eingegangen, weil sich das 
gleiche Prinzip auch auf die Kost der 
Diabetiker, praktisch ja eines der wich¬ 
tigsten ärztlich diätetischen Probleme, 
anwenden läßt. Dies zu zeigen ist der 
Zweck des vorliegenden Aufsatzes. Ich 
habe in den nachstehenden Tabellen acht 
große Abteilungen von Nahrungsmitteln 
unterschieden: 1. solche, die ganz oder fast 
ganz aus Fett bestehen; 2. Fleisch- und 
Fleischwaren; 3. Fische, Fischkonserven 
und Schaltiere; 4. Eier, Milch und Milch¬ 
produkte; 5. Zerealien, Backwerke, Teig¬ 
waren, Kakao; 6. Gemüse, Kartoffeln, 
Kastanien und Hülsenfrüchte; 7. Obst; 
8. alkoholhaltige Getränke. Die Nah¬ 
rungsmittel verstehen sich durchweg als 
Nettosubstanz, d. h. als eßbare Substanz, 

7 


U Verlag von Kabitsch, Würzbiirg. 





50 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Februaji 


das ist ohne Gräten, Knochen, Schalen 
usw:, nur beim Obst sind in den Gewichts¬ 
mengen die Kerne und Steine einbe¬ 
griffen, da das Obst durchweg auch mit 
ihnen gereicht zu werden pflegt. Die acht 
Nahrungsmittelabteilungen gliedern sich 
wieder in eine größere Zahl von Unterab¬ 
teilungen, welche "die Durchschnittswerte 
von bestimmten Gruppen der einzelnen 
Nahrungsmittel enthalten. Es wurden 
nur solche Nahrungsmittel berücksichtigt, 
die nicht durch einen größeren Zuckerge¬ 
halt ihre Verwendung beim Diabetiker 
von vornherein kontraindiziert erscheinen 
lassen (z. B. Konditorbackwaren, Zucker¬ 
waren, Obstmarmeladen, Liköre, Cham¬ 
pagner usw.) Berechnet wurden, und 
zwar für Nahrungsmittelmengen zwischen 
100 und 1000 g von 100 zu 100 g der Kohle¬ 
hydratgehalt in Gramm (K), der Eiwei߬ 
gehalt in Gramm (E) und der Kalorien¬ 
gehalt in ganzen Hektokal (Hk). Falls 
demnach Itei einer individuellen Diät 
kleinere Mengen eine^ Nahrungsmittels 
als 100 g benötigt werden, so müssen 
dieselben durch Division der ent¬ 
sprechenden höheren Werte mit 10 oder 
100 ermittelt werden. So ist z. B. der 
Kohlehydratwert für 70 g eines Nahrungs¬ 
mittels gleich dem Zehntel dessen von 
700 g, der Wert für 25 g gleich der Summe 
von einem Zehntel von 200 und einem 
Hundertstel von 500 usw. Es empfiehlt 
sich übrigens der Einfachheit halber sehr, 
für eine Diät nur ganze Vielfache von 
10 g als Nahrungsmittelmengen anzu¬ 
setzen. In der Regel wird kein Grund 
vorliegen, einem Diabetiker gerade 27 g 
Käse oder 75 g Brot zu erlauben; 30 g 
Käse oder 70 oder 80 g Brot werden den¬ 
selben Dienst tun. Kommt man nun 
bei der Division mit 10 (oder 100) auf 
Zahlen von 0,5 oder darunter, so werden 
diese vernachlässigt, während Zahlen von 
0,6 bis 0,9 auf 1 aufgerundet werden. 
Will man beispielsweise 20 g Käse ver¬ 
ordnen, wobei man mit dem Zehntel der 
für 200 g gültigen Zahlen auf 0,4 K, 5,2 E 
und 0,7 Hk kommt, so wird gerechnet 
mit 0,0 K, 5 E und 1 Hk. Auf diese 
Weise werden alle Berechnungen sehr 
vereinfacht. 

Die Kohlehydratäquivalente der ver¬ 
schiedenen Nahrungsmittelgruppen sind 
angenähert ohne weiteres aus den Ta¬ 
bellen zu entnehmen. So wird es in der 
Regel keinen wesentlichen Unterschied 
bedeuten, ob man einem Diabeteker 4,7 
oder 5,5 bzw. 5,8, 5,6 oder 5,7 Kohle¬ 
hydrat zuteilt. Man kann ihm daher, wie 


Tabelle V zeigt, an Stelle von 10 g Grau¬ 
oder Schwarzbrot auch 10 g Weißbrot, 

9 g Mehl, 8 g Zwieback oder 7 g Stärke¬ 
mehl geben. Der noch größeren Bequem¬ 
lichkeit und Genauigkeit halber sind'aber 
bei den kohlehydratreicheren Nahrungs¬ 
mitteln noch einige Spalten beigefügt, in 
denen die Nahrungsmittelmengen auf¬ 
geführt sind, welche ihrem Kohlehydrat¬ 
gehalte nach 10, 20, 30, 40 und 50 g ‘ 
Weißbrot äquivalent sind, das heißt 5,5 
bzw. 11, 16,5, 22 und 27,5 Kohlehydrat 
entsprechen. Noch unbedenklicher können 
diese Mengen selbstverständlich für 10 
bis 50 g Schwarz- oder Graubrot, das 
etwas kohlehydratärmer als Weißbrot ist, 
eintreten. 

Bei schwereren Fällen von Diabetes 
ist man bekanntlich genötigt, auch den 
Eiweißgehalt der Nahrung enger zu um- ' 
grenzen, da hier das Eiweiß als Zucker¬ 
quelle in die Erscheinung tritt. Auch 
ist ja bekannt, daß bei Einschränkung 
oder gar Ausschaltung insbesondere des 
animalischen (Milch-, Fleisch-) Eiweißes 
in der Regel wesentlich größere Mengen 
von Kohlehydrat vom Diabetiker ver¬ 
tragen werden, als es bei einer größeren 
Eiweißaufnahme der Fall ist, daß das 
Eiweiß also deutlich schädigend auf den 
Zuckerumsatz im diabetischen Organis¬ 
mus einwirken kann. Auf diese Weise 
erklärt sich auch wohl hauptsächlich die 
nicht selten günstige Einwirkung reiner 
Kohlehydratkuren (von Noordensehe 
Hafertage usw.) auf die Zuckerausschei¬ 
dung. Eine exzessive Eiweißzufuhr, wie 
sie bei einer vom Kranken beliebig ge¬ 
wählten vorwiegenden Fleisch- und Fett¬ 
diät leicht eintritt, ist also in keinem 
Falle von Diabetes ratsam, und in vielen 
Fällen ist es nötig, die Eiweißmenge in 
der Kost dauernd auf 130 bis 100 g oder 
vorübergehend auch noch mehr zu be¬ 
schränken. Die für den Diabetiker dem¬ 
nach manchmal recht wichtigen quan¬ 
titativen Verhältnisse der Eiweißzufuhr 
können für jede beliebige Kostform nach 
den Tabellen ebenfalls ohne weiteres 
ermittek werden. Um in einer Diabe¬ 
tikerkost die Eiweißzufuhr’einschränken, 
die Gesamtkalorienzufuhr aber trotzdem 
hochhalten zu können, muß man sich, 
da Kohlehydrate nicht verwendet werden 
können, an solche Nahrungsmittel wen¬ 
den, die ganz oder nahezu aus reinem 
Fett bestehen oder in denen der Fett¬ 
gehalt den Eiweißgehalt wenigstens stark 
überwiegt. (Fette, Öle, Butter, Mar¬ 
garine, Fettgewebe, geräuche'rter Speck, 




Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


51 


Rahm, gelegentlich auch Rähm-Käse, 
fettes Gänsefleisch.) 

Der Gesamtkaloriengehalt der Nah¬ 
rung soll bei dem Diabetiker selbstver¬ 
ständlich genügend, aber doch auch nicht 
besonders hoch bemessen sein, da eine 
nur mäßige Beanspruchung der inter¬ 
mediären StoffwechselpTozesse als scho¬ 
nende Maßnahme ein.e Erstarkung 
des Abbauvermögens _ für Zucker im 
Gefolge zu haben pflegt. 35 bis 40 Ka¬ 
lorien pro Körperkilogramm, nach Abzug 
des Kalorienverlusts durch die Glykosurie, 
dürften im Durchschnitte genügen, so¬ 
fern es nicht bei stärkerer Abmagerung 
nötig ist, durch ein höheres, dann aber auch 
wohl immer ganz vorwiegend durch Fett 
zu deckendes Kalorienangebot den Körper 
zum Stoffansatze zu bringen. Es ist 
daher zweckmäßig und in schwierigeren 
Fällen manchmal notwendig, auch die 
Kalorienaufnahme des Diabetikers quan¬ 
titativ' zu überwachen, und aus diesem 
Grunde wurden die Hektokalwerte in die 
Tabelle aufgenommen. 

Die küchentechnischen Aufgaben, die 
äus den ärztlich-diätetischen Anordnungen 
linier Zugrundelegung nachstehender Ta¬ 
bellen erwachsen, sind für ‘einigermaßen 
intelligente Personen nicht schwierig. Es 
liegt der Küche ob, aus den verordneten 
Nahrungsmittelmengen _ nach eigenem 
Gutdünken einzelne Speisen herzustellen, 
wobei ihr die Wahl unter den verschie- 
... denen Nahrungsmitteln der namhaft ge¬ 
machten Gruppen freisteht. Dabei wird 
die ärztliche Verordnung fast immer 
auch noch eine Reihe von Gruppen zu- 
sammenfassefi können. So hat es 
keinen Sinn, bei Mengenbestimmungen 
für die Diabetikerdiät einen Unterschied 
zwischen den reinen Fetten und Ölen 
einerseits und Butter oder Margarine 
andererseits zu machen, da eine genau 


abgezirkelte Kalorienzuteilung fast nie 
nötig und durchführbar ist. Man wird 
auch unter den Fleisch- und Fischarten, 
die ja ebenso wie die Fette zu den unbe¬ 
dingt erlaubten Speisen gehören, für' 
gewöhnlich nicht zu differenzieren brau¬ 
chen. Sie wurden in den Tabellen nur 
wegen des allgemeinen diätetischen 
Interesses, das die einschlägigen Ver¬ 
hältnisse darbieten und in Hinsicht auf 
die eben genannten Fälle, in denen eine 
Begrenzung der Eiweißzufuhr stattfinden 
muß, gesondert aufgenommen. Dagegen 
wird man bei den leichteren und mittel¬ 
schweren Fällen, die noch eine größere 
Kohlehydrattoleranz aufweisen, von den 
Einzelangaben über die kohlehydrat¬ 
reicheren Nahrungsmittelgruppen recht 
oft mit Vorteil Gebrauch machen können, 
um dem Diabetiker, und zwar in der 
üblichen Weise im Austausche gegen 
äquivalente Mengen von Brot, die er¬ 
wünschte größere Abwechslung in der 
Kost zu gewähren. Daß man aber auch 
hier nicht schematisch verfahren darf, 
sondern, besonders bei den Nahrungs¬ 
mitteln, die ihren Kohlehydratgehalt zum 
erheblichen Teil bzw. ganz nicht in Form 
von' Stärke, sondern von Zucker ent¬ 
halten, vorsichtig sein muß, ihre-Ein¬ 
stellung. an Stelle von Brot also nicht 
beliebig groß gestalten darf, ist bekannt. 
Es gilt dies für die Milch, deren Ver¬ 
träglichkeit von Fall zu Fall geprüft 
werden muß, namentlich aber auch für 
die stärker zuckerhaltigen Vegetabilien, 
so die Gruppe der Rüben (Tabelle VI, 3) 
und die Obstarten, und unter den Ge¬ 
tränken für die Biere. Die stark süßen 
Obstsorten, Trauben und Südfrüchte, sind 
aus diesen Grunde überhaupt nicht auf¬ 
geführt. Auch die Biere, die nicht selten 
ausgesprochen ungünstig auf die Zucker¬ 
ausscheidurig wirken, werden in der Regel 
am besten ganz vermieden. 



Ausschließlich oder fast ausschließlich aus Fett bestehende Nahrungsmittel 

I 

g 

100 

200 

300 

400 

500 

600 

700 

800 

900 

1000 



K EHk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K EHk 

K EHk 

1. Ausgelassene (ausgeschmolzene) 
tierische Fette (Rindstalg, 
Schweine-, Butterschmalz 
usw.), Palmin, Olivenöl u. a. 
pflanzliche öle. 

K 

E 

Hk 

0 

0 

9 

0 

0 

18 

0 

0 

26 

0 

0 

35 

0 

0 

44 

0 

0 

53 

0 

0 

62 

0 

0 

70 

0 

0 

79 1 

0 

0 

88 

2. Butter, Margarine, Fettgewebe 
von Hammel, Rind, Schwein, 
Kno chenmark. 

K 

E 

Hk 

0 

1 

8 

0 

3 

16 

i 

4 

1 23 

0 

6 

31 

0 

7 

39 

0 

9 

47 

0 

10 1 
53 

0 

12 

62 

0 

13 

70 

0 

15 

78 

3. Speck, geräuchert. 

K 

E 

Hk 

0 

9 

7 

0 

17 

14 

0 

26 

20 

0 

35 

27 

0 

43 

34 

0 

52 

41 

0 

61 

48 

0 

70 

54 

0 

79 

61 

0 

87 

68 


7* 










X' 


52 , Die Therapie der Gegenwart 1920 Februar 


\ 


II 

1 Fleisch- und Fleischwaren, eßbare Substanz (Nettosubstanz) 

Kohlehydratäqui¬ 
valente in g fürWeiß- 
brotmengen von 

i 

100 

200 




||Q| 

B 


900 

1000 

f 

KEHh 

KE Hh 







K E Hk 

K E Hk 

10g 

20 g 

30 g 

40g|50g 

1. Ffettes Gänsefleisch. . 

K 

E 

Hk 

0 

15 

5 

0 

30 

10 

0 

45 

14 

0 

60 

19 

0 

75 

24 

0 

90 

29 

B 

0 

120 

38 

0 

135 

43 

0 

150 

48 

— 

— 

— 

— 

— 

2. Rauchfleisch .(Ochse, 

, gösalzen u. geräuchert), 
Schinken, gesalzen, ge¬ 
räuchert oder gekocht 
(riicht Lachsschinken), 
Zünge, geräuchert . . 

K 

E 

Hk 

0 

24 

4 

0 

48 

8 

0 

72 

12 

0 

96 

16 

0 

120 

20 

0 

144 

23 

0 

168 

27 

0 

192 

31 

0 

216 

35 

0 

240 

39 

— 

— 

— 

— 

- 

3. Hammel- u. Schweine¬ 
fleisch, mittelfett. . . 

K 

E 

Hk 

0 

17 

2 

0 

34 

5 

0 

51 

7 

0 

68 

10 

0 

85 

12 

0 

102 

15 

0 

119 

17 

0 

136 

20 

0 

* 153 

22 

0 

170 

25 

— 

— 

— 

— 

— 

4. Rindfleisch, mittelfett. 

K 

E 

Hk 

0 

20 

2 

0 

40 

3 

0 

60 

5 

0 

80 

6 


0 

120 

10 

0 

140 

11 

0 

160 

13 

0 

180 

14 

0 

200 

16 

— 

— 

— 

— 

— 

5. Kalbfleisch, mittelfett. 

K 

E 

Hk 


0 

38 

3 

0 

57 

4 

0 

76 

5 

0 

95 

6 


0 

133 

9 

0 

152 

10 

0 

171 

12 

0 

190 

13 

— 

__ 

— 

— 

— 

6. Bries (Milch, Brösel) 
vom Kalb. 

K 

E 

Hk 

0 

27 
• 1 

0 

54 

3 

0 

81 

4 

0 

108 

5 


0 

162 

8 

0 

189 

9 

0 

216 

10 

0 

243 

12 

0 

270 

13 

— 

— 



— 

7. Herz, Niere von Rind, 
Kalb, Hammel, Hirn 
von Kalb. 

K 

E 

Hk 

0 

13 

1 

0 

26 

3 

1 

39 

4 

1 

52 

5 

1 

65 

6 

1 

78 

8 

1 

91 

9 

2 

104 

10 

2 

117 

12 

2 

130 

13 

— 

— 

— 


- 

8. Würste (ausgenommen 
Leber- und Blutwurst)^) 

K 

E 

Hk 

1 

18 

4 

2 

36 

9 

2 

54 

12 

3 

72 

17 

4 

90 

21 

5 

108 

25 

6 

126 

29 

6 

144 

33 

7 

162 

38 

8 

180 

42 

— 

— 

— 


- 

9. Geflügel u. Wild “) . . 

K 

E 

Hk 

1 

21 

1 

2 

42 

3 

3 

63 

4 

4 

84 

6 

5 

105 
, 7 

6 

126 

8 

7 

147 

10 

8 

168 

11 

9 

189 

13 

10 

210 

14 

— 

— 

— 

— 

_ 

10. Lachsschinken, gesal¬ 
zenes [ungeräuchertes] 
Fleisch, Fl.-konserven 
in Büchs., frische Zunge 
von Rind, Kalb, Ham¬ 
mel 3). 

K 

E 

Hk 

1 

22 

2 

3 

44 

4 

4 

66 

6 

6 

88 

8 

7 

110 

10 

9 

132 

11 

10 

154 

13 

12 

176 

15 

13 

198 

17 

15 

220 

19 

— 

— 

— 

— 

- 

11. Gänsebrust, pommer.^ 
Gänseleberpastete . . 

K 

E 

Hk 

2 

18 

4 

4 

36 

8 

6 

54 

11 

8 

72 

15 

10 

90 

19 

12 

108 

23 

14 

126 

27 

16 

144 

30 

18 

162 

34 

20 

180 

38 

— 


— 

— 

- 

12. Leber von Rind, Kalb, 
Hammel. 

K 

E 

Hk 

3 

18 

1 

7 

36 

3 

B 

13 

72 

5 

16 

90 

6 

20 

108 

8 

23 

126 

9 

26 

144 

10 

30 

162 

12 

33 

180 

13 

180 

360 


— 

_ 

13. Leberwurst, mittlere 
Sorte. 

K 

E 

Hk 

11 

11 

3 

22 

22 

6 

33 

33 

9 

44 

.44 

12 

55 

55 

15 

66 

66 

19 

77 

77 

22 

88 

88 

25 

99 
- 99 

28 


50 


150 

— 

- 

14. Blutwurst. 

K 

E 

Hk 

20 

10 

2 

40 

20 

4 

60 

30 

6 

80 

40” 

8 


120 

60 

13 

140 

70 

15 

160 

80 

17 

180 

90 

19 


27 

55 

81 

110 

137 


III 


g 

bei 

BB 










K E Hk| 

K E Hk 

|K E Hk 

|K E Hk 

K E kH 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

1. Stockfisch. 

K 

E 

Hk 

0 

76 1 
41 

0 

152 

8 

0 

228 

11 

0 

304 

15 

0 

380 

19 

0 

456 

23 

0 

552 

27 

0 

608 

30 

0 

684 

34 

0 

760 

38 

2. Besonders fette Fische(frisch), 
Aal, Salm (Lachs), Maifisch . . 

K 

E 

Hk 

0 

18 

2 

0 

36 

5 

0 

54 

7 

0 

72 

10 

0 

90 

12 

0 

108 

14 

1 0 

126 

17 

i 0 

144 

19 

0 

162 

22 

0 

180 

24 

3. Mittelfette Fische (frisch ^) , . 

K 

E 

Hk 

0 

17 

1 

0 

34 

3 

0 

51 

4 

0 

68 

5 

0 

1 85 

1 6i 

0 

102 

9 

0 

119 

10 

0 

136 

11 

0 

153 

13 

0 

170 

14 

4. Magere Fische (frisch®) . . . 

K 

E 

Hk 

0 

16 

1 

0 

33 
• 2 

0 ! 
49 ' 
3 

0 

66 

4 

0 1 
82 

4 

0 

99 

5 

0 i 

115 ' 
6 

0 

132 

7 

0 i 

148 

81 

0 

165 

9 

5. Fischkonserven ®)j gesalzen, ge¬ 
räuchert, mariniert, in Gelee . 

K 

E 

Hk 

21 , 
2 

42 

4 

1 

63 

7 

2 1 
84 

9 

2 

105 

11 

2 

126 

13 

3 

147 

15 

3 

168 

18 

4 

189 

20 

4 

210 

22 

6. Kaviar. 

K 

E 

Hk 

1 

28 

3 

3 1 
sei 

4 

84 

8 

4 

112 

11 

6 1 
140 

13' 

8 

168 

16 

9 

196 

19 

10 

224 

22 

12 

252 

24 

13 

280 

27 

7. Hummer, Krabben, Krebse, 
Miesmuscheln.. 

K i 
E 

Hkj 

2 

13 

1 

3 

27 

2 

5 

40 

2 

7 

54 

3 

8 

67 

4 

10 

80 

1 5 

12 

94 

1 6 

14 

107 

1 7 

15 

121 

7 

17 

134 

8 

8. Austern. 

E 

Hk| 

3 

6 

1 

7 

12 

I 

|10 

17 

2 

14 

23 

2 

17 

21 

1 35 

1 3 

24 

41 

4 

28 

46 

4 

31 

52 

5 

35 

58 

5 


1) Cervelatwurst, Frankfurter Wurst, Mettwurst, Salami (Hartwurst), Schinkeiiwurst, Schlackwurst, Trüffelwurst. 

“) Feldhuhn, Hahn, Hase, Huhn, mager, Huhn, fett, Krammetsvogel, Reh, Taube, Truthahn, Wildente. 

®) Bouillonfleisch in Büchsen, Corned beef in Büchsen, Lachsschinken, Pökelschweinefleisch(Salzfleisch) Rindfleisch 
(gedünstet) in Buchsen, Rindsbraten in Büchsen, Rindsgoulasch in Büchsen, Schinken, gesalzen, Zunge in Büchsen. 

*) Heilbutte, Hering, gefütterter Karpfen, Makrele, Weißfisch. 

») Barsch, Flunder, Forelle (Saibling), Hecht, Kabeljau, Karpfen, ungefüttert, Saibling (Forelle), Schellfisch, 
Schleie, Scholle, Seezunge, Stör, Zander. - » & v 

«) Aal in Gelee, Anchovis (Ölsardinen), Heilbutte, geräuchert und gesalzen (amerik. Schellfisch), Hering, gesal¬ 
zen, Hering, geräuchert, Laberdan, gesalzen (Kabeljau), Lachs (Salm), gesalzen, Makrele, gesalzen, Neunauge, ge¬ 
räuchert, Neunauge, mariniert, Sardelle, gesalzen, Sardinen s. Anchovis, Sprotten (Kieler). 





















































Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


53 



Eier, Milch und Milchprodukte | 

Kohlehydratäqui¬ 

valente in g für 
Weißbrotmengen 
von 

IV 

H 

100 

200 1 

300 

400 

50'0 

600 

700 

800 

900 

1000 

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10g|20gl 

30g 

40g 

50g 


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3 

4 

4 

5 

5 

6 


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1. Eier . 


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60 

72 

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108 

120 

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— 

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7 

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10 

12 

13 

15 







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3 

3 

4 

5 

6 

6 

7 






2. Englischer Rahmkäse . . 

E 




76 

95 

114 

133 

152 

171 

190 

_ 

_ 


— 

— 


Hk 




i 24 

30 

37 

43 

49 

55 

61 







K 

2 

4 

6 

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12 

14 

16 

18 

20 



1 



3. Sonstige Käse ^ . . . . 

E 

26 

52 

78 

104 


156 

182 

208 

234 

260 

— 

— 


— 

— 


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3 

7 

10 

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24 

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1 




K 

3 

7 

10 


16 

20 

23 

26 

30 

33 






4. Rahm, sehr fett .... 

E 

4 

8 

12 


20 

24 

28 

32 

36 

40 

180 

360 

— 

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— 


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2 

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12 

14 

17 

19 

22 

24 







K 

3 

7 

10 

14 

17 

20 

24 

27 

31 

34 






5. Saure Milch. 

E 

3 

6 

10 

13 

16 

19 

22 

26 

29 

32 

180 

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— 

— 


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1 

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2 

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4 

5 

5 

6 







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11 

15 

19 

23 

27 

30 

34 

38 



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1 


6. Buttermilch. 

E 

4 

7 

11 

14 

18 

22 

25 

29 

32 

36 

140 

280 

420 

1560700 


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0 

1 1 

1 

2 

2 

2 

3 

3 

4 

4 




1 

1 


K 

5 

9 

14 

18 

23 

28 

32 

37 

41 

46 






7. Molken. 

E 

1 

2 

2 

3 

4 

5 

6 

6 

7 

8 

120 

240 

360 

480 

600 


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0 

0 

1 

1 

1 

1 

2 

2 

2 

2 







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5 

10 

14 

19 

24 

29 

34 

38 

43 

48 






8. Rahm 10°/o. 

E 

3 

7 


14 

17 


24 

27 

31 

34 

115 

230 

345 

460 

575 


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1 

3 

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5 

6 

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9 

10 

12 

13 







K 

5 

10 

14 

19 

24 

29 

34 

38 

43 

48 






9. Vollmilch. 

E 

3 

6 

10 

13 

16 

19 

22 

26 

29 

32 

115 

230 

345 

460 

575 


Hk 

1 

1 

2 

3 

3 

4 

5 

6 

6 

7 



1 




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5 

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14 

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38 

43 

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1 



10. Magermilch. 

E 

3 

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9 

12 

15 

18 

21 

24 

27 

30 

115 

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460 

575 


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1 

1 2 

2 

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4 

4 


1 

1 





Voll- u. Stärkemehle, Graupen, Grieß, Grützen, Brote, Zwieback, Teigwaren, 

Kakao 

Kohlehydratäqui¬ 
valente in g fürWeiß- 
brotmengen von 

V 

g 

100 

200 

300 

400 

500 

600 

700 

800 

900 

1000 



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KE Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

10g 

20 g 

30 g|40g|50g 

1. Kakao. 

K 

E 

Hk 

32 

8 

3 

64 

16 

7 

96 

24 

10 

128 

32 

14 

160 

40 

17 

192 

48 

20 

224 
. 56 

24 

256 

64 

27 

288 

72 

31 

320 

80 

34 

17 

I 34 I 

1 1 

51 

1 681 
1 1 

85 

2. Grau-, Schwarz-, Graham-, 
Kommisbrot, Pumper¬ 
nickel . 

K 

E 

Hk 

47 

5 

1 2 

94 

10 

4 

141 

15 

7 

188 

20 

9 

235 

25 

11 

282 

31 

13 

329 

36 

15 

376 

41 

18 

423 

46 

20 

470 

51 

22 

12 

24 

36 

n 

60 

3. Weißbrot, Wasserwekken, 
Milchbrötchen. 

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E 

Hk 

55 

6 

2 

110 

12 

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165 

19 

7 

220 

25 

10 

275 

31 

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330 

37 

15 

385 

43 

1 17 

440 

50 

20 

495 

56 

22 

550 

62 

25 

10 

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20 

30 

|40| 

50 

4. Vollmehle, Körner, Griese 
Grützen, Nudeln, Macca- 
roni, Eiergerstel«).... 

K 

E 

Hk 

65 

8 

3 

130 

16 

7 

195 

24 

10 

260 

32 

13 

325 

40 

16 

390 

48 

20 

455 

56 

23 

520 

64 

26 

585 
• 72 

30 

650 

80 

33 

8 

1 

1 

25 

34 

42 

5. Zwieback, Cakes . . . . 

K 

E 

Hk 

70 

8 

4 

140 

16 

7 

210 

24 

11 

280 

32 

14 

350 

40 

18 

420 . 

48 

22 

490 

56 

25 

560 

64 

29 

630 

72 

32 

700 

80 

36 

8 

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1 

39 

6. Stärkemehle ®). 

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2 

7 

243 

3 

10 

324 

4 

13 

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486 

6 

20 

567 

7 

23 

648 

8 

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9 

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810 

10 

33 

7 

14 

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34 


VI 

Gemüse, Kartoffeln, Kastanien, Hülsenfrüchte 

Kohlehydratäqui¬ 
valente in gfürWeiß- 
brotmengen von 

g 

100 

200 

300 

400 

500 

600 

700 ' 

800 

900 

1000 


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K E Hk 

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K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

10g 

20 g 

30 g 

40 g 

50 g 

1. Salate, Tomaten, 
Spargel, Gurken, 

Sauerkraut, Radies- 
chen,eingem. Schnitt¬ 
bohnen, Spinat 1 °) . 

K 

E 

Hk 

2 

1 

1 

5 

2 

3 

7 

3 

5 

10 

4 

6 

12 

5 

8 

14 

6 

10 

.17 

7 

11 

19 

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13 

22 

9 

14 

24 

10 

16 

230 

460 

220 

690 

920 

1150 

2. Kohl- u. Krautarten 
[ausgenommen Win¬ 
terkohl], frische Pilze, 
Melone, Kürbis, grüne 
Schnittbohnen . . 

K 

E 

Hk 

1 5 

2 

10 

4 

1 

15 

5 

1 

20 

7 

1 

1 

25 

9 

1 

30 

11 

2 

35 

13 

2 

40 

14 

45 

16 

3 

50 

18 

110 

330 

440 

550 


’) Backsteinkäse, Brie, Camembert, Chedder, Chester, Edamer, Emmenthaler, Fettkäse, Gervais (Neuschätel), Gorgonzola, Hand- 
kase, Holländer, Magerkäse, Parmesankäse, Ramadour, Roquefort. / 

®) Buchweizenmehl, Buchweizen, geschalt, Eiergerstel, Gerste, geschalt, Gerstengriesmehl, Gerstenschleimmehl, Graupen, Grüir- 
kernmehl, Hafer, geschalt, Hafergrütze, Hafermehl (Flocken, Oats), Maismehl (Mondamin), Makkaroni, Nudeln, Reis, geschält, Reis- 
inehl, feinstes, Roggenmehl, Sorghohirse, geschält’, Sorghohirsenmehl, Weizengries, Weizenmehl, feinstes, Weizenmehl, gröberes. 

®) Kartoffelstärke, Maisstarke, Reisstärke, Sagostärke, Tapioka (Arrowroot), Weizeiistarke. 

*“) Endiviensalat, Feldsalat (Lattich), Kopfsalat, Römischer Salat, Spinat, eingemachte Schnittbohnen, Spargel frisch, Spargel, 
eingemacht, Gurke frisch, Gurke, eingemacht (sauer), Sauerkraut, eingemacht, Tomaten, Tomaten frisch, eingemacht, Radieschen. 

“) Blumenkohl, Rosenkohl, Rotkraut, Weißkraut, Savoyerkraut (Welschkraut, Wirsing), grüne Schnittbohnen, Melone^ 
Kurbisse, frische Pilze. 































































54 


Die'Therapk der Gegenwart 1920 


Februar 



— 



Gemüse, Kartoffeln, Kastanien, 

Hülsenfrüchte 



Kohlehydratäqüi- 
valente in gfürWeiß- 
brotmengen von 

VI 

g 

100 

200 

300 

400 

500 

600 

700 

800 

900 

1000 



KE Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 

K E Hk 


10g 

20 g 

30 g 

40 g 

50 g 

3. Rüben, Knollen,Wur¬ 
zeln, Rettich, Arti¬ 
schocken, Winter¬ 
kohl“) . 

K 

E 

Hk 

8 

1 

0 

16 

3 

1 

24 

4 

1 

32 

6 

2 

40 

7 

2 

48 

8 

2 

56 

10 

3 

64 

11 

3 

72 

13 
. 4 

80 

14 

4 

70 

140 

— 

— 


4. GrüneHülsenfrüch.i®) 

K 

E 

Hk 

8 

3 

0 

16 

7 

24 

10 

■1 

32 

14 

2 

40 

17 

2 

48 

21 

3 

56 

24 

3 

64 

28 

4 

72 

31 

4 

80 

35 

R 

vo 

140 

210 


. 

5. Kartoffeln, geschält 

K 

E 

Hk 


40 

3 

2 

60 

4 

3 

80 

6 

4 

100 

7 

4 

120 

‘9 

5 

140 

10 

6 

160 

12 

7 

180 

13 

8 

200 

15 

9 

27 

55 

82 

110 

137 

6. Getrocknete Pilze “) 

K 

E 

Hk 

27 

23 

2 

54 

46 

5 

81 

69 

7 

108 

92 

9 

135 

115 

11 

162 

138 

14 

189 

161 

16 

216 

184 

18 

243 

207 

21 

270 

230 

23 

20 

40 

60 

80 

100 

7. Zahme Kastanien. . 

K 

E 

Hk 

33 

4 

2 

66 

9 

4 

99 

13 

6 

132 

18 

8 

165 

22 

9 

198 

27 

11 

231 

31 

13 

264 

36 

15 

297 

40 

17 

330 

45 

19 

18 

36 

54 

73 

91 

8. Sojabohnenmehl . . 

K 

E 

Hk 

36 

21 

4 

72 

43 

8 

108 

64 

12 

144 

86 

16 

■ 

216 

1 129 

1 25 

252 

150 

29 

288 

172 

33 

324 

193 

37 

360 

215 

41 

15 


46 

62 

77 

9. ’Dörrgemüse “) . . , 

m 

45 

14 

2 

90 

28 

5 

135 
' 42 

7 

180 

56 

10 

225 

70 

.12 

270 

84 

14 

315 

98 

17 

360 

112 

19 


450 

140 

24 

12 

24 

37 

49 

61 

10. Trockene Hülsenfr. 
(Erbsen,Bohnen, Lin¬ 
sen) ■.. 

K 

E 

Hk 

46 

19 

3 

92 

38 

6 

138 

57 

9 

184 

76 

12 

230 

95 

14 

276 

114 

16 

322 

133 

19 

368 

152 

22 


460 

190 

28 

11 

22 

33 

44 

55 

11. Leguminosenmehle 
(Erbsen-, Bohnen-, 
Linsenmehl) .... 

K 

E 

Hk 

55 

21 

3 

110 

42 

7 

165 

63 

10 

220 

84 

13 

275 

105 

16 

330 

126 

20 

385 

147 

23 

440 

168 

26 

495 

189 

30 

■ 

10 

20 

30 

40 

50 


■ VII 


Kohlehydratäqui¬ 
valente in gfürWeiß- 
brotmengen von 

.g 

100 

200 

300 

.400 

500 

600 

700 



1000 








|39iQ 



K E Hk 

lOg 

20 g 

30 g 

40 g 

50 g 

1. Firsches Beerenobst“) 
(keine Trauben). . . 

K 

E' 

Hk 

8 

0 

0 

16 

1 

1 

24 

1 

1 

32 

2 

1 

40 

2 

2 

48 

3 

2 

56 

3 

2 

64 

4 

3 

72 

4 

3 

80 

5 

3 

70 

140 

210 

275 

340 

2. Haselnüsse, Mandeln, 
Walnüsse (lufttrockne 
Kerne). 

K 

E 

Hk 

10 

13 

6 

20 

26 

12 

30 

39 

18 

40 

52 

24 

50 

65 

29 

60 

78 

35 

70 

91 

41 

80 

104 

47 

90 

117 

53 


50 

110 

160 


270 

3. Frisches Kern- und 
Steinobst Ananas. Ba¬ 
nanen (keine Feig.) “) 

K 

E 

Hk 

11 j23 

0 1 1 
oi 1 

1 

46 

2 

2 

57 

2 

2 

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3 

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4 

103 

4 

4 

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5 

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100 

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200 

250 






Alkoholhaltige Getränke 




VIII 

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1. Branntweine (Absinth, Arak, 

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2. Ungezuckerte Weiß- und 

Rotweine “). 

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3. Äpfel- u. Birnenwein .... 

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4. Leicht. Biere, Schankbiere “) 

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5. Exportbiere “) . 

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6. Lager- oder Sommerbiere =^’) 

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4 

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12 ) Kohlrabi, Kohlrüben, Roterübe, Roterübe, eingemacht, Schwarzwurzel, Speisemöhre, klein (Karotten), Speise¬ 
möhre, groß (Möhren), Teltower Rüben (Rapunzeln), Weiße Rüben, Sellerie (Wurzel), Winterkohl (Grünkohl), Rettiche, 
Meerrettich. 

12 ) Erbsen, grüne, eingemacht, Gartenerbsen (Schoten), grüne, Puffbohnen, grüne, Salatbohnen, eingemacht 
(Schnittbohnen, grüne, s. Anm. 11, Schnittbohnen, eingemacht, s. Anm. 10). 

11) Getrocknete Champignons, Speiselorchel, Speisemorchel, Steinpilz, Trüffel. 

12) Blumenkohl, grüne Schnittbohnen, Karotten (gelbe Rüben, Möhren), Rosenkohl, Rotkraut, Savoyerkohi 
(Welschkraut, Wirsing), Weißkraut, Winterkohl (Grünkohl), alles getrocknet. 

1«) Brombeeren, Erdbeeren, Heidelbeeren, Himbeeren, Johannisbeeren, Preißelbeeren, Stachelbeeren. 

11) Äpfel, Ananas, Apfelsinen, Aprikosen, Bananen, Birnen, Kirschen, Mirabellen, Pfirsich, Pflaumen, Reine¬ 
clauden, Zwetschgen. 

18) Französischer Rotwein, Mosel-, Aar-, Saar-Weißwein, Rhein- und Maingau-Weißwein, Rheinpfalz-Wei߬ 
wein, Tiroler Rotwein. 

1») Berlin, Böhmisches Brauhaus, Drehers böhmisches Bier, Dresdner Gambrinus, Münchener Löwenbräu, 
Pilsener Schankbier, Wien,St. Marx. 

2“) Kulmbacher, Pilsener, Porter, Salvator, Weihenstephaner. 

21) Berliner Aktienbier, Dresdner Felsenkeller, Münchener Hofbräu, Münchener Spatenbräu, Pilsener Lagerbier. 



































































Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


55 


Ans der MedizMsclien Klinik der Universität Rostock. 

Direktor: Gel. Med.-Rat Prof. Dr, Martins.) 

Behandlung von Lungenabsceß und Bronchiektasien mit 

Salvarsan. 

Von Dr. Fritz Hirsch. 


Die Behandlung von Lungenabsceß 
und Bronchiektasien ist im allgemeinen 
eine Crux für den Arzt. Bei Bronchi¬ 
ektasien treten Heilungen kaum, bei Lun¬ 
genabsceß selten ein. Die Zahl der ange¬ 
wandten Mittel ist sehr groß, ein Beweis 
für die geringen Erfolge, die die Therapie 
aufweist. In letzter Zeit hat man sogar 
chirurgische Behandlungsmethoden ver¬ 
sucht, doch sind diese meist zu eingreifend. 
Relativ am ungefährlichsten ist noch die 
Pneumothoraxtherapie, die aber von den 
einzelnen Autoren recht verschieden, zum 
Teil sehr absprechend beurteilt wird. 
Unverricht(l). der eine Reihe von Bron¬ 
chiektasien mit künstlichem Pneumo¬ 
thorax behandelt hat, will die Methode 
für relativ frische Fälle reserviert wissen, 
da in den älteren Fällen meist peribron¬ 
chiale Entzündungen usw. das Kollabieren 
der wohl zu starren Bronchien verhindern. 
So sind also auch dieser chirurgischen 
Methode enge Grenzen gezogen. Es steht 
uns jedoch ein internes Mittel zur Ver¬ 
fügung, das in der Therapie chronischer 
Lungenerkranku'ngen bisher wenig beob¬ 
achtet wurde, nämlich das Salvarsan, 
mit dem wir vielversprechende Erfolge 
erzielen konnten. Brauer hat die Sal- 
varsanbehandlung der Lungengangrän 
inauguriert (siehe Mohr-Stähelin, 
Handbuch der inneren Medizin Bd. 2) und 
Groß (2) hat über sehr ermutigende Re¬ 
sultate berichtet. Es lag daher nahe, das 
Salvarsan auch für die Behandlung an¬ 
derer Lungenerkrankungen heranzu¬ 
ziehen, was bisher, soweit ich die Literatur 
übersehen kann, nicht geschehen ist. 

Von Januar 1919 bis jetzt kamen zwei 
Bronchiektatiker und zwei Fälle von 
Lungenabsceß in unserer Klinik zur Be¬ 
handlung. Bei diesen vier Patienten 
versuchten wir Salvarsan und erzielten 
in drei Fällen Heilung und in einem Falle 
(Bronchiektatiker) erhebliche Besserung. 
Eine Kontrolle in unserer klinischen Beob¬ 
achtung bot uns das Allgemeinbefinden, 
der Temperaturverlauf, die Menge und 
Beschaffenheit des Sputums und nicht 
zuletzt das Röntgenbild. 1m folgenden 
gebe ich einen kurzen Auszug aus den 
Krankengeschichten: 

Fall l. W. H., Maurer, 50 Jahre, aufgenommen 
in die Klinik am 29. Januar 1919. Immer gesund 


gewesen. Infectio veneris negatur. Am 7. August 
1918 erkrankte er an einer rechtsseitigen Rippen¬ 
fellentzündung und „Lungenkatarrh“. Nach vier¬ 
zehn Tagen wieder gesund. Bald darauf beim 
Atmen schneidende Schmerzen in der rechten 
Thoraxseite. Er hatte das Gefühl, daß sich in der 
rechten Lunge eine Flüssigkeit bewege, wenn er 
den Oberkörper schüttelte. Nach einiger Zeit 
hustete er eine eitrige Flüssigkeit aus. Danach 
fühlte er sich mehrere Wochen ganz wohl. Dann 
expektorierte er wieder Flüssigkeit mit Eiter ver¬ 
mischt. Dies trat in der Folgezeit in Abständen 
von drei bis vier Wochen auf, weshalb er Jetzt 
die Klinik aufsucht. 

Status; Großer, sehr kräftig gebauter Mann 
in gutem Ernährungszustände. 

Thorax gut gewölbt. Ausdehnungsfähigkeit 
beiderseits gut. Rechts leichte Vorwölbung. 
Rechts bei Druck auf die Intercostalräume Wider¬ 
stand stärker als links. Zwerchfellspiel rechts 
nur angedeutet. Am oberen Rande der fünften 
Rippe rechts vorn in der Parasternallinie Schall¬ 
verkürzung. Rechts vorn unterhalb der Brust¬ 
warze an umschriebener Stelle Tympanie. Da¬ 
selbst leises, fernklingendes Bronchialatmen hör¬ 
bar. Hinten vom dritten bis siebenten Brustwirbel¬ 
dornfortsatz rechts neben der Wirbelsäule ge¬ 
dämpft tympanitischer Schall mit fernklingendem 
Bronchialatmen und verstärktem Stimmfremitus. 
Über der rechten Lungenspitze Schall etwas ab¬ 
geschwächt, Exspirium verlängert und betont. 
Sonstiger Organbefund bot keine Besonderheiten. 

Blut: Leukocyten 7555. 

Blutbild: 54% polymorphkernige Leukocyten, 
33% Lymphocyten, 10% Übergangsformen, 3% 
eosinophile Leukocyten. 

Geringe Mengen confluierendes ockerfarbenes, 
eitriges Sputum. 

Im Ausstrich- und Antiforminpräparat wurden 
niemals säurefeste Stäbchen gefunden. 

Wassermannsche Reaktion im Blute negativ, 
auch während der Behandlung nie positiv. 

Röntgenbild vom 30. Januar 1919 (siehe Ab¬ 
bildung I) ergab im rechten Unterlappen der 
Lunge eine kindskopfgroße, quergelagerte, ovale 
Blase zu zwei Drittel mit gut verschieblicher 
Flüssigkeit gefüllt. Darüber Luft, alles scharf- 
randig abgegrenzt. 

Am 5. Februar bei Schräglagsrung plötzlich 
Expektoration von 300 ccm eitrigen Sputums. 
Temperatur bisher stets zwischen 38,4® und 39®. 

Am 6. Februar Beginn der Salvarsanktir: 0,15. 
Neosalvarsan intravenös. 

Ab 7. Februar langsamer Abfall der Tempe¬ 
ratur bis auf 36,5® am 10. Februar. 

Am 10. Februar: Mäßige Sputummenge. 

Am 13. Februar: 0,3, am 18. Februar: 0,45, 
am 21. Februar: 0,45, am 1. März: 0,45 und am 
7. März: 0,45 Neosalvarsan. Insgesamt 2,25 g 
Neosalvarsan. 

Am 13. und 17. Februar wurden noch je 50 ccm 
eitriges Sputum expektoriert, danach kein Aus¬ 
wurf mehr. Temperatur stets normal. Allgemein¬ 
befinden besser, Gewichtszunahme. 

19. März: In der Höhe des fünften bis sechsten 
Brustwirbeldornfortsatzes rechts ganz geringe 




56 


Die Therapie der Gegenwart 1S20 


Februar 


Schallverkürzung mit reinem, aber abgeschwäch¬ 
tem Vesikuläratmen. 

Röntgenbefund (siehe Abbildung II). Kein 
Flüssigkeitsspiegel mehr; schräg zum Hilus 
gehender strichförmiger Schatten. 

Am 21. März: Geheilt entlassen. Der Weisung, 
sich in zwei Monaten wieder vorzustellen, hat 
Patient nicht entsprochen, ein Zeichen dafür, 
daß es ihm gut geht. Dies bestätigt uns ein an¬ 
derer Patient, der aus dem gleichen Dorfe stammt. 

Zusammenfassung: SOjähriger Mann mit Lun- 
genabsceß, der zirka sechs Monate besteht, Heilung 
durch Salvarsan. 

Fall 2: Frl. S., 21-54 Jahre. In der Familie 
keine Lungenkrankheiten. Mit 16 Jahren Lungen- 
und Rippenfellentzündung, jedoch völlige Gene¬ 
sung. Im November 1918 Grippepneumonie, seit¬ 
dem bettlägetig, Stiche in der linken Lunge, 
Husten, Auswurf und Nachtschweiße. Keine In- 
fectio venerea. Aufnahme am 12. April 1919. 

Status: Ziemlich großes Mädchen in mitt¬ 
lerem Ernährungszustände. Leichte C^anose. 

Thorax flach, Zwerchfellspiel beiderseits 
deutlich. 

Über der ganzen linken Lunge feuchte, klin¬ 
gende Geräusche, abgeschwächter Klopfschall, 
besonders vom Schulterblattwinkel abwärts, 
Atemgeräusch unbestimmt, in Höhe des fünften 
Brustwirbeldornfortsatzes bronchial. 

Puls weich, wenig gespannt. 

Sonstiger Organbefund ohne Besonderheiten, 
ebenso der Blutstatus. 

Subfebrile Temperatur (hin und wieder An¬ 
stieg auf 39®). 

Im Sputum wurden nach Antiforminbehand¬ 
lung mehrfach säurefeste Stäbchen gefunden. 

110—250 ccm (in 24 Stunden) dreischichtiges, 
in der mittleren Schicht stark sanguinolentes, in 
der unteren Schicht eitriges Sputum. Fader Ge¬ 
ruch. Keine elastische Fasern im Sputum nach¬ 
weisbar. 

Röntgendurchleuchtung: Links unten starke 
diffuse Verschattung, Schwartenbildung. Rechte 
Lunge frei. Keine .Bronchialdrüsen. Spitzen frei. 

Wassermannsche Reaktion im Blute negativ. 

Beginn der Salvarsankur am 8. Mai: 0,15 
Neosalvarsan intravenös. Zunächst keine Besse¬ 
rung und sogar Zunahme des Auswurfs. 

20. Mai: 0,15, 30. Mai: 0,3 und 10. Juni: 0,3 
Neosalvarsan intravenös. 

Auswurf noch nicht geringer, jedoch 4000 g 
Gewichtszunahme seit dem 1. Juni und langsamer 
Abfall der Temperatur. 

21. Juni: 170 ccm Sputum, nicht mehr blutig. 
Temperatur 37,4®. 

24. Juni: 60 ccm Sputum, blutfrei. Temperatur 
37,1®. 

26. Juni: Fast kein Sputum mehr. Temperatur 
zwischen 36,5® und 37,1®. 

28. Juni: Kein Sputum mehr. Entfiebert. 
Keine Cyanose mehr. Puls bedeutend voller. In 
den letzten drei Wochen keine säurefesten Stäb¬ 
chen mehr gefunden. Lungenbefund unverändert, 
jedoch sind die Rasselgeräusche geringer ge¬ 
worden. 

3. Juli: 0,3 Neosalvarsan intravenös. 

7. Juli: Befinden bessert sich weiter. 

Zusammenfassung: 22jähriges Mädchen, Bron- 
chiektasien mit Cavernenbildung. Offene Tuber¬ 
culosis pulmonum (primär oder sekundär?); weit¬ 
gehende Besserung nach Salvarsanbehandlung. 
Röntgenologisch: Keine Änderung des Befundes 
bisher. 

Nachuntersuchung (Mitte Dezember 1919) er¬ 
gibt, daß die Patientin 30 Pfund an Gewicht zu¬ 


genommen hat. Der Lungenprozeß ist völlig'zum 
Stillstand gekommen. 

Fall 3: A. S., Arbeiter, 50 Jahre. Aufnahme 
am 26. Mai 1918. Früher stets gesund. Infectio 
veneris negatur. Seit etwa vier Wochen Seiten¬ 
stechen, Husten und .Kurzatmigkeit. Infectio 
venerea negatur. 

Status: Mittelgroßer Mann in mäßigem 
Kräfte- und Ernährüngszustande. Bei der Auf¬ 
nahme wurde ein rechtsseitiges Pleuraexsudat fest¬ 
gestellt und 3000 ccm seröser Flüssigkeit entleert. 
Organbefund sonst normal, ebenso Blutstatus. 

Wassermannsche Reaktion während der Be¬ 
handlung stets negativ. 

Im Anschluß an die Brustfellentzündung Aus¬ 
bildung von Pleuraschwarten und Bronchiektasien. 

Am 30. Juli 1918 ergab die Lungenunter- 
suchiing: Rechts hinten unten Dämpfung vom 
zehnten Brustwirbeldornfortsatz abwärts. Über 
der ganzen rechten Lunge etwas hauchendes 
Exspirium, reichliche feuchte, mittelblasige Rassel¬ 
geräusche. Schall gedämpft-tympanitisch. 

Sputum: dreischichtig 50—250 ccm täglich. 
Säurefeste Stäbchen wurden niemals gefunden. 

Röntgenbild: Rechte Lunge, besonders unten 
verschattet, zahlreiche bronchiektatische Herde; 
Rechts kein Zwerchfellspiel sichtbar. 

Temperatur wechselnd, öfters zwischen ^ 37 ® 
und 39®. 

Da der Patient in der Folgezeit mehr und mehr 
verfiel und alle angewandten Mittel — ich nenne 
Terpentin, Guaiacolpillen, Ipecacuanha, Atropin, 
Collargol, Calcium — ohne jeden Erfolg gewesen 
waren, versuchte ich Februar 1919 als letztes 
Salvarsan, da eine chirurgische Therapie bei dem 
relativ schlechten Kräftezustande des Patienten 
ausgeschlossen erschien. 

6. Februar 1919: Rechts hinten unten vom 
zehnten Brustwirbeldornfortsatz ab Dämpfung mit 
abgeschwächtem Vesikuläratmen. Über beiden 
Spitzen verschärftes Vesikuläratmen mit hauchen¬ 
dem Exspirium. Mitte fast bronchial. Rechts 
hinten unten bronchiales, fast aufgehobenes Atem¬ 
geräusch. 

Siehe Röntgenbild III. 

0,15 Neosalvarsan intravenös. Auswurf un¬ 
verändert. 

13. Februar: 0,3 Neosalvarsan intravenös. In 
der Nacht kein Auswurf mehr. Temperatur fällt 
ab. Befinden besser. 

16. Febraur: Auswurf sehr wenig, Schlaf in¬ 
folgedessen jetzt ausgezeichnet, konnte vordem 
infolge des quälenden Hustenreizes fast gar nicht 
schl 0n 

21. Februar: 0,45, 1. März: 0,45, 21. März: 
0,45'und 3. April: 0,3 Neosalvarsan intravenös. 
Zusammen 2,1 g Neosalvarsan. 

10. April: Rechts hinten unten abgeschwächter 
Klopfschall und leises Vesikuläratmen. Keine 
Rasselgeräusche mehr hörbar. 

Siehe Röntgenbild IV. 

Am Schlüsse der Kur konnten wir Gewichts¬ 
zunahme und so bedeutende Besserung des All¬ 
gemeinbefindens feststellen, daß der Patient, der 
fast ein Jahr lang das Bett hüten mußte, aufstehen 
konnte." Wir gedenken die Salvarsankur dem¬ 
nächst zu wiederholen. 

Nachtrag (Ende Dezember 1919): Eine zweite 
Salvarsankur vermochte nicht, eine weitere Besse¬ 
rung des Zustandes herbeizuführen. 

Zusammenfassung: 50 jähr. Bronchiektatiker. 
Bedeutende Besserung durch Salvarsan nach fast 
einjährigem Krankenlager. 

Fall 4: 0. B., Kaufmann, 35 Jahre, Aufnahme: 
25. September 1919. B. leidet seit seiner Kindheit 





Februar 


Di'e Therapie der Gegenwart 1920 


57 


an Asthma bronchiale mit consecutivem Lungen¬ 
emphysem und chronischer Bronchitis. 

Am 24. September 1919: Plötzliche Erkrankung 
mit Schüttelfrost und hohem Fieber; Herpes la¬ 
bialis. Rechte Lunge von der Schultergräte ab¬ 
wärts gedämpft. Lautes-Bronchialatmen. Rost¬ 
farbenes Sputum. 

Wie die Temperaturkurve lehrt, erfolgte in 
der nächsten Zeit kein kritischer Temperatur¬ 
abfall. 

Am 3. Oktober 1919 bestand eine faustgroße 
Dämpfung im oberen Bereiche des rechten Unter¬ 
lappens mit broncho-vesiculärem Atemgeräusch 
und reichlichen feuchten Rasselgeräuschen. Das 
Sputum nahm an Menge bedeutend zu, es war 
von gelbgrüner Farbe und zweischichtig. 

Am 12. Oktober beginnt der Auswurf einen 
süßlich-stinkenden Geruch anzunehmen. Mikro¬ 
skopisch enthält das Sputum Curschmannsche 
Spiralen, elastische Fasern, sehr viele Leukocyten 
und Pneumokokken. 

Trotz vielfacher Untersuchung wurden im 
Auswurfe nie Tuberkulosebacillen oder Spiro¬ 
chäten gefunden. 

25. Oktober 1919: Expektorantien, Balsamica, 
Calcium u. v. a. m. zeitigten keinen Erfolg, daher 
Beginn einer Neosalvarsankur. 

Nach der ersten Injektion (0,15 intravenös) 
steiler Temperaturabfall von 39 auf 36® C, der 
Auswurf verschwand in wenigen Tagen, und der 
Kranke konnte das Bett verlassen. 

2. November 1919: Die zweite Spritze erhielt 
der Kranke nur noch zur Bekräftigung, denn eine 
strenge Indikation für eine Fortsetzung der Kur 
bestand nicht mehr. 

Die dritte bis fünfte Injektion wurde dem be¬ 
reits beschwerdefreien Patienten nur noch als 
Roborans gegeben. 

4. Januar 1920: Der vorher stets elende 
Kranke, der zur Heilung seines Asthmas vielfach 
Seereisen und Reisen nach dem Süden unter¬ 
nommen hatte, blühte unter der Salvarsankur 
förmlich auf und hat in acht Wochen zirka 
20 Pfund an Gewicht zugenommen. Das Emphy¬ 
sem und die chronische Bronchitis bestehen jedoch 
unverändert fort. 

Zusammenfassung: 35jähriges Kaufmann, von 
Kindheit auf Asthmatiker. Im Anschluß an eine 
schwere Pneumonie Bildung eines Lungenabscesses. 
Langanhaltendes hohes Fieber. Überraschender 
Erfolg bereits nach der ersten Neosalvarsan- 
injektion (0,15 g). 

Wenn es auch nur vier Fälle sind, 
über die ich berichten kann, so glaube 
ich doch sagen zu dürfen, daß man in 
Zukunft bei Bronchiektasien und Lungen- 
abscessen, bevor man einen stets schwie¬ 
rigen chirurgischen Eingriff in Erwägung 
zieht, des völlig ungefährlichen Salvarsans 


gedenken sollte. In ihm steht uns ein 
Mittel zur Verfügung, welches geeignet 
erscheint, auch in ganz chronischen und 
verzweifelten Fällen, die jeder anderen 
Therapie trotzen, noch Erstaunliches zu 
leisten. Unsere Erfahrungen stehen damit 
im Gegensätze zu denen von Groß, der 
auf Grund seines Materials die mehr akut 
verlaufenden Lungengangränfälle mit 
Salvarsan behandelt wissen will. (Ich bin 
mir dabei wohl bewußt, daß man zwischen 
Lungengangrän und unseren Affektionen 
nur bedingt Parallelen ziehen kann.) 

Schwer ist es, sich von der Wirkungs¬ 
weise des Salvarsans eine Vorstellung zu 
machen. Groß sagt, die Annahme liege 
nahe, daß das Mittel besonders in den¬ 
jenigen Fällen von Lungengangrän wirk¬ 
sam sein müsse, bei denen Spirillen und 
Spirochäten ätiologisch eine Rolle spielen. 
Wir haben darauf unser Augenmerk ge¬ 
richtet; es ist uns jedoch in keinem Falle 
vor oder während der Behandlung ge¬ 
lungen, im Dunkelfeld oder mit einer der 
anderen üblichen Methoden Spirillen im 
Auswurfe nachzuweisen. Ebenso war und 
blieb die Wassermannsche Reaktion in 
unseren Fällen dauernd negativ. 

Auch an einen allgemeinen tonisieren- 
den und roborierenden Einfluß der Arsen¬ 
komponente im Salvarsan könnte man 
denken, der den Körper befähigte, des 
Krankheitsprozesses Herr zu werden. 
Wenn man auch nicht verkennen darf, 
daß das Salvarsan infolge seines sehr 
hohen Arsengehaltes besonders intensive 
Wirkling zu entfalten vermag, so wäre es 
doch interessant, den Einfluß von anderen 
Arsenpräparaten auf die in^Frage stehen¬ 
den Affektionen zu studieren, um so 
eruieren zu können, ob nicht andere 
Molekülkomplexe (als das i^Arsen) im 
Salvarsan die Träger des therapeutischen 
Effektes sind. 

Nachsatz: Vielleicht ist das Salvarsan 
geeignet, auch die Lungentuberkulose 
günstig zu beeinflussen. 

Literatur: 1. Unverricht, (B. kl. W. 1919, 
Nr. 22). — 2. Groß, (Ther. d. Gegenw. 1916, 
Heft 12). 


Die Vaccinetherapie des Heufiebers, 

Von Dr. K. Eskuchei), München-Schwabing. 


Seit den Veröffentlichungen von Noon 
und Freemann hat die Vaccinetherapie 
des Heufiebers in zunehmendem Umfange 
die rein symptomatischen Behand¬ 
lungsmethoden sowie die Klimatotherapie 
verdrängt. Die auf das „Pollantin“ und 


„Graminol“, mit denen eine Art passiver 
Immunisierung angestrebt wurde, ge¬ 
setzten großen Hoffnungen hatten sich 
ja bekanntlich nicht erfüllt und auch die 
reine Calciumbehandlung (,,Afenir‘ usw.) 
scheint nur in einem Bruchteil der Fälle 





58 


Die^ Therapie der Gegenwart 1920 


Februar 


mit Erfolg anwendbar zu sein. Seit es 
daher feststeht, daß es durch eine ge¬ 
eignete Anwendung der Vaccinetherapie 
gelingt, selbst schwere Heufieberkranke 
nicht nur zu bessern, sondern, sie mit 
Sicherheit symptomfrei zu halten, das 
heißt in diesem Falle sie zu ,,heilen.‘‘, kann 
eigentlich neben ihr eine andere Behand¬ 
lung nicht mehr in Frage kommen. Denn 
im Gegensatz zu den mannigfachen ganz 
unspecifischen Methoden, die nur die 
gerade auftauchenden Symptome mo¬ 
mentan zu bekämpfen versuchten, stellt 
die Vaccinetherapie des Heufiebers eine 
Behandlung dar, die auf der Kenntnis 
von dem Wesen des Leidens basiert und 
die sich daher gegen die Krankheit an 
sich wendet, das heißt: an die Stelle 
der ehemaligen unspecifischen, 
rein symptomatischen, sehr un¬ 
sicher und immer nur vorüber¬ 
gehend wirkenden Behandlungs¬ 
methoden ist mit der Vaccinethera¬ 
pie eine specifische, die kausale 
Behandlung getreten. Es war aller¬ 
dings Zeit und Mühe notwendig, bis die 
wirksamste Anwendungsart der Vaccine¬ 
therapie festgestellt war; darüber hat 
naturgemäß die ursprünglich angegebene 
Methode erhebliche Veränderungen er¬ 
fahren müssen. 

Der Hauptunterschied der jetzigen 
gegenüber der anfänglichen Behandlung 
mittels Pollenvaccine liegt neben der 
Änderung der benutzten Vaccine in der 
Steigerung der Giftkonzentration und in 
dem Übergange von der rein prophylak¬ 
tischen zu der Kombination dieser, der 
,,immunisatorischen“, mit der direkten 
Bekämpfung des Heufiebers auch während 
der Blütezeit durch die ,,Kupierung“ 
drohender oder doch möglicher Krank¬ 
heitssymptome. Leider besteht bis heute 
trotz der Kenntnis von der Ursache des 
Heufiebers, das heißt der Feststellung, 
durch welche Körper die Attacken hervor¬ 
gerufen werden, noch keinerlei Sicherheit 
hinsichtlich der Art der Wirksamkeit 
der Vaccinetherapie. Nun wissen wir ja 
allerdings auch über die Entstehung des 
Heufieberanfalles bisher nur, daß die 
Eiweißkörper der Gräser- und Getreide¬ 
pollen ihn auslösen; wie das geschieht und 
warum das bei dem einen Menschen schon 
mit minimalen Dosen, bei dem anderen 
überhaupt nicht gelingt, ist noch unbe¬ 
kannt. Es ist hier nicht der Ort, all die 
verschiedenen Möglichkeiten zu erörtern. 
Nach dem Gesagten kann es aber nicht 
wundernehmen, wenn über der Wirkungs¬ 


weise der specifischen Therapie erst 
recht noch tiefes Dunkel lagert. 

Bekanntlich bestand diese Behandlung 
anfangs darin, daß man die hohe Emp¬ 
findlichkeit dem Pollengifte gegenüber 
bei den zum Heufieber Disponierten durch 
subcutane Injektionen steigender Toxin¬ 
mengen planmäßig zu verringern, also 
ihren Resistenzgrad zu erhöhen suchte. 
Genau das gleiche Vorgehen wie bei* der 
aktiven Immunisierung. Tatsächlich tritt 
auch allmählich eine Erhöhung des Re¬ 
sistenzgrades ein, was sich zahlenmäßig 
exakt durch intracutane Empfindlichkeits¬ 
prüfungen nachweisen läßt. Ob es sich 
dabei aber um ganz ähnliche Vorgänge 
wie bei den sonstigen immunisatorischen 
Prozessen handelt, wird nun deshalb 
zweifelhaft, weil es manchmal auch gelingt, 
bei nicht vorbehandelten Kranken 
die Heilfiebersymptome während der 
Blütezeit durch Injektion von Pollen¬ 
toxin zu „kupieren“. Für dieses auf¬ 
fällige Verhalten findet man sonst keine 
Analogie und die wichtige Frage bedarf 
noch der Klärung: liegt hier eine doppelte, 
voneinander unabhängige Art der Wir¬ 
kungsweise vor oder bestehen zwischen 
beiden Vorgängen nähere innere Zu¬ 
sammenhänge? 

Rein empirisch sind wir auf Grund 
folgender Beobachtungen zu der Aus¬ 
arbeitung unserer jetzt geübten Vac- 
cinetlierapie gekommen. Erstens zeigte 
sich, daß die durch prophylaktische Be¬ 
handlung erreichte Resistenzerhöhung 
nach Aussetzen der Injektionen (zu Be¬ 
ginn der Blütezeit) sehr bald wieder ,ab- 
sinkt, so daß dann bei nicht ganz leichten 
Heufieberkranken nach zirka 14 Tagen 
doch allerlei Symptome, wenn auch in 
abgeschwächtem Maße, auftraten. An¬ 
dererseits führte der Versuch der Kupie- 
rung von Heufieberattacken während der 
Blütezeit bei nicht vorbehandelten 
Kranken in der großen Mehrzahl der Fälle 
erst recht zur Provokation allerschwerster 
Erscheinungen, und nur selten zeigte dieses 
Vorgehen einen befriedigenden Erfolg. 
Sogar bei einigen vorbehandelten 
Kranken zeigten sich diese unangenehmen 
Folgen; allerdings war die ,, Immunisie¬ 
rung“ jedesmal nicht sehr hochgradig ge¬ 
wesen und die Krankheitssymptome ver¬ 
liefen auch bedeutend milder. Demnach 
gab es Versager bei den verschiedensten 
Anwendungsformen der Vaccinetherapie, 
sowohl bei der reinen ,,Immunisierung“ 
(Abschluß bei Beginn der Blütezeit), wie 
bei der ,,Kupierung“, sei es mit oder ohne 




Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


5^ 


vorhergehende prophylaktische Behand¬ 
lung. Die einfache Schlußfolgerung ver¬ 
wies auf eine Kombination beider 
Methoden, der „Immunisierung'S je¬ 
doch in einer geeigneteren Form wie bis¬ 
her, und der „Kupierung'*. Eine genügend 
kräftige, dabei aber doch völlig gefahr¬ 
lose Kupierung war nur dann möglich, 
wenn auch die Immunisierung hinreichend 
intensiv durchgeführt war. Und die An¬ 
wendung dieser kombinierten Vaccine¬ 
therapie zeitigte denn auch das erwartete 
Resultat. Kurz gesagt besteht deren 
Wesen also darin, durch einekonse- 
quent durchgeführte immunisato¬ 
rische Behandlung vor der Blüte¬ 
zeit rechtzeitig einen so hohen und 
so stabilen Resistenzgrad zu er¬ 
reichen, daß man während der 
Blütezeit genügend starke Va'ccine- 
konzentrationen gefahrlos spritzen 
kann, um das Auftreten irgend¬ 
welcher Krankheitssymptome von 
vornherein zu unterbinden. Natür¬ 
lich liegt die Frage nahe, ob es sich dann 
nicht nur üm eine einfache Fortsetzung 
der Immunisierungstherapie handelt, 
welche ein Absinken des erreichten Re¬ 
sistenzgrades verhindert. Nach meinen 
Beobachtungen scheint das. jedenfalls 
nicht durchgehends der Fall zu sein; wenn 
auch für manche, besonders leichtere 
Kranke diese Erklärung genügen könnte, 
so ist es doch unzweifelhaft, daß bei der 
Mehrzahl derselben eine doppelte Art 
der Vaccinewirkung vorliegt und daß sich 
tatsächlich Immunisierung und Kupie¬ 
rung unterstützen oder ergänzen. 

Nun zur Durchführung der eben 
skizzierten Vaccinetherapie. Der erste 
Grundsatz dabei ist, daß die Behandlung 
nicht schematisch gestaltet werden 
darf; nur durch weitgehende Indivi¬ 
dualisierung ist es möglich, in jedem 
Falle das gewünschte Optimum des Er¬ 
folges zu erzielen, das allein die sichere 
Heilung gewährleistet. Wohl lassen sich 
allgemeine Richtlinien für die Aufstellung 
des Behandlungsplanes angeben, im ein¬ 
zelnen jedoch muß derselbe ganz persön¬ 
lich ausgebaut werden, wenn man einmal 
eine ,,Heilung“ erreichen (damit ist immer 
nur ein Ausbleiben der Heufiebersym¬ 
ptome während der betreffenden Saison 
gemeint), andererseits jegliche unangeneh¬ 
men Zwischenfälle vermeiden will. Der 
erste Punkt erfordert eine Behandlung, 
die dem Krankheitsgrad des Kranken ent¬ 
spricht, auf keinen Fall also ungenügend 
ist; der zweite verlangt Vorsicht bei der 


Dosierung der Vaccine, die Einhaltung 
richtiger Zeitabstände und die Beobach¬ 
tung einer ganzen Reihe von anscheinend 
unwichtigen Kleinigkeiten, auf die noch 
hingewiesen wird. 

Die Grundlage der Behandlung bildet 
die Feststellung der individuellen 
Empfindlichkeit dem Pollentoxin 
gegenüber. Diese muß rechtzeitig — 
entweder im Herbst oder spätestens im 
Januar — vorgenommen werden, damit 
der für die Behandlung sehr empfindlicher 
Kranken notwendige frühe Termin ein¬ 
gehalten werden kann. Die Empfindlich¬ 
keit, deren Grad durch intracutane In¬ 
jektionen ermittelt wird, wird mit der 
Zahl der Einheiten bezeichnet, durch die 
eine deutliche Reaktion erzielt wurde. Es 
ist darauf zu achten, daß die Injektion 
wirklich intracutan geschieht (Quad¬ 
del), ferner, daß nicht gleichzeitig zu 
viele Konzentrationen nebeneinänder ge¬ 
spritzt werden (Gefahr der Summation), 
sowie daß mit einer kleinen Dosis ange¬ 
fangen wird (z. B. 5 E.). Es erleichtert 
die Technik wesentlich, wenn man eine 
konzentriertere Vaccine wählt, von der 
man dann nur eine kleine Menge zu 
spritzen braucht, z. B. 10 E. =0,2 ccm 
von Konzentration 50 E. Wenn wir nun 
auch in dieser Impfung eine ganz exakte 
Methode haben, um Heufieberkranke von 
Nichtkranken zu unterscheiden (letztere 
reagieren auch auf viele Tausend E. nicht), 
und wenn die Methode auch mit viel 
größerer Präzision die Schwere der 
Krankheit angibt als es die subjektiven 
Schilderungen der Kranken ermöglichen, 
so besteht doch nicht in allen Fällen ein 
völliger Parallelismus zwischen Emp¬ 
findlichkeit und Heufiebersymptomen. 
Es gibt sowohl Fälle mit hoher Toxin¬ 
empfindlichkeit aber verhältnismäßig ge¬ 
ringen Beschwerden (selten), als auch — 
und das ist praktisch von Bedeutung — 
Kranke mit ziemlich geringer Toxin¬ 
empfindlichkeit, die aber während der 
Blütezeit die schwersten Symptome zeigen 
können. Letztere bedürfen natürlich 
einer besonders intensiven Behandlung. 
Um schlimmen Überraschungen vorzu¬ 
beugen, soll man sich daher auch über die 
subjektiven Beschwerden der Kranken 
genau informieren, wenn auch diese Aus¬ 
nahmefälle selten sind. 

Je nach dem Resultate der Empfind¬ 
lichkeitsprüfung im Verein mit den An¬ 
gaben über die subjektiven Beschwerden 
teilt man praktischerweise die Heufieber- 

8* 





60 


Die Therapie,der Gegenwart 1920 


Februar 


kranken in drei Gruppen ein: in leichte 
(I), mittlere (II) und schwere (III) Fälle. 
Diesen entsprechend kann man auch drei 
Behandlungspläne aufstellen; dabei han¬ 
delt es sich um Unterschiede in der not¬ 
wendigen Immunisierungshöhe und in der 
Intensität der Behandlung während der 
Blüte.zeit. Eine reine Folge davon ist die 
Dauer der prophylaktischen Behandlung 
und die Anzahl der Injektionen. Je nach 
der Schwere des Falles hat die Therapie 
etwa Ende Januar (I), Ende Februar (II) 
oder Ende März (III) einzusetzen. Als 
Enddosis ist eine Vaccinekonzentration 
von zirka 500 bis 1000 E. (I), 1500 bis 
2000 E. (II) und 2500 bis 3000 E. (III) 
anzustreben, die möglichst schon einige 
Zeit vor Beginn der Blütezeit erreicht 
und wiederholt gespritzt werden soll, 
um die Stabilität des Körpers dem Toxin 
gegenüber zu erhöhen. Während der 
Blütezeit werden dann entsprechend zirka 
1000 E. (I), 2000 E. (11) oder 3000 E. (111) 
gespritzt, ganz nach der Höhe der not¬ 
wendigen und erreichten Enddosis und 
außerdem mit der Schwere des Falles 
steigend in größerer Häufigkeit. 

Der rechtzeitige Beginn der Be¬ 
handlung ist von größter Wichtigkeit und 
gerade in diesem Punkte sündigen viele 
Kranke immer wieder, indem sie allen 
schlechten Erfahrungen zum Trotz viel 
zu spät zum Arzt gehen. Als Anfangs¬ 
dosis- spritzt man am besten etwa ein 
Drittel der festgestellten Empfindlich¬ 
keitsstärke und zwar subcutan. Man 
steigert die Dosis dann immer um etwa 
20% der letzten Injektion, wenn diese 
gut vertragen wurde. Nach den ersten 
zwei bis drei Injektionen tritt häufig eine 
Lokalreaktion mit Rötung, Schwellung, 
Jucken usw. an der Injektionsstelle auf, 
die aber ganz harmlos ist. Nach meinen 
Erfahrungen ist es vielfach von Wichtig¬ 
keit, ob man immer die gleiche Gegend^ 
zur Injektion wählt oder ob’ man jedes¬ 
mal damit wechselt; in letzterem Falle 
schienen mir Lokalreaktionen ungleich 
häufiger aufzutreten. Die Stelle der In¬ 
jektion spielt auch sonst unzweifelhaft 
eine Rolle; am besten eignet sich die 
Gegend zwischen den Schulterblättern, 
danach der linke Oberarm, während viel 
b ewegte Muskelpartien (Ob erschenkel) 
viel ungeeigneter sind, indem häufigere 
und stärkere Stichreaktionen auftreten. 
Bei den anfänglichen kleineren Dosen 
spritzt man etwa jeden dritten bis vierten 
Tag, später bei den größeren jeden fünften 
bis sechsten Tag; mehr wie zehn Tage 


soll man möglichst nicht pausieren. Je 
nach der Höhe der notwendigen Enddosis 
benötigt man natürlich nicht nur kürzere 
oder längere Zeit, sondern auch mehr 
oder minder zahlreiche Injektionen. Nach 
Erreichen der beabsichtigten Enddosis 
kann man deren Injektion jeden sechsten 
bis achten Tag wiederholen. — Während 
der Blütezeit sind die Zeitabstände je 
nach der Schwere des Falles außerordent¬ 
lich verschieden; auf dem Höhepunkte 
der Blütezeit muß man unter Umständen 
die Maximaldosis jeden zweiten Tag oder 
sogar täglich spritzen. Indessen kann 
man bei der Mehrzahl der Fälle die alten 
Zeitabstände beibehalten. Insgesamt 
wird man bei leichten Fällen mit etwa 18, 
bei mittleren mit etwa 24 und bei schweren 
mit etwa 30—36 Injektionen auskommen* 
davon entfallen etwa zwei Drittel auf die 
Zeit vor und etwa ein Drittel auf die Zeit 
während der Grasblüte. — Bei Kranken, 
die auch‘Unter der zweiten Blüte zu 
leiden pflegen, muß der erreichte Im¬ 
munitätsgrad durch Injektion der End¬ 
dosis in maximalem Zeitabstände hoch¬ 
gehalten und während der Blütezeit die 
Behandlung mit etwas häufigeren Injek¬ 
tionen fortgesetzt werden. 

Demnach ist auf folgende Punkte be¬ 
sonders zu achten: rechtzeitiger Beginn 
der Therapie (Voraussetzung dazu: recht¬ 
zeitige Empfindiichkeitsprüfung), rich¬ 
tige Dosierung der Vaccine (Anfangsdosis, 
Steigerung), entsprechende Zeitabstände, 
geeignete Injektionsstelle, rechtzeitige Er¬ 
reichung einer genügenden Endkonzen¬ 
tration, genaue Kontrolle des Kranken 
während der Blütezeit, um drohenden 
Symptomen rechtzeitig und energisch Vor¬ 
beugen zu können. Wenn man unbedingt 
sicher gehen will, wird man sich natürlich 
nicht mit der eben ausreichenden Behand¬ 
lung begnügen, sondern lieber etwas dar¬ 
über hinausgehen. Im ersten Behand¬ 
lungsjahr wird man kaum immer in jedem 
Punkte gleich in der zweckmäßigsten 
Weise verfahren; das kann erst im zwei¬ 
ten Jahre geschehen, wo man genügend 
über alle individuellen Eigentümlichkeiten 
unterrichtet ist. Daher wird man meist 
auch erst dann einen vollen Erfolg zu 
verzeichnen haben und wird ein sicheres 
Urteil über die Leistungsfähigkeit der 
Behandlungsmethode abgeben können. 
Ihr Ziel ist, mit einem Minimum von 
therapeutischem Aufwand völlige Sym¬ 
ptomfreiheit zu erzielen. — Daß streng 
aseptisch gearbeitet werden muß, braucht 
nicht betont zu werden. 




Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 ^ 


61 


Die Vaccinetherapie des Heufiebers 
ist bei gewissenhafter Beobachtung der 
genannten Vorschriften völlig ungefähr¬ 
lich. Immerhin ist die Provokation einer 
schweren Allgemeinreaktion, das heißt 
das Auslösen eines regelrechten Heufieber¬ 
anfalles mit Asthma usw. ein recht un¬ 
angenehmer Zwischenfall, zumal er sich 
vermeiden jäßt. Hervorgerufen wird er 
stets durch Überäosierung; diese kommt 
in Frage bei der Empfindlichkeitsprüfung 
(gleichzeitige Injektion zu vieler oder 
auch zu hoher Vaccinedosen), bei der 
ersten therapeutischen Injektion (zu hohe 
Anfangsdosis), bei der Durchführung der 
Immunisierung (zu starke Steigerung der 
Vaccinekonzentration), außerdem bei Be¬ 
nutzung einer neuen Vaccineserie, die von 
einem anderen Ausgangsmaterial stammt- 
"(Jahreszahl beachten). Glücklicherweise 
hat eine solche Allgemeinreaktion aber 
keine Überempfindlichkeit im Gefolge 
und die Behandlung kann ruhig fort¬ 
gesetzt werden, indem man mit der Dosis 
entsprechend zurückgeht. Auch bei Auf¬ 
treten einer stärkeren Lokalreäktion 
empfiehlt sich ein Zurückgehen auf die 
vorletzte oder eine andere genügend 
schwächere Dosis. 

Damit wäre" über das Wesen der. 
Therapie und über die Technik der Be¬ 
handlung alles Wichtige gesagt. 

Wie bereits erwähnt, hat sich aber 
nicht nur die Methode der Vaccinetherapie 
gewandelt, es ist auch an der Vaccine 
selbst mancherlei geändert worden. Über 
die Herstellungsweise der vier im Handel 
befindlichen Vaccinearten sind Einzel¬ 
heiten meist nicht bekannt; doch be¬ 
ruhen sie alle auf dem Prinzip der Extrak¬ 
tion des wirksamen Toxins aus den Pollen. 
Der verhältnismäßig nur geringe Erfolg’ 
der ältesten, der Wrightschen Vaccine, 
ist ihrer viel zu geringen Konzentration 
zuzuschreiben. Die Sormanische Vac¬ 
cine ist nicht haltbar nnd der jedesmal 
frische Bezug ist recht umständlich. Die 
Vaccine von Wolff-Eisner hat recht 
gute Resultate geliefert. Ich persönlich 
hahe am besten mit meiner eigenen 
Vaccine^) abgeschnitten, mit der auch 
eine ganze Reihe von Kollegen vorzüg¬ 
liche Erfolge erzielen konnten. 

Um ein Vergleichsmoment zu haben, 
führten Noon und Freemann die Be¬ 
zeichnung der Vaccinekonzentrationen 
nach Einheiten ein. Nach ihnen be- 

1) Vertrieb durch die Fabrik pharmazeutischer 
Präparate, ^Wilhelm Natterer, München 19, be¬ 
ziehungsweise durch die Apotheken. 


zeichnet 1 E. die Menge von Pollentojxin, 
die aus' Viooo nig Pollensubstanz durch 
Extraktion gewonnen werden kann. Im 
Gegensatz dazu hat Wolff-Eisner die 
Bezeichnung der Vaccinekonzentrationen 
nach dem Verdünnungstiter in Vor¬ 
schlag gebracht. In der Tat bestehen 
gegen die Angabe in Einheiten mancherlei 
Bedenken; nicht nur ist die Einheit bei 
verschiedenem Ausgangsmaterial (Pol¬ 
len verschiedener Jahre, verschiedener 
Gegend, ja auch nur verschiedener Tage) 
quantitativ und qualitativ durchaus nicht 
gleichwertig, sondern es liefert sogar das 
gleiche Ausgangsmaterial bei getrennter 
Verarbeitung ungleichwertige Einheiten. 
Die gleichen Differenzen finden sich aber 
auch bei der .Bezeichnung nach dem Ver¬ 
dünnungstiter. Da es sich hier also nur 
um eine rein praktische Frage handeln 
kann und da die englische Bezeichnungs¬ 
art sich bereits eingebürgert hat, ist am 
besten an ihr festzuhalten. Man muß sich 
nur darüber klar sein, daß die Einheit 
keine absolute Wertigkeit besitzt. Die 
Einheiten der verschiedenen Konzen¬ 
trationen werden immer auf 1 ccm Vac¬ 
cine bezogen, so daß z. B. die mit 1000 E. 
bezeichnete Vaccinekonzentration einer 
Ampulle bei nur 0,8 ccm Inhalt auch nur 
800 E. darstellt. Selbstverständlich wird 
'man sich bemühen, die Einheit bei einer 
Vaccineart möglichst gleichartig zu ge¬ 
stalten, indem man die neu hergestellte 
Vaccine auf die ältere einstellt. Durch 
eine solche Titration lassen sich jed,enfalls 
gröbere Unterschiede in der Wertigkeit 
der Einheiten ausschalten, aber eine 
quantitativ und qualitativ absolut stim¬ 
mende Einstellung ist niemals zu erreichen. 
Diese Schwierigkeit hat praktisch insofern 
Bedeutung, als man darauf achten soll, 
daß man bei der Durchführung einer Be¬ 
handlung möglichst ein und dieselbe Vac¬ 
cinenummer (Jahreszahl oder dergleichen) 
benutzt. Wechselt man dennoch mit der 
Vaccine im Verlaufe einer Saison, so 
beobachte man dabei die nötige Vorsicht 
und versuche es erst nur mit kleineren 
Dosen. Bei weniger empfindlichen Kran¬ 
ken kann man erfahrungsgemäß die Vac¬ 
cine verschiedener Jahre und verschie¬ 
dener Herstellung ohne jedes Risiko durch¬ 
einander verwenden. 

Um die Anwendung zu erleichtern und 
auch .aus äußeren Gründen ist meine 
PoHenvaccine zu mehreren Serien von 
verschiedener Konzentrationsanordnung 
zusammengestellt, die sich leicht für alle 
in Betracht kommenden Behandlungs- 



62 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Februar. 

■■ , _ \ 


methoden kombinieren lassen. Die Vac¬ 
cine ist haltbar; Nachprüfungen ergaben, 
daß die Wirksamkeit nicht im geringsten 
abgenommen hatte. 

Ungeklärt ist noch die Frage, ob die 
Behandlung mit der von einer einzigen 
Pflanzenart gewonnenen Pollenvadcine 
zur Bekämpfung des Heufiebers- genügt 
'"oder ob dazu nicht eine aus Pollen ver- ■ 
schiedener Pflanzenarten hergestellte 
Vaccine notwendig ist. Von den Gras¬ 
arten haben sich die Pollen des Phleum 
pratense als die wirksamsten erwiesen und 
die Erfahrung hat auch gezeigt, daß die 
Phleumvaccine einen Scliufz gegen sämt¬ 
liche Grasarten bietet. Hingegen fiel es 
auf, daß mit dem Einsetzen der Getreide- 
blüte vielfach bei den mit .der Phleum¬ 
vaccine erfolgreich behandelten Kranken 
Heufiebersymptome auftrateii. Dieses 
Verhalten schien auf ein Versagen der 
Phleumvaccinß gegenüber den Getreide¬ 
pollen hinziiweisen; man konnte es jedoch 
auch so deuten, daß mit dem Einsetzen 
der, Getreideblüte die Luft plötzlich der¬ 
artig mit Pollen überschwemmt wurde, 
daß die Intensität der Behandlung diesem 
verstärkten Anstürme der Gifte gegenüber 
nicht genügte. Während also im letzteren 
Falle zur Erreichung eines Vollen Erfolges 
nur eine intensivere Behandlung zu for¬ 
dern war, bedurfte es im ersteren der Be- ‘ 
nutzung einer anderen Vaccine, die so¬ 
wohl den Gras- wie den Getreidepollen 
gegenüber wirksam, also polyvalent 
war. . Nach meinen Erfahrungen und 
Untersuchungen scheinen beide Punkte 
von Bedeutung zu sein. Jn der Mehrzahl 
der Fälle gelingt es, durch eine geeignete, 
das heißt hinreichend intensive Behand¬ 
lung mit reiner Phleumvaccine die 
Kranken völlig symptomfrei zu halten. 
Zweifelsohne gibt es aber auch Fälle, in 
denen diese Behandlung nicht ausreicht. 
Einen gewissen — jedoch durchaus nicht 
immer sicheren — Anhaltspunkt hat man 
öfter an dem Resultat der mit verschie- 
denenVaccinearten angestellten intra- 
CLitanen Injektionen. Um nun bei der 
Möglichkeit solchen verschiedenartigen 
Verhaltens doch ganz sicher zu gehen, 


ist es zweifelsohne das richtigste, in 
jedem Falle die Behandlung mit poly¬ 
valenter Vaccine durchzuführen; ein 
Nachteil kann ja keinesfalls daraus ent¬ 
stehen. 

Daß mit der Vaccinetherapie des Heu¬ 
fiebers ein bedeutsamer Schritt vorwärts 
getan ist, unterliegt keinem Zweifel. Es 
ist wohl auch kaum anzunehmen, daß 
dieses Prinzip der Behandlung des Heu¬ 
fiebers wieder verlassen werden wird. 
Eine andere Frage ist dagegen, ob nicht 
die Methode in manchen Einzelheiten 
noch der Verbesserung fähig ist, etwa 
hinsichtlich der Verkürzung der Behand¬ 
lungsdauer oder Erzielung einer dauern¬ 
den Resistenzerhöhung. Immerhin be¬ 
deutet es für die vielfach schwer leiden¬ 
den Heufieberkranken schon eine große 
Erleichterung, daß jetzt ein Weg gefun-^ 
den ist, auf dem sich bei richtigem 
Vorgehen die Krankheitssymptome voll- 
ständig vermeiden lassen. Außer der 
Befreiung von heftigen Beschwerden heißt 
das für manche von ihnen überhaupt 
erst die Möglichkeit, während der Blüte¬ 
zeit ihrer Arbeit naclrgehen zu können. 

Abgesehen von der Möglichkeit einer 
V erb ess eru n g d er H eufi eb erb eh an dl un g, 
wie sie jetzt in der Vaccinetherapie vor¬ 
liegt, harrt der Wissenschaft jedoch noch 
vor allem die Aufgabe, eine befriedigende 
Antwort auf die Frage sowohl nach dem 
Wesen des ,,Heufiebers“ wie nach der 
Wirkungsweise der kombinierten Vaccine¬ 
therapie zu finden. 

Literatur: 1. L. Noon (Lanc. 1911, 10. June, 
S. 1572). — 2. J. Freemann (Lanc 1911, 16. Sept., 
S. 818). —3. H. Ellern (D. m. W. 1912, Nr. 34). — 

4. Haynes Lovell (Lanc. 1912, 21. Dez., S. 1716). 
— 5. C. Prausnitz (Kolle-Wassermann 2. Aufl. 

1913, Bd. 2, 2. Hälfte, S. 1496). —6. Th. Albrecht 
(Bericht 15 d. Heufieberbundes 1913, S. 2). — 
7. Dunbar (ebenda S. 3). — 8. Kooijman 
(Tjjdschr. voor Geneesk v. 28. August 1915). — 
9. Sormani (Bericht 18 d. Heufieberbundes 1916, 

5. 25). — 10. Wolff-Eisner (ebenda S. 17). — 

11. Wolff-Eisne r (Bericht 19 d. Heufieberbundes 
1917, S. 8). — 12. Derselbe (Bericht 21 d. Heu¬ 
fieberbundes 1919, S. 55). — 13. Gaethgens 
(Zschr. f. ärztl. Fortb. 1917, Nr. 11).— 14. K. Es- 
kuchen (D. m. W. 1919, Nr. 7 u. Nr. 12). — 
15. Derselbe (Bericht 22 d. Heufieberbundes 
1920). — 16. Bcssau (D. m. W. 1919, Nr. 30). 


Ans der Frauenklinik der Universität Freibnrg. 


Die neuzeitliche Tiefentherapie in der Gynäkologie. 


Von E. 

Diese Feststellungen sind von aus¬ 
schlaggebender Bedeutung. Wenn wir 
ein Carcinom zur Rückbildung bringen 
wollen allein durch die Strahlenwirkung, 


Opitz. (Schluß) 

dürfen wir das benachbarte gesunde Ge¬ 
webe nicht allzu schwer schädigen. Es 
kommt also darauf an, die T. D. für Car- 
cinomgewebe nach Möglichkeit genau zu 



Februar 


63 


Die Therapie der Gegenvvart 1920 


bestimmen. Hier erheben sich aber be¬ 
sondere Schwierigkeiten, .denn erstens ist 
Carcinom und Carcinom nicht dasselbe, 
sondern augenscheinlich bestehen sehr 
große Unterschiede der Radiosensibilität 
zwischen den einzelnen Carcinomen, die 
weniger von der histologischen Struktur, 
als von anderen, vorläufig nicht sicher 
zu fassenden Umständen abzuhängen 
scheinen. Noch bedenklicher aber ist der 
Umstand, daß der allgemeine Zustand 
des Trägers eines Carcinoms augenschein¬ 
lich von sehr erheblichem Einfluß auf die 
Radiosensibilität des Carcinoms ist. Wir 
sehen wenigstens, daß kachektische Per¬ 
sonen noch lange nicht auf eine Strahlen¬ 
dosis reagieren, die bei kräftigen Menschen 
längst eine starke Beeinflussung, vielleicht 
sogar eine Heilung des Carcinoms hervor¬ 
gebracht hätten Das gilt nicht bloß für 
das Carcinomgewebe, sondern auch für 
alle anderen Gewebe; wenigstens kann 
man häufig bei kachektischen Personen 
Dosen auf die Haut verabreichen, ohne 
eine Reaktion zu sehen, die bei anderen 
Menschen längst Erytheme oder gar Ne¬ 
krosen hervorgerufen hätten. 

Wir müssen daher Carcinome aus¬ 
wählen, die noch nicht weit ausgebreitet 
sind und eine Kachexie noch nicht her¬ 
vorgerufen haben, wenn wir eine inner¬ 
halb gewisser Grenzen zuverlässige T. D. 
für Carcinom festlegen wollen. Sie be¬ 
trägt nach unseren Messungen etwa 150 e, 
aber mit starken Abweichungen des ein¬ 
zelnen Falles nach oben und unten. Diese 
Dosis liegt sogar noch ein wenig unterhalb 
der Erythemdosis für Haut und beträgt 
rund die/Hälfte der T. D. für Epidermis. 
Es ist also Spielraum genug für eine Zer¬ 
störung des Carcinoms durch die Strahlen 
gegeben ohne große Schädigung der Nach¬ 
barschaft. Freilich liegen die Verhältnisse 
längst nicht so günstig wie für die Be¬ 
strahlung der Ovarien, denn bei diesen 
beträgt die T. D. nur etwa ein Sechstel, 
bei Carcinom rund die Hälfte der T. D. 
für die Epidermis. 

Diese Dosen gelten, um das noch ein¬ 
mal hervorzuheben, ebensowohl fürweiche 
wie für harte Strahlen, für Röntgenstrah¬ 
len ebensowohl wie für die Gamma¬ 
strahlen des Radiums oder Mesothoriums, 
obwohl diese ganz erheblich geringere 
Wellenlängen haben als jene. 

Von großer Bedeutung für die Strah¬ 
lenbehandlung der Carcinome nun sind 
Tatsachen, die bisher, so viel uns bekannt, 
von anderer Seite so gut wie gar nicht 
berücksichtigt worden sind. Schon 


Krönig hat festgestellt, daß eine Strah-/ 
lendosis dem Carcinom direkt, z. B. von 
der Scheide aus appliziert, stärker wirkt 
als die entsprechende Dosis, wenn sie von 
den Bauchdecken und vom Rücken aus 
angewandt wurde. Des weiteren wissen 
wir, daß bei allzu intensiver Bestrahlung, 
wie sie insbesondere n)it Hilfe des Ra- 
diums oder Mesothoriums vielfach aus¬ 
geführt worden ist, sich nicht selten zeigt, 
daß das umliegende Bindegewebe voll¬ 
ständig nekrotisch wurde, während Car- 
cinomzellen sich erhalten haben und 
augenscheinlich lustig weiter wuchern. 
Wenn die allgemeine Annahme zuträfe, 
daß mit der Steigerung der Dosis auch die 
Wirkung ohne weiteres steigen müßte, so 
wäre insbesondere die letztere Tatsache 
völlig unverständlich. Wir sind daher zu 
einer anderen Annahme gezwungen. Man 
dürfte vielleicht der Wahrheit nahe¬ 
kommen, wenn man sich vorstellt,'daß 
die biologische Wirkung auf die Gewebe 
nicht allein auf einer direkten Schädigung 
der bestrahlten Zellen beruht, sondern 
daß eine Zustandsänderung eintritt, wel¬ 
che die Zellen weniger widerstandsfähig 
-macht. Wir glauben, daß insbesondere 
die Carcihomzellen in so verändertem Zu¬ 
stande der Reaktion des benachbarten ge¬ 
sunden Bindegewebes und der Allgemein¬ 
reaktion des Körpers zum Opfer fallen. Vor¬ 
aussetzung dabei ist aber, daß weder'die 
Reaktion des benachbarten Gewebes noch 
die Allgemeinreaktion durch allzu starke 
Strahlung geschädigt wird. Es ist ganz 
zweifellos, daß sowohl bei Röntgen- wie 
bei Radiumbestrahlung eine Allgemein¬ 
schädigung des Körpers zustandekommt. 
Sie äußert sich bei den leichteren Bestrah¬ 
lungen in dem bekannten sogenannten 
Röntgenkater, kann aber bei zu stärkerer 
Bestrahlung in die Röntgenkachexie über¬ 
gehen und dürfte nach unserer Meinung 
auf einer chemischen, vielleicht auch ner¬ 
vösen Wirkung der Strahlung, vor allen 
Dingen auf die Blutbildungsstätten be¬ 
ruhen. Der Zustand der Röntgenkachexie 
ist eine Art Vergiftung, ganz ähnlich der 
spontan auftretenden Carcinomkachexie, 
und verhindert die Reaktionsfähigkeit des 
Körpers, mehr weniger vollständig. Be¬ 
strahlen wir also mit zu großen Dosen, so 
töten wir das umliegende Gewebe ab und 
können zugleich eine allgemeine Kachexie 
verursachen, welche den Zweck der Strah¬ 
lung verhindert. Die Größe der Schädi¬ 
gung hängt ab von der angewandten 
Strahlendosis und von dem Umfange des 
durchstrahlten Gewebes. 



64 


Die Thefapie der Gegenwart 1920 


Februalr 


In Einzelheiten einzudringen, würde 
hier zu weitH führen. In großen Zügen 
könnte man di£ Vorgänge etwa so 
skizzieren: 

Die Wirkung der Röntgen- und Ra¬ 
diumstrahlen beruht zum großen Teil auf 
der Reaktionsfähigkeit benachbarter ger 
sunder Gewebe und des Körpers im all¬ 
gemeinen, in erster Reihe wohl des Blutes 
und der Blutbildungsstätten. Ist diese 
Reaktionsfähigkeit von vornherein nicht 
vorhanden oder wird sie durch zu starke 
Dosen der Strahlung geschädigt, so bleibt 
die erhoffte heilende Wirkung aus, kann 
sogar in ihr Gegenteil Verkehrt werden. 
So, wie schon längst fast allgemein ange¬ 
nommen wird, daß geringe Strahlendosen 
eine wucherungsanr^gende Wirkung auf 
Carcinome ausüben, muß man dies nach 
unserer Überzeugung auch für zu große 
Dosen tun. Die therapeutische er¬ 
folgversprechende Dosis liegt also 
mitten inne zwischen der gleich 
schädlicJien zu geringen reizenden 
und der zu großen die Reaktions¬ 
fähigkeit des Gewebes vernichten¬ 
den Dosis. 

Von weiteren biologischen Tatsachen, 
die für die Bestrahlung in Frage kommen, 
möchte ich nur folgende erwähnen: 

1. Eine Bestrahlung wirkt stärker, 
wenn die gleiche Dosis auf einmal verab¬ 
reicht wird, als wenn, sie in Abständen 
wiederholt appliziert wird. 

■ 2. Die Wirkung der Strahlung ist 

stärker, wenn wir große Dosen kurze Zeit, 
als wenn wir kleine Dosen lange Zeit ein¬ 
wirken lassen. Vergleiche mit Arznei¬ 
mitteln-liegen auf der Hand. 1 g Morphium 
auf einmal verabreicht, wirkt tödlich, in 
100 Dosen zu 0,01 innerhalb von lOOTagen 
dagegen nur einschläfernd und wenig 
schädlich. Jedoch trifft dieses Schwarz- 
schildsche Gesetz nur bei großen Unter¬ 
schieden zu. 

3. Die Strahlenwirkung zeigt eine ge¬ 
wisse Latenzzeit. Sie bleibt ferner lange 
Zeit bestehen. Häufig wiederholte Be¬ 
strahlungen in nur geringen Dosen, die 
einzeln keine Wirkung erkennen lassen, 
können sich daher in ihrer Wirkung sum¬ 
mieren und chronische Veränderungen 
hervorrufen, die eine gewisse Disposition 
zur Carcinomentstehung erzeugen. 

Wir haben ferner Grund zu der An¬ 
nahme, daß es eine Reizdosis für Gewebe 
gibt, die ein Gewebe zur Wucherung ver¬ 
anlaßt, das bei stärkeren Dosen zur Ent¬ 
zündung gereizt oder abgetötet wird. 


Therapeutisch benutzt wird eine solche 
bisher nicht näher festgelegte Reizdosis 
in der Dermatologie und in der Chirurgie. 
Wir haben von ihr zur therapeutischen 
Beeinflussung von Amenorrhöen durch 
Reizung der Ovarien bisher in einzelnen 
Fällen scheinbar mit Erfolg Gebrauch ge¬ 
macht. 1 

Besonders wichtig ist aber das Vor¬ 
handensein einer solchen Reizdosis für 
Carcinom. Bestrahlen wir Teile des Car- 
cinoms mit zu geringen Dosen, so ist eine 
das Wachstum anregende Wirkung auf 
das Carcinom statt der erhofften schädi¬ 
genden Wirkung zu erwarten. 

Auf diesen, hier kurz skizzierten phy¬ 
siologischen und biologischen Grundlagen 
baut sich unsere Behandlung des Car- 
cinoms mit strahlender Energie auf, und 
unsere Erfolge scheinen uns bisher recht 
zu geben. Wir legen großen Wert auf die 
Durchführung der Behandlung in ein¬ 
maliger, in möglichst langer Zeit die Höhe 
der notwendigen Dosis erreichenden Be¬ 
strahlung. Ganz läßt sich das Ideal nicht 
erreichen, weil die erforderlichen Dosen 
auf einmal nicht vertragen werden, ge¬ 
legentlich sogar den Tod herbeiführen 
können. Aber soviel läßt sich erreichen’, 
daß innerhalb von etwa einer Woche das 
ganz.e Verfahren durchgeführt wird. Das 
hat, abgesehen von den rein technischen 
und biologischen Gründen, den großen 
Vorteil, daß die Kranken mit der ein¬ 
maligen Behandlung fertig sind. Die 
wegen Unvollständigkeit erfolglosen .Ku¬ 
ren fehlen deshalb bei uns ganz. Es fehlen 
ferner die durch häufige ’ Bestrahlungen 
möglichen chronischen Strahlenschädi¬ 
gungen. 

Die jetzt hier ganz gleichmäßig durch¬ 
geführte Methodik ist folgende: 

Zunächst wird mit Hilfe von in natür¬ 
licher*'Größe gehaltenen Schemata durch 
möglichst genaue Untersuchung die Aus¬ 
breitung des Uteruscarcinoms bestimmt. 
Danach erhalten die Kranken die volle 
Carcinomdosis, nach unserer Berechnung 
also etwa 150 e, vermittels Röntgenbe¬ 
strahlung. Wir benutzen dazu ein je 
20 X 20 cm großes Feld auf dem Bauch 
und auf dem Rücken der Patientin und 
stellen den Centralstrahl so ein, daß er 
bei Bestrahlung von vorn die linke Kante, 
bei Bestrahlung von hinten die rechte 
Kante des Carcinoms trifft, und zwar aus 
dem Grunde, weil wir das links gelegene 
Rectum]^möglichst schonen wollen. 

Wie aus der beigegebenen Zeichnung 
und der zugehörigen Erklärung wohl ohne 





Februar ; - Die Therapie der 





Abb. 6. 

ln dem in natürlicher Größe gezeichneten Schema 
ist das Carcinom Ca, hier ein markiges Carcinom der vor¬ 
deren Muttermundslippe eingezeichnet. Q bedeutet den 
Mittelpunkt der Dosimeterkammer, die während der 
Röntgenbestrahlung im hinteren Scheidengewölbe gelegen 
war und von vorn eine Dosis von 64,6 e, von hinten eine 
Dosis von 87,4 e, zusammen 152 e angezeigt hat. Die durch 
den Mittelpunkt der Meßkammer gezogene gestrichelte 
Senkrechte bedeutet die Größe desjenigen Teils des 
Bestrahlungsfeldes von 20 x 20 cm Größe, innerhalb 
dessen die Dosis gleich groß ist (s. auch Fig. 4). In der 
ganzen Beckenhöhle nach den Seiten ebenso wie nach 
oben und unten ist also eine Dosis von 152 e durch die 
Röntgenbestrahlung verabfolgt worden. Nach der Ober¬ 
fläche zu ist die Dosis eher größer. Die um die Radium¬ 
kapsel P gezeichneten Liniensysteme bedeuten die Iso¬ 
dosen in Prozenten der Dosis, die in 1 cm. Abstand von 
der Mitte der Kapsel verabfolgt ist. 

Die Berechnung der Gesamtdosis bei der kombinierten 
Behandlung für den vorliegenden Fall ergibt folgendes: 
Angewandt wurde eine Kapsel mit 36 mg Radium- 
Element' für 15 Stunden. Nach der im ersten Teil der 
vorliegenden Arbeit beschriebenen biologischen Aichung 
beträgt dann die Dosis in IV 2 cm Abstand von der-Mitte 
des Präparats 36 x 15 x 0,143 c = rund 77 e, in 2 cm 
Abstand 36 x 15 x 0,085 = 46 e usw. Alle Gewebs- 
partien, die auf einer Isodose liegen, haben während der 
Bestrahlungszeit die gleiche Dosis erhalten. Die Gesamt¬ 
dosis läßt sich daher für jede beliebige Gewebspartie leicht 
berchnen, in denselben Einheiten als Summe der Röntgen- 
und der Radiumdosis. Die Rectumschleimhaut hat z. B. 
in diesem Falle durch die kombinierte Bestrahlung im 
ganzen ca. 152 -l- 40 e = ca. 190 c erhalten, eine Dosis, 
die nach unserer Erfahrung diese Gewebsart nicht dauernd 
schädigen kann. 

weiteres ersichtlich sein dürfte, ist dann 
m einem 6 cm Halbmesser haltenden 
Kreise um die Meßkammer herum die 
volle Dosis von 150 e im Becken wirksam 
gewesen. Nach der Oberfläche zu dürften 
die Dosen eher etwas größer als geringer 
werden, doch dürften die Unterschiede 
nur unbedeutend sein. In manchen Fällen 
kann allein schon damit die Rückbildung 
des Carcinoms erreicht werden, doch 
wissen wir, daß bei Bestrahlung durch die 
Gewebe hindurch die Wirkung nicht so 
sicher eintritt, als bei direkter Bestrahlung 
des Carcinoms. Eine Steigerung der Wir¬ 
kung durch Erhöhung der Dosis wäre ja 
an sich durchaus erreichbar, wenn wir 
noch an den Seiten und vom Becken¬ 
boden her weitere Bestrahlungsfelder hin¬ 
zufügen wollten. Jedoch fürchten wir bei 
einer solchen Bestrahlung die starke All¬ 
gemeinwirkung, die leicht den erhofften 


Gegenwart 1920 , 65 


Einfluß auf das Carcinom zunichte macheri 
könnte. Wir nehmen deshalb eine Be¬ 
strahlung mit Radium zu Hilfe. Alle Teile 
im Becken haben die volle Carcinomdosis 
erhalten. Ein geringes Plus genügt im all¬ 
gemeinen, um die Rückbildung des Car¬ 
cinoms herbeizuführen, und dieses geringe 
Plus können wir mit Sicherheit dem Pri¬ 
märherde vermittels des Radiums zuführen, 
wobei die Allgemeinwirkung nicht so er¬ 
heblich ist, als bei der Bestrahlung mit 
Röntgenstrahlen. Wir müssen dabei aber 
natürlich die Wirkung auf das benach¬ 
barte gesunde Gewebe im Auge behalten. 
Mit Hilfe der Isodosen läßt sich-nun in 
jedem Fall im Becken die tatsächlich zur 
Wirkung gekommene Strahlenenergie mit 
genügender Genauigkeit feststellen. Wir 
haben deshalb ernste Schädigungen nicht 
zu beobachten gehabt. Das Auftreten 
von Rectum- und Blasenscheidenfisteln 
ist uns bisher völlig erspart geblieben, und 
wir haben in unseren letzten Fällen mit 
nicht allzu großer Ausdehnung des Car¬ 
cinoms regelmäßig eine primäre vollstän¬ 
dige Rückbildung des Carcinoms ge¬ 
sehen. 

Das beweist freilich noch nicht eine 
Dauerheilung. Traurige Erfahrungen ge¬ 
nug haben uns darüber belehrt, daß die 
primäre Heilung sehr häufig von einem 
Rezidiv gefolgt wird. Das scheinbar 
völlige Wohlbefinden der Kranken kann 
uns in der Beziehung nicht irre machen. 

NachOperation ebenso wie nach Bestrah¬ 
lung ist oft genug ein scheinbar völliges 
Wohlbefinden zu verzeichnen und doch 
folgen nach längerer oder kürzerer Zeit 
Rezidive. Sicher ist bis jetzt nur, daß 
nach den früheren Erfahrungen ein großer 
Teil der primär Geheilten dauernd ge¬ 
sund bleibt, und so dürfen wir auch eine 
erhebliche Vermehrung der Dauerheilun¬ 
gen angesichts der weit zahlreicheren 
Primärerfolge erwarten. 

Um dies nach Möglichkeit zu sichern, 
muß die Strahlenbehandlung unterstützt 
werden durch eine zweckmäßige Allge¬ 
meinbehandlung. Wir müssen uns be¬ 
wußt bleiben, daß wir nicht Carcinome, 
sondern krebskranke Menschen zu be¬ 
handeln haben. Wir machen von ver¬ 
schiedenen Mitteln Gebrauch. Zunächst 
scheint uns eine gute Ernährung von 
großer Wichtigkeit. Wenn es richtig ist, 
daß, wie wir glauben, der Körper letzten 
Endes die Heilung besorgen muß, daß dei 
Bestrahlung nur den Anstoß gibt zu der 
Beseitigung der parasitären Wucherung 
des Carcinoms, so bedarf der Körper nach 

9 







66 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Februar 


der Bestrahlung ganz besonders der nö¬ 
tigen Kräfte. Und das erst recht bei den 
häufig durch große Blutverluste oder 
durch eine beginnende Kachexie ge-' 
schwächten Krebskranken. Des weiteren 
aber suchen wir durch ,,Protoplasma¬ 
aktivierung“ die Schutzkräfte des Kör¬ 
pers anzuregen. Wir benutzen dazu das 
von Lindig in die Therapie eingeführte 
Kaseosan (sterile 5%ige Kaseinlösung in 
Ampullen), von dem wir bei Infektionen 
und anderen Zuständen gute Wirkungen 
gesehen haben. Daß Blutentziehung, 
Bluttransfusion oder andere Mittel in 
ähnlicher Richtung wirken können, soll 
damit nicht bestritten werden. Es ist 
wohl möglich, daß wir später, falls sich 
eines der genannten oder ein anderes 
Mittel als besser erweisen sollte, zu diesem 
übergehen müssen. Es kommt ja aus¬ 
schließlich auf den Erfolg an. Uns ist aber 
das „Kaseosan“ deshalb besonders sym¬ 
pathisch, weil es nach unseren Versuchen 
häufig eine Lymphocytose aüslöst. Diese 
Lymphocytose dürfte von besonderer Be¬ 
deutung sein, weil den Lymphocyten nach 
unseren Untersuchungen eine besondere 
Rolle im Kampfe gegen das Carcinom zu¬ 
fällt. An der Ausbreitungsgrenze eines 
Carcinoms sehen wir eine Lymphocyten- 
anhäufung. Wir wissen aus zahlreichen 
Erfahrungen, daß verschleppte Carcinom- 
zellen in den Lymphdrüsen häufig ver¬ 
nichtet werden. Wir schließen daraus 
auf eine besondere Fähigkeit der Lympho¬ 
cyten, Carcinomzellen zu vernichten, und 
begrüßen deshalb die Lymphocytose als 
eine Hilfe im Kampfe gegen etwa noch 
vorhandene Krebszellen. 

Neben dieser Allgemeinbehandlung 
verordnen wir regelmäßig noch eine Ar¬ 
senkur, weil diesem Mittel ganz gewiß in 
leichteren Fällen eine Wirkung gegen das 
Carcinom zukommt. Es dürfte kein Zu¬ 
fall sein, daß das Arsenik zugleich ein 
Blutbildung anregendes Mittel ist. 

Neben dieser Allgemeinbehandlung hat 
eine örtliche Nachbehandlung der Stelle 
des Carcinoms zu erfolgen und zwar halten 
wir eine Hyperämisierung nach dem Vor¬ 
gänge von Teilhaber für zweckmäßig. 
Müller (Immenstadt) und Andere haben 
festgestellt, daß anämisches Gewebe 
weniger empfindlich gegen Strahlen ist 
als hyperäinisches Gewebe. Es hängt 
das vielleicht mit einer direkten Strahlen¬ 
wirkung auf das Blut zusammen. Ver¬ 
mutlich läßt das durch die Strahlen ver¬ 
änderte Blut Carcinomzellen schädigende 
Stoffe am Orte der Bestrahlung ins Ge- 


-r-- 

webe austreten. Noch wichtiger aber 
scheint uns der Gesichtspunkt, daß es 
vor allen Dingen Narben und chronisch 
im Sinn einer Anämie veränderte Gewebe 
sind, ^an denen Carcinome zu entstehen 
pflegen. Nach meiner Überzeugung gibt 
es eine große Reihe von Rückfällen nach 
Carcinom, die nicht als Rezidive im 
engeren Sinne, sondern als neue Carci¬ 
nome, die an der Stelle des alten bei 
einem, wie die Erkrankung ja bereits be¬ 
wiesen hat, zur Carcinomerkrankung dis¬ 
ponierten Menschen aufzufassen sind. 
Eine Hyperämisierung würde dann also 
sowohl im Sinn einer besseren Beseiti¬ 
gung etwa noch vorhandener Carcinom- 
reste, wie im Sinn eines Schutzes vor 
der neuen Entstehung von Carcinom 
wirken können. Die Hyperämisierung 
wird je nach den Umständen durch Dia¬ 
thermie oder heiße Packungen oder heiße. 
Spülungen herbeigeführt. 

Nicht unwichtig ist es wohl, angesichts 
der zahlreichen Gegnerschaft der ,,ln- 
tensivbeslrahlung“ ausdrücklich zu er¬ 
wähnen, daß unbeabsichtigte Röntgen¬ 
schädigungen infolge unserer genauen und 
zuverlässigen Meßmethoden auch nicht 
in einem einzigen Falle vorgekommen 
sind, weder bei der Myom- noch bei der 
Carcinombehandlung. 

Über Dauererfolge können wir selbst¬ 
verständlich noch nicht berichten. Wir 
können nur feststellen, daß mit unserem 
Verfahren in der Tat nunmehr bei nicht 
allzu kachektischen'oder sonst ungünstig 
gelagerten Fällen sich mit viel größere!* 
Regelmäßigkeit als früher die primäre 
vollständige Rückbildung des Carcinoms 
erzielen läßt. Allein daraus ist schon der 
Schluß zu ziehen, daß häufiger eine Dauer¬ 
heilung herbeigekihrt werden wird, denn 
wir wissen ja auch aus früheren Erfah¬ 
rungen, daß durch die Bestrahlung eine 
vollständige Heilung erzielt werden kann. 

Da wir nun aber mit Bewußtsein auf 
Grund unserer besseren Kenntnisse noch 
eine Reihe unterstützender Maßnahmen 
_hinzufügen und Schädigungen, wie sie 
unweigerlich mit häufig wiederholter Be¬ 
strahlung oder mit zu großen Dosen ver¬ 
bunden sind, vermeiden, so dürfte unsere 
Hoffnung nicht unbegründet erscheinen, 
daß wir einen wesentlichen Schritt in der 
Bekämpfung des Carcinoms vorwärts ge¬ 
tan haben. 

Ähnliche Fortschritte sind zu erhoffen 
oder erzielt in der Behandlung anderer 
Carcinonie, über die ich hier nicht be- 




Febtuar 


Die Therapie der Gegenwart .1920 ^ . . ö7 ; 


richten will. Auch andere Leiden: .Sar-‘ 
kome, Tuberkulose. usw., werden nach 
ihrem Verhalten gegenüber den Strajilen 
untersucht. Unsere bisherigen Ergeb¬ 


nisse sind noch nicht ausreichend zu 
einem sicheren Urteile, geben uns aber* 
mancherlei Ursache, auf ein günstiges 
Ergebnis-zu hoffen. 


Ans der gebnrtshilflich-gynäkolpgisclieii Abteilung des Krankenhauses der jüdischen 

Gemeinde in Berlin. 

Über die durch geburtshilfliche Operationen bedingten 
Schädigungen des Kindes und ihre Verhütung. 

Von Prof. Dr. E. Sachs, dirigierendem Arzt der Abteilung. (Fortsetzung) 


II. Die Extraktion am Beckenende. 

Daß die Technik bei der Behandlung 
-der Beckenendlage von größter Bedeu¬ 
tung für das Befinden des Kindes ist, 
mit anderen Worten, daß eine unsach¬ 
gemäße Entwicklung des in Beckenend¬ 
lage liegenden Kindes demselben sehr 
schaden, ja sogar seinen Tod verursachen 
kann, ist jedem Geburtshelfer von seiner 
Studentenzeit her bekannt. In den 
letzten Jahren hatte ich mich in der 
Königsberger Klinik ganz besonders mit 
der Technik der Beckenendlagenbehand¬ 
lung beschäftigt^). 'Wenn es uns dabei 
geglückt ist, statt der durchschnittlichen 
Mortalität der Beckenendlagekinder von 
15% eine solche von 3,5% bei 307. mit 
dem Beckenende zuerst geborenen Kin¬ 
dern zu erreichen, und sogar eine Mortalität 
von nur 1,4% bei 209 primär in Becken¬ 
endlage zur Geburt stehenden Kindern, 
so zeigt dies den Wert einer guten 
Technik. Von den drei bei primärer 
Beckenendlage gestorbenen Kindern star¬ 
ben zwei infolge zu später Hilfeanforde¬ 
rung durch die Hebamme und das. dritte 
infolge vergeblicher Hilfeleistung bei einer 
sehr seltenen Einstellung, die ich als 
tiefen Querstand des Steißes bezeichnen 
möchte. 

• Manuelles Geschick läßt sich aller¬ 
dings nur durch Übung erlangen; unsere 
Resultate wurden aber nicht durch das 
manuelle Geschick eines einzelnen\ er¬ 
reicht, sondern durch Verwendung be¬ 
sonderer Handgriffe und vor allem durch 
eine systematisch auf die Vermeidung der 
mit der Beckenendjage verbundenen Ge¬ 
fahren gerichtete ‘Geburtsleitung; und 
dies kann jeder lernen. 

Ich gehe deshalb auf die Technik der 
Beckenendlagenbehandlung näher ein. 

'.Im allgemeinen fallen, wie bekannt, 
die in Beckenendlage sterbenden Kinder 
einem Erstickungstode zum Opfer. 

Sachs, Die Behandlung der Beckenendlage. 
-Ztschr. f. ärztl. Fortbild. 1917, Bd. 14, H. 8. 


Die Gefahr der Erstickung droht, wenn 
man von allen Komplikationen, wie 
xNabelschnufvoifall, Placenta praevia usw., 
absieht, von dem Augenblick an, wo 
der größere Teil des Rumpfes aus der 
Uterushöhle herausgetreten ist. Die 
Retraktionsbestrebungen des Uterus 
führen zu verminderter Sauerstoffzu¬ 
fuhr und zu Kreislaufstörungen, utiter 
denen das Kind leiden muß, wenn dieser 
Zustand zu lange andauert, das heißt, 
wenn die obere Körperhälfte dem Austritt 
der unteren aus der Uterushöhle nicht 
bald folgt. Später tritt noch die viel 
größere Gefahr der Nabelschnurkom¬ 
pression hinzu. Auch diese wird ver¬ 
größert, wenn die letzte Geburtsphase 
nicht schnell genug durchlaufen wird. 
Es muß also bei sachgemäßer Geburts¬ 
leitung der größte Wert darauf gelegt 
werden, daß nach der Geburt des Rumpfes 
keine Stockung eintritt. Da bei Stei߬ 
lagen die Weichteile besser gedehnt wer¬ 
den ^als bei Fußlagen, so werden wir nicht 
unnötig einen Fuß herabholen; da die 
Weichteile Zeit zur Dehnung brauchen, 
werden wir nicht ohne Not in kurzer 
Zeit durch Extraktion zu erreichen 
suchen, was für Mutter und Kind schonen¬ 
der in längerer Zeit durch die Wehen er¬ 
reicht werden kann. Der Hauptgrund 
der Verzögerung der Geburt ist aber eine 
schwierige Lösung der hochgeschlagenen 
Arme und eine schwierige Entwicklung 
des sich ungünstig einstellenden Kopfes. 
Beides erlebt man besonders dann, wenn 
die Geburt nicht durch die treibende 
Kraft der Wehen, sondern durch ziehende 
Kräfte zm Ende geführt wird. Wir werden 
die Extraktion also nicht im Augenblick 
einer Wehenpause vornehmen, sondern 
auf ’tJer Höhe der Wehe und werden, 
falls Wehenschwäche vorliegt, für künst¬ 
liche Wehen gerade im Augenblick der 
Geburt zu sorgen haben. 

Bei der Behandlung der Beckenend¬ 
lage sind also folgende Klippen zu um¬ 
gehen. 



Fejbrüar 


\ 68 Die Therapie der Gegenwart 1920 


1. Intrauterine Asphyxiegefahf in¬ 
folge von Wehenschwäche nach Austritt 
des größten Teiles des Rumpfes aus dem 
Uterus. 

2. Asphyxiegefahr infolge von Nabel¬ 
schnurkomplikation nach der Geburt des 
Nabels. 

3. Komplikationen bei der Armlösung. 

^ 4. Komplikationen bei der Entwicklung 

des Kopfes. 

Die beiden letzten Gefahren sind 
schon bei normalem Becken vorhanden, 
sie sind bei engem Becken weitaus größer 
und sind am größten, wenn bei engem 
Becken aus Quer- oder gar aus Schädel¬ 
lage eine Wendung notwendig geworden 
ist. Ich bespreche hier aber nur die Be¬ 
handlung der primären Beckenendlage 
und spare mir die Besonderheit der sekun¬ 
dären Beckenendlage für die Besprechung 
der Wendungsoperation auf, an die sie 
sich technisch ja stets anschließt. 

Wie begegnet man den erwähnten 
Gefahren? 

Die intrauterine Asphyxie läßt 
sich nur vermeiden, wenn man eine ex¬ 
akte Kontrolle der Herztöne äus- 
übt. Hier gelten dieselben Zahlen, die 
für die Entbindungsindikation für die' 
Zange erwähnt sind. Ist man aber zur 
Extraktion entschlossen, so muß man 
diese auch ohne Stockung zu Ende 
führen. Dazu ist die Mitwirkung eines 
kräftigen Druckes von oben mindestens 
so wichtig, wie die Wirkung des Zuges. 
Der Druck von oben wird in allererster 
Linie durch gute Wehen erreicht. Eine 
die Wehen unterstützende manuelle Ex¬ 
pression läßt sich viel wirksamer aus¬ 
führen, wenn der Uterus kräftig kon¬ 
trahiert ist. ■ Deshalb kann ich nur 
raten, in jedem Falle, wo nicht 
infolge der Weichteilverhältnisse 
eine sehr leichte Extraktion sicher 
erscheint, die Extraktion mit 
einer Dosis Pituglandol zu ver¬ 
binden und sie außerdem durch 
Expression zu unterstützen. Eine 
rechtzeitige Pifuglandolinjektion macht 
oft fast die ganze Extraktion überflüssig. 
Zum Beispiel: 

388/16. I. p. Fußlage. Sehr großes Kind. 
Asphyxiegefahr. Intravenöse Injektion von 
1,0 Pituglandol. Spontangeburt bis zum.J<opf, 
beide Arme des sehr großen Kindes fallen spontan 
heraus. 

Die Verwendung des Pituglandols hat 
aber für die Behandlung der Beckenend¬ 
lage noch andere Vorteile, als den der 
Abkürzung der Austreibung des kindlichen 
Rumpfes. Die Arme bleiben meistens 


am Rumpfe liegen, solange das Kind 
durch Wehenkraft herausgedrückt wird, 
sie können sich aber hochschlagen, so¬ 
bald in einer Wehenpause am Rumpfe 
gezogen wird. Hier tritt wieder das 
Pituglandol ein; der sich eng an das 
Kind heranlegende Uterus hindert jede 
Haltungsänderung. Weiß man von vorn¬ 
herein, daß es. sich um Wehenschwäche 
handelt, so gebe man bei Mehrgebährenden 
etwa beim Einschneiden des Steißes, bei 
Erstgeb ährenden später, Pituglandol intra¬ 
muskulär. Die Wehenwirkung, die etwa 
fünf Minuten danach eintritt, fällt dann 
zusammen mit dem Durchtritt der Arme; 
ist die Zeit von fünf Minuten aber zum 
Abwarten zu lange, wie z. B. stets bei der 
Extraktion nach Wendungen, so lasse man 
die Pituglandolinjektion gleich nach der 
Wendung intravenös machen. Hierbei tritt 
die erste Wehe.schon nach einer halben 
Minute auf und kommt gerade zur Ent¬ 
wicklung der Arme und, des Kopfes zu¬ 
recht. 

Was im einzelnen die Entwicklung; 
der Arme^) betrifft, so ziehe ich die 
Deventer-Müllersche Methode der Schul¬ 
terentwicklung der altgewohnten Lösung 
der Arme vor, weil sie mir für Mutter 
(bessere Währung der intrauterinen Asep¬ 
sis) und Kind vorteilhafter zu sein scheint. 
Sie ist leichter und schneller ausführbar, 
als die alte klassische Methode und führt, 
vor allem weniger zu Verletzungen der 
kindlichen Extremität. (Ich hatte 1,6% 
Verletzungen des Schültergürtels gegen 
13,5% bei der alten Methode. [Zahlen 
nach Huddleston Hater und Lab¬ 
hardt.]) Ebenso wichtig wie, die Arm¬ 
lösung selbst aber scheint' mir für den 
Ausgang der_Extraktion die Prophylaxe, 
die dafür zu sorgen hat, daß eben die 
Arme am Rumpfe bleiben. 

Sehr wichtig für das Leben des Kindes 
ist dann aber noch die nachfolgende Ent¬ 
wicklung desKopfes. Hierfür konkur¬ 
rieren zurzeit zwei Handgriffe. Der alt- 
bekannteVeit-Smellie, dk durch Zug über 
dem Nacken und Zug am Munde wirkt und 
durch Druck von außen wrrksam unter¬ 
stützt werden kann, und der Wigand-A. 
Martin-Winckelsche Handgriff, der auf den 
Zug über dem Nacken verzichtet und 
ihn durch Druck von oben ersetzt. Be¬ 
sondere Untersuchungen haben mir ge- 

5) Näheres über die Indikationsbreite dieser 
Armlösungsmethode und über ihre spezielle 
Technik siehe die oben erwähnte Arbeit und meine 
Arbeit über diese Frage in der Mschr. f. Geburtsh. 
1917, Bd.45, H. 2. 



Februar 


Die Therapie der Gegenwai<t 1920 \ 


69 


zeigt, daß bei über dem Becken stehen¬ 
dem Kopfe dieser letztere Handgriff nicht 
nur wirksamer, sondern weniger gefähr¬ 
lich ist. Bei zu starkem Zuge, wie er.nur 
allzuleicht ange\yendet wird, wenn der 
Kopf einem schwachen Zuge nicht folgt, 
kann es nämlich beim Veit-Smellie zur 
Erbschen Lähmung®), zu Zerreißungen im 
Gebiete des Sternokleidoma'stoideus. mit 
der Gefahr der Schiefhalsbildung, zur 
Klavikularfraktur oder zur Wirbelsäulen- 
zerreißung*^) kommen. Diese Gefahren 
vermeidet der Wigand-Martinsche Hand- 
grüT®). Er ist deshalb in allen Fällen 
vorzuziehen, in denen der Kopf nicht' 
ganz leicht folgt. Ich wende ihn, da er 
keine Nachteile gegenüber dem Veit- 
Smellie hat, stets an, solange der Kopf 
noch über dem Becken steht. 

Die Walchersche Hängelage er¬ 
leichtert in manchen Fällen den Durch¬ 
tritt des Kopfes durch den verengten 
Beckeneingang; ebenso wirkt eine rich¬ 
tige Einstellung des Schädels wäh¬ 
rend des Durchtritts. Man muß näm¬ 
lich zu erreichen suchen, daß der große 
Querdurchmesser des Schädels nicht durch 
den verengten geraden Durchmesser des 
Beckeneingangs geht. Das erreicht man 
dadurch, daß man das Kinn erst dann 
auf die Brust zieht, wenn der Kopf den 
Beckeneingang passiert hat. Dadurch 
kommt der kleinere bitemporale Durch¬ 
messer an Stelle des biparietalen in die 
verengte Conjugata vera. 

Die vom Operateur selbst ausgeführte 
Impression des Schädels beim Wigand- 
Martinschen Handgriff scheint mir dem 
von einem Assistenten ausgeübten Drucke 
von außen deshalb überlegen zu sein, 
weil nur der Operateur selbst die Rich¬ 
tung und die Stärke des Druckes genau 
angeben kann. Wenn ich nun noch er¬ 
wähne, daß ich es für vorteilhaft halte, 
sowohl bei rechts wie bei links stehendem 
Kinne den äußeren Druck durch die 
rechte Hand auszuüben, die ich auch beim 
Abortausräumen und bei jeder Unter¬ 
suchung als äußere Hand gebrauche, 
nicht nur weil sie kräftiger ist, sondern 
weil sie zum äußeren Arbeiten geschickter 

*) Sachs (Der Frauenarzt 1916, H. 8/10). 

’^) Sachs (Zschr. f. Geburtsh., Bd. 79). 

8) Sachs (Mschr. f. Geburtsh. 1916, Bd. 44, 
H. 5). 


ist, — daß ich weiter rate,' in Fällen, in 
denen das Mißverhältnis zwischen Kopf 
ünd Becken ^u groß ist, als daß das Kind 
ungefährdet (Wirbelsäulenzerreißung, 
Hinterhauptschuppenabsprengung usw.) 
die Beckeneingangsebene passieren kann, 
zur Symphyseotomie zu greifen, so 
sind die Ratschläge für die Behandlung 
der primären Becken’endlage damit er¬ 
schöpft. 

Zusammengefaßt handelt es sich um 
folgendes: 

Strengste Beobachtung der kindlichen 
Herztöne, um den richtigen Augenblick 
für das Eingreifen nicht zu übersehen. 

Ausschalten der Wehenschwäche und 
Unterstützung j eder voraussichtlich 
schweren Extraktion durch rechtzeitig 
gegebenes Pituglandol, das eventuell in¬ 
travenös gereicht werden muß, wenn es 
zu spät ist, um die Wirkung des intra¬ 
muskulär oder subcutan gegebenen Pitu- 
glandols abzuwarten. 

Unterstützung jeder Extraktion du^h 
Expression. 

Entwicklung der Schultern durch 
Deventer-Müller.' 

Entwicklung des im Becken stehenden 
Kopfes durch Veit-Smellie. Entwicklung 
des über dem Becken stehenden Kopfes 
durch Wigand-A.Martin-Winckel. 

Rechtzeitige Anwendung der Sym¬ 
physeotomie in Fällen, in denen das 
Mißverhältnis zwischen Kopf und Becken 
offenbar zu groß ist. 

Ausnützung aller von der Natur bei 
den verschiedenen Arten von Beckenend¬ 
lagen uns gewiesenen Vorteile, wie z. B. 
Vermeiden des Herabholens eines Fußes 
zu eventuell späterer Extraktion, außer 
in seltenen Fällen, in denen dies im Inter¬ 
esse der Mutter nötig ist. 

. Expektative Geburtsleistung mit Ver¬ 
meidung jeder unnötigen zu frühzeitigen 
Extraktion. 

Das sind die Mittel, mit denen die 
Königsberger Klinik ihre vorzüglichen Re¬ 
sultate bei der Behandlung der Becken¬ 
endlage erreicht hat; Resultate, die uns 
zu dem Urteile berechtigen, daß ein in 
Beckenendlage liegendes Kind bei ^ge¬ 
eigneter Geburtsleitung dieselben Aus¬ 
sichten hat, lebend geboren zu werden, 
wie ein in Schädellage liegendes Kind. 

(Schluß folgt im nächsten Heft.) 





70 V '■ Die Therapie der Gegenwart 192Ö Februar 

Repetitorium der Therapie. 

Behandlung der Infektionskrankheiten. - 

Von G. Klemperer und L. Dünner. 


Verhütung. Infektionskrankheiten be¬ 
ruhen auf der Aufnahme von Mikroben, wel¬ 
che dem Menschen von Erkrankten direkt 
oder durch Überträger vermittelt werden. 
Schutz vor Infektionskrankheiten wird 
dadurch ermöglicht, daß wir den Mecha¬ 
nismus der Übertragung im Einzelfall er¬ 
kennen, Die meisten Infektionskrank¬ 
heiten werden durch Absonderungsstoffe 
der Kranken, insbesondere Auswurf und 
Stuhlgang, übertragen, für einzelne kom¬ 
men als Überträger Stechmücken und 
Läuse in Betracht, in anderen mischt sich 
der Ansteckungsstoff der Luft bei und 
wird durch Einatmung übertragen. 

Man schützt sich vor Ansteckung, 
durch Fernhaltung von Infektionspro¬ 
dukten und Infektionsüberträgern, im all- 
^meinen durch peinlichste Reinlichkeit, 
im besonderen durch Vorsichtsmaßregeln, 
welche bei den einzelnen Erkrankungen 
besprochen werden. 

Die Prophylaxe liegt aber nicht nur 
in der Vermeidung der Infektion. Die 
Aufnahme des Erregers führt keineswegs 
immer zur Erkrankung, oft gehen die Er¬ 
reger im menschlichen Organismus zu¬ 
grunde ohne zu schaden; die natürliche 
Immunität schützt den Menschen. Schutz 
vor Infektion liegt also in der Stärkung 
der natürlichen Abwehrkräfte des Organis¬ 
mus; diese wird durch gute Ernährung, 
regelmäßige Lebensweise, ausgiebigen 
Luftgenuß, allgemeine Kräftigung und 
Abhärtung gegeben. 

Einen besonderen Schutz gewinnt der 
Körper durch einmaliges Überstehen man¬ 
cher Infektionskrankheiten. Die Kunst 
ahiiit diese Immunität nach durch Schutz¬ 
impfung, das heißt durch Zuführung ab¬ 
geschwächter oder abgetöteter Krankheits¬ 
keime oder solcher Schutzstoffe, welche 
im Tierkörper durch Krankheitskeime 
bereitet sind. 

^^Zur Verhütung im weiteren Sinne ge¬ 
hören die Maßnahmen, welche im Er¬ 
krankungsfalle zur Verhinderung der 
Weiterverbreitung der Infektion auszu¬ 
führen sind. Hierher gehört die Anzeige^) 
des Krankheitsfalles an die Behörde, die 

Anzeigepflichtig sind Scharlach, Diphtherie, 
Typhus, Fleckfieber, Ruhr, Rückfallfieber, Genick- ! 
starre, Milzbrand, Rotz, Pocken, Cholera; die i 
Anzeige geschieht auf vorgedruckten Karten; die j 
Unterlassung ist strafbar. , | 


eventuelle Absonderung des Kranken^), 
und die Unschädlichmachung infektiöser 
Ausscheidungen des Kranken^). 

1. Die ^llgemeinbehandlung. 

Das ideale Ziel der Heilung durch Ver¬ 
nichtung der Krankheitserreger oder Bin¬ 
dung ihrer - Gifte, ist nur bei wenigen 
Krankheiten erreichbar. In den meisten 
Fällen bleibt uns die Pflicht, den mit der 
Infektion ringenden und unter ihr leiden¬ 
den Kranken so zu pflegen, zu ernähren 
und zu behandeln, daß er möglichst wenig 
leidet und gegen den Kampf mit der In¬ 
fektion möglichst gekräftigt ist. Diese 
Sorge für Wohlbefinden und Kräfte der 
Patienten liegt uns auch dann ob, wenn 
wir den Kranken mit specifischen Mitteln 
behandeln können. Folgende Regeln 
gelten für alle Infektionskrankheiten: 

Der fiebernde Kranke gehört ins Bett 
und bedarf ordnungsgemäßer Pflege. Die 
Sorge für diese in all ihren Einzelheiten 
ist von allergrößter Wichtigkeit und be¬ 
einflußt in vielen Fällen die Art des Ver¬ 
laufs. Von besonderer Wichtigkeit in 
länger dauernden Infektionen ist die Ver¬ 
meidung hypostatischer Pneumonie durch 
öfteren Wechsel der Lagerung, sowie Fern¬ 
haltung des Durchliegens durcli, Luftring 
oder Wasserkissen, auch tägliche Ab¬ 
waschung mit nachfolgender Abreibung 
mit Franzbranntwein oder Kampherwein. 
— Jeder, der mit Infektionskranken in 
' Berührung kommt, ist zu peinlicher 
Sauberkeit anzuhalten. 

Eine Hauptsorge gilt der Ernährung, 
welche der drohenden Konsumption ent¬ 
gegenwirkt. Der Fiebernde bedarf reicli- 
licher Flüssigkeitszufuhr; außerdem soll 
er so reichlich genährt werden, als es die 
Rücksicht auf die durch das Fieber ge¬ 
schwächten Verdauungsorgane zuläßt. 
Weil das Kauen meist erschwert ist, soll 
die Nahrung vorwiegend flüssig oder 
breiig sein und, um den Magen nicht zu 
überlasten, in kleinen Portionen in regel- 

■^) Isolierung ist notwendig bei Masern, Schar¬ 
lach, Diphtherie, Typhus, Genickstarre, Ruhr, 
Flecktyphus, Rotz, Pocken, Cholera; bei den drei 
letzten ist Überführung in ein Krankenhaus ge¬ 
setzlich geboten. 

Die Entleerungen sind mit Vs Kalkmilch 
zu versetzen und nach einstündigem Stehen ins 
Klosett zu schütten. Die Klosetts sind mit Lyscl- 
lösLing abzuwaschen. 





Februar Die Therapie der Gegeriwart 1920 71 


mäßigen Zwischenräumen gereicht weraen. ! objektiv zu nützen. Ein Versuch ist bei 
Man gibt Milch, eventuell gemischt mit länger'an'haltendem und hohem Fieber 
Kaffee, Kakao, Tee, auch mit Zusatz von wohl geboten, doch wird man im allge- 
«in bis zwei Teelöffel Kognak, außer- meinen damit nicht eher beginnen, ehe 
dem Mehlsuppen und Breie, am besten | nicht die -Diagnose der Infektiönskrank- 
in regelmäßigen zweistündigen Zwischen- | heit einigermaßen klar geworden ist. 
räumen in Gaben von 150 bis 200 ccm. i Man hat die Wahl zwischen innerer 
Wird Milch nicht vertragen, so ist man ! und äußerer Antipyrese. Ein inneres 
nur auf Suppen aus Hafer, Reis, Grieß,, i Fiebermittel: Pyramidon 0,3, Antipyrin 
Maizena, Tapioca usw. angewiesen, welche ' 1,0, Salipyrin 1,0, Aspirin 0,5 kann man 
eventuell durch Nährpräparate (Sana- | darreichen, wenn die Temperatur 39,5“ 
togen, Plasmon, Riba)- oder eingerührtes i erreicht oder überschreitet. Man kann 
Gelbeimahrhafter gemacht werden können,. I das Fiebermittel zwei- bis dreimal am 
Man gibt außerdem Kartoffelbrei, Grieß- } Tage reichen, doch ist die Wirkung genau 
brei, Reisbrei, weichgekochtes Ei, Apfel- | zu kontrollieren; manchmal tritt nach 
mus und pürierte Gemüse: Spinat, Blu- 1 Antipyreticis allzu starker Schweißaus- 
menkohl, Mohrrüben, desgleichen weich-j bruch, Erbrechen, manchmal Beklem- 
bereitete Mehlspeisen wie Flammeri,' j mungsgefühle, Pulsbeschleunigung, unter 
Puddingspeisen mit Fruchtsäfteri. Doch i Umständen wirklicher Kollaps ein.. Man 
kommen diese Speisen mehr bei mittel- | versucht dann wohl das Antipyreticum, zu 
hnhem beziehungsweise chronischem Fie- wechseln. Oft aber verbieten die Neben¬ 
her bei -leidlichem Appetit in Betracht. Wirkungen jede innere Antipyrese. 

Im allgemeinen ist bei hitzigem und kurz ' Die äußere Antipyrese durch kalte 
dauerndem Fieber die Sorge für die Er- , Bäder hat den Vorzug, daß sie die Or- 
nährung nicht dringend. Akut Fiebernde gane in keiner Weise schädigt, während 
werden mit Wasser, Fruchtsäften, Ci- sie gleichzeitig nicht nur die Temperatur 
tronenlimonaden, Milch und Suppe ge- herabsetzt, sondern auch das Sensorium 
nügend befriedigt. Auch bei Infektions- befreit, die Atmung vertieft, den Appetit 
krankheiten, deren längerer Verlauf vor- anregt und die Hautpflege gewährleistet, 
auszusehen ist, beginne man mit Inhalts- so daß eine Reihe zum Teil verhängnis¬ 
armer Kost und gehe erst allmählich zu voller Komplikationen verhütet wird.' 
reicherer Ernährung über. — Zur Diät Der Nachteil liegt in dem nicht überall 
gehört auch die Verordnung von Wein leicht zu beschaffenden Apparat und der 
und Kaffee, die gleichzeitig herzstärkend Notwendigkeit mehrerer geübter Pfleger, 
wirken. Bei schwer Fiebernden ist der Man setzt den Patienten in ein Bad von 
Alkohol von größtem Nutzen. Man gibt 30“ C und kühlt allmählich auf 27“ ab und 
am besten von dem alkoholreichen Wein geht allmählich auf Anfangstemperaturtn 
zwei- bis dreimal täglich ein Glas, steigt von 28“ und Endtenperaturen von 24“ 
aber bei sehr hohem Fieber und Herz- herab, ja man kann bis auf 20“ abkühlen, 
schwäche bis zu einer Flasche täglich, und Dauer des^ades 15 Minuten. Im übrigen 
berücksichtige im übrigen bei der Wahl richtet sich die Bestimmung der Tempe- 
des Getränks die persönliche Geschmacks- ratur und der Abkühlung im Einzelfalle 
richtung des Kranken. Champagner ist je nach der Wirkung. Gute Wirkung ist 
deswegen empfehlenswert, weil die Koh- Herabsetzung von 1 bis 2“ bei subjek- 
lensäure besonders belebend wirkt.— Nach tivem Wohlbefinden. Bei anhaltendem 
dem Absinken des Fiebers behält man die Widerwillen des Patienten muß man 
schonende Diät noch einige Tage bei und auf die Fortführung verzichten. Man 
geht erst allmählich zur Rekonvaleszepten- verstärkt die Wirkung des Bades durch 
diät über, welche zuerst zartes Fleisch Übergießung des Nackens mit, kalten 
(Taube, Huhn), feinen Fisch (Forelle, Wasser (15“) am Schluß des Bades. Das 
Schleie), lockeres Gebäck (Keks, Biskuit, Bad kann drei- bis viermal am Tage ge- 
Weißbrot mit Butter) darbietet und ganz geben werden. Die Bäderbehandlung 
allmählich zur Normalkost übergeht. sollte nur eingerichtet werden, wenn alle 
Antipyretische Behandlung. Die Vorbedingungen für ihre Durchführung 
Herabdrückung der Fieberhitze kommt seitens der Pflege gegeben sind; der Arzt 
in Frage, wenn dieselbe dem • Patienten j tut gut, sowohl die Bäder als auch 
Kopfschmerzen oder' allgemeine Unruhe ! namentlich den Transport dei Kranke.i 
macht oder wenn sie Benommenheit oder | zur Wanne, besonders im Anfang, zu 
Herzschwäche zu verursachen scheint. • überwachen. Mildere Antipyrese wird 
Oft vermag die Antipyrese subjektiv und I durch kurzdauernde kalte Einpackung be- 




72 


Die Therapie der Gegenwart 1920 , Februar 


wirkt, oder durch Abreiben der Körper¬ 
haut mit einem kalten Schwamme. Ver¬ 
boten ist die Bäderbehandlung bei allzu 
großer Körperschwäche, Neigung zu 
Kollaps und Blutung. 

Wichtig ist die Sorge für ausreichen¬ 
den Schlaf; an Tagen hohen Fiebers 
wirkt oft ein abends gegebenes Anti- 
pyreticum schlafbringend. Sonst gibt 
man zur Nacht eine Morphiuminjektion 
(0,01—0,02 g); Schlafmittel werden besser 
.vermieden. 

Notwendig ist ferner bei allen Fieber¬ 
kranken die Sorge für Kräftigung des 
Herzens. Dieselbe setzt ein, wenn der 
Puls frequenter und kleiner wird als der 
Temperaturhöhe entspricht. Als wirk¬ 
sam erweist sich Wein, starker Kaffee, 
vor allem die regelmäßige subcutane In¬ 
jektion von Coffein und Campher. Digi¬ 
talis ist in Infektionskrankheiten von 
geringem Effekt. In schwerster Gefahr 
bewährt sich oft Adrenalin, stündlich 
1 ccm der l7oo“^ösung subcutan. Intra¬ 
venöse Adrenalininjektion ist sehr ge¬ 
fährlich. 

Große Aufmerksamkeit verdient die 
Behandlung der Delirien. Bei beginnen¬ 
der Unruhe sorge man für zuverlässige 
Bewachung; wegen der Gefahr plötzlichen 
Herausspringens sind die unteren Fenster ge¬ 
schlossen zu halten. Ausbrechende Delirien 
suche man durch einmalige Morphium¬ 
injektion (0,02 g) und wiederholte zwei¬ 


stündliche Gaben von 0,5 g Veronal zu 
unterdrücken. Bei den schweren Delirien 
kräftiger Potatoren gibt man 0,02 Morphium 
mit 5 Decimilligramm Scopolamin; oft ist, 
trotzdem Fesselung des tobenden Patienten 
nicht zu vermeiden. Auch nach Aufhören 
des Fiebers bleibt der Kranke in ärzt¬ 
licher Obhut bis zum Abschluß der Re¬ 
konvaleszenz. Bettruhe ist beizu¬ 
behalten, bis die Körperkräfte sich einiger¬ 
maßen erholt haben. Im allgemeinen 
soll der Rekonvaleszent für jeden durch¬ 
gemachten Fiebertag einen Tag im Bett 
bleiben. Nach schwerer Krankheit, ins¬ 
besondere bei zurückbleibender Tachy¬ 
kardie, kann sich die Bettzeit verlängern. 
Wichtig ist die Sorge für das psychische 
Gleichgewicht des Rekonvaleszenten, wel¬ 
ches durch Überschwänglichkeiten, auch 
wohl durch melancholische Anwandlungen 
gestört sein kann. Vernünftiger Zuspruch 
und Überwachung halten vor schädlicher 
Unbedachtheit zurück. Das erste Auf¬ 
stehen soll keineswegs beeHt werden; der 
Rekonvaleszent bleibt eine Stunde im Stuhl 
sitzen und wird vorsichtig überwacht 
wegen der Gefahr der Herzschwäche.' Von 
Tag zu Tag wird die Zeit außer Bett ver¬ 
längert, nach einigen Tagen der erste 
Rundgang im Zimmer gemacht. Mit dem 
ersten Ausgang ist die Rekonvaleszenz 
beendet; wenn möglich, schließt sich ein 
mehrwöchiger Erholungsurlaub in bergiger 
oder waldiger Gegend an. 


Zusammenfassende Übersicht. 

Ans dem Knappscliaftskrankeiilians zu Emanuelsegen. 

Über einige praktisch wichtige Kapitel der chirurgischen 

Tuberkulose. 

Von Dr. H. Harttung, leitender Arzt. (Schluß) 


Im laufenden Jahre hatte ich Gelegen¬ 
heit, zwei Fälle von isolierter Tuberkulose 
der Dornfortsätze zu beobachten, von 
denen der eine geheilt, der andere auf 
dem Wege der Besserung, noch in Be¬ 
handlung steht. 

Die Literatur über die Caries der 
Dornfortsätze ist außerordentlich spär¬ 
lich und ebenso wird in den Lehrbüchern 
nur mit einer flüchtigen Bemerkung dar¬ 
über hinweggegangen, zweifellos aus dem 
Grunde, weil die Erkrankung ebenso 
wie die Tuberkulose des Schlüsselbeins 
zu den Seltenheiten gerechnet werden 
muß. 

Daß die Caries der Dornfortsätze 
von einer solchen der Wirbelkörper ihren 


Ausgang nehmen kann, liegt auf der 
Hand. 

Der Prozeß greift dann zunächst auf 
die hinteren Bögen über, um die Dorn¬ 
fortsätze zu infizieren, aber auch solcher 
Modus gehört zu den Seltenheiten, denn 
der Verlauf einer Wirbelcaries ist ein 
ganz anderer, es dürfte zu weit führen, 
wollte ich näher auf diese eingehen. ' 

Die Processi spinosi gehören zu den 
kurzen, spongiosareichen Knochen; die 
spongiöse Knochensubstanz wird durch 
die fortschreitende granulierende Ent¬ 
zündung mehr und mehr aufgezehrt, der 
Eiter bricht durch den Knochen durch 
und bahnt sich unter Zerstörung der 
Weichteile seinen Weg unter der Haut. 




Februar Die Therapie der 


Zu einem Senkun'gsabsceß kann es auch 
hier unter der starken Rückenfascie 
kommen, wenn sich auch der kalte Absceß 
meist direkt über den erkrankten Processus 
spinosus entwickelt. Nach meiner Er¬ 
fahrung werden die oberen Dornfortsätze 
der Brustwirbel mit Vorliebe von der 
Tuberkulose ergriffen und auch in den 
beiden in , Emanuelssegen bepbachteten ' 
Fällen hat es sich um diese Lokalisation 
gehandelt. 

Die Infektion erfolgt auf dem Blut¬ 
wege, und ob. das Trauma für. das Zu¬ 
standekommen der Infektion eine beson¬ 
dere Rolle spielt, möchte‘ich dahingestellt 
sein lassen. In meinen beiden Fällen 
ist von einem Trauma nichts zu eruieren 
gewesen. 

Der Prozeß kann nunmehr auf die 
Dornfortsätze isoliert bleiben, dann bricht 
der Eiter gewöhnlich, nachdem das Sta¬ 
dium des kalten Abscesses überwunden 
ist, nach außen durch, und so kommt es 
zur Bildung der Fistel. Andererseits 
kann die Caries auf die hinteren Bögen 
übergreifen und Häute des Rückenmarks 
werden in Mitleidenschaft gezogen. Hier 
spielt das tuberkulöse Granulationsge¬ 
webe eine Rolle, das sich wie eine Schwiele 
auf die Dura lagert und eine Kompression 
»des Markes fhit all ihren Folgen verursacht. 

Zum anderen kann sich auch die Dura 
an dem specifischen Prozeß beteiligen 
und zwar in Gestalt einer Pachymenin- 
gitis tuberculosa externa. 

Die Dura ist außerordentlich wider¬ 
standsfähig, und es gehört zu den größten 
Seltenheiten, wenn der tuberkulöse Pro¬ 
zeß auf die weichen Rückenmarkshäute 
übergreift. Durch den Eiter wie das 
tuberkulöse Granulationsgewebe wird ein 
Druck auf die Dura ausgeübt, diese wird 
vom Knochen abgedrängt und eine Kom¬ 
pressionsmyelitis ist die Folge. 

Was die klinischen Symptome der 
isolierten Dornfortsätze anbelangt, so 
sind es zunächst Schmerzen auf Druck, 
die auf das beginnende Leiden hinweisen. 

Der Verlauf kann bis zum Hervor¬ 
treten eines kalten Abscesses ein sehr 
langsamer und schleichender sein, und 
zweifellos kommen anfangs differential¬ 
diagnostisch rheumatoide Erkrankungen 
der Rückenmuskeln in Frage. 

Die Haltung, der Wirbelsäule bleibt 
unverändert, und gerade diese Tatsache 
ist gegenüber der Wirbelcaries in erster 
Linie zu verwerten. Ist es zur Bildung 
eines kalten Absceses oder einer Fistel 
gekommen, so werden diese in erster 


Gegenwart 1920 73 


Linie den Verdacht auf eine Caries der 
Dornfortsätze erwecken. 

Stauchungsschmerz läßt sich meist 
nachw.eisen, er wird aber mit‘Bestimmt¬ 
heit. auf die erkrankte Partie der Dorn¬ 
fortsätze verlegt. 

Die Behandlung der Caries des Processus 
spinosus kann nur eine operative sein. Die 
Prognose der isolierten Caries ist zweifel¬ 
los eine günstige, wenn sie nicht durch . 
ein anderes Grundleiden, getrübt wird. 
Sind bereits die Wirbelbögen erkrankt; 
dann muß außer der Resektion der Dorn¬ 
fortsätze auch noch die. Laminektomie 
hinzugefügt werden, Eingriffe, die sich 
ausgezeichnet in regionärer Anästhesie 
ausführen lassen. Differentialdiagnostisch 
ist weiterhin an ein Neoplasma zu denken, 
zum anderen aber an die Lues, die eben 
kein Organ, keinen Knochen verschont. 
Es muß aber betont werden, daß sowohl 
die Lues, wie. eine Neubildung der Dorn¬ 
fortsätze zu den größten Seltenheiten 
gehört. 

Die Krankengeschichten meiner beiden 
Fälle sind folgende: 

'1. Fall: A. B., 43 Jahre alt. Aufgenommen: 
7. August 1918, entlassen: 14. September 1918. 

Stets gesund gewesen. Keine Tuberkulose in 
der Familie. Vor vier Monaten bemerkte Patient 
eine „Beule“ zwischen den Schulterblättern, 
welche aufging und reichlich Eiter entleerte. 
Beginn des Leidens mit Schmerzen, die sich 
namentlich beim Tragen schwerer Lasten ein¬ 
stellten. 

Nach Perfpration des Eiters Nachlassen des 
Spannungsgefühls. 

Befund: Kräftiger Mann in gutem Ernäh¬ 
rungszustände. Herz und Lungen ohne jeden 
nachweisbaren Befund. 

Urin: Eiweiß —, Zucker —, keine Zeichen 
ejner Lues. 

Über dem vierten Brustwirbeldornfortsatz 
eine einpfennigstückgroße Perforation, etwas seit¬ 
lich von cier Medianlinie gelegen. Ein Fistelgang 
führt irf die Tiefe. 

Röntgenbild: Wirbelkörper vollkommen in- ’ 
takt, keine Kyphose nachzuweisen. 

16. August: Operation in Lokalanästhesie. 
Spaltung der Fistel, Freilegung des Herdes, der 
vierte Dornfortsatz vollkomriien zerstört, die 
beiden benachbarten intakt. Auskratzung sämt¬ 
licher käsiger Massen, der hintere Bogen des 
vierten Dornfortsatzes ebenfalls intakt. 

Breite Tamponade. Verlauf sehr günstig. 
Nachbehandlung nüt Höhensonne. Am 14. Sep- 
Tember geheilt ohne Fistel entlassen. 

Mikroskopische Untersuchung: Tuber¬ 
kulose. 

2. Fall: J. M., 19 Jahre alt. Aufgenommen: 
29. März 1919, noch in Behandlung. 

Diagnose: Caries der Dornfortsätze. Keine 
Tuberkulose in der Familie. Selbst stets gesund 
gewesen. Vor .einem Jahre Schmerzen zwischen 
den Schulterblättern, die hier lokalisiert blieben 
und ein halbes Jahr lang anhielten. 

Dann Aussetzen der Schmerzen, die im Fe¬ 
bruar 1919 wieder erneut auftraten. 


10 



74 


Die Therapie der Gegenwart 1'920 


Februai 


Seit acht Tagen Schwäche in den Beinen, die 
seit einigen Tagen in völlige Lähmung über¬ 
gegangen ist. Blasen-Mastdarmlähmung. 

Befund; Schmächtig gebauter Jüngling ln 
mittlerem Ernährungszustände. Gesichtsfarbe 
blaß, ebenso die sichtbaren Schleimhäute] Tem¬ 
peratur 38,2, Puis 80. Herz: ohne Befund. Lun¬ 
gen: rechts hinten verschärftes Atmen, sonst kein 
Befund. Urin mit Katheter entnommen: frei von 
Eiweiß und Zucker. Die Gegend des dritten und 
vierten Dbrnfortsatzes vorgewöfbt, starke Druck¬ 
empfindlichkeit, undeutliche Fluktuation, spasti¬ 
sche Lähmung der unteren Extremitäten, Reflexe 
stark gesteigert. Babinski beiderseits positiv. 

Diagnose: Caries der Dornfortsätze wie der 
hinteren Bögen mit beginnender Kompressions¬ 
myelitis. 

Zunächst Lagerung des Patienten auf Planum 
reclinatum und Extensionsverband. Operation 
in Aussicht genommen. 

4. April: Die Urinentleerung stellte sich spontan 
wieder ein und bleibt bis heute erhalten. Im 
weiteren Verlauf Zunahme der Spasmen, daher 
am 23. April Operation in regionärer Anästhesie, 
verbunden mit Äthernarkose. Längsschnitt vom 
zweiten Dornfortsatze bis zum sechsten; der vierte 
Dornfortsatz vollkornmen zerstört, ebenso der zu¬ 
gehörige Wirbelbogen. Caries hat bereits auf den 
fünften und sechsten Dornfortsatz libergegriffen, 
daher Resektion derselben. Die- zugehörigen 
Bögen intakt. 

Freilegung der Dura im Bereiche des vierten 
Dornfortsatzes; auf der Dura lagert eine fast 1 cm 
dicke plastische Granulationsschicht, welche mit 
der Dura zarte Verwachsungen zeigte. Entfer¬ 
nung des Granulationsgewebes ohne Schwierig¬ 
keiten; ein Herd nach vorne konnte nicht mehr 
entdeckt werden. Die lange Rückenmuskulatur 
zu beiden Seiten ebenfalls teilweise tuberkulös 
zerstört. 

Auskratzung, einige Situationsnähte, Tam¬ 
ponade. 

15. August; Die Wunde ist seit Wochen voll¬ 
kommen geschlossen. Immer noch starke Spasmen 
in den unteren Extremitäten, namentlich der 
Adductoren. Bewegung wesentlich gebessert. 
Beine können aktiv gehoben werden, dagegen 
immer noch Incontinentia alvi. Blasenfunktion 
normal, Resektion der Nervi obturatorii in Aussicht' 
genommen. 

Bei der Behandlung der chirurgischen 
Tuberkulose haben wir nicht allein dem 
lokalen Knochen- oder Gelenkherd unsere 
Aufmerksamkeit zu widmen, sondern wir 
müssen auch auf die Allgemeinbehand¬ 
lung großen Wert legen. Denn gerade 
durch diese werden wir einen dauernden 
Erfolg erzielen können, wenn wir den 
Organismus befähigen, genügend Schutz¬ 
stoffe gegen das tuberkulöse Virus zu 
bilden. 

Was zunächst die medikamentöse Be¬ 
handlung anbelangt, die wir auch bei 
der chirurgischen Tuberkulose mit Erfolg 
anwenden, so steht hier im Vordergründe 
das Jod. Bier hat dasselbe.warm emp¬ 
fohlen, so daß es nunmehr als Allgemein¬ 
gut der Chirurgen gelten kann. Wir 
geben es mit Vorliebe mit Eisen und 


Arsen zusammen, wie es an der Gras er¬ 
sehen Klinik vornehmlich bei der Drüsen¬ 
tuberkulose mit Erfolg geübt wurde. Die 
Zusammensetzung ist folgende: 


Kalii jodati 10,0 

Kalii arsenicosi 10,0 

Liquor ferri alhum, 100,0 

Aqua destillata 300,0 


. S. dreimal täglich einen Eßlöffel. 

Einmal hat dieses Medikament zweifel¬ 
los einen guten Einfluß auf den Allge¬ 
meinzustand, zum anderen wird aber auch 
die Resorption Dank des Jods beschleu¬ 
nigt. Wir haben es in einigen Fällen 
monatelang angewendet, ohne daß etwa 
Nebenerscheinungen von seiten des Jods* 
sich gezeigt hätten. ^ ■ 

Bei den isolierten Formen der 
Knochen- und Gelenktuberkulose fehlt 
meist das Fieber. Ist dieses trotzdem 
vorhanden, so^dürfte dies ein Beweis dafür 
sein, daß im Körper noch ein anderer flo- 
rider Herd manifest ist, namentlich in. 
der Lunge. Wenn auch das Fieber als. 
eine natürliche Abwehrmaßregel des Kör¬ 
pers aufzufassen ist, so wird doch der 
Organismus mit der Zeit geschwächt. In 
solchen Fällen empfiehlt es sich, dem 
Patienten kleine Dosen von Aspirin oder 
Pyramidon zu verabreichen. Weiterhin 
sind Schmierkuren mit lO^/oiger Jod-'*‘ 
thionsalbe zu empfehlen außer den be¬ 
reits lokalen Injektionen von Jodoform¬ 
glycerin; • durch dieses wird eine starke, 
Lymphocytose hervorgerufen \ind der 
Abbau des tuberkulösen Gewebes be¬ 
schleunigt. 

Das Tuberkulin ist zur Behandlung bei chirur¬ 
gischer Tuberkulose in den Hintergrund gerückt. 
Mir selbst stehen hierüber aus meinem Material 
keine Erfahrungen zur Verfügung. 

Röpke und Bandelier reden dem Alt- 
Tuberkulin Kochs in ihrem großen Lehrbuche 
warm das Wort, aber eben nur zur Behandlung 
der Lungentuberkulose. 

Hier möchte ich noch kurz auf eine im Ausbau 
befindliche Behandlung der Tuberkulose eingeheiiy 
die von Deyke und Much inauguriert ist: die 
Behandlung mit Partialantigenen. 

Das tuberkulöse Virus wirkt 'im infizierten 
Organismus als Antigen und ruft als solches 
Schutzkörper, die Antikörper, hervor. Die ge¬ 
nannten Autoren haben nun festgestellt, daß 
dieses tuberkulöse Virus aus mehreren Teil¬ 
substanzen sich zusammensetzt, den Partial¬ 
antigenen, welche wiederum aus einem Eiwei߬ 
körper und Fettsubstanzen bestehen. Hieraus 
ergibt sich weiter, daß jedes dieser Partialantigene 
besondere Partialantikörper bildet und daß ein 
Antikörper nicht allein imstande ist, die Infektion 
mit genügender Sicherheit zu bekämpfen. Dazu 
bedarf es der Summe aller Partialantikörper. 
Deyke und Much sind daran gegangen, den 
Tuberkelbacillus aufzuschließen, und so haben sie 
nach bestimmtem Verfahren Partialantigene her- 



Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


75 


gestellt, welche den Handelsnamen A. T. und 
N. tragen. Die Ansichten über die Erfolge 
gehen auseinander und ?s hat den Anschein, als 
ob nach den bisherigen Erfahrungen ein-beson¬ 
derer Fortschritt in der Behandlung der Tuber¬ 
kulose nicht erzielt-ist. Jedenfalls ist die ganze 
Frage noch im Fluß und^bedarf noch weiterer 
Forschungen, Prüfungen und Erfahrungen. 

Neuerdings sind von mehreren Autoren die 
Resultate mitgeteilt, die mit dem Friedmann- 
schen Tuberkulosemittel nach einer Beobachtung 
von vier Jahren gemacht sind. Friedmann hat 
im Jahre 1906 den Schildkrötentuberkelbacillus 
entdeckt und hat mit diesem nach zahlreichen 
Versuchen eine Emulsion hergestellt, die nun zur 
Immunisierung der Tuberkulose, namentlich der 
chirurgischen Tuberkulose, benutzt wird. Zur 
Verwendung kommt hier eine lebende, dem Kalt¬ 
blüter entstammende Kultur, welche aber für den 
Menschen und den Warmblüter ungefährlich ist. 
Der Schildkrötenbacihus. steht'dem menschlichen' 
sehr ähnlich. Durch die subcutäne Einverleibung 
dieser Emulsion (bis 0,3 ccm) wird in dem kranken 
Organismus eine lokale Affektion hervorgerufen, 
welche die Neigung zu fortschreitender Rück¬ 
bildung zeigt. Es tritt hierbei eine erbsen- bis 
walnußgroße Infiltration auf, welche aber nach 
Wochen und Monaten zur völligen Resorption 
kommt. Die eingespritzten Bacillen sind am Orte 
der Injektion noch nach vielen Monaten nach¬ 
weisbar, sie regen daher ständig zur Antikörper¬ 
bildung an. Die Berichte über die bisher gemach¬ 
ten Erfahrungen klingen durchaus günstig, wenn 
-auch nicht verschwiegen werden darf, daß auch 
andere Autoren sehr skeptisch über den Wert der 
Impftüig nach Friedmann geworden sind. 
Interessant ist nach dieser Richtung hin die 
Mitteilung von Strauch und Pingel. Hier hat 
es sich um drei ernste Knochentuberkulosen ge¬ 
handelt, die Fried mann als zu schwer erkrankt 
von der Behandlung ausschloß. Alle drei Fälle 
sind unter entsprechender Krankenhausbehand¬ 
lung zur Heilung gekommen, darunter eine 
Coxitis, bei welcher nur eine Fistel zurückblieb. 
Einstimmig sind die Autoren darin, daß die 
Friedmannimpfung in erster Linie für frische 
Fälle geeignet ist und daß namentlich frühe tuber¬ 
kulöse Gelenkerkrankungen sehr gute Erfolge ver¬ 
sprechen. — Auszuschließen von der Impfung sind 
diejenigen Kranken, .deren Kräftezustand eine 
aktive Immunisierung nicht zu leisten vermag, 
also disseminierte Organtuberkulosen, multiple 
schwere Eiterungen der Knochen und Gcicnke, 
Miliartuberkulosen. Besteht bei chirurgischen 
Tuberkulosen der Verdacht auf Lungentuber¬ 
kulose, dann dürfem nur schwächste Dosen zur 
Anwendung'kommen, und ebenso ist es erforder¬ 
lich, nach operativen Eingriffen vier bis sechs 
Wochen mit der Impfung zu warten. 

Die Röntgenstrahlen werden ebenfalls zur 
Behandlung der Knochen- und Gelenktuberkulose 
angewendet und zwar mit gutem Erfolge. Mit der 
Tiefenbestrahlung, z. B. bei Fisteln, hat es auch 
hier seine Schwierigkeiten, die aber zweifellos 
überwunden werden können. Es ist zuzugeben, 
daß auch Fisteln bei Röntgenbestrahlung zur 
Ausheilung kommen, aber nur dann, wenn es sich 
um die granulierende Form der Tuberkulose, nicht 
um den tuberkulösen Sequester,gehandelt hat. 

Außer den Röntgenstrahlen ist die künstliche 
Höhensonne allgemein in die Therapie und speziell 
in die der Tuberkulose eingeführt worden und 
leistet zweifellos bei richtiger Anwendung und 
strenger Kritik Gutes. Die natürliche Sonne kann 
in unseren Ebenen nicht die intensive Kraft wie 


im Hochgebirge entfalten; durch den Dunstkreis\ 
werden viele Strahlen, namentlich die ultra¬ 
violetten, absorbiert und gerade die sind es, welche 
einmal die größte Energie in der Hautoberfläche . 
abgeben, zum anderen aber auch therapeutisch 
am meisten wirken. Die an ultravioletten Strahlen 
reichste Quelle ist die Quarzlampe, die wir in 
Gestalt der künstlichen Höhensonne benutzen. 
Das tuberkulöse Gewebe ist besonders empfind¬ 
lich gegen die .ultravioletten Strahlen. Es ant¬ 
wortet unter Umständen mit einer entzündlichen 
Reaktion, die sich in starker Hyperämie und 
seröser Exsudation kundgibt und zweifellos einen 
Heilungsfortschritt bedeutet. Interessant sind 
nach dieser Richtung hin die Beobachtungen von 
Jesionek. Er machte an Kranken, die einer 
Allgemeinbestrahlung von Höhensonne unter- . 
worfen wurden, die Beobachtung, daß stärkere . 
Reaktionen an tuberkulösen Herden auftraten, an 
Gelenken, Lupusherden, Fisteln, die stärker ab- 
zusondern begannen. Eine Erklärung für diese 
Tatsache findet man darin, daß die basalen Zellen 
der Epidermis das Licht zunächst absorbieren 
und daß hier Pigmentbildung entsteht; je mehr 
die Pigmentbildung, um so besser für den Patien¬ 
ten, um so günstiger die Prognose. Bei inten¬ 
siverer Bestrahlung nehmen auch die Retezellen 
das Licht auf und die so in die Haut aufgespei¬ 
cherte Energiemenge muß nunmehr in Kraft um¬ 
gesetzt werden. Das geschieht durch Vermittlung 
der roten Blutkörperchen, welche das im Über¬ 
schüsse gebildete Pigment in gelöstem Zustande 
dem Organismus zuführen und so ständig an den 
kranken Herd Stoffe bringen, welche die Heilung 
fördern. So wird es verständlich, wenn auch bei 
Allgemeinbestrahlungen eine stärkere Reaktion 
des lokalen Herdes zu beobachten ist. Es ist 
weiterhin durch zahlreiche Versuche nachgewie¬ 
sen, daß durch das Licht der Stoffwechsel der 
Zellen angeregt wird. Ein beschleunigter Eiwei߬ 
zerfall setzt ein, Antikörper werden gebildet, die 
den Organismus befähigen, Bakteriengifte zu 
neutralisieren. 

Die Bestrahlungen mit der künstlichen Höhen¬ 
sonne zerfallen, wie schon hervorgehoben, einmal 
in allgemeine, zum anderen in lokale. Man ist 
mehr und mehr zu den Allgemeinbestrahlungen 
übergegangen, und doch möchte ich die lokalen 
nicht missen. Hier möchte ich bemerken, daß 
es nach meinen Erfahrungen zweckmäßig er¬ 
scheint, die allgemeinen Bestrahlungen mit den 
lokalen bei tuberkulösen Prozessen zu kombi¬ 
nieren. Ich kann auf die Technik nicht näher 
eingehen, erwähne nur, daß bei der Insolation der 
Allgemeinzustand sich hebt, der Appetit ein 
besserer wird, der Hämoglobingehalt steigt; alles 
Wirkungen, die nun wiederum den Organismus 
befähigen, Schutzstoffe zu mobilisieren und den 
kranken Herd erfolgreich zu bekämpfen. 

Zum Schlüsse möchte ich noch kurz 
auf die wunderbaren Erfolge hinweisen, 
die Rollier in Walliers mit alleiniger 
Bestrahlung mit natürlichem Sonnen¬ 
licht erzielt hat. Rollier hat jeden 
‘operativen Eingriff unterlassen und hat 
trotzdem, wenn auch erst nach Jahren, 
die schwersten Knochen- und Gelenk¬ 
tuberkulosen zur, Ausheilung gebracht. 
Er unterwirft nicht nur den erkrankten 
Körperteil, sondern den ganzen Körper 
einer Bestrahlung und geht etwa in der 

10* 



Februar 


76 Die Therapie der Gegenwart 1920 


'Weise vor, daß er anfangs nur die Füße 
vier Minuten mit Unterbrechungen am 
Tage mehrmals bestrahlt. Dann werden 
am zweiten Tage die Unterschenkel der 
Insolation ausgesetzt, um am dritten Tage 
das Gebiet auf die Oberschenkel zu er¬ 
weitern. In dieser Weise wird allmählich 
zur Allgemeinbestrahlung übergegangen, 
und wenn erst eine Pigmentbildung in 
der^Haut eingesetzt hat, so ertragen die 
Patienten eine Bestrahlung von vier bis 
sechs Stunden ohne weiteres. 

Um Ihnen ein Urteil über die-Erfolge 
Rolliers zu geben, erwähne ich nur, 
daß es ihm gelungen ist, 87 Tuberkulosen 
des Fußgelenks mit normaler Beweglich¬ 
keit zur' Ausheilung zu bringen. Aber 
solche Erfolge können eben nur im Hoch¬ 
gebirgsklima gezeitigt werden, in unseren 
klimatischen Verhältnissen müssen wir 
bescheidener sein und die Besonnung 


als unterstützende Maßnahme in die 
Therapie hineinbeziehen. 

Meine ^Herren! Ich hoffe dargetan 
zu haben, daß mit gutem Erfolge die 
Tuberkulose angegriffen werden kann, 
wenn man sich all der vielen Heilmittel 
bewußt ist und diese in geeigneter Weise 
auf den einzelnen Fall anwendet. Zweifel¬ 
los steht die lokale Behandlung der 
Krankheit im Vordergründe, die Allge¬ 
meinbehandlung darf aber in keinem 
schwereren Falle vernachlässigt werden. 
Sie kann aber nur mit Erfolg durchge¬ 
führt werden, wenii dem 'Organismus 
quantitativ und qualitativ genügend Nah¬ 
rung zugeführt wird. Hoffen wir, daß 
dies bald wieder der Fäll ist, dann werden 
auch wir Ärzte mit unserer Kunst die 
hohe Sterblichkeit der tuberkulösen Er¬ 
krankungen herabsetzen und damit unse¬ 
rem Volke zu neuem Leben verhelfen. 


Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen. 

Zweite öffentliche Versammlung der ärztlichen Gesellschaft für 
Mechanotherapie Berlin, 20. Januar 1920. 


In dem folgenden Bericht wird nur 
der Inhalt der therapeutisch wichtigen 
Vorträge wiedergegeben. 

B'. Kirchberg (Berlin): Atmungs¬ 
gymnastik und Atmungstherapie. 

Indikationen: 1. Prophylaktisch, 
z. B. als Teil der Körpergymnastik in den 
Schulen unter schulärztlicher Kontrolle 
(Chorsingen in Konzerten durchaus schäd¬ 
lich!), 2. bei Rekonvaleszenten, insbeson¬ 
dere auch bei Liegekuren — günstige 
Allgemeinwirkung auf Kreislauf und Stoff¬ 
wechsel, 3. Brustdeformitäten, 4. bei 
chronischer Bronchitis in Verbindung mit 
Brust- und Bauchmassage — Wirkung: 
starke Expektoration, 5. Rachitis, — 
6. Starrheit des Thorax (in Verbindung 
mit Kompression), 7. Asthma (psychische 
Nebenwirkung), oft Erfolg nach vielen 
vergeblichen anderen Kuren, 8. Alters-' 
emphysem (allgemeine Gymnastik und 
Massage), 9. Herzkrankheiten, 10. Kon¬ 
stitutionsanomalien. 

Anwendung erfolgt im allgemeinen 
in Verbindung mit den übrigen mediko- 
mechanischen Heilmethoden in folgender ’ 
Skala: Massage, passive Teilübungen, 
aktive Teilübungen, Atemübungen, Be¬ 
wegung, Sport. 

Technische Ausführung ist genau 
vom Arzte anzugeben und zu dosieren. 
Fünf Stadien der Dosierung: 1. Vertiefung 


und Verlangsamung der Atmung (neben¬ 
bei als gutes Schlafmittel. angewandt), 
2. Verstärkte Einatmung a) im Liegen, 
b) Sitzen, c) Stehen und d). mit Übungen 
• verbunden (besondere Indikation bei Kon¬ 
stitutionsanomalien, Herz- und Brust¬ 
schwäche), 3. verstärkte Ein- und Aus¬ 
atmung (a—d) wie vorher, 4. Halten 
der Einatmung, später mit Beteiligung 
der Bauchmuskeln (aktives Einziehen und 
Vorstoßen nachVerordnung), besonders in¬ 
diziert bei Herz-, Leberleiden, Emphysem, 
Obstipation, 5. Kombinierte Übungen bei 
Unterdrück (Saugmaske). Hierzu kommen 
noch Übungen der Atemmuskeln ohne 
Atmung usw. 

Vorsicht und sorgfältige Überwachung 
bei Tuberkulose. Im allgemeinen wird 
14 Tage bis vier Wochen wöchentlich 
zwei bis drei Stunden nach Anleitung ge¬ 
übt. Vorführung atmungtherapeutischer 
Übungen. 

Theoretisches. Heilwirkung weni¬ 
ger durch vermehrte, Sauerstoffeinnahme, 
als durch außerordentliche Einwirkung 
auf Kreislauf und Stoffwechsel. 

Dr. Guradze (Wiesbaden): Chroni¬ 
sche Rheumatismen und Mechanotherapie. 

Auf Grund der Heilnerschen Theorie 
des mangelnden Gewebsschatzes bei den 
humoralpathologischen, den primär und 
sekundär chronischen Rheumatismen und 



Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


77 


der Arthritis deformans hat Redner drei 
Fälle mit Sanarthrit^) behandelt. 

Fall 1: Chronischer progressiver Gelenkrheu¬ 
matismus. Finger, Hände, Schulter, Ellbogen, 
Füße, Knie in Contractur. Sechs Injektionen, vier 
starke Reaktionen. Weitgehender Erfolg bei 
gleichzeitiger, vorher vergeblicher mediko-mecha- 
nischer Behandlung. 

Fall 2: Monartikulärer Schulterrheumatismus. 
Eine Injektion mit starker Reaktion. Erfolg. 

Fall 3: Chronischer Rheumatimus der Hände 
und Hüften. Sechs Spritzen; anfänglich kein, 
nach zwei bis drei Monaten sichtlicher Erfolg, 
wegen der starken Allgemeinwirkung sollte 
Sanarthrit nur klinisch gespritzt werden. 

In der Diskussion führte Lubinus (Kiel) sieben 
weitere Sanarthritfälle mit gutem Erfolg an. Eine 
61jährige Frau war seit einem halben Jahre bett¬ 
lägerig mit äußerst schmerzhaften Contractionen 
. Sechs Einspritzungen. Keine große Reaktion 
(Temperatur 38—38,2®). Patientin kann heute 
an einem Stocke gehen. 

Vorsicht mit der Indikationsstellung bei 
Vitium wegen Kollaps. 

Laqueur (Berlin) berichtet über Mißerfolge 
mit Urtiarsyl (zwei Fälle), Michaelis (Leipzig) 
über einen Scheinerfolg mit Cholinchlorid, der 
nach Aufhören der gleichzeitigen Wärmeappli¬ 
kationen wieder verschwand. Fibrolysin wird 
ebenfalls abgelehnt. 

Von allen Seiten wurde sodann zu¬ 
gunsten des Brisement force in Form des 
,, Etappenbrisement“ gesprochen mit 
nachfolgendem Gipsverband und Wieder¬ 
holung nach einigen Tagen. 

Hertzeil (Bremen) konnte ein in 90®- 
Contractur befindliches Kniegelenk mit 
Etappenbrisement ohne Narkose korri¬ 
gieren und empfiehlt dies zur Vermeidung 
von Ergüssen. Kirsch (Magdeburg) emp¬ 
fiehlt es besonders als abkürzendes Ver¬ 
fahren bei Schultercontracturen auf funk¬ 
tioneller Grundlage. Bei lokalen Ver¬ 
klebungen der Gelenksflächen dürfen die 
Verklebungsstellen nach dem Brisement 
während der nachfolgenden Ruhigstellung 
nicht miteinander in Berührung bleiben, 
damit sie nicht sofort wieder verkleben 
(Schütz-Berlin). Statt des intermedi¬ 
ären Gipsverbandes empfiehlt Guradze 
einen Jutefließverband. 

Stein (Wiesbaden): Gelenkbehand¬ 
lung mit Kreuzfeuer-Diathermie. 

Bessere Ausnutzung der Diathermie 
wird erreicht durch Benutzung von Neben¬ 
apparaten: Stromverteilern oder Verteiler¬ 
widerständen. Die Anzahl der Anschlüsse 
wird dadurch vermehrt bei gleichbleiben¬ 
der Stromquelle. Es-können dann gleich- 

^) Vor kurzem hat Rein hart aus der Kieler 
Klinik berichtet, daß Sanarthrit in 22% chronisch 
rheumatischen Fällen wesentlich, in 48®/o nur 
vorübergehend, in 30% nicht genützt hat. 
Ein Bericht'über SanarthVit aus dem Kranken¬ 
haus Moabit wird im nächsten Heft dieser Zeit¬ 
schrift erscheinen. 


zeitig mehrere sich kreuzweise schneidende 
Strombahnen ohne gefährliche Summa¬ 
tion auf ein Gelenk angesetzt werden 
(Diathermiekreuzfeuermethöde). 

Die technischen Schwierigkeiten der 
Apparatur (schädliche Unterbrechungs¬ 
schläge) sind durch eine rotierende Unter¬ 
brechungsvorrichtung im sekundären 
Strom vermieden. Experimentelle Prü¬ 
fung ergab 25% mehr Wärme. Apparate 
zu haben bei Gesellschaft Sanitas. — 
Indikationen wie bisher. 

Böhm (Berlin): Nachbehandlung der 
Kriegsverletzten. 

. Therapeutische Besonderheiten aus dem 
orthopädischen Lazarett Schloß Char¬ 
lottenburg. Korrektur von Contracturen 
durch portative Dauerzugverbände nach 
Hoeftmann. Behandlung von Pseud- 
arthrosen mit Bewegungsreiz zur Anre¬ 
gung der Knochenbildung durch lokalen 
Gewebsreiz und bessere Durchblutung 
(besonders bei Fisteln), Zuggipsverband 
statt Nagelextension (größere Belastung 
möglich), Vorführung von Prothesen: 
zweiachsig beweglicher Hüftkorb bei 
kurzen Oberschenkelstümpfen ermöglicht 
Bewegungen des Stumpfes nach allen 
Richtungen, ohne daß der Stumpf in der 
Manschette auf- und abgleitet. Infolge¬ 
dessen bei richtig konstruierten Gelenk¬ 
achsen glänzender Prothesensitz. Vor¬ 
führung eines Patienten mit ungewöhnlich 
gutem Gang und ausgezeichneter Stumpf¬ 
ausnutzung auf Grund besagter Vorrich¬ 
tung. Bei kurzen Unterarmstümpfen Be¬ 
nutzung der Bicepscontraction zur Be¬ 
wegung der Kunsthand, indem der Biceps 
durch eine Pelotte seitswärts gedrückt 
wird und diese bei seiner Anspannung mit 
erheblicher Kraft bewegt. 

Blumenthal (Berlin), Mechano- 
therapie der Amputierten. Der Vortragende 
gibt eine Anzahl portativer Übungs¬ 
apparate an, die dauernd vom Patienten 
getragen werden — im wesentlichen 
Achsenverlängerung des Stumpfes mit 
Belastung am Ende — und eine fort¬ 
währende Stumpfbewegung und -anstren- 
gung mit sich bringen. Für Oberarm¬ 
stümpfe wird auch besonders Pendeln des 
in den Schultern hängenden Körpers bei 
fixierten Oberarmen empfohlen. Pessimis¬ 
mus der Patienten ist durch Zusammen¬ 
schluß der Verstümmelten zu sportlichen 
Zwecken zu lindern. 

Laqueur (Berlin): Grenzen der Lei¬ 
stungsfähigkeit der künstlichen Höhen¬ 
sonne. 




78 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Februar 


Die Wirkungsweise der . Höhensonne 
ist theoretisch noch umstritten. Nach 
Hoff mann ist die Haut der Hauptbildner 
der Immunstoffe des Körpers, daher die 
Allgemeinwirkung. Eine lokale Wirkung 
wäre demnach unbedeutend. Infolge¬ 
dessen sei die Hauptindikation für die 
künstliche Höhensonne die chirurgische 
Tuberkulose. — Beginnende und fort¬ 
geschrittene Gelenktuberkulose (bei alten 
Leuten wenig Erfolg!), auch schwer 
fistelnde Gelenke (bei kleinen Kindern re¬ 
fraktär); Spina ventosa, Abscesse; Peri¬ 
tonitis tuberkulosa, seröse günstiger als 
trockene (genügend lange bestrahlen, 
monatelang), am wenigsten Adnex¬ 
tumoren. 

Lungentuberkulose zeitigt mit künst¬ 
licher Höhensonne selten Heilungen. Der 
Allgemeinzustand wird jedenfalls gehoben 
(Entfieberung, Herdreaktion). Redner 
sah bei einer akuten katarrhalischen und 
bei einer latenten fieberlosen Lungen¬ 
tuberkulose Erfolg. 

Überall, wo eine lokale Wirkung er¬ 
wünscht ist, ist jedoch die künstliche 
Höhensonne allein nicht ausreichend. 
Bacmeister empfiehlt speziell bei Lun¬ 
gentuberkulose eine Kombination mit 
Röntgenstrahlen. 

Bei Wundheilung erreicht man mit 
gleichzeitiger Anwendung von Licht¬ 
wärmestrahlen (Glühlampenring, Siemens- 
Aureole usw.) schnellere Erfolge. Das¬ 
selbe gilt für Ulcerationen, z. B. mal 
perforant, alte Fisteln usw., auch für lo¬ 
kale vasomotorische Störungen (Erfrie¬ 
rung, Raynaud usw.). 

Lediglich auf Suggestionswirkung be¬ 
ruhen die Erfolge mit künstlicher Höhen¬ 
sonne allein bei funktionellen Neuralgien, 
Myalgien öder schmerzhaften Zuständen 


bei Konstitutionskrankheiteh. Echte 
Neuralgien heilen entschieden* besser bei 
kombinierter Bestrahlung. 

Unter den Hautkran&eiten kommen 
nur Pruritus cutaneus, Seborrhöe und 
Alopecie in Frage. Pruritus wird durch 
Röntgenstrahlen wenig beeinflußt. Alo¬ 
pecie (z. B. nach Grippe) besser mit 
Wärmestrahlen. 

Wegen der Allgemeinwirkung (z. B. 
auch bei infektiösen Prozessen) ist die 
künstliche Höhensonne nicht zu ent¬ 
behren, sonst sind aber andere Licht¬ 
quellen mit heranzuziehen. 

Das Reklamewesen bringt schädigende 
Übertreibungen hervor und muß be¬ 
kämpft werden. 

Diskussion: Hertzeil (Bremen) will 
neben der Allgemeinwirkung doch an die 
lokale Wirkung glauben, da bei großen 
lokalen Dosen mit nachfolgenden Pausen 
eine nachhaltige lokale Hyperämie in 
Haut und tieferem Gewebe entsteht, die 
Redner in sorgfältigen Temperatur¬ 
messungen am Orte der Wirkung fest¬ 
gestellt hat. So seien die raschen Erfolge 
bei Ischias, bei schmerzhaften Gelenk¬ 
entzündungen oder bei Hüftgelenk tuber¬ 
kulöse zu erklären. Natürlicfi sei die all¬ 
gemeine Bestrahlung wegen der biologi¬ 
schen Wirkung nicht zu unterlassen. 

Lubinus (Kiel) hält die lokale Wir¬ 
kung und die Hyperämie nur für ober¬ 
flächlich. Er empfiehlt folgende Kombi¬ 
nation: Höhensonne, Röntgen, Stauung, 
Lichtkasten und Jod. 

Meyer (Lübeck) wendet sich zugun¬ 
sten der künstlichen Höhensonne gegen 
Röntgenbehandlung des Hüftgelenk¬ 
kopfes, da eitrige Einschmelzung danach 
häufig sei. Empfiehlt gleichzeitig Jod¬ 
injektionen. Dr. Hartwich. 


Refe 

Für die Seltenheit der durch Mutter¬ 
milch übertragenen Arzneiexantheme 
führt Hoffmann folgende drei Gründe 
an: 1. erhalten stillende Frauen mit 
Rücksicht auf eine etwaige Schädigung 
des Säuglings selten Arzneimittel; 2, wird 
eine große Anzahl der Mittel durch die 
Milch nur in geringer Menge ausgeschie¬ 
den; 3. weisen Säuglinge nicht so oft 
eine Überempfindlichkeit auf, wie ältere 
Kinder und Erwachsene. Trotz alledem 
ist größte Vorsicht geboten! Bei allen 
eigenartig aussehenden Brustkinder¬ 
dermatosen muß an die Möglichkeit eines j 


rate. 

Arzneiexanthems gedacht werden — z. B. 
eines Bromederms. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

• (D. m. W. 1919, Nr. 37.) 

Eine sehr seltene Nebenwirkung des 
vielgebrauchten Atophan, nämlich das 
Auftreten eines angioneurotischen Ödems 
bei einem Falle von multiplen Myalgien 
auf Grundlage einer uratischen Diathese, 
schildert Stiefier. Bei einer 49jährigen 
Frau, einer Neuropathin, traten nach Ge¬ 
brauch von dreimal 0,5 g Atophan pro 
I die am Abend des zweiten Tages um- 



Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


79 


schriebene ödematöse Schwellungen der 
Augenlider beiderseits, der Oberlippe und 
der großen und kleinen Schamlippen auf, 
verbunden mit Spannungsgefühl, Brennen 
und Jucken, jedoch ohne wesentliche Ver¬ 
änderungen der Farbe der Haut und 
Schleimhäute und ohne objektive Sen¬ 
sibilitätsstörungen. Der ausgeschiedene 
Harn war dunkelbraunrot, Zeichen einer 
Allgemeinintoxikation fanden sich nicht. 
Atophan wurde in derselben Stärke weiter¬ 
gegeben und nach drei Tagen verschwan¬ 
den die Ödeme, Als die Kranke nach vier¬ 
wöchiger Pause wieder Atophan nahm, 
setzten am zweiten Tage die Störungen 
in der oben beschriebenen Form wieder 
ein, ein Beweis, daß es sich um Neben¬ 
erscheinungen des Atophans handelte. 
Die Erscheinungen des Brennens und 
Juckens weisen auf eine urtikarielie Mit¬ 
färbung hin. Bemerkenswert ist die 
Lokalisation der Ödeme in Regionen, die 
den Übergang von der Haut in die Schleim¬ 
haut der inneren Organe bilden. 

Raschdorff (Berlin). 

(M. KI. 1919, Nr. 37.) 

Auf den großen Wert von Bewegungs- 
Übungen bei der Nachbehandlung innerer 
Krankheiten weist Quincke hin. Nicht 
nur bei Erkrankungen des Bewegungs¬ 
apparats, bei artikulären, muskulären und 
psychischen Versteifungen nach rheu¬ 
matischen Erkrankungen und Lähmungen 
kommen solche Übungen in Betracht, 
sondern auch bei einer Reihe innerer Or¬ 
gan- und Allgemeinerkrankungen. Atem¬ 
übungen bei Pleuritis befördern die Auf¬ 
saugung von Exsudatresten, beugen der 
Schwartenbildung vor oder befördern 
deren Rückbildung; Übungen der Bauch¬ 
muskeln empfehlen sich bei Enteroptose 
und oft bei habitueller Obstipation; Be¬ 
wegungen der unteren Extremitäten 
eignen sich für langzeitig Bettlägerige, 
besonders zur Verhütung von Throm¬ 
bosen. Für die meisten Rekonvaleszenten 
von fieberhaften Erkrankungen, von Er¬ 
schöpfungszuständen, von Magen- und 
Darmstörungen, von Pneumonie sind all¬ 
gemeine Bewegungsübungen, besonders 
Freiübungen von größter Bedeutung. Im 
Krankenhausbetrieb empfiehlt es sich, 
eine Mehrzahl von Kranken in einer Art 
Turnstunde unter einer geeigneten Lehr¬ 
kraft zusammen vorzunehmen, wobei aber 
nach dem Kräftezüstand des Patienten 
Maß und Art der Übungen auszuwählen 
Regensburger (Berlin). 

(M. m. W. 1919, Nr. 47.) 


Zahlreiche Nachprüfungen haben die 
guten Resultate bei der Verwendung der 
Czerny-Kleinschmidtschen Butter- 
raehlnahrung für Säuglinge bestätigt. 
In einer neuen Arbeit erweitert Klein¬ 
schmidt den Indikationsbereich und be¬ 
spricht verschiedene praktisch wichtige 
Fragen, die beim Gebrauche der Butter¬ 
mehlnahrung auftauchen. Das Prinzip 
der neuen Nahrung ist eine Fettanreiche¬ 
rung der üblichen Kuhmilchverdünnung, 
die erreicht wird durch Herstellung einer 
Einbrenne aus gleichen Teilen Butter und 
Weizenmehl, die dem als Verdünnungs¬ 
flüssigkeit der Kuhmilch dienenden Wasser 
beigesetzt wird. Die Hauptindikation zur 
Anwendung geben schwach- und früh¬ 
geborene, in der Entwicklung gehemmte 
Kinder der ersten Lebensmonate; wenn 
bei solchen Kindern auch im Notfall allein 
mit Buttermehlnahrung befriedigende Er¬ 
folge erzielt wurden, so rät doch Klein- 
schmidt gerade bei solchen Kindern 
am besten zur Zwiemilchernährung mit 
Frauenmilch und nimmt die Buttermehl¬ 
nahrung etwas weniger konzentriert, näm¬ 
lich Butter und Mehl nur 5% anstatt 7%, 
und Zuckerzusatz 4% statt 5%. Auch 
bei nicht gedeihenden Brustkindern — 
als Ursache scheint der unter dem Ein¬ 
fluß der heutigen Ernährung oft auf¬ 
fallend geringe Fettgehalt der Frauen¬ 
milch in Frage zu kommen — und im 
Reparationsstadium von schweren Er¬ 
nährungsstörungen ist die Zwiemilch¬ 
ernährung oft von ausgezeichnetem Er¬ 
folge. Von der ausschließlichen Ernäh¬ 
rung mit Buttermehlnahrung sah Klein- 
schmidt gute Erfolge besonders bei Re¬ 
konvaleszenten nach akuten Ernährungs¬ 
störungen, nachdem die Durchfälle bei 
Schleimdiät oder Buttermilch abgeklun¬ 
gen waren; auch hier empfiehlt.es sich, 
erst mit der dünnen Mischung zu be¬ 
ginnen. Nach Czerny hängt die natür¬ 
liche Resistenz des Brustkindes mit dem 
hohen Fettgehalte der Frauenmilch zu¬ 
sammen, und so wurden auch sehr gute 
Erfolge mit der fettreichen Buttermehl¬ 
nahrung erzielt bei allen Infekten der 
Säuglinge, Pyodermien, Furunkulose, 
Phlegmonen, Abscessen, aber auch bei 
rezidivierenden Katarrhen der oberen 
Luftwege, bei Lues und Osteomyelitis, 
deren Ausheilung beschleunigt wurde. 
Es zeigte sich auch, daß intercurrente In¬ 
fekte bei mit Buttermehlnahrung ernähr¬ 
ten Kindern viel leichter verliefen, ohne 
jähe Gewichtsstürze und nur selten mit 
Durchfällen parenteraler Natur, so daß 




80 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Februa r 


es meist möglich war, die Ernährung un¬ 
verändert beizubehalten beziehungsweise 
nur für einige Tage eine dünnere Konzen¬ 
tration gegeben zu werden brauchte. 
Endlich werden gute Erfolge erzielt bei 
konstitutionell abnormen Kindern, so¬ 
wohl bei solchen mit exsudativer Diathese 
und Neuropathen, als auch bei den so¬ 
genannten Hypotrophikern, das heißt 
schwächlich geborenen Kindern mit ab¬ 
norm geringer Wachstumstendenz. Stö¬ 
rungen der Darmfunktion, die auf die 
Nahrung bezogen werden müssen, traten 
nur sehr selten auf, rneist bei Speikindern, 
und konnten durch Übergang zur Frauen¬ 
milchernährung rasch behoben werden. 
Die Ernährung mit' Buttermehlnahrung 
konnte monatelang fortgesetzt werden; 
der Übergang zu anderer Nahrung ge¬ 
staltete sich durch allmähliche Ersetzung 
der Nahrung durch Milchbrei und Milch¬ 
mehlmischungen sehr leicht. Es ist nur 
zu beachten, daß die Nahrungszufuhr 
nicht vermindert wird. 

Regensburger (Berlin). 

(B. kl. W. Nr. 28.) 

Dr. F. Mommsen berichtet über die 
Versorgung zweier Doppeloberschenkel- 
amputierten mit kurzen Stümpfen. Bei 
der ersten, einem 20jährigen jungen Mäd¬ 
chen, hatte er, nachdem das Höftrnann- 
sche 7 cm zurückverlegte Kniescharnier 
vollkommen versagt hatte, Kniescharnierc 
in gewöhnlicher Lage angelegt. Die Knie¬ 
streckung und -feststellung wurde durch 
eine sehr starke Lordosierung der Wirbel¬ 
säule mit Verlegung des Körpergewichts 
nach vorn erreicht. Die angebrachte Sitz- 
vorrichtimg wurde danach von der Pa¬ 
tientin nicht benutzt, vielmehr diente die 
vordere innere Leistengegend zur Auf¬ 
nahme des Körpergewichts. Hier und 
an der (jrenze des hinteren und äußeren 
Stumpfendes konnten als Zeichen der 
Belastung bald deutliche Schwielen¬ 
bildungen beobachtet werden. Patientin 
vermochte, wie Referent sich gelegent¬ 
lich überzeugen konnte, mit Hilfe zweier 
Stöcke verhältnismäßig sicher gehen, sich 
auch niedersetzen und aufstehen. Wäh¬ 
rend in diesem Falle die Kunstfüße zum 
Abrollen gar nicht benutzt wurden, sind 
bei dem zweiten Patienten, der sich seine 
Prothesen selbst konstruiert hat, die Füße 
vermittels tief angebrachter Kugelgelenke 
nach allen Richtungen frei beweglich, ja 
sogar eine Drehung um die Schienbein¬ 
achse kann ausgeführt werden, wodurch 
die Wendungen leichter vor sich gehen. 
:S;tatt des Beckengurts trägt dieser Pa¬ 


tient einen Metallbügel, welcher von einem 
Trochanterstück über den Rücken in 
Schulterblattspitzenhöhe zum anderen 
verläuft und ihm ohne zu starke Lordo¬ 
sierung einen guten Halt gewährt. Einzel¬ 
heiten der Ausführung der Prothesen 
müssen in der Originalarbeit nachgelesen 
werden. . Sehr richtig bemerkt Verfasser 
am Schluß, daß die Veirsorgung der 
Doppeloberschenkelamputierten ein be¬ 
sonderes Problem darstellt, das noch 
weiterer Klärung und Forschung bedarf. 

Georg Müller. 

(Zschr. f. orthop. Chir. Bd. 39, 3. Heft.) 

Den Grund für die Abnahme der 
Eklampsie während der Kriegszeit sieht' 
Geßner darin, daß eine vollkommene 
Änderung der Lebensweise der Schwan¬ 
geren eingetreten ist. Wenn auch keine 
klinische Untersuchung über die Bedeu¬ 
tung der körperlichen Arbeit und IBe¬ 
wegung während der Schwangerschaft für 
den Verlauf der Geburt und die Größe 
des Kindes und über den Einfluß der ver¬ 
schiedenen Nahrungsmittel auf den Stoff¬ 
wechsel der Schwangeren vorliegt, so 
muß doch gesagt werden, das diese klaf¬ 
fende Lücke in unserem geburtshilflichen 
Wissen auf empirischem Wege durch das 
Massenexperiment der Hungerblockade 
ausgeführt ist; es hat sich deutlich ge¬ 
zeigt, daß bei Schwangeren mit reichlicher 
Bewegung und Arbeit bis zur Geburt und 
nebenbei knapper Kost die Entbindungen 
kürzer und leichter verlaufen, weil das 
sonst hinderliche subperitoneale Fett¬ 
polster fehlt und die Kinder kleiner aus- 
fallen. Pulvermacher (Charlottenburg). 

(Zschr. f. Geburtsh. 1919, Nr. 51.) 

Klinisches über die endemische En¬ 
cephalitis berichtet Dr. Ernst Naef. In 
den ersten Monaten des Jahres 1919 beob¬ 
achtete er Krankheitsfälle, welche den 
von Econom 0 unter dem Namen En¬ 
cephalitis lethargica veröffentlichten ähn¬ 
lich waren. Im Vordergründe stand die 
Schlafsucht, oft mit Delirien, die meist 
den Typus affektloser Beschäftigungs¬ 
delirien zeigten, ferner Lähmungserschei¬ 
nungen, meist im Gebiete der Augen¬ 
muskeln, aber auch an den übrigen Hirn¬ 
nerven und an den Extremitäten. Es 
fanden sich Hirndruckerscheinungen, 
Kopfschmerz, meningitische Symptome, 
Nackenstarre, Kernigsches Phänomen, 
Hauthyperästhesie, Druck empfindlich- 
keit der Bulbi, Stauungspapille, sowie 
bulbäre Störungen, wie Phonationsstörun¬ 
gen und Atemlähmung. Die Kranken 
klagten über Hypertonie, Rigidität der 




Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


81 


Muskeln des Stammes und der Extremi¬ 
täten, Coritracturen, über cerebellare Stö¬ 
rungen, wie Ataxie, motorische Reiz¬ 
erscheinungen choreatisch-athetotischen 
Charakters, von seiten des Rückenmarks 
Aufhebung der Patellar- und Achilles¬ 
sehnenreflexe. Die Lumbalpunktion er¬ 
gab bei einer Reihe von Fällen erhöhten 
Druck, gelegentlich eine leichte Eiwei߬ 
vermehrung, fast regelmäßig Zellvermeh¬ 
rung mäßigen Grades. Eine Zahl der Fälle 
'Zeigte ein uncharakteristisches Fieber, 
gemeinsam war fast allen. Fällen die vor¬ 
ausgegangene oder noch bestehende 
Grippe. Die Grippe konnte ambulant 
verlaufen oder von schweren cerebralen 
Symptomen verdeckt sein, bevor sie zur 
Beobachtung kam. Das Krankheitsbild 
dürfte durch die Lokalisation des toxi¬ 
schen, beziehungsweise infektiösen Pro¬ 
zesses in den Stammganglien oder im 
Bulbus oder im Rückenmark bedingt sein. 

Raschdorff (Berlin). 

(M.m.W., 5. September 1919.) 

Einen geburtshilflichen Handschutz — 

erhältlich bei der Firma B. Braun (Mel¬ 
sungen) in zwei Größen, für große und 
kleine Hand — hat Carl Meyer kon¬ 
struiert. Es wird ein 35 cm langer, fester 
Papierschlauch in keimfreier Verpackung 
hergestellt. Zum Gebrauch, um ihn zu 
durchweichen, wird er mit steriler Pin¬ 
zette für kurze Zeit in eine warme Des¬ 
infektionslösung von 1 7o Sublimat-Sub- 
lamin, 2% Lysol, Lysoform oder der¬ 
gleichen gelegt. Nachdem die Hand und 
der Oberarm gründlich desinfiziert sind, 
wird dieser Papierschlauch jetzt herüber¬ 
gezogen. Da der Schlauch fingerwärts nach 
innen eingefaltet ist, so kann er von den 
Fingerspitzenfestgeschlossen gehalten wer¬ 
den, während die Geburtshelferhand durch 
die Scheide bis zum äußeren Muttermund 
eindringt. Wenn nun die Fingerspitzen 
die Lappen loslassen und durch die vor¬ 
dere Schlaiichöffnung in die Gebärmutter' 
eindringen, zieht die äußere Hand gleich¬ 
zeitig den Schlauch aus der Scheide über 
den Ellbogen auf den Oberarm zurück. 
Hierdurch ist folgendes erreicht worden: 
die innere Hand hat die Vulva und die 
Scheidenschleimhaut nicht berührt, so 
daß jede Möglichkeit einer Keiinver- 
schleppung aufhört. 

Pu 1Ve rm a cher (Charl otteiiburg). 

(D. m. W. 1919, Nr. 52.) 

Daß Glottisödem zur tödlichen Kom¬ 
plikation anscheinend harmloser Hals¬ 
affektionen werden kann, ist vielen Ärzten 
nicht genügend gegenwärtig. Um so 


wichtiger ist es, auf solche Vorkommnisse 
hinzuweisen, welche die große Wichtig¬ 
keit dieses Symptoms von neuem her¬ 
vorzuheben geeignet sind. Neuerdings 
beschreibt (jeorg Straßmann zwei 
Todesfälle durch plötzliches Entstehen 
von Glottisödem, dessen Erkennung 
Schwierigkeiten machte. Der erste Fall 
betrifft einen 53jährigen Makler, der 
früher mehrfach an Mandelabscessen litt 
und am 5. April 1918 plötzlich mit Hals¬ 
schmerzen erkrankte, die sich so stei¬ 
gerten, daß erUn der folgenden Nacht 
ein Krankenhaus aufsuchte, in welchem 
Anschwellung der rechten Mandel, eine 
Schwellung und Schmerzhaftigkeit der 
rechten Halsseite und ein gewisser Grad 
von Atemnot festgestellt wurde. Lebens¬ 
gefahr schien nicht vorzuliegen. Der Pa¬ 
tient ging mangels einer Fahrgelegenheit 
mit Mühe nach Hause und starb dort 
nach einer halben Stunde an Erstickung. 
Die Obduktion ergab eine hämorrhagisch 
entzündliche Infiltration der aryepiglot- 
tischen Falten, die als Todesursache an¬ 
zusehen war. Als Ursache der Infiltration 
hatte sich eine schwere krankhafte Ver¬ 
änderung am Kehlkopf oder dessen Nach¬ 
barschaft nicht gefunden, auch kein 
Mandelabsceß, doch ließen sich eine Ver¬ 
größerung der Mandeln und aus ihnen 
ausdrückbare Pfröpfe im Sinne einer 
Mandelentzündung verwerten, welche 
das Larynxödem erklären kann. Die Er¬ 
kennung dieses Ödems, das allein die 
große Dyspnoe erklären kann, ist dem 
aufnehmenden Arzt im Krankenhaus ent¬ 
gangen. 

In einem anderen Falle erkrankte ein 
45 jähriger Friseur, während er am 4. April 
1919 rasierte, plötzlich kurz nach deim 
Genuß eines Schnapses, anscheinend mit 
Atemnot und starb in kurzer Zeit. Der 
hinzugerufene. Arzt nahm als Todesur¬ 
sache Alkoholvergiftung an. Die Obduk¬ 
tion ergab neben Bronchitis und Atrophia 
fusca cordis Lungenödem und ödematose 
Anschwellung des gesamten Larynxein- 
ganges, des Gaumens und Zäpfchens, so¬ 
wie eitrige Infiltration des submucöseu’ 
Larynxgewebes und der Trachea. Das. 
Zusammentreffen der Erkrankung mit 
dem zuerst als Todesursache angeschul¬ 
digten Genuß des Schnapses dürfte nur 
ein zufälliges Ereignis darstellen. Die 
sehr wichtigen Krankengeschichten bilden 
eine ernsthafte Mahnung, in jedem Fall 
schwerer entzündlicher, insbesondere eitri¬ 
ger Veränderung in der Nähe des Kehl¬ 
kopfes an die Möglichkeit eines Glottis- 

11 






82 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Februar 


Ödems zu denken und bei den ersten An¬ 
zeichen derselben die Tracheotomie zu 
machen. Raschdorff (Berlin). 

(B. kl. W. 1919, Nr. 38.) 

Im Beginne des Jahres 1919 kamen 
von Wien aus Berichte über ein gehäuftes 
Auftreten von schweren Knochenerkran- 
kungen bei älteren unterernährten Men¬ 
schen, die viel Aufsehen machten und 
ein krasses Schlaglicht warfen auf das 
.Hungerelend, das der Krieg über Öster¬ 
reich gebracht hatte. Nicht lange nachher 
berichtete auch Fromme aus Göttingen 
über endemisch auftretende Knochen- 
erkrankungen, die er aber im Gegensatz 
zu den Wiener Autoren hauptsächlich bei 
Jugendlichen beobachtet hatte. Ihm 
folgten in kurzen Abständen zahlreiche 
Berichte aus vielen Teilen Deutschlands, 
die teils die gleichen Erscheinungen an 
Adolescenten, teils auch osteomalacie- 
ähnliche Erkrankungen bei älteren Frauen 
und Männern zum Gegenstände hatten; 
so von Bittorf aus Breslau, von Hoch- 
stetter aus Tübingen, von Simon und 
von Alwens aus Frankfurt, von Römer 
aus Elberfeld, von Böhme aus Bochum, 
von Partsch aus Dresden und Anderen 
mehr. Was zunächst die Erscheinungen 
bei den Jugendlichen anlangt, so traten 
sie unter dem Bilde der Spätrachitis auf, 
meist bei männlichen Individuen im 
Alter von45 bis 19 Jahren, die schwer 
hatten arbeiten müssen, jedoch in der 
Mehrzahl der Fälle leidlich gut ernährt 
waren. Die jungen Leute kamen mit 
rheumatoiden Schmerzen zum Arzte, die 
hauptsächlich in den Beinen auftraten, 
klagten über rasche Ermüdbarkeit und 
Erschwerung des Ganges, besonders beim 
Treppenabwärtsgehen. Bei schon länger 
dauernden Fällen war vielen ein Krumm¬ 
werden der Beine aufgefallen. Der ob¬ 
jektive Befund ergab in den Frühstadien 
der Erkrankung zunächst nichts, bei vor¬ 
geschritteneren Fällen fand sich vor allem 
eine Druckempfindlichkeit der Epiphysen¬ 
linien, besonders am Knie- und Fu߬ 
gelenke, die Epiphysengegend war oft 
verbreitert. Verbiegungen der Knochen 
waren häufig zu finden, X- und 0-Beine, 
Plattfüße und einigemal auch Skoliosen; 
der Gang war erschwert und watschelnd. 
Von übrigen Symptomen ist zu erwähnen, 
daß bei einer Anzahl von Fällen leichte 
Tetaniesymptome, bei anderen Zeichen 
von Infantilismus sich fanden, Störungen, 
die auf eine Mitbeteiligung der endo¬ 
krinen Drüsen schließen ließen. Soweit 
das Blut untersucht wurde, war ein ge¬ 


häuftes Auftreteri von Eosinophilie be¬ 
merkenswert Charakteristisch war der 
Röntgenbefund der erkrankten Knochen. 
Der Knochenschatten war weniger inten¬ 
siv, die Corticalis dünn, die Spongiosa- 
bälkchen zart. Der Epiphysenspalt war 
nicht wie normal geradlinig und scharf 
begrenzt, sondern aufgetrieben, verbrei¬ 
tert, unscharf, besonders nach der Dia- 
physe hin; der Epiphysenlinie parallel 
verlaufend fanden sich häufig dunklere 
und hellere Streifen. Pathologisch-anato¬ 
mische Untersuchungen der Knochen 
fehlen. 

Etwas anders war der Befund bei den 
Patienten, die mehr osteomalacieähnliche 
Bilder aufwiesen. Hier handelte es sich 
um ältere Menschen, sowohl Männer als 
Frauen. Die Frauen waren zum großen 
Teil im oder nach dem Klimakterium. 
Die starke Unterernährung fiel fast bei 
allen auf. Die Beschwerden deckten sich 
zum teil mit denen der Jugendlichen, 
doch waren sie meist mehr auf das Becken, 
den Thorax und die Wirbelsäule be¬ 
schränkt, Knie- und Fußgelenke waren 
meist frei. Rippen, Brustbein und Schlüs¬ 
selbeine waren druckempfindlich, häufig 
fand sich eine Verkrümmung der Wirbel¬ 
säule und ein Federn des Brustkorbs und 
des Beckens bei Druck. Infraktionen an 
den Rippen waren nicht selten. Auf Er¬ 
scheinungen von seiten der Drüsen mit 
innerer Sekretion, die gerade bei dieser 
Art von Erkrankung von den Wiener 
Autoren häufig gesehen worden waren, 
achtete besonders Alwens; er fand so¬ 
wohl Tetaniesymptome als auch häufig 
Struma. Adrenalinglykosurie, Loewische 
Adrenalinmydriasis, Lymphocytose als 
Symptom thyreotoxischer Zustände, und 
Eosinophilie als Ausdruck eines erhöhten 
Vagustonus wurden bei einer Reihe von 
Fällen festgestellt. Die Röntgenplatte 
zeigte das Bild einer Osteoporose, beson¬ 
ders der Rippen, des Schulterblatts und 
der Schlüsselbeine, aber auch der Wirbel 
und Beckenknochen; Schädel und Extre¬ 
mitäten waren weniger verändert. Patho¬ 
logisch-anatomisch fand Partsch in fünf¬ 
zehn obduzierten Fällen sowohl makro¬ 
skopisch als mikroskopisch die typischen 
osteomalacischen Veränderungen des 
Knochens. 

Was nun die Ätiologie anlangt, so sind 
sich sämtliche Autoren darüber einig, daß 
die Unterernährung, und zwar sowohl die 
quantitative wie die qualitative eine Rolle 
spielt. Welcher Nährstoff aber der aus¬ 
schlaggebende Faktor ist, ob der Kalk, 



Februar 


Die Therapie der Gegenwsrt 1920 


83 


ob die Phosphorsäure, ob irgendwelche 
Ergänzungsnährstoffe, die sogenannten 
Vitamine, darüber fehlen bis jetzt noch 
alle Grundlagen. Daß auch ..die endo¬ 
krinen Drüsen dabei mit beteiligt sind, 
dürfte außer Zweifel stehen. Zahlreiche 
Symptome sprechen dafür und es sind 
auch schon lange die Beziehungen von 
Schild- und Nebenschilddrüsen, Ovarien 
und Thymus zum Knochenwachstum und 
Kalkstoffwechsel bekannt. Grabley 
sieht in einer eben erschienenen Arbeit 
als gemeinsame Noxe aller jener Ernäh¬ 
rungskrankheiten' die durch den Krieg 
bedingte Demineralisation des Bodens 
und seiner Produkte an. Es komme zur 
Mineralverarmiung der Zellen, die den 
Grund für ein mangelhaftes Auftreten der 
Vitamine bilde und für eine schlechte Zell¬ 
funktion, das heißt für die gestörte innere 
Sekretion. Die durch den Mangel an an¬ 
organischen- Salzen beeinflußte elektro¬ 
chemischen und elektro-physikalischen 
Prozesse in den Zellen führen zu Störungen 
des Wachstums, des Stoffwechsels, der 
Sekretion und Exkretion der Zellen. 
Offen bleibt bei diesem und nach meiner 
Ansicht bei jedem bisherigen Erklärungs¬ 
versuche die Frage, warum trotz der doch 
als allgemein verbreitet anzunehmenden 
schädigenden Ursache nur eine relativ 
geringe Anzahl von Menschen wirklich 
erkrankt. Eine prädisponierende Wir¬ 
kung einer überstandenen kindlichen Ra¬ 
chitis anzunehmen, wie es einzelne Autoren 
zu tun scheinen, dürfte bei der ungeheuren 
Verbreitung dieser Erkrankung kaum, an¬ 
zunehmen sein. Fromme hält auch die 
Möglichkeit des Einflusses toxischer Schä¬ 
digungen auf das Knochenmark für ge¬ 
geben und denkt dabei an die Grippe¬ 
epidemie. Auch Simon konnte eine 
wenigstens begünstigende Rolle von In¬ 
fektionen bei einer Reihe von Fällen fest¬ 
stellen. 

Daß sich die Krankheit bei jungen 
Individuen anders äußert als bei alten 
dürfte seinen Grund in den verschiedenen 
physiologischen Verhältnissen der Lebens¬ 
alter haben. Zur Zeit der stärksten Wachs¬ 
tumsenergie sind naturgemäß die physio¬ 
logischen Wachstumszonen, die Epiphysen 
am stärksten beteiligt. 

Therapeutisch ist die Erkrankung recht 
gut zu beeinflussen. Da es'sich um eine 
Hungererkrankung handelt, ist vor allem 
eine reichliche, bessere, vitaminreiche 
Ernährung am Platze. Phosphorlebertran 
wurde von allen Autoren mit sehr gutem 
Erfolge gegeben. Über die Calciumthera¬ 


pie und ihre Wirkung gehen die Ansichten 
nicht immer überein; meist wurde es in 
Form von Calcium, lacticum gegeben. 
Auch von Strontium. lacticum berichtet 
Alwens über gute Erfolge. 

Regensburger (Berlin). 

(Fromme, D. m. W. Nr. 19; Bittorf, B. kl. 
W. Nr. 28; Hochstetter, M. m. W. Nr. 28; 
Simon, M. m. W. Nr. 29; Alwens, M. m. W. 
Nr. 38; Römer, M. Kl. Nr. 41; Böhme, D. m. W. 
Nr. 42; Partsch, D. m. W. Nr. 44; Grabley, 
D. m. W. Nr. 45.) 

Über die Bedeutung der Lues der 
Mutter für die endogene puerperale 
Infektion hat Edmund Loeb in der 
Frankfurter Universitätsfrauenklinik Un¬ 
tersuchungen angestellt, deren Resume 
folgendes ist: Die luetische Erkrankung 
der Mutter ist für die Ätiologie einer endo¬ 
genen puerperalen Infektion und für den 
Verlauf des Wochenbetts 'ohne jede Be¬ 
deutung. Es ist dabei gleichgültig, von 
welchem Stadium der Lues die Wöchnerin 
befallen ist, ebenso, ob die Frau ante 
partum keine Streptokokken, nicht hämo¬ 
lytische Streptokokken oder hämolytische 
Streptokokken in ihrem Scheidensekre 
beherbergt hatte. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(Mschr. f. Geburtsh., Dezember 1919.) 

Ein Magengeschwür zur Operation 
dem Chirurgen zu überweisen, wird der 
Internist nur in seltenen Fällen geneigt 
sein, um so weniger, als die interne 
Therapie meist zu gutem Ziele führt. Der 
Komplikation der Geschwürsperforation 
jedoch steht der interne Arzt fast machtlos 
gegenüber; hier hat der Chirurg einzu¬ 
greifen und zwar je eher desto besser. 
Naht des Geschwürs und Anlegen einer 
Gastroenterostomie war bisher das Nor¬ 
malverfahren. Nach dem Vorgänge von 
V. Haberer schlägt Eunicke auf Grund 
von drei glatt geheilten Fällen die quere 
Resektion des Magens beziehungsweise 
Pylorus mit nachfolgender hinterer Gastro¬ 
enterostomie vor. Bei allen drei Fällen 
handelte es sich um Ulcera am oder in der 
Nähe des Pylorus; die Wundheilung ging 
bei allen primär vonstatten, obwohl sechs 
bis zehn Stunden vom Zeitpunkte des 
Durchbruchs bis zur Operation ver¬ 
gangen waren. Je früher die Fälle zur 
Operation kommen, desto besser sind 
natürlich die Heilungsverhältnisse für 
das oben geschilderte radikale Verfahren. 

• Regensburger (Berlin). 

(D. m. W. Nr. 28.) 

Den Ersatz der Nasenspitze hat 
V. Hacker unter Verwendung eines 
ungestielten Hautlappens vorgenommen. 



Februar " 


M Die Therapie-der 


Er hat. sich die Tatsache; daß in. der 
Innenseite der Nase auf der Nasen¬ 
scheidewand no.ch eine gewisse Strecke 
normale Haut sich befindet, welche erst 
allmählich in die Nasenschleimhaut über-- 
geht, zur Ausarbeitung seiner Methode 
zu Nutze gemacht. Bei einem Mann, 
der infolge eines Pferdebisses die Spitze 
der Nase verloren hatte, ersetzte er den 
freien Rand des Nasenflügels durch 
einen gestielten Lappen, welcher der 
genannten Stelle entnommen war. Der 
noch verbliebene Rest wurde nach 
Thiersch gedeckt. Der Erfolg war, wie 
die beigegebenen Bilder, zeigen, ein voll¬ 
kommener. Hayward. 

(Zbl. f. Chir. 1919, Nr. 26.) 

Die Berichte über unangenehme Neben¬ 
wirkungen und Vergiftungserscheinungen 
bei Gebrauch'des Schlafmittels Nirvanol 
werden in letzter Zeit häufiger. Eine 
Reihe von solchen Fällen schildert Char¬ 
lotte Jacob. Es trat bei geisteskranken 
Patienten, die einige Tage abends 0,5 g 
Nirvanol erhalten hatten, zum Teil unter 
hohem Fieber ein masern- oder scharlach¬ 
ähnliches Exanthem auf, das sich über 
den ganzen Körper ausbreitete. Nach 
dessen Abblassen kam es in einigen Fällen 
zu feiner Schuppung. Charakteristisch 
war, daß sämtliche Patienten zwei Tage 
vor Auftreten des Ausschlags ein^ ge¬ 
dunsenes, bläulichrotes Gesicht mit Ödem 
der Augenlider und Lippen bekamen, so 
typisch, daß aus dem Auftreten des ,,Nir- 
vanolgesichtes‘‘ das Exanthem mit Sicher¬ 
heit vorausgesagt werden konnte. Einen 
Einfluß auf die Psychosen hatten die 
Erkrankungen nicht, wohl aber war das 
Allgemeinbefinden bei einzelnen sehr stark 
beeinträchtigt. 

Über ähnliche Gesichtsschwellungen 
in zwei Fällen und Auftreten eines Exan¬ 
thems in einem anderen Falle berichtet 
Freund. In allen drei Fällen kam es 
auch zu Temperatursteigerungen; in einem 
Falle war das Allgemeinbefinden schwer 
gestört. 

Vorsicht im längeren Gebrauche von 
Nirvanol und Entziehung aus dem freien 
Handel scheint deshalb wohl am Platze. 

Regensburger (Berlin). 

(D. m. W. 1919, Nr. 48 u. 50.) 

Über die Bedeutung der Phos¬ 
phorsäure für die Muskeltätigkeit 
und Leistungsfähigkeit liefert Gust. 
Embden einen bemerkenswerten Beitrag. 
Als Contractionssubstanz des quer ge¬ 
streiften Muskels ist eine Substanz anzu¬ 
sehen, die Verfasser Laktacidogen genannt 


Gegenwart 1020 


hat. Diese hat große. Ähnlichkeit mit der 
Hexose-diphosphorsäure, ein Stoff, der 
Zuckerreaktion gibt. Das Laktacidogen 
zerfällt während der Tätigkeit des Mus¬ 
kels in Phosphorsäure und Milchsäure, 
daher nimmt während der Arbeit der 
Gehalt an Laktacidogen im Muskel' ab 
bei gleichzeitiger Zunahme der anorga¬ 
nischen Phosphorsäure. Außer der im 
Laktacidogen gebundenen Phosphorsäure 
enthält der Muskel noch anderweitig ver¬ 
ankerte Phosphorsäure, Verfasser nennt 
sie Restphosphorsäure. Je mehr von 
dieser vorhanden ist, um so andauernder 
arbeitet ein Muskel. Auf Grund von Ver¬ 
suchen muß man annehmen, daß diese 
Restphosphorsäure während der an¬ 
dauernden Tätigkeit des Muskels dazu 
dient, schließlich in Laktacidogenphos- 
phorsäure umgewandelt zu werden, sie 
würde daher als Reservestoff für den 
arbeitenden Muskel von großer Bedeutung 
sein. Hierfür spricht auch die Tatsache, 
daß die roten Muskeln, die langsam aber 
andauernd arbeiten können einen höheren 
Gehalt an Restphosphorsäure besitzen, 
als die weißen Muskeln, die zwar schneller 
arbeiten, dafür aber um so leichter er- . 
müden. Auch beim arbeitenden Menschen 
läßt sich die Spaltung des Laktacidogens 
durch Zunahme der Phosphorsäureaus- 
scheidung nachweisen. Phosphorsäure 
ist für den arbeitenden Muskel eine 
wichtige Betriebssubstanz, die tägliche 
Zufuhr von 5—7 g Natr. biphosphoricum 
führt zu beträchtlicher Steigerung der 
muskulären Leistungsfähigkeit, die direkt 
am Ergostaten nachweisbar ist. Es ist 
daher wohl angebracht, diese theo¬ 
retischen Überlegungen in die Praxis um¬ 
zusetzen und die Phosphorsäure überall 
da anzuwenden, wo eine Steigerung der 
Muskeltätigkeit angestrebt wird, z. B. 
bei langdauernden Märschen oder an¬ 
haltender schwerer Arbeit. Aber auch 
bei Rekonvaleszenten und manchen Fällen 
von Erschöpfungszuständen hat sich die 
Phosphorsäure bev/ährt. 

(M. Kl. 1919, Nr. 30). Schmalz (Berlin). 

V. No Orden berichtet über eine von 
ihm vor längerer Zeit als Schlafmittel an¬ 
gegebene Mischung von Diäthylbarbitur- 
säure (Veronal) 0,3 mit Phenacetin 0,25 
und Codein 0,025, Somnacetin genannt. 
Die Mischung hat gegenüber dem allein 
gegebenen VeronaFden Vorteil, daß nicht 
nur wesentlich kleinere Mengen des Nar- 
koticums benötigt werden, sondern daß 
auch die schlafbringende Kraft verstärkt 
und die üblen Nachwirkungen völlig aus- 





Februar 


Die Therapie der Gegefiwart 1920 


85 


geschaltet werden. Versuche, die wirk¬ 
same Dosis anderer Schlafmittel durch 
Beigabe von anderen Narkotica oder Ner- 
vina herabzudrücken, ergaben kein Re¬ 
sultat. Es gelang v. Noorden auch eine 
wirksame Mischung für Injektionen her¬ 
zustellen, die. in Ampullen 0,4 Natrium 
diaethylbarbituricum + Pyräzolpn. phe- 
nyldimethylicunn- Codein enthält und in 
der Wirkung 0,6 Veronal innerlich ent¬ 
spricht. Auch für Suppositorien erwies 
sich dies Somnacetinum solubile als 
brauchbar. Durch den Gebrauch der Arz¬ 
neikompositionen wurde dem störenden 
Einfluß der Gewöhnung an die Veronal- 
komponente und dem Nachlassen der 
Wirl^samkeit vorgebeugt. Außer als 
Schlafmittel bewährt sich das Präparat 
unter anderen auch bei Seekrankheit, bei 
Morphiumentziehungskuren, bei denen es 
das Verlangen nach Morphiuminjektionen 
wesentlich herabsetzt, ferner bei allge¬ 
mein nervösen Erregungszuständen, be¬ 
sonders des Herzens, wenn es über den 
Tag verteilt wurdt, etwa drei- bis viermal 
je eine Tablette. Gute Wirkung auf die 
Herzerregungszustände konnten auch er¬ 
zielt werden bei Basedowkranken, im Ver¬ 
laufe von Schilddrüsenkuren und an 
Hungertagen bei Diabetes. Selbst bei 
Arteriosklerose, bei der vor Veronal stets 
gewarnt wird, sah Verfasser bei einer Gabe 
von nicht mehr als zwei Tabletten nie 
einen Nachteil. Regensburger (Berlin). 

(Ther. Mh. 1919, Nr. 11.) 

In dem Trypaflävin (Diaminomethyl- 
acridiniumchlorid) hat die chemische In¬ 
dustrie einen Farbstoff dargestellt, dessen 
hohe antiseptische Kraft von chirurgi- 
schef Seite vielfach schon erprobt ist. Über 
seine intravenöse Anwendung bei Infek¬ 
tionskrankheiten berichtet Bohland. Er 
injizierte von einer neutralen Lösung 1 ;200 
Mengen von 10 bis 40 ccm. Zunächst 
wandte er es bei Influenza an, und zwar 
bei Fällen mit hoher Temperatur und 
starken Störungen des Allgemeinbefindens. 
Bei diesen gingen Temperatur und Puls 
stets am nächsten Tag erheblich herunter 
und wurden nach drei bis vier Tagen nor¬ 
mal; die Patienten erholten sich auf¬ 
fallend rasch. Auch bei zwölf Fällen von 
Influenzapneumonie hatte er ermutigende 
Erfolge. Fast stets blieb der Prozeß auf 
die Ausdehnung, die er bei Beginn der 
Behandlung hatte, beschränkt, der Tem¬ 
peraturabfall trat rasch, aber nie kritisch 
ein. In einzelnen besonders schweren 
Fällen erlebte Verfasser auch Versager der 


Behandlung. Es ist ja auch das Mittel“ 
sicher kein specifisch auf den Influenza¬ 
erreger wirkendes, sondern es hemmt 
wahrscheinlich nur die im Blute kreisen¬ 
den Krankheitserreger und ^bt dadurch 
dem Organismus Gelegenheit zur Bildung 
von Antikörpern. Ein von vornherein 
allzu geschwächter Organismus wird das 
natürlich nicht vermögen. Gute Wirkung 
sah Bohland auch bei einer durch Koli- 
infektion verursachten Pyelonephritis mit 
Cystitis, wo das durch die Nieren aus¬ 
geschiedene Trypaflavin sehr rasch die 
Bakterien zum Schwinden brachte, und 
ferner bei mehreren Fällen von Sepsis, 
bei denen Collargol keinen Erfolg gehabt 
hatte. Bei akutem .Gelenkrheumatismus 
kommt die intravenöse Anwendung weni¬ 
ger in Betracht, wohl aber gegebenenfalls 
die lokale Injektion in größere Ergüsse. 
Bei Nierenkranken ist Vorsicht bei der 
Anwendung geboten, bei Nierengesunden 
wurde riie Reizung gesehen. (Referent 
möchte diese Empfehlung des Trypa¬ 
flavin mit einiger Vorsicht begleiten, 
indem er an das Schicksal aller bisher be¬ 
richteten Heilmittel gegen Sepsis erinnert; 
selbst das meist gepriesene Collargol hat 
ja keineswegs allen Erwartungen ent¬ 
sprochen. Im Krankenhaus Moabit hat 
das Trypaflavin schon mehrfach bei 
schweren Fällen von Sepsis versagt.) 

. Regensburger (Berlin). 

(D. m. W. Nr. 29.) 

Ein gutes Übersichtsreferat über den 
heutigen Stand der ätiologischen 
Untersuchungen bei Variola bringt 
G. Paul (Wien).^ Es werden sowohl 
die bisherigen Ergebnisse der mikrobiolo¬ 
gischen Forschung in kurzer prägnanter 
Form geschildert, als auch deren prak¬ 
tische Verwertung bei der objektiven 
Pockendiagnose Kornealversuch am 
Kaninchen, Nachweis der Paschenschen 
Elementarkörperchen im Pustelaus¬ 
striche, Komplementbindungsversuch — 
besprochen. Hetsch (Berlin). 

(Beitr. z. KHn. d. Infekt.-Krankh. u. z. Immun.- 
Forsch. 1919, Bd. 7, Heft 3—4.) 

Die Frage, welche Fleischarten wohl 
in Wirklichkeit in den im Handel um¬ 
laufenden Wurstsoften enthalten seien, 
erregte letzthin im Publikum beträcht¬ 
liche Besorgnis. Unverantwortliche Per¬ 
sonen verbreiteten sogar durch Flug¬ 
blätter das Gerücht, daß Kinder gestohlen 
und zu Ziegenwurst verarbeitet würden. 
Aber auch dem kritischeren Teile des 
Publikums mußte klar sein, daß so viel 



/ 


Februar 


8Q 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Ziegen und Kaninchen nicht auf den 
Markt kommen, um-den Bedarf für die 
nach ihnen benannten Wurstsorten zu 
decken. Untersuchungen von Fried¬ 
berger mittels der Präcipitin- 
m et ho de sind geeignet, die Frage zu 
klären und eine gewisse Beruhigung zu 
schaffen. Menschenfleisch wurde nicht 
gefunden, auch kein Hundefleisch.. Etwas 
peinlich ist die Anwesenheit von Katzen¬ 
fleisch - in neun von vierundzwanzig 
Würsten. Eine angenehme Überraschung 
ist dagegen die häufige ,,Inkognito''- 


anwesenheit von Schweinefleisch. In 
der Hauptsache bestanden die ,,Ziegen¬ 
würste“ oder ,,Lammwürste“ aus Hirsch¬ 
fleisch, Hammelfleisch und Schweine¬ 
fleisch. Pferdefleisch fehlte fast immer, ‘ 
eine angebliche Pferdewurst bestand so¬ 
gar aus Rinderfleisch mit Zusatz von 
Hirsch- und Kaninchenfleisch.. Die eigen¬ 
tümliche Tatsache, daß der Konsument 
zu seinem Vorteil getäuscht wird, erklärt, 
sich natürlich aus dem -Zwange, die 
gesetzlichen Bestimmungen zu umgehen. 

(M. Kl. Nr. 24.)' ' Bloch (Berlin). 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Atemgymnastik. 

Von Prof. M. Mosse, Berlin. 


Die Vorteile einer systematisch durch¬ 
geführten Lungengymnastik in der Be¬ 
handlung einer Anzahl von Lungen- und 
Brustfellerkrankungen sind seit Jahr¬ 
zehnten den deutschen Ärzten bekannt 
und werden bereits in einigen älteren Dar¬ 
stellungen ausdrücklich erwähnt; ich er¬ 
innere nur an die Bearbeitung der Krank¬ 
heiten der Pleura durch Fraentzel in 
dem Ziemssenschen Handbuch (1875), 
an die Schilderung der Pneumoniebehand¬ 
lung im Handbuche von Albert Fraen- 
kel (1904), an die Hoffmannsche Mono¬ 
graphie über Emphysem und Atelektase 
(1900). 

Es lag nahe, die Erfahrungen auch 
auf die Kriegspraxis zu übertragen. Hof- 
bauer^) konnte zeigen,* daß bei einer 
Gruppe von Krankheiten, die uns im 
Kriege reichlich beschäftigt hatte, näm¬ 
lich bei den Folgezuständen von Thorax¬ 
verletzungen, mit gutem Erfolg Atem¬ 
übungen angestellt werden konnten; im 
besonderen legt er auch Wert auf die von 
ihm^) ursprünglich bei 3er Asthmabehand¬ 
lung empfohlenen Summübungerr. 

Nachdem kürzlich in sehr dankens¬ 
werter Weise die Frage der Lungengynina- 
stik von J. Zadek in dieser Zeitschrift 
behandelt worden ist, möchte auch ich 
mit einigen wenigen Worten auf den 
Gegenstand eingehen. 

Wir hatten im Lazarett Buch reich¬ 
lich Gelegenheit, uns von dem Nutzen 
systematisch angestellter Atemübungen 
zu überzeugen. In dem unter Leitung 
von Herrn Dr. R. Friedmann stehenden 
orthopädischen Saale wurden die Übungen 

1) D. m. w. 1916,- Nr. 5, ref. Ther. cl. Gegenw. 
1916, S. 356. 

2) D. m. W. 1914, Nr. 22. 


mit Unterstützung von Turnlehrern täg¬ 
lich eine viertel bis eine halbe Stundp lang 
ausgeführt. In der Zeit vom August 1915 
bis März 1919 wurden behandelt: Lungen- 
und Brust-Durch- und Steckschüsse 322, 
Lungenentzündung 1Ü9, Brustfellent¬ 
zündung 95, Bronchialasthma 46, Bron¬ 
chitis 71, Emphysem 11, Lungentuber¬ 
kulose 39, Brustquetschung 42, Empyem 
18, Lungenabsceß 1, andere Lungen¬ 
erkrankungen (Fälle von Atembeschwer-^ 
den, Brustschmerzen, Luftröhrenkatarrh" 
usw.) 9T 

Die Übungen wurden, wenn die Witte¬ 
rung dies gestattete, im Sommer und 
Winter im Freien abgehalfen. Sehr zweck¬ 
mäßig erwies sich auch uns die Durch¬ 
führung der Summtherapie.' Besonders 
nach Lungenschüssen mußte die Behand¬ 
lung oft monatelang fortgesetzt werden. 
Großen Wert legte ich für die Fälle der 
von mir geleiteten inneren Abteilung 
darauf, daß vor und während der Behand¬ 
lung in Abständen von einigen Wochen 
Röntgendurchleuchtungen bei Brust¬ 
schüssen, Brustfellentzündungen usw. vor- 
genontmen- wurden. Nur mit Hilfe der 
Röntgenuntersuchung gelingt. es oft, 
worauf besonders F. Kraus ^) aufmerk¬ 
sam gemacht hat, diaphragmatische Ad¬ 
häsionen zu erkennen und zu entscheiden, 
ob die Klagen des Patienten über Schmer¬ 
zen zu Recht bestehen; oft ist man- er¬ 
staunt über den hohen Grad von Ver¬ 
wachsungen, deren Feststellung sonst er¬ 
schwert oder überhaupt unmöglich ist. 
So konnten wir uns in kontrollierender 
Weise auch von den Erfolgen der Therapie 

Die Röntgenunte.rsuchiing von Pleura und 
Zwerchfell. In: Rieder-Rosenthal, Lehrbuch 
der Röntgenkunde I, 1913. 






Februar ' . Die Therapie der Gegenwart 1920 87 


überzeugen. Aber — und auf diesen 
Punkt, möchte ich einigen Wert legen — 
nicht in jedem Falle gelang es, die Folge¬ 
zustände der Lungenschüsse zu beseitigen. 
Die Durchleuchtung lehrte, daß Adhä- 
.sionen trotz mehrmonatlicher Behand¬ 
lung und trotz größter Mühewaltung von 
seiten des Arztes und des Patienten vor¬ 
handen waren. Auch jetzt sehe ich nicht 
selten derartige Folgen von Lungen¬ 
schüssen und überzeuge mich von/ der 
Berechtigung der Beschwerden der Pa¬ 
tienten durch die Röntgendurchleuchtung, 
Es erscheint für die Praxis wichtig, zu 
wissen, daß die Klagen dieser Kategorie 
von Kriegsteilnehmern in vielen Fällen 
ihre organische Ursache haben. — 

Die Forderung von H. Quincke^), 
auf den inneren Abteilungen der Kranken¬ 
häuser mehr als bisher Behandlung mit 
Bewegungsübungen nach einer Anzahl 
von inneren Krankheiten sachgemäß und 
konsequent durchzuführen, dürfte sicher¬ 
lich durchaus berechtigt sein. Aber die- 
selbeForderung gilt wohl noch in stä^rkerem 
Grade für die zahlreichen der Nachbehand¬ 
lung bedürftigen Fälle der Haus- und 


M. m. W. 1919, Nr. 47. 


der ambulanten Praxis, zumal für unsere 
Kassen- und Armenkranke. Es unterliegt 
für mich keinem Zweifel, daß die Kate¬ 
gorie dieser Kranken die Vorteile der Atem¬ 
gymnastik und der Bewegungstherapie oft 
nicht ausreichend erfährt. Wie die Ver¬ 
hältnisse nun einmal liegen, kann sich der 
Arzt in der täglichen Praxis mit diesen 
Dingen häufig nicht genügend selbst be¬ 
schäftigen. Es muß deshalb allerorts Ge¬ 
legenheit geboten werden, Kassen- und 
Armenkranke, die der Atemgymnastik oder 
der Bewegungstherapie nach inneren Krank¬ 
heiten bedürfen, Ärzten oder Instituten zu 
überweisen, in denen die Behandlung lege 
artis durchgeführt wird. Verhältnismäßig 
einfach ist dieser Forderung in den Städten 
zu genügen; immerhin ist daran zu erinnern, 
daß es für Großstädte nicht ausreicht, eine 
oder einige Behandfungsstätten zu schaffen. 
Einem Kranken,der bettlägerig eine Pleuri¬ 
tis durchgemacht hat, kann man nicht zu¬ 
muten, weite Wege zurückzulegen, um 
Atemgymnastik zu treiben. Wie dies in 
sanitären Dingen ja häufig der Fall ist, 
dürfte es allerdings besonders schwierig' 
sein, in der uns hier beschäftigenden Frage 
für die Bevölkerung des platten Landes aus¬ 
reichend und. erfolgreich Sorge zu tragen. 


Über einen diagnostisch sehr bemerkenswerten, trotz Schutz 
impfung letal verlaufenen Fall von Typhus. 

Von Dr. Voltolini-Naiimburg a. Bober. 


Welche diagnostischen Schwierigkei¬ 
ten der Typhus zu bieten vermag, zumal 
in seiner Symbiose mit Paratyphus- 
(A- und B-)B.acillen, die er unter den 
Segnungen des Weltkrieges eingegangen 
ist, habe ich in Nr. 5 und 9 dieser Zeit¬ 
schrift darzutun versucht. Hat er doch 
bei dieser Sozialisierung manches von 
seinen Artgenossen angenommen, eigenes 
an sie abgegeben, so daß er von dem Bilde 
des Typhus der Lehrbücher sehr erheb¬ 
lich abweicht, an Gefährlichkeit aber ihn 
um vieles übertrifft, —zumal nachdem er 
seinen Namen ,,Typhus“ in den freund¬ 
licheren ,,Grippe“ umgeändert hat. 

Im folgenden will ich vorerst die 
Krankengeschichte des hier interessieren¬ 
den Falles vorlegen. 

Am 5. September d. J. wurde ich nachts zu 
dem 18jährigen Sattler M. K. in Chr. gerufen, 
der an starkem einseitigen Kopfschmerz und 
hohem Fieber erkrankt war. Er war noch tags¬ 
über seiner Arbeit nachgegangen und hatte dabei 
kaum nennenswerte Beschwerden empfunden; 
abends war er alsdann fast schlagartig zusammen¬ 
gebrochen. Die Untersuchung des kräftigen 
jungen Mannes ergab 40,4 und 150 Pulsschläge, 


große Abgeschlagenheit und Hinfälligkeit. Ob¬ 
jektive Krankheitserscheinungen ließen sich nicht 
nachweisen; Schüttelfrost war nicht voran¬ 
gegangen. Subjektiv wurde nur über starke 
Schmerzen in der linken Stirnseite geklagt, der 
dritte Trigeminusast war besonders am Foramen 
supra orbitale äußerst druckempfindlich. In 
abdomine, in pulmonibtis kein Befund. Da ein 
Arbeitskollege des Patienten einige Zeit vorher 
von einem Arzt behandelt worden war, der kurz 
darauf selbst an Variola vera schwer erkrankte, 
mußte auch eine diesbezügliche Krankheitsüber¬ 
tragung in Erwägung gezogen werden. Da jedoch 
hämorrhagisches Exanthem oder masernartige 
Flecke durchaus fehlten, wurde dieser Gedanke als¬ 
bald fallen gelassen, und es wurde im Hinblick auf 
den plötzlichen Beginn, das hohe Fieber, die heftigen 
Kopfschmerzen, die drückenden Schmerzen in 
den Augen, die große Hinfälligkeit angenommen, 
daß hier in der Tat ein Fall von ,,Grippe‘‘ vor¬ 
liege. Nachdem jedoch in den nächsten Tagen 
das Fieber nur wenig unter 39° zurückging, das 
Krankheitsbild sich auch in keiner Weise änderte, 
vor allem örtliche Symptome nirgend hervortraten, 
wurde die Befürchtung nicht unterdrückt, daß es 
sich doch vielleicht um Typhus handeln könne, 
zumal im Frühjahr dieses Jahres in Ch. eine aus¬ 
gedehnte Typhusepidemie geherrscht und damals 
eine in demselben Haushalte lebende Schwester 
des Patienten mit ihrem dreijährigen Kinde einen 
— klinisch und serologisch erwiesenen — Typhus 
durchgemacht und lange Zeit im Lazarett zu- 



88 


1 


Die Therapfe der Gegenwart 1.920 


Februar 


gebracht hatte. Jedenfalls wurde der Fall als 
typh US verdächtig gemeldet. Die Diazoreaktion 
fiel jedoch negativ aus, im Stuhl, im Blut, im 
Urin, im Blute, gleich am Krankenbett in Galle 
gebracht, wurden Typhusbacillen nicht gefunden 
(Medizinal-Untersuchungsamt Potsdam Nr. 13063). 
Dagegen ergab die Blutuntersuchung: Widal- 
sche Reaktion positiv Typhus ^/goo nach 24 Stun¬ 
den (Untersuchungsamt 13063). Der positive 
Ausfall der Wi dal sehen Reaktion konnte jedoch 
für die Diagnose im positiven Sinne nicht ohne 
weiteres verwertet werden, da Patient im Februar 
zwei Typhusschutzimpfungen erhalten hatte, 
nach denen erfahrungsgemäß der Widal noch 
monatelang positiv bleibt. Dagegen sprach der 
negative Ausfall des Bacillenfundes im Blut in 
Galle gegen Typhus, zumal, wie Prof. Käthe 
(Untersuchungsamt Breslau) mir seinerzeit brief¬ 
lich mitteilte, „im Blute, sofort am Kranken¬ 
bett in Galle gebracht, bei Beginn der Er¬ 
krankung sich Typhusbacillen regelmäßig nach- 
weisen lassen“. ,,Allerdings“ — schrieb der¬ 
selbe Autor mir an anderer Stelle — „schafft 
die Typhusschutzimpfung besondere Verhält¬ 
nisse. Der Bacillennachweis im Blut und in den 
Dejektionen gelingt viel seltener.“ War also der 
positive Widal auf die Schutzimpfung oder 
auf die jetzt vorliegende Erkrankung zurück¬ 
zuführen? — Inzwischen schritt diese schnell 
ad pejus fort, insofern trotz Bädern und anderen 
hydrotherapeutischen Maßnahmen das Fieber 
fast dauernd auf 40® blieb, die Pulszahl trotz 
Digitalis zwischen 150 und 120 schwankte. 

Am dritten Krankheitstage stellten sich 
Schüttelfröste von großer Intensität ein, die sich 
am nächsten Tage wiederholten.' Sprachen diese 
nun für oder gegen Typhus? In dem „Atlas 
der klinischen Untersuchungsmethoden und Grund¬ 
riß der klinischen Diagnostik'^ sagt Ch. Jakob 
bei der Besprechung der Diagnose des Typhus: 
„Schüttelfrost fehlt“, und Strümpell sagt in 
seinem Lehrbuch: „In Erlangen und ebenso in 
Leipzig kommt ein deutlicher Schüttelfrost fast 
niemals vor.“ Ich selbst sah ihn unter 80 Fällen 
nur einmal, und zwar bei einem schnell letal ver¬ 
laufenden Falle. Jedenfalls sprach also auch 
dieses Symptom mehr gegen als für Typhus. 
Um aus einer erneuten serologischen Unter¬ 
suchung Aufklärung zu erhalten, wurden am 
16. September nochmals Blut, Stuhl und Urin 
zur Untersuchung eingesandt: „Im Stuhl und 
Urin keine Typhusbacillen. Widal sehe Re¬ 
aktion positiv. Typhus ^/goo nach 24 Stunden. 
(Untersuchungsamt Potsdam Nr. 13559). Der 
Titer war also in wenigen Tagen von ^/goo auf 
^/aoo zurückgegangen. Dieses Schwanken des 
Agglutinationsphänomens konnte ein Zeichen 
dafür sein, daß Typhus vorlag, da erfahrungs¬ 
gemäß bei Schutzgeimpften das Schwanken im 
Titer füt Typhus spricht, das Gleichbleiben 
des Titers dagegen. Es konnte aber auch das 
Heruntergehen des Titers nur ein Zeichen dafür 
sein, daß der schutzgeimpfte Organismus analog 
der immer zunehmenden Schwere der Erkrankung 
allmählich an Fähigkeit einbüßte, Schutzstoffe 
— Agglutine — zu bilden, daß er also ganz 


allgemein seine Reaktion überhaupt einzustellen 
begann, analog dem Verschwinden des Harn*' 
Zuckers beim moribunden Diabetiker. 

Am 22. September kam Patient ad exitum, 
ohne daß es trotz aller darauf gerichteten Be¬ 
mühungen gelungen wäre, die amtlich gemeldete 
Diagnose zu beweisen. Es lag nun die'Ver¬ 
mutung nähe, und sie wurde auch vom Kreis¬ 
ärzte geteilt, daß die bei ihrem Bruder lebende 
Schwester, Frau L., die, wie oben erwähnt, ein 
halbes Jahr vorher mit ihrem Kind einen schweren 
Typhus überstanden hatte, Bacillenträgerin sei 
und die Quelle der Ansteckung für ihren Bruder 
geworden wäre. Die von Mutter und Kind mehr¬ 
fach eingesandten Stuhl- und Urinproben ergaben 
ein negatives Resultat. (Potsdam 15618.) Bei 
weiterem Nachgehen erfuhr ich nun von dritter 
Seite, daß mehrere Wochen vor der Erkrankung 
des M. K. seine Mutter einige Zeit unpaß gewesen 
sei und ohne gerade krank zu sein, längere Zeit 
„herumgelegen“ habe. Zur Zeit der Krankheit 
ihres Sohnes war Frau K. jedoch wieder völlig 
wohl und beteiligte sich in scheinbar bester Ge¬ 
sundheit an dessen Pflege. Und doch klärte die 
Untersuchung ihres Stuhles die Sachlage sogleich 
auf, da in ihm schon in der ersten Probe Typhus- 
bacillen gefunden wurden (Untersuchungsamt 
Potsdam Nr. 15615). Die scheinbar leichte und 
ärztlich nicht einmal behandelte Erkrankung der 
Frau K. war also Typhus gewesen, und da Frau K. 
für ihren Sohn kochte, hatte sie auf ihn Typhus¬ 
bacillen übertragen. Auch ein Beitrag zum 
Kapitel „Bacillenträger“! 

Der Fall war in mancher Beziehung 
äußerst lehrreich, einmal dadurch, .daß 
auf die Schutzimpfung als» absoluten 
Schutz gegen Reinfektion nicht zu rechnen 
ist — was besonders für Ärzte und 
Krankenschwestern beachtenswert er¬ 
scheint! —, und daß solche Fälle nicht, 
wie man bisher annahm, ,,ganz leicht“ 
verlaufen, sondern sogar tödlich enden 
können! Ferner war der Fall durch das 
völlige Fehlen aller .klinischen Sym¬ 
ptome außergewöhnlich und ohne die 
bakterielle und serologische Unter¬ 
suchung der Dejektionen auch der An¬ 
verwandten überhaupt nicht aufzu¬ 
klären. Welche Bedeutung dies aber für 
die Öffentlichkeit hat, erübrigt sich zu 
erörtern! Die Unterstützung der Medi¬ 
zinaluntersuchungsämter bleibt also Jm 
Kampfe gegen den Typhus eine nicht zu 
entbehrende Waffe im Rüstzeuge des 
modernen Arztes, und so sei denn auch 
an dieser Stelle noch dankbar des leider 
zu früh aus seiner Tätigkeit geschiedenen 
Kirchner gedacht, der diese Ämter ins 
Leben gerufen hat. 


Der Herausgeber bittet die Mitarbeiter mit Rücksicht auf die gebotene Sparsam¬ 
keit die Arbeiten so kurz als möglich zu halten, die Beigabe von Abbildungen 
auf ein Mindestmaß zu beschränken, auch die Zusammenstellung von Unter¬ 
suchungsreihen in Form von Tabellen der hohen Kosten wegen zu vermeiden. 

Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer in Berlin. Verlag von Urban & S chwarzenber g 
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Berlin W8 





.... ... . ... 

Die Therapie der Gegenwart 



. heraus|fegeben von 

61. Jahrgang Qeli. Med.-Rat Prof. Dr. Q. Klemperer Heft 

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Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats, Abonnementspreis für den 
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.,Therapie der Gegenwart“, betr.: „Biozyme-Bolus“ der Firma Vial & ühlmann, Frankfurt a. M.— Dr. Eder & Co., Berlin N 39, 

betr,: Amalah-Erzeugnissc. 
















! N 

Die Therapie der Gegenwart 


1920 


herausgegeben von Qeh. Med.-Rat Prof. Dr. Q. Klemperer 
in Berlin. 


März 


Nachdruck verboten. 


Zuin Indikationsgebiet der vegetarischen Diät. 
(Fettleibigkeit und Diabetes mellitus.) 

Von Professor Dr. A. Albu, Berlin. 


Der große „Lehrmeister“ Krieg hat 
am Menschen unfreiwillige Experimente 
in so großem Umfange^ gemacht, wie sie 
die Wissenschaft niemals hätte durch¬ 
führen können. Zu den vielen Erkennt¬ 
nissen, mit denen die innere Medizin 
durch die Kriegserfahrungen bereichert 
worden ist, gehört auch die Bestätigung 
der Wirkungen, welche die vegetarische 
Kost auf Gesunde und Kranke ausübt, 
wie sie unter anderem von mir in meiner 
Monographie vor fast 20 Jahren dargelegt 
worden sind^). Denn die Kriegsernährung 
war mehr als drei Jahre lang in der Haupt¬ 
sache eine vegetarische Kost, zeitweise 
sogar noch schlechter als eine solche, wie 
sie von fanatischen Anhängern dieser 
Ernährungsform in Friedenszeiten ein¬ 
gehalten worden ist. Die Kennzeichen 
der vegetarischen Ernährung sind nicht 
nur ihre Fleischfreiheit und ihre Eiwei߬ 
armut (etwa 6 bis 10 g N pro die), sondern 
auch die Minderwertigkeit des Gesamt- 
caloriengehalts der Nahrung (ungefähr 
1200 bis 1800 täglich). Gerade letzteres 
hat sie hauptsächlich mit der Kriegsernäh¬ 
rung gemeinsam. Wenn man auch bei 
der vegetarischen Kost durch Fettzulagen 
den Rohcaloriengehalt der Nahrung nicht 
unwesentlich erhöhen kann, so bleibt die 
Gesamtheit der ausnutzbaren Nährwerte 
doch stets erheblich hinter dem Nutz¬ 
effekt einer eiweißreichen Fleischnahrung 
zurück. Ganz instinktiv pflegen deshalb 
die Vegetarier einer zu weit gehenden 
Unterernährung durch Aufnahme von 
reichlich Nüssen, Öl und anderen Fetten 
vorzubeugen. Darum kann und muß 
man, wie .ich v. Noorden gegenüber^) 
betonen möchte; eine solche Diät durch¬ 
aus noch als vegetarisch bezeichnen, weil 
ihr nicht nur der Stempel der Fleisch¬ 
freiheit und der Eiweißarmut aufgedrückt 
ist, sondern auch der vorwiegenden Zu- 


0 Die vegetarische Diät. Kritik ihrer An¬ 
wendung bei Gesunden und Kranken. Leipzig 
1902. 

Die Zuckerkrankheit und ihre Behandlung. 
VII. Auflage, Berlin 1917, S. 490. 


sammensetzung ihrer Masse aus Gemüsen, 
Salaten, Kräutern und Obst. Die Heil¬ 
faktoren der vegetarischen Diät liegen 
nach meinen langjährigen Erfahrungen 
auf diesem Gebiete gleichzeitig in der 
Unterernährung und in der Eiweißarmut. 
Daraus erklären sich die mit dieser Kost 
in Form von Diätkuren, für die ich seit 
Jahren eintrete, zu erzielenden Erfolge 
sowohl bei der Fettleibigkeit wie bei der 
Zuckerharnruhr. Wenn ich jetzt noch 
einmal die Aufmerksamkeit darauf lenke, 
so geschieht es, weil eben die Beob¬ 
achtungen während der Kriegsjähre die 
bisherigen Erfahrungen einzelner Autoren 
nunmehr im großen Umfange bestätigt 
haben. Im Anschluß an die Mitteilung 
solcher Erfahrungen aus der eigenen 
Praxis will ich auch einige neuere klinisch¬ 
experimentelle Beobachtungen n.ieder- 
legen, deren Veröffentlichung durch die 
Kriegszeit verzögert worden ist. 

I. Entfettung durch vegetarische 
Kost. 

Es ist allgemein bekannt, wie rapide 
schon vom zweiten Kriegsjahr an das 
Körpergewicht fast der gesamten Be¬ 
völkerung Deutschlands herunterging. 
Wenngleich naturgemäß statistische Auf¬ 
zeichnungen nicht vorliegen, so kann man 
ohne Übertreibung behaupten, daß min¬ 
destens 80% der Bevölkerung eine Ein¬ 
buße erlitten haben. Sie hat beide Ge¬ 
schlechter, alle Altersklassen, alle Berufs¬ 
stände und Gesellschaftskreise und nicht 
nur die armen und unbemittelten Volks¬ 
teile, sondern auch die Wohlhabenden 
und Reichen betroffen. Die Ungleich¬ 
heiten im Körpergewichtsverlust waren 
dabei nicht ausschließlich oder haupt¬ 
sächlich durch die Verschiedenartigkeit 
der quantitativen und qualitativen Er¬ 
nährung bedingt, sondern sie wurden in 
erster Reihe durch individuelle Diffe¬ 
renzen bewirkt, welche durch die vor¬ 
handene angeborene Konstitution und 
ihre abnorme Reaktionsfähigkeit geschah 
fen wurden. Der epidemische Genius der 

12 





90 


Die Therapie der 


Unterernährung hat in den Kriegs]ahren 
keinen Unterschied gemacht nach hoch 
und niedrig, arm und reich, sondern 
nach der körperlichen Disposition und 
Widerstandsfähigkeit der einzelnen. Wir 
haben enorme Abmagerungen zustande 
kommen sehen bei entschieden günstiger 
wirtschaftlicher Lage und vorteilhaften 
sozialen Umständen, andererseits auf¬ 
fallend geringfügige Gewichtsverluste bei 
Leuten in dürftigen Ernährungsverhält¬ 
nissen. Bei dieser individualisierenden 
Differenzierung haben vielfach psychische 
Momente einen entscheidenden Einfluß 
ausgeübt. Während in der großen Masse 
des Volkes die Gewichtsabnahme durch¬ 
schnittlich zwischen 10 und 20% 
schwankte, erreichte sie beim Fettleibigen 
oft eine Höhe bis zu einem Drittel des 
gesamten Körpergewichts. Diese Bevor¬ 
zugung der Fettleibigen ist nicht zu ver- 
-wundern. Denn erstens haben sie ein 
ganz ungewöhnlich hohes Körpergewicht, 
von dem ein erheblich großer Anteil ab- 
gehen-kann, ehe ein wirkliches Mißver¬ 
hältnis zur Körpergröße entsteht und das 
normale Durchschnittsgewicht erreicht 
wird; zweitens haben sie einen bei weitem 
größeren Bestandteil gerade desjenigen 
Körpergewebes, das in erster Reihe und 
hauptsächlich die Abmagerung bestreiten 
muß: große Fettdepots nicht nur in der 
Haut, sondern auch um die inneren 
Organe herum, besonders in der Bauch¬ 
höhle. 

Als Beispiel der Kriegszehrung eines 
Fettleibigen sei folgender besonders dra¬ 
stische Fall erwähnt: 1904 trat ein 
SSjähriger Buchdrucker in meine Be¬ 
handlung zum Zwecke der Entfettung. 
Der 179 cm große Mann wog nackt 264 
Pfund. Im Laufe der folgenden Jahre hat 
er mehrfach Entfettungskuren durch¬ 
gemacht, darunter drei vegetarische, von 
denen die erste ihn um 23 Pfund, die 
zweite um 11 Pfund, die dritte um 18 
Pfund herunterbrachte. Zeitweise nahm 
er immer wieder zu. Im Mai 1914 wog 
er nach der letzterwähnten vierwöchir 
gen vegetarischen Entfettungskur 221 
Pfund. Seitdem habe ich ihn nicht wieder 
gesehen, bis er, inzwischen 51 jährig ge¬ 
worden, im Oktober 1917 wieder zu mir 
kam mit einem Körpergewicht von 157 
Pfund. In den inzwischen verflossenen 
drei Jahren hatte er spontan 64 Pfund 
verloren, lediglich unter dem Einfluß 
der Kriegsernährung, deren quantitatives 
und qualitatives Defizit er trotz Auf¬ 
wendung aller seiner Mittel nicht ab- 


’ Gegenwart '1920 ► j ' März 

zuwenden vermocht hatte. Der riesen¬ 
hafte-Fettbauch des Mannes war endlich 
verschwunden, der Leib war eingesunken, 
in dem ehedem kugelrunden Gesicht 
hingen die hohlen Wangen schlaff auf 
die Kinnbacken herab, die dicken,fleischi- 
gen Hände waren schlank und dünn ge¬ 
worden, der mehrfach verkleinerte Anzug 
hing ihm wie ein Sack am Körper, der 
Mann war bis zur Unkenntlichkeit ent¬ 
stellt. Eine derartige Entfettung hatte 
lediglich eine fast ausschließlich vege¬ 
tarische Ernährung zur Folge gehabt. 
Der Mann, der^ früher große Mengen 
Fleisch und Fett zu essen gewohnt war, 
hatte in den beiden letzten Jahren nur 
ein bis zweimal wöchentlich schlechte 
Fleischnahrung in geringer Menge auf¬ 
zutreiben vermocht. Diese unfreiwillige' 
vegetarische Entfettungskur hatte weit 
intensiver gewirkt als die früheren ärztlich 
verordneten, vor allem wohl allerdings 
deshalb, weil sie eine Dauerkur gewesen 
war. Die Natur gestattet sich eben weit 
kühnere Experimente, als die Kunst sie 
wagt. 

Im Anschluß daran gebe ich die Ge- 
wi.chtskurve einer vegetarischen 
Entfettungskur wieder, welche ich 



kurz vor Kriegsbeginn bei einem 36jähri- 
gen Rittmeister gemacht habe. Sein 
Körpergewicht ist in 21 Tagen von 92,9 
auf 85,9 kg, das heißt, um 7 kg gesunken. 



91 


März Die Therapie der Gegenwart 1920 


Die Kurve zeigt in sehr anschaulicher 
Weise die rapiden täglichen Gewichts-, 
Verluste, an denen allerdings sicherlich 
auch die forcierten Körperbewegungen, 
welche der energische Patient konsequent 
durchführte, einen großen Anteil' hatten. 

Zweitens teile jch das Ergebnis 
eines Stoffwechselversuchs mit, den 
ich im Mai 1914 während einer vegetari¬ 
schen Entfettungskur bei einem 43jähri- 
gen 89,4 kg schweren Rentner durch¬ 
geführt habe. Der Versuch erstreckte 
sich über sieben Tage, während deren der 
Patient folgende Kost zu sich nahm; 

Erstes Frühstück: Tee mit Saccharin, 50g 
Schrotbrot mit 10 g Butter, ein viertel Pfund 
Kirschen. 

Zweites Frühstück: Bouillon mit einem 
Gelbei, 100 g Schnittbohnen mit. 10 g Butter, 
eine Senfgurke. 

Mittagessen: 150 g Blumenkohl mit 10 g 
Butter, 100 g Spinat, ein Teller Kopfsalat in Öl, 
ein halbes Pfund Kirschen. 

Nachmittag: Tee mit Saccharin, 50 g Schrot¬ 
brot mit 10 g Butter. 

Abendessen: Bouillon mit einem Gelbei, 100 g 
Schnittbohnen mit 10 g Butter, 100 g Spinat, 
ein viertel Pfund Kirschen. 

Diese Kost enthielt nach unseren 
eigenen Analysen — sie wurden von dem 
Chemiker Herrn Dr. phil. Rewald aus¬ 
geführt — etwa 4,95 g N täglich. Die . 
Schwankungen während der sieben Ver- i 
suchstage sind nur geringfügige gewesen. 
Die Ausscheidungen betrugen an N im I 
Harn während der sieben Tage, von 
4,23 bis 5,27 g N schwankend, im ganzen 
33,31 g N, im Durchschnitt also täglich 
4,73 g N. Im Kot wurden insgesamt 
9,55 g N ausgeschieden, das heißt pro die 
1,36 g N. Berechnet , man danach die 
Stickstoffbilanz, so steht der Einnahme 
von 4,95 g eine Ausgabe von 6,09 g 
gegenüber, das heißt, ein durchschnitt¬ 
licher täglicher Verlust von 1,14 g N, für 
sieben Tage demnach 7,98 g N. Der wirk¬ 
liche Körpergewichtsverlust während der 
sieben Versuchstage betrug 3,7 kg. Er j 
ist in der Hauptsache wohl auf Fett zu I 
beziehen. 

Bezüglich der Technik der vege¬ 
tarischen Entfettungskuren verweise ich 
auf meine früheren Mitteilungen (M. Kl. 
1907, Nr. 14 und namentlich Ther. d. 
Gegenw. November 1909). Schließlich 
sei nuF noch erwähnt, daß die Kriegs¬ 
ernährung als Entfettungsmethode voll¬ 
kommen versagt hat der angeborenen 
endogenen oder thyroegenen Fettsucht 
gegenüber, trotzdem auch diese Fett¬ 
leibigen der vegetarischen Unterernährung 
meist viele Monate oder sogar mehrere 


Jahre'hindurch sich widerwillig unter¬ 
ziehen mußten. Diese interessante Beob¬ 
achtungbestätigt die bekannte Erfahrung, 
daß alle diätetischen Entziehungskuren 
nur der Mastfettsucht gegenüber wirk¬ 
sam sind. 

II. Vegetarische Diät in der Be¬ 
handlung des Diabetes mellitus. 

In einem Vortrag, den ich an einem 
„Kriegsärztlichen Abend‘^ in Berlin im 
Frühjahr 1917 gehalten habe, habe ich 
als erster^) darauf aufmerksam gemacht, 
daß unter der Einwirkung der Knegs- 
ernährung eine größere Anzahl von Fällen 
des alimentären Diabetes zur spontanen 
Ausheilung gelangt sind. Diese Beob¬ 
achtung ist danach von Klemperer, 
P. F. Richter, Rosenfeld, Magnus- 
Alsleben, Magnus-Levy und anderen 
bestätigt worden. Über die Erklärung 
der Ursachen dieser unerwarteten auf¬ 
fälligen günstigen Einwirkung herrscht 
im großen und ganzen Einigkeit unter den 
Autoren. Wie auch von mir zuerst an¬ 
gegeben wurdet), ist es hauptsächlich die 
plötzliche Einführung einer Unterernäh¬ 
rung, welche auf den Stoffwechsel der 
auf übergroße Nahrungszufuhr eingestell¬ 
ten Zuckerkranken so kräftig reduzierend 
wirkt. Den von Pr out und später na¬ 
mentlich Bouchardat für die Ernährung 
von Diabetikern zuerst aufgestellten, in 
neuester Zeit am entschiedensten von 
K 01 i s c h vertretenen Grundsatz der „mög¬ 
lichsten Nahrungseinschränkung'^ als Heil¬ 
mittel hat das Massenexperiment der 
Kriegsernährung aufs glänzendste be¬ 
stätigt. Für die auf diese Weise zustande 
kommende Verminderung der Zucker¬ 
ausscheidung bringt uns zweifellos Ko- 
lischs „Reiztheorie“ des Diabetes das 
beste Verständnis und eine vollkommen 
ausreichende plausible Erklärung. Sie 
bildet zugleich das Bindeglied zu einem 
zweiten maßgebenden Faktor der Heil¬ 
wirkung dieser Diät: der Einschränkung 
der Eiweißnahrung, deren Reiz einer der 
stärksten ,,Agents provocateurs“ für die 
Hyperglykämie und die Glykosurie ist. 
Es kommt hinzu, daß nach langjährigen 
klinischen Erfahrungen, welche durch die 
Ergebnisse experimenteller Untersuchun¬ 
gen bestätigt worden sind, das vege¬ 
tabilische Eiweiß einen weit geringeren 
Zellenreiz bildet als das animalische. Die 
Kriegsnahrung war ja, wie schon ein¬ 
leitend hervorgehoben wurde, an Fleisch 

Zschr. f. ärztl. Fortbild. 1917. 

*) 1. c. 


12* 



92 


Die Therapie der Gegenwart 1920 \ 


März 


und überhaupt an Eiweißnahrung außer¬ 
ordentlich arm. Während die Gesunden 
und die Fettleibigen darauf mit Fett- 
einsphmelzung und im geringeren Grade 
auch mit Eiweißverlust reagierten, haben 
die Zuckerkranken von der unfreiwilligen 
Einschränkung ihres Stoffumsatzes den 
Vorteil des vollkommenen Aufhörens der 
abundanten Zuckerproduktion gehabt. 
Der viel mißbrauchte Ausdruck „Kriegs¬ 
diabetes“ — ich habe zuerst darauf hin¬ 
gewiesen®), daß weder die schwersten 
mechanischen noch psychischen Traumen 
imstande sind, bei Nichtdisponierten einen 
Diabetes mellitus auszulösen! — kann 
also Geltung haben, nur insofern man da¬ 
mit diejenige Fonfi des Diabetes be¬ 
zeichnen will, welche durch eine Unter¬ 
ernährung, wie sie die Kriegskost mit sich 
gebracht hat, zum Verschwinden gelangt 
ist. Gerade deswegen interessiert uns 
diese diätetische Behandlung des Diabetes 
weit über die Kriegszeit hinaus. Sie ist 
ein dauernder Gewinn auch für die Frie¬ 
denstherapie der Zuckerharnruhr und 
wird jetzt wohl nicht mehr aus den Lehr¬ 
büchern verschwinden. 

Schon früher habe ich betont, daß die 
vegetarische Diät sich nicht nur für die 
alimentäre Form des Diabetes eignet, 
sondern auch und oft gerade mit be¬ 
sonderem Vorteil für die schweren, mit 
Ausscheidung von Aceton und Acet- 
Essigsäure einhergehenden Fällen, gleich¬ 
viel, ob man sie überhaupt entzückern 
kann oder nicht. Bei Fällen der letzteren 
Art verordne ich die vegetarische Diät 
in Form von drei bis vierwöchigen 
Diätkuren in Abwechslung mit der Ei¬ 
weißfettdiät oder Haferkuren und der¬ 
gleichen mehr, je nach der Lage des Falles. 
Bei längerer Dauer der vegetarischen 
Diätkur schalte ich ein oder zweimal 
wöchentlich einen Fleisch- oder Fischtag 
ein um der Abwechslung halber. In der 
Zulage von frischem Obst braucht man 
meist nicht ängstlich zu sein. Viele dieser 
schweren Zuckerkranken vertragen bei 
der vegetarischen Diät bald auch die 
Zulage, von einem achtel oder einem 
viertel Liter Milch täglich, so daß die 
Ernährung gar nicht einseitig sich zu ge¬ 
stalten braucht. Die Zulage von Eiern, 
Butter, Fett und Speck ändert gar nichts 
an dem vegetarischen Charakter der Kost. 
Am schlechtesten wird von diesen Zucker¬ 
kranken dabei immer noch das Brot ver¬ 
tragen. Mehr als 100 g davon täglich 
kann man ihnen meist nicht gewähren, 
D. m. W. 1916, Nr. 33. 


ohne ein plötzliches stärkeres Ansteigen 
der Glykosurie gewärtigen zu müssen. 
Die vegetarische Diät hat den gerade für 
Zuckerkranke nicht hoch genug einzu¬ 
schätzenden Vorteil, das oft so abnorme 
Hunger- und Durstgefühl leicht zu be¬ 
friedigen, ohne einen zu starken Reiz auf 
den Stoffwechsel und die Zuckerproduk¬ 
tion auszuüben. In Kürze gebe ich hier 
noch einmal®) das Beispiel einer vege¬ 
tarischen Diät für Zuckerkranke der 
schweren Form, das selbstverständlich 
mannigfach modifiziert werden kann: 

Erstes Frühstück: Kaffee oder Tee mit Sac-. 
charin und eventuell ein achtel Liter Milch, dazu 
ein weiches Ei mit 10 g Butter, einen Apfel oder 
eine Birne. 

Zweites Frühstück: Rührei mit Speck oder 
Sauerkraut mit gebratenem Speck, ein Teller 
Blumenkohl oder Spargel oder Spinat mit aus¬ 
gelassener Butter, eine Apfelsine. 

Mittagessen: Gemüse- oder Obstsuppe, Spinat 
mit Spiegelei, Artischocken mit frischer Butter, 
Blumenkohl gebacken oder Spargel in verschieden¬ 
artiger Zubereitung. Kopf- oder Kressesalat oder 
Pfeffergurke und dergleichen mehr. Walnüsse 
oder Haselnüsse. Als Getränk Zitronenlimonade 
mit Saccharin. 

Nachmittags wie früh. 

Abendessen: Schnittbohnen mit Butter oder 
Pfefferlinge gebraten oder Sauerkraut mit Speck 
und dergleichen mehr, eventuell Rettich und Ra¬ 
dieschen mit frischer Butter oder 50 g Käse be¬ 
liebiger Art. 

Als Beispiel für den Erfolg einer sol¬ 
chen Ernährung gebe ich eine Beobach¬ 
tung aus neuester Zeit wieder. 

Frau V. X., 47 Jahre alt, seit etwa sechs 
Wochen akut erkrankt. 


Dat. 

Diät 

Harn¬ 

menge 

Zucker 

Aceton 

Acetessig- 

säure 

% 

Ge¬ 

samt 

5. 1. 

Beliebig 

4000 

7,2 

288 

+ + 

-f+ 

6. 1. 


3000 

4,2 

126 

+ + 

+ 

7. 1. 


2700 

4,0 

108 

+ + 

+ 

8. 1. 

iiiweiD- 

2950 

3,1 

90 

+ + 


9. 1. 

rcLLK-Uöl 

2400 

2,5 

60 

+ + 

+ 

10. 1. 


2750 

2,1 

57 

+ + 

+ 

11. 1. 


2000 

1,1 

22 

+ 


12. 1. 


2250 

0,6 

13,5 

+ 


13. 1. 


2600 

0,8 

16,8 

4" 

— 

14. 1. 


2000 

0,6 

12 

? 

— 

15. 1. 


2600 

0,4 

10,4 

? 

— 

16. 1. 

09 

O 

1900 

0,5 

9,5 

— 

— 

17. 1. 


1750 

0,6 

10,5 

? 

— 

18. 1. 

« 25 g Brot 

2200 

0,3 

6,6 

— 

— 

19. 1. 

50 g „ 

1600 

0,9 

14,4 

— 

— 

20. 1. 


1500 

0,7 

10,5 

— 

— 

21. 1. 

S 100 g „ 

1700 

0,5 

8,5 

? 

— 

22. 1. 

OJO 

1500 

0,3 

4,5 

— 

— 

23. 1. 

> 

1800 

0,2 

3,6 

? 

— 

24. 1. 


1600 

0,6 

9,6 


— 

25. 1. 


1450 

0,8 

11,6 


— 

26. 1. 

Va 1 Milch 

1800 

0,4 

7,2 

— 

— 

27. 1. 

i V 4 I „ 

1500 

0,5 

7,5 

— 

— 


®) Vgl. meine „Grundzüge für die Ernährung 
von Zuckerkranken'*, Halle 1912, S. 23 u. f. 




■ JVlärz 


I 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


• Selbstverständlich sieht man bei der 
schweren Form des Diabetes auch Mi߬ 
erfolge von der vegetarischen ^Diät wie 
^on jeder anderen' Ernährungsart. Zu¬ 
weilen habe ich doch den Eindruck ge¬ 
habt, das drohende Koma dadurch ver¬ 
hütet zu haben. Ich habe solche vege¬ 
tarischen Diätkuren innerhalb ejnes Jahres 
»drei bis viermal wiederholt, in einzelnen 
Fällen die Kranken überhaupt dauernd 
.auf vorwiegend vegetarischer Diät gehalten 


9a 


unter regelmäßiger Einschaltung von 
Fleisch- und Fischtagen oder in Ab¬ 
wechslung mit kürzeren Perioden der 
'Eiweißfettkost, die dann meist den Aceton¬ 
gehalt im Harn etwas ansteigen läßt. 
Widerstand gegen die vegetarische Diät 
habe ich niemals gefunden, selbst in der 
Nachkriegszeit nicht, in der die Mehr¬ 
zahl der Menschen wieder fleischhungrig 
geworden ist. 


Aus der 11. Inneren Abteilung des Städtischen Xränkenbauses Moabit. 
(Dirigierender Arzt: Geh.-Eat Prof. Zinn; Berlin.) 

Zur Behandlung der chronischen Gelenkentzündungen 
mit Sdnarthrit-Heilner. 

Von Dr. Georg Reimann. 


Das Sanarthrit-Heilner wird ange- 
'wandt gegen Gicht und andere chronische 
Gelenkerkrankungen. Es wird aus Kalbs¬ 
knorpel gewonnen und ist eine kolloidale, 
■farblose, eiweißfreie Flüssigkeit. Der 
Erfinder des Präparats ist Professor 
Hei ln er (München). Bis zum Jahre 
1918 hatte er es an 180 Fällen erprobt. 
Umber berichtete 1918 über 18 Fälle, 
Reinhart 1919 über 23 Fälle. 

Das Präparat ist nicht nur wichtig 
wegen seiner Wirkung auf den Kranken, 
sondern auch wegen der an seine Wirkung 
von Heilner geknüpften Theorien, die 
zu neuen Anschauungen über Gicht und 
‘Chronische Gelenkkrankheiten führen. 
Diese Theorien greifen aber über das 
Gebiet der Gelenkerkrankungen hinaus 
-auch auf die gesamten biologisch-patho¬ 
logischen Vorgänge über. 

Die Reifung dieser Theorien, ihre Be¬ 
gründung und ihre interessante Anwen¬ 
dung auf andere Organe und Krankheiten 
können nicht in Kürze wiedergegeben 
werden und müssen bei Heilner selbst 
nachgelesen werden. Hier seien zum 
Verständnis der Wirkungen des Sanar- 
thrits nur die großen Richtlinien der 
Heilnerschen Theorien an der Hand 
einer einzelnen Krankheit, der Gicht, 
kurz angedeutet. 

Zwischen normal im Blute vorkom¬ 
menden Stoffwechsefprodukten und be¬ 
stimmten von diesen bevorzugten Orga¬ 
nen, wie z. B. zwischen Harnsäure und 
Knorpel, besteht eine Neigung zum Ein¬ 
gehen specifischer Reaktionen, d. h. es 
besteht eine chemische Affinität zwischen 
Harnsäure und Knorpel. Nun kreist 
‘doch Harnsäure stets im Blute. Daß 


trotzdem die chemische Affinität nicht in 
Wirkung tritt, sondern die. normal vor¬ 
handene Harnsäure auf den normalen 
Knorpel keine Wirkung ausübt, hat seinen 
Grund in einer Abwehrvorrichtung des 
Knorpels, dem lokalen Gewebsschutz. 
Dieser ist kein der inneren Sekretion 
nahestehender Vorgang, mit Abgaben von 
Stoffen in das Blut, sondern ein lokaler, 
an die Knorpelzelle gebundener und sich 
zwischen ihr und der andringenden Harn¬ 
säure abspielender Prozeß, gleich einem 
sich stets erneuernden Schutzgitter. 

Wird nun dieser lokale Gewebsschutz 
durch irgendeine Ursache geschädigt, so 
tritt die Harnsäure auf Grund der chemi¬ 
schen Affinität mit dem Knorpel in Reak¬ 
tion und es entwickelt sich das Bild der 
Gicht. 

Die Gicht gehört somit zu der von 
Heilner geschaffenen Gruppe der Affi¬ 
nitätskrankheiten und entsteht nach ihm 
durch Versagen des lokalen Gewebs- 
schutzes des Knorpels. Die Wirkung 
eines Heilmittels müßte nun darin be¬ 
stehen, diesen lokalen Gewebsschutz wie¬ 
der herzustellen. Das Sanarthrit ist ein 
aus normalem Knorpel hergestelltes Prä¬ 
parat. Es bringt wahrscheinlich dem 
Knorpel die ihm verlorengegangenen che-s 
mischen Stoffe, die vielleicht fermenta¬ 
tiver Art sind, wieder. 

Seine günstige Wirkung beruht wohl 
auf einer Wiedererweckung bzw. Ver¬ 
stärkung des lokalen Gewebsschutzes in 
den erkrankten Gelenken, durch Anregung 
der darniederliegenden ferinentativenZell¬ 
vorgänge. Die klinische Äußerung dieser 
Anfachung zeigt sich oft in Entzündungs¬ 
nachschüben. Es werden also durch das 






m 


, Die\Therapie der Gegenwart 1920 




Sanarthrit keine specifischen Schutzstoffe 
oder Schutzfermente in das Blut geliefert, 
sondern es wirkt eher lokal an den Knor¬ 
pelzellen in obigem Sinne. 

Soweit das notwendigste von den 
Hei ln ersehen Theorien. Unabhängig 
von ihnen besteht die Tatsache, daß das 
Knorpelpräparat Sanarthrit günstigeWir- 
kungen in einer Reihe von Fällen bei 
anderen Untersuchern und auch bei uns 
ausgeübt hat. Die Anwendungsbreite des 
Mittels ist noch nicht abgegrenzt und ist 
noch weiter zu erforschen. Diesem Zwecke 
soll die Veröffentlichung der nachstehen¬ 
den Krankengeschichten dienen. 

Wir haben das Sanarthrit in 15 Fällen 
angewandt. Diese Zahl ist zu klein, um 
eine statistische Zusammenstellung dar¬ 
über zu geben. Die Fälle müssen einzeln 
betrachtet werden. Es wurden Stärke I 
und 11 gebraucht in Mengen von 0,5 und 
1 ccm. Die bisher angegebene Technik 
der intravenösen Injektion und die Dosie¬ 
rungsvorschriften haben wir befolgt. Die 
Ungefährlichkeit der Injektionen hat sich 
auch uns erwiesen. Irgendeine Schwierig¬ 
keit beim Injizieren besteht nicht. 

Nach d'er Vorschrift werden drei Stär¬ 
ken der Reaktion am Tage der Ein¬ 
spritzung unterschieden. Unter 62 Ein¬ 
spritzungen hatten wir merkwürdiger¬ 
weise nur eine starke Reaktion. Diese 
besteht in ausgesprochenem Schüttelfrost 
ungefähr eine Stunde oder mehr nach der 
Einspritzung, mit Fieber von mindestens 
39,5, starken Schmerzen in den befallenen 
Gelenken, daneben Kopfschmerzen,Kreuz¬ 
schmerzen, Übelkeit, starker Schweiß, 
Durst, allgemeines Reißen. Die Schmer¬ 
zen und das Auftreten von Knacken in 
den Gelenken sollte man übrigens Herd¬ 
reaktion nennen, nicht Lokalreaktion, 
weil dieser Ausdruck nach Analogie der 
Tuberkulinreaktion eine Entzündung der 
Einspritzstelle bedeuten würde. Letzteres 
sahen wir jedoch bei den nur intravenösen 
Einspritzungen in keinem Falle. 

Mittelstarke und schwache Reaktionen 
zeigen jene Symptome in geringerem 
Maße. Hei ln er gibt eine genaue Ein¬ 
teilung der drei Grade von Reaktions¬ 
stärken und es ist unbedingt notwendig, 
sich streng danach zu richten, damit die 
Ergebnisse der verschiedenen Autoren 
auch .einwandfrei miteinander verglichen 
werden können. 

Ebenso wie die übrigen Autoren sahen 
auch wir keine Reaktion, die nicht schnell 
bis- zum Abend wieder abklang. Die 


Patienten fühlt^ sich auch bei stärkeren 
Reaktionen nie schwer krank und warea 
nie gegen ein^ Fortsetzung (J^r Kur ejn- 
genommen. Wenn auch anscheinend die 
' Heilwirkung mit der Stärke der Reak¬ 
tionen zusauimenhing, so war das doch 
nicht stets der Fall und wir möchten 
nicht raten, bei ausbleibenden Reaktionen 
die Kur frühzeitig abzubrechen, ebenso-- 
wenig bei ausbleibender Heilwirkung. 
Eine Kur von mindestens sechs Spritzen 
empfiehlt-sich stets, und es bleibt offen, 
ob nicht-in Zukunft diese Forderung er¬ 
höht werden wird. Zumal in den Fällen, 
wo die bisherigen Methoden versagt ha¬ 
ben, wird durch eine ausgedehnte Sanar- 
thritkur ja nichts versäumt. H ei ln er 
hält eine Kur nicht für vollendet, wenn 
nicht wenigstens .eine starke Reaktion 
erzielt worden ist. 

Fall 1. M. J., 22 Jahre, weiblich. 

Djagndse; Akute Polyarthritis rheumatica 
mit Übergang in chronisches Stadium. Mitral¬ 
fehler. 

Beginn am 19. März 1919. Aufnahme am 
folgenden Tage. 39,6. Gelenkschwellungen an 
Armen und Beinen mit Erguß. Am 13. April 
entfiebert. Am 27. April eine Angina. Behandlung^ 
mit Aspirin, Antipyrin, acht Gonargininjektionen, 
Salicylsalben,’ Ichthyol, Jodkalisalben, Bädern, 
Heißluft, Diathermie, Elektrisieren, Massieren, 
Übungen an Apparaten. Die Krankheitserschei¬ 
nungen gingen zum Teil zurück. Der Verdacht 
auf Gonorrhöe bestätigte sich nicht, ln den drei 
Gelenken des rechten Armes blieb ein chronischer 
Zustand bestehen, der durch obige Mittel nicht 
zu beeinflussen war. Viereinhalb Monate nach 
Beginn des Leidens war folgender Befund: Der 
rechte Arm kann nur bis zur Horizontalen ge¬ 
hoben werden, nach hinten bleibt er gegen den 
linken zurück. Zur Streckung im Ellenbogen 
fehlen noch 30 Grad, die Beugung geht etwas 
über einen Rechten. Das Gelenk ist verdickt, 
knirschende Einlagerungen in der Kapsel sind zu 
tasten. Die Hand ist infolge eingeschränkter 
Beweglichkeit zur Arbeit nicht brauchbar, 
Knacken im Handgelenk, mangelnder Faust¬ 
schluß. Atrophie von 2 cm gegen links. Wasser¬ 
mann negativ. 

Beginn einer Sanarthritkur unter Aussetzen 
aller anderen Behandlung. Im ganzen acht In¬ 
jektionen. 5. August 1919 1 ccm Stärke I ohne 
Fieber, mit Herdreaktion und den von Heil ne r 
sogenannten Mahnungen in den anfänglich auch 
erkrankt gewesenen, inzwischen geheilten Ge¬ 
lenken. 8. August 1 ccm Stärke II starke Reak¬ 
tion. Es wird gleichzeitig zunehmendes Knirschen 
in den Gelenken und Besserung der Beweglichkeit 
festgestellt. Infolge Auftretens von Ruhr, die . 
sich die Patientin durch Hausinfektion zugezogen 
hatte, wurde die Kur drei Wochen ausgesetzt. 
Am 28. August 0,7 ccm Stärke I und noch weitere 
fünf Injektionen mit 1 ccm Stärke II machten 
schwache Reaktionen. Die Besserung schritt fort 
und wurde unterstützt durch Massage und nicht , 
forzierte Bewegungen. 

Das Ergebnis bis zum 25. September war 
folgendes:- Di^ Patientin hat zwar noch mäßige: 




März 


Die Therapie -der 


Schmerzen bei gewissen Bewegungen, doch hin¬ 
dert dies nicht den Gebrauch des Armes. Das 
Schultergelenk ist jetzt völlig beweglich wie links. 
Das Ellenbogengelenk wird völlig gestreckt und 
ein wenig mehr gebeugt als früher. Die all¬ 
gemeinen Verdickungen sind geschwunden, stark 
knirschende V-Knoten noch vorhanden- Die 
Hand kann wieder zum Schreiben verwandt wer¬ 
den. Die Volarflexion ist völlig, die Dorsalflexion 
wesentlich gebessert. Beim Faustschluß läßt der 
kleine Finger noch nach. 

Am 27. November noch in Beobachtung. Der 
Zustand ist derselbe. 

Fall 2. E. K., 35 Jahre, weiblich. 

Rezidiv eines akuten Gelenkrheumatismus mit 
Übergang in chronische Polyarthritis. Mitral¬ 
fehler. Erster Anfall 1917, ausgeheilt. 

Der jetzige Anfall begann am 2. Juni 1919 
in den Fußgelenken und griff am 12. auf Knie, 
Hände, Ellenbogen und Schultern über. Auf¬ 
nahme am 15. Juni. Nach schnellem Fieberabfall 
tritt vom 23. bis 27. Juni eine fieberhafte Ver¬ 
schlimmerung der Endocarditis ein. Vom 25. Juli 
bis 10. August bbsteht eine Cholecystitis. Behand¬ 
lung mit Salicyl, Heißluft, Diathermie und Übun¬ 
gen. Drei Monate nach Beginn der Erkrankung 
ist der Befund folgender: Die Bewegungen des 
rechten Schultergelenks sind von leisem Reibe- 
gefäusch begleitet, sie gehen auch passiv nur bis 
zur Horizontalen und nach hinten nicht so 
weit wie links. Beide Handgelenke sind um die 
Hälfte ihrer Beweglichkeit eingeschränkt, beson¬ 
ders das linke. Faustschluß rechts nicht möglich, 
links bleiben vierer und fünfer Finger zurück, ln 
den Beinen nur zeitweise Reißen- Röntgen: Kno¬ 
chenatrophie an den Ei3iphysen der Fingergelenke. 
Handgelenke frei. 

Da der Befupd im letzten Monate stationär 
geworden war, so wird unter Auss’etzen jeder an¬ 
deren Behandlung am 4. September eine Sanar- 
thritkur begonnen von sechs Spritzen, bis zum 

29. September. Die Mengen betrugen 0,5 ccm 
Stärke I, 0,5 ccm Stärke II, 1 ccm Stärke II 
dreimal und zum Schluß I ccm Stärke I. Die 
zweite und die letzte Injektioti machten mittel¬ 
starke Reaktion, die übrigen schwache. Nach 
der zweiten Injektion setzte eine fortschreitende 
Besserung ein.. An die Sanarthritkur wurde 
nun eine vierzehntägige Behandlung mit Dia¬ 
thermie und Üben angeschlossen. Die Besse¬ 
rung schritt fort und der Befund war am 
14. Oktober folgender: Die Patientin kann 
sich jetzt wieder auskleiden, das Haar kämmen, 
das Eßbesteck benutzen. Der rechte Arm 
kann über die Horizontale gehoben werden und 
so weit nach hinten wie links. Der Faust¬ 
schluß ist beiderseits fast vollständig. Nur die 
Endphalangen sind beiderseits aktiv unbeweglich 
geblieben. Eine einmonatliche ambulante Weiter¬ 
behandlung mit Diathermie und Üben und Mas¬ 
sieren ändert nichts Wesentliches mehr. Patientin 
will die Kur demnächst wiederholen 

Diese beiden Fälle zeigen, daß das 
Sanarthrit, nachdem ein chronischer, an¬ 
scheinend nicht besserungsfähiger Zu¬ 
stand eingetreten war, einen Anstoß in 
günstigem Sinne gegeben hat. 

Fall 3. F. C., 42 Jahre, weiblich. 

Polyarthritis rheumat. acuta mit sehr ver¬ 
zögertem Verlauf. Perikarditis, Pleuritis. 

Beginn Ende August 1919. Aufnahme am 
31. August. Mitte September pleuritis duplex und 


Gegenwart 1920* 1 95 ^ 


Perikarditis, fast alle Gelenke erkrankt. Behänd -1 
lung mit Melubrin, Esterdermasan Antipyrin,; 
Salicyl, Kollargölklysmen. Alles ohne rechten i 
Erfolg. Dauernd Fieber, in den letzten zweiTagen i 
subfebril. Am 3P, September Beginn einer’ 
Sanarthritkur mit insgesamt sieben Spritzen., 

30. September 0,5 ccm Stärke I schwache Re-, 
aktion. Die Temperatur geht am nächsten 
Tag auf 37 herab und das Fieber kehrt nicht,- 
wieder, auch nachdem die Antipyretika vom, 
2. Oktober ab fortbleiben. Die zweite Spritze I- 
am 3. Oktober von 0,75 ccm Stärke I macht 
keine Reaktion. Die Gelenke schwellen ab, die 
Pleuritis geht zurück. Das Herz ist frei. Dritte' 
Spritze am 6. Oktober 1,0 ccm Stärke I ohne 
Reaktion. Die Beweglichkeit aller Gelenke^ 
nimmt zu. Vierte Injektion am 9. Oktober' 
0,5 ccm Stärke II schwache Reaktion. Am 

12. Oktober fünfte Injektion 1,0 Stärkei. 
Die sechste am 15. Oktober mit 1 ccm Stärke II, 
die siebente mit 1 ccm Stärke II am 17. Ok¬ 
tober machten keine Reaktion. Am folgenden 
Tag konnte die Patientin nach Hause ent¬ 
lassen werden. Am 23. Fahrt in ein Bad. Dort 
sofort ein' Rückfall, der eine Woche dauert 
und Beschwerden in der linken Schulter zu-- 
rückläßt. 

Das Sanarthrit hat in diesem Falle 3,. 
falls kein zufälliges Zusammentreffen vor¬ 
liegt, den Ablauf eines akuten Gelenk¬ 
rheumatismus günstig beeinflußt, aber 
nicht vor Rezidiv geschützt. ln den 
beiden folgenden Fällen 4 und 5 liegt 
jedoch der Verdacht vor, daß das Sanar¬ 
thrit bei noch frischem Gelenkrheuma¬ 
tismus Rezidive auslösen kann. 

Fall 4: G. C., 19 Jahre, weiblich. 

Akuter Gelenkrheumatismus mit Endokarditis 
bei Ruhr. 

Beginn einer Ruhr am 28. August 1919. Am 

31. August Aufnahme. Entfiebert am 18. Sep¬ 
tember. Herz ohne Befund. Am 12. September 
Polyarthritis an Händen, Knien und rechtem 
Kiefergelenke. Schnell entfiebert. Rückfall am 
23. September ohne Fieber. Befund am 8. Oktober: 
Endokarditis mitralis. Keine Schwellungen, all¬ 
gemeines Reißen. Knie aktiv schlecht beugbar, 
passiv frei, subfebrile Temperatur. 

Unter Aussetzen der bisherigen Salicyl- und 
Schwitzbehandlung wird eine Sanarthritkur be¬ 
gonnen, vier Wochen nach Beginn des Gelenk¬ 
rheumatismus. 

Am 10. Oktober: 0,5 ccm Stärke I und am 

13. Oktober 1 ccm Stärke I, beide ohne Reaktion. 
Da leichte Ergüsse in der rechten Hand und im 
linken Knie auftreten und Neigung zu Temperatur¬ 
steigerung, wird die Kur abgebrochen. Die frü¬ 
here Therapie wird wieder aufgenommen und die 
Patientin am 6. November, mit Mitralfehler ge¬ 
bessert, entlassen. Es besteht Reißen ohne objek¬ 
tiven Gelenkbefund. 

Fall 5: H. B., 24 Jahre, weiblich. 

Rezidiv eines akuten Gelenkrheumatismus im 
Anschluß an Ruhr. 

Im Alter von sieben Jahren echten Gelenk¬ 
rheumatismus gehabt. Inzwischen Reißen ohne 
Gelenkveränderungen. Am 13. August 1919 Er¬ 
krankung an Ruhr. Am 3. September: Beginn 
von Gelenkschmerzen. Am 6. September Auf¬ 
nahme. 39 Grad, starke Polyarthritis an Armen 
und Beinen mit Ergüssen. Ruhr. Herz ohne Be- 






96 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


fund. Fluor, keine Gonorrhöe. Wassermann 
negativ. Nach Besserung der Ruhr tritt am 
20. September ein Rückfall der Gelenkschwellun¬ 
gen ein, ohne Fieber. Therapie: Salicyl innerlich 
und äußerlich, Antipyrin, Phenacetin, heiße 
Bäder, Schwitzen. Röntgen: verwaschene Zeich¬ 
nung der Handwurzelknochen. Am 10. Oktober, 
also über einen Monat nach Beginn des Rheuma¬ 
tismus und während Bestehens eines Rückfalls, 
wird unter Aussetzen jeder anderen Behandlung 
eine Sanarthritkur begonnen. Zuerst 0,5 ccm 
Stärke I ohne Reaktion. An den folgenden Tagen 
beginnt die Temperatur zu steigen. Zweite In¬ 
jektion am 13. Oktober: 1 ccm Stärke I mit mittel¬ 
starker Reaktion. 

Da die Temperatur auf 39 geht und die rheu¬ 
matischen Erscheinungen sich verschlimmern, 
wird die Kur abgebrochen. Zehn Tage später 
wieder entfiebert. Weiterbehandlung, mit Melu- 
brin, Massieren und Elektrisieren. Der Befund 
bessert sich erst Mitte November. Vorübergehen¬ 
des Herzklopfen und systolisches Geräusch. Vor¬ 
übergehende Pleuritis exsud. dextra. Am 27. No¬ 
vember noch in Behandlung. 

Es folgen jetzt vier Gelenkerkrankun¬ 
gen von jahrelanger Entwicklung: Hier 
haben Kuren von vier bis sechs Spritzen 
noch keine oder nur unwesentliche Er¬ 
folge aufzuweisen. Es sind auch keine 
starken Reaktionen erzielt worden. Da 
aber immerhin Reaktionen vorkamen, so 
sind solche Fälle vielleicht doch einer 
modifizierten Kur zugänglich. 

FaI16:J. W., 57 Jahre, weiblich. 

Arthritis chronica deformans progressiva im 
Anschluß an akuten Gelenkrheumatismus. 

1913 akuter Gelenkrheumatismus, der sie bis 
1917 arbeitsunfähig macht. Februar 1919 Rück¬ 
fall an den Fußgelenken, Aufnahme 6. November. 
Kein Fieber. Starke Bewegungsbeeinträchtigung 
beider Hüftgelenke. Knie nur bis 90 Grad beug¬ 
bar. Wirbelsäule frei. Subluxationen sämtlicher 
Finger. Faustschluß aktiv und passiv nicht mög¬ 
lich. Wassermann negativ. Röntgen: Am Knie 
starke Veränderung des Gelenkspalts außen, am 
Becken ist der linke Gelenkspalt nicht sichtbar. 
Kleine Auflagerungen am Femurkopf. An den 
Händen Knochen ohne Befund. 

Sanarthritkur, daneben Ganzschwitzkasten. 
Am 12. November 0,5 ccm Stärke I mit schwacher 
Allgemeinreaktion. Am 17. November 1 ccm 
Stärke I ohne Reaktion. Am 22. November 
0,5 ccm Stärke II mit mittelstarker Reaktion, 
dabei Herdreaktionen. Am 26. November 1 ccm 
Stärke I schwache Reaktion. Die Kur wird fort¬ 
gesetzt. 

Fall 7: M. B., 70 Jahre, weiblich. 

Arthritis chronica deformans progressiva. Ar¬ 
teriosklerose der Aorta, Decubitus. 

Seit vielen Jahren sogenanntes Gichtleiden an 
den Händen. Aufnahme am 3. November 1919. 
Finger in Strecksteilung versteift mit teilweise 
subluxierten und verdickten Gelenken. Streckung 
im Ellenbogengelenk unvollkommen. Schulter¬ 
gelenkbewegung beiderseits sehr schmerzhaft. 
Brustwirbelsäulenkyphose mit Steifigkeit, Hyper¬ 
ästhesie der unteren Extremitäten. Kniegelenke 
nur bis 90 Grad beugbar.' Keine Konturverände¬ 
rungen. Röntgen: Die Gelenke der Hand zeigen 
starke Atrophie der Knochen mit Konturverände- 
rungen der Gelenke. 


März 


Sanarthritkur:,8. November 0,5 ccm Stärke 1 
ohne Reaktion. Am 13. November 1 ccm Stärke I, 
schwache Reaktion. Am 17. November 5 ccm 
Stärke II, mittelstarke Allgemeinreaktion. Am 
21. November 1 ccm Stärke II, mittelstarke 
Reaktion. Die Kur wii^d fortgesetzt. 

Fall 8: O. L., 61 Jahre, weiblich. 

Arthritis urica der Finger. Rezidivierende 
Gallensteinkolik. 

Im Alter von 35 Jahren Basedow; jetzt nur 
noch Exophthalmus und systolisches Geräusch 
am Herzen. Seit 1905 gallensteinleidend. Seit 
13. April neuer Steinanfall. Aufnahme am 16. Sep¬ 
tember. Heberdensche Knoten an den steifen 
Fingern, die auch passiv wenig krümmbar sind. 
Röntgen: Lochartige Defekte an den Epiphysen 
der Phalangen. 

Nach Abklingen des Gallensteinanfalls bei 
schwachem Ikterus: Sanarthritkur von vier 
Spritzen. Am 29. Oktober 1919 1 ccm Stärke 1, 
mittelstarke Allgemein- und Herdreaktion. Es 
tritt Knirschen in den Gelenken auf und die Be¬ 
weglichkeit bessert sich. Am 1. November 1 ccm 
Stärkei, schwache Allgemeinreaktion. Am 4. No¬ 
vember bei 0,5 ccm Stärke II schwache Allge¬ 
meinreaktion. Am 11. November 1 ccm Stärke II, 
mittelstarke Allgemeinreaktion Am folgenden 
Tage tritt ein neuer Gallensteinanfall mit 38,6 
und zunehmendem Ikterus auf. Deshalb Abbruch 
der Sanarthritkur. Abklingen des Anfalls. Keine 
weitere Besserung der Finger. Am 27. November 
noch in Beobachtung. 

Fall 9: M. H., 49 Jahre, weiblich, 
t Chronisch progressive Periarthritis destruens. 
Operierte Mammageschwulst. Hysterie. Mor¬ 
phinismus. Kachexie, 

Sommer 1916 Beginn mit steifem Hals. Es 
folgten Schmerzen in Schultern und Füßen. 1918 
erkrankten Hände und Füße und Knie. 1919 
im Frühling der Rücken. Die schubweise auf¬ 
tretenden Anfälle in Händen und Füßen be¬ 
standen in Schwellungen, Rötung und Schmerzen. 
Über Fieber nichts Sicheres zu erfahren. Seit 
Oktober 1919 völlig arbeitsunfähig. Aufnahme 
am 20. Oktober. Kopf wenig beweglich. Wirbel¬ 
säule in normaler Haltung. Starke Versteifung 
aller Arm- und Beingelenke. Kein Knirschen. 
Röntgen: Keine deformierenden Prozesse an den 
Gelenken. Keine Gonorrhöe, Wassermann negativ. 

Sanarthritkur von sechs Spritzen ohne Erfolg. 
Schwache oder gar keine Reaktionen. 

Dieser Fall leitet über zu zwei Fällen 
von Wirbelsäulenversteifung, bei denen 
auch ein Versuch gemacht wurde. Nach 
zwei bis drei erfolglosen Spritzen mußten 
die Kuren jedoch aus anderen Gründen 
unterbrochen werden. 

Fall 10: F. M., 40 Jahre, männlich, 

Spondylarthritis ankylopoetica,Typ Bechterew. 

1913 nach Wandernierenoperation und Kreuz¬ 
schmerzen. Später Versteifung der Wirbelsäule. 
1915 zum Heeresdienste. Verschlimmerung mit 
Intervallen. 1919 Schulterversteifung, Gesä߬ 
schmerzen und Unsicherheit beim Gehen, beson¬ 
ders im Dunklen. Aufnahme am 23. Oktober 
1919. Kyphose der Brust-Halswirbelsäule. Große 
Gelenke ergriffen, kleine frei. Parästhesien an 
den Oberschenkeln. Röntgenbefund: An den seit¬ 
lichen Wirbelgelenken starke Verknöcherungen. 

Sanarthrikur 28. Oktober 0,7 ccm Stärke I, 
schwache Reaktion mit Herdreaktion. Am 
31. Oktober 0,6 ccm Stärke II mit schwacher 
Reaktion. Am 4. November 0,5 ccm Stärke II 





März 


Die Therapie der Gegefiwart 1920 


97 


(• 

ohne Reaktion. Wegen Diphtherie Abbruch der 
Kur. 

Fall 11: F. P., 41 Jahre, männlich. 

Spondylarthritis ankylopoetica, Typ: Pierre- 
Marie-Strümpell. Empyem links. Beginn der 
Erkrankung im Sommer 1914 mit Kreuzschmerzen 
und Steifigkeit der unteren Wirbelsäule. 1917 
Erkrankung der linken Hüfte im Anschluß an 
Unfall. Übergreifen der Steifigkeit auf die Hals¬ 
wirbelsäule und beide Hüften. Aufnahme am 
18. November 1918. Befund am 1. Oktober 1919: 
Elender Zustand, Neigung zu Temperaturen in¬ 
folge Emphysem links. In Strecksteilung fixierte 
Wirbelsäule. Arme frei. Hauptsächlich Hüften, 
weniger die Knie und gering die Füße ergriffen. 
Röntgen: Besonders an der Lendenwirbelsäule 
sind die knöchernen Verwachsungen gut zu sehen. 

Sanarthritkur am 2. Oktober: 0,5 ccm Stärke I 
ohne Reaktion. Am 18. Oktober 0,5 ccm Stärke II, 
hat mittelstarke Allgemeinreaktion und Herd¬ 
reaktion zur Folge. Keine Besserung. Die Kur 
wurde in Rücksicht auf den elenden Zustand 
nicht fortgesetzt. Später Operation des Em¬ 
pyems. Noch in Beobachtung am 27. No¬ 
vember. 

Auch drei gonorrhoische Gelenker¬ 
krankungen wurden mit Sanarthrit be¬ 
handelt, von denen ein Fall günstig 
beeinflußt wurde. 

Fall 12: G. L., 25 Jahre, weiblich. 

Monarthritis gonorrhoica pedis. Chronische 
Gonorrhöe. 

Anfang 1917. Wochenbettfieber und Fluor 
mit Angina. Im Winter 1918 ein rheumatischer 
Anfall in der linken Schulter. Am 9. August 1919 
Wiederauftreten dieser Schmerzen, ferner in der 
rechten 'Schulter und im linken Fuß. Aufnahme 
am 12. August. Fieber bis 39. Linker Füßrücken 
stark geschwollen und gerötet und unbewegbar. 
Angina catarrhalis. Gonokokken im Urethral¬ 
abstrich. Wassermann negativ. Es kommt eine 
Lymphangitis mit Schenkeldrüsenschwellung 
hinzu. Ab 8. September normale Temperatur. 
Therapie: Salicyl, später Heißluft, dann Massage 
und Bewegen. Sieben Wochen nach Krankheits¬ 
beginn war der Befund folgender: Fußgelenk 
verdickt. Schmerzen mittelstark. Alle Bewe¬ 
gungen fast aufgehoben. Röntgen: Knochen¬ 
atrophie. 

Sanarthritkur von fünf Injektionen, anfangs 
unter Weglassung jeder anderen Behandlung. 
Am 29. September 0,5 ccm Stärke I macht nur 
Kopfschmerzen. Am 2. Oktober 1 ccm Stärke I 
mittelstarke Reaktion. Am Abend eine bessese 
Beweglichkeit des Fußes und weniger Schmerzen. 
Am 7. Oktober 1 ccm Stärke l schwache Reaktion. 
Von jetzt ab Massieren und Bewegen. Am 13. No¬ 
vember 1 ccm Stärke II, Mahnungen in der linken 
Schulter. Am 18. Oktober 0,5 ccm Stärke II, 
ohne Reaktion. Die Besserung schritt schnell 
vorwärts. Die Patientin wurde am 23. Oktober 
mit normalem Befund entlassen. 

Fall 13: M. M., 22 Jahre, weiblich, - 

Monarthritis gonorrhoica genu. Lues. Gravi¬ 
dität. Akute Gonorrhöe. Cystitis. 

Beginn Mitte Juli 1919 mit Schmerzen in der 
linken Hand und rechtem Fuß. Ende Juli heftige 
Schmerzen und Schwellung des rechten Knies. 
Aufnahme am 1. August. 37,6 in der Achsel. 
Das Knie, Außenseite der Wade und Fußrücken 
sind gerötet und geschwollen. Kein Erguß. 
Gravid im fünften Monat. Im Urethralabstriche 
Gonokokken, Wassermann -f -f. Behandlung mit 
3 g Neosalvarsan und 0,9 Hg sal., daraufhin 


Wassermann negativ. Ferner Salicyl. Stauung, 
später Massieren und Bewegung. Am 6. und 
17. September im Chloräthylrausch Lösung der 
Verwachsungen unter Knirschen durch forcierte 
Beugung. Röntgen: Am 1, Oktober Atrophie der 
Knochen. Befund: Das rechte Knie wird aktiv 
nicht bewegt wegen Schmerzen, passiv bis zum 
rechten Winkel unter Knirschen. Kein Erguß. 
Fuß nur noch wenig empfindlich. 

Unter Aussetzen jeder Behandlung wird eine 
Sanarthritkur eingeleitet, zweieinhalb Monate 
nach Krankheitsbeginn, von vier Spritzen, die 
alle keine Reaktion machen und keinen Erfolg 
haben. Am 3. Oktober 1 ccm Stärke I. Am 
6. Oktober 0,4 ccm Stärke II. Am 9. Oktober 
und am 13. Oktober 1 ccm Stärke II. 

Daraufhin wird am 14. Oktober im Chlor¬ 
äthylrausche nochmals gewaltsam bewegt und 
Heißluft und energische Übungen angeschlossen, 
mit gutem Erfolge. Patientin geht bald schmerz¬ 
frei und kann das verdickte Knie gut beugen. Am 
27. November noch in Beobachtung. Gravidität 
ungestört. Später Geburt eines gesunden Kindes. 

Fall 14: E. B., 31 Jahre, weiblich. 

Monarthritis genu gonorrhoica. Akute Gonor¬ 
rhöe. Cystitis. 

Vor fünf Jahren akuten Gelenkrheumatismus 
in den Knien gehabt. Fluor seit April 1919. Pa¬ 
tientin hat einen Mann angesteckt. Am 1. Juni 
Schmerzen im linken Knie und linker Schulter. 
Am 3. Juni heftiger Anfall im rechten Knie. 
Punktion soll nichts ergeben haben. Aufnahme 
am 12. Juni. Starke Schwellung des rechten 
Knies. Rötung. Kein Erguß. 39 Grad. Im 
Urethralabstrich Gonokokken positiv. Wasser¬ 
mann negativ. Punktion am 28. Juni ohne Be¬ 
fund, Behandlung mit Gonargin intramuskulär 
und intravenös mit im ganzen 14 Spritzen, ferner 
Salicyl, Extension, Stauung, Heißluft, Massieren 
und Bewegen. Am 19.,^ Juli und am 16. August 
forcierte &ugung im Äthylchloridrausche. Viel 
Schmerzen und hohes Fieber mit Rückfällen. Das 
Knie blieb steif. Röntgen: Unregelmäßige Kon¬ 
turen. Zerstörung des Knorpels und Knochenusur. 

Sanarthritkur von vier Spritzen vier Monate 
nach Krankheitsbeginn, unter Ausschaltung an¬ 
derer Behandlung. Am 2. Oktober 0,5 ccm 
Stärke I, ohne Reaktion. Am 6. Oktober 0,5 ccm 
Stärke II, mit schwacher Reaktion. Am 9. Ok¬ 
tober 1 ccm Stärke II, mittelstarke Reaktion. 
Am 13. Oktober 1 ccm Stärke I ohne Reaktion. 
Da keine Zeichen einer Besserung-zu sehen sind, 
wird die Kur abgebrochen. Gehenlassen in Gips¬ 
hülse. Am 27. November noch in Beobachtung. 

Schließlich sei noch als Fall 15: K. L., 60 Jahre, 
weiblich, erwähnt. Traumatische Monarthritis der 
rechten Schulter. Am 20. Oktober forcierte Be¬ 
wegung im Äthylchloridrausch. Am 25. Oktober 
0,5 ccm Stärke I ohne Reaktion. Aus anderen 
Gründen entlassen. Das Röntgenbild war am 
16. Oktober ohne Befund gewesen. 

Das Röntgenbild scheint bei allen 
Fällen für die Indikationsstellung nicht 
in Betracht zu kommen. 

Eine Kontraindikation haben unsere 
15 Fälle nicht ergeben. Vielleicht wird 
es sich an größerem Material zeigen, daß 
frische noch zu Rezidiven mit Fieber 
neigende Fälle nicht geeignet sind. Bel 
nicht reagierenden chronischen Fällen 
dürfte man in Zukunft versuchen, die 
Reaktion zu erzwingen durch Steigerung 

13 







Die The^rapie der Gegenwart 1920 




der Dosen und zeitliche Näherung der 
‘(Injektionen. Es bleibt noch offen, ob 
Sanarthrit in chronischen Fällen bei aus¬ 
bleibender Besserung wenigstens einen 
.Stillstand bewirken kann. 

Die Wirkung der Sanärthritinjektion 
•ist vielleicht ähnlich zu werten wie' 'die 
,einer forcierten Bewegung versteifter Ge¬ 
lenke. Das Gelenk wird sozusagen auf 
'Chemischem Wege mobilisiert, und von 
jdieser Anschauung ausgehend-, müßte man 
.‘eine Kombination mit' physikalischer 
Therapie zwecks Ausnutzung des Er¬ 
folgs empfehlen. , 

‘ Die Anwendung des Sanarthrits in 
.der vorgeschrieb^en Form erscheint be¬ 
sonders berechtigt bei denjenigen akuten 
Gelenkrheumatismen, die in ein chroni¬ 
sches Stadium übergetreten sind. Auch 
bei gonorrhoischer Ätiologie ist ein Ver¬ 
such zu machen, ferner bei primär chroni¬ 
schen Formen und den gichtischen. Auf 
'eine günstige Einwirkung ist jedoch nur 
in einem Teil der Fälle zu rechnen. Eine 
.Kombination mit physikalischer Therapie 
ist vielleicht zu empfehlen. Antipyretica 


sind {au.szusetzen, um die Wirkung des 
Sanarthrits kontrollieren zu können: ■ 
^ei der großen Verschiedenheit der 
ausgesprochen chronischen Gelenkerkran¬ 
kungen hinsichtlich' Ätiologie und klim- 
scher Erscheinungsform ist es bisher nicht 
möglich, bestimmte Gruppen für die 
■Sanarthritbehandlung schärfer herauszu- 
heben. Es ist einleuchtend, daß die vor¬ 
geschrittenen Fälle mit schweren destruk¬ 
tiven Gelenkveränderungen und Kno¬ 
chenneubildungen wenig Erfolg erwarten 
lassen; immerhin sind die zuweilen er¬ 
reichten, wenn auch geringen funktio¬ 
nellen Besserungen diesen hilflosen Kran¬ 
ken schon willkommen. Wir werden uns 
bemühen, die Sanarthrittherapie mehr in 
den früheren Stadien der chronischen Ge¬ 
lenkerkrankungen heranzuziehen. Diese 
sind allerdings in der poliklinischen Praxis 
weit häufiger als im Krankenhaus anzu¬ 
treffen. Im Hinblick auf die Reaktionen 
empfiehlt sich die stationäre Behandlung. 
Literatur: Heilner (M. m. W. 1916, Nr. 28; 

1917, Nr. 29; 1918, Nr. 36). — Umber (M. m. W. 

1918, Nr. 36). —Mayr (M. m. W. 1918, Nr. 36).— 
Reinhart (D. m. W. 1919, Nr. 49). 


Aus d^r inneren Ahteilnng des Stadtkrankenlianses Posen 
(Leitender Arzt: Professor Dr. S. Sckoenborn). 

Argochrom und Sepsis. 

Von Dr. Wilhelm Wendt, Oberarzt der Abteilung^). 


Die unsichere Wirkung der gebräuch¬ 
lichen Silberpräparate bei Behandlung 
septischer Allgemeininfektionen bewogen 
uns, das von A. Edelmann und A. v. 
Müller in die "Therapie eingeführte Me¬ 
thylenblausilber, das von E. Merck in 
•Darmstadt unter dem Namen Argo¬ 
chrom in den Handel gebracht wird, 
bei einigen, zum Teil verzweifelten Fällen 
anzuwenden. Wir gingen zunächst sehr 
mißtrauisch an dieses Präparat heran, da 
wir beim Collargol, Elektrargol und Dis- 
pargen häufig Mißerfolge gesehen hatten. 
Andererseits forderten die günstigen Er¬ 
folge, die Edelmann-und v. Müller, 
Arnstein, Kothny, v. Herff, Küh¬ 
nelt und Hüssy und-zuletzt H. Lustig 
und Pollag bei septischen Erkrankungen 
durch Behandlung mit Argochrom sahen, 

‘ ^) Diese Arbeit ist im Januar 1919 abge¬ 

schlossen. Infolge der politischen Verhältnisse 
in der Provinz Posen konnte sie leider nicht eher 
zum Druck vorgelegt werden. Es dürfte wohl 
die letzte deutsche Arbeit aus dem Stadt¬ 
krankenhause Posen sein. 

2) Argochrom wird neuerdings auch gebrauchs¬ 
fertig in sterilen Ampullen 0,05, 0,1 und 0,2 g 
Argochrom enthaltend, geliefert. 


geradezu zu einem Versuche mit diesem 
Präparat auf. 

Wir haben bis jetzt 14 Patienten mit 
Argochrom behandelt, davon ist einer 
(Fall 13) von mir im Feld in einem Feld¬ 
lazarett behandelt worden. Wir wandten 
das Mittel nur intravenös in der von 
Kühn eit angegebenen Weise an. An¬ 
fangs injizierten wir 0,06—0,1 g auf ein¬ 
mal, später 0,2 g. Die Applikation des 
Präparats ist absolut schmerzlos, vor¬ 
ausgesetzt, daß man die Lösung nicht mit 
der Venenwand oder dem umgebenden 
Gewebe in Berührung bringt, ln diesen 
Fällen entsteht eine einige Stunden bis 
zwei Tage dauernde schmerzhafte Schwel¬ 
lung in der Umgebung der Injektions¬ 
stelle, die dem Patienten sehr lästig ist. 
Meistens thrombosiert dabei auch die be¬ 
treffende Cubitalvene teilweise. Absce- 
dierungen oder Nekrosebildung haben wir 
nie beobachtet. Auffallend ist die schon 
während der Injektion eintretende bla߬ 
bläuliche Verfärbung der Haut und 
Schleimhäute. Auch die Skleren werden 
häufig bläulich gefärbt. In einem Falle 
trat erst sechs Tage nach der Injektion 



M"ärz 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


99 


•eine Blaufärbung der Skleren auf, die | 
über drei Wochen läng, bis zur Entlassung 
der Patientin bestehen blieb. Irgend¬ 
welche Schädigung des Organismus durch 
das Argochrom haben wir nicht beob¬ 
achtet. Der Urin wurde vor und nach 
der Injektion mehrmals chemisch und 
mikroskopisch untersucht; eine Nieren¬ 
schädigung war nicht nachweisbar. 
Schockerscheinungen, wie sie gerade bei 
den kolloidalen Silberpräparaten häufig 
Vorkommen und nach Sahlis Ansicht 
durch die Eiweißkomponente der Prä¬ 
parate verursacht werden, treten beim 
Argochrom nicht auf. 

Bevor ich auf die Wirkung des Argo- 
chroms näher eingehe, gebe ich kurze 
Auszüge aus den Krankengeschichten 
wieder^). 

Fall 1. Franziska D., 27 Jahre alt, äufge- 
nommen am 25. März 1918. Seit sechs Tagen 
Schmerzen in den Hand-, Schulter- und Knie¬ 
gelenken. Seit zwei Tagen Schwellung der Unter¬ 
schenkel. Der Aufnahmebefund ergibt: ent¬ 
zündliche Schwellung der Tonsillen. Die Kiefer¬ 
gelenke sind sehr schmerzhaft, so daß der Mund 
kaum geöffnet werden kann. Die Zunge ist stark 
belegt, Lippen leicht cyanotisch. Herzdämpfung 
nicht verbreitert, an der Spitze und über der, 
Pulmonalis systolisches Geräusch. Puls weich, stark 
beschleunigt. Handgelenke beiderseits stark ge- 
sci.wollen und druckempfind ich.Sci.ultergelenkebei 
Bewegungen stark schmerzhaft. An beiden Beinen 
starke Ödeme. Temperatur 39,6. Diagnose: Poly¬ 
arthritis. — 1. April: Befund unverändert, 
dauernd hohe Temperatur. Blutkultur: steril. 
0,1 Argochrom intravenös. Danach keine wesent¬ 
liche Besserung. Unter zunehmender Herz¬ 
schwäche am 5. April Exitus letalis. 

Fall 2. Simon P., 56 Jahre alt, wird am 
18. Februar 1918 aufgenommen. War früher nie 
ernstlich krank gewesen. Seit acht Wochen klagt 
er über Schmerzen in der Brust, Husten und. 
Atemnot. P. ist ein kleiner schlecht genährter 
Mann, von blasser Gesichtsfarbe. Rachenorgane 
ohne Befund. Der Lungenklopfschall ist rechts, 
hinten unten handbreit gedämpft. Die Lungen¬ 
grenzen sind tiefstehend und schlecht verschieb¬ 
lich. Atmung vesiculär, mit reichlichen trockenen 
und feuchten Rasselgeräuschen. Herzdämpfung 
regelrecht. Erster Ton an der Spitze paukend, 
sonst Töne laut und rein. Puls regelmäßig, weich. 
Im übrigen keine krankhaften Organverände¬ 
rungen nachweisbar. Temperatur 38,6. Nach 
anfänglich leichteren Temperatursteigerungen 
weist der Fieberverlauf Ende März starke tägliche 
Schwankungen auf. Septische Fieberkurve. Blut¬ 
kultur: Streptokokken. Diagnose: Strepto- 
kokkensepsis. Antistreptokokkenserum mit 
vorübergehendem Erfolg. Ende April traten 
multiple Abscesse auf. 1. Mai: 0,1 Argochrom 
intravenös. Zustand unverändert. 4. Mai: 0,15 
Argochrom intravenös. Ohne jede Wirkung. 
Unter zunehmendem Kräfteverfall erfolgt am 
26. Juni der Tod. 

Fall 3. Frieda J., 21 Jahre alt, wird wegen 
Herzleidens am 8. Dezember 1917 eingeliefert. 

Ö Leider sind die Fieberkurven beim Wegzug 
aus Posen verloren gegangen. 


War bereits im Juli und August 1917 wegen 
Mitralstenose in Behandlung. 1916 Gelenk¬ 
rheumatismus gehabt.' Klagt jetzt über Schmerzen 
in der'Herzgegend^ Atemnot und Schwellung der 
Füße. Die körperliche Untersuchung ergibt eine 
Verbreiterung der Herzdämpfung nach links bis 
ein Querfinger außerhalb der linken Mamillar- 
änie, nach rechts anderthalb Querfinger über den 
rechten Sternalrand hinaus. An der Herzspitze 
hört man ein leises präsystolisches und ein systo¬ 
lisches jGeräusch. Der zweite Pulmonalton ist 
akzentuiert. Puls ist klein, aber regelmäßig. 
Blutdruck 115/75 (Riva-Rocci). Die Unter¬ 
schenkel und Füße sind ödematös geschwollen. 
An den übrigen Organen sind keine krankhaften 
Veränderungen nachweisbar. Temperatur 37,6. 
Diagnose: Endokarditis und Polyarthritis. 
Am 30. Dezember 1917 bekam Patientin eine 
Angina catarrhalis. Im Anschluß daran klagte 
sie über größere Schmerzen im linken Schulter¬ 
gelenk. Die Ödeme waren geringer geworden. 
Seitdem dauernd Temperatursteigerung. Die 
Gelenke sind schm'erzhaft. Salicylpräparate und 
Atophan bleiben wirkungslos. Am 22. Februar 
1918 bekommt Patientin 0,1 Argochrom intra¬ 
venös. 23. Februar: Patientin macht einen schwer 
kranken Eindruck, erbricht, Atemnot, Cyanose. 
Puls frequent. Temperatur 40,5. Herzbefund 
unverändert. Dieser bedrohliche Zustand hielt 
bis Anfang März an. Dann trat eine allmähliche 
Besserung ein, so daß Patientin Mitte März das 
Bett verlassen konnte. Ende März trat wieder 
eine Verschlechterung des Krankheitszustandes 
ein. 'Die Herzschwäche nahm zu. Am 14. April 
trat der Tod ein. Die Autopsie ergab: frische 
Endocarditis an der Mitral- und Aortenklappe, 
totale Verwachsung des Perikards mit dem Cor, 
enge Aorta. 

Fall 4. Agnes R., 24 Jahre alt, aufgenommen 
am 2. April 1918 wegen Schmerzen in den Knie-, 
Fuß- und Schultergelenken. Im März Gelenk¬ 
rheumatismus gehabt. Bei der Aufnahme Schwel¬ 
lung beider Kniegelenke. Die Fuß- und Schulter¬ 
gelenke sind bei Bewegungen schmerzhaft. An 
den inneren Organen kein krankhafter Befund. 
Temperatur 38,9. Diagnose: Polyarthritis. 
Auf Natr. salicyl. ging die Temperatur zur Norm 
herunter. Die Gelenke schwellen ab. 10. April 
1918 plötzlich Schüttelfrost, Temperatur 40,7. 
Im Urinsediment massenhaft Leukocyten (Pye¬ 
litis). Patientin bekam in der folgenden Zeit 
wiederholt plötzliche heftige Fieberanfälle, die 
mitunter mehrere Tage andauerten. Blutkultur 
steril. In der fieberfreien Zeit war das Allgemein¬ 
befinden gut. 1. Mai: Während einer Fieber¬ 
attacke 0,1 Argochrom intravenös; trotzdem am 
folgenden Tage Temperatur bis 40,7. Patientin 
bljeb noch bis zum 6. August in Behandlung. Die 
Fieberanfälle traten seltener und weniger heftig 
auf. Patientin wurde, nachdem sie 30 Tage 
fieberfrei war, als geheilt entlassen. 

Fall 5. Margarete An., 19 Jahre alt, kommt 
am 30. September 1918, nachdem sie wegen einer 
eitrigen Mittelohrerkrankung anderweitig be¬ 
handelt worden ist, wegen Schwellung des rechten 
Handgelenkes und hohen Fiebers zu uns in Be¬ 
handlung. Patientin macht einen benommenen 
Eindruck. Rechtes Handgelenk geschwollen, ent¬ 
zündlich gerötet, sehr schmerzhaft. Am rechten 
Warzenfortsatz Operationsnarbe. Sonst keine 
krankhaften Organbefunde. Temperatur 40,2. 
Diagnose: Sepsis nach Otitis med. dext. An¬ 
haltend hohes Fieber. 4. Oktober und 7. Oktober 
je 0,2 Argochrom intravenös, ohne sichtbare Be¬ 
einflussung der Krankheitserscheinungen. 10. Ox- 

13* 





100 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


M^rz: 


tober; Probepunktion des, rechten Handgelenks 
ergibt dicken Eiter; daraufhin wird Patientin auf 
die chirurgische Abteilung verlegt zwecks Spal¬ 
tung des Abscesses. Temperatur 40,5- Nach drei 
Tagen starb Patientin unter zunehmender Herz¬ 
schwäche. 

Fall 6. Luise M., 27 Jahre alt, am 29. Januar 
1918 aufgenommen. Patientin klagt seit einigen 
Tagen über Schmerzen im Leibe, habe^ erbrochen. 
Bei der Aufnahme Leib etwas aufgetrieben, die 
linke Bauchseite ist druckempfindlich, daselbst 
Bauchdeckenspannung. Rechte Bauchseite ge¬ 
ringe Druckempfindlichkeit. Genital: linkes 
Parametrium infiltriert und sehr druckempfind¬ 
lich. Adnexe links als pflaumengroßer Tumor 
fühlbar. Temperatur 38,7. Diagnose: Pyosal¬ 
pin x sin. Gonorrhöe nicht nachweisbar. 1. Fe¬ 
bruar: Blutkultur steril, Temperatur 40,0. Pa¬ 
tientin bekommt 0,06 Argochrom intravenös. 
2. Februar: Allgemeinbefinden etwas besser. 
Temperatur 39,2. Lungen: links hinten unten 
handbreite Schallverkürzung und verschärftes 
Atmen. 8. Februar: Patientin ist abgefiebert. 
Schmerzen im Leibe geringer. Allgemeinbefinden 
besser. Auffallende Blaufärbung der Skleren. 
16. Februar: Skleren noch immer blau verfärbt. 
Allgemeinbefinden gut. 8. März: Patientin wird 
geheilt entlassen. Parametrien nicht mehr in¬ 
filtriert. Adnex? nicht fühlbar. 

Fall 7. Franz Johann K., 58 Jahre alt, wird 
am 16. Dezember 1918 wegen arteriosklerotischen 
Erregungszuständen eingeliefert. Am 20. Dezem¬ 
ber bekommt Patient ein Erysipel, das von der 
Nase ausgeht und sich allmählich auf das ganze 
Gesicht und den Kopf bis zum Nacken ausdehnt. 
Temperatur um 39,5. Patient klagt über keine 
Schmerzen. Leib weich. 22. Dezember: Starke 
Durchfälle. 24. Dezember: 0,2 Argochrom intra¬ 
venös, ohne wesentliche Beeinflussung. 26. De¬ 
zember: Viel Eiter im Stuhl. 28. Dezember: Sep¬ 
tisches Fieber, objektiv kein nachweisbarer Be¬ 
fund. 31. Januar: Erysipel abgeheilt. Patient 
sehr apatisch un'd teilnahmlos. 0,2 Argochrom 
intravenös. Nach drei Stunden zeigt Patient 
wieder lebhaftes Interesse für seine Umgebung 
und sein Leiden. 4. Januar: Puls sehr klein und 
frequent. 5. Januar: Unter zunehmender Herz¬ 
schwäche Exitus letalis. 

Fall 8. Marie N., 21 Jahre alt, wurde wegen 
eitriger Mandelentzündung aufgenommen. Be¬ 
kam zwei Tage darauf plötzlich Schmerzen in 
beiden Kniegelenken, dem linken Handgelenk, 
Ellenbogen- und Schultergelenk. Die Gelenke 
waren geschwollen. Diagnose: Angina, Poly¬ 
arthritis. Nach wenig erfolgreicher Behand¬ 
lung mit Atophan und Natrium salicylicum bekam 
Patientin zwei Tage hintereinander 0,1 und 0,2 g 
Argochrom intravenös. Am folgenden Tage trat 
bereits Entfieberung ein. Nach etwa vier Wochen 
bekommt Patientin nochmals 0,1 Argochrom, da 
in den voraufgehenden Tagen geringe abendliche 
Temperatursteigerungen eingetreten waren. Das 
Mädchen wurde geheilt entlassen. 

Fall 9. Elisabeth W., 30 Jahre alt, kam wegen 
Rheumatismus im rechten Fuß- und Schulter¬ 
gelenk ins Krankenhaus. Die Schmerzen bestehen 
schon drei Wochen. Das rechte Fußgelenk ist 
geschwollen, schmerzhaft und beschränkt beweg¬ 
lich. Die rechte Schulter, die keine äußerlichen 
Veränderungen aufweist, ist bei Bewegungen 
schmerzhaft. Temperatur 38,6. An den inneren 
Organen sind keine krankhaften Veränderungen 
nachweisbar. Verdacht auf Gonorrhöe bestätigt 
sich nicht. Diagnose: Polyarthritis septica. 
Nach Behandlung mit Natrium salicylicum und 


später Atophan schwellen die Gelenke ab und Pa¬ 
tientin wird beschwerdefrei. Nachdem Patientin 
zwei Tage außer Bett war, bekommt sie allmäh¬ 
lich höhere Temperaturen, di? vdm vierten Tage 
ab mit morgendlichem Schüttelfrost einsetzen. 
und bis 40,2 steigen. Diese Schüttelfröste und 
Fiebersteigerungen halten fünf Tage an. Nach 
einigen Tagen bekommt Patientin wieder Fieber. 
Sie fühlt sich sehr elend. Es wird 0,1 Argochrom 
intravenös injiziert. Am folgenden Tage Tem¬ 
peratur^ 38®. Patientin fühlt sich bedeutend 
wohler. Das Fieber hält noch einige Tage an. 
Patientin hat wenig Beschwerden. Sie wird nach 
einigen Tagen geheilt entlassen. 

Fall 10. Wanda H., 19 Jahre alt, wird am 
7. September 1917 wegen Gelenkrheumatismus^ 
dem Krankenhause überwiesen. Sie klagt über 
Schmerzen im linken Knie und beiden Fu߬ 
gelenken. Die betreffenden Gelenke sind ver¬ 
dickt und sehr schmerzhaft. Innere Organe ohne 
objektiven krankhaften Befund. Temperatur 38®.. 
Diagnose: Polyarthritis. Patientin bekommt 
zunächst Natrium salicylicum, unter dessen Wir¬ 
kung die Gelenke weniger schmerzhaft wurden r. 
später bekommt sie Atophan. Die Gelenke sind 
abgeschwollen, auch nicht mehr schmerzhafL 
Die Temperatur schwankt dauernd um 38®. Vier 
Wochen nach der Aufnahme bekommt Patientin 
hohes, sehr unregelmäßiges Fieber. Sie klagt 
wieder über Schmerzen in den Gelenken. 4 g' 
Atophan und intravenöse Arthigoninjektionen 
haben keinen Einfluß. Am 20. Oktober 1917 be¬ 
kommt Patientin 0,1 Argochrom intravenös. Am 
folgenden Tage keine Änderung des Fieberver¬ 
laufs, Patientin fühlt sich jedoch subjektiv be¬ 
deutend wohler. Die Gelenkschmerzen haben 
aufgehört. Sie klagt über Schluckbeschwerden.. 
Beide Tonsillen sind gerötet und zeigen einige 
Eiterpfröpfe. Angina. 

Am 23. Oktober ist die Temperatur zur Norm 
gesunken. Die Angina ist abgeheilt. Patientin 
ist beschwerdefrei. Sie wird nach etwa drep- 
Wochen geheilt entlassen. 

Fall 11. Marie W., 21 Jahre alt, wird am 
30. Oktober 1917 wegen Kindbettfieber auf¬ 
genommen. Vor acht Tagen entbunden, klagt 
jetzt über Kopfschmerzen, Fieber und Mattigkeit. 
Kleine, gut genährte Person. Brustorgane ohne 
krankhaften Befund. Leib weich, Unterleib etwas^ 
druckempfindlich. Genital: Muttermund fast 
, geschlossen. Es besteht trübblutiger, etwas übel¬ 
riechender Ausfluß. Temperatur 38,6. Diagnose:* 
Puerperalfieber. 1. November: Temperatur 
39,4. Patientin klagt über Schmerzen im Unter¬ 
leib. Abends 0,2 Argochrom intravenös. 2. No--- 
vember: Allgemeinbefinden besser. Temperatur 
nachmittags 39,5. Abends ist Patientin entfiebert.. 
3. November: Keine Schmerzen. Am 4. November 
noch eine Fieberzacke bis 38,4, keine Beschwerden,. 
Ausfluß gering. Am 10. November wird Patientin’ 
geheilt entlassen. 

Fall 12. Lina M., 35 Jahre alt, aufgenommen 
' am 2. Januar 1918. Am 23. Dezember entbunden. 
Drei Tage später erkrankte Patientin mit hohem 
Fieber und Schmerzen im Leibe. Da das Fieber 
seitdem anhält, wird Patientin dem Krankenhaus¬ 
überwiesen. An den Brustorganen keine krank¬ 
haften Veränderungen. Der Leib ist etwas auf- 
getrieben, druckempfindlich, besonders der Unter¬ 
leib. Uterus ist groß, reicht fast an den Nabel. 
Genital: Übelriechender, etwas blutiger Ausfluß. 
Temperatur bis 39,7. Der Muttermund ist fast 
für einen Finger durchgängig. Diagnose: Puerpe¬ 
ralfieber. Nach heißen Scheiden- und Uterus¬ 
spülungen geht die Temperatur allmählich zurück. 





März 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


101 


Am 7. Januar: Temperaturerhöhung auf' 40,5. 
Patientin fühlt sich elend. Mittags 0,07 Argo- 
chrom intravenös. 8. Januar: Patientin ist ab¬ 
gefiebert, sehr gutes Allgemeinbefinden. Uterus 
kleiner,' Unterleib nicht schmerzhaft. Patientin 
bleibt fieberfrei bis aüf eine, mehrere Tage dau¬ 
ernde Fiebersteigerung Ende Januar infolge einer 
Mastitis. Am 2. Februar geheilt entlassen. 

Fall 13. Musketier Wilhelm K., 20 Jahre alt, 
am 1. Februar 1918 wegen Kopfschmerzen und 
Fieber aufgenommen. Mittelgroß, kräftig gebaut. 
Herzdämpfung regelrecht. An der Spitze leises 
systolisches Geräusch. Im übrigen kein krank¬ 
hafter Organbefund festzustellen. Temperatur 
zwischen 37° und 39®. Diagnose: Wahrschein¬ 
lich Sepsis. Pyramiden und Aspirin ohne Wir¬ 
kung auf den Temperaturverlauf. Patient fühlt 
sich abends ziemlich elend. Malariauntersuchungen 
wiederholt negativ. Am 16. Februar: 0,2 Argo- 
chrom intravenös, nach drei Stunden Schüttel¬ 
frost, Temperatur steigt bis 40®. 17. Februar: 

Kein Fieber. Allgemeinbefinden gut. 19. Fe¬ 
bruar: Kein Fieber. Allgemeinbefinden gut. 
19. Februar: Wieder Temperatur 38,5. Patient 
klagt über Kopfschmerzen. 20. Februar: 0,12 
Argochrom intravenös, kein Schüttelfrost. Abends 
Temperatur 39,5. Seitdem abgefiebert und be¬ 
schwerdefrei. Wird am 16. März dienstfähig ent¬ 
lassen. 

Fall 14. Janina M., 23 Jahre alt, aufgenom- 
men am 26. September 1918 wegen Hals- und 
Kopfschmerzen. Bei der Aufnahme stark dyspno- 
isch, benommen. Krampf der Kehlkopfmusku- 
latiir. Rachen, Gaumenbögen und Mandeln stark 
gerötet, kein Belag. An den inneren Organen kein 
krankhafter Befund. Da der Verdacht auf Sepsis 
besteht, bekommt Patientin 0,2 Argochrom intra¬ 
venös. Am folgenden Tage Allgemeinbefinden 
bedeutend besser, Patientin nicht mehr be¬ 
nommen, Dyspnöe fast geschwunden. 28. Sep¬ 
tember: Auf der linken Tonsille gelber schmieriger 
Belag. 6000 A. E. Diphtherieserum. Patientin 
wurde am 17. Oktober geheilt entlassen. 

Es handelte sich demnach in der Mehr¬ 
zahl der Fälle um Polyarthritiden, zum 
Teil mit septischem Charakter; ferner um 
zwei Fälle von Puerperalsepsis, eine 
Streptokokkensepsis, je eine Sepsis nach 
Erysipel und Otitis, eine Pyosalpinx und 
um zwei diagnostisch schwierig zu. be¬ 
zeichnende Fälle (Fall 13 und 14), die aber 
klinisch den Verdacht einer septischen 
Erkrankung nahelegten. Leider war eine 
bakteriologische Blutuntersuchung in den 
meisten Fällen aus technischen Gründen 
nicht möglich. In sieben von diesen vier¬ 
zehn Fällen hat das Argochrom versagt. 
Wir müssen freilich zugeben, daß wir in 
einigen dieser Fälle eine wesentliche Be¬ 
einflussung des Krankheitsbildes durch 
das Präparat gar nicht mehr erhofft 
hatten. Bei der Streptokokkensepsis 
(Fall 2) hatten wir meines Erachtens das 
Präparat viel zu spät angewandt, um 
eine Besserung des Leidens erzielen zu 
können; das gleiche gilt bei Fall 3. 
Trotzdem sehen wir bei drei dieser ,,Ver- 
sager‘‘ eine wesentliche Besserung des 


\ 

Allgemeinbefindens und ein Nachlassen 
der subjektiven Beschwerden. Geradezu 
auffallend war dies bei Fall 7 nach der 
zweiten Injektion von 0,2 Argochrom. 
Während der Patient zwei Tage lang vor 
der Injektion völlig apathisch war, zeigte 
er etwa drei Stunden post injectionem 
wieder reges Interesse für sein Leiden und 
seine Umgebung. Auch der Puls hatte 
sich gebessert. Freilich konnte der end¬ 
gültige Ausgang des Leidens dadurch 
nicht geändert werden. 

In einem Falle sahen wir nach der In¬ 
jektion von 0,1 Argochrom eine Ver¬ 
schlechterung des Krankheitsbildes 
(Fall 3). Ob dies nur ein zeitliches Zu¬ 
sammentreffen war oder als Folge der 
Injektion anzusehen ist, läßt sich schwer 
entscheiden. , Akut einsetzende Ver¬ 
schlechterungen sind bei schweren Endo¬ 
karditiden nicht so selten. Immerhin 
wäre es aber möglich, daß es sich um eine 
Patientin gehandelt hat, die gegen Methy¬ 
lenblau oder Silber eine erhöhte Empfind¬ 
lichkeit zeigte. Da nach den Unter¬ 
suchungen Hüssys die Wirkung des .Ar- 
gochroms in erster Linie auf einer Hem¬ 
mung der Virulenz der Keime beruht, 
läßt sich diese akute Verschlechterung 
nicht gut durch Freiwerden großerMengen 
Endotoxine erklären. , 

In den übrigen Fällen trat nach der 
Behandlung mit Argochrom eine deutlich 
erkennbare günstige Beeinflussung des 
Krankheitsbildes ein, so daß wir geneigt 
sind, die Heilung dieser Fälle auf das 
Argochrom zurückzuführen. Die Wirkung 
des Präparats zeigte sich meist nicht un¬ 
mittelbar nach der Injektion. 

Bei Fall 10 trat die Entfieberung erst 
am dritten Tage post injectionem ein. 
Hier erscheint aber die verzögerte Wir¬ 
kung durch die gerade am Tage nach der 
Einspritzung aufgetretene heftige Angina 
erklärlich. Auch in Fall 11 fällt die Tem¬ 
peratur erst am zweiten Tage; bei Fall 9 
am dritten Tage. Diese verzögerte objek¬ 
tive Wirkung ist meines Erachtens durch 
Hüssys Annahme einer Virulenzhem¬ 
mung durch das Argochrom und nicht 
durch eine direkte Keimvernichtung, wie 
sie Edelmann und v. Müller annehmen, 
besser verständlich. Im übrigen konnten 
wir aber auch bei diesen Fällen eine so¬ 
fortige Besserung des subjektiven Be¬ 
findens und ein Nachlassen der Schmerzen 
feststellen. Geradezu auffallend war die 
Wirkung des Argochroms bei Fall 13. 
Der zweimalige prompte Tem.peratur' 





102 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


März 




abfall nach der Injektion kann nur als 
Argochromwirkung angesehen werden. 

Auf den ersten Blick mußte man bei 
Betrachtung unserer Fälle zu einem ab¬ 
lehnenden Urteile gegenüber dem Argo- 
chrom kommen. Diese Auffassung teilen 
wir nicht. Wir sind bei der Indikations¬ 
stellung unserer Fälle nicht wählerisch 
genug vorgegangen. Das ist bei einem 
neu in die Therapie eingeftihrten Prä¬ 
parat, das kein Specificum ist, auch gar 
nicht anders möglich. Es kann für die 
Wirkung nicht gleichgültig sein, in wel¬ 
chem Stadium der Erkrankung wir das 
Mittel anwenden. In einigen unserer Fälle 
ist das Präparat als Ultimum refugium 
zu einer Zeit angewendet worden, wo hach 
menschlichem Ermessen eine Hilfe so 
gut wie ausgeschlossen war. Die gleiche 
Forderung, die Schottmüller bei der 
Anwendung der Sera zur Bekämpfung 
septischer Erkrankungen stellt, müssen 
wir auch an die chemischen Präparate 
stellen. Je zeitiger wir das Präparat 
anwenden, um so größer wird die 
Wahrscheinlichkeit seiner Wirksamkeit. 
Daß ein lokal begrenzter Prozeß 
(Absceß) durch eine einmalige intra¬ 
venöse Injektion sichtlich beeinflußt wird, 
abgesehen vielleicht von streng specifi- 
schen Mitteln, ist kaum anzunehmen. 
Auch bei der Behandlung mit anderen 
Silberpräparaten sehen wir fast konstant 
in derartigen Fällen Mißerfolge. Kausch, 
ein begeisterter Anhänger des Collargols, 
warnt vor dessen Anwendung bei An¬ 
wesenheit lokal begrenzter Prozesse. In 
erster Linie werden wohl durch intravenös 
applizierte bakteriotrope Mittel die frei 
im Blute kreisenden Bakterien angegriffen 
werden, und wie weit dies in Fällen ge¬ 
schieht, bei denen scheinbar das Mittel 
versagt hat, weil der lokal begrenzte Pro¬ 
zeß, der das Krankheitsbild beherrscht, 
unbeeinflußt geblieben ist, das entzieht 
sich unserer Beurteilung. 

Endlich glaube ich, haben wir das 
Argochrom in einigen Fällen in zu kleiner 
Dosis angewendet und nicht oft genug 
wiederholt. So hat H. Lustig erst nach 
der elften Injektion in einem Fall eine 
heilende Wirkung erzielt. Gerade die 
virulenzhenimende Wirkung des Argo- 
chroms erfordert in schweren Fällen eine 
wiederholte Zuführung. 

Zum Schluß möchte ich noch kurz die 
Wirkungsweise des Argochroms im Orga¬ 
nismus erwähnen: 

Edelmann und A. v. Müller haben 
sich bei der Herstellung des Präparats 


von Ehrlichs Schienentheorie leiten 
lassen. Das parasitotrope Methylenblau 
sollte dem Silbernitrat den Weg zum An¬ 
griffsort, dem Bakterienleib, bahnen. 
Nebenbei erhofften did Hersteller durch 
K^ippelung zweier Bakteriengifte deren 
erhöhte Wirksamkeit im Sinne Bürgis. 
Die Wirksamkeit des Präparats sollte auf 
dessen bakterientötenden Eigenschaften 
beruhen. ' 

Hüssy konnte jedoch im Tierexperi¬ 
ment nachweisen, daß die Wirkung des 
Argochroms in erster Linie darin besteht, 
die Virulenz der Keime zu hemmen. Be¬ 
trachten wir daraufhin den Einfluß des 
Argochroms in unseren Krankheitsfällen, 
so möchten wir uns Hüssys Ansicht an¬ 
schließen. Die verzögerte sichtbare Wir¬ 
kung in einigen Fällen, ferner der Mangel 
jeder Shockerscheinung und die Wir¬ 
kungslosigkeit des Mittels in ganz schweren 
und weit vorgeschrittenen Fällen läßt 
sich meiner Meinung nach am besten mit 
der virulenzhemmenden Wirkung des 
Argochroms vereinbaren. Damit ist zu¬ 
gleich auch die geringe Toxicität des Prä¬ 
parats erklärt. Bei einer direkten keim¬ 
tötenden Wirkung des Präparats wäre 
gerade in schweren Sepsisfällen eine Aus¬ 
schwemmung reichlicher Endotoxine mit 
seiner Nebenwirkung unvermeidlich; diese 
wird beim Argochrom aber vermißt. 

Ich halte die Wirkungsweise des Argo¬ 
chroms für keinen Nachteil des Präparats, 
vorausgesetzt, daß man frühzeitig und 
in genügender Menge injiziert. Diebesten 
Erfolge dürfte man natürlich bei kombi¬ 
nierter Behandlung mit Argochrom und 
specifischen Seris erzielen. 

Wie V. Müller selbst sagte, will das 
Argochrom gar kein Allheilmittel gegen 
Sepsis sein. Selbst bei den besten speci¬ 
fischen Präparaten finden wir Versager. 
Wir haben den Eindruck gewonnen, daß 
das Argochrom frühzeitig in Mengen von 
0,2 angewendet und eventuell in Ab¬ 
ständen von 24 und 48 Stunden wieder¬ 
holt ein gutes Silberpräparat zur Bekämp¬ 
fung septischer Erkrankungen ist, das den 
bisher gebräuchlichen Silberpräparaten 
durch seine geringere Toxicität über¬ 
legen ist. 

Wer entschiedener Gegner der Silber¬ 
präparate bei jeglichen Erkrankungen ist, 
dem werden einige günstige Erfolge nichts 
beweisen, andererseits wird sich der vor¬ 
urteilsfreie Therapeut durch einige mi߬ 
glückte Fälle von weiteren Versuchen 
nicht abschrecken lassen. 



März 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


103 


Literatur: 1. A. Edelmann-und A. v. Mül¬ 
ler, Neue therapeutische Versuche bei allge¬ 
meinen und lokalen Infektionen (D. m. W. 1913, 
Nr. 47). — 2. Arnstein, Sepsis resp. Gelenk¬ 
rheumatismus mit Methylenblausilber behandelt 
(Ges. f. inn. Med. u. Kinderh., Wien, Sitzung vom 
26. Februar 1914; Referat: M. m, W. 1914, Nr. 10). 
— 3. Kothny, Chininresistente Malaria mit Me¬ 
thylenblausilber behandelt (Ges. f. inn. Med. u. 
Kinderh., Wien, Sitzung vom 26. März 1914; 
Referat: M. m. W. 1914, Nr. 15). — 4. Schott¬ 
müller, Wesen und Behandlung der Sepsis (Ver¬ 
handlungen des Deutschen Kongresses für inn. 
Med. 1914). — 5. v. Herff, Prinzipien in der 
Bekämpfung einzelner lokaler Wundentzündungen 


(M. m. W. 1915, Nr. 17). — 6. Hüssy, Zur Be¬ 
handlung der septischen Allgemeininfektion (M. 
m. W. 1915, Nr. 15). — 7. Kühnelt, Über die 
Behandlung des puerperalen Fiebers mit Me¬ 
thylenblausilber (Zbl. f. Gynäk. 1916, Nr. 32). — 
8. A. Edelmann und A. v.Müller-Deham, Zur* 
Behandlung septischer Allgemeininfektionen mit 
Methylenblausilber (Argochrom) (D. m. W. 1917, 
Nr. 23). — 9. Lustig, Zur Therapie septischer 
Allgemeininfektionen mit Methylenblausilber 
(Argochrom) (W. kl. W, 1917, Nr. 34). — 10. Pol¬ 
lag, Über Behandlung mit Methylenblausilber 
(Verein der Ärzte in Halle a. S., Sitzung vom 
5. Dezember 1917; Referat: M. m. W. 1918, 
Nr. 17). 


Terpichin bei entzündlichen Erkrankungen der Harnwege. 

Von Dr. med. Wilh. Karo, Berlin. 


In Nr. 29 der Medizinischen Klinik 
1919 habe ich als Erfolg meiner Versuche, 
die Klingmüllersche Terpentinölbehand¬ 
lung wirksamer und gefahrloser zu ge¬ 
stalten, auf das Terpichin aufmerksam 
gemacht. 

In diesem Präparat besitzen wir ein 
absolut entharztes und von Oxyden be¬ 
freites Terpentinöl, dessen Wirkung durch 
Kombination mit Chinin gesteigert wird. 
Nachdem ich das Terpichin nunmehr über 
ein Jahr in meiner urologischen Praxis 
täglich anwende, will ich im Folgenden 
einen kurzen Überblick über* meine mit 
dem Mittel erzielten Erfolge geben. 

Zunächst ein Wort über die Technik 
der Methode: Terpichin muß intra- 
glutaeal eingespritzt werden. Durch zahl¬ 
reiche Kontrollversuche habe ich mich 
davon überzeugt, daß es ziemlich gleich¬ 
gültig ist, an welcher Stelle das Mittel 
in die Glutaeen eingespritzt wird, ebenso 
ist die Tiefe gleichgültig, nur muß unter 
allen Umständen vermieden werden, daß 
das Mittel direkt in die Blutbahn gelangt. 
Es empfiehlt sich daher, wie bei den 
Quecksilberinjektionen, nach Einstechen 
der Nadel die Spritze abzunehmen, um 
zu sehen, ob etwa aus der Kanüle Blut 
tropft. Nach der Injektion wird die In¬ 
jektionsstelle leicht massiert. Gewöhnlich 
gebe ich wöchentlich zwei Injektionen. 
Wird eine schnellere und intensivere 
Wirkung erstrebt, so können die Ein¬ 
spritzungen jeden zweiten Tag vorgenom¬ 
men werden.- Bei klinischen Kranken 
habe ich unter besonderen Bedingungen 
auch täglich injiziert. Nierenreizungen 
wurden nach Terpichineinspritzungen 
nicht beobachtet mit einer einzigen Aus- 
nahrpe, über die mein Assistent, Herr 
Dr. Schär 1er, an anderer Stelle be¬ 
richten wird. 


Ich habe das Terpichin bei allen ent¬ 
zündlichen Erkrankungen der. Harn¬ 
organe angewendet. Obwohl weit über 
1000 Einspritzungen gemacht wurden, 
habe ich nie eine nennenswerte unan¬ 
genehme Komplikation beobachten kön¬ 
nen. Nur ganz vereinzelt wird gelegent¬ 
lich über ein vorübergehendes dumpfes 
Schmerzgefühl an der Injektionsstelle ge¬ 
klagt. 

Ganz auffallend ist die günstige Wir¬ 
kung des Terpichins auf das Allgemein¬ 
befinden der Kranken, und zwar handelt 
es sich nicht nur um eine schmerzstillende 
Wirkung, sondern vielmehr auch um 
eine allgemeine Kräftigung, die besonders 
auffällig bei veralteten Fällen von mit 
Adnexerkrankung komplizierter Gonor¬ 
rhöe schon nach wenigen Injektionen 
eintritt. Gleichzeitig können wir in allen 
Fällen eine Hyperleukocytose im An¬ 
schluß an die Terpichininjektionen kon¬ 
statieren. 

Mein Krankenmaterial umfaßt zu¬ 
nächst viele hunderte Fälle von Gonorrhöe 
aller Grade mit und ohne Komplikationen, 
sowohl bei Männern als auch bei Frauen. 
Bei dieser Kategorie von Kranken wurde 
das Terpichin neben der allgemein üb¬ 
lichen lokalen und internen Therapie 
angewandt, wie ich es in meinen früheren 
Publikationen bereits auseinandergesetzt 
habe. Die lokale Behandlung richtet sich 
nach dem individuellen Fall,’ sie ist eine 
rein antiseptische. Als interne Therapie 
verwende ich ausschließlich Buccosperin 
(Dr. Reiß), und zwar in Form von Ta¬ 
bletten. Eine ausführliche Darstellung 
der bei Gonorrhöe mit Terpichin er¬ 
reichten Erfolge wird Dr. Schärler 
an anderer Stelle publizieren. Hier mag 
der Hinweis genügen, daß durch Ter¬ 
pichin der Verlauf der Gonorrhöe wesent- 



104 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


März 


lieh abgekürzt und das Auftreten von. 
Komplikationen verhindert wird. Bereits 
bestehende Komplikationen, wie Epidi- 
dymitis, Prostatitis, Spermatocystitis, 
Bartholinitis usw. werden in kurzer Zeit 
günstig beeinflußt. Ganz besonders 
möchte ich erwähnen, daß auch die 
Polyarthritis gonorrhoica in fast spe- 
cifischer Weise auf die Terpichinein- 
spritzungen reagiert. Ich habe einige 
zum Teil recht schwere Fälle lediglich 
durch Terpichin in kurzer Zeit sicji völlig 
zurückbilden)sehen. Selbst vorgeschrittene 
Fälle speziell von Cowperitis sah ich unter 
dem Einfluß des Terpichins in relativ 
kurzer Zeit sich völlig zurückbilden. 

Von den nicht gonorrhoischen Er¬ 
krankungen der Harnorgane sind es 
besonders die durch Colibacillen und 
Staphylokokken bedingten Pyelitiden mit 
sekundärer Blasenreizung, die ein dank¬ 
bares Feld für die Anwendung des 
Terpichins abgeben. 

Als Paradigma der hierher gehörigen 
Fälle mag kurz folgende Kranken¬ 
geschichte skizziert werden: 

F. R., 38 Jahre. Vor acht Jahren Gonorrhöe 
ohne Komplikationen geheilt. Im Felde 1916 
an Ruhr erkrankt. Seitdem häufiger Harndrang, 
ziehende Schmerzen in der linken Seite, Harn 
zeitweise blutig, stets trübe. Bei der Aufnahme 
ih meine Klinik am 2. August 1919 ist der Harn 
stark eitrig, alkalisch, im Sediment Colibacillen, 
Eiterzellen uncjl rote Blutkörperchen. Harndrang 
alle 30 bis 50 Minuten. Kranker im leidlichen 
Ernährungszustand, innere Organe ohne Beson¬ 
derheiten, Harnröhre nicht verengt, Prostata 
ohne Besonderheiten. Nieren kaum druck¬ 
empfindlich, nicht vergrößpt. Chromocysto- 
skopie: Blasenschleimhaut' stark injiziert, doch 
intakt. Beide Harnleiteröffnungen verquollen. 
Schwache Blauausscheidung.- Ureterenkathe- 
terismus ergibt beiderseits leicht getrübten Harn, 
im Sediment massenhaft Colibacillen und Leuko- 
cyten. Unter Terpichin baldige Besserung der 
Mictionsbeschwerden. Bereits nach der dritten 
Injektion sind die Pausen zwischen den einzelnen 
Mictionen bis zu drei Stunden. Gleichzeitig 
wesentliche Klärung des Harns.* Nach der zehnten 
Injektion Harn absolut klar, Kranker be¬ 
schwerdefrei. Bereits am 15. September 1919, 
also nach etwa fünf Wochen, konnte Kranker, 
der seit drei Jahren dauernd an Harnbeschwerden 
litt, die Klinik geheilt verlassen. Die Heilung blieb, 
wie die Folgezeit ergab, eine dauernde. 

Auch in Fällen von Staphylokokken¬ 
infektion der Harnwege habe ich ähnlich 
gute Resultate erzielt. Ebenso bei der 
Colicystitis der Kinder, hingegen ver¬ 
halten sich die Fälle von reiner Bakteriurie 
gegen die Terpichininjektionen refraktär. 
Freilich verfüge ich nur über vier ein¬ 
schlägige Fälle. Es handelt sich in allen 
diesen Fällen um durch Staphylococcus 
aurens bedingte unkomplizierte renale 


Bakteriurie phne Leukocytenausschei- 
dung. Das terpichin vermochte die 
Bakterienausscheidung, wie bereits ge¬ 
sagt, nicht zu beeinflussen. Einer dieser 
Fälle, bei dem eine entzündliche Schwel¬ 
lung der Tonsillen bestand, wurde durch 
die Tonsillotomie geheilt. Die drei / 
anderen Fälle blieben ungeklärt und sind 
ungeheilt aus der Behandlung aus¬ 
geschieden. 

Sehr günstige Erfolge mit Terpichin 
habe ich bei der Cystitis der Prostatiker 
erzielt, und zwar sowohl in objektiver 
Hinsicht (Klärung des Harn) als auch in 
subjektiver Hinsicht, indem 'nämlich die 
Kranken sich unter dem Einfluß des 
Terpichins auffallend rasch erholten, an 
Körpergewicht Zunahmen, sich allgemein 
kräftiger fühlten, wie dies schon eingangs 
erwähnt. 

Ähnlich gute Erfolge habe ich in ver¬ 
einzelten Fällen von hartnäckiger Blasen-, ' 
tuberkulöse erdelt. Jedem Urologen sind 
ja derartige Fälle bekannt, die noch viele 
Jaiire nach der Entfernung der tuber¬ 
kulösen Niere, selbst wenn die zweite 
Niere gesund ist, dem Kranken durch 
Tenesmen und ständige Schmerzen in 
der Blase die Lebensfreude nehmen. Be¬ 
kanntlich versagt in solchen Fällen meist 
jede lokale Therapie, ja meist werden die 
Beschwerden durch instrumenteile Ein¬ 
griffe nur verschlimmert. Solche Fälle 
bieten oft die besten Chancen für eine 
Beeinflussung durch Terpichin. Wenn 
auch nicht in allen meinen Fällen ein 
restloser Erfolg zu erzielen war, so ließ 
sich doch stets ein wesentliches Nach¬ 
lassen der subjektiven Beschwerden er¬ 
reichen, oft auch eine beträchtliche Zu¬ 
nahme der Blasenkapazität, die sich in 
größeren Abständen zwischen den ein¬ 
zelnen Miktionen zu erkennen gab. Auch 
wurde der Harn oft wesentlich klarer. 
Auch in diesen Fällen leisteten mir die 
Buccosperintabletten durch Anregung 
der Diurese wesentliche Dienste. Fälle, 
die auf Tuberkulin nicht mehr reagierten, 
zeigten nach Terpichin wesentliche Besse¬ 
rung, freilich habe ich auch gelegentlich 
einmal das Umgekj^hrte gesehen. 

Immerhin möchte ich bei der sonstigen 
Machtlosigkeit unserer Therapie in jedem 
hartnäckigen Fall einen Versuch- mit 
Terpichin empfehlen, denn zum min¬ 
desten erreichen wir hiermit eine Besse¬ 
rung des Allgemeinbefindens. Auch in den 
schwersten Fällen von Tuberkulose der 
Harnwege wird Terpichin gut vertragen. 
Niemals konnte ich eine Exacerbation des 







März 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


X 


105 


Leidens oder gar eine Nierenreizung kon¬ 
statieren. 

ln meinen früheren Publikationen 
über die Terpentinölbehandlung wies ich 
darauf hin, daß ich auch in vereinzelten 
Fällen von Enuresis Erfolge erzielen 
konnte. Mit fortschreitender Erfahrung 
habe ich mich indessen davon überzeugt, 
daß diese Erfolge lediglich" suggestiver 
Art waren. Daher habe ich in den letzten 
Monaten bei dieser Kategorie von Kran¬ 
ken auf die Anwendung des Terpichins 
verzichtet. 

Abschließend möchte ich meine Er¬ 
fahrungen mit Terpichin in folgende 
Thesen zusammenfassen: 

1. Die intraglutaealen Einspritzungen 
von Terpichin sind ein vorzügliches 


Mittel, die Gonorrhöe sowohl des 
Mannes wie der Frau wesentlich ab¬ 
zukürzen und das Auftreten von 
Komplikationen zu verhüten. 

2. Die Terpichineinspritzungen sind bei 
bereits bestehenden Komplikationen 
der Gonorrhöe — ganz besonders 
auch bei der Arthritis gonorrhoica — 
die Methode der Wahl, denn sie be¬ 
dingen in kürzester Zeit eine fast 
völlige Rückbildung der Krank¬ 
heit. 

3. Die Terpichineinspritzungen sind 
auch bei nicht gonorrhoischen ent¬ 
zündlichen Erkrankungen der Harn¬ 
wege, namentlich Pyelitiden, und 
Cystitiden, ohne Bedenken zu ver¬ 
suchen. ’ 


Ans der gebnrtsliilflicli-gyiiäkologisclieii Abteilnng des Krankenhanses der jüdischen 

ftemeinde in Berlin. 

Über die durch geburtshilfliche Operationen bedingten 
Schädigungen des Kindes und ihre Verhütung. 

Von Prof. Dr. E. Sachs, dirigierendem Arzt der Abteilung. (Schluß) 


III. Die Wendung. 

Die Wendung führt häufiger zur 
Schädigung des Kindes, als man glaubt. 
Ihre Prognose ist indes bei den einzelnen 
Formen eine so verschiedene, daß wir 
diese getrennt betrachten müssen. Wir 
vernachlässigen bei unserer Besprechung 
die äußere Wendung auf den Kopf, 
deren Prognose für das Kind fast stets 
eine günstige ist, die innere Wendung 
auf den Kopf, die kaum je ausgeführt 
wird und ebenso die obsolete innere 
Wendung auf den Steiß, und be¬ 
sprechen nur die kombinierte .Wen¬ 
dung nach Braxton-Hicks und die 
eigentliche Wendung, deren Unter¬ 
schiede in der Vornahme mit zwei Fin¬ 
gern und mit der ganzen Hand bestehen. 
Bei dieser letzten Form der Wendung 
haben wir dann noch die sogenannte 
prophylaktische Wendung besonders 
zu betrachten, weil die Verhältnisse, 
unter denen diese ausgeführt zu werden 
pflegt, die Prognose trüben und die Tech¬ 
nik erschweren. 

Die kombinierte Wendung, 
das heißt die Wendung zu einer Zeit, zu 
der bei nicht erweitertem Muttermund die 
Extraktion nicht angeschlossen werden 
kann, ohne der Mutter ernstlich zu scha¬ 
den, ist für das Kind in der Mehrzahl der 
Fälle eine tödliche Operation, und zwar 
deshalb, weil ihr Hauptanwendungsgebiet 


die Placenta' praevia ist. Benthin®) 
gibt eine Zusammenstellung, der ich 
folgende Zahlen entnehme; 

Löbenstein (Heidelberg) hatte bei der 
kombinierten Wendung 81,25% Mor¬ 
talität. 

Hannes.bei 23 Fällen 82%; 

Zweifel bei 19 Fällen 70%; 
Hammerschlag an der Königsberger 
Klinik 84%; 

Sigwart 60,4%. 

Schweizers Sammelstatistik über 
1266 Fälle ergab eine Sterblichkeit der 
Kinder von 97,35%; bei Ausschluß der 
nicht lebensfähigen Kinder hatte er an 
eigenem Material noch eine Mortalität 
von 71,4%. 

All diese Zahlen sind so hoch, daß 
man die kombinierte Wendung bei Pla¬ 
centa praevia nicht ausführen darf, wenn 
man auf das Leben des Kindes den ge¬ 
ringsten Wert legt; um so mehr, als man 
in der Metreuryse eine Methode hat, 
die bei etwa gleicher Prognose für die 
Mutter weit bessere Zahlen für das Kind 
gibt. Hier schwanken die Mortalitäts¬ 
zahlen zwischen 45,4% (Do ed er lein), 
37% (Hofmeier) und 34,5% (Sammel¬ 
statistik Schweizers bei 670 Fällen). 
Nach Abrechnung der vor der Behand¬ 
lung schon toten oder stark geschädigten 
Kinder hatte Hannes sogar nur eine 

») Benthin (I. c. und M. Kl. 1918, S. 862). 




106 


Die Therapie, der Gegenwart 1920 


März 




Sterblichkeit von 17%, die Leipziger 
Klinik eine solche von 13,3%. Aller¬ 
dings ist die Metreuryse umständlicher, 
sie verlangt meist zwei Eingriffe und 
womöglich eine noch größere Sorgfalt 
bei der Beaufsichtigung der Kreißenden, 
als die kombinierte Wendung. Ist also 
das Kind tot oder nicht lebensfähig, so 
wird man die kombinierte Wendung als 
die einfachere Methode der Blutstillung 
vorziehen; lebt das Kind aber und ist es 
lebensfähig, so ist, vom Standpunkte des 
Kindeslebens aus betrachtet, die kom¬ 
binierte Wendung ein Fehler. Sie muß 
für die Fälle aufgespart werden, in welchen 
das Kind nicht lebensfähig ist, oder tot, 
oder in welchen die Metreuryse aus irgend 
welchen Gründen nicht schnell genug 
vorgenommen werden kann, wie bei 
überstarker Blutung oder beim Mangel 
eines geeigneten Metreurynters, und in 
denen der Kaiserschnitt nicht in Frage 
kommt. Ich schließe mich vollkommen dem 
Ausspruch Hofmeiers an, der gelegent¬ 
lich sagt: Wolle man dieTamponade durch 
den Steiß vornehmen (das heißt bei 
Schädellage kombiniert wenden), so müsse 
man den Mut haben, das Kind sterben zu 
lassen. 

Die prophylaktische Wendung ist die 
Wendung, die ohne eine eigentliche 
Indikation für Mutter oder Kind bei 
Schädellage prophylaktisch vorgenommen 
wird, weil man glaubt, daß der nach¬ 
folgende Kopf besser durch den ver¬ 
engten Beckeneingang hindurchgezogen 
werden kann, als der vorangehende. Grund 
für diese Annahme ist die Keilform des 
Kopfes und vor allem die bessere Hand¬ 
habe, die bei der Extraktion am Rumpfe 
bei der Beckenendlage gegeben ist als 
bei der Schädellage. 

Sicher kann der geübte Geburtshelfer, 
der eine sehr große Erfahrung in der Ab¬ 
schätzung des Beckens und der Kopf¬ 
größe hat, mit der prophylaktischen Wen¬ 
dung und der sich anschließenden Ex¬ 
traktion vorzügliche Resultate erzielen. 
In der Hand des nicht sehr geübten Ge¬ 
burtshelfers aber werden die Resultate'• 
bald schlechter. Nach Wendung und 
Extraktion bei normalem Becken sterben 
im allgemeinen bis zu 20%, bei Wendung 
und Extraktion aus Kopflage (und hier 
liegt meistens ein enges Becken vor, auch, 
wenn noch andere Indikationen, wie 
Nabelschnurvorfall usw., hinzukommen) 
bis zu 29%. Die Gefahr ist bei allgemein 
verengtem Becken noch größer. Peham^^^) 
Peham, Das enge Becken. Wien 1908. 


hatte eine primäre Kindesmortalität bei 
der prophylaktischen Wendung von 25%, 
Bürger^i) (Schauta) von 21%, 
KrueH^^ (Leopold) von 25%. Diesen 
Zahlen gegenüber hat z. B. Tschats- 
jin^^) in den letzten Jahren gezeigt, daß 
das gedüldige Abwarten bei engem Becken 
zu weitaus^ besseren _ Resultaten führt. 
Esch^^) berichtet über 87,5% Spontan¬ 
geburten mit lebenden Kindern, Heyn^^) 
über 57,9% Spontangeburten mit 2,9% 
toten Kindern. In der Königsberger 
Klinik ist deshalb die Wendung nur 
wegen des engen Beckens, das 
heißt die prophylaktische Wendung, ganz 
außer Gebrauch. Ebenso in der Charite, 
wie neuerdings Heyn berichtet. Tritt 
der Kopf günstig auf das Becken auf, 
respektive in dasselbe ein, ohne doch 
bei guter Wehentätigkeit die verengte 
Stelle passieren zu können, dann ist er 
für das Becken zu groß; dann macht| 
gewöhnlich auch die Extraktion des nach¬ 
folgenden Schädels so große Schwierig¬ 
keiten, daß die Erhaltung des Kindes¬ 
lebens zweifelhaft wird. Heyn berichtet 
über 18% tote Kinder bei der Geburt 
mit nachfolgendem Kopfe beim engen 
Becken. Wir wenden deshalb in Königs¬ 
berg bei engem Becken das in Schädel¬ 
lage liegende Kind nur dann, wenn in¬ 
folge ungünstiger Kopfeinstellung (Hin¬ 
terscheitelbeineinstellung, Gesichts- oder 
Stirnlage) wir uns kein Urteil darüber 
erlauben können, wie der Schädel sich 
bei günstiger Einstellung zum Becken 
verhalten würde. Der sich in guter 
Flexion bei Beckenendlage einstellende 
Schädel geht natürlich sicher leichter 
durch die verengte Conjugata vera hin¬ 
durch, als ein in Hinterscheitelbeinein¬ 
stellung, in Gesichts- oder Stirnlage 
liegender Kopf. 

Wir wenden ferner noch bei engem 
Becken, wenn es sich um einen Nabel¬ 
schnurvorfall handelt, weil infojge die¬ 
ser Komplikation, die eine sofortige Be¬ 
seitigung verlangt, wir uns kein end¬ 
gültiges Urteil darüber verschaffen kön¬ 
nen, ob nicht der Kopf doch spontan 
hätte durchs Becken gehen können, wenn 
wir ihm nur Zeit zur Konfiguration 
hätten lassen können. In allen anderen 
Fällen habe n wir, falls nicht doch schließ- 

11) Bürger, Die Geburt bei engem Becken. 
Wien 1908. 

12) Kruel (Arch. f. Gynäk., Bd. 67, S. 374). 

12) Tschatsjin, I.-D. Berlin 1910. 

11) Esch (Zschr. f. Geburtsh. 1913, Bd. 74, 
S. 320. 

15)*Heyn (Zschr. f. Geburtsh., Bd. 81, S. 46). 



März 


/ 


107 


Die Therapie der 


lieh die Geburt spontan zu Ende ging, 
die Beckendurchschneidung in der Form 
der von mir modifizierten Frankschen, 
Symphyseotomie zu setzen-gelernt*®). 

Was nun die' eigentliche Wendung 
betrifft, so kann auch sie dem Kinde 
sehr schaden. Die Ursachen dafür sind 
bekannt: Placentarablösung, Nabel¬ 

schnurkompression oder Vorfall, Ein¬ 
dringen von Luft in den Uterus und Aus¬ 
lösung vorzeitiger Atmung beim Kinde 
infolge der längere Zeit einwirkenden 
Reize auf die Frucht, bei längerdauern¬ 
der Operation Tetanus uteri usw. Die 
Größte der durch die Wendung bedingten 
Gefahr ersieht man aus dem Unterschiede 
der Mortalitätszahlen bei gleich nach der 
Wendung extrahierten Kindern und bei 
Kindern, die nach der Wendung sich 
selbst überlassen blieben, meist weil die 
Wendung zu einer Zeit vorgenommen 
wurde, bevor der Muttermund eine sofort 
angeschlossene Extraktion erlaubte. 

Tschatsjin^’) (Charite) gibt fol¬ 
gende Zahlen: 

Nur Wendung: 

Winter ^ . . . 27Fälle, 14tot = 51,8 %; 
Gaedtke . . . 16 ,, 8 ,, =50 %; 

Mal leb rein . 8 „ 4 ,, =50 %; 

Pinette. ... 122 „ 60 „ =49,75%. 

Sofortige Extraktion: 

. Winter. 236Fälle, 5tot= 2 %; 

Gaedtke .... 231 „ 14 „ = 6,1%; 

Mallebrein . . 27 ,, 1 ,, = 3,7%; 

eigenesMaterial 98 „ 8„ = 8,1%. 

Diese Zahlenunterschiede sprechen für 
sich selbst. Die Wendung ohne ange¬ 
schlossene Extraktion ist also für das 
Kind viel gefährlicher als die Wendung, 
der die Extraktion sofort folgt. Aller¬ 
dings kann diese erst nach völliger Er¬ 
weiterung des Muttermundes vorgenom¬ 
men werden. Dies Abwarten halten viele 
für gefährlich für die Mutter wegen der 
bei längerer Wehentätigkeit eintretenden 
Retraktion des Uterus nach dem Blasen¬ 
sprung, wegen des damit verbundenen 
Fruchtwasserabflusses, wegen der Teta¬ 
nus Uteri- und Rupturgefahr. Alle diese 
Gefahren fallen indes gar nicht ins Ge¬ 
wicht, wenn man die Wendung in ge¬ 
nügend tiefer Narkose vornimmt und 

Sachs, Technisches und Theoretisches zur 
Symphyseotomie (Zbl. f. Gyn. 1917, H. 25) und 
Anatomisches zur subcutanen Symphyseotomie. 
(ebenda 1918, H. 8). 

^0 h c. 


Gegenwart 1920 


wenn man nach der völligen Erweiterung 
des Muttermundes nicht mehr mit der 
Vornahme der Wendung zögert. 

Kann man schon hierdurch eine große 
Zahl von Kindern vor der mit mancher 
Wendung verbundenen Gefahr retten^ 
so ist auch die Technik der Wendung und 
vor allem die Technik der angeschlossenen 
Ex|;raktion nicht ohne Einfluß auf das Be¬ 
finden des Kindes. Selbstverständlich 
lasse ich alle die Hilfsmittel und Hand¬ 
griffe bei der Besprechung fort, die sich 
in jedem Lehrbuche finden und sich daher 
von selbst verstehen.- Aber einige per¬ 
sönliche Erfahrungen möchte ich Ihnen 
mitteilen. 

Die Wendung wird sehr häufig bei 
engem Becken vorgenommen; denn diese 
ist die Hauptursache der Querlage und 
des Nabelschnprvorfalls bei Schädellage. 
Für die Extraktion bei engem Becken be¬ 
deutet aber das Hochschlagen der Arma 
eine äußerst große Erschwerung. Die 
Gefahr, daß die Arme sich hochschlagen, 
wird um so größer, wenn sich schon bei 
der Wendung selbst infolge irgendwelcher 
Schwierigkeiten bei der Umdrehung die 
Arme vom Rumpf entfernen. Wir er¬ 
leichtern aber die Wendung meiner Er¬ 
fahrung nach dadurch, daß wir, wenn ir¬ 
gend möglich, prinzipiell auf beide 
Füße wenden. Man soll nicht nach dem 
zweiten Fuße lange suchen, wenn man 
mit Mühe den ersten erreicht hat. Liegen 
aber beide Füße nebeneinander, so er¬ 
greife man auch beide. Die für eine 
leichte Umdrehung notwendige Ab¬ 
knickung des Rumpfes kann überhaupt 
nur dann eintreten, wenn- man an beiden 
Füßen zieht. Dann liegt der Scheitel¬ 
punkt der Abbiegung in der Rücken¬ 
wirbelsäule; ergreift man nur einen Fuß, 
so kann der Körper nicht ebenso stark 
zusammenklappen: der andere Schen¬ 
kel hindert sogar oft genug die Umdre¬ 
hung. Der zu drehende Körper hat im 
ersteren Fall einen viel kleineren Längs¬ 
durchmesser. Das ist nicht nur für die 
Uteruswandungen von Vorteil, weil Rup¬ 
turen dadurch vermieden werden, son¬ 
dern auch für das Kind. Die größere 
Leichtigkeit der Wendung auf beide 
Füße als auf einen ersehen wir auch aus 
den zahlreichen Fällen, in denen die Wen¬ 
dung erst glück.t, nachdem der zweite 
Fuß herunter geholt worden ist. Da¬ 
durch, daß das stärker zusammenge¬ 
knickte Kind sich leichter im Uterus 
drehen läßt, als das mehr oder weniger 
ganz gestreckt liegende, ändert es seine 

14* 





108 


März 


Die Therapie der 


Haltung weniger, was von großer Wich¬ 
tigkeit für die nachfolgende Extraktion ist. 

. Diese kann, wenn keine Weichteil¬ 
schwierigkeiten vorliegen, an beiden 
Füßen zu Ende geführt werden. Bestehen 
-dagegen irgendwelche Schwierigkeiten,so 
rate ich, nach teilweiser Vollendung der 
Wendung, das heißt, wenn der Kopf 
im Fundus ist und die Kniee sich ^twa 
in Höhe des Beckeneingangs befinden, 
das eine Bein (am besten das hintere) 
loszulassen und an dem anderen allein 
die Extraktion zu vollenden. Die mütter¬ 
lichen Weichteile werden dadurch besser 
gedehnt. 

Daß man während der Extraktion 
nicht blind darauf los zieht, daß man ab¬ 
wartet, wie der kindliche Rumpf sich 
drehen will usw. versteht sich von selbst. 
Alles, was für die Extraktion aus primärer 
Beckenendlage galt, gilt in verstärktem 
"Maße für die aus Quer- oder Schädel¬ 
lage hergestellte sekundäre Beckenend¬ 
lage. Für ganz besonders wichtig halte 
ich bei jeder auch nur im entferntesten 
schwierigen Extraktion die Unterstüt¬ 
zung der Extraktion durch eine 
am Ende der Wendung gegebene 
intravenöse Pituglandolinjektion, 
und durch manuelle Expression. Das 
intravenös gegebene Pituglandol wirkt 
nach etwa 30 bis 60 Sekunden. Läßt 
man es also während der Beendigung 
der Wendung geben, so drängt die so¬ 
fort einsetzende Wehe das Kind in nor¬ 
maler Haltung der Arme tiefer und er¬ 
leichtert dadurch die Extraktion ganz 
bedeutend. Eine subcutane oder intra¬ 
muskuläre Injektion käme nach der Wen¬ 
dung stets zu spät, sie reicht zwar bei der 
primären Beckenendlage aus, da sie hier 
unter Umständen bei einschneidendem 
Steiß gegeben werden kann und dann 
zur Entwicklung des Rumpfes ausreicht. 
Der Hauptwert bei der intravenösen 
Injektion aber besteht darin, daß die 
Wehenwirkung so schnell, und dadurch 
genau dann,wenn man siebraucht, eintritt. 

Es ist auch ratsam, bei der Extraktion 
nach der Wendung, die Narkose fortzu¬ 
lassen, da die erwachende Frau durch 
leichtes Pressen die Austreibung der 
Frucht beschleunigt. 

Für die Arm- und'Kopfentwicklung 
gilt das vorher bei der primären Becken¬ 
endlage ausgeführte. Besonders sei noch 
einmal auf die Verwendung des A. Martin- 
Wigand-Winckelschen Handgriffs, bei 
über dem Beckeneingange stehendem 


Gegenwart 1920 


Kopfe verwiesen, um Wirbelsäulen- 
zerreißungen zu vermeiden. 

, Die Kindersterblichkeit nach uiid 
durch die Wendung wird also geringer 
werden, wenn wir uns an folgendes halten: 

Die kombinierte Wendung bei Pla- 
centa praevia ist nur bei toten oder 
lebensunfähigen Kindern die Operation 
der Wahl, sonst durch die Metreuryse 
oder den Kaiserschnitt zu ersetzen. 

Die prophylaktische Wendung (die 
Wendung wegen engen Beckens) ist zu 
verlassen, dafür ist die Schädellagengeburt 
zu erstreben, eventuell durch die Sym- 
physeotomie oder es ist der Kaiserschnitt 
vorzunehmen. 

Wendungen bei engem Becken aus 
irgendeiner anderen Indikation (z. B. 
wegen Nabelschnurvorfalls oder ungün¬ 
stiger Kopfeinstellung) haben eine etwas 
bessere Prognose und sind dem erfahre¬ 
nen Geburtshelfer erlaubt. 

Die Wendung ist nur nach völlig 
erweitertem Muttermund vorzunehmen 
und die Extraktion dann sofort anzu¬ 
schließen. 

Die Wendung selbst, ih genü¬ 
gend tiefer Narkose ausgeführt, ^soll 
womöglich auf beide Füße ausgeführt 
werden. Die Extraktion, die zweckmäßig 
durch eine intravenöse Injektion von 
0,5 oder 1 ccm Pituglandol zu unter¬ 
stützen und bei der die Narkose fortzu¬ 
lassen ist, kann dann, wenn nötig, an 
einem Fuß ausgeführt werden. Die unter 
diesen Verhältnissen erreichte Gesamt¬ 
mortalität von 8% bei etwa 100 aus 
Schädellage, und Querlage gewendeten 
Kindern wäre noch besser, wenn unter 
den acht Kindern nicht bei drei schon 
vorher eine intrauterine Asphyxie Vor¬ 
gelegen hätte und wenn bei drei weiteren 
Fällen, in denen der Kopf nicht den 
Beckeneingang passieren konnte, die 
Symphyseotomie ausgeführt worden wäre. 

Meine Herren! Wir waren davon aus¬ 
gegangen, daß unsere geburtshilflichen 
Operationen den Kindern, in deren Inter¬ 
esse sie teilweise doch vorgenommen 
werden, schaden k-önnen. Ursache hier¬ 
für ist im Grunde die nicht ausreichende 
Technik. Nicht immer aber trifft die 
Schuld die Ungeschicklichkeit oder man¬ 
gelnde Übung des Operateurs; oft genug 
liegen die Verhältnisse zu unglücklich. 
Falsche Indikationsstellung (anscheinende 
Asphyxie z. B. bei erhöhten Herztönen) 
verführt zu vorzeitigem Operieren und 


März 


Die Therapie, der Gegenwart 1920 


109 


erschwert dadurch auch die Ausführung 
der Operation. 

Was indes auch immer der Grund 
des Mißlingens einer entbindenden Opera¬ 
tion ist, in letzter Hinsicht ist es die Un¬ 
gunst der Verhältnisse oder m,angelnde 
Technik. Neben der Bedeutung,, einer 
guten Technik weise ich deshalb auf den 
großen Wert des Pituglandols für die 
Ausführung der Zange und der Extrak¬ 
tion hin^ also für die Prophylaxe der 


Asphyxie bei entbindenden Operationen. 
Dies Mittel gilt den meisten nur als ein 
Mittel gegen Wehenschwäche im eigent¬ 
lichen Sinne. Ich hoffe Ihnen gezeigt 
zu haben, was es auch sonst noch leistet, 
und dabei konnte ich mit dem, was ich 
Ihnen vortrug, nur einen kleinen Ein¬ 
blick in das große Indikationsgebiet 
dieses vorzüglichen geburtshilflichen The¬ 
rapeutikums geben, das^ noch ^lange nicht 
so verbreitet ist, wie es wohl verdiente. 


Repetitorium der Therapie. 

Behandlung der Infektionskrankheiten. 

Von G. Klemperer und L. Dünner. 


1. Masern. 

Der Ar.zt darf sich meist auf die 
Allgemeinbehandlung beschränken, in¬ 
dem er den natürlichen Verlauf aufmerk¬ 
sam überwacht. Besondere Indikationen 
ergeben sich' aus dem oft schmerz¬ 
haften Reizzustande der Augenbinde¬ 
haut sowie aus dem häufig quälen¬ 
den und schlafstörenden Bronchialkatarrh. 
Das Zimmer ist nur zu verdunkeln, wenn 
Lichtscheu besteht; rote Fenstervorhänge 
wirken subjektiv und vielleicht auch ob¬ 
jektiv nützlich. Bei starker Absonderung 
der Augen sind dieselben öfter mit war¬ 
mem Wasser abzutupfen, eventuell die 
Lidränder mit weißer Präcipitatsalbe zu 
bestreichen. Bei heftigem Schnupfen 
fettet man die Umgebung der Nase mit 
Borvaseline ein und gibt mehrmals täg¬ 
lich einen Tampon mit Vaseline für eine 
halbe bis eine Stunde in die Nasenlöcher. 
Bei starkem Reizhusten ■ ist die dem 
Bronchialkatarrh entsprechende Behand¬ 
lung anzuwenden (vgl. vorigen Jahrgang 
S. 143)7 entwickelt sich Bronchopneu¬ 
monie, so sind die S. 178 angegebenen 
Regeln zu befolgen. Bei etwaigen Ohren¬ 
schmerzen träufelt man 10% Carbol- 
glycerin in den äußern Gehörgang; zeigt 
die Ohrenspiegeluntersuchung Eiter jen¬ 
seits des Trommelfells, so ist dasselbe zu 
paracentesieren. — Gewöhnlich iäßt man 
die Kinder nach achttägiger Fieberfreiheit 
aufstehen, überwacht sie aber noch längere 
Zeit besonders wegen der Gefahr der 
Tuberkulose, Schwächliche Kinder 
sollten nach der Genesung längeren 
Aufenthalt auf dem Land oder an der 
See bekommen. 

2. Scharlach. 

In leichten und mittleren Fällen darf 
man sich mit der Allgemeinbehandlung 


begnügen. In schweren Fällen, die sich 
durch stürmische Allgemeinerscheinungen 
charakterisieren, ist der Versuch spe- 
cifischer Einwirkung mit Neosalvarsan 
zu empfehlen; man gebe intravenös oder 
intraglutaeal einjährigen Kindern 0,2 g, 
zweijährigen 0,3 g, dreijährigen 0,3, 
älteren Kindern 0,45 g und wiederhole die 
Dosis am nächsten Tag. In Krankenhäusern 
mache man in schweren Fällen von der 
Möglichkeit Gebrauch, Rekonvaleszenten¬ 
serum anzuwenden. — Die diätetische 
Behandlung hat auf die besondere Ge¬ 
fährdung der Nieren Rücksicht zu neh¬ 
men, deshalb ist reichliche Milchgabe be¬ 
sonders erwünscht. Bei vorhandener Albu¬ 
minurie wird diese Diät nicht geändert. 
Erst Symptome wirklicher akuter hä¬ 
morrhagischer Nephritis nötigen zu;- Be¬ 
schränkung der Nahrung (vgl. 1919, S.61). 
Die Halsentzündung wird wie infektiöse 
Angina (siehe unten) behandelt; der 
Otitis gegenüber verhält man sich wie 
bei Masern. Schwellung der Halsdrüsen . 
wird mit warmen Umschlägen behandelt, 
unter denen sie sich meist zurückbilden; 
seltenerweise kommt es zur Vereiterung, 
welche eine Incision nötig macht. Etwaige 
multiple Gelenkschwellung bedarf keiner 
besonderen Behandlung; allenfalls wer¬ 
den die befallenen Gelenke in Watte¬ 
verbände gewickelt; Salicylate sind über¬ 
flüssig. — Scharlachkranke sollen nach 
erfolgter Abfieberung noch drei bis vier 
Wochen wegen der Gefahr von Nach¬ 
erkrankung besonders der Nieren im 
Bette gehalten werden. Während der Ab¬ 
schuppung empfehlen sich Öleinreibungen, 
nach erfolgter Abschuppung lauwarme 
Bäder. 

3. Angina. 

Der Schutz gegen Angina liegt in der 
systematischen Abhärtung gegen Er- 




110 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


März 


kältung. Ganz unsicher ist der Schutz 
gegen das Eindringen von Krankheits¬ 
erregern durch Gurgeln, Pinseln und 
Mundantisepsis mit desinfizierenden Mit- 
teln(H202,Formaraintusw.). Einradikales 
Schutzmittel liegt in der vollkommenen 
Ausschälung der Tonsillen, welche nach 
häufigen Rezidiven an Angina unbedingt 
zu empfehlen ist. 

» Jeder Fall von Angina, selbst wenn 
sie unter leichteren Erscheinungen auf- 
tritt, ist als ernsthafte Infektionskrank¬ 
heit zu behandeln; auch der leichteste 
Fall kann zu lebensgefährlichen Kompli¬ 
kationen und Nachkrankheiten führen. 
Jeder Patient mit Angina bedarf während 
der fieberhaften Periode der Bettruhe und 
gehöriger Pflege. Die Ernährung ge¬ 
schieht mit kalter Flüssigkeit, am besten 
schluckweise mit eisgekühlter Milch. 

Den Entzündungszustand der Man¬ 
deln sucht man durch Priesnitzumschläge, 
die über Nacht liegen bleiben, zu mildern. 
Die Umschläge werden in den meisten 
Fällen angenehm schmerzlindernd emp¬ 
funden; wo sie belästigen, ersetze man 
sie durch ein wollenes oder seidenes Hals¬ 
tuch. Lokale Einwirkung wird durch 
Gurgeln mit 2% H 2 O 2 (1 Teelöffel auf ein 
Glas Wasser) oder ebenso verdünnten Liq. 
Alumin. acet. versucht. Auch bei starker 
Verschwellung des Halses, die unter Um¬ 
ständen einbiszweiTagedas Schlucken aufs 
äußerste erschwert, sei man nicht ängst¬ 
lich, da die einfache entzündliche Schwel¬ 
lung mit Sicherheit von selbst zurückgeht. 
Sogenannte Entspannungsschnitte nützen 
nicht und können zur Verschlimmerung 
der Infektion führen. Dagegen hat man 
sorgfältig auf die Zeichen der Absce- 
dierung zu achten, die namentlich ein¬ 
seitiger Mandelschwellung zugrunde liegt. 
In solchen Fällen beschleunigt man die 
Reifung des Abscesses durch heiße Brei¬ 
umschläge und Gurgeln mit heißem Ka¬ 
millentee. Man soll erst dann incidieren, 
wenn Fluktuation nachweisbar ist, am 
besten an der am stärksten vorgewölbten 
Stelle des Gaumens parallel der Tonsille 
mit einem zweischneidigen Messer, an 
dem bis auf die Spitze die übrige Schneide 
mit Heftpflaster umwickelt ist; ein zu 
zeitiges Einschneiden verursacht unnütze 
Schmerzen und verzögert den Heilungs¬ 
prozeß. Selbst wenn sich der Eiter gut 
entleert hat, mache man noch 24 Stunden 
weiter heiße Umschläge und wirke dem 
Zusammenkleben der Wundränder ent¬ 
gegen, indem man nach etwa 12 bis 
15 Stunden eine Kornzange oder Pean 


in die Wunde einführt und eventuell die 
Branchen des Instruments spreizt. Unter 
Umständen ist diese Prozedur wieder¬ 
holt nötig. Ist die Sprache frei geworden 
und entleert sich kein Eiter mehr, so 
mache man kalte Halsumschläge oder 
lege Eiskrawatte auf. 

Bei sehr 'hartnäckigem Verlauf an¬ 
scheinend einfacher Anginen mit Belag 
denke man an die Möglichkeit specifischer 
Ursachen, wobei sowohl sekundäre Lues 
wie auch Spirilleninfektion (Angina Plaut- 
Vincent) in Frage kommt. Während 
die luetische Angina den ganzen Apparat 
der specifischen Behandlung notwendig 
macht, heilt die Plaut-Vincentsche in 
vielen Fällen von selbst ab. Man kann die 
^ffektion durch eine einmalige Neosal- 
varsaninjektion wesentlich • abkürzen, 
manchmal genügt schon das Betupfen 
der Tonsillen mit Salvarsan. 

4. Diphtherie. 

Prophylaxe. Die subcutane In¬ 
jektion von 500 1. E. afttitoxischen Heil¬ 
serums schützt ziemlich sicher für etwa 
drei Monat vor diphtherischer Erkran¬ 
kung. Ob man im Einzelfalle die Ge¬ 
schwister eines diphtheriekranken Kindes 
spritzen soll, hängt von den Lebens- und 
Wohnungsverhältnissen der Familie ab. 
Wenn eine Isolierung des erkrankten 
Kindes möglich ist, kann man auf die 
prophylaktische Injektion der Umgebung 
verzichten, besonders wenn man in der 
Lage ist, jede Neuerkrankung durch 
schnelle Injektion zu kupieren. — Im 
allgemeinen unterläßt man die Schutz¬ 
injektionen bei Erwachsenen und bei 
solchen Kindern, die bereits Diphtherie 
oder eine Seruminiektion durchgemacht 
haben. 

Behandlung. Mit der specifischen 
Behandlung soll nicht auf die bakterio¬ 
logische Diagnose gewartet werden. In 
jedem auf Diphtherie verdächtigen Falle 
von Angina ist die Injektion des spe¬ 
cifischen Serums vorzunehmen und zwar 
richtet sich die Menge der I. E. nach dem 
Tage der Erkrankung und der Schwere 
der allgemeinen und lokalen Erkrankung. 
Man verwende stets hochwertiges Serum, 
um keine allzu großen Mengen spritzen 
zu müssen. Namentlich zu intravenöser In¬ 
jektion benutze man 1000-bis 1500faches 
Serum. Im allgemeinen spritze man 
bei Fällen, die frühzeitig, das heißt vor dem 
dritten Tag in Behandlung kommen, 
intramuskulär in die Glutäen mit 3000 
bis 4000 I. E. Ist der Fall schwer, so 



März 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


in‘ 


gebe man sofort 6000 I. E. intravenös. 
Patienten zwischen viertem und siebentem 
Krankheitstag und ausgesprochenen Mem¬ 
branen injiziere man 6000 bis 8000 1. E. 
Für alle Diphtheriefälle gelte als Regel, 
daß am nächsten Tage nach der ersten 
Einspritzung eine zweite mit derselben 
oder höheren Dose zu folgen hat, wenn 
keine Besserung eingetreten ist. 

Vor jeder Seruminjektion bedenke 
man die Gefahr der Anaphylaxie, welche 
etwa zwölf Tage nach der ersten Injektion 
vorhanden ist und dauernd bestehen 
bleibt. Man begegnet ihr, indem man 
bei der ersten Reinjektion erst 0,5 ccm 
Serum und eine halbe Stunde später 
die übrige Menge einspritzt. Die Gefahr 
der Anaphylaxie wird auch ausgeschaltet, 
wenn man an Stelle des sonst üblichen 
Pferdeserums ein in den Apotheken er¬ 
hältliches andersartiges (Hammel) Serum 
verwendet. 

Neben der Serumtherapie kaiin man 
auf lokale Behandlung der Mandeln be¬ 
ziehungsweise Beläge verzichten und wird 
sich wie bei Angina auf Anwendung von 
Halsumschlägen, Gurgelwasser beschrän¬ 
ken, von Pinselung und Ätzung jedoch 
Abstand nehmen. Bei starkem Foetor 
ex ore ist peinliche Mundpflege nötig. 
Der starke Geruch kann durch Gurgeln 
mit dünner Lösung von Kaliumperman¬ 
ganat oder Einpinseln der Beläge mit 
Jodoformglycerin gemildert werden. 

Beim Fbrtschreiten der Diphtherie 
auf die Nase wird man außer der Serum¬ 
therapie in schonendster Weise mit Watte¬ 
oder Gazeträgern die Nase von den Se¬ 
kreten befreien, Spülungen vermeide man 
lieber. Dagegen streiche man die Um¬ 
gebung der" Nase und in die Nase mit 
Borvaseline oder weißer Praecipitatsalbe. 
Bei starker Schwellung gebe man mehr¬ 
mals täglich ein bis zwei Tropfen Adre¬ 
nalin in jedes Nasenloch, damit die 
Atmung freier wird. 

Beim übergreifen auf den Kehlkopf 
achte man sorgfältig auf die Zeichen des 
Verschlusses, Stridor, . Einziehung Und 
Cyanose, um den richtigen Zeitpunkt der 
Tracheotomie nicht zu verpassen; das 
Aufschieben der Tracheotomie ist jedoch 
nur bei dauernder Beobachtung erlaubt. 
Die Ausführung einer Tracheotomie ist 
von jedem Arzt zu fordern. Bei starker 
Unruhe verabreicht man kleine Mor¬ 
phiumdosen oder Chloralhydrat 0,5 bis 
1,0 per Klysma. Während des ganzen 
Verlaufs der Diphtherie ist das Herz 


sorgfältig zu beobachten und bei et-^ 
waigem Nachlassen entsprechend zu ex- 
citieren. 

Die Rekonvaleszenz nach Diphtherie 
bedarf wegen der Möglichkeit von Nach¬ 
krankheiten b esonderer Ob erwachung. 
Wegen der Gefahr der Herzschwäche 
sollen die Patienten lange im Bettebleiben, 
selbst in leichten Fällen -mindestens zehn 
Tage, bei beschleunigtem Pulse wesent¬ 
lich länger. Etwaiges Eintreten akuter 
Herzschwäche erfordert möglichst schnelle 
Behandlung mit Coffein-, eventuell Adre¬ 
nalininjektionen. Die Eiweißausschei¬ 
dungen bei Diphtherie verschwinden ge¬ 
wöhnlich spontan in der Rekonvaleszenz. 
Dauern sie länger an, so behandelt man 
sie nach den für Nephrose (1919, S. 62) 
gültigen Regeln. 

Lähmungen im Stadium der Rekon¬ 
valeszenz bedürfen sehr langer Bettruhe 
und Schonung, später systematischer 
Übung. Die Akkommodationsstörung gilt 
es rechtzeitig zu erkennen, um die Pa¬ 
tienten vor schädlicher Überanstrengung 
zu bewahren; sie sollen entweder auf 
Lesen und Handarbeiten usw. verzichten 
oder eine Akko-mmodationsbrille tragen. 
— Bei Schlucklähmung muß durch vor¬ 
sichtiges Füttern mit Teelöffel, allenfalls 
Schnabeltasse das Verschlucken verhütet 
werden, das leicht zu Aspirationspneu¬ 
monie führen kann. In schweren Fällen 
ist die Ernährung durch Nasenkatheter 
(s. 0 .) unbedingt notwendig. 

Bei Lähmung der Extremitäten ist 
selbstverständlich Bettruhe von Anfang 
an notwendig; vorzeitige Bewegungs¬ 
versuche schaden. Im Anfang beschränke 
man sich auf ganze oder Teilpackungen, 
gehe nach drei bis vier Wochen zu Elek¬ 
trisieren, Massieren, Bädern, aktiven und 
passiven Bewegungen über, nach den 
bei Polyneuritis auseinanderzusetzenden 
Regeln. Medikamentös wirken Arsen und 
Strychnin als Unterstützungsmittel. 

Die Patienten können nach voll¬ 
kommener Genesung aus der Behandlung 
entlassen werden, wenn Nase und Rachen 
bacillenfrei sind. Eine gewisse Zahl von 
Bacillenträgern bleibt übrig, von denen 
einige nach sechs bis acht Wochen bacil¬ 
lenfrei werden. Eine kleine Zahl, welche 
trotz aller Therapie die Bacillen lebend 
behält, isoliert man nicht länger, sondern 
begnügt sich, sie zur Vorsicht und Sauber¬ 
keit anzuhalten, um Weiterverbreitung 
und Neuerkrankungen möglichst aus¬ 
zuschließen. 



112 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


März 


6. Pertussis. 

Bei der langen Dauer der Erkran¬ 
kung, die durch die Medikamente nur 
mäßig zu mildern ist, bleibt die Sorge 
um die Erhaltung der Kräfte und der 
Widerstandsfähigkeit die Hauptsache. 
Dieser wesentlichen Indikation genügt 
man durch reichlich frische Luft, Sauber¬ 
keit und Ernährung. Man lüftet daher 
möglichst häufig den Wohnraum, be¬ 
sonders das Schlafzimmer. Das* Kind 
soll bei irgend günstigem Wetter soviel 
als möglich im Freien sein, wobei darauf 
zu achten ist, daß es nicht mit gesunden 
Kindern zusammenkommt. Von größter 
Bedeutung ist die Sorge für die Er¬ 
nährung, welche durch häufiges Er¬ 
brechen gefährdet wird. Möglichst bald 
nach dem Erbrechen ist den Kindern 
neue Nahrung zu reichen. Dieselbe sei 
dem Alter der Kinder angemessen. Neben 
Milch und Brei ist jede Speise erlaubt, 
an die die Kinder in gesunden Tagen 
gewöhnt waren. Für die Erhaltung der 
Widerstandsfähigkeit sind auch regel¬ 
mäßige Waschungen erforderlich. — Da 
die Steigerung der nervösen Reflexerreg¬ 
barkeit einen wesentlichen Krankheits¬ 
faktor darstellt, so ist pädagogische und 
suggestive Beeinflussung wesentlich. Ein 
Ortswechsel wirkt nicht nur durch die 
eventuelle Möglichkeit besserer Luftzu¬ 
fuhr, sondern auch durch den suggestiven 
Einfluß des Milieus. 

Als ein Versuch der liifektionsbe- 
kämpfung gilt die Darreichung von 
Chinin in den ersten Tagen, am besten 
in der Lösung von'1:100,0 und je nach 
dem Alter drei bis fünf Teelöffel am 
Tage, beziehungsweise Pillen zu 0,1 g 
mehrmals täglich. Länger als fünf Tage 
wird man Chinin nicht geben. Weitere 
Aufgabe der Behandlung ist die Mil¬ 
derung des katarrhalischen Fi^izzustandes 
der Luftwege und die Äbschwächung 
der Reflexerregbarkeit, welche die Husten¬ 
anfälle herbeiführt. Am meisten empfiehlt 
sich Chloralhydrat 2:100,0 teelöffelweise 
drei-bis viermal täglich, das bei starkem Er¬ 
brechen auch rectal gegeben werden kann. 
Beliebt ist auch Bromoform dreimal täg¬ 
lich drei bis zehn Tropfen, das wegen der 
Vergiftungsgefahr mit Vorsicht zu ver¬ 
ordnen ist. Auch ein Versuch mit Atropin, 
das auf den Nervus vagus wirkt, ist an¬ 
gängig; man gibt 0,003:10,0 zweimal 
t^äglich einen bis fünf Tropfen. Gegen 
den Katarrh wendet man Inhalationen 
mit Menthol oder Thymol an und sorgt 
durch Verdampfenlassen von Wasser, daß 


das ganze Zimmer feucht gehalten wird. 
Die Entstehung von Bronchopneumonie 
bekämpft man durch Prießnitzpackungen, 
bei' Verschlimmerung derselben wendet 
man Senfbäder an (vgl. 1919, S. 178). Der 
Zustand des Herzens ist zu beobachten. 

Gute Ernährung und allgemeine 
Kräftigung bleiben auch nach Ermäßi¬ 
gung und nach Verschwinden der Husten¬ 
anfälle bedeutungsvoll wegen der Gefahr 
der Nachkränkheiten, besonders der 
Tuberkulose. 

7. Influenza^). j 

Einen persönlichen Schutz vor Influenza 
gibt es nicht; Mundspülen und Gurgeln 
mit desinfizierenden Lösungen ist ebenso 
problematisch wie das Vermeiden von 
Menschenansammlungen. Der Erkrankte 
bedarf auch bei den leichtesten Er¬ 
scheinungen der Bettruhe und gehöriger 
Pflege, Vernachlässigung rächt sich oft 
durch Verschlimmerung, Rückfälle und 
Komplikationen. In leichten Fällen ge¬ 
nügt die Allgemeinbehandlung. Bei 
höherem Fieber ist gelegentlich .ein inneres 
Antipyreticum, bei stärkerem Hustenreiz 
eine kleine Kodeingabe, bei unruhigen 
Nächten etwas Morphium erwünscht; auch 
Brustpackungen sind bei ausgesprochener 
Bronchitis zu empfehlen. Bei schweren 
Allgemeinerscheinungen wird das Be¬ 
dürfnis nach eingreifender Behandlung 
ein dringendes. Leider hat sich keins 
der vielen empfohlenen Mittel als wirksam 
erwiesen. Das sogenannte Grippeserum, 
auf Diplo- und Streptokoken eingestellt, 
vermag nichts gegen die eigentliche Grippe; 
es ist mehr als unsicher, ob es das Hin¬ 
zutreten von Pneumonie verhindern kann. 
Die Verordnung von Trypaflavin, Eucupin, 
Optochin, Salvarsan hat sich ebensowenig 
bewährt; allzu differente Medikation setzt 
die Widerstandsfähigkeit der Kranken 
herab. Ich bin stets gut gefahren, wenn 
ich dem unruhigen Drängen der Patienten 
und ihrer Angehörigen den festen Heil¬ 
plan entgegenstellte, der unter Verzicht 
auf unsichere und unerprobte Mittel die 
Widerstandsfähigkeit des Körpers aufs 
beste zu stärken sucht. Also gute Pflege, 
angemessene Ernährung, viel Alkohol, oft 
Kaffee, Herzkräftigung mit Coffein und 
Campher, Tags über mehrfach Kodein¬ 
gaben, eventuell ein oder zwei antipy¬ 
retische Dosen, zur Nacht Morphium. 
Man wird so bessere Resultate erzielen, 


In diesen Abschnitt habe ich unter dem Ein¬ 
druck der diesjährigen Epidemie auch einige 
negative Ratschläge aufgenommen. G. K. 





März 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


als durch eine vielgeschäftige Verordnung 
neuer und neuester Mittel, deren üble 
Nebenwirkungen unberechenbaren Schaden 
anrichten können. 

Die zahlreichen Komplikationen und 
Nachkrankheiten der Influenza sind nach 
den ihnen zukommenden Regeln zu be¬ 
handeln. Im Vordergrund steht die viel¬ 
gestaltige Pneumonie. Die Verhütung ge¬ 
schieht wohl manchmal durch vorsichtige 
Bettruhe von Beginn der Infektion; auch 
die Serumtherapie bietet keine sichere 
Prophylaxe. Nach Ausbruch der entzünd¬ 
lichen Lungenerscheinungen sind Prießnitz- 
packungen von etwa sechsstündlicher Dauer 
, zu machen, ebenso ist für Herzstärkung 
durch Wein und Kaffee, bei Frequent¬ 
werden des Pulses durch subcutane Coffein¬ 
injektionen zu sorgen. Digitalisgaben ge¬ 
hören zum alten Bestand der Therapie, 
sind aber ohne wesentliche Wirkung. Kräf¬ 
tigen Patienten macht man bei drohenden 
Erscheinungen einen Aderlaß von 200 bis 
300 ccm. Subcutane Adrenalininjektionen 
stündlich gegeben, sind das Ultimum refu¬ 


113 


gium. Unter den übrigen Komplikationen 
will ich die Magen- und Darmerscheinungen 
' hervorheben, weil sie die Ernährung sehr 
erschweren. Erbrechen sistiert meist auf 
volle Morphiuminjektionen, danach wird 
eisgekühlte Milch teelöffelweise vertragen. 
Diarrhöen stehen nach 15—20 Tropfen 
Opium und machen Schleimsuppendiät 
und Rotwein nötig. Die gastrischen Kom¬ 
plikationen machen oft einen sehr beun¬ 
ruhigenden Eindruck,lassen sich aber relativ 
leicht überwinden. Die komplizierende 
oder nachfolgende Nierenbeteiligung ist 
nach den üblichen Regeln zu behand.eln; 
die akute hämorrhagische Nephritis kann 
alle Gefahren der Scharlachnephritis 
bringen, reagiert meist gut auf beschränkte 
Milchdiät und Schwitzpackung. Sehr 
alarmierend wirkt das seltenere Vorkommen 
der Nephrose mit sehr hohem Eiweißge¬ 
halt des spärlichen Urins und suburämi¬ 
schen Erscheinungen, die unter derselben 
Behandlung, eventuell leichten Diureticis 
sich bald zum Bessern, schließlich zur 
vollen Heilung wenden. 


Zusammenfassende Übersicht. 

Neue Werke über Konstitution von Bauer, Martius und Kraus. 

Besprochen von B. Laquer, Wiesbaden i). 


Die Älteren von uns erinnern sich der 
Virchowschen Vorlesungen, und wie der 
eigentlich dauernd in geistiger Kampf¬ 
stellung verharrende Gelehrte die humo¬ 
ral-pathologischen, mit Krasen, mit Ver¬ 
wandtschaften und Antagonismen von 
Krankheiten und anderen Spekulationen 
versetzten Anschauungen Karlv. Roki¬ 
tanskys ironisch und völlig ablehnend 
behandelte; Virchow war, wie man das 
jetzt niclit gerade geschmackvoll nennt, 
Organicist; 1894 hielt Virchow bei dem 
internationalen medizinischen Kongreß in 
Rom den Festvortrag zum Andenken an 
G. B. Morgagni, anknüpfend an dessen 
Werk: de sedibus et causis morborum 
(1761 erschienen); die Krankheiten spielen 
sich in Organen und Zellen, nicht in den 
Säften ab, den Humores; Virchow zi¬ 
tierte auch in seinen Vorlesungen öfters 
das Wort Bichats: ,,Was ist uns Krank¬ 
heit, wenn wir nicht ihren Sitz kennen 
Die Bakteriologen, also die Kochsche 
Schule, gingen noch über Virchow hin¬ 
aus, der seine Zuhörer immer wieder 
gegenüber den „enthusiastischen Para- 

Auszug aus einem Vortrag, gehalten in den 
Wiesbadener ärztlichen Fortbildungskursen am 
8. November 1919. 


sitenjägern‘‘ das Ens und die Causa morbi 
streng zu scheiden aufforderte; jene fan¬ 
den aber auch schon in ihrem glänzenden 
Aufstiege heftige Gegnerschaft. Die rein 
ätiologisch-experimentelle Betrachtung 
herrschte nicht gar zu lange; in unserer 
schnellebigen Zeit veralten auch die wis¬ 
senschaftlichen Richtungen, welche früher 
ein Jahrhundert oder länger vorhielten, 
viel rascher; was der Obduktionssaal des 
pathologischen Anatomen für immer ver¬ 
nichtet zu haben schien, kam im Labo¬ 
ratorium in Form der Serumtherapie und 
der Lehre von der Immunität wieder zum 
Leben! 

Und die Klinik folgte dieser humo¬ 
ralen Neuschöpfung mit konstitutionellen 
Betrachtungen und Befunden; es ent¬ 
standen unter anderem die Arbeiten von 
Pal tauf über den Status thymico-lym- 
phaticus 1889/90, der Vortrag von Mar¬ 
tius: Krankheitsursachen und Krank¬ 
heitsanlagen 1898, Czernys Arbeit über 
exsudative Diathese 1905, Eppinger- 
Heß: zur Pathologie des vegetabilischen 
Nervensystems 1904; stark anregend wirk¬ 
ten die Forschungen über die Sekretion 
der inneren Drüsen; beginnend mit Star- 
lings Veröffentlichung über die chemi- 

15 




114 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


März 


sehen Korrelationen der Organe und ihrer 
Störungen in Krankheiten 1905, und 
gipfelnd in A. Biedls Werk über Innere 
Sekretion, 1. bis 3. Auflage, 1910bisl915. 

Will man die alte und die neue Zeit, den alten 
und den neuen Geist einmal wirksam sich gegen¬ 
überstellen und vergegenwärtigen, so vergleiche 
man, hintereinander lesend, die allgemeine Patho¬ 
logie von Julius Cohnheim, erschienen 1880, 
und die eben ers^ienene 9. Auflage v. Ludolf 
Krehls pathologische Physiologie; in Cohn¬ 
heims Werk, das seine Gegner einst wegen der 
glänzenden Sprache und Lesbarkeit ein medizi¬ 
nisches Feuilleton zu nennen beliebten, kommt 
der Ausdruck Konstitution überhaupt nicht vor; 
hingegen z. B. der Satz: „Alles kommt auf die 
Eigentümlichkeiten des Schwindsuchtsvirus und 
seine Wirkung hinaus; tuberkulös wird jeder, 
in dessen Körper sich das Virus etabliert“; 
Albin Hoffmann (Leipzig), ein Schüler Fre- 
richs, nahm 1893 in seinem Werk über konsti¬ 
tutionelle Krankheiten (F. Enke, Stuttgart) von 
einer allgemienen Besprechung der Konstitution 
überhaupt Abstand. Demgegenüber lautet die 
Überschrift des ersten Kapitels bei L. Krehl: 
„Krankheit, Konstitution, Diathese“, und die des 
letzten Kapitels: „Noch einmal Krankheit und 
Konstitution; die pathologische Physiologie und 
der Arzt“, wobei auch Krehls Bemerkungen 
über den ,,Dauerlauf der Konstitutions-Patho¬ 
logen“ in seiner Eröffnungsrede des 28. Kon¬ 
gresses für innere Medizin (1911) zu beachten 
sind. Seit 1914 erscheint bei J. Springer die 
„Zeitschrift für angewandte Anatomie und Kon¬ 
stitutionslehre“, Herausgeber: Tandler, von 
Eiseisberg, Kolisky, Martins. 

Auch über die allgemeinen Begriffe Krankheit 
und'Krankheitsursache, über die logischen Unter¬ 
schiede zwischen Krankheitsursachen und Krank¬ 
heitsbedingungen (Kondition) wird zurzeit stark 
gestritten 2). 

Nun liegen zurzeit drei Werke vor, in 
denen die eben angedeutete Entwicklung 
der Konstitutionspathologie und manches, 
was daran angrenzt, gewissermaßen sedi- 
mentiert, nämlich Fr. Martins, Kon¬ 
stitution und Vererbung in ihren Be¬ 
ziehungen zur Pathologie, J. Springer, 
1914, Jul. Bauer, Konstitutionelle Dis¬ 
position zu inneren Krankheiten, ebenda 
1917, und Fr. Kraus, Die allgemeine 
und spezielle Pathologie der Person, 
Klinische SyzygiolDgie, Allgemeiner Teil I, 
G. Thieme, 1919. 

Zuvörderst einige allgemeine Bemer¬ 
kungen über diese drei Bücher; de potiori 
fiat denominatio: Fr. Kraus will seine 
perönlich-singuläre, philosophisch-natur¬ 
wissenschaftliche Weltanschauung, das 
heißt die n ur von ihm selbst gleichsam 

^) O. Rosenbach war der erste, welcher diese 
Frage aufrollte; in jüngster Zeit: Verworn, 
Kausale und konditionale Weltanschauung, Jena 
1912; Hansemann, Über das konditionale Den¬ 
ken in der Medizin, Berlin 1912; Lubarsch, 
D. m. W. 1919, Nr. 1 und 2; Hering und Fischer, 
M. m. W. 1919, Nr. 19 und 35; Winterstein, 
Kausalität und Vitalismus, Wiesbaden 1919; 
Jensen, Erleben und Erkennen, Jena 1919. 


specifisch erarbeitete und ihn ganz er¬ 
füllende Art und „Weise, ärztlich und 
physiologisch zu denken, Hunderte von 
Einzeltatsachen zu ordnen vermittelst 
„abwechselndentwicklungsgeschichtlicher, 
morphologischer, experimenteller, psycho¬ 
logischer und klinischer Belege“ zur Dar¬ 
stellung bringen; etwa wie der Künstler, 
der erst seine Konturen im Kreidegrund 
zieht und dann seine Farben und Valeurs 
auf trägt oder besser wie ein Teppichweber 
— nur sein Muster und einen Riesen- 
canevas vor sich — ,,wo ein Tritt tausend 
Fäden regt — die Schifflein herüber hin¬ 
über schießen — die Fäden ungesehen 
fließen — ein Schlag tausend Verbin¬ 
dungen schlägt“. — ,,Der Teppich des 
Lebens“, das ist ja ein z. B. von der 
Gemeinde Stefan Georges, die auch 
philosophische Mitglieder zählt, oft ge¬ 
brauchtes Symbol. 

Das Bau ersehe Buch hat von den 
dreien den am meisten unpersönlichen 
Zug; es könnte auch von einem Stab von 
Mitarbeitern geschrieben worden sein; es 
stellt das dar, was man eine Fundgrube 
von klinischen Bildern und Einzeltatsachen 
zu nennen pflegt, all diese an dem Begriff 
,Konstitution* orientiert; es ist die erste 
systematische Durcharbeitung von über 
3000 Arbeiten; das Literaturverzeichnis 
umfaßt allein 67 Seiten; die meisten 
Schriften stammen aus den beiden letzten 
Jahrzehnten. 

Bauer nimmt mit Martins (ebenso 
wie Kraus) an, daß die Gesamtkonsti¬ 
tution eine Summe von Teilkonstitutionen 
der einzelnen Organe und Gewebe dar¬ 
stellt; der gegenseitige Konnex der letz¬ 
teren, das Spiel der Kräfte z. B. im 
neurologischen System, die ,,polyglandu¬ 
läre Formel“ (die Arbeit der inneren 
Drüsen, ihre Funktionskette) ist indivi¬ 
duell verankert: die funktionelle Ab¬ 
nützung unserer Organe, unsere Pubertät, 
Senium und Tod sind innerhalb bestimm¬ 
ter Fristen genotypisch fixiert; in allen 
diesen Beobachtungen spielt neben einer 
cellularen auch eine humorale Kompo¬ 
nente mit, welche dem älteren Begriff 
Diathese entspricht 

Im Gegensatz zu der systematf^hen 
Darstellung Bauers gibt Martius eine 
Reihe von kritischen Aufsätzen, ja von 
temperamentvollen Plaidoyers ^), welche 


In dieser Hinsicht ist auch besonders 
E. Th 0 en i s s e n ’ s großzügiges Referat: Über Ver¬ 
erbungsforschung und innere Medizin (Erg. d. 
Inn. Med. Bd. XVII, 1919, J. Springer) als muster¬ 
gültig zu bezeichnen. 



März 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


115 


die Grundbegriffe der Lehre von Kon¬ 
stitution und Vererbung behandeln, und 
sie möglichst scharf zu erfassen suchen; 
der zweite spezielle klinische Teil, welchen 
Martins nicht zu schreiben vermochte, 
„weil seine Abfassung über die Kräfte 
eines Einzelnen hinausgingen“, liegt in 
dem Bau ersehen Werke vor; eine klini¬ 
sche Ergänzung seines „allgemeinen Teils 
will Kraus in Bälde ebenfalls ausarbeiten 
und veröffentlichen. 

Martins betont in der Einleitung: 
Tausende von Studenten sehen und beob¬ 
achten Kranke; keiner von ihnen dürfte 
aussagen können, was Krankheit ist;'\ 
Vorlesungen darüber werden nicht ge¬ 
lesen; der 28. Kongijeß für innere Medizin 
(siehe oben) habe die Frage nach den 
konstitutionellen Krankheiten 1911 be¬ 
handeln lassen unter lahmem Interesse 
der Zuhörer (und mit einer matten in 
Gichtfragen sich hinschleppenden Dis¬ 
kussion, Ref.). Demgegenüber wäre 
Hippokrates ein naturwissenschaftlich 
denkender Arzt gewesen; V i r ch o w sprach 
von der Medizin als biologischer Doktrin, 
welche die Summe alles Wissens von 
Menschen darstellen solle; Martins weist 
auf einige prägnante Tatsachen hin; z. B. 
auf die gesunden Bacillenträger und die 
nur ihrer Umgebung gefährlichen Dauer¬ 
ausscheider; an Masern erkranken poten¬ 
tiell alle Menschen, an Scharlach nur 
die Hälfte; die Typhusbacillen verursach¬ 
ten bei Mäusen Septicämie iisw. Der 
experimentellen Forschung fehle die Ein¬ 
sicht in die ungeheure variable Natur des 
biologischen Objekts: Mensch; Martins 
reklamiert die Konstitutionspathologie als 
übergeordnetes Prinzip; er stellt, wie 
vorher Gottstein und Strümpell, die 

Q 

Formel auf: Krankheit K = 777 , wobei 

. W 

S die ursächliche Schädlichkeit, W den 
Widerstand des Körpers gegenüber der 
Krankheit darstelle und erweitert sie 
noch (S. 29). 

Martins unterscheidet Konstitutions¬ 
anomalien und -krankheiten; erstere be¬ 
deuten angeborene oder erworbene Fehler 
in der Körperverfassung, sie können sich 
aber zu einer Krankheit entwickeln. 

Martins unterscheidet angeborene 
Konstitutionskrankheiten, Fettsucht, Di¬ 
abetes, Gicht und erworbenen Konsti- 
tutionalismus (Lues, Alkoholismus). 

Drei Wege der Forschung über Kon¬ 
stitutionspathologie sind für Martins 
vorhanden: anatomische Untersuchun¬ 


gen, aber nicht die schulmäßigen, wie 
sie einst A. W. Benek '6 (Gießen) vor 
vierzig Jahren ausführte; physiologi¬ 
sche Fünktionsprüfung, wie sie F. Kraus 
und vorher Rosenbach forderten und 
förderten, und klinische Beobachtungen 
(z. B. konstitutionelle Albuminurie, Gly- 
cosurie, Achylie); ein zweiter Abschnitt 
des Martiusschen Buches behandelt die 
pathogene Vererbungslehre. 

Martins Schriften sind alle höchst le¬ 
bendig, sehr anregend und leicht verständ¬ 
lich geschrieben. 

Friedrich Kraus geht erkenntnis¬ 
theoretisch von Ernst Mach, Rieh. 
Avenarius und ihrem Empiriokriticis- 
mus aus; die auf geführten und sorg- 
fältigst in die 120 Einzelkapitel hinein- 
gearbeiteten' Schriften philosophischen, 
naturwissenschaftlichen und klinischen 
Inhalts sind geradezu überwältigend! 
Ein Weltstadt-Kliniker, der bei all seinen 
Pflichten diese Spannkraft und Funk¬ 
tionsbereitschaft ‘ besitzt, zu lesen, zu 
exzerpieren und zu diktieren. 

Abgesehen von antiken und modern¬ 
sten Philosophen, fehlt in diesem Werke 
kaum ei ne biologische Tatsache oder eine 
klinische Streitfrage, welche nicht zum 
Unterbau des Krausschen ,,Persönlich¬ 
keitsbegriffes“, der aber mehr ,,der Gott¬ 
heit lebendiges Kleid“ darstellt, verwen¬ 
det wurde! „Eine Problemhydra mit 
immer wachsenden Köpfen, die zu um¬ 
stricken und zu vernichten drohen!“ 

,,Alles fließt“; man hat beim Lesen 
das Gefühl eines Ideenstromes, ja eines 
lavaähnlichen Eruptivgesteins, das von 
einer Feuerseele getragen wird; das spricht 
sich auch in der Vorwegnahme von Be¬ 
griffen und Fachausdrücken aus, deren 
Begründung oft einige Seiten später, oft 
gar nicht kommt; z. B. gleich auf S. 1, 
5 und 6 erscheinen die Begriffe: phäno¬ 
typische Integration, Differentiation und 
,,Vitalreihen“. 

Kraus unterscheidet die genotypische 
Anlage von dem Phänotypus, das heißt 
von dem in Erscheinung tretenden Organ¬ 
system, etwa dem älteren Ausdruck 
,,Habitus“ entsprechend, die Ausdrücke 
stammen von Johannsen, dem Erblich¬ 
keitsforscher. 

Ohne R. Eislers Wörterbuch der 
philosophischen Begriffe, ohne j. Gaupps 
kurze Biographie Herbert Spencers 
hätte ich zwei dicke Wälzer von Spencer 
nachlesen müssen, um die beiden Begriffe 
Integration und Differentiation, ohne 
G. Sommers „Geistige Veranlagung und 

15* 





116 


Die Therapie der Gegenwart 1920 




März 


Vererbung“-, Leipzig 1916, un4 ohne 
J. Petzoldts'Einführung in die Ave- 
nariussche Philosophie der reinen Er¬ 
fahrung, 2 Bände, Leipzig 1900, den 
ganzen Avenarius, welchen Petzoldt 
selbst als äußerst'spröde, streng und knapp 
bezeichnet, durchackern können, um den 
für Kraus biologisches Denken so funda¬ 
mentalen Begriff: Vitalreihe, zu ver¬ 
stehen; da dieser aber eine wichtige Vor- 
aussetzungfür dasVerständnis desKraus- 
schen Werkes bildet, so mögen zuerst 
einige Auszüge hier folgen aus G. Som¬ 
mer, 1. c., zugleich als Beweis für die 
Notwendigkeit eines ,,Wegweisers“: 

„Avenarius hat das allgemeine Gesetz (mit 
dem Ausdruck „Gesetz^* wird man sonst auf 
psychologischem Gebiet sehr zurückhaltend sein 
müssen) der psychischen Reihen aufgestellt, wel¬ 
ches sich ungezwungen in den verschiedensten 
seelischen Vorgängen erkennen läßt; irgendetwas 
um uns, es kann das geringste oder das bedeutend¬ 
ste sein, zeigt sich plötzlich ergänzungsbedürftig; 
eine Alternative, eine Frage tut sich auf; das 
Gleichgewicht, in dem wir uns mit der Umwelt 
befinden, ist, wenn auch nur im mindesten, an¬ 
getastet; diesem Ausgangszustand folgt als Mittel¬ 
glied das Streben, jenes Gleichgewicht wieder¬ 
herzustellen, und dies gelingt in einem Endglied 
der ganzen Kette mit einer nun mehr oder weniger 
stark lustgetönten Lösung. Es ist also ein stets 
zur Aktion bereitstehender Trieb vorhanden, 
einen stabilen, normalen, sagen wir gesunden 
Zustand zu erhalten, zu schützen, ein Gleich¬ 
gewicht wiederzugewinnen, zu behaupten. Dieses 
Perpetuum mobile in uns ruht nicht, auch wenn 
sich die Reihen über Jahrhunderte ausdehnen, 
denn das kleinste psychische Erlebnis des Einzel¬ 
lebens fällt ebenso unter dieses Gesetz, wie die 
gewaltigen Regungen der Volksseele. Dazu kommt 
aber ein zweites: Jenes erstrebte Normale, 
Stabile, das nun wieder erreicht ist, gleicht nicht 
völlig dem ersten, das gestört war; das neue 
Gleichgewicht ist nicht mehr genau das alte, und 
zwar aus folgenden Gründen: Es ist bis zur 
Wiederherstellung des Gleichgewichts die ganze 
(kleine oder große) Summe der in Betracht 
kommenden Faktoren, die nähere oder weitere 
Umwelt eine, vielleicht unmerklich, vielleicht 
beträchtlich andere geworden. Dieser Umstand 
kann und darf im Alltagsleben der Psyche, das 
aus einer Unsumme solcher Reihen besteht, nicht 
unsere Wahrnehmung belasten, es entgeht viel¬ 
fach vollkommen unserer Aufmerksamkeit; aber 
er tritt- klar hervor, sobald die Wogen höher 
gehen, wenn länger dauernde Unruheperioden 
überwunden und gelöst werden.' Ferner hinter¬ 
läßt das ganze psychische Erlebnis — mag es das 
große eines Volkes sein oder eines jener kleinen, 
kaum beachteten Erlebnisse des Einzelnen — 
eine Spur in der Seele, welche im übrigen gleich¬ 
geformte, spätere Erlebnisse ihrerseits beeinflußt. 
Dies wird bei sämtlichen Erlebnissen zur Geltung 
kommen, die zu jenen irgendeine Beziehung haben, 
wiederholt es sich aber in den Hauptzügen (iden¬ 
tisch wird es nie sein!), so ist die Bereitschaft für 
seinen Ablauf vermehrt, bis zur Selbstverständ¬ 
lichkeit, kurz, wir sind auf dem weiten Gebiet 
der Einübung,’ des Gedächtnisses, der Erinnerung 
angelangt, einem Komplex, von erblichen Dis¬ 
positionen, ohne welchen unser Seelenleben jedes 


Zusammenhanges entbehrte, welcher die Grund¬ 
lage der Persönlichkeit därstellt.^* 

Man erkennt in der Vitalreihe einen alten Be¬ 
kannten, nur verfeinert, vergeistigt, verallgemei¬ 
nert wieder: die Reflexaktion; Hunger, Durst, 
Geschlechistrieb und anderes mehr, das sind auch 
—Vital reihen.— Und nun auch die Deutung des 
Psychophysischen — wiederum nach Avenarius 
— Petzoldt (1. c.), wie sie Kraus akzeptiert 
hat. Wir wissen nichts von einer Vermittlung 
zwischen „Physischem“ und „Psychischem“, wir 
nehmen keine Seele, Vernunft, kein Bewußtsein 
als Spiritus rector an — wir wissen nichts von 
einem Übergang vom Physischen zum Psychischen, 
wir wissen aber auch nichts von einem prinzipiellen 
Parallelismus beider Erscheinungsreihen, wie wir 
nichts von einem Kausalzusammenhang über¬ 
haupt wissen—auch dieser ist schon Ausfluß einer 
Theorie. * 

So stellte denn Avenarius — welcher ja Dog- 
menlosigkeit anstrebte, und nichts Weiteres über 
ArtundWesen der Abhängigkeit zwischen Psyche 
und Physis aussagen wollte — wieder eine solche 
untrennbare Zusammengehörigkeit und Koor¬ 
dination auf und nannte sie: die logische Funk¬ 
tionalbeziehung. 

Durch die logische Funktionalbeziehung wird 
einzig und allein fixiert, daß wir es mit zwei 
Gliedern zu tun haben, die so Zusammenhängen, 
daß, wenn das eine Glied sich ändert, dann sich 
auch das zweite ändert, wie etwa zwei variable 
Größen in mathematischer Hinsicht voneinander 
abhängig sind. 

Kraus überträgt also diese Ave- 
nariusschen, von Mach^) und Hering 
ergänzten Gesetze, Anschauungen, Be¬ 
griffe und Funktionsketten auf biologische • 
und klinische Tatsachen und Beobach¬ 
tungen; Roux’ ,Hertwigs,Rubners und 
Pawlows Forschungen dienen als Binde¬ 
glieder; an eine andere, von dem Astro¬ 
physiker Zöllner ursprünglich ausgehen¬ 
de Beobachtung der gegenseitigen Beein¬ 
flussung und Kontiguität von Sonnen¬ 
flecken, gewissermaßen an kosmisch-vitale 
Reihen-,,Induktion“ von Kraus genannt 
(S. 248), knüpft Kraus entsprechende 
biologische Vorstellungen an; und solcher 
Haltepunkte und Gedankencentren gibt 
es gar viele und eigenartige in diesem 
Werke; so lehnt z. B. Kraus eine-Ver¬ 
erbung erworbener Eigenschaften grund¬ 
sätzlich nicht mehr ab; er weist auf 
die Verschiedenheit der Organ- und der 
Artspecifitäten hin als ein unser anti¬ 
toxisches Schutzsystem bedingendes Prin¬ 
zip, welches bedeutungsvoller sei, als das 
morphologische Zellenschema und damit 
auf den Gegensatz beziehungsweise auf 
die Ergänzung der rein cellularpatho¬ 
logischen Auffassung; ähnlich ist auch 

^) Machs Weltanschauung schildert kurz und 
feinsinnig R. Wlassak in seiner Gedächtnisrede 
auf E. Mach (J. A. Barth, Leipzig 1917); auch 
P. Jensen (Göttingen) in „Erleben und Erkennen“ 
nimmt auf die Lehren von Avenarius und Mach 
bezug (Jena 1919). 





März 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


-117 


die Gesamtkonstitution auf^ufassen, die in 
,Partialkonstituenten zerfällt, welche wie¬ 
derum untereinander funktional Zu¬ 
sammenhängen und sich zu einer orga¬ 
nischen, das heißt sich selbst organisieren¬ 
den Ganzheit verbinden; in der Bewer¬ 
tung der Intercellularsubstanz (Plasmo¬ 
desmen) steht Kraus auch im Gegensatz 
zu der alten Virchowschen Auffassung; 
jene ist selbständig, hat eigenes Wachs¬ 
tum, eigenen Stoffwechsel! Die Einer¬ 
seits-Andererseits-Stellungnahme, also das 
Dialektische ^), ist charakteristisch für 
den Autor und seine Denkungsweise. 

Das ganze Buch (S. 366) will zeigen, 
daß der biologisch gerichtete Mediziner 
das menschliche Verhalten ebensowohl 
in den an sich scharf abhebenden Reak¬ 
tionen und Vitalreihen untersucht, wie 
in der Gesamtheit dieser Reaktionen und 
Vitalreihen; dies soll uns lehren, das 
Verhalten des Individuums als ein Ganzes 
als Syzytium ®) (aber auch als ein Singu¬ 
läres, Ref.) zu erkennen gegenüber den 
Reizkomplexen der Außenwelt und gegen¬ 
über anderen Individuen. Die einzelne 
Funktion in dieser Gesamttätigkeit hat 
nicht bloß einen psychologischen, sondern 
auch einen physiologischen Wert und 
Sinn. Die Persönlichkeit ist weder 

psychisch noch physisch, sondern neutral; 
die Biologie hat dabei die bereits ab¬ 

gelaufenen Reaktionen und Vitalreihen 
(die Engramme, im Sinne SemonsMneme, 
Ref.) mitzuberücksichtigen. Die Organi¬ 
sation unserer Funktionen kann voll¬ 
ständig nur als psychophysische be¬ 

schrieben werden. „Den Beseeler der 
Heilkunde“ nannte Meynert einst seinen 
Lehrer Rokitansky; Und mit diesem 
.,Engramm“ könnte man Fr. Kraus auch 
ehren 1 " . 

Immerhin — eine Hodegetik, einen 
„Wegweiser“ durch dieses Kraussche 
„Seelengemälde“ zu schreiben, das heißt 
den stellenweise sybillinischen Charakter 
des Werkes zu erklären, in die üppige 
Terminologie des Werkes einzuführen, 
es ,,ins Deutsche“ zu übersetzen, sollte 
ein auf die Gedankenreihen und In- 

In der Hegel sehen Philosophie: „die Auf- 
zeigung der dem Gegenstände selbst innewohnen¬ 
den Widersprüche, kraft deren alles Endliche in 
sein eigenes Gegenteil umschlägt, um sich aus 
dieser Trennung zu einer höheren, reicheren Ein¬ 
heit wieder zusammenzufassen“. 

®) deshalb Syzyziologie — Zusammenhangs¬ 
lehre, ein Ausdruck von Hesse für die Beziehun¬ 
gen zwischen Form und Funktion der Organe für 
die Korrelation im KÖfp6r, für die funktionelle 
Anpassung. Syzyzium von Z^yog^ Joch, eine Zu- 
sammenjochung. 


tuitioilen des Meisters eingestellter Schüler 
unternehmen! Jene Skizze, welche den 
ersten Band der „Ergebnisse der inneren 
Medizin und Kinderheilkunde“ einführte 
(1908, Springer), „über die Abhängig¬ 
keitsbeziehungen zwischen Körper •und 
Seele in der inneren Medizin“, die 
Studien über die Ermüdung als Maß 
der Kräfte (Kassel, Bibi. Medica, 1887) 
wären aber mit zu berücksichtigen. Das 
Werk von Kraus bringt zu jener Ein¬ 
teilung von Lesemethoden, nach denen 
man Bücher von links nach rechts, vpn 
oben nach unten und diagonal studieren 
kann, eine vierte; man muß dieses Werk ■ 
erst einmal hintereinander weg lesen und 
dann nochmals mit dem Bleistift in der 
Hand. Manche ,,Extratouren“ in dem 
Krausschen Werke wie die über Fakire 
(S.'27), über das Taylor-System (S. 258);. 
über den heiligen Augustin und die 
Scholastik (S. 398) und andere erhärten 
zwar die ungewöhnliche assoziative Kraft 
und den Riesenumfang der Krausschen 
Einfälle, bilden aber einen entbehrlichen 
Ballast; besonders bei den Seiten über 
Fakire kam mir trotz aller Krausschen 
Reserve aas Wort in den Sinn: „ln dieser 
Dämmerung fliegt nicht der Vogel der 
Minerva!“ Und das Übermaß von Termi¬ 
nologie mahnt an das geistvolle Wort des 
Historikers Alfred Dove, welcher die 
damit besonders belastete Soziologie ein 
„'Wortmaskenverleihinstitut‘^ nannte. Über 
den Stil läßt sich mit Fr. Kraus wohl 
nicht rechten; das ist schon oben an¬ 
gedeutet worden. Der Stil ist der Mensch; 
auch jener ist genotypisch verankert; die 
„Fülle der Gesichte“ drückt auf die 
Schreibart. Trotz alledem — überall den 
Runen, Hieroglyphen und Abbreviaturen, 
über all dieser „Hypothesen-Architektur“* 
steht ein schöpferisch gestaltender, schau¬ 
ender und begeisterter, hingebungsvoller, 
echter Forscher und Deuter des Lebenst 
Jean Paul schreibt einmal von der Lek¬ 
türe solch eines Werkes: ,,Dies Buch war 
für mich eine zweite Welt, auf welche 
meine Seele hinaufstieg, während sie den 
Körper den Stößen der Erde überließ!“ 

Was will nun dieser neue Geist in der 
Medizin, was bringt diese konstitutionelle 
Auffassung uns Ärzten? 

Ein höheres Forschungsprinzip soll in 
Zukunft herrschen; die einheitliche Auf¬ 
fassung des organischen Lebens in der 
Vielheit seiner Funktionen und Zweck¬ 
setzungen. Soweit dies eine Reaktion auf 
die einseitige Spezialisierung der Klinik be¬ 
deutet, eine Reaktion, welcheTh.F rer ichs 




118 


bid Tlierapie der Gegenwart 1920 


März 


schon in der Eröffnungsrede des 1. Kon¬ 
gresses für innere Medizin forderte, so 
kann ja diese Einseitigkeit, wie Krehl (l.c) 
hervorhebt, als überwunden gelten! Hin¬ 
gegen erscheint die Alleinherrschaft des 
koifttitutionellen Prinzips, wie sie Mar¬ 
tins fordert, vielen gefährlich; Fr. Mül¬ 
ler warnt S. 35 am Schluß seiner Rekto¬ 
ratsrede'^) mit Recht vor jener Sieger¬ 
zuversicht, daß jemals wieder ein Rück¬ 
fall in jene spekulativ-mystische Richtung 
der Röschlaub und Ringseis, die ja 
auch R. Virchow in seiner Gedenkrede 
auf Schönlein meisterhaft schildert, 
stattfinden könne. Und wer, wie Referent 
mal — vor etwa einem Jahrzehnt — einer 
Sitzung der ,,biologisch denkenden Ärzte“ 
beigewohnt, wird diese Warnung als wohl¬ 
berechtigt anerkennen müssen! Solche 
Werke wie das von Kraus sind für'den 
kritischen Leser höchst anregend, aber 
gefährlich für jüngere Schwarmgeister! 

Die größere und psychologisch logi¬ 
sche Schulung, welche Fr. Müller (1. c.) 
und kürzlich auch N. Ach (D. m. W. 
1919) fordern, wird die Ärzte davor 
schützen! Und die Worte von 0. Lu- 
barsch (l. c.), man möge in erster 
Reihe Kräfte für die Lösung der Einzel¬ 
probleme verwenden, zumal doch die 
Ansichten z. B. über den Ursachenbegriff 
der Krankheit gar nicht so weit ausein¬ 
andergehen, sind ebenfalls beherzigens¬ 
wert. 

,,Ein neues, weites und mühevolles 
Gebiet breitet sich vor der künftigen 
Forschung aus. Die nächstliegenden Ziele 
der Forschung seien kurz angedeutet: am 
Einzelfall Feststellung seiner Konstitu¬ 
tionsanomalien mit Hilfe der genauen 

über Spekulation und Mystik in der Heil¬ 
kunde, München 1914, J. Lindauer. 


Methoden und des ganzen .künftigen 
Rüstzeugs zum Nachweise von Funk¬ 
tionsstörungen latenter und manifester 
Art, von morphologischen Veränderungen; 
die Beziehungen der einzelnen Konsti¬ 
tutionsanomalien zueinander und zu den 
Manifestationen der vorliegenden Erkran¬ 
kung; womöglich Untersuchung auch der 
Eltern und Geschwister^ auf Konstitu¬ 
tionsanomalien und Vergleichung der Be¬ 
funde, um Gesetzmäßigkeiten hinsichtlich 
der Vererbung zu finden; die Abhängig¬ 
keit der Konstitutionsanomälien von äuße¬ 
ren Einflüssen, vom Lebensalter. Am 
genealogischen und statistischen Material 
die genaue Analyse der Vererbung, ins¬ 
besondere die Feststellung, ob und in¬ 
wieweit das endogene Moment einer Er¬ 
krankung auf Vererbung beruht und wie 
der Mechanismus der Vererbung ist, ob die 
Krankheit auf einen oder mehrere, even¬ 
tuell korrelativ verknüpfte Erbfaktoren 
zurückzuführen ist. So läßt sich von dem 
Zusammenarbeiten der experimentellen 
Pathologie und der Vererbungsforschung 
eine gegenseitige Förderung beider Ge¬ 
biete erwarten.“ (E. Thoenißen 1. c.) 

Wir Ärzte werden von dem neuen 
Geist für unser praktisches Handeln 
vor allem auch dahin beeinflußt werden, 
daß wir den kranken Menschen nicht aus¬ 
schließlich als Organleidenden anzusehen 
und abzustempeln haben; wir wollen uns 
bemühen, die in der Krankheit sich 
spiegelnde Persönlichkeit als Ausdruck 
einer singulären Erbmasse und in Ab¬ 
hängigkeit von seiner Umwelt zu erfassen 
und heiltechnisch zu beeinflussen; beson¬ 
ders als Haus- und auch als Kurärzte 
sollen wir versuchen, den Geno- und den 
Phänotypus durch Rassen- und soziale 
, Hygiene zu ertüchtigen. 


Referate 


Aus der Breslauer chirurgischen Klinik 
berichtet Melchior über den Bauch- 
druck. Er ist zeitlich wie örtlich wech¬ 
selnd. ln respiratorischer Ruhelage bei 
entspannter Bauchdecke lastet auf der 
thorakalen Fläche des Zwerchfells ein 
Unterdrück von etwa 9 cm Wasser, also 
Ansaugung der Eingeweide nach der 
Zwerchfellkuppel. Beim Zustandekommen 
der Bauchpresse (Defäkation, Husten, 
Geburt, Heben von Lasten) bei Glottis¬ 
verschluß und Kontraktur der vorderen 
Bauchwand wird das Zwerchfell fixiert, 
der Innendruck also gesteigert. Der vor¬ 


her schlaffe Bauchsack wird prall ge¬ 
spannt bis zu 2 bis 3 m Wasser. In Ruhe¬ 
lage übt die Bauchmuskulatur keinen 
Druck auf den Abdominalinhalt aus, 
paßt sich weitgehend dem Inhaltszu¬ 
wachs an (Gravidität, Tumoren) erst bei 
größeren Exsudaten tritt eine Steigung 
des Druckes und damit auch klinisch fest¬ 
stellbare erhöhte Wandspannung, ein. 
Bei ruhiger Ausatmung geringe Senkung, 
Höhertreten des Zwerchfells, bei Einat¬ 
mung geringe Steigung. Bei erschwerter 
Ausatmung infolge Bauchwandspannung 
Erhöhung, umgekehrt bei erschwerter 




119 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


.März 

Einatmung infolge. Saugwirkung Ernie¬ 
drigung (epigastrische Einziehung bei Tra¬ 
chealstenose). Der Bauchinhalt hat bei 
natürlicher Füllung in seiner Gesamtheit 
etwa das specifische Gewicht des Wassers. 
Der Druck in der Bauchhöhle verläuft 
also nach den hydrostatischen Gesetzen, 
an jeweils tiefstem Punkt ist er am 
größten und verhält sich proportional 
der Höhe der darauf lastenden Einge¬ 
weidesäule. Der Nullpunkt liegt beim 
stehenden Menschen etwas unterhalb der 
(unter negativem Druck bereits stehende) 
Zwerchfellkuppel. Bei Beckenhochlage¬ 
rung kann umgekehrt Luft in die Blase 
eingesaugt werden. Die äußere Kontur 
des Hängebauches ist der mathematische 
Ausdruck des nach unten zunehmenden 
Druckes. Demnach wird die Linea alba 
nach unten schwächer aber dicker, ebenso 
dieRecti. Daraus folgt, daß die Eingeweide 
nicht an ihren Mesenterien aufgehängt 
sind, sondern vielmehr auf den unter 
ihnen liegenden Organen ,,schwimmen“. 
Erst unter pathologischen Verhältnissen 
können die Aufhängebänder in Funktion 
treten, stets unter schmerzhafter Sen¬ 
sation! Für die Therapie folgt daraus, 
daß alle Methoden, welche die Reposition 
der Organe durch Raffung des Bandappa¬ 
rates erstreben, zwecklos sein müssen, 
nur die Rekonstruktion der vorderen 
Bauchwand und des Beckenbodens 
(Mastdarmvorfall) ist rationell. Operation 
oder Bandagenbehandlung. Einfluß der 
Spannungsverhältnisse und respirato¬ 
rische Schwankungen auf den Rückfluss 
des Venenblutes begünstigend, ebenso 
günstige Einwirkung körperlicher Tätig¬ 
keit als eine Art Massage auf den Darm. 
Erschwerung des Stuhlganges und Urin¬ 
entleerung der Bettlägrigen. Je tiefer 
beim Stehenden eine schwache Stelle der 
Bauchwand liegt, desto stärker wird sie 
belastet bei Entstehung von Brüchen. 
Epigastrische Hernien bleiben klein, 
Leistenhernien nehmen zu. Bauchnarben 
im oberen Teil (Gallenblase) geben keine 
Hernien, Unterbauchoperationen erfor¬ 
dern Rücksicht der Schnittführung auf 
das Gewebe. Bei akuter Peritonitis ist 
der Bauchdruck zunächst erhöht, da^ 
durch wird eine Blutüberfüllung im 
Splanchnicussystem verhindert. Im 
weiteren Verlauf tritt bei Spannungs¬ 
senkung die schädliche Blutüberfüllung 
des Splanchnicussystem auf. Bei Er¬ 
schlaffung der Bauchwandmuskulatur 
tritt notwendig zunehmender Meteorismus 
auf, bei dessen weiterem Zunehmen kann 


dann wieder passiv die Bauchdecke ge¬ 
spannt werden. Infolge meteoristischen 
Zwerchfellhochstandes wird aber dabei 
die Atmung behindert und damit der 
Venenkreislauf schwer beeinträchtigt. 
Spontanes Platzen der vorher durch 
die spannende Baucliwand zusammen¬ 
gepreßten Därme bei Eröffnung des 
Bauches bei Trommelbauch. Der ver¬ 
minderte Druck in der Zwerchfellkuppel 
erklärt das Einströmen von Flüssigkeit 
dorthin, die Neigung zur Infektion des 
I subphrenischen Raumes. Operation bei 
I Beckenhochlagerung läßt bei negativem 
i Druck im Becken bei Eröffnung des 
Peritoneums die Eingeweide nach der 
Zwerchfellkuppel sinken. 

An die Ausnutzung der verschie¬ 
denen Druck Verhältnisse durch Lagen- 
Wechsel, wie Referent das im Zbl. f. 
inn. M. 43/19 ausgeführt hat, wird nicht 
gedacht. Man betrachtet immer wieder 
eine einmal eingenommene Lage als un¬ 
veränderlich. Häufte (Wilmersdorf). 

(B. kl. W. 1919, Nr. 51.) 

Die Erfolge der Brustkrebsbehandlung 

vor und nach Einführung-der prophy¬ 
laktischen Röntgenbestrahlung der 
operierten Fälle bespricht Perthes. Die 
allgemeine Anschauung geht heute da¬ 
hin, daß die Unterlassung der Nachbe¬ 
strahlung nach der Operation als Vor¬ 
wurf angesehen werden muß. Zur Prü¬ 
fung der Richtigkeit dieser Frage hat 
Perthes die an der Tübinger Klinik 
in den Jahren 1910 bis 1918 operierten 
362 Patientinnen einer Nachuntersuchung 
unterziehen lassen. Es gelang, über 
355 Fälle zuverlässigen Aufschluß zu er¬ 
halten. Die Hauptergebnisse der Nach¬ 
untersuchung werden in der vorliegenden 
Arbeit mitgeteilt. Das Material ist in 
vier Gruppen getrennt. Gruppe 1 um¬ 
faßt diejenigen Fälle, welche nicht nach¬ 
bestrahlt worden sind. Es sind dies 130 
Patientinnen aus den Jahren 1910 bis 
1912. Von ihnen lebten nach drei Jahren 
noch 50 = 38,5 %, nach fünf Jahren 
noch 36 27 ,7 % ohne Rezidiv. Es 

ist bemerkenswert, daß viermal der Ein- 
I tritt des Rezidivs im sechsten Jahre nach 
I der Operation beobachtet wurde. Zu 
j einem späteren Termin wurden Rezidive 
nicht mehr gesehen. — Gruppe 2 und 3 
umfassen unzureichend bestrahlte Fälle. 
In Gruppe 2 sijid 70 Fälle aus den Jahren 
1913 und 1914 beschrieben, bei welchen 
nach erfolgter Wundheilung nur eine 
einmalige Bestrahlung der Narben an 
der Brust vorgenommen wurde; Gruppe 3 



120 


Märr 


Die Therapie der 


umfaßt 74 Fälle aus den Jahren 1915 
und 1916, bei denen mehrfache.Bestrah¬ 
lungen von Brust und Achselhöhle vor- 
genommeii worden waren. Nach der heu¬ 
tigen Anschauung muß die angewendete 
Strahlendosis als zu gering angesehen 
werden. Rezidivfrei waren nach drei 
Jahren 44 Fälle (30,5 %), nach fünf Jahren 
12 = 20,3 %. Während unter Gruppe 1 
im ersten Jahre Rezidive in 28 % auf¬ 
traten, haben wir bei Gruppe 2 und 3 
die Zahl von 38,2 %; gegenüber 47,5 % 
Rezidiven in den ersten drei Jahren unter 
Gruppe 1 stehen 54,2 %. unter Gruppe 2. 
Es ergibt sich also unzweideutig, 
daß bei den unzureichend bestrahl¬ 
ten Fällen die Zahl der Rezidive 
größer ist als bei Patientinnen, 
die überhaupt nicht bestrahlt wor¬ 
den waren. Da eine Änderung des 
Materials nicht eingetreten ist, kann nur 
eine gewisse Reizwirkung der Röntgen¬ 
strahlen auf die Bildung der Rezidive als 
ursächliches Moment angenommen wer¬ 
den. Nachbestrahlungen mit unzurei¬ 
chender Intensität stiften demnach eher 
Schaden als Nutzen. — In Gruppe 4 
sind die mit hohen Intensitäten nachbe- 
strahlten 88 Fälle aus den Jahren 1917 
und 1918 zusammengestellt. Die Technik 
gestaltete sich derart, daß fünf Bestrah¬ 
lungen mit je vier Wochen Pause für 
Brust, Achselhöhle und Oberschlüssel¬ 
beingrube gegeben wurden, bei Jeder 
Sitzung drei Felder. Drei Monate nach 
der letzten Bestrahlung Wiederholung, 
welche je nach Lage des Falles alle 
drei oder sechs Monate wiederholt 
wurde. Da die Fälle für eine dreijährige 
Kontrolle noch nicht weit genug zurück¬ 
liegen, kann nur über das Verhalten im 
ersten Jahre berichtet werden. Danach 
ergaben sich Rezidive in 41 %. Betrach¬ 
tet man die Rezidive durch Metastasen 
ohne Lokalrezidive, so ergibt sich für 
die vier Gruppen: Gruppe 1: 11 %, 

Gruppe 4: 11 %, Gruppe 3: 14% und 
Gruppe 4: 18%. Bei Intensivbe¬ 
strahlung-stehen demnach die Re¬ 
zidive im ersten Jahr überhaupt 
an der Spitze gegenüber den an¬ 
deren drei Gruppen. Das Gesamt¬ 
ergebnis der Perthes’schen Untersu¬ 
chungen ist außerordentlich überraschend 
und seine Worte verdienen vollste Bedeu¬ 
tung: „Von dem , Sieg der Röntgenstrahlen 
über den Brustkrebs* (Loose) sind wir 
also noch recht weit entfernt, und Sieges¬ 
fanfaren sollten nicht erschallen, ehe der 
Frieden ratifiziert ist.** Da an der Ein- 


Gegenwart 1920 

... 

wirkung der Röntgenstrahlen auf das 
Krebsgewebe nicht zii zweifeln ist, müssen« 
die beschriebenen schlechten Resultate* 
der Technik zur Last gelegt werden und 
es ist das Bestreben der Tübinger Klinik, 
durch neue Apparate die Intensität der 
Bestrahlung noch zu erhöhen. Nach wie 
vor muß es das Bestreben des Chirurgen 
sein, die Fälle möglichst früh zur Ope¬ 
ration zu bekommen, zeigten doch von 
37 Kranken, welche im ersten Stadium 
operiert wurden, nach drei Jahren nur 
eine einzige Patientin ein Rezidiv, dem 
sie zum Opfer fiel. Weitere Veröffent¬ 
lichungen über das Spätresultat der be¬ 
strahlten Fälle sind dringend erwünscht. 

(Zbl. f. Chir. 1920, Nr. 2.) Hayward. 

Die Aussicht, wieder zu solchen Er¬ 
nährungsverhältnissen zu kommen, wie 
sie vor dem Kriege bestanden, ist zurzeit 
noch äußerst gering. Jahre werden ins¬ 
besondere vergehen, bevor wieder das^ 
Fleisch als nennenswerter Eiweißträger 
im Körperhaushalt des Einzelnen die frü¬ 
here Rolle spielen kann. Von großem 
Interesse sind daher die Erfahrungen über 
das Eiweißminimum der Nahrung, über 
die Brugsch aus der Krausschen Klinik 
berichtet. Die Voitschen Standard¬ 
zahlen galten vor dem Krieg auch für 
die modernen Physiologen als Normal¬ 
werte und wurden in Theorie und Praxis- 
fast allgemein der Ernährung zugrunde 
gelegt; der Kostsatz von zirka 110 g Ei¬ 
weiß galt als das Eiweißminimum. 
Nun zeigten die bekannten Versuche 
von Chittenden, von Hindhede, von 
Röse und Berg, daß es gelingt, auch 
mit bedeutend geringeren Eiweißmengen, 
selbst mit 40 bis 20 g, Menschen im. Stick¬ 
stoffgleichgewichte zu halten. Doch nicht 
jedes Eiweiß ist für die Ernährung gleich¬ 
wertig; die Wertigkeit steht mit dem Bau 
des betreffenden Eiweiß in Zusammen¬ 
hang, ist aber noch nicht mit Sicherheit 
auf einen bestimmten Faktor zu beziehen. 
Je höherwertig nun ein Eiweiß ist für 
unsere Ernährung, um so kleiner ist das E^- 
weißminimum, mit dem wir uns in Stick¬ 
stoffgleichgewicht setzen können. Von 
höchster Wertigkeit ist das Eiweiß von 
Kartoffeln, Reis, Eiern, Fleisch und Milch, 
geringer das von Mais und Brot, am ge¬ 
ringsten das von Gemüse. Wenn es nun 
auch gewiß möglich ist, sich mit einem 
Eiweißm nimum zu erhalten, so genügt 
dasselbe doch nicht, um auf die Dauer 
den Anforderungen des menschlichen Le¬ 
bens gerecht zu werden; denn einmal ist 
die Einstellung auf das Eiweißminimum 



März 


121 


Die Therapie der Gegenvirart 1920 


nur mit Verlust von Körpergewicht und 
Körpereiweiß zu erreichen, andererseits 
wird dadurch der Körper gewisser Resti¬ 
tutionsmöglichkeiten beraubt. Vergleiche 
an Rekonvaleszenten aus den Jahren 
1912/13, 1916 und 1919 ergaben, daß die 
Kost von 1919 nicht mehr die Möglich¬ 
keit zu Körpergewichtsansatz bot, wohl 
aber noch die Kost aus dem Jahre 1916, 
obwohl letztere einen bedeutend niedri¬ 
geren Eiweißgehalt enthielt als die Kost 
von 1913, nämlich etwa 61 g verdauliches 
Eiweiß. Ein Wert von etwa 70 g resorbier¬ 
baren Eiweißes, der es Rekonvaleszenten 
gestattet zuzunehmen, dürfte auch für 
•einen Gesunden genügen, ja als Optimum 
gelten, um ihm die Möglichkeit zu Ein¬ 
sparung in der Not zu geben. Wichtig 
ist nur, daß die Kost calorisch ausreicht 
>{zirka 3000 Calorien) und der Mischung 
der Eiweißkomponenten nach zweck¬ 
mäßig ist und genügenden Sättigungs- 
wert hat. Die Feststellung des Eiwei߬ 
minimums, das nicht absolut ist, sondern 
für jedes Eiweiß in einem Nahrungsmittel 
verschieden ist, hat nur ernährungs¬ 
physiologischen Wert, darf aber nicht 
zur Leitlinie für die Ernährungseinstellung 
im Sinne eines Kostsatzes dienen. 

Regensburger (Berlin). 

(D. m. W. 1919, Nr. 29.) 

Bei der Behandlung der weiblichen 
'Gonorrhöe mit schaumbildenden Stäbchen 
hat Brauns nach seinen in der Universi 
tätsklinik zu Heidelberg angestellten Ver¬ 
suchen keinen wesentlichen.Erfolg erzielen 
können. Es ist bei der Beurteilung eines 
neuen Heilverfahrens der Gonorrhöe Fol¬ 
gendes zu beachten: Wenn die entzünd¬ 
liche Abwehrreaktion des Körpers ab- 
geklungen ist, werden keine Gonokokken 
mehr mit dem Leukocytenstrom aus¬ 
geschwemmt; haben sich Körper und 
■Gonokokken aneinander gewöhnt, so 
bleiben die Gonokokken in den Schleim- 
hautfältchen, besonders der paraurethralen 
Gänge fest liegen, wodurch es zu einer 
retenten Gonorrhöe kommt; hierdurch 
häufen sich auch immer mehr die Schwie¬ 
rigkeiten behufs Diagnose und Therapie. 
Für die Versuche wurden folgende Prä¬ 
parate genommen: Die Spuman- und 
■Cholevalstäbchen, sowie die Gonostyli. 
Brauns sieht sich so gezwungen,. von 
dem bisherigen Spülverfahren nicht abzu¬ 
gehen und glaubt annehmen zu dürfen, 
daß hierfür das Choleval in erster Reihe 
in Anwendung kommen müsse, da das in 
ihm enthaltene gallensaure Natrium im¬ 


stande ist, die Leukocyten aufzulösen und 
die Gonokokken abzutöten, 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(Zschr.f. Bekämpf. d.Geschlechtskrkh. Nr. 1,1920.) 

Die Heilung einer Lungeugangräti 
durch Neosalvarsan schildert Groß 
(Greifswald). Wie bei früheren Fällen 
kommt auch bei diesem sehr ausge¬ 
sprochenen Fall einer akut entstandenen 
Lungengangrän, bei der es zu einer großen 
Höhlenbildung mit Plätschergeräuschen 
und Auftreten von Spirochäten im Spu¬ 
tum gekom^ien war, durch zweimalige 
intravenöse Salvarsaninjektion innerhalb 
von zwei Monaten eine vollkommene Hei¬ 
lung erzielt worden. Dies dokumentierte 
sich zunächst an dem Verschwinden 
der elastischen Fasern und des fötiden 
Geruchs aus dem Sputum, das allmählich 
vollkommen verschwand. Bei der Auf¬ 
nahme zeigte das Röntgenbild im linken 
Lungenflügel eine Höhlenbildung von der 
Größe eines Kindskopfes, während bei 
der Entlassung, abgesehen von der etwas 
vermehrten Hiluszeichnung, ein völlig 
normales Bild vorlag. Es ließ sich kom 
statieren, daß die Verkleinerung der 
Höhle und die Abnahme der Auswurf¬ 
mengen Hand in Hand gingen und ein¬ 
ander proportional waren. Ähnlich ver¬ 
hielt sich die Temperatur, die wenige 
Tage nach der ersten Salvarsaneinsprit- 
zung abfiel und dann nach geringen 
Schwankungen zur Norm abfiel. (So schön 
der Verlauf dieses Falles ist, so wird doch 
auch hier die Frage nicht zu umgehen 
sein, ob eine Heilwirkung des Salvarsan 
oder nicht vielmehr eine Selbstheilung an¬ 
zunehmen ist. Die analoge Erörterung im 
Therapeut. Meinungsaustausch dieses Hef-^ 
tes erscheint in dieser Beziehung sehr 
lehrreich.) Raschdorff (Berlin). 

(M. m. W. 1919, Nr. 32.) 

Aus einem Falle plötzlichen Herztodes 
durch Nekrose des Herzmuskels leitet 
Grub er Stützen ab für die Rößle-Berg- 
mannsche Hypothese von der nervösen 
Entstehung des Magengeschwüres. Rößle 
hat die Auffassung vertreten, daß schwere 
örtliche Reizungen des Magendarmkanals 
durch Reflexwirkung entstehen können 
undDefektbildungen verursachen könnten, 
vorausgesetzt, daß eine gewisse vagotoni- 
s,che Disposition vorläge oder eine vago- 
tonische Konstitution. Auch Bergmann 
hält für das Ucus pepticum jene Menschen 
besonders für disponiert, welche sich durch 
eine Disharmonierung des visceralen Ner¬ 
vensystems auszeichneten. Nervös be¬ 
dingte Spasmen führen zu anämischen 

16 



122 


Die Therapie der GegehWait 1920 


März 


Bezirken in der Magenwand und darauf 
folgt als Ernährungsstörung die Erosion. 
Reflektorische Hypersekretion' vermittelt 
di'i Ausbildung des Ulcus. Grub er be¬ 
schreibt nun einen Fall eines früher stets 
gesunden Epileptikers, der in der Aura 
der wenigen Anfälle, die er überhaupt 
hatte, die Symptome der Angina pectoris 
bot. In einem echten Anfalle ging der 
Mann zugrunde, nachdem er, mehrere 
Tage von stenokardischen Beschwerden 
und Ängsten geplagt das Kommen des 
Anfalls vorausgesagt. D\% Obduktion 
ergab einen kräftigen, anatomisch durch¬ 
aus gesunden Mann, der lediglich eine 
ganz frische und umfangreiche Nekrose 
des Herzmuskels im Gebiete der vorderen 
Arteria coronaria descendens zeigte. Da¬ 
bei waren die Wände der Coronarien zart, 
glatt und völlig durchgängig, wie die 
großen und kleineren sonstigen 'Schlag¬ 
adern. Nirgends waren Thrombosen, nir¬ 
gends anderweitige Emboliequellen, nir¬ 
gends steckten Emboli. Es schien also die 
Annahme berechtigt, daß hier ein Herz¬ 
arterienkrampf, bedingt durch centrale 
Einflüsse, wohl angioneurotisch ver¬ 
mittelt, Anlaß zum schweren irreparablen 
Herzschaden gegeben. Bleibt nur die Frage 
übrig, warum solche Herznekrosen nicht 
öftersbei Herztod ohnesklerotische und em- 
bolische Veränderungen gefunden werden. 

(M.m. W. 1919, Nr.35.) Raschdorff (Berlin). 

Über Nearthrosen, besonders über solche 
des Kniegelenkes und deren Behandlung 
schreibt Bier. Die Veröffentlichung gibt 
einen Vortrag wieder, den der Autor in der 
Berliner Chirurgischen Gesellschaft gehalten 
hat und reiht sich ein in die Studien 
^Biers über-Regeneration, die in zwang¬ 
loser Folge in der Deutschen medizinischen 
Wochenschrift zur Veröffentlichung gelan- 
. gen. Die Bildung von beweglichen Ge¬ 
lenken ist durch die grundlegenden Ar¬ 
beiten Hciferichs zu einem praktisch 
brauchbaren Resultat geführt worden. Der 
Grundgedanke der Helferichschen Me¬ 
thode, die Zwischenlagerung von Weich¬ 
teilen zwischen die resezierten Knochen¬ 
enden hat eine Fülle von Abänderungs¬ 
vorschlägen erfahren, welche sich aber 
lediglich auf die Art der zur Verwendung 
gelangenden Weichteile erstrecken. Bier 
glaubt, daß es möglich ist, die immerhin 
komplizierten Methoden der Helferich¬ 
schen Plastiken durch einfachere Verfahren 
zu ersetzen, womit bei verschiedenen Ge¬ 
lenken auch bessere Resultate erzielt 
werden können. Er hat gefunden, daß 
es weniger auf die Art des zwischen die 


Knochen gelagerten Materials ankommt 
wie vielmehr darauf, daß die durch die 
Resektion'der Gelenkenden erzielte Lücke 
zwischen den Knochen erhalten bleibt. Es 
ist darum auf die erste Lagerung der 
operierten Extremität nach der Operation 
schon der größte Wert zu legen. Zur Er¬ 
zielung einer frühzeitigen Funktion muß 
auch in den nächsten Tagen nach der 
Operation schon mit dem Lagerungswechsel 
der Extremität begonnen werden, wobei 
darauf zu achten ist, daß die Lücke 
zwischen den Knochenenden erhalten bleibt. 
Für das Kniegelenk gestaltet sich das Vor¬ 
gehen folgendermaßen: Nach der Operation 
(Resektion ohne Zwischenlagerung von 
Weichteilen) wird das Gelenk in gebeugter 
Stellung im Gipsverband verbunden. Nach 
10 bis 14 Tagen, wenn die Wunde primär 
verheilt ist, wird, eventuell im Ätherrausch, 
das Gelenk gestreckt und zur Erhaltung 
der Diastase zwischen den Gelenkenden 
wird ein Streckverband angelegt wobei 
sich die Drahtextension durch den Cal- 
caneus bewährt hat Dann wird der 
Stellungswechsel in immer schnellerer Folge 
vorgenommen und nach vier Wochen ist 
meist schon ein erheblicher Grad von ak¬ 
tiver und passiver Beweglichkeit erreicht 
Ganz besonderer Wert ist noch darauf zu 
legen, daß sich möglichst bald ein Schleim¬ 
beutel an den resezierten Enden bildet 
Die Untersuchung eines mit Fascien-Fett- 
lappen transplantierten Kniegelenks hatte 
gezeigt daß sich aus diesem Material 
Schleimbeutel gebildet hatten. An diesen 
Stellen war das Transplantat bis auf eine 
zarte, den Knochen deckende Haut voll¬ 
kommen verschwunden. Es ist aber nicht 
nötig, wie Bier zeigt die Bildung dieser 
Schleimbeutel durch Interposition von 
Weichteilen zu erzielen, sondern es können 
durch einfachere Verfahren die gleichen 
Resultate erreicht werden. Nach der Reihe 
kamen folgende Materialien zur Verwen¬ 
dung: Füllung der Lücke mit Blut mit 
Blutserum, mit physiologischer Kochsalz¬ 
lösung, mit sterilisierter Gelatine. Es zeigte 
sich, daß alle die genannten Materialien 
zu Schleimbeuteln umgewandelt werden. 
Für das Kniegelenk ist die Gefahr der 
Infektion ganz besonders zu fürchten. Um 
diese nach Möglichkeit auszuschalten, 
wurde vor Einfüllung des Materials die 
ganze Wundoberfläche mit Jodtinktur in¬ 
tensiv behandelt An den in der Arbeit 
mit diesen Verfahren in 14 Fällen erzielten 
Erfolgen wird die Brauchbarkeit der Me¬ 
thode im einzelnen dargetan. Hayward. 

(Zbl. f. Chir. 1920, Nr. 1.) 



123 


MäVz DiB Therapie der Gegenwart 1920 


’ Über einen klinisch und pathologisch¬ 
physiologisch- interessanten Fall ‘ von 
Selbsthei lung eines in der Schwanger- ' 
Schaft entstandenen Nierenleidens durch 
Entstehung einer Aorteninsuffizienz be¬ 
richtet Veil. Es handelt sich um eine 
Frau, die während und in der Folge zahl¬ 
reicher Graviditäten die Erscheinungen 
einer chronischen Nephropathie im Sinne 
einer gutartigen Nierensklerose bot mit 
stark erhöhtem Blutdrucke, verhältnis¬ 
mäßigreichlicher Albuminurie, Cylindrurie 
und typischer Retinitis albuminurica. 
Gleichzeitig bestand eine Endocarditis, die 
zuerst Mitralklappensymptome machte, 
später außerdem Aortenklappensym¬ 
ptome. Es zeigte sich nun, daß mit der 
Entstehung und der stärkeren Ausbildung 
des Aortenvitiums die Symptome der 
Nephropathie allmälilich so zurückgingen, 
daß man von einer Heilung sprechen 
konnte; die Augenhintergrundsverände¬ 
rungen und damit die schweren Seh¬ 
störungen verschwanden vollständig, der 
Urin wurde fast völlig eiweißfrei und 
zeigte normalen- Sedimentbefund. Das 
Befinden der Patientin war allerdings 
durch den stark .zur Dekompensation 
neigenden Zustand des Herzens bei zu¬ 
nehmender Dilatation zeitweise erheblich 
gestört. Die Einwirkung der entstehenden 
Aorteninsuffizienz auf das Nierenleiden 
ist so zu denken, daß das diastolische 
Zurückströmen des Bluts in den linken 
Ventrikel eine Entspannung des peri¬ 
pheren arteriellen Kreislaufes durch Wir¬ 
kung auf die Widerstände in den Capil- 
laren hervorrief und auf diese Weise in¬ 
folge Herabsetzung des diastolischen 
Spannungszustandes im gesamten arte¬ 
riellen Gebiet angiospastische Zustände, 
wie sie nach Volhärd für die Nephritis 
und die Retinitis in Frage kommen, un¬ 
möglich gemacht wurden. 

(M. m. W. Nr.33.) Regensburger (Berlin). 

Über hysterische Simulation Ray- 
näudscher Krankheit berichtet Sieben. 
Es handelte sich um ein 19V2jähriges 
Mädchen,' das wegen krampfähnlicher 
Schmerzen im Daumen der rechten Hand 
in Behandlung kam. Eine ^Wahrnehmbare 
Veränderung war an dem Daumen nicht 
vorhanden. An dieser Hand fehlte der 
dritte, vierte und fünfte Finger, an der 
linken Hand war nur noch der Zeigefinger 
und die erste Phalanx des dritten Fingers 
vorhanden. Es gab an, jedesmal, wenn es 
diesen eigentümlichen krampfartigen 
Schmerz in einem Finger verspüre, werde er 
in kurzer Zeit weiß wie Wachs und sterbe 


dann ab. Gewöhnlich müsse er dann 
amputiert werden. Am anderen Tage 
präsentierte es in der Tat einen völlig 
nekrotischen rechten Daumen^ welcher 
vollkommen weiß verfärbt und in seinem 
Volumen etwas verringert war. An der 
Übergangsstelle in das gesunde fand sich 
eine'deutliche rote Demarkationslinie und 
zahlreiche, parallele, ganz oberflächliche, 
kaum wahrnehmbare Rillen, die circulär 
um den nekrotischen Daumen verliefen. 
Die Patientin gab an, daß auf diese Weise 
ihr auch sämtliche Zehen abgestorben 
seien. Auf Ermahnungen gab sie zu, daß 
sie sich selbst die Verletzungen beige- 
'bracht habe, indem sie einen dicken mit 
konzentrierter Karbolsäure getränkten 
Bindfaden um ihre Fmger und Zehen ge^ 
wickelt habe, um sie so zum Absterben 
zu bringen. Der wichtigste Unterschied 
von der Raynaudschen Krankheit war, 
daß auf die regionäre Ischämie keine 
Cyanose folgte, sondern daß erstere direkt 
in das Stadium der Nekrose überging. Be¬ 
sonders zustatten kam der Kranken bei 
ihrem Betrug ’ die anästhesierende Wir¬ 
kung der Karbolsäure. 

(M. KI. 1919, Nr. 29.) Raschdorff (Berlin). 

Zur Operation der intrathorakalen 
Struma gibt Hartert einige beachtens¬ 
werte Winke. Eine ganz besondere 
Schwierigkeit liegt bei der Entfernung 
der Struma in der Luxation des oft weit’ 
in den Thoraxraum hineingewachsenen 
intrathorakalen Abschnitts der Schild¬ 
drüse. Die Verhältnisse sind gelegentlich 
derartig ungünstige, daß es nicht einmal 
gelingt, ein stumpfes Instrument oder 
gar den Finger neben den int-rathorakalen 
Teil vorzuschieben, um ihn an die Wund¬ 
oberfläche zu bringen. In derartigen 
Fällen bleibt nichts weiter übrig, als 
durch eine ausgiebige Wegnahme des 
Schlüsselbeins und Spaltung des Brust¬ 
beins einen genügenden Raum zu schaffen, 
oder auch Teile des Manubrium sterni zu 
res'ezieren. Naturgemäß wird hierdurch 
der Eingriff erheblich kompliziert und 
auch verlängert, was bei denjenigen Kran¬ 
ken, die mit großer Dyspnöe zu kämpfen 
haben, nicht gleichgültig erscheint. Hier 
hat sich Hartert dadurch,geholfen, daß 
er einen dicken Seidenfaden oder einen 
mit Kanülenband armierten Faden durch 
die Substanz der Schilddrüse an der Stelle 
hindurchführt, welche am Brustbeinrande 
gerade noch zu erreichen ist. Durch Zug 
an dieser Schlinge ist es jetzt möglich, 
den intrathorakalen Abschnitt etwas 
weiter hervorzubringen, sodaß eine neue 

16^ 




124 


Die Therapie, der Gegenwart 4920 


derartige Schlinge angelegt werden kann. 
Diese Manipulation wird so lange fort¬ 
gesetzt, bis der ganze Knoten vollkommen 
lU'Xiert ist. Es gelang durch den be¬ 
schriebenen einfachen Handgriff auch in 
denjenigen Fällen, in welchen der intra¬ 
thorakale Abschnitt nur durch eine 
schmale Brücke mit dem übrigen Schild¬ 
drüsenanteil verbunden war, zum Ziel zu 
kommen. Es bleibt dann, entsprechend 
dem Umfange des Knotens, eine mehr oder 
minder große Höhle nach dem Me.di- 
astinalraume zu bestehen, deren wirksame 
Drainage nicht möglich ist, da man nicht 
vom tiefsten Punkt aus drainieren kann. 
Diese Höhle unversorgt zu lassen, er- * 
scheint gefährlich, da bei einer eventuellen 
Infektion mit der« gefürchteten Medi- 
astinalphlegmone zu rechnen ist. Deshalb 
wird in der Tübinger Klinik die Höhle 
durch Naht vollständig geschlossen. Natur¬ 
gemäß muß bei der Nähe der großen 
Brustgefäße die Naht nur oberflächlich 
und mit großer Vorsicht ausgeführt wer¬ 
den. Dann ist es aber auch möglich, die 
ganze Strumawunde unter Vermeidung 
jeder Drainage zu schließen. 

Hayward. 

(Zbl.f. Chir. 1919, Nr. 47.) 

Mit Terpentineinspritzungen bei ent¬ 
zündlichen Adnextumoren hat auch 
Fuchs gute Erfolge erzielt: in frischen 
'Fällen mit großer Schmerzhaftigkeit und 
gelegentlich sehr starken Blutungen 
konnte in den meisten Fällen schnelle 
Hilfe gebracht werden; schon nach der 
zweiten Spritze nahmen die Schmerzen 
erheblich ab, um bald ganz zu verschwin¬ 
den, so daß auf jegliches Narkoticum ver¬ 
zichtet werden konnte. Auch die Blu¬ 
tungen wurden in der günstigs4:en Weise 
beeinflußt, so daß schon die nächste 
Periode schwächer oder kaum noch ver¬ 
früht auftrat. Durch öftere Untersuchun¬ 
gen konnte festgestellt werden, daß große 
Adnextumoren bis zwei Mannsfaustgröße 
in wenigen Wochen bis auf Pflaumen¬ 
größe zurückgingen. Die Injektion muß 
auch wie eine Art Stimulanz auf die 
Frauen wirken, da sich der Appetit in 
vielen Fällen auffallend behob. Dem¬ 
gegenüber half die Therapie bei ganz alten, 
mehr schwieligen Fällen sehr wenig. Die 
Behandlung selbst gestaltet sich ganz ein¬ 
fach: Es werden alle 4 Tage auch wäh¬ 
rend der Menses 0,5 ccm eines Gemisches 
von 4,0 Oleum Terebinth. depurat., 0,2 
Eucupin, 16,0 Oleum olivar, und zwar in 
der hinteren Axillarlinie zwei Querfinger 
unterhalb des Darmbeinkammes mit einer 


M^rz 


langen, nicht sehr starken Pravazkahüle 
bis auf die Knochen eingestochen, in der 
Tiefe deponiert. 

Pulvermacher (Charlottertburg). 

(Zbl.f. Gyn. 1920, Nr. 2.) 

Mit Thelygan konnte Schlesinger 
in einem Falle von Sterilität und Frigi- 
^dität einen vollen Erfolg erzielen, wo eine 
Dysfunktion der Ovarien vorjag. Die 
Wirkung wird in folgender Weise erklärt: 
Durch die Zuführung von Extrakten ver¬ 
schiedener innerer sekretorischer Drüsen- 
Ovarien, Hypophyse, Schilddrüse und 
Nebennieren, welche das Mittel enthält, 
kommt es zu einer Vermehrung und Ver¬ 
änderung dieser im Blute kreisenden 
Substanzen." Im Thelygan ist aber auch 
Johimbin enthalten, welches die Geni¬ 
talien hyperämisiert p.und hierdurch zu 
einer vermehrten Produktion' anregt. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(M. Kl. 1920, H. 2.) 

In den letzten beiden Jahren ist eine 
Reihe günstiger Berichte über das Fried- 
tnannsche Tuberkuloseheilmittel bekannt 
geworden. Demgegenüber ist allerdings 
einzuwenden, daß nach der bisherigen 
Art der Zuteilung des Mittels eine Samm¬ 
lung ungünstiger' Resultate nur schwer 
beizubringen war. Um so bemerkens¬ 
werter ist eine neuerlich erschienene Ar¬ 
beit von Luise und Otto Bossert über 
klinische Erfahrungen bei Kindern mit 
chirurgischer Tuberkulose. Gerade auf 
diesem Gebiet schienen bisher die Ver¬ 
hältnisse für das Friedmann sehe Heil¬ 
mittel besonders günstig zu liegen. Die 
Autoren sind jedoch der Meinung, daß 
verschiedene Mitteilungen der Kritik 
nicht standhalten. Sie selbst haben alle 
Kautelen angewandt, um ein einwand¬ 
freies Material zu erhalten, besonders ist 
die Beobachtungszeit genügend lange aus¬ 
gedehnt worden. Ein günstiger Verlauf 
konnte in sieben Fällen konstatiert wer¬ 
den, das heißt, die tuberkulösen Prozesse 
kamen im Verlauf von zwei bis drei Mo¬ 
naten zur Ausheilung. Eine Überlegen¬ 
heit des Mittels gegenüber der Licht- und 
Strahlentherapie konnten die Autoren 
jedoch auch in diesen Fällen nicht fest¬ 
stellen. Zu bemerken ist jedenfalls, daß 
die Abscesse bei Friedmannscher Be¬ 
handlung fast stets unter Fistelbildung 
zum Durchbruch kamen, so daß zum 
mindesten das kosmetische Resultat 
schlechter war als oft bei der Strahlen¬ 
therapie. In weiteren sieben Fällen ist 
ein leidlich günstiger Verlauf verzeichnet. 



März 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


125 


Da es sich in dieser Kategorie um Besse¬ 
rungen handelt, die mehr oder minder 
vollständig im Laufe von ein bis andert¬ 
halb Jahren eintraten, läßt sich nicht 
entscheiden, ^ob hier der Erfolg wirklich 
auf Rechnung des Friedmannschen 
Mittels zu setzen ist. In acht Fällen blieb 
der Verlauf unbeeinflußt; in drei Fällen 
war die Beobachtung zu kurz. Ungünstig 
war der Verlauf bei 15 Kindern, von denen 
vier gestorben sind. Bei diesen Kindern 
sind nach Injektion des Friedmannschen 
Mittels zum Teil neue progediente Pro¬ 
zesse, 1 wie z. B. disseminierte Lungen¬ 
tuberkulosen oder Miliartuberkulosen, auf¬ 
getreten, die zum Tode führten, zum 
Teil sind die alten Prozesse unaufhaltsam 
fortgeschritten. Die Autoren wollen den 
ungünstigen Verlauf in diesen Fällen nicht 
mit dem Friedmannschen Mittel in 
Verbindung bringen; zum mindesten ist 
aber doch zu sagen, daß das Mittel nicht 
imstande war, das Auftreten neuer Pro¬ 
zesse und Verschlimmerungen zu ver¬ 
hüten. 

Überhaupt ist für die Beurteilung der 
Heilwirkung wichtig, daß selbst in den 
Fällen, in denen alte Prozesse zur Aus¬ 
heilung kamen, sich aus kleinen Herden 
neue Erkrankungen entwickelten. Daraus 
ist doch der Schluß zu ziehen, daß höch¬ 
stens das sinnfällige Merkmal der Krank¬ 
heit beseitigt wurde, aber nicht die 
Krankheit als solche. Die Autoren kom¬ 
men denn auch in ihrer Zusammen¬ 
fassung zu dem Ergebnis, daß sie für eine 
völlige Heilung der chirurgischen Tuber¬ 
kulose ^durch die Behandlung nach Fried¬ 
mann keine Stütze beibringen können. 
Sie räumen der Bestrahlungs- und na¬ 
mentlich der Sonnentherapie, die oft 
eine wirkliche Ausheilung des Organismus 
bewirkt, nach wie vor den unbestrittenen 
Vorrang ejn; auf das Friedmannsche 
Tuberkuloseheilmittel glauben sie bei der 
Behandlung der chirurgischen Tuber¬ 
kulose jedenfalls verzichten zu können. 

Bloch (Berlin). 

(M. m. W. 1919, Nr. 52.) 

Im Anschluß än vorstehende Ausführungen sei 
kurz über eine kleine Kontroverse berichtet, die 
einen hübschen Beitrag zur kritischen Betrachtung 
von Krankengeschichten liefert. Braun berichtet 
über seine Heilung von tuberkulöser 
Spitzenaffektion nach' einmaliger Injektion 
von Friedmann 0,5 ganz schwach. Die Injektion 
erfolgte im Juli, die ga;iz plötzliche Umstimmung 
Anfang September. Als Zeuge wird der be¬ 
handelnde Arzt Dr. Ho Id heim angeführt, der 
Ende September eine auffällige Besserung fest¬ 
stellte. Demgegenüber bemerkt Holdheim zu¬ 
nächst, daß der Patient inzwischen eine Liege¬ 
kur durchgemacht hatte, wovon Braun merk¬ 


würdigerweise nichts . erwähnt, Holdheim ist 
der Meinung, daß der Prozeß uhd die Kon¬ 
stitution des Kranken solcher Art waren, wie sie 
oft einen spontanen glücklichen Ausgang ermög¬ 
lichen. Er kann aus seiner Beobachtung des Falles 
einen Beweis für die Heilwirkung des Fried¬ 
mannschen Mittels nicht h^leiten. 

Bloch (Berlin). 

(D. M. W. 1920, Nr. 2.X 

Die wiederholt neuerdings aufgewor¬ 
fene Frage nach Verstaatlichung der 
Heilbehandlung veranlaßt auch Med.- 
Rat Dr. Grassl in Kempten,Jn bemer-' 
kenswerten Äußerungen hierzu Stellung 
zu nehmen. Wenn der Ruf nach Unent¬ 
geltlichkeit der ärztlichen Hilfeleistungen 
einschließlich'Geburtshilfe und der Heil¬ 
mittel Erfüllung erlangte, so würde da¬ 
durch nicht nur der Staatssäckel eine un¬ 
geheuere Belastung erfahren, sondern — 
was wohl sehr viel schlimmer wäre — es 
würden auch alle lebenswichtigen Fak¬ 
toren schwer geschädigt, und zwar nicht 
nur in bezug auf den praktischen Arzt, 
sondern vor allem hinsichtlich der hei¬ 
lungsuchenden Bevölkerung. Von alters 
her hat der Priester dank dem Vertrauen, 
welches er beim Volke genoß, sich der 
Heilbehandlung seiner Untertanen ge¬ 
widmet; er, der die Gemütstiefen seiner 
Bevölkerung kannte und zu erfassen 
wußte, vermochte unbedingt seinem Ein¬ 
fluß Geltung zu verschaffen. Auch der 
Arzt bedarf dieses Vertrauens, soll er mit 
Erfolg seine Kranken behandeln. Ver¬ 
staatlichung der Heilbehandlung muß 
aber zur Schematisierung führen, wobei 
die Qualität weit hinter der Quantität 
Zurückbleiben dürfte, mithin die ärztliche 
Kunst nur Schaden nehmen würde. Die 
geplante allgemeine Volksversicherung 
muß und wird von solchen Folgen be¬ 
gleitet sein. Auf keinen Pall darf auf das 
Prädikat billig und schlecht die deutsche 
medizinische Wissenschaft abgestimmt 
werden, sondern viel mehr noch wie voi- 
dem zugunsten der Gesamtbevölkerung 
weiteren Aufstieg zu erwirken suchen. 

Waldschmidt. 

(Öffentl. Gesundheitspfl. 1919, Nr. 4.) 

Wichtiges und Neues über die Patho¬ 
genese und Behandlung des Wundliegens 
bringt eine Abhandlung von Prof. Wie- 
ting. Seine Untersuchungen ergaben, daß 
die Drucknekrose sich nicht von außen 
nach innen, sondern von innen nach außen 
entwickelt. Die normale Haut ist gegen 
äußere Reize ziemlich widerstandsfähig; 
erst tiefe Störungen, besonders Ernäh¬ 
rungsstörungen können Nekrosen der 
Haut herb eiführen, und zu solchen kommt 






126 


/ 


Die Therapie der. Gegenwart 1920 


März 


£s infolge der durch Druck verursachten 
Gefäßabsperrung, die die empfindlichen 
subcutanen und tieferen Gewebe bis zu 
den Muskeln anämisiert. Deren Nekrose 
geht der Hautnekrose voran. Durch den 
Druck können größere zuführende Ar¬ 
terien gedrosselt werden, was dann be¬ 
sonders am Gesäß zu keilförmigen Tief¬ 
nekrosen führt; es kann aber auch durch 
direkten Druck eine Gewebsschädigung 
hervorgerufen werden, allerdings stets 
auf dem Umwege der Ernährungsstörung 
durch Schädigung der empfindlichen Ele¬ 
mente, der Gefäße und ihrer Nerven. Ein 
Ausdruck der Schädigung der Gefäßinner¬ 
vation, der Gefäßparalyse ist die dem De¬ 
cubitus vorausgehende Rötung. Solche ge- 
fäß paralytischen Stellen sind nicht wieder 
zu aktiver Hyperämie zu bringen und von 
den Hilfsmitteln der örtlichen Waschun¬ 
gen, der Salbenverbände usw. darf man 
sich nicht zuviel versprechen. Das einzige 
wirksame Mittel ist die Prophylaxe durch 
Entlastung. Wieting unterscheidet 
druckverteilende, druckaufhebende und 
druckentlastende Mittel. Zu den ersteren 
gehören weiche Unterlagen, Kissen, be¬ 


sonders Wasserkissen; druckaufhebend 
wirkt das Dauerwasserbad, das sehr zu 
empfehlen ist, allerdings ebenso wie die 
druckverteilenden Mittel bei manchen 
Verletzungen, wo man sie gern anwenden 
möchte, wie komplizierten Oberschenkel¬ 
verletzungen, kaum anzuwenden ist. In 
der Wirkung grundsätzlich verschieden 
sind die druckentlastenden Mittel be¬ 
ziehungsweise Luftringe, die den Druck 
von den kranken Stellen fortnehmen und 
ihn auf minder gefährdete übertragen. 
Die den Druck aufnehmenden Stellen 
sind dabei nicht ungefährdet und es muß 
jedesmal anatomisch-physiologisch über¬ 
legt werden, wie die Entlastung am besten 
geschieht. Ein wichtiges druckentlasten¬ 
des Mittel ist die Schwebelagerungssuspen¬ 
sion. 

Wieting betont besonders die Be¬ 
deutung der genauen Kenntnis der Kran¬ 
kenpflege für das Handeln des Arztes und 
fordert, daß derselben im medizinischen 
Unterricht besondere Aufmerksamkeit ge¬ 
schenkt werde. 

Regensburger (Berlin). 

(D. m. W. 1919, Nr. 48.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Die Selbstheilung des Lungenabscesses. 

Von Sanitätsrat Dr. H. Schulze, Alterode (Ostharz). 


ln Nr. 2 dieser Zeitschrift las ich den 
Schriftsatz von Dr. Hirsch über Behand¬ 
lung des Lungenabscesses usw. mit Sal- 
varsan. Ich halte die Schlußfolgerung des 
Autors betr. der Wirksamkeit des Salvarsans 
bei diesen Krankheitsfällen, namentlich 
bei der geringen Anzahl von Fällen, für 
sehr gewagt und in majorem Salvarsani 
gloriam. Die ganze ärztliche Kritik leidet 
unter so wenig begründeten Schlu߬ 
folgerungen von seiten einer medizinischen 
Klinik. 

Ich verfüge zufälligerweise aus meiner 
eigenen Praxis über drei dieser seltenen 
Fälle. Alle drei Fälle entstanden im An¬ 
schlüsse an eine Pneumonie. Alle drei 
Fälle heilten spontan in kurzer Zeit aus 
durch Expektoration größerer Eitermengen 
und entfiederten sich in wenigen Tagen. 
Die drei Fälle liegen 5, 6 und 10 Jahre 
zurück, leben noch und sind gesund. Ich 
weiß sehr wohl, daß der gewöhnliche Ver¬ 
lauf des Lungenabscesses in den meisten 
Fällen ein anderer ist. Ich möchte aber 
gerade diese meine Erfahrungen mitteilen. 


um damit zu bezeugen, daß die Beobach¬ 
tungen des Dr. Hirsch nichts beweisen. 

Natürlich verfügt der praktische Land¬ 
arzt nicht über Archive mit Kranken¬ 
geschichten. Derartige seltene Krankheits¬ 
fälle mit abnorm gutem, spontanem Ver¬ 
laufe behält aber jeder Arzt deutlich im 
Gedächtnisse für alle Zeiten. 

Fall I. Tischlermeister, zirka 32 Jahre alt. Sonst 
gesund, besonders kräftig, aber sehr schwerer Epi¬ 
leptiker. Erkrankung an croupöser Pneumonie. 
Verlauf bis zur Krisis als Schulfall. Abweichend 
von der Norm nur, daß der Kranke bei Tempe¬ 
raturen über 39® doppelt so viel feste Nahrung 
jeder Art zu sich nimmt, wie in gesunden Tagen. 
Es ist dieses der einzige derartige Fall, den ich in 
30jähriger ärztlicher Tätigkeit bei höher Fiebern¬ 
den beobachtet habe. Nach der Krisis bleiben un¬ 
regelmäßige Temperaturen zurück. Eine umschrie¬ 
bene, kleinhandtellergroße runde Dämpfung am 
oberen Rande des linken Unterlappens ist deutlich 
abgrenzbar. Diagnose: Lungenabsceß. Consilium 
mit dem Oberarzte des Krankenhauses zu Aschers¬ 
leben, der meine Diagnose bestätigt und zur Über¬ 
führung in das Krankenhaus räU Bei meinem 
Besuche am nächsten Tage während meiner Unter¬ 
suchung plötzlich starker Hustenanfall und Ex¬ 
pektoration eines großen Tassenkopfes voll pus 
bonum et laudabile. Sofortiges Verschwinden der 




Die' Therapie |der Gegenwart 1920 


127 


März 


Dämpfung, andauernd normale Temperatur, bis 
heute gesund geblieben. 

Fall II. Älterer Lehrer, zirka 53 Jahre, kräftig, 
gut genährt, sonst immer gesund gewesen, bis auf 
nervöse Schlafstörung. Erkrankt unter den Er¬ 
scheinungen der sogenannten chronischen Pneu¬ 
monie. Keinerlei stürmische Erscheinungen, Die 
Temperaturen bewegen sich zwischen 37 und 38,5°, 
keinerlei Dämpfung. Weitverbreitete, über sämt¬ 
liche Lungenflügel verteilte grobe und mittlere 
Rasselgeräusche. Sputum gelblich-weiß, nicht 
übermäßig reichlich. Das Allgemeinbefipden wird 
nicht erheblich gestört. Puls dauernd gut. Die 
Genesung zieht sich in die Länge, die Krankheit 
„versumpft", Temperaturen vorwiegend normal, 
durchschnittlich aber jeden zweiten Tag eine Er¬ 
hebung bis 38°. Ich vermute Empyem. Consilium 
mit San.-Rat Dr. H. und Probepunktion an ver¬ 
schiedenen Stellen, die keinerlei Eiter oder Exsudat 
zutage fördert. Ich bleibe trotzdem der Ansicht, 
daß irgendwo fein Eiterherd in der Lunge sein 
müsse, keinerlei Therapie außer kräftiger Ernäh¬ 
rung. In der fünften Woche nach der Erkrankung 
spontane Expektoration großer Mengen dünnen, 
gelben Eiters ohne Mühe und ohne Qual des' 
Patienten. Täglich wenigstens drei Nachtgeschirre 
voll. Nach zirka acht Tagen Lungen gesund. Tem¬ 
peratur andauernd normal, keinerlei percutorische 
und auscultatorische abnorme Befunde, schnelle, 
vollständige Genesung. Der Patient lebt heute 
noch, ist völlig gesund geblieben und treibt nach 
seinem Abschiede aus dem Lehrerberufe (dis¬ 


ziplinarisch pensioniert) mit gutem Erfolge aktive 
Landwirtschaft. 

Fall III. Zarter Knabe, 10 Jahre alt. Croupöse 
linke Pneumonie, die sich zögernd löst. Appetit 
schlecht, der Kräftezustand wird immer geringer, 
Eiterfieber. Nach zirka 14 Tagen kündige ich die 
Probepunktion an, da ich an Empyem 'denke. 
Die Familie und das kranke Kind sind deswegen 
in hochgradigster Erregung. Infolge starker Unruhe 
des Kindes bei der Punktion (ohne Assistenz) 
kommt die Nadel viel tiefer in die Punktionsstelle 
wie beabsichtigt. Sofort starker Hustenreiz und 
Aushustep von etwa einem Tassenkopf gelben 
Eiters. Die Nadel wurde sofort ohne Probepunktion 
herausgezogen. Etwa noch eine Woche lang Aus¬ 
husten mittlerer Mengen von Eiter. Genesung. 
Das Kind lebt heute noch und ist gesund geblieben. 

Auch ohne Röntgenbild und die feineren Hilfs- 
• mittel der Klinik ist wohl nach dem Verlaufe die 
Diagnose der drei Fälle sichergestellt. Besondere 
therapeutische Maßnahmen wurden in allen drei 
Fällen nicht angewendet. Daß der günstige Ver¬ 
lauf dreier solcher Krankheitsfälle in der Praxis 
eines einzelnen Arztes eine vielleicht einzig da¬ 
stehende Tatsache ist, ist mir bewußt. Auffällig 
ist in allen drei Fällen der verhältnismäßig weit 
schnellere Verlauf der Genesung wie der von Dr. 
Hirsch veröffentlichten, die mit Salvarsan be¬ 
handelt wurden. Ich persönlich kann mir auch 
eine Beeinflussung eines in der Lunge abgekap¬ 
selten Eiterherdes durch Salvarsan nicht vor¬ 
stellen. 


Über die Bewertung von Arzneiwirkungen, 
im besonderen bei Lungenabsceß. 

Von G. Klemperer. 


Wir dürfen dem Verfasser des vor¬ 
stehenden Artikels, Herrn San.-Rat Dr. 
Schulze (Alterode), dankbar sein, daß er 
wieder einmal das kritische Gewissen der 
Ärzte geschärft hat in einer Frage, welche 
für unsere gesamte Tätigkeit von so großer 
Bedeutung ist. Beweist die Heilung einer 
Krankheit nach der Anwendung eines 
Heilmittels auch wirklich den Heilwert 
dieses Mittels? Und soll der Arzt ein 
Heilmittel als wirksam anerkennen und 
seinerseits in Krankheiten anwenden, 
weil dies Heilmittel sich anscheinend er¬ 
folgreich bewiesen hat, wenn es doch fest¬ 
steht; daß dieselbe Krankheit auch ohne 
Anwendung dieses Mittels zur Heilung 
kommen kann? 

Diese Fragen stellen, heißt sie beant¬ 
worten. Aber die Erfahrung aller Zeiten 
und ganz besonders die Erlebnisse der letz¬ 
ten Tage beweisen, wie sehr die Suggestiv¬ 
kraft eines anscheinenden Heilerfolges ge¬ 
eignet ist, die Kritik einzuschläfern. Wie 
wäre es z. B. sonst möglich, daß Schild- 
kröten-Tuberkelbacillen als wirkliches 
Heilmittel gegen Lungentuberkulose an¬ 
erkannt werden, deswegen, weil eine 
gewisse Anzahl von Lungentuberkulosen 


nach Einspritzungen der Schildkröten¬ 
bacillen zur Heilung gekommen ist? Wer 
den natürlichen durch Heilmittel unbe¬ 
einflußten Verlauf der Tuberkulose eini¬ 
germaßen kennt, muß doch fordern, daß 
eine sehr große Anzahl von beginnenden 
Phthisikern, wahllos mit dem neuen Mittel 
behandelt, ohne Ausnahme zur Heilung 
kommt, ehe von einer Anerkennung des 
neuen Mittels ^ die Rede sein kann. Wie 
weit manche Ärzte von dieser Kritik ent¬ 
fernt sind, zeigt die neuerliche Mitteilung 
eines Kollegen^), der das Inaktivwerden 
seiner eigenen tuberkulösen Spitzen¬ 
erkrankung ohne Weiteres auf das Fried- 
mannsche Mittel bezieht, während er 
sich doch gleichzeitig einer hygienisch¬ 
klimatischen Kur unterzogen hat. 

Die therapeutische Publizis'cik hat vor 
allem die Pflicht, immer wieder auf die 
Notwendigkeit strenger Kritik in der 
Bewertung neuer Heilmethoden hinzur 
weisen. Aus diesem Grunde möchte ich 
mich den dankenswerten Ausführungen 
Schulzes noch besonders anschließen. 
Die Anwendung des Salvarsans als an- 

1) D. m. W. Nr. 2. Vgl. die Referate auf S. 124 
und 125 in diesem Heft. 



128 ' 


* • * 7 

Die Therapie der Gegenwart 1920 


März 


gebliches Heilmittel gegen Lungenabsceß 
ist ein Schulfall für die Bewertung von 
Arzneiwirkungen. Wenn man sich gegen¬ 
wärtig hält, daß der Lungenabsceß in 
zahlreichen Fällen, oft nach langwierigem 
erschöpfenden Verlauf; unverhofft und 
plötzlich durch Aushusten des Eiters zur 
Heilung kommt, wird man sich hüten, 
ein Arzneimittel als Heilmittel des Lun- 
genabscesses zu empfehlen, weil nach 
seiner Anwendung die heilbringende Eiter¬ 
entleerung stättgefunden hat. Ich könnte 
aus der eigenen Erfahrung mehrere Fälle 
anführen, in denen analog den Schulze- 
schen Fällen Selbstheilung von Lungen- 
abscessen stattgefunden hat, Fälle, in 
denen auch durch die Röntgenplatte die 
klinische Diagnose gesichert worden ist. 
Ich möchte aber vorziehen, einen histori¬ 
schen Zeugen zu zitieren, dessen Kompe¬ 
tenz unbestritten sein dürfte. In einem 
im Jahre 1877 gehaltenen Vortrag „über 
Lungenabsceß*'^) erörtert E. Leyden, der 

Volkmanns klinische Vorträge, Innere Me¬ 
dizin II, Nr. 114 und 115. Sehr lesenswert sind 
die ausführlichen Krankengeschichten, die dem 
Vortrage beigefügt sind. Die eine (F. R., stud. 
med., 19 Jahre alt, rezipiert am 4, November auf 
der Medizinischen Klinik zu Straßburg. Diagnose: 
Lungenabsceß infolge von Pneumonie) betrifft 
den vor kurzem verstorbenen Ordinarius der 
physiologischen Chemie, Prof. Fr. Röhmann in 
Breslau, der durch die Eindrücke seiner schweren 


unvergessene Meister der'inneren Klinik, 
in durchsichtiger Klarheit Entstehung 
und Verlauf der Krankheit; er kommt zu 
dem Resultat, „daß die Heilung des Lun- 
genabsceses nichts Ungeiyöhnliches ist“. 
Die Therapie besteht in hygienischer und 
roborierender Behandlung, ,,unter wel¬ 
cher, wie die Erfahrung lehrt, die Reini¬ 
gung und Verheilung von Abscessen und 
Ulcerationen am besten vor sich geht“. 
Als Arzneianwendung empfiehlt Leyden 
die Inhalationen von Terpentin usw., da¬ 
neben Chinapräparate und Eisen. ,»An¬ 
dere Mittel, welche speziell verheilend 
auf die Ulceration wirken könnten, ver¬ 
dienen nicht gerade viel Vertrauen.“ 
Was Herr Schulze in seiner Mittei¬ 
lung sagt, deckt sich mit dem Sinne der 
Leydenschen Worte. Ich glaube, daß 
diese Diskussion weit über den Einzelfall 
hinweg von Bedeutung ist. Es ist erfreu¬ 
lich, daß aus dem Kreise der Ärzte die 
Reaktion gegen unkritische therapeutische 
Empfehlung sich geltend macht. Es ist 
zu hoffen, daß durch das kritische Ver¬ 
halten der Ärzte auch andere un¬ 
genügend begründete Heilmethoden 
auf ihren wahren Wert zurückgeführt 
werden. 


Krankheit dem Studium der Medizin gewonnen 
wurde. 


Zur Technik der 

Von Oberstabsarzt Dr. 

Man nehme eine Rekordspritze mit 
scharf geschliffener, sehr feiner, nicht zu 
kurzer Kanüle, befreie sie durch Hin- und 
Herbewegen des Kolbens von dem zur 
Desinfektion vorher eingezogenen Spiritus, 
ziehe dann das Solarson aus der Ampulle 
in die Spritze herein und entferne alle 
Luftblasen. 

Dann schleudere man die Spritze nach 
Hautdesinfektion bis zum Fuß der Kanüle 
in die Adductorenmuskulatur des Ober¬ 
schenkels und spritze den Inhalt langsam 
heraus. Der Patient sitzt oder liegt dabei 
mit nach außen rotiertem Bein. 

Wer die Injektionen in dieser Weise 
macht, erspart den Kranken Schmerzen 
und sich selbst die Enttäuschung, daß 
Einspritzungen nicht vertragen werden. 
Ich habe bei keinem der zahlreichen 
Kranken, denen insgesamt viele Hunderte 
von Solarsoneinspritzungen gemacht wur- 


Solarsontherapie. 

K. Gerönne, Potsdam. 

den, irgendwelche wesentlichen Be¬ 
schwerden — leichtestes, schnell vorüber¬ 
gehendes, wahrscheinlich auf Eindringen 
von Spiritus in den Stichkanal zurück¬ 
zuführendes Brennen in seltenen Fällen 
ausgenommen — erlebt, insbesondere aber 
jegliche Anschwellung und länger dauernde 
Schmerzen vermieden. Das traf auch ins¬ 
besondere bei mehreren Kranken zu, 
welche mir auf meinen Vorschlag einer 
Solarsonkur erklärt hatten, sie vertrügen 
das Mittel nicht, da der früher unter¬ 
nommene Versuch einer derartigen Be- 
handluirg wegen zu starker Beschwerden 
aufgegeben werden mußte. 

Da mir seitens der Farbenfabriken 
Bayer & Co., Leverkusen, mitgeteilt ist, 
daß einige Ärzte lästige Beschwerden bei 
der Solarsonbehandlung beobachtet haben, 
bin ich der Anregung gefolgt, die von mir 
seit langem geübte Änwendungsweise be¬ 
kanntzugeben. 


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Die physiologischen und pathologischen Blutungen aus 
den weiblichen Genitalien, ihre Entstehung und Behandlung^). 

Von A. Döderlein in München. 


Anatomische, klinische, serobiologi- ■ 
sehe, chemische und experimentelle For¬ 
schungen haben in mühevoller, aber 
fruchtbarer Arbeit ganz neues Licht auf 
jene Erscheinung im weiblichen Körper 
•geworfen, die schon in ihrem gesundheits¬ 
mäßigen Auftreten so vieifach an das 
Krankhafte streift, unter den Krank¬ 
heitssymptomen der weiblichen Genital- 
Organe aber die erste Stelle einnimmt, 
die Blutung. 

Sonst herrscht der Schmerz als Wäch¬ 
ter der Gesundheit. Bei vielen gynäko¬ 
logischen Erkrankungen führt dessen Be¬ 
achtung aber nur irre, weil seine Lokali¬ 
sation so leicht wegen der gerade inner¬ 
halb der Genitalsphäre so außerordent¬ 
lich großen Ünterschiede in der Empfind¬ 
lichkeit falsch orientiert wird und die 
gynäkologisGhe Diagnostik, soll sie nicht 
•selbst Schmerz erregen, eine Schonung 
und technische Fertigkeit im Untersuchen 
erfordert,'die nur der Geübte beherrschen 
kann. Durch das Vorherrschen der ; 
•Blutung, einer so augenfälligen Erschei- ; 
nung, als Krankheitszeichen ist nun auf 
der einen Seite eine gewisse diagnostische 
Erleichterung gegeben, andererseits aber 
hat dies zur Folge, daß dieses Symptom 
den allerverschiedenartigsten Leiden zu¬ 
kommt, und nirgends ist eine schematische, 
symptomatische Behandlung, wie etwa die 
Verordnung blutstillender Tropfen, die 
nicht auf einer ganz genauen Diagnose 
^aufgebaut ist, verkehrter als hier. Kausal¬ 
therapie zu üben, hat aber zur Voraiis- 
setz^ung, daß wir über die zugrunde¬ 
liegenden Leiden und die aus ihnen her¬ 
vorgehenden Quellen der Blutung wohl 
unterrichtet sind. 

Den Ausgangspunkt für die richtige 
Deutung einer Genitalblutung bildet die 
Unterscheidung zwischen menstruellen 
und anderweitigen Blutungen, auf die 
besonders die Frauen selbst so wenig 
Gewicht legen, sind sie doch von Jugend 
auf und bis in das spätere Leben hinein zu 

1) Fortbildungsvortrag, gehalten am 29. Fe¬ 
bruar 1920 im Ärztlichen Verein Augsburg. 


sehr an diese natürliche Erscheinung ge¬ 
wöhnt. ^ Der richtige, ungestörte, und un- 
merkliche Ablauf der Menstrualblutung 
hängt von so vielen Umständen ab und 
erfordert ein so feines Zusammenwirken 
der verschiedenartigsten Faktoren im 
weiblichen Körper, daß es uns nicht 
wundernehmen kann, daß ihre Wieder¬ 
kehr, ihre Dauer, ihre Stärke und vor 
allem auch ihre Schmerzlosigkeit wohl 
bei jeder Frau einmal im Leben oder auch 
regelmäßig in Unordnung gerät, heißt 
doch in der Umgangssprache aller Völker 
die Menstruation das ,,Unwohlsein“. Diese 
Entartung vermögen wir nur dann rich- 
,tig zu verstehen und zu deuten, wenn wir 
den normalen Ablauf dieses physiolo¬ 
gischen, aber so verwickelten Vorgangs 
kennen. 

Die Menstruation ist die. Folge der 
Ovulation, eine alte Binsenwahrheit, über 
die man sich keine Gedanken mehr 
machte, und doch ist es, wenn man den 
zeitlichen und ursächlichen Beziehungen, 
dieser beiden Vorgänge nachgeht, bis'vor 
kurzem ein viele ungelöste Rätsel ent¬ 
haltendes Problem gewesen. Um so 
erfreulicher ist, .daß nun durch das In¬ 
einanderarbeiten der verschiedenartig¬ 
sten Zweige naturwissenschaftlicher For- 
schungea eine ganz andere, aber viel ein¬ 
leuchtendere Klärung gefunden werden 
konnte. Es ist das große Verdienst von 
L. Fränkel, zuerst die alte Lehre err 
schüttert zu haben, daß die Ovulation 
mit dem Beginn der Menstruation zu¬ 
sammenfällt und. die Ausstoßung des Eies 
das auslösende Moment dazu darstellt. 
Durch seine an operativ entfernten Ova¬ 
rien und bei Tieren gemachten Forschun¬ 
gen, die dann durch die ausgezeichneten 
und eingehenden Arbeiten von R. Schrö¬ 
der ergänzt wurden, darf nun unter 
gleichzeitiger Berücksichtigung der wich¬ 
tigen Arbeiten von Halb an und Köhler, 
-Adler, .Seitz und Wintz, R, Meyer, 
Reusch u. a. als feststehend erachtet 
’werden, daß die Ovulation, nicht zeitlich 
mit der Menstruation zusammenfällt, 


17 





130 Die Therapie der Gegenwart 192Ö April 


sondern etwa in der Mitte des Intervalls 
erfolgt; über den genauen Tag'gehen die 
Anschauungen noch ziemlich auseinander. 
Mit dieser Zeitverschiebung, ist nun auch 
eine vollständige Änderung unserer An¬ 
schauungen über die kausalen Zusammen¬ 
hänge gegeben und zugleich über die da¬ 
mit eng zusammenhängende Frage über 
ihre Stellung zur Conception verknüpft. 
Kurz zusammengefaßt, stellen wir uns 
jetzt diesen Vorgang folgendermaßen vor: 
•bas zehn bis vierzehn Tage vor der, 
•Periode ausgestoßene Ei wandert durch 
die Tube und harrt dort seiner eventuellen 
Befruchtung. Das aus dem Graafschen 
Follikel dieses Eies hervorgegangene Cor¬ 
pus luteum macht während der Zeit 
dieser Wanderung des Eies unter leb¬ 
hafter Wucherung seiner hochdifferen¬ 
zierten Zellen ein zwar kurzlebiges, aber 
um . so intensiveres Blütestadium durch, 
und die von ihm gebildeten endokrinen 
Stoffe rufen die prämenstruelle Kon¬ 
gestion und Hyperplasie im Uterus her- 
-vor, die man fälschlicherweise solange als 
pathologische endometritische Wuche¬ 
rungen aufgefaßt hat, bis es den Wiener 
Forschern Hitschmann und Adler ge¬ 
lang, diese Annahme umzustürzen. R. 
Schroeder zeigte dann, daß gerade in 
den der Menstruation vorhergehenden 
Tagen die Uterusschleimhaut eine eigene 
funktioneile Schicht aufbaut, eine Art 
Decidua menstruationis, die für den Fall, 
daß das Ei inzwischen befruchtet wird, 
der Vorbote für die Decidua graviditatis 
-wäre. Die Hormone des Eies selbst, wie 
besonders die des Corpus luteum, be¬ 
reiten so für den Fall einer Befruch- 
•tung den Mutterboden zum Empfang des 
Eies vor. Dies die Bedeutung der durch 
-die innersekretorischen Kräfte erzeugten 
Blutfülle, Schwellung und Quellung der 
Genitalien, besonders der Uterusschleim¬ 
haut. 

Wird das Ei nicht befruchtet, so be¬ 
deutet der Eitod den Zusammensturz 
dieser nunmehr zwecklos gewordenen Vor¬ 
bereitungen, die funktionelle Schicht der 
Uterusschleimhaut zerfällt. Mit der Zer¬ 
störung dieser Masse brechen auch die 
reichlich entwickelten kongestionierten 
Capillaren zusammen und es ergießt sich 
mit dem daraus entströmenden Blut der 
Zelldetritus, vermischt mit besonders gear¬ 
teten Stoffen, die die Gerinnungsunfähig¬ 
keit des Menstruationsbluts bewirken. 
Das Corpus luteum bildet sich rasch zu¬ 
rück, während es im Falle der Conception 
als Corpus luteum verum ein für lange 


Zeit persistierendes Gebilde von , nicht 
unbeträchtlicher Größe und lebhafter 
innersekretorischer Tätigkeit bleibt, was 
für den Ablauf der Schwangerschaft und 
die begleitenden Erscheinungen gewiß 
von größerer Bedeutung ist, als man 
bisher angenommen hat. 

Der Eitod ist das Primum movens in 
der Reihe dieser Erscheinungen. Er gibt 
den Befehl zur Umbildung des Corpus 
luteum, dess^en Stoffwechsel nun ins 
Gegenteil umsbhiägt. Seitz, Wintz und 
F>ngerhut konnten in dem gelben Kör¬ 
per des Kuhovariums Stoffe nachweisen, 
die zu den Lecithalbuminen gehören, von 
ihnen Lipamin benannte Lipoproteide 
darstellen, die die Hyperämie und Schwel¬ 
lung des Uterus beim Tierexperiment in 
markanter Weise förderten, alles Folge¬ 
zustände, die für die Vorbereitung zur 
Conception dienen, aber auch wichtige 
therapeutische Perspektiven eröffnen. 
Nach Umschaltung des Stoffwechsels 
treten dann an ihre Stelle Luteolipoide, 
die antagonistisch wirken, die Blut- 
gerinnug beschleunigen und nicht dila- 
tierend, sondern vasoconstrictorisch die 
Genitalien beeinflussen. Solchen Stoffen 
käme dann die therapeutische Wirkung 
der Verminderung der menstruellen Blu¬ 
tung zu. Andere, ebenfalls den Lipoiden 
zugehörige . Stoffe stellten Iscovesco, 
Fellner und Herrmann dar, die als 
Veroglandol und Lpteoglandol bereits im 
Handel sind. 

Wie ganz anders paßt in unser natur¬ 
wissenschaftliches Denken für. die Fort¬ 
pflanzung der Aufbau dieser Lehre, wie 
harmonisch gliedert sich eines in das 
andere, entgegen dem bisherigen Wirr¬ 
warr. Fiele der Austritt des Eies mit 
dem Beginn der Menstruation zusammen, 
wie man dies bislang glaubte, dann wäre 
es ganz unverständlich, welchen Zweck 
die prämenstruellen Veränderungen, die 
ja dann auch präovuläre wären, haben. 
Die Befruchtungsmöglichkeit fiele dann 
zusammen mit der Zerstörung der 
Schleimhaut, wo sie gewiß am ungeeignet¬ 
sten zur Einbettung' wäre; aber auch 
nach der Menstruation würde die Con¬ 
ception ganz widersinnig erscheinen, denn 
da ist ja die Schleimhaut ausgeblutet, 
saft- und kraftarm. Nach dem menstru¬ 
ellen Zerfall der Funktionsschicht bleibt 
nur eine 1 mm dicke Basalschicht (R. 
Schroeder) zurück, aus der sich die 
neue, zunächsL'noch dünne und blutarme 
Schleimhaut regeneriert, und das Corpus 
luteum, dessen Tätigkeit wir nun so sehr 



April Die Therapie der 


zu schätzen gelernt haben, wäre nichts 
als ein überflüssiger Rest des Follikels. 
Die wichtige Frage der zeitlichen Be¬ 
ziehung der Conceptiön zu diesen neuen 
Lehren muß hier außer Erörterung blei¬ 
ben; ich kann nur darauf hinweisen, daß 
wir auch hier ganz anderer Anschauung 
geworden sind (Siegel). 

Was nun die pathologischen Genital¬ 
blutungen betrifft, so seien zunächst die 
menstruellen Entartungen im Sinne der 
Menorrhagien ins Auge gefaßt. 

Der Zerfall der funktionellen Schicht 
der Uterusschleimhaut bewirkt die Blu¬ 
tung, deren Größe vor allem in gewissem 
Zusammenhang mit der Stärke der vor¬ 
ausgegangenen Hyperämie steht. Hier¬ 
auf werden die genannten Stoffe des 
Corpus luteum regulierend einwirken, 
vielleicht aber auch störend, wenn ihre 
Menge oder auch ihre Zusammensetzung 
nicht in den normalen Grenzen ge¬ 
schieht. Wie in der Nachgeburtsperiode 
im großen, so wird es auch hier im kleinen 
die funktionelle Tüchtigkeit der Uterus¬ 
muskulatur sein, die durch ihre Con- 
tractionen die Blutung steuert. Es ist 
eine alte und täglich sich wiederholende 
klinische Erfahrung, daß anatomische 
Entartungen oder vielleicht auch nur 
funktionelle nervöse Störungen diese" so 
bedeutungsvolle Tätigkeit der Uterus¬ 
muskulatur nicht im Rahmen des Phy¬ 
siologischen begrenzen können. Weiter¬ 
hin werden die Kraft und Wirkungs¬ 
fähigkeit der antagonistischen Corpus- 
luteum-Stoffe eine wichtige Rolle für die 
Stärke der Menstruation spielen, viel¬ 
leicht auch die Beschaffenheit des Blutes 
selbst. 

Hierdurch eröffnet sich ein Blick in 
die außerordentliche Verschiedenartig¬ 
keit der für die Regulierung der Men¬ 
struationsblutungsstärke in .Betrachtkom¬ 
menden Möglichkeiten. Bedenkt man 
vollends, wie die verschiedenartigsten 
Erkrankungen der Genitalien, Myome, 
Cystome, Lageveränderungen mit ihren 
verhängnisvollen Abknickungen der Ge¬ 
fäße und den daraus bewirkten passiven' 
und aktiven Hyperämien,, dann aber 
auch alle Entzündungsvorgänge, das Zu¬ 
sammenspiel der innersekretorischen, me¬ 
chanischen, nervösen Faktoren stören 
können, dann ergibt sich ohne weiteres 
die schwierige Aufgabe des Therapeuten 
und die Notwendigkeit, sich von jedem 
Schematismus fernzuhalten. Liegen greif¬ 
bare Veränderungen der Genitalien vor, 
so ist mit der Diagnostik meist auch der 


Gegenwart 1920 131 


Weg für die Therapie gegeben. Natürlich 
ist aber das eine die Grundbedingung für 
das andere; 

Viel schwieriger liegt die Aufgabe, 
wenn es sich um sogenannte funktionelle 
Störungen handelt, in denen wenigstens 
palpatorisch keine Veränderung nach¬ 
weisbar ist. Am einfachsten sind noch 
jene Fälle von klimakterischen Blutungen 
bei klinisch unveränderten Genitalien, 
die man früher als „chronische Metritis“ 
bezeichnet hat und die namentlich durch 
die ausgezeichneten Untersuchungen Pan¬ 
kows geklärt worden sind. Es handelt 
sich hier um bindegewebige Entartungen 
der Uterusmuskulatur. Dieses anato¬ 
mische Bild müssen wir unserer, klini¬ 
schen Denkungsweise zugrunde legen. 
Dann ist es ganz klar, warum unsere 
blutstillenden Mittel, die wir sonst so zu 
schätzen wissen, hier Versagen; Binde¬ 
gewebe kann sich nicht kontrahieren. 
Unsere Styptika wirken aber mittels des 
Muskeltonus, und so kommt es, daß man 
diesen klimakterisch blutenden Frauen 
Sekale und alle anderen Mittel in den 
größten Dosen ohne jegliche Wirkung 
verabreichen kann. Früher waren wir 
solchen verzweifelten Fällen gegenüber 
genötigt, den Uterus zu exstirpieren; jetzt 
wissen wir sie durch Bestrahlung in viel 
ungefährlicherer und absolut zuverlässiger 
Weise zu heilen; denn der Uterus blutet 
ja nicht von sich aus, er blutet nur als 
Folge der Ovulation. Wir sind aber leicht 
imstande, diese letzten Eier, die nur 
Störenfriede der Gesundheit sind, durch 
die Strahlenbehandlung zum Zerfall zu 
bringen. Dann sistiert die Ovulation und 
damit steht der Motor für die Menstrua¬ 
tion still, ein Schulbeispiel für die Kausal¬ 
therapie, ein nicht minder achtunggebie¬ 
tender Erfolg der Zusammenwirkung der 
verschiedenartigsten Forschungsgebiete. 

Schwieriger ist die Deutung der Menor¬ 
rhagien im gegensätzlichen Alter, in der 
Pubertät. Wir sehen Mädchen in und 
auch schon über der Zeit der Entwick¬ 
lungsjahre, die ohne jede palpatorische 
Veränderung der Genitalien bei jeder 
Periode einen höchst bedrohlichen Blut¬ 
verlust erleiden, so daß sie im Laufe der 
Zeit in einen sehr bedrohlichen Ent¬ 
kräftungszustand kommen, der sie in der 
Arbeitsfähigkeit und im Lebensgenuß 
aufs schwerste schädigt. Hier kann man 
die Schuld nicht ohne weiteres der 
Funktionsuntüchtigkeit des Uterus zu¬ 
schreiben, wenn man nicht etwa eine 
solche sich denkt, die in das schwierige 

17* 




132 


Die Therapie der Gegenwart 1920 ’ 


April 


Gebiet des Infantilismus■ eingerechnet 
werden muß. Wahrscheinlicher ist, daß 
es sich hier um mangelnde Funktion des 
Corpus luteum handelt und daß. wir diese 
.Blutungen in die neue Gruppe der ova- 
rogeiien-zählen müssen, mit denen sich 
natürlich wiederum ein ganz neues Feld 
der Ther^apie eröffnet. Leider sind wir 
bis jetzt noch nicht im ausreichenden 
Besitze solcher endokrinen Heilmittel aus 
dem Corpus luteum, und es wird wohl 
auch sehr schwer sein, solche zu gewin¬ 
nen; denn erstens wissen wir gar nicht, 
ob die vom Tier gewonnenen Stoffe für 
den Menschen die gleiche Wirksamkeit 
haben, und dann kommt in Betracht, 
daß wir im Corpus luteum vor, bei und 
nach der Menstruation ganz andere, 
geradezu antagonistisch wirkende Körper 
finden, und doch wäre es ein ungeheurer 
Gewinn, wenn wir auch hier solche kau¬ 
sale Therapie treiben könnten. Es er¬ 
öffnen sich damit äußerst verlockende 
Arbeitsgebiete für die Zukunft. 

Ebenso dankbar wie die therapeuti¬ 
sche Verwendung der bluthemmenden 
Stoffe des Corpus luteum kann auch an¬ 
dererseits die der blutfördernden wirken, 
und SeitZjWintz und Fingerhut haben 
auch hier schon sehr beachtenswerte Er¬ 
fahrungen mitgeteilt. In Fällen von zu 
seltener, zu kurzer, zu geringer Menstrua¬ 
tion, in denen gew^öhnlich dann auch das 
übrige Sexualleben, Libido, Conception 
beeinträchtigt zu sein pflegen, würden 
diese hyperämisierenden, aktivierenden 
Elemente eine empfindliche Lücke unseres 
Arzneischatzes auszufüllen vermögen. 

Wie weit unsere Operationskunst bei 
Blutungen in Betracht kommt, möchte 
ich hier nicht des weiteren erörtern, da 
das Gebiet ein viel zu umfangreiches ist, 
als daß es im Rahmen dieses Vortrags 
erschöpft werden könnte. 

Nur auf einen Eingriff möchte ich 
mit ein paar Worten eingehen, das ist die 
so hochgeschätzte, so viel verleumdete, 
so arg mißbrauchte und doch so wertvolle 


.1 


Auskratzung der Uterushöhle, die Abra- 
sio mucosae oder, wie sie von ihrem' 
Erfinder Robert, einem Schüler Re- 
camiers, getauft wurde, die Curage^). 
Dieser Operation wurde, schon bei ihrem 
Erscheinen der Vorwurf gemacht, sie 
wäre ,,ein Scheibenschuß mit geschlos¬ 
senen Augen“ und es ist keine Frage, 
daß sie in vielen Fällen ausgeführt wird, 
ohne daß man sich über die Beschaffen¬ 
heit der Uterusschleimhaut und die Not¬ 
wendigkeit deren Entfernung klar ist. 
Ihr Hauptzweck ist nun aber gerade, 
daß man dadurch Material für. die Dia¬ 
gnose' gewinnt, sei es, daß man schon 
durch die makroskopische Betrachtung 
der zutage geförderten, ausgekratzten 
Massen, z. B. wenn es sich um Schleim¬ 
polypen handelt, die Quelle der Blutung 
kennt oder, was noch viel mehr in Be¬ 
tracht kommt, daß man durch die mikro¬ 
skopische Untersuchung die klinische Dia¬ 
gnose ergänzt. Daß es Fälle gibt, in denen 
dann die Auskratzung zugleich das Übel 
beseitigen konnte und man ex juvantibus 
ihre Berechtigung klar einsieht, weiß 
jeder, der den Eingriff ausführt. Aber 
ebenso klar ist, daß namentlich bei 
zweckloser Wiederholung durch immer 
wieder erneutes Auskratzen bei derselben 
Frau die Operation mißbraucht wird und 
daß man aus ihrer Erfolglosigkeit den 
Schluß ziehen muß, daß eben die Ursache 
der Blutungen nicht im Uterus, sondern 
im Ovarium oder anderswo gelegen ist. 

Außerordentlich vielfältig ist somit 
die Veranlassung zu Entartung der men¬ 
struellen Blutung und ebenso vielfältig 
sind die Ursachen für Auftreten patholo¬ 
gischer Metrorrhagien. Es ist eine schwie¬ 
rige, aber therapeutisch dankbare Auf¬ 
gabe, den einzelnen Fall richtig zu deuten, 
und nur wer richtig diagnostiziert, kann 
richtig helfen. 

Die meisten Deutschen pflegen „Curettc- 
ment“ zu sagen, ein Wort, das es im Französischen 
nicht gibt und mit dessen Gebrauch sie sich 
lächerlich machen. 


Aus-der inneren Abteilung des jüdisclien Krankenhauses zu Berlin. 
(Direktor: G-eh. Eat H. Strauß.) 

Über fettarme Tage zur Bekämpfung der Acidosis. 

Von Dr. R. Uhlmarin, früher Assistent, jetzt Arzt in Fürth. 


Durch die zahlreichen Forschungen 
'der letzten Jahrzehnte ist die Bekämpfung 
der Acidosis bei der Behandlung des 
Diabetes in weitgehend festgelegte Bahnen 
gelenkt worden. Die Erkenntnis, daß 


Acetonkörper nur auftreten, wenn eine 
unzureichende Menge von Kohlehydraten 
im Organismus verbrannt wird, hat zu 
dem obersten Grundsatz geführt, daß 
längerdaperndes Auftreten größerer 



April 


135 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Acetonmengen zu einer Vermehrung der 
Kohlehydratzufuhr auffordern muß, und 
daß der Versuch der Entzuckerung nur in 
vorsichtiger, langsam einschleichender 
Weise, geschehen darjp. Die Form, in der 
die Kohlehydratzulagen zur Herab¬ 
drückung der Ketonurie gegeben werden, 
schwankt, je nach der Schulung des 
Arztes und der Lage des Falles, in hohem 
Maße: Steigerung der täglichen Brötchen¬ 
menge, Einführung mehrtägiger Mehl¬ 
kuren mit vorhergehendem und nach¬ 
folgendem Karenztag, Hafermehl- 
(v. Noorden), Inulin- (H. Strauß) und 
Milchkuren, Verabreichung von Trauben¬ 
zucker oder Lävulose per os und rectal, 
all diesen verschiedenen Darreichungs¬ 
arten liegt.in gleicher Weise die Absicht 
zugrunde, dem Organismus größere Men-, 
gen von leicht verwertbaren Kohle¬ 
hydraten zuzuführen. Während nun die 
vermehrte Darreichung von Amylum- 
körpern in' leichten und mittelschweren 
Fällen von Diabetes eine prompte anti- 
ketogene Wirkung zeigt, versagt sie bei 
den schweren Fällen meist vollständig, 
da diese eben die gereichten Kohlehydrate 
unverwertet aus dem Organismus wieder 
ausscheiden. In diesen Fällen gelingt die 
Bekämpfung der Acidbsis nicht selten 
auf dem umgekehrten Weg, durch Ein¬ 
schaltung eines kohlehydratfreien 
Tages, da sich an einem solchen die Fähig¬ 
keit des Organismus zur Verbrennung der 
Kohlehydrate nicht selten steigert, oder 
noch besser, durch Einfügung eines Hun¬ 
ger- beziehungsweise Trinktages, der, 
von Diabetikern meist glänzend ver¬ 
tragen, die Zucker- und Acetonausschei¬ 
dung erheblich herabzudrücken pflegti). 
(Umber, H. Strauß, v. Noorden u.A.) 

Man wird somit eine leichte oder 
mäßige KHonurie des Diabetikers zu¬ 
nächst durch Vermehrung der Kohle¬ 
hydrate zu bekämpfen suchen; in den 
Fällen, wo die Verwertung einer solchen 
Zufuhr ganz oder fast völlig unmöglich 
ist, gilt es aber, durch kurzdauernde 
Kohlehydratabstinenz die Fähigkeit 
des Organismus zur Verbrennung der 
Kohlehydrate zu heben. ’ 

Es fragt sich nun, ob eine Verminde¬ 
rung der Acetonkörper neben diesem 
indirekten Weg —auf dem Umweg über 
die Kohlehydrate — nicht auch direkt 

Umber, Ernährung und Stoffwechselkrank¬ 
heiten, Berlin-Wien, 1909. .Strauß (D. m. W. 
1912, Bd. 10; Ther. d. G.egenw. 1920, Bd. 1).— 
V. No Orden, Die Zuckerkrankheit, Hirsch¬ 
wald 1917. 


durch Fortlassen derjenigen Stoffe er-^ 
reicht werden kann, die als Quelle der 
Acetonkörper dienen, eine Fragestellung, 
zu deren Beantwortung zuerst auf die 
Entstehung der Ketonurie eingegangen 
werden muß. 

Der in früheren Jahren so heftig ge¬ 
führte Streit, ob Acetonkörper aus Eiweiß 
oder aus Fett entstehen, ist jetzt wohl 
in den wesentlichsten Punkten geklärt. 
An der Möglichkeit einer Entstehung aus 
Eiweiß ist nicht zu zweifeln, nachdem 
mehrere Forscher [Embden^), Bär und 
Blum^) bestimmte Aminosäuren (Leucin, 
Tyrosin, Phenylalanin] als Muttersubstanz 
der Acetonkörper nachgewiesen haben. 
Da aber diese Verbindungen die einzigen 
Eiweißabkömmlinge sind, die zu Aceton¬ 
körpern hinführen, so spielt auf jeden Fall 
die Entstehung aus Eiweiß im Organis¬ 
mus nur eine gegenüber dem Fett zurück¬ 
tretende Rolle. Für diese Ansicht spricht 
auch die von Weintraud^) und Anderen 
nachgewiesene Tatsache, daß auch bei 
völligem N-Gleichgewicht Acetonkörper 
ausgeschieden werden können, weiterhin, 
daß bei Erkrankungen, die eine Erhöhung 
des Eiweißzerfalls mit sich bringen, sich 
in keiner Weise eine dem N-Gehalt des 
Urins entsprechende Vermehrung der Ke¬ 
tonurie einzustellen pflegt. Nimmt z.B. ein 
hochgradig abgemagerter Mensch keiner¬ 
lei Nahrung zu sich (Ösophaguscarcinom), 
so wird trotz des dabei stattfindenden 
Eiweißzerfalls nur eine ganz geringe 
Acetonausscheidung zustande kommen^). 
Trifft dagegen die Hungerkur einen ge¬ 
sunden Menschen mit reichlichem Fett¬ 
polster (Hungerkünstler), so zeigt sich 
nach wenigen Tagen eine starke, während 
der Inanitionsdauer ansteigende Keton- 
urie®). Das Gleiche tritt mit Regel¬ 
mäßigkeit auch in allen anderen Fällen 
ein, wo — neben allenfallsiger Eiwei߬ 
zersetzung — auch eine stärkere Fett¬ 
verbrennung stattfindet; bei Fiebern- 
den'7), bei Carcinomkranken®), die noch 
über ein gutes Fettpolster verkigen. In¬ 
folge dieses weitgehenden, durch zahl¬ 
reiche Beobachtungen gestützten Paral- 

2) Hofmeisters Beitr. 1905, Bd. 6; 1906, 
Bd. 8. 

3) Arch. f. exp. Path. 1906, Bd. 55; 1907, 
Bd. 56. 

Arch. f. exp. Path., Bd. 34. 

Brugsch (Zeitschr. f. exp. Path., 190,5, 
Bd. 1). 

Brugsch (1. c.); Fr. Miillsr (Virch. Arch 
1893, Bd. 131) u. A. 

') Literatur siehe bei Waldvogel, Die Aceton¬ 
körper, Enke, 1903. 

8) Klemperer (B. kl. W. 1889, Bd. 40). 





134 - ,Die Therapie der Gegenwart 1920/ . Aprik 


lelismus zwischen Fetteinschmelzung und 
Acetonausscheidung darf man das Fett 
als wesentliche Muttersubstanz der 
Acetonkörper ans'ehen. Auf die Frage, 
warum Fettzersetzung nur bei Abwesen¬ 
heit von Kohlehydraten zur Acetonurie 
führt, wöllen wir hier nicht näher ein- 
gehen. Auf jeden Fall brauchen wir für 
Diabetiker keine spezieilen Verhältnisse 
anzunehmen, da sich bei kohlehydrat¬ 
abstinenten Gesunden ein ähnliches Bild 
einzustellen pflegt. In beiden Fällen hat 
Fettzersetzung bei gleichzeitigem Fehlen 
der Kohlehydfatverbrennung die Ent¬ 
stehung von Ketonurieim Gefolge. Wenn 
bei Gesunden die Acidosis auch bei ab¬ 
soluter Kohlehydratenthaltung nie solche 
Höhe erreicht als bei Diabetikern, so hat 
dies nach Magnus-Levy^) seinen Grund 
darin, daß die Verbrennung des kohle¬ 
hydratartigen N-freien Teils des Eiwei߬ 
moleküls beim hungernden Gesunden zur 
Hintanhaltung h o ch gr a d i g er Acetonuri e 
genügt, während der schwere Diabetiker 
auch diesen ,,Eiweißzucker“ nicht mehr 
verwerten kann.. 

Was das Nahrungsfett anlangt, so 
scheinen dabei prinzipielle Unterschiede 
gegenüber der Verbrennung von Körper¬ 
fett nicht zu bestehen. Gesunde mit 
Normalkost (das heißt mit einer Nahrung 
von einem bestimmten Kohlehydrat¬ 
gehalt) pflegen auch größere Fettmengen 
ohne jede Steigerung der Acetonausschei¬ 
dung zu bewältigen. Bei Diabetikern da¬ 
gegen konnte Schwarz^^^) und Andere 
durch Fettfütterung eine Zunahme der 
ausgeschiedenen Acetonmenge erzeugen; 
ebenso konnte Forßner^^) an Gesunden 
bei einseitiger Eiweißfettkost durch Öl¬ 
zulage die Acetonurie erheblich steigern. 
Das bedeutet: Wenn — im gesunden 
oder diabetischen Organismus — ge¬ 
nügende Mengen Kohlehydrate verbrannt 
werden, dann wird auch Nahrungsfett 
in.relativ großer Menge verarbeitet; bei 
fehlender Verbrennung von Kohle¬ 
hydraten jedoch wirkt Fettzufuhr 
acetonvermehrend. In. diesem Sinne 
sprechen auch die Versuche von Wald¬ 
vogel (1. c.), der an Gesünden zeigte, 
daß die ausgeschiedene Acetonmenge bei 
reiner Eiweißkost deutlich geringer ist, 
als bei völliger Inanition, daß aber durch 
Fettzulagen die Werte der Inanitions- 
periode leicht erreicht werden können. 
Auf jeden FalKkann der Einwand von 

®) Albusch? Sammlung, Bd. 1, Heft 7. 

Kongr. f. inn. Med., Wiesbaden. 

Skand. Arch. f. Phys., Bd. 22 und 23. 


Magnus-Levy : (1. c.), daß die nach 
Fettzulage verstärkte. Ketbnurie der Dia~ 
betiker auf Verdauungsstörungen zurück- 
zuführen sei, den sorgfältigen, auch an. 
Gesunden gemachten Beobachtungen, 
gegenüber kaum als stichhaltig erscheinen. 
Eine besonders starke acetonbildende. 
Kraft scheinen die niedrigen Fettsäuren* 
(Buttersäure,' Kapronsäure) zu haben;, 
so haf Geelmuyden^^) gezeigt, dah 
Buttersäure bei phloridzinvergifteten. 
Hunden ' die Acetonausscheidung ver¬ 
mehre, im Gegensatz zu den von niedrigen 
Fettsäuren freien Fetten (wie Rindertalg).. 
Schwarz^^) erzielte dann bei Diabetikern, 
Strauß^^) und Hagenberg^^) bei Ge¬ 
sunden durch Verabreichung von butter¬ 
saurem Natron eine Steigerung der Ke- 
tonurie, die in den Straußschen Ver¬ 
suchen so ausgesprochen war, daß er die- 
besondere Art einer ,,alimentären Ace¬ 
tonurie“ aufstellte. Den Einfluß der 
niederen Fettsäuren auf die Acidosis der 
■Diabetiker erkennt auch v. Noorden an,, 
wenn er Zuckerkranken den Rat gibt,, 
die Butter als Hauptträger der niederen 
Fettsäuren vor dem Genuß gründlich in 
kaltem Wasser zu durchkneten. Einen 
wesentlichen Einfluß der Fettzufuhr 
auf die Acetonurie bestreitet jedoch 
V, Noorden auf Grund der Tatsache,, 
daß in mehreren seiner .Fälle auch von 
schwereren Diabetes relativ große Fett¬ 
zulagen ohne jeden stärkeren Einfluß* 
auf die Acidosis blieben. 

Zur Beantwortung dieser Frage kann 
man nun auch den umgekehrten Weg 
gehen und prüfen, ob bei schwerem 
Diabetes eine Herabdrückung der Acidosis 
durch Fettenthaltung möglich ist. Die 
Umsetzung eines solchen Versuchs in die 
Praxis ist aber bei diesen Fällen deswegen 
nicht einfach, weil für diese .— bei ihrer 
weitgehenden Unfähigkeit zur Verwertung; 
von Kohlehydraten und auch von Ei¬ 
weiß — die Entziehung des Nahrungs¬ 
fettes eine Hungerkost bedeutet, die leicht 
eine Verbrennung von Körperfett zur 
Folge hat. Wenn nun auch nach der An¬ 
sicht von Forßner Körperfett eine 
weniger starke- acetonbildende Kraft be¬ 
sitzt als Nahrungsfett, so erscheint doch 
eine wenigstens einigermaßen ausreichende 
Calorienzufuhr Voraussetzung für einen 
solchen Versuch. Die Erfüllung dieser 

12) Zschr. f. phys. Chem. Bd. 26, 1899. 

12) z. f. Stoffwechselerkr., Bd. I. 

1“^) Z. f. Stoffwechselerkr., Bd. I. 

1^) Zschr. f. klin. M., Bd. 40 und Senator¬ 
festschrift (Beitr. z. klin. Med.). 






April s V Therapie 4er 


Bedingung ist^ nun möglich durch reich¬ 
liche Beiziehung von Alkohol und Ge- . 
latine; insbesondere auf den großen Wert 
der Gelatine zur Ernährung‘ dieser 
schweren Diabetiker sei an dieser Stelle- 
hingewiesen. ' '' 


Die Diabetiker erhielten 

somit 

^an 

ihren fettarmen Tagen: 



I. Beispiel einer fettarmen 

Kost. 



Cal. 

Bouillon. 

500 

40 

Gemüse. 

600 

300 

Gelatine^®). 

50 

175 

Rotwein. 

500 

350 

Cognak . 

100 

315 

Mehl. 

50 

175 

5 Eier. 

— 

350 

Mandelmilch.•. . . . 

50 

300 

Weißkäse. 

100 

200 

Tee, Kaffee, Selters. 

— 

— 



2205 

II. Allenfallsige Zulagen. 



Gelatine '. 

50 

175 

Fleisch. 

50 

120 

Mandelmilch. 

50 

300 

Weißkäse. 

50 

100 



695 


Diese Kost ist naturgemäß im Einzel¬ 
fall in hohem Maße zu variieren; so 
wird man bei Jugendlichen mit den 
Alkoholgaben, bei ,,Eiweißempfindlichen“ 
mit den Fleischzulagen (allenfalls auch 
mit Weißkäse) zurückhalten. Die Aus¬ 
fälle, die dadurch im Caloriengehalt ent¬ 
stehen, kann man durch die in Gruppe 11 
angeführten Stoffe ausgleichen. In Fällen, 
wo die Kohlehydratverbrennung nicht 
allzusehr geschädigt ist, kann man bis 
zu 200 g Mehl reichen; bei solchen ,,fett¬ 
armen Mehlkuren“ läßt sich der Nähr¬ 
gehalt des Fettes leicht durch oben an¬ 
geführte Nahrungsstoffe ersetzen. . Auf 
jeden Fall erreicht die Kost unschwer 
einen Gehalt von mindestens 2000 Ca- 
lorien, was um so mehr als ausreichend 
anzuseheh ist, als es zweifellos beim 
Diabetiker günstig wirkt, an einzelnen 
Tagen etwas unterhalb des nötigen Kost¬ 
maßes zu bleiben. 

Die Gelatine bringt man am besten in Fleisch¬ 
brühe und den —fett- und mehlfrei zubereiteten ■— 
Gemüsen unter; einem Teller kräftiger Fleisch¬ 
brühe kann man 10 bis 15 g Gelatine beifügen 
(den leichten Gelatinegeschmack verdecke man 
durch Sellerie oder Suppengrün (Petersilie usw.), 
einem Teller Gemüse 10 bis 20 g Gelatine; am 
besten eignen sich dazu die Krautgemüse (Sauer- 
Blaukraut), am wenigsten die mit süßlichem 
Geschmack (gelbe Rüben). Wichtig ist für die 
Zubereitung, daß man Gelatine nicht kochen 

1®) Nach meiner Erfahrung lassen sich bei 
genügender Küchentechnik in den meisten Fällen 
für.die Perioden fettarmer Ernährung 100 g 
Gelatine (mit einem Caloriengehalt von fäst 
350 Calorien) in der täglichen Kost unterbringen. 


Gegenwart' 1Ö20 , 135 


darf, sonde^rn daß sie^nach Auflösung in heißer 
Brühe den fertiggekochten Speisen .zugefügt 
wird, weiterhin, daß die mit Gelatine, versetzte 
Kost recht heiß, auf gut gewärmten Tellern, 
serviert wird. Allgemein läßt ?ich sagen, daß 
Gelatine prinzipiell bei Diabetikern die Steile' des 
Mehls als Bindemittel vertreten kann. In kleineren 
Mengen . kann man' Gelatine als Rotweingelee, 
Fleischgelee usw. reichen. Gern wird auch 
Gelatineglühwein genommen (Auflösen von 20 g 
Gelatine in heißem Wasser, Auffüllen auf einen 
Schoppen mit Rqtweih, in dem Zimmt, Nelken 
usw. geKOcht wurden; allenfalsiges Beifügen von 
etwas" Saccharin). 

In folgendem seien nun zwei Fälle 
von schwerem Diabetes mitgeteilt, an 
denen solche fettarme Tage Anwendung 
fanden. 


1. Fall., Sil. 32 Jahre alt, seit zwei Jahren 
zuckerleidend. Schmächtiger Mann, der bei Auf¬ 
nahme recht matten Eindruck macht. 


Dat. 

Zucker 

g 

Aceton, 
g 

Kosti’) 

11. 

84 

3,272 

Gemüse-Eiertag^®) 50 g. 
Inulin. 

12. 

74 

2,880 

Ebenso. 

13. 

70 

3,602 

Ebenso. 

14. 

77,9 1 

2,552 

Ebenso, jedoch fettarm i®). 

15. 

26,4 

1,772 

Ebenso, jedoch fettarm. 

16. 

108 

2,768 

Gemüse-mertag. 

17. 

90 1 

6,310 

Ebenso. 

23. 

106 j 

4,002 

Gemüse-Eiertag + 100 g 
Hafermehl. 

24. 

162 i 

6,454 

Ebenso. 

25. 

145 

4,968 

Ebenso. 

26. 

162 

2,268 

Ebenso, jedoch fettarm. 

27. 

137 

4,417 

Gemüse-Eiertag. 

28. 

153 

1,984 

Gemüse-Eiertag -f- 100 g' 
Hafermehl, fettarm. 

29. 

156 

5,218 

Gemüse-Eiertag. 

30. 

14 j 

1,841 

Trinktag. 

- 1. 

21 

6,456 

Gemüse-Eiertag. 

2; 

60 1 

4,919 

Ebenso. 


2. Fall. Schle_,17 Jahre alt. Vor einem 

Jahre großes Diirstgefühl, Mattigkeit, nach Auf¬ 
deckung des Zuckerbefundes und nach Diät¬ 
regelung leidliches Befinden. 'Seit einem Monat 
verstärkte Mattigkeit, Gewichtsabnahme. 

Mittelkräftiger junger Mann von leidlichem 
Fettpolster. — Der Versuch, durch Kohlehydrat¬ 
gaben die Acidosis herabzudrücken, mißlang. 


Dat. 

Aceton 

g 

Kost 

12. 66,5 

5,544 

Gemüse-Eiertag. 

13. 93,1 

7,308 

Ebenso. 

14. 58,5 

3,789 

Ebenso, jedoch fettarm. 

15. 51,7 

2,998 

Gemüse-Eiertag. 

16. 70,0 

3,340 

Ebenso. 


Die Wiedergabe ausführlicherer Tabelhn 
mit detaillierter Kostangabe, mit Bestimmung 
der N-ausscheidung usw. ist wegen Papiernot 
nicht angängig. 

^®) Am Gemüse-Eiertag bekamen die Patienten: 
Reichlich Fleischbrühe, Gemüse, Weißkäse, 10 bis 
12 Eier, Rotwein, Kognak, reichlich Fett (Butter, 
Sahne, Mandelmilch). 

1®) Ungefähres Kostschema siehe erste Spalte. 



















136 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


April 


Dat. 

Zucker 

g 

Aceton 
■ g 

Kost 

17. 

84,0 

2,970 

Ebenso. 

18. 

79,3 

1,708 

Ebenso, jedoch fettarm. 

19. 

46,8 

1,809 

Ebenso, jedoch fettarm. 

30. 

200 

5,174 

Gemüse-Eiertag - 4 - 50 g 
Hafermehl. 

31. 

147 

3,218 

Ebenso. 

1 . 

136 

3,712 

Ebenso., 

2 . 

137 1 

2,520 

Ebenso, jedoch fettarm. 

3. 

103 

1,790 

Ebenso, jedoch fettarm. 

4. 

74 

3,277 

Gemüse-Eiertag. 

5. 

108 

5,104 

Ebenso + 50 g Inulin. 

Bei Fal 

l Sil. sehen wir, daß eine kon- 


stante und schwere Acidosis weder durch 
Kohlehydratzulagen verschiedener Art 
noch durch Kohlehydratentziehung (Ge¬ 
müse — Eiertag) ‘ irgendwie beeinflußt 
werden konnte, daß sie jedoch an fett¬ 
armen Tagen prompt und erheblich zum 
Sinken gebracht wurde. 

In Parallele sind dabei zu setzen die Kost¬ 
perioden vom 11. bis 13. September mit der vom 
14. bis 15. September, sowie die vom 23. bis 
25. September mit der am 26. und 28. September. 

Ähnlich prompt reagierten auf die 
fettarmen Tage Fall Schle., sowie zwei 
Fälle meiner Privatpraxis, deren Verr 
öffentlichung deswegen unterbleiben soll, 
weil bei diesen keine quantitativen Ace¬ 
tonbestimmungen vorgenommen werden 
konnten.’ 

Bei Fall Sohle, ist die Kostperiode vom 30. Mai 
bis 5. Juni besonders beweisend. Die Aceton¬ 
ausscheidung, die am 30. Mai trotz Kohlehydrat¬ 
zufuhr 5 g betrug und an den nächsten Tagen 
zwischen 3 und 4 g schwankte, sank an den zwei 
fettarmen Tagen auf 2,5 und 1,7 g, um dann 
— nach Fettzulagen — wieder auf 3,1 respektive 
5 g (trotz Kohlehydratgaben) zu steigen. 

Wenn man die Tatsache, daß schwere 
Diabetiker auf Entziehung von Fett mit 
Sinken der .Acidosis reagieren, mit den 
Versuchen von Forßner und Anderen Zu¬ 
sammenhalt, daß gesuhde Leute mit Ei¬ 
weißfettkost auf Ölzulagen eine ver¬ 
stärkte Acetonausscheidung aufweisen, so 
kann an dem Einfluß des Nahrungs¬ 
fettes auf die Acetonurie kaum ein 
Zweifel bestehen. Daß diese ketogene 
Wirkung des Fettes nur bei weitgehender 
Schädigung des Kohlehydratstoffwechsels, 
d. h. nur bei den schweren Diabetikern 
in Erscheinung tritt, wurde schon oben 
betont. Jenes nur an einigen Fällen 
gewonnene Ergebnis bedarf nun zweifel¬ 
los noch einer Kontrolle durch weitere 
Beobachtungen. Dennoch erscheint es 
aber geeignet, die Anschauung zu stützen, 
daß der bei schwer Zuckerkranken oft 
so vorzügliche Erfolg der Trinktage auf 
die Ketonurie durch Fortlassen, der Fette 


bedingt ist. Wenn Strauß,^®) schon vor 
fast einem Jahrzehnt betont hat, daß 
Trinktage auf die Ketonurie erheblich 
besser einzuwirken pflegen, als Gemüse- 
Eiertage, so hat dies sicherlich im wesent¬ 
lichen in der verschiedenen Menge des 
dargereichten Fettes seinen Grund. 

Bei der Frage, inwieweit die Kenntnis 
von der acetonsteigernden Kraft der Fette 
praktisch nutzbar gemacht werden kann, 
ist zunächst ausdrücklich auf die Wichtig¬ 
keit des Rates von v. Noorden-hinzu¬ 
weisen, das Fett hauptsächlich in Form 
von vegetabilischem, respektive von 
Fleischfett zu reichen, da diese beiden 
Arten nur wenig niedrige Fettsäuren ent¬ 
halten, weiterhin, die Butter in Wasser 
gründlich auszulaugen. Nach unseren 
Untersuchungen scheinen Eier und auch 
Mandelmilch nur in geringem Maße aceton¬ 
steigernd zu wirken, so daß eine Verab¬ 
reichung mäßiger Mengen davon den Er¬ 
folg von fettarmen Tagen oder von Trink¬ 
tagen nicht wesentlich stören wird; die 
,,fettarmen“ Tage erhalten damit mehr 
den Charakter von „butterfreien“ 
Tagen, eine Anordnung, die aus der Über¬ 
zeugung resultiert, daß die Butter, ins¬ 
besondere, wenn sie nicht mehr ganz 
frisch^ist, von,allen Fetten die stärkste 
ketogene Wirkung entfaltet. 

In der Literatur finden sich über die aceton¬ 
bildende Kraft der verschiedenen Fette 
folgende Angaben: Nach den Untersuchungen 
von Waldvogepi) .. wirkt Olivenöl, nach 
Schwarzes) Speck und Rindsfett, nach Le- 
pine“3) Rahm acetonvermehrend. Grube 2 ^) 
fand die stärkste Ketonurie nach Butter, eine 
mäßig starke nach'TRahm; im Gegensatz dazu 
konnte er nach Gaben von Schweinefett gar keine 
Acetonbildung nachweisen. 

Einer systematischen Enthaltung 
der Fette, oder auch nur der Butter kann 
selbstverständlich nicht ‘ das Wort ge¬ 
redet werden, da eine ausreichende 
Dauerernährung für Diabetiker ohne 
Fette überhaupt nicht möglich ist. 
Auch eine stärkere und längerdau¬ 
ernde Einschränkung ist mit Rück¬ 
sicht auf den Kräftezustand des Pa¬ 
tienten unmöglich, und die Rücksicht 
hierauf muß bei all diesen Kuren na¬ 
türlich an erster Stelle stehen. Ja, wenn 
wir überhaupt bei schweren Diabetikern 
durch Einführung solch spezieller Tage 
(Trinktage usw.) die Acidosis zu be¬ 
kämpfen suchen, obwohl wir deren er- 

2 «) D. m. W. 1912, 10. 

21) Zschr. f. klin. M. 1899, Bd. 38. 

22 ) Verb. d. Kongr. f. inn. Med. 1900. ' 

22 ) Semaine medizinale 1901. 

2 ^) Zschr. f. phys. u. diät. Ther. 6 , 1902. 



April , Die Therapie der 

- - 


neuten Anstieg nach Ablauf von wenigen 
Tagen voraussehen, so tun wir es in der 
Überzeugung, daß eine Verringerung der 
Acetonämie auch nur für wenige Tage 
für den gesamten Kräftezustand einen 
nicht unwesentlichen Vorteil bedeutet. 

Aus diesem Gedankengang heraus er¬ 
scheint uns für schwere Diabetiker, die 
infolge hochgradiger Unfähigkeit zur 
Zuckerverbrennung dauernd größere Ace¬ 
tonmengen ausscheiden — und zwar nur 
für diese —, die Einschaltung von fett¬ 
armen Tagen empfehlenswert. Bei einem 
der Fälle meiner Privatpraxis schien es 
zur Verringerung der Ketonurie be¬ 
sonders zweckmäßig, von Zeit zu Zeit 
einen Trinktag zu geben und diesem 
mehrere fettarme Tage mit mäßigen 
Kohlehydratgaben (50 bis 100 g) folgen 
zu lassen Es wäre erwünscht, wenn 
solche Versuche in größerem Maßstab 
angestellt würden, da ein solches Vor¬ 
gehen zum mindesten weit schonender 
ist, als der Vorschlag von Guelpa^ß) und 
Allen^ü» einer häufigen Wiederholung 
von Hungertagen das Wort reden. 

Die zweifellos gute Wirkung der Trink¬ 
tage hat ihre Ursache darin, daß afi diesen 
Tagen eben alle Stoffe, aus denen nur 
irgendwie größere Mengen von Zucker 
oder Aceton gebildet werden können, 
fortbleiben. In dieser Erkenntnis nun, 
daß der Rückgang der Acetonämie nicht 
auf irgendweich dunkler „Organschonung 
durch Hunger“ beruht, sondern auf dem 
Fortlassen von ganz bestimmten Nah¬ 
rungsgruppen, liegt die Aufforderung, 
nach Stoffen zu suchen, die ohne Bildung 
von Zucker oder Aceton Calorien geben. 
Dazu darf man nun unbedingt den 
Alkohol zählen, der ja schon lange in 
solchen Fällen gern gegeben wird. Auch 
auf die Gelatine als wertvollen Ca- 
lorienträger (und gleichzeitigen Eiwei߬ 
sparer) wurde schon oben hingewiesen. 


Ob in dem eben erschienenen Werk von 
Falta, ,,Die Mehlfrüchtekur“, Berührungspunkte 
mit dieser Auffassung vorhanden sind, kann ich 
nicht beurteilen, da ich das Buch noch nicht er¬ 
halten konnte. Bei den Verdauungsstörungen 
der Säuglinge haben sich jedoch schon ähnliche 
Anschauungen durchgesetzt. Bei bestimmten 
Gruppen akuter Verdauungsstörungen, bei denen 
Aceton- und Ammoniakgehalt des Urins ver¬ 
mehrt ist, ist fettreiche Nahrung (Frauenmilch 
usw.) streng verboten, da deren Darreichung 
,,einen erneuten Ausbruch der schon geschwun¬ 
denen Vergiftungserscheinungen bewirken kann“. 
(Salge, Kinderheilkunde 1909.) 

2«) Soc. de Therap. Paris, 23, 1908. 

2^) The Treatment of Diabetes, Boston, med. 
journ. 172, 1905. 


Gegenwart 1920 137 


Bei einer solchen Modifikation der 
,,Hungertage“ steht einer häufigeren 
Wiederholung nichts im Wege, so daß 
bei ,starker Acidosis, die' durch Ver¬ 
mehrung der Kohlehydrate nicht zum 
Sinken zu bringen ist, die Einschaltung 
von protrahierten, fettarmen Tagen 
nach oben angegebenem Diät¬ 
schema, in allenfallsiger Kombinat 
tion mit einem streng ^ durchge¬ 
führtem H.ungertag, ^empfohlen sei. 
Wenn wir nur ,,fettarme“ und nicht,,fett¬ 
freie“ Tage empfehlen, so tun wir dies, 
weil wir ja nur die hohen, toxischen 
Grade der Acetonämie bekämpfen wollen, 
und wir den Nachteil einer gering¬ 
gradigen Ketonurie lieber in den Kauf 
nehmen, als die Gefahr der längerdauern¬ 
den Unterernährung. 

Ganz besonders ratsam scheint eine 
Kostordnung nach der oben besprochenen 
Richtung bei beginnendem Koma zu 
sein. Denn wir müssen uns immer vor 
Augen halten, wenn auch die Ursache 
des Diabetes im Kohlehydratstoffwechsel 
liegt, die Gefahr desselben liegt in- 
Störungen des Fettstoffwechsels be¬ 
gründet. Bei Komagefahr pflegt nun, wie 
schon angedeutet wurde, der Versuch, 
durch Zufuhr großer Kohlehydratmengen 
die Ketonurie zu bekämpfen, häufig an 
der Unfähigkeit des Organismus zur Ver¬ 
brennung der Kohlehydrate zu scheitern. 
Dagegen kann, wie v. Noorden betont, 
in solchen Situationen durch einen Trink¬ 
tag mit reichlicher Alkoholzufuhr die 
Acidosis oft rasch und stark gedrückt 
. werden. Haben sich dann an diesem 
'Tage die dyspeptischen Erscheinungen, 
die so oft am Beginn des Komas stehen 
und für dessen weiteren Verlauf so be¬ 
deutungsvoll sind, gebessert, dann können 
mehrere fettarme Tage nicht selten den 
Erfolg des Trinktages aufrechterhalten. 

Bei dieser Betonung des Einflusses 
der Fettzufuhr auf die Ketonurie soll 
keineswegs bestritten werden, daß für 
die Stärke der Acidosis die Intensität 
der Funktionsstörung an erster und 
ausschlaggebender Stelle steht. Denn 
für die Menge des in den Säften vor¬ 
handenen und im Urin erscheinenden 
Acetons ist nicht nur die Frage der 
Acetonbildung, sondern auch die der 
Acetonzerstöi ung entscheidend. Trotz 
voller Bewertung solcher endogener 
Faktoren darf man aber doch wohl 
sagen, daß für die' Acidosis zum Fett¬ 
angebot ähnliche Beziehungen vorliegen, 
wie für die Glykosurie zur Kohlehydrat- 

18 



138 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


' April 


Zufuhr. Denn ebenso, wie es beim 
schweren Diabetiker zur Zuckerausschei¬ 
dung nur dann kommt, wenn dem Körper 
durch Nahrung' oder durch Zerfall von 
Körpereiweiß Kohlehydrat • angeboten 
wird, kann stärkere Ketonurie auch;nur 
dann eintreten, wenn dem Organismus 


Nahrungs- oder Körperfett zur Verfügung 
steht. Weitere exakte Untersuchungen 
über die Frage, welche Fettsorten die 
Acidosis nur wenig und welche sie stark 
.erhöhen, dürften die Diätetik der Dia¬ 
betiker jedenfalls noch in manchen 
Punkten fördern. 


Aus der .inneren .Abteilung des Kreiskrankenbauses Berlin-Reinickendorf 
(Direktor: Gebeimrat Professor Dr. Felix Klemperer)". 

Über Milchbehandlung, insbesondere bei Tuberkulose. 

Von Dr. R. Lewin^ Cassel. 


Vor Jahresfrist berichteten Professor 
Dr. R. Schmidt und Dr. Otto Kraus 
(Prag) ,',Über Proteinkörpertherapie bei 
Tuberkulose“ (1). Aus ihren Erfahrungen 
an 16 mit Milchinjektionen behandel¬ 
ten Fällen von Lungentuberkulose, deren 
Krankengeschichten sie kurz mitteilen, 
ziehen die Verfasser unter anderem fol¬ 
gende Schlüsse: 

1. Die Allgemeinreaktionen, wie sie 
nach parenteraler Milchzufuhr in einer 
Durchschnittsdosis von bis 2 ccm bei 
aktiver Tuberkulose auftreten, decken 
sich vielfach vollkommen, und zwar so¬ 
wohl. in ihrem zeitlichen Ablauf, als in 
ihrer Art und ihrer therapeutischen Wir¬ 
kung mit den klinisch wahrnehmbaren 
Effekten von Alttuberkulininjektionen. 

2. Durch Milchinjektionen lassen sich 
im Bereiche tuberkulöser Lungenherde 
typische Herdreaktionen erzielen, welche 
auch wieder sowohl in ihrem zeitlichen 
Auftreten, als in ihrer Art vollkommene 
Analoga darstellen zu den Herdreaktionen 
nach Alttuberkulininjektionen. 

3. Die Stichreaktionen nach Milch 
zeigen in ihrem äußeren Aspectus und 
der Zeit ihres Auftretens vielfach größte 
-Übereinstimmung mit den Stichreaktionen 
nach Alttuberkulin Koch. 

Mit der Anwendung der Milchinjektio¬ 
nen zur Behandlung der Tuberkulose ist 
die Proteinkörpertherapie gleichsam zu 
ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt. 
Denn die Behandlungsversuche mit nicht- 
specifischen Eiweißpräparaten, sei es mit 
Bakterienprodukten oder Bakterien, mit 
Nuclein, Albumosen, Serum oder Milch, 
die R. Schmidt 1916 zur Aufstellung des 
neuen Begriffes der „Proteinkörpertherapie“ 
geführt haben, gehen-letzten Endes zurück 
auf die Zweifel an der specifischen Natur 
des Kochschen Tuberkulins. 

Alsbald nach der Entdeckung des Tu¬ 
berkulins (1890) wurde gezeigt, daß auch 


die Siedeprodukte anderer Bakterien ähn¬ 
liche oder gleiche Wirkungen hervorrufen 
wie das Tuberkulin (G. Klemperer,^ 
Roemer, 1891). Krehl und Matthes’ 
(1894) erzielten tuberkulinähnliche Reak¬ 
tionen durch Injektion von Albumosen, 
G. See durch Nucleineinspritzung. Die 
Erfolge mit Heterovaccinebehandlung 

— bei. Typhuskranken beispielsweise mit 
Pyocyaneuskulturen (Rumpf 1893) (2),mit 
Colibacillen bei Typhus und Sepsis (Kraus 
1915) (3), mit Streptokokkenserum bei 
Staphylokokkensepsis und andere mehr — 
bestärkten den Zweifel an dem ausschlie߬ 
lich specifischen Charakter unserer Im¬ 
munisierungsverfahren. Lüdtke (4) ver¬ 
wandte 1915 an Stelle von Bakterienpro¬ 
dukten mit gleich gutem Erfolge intra¬ 
venöse Injektionen von Albumosen zur 
Behandlung von Infektionskrankheiten, 
und seit 1916 wurde in ständig steigen¬ 
dem Umfange Milch als nichtspecifisches 
Eiweißpräparat in parenteraler Zufuhr zu 
Behandlungszwecken benutzt. 

Eine starke Anregung erfuhr diese 
Therapie aus Weichhardts (5) Theorie 
der protoplasmaaktivierenden Wirkung 
von parenteral zugeführten Eiweißspalt¬ 
produkten, die aus Weichhardts Stu¬ 
dien (6) über Kenotoxine, Eiweißabspal¬ 
tungsantigene vom Ermüdungstoxin¬ 
charakter, welche in hohen Dosen lähmend 
wirken, während geringe Mengen den 
Körper zu erhöhter Leistung anreg^'en 
sollen, erwachsen ist. Nicht specifische 
Eiweißkörper, sondern Spaltprodukte der 
verschiedensten Eiweißkörper üben da¬ 
nach in gleicher Weise eine protoplasma¬ 
aktivierende oder leistungssteigerndc 
Wirkung aus, die Weichhardt durch 
den Nachweis anregender Wirkung auf 
verschiedene Organe und Organsysteme 

— Vermehrung der Milchsekretion, Blut¬ 
veränderungen als Leistungssteigerung des 
Knochenmarks, Vermehrung der Aggluti¬ 
ninproduktion bei immunisierten Tieren (7), 




Die Therapie der Gegenwart 1920' 


139 


'April 


Leistungssteigerung isolierter Tiermuskeln 
und "herzen u. a. — zu begründen suchte. 

Auf eine so breite Basis gestellt, mußte 
die Milchtherapie natürlich bald ein sehr 
großes Anwendungsgebiet erobern; gibt es 
doch kaum eine Krankheit, bei der ein 
Mittel, das auf den Organismus und die 
einzelnen Organe leistungssteigernd wirken 
soll, nicht von Nutzen wäre. So wurden 
denn die therapeutischen Versuche mit 
Milchinjektionen auf eine große Reihe von 
Krankheiten ausgedehnt, auf Typhus (8), 
Cholera und Ruhr (9), auf Arthritiden, 
-gonorrhoische Komplikationen (10), ta- 
bische Krisen, auf entzündliche Augen- 
und Ohrenkrankheiten, Haut- (11) und 
Blutkrankheiten (12), und andere mehr. 
Die Literatur über die Milchtherapie hat 
rasch einen großen Umfang angenommen; 
zur Charakterisierung ihrer Mannigfaltig¬ 
keit sei erwähnt, daß Bacillenträger mittels 
dieser Behandlung von ihren Bacillen be¬ 
freit wurden (Karell und Lucksch) (13), 
daß parenterale Eiweißzufuhr raschere 
Narben- und Callusbildung anregen soll, 
-endlich daß auch bei Kampfgaserkran¬ 
kungen durch die Milchinjektionen Er¬ 
folge erzielt wurden (v. d. Velden) (14), 
indem es zu rascherer Abstoßung des 
zerfetzten Gewebes kam. 

Die letzte Frucht auf dem Gebiete 
'der Milchtherapie ist die eingangs er¬ 
wähnte Arbeit von Schmidt und 
Kraus (1) „Über Proteinkörpertherapie 
bei Tuberkulose“, in welcher R. Schmidt 
zusammenfassend den Eindruck seiner 
klinischen Erfahrungen in dem Satze 
wiedergibt: „Was die Tuberkulin¬ 
therapie leistet, scheint die Milch¬ 
therapie auch zu leisten“. 

Schmidts Mitteilung gab die Ver¬ 
anlassung, nachdem bis dahin auf unserer 
Abteilung nur gelegentlich Milchinjektionen 
gemacht worden waren, systematisch alle 
-einschlägigen Fälle mit Milch zu behandeln. 
Äußere Verhältnisse zwangen mich leider 
zu vorzeitigem Abbruch der Versuche, so 
daß ich nur über 55 mit Milchinjektionen 
behandelte 'Fälle verfüge, nämlich über 
4 Ruhrfälle, 2 Anämien, 1 Hämophilie, 

1 Carcinom, 3 Fälle von Sepsis, 1 Ery¬ 
sipel, 8 Fälle von Gonorrhöe und ihren 
Komplikationen, 10 Fälle von subakuten 
und chronischen Arthritiden und 25 Fälle 
von Tuberkulose und Tuberkulose¬ 
verdacht. Ist dies Material auch zu 
klein zu einer allgemeinen Würdigung 
der Milchbchandlung, so gestattet es doch 
eine Stellungnahme zu den oben erwähn-- 
ten drei Thesen Schmidts über die 


Wirkung von Milchinjektionen bei Tuber¬ 
kulose. 

In drei'meiner Ruhrfälle war die Prognose 
von vornherein recht günstig; sie verliefen unter 
der Lacbehandlung genau wie aridere gleichgeartete 
Fälle. Bei dem vierten mittelschweren Falle war 
nicht die geringste Wirkung der wiederholt vor¬ 
genommenen Milchinjektionen zu beobachten, die 
Heilung verlief bei dem kräftigen Patienten recht 
langsam. 

Eine perniziöse Anähiie bekam nach wieder¬ 
holten Lacinjektionen keine Fieberreaktion, bei 
einer sekundären Anämie betrugen die Tempera¬ 
turen nach drei Injektionen von je 5 ccm Lac 
38,6, 37,7 und 37,2. In beiden Fällen bestätigte 
sich also nicht die Beobachtung Schmidts, 
daß Anämien auf Milchinjektionen mit besonders 
starkem Fieber reagieren. Die Behandlung hatte 
in beiden Fällen nicht den geringsten, auch nur 
zeitweiligen Erfolg. Im ersten Falle kam es nach 
drei Monaten zum Exitus. Der zweite erholte sich 
monatelang nicht, obgleich die Magenblutung, an 
welche sich die anämischen Erscheinungen ange¬ 
schlossen hatten, sofort nach der Einlieferung 
stand und auch okkulte Blutungen später niemals 
festgestellt wurden. Ich hatte eigentlich in diesem 
letzten Falle große Bedenken, die Milchtherapie 
anzuwenden, da nach Schmidts Anschauungen 
über „Herdreaktionen“ (15) an dem Ulcus eine 
Herdreaktion und damit die Gefahr erneuter 
Blutung zu befürchten^war. Auch in dem Falle 
von Hämophilie bestanden ähnliche Bedenken. 
Aber auch in diesem Falle blieben die befürchteten 
Folgen aus, vielmehr standen die Nierenblutungen, 
die den Patienten ins Krankenhaus geführt hatten, 
in kurzer Zeit. 

Bei dem einen Fall von Carcinom bestätigte 
sich die Angabe Schmidts, daß Carcinome keine 
Fieberreaktionen aufbringen. Irgendeine * Ver¬ 
änderung in den Krebsknoten, die als Zeichen von 
Protoplasmaaktivierung hätte gedeutet werden 
können — v. d. Velden will derartige Befunde 
erhoben haben —, konnte unser Prosektor Herr 
Dr. Koch nicht nachweisen. 

Eine Sepsis und eine Pyämie blieben durch 
Lac völlig unbeeinflußt, die zweite Pyämie, bei 
der im Blut hämolytische Streptokokken festge¬ 
stellt wurden, bei der aber Allgemeinbefinden und 
Pulsbeschaffenheit für eine relativ günstige Pro¬ 
gnose sprachen, besserte sich unter den Lacinjek¬ 
tionen auffallend rasch. Auch der ziemlich schwere 
Erysipelfall heilte nach zweimal 10 ccm Lac 
sehr schnell. 

Im Gegensatz zu den Mitteilungen Müllers 
gelang die Heilung einer gonorrhoischen 
Urethritis ziemlich rasch durch drei Wochen 
lange Lacbehandlung, während bei zwei Adnex¬ 
erkrankungen eine heilende Wirkung vermißt 
wurde. Bei drei gonorrhoischen Arthritiden habe 
ich die Milchinjektionen erst nach ihrer Heilung 
vorgenomtnen, um die Wirkungen von Lac und 
Tuberkulin auch an tuberkulosefreien Individuen 
zu vergleichen — hierüber wird unten berichtet 
werden; für die iBeurteilung des therapeutischen 
Effekts der Milchinjektionen scheiden diese Fälle 
aus. Von zwei weiteren Fällen gonorrhoischer 
Arthritis blieb der eine trotz Anwendung von 
neun Injektionen ä 5 ccm gänzlich unbeeinflußt, 
während es bei dem andern den Anschein hatte, 
als wenn durch eine Lacinjektion eine beginnende 
gonorrhoische Arthritis kupiert worden sei. Das 
Mädchen litt an einer gonorrhoischen Urethritis, 
bekam plötzlich hohes Fieber, und es stellten sich 
Schmerzhaftigkeit, Rötung und Schwellung des 



140 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Aprir 


linken Handgelenks ein; auf 5,0 ccm Lac erfuhr 
das Fieber nicht wie sonst eine Steigerung, sondern 
Fieber und Entzündungserscheinungen gingen 
rasch zurück. Bei der ersten erfolglos behandelten 
gonorrhoischen Arthritis war nach einer Injektion 
die von R. Schmidt so stark betonte Euphorie, 
von der unten des näheren gesprochen werden 
soll, angedeutet. 

Es folgen jetzt die zehn Fälle von subakuter 
s und chronischer Arthritis, von denen vier gleich¬ 
falls aus den eben angeführten Gründen für die 
therapeutische Beurteilung ausfallen. Von den 
übrigen sechs Arthritiden habe ^ ich zwei außer 
mit Milch auch mit intravenösen Jodcollargol- 
injektionen behandelt, die ja nach Weichhardts 
Vorstellungen (5) ähnlich wie die Lacinjektionen 
wirken sollen, indem es durch das kolloidale 
Metall im Körper zur Abspaltung von körper¬ 
eignem Eiweiß kommen soll. Ich habe bei der 
einen Patientin 13, bei der andern 20 intravenöse 
Injektionen gemacht; die eine bekam nur ein ein¬ 
ziges Mal, die andern nur zweimal Fieber, während 
die mit Lac behandelten Fälle nahezu regelmäßig 
mit Fieber reagierten. Eine Ähnlichkeit in der 
Wirkung beider Mittel bei chronischen und sub¬ 
akuten Arthritiden konnte ich pur in der therapeu¬ 
tischen Erfolglosigkeit erblicken. Alle sechs 
Fälle von chronischer und subakuter Arthritis 
blieben in ihrem Verlauf durch Lac und intra¬ 
venöse Jodkollargolinjektionen in gleicher Weise 
unbeeinflußt. Was die Dosierung anlangt, so 
wurden nur größere Mengen 5,0—10,0 in drei- 
bis viertägigen Intervallen verwendet; die -Be¬ 
handlungsdauer betrug^ gewöhnlich nicht unter 
drei Wochen. 

ln den 25 Fällen von Tuberkulose 
beziehungsweise Tuberkuloseverdacht (in¬ 
aktiver Tuberkulose) wurden insgesamt 83 
subcutane und intramuskuläre Milch¬ 
injektionen gemacht, und zwar wurde 
entsprechend Schmidts Vorschriften meist 
mit V 2 ccm begonnen und auf 1 und 
2 ccm, in einigen Fällen auch auf 
5 ccm gestiegen. Eine Mitteilung der 
Krankengeschichten muß unterbleiben mit 
Rücksicht auf den zu Gebote stehenden 
Raum; sie erübrigt auch, da über besondere 
oder auffallende Vorkommnisse in keinem 
Falle zu berichten ist. Unsere Aufmerk¬ 
samkeit galt entsprechend den ein¬ 
gangs wiedergegebenen Schlußfolgerungen 
Schmidts erstens den Allgemein-, zwei¬ 
tens den Herd- und drittens den Lokal- 
(Cutan- und Stich-) reaktionen. 

1. Bei den 30 oben beschriebenen 
Fällen von nichttuberkulösen Erkran¬ 
kungen, die ich mit Milchinjektionen be¬ 
handelte, bildete das Auftreten von Fieber 
und damit verbundenen Allgemeinsym¬ 
ptomen die Regel. Allerdings sind vier 
Ausnahmen zu verzeichnen, in denen die 
Milchinjektionen keinen Temperaturanstieg 
bewirkten; und in sechs Fällen trat das 
Fieber nicht gleich nach der ersten, 
sondern nach der zweiten oder einer noch 
späteren Injektion auf. Immerhin ist 
danach die pyrogenetische Reaktion nach 


Milchinjektionen eine ziemlich allgemeine. 
Und darum ist es in keiner Weise über¬ 
raschend, daß auch die mitMilch gespritzten 
25 Tuberkulösen, beziehungsweise der 
Tuberkulose Verdächtigen mit drei Aus¬ 
nahmen Temperatursteigerungen auf¬ 
wiesen. Eine solch allgemeine fieber¬ 
machende Wirkung kann man dem Alt¬ 
tuberkulin in den nach Schmidt vergleich¬ 
baren Dosen nicht zuschreiben. Das ist 
in der Literatur längst festgestellt; ich 
habe aber gleichwohl noch bei klinisch 
vonTuberkulosefreienPersonen Injektionen 
mit 1 bis 10 mg Alttuberkulin vor¬ 
genommen; nur in zwei Fällen trat wie 
nach Lac auch nach Alttuberkulin Fieber 
auf, ein Fall reagierte nur nach Alt¬ 
tuberkulin mit Fieber, in den übrigen 
acht Fällen blieb nach Alttuberkulin jede 
Temperatursteigerung aus, während auf 
Lac die übliche Temperaturerhöhung ein¬ 
trat.. Daraus erhellt zur Genüge, daß die 
oben besehriebenen pyrogenetischen Effekte 
parenteraler Milchzufuhr von Alttuberkulin 
nicht in gleicher Weise ausgelöst werden. 
Es sei hier nicht untersucht, was die 
Allgemeinreaktion nach Alttuberkulin be¬ 
sagt, aber ein beträchtlicher Unter¬ 
schied zwischen parenteraler Lac- 
und Alttuberkulin Wirkung kann schon 
in Hinsicht auf den pyrogenetischen 
Effekt nicht bestritten werden. 

Ich häbe im vorstehenden für die 
Allgemeinreaktionen nur die objektiv 
meßbare Temperatur als Maßstab ge¬ 
nommen und ich bin auch der Meinung, 
daß das Fieber das wichtigste Charakte¬ 
ristikum der Allgemeinreaktion ist und die 
anderen Allgemeinsymptome Begleit- und 
Folgeerscheinungen darstellen, wie sie jedes 
Fieber mit sich bringt. Gleichwohl bin 
ich der Betrachtungsweise R. Schmidt's 
gefolgt, welcher unterscheidet „eine nega¬ 
tive Phase, die mit einem Minus an 
Wohlbefinden, Fieber, einer Reihe objek¬ 
tiver und subjektiver Zeichen, Schmerzen 
auf der Brust, die häufig topographisch 
den tuberkulösen Veränderungen des 
Lungenparenchyms entsprechen, einher¬ 
geht;“ nach Abklingen dieser negativen 
Phase soll die positive Phase folgen, 
die sich angeblich in einer ausgesprochenen 
Euphorie äußert. Die Zahl der Fälle, 
in denen abgesehen vom Fieber.noch be¬ 
sonders auffallende Zeichen von Unbehagen 
und Schmerzen zu konstatieren waren, in 
denen ich also von einer negativen Phase 
im Sinne Schmidts glaubte sprechen zu 
können, beträgt 17, und zwar handelt es 
sich dabei um neun tuberkulöse und acht 





April „ Die Therapie der Gegenwart 1920 141 


mit einer anderen Krankheit behaftete 
Personen. Über daö Abklingen dieser 
negativen Phase waren die Patienten 
natürlich froh, aber eine deutliche, als 
ausgesprochene Euphorie anzusprechende 
positive Phase habe ich nur bei drei 
Tuberkulösen und auch unter den anderen 
Krankheitsgruppen nur dreimal feststellen 
können. Sehr in die Augen springend, 
sozusagen objektiv sichtbar war die 
Euphorie eigentlich in keinem Falle, aber 
da ich mit besonderer Aufmerksamkeit 
darauf fahndete, habe " ich sie immerhin 
in diesen sechs Fällen notieren können. 
Meine Beobachtungen weichen also 
auch in diesem Punkte von den Re¬ 
sultaten R. Schmidts ab. 

Nicht eindeutig sind meine Erfahrun¬ 
gen hinsichtlich der von Schmidt be¬ 
tonten Gewöhnung. Ich konnte diese 
allerdings nur in einem Teile meiner Fälle 
prüfen, bei denen eine größere Reihe von 
Injektionen vorgenommen wurde, und von 
ihnen scheiden noch einige aus, bei denen 
der Eigenfieberverlauf der Krankheit eine 
Beurteilung unmöglich macht. Es kommen 
daher für diese Frage nur 20 von meinen 
Fällen in Betracht, darunter sieben mit 
Lungentuberkulose, während die übrigen 13 
den anderen Krankheitsgruppen angehören. 
Unter diesen r3 Fällen habe ich bei sieben 
Patienten eine Gewöhnung insofern fest¬ 
stellen können, als sie stets auf jede fol¬ 
gende Injektion mit einer niedrigeren Tem¬ 
peratur reagierten, so daß zur Auslösung 
von Reaktionen immer höhere Dosen not¬ 
wendig wurden. In vier Fällen war jedoch 
'das Verhalten ein umgekehrtes. Jede fol¬ 
gende gleichgroße Dosis löste in diesen 
vier Fällen eine höhere Temperatursteige¬ 
rung aus als die voraufgegangene Injektion, 
ln zwei Fällen trat zunächst Gewöhnung 
ein; dann reagierten sie aber wieder ohne 
Steigerung der Dosis mit höherem Fieber 
als auf die vorhergehende Injektion. Dieses 
letztere Verhalten zeigten auch zwei von 
den in Betracht kommenden Fällen von 
Tuberkulose, während bei drei Fällen eine 
Gewöhnung im obigen Sinne und bei den 
übrigen beiden Fällen d'as Gegenteil hier¬ 
von zu konstatieren war. Also eine ge¬ 
wisse Tendenz zur Gewöhnung besteht 
wohl in einer Reihe von Fällen, von einer 
Gesetzmäßigkeit kann aber nicht die 
Rede sein. 

Resümierend darf ich das Resultat 
meiner Beobachtungen hinsichtlich der 
Allgemeihreaktionen nach Lac und Alt¬ 
tuberkulin wohl dahin zusammenfassen, 
daß ihr gesamter Erscheinungskomplex 


den von Schmidt behauptCjten ^ Paralle- 
lisfnus durchaus Vermissen ließ. 

2. Was die Herdreaktionen betrifft, 
so habe ich in zehn Fällen, in denen sichere 
tuberkulöse Herde nachweisbar waren, 
davon Abstand genommen, probatorische > 
Tuberkulininjektionen zu machen. Ich 
begnügte mich damit, festzustellen, wie 
oft eine Verstärkung der Herderschei¬ 
nungen nach Lacinjektionen beobachtet 
werden" konnte. Zweimal wurde eine Herd¬ 
reaktion als bestimmt verzeichnet, zweimal 
war ^sie zweifelhaft, sechsmal khlte sie 
ganz. Die Zahl der durch Milchinjektionen 
ausgelösten Herdreaktionen ist danach 
ziemlich gering. Da ich jedoch nicht die 
Häufigkeit der nach AT-Injektionen auf¬ 
tretenden Herdreaktionen — die nach 
allen sonstigen Erfahrungen häufiger sein 
dürften —, nachgeprüft hab^, will ich aus 
diesen Resultaten keine Schlüsse ziehen. 

3. Zu um so bestimmteren Folgerungen 
berechtigen mich aber meine eingehenden 
vergleichenden Untersuchungen über die 
Cutan- und Stichreaktionen, welche 
meine Bedenken gegenüber der Unter¬ 
schätzung der specifischen Komponente 
des Tuberkulins erheblich steigerten. 

Ich stellte in 16 Fällen von Tuberku¬ 
lose oder Tuberkuloseverdacht die Pir¬ 
quet-Reaktion sowohl mit Alttuberkulin 
als auch mit Lac an und machte bei letz¬ 
terer Modifikation sehr starke "Skarifika- 
tionen, um möglichst viel Milch aufsaugen 
zu lassen. Während der AT-Pirquet in 
14 Fällen positiv ausfiel, gab es nicht 
einen einzigen positiven Lac-Pirquet. 

Nach einer' subcutanen AT-Injektion 
flammten — was der allgemeinen Erfah-, 
rung entspricht t— die Pirquets auf, nach 
Lac-Injektionen trat dies nicht ein einziges 
Mal ein. Danach kann ich die Behaup¬ 
tung Bessaus bestätigen, daß „nur, wenn 
neuerlich Tuberkulin an eine Tuberkulin¬ 
lokalreaktion herantritt, diese eine neue 
Herdreaktion gibt“. In bezug auf die Stich¬ 
reaktionen erhielt ich Resultate, die 
gleichfalls von denen Schmidts abwichen. 
Wohl sah ich in drei Fällen nach größeren 
Milchdosen (5—10 ccm) entzündliche 
Rötungen und Schwellungen, die sogar 
recht unangenehme Nebenerscheinungen 
darstellten, aber die hier in Betracht kom¬ 
menden Dosen von —2 ccm Milch lösten 
zwar recht häufig lokale Schmerzhaftig¬ 
keit aus, aber niemals eine Stichreaktion, 
die auch nür im entferntesten das typische 
Aussehen der Stichreaktionen darbot, wie 
wir sie bei den gleichen Patienten nach. 
Alttuberkulininjektionen auftreten sahen. 





142 


Diß Therapie der Gegenwart 1920 


Apni 


Nach allem kann ich den weitgehenden 
Parallelismus zwischen Milch- und Tuber¬ 
kulinwirkung, den Schmidt annimmt, 
in keiner Weise bestätigen. Für die Ver¬ 
schiedenheit der beiden Eiweißkörper und 
zugunsten der Specificität des Tuberkulins 
spricht auch folgende Beobachtung. Die 
Tuberkulinreaktion bleibt bekanntlich in 
den einer stärkeren Reaktion folgenden 
Tagen aus. Ich prüfte nun die Wirkung 
von Tuberkutin nach Lac und von 
Lac nach Tuberkulin, ln acht Hallen 
wurde mit den Lacinjektionen be¬ 
gonnen, von denen zwei für die uns be¬ 
schäftigende Frage ausfallen müssen, weil 
die Lacreaktion ausblieb. In zwei von 
den sechs in Betracht kommenden Fällen 
brachten nach der Lacreaktion die AT- 
Ihjektionen keinen Effekt hervor. In den 
vier übrigen Fällen kam es zu kräftigen 
AT-Lokalreaktionen und in einem Fall 
auch zu einer deutlichen Allgemein¬ 
reaktion. Von einer atisoluten Hemmung 
der AT-Wirkung nach voraufgehender Lac¬ 
reaktion kann schon hiernach nicht ge¬ 
sprochen werden, besonders wenn man 
bedenkt, daß das pyrogenetische Reaktions¬ 
vermögen des Alttuberkulins weit enger 
begrenzt ist als das der parenteralen 
Milchzufuhr. Von den zwölf Fällen, in 
denen mit den AT-Inj ektionen be¬ 
gonnen wurde, können nur fünf verwertet 
werden, weil in den anderen sieben eine 
anfängliche AT-Reaktion nicht auszulösen 
war. In diesen fünf Fällen wurde durch 
die voraufgehende AT-Reaktion nicht ein 
einziges Mal das Auftreten der Lacreaktion 
gehemmt. Diese Tatsache dürfte gleich¬ 
falls dafür sprechen, daß beim Alttuber¬ 
kulin die specifische Komponente 
überwiegt. 

Was zum Schluß das therapeutische 
Resultat der Milchinjektionen bei 
Tuberkulose anlangt, so will ich für seine 
Bewertung nur acht Fälle im Betracht 
ziehen, bei denen ich die Behandlung 
genügend lange durchführen konnte. 
Keiner dieser Fälle ergab einen deutlichen 
Erfolg. Bei der Indikationsstellung hatte 
ich mich nach den für die Tuberkulin¬ 
behandlung geltenden Regeln gerichtet 


und nur mittelschwere Fälle ausgewählt 
Trotzdem kamen iwei Fälle, die sich 
allerdings schon an der unteren Grenze 
des Zustandes befanden, den man noch 
dem mittleren Stadium zurechnen kann, 
die aber immerhin bis dahin nur hin und 
wieder subfebrile Temperaturen aufwiesen, 
ins Fiebern und verschlechterten ^sich 
rasch. Besonders in dem einen Falle 
glaube ich clje Schuld an dem rasch pro¬ 
gedienten Verlauf den Mikhinjektionen 
zuschieben zu müssen. Bei den anderen 
Patienten sah ich keine Schädigung, ab¬ 
gesehen vielleicht noch von einer im An¬ 
schluß an eine Milchinjektion auftreten-' 
den Hämoptoe, dafür aber auch nicht 
den geringsten Nutzen. Bei der einzigen 
Patientin, bei der eine Gewichtszunahme 
verzeichnet wurde, gelang trotz über sechs 
Wochen währender Behandlung die Ent¬ 
fieberung nicht, so daß ich keine Veran¬ 
lassung habe, in diesem Falle die Ge¬ 
wichtszunahme der Milchbehandlung zu¬ 
zuschreiben. Bei zwei weiteren Fällen 
wurde Gewichtsabnahme, bei zwei anderen 
Gewichtsstillstand konstatiert. In keinem 
Falle wurden Verminderung des Sputums, 
Verlust oder Abnahme der Tuberkelbacillen 
oder Rückgang der physikalischen Er¬ 
scheinungen verzeichnet. 

Also auch in dieser Hinsicht wider¬ 
spricht mein Ergebnis den Erfahrungen 
*Schmidts, und ich sehe keinen Anlaß, 
den Ersatz der Tuberkulintherapie, 
die in geeigneten Fällen bei richtiger An¬ 
wendungsweise Gutes leistet, durch eine 
Milchtherapie für irgendeinen Fall 
von Lungentuberkulose empfehlen 
zu sollen. 

Literatur: 1. R. Schmidt und O. Kraus 
(M. Kl. 1919, Nr. 21). — 2. Rumpf (D. m. W. 1893, 
Nr.41). — 3. Krauß (W. kl. W. 1915, Nr. 21). — 
4. Lüdtke (M. m. W. 1915, Nr. 10). — 5. Weich¬ 
hardt (M. m. W. 1918, Nr. 22). — 6. Weichhardt 
(M. m. W. 1907, Nr. 39). — 7. Weichhardt (M. 
m. W. 1915, Nr. 45). — 8. Saxl (W. m. W. 1916, 
Nr. 3). — 9. Adler (W. m. W. 1917, Nr. 10). ~ 

10. Müller und Weiß (W. kl.W. 1916, Nr. 9). — 

11. Weiß (W. m.W. 1916, Nr. 27). —12. R.Schmidt 
und Kaznelson (Zschr. f. klin. M. Bd. 83 und 85). 

— 13. Karen und Lucksch (W. kl. W. 1916, 
Nr. 7). — 14. V. d. Ve^lden, B. kl.W.1919, Nr. 21). 

— 15. R. Schmidt, Zur Frage d. Herdreaktionen 
usw. (D. Arch. f. klin. M., Bd. 131, H. 1 und 2). 


Die Behandlung des Ulcus cruris 
als Nebenbeschäftigung für Ärzte, besonders kriegsbeschädigte. 

Von Sanitätsrat Dr. E. Glasen, Itzehoe. 

Die lange, schwere Zeit des Krieges ’ ^ - ‘ 


liegt nun hinter uns, aber vor uns liegt 
die noch viel schwerere und längere Zeit 
des uns gewordenen Friedens, die für 


viele mit einem Aufbau aus Trürnmern 
zu beginnen fiat, auch für viele Ärzte. 
In der langen Zeit ihrer Abwesenheit 
haben auf dem Felde ihrer früheren 



April 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


143 


Tätigkeit Veränderungen und Verschie¬ 
bungen stattgefunden, die eine entschie¬ 
dene Schädigung bedeuten, und die sieh 
nicht ohne weiteres ändern lassen. Aber 
nicht nur das. Nicht wenige kehren aus 
dem Felde zurück mit geschädigter Ge¬ 
sundheit und verminderter Leistungs¬ 
fähigkeit, die ihnen verbietet, ihre alte 
Arbeit in früherem Umfange wieder auf¬ 
zunehmen. Diesen wie jenen müssen not¬ 
wendigerweise die Verhältnisse den Ge¬ 
danken nahelegen, ihre Tätigkeit nach 
einer anderen Richtung hin zu erweitern, 
um durch eine — vollständig standes¬ 
gemäße, ihr^ übrige Arbeit nicht im min¬ 
desten beeinträchtigende — Nebenbe¬ 
schäftigung den entstandenen Ausfall 
auszugleichen. Diesen Erwägungen ein 
Ziel und eine Richtung zu geben, ist der 
Zweck folgender Zeilen. 

Es möge mir daher gestattet sein, auf 
ein bisher so gut wie vollständig brach 
liegendes Gebiet ärztlicher Betätigung 
hinzuweisen, das von mir seit drei Jahr¬ 
zehnten mit großen therapeutischen wie 
pekuniären Erfolgen ausgebaut worden ist, 
auf die spezialistische Behandlung des 
Ulcus cruris. Zunächst wird diese Emp¬ 
fehlung allerdings wohl manches un¬ 
gläubige Kopfschütteln auslösen, denn 
die Behauptung, daß ein Arzt auf die Be¬ 
handlung des Ulcus cruris seine Existenz 
gründen könne oder solle, erscheint den 
meisten denn doch gar zu weitgehend und 
gewagt, darum habe ich sie zunächst auch 
nur als Nebenbeschäftigung empfohlen. 
Denn wieviel Ulcus cruris bekommt man 
überhaupt als Arzt zu sehen? Kaum der 
Rede und noch weniger der Beachtung 
wert. Aber gerade in dem letzteren Um¬ 
stande, daß der praktische Arzt dieses so 
außerordentlich verbreitete Leiden in der 
Regel gar keiner Beachtung zu würdigen 
pflegt und die wenigen Kranken, die ihn 
in ihrer Verzweiflung wirklich einmal 
um seine Hilfe angehen, immer wieder 
mit der ihnen schon hinlänglich als un¬ 
wirksam bekannten essigsauren Tonerde 
abspeist, ist ja die Ursache, daß die Krank- 
ken mit ihrem schweren Leiden gar nicht 
erst zum Arzte gehen, sondern sich lieber 
allen möglichen Kurpfuschern anver¬ 
trauen. Der praktische Arzt steht nun 
einmal in dem Rufe, Varicen und Ulcus 
cruris nicht heilen zu können. Kein Wun¬ 
der, cfaß die wenigsten Ärzte eine Ahnung 
davon haben, wie viele und sehr dank¬ 
bare Kranke sie haben könnten, wenn sie 
nur die Hand danach ausstreckten. Mir 
ist es seinerzeit gar nicht anders gegangen. 


Als ich vor nunmehr 30 Jahren die Be¬ 
handlung des Ulcus cruris kennen lernte, 
begann ich aus reinem Interesse an der 
Sache und aus der reinen Freude an ihren 
vorzüglichen Heilerfolgen dieselbe aus¬ 
zuüben. Ich betrieb die Sache völlig 
nebensächlich und kam daher zunächst 
nur langsam vorwärts. Aber allmählich 
änderte sich das Bild ganz von selbst. 
Der Kranken wurden immer mehr und 
nahmen nach und nach meine Zeit und 
Kräfte so vollständig in Anspruch, daß 
ich meine übrige Praxis aufzugeben ge¬ 
nötigt war und nun schon länger als' ein 
Jahrzehnt ausschließlich und zu meiner 
größten Befriedigung — wozu allein 
schon die völlige Freiheit von jeder 
Kassenpraxis das ihrige beiträgt — die 
Behandlung des Ulcus pflege. 

Die Varicen und das zu ihnen ge¬ 
hörende Ulcus cruris stellen eine der häu¬ 
figsten Krankheiten der ,,gesunden‘‘ 
Leute aus den arbeitenden und gewerbe¬ 
treibenden Ständen dar; es ist ganz auf¬ 
fallend, wie selten man unter den Vari- 
cösen andere chronische Erkrankungen 
(als höchstens einmal Lues) vorfindet. Die 
Varicosität ist eine ausgesprochen erb¬ 
liche Krankheit, die sich erst Jahre nach 
der Pubertät zeigt, vorwiegend bei den 
Frauen. Sie besteht in einer chronischen, 
wie mir scheinen will, angioneurotischen 
Lähmung der Venen der unteren ,^xtre- 
mitäten sowie des Mastdarmes (Hämor¬ 
rhoiden), seltener auch der Genitalien mit 
einer Erweiterung und Verlängerung des 
Venenrohrs und einer ausgesprochenen 
Blutstase oder „Blutstockung“. Schon 
in den ersten Anfängen der Krankheit 
kommt es durch die Venectasie mit Blut¬ 
stase in einzelnen besonders stark er¬ 
weiterten Venen durch Gerinnung des 
Bluts zur Entstehung von Thrombosen. 
Man findet dieselben im Bereich des 
Unterschenkels und zwar als eine außer¬ 
ordentlich häufige und sehr kennzeich¬ 
nende Anfangserscheinung der Krankheit, 
oft genug als einziges deutliches An¬ 
zeichen für die vorhandene Varicosität; 
im Anfang bleibt es bei einzelnen Throm¬ 
bosen, im weiteren Verlauf aber treten 
in manchen Fällen immer neue zu den 
alten hinzu, so daß es zur Bildung von 
Massenthrombosen kommt, zur Ent¬ 
stehung von großen Thrombosenpaketen, 
die als brettharte, knotige Masse mit 
großer Vorliebe die Nische ausfüllt, die 
durch den M. soleus und die Achillessehne 
gebildet wird und als solche mit ihren 
chronischen, und subchronischen Ent- 




144 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


April 


Zündungszuständen gern Anlaß , zur 
Entstehung von Ulcus cruris gibt, ob¬ 
gleich diese Massenthrombosen auch in 
sehr vielen anderen Fällen Jahre und 
jahrzehntelang eine ganz harmlose Rolle 
spielen können. Man'muß dabei aber 
immer festhalten, daß diese Thrombosen 
nicht als die Folge von etwa vorhandenen 
Ödemen oder^^Stauungen, sondern viel¬ 
mehr als ihre Ursache anzusehen sind, denn 
sie waren schon Jahre und Jahrzehnte 
früher da, als diese Stauungen, genau so 
wie die Erweiterung der Venen, die Varicen. 

Ähnlich verhält es sich auch mit dem 
Ulcus cruris. Auch dieses zeigt in seinem 
Auftreten eine völlige Unabhängigkeit 
von allen übrigen, sichtbaren Erschei¬ 
nungen der Varicosität. Es kann bei 
einem Varicösen die ally;erste Erschei¬ 
nung der vorhandenen Anfage sein und 
kann sich andererseits als das scheinbare 
Endygebnis jahrelanger Vorbereitungen 
zeig'enT Bei der außerordentlich großen 
Vielgestaltigkeit, unter der das Ulcus 
cruris auftritt, ist es gar nicht leicht, eine 
zutreffende Beschreibung zu geben, aber 
das erscheint an dieser Stelle auch gar 
nicht so nötig, denn mehr oder weniger 
ist das Ulcus cruris wohl jedem Leser 
bekannt; weniger schon, daß sein weitaus 
bevorzugter Lieblingssitz die Gegend um 
den inneren Knöchel mit Ausschluß des 
vorderen Randes ist, erst danach kommt 
der äußere Knöchel sowie das untere 
Drittel des Unterschenkels in Betracht. 
Am Fuß kommt das Ulcus cruris nur an 
der hinteren Hälfte des inneren und 
äußeren Randes vor; Fußsohle, Fu߬ 
rücken, Achillessehne ^sowie die Zehen 
bleiben ohne Ausnahme von dem Ulcus 
varicosum frei; hier vorkommende Ge¬ 
schwüre sind entweder luischer Natur 
oder Fortsetzungen von varicösen Ge¬ 
schwüren in der Nachbarschaft. 

Gestalt und Größe des Ulcus cruris 
unterliegen den allergrößten Verschieden¬ 
heiten; anfangs pflegt es nur linsengroß 
zu sein und bringt es in der Regel nur bis 
zur Groschengröße; aber Geschwüre von 
Fünfmarkgröße gehören keineswegs zu 
den Ausnahmen, aber solche von 10 cm 
Durchmesser sind doch schon keine all¬ 
täglichen Erscheinungen, bilden jedoch 
keineswegs den Gipfel des Erreichbaren, 
denn es gibt Ulcera, die ringförmig den 
Unterschenkel umgreifen und dabei eine 
Breite voh 20 cm und mehr aufzuweisen 
haben. Im übrigen sind diese ringförrnigen 
Geschwüre der Heilung ebenso zugäng¬ 
lich wie jedes andere Ulcus. 


Eine sehr große Rolle im Verlauf des i 
Ulcus cruris spielen die Schmerzen, die i 
aber merkwürdigerweise nicht mit der 
Größe des Geschwürs wachsen; es sind | 
vielmehr die kleinen Geschwüre, die ver- : 
hältnismäßig die stärksten Schmerzen ! 
verursachen und die Kranken zur Auf- ; 
suchung ärztlicher Hilfe veranlassen, 
während die großen und lange bestehen- ' 
den bei weitem nicht in dem erwarteten ! 
Maße schmerzhaft sind. ! 

Viel wichtiger erscheint die Be¬ 
sprechung der Bedürfnisfrage: Ist es wirk¬ 
lich nötig für die vorhandenen Kranken 
und lohnt es sich für den Arzt, diesem 
bisher schon auf der Universität so gänz¬ 
lich mißachteten Zweige der Heilkunst 
größere Aufmerksamkeit und Mühe zu 
widmen? Über die Bedürfnis-frage von 
seiten der Kranken wird wohl nicht der 
leiseste Zweifel bestehen können. . Allein 
schon die große Zahl der Kurpfuscher auf 
diesem Gebiete mit ihrem teilweise großen 
Zulaufwäre ein vollgültiger Beweis für 
ein vorhandenes Bedürfnis. Wie stark 
übrigens dies Bedürfnis nach ärztlicher 
Hilfe auf diesem Gebiet ist, zeigt allein 
schon der Umstand, daß die Kranken 
eine regelmäßig wöchentlich zu wieder¬ 
holende Eisenbahnreise von 80 bis 100 km 
und mehr zu dem Arzte nicht scheuen, 
wenn sie dafür die Aussicht haben, von 
ihrem Leiden befreit zu werden. Und das 
Material für' diese Art der ärztlichen 
Tätigkeit liegt sozusagen auf der Straße, 
Niemand kümmert sich darum. Die Zahl , 
der Varicösen und der an Ulcus Leidenden 
ist über alle Erwartung groß, jedenfalls 
sehr viel größer, als die meisten ahnen; ' 
das ist allein schon bedingt durch die 
große Erblichkeit der Krankheit. Und ' 
diese Kranken sind tatsächlich in hohem 
Maße der ärztlichen Hilfe bedürftig, denn 
die an Krampfadern und noch mehr die 
an Ulcus Leidenden sind durch ihr Leiden 
mehr oder weniger nicht nur dauernd in 
ihrer Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt für 
Jahre und Jahrzehnte, sondern werden 
auch durch ihre Schmerzen, die nicht 
selten ans Unerträgliche grenzen, zu dem 
Arzte hingenötigt, der sich mit ihrer Be- 
handlung befaßt. Es wäre ganz unbe¬ 
greiflich, daß sich die Ärzte mit diesem 
so ungemein verbreiteten Leiden so gar 
nicht zu befassen pflegen, wenn nicht die 
Universität den werdenden Arzt 
auf diesem überaus wichtigen Gebiete 
völlig im Stiche zu lassen pflegte, was 
allerdings seinen Grund wieder darin 
hat, daß man bis jetzt ein einfaches, zu- 




April 


Die Therapie der Gegenwart 1Ö20 


14^ 


verlässiges Heilverfahren dagegen nicht 
kannte. Das hätte freilicTi anders sein 
können und müssen, seit Unna seit An¬ 
fang der achtziger Jahre seinen Zinkleim¬ 
verband bekannt gemacht hatte. Nach¬ 
dem ich nun den Leimverband seit 
dreißig Jahren erprobt und bewährt ge-. 
funden habe, kann ich denselben\iur aufs 
angelegentlichste empfehlen, nicht nur 
als zuverlässiges Heilverfahren für die 
kranken, sondern auch als die Quelle 
reicher und ertragreicher Tätigkeit für 
den Arzt, namentlich für kriegsbeschä- 
digte und andere in ihrer Leistungstätig¬ 
keit beeinträchtigte, an dem sie viel 
Freude erleben werden nach jeder Rich¬ 
tung hin. Denn der Zinkl\eimverband ist 
ein wirkliches und zuverlässiges Heil¬ 
mittel, sowohl für die Varicen, wie auch 
für das schlimmste, selbst das größte 
ringförmige Ulcus. Es gibt kaum ein 
Ulcus, das nicht heilbar wäre, wenn auch 
zugestanden werden muß, daß einzelne 
Ulcera auch unter dem Zinkleimverbande 
nur zögernd Anstalten zur Heilung 
machen. Aber das sind, wie gesagt, immer 
nur Ausnahmen, und wenn man die sicht¬ 
baren und vor aller Augen liegenden Er¬ 
folge dieser Therapie vergleicht mit den 
Erfolgen auf manchen anderen Gebieten 
ärztlicher Tätigkeit, so halten sje jeden 
Vergleich aus. 

Bei alledem ist das Heilverfahren so 
überaus einfach, daß jeder Arzt ohne 
Vv-eiteres an seine Ausführung gehen kann. 
Es ist ja gewiß sehr gut, wenn man sich 
die Sache nicht recht zutraut, einen 
ein- bis zweiwöchigen Einführungskurs 
durchzumachen, um von vornherein mit 
einer größeren Sicherheit dazustehen, 
aber durchaus notwendig ist ein solcher 
nicht, man kann auch ohne ihn auskom- 
men. Es handelt sich im Grunde doch um 
weiter nichts, als um die Anlegung einer 
Rolibinde um den vorher mit Zinkleim 
bestrichenen Fuß und Unterschenkel mit 
einem gewissen Zug an der Binde während 
des Anlegens der Binde. Der Verband ist 
bei Varicen und Ulcus völlig gleich, nur 
tritt beim Verbände des Ulcus noch die 
Versorgung des letzteren hinzu. Ich kann 
an dieser Stelle die Art der Anlegung des 
Verbandes nur ganz kurz schildern und 
muß wegen der Einzelheiten auf meine 
Sonderschrift über diesen Gegenstand^) 
verweisen. Es wird alBo zunächst nach 


E. Glasen, Ulcus cruris und Varicen und 
ihre-Behandlung, ein ,,Sonderfach'' für den prak¬ 
tischen Arzt. Berlin j919, Urban & Schwarzen¬ 
berg. 


der Einpinselung der Hacke mit Zinkleim 
durch ein etwa 20 cm langes Stück einer 
12 cm breiten Binde eine Art Kappe über 
die Hacke gebildet, indem man dasselbe' 
von unten und hinten her nach vorn und 
oben über die eingeleimte Hacke legt; 
darauf wird der vorher eingeleimte Fuß 
mit einer 8 cm breiten Mullbinde ver¬ 
mittels der bekannten Steigbügel- oder 
Achtertouren bis über die Knöchel,ver¬ 
bunden, wobei der Fuß durchaus recht¬ 
winklig zum Unterschenkel gehalten wer¬ 
den muß; nun wird das Ganze, Verband 
der Hacke samt dem ,des Fußes, in ganz 
derselben Weise noch einmal wiederholt. 
Zum Verbände des Fußes bedient man 
sich am besten eines kleinen dreibeinigen 
Bockes von Stuhlhöhe, kann aber in Er¬ 
mangelung eines solchen dazu auch einen 
gewöhnlichen hölzernen Stuhl benutzen, 
über'dessen Ecke man den Unterschenkel 
so legt, daß der Fuß frei schwebt. Den 
Unterschenkel verbindet man, indem man 
ihn bei fast rechtwinklig gebeugtem Knie 
gegen die Vorderkante des Bockes (Stuh¬ 
les) stemmen läßt und in derselben .Weise 
zweimal hintereinander mit einer 10 cm 
breiten Mullbinde verbindet. Schließlich 
wird der ganze Verband in ein Stück 
Seidenpapier eingeschlagen zur Verhinde¬ 
rung des Anklebens des Verbandes an den 
nun sofort angezogenen Strumpf. Dieser 
Verband ist bei offenem Ulcus alle acht 
Tage, bei Varicen alle zwei bis vier Wochen 
zu erneuern. Selbstverständlich hat man 
bei jedem Verbandwechsel das Ulcus noch 
besonders zu versorgen. Der Kranke-hat, 
wenn er am Orte wohnt, den Verband im 
Hause abzunehmen,-das Ulcus ist dann 
vom Arzte zu reinigen, nach Bestreuung 
mit einem Wundpulver mit einer Mull¬ 
kompresse zu bedecken und dann darüber 
der Leimverband anzulegen; als Wund¬ 
pulver wird in der Regel Vioform ver¬ 
wendet; bei Uleeris, die bis in die Cutis 
reichen, bei denen es also auf Ersatz der 
Cutis (durch Narbengewebe) ankommt, 
sind die sogenannten oxydiereudenWund- 
pulver am Platze, also Jodoformoderbesser 
noch das Vioform mit Ichthargan (oder 
Campher) als 5%iger Zusatz; bei ober¬ 
flächlichen, abheilenden Geschwüren, Lei 
denen es sich also nur noch um die Über¬ 
hornung handelt, bedient man sich der 
reduzierenden Wundpulver, wie Xero¬ 
form, Dermatol und schließlich auch 
wieder des Vioform, das eine Mittelstel¬ 
lung einnimmt. Genaue Vorschriften 
lassen sich nicht geben, da sehr oft der 
Rand des Geschwürs bereits im Über- 


19 



146 Die Theiapie der Qegenwart 1920 April 

^ ^ ^ ^ ^ 

hornungsstadium befindlich ist, wenn die ganz verfehltes Unternehmen, mit einem 
Mitte es erst bis zum Überhäutungs- nur einzelnen Teile deß Unterschenkels um- 
stadium gebracht hat. Im Einzelfalle fassenden Teilverband ein Ulcus heilen 
muß hier wie so oft der praktische Blick zu wollen. Solche Teilverbände wirken 
des Arztes das richtige zu wählen wissen, wie die bekannten Strumpfbänder ^nur als 
i Das Ulcus cruris, bekannt als die Girculationshindernisse, die zu Ödemen 
i „Crux medicorum‘‘, erfreute sich bisher auf beiden Seiten des Verbandes führen, 
j einer weitgehenden Abneigung in den Es wäre nun ein großer Irrtum, die 
» Kreisen der Ärzte wegen seiner Totpi- Beschäftigung mit dem Ulcus cruris für 
I dität, seines Mangels an Lebenstätigkeit etwas Eintöniges und Langweiliges zu 
! sowie seines Mangels an Angriffspunkten halten. Allerdings tritt ja bei dem Ulcus j 
, für die Behandlung, weil es zu sehr für oft genug die Haupteigentümlichkeit des- | 
sich allein, zu wenig im Zusammenhänge selben, die große Torpidität, die außer- | 
mit seiner Entstehungsgeschichte sowie ordentlich geringe Neigung zur Verände- i 
den Verhältnissen seiner Umgebung und rung und damit zur Heilung etwas störend / 

] darum^völligunzureichendbeurteiltwurde. in den Vordergrund, es zeigt sich aberj 
1 Das Ulcus ist doch nicht ein zufälliger dabei eine so reiche Möglichkeit von Ab-1 
I Substanzverlust, sondern das Ergebnis Wechslungen und Verschiedenheiten im j 
I von chronischen Circulationsstörüngen im Verlauf und Gestaltung der Krankheit, 1 
I Bereiche des ganzen Unterschenkels. Es daß man nie auslernt; denn außer dem | 

1 kann daher auch nie mit rein örtlichen einfachen torpiden Ulcus gibt es ja noch j 
\ Mitteln zur Heilung gebracht werden, eine ganze Anzahl von anderen Formen | 
j sondern nur durch Mittel und Maßregeln, des Ulcus cruris — ich nenne nur das j • 
[ die diese chronischen Circulationsstörun- luische, das callöse, das, erethische, das ; 

; gen beseitigen, und das geschieht eben Ulcus in der gestrickten Narbe, das Ulcus j 
^ durch den Leimverband. Der Leimver- mit Impetigo staphylogenes in der Um-j 
band wirkt nicht nur durch seine mäßige, gebung u. a., die alle gekannt sein wollen | 
dauernde Kompression günstig auf die und alle der Therapie zugänglich sind. 
Blutstase ein, sondern er wirkt auch noch Und bei alledem darf man nicht vergessen, | 
als dauernde Evakuierungspumpe für die welche Genugtuung und Freude die 1' 
im Bereiche des Unterschenkels stagnie- vielen Heilerfolge gewähren, die dieser j 
renden Blutmassen. Denn bei jedem Arbeit einen ganz besonderen Reiz ge- | 
Schritte wird durch den Druck des Ver- währen. Ein näheres Eingehen auf alles i 
bandes eine gewisse Menge stagnierenden das an dieser Stelle verbietet sich durch 
Bluts im Unterschenkel im Sinne des den knappen Raum; ich kann hier nur 
Venenblutstroms nach oben befördert, auf mein diesem Gegenstand gewidmetes, 
Wenn auch die bei einem Schritt heraus- bereits oben genanntes Schriftchen ver- 
beförderte Menge des Blutes an sich nicht weisen. Dort finden sich auch eingehende 
sehr groß sein mag, so summiert sich diese Hinweise auf alle Einzelheiten der Be- 
kleine Einzelwirkung bei der häufigen, handlung sowie die Beschaffung der ge- 
^Wiederholung beim Gehen zu so beträcht- ringen für diesen Zweig der Therapie not- 
lichen Mengen, daß der Kranke diese wendigen Zubehörteile (z. B. Zinkleim, 
Wirkung alsbald an dem erleichterten Glycerin, Gelatine sowie einige kleine 
Gehen‘.bemerkt, wie der Arzt an dem Gerätschaften). Dabei gebe ich mich der 
verbesserten Heilungsverlaufe des Ulcus Hoffnung hin, durch den Hinweis auf eine 
und der Abnahme des Volumens des außerordentlich günstige Sprechstunden- 
Unterschenkels beim Abnehmen des Ver- praxis manchem kriegsbeschädigten Kol- 
bandes. Der Verband wirkt aber in dieser legen einen willkommenen Dienst zu er¬ 
weise nur, wenn er den Unterschenkel weisen und wünsche ihm besten Erfolg 
in seiner Gesamtheit umfaßt; es wäre ein dazu. 

Repetitorium der Therapie. 

Behandlung der Infektionskrankheiten. 

Von G. Klemperer und L. Dünner. 

7. Gelenkrheumatismus. Schutz vor Waschungen mit allmählich kälterem 
der Erkrankung wird oft durch vorsichtig Wasser, eventuell Duschen, mit darauf¬ 
betriebene Abhärtung gegen Kältereize ge- folgender Trockenreibung und kurzem 
geben, wie sie durch tägliche Körper- Luftbad bewirkt wird. Wer sich genügend 




April 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


147 


abzuhärten vermag, sollte ganz auf wollene 
Unterkleidung verzichten; indessen darf 
man auch hier nicht schematisch Vor¬ 
gehen und mag disponierten Individuen 
in der tolten Jahreszeit die wollene Unter¬ 
kleidung lassen. Eine wirksame Prophy¬ 
laxe liegt in der Verhütung von Anginen; 
die sogenannte Sanierung der Mandeln 
durch Massieren und Ausdrücken von 
Mandclpfröpfen sollte stets vorgenommen 
werden, wenn Gelenkrheumatismus nach 
Angina entstanden ist; tritt trot 2 ^dem'neue 
Angina mit folgendem Rheumatismus ein, 
$0 sind die Tonsillen chirurgisch auszu¬ 
schälen ; die einfache Verkleinerung durch 
Abkappen genügt nicht 

Die Behandlung beginnt mit der Ver¬ 
ordnung eines Arzneimittels, von dem man 
specifische Wirksamkeit erhofft: Natrium 
salicylicum 10:200, zweistündlich einen 
Eßlöffel, oder zweistündlich eine Aspirin¬ 
tablette ä 0,5 g. Sind die Nebenwirkungen 
der Salicylate (Schweiße, eventuell Ohren¬ 
sausen, Erbrechen, Herzstörung, Albumin¬ 
urie) zu störend, so wendet man Pyra¬ 
miden oder Antipyrin oder Phenacetin 
oder Atophan in den bekannten Einzel¬ 
dosen an. Werden die sogenannten Spe- 
cifica gut vertragen, so sind sie in voller 
Dosis etwa fünf Tage anzuwenden, in 
welcher Zeit die Gelenkerscheinungen ^ 
zurückzugehen pflegen. Ist dies der Fall, 
so gibt man das Mittel noch mehrere Tage 
in kleineren Tagesmengen (etwa vier¬ 
stündlich) weiter. Erweist sich die Wirkung 
auf' die entzündlichen Prozesse in den 
ersten fünf Tagen sehr gering, so versucht 
man es mit dem Wechsel des Mittels, 
indem ein anderes Antipyreticum sich 
manchmal wirksam erweist, wenn Sali¬ 
cylate versagen.' Länger als 14 Tage sind 
die medikamentösen Versuche in der Regel 
nicht fortzusetzen. Patienten, deren Ge¬ 
lenkentzündungen sich gegenüber Medi¬ 
kamenten als refraktär erweisen; sind mit 
physikalischen Heilmitteln zu behandeln. 
— Gleichzeitig mit der medikamentösen 
Verordnung ist in jedem Fall für lokale 
Behandlung der befallenen Gelenke durch 
schmerzbeseitigende Ruhigstellung und 
entzündungswidrige Einpackung zu sorgen. 
Die Ruhigstellung geschieht durch Schienen 
und Bügel; bei der Lagerung ist nament¬ 
lich bei längerem Verlauf an die Ver¬ 
hütung von Versteifung in ungeeigneter 
Stellung^) zu denken; wenn die ganz 

Zu vermeiden sind supinierte Handgelenke, 
gestreckte Ellbogen oder Knie, Spitzfußstellung, 
die Oberarme sind niemals fest an den Thorax 
zu legen usw. 


akuten Erscheinungen zurückgegangen 
sind, ist die Gelerikstellung täglich etwas 
zu ändern. Als Einpackung genügt in 
einfachen Fällen Umhüllung mit Watte; 
doch kann man damit von vornherein 
den Versuch lokaler Beeinflussung der 
Entzündung z. B. durch Jodpinselung oder 
Einschmierung mit Jodvasogen oder Ich¬ 
thyolsalbe verbinden. Die Lokalbehand¬ 
lung wird von besonderer Bedeutung in 
den medikamentös refraktären Fällen; 
empfehlenswert ist die Einpinselung der 
befallenen Gelenke mit einer Mischung 
von Öl und Terpentinöl zu gleichen Teilen, 
worüber ein Guttaperchaverband gelegt 
wird, der 24 Stunden liegenbleibt; danach 
wird die Einpinselung erneuert. Das Ver¬ 
fahren wird etwa acht Tage angewandt; 
man kann den Gehalt an Terpentinöl 
verstärken, eventuell zu reinem Terpentin¬ 
öl übergehen, doch ist die individuelle 
Hautempfindlichkeit maßgebend. Ist man 
mit der Wirkung solcher lokal-antiphlo¬ 
gistischer Behandlung nicht zufrieden (wie 
es leider nicht selten ist), so bleibt der 
Versuch mit lokaler Hyperämisierung 
durch Stauungsbehandlung oder Hitze¬ 
einwirkung. Die erstere geschieht durch 
Anlegung von Gummibinden oberhalb der 
befallenen Gelenke nach den für die 
Bi ersehe Stauung gültigen .Regeln; man 
läßt die Staubinden zuerst V 2 Stunde, 
dann täglich länger bis zu sechs Stunden 
liegen, wenn sie gut vertragen werden und 
die Schmerzen besänftigen. Gleichwertig 
ist die Erzielung aktiver Hyperämie durch 
Heizkästen, in welchen die Luft durch 
elektrische Glühlantpen oder äußere Flamme 
auf 60—90^ erhitzt wird. Nur in ver¬ 
einzelten Fällen ist die Schmerzhaftigkeit 
trotz dieser Behandlung doch so stark, 
daß daneben Morphium angewendet 
werden muß. 

Bei der Krankenpflege ist besonders 
auf den Schutz vor Zugluft zu achten, 
sowie auf gute, wenn auch leichte Be¬ 
deckung der Haut und sorgfältiges Ab¬ 
trocknen; öftere Abreibungen nnt Franz¬ 
branntwein, soweit, es der Zustand der 
Gelenke gestattet, sind besonders ange¬ 
nehm, ln der Ernährung ist auf reich¬ 
liche , Flüssigkeitszufuhr zu achten viel 
Milch empfiehlt sich besonders. Die Über¬ 
wachung des Herzens geschieht mit Rück¬ 
sicht auf die oft eintretende Endo- oder 
Perikarditis. Das Entstehen einer Herz¬ 
komplikation ist auch durch große Dosen 
antirheumatischer Mittel nicht zu unter¬ 
drücken; beim sicheren Nachweis endokar- 
ditischer Zeichen sind die Medikamente 


19* 





148 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


April 


ZU verringern oder ganz fortzulassen, wenn 
die* Pulsfrequenz wesentlich beschleunigt 
wird. Es ist üblich, auf das bedrohte 
Herz stundenweise eine Eisblase zu legen, 
auch zu versuchen, den Puls durch Digi¬ 
talis ^wei- bis dreimal täglich 0,1 g) zu 
verlangsamen. Ist die Pulsfrequenz nach 
zweitägigem Digitalisgebrauch nicht zur 
Norm gebracht, so ist auf das Medikament 
zu verzichten. In der Rekonvaleszenz 
verordnet man gegen die meist beträcht¬ 
liche Anämie gern Arsen. Die lange be¬ 
stehenden Nachschmerzen der Gelenke 
werden durch Ma&sage, und Gymnastik 
bekämpft gleichzeitig beginnt man durch 
Waschungen mit allmählich kühler wer¬ 
dendem Wasser die Empfindlichkeit gegen 
Kältereize zu vermindern. 

8.^Sepsis. Die Behandlung beginnt 
mit der Frage, ob eine Beeinflussung der 
Krankheitserreger an ihrer Eintrittsstelle 
möglich ist; man bringt oft eine ausge¬ 
sprochene Sepsis zum Stillstand, wenn 
man die ursächliche Eiterung oder Ent¬ 
zündung beseitigt. Es ist ein Teil der 
Behandlung, daß man alle paar Tage den 
Patienten vollständig auf verborgene Eiter¬ 
herde untersucht, die vielleicht entleert 
werden können. Ist die chirurgische Be¬ 
handlung unmöglich ode'r aussichtslos, so 
ist der Versuch berechtigt, die Eitererreger 
im Blut abzutöten oder abzuschwächen. 
Am aussichtsreichsten ist die Verordnung 
von Eucupin, welches Streptokokken 
auch in eiweißreichen Lösungen wenigstens 
im Reagenzglase zuverlässig vernichtet und 
sich in vielen Fällen schwerer Sepsis heil¬ 
sam erwiesen hat. Man reicht Eucupin. 
basic. 0,2, d. tal. dos. X, alle vier Stunden 
ein Pulver, und wiederholt die Medika¬ 
tion eventuell nach einem mehrtägigen 
Zwischenraum. Dabei achtet man be¬ 
sonders auf die Augen und unterbricht 
die Darreichung, wenn der Patient über 
Verschleierung des Gesichtsfeldes klagt. 
An Stelle von Eucupin gibt man in der¬ 
selben Weise Optochin, wenn etwa Pneu¬ 
mokokken als Erreger der Sepsis nach¬ 
gewiesen sind. Bleibt diese Medikation 
erfolglos, so ist ein Versuch mit andern 
Mitteln, welchen der Ruf besonderer Heil¬ 
wirkung anhaftet, wohl erlaubt. Man kann 
also von Kollargol oder Elektrokollargol in 
l%iger Lösung 5 ccm jeden zweiten Tag, 
im ganzen vier- bis fünfmal intravenös in¬ 
jizieren. Oder man gibt das altgerühmte 
Chinin, die Muttersubstanz von Eucupin 
und Optochin, zwei- bis dreimal täglich 
0,5 g in Oblaten, wobei man freilich die 
ph unangenehmen Nebenwirkungen mit 


in Kauf nehmen muß. Aussichtsvoll in 
schweren Fällen, die den chemischen 
Mitteln trotzen, ist ein Versuch mit bak¬ 
teriologisch -specifischer Methodik. Man 
kann es mit Antistreptokokkenserum ver¬ 
suchen, wovon freilich nur sehr große 
^ Dosen Erfolg versprechen (an mehreren 
aufeinanderfolgenden Tagen je 50 ccm 
intramuskulär oder intravenös), oder, wenn 
es möglich ist, mit einer Einspritzung 
steigender Mengen der abgeschwächten 
oder abgetöteten Krankheitserreger, wobei 
der Impfstoff durch Kultur aus dem Blute 
des Patienten selbst gewonnen werden muß. 
Für diese Methodik bedarf man natür¬ 
lich der Unterstützung eines Bakteriologen 
von Fach. Für Staphylokokken-Sepsis hat 
die Technik unter dem Namen Opsonogen 
und Leukogen fertige Vaccine zur Ver¬ 
fügung gestellt, die freilich im Einzelfall 
der persönlichen Specifität entbehren. Bei 
der Unsicherheit der kausalen Behandlung" 
wird man um so größeren Wert auf die 
Anwendung der allgemeinen Grundsätze 
zu legen haben, denen ja in der Mehr¬ 
zahl der Fälle der lang sich hinziehende 
Verlauf eine große Wirkungsmöglichkeit 
eröffnet. Das Schicksal des Patienten 
hängt nicht zum wenigsten von der Sorg¬ 
falt ab, mit der er' gepflegt, ernährt und 
beaufsichtigt wird. Besondere Empfehlung 
verdient die sehr reichliche Flüssigkeits¬ 
zufuhr, viel Milch, besonders aber guter 
Wein, welcher nach meinem Eindruck 
gerade bei schwerer Sepsis oft lebens'r 
rettend wirkt. 

9. Typhus abdominalis. Prophylaxe: 
Da die Infektion stets direkt und indirekt 
vonDejekten typhuskranker Menschen aus 
geht, so ist der Schutz der Gesunden 
einerseits durch peinlichste Sauberkeit der 
Hände gegeben, andererseits durch Ver¬ 
meidung von Speise und Trank, die dem 
Eindringen von Typhusbacillen ausgesetzt 
waren. Wo Gefahr der Verunreinigung 
des Trinkwassers besteht, wird man das¬ 
selbe nur abgekocht trinken. Mit dem 
Genuß von Austern sei man vorsichtig, 
da dieselben gelegentlich aus infizierten 
Gewässern herstammen. Da fernerhin gute 
Gesundheit der Verdauungsorgane das 
Eindringen von Bakterien in den Organis¬ 
mus zu erschweren scheint, so liegt in 
der Vermeidung von Diätfehlern ein ge- 
gewisser Schutz gegen Typhuserkrankung. 
Schließlich vermindert das Bestehen eines 
kraftvollen Allgemeinzustandes die Dis¬ 
position zur Erkrankung trotz geschehener 
Infektion. - Eine monatelang anhaltende, 
wenigstens relative Immunität wird durch 



April Die Therapie der 


die Schutzimpfung mit abgetöteten öder 
abgeschwächten Typhusbacillen erzeugt — 
Der Schutz der Allgemeinheit gegen epi¬ 
demische Ausbreitung wird vor allem durch 
Sorge für vorwurfsfreies* Trinkwasser, da¬ 
neben durch Überwachung der Erkrankten 
gewährleistet — Da die Krankheit meist 
in wochenlangem Fieber die Kräfte zu 
verzehren droht und Inanition und Herz¬ 
schwäche eine Hauptgefahr des Verlaufs 
bilden, so ist die .Pflege und Ernährung 
von wesentlichster Bedeutung. Die allge¬ 
meinen Grundsätze der Ernährung werden 
dadurch modifiziert, daß der Darm mit 
seinen Infiltrationen und Geschwüren der 
Schonung bedart Gröbere schlackenreiche 
Kost kann Blutung und Perforation lier- 
vorrufen und ist um so mehr zu ver¬ 
meiden, als die vorbereitende Mund- und 
Magenverdauung geschwächt ist Man wird 
deshalb für gewöhnlich bei der alten Tra¬ 
dition flüssiger . bzw. dünnbreiiger Kost 
verbleiben und also in zweistündigen 
P’ausen je 200—250 ccm Milch darreichen, 
abwechselnd mit Mehlsuppen, die mit Ei 
.abgerührt werden können, auch Mehl oder 
Grießbrei, dazu Kaffee, Tee, Wein. Erst 
nach achttägiger Fieberfreiheit wird man 
nacheinander Zwieback, Kartoffelbrei, 
püriertes Gemüse, zartes weißes Fleisch, 
geschabten Schinken, Forelle reichen und 
ganz langsam zur Nahrung der Gesun¬ 
den übergehen. Nur bei ganz leicht 
fiebernden Kranken, die gut kauen können, 
darf während des Verlaufs eine gewählte 
feste Kost insbesondere Fleisch- und Mehl¬ 
speisen, gereicht werden; andererseits kann 
es auch in schweren Fällen zur Pflicht 
werden, vorsichtig gemischte Kost zu 
reichen, wenn der Fortschritt der Krank¬ 
heit zur Inanition zu führen droht die 
durch flüssige Kost allein nicht aufzuhal¬ 
ten ist oder wenn diese bei sehr langer 
Dauer des fieberhaften Stadiums auf die 
Dauer vom Kranken zurückgewiesen wird. 
Antipyretische Behandlung ist meist er¬ 
wünscht Wenn die Umstände es irgend 
gestatten, wird man .bei jedem einiger¬ 
maßen schweren Fall Bäderbehandlung 
einleiten. Dann badet man, wenn die 
Temperatur 39^ überschreitet wohl 2—3- 
mal am Tage, des Nachts nur ausnahms¬ 
weise; kühlere Übergießung am Schluß 
des Bades ist besonders erwünscht Vom 
Eiiltreten der steilen Temperaturen sind 
Bäder verboten wegen Blutungsgefahr, 
ebenso selbstverständlich nach stattge¬ 
habter Blutung. Auch bei drohender Herz¬ 
schwäche und wirklicher Inanition, sowie 
bei Nephritis und Otitis badet man nicht 


Gegenwart. 1920 149 


Besondere Behandlung verlangen oft die 
Darmsymptome. Bei Verstopfung macht 
man Wasser- oder Kamillentee- oder Öl- 
einläufe, darf auch Ricinusöl geben. Mäßige 
Diarrhöen werden nicht behandelt, über¬ 
steigt die Häufigkeit 6 am Tage, so gibt 
man Tanninpräparate (vergleiche 1919, 
S. 384), bei sehr pro'fusen Entleerungen 
Opiumtinktur, eventuell mehrmals täglich 
20 Tropfen. Nach eingetretener Blutung 
gibt man den ersten Tag nur wenig Tee¬ 
löffel eisgekühltes Getränk, zugleich zwei¬ 
mal täglich 15 Tropfen Opiumtinktur; bei 
Unruhe eine Morphiuminjektion; auf den 
Leib legt man eine Eisblase. Zum Ver¬ 
such direkter Blutstillung macht man ein 
Gelatineklystrer (250 g Gelatine auf ^/2 I 
Wasser aufgekocht, lauwarm einlaufen 
lassen) oder läßt 5 g Coagulen in 100 ccm 
Wasser aufgelöst trinken. Starker Meteoris¬ 
mus wird durch kühle Leibumschläge oder 
aufgelegte Eisblase bekämpft; einen ge¬ 
wissen Erfolg bringt von Zeit zu Zeit ein 
weiches, tief in den Mastdarm eingeführtes 
Darmrohr. Mäßige Bronchitis ist nicht 
Gegenstand besonderer Verordnung; bei 
starkem Husten macht man Brustum¬ 
schläge, sorgt für häufigen Lagewechsel 
und läßt öfter vorsichtig hochsitzen, zur 
Verhütung von Bronchopneumonie. 

Die Kräftigung des Herzens ist von 
großer Bedeutung; sie geschieht nach den 
allgemeinen Regeln. Auch für die Be¬ 
handlung der Rekonvaleszenz gelten die 
vorher entwickelten Grundsätze. Wichtig 
sind die sanitätspolizeilichen Vorschriften. 
Die Patienten sollen im allgemeinen nicht 
eher völlige Bewegungsfreiheit bekommen, 
als bis Bacillenfreiheit von Stuhl und 
Urin in zweiimliger Untersuchung nach¬ 
gewiesen ist. Sind die Bacillen nach drei 
Monaten nicht verschwunden, so gelten 
die betreffenden Patienten bis auf weiteres 
als Dauerausscheider, die ihren Abgängen 
besondere Sorgfalt zu widmen haben ^) 
und die namentlich vom Verkehr mit 
Nahrungsmitteln fernzuhalten sind. 

10. Dysenterie (Ruhr). Für die Pro¬ 
phylaxe sind im allgemeinen dieselben 
Gesichtspunkte gültig, welche beim Typhus 
dargelegt wurden. Daneben ist bei der 
Ruhr den Fliegen besondere Aufmerksam¬ 
keit zu widmen, weil dieselben häufig 
Bacillenüberträger sind. In Epidemiezeiten 

2) Wenn möglich, sollen sie ihre Stuhlgänge 
desinfizieren, besondere Klosetts benutzen, ihre 
Leib- und Bettwäsche nach dem Gebrauch 
24 Stunden in Kresolseifenlösung legen, vor allen 
Dingen aber größte Sauberkeit der Hände beob¬ 
achten. 



150 " Die Therapie der 


sollte man Speisen, die. offen gestanden 
haben, gar nicht oder nur frisch abgekocht 
genießen. Die Schutzimpfung mit abge¬ 
töteten Baciilen (Dysbakta) scheint gegen 
Ruhrinfektion wirksamen Schutz zu ge¬ 
währen. 

Die Behandlung besteht, im Be¬ 
ginn im Versuch, die Krankheitserreger 
^aus dem Körper zu entfernen oder ihre 
Gifte zu binden. Man gebe also jedem 
Ruhrkranken, der an einem frühen Krank¬ 
heitstage zur Behandlung kommt, 20 bis 
30 g Ricinusöl öder 0,3 g Kalomel, zwei¬ 
mal in halbstündigem Zwischenraum. 
Wenige Stunden nach dem Abführmittel 
reiche man giftadsorbierende feingepul¬ 
verte Substanzen, also Carbo animalis 
(welche überaus teuer ist) oder Bolus alba 
(sehr billig), einen gehäuften Teelöffel in 
einem halben Glas lauwarmen Wassers 
aufgeschwemmt, alle sechs Stunden zu 
wiederholen. Diese Medikation ist drei 
bis vier Tage fortzusetzen. Hat der Pa¬ 
tient den fünften Krankheitstag über¬ 
schritten, so kann man ihm zwar noch 
das Abführmittel, aber keinesfalls mehr 
das Adsorbens reichen, weil dann die Ba¬ 
cillen schon ins Gewebe eingedrungen 
sind, sodaß die Giftbindung aussichtslos 
ist. In diesem Falle sucht man die ent¬ 
zündlichen Prozesse im Dickdarm durch 
geeignete Tanninpräparate, z. B. Tannalbin^ 
oder Multanin, dreistündlich 0,5 g zu lin¬ 
dern. Auch Darmeinläufe von warmem 
Kamillentee oder schwachen Tanninlösun¬ 
gen (0,5 ®/o) tragen zur Milderung der 
•Darmentzündung bei und werden meist 
angenehm empfunden. Wenn die Ent¬ 
leerungen sehr häufig und quälend sind 
oder wenn die Patienten hettige Leib¬ 
schmerzen haben, ist Opium nicht zu 
entbehren, wovon man nach Bedarf in 
vier- bis achtstündlichen Pausen 20Tropfen 
reicht. 

Zugleich mit diesen medikamentösen 
Verordnungen hat man für Pflege und 
Ernährung des Kranken zu sorgen. Bett¬ 
ruhe ist unbedingt nötig, dazu ‘'gleich¬ 
mäßige Wärme für den Leib durch Woll- 
binde oder Umschläge. Für bequeme 
Stuhlentleerung ist zu sorgen; geschwächte 
Patienten läßt man am besten auf Gummi¬ 
becken liegen. Die Ernährung soll im 
Anfang reizlos und inhaltarm sein, sie 
besteht nur aus Schleimsuppen, Tee mit 
Kognak und warmem Rotwein, erst beim 
Nachlassen der Durchfälle gibt man Zwie¬ 
back, Reisbrei, Grießbrei, auch weiches Ei 
und zartes, weißes Fleisch. Manche 
Kranke vertragen frühzeitig abgekochte 


N Gegenwart 1920 / April 


Milch, am besten mit Tee gemischt, even¬ 
tuell mit wenig Kognak. Bei Patienten, 
die durch stürmische Entleerungen sehr 
heruntergekommen sind, tut man gut, 
sich nicht ängstlich an das Diätschema 
zu halten, sondern in geeignet vorsichtiger 
Weise, soweit es der Magen verträgt, die 
Ernährung reichhaltiger, insbesondere 
durch Verwendung von Milch, Eiern und 
Butter eiweiß- und fettreicher zu gestalten. 

Während des ganzen Verlaufs ist das 
Herz entsprechend zu exzitieren; in Kol¬ 
lapszuständen ist von subcutanen oder 
intravenösen Kochsalzinfusionen Gebrauch 
zu machen. Die Rekonvaleszenz bedarf 
auch nach anscheinend leichten Fällen 
sorgfältiger Überwachung, insbesondere in 
bezug auf die Diät, da Magen und Darm 
sehr lange empfindlich bleiben und 
Neigung zu Rückfällen bestehen bleibt 
Die sanitätspolizeiliche Behandlung der 
Rekonvaleszenten ist viel einfacher als 
beim Typhus, da die Schlußuntersuchung 
der Dejekte bei Ruhr nicht mehr gefor¬ 
dert wird. Das Verhalten gegenüber den 
selteneren Dauerausscheidern ist dasselbe 
wie beim Typhus. Chronische Ruhr wird- 
behandelt wie chronische Dickdarment¬ 
zündung nichtspecifischen Ursprungs 
(1919, S. 385). 

11. Cholera asiatica. Für den persön¬ 
lichen Schutz wird analog den bei Typhus 
und Ruhr gültigen Regeln durch peinlichste 
Reinhaltung der Hände und der Nahrung 
gesorgt Für einige Monate schützt die 
Vaccination mittels abgetöteter Cholera¬ 
bacillen. Der Schutz der Allgemeinheit 
in Epidemiezeiten besteht in der Isolierung 
der ersten Erkrankungsfälle, der Fest¬ 
stellung der Bacillenträger und der Rein¬ 
haltung der Wasserläufe beziehungsweise 
Wasserleitungen. Die Behandlung besteht 
wie bei der Ruhr im Beginn in Abführung 
mittels Ricinus oder Kalomel, mit darauf¬ 
folgender Adsorptionstherapie mittels Carbo 
oder Bolus alba; in späteren Krankheits¬ 
tagen in der Unterdrückung der allzu 
häufigen Entleerungen durch Opium und 
und Tanninpräparate. Von größter Be¬ 
deutung ist die Ersetzung der überaus 
großen Wasserverluste durch subcutane 
und intravenöse Infusionen 0,9 ®/o Koch¬ 
salzlösung, von welcher während der 
stürmischen Entleerungen täglich zwei- 
bis dreimal V 2 —% Liter infundiert wird. 
Wichtig ist auch die Herzexcitation 
durch Coffeininjektionen. Für die Kran¬ 
kenpflege und die Diät gelten die bei 
Ruhr entwickelten Regeln; bei lang¬ 
anhaltendem Erbrechen sind kleine Mor- 




April 


Die Therapie, der Gegeriwart 1920 


m 


phiumgaben zu injizieren und unter 
deren Schutze Zufuhr kleiner Flüssigkeits¬ 
mengen — zuerst Tee und verdünnter 
Rotwein — zu versuchen. Kommen die 
Patienten im ganz erschöpften Zustand in 
Behandlung, so sind sie im heißen Bade 
2 U frottieren und danach in eine Schwitz¬ 


packung zu legen. Ist das Schwächestadium 
überwunden, so beginnt vorsichtige Er¬ 
nährung wie beim Typhusrekonvaleszen¬ 
ten, unterstützt durch häufige rectale 
Wasserzufuhr. Die allgemeine und diä¬ 
tetische Schonung ist sehr lange fortzu¬ 
setzen. 


Zusammenfassende Übersicht. 

Arteriosklerose. 

Von Stabsarzt a. D, Dr. Gnimme, Fohrde (Kreis Westhavelland). •' 


Der. ärztliche Kampf gegen den vor¬ 
zeitigen Tod war in den letzten Dezennien 
yör dem Kriege hinsichtlich dreier wich¬ 
tiger Ursachen erfolgreich. Säuglings¬ 
sterblichkeit, Todesfälle an epidemischen 
Krankheiten und an Tuberkulose sind 
seltener geworden. Nicht vermindert 
haben sich die Abnutzungskrankheiten, 
unter denen die Arteriosklerose den wich¬ 
tigsten Platz einnimmt. 

Im folgenden ist der Versuch gemacht. 
In kurzen Zügen das wesentlichste aus 
der neueren Literatur über Ätiologie, 
Wesen, Diagnose, Therapie und Prognose 
der Arteriosklerose übersichtlich zu¬ 
sammenzustellen. 

Zunächst erscheint Arteriosklerose bei¬ 
nahe als physiologische Altersfolge. Das 
trifft jedoch in Wirklichkeit nicht ganz 
zu. Die Ätiologie ist eine vielseitige. 
Nicht alle Menschen werden in höherem 
Alter in gleicher Intensität von Arterien- 
veränderungen betroffen. Gewiß ist in 
Abnutzung der Arterienwandung 
ein wichtiges ursächliches, richtiger aus¬ 
lösendes Moment der Veränderungen zu 
sehen; es handelt sich aber weniger um 
eine physiologische, als vielmehr um eine 
pathologische Abnutzung. Die patho¬ 
logische Abnutzung der Schlagadern wird 
durch dauernde funktionelle Über¬ 
lastung des Blutgefäßsystems ge¬ 
geben, wie solche durch fortgesetzte 
schwere^ Arbeitsleistung des Körpers, 
durch Überanstrengung des Geistes und 
Unmäßigkeit im Essen und Trinken be¬ 
dingt wird. Zu reichliches <Essen und 
Trinken wirkt auf dem Wege der durch 
Plethora bedingten Blutdrucksteigerung, 
welche hierbei ebenso wie bei Über¬ 
anstrengungen durch die dauernd erhöhte 
Inanspruchnahme der Elastizität des Ge¬ 
fäßrohrs schädlich ist. Auch die durch 
Mästung entstandene Fettleibigkeit för¬ 
dert Arteriosklerose, indem die im Fette 
neugebildeten Blutgefäße, entsprechend 
der dadurch vermehrten Blutmenge, die 


Arbeit des Herzens vergrößern, also eben¬ 
falls den Blutdruck dauernd erhöhen. 
Der geistigen Überanstrengung und auf¬ 
reibenden Lebensweise gleichwertig sind 
häufige psychische Erregungen, schwere 
und andauernde Gemütsdepressionen, 
Sorgen und Kümmernisse. 

Die Bedeutung der funktionellen Über¬ 
anstrengung darf als sichergestellt gelten. 
Das geht schon daraus hervor, daß bei 
Landleuten und Arbeitern, die während 
ihres ganzen Lebens schwere Körper¬ 
arbeit verrichten, die Arterien der Arme 
und Beine krank werden, bei Geistes¬ 
arbeitern aber mit Vorliebe die Schlag¬ 
adern des Gehirns. 

Ist Arteriosklerose also keine reine 
Alterserscheinung, so tritt sie doch bei 
der Mehrzahl der alternden Menschen 
ein und es finden sich naturgemäß ihre 
höchsten Grade bei älteren Menschen. 
Der Beginn des Leidens aber liegt in den 
dreißiger oder vierziger Jahren, so daß 
gegen Ende der vierziger^Jahre wohl nie¬ 
mand mehr völlig gesunde Arterien be¬ 
sitzt. / 

Zu d.em, mechanischen Moment bei 
der Entstehung der Arteriosklerose tritt 
eine Anzahl toxischer Einflüsse hinzu. 
Hier sind zunächst Produkte von Stoff¬ 
wechselkrankheiten, wie Diabetes und 
Arthritis urica zu nennen, sodann Bak¬ 
terientoxine und rein chemische Gifte. 

Bei Zuckerkranken und Gichtikern 
macht Arteriosklerok leicht schnelle Fort¬ 
schritte zu höheren Graden,' sowohl in¬ 
folge direkter Schädigung der Gefä߬ 
wände durch die pathogenen Stoff¬ 
wechselprodukte, wie auch indirekt 
auf dem Umwege über Nephritis und die 
durch diese entstehende Herzhyper¬ 
trophie mit Blutdruckerhöhung. 

Den Schlagadern schädliche Bak¬ 
teriengifte sind diejenigen von Typhus, 
Scharlach, Diphtherie, Tuberkulose und 
Syphilis. Doch ist die syphilitische, mit 
Endarteritis beginnende Arterienverände- 




' t52 Die Therapie der 


rung der sonstigen Arteriosklerose nicht 
ganz identisch. 

Eine beachtenswerte Rolle spielen 
gewerbliche' und Genußgifte, wie 
Blei, Nikotin, Alkohol, Coffein. Die Be¬ 
deutung des Bleis steht einwandfrei fest; 
über Nikotin, Alkohol und Coffein gehen 
die Ansichten der Autoren etwas aus¬ 
einander. Auf experimentellem Wege 
läßt sich mit keinem der Genußgifte echte 
Arteriosklerose erzeugen. His behauptet, 
daß in der Türkei Arteriosklerose selten 
sei, obwohl dort viel geraucht wird. Von 
Hoppe wird angegeben, daß auch alko¬ 
holabstinente Muselmanen ebenso häufig 
an Arteriosklerose leiden, wie die gern 
trinkenden Europäer. Die meisten deut¬ 
schen Kliniker aber sind davon überzeugt,. 
das zumindest Alkohol und Nikotin bei 
übermäßigem Genüsse die Arterien schä¬ 
digen. Die Wirkung des Coffeips bezie¬ 
hungsweise Theobromins ist umstrittener. 
Alkohol dürfte nicht nur als rein chemi¬ 
sches Agens wirken, sondern außerdem 
indirekt durch Blutdrucksteigerung. 
Regelmäßige, übermäßige Flüssigkeits¬ 
aufnahme wirkt an sich zwar noch nicht 
blutdrucksteigernd, wohl aber die chro¬ 
nische, Zufuhr reichlicher Mengen alkoho¬ 
lischer Getränke. Nikotin im Übermaß 
ist besonders in Zigarettenform von schä¬ 
digendem Einfluß auf die Coronararterien 
des Herzens. Die Hälfte der Kranken mit 
, Angina pectoris wird von starken Rau¬ 
chern gestellt. Durch Rauchen gelingt 
es, Anfälle von Angina pectoris auszu-^ 
lösen, wie auch' andererseits die Anfälle 
seltener werden und ausbleiben bei völli¬ 
gem Entsagen des Tabakgenusses. Durch 
Nikotin werden die Kranzgefäße des 
Herzens verengt. Diese Tatsache dürfte 
das auslösende Moment der Anfälle sein. 

Mit vorstehendem ist die Ätiologie der 
Arteriosklerose nicht völlig erschöpft. 
Nach neueren Forschungen kommen auch 
alimentäre Störungen in Frage, wo¬ 
bei Cholesterin von Bedeutung ist. 
Ferner scheint Milchsäure, das Produkt 
der Muskelarbeit, die Gefäßwände zu 
schädigen. Abnormes Geschlechtsleben, 
besonders Coitus interruptus, befördert 
Arteriosklerose. Außerdem gibt es ge¬ 
legentliche Ursachen, So können Kopf¬ 
traumen Gehirnarteriosklerose scheinbar 
auslösen, zum mindesten verschlimmern, 
in der Entwicklung beschleunigen. 

Wie aus allem hervorgeht, ist Arte¬ 
riosklerose ein mechanisches und 
chemisches Problem, welches aber so 
aufgefaßt werden muß, daß die genannten 


Gegenwart 192Ö April 


Schädlichkeiten lediglich auslösende Mo¬ 
mente sind, deren gradweise Wirkung 
verschieden stark ist, je nach der indivi¬ 
duellen Disposition (Hart) oder richtiger 
Konstitutio,n’ [weil es sich nicht um er¬ 
worbene, sondern angeborene Anlage 
handelt (Löhlein)]. Zumeist wird nun 
nicht ein einzelner Umstand, sondern das 
Zusarhmentreffen mehrerer Schädlich¬ 
keiten, bei entsprechender Konstitution, 
das Entstehen der Arteriosklerose aus- 
Ipsen und auch weiterhin schnelle Ent¬ 
wicklung begünstigen. Bei üppiger 
Lebensweise, splendiden Diners findet 
sich von selbst eine Summation: zu viel 
Nahrung, reichlich alkoholisches Getränk 
und Nikotin. Je häufiger die Festlich¬ 
keiten, desto größer die durch sie bedingte 
direkte Schädigung. Hierzu tritt indirekt 
der Einfluß der durch Übermaß im Essen 
und Trinken begünstigten Fettleibigkeit 
oder Gicht. 

Die Auffassung der Arteriosklerose 
nach Schmidt als einer Stoffwechsel¬ 
krankheit sui generis hat etwas Bestechen¬ 
des an sich und würde therapeutische 
Perspektiven eröffnen, ist aber nicht ge¬ 
nügend begründet. 

Das Wesen , der Arteriosklerose be¬ 
steht in hyperplastischer Wucherung der 
Intima und folgender "fettiger Degenera¬ 
tion des hyperplastischen Gewebes, woran 
sich später Kalkablagerung, hauptsäch¬ 
lich in der Media, anschließt. Die Adven- 
titia bleibt intakt. Der Vorgang beginnt 
mit Einlagerung von Bindegewebe zwi¬ 
schen die elastischen Fasern. Das Gefä߬ 
rohr verliert dadurch an Elastizität. Die 
zunehmende Wucherung und schließliche 
Verkalkung machen die Gefäßwände 
dicker und härter, dabei zugleich auch 
spröde, sowie das Gefäßlumen enger. 
Die Verengerung des Lumens beeinträch¬ 
tigt die Blutversorgung der Organe. Es 
kann zu gänzlicher Verstopfung kleiner 
Gefäße mit örtlichen Erweichungsherden 
im entsprechenden Versorgungsgebiete 
kommen. Hochgradig erkrankte Arterien 
werden fühlbar hart und zeigen Schlänge¬ 
lungen. MH Vorliebe im Gehirne bilden 
sich kleine Wandausbuchtungen, Aneu¬ 
rysmen. Nicht alle Arterien erkranken in 
gleicher Intensität, sondern bei Schwer¬ 
arbeitern solche an den Extremitäten, 
sonst vornehmlich diejenigen des Gehirns,, 
des Herzens und der Nieren, überhaupt 
des Bauches. 

Die von Mönckeberg gewünschte 
Trennung der Mediaverkalkung von der 
eigentlichen Arteriosklerose, von patho- 





April 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


153 


logischen Anatomen auch Atherosklerose 
genannt, ist nicht nötig, was Hart mit 
Recht hervorhebt. Allerdings gibt es auch 
Fälle isolierter Mediaverkalkung ohne 
Verfettung der Intima. Das sind aber 
Ausnahmen. 

Von den mannigfachen klinischen 
Symptomen seien die wichtigsten hier 
angeführt. Der Puls ist hart und ge¬ 
spannt, meist etwas verlangsamt. Die 
Arterien sind starr, hart und geschlängelt, 
lassen bisweilen in gänsegurgelartiger An¬ 
ordnung ringförmige Kalkeinlagerungen 
fühlen. Der Blutdruck ist allermeist er¬ 
höht. Wenngleich merkliche Blutdruck¬ 
steigerung nach Ansicht eines Teils der 
Autoren nicht unbedingt zur Arterio¬ 
sklerose, wenig^stens nicht im Anfangs¬ 
stadium, gehört, so ist doch dauernde Er¬ 
höhung ein pathognostisches Symptom. 
Falls bei ausgeprägter Arteriosklerose der 
Blutdruck normal ist, liegt eine Ernäh¬ 
rungsstörung der Herzmuskulatur zu¬ 
grunde. Die Erhöhung des Blutdrucks 
ist hauptsächlich eine primäre — wir 
sahen sie bereits als auslösendes Moment 
für die Entstehung des Krankheitspro¬ 
zesses —, teilweise aber auch eine sekun¬ 
däre und darf in letzter Hinsicht wohl als 
Kompensationsvorgang, als Selbsthilfe des 
Organismus zur Überwindung des ver¬ 
mehrten Widerstandes der unelastischen 
Gefäßwände aufgefaßt werden. Infolge 
der dem Blutdruckanstieg entsprechenden 
Hypertrophie des linken Ventrikels ist 
der zweite Aortenton stark akzentuiert. 
Die höchsten Grade von Blutdrucksteige¬ 
rung finden sich bei' Arteriosklerose im 
Gebiete des Splanchnicus, speziell der 
Nieren. Konstante erhebliche Blutdruck¬ 
steigerung kommt ferner durch vaso¬ 
motorische Reizung als Frühsymptom 
cerebraler Arteriosklerose vor, darf aber 
natürlich nur dann so aufgefaßt werden, 
wenn Nephritis auszuschließen ist.- Die 
Erkrankung der • Gehirngefäße gibt sich 
dem aufmerksamen Beobachter über¬ 
haupt ziemlich frühzeitig zu erkennen. 
Es finden sich dabei Sprachverlangsa- 
mung, undeutliche Aussprache, Fehlen 
der Worte mitten im Gespräche, Reiz¬ 
barkeit, Rührseligkeit, hysterische, 
neurasthenische und hypochondrische Zu¬ 
stände, Schriftveränderungen, Zitter¬ 
bewegungen und Gedächtnisschwäche. 
Häufig ist eine eigenartige Gedächtnis¬ 
störung derart, daß Ereignisse aus der 
letzten Zeit vergessen werden, solche aus 
früherer Zeit dagegen haften. Nicht alle 
diese Symptome brauchen gleichzeitig 


vorhanden zu sein, ziemlich oft aber 
findet sich die Trias Kopfschmerz, Schwin¬ 
del und Gedächtnisschwäche. Bei wei¬ 
terem Fortschreiten werden eventuell 
noch vorhandene diagnostische Zweifel 
durch flüchtige Herdsymptome, wieMono- 
und Hemiparesen, transitorische Augen¬ 
muskellähmungen, Hypoglossus- und Fa- 
cialisparesen beseitigt. 

Subjektive Beachtung findet die Ar¬ 
teriosklerose, wenn die Gefäße lebens¬ 
wichtiger Organe, also des Gehirns, des 
Herzens und der Niere, erkrankt sind. 
Kopfdruck, Schwindel, Ohrensausen, Ge¬ 
dächtnisschwäche, Beklemmungsgefühl 
auf der Brust, schmerzhafte Empfindun¬ 
gen in der Herzgegend, stenokardische 
Zustände, Kurzatmigkeit erregen die Auf¬ 
merksamkeit des Kranken. Kopfarbeiter 
empfinden frühzeitig ein subjektives In¬ 
suffizienzgefühl hinsichtlich des Sich- 
erinnerns und klagen über Erschwernis 
der geistigen Konzentration. Leichte Er¬ 
müdbarkeit, kalte Füße, intermittierendes 
Hinken, arteriosklerotisches Leibweh und 
Durchfälle sind allgemeine und örtliche 
Symptome, die — ohne selbst von ge¬ 
bildeten Patienten richtig gedeutet zu 
werden — zum Arzt führen. 

Über die Diagnose ist anschließend 
an vorstehende Beschreibung der , klini¬ 
schen Symptome nicht viel zu sagen. Ini 
Anfangsstadium ist Abtrennung von 
Neurasthenie bisweilen nicht leicht. Kon¬ 
stante erhebliche Blutdrucksteigerung 
wird stets auf Arteriosklerose, speziell des 
Gehirns und Abdomens hinweisen. In 
Zweifelfällen ist die Hertzellsche Stau¬ 
ungsreaktion brauchbar: unterbricht man 
beim Ruhenden die Blutcirculation in 
beiden Beinen und in einem Arme voll¬ 
ständig durch pneumatische Kompres¬ 
sion, so steigt der Blutdruck im anderen 
Arme bei normalem Gefäßsystem um zirka 
5 mm Quecksilber an, bei Arteriosklerose 
dagegen bis zu 60 mm und selbst mehr. 

B6i der Behandlung der Arterio¬ 
sklerose sind Regelung der Diät und 
Lebensweise am wichtigsten. Darauf erst 
folgen medikamentöse und physikalische 
Therapie. 

Die Lebenshaltung und Ernäh¬ 
rungsweise muß die ini ersten Teil ange¬ 
führten auslösenden Schädlichkeiten be¬ 
rücksichtigen und nach Möglichkeit aus¬ 
zuschalten oder doch zu mindern suchen. 
Hier sind an erster Stelle körperliche und 
geistige Überanstrengung zu nennen. Ein 
Aufgeben des Berufs ist im allgemeinen 
nicht erforderlich, aus psychischen Grün- 

20 





154 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


den auch nicht einmal erwünscht. Doch 
ist es vorteilhaft, eine begrenzte Arbeits¬ 
zeit festzusetzen, wie überhaupt eine ge¬ 
regelte Einteilung der Arbeit und Er¬ 
holung von Wert ist. Besonders wichtig 
ist das Vermeiden jeder Unruhe, alles 
Hastens und Jagens. Ruhiges Leben, 
philosophische Weltauffassung verlang¬ 
samen das Fortschreiten des Krankheits¬ 
prozesses. Fernzuhalten sind Aufregungen 
und Erregungen des Nervensystems durch 
Kummer, Sorge, Haß, Ehrgeiz usw. Das 
ominöse Wort ,, Gefäßverkalkung“ ge¬ 
brauche man nicht gegenüber dem Pa¬ 
tienten, zumal nicht dem gebildeten. Es 
kann leicht eine schädliche, psychisch de¬ 
primierende, ja niederschmetternde Wir¬ 
kung haben. Geistesarbeitern ist das 
Zwischenschalten leichter Körperbewe¬ 
gung, wie Spazierengehen, Zimmergym¬ 
nastik, zu empfehlen; ebenso alljährlich 
ein mehrwöchiges vollständiges Ausspan¬ 
nen, am besten in landschaftlich schöner 
Gegend. — Alles hier angeführte gilt 
namentlich für die Gehirnarteriosklerose. 

Für die Diät sei weises Maßhalten 
oberster Grundsatz; also keine Luxus- 
konsumption, keine Diners. Fünf kleinere 
Mahlzeiten am Tage sind drei größeren 
unbedingt vorzuziehen. Mäßige gemischte 
Kost ist das richtige. Fortlassen des 
Fleisches ist nicht erforderlich. Doch ist 
eventuell stattgehabter übermäßiger 
Fleischgenuß einzuschränken und liebe'r 
eine mehr lakto-vegetabile Nahrung zu 
bevorzugen. Das vereinzelt geforderte 
Vermeiden kalkreicher Nahrung ist nicht 
nötig. Völliger Abstinenz der Genu߬ 
mittel Alkohol^ Tabak, Kaffee und Tee 
bedarf es für gewöhnlich nicht, wohl aber 
des Maßhaltens. Bei Arteriosklerose der 
Coronararterien, bei Angina pectoris aller¬ 
dings ist Rauchen gänzlich zu unterlassen. 

Organische Leiden, welche rasches 
Fortschreiten der Arteriosklerose be¬ 
günstigen, sind zu behandeln; bei Fett¬ 
leibigkeit ist Verminderung des Körper¬ 
gewichts anzustreben. 

, Am besten ist der Hausarzt, da wo er 
noch nach alter guter Sitte bekannt ist, 
in der Lage, die gerade im Einzelfalle 
wirksamen Schädlichkeiten zu erkennen 
und zu beseitigen. Er vermag oft Alkohol- 
und Nikotinmißbrauch wahrzunehmen 
oder Gicht und Diabetes beizeiten zu be¬ 
kämpfen. 

Aufgabe der medikamentösen 
Therapie ist es, die durch die Funktions¬ 
störung der Gefäße hervorgerufenen Or¬ 


April 


ganstörungen, namentlich funktioneller 
Art, zu beheben, sodann aber auch die 
Gefäßveränderung selbst zu beeinflussen. 
Öfters gebraucht werden Mittel, welche 
den Blutdruck herabsetzen, so Nitro¬ 
glycerin, Amylnitrit, Pilocarpin, Papa¬ 
verin und Thymus. Am meisten aber 
wird Jod angewandt. Auch Jod setzt, 
nach der Ansicht der Mehrzahl der 
Autoren, z. B. Lampe, Westphal, 
Zwingst, Selig, Blum, Loewy, den 
Blutdruck herab, was allerdings von 
einigen anderen, wie Kraus, von Noor¬ 
den, Laqueur, in Abrede gestellt wird. 
Die Wirkung des Jod bei Arteriosklerose 
ist nun aber nicht auf den Blutdruck be¬ 
schränkt. Bei der syphilitischen End- 
arteritis und ihren Polgezuständen haben 
größere Jodgaben einen zweifellos spe- 
cifischen Einfluß. Doch auch bei der 
nichtsyphilitischen, echten Arteriosklerose 
wollen die meisten Kliniker, wie die Um¬ 
frage Schwalb es ergeben hat, den Ge¬ 
brauch kleiner Jodgaben nicht missen, 
wobei manche eine direkte Beeinflussung 
des. arteriosklerotischen Prozesses, eine 
Verlangsamung des Fortschreitens und 
selbst Stillstand der Veränderungen er¬ 
kennen zu können glauben, andere wenig¬ 
stens deutliche Besserung der Beschwer¬ 
den beobachteten. Nur ganz vereinzelt 
wird Jod als entbehrlich bezeichnet. Der 
nutzbringende symptomatische Einfluß 
des Jod dürfte im wesentlichen durch 
eine Vergrößerung des Schlagvolumens 
der Herzkammern zu erklären sein. Diese 
bewirkt ihrerseits eine bessere Durch¬ 
blutung der erkrankten .Gefäßgebiete und 
damit eine günstigere Blutversorgung der 
Organe. Ferner wird die osmotische 
Spannung in den Gefäßen und Geweben 
durch Jod in günstigem Sinne verändert. 
Höchstwahrscheinlich aber besitzt Jod 
außerdem auch eine direkte Einwirkung 
auf die erkrankte Gefäßwand, teils durch 
Herabsetzung des Blutdrucks (Pal, 
Westphal), teils durch Hemmung des 
Fortschreitens der Intimawucherung. 
Schließlich ist die resorptionsfördernde 
Wirkung des Jod nicht zu vergessen. Die 
der Angina pectoris zugrundeliegende Ar¬ 
teriosklerose der Coronararterien wird, wie 
jede Arteriosclerose, zweckmäßig mit Jod 
behandelt; im Anfalle selbst haben sich 
Diuretin, Alkohol und Coffein (starker, 
schwarzer Bohnenkaffee) bewährt. 

Die Frage nun, in welcher Form Jod 
gegeben werden soll, wird am besten 
dahin beantwortet, daß diejenige Dar¬ 
reichung am zweckmäßigsten ist, welche 



April 


Dre Therapie der Gegenwart 1920 


155 


bei guter Heilwirkung die Patienten am 
wenigsten belästigt. Daher wird in jüngerer 
Zeit gerade für die chronisch-intermittie¬ 
rende Jodanwendung bei der Arterio¬ 
sklerose vielfach den neueren organischen 
Jodverbindungen, speziell auch dem Jod¬ 
eiweiß, der Vorzug vor den alten Jodsalzen 
gegeben. Vom Jodkali wird vielfach be¬ 
hauptet, es wjrke als Herzgift. Scheint 
nun zwar die^ herzschädigende Wirkung 
des Kalium's bei gesundem^ Herzen nur 
unbedeutend zu sein, so fällt sie doch bei 
krankem oder nicht ganz taktfestem Her¬ 
zen wohl in die Wagschale. Das Herz des 
Arteriosklerotikers ist selten ganz gesund. 
Man tut daher gut, bei Behandlung der 
Arteriosklerose Jodkali zu vermeiden, un¬ 
bedingt bei Angina pectoris. Ein gutes 
Jodeiweißpräparat ist gewiß ein zuver¬ 
lässiger, brauchbarer Ersatz des Jodkali. 
Schädliche Einwirkung auf das Herz ist 
sicher ausgeschlossen. Auch wird die 
Zahl der Fälle unangenehmer Neben¬ 
wirkungen des Jod selbst vermindert: 
das Vorkommen des sonst häufigen Jodis¬ 
mus wird nahezu ausgeschaltet, nur die 
selteneren, auf individueller Idiosyn¬ 
krasie beruhenden Intoxikationserschei¬ 
nungen sind, wie bei keinem Jodpräparate, 
auch damit nicht zu vermeiden. 

In neuerer Zeit ist auch der Nutzen 
einer milden Arsenmedikation bei Arterio¬ 
sklerose hervorgehob en worden.. E. N e i ß er 
fand, daß Elarson den Blutdruck herab¬ 
setzt, und G. Klemperer empfiehlt das¬ 
selbe Präparat (täglich 3—6 Tabletten) 
insbesondere bei den Kopfschmerzen, 
Schwindel und Angstzuständen, sowie 
den subjektiven Herzbeschwerden der 
Arteriosklerotiker. Dieser Autor meint, 
,,daß der abwechselnde Gebrauch kleiner 
Jod- und Arsengaben in bescheidener 
Weise zur Besserung der Prognose der 
arteriosklerotischen Herzerkrankung bei¬ 
trägt“. In einer im Jahre 1918 erschie¬ 
nenen Studie über die „Übergänge 
zwischen Nervosität und Arteri^ Sklerose“ 
berichtet G. Klemperer, daß sich ihm 
der langdauernde Gebrauch kleiner Arsen¬ 
gaben in solchen Übergangsfällen sehr 
bewährt habe. 

Bei der physikalischen Therapie 
stehen hydriatische Prozeduren oben¬ 
an. Wechselwarme Teilabreibungen und 
Waschungen, lauwarme Vollbäder mit 
Fichtennadelzusatz, Sauerstoffbäder, auch 
Moorbäder und Luftbäder haben sich be¬ 
währt. Sie regeln die Kreislaufverhält¬ 
nisse durch Beseitigung spastischer Zu¬ 
stände in den letzten Verzweigungen der 


Endarterien. Massage, Gymnastik, Elek- 
tlrotherapie und Hochfrequenzströme fin¬ 
den häufige Anwendung, gelegentlich 
auch Radium als blutdruckherabsetzendes 
Mittel. 

Arteriosklerose ist und bleibt ein 
ernstes organiscnes Leiden, das gar nicht, 
selten Veranlassung zum Tode wird. Die 
weitverbreitete allgemeine Furcht vor der 
Arterienverkalkung ist aber doch etwas 
übertrieben.. Durch rechtzeitiges Ein¬ 
leiten geeigneter psychischer, diätetischer, 
medikamentöser und physikalischer Be¬ 
handlung ist es möglich, die Beschwerden 
der Kranken zu bessern und auch zu be¬ 
seitigen, wodurch das Leben wieder er¬ 
träglich und selbst befriedigend wird. 
Das Fortschreiten des Leidens kann ge¬ 
hemmt, ihm für einige Zeit Einhalt ge¬ 
boten werden. Arbeitsfähigkeit ist oft 
noch auf Jahre zu erhalten. Die Prognose 
der Behandlung ist um so günstiger, je 
frühzeitiger damit begonnen wird. Manche 
Arteriosklerotiker fühlen sich jahrzehnte¬ 
lang leidlich wohl und erreichen ein hohes 
Alter. 

Literatur: 1. Adler und Hensel, Intra¬ 
venöse Nikotineinspritzungen und deren Ein¬ 
wirkung auf die Kaninchenaorta (D. m. W. 1906, 
45). —^ 2. Anitschkow, Die Bedeutung des er¬ 
höhten Cholesteringehalts für die Entstehung 
der Aortenatherpsklerose (M. m. W. 1914, 24). — 

3. Derselbe, Über die experimentelle Arterio¬ 
sklerose der Herzklappen (Virch. Arch. 220, 2). — 

4. Aron, Zur .Ätiologie der Gefäßerkrankungen 
beim Diabetes (B. kl. W. 1913,19). — 5. As choff, 

11. kriegsärztlicher Abend der Festung Metz, 

13. Oktober 1914 (D. m. W. 1914, 47). — 6. Ba- 
caloglu. Die Arteriosklerose des Darmes (Re- 
vista stiinzelor med. 1912, VIII, 7). — 7. Baran- 
czik, Über die Beeinflussung des Bluts durch 
Jodpräparate (Russky Wratsch 1912, 45). — 
8. H. Becker, Die Fortschritte der medikamen¬ 
tösen Irrentherapie im Jahre 1913 (Fortschr. d. 
Med. 1914, 13). — 9. Cohn, Hans, Die Angina 
pectoris (B. kl. W. 1915, 20). — 10. Faber, Die 
Arteriosklerose, ihre pathologische Anatomie, 
ihre Pathogenese und Ätiologie (Verlag Gustav 
Fischer, Jena 1912). — 11. Fischer, Neuere ana¬ 
tomische und experimentelle Untersuchungen 
über Arteriosklerose (Ärztlicher Vereim Frankfurt 
a. M., 15. April 1918) (M. Kl. 1918, 19, S. 478). — 

12. Fraenkel, Über die Behandlung der Ar¬ 
teriosklerose (B. kl. W. 1913, 17). — 13. French, 
Hoher Blutdruck und die gewöhnlicheren Arterien¬ 
erkrankungen (Lancet, 13. Juli 1912, 4637). — 

14. Geißler, Gefäßkrankheiten. Übersichts¬ 
referat (R.-Med.-Anz. 1917, 9). — 15. Grober, 
Die Krankheiten der Kreislauforgane und der 
Krieg (M. m. W. 1914, 50). — 16. Grumme, 
Betrachtungen über Vermeidung des Jodismus 
(M. Kl. 1916, 12). — 17. Derselbe, Vermeidung 
des Jodismus und quantitative Unterschiede der 
Jodheilwirkung (Fortschr. d. Med. 1917/18, 
11/12). — 18. Halbey, Atherosklerosis praecox 
(M. Kl. 1915, 41). — 19. Hart, Über Athero¬ 
sklerose, Übersichtsreferat (M. Kl. 1916, 3). — 
20. Hedinger, Über die Entstehung der Arterio- 

20* 



156 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


April 


Sklerose (Med. Gesellschaft zu Basel, 2. März 1916) 
(B. kl. W. 1916, 14). — 21. Henius, Der heutige 
. Stand der Behandlung der Arteriosklerose (D. 
m. W. 1913, 13). — 22. Hertzell, Die Stauungs- 
reaktion bei Arterioslerose (B. kl. W. 1913, 12). — 
23. Herz, Vortragszyklus über Herzkrankheiten 
(M. Kl. 1913,.34 u. 52). — 24. Derselbe, Über 
Arteriosklerose (Allg. Wien. m^Ztg. 1913, 20). — 
25. Hirsch, C., Zur Pathogenese und Physik der 
Arteriosklerose (D. m. W. 1913,.38.) — 26. Der¬ 
selbe, Klinisches Referat über Arteriosklerose 
(Medizinische Gesellschaft zu Göttingen 24. Juli 
1913) (B. kl. W. 1913, 44). — 27, Derselbe und 
Thorspecken, Experimentelle Untersuchungen 
zur Lehre von der Arteriosklerose (D. Arch. f. kl. 
Med. Bd. 107, H. 5 u. 6). — 28. Hirsch, M,, Zur 
Frage der Arteriosklerose vor dem 30. Lebens¬ 
jahre (M. Kl. 1913, 28). 29. Derselbe, Be¬ 

ziehungen zwischen Gicht und Arteriosklerose 
(35. Balneol. Kongreß, Ref. Ther. d. Gegenw. April 
1914, S;175).—30. Hirsch, R., Arteriosklerose in 
Theorie und Praxis (Ther. d. Gegenw. März 1918). 
— 31. Hochhaus, Die Behandlung der Arterio¬ 
sklerose (D. m. W. 1912, 33). — 32. Horn, Ar¬ 
teriosklerose und Unfall (Ärztl. Sachverst.-Ztg, 
1916, 18 u. 19). — 33. Hoppe, Die Tatsachen 
über den Alkohol (Ernst Reinhardt, München 
1912). — 34. Janowski, Der Blut- und Puls¬ 
druck bei Arteriosklerose (Zschr. f. klin. M. Bd. 80, 
H. 5 u. 6). — 35. John, Beeinflussung des Blut¬ 
drucks durch Tabakrauchen (Zschr. f. exper. Path. 
u. Ther. Bd. 14, H. 2). — 36. Klemperer, Neuere 
Arbeiten über Arteriosklerose (Berl. ver, ärztl. 
Gesellschaften, Sitzung 17. Februar 1915) (M. 
m. W. 1915, 8, S. 285f.). — 37. Derselbe, Die 
Prognose der arteriosklerotischen Herzerkrankung 
(Ther. d. Gegenw. Juli 1914). — Derselbe, Über¬ 
gänge zwischen Nervosität und Arteriosklerose 
(B. kl.W.1918, Nr. 31, S. 732). —38. Lehndorff, 
Über die direkte Einwirkung des Jod auf den 
Kreislauf (Wissenschaftl. Gesellschaft deutscher 
Ärzte in Böhmen, Sitzung 7. November 1913) 
(M. m. W. 1913,50, S. 2817). — 39. Loeb, Experi¬ 
mentaluntersuchungen zur Stoffwechselgenese der 
Arteriosklerose (Verein für innere Medizin und 
Kinderheilkunde Berlin, Sitzung 6. Juli 1914) 
Allg. med. Central-Ztg. 1914, 29). — 40. Der¬ 
selbe, Über experimentelle Arterienverände¬ 
rungen (D. m. W. 1913, 38). — 41. Löhlein, M., 
Die Begriffe „Konstitution'^ und „Disposition“ 
(M. Kl. 1918, 30 u. 44). — 42. Maier, Zur Ätio¬ 
logie, Symptomatologie und Therapie der Arterio¬ 
sklerose (Allg. med. Central-Ztg. 1912, 34). ~ 


43. Mönckeberg, Zur Frage der Atheroklerose 
im militärdiehstpflichti'gen Alter (Zbl. f. Herz- u: 
Gefäßkrankh., 8, Jahrg., 1). — 44. 'Derselbe, 
Über Atherosklerose bei Kriegsteilnehmern (Unter- 
elsässischer Ärzteverein Straßburg, Sitzung vom 
25. November 1916) (D. m. W. 1917,.3, S.96). — 
45. Derselbe, Mediaverkalkung und Athero¬ 
sklerose (Virch. Arch. Bd. 216, S. 408). — 45a. 
E. Neißer; Kasuistischer Beitrag zur Elarson- 
therapie (Ther. d. Gegenw. 1914, S. 239). — 46. 
Niesslv. May eVidort. Die Krankheiten des Rück¬ 
bildungsalters und des Seniums (Fortschritte der 
Medizin 1915/16, 4), — 47. Ortner,' Medikamen¬ 
töse und physikalische Therapie der Arterio¬ 
sklerose (Jahreskurse für ärztliche Fortbildung, 
Februar 1911): — 48. Pawinski, Über den Ein¬ 
fluß des unmäßigen Rauchens (Nikotins) auf die 
Gefäße und das Herz (Zschr. f. klin. Med. 1914, 
80, 284). — 49. Pringsheim, Über Arterio¬ 
sklerose der Abdominalgefäße (M. K. 1914, 25). — 
50. Raecke, Die Frühsymptome der arterio¬ 
sklerotischen Gehirnerkrankung (Arch. f. Psych., 
Bd. 50, H. 2). — 51. Rehr, Durch Nikotin verur¬ 
sachte Aortenveränderung (Virch. Arch. 1914, 
Bd. 218, H. 1). — 52. Rieb old. Dauernde erheb¬ 
liche Blutdrucksteigerung als Frühsymptom einer 
Gehirnarteriosklerose (M. m. W. 1917, 43). — 
53; Roos, Zur Frage der Kriegsarteriosklerose 
(M. Kl. 1916, 27). — 54. Saltykow, Jugendliche 
und beginnende Atherosklerose (Korr. Bl. Schweizer 
Ä. 1915,35). —-55. Derselbe, Über die Häufigkeit 
der Atherosklerose (Korr. Bl. f. Schweizer Ä, 
1915, 44). — 56. Schmidt, Zur Klinik des essen¬ 
tiellen Hochdrucks (M. Kl. 1916, 29 u. 30). — 
57. Schmie dl. Experimentelle Untersuchungen 
über die Wirkung des Tabakrauchens auf das Ge¬ 
fäßsystem (Frankf. Zschr. f. Path. 1913, Bd. 13, 
H. 1.) — 58. Schwalbe, Welchen Einfluß hat die 
Jodtherapie auf die Arteriosklerose? (D. m. W. 
1914, 15 u. 16). — 59. Steinhauer, Schlaganfall 
als Unfallfolge anerkannt (M. Kl. 1912, 28). — 
60. Strauß, H., Blutdrucksteigerung als Objekt 
der Therapie (Ther. Mh. Juni 1915). —61. Suchy, 
Über Nikotinvergiftung (W. m. W. 1918, 32). — 
62. Thiem, Der derzeitige Stand der Frage über 
die Ursachen der Schlagaderverhärtung (Mschr. 
f. Unfallhk. 1915, Nr. 7). — 63. Vaguez, Diätetik 
der Herz- und Gefäßkrankheiten (B. kl._ W. 
1913, 27). — 64. Wacker und Hueck, Über 
experimentelle Atherosklerose und Cholesterin- 
ämie (M. m, W. 1913, 38). — 65. Wedekind, 
Über Fettleibigkeit und Arteriosklerose (Verl. 
Clements Buchhandlung, Kissingen 1914). 


Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen. 

36. öffentliche Versammlung der Balneologischen Gesellschaft, 

10.—13. März 1920. 

Bericht von Dr. Hartwich. 


In dem folgenden Bericht werden nur 
die Vorträge referiert, welche für die 
Therapie verwertbare Gesic^itspunkte ent¬ 
hielten.- 

Stemmler (Ems): Referat über 
balneologische Behandlung der Kriegs¬ 
schädigungen der Atmungsofgane. Aus 
Lungenschüssen resultierten Schwarten, 
Atelektasen, Emphyseme; stets auch 
nachfolgende chronische Bronchitiden, die 


weiter in Behandlung kamen als Folgen 
von Erkältung- (höchster Prozentsatz), 
Infektionskrankheiten, später besonders 
nach Grippe, ferner von Gasvergiftungen 
im Felde und entsprechenden Läsionen in 
Kriegsbetrieben der Heimat. Sekundär 
Kreislaufstörungen (Asthma, Herz, Niere 
usw.). Die Ätiologie ist maI5gebend für 
die Behandlung, besonders bei chro¬ 
nischem . Bronchialkatarrh. Von guter 





April 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


157 


Allgemeinwirkung ist die klimatische Ver¬ 
änderung. Die meisten Patienten brauchen 
warmes, mäßig feuchtes Klima. Wichtig 
gleichzeitiges Vorhandensein von Quellen. 

Trinkkuren bewirken Lockerung der 
Schleimhäute, Lösung des Schleims, dann 
Abschwellung, Verminderung des Hustens 
usw. 

Badekuren: 'Lokale Schleimhautwir¬ 
kung (Nasenspülungen, Gurgeln, Inhala¬ 
tionen) entsteht aus drei Komponenten: 
Temperatur, Mineralgehalt und Kohlen¬ 
säure. — Bei der Inhalation zerstäubten 
Mineralwassers ist der Modlis abhängig 
von der beabsichtigten Wirkung. Hyper¬ 
trophischer Katarrh muß kühl, trockener 
warm inhalieren; Katarrhe der oberen 
Luftwege am Einzelapparat, der tieferen 
an der Saline oder im Inhalationsraum; 
letzteres besonders für trockene Katarrhe. 
Die therapeutische Wirkung, gleich fort¬ 
schreitende Lösung, läßt sich am physi¬ 
kalischen Befunde genau verfolgen. — 
Emphysem am Brunsschen Unterdrück¬ 
apparat behandeln, schwache Patienten 
in der pneumatischen Kammer (Erfolg: 
zunehmende Atemtiefe, Vitalkapazität und 
verlangsamte Atmung. Wirkung ist nach¬ 
haltig!). — Bronchiektasien mit desinfi¬ 
zierenden Inhalationen behandeln. 

Bäder, besonders heiße Schlamm¬ 
kompressen, beschleunigen das Resorp¬ 
tionsvermögen. Atelektasen und Schwar¬ 
ten lösen sich. Kohlensäure Thermal¬ 
bäder fördern die Expirationskraft, Stoff¬ 
wechsel und Kreislauf, Gleichzeitig durch 
Atemübungen, Gehen und Steigen wird 
schließlich erreicht, daß Schwarten sich 
dehnen, Atelektasen zurückgehen, Vital- 
kapazität zunimmt und endlich mit Über¬ 
gießungen usw. Abhärtung eintritt. Re¬ 
sorption auch durch Bäder gebessert. 

Goldscheider über Ruhekuren: Bei 
Überanstrengung oder mangelnder Ruhe 
treten auf: 1. Schwächung, 2. Über¬ 
empfindlichkeit gegen Reize. Beides ent¬ 
weder allgemein, oder auf Organe be¬ 
schränkt. Chronische Übermüdung ist 
nicht Neurasthenie (Krankheitsbild Neur¬ 
asthenie gibt es nicht!) — Symptome: 
Partielle oder allgemeine Überreizung, 
Mattigkeit, Depression, Willensschwäche, 
schlechte Leistungsfähigkeit — organ¬ 
vasomotorische Störungen, Magensäure, 
Herz- und nervöse Beschwerden usw. — 
Organische Konstitutionsanonialien be¬ 
günstigen das Krankheitsbild, sind aber 
nicht die Ursache. — Latente Krank¬ 
heiten werden floride. — Ursache ist 
nicht immer Zwang der Verhältnisse, 


sondern oft der energische Wille, der sich 
zu viel Arbeit zumutet. — Behandlung: 
Ruhe! Dosierung: L. tägliche Ruhe¬ 
stunden, 2. Liegekuren, 3. Erholungs¬ 
reise, 4. Badekur (mit wirklicher 'Er¬ 
holung!). Viele organische Symptome 
sind lediglich durch Ruhe zu beseitigen, 
nicht durch lokale Behandlung. Oppo¬ 
sition gegen therapeutische Vielgeschäf¬ 
tigkeit in Bädern (anstrengende Kuren, 
Zandern usw.) ist bei diesen Patienten 
nötig. Mastkur nur bei bestimmten An¬ 
lässen! 

Mißbrauch mit Ruhe wird betrieben 
bei Hypertonikera (Fettleibige, klimak- 
^ terische Frauen, Gichtiker usw.). Hier 
erreicht Ruhekur bei Herzklopfen usw. 
gerade das Gegenteil! Die Oppressionen 
dieser bessern sich bei Beanspruchung 
der Kräfte. — (Diskussion: Je weniger 
Bäder, desto besser der Erfolg! Schema¬ 
tische Ansicht, bestimmte Bäderzahlmüsse 
durchgemacht werden, ist falsch. — 
Bäder ohne ärztliche Verordnung werden 
vom^Publikum maßlos übertrieben! — 
Bei Uberempfindlichkeit gegen Reize sind 
Alkohol und Nikotin gänzlich zu ver¬ 
bieten! — Unter Umständen auch bei 
Übermüdung vorsichtige ^ physikalische 
Therapie, um die Bildung von Anti¬ 
kenotoxinen anzuregen!) 

Strauß über Winterkuren in Deutsch¬ 
land: Auslandsbäder sind uns noch für 
lange verschlossen. Statt Erholungs¬ 
kuren im Frühling und Herbst verordne 
man Winterkuren in deutschen Gebirgen 
(Unterkunft, Heizung und ärztliche Ver¬ 
sorgung sind zu erstreben). — Der Früh¬ 
ling kommt in einigen deutschen Gauen 
fast so früh, wie im Süden (etwa im Gebiet 
des rheinischen Weinbaues usw.). Es 
sind genaue klimatische Untersuchungen 
anzustellen, welche deutschen Orte an 
Klima, Luftfeuchtigkeit, Bestrahlung usw. 
die südlichen Kurorte ersetzen können. 

(Thema zur diesjährigen Preisaufgabe.) 
Bisher liegenmur wenige Untersuchungen 
vor. 

Möller über Tuberkulose. Im Kriege 
entstandene Lungentuberkulose hat 
schlechtere Prognose als Rückfälle von 
früher. Kurorte müssen in höherem 
Grade Lungenleidende aufnehmen. — 
Ländliche Betriebe, Walderholungsstätten 
sind zu fördern. Therapeutisch nichts 
Neues. — Militärpersonen sollen seit 
einiger Zeit nach Friedmann behan¬ 
delt werden. Das ist zu verwerfen. 
Unsere Kriegsbeschädigten sind zu gut 
für solche Experimente, bei denen nur 



158 


Die Therapie der Gegenwart 1920 April 


Zeit zürn besseren Eingreifen verloren 
geht. — H. Möller hat ein Recht, über 
Friedmann abzuurteilen, denn er hat 
1897 zusammen mit französischen For¬ 
schern die Kaltblütertuberkulose (Fisch 
und Blindschleiche) bearbeitet. — Die 
gewöhnlichen säurefesten Bacillen (Heu, 
Milch usw.)' sowie Kaltblütertuberkel¬ 
bacillen haben eine schwächere Lipoid¬ 
hülle als Warmblütertuberkelbacillen. 
Diese Lipoidhülle ist sehr widerstands¬ 
fähig. Wohl erreicht man in vitro mit 
Immunserum der Kaltblütertuberkulose 
Agglutination, aber nicht in vivo Hei¬ 
lung, da die stärkere Lipoidhülle des 
Tuberkelbacillus den zu schwachen Fer¬ 
menten widersteht. Ebenso gibt man ja 
auch viel Fett zur Vermehrung der 
lipoidlösenden Fermente. Auch dies reicht 
nicht aus. —Friedmann kam dann 
später mit seiner Schildkrötentuberkulose 
und behauptete Heilwirkung. Möller 
prüfte sofort nach und mußte bei seinem 
früheren Urteil bleiben, daß keine Hei¬ 
lung möglich ist mit Kaltblütertuber¬ 
kulose (Versuche an Tieren und Men¬ 
schen). Friedmanns Patentaatragwurde 
abgelehnt, da £s sich um kein neues 
Verfahren handle. —Die Erscheinungen 
im Reagenzglase (Agglutination) haben 
alle säurefesten (auch nicht pathogenen!) 
mit Schildkrötentuberkelbacillen gemein. 
Es handelt sich nur um Gruppenreaktion, 
die mit Immunisierung nichts zu tun hat. 

— Die ,,wissenschaftliche Blamage‘‘ 
Fried mann ist an und für sich schon 
für Deutschland peinlich, die Kriegs¬ 
beschädigten sollte man aber am aller¬ 
wenigsten solchen Eingriffen aussetzen. 

Bruns (Göttingen) über Inhalations- 
kuren: Trockeninhalation mit 1. Rei߬ 
mannapparat, 2. Zerstäubung mit heißer 
Luft, 3. Gesellschaftstrockeninhalator. Bei 
800^ übersublimierte Kochsalzpartikel ge¬ 
langen als kleinste (2 ^) Krystalle in den 
Respirationstraktus. Da sie sich nicht 
so rasch niederschlagen wie Nebel, so ist 
die alveoläre Ausbreitung eine bessere. 

— Inhalationsversuche an Tieren: in den 
ersten sieben Minuten nur centrale, dann 
Ausbreitung der Krystalle in den Rand¬ 
partien der Lunge. Nach 15 Minuten 
Auftreten im Kreislauf (inhaliert wurde 
Lithiumchlorid). — Auch ohne kräftige 
Inspiration gute Ausbreitung wegen der 
Expansionskraft der Krystalle. — Reim 
Spießschen Vernebler (2.) mehr Absetzung 
oralwärts. Auftreten im Kreislauf rascher. 

— In einer Stunde werden bei 1. und 2. 
2 g NaCl inhaliert. 


Vorteile der Trockeninhalation: 1. A^i- 
neralmenge gering, trotzdem örtliche Kon¬ 
zentration größer als bei feuchter In¬ 
halation, 2. alveolare Wirkung besser, da 
nicht so leichter Niederschlag oralwärts,, 
3. Resorption, d. h. Schwinden der ört¬ 
lichen Konzentration langsamer, je weni¬ 
ger Wasser vorhanden ist, daher längere 
therapeutische Wirkung.' 

Krone (Sooden) hat systematische 
Kontrollen mit Röntgen über die Rück¬ 
bildung von Hilusdrüsen bei Solbad¬ 
behandlung gemacht und fand die Rück¬ 
bildung auffallend. 

In der Diskussion wurde hervor¬ 
gehoben, daß Kuren außerhalb der Saison 
billiger wären und daß Nordseebäder im 
Winter bessere Heilerfolge als im Sommer 
haben, Herbstkuren seien möglichst zu 
empfehlen. Einsetzung ein,er Kommission 
zur Bearbeitung der Bäderklimätik wird 
beschlossen. ' . 

Groedel (Nauheim): Referat über 
die balneologische Behandlung der kriegs- 
beschädigten Kreislaufsorgane. Vier 
Schädlichkeiten trafen die Kreislauforgane 
im Kriege: Psychische, physische, toxi¬ 
sche und infektiöse. — Herzkrankheiten 
betrafen solche, die schon krank hinaus¬ 
zogen, und andere. Erstere hielten sich 
oft erstaunlich gut, klappten erst bei 
psychischem Trauma zusammen. — So¬ 
genanntes KriegsJierz gibt es nicht!. Ner¬ 
vöse Herzleiden sind seit Kriegsende 
selten, höchstens Neurastheniker, Renten- 
undAttestsüchtige. —Bäder: Indifferente 
warme Bäder. Kein, zu langes Bad! 
Basedowoide besser kühl baden, Vago- 
toniker indifferent bis warm — Halb¬ 
bäder — Anfangs Ruhe, später Terrain¬ 
kuren. — Viele Herzneurosen reagieren 
sehr gut auf Campher. — Schwere orga¬ 
nische Herzleiden sind mit Vorsicht ins 
Bad zu schicken, da sie eventuell doch 
nicht baden dürfen! 

Sieb eit (Flinsberg): -Im Anfalle der 
Herzneuros'e auch im Schlaf oft metalli¬ 
scher Beiklang der Töne. Pulsbeschleu¬ 
nigung häufig einziges physikalisches 
Symptom. Blutdruck wechselnd. — 
Gelegentlich Hypothermie, Hypotonie*, 
Hämoglobinverminderung, unregelmäßi¬ 
ger Puls (40%). — Behandlung: Ruhe, 
Abstinenz, einfache Dauerbäder mit Zu¬ 
sätzen (25 Minuten, '35®), danach zwei 
Stunden Bettruhe, Ruhepausen am Tage. 
— Mit kühlen Moorbädern und Kohlen¬ 
säurebädern besser Vorsicht. — Robo- 
rierende Kost. 



V 


April ' Die Therapie der Gegenwart 1920 159 


Schmincke (Elster):- Wenn Ruhe 
indiziert ist, keine Bäder verordnen! Vor 
allem bei akuter Herzschwäche. Das 
Wort: ,,Kohlensaures Bad ist Digitalis 
gleichzüsetzen“, ist falsch! — Bei rela¬ 
tiver Insuffizienz (nach akutem Gelenk¬ 
rheumatismus , nach Dekompensation, 
bei Rauchern, Fettleibfgen, Thyreosen, 
Neurasthenikern*, Klimakterischen) kühle 
Bäder! — Bei Blutdruckerhöhung mit 
.Ausnahme der Aortenin^uffizienz nie¬ 
mals kühle Bäder wegen Gefährdung der 
Nieren, sondern lauwarme oder warmie 
Moorbäder. 

Rehfisch über Prüfungen der Herz¬ 
funktion. Steigen des Blutdrucks und 
PuIsVerlangsamung bei Druck auf die 
Femoralis gleich signum boni. Gegen¬ 
teil signum mali. — Weiter wurden ge¬ 
schildert: Methode der Maximal- und 
Minimalblutdruckbeobachtung, die We- 
bersehe Plethysmographie, Elektrokar¬ 
diographie, VenenpuTsschreibung. Ferner 
ohne Apparatur die Atmungsreaktion 
Albrechts und die Rehfischsche Me¬ 
thode (Veränderung des Verhältnisses der 
Herztonstärken über den’einzelnen Klap¬ 
pen nach Ansticengung). — Therapeuti¬ 
sche Eingriffe am Herzen sollten niemals 
ohne derartige Kontrollen gemacht wer¬ 
den, da man sonst leicht nur Schaden 
anrichtet. 

H. Selig (Franzensbad): Bei Arterio¬ 
sklerose Blutdrucksenkung nach Kohlen¬ 
säurebädern nachlialtig, durchschnittlich 
um 24 mm; in einem Falle von 210 auf 
140. — Milde Kuren nötig; manchmal 
akute Blutdrucksenkung auch böses Omen. 
— Apoplexien nach Badebehandlung sel¬ 
tener als sonst. 

Diskussion: Nach Seuchen niemals 
dauernde organische Herzfehler. — Puls¬ 
verlangsamung oft ohne physikalischen 
Herzbefund. —Thyreosen vertragen keine 
Kohlensäurebäder. — Bei Blutdruck¬ 
steigerungen hat man mit Bädern nur 
bei chronischen Arteriolospasmen Erfolg, 
nicht bei echten Sklerosen! —Kriegsherz 
gleich 'Ermüdungsherz. — Bäder sind 
Herzübungsbehandlung. — Leichte Fälle 
von Basedow gehören ins kühle Moorbad, 
schwere "zum Chirurgen, 

Brugsch, Psychologische Bewertung 
der Badekuren. Bei einer Kurbehandlung 
soll man nicht allein ,,das Organ“ bewußt 
medizinisch behandeln, sondern auch die 
Person. Mit Methoden der heutigen 
psychologischen Forschung sei man sehr 
wohl imstande, unklare Organgefühle und 
dergleichen, Mißbehagen usw. wissen¬ 


schaftlich aufzudecken. Es sei anzu- 
nehmeft, daß die verschiedenen Badeorte 
diese bisher Undefinierten Dinge in ver¬ 
schiedener Weise beeinflußten. — Syste¬ 
matische Untersuchungen müßten diese 
diffizilere Spezialwirkung der einzelnen 
Kurorte aufdecken und letztere müßten,, 
da sie^ die Indikationsstellung zur Aus¬ 
wahl bestimmter Orte mit ausmachten,,, 
in die Prospekte aufgenommen werden. 
Auch in die Imponderabilien der Kur¬ 
wirkung müsse wissenschaftliche For¬ 
schung Vordringen, damit keine Unklar¬ 
heiten bleiben. Die Methoden sind vor¬ 
handen und brauchen nur benutzt- zu 
werden. 

Hirsch (Charlottenburg) prüfte die 
Verweildauer verschiedener Mineralwässer 
im Magen eines Hundes mit Duodenal¬ 
fistel. Kochsalzwässer verlassen den 
Magen langsam, Säuerlinge schnell, Lei¬ 
tungswasser in der Mitte zwischen diesen. 
Kohlensäure regt den Magen an, ebenso 
alkalische Wässer, weil sie im Magen 
Kohlensäure freigeben (durch HCl). Des¬ 
halb sind Fachinger und Neuenahr gute 
Tafelwässer. Kochsalzwässer hingegen 
therapeutisch zu schleimlösender Wirkung 
brauchbar. — Bitterwässer regen nicht 
so sehr den Magen als die Darmperistal¬ 
tik an. ' ' 

Fräulein Franckenthal (Berlin) be¬ 
richtete über Versuche an Hunden mit 
Fachinger, Nieder-Selterser und künst¬ 
lichen Lösungen; fand keine spezifische 
Diurese und keine vermehrte Auswaschung 
von Körperschlacken. Bei Calciumsalzen 
sogar; Schädigung der Auswaschung. Doch 
ist eine Erreichung besserer Löslichkeit 
von Salzniederschlägen (Gicht) durch 
Minei'alsalzlösungen denkbar. ^ 

Bickel (Berlin): Zur Verfolgung des 
Gedankens parenteraler Mineralwasserzu¬ 
fuhr wurde Hunden 1. Kochsalz im Futter, 
2. intraperitoneal und 3. intravenös ge¬ 
geben. Das Kochsalz im-^Futter. war nach 
zwei Tagen, das anders gegebene erst 
nach drei Tagen ausgeschieden. — Ver¬ 
such mit Mineralwasser fiel ebenso aus. 

Karo (Berlin) sprach zugunsten der 
Nierendekapsulation, die bei akuter 
Anurie und Versagen aller klinischen 
Mittel geradezu lebensrettend ist (beide 
Nieren). Auch bei anderen'" Nieren¬ 
erkrankungen wurde häufig Besserung 
der Diurese beobachtet. 

H 0 ffm ann (Warmbrunn):. Referat 
über die baineologische Behandlung der 
Bewegungsorgane: Schonende Lockerung 
von Narben war im Kriege eine Haupt- 





Aprir 


160 Die Therapie der Gegenwart 1920 


aufgabe der Balneologie. Durch Einwir¬ 
kungen thermischer Art gewinnen die 
lebensfähigen Elemente die Oberhand, 
Kurzdauernde Bäder mit aktiver Be¬ 
tätigung. — Heiße Bäder bei Neuritiden. 
Bei Gelenkrheumatismus trat oftmals 
nach Kurbeginn ein Rückfall ein, der 
vier Tage zu dauern pflegte. Chronischer 
Muskelrheumatismus war häufig. —Tabes 
nicht zu viel mit Bädern behandeln, um 
keine überflüssigen Reize zu setzen. — 
Theorie der Wärmebehandlung: Wie Licht¬ 
strahlen bei Durchtritt durch ein Medium 
durch Interferenz usw. ihre Qualität 
ändern, wie Töne je nach Mischungs¬ 
verhältnis zwischen Ober- und-Uritertönen 
eine aufreizende oder beruhigende Wir¬ 
kung haben, so erleben auch die Wärme¬ 
strahlen im Medium des Mineralwassers 
Qualitätsänderungen und wirken je nach 
Mischung dieser Qualitäten aufreizend 
oder beruhigend. — Man sollte die ver¬ 
schiedenen Quellen nach diesem Gesichts¬ 
punkt untersuchen und die Indikationen 
-danach stellen. — Die verschiedenen 
Wärmeapplikationen wdrken bekanntlich 
verschieden! 

Laqueur zeigte einige kleine trans¬ 
portable Redressionsapparate ünd sprach 
sich günstig über die Wirkung der Dampf- 
douche, der Höhensonne, der Aureole und 
des Föhn (mal perforant) aus. Heilung 
eines Raynaud mit Dampfdouche. 

Fürstenberg schilderte eine häufig 
'beobachtete akute Myalgie der Schulter¬ 
muskeln. — Heftige Schmerzen, die den 
Schlaf stören, Spannung und Empfind¬ 
lichkeit der Muskeln. Keine Schwellung, 
Gelenk frei (Rö), kein Fieber. Dauer drei 
Wochen. — Später Insertionsknötchen, 
Faserverhärtungen, Atrophie. •— Leichte 
Rezidive (Schipperkrankheit). Behand¬ 
lung: Fixierung, feuchte Wärme, Dampf¬ 
strahl, dann Massage usw. Kein Frießnitz, 
da äußerst schmerzsteigernd.. 

B i e 1 i n g (Friedrichroda): Referat üb er, 
Bäderbehandlung der Kriegsbescliädigun- 
gen des Nervensystems: Kriegsneurotiker 
gehörten vor den Facharzt'und heraus aus 
den Lazaretten. Erholungskuren mit 
Psychotherapie, Wachsuggestion, Hyp¬ 
nose bei gutem Kurleben, Bewegung 


(Luft- und Sonnenbad, Gymnastik). — 
Manchmal Psychoanalyse notwendig. — 
Organische Leiden müßten behoben wer¬ 
den und die Aufmerksamkeit davon ab¬ 
gelenkt. — Kriegsneurosen kommen jetzt 
nur noch äußerst selten ziir Behandlung. 
Die noch krank sjnd, wollen es auch bleiben. 

Haeberlin (Wyk auf Föhr): Die See¬ 
hospize spielen eine wichtige Rolle zur 
Hebung der Volksgesundheit. Atem¬ 
mechanik .wird gut beeinflußt. 5,3 bis 
7,5 ccm Brustumfangszuwachs bei Kin-’ 
dem, Calorienzufuhr vermehrt, Muskel¬ 
kraft ebenfalls, Blutkörperchen und Hä- 
matochrom, Längenwachstum nehmen zu.. 

— Im Kriege nahmen 60% der'Kinder 
wegen • Ernährungsschwierigkeiten ab. 
Schwerkranke dagegen (Knochenfisteln,- 
Drüsenfisteln usw.) nahmen zu. —Freilich 
erklärt sich das durch die Besserung des 
lokalen Leidens. — In die Seehospize ge¬ 
hören die Knochentuberkulosen und Skro- 
phulosen. Es müssen Bettenhospize mit 
chirurgischer Versorgung in großem Ma߬ 
stabe gegründet werden; Für uns kommt 
für lange Zeit nur die See in Frage. Im 
außerdeutschen Europa gilt die See all¬ 
gemein als Indikation für Knochentuber¬ 
kulose. — Nicht als ultimum refugium 
die See, sondern möglichst früh. — Be¬ 
sonnung, frische Luft usw. ist wichtigster 
Heilfaktor. 

Auch bei Rhachitis ausgezeichnete 
Erfolge (80 bis 90 %, wie im Ausland). 

— Phosphor- und Kalkretention wächst 
an der See. Babystationen müssen^ ein¬ 
gerichtet werden. — Also: mehr Auf¬ 
merksamkeit der See; Binnenlandheim¬ 
stätten allein genügen nicht! 

H. Lilienstein (Nauheim) demon¬ 
strierte einen handlichen Apparat, mit 
dem die Stromstöße, die im Elektro- 
kardiographen das Kardiogramm bedeu¬ 
ten, hörbar gemacht werden; eine große 
Vereinfachung dieser Untersuchungs¬ 
methode! 

H. Steyerthal (Kleinen) sprach zu¬ 
gunsten hypnotischer Behandlung geeig¬ 
neter Fälle und H. Lasker (Berlin) gab 
eine ambulante Behandlung der Thrombo¬ 
phlebitis der unteren Extremitäten ver¬ 
mittels Stützverbänden an. 


Referate. 


Über die Häufigkeit der Darmamöben 
und Amöbenruhr in Deutschland berichtet 
Fischer (Kiel) auf Grund neuer Unter¬ 
suchungen. Die moderne Bakteriologie 
unterscheidet bekanntlich die Entamoeba 


histolytica, die zur Ruhr führt, und die 
Entamoeba coli, die für den Menschen 
nicht pathogen ist. Zwischen beiden For¬ 
men bestehen gewisse, morphologische 
Unterschiede, z. B. enthalten die Cysten 



161 


JVpril Die Therapie der Gegenwart 1920 


der Ruhramöbe höchstens vier Kerne, 
dagegen die der Darmamöbe bis zu acht! 
Ferner erzeugt die Ruhramöbe bei Katzen 
eine Dickdarmerkrankung, die Entamoeba 
coli ist für Katzen nicht pathogen. Die 
neueren Amöbenfofschungen haben er¬ 
geben, daß sowohl die Ruhramöbe wie 
die harmlose Darmamöbe nicht nur in 
den Tropen, sondern auch in Europa 
weit verbreitet sind. Nur wird an diese 
Krankheit bei uns wenig gedacht, daher 
nur selten die richtige Diagnose gestellt. 
Eine einmalige Stuhluntersuchung reicht 
nicht aus; zur exakten Diagnosenstellung 
.gehört mehrmalige Kontrolle. Verfasser 
untersuchte 120 Stühle voh Magen- 
Darmkranken auf die Anwesenheit von 
Amöben. Er fand die Ruhramöbe in zwei 
Fällen, die Darmamöbe in elf Fällen. Bei 
den mit Entamoeba histolytica Infizierten 
bestanden dysenterische Darmbeschwer¬ 
den, die Entamoeba coli machte’jedoch 
bei keinem der elf Kranken ruhrartige 
Erscheinungen. Verfasser schließt sich 
daher der Ansicht an, daß Ruhr- und 
Darmamöben zwei verschiedene Specien 
seien. Zur endgültigen Entscheidung 
müßte jedoch noch eine viel größere Zahl 
von Kranken Und Gesunden »auf das 
Vorhandensein von Amöben im Stuhl 
untersucht werden. Viele Fragen harren 
noch ihrer Lösung, z. B. warum die Ruhr¬ 
amöbe in unseren Breiten nur so selten 
zur Weiterverbreitung der Krankheit 
führt. Schmalz (Berlin). 

(B. kl. W. 1920, Nr. 1). 

Beiträge zur Klinik, Bakterio¬ 
logie und Therapie von Bacillen¬ 
trägern der Typhus-und Ruhrgruppe 
veröffentlicht H. Herrn el. Von den zur 
Behandlung der Bacillenträger in der 
letzten Zeit empfohlenen Mitteln wurde 
durch den Thymolpalmitinsäureester und 
durch das Nißlesche Verfahren mit hoch¬ 
wertigen Colistämmen kein- Erfolg er¬ 
zielt. Das von Stüber ,vorgeschlagene 
Cystinquecksilberpräparat versagte in 
65% der behandelten Fälle. Jede ab¬ 
gelaufene Typhus- und Paratyphuserkran¬ 
kung und jeder Bacillenträger sollte als 
bakteriologisch geheilt erst dann ange¬ 
sehen werden, wenn neben den Stuhl- 
und Urinuntersuchungen auch die öfters 
mit Hilfe der Duodenalsonde gewonnene 
Galle sich als frei von Bacillen erwiesen 
hat. Bei Paratyphusbacillenträgern wurde 
in 15 Fällen ein Krankheitsbild beob¬ 
achtet, das mit Schüttelfrost, unregel¬ 
mäßigem Fieber, Leberschwellung und 
meist mit Ikterus einherging. Die Ur- 


' ♦ . 

Sache ist eine Ansiedlung der Bacillen im 
Leberparenchym (Hepatitis paratyphosa). 

Hetsch (Frankfurt a. M.). 

(Beitr. z. Klinik d. Inf.-Krankh. u. z. Immunit.- 
Forschg. Bd. 8, H. 3.) 

Einen bemerkenswerten Beitrag zur 
Imm unotherapie des Carcinomsliefert 
C. Lewin. Einer Frau wurde wegen Car¬ 
cinoms die Mamma' exstirpiert. Schon 
ein Jahr später trat ein Narbenrezidiv 
und eine Metastase in der rechten Orbita 
auf. Nochmalige Operation und Röntgen¬ 
bestrahlung des Auges und der Brust¬ 
wunde besserte vorübergehend ein wenig 
das Leiden. Nach weiteren sechs Mo¬ 
naten trat Ascites auf, der an Ausdehnung 
allmählich zunahm. Verfasser begann 
jetzt mit der Autoserotherapie, das heißt, 
er punktierte mit der Spritze 10—^20 ccm 
Flüssigkeit aus der Bauchhöhle und inji¬ 
zierte diese sogleich subcutan. Diese In¬ 
jektionsbehandlung fand zwei bis dreimal 
wöchentlich statt. Gleichzeitig wurde die 
Krebsaussaat der Brust energisch be¬ 
strahlt. Beim Ablassen des Ascites wur¬ 
den große Tumoren im Abdomen fest¬ 
gestellt. Diese Behandlung wurde mit 
kleinen Unterbrechungen längere Zeit 
fortgesetzt, mit dem Erfolg, daß sowohl 
Ascites als auch die Bauchtumoren und 
die Krebsknötchen auf Brust und Rücken 
verschwänden. Dieser Erfolg kann nur 
auf die Immunotherapie bezogen werden, 
da vorher ohne diese dauernd Verschlech¬ 
terung eintrat. Ähnliche günstige Err 
fahrungen machte Verfasser in zwei an¬ 
deren Fällen mit Brustfellcarcinose und 
Peritonitis carcinomatosa. 

Gegen diese Therapie ließe sich nur 
das eine Bedenken geltend machen, daß 
eventuell an der Injektionsstelle durch 
infizierte Tumorzellen Metastasen . ent¬ 
stehen könnten. Bei den vielen vom Ver¬ 
fasser ausgeführten Injektionen ereignete 
sich aber nie ein solcher Zwischenfall. Man 
wird daher diesen allenfalls möglichen 
Nachteil bei den großen Vorteilen dieser 
Therapie mit in Kauf nehmen müssen. 

(B. kl. W. 1919, Nr. 52.) Schmalz (Berlin). 

Deck er-München berichtet über gün¬ 
stige Erfahrungen mit dem durstbeschrän¬ 
kenden Mittel Cesol-Merck, das von 
Umber (diese Zeitschr. 1919, S. 121) ein: 
geführt worden ist. Cesol ist ein von 
Wolffenstein und Löwy synthetisch 
hergestelltes Pyridmderivat, das wie ein 
stark abgeschwächtes Philocarpin wirkt. 
Die Wirkung scheint hauptsächlich in 
starker Speichelsekretion zu bestehen. 
Decker hat die volle Dosis, 0,2 in 1 ccm 

21 . 





162 


Die Therapie der 


Gegenwart 1920 




Wdsser, injiziert und dadurch postppe- 
rative Durstzus.tände mit Erfolg be¬ 
kämpft. Die Wirkung . hielt vier bis 
sechs Stunden an; die Einspritzung 
konnte wiederholt werden, schädliche 
Wirkungen wurden nicht beobachtet. 

Im Gegensatz zu den günstigen kli- ' 
nischen Beobachtungen steht eine Notiz 
in den Therapeutischen Halbmonäts- 
heften, die auf Grund chemischer Er¬ 
wägungen die pharmokologischen Grund¬ 
lagen der Anwendung von Cesol und Neu- 
Cesol kritisiert und sogar ,die Wissen¬ 
schaftlichkeit des Erfinders anzweifelt. 

H. Bloch (Berlin). 

(D. M. W. 1920, Nr. 3,Ther.Haibmh. 1920, Nr. 1.) 

Über Chinidin bei Vorhof sflim- 
mern berichtet Klewitz. 15 Fälle, 
davon 13 mit Chinidin, 2 mit Chinin, 
wurden behandelt. Acht 'davon hatten 
Dekompensation. Während sieben Fälle 
verschiedene, meist muskuläre Erkran¬ 
kungen aufwiesen, hatte der Rest Mitral¬ 
fehler. Die Gaben waren täglich vier- 
bis fünfmal 0,2 g Chinidin, in letzter Zeit • 
dreimal 0,4 g. Mit Ausnahme weniger 
Fälle Ab.setzen, wenn nach drei bis vier 
Ta^en kein Erfolg. Nur in einem Falle 
(junges Mädchen mit frischer Endokar¬ 
ditis) nachhaltiger Erfolg, indem nach 
drei Tagen das Flimmern verschwand und 
dauernd ausblieb. In den übrigen Fällen 
schwand das Flimmern auch nicht vor¬ 
übergehend, wenn auch unter Chinidin 
in vier Fällen der Puls ruhiger und lang¬ 
samer. wurde. Die Stauung wurde nie 
beeinflußt. . Nebenwirkungen wurden, 
auch in einem Falle, wo Chinin solche 
machte, nicht beobachtet, wohl aber 
wurde in zwei Fällen unter Chinidin die 
Herzschwäche stärker, um nach Absetzen 
wieder zurückzugehen. (Chinin hat be¬ 
kanntlich negativ chronotrope und ino- 
trope Wirkung auf die Herzaktion.) 

'Bei einigen Versagern leistete Chinin¬ 
digitalismedikation noch Gutes. 

Sehr lange Chinidinmedikation konnte 
in einzelnen Fällen auch ohne Einwirkung 
auf das Flimmern die Herzkraft erheblich 
bessern. 

Zu einer klaren Indikationsstellung 
für Chinidinbehandlung ist auch Kle¬ 
witz nicht gekommen; die Erfolge der 
Chinidintherapie werden also bis auf 
weiteres noch schwankende sein. 

(D. m. W. 1920, Nr. 1.) Waetzoldt. 

Dr. K. Nürnberger berichtet über 
einen Fall von Diabetes insipidus bei Zer¬ 
störung des Hypophysenhinterlappens 
durch Krebsmetastasen und Freibleiben 


des Vorderlappeiis. , Auf Grund dieses 
Befundes schließt sich Verfasser der 
V. Haunschen Theorie an, die besagt,, 
daß Zerstörung des Hypophysenhinter¬ 
lappens allein noch keinen Diabetes in¬ 
sipidus mache, ein solcher sei vielmehr 
noch an einen intakten beziehungsweise¬ 
funktionstüchtigen Vorderlappen gebun¬ 
den. Dem Vorderlappen komme eine- 
diuretische, dem Hinterlappen eine anti¬ 
diuretische Wirkung zu. Bei Zerstörung: 
des letzteren erlange der antagonistisch 
wirkende Vorderlappen das Übergewicht 
und bewirke s6 eine vermehrte Diurese. 
Bei gleichzeitiger Zerstörung von Vorder- 
und Hinterlappen der Hypophyse käme 
kein Diabetes insipidus zustande. 

(B. kl. W. 1920, Nr, 1.) Schmalz (Berlin). 

Daß Digitalis unter Umständen die 
Diurese hemmen kann, hat Jarisch an 
zwei Schrumpfnierenkranken beobachtet. 
In den therapeutisch gebräuchlichen 
Dosen bewirkt Digitalis in der Norm eine 
Erweiterung der Nierengefäße, in grö¬ 
ßeren hingegen verengt es dieselben. In 
den vom Verfasser mitgeteilten Fällen 
trat die Diuresehemmung beziehungs¬ 
weise die ihr zugrunde liegende Verenge¬ 
rung der Nierengefäße , schon bei einer 
mittleren Dosis ein, oder mit anderen 
Worten: eine therapeutische . Gabe ver¬ 
hielt sich wie eine toxische. Kleinste 
Digitalisdosen hingegen führten in dem 
einen Falle zu deutlicher Diurese. Die 
Ursache hierfür sieht Verfasser in einer 
gesteigerten Erregbarkeit der Nieren¬ 
gefäße; durch diese sei der Schwellenwert 
sowohl für die verengernde als auch für 
die erweiternde- Gefäßwirkung der Di¬ 
gitalis herabgesetzt. Für die Anwendung 
der Digitalis am- Krankenbett ergibt sich 
daraus die Forderung, bei Schrumpfnieren 
mit der Dosierung vorsichtig zu sein und 
kleinen- Dosen den Vorzug zu geben. 

(B. kl.W . 1919, Nr. 52.) Schmalz (Berlin). 

Barriberger (Kissingen) machte den 
Versuch, eine Dysbasia angiosklerotica 
ihterniittens bei einem 51jährigen Manne 
mit Chinin zu behandeln. Das Leiden be¬ 
stand an beiden Beinen seit einer Reihe 
von Jahren und ging vielleicht auf Tabak- 
mfßbrauch zurück. Es wurden anfangs 
dreimal täglich 0,2 g Chininum bisulfuri- 
cum, später dreimal 0,3 g dieses Mittels 
gegeben. Die ganze Chininkur war mit 
6 g bestritten. Die Beschwerden schwan¬ 
den auffallend rasch, der Patient konnte 
bis 1% Stunden ununterbrochen gehen. 
Das Verhalten der Gefäße an den Füßen 
war wieder normal. Nebenher wurde 




April - • ,P'ie Therapie der Gegenwart 1920 ' .163 


Kissinger Kur gebraucht (CO 2 , Sprudel 
und Moorfußbäder). 

Bamberger glaubt den Erfolg dem. 
Chinin zuschreiben zu sollen, da er sonst 
bei ^er Erkrankung mit der Kissinger 
Kur allein keine so durchschlagenden Er¬ 
folge hatte, und hält eine Nachprüfung 
für angezeigt. . Waetzoldt. 

(M. Kl. 1920, Nr. 5.) 

Vor einiger Zeit hatte Bittorf mft- 
geteilt, daß bei schwerem akuten Mus- 
kelrheumatisnrus im Blute ■ Eosino¬ 
philie, bei chronischem Muskelrheuma¬ 
tismus Lymphocytose zu finden sei. Seine 
Befunde werden jetzt von Ina Syn- 
woldt bestätigt. Bei 19 Fällen von 
schwerem akuten Muskelrheumatismus 
waren die Eosinophilen in fast 79% deut¬ 
lich vermehrt, es fanden sich bis zu 18% 
und 22% Eosinophile im Ausstriche. Bei 
elf Fällen von chronischem Muskelrheu- . 
matismus waren höchstens 1 bis 3% 
Eosinophile, dagegen in 81,8% der Fälle 
30% Lymphocyten, in 54,4% über 40% 
Lymphocyten im Präparat. Diese Be¬ 
funde sind 'von Bedeutung für die Diffe¬ 
rentialdiagnose gegen leichte Fälle von 
Trichinose, bei der bisher die enorme Ver-, 
mehrung der Eosinophilen als patho- 
gnomonisch galt. Bei beiden Erkran¬ 
kungen ist die Entstehung der Eosino¬ 
philie wohl als Reizwirkung auf die hä- 
matopoetischen Organe durch Zerfallspro¬ 
dukte des Muskeleiweißes aufzufassen. 

(M. m. W. 1920, Nr. 4.) Nathorff (Berlin). 

Friedländer (Hohemark) weist dar¬ 
auf hin, daß für die Behandlung der 
Epilepsie die Stellung einer exakten 
Diagnose die Hauptbedingung sei. Es 
müssen daher alle Faktoren ausgeschaltet 
werden, die sekundär zu epileptiformen 
Anfällen führen. Bei echter Epilepsie 
kommen therapeutisch die einfache Brom¬ 
kur oder die mit Opium beziehungsweise 
Arsen kombinierten Kuren in Frage. 

Verfasser empfiehlt als symptomati¬ 
sches Mittel in der Epilepsiebehandlung 
ganz besonders das Luminal. Die Wir¬ 
kung des Mittels macht sich sofort durch 
Ausbleiben beziehungsweise Verminde¬ 
rung der Zahl der Anfälle geltend. Das 
Luminal ist aber kein harmloses Mittel, 
man muß .daher tastend die geringste 
Dosis herauszufinden versuchen, mit der 
es’ gelingt, die Anfälle zu unterdrücken. 
Man beginnt bei Erwachsenen mit 0,1 
bis 0,2 g pro dosi, etwa zweimal täglich. 
Nur leichte Fälle sollen ambulant be¬ 
handelt werden, schwere benötigen Bett¬ 
ruhe, Diät und zur Erzielung einer ge¬ 


nügenden Wirkung bis zu dreimal 0,3 g- 
Luminal täglich. Die Vorteile der Lu- 
. minal- gegenüber der Bromkur bestehen 
in dem Fortfall des Bromismus, die Nach¬ 
teile in-der einschläfernden Wirkung des 
Luminals. Wenn man aber die geringste 
Dosis wählt, mit der man die gewünschte 
Wirkung erzielt, kann man das Mittel un¬ 
bedenklich I monatelang mit gewissen 
Unterbrechungen geben. . 

(Ther. Mh. 1919, H. 12.) Schmalz (Berlin). 

- Über eine Essigsäurevergiftung mit 
Ikterus berichtet Kaznelson. Eine 
27jährige Frau hatte 30 g einer 64 %igen 
Essigsäure enthaltenden, nicht durch an¬ 
dere Substanzen verunreinigten Essig¬ 
essenz getrunken. Ein Teil wurde ei;- 
brochen. Der Urin war tiefschwarz, ent¬ 
hielt Oxyhämoglobin und Methämoglobin 
in großer Menge. Keine Erythrocyten, 

. dagegen Cylinder und Nierenepithelien. 
Ehrlichsche Aldehydreaktion immer ne¬ 
gativ; geringe absolute und relative Leu- 
kocytose. Vermehrung der Blutplättchen. 

Am nächsten Tage Zustand wesent¬ 
lich verschlimmert, Blutdruck 70 R-R, 
leichter Ikterus. Am nächsten Tage Leu- 
kocytose wesentlich stärker als zu Anfang. 
Am folgenden, dem vierten Tage, Exitus.. 
Die Sektion ergibt neben dem Ikterus und 
den ja zu erwartenden Verätzungen Blu¬ 
tungen in Lungenfell und Lungen, eine 
beginnende Peritonitis, weiche blutreiche 
Leber mit verwaschener Zeichnung. Im 
ganzen also das Bild der typischen. Essig¬ 
säurevergiftung. 

Daß es sich dabei um einen echten 
hämolytischen Ikterus handelt, konnte 
Kaznelson dadurch nachweisen, daß er 
die verminderte Resistenz der Erythro¬ 
cyten prüfte, sie ergab sich 10 Stunden 
nach Einnahme des Giftes: Beginn der 
Hämolyse bei^ 0,5% Kochsalz, Voll¬ 
ständigwerden derselben bei 0,34 %., Am 
dritten Tage waren die entsprechenden 
Zahlen 0,56% und 0,32%. Auch die von 
van Bergh angegebene Unterscheidung 
zwischen mechanischem und nichtmecha¬ 
nischem Ikterus, indem bei ersterem das 
Bilirubin sowohl in wässerigerwiein alkoho¬ 
lischer Lösung die Ehrlichsche Bilirubin- 
. reaktion mit Diazoniumkörpern gibt, bei 
nichtmechanischem Ikterus dagegen nur in 
alkoholischer Lösung, sprach für letzteren. 

Das wichtigste Ergebnis der Unter¬ 
suchung aber war, daß das Serum trotz 
dunkelbraungelber Farbe keineswegs be¬ 
sonders viel Bilirubin enthielt. (Werte 
von 0,7—0,5 auf 200 000, wie sie noch im 
Bereiche der Norm liegen.) Nun muß aber 

21* 



164 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


zum Entstehen von Ikterus der Bilirubin¬ 
spiegel des Blutes drei- bis fünfmal so 
hoch sein wie diese Werte. Der Ikterus 
muß also durch Eindringen, eines anderen 
Farbstoffes in Blut, Haut und Skleren 
entstanden sein. Die spektroskopische 
Untersuchung ergab denn auch, daß es 
sich um eine Hämatinämie handelte, indem 
sich im Serum Hämatin in großer Menge 
nachweisen ließ. Man wird also kaum 
umhin können, auch den Ikterus als einen 
durch Ablagerung von Hämatin beding¬ 
ten Scheinikterus aufzufassen, wenn man 
nicht annehmen will, daß noch in der Haut 
das Hämatin sich in Bilirubin umsetzte. 

(M. KI. 1920, Nr. 6.) • , Wa e t z o 1 d t. 

Beobachtungen über die Febris her¬ 
petica teilt aus dem Vereinslazarett. Deut¬ 
sches Rotes Kreuz in Konstantinopel 
Th. Zlocisti (Berlin) mit. Er vertritt 
die Ansicht, daß nach Ausschaltung aller 
epidemiologisch, bakteriologisch und sero¬ 
logisch erfaßbaren, auch mit Herpes ein¬ 
hergehenden Fälle eine Gruppe kurz¬ 
fristiger, grippeähnlicher (mit Schüttel¬ 
frost beginnender, durch rheumatoide 
Erscheinungen und durch das Fehlen von 
Katarrhen der Luftwege ausgezeichneter) 
Krankheiten übrig bleibt, die durch das 
Auftreten von Herpes wenige Tage nach 
der Entfieberung charakterisiert sind 
und als nosologische Einheit aufgefaßt 
werden müssen. Der Herpes kann bei 
epidemiologisch einheitlichen Fällen ge¬ 
legentlich auch fehlen. Die Fieberkurve 
ist charakteristisch und bietet oft mehr 
oder weniger rhythmisierte Nachschwan¬ 
kungen. Ob diese Rhythmik immer im 
Wesen der Krankheit liegt — also prin¬ 
zipiell in der gleichen Richtung und aus 
den gleichen Gründen wie die Paroxysmen 
etwa der Malaria und des Recurrens — 
oder ob es sich nur um schnell folgende 
Rückfälle oder um ein Weitergreifen auf 
ein anderes Organ handelt (kleinste 
Bronchopneumonien, Beteiligung der Ne¬ 
benhöhlen), bleibt dabei unentschieden. 

Hetsch (Frankfurt a. AJ.). 

(Beitr. z. Klinik d. Inf.-Krankh. u. zur Im- 
munit.-Forschg. Bd. 8, H. 3.) 

Über das Vorkommen der Erreger der 
ansteckenden Gelbsucht (Weilschen 
Krankheit), der Spirochaeta icterogenes, 
bei frei lebenden Berliner Ratten be¬ 
richten Uhlenhut und Margarete 
Z Li e 1 z e r, daß von 89 untersuchten Ratten 
neun, also etwa 10%, den Erreger in 
Nieren und Urin beherbergten. Die Tiere 
selbst machten einen ganz gesunden 
Eindruck, bei ihnen scheint die Erkran¬ 


April 


kung latent zu verlaufen.. Für Meer¬ 
schweinchen und Mäuse waren die- ge¬ 
fundenen .Spirochäten pathogen. Die 
Tiere erkrankten unter den typischen 
Erscheinungen des Ikterus. Die-^^Spiro¬ 
chäten ließen sicF in Passagen fortzüch¬ 
ten, sie glichen in weitgehender Überein¬ 
stimmung dem Weilspirochätenstamme 
des Reichsgesundheitsamts — aus wel¬ 
chem die Arbeit stammt.—, welcher im 
Felde von Uhlenhut und Fromme 
vom kranken Menschen auf Meerschwein¬ 
chen übertragen und dann weiterge¬ 
züchtet worden war, wenn sie auch an¬ 
scheinend weniger virulent waren. Ins¬ 
besondere schützte ein von Kaninchen 
gegen den „Ratten‘‘stamm gewonnenes 
Immunserum auch gegen diesen ,,Men- 
schen“stamm und bewies damit wohl 
endgültig die Identität. 

Die Verfasser nehmen an, wenn auch 
sichere Beweise nicht bestehen, daß diese 
bei den frei lebenden Ratten gefundenen 
Spirochäten für den Menschen zweifellos 
pathogen sein können; aber, da hier der 
Mensch unter gewöhnlichen Verhält¬ 
nissen mit der Ratte selten in nähere 
Berührung kommt, mit der Ratte, die 
den Krankheitserreger mit dem Urin 
ausscheidet, so sei die Ansteckungsgelegen- 
heit gering; die Spirochäten gehen beim 
Austrocknen und im Sonnenlicht rasch 
zugrunde. Anders in Unterständen, 
Höhlen, Kohlengruben usw. Hier könnten 
die mit dem Rattenurin in Rhagaden oder 
Verletzungen der Hände eindringenden 
Keime ohne weiteres Unheil stiften. — 
Ein neuer Grund, den Kampf gegen die 
schädliche und in mehr als einer Rich¬ 
tung hygienisch und epidemiologisch ge¬ 
fährliche Ratte aufzunehmen. 

(M. Kl. 1919, Nr. 51.) J. v. Roznowski. 

Über Versuche zur Beeinflussung des 
Wachstums der Horngebilde (Haare, 
Nägel, Epidermis) durch specifische Er¬ 
nährung berichtet N. Zuntz. Bekannt¬ 
lich bedarf der Körper außer den all¬ 
gemein bekannten Eiweiß, Fett, Kohle¬ 
hydraten, Salzen noch einer Anzahl 
anderer, als Ergänzungs&toffe bezeich- 
neter Körper, deren Fehlen zu wesent¬ 
lichen Störungen Veranlassung gibt. 
Schon die Zusammensetzung der Horn¬ 
gebilde unterscheidet sich ganz wesentlich 
von der anderer Eiweißstoffe, und zwar 
wesentlich im Sinne eines sehr viel 
größeren Schwefelgehalts. Schon das 
läßt auf einen sehr hohen Cystingehalt 
der Hornsubstanzen schließen, und tat¬ 
sächlich enthalten sie 7 bis 8% gegen 





April 


165 


Die Therapie 


0,2 bis 0,5% sonstiger Eiweißkörper. Im 
1 Selbstversuch stellte Zuntz nun fest, 
daß bei Zufühfung von täglich 1,5 g durch 
Hydrolyse völlig resorbierbar gemachter 
Hornsubstanz der tägliche Zuwachs seines 
Kopfhaars von 5 mg vor den Versuchen 
auf 6,3 mg in den nächsten vier Wochen 
und im nächsten Monat sogar auf 9,2 mg 
stieg. Die Steigerung hielt auch nach 
Aussetzen der Hornhydrolysatzufuhr noch 
einige Monate langsam sich verlierend an. 

Parallelversuche an Wollschafen (täg¬ 
lich 10 bis 15 g Hydrolysat) ergaben eine 
Steigerung des Haarquerschnittes von noch 
^icht sieben auf über acht Mikromilli¬ 
meter. Entsprechend würde sich der Woll- 
gewinn gegenüber nicht gefütterten 
Schafen wie 1,74 zu 1 'verhalten. Die 
ökonomische Bedeutung eines solchen 
Versuchs ist klar. 

Bef zwei fast Kahlköpfigen — mit in¬ 
takten Haarwurzeln! —war die Wirkung 
gleichfalls sehr deutlich und ebenso das 
Dichterwerden des Haares bei Frauen 
mit dünnem Haar. Parallel mit der Ver¬ 
änderung der Haare ist ein Fester-und 
Stärkerwerden der Nägel und der Epi¬ 
dermis zu bemerken. Die Hydrolyse des 
Hornes muß mit einer gewissen Vorsicht 
geschehen, um Spaltung des Cystins zu 
vermeiden. Übrigens scheinen noch 
andere Stoffe im Horn enthalten und 
wirksam zu sein, da über 30% des Hornes 
nicht in Form wohlcharakterisierter 
Ammosäuren bei der Analyse erhältlich 
sind, wie das ja allerdings auch für die 
meisten Eiweißarten die Regel ist. Darum 
ist die Vermeidung möglichst jeden Ver¬ 
lustes bei der Hydrolyse besonders wichtig. 

Für die Verwendung am Menschen 
wird ein reines Präparat von Fattinger 
iSc Co., Berlin, Dorotheenstr. 35, unter 
dem Namen Humagsolan hergestellt. 

Nachprüfungen dieser Resultate sind 
erwünscht. Waetzoldt. 

(D. m. W. 1920, Nr. 6.) 

Dr. Emil Schepelmann (Hamborn 
a. Rh.) berichtet über zwei Fälle von 
doppelseitiger schwerer Klunipfußbildung 
bei Geschwistern, welche er im Alter von 
27 beziehungsweise 19 Jahren, und zwar, 
wie die beigegebenen Aufnahmen er¬ 
kennen lassen, mit gutem Erfolg operierte. 
Er exstirpierte ähnlich wie 0. Weber, 
Dovy, Colley und Andere einen late¬ 
ralen Keil aus der Fußwurzel ohne Rück¬ 
sicht auf die anatomischen Verhältnisse. 
Die Tenotomie der Achillessehne und der 
Plantaraponeurosen nahm er in einer 
zweiten Sitzung vor, in der ein noch¬ 


Oegenwart 1920^ 


maliges Redressement die endgültige Fuß- 
Stellung herbeiführte. Georg Müller. 

(Zschr. f. orthop. Chir. Bd. 39, 3. Heft.)^ ^ 

"frotz zahlreicher Veröffentlichungen 
Ciber die Behandlung der verschieden¬ 
artigsten Krankheiten mit Milchinjek¬ 
tionen sind wir üben die wirksamen 
Prinzipien und die theoretischen Voraus¬ 
setzungen der Milch- und im weiteren 
Sinne der Proteinkörpertherapie noch 
ziemlich im Dunklen. Einen Beitrag zur 
Frage nach dem Wesen und dem wirk¬ 
samen Faktor der Milchtherapie versucht 
Lindig zu geben. Er glaubt in dem 
Casein das wesentliche Prinzip gefunden 
zu haben und in dessen Anwendung die 
Nachteile vermeiden zu können, die der 
Milch anhaften. Dies sind vor allem die 
mangelhafte Dosierbarkeit; denn da die 
Zusammensetzung der Milch von den 
verschiedensten Faktoren abhängig ist, 
von Rasseeigentümlichkeiten, Melkzeit, 
Laktationsstadium, Fütterungsverhält¬ 
nissen und anderem, kann man nicht 
annehmen, daß jedesmal mit der gleichen 
Menge Flüssigkeit auch die gleiche Menge 
an Eiweißstoffen injiziert wird. Die 
optimale Dosis ist also dabei nicht zu 
bestimmen und die Gefahren einer un¬ 
genauen Dosierung sind nicht gering ein¬ 
zuschätzen. Auch die subcutane be¬ 
ziehungsweise intramuskuläre Applika¬ 
tion ist unzulänglich, da, abgesehen von 
den Schmerzen, individuelle Verschieden¬ 
heiten der Resorptionsgeschwindigkeit die 
Art der Reaktion beeinflussen können. 

In einer 5%igen Caseinlösung glaubt 
nun Lindig ein Präparat gefunden zu 
haben, das sich zur intravenösen Injek¬ 
tion eignet. Zur Anwendung gerade des 
Caseins gelangte Verfasser auf Grund von 
Untersuchungen über den Abbau der 
. verschiedenen Milcheiweißbestandteile 
durch homologes Serum von Neugebore¬ 
nen und Schwangeren, die das Vorhan¬ 
densein eines caseolytischen Ferments 
nachwiesen. Im Zusammenhang mit der 
Tatsache, daß das Neugeborene eine hohe 
Immunität .gegen viele infektiöse Er¬ 
krankungen besitzt, also wohl Schutz¬ 
stoffe dagegen im Blute hat, ist anzu¬ 
nehmen, daß eine Beziehung zwischen 
der Höhe des caseolytischen Wirkungs¬ 
grads und der Schutzkraft gegen infek¬ 
tiöse Erkrankungen besteht, und dem¬ 
nach durch parenterale Caseinzufuhr eine 
Erhöhung des caseolytischen Ferment¬ 
titers zu erzielen ist. Lindig hatte bei 
Fällen von septischem Abort sowie bei 
einem schweren Puerperalfieber günstige 



April 


166 .,Die Therapie dir 


Enderfolge, doch waren die einzelnen Re¬ 
daktionen nach den intravenösen Injek¬ 
tionen» teilweise außerordentlich sfc^rk. 
Eine Injektion, die zu einem ,,unmittelbar 
anschließenden Schock unter dem vor¬ 
herrschenden Bilde der allgemeinen Ge¬ 
fäßlähmung“ führt, dürfte doch weit über 
ein therapeutisch zulässiges Maß gehen. 
Herdreaktionen bei abgegrenzten Pro¬ 
zessen wurden häufig beobachtet. Ferner 
fiel eine ziemlich, ausgesprochene Schläf¬ 
rigkeit im Anschluß 'an die Injektionen 
bei vielen Patienten auf. So sehr man 
mit der, Forderung eines gleichmäßigen 
dosierbaren Präparats einverstanden sein 
muß, gegenüber der Anwendung der 
intravenösen Caseininjektionen dürfte 
doch noch Zurückhaltung am Platze sein. 

'Daß auch die theoretischen Voraus¬ 
setzungen des Verfassers von dem Casein 
als dem wirksamen Prinzip der Milch¬ 
injektion anfechtbar ’ sind, zeigt ein 
kurzer Aufsatz von Müller, der die ein¬ 
zelnen Milchbestandteile nach ihrer Wir¬ 
kung prüfte. Er fand mit 3%iger Casein¬ 
lösung ähnliche, aber schwächere Wir¬ 
kung auf gleichartige Krankheitszustände 
als mit reiner Milch. Aber auch mit 
caseinfreier Milch (Milchserum von Bei¬ 
ersdorf) erhielt er besonders auf gonor¬ 
rhoische Prozesse im Prinzip und der Art 
der Wirkung ähnliche Reaktionen, nur in 
geringerer Intensität. Ob Müller mit 
seiner Ansicht recht hat, daß - es sich 
bei der parenteralen Zufuhr von Milch 
nicht um specifische Wirkung bestimmter 
Faktoren, sondern um einen Fremdkörper¬ 
reiz handelt, muß dahingestellt bleiben. 

Regensburger (Berlin). 

(M. m. W. 1919, Nr. 33 u. 44.) 

Die genuine Nephrose (parenchyma¬ 
töse Nephritis) ist eine recht seltene Er¬ 
krankung. Volhard hat sie unter 
seinem großen Material nicht viel mehr 
als zwölfmal beobachtet. Von diesen 
Fällen sind sechs gestorben und zwar 
alle an P neumokokkenperitonitis. 
Einen weiteren Fall von genuiner Ne¬ 
phrose, der an Pneumokokkenperitonitis 
zugrunde ging, veröffentlichen jetzt Bock 
und Mayer. Eine 43 Jahre alte Frau 
erkrankte nach einer Erkältung an hoch¬ 
gradigen Anschwellungen der Beine und 
der Hüftgegend. Im Urin fand sich bis 
zu 127oo Eiweiß und massenhaft granu¬ 
lierte Cylinder. Lipoide wurden nicht 
nachgewiesen, Wassermann war negativ. 
Der Wasserversuch zeigte eine erhebh'che 
Störung der Wasserausscheidung. ' Das 
Herz war nicht vergrößert, der Blutdruck 


Gegenwart 1920 


nie erhöht. Trotz kochsalz- und wasser¬ 
armer Diät, Schwitzprozeduren und Di- 
uretin beziehungsweise Theocin. nahmen 
die Ödeme iu. Mit C ursch man rischen 
Nadeln wurden schließlich 4 1 Ödem¬ 
flüssigkeit abgelassen. Drei Tage vor 
dem Tode Erbrechen und Stuhlverhal¬ 
tung, dann Durchfälle. Temperatur nicht 
erhöht. Gesamtdauer der Erkrankung 
war zwei Monate. Bei der Sektion zeigten 
die Nieren Vergrößerung und Verfettung. 
Mikroskopisch wurden parenchymatöse 
Degeneration der Tubuli und Schleifen, 
intakte Glomeruli und Arteriolen ge¬ 
funden. Das Herz war nicht hypertrp-* 
phisch. Es bestand also in Übereinstim¬ 
mung mit dem klinischen Bilde auch 
pathologisch eine reine Nephrose. Außer¬ 
dem fand sich nun eine frische eitrige 
Peritonitis. Im Eiter wurden Pneumo¬ 
kokken machgewiesen. So schließt sich 
dieser Fall den oben erwähnten sechs 
Volhardschen Fällen als siebenter 'an. 

(M. m. W. 1920, Nr. 4.) Nathorff (Berlin). 

Schwere Blutungen nach Pleurapunk¬ 
tionen werden im allgemeinen nur sehr 
selten beobachtet. Immerhin sind in der 
Literatur Fälle beschrieben, bei denen 
durch die Punktion eine -sklergtische 
Intercostal- oder Lungenarterie verletzt 
wurde und zum Tode führende Blutun¬ 
gen eintraten. In diesen Fällen handelte 
es sich, aber immer um alte hinfällige 
Leute. Daß auch bei Jugendlichen 
eine lebensbedrohende, operativ gestillte 
Lungenblutung nach Probepunktion auf- 
treten kann, beweist ein Fall, den Flesch- 
Thebesius aus der Frankurter chir¬ 
urgischen Klinik veröffentlicht. Bei einem 
15jährigen Patienten war bei einem post¬ 
pneumonischen Empyem nach Grippp 
eine Rippenfesektion vorgenommen wor¬ 
den. Nach scheinbarer Heilung trat plötz¬ 
lich anhaltendes hohes Fieber auf. Wegen 
Verdacht auf Restabsceß wurde von der 
alten Operationsnarbe aus eine Probe¬ 
punktion vorgenommen, die nur dunkles 
Blut ergab. Nach der Punktion verfiel 
der Patient und machte einen schwer 
anämischen Eindruck. Die alte Thorako¬ 
tomienarbe pulsierte deutlich. Bei der 
am nächsten Tage vofgenommenen Ope¬ 
ration entleerte sich 1% 1 dunkelviolett 
gefärbtes Blut aus der alten abgekapsel¬ 
ten Empyemhöhle. Aus'dem unteren 
Drittel der Höhle strömte dauernd hell¬ 
rotes Blut. Die Blutung wurde durch Tam¬ 
ponade gestillt, der Heilverlauf war glatt. 
Man muß annehmen, daß bei der Punk¬ 
tion die Nadel durch die Abseeßhöhle hin- 




April 


Die'Therapie der Qegenwart 1920 rl67 


durch in die Lunge gelangt war und dort 
ein Gefäß eröffnet hatte. Infolge der man¬ 
gelhaften Retraktionsfähigkeit der Lunge 
hatte sich die Gefäßwunde und infolge 
der starren Absceßwand die Punktions¬ 
öffnung nicht schließen können, so daß es 
'dauernd in die Absceßhöhle geblutet hatte. 

(M. m. W. 1920, Nr. 4.) Natho^ff (Berlin). 

Seine Erfahrungen über die^specifi- 
sche Behandlung der Ruhr teilt 
A. Offrem (Elberfeld) mit. Danach ist 
und bleibt das verläßlichste Mittel das 
Serum. Der Ruhrheilstoff Boehncke 
konmit als Mittel für sich allein in erster 
Linie in Betracht bei den leichten Fäl¬ 
len, doch gibt es auch hier ganz vereinzelte 
Fälle, die trotz Ruhrheilstoffbehandlung 
vier bis fünf Tage unbeeinflußt bleiben, 
und in denen man gut tut, geringe Mengen 
von Serum (etwa.öü ccm) voraus zu geben. 
In mittelschweren Fällen ist gleich¬ 
zeitige Anwendung von Serum (durch¬ 
schnittlich 70 ccm) und Heilstoff ange¬ 
zeigt. Die Mortalität betrug bei dieser 
Therapie 7,1%, wobei mehr komplizie¬ 
rende Momente als der eigentliche Ruhr¬ 
prozeß die Todesursache bildeten. Bei 
schweren Fällen führt die alleinige An¬ 
wendung von Heilstoff wohl meist zum 
Tode. Doch auch bei ausgedehnter An¬ 
wendung von Serum und Heilstoff kom¬ 
biniert gibt es immer noch Fälle, die 
einen wenn auch verlangsamten, so doch 
fortschreitenden Verlauf nehmen. Aller¬ 
dings wird bei intensiver Behandlung der 
weitaus größte Teil der Fälle dieser 
Gruppe geheilt. Es starben, wenn von 
den an Komplikationen unabhängig von 
der Ruhr erfolgten Todesfällen abgesehen 
wird, 22%. Bei den schwersten Fällen 
erwies sich auch das Serum in fast allen 
Fällen als nicht ausreichend und ver¬ 
mochte den Tod nur um einige Zeit 
hinauszuzögern. Mortalität hier 92,3%. 
Durch die kombinierte Serum-Vaccine- 
Therapie lassen sich jedenfalls dieselben 
Erfolge erzielen, wie durch ausgiebige 
Serumtherapie allein. Die Einführung 
des Ruhrheilstoffs ermöglicht einmal die 
Ausschließung der Serumanwendung bei 
einer großen Anzahl von Ruhrfällen be¬ 
ziehungsweise die Anwendung bedeutend 
geringerer Serummengen und damit eine 
große Kostenersparnis, sodann ist aber 
die größere Individualisierungsmöglich- 
keit bei Anwendung der' kombinierten 
Therapie ein wichtiger Fortschritt. 

Hetsch (Frankfurt a. M.). 

(Beitr. z. Klinik d. Inf.-K^ankh. ii. i. Iminunit.- 
Forschg. Bd. 8, H. 3.) 


Üb‘er einen tödlich verlaufenen Fall 
von Streptothrixerkrankung äer At¬ 
mungsorgane berichtet A. W. Samo- 
lewski. Bei der Kranken war schon vor 
fünf Jahren offenbar auf Grund der 
-mikroskopischen Sputümuntersuchung — 
die Diagnose. Lungentuberkulose gestellt 
worden. Es ergaben sich aber keine 
physikalisch nachweisbaren Lungenver¬ 
änderungen, auch das Röntgenbild ergab 
keine Zeichen für Tuberkulose. Die Aus¬ 
saat des Sputums auf Glycerinagar ergab \ 
bei Zimmertemperatur, in fünf bis sechs 
Tagen für Streptothrix typische kleine 
Kolonien von gelber Farbe. Der Strepto- 
thrixpilz färbt sich gut nach der Ziehl- 
Gabbetschen Methode, nach der Ziehl- 
Neelsenschen Methode färbt er sich 
nicht immer und in bedeutend schwä¬ 
cherem Grade. Antiforminbehandlung 
des Sputums zerstört den Pilz. 

Hetsch (Frankfurt a. M.). 

- (Beitr. z. Klinik d. Inf.-Krankh. ii. z. Immunit.- 
Forschg, Bd. 8, H. 3.) 

Zur Vorbeugung gegen die Ausbrei¬ 
tung der Tuberkulose durch die Ausschei¬ 
dungen der Harnwege sucht Prof. Dr. 
Theodor Cohn (Königsberg) angesichts 
der bedeutenden Zunahme der Tuberku¬ 
loseerkrankungen das Interesse zu er¬ 
wecken. Wenn während des Zeitabschnit¬ 
tes 1890—1913 ihre Sterblichkeit in Preu¬ 
ßen um 48%, in England um 40%, in der 
Schweiz um^ 34%, in Italien um 15% 
abnahm, so sind (nach Schwalbe) in den 
deutschen Orten mit mehr als 15 000 Ein¬ 
wohnern 43 320 Personen im Jahre 1918 
mehr daran zugrunde gegangen als im 
Jahre 1913, so'daß sich die diesbezügliche 
Sterblichkeit von 15,7 auf 31,7% erhöhte. 
Nach Küster weisen 10% aller tuber¬ 
kulösen Leichen Nierentuberkulose auf, 
während Fischer in 53% Tuberkeln in 
den Nieren fand, Israel ein Drittel aller 
eiterbildenden Erkrankungen der Harn¬ 
wege als tuberkulöser Art bezeichnete. 
Bei 50—70% chronischer Lungentuber-, 
kulose wurden die Nieren ebenfalls tuber¬ 
kulös befunden. — Verfasser sieht nun 
das Gefährliche darin, daß allgemein zu 
wenig Beachtung diesem Umstande ge¬ 
schenkt, der Ursprung des Leidens somit 
häufig verkannt wird; mithin sei den 
einfachen katarrhalischen Affektionen der 
Harnröhre und Blase eine erhöhte dies¬ 
bezügliche Aufmerksamkeit zu widmen, 
um also vorbeugende Maßnahmen treffen 
zu können. Waidschmidt. 

(Öffentl. Gesundheitspfl. 1919, Nr. 8.) 



16B ^_ Die IPhetapie W Gegenwart 1920 - April 

Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Beiträge zur Kenntnis der Grippe. 

Von Dr. Ernst Steinitz, Hannover. / 


4. PvOlymyositis mit tödlichem, 
Ausgang. 

Gesunde, mittel kräftige Frau von 40 Jahren 
mit etwas reichlichem Panniciilus — früher nicht 
krank bis auf leichte gichtische Erscheinungen, 
Familie ohne Besonderheiten, vier Kinder — er¬ 
krankte an anscheinend leichter Grippe ohne be¬ 
sondere Lokalisationen, nach zwei Tagen fieberfrei. 
Nach eintägiger Pause erneuter Temperaturanstieg 
auf 390 , zugleich enorme Schmerzhaftigkeit zuerst 
der Beine, dann auch der Arme. Auf 0,015 Mor¬ 
phium subcutan kein Schmerznachlaß. Warme 
Kompressen bringen etwas Linderung. 

Am Abend dieses Tages sah ich die Patientin 
bei gutem Allgemeinzustand, Puls der Temperatur 
entsprechend beschleunigt, aber hinreichend kräftig. 
•Innere Organe, Reflexe usw. ohne Besondei;heiten, 
kein Kernig, Nackensteifheit ^ oder dergleichen. 
Sensorium frei. Die sehr vernünftige Patientin 
klagt über heftigste Schmerzen in allen vier Ex¬ 
tremitäten, besonders in den Unterschenkeln und 
Oberarmen. Als äußerst druckschmerzhaft zeigt 
sich die ganze Muskulatur der Unterschenkel; 
diese sehen leicht geschwollen aus, etw^a wie bei 
leichter Krampfaderschwellung, ohne eindrückbares 
Ödem. An den Armen ist die Beugeseite des 
Oberarmes am druckempfindlichsten. Auf 0,5 
Chinin -}- 0,5 Antipyrin und 0,02 Morphium (alles 
subcutan) ruhige Nacht. Am andern Tage kehrt 
die Schmerzhaftigkeit in alter Stärke wieder, aber 
am ausgesprochensten an. den Unterarmen. Tem¬ 
peratur abends 39,7°, Puls dauernd gut. Wegen 
der unerträglichen Schmerzen muß die Medikation 
des Vortages wiederholt werden. , Nacht trotzdem 
unruhig. Morgens verliert die Patientin das Be¬ 
wußtsein. Der sofort herbeigerufene Hausarzt 
findet sie bewußtlos mit schwach^ Puls vor, die 
Muskulatur der Unterarme und Unterschenkel 
bretthart geschwollen; trotz Campher- und Cof¬ 
fein-Injektion wird Atmung und Puls unaufhalt¬ 
sam schlechter und tritt um 10 Uhr vormittags 
unter hochgradiger Cyanose der Exitus ein, 

Epikrise: Die unter Fieberanstieg 
auftretende Schmerzhaftigkeit der Extre¬ 
mitäten ließ an eine Thrombose bzw. 
Phlebitis, akute Polyneuritis oder Myo¬ 
sitis denken. Die gleichmäßig auf ganze 
Muskelgruppen sich erstreckende Druck- 
cmpfindlichkeit, das Fehlen venöser Stau¬ 
ung oder anderer Zeichen für Thrombose 
ließ die Diagnose Myositis sicher er¬ 
scheinen. Ob die plötzlich eingetretene 
Herzschwäche durch ein Übergreifen der 
Myositis auf den Herzmuskel oder vielmehr 
durch Toxin-Überschwemmung von den 
zahlreichen in der Extremitäten-Musku- 
latur anzunehmenden Entzündungsherden 
aus zu erklären ist, möchte ich dahin¬ 
gestellt lassen. Die Prognose empfiehlt es 
sich in ähnlichen Fällen mit großer 
Vorsicht zu stellen. 


Die Beobachtung läßt übrigens an die 
Möglichkeit denken, daß bei allen Grippe¬ 
fällen mit ausgesprochenen Muskel¬ 
schmerzen myositische Entzündungsherde 
vorliegend' deren Ausdehnung und Inten¬ 
sität nicht nur die subjektiven örtlichen 
Beschwerden, sondern aucJi die Schwere 
des Allgemeinverlaufs mit bestimmen. 
Unsere Beobachtung würde dann nur als 
abnorme Steigerung einer regulären Teil¬ 
erscheinung der Grippe aufzüfassen sein. 
So wäre der schwere Verlauf mancher 
Fälle ohne andere Lokalisation zu er¬ 
klären; ferner auch die häufig in der Rekon¬ 
valeszenz lange zurückbleibende Schmerz¬ 
haftigkeit der Extremitäten-Müskulatur. 

2. Zur Wirksamkeit des Salvar- 
sans bei der Grippe. 

Mittelkräftiger junger Mann von 24 Jahren 
macht wegen verdächtigen Ulcus’ ohne • Spiro¬ 
chätenbefund eine intensive Salvarsankur, Injek¬ 
tionen mit vier- bis fünftägigen Pausen. Am 
Nachmittage der neunten intravenösen Neosal- 
varsan-Injektion erkrankt er an mittelschwerer 
Grippe mit Bronchitis. Nach neun Tagen wech¬ 
selnden Fiebejrs stellt sich eine Broncho-Pneumonie 
im linken Unterlappen ein. Schwerster Verlauf- 
der Erkrankung: Zwei Tage nach Auftreten der 
Pneumonie intensiver Ikterus. Im Urin Gallen¬ 
farbstoff, starker Eiweißring, massenhaft hyaline, 
granulierte, Epithel-, wachsartige Cylinder, ver¬ 
fettete Epithelien. Stuhlgang nicht entfärbt, zwei 
Tage später heftiger Singultus (der fast eine 
Woche mit kurzen Unterbrechungen anhält, durch 
Morphium- und Dionin-Injektionen ohne Erfolg, 
erst später durch Chloralhydrat rectal, dann durch 
Medinal innerlich mit Erfolg bekämpft wird — 
zeitweise war in Zwerchfellhöhe mit dem Singultus 
synchrones Reiben hörbar, also Pleuritis sicca 
diaphragmatica). Im Sputum nur Pneumokokken. 
Eine Woche nach Beginn der Pneumonie Pseudo¬ 
krise mit hochgradiger Herz- und Vasomotoren¬ 
schwäche, die nur durch größte Dosen Campher 
und Coffein, im kritischen Moment außerdem 
durch Suprarenin- und intravenöse Strophanthin- 
Injektion überwunden wird. Lytische Entfieberung, 
sehr langsame Rekonvaleszenz, während deren 
der mikroskopische Harnbefund noch lange be¬ 
stehen bleibt. 

Epikrise: Die Erkrankung an Grippe 
im Anschluß an eine intensive Salvarsan¬ 
kur und der Verlauf, den ich ausführlich 
beschrieben habe, um zu zeigen, daß er 
denkbar schwerst war, sprechen wohl 
gegen den behaupteten Nutzen des Sal- 
varsans bei der Grippe. Ich möchte daher 
die Verwendung dieses für ein schon stark 
in Anspruch genommenes Herz gewiß nicht 
gleichgültigen Mittels bei schweren Grippe¬ 
fällen entschieden widerraten. 


Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemp er er in ßorlin. Verlag von U'rban Schwarzenberg 
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Berlin W 8 









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Die Therapie der Gegenwart 


1920 


herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Q. Klemperer 
in Berlin. 


Mai 


Nachdruck verboten. 

Rede zur Eröffnung der 32. Tagung des deutschen Kongresses 
für innere Medizin in Dresden, 20. April 1920. 

Von Prof. Dr. Oscar Minkowski, Breslau. 


Meine Herren! Nach dem glanzvollen 
Verlauf der außerordentlichen Tagung 
unseres Kongresses in Warschau glaubten 
wir, hoffen zu dürfen, uns im Frühjahr 
1917 an gewohnter Stätte vereinigen zu 
können, um mit frischem Mut und froher 
Zuversicht die ersehnte und lang ent¬ 
behrte Friedensarbeit wieder aufzuneh¬ 
men. Wohl war die Zeit noch ernst, und 
schwer lastete noch auf uns die Not des 
Krieges, als wir an die Vorbereitungen 
einer Tagung in Wiesbaden herantraten. 
Aber nach den gewaltigen Leistungen des 
deutschen Volkes, die es befähigt hatten, 
gegen eine Welt von Feinden sich sieg¬ 
reich zu behaupten, herrschte damals kein 
Zweifel an einem baldigen günstigen End¬ 
ausgang des Kampfes. Und wir Ärzte 
hatten im Bewußtsein der großen Erfolge, 
die wir im Kriege erzielt hatten, allen 
Grund, mit besonderem Hochgefühl in 
die Zukunft zu blicken und von der Aus¬ 
wertung unserer Kriegserfahrungen we¬ 
sentliche Förderung für unsere Friedens¬ 
arbeit zu erwarten. 

Der Gang der kriegerischen Ereignisse 
nötigte uns zunächst, die bereits bis in 
alle Einzelheiten vorbereitete Versamm¬ 
lung in letzter Stunde zu vertagen. Es 
sollte kein Verzicht sein, nur ein Auf¬ 
schub! Die Hoffnung schien berechtigt, 
daß wir alsbald zu gelegenerer Zeit und 
unter günstigeren Verhältnissen Zusam¬ 
menkommen könnten. Diese Hoffnung 
hat uns leider getäuscht! Immer größer 
wurden die Schwierigkeiten. Zu Ostern 
und zu Pfingsten, im Herbst 1917, im 
Jahre 1918 und 1919 beschäftigte uns 
die Frage, ob nun endlich die Zeit er¬ 
füllet ward, und wir es wagen dürften, 
unseren Kongreß zu berufen. Die in Aus¬ 
sicht stehenden Entscheidungskämpfe im 
Frühling 1918, die inneren Wirren des 
Jahres 1919 ließen jedoch eine Zusammen¬ 
kunft nicht zeitgemäß erscheinen. Als 
aber dann zu Beginn dieses Jahres nach 
langem Harren der ' uns immer wieder 
vorenthaltene Friedensschluß, zwar hart 
und grausam, aber doch endlich zustande 


kam, da glaubten wir die Tagung nicht 
länger aufschieben zu dürfen. Wie allen, 
denen es ernst ist um das Wohl des Vater¬ 
landes, die an die Zukunft Deutschlands 
glauben, schien uns die wichtigste Vor¬ 
bedingung seines Aufstiegs in der Wieder¬ 
aufnahme der Arbeit auf allen Gebieten 
zu sein, auf denen vor dem Kriege Er¬ 
sprießliches geleistet wurde, und zu diesen 
glaubten wir aucl; die Arbeiten unseres 
Kongresses rechnen zu dürfen. Allerdings 
waren wir auf die neuen Hindernisse nicht 
gefaßt, die sich nun aufzutürmen schienen. 
Es hat noch in letzter Stunde nicht an 
warnenden Stimmen gefehlt, die in den 
erneuten Demütigungsversuchen unserer 
Feinde, in den wachsenden Schwierig¬ 
keiten des Reiseverkehrs, der Unterkunft 
und Verpflegung, in der feindlichen Be¬ 
setzung unseres Stammsitzes, Wiesbaden, 
in den verworrenen politischen und wirt¬ 
schaftlichen Verhältnissen, dem drohen¬ 
den Bürgerkrieg, in der Not des Ärzte¬ 
standes, der Unterschätzung und Zurück¬ 
setzung jeder geistigen Arbeit unüber¬ 
windliche Schwierigkeiten für die dies¬ 
jährige Tagung erblicken zu müssen 
glaubten. Wir haben es dennoch gewagt! 
Und der Besuch des Kongresses, die reich¬ 
haltige und vielseitige Tagesordnung zeigt, 
daß das Wagnis nicht zu kühn war. 

Schmerzlich war es für uns, daß wir 
uns genötigt sahen, unserem bewährten 
und begehrten Tagungsorte Wiesbaden 
für diesesmal untreu zu werden. Nicht 
leichten Herzens haben wir uns dazu ent¬ 
schlossen! Solange es nur irgend möglich 
schien, hielten Vorstand und Ausschuß 
des Kongresses an der Absicht fest, die 
diesjährige Tagung wieder nach Wies¬ 
baden zu berufen, nicht nur aus alter 
Anhänglichkeit an den Ort, in dem nach 
den Satzungen der Sitz des Kongresses 
sich befindet, nicht nur aus Dankbarkeit 
gegen die Stadt und die Kollegen, die 
uns so oft die herzlichste Gastfreundschaft 
gewährten, und die wir jetzt in ihrer Not 
nicht im Stiche lassen wollten, sondern 
vor allem, weil es uns als vaterländische 

22 





170 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Mai 


Pflicht erschien, durch unsere Anwesen¬ 
heit in Wiesbaden zu bekunden, daß wir 
diese Stadt und die Lande am Rhein nach 
wie vor als zu uns gehörig betrachten, 
daß sie uns nach wie vor eine Pflanz¬ 
stätte für deutschen Geist und deutsches 
Wissen sein sollen, weil wir im Angesichte 
unserer Feinde zeigen wollten, daß wir 
zwar Wehr und Waffen niedergelegt 
haben, nicht aber unser geistiges Rüst¬ 
zeug, mit dem wir in friedlichem Wett¬ 
kampfe der Völker auch in Zukunft uns 
behaupten wollen! Indessen, es fehlte 
nicht an Gegengründen gegen eine Tagung 
in Wiesbaden, in der bedrückenden Nähe 
eines Feindes, der uns zu jeder Stunde 
seine Übermacht fühlen lassen konnte, 
und wie die Dinge sich leider in der letzten 
Zeit entwickelt haben, bedarf es keiner 
weiteren Worte, um zu begründen, daß 
es richtiger war, in diesem Augenblick auf 
eine Versammlung in Wiesbaden zu ver¬ 
zichten. 

Es war nicht leicht, einen Ort zu 
finden, der unter den gegenwärtigen Ver¬ 
hältnissen für unsere Zwecke geeignet war. 
Schließlich aber* glaubten wir hier in 
Dresden die wichtigsten Vorbedingungen 
für eine erfolgreiche Tagung erfüllt zu 
sehen, und hier fand sich auch ein Orts¬ 
ausschuß, der bereit war, uns die Wege 
zu ebnen. Der aufopferungsvollen Tätig¬ 
keit dieses Ortsausschusses, ah dessen 
Spitze die Herren Kollegen Päßler, 
Rostoski und Arnsperger stehen, wer¬ 
den wir es in erster Linie zu danken haben, 
wenn dieser Kongreß, wie ich hoffe, einen 
für die gegenw.ärtigen Zeitverhältnisse 
über Erwarten günstigen Verlauf nehmen 
wird. 

Über den Ort der nächsten Tagung 
wird der Kongreß übermorgen, in seiner 
Geschäftssitzung, Beschluß zu fassen 
haben. Wo wir tagen, ist aber schließlich 
nicht so wesentlich, wie daß wir über¬ 
haupt wieder tagen, daß wir unsere Arbeit 
da wieder aufnehmen, wo sie durch den 
Krieg unterbrochen wurde, daß unser 
Kongreß wieder in die Lage kommt, 
seinen Zweck zu erfüllen — wie es in 
unseren Satzungen heißt — „durch per¬ 
sönlichen Verkehr die wissenschaftlichen 
und praktischen Interessen der inneren 
Medizin zu fördern“. 

Mehr als je ist in diesem Augenblicke, 
die Wiederaufnahme eines persönlichen 
Verkehrs zwischen denen nötig, die die 
gleichen Aufgaben zu erfüllen haben, ein 
Zusammenschluß aller, die zu gleichem 
Ziele streben! Das bedarf Ihnen gegen¬ 


über keiner besonderen Begründung, die 
Sie durch Ihre Anwesenheit beweisen, 
daß Sie von der gleichen Empfindung be¬ 
seelt sind. 

In dieser Zeit der gewaltigen Umwäl¬ 
zungen und der Umwertung aller Werte 
müssen aber auch wir uns die Frage vor¬ 
legen: Sollen wir auch in Zukunft 
die Wege weiter wandeln, die wir 
bis jetzt verfolgt haben, oder müssen 
wir sie verlassen, um neue Bahnen zu 
suchen, die uns zu anderen, zu erstrebens¬ 
werteren Zielen führen könnten? 

Wohl mancher, dem der Geist der 
neuen Zeit gleichbedeutend ist mit Mi߬ 
achtung alles dessen, was in der Ver¬ 
gangenheit gegolten hat, mag heute der 
Ansicht sein, daß unser Kongreß, wie 
vielleicht alle wissenschaftlichenVersamm- 
lungen, sich überlebt habe, daß er nicht 
mehr zeitgemäß sei, oder daß wenigstens 
seine Arbeitsmethode von Grund auf um¬ 
gestaltet werden müßte. Uns aber, die 
wir gewohnt sind, den Vorgängen in der 
Natur zu lauschen, um ihre Erkenntnis 
für das Wohl der leidenden Menschen zu 
verwerten, uns kann es nicht verborgen 
bleiben, daß alles Werden nur Entwick¬ 
lung ist, und daß auch jedes plötzliche 
Ereignis nur die Folge früheren Ge¬ 
schehens und nur eine andere Form der 
Entwicklung ist. Wir können die Zu¬ 
kunft der inneren Medizin nicht von ihrer 
Vergangenheit loslösen. Und seiner Ver¬ 
gangenheit braucht sich der Kongreß für 
innere Medizin wahrlich nicht zu schämen I 
Nicht in eitler Selbstgefälligkeit, sondern 
mit berechtigtem Stolz haben mehrfach 
meine Vorgänger bei Gedenktagen des 
Kongresses, so bei Gelegenheit der 25. 
und 30. Tagung, auf den bedeutsamen 
Anteil hinweisen dürfen, den unser Kon¬ 
greß an dem Aufbau der inneren Medizin 
genommen hat, wie er beigetragen hat zu 
den gewaltigen Fortschritten, den unser 
Wissenszweig im Laufe der letzten vier 
Jahrzehnte verzeichnen konnte. Ich 
selbst, der ich dem Kongreß seit seiner 
Gründung angehöre, würde gesagtes nur 
wiederholen, wollte ich den überwältigen¬ 
den Eindruck wiedergeben, den die Auf¬ 
zählung aller wichtigen Fragen hervor- 
rufen muß, die auf unserem Kongreß be¬ 
handelt wurden, die Fülle der Anregun¬ 
gen, die von ihm ausgegangen sind! 

Wir dürfen anknüpfen an bewährte 
und glorreiche Traditionen der Vergangen¬ 
heit, wenn wir unsere Tätigkeit hier wieder 
aufnehmen. Damit soll aber nicht gesagt 
sein, daß der Kongreß nun stillestehen 





IVtai 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


171 


soll in seiner Entwicklung, daß er sich 
nicht anpassen soll an die neue Zeit und 
ihre neuen Aufgaben. Er wird manches 
ändern müssen in seinen Arbeiten und 
seinen Zielen. Aber diese Änderung, sie 
braucht und darf nicht gewaltsam herbei¬ 
geführt werden auf Grund von vorgefaßten 
Meinungen. Wir würden dabei allzu kost¬ 
bares aufs Spiel setzen: das hohe An¬ 
sehen ..und den idealen Wert unserer 
Wissenschaft! Wir gönnten in dem Wider¬ 
streit der Meinungen über die Gangbar¬ 
keit der verschiedenen Wege am ehesten 
den richtigen Weg verfehlen! Die Ände¬ 
rung, die unausbleiblich ist, sie wird sich 
ergeben aus dem Zwange, den Forde¬ 
rungen des Tages zu genügen. Sicher 
wird nicht alles sogleich einen Fortschritt 
bedeuten, was aus diesem Zwange heraus 
geschehen wird. Sicher werden wir uns 
nur auf Umwegen unseren Zielen nähern 
können. Aber wer nicht verzweifeln will 
an der Zukunft der Menschheit, wer die 
Lust und Begeisterung sich bewahren 
will, mitzuarbeiten an den Fortschritten 
der Erkenntnis, der muß von dem Glauben 
beseelt sein, daß alle Wege zu guterletzt 
aufwärts führen, und daß nur Untätigkeit 
Stillstand und Rückschritt bedeutet. 

I 

Diese Forderungen des Tages, soweit 
sie 'die Tätigkeit unseres Kongresses be¬ 
treffen, sie sind, wie fast alles, was die 
neue Zeit geboren hat, nicht neu ent¬ 
standen unter den besonderen Verhält¬ 
nissen der Gegenwart, sie treten jetzt nur 
mit verstärkter Kraft an uns heran, sie 
machen sich jetzt nur gebieterischer 
geltend. 

Manches, was wir jetzt werden ändern 
müssen, betrifft die Organisation und 
die äußeren Arbeitsbedingungen un¬ 
seres Kongresses. Wichtige Fragen, mit 
denen sich schon frühere Tagungen be¬ 
schäftigt haben, harren noch der end¬ 
gültigen Entscheidung, so besonders: 
unsere Stellungnahme gegenüber dem 
Arzneimittelunwesen, die Neuordnung 
unserer Veröffentlichungen, die Regelung 
unserer Beziehungen zu anderen wissen¬ 
schaftlichen Versammlungen. Wir werden 
diese Frage unter Rücksichtnahme auf 
die neuen Verhältnisse zu lösen haben. 

Aber auch Richtung und Inhalt unse¬ 
rer wissenschaftlichen Arbeiten wer¬ 
den durch die Forderungen der neuen Zeit 
nicht unbeeinflußt bleiben. Auch hier 
werden- wir -vielem Rechnung -tragen 
müssen, was schon in früheren Zeiten 
Gegenstand der Kritik gewesen ist. 


Das, was man am häufigsten unseren 
Verhandlungen zum Vorwurf gemacht 
hat, das war die übermäßige Bewertung 
der Theorie gegenüber der Praxis, der 
Laboratoriumsarbeit gegenüber der Beob¬ 
achtung am Menschen, der Erforschung 
der Krankheiten gegenüber der Behand¬ 
lung von Kranken. Von der hohen Warte 
der Wissenschaft aus durfte solcher Vor¬ 
wurf zurückgewiesen werden, und mit 
Recht konnte in so mancher Eröffnungs¬ 
rede des Kongresses hervorgehoben wer¬ 
den, daß wir auch unseren praktischen 
Zielen uns' nur durch das Fortschreiten 
unserer wissenschaftlichen Erkenntnis 
nähern könnten. Ich möchte dem hinzu¬ 
fügen: es gibt ja überhaupt gar keinen 
Gegensatz zwischen Theorie und Praxis, 
nur die falschen Theorien bewähren 
sich nicht in der Praxis! Jeder wahre 
Fortschritt der Erkenntnis kommt mittel¬ 
bar auch der Praxis zugute.' 

Aber wir dürfen uns nicht verhehlen, 
daß wir in Zukunft vielleicht notgedrun¬ 
gen uns immer strenger werden richten 
müssen nach den unmittelbaren Be¬ 
dürfnissen der ärztlichen Praxis. Die 
steigende Not unseres verarmten Vater¬ 
landes wird uns vielleicht den Luxus 
einer wissenschaftlichen Forschung nur 
um ihrer selbst willen nicht mehr in dem 
Maße gestatten, wie früher. Bei den 
wachsenden Schwierigkeiten unserer Ver¬ 
sorgung mit Instrumenten, Chemikalien 
und Versuchstieren werden wir gezwungen 
sein, unsere Laboratoriumsarbeit einzu¬ 
schränken und uns in erhöhtem Maße der 
einfachen Beobachtung am Krankenbette 
zuzuwenden. Die mit sinkendem Wohl¬ 
stand unausbleiblich verbundene Ver¬ 
schlechterung der Gesundheitsverhält¬ 
nisse wird sicher auch an unsere thera¬ 
peutische Leistungen erhöhte Anforde¬ 
rungen stellen. Wir wollen hoffen, daß 
das alles nur etwas Vorübergehendes sein 
wird, und daß wieder Zeiten kommen 
werden, in denen wir uns vorzugsweise 
von idealen Bestrebungen werden leiten 
lassen können. Zunächst aber werderi wir 
notgedrungen dem Geist der Zeit Rech¬ 
nung tragen und uns richten müssen nach 
dem materialistischen Grundsätze: ,,stul- 
ta est gloria, nisi utile est quod faciamus!“ 

Die sich vorbereitende Wendung der 
Dinge macht sich schon jetzt deutlich 
bemerkbar. Betrachten Sie die Tages¬ 
ordnung dieses Kongresses, wie sie sich 
unbeabsichtigt aus den verschiedenen 
Anmeldungen zusammengesetzt hat, so 
erkennen Sie schon ein stärkeres Über- 

22* 





172 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Mai 


wiegen der Vorträge therapeutischen In¬ 
halts und der rein klinischen Mitteilungen 
im Vergleich mit früheren Tagungen. 

Es ist keine Verleugnung unserer Ver¬ 
gangenheit und keine Abwendung von 
den Grundsätzen, zu denen wir uns bis 
jetzt bekannt haben, wenn ich der Über¬ 
zeugung Ausdruck gebe, daß auch diese 
Änderung ihr Gutes haben wird. Stets 
sind es die Bedürfnisse der Praxis in 
erster Linie gewesen, die erfolgreicher 
wissenschaftlicher Forschung die Wege 
gewiesen haben, und auf unserem Gebiet 
war es immer wieder die Klinik, die der 
experimentellen Pathologie und Physio¬ 
logie neue Fragestellungen gegeben und 
auf sie befruchtend eingewirkt hat. Auch 
dieses zeigt sich mit größter Deutlichkeit 
in den Hauptfragen, die unsere diesjährige 
Tagesordnung ausfüllen, neben der Im- 
muno- und Chemotherapie der Infektions¬ 
krankheiten, in den Beziehungen zwischen 
vegetativem Nervensystem, den endo¬ 
krinen Drüsen und dem Stoffwechsel, wie 
in der Lehre vom Blutkreislauf und auch 
sonst auf den meisten Arbeitsgebieten der 
inneren Medizin. Und so dürfen wir hoffen, 
daß eine intensivere Beschäftigung mit 
rein praktischen Fragen für die Zukunft 
auch erneute Anregung für wissenschaft¬ 
liche Forschungen geben wird. 

Aber eine solche stärkere Betonung 
der praktischen Ziele, sie kann nur dann 
segensreich wirken, wenn sie nicht zu 
einem Verlassen .der wissenschaftlichen 
Grundsätze führt, wenn auch in der 
Praxis auf wissenschaftliche Methodik 
und wissenschaftliche Kritik nicht ver¬ 
zichtet wird. Je mehr wir uns genötigt 
sehen, uns auf die Beobachtung am 
Menschen zu beschränken, um so mehr 
müssen wir uns hüten vor Oberflächlich¬ 
keit und Voreiligkeit des Urteils. Der 
Mensch ist kein geeignetes Objekt des 
Experiments. Wir können an ihm nicht 
die Versuchsbedingungen nach Belieben 
wählen, wie es für eine voraussetzungs¬ 
lose wissenschaftliche Forschung erforder¬ 
lich ist. Die Notwendigkeit, stets und 
unablässig auf das Wohl des Kranken 
Rücksicht zu .nehmen, hemmt unsjin der 
Wahl der Mittel, der Wunsch, Erfolge 
zu erzielen, trübt das Urteil über das Er¬ 
reichte. Um so vorsichtiger seien wir in 
der Verwertung unserer Beobachtungen! 
Schützen, wir uns vor Verflachung und 
Routine! Suchen wir uns den Geist, 
der auf den Höhen wissenschaftlicher 
Forschung herrscht, zu bewahren, je 
mehr wir hinabsteigen müssen in die 


Niederungen des Alltaglebens! Suchen 
wir vor allem diesen Geist zu erhalten für 
die kommende Generation! Unsere Hoff¬ 
nung, sie ruht ja jetzt einzig und allein 
auf unserer Jugend! 

Die älteren unter uns, die mit dem 
machtvollen Aufstieg unseres Vaterlandes 
auch die glänzende Entwicklung der Me¬ 
dizin mit erlebt haben, sie sehen mit 
Schmerz und Betrübnis vieles Zusammen¬ 
stürzen, was sie für unerschüfterlich 
hielten. Viele von ihnen stehen ratlos 
am Grabe ihrer Hoffnungen. ,,Ich habe 
keinen Sinn für Kongresse, nur Ruhe, 
Trauer und Asche aufs Haupt ziemt jetzt 
dem Deutschen“, so schrieb mir vor 
kurzem einer unserer angesehensten Kol¬ 
legen, den wir heute leider hier ver¬ 
missen. So denken und fühlen zum Glück 
aber nicht alle! So denkt und fühlt vor 
allem nicht unsere Jugend! Sie ist be¬ 
seelt von Arbeitslust und Tatendrang und 
blickt hoffnungsfreudig in die Zukunft. 
Und so dürfen wir es als ein besonders 
verheißungsvolles Zeichen begrüßen, daß 
gerade sehr viele jüngere Kollegen sich 
hier eingefunden haben, die bereit sind, 
sich an den Arbeiten unseres Kongresses 
zu beteiligen. Sie sind uns doppelt will¬ 
kommen, weil sie berufen sind, unsere 
Reihen aufzufüllen, die in den unglüpks- 
vollen Kriegsjahren so sehr gelichtet sind. 
Größer als sonst sind die Lücken, die der 
Tod in diese Reihen gerissen hat! Wenn 
es sonst Sitte war, bei der Eröffnung des 
Kongresses der Mitglieder zu gedenken, 
die wir seit der letzten Tagung verloren 
haben, diesesmal ist es nicht möglich, 
sie einzeln zu nennen und ihre Verdienste 
nach Gebühr zu würdigen. Fast unüber¬ 
sehbar ist ihre Zahl. Nicht weniger als 
drei von unseren Ehrenmitgliedern sind 
uns durch den Tod entrissen. Ihre Namen 
nennen, heißt ihre Taten preisen: Paul 
Ehrlich, Emil von Behring, Emil 
Fischer. Was diese uns gegeben, das 
braucht in diesem Kreise nicht gesagt zu 
werden. Wir ehren sie in ihren Werken, 
die uns bleiben werden für alle Zeiten. 
Wir ehren sie, indem wir weiter bauen 
auf dem Grunde, den sie geschaffen. Auch 
sonst sind es Namen von bestem Klange, 
die wir als Verluste zu verzeichnen haben: 
Ewald, Edinger und Albert Fraen- 
kel, Adolf Schmidt und Lüthje, Al¬ 
bert Neißer, Kobert, Hochhaus, 
Leo Mohr und Jochmann, Adolf 
Baginsky, Cornet, Ludwig Bruns, 
Türk (Wien), Stäubli (Basel), Jul. 
Sclimid (Breslau), Matterstock, Leu- 





Die Therapie der Gegenwart 1920 


173 


Mai 


buscher, Weizsäcker, Bresgen, 
V. Ehrenwall, Abend, Kohnstamm, 
Grube, Robert Schütz, Nolda, 
Schliep und viele andere, von Aus¬ 
ländern: Runeberg (Helsingfors), Pel 
(Amsterdam), Osler (Oxford). Neben 
Männern, deren Tod den Abschluß eines 
langen, arbeitsreichen Lebens bildete, be¬ 
klagen wir den Verlust von solchen, die 
auf der Höhe ihres Schaffens in der Voll¬ 
kraft ihrer Jahre zum Teil als Opfer 
ihres Berufes dahingerafft wurden, und 


/ 

von solchen, deren junges, hoffnungsvolles 
Leben in der ersten Blüte dem Vaterlande 
zum Opfer dargebracht wurde, wie 
Kirchheim (Marburg), Meyer-Betz in 
Königsberg, Erich Brück in Breslau, 
Th. Groedel in Nauheim und andere. 
Wir wollen das Andenken dieser Männer 
in Ehren halten! Ich bitte Sie, dem Aus¬ 
druck zu verleihen, indem Sie sich von 
Ihren Plätzen erheben. 

Und nun erkläre ich den 32. Kongreß 
für innere jyiedizm für eröffnet. 


Aus der iuedizinisclieii Abteilung des Krankenbauses Müncben rechts der Isar 

(Professor Sittmann). 

Über die Beziehungen zwischen chronischer Tonsillitis 
und Allgemeinerkrankung und über Tonsillektomie nach Klapp« 

Von Dr. G. Blank, Erster Assistenzarzt der medizinischen Abteilung. 


Päßler (1 bis 6) gebührt das Haupt¬ 
verdienst, in mehreren Veröffentlichungen 
auf die Bedeutung chronischer Gaumen¬ 
mandelentzündungen für die Entstehung 
von Allgemeininfektionen und auf die Heil¬ 
barkeit letzterer durch radikale Ent¬ 
fernung der Tonsillen erneut nachdrück¬ 
lich hingewiesen zu haben. Weitere Bei¬ 
träge, besonders von . laryngologischer 
Seite, zeigten, daß wir bei der Bekämpfung 
dieser als Bakteriämien oder Toxämien 
verlaufenden Blutinfektionen (7) nicht 
nur der „permanenten Mandelgruben- 
infektion‘‘, sondern den Veränderungen 
des gesamten lymphatischen Schluiid- 
ringes unsere Aufmerksamkeit zuwenden 
müssen, also nicht nur die Gaumen- und 
Rachenmandeln als Hauptstätten des 
lymphoiden Gewebes, sondern auch die 
„Nebengeleise“ der Lymphknoten 
(Rachengranula, Seitenstränge, Lymph- 
gewehe des Zungengrundes) auf chro¬ 
nisch-entzündliche Veränderungen gründ¬ 
lich zu untersuchen haben (8). Ganz be¬ 
sonders weisen wir in diesem Zusammen¬ 
hang auf die Bedeutung chronischer 
Zahn- und Wurzelcaries hin. Keine Ton¬ 
sillenbehandlung sollte in Angriff ge¬ 
nommen werden, ehe nicht die von cari- 
ösem Gebiß unterhaltene Infektionsquelle 
verstopft ist, denn häufig bilden üie Ton¬ 
sillen erst das Depot für die den Zähnen 
entstammenden Infektionserreger (9). 

Nach unseren Erfahrungen haben diese 
Tatsachen leider noch nicht die wün¬ 
schenswerte allgemeine therapeutische 
Nutzanwendung gefunden. Aus welchen 
Gründen? 

Manche Ärzte verhalten sich ablehnend 
gegen die Mandelausschälung, da diese 


dem Körper ein physiologisch nicht gleich¬ 
gültiges Organ raube. Für Kim der mag 
dieser Standpunkt bis zum 12. Lebens¬ 
jahre, also bis zur Zeit des Einsetzens 
physiologischer Involutionsvorgänge (10) 
berechtigt sein. Anders beim Erwachse¬ 
nen. Hier wissen wir über die physiolo¬ 
gische Aufgabe nichts weiteres, als daß 
die gesunde Tonsille, einer gewöhnlichen 
Lymphdrüse vergleichbar (11), eine mund- 
höhlenwärts gerichtete. Saft- und Leuko- 
cytenausschwemmung unterhält, die durch 
Filterwirkung und durch Phagocytose (12) 
den Körper vor dem Eindringen von 
Staub und Infektionserregern schützt. 
Die Tonsillen beziehungsweise der lym¬ 
phatische Rachenring bilden also unter 
gesunden Verhältnissen einen wirksamen 
lymphatischen Schutzapparat des Orga¬ 
nismus (10, 13). Anders dagegen steht es 
mit chronisch erkrankten Tonsillen. 
Sie sind, wie schon makroskopische Be¬ 
trachtung durchschnittener'*‘ausgeschälter 
Mandeln zeigt, in den mit Eiter und 
Detritusmassen erfüllten Lakunen und 
Krypten ein Schlupfwinkel für Bakterien 
und deren Toxine. Daß auch das eigent¬ 
liche Drüsengewebe seiner oben um¬ 
schriebenen physiologischen Aufgabe nicht 
genügen kann und dadurch infolge un¬ 
gehemmter Resorption aus den ober¬ 
flächlichen Krankheitsherden eine stän¬ 
dige Infektionsgefahr schafft, kann man 
ermessen, wenn man auf der Schnitt¬ 
fläche die das Organ durchsetzenden 
bindegewebigen Narbenzüge sieht. Phy¬ 
siologische Bedenken treffen also für 
kranke Tonsillen nicht zu. Ihre Ent¬ 
fernung ist dringend zu fordern, da sie 
ihre Aufgabe nicht erfüllen können und 





174 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Mai / 


für den Organismus eine ständige Gefahr 
bedeuten (11, 14). Auch ist nach Mandel¬ 
ausschälung der Körper nicht schutzlos 
gegen das Eindringen neuer Schädlich¬ 
keiten, denn bereits drei bis vier Tage 
nach radikaler Entfernung wächst ade¬ 
noides Gewebe vom Zungengrund her in 
die Mandelnische hinein (15).' 

Meines Erachtens ist dadurch auch 
die Einführung radikaler Behandlungs¬ 
methoden der Tonsillitis bei Allgemein¬ 
erkrankungen gehemmt worden, daß, in 
enthusiastischer, leider manchmal kritik- 
armerWeise die Indikationsstellung immer 
mehr erweitert wurde. Fast keine innere 
Erkrankung gibt- es mehr, bei der die 
Tonsillektomie nicht Heilung bringen oder' 
gebracht haben soll. Eine Methode, die 
als Allheilmittel gepriesen wird, löst stets 
Skepsis und ablehnende Haltung in der 
Praxis aus. Um nur weniges herauszu¬ 
greifen, so wird chronische Tonsillitis in 
ätiologische Beziehungen zu Epilepsie, 
Veitstanz, Glottiskrampf, nervösem 
Husten, Pavor nocturnus, neurastheni- 
schen und manisch-depressiven Zustän¬ 
den, Bettnässen,,habituellen Kopfschmer¬ 
zen gebracht. Bronchitis, Bronchial¬ 
asthma, Dyspepsie, Hyperacidität, Magen¬ 
geschwür, chronische Verstopfung, Ischias 
usw. sollen durch Tonsillektomie geheilt 
worden sein. Auch Beziehungen zu 
Appendicitis durch Verschlucken infek¬ 
tiösen Materials und zu Nephrolithiasis 
werden angenommen (7, 16). Derartige 
Indikationsstellungen sind entschieden ab¬ 
zulehnen. Entweder handelt es sich um 
wenig beweisende Einzelfälle, die kurz¬ 
weg nach dem Grundsatz post hoc propter 
hoc bewertet werden, oder es wurde der 
suggestive Effekt operativer Eingriffe bei 
oben erw^ähnten funktionellen Störungen 
ganz vernacMässigt. 

Nach unseren Erfahrungen gibt es für 
die Tonsillektomie außer aus lokalen und 
regionären Gründen, die hier unberück¬ 
sichtigtbleiben, nur eine sichere, Erfolg 
versprechende Indikation: die chronische 
bakteriämische oder toxämische Allge¬ 
meininfektion, mag sie sich nun haupt¬ 
sächlich an den Gelenken abspielen, das 
Herz in Mitleidenschaft ziehen, die Nieren 
embülisch oder toxisch schädigen oder in 
verschiedenster Kombination dieser Ein¬ 
zelsymptome unter dem Bilde der so¬ 
genannten kryptogenetischen Sepsis ver¬ 
laufen. 

In welchen Fällen soll man nun die 
Tonsillenausschälung ausführen ? Diese 
Frage zu beantworten, ist überaus schwie¬ 


rig. Hierin erblicke ich einen weiteren 
Grund, warum viele Ärzte sich noch 
immer recht reserviert gegen die Mandel¬ 
ausschälung bei Allgemeinerkrankungen 
verhalten. Und doch wäre die Indika¬ 
tionsstellung, die meines Erachtens keine 
schematische, sondern nur eine streng 
individualisierende sein kann, gerade 
Sache des praktischen Arztes, der als 
Hausarzt den Kranken und seine Eigen¬ 
art gegenüber Infekten am bestem 
kennt. 

Weiß (17) erblickt die Indikation zur 
Tonsillektomie in irreparablen patho¬ 
logischen Zuständen der Tonsillen und 
im sicheren Nachweis eines Zusammen¬ 
hanges zwischen Tonsillenerkrankung und 
anderen pathologischen Zuständen des 
Körpers. So schön und exakt diese 
Richtlinien klingen, im Einzelfalle wird 
es schwer fallen, ihnen ger,echt zu werden. 
Wann ist eine Tonsille pathologisch ver¬ 
ändert, wann diese 'Veränderung irre¬ 
parabel? Subjektive Beschwerden fehlen 
gerade bei chronischer Tonsillitis, die 
nach der Ausschälung als Ursache einer 
Allgemeinerkrankung anzusprechen ist, 
häufig fast ganz. Die Stärke der Schluck¬ 
beschwerden ist also kein Maßstab. Auch 
die Größe der Mandeln sagt nichts (18). 
Ich erinnere nur an die relative Harm¬ 
losigkeit mächtiger Tonsillarhypertro- 
phien und an die Bösartigkeit mancher 
kleinen versenkten Mandeln. Ähnlich 
steht es mit dem Befund von Mandel- 
pfröpfen. Wer gewohnt ist, jeden Kran¬ 
ken durch digitale oder instrumentelle 
Massage auf tiefsitzende Pfröpfe zu unter¬ 
suchen, wird mir zustimmen, daß diesem 
Befund besonders bei Menschen mit 
schlechtem Gebiß und mangelhafter Mund¬ 
pflege keine entscheidende krankhafte 
Bedeutung zukommt. Die Untersuchung^ 
durch Fingerpalpation nach Roethlis- 
berger (19) bringt über den Zustand des 
eigentlichen adenoiden Gewebes keine 
wertvolleren Aufschlüsse. Auch das Ver¬ 
halten der regionären Lymphdrüsen ist 
untypisch. Hajek (20) betont, daß sie 
bei Allgemeinerkrankungen meistens nicht 
geschwollen seien. 

Wir sehen also, ,,irreparable“ patho¬ 
logische Zustände der Tonsillen festzu¬ 
stellen, ist sehr schwierig, ich kann sie 
nur mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit 
vermuten. Erst nach der Ausschälung 
ist man imstande, durch makroskopische 
und mikroskopische Betrachtung den 
wirklichen Grad der krankhaften Ver¬ 
änderung zu erkennen. 



175 


Mai Die Therapie der Gegenwart 1920 


Ähnlich verhält es sich mit dem ' 
zweiten Punkt der angeführten Weiß- 
schen Indikationsstellung zur Tonsillek¬ 
tomie. Sichere Kriterien des ätiologischen 
Zusammenhanges gibt es nicht. Die All¬ 
gemeinerkrankungen tonsillogenen Ur¬ 
sprungs bieten keinen klinisch oder bak¬ 
teriologisch pathognomonischen Sym-' 
ptomenkomplex. Wen sich nicht nur von i 
den erfolgreich tonsillektomierten Fällen ' 
blenden läßt, muß ziigeben,' daß selbst 
bei gewissenhaftester, streng individua¬ 
lisierender Indikationsstellung, die sich 
von jeder Schablone fernhält, eine nicht 
kleine Zahl von Fällen der Operation 
unterzogen wird, bei denen jeder Erfolg 
vermißt wird. Diese Tatsache und die 
Komplikationen, die nach Ausschälung 
möglich sind (21 bis 25) haben in letzter 
Zeit größere Zurückhaltung gegenüber 
der radikalen Behandlung und Empfeh¬ 
lung konservativer Methoden veranlaßt 
(26 bis 30, 32, 33). Mackenzie warnte 
vor dem Tonsillem,,Massakre“. 

Wie.meistens in der Behandlung, ist 
auch hier der goldene Mittelweg , zu 
empfehlen. Dem obersten Grundsatz 
des „non nocere“ würde es nieht ent¬ 
sprechen, wenn man in jedem Falle 
kryptogener Allgemeininfektion, fieber¬ 
hafter Gelenkerkrankung, ätiologisch un¬ 
klarer Nierenschädigung usw. zuni Messer 
griffe, ganz abgesehen davon, daß man 
auch bei gegebener Indikation viele 
Kranke nicht zur Mandelausschälung be¬ 
wegen kann, da sie ,,nichts von ihren 
Mandeln spüren“. 

Viel gewonnen wäre schon, wenn 
jeder Arzt in solchen Fällen überhaupt 
an die Tonsillen denkt und dadurch zu 
genauester, wiederholter Untersuchung 
derselben veranlaßt wird, die nach dem 
oben Gesagten nicht nur in Inspektion, 
sondern in vorsichtiger instrumenteller 
Massage zu bestehen hat, wobei eine 
eingehende Anamnese eine wesentliche 
Bereicherung und Klärung des örtlichen 
Befundes bedeutet. Daß genaueste zwei¬ 
stündliche Aftermessung unter eventueller 
Berücksichtigung des Temperaturverhal¬ 
tens nach körperlicher Arbeit — Beob¬ 
achtungen, die in unklaren Fällen nur 
stationär durchzuführen sind — ent¬ 
scheidend für die Indikationsstellung sein 
können, sei nebenbei bemerkt. Auch die 
Kultur des sterilen Harns auf Strepto¬ 
kokken usw. kann uns bei negativer Blut¬ 
kultur wichtige Fingerzeige für die sep¬ 
tische Natur der vorliegenden Erkrankung 
liefern. Ob es gelingt, durch parenterale 


Eiweißzufuhr an den erkrankten Ton¬ 
sillen eine Herdreaktion „ im Sinn'e 
Schmidts (34) auszulösen, scheint mir 
der Nachprüfung wert. 

Da nun nach unseren Erfahrungen 
auch nach genauester Beobachtung kein 
Arzt den ,,sicheren "Nachweis“ des Zu¬ 
sammenhanges zwischen Tonsillen- und 
Allgemeinerkrankung im Einzelfall er¬ 
bringen kann, entschließen wir uns erst 
dann zur Ausschälung der Mandeln, wenn 
alle übrigen medikamentösen und diäte¬ 
tischen Behandlungsmethoden der A41- 
g^meinerkrankung vergeblich gewesen 
sind. Die Berechtigung der Tonsiilen- 
entfernung können wir also meines Er¬ 
achtens nur ex, juvantibus erbringen. 
Eventus docet! 

Wenn man nun die Tonsillen als 
Quelle der chronischen Infektion an¬ 
spricht, soll man konservativ oder radikal 
chirurgisch behandeln? Von verschiede¬ 
nen Seiten wird über Erfolge durch Pinse¬ 
lungen mit Jodtinktur, Höllenstein- oder 
Protargollösungen (28, 35), durch Aus¬ 
spritzungen (33) oder Kauterisation (26) 
der Lakunen, durch Saugverfahren (29, 
32), Massage (19, 26, 27), planvolles 
Schlitzen (27) berichtet. Auf Grund 
eigener Erfahrungen stehen wir diesen 
konservativen Verfahren bei Behandlung 
der Tonsillitis als Ursache von Allgemein¬ 
infektionen recht skeptisch gegenüber. 
Bei der Massage wissen wir nie, ob sie 
nicht mechanisch die Krankheitserreger 
in die Lymph- und Blutbahnen hinein¬ 
preßt oder bei unrichtiger Indikations¬ 
stellung eine ruhende Infektion lebendig 
macht. Beim Schlitzen sind wir bezüglich 
der Eröffnung aller versteckten Krank¬ 
heitsherde ganz dem Zufäll überlassen. 
Bei allen diesen konservativen Methoden 
ist aber prinzipiell auszusetzen, daß^ sie 
eigentlich nur gegen die sekundären 
Symptome der Tonsillitis, gegen die 
Pfropf- und Absceßbildung gerichtet sind. 
Die krankhafte Funktion des eigentlichen 
adenoiden Gewebes, die durch perverse 
Saftströmung und mangelhafte Phago- 
cytose diese makroskopisch auffälligsten 
Entzündungsfolgen auslöst, können sie 
nicht beeinflussen. Wir können also im 
besten Falle vorübergehende sympto¬ 
matische Erfolge, keine Dauerheilung er¬ 
zielen, die bei Allgemeininfektionen allein 
Wiederaufflackern ' derselben verhüten 
kann. 

Daß die Verkleinerung der Tonsillen 
durch Tonsillotomie nur noch aus 
raumbeengenden Gründen bei Atmungs- 




176 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Mai 


und Schlingbeschwerden in Frage kommt, 
ist jetzt wohl allgemein anerkannt. 

Mit Päßler (1, 2), Goerke (10), 
Trautmann* (11), Tomlinson (18), 
Auerbach (36), Citron (37), Hurd (38), 
Oertel (39), Schreiber (40), Tenzer 
(41) und anderen teilen wir den^ Stand¬ 
punkt Hop man ns (42, 43), daß die 
Ausschälung immer angezeigt ist, 
wenn ein Grund zu einer Operation 
an den Mandeln vorliegt. 

Die fachärztliche Frage, ob man extra- ^ 
kapsulär nach Trautmann (44), even¬ 
tuell unter plastischer Variation (45) Vor¬ 
gehen, ob man die Mandel stumpf aus- 
löseni^lO, 12, 46, 47), ob man ein Stück¬ 
chen der Mandel zurücklassen soll (48, 
49) usw., ist hier nicht zu erörtern. Be¬ 
tont muß werden, daß jede Tonsillektomie 
kein technisch einfacher Eingriff ist (13, 
22, nach Sheedy [23] nur 20% normale 
Heilungen?), der wohl immer das Zu¬ 
sammenarbeiten mit einem Chirurgen 
oder Hals^arzt notwendig machte. Hierin 
liegt wohl mit die Ursache, daß die. bei 
richtiger Indikationsstellung so segens¬ 
reiche Tonsillektomie trotz ihrer häufigen 
Empfehlung vom praktischen Arzte, be¬ 
sonders auf dem Lande; verhältnismäßig 
selten ausgeführt wird. Auch ist zu be¬ 
denken, daß der Allgemeinzustand sep¬ 
tisch Kranker häufig den Eingriff so¬ 
zusagen,am Krankenbett wünschenswert 
erscheinen läßt, daß die Komplikationen 
von seiten des Herzens, der Gelenke, der 
serösen yäute zweizeitiges Operieren (44), 
länger dauernde Operationen, zumal in 
Narkose, ja manchmal sogar Verlassen 
des Bettes zwecks Überführung in sitzende 
Stellung oder4n den Operationsraum ver¬ 
bieten. 

Um so begrüßenswerter war daher, 
daß Klapp 1913 (50) ein Verfahren an¬ 
gab, das einfach, daher nach einiger 
Übung von jedem Arzte ausführbar, und 
gründlich sein sollte. Die Anwendung 
der Klappschen Zange sei im folgend^en 
besprochen und mit einer unwesentlichen 
Variation warm empfohlen (40). 

Klapp konstruierte in zwei Größen 
ein Instrument (Fabrikant Max Kahne- 
mann, Berlin), ähnlich der Lu ersehen 
Hohlmeißelzange. Nach Einführen der ge¬ 
öffneten Zange in die Mundhöhle werden 
die zwei hohlmeißelartigen Fortsätze ober¬ 
und unterhalb der Tonsille in die Gaumen¬ 
pfeilernische eingesetzt. Unter bestän¬ 
digem leichten Druck gegen die Nischen¬ 
wand wird die Zange langsam geschlossen, 


so daß die Mandel in den Hohlraum der 
Zangenlöffel ausweichen muß. Dann er¬ 
folgt durch kräftigen Schluß Abkileifen 
der Tonsille. ,,Bei gewisser Übung ist in 
einer größeren Reihe von Fällen radikale 
Entfernung möglich.'* 

Schon nach den ersten Anwendungs¬ 
versuchen ergaben sich mir zwei* Mi߬ 
stände. Bei kleinen versenkten Mandeln 
gelang es mir nicht, sie aus ihrem Lager 
genügend herauszudrängen und ganz mit 
der Zange zu fassen. Zweitens vermochten 
die halbscharfen Schneiden der Zangen¬ 
blätter nicht, auch bei kräftigstem Schluß, 
die dünne Gewebsbrücke, besonders bei 
narbigen Verwachsungen nach Periton¬ 
sillitis, zu durchschneiden, so daß die 
Tonsille mit ihren die Zange oft seitlich 
überquellenden Gewebsbrücken erst nach 
unliebsamem Zerren und ruckartigem, 
kräftigem Zuge folgte. 

Seitdem ich dazu übergegangen bin, 
nach dem Vorschläge von Sheedy (23), 
Hopmann (43) und Peyser (51) die Ton¬ 
sille stets durch tiefes Fassen mit einer 
Hakenfaßzange aus ihrem Bette hervor¬ 
zuziehen, gelingt die Entwicklung und 
das Eihschließen in die Blätter der 
Klappschen Zange auch bei kleinen, 
kaum vorragenden Mandeln leicht und 
vollständig. Die zweite Störung vermeide 
ich dadurch, daß ich nach Schluß der 
Zange mit einer der Fläche nach ge¬ 
bogenen Schere vom hinteren Gaumen¬ 
bogen aus die schmale Gewebsbrücke 
hinter dem Zangenschluß durchtrenne, 
wobei die konvexe Fläche der Zange als 
Führung für den Scherenschnitt dient. 

Die Mandelausschälung gestaltet sich 
also folgendermaßen: Der nüchterne 
Kranke sitzt in einem Stuhle. Assistenzhält 
und führt mit zwei Händen den Kopf. Bei 
schwerem Allgemeinzustand läßt sich der 
Eingriff auch im Bette in halbsitzender 
Stellung ausführen. Mit 10%iger Cocain¬ 
lösung wird der ganze Rachen bis zur 
völligen Reflexaufhebung wiederholt ge¬ 
pinselt. Mit dieser oberflächlichen Lokal¬ 
anästhesie kommt man bei schnellem, 
sicherem Operieren völlig aus. Gute Be¬ 
leuchtung und ausgiebige Mundöffnung 
durch Kiefersperrer und Lippendilatator 
sind Voraussetzung. Ich beginne mit der 
für den Rechtshänder technisch schwie¬ 
rigeren linken Seite. Nach völligem Weg¬ 
drängen des Zungengrundes mit einem 
Spatel wird eine zwei- oder dreizinkige 
fixierbare Hakenfaßzange tief in das 
Mandelgewebe eingesetzt, und zwar mehr 
dem unteren Pole zu, der am leichtesten 




Mai . Die Therapie der Gegenwart 1920, 177 


infolge seiner versteckten Lage dem Fassen 
mit der Klappschen Zange entgeht. Die 
Faßzange muß schlank sein, damit sie 
den seitlichen Spalt der Klappschen 
Zange passieren kann. Danm wird das 
Klappsche Instrument, dessen Größen¬ 
wahl sich nach der Tonsillengröße richtet, 
in die Mundhöhle eingeführt und unter 
gleichzeitigem Hervorziehen der Mandel 
aus ihrer Nische in der oben geschilderten 
Weise über und hinter der Tonsille kräftig 
geschlossen, wobei' man peinlichst Ein¬ 
klemmen des Zäpfchens und der Gaumen¬ 
bögen vermeidet. Beim Zangenschluß 
sieht man die Pfröpfe wie aus den Poren 
eines Schwammes hervortreten. • Die 
Hakenfaßzange wird entfernt und mit 
wenigen' Sbherenschlägen die dünne ge¬ 
quetschte Gewebsbrücke durchschnitten, 
wobei die Schere sich scharf an die kon¬ 
vexe Zangenfläche hält, . In gleicher Weise 
erfolgt die Ausschälung auf der anderen 
Seite in einer Sitzung. Die doppel¬ 
seitige Ausschälung dauert bei einiger 
Übung wenige Minuten und bereitet keine 
wesentlichen Schmerzen. Die tiefen 
Operationsnischen pflege ich mit einer 
r%igen wäßrigen Pycktaninlösung vor¬ 
sichtig auszutupfen. Diese Maßnahme 
beschleunigt nach meinen Erfahrungen, 
wie ich an anderer Stelle erwähnt habe 
(52), die Abstoßung der sich stets bilden¬ 
den fibrinösen Wundbeläge. Unterstützt 
wird diese durch fleißiges Gurgeln mit 
warmem Kamillenaufguß. In den ersten 
48 Stunden nach der Operation lasse ich 
zur Linderung der Schluckschmerzen Eis¬ 
stückchen und eisgekühlte Milch schluk- 
ken. Die reaktive Schwellung der Um¬ 
gebung ist meistens so gering, daß bereits 
am dritten Tage breiige Kost geschluckt 
werden kann. 

Was die ausgeschäiten Tonsillen an¬ 
betrifft, so gleichen auch unsere den in 
der Schreiberschen Publikation (40) 
abgebildeten. Die abgeplattet-eiförmige 
Gestalt ohne Substanzverluste beweist 
die vollständig gelungene Ausschälung. 

Das Klappsche Verfahren ist nicht 
anwendbar, wenn eine innige Verwach¬ 
sung der Tonsillen mit den Gaumen¬ 
bögen besteht. Diese nicht sehr häufige 
Komplikation erkennt man daran, daß 
die Gaumenbögen nach Anhaken der 
Tonsille bei Zug mitgehen. 

Gefürchtet sind die Blutungen, die 
während und nach der Operation auf- 
treten können. Da die Möglichkeit post¬ 
operativer Blutungen nie vorauszusehen 
ist, möchten wir vor ambulanter Aus¬ 


führung (.12, 40, 44) warnen (31). Naöh 
Cocks (21) ist die Blutungsgefahr viel 
größer als angenommen wird. Er stellt 
aus der amerikanischen Literatur der 
Jahre 1890—1912 107' schwere post¬ 
operative Blutungen mit 13 Todesfällen 
zusammen, Burak (53) unter 2000 Man¬ 
deloperationen drei gefährliche Blutungen, 
Chiari unter 600 Tonsillotomien 27 
schwere Blutungen mit einem Todesfall. 
Die Angabe Chiaris bestätigt die be¬ 
kannte größere Blutungsgefahr der Ton¬ 
sillotomie gegenüber der Ektomie. Hurd 

(38) sah unter 17 947 Tonsillektomien 
einen Todesfall an Blutung. Bei den nach 
der Klappschen Methode ausgeführten 
Mandelsausschälungen haben wir nie¬ 
mals eine stärkere Blutung gesehen. 
Diese scheint mir sogar gegenüber an¬ 
deren chirurgischerseits geübten .Me¬ 
thoden so auffällig gering zu sein — an 
Stärke und Dauer einer nach Zahnextrak¬ 
tion vergleichbar —, daß ich daraus 
auf eine vollständige Exstirpation 
durch die Klappsche Zange schließen 
möchte, denn wie Tr aut mann (44) aus¬ 
führt, steigt die Blutungsgefahr mit dem 
Zurücklassen von Tonsillarresten an der 
Kapsel, die infolge entzündlich bedingter 
Straffheit die durchtrennten Gefäße klaf¬ 
fend und blutend erhält. Mit Lewis (55) 
sind wir ferner der Ansicht, daß die völlige 
Aufhebung des postoperativen Schluckens 
durch ausgiebige Cocainisierung die 
Thrombosierung der durchschnittenen 
Gefäße begünstigt, da jede Schluck¬ 
bewegung zur Zerrung und Bewegung der 
frischen Wunde führen würde. Da wir 
meistens bei septischen Allgemeinzustän¬ 
den zu operieren gezwungen sind, die mit 
Herabsetzung der Blutgerinnbarkeit und 
mit Gefäßwandschädigung verlaufen, fol¬ 
gen wir gern, dem Vorschläge Oertels 

(39) : am Vorabend der Operation geben 
wir subcutan 10,0 Normalpferdeserum 
und kurz vor dem Eingriff 10,0 Calc. 
chlorat. 10% intravenös. Sonstige Schä¬ 
digungen, wie Lymphdrüsenentzündungen 
als Ausdruck einer Wundinfektion, Faciar 
lislähmung, Schluckbeschwerden durch 
Narbencontraction und Gaumensegelläh¬ 
mung, ‘Verwachsungen des hinteren 
Gaumensegels mit der hinteren Rachen¬ 
wand, Singstimmschädigungen (23 bis 
25, 56) haben wir nie beobachtet. Ich 
erwähnte bereits, daß ich nach der Ope¬ 
ration die Wundnische lokal desinfiziere. 
Mechanische Nachteile vermeide ich durch 
genaue Beachtung des Zäpfchens und der 
Gaumenbögen beim ZangenschLiß und 

23 



178 Die Therapie der Gegenwart 1920 Mai 


durch Ausschaltung der Fälle von festen 
Verwachsungen der Gaunienbögen mit 
der Tonsille von der Klapp sehen Me¬ 
thode. 

In einem Falle sah ich drei Monate 
nach der Ausschälung ein großes ein-. 
seitiges Rezidiv einer Mandelhypertrophie. 
Bei jeder Operationsart werden derartige 
Mißerfolge zu berichten sein (22). Diese 
Rezidive nehmen ihren Ausgang von ab¬ 
sichtlich (48,49).oder unabsichtlich zuf ück- 
gelassenem Tonsillargewebe, wie es nach 
Simpson (57) in 44% aller Fälle vor¬ 
kommt. Vielleicht handelt es sich auch um 
übermäßige Neubildung adenoiden Ge¬ 
webes, das nach Klestadt (15) selbst bei 
jeder radikalen Entfernung vom Zungen¬ 
grunde her in die Mandelnische hinein¬ 
wächst. 

’ Da noch manche Autoren aus physio¬ 
logischen Gründen (26) zu konservativen 
Maßnahmen raten, anderen die ätiologi¬ 
schen Beziehungen zwischen Tonsillitis 
und Allgemeinerkrankung noch sehr zwei¬ 
felhaft (58) oder der Beweis nicht strikte 
statistisch erbracht (13), der Wert der 
Tonsillektomie also noch recht hypothe¬ 
tisch, zu sein scheint (22), auch das Fehlen 
fester, allgemein anerkannter Indikations¬ 
stellung zur Tonsillektomie bei Allgemein¬ 
erkrankungen bemängelt wird (59), würde 
die Mitteilung genauer Krankheitsge¬ 
schichten am meisten dazu beitragen, 
diese Bedenken zu zerstreuen und der 
Tonsillektomie zum Segen unserer Kran¬ 
ken immer weitere Anhängerschaft, be¬ 
sonders unter den praktischen Ärzten zu 
verschaffen. Leider hindert mich daran 
die bedauernswerte Papierknappheit. Ich 
muß mich daher darauf beschränken, aus 
der Zahl unserer Fälle in Kürze einen 
mitzuteilen, der- meine Ausführungen in 
den wesentlichsten Punkten illustriert 
und den Beweis erbringt, daß die Klapp- 
sche Methode bei richtiger Ausführung 
in der Hand des Geübten Dauererfolg 
gewährleistet. 

I. M., 32 Jahre alte Belgierin, aufgenommen 
20. Oktober 1919, entlassen 25. November 1919. 
Schwester war tuberkulös. Selbst mehrere 
Kinderkrankheiten. Beginn der Beschwerden vor 
fünf Jahren. Abnahme der allgemeinen 
Leistungsfähigkeit. Nie ganz gesund, aber 
auch nie ernstlich krank. Anfallsweise kolik¬ 
artige Leibschmerzen. In Behandlung Brüsseler 
Kapazitäten: Nervosität, Wanderniere, Eierstock¬ 
entzündung, Störungen der Periode. Keine Be¬ 
handlung brachte Dauererfolg. Juli 1919 
erfolgreiche Bandwurmkur. Trotzdem keine Bes¬ 
serung des gestörten Allgemeinbefindens: Kopf¬ 
schmerzen, fliegende Hitze, Zittern, Herzklopfen, 
schlechter Schlaf, Gefühl von Völle im Leib. 
10. bis 12. Oktober 1919 wieder heftige Kolik¬ 


schmerzeu, die Morphiumeinspritzung erforderten. 
Befund: Hysterischer Allgemeineindruck. 

Kräftiger Körperbau, guter Ernährungszu¬ 
stand. Gewicht 55,6'^kg.. Wassermanh negativ. 
Beigefügte Kurve; gewonnen aus zweistündlicher , 
Aftermessung bei strenger Bettruhe, zeigt den 
s^ubfebrilen Temperaturverlauf. Unruhe 
und Zucken in den Armen. Hgb. 73%. Normales 
Blutbild. 

Sehr gutes Gebiß. Freie Nasenatmung. 
Gaumenmandeln kaum vergrößert, flach, 
Oberfläche uneben, links mit schleierartigem 
weißen Belag, ohne entzündliche Erschei¬ 
nungen. Bei wiederholter Massage aus den ver¬ 
tieften Lakimen stets dicke gelbe Pfröpfe aus- 
drückbar. .Nie Schluckschmerzen. Keine 
Drüsenschwellung. Schilddrüse nicht ver¬ 
größert. 

Über der rechten Lungenspitze verschärfte 
Ein-, verlängerte Ausatmung. Röntgenosk. 
Brustorgane o. B. Herz o. B. Neigung zu Puls¬ 
beschleunigung. Blutdruck 133/103 mm Hg. 
Leib weich. Keine Gefäß- oder Ovarialdruck- 
punkte. Frei bewegliche zehnte Rippe. Rechter 
Nierenpol fühlbar. Unterer Milzpol bei wieder¬ 
holter Untersuchung eben arischlagend. Milz¬ 
dämpfung durchschnittlich 15/9 cm. Über beiden 
Darmbeinschaufeln gefüllte, empfindliche Darm¬ 
schlingen fühlbar. Zweimal Probefrühstück: Ge¬ 
samtsäure 60 bis 78, freie Salzsäure 36 bis 52. 
Wismutmahlzeit: Magen etwas ektatisch und 
ptotisch. Dickdarm etwas spastisch. Stuhl acht¬ 
mal chemisch blutfrei. Oxyuren. 

Gelenke frei. Lebhafte Sehnenreflexe. Kath. 
Harn o. B. Röntgen kein Nierenkonkrement. 
Für die kolikartigen Leibschmerzen ergab der Be¬ 
fund keine Erklärung. 

Nach Vorgeschichte und Temperaturverhalten 
mußte an Tuberkulose gedacht werden: Pirquet 
negativ. Auf dreimalige subcutane Alttuberkulin¬ 
injektion (Vs, L5 mg) keinerlei Reaktion. 

Fieber und Milztumor ließen ferner an eine 
Allgemeininfektion denken, entsprechend der 
Mahnung Johns (29) und Citrons (37), unklares 
Fieber eher auf chronische Tonsillitis als auf 
Tuberkulose zu beziehen. Bei dem geringen Lokal¬ 
befund der Tonsillen, der bei methodischer Unter¬ 
suchung nach unseren Erfahrungen bei so vielen 
'Menschen zu erheben ist, verhielten wir uns ab¬ 
wartend, Liege- und Mastkur, Behandlung der 
Oxyuren brachten keine Besserung des Allgemein- 
zustandes: Kopf- und Kreuzschmerzen, Schlaf¬ 
losigkeit, Nachtschweiß. Trotz gutem Appetit 
Gewicht unverändert 55,6 kg. 

Deshalb am 6. November 1919 Tonsillektomie 
in der oben beschriebenen Weise. Ideale Aus¬ 
schälung. Keine Spur von Blutung. Tonsillen 
wallnußgroß, auf der Schnittfläche mit Narben¬ 
strängen durchsetzt. 

8. November. In die Ohren ausstrahlende ge¬ 
ringe Schluckschmerzen. Keine Nachblutung. 
Zäpfchen etwas ödematös, gut beweglich. Am 
weichen Gaumen kleine Blutaustritte. Reaktive 
Schwellung minimal. Tiefe Gaumennischen mit 
Fibrin belegt. 

10. November. Gewicht 55,5 kg. 

Vom 12. November ab außer Bett. 

Temperatur vom 9. November ab, also drei 
Tage nach der Mandelausschälung, um % ° 
Normalwert dauernd herabgedrückt (siehe Kurve). 
Milz nicht mehr anschlagend, Dämpfung 11/8^ cm, 
mithin Abschwellen der Milz infolge Ausschaltung 
der den Organismus chronisch mit Bakterien und 
Toxinen überschwemmenden Infektionsquelle. In 
einer Woche drei Pfund zugenpmmen, 






Mai 


Die Therapie der G'egenwart X920 


^79 


während bis zur Tonsillektomie bei völliger Bett¬ 
ruhe, Mastkur und gutem Appetit keine Zu¬ 
nahme zu erzielen war. Die dauernde Resorption 
aus den kranken Tonsillen wirkte also stoff¬ 
wechselschädigend. Die bedeutende Gewichts- 
^zunahme ist auch ein Beweis, wie schnell bei .der 
Klapp sehen Methode normales Schluckvermögen 
wiederkehrt. Nervöse Symptome gebessert. 
Sichtliches Aufblühen — ein Effekt der Ton¬ 
sillektomie, den Tenzer (41) ausdrücklich be¬ 
tont. 

Entlassen mit 57,5 kg, also 2 kg Zunahme 
in elf Tagen. Hgb. von 73 auf 95% zugenom- 
men. Patient übersteht ohne Störung die be¬ 
schwerliche Reise von München nach Hamburg. 

Epikritisch ist von Interesse, daß vor wenigen 
Wochen eine mittelschwere Gripp'eerkrankung 
ohne Nachteil überstanden wird — eine Bestäti¬ 
gung der Mitteilung Simpsons (57), daß Ton¬ 
sillektomie nicht vor ' Infektionskrankheiten 
schützt, deren Eintrittspforte im Rachen ver¬ 
mutet wird. Deshalb dürfte auch die Pinselung 
der Tonsillen mit Tct. Jod., die Müller-Waldeck 
<35) empfiehlt, wenig Erfolg versprechen. Nach 
brieflicher Mitteilung fühlt sich die Kranke jetzt 
wohl und munter. 


Dieser Fall möge unter Hinweis auf 
die Weißsclien Indikationspunkte (17) 
zeigen, wie schwer im Einzelfaile die An¬ 
zeige zur Operation zu stellen ist, denn 
trotz wiederholter, genauester Unter¬ 
suchung waren die Tonsillen kaum als 
irreparabel pathologisch zu bezeichnen 
und der sichere Nachweis des Zu¬ 
sammenhanges zwischen Tonsillenverän¬ 
derung und den unklaren allgemeinen 
Krankheitssymptomen war eigentlich erst 
post Operationen! aus dem Erfolg derselben 
zu erbringen. Also keine schematische, 
sondern individualisierende Indika¬ 
tion per exclusionem auf Grund genaue¬ 
ster Untersuchung und Beobachtung. Der' 
Fall lehrt weiter, daß die Tonsillektomie 
imstande ist, bei Allgemeinerkrankungen 
Patienten, die jahrelang von Arzt zu Arzt 
ziehen, mit einem Schlage Gesundheit 
und volle Leistungsfähigkeit wieder¬ 
zugeben, also auch eine nicht geringe 
soziale Bedeutung besitzt. Er m.öge 
endlich die Klapp sehe Methode emp¬ 


fehlen, denn sie ist bei einiger technischer 
Gewandtheit einfach,. gefahrlos, fast 
in allen Fällen anwendbar und führt 
in gleicher Weise wie die komplizierteren 
Methoden der Fachärzte zum Dauer¬ 
erfolge. 

Literatur: 1. Päßler, Kongr. f. inn. Med. 

1911, — 2. Derselbe, Ther. Mh: 1913, Nr. 1. — 
3. Derselbe, M. m. W. 1913, Nr. 47. — 4. Der-" 
selbe, Prag. m. Wschr. 1914, Nr. 49. — 5. Der¬ 
selbe, Kongr. f. inn. Med. 1914. — 6. Derselbe, 
Ther. d. Gegenw. 1915, Nr. 10 und 11. — 7. Tci- 
desko,M.m. W. 1914, Nr. 1, Ver.-Ber. —8. Glas, 
W. kl. W. 1919, Nr. 34.-9. Sittmann,M.m. W. 
1913, Nr. 32, Ver.-Ber. — 10. Goerke, B. kl. W. 
1913, Nr. 25. — 11. Trautmann, M. m. W. 1913, 
Nr. '32, Ver.-Ber. — 12. Borchers, M. m. W. 

1912, Nr. 41. — 13. Friedrich, M. m. W. 1914, 
Nr. 5, Ver.-Ber. — 14. Henke, M. m. W. 1913, 
Nr. 22, Ver.-Ber. — 15. Klestadt, M. m. W. 1919, 
Nr. 35. — 16. Anderson, Am. j. of the med. sc., 
Bd. CL, H. 4. — 17. Weiß, Zschr. f. klin, M. 84, 
Bd. H. 3 und 4. — 18. Tomlinson, Therapeutic 
gaz. Detroit 1913, Nr. 2. — 19. Roethlisberger, 
M. m. W. 1912, Nr. 8. — 20. Hajek, M. m. W. 

1914, Nr. 1, Ver.-Ber.— 
21. Cocks, Med. rec. 
1912, Nr. 22. — 22. 
Moore, Med. rec., Bd. 
XC,H.23.—23.Sheedy, 
Med.rec., Bd.LXXXIII, 
H. 15. — 24. Stucky, 
The Laryngoskope 1912, 
Nr. 10. — 25. Whale, 
Lanc., 15. 2. 13. — 26. 
Zytowitsch, Ref. Zbl. 
f. Chir. 1911, Nr. 22. — 
27.Politzer,M.K1.19]3, 
Nr. 51., — 28. Kassel, 
M. KI. 1913, S. 1161. — 
29. John, M. m. W. 1916, Nr. 34. — 30. Roeder, 
Kongr. f, inn. Med. 1912. — 31. Halle, B. kl. W, 

1913, Nr. 7, Ver.-Ber., D. m. W. 1913, Nr. 8. — 
32. Prym, Muck, zit. nach 31. — 33. Spieß, 
zit. nach 31. — 34. Schmidt, Arch. f. klin. 
Med., 131. Bd., 1. u. 2. H. — 35. Müller- 
Waldeck, M. Kl. 1919, Nr. 18. —36. Auerbach, 
Mschr. f. Ohrhlk., Jahrg. 46, Heft 11. — 37. 
Citron, M. m. W. 1919, Nr. 27. — 38. Hurd, 
J. of Am. ass. LIX, Nr. 12. — 39. Oertel, Beitr. 
z. Anat. usw. d. Ohr., d. Nase u. d. Hals., Bd. 6, 
Heft 2. —^40. Schreiber, Ther. d. Gegenw. 1913, 
Nr. 4. — 41. Tenzer, W. kl. W. 1913, Nr. 47. — 

42. Hopmann sen., M. m. W. 1908, Nr. 38. — 

43. Hopmann jun., M. m. W. 1912, Nr. 12. — 

44. Trautmann, M. m. W. 1913, Nr. 40. — 

45. Derselbe, M. m. W. 1913, Nr. 52; 1914, 
Nr. 22. — 46. Hutter, W. kl. W. 1914, Nr. 18. — 
47. Taptas, Ann. d. mal. de Toreille etc. 1913, 
Nr. 10. — 48. Riedel, M. m. W. 1913, Nr. 41. — 

49. Levy, B. kl. W. 1913, Nr. 7, Ver.-Ber. — 

50. Klapp, M. m. W. 1913, S. 1058, Ver.-Ber. — 

51. Peyser, B. kl. W. 1913, Nr. 7, Ver.-Ber. — 

52. Blank, M. m. W. 1919, Nr. 51. — 53. Burak, 
zit. nach 21. — 54. Chiari, zit. nach 21. — 55. 
Lewis, Med. rec., Bd. XC, H. 26. — 56. Harris, 

-J. of Am. ass., Bd. LX, H. 6. — 57. Simpson, 

, J. of Am. ass., Bd. LXVI, H. 14. — 58. Sobern- 
heim, B. kl. W. 1913, Nr. 7, Ver.-Ber. — 59. 
Mader, M. m. W. 1913, Nr. 32, Ver.-Ber. 



23 * 






















180 


Die Therapte der Gegenwart 1920 


Mal 


Ans der Röntgenabteilung der Kaiser-Wübelms-Akademie in Berlin 
(Vorstand: Stabsarzt Dr. Strauß). 

über Strahlenbehandlung der Polycythämie. 

Von Otto Strauß. 


Die Polycythämie ist bis vor kurzem 
einer Behandlung überhaupt nicht zu¬ 
gänglich gewesen. In der Annahme, daß 
es sich um ein relativ seltenes Krankheits¬ 
bild handle, fand man sich mit dieser 
Tatsache ab. Indessen scheint es, daß 
man heute öfters das polycythämische 
Krankheitsbild beobachtet wie ehedem, 
wenigstens wird es jetzt öfters dia¬ 
gnostiziert. Noch 1912 sprach ein Hä¬ 
matologe von der Bedeutung von 
Morawitz, daß man mit Sicherheit 
jetzt 50 Fälle von Polycythämie kenne. 
Er mußte, also damals angenommen ha¬ 
ben, daß die Fälle von Polycythämie sehr 
selten sind. Heute wird man dies nicht 
mehr behaupten können. Es existieren 
über dieses Krankheitsbild schon mehr 
als 130 Veröffentlichungen. Inwieweit 
hierbei Fehldiagnosen mit eine Rolle 
spielen, ist nicht meine Sache, zu ent¬ 
scheiden. Auf jeden Fall aber ist die 
Polycythämie heute ein absolut seltenes 
Krankheitsbild nicht mehr und damit 
wird auch die Frage nach der Behandlung 
eine akutere. Der therapeutische Erfolg 
der bis jetzt verabreichten medikamen¬ 
tösen Mittel ist ein unsicherer gewesen. 
Zwar hat Türck nach hohen Dosen von 
Arsen Erfolge gesehen, Korany und 
Bence erreichten etwas mit Sauerstoff¬ 
inhalationen, V. Noorden anempfiehlt 
Chinin und Aderlässe, indessen haben sich 
alle die Behandlungsmethoden eine wirk¬ 
liche Bedeutung nicht erworben. Sowohl 
Morawitz wie Grober verhalten sich 
ganz ablehnend in der Beurteilung der 
Behandlungserfolge. Auch die bei dem 
ganzen klinischen Bilde der Polycythämie 
so naheliegende Milzexstirpation ergab 
keine günstige Beeinflussung des Krank¬ 
heitsbildes. Vorläufig ist daher die 
chirurgische Behandlung dieses Leidens 
aufgegeben, ob man sie später nicht wieder 
einmal mit besserem Erfolg aufnehmen 
wird, bleibt abzuwarten. 

Es war selbstverständlich, daß man 
bei einem Leiden, bei welchem man in 
der ganzen Behandlung noch nicht über 
ein unsicheres Probieren hinausgekommen 
war, es auch mit der Röntgenbestrahlung 
versuchte. Die theroretischen Voraus¬ 
setzungen für die Wirksamkeit einer 
Strahlentherapie waren ja ungünstig. Was 
sollte die Bestrahlung bei einer Erkran¬ 


kung leisten, die lediglich das rote Blut¬ 
bild betrifft? Wußten wir doch schon 
lange^ daß Röntgenstrahlen nur auf das 
weiße Blutbild wirksam sind, und man 
nahm an, daß die- roten Blutkörperchen 
gegen Bestrahlung sich gänzlich unbeein¬ 
flußbar verhalten. Zahlreiche Beob¬ 
achtungen von Schweitzer, Helber 
und Linser, Milchner und Mosse, 
Nürnbergerund anderen stimmten darin 
überein, daß die Erythroblasten auf Be- 
Bestrahlung nicht reagieren. In dieser 
allgemeinen Form^ ausgedrückt, ist das 
nun nicht richtig. Eine gewisse Einwir¬ 
kung der Bestrahlung auf die Erythro- 
cyten ist nicht -in Abrede zu stellen, 
es bedarf nur dazu sehr großer Strahlen¬ 
mengen. So hat Schauta nach außer¬ 
ordentlich hohen Radiumdosen (er ließ 50 
bis 100 mg Radium drei bis elf Tage lang 
einwirken) eine Abnahme der Zahl der 
roten Blutkörperchen und des Hämoglobin¬ 
gehalts beobachtet. Aubertin und Beau- 
jard sahen nach intensiver Bestrahlung 
beträchtliche Schädigungen der Erythro- 
cyten. Es kam zu Poikilocythose und 
Polychromatophilie, desgleichen traten 
kernhaltige rote Blutkörperchen im Blut¬ 
bild auf. Heineke sah bei seinen grund¬ 
legenden Untersuchungen gleichfalls eine 
Zerstörung der roten Blutkörperchen 
durch hohe Dosen und fand danach eine 
Häufung von Blutpigment in der Milz. 
In neuerer Zeit hat Hildegard Bor¬ 
mann bei intensiver Bestrahlung eine 
Verminderung der Erythrocytenzahl und 
ein Absinken der Hämoglobinwerte fest¬ 
gestellt, so daß man also an eine Beein¬ 
flußbarkeit der roten Blutkörperchen 
durch Strahlenwirkung nicht zweifeln 
kann. Eine ganz andere Frage ist es nun 
aber, ob man diese Strahlenwirkung im 
therapeutischen Sinne verwenden kann. 
Solche Dosen, wie sie z. B. Schauta 
angewendet hat, sind zu vermeiden. Hier 
muß man sich von vornherein darüber 
im klaren sein, daß es zu schweren Schädi¬ 
gungen kommt. Die Empfindlichkeits¬ 
dosis für die roten Blutkörperchen ist eine 
so große, daß bei ihrer Applikation schon 
schwerste Allgemeinschädigungen ein- 
treten können und daß vor allen Dingen 
— worauf Wetterer mit Recht aufmerk¬ 
sam macht — die Haut diese Strahlen¬ 
mengen nicht mehr verträgt. 



IBl 


Mai, Die Therapie der 

Nach diesen Ausführungen müßte man 
eigentlich von einer Behandlung der 
Polycythämie mit Röntgenstrahlen Ab¬ 
stand nehmen. Verwundern könnte es ja 
nicht, denn ein Mittel, das gegen leuk¬ 
ämische Krankheitsbilder so hochwirk¬ 
sam ist, kann doch im Grunde genommen 
die Erythrocyten nicht in gleichem 
Maße beeinflussen. Nun aber lehrt uns die 
Strahlentherapie, daß gesundes Gewebe 
oft mur sehr wenig durch Bestrahlung 
zu beeinflussen ist, daß aber dieselbe Ge- 
websart eine höhere Radiosensibilität auf¬ 
weist, wenn sie pathologisch verändert 
ist. Bietet nun das krankhaft veränderte 
rote Blutkörperchen eine relativ günstige 
Vorbedingung für Bestrahlung? Wir 
wissen, daß sich im Blut des Polycythäm- 
ikers Polychromasie und Mikrocythose 
findet, daß kernhaltige Zellen, Zellen mit 
Kernresten und Erythroblasten darin vor¬ 
handen sind, also kurzum, daß ähnliche 
Befunde darin auftreten, wie wir sie bei 
intensiv Bestrahlten finden. Irgend¬ 
welche Schlüsse möchte ich hieraus nicht 
ziehen. Auch glaube ich nicht, daß die 
Wirksamkeit der Bestrahlung bei Erythro- 
cythämie auf eine direkte Beeinflussung 
der roten Blutkörperchen selbst zurück¬ 
zuführen ist, sondern ich nehme vielmehr 
eine Einwirkung auf die hämatopoetischen 
Bildungsstätten an. Man könnte sich ja 
schließlich denken, daß normale rote 
Blutkörperchen durch Bestrahlung nicht, 
daß hingegen krankhaft veränderte Blut¬ 
körperchen sehr wohl zu beeinflussen 
seien, indem die Erythrocyten bei Poly¬ 
cythämie eben minderwertig sind, durch 
Eiweißverarmung und verminderte Re¬ 
sistenz gegen Kochsalz und Saponin be¬ 
einträchtigt, leichter der Strahlenwirkung 
verfallen. Da außerdem cj^r Polycyth- 
ämiker zahlreiche kernhaltige Erythro¬ 
cyten aufweist, so wäre auch die Möglich¬ 
keit gegeben, daß diese Formelemente 
radiosensibler sind als normale. Indessen 
möchte ich trotz aller dieser zugegebenen 
Möglichkeiten nicht an dieWahrscheinlich- 
keit der direkten Strahlen-Beeinflussungdes 
fließenden Blutes glauben. Erstens haben 
uns Tierexperimente Curschmanns ge¬ 
zeigt, daß auch bei normalem Blutbefund 
eine Erythrocytenverminderung und ein 
Sinken der Hämoglobinwerte eintreten 
kann, zweitens muß man sagen, daß die 
Veränderungen des Blutbildes nur sehr 
kurzfristig sein könnten, wenn sie durch 
direkte Beeinflussung erzielt worden 
wären. Wir wissen, daß nach längstens 
.acht Wochen das durch Bestrahlung ver- | 


Gegenwart 1920 
V 

änderte Blutbild wieder zur vorher be¬ 
standenen Zusammensetzung zurückkehrt, 
wir könnten uns also von einer das flie¬ 
ßende Blut allein treffenden Beeinflussung 
einen dauernden Erfolg (auch nur Erfolg 
von relativer Dauer) nicht erwarten. 

Wir müssen also die Wirksamkeit der 
Bestrahlung in den hämatopoetischen 
Bildungsstätten selbst suchen, und da 
bleiben uns zunächst zwei Stellen zur 
Auswahl: erstens die Milz, zweitens die 
Knocheni Die Versuche, durch Bestrah¬ 
lung des Skeletts die Polycythämie zu 
beeinflussen, sind schon sehr weit zurückr 
liegend, ln der Literatur wird es immer 
so dargestellt, als ob Parkinson 1908 
die ersten dahingehenden Versuche unter¬ 
nommen habe, doch reichen die Anfänge 
einer solchen Therapie schon weiter zu¬ 
rück und knüpfen an allerdings noch nicht 
richtig gedeutete Beobachtungen von 
Schenck, Vaquez und Laubry aus 
dem Jahre 1904 an. Später rückte dann 
mehr die Milz in den Mittelpunkt des 
Interesses und man begann dann mit 
ihrer Bestrahlung. Die damit erzielten 
Erfolge sind als negative anzusehen. 
Nach den zahlreichen ergebnislosen Ver¬ 
suchen von Hörder, Kuttner, Pan- 
koast, Pic, Bonnamour, Cremieu, 
Pick, Begg, Bulmore, Loewy, Mon- 
ro, Osler, Watson und verschiedenen 
anderen perhorreszierte Lüdin die Milz¬ 
bestrahlung, die er als ein verfehltes 
Unternehmen bezeichnet, und bestrahlte 
nur die Knochen. Die weiteren Beob¬ 
achtungen scheinen Lüdin Recht zu 
geben. Zwar hat Mönch noch mit einer 
Milzbestrahlung etwas erreicht, auch ver¬ 
fügt die Universitätsklinik in Königsberg 
über einen 1909 behandelten Fall, bei 
welchem die Milzbestrahlung Besserung 
gebracht hat; schließlich sei auch noch 
erwähnt, daß Minkowski der Milz¬ 
bestrahlung das Wort spricht, aber trotz¬ 
dem muß man heute sagen, daß man im 
allgemeinen von einer alleinigen Be¬ 
strahlung der Milz nichts erwarten darf. 

Es ist selbstverständlich, daß man die 
ganze Bestrahlungstherapie der Poly¬ 
cythämie, bei welcher es also nicht genügt, 
die Milz zu bestrahlen, sondern man das 
ganze Skelett einer systematischen Rönt- 
genisierung unterziehen muß, erst richtig 
auszuüben in der Lage war, als man über 
die modernen Apparate verfügte. Die 
Versuche von Schenck und Parkinson, 
die negativen Ergebnisse von Vaquez 
und Laubry sind als hochbedeutsame 
Vorläufer angesehen; die eigentlich wirk- 






182 Die Therapie der 


Same Bestrahlung setzte erst ein, als man 
die moderne Technik richtig beherrschen 
lernte. Es war dann Tan er der durch 
Knochenbestrahlung eine Herabsetzung 
der Erythrocyten von 14 200 000 auf 
6 600 000 und ein Sinken des Hämo- 
globingehälts von 178% auf 163% er¬ 
reichte. Die relative Seltenheit der Fälle, 
die ganz anders gerichteten ärztlichen 
Interessen der Zeit brachten es mit sich, 
daß die Tancresche Mitteilung nicht die 
Beachtung fand, die sie hätte finden 
sollen. Angeregt nun durch die ungefähr 
gleichzeitig veröffentlichten Erfolge von 
Tancre und Lüdin sind eine Reihe 
Kliniker erneut an die Bestrahlung der 
Polycythämie herangetreten und es sind 
von Forschbach, Goggenheimer, 
Böttner und anderen ausgesprochene 
Erfolge mit der Bestrahlung erzielt wor¬ 
den. Ich kann auf Grund eigener Beob¬ 
achtungen die Angaben dieser Autoren 
nur voll und ganz bestätigen. Auch ich 
habe mit der isolierten Milzbestrahlung 
einen völligen Mißerfolg erlebt, während 
die systematische Bestrahlung des ganzen 
Skeletts einen ausgesprochenen Erfolg 
brachte. Es ist geradezu staunenswert, 
wenn man sieht, wie hochgradige Tibia¬ 
schmerzen und Erythromelalgien unter 
der Einwirkung der Bestrahlung ver¬ 
schwinden. Auch ich beobachtete wie 
andere Autoren einen gelegentlichen Ab¬ 
fall der Zahl der roten Blutkörperchen 
tief unter der Norm. Daß dies ein ge¬ 
fährlicher Vorfall ist, läßt sich nicht 
sagen. Es scheint sich doch nur mehr um 
einen vorübergehenden Zustand zu han¬ 
deln. Daß man bei der Bestrahlungs¬ 
therapie das Blutbild fortgesetzt kon¬ 
trollieren muß, bedarf eigentlich keiner 
Betonung. 

Die Wirksamkeit der Bestrahlung ist 
wohl eine das Knochenmark selbst be¬ 
treffende. Wir wissen, daß das Knochen¬ 
mark bei der Polycythämie sich im Zu¬ 
stande der funktionellen Hyperaktivität 
befindet und in sämtlichen Knochen eine 
dunkelrote Farbe aufweist. Wir müssen 
annehmen, daß dieses rote Mark- sehr 
strahlenempfindlich ist, und dies ist dann 
für unsere ganze Therapie bestimmend. 
Man muß möglichst das ganze Skelett 
bestrahlen. Daß diese Bestrahlungen bei 


Gegenwart 1920 Mai 


den langen Röhrenknochen am einfachsten 
ausführbar sind, darf uns nicht veran¬ 
lassen, sie nur auf diese Skeletteile zu be¬ 
schränken. Brustbein, Becken,Wirbelsäule^ 
Schulterblätter sind mit zu bestrahlen. 

Was die Dosierung betrifft, so ist es 
angezeigt, immer die Hauteinheitsdosis 
zu verabreichen. Strittig ist es noch, ob 
man die Milz mit in die Bestrahlung ein¬ 
beziehen soll. Wie ich bereits ausführte, 
ist die isolierte Milzbestrahlung ohne Er¬ 
folg. Inwieweit die Milzbestrahlung in 
Verbindung mit einer Röntgenisierung 
des ganzen Skeletts eine Verbesserung der 
Wirkung herbeiführt, vermag ich aus 
eigener Erfahrung nicht zu beurteilen. 
Dies dürfte in letzter Linie auch nur an 
Hand eines großen Beobachtungs¬ 
materials, in welchem bald mit, bald ohne 
Milzbestrahlung die Behandlung aus¬ 
geführt würde, zu entscheiden sein. Bött¬ 
ner vertritt den Standpunkt, daß man 
Milz und Knochenmark nicht mit gleich¬ 
starken Dosen bestrahlen dürfe, indem 
die Milz mit Reizdosen zu beschicken sei, 
die noch eine Funktionssteigerung herbei¬ 
führten, während das Knochenmark große 
Dosen erhalten müsse, damit eine Funk¬ 
tionslähmung erzielt werde. Der hier 
ausgesprochene Gedankengang ist richtig, 
es ist nur nicht so einfach, zu^bestimmen, 
welche Dosis bei der Milz als Reizdosis 
wirkt. Nach Manfred Fränkel, dem 
Begründer des Begriffs der Reizdosis, 
sind es drei Sabouraud-Noiree-Dosen, die 
bei Platinstaniol-Filterung durch drei 
Einfallsdosen (eine von vorn, eine von 
hinten und eine von der Seite) verabreicht 
werden. Man sieht hieraus, daß die Reiz¬ 
dosis der Milz nicht zu klein bemessen 
sein darf. Was viele als Reizdosis an- 
sehen, ist tatsächlich nur eine effektlose 
Milzbestrahlung. Einer Leberbestrahlung 
möchte ich das Wort nicht reden, da ihre 
Vergrößerung bei Polycythämie nur auf 
Hyperämie beruht.- 

Ich möchte meine Ansicht über den 
Wert der Bestrahlung bei der Poly¬ 
cythämie dahin zusammenfassen, daß 
ich in der Strahlentherapie ein Mittel 
erblicke, das auch noch in fortgeschritte¬ 
nen und fast hoffnungslos erscheinenden 
Fällen indiziert und eine Besserung herbei¬ 
zuführen in der Lage ist. 







Mai Die Therapie der Gegbnwart 19i20 183 

Aus der Poliklinik für chirurgische Erkrankungen 
des Herrn Geh. Rat Prof. Dr. Bockenheimer, Berlin. 

Behandlung infizierter Wunden mit Pyoctaningaze. 

Von Dr. med. E. L. Blumann, Assistent der Poliklinik. 


Seit Wiedereintreten eines geordneten 
Friedensbetriebes in der Poliklinik von 
Geh. Rat Bockenheimer habe ich hier 
mit dessen Erlaubnis in der Wundbehand¬ 
lung an Stelle der gewöhnlichen Gaze¬ 
oder Jodoformgazetamponade die von 
Baumann 1916 .eingeführte Pyoctanin¬ 
gaze angewandt. 

Zur Einführung und Erklärung muß 
ich nun zunächst noch einige historische, 
dann auch experimentell-physiologische 
, Vorbemerkungen über die Anilinfarb¬ 
stoffe in der Therapie im allgemeinen und 
über das Pyoctanin im Speziellen machen. 

Nachdem Ende der 80er Jahre Kre- 
manski^) zum erstenmal auf die bacte- 
ricide Wirkung gewisser Anilinfarbstoffe 
hingewiesen hatte, führte Stilling^) als 
erster die Anilinfarbstoffe als Antiseptica 
in die Praxis ein. 

Schon damals wurde die große bacte- 
ricide Fähigkeit der Aniline hervorge- 
^ hoben. Hatten doch die Untersuchungen 
Stillings und des Botanikers Wort-- 
mann^) ergeben, daß die Anilinfarbstoffe 
auf die resistentesten Bakterien und 
Sporen selbst in geringer Konzentration 
einen Wachstums- und entwickelungs¬ 
hemmenden Einflüß haben, während sie 
diese bei jeder stärkeren Konzentration 
völlig abtöten. Der physiologische Vor¬ 
gang, der sich dabei abspielt, ist der, daß 
die Bakterien je nach der Konzentration 
der Lösur^en, in die man sie bringt, mehr 
oder weniger gefärbt werden; und kon¬ 
form mit den verschiedenen Graden der 
Tinktur des Zelleibes gehen dann auch 
die Wirkungen auf die vitalen Funktionen 
der Zellen selbst. 

Bakterien, in schwächere Farblösungen 
gebracht, werden in ihrem Wachstum 
gehindert und geben, später in ein reines 
Medium' gebracht, den Farbstoff wieder 
ab, während Zellen in starkkonzentrierten 
Farblösungen schnell absterben. Weitere 
experimentelle Untersuchungen mit den 
Anilinfarbstoffen Methylenblau und Me¬ 
thylviolett haben dann ergeben, daß be¬ 
reits in sehr starken Verdünnungen Wachs- 

Vortrag, gehalten am 5. März 1920 in der 
Poliklinik, Luisenstraße 19. 

2) Kremanski (The Lancet 1890). 

Stilling 1890, Anilinfarbstoffe als Anti¬ 
septica und ihre Anwendung in der Praxis. 

4) Wortmann 1891 (Ther. Mh.). 


tumshemmungeri der Bakterien eintreten, 
und daß in Konzentrationen 1:2000 bis 
1:1000 jedes vorhandene Bakterium ab¬ 
getötet wird. Ein Vergleich mit unserem 
stärksten Desinficiens, dem Sublimat,^ 
hatte, angewandt auf Milzbrandbacillen,' 
nach Jaenickes), ergeben, daß diese 
bereits in einer Methylviolettlösung von 
1:1 000 000 entwicklungsgehemmt wa¬ 
ren, während nach Koch eine Sublimat¬ 
lösung von 1:330 000 zum selben Effekt 
nötig war. Dazu muß man aber in Be¬ 
tracht ziehen, daß das Sublimat zellschädi¬ 
gend ist, während die Aniline, auch in 
starker Konzentration, sich als nicht 
gewebs- oder organismusschädigend er¬ 
wiesen haben. 

Die ersten Anwendungen der Aniline 
in der Wundbehandlung fanden in Form 
des Methylenblaus oder des Methylvioletts 
in Substanz statt; das heißt das blaue 
Pulver wurde auf ,diß Wunde geschüttet.. 
Dabei ergab sich bald ein recht 
einschneidender Nachteil, daß die Sub¬ 
stanz, auf die Wundoberfläche gebracht, 
nicht bis in die tiefsten Taschen und 
Buchten der Wundhöhle hinein färbte 
und daß so nur die Bakterien der Ober¬ 
fläche gefaßt wurden, während die pri¬ 
mären Eiterherde in der Tiefe unberührt 
blieben. 

Diesem Mangel half nun Eaumann®) 
erst ab, indem er auf den Gedanken kam, 
die Gaze, mit der er eine beliebige Wund¬ 
höhle austamponierte, mit einer Methyl¬ 
violettlösung zu tränken, um so den Farb¬ 
stoff in die Tiefen der Wundhöhle und 
an den Herd der Eiterung bringen zu 
können. Später ließ er sich die Blaugaze 
durch die Hartmannsche Verbandstoff¬ 
fabrik in Heidenheim fabrikmäßig her- 
stellen, und zwar kam die Gaze in drei 
Stärken: zu 3%, 5%, 10% in den Handel. 

Mit einem Schlage war so die Dosie¬ 
rung des Farbstoffes für den Praktiker 
geregelt. Die bei dem Arbeiten mit der 
Trockensubstanz öfters eintretende Über¬ 
dosierung, die bisweilen eine granulations¬ 
hemmende Wirkung haben kann, fällt 
bei der Anwendung der Pyoctaningaze 
fort. 


5) Jaenicke (Ther. Mh. 1892). 

*) Baumann (Korr. BI. Schweizer Ä. 1916, 
Nr. 35). 




184 Die Therapie der Gegenwart 1920 Mäi 


B a u in a n n benutzte ausschließlich 
Methylviolett, Pyoctaninum coeruleum 
(Merk), von dessen Überlegenheit über 
das Methylenblau er sich experimentell 
überzeugt 4iatte. 

Nachdem ich nun unter Baumanns 
Leitung 1915 an der Königsberger Chir- 
urgisclien Klinik einige hundert Fälle mit 
Pyoctaningaze behandelt und mich von 
dem guten Erfolge derselben überzeugt 
hatte, setzte ich an der hiesigen Poliklinik 
die Wundbehandlung mit Pyoctaningaze 
mitxiem gleichen günstigen Resultate fort 

Die Anwendung der Blaugaze ist auch 
besonders für den praktischen Arzt sehr 
einfach. Alle zur Infektion neigenden 
Verletzungen (Unfälle!), als da sind Schuß-, 
Stich- und Hiebverletzungen, komplizierte 
Frakturen, Skalpierungen, wie sie bei 
Überfahrungen häufig sind, alle gespal¬ 
tenen Abscesse, Panaritien aller Art, 
Phlegmonen und selbst Osteomyelitidep, 
werden mit der Pyoctaningaze locker! 
ausgelegt und dann die Wunde mit einer 
dicken Zellstoffschicht belegt, um even¬ 
tuelle Sekrete aufzufangen. — Es hat 
sich mir als recht praktisch erwiesen, 
besonders stark verschmutzte Wunden 
und besonders solche Verletzungen oder 
Infektionen, in denen die Sehnenscheiden 
infiziert waren, oder gar die Sehnen frei¬ 
lagen oder verletzt waren, erstmalig mit 
einer 5%igen alkoholischen Pyoctanin- 
lösung auszutupfen, die sich ein jeder 
aus 5,0 g Pyoctanineum coerulum, Merk 
plus 100 ccm 60 %igem Alkohol herstellen 
kann, und dann erst zu. tamponieren. 

Der weitere Gang der Wundbehand¬ 
lung ist dann folgender: Der heute ope¬ 
rierte Patient wird am folgenden Tage 
nur auf Sitz des. Verbandes oder auf nur 
selten vorkommende Progredienzerschei¬ 
nungen der Entzündung hin kontrolliert 
und dann erst am vierten Tage post in- 
cisionem der erste Verbandwechsel vor¬ 
genommen. Bei diesem Verbandwechsel 
sieht man dann schon den Unterschied 
zwischen der Behandlung mit Pyoctanin¬ 
gaze und der mit der alten Jodoform¬ 
oder gewöhnlichen Gazetamponade. Der 
Blaugazetampon ist nie mit der Wund¬ 
oberfläche verklebt. Ein Herausziehen 
aus der Wundhöhle ist also absolut 
schmerzlos. Die Wunde und deren Um¬ 
gebung sind stets ganz reaktionslos. In 
.der Wunde -selbst keinerlei oder nur ganz 
minimales, blaugefärbtes, meist dünn¬ 
flüssiges Sekret; kein Eiter! Wer die 
Ströme gelben Eiters kennt, die sich 
sonst aus kürzlich incidirten Wunden 


entleeren, der wird über diese bactericide 
und sekretionshemmende Wirkung des 
Pyoctanin erstaunt sein. 

Ein weiterer Vorteil ist dann auch die 
Sparsamkeit an Verbandmaterial, die 
durch Anwendung von Blaugaze gewähr¬ 
leistet wird. Hat man den ersten Ver-- 
bandwechsel am vierten Tage vorgenom¬ 
men und dabei nochmals etwas • Blaugaze 
eingelegt,’ so kann man beim zweiten 
Verbandwechsel nach weiteren fünf bis 
sechs Tagen schon einen mit Argentum- 
nitricum-Salbe bestrichenen Tampon in 
die Wundhöhle bringen, die dann, meist 
schon völlig gereinigt, sekretlos ist und 
bisauf kleine, noch bläulich verfärb telnseln 
schon gesunde Granulationen aufweist. 
Erweist es sich doch als notwendig, noch 
ein drittes Mal eine antiseptische Wirkung 
auf die Wunde auszuüben, so benutze 
ich in diesem Falle dann nicht die 10%ige 
Starkgaze, sondern ziehe die 5V,qige Gaze 
vor, um nicht durch etwaige Überdosie¬ 
rung des Pyoctanins die Granulation zu 
stören. 

Durch diese neue Behandlung wird 
die Wundheilung bedeutend abgekürzt, 
was ja bei unseren arbeitenden Patienten 
sehr wichtig erscheint. 

Die durchschnittliche Heilungsdauer 
gewöhnlicher Abscesse und infizierter 
Wunden beträgt bei unserer Behandlung 
8—14 Tag^. Größere Phlegmonen, wie 
Sehnenscheidenphlegmonen, sowie die 
so gefürchteten pyogenen Erkrankungen 
des Knochensystems erfordern natur¬ 
gemäß entsprechend längere Zeit zur 
Heilung. Irgendwelche schädigenden 
Bei- oder Nebenwirkungen in der Wund¬ 
behandlung mit Pyoctaningaze haben 
sich mir nicht gezeigt. Etwaige blaue 
Flecke auf der Haut oder in der Wäsche, 
die nicht vollkommen zu umgehen sind, 
lassen sich mit 3 %igem Salzsäure-Alkohol 
leicht entfärben. 

Die meisten in Behandlung kommen¬ 
den Fälle sind Infektionen, die auf Strep¬ 
tokokken oder Staphylokokken beruhen. 
Aber ebenso, wie diese, reagieren auch 
Abscesse und Wunden mit tuberkulösem’ 
Eiter prompt auf Pyoctaninbehandlung. 
Tuberkulöse Abscesse, die ich incidierte, 
excochleierteund mit Pioctanin beschickte, 
hellten prompt, ohne Zurücklassung der 
so gefürchteten Fistel. Ja, man kann 
sogar Fistelgängen, auch specifischen 
Charakters, mit Pyoctanintinktur erfolg¬ 
reich zu Leibe gehen. 

Wenn ich Ihnen noch einmal die Vor¬ 
züge der Pyoctaningazebehandlung re- 






Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


185 


kapitulieren darf, so möchte ich. dies so 
formulieren: 

1. Sie ist geruchlos und reizlos und 
regt zu Granulationsbildung an. 

2. Sie gewährleistet genaue Dosierung 
und gleichmäßige Ausbreitung de§ Farb¬ 
stoffes. 

3. Sie erscheint allen anderen bisheri¬ 
gen Antisepticis an bactericider Kraft bei 
absoluter Unschädlichkeit überlegen. 

4. Durch ihren sekrethemmenden Ein¬ 
fluß bewirkt sie eine beträchtliche Er¬ 
sparnis an Verbandmaterial. 

5. Sie vermindert und verkürzt alle 
mit der Infektion einhergehenden Sekun¬ 
därerscheinungen, wie die regionäre Ent¬ 
zündung, Schmerzen, Lymphangitis, Ent¬ 
zündung der regionären Lymphdrüsen, 
Fieber und Schüttelfröste. 

6. Sie kennt nicht die lästige und für 
den Patienten so schmerzhafte Tampqn- 
verklebung mit der Wundhöhle und ver¬ 
hindert so jede Blutung beim Verband¬ 
wechsel. • 

Nach meiner Erfahrung erscheint mir 
nun die Wundbehandlung mit Pyoctanin- 
gaze besonders in der kleinen Chirurgie 
jeder ‘ anderen antiseptischen Wundbe¬ 
handlung vorzuziehen. Und ich hoffe nun, 
durch meine Erörterungen wenigstens 
eine kleine Übersicht über die Behand¬ 
lung eitriger Wunden mit Pyoctaningaze 
gegeben zu haben, zugleich mit der An¬ 
regung, es selbst einmal zu versuchen. 

.Zum Schluß möchte ich Ihnen noch 
an der Spitze der mit Blaugaze behandel¬ 
ten Fälle, die ich Ihnen nun noch vor¬ 
stellen werde, einen besonders instruk¬ 
tiven Fall zeigen. 

Die Krankengeschichte ist ungefähr 
folgende: 

Bei einem Straßenbahnunfall gerät der Schaff¬ 
ner Tr. mit der rechten Hand in eine Glasscheibe 
seines Wagens. Ein Glassplitter dringt ihm in 
die Hohlhand etwa zwischen dritten und vierten 
Mittelhandknochen. Es besteht sofort eine starke 
Einschränkung der Beugefähigkeit des vierten 
Fingers. Er kommt an dem zweiten Tage nach 
dem Unfall zu uns^ wo sich folgendes Bild bietet: 
Allgemeinbefinden leicht getrübt., Abgcschlag'en- 
heit, leichte Temperaturerhöhung, Kopfschmerzen. 


Die Lymphstränge des rechten Armes sind gerötet, 
in der Axilla eine Drüse fühlbar: Die ganze rechte 
Hand ist bis an das Handgelenk stark geschwollen, 
die Haut gerötet und glänzend. Es besteht be¬ 
trächtliche Schmerzempfindlichkeit, ln der Hohl¬ 
hand zwischen Mittelhandknochen UI und IV 
etwa kirschgroße Wundöffnung mit zerrissenen 
Rändern, die in die Tiefe führt. ‘ 

Bei Druck auf die Umgebung entleert 'sich 
aus der Tiefe der Wunde reichlich eitriges Sekret. 
Der dritte Finger kann nur ungenügend gebeugt 
werden. — Es wird nun unter Blutleere und 
Äthernarkose die Wundöffnung proximal und 
distalwärts erweitert. Nach Auseinanderzieheh. 
der Wundränder und Auswischen des reichlichen 
in der Wunde und den umliegenden Geweben be¬ 
findlichen Eiters zeigt sich, daß die zum dritten 
Finger gehörige Sehne des Flexor dig. sublim, 
durchtrennt ist. Die beiden freien Enden der 
Sehne werden nunmehr gefaßt und aneinänd'er- 
genäht. Danach wird zwischen Mittelhandknochen 
HI und IV eine Kornzange hindurchgestoßen 
und eine Gegenincision auf dem Handrücken an¬ 
gelegt. Hier wird etn mit Blaugaze umwickeltes 
Drain bis in die Hohl handwunde geführt. Nun¬ 
mehr wird die ganze erweiterte und gesäuberte 
Wundhöhle mit Pyoctanintinktur ausgewischt, die 
genähte Sehne mit Pyoctaninstarkgaze umlegt und 
außerdem noch das , übrige der Wundhöhle mit 
Blaugaze locker ausgelegt. Die so versorgte Hand 
wird dann auf eine Schiene ruhig gestellt. Der Arm 
wird nachts suspendiert. — Bei der Verband- 
revision am folgenden Tage sind alle lokaleti 
Reizerscheinurigen bereits im Rückgehen, di'e 
Allgemeinerscheinungen verschwunden. Beim 
ersten Verbandwechsel nach vier Tagen ist die 
Handschwellung fast völlig verschwunden. Die 
Wunde selbst ist reaktionslos, tiefblau gefärbt, 
nur aus einem Muskelinterstitium läßt sich etwas 
bläulich gefärbter Eiter herausdrücken. , Die ge¬ 
nähte Sehne bleibt in ihrer Blaugazeumhüllung 
liegen. Die Wundhöhle wird neu tamponiert. — 
Nach weiteren vier Tagen wird bereits die um 
‘die Sehne gelegte Gaze schmerzlos entfernt und 
das zum Handrücken herausgeführte Drain fort¬ 
gelassen. Die Wunde sieht nunmehr schon völlig 
rein aus. Es entleert sich auf Druck nur noch 
wenig bläulich verfärbtes Sekret. Es wird jetzt 
ein Tampon von öprozentiger Blaugaze eingeführt, 
der wieder vier Tage liegen bleibt. Die Wund¬ 
heilung bleibt völlig normal, so daß nach drei 
Wochen bereits mit Heißluftbehandlung begonnen 
werden kann. Heute sind etwa acht-Wochen nach 
dem Unfall verflossen. Sie sehen nur eine glatt 
geheilte Narbe in der Handfläche. Die Funktion 
der Hand ist völlig wiederhergestellt. Irgendeine 
Beschränkung der Arbeitsfähigkeit besteht nicht. 

’) Neueste Erwähnung der Pyoktaninbehand- 
lung in C. Franz Kriegschirurgio, Leitfaden der 
prakt. Medizin von Prof. Dr. "Bockenheiiher, 
Berlin, Bd. XII, ,1920. 


Repetitorium der Therapie, 

Behandlung der Infektionskrankheiten. 


Von G. Klemperer und L. Dünner. 


12. Erysipel, ln dem begreiflichen 
Bestreben, den Fortschritt der Erkran¬ 
kung zu hindern, darf man Eucupin. 
basic. 0,2, 4stdl. ein Pulver verordnen, wie 
bei der Sepsis, oder auch intravenöse 


Kollargolinjektionen (vgl. S. 148). Das 
örtliche Weiterschreiten sucht man auf.- 
zuhalten, indem man etwa 2 ccm jenr 
seits der Infiltrationsgrenze einen breiten 
Stich mit Jodtinktur auf der Haut zieht. 


24 




{ 


186 ^ Die Therapie der Gegenwart 1920 Mai 


Im übrigen betupft man in etwa zwei¬ 
stündigen Zwischenräumen die geröteten 
und geschwollenert Hautpartien mit einer 
Mischung von Alkohol und Glycerin ää, 
oder wenn dies nicht angenehm emp- 
pfunden wird, mit reinem Olivenöl. Vom 
Auflegen eines Salbenverbandes, mit Ich¬ 
thyol- oder Zinksalben, sieht man besser 
ab. Etwaige tiefer greifende Eiterung 
muß inzidiert werden. Für die Allgemein¬ 
behandlung gelten dieselben Regeln wie 
bei der Sepsis; das Herz ist besonders in 
der Rekonvaleszenz wie bei Diphtheri¬ 
schen zu behandeln. 

13. Meningitis. Die Patienten be¬ 
dürfen mehr als andere Fieberkranken 
der Ruhe und Schonung, da sie oft be¬ 
sonders reiz- und geräuschempfindlich 
sind; die Steifigkeit und Hyperästhesie 
machen sehr vorsichtige Lagerung not¬ 
wendig. Auf die Harnentleerung ist zu 
achten, eventuell zu katheterisieren. 
Wegen der konsumierenden Länge der 
Krankheit ist die Ernährung oft von 
entscheidender Wichtigkeit; sie wird durch 
Benommenheit und Erbrechen besonders 
erschwert; meist beschränkt man sich auf 
schluckweise Darreichung kalter flüssiger 
Nahrung, die ähnlich wie beim Typhus 
ausgewählt wird; gegen das Erbrechen 
hilft am besten regelmäßige Morphium¬ 
einspritzung (etwa 5 mg vierstündlich). 
In jedem Fall sind regelmäßige Lumbal¬ 
punktionen zu empfehlen, da durch die¬ 
selben nicht nur Druckentlastung des Ge¬ 
hirns und Rückenmarks und damit sub¬ 
jektive und objektive Besserung, sondern 
auch Fortschaffung von Krankheitserre¬ 
gern und Produkten bewirkt wird. Man 
punktiert in schweren Fällen jeden zwei¬ 
ten oder dritten Tag und läßt jedesmal 
20—30 ccm des Exsudats ab. 

Die erste Lumbalpunktion dient gleich¬ 
gleichzeitig der ätiologisch-diagnostischen 
Feststellung, welche für die Behandlung 
maßgebend ist. Sind Meningokokken im 
Exsudat gefunden, so spritzt man nach 
Ablassen des Exsudats 20 ccm specifisches 
Serum in den Lumbalsack; wenn Pneumo¬ 
kokken festgestellt werden, spritzt man 
20^ccm einer Optochinlösung 1:300 ein. 
Im letzteren • Falle gibt man zugleich 
innerlich Optochin zehnmal 0,2 g wie bei 
croupöser Pneumonie. 

14. Tetanus. Die Verhütung des Te¬ 
tanus geschieht sicher durch intramusku¬ 
läre Einspritzung von 20 Antitoxinein¬ 
heiten des specifischen Serums, welches 
möglichst bald nach einer Verwundung 
anzuwenden ist, wenn die^Wunde einer 


Verunreinigung durch Erde ausgesetzt 
war. Die Heilwirkung des Serums ist un¬ 
sicher; sie ist um so aussichtsreicher, je 
früher die Anwendung geschieht; man 
gibt eventuell täglich 100 A.-E., in vor¬ 
geschrittenen Fällen intralumbal. Bleibt 
das Serum wirkungslos, so sucht man die 
Krampfbereitschaft des Nervensystems 
zu vermindern, indeiii man viermal täglich 
20 ccm der Lösung Magnesium sulfuricum 
50:200 intramuskulär injiziert. Tritt 
hiernach V erlangsamung und Erschwe¬ 
rung der Atmung ein, so setzt man die 
Magnesiumtherapie aus und gibt milli- 
grammweis subcutane Atropininjek¬ 
tionen. In jedem Falle verlangen heftige 
Krampfstöße energische Morphiumbe¬ 
handlung oder Klysmen von Chloral- 
hydrat (10,0:200,0, der vierte Teil zu 
injizieren). Seht wichtig ist die Ernäh¬ 
rung, welche bei Kiefersperre mittels Ka¬ 
theters durch die Nase erfolgt (vgl. S. 30). 

15. Malaria. Die Prophylaxe be¬ 
steht in dem Schutz gegen die Stech¬ 
mücken (Anopheles), welche die Parasiten 
übertragen, sowie in der dauernden Ein¬ 
nahme von Chinin, welches die Entwick¬ 
lung der im Blute kreisenden Erreger 
verhindert beziehungsweise beeinträchtigt. 
Der Anophelidenschutz wird durch allge¬ 
meine Maßnahmen der Bodensanierung 
und persönliche Schutzmaßregeln (Hand¬ 
schuhe, Mückenschleier, Mückennetze) be¬ 
wirkt. Das Chinin muß dauernd genom¬ 
men werden, solange man sich in ver¬ 
seuchten Gegenden aufhält und noch 
mindestens acht Wochen hinterher. Man 
reicht täglich 0,3 ccm, am besten des 
Abends, bis zu sechs Monaten. 

Die Behandlung gipfelt in der syste¬ 
matischen Chinindarreichung. Je früher 
Malariafieber behandelt wird, desto siche- ^ 
rer ist man vor Rückfällen. Bei typischen 
Fieberanfällen gibt man dreimal 0,5 g 
Chininum hydrochloricum in halbstün¬ 
digen Zwischenräumen acht- bis sechs 
Stunden vor dem Eintritt des nächsten 
Anfalles; in weniger typischen Fällen gibt 
man täglich viermal 0,3 g Chinin in zwei¬ 
stündigen Pausen und setzt diese. Medi¬ 
kation ohne Zwischenpausen noch acht 
Tage nach dem letzten Fieberanfalle fort. 
Da mit dem Erlöschen des Fiebers die 
Malariaparasiten noch nicht aus dem 
Blute geschwunden sind, so ist zur völligen 
Vernichtung derselben eine systematische 
Nachbehandlung mit Chinin anzuschlie¬ 
ßen, welche nach folgendem Schema ver¬ 
ordnet werden kann: Nach der letzten 
Chiningabe^(acht Tage nach beendetem 





Die Therapie der Gegenwart 1920 


187 


Mai 


Fieber) zwei Tage Pause, dann drei Chi¬ 
nintage (mit viermal 0,3 g); darauf drei 
Tage Pause, drei Chinintage, vier Tage 
Pause, zwei Chinintage, fünf Tage Pause, 
zwei Chinintage imd so fort mindestens 
sechs Wochen la/ig; nach schweren Zu¬ 
ständen noch wochenlang an je einem 
Wochentage viermal 0,3 g Chinin. 

Treten trotz solch energischer Kuren 
doch Rückfälle ein, so sucht man die 
augenscheinlich in der Milz schlummern¬ 
den Erreger durch subcutane Adrenalin-. 
Injektion (1 ccm 1%) oder Milzdusche in 
den Kreislauf zu bringen und schließt die 
Chininkur an solche Provokation an. Auch 
kombiniert man diese eventuell mit syste¬ 
matischer Neosalvarsankur oder Methylen¬ 
blau tgl. 5x0,1 g, eventuell 12 Tage. 

In besonders schweren Anfällen, die 
mit Benommenheit oder schweren gastri¬ 
schen Erscheinungen einhergehen, wird 
1,0 Chinin +0,5 Urethanlösung in Lö¬ 
sung intramuskulär oder intravenös inji¬ 
ziert; die Lösung ist in Ampullen ge¬ 
brauchsfertig zu beziehen; daran schließt 
sich die systematische Chininkur. 

Während des Bestehens der Fieber¬ 
anfälle gelten die Regeln der Allgemein¬ 
behandlung, nach Erlöschen des Fiebers 
ist der Patient als Rekonvaleszent zu be¬ 
handeln. Stärkende Nachbehandlung im 
Hochgebirge ist erwünscht, oft sind Ar¬ 
senkuren am Platze. 

Auftreten von Hämaturie (Schwarz¬ 
wasserfieber) erfordert sofortiges Aus¬ 
setzen des Chinins bis zum vollkommenen 
Normalwerden des Urins; die sehr ge¬ 
schwächten Patienten sind nach allge¬ 
meinen Regeln zu behandeln (vgl. 1919, 
S. 62). Nach erfolgter Genesung beginnt 
man sehr. vorsichtig mit ganz kleinen, 
langsam zu steigernden Chinindosen, zu¬ 


erst von 0,01—0,1 g, an späteren Tagen 
allmählich auf 0,25 und so fort bis vier¬ 
mal 0,25 g, wobei der Urin sorgfältig zu 
kontrollieren und beim ersten Auftreten 
von Eiweiß oder Urobilin auf die frühere 
Dosis zurückzugehen ist. 

16. Variola. Sicherer Schutz vor 
Pockenerkrankung wird durch die Vacci- 
nation gegeben, welche im Fall der Ein¬ 
schleppung von Krankheitsfällen bei allen 
Gefährdeten unverzüglich durchzüführen 
ist; im übrigen sind bei Pockenverdacht 
die seuchengesetzlich festgelegten Ma߬ 
nahmen der Meldung und Isolierung in 
Anwendung zu bringen. 

Die Behandlung hat symptomatisch 
die Mundentzündung, das Erbrechen, die 
starken Schmerzen und die Erregungs¬ 
zustände zu berücksichtigen, vor allem 
aber auf die Haut zu achten. Das starke 
Spannungsgefühl ist zu mildern, damit 
der Kranke nicht in V ersuchung kommt 
zu kratzen; man wendet mit häufigem 
Wechsel kühle Umschläge.an oder pinselt 
Glycerin oder Olivenöl auf. Durch rote 
Fenstervorhänge beziehungsweise rotes 
Lampenlicht sucht man den entzündlichen 
Zustand der Haut zu mildern. Um der 
entstellenden Narbenbildung vorzubeu¬ 
gen, bestreicht man im Pustelstadium die 
ganze Haut täglich einmal mit gesättigter 
Lösung von Kaliumpermanganat, das 
gleichzeitig auch desinfizierend und des¬ 
odorierend wirkt. Auf geplatzte Pusteln 
streut man außerdem Salicylpulver. 
Kratzen ist möglichst zu verhindern, 
auch während der Rekonvaleszenz ist zu 
sorgen, daß die Pocken von selbst ab- 
fallen; Beschleunigung der Säuberung er¬ 
folgt durch laue Seifen- oder Kleienbäder, 
mit vorsichtigem Abtrocknen und nach¬ 
folgendem Einfetten der Haut. 


Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen. 

32. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin, 


Dresden, 20.- 

Bericht von 

Die' großen Schwierigkeiten, welche 
der diesjährigen Tagung des Kongresses 
für innere Medizin entgegenstanden, sind 
in der Eröffnungsrede des Vorsitzenden, 
welche an der Spitze dieses Heftes abge¬ 
druckt ist, ausführlich geschildert. Indes 
hat der Verlauf des Kongresses durchaus 
dem Geiste aufbauender Schaffensfreude 
entsprochen, auf welche die klug erwoge¬ 
nen Worte der inhaltreichen Rede abge¬ 
stimmt waren. Die Verhandlungen haben 


23. April 1920. 

1 . Klemperer. 

den wissenschaftlichen Arbeitern nicht 
weniger wie den Praktikern vielfältige 
wertvolle Anregung gebracht; Vorträge 
wie Aussprache hielten sich auf einer re- 
spektabeln Höhe und kein Mißklang störte 
die von wissenschaftlichem Geiste getra¬ 
gene Zusammenarbeit der Alten und Jun¬ 
gen, der gelehrten Forscher und der prak¬ 
tischen Arzte. Der harmonische Verlauf 
war nicht zum wenigsten dem Vorsitzen¬ 
den zu verdanken, der das Programm 

24* 





138 Die Therapie der Gegenwart 1920 ' ^ Mai 


vorzüglich vorbereitet hatte und der 
nicht nur den Glanz seines berühmten 
Namens, sondern auch die Milde seines 
gütigen Herzens über den Kongreß aus¬ 
strahlte. 

Die Verhandlungen begannen mit dem 
Referat von Schittenhelm (Kiel) über 
den gegenwärtigen Stand der Immuno- 
und Chemotherapie der Infektionskrank¬ 
heiten. Die Immunotherapie besteht in der 
Anwendung von antitoxisch wirkendem 
Tierblutserum, welches durch Vorbehand¬ 
lung der Tiere mit pathogenen Bakterien 
gewonnen ist; unter ihnen hat als Heil¬ 
mittel nur das Diphtherieserum, ent¬ 
scheidende Bedeutung. Die neuen Ar-" 
beiten über die Heilwirkung gewöhnlichen, 
von nicht vorbehandelten Tieren stam¬ 
menden Blutserums, welche von Bingel 
angeregt worden sind, haben zu erneuter 
experimenteller Durcharbeitung der Anti¬ 
toxinfrage geführt. Dabei hat sich als 
unbestreitbar sicher ergeben, daß das 
diphtherievergiftete Tier nur durch anti¬ 
toxisches Heilserum zu retten ist. Dem 
entsprechen auch die klinischen Nach¬ 
prüfungen der B i n g e Ischen Arbeit. Sicher¬ 
lich wirkt auch gewöhnliches unspecifi- 
sches Blutserum als ein Unterstützungs¬ 
mittel im Kampfe gegen die Infektion, 
sodaß die Heilungsaussichten eines Di- 
phtheriekranken bei der Behandlung mit 
gewöhnlichem Serum gebessert werden; 
bei leichten oder mittelschweren Fällen 
mag diese Behandlung also ausreichen. 
Dagegen versagt sie bei schweren Fällen; 
sie drückt also die Gesamtmortalität in 
schweren Epidemien nicht herab, und es 
liegt nur an dem leichten Charakter der 
letztjährigen Epidemien, wenn sich die 
relative Wirkungslosigkeit des gewöhn¬ 
lichen Serums nicht in einer erhöhten 
Mortalität ausgesprochen hat. Es liegen 
zahlreiche Einzelbeobachtungen schwerer 
Diphtheriefälle vor, die sich unter un- 
specifischer Serumbehandlung rapide ver¬ 
schlechtert haben und zum Teil noch durch 
specifisches Heilserum gerettet werden 
konnten. Natürlich ist auch die Wirksam¬ 
keit des antitoxischen Serums begrenzt, 
da es als specifisch giftbindend das im 
'Gewebe verankerte und zur Wirkung ge¬ 
kommene Gift nicht mehr unschädlich zu 
machen vermag. Für die ärztliche Praxis 
ist also an der Anwendung des antitoxi¬ 
schen Heilserums unbedingt festzuhalten, 
aber möglichst frühzeitige Anwendung 
zu fordern, ln zweifelhaften Fällen, die 
sich schwer anlassen, warte man nicht 
auf die bakteriologische Sicherstellung 


der Diagnose, sondern gebe auf den be¬ 
gründeten Verdacht hin eine volle Heil¬ 
dosis. — Das andere antitoxische Serum, 
welches mit dem Anspruch eines Heil¬ 
serums auf träte, das Tetanusserum, ist 
unschätzbar als Vorbeugungsmittel; es hat 
sich im Kriege glärnzend bewährt, indem 
es den im Anfang furchtbar wütenden 
Wundstarrkram'pf bei allgemeiner’ An¬ 
wendung ganz zum Verschwinden ge¬ 
bracht hat; es sei auch im Frieden ärzt¬ 
liche Pflicht, bei jeder mit Erdschmutz 
verunreinigten Wunde 20 Antitoxinein¬ 
heiten Tetanussertiin anzuwenden. Aber 
bei ausgebrochener Krankheit sei die 
Heilwirkung sehr unsicher, da das Gift 
bereits zu fest im Gewebe befestigt sei. 
Allenfalls führt die intralumbale Ein¬ 
führung noch zur Heilung. Von geringer 
Heilwirkung sind die sogenannten bacteri- 
ciden Sera, welche die lebenden Bakterien 
ab töten sollen; sie scheinen nur durch 
ihren gleichzeitigen geringen Antitoxin¬ 
gehalt zu wirken. Hierher gehört das 
Streptokokken- und das Pneumo¬ 
kokkenserum. Wenn man sich zu ihrer 
Anwendung entschließt, so sollte man 
sehr große Mengen nehmen und dieselben 
wiederholt anwenden. Zweifelhaft ist 
auch die Wirkung des Ruhrserums, 
wenngleich von einzelnen Beobachtern 
im 'Felde ausgezeichnete Resultate be¬ 
richtet wurden. Das sogenannte Grippe¬ 
serum richtet sich gegen die Mischinfck- 
tion mit Strepto- und Pneumokokken 
und mag zur Verhütung von Nachkrank¬ 
heiten beitragen. Bedeutende Heilwir¬ 
kungen werden von Rekonvaleszenten- 
Blutserumbei Scharlach berichtet, doch 
ist es unsicher, ob cs sich nicht nur um 
unspecifische Serumwirkung handelt. Bei' 
Fleckfieber scheint Rekonvaleszenten¬ 
serum ganz ohne Wirkung zu sein. 

Der passiven Immunotherapie gegen¬ 
über, welche fertige Schutzstoffe über¬ 
trägt, steht die aktive Immunisierung, 
welche durch Einführung abgetöteter oder 
abgeschwächter Krankheitserreger deren 
Schutzstoffe im Körper erst erzeugen 
will. So bedeutend die Ergebnisse dieser 
Methode bei der Schutzimpfung gesunder, 
so unsicher sind sie in der Behandlung 
kranker Menschen. 

Während die Entstehung von Typhus 
und Cholera durch präventive Immuni¬ 
sierung fast sicher verhindert wird, hat 
dieselbe Bakterieninjektion nach Aus¬ 
bruch der Krankheit bei Cholera fast gar 
nicht, bei Typhus neuerdings geringfügige 
Besserung bewirkt. Dagegen hat sich die 


Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


189 . 


nachträgliche Immunisierung als Heil¬ 
mittel bewährt bei Staphylokokken^ 
eiterung — die im Handel greifbaren 
Präparate sind Opsonogen und Leukogen 
— sowie bei Gonorrhöe (Arthigon, Gonar¬ 
gin), und bei den chronischen Infektionen 
der Harnwege mit Bacterium coli; im 
letzteren Falle tut man gut, sich die 
Krankheitserreger aus dem Harn selbst 
zu züchten und die zur Injektion not¬ 
wendigen Verdünnungen der Reinkultur 
zu bereiten. In der Richtung der nach¬ 
träglichen Immunisierung liegt die Tu- 
berkulintherapie; der anfänglichen In¬ 
jektion der reinen Bacillengifte (Alttuber¬ 
kulin) folgte die Anwendung der abge¬ 
töteten Bacillen (Neutuberkulin-Bacillen¬ 
emulsion); weder die ursprüngliche Me¬ 
thode/iioch eine ihrer zahlreichen Modifi¬ 
kationen hat zu sicheren Heilresultaten 
geführt, immerhin vermag systematische 
Tuberkuliriinjektion die ' Widerstands¬ 
fähigkeit des Kranken zu vermehren. Die 
Methode von Deyke und Much, welche 
die Eiweiß- und Fettstoffe der Bacillen 
gesondert zur Anwendung bringt, nach¬ 
dem die specifische Empfindlichkeit des 
Patienten ausprobiert ist, ruht nicht auf 
gesicherten experimentellen Grundlagen 
und darf auch klinischerseits trotz viel¬ 
facher Berichte über gute Heilresultate 
noch nicht als wirksam anerkannt werden. 
Die Friedmannsche Methode verwendet 
einen für den Menschen avirutenten von 
der Schildkröte stammenden Tuberkel¬ 
bacillus zur Immunisierung. Die Idee 
stammt von Koch und Behring, welche 
mit Menschentuberkelbacillen gegen 
Rindertuberkulose immunisierten. Im 
Tierversuch hat Friedmann mit seinem 
Verfahren .zwar keinen vollkommenen 
Schutz gegen Infektion, aber doch Ab¬ 
schwächung und Verzögerung derselben 
erzielt; es ist deswegen abzuwarten, ob 
ihm eine Dauerimmunisierung Gesunder 
gegen Tuberkulose gelingen wird. Eine 
wirksame Beeinflussung bereits Erkrank¬ 
ter scheint nicht bewiesen; doch ist zur 
endgültigen Beurteilung der Ablauf zahl¬ 
reich im Gang befindlicher Prüfungen ab¬ 
zuwarten. — Für das Studium all dieser 
therapeutischen Wirkungen ist die Er¬ 
wägungwichtig, wie weit dabei unspeci- 
fische Vorgänge eine Rolle spielen. Un¬ 
zweifelhaft ist die Specifität des Impf¬ 
schutzes bei Pocken, Typhus, Cholera. 
Dagegen werden die ausgebrochenen 
Krankheiten auch durch unspecifische 
Mittel wesentlich beeinflußt; wirksam ist 
namentlich die Injektion von Eiwei߬ 


körpern, z. B. Albumosen oder Casein, 
neuerdings namentlich in der Form der 
intramuskulären Milchinjektion geübt. Die 
sogenannte Proteintherapie beruht nach 
Weichärdt auf einer Aktivierung des 
Zellprotoplasmas; die Einwirkung hängt 
nicht anders wie bei den specifischen 
auch von dem Zustand des Organismus 
selbst ab. Das Ziel aller therapeutischen 
Eingriffe muß die Änderung der krank¬ 
haft veränderten chemischen Zusammen¬ 
setzung der Körperzelle sein, deren Stoff¬ 
wechsel für den Heileffekt von entschei¬ 
dender Bedeutung ist 

Die Proteintherapie bildet den Über¬ 
gang von der Immuno- zur Chemo¬ 
therapie, indem die unspecifischen Ei¬ 
weißkörper ebenso wie viele chemische 
Mittel augenscheinlich eine katalytische 
Wirkung auf die Zelltätigkeit ausüben, 
deren Abwehrkraft sie erhöhen. Hierher 
gehören die kolloiden und nichtkolloiden 
Metalle: Silber, Kupfer und Gold. Kolloi¬ 
dales Silber wird von vielen als Heilmittel 
septischer Prozesse betrachtet, doch läßt 
es zweifellos sehr oft im Stich. Kupfer- 
und Goldpräparate werden neuerdings 
besonders bei Tuberkulose empfohlen. 
Von größter praktischer Bedeutung ist 
die bactericide Wirksamkeit der von 
Ehrlich eingeführten Arsenderivate, ins¬ 
besondere des Salvarsans, welches die 
Spirochäten'bei möglichst geringer Schä¬ 
digung der Körperzellen tötet. An den 
zuweilen beobachteten Übeln Neben¬ 
wirkungen scheint oft zu hohe Dosierung 
schuld zu sein, als Maximaldose sollte bei 
Männern 0,6, bei Frauen 0,45 gelten. Neo- 
salvarsan scheint dem alten Präparat 
nicht gleichwertig, das neue Silbersal- 
varsan besonders heilkräftig. Bei den 
metaluetischen Prozessen (Tabes und Para¬ 
lyse) ist oft Stillstand und Besserung, 
niemals .Heilung erzielt worden. — Auf 
Ehrlichs Anregungen ist die Erprobung 
von Acridiniumpräparaten gegen Strepto¬ 
kokken zurückzuführen, z. B. des Trypa- 
flavins und seiner Silberverbindung Argo- 
flavin gegen Sepsis; einigen klinischen 
Empfehlungen stehen zahlreiche Versager 
gegenüber. — Die vorläufig letzte Station 
auf dem Forschungswege der Chemo¬ 
therapie bilden die Arbeiten Morgen- 
roths über die Wirkung der Chininderi¬ 
vate (Optochin, Eucupin, Vuzin). Opto- 
chin beginnt sich als Heilmittel bei Pneu¬ 
mokokkeninfektionen einzubürgern, Eu¬ 
cupin wird gegen Streptokokken emp¬ 
fohlen, gegen welche neuerdings beson¬ 
ders von den Chirurgen Vuzin mit vielen 




190 


Die Therapie der Gegenwart 192Ö 


Mai 


Erfolgen angewandt wird. Schitten- 
helm bewahrt gegenüber den Chinin¬ 
derivaten, deren wissenschaftliche Be¬ 
deutung er sehr anerkennt, in praktischer 
Beziehung noch vorsichtiges Abwarten; 
er betont, daß die Arbeit noch nicht als 
abgeschlossen zu betrachten ist und daß 
wir von der Zukunft für ,den Kampf 
gegen die Infektionskrankheiten noch viel 
erhoffen dürfen. 

Dem Hauptreferat folgte eine Ge¬ 
dächtnisrede Ko lies auf den Begründer 
der Chemotherapie Paul Ehrlich; im 
Anschluß daran wurden die Vorträge 
gehört, welche sich mit der Therapie der 
Infektionskrankheiten beschäftigten. 

Prof. Schmidt (Prag), welcher die 
Milchinjektionen in die Praxis eingeführt 
und mehrfach über ihre Erfolge wie ihre 
theoretische Begründung geschrieben hat, 
sprach über das Problem der Protein¬ 
körpertherapie. Schmidt geht von 
der Beobachtung aus, daß nach Injektion 
von 5 ccm Milch bei Tuberkulösen die¬ 
selben Allgemein- und Herdreaktionen 
wie nach Tuberkulin auftreten, daß aber 
auch tuberkulöse wie nichttuberkulöse 
Gelenkprozesse nach beiden Injektionen 
örtlich reagieren, ja daß jeder entzünd¬ 
liche und nekrotisierende Prozeß danach 
zum vorübergehenden Aufflackern kommt. 
Aber nicht nur Proteinkörper, sondern 
rein anorganisch-chemische Präparate, 
wie intravenös eingespritztes kolloidales 
Silber, wirken ganz ähnlich; auch das Sa- 
narthrit (Heilner) ist ein Spezialfall der 
Proteinkörpertherapie. Jeder Reiz, der 
den Zellbestand und die Circulation in 
Mitleidenschaft zieht, kann eine Herd¬ 
reaktion auslösen; dieselben spielen sich 
in infektiösen Entzündungsherden, aber 
auch in endogen bedingten örtlichen 
Entzündungsprozessen, sowie in allge¬ 
meinen Krankheitsbereitschaften ab. Das 
Auftreten von tabischen Krisen, von 
Asthmaanfällen, epileptischen Krämpfen 
und'’Gallensteinkoliken nach Injektionen 
gehört hierher. All diese allgemeinen 
und Herdreaktionen verlaufen doppel- 
phasig, indem der negativen Phase, der 
Zunahme der Reizerscheinungen zuerst 
eine Abnahme, dann eine positive Phase, 
die Wiederherstellung des normalen Ge- 
websbetriebs, also der anfänglichen Ver¬ 
schlechterung eine wesentliche Besserung 
folgt. Die positive Phase entspricht der 
sogenannten Protoplasmaaktivierung. Es 
ist anzustreben, bei der therapeutischen 
Anwendung der Proteintherapie die ne¬ 
gative Phase so geringfügig als möglich, 


und die positive Phase möglichst lang 
und intensiv zu gestalten. 

Prof. Königer (Erlangen) sprach 
über die Bedeutung der Resistenz¬ 
schwankungen des Organismus für die 
therapeutische Methodik. Er geht von 
der Beobachtung aus, daß jeder gröbere 
Eingriff die Resistenz schädigt; auf die 
Zeit der Wirkung eines Arzneimittels 
folgt eine Phase herabgesetzter Empfind¬ 
lichkeit. Bei der zeitlichen Verordnung 
ist nicht nur auf Art und Dosis des Mittels 
beziehungsweise auf die Konstitutions¬ 
empfindlichkeit, sondern auch auf die 
Pausenvariation zu achten; es kommt 
auf die Resistenzphase und die Größe der 
Intervalle an. Die Therapie wirkt nicht 
nur auf die Resistenz, sondern auch die 
Resistenz auf die Therapie. Tägliche 
Wiederholung eines Arzneimittels bewirkt 
Abschwächung der Wirkung, am besten 
sind Pausen von zwei Tagen. Neben 
künstlichen Schwankungen sind die nor¬ 
malen zu berücksichtigen, welche durch 
Übung, Ermüdung, aber auch die nor¬ 
malen Tagesschwankungen gegeben sind. 
Eine unspecifische Beeinflussung ist nur 
bei solchen Fällen möglich, die im Ab¬ 
klingen begriffen sind, oder im aller¬ 
ersten Stadium, bei dem die Abkürzung 
Kupierung bedeutet. Die Therapie der 
Protoplasmaaktivierung betont nur einen 
Teil der Wirkung, in Wirklichkeit handelt 
es sich um Verstärkung der natürlichen 
Resistenzschwankung; als solche sind 
auch viele der sogenannten Nebenwir¬ 
kungen anzusehen. 

Borchardt (Königsberg), ,,Experi¬ 
mentelle Grundlage der Organthefapie 
bei Infektionskrankheiten“ hat die me߬ 
bare Agglutinationsfähigkeit des Blutes 
zum Maßstab der Heilwirkung gemacht. 
Sowie die Typhusagglutinine durch 
Typhusimpfstoff vermehrt werden, so 
wächst ihre Menge auch nach Injektion 
sehr verschiedener Reizstoffe (Hetol, 
Alkohol, Arsacetin, Salvarsan, ja nach 
10% Kochsalzlösung). Eine solche 
meßbare Resistenzsteigerung wird auch 
durch Astmolysin (Adrenalin- und Hypo- 
physin), Thyreoidin, ganz besonders 
aber durch Spermin hervorgerufen. 

Morgenroth (,,Ziele und Grenzen 
der Chemotherapie bakterieller Infek¬ 
tionen“) bezeichnete als begrenzende 
Faktoren besonders die Arzneifestigkeit 
und Chemoflexion der Bakterien. Trotz¬ 
dem habe sich das Optochin bei Pneu¬ 
mokokkeninfektionen ebenso wie im Tier- 



191 


Mai Die Therapie der Gegenwart 1920 


versuch klinisch bewährt, doch sei frühe 
Anwendung notwendig. Anwendungs¬ 
gebiet sei nicht nur croupöse, sondern 
auch Bronchopneumonie besonders der 
Kinder, Greise und nach Operationen, 
besonders auch die sonst tödliche Pneu¬ 
mokokkenmeningitis. . Die Abwehrkräfte 
des Organismus wirkten offenbar bei der 
Heilung mit. So werde die lokale Vuzin- 
wirkung durch Antiserum erhöht Nach 
Vorbehandlung mit Serum sei weniger 
Vuzin nötig; eine Vernichtung der Strep¬ 
tokokken im Blut der Versuchstiere sei 
nur durch. Vuzin + Serum möglich. Die 
specifische Therapie bedient sich also der 
specifischen Resistenzsteigerung und wird 
dadurch zur Kombinationstherapie. In 
der inneren Medizin käme Vuzin besonders 
bei Erysipel und Empyem in Frage, auch 
infizierte Gelenke seien durch Vuzin 
keimfrei zu machen. 

Ko Ile berichtete über neue Arsenoben- 
zolderivate, und zwar Aminoverbindungen 
des Salvarsans, welche den schon ausge¬ 
sprochenen Schweinerotlauf beim Ver¬ 
suchstier zu heilen vermögen. Damit ist 
zum erstenmal aus der Arsanilreihe, 
welche bisher nur spirillocide Substanzen 
geliefert hat, ein bactericides Mittel ge¬ 
wonnen, und die Hoffnung auf weitere 
Fortschritte, die auch der Therapie der 
menschlichen Infektionskrankheiten zu¬ 
gute kommen werden, erscheint gerecht¬ 
fertigt. Diesen Vorträgen folgte eine ge- 
meinsäme Aussprache: Rosenstein 
(Berlin) rühmte die ausgezeichnete Wir¬ 
kung des Vuzin bei der Tiefenantisepsis; 
es sei unschädlich für dieGewebe, während 
es tödlich auf die Bakterien wirke; Ab- 
scesse, Mastitis, Karbunkel, Furunkel 
gelangten nach Vuzininjektionen ohne 
Operation zur Heilung; ebenso resor¬ 
bierten sich danach Empyeme, ja, pro¬ 
phylaktisch in die Pleura gespritzt,, ver¬ 
hüte das Vuzin die Entstehung von Em¬ 
pyemen nach Pneumonie. Selbst Sepsis 
werde durch Vuzin geheilt, immerhin 
empfehle sich hierbei die gleichzeitige An¬ 
wendung von Argatoxyl, einer Silber¬ 
verbindung des Atoxyl, Auch für die 
Scharlachtherapie hoffte der Redner viel 
vom Vuzin. — Leschke (Berlin) berichtete 
mehrere Optochinheilungen von Pneurao- 
kokkenmeningitis; angewendet wurde lum¬ 
bale Injektion von 40 ccm ^ 3 % Lösung. 


Otfried Müller (Tübingen) wies auf 
die Bedeutung der Eosinophilie bei der 
Behandlung der Infektionskrankheiten 
hin; sowohl nach Tuberkulininjektion wie 
nach jeder anderen Vaccine vermehrt 
sich die Zahl der eosinophilen Zellen im 
Blut, wenn die Dosis im Verhältnis zur 
Reaktionsfähigkeit bleibt; die Zählung 
gebe also einen Maßstab für die Dosierung 
und also die Möglichkeit, Rückschläge zu 
vermeiden. Zinn (Berlin) gab eine ein¬ 
drucksvolle Übersicht über 400 nach 
einheitlichen Gesichtspunkten mit Op- 
tochin behandelte Fälle von Pneumonie 
aus dem Krankenhaus Moabit; die'Ge¬ 
samtmortalität des schweren Kranken¬ 
hausmaterials betrug 12 %, gegenüber 
18% bei den unbehandelten Fällen. Die 
Zusammenstellung der Frühfälle ergab 
den sicheren" Beweis für die Heilwirkung 
des Optochins. Selter (Königsberg) kam 
auf die Friedmannsche Methode zu 
sprechen und erklärte die Friedmann- 
schen Bacillen für bloße Saprophyten, 
die nicht imstande wären, als Antigen 
zu wirken und Antitoxin zu bilden, womit 
dann freilich der Heilmethode jede Be¬ 
gründung entzogen wäre. Zur Theorie 
der unspecifischen Heilwirkung sprach 
Rosenthal (Breslau), welcher eine Be¬ 
einflussung des antonomen Nervensystems 
als die Hauptsache ansah, Heubner (Göt¬ 
tingen), welcher gegen die katalytische 
Wirkung polemisierte, vielmehr eine 
lonenwirkung annahm, außerdem kolloide 
Niederschläge in Knochenmark und Stern¬ 
zellen erwähnte, schließlich Starken¬ 
stein (Prag), welcher das Fehlen einer 
direkten pharmakologischen Wirkung, 
vielmehr eine omnicelluläre Organbeein¬ 
flussung hervorhob. Als praktisches 
Gesamtergebnis der Diskussion bezeich- 
nete His eine kritische. Skepsis gegen¬ 
über den specifischen Heilmitteln, deren 
Wirksamkeit durch Einzelbeobachtungen 
nicht zu beweisen sei, während der Schrei¬ 
ber dieser Zeilen eindringlich dafür ein¬ 
trat, daß eine Übersicht über Hunderte 
von Fällen, die von einem einzelnen ge¬ 
schulten Beobachter behandelt wären, als 
vollgültig beweisend gelten dürfe. Auf 
Grund solcher persönlichen Statistik sei 
das Optochin als wirkliches Heilmittel 
zu bezeichnen. 

(Schluß folgt im nächsten Heft.) 






192 . Die Therapie der xGegenwart '1920 Maf 

Bericht über die 44. Versammlung der Deutschen Gesellschaft 
für Chirurgie vom 7. bis 10. April 1920. 

Von W. Klink, Berlin. 


Am 7. bis 10. April tagte die 44. Ver¬ 
sammlung der Deutschen Gesellschaft für 
Chirurgie in Berlin, zum erstenmal in 
ihrem heuen Heim, dem Langenbeck- 
Virchow-Haus. Die Leitung lag in der 
Meisterhand Biers. Der Krieg hat große 
Lücken gerissen. Von den bekannten 
Chirurgen ist eine ganze Reihe zur großen 
I Armee abberufen, so Sprengel, H. 
Fischer, Czerny, Kocher, Angerer, 
Riedel, Sonnenburg, Wilms. Für 
die vor dem Feinde gefallenen Mitglieder¬ 
soll eine Gedenktafel gesetzt werden, 
doch sind ihre Namen noch nicht alle 
bekannt. Mitteilungen werden an Pro¬ 
fessor Körte-Berlin erbeten: —Zu Ehren¬ 
mitgliedern wurden Körte und Quincke 
ernannt, letzterer wegen seiner Ver¬ 
dienste um die Entwicklung der Chi¬ 
rurgie. Angehörige des feindlichen Aus¬ 
landes sollen einstweilen nicht zu Ehren¬ 
mitgliedern ernannt werden.' 

Schöne berichtet über 21 Bluttrans¬ 
fusionen, die größtenteils wegen bedroh¬ 
lichem Blutverlust vorgenommen wurden 
und einen überraschenden Erfolg hatten. 
Er verband zwei Venen am Arm des 
Spenders und Empfängers durch Gummi¬ 
schlauch und eingeschaltete Glasröhre 
und spülte stoßweise mit kleinen Mengen 
Kochsalzlösung, die durch eine Glas¬ 
kanüle in einen Seitenast der Spender¬ 
vene eingeführt wurde. Die Spendervene 
muß unmittelbar mit den tiefen Vorder¬ 
armvenen in Verbindung stehen. Es 
konnten beliebige Blutmengen trans- 
fundiert werden. Die Erholung schon 
während der Transfusion ist ganz er¬ 
staunlich, die Wirkung ist lebensrettend, 
viel nachhaltiger als bei Kochsalztrans¬ 
fusion. Kleine Blutmengen genügen nicht. 
Man darf nicht zu lange zögern. Bei 
einem Fall von Sepsis fehlte der Erfolg. 
Bei einer perniziösen Anämie trat eine 
auffallende Besserung ein, die aber nach 
sieben Monaten einem Rückfall wich. Die 
transfundierten roten Blutkörperchen blei¬ 
ben mindestens einige Tage am Leben. 
Einmal schloß sich an die Transfusion 
Hämoglobinurie und reichlich Albuminurie 
an; Tod nach vier Tagen an Sepsis; es 
war ein aussichtsloser Fall von Bauch¬ 
verletzung, Ernsthafte Schädigungen 
sind möglich, aber bisher selten beob¬ 
achtet. Man soll die Transfusion nur an¬ 
wenden, wo es sich um Tod oder Leben i 


handelt. — Besprechung; Der Tierver¬ 
such hat dieselben Erfolge beim künstlich 
ausgebluteten und mit Kochsalzlösung 
ausgewaschenem Tier ergeben. Auch,bei 
hämorrhagischer Diathese wirkt dieTrans- 
fusion gut. Auch dem defibrinierten Blut 
wohnt eine große blutstillende Kraft inne, 
schon in Mengen von 30 ccm, doch muß 
es ganz frisch sein. Für große Trans¬ 
fusionen ist es ungeeignet, doch wohnt 
ihm eine starke reizende Kraft inne, z. B. 
bei perniziöser Anämie und hämorrha¬ 
gischer Diathese. Auch die großen 
Drüsenpakete bei einem malignen 
Lymphom bildeten sich nach Einführung 
kleiner Mengen defibrinierten Blutes zu¬ 
rück. Bei einer starken cholämischen 
Blutung, fünf Tage nach einer Operation, 
wo Unterbindung, Calcium, Gelatine ohne 
Erfolg angewandt wurden, trat sofortige 
auffallende Besserung und sehr schnelle 
Erholung nach intravenöser Infusion von 
350 ccm fremdem Blut mit 1% Natrium¬ 
citratlösung ein. In einer Reihe von 
perniziösen Anämien war die Transfusion 
von fremdem und verwandtem Blut von 
Erfolg, doch stellten sich immer Rück¬ 
fälle ein. Auch bei hämorrhagischer Dia¬ 
these sahen mehrere Redner auffallenden 
Erfolg nach der Transfusion. In einem 
Fall von schwerem Blutverlust kam es 
drei Stunden nach der Transfusion zum 
Exitus unter krampfartigen klonischen 
Zuckungen. Schüttelfrost und vorüber¬ 
gehende Hämoglobinurie wurde öfter be¬ 
obachtet. Eine Reihe von Rednern 
empfiehlt mehr die Nahtvereinigung einer 
Arterie und Vene zur Transfusion. Blut¬ 
verwandtes Blut hat keinen Vorteil vor 
fremdem. Das Zugrundegehen des Blutes 
hat nichts zu sagen, da dann die Gefahr 
vorüber ist. Ein Redner entnimmt das 
Blut mit einer Spritze und führt es mit 
derselben auch ein; danach jedesmalige 
Spülung der Spritze mit heißer Kochsalz¬ 
lösung; Erfolg gut. In Charlottenburg- 
Westend werden 300 ccm Blut mit Kanüle 
entnommen und defibriniert wieder ein¬ 
geführt mit Trichter, wenn möglich Ver¬ 
wandtenblut. Trotz strenger Auswertung 
des Blutes wurden Schüttelfröste und vor¬ 
übergehende Hämoglobinurie beobachtet. 

Coenen berichtet seine Erfahrungen 
über den Wert des arteriellen Kollateral- 
zeichens für die Unterbindung von Ge¬ 
fäßen. Er mißt ihm einen großen Wert 




Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


193 


bei. Die Naht ist bei großen Gefäßen 
immer vorzuziehen,-aber bei schwierigen 
Verhältnissen und Infektionsgefahr soll 
man unterbinden. Das Kollateralzeichen 
ist nur dann als positiv zu betrachten, 
wenn es aus dem peripheren Gefäßteil nicht 
rieselt, sondern spritzt. War das Zeichen 
positiv, wurde die Unterbindung großer 
Gefäße immer gut vertragen, darunter 
einmal der Carotis. Mißerfolge sind fast 
immer durch Infektion bedingt. —Bier 
hält alle Kollateralzeichen für ganz un¬ 
zuverlässig, im positiven und negativen 
Sinn. Unterbinden soll man nur im 
äußersten Notfall und in infizierten 
Wunden, sonst nähen. 

Unger berichtet über seine Versuche 
an Hunden mit Nervenplastik. Kon¬ 
servierte eingepflanzte Nervenstücke wer¬ 
den von dem lebenden Nerv durch¬ 
wachsen. Die parallele Lage der Binde- 
gewebszüge in der entstehenden Narbe er¬ 
leichtern dem Nerven das Hineinwachsen; 
ungünstiger liegen die Verhältnisse, wenn 
Rückenmark mit umhüllender Dura ein¬ 
gepflanzt wird und noch ungünstiger, 
wenn das Ersatzstück von einer Gefä߬ 
wand umgeben ist. Der eingepflanzte 
Nerv degeneriert und erst in ihn wächst 
der lebende Nerv hinein. Die Stoffel- 
sche Forderung, daß genau entsprechende 
Durchschnittsstellen aufeinander kommen 
müssen, ist nicht richtig. — Die Nerven- 
überbrückung nach Hoffmeister hat 
nur wenigen Chirurgen Erfolg gebracht, 
so in einem Fall von Borchardt, wo 
12 cm überbrückt wurden; in einem Fall 
von Riese wurde der Medianus und Ra- 
dialis mit gutem Erfolg überbrückt. 
Zeller hatte in einem Fall 8 cm gut über¬ 
brückt, in sieben anderen Fällen versagte 
die Methode. Müller-Rostock hat mit 
Nervenplastiken schlechte Erfahrungen; 
auch Borchardt hat trotz häufiger Aus¬ 
führung mit der Methode von Hoff¬ 
meister und B eth e keinen Erfolg gehabt. 
Perthes hat die Hoffmeisterschen 
Fälle nach einem Jahre geprüft und keine 
Erfolge gefunden; nur einmal hatte die 
Überbrückung einer 12 cm großen Ulnaris- 
lücke Erfolg, wenn auch ohne praktischen 
Wert. Mit freier Nervenüberpflanzung 
hatte er schlechte Erfahrung, obwohl sie 
zum Teil unter sehr günstigen Verhält¬ 
nissen ausgeführt waren, sogar mit ganz 
frisch entnommenen Nerven. Ein Redner 
hatte mit der B eth eschen Methode vier 
Mißerfolge, einen Erfolg. 

Reich weist auf die Möglichkeit von 
Luftembolien bei Operationen an Lunge 


und Brustkorb hin. Der sogenannte 
pleurale Reflex bei derartigen Operationen 
ist als arterielle Luftembolie zu erklären. 
Der Lufteintritt erfolgt durch eine Lun¬ 
genvene. Das Gehirn wird besonders 
gern befallen, das Rückenmark sehr 
selten. Bei Punktionsverletzungen spielt 
die Luft in der Lunge eine viel größere 
Rolle, als die äußere Luft. Von der 
Pleurahöhle her erfolgt die Luftaufnahme 
durch feine Capillaren der Pleuraober¬ 
fläche. Das führt zu dem Schluß, daß 
man bei Empyem möglichst nicht spülen 
soll, oder doch nur ganz, langsam bei ge¬ 
ringem Druck und gutem Abfluß; be¬ 
sonders gefährlich wirkt hier Wasserstoff¬ 
superoxyd. — Ein Redner hat drei Todes¬ 
fälle auf diesem Wege eintreten sehen, 
davon zweimal bei Lungenpunktionen; 
einmal wurde sogar Wismuthpaste auf- 
gesaugt. 

Anschütz und Weinert berichten 
über Wunddiphtherie, die in den letzten 
Jahren recht häufig geworden ist. Man 
darf sie nicht mit Hospitalbrand in Be¬ 
ziehung bringen, da wir über dessen 
Bakteriologie nichts wissen. Die Wund¬ 
diphtherie wird durch den echten Diph¬ 
theriebacillus erzeugt und kann nur bak¬ 
teriologisch erkannt werden. Es gibt 
auch Wunddiphtheriebacillenträger. Die 
Wunde hat nichts, oder nur selten etwas 
Specifisches. Die verschiedensten Ba¬ 
cillen können starke diphtherische Beläge 
schaffen. In Kiel zeigte die Häufigkeits¬ 
kurve dasselbe Bild, wie die Rachen- 
diphtherie. Auch in Magdeburg, Rostock, 
Göttingen, Breslau und anderen Städten 
wurde sie häufig beobachtet. Die 
schwerste Form ist die phlegmonöse. 
Bacillenträger sind von anderen Wund¬ 
trägern, besonders frischen, zu trennen. 
Die erste Infektion wird von außerhalb 
eingeschleppt. Ein Teil der Stämme war 
bösartiger, als der von Rachendiphtherie. 
In 10% bestand gleichzeitig Rachen¬ 
diphtherie. Man muß eine oberflächliche 
oder kruppöse und eine tiefe Form unter¬ 
scheiden. Oft haben die Kranken kein 
Fieber und fühlen sich ganz wohl. Hohes 
Fieber spricht für Mischinfektion. Läh¬ 
mungen treten auf, wie nach Rachen¬ 
diphtherie. In verschiedenen Städten 
verläuft die Krankheit verschieden. — 
Die Besprechung ergab, daß Diphtherie¬ 
serum und Streptokokkenserum keinen 
großen Erfolg geben; auch die ver¬ 
schiedensten Antiseptica sind mit ge¬ 
ringem Erfolg versucht. Gut zu wirken 
scheint die Höhensonne und Methylen- 

25 




194 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Mai 


blau, auf die Wunde gestreut. Aber äne 
Reihe von Fällen trotzt jeder Behandlung. 
So liegen in Magdeburg einige Fälle, 
deren Wunden seit eineinviertel Jahren 
sich nicht schließen. 

Baetzner hat bei Hunden Periost- 
stOckchen vom Schienbein sehr vor¬ 
sichtig entfernt und in Muskulatur, Ge¬ 
fäßscheide und andere Weichteile ein¬ 
gepflanzt. Wie spätere Untersuchungen 
ergaben, wurden diese Stückchen voll¬ 
ständig resorbiert und bildeten niemals 
Knochen. In anderen Fällen bildete sich 
eine Narbe; manchmal auch ein Binde¬ 
gewebe wie frisches Fibrom, das auf dem 
Röntgenschirm einen Schatten gab und 
> sich hart anfühlte. — In der Besprechung 
wurde auf den Gegensatz dieser Ergeb¬ 
nisse mit den bisherigen Erfahrungen .hin¬ 
gewiesen, besonders beim Menschen. 
Müller-Rostock meint, das Periost bilde 
Knochen, der aber bald aufgesaugt wird. 
Besonders da tritt Knochenbildung ein,, 
wo das Periost mit der Innenschicht zu¬ 
sammengelegt wird. Axhausen hält 
kleinste Knochenspäne am Periost für 
die Ursache der Knochenneubildung; sie 
gehen selbst zugrunde, geben aber die 
Anregung zur Knochenneubildung. 
Voeicker hält eine reichliche Blutung 
für einen guten Reiz zur Knochenbildung 
durch das Periost. Bier weist auf die 
Möglichkeit der Knochenbildung ohne 
Periost hin. In Narben und Muskeln 
treten solche nietaplastischen Knochen 
ohne jede Periostverletzung auf. Als 
Reiz genügt die Blutung und Infektion. 
Sie können sich wie bösartige Neubil¬ 
dungen verhalten: je öfter man sie ent¬ 
fernt, desto schlimmer wachsen sie. Be¬ 
handelt man sie mit heißer Luft oder 
gar nicht, so gehen sie allmählich zurück. 
Mit der Funktion ist hier kein Zusammen¬ 
hang festzustellen. Bei den Tierversuchen 
muß man einen großen Unterschied 
zwischen jungen und alten Tieren machen. 

E. Joseph hat eine neue Operations¬ 
methode für die habituelle Schulterluxa¬ 
tion angegeben: Durch den freigelegten 
Oberarmkopf wird ein oberflächlicher 
Kanal gebohrt, durch den ein Fascien- 
streifen, ähnlich wie das Lig. teres im 
Hüftgelenk, gelegt und unterhalb des 
Proc. coracoid. befestigt wird. Die Er¬ 
folge in zwei Fällen waren ausgezeichnet, 
trotz eines neuen Trauma in dem einen 
Fall. Schmieden eröffnet das Gelenk 
nicht mehr, sondern durchbohrt den 
Oberarmkopf oder neuerdings den Ober¬ 
armhals und führt einen Fascienstreifen 


durch.: Auch Voeicker ist mit der 
Schmiedenschen Methode zufrieden. 
Kirschner hatte in vier. Fällen guten 
Erfolg mit der Umlegung eines Fascien- 
streifens um das Gelenk ohne Eröffnung 
desselben oder Anbohren des Knochens. 
Müll er-Rostock ist der Ansicht, daß 
viele Methoden das Habituellsein der 
Luxation verhindern, aber einem Trauma 
nicht widerstehen. Die extracapsulären 
Methoden sind vorzuziehen, da die Asepsis 
nicht mehr so zuverlässig ist. Der End- 
erfolg ist erst nach sechs bis acht Jahren 
festzustellen. 

Colmers teilte seine Beobachtungs¬ 
ergebnisse bei der Behandlung von Sar¬ 
komen mit der Röntgentiefentherapie 
mit, die wesentlich günstiger waren, als 
die operativen Erfolge. Es wurde die 
Methode von Seitz und Wintz aus der 
Erlanger Frauenklinik angewandt. Bei 
feststehender Diagnose Sarkom soll vor 
jeder Excision und Operation bestrahlt 
werden. Erst nach mehreren Bestrah¬ 
lungen ist ein chirurgischer Eingriff an¬ 
gezeigt. Wird frühzeitig angefangen, so 
können nach wenig Bestrahlungen große 
Tumoren verschwinden. Bei richtiger 
Ausführung wird nichts geschadet. Die 
Technik ist schwierig und muß dem 
Röntgenologen überlassen werden. Wird 
die Sarkomdosis nicht erreicht, so kann 
die Bestrahlung schaden. Sie beträgt 
60'% der Hauteinheitsdosis und ist wesent¬ 
lich kleiner als die Carcinomdosis. Jeder 
Teil des Tumors muß dieses Minimum 
erhalten. Seitz und Wintz haben die 
Fernfeldbehandlung eingeführt. Die Er¬ 
folge bei den neun Fällen Colmers waren 
sehr gut. Nur ein inoperables Melano- 
sarkom der Brust wurde nicht geheilt. 
Auch klinisch hoffnungslose Fälle können 
mehrere Jahre erhalten werden, wenn 
nicht schon eine Aussaat über den ganzen 
Körper eingetreten ist. Wenn nach Be¬ 
strahlung der Tumor wächst, so haben 
nicht alle Zellen das Minimum erhalten. — 
Sauerbruch hat mit derselben Methode 
sehr traurige Erfahrungen gemacht, wäh¬ 
rend einige andere Redner Besserungen 
sahen; in einem Falle wurde ein Ober¬ 
kiefersarkom ganz zum Schwinden ge¬ 
bracht. Perthes meint auch, daß Sar¬ 
kome zum Verschwinden gebracht werden 
können. Er glaubt an keine einheitliche 
Sarkom- und Carcinomdosis. Die ver¬ 
schiedenen Sarkome verhalten sich recht 
verschieden. Melanosarkome sind viel 
schwerer anzugreifen als Sarkome mit 
kleinen Rundzellen. Es liegen nicht ein- 





Mai - 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


195 


fache physikalische, sondern biologische 
Vorgänge vor. — Axhausen berichtet 
von einem großen periostalen Sarkom, 
das nicht operiert wurde und von dem 
nach fünf Jahren klinisch und röntgeno¬ 
logisch nichts mehr nachzuweisen war. 
Auch Müller (Rostock) berichtet von 
einem großen Beckensarkom, von dem er 
bei der Operation vor 18 Jahren wegen 
Blutung viel zurücklassen mußte;, es ist 
vollständig spontan geschwunden. Also 
es gibt auch Spontanheilungen ohne Be¬ 
strahlung. 

Payr stellte einen Mann vor, bei dem 
er das ankylotische Hüft-, Knie- und 
Talocruralgelenk mobilisiert hat; der Er¬ 
folg ist sehr gut. Der Mann kann auch 
auf dem operierten Bein ohne Stütze 
stehen. — Klapp hatte in zwei Fällen 
von Mobilisierung des Hüftgelenks auch 
guten Erfolg; die Operierten konnten gut 
stehen und sogar tanzen, aber sie konnten 
auf dem Bein nicht stehen, da die Festig¬ 
keit in der Hüfte fehlte. Das obere Sprung¬ 
gelenk braucht man nach seiner Ansicht 
nicht zu mobilisieren, wenn die anderen 
Fußgelenke gut beweglich sind, da diese 
dann vikariierend eintreten. —Kuttner 
weist auf die ruhende Infektion hin, die 
oft die Erfolge der Arthroplastik bei 
Kriegsverletzten stört. In einem Falle 
fand er in einem versteiften Kniegelenk 
eines Kriegsverletzten hämolytische 
Staphylokokken zwei Jahre nach der 
Verletzung und Vereiterung des Gelenks. 
Nach 14 Tagen war die Infektion da, die 
zum Schluß zur Abtragung des Beines 
zwang. — Auch Lexer fürchtet die 
ruhende Jnfektion. Von 17 Operationen 
am Kniegelenk hat sie ihm fünfmal den 
Erfolg verdorben; der in den anderen 
Fällen gut war. Es kommt nicht bloß 
auf die Technik an, sondern auch auf 
das operative Gefühl. Man muß zwei 
Klippen vermeiden: Einerseits \gute Be-, 
lastungsmöglichkeit und Steifigkeit, an¬ 
dererseits gute Beweglichkeit und Schlot¬ 
tergelenk. Wie man sie vermeiden soll, ist 
schwer zu sagen. Vielleicht verlassen wir 
bei unseren Arthroplastiken wieder die 
Zwischenlagerung von Gewebe.. Einst¬ 
weilen legt er noch Fettgewebe zwischen, 
da er mit anderem Gewebe nicht viel Glück 
hatte. Bis jetzt hat er und seine Assi¬ 
stenten an 190 großen Gelenken die 
Arthroplastik ausgeführt, darunter 62 
Schußverletzungen. Bei 150 war der 
Erfolg gut oder ausgezeichnet; bei 27 
aus verschiedenen Gründen schlecht (ru¬ 
hende Infektion, Willensschwäche, Hy¬ 


sterie und anderes). — Payr läßt zur 
Feststellung der ruhenden Infektion Tage 
hindurch in der Operationsgegend die 
Hauttemperatur messen; 1—1,5® Unter¬ 
schied mahnt zur Vorsicht. Ferner werden 
die Weichteile kräftig massiert. Sind 
Keime vorhanden, dann entstehen Schmer¬ 
zen. Mit einem umwickelten Hammer 
wird das Gelenk beklopft: Schmerzen 
oder leichte Temperatursteigerung sind 
verdächtig. Auch wenn nur der kleinste 
Fremdkörper noch vorhanden ist, macht 
er eine Voroperation, wie er überhaupt 
jetzt meist zweizeitig operiert. Bei Aus¬ 
kleidung des Gelenkes mit Fascie kommt 
die Arthritis deformans viel seltener vor, 
als bei Zwischenlagerung von Fett oder 
keiner Zwischenlagerung. — Bier hatte 
auch gute Resultate bei Gelenkplastik 
nach Gelenkvereiterung, wenn er nicht 
zwischenlagerte und nur Jod in das Ge¬ 
lenk goß. Sehr häufig entwickelt sich eine 
schwere Arthritis, die aber dem Gang 
nichts schadet. Die Heilung erfolgte 
immer primär. Aber neuerdings sah er 
lange Zeit nach der .primären Heilung 
milde Abscesse auftreten. Diese Eiterung 
vernichtet nicht die Funktion des Ge¬ 
lenks. Auch die früheren Chirurgen be¬ 
kamen nach Resektionen sehr gut be¬ 
wegliche Gelenke, in denen sich sogar 
Knorpel in den Nearthrosen bildete. Man 
findet in solchen Fällen nicht nur Faser-, 
sondern auch hyalinen Knorpel, zuerst 
inselförmig, dann ausgebreitet. Wir 
stehen in der Frage der Nearthrosen- 
bildung im Anfangsstadium. Die Zwi¬ 
schenlagerung von Geweben wird nicht 
ganz schwinden, aber es gibt auch andere 
gute Methoden. Die Arthroplastik ist eine 
schwierige Operation. 

Fränkel berichtet über die glän¬ 
zenden Fernresultate der Bi ersehen Kli¬ 
nik beim angeborenen Klumpfuß. Es 
handelte sich um ambulante Fälle. Bei 
Säuglingen legt er einen Pflasterverband 
mit Spiralschienen zum Redressement an; 
bei größeren Kindern und Erwachsenen 
wird die Redressierung im Saugapparat 
ganz schmerzlos und allmählich durch¬ 
geführt. Die Tenotomie der Achillessehne 
ist zu vermeiden wegen der folgenden 
Atrophie der Wade. Wird das Verfahren 
gut durchgeführt, so gibt es keine Rück¬ 
fälle. — Nach der Erfahrung von Schanz 
hat man in einem Teile der Fälle mit allen 
Methoden Erfolg, in einem anderen Teil 
mit keiner Methode. In diesen Fällen ist 
er immer blutiger geworden. Die Achilles¬ 
sehne darf nur bei Nachoperationen durch- 

25* 




Mai 


196, Die Therapie der Gegenwart 1920 

= ; 


schnitten werden. Beim Säugling legt er 
einen Gipsverband bis ah deii Ober- 
) sfchenkel an. Beim Rezidiv kommen zwei 
Nachoperationen in Betracht: Luxation 
der Peronealsehnen am äußeren Knöchel, 
wo dasv nicht genügt, wird eine Auf¬ 
meißelung am inneren Fußrand vorge¬ 
nommen, wonach die- Redressierung ge¬ 
lingt. In letzter Zeit ist in seinem Material 
der angeborene Klumpfuß viel häufiger, 
die angeborene Hüftverrenkung seltener 
geworden. — Kümmell empfiehlt für die 
schweren Klumpfüße im späteren Lebens¬ 
alter, wo die Leute zum Teil auf dem Fu߬ 
rücken liefen, die gewaltsame Redressie¬ 
rung in dem Lorenzschen Apparat, wo¬ 
bei Bänder und Knochen, bisweilen sogar 
die Haut zerrissen wird. Der Fuß wird 
überkorrigiert. Nach drei bis vfer Mo¬ 
naten stand der Fuß gut und die Leute 
gingen gut. — Bier hält die gewaltsame 
Redressierung für nicht harmlos, während 
die Redressierung im Saugapparat un¬ 
gefährlich und schmerzlos ist und aus¬ 
gezeichnete Resultate gibt. Käppis 
empfiehlt für die Kümmelschen Fälle, 
einen Keil aus dem äußeren Fußrand zu 
entfernen, ferner spaltet er den Tibialis 
ant. und näht einen Zipfel am Metatars. 111 
an. — Müller (Rostock) zieht in den 
veralteten Fällen die Operation dem ge¬ 
waltsamen Redressement vor. Er ent¬ 
fernt einen Keil aus der lateralen Seite 
und setzt ihn in die mediale Seite ein. 

•Fraenkel empfiehlt, durch den Kno¬ 
chen von Amputationsstümpfen quer hin¬ 
durch Bolzen aus der Tibia oder Fibula 
zu legen, an denen die Prothesen befestigt 
werden. — Kirschner fürchtet, daß 
diese Bolzen mit der Zeit resorbiert wer¬ 
den. Um die Tragfähigkeit des Kno¬ 
chenstumpfes zu erhöhen, treibt er in die 
Markhöhle von der Sägefläche aus einen 
Bolzen, den er der Fibula entnommen 
hat. Bier hat zum gleichen Zweck den 
Fersenhöcker auf den Oberschenkelstumpf 
aufgepflanzt. 

Ritter berichtet über einen Mann, 
der wegen Schmerzen im Rücken ^ie 
verschiedensten Diagnosen über sich er¬ 
gehen lassen mußte. Es entwickelten 
sich an verschiedenen Knochen Ge¬ 
schwülste, die wieder schwanden, zum 
Teil zu Spontanfrakturen führten, die 
wieder heilten. Der Urin zeigte immer 
die Bence-Jonessche Reaktion., Mikro¬ 
skopische Untersuchung ergab Myelom. 
Behandlung: Arsen, Jodtinktur, äußer¬ 
lich, und innerlich, subcutane Blutinjek¬ 
tion. Völlige Heilung. 


Keyßerjst es gelungen, durch Ein¬ 
spritzung einer Emulsion eines Hoden¬ 
sarkoms in die Leber einer Maus ein 
Lebersarkom zu erzeugen und dasselbe 
nun schon in vier Passagen weiter zu 
übertragen. Es. sind somit alle Bedin¬ 
gungen der Übertragung erfüllt. Die Ge¬ 
schwulst entstand am Orte der Impfung, 
hatte die Struktur der Ausgangsge¬ 
schwulst und die Weiterimpfungin Pas¬ 
sagen ist geglückt. Die zu übertragende 
Geschwulst muß sich im äußersten Reiz¬ 
zustande befinden. 

Völcker bericht^ über hämolyti¬ 
schen Ikterus. Es händelt sich bei der 
Krankheit um einen chronischen Ikterus 
mäßigen Grades, blaßgelb, wechselnd, oft 
angeboren, oft familiär. Der Stuhl ist 
normal gefärbt, der Urin auch, doch zei¬ 
gen beide Urobilinreaktion. Die Kranken 
haben oft gar kein Krankheitsgefühl. Die 
Leber ist unverändert, aber die Milz ist 
fast immer vergrößert, auf mittlere Grade, 
nicht auf die ungeheuren Maße, wie bei 
Bantischer Krankheit. Das Blut zeigt 
gewöhnlich ausgesprochene Anämie, auch 
Poikilocytose. Die Erythrocyten lösen 
sich leichter auf, als normal. Ob die Er¬ 
krankung der Milz oder die des Blutes das 
primäre sind, ist unbekannt. Die Milz 
zeigt eine starke Vermehrung des Binde¬ 
gewebes. Diese Fälle haben bisweilen 
leichte Leberkoliken in der Zeit mit ge¬ 
steigertem Ikterus, sodaß man Chole- 
dochusverschluß annahm. Der Ikterus 
kann durch Entfernung der Milz sicher 
geheilt werden. Es sind etwa 50 Fälle 
bekannt. Die Mortalität der Splenektomie 
ist gering. Völcker -hat fünf Fälle 
operiert, zwischen 20 und 30 Jahren, 
angeboren oder erworben, seit Jahren 
bestehend. Alle fünf heilten. Der Ikterus 
verschwand schon nach 14 Tagen; auch 
die Anämie ging schnell zurück. Aber 
die Widerstandskraft der Erythrocyten 
gegen hämolytische Einflüsse blieb be¬ 
stehen. Völcker hält deshalb die Blut¬ 
erkrankung für das Primäre. —Kuttner 
hat ein 21jähriges Mädchen mit derselben 
Krankheit operiert. Seit vier Jahren be¬ 
stand Ikterus und ein ungeheurer Milz¬ 
tumor. Der war nach 14 Tagen restlos 
geschwunden. Auch Wendel hat meh¬ 
rere Fälle beobachtet und in einem die 
Milz mit Erfolg entfernt. Einen anderen 
Fall mit nicht sehr großer Milz unterwarf 
er der Röntgenbestrahlung. Bei ihm trat, 
zeitweise Verstärkung des Ikterus auf. 
Die Bestrahlung hat die Anämie erheblich 
gebessert und der Ikterus ist fast ganz 



Mai die Therapie dep 


geschwunden. Wendel hält die Milz¬ 
erkrankung für das Primäre. Verände¬ 
rungen der roten und weißen Blutkörper¬ 
chen sieht man regelmäßig nach jeder 
Milzentfernung. — Anschütz hat vier 
Fälle operiert, darunter eine Mutter mit 
zwei Kindern. Alle Fälle verliefen gut. 
In Schleswig-Holstein ist die Krankheit 
häufig. Noch nach sechs bis acht Jahren 
ist die Hämolyse gesteigert. — Gulecke 
hat drei Fälle mit gutem Erfolg operiert. 
Die Heilungstendenz scheint herabgesetzt 
zu sein. In zwei Fällen ging die ganze 
Wunde nach acht Tagen nach Entfer¬ 
nung der Fäden auf und brauchte sehr 
lange bis zum Heilen. 

Ostermann teilt mit, daß die Ar¬ 
beiten der Kruppschen Werke, rostfreien 
Stahl herzustellen, soweit gediehen sind, 
daß in nächster Zeit wenigstens die gang¬ 
barsten Instrumente auf den Markt 
kommen, natürlich, wie alle Dinge, zu 
hohen Preisen. 

Ritter spricht zur Entstehung und 
Behandlung der akuten Osteomyelitis. 
Die Nekrose ist von vornherein vorhanden. 
Eine Osteomyelitis ohne Nekrose gibt es 
nicht. Sie hat gleich die Ausdehnung, 
wie sie später ausgestoßen wird. I^n den 
ersten Tagen ist das Knochenmark'noch 
frei und der Eiter sitzt nur unter dem 
Periost. Hier soll man nur den Eiter ab- 
lassen und nicht aufmeißeln.. — Müller 
(Rostock) erinnert daran, daß schon 
König immer betont hat, daß die Ne¬ 
krose von Anfang an ab gegrenzt ist. End¬ 
arterien gibt es im Knochen nicht. Seine 
Erfahrungen mit Frühoperation der Dia- 
physenosteomyelitis sind schlecht: Er hat 
danach oft schwere Pyämien erlebt. 

Bestelmeyer berichtet über an¬ 
nähernd 400 Fälle von willkürlich beweg¬ 
ter künstlicher Hand, die Sauerbruch 
operiert hat. Voraussetzung ist ein ge¬ 
sunder Stumpf und gute Muskulatur. 
Selbst Oberarmexartikulierte kommen 
noch in Betracht. Am einfachsten liegen 
die Verhältnisse bei Oberarmstümpfen. 
An der Beugeseite wird der Biceps 
tunnelliert: durchschnittliche Hubhöhe 
3 bis 4 cm. An der Streckseite wird der 
Triceps tunnelliert: durchschnittliche 
Hubhöhe 3 cm. Am Unterarm ist bei den 
Beugern eine Hubhöhe von 2 cm, bei den 
Streckern von 1,5 cm Durchschnitt. Ein 
sehr langer Stumpf muß verkürzt werden, 
weil sonst die künstliche Hand länger ist 
als die gesunde. Die Anschützsche Me¬ 
thode hat eine Verbesserung gebracht, 
besonders bei kurzem Stumpf. Bei ganz 


Gegenwart 1920 .197 


kurzen Oberarmstümpfen wird der Pec- 
toralis maior und latissimus dorsi tunnel¬ 
liert. Die Operierten sind sehr zufrieden. 
Schlechte Erfolge sind auf schlechte 
Kanäle **zurückzuführen. — Anschütz 
stellt einen Oberarm amputierten vor, 
dessen Prothese zwei Hämmerchen trägt, 
mit deren Hilfe er Harmonium spielt 
Der Pectoralis ist auch tunnelliert. 

Kotzenberg hat die Muskelsperrung, 
das heißt die willkürliche Contraction des 
Muskels ohne Bewegung des zugehörigen 
Gliedes, wie sie besonders beim Biceps 
auffällt, benutzt, um Prothesen zu be¬ 
wegen. Er braucht dabei keine Kanäle 
anzulegen. Der Stumpf muß dazu min¬ 
destens 6 cm lang sein. 

Flockemann berichtet über sieben 
Vorderarmplastiken nach Krukenberg 
aus der Kümmellschen Klinik. Die er¬ 
zielte Kraft ist sehr gut. Einer hat rich¬ 
tige Schwielen bekommen. Auch mit 
feinen Gegenständen können sie arbeiten. 
Einer zerreißt Papier, einer macht Feder¬ 
zeichnungen. — Nach Borchardts Er¬ 
fahrungen spielt die Möglichkeit der 
Pro- und Supination des Radius eine 
große Rolle. In manchen Fällen gibt er 
eine Prothese. 

Sauerbruch meint, daß die Kraft 
des Krukenbergarmes nicht zu kräftiger 
Arbeit genüge. Auch aus kosmetischen 
Gründen lehnen die Verletzten die Me¬ 
thode ab. Nur für Blinde ist sie zu emp¬ 
fehlen, weil sie Gefühl in der Hand haben^ 
müssen. Die, Kanäle werden von vielen 
Ärzten falsch angelegt, weshalb er 17 Un¬ 
terarmamputierte im Oberarm amputieren 
mußte. 

Rehn jr. spricht zu dem Thema: 
,,Tenotomie und Muskel“. Bier berichtet 
dazu einen Fall, wo er aus der Achilles¬ 
sehne ein Stück von 10 cm entfernte und 
eine dünne Sehne von 6 cm Länge ein¬ 
pflanzte und vier Wochen stillstellte. 
Die eingepflanzte Sehne ging zugrunde, 
aber es bildete sich eine vollkommene 
neue Sehne mit sehr guter Funktion. 
Der Nährboden spielt eine, wenn auch 
kleine Rolle. Bei einer frisch gerissenen 
Sehne ist der Riß sehr unregelmäßig und 
die Blutung ganz gering. Das junge 
Regenerat will Ruhe haben, wenigstens 
in den ersten Tagen. Erst muß das Rege¬ 
nerat da sein, dann darf erst die Funktion 
eintreten. Der Muskel muß in guter 
Spannung gehalten werden. Ein großer 
Feind des Regenerats ist die Infektion. 
Ein lückenloser narbenfreier Hautlappen 
muß den Sehnendefekt decken. Nur die 



198 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


' Ma i 


Sehnen ohne Scheiden regenerieren sich, 
so auch die des Handrückens. — Müller 
{Rostock) macht darauf aufmerksam, daß 
die Sehnen am Handrücken oft nicht 
heilen und die Finger sich in Beu^stellung 
stellen. Bei völliger Zerstörung des Lig. 
patellae oder der Quadricepssehne hat 
Payr sehr guten Erfolg, wenn er mit 
ParaffinseiÖenfäden die Spannung her¬ 
stellt und einen Fascicnmantel darum 
•egt. 

Sommer empfiehlt für die Behand¬ 
lung von Unterschenkelfrakturen mit 
starker Verkürzung einen Apparat der 
Greifswalder Klinik. Derselbe beruht auf 
dem Scherenprinzip und ist nach Art des 
Zuppingerschen Apparats gebaut. Die 
Tibia wird am oberen und unteren Ende 
von einem Nagel durchbohrt Der Ap¬ 


parat ermöglicht.die Bewegung des JHüft- 
und Kniegelenks und die Röntgenkon¬ 
trolle und Massage. Ist die richtige Länge 
erreicht, so wird der Apparat gesperrt 
und in demselben ein Gipsverband an¬ 
gelegt, wonach der Apparat entfernt 
wird. 

Schloffer hat kombinierte Liqupr- 
druckbestimmungen durch Lumbalpunk¬ 
tion und Ventrikelpunktion angestellt 
Er fand für beide im Sitzen und Liegen 
gleichen Druck. Die Verbindung beider 
Systeme kann durch Stöpsel- oder Ven¬ 
tilverschluß oder auch durch Kompres- 
smn aufgehoben sein. Das Verfahren ist 
• bei gewissen Tumoren anzuwenden. Von 
einer Ventrikelpunktion hat er niemals 
Schaden gesehen. 

(Fortsetzung folgt im nächsten Heft.) 


Bücherbesprechungen. 


Vulpius, Aus 25 Jahren orthopädi¬ 
scher Arbeit, Eine therapeutische 
Orientierung für den praktischen Arzt 
Berlin-Wien 1920. Urban <5 Schwarzen¬ 
berg. 80 Seiten. 

Der Verfasser hat es fertiggebracht 
in einem nur 80 Seiten starken Heftchen 
das gesamte Gebiet der Orthopädie in 
seinen Grundzügen aufzurollen. Durch 
eine Lektüre von nur wenigen Stunden 
ist der praktische Arzt imstande, den 
^heutigen Stand der Orthopädie kennen zu 
lernen. Und diese Kenntnisse sich zu 
verschaffen muß dem Praktiker auf das 
- eindringlichste empfohlen werden, damit 
wir Orthopäden, wenn uns Kinder mit 
Klumpfuß, Hüftluxation, Skoliose usw. 
zu spät zugeführt werden, nicht immer 
wieder mit fast beschämender Resignation 
den Eltern erklären müssen, daß-für eine 
radikale Heilung die Zeit verpaßt sei. 
Man kann natürlich von keinem prak¬ 
tischen Arzt verlangen, daß er sich die 
Technik der Hüfteinrenkung oder der 
Sehnenverpflanzung aneignet, er muß aber 
unter allen Umständen wissen, in welchen 
Fällen eine solche indiziert, und wann 
der richtige Zeitpunkt für ihre Ausfüh¬ 
rung gekommen ist. Diese Kenntnisse 
kann er sich aus dem vorliegenden Buch 
leicht aneignen. Einen besonderen Reiz 
verleiht der Autor der Arbeit dadurch, 
daß er hauptsächlich aus dem Schatze 
seiner reichen Erfahrung schöpft und 
dadurch dem Buch eine persönliche Note 
gibt. Auch über Mißerfolge berichtet der 
Verfasser, die niemandem erspart bleiben. 


In einigen Punkten' stimme ich mit ihm 
nicht überein, so in bezug auf die Nach¬ 
behandlung des operierten Klumpfußes, 
bei dem er jeden portativen Apparat ver¬ 
wirft, während ich keine Rezidive mehr 
erlebe, seit ich nach der Operation noch 
ein bis zwei Jahre lang redressierende 
Apparate tragen lasse. Auch in bezug 
auf die Statistik der idealen Heilung 
nach unblutiger Einrenkung der ange¬ 
borenen Hüftverrenkung scheint er mir 
etwas zu kritisch gewesen zu sein. Also 
nochmals: Jeder praktische Arzt schaffe 
sich dieses kleine Büchlein an, seine Lektüre 
wird ihm Freude bereiten und manchem 
seiner Patienten zum Segen gereichen. 

Georg Müller. 

Dr. Hans Debrunner, Lehrbuch für 
orthopädische Hilfsarbeiterin- 
nen mit 172 Abb. Leipzig. C. W. Vo¬ 
gel. Preis 17 M., geb. 19,50 M. 

Wenn die Ausbildung der orthopädi¬ 
schen Hilfsarbeiterin auch vorwiegend 
eine praktische sein muß, so muß sie doch 
unbedingt einen Leitfaden in die Hand 
bekommen, in dem sie das Gehörte, Ge¬ 
sehene und Erlernte immer und immer 
wieder nachlesen und sich einprägen kann. 
Die Schaffung eines solchen Buches ist 
dem Verfasser in jeder Beziehung geglückt. 
Er gibt das theoretisch Wissenswerte in 
knapper und für den gebildeten Laien 
leicht verständlicher Form. Bei den 
orthopädischen Krankheiten und deren 
Behandlung beschränkt er sich auf das 
für Helferinnen Notwendige. Er betont 
ausdrücklich, daß Massage, Gymnastik, 





Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


‘Gipstechnik usw. sich niemals aus Lehr¬ 
büchern, sondern nur durch praktische 
Übungen erlernen läßt. Die Abbildungen 
'Sind außerordentlich instruktiv, die Spra¬ 
che leicht-flüssig und präzis. Jch habe 
das Buch mit großem Vergnügen durch- 
gelesen. Es erfüllt seinen Zweck in vollem 
Maße, und eine weite Verbreitung ist ihm 
sichef. Georg Müller. 

Winter. Die Indikationen zur künst¬ 
lichen Sterilisierung der Frau. 
104 S. Berlin-Wien 1920. Urban 
6c Schwarzenberg. 

Auf den ersten Blick müßte man an- 
iiehmen, daß dieses Buch nur für den 
Gynäkologen geschrieben wäre; damit 
'Wären seine Grenzen zu eng gesteckt. 
Da an den Praktiker jetzt auch oft genug 
das Verlangen gestellt wird, er möge mit 
einem Operateur dafür sorgen, daß eine 
dauernde Sterilität erreicht wird, so muß 
•er sich selbst über die speziellen In¬ 
dikationen orientieren, die W. in zehn 
Abschnitten in äußerst klarer Weise be¬ 
spricht; in erster Reihe seien die euge- 
netische und soziale Indikationen er¬ 
wähnt. Daß die juristische Seite dieser 
Frage ebenfalls genau. erörtert wird, ist 
Ja selbstverständlich. Der Arzt wird 
nach der genauen Lektüre dieses Buches 
imstande sein, den diesbezüglichen Wunsch 
mancher Frau im Keime zu ersticken 
und weiß jetzt, daß dieser Eingriff dann 
erfolgen kann, w;cnn Lebensgefahr oder 
:schwerste Gesundheitsschädigung in spä¬ 
terer Schwangerschaft abzuwenden ist. — 
Druck und Ausstattung sind sehr gut. 

Pulvermacher (ChariOttenburg). 

Paul Römer, Lehrbuch der Augenheil- 
■ künde. Dritte, umgearbeitete Auflage. 
Mit 297 Textillustrationen und 32 far¬ 
bigen Tafeln. Berlin und Wien 1919, 
Urban 6c Schwarzenberg, 

Zu den modernen Lehrbüchern der 
Augenheilkunde, die am meisten im Ge¬ 
brauch sind, gehört das Buch von Römer. 
Die erste Auflage erschien im Jahre 1910 
.in Form klinischer Besprechungen in 
der Art, wie er den Unterricht zu hand¬ 
haben pflegte. Schon nach zwei Jahren 
konnte das Werk seine zweite Auflage er¬ 
leben; der Text war verkürzt, die Abbil¬ 
dungen waren vermehrt und das Buch 
durch Teilung in zwei Bände handlicher 
geworden. Nunmehr ist, wieder in einem 
Bande, die dritte, wesentlich umgearbeitete 
Auflage erschienen, die Römer dem An¬ 
denken seiner im Kriege gefallenen Schüler 
widmet „Sie ist aus der Not des Krieges 


199 

und seines unglücklichen Ausgangs ge¬ 
boren. Diese Not macht es erforderlich, 
daß auch die Lehrbücher unserer medizi¬ 
nischen Wissenschaft ^ auf lange Zeit hin¬ 
aus so kurz wie möglich gehalten werden. 
Das Buch mußte daher wesentlich umge¬ 
arbeitet und sein Inhalt in knappere 
Form gebracht werden . . Die Form 
der klinischen Besprechungen ist verlassen, 
die Lebendigkeit der Darstellung und die 
Anschaulichkeit der Schilderungen haben 
aber darunter nicht gelitten. Bei aller 
Knappheit des Textes sind alle wesent¬ 
lichen Momente der Ätiologie, patholo¬ 
gischen Anatomie, Diagnose und Therapie 
der Augenkrankheiten unter kritischer 
Berücksichtigung der v.neuesten Literatur 
in umfassender Weise behandelt, so daß 
das Buch auch den Augenarzt auf jedem 
Gebiete über den Stand unseres Wissens 
zu orientieren vermag. Die geschickte 
Einteilung des Stoffes, die Hervorhebung 
des Wesentlichen machen das Buch über¬ 
sichtlich und bequem für den Lernenden 
wie für den Nachschlagenden. Die ersten 
elf Kapitel behandeln die Krankheiten der 
einzelnen Teile des Augapfels und seiner 
Adnexe, die folgenden die Verletzungen 
des Auges, das Glaukom, das Schielen, 
die Augenmuskellähmungen, die Neurologie 
des Auges und die Funktionsprüfung. 
Besonderes Lob'verdienen die sehr zahl¬ 
reichen Abbildungen der pathologisch¬ 
anatomischen Präparate, der äußeren und 
der ophthalmoskopischen Veränderungen 
im Text und auf Tafeln. Den Studieren¬ 
den wird damit das Buch den Atlas voll¬ 
kommen ersetzen. Auch in dieser dritten 
Auflage wird das Lehrbuch nicht nur 
— dem Leitmotiv des Verfassers ent¬ 
sprechend — dem Studierenden eine 
wertvolle Ergänzung des klinischen Un¬ 
terrichts bringen und dem praktischen 
Arzt bei der Diagnose und Therapie be¬ 
hilflich sein, sondern es wird auch dem 
Augenarzt stets eine genußreiche und ge¬ 
winnbringende Lektüre gewähren und 
eine wertvolle Bereicherung seiner Biblio¬ 
thek darstellen. Fehr. 

Die Lichtbehandlung des Haaraus¬ 
falls. Von Franz Nagelschmidt. 
Zweite durchgesehene Auflage. Berlin 
1919, J. Springer. Mit 87 Abbildungen. 
8^, 72 Seiten. 

Die Schrift gibt in kritisch-objektiver 
Art die sehr bemerkens- und dankens¬ 
werten Erfahrungen des Verfassers über 
die überraschende therapeutische Be¬ 
einflussung des Haarausfalls durch 




200 ^ 


Die Therapie der Gegenwart 1920 




ultraviolette Lichtstrahlen, sie hat das 
große Verdienst, dem therapeutischen 
Skeptizismus und Nihilismus auf die¬ 
sem Gebiet ein für allemal ein Ende 
bereitet zu haben. Berichtet doch 
Verfasser über 84% komplette Hei¬ 
lungen gegenüber nur 5%^% Mißerfolgen 
(200 Fälle, darunter 132 Fälle von Alopecia 
areata, 64 von Alopecia seborrhoica et 


Refe 

Die aktive Therapie beim fieber¬ 
haften Abort vertritt Kolde Winter 
gegenüber, der ja bekanntlich in den 
meisten Fällen eine abwartende Haltung 
empfiehlt, auf Grund eines in einem Zeit¬ 
raum von fünf Jahren gesammelten Ma¬ 
terials aus der städtischen Frauenklinik 
zu Magdeburg. Zuvörderst ist die Sta¬ 
tistik als eine gute zu nennen. Wegen 
starker Blutungen kann in einer Reihe 
von Fällen gar nicht gewartet werden; 
auch die lange Dauer der abwartenden 
Behandlung verbietet ihre allgemeine Ein¬ 
führung; selbst der Mittelweg, Abwarten 
bis zur Entfieberung, welche durchschnitt¬ 
lich am dritten Tage eintritt,^ dann nach 
weiteren sieben Tagen des Abwartens 
Ausräumung, ist nicht gangbar. Bleibt 
das infizierte Placentarstück lange im 
Uterus, so dfoht durch Bestehenbleiben 
des Uterusplacentarkreislaufes dauernd 
die Gefahr einer neuen Keimüber¬ 
schwemmung des Blutes. 

Puivermacher (Chariottenburg). 

' (Mschr. f. Geburtsli., Jan. 1920.) 

Als eine besondere Form der trauma¬ 
tischen Neurose stellt E. Pulay den 
Thyreodismus und die Basedowsche 
Krankheit hin. Es gibt traumatische Neu¬ 
rosen, in denen die vom Sympathicus sich 
herleitenden Erscheinungen wie Tachy¬ 
kardie, Dermographie, ‘ Schwitzen, Di¬ 
arrhöen, Polyurie, Haarausfall und Schild¬ 
drüsenschwellung das Krankheitsbild be¬ 
herrschen. In dem Material Pulays 
setzten die Erscheinungen des Hyper- 
thyreodismus zum Teil akut nach Granat¬ 
verschüttung ein, zweimal kam es zur 
Entwickelung von echtem Basedow. Wie 
die traumatische Neurose, so entwickelt 
sich auch ihre thyreodistische Unterform 
auf dem Boden einer konstitutionellen 
Minderwertigkeit speziell des vegetativen 
Systems. Verschieden sind die zur Aus¬ 
lösung erforderlichen Momente, ihnen 
gemeinsam die Reizwirkung auf das vege¬ 
tative System. Zwischen Sympathicus- 
neurose und Basedow sind fließende 


praematura), führt er uns doch überaus 
rasch eintretende H^eiluhgen (nach zehn 
bis zwanzig Tagen) vor. Voraussetzung 
dafür ist allerdings die vollständige Be¬ 
herrschung der Technik, die Verfasser 
am Schluß eingehend schildert Das 
Büchlein bedeutet einen wesentlichen 
Fortschritt.auf dem Gebiete der Alopecie- 
behandlung., Iwan Bibcli. 


rate. 

Übergänge. Die gestörte Schilddrüsen¬ 
funktion ist nicht die Ursache des Base¬ 
dows; sondern eine besonders in die 
Augen springende Erscheinung der Sym- 
pathicusneurose. Speziell für die Base¬ 
dowsche Krankheit ist eine Unterwertig¬ 
keit im sympathischen System notwendig, 
die auch die individuelle Reaktionsweise' 
des befallenen Individuums bestimmt. 

Leo Jacobsohn (Charlottenburg). 

(Zschr. f. klin. M. 1919, H. 1 u. 2.) 

Die Beziehungen von Hypophyse und 
Basedow macht Hofstätter zum Gegen¬ 
stand neuer Untersuchungen. Die Korre¬ 
lation der Drüsen mit inneren Sekreten 
macht es wahrscheinlich, daß beim Morbus 
Basedowii neben der Thyreoidea auch 
andere endokrine Drüsen beteiligt sind.' 
Es weisen nach Ansicht Hofstätters 
eine Anzahl von klinischen Symptomen 
direkt auf eine Schädigung der Hypophyse 
hin. Auf hypophysärer Grundlage ent¬ 
steht die Polyurie, die Unregelmäßigkeit 
der Körpertemperatur, die abnorme Fett¬ 
verteilung, die Schlaflosigkeit, wahr¬ 
scheinlich auch die auf eine gesteigerte 
Adrenalinwirkung hinweisenden Erschei¬ 
nungen. Ebenso kann ex juvantibus auf 
eine Beteiligung der Hypophyse im Sinne 
einer Unterfunktion geschlossen werden. 
Das Krankheitsbild des Morbus Basedowii 
wird jedoch nicht durch die auf eine 
Störung der Hypophyse zu beziehenden 
Symptome beherrscht, sondern durch den 
Hyperthyreodismus, wozu noch in den 
meisten Fällen ein konstitutionelles Mo¬ 
ment kommt. Es ist anzuriehmen, daß 
die Hypophyse beim Morbus Basedowii 
sekundär erkrankt und nicht, wie von 
einzelnen behauptet, erst den Anstoß zu 
Veränderungen der Thyreoidea gibt. The¬ 
rapeutisch ergibt sich aus den Unter¬ 
suchungen Hofstätters die Heran¬ 
ziehung des wirksamen Prinzips der 
Hypophyse (Hypophysin) zu der Be¬ 
handlung von Basedowkranken. Als 
besondere Indikation stellt Hofstätter 
die. Fälle auf, in denen eine Schilddrüsen- 





Die Therapie der Gegenwart 19^0 201 


Mai 

T 

Operation nicht in Frage kommt, ferner 
die durch Operation nicht gebesserten 
Erkrankungen sowie alle die Fälle, bei 
denen die übliche Basedowbehandlung 
versagt. 

Eine weitere Arbeit Hofstätters be¬ 
richtet über die Erfolge der Hypophysen¬ 
behandlung in‘solchen Fällen, bei denen 
klinisch eine Mitbeteiligung der Ovarien 
erkennbar war. Während die Kardinal¬ 
symptome des Basedow (Exophthalmus, 
Struma, Tachykardie) unbeeinflußt 
blieben, zeigte sich eine Wirkung auf 
die sympathicotonischen Beschwerden. 
Es ist anzunehmen, daß das Hypophysin 
eine sekretionshemmende Wirkung auf 
die Schilddrüse ausübt. Eine Kontra¬ 
indikation für die Anwendung des Hypo- 
physins bilden Gravidität, Arteriosklerose 
und Nephritis chronica. 

Leo Jacobsohn (Charlottenburg). 

(Grgbt. d. M.d. u. Chir. 1919, H. 1 u. 2, Zsci*r. f. 
Gyn. 1919, H. 3.) 

Die Erfolge der operativen Basedow¬ 
behandlung bespricht E. Fabian. Die 
Herzstörungen bei Basedov/ werden am 
günstigsten, der Exophthalmus am wenig¬ 
sten durch die Operation beeinflußt. Un¬ 
verkennbar ist die Wirkung auf das All¬ 
gemeinbefinden, Aussehen, Stimmung, 
Kräftezustand und Körpergewicht. 
Schweiße, Tremor, Durchfälle pflegen 
nachzulassen, so daß viele Operierte 
wieder arbeitsfähig werden. Die besten 
chirurgischen Resultate werden bei 
symptomatologisch voll entwickelten For¬ 
men erzielt, weniger geeignet sind die so¬ 
genannten Formes frustes, noch geringer 
ist der Erfolg in den Fällen, in denen 
hystero-neurasthenische Erscheinungen im 
Vordergründe stehen. Bei richtiger Aus¬ 
wahl der Fälle pflegt die Operation nur 
in 5 bis 10% zu versagen, Rezidive sind 
nicht ganz zu vermeiden. Mit verbesserter 
Operationstechnik ist die operative Mor¬ 
talität gesunken. Es empfiehlt sich, die 
Operation frühzeitig auszuführen. Die 
operativen Erfolge bestätigen die Mo,e- 
biussche Auffassung, derzufolge der 
Morbus' Basedowii ein primärer Hyper- 
thyreodismus ist. 

Leo Jacobsohn (Charlottenburg). 

(Bruns Beitr. 1919, H. 1.) 

Von recht guten Erfolgen mit intra¬ 
uterinen Cholevalspülungen — %— 
Lösungen bei 50® Celsius —bei gynäko¬ 
logischen Operationen kann Betz 
aus dem St.-Joseph-Krankenhaus in Pots¬ 
dam berichten. Nicht nur eine desinfizie¬ 
rende, sondern auch eine direkt blut¬ 


stillende Wirkung konnte im Anschluß 
an Ausschabungen bei septischen Aborten 
festgestellt werden; dies läßt sich in fol¬ 
gender Welse erklären: Durch die zellen¬ 
beziehungsweise sekretlösende Eigenschaft 
der gallensauren Komponente/wird ein 
inniger Kontakt dieses Mittels mit der 
von Sekret gereinigten Uteruswandung 
erzielt; hierdurch kommt es neben der 
Desinfektion zu einer Herabsetzung der 
Temperatur. Die zweite Eigenschaft des 
Cholevals, daß es auch zugleich die Blu¬ 
tung stillt, beruht auf der Capillarwand- 
schädigung der Silberkomponente, welche 
die Capillaren der Uterusmucosa- oder 
Muskelschicht ätzt und so Thromben er¬ 
zeugt. Erliöht wird die Wirkung noch 
durch den Wärmereiz, da die Temperatur 
der Cholevallösung 50® beträgt. 

P u 1V e r m a|c h er (Charlottenburg). 

(M. m. W. 1920, Nr. 13.) 

Als ein neues Zeichen für den nahe 
bevorstehenden Geburtseintritt sieht 
Mo mm den. Gewichtssturz am Ende 
des letzten Schwangerschaftsmonats an, 
der durch genaue Wägungen von 20 Haus¬ 
schwangeren das Höchstgewicht am dritt¬ 
letzten Tage ante partum erreicht fand. 
Im Zusammenhang mit den bisher be¬ 
kannten Daten, die letzte Menstruation, 
erste Kindsbewegungen, Senkung des 
Leibes, usw., scheint die Gewichtsabnahme 
der Frau am Ende der Schwangerschaft 
öfter ein weiteres brauchbares Mittel zu 
sein, die für die Geburt in Betracht 
kommende Zeitspanne weitmöglichst ein¬ 
zuengen. 

Pulvermacher (ChariOttenburg). 

(Zschr. f. Gyn. 1920, Nr. 10.) 

Die Bedeutung der Lipoidsubstanzen 
(Lecithin und Cholesterin) für die Er¬ 
nährungwird neuerdings vielfach erörtert. 
Stepp (Gießen) schien bewiesen zu haben, 
daß diese Substanzen zum Leben nicht 
unbedingt nötig seien. Zur Widerlegung 
des Einwandes, es habe sich bei seinen 
Versuchen nicht nur um lipoid-, sondern 
auch vitaminfreie Nahrung gehandelt, 
stellte er neuerdings V^ersuche an, in 
denen eine Reihe- von Versuchstieren 
lipoidfreies Futter und Vitamin, eine 
zweite vitaminfreie Diät und Lipoide 
erhielt. Bei Berechtigung der Einwände 
hätten im ersten Falle Schädigungen 
nicht eintreten dürfen, im zweiten da¬ 
gegen hätten die Lipoide durch ihren an¬ 
genommenen Vitamingehalt jeder Schä¬ 
digung Vorbeugen müssen. Beides war 
nicht der Fall. Weitere Versuche hatten 


26 





20*2' 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Mai. 


das Ergebnis, daß die durch Alkohol dem 
vollwertigen Futter entzogenen Stoffe 
ersetzt werden können durch eine Mi¬ 
schung von Ovolecithin, Cephalin, Cere- 
bron, Cholesterin und ein Vitaminpräpa¬ 
rat, wobei allerdings zuzugeben ist, daß 
es nicht gelang, die Versuchstiere dabei 
auf ihrem Anfangsgewicht zu erhalten. 
Fehlten die Lipoide oder Vitamin, so 
starben die Tiere, auch wenn von der 
Lipdidfraktion nur Lecithin und Chole¬ 
sterin gegeben wurden, konnte nur eine 
geringe Verlängerung des Lebens erreicht 
werden. Wenn auch die benutzten Stoffe 
keineswegs chemisch wohldefinierte Kör¬ 
per sind, so ist doch wenigstens mit 
diesen Versuchen ein Hinweis gegeben, 
in welcher Gruppe von chemischen Kör¬ 
pern die Ergänzungsstoffe zu suchen 
sind; unbekannt bleibt allerdings noch 
die verhältnismäßige Bedeutung der ver¬ 
schiedenen Körper der Lipoidfraktion. 
Besonders interessant ist diese Frage im 
Zusammenhang mit den Ergebnissen Ab¬ 
derhaldens und Schaumanns, die 
neben den Nucleinen den Phosphatiden 
eine große Bedeutung als Muttersubstanz 
derjenigen akzessorischen Nährstoffe zu¬ 
schreiben, deren Fehlen für die experi¬ 
mentelle Polyneuritis verantwortlich ist, 
wonach also den P-haltigen Lipoiden eine 
besondere Wichtigkeit zukäme. 

Wenn von anderer Seite behauptet 
wurde, daß der Tierkörper phosphor¬ 
haltige Nucleinverbindungen und Lipoide 
aus ganz einfachen Substanzen aufzu¬ 
bauen vermöge, so widersprechen dem 
die Versuche des Verfassers, die ergaben, 
daß bei Fütterung mit alkoholerschöpftem 
Hundekuchen die Tiere binnen, wenigen 
Wochen unter den gleichen Erscheinungen 
eingehen, wie nach Fütterung mit ge¬ 
schältem Reis. Vögel und Säuger ver¬ 
hielten sich hier übrigens nicht gleich, 
indem unter Vitaminzusatz‘ erstere sich 
gesund erhielten, während letztere trotz¬ 
dem eingingen. (Das Vitaminpräparat 
enthielt nur Spuren von Phosphor und 
kein Cholesterin.) Phosphatide scheint 
demnach der Vogelkörper bei geringstem 
Angebot organischer Phosphorverbindun¬ 
gen zu bilden, ob auch Cholesterin, bleibt 
fraglich. Man wird jedenfalls sagen dür¬ 
fen, daß die Lipoide nicht nur Begleit- 
und Mutterstoffe der ,,Vitamine“ sind, 
sondern eine ebenso wichtige und quasi 
selbständige Stellung im Körper ein¬ 
nehmen, wie diese von Abderhalden 
und Schau mann als Eutonine bezeich- 
neten antineuritischen Substanzen. Hier¬ 


für sind auch Fütterungsversuche am 
Hunde beweisend, die ergaben, daß bef 
lipoidfreier Kost (mit Äther und Alkohol 
extrahierte Hundekuchen) die Tiere in 
wenigen Wochen eingingen, wobei es 
schien, daß durch vorübergehende Verab¬ 
reichung lipoidreicher Kost der Ausgang: 
wesentlich hinausgeschoben werde. Eine 
andere Reihe von Tieren, die das gleiche 
Futter, aber mit reichlichem Vitamin- 
(Antineuritin-) Zusatz erhielten, lebte 
wesentlich länger, fast die doppelte Zeit. 
Vitamin vermag also die Lipoide nicht 
zu ersetzen, wenn es auch bei Entziehung 
derselben lebensverlängernd wirkt. Man 
wird also eine jedenfalls teilweise Ent¬ 
fernung der Vitamine durch die Alkohol- 
extraktion anzunehmen haben. Zu be¬ 
achten ist dabei, noch, daß Vitamintiere 
eine wesentlich größere und konstantere 
Appetenz zeigten als vitaminfreie. Auch 
solche Beobachtungen ergaben eine Vita¬ 
minarmut der lipoidfreien Nahrung. Plötz¬ 
liche reichliche Vitaminzufuhr kann die 
Nahrungsaufnahme sprunghaft ^ erhöhen, 
wobei zunächst zwar eine Zunahme des 
Gewichts eintritt, die aber bei dauernd 
fehlendem Lipoid doch einer langsam 
zum Tode führenden Abnahme weicht. 
Hofmeister wies bereits darauf hin, 
daß es sich bei der sub finem auftretenden 
Nahrungsverweigerung nicht sowohl um 
eine Übermüdung der Geschmacksorgane 
handeln könne, da Injektion von Reis¬ 
kleieextrakt den Appetit^ sofort wieder 
herstellte, als vielmehr um*etwas anderes. 
Unbekanntes, vielleicht um eine- Störung 
der Sekretion der Verdauüngsdrüsen, 
worauf auch Stepps Befund von schwerer 
Pankreasatrophie an seinen Versuchs¬ 
hunden hinzuweisen scheint, der aller¬ 
dings vielleicht weniger dem Mangel an 
Vitaminen als an Lipoiden zur Last 
fällt. 

Weiter findet sich an lipoidfrei ernähr¬ 
ten Hunden ein auffällig geringer Gehalt 
der Galle an Cholesterin (ein Drittel bis 
ein Fünfzehntel der normalen Werte, 
im Durchschnitt etwa ein Viertel), und 
zwar selbst, wenn man die starken nor¬ 
malen Schwankungen dieses Wertes aus¬ 
giebig in Betracht zieht. Der Cholesterin¬ 
gehalt des Blutes bei den lipoidfrei er¬ 
nährten Tieren lag gleichfalls an d'er 
unteren Grenze der Norm. Wieweit das 
Cholesterin allerdings durch sein Fehlen 
Störungen macht, läßt sich nicht sagen, 
mur daß es — als streng exogener Körper 
— am Entstehen derselben Anteil hat, 
läßt sich mit Sicherheit annehmen. Die 





Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


203 


Phosphatide, das heißt gewissermaßen 
„die Lipoide im eigentlichen Sinne“, haben 
nahe Beziehungen zu den Vitaminen. 
Siehe die obigen' Versuche, die auf die 
Wichtigkeit von Stoffen wie Cercbron 
und Cephalin hinweis^. Diese Befunde 
sind vielfach bestätigt worden. Ob die 
Gerebroside (Cerebronsäure, Sphingosin) 
exogen und ob sie unentbehrlich^ sind, 
steht noch dahin. 

Sicher ist, daß es neben den wasser¬ 
löslichen, dem Antineuritin oder Anti¬ 
skorbutin entsprechenden, noch wasser¬ 
unlösliche, den Lipoiden nahestehende 
oder mit ihnen identische akzessorische 
Nährstoffe gibt, die zur Erhaltung des 
Lebens unbedingt erforderlich sind. 

(M. Kl. 1920, Nr. 2.) Waetzoldt, 

Einen weiteren Fall von Heilung von 
Pneumokokkenmeningitis durch Optochin 
berichtet Rosenow. Eine Frau von 
32 Jahren hatte nach einem Abort Er¬ 
scheinungen bekommen, die als Pneumo¬ 
nie gedeutet wurden. Nach Feststellung 
einer Parametris allmählich Entwickelung 
einer typischen*Meningitis, die am fünften 
Krankheitstage doch sehr bedrohlich aus¬ 
sah. Es werden 0,03 g Optochinum hydro- 
chloric'um in sterilem Wasser (15 ccm) in¬ 
tralumbal gegeben. Die folgende Lumbal¬ 
punktion am nächsten Tage ergibt, daß 
die vorher sehr reichlichen Pneumokokken 
aus dem Liquor verschwunden sind. Am 
neunten Tage jedoch wurden bei nicht 
wesentlich gebessertem Opisthotonus im 
Punktat wieder Pneumokokken gefunden. 
Am elften Tage wieder Optochin in glei¬ 
cher Weise wie das erstemal. Keine 
Pneumokokken mehr. Seitdem Ver¬ 
schwinden der Erscheinungen und des 
Fiebers. Geheilt entlassen. 

Rosenow empfiehlt eine Konzentra¬ 
tion Von 1:500 bei der Injektion nicht zu 
überschreiten, sie genügt auch, da mit 
20 ccm sich eine Konzentration von 
1:2500 im- Liquor erreichen läßt, die zur 
Entwickelungshemmung der Kokken 
mehr als genügt. Die übliche Dosierung 
war bislang eine dreipromillige Lösung, 
die Dosis ziemlich schwankend. Neben¬ 
wirkungen, sind schon von fünfpromilligen 
Lösungen, wenn auch in leichtester Form, 
gesehen worden. 

Die Dosen wählte Rosenow ent¬ 
sprechend den üblichen zwischen 0,04 und 
0,06 g, die nach ein bis zwei Tagen je¬ 
weils wiederholt werden können. Seh¬ 
störungen sind ausgeschlossen, da die 
Dosen viel zu gering sind. 


Wichtig ist der Hinweis, daß auch in¬ 
terne Therapie mit Optochin bei Pneumo¬ 
kokkenmeningitis hie und da zum Ziele 
führt. (Siehe auch Referat über die Ar¬ 
beit von Kronfeld,' diese Zeitschrift 
1919.) Waetzoldt. 

(D. m. W. 1920, Nr. 1.) 

Die Chemotherapie septischer Erkran¬ 
kungen mit Silberfarbstoffverbindungen 
hat sich, wie Leschke aus der 2. medi¬ 
zinischen Klinik der Charite mitteilt, als 
wirksam erwiesen. Angewendet wurde 
zunächst die Methylenblausilberverbin¬ 
dung Argochrom (Merck), welche in Dosen 
von 10 ccm (0,1 g) und 20 ccm (0,2 g) 
intravenös gegeben wird. Leschke be¬ 
stätigt die günstigen Resultate anderer 
Autoren bei septischen GrippefälLen mit 
Streptokokkenpneumonie und bei Sepsis, 
die vom Mittelohr oder den weiblichen 
Beckenorganen ausgeht. Bei einem durch' 
die Fieberkurve belegten Falle von krypto¬ 
genetischer Sepsis trat nach zwei Ein¬ 
spritzungen von je 20 ccm Argochrom 
dauernde Entfieberung ein. Besonders 
wirksam scheinen aber Präparate zu sein, 
die die chemotherapeutische Wirkung der 
Silberverbindungen mit der der Acridin¬ 
farbstoffe, von denen das Trypaflavin 
besonders empfohlen wird, kombinieren 
(vergleiche das Referat im Februarheft 
S. 85). Ein derartiges Präparat ist das 
Trypaflavinsilber oder Argoflavin, das 
ebenfalls intravenös eingespritzt wird und 
von dem am besten zweimal täglich 40ccm 
verabfolgt werden. Verfasser erprobte 
das Argoflavin bei einem Falle von Endo- 
carditis lenta: wie die Fieberkurve zeigt, 
trat nach zwei Einspritzungen von je 
20 ccm Argoflavin dauernde Entfieberung 
ein; der Patient wurde nach langer Re¬ 
konvaleszenz völlig geheilt. In zwei wei¬ 
teren Fällen von septischer Endokarditis 
glaubt Verfasser eine günstige Einwirkung 
des Argoflavins verzeichnen zu können: 
in einem der Fälle trat Entfieberung auf, 
nach einiger Zeit verschlechterte sich der 
Zustand wieder und der Patient starb; 
im zweiten Falle wurde eine günstige 
Wirkung auf Allgemeinbefinden und Herz¬ 
befund festgestellt. Ferner hatte Argo¬ 
flavin einen günstigen Einfluß bei einer 
puerperalen Sepsis, bei septischer Sieb¬ 
beinvereiterung und bei grippaler Strepto¬ 
kokkenpneumonie. Es muß dahingestellt 
bleiben, ob die hier berichteten Erfolge 
der Silberverbindungen zur Begründung 
ihrer Empfehlung als Heilmittel bei Sepsis, 
ausreichen. Nathorff. 

(B, m. W. 1920, Nr. 4.) 


26* 





204 Die Therapie der Gegenwart! 1920 ' - Mai’ 


Über Tlefenthermometrle berichtet 
Zondek aus der Universitätsfrauenklinik 
der Charite. Die Messungen erfolgten mit 
besonders konstruiertem langem Thermo¬ 
meter, das in eine in die Haut einzu¬ 
stechende oder in Körperhöhlen einge¬ 
führte Metallhülse gesteckt wird. Er¬ 
gebnis: Die Rectaltemperatur war stets 
am höchsten, mit Ausnahme eines Falles 
von jauchig zerfallendem Myom, wo im' 
Rectum 38,4, im Myom 38,7, im Ober¬ 
schenkel 37,1 gefunden wurde. Unter 
Hinzuziehung der Untersuchungsergeb¬ 
nisse von Kothe differierende Haut¬ 
temperatur über erkrankten Gelenken und 
Widmer und Hönck (M. m. W. 1908, 
Nr. 12 u. 35, bei Appendicitis. Ref.) glaubt 
er' eventuell der Tiefentemperatur dia¬ 
gnostische Bedeutung beilegen zu können. 
Genaue Einzelheiten in Nr. 48. 

Hauffe (Wilmersdorf). 

(M. m. W. 1919, Nr. 46/48.) 

Mit einem von einer spontan an Tuber¬ 
kulose eingegangenen Schildkröte stam¬ 
menden, anscheinend dem Friedmann- 


schen Stamme nahestehenden Schild¬ 
krötentuberkelbacillenstamme versuchte 
Möller Meefschweinchen durch intra¬ 
peritoneale und intravenöse Impfung 
gegen Tuberkulose zu immunisieren, er¬ 
zielte aber höchstens eine Verzögerung 
des Ablaufs der nachher gesetzten In¬ 
fektion, nie aber eine absolute Immuni¬ 
sierung. Er führt die Möglichkeit der 
“teilweisen Immunisierung auf die der 
ganzen Gruppe (bovinus, humänus, Möl¬ 
ler sehe Säurefeste usw.)gemeinsamesäure- 
feste Substanz zurück, wie ja schon Koch 
fand, daß sich diese einzelnen Formen 
nicht durch Agglutination unterscheiden 
lassen. Für seine Versuche der Immuni¬ 
sierung von Tieren und Menschen durch 
Impfung mit Kaltblütertuberkulose, für 
die ihm übrigens die Priorität zukommt, 
hat er stets, wie schon R. Koch empfahl, 
intravenöse Anwendung vorgezogen. 

Subcutaiie Impfung nach Fried¬ 
mann hatte mit Müllers Stamme noch 
wesentlich geringere Erfolge als intra¬ 
venöse Anwendung. Waetzoidt. 

(D. m. W. 1920, Nr. 6.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Candiolin in der Kinderpraxis. 

Von Dr. Max Adam, München. 


Die intrazellulären Fermente oder wde 
der neuere bessere Ausdruck von Oppen¬ 
heim lautet, die ,,Stoffwechselfermente‘‘, 
sind als „das wichtigste chemische Hand¬ 
werkszeug der Zelle zu bezeichnen. Schon 
heute können wir, wenn nicht alle, doch 
die meisten chemischen Lebensprozesse 
auf Fermentwirkungen zurückführen“ 
(Joh. Müller). Während die Ver¬ 
dauungsfermente die Vernichtung der 
specifischen Struktur unserer Nahrungs¬ 
mittel zur Aufgabe haben, bleibt es den 
Stoffwechselfermenten vorbehalten, bei 
der Umwandlung der resorbierten Nah- 
rungssoffe in der Blutbahn oder in den 
Organgeweben ihre Tätigkeit auszuüben. 
Es handelt sich also um die komplizierten 
Vorgänge der Assimilation, die Aus¬ 
gleichung, die notwendig ist, um eine von 
der zufälligen Nahrung unabhängige Zu¬ 
sammensetzung der wesentlichen ‘ Zell¬ 
bestandteile zu'gewährleisten. Die Assi¬ 
milationsvorgänge sind dadurch kom¬ 
pliziert, daß zur Erstehung mancher 
Körperbestandteile das Zusammenwirken 
verschiedenartiger Zellen nötig ist. So 
ist wahrscheinlich für die Hämoglobin¬ 
bildung durch die Blutkörperchen das 


Zusammenwirken von Leber, Milz und 
Knochenmark erforderlich (v. Frey). Der 
Weg, auf welchem die specifischen Sub¬ 
stanzen der verschiedenen Zellgattungen 
untereinander in Berührung treten, ist in 
der Hauptsache wohl die Blutbahn; im 
Blute gelangen auch die geheimnisvollen 
Einflüsse der Drüsenhormone zur Geltung, 
die für den Stoffwechsel von so mächtiger 
Bedeutung sind. Die Stoffwechselfer¬ 
mente, die Endoenzyme, haben das 
Schicksal der Hormone insofern geteilt, 
als beide lange Zeit als nebensächliche 
Dinge betrachtet, wenn nicht gar in das 
Reich der Phantasie verwieset! wurden. 
Heute allerdings sind sowohl die Hormone 
wie die Endoenzyme in den verschiedenen 
Organen nachgewiesen worden. Die Fer¬ 
mente wirken ziemlich nach der all¬ 
gemeinen Meinung als Katalysatoren be¬ 
ziehungsweise sie sind anscheinend bei 
synthetischen Vorgängen beteiligt. Mit 
Ostwald kann man die Katalysatoren 
definieren als Stoffe, welche die Ge¬ 
schwindigkeit einer chemischen Reaktion 
positiv oder negativ beeinflussen (um ein 
Vielfaches erhöhen oder auf einen winzigen 
Teil herabsetzen), ohne selbst in den End- 






Mai 


205 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Produkten der Reaktion zu erscheinen. 
Die Katalysatoren liefern keine Energie, 
sie rufen auch die Reaktion nicht selbst 
hervor, sie beschleunigen aber mächtig 
ihren Ablauf. Sie sind den Schmiermitteln 
einer Maschine zu vergleichen (Joh. 
Müller), die den Gang derselben er¬ 
leichtern. und beschleunigen. . Eine Spur 
Pflanzenasehe erhöht die Öxydations- 
geschwindigkeit des Zuckers derart, daß 
er angezündet wie Siegellack brennbar 
wird. Die Katalysatoren verhalten sich 
in vieler Hinsicht wie Fermente. Schade 
hat die Fermente geradezu „die höchste, 
vollkommenste Gruppe der organischen 
Katalysatoren“ genannt. Ein sehr wich¬ 
tiger anorganischer Katalysator ist wohl 
das Eisen und jedenfalls auch der Phos¬ 
phor. Wenn wir den von Wegener 
seinerzeit histologisch genau verfolgten 
Einfluß des Phosphors auf. den wachsen¬ 
den Knochen in winzigen Dosen den De¬ 
struktionsprozessen hei der Nekrose Phos¬ 
phorvergifteter gegenüberstellen, wenn 
wir experimentell nachgewiese'n haben, 
daß eine so gut bekannte Synthese, wie 
die Zusammenschweißung von Benzoe¬ 
säure und Glykokoll zu Hippursäure bei 
der Phosphorintoxikation ausbleibt, so 
wird die Auffassung; Phosphor (in ge¬ 
eignetem Präparat zugeführt) begünstigt 
Synthesen im Tierkörper in therapeu¬ 
tischer Dosis, in toxischer verhindert er 
sie, mindestens weiterführen, als das 
sanguinische Geständnis: Phosphor ist 
ein Stoffwechselmittel, dessen Wirkung 
wir nicht deuten können. Nach dem, was 
über das Wesen der katalytischen Vor¬ 
gänge gesagt ist, wird auch verständlich, 
weshalb Phosphorleberthran besser'wirkt 
als Lebertran. 

Die Unentbehrlichkeit der Phosphor¬ 
säure bei den Hefegärungsprozessen ist 
schon- lange bekannt; daß sie im Zu¬ 
sammenhänge mit den Gährungsvorgän- 
gen selbst steht, hat Harden dargetan. 
Nach der Aufspaltung des Dextrose¬ 
moleküls durch den Fermentangriff wird 
nur ein Teil des Traubenzuckers weiter¬ 
verarbeitet, aus dem anderen entsteht 
intermediär eine esterartige Zucker¬ 
phosphorsäureverbindung, welche wieder 
Traubenzucker entstehen läßt. Alle bis¬ 
her gegebenen Erklärungen, welche die 
Entstehung des Zwischenprodukts ver¬ 
ständlich machen sollen, befriedigen nicht. 
Fest steht für mich nur die Wichtigkeit 
der intermediären Kuppelung für den 
regelrechten Ablauf der Fermentreak¬ 
tionen. Oppenheimer hat darauf hin¬ 


gewiesen, daß der-Vorgang, der bei der 
Hefederwesenswichtigste, chrakteristische 
isi, die Bildung von Alkohol, im Tier¬ 
körper überhaupt nur eine untergeord¬ 
nete Rolle spielen kann. ,,Dagegen spielt 
im Körper der Warmblüter eine andere 
Umsetzung des Zuckers eine wesens¬ 
wichtige Rolle, die bei der Hefe ganz 
unbedeutend ist, die Bildung von Milch¬ 
säure (Oppenheim S. 56). Der Prozeß 
der Milchsäurebildung steht z. B. an'-» 
scheinend im Brennpunkt des Muskel¬ 
chemismus. Nach den hochinteressanten 
Forschungen von Embden ist die Quelle 
der Milchsäure eine komplizierte phos¬ 
phorsaure Verbindung, das „Lactacido- 
gen“. Die Erforschung der Konstitution 
gelang: Lactacidogen erwies sich identisch 
mit der Hexosephosphorsäureverbindung, 
die als wichtiges Zwischenprodukt bei der 
Hefegärung oben erwähnt ist. Prof. 
V. Euler (Stockholm), welcher sich näher 
mit diesem interessanten Kohlehydrat¬ 
phosphorsäureester beschäftigt hat ^ 
dessen Calciumsalz unter dem Namen 
Candiolin in die Therapie eingeführt 
wurde — hat festgestellt, daß die Sub¬ 
stanz ein starker Aktivator ist z. B. für 
gärende Zuckerlösung. Auch sonst hat 
dieser physiologische Kohlehydratphos¬ 
phorsäureester eine wichtige Besonder¬ 
heit: er wird nach den Versuchen von 
Euler und Impens nur zum Teil ge¬ 
spalten und zum Teil als solcher resorbiert. 

Nachdem zur Genüge bekannt ist, 
wie sehr die physiologischen Hormone 
den gewöhnlichen galenischen und syn¬ 
thetischen Arzneikörpern an Wirksam¬ 
keit überlegen sind (Jodothyrin, Adren¬ 
alin, Hypophysin und dergleichen), lag es 
sehr nahe, diese auf biochemischem Wege 
gewonnene, physiologische glykosidähn¬ 
liche Phosphorverbindung therapeutisch 
zu prüfen; der Calciumgehalt des Candio¬ 
lin erschien zudem für viele Fälle nicht 
unerwünscht. Besonders aussichtsreich 
erschienen mir Versuche bei rachitischen 
Kindern, denn die Apposition der Cal¬ 
ciumsalze im wachsenden Knochen gehört 
wohl sicher zur Aufgabe der Stoffwechsel¬ 
funktion, deren Aktivierung bisher mit 
Phosphorlebertran mit Erfolg angestrebt 
ist. Dieser ist aber immerhin ein differen¬ 
tes und leicht zersetzliches Mittel, die 
Knappheit an Lebertran ist groß; das 
Streben nach einem wirklich brauchbaren 
Ersatz deshalb zweifellos berechtigt. Nun 
ist von zwei Seiten schon die gute Wirk¬ 
samkeit des Candiolin festgestellt worden, 
von Burchard und Gött. 




206 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Mai 


Letzterer bezeichnet das Candiolin auf Grund 
seiner Versuche am Schwabinger-Krankenhause 
(D. m. W. 1916, Nr. 38) als empfehlenswerten 
Lebertranersatz. Die Medikation von Candiolin 
entfaltet bei Rachitikern eine günstige Wirkung, 
die derjenigen vpn Phosphorlebertran etwa gleich¬ 
kommt. In beginnenden Fällen kam der Prozeß 
nicht selten rasch zum Stillstand, bei schweren 
floriden Fällen mit hochgradiger Verkrümmung 
fiel als erste Wirkung mehrwöchiger Candiolin- 
darreichung manchmal eine plötzlich zutage 
tretende und anhaltende Besserung der Stimmung 
und zunehmende Lebhaftigkeit und Bewegungs¬ 
lust auf. 

Dr. Burchard (Berlin) (D. m. W. 1916, 
Nr. 26) verwandte das Candiolin 1. bei Kindern 
mit allgemeiner Rachitis ohne besondere ander¬ 
weitige Krankheitserscheinungen, 2. bei rachiti¬ 
schen Kindern mit deutlichen Erscheinungen 
gleichzeitiger Skrophulose und 3. auch bei rachi¬ 
tischen Kindern mit Reizerscheinungen seitens 
des Nervensystems. Bei beiden Gruppen war 
eine deutliche Besserung des Allgemeinbefindens, 
des Kräfte- und Ernährungszustandes unverkenn¬ 
bar. In zwei Fällen war ein Rückgang der Spas- 
mophilie auffallend. Beide Arten Kinder haben 
die spasmophilen Erscheinungen bei erheblichen 
Gewichtszunahmen (4 bis 5 Pfund) nach drei¬ 
monatiger Candiolindarreichung vollkommen 
verloren. 

Von zahnärztlicher Seite (Lewinski, D. 
zahnärztl. W. 1917, Nr. 14) wurde auf den gün¬ 
stigen Einfluß von Candiolin bei zögerndem Zahn¬ 
durchbruch hingewiesen. Beginnende Caries 
scheint durch forcierte Apposition von Ersatz¬ 
dentin, dessen Bildung durch, die Candiolin- 
behandlung unter Zufuhr von Kalk und Phosphor 
wesentlich gefördert wird, zum Stillstand gebracht 
werden zu können. 

Meine eigenen Erfahrungen auf Grund 
zahlreicher Versuche in der Privatpraxis 
und einer großen Anstalt mit Kindern 
jeden Alters decken sich mit denen von 
Gott und Burchard. Ich verordnete 
das Candiolin bei Rachitis, Ernährungs¬ 
störungen der Säuglinge, alimentären An¬ 
ämien und bei Erschöpfungszuständen 
nach schweren Erkrankungen. Da selbst¬ 
verständlich die entsprechenden Diät¬ 
vorschriften in jedem Falle gegeben wur¬ 
den, so kann natürlich nicht mit Sicher¬ 
heit gesagt werden, wieviel der Heil¬ 
wirkung auf das Mittel, wieviel auf die 
allgemeinen Vorschriften zu rechnen ist. 
Aber jedenfalls habe ich den sicheren 
Eindruck gewonnen, daß das Candiolin 
eine stimulierende Wirkung entfaltet, die 
der von Phosphorlebertran mindestens 
gleichkommt. Infolge des guten Ge¬ 
schmacks ist es aber leichter zu nehmen: 
außerdem fehlen die Giftigkeit und die 
leichte Zersetzlichkeit des Phosphorprä¬ 
parats. 


Leider sind mir gelegentlich eines 
Domizilwechsels meine sämtlichen No¬ 
tizen, genaue Aufzeichnungen über Ge¬ 
wichtszunahmen bei jedem der kleinen 
Patienten abhanden gekommen, so daß 
ich nur summarisch meine Erfahrungen 
bekanntzugeben vermag. Einen Fall 
möchte ich aber doch besonders anführen, 
da ich das Kind längere. Zeit in der 
eigenen Familie beobachten konnte: 

G. K-, drei Jahre altes Mädchen. Familien¬ 
anamnese ohne Belang. Einige Monate gestillt, 
dann vorwiegend mit Milch und Brei ernährt. 
Haut durchsichtig, gelblich blaß, schlaff, Musku¬ 
latur schlecht. Lungen ohne Besonderheit. Über 
dem ganzen Herzen ein systolisches Geräusch. 
Leber* und Milz vergrößert. Abdomen sehr stark 
auf getrieben, Stuhl sehr hell, seifig, stinkend, 
Extremitäten sehr schwach, Epiphysen wenig auf¬ 
getrieben, Brustkorb beiderseits leicht eingebogen. 
Dauernde Klagen über Müdigkeit, Laune schlecht, 
.Unlust zu gehen. Appetit schlecht. Genommen 
wird nur Milch und Kufekebrei. Anfang Mai 1916 
Aufnahme in dk eigenen Familie. Gemischte 
Kost, deren Aufnahme auf großen Widerstand 
stößt. Wenig Fett. Bis Mitte Juni Eisen-Elarson- 
Kur ohne deutliche Besserung. Nun Candiolin. 
Nun bald fortschreitendes Wohlbefinden. Große 
Eßlust, wenig Klagen über Müdigkeit. Lust zu 
gehen auch auf unebenem Boden. Stimmung und 
Schlaf gut. Mitte Juli konnte das Kind den 
Eltern in recht befriedigendem Zustand zurückr 
gegeben werden. Der Blut- und Organbefund 
zeigten zwar wenig Änderung, aber der ganze 
Umschwung im Wesen und die Zunahme an Kraft 
ließen Heilung erwarten, die unter Fortdauer der 
Candiolinbehandlung auch eintrat. 

Auch bei meiner eigenen fünfjährigen 
Tochter, die nach schwerer Diphtherie 
Lähmungserscheinungen zeigte und durch 
die Kriegskost schon vorher mäßig er¬ 
nährt war, trat bei Candiolingaben eine 
baldige recht deutliche Besserung ein, 
besonders die Hebung des Appetits schien 
mir auffallend. Andere Mittel erhielt sie 
nicht. Die Lähmungserscheinungen, auch 
der Beine, verschwanden in sechs Wochen 
vollständig. 

Alles in allem halte ich deshalb das 
Candiolin für eine wertvolle Bereicherung 
unserer therapeutischen Rüstkammer in 
all den Fällen, in denen Phosphor oder 
Kalk einen Erfolg versprechen. Ein Ver¬ 
such wird kaum enttäuschen. Ganz be¬ 
sonders möchte ich es empfehlen bei der 
Behandlung von alimentären Störungen 
der älteren Säuglinge (Dekomposition), 
ob nun die rachitischen Veränderungen, 
die Anämie oder der mangelhafte Turgor 
im Vordergründe stehen. 





Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


207 


Aus dem Kinderhospital ia Liil)eck (Direktor: Professor Dr. Klotz). 

Über Zufälle bei der intravenösen Kollargolinjektion. 

' Von Dr. Hildegard Eyth. 


Das Kollargol findet heute so ausge¬ 
breitete Anwendung als intravenöse In¬ 
jektion, daß es an der Zeit erscheint, auf 
unangenehme Zufälle hinzuweisen, denen 
der Therapeut trotz aller Vorsichtsma߬ 
regeln vollkommen regellos ausgesetzt 
sein kann. 

Fall 1. K. W., 13 Jahre alt. Großer, kräftig 
gebauter Knabe. Herz und Lungen o. B. Fieber¬ 
hafte Erkrankung. Puls 85, kräftig, gleich- und 
regelmäßig. 

Therapie: Intravenöse Injektion von 6 ccm 
einer 2 %igen frisch hergestellten Kollargollösung. 
Sofort nach der Injektion tritt im Gesicht hoch¬ 
gradige Cyanose ein; der Knabe richtet sich im 
Bett auf, wird stark dyspoisch, gibt auf Anrufen 
keine Antwort, äußert Präkordialangst, klam¬ 
mert sich an die Bettpfosten. Die Augen sind 
weit aufgerissen. Dieser beängstigende Zustand 
hält einige Minuten an, dann setzt Schüttelfrost 
ein. Am nächsten Tag normale Temperatur und 
Wohlbefinden. 

Fall 2. L. W., sechs Jahre altes, zart gebautes 
Mädchen. Seit sechs Wochen Schmerzen und 
Schwellung der Gelenke mit andauernd erhöhter 
Temperatur. Lungen o. B. Herz: an der Spitze 
leises, systolisches Geräusch. Therapie: Intra¬ 
venöse Kollargolinjektion. Anfangsdosis 1 ccm 
einer frisch hergestellten 2 %igen Lösung. Keine 
Temperatursteigerung oder Beeinflussung des 
Allgemeinzustandes. Am nächsten Tag 5 ccm 
Kollargol intravenös, wieder ohne jede Tempe¬ 
raturerhöhung, dagegen keine Gelenkschmerzen 
mehr und Verschwinden des anfänglichen Herz¬ 
geräusches. Wegen Temperaturerhöhung und 
Wiederauftreten der Gelenkschmerzen folgen noch 
sechs intravenöse Injektionen, steigend bis zu 
8 ccm einer jedesmal frisch hergestellten 2%igen 
Lösung. Dabei trat zweimal Temperatursteigerung 
bis 40° und 41° auf. 

Bei der neunten Injektion, es wurden 10 ccm 
injiziert, ereignete sich folgender Zwischenfall: 

Während der Injektion tritt auf dem linken 
Unterarm ein fünfmarkstückgroßer, umschriebe¬ 
ner, bläulicher Fleck auf. Dann verfärbt sich 
plötzlich schlagartig das ganze Gesicht voll¬ 
kommen gleichmäßig lividbräunlich. ' Die Ver¬ 
färbung schneidet in fast horizontaler Linie in 
der Höhe des Kehlkopfes scharf gegen die übrige 
normal gefärbte Haut ab. Das Kind ist dyspnoisch, 
will sich aufsetzen, wird unruhig. Puls frequent, 
gut palpabel. — Erbrechen. Nach einigen Minuten 
bessert sich unter Sauerstoff und Campher der 
beängstigende Zustand, und die Dyspnoe ver¬ 
schwindet. Die graublaue Verfärbung des Ge¬ 
sichts bleibt bestehen, auf dem Arm ist die Ver¬ 
färbung verschwunden. Im Laufe des Tages wird 
die graublaue Farbe des Gesichts bald stärker, 
bald schwächer. Die Kleine ist matt, äußert aber 
sonst keine Klagen. Herztöne rein. Puls gut. 
Trotz Sauerstoffinhalationen keine weitere Ände¬ 
rung des Bildes. Am nächsten Tage ist die Ge¬ 
sichtsfarbe graublaß, das Befinden gut. Urin 
frei von Eiweiß und Zucker. In den folgenden 
Tagen blaßt das milchkaffeeartige Kolorit schnell 
ab und macht endlich der normalen Gesichts- 
arbe wieder Platz. 


Fall 3. W. B. Seinem Alter entsprechend 
gut entwickelter Knabe. Seit zwei Tagen 40° 
Temperatur und Schmerzen in der linken Bauch¬ 
seite. Bei der Aufnahme Temperatur 39,5°, 
Puls 100, kräftig und regelmäßig. Lungen o. B. 
Herz: an der Spitze leises, fauchendes Geräusch. 
Milzgegend leicht druckempfindlich. Urin: Ei¬ 
weiß, Zucker, Diazo negativ. Diagnose: Grippe. 
An den beiden folgenden Tagen hält sich die 
Temperatur auf 40°. Patient ist auffallend 
apathisch. Kernig schwach positiv. Patellar- 
. reflexe fehlen. Lumbalpunktion ergibt keinen 
erhöhten Druck. Liquor steril. Stuhl: keine 
pathogenen Keime. Am achten Krankheitstage 
tritt bei Fieberfreiheit am Stamm und Extre¬ 
mitäten ein hellrotes, kleinfleckiges Exanthem 
auf, das am nächstfolgenden Tage wieder ver¬ 
schwindet. Wegen erneuter hoher Temperatur¬ 
steigerung bis 39° (Gripperezidiv) werden mittags 
um 12 Uhr 5 ccm Elektrokollargol Heyden intra¬ 
venös injiziert. 

1 Uhr 10 Minuten: Heftiger Schüttelfrost von 
einhalbstündiger Dauer. Temperatur 41,1°. 
Puls gut palpabel. 

2 Uhr nachmittags: Temperatur 41,7°. Er¬ 
brechen, hochgradige Cyanose im Gesicht, Pupillen 
reagieren schwach. Patient gibt auf Anrufen 
keine Antwort. 

3 Uhr: Cyanose im Gesicht wird immer ii.- 
tertsiver, Gesichtsausdruck starr. Puls klein, 
kaum palpabel (Digipurat; Adrenalin intravenös}. 

3^ Uhr: Extremitäten in starkem Spasmus, 
lassen" sich nicht lösen, sind stark cyanotisch. 
Links im Gesicht heftiges Facialiszucken. Puls 
trotz Stimulantien kaum mehr zu zählen. Voll¬ 
ständige Bewußtlosigkeit. 

‘8% Uhr: Exitus. Sektion wird verweigert.— 
Zu diesen drei, in ihrer Art jeweils verschiedenen 
Zwischenfällen kommen noch zwei ähnliche bei 
schwerster Scharlachsepsis, wo wir bei der intra¬ 
venösen Kollargolinjektion einen schweren Gefä߬ 
kollaps ohne Dyspnoe erlebten, der sich aber rasch 
durch Campher wieder beheben ließ. 

Man geht wohl nicht fehl, wenn man 
die beiden erstgeschilderten Zufälle als 
angioneurotisch bedingt auffaßt, ähnlich 
dem bei Salvarsaninfusion beschriebenen 
angioneurotischen Symptomenkomplex. 
Die bei diesem Salvarsanzwischenfall 
beobachtete Dyspnoe gleicht völlig der in 
unseren Fällen beobachteten. Sie wäre 
in gleicher Weise wie diese nicht als 
Anaphylaxie zu deuten, sondern als 
akutes Ödem der Respirationsschleimhaut, 
,,crise nitritoide“ anzusehen. Pincus^) 
beobachtete den angioneurotischen Sym¬ 
ptomenkomplex beim Silbersalvarsan häu¬ 
figer als beim Neosalvarsan und führt ihn 
auf mangelhafte Handhabung der Tech¬ 
nik, unrichtige Behandlung des Präparats 
■ zurück. Der geschilderte Komplex kann 


1) M. Kl. 1920, Nr. 3. 



208 


Die Theirapie der Gegenwart 1920 


auch bei Kranken plötzlich auftretcn, 
die schon mehrere Salvarsanspritzen reak¬ 
tionslos vertragen haben. Das würde auch 
auf unseren Fall L. W. zutreffen. 

Schwieriger ist Fall 3, W. B., zu 
deuten. Hier kommt möglicherweise eine 
Meningoencephalitis in Frage. 

Fehler im Präparate selbst können 
nicht Vorgelegen haben, da mit den glei¬ 
chen Ampullen auch andere Kinder reak¬ 
tionslos injiziert wurden. Kausch hat 
ebenfalls über unangenehme Begleit- und 


Mai 


Folgeerscheinungen bei Kollargolinfu- 
sionen berichtet, die Ähnlichkeit mit 
denen unserer beiden ersten Kinder hatten. 
Kausch verwendete jedoch weit größere 
Dosen als wir. Diese Zufälle, unter denen 
vor allem Fall 3 einen überaus deprimie¬ 
renden Eindruck hinterläßt, haben uns 
bewogen, das Kollargol aus unserer The¬ 
rapie auszuschalten und es nur dann noch 
anzuwenden, wenn die Chancen die glei¬ 
chen sind, an der Erkrankung selbst oder 
aber an der Therapie zu sterben. ' 


Über das Hustenmittel Toramin. 

Von Dr. Striepecke, Berlin. 


Angeregt durch die Veröffentlichung 
aus der Universitäts-Poliklinik für Lungen¬ 
leiden, Berlin^), in welcher das Toramin 
gegen Bronchialhusten und auch bei Hämo¬ 
ptoe empfohlemwurde, habe auch ich seit¬ 
dem Toramin in zahlreichen Fällen von 
Husten verschiedener Ursache verwendet 
und meist mit positivem Erfolge. Das An¬ 
genehme an dem Präparat ist, daß es 
keine narkotischen Eigenschaften be¬ 
sitzt, sondern mehr anästhesierende. Che¬ 
misch wird das Toramin mit dem Namen 
,,trichlorbutylmalonsaures Ammonium“ 
bezeichnet. Die ersten Versuche machte 
ich an mir selbst, als ich beim sogenannten 
Raucherkatarrh dauernd an einem Husten¬ 
reiz litt, also laryngitische Beschwerden 
hatte. Da die Mittel, wie Kodein, Dionin 
und andere in solchem Falle wenig helfen, 
im Gegenteil Allgemeinstörungen ver¬ 
ursachen, so war das Toramin wegen der 
anästhesierenden Wirkung besonders da¬ 
für angezeigt. Ich habe alle zwei Stunden 
zwei Tabletten in Wasser gelöst genommen 
und habe nach zwei Tagen von dem 
lästigen Kitzel im Halse nichts mehr ge¬ 
spürt. Seitdem habe ich bei meinen Pa- 
^)' E. Meyer, B. kl. W. 195, Nr. 33. 


tienten Fälle gleicher Art immer mit dem¬ 
selben guten Erfolge mit Toramin be¬ 
handelt. Störungen im Magen- und Darm- 
traktus sind nicht vorgekommen. Einige 
Patienten berichteten, daß der Stuhlgang 
besser geworden sei, was noch als Vorzug 
gegenüber den Präparaten der Opium¬ 
alkaloide bezeichnet werden muß, wo in 
der Regel eine Verstopfung eintritt. Bei 
einem Carcinomkranken, der starken 
Husten hatte, war das Mittel gerade wegen 
dieses Vorzuges von bester Wirkung, die 
Darmträgheit wurde behoben und der 
Husten gemildert. Bei Pertussis wirkte* 
Toramin nur im abklingenden Stadium, 
auch ist es notwendig, wegen des etwas 
bitteren Geschmacks bei Kindern Zucker¬ 
wasser zu nehmen. Wo es darauf an¬ 
kommt, Husten tieferer Ursachen, wie 
bei Tuberkulose, zu beruhigen, wirkt 
Toramin nicht, es kann also für diese 
Fälle die bekannten Präparate nicht er¬ 
setzen. Es bleibt aber noch ein großes 
Feld für das Mittel, wenn es wie oben bei 
laryngitischen Hustenreizen verwendet 
wird, ferner bei nervösem Husten und in 
Fällen, wo man von den narkotischen 
Hustenmitteln absehen muß. 


Berichtigung betreffend Cesol. 

Von Prof. R. Wolffenstein. 


Im Aprilheft dieser Zeitschrift, S. 161, 
findet sich ein Referat über eine Arbeit 
von Decker, betreffend die therapeuti¬ 
sche Verwendung von Cesol. 

Im Schlußsatz greift der Referent auf 
eine anonyme Bemerkung in den Thera¬ 
peut. Halbmonatsh. (Januar 1920) zurück, 
die absprechend lautet. Die dortigen An¬ 


gaben stehen aber mit den Tatsachen nicht 
in Einklang; sie sind ohne Kenntnis der 
wissenschaftlichen Unterlagen gemacht 
und entsprechen nicht der Wahrheit, wie 
aus einer demnächst erscheinenden Arbeit 
vom Schreiber dieser Zeilen und von Prof. 
A. Loewy (Berlin), den wissenschaftlichen 
Bearbeitern des Präparats, hervorgeht. 


Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urban&Schwarzenberg 
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Berlin W8 





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Arsenheilquellen-Gesellschaft m. b. H. 
Bad Dürkheim, Direktion Wiesbaden. 

Prospekte über das Bad Dürkheim versendet der 
Bad- und Salinenverein A.-G. Bad Dürkheim. 


Inhaltsverzeichnis umstehend! 








1920 ‘ Therapie der .Gegenwart. Anzeigen. > " ' ' 6. ffeft 



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drie, Prostatitis, Asthma sexuale, periodische den, Amenorrhoe, Asthenie, Neurasthenie, Hypo- 

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nimmt unter allen Herzmitteln eine hervorragende Stellung 
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schaffenheit und die regelmäßige physiologische Einsteis 
lung bedingen die Unveränderlichkeit seiner Wirkung. Diese 
experimentell, wie klinisch erwiesenen Tatsachen erklären 
das überaus günstige Urteil hervorragender Vertreter der 
Wissenschaft und Praxis, welche die ausgezeichneten Eigens 
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Gehe & Co., A-G., Dresden-N., betr.: „Arsen-Triferrol“. — Anzeiger für Ärzte und Apotheker, Nürnberg, betr.: „Ermers Medizin. 
Taschen-Handbuch“. — Heinr. Loewy, Berlin NW, betr.: Bandagen. — Dr. Eder & Co., Berlin N 39, betr.: „Amalah“-Erzeugnisse. 















Die Therapie der Gegenwart 


1920 


herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer 
in Berlin. 


Juni 


Nachdruck verboten. 


Die moderne individualisierende Diätbehandlung des Diabetes. 

Von Marius Lauritzen, Kopenhagen. 


Nachdem ich im Jahre 1912 in dieser 
Zeitschrift über die Behandlung der dia¬ 
betischen Acidose berichtet habe, will 
ich im folgenden die neuen Versuche 
besprechen, die in den letzten Jahren 
auf meiner Klinik an Diabetikern aus¬ 
geführt sind. 

1. Die strenge Gemüsediät. 

Zunächst eine größere Versuchsreihe 
mit strenger Gemüsediät, die sowohl 
in frischen wie in älteren Fällen von Dia¬ 
betes angewandt wurde. Nach dem Ver- 


glykämie^) am ersten oder zweiten Tag,, 
in schwereren und älteren Fällen können 
sieben bis acht Tage (siehe Tabelle 1) 
oder noch mehr darüber hingehen. Be¬ 
steht leichtere Ketonurie (Aceton- und 
Diaceturie), so kann sie schnell schwinden, 
bei stärkeren Graden von Acidose ver¬ 
mindert sie sich in der Regel, aber 
kann sogar noch innerhalb der ersten 
24 Stunden ansteigen, besonders wö 
hohe N - Ausscheidung im Urin be¬ 
steht und wo die Butterration für die 
Acidose des Patienten zu reichlich ist. 


Tabelle 1. Strenge Gemüsediät. 

H. N.-P., 30 Jahre, cf Diabetes. Acidosis. 


Datum 

Kost 

Natron 

g 


Blut¬ 

zucker 

% 

Ammo¬ 

niak 

g 

N 

g 

Gewicht 

30. Juni 

Gemischte Kost ...... 

10 

123 

0,14 

2,4 

10,6 

63,2 kg 

1. Juli 

1. Gemüsetag 2). 

20 

30 


2,5 

10,8 


2. „ 

2. „ . 

20 

21 


1,68 



3. „ 

3. „ . 

20 

22 


1,2 

5,8 


4. „ 

4. „ . 

20 

12 





5. „ 

5. „ . 

20 

Spuren 



4,3 


6. „ 

6. „ . 

20 

0 


0,25 

4,8 


7. „ 

7. „ . 

20 

0 

70,0 

0,25 

4 

63,2 „ 


schwinden der Glykosurie, Hyperglyk¬ 
ämie und der eventuellen Acidose wurde 
ein langsamer Übergang zu einer ge¬ 
mischten kohlehydratarmen Diät vor¬ 
genommen. 

Nach einer Beobachtung von ein bis 
zwei Tagen bei gemischter Diät oder bei 
«iner Diät, die der behandelnde Arzt 
verordnet hatte, kam der Kranke — bei 
Bettruhe — auf strenge Gemüsediät, das 
heißt 300—500 g grüne Gemüse (mit 
2—5% Kohlehydrat), 60—75 g Butter, 
200 g Bouillon, 150 g Rhabarber oder 
Preißelbeeren, ein Ei, Tee, Kaffee, Soda¬ 
wasser und zuweilen Alkohol, wie Rot¬ 
wein, Whisky oder Kognak. 

Die salzlose Gemüsediät wurde zwei 
bis acht Tage angewandt bis Aglykosurie 
•erreicht oder die Hyperglykämie ge¬ 
schwunden war (vergleiche Tabelle 1 
und 2). 

In leichteren und frischen Fällen 
schwindet die Glykosurie und Hyper- 


N im Urin fällt von der eventuellen 
Höhe (13—18 g) bis auf 5—8 g herab. 
Bei Kindern liegt N im Urin in der Regel 
niedriger. 

Das Körpergewicht geht oft etwas 


Die Erfahrung, daß hierzu auch bei 
schwerem Diabetes eine geringere Nahrungszu¬ 
fuhr hinreicht als viele gewohnt sind, wider¬ 
spricht der gewöhnlichen Anschauung vieler 
Ärzte, daß jeder Diabetiker mehr als der Gesunde 
essen soll, und wie ich glaube, scheitern unsere 
diätetischen Kuren vielfach an dieser verkehrten 
Anschauung, daß der Mensch soviel essen soll. 
Das große Quantum ist oft nur eine schlechte 
Gewohnheit. 

In frischen Fällen besteht oft trotz be¬ 
trächtlicher Glykosurie keine ausgesprochene 
Hyperglykämie. (Lauritzen.) 

2) 500 g Gemüse, 75 g Butter, 1 Ei, 200 g 
Bouillon, 150 g Preißelbeeren, Tee, Kaffee. 

3) Danach ging Patient zu „gemischter Ge¬ 
müsediät“ über und bekam zuletzt Zulage von 
50 g Braten und 30 g Käse. Gebraucht kein Na¬ 
tron mehr. Ist ständig zuckerfrei mit normalem 
Blutzucker und hat schwache Acetonurie. Ist 
arbeitsfähig. 


27 






















') , 


210 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juni 


Tabelle 2. Strenge Gemüsediät. 
E. K., 5 Jahre, Diabetes. 


Datum 

Kost 

Ufin- 

zucker 

% 

Urin¬ 
zucker 
' g 

Blut¬ 

zucker 

% 

Ammo¬ 

niak 

g 

N 

g 

Gewicht 

3. Mai. 

Gemischte Kost. 

6,0 - 

24 

0,06 

0,33 

4,9 

17,5 kg 

4. „ 

1. Gemüsetag^). 


0 


0,20 

4,8 


5- „ 

2. „ ...... 


0 


0,79 

7,6 


6. „ 

3. „ . 


0 

0,05 

0,97 

5,4 

17,3 „ 

10. „ 

Gemischte Gemüsediät^) . 


0 

0,05 

0,45 

4,2 

n,4 „ 

13. „ 



. 0 



2,89 

17,4 „ 

16. „ 

y} yy / ' 


0 

0,05 

0,24 

3,6 

17,5 „ 


herab, bis auf 1 kg oder mehr, in anderen 
Fällen bleibt das Gewicht fast unver¬ 
ändert. 

Der Übergang von strenger Ge¬ 
müsediät zu der für jeden einzelnen Pa¬ 
tienten passenden Diät geht langsam 
vor sich, um Glykosurie und Hyper¬ 
glykämie und eine plötzliche Vermehrung 
einer vorhandenen Acidose zu vermeiden. 
Nach jeder Zulage zur Kost wird die 
'Glykämie untersucht; zeigt sich Hyper¬ 
glykämie, wird sofort ein Gemüsetag ein¬ 
geschoben; hierdurch vermeidet man oft 
die Erregung einer Glykosurie, was ich 
für sehr bedeutungsvoll halte. 

In leichten Fällen bestehen die ersten 
Zulagen zur Gemüsediät in Eiweißstoffen: 
ein bis zwei Eier oder 50 g Fleisch oder 
Fisch, darauf weitere Zulage von Eiweiß 
und Fett, wobei die Gemüseration auf 300 
bis 400 g eingeschränkt werden kann. 


In mittelschweren Fällen besteht 
die erste Zulage in Fettstoffen: 25 g ge¬ 
bratener Speck auf einmal, darauf ge¬ 
kochter,’durchwachsener Speck, Ei, Fisch, 
und zuletzt Fleisch, immer kleine Zu¬ 
lagen. Nach Schwinden der Acetonurie 
werden die Gemüserationen auf 300 g 
eingeschränkt und Fisch und Braten aut 
.150 g vermehrt (zubereitet abgewogen). 

In- schweren Fällen mit stärkerer 
Acidose muß man die strenge Gemüse¬ 
diät mehrere Tage 'bis zu einer Woche 
fortsetzen. Und gelingt es damit, die Gly¬ 
kosurie zu beseitigen und die Acidose 
zu verbessern, so bekommt der Patient 
kleine Zulagen von gebratenem Speck, 
danach von Ei und gekochtem Speck, 
sowie Alkohol. Werden diese Zulagen 
vertragen, so wird Fisch, Schinken und 
Fleisch versucht, jedoch nicht mehr als 
50 g. 


Tabelle 3. 


P. H., 17 Jahre, Lehrling. Mittelschwerer Diabetes. Acidosis. 


Datum 

Alb. 

Fett 

■ 

B 

Urin¬ 

zucker 

g 

Blut¬ 

zucker 

% 

Ace¬ 

ton¬ 

urie 

Dia- 

cet- 

urie 

Gewicht 

1. September 191H) . 




8,75 







21. „ 1911») . 




5,0 

100 


+ 

+ 

50,4 kg 

20. Oktober 1911 . . . 

98 

181 

24^0) 


0 


+ 

- 

- 

51,0 „ 

3. Januar 1912 . . . 

98 

181 

24^0) 


0 


+ 

- 

- 

51 „ 

1. „ 1913 . . . 

134 

220 

52») 


0 


-f 

- 

- 

54 „ 

27. Oktober 1913 . . . 

134 

220 

521") 


0 



- 

- 

56 „ 

31. März 1914 .... 

123 

223 

58») 


0 


+ 

- 

- 


18. April 1914. 

123 

223 

58») 


0 

0,083 

+ 

- 

- 

54 „ 

10. „ 1915 .... 

123 

223 

58^2) 


0 

0,085 

• + 

- 

- 

56 „ 

6. September 1916 . . 

123 

223 

58») 


0 



— 

— 

56 „ 


300g Gemüse, 60 g Butter, 1 Ei, 75 g Preißel- 
beeren, 200 g Suppe, Tee. 

200 g Gemüse, 60 g Butter, 2 Eier, 75 g 
Preißelbeeren, 200 g Suppe, Tee, 25 g gekochter 
Speck, 25 g gebratener Speck. 

®) + 50 g Aleuronatbrot. 

’) -}- 25 g Braten. 

Bekommt nur gemischte Diät mit 50 g Glu- 
tenb.rot (20% Kohlehydrate). Ist zuckerfrei, 
hat normalen Blutzucker und schwache Ace- 
tonurie. Gewicht: 19 kg. 


®) Gemischte Kost. 

Diät mit Glutenbrot seit dem 2. Septem¬ 
ber 1911. 

10) Zirka 2200 Calorien. Kohlehydrate in Ge¬ 
müse und Kompott. (Leichte Arbeit.) 

11) Zirka 2800 Calorien. Kohlehydrate in Ge¬ 
müse und Kompott, Glutenbrot. (Strengere 
Arbeit.) 

^2) Zirka 2800 Calorien. Kohlehydrate in Ge¬ 
müse und Kompott, Glutenbrot. (Strengere 
Arbeit.) 






























Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


211 


Alkalien (Natrium bicarbonicum und 
citronensaures Natron) verordne ich bei 
der strengen Gemüsediät so wenig wie 
möglich, weil sie im Verein mit dieser Diät 
leicht Wasserretention und Ödeme ver¬ 
ursachen. Nur wo die alkalische Diät 
allein die Ammoniakmenge im Urin nicht 
innerhalb der normalen Grenzen zu halten 
vermag, wird Bicarbonat von 5 g auf¬ 
wärts bis zu der für jeden Fall passenden 
Dosis gegeben. 

Die strenge Gemüsediät hat vor 
der allmählichen Einschränkung der 
Kohlehydrate der Kost und des Eiweißes 
den Vorteil, daß so Aglykosurie und 
Beseitigung der Hyperglykämie schnel¬ 
ler erreicht wird; aber zur Erzielung 
eines ebenso dauernden und guten Resul¬ 
tats wie durch die gradweise Einschrän¬ 
kung, muß der Übergang von der Ge¬ 
müsediät zur gemischten, kohlehydrat- 


Es ist schwer,, bestimmte Calorien- 
summen für die Gesamtkost festzusetzen; 
man muß hier individualisieren und mit¬ 
tels häufiger Wägungen das rechte zu 
finden suchen. 

Wenn ein Diabetiker von Glykosurie 
und Acetonurie befreit ist oder nur 
schwache, restierende Acetonurie hat, 
wird das Minimum meist 30 Calorien 
pro Kilo und manchmal darunter sein. 
Bei leichterer Arbeit werden 35—40 Ca¬ 
lorien und bei strengerer Arbeit über 
40 Calorien meist das richtige sein. 

Bei ganz jungen Leuten und bei Kin¬ 
dern liegt die Calorienzahl pro Kilo höher;- 
hier einige Beispiele: 

Ein siebzehnjähriger Jüngling, mit mittel¬ 
schwerem Diabetes brauchte im 17. und 18. Jahre 
43 bis 41 Calorien pro Kilo bei leichterer Arbeit, 
im 19. bis 22. Jahr ca. 53 Calorien bei strenger 
Arbeit. Das Gewicht stieg in diesen fünf Jahren 
langsam und ist jetzt noch 56 kg. (Vgl. Tabelle-3.) 


Tabelle 4. 

E. P., 13 Jahre, Knabe. Mittelschwerer Diabetes. Acidosis. 


Datum 

Kost 

Na¬ 

tron 

g 

Urin¬ 

zucker 

% 

Urin¬ 

zucker 

g 

Blut- 

Zucker 

g 


Ammo¬ 

niak 

g 

N 

g 

Gewicht 

kg 

18. Januar 1915 

Gemischte Kost . . 


8,0 

80 

0,15 

+ 



28,8 

19. „ 

1915 

1. Gemüsetag . . . 


6 

60 


+ + 




20. „ 

1915 

2. 


3 

23 






21. „ 

1915 

1. Hafertag 13) , , 


1,25 

25 






22. „ 

1915 

2. „ .... 


1 

22 


-i- 




23. „ 

1915 

1. Gemüsetag . . . 


0,5 

8 


-f- 



28,9 

24. „ 

1915 

2. 


0,25 

4 


-f- 




25. „ 

1915 

3. 



Spur. 


+ 




26. „ 

1915 

Hafertag. 


0,25 

6 


~ 




27. „ 

1915 

1. Gemüsetag . . . 



0 


+ 


3,07 

28,4 

1. Februar 1915 

Gern. Gemüsediät 1^) 

21/2 


0 


4- 



29,1 

22. August 1916 

}> }} 

21/2 


0 

0,07 

+ 

1,29 

4,2 

35 


armen Diät ganz langsam und nach den 
oben angegebenen Regeln vor sich gehen. 

Bei Nachbehandlung muß Über¬ 
ernährung vermieden werden, so daß 
der Kranke gerade die Kostrationen be¬ 
kommt, die ihn auf seinem Gewicht er¬ 
halten, und bei jungen Leuten und Kin¬ 
dern darf das Gewicht nur langsam stei¬ 
gen, da eine stärkere Gewichtszunahme 
oft Anlaß zur Glykosurie gibt. 

In den mittelschweren und schweren 
Fällen muß man allzu große Eiwei߬ 
rationen, besonders' Fleischeiweiß und 
Casein, vermeiden. 

Ich gebe bei leichtem Diabetes 1,5 
bis 2 g, bei mittelschwerem Diabetes 1 
bis 1,5, bei schwerem Diabetes %—1 g 
Eiweiß per Kilogramm Körpergewicht. 

13) 75 g Hafer, 60 g Butter, Tee. 

1^) 500 g Gemüse, 75 g Butter, 2 Eier, 100 g 
Speck, -200 g Suppe, 150 g Preißelbeeren = 36 g 
Eiweiß, 160 g Fett, 28 g Kohlehydrate = 1753. 


Ein dreizehnjähriger Junge brauchte im 13. 
und 14. Jahre 1750 Calorien oder 58 bis 50 
Calorien pro Kilo; das Gewicht stieg von 29 
bis 35 Kilo in etwa eineinhalb Jahr (vgl. Tabelle 4) 
— und ist in den nächsten eindreiviertel Jahren 
bei recht strenger Arbeit bis zu 40 Kilo ge¬ 
stiegen. 

Versuch mit prolongiertem Fasten. 

In einigen Fällen habe ich die von 
dem Amerikaner Frederick M. Allen^^) 
bei Diabetes mit Acidose empfohlene 
prolongierte Hungerkur angewandt. 

Auf der Basis von Erfahrungen, die Allen 
bei diabetischen Tieren, denen das Pankreas zum 
Teil entfernt war, mit Hunger und darauf fol¬ 
gender knapper Fütterung gemacht hatte, 
schlug er vor, ein ähnlich prolongiertes Hungern 
beim menschlichen Diabetes zu versuchen und 
nach dem Hungern kleine Kostrationen zu ver¬ 
wenden, die stärkere Gewichtszunahme, Gly- 

^3) F.M. Allen: The treatment of diabetes. 
Boston med. and surg. journal. Febr. 1915 — 
Prolonged fasting in diabetes. Am. journal of 
the med. Sciences. Okt. 1915. 


27* 

















212 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juni 


kosurie und möglichst auch die Acetonurie ver¬ 
hinderten^®). 

Aliens Behandlungsmethode ist: 

1. Hungertage (Patient bekommt nur Kaffee 
bis zu siebenmal am Tag und eventuell Whysky 
in recht großen Dosen, manchmal ca. 200 g und 
Natriumbicarbonicum, wo beträchtliche Acidosis 
besteht). Das Hungern soll bis zum Schwinden 
der Glykosurie und darnach noch möglichst 
ein bis zwei Tage beibehalten werden. 

2. Nach den Hungertagen werden 200 bis 
300 g kohlehydratarme Gemüse gegeben, die von 
Tag zu Tag vermehrt werden, bis sich etwas 
Zucker im Urin zeigt. Dann wieder ein Hungertag. 

3. Darnach wird Eiweiß gegeben. Erster 
Tag ein bis zwei Eier, mehr Eiweiß als Ei und 
Fleisch, bis der Urin etwas Zucker aufweist. 
Dann wieder Hungertag. 

4. Zuletzt werden Fettstoffe gegeben und 
ihre Mengen gradweis vermehrt. Patienten, 
die mit den kohlehydratarmen Gemüsen (mit 
4 bis 5 % Kohlehydrat) nicht glykosuriefrei 
gehalten werdej können, bekommen diese Ge¬ 
müse ein paarmal gekocht, wonach das Wasser 
fortgegossen wird. 


kosurie erreicht war, gaben sie einen Gemüsetag 
mit 15 g Kohlehydrat und darauf einen Tag lang 
eine Kost mit 15 g Kohlehydrat, 25 g Eiweiß 
und 150 g Fett. Hierauf stiegen sie gradweis mit 
Fett, dann mit Eiweiß und zuletzt mit Kohle¬ 
hydrat. Von Fett gaben sie nicht mehr als 200 g 
und die Calorienzahl pro Tag überstieg selten 2200. 

Elliot P. Joslin^®) hat auch Aliens Hunger¬ 
kur benutzt' und ist seinen Angaben gefolgt; 
nach dem Hunger gibt er jedoch nur 150 g Ge¬ 
müse, darauf kohlehydratarme Früchte und Nüsse, 
dann Eiweiß und zuletzt Fett, bis die Gewichts¬ 
verluste des Patienten zum Stillstand kommen. 

In den Fällen, wo ich das prolongierte 
Fasten versucht habe, war es nicht immer 
so leicht, die Kur durchzutuhren wie bei 
der strengen Gemüsediät, einzelne Kranke 
protestieren, andere werden psychisch 
wenig glücklich vom Hunger beeinflußt, 
der ja auch den Übelstand hat, etwas in¬ 
human zu sein. 

Als Beispiele für die Fastenkur sollen hier 
einige Fälle angeführt werden (Tabelle 5 und 6). 


Tabelle 5. Hungerkur. 

A. H., 55 jährige Frau. Leichter Diabetes. Gangrän, 


Datum 

Kost 

Zucker 

% 

B 

Blut¬ 

zucker 

^/o 


Ammo¬ 

niak 

g 

N 

g 

4. Juli 

Gemischte Kost. 

7,0 

70 





5. „ 

Diät mit 100 g Glutenbrot 

1 

12 

0,17 

-7- 



9. „ 

1. Hungertag. 


Spur 




6,24 

10. „ 

2. „ .. 


Spur 



0,52 

6,94 

11. „ 

3. „ .'' 


0 

0,07 

. + + 

0,75 

5,92 

12. „ 

Gemüse tag. 


0 


+ + 

1,6 

9,09 

13. „ 

Gemischter Gemüsetag . . 


0 


+ + 

1,2 

5,96 

14. . „ 

Gemischte Diät^®) .... 


0 


. -f 

1,12 

5,49 

16. „ 

20 \ 

ff ff f ... . 


0 

0,08 


0,7 



Allen hat bei Patienten, die zuckerfrei ge¬ 
macht waren, ab und zu eine leichte Glykosurie 
nach größeren Butterzulagen auftreten sehen und 
ist daher in solchen Fällen vorsichtig mit dex 
Verabfolgung zu großer Butterrationen. 

Im Krankenhaus des Rockefeller-Instituts hat 
Allen in 27 Fällen die Behandlung mit pro¬ 
longiertem Hungern versucht und glaubt dabei 
schnellere Aglykosurie erreicht zu haben als bei 
gradweiser Einschränkung der Kohlehydrate und 
des Eiweißes. Allen betont, daß man nach den 
Hungertagen mit der Nahrungszufuhr nicht zu 
rasch steigen und daß man sich durch Gewichts¬ 
verluste der Patienten während des Hungers 
nicht verwirren lassen soll. Im allgemeinen meint 
Allen, daß eine Gewichtsreduktion an sich 
für den Diabetiker günstig ist und dazu dient, 
die geschwächte Funktion zu schonen und die 
Toleranz zu vermehren. 

Später hat L. M. Hill und J. L. Sherrick 
(Boston)^^) in acht Fällen von Diabetes die 
prolongierte Hungerkur versucht. Sie rühmen 
die Methode und haben einen etwas abweichenden 
Modus angewandt: nach Hungertagen, bis Agly- 

^®) Der Pariser Arzt Guelpa riet 1910 in 
allen Diabetesfällen drei bis fünf Hungertage in 
Verbindung mit Purgation zu verwenden, dar¬ 
nach knappe Milchdiät, dann wieder Hungern 
und zuletzt Gemüsediät. Mit .dieser Behandlungs¬ 
methode habe ich keine Erfahrung. 

^’) Boston med. and surg. journal 1915, p. 696. 


Tabelle 5. 55jährige Frau mit Adipositas, 
leichtem Diabetes und Gangrän am Unterschenkel. 
Sie litt seit mehreren Jahren an Diabetes und 
hatte kurz vor der Aufnahme 7 % Zucker, keine 
Albuminurie oder Acetonurie. Bei der Aufnahme 
handflächengroßes gangränöses Geschwür auf 
dem linken Unterschenkel. Nach dem dritten 
Hungertag war der Urin frei von Zucker und die 
Hyperglykämie war geschwunden. Nun zeigte 
sich Acetonurie und Diaceturie, die 
während der folgenden Gemüsetage anhielten 
und erst bei gemischter Diät mit 30 g Glutenbrot 
und 300 g Gemüse ganz schwanden. Bei dieser 
Diät blieb sie frei von Glykosurie und Hyper¬ 
glykämie. Das gangränöse Geschwür heilte 
vollständig. — Patient ist andauernd zuckerfrei 
und bekommt nun 100 g Glutenbrot (mit 20 % 
Kohlehydrat) täglich. 

Tabelle 6. 30jährige Frau mit schwerem 
Diabetes und Acidose. Patient hatte seit einem 
Jahre Diabetes und war seit mehreren Monaten 
bei schwacher Acetonurie frei von Glykosurie 
und Hyperglykämie gewesen. Einige Wochen 
vor der Aufnahme hatte sie durch einen Diät¬ 
fehler wieder Glykosurie und Hyperglykämie 

^®) Joslin: Am. journal of med. Sciences 1915, 
p. 485.; 

^®) 50 g Braten, 50 g durchwachsener Speck, 
1 Ei, 60 g Butter, 300 g Gemüse, 150 g Preißel- 
beeren, % Flasche Rotwein, Tee, Kaffee. 

*«) -f30g Glutenbrot. 



















Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


213 


Tabelle 6. Hungerkur. 

A. P., 30jährige Frau. Schwerer Diabetes. Acidosis. 


Datum 

Kost 

Zucker 

g 

Blut¬ 

zucker 

% 

Ammo¬ 

niak 

g 

N 

g 

Gewicht 

22. September 

Diät mit 30 g Glutenbrot . . 

21 

0,155 

1,61 

8,69 

50,2 kg 

23. 

1. Hungertag. 

13 


0,43 

5,90 . 

49,2 „ 

24. 

2. „ . 

0 


0,51 

5,72 

48,2 „ 

25. 

Gemüsecliät2^). 

0 


2,0 

6,92 

48,6 „ 

26. 

Gemischte Gemüsediät*^) . . 

Spur 

0,096 

0,99 

6,66 

48,6 „ 

27. 

23 \ 

>> ff / • • 

Spur 


0,93 

5,32 

48,6 „ 

28. 

24\ 

ff ff / * * 

0 

\ 

1.7 

5,33 

49,2 „ 

29. 


0 

0,075 

1,05 

5,29 

49,2 „ 

30. 

26\ 

ff ff / • * 

0 


0,68 

4,86 

49,3 „ 


bekommen. — Am zweiten Hungertag wurde 
der Urin zuckerfrei und blieb bei langsamem 
Übergang zu gemischter Gemüsediät, die noch 
jetzt beibehalten wird, zuckerfrei (ausgenommen 
der 26. September). Aus der Tabelle ersieht man, 
wie der Blutzuckerprozentgehalt normal wird. 

Die Acetonurie und Diaceturie 
verhält sich während der Hunger¬ 
kur verschieden (vergleiche die Ta¬ 
bellen), je nachdem leichte oder schwere 
Diabetesfälle behandelt werden. Bei leich¬ 
tem Diabetes tritt am zweiten bis dritten 
Hungertag Aceton- und Diaceturie auf, 
die an den folgenden Gemüsetagen an¬ 
hält, aber bei Übergang zu gemischter 
Diät mit mehr Kohlehydraten schwindet. 
Bei schwerem Diabetes mit Acidose 
nimmt diese ab: das heißt die Aceton- 
und Diaceturie wird schwächer und die 
Ammqniakmenge im Urin vermindeit 
sich. An den folgenden Gemüsetagen 
steigt infolge der plötzlichen Nahrungs¬ 
zufuhr (Fett und Eiweiß) die Ammoniak¬ 
menge wieder. Der Nahrungsfettumsatz 
vermehrt bekanntlich die Acidose mehr 
als der Organfettumsatz bei schwerem 
Diabetes. Nach Gemüsediät von einigen 
Tagen wird die Ammoniakmenge wieder 
normal. 

Die N-Ausscheidung im Urin ist 
natürlich abhängig von der Eiweißzufuhr 
an den den Hungertagen vorausgehenden 
Tagen. 

(Bei gesunden Menschen ist bei 
Hunger N im Urin selten geringer als 
10g.. Am zweiten Tag, oft erst am dritten 
bis vierten Tage steigt N im Urin, was 
wahrscheinlich darauf beruht, daß der 

^0 400 g Gemüse, 60 g Butter, 200 g Suppe, 
150 g Preißelbeeren, Tee, Kaffee, 30 g Kognak. 

22) + 1 Ei oder 25 g gebratener durchwachsener 
Speck. 

22) -f- 1 Ei oder 25 g gebratener durchwachsener 
Speck. 

2^) 25 g gekochter durchwachsener Speck. 

2") -f 25 g gebratener durchwachsener Speck 
und 15 g Butter. 

2®) + 50 g Braten oder Fisch. 


Glykogenvorrat des Körpers geringer 
wird und am dritten Tage geschwunden 
ist. Nach dieser Steigerung nimmt der 
Eiweißumsatz bei Fortsetzung des Hun¬ 
gers langsam ab. In den ersten zehn 
Tagen sinkt er selten unter 10 g.) 

Dasselbe Verhalten wie bei Gesunden 
fand ich bei Diabetikern an Hungertagen. 
Wenn die N-Zahlen in diesen zwei Fällen 
niedriger sind, so beruht das wahrschein¬ 
lich darauf, daß die Patienten vorher auf 
eiweißarmer Kost waren. Am ersten 
Gemüsetag hach dem Hunger steigt N 
im Urin, aber geht bei gemischter Ge¬ 
müsediät bald wieder herab (dasselbe 
Verhalten fand ich bei meinen Versuchen 
mit der strengen Gemüsediät, ver¬ 
gleiche Tabelle 1 und 2). 

2. Die moderne individualisierende 
Diabetesdiät in der Praxis. 

Wie aus dem früher Gesagten hervor¬ 
geht, ist die Entwicklung der Diabetes¬ 
therapie mehr und mehr auf die indivi¬ 
dualisierende Diätbehandlung hinaus¬ 
gekommen. 

So mußte es kommen, weil das nähere 
Diabetesstudium die Ärzte lehrte, wie 
verschiedenartig die Krankheit ist: zu¬ 
nächst die leichten Funktionsstörungen, 
die ohne wesentliche diätetische Behand¬ 
lung jahrlang leicht bleiben, dann andere 
leichte, die infolge von Komplikationen 
mit anderen Krankheiten eingreifepde 
Änderung der gewöhnlichen Diät er¬ 
fordern, und wieder andere leichte Fälle, 
die sich bald plötzlich, bald allmählich 
als schwere Fälle entpuppen. Schließlich 
gibt es mittelschwere Fälle mit Keton- 
urie, auf deren alsbaldigen schweren 
Verlauf man gefaßt ist, die sich 
aber bei prinzipientreuer Behandlung in 
leichte Fälle verwandeln und jahrelang 
dauernd normalen Urin behalten. 

Man versteht, daß ein einziges Diät¬ 
schema für diese verschiedenen Formen 



















214 


. Die .Therapie der Gegenwart 1920 


Juni 


und Krankheitsstadien nicht passen 
würde. Jeder Patient muß genau unter¬ 
sucht und mit der Diät behandelt werden, 
die qualitativ und quantitativ im ge¬ 
gebenen Augenblicke für ihn paßt. Nicht 
nur der Kohlehydratgehalt der Diät, son¬ 
dern auch die Eiweiß- und F.ettrationen 
müssen nach dem Stadium, in dem der 
Patient sich befindet, empirisch fest¬ 
gesetzt werden. 

Einzelne ältere und moderne Behand¬ 
lungsmethoden, wie die absolute Milch¬ 
diät, die Haferkur, die strenge Gemüse¬ 
kur und die Hungerkur, haben als ge¬ 
legentliche kurze Behandlung in gewissen 
bestimmten Fällen und während gefähr¬ 
licher Situationen Bedeutung bekommen 
und sind uns von großem Nutzen, wenn 
sie mit Kritik und Vorsicht angewandt 
werden. 

Die Diätformen, die während langer 
Zeiträume angewandt werden, wie die 
,,animalische, kohlehydratarme Diät“ 
und die „gemischte Gemiüsediät“, werden 
von vielen Patienten jahrelang vertragen. 
Bei eintretender Dyspepsie, die die Ein¬ 
leitung zu drohendem Koma sein kann, 
heißt es, zu rechter Zeit abzubrechen und 
verschiedene, kleinere Mengen Kohle¬ 
hydrat zu geben oder Hunger- oder Hafer¬ 
schleimdiät zu verordnen. Nach Schwin¬ 
den der Dyspepsie kann man vorsichtig 
zur kohlehydratarmen Diät wieder über¬ 
gehen, und dann kommt wieder eine 
Periode, wo man monate- oder jahrelang 
den Patienten ganz frei von Glykosurie 
und Acetonurie oder bei schwacher Ace- 
tonurie halten kann. Zuletzt kommt 
dann ja bei schwerem Diabetes ein Zeit¬ 
punkt, wo es nicht gelingt, den Kranken 
mit den hier aufgezählten strengen Diät¬ 
formen von Glykosurie frei zu halten, 
und gleichzeitig mit der Zunahme der 
Glykosurie verstärkt sich die Acidose. 
Da muß man zu allernächst einen Ver¬ 
such machen, die Funktion des Patienten 
durch eine der früher erwähnten Behand¬ 
lungsmethoden zu verbessern: strenge 
Gemüsekur, Haferkür oder prolongiertes 
Hungern. Beim Mißlingen dieser Ver¬ 
suche besteht kein anderer Ausweg, als 
eine gemischte, etwas kohlehydrat¬ 
reichere Diät zu verordnen. Dabei wird 
die Glykosurie des Patienten zunehmen, 
manchmal nur langsam, bei anderen 
schnell. Im ersten Falle wird die Acidose 
mäßig bleiben, aber bei schnell zunehmen¬ 
der Glykosurie wird die Acidose gleich¬ 
falls an Stärke ansteigen, und manch¬ 
mal in höherem Grade als die Glykosurie. 


, Ich will nun in großen Zügen ^ die 
Diätbehandlung bei Diabetes schil¬ 
dern, wie sie seit langem auf meiner 
Klinik durchgeführt wird. Die frischen, 
unkomplizierten Diabetesfälle, tre¬ 
ten als leichte oder mittelschwere 
in Erscheinung (es ist sehr selten, einen 
frischen Fall zu beobachten, der ganz 
von Beginn an schwer ist, man kann so 
gut wie immer durch die Anamnese er¬ 
fahren, daß die Krankheit unentdeckt 
kürzere oder längere Zeit bestanden hatte). 
Habe ich einen anscheinend leichten 
Diabetes vor mir, so bekommt der Kranke 
ein bis zwei Tage gemischte Kost oder 
die Diät, die der Arzt draußen ordiniert 
hat. Gleichzeitig wird ,die quantitative 
Blutzuck erbestim-mung gemacht, der 
Urinzucker, N und Ammoniak in der 
24stündigen Urinmenge bestimmt, wie 
auch auf Aceton, Diacetsäure Eiweiß usw. 
untersucht. Darnach wird ordiniert: 

1. Probediät für zwei bis drei 
Tage. Sie besteht in 150 g gebratenes 
Fleisch, vier Eiern, 80 g Butter, 50 g 
Käse, 300 g Gemüse (mit 2 bis 5 % 
Kohlehydrat), 100 g Rhabarberkom¬ 
pott, 200 g Fleischsuppe, 100 g Sahne, 
100 g Brot, ein Drittel Flasche Rotwein, 
500 g Tee, 500 g Kaffee, 500 g Selter¬ 
wasser. Diese Kost enthält : 104 g 
Eiweiß, 140 g Fett, 72 g Kohlehydrate, 
18 g Alkohol = 2151 Calorien. 

In einigen leichten Fällen wird der 
Urin in zwei bis drei Tagen zuckerfrei 
werden. Geschieht das nicht oder ist 
der Blutzuckerprozent bei einer solchen 
Kost über der Norm, das heißt 0,84 bis 
0,9 %, so wird verordnet: 

2. Gemüsediät (siehe oben) ein Tag. 
Darauf wird verordnet: 

3. Animalische Diät wie bei der 
Probediät, aber ohne Sahne, und anstatt 
Brot wird 60 bis 120 g Glutenbrot oder 
gar kein Brot gegeben, sondern sehr 
kohlehydratarme Gemüse. Die Gluten¬ 
brotration oder die Gemüseration wird 
gegeben, die, ohne Hyperglykämie nach 
der Mahlzeit zu machen, vertragen wird. 

Die so festgesetzte Diät wird monate¬ 
lang, oft einige Jahre beibehalten, 
bevor weitere Kohlehydratzulagen ein¬ 
geräumt werden, und stets unter Kon¬ 
trolle der Blutanalyse. Milch wird in 
unkomplizierten' Fällen niemals verord¬ 
net, Sahne auch nicht,' nur ausnahms¬ 
weise 50-^100 g Schlagsahne. Ab und 
zu kommt es vor, daß der Patient nach 
einigen Jahren zu gewöhnlicher gemisch- 





Juni 


215 


Die Therapie der 


ter Kost (ohne Zuckerzusatz) übergehen 
kann, ohne Glykosurie zu bekommen. 

Auch in diesen leichten Fällen — die 
ja übrigens ohne dauernde Acetonurie 
und Diaceturie verlaufen — kann man 
zu Anfang der Kur sehen, daß die kohle- 
hydratarme^ Diät Ketonurie heryorrüft. 
Diese verliert sich jedoch allmählich in 
dem Maße wie die Kohlehydrattoleranz, 
sich bessert und kann im übrigen durch 
Vermehrung des Eiweißes der Kost zum 
Schwinden gebracht werden, da dieses 
hier die Acetonurie ebenso wie die Kohle¬ 
hydratzulage beeinflußt (ebenso wie bei 
Gesunden), im Gegensatz zu dem, was 
man in den schweren Fällen sieht, wo 
Eiweißzusatz leicht die Acidose vermehrt. 

Handelt es sich um einen anscheinend 
mittelschweren unkomplizierten 
Fall oder erweist sich der Fall, den man 
anfangs für leicht hielt, als mittelschwer, 
das heißt die besprochene Probediät 
Brot, Sahne, Käse, Wein und sehr 
kohlehydratarmen Gemüsen zugesetzte (in 
Wasser geknetete) Butter vermag die 
Hyperglykämie und die Glykosurie nicht 
zu beseitigen, so kann man auf ver¬ 
schiedene Weise vergehen: 

1. Man kann die oben beschriebene 
Behandlung mit strenger Gemüsediät 
mehrere Tage anwenden, bis das ge¬ 
wünschte Resultat erreicht ist, und da¬ 
nach langsam zu einer gemischten Diät 
übergehen, die eiweißärmer als die eben 
erwähnte Diät ist; 

2. Anstatt der strengen Gemüsediät 
kann man Hungerkuren gebrauchen, 
wie sie von Cantani oder Allen emp¬ 
fohlen sind, und danach langsam zu 
eiweißarmer Diät übergehen. 

3. Man kann sich damit begnügen, 
einen Gemüsetag einmal einzu¬ 
schieben und nach ihm zu einer eiwei߬ 
ärmeren Diät überzugehen, und, wenn 
nötig, wieder einen Gemüsetag einschieben, 
worauf die Eiweißration weiter einge¬ 
schränkt wird, bis Blutzucker und Urin 
normal ist. Wenn im gegebenen Falle be¬ 
sondere Neigung zur Ketonurie besteht, 
wie bei Kindern und ganz jungen Leuten, 
pflege ich anzuwenden 

4. von Noordens Haferkur mit der 
Ration Hafergrütze und Butter (zur Ent¬ 
fernung der Fettsäuren in Wasser ge¬ 
knetet), die im gegebenen Falle paßt, 
und nach den abschließenden Gemüse¬ 
tagen gehe ich langsam zu strenger ani¬ 
malischer Diät mit Gemüsen über. 

NB. Kann man die Kranken nicht 
im Hospital oder im Sanatorium behan- 


Gegenwart 1920 


dein und beherrscht man die Technik 
der Gemüse-, Hunger- und Haferkur nicht 
vollkommen, so muß man den Modus 
Nr. 3 wählen, der ungefährlich, 
leicht durchführbar ist und Resultate 
■gibt, die auf der Höhe des mit den an¬ 
deren Methoden Erreichbaren stehen, so¬ 
lange es sich um einen mittelschweren 
Diabetes handelt. 

Falls eine vorhandene Diaceturie den. 
behandelnden Arzt irgendwie beunruhigt, 
kann man außer den eingeschobenen Ge¬ 
müsetagen, die auf die Acidose herab¬ 
setzend wirken, kleine Dosen Alkalien 
gebrauchen, von 5 g pro Tag an, bis der 
Urin alkalisch ist^’). 

Der mittelschwere Diabetes, der nicht 
oder nicht energisch und lange genug mit 
kleinen Kostrationen behandelt wird, die 
Hyperglykämie und Glykosurie verhüten, 
geht mehr oder weniger schnell in die letzten 
Stadien der Krankheit über. Wir stehen 
hier den schweren und schwersten Fällen 
gegenüber, wo die diabetische Aci¬ 
dose einen so großen Einfluß auf die 
Behandlung hat. 

Bei schweren Diabetesfällen mit 
mittelstarker Acidose, wo die täg¬ 
liche Ammoniakmenge im Urin 2—3 g 
beträgt (bei gemischter antidiabetischer 
Diät mit zirka 30 g Kohlehydrat) muß 
man immer versuchen, durch eine ener¬ 
gische Behandlung den Fall von einem 
schweren zum mittelschweren zu machen, 
und das wird auch oft gelingen. 

Auf meiner Klinik beobachten wir die 
Patienten einige Tage bei der Diät, die 
sie gerade innehalten. In der Regel wird 
zuerst Behandlungsmethode Nr. 3 
(siehe oben) angewendet, mit Reduktion 
des Nahrungseiweißes, besonders Fleisch 
und kaseinhaltiger Nahrung (Sahne, Käse, 
Milch)2®). Gradweis werden nun sowohl 
Eiweiß als auch Kohlehydrate einge¬ 
schränkt, die durch grüne Gemüse er¬ 
setzt werden, bis Aglykosurie und. mög¬ 
lichst niedrige Blutzuckerprozentzahlen 
erreicht sind, möglichst 0,05—0,06%. 
' Wo aus einem oder dem anderen Grunde 
schnelle Zuckerfreiheif gewünscht wird, 
wird unter Bettruhe die Gemüsekur 
(Nr. 1) oder die Hungerkur (Nr. 2) an¬ 
gewandt, die bis zum gewünschten Ziele 
fortges^etzt wird. —.Wo keine Aglykosurie 

"0 Die Alkalitherapie kann die ersten Tage 
die Acetonurie und Diaceturie verschlimmern, 
aber man fahre mit dem Alkali fort, bis der Urin 
alkalisch ist. 

2®) Nach meiner Erfahrung werden diese 
Eiweißstoffe weniger .gut als Pflanzeneiweiß 
auch in diesen Fällen vertragen. 





216 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juni 


und Hypoglykämie durch Behandlung 
Nr. 3 erzielt wird und wo die Acidose 
stärker als gewöhnlich ist, versuche ich 
von Noordens Haferkur. 

Gelingt es nun, durch eine der hier 
genannten Behandlungsarten Urin und 
Blut normal zu machen und die Ket- 
onurie zu beseitigen, muß man solange 
als möglich mit eiweißarmer Diät, 
kohlehydratarmen Gemüsen, mit 
ausgewaschener Butter oder mit 
Olivenöl, Essig und anderen Gewürzen 
fortfahren und von Getränken Soda¬ 
wasser, Tee, Kaffee, Aquavit oder Kognak 
geben. Man kann auf diese Weise das 
Leben der Patienten jahrelang erhalten. 
Kommt es zu Dyspepsie, bricht man ab, 
modifiziert die Diät oder verordnet ein 
bis zwei Tage Hunger. 

Bei den schwersten Fällen mit 
starker Acidose, wo 4 bis 8 g Ammo¬ 
niak in 24 Stunden (bei gemischter 
Diät mit zirka 30 g Kohlehydrat) aus¬ 
geschieden werden, bietet die Behand¬ 
lung größere Schwierigkeiten. Hier hat 
man meist gleichzeitig mit Obstipation 
und Dyspepsie zu kämpfen; 

Eine kürzere oder längere Bettruhe 
ist notwendig. Eine Gemüse- oder 
Hungerkur ohne oder mit folgender 
Haferkur wird den Grad der Acidose 
etwas vermindern. Hier müssen gleich¬ 
zeitig Alkalien verwendet -werden, um 
den Urin alkalisch zu machen. Selbst 


wenn die Glykosurie nicht ganz beseitigt 
wird, kann- sie doch bis auf 10 bis 20 g 
in 24 Stunden und der Ammoniak bis 
auf 0,5 bis 1 g heruntergebracht werden. 

Die Diät während der Nachbehand- 
lung muß sehr kleine Eiweißmen¬ 
gen enthalten, besonders vegetabilisches 
und Hühnereiweiß, das am besten hier 
vertragen wird. Die Kohlehydrate 
der Kost müssen von Gemüsen und Früch¬ 
ten mit geringem Kohlehydratgehalt 
stammen, eventuell werden kleine Brot¬ 
rationen gegeben. Milch und Sahne wer¬ 
den am besten ganz vermieden, weil so¬ 
wohl Milchzucker als auch Kasein die 
Glykusurieungünstig beeinflußen, müssen 
jedoch zu Zeiten , den Kranken erlaubt 
werden, um Abwechslung in die Kost zu 
bringen. Von Fettstoffen wird vege¬ 
tabilisches Fett gegeben, Butter (in 
Wasser geknetet), Speck, aber alles in 
kleinen Mengen mit Rücksicht auf die 
Acidose, die in diesem Stadium für Fett¬ 
stoffe sehr empfänglich ist. Alkohol 
wirkt dagegen hier günstig, ist fast un¬ 
entbehrlich und hat viele Vorteile: die 
Kranken vertragen ihn in großen Dosen, 
er vermehrt die Glykosurie nicht und 
beeinflußt die Acidose gut. 

Sofern kleine Mengen (25 bis 50 g) 
gebratenes Fleisch oder Fisch ohne we¬ 
sentliche Vermehrung der Glykosurie und 
Acidose vertragen werden, geben diese 
ja eine angenehme Variation der Diät. 


Aus der Medizinisclien Klinik der Universität Greifswald (Direktor: Prof. Dr. Morawitz). 

Die Behandlung 

der chronischen Arthritis mit Sanarthrit und Proteinkörpern. 

Von Gerhard Denecke. 


Im Jahre 1916 hat Heilner (1—3) eine 
neue Behandlung der chronischen Arthritis 
und der Gicht angegeben, und zwei Jahre 
später sein Mittel der Öffentlichkeit über¬ 
geben. Der Gedankengang, der ihn darauf 
brachte, war folgender: Bei der Gicht 
liegt nachgewiesenermaßen eine Störung 
im Harnsäurestoffwechsel vor. Man 
findet sie auskrystallisiert in dem Knorpel 
der erkrankten Gelenke. Brugsch und 
Citron (4) haben experimentell gezeigt, 
daß auch der normale Knorpel aus ver¬ 
dünnten Lösungen von harnsaurem Na¬ 
tron Urate aufnimmt und in krystalli- 
nischer Form ablagern kann. Darauf 
gründete Umber (5) seine bekannte 
Gichttheorie, nach der die Affinität der 
Gewebe zur Harnsäure beim Gichtkranken 
eine pathologische Steigerung erfährt. 


So daß es sich also nach Umber um eine 
Harnsäureretention, nicht um eine Stö¬ 
rung der renalen Ausscheidung handelt^). 
Wenn aber auch der gesunde Knorpel, 
wenigstens in vitro, in der Lage ist, Harn¬ 
säure abzulagern, so ist es auffallend, daß 
durch Steigerung der Harhsäurewerte im 
Blute allein z. B. bei der Leukämie oder 
Nephritis noch keine Gicht herbeigeführt 
werden kann. Heilner glaubt deshalb, 
daß der Affinität des Knorpels zur Harn¬ 
säure, die im Versuch gezeigt wurde, im 
Leben ein anderer Prozeß entgegenwirkt, 
den er Gewebsschutz nennt. Es soll also 
nicht die Affinität zur Harnsäure oder 
ihre Steigerung das Pathologische sein, 

D Anmerkung bei der Korrektur: Klemperer 
hat diese Theorie der Gicht schon früher aus 
gesprochen. (D. m. W. 1895, Nr. 40.) 





Juni, 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


\ 


217 


sondern der Wegfall der Gegenaktion 
dieses Gewebsschutzes. Er denkt sich 
den Gewebsschutz etwa so, daß die 
Knorpelzellen normaliter von einer dün¬ 
nen sauer reagierenden Schutzhülle um¬ 
geben sind. .Dann stört irgendeine pri¬ 
märe Schädigung die Produktion dieser 
Schutzhülle, und die saure Harnsäure 
kann ihrer Neigung zu dem entblößten 
basischen Knorpel nachgeben. Oder aber 
der Gewebsschutz besteht in der Tätig¬ 
keit eines Fermentes, das die Harnsäure 
weiter abbaut, und auf diese Weise vom 
Knorpel abhält. Jedenfalls glaubte Heil- 
her, daß dieser Gewebsschutz aus irgend¬ 
welchen Substanzen bestehen müsse, die 
an Ort und Stelle gebildet werden, und 
versuchte also aus dem Gelenkknorpel 
nach völliger EntWweißung den wirk¬ 
samen Faktor zu gewinnen, um damit 
dem Kranken zu Hilfe zu kommen. So 
gelangte er zur Erfindung seines Sanar- 
thrit, wie das fabrikmäßig dargestellte 
Mittel nunmehr heißt. 

Dieses Mittel injizierte er intravenös 
in Mengen von 1 bis 2 ccm, und hatte 
sehr gute Resultate. Nach seiner Auf¬ 
fassung führte er also mit seinem Mittel 
dem Patienten künstlich Gewebsschutz- 
stoffe zu, der erkrankte Knorpel wurde 
wieder gedeckt, und die Beschwerden 
verschwanden. 

Seine klinischen Ergebnisse führten 
ihn nun theoretisch noch einen Schritt 
weiten Er hatte diese Erfotge nämlich 
nicht nur bei der Gicht, von der er aus¬ 
gegangen war, sondern bei einer ganzen 
Anzahl anderer Krankheitsbilder,, die 
unter dem Namen chronische Arthritis 
zusammengefaßt werden. Daraus folgerte 
er, daß die gleiche Wirkung seines Mittels 
auch eine, wenigstens prinzipiell, gleiche 
Ätiologie der Krankheit zur Voraus¬ 
setzung haben dürfte. Das heißt, daß 
alle chronischen Arthritiden, ähnlich wie 
die Gicht, beruhen könnten auf dem. 
Mangel an Gewebsschutz des Knorpel- 
gewenes gegen andrängende Stoffwechsel¬ 
produkte. In der Tat ist, außer der Gicht, 
noch wenigstens für eine, allerdings 
seltene, Arthritis der Zusammenhang mit 
einem solchen Stoffwechselprodukte nach¬ 
gewiesen worden, das ist die Homogen¬ 
tisinsäure bei der Arthritis alcaptonurica 
von Allard und Groß (6). Die Homo¬ 
gentisinsäure ist ein normales Abbau¬ 
produkt der aromatischen Aminosäuren, 
das beim Gesunden sofort weiter ver¬ 
wandelt wird, während sie beim Al- 
captonuricer bestehen bleibt. Ihre Affi¬ 


nität zum Knorpel wurde auch in vir to 
nachgewiesen, wobei sie die bekannte 
Schwarzfärbung zeigte. So wie die' 
Homogentisinsäure und die Harnsäure 
sollen nun nach Hei ln er auch ,npch 
andere, bisher unbekannte Erzeugnisse 
des intermediären Stoffwechsels existieren, 
die die Veränderungen der Arthritis de- 
formans und der übrigen Formen der 
chronischen Arthritis verschulden. In dem 
Kampfe gegen das Eindringen dieser 
Schädlinge soll der natürliche Gewebs¬ 
schutz unterstützt werden durch das 
Sanarthrit, dasSchutzstoffe von gesundem, 
Knorpel enthält. Wenn diese hypothe¬ 
tischen Anschauungen stimmen, dann 
kann Hei ln er seine Behandlung wirklich 
die erste kausale Therapie der chronischen 
Arthritis nennen. 

Seit etwa einem Jahre ist nun die 
chronische Arthritis an unserer KJiüik 
mit Sanathrit behandelt worden. Über 
das Ergebnis soll im folgenden berichtet 
werden. Das Mittel kommt in Ampullen 
in den Handel, und wird intravenös in¬ 
jiziert. Man fängt mit kleineren Dosen 
der Stärke I an und schreitet zu vollen, 
und schließlich auch zu mehrfachen Voll¬ 
dosen der Stärke H fort. Nach den An¬ 
gaben Heilners soll man im allgemeinen 
nicht mehr als sechs Injektionen geben, 
und unter diesen sollen möglichst zwei 
starke Reaktionen sein.' Die s-tarke Re¬ 
aktion besteht in einem plötzlich an¬ 
steigenden und rasch wieder abfallenden 
Fieber, hin und wieder mit Schüttelfrost, 
und ziemlich beträchtlichen, ziehenden 
Schmerzen in den befallenen Gelenken. 
Aber auch in Gelenken, die früher einmal 
befallen waren und solchen, die bereits 
erkrankt sind, ohne daß der Patient es 
bisher' bemerkt hatte, treten solche 
Schmerzen auf. Hei ln er hat dieses 
Phänomen als .„Mahnungen“ bezeichnet. 
Derartige starke Reaktionen folgen aber 
durchaus nicht jeder Injektion. Sie treten 
bei manchen Patienten überhaupt nicht 
auf. Hei ln er gibt an, daß er auch dann 
Wirkungen gesehen hat. Wir können das 
bestätigen. Ich habe allerdings noch einen 
Indikator angewandt, um die Reaktion 
sichtbar zu machen. Ich habe nämlich 
in der Annahme, daß in den schmerzenden 
Gelenken irgend etwas vor sich gehe, um 
die Reaktionszeit herum die Hauttempe¬ 
ratur über dem erkrankten Gelenk und 
über einer gesunden Stelle gemessen, und 
habe bei jeder starken Reaktion eine 
Hauthyperth-ermie um ein Grad und mehr 
über dem kranken Gelenk gefunden. 

28 




218 


Die Therapie Üer Gegenwart 1920 


Juni 


Aber wenn auch allgemeines Fieber und 
Schmerzen, ausblieben, habe ich in einigen 
. Fällen zur selben Zeit das kranke Gelenk 
wesentlich wärmer gefunden, als die 
Vergleichsstelle. Durch Kontrollmessun- 
gen außerhalb der Injektionszeiten konn¬ 
ten Täuschungen ausgeschlossen werden. 
Es ist das wohl ein Beweis dafür, daß das 
Mittel tatsächlich irgend welche Vorgänge 
im Gelenk bewirkt, und zwar manchmal 
auch ohne den übrigen Körper in Mit¬ 
leidenschaft zu ziehen. 

In vielen Fällen reagiert der Patient 
'auf zwei bis drei Spritzen stark, auf die 
anderen wenig oder gar nicht, ohne daß 
' sich eine Abhängigkeit vön der Größe 
der Dosis feststellen ließe. Nur eine 
Patientin hat bis jetzt auf jede Spritze 
sehr stark mit Schüttelfrost und Schmer- 
, zen reagiert. Nach dieser Reaktion, der 
negativen Phase, soll dann das Wohl¬ 
befinden, das .Zurückgehen der Be¬ 
schwerden, die positive Phase kommen 
und anhalten. 

Wir übersehen heute ein Material vou 
30 Fällen, und zwar sind das 11 Fälle von 
primärer chronischer Arthritis, 11 Fälle 
von Arthritis deformans und 5 Fälle 
von Arthritis der alten Leute, und zwar 
ausschließlich Malum coxae senile. Das 
Malum coxae spricht auf das Mittel nicht 
an. Wir haben bei keinem der fünf Fälle 
objektiv auch nur die geringste Besserung 
nachweisen können. Auch von den Pa¬ 
tienten wurde nichts angegeben, was eine 
günstige Beeinflussung durch Sanarthrit 
hätte erschließen lassen. Dement¬ 
sprechend fehlte auch jede Herdreaktion. 
Weder ziehender Schmerz noch Haut¬ 
hyperthermie über dem erkrankten Ge¬ 
lenk kamen zur Beobachtung. Trotzdem 
war die allgemeine Fieberreaktion hin 
und wieder da, in einem Falle sogar recht 
hoch. Das Ausbleiben jeglichen Heil¬ 
erfolges kann wohl nicht weiter wunder¬ 
nehmen, da wir im Malum coxae ein 
Leiden vor uns haben, das entsteht, wenn 
die Wiederstandskraft und die Ernährung 
der Gewebe den statischen Anforderungen 
nicht mehr gewachsen ist. Irgendeine 
Stoffwechselstörung anzunehmen, wäre 
überflüssig. 

Bei der primären chronischen Ar¬ 
thritis haben wir von 14 Fällen nur vier 
besser werden sehen. Die Besserung be¬ 
stand vor allem im Nachlassen der sub¬ 
jektiven Beschwerden. Die Patienten 
klagten nach der Injektion zunächst über 
Zunahme der Schmerzen, a]ber bald, oft 
schon nach 12 bis 24 Stunden, flauten 


die Beschwerden merklich ab, und die 
Patienten hattßn das Gefühl der Er¬ 
leichterung. Die objektiv nachweisbare 
Motilität war in zwei der genannten Fälle 
zwar auch deutlich besser geworden, aber 
nicht so erheblich, daß man von einer 
Heilung des Leidens hätte Sprechen kön¬ 
nen. Dagegen konnten zwei Patienten 
wieder vollkommen im Besitze ihrer Be¬ 
weglichkeit entlassen werden. Beide 
Patienten waren bereits früher häufig mit 
den üblichen Methoden behandelt worden, 
der eine in Privatbehandlung, der andere 
zweimal je zwei Monate hier an der 
Klinik, beide ohne allen Erfolg. Von dem 
ersteren hat mir kürzlich der Hausarzt 
mitgeteilt, daß er bis jetzt gut imstande 
geblieben sei, er ist vor sechs Wochen 
entlassen worden. Von den zehn nicht 
gebesserten Fällen sind einige mit Moor¬ 
bädern, Heißluft und mit Massage zweifel¬ 
los auch günstig beeinflußt worden, wenn 
auch nicht in solchem Maße. Andere aber 
^haben jeder Therapie getrotzt. 

Die besten Erfolge haben wir bei der 
Arthritis deformans erzielt. Unter elf 
Patienten hat sich nur einer refraktär 
verhalten. ^ Alle andern haben deutlich 
Besserung gezeigt. Zunächst war bei 
diesen Kranken die Reaktion am häufig¬ 
sten' und stärksten. Diese Patienten 
lieferten auch die höchsten Hauttempe¬ 
raturen über den erkrankten Gelenken. 
Dann aber war auch die positive Phase 
recht gut ^ausgeprägt und das Gesamt¬ 
resultat bei der Entlassung in allen zehn 
Fällen einwandfrei. Im Vordergründe 
stand eine erhebliche Besserung der Mo- 
tilität. Finger und Zehen, die völlig 
fixiert gewesen waren, wurden wieder 
gebrauchsfähig, und auch die Knie wurden 
wieder soweit beweglich, daß sie im Gehen 
wenigstens nicht mehr störten. Außerdem 
sind Verdickungen und Auftreibungen 
der Gelenke und ihrer Umgebung sicher 
und deutlich zurückgegangen. In vier 
Fällen wurde auch ein deutliches Nach¬ 
lassen der Crepitation von verschiedenen 
Beobachtern konstatiert. Ich möchte 
bemerken, daß der größte Teil der Pa¬ 
tienten während der Sanarthritbehandlung 
nicht mit den sonst üblichen Mitteln be¬ 
handelt wurde. Ich habe zum Vergleich 
eine Anzahl früherer Krankengeschichten 
herausgegriffen und finde da meist den 
betrüblichen Entlassungsvermerk: ,,im ob¬ 
jektiven Befunde ist keine wesentliche 
Veränderung eingetreten“. Ich glaube 
deshalb berechtigt zu sein, auch die 
wenigen Patienten, die außer mit Sanar- 





Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


219 


thrit noch mit Heißluft, Moor, heißem 
Sand, Lichtbädern, Salicylpräparaten und 
Fibrolysin behandelt worden sind, auch 
für das Sanarthrit in Anspruch nehmen zu 
können. Die Erfolge waren für die Pa¬ 
tienten zum Teil recht erfreülich. Es ist 
z. B. ein alter Mann darunter, dessen 
Finger und Zehen völlig versteift waren, 
so daß er ganz hilflos auf fremde Wartung 
angewiesen war. Er war sehr dankbar, 
als er nach der Behandlung seinen Kaffee¬ 
topf wieder selbst fassen und wieder selbst 
essen konnte. Freilich an Heilners Re¬ 
sultate reicht kein einziger unserer Fälle 
heran. Hei ln er hat in seiner ersten Mit¬ 
teilung eine Statistik über 30 Fälle ver¬ 
öffentlicht, die meist schon nach einer 
Injektion nahezu schlagartig völlige Be¬ 
schwerdefreiheit gezeigt haben. Der¬ 
artige vollkommene Heilungen haben wir 
nie gesehen, die erste Injektion hat über¬ 
haupt nur ganz selten eine deutliche Re¬ 
aktion gegeben. 

Arthritis urica, die Hei ln er recht 
viel behandelt hat, haben wir leider das 
ganze Jahr nicht zu sehen bekommen. 
Den Erfolgen Heilners bei der Gicht 
muß man aber wohl sehr skeptisch gegen¬ 
überstehen, denn der Gichtanfall hat ja 
doch die Eigenschaft, auch von selbst 
vorüberzugehen, und ein längeres auch 
über Monate dauerndes Aussetzen der 
Anfälle kommt spontan vor und braucht 
durchaus keine Heilung zu bedeuten. 

Dieselbe Anschauung vertritt auch 
Umber (7), er hat bei zwei Fällen echter 
Gicht. durchaus keinen Erfolg gesehen. 
Dagegen hat er bei der primären chro¬ 
nischen Arthritis und Arthritis deformans 
auch gute Resultate erzielt. Im Gegen¬ 
satz zu uns, allerdings bessere bei der 
primären chronischen Arthritis, aber er 
sagt selbst, daß bei dem regionär ver¬ 
schiedenartigen Charakter des Leidens 
andernorts die Indikation anders gestellt 
werden kann. Umber bestätigt gleich¬ 
falls den Rückgang von periartikulären 
Verdickungen, die Zunahme der Motilität 
und die Besserung des subjektiven Be¬ 
findens. Wunderheilungen hat auch er 
nie gesehen. 

Was ist nun das Wirksame am Sanar¬ 
thrit? Wenn die Heilnersche Theorie 
richtig wäre, so würde das Verhalten der 
primären chronischen Arthritis von Be¬ 
deutung sein. Es stehen vier gut beein¬ 
flußten Fällen zehn refraktäre gegenüber. 
Es wäre möglich, daraus auf eine ver¬ 
schiedene Ätiologie zu schließen. Die 
Klinik würde für einen solchen Fingerzeig 


dankbar sein, dehn die Umschreibung 
dieser Gruppe ist noch durchaus nicht 
einheitlich. Umgekehrt würde die zu¬ 
verlässige Reaktion der Arthritis de¬ 
formans auf das Mittel auf eine, auch 
ätiologisch geschlossene Gruppe schließen 
lassen. Hier die Ursache in einer Stoff¬ 
wechselanomalie zu sehen, begegnet keinen 
/Schwierigkeiten. 

Schwer ist es dagegen, mit einer Um¬ 
stimmung der Gewebe im Hei ln ersehen 
Sinne die geringe Quantität des Mittels 
und die Schnelligkeit der Wirkung, be¬ 
sonders in seinen eigenen Fällen, in Ein- 
^klang zu bringen. Selbst wenn der in¬ 
jizierte Ccm Sanarthrit vollständig vom 
erkrankten Knorpel aus dem Blute 
herausgefangen wird, kann man sich die 
Wiederherstellung des Gewebsschiitzes 
doch nur analog einer Organtherapie so¬ 
lange denken, bis alles wieder ausgeschie¬ 
den ist. Die Stoffwechselanomalie selbst 
wird ja durch das Sanarthrit gar nicht 
berührt. 

Es muß wohl also ein anderer wirk¬ 
samer Faktor im Sanarthrit enthalten 
sein. Die starke Reaktion ähnelt in bezug 
auf die Ailgemeinerscheinungen so stark 
dem bekannten Bilde der Proteinkörper¬ 
therapie, daß der Verdacht, es möge sich 
einfach um die Eiweißwirkung des 
Knorpelextraktes handeln, sehr nahe liegt. 
Das Sanarthrit enthält aber kein Eiweiß. 
Ich bemerkte eingangs schon, daß das 
Extrakt fabrikmäßig enteiweißt wird. 
Das käufliche Sanarthrit gibt in der Tat 
weder die Kochprobe noch die Biuret- 
reaktion. Dagegen konnten in unserem 
chemischen Laboratorium Aminosäuren 
nachgewiesen werden. Obwohl wir es 
hier sehr wahrscheinlich mit einem spe- 
cifischen Prozeß zu tun haben, und man 
andererseits den Aminosäuren im all¬ 
gemeinen specifische Wirkungen ab¬ 
erkennt, haben wir doch vergleichende 
Versuche mit Proteinkörpern bei der 
chronischen Arthritis vorgenommen. Denn 
vermutlich wird ja auch das parenteral 
einverleibte Eiweiß über Aminosäuren 
abgebaut. 

Wir haben Milch verwandt, 10 bis 
.20 ccm intraglutäal, und das Caseosan, 
ein neues Caseinpräparat der Firma 
Heyden, für intravenöse Injektionen, 
außerdem, in einigen geeigneten Fällen, 
Gonargin. Die Reaktion war nahezu in 
allen Fällen gleichmäßig; ein Schüttel¬ 
frost mit mehr oder weniger hohem 
Fieber, oft, wenigstens bei der Milch, 
höher als beim Sanarthrit. Aber nie sahen 


28* 



220 


Die Therapie der Gegenwart 1920 * Juni 


wir eine ,Spur von Herdreaktionen am 
erkrankten Gelenk. Gewiß wurden in 
vielen Fällen Schmerzen geklagt, aber 
die wurden dann entweder über die Brust 
oder in die langen Röhrenknochen ver¬ 
legt, nie isoliert in ein Gelenk, und eine 
Hauthyperthermie ließ sich auch nicht 
nachweisen. Trotzdem läßt sich nicht 
leugnen, daß von den zehn nur mit Milclf 
behandelten Fällen zwei deutlich besser 
geworden sind. Es sind das ein Fall von 
Malüm coxae und ein Fall von Arthritis 
deformans mit starken Verkrümmungen 
der Finger und Zehen. Aber einwandfrei 
zeigten diese, wie.die anderen Fälle, nie¬ 
mals eine Herdreaktion. Sie kam auch 
dann nicht zur Beobachtung, wenn wäh¬ 
rend,^ einer Sanarthritkur eine und die 
andere Injektion durch einen Protein¬ 
körper ersetzt wurde. 

Wir haben dann noch das Sanarthrit 
am Gelenkgesunden versucht und haben 
zwei Hysteriker, die über Steifigkeit der 
Gelenke klagten, und zehn Gonorrhoiker, 
an Stelle von Gonargin, ein- und mehr¬ 
mals mit Sanarthrit gespritzt. Wir haben 
auch da einzelne starke All^emeinreak- 
tionen bekommen, aber nur bei einem 
Gonorrhoiker ziehende Schmerzen im 
rechten. Ellenbogen beobachten können, 
die als Herdreaktion hätten gedeutet wer¬ 
den können. Es mag sein, daß es sich 
um eine Heilnersehe „Mahnung“ ge¬ 
handelt hat. Allerdings ist der Patient 
geheilt entlassen worden, und ein anderer 
mit schwerer gonorrhoischer Arthritis hat 
auf Sanarthrit wiederholt gar nicht rea¬ 
giert, aber er kann ja früher einmal eine 
echte Arthritis durchgemacht haben. 

Das Sanarthrit wirkt also offenbar 
specifisch. Die Specifität ist neuerdings 
von Schmidt (8) geleugnet worden. 
Schmidt macht sich anheischig, mit 
Milch ebensolche Herdreaktionen erzielen 
zu können, wie sie beispielsweise mit 
Tuberkulin zu bekommen sind. Den 
Quantitätsunterschied erklärt er mit der 
höheren phlogistischen und pyrogeneti¬ 
schen Potenz des Tuberkelbacillen¬ 


ei'weißes. Man ist versucht, dies für eine 
Umschreibung des alten Wortes Specifität 
zu nehmen. Aber er meint, daß ein 
Eiweiß mit gleicher Potenz gefunden 
werden könnte, das mit der Entstehung' 
der Tuberkulose nichts zu tun hat. 
Schmidt geht an Hand der Wirkung 
einiger Arzheimittel und der Provoka¬ 
tionsmethoden der Malaria schließlich so 
weit, zu sagen, daß jeder Eingriff, der 
den Körper nur, einigermaßen kräftig 
und überraschend trifft, zu allermeist an 
einem etwa bestehenden Krankheitsherde 
bemerkbar werden wird, daß also eine 
Herdreaktion zustande kommt. Er tut 
dabei auch das Sanarthrit als unspecifische 
Proteinkörperwirkung ab. Er übersieht 
dabei, daß das Sanarthrit kein Protein¬ 
körper mehr ist. Aber selbst wenn das, 
wie er glaubt, zur Herdwirkung nicht 
nötig ist, so haben doch unsere Versuche 
gezeigt, daß mit Proteinkörpern nie eine 
specifische Gelenkwirkung zu erzielen 
war, die sich mit unseren Mitteln nach¬ 
weisen ließe. Daß also für Sanarthrit 
und Milch auch kein Parallelismus der 
Wirkung besteht, wie ihn Schmidt für 
Tuberkulin und. Milch annimmt, denn 
wir haben bis zu 20 ccm Milch gegeben. 

Wir stehen also nicht an, dem Sanar¬ 
thrit eine specifische Wirkung auf er¬ 
krankte Gelenke zuzusprechen und in 
geeigneten Fällen, namentlich bei der 
Arthritis deformans, auch eine bessernde. 
Den Optimismus des Erfinders können 
wir nicht teilen. In der Prognosestellüng 
wird man gut tun, sich sehr vorsichtig 
auszudrücken. Eine Restitutio ad integrum 
darf nicht erwartet werden. Aber bei der 
trostlosen Lage der Therapie der chroni¬ 
schen Arthritis sonst kann das Sanarthrit 
gewiß gern willkommen geheißen werden. 

Literatur: 1. Heilner, M. m. W. 1916, 
Nr. 27. — 2. Heilner, M. m. W. 1917, Nr. 28. 
— 3. Heilner, M. m. W. 1918, Nr. 36. — 

4. Brugsch u. Citron, Zschr. f. exp. Path. 6, 

5. 401. — 5. Umber, Lehrb. d. Ernähr. u.Stoffw. 
Krankh. 1909, S. 272. — 6. Allard u. Groß, 
Arch. f. exp. Path. 59, S. 384. — 7. Umber, 
M. m. W. 1918, Nr. 36. — 8. Schmidt, D. A. 
f. klin. M. 131, S. 1. 


(Aus der 11. inneren Abteilung des Städtischen Krankenhauses Berlin-Moabit. 

(jeh. Bat Prof. Dr. W, Zinn.) 

Das Trypaflavin als inneres Therapeutikum. 

Von Konrad Ruhnau. 


Das Trypaflavin ist auf Veranlassung 
von Paul Ehrlich von L. Benda dar¬ 
gestellt und beschrieben worden. Es ist 
ein gelber Farbstoff, chemisch ein Dia- 


mino-methyl-akridinium-Chlorid und hat 
seinen Namen, weil es von Ehrlich für 
wirksam gegen Trypanosomen befunden 
wurde. 





221 


Juni Die Therapie »der 


In seiner Wirkung eingehend studiert 
wurde es zuerst von dem englischen 
Chirurgen und SchülerEhrlichs, Brow¬ 
ning. Er wies nach, daß' das Trypaflavin 
nicht nur eine hohe bactericide und 
antiseptische Wirkung hat, sonderp daß 
diese Wirkung sich bei Zusatz von Serum 
erhöht, während seine gewebsschädigende 
und die Phagocytose hemmende Kraft 
außerordentlich gering ist. Er verwendete 
das Trypaflavin in saurer einpromilliger 
Lösung als äußeres Desinfiziens, sah 
gute Erfolge davon und schuf den) Prä¬ 
parat in England weitestgehende Ver¬ 
breitung. In Deutschland hat das Trypa¬ 
flavin sich nur schwer einbürgern können. 
Es hat nämlich den Nachteil, daß es 
ein intensiv gelber Farbstoff ist und 
Hände und Wäsche unangenehm be¬ 
schmutzt, ein Übelstand, der die das 
Trypaflavin herstellende Firma genötigt 
hat, dem Präparat eine Anweisung zur 
Reinigung der Hände und Wäsche mit¬ 
zugeben. Immerhin »existiert auch in 
Deutschland eine reichliche Literatur über 
die erfolgreiche Verwendung des Trypa- 
flavins in der chirurgischen, dermatolo¬ 
gischen, urologischen, zahnärztlichen und 
Allgemeinpraxis. 

In letzter Zeit ist man dazu über¬ 
gegangen, das Trypaflavin — entsprechend 
den ursprünglichen Absichten Ehrlichs 
— als inneres Desinfiziens zu verwenden. 
Kalberlah und Schloßberger nehmen 
auf eine Anregung von Ko Ile die Ver¬ 
suche wieder auf, bestätigten die von 
Ehrlich festgestelltte trypanocide Wir¬ 
kung, des Trypaflavins bei Mäusen und 
studierten die Wirkung des Präparats bei 
menschlicher chininresistenter Malaria. 
Sie gaben sechs Einspritzungen von 10 
bis 50 ccm einer halbprozentigen Lösung, 
sahen danach keinerlei Schädigungen, aber 
auch keinen Einfluß auf dfe Krankheit. 

Neufeld und Schiemann kamen 
auf Grund von Tierexperimenten zu dem 
Ergebnis, daß das Präparat von der 
Blutbahn aus im lebenden Körper Bak¬ 
terien zu töten vermag. Ungefähr gleich¬ 
zeitig hatte Bohland bei therapeutischen 
Versuchen an Menschen günstige Erfolge 
erzielt. Er injizierte drei- bis viermal 
durchschnittlich 0,1 g Substanz in halb¬ 
prozentiger Lösung und beobachtete bei 
Influenzapneiimonien, Septikämien, einer 
Pyelonephritis mitCystitis fast ausnahms¬ 
los lytische Entfieberung und schnelle 
Rekonvaleszenz. Bald darauf berichtete 
Bohland von weiteren sehr günstigen 
Heilerfolgen bei Sepsis, Colipyelitis und 


Gegen wärt 1920 

Pneumonie. Bis auf eine Herabminderung 
der Erythrocyten um eine halbe Million 
im Qubikmilliimeter nach der Injektion 
sah er niemals schädliche Einwirkungen. 
Als kontraindiziert sah er nur Fälle von 
akuter hämorrhagischer Nephritis an. 

Im Februar d. J. berichte G. Spieß 
von einer Heilung eines Falles von Menin¬ 
gitis nach endonasaler Operation eines 
Hypophysentumors durch Trypaflavin- 
injektionen. Er injizierte durchschnitt¬ 
lich täglich 0,5 g Substanz in einhalb- bis 
zwei prozentiger Lösung, im ganzen 3,1 g 
Trypaflavin und 10 ccm Trypaflavin- 
silber (Argoflavin). Da Meningitiden im 
Anschluß an Operationen, bei denen eine 
Kommunikation des Endocraniums mit 
der Außenwelt auftritt, erfahrungsgemäß 
I eine absolut infauste Prognose haben, so 
glaubt Spieß die Heilung ausschließlich' 
dem Trypaflavin zuschreiben zu müssen. 
In Zukunft will Spieß zwölfstündlich, 
solange als erforderlich, 100 bis 150 ccm 
einer halbprozentigen Lösung beziehungs¬ 
weise eine entsprechend verminderte Menge 
einer zweiprozentigen Lösung in Ver¬ 
bindung mit einem Silberpräparat geben. 

Auf der II. Inneren Abteilung des 
Krankenhauses Moabit wurden mitTrypa- 
flavin behandelt 7 schwere Grippe¬ 
pneumonien, 6 Erkrankungen an ein¬ 
facher Grippe, 6 Erysipele, 1 Fall von 
chronischer Endokarditis und 1 Fäll 
von chronischem Gelenkrheumatismus. 
Im. allgemeinen wurde das Trypaflavin 
im Sinne Bohlands in Dosen von 0,1 : 20 
täglich bis zweitäglich bis zu dreimal in 
Summa gegeben. Bei einem schweren 
Gesichtserysipel gaben wir in Anlehnung 
an die Erfahrungen von G. Spieß größere 
Dosen (am ersten Tag 0,5 : 20, am zweiten 
Tag 0,4 : 20). ln- dem Falle von chroni¬ 
schem Gelenkrheumatismus hielten wir 
mit einer Dosierung von zweimal 0,2 : 20 
die Mitte. Irgendeine Schädigung sahen 
wir nicht. Die Beobachtung Bohlands 
von der Herabminderung der Erythrocyten 
von der Herabminderung der Erythro¬ 
cyten um eine halbe Million im Kubik¬ 
millimeter konnten wir bestätigen. 

Von den sieben schweren Grippe¬ 
pneumonien führten sechs zum Tode. Der 
einzige Fall, der zur Heilung kam, bot 
auch klinisch das leichteste Krankheits¬ 
bild. Eine entscheidende Beeinflussung 
fand also in keinem Falle statt. Nach 
den Injektionen war weder eine subjek¬ 
tive noch objektive Besserung feststell¬ 
bar. Ein Übergreifen des Prozesses auf 
andere Lungenteile wurde nicht ver- 




222 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juni 


hindert. Ein kritischer Temperaturabfall 
trat niemals ein. Die Abendtemperaturen 
am Tage der Injektion (es wurde stets 
mittags injiziert) waren gewöhnlich höher 
als die Temperaturen zur Zeit der Injek¬ 
tion. ‘Die Temperaturen am Tage nach 
der Injektion waren zum Teil gegen den 
Vortag unverändert oder sogar gesteigert, 
zum Teil waren sie im Vergleich zu den 
Temperaturen der vorangegangenen und 
folgenden Tage verhältnismäßig niedrig, 
zum Teil fielen sie noch bis in die Mittag¬ 
stunden ab. Möglicherweise stehen die 
beiden letzten Beobachtungen im Zu¬ 
sammenhang mit den Trypaflavininjek- 
tionen. 

Di.e Erkrankungen an einfacher Grippe 
waren durchweg leicht bis mittelschwer. 
Sie führten zur völligen Genesung. Eine 
Entscheidung, ob eine Einwirkung des 
Trypaflavins vorliegt oder nicht, ist hier 
noch schwieriger als bei den schweren 
Grippepneumonien, ln vier Fällen glaube 
ich jedoch keinen Einfluß erkannt zu 
haben, in den beiden anderen Fällen trat 
nach der letzten Injektion ein — vorüber¬ 
gehender — Temperaturabfall ein, der 
möglicherweise auf das Trypaflavin zu¬ 
rückzuführen ist. 


Bei den Erysipelerkrankungen führte 
ein Fall durch Kreislaufschwäche zum 
Tode, die anderen kamen zur Genesung. 
Eine entscheidende Beeinflussung fand 
in keinem Falle statt. Auch in den Fällen, 
in denen man eine Beeinflussung an¬ 
nehmen könnte, boten die Fieberkurven 
nichts Abweichendes von den gewöhn¬ 
lichen Erysipelkurven. Bei dem Fall, 
der mit hohen Trypaflavindosen behandelt 
wurde, konnten die Injektionen ein Wei¬ 
terwandern des Erysipels nicht ver¬ 
hindern. 

In dem Fall von chronischer' Endo¬ 
karditis und chronischem Gelenkrheu¬ 
matismus konnten wir keinen Einfluß des 
Trypaflavin erkennen. 

Unsere Erfolge mit der intravenösen 
Trypaflavintherapie sind also nicht er¬ 
mutigend. Um zu einem abschließenden 
Urteil über das Präparat zu kommen, 
wären die Versuche an größerem Material, 
in größerer' Dosierung eventuell kombi¬ 
niert mit einem Silberpräparat, z. B. in 
Form des Argoflavin, fortzusetzen. Auf 
jeden Fall erscheint es nach unseren Er¬ 
fahrungen verfrüht, das Trypaflavin schon 
jetzt als inneres Therapeutikum in die 
tägliche Praxis einzuführen: 


Zusammenfassende Übersicht. 

Neue Bestrebungen in der diätetischen Behandlung des Diabetes^). 

Von A. Albu, Berlin. 


In der Geschichte der inneren Medizin 
gibt es wohl kaum eine schroffere Wand¬ 
lung der Anschauungen, wie sie sich gegen¬ 
wärtig in den Grundlagen für die Be¬ 
handlung der Zuckerharnruhr geltend 
macht. Es ist eine wahre Revolution des 
Geistes, die alles über den Haufen zu 
werfen droht, was mehrere Generationen 
von Ärzten sich mühsam an Kenntnissen 
erworben haben. ,,Bete an, was du bisher 
verflucht, und verfluche, was du bisher 
angebetet.“ An dieses bekannte Wort 
des Bischof Remigius von Reims beim 
Übertritt des Frankenkönigs Chlodwigs* 
zum Christentum wird man erinnert, 
wenn man die neueste Entwicklung der 
wissenschaftlichen Erörterungen der Dia¬ 
betestherapie überblickt, welche in dem 
hier angezeigten Faltaschen Buch am 
schärfsten zum Ausdruck kommt. Diese 
Revolution ist freilich so wenig wie irgend 
eine andere das Werk Einzelner, und sie 

Die Mehlfrüchtekur bei Diabetes mellitus, 
von Professor Dr. W. Falta, Wien (Verlag von 
Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1920). 


ist auch nicht plötzlich erstanden, son¬ 
dern sie hat sich ganz allmählich von 
innen heraus gestaltet auf Grund reicherer 
Erfahrungen und reiferer Erkenntnisse 
vieler Sachverständiger, welche mit den 
bisherigen Grundsätzen der Diabetes¬ 
behandlung nicht die wünschenswerten 
Erfolge aufzuweisen hatten. Das Bessere 
ist stets der Feind des Guten, und die 
Wissenschaft insbesondere darf niemals 
aufhören, das höchste Ziel zu erstreben. 
So erklären sich die seit Jahrzehnten un¬ 
unterbrochen fortgesetzten Bemühungen, 
die Diabetesdiät, die ja nach wie vor 
den einzigen Angel- und Ruhepunkt in 
der Behandlung dieser Krankheit bildet, 
immer mehr zu vervollkommnen, ins¬ 
besondere für die schweren Fälle, an 
denen ja oft unser heißestes Bemühen 
scheitert. Die Ärzte werden wieder einmal 
umlernen müssen. Länger als ein Jahr¬ 
hundert herrschte das Schuldogma, daß 
für den Diabetiker der Genuß der Kohle¬ 
hydrate grundsätzlich verboten werden 
müsse. An deren Stelle war das Fleisch 




Juni , Die Therapie der 


und die eiweißhaltige Nahrung überhaupt 
getreten, in^ deren Verordnung man sich 
nicht genug tun konnte, um den Ernäh¬ 
rungszustand des Kranken auf der alten 
Höhe zu erhalten. Jetzt klingt das hohe 
Lied der Wissenschaft ^ganz anders: Die 
vielfach noch übliche Überfütterung der 
Zuckerkranken wird verpönt, die Fleisch¬ 
nahrung wird für schädlich erachtet, die 
Eiweißzufuhr möglichst eingeschränkt, 
und die qualitative und quantitative 
Grundlage für die Ernährung der Diabe¬ 
tiker sollen — es scheint fast paradox, es 
auszusprechen — die Kohlehydrate bih 
den! Angebahnt war dieser Umschwung 
der Anschauungen zuerst durch von 
Noordens Entdeckung der Haferkur, 
welche; ihre richtige Deutung dann durch 
Blums . Untersuchungen mit Weizen¬ 
darreichung erfuhr. Sie waren die Ver¬ 
anlassung zur Prüfung der Wirkungen 
weiterer Kohlehydratarten auf den Stoff¬ 
wechsel der Diabetiker. Daraus ent¬ 
wickelte sich die praktische Empfehlung 
verschiedener Kuren, die immer nur eine 
Kohlehydratart als Inhalt hatte. Das 
galt als Voraussetzung ihrer Wirksam¬ 
keit. Auch konnte man solche Kuren 
meist nur für eine kurze Frist von Tagen 
durchführen,' wie es zuerst von Noorden ^ 
für die Haferkur empfohlen hatte, weil 
die Eintönigkeit derartiger Kuren meist 
schnell den Widerstand der Kranken 
herausfordert. Hier setzten die For¬ 
schungen Faltas im Jahre 1914 ein, 
die ihn jetzt zu dem Ergebnis geführt 
haben, daß auch gemischte Kohlehydrat¬ 
kuren sich in der Behandlung des Diabetes 
mellitus als außerordentlich wirksam er¬ 
weisen und noch den großen Vorzug haben, 
auf die längere Dauer von zehn Tagen 
und mehr, in einzelnen Fällen selbst 
monatelang durchführbar zu sein. Das 
von Falta befürwortete Regimen setzt 
sich in der Hauptsache aus verschie¬ 
denen Amylaceen (Hafer, Weizen, Grün- 
. kern, Reis, Hirse, Mais, Gries, Erbsen, 
Bohnen, Linsen, Kartoffeln und Brot) 
zusammen und wird von ihm deshalb als 
,,Mehlfrüchtekur.“ bezeichnet. In der 
vorliegenden ausführlichen Abhandlung 
bringt Falta außerordentlich umfang¬ 
reiche und sorgfältig ausgearbeitete Er¬ 
gänzungen zu seinen früheren Mittei¬ 
lungen, die er dadurch zu einem beach¬ 
tenswerten. Lehrgebäude abrundet. Um¬ 
fassende Untersuchungen an 40 ein¬ 
gehend mitgeteilten Krankheitsfällen legt 
er der von ihm empfohlenen diätetischen 
Therapie zugrunde, für die er auch eine 


öegenwart 1Ö20' 223 


exakte Begründung auf Grund der neue¬ 
sten wissenschaftlichen Anschauungen und 
eigener Forschungen zu geben sucht. 

Bevor ich die näheren Einzelheiten 
der Theorie und Praxis dteser neuen Be¬ 
handlungsmethode der Zuckerharnru^hr 
hier wiedergebe, um ihre voll berechtigte 
und dringend notwendige Nachprüfung 
durch weite Ärztekreise zu befürworten, 
scheint es mir am Platze, darauf hinzu¬ 
weisen, daß die Auffassung Faltas über 
die Stellung seiner „Mehlfrüchtekur“ im 
Rahmen der bisher empfohlenen Kohle¬ 
hydratkuren, wenigstens in der Dar¬ 
stellung seines neuesten Buches, eine 
historisch und sachlich unzulängliche und 
ungerechte ist. Falta nimmt für seine 
Mehlfrüchtekur die Originalität der Ent¬ 
deckung in Anspruch und weist, wie mir 
scheint, mit vollem Recht den Einwand 
von Noordens zurück, daß die ge¬ 
mischte Amylaceenkost nur eine etwas 
veränderte Wiederholung der alten von 
Düringschen Reiskur sei. Denn letztere 
verwendete in^der Tat nicht unerhebliche 
Mengen von Fleisch, Milch und Eiern, 
also reichlich animalisches Eiweiß, das in 
Faltas diätetischen Regimen streng ver¬ 
pönt ist. Aber Falta übersieht, daß 
gemischte Kohlehydratkuren mit starker 
Beschränkung des Eiweißes und völliger 
Ausschaltung des Fleisches auch schon vor 
ihm zuerst von Ko lisch und dann wieder¬ 
holt von mir 2) nachdrücklich befürwortet 
und angewendet worden sind. Denn was 
sind denn vegetarische Diätkuren anderes 
als gemischte Kohlehydratkuren? Der 
Unterschied ist doch nur der, daß statt 
der Amylaceen hier vorwiegend Gemüse 
und Obst verwendet werden, welche ja 
auch Falta in seiner ,,C-“ und ,,D-“Kost 
in den Rahmen seiner Diät einschließt 1 
Das KH der Amylaceen ist Stärkemehl, 
d. h. ein Polysaccharid, das KH der 
Gemüse- und Obstarten sind meist Glu- 
cosen, das heißt Monosaccharide. Aber 
nicht einmal dieser Unterschied zwischen 
Amylaceenkost und vegetarischer Diät 
ist durchgreifend; denn abgesehen davon, 
daß viele Obst- und Gemüsesorten auch 
Polysaccharide enthalten, wie Dextrin, 
Inulin, Lävulin, Galaktan, Gummi, 
Pflanzenschleim, Inosit, Pektinstoffe und 
dergleichen, so werden doch die Poly¬ 
saccharide durch die Einwirkung der 
Fermente im Verdauungskanal hydro¬ 
lysiert und gehen in die Monohexosen 
über. Von der Glucose führt eine un¬ 
unterbrochene chemische Entwicklungs- 

2) Zuletzt in dieser Zeitschrift, März 1920. 



• . ♦ - ^ V ' ^ ^ - 

224. Die Therapie der 


reihe über die Maltose (Isomaltose), Dex¬ 
trin und Amylodextrin zur Stärke, Wie 
weit die Monosaccharide im Tierkörper 
durch Wasserentziehung in Polysaccha¬ 
ride übergehen, ist zurzeit noch nicht be¬ 
kannt. Im Reagensglasversuch ist das 
für Gummi, Pflanzenschleim und Cellu¬ 
lose nachgewiesen. Jedenfalls verwendet 
Faltä in seiner Kostordnung „C“ und 
namentlich in „D'‘ auch ein buntes Ge¬ 
misch von Poly- und Monosacchariden, 
das ^Sich von der Zusammensetzung der 
vegetarischen Kost nur dadurch unter¬ 
scheidet, daß bei ihr die ersteren vor¬ 
walten. Der von ihm auf gestellte Satz: 
„Die Kohlehydrate sind in der Mehl¬ 
früchtekost nicht in Form von Monosen, 
sondern . als . Stärke enthalten“ (S. 25), 
deckt sich nicht mit der Zusammen¬ 
setzung der Diätformen „C“ und „D“, 
die Falta nach seiner eigenen Angabe 
(S. 46), in den letzten Jahren am meisten 
verwendet. 

In welchem Umfange die Hexosen 
im Organismus des Zuckerkranken zer¬ 
setzt werden oder nicht,' hängt meines 
Erachtens gar nicht allein von der chemi¬ 
schen Konstitution der verwendeten Hex¬ 
osen ab, sondern vielmehr von der Menge, 
der Art, und'der Dauer ihrer Darreichung 
und in noch viel höherem Grade von den 
begleitenden Nährstoffgemischen, inner¬ 
halb deren die Zersetzung der Hexosen 
vor sich geht, d. h. in erster Reihe von 
der Art und Menge des begleitenden Ei¬ 
weißes. 

In Bezug auf den Caloriengehalt deckt 
sich Faltas Mehlfrüchtekost mit der von 
mir empfohlenen vegetarischen Diät haar¬ 
scharf: nämlich 2700 bis 2800 Calorien 
pro die. An Eiweiß bietet erster.e etwa 
58 g, letztere dagegen etwa 75 g (weil sie 
zwei Eier und 50 g Käse gestattet, deren 
animalischer Eiweißgehalt nur wenig über 
denjenigen in Faltas Rahmzusatz in 
Kost.,,D“ hinausgeht). An KH bietet 
Falta 140 g, die früher von mir angege¬ 
bene vegetarische Diätform nur 90 g. 
Nun ist es ein Leichtes, wie ich nach mehr¬ 
jährigen Erfahrungen in der demnächst 
erscheinenden neuen Auflage meiner 
,, Grundzüge für die Ernährung vonZucker¬ 
kranken“ (Halle 1912) zeigen werde, die 
vegetarische Diät in der Weise zu ver¬ 
ändern, daß man noch eiweißärmere und 
kohlehydratreichere Gemüse und Obst¬ 
arten einsetzen kann, wie: Kartoffeln, 
Schwarzwurzeln, Teltower Rüben, Arti¬ 
schocken, Winterkohl und andere Kohl¬ 
arten, deren N-Gehalt ja meist nur zur 


Gegenwart 1^20 " L . 


Hälfte odet sogar nur zu einem Drittelaus 
Protein besteht (!), ferner einige Dörr¬ 
gemüse, z. B. Karotten, schließlich auch 
die gemischten Suppenkräuter (sogenannte 
Julienne), Sellerie, Meerrettich u. a. m. 
Den hauptsächlichsten Calorienträger bil¬ 
det sowohl in der Amylaceenkur Faltas 
wie in der vegetarischen Diät das Tett. 
Falta nimmt sogar noch den Alkohol in 
Form von Wein oder Kognak in Anspruch, 
um die nötige Calorienhöhe zu erreichen. 

Nach alledem muß ich betonen, daß 
kein grundsätzlicher Unterschied weder 
in der Zusammensetzung, noch in der 
Art der Wirkungsweise zwischen der 
Mehlfrüchtekur und der vegetarischen 
Diät besteht; denn das wesentliche der 
beiden diätetischen Prinzipien gemein¬ 
samen, praktisch bewährten Wirksam¬ 
keit ist ausschließlich in der Eiweißarmut 
unter Ausschluß des Fleisches zu suchen. 
Die Vorstellung von einer specifischen 
Wirkung der Haferstärke u. dgl. ist ja 
nach den Erfahrungen mit anderen Kohle¬ 
hydra tkuren jetzt wohl fast allgeniein 
auf gegeben. palta erwähnt in der 
historischen Einleitung seines Buches die 
vegetarische Diät kurz einige Male, aber 
er hat sie weiterer Betrachtung und Beur¬ 
teilung und eines V'ergleiches mit seiner 
Mehlfrüchtekur nicht gewürdigt. Das 
halte ich im Interesse der Sache für 
bedauerlich, weil die Grundlagen beider 
Diätkuren nahezu die gleichen sind. Ich 
• habe die Überzeugung, daß Faltas Mehl¬ 
früchtekur nunmehr auch der vegetari¬ 
schen Diät den Weg in die ärztliche Praxis 
ebnen wird, der ihr bisher doch nur des¬ 
halb verschlossen geblieben ist, weil nun 
einmal der hauptsächlich von Außen¬ 
seitern geschaffene, geförderte und auf¬ 
rechterhaltene' Vegetarismus sich noch 
immer nicht das Interesse der Schul¬ 
medizin hat erringen können. Es wird 
nun hoffentlich endlich anders werden, 
wenn das vorherrschende Eiweißdogma 
auch in der Therapie des Diabetes melli¬ 
tus endgültig gebrochen ist. 

Jedenfalls lehren auch die reichen Er¬ 
fahrungen Faltas, daß in der Behand¬ 
lung der Zuckerharnruhr kein starres und 
einseitiges diätetisches Prinzip notwendig 
oder zweckmäßig ist, sondern nach Mög¬ 
lichkeit gemischte Nahrung meist den 
Vorzug yerdient, eben weil nur solche 
immer auf längere Zeit durchführbar ist. 
So gewährt Falta zur Mehlspeisekost 
z. B. Zulagen von Kartoffeln und auch 
Brot, und zwar nicht nur Luftbrot, 
sondern öfters auch Weiß- oder Schrot- 




Juni Die Thefapie der Gegenwart 1920. 225 


brot — Nahrungsmittel, die von manchen 
Diabetikern, wenn man sie zur Fleisch¬ 
kost zusetzt, bekanntlich durchaus schlecht 
vertragen werden. Ebenso ist es übrigens 
auch mit dem Obst, dessen Toleranz 
nach meinen Erfahrungen im Rahmen 
einer vegetarischen Diät weit größer ist 
als bei strenger Fleisch-Fettkost selbst in 
kleinen Zulagen. Bei Fällen mit schwerer 
AcidosiS' unterbricht Falta die lang¬ 
fristige Amylaceenkur zeitweise 'durch 
Einschaltung von Gemüsetagen, wie ich 
es in gleicher Weise bei Durchführung 
der vegetarischen Diätkuren beim Diabe¬ 
tes mellitus empfohlen habe. 

Faltas kühnes Vorgehen wird vor¬ 
aussichtlich eine neue Ära in der diäte¬ 
tischen Diabetesbehandlung eröffnen. Als 
Beispiel seiner Kurvorschriften sei hier 
die Amylaceen-Gemüsekost wieder¬ 
gegeben, die sich wie folgt zusammensetzt: 
Fünf Portionen Amylaceen von je 30 g 
Weizen- oder Hafermehl, 30 g getrocknete 
Linsen oder Erbsen, 30 g Reis oder 30 g 
Nudeln, 100 g Kartoffeln und 40 g 
Semmel oder 50 g Schrotbrot. Von 
diesen fünf Portionen Amylaceen sollen 
zwei in Suppenform, zwei als Breie ge¬ 
reicht werden. Dazu kommen 600 g 
Gemüse, 220 g Butter (in heutiger Zeit 
wohl nur wenigen Sterblichen täglich er¬ 
reichbar!), 400 g Wein und 50 g Kognak. 

Diese Nahrungsmittel lassen sich in 
folgender Weise zweckmäßig verteilen: 

1. Frühstück, bestehend aus Kaffee oder 
Tee mit 25 g Schrotbrot und Butter; 

2. zweites Frühstück, bestehend aus einer 
Suppe mit 30 g Hülsenfrüchtemehl, Luft¬ 
brot und Butter, ein. Glas Wein; 3. Mittag¬ 
essen, bestehend aus einer Suppe mit 15 g 
Hülsenfrüchtemehl, einer Gemüseplatte, 
Risotto von 30 g Reis, Luftbrot und 
Butter, ein Glas Wein, schwarzer Kaffee; 


4. nachmittags wie früh; 5. Abendessen, 
bestehend aus einer Suppe mit 15 g Hül¬ 
senfrüchtemehl, Gemüse mit 100 g Kar¬ 
toffeln, Luftbrot und Butter, ein Gläs¬ 
chen Kognak und ein viertel Liter Wein. 

Falta gibt im zweiten^und achten 
Kapitel seines Buches ganz ins einzelne 
gehende Darstellungen der praktischen 
Anwendung und Durchführung seiner 
Diätform und begründet im sechsten 
Kapitel ausführlich die theoretischen 
Grundlagen der Mehlfrüchtekur. Der 
dritte Abschnitt schildert eine Reihe 
eigener Untersuchungen über den Eiwei߬ 
stoffwechsel und den Eiweißbedarf bei 
dieser Ernährungsweise sowohl bei Ge¬ 
sunden wie bei Zuckerkranken, die dabei 
nicht nur im N-Gleichgewicht geblieben 
sind, sondern auch sogar noch an N zu¬ 
rückgehalten haben. Kapitel 4 behandelt 
im Zusammenhang mit der Erörterung 
der Wärmebildung den Calorienbedarf in 
der Nahrung der Diabetiker. Abschnitt 5 
erörtert-die endlich ihrer Klärung nahege¬ 
brachte Pathogenese des diabetischen 
Ödems. Das siebente Kapitel schließlich 
äußert sich nach Faltas persönlichen 
reichen Erfahrungen über die verschie¬ 
denen „Formen“ der Zuckerharnruhr, be¬ 
sonders nach ihren klinischen Erschei¬ 
nungen und ihrem Verlauf, wobei er unter 
anderem auf die in der Praxis wohl noch 
nicht genügend bekannte akute maligne 
Form. des Diabetes mellitus hinweist. 
Durch diese zahlreich angefügten allge¬ 
meinen Ausführungen über die Patholo¬ 
gie ist Falta's Darstellung zu einem 
vollständigen Lehrbuch der Zuckerkrank¬ 
heit geworden, das jeder Arzt, der sich 
über den neuesten Stand der Anschau¬ 
ungen und des Wissens auf diesem Ge¬ 
biete unterrichten will, mit Genuß und 
Gewinn lesen wird. 


Repetitorium der Therapie. 

Behandlung; der Stoffwechselkrankheiten. 

Von G. Klemperer. 


Allgemeine Grundsätze der Behand¬ 
lung ergeben sich aus der begründeten 
Auffassung, -daß den Stoffwechselkrank¬ 
heiten eine besondere Leistungsunfähig¬ 
keit gewisser Organzellen zugrunde liegt. 
Diese Zellen vermögen nicht mehr in der 
erforderlichen Menge die specifischen Fer¬ 
mente zu erzeugen, welche auf bestimmte 
Atomgruppen (Traubenzucker, Harn¬ 
säure, Fett) eingestellt sind, um sie zur 
weiteren Verarbeitung zu bringen. Solche 


Auffassung führt zu deni therapeutischen 
Bestreben, die fermentbildende Zelltätig¬ 
keit anzuregen durch Anwendung der all¬ 
gemeinen Heilmethoden, welche erfah¬ 
rungsgemäß die Gesamtafbeit der Zellen 
zu befördern vermögen. Wie Luft und 
Licht, Bewegung und Massage, Hydro¬ 
therapie und elektrische Anwendungen 
sichtbarlich den Appetit heben, die At¬ 
mung vertiefen, den Blutumlauf be¬ 
schleunigen, Absonderungen und Aus- 

29 





226' 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Jutii 


Scheidungen vermehren und das subjek¬ 
tive Wohlbefinden verbessern,:so dürfen 
wir hoffen, daß sie auch die Einzelfunk¬ 
tionen der Zelle, zu denen .die Ferment¬ 
bildung gehört, in günstiger Weise be¬ 
einflussen können. Fördernden Einfluß 
auf die Zellarbeit schreiben wir auch der 
psychischen Behandlung zu, welche durch 
Veränderung der Fühllage in geheimnis¬ 
voller, aber nicht zu bezweifelnder Weise 
die trophischen Vorgänge beeinflußt. 

Eine besondere Wirksamkeit kommt 
der diätetischen Behandlung zu; sie trägt 
nicht nur im Bunde mit der hygienisch¬ 
physikalischen Einwirkung zur allge¬ 
meinen Zellkräftigung bei, sondern sie 
beeinflußt den Krankheitsverlauf in be- 
sondererWeise, indem sie diejenigen Atom¬ 
gruppen aus der Ernährung auszuschalten 
sucht, welche von den Fermenten nicht 
mehr genügend; angegriffen werden. Wird 
die Nahrung so eingerichtet, daß sie wenig 
Traubenzucker oder Harnsäure oder Fett 
zu bilden vermag, so ist damit freilich die 
Stoffwechselkrankheit nicht geheilt, 'aber 
es werden doch die lästigen und bedroh¬ 
lichen Erscheinungen gemildert oder be¬ 
seitigt, welche durch die Anhäufung der 
unzersetzten Substanzen im Blute oder 
Geweben entstehen. In manchen Fällen 
vermag die Diätetik zur Besserung beizu¬ 
tragen, indem sie durch reichliche Flüssig¬ 
keitszufuhr eine Ausspülung des unzersetz¬ 
ten Materials aus den Geweben fördert. 

Neben der allgemeinen und diäteti¬ 
schen Beeinflussung spielt die arzneiliche 
Therapie der Stoffwechselkrankheiten 
bisher nur eine bescheidene Rolle; immer¬ 
hin vermag die Zufuhr von Alkalien in 
verschiedenen Situationen zu nützen, und 
die Anwendung des Atophans bei der Gicht 
unterstützt die Ausscheidung der Harn¬ 
säure aus dem Blute. Sehr wirksam ist 
die Anwendung der Schilddrüsensubstanz 
bei der Fettsucht, indem sie anscheinend 
nach Art der physiologischen Fermente die 
Zersetzung des Fettmoleküls befördert. 
Eine nützliche Vereinigung der physi¬ 
kalisch-hygienischen mit den psychischen 
und diätetischen Faktoren sowie ratio¬ 
neller Alkalitherapie ist in den Bade¬ 
kuren (Karlsbad und andere) gegeben. 

1, Behandlung der Zuckerkrankheit. 

Allgemeine Grundsätze: Eine 
ätiologische Behandlung ist nur in den 
seltenen Fällen möglich, die nachgewie¬ 
senermaßen durch luetische Pankreatitis 
verursacht sind; allenfalls ist die psychi¬ 
sche Einwirkung hierherzurechnen, welche 


sich bei ausgesprochen psychogener Ent¬ 
stehung nützlich erweist. Als ein Versuch 
kausaler Therapie ist die physikalisch¬ 
hygienische Behandlung zu betrachten, 
welche die Zelltätigkeit anregt; sie wird 
durch schwache alkalische Wasser unter¬ 
stützt. 

Die Hauptbedeutung hat die diäteti¬ 
sche Therapie, welche die Störung des 
Zuckerhaushalts als gegeben ansieht und 
ihre schädlichen Folgen zu beseitigen 
trachtet. Mag nun die Anhäufung des 
Zuckers im Blute (Hyperglykämie), welche 
der Glykosurie zugrunde liegt, durch ver¬ 
mehrte Bildung in der Leber ader ver¬ 
minderte Zersetzung in den Endorganen 
verursacht sein, wir vermögen diese An¬ 
häufung zu verhüten, wenn wir Zucker 
und Zuckerbildner aus der Nahrung aus¬ 
schalten. Zuckerbildner sind in erster 
Linie die Kohlehydrate, in zweiter Linie 
die Eiweißkörper. In leichteren Fällen 
genügt die Einschränkung oder Ent¬ 
ziehung der Kohlehydrate, in vielen 
schwereren die Verminderung der Eiwei߬ 
kost, um normalen Blutzuckergehalt und 
Zuckerfreiheit des Urins, und damit zu¬ 
gleich das Schwinden aller subjektiven 
und objektiven Zeichen des Diabetes zu 
erzielen. Der Blutzuckergehalt ist übri¬ 
gens nicht nur von der qualitativen, son¬ 
dern auch von der quantitativen Zu¬ 
sammensetzung der Nahrung abhängig. 
Je geringer die Gesamtnahrungsmenge, 
desto eher wird der Urin zuckerfrei; in 
schwersten Fällen führt erst der Hunger 
zu normalem Blutzuckergehalt. Die 
Entziehung der Zuckerbildner wirkt nicht 
nur symptomatisch; sie stellt auch eine 
Art von Schonungstherapie dar, indem 
dadurch teils die Zuckerfixation in der 
Leber, teils die Fermentbildung in den 
zuckerzersetzenden Zellen vermindert 
wird. Durch die Schonung wird eine 
Stärkung der Zellen erstrebt. In der Tat 
führt längere Kohlehydrat-..(und Eiweiß-) 
beschränkung zu späterer besserer Tole¬ 
ranz. Ein wesentlicher Nachteil der Ent¬ 
ziehungskuren würde einerseits in Unter¬ 
ernährung liegen, ihr begegnet man durch 
Fettgaben; andererseits im Auftreten von 
Ketonkörpern, welche sich beim voll¬ 
kommenen Fehlen von Kohlehydraten 
anhäufen und zur Gefahr der Säurever¬ 
giftung führen. In solchen Fällen, bei 
welchen die Kohlehydratentziehung nicht 
zur Zuckerfreiheit des Urins, wohl aber 
zur reichlichen Ausscheidung von Acet- 
essigsäure führt, werden zu Heilzwecken 
bei wesentlicher Eiweißbeschränkung mit 



227 


Juni Die Therapie der 


viel Fett reichlich Kohlehydrate in Form 
der Mehlkuren gegeben; es scheint, daß 
die Darmgärung die Kohlehydrate in 
eine über den Traubenzucker hinab¬ 
gehende Atomgruppierung versetzt, wel- 
clie sie für die Zellfermente angreifbar 
und zersetzlich macht. Ist doch schon 
der Caramelzucker, welcher durch Er¬ 
hitzen des Traubenzuckers entsteht und 
diesem chemisch ganz nahe steht, vom 
schwersten Diabetiker leicht zersetzlich. 
Der Erfolg der diätetischen Maßnahmen 
bleibt immer von der Intensität der dia¬ 
betischen Stoffwechselstörung 'abhängig; 
ist diese sehr weit vorgeschritten,- sind 
also die zuckerfixierenden beziehungs¬ 
weise fermentbildenden Zellen so insuffi¬ 
zient, daß bei der wesentlichen Herab¬ 
setzung des Zuckerabbaues sich reichlich 
Acidosekörper anhäufen, so erfordert die 
drohende Komagefahr dauernd große 
Dosen alkalischer Salze. 

Spezielle Behandlung. Jede Dia- 
betikerbehandlung beginnt mit der rech¬ 
nungsmäßigen Gegenüberstellung der in 
24 Stunden genossenen und durch den 
Urin ausgeschiedenen Zuckermengen. Man 
muß also den Kohlehydratgehalt der Nah¬ 
rungsmittel berechnen und eine quan¬ 
titative Zuckerbestimmung machen. 

Als Diabetiker ist jeder Patient zu be¬ 
handeln, der nach Genuß von etwa 250 g 
Brot mehr als 10 g Zucker ausscheidet ^). 
Bleibt die Zuckerausscheidung auch bei 
wiederholten Proben und selbst nach reich¬ 
lichem Genuß gesüßter Speisen dauernd 
so gering, so darf man eine so leichte Form 
von Diabetes annehmen (wahrscheinlich 
renaler Natur), daß man von besonderen 
Diätvorschriften absehen kann und sich 
mit gelegentlicher Urinkontrolle be¬ 
gnügt. Andererseits darf man Patienten, 
die diabetesverdächtig sind, nicht als ge¬ 
sund betrachten, wenn eine einmalige 
Urinprobe zuckerfrei ist; die Probe ist 
vielmehr nach reichlichem Brotgenuß zu 
wiederholen. Als diabetesverdächtig muß 
jeder Patient gelten, bei welchem sich 
Zeichen verminderter geistiger oder kör¬ 
perlicher oder sexueller .Leistungsfähig¬ 
keit ohne erkennbare Ursache einstellen. 
Wenn man dieses Satzes eingedenk ist, 
wird wohl kein Diabetiker der rechtzei¬ 
tigen Behandlung entgehen, der nicht 

0 In der ärztlichen Umgangssprache würde 
man sagen, der nicht mehr als 0,2% Zucker im 
Urin hat. Aber ich brauche nicht zu wiederholen, 
daß die Prozentzahl wenig bedeutet. Die klinische 
Untersuchung erfordert auch die Bestimmung 
des Blutzuckers; in der Praxis kann man meist 
ohne dieselbe auskommen. 


Gegenwart 1920 


erst den Arzt aufsucht, wenn er hoch¬ 
gradig abgemagert oder von wütendem 
Durst gequält ist. Ist der Diabetes er¬ 
mittelt, so ist seine dfätetische Behand¬ 
lung von der Feststellung der Form ab¬ 
hängig. Als leicht wird 5er Fall bezeich¬ 
net, wenn der-Patient bei kohlehydrat¬ 
freier Kost im Urin weder Zucker noch 
Acetessigsäure ausscheidet ,und auch 
zuckerfrei bleibt,, w^nn er etwa 100 g 
Brot in 24 Stunden genießt. Eine mittel- 
,schwere Form nehmen wir an, wenn der 
Patient bei kohlehydratfreier Ernährung 
20—30 g Zucker mit mäßiger Eisen¬ 
chloridreaktion im Urin ausscheidet und 
wenn die Zuckermenge nach etwa 100 g 
Brot auf 30—40 g steigt,, während die 
Eisenchloridreaktion danach verschwin¬ 
det. Der schweren Form gehört ein Pa¬ 
tient an, der nach der Probekost 40—50 g 
Zucker mit reichlicher. Acetessigsäure aus¬ 
scheidet und die letztere auch nach reich¬ 
licher Brotkost nicht leicht verliert. 

Die Behandlung jedes Diabetikers hat 
also mit einer dreitägigen Probekost zu 
beginnen, die etwa folgendermaßen zu¬ 
sammengesetzt ist: 

Erstes Frühstück: Tee oder Kaffee 
ohne Milch, eventuell mit Eigelb abge¬ 
rührt, auf Wunsch mit Sacharin gesüßt. 

Zweites Frühstück: zwei weiche Eier 
mit Butter. 

Mittag: Klare Bouillon mit Ei, eine 
reichliche Fleisch- (beziehungsweise Ge¬ 
flügel) oder Fischportion mit fetter Sauce, 
ohne Mehl bereitet, grüner' Salat. Käse. 
Selterwasser mit Kognak. 

Nachmittag:- Kaffee oder Tee wie 
morgens. 

Abends: Rührei aus vier Eiern mit 
reichlich Butter. Käse. Selterser mit 
Kognak. 

Wenn der Patient am dritten tage 
zuckerfreien Urin ohne Eisenchloridreak¬ 
tion hat, so muß seine Toleranz be¬ 
ziehungsweise Assimilationsgrenze fest¬ 
gestellt werden, d. h. es ist durch stei¬ 
gende Kohlehydratzulagen auszupro¬ 
bieren, wieviel Kohlehydrat er essen 
kann, ohne daß Zucker im Urin auftritt. 
Für die leichten Forrnen gilt als Regel, 
daß sie mittlere Eiweißmengen, aus¬ 
reichend Fett und soviel Kohlehydrat 
erhalten, als sie ohne Glykosurie ver¬ 
tragen. Man würde der Probekost am 
zweiten zuckerfreien Tage etwa 100 g 
Brot zulegen, in mehreren Portionen mit 
viel Butter gegeben,, und je nach dem 
Ergebnis der Urinprobe die weitere Ver- 
1 Ordnung treffen. Bleibt der Patient nach 

29 * 




228, 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juni 


100 g BrOvt zuckerfrei, so bekommt er 
am nächsten Tage 150 g, hat er nach 
•100 g mehr als 10 g Zucker aüsgeschieden, 
so bekommt er am nächsten Tage 50 und 
so fort, bis die Toleranzgrenze erreicht ist. 
Innerhalb dieser ist nun die diätetische 
Verordnung für die nächsten Wochen zu 
treffen; nach einiger Zeit ist zu kontrollie¬ 
ren, ob die Toleranz sich verschoben hat 
und anderweite Verordnungen nötig 
macht. Sowohl für die Probetage als 
auch für die diätetische Verordnung ist 
es angenehm, die Äquivalentmengen der 
Kohlehydrate zu kennen, welche 100 g 
Brot entsprechen. Dies sind etwa 125 g 
Grahambrot, 150 g Aleuronatbrot, 80 g 
Weizenmehl, 90 g Hafer- oder Gersten¬ 
oder Reismehl, 90 g Nudeln oder Makka¬ 
roni,'200 g frische Erbsen oder Bohnen, 
120 g trockene Erbsen, Linsen, Bohnen, 
600 g Karotten, Kohlrabi, Spargel, 

^ Schneidebohnen, Orangen, Äpfel, Birnen, 
Ananas, Melonen, 750 g Stachelbeeren, 
Johannisbeeren, Aprikosen, Pfirsich, 

1300 g Milch, 1500 g Bier. 

Außer der quantitativen Zumessung 
von Kohlehydrate erfordert die' Diätetik 
die Festsetzung der erlaubten Gesamt¬ 
menge. Auch leichte Diabetiker neigen 
dazu, zuviel zu essen; sicherlich aber ist 
es für sie im allgemeinen und für den 
Zuckerhaushalt im besonderen am besten, 
wenn sie nicht über das notwendige 
Calorienbedürfnis hinaus ernährt werden. 
Eiweiß sollen sie in mäßigen ‘ Mengen 
genießen (höchstens 100 g) also von 
Fleisch oder Fisch nicht über 250 g täg¬ 
lich, wozu noch zwei bis vier Eier, 30 bis 
40 g Käse kommen. Auch im Brot und 
den übrigen Mehlfrüchten, in Kartoffeln 
und Gemüsen ist ja Eiweiß vorhanden. 
Der Ausfall an Calorien, den die Kohle¬ 
hydratbeschränkung mit sich bringt, ist 
durch Fette gutzumachen; durch vier 
Eier und* 30 g Käse werden 25 g Fett 
zugeführt, etwas ist im fetten Fleisch 
und den Saucen enthalten, der Rest, 
der je nach der notwendigen Höhe der 
Kohlehydratbeschränkung zwischen 70 
und 150 g schwankt, wird als Butter oder 
Schmalz zugeführt, teils als Brotauf¬ 
strich, teils mit den Speisen zubereitet, 
wobei besonders die Gemüse und Kar¬ 
toffelbrei als Fettträger in Betracht kom¬ 
men. Unter den Kohlehydraten verdienen 
die jungen Gemüse, Spinat, Spargel, 
junge Kohlrabi, Blumenkohl, Artischok- 
ken, Pilze die häufigste Anwendung. 
Schneidebohnen, Erdschocken (Topi¬ 
nambur), sowie die Sojabohne sind noch 


besonders zu empfehlen, weil sie ein vom 
Diabetiker assimilierbares Kohlehydrat, 
Inulin, enthalten. Aus säuerlichen Früch¬ 
ten (Äpfel, Sauerkirschen, Preißelbeeren, 
Johannisbeeren) sind mit Sacharin Kom¬ 
potts zu bereiten. Kleine Mengen Milch 
sind innerhalb der Toleranzgrenze ge¬ 
legentlich ebenso erwünscht wie Bier, 
das mit seinen 4 % Dextrin beinahe die¬ 
selben Anforderungen stellt. Daß Pilsener 
Bier wegen seiner Bitterstoffe besonders 
unschädlich ist, wird von den Diabetikern 
gern geglaubt, ist aber natürlich eine 
Fabel. Das Alkoholbedürfnis wird am 
besten durch Cognak, Whisky, Kirsch¬ 
wasser, sonst durch rote und herbe Weine 
befriedigt. Sekt mit seinem Traüben- 
zuckergehalt ist zu meiden. Beim Brot 
ist der Kohlehydratgehalt im Verhältnis 
zu dem besonders in den Schalenbestand¬ 
teilen enthaltenen Eiweiß um so geringer, 
je dunkler und stärker ausgemahlen das 
Brot ist; also ist Schwarzbrot relativ 
besser als Weißbrot; Kriegsbrot, Schlüter¬ 
brot, Grahambrot empfehlenswert. Die 
Industrie stellt aus eiweißreichem Mehl 
spezielles Diabetikerbrot her, welches 20 
bis 50% Kohlehadrat enthält (Roborat-, 
Gluten-, Congluten-, Leukonbrot, Mandel¬ 
gebäck, besonders sogenannte Luftbröt¬ 
chen), welche wohl empfehlenswert sind, zu¬ 
meist aber auf die Dauer den Patienten den 
richtigen Brotgeschmack nicht ersetzen. 

Unter Zugrundelegung dieser Angaben 
kann man den Patienten einen sehr 
mannigfachen und vielseitigen Speise¬ 
zettel zusammenstellen, bei dem sie keine 
Entbehrung zu empfinden brauchen. Es 
ist ratsam, intelligente Patienten mit den 
Grundsätzen der Schonungstherapie be¬ 
kannt zu machen, ihnen das notwendige 
Zahlenmaterial zu geben und sie einer 
gewissen diätetischen Selbstbestimmung 
zu überlassen. Es mag sein, daß manche 
Patienten in Spezialanstalten am besten 
zur Diätetik erzogen werden; aber die Er¬ 
fahrung vieler Fälle beweist, daß jeder Arzt 
in der Privatpraxis in der Lage ist, wenig¬ 
stens nicht allzu schwere Fälle richtig zu 
beurteilen, zu erziehen und zu behandeln. 

Obwohl die Speisenwahl und Ein¬ 
teilung sich hiernach leicht ergibt und 
ärztlich geschulte Patienten beziehungs¬ 
weise ihre Umgebung es in der diäteti¬ 
schen Küche zu großer Gewandtheit brin¬ 
gen, will ich doch einen paradigmatischen 
Speisezettel eines leichten Diabetikers 
geben, dessen Assimilationsgrenze bei 60 g 
Kohlehydrat (100g Brot) gelegen ist: Erstes 
Frühstück: Kaffee mit wenig Milch, zwei 






Juni ' Die Therapie der 


Luftbrötchen mit 40 g Butter; zweites 
Frühstück: Rührei aus drei Eiern mit* 
20 g Butter, 30 g Schinken, zwei Glas 
Rotwein; Mittag: Bouillon mit Einlauf 
und Ei, 150 g Kalbfleisch mit fetter Sauce, 
drei Kartoffeln, 200 g Spinat mit einem Ei, 
50 g Apfelkompott, Selterser mit Kognak; 
nachmittags: Kaffee mit wenig Milch; 
abends: 100 g Fisch mit Salat, zwei Lüft¬ 
brötchen mit 40 g Butter und 50 g Käse. 

Leichte Diabetiker können ihrer Be¬ 
rufsarbeit ruhig nachgehen; sie sollen be¬ 
sonders Erregungen nach Möglichkeit aus 
dem Wege gehen, ihrer Hautpflege mit 
Bädern und Waschungen besondere Auf¬ 
merksamkeit widmen, in jedem Falle für 
ausreichende körperliche Bewegung sor¬ 
gen,. bei gutem Kräftezustand eventuell 
angemessenen Sport treiben. Gelegentlich 
Trinkkuren in Karlsbad sind nützlich 
und tragen oft zur diätetischen Schulung 
der Patienten bei; auch Bewegungskuren 
im Gebirge sind zu empfehlen. 

Die Behandlung der miüelschweren 
und schweren Diabetiker ist in vieler 
Beziehung verschieden. Als schwere 
Diabetiker kennzeichnen sich diejenigen 
Patienten, welche nach der dreitägigen 
Probekost noch Zucker im Harn und 
gleichzeitig Acetessigsäure ausscheiden; 
diese Patienten sind als fleisch- be¬ 
ziehungsweise eiweißempfindlich zu be¬ 
trachten, und es ist die Hauptsorge der 
Behandlung, ihnen das Eiweiß nach Mög¬ 
lichkeit zu beschränken, während die 
Kohlehydratentziehung zwar auch wichtig 
ist, aber doch erst in zweiter Linie steht. 
Hauptnahrungsmittel sind für diese 
Patienten die Fette, von denen ihnen so¬ 
viel zugeführt wird, als sie vertragen; 
zur besseren Verdauung der Fette tragen 
alkoholische Getränke bei, die auch als 
Calorienträger in Betracht kommen. Die 
Patienten erhalten an Eiweiß in Fleisch, 
Fisch, Eiern und Käse weniger als 100 g, 
von Kohlehydraten ohne Rücksicht auf 
die Zuckerausscheidung soviel, daß die 
Eisenchloridreaktion verschwindet. Ge¬ 
wöhnlich sind dazu 150 bis 200 g not¬ 
wendig, die man in reichlichen Gemüse¬ 
gaben, daneben in Brot, Kartoffeln, Milch 
und Mehlspeisen darreicht. Ist die Eisen¬ 
chloridreaktion verschwunden, so setzt 
man die Brot- und Kartoffelration allmäh¬ 
lich herab, ohne aber die Fleischmengen 
zu vergrößern. Braucht man zu große 
Brotmengen zum Fortbringen der Keton- 
urie, so bedient man sich der Hunger-, 
Gemüse- und Mehlkuren, um sie zum 
Verschwinden zu bringen. Man gibt an 


Gegenwart 1920 229 


einem Tage, nur Kaffee, Tee, Bouillon mit 
kleinen Gemüseportionen und wenig 
Schwarzbrot mit Butter, am darauf folgen¬ 
den Tage dazu drei bis vier größere. Ge¬ 
müseportionen und am vierten, fünften, 
sechsten Tage je vier- bis fünfmal einen 
Mehlbrei, , der aus 30 bis 50 g Mehl mit 
ebensoviel Butter und 200 bis 250 g Wasser 
gekocht ist. Gemüse ist auch an den 
Mehltagen frei, allenfalls auch einige Eier. 
Den Mehltagen folgt wieder ein Gemüse¬ 
tag; sollte die Acetessigsäure noch nicht 
verschwunden sein, eventuell noch ein' 
Hungertag. Welches Mehl zu den Kur¬ 
tagen gebraucht wird, ist gleichgültig, 
man hat die Wahl zwischen Weizen-, 
Hafer-', Gerste-, Reismehl, man kann 
statt des Mehlbreies gelegentlich auch 
Reisbrei und Kartoffelbrei einschalten. 
Auch Milchtage sind gelegentlich nützlich, 
besonders bewährt sich Yoghurt. Meist 
werden solche Kuren gut vertragen, oft 
haben sie den Erfolg, die Zuckerausschei¬ 
dung herabzusetzen und vorher hart¬ 
näckig bestandene Diaceturie zum Ver¬ 
schwinden zu bringen. Bleibt die Mehl¬ 
kur erfolglos, so ist einige Zeit wieder 
eiweißarme, fettreiche, gemischte, aber 
knappe Kost zu reichen und dann die 
Mehlkur zu wiederholen. Je weniger sie 
Eindruck macht, desto schlechter die 
Prognose. Patienten, die länger Acet¬ 
essigsäure ausscheiden, sollten in dieser 
Zeit stündlich eine bis zwei Messerspitzen- 
Natron bicarbonicum oder Kalium car- 
bonicum einnehmen; die ideale Forde¬ 
rung, ihnen soviel Alkali zuzuführen, daß 
die Reaktion des Urins neutral wird, ist 
in den ganz schweren Fällen nicht zu ver¬ 
wirklichen. Wenn solche Patienten ins¬ 
besondere nach Kohlehydratkuren und 
Alkaligaben Ödeme bekommen (soge¬ 
nannte Haferödeme), so ist mit der Diät zu 
wechseln, insb esondere relativ mehr Fleisch 
zu reichen, dazu Diuretin zu verordnen. 

Auch hier gebe ich einen paradigma¬ 
tischen Speisezettel, wie er einem schwe¬ 
ren Diabetiker nach Absolvierung einer 
Haferkur verordnet wurde: Morgens: 
Kaffee mit Milch, 30 g Brot mit Butter, 
ein Ei; vormittags: ein viertel Liter Milch, 
zwei Eier, zwei Luftbrötchen mit Butter; 
mittags: Bouillon mit Ei, 125 g Kalbs¬ 
schnitzel mit 150 g Spargel, 50 g Brat¬ 
kartoffeln, Preißelbeeren, eine viertel 
Flasche Rotwein; nachmittags: Kaffee mit 
50 g Milch, zwei Luftbrötchen mit Butter; 
abends: Spinat mit Ei, ein viertel Liter 
Milch mit zwei Teelöffel Kognak, 50 g 
Brot mit Butter und Käse. 




230 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juni 


Schwere Diabetiker bedürfen der Scho¬ 
nung je nach dem Grade der Krankheit. 
Die Hautpflege ist auch hier sehr wichtig, 
die Körperbewegung einzuschränken; 
hochgradige Acidotiker gehören ins Bett. 
Medikamentöse Behandlung ist außer der 
Alkalitherapie nicht ratsam; großer Durst 
ebenso wie allgemeine Unruhe wird durch 
kleine Opiumgaben bekämpft, (täglich 
fünfmal 0,01 Extr. Opii), dem von einigen 
auch ein krankheitsmildernder Einfluß 
zugeschrieben wird. Hefepräparate, wel¬ 
che assimilierbare Zuckerabbaustufen im 
Darm erzeugen sollten, haben sich prak¬ 
tisch nicht bewährt; doch bleibt es un¬ 
benommen, gelegentlich die im Handel 
vorkommenden Präparate (z. B. Fermo- 
cyltabletten) auszuprobiereri. Karlsbader 
Kuren sind ratsam, solange der Kräfte¬ 
zustand der Patienten sie gestattet. 

Coma diabeticum. Wenn im Laufe 
von Entziehungskuren Mattigkeit und 
Unbesinnlichkeit eintritt, so ist die Diät 
sofort zu ändern und. in jedem Falle 
reichlich Milch, Mehlbrei, eventuell Brot 
und KartoffHn, jedenfalls auch Wein und 
Kognak zu geben. Läßt die Herzkraft 
nach, so ist Campher und Coffein anzu¬ 
wenden. Wenn vorher Alkalitherapie 
noch nicht stattgefunden hat, so ist sie 
sofort einzuleiten; Natrium bicarbonicum 
beziehungsweise Calcium carbonicum ist 
innerlich soviel zu geben, als der Patient 
verträgt. Wird der Patient bewußtlos, so 
mache man intravenöse Infusion zuerst 
von 1 1 5 %iger Natrium bicarboni- 
cura-Lösung, nach einigen Stunden von 
1 1 5%iger Traubenzucker-Lösung. 
Erwacht der Patient aus dem Coma, so 
sind alsbald Mehlkuren zu unternehmen. 

Diabetische Gangrän. Tritt die¬ 
selbe bei leichten Fällen auf, so ist Kohle¬ 
hydratentziehungskur mit größter Energie 
durchzuführen; nur der normale Zucker¬ 
gehalt des Blutes verspricht die Ab¬ 
stoßung, Granulierung und Ausheilung 
des nekrotischen Gewebes. Die lokale 
Behandlung besteht in trockener Ein¬ 
packung des brandigen Teiles, bei feuchter 


Gangrän nach geschehener Einpuderung 
•mit Dermatol oder Airol, unter gleich¬ 
zeitiger stundenlanger Anwendung einer 
Bier sehen Stauungsbinde. Chirurgische 
Eingriffe sollen in solchen Fällen unter¬ 
bleiben, solange der gangränöse Prozeß 
nicht fortschreitet. — ln schweren Fällen 
mit starker Eisenchloridreaktion, die nicht 
zu entzückern ^sind, ist der chirurgische 
Eingriff schnell indiziert, wenn der gan¬ 
gränöse Prozeß vorschreitet beziehungs¬ 
weise mit Fieber einhergeht. Dann ris¬ 
kiert man mit Abwarten Coma oder 
Sepsis; man tut gut, schnell zur hohen 
Absetzung des brandigen Gliedes zu raten. 
Abwarten wäre bei schweren Diabetikern 
nur zu rechtfertigen, wenn die gangränöse , 
Stelle klein ist, langsam vorschreitet und 
keine Allgemeinerscheinungen bestehen. 
Dann bleibt noch Zeit, den Erfolg von 
Hunger- und Mehlkuren abzuwarten, der 
manchmal das Blut entzückert und zum 
Rückgang der Gangrän führt. 

Das Auftreten derjenigen Kompli¬ 
kationen, die offensichtlich der Hyper¬ 
glykämie ihre Entstehung verdanken, 
Juckreiz, Impotenz, Furunkulose, 
Lungentuberkulose machen systema¬ 
tische Anwendung der diätetischen Ma߬ 
nahmen notwendig, die zur Zuckerver¬ 
armung des Blutes führen. Selbstver¬ 
ständlich sind neben dem antidiabetischen 
Regime die physikalischen und hygieni¬ 
schen Methoden zu verordnen, die der 
jeweilige Krankheitszustand notwendig 
macht. In all diesen Komplikationen 
wird die Diät so verordnet, wie es dem 
Grade der diabetischen Störung zukommt. 
Soweit der Diabetiker sich als leicht er¬ 
weist, muß Kohlehydratentziehung streng 
durchgeführt werden, auch wenn die 
komplizierende Krankheit, z.B. die Phthise, 
schwer ist. Nur bei Herzbeschwerden ist 
die Entscheidung etwas anders zu fällen. 
Herzneurosen der Diabetiker pflegen auf 
Entzuckerung sich zu bessern, während 
Patienten mit wirklicher Angina pectoris 
selbst bei leichtem Diabetes auf strenge 
Entziehung leicht mit Kollaps reagieren. 


Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen. 

32. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin, 
Dresden, 20.^—23. April 1920. 

Bericht von G. Klemperer. (Fortsetzung) 


Die Nachmittagssitzung des ersten 
Kongreßtages war den Vorträgen über 
Tuberkulose Vorbehalten. Lieber¬ 
meister (Düren), dessen Thema die Im- 


munotherapie war, betonte das leichte 
Übergehen sogenannter inaktiver Form 
in schnelle Progredienz, wie es im Kriege 
sehr oft zu beobachten war. Die Kon- 



Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


231 


i 

stitution sei nicht maßgebend für den 
Erfolg der Behandlung, da die sogenannte 
asthenische Konstitution erst durch die 
Tuberkulose verursacht sei; oft gelingt 
es, dieselbe durch die Tuberkulinbehand¬ 
lung umzustimmeh, wenn sie nur lange 
genug, mindestens vier Monate, fortge¬ 
setzt wurde. Es sei immer noch nicht 
sicher zu sagen, wann man mit der Tuber¬ 
kulinkur aufhören solle. Anzustreben sei 
die biologische Heilung, bei der genügend 
Schutzkörper im Blute gebildet wären. 
Bei unbehandelten Tuberkulösen seien 
solche nicht vorhanden, aber langdauernde 
Behandlung vermöge sie anzuhäufen und 
es bestände die Aussicht, daß solches 
Immunserum zur Behandlung verwertet 
werden könnte. Im Gegensatz zu Lieber¬ 
meister legte der nächste Vortragende 
A. Mayer (Berlin) den Konstituti ons- 
verhältnissen eine außerordentliche Be¬ 
deutung bei; er bezeichnet schon im 
Thema die Konstitution „als differenzie¬ 
rendes Prinzip für die Immunotherapie 
der Tuberkulose^*. Der Vortrag bewegte 
sich in dem Gedankengang und der Aus¬ 
drucksweise der modernen Konstitutions¬ 
forscher, wie sich aus dem folgenden Re¬ 
ferat ergibt: „Alle Sympathiker sind ge¬ 
setzmäßig durch eine sehr hochliegende 
Immunitätskurve und eine positiv ge¬ 
richtete dynamische Kurve, alle Astheni¬ 
ker durch eine sehr niedrigliegende, dyna¬ 
misch negative, vor allem auch durch den 
Mangel an Fettantikörpern charakteri¬ 
siert. Mit dem Einsetzen der regressiven 
Umbildung des lymphatischen Gewebes 
sinkt meist mit gleichzeitigerEntwick- 
lung asthenischer Komplexe die Im¬ 
munitätskurve. Dies steht in Überein¬ 
stimmung mit dem günstigen Verlaufe der 
Tuberkulose bei Lymphatikern und dem 
ungünstigen bei Asthenikern. Beim 
Lymphatismus ist das Konstitutionelle 
das Entscheidende. Die Asthenie ist ein 
genotypisch geformter Phänotypus, eine 
echte, wahrscheinlich germinativ bedingte 
Konstitutionsform. Die konstitutionell 
bedingte Reaktionsfähigkeit entspricht 
der Disposition. Als ein weiterer Maßstab 
für die Konstitution ist der Iinmunitäts- 
zustand gegenüber der Tuberkulose zu 
verwenden.**' Auf den praktischen Boden 
der Therapie zurück führte der Vorträg 
von D eycke (Lübeck) über die specifische 
Behandlung der Tuberkulose mit den 
Partigenen. Bekanntlich sind die theo¬ 
retischen und experimentellen Grund¬ 
lagen dieser Methode noch nicht als ge¬ 
sichert zu betrachten, worüber demnächst 


in dieser Zeitschrift ausführlich gehandelt 
werden wird. Demgegenüber sind die 
praktischen Erfolge, über die Deycke 
selbst berichten konnte, höchst beach¬ 
tenswert.. Von 1397 Kranken aller Formen 
und Stadien wurde in 82,5 % der Fälle ein 
günstiges Ergebnis erzielt. Besonderen 
Wert mißt Deycke einer Statistik bei, 
die ihre Entstehung einem mehrjährigen 
Zusammenarbeiten mit der Hanseati¬ 
schen Landesversicherungsanstalt ver¬ 
dankt. Von 335 Lungenkranken, die nach 
abgeschlossener Partigenbehandlung noch 
zwei Jahre beobachtet wurden, sind 300 
(89%) gesund und vollkommen arbeits- 
und erwerbsfähig geblieben. Bock (Ber¬ 
lin) berichtete über „Erfahrungen mit dem 
Friedmannschen Heil- und Schutz¬ 
mittel gegen die Tuberkulose. Der Vor¬ 
trag brachte nur persönliche ärztliche 
Beobachtungen, ohne die vielen nahe¬ 
liegenden Streitfragen zu berühren. Alle 
behandelten Frühfälle, „ausgesprochene 
Spitzenfälle** wurden günstig beeinflußt. 
Die Indikationsstellung muß sehr vor¬ 
sichtig sein, kombinierende und inter- 
kurrierende Krankheiten stellen den Er¬ 
folg in Frage. Hoffnungsreiche Aussich¬ 
ten eröffnete der Vortrag von Strub eil 
(Dresden) über Tuberkulose-Immun¬ 
milch. Da die Widerstandsfähigkeit 
gegen Tuberkulose mit dem Lebensalter 
und durch den Kontakt mit dem Krank¬ 
heitsgift steigt, so sollte der specifische 
Tuberkuloseschutz schon im Mutterleibe 
beginnen. Dies läßt sich auf dem Wege 
des Placentarkreislaufs erreichen. Nach 
der Geburt kann die Immunisierung beim 
Menschen und beim Kinde nach Ansicht 
des Vortragenden durch Verabreichung 
von artgleicher Tuberkulose-Immunmilch 
erreicht werden; Strub eil glaubt in der 
Milch wie im Blutserum der Gesäugten 
„alle Partialantikörper gegen Tuberku¬ 
lose** nachgewiesen zu haben. Danach 
ist die Verwendung des Säuglingsschutzes 
durch Ammen bei Kindern nicht artders 
wie durch Ammenkühe bei Kälbern zu 
fordern. Die Verwendung artfremder 
Milch begegnet theoretischen und prak¬ 
tischen Schwierigkeiten wegen der Re¬ 
sorption des artfremden Milcheiweißes. 
Doch hält Strub eil es für bewiesen, daß 
größere Kinder aus der Immunmilch von 
•Kühen Fettantikörper resorbieren. Er 
hält danach die praktische Anwendung 
der Tuberkulose-Immunmilch zur Er¬ 
zielung eines wirksamen Schutzes nur 
noch für eine Frage der Zeit. 

Ähnlich gute Zukunftsaussichten er- 





232 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


I 


Juni 


Öffnete Reuter (Frankfurt .a. M.) in 
seinem Vortrage überKrysolganbehand- 
lung der Tuberkulose. Er hat mit diesem 
Goldpräparat (Natriumsalz einer Auro- 
phenolsäure, vergleiche den Aufsatz von 
Frankenthal, 1919, S. 164) specifische 
Herdreaktionen und gute therapeutische 
Erfolge erzielt. Wenn Krysolgan allein 
nicht wirkte, so bewährte sich eine Kom¬ 
bination mit Tuberkulin. Eine Ver¬ 
schlimmerung ist auch nach intensiven 
Herdreaktionen nicht aufgetreten, trotz¬ 
dem wird namentlich für kombinierte 
Kuren Krankenhausbehandlung emp¬ 
fohlen. 

Die anschließende Aussprache war im 
ganzen auf den aktiv-optimistischen Ton 
der Vortragenden gestimmt, nur wenig 
Stimmen abwägender Kritik wurden laut. 
Altstädt (Lübeck) rühmte die kombi¬ 
nierte Behandlung mit Bestrahlung und 
Partialantigenen, die insbesondere bei 
Knochentuberkulose und Lupus zu einer 
Abkürzung der Behandlungsdauer führte. 
Auch Klaare (Scheidegg) hat von der 
D eycke-Müchschen Behandlung nur 
Gutes erfahren; er rühmt ihre Unschäd¬ 
lichkeit und die relativ kurze Behandlungs¬ 
dauer besonders in Verbindung mit Be¬ 
strahlungen. Zu den Lobrednern der 
Partialantigene gehört auch Kremser 
(Sülzhayn), der auf Grund großer stati¬ 
stischer Zahlenreihen die zweifellose Über¬ 
legenheit der specifischen gegenüber den 
unspecifischen Behandlungsmethoden an¬ 
erkennt. Unter allen specifischen Ver¬ 
fahren leistet das Deycke-Muchsche 
am meisten; es brauche keineswegs aus¬ 
schließlich in Krankenhäusern oder Sana¬ 
torien durchgeführt werden, sondern es sei 
von jedem geschulten Arzt durchzuführen. 

Wie schwierig die Beurteilung even¬ 
tueller Heilerfolge ist, geht aus der 
verschiedenen Bewertung der für die 
Diagnostik entscheidenden Zeichen hervor. 
Über die Pirquetsche Reaktion sprach 
Curschmann (Rostock); bei einwand¬ 
freier Technik hält er sie für einwandfrei 
und mit ihrer Hilfe findet er die Morbidität 
des Kindesalters ganz erheblich gestei¬ 


gert. Saathoff (Oberstdorf) hält da¬ 
gegen auch die negative Pirquetreaktion 
nicht für beweisend; man kann nach ihm 
den Beginn der Tuberkuloseerkrankung 
gar nicht früh genug ansetzen. Fast alle 
Erwachsenen, die eine inaktive Tüber- 
kulose haben, zeigen angeblich eine folli¬ 
kuläre Schwellung der Lymphfollikel im 
äußeren unteren Augenwinkel. Gerade 
dies Symptom zeigen auch viele kleine 
Kinder, und daraufhin diagnostiziert 
Saathoff auch beim Fehlen anderer 
Zeichen bei ihnen latente Tuberkulose. 
Demgemäß nimmt Saathoff vor dem 
klinisch aktiven und natürlich vor dem 
manifesten Stadium nicht nur ein Latenz¬ 
sondern auch ein biologisch aktives Vor¬ 
stadium an. Die experimentellen Grund¬ 
lagen der specifischen Therapie berührte 
Jakobsthal (Hamburg), welcher Tiere 
abwechselnd mit Friedmannschen Ba¬ 
cillen und mit Tuberkulin behandelte; es 
zeigte sich bei diesen Impfungen ,,über 
Kreuz“, daß keine Verwandtschaft zwi¬ 
schen den verschiedenen Immunitäten be¬ 
steht. Die Partialantigene erwiesen sich 
im Tierversuch als unwirksam. 

Zur Theorie der Partialantigentherapie 
äußerte sich auch Königer (Erlangen), 
welcher im Verfolg seiner Phasentheorie 
(S. 96) die Wirkung der Teilantigene auf 
die kurzen Pausen zwischen den Injek¬ 
tionen, im übrigen auf die Ausnutzung 
der unspecifischen Komponenten zurück¬ 
führte. 

Das Schlußwort der Tuberkulose¬ 
diskussion sprach der Schreiber dieses 
Berichts, welcher gerade vertretungsweise 
den Vorsitz führte: Bei der Beurteilung, 
der Heilerfolge sollte man sich .immer 
wieder die Frage vorlegen, ob im Einzel¬ 
fall die Diagnose einwandfrei gestellt sei 
und wieweit die Wirkung der natürlichen 
Heilfaktoren, die so oft allein dem Phthi¬ 
siker Heilung brächten, berücksichtigt sei. 
Sicher ist, daß wir mit vielen Methoden 
die Heilung des tuberkulösen unter¬ 
stützen können, aber ein Heilmittel gegen 
die Tuberkulose haben wir bisher noch 
nicht empfangen. (Fortsetzung folgt.) 


Bericht über die 44. Versammlung der Deutschen Gesellschaft 
für Chirurgie vom 7. bis 10. April 1920. 

Von W. Klink, Berlin. (Fortsetzung) 


Eine längere Besprechung fanden die 
chirurgischen Erkrankungen des Central¬ 
nervensystems. Breslauer sprach zur 
Theorie der Hirnerschütterung. Er wies 
darauf hin, daß bisher im Tierversuche 


nur Bewußtlosigkeit durch dauernde 
Hammerschläge auf den Kopf erzeugt sei, 
aber niemals Hirnerschütterung. Dieser 
Versuch hat für die Entstehung der Hirn¬ 
erschütterung keine Bedeutung. Das ein- 



Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


233 


zig Feststehende bei der Hirnerschütte¬ 
rung ist das Trauma, und das ist keine 
Erschütterung des Schädels durch wieder¬ 
holte Einwirkungen, sondern ein einziger 
Stoß und Kompression des Gehirns. Das 
ganze Großhirn ist unempfindlich. Schlägt 
man beim Hunde, dem das ganze Gro߬ 
hirn freigelegt ist, mit beiden Händen 
auf das Großhirn, so erschrickt das Tier, 
aber es tritt keine Hirnerschütterung ein. 
Bewußtlosigkeit entsteht erst, wenn man 
das ganze Großhirn in die hintere Schädel¬ 
grube hineinpreßt. Das Kleinhirn ist auch 
unempfindlich. Legt man die Hirnbasis 
vom Rachen her frei und faßt den Hirn¬ 
stamm an, so stirbt das Tier an Atem¬ 
lähmung. Bei vorsichtigem Vorgehen 
läßt sidh feststellen, daß Hirnstamm und 
Medulla oblongata ungeheuer empfind¬ 
lich sind. Je nachdem man mehr oder 
weniger kräftig anfaßt, tritt Vaguskom¬ 
plex oder Bewußtlosigkeit ein. Der einzig 
empfindliche Teil gegen das, Trauma ist 
der Hirnstamm. Ein Trauma, das 
vordere und hintere Schädelgrube trifft, 
erzeugt von der Oblongata aus die Be¬ 
wußtlosigkeit. An der alten Rinden¬ 
theorie kann man nicht m€hr festhalten. 
Das Bewußtsein sitzt nicht in der Me¬ 
dulla oblongata, aber auch nicht in einem 
bestimmten Teil der Hirnrinde oder 
überhaupt in der Hirnrinde allein. Die 
Medulla oblongata ist aber der Brenn¬ 
punkt des ganzen Großhirns und an ihr 
ist das ganze Großhirn zusammen zu er¬ 
fassen, und eine Kraft, die sie trifft, 
trifft das ganze Großhirn. 

Krause berichtet über seine hirn¬ 
physiologischen Erfahrungen aus dem Felde 
Sehr wichtig ist die Kenntnis der ,,stum¬ 
men“ Teile, die an der Oberfläche des 
Großhirns ziemlich ausgedehnt sind, am 
Kleinhirn kleine Bezirke einnehmen, deren 
Verletzung keine üblen Folgen hat. Ihre 
Kenntnis ist wichtig bei der Entfernung 
von Fremdkörpern und Eröffnung von 
Abscessen, wo man von ihnen aus durch 
die gesunde Hirnmasse vorgeht. Große 
Hirnteile, besonders des Stirnhirns, kön¬ 
nen zerstört werden, ohneschwerere Folgen, 
als eine große Hilaritas zu verursachen. 
Bei einer Reihe von Hirnkrankheiten, 
die zur Hirnschwellung führen, bringt die 
dekompressive Trepanation Heilung. Sie 
wird natürlich von stummen Gebieten 
aus gemacht. —Vordere Centralwindung: 
Es besteht ein großer Unterschied zwi¬ 
schen oberflächlicher und tiefer Ver¬ 
letzung. Verletzungen der Oberfläche 
erzeugen Monoplegien; in der Tiefe kann 


der kleinste Splitter völlige Lähmung er¬ 
zeugen. An die Monoplegie können sich 
heue Lähmungen anschließen. Sind sie 
auf aseptischer Basis entstanden, so 
gehen sie zurück und sind ungefährlich. 
Sie treten auch nach operativer Ent¬ 
fernung kleinster Teile auf. Es gehen oft 
erstaunliche Lähmungen zurück und nur,, 
wenn große Teile der Hirnrinde zertrüm¬ 
mert sind, bleiben sie bestehen. Krampf¬ 
zustände können durch jede Reizung der 
Centralwindung ausgelöst werden; schon 
durch den Verbandwechsel. Sie haben 
immer Jacksonschen Charakter und 
können zur Bewußtlosigkeit führen; doch 
kann diese auch fehlen. Die Krämpfe 
können auch im gelähmten Glied be¬ 
ginnen. — Die hintere Centralregion ist 
ein Aufnahmeorgan; ihre Reizung er¬ 
zeugt Schmerzen auf der gekreuzten 
Seite. — Das sensorische Sprachcentrum 
sitzt in der oberen Schläfenwindung, das 
motorische in der Brocaschen Windung. 
Bei Verletzung der letzteren tritt motori¬ 
sche Aphasie auf, nach einigen Tagen 
auch sensorische. Die musikalischen Aus¬ 
drucksfähigkeiten liegen in der rechten 
Brocaschen Windung. So kann ein 
Verletzter mit Aphasie eine Melodie pfei¬ 
fen und singen und sogar den Text dazu 
singen, obwohl er ihn ohne Singen nicht 
sprechen kann. — Sehstörungen: Alle 
Verletzungen des Occipitalgebietes führen 
zu Sehstörungen, wenn sie einigermaßen 
groß sind. Einseitige Verletzungen geben 
Hemianopsie, wobei die Fovea centralis 
nicht betroffen wird. Bei beiderseitiger 
Verletzung bleibt das Sehen mit der 
Fovea centralis erhalten, was praktisch 
allerdings gleich Blindheit ist; die Ver¬ 
letzten sehen wie durch ein enges Rohr. 
Bei Reizung entstehen optische Hallu¬ 
zinationen, auch in der blinden Gesichts¬ 
feldhälfte. Die gewöhnliche Hemianopsie 
ist die laterale; es gibt eine inferior; die 
Superior hat er nur einmal gesehen. 

Gulecke berichtete‘ über Epilepsie 
nach Hirnschußverletzungen. Vorwie¬ 
gend die oberflächlichen Verletzungen, 
wie Prell- und Tangentialschüsse, führen 
zur traumatischen Epilepsie. Besonders 
gefährlich sind die Verletzungen in der 
Nähe der motorischen Centren; aber auch 
von anderen Stellen aus kann eine Epi¬ 
lepsie ausgelöst werden. Oberflächliche 
Fremdkörper wirken schwerer als tiefe. 
Nur in einem Drittel seiner Fälle fand 
er Fremdkörper und sie spielten nur eine 
nebensächliche Rolle. Aber immer ist 
eine Narbe vorhanden. Sie macht das 


3 






234 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juni 


Gehirn unbeweglich durch die Fixierung 
an der Schädelkapsel, oder ohne Adhä¬ 
sionen wirkt sie durch Zug auf die um¬ 
gebenden Teile des Gehirns. Das Gehirn 
kann sich an solchen Zug nicht gewöhnen. 
Der Zug einer solchen Narbe ist sehr groß, 
wie man aus dem ‘ Auseinanderweichen 
des Gehirns nach Entfernung der Narbe 
sehen kann. Man muß deshalb das Wie¬ 
derentstehen einer Narbe zu verhüten 
suchen. Hier gibt wohl die Fettplastik 
nach Lexer die besten Erfolge. Auch bei 
ganz glattem Verlaufe kann das einge¬ 
pflanzte Fett zugrunde gehen; aber es 
kann auch makroskopisch erhalten blei¬ 
ben; ja selbst mikroskopisch wurde es 
nach zehn Monaten noch gut erhalten ge¬ 
funden. Er operiert zweizeitig; erst die 
Fettplastik und nach einem halben Jahre 
die Knochenplas’tik. Die letztere macht 
er nicht, wo das Gehirn nach seiner Ab¬ 
lösung nicht' zurücksinkt, sondern sich 
vorwölbt. In 50 Fällen hat er nur einmal 
einen Fettlappen sich abstoßen sehen. In 
allen anderen Fällen ist er gut eingeheilt 
und auch die Knochenplastik geglückt. — 
Fälle mit häufigen Anfällen müssen ope¬ 
riert werden. Hat sich allgemeine Epi¬ 
lepsie entwickelt, so soll man versuchen, 
die lokalen Veränderungen zu beseitigen. 
Ist erst ein Anfall aufgetreten, so soll 
man warten, wenn die Verletzung erst 
kurze Zeit zurückliegt, weil selbst ge¬ 
häufte Anfälle dann wieder schwinden 
können. Liegt die Verletzung aber lange 
zurück und ist die Vernarbung abge¬ 
schlossen, so soll man operieren. Eine 
prophylaktische Operation vor dem Auf¬ 
treten von Anfällen ist nicht zu empfehlen, 
weil die Erfolge der Operation nicht sehr 
gut sind. Nach der Operation können 
Anfälle auftreten, wo vorher keine be¬ 
standen. 

Kümmell betont, daß das Ergebnis 
unserer Erfahrungen über Kriegshirn¬ 
verletzungen ein trauriges sein wird. Die 
üblen Folgen sind Hirnabsceß und Epi¬ 
lepsie. Bei der letzteren sind es die Rück¬ 
fälle. Die Ausführungen Gu leck es kann 
er ganz unterschreiben. Bei der trauma¬ 
tischen Epilepsie hatte er den Eindruck, 
daß die Plastik vielfach zu früh gemacht 
wurde, so daß der Schädel wieder geöffnet 
werden mußte. Er hat die Narbe zum Teil 
excidiert, zum Teil unterschnitten. Um 
neue Verwachsungen mit dem Knochen 
zu vermeiden, hat er wieder Celluloid an 
Stelle von Knochen angewandt. Statt 
Fettlappen hat er auch Silberfolie oder 
einen präparierten Bruchsack oder der¬ 


gleichen eingelegt. Diese Fremdkörper 
haben keine neuen Verwachsungen zu¬ 
stande kommen lassen und man kann da¬ 
durch wohl die Rückfälle einschränken. 
Ein Mann trägt seine Celluloidplatte seit 
15 Jahren und hat den Feldzug mitge¬ 
macht; ein anderer trägt sie seit sechs 
Jahren. Reich fand, daß es nach Schädel-- 
Plastiken gewöhnlich anderthalb Jahre lang 
gut ging. Dann trat die Epilepsie wieder 
auf. Bei zwölf Excisionen nach Jahres¬ 
frist fand er alle Fettlappen degeneriert 
und nach anderthalb Jahren war kein Fett 
mehr vorhanden; nur zwischen Dura und 
Knochen war es erhalten geblieben. Diese 
Aufsaugung des Fettes hängt wohl mit 
dem Rückfalle zusammen. Es ist zu 
überlegen, ob man nicht sich eine Cyste 
entwickeln lassen soll, statt Fettplastik 
zu machen. Martin berichtet aus der 
Berliner Klinik über seciis Fälle; die Er¬ 
folge waren nicht gut, es trat nur tem¬ 
poräre Besserung ein. In zwei Fällen 
konntennach 9 beziehungsweise 14 Wochen 
die Fettlappen untersucht werden. Beide 
Male war das Fett nur zum kleinsten 
Teil erhalten und zeigte Proliferations¬ 
vorgänge. Der größte Teil war durch 
narbiges Bindegewebe ersetzt oder durch 
Bindegewebe nekrotisch eingeschlossen. 
Nach der Operation hatten sich die An¬ 
fälle gesteigert. Die Entfernung des Fett¬ 
lappens brachte in dem einen Falle für ein 
halbes Jahr eine erhebliche Besserung, 
dann trat ein Rückfall ein. — Lexer 
betont auch, daß die Kriegshirnschu߬ 
verletzungen beziehungsweise die trau¬ 
matische Epilepsie danach eine schlechte 
Prognose geben. Bei der Operation 
kommt es auf mancherlei an: Man soll 
das Ablaufen der ruhenden Infektion 
abwarten; man muß die'Technik be¬ 
herrschen; man muß einen guten Heil¬ 
verlauf haben; die Narben oder Cysten 
müssen die einzige Quelle der Epilepsie 
sein. Die'Epilepsie nach Schußverletzun¬ 
gen sind kein gutes Objekt für die Be¬ 
urteilung der operativen Erfolge bei 
traumatischer Epilepsie. Die Überpflan¬ 
zung von Fettgewebe hat Vorteile vor 
allen anderen Verfahren. Auch er operiert 
bei Kriegsschußverletzungen jetzt zwei¬ 
zeitig und hat ausgezeichnete Heilungen 
von vier bis fünf Jahren, auch in schweren 
Fällen. Aber es kommen doch auch sehr 
viele Rückfälle vor. Das Transplantat 
kann sich bestenfalls aus eigenen Mitteln 
erhalten und regenerieren. Die Blutung 
muß sehr gut gestillt sein, es darf keine 
Narbe mehr vorhanden sein. Das Fett- 





Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


235 


gewebe läßt sich ins Gehirn überpflanzen 
und erhält sich dort und heilt ein. Die 
mangelhafte Technik ist schuld, wenn es 
nicht einheilt. Die Untersuchungen von 
Aschoff haben .ergeben, daß es sich 
gut erhält und aus eigenen Mitteln rege¬ 
neriert. Es darf nicht gedrückt werden 
und deshalb ist zweizeitig, zu operieren. 
Die Celluloidplatte muß sich bindegewebig 
umwachsen und diese Kapsel macht 
frische Verwachsungen; sie ist deshalb 
nicht zu empfehlen. — Payr weist zu 
dem Thema Hirnerschütterung darauf 
hin, daß das Gehirn bei Hunden und 
Katzen fest in die Schädelkapsel einge¬ 
preßt ist, während es beim Menschen 
einen großen Spielraum hat. — Bei 
Plastiken hat er vielmals Silber- oder 
Goldfolien eingelegt. In zwei Fällen fand 
er bei Nachoperationen die Folie in eine 
Unmenge kleiner Stücke zerrissen und 
eine massenhafte Neubildung von Binde¬ 
gewebe; er hat deshalb die Methode ver¬ 
lassen. — Kuttner hält auch die Hirn¬ 
chirurgie für das traurigste Kapitel der 
Kriegschirurgie. Er warnt auch vor jedem 
Optimismus. In einem Falle waren nach 
Entfernung des Fremdkörpers die An¬ 
fälle fünf Jahre geschwunden, dann kehr¬ 
ten sie wieder. Mit der Knochenplastik 
soll man wegen der ruhenden Infektion 
mindestens zwei Jahre warten. Er würde 
auch nach dem ersten Anfall operieren, 
wenn er einen gut lokalisierbaren Fremd¬ 
körper fände, von dem der Anfall aus¬ 
ginge. Die Lähmungen im Anschluß 
an Operationen und Traumen kann er 
nicht 'ebenso günstig beurteilen wie 
Krause. Bei Störungen des Augen¬ 
lichts empfiehlt er ebenfalls die dekom- 
pressive Trepanation. — Lexer macht 
auch darauf aufmerksam, daß die Silber¬ 
folien sich in der Wunde in milchsaures 
Silber auflösen. —v. Eiseisberg emp¬ 
fiehlt auch die Fettransplantation, da die 
Fascie sich narbig umwandelt. Ein Ope¬ 
rierter trägt seine Celluloidplatte schon 
zwölf Jahre. Bei dem Auftreten von 
Epilepsie spielt wohl die Disposition eine 
Rolle. — Schloffer hat mit Celluloid¬ 
platten gute Erfahrung gemacht. Ein 
Operierter trägt sie schon 12—15 Jahre. 
Ein Fall von Borchard trug sechs Jahre 
mit gutem Erfolg eine Silberplatte, dann 
löste sie sich auf. — Bier hat die Narben 
ausgiebig entfernt und die Verwachsun¬ 
gen gelöst und nach gründlicher Blut¬ 
stillung die Höhle mit Kochsalz gefüllt 
und geschlossen. Zunächst guter Ver¬ 
lauf. Um glatte Fremdkörper bilden sich 


Schleimbeutel, die sehr guten Schutz 
gegen Verwachsung bilden. Daher ist 
Heteroplastik unter Umständen am Platze. 
— Kaerger hat 40 mal Fascie und Fett 
transplantiert. Bei Verletzung der moto¬ 
rischen Region hat er dann beobachtet, 
daß am zweiten bis siebenten Tage leichte 
epileptiforme oder Krampfanfälle auf¬ 
traten ohne Infektion. In drei Fällen 
traten später epileptiforme Anfälle auf, 
obwohl die motorische Region selbst 
nicht verletzt war. — Brüning haf zwei 
Fälle beobachtet, wo das Centrum für die 
willkürliche Entleerung der Blase ver¬ 
letzt war. Eines liegt ganz in der Nähe 
des Fußcentrums, das andere am Boden 
des dritten Ventrikels. Auch einseitige 
Verletzung stört schon die Entleerung der 
Blase. — Krause hält die Ansicht von 
Breslau für richtig. Die gesamte Hirn¬ 
rinde ist Sitz unseres seelischen Bewußt¬ 
seins. Die Eröffnung eines Ventrikels bei 
Hirnabsceß ist gleichbedeutend mit dem 
Tode. Die Prognose bei Operation der 
Kriegsepilepsie ist bei allen Methoden 
sehr schlecht. Fascie nimmt er nicht 
mehr, sondern spaltet die Dura und deckt 
damit. Gulecke hat bei einfacher Ent¬ 
fernung der Cyste und Verschluß durch 
Naht immer Wiederkehr der Anfälle erlebt. 
Wenn er wieder öffnete, hatte sich der 
Zustand vor der ersten Operation wieder 
eingestellt. Wenn der Fettlappen auch zu¬ 
grunde geht, so hindert er doch das Neu¬ 
auftreten des Narbenzugs auf lange Zeit. 

Perthes spricht über die Ursachen 
von Hirnstörungen nach Carotisunter¬ 
bindung. Man erklärte sie durch Störung 
im Kollateralkreislauf. Das genügt nicht. 
In den meisten Fällen liegt ein freies 
Intervall, bis zu 30 Tagen, zwischen der 
Unterbindung und dem Insult, was schon 
gegen die alte Annahme spricht. In einem 
Falle fand er als Ursache Imbolien. Die 
Ursache der Thrombose ist an der Ligatur¬ 
stelle zu suchen. Auch aus einem An¬ 
eurysma können sich Thromben loslösen. 
Hierdurch gewinnt die Arteriosklerose 
eine neue Bedeutung für die Unterbin¬ 
dung der Carotis. Die Kompression der 
Carotis oder das Collateralzeichen kommen 
deshalb für die Bewertung der Möglich¬ 
keit der Operation nicht in Betracht. 
Ebensowenig nützt die gleichzeitige Unter¬ 
bindung der Vena jugufaris interna Aus 
diesem Grunde sind auch die Erfolge der 
Gefäßnaht des Carotisaneurysmas gut. 
Aber hierbei können auch üble Zufälle 
eintreten. Zur Unterbindung empfiehlt 
er einen Fascienstreifen, weil dadurch die 

30* 





236 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juni 


Intima nicht verletzt wird. Einmal hat 
sich die Methode bewährt. — Pels-Leus- 
den wendet schon lange ganz langsame 
Unterbindung mit dickem Faden an. 
Auch Bier nimmt ganz dickes Catgut. — 
V. Haberer hält in vielen Fällen die 
Blutleere des Gehirns für die Ursache der 
üblen Zufälle. In 20 Fällen von Aneur¬ 
ysma der Carotis hatte er mit der Naht 
guten Erfolg. Er würde niemals unter¬ 
binden, sondern transplantieren, wenn 
nötig sogar eine Vene. — Müller- 
Rostock sah sechs bis sieben Fälle von 
Carotisunterbindung zum Tode kommen 
bei allen fand sich Thrombose und Em¬ 
bolie; nur in einem Falle bestand allein 
eine Thrombose. — Bier hält die An¬ 
sicht von Perthes nicht für richtig. 
Hier muß der Begriff der Endarterien 
heran. Unsere Ansichten vom Kollateral- 
kreislauf sind irrig. Nicht der Druck läßt 
das Blut strömen, sondern der Druck¬ 
unterschied. Es muß zugleich eine Saug¬ 
wirkung da sein. Die Körperoberfläche 
hat diese Eigenschaft, das Blut anzu¬ 
saugen, die inneren Organe nicht. Der¬ 
selbe Unterschied gilt für die Schmerz¬ 
empfindung bei Haut, Hirn, Darm. 


Refe 

Als Therapie bei Ventrikelstillstand 
im Adam-Stokesschen Anfall empfiehlt 
Schott (Köln) einen kräftigen Faust¬ 
schlag auf die Brust in die Herzgegend. 
Die Beobachtungen an einem Fall lassen 
ihn annehmen, daß die mechanische Rei¬ 
zung zu einer einfachen mechanischen 
Austreibung des Blutes aus dem Herzen 
führt, ohne daß der Ventrikel angeregt 
wird, oder es erfolgen unmittelbar hinter 
dem Einsetzen der Reizung ein auch zwei 
bis drei heterotype Ventrikelsystolen, 
also Ventrikelextrasystolen, die dann ihrer¬ 
seits Anlaß zu automatischer Ventrikel¬ 
tätigkeit geben. Man darf also der Um¬ 
gebung und Pflegepersonen von Kranken, 
bei denen die Diagnose Adams-Stokessche 
Anfälle sichergestellt ist, empfehlen, nach 
Beginn des Anfalls einen Faustschlag 
auf die Herzgegend auszuführen. (Referent 
möchte diesen energischen Eingriff jeden¬ 
falls der Hand des Arztes Vorbehalten.) 

(M. m. W. Nr. 13.) F e u e r h a c k (Berlin). 

Gegen schwere Blutungen in der Nach¬ 
geburtsperiode und nach der Geburt 
empfiehlt Schmid die manuelle Aorten¬ 
kompression, die auch von jeder Hebe- 
amme gekannt und gegebenenfalls zur 


Härtel gibt technische Ratschläge 
zur Ausführung der cervicalen Leitungs¬ 
anästhesie. Man kämmt mit einer In¬ 
jektion von 10 ccm einer 1 %igen Lösung 
in C III aus, die von selbst auf C IV 
diffundiert. — In über 100 Fällen sah er 
keine ernste Störung. 

Laewen empfiehlt die Vereisung der 
Nerven zur Behebung von Nerven¬ 
schmerzen in Amputationsstümpfen und 
zur Verhütung des Auftretens solcher. 
Der Nerv wird zur Degeneration gebracht. 
Sein Apparat trifft mehrere Nerven- 
stämme zugleich. Als Kältequelle dient 
Kohlensäure. Nerven von mittlerer Dicke 
erfordern zehn Minuten, ganz dicke mehr. 
Besonders geeignet waren die Amputa¬ 
tionsstümpfe, wo spontane Schmerzen 
auftraten oder die Belastung schmerzhaft 
war. Die Schmerzen, die in die abgesetzten 
Teile verlegt wurden, wurden weniger 
beeinflußt. Central sitzende Schmerzen 
reagieren nicht. Meist wurde der Nerven¬ 
stumpf ausgelöst, vereist und implantiert. 
— Moszkowicz empfiehlt, den Nerven- 
stumpf gleich in einen Muskel einzu¬ 
pflanzen zur Vermeidung Von Amputa¬ 
tionsneuromen. (Schluß folgt.) 


rate. 

rechten Zeit angewendet werden muß; 
falls die Sehrtsche Aortenklemme zur 
Hand ist, kann sie gebraucht werden, 
da sie nach den bis jetzt gesammelten 
Erfahrungen das beste Instrument ist. 
Demgegenüber darf der Momburgsche 
Schlauch nur dann angelegt werden, 
wenn die Gefahr der unmittelbaren Ver¬ 
blutung droht, da die auf diese Weise 
herbeigeführte Blutleere große, mit Sicher¬ 
heit nicht zu vermeidende Gefahren ein¬ 
schließt. Pulvermacher (Charlottenburg). 

(Zbl. f. Gyn. 1920, Nr. 19.) 

Über die Ätiologie der Hirschsprung- 
schen Krankheit gehen die Ansichten 
der Autoren noch auseinander: in einer 
Minderheit der Fälle muß anscheinend 
die ursprüngliche Ansicht Hirschsprungs 
aufrecht erhalten bleiben, daß es sich um 
ein angeborenes Leiden — ein congeni¬ 
tales Megakolon — handelt. Bei vielen 
Fällen aber scheint die Auffassung zu 
Recht zu bestehen, daß eine mechanische 
oder funktionelle Ursache primär zur 
Stauung des Darminhaltes und erst se¬ 
kundär zur Dilatation des Kolons führt. 
Als Stütze für letztere Ansicht dient die 
genaue klinische Beobachtung eines Fallesj 



Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


237 


den Retzlaff aus der Krausschen Klinik 
mitteilt. Ein 46jähriger Patient sucht 
wegen Aufblähung des Leibes, Leib¬ 
schmerzen und Stuhlverstopfung, die nur 
durch sehr große Einläufe behoben werden 
kann, die Klinik auf. Er gibt an, seit 
seiner Kindheit an diesen Beschwerden 
gelitten zu haben. Die Untersuchung 
ergab Zwerchfellhochstand, aufgetriebe- 
nen, weichen Leib, dünne Bauchdecken, 
durch die Darmperistaltik fühlbar war. 
Im linken Hypochondrium war die Auf¬ 
treibung am stärksten. Um eine Röntgen¬ 
aufnahme anfertigen zu können, mußten 
sieben Liter Bariumsulfataufschwemmung 
in den Darm eingelassen werden. Diese 
ergab ein mächtiges Megasigma. Aus dem 
ganzen Symptomenkomplex erschien die 
Diagnose Hirschsprungsche Krankheit 
gesichert. Bemerkenswerte Aufschlüsse 
bezüglich der Ätiologie ergab aber die 
Prüfung des vegetativen Nervensystems. 
Äußerlich bemerkbare Zeichen eines er¬ 
höhten Tonus im gesamten vegetativen 
Nervensystem waren nicht nachzuweisen. 
Atropin- und Physostigmineinspritzungen 
blieben ohne jede Wirkung, der Tonus 
des Vagus war demnach herabgesetzt. 
Dagegen zeigte die Injektion von 1 mg 
Suprarenin einen starken Effekt, dessen 
genauere Analyse eine außerordentliche 
Erhöhung des Sympathikotonus bewies. 
Verfasser setzt nun diesen erhöhten Sym¬ 
pathikotonus in Beziehung zur Ätiologie 
der Krankheit: Der Sympathicus hemmt 
die Darmbewegungen und setzt den Darm¬ 
tonus herab; unter normalen Verhält¬ 
nissen wird seine hemmende Wirkung 
aber durch die antagonistische Vagus¬ 
wirkung kompensiert und reguliert.^ Im 
vorliegenden Fall aber hemmt das Über¬ 
wiegen des erhöhten Sympathikotonus 
über den verminderten Vagotonus die 
Darmfunktionen, es kommt zur Stauung 
des Darminhaltes und im Laufe der Jahre 
dann sekundär zur Erweiterung des Ko¬ 
lons. Patient wurde operiert, starb aber 
an Peritonitis. Bei der Sektion wurde 
kein mechanisches Hindernis der Darm¬ 
durchgängigkeit gefunden. Nathorff. 

(B. kl. W. 1920, Nr. 14.) 

Prof. Stepp (Gießen) berichtet über 
die Behandlung der Lungengangrän mit 
Salvarsan, welche von Brauer und Groß 
eingeführt worden ist. Verfasser konnte 
während der letzten 1 % Jahre das Neo- 
salvarsan in vier Fällen von Lungen¬ 
gangrän anwenden, und zwar mit durch¬ 
weg günstigem Erfolge. Er gab je zwei¬ 
mal 0,45 ccm Neosalvarsan intravenös im 


Abstand von acht Tagen und konstatierte 
nach der ersten Injektion Abnahme be¬ 
ziehungsweise! Aufhören des putriden Aus¬ 
wurfes, Abfallen des Fiebers, Besserung 
des Allgemeinbefindens, und nach der 
zweiten Injektion bedeutende Besserung 
des lokalen Lungenbefundes und weitere 
Hebung des Allgemeinbefindens mit gro¬ 
ßer Gewichtszunahme. Wichtig ist die 
Beobachtung Stepps, daß Salvarsan bei 
reinen Lungenabscessen und bei Kom¬ 
plikationen der Gangrän mit Empyem 
versagte. (Man vergleiche hiermit die anr 
scheinenden Erfolge, welche Hirsch auch 
bei Lungenabsceß erzielt hat, und die an¬ 
schließende Diskussion im Aprilheft.) Die 
Erklärung für die Unwirksamkeit liegt 
wohl darin, daß das Salvarsan zwar gegen 
die Fäulniserrreger der Lungengangrän, 
nicht aber gegen die Eitererreger des 
Lungenabscesses wirksam ist, was durch 
das Verhalten von Salvarsan gegenüber 
anderswo lokalisierten gangränösen be¬ 
ziehungsweise purulenten Prozessen nach¬ 
zuprüfen wäre. Stepp glaubt, daß andere, 
neuere Behandlungsarten der Lungen¬ 
gangrän, wie die von Franzosen angewand¬ 
ten intrabronchialen Injektionen oder die 
von Strauß intraglutäal gegebenen Men- 
thol-Eukalyptol-Injektionen nicht an die 
Erfolge der Salvarsantherapie heran¬ 
reichen, empfiehlt jedoch, das Urteil erst 
nach weiteren Untersuchungen endgültig 
abzuschließen. Klauber (Berlin). 

(Ther. Halbmh. 1920, H. 6.) 

Die intravenöse Calciumtherapie 
bei Lungentuberkulose wird von Maendl 
angelegentlich empfohlen. Angewandt 
wurde ausschließlich das von Merck in 
den Handel gebrachte Calcium chloratum 
crystallisatum purissimum, bei dem üble 
Nebenwirkungen nicht zur Beobachtung 
kamen, in 5 bis 10 %iger Lösung. Aller¬ 
dings muß die intravenöse Injektion recht 
sorgfältig vorgenommen werden, da Cal¬ 
cium chloratum in diesen Konzentrationen 
bereits circumscripte Nekrosen verursacht, 
wenn eine kleine Menge in das subcutane 
Gewebe gelangt. Nach der Einspritzung 
stellt sich ein rasch vorübergehendes 
Hitzegefühl ein, auf das die Patienten schon 
vorher hinzuweisen sind. Verfasser gibt 
bei Hämoptoe 5 bis'10 ccm der 5%igen, 
in schweren Fällen der 10%igen Calcium¬ 
lösung, eventuell muß die Injektion wieder¬ 
holt werden. In letzter Zeit wurden auf 
diese Weise 15 Fälle behandelt: in zehn 
Fällen stand die Blutung nach der ersten, 
in zwei Fällen nach der zweiten Injektion, 
in drei Fällen war diese Behandlungsweise 




238 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juni 


ohne Erfolg. Die günstige Wirkung führt 
Verfasser auf die Erhöhung der .Gerin¬ 
nungsfähigkeit durch Übersalzen des Blu¬ 
tes und durch den hohen Kalkgehalt zu¬ 
rück. Außer dieser mehr symptomati¬ 
schen Wirkung bei Hämoptoe haben aber 
auch intravenöse Calciuminj ektionen, 
wenn sie längere Zeit hintereinander 
gegeben werden, einen guten Einfluß auf 
das Allgemeinbefinden Lungenkranker. 
Verfasser hat bei 25 Patienten 5 ccm 
einer 5 %igen, und bei 10 Patienten 5 ccm 
einer 10%igen Calciumlösung intravenös 
gegeben, im Durchschnitt zehn- bis fünf¬ 
zehnmal, aber auch zwanzigmal und mehr. 
Bei dieser Behandlung verschwinden die 
Nachtschweiße rasch, die Menge des 
Auswurfes wird vermindert, Entfieberung 
tritt ein. Bei hochfebrilen, schweren, 
exsudativ-ulcerösen Tuberkulosen konnte 
kein Erfolg festgestellt werden. Jedoch 
rechtfertigen die Erfolge in allen anderen 
Fällen eine Nachprüfung. Nathorff. 

(M. Kl. 1920, Nr. 9.) 

Das gerade jetzt aktuelle Thema der 
Rachitis wird von Engel in einer Reihe 
von Aufsätzen behandelt. Bei allem Ge¬ 
winn, den die Rachitisforschung der 
beiden letzten Jahrzehnte brachte, konn-. 
ten die Rätsel der Ätiologie und Patho¬ 
genese der Rachitis noch keine Lösung 
erfahren. Vieles wird als Ursache der 
Rachitis angeschuldigt. Als klarere Fas¬ 
sung der Verhältnisse sind die Gedanken¬ 
gänge V. Hansemanns anzuerkennen, 
der die Rachitis als Domestikationskrank¬ 
heit erklä'rt. v. Hanse mann ging von 
der Erwägung aus, daß fast sämtliche 
Tiere in der Gefangenschaft rachitisch 
werden, daß die Rachitis bei den Natur¬ 
völkern unbekannt ist, und daß sie an¬ 
dererseits dort mit Vorzug auftritt, wo 
die Kinder besonders eng ans Haus ge¬ 
fesselt sind, daß die Zahl der Rachitis¬ 
fälle im Winter erheblich größer ist als 
im Sommer, v. Hansemann gibt als 
Definition der Domestikation: „Die Ge¬ 
wöhnung einer Tierrasse an eine von der¬ 
jenigen der frei lebenden Tiere abwei¬ 
chende Lebensweise.. — jedes Streben, die 
Existenz der Rasse und des einzelnen 
Individuums in bewußter Weise durch 
künstliche Hilfsmittel und gegen den 
Einfluß äußerer Naturgewalten zu ver¬ 
teidigen.“ So bestechend an sich die Dar¬ 
stellung der Rachitis als Domestikations¬ 
krankheit ist, das Problem ist im Hinblick 
auf die Definition der Domestikation 
durch V. Hansemann doch nicht er¬ 
schöpft. Auch die wildesten Naturvölker 


sind domestiziert, sie kennen die Rachitis 
nicht. Die Rachitis ist im wesentlichen 
eine Erkrankung der Armen in den 
größeren Städten, bei den Reichen war 
sie bisher so gut wie unbekannt. Gerade 
bei diesen trifft aber im vollsten Maße 
zu, was V. Hansemann unter Domesti¬ 
kation versteht. Trotz immer stärkerer 
Domestizierung der Bevölkerung hielt in 
den letzten Jahrzehnten die Rachitis 
nicht Schritt mit dieser Entwicklung, sie 
blieb in engen Grenzen. Die Domestika¬ 
tion muß qualitativ betrachtet werden. 
Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte 
machte aus der Wohnstätte des Menschen 
unter der Einwirkung einer unseligen 
Bodenpolitik einen Käfig. Die Domesti¬ 
kation wurde zur Einpferchung, deren 
Schäden erträglich waren, solange ihnen 
günstige Lebensbedingungen, insbeson¬ 
dere gute Ernährung entgegenwirkten. 
Bei der allgemeinen Notlage unserer Zeit 
nun aber schaffen beide Faktoren: die 
Wohnung, eine dunkle, stinkende Höhle, 
die Nahrung, ungenügend, mangelhaft 
verdaulich, dem Kinde Bedingungen 
ähnlich einer Pflanze, die im Keller auf 
dürrem Boden auskeimen muß, sie muß 
verkommen und verkümmern. Alle 
einzelnen ätiologischen Faktoren, die sonst 
für die Rachitis in Betracht kommen, 
ordnen sich dem Begriff der Verküm¬ 
merung des menschlichen Keimlings 
unter. Feuerhack. 

(M. Kl. Nr. 15.) 

Über das Problem der physiologi¬ 
schen Salzlösung in Theorie und Praxis 
bringt W. Straub bemerkenswerte Aus¬ 
führungen und Untersuchungen, die ge¬ 
eignet erscheinen, den Gebrauch der alt¬ 
bekannten physiologischen Kochsalz¬ 
lösung etwas einzuschränken. 

Nach Ansicht Straubs ist die „phy¬ 
siologische“ Salzlösung eigentlich nur 
eine ,,anatomische“ Lösung, da die mit 
ihr zusammengebrachten Körperbestand¬ 
teile, wie Blutkörperchen, Muskeln, Darm¬ 
schlingen in ihr zwar die anatomische 
Form behalten, hingegen die physiolo¬ 
gische Funktion einbüßen: der Salz¬ 
gehalt der Blutkörperchen verändert sich, 
das Herz schlägt nicht mehr, der Rhyth¬ 
mus der Darmcontractionen wird un¬ 
regelmäßig, das Adrenalin verliert seine 
blutdrucksteigernde Wirkung. Eben¬ 
solchen vernichtenden Einfluß auf die 
Körpertätigkeit habe die offizinelle „Sol. 
Natrii chlorati physiologica!‘, der ein 
unberechtigt hoher Prozentsatz Soda zu¬ 
gesetzt sei. Wenn bei Anwendung dieser 



^Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1920' 


239 


Salzjösungen (Infusion, Darmeinpackun- 
gen, Wundspülungen usw.) die Patienten 
gesund würden, so geschehe es trotz, 
nicht wegen des Gebrauches der Lösungen. 

Im Gegensatz zu der gewöhnlichen 
und der offizineilen NaCl-Lösung stehen 
die Ringerlösung und die Serum Salz¬ 
lösung des Verfassers., Diese beiden ent¬ 
halten Kochsalz, Chlorkalium, Chlor¬ 
calcium, Natriumbicarbonat und Chlor¬ 
magnesium nach dem Vorbilde der Aschen¬ 
zusammensetzung des Blutes; in diesen 
behalten überlebende Organe nicht nur 
ihre anatomische Form, sondern auch 
ihre physiologische Funktion bei. Gegen¬ 
über der älteren Ringerschen Lösung habe 
die Serumsalzlösung des Verfassers den 
Vorzug, daß die einzelnen Salze gleich¬ 
zeitig in Lösung bleiben, ohne bei Zu¬ 
fügung des letzten Bestandteiles, des 
Chlorcalciums, oder beim Sterilisieren 
auszufallen. Das St raub sehe Salz¬ 
gemisch könne tatsächlich als „anorga¬ 
nisches Blutserum*' 'bezeichnet werden; 
dies beweist Verfasser mittels mehrerer 
sphygmographischer Kurven, die die Wir¬ 
kung der alten „physiologischen** Koch¬ 
salzlösung und der neuen Serumsalzlösung 
am ausgeschnittenen Froschherzen, am 
Darm und am Nebennierenextrakt (Adre¬ 
nalin) dartun. Diese Kurven zeigen in 
der Tat eine Funktionsminderung, sogar 
Funktionsaufhebung bei physiologischer 
Kochsalzlösung und völlige Funktions¬ 
erholung bei nachher angewandter Serum¬ 
salzlösung. Das Straub sehe Präparat 
wird von dem sächsischen Serumwerk 
Dresden unter den Namen „Normosal“ 
hergestellt. ’ Klauber. 

(M. m. W. 1920, Nr. 9.) 

Unter der mangelhaften Milchhygiene 
der letzten Jahre muß vielfach als Säug¬ 
lingsnahrung sauergewordene Kuh¬ 
milch verfüttert werden, eine Milch, die 
früher als ungeeignet dafür galt. Klotz 
(Lübeck) gibt Rietschel (M. m.W. 1920, 
Nr. 2) recht, der von Überschätzung der 


Gefahren der sauer gewordenen Milch 
spricht., Die Erfahrungen der letzten 
Jahre in Lübeck zeigen, daß trotz der 
schlechten Milchverhältnisse keine Stei¬ 
gerung der akuten Ernährungsstörungen 
(Toxikosen) der Kinder festzustellen war. 

Als Erklärung dieses Phänomens 
nimmt Klotz an: 1. Die Brusternährung 
der Säuglinge hat zugenommen; 2. der 
Fettgehalt der Kuhmilch ist geringer ge¬ 
worden, es fehlt das Substrat, damit 
größere Mengen ranziger Fettsäuren ent¬ 
stehen, die nach der Czernyschen Schule 
eine wichtige' Rolle bei der Entstehung 
akuter Ernährungsstörungen spielen ; 
3. Sommerhitze größeren Stils hatten wir 
in den letzten Jahren nicht; 4. bei der 
allgemeineiy Nahrungseinschränkung 
kommen Überfütterung des Säuglings 
und Überladung mit Kohlehydraten weni¬ 
ger in Frage; 5. offenbar macht die Auf¬ 
klärung der Mütter durch Säuglingsbe¬ 
ratungsstellen und dergleichen Fort¬ 
schritte. Klotz empfiehlt als guten 
Kunstgriff Hamburgers das Abkochen 
der gesäuerten Milch mit Haferschleim. 

(M. m.W. 1920, Nr. 13.) Feuerhack. 

Einen Beitrag zur Epidemiologie 
der Weilschen Krankheit veröffentlicht 
F. A. Harzer. Die im Felde gesammelten 
Erfahrungen laufen darauf hinaus, daß 
das Auftreten der Krankheit im all¬ 
gemeinen abhängig ist von dem Zu¬ 
sammentreffen besonderer Umstände, ein¬ 
mal von der Gegenwart weilkranker 
Ratten, die im Krankheitsstadium der 
Blutinfektion den primären Infektions¬ 
herd darstellen, zweitens aber von dem 
Wirtswechsel des Rattenflohes, der als 
Zwischenträger in Betracht kommt. Ver¬ 
mutlich werden sich daher auch im Kriege 
menschliche Krankheitsfälle im all¬ 
gemeinen nur dort häufen, wo vor allem 
die Lagerstellen Ratten und Flöhen zu¬ 
gänglich sind. Hetsch (Frankfurt a. M.). 

(Beitr. z. Klin. d. Infekt.-Krankh. u. z. Im- 
munit.-Forsclig. 1919, Bd. 8, Heft 1 bis 2.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Die Gefahren der unspecifischen Herdreaktion. 

Von Dr. L. Veilchenblau in Arnstein (Ufr.). 


Bekannt waren schon seit langem die 
specifische Leistungssteigerung in Ge¬ 
stalt der Impfung und die Herdreaktion 
(das heißt die specifische), besonders im 
Verlauf der specifischen Tuberkulose¬ 
diagnostik und Behandlung. Wei- 
chardt führte den Begriff der unspeci¬ 


fischen Leistungssteigerung (Protoplasma¬ 
aktivierung) ein. Wie nun die (specifische) 
Herdreaktion eine Folge der Überspan¬ 
nung auf dem Versuch der specifischen 
Leistungssteigerung darstellt, so ist die 
unspecifische Herdreaktion ebenfalls der 
Ausdruck einer übermäßig versuchten 




240 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juni, 


unspecifischen Leistungssteigerung, wo¬ 
bei nicht die absolute Leistungssteige¬ 
rung, sondern die relative (mit Rücksicht 
auf das Subjekt) als übermäßig versucht 
zu betrachten ist. R. Schmidt hat be¬ 
reits die Lehre von der unspecifischen 
Herdreaktion in die Therapie eingeführt 

Tatsachen und Zustände, die der 
praktische Arzt und Kliniker am Kran¬ 
kenbett erlebt und erfahren hatte, kom¬ 
men unter die Lupe der Wissenschaft, 
werden in ein neugeprägtes System ein¬ 
gefügt. Freilich ist dieses System auch 
dem Praktiker wissenswert genug, um 
der Gefahren willen, die eine unspecifi^ 
sehe Herdreaktion bedeuten kann. Es 
handelt sich bei den von mir inaugurier¬ 
ten Fällen um Herdreaktionen der Neben¬ 
krankheiten im Verlaufe der therapeuti¬ 
schen Beeinflussung der Hauptkrank¬ 
heiten, also um Herdreaktionen bei 
nebenhergehenden, wenig oder gar nicht 
erkannten Krankheiten. Und diese „Zu¬ 
fälle“ gilt es zu verhüten. 

Zunächst: I. Tuberkulose und Lues. 
Ein 28jähriger junger Mann befindet 
sich seit längerer Zeit wegen Lungen¬ 
tuberkulose in specifischer Behandlung 
mit Alttuberkulin. Sputumbefund: ne¬ 
gativ. Im Verlaufe der Behandlung bittet 
er um Untersuchung wegen Lues, da er 
jetzt seine zweite Kur zu erledigen habe. 
Wassermannreaktion + + + + ohne 
äußere Erscheinungen von Lues an Haut 
und Schleimhäuten. Zehn Minuten nach 
der ersten Salvarsaninjektion (0,2) Hä¬ 
moptoe mit 400 ccm Blut, Auftreten von 
Rasselgeräuschen im linken Oberlappen, 
der bis dahin kaum nennenswerte physi¬ 
kalische Erscheinungen geboten hatte, 
und positiver Bacillenbefund. Die spä¬ 
teren Injektionen blieben ohne Einfluß 
auf die tuberkulöse Erkrankung (Eigen¬ 
beobachtung). 

2. Tuberkulose und Typhusschutz¬ 
impfung. Eine Frau mit latenter Lun¬ 
gentuberkulose reagiert nach einer Ty¬ 
phusschutzimpfung mit hohem Fieber, 
Rasselgeräuschen und stark gestörtem 
Allgemeinbefinden; Dauer der Erschei¬ 
nungen ungefähr eine Woche. — Eine 
andere Frau erfährt nach einem be¬ 
schwerdefreien Intervall durch die 
Impfung Verschlimmerung in Gestalt 
starker Müdigkeit und Appetitlosigkeit. 
Eine weitere Frau von 53 Jahren, die 
seit längerer Zeit lungenleidend ist, wie¬ 
derholte Lungenblutungen bereits gehabt 


hat und seit geraumer Zeit nicht mehr 
in ärztlicher Behandlung ist, bekommt 
nach einer Impfung hochgradige Kurz¬ 
atmigkeit, wird hinfällig, sucht das Bett 
auf und erliegt einige Tage später einem 
Blutsturz (Dr. Basten, D. m. W. 1920, 
Nr. 12, Ausgedehnte Zwangsimpfungen 
der Zivilbevölkerung im besetzten Ge¬ 
biet). 

3. Lues und Gonorrhöe. Ein 22jähri- 
ger junger Mann kommt in Behandlung 
wegen einer alten Gonorrhöe; es besteht 
eine feuchte Harnröhre, im Präparat viel 
Epithel, wenig Eiter, beide Urine sind 
klar, im linken Vorsteherdrüsenlappen ein 
altes erbsengroßes Infiltrat; auf Sonden¬ 
provokation keine Reaktion; auf Provo¬ 
kation mit Arthigon 0,1 intravenös Fieber 
bis 39,5, keine Herdreaktion, sehr starke 
Kopfschmerzen; nach sechs Tagen Ar¬ 
thigon 0,2 intravenös, daraufhin nach 
24 Stunden Apoplexie. Wassermann¬ 
reaktion + + + + (Eigenbeobachtung). 

Es handelt sich hier um eine Zu¬ 
sammenstellung von unliebsamen Er¬ 
scheinungen, von Herdreaktionen, die 
bei einer konkomitierenden Krankheit im 
Verlaufe der Therapie der ersten Krank¬ 
heit aufgetreten sind. Es erwächst hieraus 
also eine besondere Aufgabe für die Indi¬ 
kationsstellung. - Bei jenem un-glück¬ 
lichen Zusammentreffen von Lues und 
Tuberkulose ist also auch Vorsicht beim 
Salvarsangebrauche zu machen, freilich 
weiß man ja, daß hier Hämoptoen schon 
nach einfachen Injektionen auf treten 
können. 

Schutzimpfungen, die eine Umstim¬ 
mung des Körpers herbeiführen sollen, 
eine aktive Immunisierung bezwecken, 
bilden auch bei latenter Tuberkulose eine 
Gegenindikation. 

In jenem Fall von Lues und Gonorrhöe 
hätten die nach der ersten Injektion von 
Arthigon aufgetretenen Kopfschmerzen 
eine Warnung gegen eine zweite Injektion 
bilden müssen. Hier hatte es sich nicht 
um eine specifische Allgemeinreaktion, 
sondern bereits um eine unspecifische 
Herdreaktion gehandelt, die nach der 
zweiten Injektion, trotz inzwischen ab¬ 
geklungenen Kopfschmerzen, erst recht 
wild wurde. 

So ist der Zweck dieser Zeilen, weniger 
eine Erklärung für eigenartige ,,Zufälle“ 
zu bringen als vielmehr zur Vorsicht in 
der Therapie zu mahnen. 


Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. K1 e m p e r e r in Berlin, Verlag von Urban&Schwarzenberg 
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Berlin W 8 















Jherapie' der Gegenwart.' ' Äraizieigen.- 


1 / Hefr 



DIGIPAN 

nimmt unter allen Herzmitteln eine hervorragende Stellung 
ein, weil es den therapeutischen Höchsteffekt der Digital 
lisdroge gewährleistet. Die stets gleiche chemische Bes 
schaffenheit und die regelmäßige physiologische Einsteis 
lang bedingen die Unveränderlichkeit seiner Wirkung, Diese 
experimentell, , wie klinisch erwiesenen Tatsachen erklären 
das überaus günstige Urteil hervorragender Vertreter der 
Wissenschaft und Praxis, welche die ausgezeichneten Eigens 
schäften des Dlglpans am Krankenbette kennen gelernt haben. 

TEMMLER-WERKE, Vereinigte Chemische Fabriken DETMOLD. 


- Diepem Heft hegen Prospekte folgender Firmen bei: - 

Kalle & Co.A.-G., Biebrich a. Rh., betr.: „Bismu tose“. — Heinr.Loewy, Berlin NW, über Bandagen. — Verlag des „Anzeiger für Ärzte und 
Apotheker'SNürnberg, betr.: „Ermer, Mediz.Taschenhandbuch“. — Dr. Ludw, östreicher, BerlinW35, betr.: „Eulatin“, „Terpichin“. 













Berichtigung. 

In der Arbeit von Moritz, „Über technische Vereinfachungen in der Hand¬ 
habung der Diabetikerdiät“ im Februarheft der Th. d. Geg. 1920 sind in der Tabelle VI, 
Rubrik 1 (Salate, Tomaten usw.) durch ein Versehen falsche Hektokalzahlen angegeben. 
Beistehende Richtigstellung ist dort einzukleben. 


Salate, Tomaten, 
Spargel, Gurken, 
Sauerkraut,. Radies¬ 
chen, elngem. Schnitt¬ 
bohnen, Spinat“) . 


K 

2 

5 

7 

10 

12 

14 

17 

19 

22 

24 



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2 

3 

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5 

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460 

690 

920 

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1 

1 

1 

2 








Die Therapie der Gegenwart 


1920 


herausgegeben von Geh. |Ated.-Rat Proh Dr. G. Klemperer 
in Berlin. 


Juli 


' Nachdruck verboten. 

Gutartige Influenzanephrose. 

klinische Vorstellung von Prof. G. Klemperer. ' , 


Meine Herren! Wir haben gelernt, 
daß die akute Nierenentzündung, welche 
zu wassersüchtigen Schwellungen und 
Albuminurie führt, in zwei verschiedenen 
Formen auftritt, deren reine Typen ich 
Ihnen zeigen konnte. Entweder als wirk- 
hche Entzündung, deren Circulationsstö- 
rungen am Glomerulusapparat' ablaufen, 
und die mit starkvermindertem blutigen 
Urin einhergehen, oder als deg^nerative 
Veränderung .des secernierenden Nieren¬ 
parenchyms, bei der reichliche Eiweiß- 
abscheidung ohne Blut und ohne wesent¬ 
liche Einschränkung der Urinmenge beob¬ 
achtet wird. 

AlsTypus (^er akuten hämorrhagischen 
Form habe icfi einen jugendlichen Kran¬ 
ken mit Nephritis nach Scharlach gezeigt. 
Er war angeschwollen am ganzen Körper, 
die vierundzwanzigstündige Urinmenge 
betrug 250 ‘ ccm, sie enthielt reichlich 
Blut und Eiweiß, im mikroskopischen 
Präparat viele rote Blutkörperchen und 
viel Cylinder. Wir haben die Voraus¬ 
sage in diesem Fall als relativ günstig be¬ 
trachtet, weil das Stadium der geringsten 
Urinmenge schon überwunden war. Aber 
wir haben uns gesagt, ,daß bei der akuten 
hämorrhagischen Nephritis die Prognose 
im allgemeinen ernst ist, weil Anurie 
und Urämie drohen, welche nicht immer 
überstanden werden. Ich mußte Ihnen 
berichten, daß wir trotz Einschränkung 
der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr, ja 
trotz Hunger und Durst, trotz Schwitzkur, 
Aderlaß und diuretischer Medikamente 
einige Patienten mit akuter Nephritis 
haben sterben sehen. 

Unter den Infektionskrankheiten, 
welche analog dem Scharlach, wenn auch 
keineswegs in gleicher Häufigkeit, den 
Glomerulusapparat der Nieren zur Ent¬ 
zündung bringen, nannte ich Ihnen auch 
die Influenza. In der großen Epidemie, 
welche uns in den vergangenen Jahren 
heimgesucht hat, und welche sich jetzt 
ihrem Ende nähert, haben wir mehrere 
Fälle akuter hämorrhagischer Nephritis 
nach typisch verlaufener Influenza beob¬ 
achtet; wir haben in der Influenzazeit 


eine große Zahl von solchen Nephritiden 
gesehen, bei. welchen klinische Influenza¬ 
zeichen fehlten; wir haben sie zur In¬ 
fluenza gerechnet, weil mit ihrem Blut¬ 
serum deutliche Agglutination von In- 
Jluenzaerregern zu erzielen warj).. Einen 
dieser Fälle haben wir verloren,, mehrere 
sind chronisch geworden. Wir haben des¬ 
wegen die Prognose der Influenzanephritis 
gleich der nach Scharlach als dubia be¬ 
zeichnet, und wir haben betont,'daß die 
Behandlung die offenbare Lebensgefahr 
dieser Krankheiten würdigen müsse. Ich 
stelle Ihnen nun heute eine Kranke vor, 
welche unsere Anschauungen von den 
Nierenerkrankungen nach Influenza er¬ 
heblich modifizieren wird. . 

Die 26jährige Patientin Frieda B.„ welche 
am 8. Februar mit allgemeinen Fiebererscheinun¬ 
gen erkrankt ist, kam am 16. Februar ins Kranken¬ 
haus; die Temperatur war 38,3, die Pulsfrequenz 
84, Patientin machte keinen schwerkranken Ein¬ 
druck; sie klagte über Gliederschmerzen, Mattigkeit 
und‘hatte geringe Bronchitis, vereinzelte broncho- - 
pneumonische Herde. Auffallend war eine leichte 
Gedunsenheit des Gesichts und deutliches Knöchel¬ 
ödem. Der Blutdruck betrug 120/85 ccm. Der Urin 
war hell, specifisches Gewicht 1018, gab starken 
Eiweißniederschlag, der im Esbach zu 8®/oo be¬ 
stimmt wurde und enthielt im Centrifugat wenig 
hyaline Cylinder, keine roten Blutkörperchen. Pa¬ 
tientin bekam Milchdiät und eine Schwitzpackung. 
Am 17. Februar war die Temperatur normal, der 
Puls 76, das Allgemeinbefinden besser. Die vierund- 
zigstündige Urinmenge hatte 1400 mit dem spe- 
cifischen Gewicht 1012 betragen, Eiweiß 4 °/oo. 
Der sogenannte Rest stickst off, das heißt der beim 
Kochen nicht gerinnende, wurde auf 36 mg in 
100 ccm Blut bestimmt. 

Heut am 18. Februar macht die Patientin 
kaum einen kranken Eindruck; sie ist befriedigend 
genährt und hat gute Farben, atmet ruhig, hat 
normale Temperatur, 72 Pulse. Leichtes Knöchel¬ 
ödem. Der Urin hell, 1500/1015, Eiweiß 2%o- 
Im Sediment hyaline Cylinder in mittlerer Menge, 
keine roten Blutkörperchen. Das Herz normal, 
der zweite Aortenton nicht verstärkt. Blutbild 
normal, 4000 000 rote, 8000 weiße Körperchen. 

Nach den klinischen Zeichen ist 
kein Zweifel, daß die Patientin an 
einer mittelschweren Influenza mit 
bronchopneumonischen Erscheinungen er¬ 
krankt ist, in deren Verlauf sich eine 
Nierenveränderung entwickelt hat. Die 

Vgl. Dünner und Kupke, B. kl.W. 1919^ 

Nr. 3. 


31 


242 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juli 


Eiweißausscheidimg ist relativ hoch, die 
Urinmenge kaum vermindert, Blut ist 
nicht im Urin, das heißt, der wasserab- 
scheidende Glomerulusapparat ist nicht 
angegriffen, die Erkrankung ist im Paren¬ 
chym lokalisiert. Wir dürfen sie als reine 
Nephrose bezeichnen. Wir sind also 
durch diese Beobachtung belehrt, daß 
nach Influenza auch reine Parenchym¬ 
erkrankungen Vorkommen können. Ich 
gestehe, daß mir selbst diese Tatsache 
erst im Verlaufe des letzten Aufflackerns 
der Epidemie klar geworden ist. Im 
Jahre 1918 haben wir diele hundert Fälle 
von Influenza beobachtet, darunter waren 
Fälle von akuter hämorrhagischer Ne¬ 
phritis, aber nicht ein einziger Fall reiner 
Nephrose; auch unter den sehr zahlreichen 
Fällen des Jahres 1919 ist mir keine rein¬ 
parenchymatöse Nierenerkrankung be¬ 
gegnet; erst seit Anfang dieses Jahres 
habe ich mehrere Fälle wie den eben vor¬ 
gestellten gesehen, die alle gut verlaufen 
sind. Unser Fall kennzeichnet sich als ein 
leichter, der unter Bettruhe, Milchdiät 
und Schwitzprozeduren sich wesentlich 
.gebessert hat. Es ist wohl kein Zweifel, 
daß die Besserung fortschreiten und die 
Patientin bald ganz geheilt sein wird^), 
ganz abgesehen von dem bisher guten 
Verlauf sind wir zu dieser guten Prognose 
berechtigt auf Grund der allgemeinen 
Erfahrung, daß rein nephrotische Pro¬ 
zesse nach akuten Infektionskrankheiten 
in der Regel gut verlaufen. Das gilt so¬ 
wohl für die reinen Albuminurien, als 
auch für die Cylindurien nach Diphtherie, 
nach Typhus, nach Pneumonie, mögen 
sie nun mit oder ohne Ödeme einhergehen. 
Immer ist die Voraussage der Nierenent¬ 
zündung eine bessere, wenn Blut im Urin 
fehlt und die Urinmenge nicht sehr ver¬ 
mindert ist. Dabei ist freilich zu bedenken, 
daß das Schicksal der Patienten nicht nur 
von der Nierenerkrankung, sondern vom 
Verlauf der Grundkrankheit bestimmt ist. 
Die Nephrose kann sich bessern, während 
der Patient der Schwere der Infektion oder 
einer Mischinfektion erliegt. 

Auch davon will ich Ihnen aus un¬ 
seren jüngsten Beobachtungen ein Bei¬ 
spiel geben. 

Helene M., 31 Jahre, in der Nacht vom 19. 
bis 20. Januar mit Schüttelfrost, Fieber, Glieder¬ 
schmerzen erkrankt. War früher angeblich stets 
gesund und hat im besonderen keine Nieren¬ 
krankheiten durchgemacht. Aufgenommen am 
24. Januar 1919, bot sie das mäßig schwere 
Kranheitsbild einer Influenzapneumonie des 


Patientin wurde am 28. Februar eiweißfrei 
und in ganz gesundem Zustand entlassen. 


rechten Unterläppens mit mittelhohem Fieber 
und kräftigem Herzen. Auffallend waren mäßige 
Ödeme beider Unterschenkel bis zum Knie; Be¬ 
schaffenheit des etwas hochgestellten Urins ent¬ 
sprach dem Infektionszustand, er enthielt 1 %q, 
Eiweiß, kein Blut, keine Formbestandteile. Wir 
hätten den Urinbefund nur als febrile Albuminurie 
gedeutet, wenn nicht die Ödeme auf eine tiefer¬ 
greifende Veränd'^rung des Nierenparenchyms 
hingewiesen hätte. In den nächsten Tagen ent¬ 
wickelten sich fortschreitend bronchopneumo- 
nische Herde auch im rechten Mittel- und Ober¬ 
lappenherde, während das Fieber zwischen 38,2 
und 39,6 unregelmäßig schwankte. Die Ödeme 
blieben unverändert. Die Urinmengen blieben 
relativ hoch, sanken in 24 Stunden nicht unter 
700 ccm; an keinem Tage war Blut vorhanden, 
auch niemals Formbestandteile nachweisbar. Die 
Eiweißmenge betrugen am 25. Januar 2 7oo, am 
26. und 27. desgleichen, am 28. Januar 8 ®/oo>- 
am 29. Januar 13 7oo, 30. Januar 7 ®/oo> 

31. Januar 5 7oo F Februar 7 7oo ,am 2. Fe¬ 
bruar 16 7ooi der Reststickstoff betrug 57 mg, 
der Blutdruck 110 mm. An diesem Tage stieg' 
das Fieber auf 40' und der Puls auf 120. Pa¬ 
tientin klagte über starke Schmerzen in der Schild¬ 
drüsengegend; die Haut des Halses war gerötet 
und gespannt, bei der Betastung konnte man 
ausgedehnte Infiltration der Schilddrüse nach- 
weisen, die zwei Tage später deutliche Fluk¬ 
tuation auf wies. Während die Stumitis sich ent¬ 
wickelte und das Allgemeinbefinden sich sehr 
verschlechterte, war der Urinbefund 700/1027 J. 
Eiweiß 47oo, am 4. Februar 500/1025 Eiweiß 2 7oo,> 
keine Formbestandteile. Unter sinkender Herz¬ 
kraft trat der Exitus ein. Bei der Obduktion fand 
Herr Geheimrat Ben da „typische Influenza¬ 
pneumonie, eitrige Strumitis. In den Nieren 
starke trübe Schwellung in den Tubuli mit stellen¬ 
weisem Kernschwund; die Glomeruli waren frei.“ 

Das Interesse dieser Beobachtung liegt 
einmal in dem pathologisch-anatomischen 
Beweis, daß sich an Influenza Nieren¬ 
veränderungen anschließen können, die 
rein auf die secernierenden Epithelzellen 
beschränkt bleiben, ferner aber in dem 
Ablauf der klinischen Symptome." Die 
Albuminurie war eine außerordentlich 
starke, sie stieg bis zu 16®/oo- Aber die 
Nephrose hat der Patientin wenig ge¬ 
schadet. Die Nieren haben trotz der Zell¬ 
schädigung ihren Dienst relativ gut ge¬ 
tan, sonst wäre ja die Zahl des Reststick¬ 
stoffs erheblich höher gewesen; es hätten 
sich auch irgendwelche Zeichen von Ur¬ 
ämie entwickeln müssen, aber davon war 
nichts zu bemerken. Von ganz beson¬ 
derer Bedeutung erscheint aber das Ab¬ 
sinken der Eiweißmengen, während die 
Mischinfektion fortschritt und zur Herz¬ 
schwäche führte. 

Wir können daraus im allgemeinen 
den gutartigen Charakter der Influenza- 
tiephrose erkennen, welche sich zum 
Bessern wenden kann, selbst wenn ander- 
weite Krankheitsprozesse den Organismus 
schwächen. 

Diesen gutartigen Charakter derödeme 



Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


243 


und Albuminurie nach Influenza habe 
ich in dieser Influenzaepidemie mehrfach 
beobachten können. Insbesondere habe 
ich in der Privatpraxis eine Reihe von 
Fällen gesehen, in denen Ödeme mit ver¬ 
hältnismäßig sehr starker Albuminurie 
bei Influenzakranken den Arzt sehr er¬ 
schreckten und zu ungünstiger Prognose 
veranlaßten. Oft schien mir auch der 
therapeutische Angriff zu energisch. 


Ich möchte gern, meine Herren, daß 
Sie aus dieser klinischen Visite die Er¬ 
fahrung mitnehmen, daß die Influenza¬ 
nephrose, selbst wenn dabei sehr große 
Eiweißmengen ausgeschieden werden, im 
allgemeinen eine gute Prognose gibt, und 
daß einfache Behandlungsmethoden, Bett¬ 
ruhe, gemischte Milchdiät und leichte 
Schwitzkuren meist zu ihrer Behandlung 
ausreichen. ' 


Ans der Inneren Abteilnng des Kreiskrankenhauses Berlin-Reinickendorf. 
(Direktor: G-eli. Rat Prof. Dr. Felix Klemperer.) 

Über den diagnostischen und therapeutischen Wert der Deycke- 

Muchschen Partigene. 

Von Dr. S. Tuszewski, Erstem Assistenten. 


ln dem Bericht über „die Behandlung 
mit Partialantigenen nach Deycke- 
Much“, den mein Chef, Herr Prof. F. 
Klemperer, im Februar- und März- 
Heft'1919 dieser Zeitschrift veröffent¬ 
lichte, wies er darauf hin, daß wir 
die praktische Prüfung der Deycke- 
Muchschen Methoden auf unserer Ab¬ 
teilung in Angriff genommen hätten. 
Über das Ergebnis dieser Prüfung, die 
vornehmlich in meinen Händen lag und 
die jetzt so weit gediehen ist, uns ein 
eigenes Urteil zu gestatten, will ich im 
folgenden berichten. 

Ich schicke voraus, daß ich mich in 
technischer Hinsicht streng an die Me¬ 
thodik gehalten habe, die Herr Prof. 
Deycke und Herr Dr. Altstädt selbst 
so liebenswürdig waren, mir im Dezember 
1918 im Städtischen Krankenhause zu 
Lübeck zu demonstrieren. 

Meine Prüfung galt den praktisch¬ 
wichtigen Fragen nach dem diagnosti¬ 
schen und therapeutischen Wert 
der Partigene. 

Die theoretische und experimentelle Be¬ 
gründung der Deycke-Muchschen Lehren 
konnte ich — entsprechend den beschränkten 
Mitteln eines Krankenhauslaboratöriums, haupt¬ 
sächlich dem Mangel an Versuchstieren, und der 
starken zeitlichen Inanspruchnahme durch ärzt¬ 
liche Pflichten — nur in sehr geringem Umfange 
nachprüfen; daß sie der Kritik manche Angriffs¬ 
punkte bietet und eingehendster Durcharbeitung 
bedürftig ist, hat F. Klemperer (I. c. S. 108) 
bereits erwähnt. In zwei Punkten glaube ich 
aber auch zur wissenschaftlichen Beurteilung der 
Partigenlehre etwas beitragen zu können. 

Der grundlegende Gedanke der Deycke- 
Muchschen Behandlung ist der, daß der Tuberkel¬ 
bacillus neben einer Eiweißgruppe (A) ein wirk¬ 
sames Fettgemisch enthält, das sich zusammen¬ 
setzt aus dem alkohollöslichen Fettsäure-Lipoid¬ 
gemisch (F) und dem ätherlöslichen Neutralfett 
(N). A, F und N sind antigenen Charakters, das 
heißt, sie bilden im Tierkörper specifische Anti¬ 


körper. Eine erfolgreiche Abwehr gegen die In¬ 
fektion mit Tuberkelbacillen findet nur statt, 
wenn gegen jedes der drei Partialantigene (Par¬ 
tigene) ein besonderer Partialantikörper sich 
bildet. Zur Gewinnung der Partialantigene in 
wirksamer (reaktiver) Form benutzen Deycke- 
Much die Auflösung der Tuberkelbacillen in ver¬ 
dünnter Milchsäure: Von der Milchsäure-Tuberkel- 
bacillen-Aufschließung (MTb) wird der wasser¬ 
lösliche Anteil (Filtrat = L) entfernt, der Rück¬ 
stand (MTbR) enthält die drei Partigene A, F 
und N. 

Das Alttuberkulin und die Bacillenemulsion 
von R. Koch sind bekanntlich ebensowenig wie 
alle ihre zahllosen späteren Modifikationen im¬ 
stande, Immunität gegen Tuberkulose zu 
erzeugen. Den Grund hierfür sehen Deycke und 
Much eben darin, daß alle diese Präparate nur 
einzelne Partialantigene enthalten, andere gar 
nicht oder nicht in genügender Menge oder nicht 
genügend aufgeschlossen, das heißt, nicht in 
reizender (reaktiver) Form, so daß ihre Ein¬ 
verleibung nicht die erforderliche Summe aller 
notwendigen Partialantikörper erzeugt. Das 
von Deycke und Much gewonnene natürliche 
Gemisch MTbR muß, wenn ihre Voraussetzungen 
richtig sind, ebenso wie die Mischung A+F-l-N 
gegen Infektion mit Tuberkelbacillen zu schützen 
vermögen. 

Die Immunisierung gegen Tuberkulose 
mittels MTbR oder A-|-F-}-N, welche eine 
wesentliche Voraussetzung und das eigentlich 
Neue der Partigenlehre darstellt, ist durch die 
von Deycke (1), Much und Leschke (2) mit¬ 
geteilten Tierversuche nicht ausreichend erwiesen. 
Much und Leschke konstatierten übrigens bei 
ihren Versuchen die eigentümliche Tatsache, für 
die noch jede Erklärung fehlt, daß Immuni¬ 
sierungen nur gelangen, wenn die Vorbehandlung 
und die nachherige Infektion an gleicher Stelle, 
also beide Male subcutan oder beide Male intra¬ 
peritoneal stattfanden; eine intraperitoneale Vor¬ 
behandlung schützte nicht gegen subcutane In¬ 
fektion, eine subcutane Schutzimpfung nicht gegen 
intraperitoneale Infektion — hier vor allem muß 
die Nachprüfung ansetzen. Haupt (3), der die 
Immunisierung mittels Milchsäuretuberkelbacillen 
prüfte, kam zu vollkommen negativen Resultaten; 
er benutzte freilich nicht das Originalpräparat der 
Firma Kalle & Co., sondern Auflösungen, die 
er selbst nach den Angaben von Deycke und 
Much herstellte und die vielleicht nicht so voll- 

31* 



Die Therapie den Gegenwärt 1920 


Juli 


2U 


ständig aufgeschlossen waren, wie das Deycke- 
Muchsche MTbR. 

Ich selbst mußte mich aus äußeren Gründen 
auf einen einzigen Versuch beschränken, den ich 
mit dem von Kalle & Co. bezogenen MTbR 
anstellte: 

Meerschweinchen 1 (360 g schwer) erhält 
von MTbR 1:100 000 am 8. Dezember 1919 
0,25 ccm, am 9. Dezember 0,5 ccm, am 11. De¬ 
zember 1,0 ccm, am 13. Dezember 2,5 ccm, am 
15. Dezember 5,0 ccm subcutan am Rücken. 

Am 22. Dezember Infektion subcutan am 
Bauch mit 0,5 ccm einer Aufschwemmung von 
TB-Typ. human, (drei Platinösen einer Kultur vom 
15. November 1919 in 10 ccm physkalischen Koch¬ 
salzlösung verrieben. Die Kultur stammt aus dem 
Rob. Koch-Institut und ist in Virulenz und 
Menge so eingestellt, daß die ersten Milzverände¬ 
rungen erst nach acht Wochen eintreten — es 
handelt sich also um eine schwache Infektion). 

Am 1. Februar 1920 an der Injektionsstelle ein 
kleines geschwüriges Infiltrat, in der rechten 
Schenkelbeuge eine linsengroße Drüse nachweis¬ 
bar, Arri 14. April 1920 (nach 114 Tagen) 0,2 Alt¬ 
tuberkulin subcutan, nach drei Stunden tot. 
Gewicht 280 g. Sektion: Ausgedehnte Tuber¬ 
kulose der Milz, Leber und Lungen. 

Meerschweinchen 2 (367 g) erhält MTbR 
(1:100 000) subcutan am 8. Dezember 0,5, am 
9. Dezember 1,0, am 11. Dezember 1,5, am 13, De¬ 
zember 5,0, am 15. Dezember 10 ccm. Am 22. De- 
zen)ber Infektion wie bei Meerschweinchen 1. 
Am.T. Februar 1920 Infiltrat an der Injektions¬ 
stelle und Leistendrüsenschwellung wie bei 1. 
Am 10. März 1920 (nach 79 Tagen) getötet. 
Sektion: Zwei erbsen- bis kleinbohnengroße, 
mehr weniger erweichte Drüsen in der rechten 
Schenkelbeuge, in der linken eine graurötliche 
knapp linsengroße Drüse. In der Milz drei hirse¬ 
korngroße graue Knötchen, in der Leber mehrere 
mohnkorhgroße gelbliche Herdchen — die übrigen 
Organe ohne Behind. In den Drüsen wie in den 
Milz- und Leberherdchen TB nachweisbar. 

Meerschweinchen 3 bis 6 wurden am 

22. Dezember in gleicher Weise wie 1 und 2 in¬ 
fiziert. M. 5 und 6 dienen als Kontrolle, M. 3 
^und 4 werden mit MTbR (1:100000) nach- 
behandelt, und zwar erhält M. 3 am 23. De¬ 
zember 1 ccm, am 27. Dezember 1 ccm, am 29. De¬ 
zember 2,5 ccm, am 31. Dezember 5,0 ccm, am 
'3. Januar 7,5 ccm subcutan.' M. 4 erhält am 

23. Dezember 1,0, am 27. Dezember 2,5, am 
31. Dezember 5,0 und am 3. Januar 5,0 ccm 
subcutan. 

Meerschweinchen 3 am 10. März 1920 (nach 
79 Tagen) getötet. Sektion: An der Injektions¬ 
stelle mit dickem gelblich-grünem Eiter gefüllter 
Absceß; nahebei zwei kleinbohnengroße partiell 
verkäste und erweichte Drüsen; zwei doppel¬ 
hanfkorngroße graurötliche Drüsen nach der 
Harnblase zu. Milz, Leber und übrige Organe 
ohne Befund. — Meerschweinchen4 am 17. Mai 
1920 (nach 147 Tagen) getötet; Sektion: 
Schenkeldrüsen beiderseits, desgleichen Milz 
stark, Lunge weniger tuberkulös erkrankt. 

Meerschweinchen 5 am 10. März 1920 
(79. Tag) getötet; Sektion: Zwei erbsen- bis klein¬ 
bohnengroße Drüsen, die eine stark, die andere 
weniger erweicht, in der rechten Schenkelbeuge; 
in der Milz mehrere mohn- bis hirsekorngroße gelb¬ 
graue Knötchen; in der Leber m einem pfennig¬ 
großen Bezirk zahlreiche gelbliche, unscharf be¬ 
grenzte Knötchen; Lungen ohne Befund. — Meer¬ 
schweinchen 6 (am 1. Februar 1920 linsen¬ 
großes Infiltrat an der Injektionsstelle und kleine 


geschwollene Drüsen in der rechten Schenkel¬ 
beuge nachgewiesen), am 2. Mai 1920 (nach 132 
Tagen) tot aufgefunden, in stark verwestem 
Zustande^ so daß eine genaue Feststellung der 
tuberkulösen Veränderungen nicht möglich ist. 

Das Resultat dieses Versuchs ist insofern ein¬ 
deutig, als die Vorbehandlung bei Meer¬ 
schweinchen 1 und 2 vollkommen resultatlos 
war, obgleich sehr große Dosen MTbR zur Schutz¬ 
impfung verwandt wurden und die nachherige 
Infektion sehr schwach war. Auch die Nach¬ 
behandlung bei Meerschweinchen 3 und 4 erwies 
sich nicht wirksam, da beide Tiere tuberkulös 
wurden; nur hat das am 79. Tage getötete Meer¬ 
schweinchen 3 noch eine auf die Infektionsstclle 
und ihre Umgebung beschränkte Tuberkulose, 
die inneren Organe sind noch frei, und auch bei 
dem nach 147 Tagen getöteten Meerschweinchen 4 
ist die Tuberkulose der Lunge noch relativ gering 
im Vergleich zu den Kontrollieren. Vielleicht 
kommt hierin ein gewisser Behandlungswert 
der MTbR-Nachbehandlung zum Ausdruck. 
Weitere Versuche, die ich selbst anzustellen vor¬ 
läufig nicht in der Lage bin, müssen dies ent¬ 
scheiden. Ein etwaiger geringer therapeutischer 
Wert aber, der auch bei manchen Tuberkulin¬ 
präparaten von einigenAutoren im Tierexperiment 
gefunden wurde, würde die Partigene nicht grund¬ 
sätzlich vom Tuberkulin zu trennen brauchen und 
für ihren Immunisierungswert nichts besagen; 
eine immunisatorische Fähigkeit des MTbR 
— das sei nochmals hervorgehoben — kommt in 
meinem Versuche nicht einmal andeutungsweise 
zum Ausdruck. 

Der zweite Punkt, zu dem ich Versuche an¬ 
stellte, betrifft den antigenen Charakter der 
Fette. Die Annahme specifischer Antikörper¬ 
bildung gegen Fettsubstanzen stammt von 
Deycke und Reschad Bey (4), die 1905 aus einer 
bei Leprakranken gefundenen Streptothrixart 
ein bakterielles Fett, das Nastin, darstellten, 
mit dem sie bei Lepra therapeutische Erfolge er¬ 
zielten. In Übertragung dieser Methode auf die 
Tuberkulose stellten Deycke und Much dann 
aus dem Tuberkelbacillus das Tuberkulonastin 
und in der Fortführung ihrer Versuche, nachdem 
sie die Säureauflösung des Tuberkelbacillus ge¬ 
funden, aus der Milchsäure-Tuberkelbacillen-Auf- 
schließung MTb, beziehungsweise ihrem unlös¬ 
lichen Rückstand MTbR die oben beschriebenen 
Fettsubstanzen F und N her, welche im Körper 
specifische Antikörper bilden sollen. Die Anti¬ 
körperbildung kommt zum Ausdruck in der ört¬ 
lichen Reaktion nach intracutaner Ein¬ 
spritzung der Fettantigene, von der unten näher 
die Rede sein wird. Der antigene Charakter der 
Fette ist noch nicht allgemein anerkannt, Bürger 
und Möllers (5) und andere Autoren zweifeln ihn 
an und führen die nach Einspritzung der Fett¬ 
substanzen entstehenden Reaktionen auf Bei¬ 
mengung von Eiweißkörpern zurück. 

Um über die Specificität der Deycke-Much- 
schen Hautreaktionen nach Injektion von F und N 
ein Urteil zu gewinnen, machte ich vergleichende 
Injektionen mit einer Reihe chemisch gut ge¬ 
kannter und den Partigenen nahestehender Sub¬ 
stanzen. 

Die Hautreaktion nach Alkohol und Glycerin 
war nach 36 Stunden sicher abgeklungen. Bei 
Triolein war Rötung und Schwellung in den Ver¬ 
dünnungen 1:1000 bis 1:1 Million nach 48 Stunden 
verschwunden. Bis zum dritten Tage waren 
deutlich abgestufte Reaktionen bei der Anwendung 
von Oleinsäure, Palmitinsäure, Palmitin und 
Cholesterin in gleichen Verdünnungen nachweis- 





Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


245 


har. Nur Cetylalkohol C16H34O. der zu den 
Wachsen gerechnet wird, lieferte Reaktionen, die 
denen des Partigens N ähnlich waren und sich 
im Titer mit dessen Konzentrationen deckten. 
Im ganzen aber war doch ein deutlicher Reaktions¬ 
unterschied zwischen den Partigenen N und F 
und den vergleichsweise gespritzten Fettsäuren, 
Neutralfetten, dem Cholesterin und dem Cetyl¬ 
alkohol unverkennbar, der für den besonderen 
specifischen Charakter der Tuberkelbacillenfette 
spricht. 

Wenn ich in den vorstehend berührten 
Punkten nur einige orientierende, so¬ 
zusagen tastende Versuche machen konn¬ 
te, die ein abschließendes Urteil nicht er¬ 
möglichen, so gestatten meine klini¬ 
schen Untersuchungen, über die ich 
nun berichten will, eine bestimmte 
Stellungnahme hinsichtlich der diagno¬ 
stisch-prognostischen und der therapeu¬ 
tischen Bedeutung der Partigene. 

I. Die Immunitätsanalyse mit¬ 
tels d/3r Partigene. Zur Feststellung 
der Antikörper, über die der an Tuber¬ 
kulose kranke Mensch verfügt, spritzen 
Deycke und Much A, F und N in ver¬ 
schiedenen Verdünnungen in einer Menge 
von 0,1 ccm intracutan ein und lesen am 
vierten Tage die Reaktion ab, die sie 
dann noch ca. 14 Tage verfolgen, um ihr 
eventuell späteres Aufflammen nicht zu 
übersehen; auf je stärkere Verdünnungen 
eine Reaktion eintritt, um so größer ist 
die Menge der vorhandenen Antikörper 
— das Resultat, das in ein Schema ein¬ 
getragen wird, gibt den Immunitätstiter. 
Bezüglich der Önzelheiten über die In- 
tracutanprobe, in der Much geradezu 
eine „quantitative, mathematische Im¬ 
munitätsanalyse“ erblickt, mittels deren 
Altstadt (6) „immunphysiologische und 
immunpathologische Immunitätsbilder“ 
unterscheidet und aus deren Veränderun¬ 
gen bei wiederholter Anstellung W. 
Müller (7) den Begriff der „statischen 
und dynamischen Immunität“ prägt, ver¬ 
weise ich auf den eingangs erwähnten 
Bericht von F. Klemperer. Deycke (8) 
selbst ist neuerdings in der Beurteilung 
des Wertes der Intracutanreaktion zu¬ 
rückhaltender geworden, er stellt ihre 
diagnostische Bedeutung nur mehr der 
des Tuberkulins gleich, erklärt ihren 
prognostischen Wert für beschränkt und 
hält die Intracutanprobe auch für die 
Einleitung einer Partigentherapie, bei 
welcher früher die zu verwendende Erst¬ 
dosis durch den Intracutantiter ermittelt 
werden mußte, nicht mehr'für erforder¬ 
lich. 

Ich selbst stellte die Intracutan¬ 
reaktion bei 136 Personen an, bei Tuber¬ 


kulösen, an anderen Krankheiten Leiden¬ 
den und Gesunden. 

Alle Injektionen, bis auf drei oder vier, 
machte ich persönlich und zwar streng nach den 
Vorschriften, die ich auf Deyckes eigener 
Krankenabteilung kennen gelernt hatte; die 
Schwester, welche die ganze Apparatur bediente, 
wechselte während der Versuchszeit nur einmal. 
Anfangs, als ich die Verdünnungen in unserem 
Haus bereiten ließ, liefen vereinzelte Fehler unter; 
später, als ich mit den vonKalle & Co. in Biebrich 
a. Rh. fertig gelieferten Konzentrationen arbeitete, 
funktionierte der ganze Mechanismus tadellos. 

Die größte und kaum überwindliche 
Schwierigkeit des Verfahrens bietet die 
Feststellung und Registrierung der 
durch die Reaktionen gegebenen Titer¬ 
werte. Deycke-Muchs' Methodik ist 
unvollkommen, insofern als sie die Nu¬ 
ancen der Reaktionsreihen nicht genügend 
wiedergibt. Besseristdievonv.Pirquet(9) 
in seiner Arbeit über graphische Analysen 
vorgeschlagene Methode, welche neben 
der Ausdehnung auch die Intensität der 
Rötung und Schwellung berücksichtigt. 
Aber die praktische Arbeit lehrte mich 
bald, daß eine exakte Messung des Durch¬ 
messers einer entzündlichen Schwellung 
kaum möglich ist und die Registrierung- 
stets etwas Subjektives behält. Ich be¬ 
gnügte mich deshalb nach einiger Zeit 
mit der Registrierung nach Zahlen nach 
dem Vorgehen von Dora Gerson (10), 
indem ich die stärksten Reaktionen mit 
4, schwächere mit 3 und 2 und geringe 
mit 1 bezeichnete; ganz minimale Re¬ 
aktionen habe ich noch mit einem Punkt 
an der 1 (== l*) gekennzeichnet Diese 
Registrierung bewährte sich mir als ein¬ 
fach, schnell ausführbar und übersichtlich, 
sie gab gute Vergleichsmöglichkeiten, 

Der Subjektivität auch dieser Methodik 
bin ich mir wohl bewußt — besonders bei 
der Beurteilung schwacher Reaktionen 
als positiv oder negativ trat dieser Mangel 
deutlich hervor Ich brauchte nur die¬ 
selben Reaktionen von verschiedenen Be¬ 
obachtern unabhängig von einander ab¬ 
lesen zu lassen, ja, wenn an einem Tage 
viele Reaktionen zu kontrollieren waren, 
so daß'die einzelnen nicht in der Er¬ 
innerung haften konnten, brauchte ich 
nur nach einer Stunde einen Titer erneutzu 
notieren — stets fanden sich kleine Diffe¬ 
renzen. Aber dieser Mangel haftet jeder 
Art der Registrierung an und schon aus 
diesem Grunde kann von einer exakten 
,,mathematischen“ Immunitätsanalyse 
nicht die Rede sein. 

Um die Genauigkeit der Intracutan¬ 
probe einer weiteren Prüfung zu unter¬ 
ziehen, injizierte ich die Partigenreihen 





246 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juli 


bei 15 Personen gleichzeitig an ver¬ 
schiedenen Körperteilen Ichnahm 
einmal beide Oberarme, dann wieder 
Oberarm und Unterarm, Oberarm und 
Oberschenkel, Oberarm-Vorderseite und 
-Rückseite und fand in keinem Falle 
völlige Übereinstimmung in Inten¬ 
sität und Extensität, vielfach sogar er¬ 
hebliche Unterschiede. Auf die genaueste 
Ausführung der Methode legte ich aller¬ 
größten Wert und vermied Injektions¬ 
fehler in diesen Fällen mit besonderer 
Sorgfalt. 

Meine Befunde will ich an einigen Fällen de¬ 
monstrieren : 

O. T. 31* Jahre. Kleinherdige disseminierte 
Tuberkulose der ganzen linken Seite und der 


•rechten Spitze. 

A F N 

Rechter Oberarm, vorn. 2 3 3 

1 1 1 * 

linker „ ,, . 2 3 3 

Hanna P., Krankenschwester, gesund. 

A F N 

Rechter Oberarm, vorn. 3 — 1 

linker „ ,, . 2 I 2 

1 — 1 

Am siebenten Beobachtungstage ergab der¬ 
selbe Fall folgende Werte: 

A F N A F N 

Rechts . . 3 1 2 Links . . 3 3 2 

2 — — 2—1 

1 . — — 

Die Unterschiede sind eklatant. Interessant 


ist auch der folgende Fall bei einem 47 Jahre 
alten Apoplektiker. 

A F N 

Rechter Oberarm . 1 — — 

1 — — 

Linker ,, . 1 1 1 

1 1 1 - 

— — P 

— — 1 * 

In gleicher Weise könnte ich noch eine ganze 
Reihe von Fällen demonstrieren. Erwähnen will 
ich nur noch die Werte bei einem seit 9 Jahren 
hier beschäftigten, gesunden Stationsmädchen, 
der ich je 13 Jnjektionen an beiden Ober- und 
Unterarmen, also an vier verschiedenen Stellen 
gleichzeitig verabfolgte. 

Der vierte Beobachtungstag ergab: 


A F N 

Rechter Oberarm . 3 3 3 

2 1 2 

linker ,, . I 2 2 

1 I 1 

— 1 V 

Rechter Unterarm. 2 4 4 

1 - 1 - 1 - 

Linker ,, . 2 3 3 

1 - 1 1 

— — 1 


Den verschiedenen Reaktionsablauf an ver¬ 
schiedenen Körperstellen zeigt auch folgender 
Fall. 

Else P. 24Jahre. Beginnende Spitzenaffek¬ 
tion. Vor drei Wochen Hämoptoe. 


Rechter Oberarm, Hinterseite. 

1. Tag 2. Tag 3. Tag 

23 3. 344 233 

222 332 222 

2 h 1 2 3 2 1 1 1 

2 1 1 2 2 2 I- 

5. Tag 6 . Tag 7. Tag '10. Tag 12. Tag 
2332332231221 1 1 

i 1 2 1 1 2 1 1 1 1 1 1 1 - 1 * 1 - 

1*— 1 1* 1- 1 1 P 1* 1- 1 1 P P P 

P P P 

Linker Oberarm^ Vorderseite. 
l.Tag 2. Tag 3. Tag 

113 2 14 113 

111 1 P 1 1—1 

111 1 P 1 

111 1 P 1 

P 

5. Tag 6 . Tag 7. Tag lO.Tag 12. Tag 
1 P 3 1 P 3 P P 2 P 1 3 1 1 2 

P P P P P P 

P P P P P P 

P P 'P 

Die Unterschiede fallen ins Auge. An der 
einen Stelle ist z. B. am vierten Tage F stark 
(3), an der anderen kaum als positiv nachweisbar 
(P). Das gleiche zeigen die Werte fürA und N. 
Nicht anders steht es mit der sogenannten Exten¬ 
sität. An der einen Körperstelle sind in derselben 
Reihe zwei, an der anderen drei oder mehr Werte 
nachweisbar, gelegentlich fehlt z. B. am rechten 
Oberarm F ganz, während am linken eine deut¬ 
liche Reaktion vorhanden ist. 

Wir stehen demnach vor der Tatsache, 
daß uns die „ Immunitätsanalyse^' 
an verschiedenen Körperteilen 
ganz verschiedene Resultate liefert, 
und müssen daraus den Schluß ziehen, 
daß der Immunitätszustand des Körpers 
nicht die allein Ausschlag gebende Rolle 
bei dem Ausfall der Reaktion spielt, 
sondern lokale Faktoren der Haut dabei 
mitwirk en. 

Die verschiedene Dicke der Haut und 
ihr Fettgehalt, ihre verschiedene Durch- 
blu^tung und vor allem ihre Versorgung 
mit nervösen Elementen sind von offen¬ 
barem Einfluß auf Stärke und Art der 
intracLitanen Partigenreaktionen. Daß 
diesen Faktoren ganz allgemein ein wich¬ 
tiger Anteil an den lokalen Reaktionen 
der Haut zukommt, lehrt die stärkere 
Auslösbarkeit der Dermographie an Brust 
und Rücken gegenüber Unterarm, Hand 
und Fuß, ferner das Ausbleiben bezie¬ 
hungsweise die Schwäche der Reaktion 
auf entzündliche Reize an Stellen tropho- 
neurotischer und vasomotorischer Stö¬ 
rungen bei centralen Lähmungen, und 
anderes mehr. Krankheiten, bei denen 
das Hautorgan besonders in Mitleiden¬ 
schaft gezogen ist, zeigten dement¬ 
sprechend ein besonders abweichendes 


4. Tag 


2 

3 

2 

1 

1 

2 

P 

— 

■— 


4. Tag 

1 P 3 
P- 

















Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


247 


Verhalten gegenüber der Partigenprobe; 
^0 gaben ödematöseNephritiker meist über¬ 
haupt keine Reaktion — z. B. ein sieben¬ 
jähriger Knabe, dessen Titer ganz negativ 
ausfiel, obgleich zahlreiche Drüsen am 
Halse auf tuberkulöse Infektion hinwie¬ 
sen—, und ein Fall ^ mit katarrhalischem 
Ikterus reagierte negativ; auch ein Fall 
von einseitiger Lungentuberkulose mit 
starker Ichthyosis, der klinisch besonders 
günstig verlief, zeigte bei mehrfacher 
Prüfung dauernd schlechte Werte. 

In Fällen von fibrinöser Pneumonie 
und bei akut fieberhafter Grippe konnte 
ich rbehrfach die schon von anderer Seite 
gemachte Beobachtung bestätigen, daß 
die Reaktion zunächst eine minimale war 
und später in der Rekonvaleszenz auf¬ 
flammte. 

Erwähnenswert ist — was von anderer Seite 
noch nicht beobachtet zu sein scheint —, daß bei 
neun Patienten wenige Stunden bis drei Tage 
nach der Injektion ein mehr weniger über 
den ganzen Körper ausgedehnter, besonders am 
Kopfe sich bemerkbar machender Juckreiz auf¬ 
trat. Irgendwelche urticarielle Efflorescenzen 
waren dabei nicht vorhanden. Erneute Titer¬ 
prüfungen bei denselben Personen hatten den 
gleichen Effekt. Es scheint, daß er durch das 
Partigen A verursacht wurde, da der Juckreiz 
nach alleiniger Einspritzung von A wiederum 
auftrat, nach F und N dagegen ausblieb. 

Temperaturanstieg wurde bei An¬ 
stellung der Intracutanprobe nach den 
Vorschrift enDeycke-Muchs öfters b eob- 
achtet, doch klang die Temperatur späte¬ 
stens nach drei bis vier Tagen wieder ab. 
Irgendwelchen Schaden habe ich bis auf 
eine öfters an die Intracutanreaktion sich 
anschließende Gewichtsabnahme nicht 
entstehen sehen. 

Eine größere Anzahl von Kranken 
empfanden die 13 Einspritzungen als sehr 
schmerzhaft und machten Schwierigkei¬ 
ten; einige verweigerten vollkommen die 
Vornahme beziehungsweise Fortsetzung 
der Titerinjektionen. 

Vergleichende Untersuchung der Par¬ 
tigene mit dem Alttuberkulin ergaben im 
allgemeinen, daß positive A-Reaktionen 
mit positivem Pirquet einhergingen. Aber 
eine Parallelität zwischen beiden Reak¬ 
tionen konnte ich nicht feststellen. Bei 
schwachen Pirquets fanden sich starke 
A-Reaktionen und umgekehrt, ja ich sah 
sogar starken Pirquet bei negativem A. 
Da aber der Partigentiter in der Regel 
am Oberarm, der Pirquet am Unterarm 
angelegt wurde, können neben technischen 
Ungleichheiten lokale Hautdifferenzen, 
wie wir dies oben kennen lernten, zu den 
Unterschieden beigetragen haben. 


Auch vergleichende Untersuchungen 
der Partigen-Hautreaktion mit der sub- 
cutanen Tuberkulinprobe aber ergaben 
keine übereinstimmenden oder eindeuti¬ 
gen Resultate. Kranken mit hohem Parti¬ 
gentiter gaben auf Alttuberkulininjek¬ 
tion in der Menge von 1 und 5 mg keine 
Herd- und Allgemeinreaktion, während 
umgekehrt Patienten mit lebhafter Reak¬ 
tion auf ^/lo mg und weniger mittlere und 
schwache Partigenwerte zeigten — ich 
kann in diesem Punkte die Resultate von 
Rolly (11) und Arthur Mayer (12) nur 
bestätigen. 

Die Intracutanreaktion mit Deycke- 
Muchs-Partigenen folgt also anderen Ge¬ 
setzen wie die Tuberkulinreaktion oder 
aber sie wird durch lokale Momente zu 
stark beeinflußt, um eine etwaige Über¬ 
einstimmung mit ihr in Erscheinung treten 
zu lassen. Daß sie eine Beurteilung des 
Immunitätszustandes und seiner Schwan¬ 
kungen gestattet, ist nach alledem wenig 
wahrscheinlich. Tn der Tat zeigen die 
von mir gefundenen Titer bei Gesunden 
und Kranken, über die ich nun einen 
Überblick geben will, ein ziemlich regel¬ 
loses Verhalten, das einen Rückschluß 
auf den Grad vorhandener Resistenz 
nicht zuläßt. 

Bei 17 klinisch gesunden Ärzten 
und Schwestern, von denen die Mehrzahl 
schon jahrelang in der Umgebung Lungen¬ 
tuberkulöser gearbeitet hatte und gesund 
geblieben war, fand ich teils starke, teils 
teils mittlere, teils schwache Reaktionen. 
Die stärkste überhaupt von mir beobach¬ 
tete Reaktion hatte ein Kollege, dessen 
Werte folgende waren: 

A F N 
4 4 4 

3 3 3 

3 3 3 

3 3 3 

Ein anderer nicht minder gesunder Kol¬ 
lege hatte am gleichen Tage: 

A F N 
1 1 1 

1 * — 1 * 

Bei einer Schwester, die seit sechs 
Jahren hier tätig ist, einer Tuberkulose¬ 
infektion viel ausgesetzt, aber stets ge¬ 
sund und leistungsfähig war, konnte ich 
kaum eine Reaktion nachweisen; ich 
notierte bei ihr am vierten Tage 

A F N 

1* V V 





248 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


julj 


Im allgemeinen waren bei den klinisch 
Gesunden die Reaktionen auf A und N 
stärker, die auf F schlechter entwickelt; 
letztere fehlten unter 24 Gesunden vier¬ 
mal ganz, während ich A nur einmal 
vermiete. 

Die Reaktion auf N war in der Kon¬ 
zentration 1:1000 stets positiv, häufig 
trat sie in der Form eines kleinen Bläs¬ 
chens auf, wie ich es auch in den oben er¬ 
wähnten Untersuchungen mit Cetyl- 
alkohol beobachtete. 

Mehrfach sah ich bei Kranken und 
Gesunden ein tägliches Abfallen der 
Extensität der Reaktionen bis zum fünf¬ 
ten bis siebenten Tage und ein späteres 
Ansteigen des Titers, so daß nach 14 Ta¬ 
gen bis drei Wochen an allen Injektions¬ 
stellen livid gefärbte Infiltrate nachweis¬ 
bar waren. Der Versuch, diese Erschei¬ 
nungsform der Reaktion auf inaktive 
Tuberkulose zu beziehen, scheitert daran, 
daß-sie auch bei sicher aktiven und pro¬ 
gredienten Prozessen vorkommt — so 
sah ich sie in besonders ausgesprochener 
Weise in dem oben bereits angezogenen 
Fall der seit einigen Wochen erst an mani¬ 
fester Tuberkulose erkrankten Else P. 

Auch bei den tub erkulösen Pati en- 
ten kamen regellos alle möglichen Kom¬ 
binationen im Titerbilde vor. Differenzen 
gegenüber den Reaktionen bei Gesunden 
waren hinsichtlich der Extensität nicht 
zu erkennen. Die Intensität der Reaktion 
dagegen war bei Tuberkulösen im allge¬ 
meinen geringer, die oberste Reihe von 
A, F und N war meist mit 1 und 2, nur 
sehr selten einmal mit 3 zu bewerten — 
die Stärke 4 fand ich nur bei klinisch 
Gesunden. 

Der Titer für A war bei 75% aller 
Lungentuberkulösen in seiner Extensität 
stärker entwickelt als der für F, ebenso 
war auch N meistens deutlicher als F. 
W. Müller(13) und Spitzer(14) hatten 
im Gegensatz zu Deycke, Much und 
Anderen das gleiche gefunden, hatten 
aber andere Verdünnungen im Titerbilde 
gleichgesetzt, während in meinen Fällen 
die gleiche Technik und die Verdünnungen 
angewandt sind, die Deycke und Much 
angegeben haben. Eine Erklärung für 
diese Differenz mit Deycke und Much 
vermag ich nicht zu geben. 

Schwerkranke mit infauster Prognose 
reagierten auf die Intracutaneinspritzun- 
gen weder mit Rötung noch mit Schwel¬ 
lung — was dem Fehlen der Pirquetschen 
Reaktion auf Alttuberkulin in diesen 


Fällen entspricht und auch wohl in gleir* 
eher Weise, durch das Versagen aller 
Funktionen, sich erklärt. 

Prognostisch günstige Fälle aber und 
solche mit zweifelhafter Prognose zeigten 
alle möglichen Titer, ohne daß es möglich 
gewesen wäre, daraus einen Schluß weder 
auf den augenblicklichen Zustand noch 
auf den weiteren Verlauf zu ziehen. Bei 
wiederholter Anstellung der Reaktion 
ergab sich im allgemeinen zwar, daß kli¬ 
nische Besserung mit einer Besserung des 
Titerbildes einherging, und namentlich 
dann war dieses der Fall, wenn es gelang,, 
das Körpergewicht und damit auch den 
Ernährungszustand der Haut zu heben. 
Aber nicht selten sah ich auch bei klini¬ 
scher Besserung allgemeine Verschlechte¬ 
rung des Titers oder eine regellose Ver¬ 
änderung, indem z. B. A ab- und N und 
F zunahm. 

Wenn ich auf Grund der vorstehend 
mitgeteilten Erfahrungen mein Urteil 
über die Intracutanreaktion nach Partial¬ 
antigeninjektion zusammenfassen soll, so- 
datf ich sagen: In diagnostischer Be¬ 
ziehung leistet die JntracLitanprobe^nach 
Deycke-Much nicht mehr und nicht 
weniger als die cutane oder intracutane 
Tuberkulinreaktion; beide sind positiv, 
wenn der Körper in irgendeiner Form 
mit Tuberkulose infiziert ist, auf den Sitz 
der Tuberkulose aber oder ihre Aktivität 
beziehungsweise Inaktivität lassen sie 
keinen Schluß zu. In prognostischer 
Hinsicht läßt sich bei manifester Tuber¬ 
kulose aus der einmaligen Austitrierung 
nicht erkennen, wie sich der weitere Ver¬ 
lauf gestalten wird, da die gleichen Titer¬ 
bilder bei klinisch Gesunden,' bei in 
Besserung und in Verschlechterung be¬ 
findlichen Kranken Vorkommen. Das voll¬ 
kommene Negativsein der Reaktion auf 
A, F und N ist als prognostisch infaust 
anzusehen — doch handelt es sich hier 
meist um Fälle, in denen die physikalische 
und allgemeine Untersuchung ohne wei¬ 
teres den progressen Zustand und die 
üble Prognose erkennen läßt. Die mehr¬ 
fache Austitrierung gibt zwar in günstig 
verlaufenden, mit Gewichtszunahme ein¬ 
hergehenden Tuberkulosefällen in einem 
ziemlich hohen Prozentsatz eine Besse¬ 
rung des Titers; da aber ein abweichendes 
Verhalten — Besserung des objektiven 
Befundes und Verschlechterung des Titers 
oder Verschlechterung des Befindens bei 
Besserung des Titers — ziemlich häufig 
zu beobachten ist, kann auch die fort¬ 
laufende Kontrolle des Titers nur zur 





Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


249 


Bestätigung, nich*t zur alleinigen Be¬ 
gründung der Prognose dienen. 

II. Die Partigenbehandlung. Die 
Technik der Partigentherapie ist im Laufe 
der Zeit wesentlichen Wandlungen unterworfen 
worden. Von der Methodik, die in dem Bericht 
von F. Klemperer (1. c.) näher beschrieben 
wurde, bei welcher 1. die zu injizierende 
Erstdosis jedesmal durch die Intracutanprobe 
bestimmt wurde (die Behandlung wurde mit 
Vioo ccm derjenigen Konzentration begonnen, 
welche intracutan eben noch eine Reaktion ge¬ 
geben hatte), 2. die Injektionen täglich statt¬ 
fanden unter Steigerung um je 0,1 ccm, 3. als 
Ziel der Behandlung neben und vor der 
Steigerung des Titers seine Einstellung auf den 
Mittelwert A:F:N = 1:10:10 000 galt, ist 
Deycke (8) neuerdings ziemlich weitabgekommen. 
Er empfiehlt jetzt eine schematische An¬ 
fangsdosis, die unabhängig ist vom Intracutan- 
titer (sie beträgt für MTbR und A 0,1 der Ver¬ 
dünnung von 1:100 000 Millionen, für F und N 
0,1 cm^ der Verdünnung 1:10000 Millionen); die 
Injektionen finden nur in leichteren Fällen noch 
täglich statt, in schwereren zweimal wöchentlich, 
in besonders schweren sogar nur einmal wöchent¬ 
lich; endlich wird die getrennte Behandlung mit 
A, F und N nur in Aiisnahmefällen angewandt, 
bei den meisten Fällen wird von Anfang an mit 
dem Gemisch MTbR behandelt. Für die Dosen¬ 
steigerung gibt Deycke jetzt folgendes Schema: 
bei täglicher Einspritzung 0,1, 0,15, 0,2, 0,3, 
0,45, 0,7 der Verdünnung 1:100 000 Millionen, 
dann weiter 0,1, 0,15, 0,2 usw. der Verdünnung 
1:10 000 Millionen und so fort; bei wöchentlich 
zwei- oder einmaliger Einspritzung wird die 
Dosis jedesmal verdoppelt, also 0,1, 0,2, 0,4, 
0,8 MTbR 1:100000 Millionen, dann 0,15, 0,3, 
0,6 MTbR 1:10 000 Millionen, 0,1, 0,2 MTbR 
1:1000 Millionen und so fort bis zur Verdünnung 
von 1:1 Million, über welche selten hinaus¬ 
gegangen zu werden braucht. Die höchste über¬ 
haupt angewandte Konzentration liegt für MTbR 
und A bei 1:100 000, für F bei 1:10 000 und für N 
bei 1:1000. 

In dieser Form ist die Partigentherapie prak¬ 
tisch außerordentlich vereinfacht, sie hat sich 
damit freilich auch von ihrer theoretischen Be¬ 
gründung offenbar entfernt und unterscheidet 
sich kaum mehr von der sogenännten anaphylak- 
fisierenden Methode der Tuberkulinbehandlung. 
Der einzige Unterschied von dieser besteht darin, 
daß das Tuberkelbacillenpräparat MTbR durch 
Ausschaltung des wasserlöslichen Anteils L entgiftet 
sein soll; ob dies richtig und die Ausschaltung 
von L ein Gewinn ist, erscheint zweifelhaft, nach¬ 
dem W. Müller (15) im Vorjahre berichtet hat, 
daß L wie die anderen Partialantigene wirke und 
therapeutisch günstige Erfolge erzielt habe. 

Die bisherigen Berichte über die thera¬ 
peutischen Erfolge der Behandlung mit 
MTbR oder seinen Komponenten A, F 
und N sind sehr geteilt. Außer Deycke, 
Much und ihren Schülern, die von der 
besonderen Wirksamkeit der Partialanti- 
geae überzeugt sind und — wie Deycke 
und Altstaedt (16) — versuchen, ihre 
guten Behandlungsergebnisse mit Stati¬ 
stiken zu belegen, haben Römer und 
Berger(17),Brecke(18),Liebc(26),Reh- 
der(19) und Andere sich in günstigem 


Sinne ausgesprochen. Auch Kremser- 
Sülzhayn gab kürzlich auf dem Kon¬ 
greß für innere Medizin zu Dresden den 
Partialantigenen vor dem Alttuberkulin 
den Vorzug. Keinen Fortschritt erblick¬ 
ten in ihnen Bandelier und Röpke(20), 
ferner Karl Rohde (21), welcher be¬ 
richtet, daß in der Frankfurter chirurgi¬ 
schen Klinik A, F und N und MTbR bei 
chirurgischer Tuberkulose für sich allein 
versagten und in Kombination mit 'chi¬ 
rurgisch - operativer Behandlung keine 
besseren Resultate lieferten, als die chi¬ 
rurgische und konservative Therapie ohne 
Partigene. F. Oeri (Davos)(22) hatte bei 
acht Fällen zweifelhafte Ergebnisse. 
H. Walthard (23) glaubt in einzelnen 
Fällen die Heilung günstig beeinflußt zu 
haben, hat aber auffallende Besserungen 
nicht gesehen. H. Landau (24) beurteilt 
in seinem Bericht aus der chirurgischen 
Universitätsklinik Berlin (Charite) die 
therapeutischen Erfolge als sehr fraglich; 
Heilungen kamen nicht vor. Jacob und 
Blechschmxidt (25), die im Städtischen 
Krankenhause zu Bremen 156 Kranke, 
und zwar 146 Lungentuberkulöse und 
10 Drüsentuberkulöse nach Deycke- 
Much behandelten, sahen günstige Er¬ 
folge bestenfalls in der Hälfte der Fälle 
bei cirrhotischen Formen, heben aber 
hervor, daß sie bei diesen gleiche Erfolge 
durch Freiliegekur und gute Ernährung 
zu sehen gewohnt sind; bei cirrhotisch- 
knotigen und knotigen Formen sahen sie 
Besserung des Befundes und des Allge- 
m*einzustandes nur in einem^ Fünftel der 
Fälle, während sie bei einer Überlegenheit 
der Partigentherapie gerade hier wesent¬ 
lich bessere Resultate erwartet hätten; 
bei knotig-pneumonischen Formen end¬ 
lich war die Behandlung fast durchweg 
ergebnislos. Auch Schittenhelm (Kiel) 
hat in seinem einleitenden Referat „Über 
den gegenv/ärtigen Stand der Immuno- 
und Chemotherapie“ auf dem Dresdener 
Kongreß für innere Medizin sich jüngst 
dahin geäußert, daß er mit den Partigenen 
keine besseren Erfolge erzielt hätte, als 
bisher mit den alten Tuberkulinen. 

Ich selbst habe nur eine beschränkte 
Anzahl von Fällen mit der Partigen¬ 
therapie behandelt können; ichverwandte 
ausschließlich MTbR und folgte hinsicht¬ 
lich Anfangsdosis, Dosensteigerung usw. 
den ursprünglichen Vorschriften D e y ck es. 
27 Kranke erhielten zusammen 36 Kuren, 
und zwar konnte die Kur bei 20 Patienten 
einmal, bei 5 zweimal und bei 2 dreimal 
durchgeführt werden. 


32 





250 


Die Therapie der- Gegenwart 1920 


Von fünf Fällen von tuberkulösei ex¬ 
sudativer Pleuritis fieberte einer unter 
der MTb{^-Behandlung ab, dessen Kurve 
jedoch schon vor dem Beginn der Injek¬ 
tionen eine Tendenz zum Fallen zeigte. Bei 
den anderen vier Fällen wurde die Tem¬ 
peratur nicht beeinflußt und auch sonst 
war ein Nutzen von der Partigenbehand¬ 
lung nicht zu erkennen; erst als lokale 
Wärme in Form von Dampfdusche, Föhn 
und Brustumschlägen neben Flüssigkeits¬ 
beschränkung, salzarmer Kost und inner¬ 
lichen Gaben von Natrium salicylicum 
angewandt wurde, kam es ziemlich 
schnell zu Temperaturabfall, Exsudat¬ 
schwund und-allgemeinem Wohlbefinden. 

Bei 9 von 21 mit MTbR behandelten 
Fällen von Lungentuberkulose war 
eine Gewichtszunahme von 1 bis 11 kg 
zu verzeichnen. Bis auf einen Fall in¬ 
dessen hatte die Zunahme schon vor der 
Behandlung eingesetzt, wie folgende Zu¬ 
sammenstellung zeigt: 

Gewichtszunahme 

während und nach der 
MTbR-Kur 


1 . 

2,3 kg 

2,5 kg 

2 . 

0,8 „ 

0,2 „ 

3. 

1,9 „ 

3,6 ,,. 

4. 

2,2 „ 

5,5 „ 

5. 

3,6 „ 

4,7 „ 

6 . 

0,8 „ 

2,1 „ 

7. 

7,2 „ 

3,8 „ 

8 . 

5,3 „ 

0,5 „ 

9. 

—1,3 „ 

5,6 „ 


Die bei dem Fall 9 konstatierte vor¬ 
herige Gewichtsabnahme von 1,3 kg fällt 
in die erste Woche seines Ki'ankenhaus- 
aufenthalts, in der die Intracutanreaktion 
vorgenommen wurde. Ich habe oben 
bereits erwähnt, daß ich Gewichtsab¬ 
nahme oder Stillstand in der Gewichts¬ 
abnahme nach Intracutanierungen öfters 
verzeichnet habe. 

Bei den erwähnten neun Fällen, bei 
denen ich während, aber auch schon vor 
der MTbR-Kur eine Besserung beobachten 
konnte, handelte es sich von vornherein 
um zwar ziemlich ausgedehnte, aber pro¬ 
gnostisch relativ günstige cirrhotische 
und cirrhotisch-kleinherdige Prozesse, die 
schon vor der MTbR-Kur in sechs Fällen 
kein Fieber und in drei Fällen subfebrile 
Temperaturen aufwiesen. Bei fünf war 
die Sputummenge überhaupt nicht mehr 
meßbar und bei den übrigen vier betrug 
sie nur gelegentlich 20—30 ccm. 

Tuberkelbacillen, die vor der Kur 
nachweisbar waren, schwanden in keinem 
Falle; einmal ging das Sputum von 
30 ccm auf Spuren zurück. Der physi¬ 
kalische Befund an den Lungen war am 


Juli^ 


Ende der Kur teilweise gebessert, aber 
auch diese Besserung hatte meistens 
schon vorher, ebenso wie die Gewichts¬ 
zunahme, eingesetzt. 

14 Kranke verschlechterten sich wäh¬ 
rend der Partigenbehandlung sichtlich, 
obwohl ich bei fünf nach der Art des 
Lungenbefundes und der ganzen körper¬ 
lichen Verfassung bei einem wirklichen 
Nutzen der Deycke-Muchschen The¬ 
rapie einen Erfolg erwartet hätte. 

Darm- und Kehlkopftuberkulosen, die 
in einigen Fällen komplizierend auftraten, 
wurden nach keiner Richtung hin günstig 
beeinflußt. 

Sechs Kranke starben während oder 
jm Anschluß an die Kur. 

Bei diesen letzten Gruppen achtete 
ich besonders auf eine etwaige ,,Ab¬ 
schwächung der Giftwirkungen der Tuber¬ 
kulose“, wie sie Rehder(19) verzeichnete, 
welcher eine ,,qualvolle Verlängerung des 
Lebens auf Kosten der Euphorie“ als Folge 
der Partigentherapie sah. Einige meiner 
vorgeschrittenen Kranken wurden unter 
den MTbR-Injektionen fieberlos und das 
finale Stadium zog sich lange hin, wie 
ich dies ähnlich und sogar häufiger bei 
der Behandlung mit' Bacillenemulsion 
gesehen habe — von einem besonderen 
entgiftenden Einfluß des MTbR, einem 
„aneuphorischen“ Zustand oder der¬ 
gleichen habe ich nichts beobachtet. 

Mein Urteil über die Partigen¬ 
therapie nach Deycke und Much 
lautet danach: Ich sah von der Behand¬ 
lung mit MTbR niemals einen Schaden, 
aber auch keinen Erfolg, der nicht 
durch die günstigen Faktoren der 
Krankenhausbehändlung allein zu er¬ 
klären wäre; eine 'Überlegenheit der 
Partigentherapie über die Behandlung 
mit Alttuberkulin und Bacillenemulsion 
vermag ich nicht anzuerkennen. 

Literatur: 1. Deycke und Much, Beitr. 
z. KHn. d. Tbc., Bd. XV. — 2. Much und 
Leschke, Beitr. z. Kün. d. Tbc., Bd. XX..— 

3. H. Haupt, Zschr. f. Tbc., Bd. 22, H. 5. — 

4. Deycke und Reschad Bey, D. m. W. 1905, 
Nr. 13 u. 14, 1907, Nr. 5. — 5. Bürger und 
Möllers, D. m. W. 1916, Nr. 51. — Dieselben, 
Veröffentlichungen der Robert-Koch-Stiftung, 
Bd. II, H. 2. — 6 . Altstaedt, Beitr. z. KHn. 
d. Tbc., Bd. 39, H. 3 u. 4. — 7. W. Müller, 
Beitr. z. KHn. d. Tbc., Bd. 36. — 8 . Deycke, 
Zschr. f. ärztl. Fortbild. 1919, Nr. 20. 

9. V. Pirquet, M. m.W. 1914, Nr. 29. — 10*Dora 
Gerson, Beitr. z. KHn. d. Tbc., Bd. 39, H. 1 
bis 4. — 11. Rolly, M. m. W. 1911, Nr. 24. — 

12. Arthur Meyer, Zschr. f. Tbc., Bd. 30, H. 5. — 

13. W. Müller, M. m. W. 1918, H. 2. — 

14. Spitzer, M. m. W. 1917, Nr. 35. — 15. W. 
Müller, W. kl. W. 1919, Nr. 25. — 16. Deycke 




Juli 


Die Therapie, der Gegenwart 1920 


251 


und Altstaedt, M. m. W. 1917, Nr. 9. — 

17. Römer und Berger, D.m.W. 1916, Nr. 21.— 

18. Brecke, Zschr. f. Tbc., Bd. 30, H. 5. — 

19. H. Rehder, Beitr.-z. Kün. d. Tbc., Bd. 42, 
H. 3. — 20. Bandelier und Röpke, Lehrbuch 
der spez. Diagnostik u. Therapie der Tuber¬ 
kulose, 9. Aufl. 1918. — 21. Karl Rohde, 


Bruns Beitr. z. Kün. d. Chir., Bd. 115, H. 3. 

22. F. Oeri-Davos, Korr. Bl. Schweizer Ae. 
1919, Nr. 45. — 23. H. Walthard, Korr. BI. 
Schweizer Ae. 1919, Nr. 42. — 24. H. Landau, 
Arch. f. klin. Chir., Bd. 113, H. 2. — 25. Jacob 
und Blechschmidt, M. m. W. 1920, Nr. 16. —» 
26. Liebe, Zschr. f. Tbc., Bd. 31, H. 2, 


Aus dem Stadtkraukenliause in Zeitz. 

Novasurol als Diureticum. 

Von Dr. Lange, Sekundärarzt. 


Die Aufnahme eines Herrn, bei dem 
großer Ascites und starker Ikterus im 
Vordergründe des Krankheitsbildes stan¬ 
den und der von seinem Hausarzt erfolg¬ 
los behandelt worden war, veranlaßte 
meinen Chef, Herrn Geheimrat Po ei¬ 
chen, anstatt des Kalomeis das Novasurol 
der Farbenfabriken Bayer-Elberfeld in 
intraglutealen Injektionen als Diuretikum 
anzuwenden. Er versprach sich von dem 
Novasurol als Doppelverbindung von oxy- 
mercuripheno-xylessigsaurem Natrium und 
Diäthyliranonylharnstoff eine gute, harn¬ 
treibende Wirkung. 

Die auf das Novasurol gesetzten Er¬ 
wartungen wurden erfüllt, ln der Zeit 
vom 3. Dezember 1918 bis Oktober 1919 
wurden im Krankenhause Zeitz sieben 
Patienten mit Novasurol behandelt. 
Leider erlaubten die Zeitverhältnisse nur 
von drei Patienten die Harnabsonderung 
in Form von Kurven zu bringen, aber sie 
genügen, um einen Überblick über das 
prompte Einsetzen der diuretischen Wir¬ 
kung des Präparats zu geben. Das Kreuz 
unter den Daten bedeutet die jedesmalige 
intramuskuläre Gabe von 0,22 g Nova¬ 
surol = 1 Ampulle. 

Einmal handelte es sich um Ascites und Ödeme 
bei Mitralinsuffizienz: 

1. Friedrich W., 58 Jahre alt, aufgenommen 
18. März 1919. Klinische Diagnose: Mitralin¬ 
suffizienz. Beginn der Krankheit September 1918. 
Jetzt starker Ascites, starkeÖdeme. Verlauf: Auf 
Strophantin intravenös, Diuretin, Digitalis, einan¬ 
der folgend, steigt Harnmenge im Verlauf von 16 
Tagen von 300 auf 1500 ccm, nach Zwischen¬ 
gaben von Novasurol auf 2100 ccm. Exitus am 
13. April 1919 unter Anzeichen von Herzschwäche. 
Stuhlgang: Dauernd ohne Durchfall. Eiweiß: 
Von Anfang an Spuren. 

Zweimal bestanden Ascites und Ödeme bei 
Störungen des Pfort aderkreislaufes. 

2. Kaufmann H., 57 Jahre alt, aufgenommen 
am 3. Dezember 1918. Klinische Diagnose: 
Syphilitische Lebercirrhose. Erkrankt vor vier 
Wochen angeblich nach Erkältung an Ikterus mit 
seinen sekundären Erscheinungen. Jetzt Schmer¬ 
zen unter rechtem Rippenbogen. Starker Ascites, 
Leber und Milz überragt Rippenbogen um zwei 
Querfinger. Wassermann negativ. Verlauf: 
Vgl. Kurve I. Entlassung: Beschwerdefrei. 
Milz nicht fühlbar, Leber überragt den Rippen¬ 
bogen um zwei Querfinger. Stuhlgang: Zwei- 


bis dreimal täglich. 10. und 14. Dezember 1918 
Durchfall. Eiweiß: Dauernd negativ. Nach¬ 



untersuchung Januar 1920: Gutes Befinden. 
Ascites nicht nachweisbar. Rechter Leberlappen 
hypertrophiert, Milz nicht palpabel, nicht per¬ 
kutorisch nachweisbar. Harn frei von Eiweiß 
und Zucker. 



Kurve 2. 


3. Konrad K-, 54 Jahre alt, aufgenommen 
September 1919. Klinische Diagnose: Hepa¬ 
titis iuetica, Myocarditis. Vor 15 Jahren Lues, 
zweimal Schmierkur. Jetzt starker Ascites, Ver¬ 
größerung'der Leber. Verlauf: Siehe Kurve II. 
Entlassung: 30. Oktober 1919 auf eigenen 
Wunsch, gebessert. Stuhlgang: Kein Durch¬ 
fall. Eiweiß: Dauernd negativ. Nachunter¬ 
suchung Januar 1920: Gutes Allgemeinbefinden. 
Schonungsbedürftig. Keine Ödeme. Geringer 
Ascites. 

Viermal waren Tumoren der Baucheingeweide 
die Ursache der Wasserretention im Körper. 

4. Hedwig M., 47 Jahre alt, aufgenommen 

26. Mai 1919. Klinische Diagnose: Carcinom 
der Leber und des Netzes. Vor 14 Tagen Ikterus, 
der noch besteht, ferner starker Ascites. Tägliche 
Harnmenge 500 bis 1000 ccm. Verlauf: Durch¬ 
schnittlich jeden dritten Tag eine Ampulle = 
0,22 Novasurol. Darauf Harnmengc zwischen 
1200 und 2500 ccm. Bis 13. Juni 1919 schwindet 
der Ascites fast vollkommen. Von da ab Ver¬ 
schlechterung des Allgemeinbefindens, Aussetzen 
von Novasurol. Exitus am 21. Juni 1919. 
Stuhlgang: Kein Durchfall. Eiweiß: Dauernd 
negativ. 

5. Alwine K., 50 Jahre alt, aufgenommen 

27. Dezember 1918. Klinische Diagnose: 
Cystadenoma malignum ovarii mit Lebermeta- 

32* 










252 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juli 


stasen. Aufnahmebefund; Starker Ascites, 
Ödeme beider Beine. Verlauf: Siehe auch 
Kurve III. 30. Dezember 1918: Punktion, 10 l 



Kurve 3. 


Flüssigkeit. 3. Februar 1919: Punktion, 8 I 
Flüssigkeit. Entlassung: Keine Klagen, kann 
aufstehen, Ascites gering. Auf Wunsch entlassen. 
Stuhlgang: Durchfall am 5., 6., 7. Januar 1919. 
Eiweiß: 10. bis 13. Februar 1919 bis %Voo, auch 
weiterhin, ? Vor Novasurol kein Eiweiß, 
h j 6. Frau H., 64 Jahre alt. Aufgenommen 
8 ." Oktober 1919. Klinische Diagnose: Pan- 
kreas-Carcinom. Seit August 1919 Ascites. Mitte 
September 1919 ein Eimer voll Flüssigkeit durch 
Punktion entleert. Aufnahmebefund: Starker 
Ascites, starke Ödeme. Schwer darnieder¬ 
liegende Diurese, täglich nur 100 bis 200 ccm. 
Verlauf: Auf Diuretin, Digalen, Verodigen, 
jedesmal in Abschnitten von einigen Tagen zü- 
sammengefaßt, Harnmenge über 800 ccm. Auf 
Zwischengabe von Novasurol Harnmenge bis 
1600 ccm. Vom 20. November 1919 an Ver¬ 
schlechterung des Allgemeinzustandes. Exitus: 
4. Dezember 1919 an Herzschwäche. Stuhl¬ 
gang: Viele unregelmäßige Durchfälle, die 
zwischen 7. und 8. November, solange Novasurol 
ausgesetzt wird, aufhören. Eiweiß: Spuren 
18. Oktober 1919, dann hin und wieder. 

7. Johanna M., 45 Jahre alt, aufgenommen 
3. Dezember 1918. Klinische Diagnose: Tumor 
der linken Adnexe. Krankenblatt verloren ge¬ 
gangen. Verlauf: Auf Tartarus dep., Digitalis, 
Kalomel, einander folgend, Harnmenge im Verlauf 
von 18 Tagen von 1200 auf 300 bis 500 ccm 
fallend. Nach Novasurol, durchschnittlich jeden 
dritten Tag, steigende Diurese bis 3000 ccm. 
18. Januar 1919: Probelaparotomie. Ent¬ 
lassung: Gebessert. Stuhlgang: Durchfall 
am22. und23. Dezember 1918. Eiweiß: Dauernd 
negativ. 

Durchweg beobachten wir, wie auf 
einmalige Injektion von Novasurol ein 
prompter Anstieg der Harnmenge erfolgt. 
Die Wirkung tritt frühestens vier Stunden 
nach der Injektion in die Erscheinung, 
spätestens aber am nächsten Tage. Sie 
hält etwa ein- bis zweimal 24 Stunden an 
und fällt dann schneller oder langsamer 
zur früheren Höhe ab. 

Auf Kurve I sehen wir ein außer¬ 
ordentliches Hochschnellen der Harn¬ 
menge von 1500 auf 5000. Patientin 6 
mit sehr darniederliegender Diurese von 
täglich 100—200 ccm scheidet nach Nova¬ 
surol am nächsten und übernächsten Tage 
1100 beziehungsweise 1600 ccm ab. 

Bei Patientin 5 
zwischen dem 9. und 19. Januar 


dreimalige Gaben Novasurol die Harn¬ 
menge von 300 ccm auf 1500, 1900, dann 
2200 ccm in die Höhe. 

Mit der Erschöpfung des Flüssigkeits¬ 
depots wird naturgemäß auch die aus¬ 
geschiedene Harnmenge geringer. Dies 
war bei Patientin 2, 3, 4 und 6 zu beob¬ 
achten und wird deutlich in Kurve I und 
II: die Verbindungslinie der Maximal¬ 
punkte fällt immer mehr, je länger Nov¬ 
asurol gegeben wird. Kurve III zeigt bis 
zuletzt gleichbleibenden Einfluß des Prä¬ 
parats; es erklärt sich dies daraus, daß 
dauernd neue Flüssigkeitsmengen im Kör¬ 
per an novasurolfreien Tagen zurück¬ 
gehalten beziehungsweise in die Bauch¬ 
höhle ausgeschieden wurden. Die Patien¬ 
tin wird auf ihren Wunsch mit noch ge¬ 
ringem Ascites entlassen. 

Nur mit Novasurol behandelt wurden 
Patientin 4 und 5. Kurve III zeigt die 
kräftige diuretische Wirkung. Patientin 4 
bekommt vom 14. Juni 1919 an wegen des 
aussichtslosen Allgemeinzustandes Mor¬ 
phium, Novasurol wird ausgesetzt, aber 
bis zur letzten Anwendung werden kräf¬ 
tige, wenn auch abnehmende Wirkungen 
auf die Harnabsonderung erzielt. 

Bei Beobachtung 1, 2 (Kurve I) und 
7 wurden zunächst andere diuretische 
Mittel gegeben. Bei 2 (Kurve I) wird eine 
Besserung der Harnabscheidung erzielt, 
und auch bei 1 steigt die Harnmenge auf 
Strophantin, Diuretin und Digitalis (vgl. 
Krankengeschichten). Bei 7 hingegen 
verschlechtert sie sich immer mehr und 
erhebt sich nicht über 500 am Tage. Mit 
der Verabreichung des Novasurol aber 
springt die Besserung ganz offensichtlich 
in die Augen. Der Probelaparotomie 
und dadurch bewirkten Entlastung der 
Bauchgefäße am 18. Januar 1919 im 
Falle 7 wird man die Besserung nicht zu¬ 
schreiben dürfen, denn eine anhaltende 
Aufwärtsbewegung tritt erst mit inten¬ 
siver Novasurolbehandlung ein. 

Bei Beobachtung 3 (Kurve H) und 
Beobachtung 6 werden auf anfängliche 
Gaben von Novasurol gebräuchliche Diu- 
retica dazugegeben; eine verstärkte,Wir¬ 
kung tritt hierdurch nicht ein, im Gegen¬ 
teil fällt die durch Novasurol hochgetrie¬ 
bene Kurve wieder ab, und nur wenn das 
Präparat erneut verabfolgt wird, schnellt 
sie wieder empor, so daß das bekannte 
Bild entsteht. 

Nebenwirkungen. Was die Reiz¬ 
wirkungen auf- die* Nieren anlangt, so 
finden wir den Harn viermal dauernd frei 


(Kurve III) geht 

1919 auf > von Eiweiß (2, 3, 4, 7). Bei 5 wird ver- 
















Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


253 


zeichnet am 1,0.—13. Februar 1919 Ei¬ 
weiß bis V 2 7oo> i wird verzeichnet 
Spuren von'Eiweiß von Anfang an, bei 6 
wird verzeichnet Spuren am 18. Oktober 
1919, im Lauf der Krankheit verschwin¬ 
dend und wieder erscheinend. 

Dauernd frei von Reizwirkungen auf 
den Darm blieben I, 3, 4; Durchfälle von 
2—3’Tagen haben 2, 5 und 7, viele Durch¬ 
fälle. 6. • 

Über heftigen Schmerz an der Ein¬ 
stichstelle wurde von zwei Patienten ge¬ 
klagt. Der eine von diesen behauptete, 
die Schmerzen ließen nach dem Trinken 
von einem Glas Bier prompt nach. 

Die Injektionen geschahen am äußeren 
Quadranten des Gesäßes mit einer Ka¬ 
nüle, die nicht zum Aufziehen des Nova- 
surols .aus der Ampulle benutzt war. Stets 
wurde festgestellt, daß keine Vene ge¬ 
troffen war. 


Fortgesetzte Temperaturmessungen 
und Pulszählungen bei 6 und 7 lassen 
einen deutlichen Einfluß des Novasurols 
nicht erkennen; wohl finden sich nach der 
Krankengeschichte einige Male nach der 
Injektion Erhöhungen von Puls und Tem¬ 
peratur,-doch sind diese nicht einheitlich 
genug, um' als beweisend zu gelten. 

Kein Erfolg fand sich bei zwei mit 
Exsudatbildungen einhergehenden tuber¬ 
kulösen Peritonitiden. Bei beiden Kran¬ 
ken hielt sich nach einmaliger Gabe die 
Härnmenge in der gleichen Höhe von 
etwa 400 ccm, beide reagierten mit starken 
Durchfällen für die folgenden Tage. 

Grundsätzlich wird jetzt Novasurol 
bei allen Stauungserscheinungen mit 
Wassersucht und als Antisyphilitikum 
gegeben. Es hat alle anderen Mercurialien 
in der Therapie der Syphilis im Kranken¬ 
hause Zeitz zu verdrängen gewußt. 


Depressionen, ihr Wesen und ihre Behandlung. 

Von Dr. Wüheltn Stekel, Wien. 


Die Depression ist eine der häufigsten 
Neurosen, die-der praktische Arzt zu Ge¬ 
sicht bekommt. Er sieht sie in den ersten 
Stadien, in denen eine rationelle Therapie 
noch viel leisten kann. Je länger die 
Depression besteht, desto schwieriger 
wird ihre Behandlung. Die physikalischen 
und medikamentösen Mittel versagen 
vollkommen. Es gibt nur eine Methode 
der Wahl: die Psychotherapie. Eine 
Seelenkrankheit — und das ist eine jede 
Depression —kann nur seelisch behandelt 
werden. 

Um aber ein solches Leiden behandeln 
zu können, muß man es verstehen. Ge¬ 
rade die Depression fordert den ganzen 
Scharfsinn und die überlegene Kunst des 
Seelenarztes heraus. Denn die Kranken 
gehören zu jener Art von Menschen, die 
nicht wissen, warum sie traurig sind. Sie 
erzählen meist in den ersten Stunden, daß 
sie keinen Grund für ihre Trauer wüßten. 

Es gibt jedoch keine grundlose De¬ 
pression! Die Aufgabe des Psychothera¬ 
peuten ist es, den versteckten Grund der 
Trauer ausfindig zu machen. 

Den Übergang zu den schweren Fällen 
von Depressionen, als deren Endglied 
schon eine Psychose, die Melancholie, 
gelten kann, bilden die leichten Formen 
von vorübergehender Depression, die 
flüchtigen Verstimmungen, welche man¬ 
chen Menschen scheinbar grundlos beim 
besten Wohlbefinden überfallen. Die 
Diagnose der Depression ist leicht zu 


stellen: Der Kranke ist verstimmt und 
kann keinen Grund dafür angeben. Eine 
motivierte Trauer ist keine Depression 
im neurotischen Sinne. Allerdings werden 
oft Motive vorgeschoben, deren Zweck 
als ,,Ersatzvorstellung‘' leicht erkannt 
werden kann. Wenn im Krieg ein mehr¬ 
facher Millionär an der Angst vor Ver¬ 
armung erkrankte und seine Depres¬ 
sionen auf diese Angst zurückführte, 
konnte auch der Anfänger in der Seelen¬ 
heilkunde feststellen, daß diese Angst 
und Verstimmung unberechtigt waren. 

Das Charakteristische einer jeden De¬ 
pression ist der Umstand, daß der wahre 
Grund der Trauer dem Kranken nicht 
bewußt ist. Er drückt sich um eine 
Wahrheit herum. Er will etwas nicht 
sehen und ,,rationalisiert“ seine Trauer, 
oder er will nicht wissen, warum er traurig 
ist. Das gilt auch für die schwersten Fälle 
von Melancholie^). 

Den Übergang zu diesen schweren 
Zuständen liefern uns die grundlosen Ver¬ 
stimmungen des Normalmenschen und 
der Neurotiker. In solchen Fällen gelingt 
es der Analyse leicht, eine Assoziation 
nachzuweisen, durch die sich die Ver¬ 
stimmung motivieren läßt. 

Ein Beamter klagt darüber, daß er an be¬ 
stimmten Tagen an einer schweren Depression 
erkrankt, für die er keine Motivierung finden 


9 Vergleiche meine Ausführungen über Me¬ 
lancholie in meinem Buche „Nervöse Angst¬ 
zustände und ihre Behandlung“. 



234 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juli 


könne. Ich ersuche ihn, an einem solchen Tage 
zu mir zu kommen. Der sonst lebensfrohe Mensch 
bietet ein jammervolles Bild, als er sich an einem 
solchen kritischen Tage bei mir meldet. Sein Ge¬ 
sicht, sonst glatt und strahlend, hat einen tief¬ 
ernsten Ausdruck und zeigt viele Falten. Wie 
lange die Depression schon andauert? Seit dem 
Erwachen. Ob er gestern noch guter Laune war? 
Ja! Bei bester Laune. Nun beginne ich nachzu¬ 
forschen. Es ergibt sich kein aktueller Anlaß. 
In solchen Fällen tut man gut, sich der Tatsache 
zu erinnern, daß Neurotiker einen „geheimen 
Kalender“ haben und ihre Trauer und Bußtage 
durch Depressionen feiern, ohne sich über die 
Motive Rechenschaft zu geben. Ich blicke auf 
den Kalender. Wir zählten den 17. Mai. Ich er¬ 
kundige mich, ob der Tag für ihn eine besondere 
Beziehung habe. Erst verneint er, dann schlägt 
er sich auf die Stirne. Natürlich! Es ist der 
Todestag seines Vaters, der ihm angeblich ganz 
entschwunden war. Dieser Tag bedeutet für ihn 
eine peinliche Erinnerung. Er war elf Jahre alt, 
als der Vater starb. Er erinnert sich, daß er nicht 
geweint hat und laut lärmte und sogar auf dem 
Klavier klimperte, so daß ihm das Fräulein be¬ 
merkte, sie habe einen so herzlosen Knaben noch 
nicht gesehen. 

Seine Depression erklärt sich als das oft vor¬ 
kommende Phänomen der „nachträglichen 
Trauer“. 

Es zeigte sich, daß die anderen Tage seiner 
„unmotivierten“ Depressionen sich gleichfalls 
auf einen geheimen Kalender zurückführen ließen. 
Er trauerte am Todestage seiner Mutter und seiner 
Geschwister, von denen er sieben verloren hatte. 
Diese Todesfälle hatten ihn zum Erben eines 
großen Vermögens gemacht. Er hatte allen Grund 
seine geheime Schadenfreude und Genugtuung 
über den Tod der Brüder durch Bußtage zu kom¬ 
pensieren, in denen die Kraft seines bösen Ge¬ 
wissens zutage trat. 

Ähnlich lassen sich andere tem¬ 
poräre Tagesdepressionen motivieren. 
Dr. Ferenczi hat in einem Artikel 
,,Sonntagsneurosen“ (Intern. Zschr. f. 
Psychoanal. 1919, Nr. 1) diese Neurosen 
auf sexuelle Erinnerungsbilder zurück¬ 
geführt. Ein jüdischer Patient habe jeden 
Sonnabend den Koitus seiner Eltern be¬ 
lauscht. Die Erinnerungen daran hätten 
den Sonntag zu einem unangenehmen 
Tag gemacht. Ein anderer wäre am 
Sonntag von seiner Mutter verzärtelt 
worden. Ich habe in der Ztschr. f. Sexuai- 
wissenschaft 1919, Nr. 5 bei Besprechung 
der Ausführungen von Ferenczi die 
Sonntagsneurosen auf mangelnde Be¬ 
schäftigung zurückgeführt. 

„Nervös sein, heißt: etwas nicht sehen wollen. 
Nervosität ist Einschränkung des geistigen Blick¬ 
feldes! Alle Neurotiker benutzen die Arbeit als 
Ablenkung. Wo die Arbeit fehlt, werden neuro¬ 
tische Symptome zur Ablenkung benutzt, werden 
Aufregungen geschaffen, Konflikte herbeigeführt 
(so benutzten unzählige Neurotiker den Krieg 
als Mittel zur Ablenkung und stürzten sich auf 
die Kriegsberichte in fieberhafter Spannung; an¬ 
deren dienen die Politik, die Kunst oder die Liebe 
diesem Zwecke). Selbst Zwangsvorstellungen, 
Zweifel, Angstzustände verdecken das ,,Nicht¬ 


sehenwollen“, schaffen aktuelle Schwierigkeiten, 
heben über die leeren Stunden hinweg. Der größte 
Segen ist aber die Arbeit. Arbeitsfanatiker sind 
häufig Neurotiker, die sich fortwährend mit Auf¬ 
gaben belasten, um keine, freie Minute zum Nach¬ 
denken zu haben. Sie arbeiten auf der Elektrischen, 
sie arbeiten in die späte Nacht hinein, sie werden 
nie fertig, sie bürden sich tro4:zdem stets neue 
Lasten auf. Vom normalen Menschen unterscheidet’ 
diese Arbeitsfanatiker der Sonntag und der Ur¬ 
laub. Der Gesunde wird Sonntag ausspahnen, 
wird allein sein können, wird sich Rechenschaft 
geben über die Fragen der Woche, er wird auch 
nichts tun können, sich seiner Faulheit freuen, 
die er sich so schwer errungen hat. Der neurotische 
Arbeitsfanatiker wird die Sonntagsruhe als eine 
neue Form der Arbeit betreiben. Er wird Riesen¬ 
touren machen, wobei er fortwährend mit dem 
Fahrplan oder der Karte beschäftigt ist. Er 
braucht immer Gesellschaft, immer Ablenkung 
vom Ich, wird sich immer eine solche Leistung 
aufbürden, daß es am Schlüsse zu einer Hetz¬ 
jagd kommt. Die vielen Unbefriedigten, Unglück¬ 
lichen, Enttäuschten, Erbitterten, Empörten, die 
im Innejrn noch nicht auf ihre weiten Ziele und 
großen Pläne verzichtet haben, die Liebessucher, 
die noch immer nicht ihre Ergänzung gefunden 
oder sich falsch gebunden haben — wohlgemerkt 
alle ohne es sich eingestehen zu wollen! — sie 
alle werden an ihren Sonn- und Festtagen, an 
ihren Urlauben, bei jeder Pause ihrer Arbeit’und 
des Lebens sich unglücklich, müde, abgespannt 
fühlen und einen heftigen Kampf gegen die „be¬ 
grabenen Wünsche“ führen, die sich ins Bewußt¬ 
sein drängen wollen. Der Kopfschmerz ist immer 
eine Folge solcher Vergewaltigung des eigenen 
Denkens. Dazu kommt der lange Schlaf am Sonn¬ 
tag, der unsere Traumgedanken übermäßig lang 
ausspinnt, ihnen zu viel Raum zur Entfaltung 
bietet, so daß sie in die Wachgedanken eindringen 
und die Stimmung des Tages beeinflussen.“ 

Am Sonntag quälen den Neurotiker 
viele Schuldgefühle, er' erinnert sich an 
seine geheimen Sünden. 

In allen Fällen von temporären De¬ 
pressionen ist nach dem ,,geheimen Ka¬ 
lender“ zu fahnden. 

Oft sind es andere Assoziationen. Der 
angeblich grundlos Verstimmte hat die 
erste Frau gesehen, von der er sich hat 
scheiden lassen. Ein Büchertitel (,,Briefe 
die ihn nicht erreichten“) erinnerte sein 
Unbewußtes, daß ihm vor einigen Wochen 
eine angebetete Frau die letzten Briefe 
uneröffnet zurückgeschickt hat. Oder: 
Eine sehr elegante Dame hatte durch 
eine gewisse Ähnlichkeit die Assoziation 
zu seinem traurigen Roman, den er vor 
vielen Jahren erlebt hatte, geweckt. Ein 
eigentümliches Parfüm kann gewisse ver¬ 
drängte Bilder ins Vorbewußte heben, 
Gerüche wecken leicht Assoziationen 
(ein Student wurde in der heitersten 
Stimmung deprimiert, wenn Geruch von 
Kiefernadelöl die Erinnerung an Föhren- 


2 ) Eine solche Psychogenese der Depression 
beschreibt Grillparzer in seinen Tagebüchern. 



Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


255 


Wälder brachte, nach denen er sich aus 
dem Lärm der Stadt sehnte). 

Musik ist die wichtigste Quelle der 
Depressionen. Das ist ja vielen Menschen 
bewußt. Ein Lied weckt Erinnerungen 
und Sehnsucht nach Unerfülltem; Oft 
werden Melodien gehört, die Menschen 
geben sich keine Rechenschaft über den 
Text, der zur Melodie gehört, ja sie kennen 
diesen Text gar nicht, sie kennen nur die 
Melodie und werden tief verstimmt. Eine 
sich nach Liebe sehnende Dame hörte 
die Melodie des Liedes ,,Wär es auch nur 
ein Traum von Glück“ und wurde ver- 
^stimmt. Den Text wußte sie angeblich 
nicht. Sie konnte nur die Melodie vor 
sich hinsummen. Sie mußte mir aber 
dann gestehen, daß sie das Lied oft ge¬ 
hört und den Text auch mitgesungen 
hatte. 

Immer wieder bestätigt die Analyse 
den Grundsatz: Es gibt keine unmoti¬ 
vierten Verstimmungen. Das gilt für die 
kleinen Depressionen des Normalmenschen 
bis zu der selbstmörderischen Verzweif¬ 
lung des Melancholikers, 

Der Wechsel von Melancholie und 
Manie, von Trauer und Fröhlichkeit, von 
Verzweiflung und Übermut, von Ver¬ 
stimmung und Frohsinn mußte viele 
Ärzte auf den Gedanken bringen, beide 
Bilder zu einer Einheit zu vereinen. So 
entstanden die Krankheitsbilder des 
„manisch-depressiven Irreseins“ und der 
„Cyclothymie“ als ihrer milderen Aus¬ 
drucksform. In der Praxis kann man 
den Satz nicht bestätigen, daß jede 
Melancholie das depressive Stadium eines 
manisch-depressiven Irreseins wäre. Der 
Praktiker sieht oft genug reine Melan¬ 
cholien ohne die manische Reaktion und 
manische Bilder ohne das depressive 
Stadium. 

Trotzdem läßt es sich nicht bestreiten, 
daß die depressiven Krankheitsbilder 
einen gewissen periodischen Verlauf zei¬ 
gen. Es gibt Verstimmungen, die in regel¬ 
mäßigen Intervallen wiederkehren. Frauen 
erkranken oft vor und nach der Menstrua¬ 
tion an Depressionen. Schon die soge- 
riannte Tagesdepression zeigt deutlich den 
periodischen Charakter. So gibt es Men¬ 
schen, die nach dem Erwachen einige 
Stunden deprimiert sind. Ein Kranker 
schildert den Zustand: ,,Am Morgen ist 
es mir, als wenn man einen Sack über 
meinen Kopf geworfen hätte. Das dauert 
bis zehn Uhr, dann wird es besser, der 
Sack wird langsam zurückgezogen. Abends 


bin ich dann ganz gesund und kein Mensch 
würde in mir einen Depressionisten er¬ 
kennen.“ . . 

Diese Morgendepression erklärt sich 
als Nachwirkung des Traumes. Forscht 
man nach den Träumen, so erkennt man 
bald, daß sich in seinen Traumbildern der 
Kranke in eine Welt der Illusionen und 
Erfüllungen flüchtet, aus der ihn das 
Erwachen grausam reißt, so daß ihm 
das Differenzgefühl zwischen Phantasie 
(Traum) und Realität die Unerträglich¬ 
keit der Realität vor Augen führt. Diese 
Traummenschen, welche auch am Tage 
gern ihren Wachträumen erliegen und 
gern am Morgen im Bett im Halbschlaf 
duseln (das heißt immer: Phantasieren), 
zeichnen sich alle durch die Morgen¬ 
depression aus. Es gibt aber Menschen, 
die um zehn Uhr vormittags, am Nach¬ 
mittag, gegen Abend ihre tägliche De¬ 
pression durchmachen. Reiche Frauen 
pflegen sich'um diese bestimmte Stunde 
in ihr Zimmer einzusperren und sind 
nicht zu sprechen, bis die böse Zeit vor¬ 
über ist. Die Mehrzahl der Fälle zeigt 
folgendes Verhalten: Am Morgen ist die 
Verstimmung am schlimmsten. Die Stim¬ 
mung bessert sich wahrend des Tages und 
erst des Abends und des Nachts fühlen 
sich die Kranken wohler. Diese Menschen 
neigen dazu, bis spät in die Nacht auf¬ 
zubleiben und den bösen Vormittag zu 
verschlafen. Sie gehen lange nicht zu 
Bett, lesen und plaudern bis zwei oder 
drei Uhr, schlafen dann spät in den Vor¬ 
mittag hinein, um über die böse Zeit zu 
schlafen. Das ist eine Selbsttäuschung, 
denn die Depression bleibt gewöhnlich 
nicht aus, auch wenn sie um zwölf Uhr 
vormittags erwachen. Sie haben nur den 
Rhythmus der Depression verändert. 

Sehr häufig hört man, daß die De¬ 
pression jeden zweiten Tag einsetzt. 
Einem guten Tag folgt ein schlechter, 
wie das Amen dem Gebete. Die Kranken 
lassen sich diese Einstellung nicht aus- 
reden. Haben sie heute einen guten Tag, 
so wissen sie bestimmt, daß morgen ein 
schlechter Tag folgen wird. Bei dieser 
Neurose spielt das Schuldgefühl eine große 
Rolle. Die Autosuggestion erzeugt schon 
den schlechten Tag dadurch, daß man 
ihn erwartet. Hinter dieser Erwartung 
verbürgt sich ein böses Gewissen. Man 
verdient es nicht, daß es einem gut geht. 
Man steht unter der Herrschaft von ,,Ver¬ 
sündigungsideen“, die meistens unbewußt 
sind, nur in seltenen Fällen offen zutage 
liegen. 





256 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juli 


Ein 31 jähriger Mann konsultierte mich wegen 
einer Depression, die jeden zweiten Tag mit 
mathematischer Präzision auftrat. An dem freien 
Tage war er sehr erotisch und konnte seiner 
Paraphilie nicht widerstehen. Diese Paraphilie^) 
bestand in einer Neigung zu Mädchen zwischen 
zehn und dreizehn Jahren, die gut entwickelt waren 
und schöne Waden sehen ließen. Er suchte an 
solchen Tagen im Sommer einen Kinderpark auf 
und ließ sich mit den Kindern und ihren Bonnen 
in ein Gespräch ein und verteilte Näschereien (alle 
Kinderfreunde, die immer Zuckerln bei sich 
tragen und an Kinder verteilen, sind auf Pädo¬ 
philie verdächtig. Man hüte die Kinder vor auf¬ 
fälligen Kinderfreunden, auch wenn sie alte 
Herren sind. Gerade im Alter meldet sich als eine 
Regression auf das Infantile bei vielen Menschen 
eine pathologische Pädophilie). An gesunden 
Tagen pflegte er auch mit Mädchen ein Hotel 
aufzusuchen. Er weidete sich an der Entkleidung, 
die ihm einen großen Reiz erregte, ließ es aber nie 
zu einem Koitus kommen. Es handelte sich immer 
um sogenannte „anständige Mädchen“, denen er 
versprochen hatte, sie nicht der Virginität zu be¬ 
rauben. Diese moralische Zurückhaltung war nur 
eine Rationalisierung einer Paraphilie. 

Wie er mir gestand, konnte er auch bei Dirnen 
trotz heftiger Erektion wegen eines inneren 
Widerstandes niemals einen Kongressus ausführen. 
Er begnügte sich mit der Entkleidung und der 
Reizung des äußeren Genitales. Ihm schwebte 
immer ein Kind vor und er benahm sich mit den 
Erwachsenen, die er mit infantilem Typus wählte, 
immer so, als ob er ein Kind vor sich haben würde. 
Die Depression am zweiten Tage war die Strafe 
für die Libertinage am vorhergehenden. Zugleich 
aber die Verzweiflung darüber, daß er seine krank¬ 
haften Triebe nie werde ausleben können. 

Jede Depression ist die moralische 
Reaktion auf unmoralische Regungen und 
dokumentiert die Aussichtslosigkeit der 
geheimen sexuellen Zielstrebungen. 

Diesen Wechsel zwischen erotischer 
Erregung und sexueller Apathie können 
wir in allen Fällen von periodischer De¬ 
pression, bei allen Cyclothymien nach- 
weisen. Er spielt wahrscheinlich in der 
Psychogenese neben einem zweiten Fak¬ 
tor, den ich später erwähnen werde, eine 
große Rolle. 

Ein Mädchen erkrankt alle paar Monate an ’ 
einer schweren Depression. Während ihrer glück¬ 
lichen Zeiten ist sie erotomanisch. Sie spricht nur 
von Liebe, onaniert mehrere Male täglich, koket¬ 
tiert mit allen Männern. In den Zeiten der De¬ 
pression ist sie vollkommen anerotisch. Sie zeigt 
Ekel vor allen sexuellen Dingen, wird fromm und 
heilig, geht in die Kirche, kasteit sich, bemüht 
sich geduldig zu sein, was ihr nicht immer gelingt. 
Zeitweise kommt es zu bösen Wutanfällen, in 
denen sie die Umgebung, besonders die Mutter 
bedroht. Die Mutter ist angeblich schuldig an 


3) Ein von Kraus vorgcschlagener Ausdruck 
für Perversion. 


ihrem Unglück.' Diese periodischen Depressionen 
schlossen sich an eine’Liebesenttäuschung an, die 
sie angeblich sehr gut vertragen hatte. Sie war 
verlobt und liebte ihren Bräutigam über alles. 
Es kam auch zu allerlei Intimitäten. Sie ließ es 
zwar nicht zum Koitus kommem Aber sie wurde 
in der Verlobung eine ausgebildete „Halbjungfrau“. 
Plötzlich verlangte der Bräutigam die Verdoppe¬ 
lung der Mitgift und löste die Verlobung, als die 
Eltern empört diese Zumutung zurückwiesen (sie 
war als einziges Kind Erbin eines großen Ver¬ 
mögens und sollte eine stattliche Mitgift erhalten). 
Der Bräutigam hatte aber eine noch reichere 
Braut ausfindig gemacht und zog aus dieser Tat¬ 
sache seine Konsequenzen. Die Eltern hatten ganz 
recht gehandelt, als sie die Verlobung auflösten, 
da er sich als ein so habgieriger und egoistischer 
Mensch erwies, der ihr Kind nur des Geldes wegen 
heimführen wollte. Sie aber grollte den Eltern. 
Ihre Sexualität war furchtbar gereizt, sie war der 
Ansicht, daß sie keinem anderen Mann angehören 
könnte, sie fühlte sich nicht mehr als reines, un¬ 
berührtes Wesen. Wie benahm sie sich nach der 
Auflösung? Sie war angeblich überglücklich, 
lachte den ganzen Tag, ging die folgenden Wochen 
in alle Gesellschaften, so daß alle Welt glaubte, 
sie wäre von einem Alpdruck erlöst. Ihre Fröh¬ 
lichkeit hatte etwas Forciertes, Manisches an sich. 
Die Depression kam erst nach einem halben 
Jahre, angeblich nach einer Influenza. Sie war 
zu stolz, um ihre große Neigung zu dem Mann 
offen zu zeigen. Sie verbarg" sic hinter einer ge¬ 
steigerten Fröhlichkeit und "Koketterie. In der 
Depression rationalisierte sie ihre Trauer mit 
allerlei lächerlichen Motiven. Sie wäre zu dick 
geworden. Sie sei plump und häßlich. Sie werde 
nie heiraten. Sie wolle ins Kloster gehen und eine 
Nonne werden. Das dauerte einige Wochen, dann 
trat wieder das manische Stadium mit seiner ge¬ 
steigerten Erotik auf. Die Hoffnungslosigkeit 
ihrer Liebe zu dem Exbräuügam kam-ihr in der 
Depression in maskierter Form ins Bewußtsein. 
Ihre Depression hieß: ,,Niemals, niemals werde 
ich ihn erreichen!“ Auch Erinnerungen an den 
Bräutigam konnte eine Depression und Wutanfälle 
auslösen. Wenn sie in der Zeitung den Namen 
eines seiner Regimentskam.eraden las, kam sicher 
die Depression hervor. Auch die Heirat dieses un- 
getreuen Mannes war — allerdings nach drei Mo¬ 
naten Schauspielerei von einer schweren Depres¬ 
sion gefolgt, die viele Monate dauerte, nachdem 
eine Sanatoriumsbehandlung das Leiden bedeu¬ 
tend verschlimmert hatte. Es folgten zwei Selbst¬ 
mordversuche, worauf sie in meine Behandlung 
kam. Die pädagogische Psychoanalyse hatte einen 
vollen Erfolg. Nach viermonatlicher Behandlung 
kam sie genesen nach Hause, heiratete bald und 
ist jetzt glückliche und gesunde Mutter von zwei 
Kindern. Das Puerperium wurde anstandslos 
ertragen. Die Heilung ist vollkommen. Sie hat 
einen sehr guten und sehr potenten Mann ge¬ 
funden, der sie vergöttert. Ihre Befürchtungen, 
sie werde keinem Manne die Treue halten können, 
sie benötige ein halbes Dutzend Männer, haben 
sich als grundlos erwiesen. Diese Zwangs¬ 
befürchtungen waren nur die Reaktion auf die 
furchtbare Enttäuschung und eine Flucht vor 
der seelischen Liebe in den körperlichen Rausch. 

(Schluß folgt im nächsten Heft.) 



Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


257 


Repetitorium der Therapie. 

Behandlung der Stoffwechselkrankheiten., 

Von G. Klemperer. 


2. Behandlung der Gicht. Ist auch 
vieles im Wesen der Gicht noch dunkel und 
der Behandlung nicht zugänglich, so ge¬ 
stattet doch auch unsere unvollkommene 
Erkenntnis, in Verbindung mit den Er¬ 
gebnissen der Erfahrung, vielen Gicht¬ 
kranken die Schmerzanfälle abzukürzen 
und zu lindern und oft der Wiederkehr 
neuer Anfälle wie den übrigen Äußerungen 
der gichtischen Erkrankung vorzubeugen. 

Der Gichtanfall ist ein akut-entzünd¬ 
licher Prozeß, der mit entzündungswi¬ 
drigen und schmerzstillenden Mitteln zu 
behandeln ist. Die betroffenen Glieder 
sind ruhig zu lagern und mit kalten Um¬ 
schlägen, eventuell mit essigsaurer Ton¬ 
erde, einzuhüllen; manchmal werden 
heiße Packungen besser vertragen; oft 
hilft Wattepackung nach vorheriger Ein¬ 
schmierung mit Rheumasan oder Ein¬ 
pinselung mit Spirosol oder Salit; manch¬ 
mal bewährt sich die Bi ersehe Stauungs¬ 
binde ausgezeichnet. Schmerzstillend 
wirken die Analgetica, Antipyrin, Pyra¬ 
miden und andere in den üblichen Dosen. 
Colchicin und Atophan stehen im Ruf, 
über diese Wirkung hinaus auf die Ur¬ 
sache der Gichtentzündung, die Harn¬ 
säureimprägnierung der Gewebe, in be¬ 
sonderer Weise einzuwirken. Atophan 
gibt man täglich fünf Tabletten zu 
0;5 g in zweistündlichen Pausen, am 
besten unter gleichzeitigem Trinkenlassen 
von Fachinger Wasser. Das beste Col- 
chicumpräparat ist das Alcaloid, welches 
in 5—6 Milligrammdosen zvv^ei bis drei 
Tage verabreicht wird. (Rp.ColchicinMerck 
0,03 Mass. pik q. s. ut f.^^ pil. 30 Ds. 
2 stdl. 1 P. z. n.) Bei Übelkeit oder 
Durchfall ist diese Medikation aus¬ 
zusetzen. Weniger sicher wirkt Tinct. 
Colchici viermal täglich 15 Tropfen^). 
Während des Gichtanfalls ist der Pa¬ 
tient im Bett zu halten und dem Ali- 
gemeinzustand entsprechend zu ernähren. 
Reichliches Trinken von Mineralwasser, 
Fruchtsaft, eventuell auch Milch »st zu 
empfeiilen, die Diät ist in schweren 
Fällen wie bei Fiebernden, in leichteren 
vorwiegend pflanzlicn aus Gemüsen, 
leichten Mehlspeisen und Früchten be- 

In der Praxis sehr beliebt waren früher 
die Colchicum enthaltenden Geheimmittel, wie 
Liqueur de Laville, Alberts remedy, B^champs 
Pillen. 


stehend. Klingt der Anfall ab, so ist 
Massage und Gymnastik der betroffenen 
Glieder ratsam. Danach kommen die 
allgemeinen Regeln zur Beeinflussung 
der Gichtkrankheit zur Anwendung. 

Die Behandlung der gichtischen 
Krankheitsbereitschaft besteht erfah¬ 
rungsgemäß in fleischarmer Diät, reich¬ 
lichem Wassertrinken, Vermeidung des 
Alkohols, in rüstigem, tätigem Leben. 
Die theoretische Begründung geht von 
der Tatsache aus, daß in den" Organen 
der Gichtkranken Harnsäure-eingelagert 
ist; sie an der Einlagerung zu verhindern 
oder herauszubringen, ist das Ziel der 
Behandlung. Wir wissen sicher, daß die 
Harnsäure aus den Nucleinsubstanzen 
herrührt, welche vor allem in den Zell¬ 
kernen der Gewebe enthalten sind. 
Man vermindert zweifellos die Menge 
der im Blute kreisenden Harnsäure, w^enn 
man das Fleisch und vor allem die 
Drüsensubstanzen aus der Nahrung 
streicht; man vermehrt ihre Ausscheidung 
durch reichliche Wasserzufuhr, die die 
Diurese befördert, sowie durch öftere 
Darreichung von Atophan. Anregung 
der Blutströmung in den Geweben durch 
Trinken und diirch örtliche Massage mag 
die Ausscheidung der Harnsäure aus den 
Geweben vermehren. Vielleicht ist auch 
die Löslichkeit der Harnsäure durch das 
Trinken schwach alkalischerWässer zu be¬ 
einflussen. Die letzte Ursache des Haftens 
der Harnsäure in den Geweben ist dunkel. 
Aber wenn eine Fermentwirkung für die 
Affinität zwischen Geweben und Harn¬ 
säure in Betracht kommt, so wird Körper¬ 
bewegung und allgemeine Anregung des 
Stoffwechsels auch diese Fermenttätig¬ 
keit beeinflussen. Aus all diesen theo¬ 
retischen Gründen, aber vor allen Dingen 
auf Grund sicherer Erfahrung, soll der 
Gichtkranke sein Leben lang wenig Fleisch 
und Fisch essen; ganz vermeiden soll er 
Thymus, Leber, Hirn, Niere, Austern. 
Wer häufig Gichtanfälle hat, soll monate¬ 
lang streng vegetarisch leben. Milch und 
Eier sind in jedem Fall erlaubt, ebenso 
wie jede Art von Gemüsen und Früchten; 
eine Beschränkung der Mehlspeisen, 
Süßigkeiten und Fette käme nur aus 
Gründen starker Fettleibigkeit in Frage. 
Nur wenn der Gichtkranke zu fett ist, soll 
er durch die Diät zur Abmagerung gebracht 

33 



258 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Jüli 


werden, ln jedem Fall sind große und 
üppige Mahlzeiten zu vermeiden, zwischen 
den Mahlzeiten soll der Patient häufig 
trinken, erfahrungsgemäß am besten 
schwach alkalische, kohlensäurehaltige 
Mineralwässer. Der Patient soll sich 
fleißig in frischer Luft bewegen, auch 
körperliche Übungen betreiben, wofern 
nicht Arteriosklerose oder Herzleiden 
hindern. Hautpflege ist wichtig. Von 
Zeit zu Zeit sind jüngeren Kran¬ 
ken Schwitzprozeduren zu empfehlen. 
Die Bedeutung der psychischen Beein¬ 
flussung ist auch bei der Gicht nicht 
zu unterschätzen. Insofern Atophan die 
Ausscheidung der im Blut kreisenden 
Harnsäure vermehrt und ihre Bildung 
einschränkt, ist die gelegentliche Ver¬ 
ordnung dieses Mittels ratsam. Man 
'verordnet dann 20x0,5 g (Inhalt eines 
Röhrchens) in vierstündigen Pausen zu 
nehmen und läßt die Verordnung alle 
vierzehn Tage, im ganzen etwa fünfmal 
wiederholen. Die spätere Wiederauf¬ 
nahme dieses Verfahrens macht man von 
der eventuellen guten Wirkung abhängig. 

Da die meisten Gichtkranken ihre 
Lebensweise ändern müssen, ist zur diä¬ 
tetischen Umlernung der gelegentliche Be¬ 
such eines Sanatoriums wohl zu empfeh¬ 
len. Ratsam ist auch der Besuch von 
Badeorten, von denen namentlich- Karls¬ 
bad, auch Marienbad,. Franzensbad 
zur alkalisierenden Durchspülung der 
Gewebe, Wiesbaden, Hom.burg, Kissingen 
zur Badebehandlung der Gelenkfolgezu¬ 
stände in Betracht kommen. 

Das nicht ganz seltene gemeinsame 
Vorkommen von Diabetes und Gicht 
beziehungsweise das Auftreten von Gicht¬ 
anfällen bei Diabetes oder von Glykosurie 
bei Gichtkranken macht eine sinngemäße 
Modifikation der diätetischen Behand¬ 
lungsregeln notwendig. Es ist ein Kom¬ 
promiß zu schließen zwischen der Not¬ 
wendigkeit, dem leichten Diabetiker die 
Kohlehydrate zu entziehen, welche dem 
Gichtkranken nützlich sind, beziehungs¬ 
weise die Fleischspeisen dem Gicht¬ 
kranken einzuschränken, welche der 
Diabetiker mit Vorteil genießt. Ganz 
gefahrlos ist für den von beiden Krank¬ 
heitsanlagen Betroffenen nur der Fett¬ 
genuß. Man macht nun die diaetetische 
Verordnung i'm Einzelfalle von der 
Schwere der jeweiligen Krankheits¬ 
erscheinungen abhängig, indem man bei 
Glykosurie dem Gichtkranken nur ge¬ 
ringe Kohlehydratbeschränkung zu¬ 
mutet, doch die Pflanzencrnährung in 


den Vordergrund rückt. Ist aber der 
Patient von Gichtanfällen verschont, so 
benutze man die gichtfreie Zeit zu 
strenger antidiabetischer Diät, von der 
man wieder zurücktritt, wenn sich Gicht¬ 
anfälle melden, und ebenso wird man 
bei Diabetes beim Auftreten der Gicht¬ 
anfälle die Zuckerbeschränkung zurück¬ 
stellen und sich für einige Zeit ohne 
Rücksicht auf die Glykosurie vorwiegend 
pflanzlicher Kost zuwenden. 

3. Behandlung der Fettsucht. Nach 
alter Gewohnheit werden an dieser Stelle 
zuerst die Entfettungskuren besprochen, 
durch welche die übermäßige Fettleibig¬ 
keit vermindert wird, obwohl diese in 
vollkommen physiologischer Weise nur 
durch zu reichliches Essen und zu wenig 
körperliche Arbeit zu Stande gekommen 
ist. Als eigentliche pathologische Fett¬ 
sucht ist nur die Fettansammlung zu 
betrachten, welche bei normal großer 
Nahrungszufuhr 'nur durch mangelhafte 
Fettzersetzung entsteht. 

a) Behandlung der Mastfett¬ 
sucht. Da die Fettspeicherung durch 
übermäßige Zufuhr stickstofffreier Nah¬ 
rungsmittel erfolgt ist, für welche Fett 
die physiologische Depotform darstellt, 
so wird das angehäufte Fett durch Ver¬ 
minderung der N-freien Zufuhr unter 
die Bedingungen der Zersetzung gebracht, 
ln zweiter Linie wird der Fettbestand 
durch körperliche Arbeit angegriffen. 
Schließlich kann er zur Wärmebildung 
verbraucht werden, sei es, daß der Körper 
sich gegen äußere Kälte zur Wehr setzen 
muß, sei es, daß Schwitzprozeduren durch 
Wärmeentziehung neue Wärmebildung an¬ 
regen. Schließlich kann die Entwässerung 
des Körpers, sei es durch Dürsten, sei 
es. durch Schwitzen, anscheinend als 
direkter R^iz zur Fetteinschmelzung.bei¬ 
tragen. 

Die Ausführung von Diätkuren sollte 
sich hiernach von selbst ergeben, da sie 
stets darauf hinauslaufen, daß der Fette 
durch wesentliche Nahrungsbeschränkung 
zur Abmagerung kommt. Es sollte also 
der Rat genügen, daß die Patienten sich 
längere Zeit nur die Hälfte oder der 
gewohnten Kost gönnen sollten. Aber 
nur wenig Menschen haben für so ver¬ 
nünftige Ratschläge genügende Einsicht 
oder Selbstbeherrschung. Es hat sich 
vielmehr die Gewohnheit eingebürgert, 
bestimmte Kuren in schematischer Form 
vorzLischreibeii, die trotz Entziehung das 
Hungerbedürfnis zu befriedigen vermögen. 
Bei der sogenannten Bantingkur wird 





Juli 


Die Therapie der Gegenwart 192Ö 


259 


den Patienten mageres Fleisch und Fisch 
nicht beschränkt, dagegen bekommen sie 
nur ganz kleine'Mengen. Brot oder Zwie¬ 
back (etwa 80 bis 100 g) mit sehr wenig 
Butter, sehr wenig Kartoffeln und wenig 
Flüssigkeit (2 bis 3 Tassen Tee, keine 
SuppeX Streng durchgeführt, verursacht 
dies Regime' schnellen Gewichtssturz, 
vermehrt aber durch die mangelhafte 
Calorienzufuhr auch die Eiweißzersetzung, 
schädigt eventuell das Herz und greift 
die Nerven sehr an. Die Ebsteinsche 
Kur vermindert die Zufuhr von Fleisch 
und Brot wie Kartoffeln, läßt aber bis 
100 g Fett täglich essen, indem die er¬ 
laubte Fleischmenge (bis ein halbes 
Pfund) und das Brot (etwa 100 g) sowie 
das Gemüse mit sehr viel Butter ge¬ 
nossen wird. Eine sehr gute Form der 
Calorienverminderung stellt die rein vege¬ 
tarische Kost mit wenigMilch und wenig 
Eiern dar, bei welcher die starke Füllung 
des Magens durch Gemüse und Früchte 
zu täuschendem Sättigungsgefühl führt. 
Besondere Abarten sind die sogenannten 
Kartoffelkuren, bei denen die Patienten 
einige Zeit nur von Kartoffeln in ver- 
schiedendensten Zubereitungen, mit 
wenig Fett leben, older Obstkuren, bei 
denen nur rohe Früchte genossen wer¬ 
den, auch Milchkuren, bei denen zu un¬ 
genügender Milchzufuhr (1 bis II /2 1) nur 
sehr wenig andere Nahrung geboten wird. 

Ein neues Prinzip ist in der Örtel- 
schen Kur enthalten, welche von Schwe- 
ninger populär gemacht worden ist; 
sie erlaubt keine Flüssigkeit beim Essen, 
sondern läßt beschränkte Mengen erst 
längere Zeit nach demselben trinken; 
einerseits wird hierdurch die Eßlust be¬ 
schränkt, andererseits eine Entwässerung 
des 'Körpers herbeigeführt, welche^ na¬ 
mentlich nach vorhergegangener Über- 
schwebimiing des Körpers von großem 
Nutzen ist. Die Flüssigkeitsentziehung 
ist namentlich bei Fettleibigen mit Herz¬ 
schwäche durchzuführen. Eine besondere 
Form derselben, die aber nur bei bett¬ 
ruhenden Patienten wenige Tage ange¬ 
wendet werden darf, ist die Karellkur, 
welche täglich nur viermal 200 g Milch 
als einzige Nahrung gestattet. 

Zu den diätetischen Ratschlägen treten 
dann die physikalischen Verordnungen, 
welche die Einschmelzung des Fettes 
befördern; regelmäßige Bewegung, am 
besten nach bestimmten Vorschriften. 
Jede Art von Gymnastik und Sport ist 
zu empfehlen. Hierbei ist die Rücksicht 
auf den Zustand der Herzens maßgebend. 


Wenn die Fettleibigkeit zur Schwächung 
des Herzens geführt hat, derart, daß der 
Puls klein und frequent ist, so sind Be¬ 
wegungskuren nicht anzuraten, sondern 
durchaus zu meiden. Herzschwäche Fett¬ 
leibige sind als Herzkranke zu behandeln. 
Am besten führt man bei ihnen diätetische 
Entfettungskuren in Bettruhe durch. 

Sehr empfehlenswert ist die regel¬ 
mäßige Verordnung von Schwitzkuren 
ein- bis zweimal wöchentlich, teils in 
Form russisch-römischer Bäder, teils im 
elektrischen Glühlichtkasten. Bei alten, 
arteriosklerotischen oder herzschwachen 
Individuen sind Schwitzkuren kontra¬ 
indiziert. 

Da Entfettungskuren an die Energie 
der Patienten oft nicht geringe Anforde¬ 
rungen stellen, werden sie gern in Sana¬ 
torien durchgeführt, in denen die ärztliche 
Überwachung gleichzeitig vor Übertrei¬ 
bungen bewahrt. Beliebt ist auch der Be¬ 
such von Badeorten (Karlsbad, Mariehbad 
und Kissingen), in welchen Diätetik und 
Bewegung durch die leicht abführenden 
und den Stoffwechsel anregenden Wässer 
unterstützt werden. Für alle Entfettungs¬ 
kuren gelte als Regel, daß sie nicht in 
kurzer Zeit zu schndlen Gewichtsstürzen 
führen dürfen, weil dadurch Herz- und 
Nervenschädigung entstehen können. 

b) Behandlung der konstitutio¬ 
nellen Fettsucht. Da es sich bei den 
anämischen und relativ kraftlosen Pa¬ 
tienten um eine wirkliche Stoffwechsel¬ 
störung handelt, welche in der mangel¬ 
haften Umsetzung des Fettes beruht, 
versprechen die diätetischen und 
physikalischen Methoden relativ wenig 
Erfolg. Eine Nahrungsbeschränkung 
kommt meist nicht in Frage, da die 
Kranken an sich relativ wenig essen; eine 
Verminderung der Fettbildner, das heißt 
der Kohlehydrate und- Fette, ist gewiß 
ratsam, führt aber praktisch kaum zur 
wesentlichen Abmagerung. Äußerste Ver¬ 
minderung der Nahrungszufuhr vermin¬ 
dert allmählich das Körpergewicht, schä¬ 
digt aber das Allgemeinbefinden und 
die Kraft des Kranken. Diätetische Be¬ 
schränkungen sind also bei wirklich kon¬ 
stitutioneller Fettsucht meist nicht ge¬ 
boten. Nützlich ist die Verminderung 
der Flüssigkeitszufuhr und die langsam 
zu erhöhende Körperbewegung, die in 
systematischer Weise auch das Herz 
kräftigt; auch Schwitzkuren sind sehr 
empfehlenswert. Die wirksamste Be¬ 
handlung liegt in der kurmäßigen An¬ 
wendung von Mitteln, welche die intra- 

33* 





260 


Die Therapie der Gegenwart 1920 




cellularen Zersetzungen und speziell die 
Fettverbrennung steigern. Als solches 
wirkt vor allem die Schilddrüsensub¬ 
stanz. Man verordnet von den Trocken¬ 
präparaten Thyreoidin täglich ein bis 
zweimal 0,3 g vier bis sechs Wochen 
lang unter täglicher Kontrolle des Her¬ 
zens und des Allgemeinbefindens, so¬ 
wie mit gelegentlicher Untersuchung des 
Urins auf Zucker; bei eintretender Schä¬ 
digung ist das Thyreoidin auszusetzen. 
Während der Kur bedürfen die Patienten 
einer gewissen Schonung in körperlicher 


und seelischer Beziehung. — Wenn die 
anämische Fettsucht mit mangelhafter 
Ovarialtätigkeit besonders im Klimak¬ 
terium Zusammenhängen sollte, versuche 
man die Einwirkung von Ovariin (Oopho- 
rin)tabletten, wovon täglich dreimal 
fünf Stück wochenlang unter ärztlicher 
Kontrolle genommen werden. — In refrak¬ 
tären Fällen ist auch ein Versuch mit der 
anregenden Wirkung des Borax zu 
machen, wovon man dreimal täglich 
eine gehäufte Messerspitze verordnet; 
guter Erfolg ist freilich selten. 


Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen. 

32. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin, 


Dresden, 20.- 

Bericht von 

Der zweite Kongreßtag brachte eine 
eingehende Besprechung der epidemischen 
Encephalitis lethargica, welche 
V. Jak sch (Prag) mit einem Vortrag über 
Symptomatologie und Verlauf einleitete. 
Seme Beaobachtung umfaßt 30 Fälle, 
von denen nur einer tödlich endete. Der 
Beginn äußert sich m.eist in einem fieber¬ 
haften, mehr oder weniger schweren Exal¬ 
tationsstadium, von meist wochenlanger 
Dauer. Dabei kommen sowohl wirkliche 
Delirien, ?ls auch schwere geistige Stö¬ 
rungen vor, manchmal choreatische Er¬ 
scheinungen, die in wirkliches Koma über¬ 
gehen. In anderen Fällen traten zuerst 
unter leichtemFieber tetaniforme Krämpfe 
ein, denen immer Koma folgte; die 
Zuckungen sistierten weder im Schlafe 
noch in der Hypnose. . Oft bestanden 
Augenmuskellähmungen. Das Koma kann 
wocheiilanganhalten^mankönntc von euro¬ 
päischer Schlafkrankheit sprechen im. Ge¬ 
gensatz zu der tropischen, welche durch 
Trypanosomen hervorgerufen wird. Thera¬ 
peutisch empfiehlt Jak sch Aderlaß, 
Lumbalpunktion, Herzmittel, möglichste 
Fernhaltung aller Reize und sorgfältige 
eventuell künstliche Ernährung. Die 
Mortalität ist bei gleicher Behandlung 
an verschiedenen Orten sehr verschieden, 
man hat bis zu 20% Todesfälle beob¬ 
achtet. 

In der Aussprache wurde die örtliche 
Differenz der Morbidität bestätigt, ln 
Berlin z. B. (Leschke, Umber) sind nur 
wenig Fälle vorgekommen, "wobei die 
Lethargie im Vordergründe stand und 
das wirkliche Koma ganz zu fehlen schien; 
es kamen auch Hemiplegien und Kom¬ 
binationen von Encephalitis und Myelitis, 


23. April 1920. 

j. Klemperer. (Schluß) 

sowie das echte Bild der Paralysis agitans 
vor; in einem Fall ein Wechsel zwischen 
epileptiforriien und lethargischen, halluzi¬ 
natorischen und stuporösen Erscheinun¬ 
gen. In Leipzig sah Wandel myelitische 
wie meningitische Formen, Formen von 
Chorea und wirklichem Koma, deren Pro¬ 
gnose er ungünstig ^tellt. Curschmann 
nannte noch echte Bulbärparalyse. Der 
Zusammenhang der Encephalitis mit der 
Grippe wurde mehrfach besprochen, 
blieb aber unsicher; insbesondere stellte 
Petren- Lun d aus epidemiologischen 
Gründen jede Abhängigkeit in Abrede. 
Therapeutisch wurde gegen die Erre¬ 
gungszustände Chloral in hohen Dosen 
(6—8 g), auch per clysma, von Spät 
(Prag) wiederholte Lumbalpunktion emp¬ 
fohlen; dieser Autor hat auch von Hyp¬ 
nose besonders guten Erfolg gesehen. Bei 
Grav^'d^’tät riet Curschmann (Rostock) 
zu schnellem Abort, während Böhme 
(Bochum) eine zweiwöchige Lethargie 
bei einer Gravida in Heilung übergehen 
sah. 

Eine Reihe von Vorträgen behandelte 
den Wasserhaushalt des Körpers im 
allgemeinen und die Pathologie des Dia¬ 
betes insipidus im besonderen. Veil 
(München) hatte schon früher gezeigt, 
daß es zwei gegensätzliche Gruppen der 
Diabetes insipidus gibt, die gewöhnliche 
Form mit viel Urin, geringem specifischen 
Gewicht und vermindertem Kochsalz¬ 
gehalt des Urins (hydrurisch-hypo- 
chlorurisch), bei dem das Blut vermehrten 
Kochsalzgehalt hat (Hyperchlorämie) und 
die praktisch kaum in Betracht kommende 
Form mit normaler Kochsalzausschei¬ 
dung (hyperchlorurisch), bei den die 



Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


261 


Blut-NaCl-Menge eher vermindert ist (hy- 
pochlorämisch). Jetzt berichtetVeil, daß 
beim sogenannten Salzstich vom vierten 
Ventrikel aus eine Hypochlorämie und 
Hyperchlorurie ausgelöst wird, diese ist 
also von der Niere unabhängig; die Nie¬ 
renstörung laufe parallel der allgemeinen 
Störung des Wasser- und Kochsalzhaus¬ 
halts. Es handle sich um eine Vaso¬ 
motorenwirkung ähnlich wie nach 
Theocin, während bei Reizung des 
Zwischenhirns eine hypochlorurische 
Hydrurie auftritt. Die Piqüre vom vier¬ 
ten Ventrikel aus kann also nicht die¬ 
selbe Bahn reizen, deren Centrum im 
Zwischenhirn getroffen wird. Die Mehr¬ 
ausscheidung des Wassers beruht nicht 
nur auf der Konzentrierunfähigkeit der 
Nieren, sondern auch auf einer Unfähig¬ 
keit der Gewebe, das Wasser festzuhalten. 
Oehme (Bonn) präcisierte folgende ur¬ 
sächliche Möglichkeiten erhöhter Wasser¬ 
ausscheidung; 1. Abhängigkeit von einer 
centralen Regulation des Wasserhaushalts, 

2. von Erregungen der Nierennerven, 

3. von erhöhteii'i Wassergehalt des Blutes, 

4. von innersekretorischen Einflüssen. In 
eigenen Versuchen vergheh er Trocken- 
und Wassertierenach intravenöser Infusion 
mittels Untersuchung der Seren und kam 
zu dem Resultat, daß die Niere selbst 
durch ihren eigenen Wassergehalt die 
Regulation des Ausscheidens bewirkt; 
der Wassergehalt der Niere aber sei 
vom Stoffwechsel und der Wasser¬ 
zufuhr der Vorperiode abhängig. 
Leschke und Brugsch zeigten die Ab¬ 
hängigkeit der Harnflut von verschie¬ 
denen Nervencentren. Auf die nervöse 
Beteiligung der Niere an der Harnregula¬ 
tion wies Jungmann (Berlin) hin; die 
Piqüre wird nach Splanchnicusdurch- 
schneidung unwirksam; vielleicht handelt 
es sich um eine reflektorische rückläufige 
Beeinflussung der Ausscheidung von sei¬ 
ten der Niere. Für die wesentliche Rolle 
der Hypophyse in bezug auf Wasser- und 
Kochsalzausscheidung trat Frank (Bres- 
.lau) ein. Die Störungen des Diabetes in- 
sipidus, im Blut erhöhter Kochsalzspiegel 
bei Verminderung des Wassergehalts, im 
Harn die Wasserflut bei geringer Koch¬ 
salzkonzentration, verschwinden voll¬ 
ständig nach Pituglandolinjektion; mit 
größeren Pituglandolmengen läßt sich 
diese Verschiebung auch bei Gesunden 
zeigen. Dieselbe Substanz, welche in 
kleinen Mengen Polyurie macht, heilt die¬ 
selbe in großen, für die Wirkung ist neben 
der Menge auch das Milieu und die Zeit 


entscheidend; der Kochsalzgehalt ist 
nach V 2 Stunde anders als nach zwei 
Stunden. Auch. Biedl (Prag) betont die 
Wasserbindung im Gewebe durch die 
Hypophyse. Zur Regulation der Wasser¬ 
konstanz ist ein Centrum im Zwischen¬ 
hirn notwendig; es ist unklar, auf welche 
Reize es anspricht; der Salzgehalt des 
Körpers spielt bei der Wasserausschei¬ 
dung nicht die entscheidende Rolle; einen 
wesentlichen Einfluß übt dagegen ein 
Hormon der Hypophyse, welches ein 
solches der Magendarmschleimhaut in¬ 
aktiviert. — Eine Wirkung des Hypo¬ 
physenextrakts auf die Blutverteilung 
konnte Rosenow (Königsberg) nach- 
weisen; intravenöse Injektion bewirkt 
beim gesunden Menschen eine kurz¬ 
dauernde Zunahme des Armvolumens, 
welche plethysmographisch nachgewiesen 
wurde. Die Änderungen des Plethys¬ 
mogramms sind darauf zurückzuführen, 
daß die Hypophysenpräparate, analog 
dem Adrenalin, zunächst auf die Gefäße 
des Splanchnicusgebiets verengernd ein¬ 
wirken. 

Es folgten einige Vorträge aus dem 
Gebiete der Magenpathologie. Klee 
(München) besprach die Wirkung des 
Atropins bei Störungen der Mo¬ 
tilität des Magens. ln Experimenten 
an Katzen ließ sich zeigen, daß 
Atropin die Peristaltik unter allen Be¬ 
dingungen hemmt, selbst nach Aus¬ 
schaltung des Sympathicus und Vagus. 
Der Angriffspunkt der peristaltikhem¬ 
menden Afropinwirkung muß also in der 
Magenwand liegen; die Magenentleerung 
wird durch die Hemmung der Peristaltik 
verzögert. Selbst nach Ausschaltung des 
Splanchnicus wird der Tonus des Sphinc- 
ters durch Atropin nicht vermindert. 
Dagegen wirkt es auf die Wandspannung 
und die spastischen Erscheinungen der 
Magenmuskulatur, sofern der sympathi¬ 
sche Tonus ausreichend ist. Hieraus er¬ 
gibt sich die Indikation des Atropin bei 
allen nervösen Krampfzuständen, sowie 
beim Geschwür des Magens; man gebe 
cs bei leerem oder wenig gefülltem Magen 
beziehungsweise vermeide stärkere Fül¬ 
lungen des Magens während einer Atropin¬ 
kur. Bruns (Göttingen) sprach über das 
Verhalten der Bauchdecken bei den 
verschiedenen Füllungszuständen der 
Bauchorgane. Merkwürdigerweise steigt 
der Bauchinnendruck auch während der 
Füllung und Ausdehnung des Magens 
nicht an; es setzt nämlich gleichzeitig 
mit der Erschlaffung desselben eine re- 



262 


Die Therapie der Gegenyvart 1920 


Juli 


flektorische Entfaltung der Baucliwand 
ein. . ;Der Anstoß zur Bauchdecken¬ 
erschlaffung muß von den Magennerven 
ausgehen, denn bei Reizung der spinalen 
Nervenäste tritt eine Drucksteigerung 
im Bauchraum ein. Exstirpiert man das 
Ganglion coeliacum und die Splanchnici, 
so steigt mit der Magenfüllung auch 
sofort der intraperitoneale Druck an und 
es kommt nicht zur reflektorischen Er¬ 
schlaffung der Bauchdecken. 

Der Bruns sehe Vortrag bildete den 
Übergang zur Neurologie, welche durch 
die Vorträge von Frank und Schäffer 
(Breslau) hervorragende Förderung und 
Anregung erfuhr. Frank suchte durch 
pharmakologische Versuche zu beweisen, 
daß der Tonus des quergestreiften Muskels 
nicht von den motorischen, sondern vom 
antagonistischen Spiel des autonom.en 
Nervensystems beherrscht wird. Der 
Parasympathicus bedingt und steigert 
den Tonus, der Grenzstrangsympathicus 
vermindert ihn. Durch intramuskuläre 
Novocainisierung im Physostigminver- 
such wird bewiesen, daß die parasym¬ 
pathisch-motorischen Nerven identisch 
sind mit den sensiblen Muskelnerven. 
So ist auch das Motorischwerden der 
Chorda tympani im Heidenhainsehen 
Experiment zu erklären. Das Bellsche 
Gesetz vom motorischen Charakter der 
vorderen Wurzeln besteht danach nicht 
mehr zu Recht; die den Tonus unter¬ 
haltenden Fasern verlaufen durch die 
hintern Wurzeln! Nach Durchschneiden 
derselben hört auch ausgesprochene 
Muskelstarre sofort auf. Schäffer stützte 
die überraschenden Frank sehen Thesen 
durch weitere Versuche. Die Muskel¬ 
kontraktion wird durch diejenigen Phar¬ 
maka beeinflußt, deren Wirkung speci- 
fisch auf autonome Nervenendapparate 
eingestellt ist. Der Angriffspunkt dieser 
Wirkungen liegt in der Peripherie, da 
sie auch in dem völlig motorisch und 
sensibel gelähmten Arm Zustandekommen. 
Die Stoffwechselvorgänge des Muskels 
werden durch das regulatorische Spiel 
fördernder parasympathischer und 
hemmender sympathischer Impulse re¬ 
guliert. 

Der Lehre vom Stoffwechsel waren 
die nächsten Vorträge gewidmet. Sey- 
farth(Leipzig) berichtete über eingehende 
anatomische Untersuchungen des Pan¬ 
kreas beim Diabetes, welche die Be¬ 
deutung der Langerhansschen Inseln 
für die Entstehung derselben einzuschrän¬ 
ken scheinen. Der schwedische Kliniker 


Petren (Lund) berichtet über die diä¬ 
tetische Behandlung des Diabetes. 
Er schränkt das gesamte Nahrungs¬ 
quantum- erheblich ein, nur die Fett¬ 
menge bleibt sehr reichlich, Eiweiß wird 
ebenso vermindert wie die Kohlehydrate; 
der N-Umsatz wird bis auf 3 g herab¬ 
gesetzt. Dabei sinkt die Acidose bis zum 
völligen Verschwinden, das Körperge¬ 
wicht nimmt oft zu, während der Blut¬ 
zucker zur Norm zurückkehrt und der 
Harnzucker in vielen, selbst schweren 
Fällen zum Verschwinden gebracht wird. 
Todesfälle sind nur bei solchen Fällen 
eingetreten, die ganz aufgegeben waren, 
als sie. in Behandlung traten. Petren 
erklärt das Fleisch für ein Gift bei 
schweren Diabetikern und hält besonders 
die starke Eiweißbeschränkung für das 
Haupterfordernis der Diabetestherapie. 
Die guten Erfolge wurden an zahlreichen 
• Tabellen erläutert. Zur Kasuistik des 
Coma diabeticum bei Schwangeren 
'Sprach Umber; er hat dies sehr seltene 
Vorkommnis nicht weniger als dreimal 
beobachtet. In allen drei Fällen kam es 
im Verlauf der Gravidität zu erheblicher 
Verschlimmerung eines vorher gut regu¬ 
lierten Diabetes, indem gesteigerte Aci- 
dosis und schnelles Koma mit tödlichem 
Ausgang ohne Abort eintrat; in einem 
.Fall wurde im Koma der Kaiserschnitt 
gemacht, ohne daß es gelang, Mutter 
oder Kind zu retten. 

Eine Entdeckung, die vielleicht in 
Zukunft noch praktischen Wert bekommt, 
ist Stepp (Gießen) gelungen; er konnte 
im Blute der Diabetiker Acetaldehyd 
nachweisen. Beim Gesunden Vvdrd diese 
Abbausubstanz der [Kohlehydrate schnell 
weiter zersetzt, so daß sie dem Nachweis 
entgeht; nur nach dem Genuß großer 
Mengen Alkohol ist Aldehyd im Blute 
gesunder Menschen nachweisbar. 

Zur Pathologie der Gicht brachte 
Gudzent (Berlin) neue Untersuchungen, 
welche von neuem die Theorie befestigen, 
daß Harnsäure in den Geweben der Gicht¬ 
kranken zurückgehalten wird. Nach 
intravenöser Injektion von 1 g Mono¬ 
natriumurat steigt der Wert der Blut¬ 
harnsäure sehr schnell an und fällt auch 
schnell wieder ab; erst viel später wird 
die Harnsäure im Urin ausgeschieden, so 
daß der Schluß gerechtfertigt ist, daß 
sie in der Zwischenzeit von den Geweben 
festgehalten wird. Beim Gichtkranken 
ist das Verhalten der Blutharnsäure das¬ 
selbe, aber es erfolgt in der gegebenen 
Zeit keine Ausscheidung der Harnsäure 





Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


263 


durch den Urin, also muß sie im Gewebe 
abgelagert verbleiben. ^ 

In den Mittelpunkt der Gichttheorie 
muß also die Affinität zwischen Harn¬ 
säure und Gichtgewebe gestellt werden, 
wie dies übrigens schon im Jahre 1895 
von dem Referenten deutlich ausge¬ 
sprochen und begründet worden ist. Neu 
war in den Mitteilungen von Gudzent 
noch die Angabe, daß eine Reihe seiner 
Gichtkranken mit erheblichen Tophis 
normale Blutharnsäurewerte zeigten; da¬ 
mit würde der diagnostische Wert der 
Harnsäurebestimmung im Blut illusorisch. 

Bornstein und Griesbach haben 
das alte Problem bearbeitet, in welcher 
Form die Harnsäure im Blute der Gicht¬ 
kranken kreist. Sie haben gefunden, daß 
Salzsäure aus dem enteiweißten Blutfiltrat 
größere Mengen Harnsäure freimacht, so 
daß in Übereinstimmung mit der be¬ 
kannten Theorie Minkowskis eine kom¬ 
plexe Harnsäureverbindung nach Art der 
Nucleoside anzunehmen wäre. Diese 
komplexe Harnsäure kann in kurzer Zeit 
in freie Harnsäure übergehen; nach Ato- 
phan verschwindet zunächst nur die freie 
Harnsäure aus dem Blute. 

Der dritte Kongreßtag brachte zahl¬ 
reiche Mitteilungen zur Pathologie des 
Kreislaufes. Klewitz (Königsberg) 
bewies durch zahlreiche Kasuistik mit 
Sektionsbefunden, daß die negative T- 
Zacke des Elektrokardiogramms auf 
eine Erkrankung des Herzens selbst beim 
Fehlen anderer klinischer Zeichen hin- 
weise. Weber (Nauheim) zog aus dem 
Vergleich von E. K. und Venenpuls kli¬ 
nische Schlüsse auf die Bedeutung ver¬ 
schiedener • Formen von Arhythmie. 
Kraus (Berlin) analysierte das Verhalten 
der Herztöne an veratrin- und calcium¬ 
vergifteten Kaninchen. 0. Müller (Tü¬ 
bingen) hielt einen zusammenfassenden 
Vortrag über die von ihm begründete und 
ausgebaute Beobachtung des Capillar- 
k reis lauf s beim Menschen; neuerdings 
gelingt es mit einem von Zeiß konstruier¬ 
ten Mikroskop die Capillaren an allen 
Stellen des menschlichen Körpers zu beob¬ 
achten, und dabei in bezug auf Größe 
und Weite der Capillarschlingen sowie die 
Strömungsgeschwindigkeit interessante 
Feststellungen zu machen, die freilich 
mehr allgemeinpathologisch als speziell 
diagnostisch von Bedeutung sind. So 
zeigen Kinder mit exsudativer Diathese 
erheblich längere Schlingen, die stark 
anastomosieren; ähnliche Bilder zeigen 
sich bei anderen Krankheiten, wie vaso¬ 


motorischer Neurose und manchen For¬ 
men von Arteriosklerose. Schwierig ist 
die Beurteilung der Strömungsgeschwin¬ 
digkeit; venöse Stauungen, sowie erhöhter 
arterieller Druck geben ziemlich präcise 
Bilder, aber bei Vasoneurosen finden sich 
alle möglichen Veränderungen, Ther¬ 
mische und chemische Reize haben Ein¬ 
fluß auf die Strömung. Die verschiedenen 
Exantheme geben charakteristische Bil¬ 
der, ohne daß differentialdiagnostische 
Sicherheit zu erzielen wäre; auch die 
bemerkenswerten Befunde bei gewissen 
Nervenkrankheiten sind für die Diagnose 
nicht zu verwerten. Wessely (Würz¬ 
burg) berichtete über eine neue plethysmo¬ 
graphische Methode zur Messung des 
intraokularen Druckes, welche viele 
Fragen der Kreislaufphysiologie und Pa¬ 
thologie am Auge zu lösen, gestattet. Mit 
einer ähnlichen Methodik hat Friede¬ 
mann (Berlin) einen besonders tiefen 
Augendruck bei der Grippe gefunden, der 
sich weit über das Fieberstadium bis in 
die Rekonvaleszenz erstreckte. Über 
Entstehung von Gefäßveränderungen^ 
welche an experimentelle Arteriosklerose 
erinnern, berichtete Löwe' (Göttingen). 
Bekanntlich kann man im Tierversuche 
durch Injektionen von Adrenalin und 
Nicotin entzündliche Veränderungen der 
Media hervorrufen. Ähnliche Verände¬ 
rungen entstehen in akuter Weise nach 
intravenöser Injektion von 20 mg Chlor¬ 
sauerstoff, nämlich bläschenförmige Herde 
in der Media, die frei von Kalkeinlage¬ 
rungen sind. Curschmann (Leipzig) 
beschrieb das anaphylaktische 
Asthma der Fellfärber. Nach mehr¬ 
jähriger Arbeit mit der Schwarzbeize 
(einer Chironverbindung) bekommen die 
betreffenden Arbeiter iiÄen anderen Ana- 
phylaxiesyniptomen schwerstes Bronchial¬ 
asthma, das jedesmal nach geringer Ein¬ 
atmung wieder erscheint und erst nach 
Entfernung der Patienten aus dem Be¬ 
trieb erlischt. Die anaphylaktische Natur 
des Anfalls wurde durch den Tierversuch 
bewiesen, indem sowohl der aktive wie 
der passive Anaphylaxieversuch positiv 
ausfiel. Der Anfall zeigte akute Lungen¬ 
blähung mit Krampf der Bronchioli, im 
Blute waren die eosinophilen Zellen ver¬ 
mehrt. In der Behandlung wie auch 
vorbeugend erwiesen sich Kalksalze 
nützlich. 

Assmann (Leipzig) deutete Röntgen¬ 
bilder von Herz und Lungen bei Mitral¬ 
fehlern, Küpferle (Freiburg) Röntgen¬ 
bilder tuberkulöser Lungen. Durch 



264 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juli 


den Vergleich anatomischer frontaler 
Serienschnitte mit systematischen Rönt¬ 
genuntersuchungen kommt Küpferle zu 
dem Ergebnis, daß die beiden Grundtypen 
der produktiven und exsudativen Phtnise 
in ihren Erscheinungsformen- des acinös- 
nodösen (knotig-produktiven) und des 
lobulär-käsigen (knotig-exsudativen) Her¬ 
des an charakteristischen Schattenbildern 
erkennbar seien. Auch die sekundären 
Veränderungen der Induration und Cir- 
rhqse .lassen sich röntgenologisch dia¬ 
gnostizieren. So kann man die anatomi¬ 
sche Form der Lungenphthise durch das 
Röntgenbild feststellen, und daraus für 
Prognose und Therapie wesentliche 
Schlüsse ziehen. Obwohl die von 
Küpferle gezeigten Lungenbilder all¬ 
seitig Anerkennung fanden, wurde ihre 
klinisch-diagnostische Verwertbarkeit von 
F. Klemperer angezweifelt; er hielt die 
Schattenbilder nicht für ausreichend, um 
daraus Stadium und Voraussage des Ver¬ 
laufs ableiten zu können; ohne genaue 
Kenntnis des klinischen S 3 anptomenbildes 
und bisherigen Verlaufs bliebe die Deu¬ 
tung des Röntgenbildes unsicher; wir 
können eher aus dem klinischen Befund 
auf den anatomischen schließen als um¬ 
gekehrt. 

i Die Röntgendiagnostik der Unter¬ 
leibsorgane hat eine wesentliche Ver¬ 
besserung erfahren durch Lufteinblasung 
in die Bauchhöhle, welche Rautenberg 
(Lichterfelde) eingeführt hat; er zeigte 
eine große Zahl ausgezeichneter Röntgen¬ 
bilder der Leber und der Niere, welche 
nach künstlichem Pneumoperitoneum auf¬ 
genommen waren und zur sicheren Dia¬ 
gnosenstellung in sonst ganz unklaren 
Fällen geführt hatten. Minkowski und 
Matth es bestätigten die wertvollen 
Dienste, welche das Rautenbergsche 
Verfahren in der Klinik leistete. Unan¬ 
genehme Nebenerscheinungen seien dabei 
so gut w’e ausgeschlossen, wenn man 
nicht in der Linea alba, sondern seitlich 
durch den Rectus zur Lufteinblasung 
punktierte. Eine weit weniger günstige 
Zensur bekam d^e Röntgendiagnostik 
des Ulcus duodeni, über welche 
Förster (Würzburg) vortrug. Manche 
Röntgenspezialisten hatten sich gewöhnt, 
die Verziehung des Duodenums nach 
rechts und eine gewisse Form der Nischen¬ 
bildung, auch wohl starke Peristaltik mit 
verzögerter Entleerung als beweisend für 
Zwölffingerdarmgeschwür zu betrachten; 
in einigen von Förster so diagnostizierten 
Fällen zeigte sich aber bei der Operation 


kein Ulcus, sondern einfache Verwach¬ 
sung oder Pulsionsdivertikel. . Es muß 
auch für diese Erkrankung wie für viele 
andere der Satz gelten, daß das Röntgen¬ 
bild immer nur im steten Vergleich mit 
den klinischen Symptomen verwertet 
werden kann. 

Den Beschluß des dritten Kongre߬ 
tags machte eine Mitteilung über Diagnose 
und Behandlung der Trichinenkrank¬ 
heit von Munk (Berlin). In diagnostischer 
Beziehung hat sich die Eosinophilie des 
Blutes, die bis zu 70% steigt, als be¬ 
sonders wertvoll erwiesen. Leider hat 
diese Feststellung dadurch an Wert ver¬ 
loren, daß auch bei der gewöhnlichen 
(rheumatischen) akuten Myositis Ver¬ 
mehrung der Eosinophilen im Blut vor¬ 
kommt. In zweifelhaften Fällen bleibt, 
wie Minkowski betonte, die Mikrosko¬ 
pie eines excidierten Muskelstückchens 
entscheidend. Therapeutisch hat sich in 
Munks Fällen der Palmitinsäure-Thy¬ 
molester als zuverlässiges Heilmittel be¬ 
währt, wenn es vor der dritten Woche 
angewandt wird; die Wirkung scheint 
auf Schädigung der Muttertiere zu be¬ 
ruhen. Wirksam ist auch reines Thymol 
in Ricinusöl oder in Oblaten. 

Der letzte Tag brachte eine Aussprache 
über Behandlung des Pleuraempyeme, 
in der die alte Frage, ob Operation oder 
Punktion, von neuem behandelt wurde. 
Zu offenkundig sind die Gefahren der 
radikalen breiten Eröffnung, welche so 
oft zu Kollaps führt, als daß das Verlangen 
der inneren Mediziner nach schonenderen 
Verfahren nicht immer wieder zum Aus¬ 
druck kommen sollte. So empfahl 
Bönniger (Pankow) die Punktion mit 
breitem Trokar, wobei der Eiter durch 
Hustenstöße herausbefördert und ein 
Pneumothorax angelegt wird. Auch 
Päßler (Dresden) tritt für die Punk¬ 
tionsbehandlung ein, wenn er sie auch 
nicht in allen Fällen für anwendbar hält. 
Forschbach (Breslau) will die Ent¬ 
leerung mit einem neuen Thorakotom 
ausführen, welches den Pneumothorax 
mit seinen Gefahren zu vermeidengestattet. 
Auch Wandel (Leipzig) hat ein ähnliches 
Instrument mit Erfolg angewandt, er 
spritzt außerdem Trypsin in den Pleura¬ 
raum, um die Fibrinklumpen zu ver¬ 
flüssigen. Ein ,,Thorakotom“ ist übrigens 
bereits vor vierzig Jahren von Leyden 
angegeben worden, hat sich aber nicht 
behaupten können. Für die chirurgische 
Behandlung traten Gerhardt (Würz¬ 
burg), Volhard (Halle) und Clemens 




juli 


bie Therapie der Gegenwart 1920. 


265 


(Chemnitz) ein; die letzteren sind der 
Meinung, daß der relativ geringfügige 
operative Eingriff auch von dem inneren 
Arzt ausgeführt werden müsse. Bei 
Kindern empfahl Rietschel (Würzburg) 
unbedingt die konservative Behandlung. 
Die Resektion bedeutet sicherlich den 
Tod, solahge noch pneumonische Infil¬ 
trate vorhanden sind; sie käme jeden¬ 
falls erst nach wiederholten Punktionen, 
wenn diese nicht zum Erfolg führten, 
in Frage. Übrigens könne man dann auch 
beim Säugling erfolgreiche Resektionen 
machen. Mit Gerhardt und Päßler 
trat Referent für indivualisierende Be¬ 
handlung ein. Wie sich die Resektion 
bei noch bestehender Pneumonie ver¬ 
biete, so empfehle sich die Buelausche 
Punktionsdrainage in jedem Fall, in dem 
die Operation das geschwächte Herz mit 
Kollaps bedrohte; führe die Drainage 
auch nicht immer zur Heilung, so erhalte 
sie doch das' Leben und ermögliche häufig 
spätere Operation ohne Lebensgefähr¬ 
dung. 

Heubner (Göltingen) sprach über 
Inhalationstherapie. Er hat gezeigt, 
daß Kalksalze, in konzentrierten Lösungen 
verstäubt und inhaliert, sehr gut durch 
die Bronchialschleimhaut resorbiert 
werden. Bei seinen Versuchen unterschied 
er zwei Typen von Inhalationsapparaten, 
die einen mit grober, die anderen mit 
feiner Zerstäubung. Wenn die Inhalation 
erfolgreich sein solle, müsse der Inhala¬ 
tionsnebel etwa 12 ccm in der Minute be¬ 
tragen und genügend konzentriert ge¬ 
liefert werden. Mit den bisherigen Ap¬ 
paraten kann man nur etwa 10 ccm in 
einer halben Stunde in den Bronchial¬ 
baum bringen. Von der Verbesserung 
der Apparate und vor allem von der 
genauen Dosierbarkeit der zu inhalieren¬ 
den medikamentösen Lösungen seien 
Fortschritte der Inhalationstherapie zu 
erhoffen. 

Külbs (Köln) machte interessante 
Mitteilungen über Krankheitssymptome 
nach Zigarettenmißbrauch. Bei vielen 
Patienten, die bis zu 50 englische Zi¬ 
garetten pro Tag rauchten, trat neben 
den Erscheinungen der Nicotinvergiftung 
besonders eine außerordentliche akute Ge¬ 
wichtsabnahme (bis über 50 Pfund) auf. 
Daneben wurden Stomatitis, Magen¬ 
krämpfe mit herabgesetztem Säurege¬ 
halt, Wadenschnierzen, kühle Extre¬ 
mitäten, erhöhte Reflexe und vasomo¬ 
torische Erregbarkeit, relativ selten Herz¬ 
erscheinungen, aber auch stenokardische 


Anfälle beobachtet. Die teilweise sehr 
schweren Erscheinungen verloren sich 
nach Aussetzen des Rauchens. Lieber¬ 
meister (Düren) hat nach englischen 
Zigaretten häufig spastische Obstipation, 
gesehen, die er auf den hohen Opium¬ 
gehalt zurückführt. 

NeueVorschlägezur Behandlunglebens¬ 
gefährlicher Magenblutungen machte 
Kelling (Dresden). Einerseits will er 
das Duodenum unten abschließen durch 
einen komprimierenden Verband, welcher 
die Bauchdecken gegen die Wirbelsäule 
abschließt. Andererseits will er den ne¬ 
gativen Druck, der angeblich im bluten¬ 
den Magen herrscht, beseitigen, indem er 
durch einen durch die Nase eingeführten 
Schlauch Luft unter geringem Druck in 
den Magen einbläst. Er hält dies Ver¬ 
fahren für ungefährlicher als Magenspü¬ 
lungen mit Eiswasser, die ja auch als 
Mittel gegen Magenblutung empfohlen 
worden sind. 

Der vorstehende Bericht hat nur die¬ 
jenigen Mitteilungen angeführt, welche 
in näheren oder entfernteren Beziehungen 
zur praktischen Medizin stehen; unbe¬ 
rücksichtigt blieben eine Reihe wertvoller 
Vorträge, welche vorläufig nur theore¬ 
tisches Interesse beanspruchen dürfen. 
Trotz dieser Beschränkung dürfte der 
Bericht zeigen, wie wertvolle Anregungen 
dieser Kongreß seinen ärztlichen Teil-' 
nehmern gebracht hat. Wer sich näher 
für den Inhalt der Verhandlungen inter¬ 
essiert, sei auf die offizielle Ver- 
öff entli chung d erselb en hingewi esen * 
welche im Laufe des Sommers in ge¬ 
kürzter, aber vollständiger Form im Ver¬ 
lag von Bergmann in Wiesbaden er¬ 
scheinen wird. — Schließlich sei berichtet^ 
daß die Mitgliederversammlung auf An¬ 
trag des Ausschusses den Beschluß gefaßt 
hat, den Namen ,,Deutsche Gesell¬ 
schaft für innere Medizin“ anzuneh¬ 
men. Die Änderung des Namens erscheint 
nicht bloße Formalität; siebringt vielmehr 
das Streben des Kongresses nach festerem 
innerem Zusammenhang "zum Ausdruck; 
sie zielt darauf hin, Anziehungskraft und 
Einfluß der alten Vereinigung zu ver¬ 
mehren. Die ,,Deutsche Gesellschaft für 
innere Medizin“ öffnet ihre Pforten jedem 
deutschen Arzt, welcher dem wissen¬ 
schaftlichen Fortschritt wie dem prak¬ 
tischen Ausbau der inneren Medizin sein 
Interesse zuwendet. ■ Auch an dieser 
Stelle möchte ich den Werberuf des Vor¬ 
standes ertönen lassen. Möchten recht 
viele Ärzte der Deutschen Gesellschaft 

34 




:266 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juli 


für innere Medizin als neue Mitglieder 
beitreten, damit sie mit größerem Erfolge 
als bisher in die Lage versetzt würde, sich 


an der Förderung der^wissenschaftlichen 
und praktischen Aufgaben der inneren 
Medizin zu beteiligen. 


Bericht über die 44. Versammlung der Deutschen Qesellschaft 
für Chirurgie vom 7. bis 10. April 1920. 

Von W. Klink, Berlin. (Schluß) 


Kirschner stellt ein junges Mädchen 
vor, bei dem sich eine Ätzstriktur des 
Ösophagus gebildet hatte, so daß keine 
Sondierung mehr möglich war. Er machte 
den Magen beweglich, so daß er nur noch 
von der Arteria gastrica dextra und 
gastroepiploica und vom Duodenum aus’ 
ernährt wurde. Dann trennte er ihn im 
kardialen TeiL vom Ösophagus, den er 
mit dem Jejunum vereinigte. Den Magen 
selbst zog er aus der Bauchwunde bis zur 
Clavicula, was ohne Schwierigkeit gelang. 
Vor dem Brustkorb wurde .er subcutan 
gelagert, dann der obere Teil des Oeso¬ 
phagus vom Hals aus hervorgeholt und 
mit der oberen Magenöffnung vereinigt. 
Der Heilungsverlauf war gut. Die Kranke 
hat 35 Pfund zugenommen, schluckt und 
verdaut gut. Nach drei Stunden ist der 
Magen leer. Das Verfahren ist technisch 
nicht schwierig und eröffnet neue Ge¬ 
sichtspunkte für die Behandlung des 
Ösophaguscarcinoms. 

V. Eiseisberg berichtet über 900 
Operationen wegen Ulcus ventriculi aus 
den letzten 20 Jahren. Bemerkenswert 
ist die große Zunahme der Fälle bis zum 
Kriegsbeginn, dann ein Abfall, seit 1918 
wieder ein Anschwellen. 1919 war die 
Zunahme so stark, daß man die schlechte 
Ernährung, als Grund annehmen mußte. 
Die Nervosität spielt wohl auch eine 
Rolle. Die Männer überwiegen. Auch 
das Ulcus duodeni scheint zugenommen 
zu haben, ln der Behandlung ist man 
mit der Zeit mehr zur Resektion über¬ 
gegangen. Die geschlossene Pylorusstenose 
wird durch die Gastroenterostomie sehr 
gut beeinflußt. Eine Gastroenterostomie, 
die nicht streng angezeigt ist, soll 
man besser unterlassen; je weniger 
sie indiziert ist, desto schädlicher wirkt 
sie. — Die Pylorusausschaltung stellt das 
Ulcus ruhig. Unter 61 Fällen ist zehnmal 
eine Operation wegen Ulcus pepticum 
nötig geworden und in weiteren vier 
Fällen lassen die Erscheinungen an ein 
solches denken. Es handelte sich hier 
um unilaterale Pylorusausschaltung. 
Über Raffung des Pylorus hat er keine 
Erfahrung. — Von 99 Querresektionen 
des Magens hat er zwei durch die Operation 


verloren. Unter 64 Fällen trat neunmal 
ein Rückfall ein, von denen vier operiert 
werden mußten. Ob es sich um echte 
Rückfälle oder zurückgebliebene Ulcera'^ 
handelt, läßt sich nicht entscheiden. Der 
Pylorospasums spielt dabei eine Rolle, 
weswegen man den Pylorus mit weg¬ 
nehmen soll. Man kommt dadurch zur 
ausgedehnten Mag^nresektion nach Bili- 
roth II. Unter 98 derartigen Operationen 
sind sechs gestorben. Bei der Quer¬ 
resektion soll man möglichst viel weg¬ 
nehmen. Aber auch danach kam Ulcus 
pepticum vor. Es scheinen also noch 
andere Momente außer der absondernden 
Magenschleimhaut der Grund für das 
Ulcus pepticum zu sein. - Vor der Hand 
ist die Resektion die Operation der Wahl. 
Sie wird ausgeführt in Lokalanästhesie 
der Bauchdecken zusammen mit Äther¬ 
narkose. 

V. Hab er er hat dieselben Beob¬ 
achtungen gemacht, nur kein Ulcus pep¬ 
ticum nach Resektion gesehen. Nach 
536 Resektionen hatte er 0, nach 250 
Gastroenterostomien 3, nach 71 Pylorus- 
ausschaltungen 11 Ulcera peptica. Die 
Ursache für das Ulcus pepticum liegt im 
Pylorus. Nach der Querresektion waren 
die nächsten und die Dauererfolge nicht 
gut. Nach Billroth II hat er das nie 
gesehen. Die Technik kann keine Be¬ 
deutung für das Ulcus pepticum haben. 
Auch der ausgeschaltete Pylorus bekommt 
noch Spasmen und diese tragen die 
Schuld; vielleicht auch noch andere Ur¬ 
sachen. Nach Billroth H sah er keine 
Spasmen und keine Hypersekretion wie 
nach Querresektion, ln letzter Zeit hat 
er 55 Mal Billroth I gemacht, immer die 
Originalmethode, mit 0 Todesfällen. Er 
dehnte die Operation bald auch auf den 
Sitz des Ulcus im Duodenum aus. Man 
muß den Magen und das Duodenum 
gehörig mobilisieren. 

Kleinschmidt iDerichtet über das 
Material Payrs aus 1912—19, im ganzen 
360 Ulcera, darunter 167 Pylorus- 
geschwüre, 130 Pylorusf erngeschwüre. 
Nur die letzten werden besprochen. Es 
wurden ausgeführt 76 Querresektionen, 
29 Billroth II, 42 Gastroenterostomien. 



Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


267 


Die Querresektion ist die beste und 
physiologische Behandlungsmethode des 
pylorusfernen Ulcus. Die einzige ab¬ 
solute Gegenindikation ist der schlechte 
Allgemeinzustand. Relative Gegenindi¬ 
kationen sind: Sehr hoher Sitz an der 
kleinen Kurvatur, größere Blutung oder 
mehrfache kleine Blutungen, zu hohes 
Alter. Trotzdem sind unter den Ope¬ 
rierten Leute von über 70 Jahren. Des¬ 
wegen kann man bei gutem Allgemein¬ 
zustand auch unter diesen Voraus¬ 
setzungen die Operation vornehmen. 
Neuerdings stieg die Mortalität durch die 
Grippe von 6,1% auf 15%. — Dauer¬ 
erfolge der Querres'ektion: Von 27 Fällen, 
die über zwei Jahre zurückliegen, be¬ 
standen nur in einem Falle Beschwerden, 
die man nicht ganz erklären konnte. Die 
anderen waren ganz geheilt und hatten 
stark zugenommen. Übersäuerung fand 
sich nie. Bei fast allen Operierten war 
die freie Salzsäure herabgesetzt. Die 
chemischen Verhältnisse waren fast nor¬ 
mal, auch die Motilität. Also das pylorus- 
ferne Ulcus ist durch die Querresektion 
des Magens zu entfernen. Die Erfah¬ 
rungen mit der Gastroenterostomie 
konnten in dieser Ansicht nur bestärken. 

Denk teilte einen Fall mit, wo sich 
schon 2%^ Wochen nach der Gastro¬ 
enterostomie trotz Ausschaltung des Py- 
lorus und eines großen Teils der Pars- 
pylorien des Magens mehrere Ulcera 
peptica jejuni gebildet hatten. — 
Noetzel empfiehlt die Gastroenterosto- 
mia anterior. 

Budde berichtet über 15 Fälle von 
Perigastritis durch Obliteration des Vesti- 
bulum und der Bursa omentalis bei Ulcus 
ventriculi und duodeni. Es handelt sich 
meist um sensible Personen. Krankheits¬ 
bild: Heftiger Schmerz nach dem Essen, 
mehrere Stunden anhaltend, ohne freie 
Zwischenräume. Es besteht Druck¬ 
schmerz im Epigastrium, in der Mittel¬ 
linie oder rechts davon. Meist ist Hyp- 
acidität vorhanden. Die Durchleuchtung 
ergibt meist nichts Besonderes. Pylorus 
meist hochstehend, Verschieblichkeit 
fehlt, keine Rechtsverziehung, verzögerte 
Magenentleerung. In allen 15 Fällen 
ergab die Operation derbe Verwachsung 
des Magenperitoneum mit der Mesocolon¬ 
wurzel. Die Behandlung bestand in 
Ruhigstellung des Pylorus durch Gastro¬ 
enterostomie und Pylorusausschaltung. 

V. Rothe spricht zur Gastro- und 
Nephroptose. Bei der maternellen Ptose 
beherrscht die Stuhlverstopfung das 


Krankheitsbild, bei der virginellen die 
Schmerzen und das Erbrechen. Im 
Liegen tritt Besserung ein; auch die Ver¬ 
stopfung bessert sfch. Bei der materuellen 
.Form läßt man mit gutem Erfolg einen 
festen Gürtel tragen, der vorn geschlossen 
und im Liegen angelegt wird. • Die 
virginelle Form kann nur operativ ge¬ 
bessert werden, da ja die Bauchdecken 
straff sind und ein Gürtel überflüssig ist. 
Eine gute und ungefährliche Methode ist 
die Befestigung des Magens an der 
vorderen Bauchwand nach Rovsing 
(Gastropexie). In 80 Fällen hat sich die 
Methode bewährt. Viele Fälle klagten 
zwei bis drei Jahre lang über Schmerzen 
bei leerem Magen, ohne daß Anhalts¬ 
punkte für ein Magengeschwür da waren. 
Die Raffung des Ligamentum gastrohepat. 
hat ihm keine besonderen-Erfolge gebracht, 
weshalb er die Raffung noch durch einen 
Fascienstreifen aus dem Oberschenkel ver¬ 
stärkt hat. Der Erfolg war in zwei Fällen 
gut. Auch bei der Nephroptose hat er 
einen Fascienlappen zur Befestigung be¬ 
nutzt. — Perthes führt beiGastroptose 
das Ligamentum teres hepatis, von dem 
man 16 cm präparieren kann, längs 
der kleinen Kurvatur subserös durch. 
Das eine Ende wird an der Leber, das 
andere an der vorderen Bauchwand be¬ 
festigt. Guter Erfolg in vier Fällen. — 
Flörcken: Bei der virginellen Form 
haben die einen einen Sechsstundenrest, 
die anderen keinen; bei den ersteren hat 
die Gastroenterostomie sehr guten Er¬ 
folg, bei den anderen keinen, wohl aber 
die Raffung des Ligaments nach Bier. 
— Koch schlägt bei Gastroptose die 
Keilresektion des Magens vor. 

Payr sprach über die Anzeigestellung 
zur Operation bei Obstipation. Selten 
sind die Anzeigen absolute. Wegen 
Obstipation allein wird man selten ope¬ 
rieren, gewöhnlich wird Schmerz, Ent¬ 
zündung und dergleichen vorhanden sein 
müssen. Entgegen der allgemeinen An¬ 
sicht heilen die Wunden bei Asthenikern 
mit Enteroptose gut. Senkung und 
Knickung des Darmes braucht keine Ob¬ 
stipation zu bedingen, wohl aber Knickung 
und Adhäsionen. Adhäsionen zwischen 
Dünn- und Dickdarm macht keine Ob¬ 
stipation, wohl aber zwischen Dünndarm 
und Bauchdecken. Eine ungünstige Vor¬ 
aussetzung ist gesteigerter retrograder 
Transport im Dickdarm. Eine gut 
suffiziente Valvula Bauhini und eine 
starke Flexur des Colon schränkt den 
retrograden Transport ein. Die Auto- 

34* 




268 




Die Therapie der Gegenwart 1920 Juli 

. .■ - - ■■ - • .. '' — 


intoxikation ist im ganzen überschätzt 
worden. Bei den Hypothyreosen kann 
man nur mit Thyreoidin helfen. 

Schoemaker hat bei 68 Fällen von 
Pericolitis membranacea das Colon des- 
cendens samt Coecum weggenommen und 
das rieum mit dem Kolon transversum, 
vereinigt. 'Als Grund der Krankheit 
nimmt er Obstipation an. Das Colon 
ascendens ist dabei von einer dünnen 
Membran bedeckt, die das Coecum frei 
läßt. Zwei Fälle sind gestorben, 32' 
wurden beschwerdefrei, acht hatten leichte 
Schmerzen, bei zehn fehlte jeder Erfolg; 
bei einem Teil schwanden die Schmerzen 
auf der rechten Seite, um links aufzu¬ 
treten. Die Untersuchung der Darmwand 
ergab nichts Besonderes. Die bedeckende 
Membran ließ sich immer leicht abheben 
und war steril, kann also kein Entzün¬ 
dungsprodukt sein. Sie findet sich auch 
bei anderen Operationen häufig, ohne daß 
Schmerzen bestehen, selbst bei Kindern, 
wo noch keine Entzündung voraus¬ 
gegangen ist. Die Schmerzen lassen sich 
aus der Obstipation nicht erklären, denn 
sie bestehen auch bei entleertem Darm; 
auch nicht aus Zugwirkung, denn man 
findet keine Constrictionen. Das Coceum 
saß mehrmals zu hoch, aber niemals zu 
tief. Eine Appendicitis und Cholecystitis 
kann nicht die Ursache sein, da kein Zu¬ 
sammenhang mit diesen Organen be¬ 
steht. — Payr macht darauf aufmerk¬ 
sam, daß die angeborenen Membranen 
nahezu gefäßlos sind und keine Gefä߬ 
reaktion bei der Operation geben. 

Kümmell berichtete über seine Er¬ 
fahrungen mit der Entrindung der Lungen 
zur Heilung starrwandiger Empyem¬ 
höhlen. Er hat sich dieser Operation zu¬ 
gewandt, da die Schedesche Thoraco- 
plastik auf Entfaltung der Lunge und 
Wiedereintritt der Funktion verzichtet 
und außerordentlich verstümmelt. Unter 
Lokalanästhesie entfernt er so viel Rippen, 
daß er die ganze Hand einführen kann; 
bei schwachen Kranken wird zweizeitig 
operiert. — Die Schwielen lassen sich bis¬ 
weilen leicht entfernen, oft tritt aber auch 
große Blutung ein. Die Lunge dehnt sich 
sofort nach der Enthülsung gut aus. Die 
Hautwunde wird bis auf ein Drain ge¬ 
schlossen. Die Heilung erfolgt mit guter 
Funktion und ohne Deformität. Selbst¬ 
verständlich wird man' nur operieren, 
wenn die Lunge selbst gesund ist und die 
Kranken nicht zu alt sind. — Kirschner 
rät von der Dekortikation ab, wenn die 
Schwarten zu tief in die Lunge hinein 


gehen oder Bronchektasien bestehen. Es 
bleiben also Fälle übrig, wo die Thorako- 
plastik am Platze ist. Er eröffnet in 
solchen Fällen den Thorax von der Vorder¬ 
seite, unterhalb des Schlüsselbeins, und 
kommt so bis an die oberste Spitze, kratzt 
aus und legt den Musculus pectoralis in die 
Höhle. Die bleibende Entstellung ist ganz 
gering. Der untere Teil der Höhle heilt 
dann von selbst oder man kommt mit 
einem kleineren Eingriff aus. —Barth ist 
zur Thorakoplastik zurückgekehrt, obwohl 
er in einigen Fällen gute Erfolge hatte, weil 
bei der Mehrzahl so starke Verwachsungen 
bestehen, daß man Einrisse nicht ver¬ 
meiden kann. Gerade bei Influenza¬ 
empyemen, wo die Operation verhältnis¬ 
mäßig schnell gemacht wird, haben sich 
Schwierigkeiten ergeben. — Körte hat 
die Dekortikation auch wieder auf¬ 
gegeben, weil er nicht viel Glück damit 
Hatte. Die Schwarten sitzen nicht auf der 
Pleura, sondern sie sind die verdickte 
Pleura selbst, und wenn man sie entfernt, 
hat man die nackte blutende Lunge vor 
sich. — Nach Sauerbruchs Erfahrung¬ 
hat die Entrindung nur in wenig Fällen 
Erfolg, nämlich, wenn die Schwarten der 
Lunge aufliegen, was nur bei postpneu¬ 
monischem Empyem der Fall ist. Un¬ 
möglich ist die Operation, wenn die 
Schwarten in die Lunge hinein reichen. 
Hier ist die Gefahr der Reflexe und der 
Luftembolie groß. In der Mehrzahl der 
Fälle ist die Entrindung nicht möglich. 
Hier sind plastische Verfahren am Platz. 
— Auch Küttner hat mit der Entrin¬ 
dung keine gute Erfahrung gemacht. 
Viele chronische Empyeme heilen wegen 
einer Bronchialfistel nicht aus,, die natür¬ 
lich erst geheilt werden muß. — Schmie¬ 
den drängt auf möglichst frühzeitige 
Operation des Empyems und empfiehlt 
die Maske von Goetze, die nach der Art 
der Kuhnschen Maske gebaut ist. — 
Perthes empfiehlt, die von Sauerbruch 
empfohlene Phrenicotomie zur Verkleine¬ 
rung der Brusthöhle durch Zwerchfell¬ 
hochstand nur temporär durch Vereisung 
auszufüren. Kirschner hat dies schon 
zweimal wegen Tuberkulose getan.— 
Zeller sah infolge noch bestehender 
kleiner Abscesse der Pleurahöhle neue 
Eiterung nach der Dekortikation auf- 
treten und mußte dann ausgedehnte 
Plastik machen. — Moszkowicz operiert 
nicht mehr, seitdem er die Hofbauer- 
sche Lungengymnastik kennen gelernt 
hat. Sie bewirkt, daß der geschwundene 
Sinus phrenicocostalis sich wieder bildet. 




Juli 


Die Therapie der, Gegenwart 1920 


269 


Auch die dicksten Schwarten werden ge¬ 
dehnt und die Lunge entfaltet. Die 
Methode muß sehr vorsichtig angewandt 
werden. Die Kranken lernen die Ex¬ 
spiration auf .ein bis zwei Minuten aus¬ 
dehnen. / Die Methode leistet Unglaub¬ 
liches, der Thorax bekommt eine normale 
Form. Wenn man von vornherein das 
Saugverfahren an die Rippenresektion 
anschließt, kommt es nicht zur Schwarten¬ 
bildung. 

Jehn berichtet aus der Münchener 
Klinik über 43 Fälle von operierten 
Lungensteckschüssen, von denen 40 rest¬ 
los heilten, drei starben. Man muß zwei 
Gruppen unterscheiden: Es besteht völlige 
Arbeitsfähigkeit nach der Verletzung, 
dann plötzlich Bluthusten mit folgender 
Herabsetzung der Arbeitsfähigkeit. Dem¬ 
gegenüber steht das Bild des Lungen- 
abscesses oder der -gangrän. Die Blutung 
und der Absceß können nur operativ be¬ 
handelt werden. Bei der Blutung findet 
man immer eine ganz freie Pleura, trotz 
der Veränderungen, die doch nach der 
Verletzung bestanden, Weshalb man unter 
Druckdifferenz arbeiten kann. Das Ge¬ 
schoß wird entfernt und alles geschlossen. 
Beim Absceß ist oft eine Pleurainfektion 
eingetreten. Hier wird die Brustwand 
breit eröffnet, der Absceß eröffnet und 
tamponiert. 

Käppis empfiehlt für Bauchopera¬ 
tionen die Splanchnicusanästhesie, die er 
mit 60 bis 100 ccm %proz. Novocainlösung 
ausführt. Er sah keine üblen Folgen. 
Schwache Kranke sind auszuschließen 
wegen der folgenden Blutdrucksenkung. 
Vorher gibt man ein Narkoticum. Die 
Operierten erholen sich auffallend schnell. 
Operative Blutung ist herabgesetzt, wes¬ 
halb man gut blutstillen muß. Die Dauer 
ist dieselbe wie bei anderen Lokal¬ 
anästhesien. — Andere Chirurgen be¬ 
richten über schwere Zufälle nach der 
Splanchnicusanästhesie, wie Kollaps, hal- 
lucinatorische Delirien bis za acht Tage 
lang, Doppelsehen, ja plötzlicher«Tod 
unter den Zeichen der Blutdrucksenkung 
selbst schon während der Injektion. 
Eiseisberg hat bessere Erfolge, seitdem 
er zugleich Atropin und Adrenalin in¬ 
jiziert. Laewen teilt die Novocain¬ 
vergiftungen in drei Stufen: Harmlose 
Form: Trockenheit im Halse, Gesichts¬ 
blässe, Erbrechen, auch nach der Ope¬ 
ration. — Zweite Form: • Aufregungs¬ 
zustände. — Dritte Form: Dauernde 
Blutdrucksenkung, die zum Tode führt. 
Letztere Form tritt besonders bei schwa¬ 


chen alten Leuten oder bei länger be¬ 
stehendem Ileus auf. 

Küttner berichtet über 1021 Fälte 
von Mastdarmcarcinom, von denen 800 
operiert wurden, 62% Männer, 38% 
Frauen. Bei Männern trat es im 50. bis 
70., bei Frauen im 40. bis 60. Jahr am 
häufigsten auf. Aber im 17. bis 19. Jahr 
trat es auch sechsmal, im 20. bis 29. Jahr 
37 Mal auf. Nur 32% der Gesamtzahl 
konnte radikal operiert werden; bei 17% 
wurde ein Anus praeternaturalis angelegt. 
Ein Zehntel der nicht operablen Fälle 
wurde bestrahlt. Die Frühdiagnose ist 
bei dieser Krankheit möglich, wird aber 
leider selten gestellt. Er bevorzugt die 
Resektion, macht von Kreuzbeinresektion 
ausgiebig Gebrauch, ohne präliminaren 
Anus außer bei Ileus. Bei hochsitzendem 
Carcinom ist er von der abdominosacralen 
Methode abgekommen und operiert sakral 
zweizeitig. Der Tumor wird abgetragen 
und circulär vernäht. Ricinusöl wird so¬ 
fort gegeben und zwölf Tage lang gereicht. 
Sterblichkeit in sämtlichen Fällen 24,5%,. 
bei Amputation größer als bei Resektion; 
von 14 Excisionen ist keiner gestorben. 
Unter den Todesursachen steht die Wund¬ 
infektion an erster Stelle; der Tod tritt 
dann selten in den ersten Tagen, meist 
nach Wochen, ja nach Monaten ein. An 
der Größe des Eingriffs starben 16%; 
bei hochsitzendem Carcinom war dies die 
Haupttodesursache. An Lungenerkran¬ 
kungen starben 11%. Sterblichkeit des 
Anus praeternaturalis war 14%, lauter 
elende Kranke. — Dauerergebnisse: Von 
den radikal Operierten lebten 32,5% länger 
als drei Jahre, 21,6% länger als fünf, 
16,4% länger als acht, 12,8% länger als 
zwölf Jahre. Im sechsten bis achten 
Jahr traten noch acht Rückfälle auf, 
später als zehn Jahre kein Rückfall. Die 
Excision ergab 50 % Dauerheilung. Leute 
mit Anus praeternaturalis lebten bis sieben 
Jahre nach der Operation. Der Verlauf 
des Carcinoms kann sehr langsam sein. — 
Von 170 Nichtoperierten lebten 10% 
noch länger als drei Jahre, 4 % länger als 
vier Jahre, aber ihr Zustand war zum 
Teil sehr qualvoll. Die Ergebnisse der 
Bestrahlung der inoperablen Fälle sind 
viel schlechter als die des Anus prae¬ 
ternaturalis. Das Gesamtergebnis ist 
besser als beim Magencarcinom. 

Yölcker empfiehlt für die Prostat¬ 
ektomie eine Methode vom Damm aus, 
besonders für schrumpfende Formen, die 
das gleiche Bild machen, wie die adeno¬ 
matöse Hypertrophie. Diese Schwielen 






270 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juli 


können auf den Sphincter übergreifen. 
Auch bei eiteriger Prostatitis hat sich die 
Methode bewährt. 5,5% Sterblichkeit 
Kümmell betont die geringen Erfolge 
der Prostatektomie. Der Tod erfolgt 
meist durch Niereninsuffizienz. Man 
kann die Operation weiter stecken, wenn 
man zweizeitig operiert. Ist die Niere 
nicht suffizient, so wird Dauerkatheter 
eingelegt, nur im Notfall hohe Blasen¬ 
fistel. Nach 10 bis 14 Tagen ist die Niere 
immer suffizient. Dann wird die Blasen¬ 
fistel mit Laminaria gedehnt, Lokal¬ 
anästhesie in und um die Prostata her¬ 
gestellt und die Drüse von der Blase aus 
entfernt. Danach Drainage oder Tampon. 
Alle 27 Fälle, lauter ganz alte Leute 
und schwere Fälle, wurden geheilt. 


Küt.tner empfiehlt bei Sitz des Ho¬ 
dens am inneren Leistenring oder noch 
höher die Durchschneidung der Samen¬ 
stranggefäße. Die Ernährung des Hodens 
geschieht dann durch die Gefäße des 
Ductus. An der richtigen Stelle ent- 
. wickelt sich der atrophische Hoden schnell. 

E. Joseph hat bei intravesicaler Be¬ 
handlung von Blasentumoren 70% Hei¬ 
lung, weitere 20% nach Rezidiv geheilt. 
Zur Chemokoagulation derselben nimmt 
er jetzt Tri Chloressigsäure unter Leitung 
des Cystoskops. Brand empfiehlt 10 bis 
20 % Resorcinlösung zu demselben Zweck. 
Besonders die Blutung wird dadurch in 
ein bis zwei Sitzungen gestillt, wenigstens 
bei gutartigen Tumoren; bei bösartigen 
ist die Chemotherapie nicht zu empfehlen. 


Der Bericht über den Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie 
erscheint im nächsten Heft. 


Referate. 


Man hat lange Zeit versucht, der 
Alveolarpyorrhöe eine Sonderstellung 
unter den bekannten Wundkrankheiten 
einzuräumen, indem man für ihre Ent¬ 
stehung eine' besondere Spirochäte an¬ 
nahm. Seitz Untersuchungen haben er¬ 
geben, daß keine Berechtigung dazu vor¬ 
handen ist. Es wurden neuerdings 
18 Fälle von Alveolarpyorrhöe, sieben von 
Stomatitis und eine Gingivitis Simplex 
genau bakteriologisch untersucht, ohne 
daß bei einer der drei Wundaffektionen 
eine dominierend vorkommende Spiro¬ 
chäte festgestellt werden konnte. Bei 
allen dreien fanden sich auch fusiforme 
Bacillen, wenn auch bei Stomatitis und 
Gingivitis nicht in solchen Mengen wie 
bei Alveolarpyorrhöe. Ebenso waren 
Eitererreger bei allen gemeinsam. Da¬ 
gegen fand sich bei Alveolarpyorrhöe 
allein ein anaerob wechselndes, unbeweg¬ 
liches, grampositives, ca. 7 großes 
Stäbchen, das Gelatine nicht verflüssigte, 
und ein feines, gramnegatives, Gelatine 
verflüssigendes Stäbchen. 

Kamnitzer (Berlin). 

(M. Kl. 1920, Nr. 20). 

Zur Behandlung des Haarschwundes 
hat der unlängst verstorbene bedeutende 
Physiologe Zuntz ein Hornpräparat an¬ 
gegeben, Humagsolan, mit welchem 
Blaschko therapeutische Versuche bei 
Menschen angestellthat. Behandelt wurden 


hauptsächlich Fälle von sogenanntem 
seborrhoischem Defluvium, und zwar be¬ 
sonders diejenigen, die einerseits noch 
nicht zu weit vorgeschritten und die 
trotz systematischer Höhensonnenbehand¬ 
lung nicht wesentlich beeinflußt worden 
waren; eine zweite Gruppe umfaßte 
frisch in Behandlung getretene, noch 
nicht bestrahlte Fälle, und bei einer dritten 
hat Verfasser neben der inneren Behand¬ 
lung noch Bestrahlungen angewandt. Im 
ganzen handelte es sich um 60 bis 80 
Fälle. Nicht in Betracht kamen als Prüf¬ 
steine Fälle mit vorgeschrittener Alopecia 
praematura, auch voraussichtlich bald 
günstig abheilende Formen,’ wie Haar¬ 
ausfall im Wochenbett, bei sekundärer 
Lues, nach Scharlach und andere. In 
der Regel wurden dreimal täglich drei 
Pillen gegeben, die wegen ihres guten, 
fleischextraktähnlichen Geschmackes gern 
gendmmen und auch längere Zeit hin¬ 
durch gut vertragen wurden. Der Heil¬ 
erfolg war nicht ganz eindeutig. In 
einzelnen Fällen eine völlige Wiederher¬ 
stellung, in anderen ein völliges Versagen 
— besonders in vorgeschrittenen — in 
der Mehrzahl deutliche Besserung. Die 
besten Erfolge treten bei Pillendarreichung 
zusammen mit Bestrahlung auf. Be¬ 
sonders gute Erfolge wurden in einigen 
Fällen von Trichorhexis erzielt, weniger 
gute bei vorgeschrittener totaler Alopecia 
arcata. Eine überraschende Besserung 



Die Therapie der Gegenwart 1920 


271 


Juli 


trat nach dreimonatiger Darreichung 
der Pillen in einem seit Jahren bestehen¬ 
den Fall von schwerer trophischer Nagel¬ 
erkrankung auf. Es liegt nahe, anzu¬ 
nehmen, daß auch gewisse Hautkrank¬ 
heiten, wie Ekzem, Pemphigus und 
andere durch das Präparat günstig be¬ 
einflußt werden. Diesbezügliche Ver¬ 
suche sind nicht angestellt worden. Die 
örtliche Applikation scheiterte bisher noch 
' an der allzu salzigen Beschaffenheit des 
Mittels und der dadurch hervorgerufenen 
beträchtlichen Reizwirkung. 

Kamnitzer (Berlin). 

‘ (D.m. W. 1920, Nr. 19). 

Auf die Anforderungen, die an die 
Therapie bei Ernährungsstörungen 
des Kleinkindes zu stellen sind, weist 
Prof. A. Niemann hin. Durchfälle des 
Kindes um die Wende des Säuglings¬ 
alters, also ziemlich lange vor Ablauf 
des ersten Lebensjahres, sind wie Durch¬ 
fälle „älterer Kinder‘‘ und nicht wie die 
der Säuglinge zu behandeln. Zu .oft 
werden solche Kinder den Säuglingen 
gleichgestellt, durch Entziehung der 
ihrem Alter entsprechenden gemischten 
Kost werden sie heruntergebracht. Ge¬ 
rade, wenn Kuhmilch nicht vertragen 
wird, soll gemischte Kost (Gemüse, fein 
püriert, ja sogar Zwieback-Apfelbrei) 
unter Meidung von den leicht gären¬ 
den Kohlehydraten und Fett, bald¬ 
möglichst wieder verabreicht werden. 
Ausschließliche Ernährung mit Eiwei߬ 
milch ist nicht, allenfalls eine Flasche 
morgens, zu empfehlen, zur Herstellung 
von Brei an Stelle von Milch kann Eiwei߬ 
milch benutzt werden. Feuerhack. 

(B. kl. W., Nr. 10.) 

Kurt Hulschinski berichtet an 
Hand von 24 Fällen über die Behandlung 
der Rachitis durch Ultraviolettbestrah¬ 
lung im Oskar-Helene-Heim (Berlin- 
Dahlem; Direktor: Prof. Biesalski). Er 
hat nur solche Fälle mit Höhensonne 
behandelt, welche nach röntgenologischem 
Ausweis sich im floriden oder invete- 
riertem Stadium befanden, während er 
alle Fälle, welche im Röntgenbild bereits 
Heilungstendenz zeigten, von der Behand¬ 
lung ausschloß. Eine gleichzeitige Be¬ 
handlung einzelner Fälle mit Kalk, Phos¬ 
phor oder Sonnenbestrahlung zeitigten 
keinen Unterschied im Heilungsverlauf. 
Bestrahlt wurde dreimal wöchentlich mit 
drei Minuten anfangend bis 20 Minuten 
steigend bei einem Lampenabstand von 
einem Meter, der fünfcentimeterweise bis 
auf 50 respektive 60 cm verringert wurde. 


Sobald das erste greifbare Resultat sich 
zeigte, wurde die Behandlung 8 bis 14 
Tage ausgesetzt, und dann wieder mit 
kleinen Dosen von vorn angefangen. Die 
Behandlung nahm durchschnittlich zwei 
Monate in Anspruch. Die Heilungs¬ 
resultate, welche in jedem einzelnen Falle 
an Reproduktionen derRöntgenaufnahmen 
gezeigt werden, waren derart günstig, 
daß der Verfasser zu dem Schluß kommt, 
daß die Bestrahlung mit ultravioletten 
Strahlen eine specifische Therapie der 
Rachitis darstellt. Tatsächlich war es 
dem Verfasser gelungen, in sämtlichen 
24 behandelten Fällen Rachitis jeden 
Grades, frische und alte bei Kindern im 
Alter von IV 2 bis 6 V 2 Jahren durch zwei¬ 
monatliche ultraviolette Bestrahlungen 
in 22 bis 26 Sitzungen zur Ausheilung zu 
bringen. Diese Mitteilungen, die sich mit 
den von Professor Langstein kürzlich 
in seinem Säuglingsheim an rachitischen 
Säuglingen gezeigten Resultaten und auch 
mit den eigenen Beobachtungen des Re¬ 
ferenten decken, sind so bedeutsam, daß^ 
sie eine neue segensreiche Ära in der 
Bekämpfung der durch die Entbehrungen 
der letzten Jahre fast zur Volkskrankheit 
gewordenen Rachitis bedeuten. 

Georg Müller. 

(Zschr. f. orthop. Chirur. Bd. 39, Heft 4.) 

E. Müller und Margar. Brandt be¬ 
richten über gute Erfahrungen in der 
Ernährung des Säuglings mit Fett¬ 
milch. Gesunde, aber untergewichtige 
Säuglinge, auch Kinder in der Repara¬ 
tion nach Dyspepsien, bei parenteralen 
Infektionen, Frühgeburten, gedeihen 
größtenteils ausgezeichnet sowohl bei der 
Butter-Mehl-Nahrung als auch bei der 
,,Sahne-Milch“. Die von E. Müller und 
Margar. Brandt nach dem Muster der 
Czerny - Kleinschmidtschen Butter- 
Mehl-Nahru’ng herg^stellte „Sahne-Milch“ 
hat folgende Zusammensetzung: 
Kuhmilch (etwa 3%) 200 g 
Sahne (etwa 20%) . 200 ,, 

Wasser. 600 ,, 

Mehl.42 „ (geröstet) 

Zucker (Koch-) ... 30 „ 

Bei der Dosierung wurde nicht über 
200 g pro Kilo Körpergewicht hinaus¬ 
gegangen. 

Nach den Erfahrungen mit der,,Sahne- 
Milch“ werden bei der Butter-Mehl-Nah¬ 
rung nicht die flüchtigen Fettsäuren für 
ausschlaggebend gehalten, sondern der 
hohe Fettgehalt. Praktisch erscheint die 
Herstellung der Butter-Mehl-Nahrung im 







272 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Juli 


Privathaushalte leichter durchführbar; 
für Anstalten, wo die Butterration meist 
außerordentlich gering, ist vielleicht die 
„Sahne-Milch“ leichter herzustellen. 

(B, kl. W., Nr. 13.) Feuerhack. 

Zur Pathologie und Therapie der 
Tintenstift-(Kopierstift-) Verletzungen 

schreibt Erdheim: Die Tintenstiftver¬ 
letzungen, sind für die chirurgische 
Therapie von besonderer Bedeutung. 
Sie üben an der Stelle der Verletzung eine 
schwere Zerstörung der Gewebe aus, 
wobei die Schädigung im wesentlichen 
auf chemische Einflüsse zürückzuführen 
ist. Der Verfasser hat 19 Fälle im Zeit¬ 
raum von sechs Jahren beobachtet, über 
die er berichtet. Meistens war das abge¬ 
brochene Ende des Kopierstifts bald nach 
der Verletzung aus der Wunde entfernt 
worden. Trotzdem entwickelten sich bei 
einigen Kranken schwere phlegmonöse 
Entzündungen, die ausgiebige Einschnitte 
erforderten. In diesen, wie auch in den 
anderen Fällen, in denen solche Entzün¬ 
dungen nicht beobachtet wurden, trat 
jedoch eine Heilung nicht ein. Vielmehr 
bildete sich eine Fistel, welche eine 
klarseröse violett gefärbte Flüssigkeit ab¬ 
sonderte. Die gewöhnlichen chirurgischen 
Maßnahmen führten nicht zum Ziele, 
sondern es mußte ausnahmslos in allen 
Fällen der ganze Herd weit im Gesunden 
Umschnitten werden, und auch nach der I 
Tiefe alles über den Bezirk, hinaus in dem 
sich noch eine Verfärbung der Gewebe 
zeigte, entfernt werden. Der Defekt wurde 
meistdurch einige Nähte geschlossen. Es 
erfolgte dann reaktionslose Heilung. Be¬ 
sondere Schwierigkeiten bot zunächst 
ein Fall, bei dem die Verletzung an der 
Fingerbeere des fünften Fingers erfolgt 
war. Es wurde in der üblichen Weise 
alles violett verfärbte Gewebe entfernt. 
Bald nach der Operation trat wieder vio- j 
lette Verfärbung der Wunde auf und es 
wurde jetzt ein Stück vom Finger weg¬ 
genommen und schließlich der ganze 
Finger exartikuliert. Kurze Zeit hinterher 
entwickelte sich auch in dieser Wunde 
wieder eine violette Färbung; jetzt wurde 
das ganze Gebiet einschließlich des Meta- 
carpus V entfernt und ein Okklusivver- 
band angelegt. Die Heilung erfolgte nun¬ 
mehr glatt. Es handelte sich um einen 
Fall von Selbstbeschädigung zum Zwecke 
der Entziehung vom Militärdienste. 

Hayward. 

(Arch. f. klin. Chir. Bd. 113, Heft 4), 


Ob die Heilwirkungen des Tuber¬ 
kulins auch auf cutanem Wege zu er¬ 
zielen sind, ist eine viel umstrittene Frage. 
Bekanntlich hat Petruschky eine ent¬ 
schiedene Wirksamkeit des von ihm in die 
Praxis eingeführten Linimentum tuber- 
culini compositum behauptet und hat 
auQh unter den Ärzten schon zahlreiche 
Anhängerschaft gefunden. Neuerdings 
berichtet auch Groß mann über sehr 
günstige Erfahrungen. Bei Halsdrüsen¬ 
tuberkulose beobachtete er erhebliches 
Schwinden der Drüsentumoren. In ganz 
frischen Fällen wurde die Behandlung 
mit Linimentum 1:5000 bis 10 000 be¬ 
gonnen. Bei Hilustuberkulose Jugend¬ 
licher fiel das ,rasche Aufblühen der bis 
dahin meist sehr elenden, ewig kränkeln¬ 
den Kinder schon in den ersten Wochen 
der Inunction auf. Hier fängt Verfasser 
gewöhnlich mit Linimentum 1:1000 an, 
nur bei stärkeren Schwächezuständen 
und Fieberneigung mit 1:5000. Bei 
Bronchialdrüsen tuberkulöse Erwachsener 
kann man gleich mit Linimentum 1:150 
beginnen. Stärkere Konzentrationen 
können zur ,,Toxinüberlastung“ (Mattig¬ 
keit, Appetitverlust, Gewichtsabnahme) 
führen. In einem von Großmann er¬ 
wähnten Falle von Hilustuberkulose Er¬ 
wachsener ist ein günstiger anatomischer 
Heilverlauf trotz schlechten Allgemein¬ 
befindens während der Kur bemerkens- 
I wert, was wohl als Folge lebhafter re- 
sorptiver Vorgänge gedeutet werden muß. 
Bei offener, fieberfreier Lungentuber¬ 
kulosebeginnt die Behandlung mit 1:1000, 
bei Temperaturerhöhung kam ent¬ 
sprechend geringere Konzentration in 
Anwendung. Verfasser schreibt die Wirk¬ 
samkeit des Linimentums dem Umstande 
zu,' daß die 'Haut im Gegensatz zum 
sul3cutanen Gewebe die Fähigkeit hat, 
Tuberkelbacillen aufzulösen. Dadurch 
gelangen diese in mehr oder weniger voll¬ 
kommen abgebautem Zustande in den 
Säftestrom und an den Tuberkelherd^ 
ohne vorher durch Antituberkulin ab¬ 
gefaßt zu werden. Er stellte die Pe- 
truschkysche Inunction hinsichtlich der 
Wirkung, Billigkeit und Bequemlichkeit 
höher als andere specifische Behandlungs¬ 
methoden. Ohne sich die theoretischen 
Begründungen zu eigen zu machen, wird 
man doch nach so vielen günstigen Be¬ 
richten der Tuberkulinsalbenbehandlung 
einiges Vertrauen entgegenbringen dürfen. 

(M. Kl. 1920, Nr. 20). Kamnitzer (Berlin). 


Für die Redaktion verantworthcbi Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Kiempererm Berlin. Verlag von Urb an & Schwarzenberg 
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Die Therapie der Gegenwart 


1920 


heraussfegeben von Qeh. Med.-Rat Prof. Dr. Q. Klemperer 
in Berlin. 


August 


Nachdruck verboten. 

Die Steinachschen Versuche über Verjüngung durch 
Beeinflussung der Pubertätsdrüse. 

Von Prof. A. Loewy, Berlin. 


Die soeben der Öffentlichkeit mitge¬ 
teilten Untersuchungen Steinachs, die 
sich mit der Frage der Verjüngung des 
Organismus auf experimentellem Wege 
befassen^), stellen ein weiteres Glied in 
einer langen Kette von Forschungen dar, 
die alle das anatomische Verhalten und 
die funktionelle Bedeutung eines beson¬ 
deren, in den Keimdrüsen beider Ge¬ 
schlechter sich findenden Gewebes zum 
Gegenstände haben, nämlich der soge¬ 
nannten Pubertätsdrüse. 

Diese Bezeichnung ist ganz neuen 
Datums, aber auch der Begriff, der da¬ 
mit bezeichnet werden soll, kann auf 
keine lange Vergangenheit zurückblicken. 
Steinach benennt als Pubertätsdrüse 
-denjenigen Anteil der Hoden und Ova¬ 
rien, mit denen die innersekretori¬ 
schen Leistungen dieser Zusammen¬ 
hängen. 

Daß die Keimdrüsen nicht allein der 
Fortpflanzung dienen, durch Produkte, 
die sie nach Art der gewöhnlichen Drüsen 
nach außen abgeben, sondern daß sie da¬ 
neben auf den Körper mannigfach ge¬ 
staltend einwirken, daß sie durch innere 
Sekrete die beide Geschlechter kenn¬ 
zeichnenden körperlichen und seelischen 
Besonderheiten hervorrufen, ist aus den 
der Frühkastration folgenden Erschei¬ 
nungen und den Wirkungen der Im¬ 
plantation von Keimdrüsen bei Kastra¬ 
ten seit längerem bekannt. Aber man 
brachte diese sichtbar werdenden Folgen, 
sei es der Fortnahme der Keimdrüsen, 
sei es ihrer Wiedereinheilung, in Verbin¬ 
dung mit ihrem generativen Gewebe, 
das danach also die doppelte Eigenschaft 
einer Drüse mit äußerem und einer mit 
innerem Sekret haben* sollte. 

Dies ist nun nach den neueren Erfah¬ 
rungen nicht der Fall. Vielmehr kommen 
die Wirkungen, welche nicht mit der 
Bildung von Fortpflanzungsprodukten zu 

1) E. Steinach, Verjüngung durch experi¬ 
mentelle Neubelebung der alternden Pubertäts¬ 
drüse (Berlin 1920, Springer; auch in Roux’ Arch. 
f. Entwicklungsmechanik, Bd. 46). 


tun haben, auf Rechnung eines ganz be¬ 
sonderen Bestandteils der Keimdrüsen, 
der als anatomisches Substrat der inner¬ 
sekretorischen Tätigkeit anzusehen ist, 
eben der von Steinach sogenannten 
Pubertätsdrüse. Sie ist am Hoden leichter 
zu erkennen als am Ovarium, und ist in 
ihm mit ziemlicher Sicherheit in den von 
Leydig entdeckten ,,Zwischenzellen“ zu 
sehen, die im Bindegewebe zwischen den 
Samenkanälchen eingebettet liegen. 

Über die Pubertätsdrüse beim weib¬ 
lichen Geschlecht bestehen noch einige 
Meinungsverschiedenheiten, betreffend 
Herkunft und anatomisches Verhalten; 
jedoch scheint es, daß es sich hier um 
epitheloide Zellen handelt, wie man sie 
auch sonst im Drüsengewebe findet, und 
die teils aus den Epithelzellen der Mem¬ 
brana granulosa, teils aus Bindegewebs¬ 
zellen der Theca interna stammen, daß 
sie also aus Follikelmaterial herstammen, 
sei es aus obliterierenden Follikeln, sei 
es aus bei der Ovulation zum Bersten 
kommenden, also aus Zellen des Corpus 
luteum. 

Daß die innersekretorischen Wirkun¬ 
gen der Keimdrüsen unabhängig von 
•ihrem generativen Anteil sind, daß in den 
Keimdrüsen gewissermaßen zweierlei Drü¬ 
sen nebeneinander gelagert sind, ist durch 
mannigfache Beobachtungen und Ver¬ 
suche erhärtet worden. So führt Unter¬ 
bindung der Vasa deferentia zum 
Schwund des Fortpflanzungsan¬ 
teils der Hoden unter Erhaltung und 
häufig Vermehrung des Zwischen¬ 
gewebes. Dabei kommen keinerlei 
Folgen zur Beobachtung, wie sie der 
Kastration eigentümlich sind. Dasselbe 
Verhalten findet man bei Kryptorchismus, 
dasselbe bei transplantierten und einge¬ 
heilten Hoden und ähnliches auch bei 
röntgenbestrahlten Hoden. 

Ebenso ist es beim weiblichen Ge¬ 
schlecht: bei der Röntgenbestrahlung, 
bei der Transplantation geht der eiberei¬ 
tende Anteil zugrunde, der sogenannte 
interstitielle bleibt bestehen oder ver- 

35 




274 


Die -Therapie der Gegenwart .1920 


August 


mehrt sich, und dabei kommen weder 
die anatomischen Folgen der Kastration, 
noch die funktionellen Ausfallserschei¬ 
nungen zur Beobachtung. 

Ebenso sprechen für die innersekre¬ 
torische Bedeutung des Zwischengewebes 
die quantitativen Beziehungen, welche 
zwischen-seiner Äusbildung und der Wir¬ 
kung auf die Sexualcharaktere sehr häufig 
gefunden worden sind. 

Wo das Fortpflanzungsgewebe zu- ' 
gründe geht—wie bei transplantierten oder 
bestrahlten Keimdrüsen —, kommt es 
häufig zu einer Vermehrung, einer Hyper¬ 
trophie des Zwischengewebes. Mit dieser 
parallel gehend, wurde nun gefunden bei 
männlichen Tieren Steigerung des Be¬ 
gattungstriebs und stärkere Ausbildung 
von Penis und Samenblasen; bei weib¬ 
lichen gesteigerte Brunsterscheinungen 
und — besonders nach Röntgenbestrah¬ 
lung — Wachsen der Mammae, der Brust¬ 
warzen, des Uterus, so daß bei bestrahlten 
jungfräulichen Tieren diese Teile wie bei 
trächtigen ausgebildet erschienen^). 

Umgekehrt: wird in ein kastriertes Ti er 
nur wenig Keimdrüsensubstanz ver¬ 
pflanzt oder heilt das Transplantat nur 
zumTeil ein,sodaßdielnkretbildunggering 
ist, so bleiben auch die sich ausbildenden 
Geschlechtsmerkmale mangelhaft ent¬ 
wickelt, und das körperliche und seelische 
Verhalten solcher Tiere gleicht dem von 
alternden Tieren, bei denen die inner¬ 
sekretorische Tätigkeit, die Hormonbil¬ 
dung der Keimdrüsen nachgelassen hat. 

Hier erhob sich nun für Steinach 
die Frage, ob es nicht möglich sei, die 
innere Sekretion der Keimdrüsen zu ver¬ 
stärken und da, wo sie im Laufe des 
Lebens so schwach geworden ist, daß die 
körperliche und psychische Beeinflussung 
durch ihr Hormon unzureichend gewor¬ 
den, Libido und Potenz geschwunden, die 
Geschlechtsorgane in Rückbildung be¬ 
griffen sind, durch Kräftigung der Puber¬ 
tätsdrüse ihre Wirkung von neuem hervor¬ 
zurufen. 

Wie oben erwähnt wurde, kommt es 
zu einer Hypertrophie und damit zu 
vermehrter Wirkung der Pubertätsdrüse 
beim männlichen Geschlecht durch Unter¬ 
bindung der Vasa deferentia, bei beiden 
Geschlechtern durch Transplantation 
junger Keimdrüsen. Steinach prüfte nun 


Eine ausführliche Zusammenstellung der 
auf die Bedeutung der Pubertätsdrüse bezüglichen 
Arbeiten bis 1919 gibt A. Lipschütz, Die Puber¬ 
tätsdrüse und ihre Wirkungen (Bern 1919). 


an senilen Ratten, welchen Einfluß die 
Vas-deferens-Unterbindung und die Über¬ 
pflanzung junger Keimdrüsenstücke 
hatte^). 

Er fand, daß auf solche Weise es auch 
an senilen Tieren zu einer Neubildung 
von Pubertätsdrüsen und damit auch der 
specifischen Wirkungen dieser kommen 
kann. 

Unterbindung der Samenstränge führte 
anatomisch neben dem Untergang des 
samenbereitenden Anteils der Hoden zu 
einem Wachstum der Zwischendrüse, und 
damit änderte-sich das ganze Verhalten 
des Tieres. Die zum Teil kahl gewordenen, 
hinfälligen, mit gekrümmtem Rücken da¬ 
sitzenden, impotenten und geschlechtlich 
gleichgültig gewordenen Männchen er¬ 
hielten die Zeichen der Jugend wieder: 
vollen, glänzenden Haarwuchs, straffe 
Haltung, vermehrte Freßlust und damit 
erneuten Fettansatz und jugendliche For¬ 
men; sie wurden wieder lebhaft, angriffs¬ 
lustig, ihre Libido kehrte in verstärktem 
Maße zurück, ebensoihrePotentiacoeundi. 
Ja, in einem Versuche ging die Wirkung 
noch weiter: Hier wurde der Samenstrang 
nur einer Seite unterbunden. Das damit 
eingeleitete Wachstum der Pubertäts¬ 
drüse hatte nicht nur die eben beschrie¬ 
benen Wirkungen, vielmehr vermochte 
das Rattenmännchen ein Weibchen zu 
befruchten. Nach Steinach hat die 
gewucherte Pubertätsdrüse vermocht, den 
zweiten Hoden durch ihr Hormon zu 
,,beleben“, so daß er vollwertiges Sperma 
lieferte. Nach weiteren Versuchen, die 
Steinach in. dieser Richtung anstellte, 
scheint tatsächlich die Wucherung der 
Pubertätsdrüse sowohl zur Verjüngung an¬ 
derer Organe, wie auch der Samenkanälchen 
und der Wiederlterstellung der Sperma- 
togenese zu führen. Denn die im Senium 
geschwundene subcutane Fettschicht 
nimmt wieder zu, die Muskulatur er¬ 
scheint besser ernährt als sonst bei senilen 
Tieren, Samenblasen, Prostata, Penis sind 
wieder gewachsen und das spermatogene 
Gewebe des Hodens, das, wie erwähnt, 
nach Vasdeferens-Unterbindung zunächst 
zugrunde geht, bildet sich später wieder 
aus und funktioniert von neuem, wie 
mikroskopische Untersuchungen ergeben 
haben an Tieren, die verschieden lange 


Steinach nennt das Verfahren der Samen¬ 
strangunterbindung, bei der der Körper das neue 
Pubertätsdrüsenmaterial aus sich selbst bilden 
muß: autoplastische Altersbekämpfung; die 
Transplantation, bei der fremdes Material aktiviert 
wird: honioplastische. 




August 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


275 


Zeit nach Unterbindung des Vasdeferens 
untersucht wurden. . 

Ebenso wie die Unterbindung des 
Vasdeferens wirkte die Überpflanzung 
jugendlicher Hoden auf die Bauchmuskeln 
bei alten, impotenten, Atrophie der Pro¬ 
stata und Samenblasen zeigenden Ratten¬ 
männchen und Meerschweinchen. In 
zwei Fällen konnte die Verjüngungs¬ 
wirkung durch Transplantation ein zweites 
Mal erzielt, werden, nachdem die der 
ersten Überpflanzung abgeklungen war. 

Bei alten weiblichen Tieren er¬ 
reichte Steinach prinzipiell das gleiche 
und zwar entweder gleichfalls auf dem 
Wege der Überpflanzung (von Ovarien) 
oder durch Röntgenbestrahlung der Ge¬ 
schlechtsorgane. Die atrophisch geworde¬ 
nen Geschlechtsorgane (Uterus, Ovarien, 
Mamma) wachsen von neuem, die lange 
erloschene Brunst tritt wieder auf, die 
Tiere concipieren und werfen, nachdem 
mehr oder weniger lange Zeit Sterilität 
bestanden, von neuem Junge. 

Die eingetretene Verjüngung ist natür¬ 
lich vergänglich. Sie besteht einige Zeit, 
um dann wiederum den Zeichen des 
Greisenalters Platz zu machen. Immer¬ 
hin kommt durch sie eine Lebens Verlänge¬ 
rung zustande, die bei Ratten nicht un¬ 
beträchtlich ist, insofern sie ein Viertel bis 
ein Drittel der gewöhnlichen Lebensdauer 
ausmachen kann. 

Die an Tieren erzielten Erfolge mußten 
natürlich dazu auffordern, zu untersuchen, 
ob am Menschen ein gleiches Ergebnis 
zu erzielen sei, da ja die anatomischen 
und physiologischen Grundlagen die näm¬ 
lichen sind. Diese Versuche hat nach 
den von Steinach ausgebildeten Metho¬ 
den besonders Lichtenstern in Wien 
durchgeführt. Beiträge lieferten auch 
Mühsam und Kreut er. Es handelt sich 
teils um Kranke, bei denen wegen Ver¬ 
letzung oder Tuberkulose der Hoden 
kastriert wurde oder bei denen ein Zu¬ 
stand von Eunuchoidismus bestand. In 
beiden Fällen wurde eine Transplantation 
kryptochischer Hoden gesunder junger 
Männer vorgenommen, wonach die ein¬ 
getretenen Zeichen des Alters: Muskel¬ 
schwäche, Ermüdbarkeit, Trägheit, Ab¬ 
nahme des Gedächtnisses, Erlöschen der 
Libido und Potenz zum Schwinden ge¬ 
bracht wurden. 

Wichtiger als diese Fälle, in denen 
es sich um ein durch Krankheiten her- 
vorgeriifenens vorzeitiges Senium han¬ 
delt, sind diejenigen, in denen das natür¬ 
liche Senium mit Erfolg behandelt wurde. 


In dieser Beziehung teilt Steinach drei 
von Lichtenstern behandelte Fälle mit, 
die einen 44jährigen Arbeiter mit Senium 
praecox, einen 66-'und einen 71 jährigen 
Mann betrafen. Alle zeigten die aus¬ 
geprägten Erscheinungen des Greisen¬ 
tums, bei allen dreien wurden..sie durch 
Unterbindung des Vas deferefis zum 
Schwinden gebracht. Die allgemeine 
körperliche Schwäche nahm ab, die Mus¬ 
kelkraft hob sich, die mit Muskelarbeit 
verbunden gewesene Atemnot machte sich 
nicht mehr geltend. Das Haar- und Bart¬ 
wachstum wurde lebhafter. Auch auf 
seelischem Gebiete trat ein Umschwung 
ein, indem das Gedächtnis schärfer wurde, 
'die geistige Regsamkeit wuchs, das Den¬ 
ken leichter von statten ging, besonders 
aber wurden die Geschlechtsfunktionen 
gehoben, die erloschene oder fast er¬ 
loschene Potenz und Libido wurden wie¬ 
der wie fti den Tagen der Jugend. 

Ähnlich, wenn auch nicht in gleicher 
Schärfe hervortretend, waren die Erfolge, 
die bei Frauen zwischen 45 und 55 Jahren 
durch Röntgenbestrahlung der Ovarien 
erzielt wurden; auch hier Beobachtung 
einer gesteigerten körperlichen und geisti¬ 
gen Leistungsfähigkeit neben Verjugend- 
lichung der äußeren Formen. 

So scheint ein Traum und ein Wunsch 
von Jahrhunderten, ein so phantastischer 
Wunsch, daß nur die Kunst, nicht die 
Wissenschaft sich mit ihm beschäftigten, 
plötzlich der Erfüllung nahe gerückt zu 
sein, und die Verwirklichung ist um so 
höher einzuschätzen, als sie auf sicherer 
experimenteller Grundlage beruht und 
nicht von theoretischen Erwägungen, viel¬ 
mehr von praktischen Erfahrungen des 
Tierversuchs ihren Ausgang nahm. Die 
körperliche und geistige Verjün¬ 
gung soll' erzeugt werden durch 
neue Erotisierung des Körpers 
von seiten der Pubertätsdrüse, die 
durch experimentell bewährte Vor¬ 
nahmen zum Wachstum und damit 
zur gesteigerten Bildung ihrer 
Hormone angeregt wird. 

Wenn das möglich sein soll, müssen 
natürlich noch funktionierende Reste der 
Pubertätsdrüse vorhanden sein. Ist sie 
vollkommen zugrunde gegangen, so ist 
sie natürlich nicht wieder zu erwecken. 
So wäre es zu verstehen, daß in den 
Zeiten, in denen die Vas-deferens-Unter- 
bindung als Heilmittel bei Prostata- 
hypertrophie viel ausgeführt wurde, von 
einer ihr folgenden Verjüngung nichts 
bemerkt wurde. 


35* 





276 


Die Therkpie der Gegenwart 1920 


August 


Wir stehen erst am Beginn unserer 
Erkenntnis und es wird sich zeigen 
müssen, ob nicht Bedingungen bestimm¬ 
ter Art erforderlich sind, um den Erfolg 
zu gewährleisten, und ob die Möglichkeit 
der Verjüngung nicht auf einen bestimm¬ 
ten Kreis von Alterserscheinungen be¬ 
schränkt ist. Vorläufig haben ,,Ver¬ 
jüngungskuren“ nach Steinachschen 
Prinzipien noch die Bedeutung von Ex¬ 
perimenten, deren Ausgang nicht voraus¬ 
sehbar ist. Immerhin werden solche 
Experimente, und in nicht geringer Zahl, 
nötig sein, um eine Grundlage für die 
Aufstellung von Indikationen zu gewin¬ 
nen, die späterhin als Richtschnur dienen 
können, und um Antwort auf eine ganze 
Reihe weiterer Fragen, die sich aufdrän¬ 
gen, zu erhalten. Deshalb wird der Arzt, 


wo sein Rat für oder gegen erfordert wird, 
bis nach weiterer Klärung der Frage 
weder zu- noch abraten, und es dem 
Kranken überlassen, ob er — entsprechend 
den Tatsachen — es auf die Möglichkeit 
einer Besserung durch operativen Ein¬ 
griff ankommen lassen will, durch einen 
Eingriff, der jedenfalls ihm keinen Scha¬ 
den bringen kann. 

Daß die Frage, selbst theoretisch, 
noch nicht ganz spruchreif ist, erkennt 
auch Steinach, der eine ganze Reihe 
weiterer Aufgaben zur experimentellen 
Altersforschung aufzählt; Aufgaben, die 
er anderen Forschern wird zuj# Lösung 
überlassen müssen, da ihm. selbst die 
Mittel zu ihrer Durchführung nicht mehr 
zur Verfügung stehen. 


Aus der Cliirurgiscliea» Uuiversitätsklmik Berlin (G-elieinirat Bier). 

Fortschritte auf dem Gebiete der Proteinkörpertherapie. 

Die ambulante Casein»(Caseosan»)behandlung chronischer Arthritiden. 

Dr. med. Arnold Zimmer. 


In der modernen Therapie erzielt 
man durch parenterale Zufuhr von che¬ 
misch-einander sehr fernstehenden Mit¬ 
teln in ihren Grundzügen oft auffallend 
übereinstimmende Wirkungen, die man 
alle als. unspecifische Leistungssteige¬ 
rung (Protoplasmaactivierung) auffassen 
kann, eine Theorie, die Weichardt für 
die Proteinkörpertherapie aufgestellt hat 
und ebenfalls auf andere Stoffe und Vor¬ 
gänge (Bestrahlung) angewendet wissen 
will(l). Seine Arbeiten, die der prak¬ 
tischen Anwendung weit vorausgeeilt sind, 
haben viele Anerkennung gefunden und 
gewinnen bei dem schnell anwachsenden 
Anwendungsgebiet der parenteralen Pro¬ 
teinkörpertherapie und ihrer verwandten 
Methoden immer mehr an Bedeutung. 

Unter den Proteinkörpern ist bisher 
am meisten die Milch (unter dem Namen 
Aolan und Ophthalmosan) verwendet 
worden. Einen großen Fortschritt be¬ 
deutet die Verwendung von 5 % Kasein¬ 
lösung. Mit ihr ein chemisch genau de¬ 
finierbares und dosierbares Mittel in die 
Therapie eingeführt zu haben, ist Lin- 
digs (2) großes Verdienst. Er hat es, 
intravenös injiziert, bisher fast nur bei 
gynäkologischen Erkrankungen ver¬ 
wandt und damit auffallende Erfolge er¬ 
zielt. Dahingestellt möge dabei bleiben, 
inwieweit die theoretischen Erwägungen 
zutreffen, aus denen heraus er das Kasein 
empfiehlt. Der Firma Heyden, Radebeul, 


ist es gelungen, aus dem Kasein eine 
ungefähr 5 %ige sterile, haltbare Lösung 
in Ampullen zu 1 und 5 ccm herzustellen, 
die sie Caseosan nennt. Meine Versuche 
zeigen nicht nur die erheblich gesteigerte 
Wirksamkeit des Caseosans den Milch¬ 
präparaten gegenüber, sondern lassen 
auch die großen Vorzüge erkennen, die 
die intramuskuläre oder subcutane Dar¬ 
reichung vor der intravenösen bietet. 

Die besondere Affinität der Protein¬ 
körper zu erkrankten Gelenken veran¬ 
lassen mich, auf diesem Gebiete weiter¬ 
zuarbeiten. Bei meinen Erwägungen von 
der Gelenkstuberkulose ausgehend, wählte 
ich zur praktischen Ausführung aus sach¬ 
lichen und äußeren Gründen zunächst 
die unspecifischen chronischen Gelenk¬ 
erkrankungen (Arthritis deformans, pri¬ 
märer und sekundärer chronischer Ge¬ 
lenkrheumatismus, Gicht, ferner Arthritis 
gon., usw.) für die in ihrer Vielseitigkeit 
das Studium der Wirksamkeit dieser Be¬ 
handlungsmethode auf die Gesamtheit 
des Gelenkzellenkomplexes sich als be¬ 
sonders geeignet erweisen. 

Über gute Erfolge der Milchbehandlung bei 
akutem Gelenkrheumatismus berichten schon 
1917 Müller (3) und Edelmann (4); auch bei 
Arthritis gon, sind gute Erfolgehekannt geworden. 
Selbst mit intravenöser Gaseosanbehandlung ist 
von Tacge (5) bereits kürzlich ein gutes Resultat 
erzielt worden. Leider störte ein darauf folgender 
Schock das günstige Bild. Bei chronischen Arthri¬ 
tiden dagegen ist zwar eine gewisse Beeinflussunge 
aber im allgemeinen noch keine befriedigend, 





277 


August 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Heilwirkung erreicht worden. Bedeutsamer sind 
hier die Erfolge'mit anderen Stoffen: Das San- 
arthrit Hei Ine r (6) ist inzwischen vielfach an¬ 
gewandtworden und seine Erfolge sind in manchen 
Fällen sicher unbestreitbar i). Intravenös gegeben 
erzeugt es einerseits hohe Fieberreaktionen, 
andererseits Herdreaktionen in allen erkrankten 
und erkrankt gewesenen Gelenken, denen in ge¬ 
wissen Fällen eine Besserung der Schmerzen wie 
der Beweglichkeit zu folgen pflegt. Ähnliche 
. Reaktionen und Heilerfolge werden nach intra¬ 
venöser Applikation von Jodkollargol (7) und 
Kollargol (8) berichtet. Eine ganz neue Arbeit 
von De necke (9) beschäftigt sich mit einem Ver¬ 
gleich der Wirkungen von Sanarthrit und Protein- 
' körpern. Dreißig mit Sanarthrit behandelten 
Fällen stellt er solche entgegen, bei denen er Milch 
(10 bis 20 ccm intraglutäal), Caseosan (intravenös) 
und Gonargin verwandt hat. Während allen 
gemeinsam die starken fieberhaften Allgemein-' 
reaktionen waren, zeigten die mit Caseosan, Milch 
und Gonargin behandelten Fälle nicht die gering¬ 
sten Herdreaktionen. Trotzdem sah Denecke bei 
zehn mit Milch behandelten Fällen zweimal deut¬ 
liche Besserung. Er schließt daraus, daß ein 
Parallelismus zwischen dem specifisch (der Theorie 
entsprechend) wirkenden Sanarthrit und den un- 
specifisch wirkenden Proteinkörpern nicht besteht. 
Er anerkennt dem Sanarthrit besonders bei 
Arthritis deformans eine bessernde Wirkung, ohne 
den Optimismus des Erfinders zu teilen; eine 
Restitutio ad integrum erwartet er nicht. 

Meine Beobachtungen beziehen sich 
ungefähr auf 150 ambulante Fälle, die 
ich im Laufe der letzten vier Monate in 
der poliklinischen Abteilung der hiesigen 
chirurgischen Universitätsklinik behandelt 
habe, nebst ungefähr 30 klinischen re¬ 
spektive privaten Patienten. Meist han¬ 
delt es sich um Arthritis deformans auf 
rheumatischer oder traumatischer Grund¬ 
lage, Malum coxae senile, einer Anzahl 
verschiedener Gichtformen, Arthritis gon. 
chronischem und subakutem Gelenkrheu¬ 
matismus und verschiedenartige Neu¬ 
ritiden. 

Aus den eingangs erwähnten Erwä¬ 
gungen heraus schien mir die Behandlung 
dieser Fälle mit Casein besonders aus¬ 
sichtsreich, doch zog ich Aolan und 
Ophthalmosan zum Vergleich hinzu^). 

Das Casein war bis dahin nur in der Freiburger 
Frauenklinik zu gynäkologischen Zwecken und 
fast ausschließlich intravenös verwandt worden. 
Es erzeugte in Dosen von % bis 1 ccm bei Sepsis 
und Adnexerkrankungen ungefähr eine Stunde 
nach der Injektion Schüttelfrost mit Kopf¬ 
schmerzen, dem mit Absinken der reaktiven 
Temperatursteigerung auch häufig das Fallen 
eines vorher bestehenden Fiebers folgte, und 
wurde in Abständen von zwei bis drei Tagen zu- 


1) Die der Sanarthrit zugrunde gelegte Theorie 
setze ich als bekannt voraus. 

^) Beide Mittel wiesen dem Caseosan gegenüber 
keinen prinzipiellen Unterschied auf, zeigten aber 
nur einen kaum angedeuteten Reaktionseffekt, 
denen nur eine ganz geringe Heilwirkung folgte. 
Sie fielen deshalb für die weiteren Versuche für 
mich fort. 


sammen drei- bis viermal injiziert. Adnextumoren 
zeigten Rückbildung. Der Injektion folgte häufig 
eine auffallende Schläfrigkeit. An weiteren Er¬ 
scheinungen, ist hinzuzufügen: Durstgefühl, trok- 
kene Lippen, Gliederschmejzen, Abgeschlagen- 
heit, leichte Übelkeit und Schwindelgefühl. Leuk'o- 
cytenzählungen ergaben nichts Einheitliches. Ein 
schwerer anaphylaktischer Shock wurde sowohl 
in der ersten Arbeit von Lindig wie bei dem 
bereits oben erwähnten Fall von Taege beschrie¬ 
ben. Lindig und Arweiler (10) verwandten fast 
ausschließlich intravenöse Injektionen, deren Wir- 
. kung sie höher als die intramuskulären ein¬ 
schätzten. 

Bei meinen eigenen Versuchen ver¬ 
ließ ich trotzdem die Methode der intra¬ 
venösen Applikation, weil mir gerade 
bei meinem Krankenmaterial ein so 
plötzliches Hineinwerfen des Caseins in 
die Blutbahn nicht erforderlich schien 
und ich andererseits bei meinem fast 
ausschließlich poliklinischen Patienten 
mich vor so stürmischen Allgemein¬ 
reaktionen’ schützen mußte, wie sie die 
oben erwähnten Shockerscheinungen dar¬ 
stellen. Nach einigen Vorversuchen er¬ 
zielte ich folgende Reaktionen auf die In¬ 
jektionen, die ich zumeist subcutan unter 
die Ruckenhaut gegeben habe: 1. All¬ 
gemeinreaktionen : leichtes Frösteln, 
mäßige Abgeschlagenheit, dumpfes Ge¬ 
fühl im Kopf, erhöhte Schweißsekretion, 
Schläfrigkeit wie leichter Schwindel, 
nach einem Schlafmittel, auffallende 
Euphorie, bei höheren Dosen manchmal 
Ansteigen der Temperatur. 2. Herd- 
reaktionen: erhöhte Schmerzhaftigkeit und 
akute Entzündungserscheinungen in allen 
manifest und latent erkrankten Gelenken 
(vergleiche Heilners Mahnungen). Diese 
Reaktionen währten bei richtiger Do¬ 
sierung 12 bis 36 Stunden. Eine Anzahl 
der Patienten führte ich außer der Ca- 
seosanbehandlung den sonst üblichen 
äußeren Behandlungsmethoden zu, wie 
Heißluft- und Bewegungstherapie. Denn 
in der Regel werden rein mechanische 
Hindernisse wieo Adhäsionen und 
Schrumpfungsprozesse durch die Injek¬ 
tionen allein nicht gelöst, sondern höch¬ 
stens ihre Beseitigung unterstützt wer¬ 
den können. Heißluftbehandlung allein 
konnte in so kurzer Zeit die Erkrankung 
nicht entscheidend beeinflussen. 

Das wichtigste für die Erfolge der 
Caseosanbehandlung und zugleich das 
schwierigste ist die geeignete Dosierung 
Als Allgemeinregeln gelten: Zu geringe 
Dosis ist wirkungslos, zu hohe Dosis 
kann kurze Fieberreaktionen (bis "zu 

2) Schon Weichardt weist immer wieder auf 
die Wichtigkeit der richtigen Dosierung hin. 





278 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


August 


40 Grad) und außerordentlich heftige 
Herdreaktionen erzeugen, die mehrere 
Tage anhalten. Durch Injektionen mitt¬ 
lerer Dosen in und um die erkrankten 
Gelenke kann man sehr starke Herd¬ 
reaktionen unter Umgehung der gleich 
starken Allgemeinreaktion hervorrufen. 
Aber außerdem hängt die Dosierung 
noch von den drei folgenden Faktoren 
ab: Erstens verlangen die einzelnen 
Krankheitsgruppen eine untereinander 
erheblich verschiedene Dosierung. Zwei¬ 
tens zeigt jeder Organismus auf das Ca- 
seovsan eine ihm eigentümliche biologische 
Reaktion. Drittens verschiebt sich auch, 
diese Reaktionsgruppe bei dem einzelnen 
Menschen im Laufet der Behandlung 
nach oben oder unten, ohne daß sich 
bisher eine bestimmte Regel hat finden 
lassen. 

Gleiche Allgemein- wie Herdreaktionen 
werden bei dem einen mit 0,25 ccm bei 
dem anderen mit 10 ccm pro dosi erreicht! 
Im allgemeinen erweisen sich mittlere 
Dosen am vorteilhaftesten, das heißt 
solche, bei denen der Patient entsprechend 
seiner Krankheit und seiner Reaktions¬ 
fähigkeit mit eben merkbarer Allgemein- 
wie Herdreaktion antwortet, die nach 
12 bis 24 Stunden abgeklungen sind. 
Auch gewähren sie eine bequeme am¬ 
bulante Behandlung. Beim Beginn emp¬ 
fiehlt es sich deshalb, bei den wöchent¬ 
lich ungefähr zweimal auszuführenden 
Injektionen (die Reaktion soll vor einer 
Reinjektion abgeklungen sein), mit einer 
Dosis von versuchsweise 1/2 bis 2 ccm an¬ 
zufangen und sie je nach der Wirkung zu 
steigern oder zu vermindern. Die Be¬ 
schwerden einer zu starken Allgemein- 
wie Herdreaktion sind durch Gaben 
Aspirin, Pyramiden oder Salipyrin leicht 
zu beheben, ohne daß die Wirkung da¬ 
durch beeinträchtigt' wird. In einzelnen 
Fällen haben sich sehr starke Herd¬ 
reaktionen günstig erwiesen. Doch be¬ 
darf die Indikationsstellung dazu noch ge¬ 
nauer klinischer Nachprüfung. Unter¬ 
schwellige Dosierung erzeugt, nachdem 
vorher eine stärkere Reaktion erzielt ist, 
insbesondere bei Gicht und Neuritiden 
sehr schnelles Nachlassen der Schmerzen, 
höhere Dosen bewirken längerdauernde 
Entzündungserscheinungen, durch die 
man oft erstaunliche Erfolge in der Mo¬ 
bilisation versteifter Gelenke erzielen kann. 

Diese großen Schwankungen in der 
Dosierung bilden zwar keine unüber¬ 
windlichen Schwierigkeiten erfordern 
aber eine dauernde Kontrolle der Be¬ 


handlung und eine Erfahrung, die erst 
durch Übung gewonnen werden* kann. 

Eine so genaue Einstellung auf die 
optimale Dosierung erscheint mir bei 
intravenöser Applikation ausgeschlossen, 
da jede, nicht berechenbare Überdosie¬ 
rung schwere’ Schädigungen zur Folge 
haben kann, wie die beschriebenen Shock- 
erscheinungeti zeigen Da diese Dosis-- 
Schwankungen sicherliqh auch für andere 
Mittel gelten, ist meines Erachtens auch 
für sie bei intravenöser Darreichung, 
soweit sie darauf mit hohem Fieber re¬ 
agieren, wie z. B. das Sanarthrit, eine 
optimale Dosierung nicht erreichbar und 
Fehlerfolge unvermeidlich. Schon aus die¬ 
sem Grunde werden jene Methoden als 
unsicher abgelehht werden müssen, ab¬ 
gesehen davon daß die höhen Fieber¬ 
reaktionen nicht oft von einem Patienten 
vertragen werden, während wirklich 
chronische Prozesse wohl mit keiner 
Methode durch wenige Injektionen in 
ihre Behandlung abgeschlossen sein 
dürften. 

Die Resultate meiner klinischen Be¬ 
obachtungen ergeben in kurzen Umrissen 
folgendes Bild^): 

1. Subakuter Gelenkrheumatismus 
und Arthritis gon. mit äußerst schmerz¬ 
haften und stark geschwollenen Gelenken 
(hohe Anfangsdosis 2 bis 4 bis 6 ccm, 
die meist ohne Fieber vertragen wird). 
Erste Injektion: fast völliges Verschwin¬ 
den der Schmerzen zweite bis dritte 
Injektion: auch die Schwellung verschwin¬ 
det; Behandlung abgeschlossen. Ver¬ 
steifungen nach Gonorrhöe werden nicht 
beeinflußt. Akute fieberhafte Prozesse 
versprechen eben so gute Resultate, wie 
schon die Versuche mit Milch (Edelmann 
und Müller)'zeigen. Solche Versuche 
habe ich bei der medizinischen Klinik 
schon angeregt. 

2. Arthritis deformans, monartikulär 
oder polyartikulär auf rheumatischer oder 
traumatischer Grundlage, mit sehr star¬ 
ken Schmerzen, besonders nachts und 
bei Witterungswechsel (gerade bemerk¬ 
bare Reaktionen, wobei die Dosis 
sehr großen Schwankungen unterliegt. 

bis 10 ccm). Nach Einstellung auf 
die richtige Dosierung sehr schnelles 
Nachlassen des Ruheschmerzes. Nur 
bei starken Schrumpfungsprozessen oft 
lange mechanische Nachbehandlung, die 
mit geringen Caseindosen unterstützt 

Alle Dosisangaben beziehen sich auf eine 
mittlere, individuelle Reaktionsfähigkeit und 
bieten nur einen gewissen Anhalt. 


August 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


279 


wird. In manchen Fällen erzeugt starke 
Herdreaktion, durch Injektion in und 
um die erkrankten Gelenke sofortige Be¬ 
schwerdefreiheit. Bei starken synovialen 
Wucherungen ohne allzu kräftige Kapsel¬ 
schrumpfungen nimmt die Beweglichkeit 
bei stärker werdendem Knarren schnell 
zu. ln ganz chronischen Fällen ohne 
starke Contracturen ist die Wirkung von 
plötzlicher völliger Schmerz- und Be¬ 
wegungsfreiheit oft ganz überraschend. 
Auch das* Malum coxae senile reagiert 
vorzüglich. 

3. Gicht: Für akute Gichtanfälle 
fehlte bisher das Material. Bei deutlichen 
gichtischen Ablagerungen erzeugen ganz 
geringe Dosen (0,2—0,5 ccm) schnell 
subjektive Erleichterung, bei kleinen 
und mittleren Dösen (0,5—2,0 ccm) sehr 
deutliche, länger dauernde Reaktionen 
in allen Gelenken, Abnehmen der 
Schwellungen. Bei einem Fall von 
schwerer alter Gicht mit ganz kompakten 
Ablagerungen um alle Gelenke, der schon 
lange mit Ameisensäure vorbehandelt 
war, erzeugte eine einzige Injektion von 
2 ccm Caseosan in einen sich, auf Ameisen, 
säure refraktär verhaltenden Herd am 
Knie eine ganz enorm schmerzhafte Herd¬ 
reaktion ohne Fieber. Nach vier Tagen 
waren die harten Ablagerungen absceß- 
artig weich geworden und bald darauf 
zum großen Teil resorbiert. Leider haben 
mir bisher ähnliche Fälle zur klinischen 
Untersuchung gefehlt. Ein Fall von 
schwerem gichtischen Ekzem mit quä¬ 
lendem Juckreiz ist nach wenigen Injek¬ 
tionen von bis 1 ccm fast völlig ab¬ 
geheilt. 

4. Der primäre chronische Gelenk¬ 
rheumatismus mit festen Contracturen 
verhält sich trotz hoher Dosen und deut¬ 
lichen Herdreaktionen meist ziemlich re¬ 
fraktär, oder es gelingt, in Ruhe den 
Schmerz zu lindern, bei stärkeren Bewe¬ 
gungen und besonders nach Versuch der 
Mobilisation treten die alten Beschwerden 
wieder auf (vergleiche die Mißerfolge bei 
Denecke). Neue Versuche mit Injek¬ 
tionen in die Gelenke scheinen Erfolg zu 
versprechen. 

5. Neuritiden (7) scheinen schnell und 
günstig beeinflußt zu werden (hohe An¬ 
fangsdosis, 2 ccm, mit starker Herdreak¬ 
tion, danach schwache, dicht unterhalb 
der Reaktionsschwelle befindliche Dosen. 

— y ^—1 ccm). Nach der ersten schwa¬ 
chen Dosis läßt der Schmerz an den cen¬ 
tralen Teilen zunächst nach, um, wie die 
Patienten übereinstimmend beschreiben, 


gegen die peripheren Teile zu hinausge¬ 
trieben zu werden. 

Die Dauer der Behandlung hängt von 
den Krankheitsformen ab. Bei subakuten 
Fällen kann mit wenigen Injektionen ab¬ 
geschlossen werden, bei chronischen Fäl¬ 
len mit starken Gelenksveränderungen 
kann nach einigen Injektionen Schmerz¬ 
freiheit erzielt werden, die, soweit bisher 
beobachtet, oft ohne Rezidiv bleibt; 
treten doch Rezidive auf, häufig infolge 
äußerer Einflüsse (Witterungsumschlag, 
kalte Nässe, Erkältungen, Überanstren¬ 
gungen), so können sie mit wenigen, oft 
schon einer Injektion beseitigt werden. 
Abschließendes Urteil kann erst nach 
längerer Beobachtung gefällt werden. 
Meine Versuche bei diesen chronischen 
Erkrankungen sind dafür noch zu jung. 

Die Methode der subcutanen oder 
intramuskulären Caseosanbehandlung ist 
noch weit davon entfernt, erschöpft zu 
sein. Erst genaue klinische Untersuchun¬ 
gen werden in vielen Einzelheiten Klar¬ 
heit bringen. Die Frage der optimalen 
Dosierung z. B. bedarf durch weitere, 
möglichst klinische Beobachtungen noch 
gründlicherer Klärung. Bedeutsam für 
die Methode ist die Tatsache, daß ich, 
trotzdem ich in manchen Fällen wochen¬ 
lang 5—10 ccm Caseosan (im Höchstfälle 
zusammen 107 ccm) gegeben habe, nie¬ 
mals die bei einer protrahierten Protein¬ 
körperbehandlung drohenden Erschei¬ 
nungen der Anaphylaxie und der pro¬ 
teinogenen Kachexie 11) erlebt habe. Da¬ 
gegen muß man sich von vornherein be¬ 
wußt sein, daß die Proteinkörpertherapie 
nicht specifisch wirkt, daß sie vielmehr 
auf alle Körperzellen emwTkt, die sich 
durch irgendwelche Krankheitsprozesse 
in einem erhöhten Reizzustand befinden. 
Tuberkulöse Lungenprozesse reagieren oft 
sehr intensiv. In einem Falle habe ich 
nach 1 ccm eine sehr unangenehme Lun¬ 
genblutung erlebt. Alte Cholecystitiden 
geraten in eine reaktive Entzündung, 
und auch bei anderen Krankheitserschei¬ 
nungen muß man stets daran denken, 
daß man mit der Proteinkörpertherapie 
immer den Gesamtorganismus trifft und 
nicht nur den Krankheitsherd, auf den 
man zielt. Trotzdem bildet selbst eine 
Lungentuberkulose bei vorsichtiger Do¬ 
sierung keine absolute Kontraindikation. 

Ich glaube, daß die Caseosanbehand¬ 
lung der chronischen Arthritiden und 
ähnlicher Erkrankungen bei vorsichtiger 
Anwendung zum wertvollen Rüstzeug 
auch des praktischen Arztes werden kann 




280 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


August 


und die Methoden der intravenösen In¬ 
jektionen irgendwelcher Stoffe verdrängen 
wird, vor'denen- sie den Vorzug der be¬ 
quemen und ambulanten Ausführung und 
die Möglichkeit der optimalen Dosierung 
hat Was das Sanarthrit betrifft, glaube 
ich ferner, im Gegensatz zu Denecke, 
den Beweis des Parallelismus zwischen 
ihm und den Proteinkörpern erbracht zu 
haben. Damit wird die Theorie der speci- 
fischen Wirkung des Sanarthrits hin¬ 
fällig. 

Trotz der guten Erfolge bei den 
chronischen Arthritiden halte ich das 
Caseosan nun keineswegs für ein Speci- 
ficum dieser Erkrankungsformen, son¬ 
deren diese vielmehr nur für ein zufälliges 
Anwendungsgebiet jenes Mittels, das auch 
auf allen anderen der Proteinkörper’- 
therapie zugänglichen Gebieten Hervor¬ 
ragendes leisten wird, insbesondere, wo es 
bei subciitaner und intramuskulärer An¬ 
wendung eine optimale Dosierung ge¬ 


währleistet.' Andererseits bin ich mir aber 
dessen bewußt, daß das Caseosan kaum 
das Präparat sein wird, dessen Wirkung, 
nicht mehr gesteigert werden kann. Im 
Gegenteil halte ich es für sehr möglich, 
daß noch andere Stoffe gefunden werden,, 
die den therapeutischen Anforderungen 
noch besser gerecht werden. Nach dieser 
Richtung hin liegt noch ein weites Ar¬ 
beitsgebiet offen. Zurzeit aber gebührt 
dem Caseosan die führende Stellung in 
der Proteinkörpertherapie. 

1. Weichardt (M. m. W. 1920, Nr. 4; 1919.. 
Nr. 11; 1918, Nr. 22; 1915, Nr. 45; Zschr. f. d. 
Neurol. 1914, Bd. 22, H. 4/5. — 2. Lindig (M.- 
m. W. 1919, Nr. 33 u. 50. — 3. R. Müller (W. 
kl. W. 1917, Nr. 26. — 4. Edelmann (M. m. W. 
1917, Nr. 51; W. kl. W. 1917, Nr. 10 u. 16. — 
5. Taege (M. m. W. 1920, Nr. 25. — 6. Heilner 
(M. m. W. 1916, Nr. 28; 1917, Nr. 29; 1918, Nr. 36. 
— 7. I. Voigt (Ther. d. Gegenw. 1919, Nr. 7. — 
8. Böttner(M.m. W. 1920, Nr. 12. — 9. Denecke 
(Ther. d. Gegenw. 1920, Nr. 6. — 10. Ar weil er,. 
Beitrag zur Caseintherapie, In.-Diss., Freiburg 
i. Br. 1919. — 11. Schittenhelm und Weich¬ 
ardt (Zschr. f. Immun. Forsch. 1912, Bd. 14, S.609^ 


Aus dem Städtischen Krankenhause Moabit in Berlin, I. medizinische Abteilung. 

über die Röntgenbehandlung der Pseudoleukämie. 

Von Dr. J. Blumenthal. 


Während über die Röntgenbehandlung 
der Leukämie und ihre Erfolge eine sehr 
reichhaltige Literatur vorhanden ist, 
existieren nur wenige Veröffentlichungen 
über die bei der Pseudoleukämie mit der 
Strahlentherapie erzielten Wirkungen. Die 
Ursache hierfür ist darin zu suchen, daß 
die an und für sich seltenere Erkrankung 
meist im Rahmen der Leukämie mit ab¬ 
gehandelt wird. Von dieser ist das, was 
wir unter der eigentlichen Pseudoleukämie 
verstehen — nämlich die aleukämische 
Myelose und Lymphadenose — ja auch 
nur unwesentlich verschieden. Zwischen 
beiden Erkrankungen besteht lediglich 
ein gradueller Unterschied; daraus folgt 
freilich noch nicht, daß bezüglich der 
Schwere und Verlaufsdauer wichtige 
Unterschiede bestehen. Vielmehr gibt es 
sehr chronisch verlaufende Leukämien und 
andererseits sehr stürmisch verlaufende 
Aleukämien. Man faßt heute allgemein 
Leukämien und Pseudoleukämien als ver¬ 
schiedene Manifestationen derselben 
Krankheit auf. 

Der Unterschied zwischen Leukämie 
und Pseudoleukämie ist also nicht etwa 
so aufzufassen, als wenn letztere die 
weniger intensive Erkrankung wäre. Trotz¬ 
dem bestehen zweifellos Unterschiede in 
der Strahlenwirkung auf leukämische und 


aleukämische Erkrankungen, die be¬ 
sonders für die Indikationsstellung nicht 
gleichgültig sind. Bekanntlich bewirkea 
die Röntgenstrahlen bei der Leukämie: 
erstens eine Verkleinerung der myeloischea 
und lymphatischen Tumoren und damit 
die Beseitigung solcher subjektiver Be¬ 
schwerden, die durch rein mechanische 
Behinderungen entstehen und zweitens 
die Veränderungen des Blutbildes, die sich 
in Abnahme der Leukocyten (besonders 
der unreifen Formen), bewirkt durch 
Hemmung der pathologischen Mehrbil¬ 
dung, und in Zunahme der Erythrocyten- 
werte und des Hämoglobingehalts do¬ 
kumentieren. Hierdurch wird eine wesent¬ 
liche Hebung des Allgemeinbefindens be¬ 
wirkt, oft kommt es für lange Zeit zur 
vollen Arbeitsfähigkeit. Nach Gocht 
übersteigt die durchschnittliche Dauer der 
Erkrankung auch unter Röntgenbehand¬ 
lung nicht drei bis vier Jahre; jedoch 
sind zweifellos viel länger anhaltende 
Besserungen möglich. 

Für die Pseudoleukämie ist es von 
großer Wichtigkeit, daß eine länger 
dauernde Einwirkung der Röntgenstrahlen 
auch die normale Leukopoese erheblich 
zu hemmen vermag. Selbst Fälle, die 
schon mit Leukopenie einhergehen, können 
eine weitere Abnahme der Leukocyten er- 




Augu'st I Die Therapie der 


fahren, was unter Umständen zu bedroh¬ 
lichen Erscheinungen führen kann. 
Kommt es daher im Verlaufe der Bestrah¬ 
lung zu stärkerer Leukopenie, so ist die 
Behandlung zu unterbrechen, da*' es sich 
lediglich darum handeln soll, hemmend 
auf die Mehrproduktion der weißen "Zellen 
einzuwirken, nicht aber subnormale Bil¬ 
dung zu erzielen. 

Die Hebung des Allgemeinbefindens 
führt Gocht auf ,,Er>tgiftung des Orga¬ 
nismus durch Verminderung der Pro¬ 
duktion toxisch wirkender Substanzen“ 
zurück; die Verkleinerung der Tumoren 
ist eine Böige des durch die Bestrahlung 
bewirkten Leukocytenzerfalls am Bil- 
dungsoTt. 

- Aus der Spezialliteratur über die 
Röntgenerfolge bei der Pseudoleukämie 
ist besonders die Arbeit von Hoch¬ 
gürtel hervorzuheben. Dieser stellte 1914 
aus der Literatur 43 Fälle zusammen, von 
denen jedoch nur 17, also noch nicht die 
Hälfte, ein halbes Jahr und länger be¬ 
obachtet wurden, ln sämtlichen dieser 
17 Fälle trat Verkleinerung der pseudo¬ 
leukämischen Tumoren ein, jedoch nur 
bei dreien völlige Rückbildung. Elf dieser 
Fälle bekamen nach drei bis acht Mo¬ 
naten Rezidive, nur vier davon zeigten 
auch günstige Beeinflussung des Rezidivs 
durch Bestrahlung. Lange • andauernde 
Besserungen traten in vier Fällen auf, 
jedoch dauerte die längste nur 30 Monate. 
Zu berücksichtigen ist, daß die von 
Hochgürtel angegebenen Fälle aus dem 
Jahre 1903 bis 1910 stammen, zu welcher 
Zeit man die moderne Tiefenbestrahlung 
noch nicht anwandte; die meisten anderen 
der sich übrigens immer nur auf ver¬ 
einzelte Fälle beziehenden Veröffent¬ 
lichungen sind für die Beurteilung der 
wirklichen Erfolge wegen der ungenügend 
langen Beobachtungsdauer nur im be¬ 
schränktem Maße verwertbar. 

Im folgenden beschreibe ich drei 
Fälle^) aleukämischer Lymphadenose und 
einer aleukämischen Myelose, die alle 
drei außerordentlich prompt und günstig 
auf die Röntgentherapie reagierten. 

Fall 1. Schwester M. H., 42 Jahre alt. Mit 
9 und 12 Jahren Luftröhrenkatarrh, hierbei 
gleichzeitig starke Drüsenpakete am Hals, die 
sich langsam zurückbildeten. Mit 28 Jahren An- 


In den Krankengeschichten von Fall 1 
(die aus dem Krankenhaus Moabit), von Fall 2 
und 3 (die aus dem Institut für Krebsforschung 
stammen), befinden sich genauere Angaben über 
Technik der angewandten Bestrahlung, die hier 
tortgelassen sind. 


Gegenwart 1920 ^ 281' 


Schwellung am Hals, deren Ursache und Art nicht 
einwandfrei feststellbar ist. Bis 1915 bestand 
dann im allgemeinen Wohlbefinden, bis Patientin 
merkte, daß der Leib stärker und härter wurde, 
und daß Drüsenschwellungen in der Leistengegend 
auftraten. Es stellten sich Durchfälle und (Quälende 
Blähungen ein, die Anschwellung des Leibes 
nahm zu und es traten Drüsenschwellungen in der 
Axillargegend auf. Im Herbst 1918 Grippe. Im 
Januar 1919 traten Durchfälle und Erbrechen 
häufiger auf. Der Leib wurde stärker, die vojr 
3% Jahren auf getretenen Drüsenschwellungen 
am Hals und in der Axilla haben sich bis jetzt 
nicht wesentlich verändert. 

Aufnahmebefund am 10. September 1919: 
Große mittelkräftige Frau in mäßigem Ernäh¬ 
rungszustände. Gesichtsfarbe gelblich blaß, 
Schleimhäute durchblutet. Leib stark aufgetrieben. 
Milz und Leber stark vergrößert, bis handbreit 
unter den Nabel reichend, hart. Am Hals und 
in den Supraclaviculargruben zahlreiche kirsch- 
bis pflaumengroße Drüsen, die beweglich sind. 
In der linken Axilla drei bis vier pflaumengroße, 
in der rechten mehrere größere, gut verschiebliche 
Drüsen. Eine große Drüse neben der rechten 
Mamma. Röntgenbefund: Leichte Verbreiterung 
des Herzens nach rechts und des Gefäßschattens. 
Leichte Verschattung der rechten Lungenspitze. 
Kein Mediastinaltumor. Wassermann: —. Blut¬ 
status: rote Blutkörperchen 4 500 000, weiße 
Blutkörperchen 5700, Plättchen 500 000, Hämo-’ 
globin 72%, Polynucleäre 58%, Lymphocyten 
36%, Mononucleäre 15%, Eosinophile 1%-: 

19. September. Patient, fühlt sich wohl. 
Röntgenbefund unverändert. Blutbefund: Poly- 
nucl. '42%, gr. Lymph. 25%, kl. Lymph. 27% 
Mononucl. 5%, Eos. 1%. 

28. September. Beginn der Röntgenbehand¬ 
lung. Milzbestrahlung von 15 Minuten Dauer. 

6, Oktober. Milzbcstrahlung wird fortgesetzt. 
Keine Veränderung im Allgemeinbefinden. Blut¬ 
bild : Polynucl. 42%, gr. Lymph. 28%. kl. Lymph. 
26%, Mononucl. 3%, Mastzellen 1%. 

13. Oktober. Seit Beginn der MIzbestrahlung 
im ganzen sechs Bestrahlungen ä 15 Minuten. 
Patientin fühlt sich ziemlich matt. 

18. Oktober. Blutbefund: Leukoc. 4000, 
Polynucl. 51%, Lymph. 40%, Mononucl. 8%, 
Eos. 1%. Seit einigen Tagen wieder Bestrahlung 
des Leibes, jedesmal von 30 Minuten Dauer. 

25. Oktober. Bestrahlung wird fortgesetzt. 
Die Tumoren im Abdomen haben sich ver¬ 
kleinert, der Leib ist nicht so gespannt. Im An¬ 
schluß an die Bestrahlung häufig große Mattig¬ 
keit, sonst allgemeine Besserung des Befindens. 

27. Oktober. Letzte Bestrahlung des Leibes. 
Die Schwellung des Abdomens ist zusehends 
zurückgegangen. 

31. Oktober. Die Tumoren im Leib sind fast 
völlig verschwunden, Leber und Milz nur noch 
wenig vergrößert. Auch die Drüsen haben sich 
etwas verkleinert. Hämogl. 60%. 

7. November. Andauernde Mattigkeit, sonst 
keine Veränderung. 

13. November. Hämogl. 65%, r. Blutk. 

' 4 080 000, w. Blutk. 2600, Polynucl. 47%, gr. 
Lymph. 29%, kl. Lymph. 16%, Mononucl. 8%. 

23. November. Noch häufig große Mattigkeit. 

28. November. Hämogl. 65%, w. Blutk. 3700. 

3. Dezember. Die Tumoren im Leib und die 

Drüsen in der Axilla haben sich wieder etwas 
vergrößert. 


36 




282 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


August 


8. Dezember. Keine Veränderung. In den 
letzten Tagen leichte Temperaturerhöhung. Blut¬ 
befund: r. Blutk. 4100 000, w; Blutk. 3800, 
Hämogl. 75%, Polynucl. 54%, Lymph. 42%, 
Eos. 2%, Mononucl. 2%. 

11. Dezember. Beginn der neuen Bestrahlungs¬ 
periode. Es werden ausschließlich Drüsen be¬ 
strahlt. In den letzten Tagen Durchfälle. Sub¬ 
jektives Befinden sonst gut, w. Blutk. 4300. 

13. Dezember. Bestrahlung. W. Blutk. 4400. 

^ 16. Dezember. Bestrahlung. W. Blutk. 4700. 

18., 20., 22. Dezember. Bestrahlung. W. Blutk. 
3300, subjektives Befinden bessert sich. 

24., 29., 31. Dezember. Bestrahlung der 
Drüsen am Hals und in der Axilla. Leuk. 4900. 
Patientin fühlt sich meist abgespannt. Die Drüsen 
in der linken Axilla sind,stark zurückgegangen, 
diejenigen in der linken Brustseite sind ganz 
verchwunden. 

3. Januar. Patientin ist dauernd fieberfrei 
und fühlt sich subjektiv wohl. Im Leib sind keine 
Tumoren fühlbar, Bestrahlung wird abgeschlossen. 

14. Januar. Befund bei der Entlassung aus 
dem Krankenhaus: Leib weich, nirgends druck¬ 
empfindlich. Die Milz ist palpatorisch nicht ver¬ 
größert, sie überragt auch perkutorisch nirgends 
den Rippenbogen. Die Drüsen an beiden Brust¬ 
seiten sind völlig geschwunden, auch keine Ver¬ 
größerung der Achseldrüsen feststellbar. Blut¬ 
befund: Erytroc. 4 100 000, Leuk. 4500. Im 
gefärbten Präparat 10% Lymph. Patientin 
wird als gebessert entlassen. Patientin machte 
kurz nach ihrer Entlassung eine leichte Grippe 
durch, wodurch sich ihr Allgemeinbefinden vor¬ 
übergehend verschlechterte. Ende Februar wurde 
weder Milz- noch Drüsenschwellung festgestellt. 
Im Blutbild ergaben sich keinerlei Veränderungen 
gegenüber dem Abgangsbefund. Im März bekam 
Patientin eine Entzündung der Mundschleimhaut, 
in letzter Zeit besserte sich das Befinden ein wenig. 
Jedoch besteht auch jetzt noch häufig große 
Schwäche. Die Temperatur^ ist in letzter Zeit 
andauernd normal. Milz- und Drüsenschwellungen 
sind bis jetzt noch'nicht wieder aufgetreten. 

Fall 2. H. S., 44Jahre. Krankheit begann nach 
Angabe des Patienten bereits im Jahre 1910 mit 
zunehmender Schwäche und mäßiger Gewichts¬ 
abnahme. Damals wurde bereits von einem Arzt 
eine hochgradige Milzschwellung festgestellt. Auch 
wurde Patient damals schon mit Röntgenstrahlen 
und Atoxylinjektionen behandelt. Der Erfolg 
war aber nur vorübergehend, und das Befinden 
des Patienten verschlechterte sich in letzter Zeit 
wieder, wenn er auch niemals bettlägerig war. 

11. September 1916. Mittelkräftiger Mann, in 
mäßigem Ernährungszustand, sehr blasse Ge¬ 
sichtsfarbe. Röntgenbefund: Linker Ventrikel 
dilatiert, Mediastinum frei. Es bestehen keinerlei 
Drüsenschwellungen. Milz hart, bis zum Nabel 
reichend. Leuk. 10 000. Die klinische und 
hämatologische Diagnose lautete damals: aleu- 
käm. Myelose. Genauerer Blutbefunde aus 
dieser Zeit stehen nicht zur Verfügung. 

4. September bis 11. Oktober 1916. 23 Be¬ 

strahlungen der Milz. 

12. bis 21. Oktober. Atoxylkur. 

20. bis 27. November 1916. Vier Bestrahlungen. 
Im Januar 1917 neun Bestrahlungen, im März 
1917 elf Milzbestrahlungen, und im Juli zwölf 
Bestrahlungen. Im Februar und Juli 1917 je eine 
Atoxylkur. 

14. Januar 1918. RöntgenulceraFon an drei 
Stellen unterhalb des linken Rippenbogens. 


8. März 1918. Die Ulceration ist flacher ge¬ 
worden. 

5. Juli 1918. Die Ulceration ist vernarbt, die 
Milzverkleinerung hat angehalten, trotzdem seit 
einem Jahr keine. Bestrahlung vorgenommen 
werden konnte. Allgemeinbefinden gut. , Blut¬ 
befund im April 1918: Hämogl. 70%, r. Blutk. 
3 600 000, w. Blutk. 8300, Polynud. 78%, Eos. 
2Vo, kl. Lymphoc. 13%, Mononucl. 3%, Myeloc. 
4Vo- Blutbefund am 6. Januar 1919: Hämogl. 
75%, Leuk. 4600, Pol. 79%, Eos. 2%, kl. 
Lymph. 12%, Mononucl. 2%, Myeloc. 5%. 

17. März 1919. Milz reicht zwei Querfinger 
unterhalb Nabelhöhe und überschreitet die Me¬ 
dianlinie zwei Querfinger nach r. 9600 Leukoc. 
Ausgesprochene Poikilocytose, Anisocytose, einige 
Normobi., einige Myeloc, 

Vom 19. bis 25. März. Sieben Milzbestrah¬ 
lungen. 

26. bis 28. Mai 1919. Drei Milzbestrahlungen. 

I. Juni 1919. Blutbefund: Hämogl. 84%, 
r. Blutk. 3 700 000, w. Blutk. 9000, Pol. 70%, 
Eos. 2%, kl. Lymph. 14%, Mononucl. 6%, Myeloc. 

24. bis 26. Juli. Drei Milzbestrahlungen je 
40 Minuten. Erhebliche Milzverkleinerung. All¬ 
gemeinbefinden gut. Im Frühjahr 1920 wurde 
Patient mit Salvarsan behandelt und bekam im 
ganzen 13 Einspritzungen von 0,15 bis 0,45 
steigend. Blutbefund am 5. April 1920: Hämogl. 
80Vn, r* Blutk. 4 100 000, w. Blutk. 6900, Polynucl. 
77%, Eos. 3%, kl. Lymph. 14%, Mononucl. 4%, 
Myeloc. 2%. 

Fall 3. R. S., 49 Jahre. Krankheit begann 
vor fünf Monaten mit Drüsenschwellungen in der 
ersten Fossa supra-clavicularis. Bald darauf 
traten Drüsentumoren an beiden Halsseiten auf. 
Status präsens: kräftiger Mann in gutem Er¬ 
nährungszustand. Hauptsitz der Erkrankung: 
In beiden Fossae supraclaviculares, am Verlauf 
der mm.' sternocleidomastoidei, sowie in beiden 
Achselhöhlen und in beiden Leistenbeugen zahl¬ 
reiche mittelharte, gut verschiebliche Drüsen von 
Kirsch- bis Wallnußgröße. Beiderseits vom 
Sternum ‘besteht mehrere querfingerbreite 
Dämpfung. (Röntgen- und Blutbefunde von da¬ 
mals stehen leider nicht zur Verfügung. Jedoch 
wurde auf Grund dieser Befunde damals die 
Diagnose: aleukämische Lymphadenose ge¬ 

stellt.) 

5. bis 17. Dezember 1917. Sechs Bestrahlungen 
verschiedener Drüsen. Gleichzeitig Atoxyl-Arsen- 
kur Silbe. 

28. Januar bis 8. Februar 1918. S^chs Be¬ 
strahlungen. 

II. März 1918. Sämtliche Drüsen, auch die 
am Halse haben sich verkleinert. 

15. bis 22. März 1918. Sieben Bestrahlungen 
je 20 Minuten. 

20. März 1918. Die Drüsen sind deutlich 
kleiner geworden. Auf der rechten Seite supracla- 
vicular befindet sich eine noch etwa kirschgroße, 
links eine etwa haselnußgroße. Gewichtszunahme 
etwa sechs Pfund. 

17. April 1918. Über der linken clavicula 
mehrere kirschgroße Drüsen, im ganzen ein Paket 
von etwa Taubeneigröße, von mäßiger Härte, 
frei beweglich. Einige gleichgroße Drüsen am 
linken Unterkiefer, am Kinn und auf der rechten 
Halsseite. In der linken Achselhöhle ein Drüsen¬ 
paket von Kleinkindskopfgröße, ebenso in der 
rechten Milz vergrößert. In der Leistengegend 



August 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


283 


beiderseits kleinere, etwa haselnußgroße Drüsen. 
Leuk.: 13 000. 

25. April bis 13. Mai 1918. Neun Bestrahlungen. 

11. Juni 1918. 65% Lymph. 

19. Juni bis 13. November 1918. Neun Be¬ 
strahlungen von je 20 bis 30 Minuten Dauer. 

15. August 1918. Die Drüsen haben sich weiter 
erheblich verkleinert. In beiden Achselhöhlen 
noch .je ein Paket von Kleinapfelgröße. Sub- 
mäxillar- und Supraclaviculardrüsen fast völlig 
verschwunden. 

-2. Oktober 1918. Patient war sechs Wochen 
in der Schweiz. Die Drüsen sind jetzt überall 
erheblich mehr angeschwollen, jedoch nicht an¬ 
nähernd so groß wie zu Beginn der Behandlung. 
Das Allgemeinbefinden hat sich nicht verschlech¬ 
tert. 12 000-Leukocyten. 

7. bis 28. Oktober 1918. Zehn Bestrahlungeh 
von je 20 bis 30 Minuten Dauer. 

26. Novemb>er 1918. Sämtliche Drüsen haben 
sich wieder verkleinert. 10 000 Leukocyten. All¬ 
gemeinbefinden gut. 

3. Januar 1919. Blutbefund: Hämogl. 90%, 
r. Blutk. 4 450 000, w. Blutk. 12 000, Pol. 41%, 
Eos. 2%, kl. Lymph. 31%, gr. Lymph. 19%, 
Mononucl. 7%. 

2. bis 20. Dezember 1918. Sechs Bestrahlungen. 

5. bis 13. Dezember 1919. Acht Bestrahlungen. 

17. bis 29. März 1919. Neun Bestrahlungen^ 

17. März 1919. Die Drüsenschwellungen am 
Hals, an der Achselhöhle, in den Leisten haben 
sich zwar verkleinert, sind aber immer noch stark. 
An der rechten Halsseite eine große Anzahl 
weicher, gut verschieblicher, wenig druckempfind¬ 
licher Drüsen. Ähnlicher Befund an’ der linken 
Halsseite. In beiden Axillae je ein faustgroßes 
weiches Drüsenpaket. In der rechten Inguinal- 
gegend eine pflaumengroße Drüse. Blutbefund: 
Hämogl. 90%, r. Blutk. 4 700 000, w. Blutk. 8000, 
Pol. 45%, Eos. 6%, kl. Lymph. 28%, gr. Lymph. 
18%, Mononucl. 3%. 

7. Mai 1919. Die Drüsen haben sich außer¬ 
ordentlich verkleinert. An beiden Halsseiten nur 
noch einzelne weiche, gut verschiebliche kirsch¬ 
große Drüsen. 

7. bis 17. Mai 1919. Acht Bestrahlungen. 

4. bis 14. Juli 1919. Acht Bestrahlungen. 

2. September 1919. Die Drüsen sind überall 
völlig zurückgegangen. 

2. bis 12. September 1919. Acht Bestrahlungen. 

1. Oktober 1919. Blutbefund: Hämogl. 90%, 
r. Blutk. 4 530 000, w. Blutk. 7900, Pol. 51%, 
Eos. 3%, kl. Lymph. 34%, gr. Lymph. 9%, Mono¬ 
nucl. 3%. Patient ist seit dieser Zeit nicht wieder 
bestrahlt worden. Sein gutes Befinden hielt trotz¬ 
dem^ bis vor kurzem an, wo im Anschluß an ein 
Gesfchtserysipel wieder eine geringe Drüsen¬ 
schwellung rechts supraclavicular auf trat, die sich 
aber bereits wieder zu verkleinern beginnt. Der 
Blutbefund hat sich seitdem nicht wesentlich 
verändert. Am 25. Februar betrug die Zahl der 
weißen Blutkörperchen 7600 und die Lympho- 
cytenprozentzahl 40. 

Im ersten Falle bestand nach sehr 
rascher Rückbildung der Tumoren und 
Besserung des Blutbildes und Allgemein¬ 
befindens nach einem halben Jahre noch 
völlige Rezidivfreiheit. Fall 2 (aleukä¬ 
mische Myelose), dessen Krankheitsbe¬ 
ginn bereits zehn Jahre zurückliegt, zeigte 


dauernde günstige Beeinflussung des 
Blutbildes und Allgemeinbefindens, auch 
bei den mehrmals aufgetretenen Rezidiven, 
während der enorme Milztumor sich 
immer nur bis zu einem bestimmten Grade 
verkleinerte. Jedoch ist die lange und 
milde Verbufsart dieses Falles vielleicht 
nicht allein auf Konto der Strahlenbe¬ 
handlung zu setzen, sondern der an und 
für sich relativ gutartigen Erkrankung 
zuzuschreiben. Fall 3 zeigte eine allmäh¬ 
liche aber zielsicnere Verkfeinerung der 
Drüsentumoren, sowohl bei der ersten 
Behandlung im Winter 1917/18, wie auch 
eines im Oktober 1018 aufgetretenen 
leichten Rezidivs. Günstig war auch hier 
Wirkung auf Blutbild und subjektives 
Befinden. 

Alle drei Fälle zeigen die eingangs er¬ 
wähnten Röntgenwirkungen in außer¬ 
ordentlichem Maße. Darüber hinaus ist 
zu ersehen, ‘daß eine viel längere Besse¬ 
rung der Krankheitserscheinungen mög¬ 
lich ist, als nach den in der Literatur mit¬ 
geteilten Fällen anzunehmen war. Im 
Widerspruch zu den meisten dieser Mit¬ 
teilungen steht auch die günstige Beein¬ 
flußbarkeit der Rezidive. In Fall 1, der 
mit starker Leukopenie einherging, mußte 
mit der Behandlung besonders vorsichtig, 
und unter sorgfältiger Kontrolle des Blut¬ 
bildes vorgegangen werden. 

Bei der Myelose genügt im allgemeinen 
die Bestrahlung der Milz (die .in sechs 
Felder eingeteilt wird), von wo aus offen¬ 
bar eine günstige Beeinflussung des ge¬ 
samten myelopoetischen Systems mög¬ 
lich ist. Die Lymphadenosen erfordern 
eine isolierte Bestrahlung der einzelnen 
Krankheitsherde. Man benutzt heute 
ausschließlich harte Strahlen, die infolge 
ihres stärkeren Durchdringungsvermögens 
auch auf tiefere Partien einzudringen ver¬ 
mögen. Längere Zeit fortgesetzte Be¬ 
strahlungen mit kleinen Dosen ergeben 
günstigere Resultate als intensive lang¬ 
dauernde Einzelbestrahlungen. Es wur¬ 
den einzelne Bestrahlungsperioden von je 
nach Allgemeinbefinden und Wirkung 
verschiedener Dauer in vierwöchigen Zwi¬ 
schenräumen vorgenommen. Die Gesamt¬ 
zahl 'dieser Bestrahlungsperioden hängt 
natürlich von dem Verlauf und der Be¬ 
einflußbarkeit des Leidens ab. Kontra¬ 
indikationen gegen Fortsetzung der Be¬ 
strahlung sind Zunahme der Anämie und 
schwere Störung des Allgemeinbefindens, 
sowie ein zu intensiver Leukocytensturz, 
wenn er zu hochgradiger Leukopenie 
führt. 


36* 


284 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


‘ August 


Immerhin bedeutet eine noch so lange 
andauernde Rezidivfreiheit keineswegs 
eine völlige Heilung. Jederzeit kann 
selbst nach mehrmals erfolgreicher Rezi¬ 
divbehandlung eine akute Verschlimme¬ 
rung auftreten, die jedeY weiteren Beein¬ 
flussung trotzt. Und erfahrungsgemäß 
tritt dies im Verlaufe Jeder Leukämie und 

_ 


Pseudoleukämie einmal ein. Trotzdem 
bleibt' die Möglichkeit einer jahrelangen 
Lebensverlängerung und lange anhalten¬ 
der Symptomfreiheit bestehen; dadurch 
wird die Röntgentherapie zur wirksam¬ 
sten Waffe gegen dieses Leiden ge¬ 
stempelt. 


Erfahrungen mit künstlicher Höhensonne. 

Von Dr. med. Frhr. v, Sohlern (Stuttgart). 


Da man gelegentlich noch immer bei 
manchen Kollegen auf arge Skepsis be- 
, züglich der Höhensonnenerfolge bei recht 
verschiedenartigen Krankheiten stößt, 
möchte ich im, folgenden kurz über meine 
Erfahrungen Berichten. 

Was zunächst die Technik betrifft, so mache 
ich fast ausschließlich Ganzbestrahlungen bei 
völlig geöffneter Lampe, entweder täglich oder 
jeden zweiten Tag. Ich beginne mit fünf Minuten 
auf jeder Körperseite bei einem Meter Lampen¬ 
abstand und gehe dann langsam jeweils um einige 
Minuten (drei bis fünf) und 5 bis 10 cm von Tag 
zu Tag fortschreitend, bis auf je 15 Minuten und 
40 bis 50 cm Lanipenabstand. Die Schnelligkeit 
des Näherrückens usw. richtet sich nach der je¬ 
weiligen Empfindlichkeit der Haut. Innerhalb 
einer Woche läßt sich bei täglichen Bestrahlungen 
meist der definitive Abstand von 40 bis 50 cm bei 
zweimal 15 Minuten Bestrahlungsdauer erreichen. 
Bei sehr empfindlichen Patienten muß man 
eventuell langsamer Vorgehen. 

' Die Beschwerden bei etwa eintretendem 
Erythem sind zwar nicht allzuschlimm, aber 
doch lästig und namentlich bei empfindlichen und 
nervösen Individuen störend. Hier ist also be¬ 
sondere Aufmerksamkeit geboten. Bei einiger 
Vorsicht und Berücksichtigung der Eigenheiten 
der Patienten läßt sich aber die Belästigung meist 
leicht vermeiden. Geringe Grade des Erythems 
werden durch Pudern (Salicylpuder), nicht durch 
Einfetten oder Waschen, bekämpft; dadurch wird 
der Juckreiz gelindert. Nur in ganz seltenen 
Fällen kommt es trotz aller Vorsicht zu stärkeren 
Reaktionen, die dann allerdings recht unangenehm 
sind, besonders weil durch den Juckreiz dann auch 
der Schlaf gestört wird. Gang aufgegeben habe 
ich aber deswegen die Bestrahlungen auch bei 
solchen Fällen nicht. Man macht dann längere 
Pausen zwischen den einzelnen Bestrahlungen, 
bleibt mit der Lampe weiter weg usw., dann geht 
es meist ohne weitere Störungen, und die Bestrah¬ 
lungen werden gut vertragen. In einem Fall, 
merkwürdigerweise bei einer Patientin mit dunk¬ 
lem Haar, beobachtete ich nach den ersten Licht¬ 
bädern ein sehr starkes, juckendes, papulöses 
Exanthem, das aber nach etwa acht Tagen 
verschwand. Von da ab wurden die Bestrah¬ 
lungen gut vertragen. 

Die Wirkung täglicher oder wenigstens jeden 
zweiten Tag vorgenommener künstlicher Sonnen¬ 
bäder ist bei inneren Krankheiten im allgemeinen 
entschieden besser, als die selteneren Applikationen, 
bei denen wenig oder nichts herauskommt. Nach¬ 
dem ich anfänglich meist 20 Bestrahlungen in einer 
Serie gab, nehme ich jetzt für gewöhnlich 30 Be¬ 
strahlungen als Minimum, da ich die Beobachtung 


gemacht zu haben glaube, daß dann die Wirkung 
kräftiger und nachhaltiger ausfällt. Viele Patienten 
geben zwar schon nach wenigen Sonnenbädern an, 
daß sie sich frischer, kräftiger und wohler fühlen, 
häufig aber setzt diese erfreuliche Allgemeinwirk-ung 
erst nach der zehnten bis zwölften Bestrahlung, 
bei nervösen und blutarmen Patienten oft auch 
erst noch später, nach der 15. bis 20. Betrahlung 
ein. Über 40 Bestrahlungen in einer Serie bin ich 
bisher nur bei tuberkulösen Drüsen- und Gelenk¬ 
erkrankungen und bei einem Falle von Apicitis 
gegangen, der ’ mir entschieden günstig zu rea¬ 
gieren schien. 

Ein sorgsamer Augenschutz durch Brillen ist 
nicht zu vernachlässigen. Bei Patienten, die keine 
Pigmentierung im Gesicht wünschen, kann man 
dieses mit einem Tuch abdecken. 

Mein Material besteht fast nur aus 
intern^en Fällen. Das Hauptkontingent 
stellen asthenische, nervöse, neur- 
asthenische und chlorotisch-anämi- 
sche Kranke. Bei diesen Kategorien 
sowie bei Erschöpfungszuständen 
kommt die anregende und belebende 
Wirkung der Höhensonne sehr schön zur 
Geltung. Die Patienten fühlen sich bald 
frischer und spannkräftiger, der Appetit 
hebt sich -und vor allem wird etwaige 
Schlaflosigkeit sehr günstig beein¬ 
flußt. Auch etwa vorhandene Schmerzen 
(Kopf- und Gliederweh und dergleichen) 
verschwinden meist bald. Objektiv äußert 
sich die Besserung in frischerem Aussehen, 
allgemeinem Ruhigerwerden, der Puls 
wird voller, das Gewicht steigt. Günstig 
ist die Wirkung vor allem auch auf angio- 
neurotische Zustände (kalte lind 
feuchte Hände und Füße, Wallungen, 
Frösteln und dergleichen). All das ver¬ 
geht meist rasch und macht einem allge¬ 
meinen behaglichen Wärmegefühl Platz; 
auch nervöse Schweißausbrüche 
bessern sich. In einem Falle von Anämie 
mit migräneartigen Kofschmerzen 
hörten diese während der Bestrahlungs¬ 
kur fast ganz auf, setzten aber leider bald 
darauf mit erneuter Heftigkeit ein. Eine 
Weiterbehandlung war aus pekuniären 
Gründen nicht möglich. Auch bei ner- 





August 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


285 


vösen Erregungszuständen sind die 
Bestrahlungen recht gut brauchbar. Sie 
wirken hier allgemein beruhigend. ln 
einigen Fällen mit nervös^em Zittern, 
/leichten hysterischen und epilepti- 
formen Anfällen konnte ich wesent¬ 
liche Besserungen erzielen. 

Sehr auffallend ist die Tatsache, daß 
die bei Chlorotischen und Anämischen'so 
häufigen Menstruationsstörungen 
(Dysmenorrhöen, Unregelmäßigkeiten, 
Menorrhagien usw.) fast ausnahmslos 
unter der Höhensonne sich bessern. Die 
Menses werden unter ihrem Einfluß 
regelmäßiger, schmerzlos und dauern kür¬ 
zer. Allerdings hält dieser Erfolg in vielen 
Fällen leider nicht sehr viel länger an als 
die Kur dauert, wenn sich nicht gleich¬ 
zeitig der Allgemeinzustand entsprechend 
hebt. Ein Einfluß der Bestrahlungen auf 
die Menstruation und überhaupt auf die 
Genitalorgane aber scheint mir sicher 
vorhanden zu sein. So wurden mehr¬ 
fach Endometritiden nachhaltig 
gebessert. Der Ausfluß verringerte 
sich und verschwand dann ganz. 
Auch eine Erhöhung -der Libido 
tritt häufig ein. 

Auchbei Pyelitiden und Cystitiden 
scheint mir die Höhensonne günstig zu 
wirken. Die Schmerzen schwinden hier 
fast ausnahmslos rasch. Entsprechend 
bessert sich der U'rinbefund. 

Die .blutdruckherabsetzende Wirkung 
der ultravioletten Strahlen läßt sich bei 
chronischen Nephritiden und bei der 
Arteriosklerose mit Nutzen verwen¬ 
den. Ich habe in den meisten Fällen, aber 
nicht immer, bei Arteriosklerotikern den 
erhöhten Blutdruck um 10—20 mm Hg 
herunterbringen können, was sich im 
subjektiven Befinden der Kranken natür¬ 
lich auch durch eine Besserung, nament¬ 
lich durch Schwinden des lästigen Kopf¬ 
drucks und ähnlicher Beschwerden ange¬ 
nehm bemerkbar macht. 

Auch in der Rekonvaleszenz nach 
schwächenden Erkrankungen, na¬ 
mentlich nach angreifenden Darmkatar¬ 
rhen, Ruhr und dergleichen sind die Be¬ 
strahlungen von gutem Erfolg. 

Recht beachtenswert sind endlich die 
Erfolge, die man mit der Höhensonne bei' 
Emphysem, Bronchitis und Asthma 
erzielen kann. Eine Be’sserung tritt hier 
fast ausnahmslos ein. Sie besteht in einer 
allgemeinen Erleichterung der Atmung, 
einem müheloseren Abhusten des Aus¬ 
wurfs und in einem Seltenerwerden oder 


Verschwinden der' asthmatischen Be¬ 
schwerden und Anfälle. 

Nervöse Magenbeschwerden, na¬ 
mentlich solche im Gefolge von Sekre¬ 
tionsanomalien, sah ich mehrfach während 
Höhensonnenkuren verschwinden. 

Viel empfohlen werden die Bestrah¬ 
lungen bei Anämie und Chlorose. Zahl¬ 
reiche Untersuchungen un^er anderen 
solche aus neuester Zeit von Traugott 
in Nr. 12 der M. m. W. haben indes er¬ 
geben, daß eine Beeinflussung der roten 
Blutkörperchen durch die ultravioletten 
Strahlen nicht stattfindet. Bezüglich des 
Hämoglobingehalts fand ich zwar 
bisweilen Steigerungen um 10—15%, 
doch schiebe ich dies mehr auf Wirkung 
des gleichzeitig gegebenen Eisens oder 
Arseris. 

Überhaupt habe ich bei den bisher 
genannten Krankheiten die Bestrahlun¬ 
gen meist zusammen mit den entsprechen¬ 
den Medikamenten oder anderen thera¬ 
peutischen Maßnahmen gegeben, indem 
ich sie als wertvolles Unterstützungs¬ 
mittel für die altbekannte Therapie ansah 
oder sie zur Bekämpfung bestimmter 
Krankheitssymptome benutzte. In 
diesem Sinn angewandt aber hat mir die 
Höhensonne fast ausnahmslos die Wirkung 
der übrigen Theräpie vertieft und be¬ 
schleunigt. Einen glatten Mißerfolg habe 
ich eigentlich quoad Allgemeinwirkung nur 
einmal bei einer nervösen Patientin, 
bei der die psychische Causa movens 
ununterbrochen fortwirkte, erlebt. 

Wenig genützt haben mir ferner die 
Bestrahlungen bei hartnäckigen Rheu¬ 
matismen, jedenfalls konnte ich hier 
keine bessere Wirkung konstatieren als 
mit der üblichen, allgemein bekannten 
Therapie. 

Ausschließlich und zwar mit sehr 
schönem Erfolge habe ich die Höhensonne 
angewendet bei tuberkulösen Drüsen, 
Fisteln, Geschwüren und kalten 
Abscessen. Hier ist ihre Wirkung tat¬ 
sächlich verblüffend. Die Drüsen ver¬ 
schwinden oder werden kleiner, nach an¬ 
fänglich stärker werdender, dann allmäh¬ 
lich versiegender Sekretion schließen sich 
die Fisteln mit festen und kosmetisch 
sehr guten Narben, inzidierte Abscesse 
heilen rasch und mit glatten Narben. 

Ein Fall mag hier näher beschrieben werden, 
bei dem die Wirkung besonders eklatant war. 
Ein fünfmarkstückgroßer Hautabszeß, der von 
anderer Seite ein Jahr lang mit allen möglichen 
Salben nutzlos behandelt worden war, heilte nach 
Entfernung der schmierigen Granulationen und 




286 


Die Therapie der ©egenwart 1920 


August 


der lose übergewachsenen Hautränder bei offener, 
nicht verbundener Wunde unter der Höhensonne 
in etwa drei Wochen vollkommen und mit fester 
Narbe. Dabei hob sich der Allgemeinzustand der 
Kranken in schönster Weise. Sie hatte an zahl¬ 
reichen Stellen noch kleinere Abscesse, Drüsen und 
suspekte Lungen, und kam in derartig herunter¬ 
gekommenem Zustande, noch durch Diarrhoen 
geschwächt, zu mir, daß sie kaum gehen und 
stehen konnte. Sie wog im Beginn der Behand- 
rüng 38,6 kg bei 158 cm Körperlänge! Bereits 
nach drei Wochen machte sie ohne mein Wissen 
einen Ausflug von etwa vier Stunden Fußmarsch. 
Nach zwei Monaten hatte sie 6,2 kg zugenommen, 
fühlte sich vollkommen wohl, machte weite 
, Spaziergänge, cfie Drüsen v/aren fast alle ver¬ 
schwunden, die Abscesse sämtlich ^geheilt und 
gut vernarbt. Die Kranke nahm dann noch einen 
längeren Aufenthalt im Allgäu und ejfreut sich 
heute nach etwa einem Jahre völligen Wohl¬ 
befindens. 

In einem Fall von tuberkulöser Erkran¬ 
kung am Fußgelenk (Fungus) bei einem 
dreijährigen, sonst gesunden Kinde habe ich 
neben den Bestrahlungen nach den Empfehlungen 
von Bier und Kisch (Zschr. f. phys. diät. 
Ther. 1915, Aug.) Stauung und Jodmedikation an¬ 
gewandt. Der Erfolg ist bis jetzt recht gut. Die 
äußeren Erscheinungen (Schwellung, Rötung, 
Schmerzen, völlige Unbrauchbarkeit)'’ sind ver¬ 
schwunden. Das Kind, das früher nur auf den 
Knien herumrutschte, kann jetzt, allerdings hin¬ 
kend, ganz gut gehen. Klinisch ist also die Besse¬ 
rung bedeutend, röntgenologisch war aber nach 
einvierteljähriger Behandlung der etwa hasel¬ 
nußgroße Herd in der Tibia nur wenig ver¬ 
ändert. Die Behandlung wird noch fortgesetzt. 

Ein Nachteil derselben ist hier ent¬ 
schieden die meist monatelange Dauer 
und damit die Kostspieligkeit des Ver¬ 
fahrens. Bei den tuberkulösen Knochen-, 
Gelenk- und Drüsenerkrankungen habe 
ich gewöhnlich täglich eine Stunde lang 
bestrahlt. 

Von einer wesentlichen Beeinflussung 
derLungenphthise konnteich riiich bis¬ 
her nur in einem Fall überzeugen, der 
entschieden unter längerer Strahlenbe¬ 
handlung subjektiv und objektiv Besse¬ 
rung zeigte. In allen anderen Fällen aber 
schien mir der tuberkulöse Lungenprozeß 
wohl kaum berührt zu werden. Trotzdem 
haben aber selbst weit vorgeschrittene 
Fälle von den Bestrahlungen wenigstens 
subjektiv insofern noch Vorteil, als sich 
auch da noch das Allgemeinbefinden hebt 
und eine gewisse Euphorie eintritt, die 
dem Kranken neue’Hoffnung gibt. Ob¬ 
jektiv läßt der Husten nach, auch die 
Nachtschweiße verschwinden zuweilen, 
die Kranken schlafen besser, atmen leich¬ 
ter und bekommen regeren Appetit. Es 


wird also eine ßesserung wenigstens vor¬ 
getäuscht, was bei solchen desolaten Fällen 
immerhin von hohem .Wert sein dürfte." 
Ein Schaden könnte höchstens bei Nei-' 
gung zu Haemoptoe erwartet werden; so- ^ 
mit kann man die Bestrahlungen ruhig ' 
auch bei schweren Fällen machen, min¬ 
destens vom Standpunkte der Psycho¬ 
therapie aus: ut aliquid fiat. 

In einem Falle sehr vorgeschrittener 
Phtise, den ich auch solaminis causa noch 
bestrahlte, ging nebenbei ein schon lange 
bestehender, sehr ausgedehnter G esi ch ts- 
lupus überraschend schnell zurück. 

Bei Lungenspitzenkatarrh und 
suspekten Lungen ohne Bacillenaus- 
wurf ist eine Kur mit Höhensonne sicher 
zu empfehlen, schon weil durch die An¬ 
regung des Appetits und die dadurch ver¬ 
mehrte Nahrungsaufnahme günstigere (Je- 
samtverhältnisse geschaffen werden. 
Außerdem verschwinden etwa vorhan¬ 
dene Beschwerden, wie Husten, Stiche, 
Nachtschweiße, Mattigkeit und der¬ 
gleichen. 

Von äußeren Erkrankungen habe 
ich nur einmal einen Fall von Sykosis 
barbare und eine Gesichtsacne mit 
Höhensonne lokal behandelt. • Bei dem 
ersteren heilten die oberflächlichen Herde 
gut ab, die tiefen, infiltrierten' Partien 
dagegen verhielten sich refraktär. Auch 
bei der Acne war der Erfolg nur vorüber¬ 
gehend. 

Alles in allem kann also die künstliche 
Höhensonne als ein gutes, bequemes, an- 
geneinnes und gefahrloses Hilfsmittel in 
der Therapie zahlreicher innerer Erkran¬ 
kungen empfohlen werden. Ihre Wirkung 
beruht wohl im wesentlichen mehr auf 
einer indirekten Beeinflussung des Ge¬ 
samtorganismus, durch Anregung des Blut¬ 
umlaufs und des Stoffwechsels von der 
Hautaus. Vielleicht könnte man auch an 
eine direkte Wirkung auf bestimmte Teile 
des Nervensystems (Sympathicus) denken. 
Endlich scheinen einzelne Organe (Nieren, 
Genitalorgane) vielleicht besonders auf 
die Strahlen zu reagieren. Wenn aber 
auch all diese Fragen noch keineswegs 
genügend und befriedigend geklärt sind, 
so kann man sich doch schon vorläufig 
der empirisch gewonnenen, günstigen Er¬ 
fahrungen freuen und sie zum Heile der 
Kranken benutzen. 




1 ' 1 

August Die Therapie der Gegenwart 1920 ^ 287 

Aus dem Tierpliysiologisclieu Institut der Landwirtscliaftliclien Hocliscliule und dem 
Organischen Laboratorium der Technischen Hochschule in Berlin. 

Über arekolinartig wirkende Verbindungen (Cesol). 

Von A. Loewy und R. Wolffenstein. 


Das Arekolin, das Hauptalkaloid der 
Arekanuß, besitzt eine Reihe ausge- 
sprochene'r Wirkungen; es erregt die 
glatte Muskulatur des Darmes, es ist 
Speichel- und schweißtreibend und führt 
zur Contraction des Sphincter pupillae. 
Diese Eigenschaften befähigen es zu aus¬ 
gedehnter pharmakologischer Verwen¬ 
dung, indem es als Anthelminticum und 
als Mioticum gebraucht werden kann, 
ferner besonders in der Veterinärpraxis 
bei der sogenannten Kolik der Pferde, 
das heißt bei Zuständen von Darmatonie. 

In der Kriegszeit trat nun, .wie auf 
so vielen anderen Gebieten, ein Mangel 
an dem Alkaloid ein. Bei der Wichtigkeit 
des Indikationsgebietes suchte man dafür 
Ersatz zu schaffen und auf synthetischem 
Wege zu arekolinartig wirkenden und 
'technisch leicht zugänglichen V'erbindun- 
gen zu gelangen. 

Diese synthetischen Versuche arbei¬ 
teten in erster Linie auf die Darstellung 
möglichst einfach zusammengesetzter 
Verbindungen hin, -welche, ohne den ge¬ 
samten Atomkomplex des Arekolins zu 
enthalten, gerade den pharmakologisch 
wirksamen Teil desselben herausgeschält 
umfassen sollten. 

Das Arekolin ist seiner chemischen 
Konstitution nach der N-Methyl-zi|S-tetra- 
hydro-/?-pyridincarbonsäuremethylester: 

CH 

COOCH3 

N 

CH3 

Arekolin 

Die Arekolinformel weist nun als 
einfachsten charakteristischen zugrunde 
liegenden Kern auf den Nicotinsäure¬ 
methylester hin. 

So wurde zunächst dieser pharma¬ 
kologisch untersucht. Hierbei erwies sich 
aber der Ester als gänzlich unwirksam. 
Er besaß keine der verschiedenen aus¬ 
geprägten Wirkungen des Arekolins. 

Nun unterscheidet sich das Arekolin 
von dem Nicotinsäureester unter anderem 
weiterhin durch das Vorhandensein einer 
N-Methylgruppe, die sich oft in wirk¬ 
samen Alkaloiden vorfindet. So wurde 
versucht, diese Gruppe in den Nicotin¬ 
säureester einzufügen. Die Einführung 


ließ sich aber wegen der tertiären Nafur 
des Nicotinsäureesters nicht durch Sub¬ 
stitution erreichen, sondern - nur durch 
Anlagerung mit Hilfe der Bildung quater¬ 
närer Salze. Es wurde also der Nicotin¬ 
säuremethylester in sein Chlormethylat 
übergeführt und rein dargestellt. Diese 
Verbindung erhielt den Namen Cesol 
CH CH 

Hc/%c—COOCH3 Hc/'^c—COOCH3 

HC\^CH HC\,_^CH 

N N 

Nikotinsäuremethylester /\ 

HgC CI 

Nikotinsäuremethylester- 
chlormethylat (Cesol) 

Hier trat nun mit einem Schlage der 
gewünschte pharmakologische Erfolg ein, 
vornehmlich die speicheltreibende Wir¬ 
kung, der drastische.Einfluß auf die glatte 
Muskulatur des Darmes, und als weiteres 
erwünschtes Moment kam eine dem Are¬ 
kolin gegenüber stark herabgesetzte Gift¬ 
wirkung hinzu. 

Interessant ist, daß die arekolinartige 
Wirkung beim tertiären Nicotinsäure¬ 
methylester in keiner W-ise vorhanden 
ist, sondern erst beim Übergang in das 
quaternäre Chlormethylat auftritt. 

Das Cesol bewährte sich nun bei der 
Bekämpfung der Pferdekolik als ein 
brauchbares arekolinartig wirkendes Mit¬ 
tel. In der Humanmedizin kann es nach 
verschiedenen Richtungen verwandt wer¬ 
den; es wirkt als speichelförderndes, 
durststillendes Mittel bei pathologischen 
Durstzuständen, worüber schon Publi¬ 
kationen von den Herren Umber 
und Decker 2) vorliegen. Über seine 
Wirkung bei Zuständen von Darmatonie 
wird von besonderer . Seite publiziert 
werden. 

Die Wirkung des Cesols unterscheidet 
sich von der des Arekolins vornehmlich 
iri quantitativer Hinsicht. BeiVersuchen an 
Kaninchen waren, um eine ausgesprochene 
Arekolinwirkungzu erzielen, 2 cg, subcutan 
beigebracht, erforderlich. Beim Arekolin 
beginnt die specifische Wirkung bei 5 mg; 
aber während bei letzterem 12 bis 15 mg 
bereits tödlich wirken, konnten vom 

h 'Umber, Therapie der Gegenwart, 1919, 
Heft 4. 

2) Decker, Münch, med. Wochenschr. 1919, 
Nr. 52. 



28^' ' Die Therapie der 


Cesol 2000 mg ohne Schädigung injiziert 
werden. — 

Das Cesol ist ein Derivat der Nicotin¬ 
säure, während das Arekolin sich von 
einer hydrierten Nicotinsäure ableitet. 

ln der Pyridinreihe zeigen nun die 
reduzierten Verbindungen vielfach tine 
Verstärkung der physiologischen Wirk¬ 
samkeit, und es wurde in dieser Erwar¬ 
tung auch hier eine dem Cesol ähnliche 
voll hydrierte Verbindung dargestellt 

CH2 

H,c/\cH—COOCHj 

H2C\/CH2 

N 

/l\ 

CI CH,5 CH3 

die den Namen „Neu-Cesol“ erhielt. 

Diese zeigt in der Tat die Eigen¬ 
schaften des Cesols schon in kleinerer 
Dosis, so daß z. B. beim Kaninchen be¬ 
reits 5 mg schwach wirksam waren, 
während 2 cg höchst energisch wirkten. 
Bei einem derartigen Versuch am Ka¬ 
ninchen wurden in etwa 13 Minuten 
16,5 ccm Speichel aufgefangen, wie auch 
hier die Wirkung auf die Peristaltik einen 
hoch wirksamen Körper erkennen ließ, 
denn im Laufe einer halben Stunde wurde 
drei bis viermal Kot abgesetzt, der zuerst, 
entsprechend' der Norm, aus einzelnen 
festen Kügelchen, später aus weichen, 
deformierten Klumpen und zuletzt aus 
dickbreiigen zusammenhängenden Massen 
bestand. 

Die Cesolpräparate zeigen gegenüber 
dem Arekolin, entsprechend der abwei¬ 
chenden chemischen Zusammensetzung 
gewisse therapeutische Unterschiede. Eine 
aufmerksame vergleichende Betrachtung 
der pharmakologischen Wirkungen des 
Cesols und Neu-Cesols .einerseits und 
des Arekolins andererseits ließ diese 
Unterschiede erkennen. ln den Cesol- 
präparaten tritt die schweißtreibende 
Wirkung des Arekolins anscheinend zu¬ 
rück, ebenso die miotische; dagegen ist 
ausgesprochen die speicheltreibende und 
die auf die Darmmuskulatur. Vor allem 
aber äußern sich die Unterschiede auch 
durch die viel geringere Giftigkeit der 
synthetischen Produkte, bei denen 
zwischen wirksamer und giftiger Dosis 
ein außerordentlich großer Spielraum 
liegt. Dadurch aber werden die Cesol¬ 
präparate für die humane Praxis in ganz 
anderem Maße brauchbar, als es bei dem 
Arekolin der Fall sein konnte. 


I 

Gegenwart 1920 * August 


Nach der allgemein üblichen, auch 
oben angenommenen Formelschreibweise 
"für das Arekolin hätte man eigentlich er¬ 
warten sollen, daß der Nicotinsäuremethyl¬ 
ester in näherer Beziehung zum Arekolin 
st#it als die Cesole, welche doch Pyri- 
doniumkörper sind. Und doch sahen wir, 
daß der Nicotinsäuremethylester ganz un¬ 
wirksam ist, während das Arekolin und dre 
Cesole physiologisch sehr ähnlich wirken. 

Durch diese Tatsachen erfährt die 
Arekolinforschung* eine besondere För- 
derun"g, denn das Arekolin scheint danach 
auch in der Pyridoniumform zu reagieren, 
wie es folgende Formel veranschaulicht; 

CH 

H^c/Sc—C=0 

H2C\/CH2 I 

' N-— 0 

/ \ 

H3C CHg 

I Arekolin 

Das Studium über die Cesole bringt 
also auch einen neuen Einblick in die 
Arekolinforschung und gibt ihr eine neue 
Richtung. 

Diese neueren Tatsachen und Gedan¬ 
kengänge werden hier 'zum ersten Mal 
entwickelt und veröffentlicht. Um so 
auffallender ist es, daß die Therapeu¬ 
tischen Halbmonatshefte in einem 
nicht gezeichneten Artikel über den Zu¬ 
sammenhang zwischen Cesol und Arekolin 
Anschauungen konstruieren, die jeder 
- tatsächlichen Unterlage entbehren müs¬ 
sen. Auch über die pharmakologische 
Wirkung des Cesols finden sich in dieser 
Besprechung dem Tatsächlichen gegen¬ 
über unzutreffende Behauptungen, die 
auch schon dem Referenten dieser Zeit¬ 
schrift, Herrn Dr. Bloch, gelegentlich der 
Besprechung des Cesolartikels aufge¬ 
fallen sind. 

Ist schon die sachliche Kritik in den 
Therapeutischen Halbmonatsheften un¬ 
berechtigt, so muß die Form des Artikels 
noch mehr befremden. Es wird bei dem 
einen von uns sogar die Wissen¬ 
schaftlichkeit in Frage gezogen, während 
es doch kaum ein unwissenschaftlicheres 
Vorgehen geben kann als das von den 
Therapeutischen Halbmonatsheften hier 
befolgte: ohne tatsächliche Unterlagen 
eine Kritik zu konstruieren und diese 
zu angeblich wissenschaftlichen Angriffen 
zu benutzen. 


Therapeutische Halbmonatshefte 1920, S.28. 
Therapie der Gegenwart 1920, Aprilheft. 




August 


Die Therapie der Gegen'(vart 1920 


289 


Depressionen, ihr Wesen und ihre Behandlung. 

Von Dr. Wilhelm Stekel, Wien. (Fortsetzung.)' ' 


Doch kehren wir zum Thema der 
Periodizität der Depressionen zurück. 
Es gibt Depressionen von monatlichem 
Typus, die sich auf bestimmte Monate 
beziehen. Mancher wird im Frühjahr 
verstimmt, andere im Herbst. Goethe 
litt bekanntlich am Ende des Herbstes 
und im Beginne des Winters an ziemlich 
schweren Depressionen. 

Möbius berichtet, daß Goethe bis zum kür¬ 
zesten Tage einige Wochen hindurch sehr deprimiert 
.war. Möbius konnte auch eine siebenjährige 
Periode im Liebesieben Goethes nachweisen, in 
der Depressionen sich an eine neue Liebe und an 
eine neue Schaffensperiode anschlossen. Es kam 
zuerst ein Liebesrausch, während dessen die Schaf¬ 
fenskraft stieg, so daß alle großen Werke in diesem 
manischen Stadium geschrieben wurden. Dieses 
Schaffen zahlte er dann mit einer mehr odef 
minder schweren Depression. Sein 'Hausarzt 
Dr. Vogel berichtet: „Rühmte Goethe seine Pro¬ 
duktivität, so machte mich das stets besorgt, weil 
die vermehrte Produktivität seines Geistes ge¬ 
wöhnlich mit einer krankhaften Affektion seiner 
produktiven Organe endete. Das war so sehr in 
der Ordnung, daß mich schon im Anfänge meiner 
Bekanntschaft mit Goethe dessen Sohn darauf 
I aufmerksam machte, wie, soweit seine Erinnerung 
reiche, sein Vater nach längerem geistigen Pro¬ 
duzieren noch jedesmal eine bedeutende Krank¬ 
heit davongetragen habe.“ Goethe selbst nannte 
diesen Zustand seine wiederholte Pubertät 
und erkannte die sexuelle Grundlage dieser Zeiten. 
Er äußerte sich zu Eckermann: „Solche Männer 
und ihresgleichen sind geniale Naturen, mit denen 
es eine eigene Bewandtnis hat; sie erleben eine 
wiederholte Pubertät, während andere Leute nur 
einmal jung sind.“ 

Einen sehr interessanten schweren 
Typus zeigt der folgende Fall eigener 
Beobachtung. 

Ein Mädchen von 32 Jahren leidet seit drei 
Jahren an einer im Frühjahr einsetzenden De¬ 
pression, die mit Appetitverlust und starker Ab¬ 
magerung vor sich geht. Während der ganzen 
Zeit der Trauer ist sie keineswegs schweigsam und 
negativistisch. Im Gegenteil! Es bemächtigt sich 
ihrer eine leicht manische Unruhe. Ihr Schlaf 
wird gestört, sie muß viel herumlaufen, kann 
nirgends lange bleiben, ist ruhelos, sucht bald 
die einen, bald die anderen Verwandten auf, ißt 
den ganzen Tag fast gar nichts, hat vor Fleisch 
einen Abscheu und nährt sich nur vegetarisch. 
Ein längerer Aufenthalt in einem Sanatorium, 
Luftveränderung, Mastkur bringen keine Besse¬ 
rung. 

Die psychologische Erfahrung des Falles er¬ 
gibt eine merkwürdige Genese. Vor drei Jahren 
hatte sie ihren Schwager am Lande besucht und 
blieb dort längere Zeit zu Gaste. Sie fuhren dann 
mit seinem achtjährigen Kinde nach Wien. In 
Wien fanden sie nach langem Suchen in einem 
Hotel nur ein Zimmer mit zwei nebeneinander¬ 
stehenden Betten. Sie scherzte noch über dies 
Ehebett und legte sich schlafen. Das achtjährige 
Kind lag zwischen ihr und dem Schwager. Sie 
war angeblich vollkommen unaufgeklärt und 
wußte noch gar nichts, was sich zwischen Mann 


und Frau zutragen kann, glaubte^ die Kinder 
kämen durch eine äußere Berührung zustande. 
So ihre Aussage. Sie war in jener kritischen Nacht 
schlaflos. Gegen Morgen fragte sie der Schwager 
— es mochte gegen vier Uhr gewesen sein —, 
warum sie nicht schlafe. Er kam zu ihr ins Bett 
und begann ein Gespräch «über geschlechtliche 
Aufklärung, dem sie anfangs gern und neugierig 
folgte. Er gab ihr auch den Phallus in die Hand, . 
was sie sehr erregte. Dann meinte er, er werde 
ihr den Verkehr zeigen, ohne ihr etwas zu machen. 
Es kani zu einem regelrechten Koitus, bei dem 
sie defloriert wurde. Am nächsten Tage war sie 
verzweifelt. Es bedurfte der ganzen Überredungs¬ 
kunst des Schwagers, um sie abzuhalten, die ganze 
Geschichte ihren Eltern mitzuteilen. Er heuchelte 
ihr eine Liebe vor, die gar nicht vorhanden war, 
wie es sich später herausstellte (das Mädchen war 
weder liebreizend noch begehrenswert, eher hä߬ 
lich, mager, unfreundlich). Sie hatte sich nun 
in den Kopf gesetzt, daß der Schwager sich von 
der Schwester scheiden und sie heiraten werde. 
Sie dachte es sich aus, was geschehen würde, 
wenn die Schwester sterben würde. 

Es bildeten sich in ihrer Phantasie immer 
stärker werdende Todeswünsche gegen die 
Schwester, denen sich ein tiefes Schuldbewußt¬ 
sein anschloß. 

Diese Todeswünsche spielen in der 
Psychogenese der Depression eine große 
Rolle und erklären das tiefe Schuldbewußt¬ 
sein, an dem viele Depressionisten leiden. 
Sie klagen sich leidenschaftlich verschie¬ 
dener Verbrechen an, -die alle nur Ge¬ 
dankensünden sind. 

Sie erlebte ihre erste Depression im Anschluß 
an das traumatische Erlebnis und die Depression 
kehrt mathematisch mit dem Tage wieder, an 
dem sie defloriert wurde. Sie zählte die Tage bis 
zu dem Moment, da der Schwager vor sie hin¬ 
treten und sie rehabilitieren werde. Aber sie wird 
mit jedem Tage älter. Diese Tatsache annulliert 
sie durch eine forcierte Jugend während der De¬ 
pression. Sie trägt kurze Kleider, einen Back¬ 
fischzopf, spricht kindisch und benimmt sich 
kindisch. 

Mit dem Eintritt des Winters überwindet sie 
ihre Depression und hofft auf die Erfüllung ihrer 
geheimen Wünsche im nächsten Frühling. Um 
diese Zeit fängt sie wieder zu onanieren an. 

Wir können immer wieder sehen, wie 
das Aufhören der Onanie eine Depression 
einleitet. Kranke, die onanieren, sind 
enorm selten. Das Aufgeben der Onanie 
verstärkt die Depression. Abstinenz von 
Onanie ist eine häufige Ursache der De¬ 
pressionen. Dann wird die Depression 
als Folge der Onanie statt als Folge der 
Abstinenz aufgefaßt ^). 

Bei unserer Kranken kommt noch die 
verlorene Virginität in Betracht. ,,Du 
kannst keinen mehr heiraten außer deinen 
Schwager!“ — Dieser Imperativ läßt 

‘^) Verg'eiche mein Buch „Onanie und Homo¬ 
sexualität“. 


37 




290 ' 


Die Therapie der Gegenwart J920 


August 


ihre Lage so hoffnungslos erscheinen, daß 
die Depression eintreten muß. 

Eine Depression bedeutet Hoffnungs¬ 
losigkeit und Verzicht auf Erfüllung der 
geheimen sexuellen Ziele und Wünsche. 

Die sexuelle Hoffnungslosigkeit ver¬ 
bündet sich mit einem gekränkten Ehr¬ 
geiz, mit einer,, empfindlichen Herab¬ 
setzung des Persönlichkeitsgefühls.' Des¬ 
halb sieht man Depressionen sehr häufig 
bei Beamten auftreten, die im Amt über¬ 
gangen wurden, oder bei hohen Beamten, 
die plötzlich pensioniert»wurden. Ein 
Professor, der eine Berufung erwartet, 
und übergangen wird, ein Offizier, der 
nach einem mißlungenen Manöver mit 
dem blauen Bogen heimgeschickt wird, 
sie alle können an Depressionen erkranken, 
wobei jedoch das Motiv der Depression 
verschleiert wird, weil das Persönlichkeits¬ 
gefühl sich sträubt, die Kränkung zuzu¬ 
geben. Sie stellen es schließlich so dar, 
daß sie mit dem Ausgange zufrieden seien. 
Jetzt hätten sie die erwünschte Ruhe, es 
wäre schon längst ihr Wunsch gewesen. 

Sie lassen sich eine Latenzperiode bis 
zum Ausbruche der manifesten Depres¬ 
sion, die dann auf andere Ursachen ge¬ 
schoben wird oder als grundlose Verstim¬ 
mung aufgefaßt wird. 

Selten wird aber ein Mensch an einer 
so schweren Depression erkranken, wenn 
nicht zugleich die Aussichtslosigkeit seiner 
sexuellen Wünsche die Umwertung von 
Ehrgeiz in Liebe verhindert. 

Ein gutes Beispiel bietet der nächste 
Fall, der uns zugleich tiefer in das Wesen 
der Depression einführt. 

Ein 59jähriger Mann in hervorragender lei¬ 
tender Stellung leidet schon seit zwei Jahren an 
Depressionen. Er nimmt täglich Schlafmittel und 
Abführmittel, wagt es nicht auszugehen, da er 
ein „schwaches Herz“ habe. Er leidet an Arterio¬ 
sklerose. Überdies ist er sicher, daß bei ihm bald 
die Paralyse ausbrechen wird. Eigentlich ist er 
schon paralytisch. Er hat das Gedächtnis ver¬ 
loren, kann nicht lesen, hat kein Interesse für alle 
Vorgänge der Umwelt (Lues vor 15 Jahren, 
Wassermann stets negativ!). 

Die Behandlung eines solchen Kranken 
ist außerordentlich schwer. Die Kranken 
lassen sich nicht gern in die Karten blicken 
und sind psychisch sehr schwer zugänglich. 
Sie jammern immer wieder, sprechen von 
ihren namenlosen Qualen. Kein Mensch 
ist so schwer krank wie sie. Es sei nicht 
möglich, das Leben zu ertragen. Wenn 
sie nicht so feige wären, hätten sie sich 
längst das Leben genommen. Das beste 
wäre es, wenn der Arzt ihnen eine tüch¬ 
tige Dosis Gift geben möchte. Viele er¬ 


suchen direkt um Gift, sind dem Arzte 
böse, daß er sie nicht erlösen will. 

Alle betonen das Hoffnungslose und 
Aussichtslose ihres Leidens. Alle haben 
die Hoffnung verloren! Alle lächeln über¬ 
legen, wenn^ der Arztthnen Heilung ver¬ 
spricht. 

Sie haben den ausgesprochensten 
„Willen zur Krankheit“. Das heißt: 
Sie wollen nicht gesund werden. Sie sind 
ausgesprochen Zerrissene, welche aus 
zwei- oder drei Persönlichkeiten bestehen. 
Der eine möchte gesund werden, bängt 
an dem Leben, lauert auf jedes Wort 
des Arztes, beobachtet ängstlich seine 
Miene, ob er ihm widerspricht und wie 
er ibm widerspricht, wenn er von der 
Hoffnungslosigkeit des Leidens spricht. 
^Der andere aber will nicht gesund werden. 
*Er leidet an einem schweren Schuldgefühl. 

Das Schuldgefühl steht im Mittel¬ 
punkte der ganzen Neurose und der 
melancholischen Psychosen. Dieses Schuld¬ 
gefühl stammt aus einer geheimen 
unerschöpflichen Quelle. Alle De- 
pressionisten maichen sich Vorwürfe. Diese 
Vorwürfe enthalten aber die Schuld nur in 
versteckter Form. Erst die Analyse deckt 
die tieferen Motive des Schuldbewußt¬ 
seins auf und zeigt, an welchen Vorwürfen 
das Bewußtsein vorbeigeht, um andere 
zu erblicken und aufzugreifen, die einen 
gewissen Ersatz bieten können. Man 
kann daher in diesen Fällen von ,, Ersatz¬ 
schuld“ und „Ersatzvorwürfen“ sprechen. 

Kehren wir zu unserem Kranken zurück. 
Seine Vorwürfe gehen auf wiederholte Untreue 
in der Ehe zurück, die ihm eine Lues einbrachte, 
als deren Folge er eine Paralyse fürchtet. Seine 
Frau ist leidend, launisch — kurz er hat mit ihr 
.keine seelischen Beziehungen. Die körperlichen 
sind wegen eines Frauenleidens längst aufgegeben. 
Er hat deutliche Beseitigungsideen und Todes¬ 
wünsche, welche allein die Ursache einer Depres¬ 
sion und .eines Schuldbewußtseins werden können. 
Überdies kam ihm seine Frau auf eine Liebes¬ 
affäre mit einer Nichte, die bis knapp vor Aus¬ 
bruch der Depression spielte. Den Anlaß zum 
Ausbruche gab eine Zurücksetzung in der Stel¬ 
lung und die Kränkung durch einen Vorgesetzten. 
Er hörte auf ins Amt zu gehen, das ihm soviel 
Ablenkung geboten hatte. Aber diese Ablenkung 
gestattet ihm die Überdeckung und Sublimierung 
seiner sexuellen Triebkräfte. Nun wurde alles 
in'ihm frei. 

Was tat er aber? Er löste die Beziehungen 
zur Nichte und begann abstinent zu leben, weil 
er einen Herzschlag während der Kohabitation 
fürchtete. Er fürchtete die Strafe Gottes für 
die sündigen Beziehungen. Er wollte sich bessern 
und sich seiner Familie widmen. 

Unter seinen Kindern war es die älteste Toch¬ 
ter, die ihm ans Herz gewachsen war (die Nichte 
war die Tochter — Imago!). Dieses -Mädchen 
verlobte sich und begann den Vater, der alle Hoff- 




3 ,' . ' 

August ' Die Therapie der 


nungen auf sie gesetzt hatte, auffallend zu ver¬ 
nachlässigen. Sie hatte von dem Verhältnis zur 
Nichte erfahren, war eifersüchtig und wendete 
I sich nun vom Vater ab. Mit dieser Verlobung 
begann die Verstimmungen und knapp vor' ihrer 
Heirat setzte die schwere Depression ein. 

Die Analyse brachte verhältnismäßig rasche 
Heilung. Zuerst wurden alle Medikamente aus¬ 
gesetzt. Der' Kranke hatte bald spontan Stuhl, 
konnte ohne Schlafmittel ausgezeichnet schlafen, 
wurde ausgiebig beschäftigt,' lernte täglich meh¬ 
rere Stunden Bewegung machen, ’ faßte wieder 
Interesse für Lektüre und suchte sich eine zweite 
Be&chäftigung, die ihm größere Selbständigkeit 
einräumte. 

Todeswünsche gegen teure Ange¬ 
hörige kommen in der Psychogenese der 
Depression häufig vor, weil sie die Folge 
einer unglücklichen Liebe sind. Ich 
könnte einige Dutzend solcher Fälle aus 
meiner Erfahrung änfüfiren. Ein älterer 
Herr verliebt sich in seinem Bureau ‘in 
eine TypmamselL Diese Liebe gesteht 
er sich nicht. Es bleibt eine unbewußte 
Liebe. Er erkrankt an Herzschmerzen^). 
Zugleich treten Befürchtungen auf, seine 
Frau könnte überfahren werden, sie sei 
so leichtsinnig usw. Hinter dieser neuro¬ 
tischen Angst verbergen sich die ver¬ 
brecherischen Wünsche. Er erkrankt an 
einer schweren Depression. Die Analyse 
läßt die verdrängte Liebe zum Vorschein 
kommen. 

Auch Inzestgedanken, die vom Be¬ 
wußtsein abgedrängt werden, lassen sich 
sehr häufig konstatieren. Oft übernimmt, 
wie in dem vorerwähnten Fall ein anderes 
Objekt die Werte des Inzestobjektes. 
Oft flieht der Kranke vor dem Inzest in 
eine neue Liebe. Diese Inzestwünsche 
brechen in schweren Psychosen offen 
durch. Die Kranken bezichtigen sich 
dann des Verkehrs mit den Angehörigen 
und verlangen strenge Bestrafung. Oder 
sie projizieren den eigenen Wunsch nach 
außen und behaupten, man hätte sie zu 
einem Inzest verleiten wollen, sie be¬ 
ginnen ein Familienmitglied heftig zu 
hassen, es dürfen bestimmte Familien¬ 
mitglieder nicht in ihre Nähe kommen. 
Mitunter wird die ganze Familie in den 
Haß einbezogen. 

Eine der Hauptursachen der De¬ 
pression ist die Zerstörung einer geheimen 
inzestuösen Hoffnung. Mütter erkranken, 
wenn ihre Töchter oder Söhne heiraten, 
Vätern ergeht es ebenso. Aber auch die 
Töchter können vor der Ehe mit dem 
geliebten Manne an Depressionen er¬ 
kranken, wenn sie ihren Vater oder Bru- 


Vergleiche meine Broschüre ,,Das nervöse 
Herz“ (Verlag Paul Knepler, Wien). 


Gegenwart 1920 291 


der^ ihre Mutter oder Schwester verlassen 
sollen, an die sie fixiert sind. 

Ich könnte aus meiner Erfahrung 
viele Beispiele anführ^n. Ich will nicht 
ermüden, da ich noch manches andere 
zu sagen habe. Jedermann kann an seinen 
Beobachtungen Bestätigungen genug 
finden. 

Der Abbruch einer inzestuösen (un¬ 
bewußten) Beziehung findet sich fast , 
in jeder Pepression. Meistens hat sich 
der Gegenstand der Liebe anderweitig 
durch eine neue Liebe gebunden. Diese 
Liebe wird dann als Treulosigkeit ge¬ 
wertet. 

Oft kämpfen die Eltern gegen die 
Neigung ihres Kindes und finden allerlei 
an den Haaren herbeigezogene Motive 
für die Ablehnung. Meist klagen sie dann 
über Vernachlässigung und finden, das 
Kind habe sie nicht mehr lieb. Oft sieht 
man nach Hochzeiten bei den Nahver¬ 
wandten leichte manische Zustände auf- 
treten, welche eine Flucht in eine gewollte 
Fröhlichkeit und übertriebene Tätigkeit 
darstellen und denen dann gewöhnlich 
eine Depression folgt, was fälschlich zur 
Diagnose einer Cyclothymie führen könn-te. 

In dem letzten Falle klagte der Pa¬ 
tient, daß die Tochter für die Schwere 
seines Leidens kein Verständnis habe. 
Sie lache ihn aus und berufe sich auf die 
Ärzte, die gesagt hätten, an einer Depres¬ 
sion sterbe man nicht. Er will wie alle 
diese Kranken ihre Liebe in Form von 
Mitleid erpressen! Er wird Egoist und 
liebt nicht mehr. 

Er liebt nicht sich, selbst wie es Freud 
behauptet, der in der Melancholie eine 
,,narzißtische Psychose“ erblickt, ein 
Rückströmen der Libido auf das eigene 
Ich. Man muß viel eher in der Melancholie 
und in der Depression ein Umkehrungs¬ 
phänomen sehen. Die ganze ,,Liebes- 
bereitschaft“ ist in ,,Haßbereitschaft“ 
verwandelt. Der Kranke kann nur hassen 
und haßt sich selbst. Dieser Haß gegen 
sich selbst steigert sich zum Taedium 
vitae. Er verstümmelt sich, quält sich, 
legt Hand an sich. Meistens wird ge¬ 
klagt, daß jedes Gefühl erstorben ist, 
daß ein Stein im Herzen liege usw. Das 
verbirgt nur die Tatsache, daß der Haß 
den Kranken vollkommen beherrscht. Er 
kann nicht lieben, weil er sich und die 
ganze Welt haßt. Deshalb quält er die 
Umgebung, weckt sie des Nachts, tyranni¬ 
siert sie, läßt sie nicht zur Ruhe kommen. 
Seine Entfernung in eine Heilanstalt be¬ 
trachtet er als tiefe Kränkung, weil er 

37* 




292 ^ Die Therapie der 


. die f^amilie nicht mehr quälen kann. Er 
ist von Neid gegen die ganze Welt erfüllt. 
Er beneidet jeden Menschen, der lachen 
kann, der sich guten Appetits erfreut, 
er beneidet jeden Glücklichen. 

Die Depression ist eine Ha߬ 
neurose. Die Kranken glauben oft, daß 
sie deprimiert sind, weil sie hassen. Sie 
verwechseln die Tatsachen. Sie hassen, 
\ weil sie deprimiert sind. Man sieht Müt¬ 
ter, die in tiefe Depression verfallen, weil 
sie ihre Kinder hassen, man sieht Frauen, 
die ihre Depression auf Haßregungen 
gegen den Mann zurückführen, ln allen 
Fällen beginnt das Leiden mit einer 
Liebesstörung. Je weiter die Depression 
fortschreitet, desto deutlicher wird die 
Haßeinstellung gegen die Umgebung, die 
sich sogar in Tätlichkeiten äußern kann. 
Daß dieser Haß auf* andere Ursachen 
zurückgeht, werden uns weitere Beispiele 
zeigen. 

Im psychischen Gefüge der Depression 
"gibt es immer einen Kern, den ich als 
treibenden Wunsch oder als „uner¬ 
füllten Wunsch“ bezeichnen möchte. 
Jeder Wunsch und jede Phantasie hat 
einen gewissen Anspruch auf Realität (auf 
, Verwirklichung). Ich nenne diesen An¬ 
spruch den ,,Realitätskoeffizienten“. 
Wenn der Realitätskpeffizient auf den 
Nullpunkt heruntersinkt, so daß die 
Hoffnung auf Erfüllung der unerfüllten 
Sehnsucht auf Null gesunken ist, so ist 
der psychologische Moment für das Zu¬ 
standekommen der Depression gekommen. 
Da dieser ,,unerfüllte Wunsch“ meist un¬ 
bewußt ist, so ist dann die Ursache der 
Depression gleichfalls dem geistigen Blick¬ 
felde des Bewußtseins entzogen. Die 
Depression stellt also'den endgül¬ 
tigen Sieg der Realität über die 
Phantasien dar. Sie ist der vollkom¬ 
mene Bankerott der Phantasiewelt. Der 
Neurotiker arbeitet mit zwei Währungen: 
mit dem Lustprinzip und dem Realitäts¬ 
prinzip (Freud). In der Depression ist 
die Lustwährung gaiiz außer Kurs ge¬ 
setzt. Aber auch die Realitätswährung 
leidet unter der Entwertung., Der Kranke 
entwertet die ganze Welt, seinen ganzen 
Besitz, alles verliert seinen Wert. Das 
heißt: Nichts kann ihm mehr Freude 
machen! 

Mit dem Bankerott der Phantasien 
und der bitteren Erkenntnis von der Un¬ 
erfüllbarkeit der unbewußten Zielvor¬ 
stellungen kommt es zu einer Einschrän¬ 
kung der Interessen. Das Interesse und 
die Aufmerksamkeit ist ein Problem der 


Gegenwart 1920 ^ , August 

Affektivität (Bleuler). Die ganze Affek¬ 
tivität des Kranken ist in Haß verwandelt. 
Damit schränKt sich sein geistiger Hori¬ 
zont auf alle HaßobjeKte (die nächste 
Umgebung) ein. Der Kranke hat schlie߬ 
lich nur ein Objekt, das ihn interessiert; 
das eigene Ich und' das eigene Unglück. 
Die alte Erfahrung, daß jedes Unglück 
egoistisch macht, bestätigt sich aufs 
neue. Der Kranke denkt und fühlt 
,,autistisch“ (Bleuler). Freud meint, 
die Libido ströme ganz auf das Ich zurück. 
Nur im gewissen Sinne wäre diese An¬ 
nahme mit einer Einschränkung richtig. 
Es wäre nur zu beweisen, daß es sich 
um eine Libidostörung handelt, daß die 
verhinderte Objektbesetzung zu einer 
Fixierung an das Ich, also zu einer Rück- ^ 
bildung im infantilen Sinne führt. 

Sicher ist nur, daß die Einschränkung 
des Interessenkreises das sichere Charak¬ 
teristikum bildet. Fängr der Kranke sich 
für die Umgebung und für die Ereignisse 
der Welt zu interessieren an, so ist der 
erste Fortschritt gegeben. Ebenso wenn 
er über vollkommene Gleichgültigkeit 
klagt. Er muß eben nach der Periode des 
Hasses eine indifferente Zone der Gleich¬ 
gültigkeit durchschreiten, ehe er wieder 
lieben kann. Geheilt ist er, wenn er wieder 
liebt! 

Allen Beobachtern ist die starke Nei¬ 
gung der Kranken zum Jammern auf¬ 
gefallen. In leichteren Stadien reden sie 
unaufhörlich und beschäftigen sich mit 
ihren Leiden. Erst in schweren Stadien 
treten die Vorwürfe offen zutage. Es 
gibt aber keine Depression, in der 
sich der Kranke nicht Vorwürfe 
machen würde. Wenn er verstummt 
und nicht mehr klagt, so denkt er über 
seine Fehler nach. Die ganze Vergangen¬ 
heit wird" durchforscht, um die Sünden 
zu finden, als deren Folge er die Krank¬ 
heit empfindet. Die Krankheit wird dann 
als gerechte Strafe des Himmels auf¬ 
gefaßt, Die Kranken werden oft fromm 
oder geben ihre frühere Frömmigkeit auf 
,,weil es angeblich keinen Gott gibt“, — 
„sonst könnte er sie nicht so leiden 
lassen“. Im Innern sind sie alle fromm, 
selbst wenn es sich um Freigeister und 
Atheisten handelt. Sie gestehen, daß sie 
vergeblich versuchen zu beten. Sie haben 
zu Gott auch die Haßeinstellung, die sie 
gegen die ganze Welt beherrscht. Oft 
setzt das Leiden mit einer Blasphemie 
oder einer Empörung gegen' Gott ein. 
Depressionen, die sich im Kriege an den 
Verlust eines teuren Wesens schlossen, 



August 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


293 


zeigten oft diese Empörung gegen die 
göttliche Ailgewait. 

Eine Patientin kam in meine Behandlung, die 
schon drei Jahre an schwerer Melancholie litt. 
Ich hörte irn Laufe der psychischen Behandlung, 
daß sie vorher fromm war und jetzt den Glauben 
ganz verloren habe. Sie besuchte seit der Melan¬ 
cholie keine Kirche rnehr, während sie vorher sehr 
fleißig in die Kirche gegangen war und jeden 
Monat gebeichtet hatte. Gründe für diesen Abfall 
hat sie gleich bei der Hand: Weil sie so unglück¬ 
lich sei wegen ihrer Krankheit, die sie grundlos 
befallen hätte. Die Analyse ergab, daß sie sich 
in "einen Vetter verliebt und diese Liebe tapfer 
überwunden hatte. Sie bat den Vetter, ihr Haus 
zu verlassen, sie wolle ihrem guten Manne (der 
sie weder seelisch noch körperlich befriedigen 
konnte) nicht die Treue brechen. Nach seiner 
Abreise ging sie in die Kirche. Während des 
Gebets passierte es ihr, daß sich ein Flatus ein¬ 
stellte, den sie mit einem Fluche gegen die Gott¬ 
heit herausließ. Nun traute sie sich nie mehr 
in die Kirche, weil sie sich als schwere Sünderin 
betrachtete. Auch fürchtete sie die Beichte. Ich 
empfahl sie einem von mir unterrichteten Beicht¬ 
vater, der sie absolvierte. Rasche Genesung. 

Ich habe erwähnt, daß alle Kranken 
die Neigung zum Jammern haben. Sie 
erpressen die Liebe der Umgebung in 
Form von Mitleid und werden wütend, 


wenn man ihnen ihre Beschwerden und 
Qualen nicht glaubt. Lachen sie über 
einen Witz oder in einem Theater, so er¬ 
klären sie gleich: es. wäre kein rechtes 
I^achen gewesen. Sie hätten nur mecha¬ 
nisch gelacht. Und sofort setzt das 
Jammern wieder ein. 

, Die bisherigen Ausführungen haben 
uns dem Verständnis vieler Symptome 
näher gebracht. Die Vorwürfe, die die 
Kranken sich machen, sind berechtigt. 
Ihr böses Gewissen läßt ihnen keine Ruhe. 
Ihr Leiden ist eine selbstdiktierte Strafe. 
Deshalb glauben sie nicht an ihre Gene¬ 
sung. Sie wollen nicht gesund wer¬ 
den! Sie lächeln^daher überlegen, wenn 
der Arzt von ihrer .Heilung spricht. Sie 
wissen es besser. Sie sind unheilbar. Ihr 
Selbstmord ist dann die Strafe für die 
Beseitigungsideen. Ich habe einm’al den 
Satz geprägt: Niemand tötet sich 
selbst/ der nicht einen anderen 
töten wollte! Das gilt auch für den 
so oft eine Depression abschließenden 
Selbstmord. 

(Schluß folgt im nächsten Heft.) 


Repetitorium der Therapie 

Behandlung der Blutkrankheiten. 

Von G. Klemperer. 


1. Allgemeine Grundsätze. Wie die 

normale Zusammensetzung des Blutes ab¬ 
hängig ist von dem normalen Ablauf des 
Stoffwechsels und sämtlicher Organfunk¬ 
tionen, so ist bei jeder Krankhaftigkeit 
der Blutmischung nach der allgemeinen 
oder besonderen Ursache zu forschen, 
deren Beseitigung zur Verbesserung der 
Blutbeschaffenheit führen könnte. Also 
hat die Behandlung jeder Anämie mit einer 
Betrachtung der Lebensweise und einer 
körperlichen Untersuchung zu beginnen. 
Wenn unzureichende Ernährung, Über¬ 
arbeitung, Mangel an Luft und Licht, 
toxische oder psychische Einflüsse die 
Anämie verursachen, so gipfelt die Thera¬ 
pie in den entsprechenden hygienischen 
und diätetischen Ratschlägen und Ma߬ 
nahmen; wenn eine spezielle körperliche 
Erkrankung zur Blutverschlechterung ge¬ 
führt hat, so ist deren Behandlung zur 
Behebung der Anämie notwendig. Werdö^n 
allgemeine oder besondere Ursachen nicht 
gefunden, so bedarf es spezieller Blut¬ 
untersuchung, um festzustellen, welches 
besondere Krankheitsbild essentieller 
Anämie vorliegt. Die Behandlung ist un¬ 
mittelbar von der Zählung der Blutkörper¬ 


chen, der Feststellung des Hämoglobin¬ 
gehalts, der Betrachtung des gefärbten 
Blutpräparats abhängig. 

Je nachdem die Diagnose auf Chlorose 
oder perniziöse Anämie oder Polycyth- 
ämie oder Leukämie gestellt wird, ist die 
Behandlung verschieden. Es hängt vom 
Ergebnis der Untersuchung ab, ob man 
die verminderte Hämoglobinbildung an¬ 
zuregen hat oder ob man die darnieder¬ 
liegende Hämatopoese durch Reizmittel 
kräftigen soll oder ob die übermäßige 
Bildung der roten oder der weißen Blut¬ 
körperchen zu hemmen ist. Für jede 
dieser besonderen Indikationen haben wir 
besondere Heilmittel und Methoden, deren 
Anwendung nur auf die spezielle Blut¬ 
untersuchung basiert werden kann. We¬ 
sentliches Anregungsmittel der Häino- 
globinbildung ist das Eisen, wirksamste 
Förderung der Blutkörperchenbildung be¬ 
wirkt das Arsen; Dämpfung übermäßiger 
Bildung besorgen die Röntgenstrahlen. 
Jede specifische Kur wird durch Allge¬ 
meinbehandlung unterstützt. 

2. Einfache (sekundäre) Anämie 
(Oligocythämie). Unter diesem Namen 
fassen wir alle Zustände von Blässe und 





294 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


August 


Schwäche zusammen, welche durch un¬ 
hygienische Lebensweise, mangelhafte 
Ernährung, wiederholte oder profuse Blu¬ 
tung, durch Giftwirkung,' Infektion oder 
Organerkrankung entstanden sind, und 
bei welchen die roten Blutkörperchen an 
Zahl vermindert sind, ohne daß qualita¬ 
tive Veränderungen derselben nachweisbar 
sind. Der Blutfarbstoff hat nicht wesent¬ 
lich abgenommen, ’ Zahl und Art der 
Leukocyten ist nicht verändert 

Die Behandlung geht von der ein¬ 
gehenden Betrachtung der Lebensweise 
aus, deren Fehlerhaftigkeit etwa die 
Anämie verursacht haben könnte, und 
sucht auf dieselbe bessernden Einfluß zu 
nehmen, soweit es die sozialen Verhält¬ 
nisse irgend gestatten. Oft genügt ein 
Orts- oder Luftwechsel, Herausnehmen 
aus der Schule oder aus gesundheitsschäd¬ 
lichen Betrieben, Verbesserung derWohn- 
und Arbeitsverhältnisse, Sorge für regel¬ 
mäßige Ruhezeiten und für längeren 
Schlaf, reichlichere Nahrungszufuhr und 
bessere Zusammensetzung derselben zum 
Ausgleich der Störung. So kann ein län¬ 
gerer Urlaub, unter günstigen Umständen 
verbracht, ebenso wie der bloße Kranken¬ 
hausaufenthalt heilend einwirken. In 
jedem Fall ist nach eventuellen, oft wieder¬ 
holten Blutungen zu fahnden, insbeson¬ 
dere erschöpfenden Menses, Hämorrhoi¬ 
dalblutungen, aber auch häufigem Nasen¬ 
bluten, auch okkulten Blutungen aus 
Magengeschwüren usw. Bei den Gebär¬ 
mutterblutungen, die natürlich speziali- 
stisch gynäkologische Beratung notwendig 
machen, würde ich in geeigneten Fällen 
auch heut noch für die Kußm au Ische 
Stopfmethode eintreten, die mir zu Un¬ 
recht in den Hintergrund gedrängt 
scheint. Das habituelle Nasenbluten wird 
manchmal durch spezialistische Kauterisa¬ 
tion geheilt, aber oft nur durch ent¬ 
sprechende Allgemeinbehandlung beein¬ 
flußt. Innere Blutungen sind nach den 
Regeln der Organtherapie zu bekämpfen. 

Zu den Gifteinwirkungen, auf welche 
zu fahnden ist und deren Beseitigung die 
Heilung der'^Anämie herbeiführt, gehört 
z. B. die chronische Bleivergiftung, wie 
sie nicht nur bei dem gewerbsmäßigen 
Bleigebrauche der Anstreicher und 
Lackierer, sondern auch bei Kriegsteil¬ 
nehmern mit steckengebliebenen Blei¬ 
kugeln (Steckschüssen) beobachtet ist; 
hierher gehört auch die Anämie nach Ar¬ 
seneinwirkung, die von Zimmertapeten 
ausgeht u. a. m. Leidet der Anämische 
an Würmern (Bandwurm, Spulwürmer, 


auch Madenwürmer), so sind jedenfalls 
entsprechende .Abtreibungskuren zu un¬ 
ternehmen.' -Für die Diät der Anämischen 
gilt nur die Regel, daß sie dem Zustande 
des Magens und Darms entsprechend aus¬ 
gewählt und zLibejreitet, sowie dem oft 
empfindlichen Nervensystem entspre¬ 
chend dargeboten werde; im übrigen sei 
die Kost gemischt, mit gebührendem Ge¬ 
halt an Vegetabilien. Unterstützt wird 
die hygienische und, diätetische Therapie 
durch physikalische Anwendungen, ins¬ 
besondere Anregung der Hauttätigkeit 
durch kalte Waschungen mit nachfolgen¬ 
den Abreibungen, gelegentlichen Schwitz¬ 
packungen, auch allgemeine Körper¬ 
massage. Eine Kombination von allge¬ 
meiner und physikalischer Behandlung 
bieten die Badekuren in Elster, Pyrmont, 
Schwalbach, Liebenstein und vielen an¬ 
deren Kurorten, in denen neben hygieni¬ 
scher Lebensweise besonders die Einwir¬ 
kung der CO 2 - beziehungsweise Moorbäder 
von Nutzen ist; die Anwendüng der meist 
sehr schwach eisen- beziehungsweise arsen¬ 
haltigen Trinkwasser tritt daneben zurück. 
Auch Kuren im Hochgebirge, dessen ver¬ 
dünnte Luft die Zahl der Blutkörperchen 
vermehrt, sind empfehlenswert. 

Wohl bei allen Anämischen bedient 
man sich mit Vorteil der zweifellosen An¬ 
regung der hämatopoetischen Funktion, 
welche das Arsen ausübt. Man verordnet 
zeitweise wohl in jedem Fall ein inner¬ 
liches Arsenpräparat, z. B. Solutio arseni- 
calis Eowlep i), oder Elarsontabletten 
oder Pil. asiatic. ^) dreimal täglich ein 
Stück, oder ein Arsenwasser^); wird Arsen 
innerlich nicht vertragen, so kann man 
die Heilung durch Injektionskuren unter¬ 
stützen, indem man täglich eine Ein¬ 
spritzung von Natrium arsenicosum sub- 
tilissime neutralisatum macht. Man 
verschreibt die Lösung 0,1 ; 10,0 und 
beginnt nach alter Gewohnheit, um den 
Reiz langsam zu steigern, mit 1 Teil- 

1) Sol. arsenical. Fowleri, Aq. Meliss aa 5,0. 
Man gibt unmittelbar nach dem Essen täglich 
ein bis zehn Tropfen, an jedem Tag um einen 
Tropfen steigend, läßt zehn Tropfen (=5 mg 
ASs O 3 ) 14 Tage lang nehmen und dann wieder 
auf einen Tropfen absteigen. 

2 ) Man verschreibt 1 Originalflakon = 60 Ta¬ 
bletten und gibt dreimal täglich zwei Tabletten 
unmittelbar nach dem Essen (zwei Tabletten 
enthalten 1 mg As) etwa acht Wochen lang, 
oder man steigt von einer Tablette bis dreimal drei 
und steigt wieder auf eine Tablette ab. 

3) Acid. arsenicos. 0,05 Piper, nigr. I,5in50 Pillen, 
jede Pille enthält 1 mg As^ O 3 . 

Levi CO- Wasser (schwach und stark), Guber- 
quelle, am meisten gebraucht die Dürkheimer 
Maxquelle. 






August 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


295 


strich der'Pravazspritze (= 1 mg), gibt 
ieden Tag 1 Teilstrich mehr bis zur 
vollen Spritze (== 1 cg), die man mehr¬ 
mals wiederholt, um im selben Turnus 
bis zu 1 Teilstrich wieder herabzii- 
gehen. Eine Notwendigkeit zu dies,er 
ein- und ausschleichenden Behandlung 
besteht keineswegs. Mit demselben Nutzen 
bddient man sich der täglich gleich¬ 
mäßigen Dosen von Solarson (heptin- 
arsinsaures Ammon), welches in fertig 
sterilisierten Ampullen zu 1 ccm (=--3 mg 
As) vorrätig ist und wovon man 24 bis 
*36 Einspritzungen verabreicht. 

3. Chlorose (Oligochromämie). Kli¬ 
nisch der einfachen Anämie oft sehr 
ähnlich, ist die Chlorose doch durch die 
Blutuntersuchung sicher von ihr zu 
scheiden, da sie der relative Farbstoff¬ 
mangel kennzeichnet. Viele Chlorotische 
gelangen nicht anders als die einfach 
Anämischen zur Heilung durch zweck¬ 
mäßige Anwendung der allgemeinen The¬ 
rapie. Ja, die Chlorose ist ein ausge¬ 
zeichnetes Beispiel dafür, daß specifische 
Mängel des Stoffwechsels durch unspe- 
■cifische Anregung der Körperkräfte be¬ 
hoben werden können. Oft bildet der 
Organismus nach langer Hämoglobin¬ 
verarmung wieder genügend Blutfarb¬ 
stoff, wenn die bis dahin überarbeitete 
Patientin genügend Ruhe und Schlaf 
bekommt oder wenn andere offensicht¬ 
liche Fehlerhaftigkeiten der Lebensweise 
abgestellt werden; oft sind Abreibungen, 
oft Schwitzkuren nützlich, oft erweisen 
sich psychische Beeinflussungen heilsam, 
wenn Kummer und Sorge, wohl auch 
unglückliche Liebe an der Entstehung der 
Chlorose schuld waren. Oft genügt ein 
Aufenthalt an der See oder im Gebirge 
oder in den oben genannten Kurorten 
zur Heilung, Aber beschleunigt wird die¬ 
selbe in den meisten Fällen, und manch¬ 
mal erst ermöglicht durch die Verordnung 
von Eisen, welches in geradezu specifischer 
Weise die Hämoglobinbildung befördert. 
Man gibt entweder Ferrum reductum als 
Schachtelpulver, zweistündlich 1 Messer¬ 
spitze oder Pil. ferr. reducti ^), dreimal 
täglich zwei Stück oder die Blaudschen 
Pillen®) in derselben Dose; im Handel 
sind zahlreiche flüssige Eisenpräparate 
zu haben, z. B. Athenstädts Eisen¬ 
tinktur, die teelöffelweise genommen wird. 
Besonders wirksam und empfehlenswert 
ist die gleichzeitige Darreichung von 
Eisen und Arsen in den Eisenelarson- 

Ferr. reducti 5,0 auf 50 Pillen. 

6 ) Jede Pille enthält 0,028 g Fe. 


tabletten, der Arsenferratose (in Syrup- 
formen) und den Pil. fepr. arsenicosi ’). 

Die Diät der Chlorotischen sei §ine ge¬ 
mischte, im allgemeinen nach denselben 
Prinzipien wie bei den Anämischen; be¬ 
sonderen Wert legt man auf den Eisen¬ 
gehalt der Speisen und bevorzugt dem¬ 
gemäß Fleisch und Eier, während die 
eisenarme Milch zurücktritt; früher hat 
man aus demselben Grunde pflanzliche 
Kost, insbesondere die chlorophyllreichen 
Gemüse wie Spinat usw. empfohlen; man 
darf an der Empfehlung festhalten, trotz¬ 
dem man jetzt weiß, daß das Chloro¬ 
phyll kein Eisen, sondern Magnesia ent¬ 
hält. Erfahrungsgemäß ist Zumischung 
von Obst und Gemüse zur Kost der 
Chlorotischen nützlich, vielleicht auch 
deswegen, weil es die oft träge Darm¬ 
funktion anregt. Langsam zu essen und 
gut zu kauen sei den Patienten besonders 
empfohlen. — Im allgemeinen bedürfen 
Chlorotische im Anfang der Ruhe und 
gehen erst mit fortschreitender Besserung 
zu allmählich gesteigerter Bewegung und 
Gymnastik über; schwere Fälle sind in 
Bettruhe zu behandeln. 

4. Perniziöse Anämie. Alle Regeln 
der allgemeinen Therapie, die in den vor¬ 
stehenden Abschnitten entwickelt sind, 
gelten sinngemäß auch für die Behandlung 
der perniziösen Anämie, welche durch den 
charakteristischen Blutbefund der Olig^o- 
cythämi^ mit relativ vermehrtem Hämo¬ 
globingehalt und den Megaloblasten ausge¬ 
zeichnet ist. Doch ist die Perniciosa von An¬ 
fang an als schwere und lebensgefährliche 
Erkrankung mit Bettruhe und größter all¬ 
gemeiner Schonung zu behandeln. Auch die 
Diät ist dem ernsten Zustande anzupassen. 
Die Patienten sind mit häufigen kleinen 
Mahlzeiten zu ernähren, wobei flüssige 
oder breiige, jedenfalls zarte und leicht 
zu kauende Speisen zu wählen sind, vor¬ 
wiegend also Milch, Weißbrot mit Butter, 
Eier, Kartoffelpüree, weichgekochter 
Reis, pürierte Gemüse, weißes gebratenes 
Fleisch, zarter Fisch, feine Mehlspeisen. 
Wichtig ist im Beginn der Behandlung 
die Untersuchung der Faeces auf Band¬ 
wurmeier, insbesondere von Ankylosto- 
mum und Botriocephalus, deren even¬ 
tuelle Abtötung in nicht zu vorgeschrit¬ 
tenen Fällen zur Heilung führen kann. 
Bei nachgewiesener luetischer Infektion 
beziehungsweise bei positiver Wasser- 
mannschen Blutprobe ist eine specifische 
Behandlung zu versuchen. Im übrigen 

’) Ferr. reducti 3,0 Acid. arscnicos. 0,05 auf 
50 Pillen dreimal täglich zwei Stück. 



“296 Die Therapie der Gegenwart 1920 * August 

ist alles Heil' von energischer Arsen- Betracht kommt. Läßt auch die Blut- 
.medikation zu^ erwarten, die in jedem Übertragung im Stich, so bleibt als letztes 
Fall so|ort zu beginnen ist und im Anfang * Mittel zur Erziehung einer neuen Re-’ 
beziehungsweise in frühen Anfällen fast mission die Exstirpation der Milz übrig, 
immer zu langdaiiernden Remissionen Der Eingriff ist ungefährlich, wenn er 
führt. Ich empfehle zuerst zwölf In- nicht allzuspät aüsgeführt wird und ver- 
jektionen von 1 ccm Solarson, danach heißt eine monatelange. Besserung, ohne 
zwölf Injektionen von 2 ccm Solarson freilich das unvermeidbare Ende ab- 
{Ampullen II. Größe), danach nochmals wenden zu können. Im Stadium der er-, 
zwölf Spritzen zu 1 ccm. Man kann auch zielten Remission sollen sich die Patienten 
hier Natriurn arsenicosum verwenden, dauernd schonen und unter fortgesetzter 
doch vertragen es die oft sehr schmerz- Kontrolle des Blutbildes beleihen, damit 
empfindlichen Patienten meist nicht so der rechtzeitige Beginn der wieder not¬ 
gut. Die innere Verabreichung von wendigen Arsenkur nicht verpaßt wird. 
Arsenpräparaten ist weniger sicher, die Je besser die Pflege und Allgemeinbe- 
Kakodylate sind unwirksam. Die Arsen- handlung im Remissionsstadium, desto 
medikation wird unterstützt durch die länger wird das unvermeidliche Rezidiv 
Verabreichung von Salzsäure mit Pepsin, herausgezögert. 

in den Fällen von gleichzeitiger Achylie; 5. Polycythämie(Erythrättiie). Während 
bei Darmstörungen reicht man zweck- wir uns früher bei der Behandlung der 
mäßig mehrmals täglich einen Eßlöffel allzu blutreichen Patienten mit gelegent- 
Carbo animalis oder Bolus alba in Tee liehen Aderlässen oder blutkörperchen- 
-aufgerührt. Da sich an diese adsorbierende zerstörenden Medikamenten (Phenyl- 
Medikation die Hoffnung knüpft, daß hydracin, Benzol) beschränkten, welche 
durch sie vielleicht ursächliche Krank- nur kurzdauernde subjektive Erleichte- 
heitsgifte am Ort der Entstehung un- rung und vorübergehende Verminderung 
schädlich gemacht werden, so mag man der übernormalen x Erythrocytenzahl 
sie auch ohne sichtbare Darmstörungen brachten, haben wir in der Röntgenbe¬ 
insbesondere beim Versagen von Arsen Strahlung des Knochenmarks augen- 
versuchen. Bei jedem Patienten mit scheinlich eine ätiologisch wirksame Be- 

perniziöser Anämie kommt früher oder handlung gefunden. Man bestrahle das 

später die Zeit, in welcher das mehrfach ganze Skelett, nicht nur die langen 
bewährte Arsen schließlich im Stich läßt. Röhrenknochen, sondern auch Becken,' 
Dann wendet man mit Vorteil Blut- Brustbein, Schulterblatt, mit großen 
injektionen an, indem man 10 ccm Blut, Dosen harter Strahlen, in der Stärke bis 

durch Venenpunktion von einem Ge- zu einer Hautdosis pro Feld. Für die 

Sunden entnommen, unmittelbar nach Milz kommt höchstens eine Reizdosis in 
der Entnahme dem Kranken intraglutäal Frage. Die bisherigen Beobachtungen 
injiziert. Die Injektion ist ganz unge- sind noch nicht alt genug, um die Dauer 
fährlich, schmerzlos und sicher; sie wird der erzielten Heilresultate beurteilen zu 
jeden fünften Tag wiederholt, im ganzen können. Die Röntgentherapie, welche 
etwa zehnmal. Die Bluttransfusion ist augenscheinlich die Mehrproduktion der 
demgegenüber ein schwerer Eingriff, Erythrocyten im Kno^chenmark aufhebt, 
der ein kompliziertes Instrumentarium macht anscheinend jede symptomatische 
und chirurgische Schulung voraussetzt Behandlung überflüssig, 
und für praktische Verhältnisse kaüm in (Fortsetzung folgt im nächsten Heft.) 

Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen. 

Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie. 
Berlin, 26. bis 29. Mai 1920. 

Bericht von Dr. Aschheim, Berlin. 

I. Referate über Strahlentherapie Dosenquotient erfährt eine erhebliche Verbesse- 

Kehrer (Dresden): Die Radiumbestrah- rung. Dadurch wird das der Strahlenquelle be- 
lung bösartiger Neubildungen. nachbarte Gewebe auch bei länger dauernder 

Aus dem physikalischen Teil sei hervorgehoben, Einwirkung vor einer wesentlichen Strahlen¬ 
daß Kehrer gefunden hat, daß durch die Ver- Schädigung (Nekrose) bewahrt und trotzdem 
längerung eines- Radiumpräparats die Ober- in der Tiefe des BestrahlungsfeJdes eine Impuls¬ 
flächenintensität herabgesetzt, ohne daß die Strahlung erhalten, die ebenso intensiv wie ftüher, 
Tiefenintensität dadurch beeinträchtigt wird; der gleichzeitig aber wesentlich homogener ist. Für 



August 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


297 


das Uteruscardnom empfiehlt Kehrer daher 
ein langes, dünnes Radiumpräparat. 

Im biologischen Teil'empfiehlt er auf Grund 
von Versuchen und Erfahrungen I. nur Präparate 
mittlerer Wertigkeit anzuwenden und in nicht 
zu langen Intervallen zu bestrahlen; ein Zwischen¬ 
raum von mehr als vier bis sechs Tagen heißt den 
ersten Erfolg mehr oder minder ungenützt vor¬ 
übergehen zu lassen; 2. bei Bestrahlung tief¬ 
gelegener Carcinome die Milligramm-Radium¬ 
dosen allmählich zu steigern, um so gewissermaßen 
zonenweise zuerst das Carcinom in den nahe¬ 
gelegenen, sodann in den tieferen Schichten zu 
vernichten; doch darf die Gesamtbestrahlungs¬ 
zeit nicht so in die Länge gezogen werden, daß 
für die tieferen Gewebslagen die Gefahr der Reiz¬ 
dosierung besteht. 

Kehrer geht dann auf die Verschiedenheit 
der Radiosensibilität der Zellen ein. 

Von den Schädigungen durch Radium hebt 
Kehrer die lokalen in Form Proctitis und 
Sigrnoiditis acuta, der Proctitis necrotica und 
ulcerosa und der Spätnekrose des Rectums her¬ 
vor. Die Fisteln gehören zu den Kinderkrank¬ 
heiten der Radiumbestrahlung und sollten bei 
richtiger intrauteriner Bestrahlungsart kaum 
mehr beobachtet werden, nur bei intravaginaler 
Bestrahlung sind sie noch nicht sicher vermeidbar. 
Die größere Gefahr der Darmnekrosen besteht 
in der Infektion. Radiumschädigungen allge¬ 
meiner Art: Kopfweh, Übelkeit, Erbrechen, ner¬ 
vöse Herzstörungen sind, wohl auf Stoffwechsel¬ 
störungen . und Blutveränderungen zurückzu¬ 
führen. Für die operablen Korpuscarcinome gibt ! 
Kehrer, trotz guter Erfolge der Bestrahlung, 
der Radikaloperation den Vorzug, beim inope¬ 
rablen ist er für Kombination von intrakorporaler 
Radiumbestrahlung und Röntgenbestrahlung der 
Adnexa uteri und der Drüsengebiete. Die Hei¬ 
lungserfolge bei Radiumbestrahlung der Vaginal- 
carcinome sind' bis jetzt ungünstig. Bezüglich 
des operablen Vulvacarcinoms ist zu sagen: 

1. der Primärtumor ist durch Radiumbestrahlung 
zu fast sicherer Heilung zu bringen; 2. Beseitigung 
der inguinalen und bei vorgeschrittenen Fällen 
der hypogastrischen und iliacalen Drüsen; 3. Vor¬ 
sicht vor allzu starker Dosierung in den ersten 
drei Wochen. 

Inoperable und rezidivierte Fälle verhalten 
sich meist refraktär. Operable vulvo-urethrale und 
Urethracarcinome wurden gut beeinflußt. 

Für die operablen, nicht jauchenden Colltim- 
carcinome läßt Kehrer die Radikaloperation 
gelten, sofern sie künftig eine geringere Sterb¬ 
lichkeit aufweist als bisher, sonst ist er für die 
Radiumbestrahlung in der von ihm angegebenen 
Methodik. 

Jugendliche Zellen mit rascher Fortpflanzung 
und kranke Zellen sind strahlenempfindlicher als 
alte ausgereifte, nicht mehr sich teilende und 
gesunde Zellen. Aber auch innerhalb ein und 
derselben Gewebsart, vor allen bei den Carci- 
nomen und Sarkomen ist die Radiosensibilität 
nach dem histologischen Charakter einzelner 
Zellen oder auch des ganzen Tumors eine ver¬ 
schiedene. 

Das Problem der Radiumdosierung kann nur 
durch Empirie und Experiment geklärt werden. 

Für die Messung behält Kehrer die' nach 
Milligrammelement-Impulsstunden bei, wobei aber 
die Distanz zwischen bestrahltem Gewebe und 
Radiumfokus nach Centimetern mit berücksichtigt 
werden soll. Die Excochleation des Carclnoms ) 


vor der Bestrahlung verwirft Kehrer. Das Ra¬ 
dium ist dem Mesothorium überlegen. 

Bestrahlungsdauer.der Einzelbestrahlung inter¬ 
mittierend zweimal 24 Stunden mit 24stündiger 
Pause. Als Pausen zwischen den Einzelbestrah¬ 
lungen vier bis sechs Tage. 

Die Behandlung muß individualisierend sein; 
die Radiumelementmenge und die einzelne Be¬ 
strahlungszeit ist je nach Lage des Falles zu 
variieren, beide im Zusammenhang mit dei^iefen- 
ausdehnung des Carcinoms und der Radiosensibi¬ 
lität des Carcinoms und der Kranken.. 

Verfahren zur Verstärkung der Strahlen¬ 
wirkung: 

1. Desensibilisierung der Organe (Kompres¬ 
sion, Adrenalininjektion usw., Sensibilisierung des 
Carcinoms (Injektion fluoreszierender Stoffe). 
Beides unsicher. 

2. Universelle Radioaktivität des Körpers durch 
Injektion von Thorium X zu erhalten, hat wenig 
Anhänger. 

3. Zur Unterstützung der Widerstandskraft 
und des Kampfes des Organismus gegen das Car¬ 
cinom: subcutane Einspritzung abgetöteter Car- 
cinomzellen, Blut, Serum, Thymuspräparate; 
Reizdosisbestrahlung der Thymus und der Milz. 

Seitz und Wintz (Erlangen): Die Röntgen¬ 
bestrahlung bösartiger Neubildungen. 

Die Forderung, zahlenmäßig festzustellen^ 
eine wie große Dosis nötig ist, um Carcinomzellen 
sicher abzutöten, ist Krönigs Verdienst, der 
den Begriff „Carcinomdosis“ schuf. Seitz und 
Wintz nennen ihr System der Dosierung das bio¬ 
logische, aufgebaut auf der Grundlage der Haut¬ 
einheitsdosis (HED). Darunter verstehen sie jene 
Reaktion der Haut, die bei einer B.estrahlung mit 
praktisch homogenen Strahlen folgendermaßen 
verläuft. Nach acht bis zehn Tagen eine leichte 
Rötung, nach vier bis sechs Wochen eine zarte 
Bräunung der gesunden Haut. 

Die HED setzen sie = 100%. Die Carcinom- 
dosis beträgt 110% der HED, die Sarkomdosis 
60—70%. Die Reizdosis, bei der die Carcinom¬ 
zellen zu rascher Vermehrung angeregt werden, 
beträgt 35—40% der HED. Die gesamte Dosis 
muß in einer Sitzung gegeben werden. 

Da die Unterschiede der Röntgenempfindlich¬ 
keit der einzelnen Carcinome sehr gering sind, 
halten sie an dieser bestimmten Carcinomdosis 
fest. 

Auffallend schnell sich zurückbildende Abdo¬ 
minaltumoren lassen sich nach dem Erfolg 
nachträglich als Sarkome diagnostizieren. 

Bei der Röntgenbestrahlung, einer Fern¬ 
bestrahlung, erfolgt im Gegensatz zur Radium¬ 
nahbestrahlung ein langsames Absterben der 
Zellen. Wichtig ist das Verhalten und die Reak¬ 
tion des Organismus bei der Bestrahlung, beson¬ 
ders beachtenswert die Blutschädigung, die Seitz 
und Wintz durch Arsenkur zu beheben suchen, 
um den Körper in seiner Widerstandsfähigkeit 
zu stärken. Fälle mit ausgedehnter Metastasen¬ 
bildung und gegen Röntgenbestrahlung über¬ 
empfindliche Individuen scheiden für die Be¬ 
strahlung aus. Für die Carcinomtherapie sind 
nur Apparate und Röhren, die ganz durchdringungs¬ 
fähige Strahlen liefern und speziell für Tiefen¬ 
therapie eingerichtet sind, geeignet. 

Die Bestrahlung erfolgt von sechs Einfalls¬ 
feldern, drei von vorn, drei vom Rücken, zu¬ 
nächst auf den Primärtumor, nach sechs Wochen 
auf das rechte Parametrium, nach weiteren sechs 
Wochen auf das Imke Parametrium, ein Ver- 

38 




298 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


August 


fahren, das die Autoren als „Röntgenwertheim“ 
bezeichnen. 

Im Anfang haben Seitz und Wintz noch mit 
Radium die Röntgenbestrahlung kombiniert, aber 
vorwiegend mit Röntgen bestrahlt, und hierbei 
Resultate erzielt, die denen der reinen Radium¬ 
bestrahlung gleich sind. Seitz und Wintz be¬ 
strahlen jetzt ausschließlich mit Röntgenstrahlen. 

Die Schwierigkeiten beim Vulvacarcinom, das 
als Obfrflächencarcinom eigentlich leichter zu be¬ 
einflussen sein sollte, besteht darin, daß nur von 
einem Feld aus bestrahlt werden kann, das 
gleiche gilt für das Mammacarcinom; Verfasser 
gehen auf die Einzelheiten der Technik hierbei 
ein. Die Resultate bei Ovarialcarcinom sind des¬ 
halb schlecht, weil die Carcinome meist von sol¬ 
cher Ausdehnung sind, daß es nicht gelingt, sie 
in ganzer Ausdehnung mit der Carcinomdosis zu 
durchstrahlen. Die postoperative vorbeugende 
Röntgenbestrahlung soll so ausgeführt werden, 
wie das nichtoperierte Carcinom bestrahlt wird. 

Bei Uterussarkomen haben sie sehr gute Re¬ 
sultate erzielt, bessere als bei der Operation; bei 
der Verabfolgung der Sarkomdosis gelingt es 
bei auf Malignität verdächtigen Uterustumoren 
auf Grund des raschen und starken oder der 
langsamen Rückbildung die Differentialdiagnose 
zu stellen, ob es sich um ein Sarkom oder Myom 
handelt. 

Warnekfos (Berlin): Die biologische Strah¬ 
lenwirkung und Bestrahlungstechnik des 
Uteruscarcinoms. 

Warnekros bezeichnet als ,,maximale Haut¬ 
dosis“ eine ausgesprochen dunkelrote Verfärbung 
der Bauchhaut mit blasiger Abhebung der Epi¬ 
dermis unter verstärkter seröser Ausschwitzung 
der sich neu epithelialisierenden Wundfläche; 
diese ist größer als die Carcinomdosis und für die 
verschiedenen Teile der Haut (z. B. dicht über 
Knochen) verschieden. Auch bei verschiedenen 
Individuen besteht Verschiedenheit in der Haut¬ 
empfindlichkeit. Der Empfindlichkeitsuntersehicd 
zwischen Carcinom und ungeschädigtem und 
nichtalteriertem Darm ist groß genug, um per- 
cutane Tiefentherapie ohne Gefahr einer ernsten 
Darmschädigung ausüben zu können. Leichtere 
Reizerscheinungen sind allerdings nicht immer 
zu vermeiden. Der primär geschädigte Darm aber 
ist wesentlich empfindlicher für die Strahlen als 
der gesunde. Für die Blase ist, wenn sie nicht 
primär geschädigt ist, die percutane Be¬ 
strahlung ohne schädliche Folgen. 

Die für die Haut noch erträgliche Dosis ist 
für das Carcinom tödlich, das Carcinom also 
strahlenempfindlicher. 

Die Carcinomdosis beträgt 85% der Haut¬ 
maximaldosis. 

Warnekros steht auf dem Standpunkte, 
daß die verschiedenen Carcinome gegen Strahlen 
Sensibilitätsunterschiede aufweisen, und zwar 
findet er, daß lipoidreiche Carcinome besonders 
rasch auf die Bestrahlung reagierten, während 
bei Carcinomen, die sich refraktär gegen Röntgen¬ 
strahlen verhielten, die Fettfärbung vollkommen 
negativ ausfielen (z. B. Vulva- und Scheiden- 
carcinom). 

Sarkome sind nur dann erfolgreich zu behan¬ 
deln, wenn es sich um primäre sarkomatöse Neu¬ 
bildungen handelt; auch die Sarkome sind ver¬ 
schieden empfindlich, besonders ungünstig rea¬ 
gieren Melanosarkome. 

In der weichen und harten Strahlung erblickt 
Warnekros zwei biologisch verschieden v/irk- 
same Medikamente. Neben der energetischen Wir¬ 


kung der absorbierten Strahlen durch Trans- 
forrhation im Körper kommt wahrscheinlich auch 
eine fermentartige oder katalytische in Betracht. 

Warnekros geht dann des näheren auf seine 
Technik ein. Die Gewebe müssen gleichzeitig 
von zwei räumlich getrennten Strahlenquellen, 
deren Energiewellen sich in der Peripherie über- . 
kreuzen, durchstrahlt werden. 

Warnekros berichtet weiter über Sensibili¬ 
sierungsversuche bei der Röntgenbestrahlung mit 
Arsen, Tumoremulsion, Serum von gesunden Men¬ 
schen und Tieren, besonders mit Serum von Neu¬ 
geborenen und schließlich über die Bedeutung der. 
Thymus, wobei aber die Untersuchungen noch 
nicht abgeschlossen sind. Vor intratumoralen In¬ 
jektionen mit Collargol usw. warnt Warnekros 
und geht dann auf die unterstützende Wirkung 
der Bluttransfusion (Protoplasmaaktivierung) ein. 

Zum Schluß bringt er statistische Mitteilungen 
besonders über kombinierte Bestrahlung des 
Uteruscarcinoms mit Radium und Röntgen; die 
Resultate bei inoperablen Vaginalcarcinomen sind 
wenig befriedigend, die prophylaktische Bestrah¬ 
lung nach Radikaloperationen scheint die Pro¬ 
gnose zu verbessern. 

Gauß und Friedrich: Die Strahlentherapie 
der Myome und hämorrhagischen Metro- 
pathien. 

A. Biologisch-physikalische Grundlagen der 
gynäkologischen Röntgen- und Radiumtherapie. 

I. Beobachtung über die Strahlenwirkung an 
verschiedenen Organen. 

Ovarium und Keimzellen. Die Röntgen- und 
Radiumstrahlen vernichten bei genügend großer 
Dosis den Follikelapparat des Ovariums, die da¬ 
durch bedingte Funktionsstörung macht sich erst 
nach gewisser Latenzzeit geltend. Für die Rönt¬ 
genbeeinflussung der als interstitielle Drüse be¬ 
zeichnet en Ovarialzellen fehlen bisher beweisende 
Beobachtungen. 

Eine direkte Röntgenwirkung auf den Uterus 
ist bisher nicht einwandfrei nachgewiesen. 

II. Theorien der Heilwirkung. 

Die stark gefilterten Radiumstrahlen und 
Röntgenstrahlen greifen wohl an den Ovarien 
selbst an, eine direkte Strahlenbeeinfiussung des 
Uterus ist möglich, wohl aber nicht von wesent¬ 
licher Bedeutung für die Heilwirkung. 

III. Gradabstufungen der klinischen Heil¬ 
wirkung. 

Der Begriff der Heilung ist durch das Auf¬ 
hören der Beschwerden gegeben. Sie besteht in 
dem Eintreten der Amenorrhoe und einer so weit¬ 
gehenden Schrumpfung des Tumors, daß die 
Patientin sich in ihrem Wohlbefinden nicht mehr 
behindert fühlen darf. 

IV. Dosimetrie und allgemeine biologische 
Gesetze und Begriffe der Strahlenwirkung. 

Für vergleichende Dosimetrie verschieden 
harter Strahlen ist vorderhand das Jontoquanti- 
meter in Verbindung mit der Friedrichschen 
Graphitkammer brauchbar. Die Stärke der bio¬ 
logischen Wirkung ist unabhängig von der Härte 
der Strahlung. Bei gleicher Dosis ist die biologi¬ 
sche Wirkung stärker bei großer Intensität der 
Strahlung als bei kleiner. Die einmalige Dosis ist 
biologisch stärker als die verzettelte Dosis. 

B. Die Röntgenbestrahlung der Myome und 
hämorrhagischen Metropathien. 

Die moderne Freiburger Technik (einzeitige 
Bestrahlung) stellt nach dem heutigen Stande 
der physikalischen Forschung die am besten 
ausgearbeitete Bestrahlungsmethode dar. 


August 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


' 299 


I. Neben- und Nachwirkungen. 

Mit der fortschreitenden Ausarbeitung der 
Technik und Dosimetrie verschwinden die Ge¬ 
websschädigungen. 

Der Röntgenkater ist eine Störung des All¬ 
gemeinbefindens, bei der vor allem objektiv nach¬ 
weisbare Blutveränderungen als Ursache in Be¬ 
tracht kommen. 

Bei verzettelter Dosis kann die Dosis am 
Ovarium so klein sein, daß sie praktisch eine 
-Reizdosis darstellt und vermehrte Blutungen her- 
vorruft. 

Erfolgt im Beginne der Schwangerschaft eine 
Bestrahlung mit großen Dosen, so sind Störungen 
der Schwangerschaft und Schädigungen der 
Frucht zu fürchten. Die nach Röntgentherapie 
beobachteten Ausfallserscheinungen treten bei 
jeder Technik und fast immer auf. 

Eine durch dip Röntgentherapie bedingte 
Sterblichkeit ist nicht vorhanden. 

C. Die Bestrahlung der Myome und hämorrha¬ 
gischen Metropathien mit radioaktiven Sub¬ 
stanzen. 

Gewebsschädigungen fehlen bei den modernen 
Methoden, richtige Technik vorausgesetzt. 

Radiumkater scheint seltener und schwächer 
als Röntgenkater zu sein. 

Reizblutungen ikennt die Radiumtherapie 
selbst bei kleinen Dosen nicht. 

Die intrauterine Radiumbestrahlung hat ge¬ 
wisse Gefahren im Sinne einer lokal begrenzten 
oder einer aufsteigenden Infektion. 

Die Radiumtherapie hat eine Mortalität von 

0 , 1 %. 

D. Abgrenzung des Anwendungsgebietes. 

Operation oder Strahlentherapie? 

Schwere, die Operation kontraindizierende 

Krankheiten sind eine Indikation der Strahlen¬ 
therapie. Basedowkranke sind, wenn überhaupt, 
so nur mit großer Vorsicht zu bestrahlen. Schwere 
Anämie ist keine Kontraindikation, sondern eine 
Indikation zur Bestrahlung. Zur Vermeidung von 
Reizblutungen muß eine genügend große Dosis 
gegeben werden; vielleicht ist die Radiumtherapie 
überlegen. 

Operative Komplikationen. Subseröse Myome 
sind der Operation zuzuführen, wenn die Gefahr 
einer Stieldrehung droht oder besteht. 

Submucöse Myome sind der Operation zuzu¬ 
führen, wenn sie gestielt sind. Riesenmyome 
müssen operiert werden, wenn die durch Bestrah- 
lungzu erwartende Schrumpfung nach Grad und 
Zeit für das Wohlbefinden und Arbeitsfähigkeit 
der Patientin nicht ausreicht. Myome mit Druck- 
und Einklemmungserscheinungen gehören im all¬ 
gemeinen der operativen Therapie zu. Die 
Schrumpfung der Myome ist bei etwa 70—80 % 
zu erwarten, in einem Drittel der Fälle scheint 
man mit dem Verschwinden des Tumors rechnen 
zu können. Regressive Veränderungen und Ver¬ 
eiterungen der Myome sind nicht als unbedingte 
Kontraindikationen der Strahlentherapie anzu¬ 
sehen. Die Nekrose der Myome im Wochenbett 
gehört dem Messer. 

Adenomyome sind zu bestrahlen. Sarkom¬ 
verdächtige Fälle können von vornherein mit 
der Sarkpmdosis bestrahlt werden. Schwanger¬ 
schaft ist von der Bestrahlung auszuschließen. 

Wenn Kinder gewünscht werden, ist die kon¬ 
servative Myomenucleation vorzuziehen. Die 
Strahlenbehandlung der Myome und hämorrha¬ 
gischen Metropathien hat das ihr gesteckte Ziel 
einer Amenorrhoe unter Schrumpfung der Myome 
erreicht. 


II. Vorträge zum Verhandlungsthema. 

Maligne Tumoren. 

Bier (Berlin) hat' von Kombination von 
Röntgenbestrahlung und Proteinkörpertherapie 
(Einspritzungen von Schweineblut in die Um¬ 
gebung des Tumors) mächtigen Zerfall der Ge¬ 
schwulst gesehen; bei dem großen Zerfall des 
Krebsgewebes besteht aber die Gefahr einer 
gleichzeitigen Krebskachexie. 

V. Seuffert (München): Das Ergebnis der 
Strahlenbehandlung der Portio-Cervix-Carcinome: 
Von 205 Fällen der Münchener Frauenklinik vom 
1 . Januar 1913 bis Ende Juni 1914 sind 40 nach 
fünf und mehr Jahren noch geheilt, also absolute 
Heilung rund 20%, dabei waren 40 Fälle so 
schlecht, daß auch nicht ein Versuch mit Strahlen¬ 
therapie gemacht werden konnte. Nach von 
Seuffert übertrifft die Strahlenbehandlung das 
mit Operation Erreichbare um fast 10%. 

Ungünstig wirkt das Ausbleiben oder die Un¬ 
pünktlichkeit der Patientinnen. Im Anfang wirkte 
ungünstig die durch zu großen Radiumcarcinom- 
abstand angewendete Bestrahlungstechnik infolge 
schwerer Darmschädigungen. 

Seit 1916 keine Fistelbildung mehr, seit 1917 
keine schweren Folgen der Strahlenbehandlung 
infolge verbesserter Technik. 

Auch bei anderen Carcinomen (Mamma, Vulva, 
Vagina, Rectum) hat v. Seuffert schon fünf¬ 
jährige Heilungen. 

Pankow (Düsseldorf): Zur Frage der Gro߬ 
felderbestrahlung des Uteruscarcinoms. Pankow 
hat sich in letzter Zeit der Großfelderbestrahlung 
zugewandt, sein Verfahren weicht von der Technik 
von Warnekros darin ab, daß er die Tiefenlage 
des Carcinoms nach Fürstenau-Wesky fest¬ 
stellt. 

V. Franque (Bonn): Bemerkungen zur Strah¬ 
lentherapie. 

Gute Dauerresultate bei gutartigen Erkran¬ 
kungen (470 Fälle) sowohl bei Serien- als bei ein¬ 
maliger Bestrahlimg; gute Erfolge bei Osteo- 
malacie. Keine besseren Resultate durch Nach¬ 
bestrahlung der operierten Collumcarcinome. Bei 
inoperablen Fällen durch kombinierte Radium- 
Röntgenbestrahlung keine Dauerheilungen, .aber 
beträchtliche Lebensverlängerungen. Über¬ 
raschende Einzelerfolge, ab60^ keine Erfüllung 
der in Halle gehegten Hoffnungen. 

Opitz (Freiburg): Dosis und biologische Wir¬ 
kung der Strahlen. 

Zum rein physikalischen Messen der Dosis ist 
die von Friedrich modifizierte Jontoquanti- 
meterkammer die beste Methode, im physikali¬ 
schen Sinne muß die Strahlenenergie gemessen 
werden, welche in dem ganzen Volumen, das von 
den Strahlen getroffen wird, absorbiert wird. 
Bei Feststellung der biologischen Wirkung ist 
das Erfolgsorgan zugrunde zu legen. Die biolo¬ 
gische Wirkung ist nicht nur abhängig von der 
Radiosensibilität der Gewebe, sondern auch von 
dem Zustand, in dem sich das Gewebe befindet, 
von dem allgemeinen Zustand des Körpers und 
der Wirkung der Strahlen auf den Körper überT 
haupt. Er schlägt vor, ganz allgemein eine Ent¬ 
zündungsdosis (ED) und eine tödliche Dosis (TD), 
vielleicht noch eineReizdosis(RD) einzuführen und 
ist jder Ansicht, daß nicht alle Carcinome gleich 
reagieren, sondern sehr wesentliche Unterschiede 
in der Empfindlichkeit aufweisen. 

Walthard (Frankfurt a. M.): Über Strahlen¬ 
empfindlichkeit der Krebse aus Embryonat- 
anlagen. 


38* 




300 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


August 


Ein postoperativ entstandener Rezidivtumor 
eines primären Plattenepithel carcinoms des 
Ovariums bei einer 62jährigen Frau, das von der 
Haut einer Embryonalanlage ausgegangen war, 
wurde durch Radiumbromid bis jetzt 6 V 2 Jahre 
geheilt. 

Ein das kleine Becken ausfüllender, die Sym¬ 
physe 17 cm überragender Tumor bei einem 
23jährigen Mädchen durch Röntgenstrahlen in 
neun Wochen bis zur Faustgroße zur Rückbildung 
gebracht, der Tumorrest operativ entfernt (histo¬ 
logisch: Carcinom aus embryonaler Anlage); bis 
jetzt ist Patientin rezidivfrei. 

Die Beobachtungen zeigen, daß gewisse Car- 
cinome, hier solche aus Embryonalanlagen, für 
Radium- und Röntgenstrahlen eine besonders 
hohe Empfindlichkeit besitzen. 

Hei mann (Breslau): Die Intensivbestrah¬ 
lung in der Gynäkologie. 

Bei Myomen und Metropathien hatte Hei- 
mann mit der serienweisen Verabreichung so¬ 
wohl wie mit der ,,Kastration in einer Sitzung“ 
sehr gute Resultate. Für den Krebs reichte 
weder die frühere Technik mit dem Apexapparat, 
noch die Mesothorbestrahlung allein, noch die 
kombinierte Mesothor-Röntgenbestrahlung aus; 
das Resultat der 303 nachuntersuchten, meist 
inoperablen Fälle ist betrübend. Die operablen 
Fälle werden der Operation unterzogen. 

Eckelt (Frankfurt a. M.): Weitere Erfah¬ 
rungen mit der Radium- und Röntgenbestrahlung 
der Collumcarcinome. 


Vqn den operablen und nur mit Radium be¬ 
strahlten Fällen waren nach zwei Jahren 40%, 
nach ^ünf Jahren nur 14% geheilt, von den in¬ 
operablen nach zwei Janren 22%,' nach fünf 
Jaliren nur 5%, die absolute Heilung beträgt 
nach zwei Jahren 28%, nach fünf Jahren 7%. 

Giesecke (Kiel): Unsere Erfahrungen mit 
der Strahlenbehandlung des Uteruscarcinoms. 

Von 533 Collumcarcinomen der Jahre 1910 
bis 1919 sind bis jetzt geheilt: 160 Fälle = 30 %, 
129 durch Operation, 31 durch Strahlenbehand¬ 
lung. Von 282 fünf Jahre wenigstens zurück 
liegenden Fällen sind geheilt 63 Fälle = 22,34 %, 
58 durch Operation und fünf durch Bestrahlung. 

Die Kieler Klinik bestrahlt jeden operierten 
Fall mit Röntgenstrahlen nach. Ausschließlich 
mit Radium wurde nicht bestrahlt, sondern stets 
mit Röntgen kombiniert. 

Von 131 inoperablen Fällen ist bei elf Fällen 
bis jetzt Heilung vorhanden, darunter vier Fälle 
seit fünf Jahren geheilt. 

Operable Fälle wurden seit 1916 bestrahlt; 
von 34 Fällen 20 bis jetzt geheilt. Fälle von 
Gravidität und Carcinom werden operiert und 
nachbestrahlt. 

Hinweis auf Streptokokkeninfektion nach Be¬ 
strahlung. 

29 Fälle von nach Wert heim operierten 
Carcinomen mit Radium nachbestrahlt, davon 
19 geheilt, jedoch Verfahren aufgegeben; in drei 
Fällen Rectum und Blasenscheidenfisteln. 

(Schluß folgt.) 


Referate 


Eine Übersicht über zehn Jahre Ar- 
throplastik gibt E. Payr. Der Autor 
hat, als er die ersten Versuche über die 
Beweglichmachung versteifter Gelenke am 
Menschen vor zehn Jahren anstellte, das 
Prinzip der Muskelinterposition von Hel- 
ferich seinen Operationen zugrunde 
gelegt und ist nach den ausgezeichne¬ 
ten Erfolgen, die er hiermit erzielt 
hat, dieser M^ethode treu geblieben. 
In der vorliegenden Arbeit gibt er eine 
zusammenfassende Übersicht über alle 
einschlägigem Fragen. Was zunächst die 
Anzeigestellung betrifft, so wurde sie 
wesentlich erweitert, indem — nur bei 
Jugendlichen — auch bei hochgradiger 
Muskelatrophie nach viele Jahre be¬ 
stehender Versteifung operiert wird. Fer¬ 
ner wird der Eingriff vorgenommen bei 
multiplen Ankylosen, auch bei Kranken 
in höherem Lebensalter, endlich bei sol¬ 
chen, weiche eine Lähmung einzelner 
Nerven an den versteiften Gliedern haben. 
Handelt es sich um mehrfache Verstei¬ 
fungen, so wird die Operation sofort bei 
allen Gelenken gleichzeitig ausgeführt. 
Sind erhebliche Veränderungen derWeich- 
teile durch Narbenbildung vorhanden, 
so werden diese, eventuell durch plastische 
Operationen, zuvor beseitigt. Eine Gegen¬ 


indikation bildet überstandener Tetanus^ 
Die Prognose für die Kriegsverletzungen 
ist mit Rücksicht auf die ruhende In¬ 
fektion eine erheblich schlechtere. Als 
Voroperationen kommen neben den ge¬ 
nannten plastischen Operationen die 
Sehnenverlängerung bei Contracturen, die 
Wiederanheftung durchtrennter wichtiger 
Muskeln, endlich die Korrektur von 
Knochenbrüchen in Frage. Fremdkörper 
und Sequester sind vorher zu entfernen. 
Bei der , Schnittführung zur Operation 
der Ankylose muß über alles die zur 
späteren Bewegung nötige Funktion der 
Muskeln berücksichtigt werden, und es 
können darum meist nicht die klassischen 
Schnittführungen zur Gelenkresektion An¬ 
wendung finden. Die Technik muß eine 
extraperiostale sein und man soll nach 
Möglichkeit die Schnitte in der Linie des 
ehemaligen Gelenkspalts anlegen. Am 
zweckmäßigsten sind diejenigen Schnitte, 
welche das Gelenk wie ein Schloß mit 
dem zugehörigen Schlüssel aufsperren. 
In welcher Weise das geschieht, wird für 
die einzelnen Gelenke von Payr näher 
ausgeführt. Die knöcherne Ankylose 
wird mit Meißel und Säge durchtrennt 
in einer Form, daß sie schon das spätere 
Gelenk äußerlich nachahmt. Für die 



August 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


301 


Größenverhältnisse der Gelenkkörper gilt 
allgemein der Satz: am konkaven Gelenk¬ 
körper den Radius vergrößern,, am kon¬ 
vexen verkleinern. Bei Scharniergelenken 
müssen in die beiden Gelenkenden ,,Füh¬ 
rungssicherungen“ in Gestalt von Gleit¬ 
furchen hineingearbeitet werden. Der Ge¬ 
lenkspalt soll 1 bis 1% cm betragen. Von 
den Weichteilen müssen sämtliche Schwie¬ 
len und Schwarten entfernt werden. 
Zwischen die Gelenkenden wird frei über¬ 
pflanzte Fascie unter starkem Zug über 
die neu gebildeten Gelenkkörper hinüber¬ 
gespannt. Payr gibt der Fascie den Vor¬ 
zug vor dem frei transplantierten Fett 
oder dem gestielten Muskellappen. Da¬ 
neben macht er, wenn es die anatomischen 
Verhältnisse zulassen, gern von dem ge¬ 
stielten Fettlappen Gebrauch. Die Wun¬ 
den werden vollkommen ohne Drainage 
verschlossen, nur für diejenigen Fälle, in 
denen aus J^estimmten Gründen von der 
einjährigen Wartezeit Abstand genommen 
wird, wird für 48 Stunden ein Glasrohr 
eingelegt. Nach zwei Tagen wird mit 
einer mäßig starken Extension begonnen 
und gleichzeitig werden geringe aktive 
und passive Bewegungen vorgenommen. 
Regelmäßige Übungen beginnen nach 
acht bis zehn Tagen. Als Nachoperation 
kommen gelegentlich Reffung von neu 
gebildeten Gelenkbändern, Formver¬ 
besserungen der Gelenkkörper usw. in 
Betracht. Hayward. 

(Zbl. f. Chir. 1920, Nr. 14.) 

Über Darmresektion bei Säuglingen 

"bringt Plenz zwei interessante Fälle, die 
erfolgreich im Krankenhaus Charlotten- 
burg-Westend operiert worden sind. Bei 
dem ersten Kinde, welches sieben Monate 
alt war, entstanden plötzlich die Zeichen 
eines Darmverschlusses, der vorüber¬ 
gehend durch Rizinus etwas behoben 
werden konnte. Fünf Tage nach den 
ersten Symptomen gelangte das Kind 
zur Operation, wobei eine Invagination 
des unteren Dünndarmabschnitts in den 
Dickdarm als Ursache des Darmver¬ 
schlusses festgestellt wurde. 30 cm des 
Darmes mußten entfernt werden und 
es wurde eine End-zu-End-Vereinigung 
vorgenommen. Das zweite Kind war 
erst zwei Stunden alt und wurde wegen 
eines eingeklemmten Nabelschnurbruchs 
operiert. Es fand sich eine Dünndarm¬ 
schlinge, deren zuführender Schenkel tief 
blau verfärbt war und auf der Höhe dieser 
Schlinge bestand eine durch ein Meckel- 
-sches Divertikel gebildete hühnereigroße 


Ausbuchtung. Es wurde eine^Resektion 
vorgenommen und die Dünndarmenden 
wurden Seit zu Seit miteinander ver¬ 
einigt. Auch in diesem Falle, der wohl 
das jüngste mit Darmresektion behandelte 
Kind darstellt, wurde volle Heilung 
erzielt. Hayward. 

(Zbl. f. Chir. 1920, Nr. 15.) 

Über Föhnwirkung und Pathologie 
berichtet der Prosektor des Kantonspitals 
St. Gallen Prof. Helley. Föhnwirkung ist 
Sammelname für alle aus südlicher Rich¬ 
tung kommenden Luftströmungen und 
ihre Wirkung. Veranlassung gab ihm 
Beobachtung frühzeitiger Reaktion so¬ 
wohl des eigenen Organismus wie Anderer 
und das gleichzeitige Steigen der Mor¬ 
talitätskurve nach Beobachtungen am 
Sektionstisch. Die. Reaktionen sind bei 
den Einzelnen verschieden stark und auch 
bei demselben Individuum wechselnd; 
Ermattungserscheinungen, Unlustgefühl, 
Kopfschmerzen, Conjunktivalrötung und 
Brennen, Darm- und andere Koliken 
(Atembeklemmungen, Herzdruck, d.Verf.). 
,,Soweit das Obduktionsmaterial mit¬ 
zusprechen berechtigt, kann man sagen, 
daß mit einer gewissen Regelmäßigkeit 
ein Heraufgehen der Mortalitätsziffer zu 
beobachten ist, wenn südliche Luft¬ 
strömungen einsetzen.“ Föhntodesfälle 
in vier Gruppen zu teilen 1. Fall mit 
raschem Versagen der Herztätigkeit bei 
vorausgängiger unmittelbarer oder mittel¬ 
barer Schädigung der kardialen Leistungs¬ 
fähigkeit. 2. Unvermutet schnell ein¬ 
tretende Todesfälle von Individuen mit 
labiler Konstituante, wobei allerdings 
auch noch das Herz den Dienst versagt, 
jedoch ohne daß es eine vorausgängige 
Schädigung erkennen lassen müßte. 
3. Selbstmord. 4. Unfälle. ' Ad 1 Säug¬ 
lingssterblichkeit mit Magen - Darm¬ 
erscheinungen, doch spielen auch 
Diphtherie und andere Infektionen dabei 
eine Rolle. Die sekundäre Herz¬ 
schädigung ist am Leichenorgan aus 
Schlaffheit, Dilatation und Zerreißbarkeit 
erkennbar, teils gehört sie zu den Folgen 
toxischer Wirkungen der Erreger. Beim 
Erwachsenen neben derartigen Infektionen, 
Erkrankung des Herzens und Gefäße, 
daher chronische und acute Vitien und zur 
Dilatation und Hypertrophie führende 
Zustände am Föhntod beteiligt, besonders 
Aneurysma, allgemeine und Koronar¬ 
sklerosen. Beobachtung an einem Kind 
mit Mitralendokarditis, jedesmalige Ver¬ 
schlimmerung und schließlich Tod bei 




302 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


August 


Föhn. Emphysem und Nephritis besser. 
Ad 2. Status thymicus-thymo-lympha- 
ticum. Narkosetodesfälle und bei Myas¬ 
thenie sind nicht selten Föhntodesfälle. 
Ferner gehören dahin congenitale Hirn¬ 
hypertrophien, Nebennierenhypoplasien 
und sonstige der nervösen und inner¬ 
sekretorischen Regulierung abträgliche 
Zustände. Die erhöhte Sterblichkeit der 
Tuberkulösen ini Frühjahr ist wahr¬ 
scheinlich zum bedeutenden Teil auf die 
im Frühjahr lebhafte südliche Luft¬ 
strömung zurückzuführen. Ad 3 und 4. 
Einfluß des Föhns auf die Psyche, Beein¬ 
trächtigung der normalen Hemmungen. 
Gleiche Beeinträchtigung und solche der 
Sinnesleistungen, sowie auch der mus¬ 
kulären und nervösen Reaktionen führen 
zu Unfällen. Häufte (Wilmersdorf). 

(Schweiz, m. W. 1920, Nr. 6). 

Den Erfolgen, die Petruschky seit 
Jahren mit seiner perkutanen Schutz¬ 
behandlung gegen Tuberkulose erzielt 
hat, stellt er neuerdings auch Erfahrungen 
mit einer auf den gleichen theoretischen 
Voraussetzungen beruhenden percutanen 
Schutzbehandlung bei akuten Krank¬ 
heiten, besonders bei Ruhr, an die Seite. 
Zwei Epidemien bei verschiedenen Trup¬ 
penteilen gaben Gelegenheit, an einem grö¬ 
ßeren Material Vergleiche anzustellen. Bei 
der ersten Epidemie zeigte es sich, daß 
bei der Gruppe, die nicht behandelt 
wurde, der Prozentsatz der Erkrankten 
15 mal so groß war als bei der Gruppe, 
die prophylaktisch behandelt worden war. 
Sogar der Prozentsatz der Todesfälle bei 
den Nichtbehandelten war noch um etwa 
die Hälfte größer (3,1 %) als der der Er¬ 
krankungsfälle bei den Schutzbehandel¬ 
ten (2,1 %), von denen keiner starb. Bei 
der anderen offenbar schwereren Epidemie 
wurde gleichzeitig eine Gruppe auch mit 
dem Ruhrimpfstoff ,,Dysbakta“ Boehnke 
gespritzt. Der Vergleich ergab: von den 
Nichtbehandelten erkrankten 9,8 %, es 
starben von den Erkrankten 54,4 %; 
von den mit Dysbakta Behandelten er¬ 
krankten 3,6 %, es starben von den Er¬ 
krankten 21,4 %; von' den perkutan Be¬ 
handelten erkrankten 3,5 %, es starben 
von den Erkrankten 14,4 %. Dies 
Resultat dürfte auch für den Skeptiker 
etwas Bestechendes haben und zur Nach¬ 
prüfung anregen, zumal das Verfahren 
äußerst einfach und ohne die geringste 
Belästigung für den Patienten durchzu¬ 
führen ist. Es wird von dem Material, 
das nicht nur die verschiedenen Ruhr¬ 


erreger, sondern auch Paratyphus- und 
Gärtnerbacillen — in abgetötetem Zu¬ 
stande — enthält, in Dosenfolgen von 
zwei bis vier bis sechs bis acht Tropfen 
auf gesunde Hautstellen eingerieben mit 
ein- bis zweitägigem Zwischenraum. Das 
Linimentum antidysentericum ist bereits 
im Handel zu haben undvon der ,,Hageda‘^ 
zu beziehen. Regensburger (Berlin). 

.(M. KI. 1919, Nr. 35.) 

Als einen guten Secaleersatz bezeichnet 
Walther das Thlaspan, einen Extrakt 
aus dem Hirtentäschlein Capselia bursa 
pastoris, hergestellt von dem chemischen 
Laboratorium Dr. Denzel in Tübingen. 
Um den etwas unangenehmen Geschmack 
des Präparats zu beseitigen, werden 
Corrigentien hinzugesetzt, so daß man 
es am besten in folgende Form verordnet: 
Thlaspan-Extr. burs. pastor. 25,0, Tct. 
Aurant. 5,0, Tct. Chin. compos. 20,0. 
D. S. zwei- bis dreimal täglich ^nen halben 
bis einen Theelöffel. Es werden auch Am¬ 
pullen zu subcutanen Injektionen herge¬ 
stellt, jedoch hat Walther hierüber keine 
Erfahrung. Recht zufriedenstellend waren 
die Erfolge in folgenden Fällen: 1. post 
partum nach Ausstoßung der Placenta; 
2. ganz besonders bei atonischen Blu¬ 
tungen post partum und abortum; 3. bei 
Blutungen im Wochenbett; 4. bei schwe¬ 
ren Menorrhagien eventuell auch Me¬ 
trorrhagien. Selbstverständlich kann ein 
wirkliches wissenschaftliches Urteil erst' 
dann abgegeben werden, wenn an einem 
größeren klinischen Material Nachprü¬ 
fungen vorgenommen wurden. Versuche 
an Tieren, wie am überlebenden Uterus 
müssen noch durchgeführt werden. 

Dagegen glauben Uhlmann und 
Hirneistein im Secalopon, welches sie 
im Institut Giba-Basel herstellen ließen, 
das beste Secalepräparat zu sehen. Bei 
ihren Versuchen ließen sie sich von folgen- 
' den Grundgedanken leiten: Aus der ge¬ 
bräuchlichen Droge werden vollwertige, 
von Ballast freie und injektible Extrakte 
hergestellt; es genügt nun aber nicht, 
die bekannten Alkaloide, Glykoside usw. 
zu isolieren und wieder in einem be¬ 
stimmten Verhältnisse zu mischen; es 
ist vielmehr wahrscheinlich, daß gewisse 
wenig oder gar nicht wirksame Neben¬ 
alkaloide und Ballastsubstanzen doch 
nicht ganz gleichgültig sind. Wenn sie 
auch, einzeln angewendet, keinerlei phar¬ 
makologische Wirkung zeigen, so wird 
es doch nach dem Potenzierungsgesetz 
von Bürgi begreiflich, daß unter- 




August 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


303 


schwellige Dosen verschiedener, chemisch 
nicht verwandter Substanzen in ihrer 
Kombination einen pharmakologischen 
Effekt haben können. Es war deshalb 
naheliegend, auch von diesen Neben¬ 
substanzen und sogenannten Ballast¬ 
stoffen des Mutterkorns alles> herüber¬ 
zunehmen, was sich in Lösung bringen 
ließ und von dem das Experiment fest¬ 
stellen konnte, daß aus der Kombination 
ein Vorteil erwuchs. Auf dieser Basis 


ist das neue Präparat aufgebaut. Ver¬ 
suche am Uterus in situ und isolierten 
Organen haben folgendes ergeben: Se- 
calopon ist das weitaus stärkste aller 
untersuchten Secalepräparate, besitzt 
keine große Toxicität, wirkt weniger auf 
die'Gefäße und reizt äußerst wenig bei 
subcutaner und intramusculärer Appli¬ 
kation. 

Pulvermachcr (Charlottenburg). 

(M. Kl. 1920, Nr. 24.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Zwei technische Neuerungen zur intravenösen Therapie. 

^ Von San.-Rat Dr. Martin Sußmann, Berlin. 


Wenn die intravenöse Therapie in das 
allgemeine Rüstzeug des praktischen 
Arztes bisher noch nicht in dem Maße 
übergegangen ist, wie sie es verdient, so 
ist der Grund hierfür wohl hauptsächlich 
der, daß der Methode noch einige 
Schwierigkeiten anhaften, die eine ge¬ 
wisse Scheu vor ihrer Anwendung er¬ 
klären. Denn gerade bei den intravenös 
wirksamsten Mitteln, wie Salvarsan, Stro¬ 
phantin, Kolloidalen, Hormonal usw. ge¬ 
nügen schon wenige Tropfen, die ,,da¬ 
neben“, also in das der Vene benachbarte 
Gewebe geraten, um meist sehr empfind¬ 
liche, zuweilen lange anhaltende Schmer¬ 
zen und Infiltrate, oft auch Nekrosen zu 
verursachen, so daß nach einem solchen 
Mißgeschick dem Arzt für einige Zeit die 
Lust zu weiterer intravenöser Betätigung 
vergehen kann. 

Insbesondere zwei Schwierigkeiten gilt 
es zu überwinden. Bei der intravenösen 
Injektion dunkler Flüssigkeiten, wie 
Kollargollösung, Hormonal und ähnlicher, 
ist es schwer, meist sogar unmöglich, sich 
durch Ansaugen von Blut davon zu über¬ 
zeugen, ob die Kanüle richtig im Lumen 
der Vene liegt, da das in die Spritze ein¬ 
tretende Blut sich nicht von der dunklen 
Farbe der Injektionsflüssigkeit abhebt; 
man muß dann gewissermaßen aufs Ge¬ 
ratewohl einspritzen, was immerhin ein 
gewisses Gefühl von Unsicherheit erzeugt. 
Der zweite Übelstand ist der, daß es 
namentlich bei der Injektion größerer 
Flüssigkeitsmengen, 10 bis 20 ccm und 
mehr, vorkommt, ‘ daß während der 
Einspritzung, die je nach der Menge fünf 
bis zehn Minuten und länger, bei Zucker¬ 
lösungen bis zu einer Stunde währen soll, 
durch eine geringfügige Drehung der 
Kanüle deren Spitze sich in die Venen¬ 


wand einbohrt und dadurch ein Infiltrat 
entsteht, was meist zur Unterbrechung 
der Injektion zwingt. 

Beide Schwierigkeiten lassen sich 
durch den von mir angegebenen In- 
j ektionstrokar vermeiden Er besteht, 
wie jeder Trokar, aus einer Röhre (Fig. 1) 
und dem Stilett (Fig. 2) und wird in be¬ 
kannter Art geschlossen (Fig. 3) in die 



Vene eingeführt; wird dann das Stilett 
herausgezogen, so stürzt das Blut in 
feinem Strahl aus der Kanüle heraus, die 
gefüllte Spritze wird aufgesetzt, und nun 
kann die Injektion so langsam, wie nur 
erforderlich, vor sich gehen: man weiß 
sicher, daß die Kanüle im Venenlumen 
gut liegt, und die Venenwand kann nicht 
mehr angespießt werden. 





304 


Die Therapie der Gegenwart 1920 Aügust 

i ^ ^ ^ ■ “ 


Die Schwierigkeit bei Herstellung 
des Injektionstrokars liegt, abgesehen 
davon, daß das Instrument recht dünn 
ausfallen soll, darin, daß der Übergang 
vom Rohrende zum Stilett ein möglichst 
glatter, unmerklicher sein muß, damit 
nicht bei Einführung des Instruments an 
dieser Stelle ein Widerstand fühlbar ist. 
Ein jeder, der sich öfter eines Trokars, 
sei es zu Bauch- oder Brustpunktionen, 
-sei es des Capillartrokars bei Ödemen, 
bedient, weiß, daß man den an der be- 
zeichneten Stelle oft stark fühlbaren 
Widerstand nur durch kräftiges und 
•schnelles Einstoßen des Trokars über¬ 
winden kann. Gerade dieses etwas ge¬ 
waltsame und. brüske Vorgehen ist beim i 
Injektionstrokar unmöglich; dieser muß 1 
möglichst sanft durch die Haut hindurch- i 
dringen, da sonst die leicht verschiebliche | 
Vene ausweicht. Dieser Schwierigkeit! 
ist die Geschicklichkeit des Instrumenten-1 
machers in dankenswerter Weise Herrl 
geworden; das Rohr selbst hat bei einem 
äußeren Durchmesser von knapp 1 mm 
eine Wandstärke von nur 0,1 mm. 

Wenn der praktische Arzt, besonders 
in der Kleinstadt und auf dem Lande, 
sich der intravenösen Therapie oft und 
gern bedienen soll, dann muß er ohne 
geschulte, ja überhaupt ohne jede As¬ 
sistenz auskommen. Es ist aber immerhin 
ein nicht geringer Unterschied, ob der 
injizierende Arzt eine Assistenz zur Ver¬ 
fügung hat, die das abschnürende Tuch, 
beziehungsweise den komprimierenden 
Schlauch hält und auf Befehl löst, oder 
ob er selbst, die Lösung vornehmen muß, 
sei es auch nür durch Öffnung eines Pean 
oder Kocher, da gerade hierbei ein nach¬ 
trägliches Anspießen der Venenwand vor¬ 
kommt. Zur schnellen und leichten 
Lösung der Abschnürung habe ich daher 
eine neue Klemmvorrichtung^) an¬ 
gegeben, wie sie Fig. 4 wiedergibt. Die 
Anwendung ist ohne weiteres klar: Der 
Apparat wird in diesem (geöffneten) 
Zustand auf den entblößten Oberarm 
gelegt, der Schlauch (am besten von 1 cm 
Durchmesser) über das Lager (c) fest an¬ 
gezogen, der Deckel (a) darüber geklappt 
und nun durch Herunterdrücken des 
Hebejs (b) die Abschnürung geschlossen. 
Das Öffnen geschieht, indem, man den 
Hebel durch leichten Fingerdruck hoch- 
schnellen läßt. 

0 Beide Instrumente sind bei Georg Wolf 
G. m. b. H., Berlin N, Karlstraße 18, käuflich. 


Bei dieser Gelegenheit sei es mir er¬ 
laubt, auf einen Umstand aufmerksam 
zu machen, der für eine möglichst lange 



Instruments — von Bedeutung ist. Hat 
man die Spritze ausgekocht, so kann man, 
je härter das Wasser ist, um so mehr be¬ 
merken, daß es oft schwer hält, den 
Kolben in die Spritze emzuführen: die 
beim Kochen des Wassers ausgeschiedenen 
Erdalkalien haben sich am Kolben und 
im Innern der Spritze niedergeschlagen 
und verkleinern das Lumen der Spritze 
beziehungsweise vergrößern den Kolben¬ 
umfang, und das entstandene Mißver¬ 
hältnis erschwert die Einführung des 
Kolbens. Durch das notwendigerweise 
etwas gewaltsame Einschieben des Kol¬ 
bens läßt die Dichtigkeit der Spritze all¬ 
mählich nach. In gleicher Weise leiden 
schneidende und spitze Instrumente, be¬ 
sonders jetzt beim Fehlen der Soda, in¬ 
folge der beim Sterilisieren in kochendem 
Wasser entstehenden Niederschläge. Die¬ 
sem Übelstand läßt sich dadurch be¬ 
gegnen, daß man Spritzen und scharfe 
Instrumente in destilliertem Wasser 
auskocht. Die Unkosten sind nur sehr 
gering, weil man das Wasser ja immer 
wieder verwenden kann; übrigens werden 
sie auch reichlich ausgeglichen durch gutes 
Funktionieren der Spritze und längere 
Erhaltung der Schärfe der Instrumente. 


Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg 
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Berlin W 8. 


^1623 1920 ' Ä 

Die Therapie der Gegenwart 

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Neueste Folge. XX'II.Jahrg. BERLIN September 1920 

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9. Heft 




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ROBORANS 

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VMi.Uhlmaim,Jnh.Apoih.B.RAtHFrankfuriaII.. 


DIGIPAN 

nimmt unter allen Herzmitteln eine hervorragende Stellung 
ein, weil es den therapeutischen Höchsteffekt der Digitas 
lisdroge gewährleistet. Die stets gleiche chemische Be= 
schaffenheit und die regelmäßige physiologische Einstel= 
lung bedingen die Unveränderlichkeit seiner Wirkung. Diese 
experimentell, wie klinisch erwiesenen Tatsachen erklären 
das überaus günstige Urteil hervorragender Vertreter der 
Wissenschaft und Praxis, welche die ausgezeichneten Eigen= 
schäften des Digipans am Krankenbette kennen gelernt haben. 

TEMMLER-WERKE, Vereinigte Chemische Fabriken DETMOLD. 


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C. H. Boehringer Sohn, Nieder-Ingelheim a. Rh., betr,: „Laudanon“ u. „Cotarnin*^. — Kalle & Co. A.-ö., Biebrich a. Rh., betr.; 
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Die Therapie der Gegenwart 

1 QOr^ herausgegeben von üeh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer 

Lv4U in Berlin. oeptemDer 


Nachdruck verboten. 

Aus dem Stadt. Kraukenhausb Müucbeii rechts der Isar (Direktor: Prof. Sittmanu). 

über Strychninbehandlung. 

Von Dr. G. Blank, 1. Assistent der medizinischen Abteilung. i 


Während im verflossenen.Jahrhundert 
Strychnin bei der Behandlung des Seh¬ 
nervenschwundes und sonstiger centraler 
Lähmungen gern verordnet wurde, hat 
in den letzten Jahrzehnten die theo¬ 
retische und praktische Arzneikunde 
dieses Mittel immer mehr vernachlässigt-. 
So schreibt v. Tappeiner in seinem Lehr¬ 
buch der Arzneimittellehre: Das Strych¬ 
nin spielt als Arzneimittel keine hervor¬ 
ragende Rolle. 

'Der Grund, warum ein Mittel, dem 
auf Grund seiner pharmakodynamischen 
Eigentümlichkeiten geradezu specifische 
Wirkungen zukommen, von den deutschen 
Ärzten zunehmend vernachlässigt wurde, 
ist vor allem in unzweckmäßiger Dosierung 
und Verordnungsweise zu suchen. Aus 
Besorgnis vor Cumiulatiön, deren An¬ 
nahme sich auf die im Tierversuch sehr 
langsame Ausscheidung durch den Harn 
gründete, wurde Strychnin nur in 
kleinsten, fast homöopathischen Mengen 
gegeben. Da infolgedessen der Erfolg 
kein sinnfälliger war, wurde meistens die 
Anwendung vorzeitig abgebrochen; auch 
kannte man nur die innerliche, nicht die 
wirksamere subciitane und-intravenöse 
Verordnungsweise. 

Demgegenüber gehört Strychnin im 
Auslande, besonders in Amerika und 
Frankreich, zum Rüstzeug des prak¬ 
tischen Arztes. Aus schiffsärztlicher Tätig¬ 
keit weiß ich, daß in amerikanischen Arzt¬ 
bestecken Strychnin in kleinen, leicht 
wasserlöslichen Kompretten als einziges 
Kreislaufmittel vorhanden ist. ln er- 
beuteten französischen Kriegslazaretten 
waren wir von der Rolle, die es als ge¬ 
schätztes Kollapsmittel, besonders bei 
Chirurgen spielt, überrascht. 

Eine genaue Kenntnis der pharma¬ 
kologischen Eigenschaften des Strychnins 
ist zwecks richtiger, gegen früher wesent¬ 
lich erweiterter Anwendung und zur 
kritischen Beurteilung der Behandlungs¬ 
ergebnisse unerläßlich. 

Strychnin gehört zu den Alkaloiden. Es ist 
in Wasser schwer löslich, als Salz leicht löslich. 


Man verordnet es als Strychninum nitricum. Seine 
mittlere tötliche Menge beträgt 0,1 bis 0,12 g. 
Strychnin, das in toxischen Gaben zum Tetanus 
führt, wirkt erregbarkeitssteigernd auf das 
gesamte Zentralnervensystem. Es fördert unter 
Ausschaltung hemmender Einflüsse die 
Reflexübertragung vom sensiblen zum motorischen 
Teil des Reflexbogens. 

Von gänz besonders praktischer Bedeutung ist 
auf Grund dieser allgemein-pharmakologischen 
Eigentümlichkeiten die erregende, energie- und 
tonussteigernde Wirkung des Strychnins auf 
lebenswichtige Centren des verlängerten Markes, 
auf die der Atmung, Gefäßinnervation und 
Körperwärme. Dabei ist es wichtig zu wissen, 
daß beim Menschen die Erregbarkeitssteigerung 
nur bei Störung des physiologischen Gleichgewichts 
mit klinischen Untersuchungsmethoden nachweis¬ 
bar wird. 

Strychnin steigert also: 

1. die Erregbarkeit des durch Veränderung 
der Blutgaszusammensetzung oder durch endogene 
und exogene Gifte geschädigten Atemcentrums. 

2. die Erregbarkeit des Gefäßnerven- 
ceptrums. Infolge der Eigenschaft des Strych¬ 
nins, nicht alle Stromgebiete in gleicher Stärke 
vasokonstriktorisch zu beleben, kommt es zur 
Gefäßverengerung vorwiegend in dem* für einen 
normalen Vasomotorentonus ausschlaggebenden, 
weitverzweigten, geräumigen Splanchnikusgebiete, 
während sich die Gefäße des Gehirns und der 
Peripherie erweitern. Durch diese central¬ 
vasomotorische Wirkung, die übrigens der toxisch- 
tetanischen wesentlich vorangeht, wird eine 
günstige Beeinflussung der Blutverteilung und 
des Biutumiaufs erzielt, der Blutdruck steigt, 
die Herzarbeit wird erleichtert und befördert und 
durch Reizung des Vaguscentrums tritt Puls- 
verlangsamung ein. 

Wir lernen also im Strychnin einen Haupt¬ 
vertreter eines unmittelbar central wirken¬ 
den Gefäßnervenmittels schätzen. 

In diesem Zusammenhänge, sei auf neuere 
pharmakologische Ergebnisse hingewiesen, die 
aber noch nicht ahgemein anerkannt sind. Ca- 
meron will eine unmittelbare Herzwirkung 
des Strychnins durch Hebung des Muskeltonus 
festgestellt haben. Von noch größerer praktischer 
Bedeutung wären französische Forschungsergeb¬ 
nisse, nach denen Strychnin imstande sein soll, 
die Erregbarkeit der intra- und extrakardialen 
nervösen Apparate zu heben, die Reizleitung 
und -Verteilung zu regulieren und zu 
fördern. In jüngster Zeit werden diese Angaben 
von van Egmond bestätigt. In Tierversuchen 
stellte er fest, daß Strychnin die Leitung zwischen 
Vorhof und Kammer verbessert. Die Verbesse¬ 
rung ist noch bei Mengen bemerkbar, die auf 
Kontraktilität und Frequenz keinen Einfluß mehr 
ausüben. Bei größeren Strychninmengen nehmen 

39 





306 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


September 


beide bei unverändert günstigem Einfluß auf di? 
Reizleitung ab. Daß 

•3. Strychnin fähig zu sein scheint, krank¬ 
haft veränderte Körperwärme vorübergehend 
regulierend zu beeinflussen, sei später mit 
Beobachtungen am Krankenbette belegt. 

Zu diesen Haupteigenschaften des Strychnins, 
die im großen und ganzen pharmakölogisch- 
experimentell wohl begründet, praktisch aber nur 
wenig verwertet waren, tritt nun — besonders 
nach ausländischen, bisher durch die Zeitumstände 
wenig nachgeprüften Angaben — eine weitere 
Eigentümlichkeit des Strychnins, die Veran¬ 
lassung zu wesentlich erweiterter Anwendung 
werden sollte. Sie beruht auf der elektiven Be¬ 
einflussung centraler aufnehmender und reiz- 
leitender Apparate. Das Strychnin wirkt aus¬ 
gleichend auf Hemmung und Bahnung der ver¬ 
schiedenartigsten, dem Centralnervensystem un¬ 
aufhörlich zufließenden sensiblen und sensorischen 
Impulse. Und. zwar scheint diese Wirkung vor¬ 
nehmlich dann in Erscheinung zu treten, wenn 
sozusagen das harmonische Zusammenspiel ge¬ 
stört war. Ganz besonders wird die Aufnahme 
schmerzhafter Empfindungen gedämpft und die 
Reizschwelle für unangenehme Organsensationen 
herabgedrückt. An Stelle gedrückter, pessi¬ 
mistischer Stimmung und geistiger Trägheit soll 
eine belebende Wirkung auf psychischem Gebiete 
unverkennbar sein. Das Strychnin soll also 

4. ein ausgesprochen euphorisierendes 
Mittel sein. 

Die praktischen Folgerungen aus 
diesen pharmakologischen Voraussetzun¬ 
gen stützen sich zum größten Teil auf 
eigene Eri:jrobung des Strychnins am 
Krankenbett. Soweit nicht anders be¬ 
merkt, habe ich das Strychnin nur intra¬ 
venös eingespritzt. Es sei gleich bemerkt, 
daß irgendwelche schädliche Folgen und 
Zwischenfälle besonders der intravenösen 
Strychriinbehandlung, nicht zu befürchten 
sind. Anderseits verbürgt die intravenöse 
Anwendung eine schnelle und vollwertige 
Wirkung, da sie durch den Blutstrom das 
Mittel unmittelbar und unabgeschwächt 
seinem Angriffspunkt, dem Centralnerven¬ 
system zuführt. 

Bei Atemlähmung sollte in jedem 
Fall neben anderen erprobten physi¬ 
kalischen Maßnahmen Strychnin intra¬ 
venös in einer Menge von 2 bis 3 mg ge¬ 
geben werden. Besonders den Chirurgen 
sei es zur Bekämpfung asphyktischer 
Narkosezwischenfälle warm empfohlen. 
Ob das Strychnin, prophylaktisch zu Be¬ 
ginn der Operation gegeben, die aus langer 
Narkose für das Atemcentrum drohenden 
Gefahren ausschalten kann, wäre zu er¬ 
proben. 

Die weitere Empfehlung, bei Erkran¬ 
kungen, die mit starker Inanspruchnahme 
des Atemcentrums einhergehen und trotz¬ 
dem Morphiumanwendung erfordern, das 
durch das Morphium noch mehr ge¬ 
fährdete Atemcentrum durch gleich¬ 


zeitige intra\^riöse Strychnindarreichung 
(pro 1 cg Morphium 1 mg Strychnin) anzu¬ 
peitschen, stützt sich auf eigene Versuche 
an Gaskranken und Grippelungenentzün¬ 
dungen im Felde. Besonders bei schwer 
Phosgengaskranken, bei denen die An¬ 
sprüche an das Atemcentrum so häufig 
unerfüllbar werden, glaube ich deshalb 
von den ungünstigen Erfahrungen, die 
andere Ärzte mit Morphiumeinspritzungen 
bei Schwergaskranken machten, verschont 
geblieben zu sein, weil ich das Morphium 
mit Strychnin kombinierte. Je nach der 
Dringlichkeit kann man das Strychnin 
getrennt intravenös oder zusammen in 
einer Spritze subcutan geben. Auch bei 
schweren Lungenentzündungen erleichtert 
die gleichzeitige Strychninanwendung die 
Zweifel, in die bei alleiniger Morphium¬ 
verabreichung der Wunsch zu lindern und 
die Sorge zu schaden den gewissenhaften 
Arzt bringen können. Auch glaubte ich 
bei manchen Fällen' objektiv eine Be¬ 
ruhigung der Atmung feststellen zu 
können. 

Bei manchen akuten Vergiftungen, 
die mit einer Atemlähmung einhergehen 
können, wie z. B. Ckloral, Morphium, 
Alkohol, ist die Anwendung des Strych¬ 
nins nach seiner pharmakologischen Wir¬ 
kung auf das Atemcentrum wohl ver¬ 
ständlich. Die Mitteilung, daß das Strych¬ 
nin bei rigorosen Morphiumentzie- 
hungsk-uren wertvolle Dienste leistet, 
indem es die bedrohlichen, oft kollaps¬ 
artigen, zur Kurunterbrechung zwingen¬ 
den Kreislaufstörungen mildert, sei zwecks 
Nachprüfung erwähnt; eigene Erfah¬ 
rungen fehlen uns. 

Nun zum praktisch wichtigsten An¬ 
wendungsgebiet des Strychnins bei der 
Bekämpfung akuten oder drohenden Ge¬ 
fäßnervenzusammenbruches ! Hier wirkt 
es Wunder, besonders beim Kollaps. 
Durch die pressorische Wirkung auf den 
Splanchnikus und die gleichzeitige dila- 
tatorische auf die Hirngefäße wird 
die schädliche Blutverteilung in kürzester 
Zeit wieder ausgeglichen. Für dringliche 
Anwendung empfiehlt es sich, Strych- 
ninum nitricum in 2‘^/ooiger Lösung in 
sterilen Ampullen vorrätig zu halten. 
Nach dem Beispiel des Auslandes möchten 
wir sie in keinem Besteck für erste Hilfe 
mehr missen. 

Ausgezeichnete Erfolge sah ich im 
Kriege von intravenösen Strychnineiii- 
spritzungen bei Schwergaskranken, bei 
denen ja die Schädigung des Gefäßnerven- 
centrums neben der bereits erwähnten 





307 


September ,• Die Therapie der Gegenwart 1920 . 


des Atemcentrums eins der hervor¬ 
stechendsten sekundären Krankheits- 
zeichen bildet. Ich behandelte schwerste 
Fälle mit hochgradigem Lungenödem 
unter Fortlassung aller anderen Kreis¬ 
laufmittel lediglich mit Strychnin mit 
günstigem Ausgange. Durch fortlaufende 
Blutdruckmessungen konnte ich neben 
Besserung des Pulsverhaltens eine me߬ 
bare Erhöhung des Blutdruckes be¬ 
achten, die ich bei den sonst üblichen 
Gefäßmitteln wie Coffein, Campher usw. 
nie feststellen konnte. Diese Tatsache 
der nachweisbaren Blutdruck erhöhung 
durch Strychnin bei sekundärer Gefä߬ 
lähmung ist auffällig, da, wie später er¬ 
wähnt, bei primärer weder anderen Unter¬ 
suchern noch uns der Nachweis möglich 
war. Vielleicht spricht diese Beobachtung 
bei Gaskranken, bei denen/ja infolge 
Bluteindickung das Herz primär ge¬ 
schädigt ist, für die unmittelbare, muskel- 
tonisierende Herzwirkung des Strychnins 
im Sinne Camerons. 

Auf Grund ausgedehnter Erfahrungen, 
die wir besonders an dem reichen Material 
der Grippeepidemie sammeln konnten, 
emp'fehlen wir wärmstens die intravenöse 
Strychninanwendung bei allen primären 
Kreislaufstörungen, die im Verlauf akuter 
Infektionskrankheiten auftreten. 

Zum Verständnis dieser Empfehlung 
sind hier einige grundsätzliche Bemer¬ 
kungen über dje Art der Kreislaufstörung 
bei akuten Infektionen am Platze, wobei 
wir besonders auf die Verhältnisse bei der 
Grippe Bezug nehmen. 

Für die Wahl des Kreislaufmittels; die 
eine der verantwortungsvollsten, folgen¬ 
schwersten Aufgaben des Arztes am 
Krankenbette bedeutet, ist die Frage ent¬ 
scheidend, ob Herzschwäche oder Gefä߬ 
nervenschwäche vorliegt. Die Beant¬ 
wortung hat auf Grund pathologischer, 
klinischer und ^ experimenteller Erfah¬ 
rungen zu erfolgen. 

Die Autopsie in den ersten Tagen 
akuter Grippeinfektion Verstorbener, er¬ 
gibt in den meisten Fällen weder ma¬ 
kroskopisch noch histologisch eine Schädi¬ 
gung des Herzens; Herzdehnung, Ver¬ 
änderungen an Klappen, Herzbeutel usw., 
trübe Schwellung und Verfettung finden 
sich erst in späteren Krankheitsstadien. 

Zu bedenken ist allerdings, daß der 
normale Befund des pathologischen Ana¬ 
tomen nicht immer gleichbedeutend ist 
mit ungestörter Organfunktion. 

Was lehrt uns nun die klinische Beob¬ 
achtung? Überzeugende Beweise für das 


Bestehen einer primären, akut infektiösen 
Herzschwäche lassen sich aus dem physi¬ 
kalischen Herzbefund nicht ableiten. Bei 
akut Grippekranken vermissen wir per¬ 
kutorisch und röntgoskopisch Herz¬ 
erweiterung, auch fehlen Geräusche 
oder Pulsveränderungen in Form 
stärkerer Beschleunigung oder Unregel¬ 
mäßigkeit. Vor allem aber spricht das 
Fehlen von Stauungserscheinungen 
von seiten der Lungen, Leber oder Nieren 
gegen primäre Herzschädigung. Auch das 
Ausbleiben der gewohnten Digitaliswir¬ 
kung auf Puls-, und Blutdruckverhalten 
der Grippekranken ist in diesem Sinne 
zu bewerten. 

Die Vasomotorehätiologie verdankt be¬ 
sonders den grundlegenden experimentellen Ar¬ 
beiten Rombergs und seiner Schüler ihreffür 
die Therapie entscheidende Stütze. Ellinger 
und Adler gelangten mit dem Dysenterie-, For¬ 
tunat o mit dem Influenzatoxin zu gleichem Er¬ 
gebnis. Aus diesen Versuchen wissen wir, daß 
die Gifte der’akuten Infektionskrankheiten eine 
ausgesprochene Affinität zum Centralnerven¬ 
system, damit also auch zu denjenigen lebens¬ 
wichtigen medullären Gebieten zeigen, die neben 
der Wärmeregulierung und Atemsteuerung die 
Innervation der Gefäße besorgen. Das Experiment 
lehrt uns, daß die Schädigung oder der Ausfall 
des Gefäßnervencentrums ein Mißverhältnis 
zwischen Angebot und Nachfrage schafft, daß es 
zu tiefgreitenden, ja katastrophalen Störungen der 
Blutverteilung kommt, die dann schließlich, aber 
erst sekundär, durch' Mangel an Arbeitsstoff 
auch die Arbeitsfähigkeit des Herzens herab¬ 
setzen. Die Schwere und Heilbarkeit der Kreis¬ 
laufstörung werden bestimmt durch die Blut¬ 
menge, die infolge Splanchnikuslähmung in das 
weitverzweigte Bauchreservoir abfließt, weiter 
dadurch, ob die reflektorisch einsetzenden Aus¬ 
gleichsversuche des Körpers, die sich haupt¬ 
sächlich in den Gefäßen der Haut und Muskulatur 
abspielen, hinreichen, um den Aortendruck auf 
einer solchen Höhe zu halten, die eine mit dem 
Leben nicht vereinbare Blutverarmung lebens¬ 
wichtiger Stromgebiete, besonders des Herz¬ 
muskels und des Nervensystems, verhütet. 

Histologische Untersuchungen (Stoerck und 
Epstein) stellten bei der Grippe schwere de- 
generativ-nekrotisierende Gefäßwanderkrankung 
mit besonderer Beteiligung der Contractilen und 
elastischen Elemente fest. Zu der central be¬ 
dingten Lähmung kommt also die durch die 
Gefäßerkrankung verursachte herabgesetzte An¬ 
spruchsfähigkeit auf vasokonstriktorische Reize. 

Was nun die klinische Seite der Frage an¬ 
betrifft, so ist auf Grund eben dargelegter Ab¬ 
hängigkeit von Herz- und Gefäßfunktion zuzu¬ 
geben, daß im Einzelfalle die Symptom.e der Herz¬ 
schwäche und Gefäßlähmung oft schwer zu trennen 
sind. Vom Standpunkte rationeller Therapie aus 
wäre es aber falsch, wenn wir uns einfach mit 
dem Vorliegen eines gewissen Circulus vitiosus 
abfinden wollten. Wenn auch die Wirkung auf 
den Gesamtkreislauf nicht wesentlich verschieden 
ist, die Ursachen sollten nach Möglichkeit streng 
analysiert werden, was primär, was sekundär ist, 
die Vasomotoren- oder die Herzschwäche. 

Im folgenden seien mehrere Symptome an¬ 
geführt, die uns besonders bei schweren Grippen 

39" 




308 


''' . ■ ■ I 

Die 'pierapie der Gegenwart 1920 



/ September 


und. Grippepneumonien auffielen und deren 
Auftreten nach unserer Erfahrung das Bestehen 
oder Drohen primärer Gefäßlähmung ankündigt. 

Charakteristisch in dieser Hinsicht- sind für 
den ruhig im Bett liegenden Grippekranken eine 
• auffällig blasse Cyanose und eine weniger durch 
Häufigkeit, als durch Tiefe, Hörbarkeit und 
Mitbewegung der Nasenflügel gekennzeichnete 
Dyspnoe, die beide entschieden stärker sind, 
als/dem objektiven Herz- und Pulsbefund und 
dem Ergriffensein der Respi rationswege ent¬ 
spricht. 

Besonders in Erscheinung tritt dieses Ver¬ 
sagen der medullären Centren, wenn dem Kranken 
die geringste körperliche Bewegung zugemutet 
wird. Kurzdauerndes Aufsitzen im Bett zwecks 
Auscultation der hinteren Lungenabschnitte, ein 
Hustenanfall nach Aufforderung zu tiefer Ein¬ 
atmung usw. verursachen eine bedenkliche Zu¬ 
nahme der Cyanose und eine Steigerung der 
Dyspnoe zu richtigem Lufthunger. 

Als weiteres Zeichen cerebral bedingter Cir-' 
culationsstörung sei die subjektive Klage über. 
Schwindelgefühl beim Auf richten genannt, das 
in manchen Fällen schon im Inkubationsstadium 
vorhanden ist und oft noch lange bis in die Re¬ 
konvaleszenz bestehen bleibt. In schweren Fällen 
kann es sich bis zum Ohnmachtsanfall mit ver¬ 
fallenem Aussehen steigern. 

Sehr beweisend für die Vasomotorenätiologie 
i'st viertens das Verhalten des Blutdrucks nach 
körperlicher Bewegung, eine Beobachtung, die 
selbstverständlich nicht als praktische Unter¬ 
suchungsmethode empfohlen werden soll, gleich¬ 
wohl aber für die vorliegende Frage von theore¬ 
tischem Interesse ist. Bei Schwergaskranken, 
bei denen ja bekanntlich der Vasomotorenkollaps 
im Vordergrund des Krankheitsbildes steht habe 
ich das Blutdruckverhalten nach körperlicher 
Bewegung auf der Höhe der Erkrankung einer 
methodischen Prüfung unterworfen. Meine da¬ 
maligen, infolge militärischer Zensur unveröffent¬ 
licht gebliebenen Ergebnisse fand ich bei der 
Grippeepidemie an zur Nachprüfung geeigneten 
Fällen regelmäßig bestätigt. Entgegen dem 
physiologischen Verhalten sinkt unmittelbar nach 
körperlicher Bewegung der systolische Blutdruck 
. um ein Beträchtliches ab. Der Sturz kann bis zu 
30 mm Hg betragen. Besonders instruktiv ist 
die gleichzeitige Bestimmung mit Reckling- 
hausenschem Tonometer am Oberarm und 
Gärtnerschem Tonometer an der Fingerkuppe 
des gleichen Armes, wobei unter Berücksichtigung 
der verschiedenen Wertangaben beider Apparate 
an der Peripherie eine stärkere Drucksenkung 
als am Oberarm festzustellen ist. Dieses Phänomen 
ist in manchen, besonders schweren Fällen noch 
lange nach Ablauf der eigentlichen Erkrankung 
zu erheben, wo sonstige objektive Symptome 
fehlen, auch eine genaue Herzfunktionsprüfung 
ein befriedigendes- Ergebnis liefert. Der positive 
Ausfall dient mir als Beweis der Realität mancher 
unbestimmten Rekonvaleszentenklagen. Diese 
Beobachtung liefert eine Bestätigung der früher 
erwähnten experimentellen Tierversuche am 
kranken Menschen: infolge toxischen Versagens 
des Gefäßnervencentrums kommt es zum Ab¬ 
strömen der Hauptblutmenge in das gelähmte 
Splanchnikusgebiet und damit zur Blutver¬ 
armung anderer, teilweise lebenswichtiger Gefä߬ 
gebiete. 

Als letzter Beweis für die centrale Natur der 
Kreislaufschwäche bei akuten Infektionen hat 
selbstverständlich auch die bessere Wirkung der 1 


Gefäßmittel gegenüber den reinen Herzmitteln 
zu gelten. 

Erinnern wir uns an die pharmakologischen 
Vorbemerkungen, nach denen Strychnin Haupt¬ 
vertreter eines unmittelbar central wirkenden 
Gefäßmittels ist,, so erscheint uns im Hinblick 
auf die vorstehenden grundsätzlichen Bemer¬ 
kungen über die Art der Kreislaufstörung bei 
akuten Infektionen die warme Empfehlung des 
Strychnins hinreichend begründet. 

Was nun unsere speziellen Erfahrungen 
bei der Bekämpfung'der akut toxischen 
Kreislaufschwäche anbetrifft, so beziehen 
sich diese, wie bereits erwähnt, lediglich 
auf intra.venöse Einspritzungen. ' Ich 
brauche nicht zu bemerken;' daß jede 
andere medikamentöse Behandlung unter¬ 
blieb. 'Die Kranken erhielten nur etwas 
Alkohol und bei starken Beschwerden 
abends0,01 Morphium subcutan. Die Höhe 
der Strycl^nindosis richtet sich nach der 
Schwere der Vasomotorenschädigung, be¬ 
urteilt nach den früher erwähnten Kri¬ 
terien. Als Einzelgabe genügt 1 bis 2 mg. 
Die höchste Tagesdosis, die wir somit .bei. 
dreimaliger ^Einspritzung erreichten, be¬ 
trug 6 mg.' Man kann die Injektionen 
tagelang; bei Bedürfnis bis zum Eintritt 
der Krise ohne jeden Schaden fortsetzen. 
Zu welchem Zeitpunkt soll man nun das 
Strychnin, besonders bei grippaler Pneu¬ 
monie anwenden? Auf Grund unserer 
Erfahrungen können wir nicht dringend 
genug raten, die Injektion rechtzeitig 
zu machen, das heißt nicht erst, wenn die 
schädlichen Folgen dej Splanchnikus- 
lähmung klar zutage treten, sondern so¬ 
zusagen beim ersten Wetterleuchten der 
Gafäßlähmung, also bei Klagen über 
Schwindelgefühl, beim ersten Auftreten 
von Cyanose und Dyspnoe, bei Zunahme 
derselben und Nachlassen der Pulsfüllung, 
eventuell auch des Blutdruckes nach ge¬ 
ringster körperlicher Bewegung. Wer in 
dieser Weise vorgeht, wird, wie es uns 
ergangen ist, die für den Internisten so 
seltene, überzeugende ünd zweifelsfreie 
Befriedigung erleben, einem Kranken 
durch rechtzeitige Anwendung eines 
Mittels wirklich geholfen zu haben. Auf 
Grund meiner an vielen Fällen schwerer 
Pneumonie gerade in jüngster Zeit er¬ 
lebten günstigen Erfolge habe ich an 
Stelle der früheren Campher- und Coffein- 
einspritziingen lediglich die intravenöse 
Strychninbehandlung gesetzt. Daß na¬ 
türlich Komplikationen von seiten des 
Herzens eintreten könrierT; die die An¬ 
wendung eines Herzmittels erfordern, be¬ 
darf keines Hinweises. In solchen Fällen 
empfehlen wir das Digitalispräparat, von 
denen wir Digipan, Digipurat oder Stro- 





^epteiHbßr / , '* Die Therapie der 


phantin bevorzugen, in einer (Spritze zu¬ 
sammen mit Strychnin intravenös zu 
geben, weil man mit oraler Digitaliszufuhr 
zu spät kommt. 

Welche Wirkungen beobachtet man 
nun nach intravenöser Strychninein¬ 
spritzung am Krankenbett? In Überein-’ 
Stimmung mit den Reinhartschen Unter¬ 
suchungen kann ich bestätigen, daß im 
Gegensatz zu den Beobachtungen an 
Gaskranken eine sinnfällige ‘ Blutdruck¬ 
beeinflussung nicht festzustellen ist. 
Die kurvenmäßige Aufzeichnung,von Puls 
und Atmung zeigt trotz Fortbestehen 
oder Fortschreiten des Lungenprozesses 
eine beruhigende, prognostisch günstige 
Stetigkeit. Wir vermissen eine'Zunahm,j3, 
beobachten häufig eine Abnahme der 
Cyanose. Trotz unbeeinflußter Atem¬ 
frequenz gibt der Kranke eine subjektive 
^Erleichterung der Atmung zu. Gerade 
die günstige Beeinfluss^ung der subjektiven 
Beschwerden, der Summe^ der vom er¬ 
fahrenen ärztlichen Prognostiker mit 
einem Blick erfaßtenEirizelsymptome, ist 
das hervorstechendste Merkmal der 
Strychninwirkung. Besonders beim Pneu- 
moniker sehen wir nach Strychnin einen 
auffälligen Kontrast zwischen Lokalbefund 
und subjektivem Befinden. Bei Hoch- 
fiebefnden lassen Apathie und Schläfrig¬ 
keit nach, .das erlahmte Interesse für die 
Umgebung kehrt wieder, Essenslust regt 
sich, vorher Verzagte fassen wieder Mut 
und Vertrauen. Der Umschwung, den die 
konsequent durchgeführte Strychninbe¬ 
handlung fast regelmäßig in dem All¬ 
gemeinbefinden Schwerkranker . bringt, 
läßt sich mit Worten nur unvollkommen 
ausdrücken. Sehr instruktiv war die Be¬ 
merkung eines Kollegen mit Lobär¬ 
pneumonie, die durch das Bestehen einer 
Herzsklerose anfänglich zu Bedenken An¬ 
laß gab. Den ihm selbst fast zauberhaft 
anmutenden. günstigen Umschlag un¬ 
mittelbar nach zweimaliger Injektion von 
2 mg Strychnin suchte er in die Worte 
zu kleiden: ,,Mir wird so frei, als wenn 
etwas aufgeschlossen würde, während mir 
vorher so eng und bang war.“ 

Alle diese Wirkungen des Strychnins, 
die wir im Vorhergehenden zu skizzieren 
versuchten, erklären sich zwanglos aus 
seinen pharmakologischen Eigentümlich¬ 
keiten:'Die elektive Erregung der me¬ 
dullären Centren führt durch Behebung 
der Splanchnikuslähmung zu einer Besse¬ 
rung der Blutverteilung,, die ihrerseits 
wieder der Herztätigkeit und der Funktion 
des Nervensystems zugute kommt. Da¬ 


Gegeriwaft 1920 ^ 3 ^ 


neben wird die Atmung central erregt. 
In manchen Fäll^ schien mir auch die 
euphorisierende Wirkung des Strychnins 
zur Geltung zu kommen. 

Die im pharmakologischen Teil als 
dritte Eigenschaft des Strychnins an¬ 
genommene regulierende Wirkung auf 
krankhaft veränderte Körperwärme stützt 
sich auf Beobachtungen anmehreren Fällen 
von Grippepneumonien. Leider verbietet 
die Papierknappheit die Wiedergabe der 
merkwürdigen Fieberkurven. Nach jeder 
intravenösen Injektion von 1 bis 2 mg 
Strychnin trat für zwei bis drei Stunden 
eine Herabsetzung des Fiebers um ein 
bis einundeinhalb Grad auf, so daß die 
Kurven ungefähr der eines bäderbehan- 
delten Typhus ähneln. Diese auffällige 
Erscheinung, deren Zufälligkeit nicht ge¬ 
leugnet werden soll, die aber bei der 
Wirkung des Strychnins auf das ver¬ 
längerte Mark wohl verständlich wäre, 
bedarf weiterer klinischer wie pharma¬ 
kologischer Beachtung. 

Strychnin bei eigentlichen Erkran¬ 
kungen des Herzens nach französischem 
Vorschläge zu geben, war ich bisher ein¬ 
mal in der Lage. Es handelte sich um 
einen Fall von Vorhofflimmern, bei dem 
intravenöse Digipangaben weder sub¬ 
jektive noch objektive Besserung bringen 
wollten. Auf sechs intravenöse Injektionen 
von je 1 mg Strychnin trat eine wesent¬ 
liche Beruhigung der Extrasystolensalven 
ein, vor allem aber wurde die Linderung 
der quälenden Beschwerden dankbar emp¬ 
funden. Weitere Anwendung und kritische 
Nachprüfung der ausländischen günstigen 
Erfahrungen empfehlen sich. Geeignet 
wären also alle Fälle, die m.it unangeneh¬ 
men Herzsensationen einhergehen, also 
in das weite Gebiet der nervösen Herz¬ 
erkrankungen fallen, einschließlich aller 
der Herzbeschwerden, die Teilerscheinung 
eines Grundleidens bilden (Basedow, Dia¬ 
betes, Tuberkulose, Klimakterium). Vor 
allem aber kommen alle Herzunregel- 
raäßigkeit^n in Betracht, die auf Störung 
der Reizleitung beruhen. Neißer er¬ 
wähnt lebensrettenden Erfolg bei Adams- 
Stokesscher Erkrankung. Auch bei par¬ 
oxysmaler Tachykardie wäre ein Versuch 
am Platze. In diesen Fällen empfehlen 
wir die chronische Strychnintherapie, 
wie sie im folgenden geschildert ist. 

Um die euphorisirende Wirkung des 
Strychnins zu erzielen, muß man es 
ähnlich wie das Arsen sehr.lange Zeit in 
steigenden Dosen einschleichend geben. 
Wir gehen so vor, daß wir mit einer 




310 , ^ Die Thei:?ipie der Gegenwart 19‘20 • l Septenlber 


Tagesmenge von 2 mg beginnen, die wjr 
in zehn- bis zwanzig^ägigen Zwischen¬ 
räumen um 1 mg bis zur Tagesdosis von 
b mg steigern. In gleicher Weise schleichen 
wir dann wied^er aus. Eine derartige 
chronische Strychninkur würde also un¬ 
gefähr drei bis sechs Monate dauern. 
Erwähnt sei, daß manche Autoren die 
Tagesmenge bis 1 cg steigern, ja noch 
weiter, bis sich in Form von Muskel¬ 
schmerzen die ersten Vergiftungserschei¬ 
nungen einstellen.* Auffällig ist bei diesen 
monatelang fortgesetzten hohen Strych¬ 
ningaben das Ausbleiben von Cum'ulations- 
störungen, vor denen in pharmakolo¬ 
gischen Lehrbüchern stets gewarnt wird. 
Das spräche für die Richtigkeit der in der 
Literatur mitgeteilten Erfahrungen, daß 
sich der Organismus mit der Zeit ähnlich 
wie an Arsen an Strychnin gewöhnt. An 
die Stelle intravenöser haben wir bei der 
chronischen Strychninbehandlung häufig 
auch subcutane Einspritzungen mit gutem 
Erfolge gesetzt. Für den praktischen Arzt 
empfiehlt sich die — allerdings weniger 
wirksame — Verordnung in Pillenform. 

Der chronischen Strychnintherapie 
haben wir bisher sechs f^älle von epide¬ 
mischer Encephalitis unterworfen. Wir¬ 
kungslos ist sie, solange die akuten 
Krankheitserscheinungen noch f ortbe¬ 
stehen, um so erfreulicher ist ihr Einfluß 
auf die subakuten und chronischen Folge¬ 
erscheinungen dieser proteusartigen Ge¬ 
hirnerkrankung. Sie behebt den soma¬ 
tischen und nervösen Erschöpfungszu¬ 
stand, bekämpft erfolgreich die oft hoch 
wochenlang andauernde Apathie und 
geistige Stumpfheit, gibt dem Kranken 
Energie wieder und schien auch die oft 
noch lange geklagten neuralgieformen 
Beschwerden zu mildern. Über die 
euphorisierende, besonders auf psychi¬ 
schem Gebiete belebende Eigenschaft des 
Strychnins besteht für mich nach diesen 
günstigen Erfahrungen kein Zweifel. 

Neißer empfiehlt besonders die chro¬ 
nische Anwendung bei Neurasirhenie, für 
die das Strychnin wie kein anderes Mittel 
geeignet erscheine, da es Gefäße und 
Nervencentren tonisiere, die Sinnes¬ 
schärfe für die Außenwelt erhöhe, die 
Schmerz- und Mißempfindungen aber 
herabsetze. Wir möchten mit unserem 
— bisher günstigen — Urteil noch zurück¬ 
halten, bis die Behandlung einer größeren 
Reihe von Fällen abgeschlossen ist. 

Endlich haben wir noch in zwei Fällen 
centraler Lähmung Versuche mit chro¬ 
nischer Strychninbehandlung angestellt, 


in der Absicht, einerseits die Reflexüber¬ 
tragung anzubahnen,anderseits hemmende 
Einflüsse äuszuschalten. Im ersten Falle 
handelte es sich um' eine\ epidemische 
Encephalitis, die unter dem Symptomen- 
bild einer schweren universellen Neuritis 
verlief, bei der also disseminierte perivas¬ 
kuläre Infiltrate und Neuronophagien im 
Rückenmark anzunehmen waren. Wäh¬ 
rend b^i Anwendung physikalischer Heil¬ 
methoden der Zustand fast stationär ge¬ 
blieben war, trat nach Einleitung der 
intravenös durchgeführteh chronischen 
Strychninbehandlung in überraschend 
kurzer Zeit eine fast völlige Restitutio ad 
integrum, mit Rückkehr der Sehnen- 
re-flexe ein. Auch wurden die lästigep 
Parästhesien entschieden günstig be¬ 
einflußt — also außer der central erreg¬ 
barkeitsteigernden wieder eine deutliche 
euphorisierende Wirkung des Strychnins. 
Der zweite Fall betrifft eine schwere Lues 
cerebrospinalis, bei der nach intensivster 
specifischer Behandlung außer leichter 
Sprachstörung und spastischer Paraparese 
beider Beine eine Blasenlähmung zurück¬ 
geblieben war, die das ständige Tragen 
eines Urinals erforderte. Hier haben die 
bisher vier Wochen lang gegebenen sub- 
cutanen Strychnineinspritzungen den Er¬ 
folg gehabt, daß der Kranke wieder Ge¬ 
fühl für Blasenfüllung und Harnent¬ 
leerung gewonnen hat;' es hat also das 
Strychnin, entsprechend seiner pharma¬ 
kologischen Eigentümlichkeit eine Bah¬ 
nung und Neuerschließung von Blasen¬ 
reflexen ermöglicht. 

Daß diese Beobachtungen Behandlungs¬ 
versuche bei organischer, besonders aber 
psychischer Impotenz in der geschilderten 
chronischen subcutanen oder intravenösen 
Anwendungsart aussichtsvoller als früher 
erscheinen lassen, verdient besondere Er¬ 
wähnung. 

Der Vollständigkeit halber sei zum 
Schluß aus der Literatur noch angeführt, 
daß auch die intralumbale Anwendung 
des Strychnins versucht worden ist. Man 
hofft auf diese Weise die Zellen, in denen 
das Gift noch nicht verankert ist, in 
ihrer Resistenz erhöhen und vor Lähmung 
bewahren zu können. 

In Frage kämen für die intralumbale 
Strychnintherapie Fälle von akuter Polio¬ 
myelitis und akuter aufsteigender Landry- 
scher Paralyse. 

Übersehen wir vorstehende Ausfüh¬ 
rungen, dann muß man sagen, auf der 
einen Seite gesicherte Behahdlungs- 
erfolge, welche die weiteste Anwendung 






September 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


31 f 


des Strychnins zur Pflicht machen, auf 
der anderen Seite vielversprechende' 
therapeutische Probleme, die kri¬ 
tische Mitarbeit Vieler wünschen lassen. 

1. Ben da (Aschpffs Lehrbuch , 2. Atifl., 
Bd. II, S. 62). — 2. Biank (Zur Anwendung des 
Strychnins bei Gaserkrankung, April 1918). — 
3. Blank (Zur Anwendung des Strychnins bei • 
Gaserkrankung, Juni 1918, Berichte an die Mediz. 
Abteilung d. pr. Kr. Min.). — 4. van Egmond 
(Pflüg. Arch. Bd. 180). — 5. Ellinger und 
Adler (Arch. f. exp. Path. u. Pharm., Bd. 85, 
S. 95). — 6 . Feilchenfeld (Med. Klin. 1918, 
H. 1. — 7. Fejes (D. m. W. 1919, S. ,653). — 
8 . Fortunato (Policlinico, sez. prat. Jahrg. 26, 
H. 27). — 9. Frey (Berl. kl. W. 1919, H. 7). — 


ip.Frey (Berl. kl. W. 1919, H. 13).—II. Friede¬ 
mann (D. m. W. 1920, H. 11). — 12. Gray und 
Parsons (Brit. Med. Journ. 1912, I, S. 1125). — 
13. Isaak (Ther. Mh. 1919, H. 3). — 14. Meyer 
und Gott lieb (Experimentelle Pharmakologie). 
— 15. Neißer (Berl. kl. W. 1918, H. 3). — 16. 
Reirihart (zit. nach 8 ). — 17. Scheidemandel 
(M. m. W. 1919, H. 31, Ver.-Ber.). — 18. Schiff- 
ner (M. Kl. 1919, H. 39). — 19. Stoerk und 
Epstein (W. kl. W. 1919, H. 45). — 20. Sym- 
mers (N. J. Med. Journ. 1919, CX, No. 20.) — 
21. V. Ta pp ein er (Lehrbuch der Arzneimittel¬ 
lehre, 5. Aufl., S. 214); — 22. Treupel und 
Kaysei^-Petersen (M. m. VV. 1-920, H. 24). — 
23. Troisfontaines (Revue de medecine, 1907, 
H. 5). — 24. Zuelzer (Zschr. f. ärztl. Fortb.’ 
1920, H. 6). 


Aus der 11. chirurgisclieii Abteilung des Rudolf-Vircbow-Krankenhauses. 

(Dirig. Arzt: Prof. Dr. R. Mühsam.) 

Zur Kenntnis und Behandlung der subcutanen Zerreißung der 

Luftröhre. 

Von Dr. Gerhard Golm, Assistenzarzt. 


Am 13. Mai 19120 wurde der Patient N. N. 
beim Fahren seines Wagens durch das aus¬ 
schlagende Pferd mit dem Eisen am Hals in dem 
Augenblick getroffen, als er sich zum Antreiben 
des Pferdes mit der Leine vornüberbeugte. Der 
Patient konnte sich noch aufrichten, gleich aber 
stürzte Blut aus Nase und Mund. Der Hals 
schwoll an. Der Patient konnte seinen Kehlkopf 
nicht mehr abtasten. Er wurde nach der Unfall¬ 
station gebracht und zwei Stunden später im 
Virchow-Krankenhaus aufgenommen. 

Bei der Aufnahme bestand mäßige Dyspnoe, 
der Hals war unförmig angeschwollen, zeigte 
aber keine Wunde oder Suggilation. Der Kehl¬ 
kopf ließ sich nicht abtasten, Krepitation war 
nicht zu fühlen: Blutiger Auswurf bestand nicht. 
Ein ausgedehntes Hautemphysem erstreckte sich 
bis zu den Brustwarzen und hinten im Rücken 
bis zur Mitte des Schulterblattes. 

Da das Hautemphysem während der Unter¬ 
suchung rasch fortschritt und das ganze Gesicht 
einschließlich der Augenlider ergriff, die Dyspnoe 
ebenfalls zunahm, schritt ich in oberflächlicher 
Narkose zur Tracheotomie. Beim ersten Schnitt 
quoll Blut mit schaumigen Blasen aus dem 
Unterhautzellgewebe hervor. Das Auffinden der 
Trachea war recht schwierig. Nach Freipräpa¬ 
rieren der Fascia laryngothyreoidea und Ein¬ 
schneiden derselben stieß der Patient mit mäch¬ 
tigen Husten Stößen Blut und Schleim aus einem 
fingerkuppengroßen Loch in der vorderen Wand 
der Luftröhre entsprechend dem zweiten und 
dritten Trachealring. - In dieses Loch führte ich 
sofort eine gewöhnliche 8 mm starke Kanüle ein. 
In dauernden Hustenstößen, entleerte sich nun 
blutiger Schleim und erst nach erneuter Mor¬ 
phiumgabe beruhigte sich der Patient. Der 
Wundverlauf war glatt und fieberfrei. Am 
sechsten Tage wurde die Kanüle entfernt. Drei 
Wochen nach dem Unfall konnte der Patient 
vollkommen geheilt das Krankenhaus verlassen. 

Die subcutanen Zerreißungen der 
Trachea sind recht seltene Verletzungen, 
sie sind viel seltener als die Kehlkopf¬ 
frakturen. Bei gewöhnlicher Körper¬ 
haltung liegt der Kehlkopf nur wenig 


unterhalb des Kinnes, welches ihn bei 
leicht gebeugtem Kopf gut schützt. Auch 
liegen zu beiden Seiten desselben ziemlich 
derbe Muskelmassen. Die Trachea selbst 
liegt noch geschützter als der Kehlkopf, da 
sie von der Schilddrüse und reichlich 
Fettgewebe bedeckt ist. Außerdem ist 
beiden in weitem Maße ein Ausweichen 
gegenüber einwirkenden Gewalten ge¬ 
stattet; auch verhindert die Elastizität 
der Knorpel bis zu einem gewissen Grade 
einen Brueh. .Von den bisher beschrie¬ 
benen 47 Fällen isolierter Luftröhrenzer¬ 
reißung sind 27 ad exitum gekommen. 
Die Prognose ist also ziemlich schlecht. 
Sie verschlechtert sich noch, wenn man 
die mit Kehlkopfverletzung kombinierten 
Fälle hinzunimmt. Hierfür berechnet 
von Hofmeister (1) die Mortalität auf 
83 %. 

Die klinischen Beobachtungen sowie 
die Versuche von Anders-Bern (2) haben 
ergeben, daß es für das Zustandekommen 
einer subcutanen Zerreißung der Trachea 
eines heftigen äußeren Traumas bedarf. 
Dabei kan*n direkt an Ort und Stelle des 
Traumas die Zerreißung erfolgen oder 
auch indirekt durch Zug an einer-ent¬ 
fernteren Stelle. Bei der ersten Art 
handelt es sich meistens um Querrupturen 
der Trachea, bei der anderen um Rup¬ 
turen, ähnlich wie am Darm, an den 
Fixationspunkten. Am häufigsten finden 
wir den Ansatzpunkt der Trachea am 
Kehlkopf betroffen, und zwar besonders 
dann, wenn es sich um mit Kehlkopf- 
fraktür komplizierte Trachealruptur han¬ 
delt. Weniger häufig ist die Gegend der 




312 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


/September 


Bifurkation betroffen und ganz selten 
sind die Verletzungen der mittleren Luft¬ 
röhre. Die Diastase kann bei vollständiger 
Durchtrennung eine recht erhebliche sein. 
Sie betrug in einem von Noll (3) be¬ 
schriebenen Falle 3 cm und verursachte 
bei der Operation erhebliche Schwierig¬ 
keiten. 

Als ätiologische Momente kommen in 
Betracht meist heftige äußere Gewalt¬ 
einwirkungen, Stoß mit dem Hals gegen 
eine Stuhllehne, gegen einen Holzbalken, 
'gegen einen Förderkorb. Zweimal habe 
ich auch in der Literatur einen Hufschlag 
gegen den Hals gefunden (4; Briegel, 
^ Fall 4 und 13). 

Von indirekten Gewalteinwirkungen 
sind zu erwähnen: starker Muskelzug 
durch plötzliches Rückwärtswerfen des 
Kopfes, Schlag gegen den Hinterkopf, am 
häufigsten jedoch Quetschung des Brust¬ 
korbes durch Überfahrenwerden. Bei 
den letzteren Fällen handelt es sich 
meistens um eine Fraktur der Trachea 
in der Nähe der Bifurcation entweder 
oberhalb derselben oder um Einriß oder 
Abriß eines Bronchius von der Trachea. 
Hier muß man sich vorstellen, daß der 
Riß durch Zerrung der Trachea nach 
unten zustande gekommen ist (5). 
Die Lunge weicht mit den Bronchien 
in den Thorax aus und der Kehlkopf 
wird, wenn er ‘ad maximum herunterge¬ 
stiegen ist, durch Muskelzug in seiner 
Lage fixiert. Die Tatsache, daß gerade 
bei Kindern relativ häufig durch Über¬ 
fahrenwerden Zerreißungen der Trachea 
stattfinden, spricht für die Wahrschein¬ 
lichkeit dieser Annahme, da ja hier die 
Widerstandskraft der Bronchien eine 
geringe ist, während die Elastizität des 
kindlichen Thorax durch Kompression 
eine recht beträchtliche Formveränderung 
zuläßt (6). 

Eine ganz eigene Stellung nehmen 
die Gruppen von Gewalteinwirkungen 
ein, wo die Ruptur in erster Linie durch 
eine Erhöhung des intratrachealen 
Druckes hervorgerufen ist. Dies ist be- 
weitehi die kleinste Gruppe, da ja durch 
den Mund jederzeit ein, Ausgleich mit 
der Atmosphäre stattfindet. 

Sechs Fälle von plötzlicher Erhöhung des 
»intratrachealen Druckes haben aber doch zu 
einer Trachealruptur geführt. In dem einen 
Fall (4, Fall 5) handelte es sich um einen F/dJahr 
alten Jungen, der an starker Bronchitis erkrankt 
war und seinen Kopf hin und her warf. Am 
fünften Tage der Erkrankung stellte sich ein 
Hautemphysem ein. Die Sektion ergab hier eine 
Querruptur der Trachea unterhalb des ersten 
Knorpelringes. In einem zweiten Falle hatte 


^ ein Kind etwas verschluckt (4, Fall 14). Heftigef 
' Hustenanfall mit Dyspnoe waren die Folge. Am 
zweiten Tage war der ganze Hals ödematös ge¬ 
schwollen. Bei der Operation fand man eine 
Ruptur der Trachea zwischen mittlerem und 
unterem Drittel. Bei einem anderen Fall (4, 
Fall 28) handelte es sich um eine Pulverexplosion 
im Munde bei einem Selbstmörder. Auch hier 
' zeigte die Sektion eine vollständige Zerreißung 
der Trachea ohne äußere Verletzung. Andres- 
Bern beschreibt einen interessanten Fall, wo 
• bei einer Primipara infolge starken Pressens 
ausgedehntes Hautemphysem an der linken 
Halsseite auftrat. Bei einem anderen Fall (7) 
soll bei einem tetanischen Glottiskrampf in¬ 
folge übermäßigen Exspirationsdruck eine kleine 
Ruptur der Trachea entstanden sein, die zu 
ausgedehntem Hautemphysem führte. Der 
Patient erlag später einer hinzutretenden Pneu¬ 
monie. 

Die plötzliche Erhöhung des intratrachealen 
Druckes spielt sicher auch bei allen direkten 
Traumen- eine erhebliche Rolle. Wenigstens 
führt H ö r h a m m e r (8) die Ruptur der 
Luftröhre bei einem elfjährigen Knaben, der sich 
. beim Stabspringen eine Stange in die linke 
Halsseite stieß, auf die Verstärkung der Schlag¬ 
wirkung durch gleichzeitig bestehende Erhöhung 
des intratrachealen Druckes zurück. Bevor 
der Knabe zum Sprunge ausholte, schöpfte er, 
wie es meistens geschieht, noch einmal tief Luft 
und sprang mit geschlossenem Munde. Durch 
ein Ausgleiten der Stange schlug ihm dieselbe 
gegen die unter etwas erhöhtem Druck stehende 
Trachea. So wie ein Gummiball durch Drauf¬ 
schlagen' zum Bersten gebracht werden kann, 
so zerriß in diesem Falle die Luftröhre. Die 
Diagnose eirtcp- Ruptur konnte aus den deut¬ 
lichen Symptomen gestellt werden und die 
Operation zeigte einen 4 cm langen Trachealriß. 

Die Diagnose einer isolierten Tracheal¬ 
ruptur ist‘Schwierig zu stellen. . Handelt 
es sich doch meist um diffuse Schwellung 
des Halses und ausgeprägtes Haut¬ 
emphysem, das, wie auch in unserem 
Fall, ein Abtasten des Kehlkopfes micht 
zuläßt. Unter Umständen freilich kann 
man die Diagnose einer Kehlkopffraktur 
leicht stellen, wenn man eine Abplattung 
des Pomum Adami fühlt oder eine 
sonstige Deformität des-Kehlkopfgerüstes 
sich wahrnehmen läßt. Auf das Knorpel- 
krepitieren ist nicht zuviel Gewicht zu 
legen, da es auch sonst bei normalen 
Kehlköpfen vorkommt, ln zwei Fällen 
allerdings soll die Diagnose einer isolierten 
Trachealruptur gestellt worden sein, ein¬ 
mal (4,10) als man den Bruch an einer 
deutlichen Ein-senkung des Ringknorpels 
fühlte, ein anderes Mal als man eine Ver¬ 
wölbung in Höhe des dritten Tracheal- 
ringes feststellen konnte (5,35). Wieweit 
die direkte Laryngoskopie die Diagnose 
eines Trachealruptur sichern kann, ent¬ 
zieht sich meiner Beurteilung. Jedenfalls 
ist diese' Methode, bisher noch nicht zur 
Sicherung der Diagnose herangezogen 
worden, auch ist die Technik nicht Ge- 



September 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


313 


meingut aller Ärzte. Theoretisch müßte 
ja eine systematische Absuchung der 
Trachealwand von innen zum Erfolge 
führen. Die Exploration wird wohl aber 
infolge der ’ starken Schwellung der 
Schleimhaut des Kehlkopfes und der 
heftigen Dyspnoe stets auf erhebliche 
Schwierigkeiten stoßen. 

Was die Behandlung anlangt, so hat 
.als oberstes Prinzip die Sicherstellung 
-der Atmung zu gelten. Nach Brigel 
bestand die. Therapie in neun Fällen von 
Heilung der Trachealruptur in Fixation 
•des Kopfes nach vorn, wodurch die 
Bruchenden möglichst einander genähert 
wurden, absoluter Ruhe und Auflegen 
einer kalten Kompresse. Dieses Verfahren 
kann man seiner Meinung nach beibe¬ 
halten, solange keine bedrohlichen Symp¬ 
tome wie stärkere Dyspnoe bestehen 
und vor allem der Patient unter steter 
Aufsicht ist. Hingegen schreibt v. Hof¬ 
meister wörtlich: ,,Trotz aller statisti- 
•schen Ergebnisse erscheint es mir ge¬ 
fährlich bei frischen Fällen anders zu 
handeln als gegenüber einem Largux- 
bruch“, wo die Tracheotomie die Methode 
der Wahl ist. ,,Wir können ja nie wissen, 
ob oder wie rasch das Emphysem sich 
steigern wird.“ Gelingt es durch eine 
Incision die Frakturstelle freizulegen, so 
•empfehlen wir heute die Naht derselben 
(Noll), eventuell nach Anfrischung der 
Wunde. ,,Ebenso gerechtfertigt ist auch 
das Einführen einer Kanüle, wenn nur 
dafür gesorgt wird, daß die Luft nach 
außen abgeleitet wird und nicht mehr ins 
Unterhautzellgewebe tritt.“ Chiari (9) 
ist der Ansicht, daß die Tracheotomie 
bei Trachealruptur stets indiziert ist, 
ja geradezu unerläßlich ist bei Kombi¬ 
nation mit Brüchen des Kehlkopfs. Auch 
wir stehen auf dem Standpunkt, daß 
die Tracheotomie in jedem Fall und 
zwar schon bei begründetem Verdacht 
auf Luftröhrenzerreißung angezeigt ist. 
Bei vollständiger Zerreißung der Tra¬ 
chea empfiehlt es sich, durch Naht der 
hinteren und seitlichen Luftröhrenwand 
die Rißenden aneinander zu passen, vorn 
aber jedenfalls die Kanüle einzulegen. 
Im Anschluß an die Tracheotomie muß 
man häufig, um die Atmung frei zu be¬ 
kommen, die aspirierten Blut- und 
Schleimmassen aussaugen. Die Tracheo¬ 
tomie selbst ist in einfachster Weise 
durch Freilegung der Bruchstelle auszu¬ 


führen. In diese wird dann die Kanüle 
eingeführt. Nur sehr selten bei besonders 
tiefer Lage dürfte man die- Luftröhren¬ 
öffnung selbst nicht finden und müßte 
dann von einem Schnitt in die Trachea 
aus eine lange biegsame König sehe' 
Kanüle tief in die Luftröhre einführen. 

In neuster Zeit hat man bei Larynx- 
frakturen Versuche mit der Intubation 
gemacht. Bei Trachealfrakturen ist die¬ 
selbe meines Wissens noch nicht ver¬ 
wendet worden. Es ist auch von ihr, 
jedenfalls von der O’Dwyerschen Intu¬ 
bation, wenig zu erwarten. Erstens ist 
es sehr unsicher, ob das Ende des Tubus 
bis zur Rupturstelle reicht, zweitens 
ist zwischen Tubus und Trachea noch 
ein Raum vorhanden, durch den die 
Luft ins Unterhautzellgewebe gelan¬ 
gen kann; insbesondere wird sich 
das bei Hustenstößen nicht vermeiden 
lassen. Drittens kann man den Tubus 
wegen erhöhter. Infektionsgefahr nicht 
lang genug liegen lassen, schließlich führt 
die Intubation nur zu häufig zu ‘Kehl¬ 
kopfstenosen. Die Tracheotomie allein 
schafft übersichtliche Verhältnisse und 
sichert den Patienten vor erneuten Er¬ 
stickungsanfällen. 

Zum Schluß möchte ich erwähnen, 
daß Herr Prof. Levy-Dorn die Freund¬ 
lichkeit hatte, von unserem Patienten 
mehrere Röntgenaufnahmen der Trachea 
anfertigen zu lassen. Bei der seitlichen 
Aufnahme sieht man hier deutlich einen 
Sporn an der vorderen Wand der Luft¬ 
röhre dicht unterhalb des Ringknorpels. 
Diese Stelle entspricht dem Orte der 
Verletzung. Es hat sich hier eine leichte 
narbige Stenose gebildet. 

Die von Herrn Prof. Claus vorge¬ 
nommene laryngoskopische Untersuchung 
mittels Endoskopie zeigte deutlich an 
der vorderen Wand der Luftröhre in 
Höhe des dritten Trachealringes eine 
über erbsengroße Prominenz, frisches 
Granulationsgewebe. 

Literatur: l.v. Hofmeister (Handb. 
d. prakt. Chirurgie v. Bruns 1913). — 2. A n d e r s- 
Bern (Schw. Rdsch. f. M. 1909, Nr. 4). — 3. N o 11 
(D. Ztschr. f. Ch. 1888, Bd. 27, $. 597). — 4. B r i - 
g e 1 (Beitr. z. klin. Ch. 1895, Bd. 14). — 5. Z im¬ 
mermann (Arch. f. Laryng. 1911, 24). — 
H 0 p m a n n (Heymanns Handb. d. Laryn- 
gologie, Wien 1898). — 7. W a 1 c h e r (M. m. W. 
1916; Nr. 19). — 8. H ö r h a m m e r (M. m. W. 
1915, Nr. 27). — 9. Chiari (Neu dt. Chir., 
Bd. 19, S. 229). — 10. F r i e d e m a n n (M. m. W. 
191-6, 35 Feldärztl. Beilage). 


40 




314 


Die Therapie der Gegenwart 1920- 


September 


Aus der Üniversitäts-Frauenkliiiik Müuclien. (Direktor: G-ekeimrat Prof. Dr. D öder lein.) 

lieber blutstillende Maßnahmen in der Frauenheilkunde. 

Von Dr. Ferdinand Binz, Assistenten der Klinik. 


Bekanntlich können wir die Ursachen 
von Blutungen aus dem weiblichen Ge¬ 
nitalapparat — unter Ausschluß derer, 
•die durch Schwangerschaft, Geburt und 
Wochenbett hervorgerufen werden — 
in zwei große Gruppen zusammenfassen; 
in die allgemeinen und die lokalen. 

Zu den häufigsten allgemeinen Ur- 
'Sachen von Meno- und Metrorrhagien 
gehören Anämie und Chlorose. Umge¬ 
kehrt wie bei Tuberkulose tritt hier — 
während in den leichteren Fällen oft 
A- und Oligpmenorröhe zu verzeichnen 
ist — häufig in schweren Fällen eine 
Verstärkung der Menses ein, die wiederum 
im Circulus vitiosus das primäre Leiden 
verschlimmert. Aus diesem Gfunde 
kann man der vorzugsweise bei jungen 
Mädchen um die Pubertätszeit auftre¬ 
tenden Chlorose gar nicht frühzeitig genug 
seine Aufmerksamkeit schenken, denn 
Vorbeugen ist bekanntlich um vieles 
leichter als heilen. Aus Gründen der 
Raumersparnis verzichte ich an dieser 
Stelle auf eine Darlegung der kausalen 
Therapie der Chlorose, welche in vielen 
Fällen zur Heilung profuser Blutungen 
führt. 

Daß neben dieser auch die durch 
Chlorose verursachten Blutungen als 
solche Gegenstand symptomatischer Be¬ 
handlung sein müssen, um das primäre 
Leiden durch weitere Blutverluste nicht 
aufs neue zu verstärken, ist wohl über¬ 
flüssig, zu bemerken. 

Was therapeutisch bei Chlorose emp¬ 
fohlen wird, gilt im großen und ganzen 
auch für die chronisch anämischen Zu¬ 
stände. Freilich muß darauf hingewiesen 
werden, daß diese auf eine häufig noch 
immer wirkende Grundursache zurück¬ 
zuführen sind, ohne deren Ausschaltung 
keine Therapie von nachhaltiger Wirkung 
sein kann. Zu denken hat man da 
besonders an Magengeschwüre, Bleiver¬ 
giftungen, chronische Alkoholvergiftun¬ 
gen, chronische Nephritis, Lues, Typhus, 
Malaria, chronische Eiterungen, maligne 
und auch gutartige Tumoren, Einge¬ 
weidewürmer und Tuberkulose. Latente 
Tuberkulosen segeln dabei häufig unter 
der Flagge ,,Chlorose“, worauf Näegeli 
erneut hinweist. Weitere Ursachen von 
Menorrrhagien sind die Leukämie, die 
Biermersche Anämie und die hämor¬ 
rhagischen Diathesen, deren Behandlung 


nach den Regeln der inneren .Medizin 
erfolgen muß. 

Basedow, Gicht, Phthise und Adi« 
positas, von denen, letztere zwei häufig 
mit verminderten Regeln einhergehen^ 
können gelegentlich ebenso Ursache von, 
uterinen Blutungen werden, diese Fälle 
treten aber der Zahl nach zurück, außer¬ 
dem wird sie der Gynäkologe stets an 
den Internisten verweisen. 

Die akuten Infektionskrankheiten: 
Cholera, Malaria, Pocken, Typhus und 
Influenza verursachen ebenfalls nicht 
selten profuse Genitalblutungen. Bei 
den Herzkrankheiten, welche seltener¬ 
weise zu Meno- und Metrorrhagien 
führen, haben oft Digitalis und Stro¬ 
phantin in Verbindung mit Bettruhe und 
Stypticis eine überraschend günstige 
und rasche Wirkung, Chronische Ne¬ 
phritis hat ebenfalls Uterusblutungen im 
Gefolge, ferner betonen verschiedene 
Autoren die Möglichkeit, daß Menor¬ 
rhagien rein psychogen entstehen, wobei 
namentlich die mit Unlustgefühlen ein¬ 
hergehenden Affekte "eine Blutverschie¬ 
bung aus der Haut in die visceralen 
Organe, also eine vorübergehende Stau¬ 
ung bis zur Blutung verursachen können. 
Die Möglichkeit gewerblicher Ursachen, 
wie z. B. das Arbeiten in Fabriken mit 
Blei, Phosphor und Chinin, ist eben¬ 
sowenig außer acht, zu lassen. Ganz 
selten ist schließlich auch einmal Leber- 
cirrhose oder Bothriocephalus latus die 
Ursache von Menorrhagien (Gebhard). 

Schließlich ein paar Bemerkungen 
über Blutungen, die zwar nichts mit 
Menorrhagien zu tun haben, nichts¬ 
destoweniger aber leider mit allen mög¬ 
lichen Stypticis angegangen werden, weil 
sie nicht richtig erkannt wurden. Blu¬ 
tungen aus Hämorrhoiden, überhaupt 
aus dem Darm mit genitalen zu verwech¬ 
seln, dazu gehört wohl schon eine große 
Oberflächlichkeit bei der Untersuchung, 
die zwar nicht möglich sein- sollte, es- 
aber leider offenbar doch ist. Nicht ganz 
so übel ist es, urethrale Blutungen in 
uterine umzudeuten. Verletzungen des 
Hymens, der Clitoris, überhaupt der 
Scheide müssen ebenfalls unbedingt durch 
genaue Inspektion ausgeschlossen werden 
können — Varixblutungen außerhalb der 
Gravidität sind kaum anzunehmen. Eine 
der häufigsten Ursachen von Mißdeutun- 





315 


September . Die Therapie der Gegenwart 1920 


gen und daran anschließend falscher 
Therapie sind die Erosionsblutungen, die 
manchmal recht erheblich stark sein 
können. Daß hier mit den gewöhnlich 
verprdneten Stypticin- usw. Tabletten 
nichts zu wollen ist, ist selbstverständlich. 
Wiederholtes Ätzen mit ^ Argentum ni- 
tricum, 10 %ig, eventuell Verschorfen 
mit Galvanokauter (bei starker Blutung), 
Tampospuman, endlich eine Scheiden- 
taniponade helfen sicher. 

Auf eine Möglichkeit von ,,Uterus¬ 
blutungen“ möchte ich noch hinweisen: 
Frauen, deren Periode über die übliche 
Zeit ausgeblieben ist und die eine Gra¬ 
vidität aus irgendwelchen Gründen 
fürchten, haben schon wiederholt in der 
stillen Hoffnung, der Arzt möchte zur 
Stillung der ,,Metrorrhagie“ eine Abrasio 
machen, blutige Wäsche in die Sprech¬ 
stunde mitgebracht, sichVulva und Vagina 
mit Tierblut beschmiert und den Arzt 
durch falsche Angaben zu obengenanntem 
Eingreifen zu bestimmen versucht. Wenn 
auch derlei Fälle zu den Seltenheiten 
gehören, so muß doch -der Frauenarzt 
immer daran denken, daß er zu denjeni¬ 
gen Menschen gehört, die vielleicht am 
meisten angelogen werden. Um so mehr 
muß verlangt werden, daß nur auf Grund 
genauester eigener Untersuchung der The¬ 
rapieplan festgesetzt werden darf. 

Nicht immer machen lokale Ursachen 
von Metrorrhagien und Menorrhagien 
einen tastbaren Befund am Uterus oder 
den Adnexen. Gerade die allerhäufigste, 
die Endometritis, läßt ihn vermissen. 
Ja, im Gegenteil, wird doch die „Ver¬ 
legenheitsdiagnose“ eigentlich nur ge¬ 
stellt, wenn andere Ursachen verstärkter 
Menses weder in- noch außerhalb des 
Genitals gefunden werden. Döderlein 
nennt die Häufigkeit der Diagnose „Endo¬ 
metritis“, ja geradezu einen Gradmesser 
für die Gediegenheit des ärztlichen Kön¬ 
nens, in dem Sinne, daß, je sorgfältiger 
nicht nur das Genitale allein, sondern 
auch der Mensch untersucht wird, sie 
um so seltener gestellt wird! 

Liegt ein solcher Fall vor, bei dem die 
Blutung Folge einer Funktionsstörung, 
einer Hyperplasia mucosae uteri oder 
•nach Pankow einer ,,Metropathie“ ist, 
so haben wir eine ganze Reihe erprobter 
Mittel. Die übliche Therapie war bisher 
die Verordnung von Präparaten, die aus 
dem Secale cornutum und aus dem Ex¬ 
trakt von Hydrastis canadensis herge¬ 
stellt sind. 


Secale cornutum wirkt durch die Er¬ 
regung von peristaltischen . und teta- 
nischen Contractipnen der .Uterusmus¬ 
kulatur — die, auch am nicht graviden 
Organ auftreten,— indem diese Kon¬ 
traktionen die Gefäße verschließen und 
kongestive Zustände beseitigen. Leider 
ist die Wirkung des Secale eine durchaus 
nicht gleichbleibende. Guggisberg und 
Tschirsch behaupten, daß beim Lagern 
der Droge dauernd Umsetzungen statt¬ 
finden mit Bildung immer neuer Stoffe 
von verschiedener Wirkung. 

Der Secalepräparate gibt es viele. 
.Als Infus wirkt es besser, wenn es frisch 
bereitet ist (Inf. Secal. cornut. rec. parat. 
5,0—8,0: 130,0, Sir. .Cinnamom. 20,0 
MDS. Alle zwei Stunden ein Eßlöffel). 
Sehr gute Wirkung rühmt Heffter der 
reinen Droge in Pulverform nach, wenn 
sie kurz nach der Ernte zur Anwendung 
kommt und unmittelbar vor Gebrauch 
pulverisiert wurde. Vielleicht nicht so 
stark, aber gleichmäßiger in der Wirkung 
sind die Extrakte. Von ihnen verord¬ 
net man ebenso wie von Dialysat 
dreimal täglich 20 Tropfen. Während in 
der Geburtshilfe eine starke, kurzwirkende 
Contraction der Uterusmuskulatur er¬ 
wünscht ist, die am besten durch sub- 
cutane und intramuskuläre Injektion er¬ 
reicht wird, kommt es bei den gynäko¬ 
logischen Blutungen mehr darauf an, 
eine lang anhaltende, wenn auch schwä¬ 
chere Wirkung hervorzubringen. Das 
hat einen gewissen Vorteil, weil subcutane 
Injektionen manchmal zu unangenehmen 
Infiltraten an der Einstichstelle führen 
können. Tenosin, eine Kombination von 
Tyramin und Histamin (Jaeger), hat als 
synthetisches Mittel den Vorzug, daß 
seine Herstellung von der Knappheit an 
Mutterkorn unabhängig ist und keine 
Ballaststoffe enthält. Fernerhin stellt 
die MBK-Vereinigung noch sogenannte 
Ergotinkompretten MBK her, die ganz 
angenehm zu nehmen sind und gut 
wirken. 

An die Secalepräparate reihen sich 
die aus der Wurzel von Hydrastis cana¬ 
densis hergestellten an. Das darin ent¬ 
haltene Hydrästin wirkt auf Uterus und 
Gefäße zusammenziehend, ist also im¬ 
stande, uterine Blutungen zum Stehen 
zu bringen. Wir haben da zunächst das 
Extrakt. Hydrast. fluid, drei- bis fünfmal 
20 Tropfen zu nehmen, dann: Rp.: 
Hydrastinin. hydrochl. 0,5 Rad. et succ. 
Liqu. qu. s. ai. f. pil. Nr. L, fernerhin: 
Cotarnin. hydrochl. 1,0; Aqu. Menth. 

40* 


316 ‘ Die Therapie der 


pip. ad 20,0 MDS. viermal 20 Tropfen 
zu nehmen. 

Salze des Cotarnins sind Styptol und 
Stypticin, beide werden in Tablettenform 
^(20 zu 0,05 in Röhrchen, dreimal' täglich 
eine Tablette) verordnet. Sehr gut be¬ 
währt hat sich mir auch Uquidrast drei- 
bis viermal 20—30 Tropfen zu nehmen. 
In letzter Zeit hat man auf das Hirten¬ 
täschelkraut zurückgegriffen, das bereits 
in der Volksmedizin zu diesem Zv/eck 
verwendet wurde. Knimmacher hat 
das Styptisat Bürger genannte Mittel mit 
vollstem Erfolg und ohne jedwede un¬ 
angenehme Nebenwirkung bei profusen 
Blutungen angewandt (dreimal ’ täglich 
15 Tropfen).. Vor kurzem hat. uns die 
Firma Tosse ihr ,,Stypturar‘ zugesandt, 
von dem die beigelegte Literatur günstige 
Resultate behauptet, aber leider regen 
sich bereits jetzt Stimmen, die den neuen 
Mitteln recht skeptisch gegenüberstehen, 
anscheinend nicht zu unrecht. Außerdem 
käme noch Salipyrin in Betracht, das 
man zweckmäßig als Fast. Phenaz. 
salicyl. 1, Nr. XX S. dreimal täglich 
eine Tablette verschreibt (Kayser). Frei 
von Nebenwirkung und angeblich den 
Hydrastispräparaten überlegen in seiner 
styptischen Wirkung — nach van Don- 
gen — ist der leicht zu beschaffende 
Fluidextrakt des einheimischen Erodium 
{Geranium) cicutarium THerit. Aller- 
•dings muß man vier bis acht Wochen 
lang das Mittel (viermal täglich 25 Trop¬ 
fen) geben, bis es seinen vollen Erfolg 
hat. Franz, Wasicky und Denecke 
lehnen dagegen das Erodium als unwirk¬ 
sam ab. Ebenfalls erst nach mehrmona¬ 
tigem Fortgebrauche kann man von der 
durch Klemperer empfohlenen Chlor¬ 
calciumtherapie Erfolge erwarten; da das 
Mittel recht unangenehm schmeckt, ist 
es immerhin fraglich, ob viele Frauen 
die nötige Ausdauer aufbringen, es so 
lange zu nehmen. F. Ludwig rühmt 
dem Meth^dentetrahydropapaverin bei 
Myom- und anderen Uterusblutungen 
eine gute styptische Wirkung nach. 

Soweit bei diesen Medikamenten eine 
besondere Anwendung nicht hervorge¬ 
hoben wurde, ist es zweckmäßig, sie 
nicht nur während der verstärkten Men¬ 
ses selbst, sondern schon einige Zeit — 
etwa fünf bis acht Tage — zuvor anzu¬ 
wenden. Man wird auf diese Weise in der 
Lage sein, Blut zu sparen, was im Inter¬ 
esse der oft mit Menorrhagien vergesell¬ 
schafteten Anämie von höchster Bedeu¬ 
tung ist. 


Gegenwart 1920 . Septernber 

Die neuere Forschung bringt die Meno-' 
und Metrorrhagien teilweise 'mit Stö¬ 
rungen der Ovarialfunktion in Beziehung. 
Damit- ist der Organotherapie ein neuer 
Weg gewiesen. Zwar sind wir ja noch 
in keiner Weise über das Stadium der 
Hypothesen hinaus, in der Praxis liegen 
aber doch schon Mitteilungen vor, die 
der Beachtung wert sind. Die neueren 
Autoren nennen die Blutungen nicht 
mehr endometritische, sondern ovarielle 
und teilen sie in Pubertätsblutungen, 
ovarielle Blutungen der erwachsenen Frau 
und klimakterische ein. Die Berück¬ 
sichtigung des Alters der Patientin hat 
eine eminente Wichtigkeit für, unser 
Handeln. Bei Verdacht auf Carcinom - 
wäre jedes Zuwarten ein grober Fehler, 
und ist die sogenannte ,,Probeabrasio“ 
die einzig richtige Maßnahme. Erst nach 
Ausschluß einer malignen Neubildung 
durch mikroskopische Untersuchung des 
Geschabsels treten die styptischen Ma߬ 
nahmen in ihre Rechte. 

So dringend wir in diesen Fällen zur 
rechtzeitigen ',,Probeabrasio“ raten, so 
selten möchten wir sie in all denen ange¬ 
wandt wissen, wo sie nicht diagnostischen, 
sondern rein therapeutischen Zwecken 
dient. Nach unserer heutigen Auffassung 
ist eine — womöglich des öfteren wieder¬ 
holte— Abrasio zur Stillung einer Uterus¬ 
blutung, die nicht durch retentierte Abort- 
reste^oder Placentarpartikel unterhalten 
wird — eine falsche Methode. Das hieße, 
eine Maschine zu zerlegen, wenn der 
Dampfkessel in Unordnung geraten ist, 
denn soviel wissen wir trotz aller Unklar¬ 
heit über das ,,wie“ doch heute schon, 
daß der Uterus das ausführende Organ 
für die Impulse ist, die von den Ovarien 
ausgehen. 

ln dieser Erkenntnis greift denn auch 
die moderne Therapie bei den Ovarien 
an und versucht durch Zufuhr von Ex¬ 
trakten teils des ganzen Ovars, teils des 
Corpus luteum, teils auch von Organ¬ 
extrakten antagonistischer Drüsen die 
,,Dysharmonie“ im Haushalte der ,,in¬ 
neren Sekretion“ des kranken Körpers 
auszugleichen. Ich bezweifle, ob das auf 
einfach empirischem Wege jemals mög¬ 
lich sein wird. Tatsächlich ist es ein 
Tappen, im Dunkeln, wenn wir Organo¬ 
therapie treiben. Es würde weit über 
den Rahmen dieser Arbeit, die mehr der 
Praxis gewidmet ist, hinausgehen, wollte 
ich auf all die Hypothesen eingehen, die 
sich mit der inneren Sekretion befassen. 
Nur soviel sei gesagt, daß das Ovar 




September 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


317 


offenbar relativ selbständig gegenüber 
den anderen endokrinen Drüsen dasteht 
und weder im selben Maße auf sie wirkt, 
noch so stark von ihnen beherrscht wird, 
wie diese es -untereinander tun. Des¬ 
gleichen sei gestreift, daß dem Corpus 
luteum nach Ansicht der meisten Beob¬ 
achter eine blutungshemmende Eigen¬ 
schaft zukommt, Seitz.und Wintz je-, 
.doch aus den gleichen Drüse zwei Sub¬ 
stanzen von antagonistischer Wirkung 
extrahiert haben: das Luteolipoid und 
das Lipamin. 

An' organotherapeutischen Mitteln 
stehen uns gegen die ovariellen Blutungen 
zur Verfügung: Adrenalin, Hypophysin, 
/vlammin, Ovarial- und Corpus-liiteum- 
Extrakte. Hervorzuheben ist, daß die 
parenterale Einverleibung der oralen in 
allen Fällen weit überlegen ist. Erfolge 
wurden fast mit jedem der genannten 
Organextrakte erzielt und diese ihrerseits 
wieder bestritten; die Frage befindet 
sich durchaus im Fluß und ist es deshalb 
vielleicht von Interesse, daß auch wir 
unsere diesbezüglichen Erfahrungen mit- 
teilen. 

Ich habe in der Ambulanz der Frauen¬ 
klinik im Rahmen allgemeiner Versuche 
über das Hormin Natterer, die noch 
weiter fortgesetzt und später veröffent¬ 
licht werden, dieses Präparat auch bei 
profusen Menses angewendet. Ent¬ 
sprechend der Tatsache, daß neben dem 
Extrakt der Glandulae pituitariae, Thyreo¬ 
iditis, suprarenalis und des Pankreas den 
Extrakt des ganzen Ovars enthält, das ja 
zeitweise einem Extrakt: Ovar plus Follikel 
zeitweise einem solchen: Ovar plus Cor¬ 
pus luteum entsprechen kann, war zu 
erwarten, daß das Präparat keine gleich¬ 
mäßige Wirkung hat. So kann ich nur 
von zwei Fällen berichten, die man allen¬ 
falls als Erfolg buchen könnte, die aber 
von den mit Luteoglandol erzielten weit 
übertroffen werden. 

Der erste Fall betrifft die 18jährige I para 
D. K-, die am 11. April 1918 einen Abortus durch-, 
gemacht hatte; seither Periode alle ein bis drei 
Wochen, acht bis 14 Tage, sehr stark; vor dem 
Abortus alle drei Wochen, acht Tage, stark. 
Nachdem die Blutungen durch fünf Monate immer 
den angegebenen Verlauf genommen hatten, war 
die nach vier Injektionen, drei Tabletten und 
zwei Suppositorien auftretende Menstruation nur 
zwei Tage lang und schwach. Leider begnügte 
sich die Patientin hiermit und kam nicht mehr 
zur Sprechstunde. Objektiv .'.normaler Tastbefund. 

Der zweite Fall war die 34 jährige 0 para M. D. 
Genitale ohne Besonderheiten. Menses seit langem 
vierwöchtlich, acht Tage lang, sehr stark. Tropfen 
und Pillen ohne jeden Erfolg. Das erstemal 
injizierte ich am vierten Tage der Menses und 


noch zweimal (am sechsten und achten) je eine 
Ampulle Hormin, ohne Erfolg. Bei der nächsten 
Regel im Januar begann ich am ersten Tage^ 
injizierte drei Ampullen und gab zwei Svppo- 
sitorien mit dem Erfolg, daß die Blutung geringer 
war und nur vier Tage dauerte. Im Februar 
konnte die Frau nicht regelmäßig kemmen, die 
drei Injektionen bewirkten nur eine Abkürzung 
auf vier Tage, die Blutung war wieder stark. Im 
März wurden die Injektionen fünf Tage vor der 
erwarteten Periode begonnen, diese trat um drei 
Tage zu früh auf, dauerte fünf Tage und war 
schwach! (sieben Ampullen). Im April und Mai 
traten die Menses je um fünf Tage zu früh ein, 
waren aber auf je drei Ampullen schwächer als 
früher. Irn Juni keine Injektion, Menses stärker, 
sieben Tage lang! Im Juli, August, September 
nur je eine bis zwei Spritzen Hormin, die Menses 
wurden allmählich immer schwächer, die im 
Oktober dauerte nur einen Tag! Es ist bei diesem 
Fall schwer zu sagen, was auf das Konto des 
Hormins, was auf das des Zufalls zu setzen ist. 

Inzwischen hatte ich bereits früher 
einmal begonnene Versuche mit Luteo¬ 
glandol wieder aufgenommen, da sie mir 
weit eindeutiger schienen, als die mit 
Hormin — das bei anderen Indikationen 
mehr in Betracht kommt —, so lasse ich 
einige Fälle hier folgen: 

1. Fall. J. S., 28 jährige 0 para. Uterus klein, 
etwas nach links verzogen durch strangartige Ver¬ 
dickung des Lig. latum. Sonst ohne Besonderheit. 
Menses alle acht Tage, sechs bis sieben Tage stark. 
Beginn der Luteoglandolinjektion am 2. Februar, 
die für 9. Februar erwartete Blutung blieb aus und 
kam erst am 21. Februar (vorher sechs Ampullen), 
sie dauerte bis 1. März und war stark. Da die 
früher bestehende Müdigkeit günstig beeinflußt 
wurde, werden im Intervall noch jedesmal drei 
Spritzen gegeben, darauf tritt die Menses nur alle 
drei Wochen je fünf Tage mäßig stark auf. (Beob¬ 
achtet bis April, dann ausgeblieben aus der 
Sprechstunde,) 

2. Fall. L. 465, 25jährige II para. Sehr aus¬ 
geblutete Frau mit kleinem, anteflektiertem 
Uterus und minimal verdickter r. Tube. Periode 
alle 'ein bis drei Monate, aber sehr stark, acht 
Tage lang. Secale usw. ohne Erfolg. Drei Luteo- 
glandolinjektionen bringen zweimal hinterein¬ 
ander Abkürzung der Menses, und zwar auf¬ 
fallend. 

3. Fall. E. 639, 23jährlge 0 para.' Struma, 
Periode alle vier Wochen stark, acht Tage lang. 
Blutet stark seit drei Wochen. Auf drei Spritzen 
Luteoglandol, davon die erste mit Hypophysin 
kombiniert, ist die Blutung verschwunden. Acht 
Tage danach reist die Patientin ab und entzieht 
sich weiterer Beobachtung. Uterus und Adnexe 
ohne Besonderheit. 

4. Fall. St. 590, 16jährige Virgo intacta. 
Rektal: Genitale ohne Besonderheit. Periode seit 
drei Jahren alle vier. Wochen drei Wochen lang, 
dann acht Tage Pause, dann wieder drei Wochen 
lang! Blutet jetzt seit sechs Wochen und ist 
äußerst anämisch. Erhält im Laufe von sieben 
Wochen 19 Ampullen Luteoglandol, nach den 
ersten drei bereits wesentliche Besserung, so daß 
während der etwa siebenwöchigen Beobachtungs- 
zcit nur zeitweise etwas Blut auftrat und das 
Befinden sich zusehends besserte. 

5. Fall. K-, 25jährige I para. Uterus etwas 
groß, Adnexe frei. Wegen Menorrhagien vor acht 
Wochen Abrasio, seit drei Wochen profuse Blu- 





318 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


September 


tungen trotz Ergotins. Drei Spritzen Luteoglanol 
und Hypophysin bringen in drei Tagen die 
Blutung zum Stehen. Hernach noch neun Am¬ 
pullen Luteoglanol allein im Laufe von sieben 
Wochen, während derer im Abstand von drei 
Wochen nur mehr vier Tage mäßig starke Mehses! 

6. Fall. N. 848, 27 jährige 0 para. Alex-Adams 
1917. Jetzt Genitale ohne Besonderheit. Periode 
alle drei Wochen drei bis sechs Tage, stark, jetzt 
in acht Tagen zwei starke Blutungen. Auf zwei 
Injektionen steht- die Blutung, dann noch zwei 
Injektionen, zwei Wochen später Blutung, die 
nach zwei Spritzen steht. Zurzeit etwa alle 14 Tage 
eine schwache zweitägige Blutung. Noch in Be¬ 
handlung. 

7. Fall. Pr. 1159, 30jährige II para. Genitale 
ohne Besonderheit. 'Partus vor fünf Monaten. 
Hat seither alle zwei bis drei Wochen acht bis 
zehn Tage lang starke Blutungen. Ergotin ohne 
Erfolg. Neun Injektionen im Intervall. Darauf¬ 
hin die folgende Menses nur zwei Tage, stark, 
noch in Behandlung, zurzeit keine Blutung. 

8. Fall. L. 1400, 28jährige I para. Periode 
alle drei Wochen, drei bis vier Tage stark, seit 
einigen Monaten alle zwei Wochen bis zwei Wo¬ 
chen lang, stark. Zuletzt seit 15. April bis Ende 
April. Jetzt seit 20. Mai Blutung stark. Am 26. 
und 27. Mai je eine Ampulle Luteoglandol, worauf 
die Blutung steht. Uterus ohne Besonderheit. • 
Adnexe links leicht druckempfindlich, nicht ver¬ 
dickt. 

9. Fall. D., 26jährige II para. Abgelaufene 
Lues? (Wassermann-Reaktion nach Behandlung 
negativ.) Vor sieben Wochen Abortus. Abrasio, 
Tampospuman und Ergotin halfen nicht, seit 

10. Mai gehen dauernd ganze Stöcke von Blut ab. 
Uterus groß, etwas retrovertiert. Linke Adnexe 
etwas dicker als rechte. Auf zwei Luteoglandol- 
injektionen steht dio Blutung. 

10. Fall. K., 27 jährige II para. Abort 24. April, 
blutet seit 17. Mai sehr stark. Uterus klein. 
Adnexe frei. Hgb. 75 %. Auf drei Spritzen 
Luteoglandol steht die Blutung. 

11. Fall. K. 1739, 33jährige V para. Blutet 
seit 10. Mai andauernd. Die Periode war am 
10. Mai fällig, vorher ohne Besonderheit, Am 
10. Juni eine Doppelspritze Luteoglandol, ebenso 
am 11. Juni, am 12. Juni eine einfache Luteo- 
glandolinjektion, worauf die Blutung steht. Vor¬ 
her waren Pillen ohne Erfolg gegeben worden! 
Uterus groß, derb. Sonst ohne Besonderheit. 

12. Fall. R. 1765, 33jährige I para. Letzte 
Periode 1. Januar, am 7. April Abortus. Blutet 
seit acht Tagen sehr stark, nachdem seit April oft 
Blutungen eintraten. Auf eine Doppelspritze nur 
Spuren Blut, auf zwei weitere steht die Blutung 
völlig. Uterus und Adnexe ohne Besonderheit. 

Leider sind der Fälle nicht viele, auch 
sind die Behanalungszeiten recht kurz, 
da die Patientinnen sich teilweise trotz 
Bitten des behandelnden Arztes, nicht 
wieder vorstellten. Das ist doppelt be¬ 
dauerlich, da neues Luteoglandol infolge 
Einschränkung der Fabrikation kaum 
mehr zu haben ist. Interessant ist es 
noch, daß das Luteoglandol uns bei zwei 
Fällen von kleincystischer Degeneration 
des Ovars völlig im Stich ließ. 

Im großen und ganzen decken sich 
unsere Erfahrungen durchaus mit denen 
anderer, z. B. Hannes, jedenfalls ist ein i 


Versuch mit Luteoglandol nicht nur im 
Interesse der Patientinnen selber, denen 
nie geschadet wird, sondern auch zur 
weiteren Klärung begrüßenswert. 

Esch legt großen Wert auf die Be¬ 
tonung des Umstandes, daß unsere ,,Or¬ 
ganotherapie“ eigentlich eine Organ¬ 
extrakttherapie ist, das heißt, daß die 
Proteinkörperwirkung (R. Schmidt) bei 
parenteraler Einverleibung der Organ¬ 
extrakte die möglicherweise wirklich be¬ 
stehende organspecifische Wirkung bei 
weitem übertrifft. So erklären sich wohl, 
die eigenartigen Erfolge bei ganz ent¬ 
gegengesetzten Symptomen, wie Menor¬ 
rhagie und Amenorrhoe durch Behand¬ 
lung mit demselben Organextrakt — so 
auch die Erfolge, die Esch durch Injek¬ 
tion von Aolan, Frauenmilch usw. er¬ 
zielte. 

Bei Patientinnen, die aus irgend¬ 
welchen Gründen nicht mehrmals in die 
Sprechstunde kommen können, haben 
wir wie Fränkel schon wiederholt mit 
Luteintabletten gute Erfahrungen ge¬ 
macht, allerdings dauert es oft monate¬ 
lang, bis die Wirkung eintritt. Die 
Skepsis desselben Autors bezüglich der 
Hypophysenpräparate bei Menorrhagien 
teilen auch wir. 

Über das Mammin-Poehl — den 
Extrakt von Schweinemilchdrüsen — 
besitzen wir keine eigenen Erfahrungen, 
es soll (nach Hoehne und Anderen) sich 
in Gaben von drei bis vier Tabletten oder 
einer Ampulle subcutan bei Menorrhagien 
sehr bewährt haben. Mayer erzielteferner 
durch Follikelsaft augenblicklich Still-- 
stand von profusen Uterusblutungen. 

Kleemann empfiehlt auf Grund 
seiner Erfahrungen gegen Metrorrhagien, 
die jeder Behandlung trotzten, das Aus¬ 
wischen des Cavum Uteri mittels Sän- 
gerschen Stäbchens, das er in Clauden- 
Kochsalzlösung tauchte. Die Blutung 
stand augenblicklich, sogar die folgende 
Periode dauerte nur fünf Tage! 

Von Mitteln, die außer den bespro¬ 
chenen noch Anwendung finden, möchte 
ich erwähnen, daß das von Boldt neu 
empfohlene Chlorzink von Hellend ah 1 
abgelehnt' wird, da es zu Atresie des 
Muttermundes und Hämatometra führen 
kann. 

Th Franz hat bei Menorrhagien gutes 
gesehen durch die Tamponade der Cervix 
mit Bariumchloridlösung und Injektion 
einer 4%igen ebensolchen in die Portio. 

Auch die Tamponade der S.cheide kann 
in manchen Fällen in Frage kommen, be- 





September 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


319 


sonders bei profusen Blutungen ausge¬ 
bluteter Frauen, damit bis zum Angreifen 
der anderen Mittel Blut gespart wird. 
Sachs empfiehlt dazu nicht entfettete 
Watte, die sich nicht mit dem Blut voll- 
■saugt, sondern das Blut am Austritt ver- 
rhindert. Bei nicht zu starken Blutungen 
kann ich auf Grund eigner Erfahrungen 
>auch das Tampospuman empfehlen. Die 
Tabletten werden vor die Portio gelegt und 
dösen sich dort unter Bildung eines Kohlen- 
isäureschaumpfropfes, der überdies noch 
Styptica enthält, auf. Ein großer Vorzug 
ist es, daß diese Art der Tamponade 
auch bei manchen Virginis anwendbar 
ist, ohne den Hymen zu gefährden. 

Als rein therapeutischer Eingriff darf 
in unserer Zeit eine Abrasio mucosae 
nur in ganz seltenen Fällen zur Anwen¬ 
dung kommen, etwa dann, wenn alle 
hier genannten Mittel einschließlich derer 
gegen eine daneben bestehende Grund¬ 
krankheit wie Chlorose usw. uns im 
Stiche gelassen haben. In solchen Fällen 
könnte man das Bestreben gelten lassen, 
sich des symptomaFsch wirkenden Ein¬ 
griffs zu bedienen, um der kausalen 
Therapie in der Zwischenzeit die Mög¬ 
lichkeit zu geben, ihre Wirkung zu ent¬ 
falten. Nur* mit dieser Einschränkung 
erscheint mir die Ausschabung als 
Therapie berechtigt. Eine selbstver¬ 
ständlich weitere Einschränkung ist die 
Forderung, bei Verdacht auf das Vor¬ 
handensein pathogener Keime und bei 
manifesten Erscheinungen von Erkran¬ 
kungen der Gebärmutteranhänge die 
Abrasio unter allen Umständen zu unter¬ 
lassen. 

Ob man der Ausschabung noch eine 
Atzung mittels Jod oder Formol anschließt, 
ist Geschmackssache, vor der Chlor- 
zinkätzung hat, wie erwähnt, Hellen- 
•dahl nachdrücklichst gewarnt. Ebenso 
ist es recht still geworden bezüglich der 
Snegireff-Pincusschen Atmokausis der 
•Uterussphleimhaut. 

Daß viele dieser Methoden an Terrain 
verloren haben, mag zum nicht geringen 
Teil auf das Konto der gerade in der 
Frauenheilkunde so mächtig an Boden 
gewinnenden Strahlentherapie zu setzen 
sein. Über die günstigen Erfahrungen, die, 
wie auch Andere, wir bei klimakterischen 
und Myomblutungen gemacht haben, 
wurde von E. Zweifel auf dem Berliner 
Kongreß berichtet. -War nun bisher 
‘die Röntgenbestrahlung besonders für 
’die Beherrschung von klimakterischen 
Blutungen herangezogen worden, da man 


wegen der befürchteten Keimschädigung 
nur absolute Sterilisierungen bei Frauen 
wagte; die der Klimax nahe waren, so 
geht man jetzt weiter. Durch die Arbeit 
Nürnbergers wurde bewiesen, daß eine 
Schädigung des Nachwuchses durch tem¬ 
poräre Sterilisation nicht eintrjtt, ent¬ 
weder sind die Keimzellen so geschädigt, 
daß eine Befruchtung überhaupt nicht 
in Frage kommt, oder sie sind befruch- 
tungsfähig; dann sind sie völlig intakt und 
die daraus hervorgehenden Früchte voll¬ 
wertig. Damit entfällt jeder Grund, nach 
Erschöpfung anderer styptischer Ma߬ 
nahmen die Bestrahlung von Frauen mit 
sonst nicht beherrschbaren Metrorrhagien 
abzulehnen, weil sie zu jung dazu sind. 
Die Strahlentherapie ist heute in der 
Lage, Uterusexstirpationen wegen Me¬ 
trorrhagien überflüssig zu machen. Einen 
eklatanten Erfolg möchte ich kurz er¬ 
wähnen: 

A. M., 17 jährige Virgo intacta. Kleiner retro- 
flexiorischer Uterus, Adnexe frei. Hat wochen¬ 
lange Perioden, die höchstens durch Landauf¬ 
enthalt etwas gebessert wurden, alle Maßnahmen: 
Medikamente, Strumektomie, Organotherapie 
(Hormin und Luteoglandol) konnten die Blutung 
nicht stillen, der Hämoglobingehait fiel auf 30 bis 
40 %, die Patientin war nur mehr ein Schatten. 
Am 6. Dezember 1919 eine intrauterine Radium¬ 
einlage ohne jeden Erfolg. Da die überaus starken 
Blutungen andauerten, wurde die Patientin eine 
Stunde lang bestrahlt, nachdem sie am Vortag 
(11. Dezember 1919) noch eine Luteoglandol be¬ 
kommen hatte. Am 12. Dezember stand die 
Blutung schlagartig. In etwa 14 Tagen erholte 
sie sich so, daß man das Mädchen kaum wieder¬ 
erkannte, der Hämoglobingehait stieg auf über 
70%, von einem vierwöchigen Landaufenthalt 
kam sie blühend zurück, ohne noch einmal ge¬ 
blutet zu haben. Seither hat sie sich leider nicht 
mehr sehen lassen. 

Ist die Strahlenbehandlung von Me¬ 
trorrhagien bei jüngeren Frauen eine 
Methode, zu der man immerhin erst nach 
nutzloser Anwendung aller anderen uns 
zur Verfügung stehenden Mittel greifen 
wird, so ist sie die gegebene bei klimak¬ 
terischen und auch bei präklimakterischen 
Blutungen, wo jede Befürchtung vor der 
ja doch bald eintretenden Klimax in 
Wegfall kommt. 

Dasselbe leistet die Strahlentherapie 
bei all den Myomen, deren Hauptsymptom 
nicht in Verdrängungserscheinungen durch 
einen allzugroßen Tumor, sondern in 
profusen Blutungen besteht. Ausnahmen 
machen jedoch die polypösen Formen, 
die ja bekanntlich diejenigen sind, 
die die allerergiebigsten Blutungen ver¬ 
ursachen, häufig genug vernachlässigt 
werden, verjauchen und dann eine un¬ 
dankbare Aufgabe der operativen Gy- 





320 


Die Therapie der 


näkologie darstellen. Solange die Po¬ 
lypen — ganz gleich welcher Ätiologie — 
nur klein sind, genügt dahingegen das 
Abtragen am Stiel, eventuell mit nach¬ 
folgender Abrasio und Tamponade. 

Blutungen aus denjenigen Uteri, die 
man als ,,metritisch verdickte*'.' bezeich¬ 
net, ohne mit dieser Diagnose eine be¬ 
stimmte Vorstellung vom Wesen und 
der Ätiologie zu verbinden, können 
neben den Stypticis noch durch eine 
^ Reihe anderer Maßnahmen günstig be¬ 
einflußt werden. Hierzu gehören: ein 
vorsichtiger Versuch mit Massage, heiße 
Scheidenirrigationen, bis 50 Grad Cel¬ 
sius, wobei die äußere Haut entweder 
durch Vaseline oder durch einen Hei߬ 
wasserspüler geschützt wird, Umschläge 
— kalte und laue — Sitz- oder Ganzbäder 
mit Zusatz von Kreuznacher Lauge oder 
Franzensbader Moorsalz, schließlich Moor¬ 
bäder. Ganz besonders die letzteren 
haben oft einen außerordentlich gün¬ 
stigen Einfluß auf verstärkte Uterus¬ 
blutungen. ln einzelnen Fällen mit ver¬ 
dickter Portio ist auch die Skarifikation, 
zwei bis dreimal im Intermenstrum 
wiederholt, so daß jeweils etwa zwei bis 
drei Eßlöffel abgezapft werden, sehr zu 
empfehlen. Gestillt wird die Blutung 
hernach durch Glycerintampons, diese 
und Ichthyol-Thiol- Thigenol-Glycerin- 
Tampons, ferner Thio-Parametrontablet- 
ten und Jodanstrich befördern die Re¬ 
sorption. Prinzipiell sei erwähnt, daß 
keines dieser Mittel eine Wirkung ent¬ 
falten kann, ehe nicht auf das sorg¬ 
fältigste die Sekrettapete, die die Vagina 
auskleidet und jede Resorption ver¬ 
hindert, durch Spülung und Trocken¬ 
wischen entfernt ist. Es ist merkwürdig, 
wie oft hiergegen verstoßen wird. 

In manchen Fällen wird aber auch 
die beste Therapie nichts leisten können, 
wenn die schädigenden Ursachen weiter¬ 
bestehen. Oft wird Masturbation eine 
solche sein, nicht minder häufig aber 
auch der Coitus reservatus. Hat man 
doch für die Folgezustände des letzteren 
geradezu den Ausdruck ,,Ehemetritis“ 
geprägt. Denkt man hieran und genießt 
man das nötige Vertrauen .seiner Pa¬ 
tientinnen, so wird man ihnen um so 
leichter ein wahrer Helfer sein können. 
Manchmal wird man auch vor Über¬ 
anstrengungen — überhaupt vor falschem 
Verhalten — zur Zeit der Menses warnen 
und unter Umständen nicht nur ruhiges 
Verhalten, sondern direkt Bettruhe ver¬ 
ordnen müssen, um die Blutung zu be- 


Gegenwart; 1920 September 


schränken. Das übermäßige Schnürea 
ist ja heutzutage nicht mehr eine abso¬ 
lute Forderung der Mode, ebenso ist es 
heute auch in Laienkreisen nichts Un¬ 
bekanntes mehr, daß eine Obstipation 
auf alle Fälle beseitigt werden muß. 

Mit der Verbreitung der Gonorrhoe 
werden leider auch diejenigen Folgezu¬ 
stände häufig_er, die zu den ernstesten 
Erkrankungen der weiblichen Genitalien 
gehören, die der Adnexe. Die dabei nicht 
selten auftretenden profusen Blutungen, 
dürfen unter gar keinen Umständen uns 
dazu verführen, eine Abrasio vorzuneh¬ 
men. Ganz besonders im akuten und 
subakuten Stadium ist jede Manipulation 
an den Genitalien streng kontraindiziert!: 
Absolute Bettruhe in Verbindung mit 
den obengenannten styptisch wirkenden 
Medikamenten Ist für die erste Zeit un¬ 
bedingt geboten, ist das Fieber mindestens 
vierzehn Tage abgeklungen, dann kann 
man allmählich unter steter Kontrolle 
anfangen, alle bereits erwähnten resorp- 
tiven Maßnahmen: Umschläge, Bäder, 
Tampionbehandlung, Moor-, auch Hei߬ 
luftbäder, Diathermie und Terpentin¬ 
injektionen zu verwenden. Vor Massage 
möchte ich warnen, nur in ganz damit 
vertrauten Händen wird kein Unheil 
dadurch angerichtet. 

Die Indikation, ob Adnextumoren 
operativ entfernt werden müssen oder 
nicht, wird in den allermeisten Fällen 
nicht durch das Vorhandensein von Blu¬ 
tungen entschieden werden, sondern, 
durch Schmerzen und Siechtum, nachdem 
lange fortgesetzte konservative Behand¬ 
lung nichts gefruchtet hat. Nicht entzünd¬ 
liche Ovarialtumoren, wenn sie eine ge¬ 
wisse Größe überschreiten oder stielge¬ 
dreht sind, ferner maligne verfallen dem 
Messer ebenfalls aus anderen Gründen 
als dem der “^Blutungen, die sie bisweilen 
zur Folge haben. Mit der Entfernung- 
•des erkrankten Organs verschwindet zu¬ 
meist auch dieses Symptom, voraus¬ 
gesetzt, daß nicht später auch das Ovar 
der anderen Seite degeneriert. 

Die Retroflexio und die manchmal 
damit einhergehenden Blutungen auf eine 
fehlerhafte Funktion der Ovarien zu be¬ 
ziehen, wie es Aschner tut, dürfte reich¬ 
lich weit gehen. Jedenfalls wird der 
Praktiker vorerst noch gut tun, sich bei 
profusen Menses hierbei nicht nur auf die 
Organtherapie zu verlassen, sondern die 
Lagekorrektur zu versuchen. 

Auch die Tuberkulose der Genitalien, 
kann gelegentlich zu Menorrhagien führen,. 




September 


Die Therapie der. Gegenwart 1920 SJltl 


wenn auch zumeist die Amenorrhoe deren 
erstes Symptom ist. Die Therapie dieser 
Blutungen deckt sich ganz mit der bei 
Adnexerkrankungen überhaupt (bei* Sitz 
der Erkrankung in den Adnexen); Abrasio 
mit Ätzung ist bei tuberkulösen Endome¬ 
tritis am Platze, falls man nicht die kran¬ 
ken Organe ganz entfernt. 

Ein Warner für die Patientin — mehr 
noch für ihren gewissenhaften Arzt kann 
eine Blutung dann sein, wenn sie im so¬ 
genannten ,,gefährlichen Alter‘‘ auftritt. 
Zur Frühdiagnose des Carcinoms hilft 
uns die sorgfältige Beachtung des frühesten 
Symptoms: der Blutungen. Treten solche 
bei einer Frau von Ende der Dreißiger an 
auf — aber auch jüngere Jahre schützen 
nicht 1 — stellt sich vielleicht dazu noch 
ein bräunlicher Fluor, Abmagerung und 
Mattigkeit ein, die Blutungen ^etwa gar 
nach dem Coitus oder nach Anstrengungen 
— dann dürfen wir nicht eher ruhen, bis 
wir nicht die Patientin von der Not¬ 
wendigkeit einer Probeabrasio oder 
Excision überzeugt haben. Die mikro¬ 
skopische Untersuchung entscheidet dann. 

Heute stehen zwei Wege der Heilung 
in Frage: Operation nach Wertheim 
und Bestrahlung. . Immer mehr gewinnt 


die letztere an Boden, über ihre Leistun¬ 
gen wurde auf dem letzten Gynäkologen¬ 
kongreß berichtet. Daß die Strahleri- 
therapie nur in ganz großen Instituten 
ihr Bestes leisten kann, darf ihr nicht 
zum Nachteil angerechnet werden, denn 
auch die Bumm-Wertheijnsehe Total¬ 
exstirpation gibt ihre besten Resultate 
nicht ‘in jedermanns Händen. 

Zweck dieser Abhandlung ist, erneut 
darauf hinzuweisen, wie vielfältige Gründe 
ein scheinbar so eindeutiges Symptom 
'wie die Menorrhagie haben kann. Ohne 
die Kenntnis der Ursachen wird aber 
jede Therapie bestenfalls ein zufällig 
geglückter Versuch bleiben und nie das 
befriedigende Gefühl eines zielbewußten 
Handelns in dem aufkommen lassen, der 
sich damit befaßt. 

Die Therapie uteriner Blutungen ist 
schon heute dankbar für den, der sich 
das bisher Erreichte zu Eigen gemacht 
hat. Sie birgt aber andererseits auch 
immer noch des Geheimnisses genug, um 
den zu reizen, der sich an neue Probleme 
wagen wilH). 


Die Arbeit wurde aus drucktechnischen 
Gründen gekürzt. 


Depressionen, ihr Wesen und ihre Behandlung. 

Von Dr. Wilhelm Stekel, Wien. (Schluß.) 


Freud hat in einem interessanten 
Aufsatze: „Melancholie und Trauer‘‘ die 
Behauptung aufgestellt, daß die Vor¬ 
würfe ursprünglich einer geliebten Person 
gelten und dann erst sekundär auf das 
eigene Ich verschoben werden. — Diese 
Behauptung ist nach meiner Erfahrung 
nicht für alle Fälle richtig. Sie trifft nur 
für einen bestimmten Typus zu. Ganz 
falsch ist es aber, in der Ablehnung der 
Nahrung etwas anderes zu sehen als einen 
,,chronischen Selbstmord“. Freud unter¬ 
streicht die Behauptung von Abraham, 
daß die Ablehnung der Nahrung eine Folge 
der „Regression auf die kannibalistische 
Phase der Libidoentwicklung“ sei. Diesen 
Verstiegenheiten und Spitzfindigkeiten 
kann ich keinen Geschmack abgewinnen. 
Sie verwirren das Krankheitsbild anstatt 
es aufzuhellen.... 

Die Kranken sind liebesarm geworden. 
Die Angst zu verarmen bedeutet die 
Angst, an Liebe zu verarmen. Geld ist in 
der Sprache der Depression Liebe. Sie 
wollen auch kein Geld ausgeben, sich 
nichts anschaffen, es sei ja alles vergeb¬ 
lich, es hätte keinen Wert usw.. . Sie 


finden die Umgebung und den Ar H t 
los. Niemand leide so wie sie. Ob der 
Arzt schon so- einen schweren Fall ge¬ 
heilt habe? Ob er auch fühlen könne, wie 
schwer sie leiden? Sie lauern auf jedes 
Wort des Arztes und entwickeln eine 
Genialität, seine Worte zu verdrehen und 
sie zu ihren ungunsten zu deuten. Sie 
sind sehr empfindlich und bemerken mit 
unheimlicher Beobachtungsgabe jede 
Geste, jeden Tonfall des Arztes und der 
Umgebung. Sie haben das Interesse für 
die Umwelt verloren, aber sie sind scharf¬ 
sichtiger geworden in allen Beziehungen 
zu ihrem Ich. 

Im ganzen Krankheitsbilde tritt eine-, 
deutliche masochistische Tendenz hervor. 
Der Haß richtet sich gegen das eigene 
Ich und aus der Selbstquälerei strömt 
ihnen geheime Lust. 

Das merkt man besonders in jenen 
Fällen von Depressionen, die sich dem 
hypochondrischenKrankheitsbilde nähern. 
Die Hypochondrie befällt immer eine 
„erogene“ Zone. Diese Zonen zeigen 
sich bei oberflächlicher Betrachtung: 
als Angstakkumulatoren, während 

41 



322 ' Die Therapie der 


3ie in Wahrheit Lustakkumulatoren 
sind. 

Ich komme nun zum wichtigsten Teil 
meiner Ausführungen. Männer machen 
in diesem Leiden einen weibischen Ein¬ 
druck, so daß Men dl®) mit Recht von 
einemClimacterium virile sprechen konnte. 
Es handelt sich wie beim weiblichen kri¬ 
tischen Alter der Frau um einen Bankerott 
aller erotischen Hoffnungen. Der Mann 
ist alt, fühlt sich alt und klagt darüber, 
daß er nun sterben soll,- ohne sich aus- 
gelebt zu haben. In jedem Menschen 
lebt ein heimlicher „sexueller Imperativ“, 
der ihn drängt, seine Erfüllung zu suchen. 
Ohne diese Erfüllung können die Menschen 
nicht sterben, oder sie sterben mit dem 
Ausrufe, daß sie eigentlich nicht gelebt 
hätten. 

Im Klimakterium des Mannes tritt 
aber seine Verweiblichung sehr deutlich 
hervor. Er verliert alle Energie, wird ent¬ 
schlußunfähig (,,wie ein altes Weib“), 
jammert und klagt direkt, er habe seine 
Männlichkeit verloren’). 

Es ist eine sichere Tatsache, die ich 
immer wieder beobachten konnte, daß 
die Depressionen mit einer Verstärkung 
der gleichgeschlechtlichen Komponente 
einsetzen. Die Männer werden weiblich 
und die Frauen männlich. 

Ich kann nicht entscheiden, wie weit 
dabei organische Störungen der inneren 
Sekretion eine Rolle spielen. Der Erfolg 
der Psychotherapie spricht gegen die 
rein organische Grundlage. Wahrschein¬ 
lich erfolgt wegen der heterosexuellen 
Enttäuschung eine Flucht in die Homo¬ 
sexualität. 

Frauen, die an Depressionen erkran¬ 
ken, die bei ihnen fast immer das typische 
Bild der Melancholie bietet, zeigen plötz¬ 
lich eine Neigung zu männlichen Be¬ 
schäftigungen. Sie beginnen zu rauchen, 
(,,weil die Zigarette sie wie ein Narkoticum 
beruhigt“). Sie tragen Männerblusen mit 
Kragen. Manche lassen sich scheinbar 
unmotiviert das Haar schneiden. Sie 
suchen die Ruhe der Natur in Ausflügen 
und ziehen Männerhosen an. 

Mitunter läßt sich sogar eine stärkere 
Behaarung im Gesicht nachweisen, die 
während der Depression auftritt. Die 
Menses werden spärlicher oder bleiben 
ganz aus. Die Schilddrüse schwillt an. 


Die Wechseljahre des Mannes (Neurol. Zbl. 

1910). 

’) Siehe auch Löwenfeld, ,,Sexualleben oder 
Nervenleiden“, 4. Aufl., Wiesbaden 1914. Kapitel: 
Climacterium virile. 


Gegenwart 1920 • ’ September 


es zeigen sich Störungen der inneren 
Sekretion. Der Organismus beteiligt sich 
an der ganzen Umstimmung in das. Gegen¬ 
geschlechtliche. 

Bei den periodischen Depressionen 
läßt sich dieser Wechsel zwischen hetero¬ 
sexueller und homosexueller Einstellung 
sehr deutlich nachweisen. E. Steinach 
hat in einer seiner hochinteressanten und 
fundamentalen Arbeit ,,Pubertätsdrüsen 
und Zwitterbildung“ (Arch. f. Entwick¬ 
lungsmechanik Bd. 13, 3. Heft) beob¬ 
achtet, daß bei seinen künstlichen Zwit¬ 
tern männliche und weibliche Perioden 
wechselten. 

Ich bringe diese Stelle wegen ihrer 
Wichtigkeit wörtlich wieder: 

',Bei der Entwicklung des Geschlechtstriebes 
macht sich zunächst männliche Art geltend. Das 
Tier ist mutig, stellt sich einem fremden gleich¬ 
altrigen Männchen zum Kampf und läßt dabei 
den gurgelnden Laut vernehmen, welcher beim 
Weibchen und beim männlichen Frühkastraten 
fehlt, der beim normalen Bock jede Aktion ein¬ 
leitet oder begleitet, sei es Kampf oder Werbung. 
Auch normalen Weibchen gegenüber gebärdet es 
sich als Männchen. Es findet sofort ein brünstiges 
Weibchen heraus, verfolgt' unaufhörlich und be- 
springt. Würde man sich mit einigen Prüfungen 
in der ersten Zeit der Reife begnügen, so würde 
man schließen, der Zwitter sei in männlicher 
Richtung erotisiert. 

Bei regelmäßig wiederkehrenden Ermittlungen 
kommt rhan aber zu einem Zeitpunkte, wo das 
Tier ganz veränderten Charakter zeigt. Das Tier 
ist mehr scheu und furchtsam. Bringt man ein 
fremdes Männchen in sein Abteil, so stellt er sich 
nicht mehr, sträubt nicht mehr die Haare, sondern 
bleibt stumm und läuft davon. Bringt man ein 
oder das andere Weibchen in sein Abteil, so ver¬ 
hält es sich nach dem ersten Beschnuppern ruhig 
und vollkommen gleichgültig, auch wenn das 
Weibchen brünstig ist. Der männliche Trieb 
scheint wie erloschen. 

Im Gegenteil, das Tier hat weiblichen Reiz 
gewonnen. Dasselbe normale Männchen, welches 
,in ihm bisher ein Kampfobjekt erblickt hat, findet 
in ihm ein Objekt der Werbung. Der Zwitter wird 
nun fort und fort verfolgt, berochen und be- 
sprungen, und wehrt sich oft vor heftigem Auf¬ 
sprung durch Heben des Hinterfußes, wie ein 
normales Weibchen — kurz es ist beim Zwitter 
eine Periode weiblicher Erotisierung eingetreten. 

Diese Periode dauert etwa zwei bis vier Wochen. 
Bei den Exemplaren, bei welchen die Mamma¬ 
hyperplasie bis zur Milchsekretion gediehen ist, 
fällt sie zusammen mit der Periode der Milch¬ 
sekretion und kehrt wieder, sobald neuerdings 
Milchdrüsenschwellung und Milchsekretion ent¬ 
steht. In diesen zwei- bis dreimonatelangen Zwi¬ 
schenpausen benimmt sich das Tier zunächst in¬ 
different, dann wieder ausgesprochen männlich. 
Die Übergänge von der weiblichen zur männlichen 
Erotisierung nehmen bei den einzelnen Periodeh 
verschiedene Zeiten in Anspruch. 

Die Koinzidenz von weiblicher Sexualstim¬ 
mung und Milchsekretion hat mich veranlaßt, 
eben einen solchen Zwitter zur histologischen 
Untersuchung der Transplantate zu opfern. Der 
gesunde beträchtliche Hodenrest bietet das Bild 





September 


Die Theräpie. der Gegenwart 1920 


323 


der gewucherten männlichen Pubertätsdrüse. 
JVlächtige Lager oder Stränge Leydigscher Zellen 
umgeben die atrophischen oder schon zerfallenen 
-Samenkanälchen. Das Ovarium ist noch ganz 
in alter Forfn erhalten und zeigt eine massenhafte 
Oblitierung der Follikel, die von luteinzell¬ 
artigen Elementen gefüllt sind und die in ihrer 
Zahl Und Üppigkeit ‘ eine besonders reich ent¬ 
wickelte weibliche Pubertätsdrüse darstellen. 

Durch diesen Befund wird die Periode der 
weiblichen Erotisierung tatsächlich aufgeklärt. 
Sie wird hervorgerufen durch periodisch aus¬ 
gelöste Höchstleistung der weiblichen Pubertäts¬ 
drüse, welche in diesen Zeitläuften soviel weib¬ 
lichen Sexualhormon produziert, daß einerseits 
die weiblichen Geschlechtsmerkmale ihre höchste 
Entfaltung erfahren, was in der Mammahyper¬ 
plasie und Milphsekretion zum Ausdruck kommt 
und daß andererseits die centrale Nervensubstanz 
•so reichlich mit diesem Hormon durchspült wird, 
daß die psychosexueile Stimmung und das von 
ihr beherrschte funktionelle Verhalten vollständig 
nach der weiblichen Richtung umschlägt. 

Wird-'das ovariale Transplantat innerhalb der 
Periode männlicher Sexualstimmung exstirpiert, 
so fällt die Periode der Mammahyperplasie und 
der weiblichen Erotisierung ein für allemal aus, 
ein Kontrollversuch, welcher den Zusammenhang 
zwischen dem psychischen Geschlechtscharakter 
und der specifischen Wirksamkeit der Sexual¬ 
hormone wieder in zwingender Weise erhärtet. 

Daß die Pubertätsdrüse des transplantierten 
Ovariums in bezug auf Ausbreitung und Tätigkeit 
starkem Wechsel unterliegt, war mir aus der bis 
in die Gegenwart fortgesetzten Beobachtungen 
an feministischen Männchen geläufig; bei den¬ 
selben haften, wie schon eben mitgeteilt, die in 
frühester Jugend eingepflanzten Ovarien jahre¬ 
lang, ja bis zum Lebensende, und sind imstande, 
durch die von Zeit zu Zeit wiederkehrende, histo¬ 
logisch nachweisbare Steigerung der Follikel- 
obliteration beziehungsweise Pubertätsdrüsen¬ 
wucherung, jene periodisch erfolgenden Erschei¬ 
nungen der weiblichen Brunst, der Mammahyper-- 
plasie und Milchsekretion auszulösen. Neu aber 
und" von Bedeutung ist die durch vorliegende 
Experimente ermittelte Tatsache, daß das cen¬ 
trale Nervensystem auf die Schwankungen im 
Zuflusse der beiden Sexualhormone so scharf 
reagiert und daß es wiederholt im Laufe des in¬ 
dividuellen Lebens je nach der Speicherung des 
specifischen Hormons bald in männlicher, bald 
in weiblicher Richtung erotisiert werden kann.“ 

Steinach weist auf die Forschungen 
von Moll hin, der als der erste die Perio¬ 
dizität im Auftreten homosexueller Nei¬ 
gungen konstatiert. hat (Die konträre 
Sexualempfindung Berlin 1891). Aber 
auch bei Krafft-Ebing, bei Tar- 
nowsky, bei Magnus Hirschfeld und 
bei Bloch finden sich deutliche Hinweise 
auf diese Tatsache. 

Krafft-Ebing beschreibt im Jahrb. f. sex. 
Zwischenstufen Bd. 3, S. 27, einen. Fall von 
periodischer Bisexualität, der den. von mir oft 
•beobachteten Verlauf nimmt. In der Depression, 
wegen der ein Sanatorium aufgesucht wird, homo¬ 
sexuelle Neigungen. Im^^ Sanatorium regelmäßig 
Liebesregungen zu den Ärzten, die sich bis zum 
Verliebtsein steigern, so daß es zu Heiratsgedanken 
kommt. Mit der Besserung der Neurose tritt das 
»heterosexuelle Fühlen wieder in den Vordergrund. 


Krafft-Ebing beobachtete einen Anfall (hyste¬ 
rische Psychose), in dem beide Tendenzen mit¬ 
einander rangen und behauptet, die Kranke durch 
eine suggestive Kur dauernd geheilt zu haben. 

Auch Hirschfeld kwähnt in seinem Buche 
,,Die Homosexualität“ (Berlin 1914, Luis Marcus) 
einen Fall von periodischer Bisexualität der mit- 
cyclothymen Symptomen einherging. Er sagt: 
„Er betrifft einen an manisch-depressiven Stim^ 
mungsschwankungen leidenden Gymnasialpro¬ 
fessor, der in einer Heilanstalt Morphinist ge¬ 
worden ist. Er fühlt im Depressionszustande 
homosexuell, im. Exaltationszustand und im 
Morphiumrausche heterosexuell. Das Merkwürdige 
aber ist, daß in homosexuellen Zeiten seine Stimme 
eher hoch ist, oft umschlägt, auch seine Bewegungs¬ 
art recht weibisch ist, während er in hetero¬ 
sexuellen Zeiten viel tiefer spricht und auch in 
Gang und Gesten viel viriler wirkt“ (S. 212)8). 

Eine ähnliche Beobachtung habe ich 
in allen meinen Fällen gemacht. Mit dem 
Durchbruch der gleichgeschlechtlichen 
Regungen setzte die Depression ein. 

Einen entgegengesetzt verlaufenden, alle 
meine Erfahrungen über den Haufen werfenden 
Fall schildert Max Marcuse in der Mschr. f. 
Psych. (Ein Fall von periodisch-alternierender 
Hetero-Homosexualität 1917j Bd. 41, Heft 3.) 
Es handelt sich um einen 31jährigen, erblich be¬ 
lasteten Schriftsteller, der sich nur in der Homo¬ 
sexuellenperiode richtig wohl fühlte und nur in 
ihr schriftstellerisch und prpduktiv ist, dagegen 
zur Zeit des normalen Empfindens dauernd unter 
einer gewissen Depression leide und nichts schaffen 
könne. Körperlich zeigt er keine Zeichen einer 
betonten Bisexualität. Seine Perioden schilderte 
Marcuse folgendermaßen: 

In der homosexuellen Periode lebt er als der 
maskuline Teil jeweilig mit einem jungen Freunde 
zusammen, ist in seinem Glücksgefühl nur durch 
Angst vor einem Konflikte mit Polizei und Ge¬ 
richt beeinträchtigt, dies allerdings dauernd und 
erheblich, und er befindet sich zurzeit offenbar 
in Erpresserhänden; in diesem Zeitabschnitte 
schreibt und veröffentlicht er seine dichterischen 
Arbeiten. Fast über Nacht, aber doch immer nach 
bereits tagelanger Empfindung, daß der „Um- 
schwung“^, bald eintreten müsse, vollzieht sich 
dann die Änderung mit ihm: aus froher, schaffen¬ 
der Stimmung wird Traurigkeit und Arbeits¬ 
unlust; nicht selten kämpft Patient dann gegen 
Lebensüberdruß; und er fürchtet, diesem Kampfe 
demnächst einmal zu erliegen. Er kann in solcher 
Zeit nicht begreifen, wie er jemals sich homo¬ 
sexuell zu betätigen imstande .sei, da ihm schon 
der Gedanke daran Ekel bereite; er flieht seinen 
homosexuellen Freunden und das ganze Milieu, 
meist indem er auf Reisen geht, bei denen er fast 
niemals ein bestimmtes Ziel habe, sondern sich 
vom Zufall und einem dumpfen Drange leiten 
lasse. Er sehnt sich nach den Umarmungen eines 
Weibes, ist leicht von den Reizen eines solchen 
entflammt und verliebt sich fast in jede üppige 
Frau. Der Coitus als solcher reizt ihn wenig und 
befriedigt ihn noch weniger. Er ist in dieser 
Periode liederlich und völlig haltlos, verschwendet 
Geld, weil doch ,,alles unnütz“ sei und lebt „ohne 
Sinn und Verstand“. 

Aus dieser Schilderung ergibt sich, 
daß er auch in den homosexuellen Perio- 

8) Auch Löwenfeld (1. c. S. 431) schildert 
eine periodische homosexuelle Zwangsneigung mit 
Wechsel der Stimmungslage. 


41 * 




324 


Die Therapie der Gegenwart 1920 - 


September 


den leidet. Er fülilt sich dauernd und er¬ 
heblich durch den Konflikt mit Gericht 
und . Polizei beeinträchtigt und scheint 
jErpressern ausgeliefert. Es ist ja möglich, 
daß der starke Wille zur Homosexualität, 
den ich in allen Fällen von Homosexua¬ 
lität konstatieren konnte, den Typus der 
Depression verändert hat. Ich habe in 
meinem Buche „Onanie und Homo¬ 
sexualität“ (Die homosexuelle Neurose. 
Urban & Schwarzenberg 1917) auf die 
wichtigen Zusammenhänge zwischen Sa¬ 
dismus und Homosexualität aufmerksam 
gemacht. Der Homosexuelle ist zum 
Weibe mit Haß eingestellt und flüchtet 
vor seinem verbrecherischen Sadismus in 
die gleichgeschlechtliche Liebe. Beson¬ 
ders instruktiv ist ein Fall, in dem sich 
tiefe Depressionen einstellten, wegen der 
sich der Kranke keine Rechenschaft geben 
konnte. Aber in den Depressionen war 
er von Haß gegen die ganze Welt und be¬ 
sonders gegen seine Mutter erfüllt, so 
daß er sich vor sich selber fürchtete. 

Viele Menschen greifen zum Mor¬ 
phium und zu anderen Narkoticis, um 
dem Sadismus zu entfliehen. Ein Opio- 
mane, der 20 bis 30 g Opium täglich ein¬ 
nehmen mußte, gestand mir, er müsse 
das Opium einnehmen, um ,,gut zu sein“. 
Er karikierte die Nächstenliebe, so daß 
deutlich zu erkennen war, daß es sich 
um einen überkompensierten Sadismus 
handelte. Er machte nur eine Ausnahme: 
Er haßte die Homosexuellen, obwohl 
seine Weltanschauung sonst eine voll¬ 
kommen anarchistische war. ,,Homo¬ 
sexuelle könnte ich ruhig insgesamt ver¬ 
brennen oder aufhängen lassen“, pflegte 
er sich zu äußern. Es war klar, daß er 
auch seine homosexuelle Komponente im 
Opium ertränken wollte. Diese Erschei¬ 
nung erklärt sich durch die Tatsache, daß 
die periodische Dipsomanie (Quartals¬ 
säuferei) auf eine periodische wieder¬ 
kehrende homosexuelle Periode zurück¬ 
zuführen ist, wie meine Analysen be¬ 
weisen. Bei einem homosexuellen Quar¬ 
talssäufer war offenkundig zu konsta¬ 
tieren, daß der Durchbruch der hetero¬ 
sexuellen Neigungen im Alkohol zur In¬ 
aktivität verurteilt wurde. (Andererseits 
sehen wir bei sogenannten Normalen im 
Rausche plötzlich homosexuelle Regungen 
auf treten.) 

Es gibt aber Krankheitsfälle, welche 
deutlich die Kombination von Homo¬ 
sexualität und Sadismus klarlegen. Ich 
verweise auf die nächste Beobach¬ 
tung. 


Eine 34jährige Arztensgattin wird mir von Prof., 
Eppinger zur psychoanalytischen Behandlung 
zugewiesen. Sie stammt aus gesunder Familie, 
zeigt aber infantilen Typus und zeichnet sich 
durch einen auffallend starken Bartwuchs im Ge¬ 
sicht aus, der ihr das Profil eines interessanten 
blassen Jünglings verleiht. Menses regelmäßig. 
Sie leidet seit der Ehe an regelmäßig wieder-- 
kehrenden schweren Depressionen, die zwei bis 
drei Monate dauern. Sonst sanft und milde und 
ihrem Manne sehr ergeben, wird sie in den ■De¬ 
pressionszuständen wild und jähzornig. Sie läßt: 
sich immer wieder'trotz guter Vorsätze hinreißen, 
ihren Mann zu schlagen. Sie ist eine frigide Frau, 
die nicht zum Orgasmus kommt. In den Depres¬ 
sionszuständen wird sie geradezu nymphomanisch. 
Sie verlangt' immer wieder von ihrem Manne den 
Koitus, gerät' in hochgradige Aufregung, ohne 
zum Orgasmus zu gelangen. Sie wirft ihm vor,, 
er habe vor der Ehe zuviel gelebt. Sie hat sich 
alle seine Erlebnisse vor der Ehe genau berichten 
lassen und hat jene verderbliche „Eifersucht auf 
die Vergangenheit“, welche jede Ehe zur Hölle 
macht. 

Auf diese Zusammenhänge zwischen 
Eifersucht, Sadismus und Homosexua¬ 
lität habe ich in meinem Buche ,,Onanie 
und Homosexualität“ ausführlich meine 
Theorie der Homosexualität begründet. 
Ich will mich hier nicht wiederholen und 
nur aufmerksam machen, daß die homo¬ 
sexuelle Wurzel der Eifersucht immer- 
nachzuweisen ist. Man i^t nur (patho¬ 
logisch) eifersüchtig, wenn man 
das Objekt der Eifersucht begeh¬ 
renswert findet. Dazu ist aber die- 
homosexuelle Einfühlung unbedingt not¬ 
wendig. Die Eifersucht ist auch ein Vor¬ 
wand für den Haß, der auf diese Weise 
rationalisiert wird. Die Depression wird 
vom Haß, der die treibende Kraft, des 
Sadismus darstellt, beherrscht. Sie ist 
eine ausgesprochene Haßneurose. ' 

Vom besonderen Interesse sind die- 
Beziehungen der Depression und des 
Wahnes überhaupt zum Hermaphrodi¬ 
tismus. Der erste Fall, den ich beobachten 
konnte, war merkwürdig genug. 

Es handelte sich um eine 42iährige Bäuerin,, 
die auf der urologischen Station als Mann erkannt 
wurde. Es wurde ihm durch eine Operation ein 
sehr gelungener Penis geschaffen, durch den er 
tadellos urinieren konnte. Auch erhielt er Männer¬ 
kleider (er war bisher als Magd auf einem Bauern¬ 
hof tätig gewesen). An die Operation schloß sich 
eine schwere Depression an, die drei Monate 
währte. 

Die Vorstellung ,,Du bist kein Weib 
mehr!“ war .offenbar die auslösende Ur¬ 
sache der Depression, welche ja nach 
meiner Ansicht die Reaktion auf ein aus¬ 
sichtsloses sexuelles Begehren darstellt. 

Wie Freuds berühmte Forschungen 
nachgewiesen haben (Psychoanalytische 
Bemerkungen über einen autobiographisch 
beschriebenen Fall von Paranoia, Jahr- 




September 


325 


Die Therapie der Gegenwart J92Ö 


l3uch für psychoanalytische Forschungen 
Bd. 3, 1. Hälfte) läßt sich die Entstehung 
der Paranoia auf eine verdrängte Homo¬ 
sexualität zurückführen. Ich habe diese 
Theorie in allen meinen Fällen bestätigen 
können (vergleiche mein Buch: ,,Onanie 
und Homosexualität“). Es kommt auch 
zu Wahnvorstellungen, bei' denen der 
Kranke sich einbildet, ein ,,Zwitter“ zu 
sein. Wir müssen diese Wahnbildung als 
einen Heilungsversuch, als ein Kom¬ 
promiß aus dem unlöslichen Konflikt: 
^,Mann oder Weib?“ ansehen. 

Sehr interessant ist ein diesbezüglicher Fall^ 
den Kielholz in seiner Broschüre: „Jakob 
Boehme“ (Ein pathographischer Beitrag zur 
Psychologie der Mystik. Schriften zur ange¬ 
wandten Seelenkunde 17. Heft, Leipzig und Wien 
1919, Franz Deuticke) publiziert. Es handelt sich 
um ein wegen Muttermord (!) interniertes Mäd¬ 
chen, dessen Erkrankung einen circularen Ver¬ 
lauf zeigte. Sie schildert ihren Zustand mit 
folgenden Worten; 

Ich hatte verschiedene Stadien durchzumachen, 
nämlich ein bestimmtes, das keinen Zweifel zu¬ 
ließ, und ein unbestimmtes Neutrumstadium, wo 
die Zweifel ob der Richtigkeit dieses Seins sich 
einstellten. Ich erinnere mich des Moments, da 
die Entwicklung vor sich ging. Ich litt an der 
Täuschung, Mann geworden zu sein. Die körper¬ 
lichen Bewegungen wurden freier, die Muskel ge¬ 
wannen an Spannkraft, kräftig rollte das Blut 
durch die Adern, die Geistes- und Körpertätigkeit 
mächtig fördernd. Das Allgemeinbefinden war 
ein leichtes, wohliges, die Denkungsart eine un¬ 
gehemmtere, kühnere, die Fähigkeiten waren 
verschärft und die Tatkraft fühlte ich sich ver¬ 
doppeln. Ein freudiges Selbstbewußtsein hob 
das seelische Empfinden und trat an die Stelle 
des Sichkleinfühlens. Ich hätte mich in allen 
diesen Vorteilen sehr glücklich geschätzt, wenn 
ich nicht unter den (vermeintlichen) Anspielungen 
der Wärterinnen sowie der Insassen des Männer¬ 
pavillons gelitten hätte. Ich machte aus diesem 
Grunde einen Selbstmordversuch. Es folgte das 
Stadium des unbestimmten Wesens bei zuneh¬ 
mender Besserung des Allgemeinbefindens, das 
sich ob des Bestehens der physischen Verände¬ 
rungen im Zweifel und beängstigender Ungewi߬ 
heit ließ. Mit der langsam fortschreitenden Bes¬ 
serung verschwanden auch diese Ideen wie auch 
die Empfindung allmählig, bis sie schließlich 
ganz wegblieben. 

Wir sehen in diesem Falle die sadisti¬ 
sche Komponente (Muttermord!), welche 
sich in eine ausgesprochen altruistische 
umwandelte. Sie wollte als Herma¬ 
phrodit alle Kranken heilen und fühlte 
die Kraft dazu iri sich. ,,Christus ist 
Hermaphrodit ...“, was die deutlichen 
Ansätze zur ,,Christusneurose“ und zur 
,,großen historischen Mission“ zeigen, 
die' ich an anderer Stelle beschrieben 
habe. 

Auffallend ist, wie otft die Wahn¬ 
kranken über Kastrationen berichten. So 
berichtet Kielfeld von einem Fabrik¬ 


arbeiter, der sich von seinen Arbeitgebern 
verfolgt fühlte. Sie hätten ihn veran¬ 
lassen wollen, Kellnerin zu werden. Er 
sollte kastriert werden, ihm sollte die Ge¬ 
bärmutter eines Affen eingesetzt werden. 

Ich habe einen Fall von manisch-de- 
pressivem*Irresein beobachtet, in dessen 
Verlauf sieh während der Depressionen 
immer wieder Kastrationstendenzen zeig¬ 
ten. Er wolle sich das Glied abschneiden, 
dann werde es besser werden. Vielleicht 
geht die Kastrationsmanie der Skopzen 
8iuf solche homosexuelle Regungen zurück, 
■wfe sie im Klimakterium und Senium des 
Mannes regelmäßig auftreten. 

Durch diese Tatsachen erklärt sich 
das Rätsel der Cyclothymie und aller 
periodischer Psychosen. Sie hängen mit 
dem periodischen Wechsel von hetero¬ 
sexueller und homosexueller Einstellung 
zusammen. Die starke Bisexualität würde 
dann die Disposition zu diese'm Leiden 
ab geben. 

In dem erwähnten Falle der ArztenSr 
gattin zeigte sich in der Depression ein 
gradezu nymphomanischer Drang. Man 
lasse sich nicht von dieser oft beobach¬ 
teten Tatsache irrig machen. Wie ich 
nachgewiesen habe, ist die Nymphomanin 
ebenso wie der an Satyriasis leidende 
Mann eigentlich ein Latent-Homosexuel¬ 
ler. Weil der normale Akt keine Befriedi¬ 
gung bringen kann, wird die Wieder¬ 
holung verlangt. Auch der Don Juan ist 
ein Latent-Homosexueller (vergleiche in 
meinem Buche ,,Die Geschlechtskälte der 
Frau“ 3. Band der Störungen des Trieb- 
und Affektlebens, Urban & Schwarzen¬ 
berg, Wien 1919, die ,,Analyse einer 
Messalina“), Sie erweist sich als eine aus¬ 
gesprochene Bisexuelle, mit starker Nei¬ 
gung zur offen bekannten Homosexualität. 
Deshalb werden wir oft in den Depres¬ 
sionszuständen, sofern der Geschlechts¬ 
trieb nicht scheinbar ganz erlöscht, eine 
Neigung zum Objektwechsel beobachten 
können. Frauen begehen ihre Treubrüche, 
Männer laufen in die Bordelle. Es sind 
krampfhafte Heil ungs versuche, 
aus der Homosexualität in die He¬ 
terosexualität zu gelangen. 

Auch das plötzliche Verlieben der 
Männer im hohen Alter kann eine Flucht 
vor der Homosexualität bedeuten. Je 
pathologischer und unwahrscheinlicher 
diese Liebe erscheint, desto größer ist die 
Wahrscheinlichkeit, daß es sich um den 
Versuch einer Heilung, um eine Transpo¬ 
nierung der Homosexualität auf ein he¬ 
terosexuelles Objekt handelt. 





326 


Die Therapie der GegenwaJt 1920 


Septetiiber 


Ein Gljähriger Mann verliebte sich in ein 
Bureaufräulein* Er verließ seine Familie, ließ 
sich scheiden, obgleich er schon mehrfacher Gro߬ 
vater war. In der Ehe brach eine Depression aus. 
In der Analyse kam zutage, daß er sich in den 
•Bruder seiner Frau verliebt hatte und diese Nei¬ 
gung auf das Mädchen übertragen hatte. 

Es fragt sich, ob wir diese Funde 
therapeutisch verwerten können. Ich 
möchte vorweg betonen: Die Behand¬ 
lung mit Hormonen hat mich glatt 
im Stich gelassen. Ob eine Operation 
im Sinne Steinachs, welche die hetero¬ 
sexuellen endokrinen, Triebkräfte ver¬ 
stärken würde (Einpflanzung einer glefch- 
>geschlechtlichen Pubertätsdrüse) von Er¬ 
folg sein werden, das muß erst die Zukunft 
lehren. Vielleicht ergibt sich eine opera- 
rive Therapie der Psychosen, der Dipso¬ 
manie, des manisch-depressiven Irrseins 
und der Paranoia. 

Die seelische Behandlung gibt gute 
Resultate, wobei sich die Patientinnen 
stürmisch in den Arzt verlieben^), das 
heißt ihre homosexuellen Neigungen 
zurückdrängen und sich eine aktuelle 
heterosexuelle Leidenschaft arrangieren. 
Die Zurückweisung dieser oft unbändigen 
Leidenschaft ruft eine tiefe Depression 
hervor. 

Es bedarf großer psychotherapeuti¬ 
scher Kunst, um einer Depression Herr 
zu werden. Die Kranken jammern un¬ 
aufhörlich und verstecken ihre unbewu߬ 
ten Motive. Sie wollen nicht von den tie¬ 
feren Motiven sprechen, die zur Erkran¬ 
kung geführt haben. Oft muß man sich 
auf reine Persuasion und liebevolles Zu¬ 
sprechen beschränken. Aber’in manchen 
Fällen kommt man mit der Psychoanalyse 
rasch vorwärts, man öffnet dem Kranken 
die Augen, man entlastet ihn von dem 
drückenden Schuldbewußtsein, das in¬ 
folge seiner Haßgedanken und Beseiti¬ 
gungsideen unaufhörlich an seiner Seele 
nagt. In einem größeren Werke, zu dem 
diese Studie ein Vorläufer sein soll, will 
ich die Psychotherapie und Genese der 
Depressionen ausführlich besprechen. 
Heute kann ich mich nur mit Hinweisen 
an wichtigste Punkte halten. 

Ich möchte aber ganz besonders auf 
die Gefahren der Behandlung mit Nar- 
koticis aufmerksam machen. Man erzeugt 
unzählige Opiomanen, Yeronal- und 
Adalinisten; die vielen Toximanen sind 
zum Teil Kunstprodukte einer falschen 
Therapie. Für die schwersten Fälle, welche 
unter ständiger Selbstmorddrohung ste¬ 
hen, bei denen die Angstentwicklung zu 

®) Vergl. den erwähnten Fall Krafft-Ebing. 


einem Raptus melanchölicus führen kann, 
greife ich zur Opiumbehandlüng, welche 
eine vorübergehende Beruhigung erzwingt. 

Diese Fälle werden . immer seltener. 
Ich habe gelernt, ohne narkotische Mittel 
auszukommen. Ich wende weder Veronal, 
noch Adalin, Bromural, Luminal, Brom 
usw. an. Die Kranken sind am nächsten 
Tage noch apathischer und mürrischer, 
ihre Abulie verstärkt sich. Ich nehme 
von allen diesen Mitteln Abstand. 

Ich fürchte die Schlaflosigkeit der 
Depressionisten nicht mehr. Ich habe 
gelernt, daß in der Schlaflosigkeit eine 
Art Heilungstendenz und Schutzvorrich- 
timg steckt. Die Kranken fürchten ihren 
Schlaf, weil sie nicht in ihre pathologi¬ 
schen Komplexe verfallen wollen^®). Viele 
zeigen die merkwürdige Schlafstörung, 
sofort nach einigen Minuten Schlaf mit 
einem Schrei oder mit Herzklopfen auf- 
zuwacheh, mit der Empfindung, daß sie 
in einen Abgrund hinunterstürzen. Es 
ist der Sturz in die Tiefe ihrer Verbrecher¬ 
natur, in die Abgründe ihrer geheimen 
Wünsche. .. In der Analyse bessert sich 
erst die Schlafstörung. Die offene Be¬ 
sprechung ihrer Konflikte, deren Reich¬ 
haltigkeit ich in diesem Aufsatz eben 
nur andeuten konnte, führt eine seelische 
Entlastung herbei und verringert die 
Angst vor dem Schlaf und die Furcht 
vor den verbotenen Träumen. 

Eine wertvolle Unterstützung leistet 
die Hydrotherapie. Man hat ja die Auf¬ 
gabe, den Kranken den ganzen Tag zu 
beschäftigen, ihn von seinen Grübeleien 
abzulenken. Auch will er auf die seelischen 
Wurzeln nicht eingehen und das Gefühl 
haben, daß „etwas Ordentliches zu seiner 
Heilung geschieht'^. Feuchte Einpackun¬ 
gen, die bis zu einer Stunde ausgedehnt 
werden, denen sich ein nicht allzu warmes 
Halbbad anschließen soll (um eine kräf¬ 
tige Hautreaktion zu erzeugen), werden 
sehr gut vertragen. Die Temperatur der 
Einpackung sei möglichst kalt, etwa 
14 bis 16 Grad. Das Halbbad womöglich 
von 18 auf 16. Wenn der Kranke sich in 
der Einpackung nicht erwärmt, ist er 
vorher abzureiben oder es sind Wärme¬ 
flaschen, elektrische Bettwärmer zu den 
Füßen zu applizieren. 

Man trachte immer wieder, die Kran¬ 
ken zur Arbeit zu bewegen. Beamte 
müssen ins Amt gehen, so sehr sie sich 
auch sträuben und ihre Unfähigkeit zur 

Vergl. meine Broschüre „Der Wille zum 
Schlaf. Verlag J. F. Bergmann. 



“September 


pie Therapie der Gegenwart 1920 


32T 


Arbeit betonen, Kaufleute müssen in ihr 
Bureau oder in ihren Laden, die Haus¬ 
frauen in die Küche.. Es ist falsch, ihnen 
die Sorgen um den Haushalt abzunehmen. 
Sie brauchen die Arbeit als Heilmittel. 
Für leichte, anregende Lektüre ist zu 
sorgen, der Besuch heiterer, harmloser 
Theaterstücke ist zu empfehlen (das Kino 
wirkt immer schlecht, nur die wissen¬ 
schaftlichen Uraniavorstellungen werden 
gut vertragen). Kartenspiele mit geringem 
Einsätze, Spaziergänge, Müllern, Gym¬ 
nastik sind in leichten Fällen zu emp¬ 
fehlen. 

Die Kunst des Arztes zeigt sich in den 
ersten Stadien der Depression. Neben der 
psychologischen Erforschung muß auch 
die Beruhigung und die Anleitung zur 
Arbeit erfolgen. Sehr gefährlich sind Ur¬ 
laube, welche die Depression fast immer 
verschlimmern. Der Erfolg der Sana¬ 
toriumsbehandlung hängt von der Tüchtig¬ 
keit des Arztes ab. 

Ich kann diese Ausführungen nicht 
schließen, ohne auf die eminente Selbst¬ 
mordgefahr aufmerksam gemacht zu ha¬ 
ben, die bei diesen Kranken besteht. Im 


Beginne meiner psychotherapeutischen 
Praxishabeich dieseGefahrsehr gefürchtet. 
Die Erfahrung hat :mich belehrt, daß bef 
richtiger psychotherapeutischer Behand¬ 
lung. welche dem Kranken stets die Hoff¬ 
nung auf Genesung betont und sich von 
seiner Jammerei nicht beirren läßt, die 
Gefahr nicht besteht. Während der 
Analyse kommt ein Selbstmord 
nicht vor. Die Kranken drohen, wenn 
sie aber an dem Arzte hängen, so führen, 
sie die Drohung nicht aus. Allerdings ist 
es wichtig, die Kranken zu beschäftigen 
und sie aus dem Nichtstun und Vorsich- 
hindämmern herauszufeißen. Man beginne- 
die' Kur mit einem Verbote, das sehr se¬ 
gensreich wirkt. Die Kranken dürfen über 
ihr Leiden zu keinem Menschen aus der 
Umgebung sprechen. Sie dürfen nur dem 
Arzte klagen. Damit beginnt die Schule 
der Selbsterziehung und Selbstbeherr¬ 
schung, welche die schönsten Erfolge 
zeitigt. 

Die Behandlung ist schwierig und sehr , 
anstrengend, ermüdend und zeitraubend.. 
Aber sie rettet viele Menschen und führt 
sie mit sanfter Hand ins Leben zurück*. 


Repetitorium der Therapie. 

Behandlung der Blutkrankheiten. 

Von G. Kletnperer. (Schluß.) 


6. Leukämie. Wenn bei Milz- oder 
Lymp'hdrüsenschwellung die Vermehrung 
der polynukleären Leukocyten und das 
Auftreten von Myelocyten oder die Ver¬ 
mehrung der Lymphocyten im Blut die 
Diagnose gesichert hat, ist alsbald mit 
der Strahlenbehandlung zu beginnen. Ins¬ 
besondere der Röntgentherapie kommt 
dieselbe Bedeutung für die Leukämie zu, 
weilche wir für die perniciöse Anämie der 
Arsentherapie zusprechen. Selbstver¬ 
ständlich ist die Allgemeinbehandlung 
und die Bekämpfung symptomatischer 
Beschwerden in keinem Falle zu ver¬ 
nachlässigen. Man bestrahlt die ver¬ 
größerte Milz oder die vergrößerten 
Lymphdrüsen in intensiver Weise; Häufig¬ 
keit und Stärke der Einwirkung ist dem 
Grad der Krankheit und dem allgemeinen 
Kräftezustana anzupassen. Unter Be¬ 
nutzung eines leistungsfähigen Apparates 
für Tiefentherapie wendet man möglichst 
die Hauteinheitsdosis für jedes Feld an 
und bestrahlt alle Felder in einer Sitzung. 
Wenn diese Bestrahlung gut vertragen 
wurde, wird sie in zwei- bis dreitägigen 
Pausen drei- bis viermal wiederholt. 


Danach tritt -eine größere Ruhepause mit 
guter Pflege ein, während welcher das 
Abschwellen der Milz beziehungsweise der 
Lymphdrüsen und die Verminderung der 
farblosen Blutkörperchen beobachtetwird.. 
Hat die Bestrahlung zu annähernd nor¬ 
malem Organ- und Blutbefund geführt,., 
so gestattet oft das leidlich gute All¬ 
gemeinbefinden, dem Patienten einen ge¬ 
wissen Lebensgenuß und eine beschränkte 
Berufsarbeit zij^ gestatten. Dabei muß 
eine dauernde Überwachung des Kräfte¬ 
zustandes, der inneren Organe und des 
Blutbildes stattfinden. Kommt es zur 
Verschlechterung, so muß erneute Rönt¬ 
genbehandlung einsetzen. In vorgerück¬ 
tem Krankheitsstadium ist die Einwirkung 
auf die blutbildenden Organe gering, oder 
die Kachexie nimmt zu trotz Besserung' 
des Blutbefundes. Dann muß man sich 
ganz auf die allgemeine Therapie be¬ 
schränken, die man durch energische 
Arseneinwirkung zu unterstützen sucht. 
— Der'Röntgenbehandlung gleichwertig 
ist die Thorium-X-Therapie; man kann 
dieselbe an Stelle der Röntgenbestrahlung' 
oder abwechselnd mit derselben anwen- 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


328 


den. Die intravenöse Injektion von 
1 Million Mache-Einheiten Thorium-X 
epitspricht etwa einer Röntgenintensiv¬ 
bestrahlung; man macht, unter Kontrolle 
des Allgemeinbefindens und des Blut¬ 
bildes, fünf solche Injektionen in acht¬ 
tägigen Zwisch'enräumen. Hiernach läßt 
man, wie nach einer Röntgenserie, eine 
längere Ruhezeit eintreten. Die Thorium- 
X-Therapie bietet'den Vorteil, daß man 
von den Röntgenapparaten unabhängig 
ist; das Präparat ist in beliebigen Stärken 
von der Berliner Auergesellschaft zu 
beziehen, welche es unter dem Namen 
Doramad gebrauchsfertig mit Bezeich¬ 
nung der jederzeitigen Wertigkeit irer- 
sendet. — Für die allgemeine und sympto¬ 
matische Therapie der Leukämie gelten 
dieselben Regeln wie für die schweren 
Anämien (s. o.). 

7. Hämorrhagische Diathesen. Die 

Neigung zu profusen und schwer still¬ 
baren Blutungen beruht zum Teil auf der 
Durchlässigkeit und Verletzlichkeit der 
Gefäßwände, die wir mit der allgemeinen 
Herabsetzung der Körperkräfte in Zu¬ 
sammenhang bringen dürfen. In diesem 
Sinne wirken wir der hämorrhagischen 
Diathese durch die allgemeinen Methoden 
der roborierenden Therapie entgegen; unter 
ihnen steht in erster Linie die Ernährung, 
welche direkt zur Heilmethode wird, wenn 
das Fehlen bestimmter Nahrungsbestand¬ 
teile die Gefäßerkrankung unmittelbar 
verursacht (frische Gemüse beim Skorbut, 
ungekochte Milch bei der Barlowschen 
Krankheit). Zum größern Teil machen 
wir die herabgesetzte Gerinnungsfähigkeit 
des Blutes für die schweren Blutungen 
verantwortlich und suchen deshalb die 
Mangelhaftigkeit der Blutgerinnung thera¬ 
peutisch zu verbessern. Auch die Ge¬ 
rinnungsbildner regenerieren sich in den 
blutbildenden Organen; deren Arbeit 
suchen wir durch Eisen und Arsen anzu¬ 
regen; eine besondere Anregung des 
Knochenmarks, vielleicht durch Beseiti¬ 
gung hemmender Einflüsse, geschieht 
durch die Exstirpation der Milz, welche 
für schwere Fälle in Frage kommt. 
Sicherlich vermehren sich nach diesem 
Eingriff in außerordentlicher Weise die 
Blutplättchen, deren Zahl in manchen 


Septetnber 


Fällen hämorrhagischer Diathese beträcht¬ 
lich vermindert war. Ein anderer Be¬ 
handlungsweg besteht in der direkten Zu¬ 
fuhr solcher Substanzen, welche den 
Gerinnungsvorgang befördern. 'So kann 
man Kalk darreichen, oder Präparate 
reindargestellter Blutplättchen oder Ge¬ 
rinnungsfermente einspritzen (Coagulen, 
Clauden) oder Gesamtblut oder Blut¬ 
serum injizieren, in welchem die Ge¬ 
rinnungsbildner enthalten sind. 

Der spezielle Befiandlungsplan erfor¬ 
dert nicht anders wie bei schweren Anä¬ 
mien Betrachtung und Ordnung der ge¬ 
samten Lebensführung und der Ernäh¬ 
rung, eventuell Bettruhe und Pflege, 
sowie die Verordnung von Eisen- und 
Arsenpräparaten. Hinzu tritt die Dar¬ 
reichung von Kalkverbindungen; man 
gibt entweder Sol. Calc. chlorati 10,0/200, 
eßlöffelweise, oder eines der im Handel 
üblichen Präparate, Kalzan, Camagol, 
von denen nur zweifelhaft ist, ob sie dem 
Blut genügende Mengen von Kalk zu¬ 
führen. Treten trotz einer allgemeinen 
Behandlung, welche den Körper genügend 
kräftigt und anregt, immer neue Blutun¬ 
gen ein, so ist festzustellen, ob eine 
abnorme Verminderung von Blutplätt¬ 
chen vorliegt. In Fällen sogenannter 
essentieller Thrombopenie ist durch Milz¬ 
exstirpation außerordentliche Besserung, 
anscheinend Heilung, zu erzielen; künftig 
wird man zu erproben haben, ob nicht 
intensive Röntgenbestrahlung der Milz 
denselben Effekt macht. Die Einzel¬ 
blutung wird man in Fällen hämorrhagi¬ 
scher Diathese mit denselben Mitteln 
behandeln, die man gegenüber inneren 
Blutungen überhaupt anwendet (vgl. 
Hämoptoe s. o.); intravenöse Injektion 
von 20 ccm 5 pCt. Coagulenlösung ist 
besonders empfehlenswert. In Fällen 
von Hämophilie ist intravenöse Injektion 
von je 20 ccm frischgewonnenem mensch¬ 
lichen Blutserum angezeigt. Zur Heilung 
von Skorbut sind reichlich frische Ge¬ 
müse und Citronensaft zuzuführen. Zu 
den Blütkrankheiten ist auch der hämo¬ 
lytische Ikterus zu rechnen; kommt 
es zu schwerer Anämie, so wirkt die 
Milzexstirpation oft als heilender Ein¬ 
griff; auch hier ist Röntgenbestrahlung 
in Erwägung zu ziehen. 


0 Berlin 0, Rotherstraße. 






Sepiembec. 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


329 


Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen. 

Verliandlurigen der Deutschen Qesellschaft für Gynäkologie. 
Berlin, 26. bis 29. Mai 1920. 

Bericht von Dr. Äschheim, Berlin. (Schluß.) i) 


P. Schäfer (Berlin). Ergebnisse 
der Bestrahlung mit Radium und 
Radium und Röntgen kombiijiert. 

Von 1913 bis 1918 wurden 962 Ge- 
nitalcarcinome (darunter 71,5 Collum- 
•carcinome) bestrahlt, von diesen vorläufig 
130 = 18,1% geheilt. Von 282 vor fünf 
'bis sieben Jahren bestrahlten Collum- 
«carcinomen leben noch 50 == 17,73%, 
von 74 operablen 25 = 33,78%, von 

Grenzfällen 19 =23,45 %, von 127 
.inoperablen 6 = 4,72 %. Von den 1916 
bis 1918 bestrahlten Fällen sind bis 
jetzt 78 gesund = 18,09 %, von 91 
operablen Collumcarcinome 30 = 33 %, 
von , 122 Grenzfäilen 33 =27 %, von 
218 inoperablen 15=6,88 %, das Re¬ 
sultat dürfte für die zweite Gruppe 
durch Rezidive, die noch zu erwarten 
sind, ungünstiger werden, durch Herab¬ 
setzung der Radiumdosis sind zwar 
Verbrennungen vermieden, die Heilungs¬ 
resultate aber ungünstiger geworden. Die 
kombinierte Radium-'Röntgenbehand- 
iung hat sich der bloßen Radiumbehand- 
iung überlegen gezeigt. Gut operable 
Carcinome werden von der Bumm'schen 
Klinik jetzt operiert und prophylaktisch 
mit Röntgen nachbestrahlt. Frauen, 
bei denen erfahrungsgemäß die Ope¬ 
rationsresultate nicht gut sind, werden 
kombiniert bestrahlt. 

Weinbrenner (Magdeburg) be¬ 
strahlte in den letzten sieben Jahren 
insgesamt 450 Genitalcarcinome. Von 
49 Collumcarcinomen sind 18 =36,7 % 
noch 5 Jahre nach der Bestrahlung ge¬ 
sund, dabei sind die operablen pnd Grenz¬ 
fälle mit 20 % beteiligt, die inoperablen 
mit 16,7 %. Weinbrenner operiert 
heute nur die günstigen Fälle. Er kom¬ 
biniert die intracervicale möglichst ein¬ 
malige Bestrahlung mit Röntgen. Am 
güntsigsten von allen Carcinomen ver¬ 
hielten sich die Korpuscarcinome. 

Theilhaber (München) empfiehlt die 
Anwendung der Diathermie zur Ver¬ 
besserung der Insuffizienz, des Selbst¬ 
schutzes des Gewebes, ferner zur Vor- 


0 Der Bericht berücksichtigt nur diejenigen 
Mitteilungen, welche zur Therapie in nahen oder 
entfernteren Beziehungen stehen; auch die blossen 
Demonstrationen sind nicht referiert. 


beugung von Rückfällen nach Jder 
Krebsoperation.. 

Bauereisen (Kiel). In unbestrahlten 
Carcinomen begegnet man ähnlichen re¬ 
gressiven Veränderungen wie in be¬ 
strahlten. Fehlen von Mitosen ist eine 
der wichtigsten Zeichen der Strahlen¬ 
wirkung. 

Frankl (Wien). Zur pathologischen 
Anatomie bestrahlter Uteruscarcinome. 
Bei Radium beginnen die Veränderungen 
an den direkt getroffenen Partien am 
dritten und vierten Tage und erreichen am 
vierzigstem Tage ihr Ende.. Der Höhepunkt 
der Wirkung fällt zwischen fünften und 
siebenten Tag, bei Röntgen setzt die 
Wirkung etwas früher ein. 

Siegel (Gießen). Die Lebensdauer 
der ' an Uteruscarcinomen erkrankten 
Frau. Bei exakter Meßmethode hält er 
die ausschließliche Strahlenbehandlung 
des operablen Uteruscarcinoms für be¬ 
rechtigt. 

Benthin (Königsberg). Vaginale oder 
abdominale Totalexstirpation und Nach¬ 
bestrahlung bei Carcinoma uteri? 

Die Königsberger Klinik operiert va¬ 
ginal und, bestrahlt nach. 

RübSamen (Dresden). Die operative 
Behandlung der rekto-vaginalen Ra¬ 
diumfisteln. Operation der nach intra- 
cervicalen Radiumbehandlung entstande¬ 
nen Fisteln erst zwei Jahre nach Ent¬ 
stehung. Verschluß der Fisteln nach 
Füth und Verlagerung des Sphincter ani 
kranialwärts von der Fistel. 

Aussprache. Opitz (Gießen) ist für 
Bestrahlung aller Fälle. Mayer (Tübin¬ 
gen), weist auf die operativen Resultate 
mit der Freund-Wertheimschen Ope¬ 
ration an derTübinger Klinik hin. Primäre 
Mortalität 20 %, Dauerheilung^ der ge¬ 
sund Entlassenen 40 absolute Hei¬ 
lung aller beobachteten Carcinomen 20 %. 
Straßmann (Berlin) operiert Korpus¬ 
carcinome, bestrahlt Collumcarcinome. 
Stoeckel (Kiel) ist der Überzeugung, 
daß die radikale Abdominaloperation bis 
auf weiteres die Grundlage der Carcinom- 
therapie bleiben wird. Die Zukunft wird 
eine Kombination von Operation und 
Bestrahlung sein. Weiter beteiligen sich 
an der Aussprache Jüngling, Jäschke, 
Eimer, Schweitzer für Operieren und 

42 



330 ^ Die Therapie der 


Nachbestrahlen, Mackenrodt, der die 
Operation an erste Stelle setzt, eventuell 
Nachbestrahlen. Dessauer hält die 
Oroßfeldermethode für die einzige Me¬ 
thode der Zukunft. Küstner teilt den 
Stoeckelschen Standpunkt,. Franz 
bleibt bei einer absoluten Heilungszahl 
von 28 % bei der Operation, Zweifel 
vertritt auch den Stoeckelschen Stand¬ 
punkt. Im Schlußwort kommt Kehrer 
zu dem Resultat, daß er mit gewissen 
Einschränkungen weiterbestrahlen wird. 
Seitz:.Die Frage, ob operieren oder be-, 
strahlen, läßt sich nicht durch, autorita¬ 
tive Kundgebungen entscheiden, die 
einen sollen weiter operieren, die anderen 
bestrahlen; die Erfolge werden sich nach 
fünf Jahren zeigen. Warnekros: Die 
Großfeldermethode ist die Methode der 
Zukunft. Wi n tz|_ bespricht Dosierungs¬ 
fragen, 

III. Vorträge zum Verhandlungsthema 
Myome und Metropathien. 

Lichtenstein (Leipzig). Bericht 
über 200 Fälle mit 96 % Heilung. Bei 
Metropathien vorher Abrasio. Die Aus¬ 
fallserscheinungen nach Bestrahlung sind 
stärker als nach Uterusexstirpation mit 
Belassung der Ovarien. Neben der neueren 
einzeitigen behält die ältere mehrzeitige 
Bestrahlung ihre Berechtigung. 

V. Jaschke (Gießen). Die Ab¬ 
grenzung der Indikationen zur opera¬ 
tiven und Strahlenbehandlung bei 
Myomatosis uteri. v. Jaschke betont 
auch die oft sehr schweren Ausfaller¬ 
scheinungen bei Bestrahlungen. Die 
Strahlenbehandlung ist vorzuziehen bei 
allen hämorrhagischen Metropathien, 
ferner bei Myomkranken über 40 oder 
über 45 Jahre, sofern nicht besondere 
Komplikationen zur Operation zwingen. 
Die operative Therapie bei Frauen unter 
40. Jahren; im übrigen schließt er sich 
den von Gauß mitgeteilten Indikationen 
zur Operation an, will aber auch die 
Fälle, in denen Vereiterung, Erweichung 
oder maligne Degeneration anzunehmen 
ist, operieren. » 

X Zweifel (München) stellt die gleichen 
Indikationen für Operationen auf. Auch 
die Münchener Klinik hat vorzügliche 
Resultate mit der Bestrahlung bei 
Myomen und Metropathien erreicht, Aus¬ 
fallserscheinungen treten zumeist auf, 
lassen sich aber durch eine, Reihe von 
Mitteln lindern. 

Eck eit (Frankfurt a. M.) hat die 
gleichen Kontrainindikationen gegen Be- 


Qegenwart 1920 _ • 'September 


Strahlung, wie die Vorredner; als Methode 
gibt er der Schnellsterilisierung an zwei 
bis vier aufeinanderfolgenden Tagen den 
Vorzug. Mit dauernder Amenorrhoe 
wurden 86 % geheilt. Rückbildung des 
Tumors in 36,6 %. 

A. Mayer (Tübingen). Über Be¬ 
handlung^ d.er Mammahypertrophie mit 
Röntgenstrahlen. Rückgang derselben 
durch Bestrahlung. 

Gi es ecke (Kiel). Bei Myomen gute 
Resultate,’bei klimakterischen Blutungen 
wurde nach vorausgeschickter Ourettage,. 
bei 183 jbestrahlten Fällen sephs Re¬ 
zidivblutungen beobachtet, die - total- 
exstirpiert wurden, hierbei fanden sich 
viermal Korpuscarcinome. 

Albrecht (München). Die Röntgen¬ 
kastration bei krankhaft gesteigertem 
und' entartetem Geschlechtstrieb. Bei 
schweren mit der Menstruation in un¬ 
verkennbarem Zusammenhang stehenden 
Psychosen und Psychoneurosen empfiehlt 
Albrecht, die in der cyklischen Keim- 
drüsenfunktioh gegebene Auslösung oder 
Verstärkung durch Röntgenbehandlung: 
abzuschwächen beziehungsweise auszu¬ 
schalten. 

R. Schröder (Rostock). Der ana¬ 
tomische und,klinische Begriff der Me- 
tropathia hemorrhagica. Schröder teilt 
die hämorrhagische Metropathie in die 
Unterabteilungen 1. Hypermenorrhöe bei 
normalem Palpationsbefund und normale 
dem Cyclus entsprechenden Phäsenbild 
des Endometriums verstärkte Regel¬ 
blutung durch Muskelschwäche oder durch 
Steigerung des Blutaffluxes zum Genitale 
in aktivem oder passivem Sinne. 2. Poly- 
hypermenorrhöe außer den sub 1) ge- 
narmten Faktoren, Störungen des Ova- 
rialcyclus durch Schädigung der Eireifung 
und Eireife. Ursache: interne Affektionen 
und konstitutionelle Faktoren des Ova- 
rialfunktion. 3. Metrorrhagien: a) Ver¬ 
deckung des normalen Cyclus durch 
Dauerblutungen infolge Muskelschwäche 
oder erheblichem Blutaffluxes; b) un¬ 
regelmäßige Blutungen durch echte En¬ 
dometritis; c) Dysfunktion des Ovariums 
in Gestalt von Ausbleiben der Korpus- 
luteumbildung und Vorhandensein rei¬ 
fender und reifer Follikel. Folge am 
Endometrium: pathologische Prolifera¬ 
tion im Sinne der früheren Endome¬ 
tritis fungosa. Letzeres die Domäne der 
Röntgenbehandlung. 

Liepmann (Berlin), Einfluß der 
Röntgenstrahlen auf die weibliche Psyche. 
Strahlenbehandlung ohne Berücksich- 



September ^ Die Therapie der Gegenwart 1920 - . .331 


tigung der Psyche ist ein gefährliches 
.Unternehmen, Drei selbstbeobachtete 
Fälle von schweren Psychosen bezie¬ 
hungsweise Psychoneurosen. 

Vogt (Tübingen). Über Röntgen¬ 
tiefentherapie der Genitaltuberkulose. 
Von 46 Fällen 32 operativ behandelt 
und systematisch nachbestrahlt, bei 14 
nur Röntgenbe^strahlung. In allen Fällen 
Endometritis tuberculosa nachgewiesen, 
Zwei Frauen bald nach Bestrahlung ge¬ 
storben,. sechs voll erwerbsfähig, drei nur 
für leichtere Arbeit fähig, eine arbeits-’ 
unfähig. Die Röntgentherapie beschränkt 
sich auf ausgewählte Fälle, 1. Endome¬ 
tritis tuberculosa ohne Adnextumoren 
und Tuberkulose des Bauchfelles, 2. bei 
Fällen,’ die operative Kontraindikationen 
aufweisen. 

Werner (Wien) weist darauf hin, 
daß Kinder röntgenbestrahlter Frauen 
im Wachstum Zurückbleiben können und 
warnt vor Bestrahlung jugendlicher 
Frauen. 

Hofbauer (Dresden). Das vegeta¬ 
tive Nervensystem in der Gravidität und 
die Ovariaitherapie der Toxikosen. Emp¬ 
fehlung von Ovoglandol bei Schwanger¬ 
schaftstoxikosen, besonders bei Er¬ 
brechen. 

Heynemann bespricht die Wichtig¬ 
keit der Blut- und Serumuntersuchungen 
bei Eklampsie, denen prognostische ünd 
therapeutische Bedeutung zukommen. 
Nicht nur die Eklampsie, sondern auch 
die Vorstadien gehören in klinische Be¬ 
handlung. 

Jaschke (Gießen). Vorläufige Er¬ 
fahrungen über therapeutische Proto¬ 
plasmaaktivierung mittels Kaseosan 
(Lindig). Erfolgreiche Versuche bei 
Puerperalfieber, Parametritis, Adnextu¬ 
moren, besonders bei Bauchfellgenital¬ 
tuberkulose. 

R. Fre-und (Berlin). Die Wirkungs¬ 
weise parenteraler Injektionen. Die bei 
Schwangerschaftstoxikose von Freund 
eingeführte Injektionstherapie (Serum, 
Ringersche Lösung usw.) ist keine spe- 
cifische Behandlung. Sie leistet bei 
leichten Formen Gutes und beruht wohl 
auf Reizung der blutbildenden Organe. 
Bei der Eklampsie hat die Stroganoff- 
therapie mit Aderlaß keine besseren Re¬ 
sultate, als die entbindende Therapie 
ergeben. 

Stoeckel (Kiel). Schnittentbindung.’, 
bei Placenta praevia. Bericht über 21 
Fälle von Placenta praevia, die mit 
Kaiserschnitt behandelt wurden; alle 


Mütter geheilt, von'25 Kindern, darunter 
neun nicht ausgetragen, starben ein 
Zwillingspaar und fünf unreife. Es wurde 
stets der intraperitoneale cervicale 
Schnitt gemacht. 

Hammerschlag (Neukölln). i#)er 
manuelle Placentalösung. Die erste Frage: 
,,Bei welchem Blutverluste darf gelöst 
werden?'‘, beantwortet-Hammerschlag 
rnit dem Rat, bei 700 gr. zu lösen, ,Die 
zweite Frage, wann darf gelöst werden, 
beantwortet er für die Außenpraxis mit 
sechs Stunden, für die Klinik mit zwölf 
Stunden. 

G. A. Wagner (Prag). Zur. Differen¬ 
tialdiagnose der Extrauteringravidität, zu¬ 
gleich ein Beitrag zur Frage der sogenann¬ 
ten ovariellen Blutungen. Pituitrininjek¬ 
tionen beeinflussen die ovarigenen Blu¬ 
tungen günstig, während sie auf uterine 
Blutungen bei Tubargravidität keinen 
Einfluß haben. • 

Schweitzer (Leipzig). Die Resultate 
der Carcinomoperation mit Extraperito¬ 
nisierung nach Wertheim-Zweifel. 
Von 1910 bis 1920 sind 322 Uteruscar- 
cinome, 281 Collum-, 41 Korpuscar- 
cinome mit 16 =4,96 % Mortalität ope¬ 
riert worden. Nur 7,8 % postoperative 
Cystitis, nur 2,5 % Wundeiterungen. 
Absolute Heilung für alle Operierten 
27,5 %. 

Hartog (Berlin). Zur Terpentinbe¬ 
handlung der Adnexerkrankungen gute 
Erfolge bei Parametritis, Pyosalpinx 
und Bubo. 

Hartog (Berlin). Autotransplan¬ 
tationen von Ovarien in 20 Fällen. Bei 
elf von zwölf nachuntersuchten Fällen 
hat sich die Menstruation zwei bis sieben 
Monate nach der Operation wieder einge¬ 
stellt, bei sieben ist sie jahrelang ge¬ 
blieben. 

Thaler: Zur Sakralanästhesie bei 
abdominellen und zur parametranen In¬ 
filtrationsanästhesie bei vaginalen Bauch¬ 
höhlenoperationen. 

Stoeckel (Kiel). Die operative 
Therapie bei Insuffizienz des Blasen¬ 
schließmuskels. Eingehende Darstellung 
der von Stoeckel mit Erfolg geübten 
Methoden der Muskelnaht, der Pyrami¬ 
dalis- und Levatorplastik. 

Wagner. Bildung einer Urethra 
und eines Sphincter urethrae bei 
Aplasia vaginae nach Zerstörung der 
Urethra und der Sphincter-Harnröhre. 
aus Vestibularschleimhaut gebildet, der 
muskuläre Schluß durch den Levator 
hergestellt. 


42* 





332 ’ ? ' V .y ‘Die Therapie ' Septltl^er' 

Referate. 


Die Aufgabe der postoperativen 
Röntgenbestrahlung des Carcinoms 
ist nach 0. Strauß, die noch vorhande¬ 
nen Carcinomzellen oder etwa sich neu 
enÄvdckelnde zu zerstören, oder sie wenig¬ 
stens so zu schädigen, daß der Körper 
. mittels seiner natürlichen Abwehrkräfte 
mit ihnen fertig wird. Dabei muß vor 
allen Dingen darauf geachtet werden, daß 
eine genügend große Strahlenmenge zur 
Wirkung kommt. Denn ist sie unzuläng¬ 
lich, so kann sie als Reizdosis wirken, die , 
Krebszellen, anstatt sie zu schädigen, 
zu regerem Wachstum anspornen. Die 
Frage, ob, durch Nachbestrahlupg der 
operierten Fälle das Operationsergebnis 
verbessert werden kann, ist^ noch nicht 
' entschieden; denn die ,bis- jetzt mit¬ 
geteilten Resultate erlauben noch kein 
abschließendes Urteil, da das Beobach- 
tungsniaterial zu klein ist, und so viele 
Einzelfaktoren-, wie Bestrahlungstechnik, 
.Sitz und biologische Beschaffenheit der 
Geschwulst,berücksichtigt werden müssen. 
Auch sind die von den einzelnen Autoren 
bekanntgegebenen Erfahrungen keines¬ 
wegs einheitlich. Während die einen — 
Blum.enthal, Gauß u. a. — durch die 
postoperative Bestrahlung eine Vermin¬ 
derung der Rezidivziffey sahen, urteilen 
Weibel (Wertheimsche Klinik) u. a. 
abfällig über ihren Wert. Perthes und 
Lobenhofer, deren Mitteilungen der 
Verfasser großen Wert beimißt, haben 
sogar durch die postoperative Bestrahlung 
eine Verschlechterung ihrer Heilergeb¬ 
nisse erhalten. Die Perthesschen Mit¬ 
teilungen zeigen eine konstant wahrnehm¬ 
bare progressive Verschlechterung je nach 
der Steigerung der Strahlenmenge. Nach 
den Beobachtungen von Lobenhofer 
haben sämtliche nachbestrahlten Fälle 
ein Rezidiv aufgewiesen. 

Vielleicht sind diese betrübenden Er¬ 
gebnisse aus einem zu späten Beginn der 
Bestrahlung zu erklären. So hat Blu¬ 
menthal die Erfahrung gemacht, daß 
die meisten Kranken erst zwei bis drei 
Monate nach der Operation zur Be¬ 
strahlung überwiesen werden. Dies hält 
' Verf. für zu spät, da in zwei bis drei 
Monaten sich bereits Metastasen gebildet 
haben können, und das erstrebte Ziel — 
die Bestrahlung als Prophylaxe — nicht 
mehr erreicht werden kann. Vielmehr 
handelt es sich dann bereits’ um die Be¬ 
strahlung des Rezidivs. 

Daher fordert Strauß, während man 


heute im allgemeinem mit der Bestrahlung; 
erst nach vollendeter Wundheilung ein¬ 
setzt, sogleich nach der Operation damit 
zu beginnen. Sollte etwa durch die 
Bestrahlung eine Verschlechterung der 
Wundheilung verursacht werden, so wäre 
sie als kleineres Übel mit in Kauf zu 
nehmen. Ein wertvolles Mittel zur 
Unterstützung der Nachbestrablung sind . 
intravenöse Injektionen von 0,1 Atoxyt 
mit arsenigsaurem Natron in steigenden. 

, Dosen von 2 bis 7 mg. 

Horovitz (Berlin). 

(Ther. Hbmh., Heft 11.) 

Mit Lum‘inal sind an der Münchener 
Klinik 60 Fälle von Eklampsie be¬ 
handelt worden, von denen 13 zugrunde 
gingen, worüber v. Miltnej ausführlich 
berichtet; außer diesem Hypnotikum 
wird noch ein Sedativum, das Magnesiüm- 
sulfat, gegeben. Die Firmen E. Merk 
•und Fr. Bayer & Co. haben kleine 
Flaschen von 7 ccm hergestellt mit 
1,2 g. L. als Tagesbedarf, mit einer ein¬ 
geritzten Marke, bis zu der 6 ccm kaltes, 
vordem abgekochtes Wasser angefüllt 
werde; < von dieser 20%igen Lösung 
werden alle acht Stunden 2 ccm subcutan 
gegeben. Gleichzeitig hiermit w’^erden 
auch 10 ccm einer 25%igen Magnesium- 
sulfuricum-Lösung eingespritzt. Es ist 
nun auch darauf zu achten, daß die In¬ 
jektionsstellen fernab vom ödematöseii. 
Gebiet gewählt werden, da sonst durch 
schlechte Resorption die beabsichtigte 
Wirkung ausbleiben kann. Durch diese 
Addition der Mittel kommt es zu einer 
pharmakotherapeutischen Verstärkung; 
unangenehme Nebenwirkung wurde nie¬ 
mals beobachtet. Bevor jedoch die In¬ 
jektion vorgenommen wird, werden der 
Eklamptischen in leichter Äthernarkose 
ante partum 5- bis 600, post partum 
3- bis 400 ccm Blut durch Aderlaß 
entnommen. Kochsalzinfusionen werden 
nicht gemacht, da man hierdurch die 
Gehirnödeme und so den Hirndruck ver¬ 
mehrt. Bleibt die Wirkung aus, so wird 
zur Schnellentbindung geschritten, zumal 
wenn ein enges Becken vorliegt. Zu be¬ 
achten ist immer der Satz Zweifels, daß 
die Eklampsie reich an Wechselfällen ist 
und mit Überraschungen überlastet ist 
wie kaum irgendeine Krankheit. 

PtilVermacher (Charlottenburg). 

■5 (Mschr. f. Geburtsh., Bd. 53.) 

Die innerliche Anwendung von Jod 
bei der Basedowschen Krankheit gilt all- 




September — , Die Therapie der. Gegenwart 1920 333 


gemein — weil ausgesprochene Verschlech¬ 
terungen hervorrufend — als streng ver¬ 
boten. Und doch gibt es, worauf schon 
früher öfters, doch ohne gut begründete 
klinische Beobachtung von Ärzten hin- 
gewiesen worden ist, eine große Reihe» 
von thyreotoxischen Symptomenbildern 
und Basedowschen Erkrankungen, bei 
denen eine gewisse Anwendung von 
Jod von hervorragend heilender Wirkung 
ist. E. N ei SS er berichtet über acht kli¬ 
nisch beobachtete Fälle verschiedener 
thyreotoxischer Zustände, die alle ein¬ 
wandfrei zum Basedowschen Symptomen- 
komplex gehörten. Bei diesen hat er 
durch Darreichung kleiner Jodmengen 
(dreimal täglich zwei bis fünf Tropfen 
Sol. Kali jodat. 1,0:20,0, ansteigend bis 
dreimal täglich 12—20 Tropfen) in kurzer 
Zeit eine rapide, auffällige Besserung, be¬ 
ziehungsweise Heilung erzielt. Nach 
seinen Erfahrungen sind besonders'^ die¬ 
jenigen Fälle für die Jodbehandlung ge¬ 
eignet, die schon längere Zeit bestanden 
haben, bei denen ferner der wenig pul¬ 
sierende Kropf entweder gering entwickelt 
ist oder sich schon wieder zurückgebildet 
hat und weder starker Exophthalmus 
noch Herzvergrößerung besteht. Erfah¬ 
rungen über Jodwirkung bei akutem 
Basedow Jugendlicher hat Verfasser keine. 
Es liegt nahe, zur Erklärung dieser Wir¬ 
kungsweise des Jod das sogenannte bio¬ 
genetische Grundgesetz von Arndt heran¬ 
zuziehen, wonach kleine Dosen reizen, 
große lähmen sollen. Erkannte man im 
Morbus Basedow eine Störung des Ge¬ 
samtstoffwechsels mit krankhaft, gestei¬ 
gerter dissimilatorischer Erregung im 
Nerven- und Gesamtstoffwechsel, so 
könnte Jod in kleinen Mengen die ge¬ 
schwächte ,,assimilatorische Funktion“ 
reizen, wodurch die Heilwirkung erklärt 
werden würde. Kamnitzer (Berlin). 

(B. kl. W., Nr. 20.) 

Baer teilt einen Pall von luetischem 
Leberfieber auf kongenitaler Grundlage 
mit. Bei der 25jährigen Frau, die seit 
ihrem 22. Lebensjahre dauernd unregel¬ 
mäßiges Fieber hatte und stark abmagerte, 
reichte die im ganzen stark vergrößerte 
Leber, die von derber Konsistenz war und 
keinerlei umschriebene Vorwölbung auf¬ 
wies, zwei Finger breit unter den Nabel. 
Der untere Milzpol war unter dem Rippen¬ 
bogen zu fühlen. Im Urin war Eiweiß, 
Zucker und Urobilinogen nicht nachzu¬ 
weisen. Die Wassermannsche Probe war 
stark positiv. Durch kombinierte Be¬ 
handlung mit Jod und kleinsten Neo- 


salvarsandosen wurde sehr schnell Ent¬ 
fieberung erzielt, während die Leber- und 
Milzschwellung nur langsam zurückging. 
Das Körpergewicht nahih rapid zu. Be-, 
merkenswert an diesem Fall ist das Auf¬ 
treten einer parenchymatösen mit Fieber 
einhergehenden Lebersyphilis auf here¬ 
ditärer Grundlage im 22. Lebensjahre. 
Die Heredität ist erwiesen aus den vor¬ 
handenen Hutchinsonschen Veränddrun- 
gen an den Zähnen, der überstandenen 
Ceratitis parenchymatosa, schließlich aus 
den sechs Tot- und mehreren Fehl¬ 
geburten der Mutter. Horovitz (Berlin). 

(M. m. W., Nr.'20.) 

Während früher lange Zeit hindurch 
Chirurgen und Internisten von den Resul¬ 
taten der Gastroenterostomie bei 
Magengeschwür völlig befriedigt waren, 
mehren sich in letzter Zeit, die Stimmen 
über Mißerfolge dieser Operationsmethode. 
Diese Fehlresultate äußern sich einmal im 
Auftreten eines Ulcus jejuni pept. an der 
Gastroenterostomiestelle und zweitens 
im Fortbestehen des ursprünglichen Ulcus 
mit Blutungen und Schmerzen: Zweig 
beschäftigt sich an der Hand von 34 
operierten Fällen von Ulcus ventriculi 
mit den postoperativen Blutun¬ 
gen, die in den ersten zehn Tagen meist 
auftreten und die — in ihrer Intensität 
ganz verschieden — bisweilen selbst töd¬ 
lich verlaufen können. Unter seinen 
Fällen befanden sich 16 von Resektion 
des Ulcus, 7 von Pylorusausschaltung mit 
Gastroenterostomie und 10 von ein¬ 
facher Gastroenterostomie. 14 mal kam 
es zur postoperativen Blutung, davon 
sechsmal nach Pylorusausschaltung, acht¬ 
mal nach Gastroenterostomie. Auf Grund 
seiner Erfahrungen kommt Verfasser zu 
dem Resultat, daß die klassische Therapie 
des Ulcus ventriculi beziehungsweise duo- 
deni die interne Behandlung sei; scheitert 
diese, so kommt in erster Linie die Resek¬ 
tion des Ulcus mit Entfernung des Pylorus 
und Resektion eines Teils des Fundus 
in Betracht. Die Gastroenterostomie wird 
verworfen. ’ Kamnitzer (Berlin). 

(M. Kl., Nr. 22.) 

Durch eine Salpingo-Stomatoplastik 

die durch entzündliche Prozesse ver¬ 
schlossene Tubenostium durchgängig und 
für eine Befruchtung funktionsfähig zu 
machen, hat auch Seitz in 22 Fällen 
versucht, wobei er jedoch betont, daß der 
während der Operation festgestellte Be¬ 
fund nach Beseitigung der übrigen anor¬ 
malen Verhältnisse die Veranlassung zu 
einer plastischen Korrektur der Tube 




334 Die Therapie der 


gibt/ Die Operatiotistechnik ist folgende: 
Nachdem die Tube aus den Verwachsun¬ 
gen gelöst ist, wird das verschlossene 
Ostium an einer Stelle eingeschnitten; 
hat sich der etwa vorhandene Inhalt als 
unverdächtig gezeigt, und war eine Durch¬ 
gängigkeit mit der Sonde festgestellt, so 
wird die durch Resektion geschaffene 
neue Öffnung mit Schleimhaüt umsäumt,, 
in der Form einer Manschette gebildet 
und die Wundränder werden mit Schleim¬ 
haut gut umsäumt. Bei zwei Fällen kam 
es zu einer Gravidität, die jedoch immer 
frühzeitig endete. Den Grund des Mi߬ 
erfolgs glaubt Seitz in der chronisch 
entzündlichen Schleimhaut des Uterus 
oder in dem erneuten Verschluß des 
Tubenostiums zu suchen. 

P u 1V e r m a c h e r (CharlOttenburg). 

(Mschr. 1 .Geburtsh. März 1920.) 

Über intravenöse Strophantinan- 
wendung in ihrem' Verhältnis zur Digi- 
talisbehandlung macht Mory bemerkens¬ 
werte Mitteilungen. Obwohl die intra¬ 
venöse . Strophantinanwendung ein wert¬ 
volles Mittel zur Bekämpfung der Herz¬ 
insuffizienz ist, hat sie b€i weitem nicht 
die ihr gebührende Verbreitung gefunden.. 
Vor allem haben die Strophantintodes¬ 
fälle abschreckend gewirkt. Unangenehme 
Zwischenfälle lassen sich jedoch vermeiden, 
wenn mit Gaben von^bis %mg begonnen 
und tropfenweise injiziert wird; seit Beob¬ 
achtung dieser Vorsichtsmaßregeln ist 
eine Schädigung der Kranken durch 
Strophantin an der Erlanger Klinik nicht 
mehr bemerkt worden. Die häufig auf¬ 
gestellte Forderung, daß zwischen letzter 
Digitalis und erster Strophantingabe eine 
längere Pause liegen muß, um die Gefahr 
einer Cumulation zu vermeiden, kann 
nicht mehr allgemein aufrecht erhalten 
werden, wie die an der Erlanger Klinik 
gemachten Erfahrungen lehren, nur muß 
m.an mit kleinen Dosen beginnen und darf 
diese nur allmählich steigern. Der Haupt¬ 
vorteil des Strophantins ist, daß es mit 
Sicherheit an den Ort seiner Wirkung 
gebracht werden kann, und daß es in den 
Fällen, bei denen Digitalis allein versagt, 
bei vorsichtiger Dosierung eine akute 
Gefahr beseitigen hilft. 

(M. m. W., Nr. 20.) Horovitz (Berlin). 

Dr. C. Springer-Prag hat in fünf 
Fällen schwerster schraubenförmiger rachi¬ 
tischer Verkrümmung des Unterschenkels 
durch ein neues Operationsverfahren eine 
vollkommene Geraderic.htung des Beines 
mit einer Verlängerung um 2—3 cm er¬ 


Gegehwart 192Ö ^ ' Septentber 


reicht. In der Blutleere flacher, lappen¬ 
förmiger Hautschnitt bis 2 cm über die 
Verkrümmung hinaus. Längsschnitt durch 
das Periost und Abhebelung desselben. 
Freilegung des nackten Knochens durch 
«Unterschiebung von Elevatorien. Aus¬ 
lösung des ganzen verkrümmten Knochen¬ 
stückes durph zwei Meißel^chläge ah den 
Grenzen der' gerade gebliebenen Nachbar- 
partieh. Das herausgenommene kipfel¬ 
förmige Stück wird in einen kleinen ste¬ 
rilisierten Schraubstock gespannt und in 
eine Reihe 1 cm dicker Scheiben mit der 
Laubsäge zerlegt. Sämtliche Scheiben 
werden wieder in den Periostsaclczurück¬ 
gebracht, mit der Pinzette fixiert und 
darüber unter Streckung des Beines (nach 
vorheriger Einknickung der Fibula) das 
Periost vernäht. Gipsverband für vier 
Wochen, dann Gehversuche mit Schutz¬ 
hülse. Dies Verfahren, das dem Geübten 
keinerlei technische Schwierigkeiten be¬ 
reitet, bedeutet gegenüber der einfachen 
Osteotomie oder Osteoklase zweifellos 
einen Fortschritt. Weitere Erfahrungen 
müssen aber erst lehren, ob die Knochen¬ 
scheiben stets reaktionslos einheilen oder 
sich, wie es bei der Albee’schen Operation 
zuweilen vorkommt, nekrotisch abstoßen. 

Georg Müller. 

(Zschr. f. orth. Chir., XL. Bd., H. I.) 

Über Erfahrungen mit Vuzin und 
dessen Anwendung bei der Behandlung 
eitriger Prozesse berichten Keppler und 
Hof mann. Die Arbeit, welche im März 
1919 abgeschlossen ist, bringt eine ein¬ 
gehende Beschreibung aller Fälle, die 
an der chirurgischen Universitätsklinik 
in Berlin (Bier) mit Vuzin behandelt 
worden sind. Zur Behandlung kamen 
Fälle von Abscessen, Mastitis, Pleura¬ 
empyem, Gelenkeiterungen des Knies, 
Ellenbogens, Fußes und der Finger, Fu¬ 
runkel und Karbunkel, Sehnenscheiden¬ 
phlegmonen und Osteomyelitis. Bei den 
Abscessen wurde mit der Rekordspritze 
der Eiter abgesaugt und dann die Vuzin- 
löSLing eingespritzt. Diese Einspritzung 
wurde in derselben Sitzung mehrfach 
wiederholt und zum Schluß ein gewisser 
Teil der Flüssigkeit zurückgelassen. Nach 
einigen Tagen geht der heiße Absceß in 
einen kalten Absceß über, es bildet sich 
ein Durchbruch und der Eiter läuft nach 
außen ab; jedoch tritt dieser günstige 
Verlauf nicht in allen Fällen ein, sondern 
wiederholt mußte, da die beschriebene 
Umwandlung nicht auftrat, breit ge¬ 
spalten werden. Bei der Mastitis eignen 
sich zur Vuzinbehandlung nur diejenigen 




September 


-Die Therapie der Gegenwart 1920 ; 335 


Fälle, bei denen die Eiterung in der 
Brustdrüse lokalisiert ist. Hier ist der 
Verlauf ähnlich dem, wie er bei den Ab- 
scessen beschrieben-ist. Bei der diffusen, 
infiltrierenden Form der Mastitis kommt..^ 
man mit dem Vuzin nicht aus. Eine 
Ausheilung eines Empyems der Pleura 
durch Vuzin, selbst bei wiederholt aus¬ 
geführten Einspritzungen, gehört zu den 
Seltenheiten. Es mußte daher auch meist 
die Rippenresektion angeschlossen wer¬ 
den. Bei 'Gelenkeiterungen muß man sich 
streng an die Payr sehe Einteilung der 
Vereiterungen der Gelenke halten: ein¬ 
faches Gelenkempyem, Kapselphlegmone 
und Totalvereiterungi Für die geschlos¬ 
sene Form, das heißt das einfache Ge¬ 
lenkempyem, hat sich die Vuzinbehand- 
■lung als günstig erwiesen. Durch ein- 
oder mehrfache Punktionen kann der Pro¬ 
zeß zur vollkommenen Ausheilung ge¬ 
bracht werden. Dagegen empfiehlt es 
sich nicht, bei der Kapselphlegmone und 
der Totalvereiterung, sich mit dem Vuzin 
aufzLihalten. In zahlreichen Fällen wird 
hierdurch der günstige Augenblick für 
eine Gelenkresektion verpaßt und öfter 
konnte auch eine Amputation das Leben 


nicht mehr erhalten. Durchaus zu emp¬ 
fehlen ist das Vuzin dagegen bei der Be¬ 
handlung der Furunkel und Karbunkel, 
ßs wird ähnlich wie bei der Lokalanäs¬ 
thesie in der Umgebung des Entzündungs¬ 
herdes ein Wall mittels der Vuzinlösung 
errichtet, welchen die Entzündung nicht 
überschreitet. — Bei den Sehnenscheiden¬ 
phlegmonen, wie auch bei der Osteomye¬ 
litis kann von einem eigentlichen Erfolge 
nicht gesprochen.werden. Allenfalls hat 
sich die Behandlung in einigen Fällen 
von Phlegmone des zweiten und dritten 
Fingers bewährt, jedcTch bei der gefürch¬ 
teten V-Phlegmone durchweg versagt. 
Zusammenfassend lassen sich die Resul¬ 
tate der Verfasser dahin wiedergeben, 
daß der Kreis der für die Vuzinbehand- 
lung geeigneten Fälle verhältnismäßig 
klein ist. Sicher gehört eine ganz beson¬ 
dere Kenntnis der Diagnose und des Ver¬ 
laufs eitriger Prozesse dazu, um die für 
das Vuzin geeigneten Fälle auszusuchen 
und bei begonnener ‘Vuzinb'ehandlung 
im Falle des Versagens rechtzeitig chir¬ 
urgische Maßnahmen zu ergreifen. 

Hayward. 

(Arch. f. klin. Chir. Bd. 113, Hift 4.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Erfahrungen mit Eukystol=Tee bei gynäkologischen und 
urologischen Erkrankungen. 

Von Dr. J. Sfakianakis, Spezialarzt für Frauenkrankheiten und Urologie in Athen. 


Die bessere Durchspülung der Harn¬ 
wege bei entzündlichen Erkrankungen 
derselben ist ein uraltes Postulat, dem 
durch Verabfolgung von Mineralwässern, 
Tees und den sogenannten inneren Anti- 
septicis Rechnung getragen wird. Die 
Verabfolgung von Tees ist in den letzten 
Jahrzehnten durch die stärkere Bevor¬ 
zugung der inneren Antiseptica mehr 
und mehr in den Hintergrund gedrängt 
worden. Sehr zu unrecht, denn meiner 
Erfahrung nach können wir gerade durch 
die Ordination eines geeigneten Tees viel 
leichter eine Reizmilderung bewirken als 
durch die den Magen respektive Darm 
mehr oder minder belästigenden Anti¬ 
septica respektive Diufetica. Welche An¬ 
forderungen sind nun an einen für unsere 
Zwecke brauchbaren Tee zu stellen? 
Wenn wir durch die Ordination eines 
Tees die Entzündungserscheinung in den 
Harnwegen beseitigen wollen, wird der 
Tee durch Anregung der Diurese eine 
Verdünnung des Harns, also eine Reiz¬ 


milderung bedingen müssen; überdies 
wird er aber auch, um kausal wirken zu 
können, die Harnwege sterilisieren müssen, 
d. h. antiseptisch wirken. Die allgemein 
gebräuchlichen Tees, wie Folia uvae ursi, 
Folia bucco, Folia betulae, auch die 
Species diureticae haben lediglich diu- 
retische Wirkung, d. h. sie vermögen die 
Harnwege besser zu durchspülen, nicht 
aber durch Sterilisierung des Harns die 
in ihm wuchernden Bakterien in ihrem 
Wachstum zu hemmen. 

Im Gegensatz hierzu steht der seit 
einigen Monaten unter dem Namen ,,Eu- 
kystol“^^ von dem Chemischen Institut 
Dr. L. Östreicher, BerlinW35, in den 
Handel gebrachte Nierentee. In ihm 
sind die wirksamsten diuretischen Dro- 
guen, wie Bulbus scillae, Rhizoma gra- 
minis, Folia betulae usw. nach einem be¬ 
sonderen Verfahren derart aufgeschlossen 
worden, daß eine Sterilisierung der Harn¬ 
wege sichergestellt wird. Durch bakterio¬ 
logische Kontrollversuche konnte ich fest- 




33^ ; / Die Aefapie'4^^ ^ V ‘ ; / Sep&iijtifer 


stellen, daß durch Zusatz von 5 ccm eines ter beseitigt als durch Urotropin oder^ 
5 %igen Eukystolaufgüsses das Wachs- Oleum Santali. Besonders wertvoll war 

fum von Bacterium coli und Staphylo- mir der Tee in Fällen von Cystitis im 

coccus aureus auf Agar sowohl wie auf Puerperium. Hier hörten die durch den 

Bouillon, gestört wird. Entsprechend ^ Katheterismus in Fällen von Harnver- 
diesen Vorversuchen waren auch mxCine 'haltung gesetzten' cystischen Symptome . 
praktischen Erfahrungen mit dem Euky- nach Eukystol prompt auf, so daß von 
stoltee ganz ausgezeichnete. Ich habe Blasenspülung Abstand genommen wer¬ 
den Tee in vielen Fällen von Erkran- den konnte. Eine angenehme Nebenwir- * 
kungen der Harnorgane, sowie bei gynäko- kung des Eukystol ist* seine leicht ab¬ 
logischen Affektionen angewandt. Bei führende Wirkung, die ja bei. Krankheiten 
Fällen von Cystitis, respektive Pyelitis . der Harnorgane^ sowie bei gynäkologischen 
ohne lokale Therapie. In Fällen von Erkrankungen besonders erwünscht ist. 

Gonorrhoe in Verbindung mit der üb- Auf Grund meiner nunmehr sechsmonat¬ 
lichen antiseptischen Lokalbehandlung, liehen'.Erfahrungen möchte ich daher 
Bei Urethritis jposterior pnd Cystitis colli den Eukystoltee, den neuerdings auch 
wurden die lästigen subjektiven Begleit- Scherler empfohlen hat (Allg. m. Zztg. 
erscheinungen, wie namentlich •der'^ im- 1920, Nr. 24), angelegentlichst zur Nach¬ 
periöse Harndrang durch Eukystol proinp- Prüfung den Kollegen anraten. 

Riß im Scheidengewölbe intra coitum sechs Wochen post partum. 

Von Dr. Voltolini, Naumburg (Bober). 

Daß intra partum Risse im Scheidengewölbe inzwischen keinerlei Störungen aufgetreten wären, 
entstehen können mit mehr oder weniger abun- und daß sie soeben eiligst'gerufen sei; weil aus ihr 
danten ja tötlichen Blutungen, ist wiederholt völlig unbekannten Ursachen eine enorme Blutung 
festgestellt und auch forensisch beurteilt worden, aufgetreten wäre; sie habe diese durch Aus- 
Meist, treten sie auf im Gefolge von Cervix- stopfung der Scheide mit Wattekugeln notdürftig 
rissen nach forcierter Extraktion und Expression zu stillen versucht. Da diese inzwischen völlig 
des nachfolgenden Kopfes oder durch „Abgleiten“ durchblutet waren, entfernte ich sie, um mich 
oder „Hebelbewegungen“ der Zange und zwar vor allem über die Ursache der Blutung- zu 
-wohl ausschließlich dann, wenn infolge vorzeitigen orientieren, immer in der Annahme, daß es sich 

sum eine mit der vorausgegangenen Entbindung 
irgendwie zusammenhängende Blutung aus der 
Gebärmutter handele. Ich fand jedoch diese 
fest kontrahiert, den Muttermund geschlossen, 
im hinteren Scheidengewölbe aber einen weit¬ 
klaffenden Riß, durch den der Finger in eine mit 
Blutgerinnseln ausgefüllte Höhle kam, aus der 
es stark blutete. Nach Freilegung der Scheide 
drainierte ich sofort die blutende Stelle fest mit 
Jodoformgaze ebenso die ganze Scheide und 
wartete vorläufig ab, um, falls die Blutung nicht 
zum Stillstand käme, den Riß freizulegen und zu 
nähen. Dies wurde jedoch nicht nötig, und der 
Riß heilte sogar ohne Eiterung. 

Über die Entstehung der Blutung erg,ab sich 
folgendes: Der Ehemann hatte plenus alkoholi 
an der heftig widerstrebenden Frau den Coitus 
forciert, diese hatte dabei plötzlich einen inten¬ 
siven Schmerz im Leibe gefühlt, und gleich darauf 
ergoß sich zur Überraschung des ernüchterten 
Ehemannes eine starke Blutung aus den Ge¬ 
schlechtsteilen. — Die Erklärung des Vorganges 
kann nur die sein, daß bei der immerhin älteren 
Frau durch dfe sechs Wochen vorher erfolgte 
Entbindung Cervix und Scheidengewölbe noch 
aufgelockert und nachgiebig waren und die nor¬ 
male Elastizität noch nicht wieder erlangt hatten, 
daß durch die Widerstandsbeweg:ungen der. Frau, 
die sich intra coitum äufzurichten versuchte, 
die Scheidewände eine außergewöhnliche 
Spannung annahmen, und daß dadurch die 
Scheide im Scheidengewölbe rupturierte.^ Viel¬ 
leicht hatte auch außerdem eine drei Jahre vorher 
erfolgte Entbindung hierfür prädisponierende 
Momente irgendv/eleher Art hinterlassen. 

Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. V erlag von Urban feSchwarzenberg 
* in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Berlin W8. 


oder verfehlten Eingreifens der Muttermund für 
den Durchtritt des Kopfes noch nicht genügend 
erweitert war. Die Zerreißung kann alsdann über 
das Scheidengewölbe hinausgehen, in üas para-' 
cervicale Bindegewebe Vordringen und sogkr das 
Parametrium eröffnen; durch Anreißen eines 
vaginalen Astes der Arteria uterina kommt es 
dann nreist zu profusen Blutungen, zumal wenn 
bei älteren Mehrgebärenden mit unnachgiebigen, 
dabei etwas mürben Weichteilen, die notwendige 
Elasticität verloren gegangen ist. Nach Stillung 
der lebensbedrohlichen Blutungen können die 
das weitmaschige Be.ckenbindegewebe frei legen¬ 
den Risse durch sekundäre Infektion deletäre 
Folgezustände nach sich ziehen. Derartige Fälle 
sind von Hoffmann, Walther, H.W. Freund, 
Reiferscheidt, Wirtz und Anderen beschrieben 
worden. 

Daß aber auch außerhalb des Geburts¬ 
vorganges, und zwar intra coitum, Risse im 
Schddengewölbe auftreten können, dafür ver¬ 
mochte ich in der Literatur — wenigstens so weit 
sie mir zugänglich war — keinen Fall aufzufinden, 
und ich möchte daher einen von mir beobachteten 
kurz beschreiben. 

Am 22. November v. J. wurde ich nachts zu 
der Ehefrau des Maurers J. in Ch. gerufen, bei der, 
wie die Hebamme sagen ließ, eine lebensgefähr¬ 
liche Blutung aufgetreten wäre; um eine Ent¬ 
bindung handele es sich nicht. Ich fand die 
38jährige Frau fast pulslos mit kühlen Extremi¬ 
täten, tiefgelagertem Kopf, die Bettunterlagen 
blutdurchtränkt, auch vor dem Bett eine Blut¬ 
lache. Die Hebamme berichtete, daß Frau J. 
vor sechs Wochen normal entbunden habe, daß 









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Die Therapie der Gegenwart 


1920 


herausgegeben von öeh. Med.-Rat Prof. Dr. ü. Klemperer 
in Berlin. 


Oktober 


Nachdruck verboten. 


Die Behandlung der Vergiftungen. 

Klinischer Vortrag von Prof. G. Klemperer. 


Meine Herren! Den jungen Mann, der 
heut gesund und munter vor Ihnen er¬ 
scheint, haben Sie vor acht Tagen in 
größter Lebensgefahr gesehen. Er lag 
damals matt und apathisch zu Bett, auf 
Lippen und Zunge hatte er weiße Schorfe, 
er klagte über heftige Magenschmerzen. 
Tags zuvor hatte er 2 g Sublimat in selbst¬ 
mörderischer Absicht geschluckt; erst drei 
Stunden nach der Vergiftung war er zur 
Behandlung ins Krankenhaus gekommen. 
Die Sublimatvergiftung macht für ge¬ 
wöhnlich stärkste Entzündung der Magen- 
und Dünndarmschleimhaut, dazu diph¬ 
therische Nekrosen des Dickdarms und 
schwerste nephritische Veränderungen, 
die zur Anurie und zum urämischen Coma 
führen. Schon bei der ersten Vorstellung 
machte ich Sie darauf aufmerksam, wie 
wenig das Aussehen des Kranken dem 
Bilde der -typischen Sublimatvergiftung 
entsprach; wohl waren Verätzungszeichen 
am Mund und Magenschleimhaut bemerk¬ 
bar; aber es bestand kein Blutbrechen, es 
war kein blutiger Durchfall aufgetreten, 
die Urinmenge war nicht vermindert und 
nur eine Spur von Eiweiß wies auf die 
Resorption geringer Quecksilbermengen 
hin. Auch in den seitdem vergangenen 
acht Tagen ist es nicht zur Anurie und 
Urämie gekommen, die Urinsekretion ist 
ganz normal geblieben, das Eiweiß hat 
sich bald ganz verloren und Cylinder 
sind gar nicht ausgeschieden worden. Der 
Stuhlgang ist normal geblieben. Die 
Magenschmerzen haben sich allmählich 
verloren, die Beläge sind von den Lippen 
und der Zunge verschwunden. Heut er¬ 
scheint der Patient ganz gesund und 
ist im Begriff, als geheilt entlassen zu 
werden. 

Welche Mittel haben bewirkt, daß der 
Patient trotz der tötlichen Menge von 
Sublimat, die er zu sich genommen hat, 
mit dem Leben davongekommen ist und 
daß er so wenig Spuren der Vergiftung 
davongetragen hat? 

Zuerst wurde ihm unmittelbar nach 
der Ankunft im Krankenhause, noch im 
Aufnahmezimmer, der Magen gründlich 


ausgespült. Man hat in früheren Zeiten, 
ehe Kußmaul im Jahre 1866 zum ersten 
Mal den Magenschlauch eingeführt hat, 
nach geschehener Vergiftung den Magen' 
durch künstliches Erbrechen zu entleeren 
gesucht. Man kann auch heute noch, um 
das Gift schnell aus dem Magen zu bringen, 
reichlich Wasser oder Milch trinken lassen 
und dann durch tiefe Einführung des 
Fingers in den Rachen Erbrechen zu er¬ 
zielen suchen; aber das gelingt durchaus 
nicht immer und keinesfalls so voll¬ 
ständig als man wünschen muß. Man 
kann auch ein Brechmittel verordnen, 
nach alter Sitte Pulv. Ipecacuanh. 1,0 g 
innerlich, oder nach neuerem Gebrauch 
Apomorphin 0,02 g in subcutaner In¬ 
jektion. Aber auch das Erbrechen ent¬ 
leert den Magen niemals vollständig. 
Man hat auch eine gewisse Scheu vor 
stürmischen Brechbewegungen insbeson¬ 
dere nach Verätzung des Magens, wie sie 
z. B. bei Sublimatvergiftung stets ein- 
tritt, weil sie zur Perforation des Magens 
führen können. Bei benommenen Pa¬ 
tienten besteht beim Erbrechen stets die 
Gefahr der Aspiration mit folgender 
Pneumonie. Und bei manchen Fällen, 
z. B. von Pilzvergiftung, ist überhaupt 
kein Erbrechen zu erzielen. Heut ist 
die Ausspülung des Magens erstes Er¬ 
fordernis nach jeder Vergiftung. Es ist 
unbedingt notwendig, daß der Arzt einen 
brauchbaren Magenschlauch stets ver¬ 
wendungsfähig in seinem Instrumen¬ 
tarium vorrätig hat, und daß er ihn stets 
mit sich führt, wenn er zu Vergiftungen 
gerufen wird. Man kann den Magen¬ 
schlauch allenfalls improvisieren, indem 
man sich eines Gasschlauches bedient, 
und es war ein alter Prioritätsanspruch 
der Frerichsschen Klinik^), daß hier 
lange vor Kuß maul einem Vergifteten 
der Magen mit einem durch den Schlund 


1) Frerichs war 1861—1885 der Nachfolger 
von Schönlein und der Vorgänger von Leyden 
an der I. medizinischen Klinik der Charite. Die 
erwähnte Priorität ist insbesondere von Ewald, 
welcher Anfang der siebziger Jahre Assistent 
bei Frerichs war, behauptet worden. 

43 





338 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Olctdber 


geführten Gasschlauch entleert worden 
wäre. Aber besser und zweckmäßiger 
ist doch wohl der weiche glatte Magen¬ 
schlauch, den jeder von Ihnen schnell 
und sicher einzuführen lernen muß. Dann 
gieße man V 2 bis % Liter Wasser durch 
den aufgesetzten Trichter und entleere 
das eingegossene schnell durch Senken 
des Trichters. Die Eingießung muß dann 
sehr häufig wiederholt werden, denn der 
Magen soll so gründlich wie möglich ge¬ 
reinigt werden, da leicht Reste des Giftes 
fest an der Magenschleimhaut und in 
deren Falten haften. Man ermüde also 
in solchen Fällen nicht vor der Zeit. Es 
sollen 20 Liter und mehr durch den Magen 
gespült werden, ehe man sich zufrieden 
gibt. Gewiß gelingt es in zahlreichen 
Fällen so, das eingeführte Gift ganz aus 
dem Magen zu bringen und die Pa¬ 
tienten nur durch die Magenausspülung 
zu retten. 

Aber es gibt doch Fälle, in denen die 
Einführung des Magenschlauchs nicht 
möglich ist, sei es, daß der Patient sich 
dagegen sträubt, sei es, daß die Würge¬ 
bewegungen des überempfindlichen 
Schlundes die Einführung verhindern. 
Gewiß werden solche Fälle um so seltener 
sein, je geschickter der Arzt ist, aber ganz 
auszuschließen ist die Möglichkeit nicht. 
Außerdem ist mit der Entleerung des 
Magens allein ja noch nicht alles ge- 
gescfiehen, es kann ein großer Teil des 
Giftes schon in den Darm gelangt sein. 
Darum besteht in jedem Fall nach be¬ 
endeter Magenausspülung die Indikation 
der Darmentleerung, der wir durch Ab¬ 
führmittel zu genügen suchen. Aber das 
ist kein ideales Vorgehen, denn auf dem 
langen Weg durch den Darm, selbst wenn 
er beschleunigt zurückgelegt wird, kann 
doch noch viel Gift resorbiert werden. 

Wir haben neben der Entleerung des 
Magens und Darms die dringende Pflicht, 
das Gift im Innern des Körpers unschäd¬ 
lich zu machen. Wir wollen das Gift im 
Magen und Darm entgiften. Uralt ist 
das Suchen nach Gegengiften, welche 
durch chemische Einwirkung das einge¬ 
führte Gift so verändern, daß et keine 
Giftwirkung mehr auszuüben vermag. 
Ein praktischer Erfolg ist dieser Art von 
antitoxischer Therapie in der früheren 
Zeit nur selten beschieden gewesen. Wohl 
hat man Kupfer gegen Phosphor, Natrium¬ 
sulfat oder Zuckerkalk gegen Carbolsäure, 
Eisenoxydhydrat gegen Arsenik emp¬ 
fohlen. Aber so gut die theoretische Be¬ 
gründung dieser Giftbindung, so wenig 


hat sie den Vergifteten geholfen, denn 
die gewollte chemische Bindung kam 
meist nur unvollkommen zustande; 

Eine wirkliche Bindung eingeführter 
Gifte ist erst erreicht worden, seit man 
auf die chemische Wirkung verzichtete 
und physikalische Kräfte verwendete, 
in Gestalt der Bindung durch feinver¬ 
teilte Pulver von großer Oberfläche. Es 
ist die Adsorption von Giften vor allem 
durch feingepulverte tierische Kohle, 
deren Anwendung einen der schönsten 
Fortschritte der praktischen Medizin be¬ 
deutet. Sicherlich sind zahlreiche Men¬ 
schenleben durch die Kohletherapie ge¬ 
rettet worden. Auch bei unserem Kranken 
haben wir sie nach der Magenausspülung 
angewendet, indem wir ihm zwei Eßlöffel 
Kohlepulver (etwa 60 g) mit dem letzten 
Wasserguß in den Magen schütteten. 
Ich glaube, daß der auffallend günstige 
Heilungsverlauf, dessen Zeuge Sie ge¬ 
wesen sind, zum großen Teil auf diese 
Adsorptionstherapie zurückzufühfen ist. 

Die Adsorptionstherapie der Vergif¬ 
tungen ist ein Beispiel dafür, daß aus¬ 
gezeichnete Heilmethoden im Lauf der 
Zeiten auftauchen und wieder verschwin¬ 
den können. Die Anwendung des Kohle¬ 
pulvers war schon im klassischen Alter¬ 
tum bekannt, und sie ist im Anfang des 
vorigen Jahrhunderts wieder aufgelebt. 
Der Apotheker Thouery hat im Jahre 
1830, um ihre Wirksamkeit zu demon¬ 
strieren, ein ganzes Gramm Strychnin 
mit 15 g Kohlepulver eingenommen und 
ist ganz gesund geblieben. Trotz dieses 
Beispiels ist die Kohletherapie der Ver¬ 
giftungen bei den Ärzten ganz in Ver¬ 
gessenheit geraten und kein neueres Lehr¬ 
buch der Intoxikationen spricht von ihr. 
Sie wurde erst 24 neuem Leben erweckt 
durch den Prager Pharmakologen Wie- 
chowski und seine Mitarbeiter Adler 
und Starkenstein, denen sich in 
Deutschland Lichtwitz zugesellt hat 2 ). 
Wiechowski berichtete im Jahre 1909, 
daß die verschiedensten Giftstoffe, wenn 
sie an Tierkohle adsorbiert Tieren bei¬ 
gebracht werden, ihre Giftwirkung ver¬ 
loren haben. Man kann auf diese Weise 
mehrfach tötliche Dosen schwerer Gifte 
ohne Wirkung per os einführen. Wie¬ 
chowski hat verschiedene Adsorbentien 
in bezug auf ihre giftbindende Kraft ver- 

2) Wiechowski, Prag. m. Wschr., Januar 
1909. Kongreß für innere Medizin 1914, S. 329. 
Adler, W. kl. W. 1912, Nr. 21. Lichtwitz, 
Th. d. G. 1908, S. 542. Starkenstein, M. m. W. 
1915, S. 27. 





Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


339 


glichen, insbesondere den gepulverten 
weißen Ton (bolus alba) und mehrere 
Arten von Kohlepulver, und er hat fest¬ 
gestellt, daß ein durch Verkohlen von 
Blut gewonnenes Kohlepulver am wirk¬ 
samsten krystallinische und kolloide Sub¬ 
stanzen adsorbiert. Er hat auch gezeigt, 
daß die Adsorption im tierischen Organis¬ 
mus teilweise anderen Gesetzen gehorcht 
als im Reagenzglas, indem im Magen und 
Darm adsorbierte Gifte noch nachträg¬ 
lich zur Resorption gebracht werden 
können. Obwohl die Blutkohle am 
stärksten ,das adsorbierte Gift zurückhält, 
ist es doch zweckmäßig, zugleich mit dem 
Kohlepulver ein Abführmittel zu reichen, 
um den Aufenthalt des adsorbierten 
Giftes im Darm möglichst abzukürzen. 
Die salinischen Abführmittel, z. B. Bitter¬ 
wasser oder Magnesium sulfuricum, sind 
hierzu am meisten geeignet, weil sie zu- 
.gleich den Darminhalt verdünnen und 
auf diese Weise die Adsorption noch be¬ 
sonders befördern. Adler hat im Jahre 
1914 über 30 Fälle von Vergiftung be¬ 
richtet, welche durch Kohletherapie sämt¬ 
lich zur Genesung gekommen, sind. 
Darunter waren sieben Phosphorvergif¬ 
tungen, drei Vergiftungen mit Morphium, 
je zwei mit Sublimat, chlorsaurem Kali, 
Lysol, je eine mit Arsen, Veronal + Pan- 
topon, Absinth, Kaliumbichromat. 22 der 
behandelten Fälle waren so schwer, daß 
die Vergifteten ohne die Kohletherapie 
kaum am Leben geblieben wären. 

Seit den Veröffentlichungen der Prager 
Forscher ist die Kohletherapie der Ver¬ 
giftungen in unserem Krankenhaus regel¬ 
mäßig angewendet worden. Jedem Kran¬ 
ken,' der mit Vergiftungssymptomen spä¬ 
testens zwölf Stunden nach geschehener 
Tat eingeliefert wird, wird der Magen 
gründlich ausgespült, wenn nicht etwa 
peritonitische Reizerscheinungen auf 
drohende Perforation des Magens hin- 
weisen. In allen Fällen, mit Ausnahme 
nachgewiesener Säure- oder Laugevergif¬ 
tung (in diesen wird Magnesia usta be¬ 
ziehungsweise verdünnte Essig- und Ci- 
tronensäure angewandt), werden nach der 
Magenausspülung zwei Eßlöffel Kohle¬ 
pulver mit '30 g Magnesium sulfuricum 
in den Magen eingegossen. Ist es für die 
Magenspülung zu spät, so wird sofort die 
Kohle-Magnesiamischung, in einem halben 


Liter Wasser aufgerührt, eingegeben oder 
durch den Schlauch eingeführt. Das 
Kohlepräparat, welches zu diesem Zweck- 
stets in unserem Aufnahmezimmer und auf 
allen Krankenstationen vorrätig gehalten 
wird, ist Carbo animalis Merck. 

Ich bin in der glücklichen Lage, be¬ 
richten zu können, daß wir seit Ein¬ 
führung dieser Therapie von etwa 25 
schweren Vergiftungsfällen mit Sublimat, 
Arsen, Lysol, Phosphor, Cyankali nicht 
einen einzigen verloren haben. Ich emp¬ 
fehle Ihnen dringend, sich diese Behand¬ 
lungsmethode der Vergiftungen zu eigen 
zu machen und später in ihrer Praxis aus¬ 
zuüben. Alles was Sie über Antidote und 
ihre Anwendung gelernt haben, tritt neben 
der Kohletherapie an Wichtigkeit zurück; 
Sie brauchen kein anderes Antidot neben 
Carbo animalis mehr anzuwenden. 

Ich brauche nicht besonders hinzu¬ 
zufügen, daß neben und nach der Aus¬ 
spülung und. Kohletherapie die Allgemein¬ 
behandlung des Kranken, insbesondere 
die Excitation des Herzens, nicht ver¬ 
nachlässigt werden darf. 

Zum Schluß will ich Sie darauf auf¬ 
merksam machen, daß die Tierkohle als 
adsorbierendes Mittel noch weit ausge¬ 
dehnterer Anwendung fähig ist. Sie ver¬ 
mag auch die im Darmkanal gebildeten 
Gifte bei Speisevergiftungen (Fleisch, 
Fisch, Pilze usw.) sowie bei Enteritis, 
Ruhr und Cholera zu binden und ist 
deshalb neben der Abführtherapie ein 
unschätzbares Heilmittel bei akuten 
schweren Durchfallskrankheiten gewor¬ 
den. Um sich desselben mit Nützen zu 
bedienen, muß man freilich bedenken, 
daß es nur wirken kann, solange die 
Krankheitsgifte sich noch innerhalb des 
Darmrohrs befinden, ehe sie vom Körper 
aufgesaugt sind. Wirkliche Triumphe 
feiert die Kohletherapie nur im Früh¬ 
stadium, wenn mindestens 20—30 g 
'Kohle in den ersten Tagen der Infektion 
beziehungsweise Intoxikation zugeführt 
werden. Zur ursächlichen Frühbehand¬ 
lung aller Magen- und Darmvergiftungen, 
mag es sich um fertig zugeführte oder im 
Magendarmkanal entstandene Gifte han¬ 
deln, rate ich Ihnen, nach anfänglicher 
Anwendung von Laxantien von der 
Kohletherapie umfassenden Gebrauch zu 
machen. 


43* 



'340 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


. Ql^ober 


Aus der ü. medizinisclieu Klinik in Wien. 


über die diuretische Wirkung des Novasurols. 

Von Dr. V, Kollert) Assistenten der Klinik. 


Das Novasurol, ein durch seinen hohen 
Hg-Gehalt und seine rasche Ausscheidung 
charakterisiertes Präparat, wird in neu¬ 
ester Zeit vielfach bei der Behandlung 
der Lues verwendet. Nach Angabe der 
Erzeugungsfirma Bayer in Elberfeld han¬ 
delt es sich um eine Doppelverbindung 
des Oxymerkuri-o-chlorphenoxylessig- 
saurem Natrium mit Veronal, die 33,9 % 
Hg enthält^). Außer den im Handel vor- 
kommenden 10%igen Lösungen stand 
bei den vorliegenden Versuchen durch 
das Entgegenkommen der Firma. ein 
,,Novasurol fest“, ein weißes, amorphes, 
wasserlösliches Pulver zur Verftigung, 
das nach Angabe der Fabrik 33,21 % Hg 
enthielt. Das Mittel fällt nicht Eiweiß, 
gibt mit NaOH keine Verfärbung, bleibt 
mit Kalium hydroxyd und (NH^^gS un¬ 
verändert, schwärzt sich aber sofort beim 
.Aufkochen mit Ammoiiiumsulfid. 

Die ‘ vorliegende Abhandlung wurde 
durch die Beobachtung P. Saxls (1) an¬ 
geregt, daß nach Injektion des Mittels 
bei dekompensierten Aortikern starke 
Diuresen auftreten. Es sollte untersucht 
werden, auf welche Bestandteile des Prä¬ 
parats die harntreibende Wirkung be¬ 
ruhe, die Vorgänge bei der Diurese näher 
studiert werden und damit eine Abgren¬ 
zung des Mittels gegenüber ähnlichen 
Präparaten und eine scharfe Präzisie¬ 
rung seiner Indikationen und Kontra¬ 
indikationen gewonnen werden. 

Das Präparat wurde meist intramusku¬ 
lär, nur einige Male intravenös angewen¬ 
det. Die Injektionen waren schmerzlos, 
Muskelinfiltrate wurden nicht gesehen. 
Einige Male trat rasch eine Stomatitis 
mercurialis auf, die zur Aussetzung des 
Mittels zwang. 

Bei nicht ödematösen Kranken war* 
die diuretische Wirkung, wenn überhaupt 
vorhanden, gering. Auch von den Kran- 


h Die in der Literatur bei sämtlichen Autoren 
.CI 

sich findende Formel CcHg^O—CHgCOONa dürfte 
\Hg. C^HnOgNg 

auf einem Druckfehler beruhen. Wahrscheinlicher 
erscheint, daß die Doppelverbindung unter Wasser¬ 
abspaltung zustande kommt: 

/CI 

CcHg—0—CHgCOONa 

und demnach 1 C Atom mehr enthält. 


CO 


ken mit Ergüssen in den serösen Hüllen 
reagierten nicht alle mit Polyurie. Hier¬ 
her gehören anscheinend vor allem die 
entzündlichen Ergüsse, ähnlich wie dies 
vom Kalomel bekannt ist, das auf Exsu¬ 
date ohne Einfluß ist (siehe Fleckseder 
[2]); wenigstens gelang es mir nicht, bei 
Pleuritis exsudativa eine Diurese oder 
eine Abnahme der Ergußm'enge zu er¬ 
zielen. Weder Chlorausscheidung noch 
Refraktometerwerte des Serums ergaben 
einen Unterschied gegenüber den Kon- 
trolltagen. Es wurde daher weiterhin die 
Anwendung des Mittels auf Stauungs¬ 
ergüsse beschränkt. Bei den gut reagieren¬ 
den Kranken mußten ganz bestimmte 
Momente berücksichtigt werden, wollte 
man eine gute Wirkung erreichen. Zu¬ 
erst wurde das Mittel täglich gegeben; 
dabei stellten sich wohl keine erkenn¬ 
baren Schädigungen ein, aber die auf 
die ersten Injektionen auftretende. Poly¬ 
urie konnte schon nach wenigen Tagen 
nicht mehr erzielt werden. Es trat eine 
Erschöpfung der Wirksamkeit des Mittels, 
eine Nierenermüdung im Sinne der Auto¬ 
ren auf. Besser waren die diuretischen 
Erfolge, wenn das Mittel jeden zweiten 
Tag verwendet wurde, und endlich stellte 
sich bei den gut reagierenden Fällen 
als die günstigste Applikationsart, eine 
Injektion jeden vierten bis sechsten Tag 
heraus. Bei dieser Anwendungsform war 
die ■ Intoxikationsgefahr sehr gering und 
die Wirksamkeit des Präparats blieb 
lange erhalten. Die verabreichten Dosen 
schwankten zwischen 1 und 3,3 ccm; am 
häufigsten wurde der Inhalt einer Am¬ 
pulle, nämlich 2,2 ccm, gegeben. 

Die diuretische Wirkung beträgt bei 
oligurischen Kranken oft das Fünf- bis 
Siebenfache der sonstigen Tagesmenge, 
als höchstes Quantum wurden 3800 ccm 
in 24 Stunden gesehen. Die Harnflut 
setzte meistens eine halbe bis eineinhalb 
Stunden nach der Injektion langsam ein, 
steigt allmählich an und nimmt oft be¬ 
reits nach 12 Stunden wieder ab. Seltener 
ist eine vermehrte Diurese noch am fol¬ 
genden Tage. Ebenfalls zweimal wurde 
eine protahierte Wirkung mäßigen Grades 
durch mehrere Tage gesehen. Um die 
folgenden Ausführungen verständlich zu 
machen, ist es nötig, eine solche Kurve 
gemeinsam mit der NaCl-Ausscheidung 
vorzuführen. 



■ • ' ' • 

Oktober 


Die Tberalpie der Gegenwart 1920 


341 f 


Pat. H. (Cirrhosis luetica). 

a) Vortag: Diurese 475 ccm. Sp. G. 
1023. Sturidenmengen durchschnittlich 
20 ccm. NaCl-Ausscheidung bei mehr¬ 
fachen Bestimmungen und'gleicher Diät 
mie über 3 g in 24 Stunden ansteigend. 

b) Versuchstag: 9,-30 Minuten vor¬ 
mittags. 2,2 ccm Novasurol in'tramus-’ 
kulär. 


aber wie 0,17:1,27 oder wie 1:7V2. Diese 
starke Chlorausscheidung durch die Nieren 
durfte neben anderen Eigenschaften des 
Mittels, auf die noch zurückzpkommen 
sein wird, von Bedeutung sein, wenn wir 
die klinisch gefundene, relativ große 
Unschädlichkeit des Mittels erklären 
wollen. Nach Sabbatini (3) hemmen 
nämlich Halogenionen die Konzentration 


Zeit 

Qh 

I 



12h 

Ih 

2h 

3h 



6h 

7h 

nachts 

Harnmenge in 
ccm. 

48 

118 

335 

275 

400 

435 

475 

148 

140 

135 

110 

598 

Sp. G. 

1024 

1015 

1012 

1012 

1010 

1009 

1012 

1014 

,1015 j 

1015 

1017 

1016 

Chloride in % . 

0,8 

1,19 

0,96 

0,92 

0,94 

0,98 

0,98 

1,08 

1,05 

1,24 

1,2 

1,2 

Absolute ausge¬ 
schiedene Chlor- 
inenge in g . . 

0,38 

1,4 

3,2 

2,53 

3,76 

4,26 

4,66 

1,6 

1,47 

1,67 

1,32 

7,18 


, c) Nachtag: Diurese 350 ccm (durch¬ 
schnittliche Stundenmenge 14 ccm), Sp. 
G. 1020, Chloride 0,56 %=: 1,86 g in 
24 Stunden. 

Es stieg demnach bei diesem Versuche 
die Harnmenge von 475 ccm auf über 
• drei Liter, um schon am nächsten Tage 
wieder auf den bei diesem Kranken' ge¬ 
wöhnlichen Stand abzusinken. Während 
■ die NaCl-Ausscheidung an den Tagen vor 
dem Versuch 3 g in ,24 Stunden durch¬ 
schnittlich nicht überschritten hatte, stieg 
sie während der Diurese auf etwa 33 g 
an, um am nächsten Tage wieder unter 
2 g abzusinken. ‘Das Maximum der 
Wasser-, und Salzausscheidung erfolgte 
nach etwa fünf Stunden. Es mag hier 
betont werden, ' daß bei mehreren in¬ 
travenösen Verabreichungen des Mittels 
•der Höhepunkt der Diurese n etwa zur 
selben Zeit auftrat, als Beweis, wie rasch 
auch bei intramuskulärer Injektion die 
Resorption des Mittels erfolgt. 

Versagte bei einem Kranken die diu- 
retische Wirkung des Mittels, so blieb 
auch die vermehrte NaCl-Ausscheidung 
aus. Bei den positiv reagierenden Fällen 
ist manchmal der perzentuelle Anstieg 
der Chlorausscheidung im Harn noch auf¬ 
fälliger wie der Anstieg der Harnab¬ 
sonderung. So in folgendem Beispiel: 
8 Uhr vormittags,- Stundenharn 69 ccm 
mit 0,49 % = 0,34 g Chloriden, 8,30 Uhr 
Novasurol. 9 Uhr 145 ccm Harn mit 
0,99 % NaCl - 1,44 g. Unter der Vor¬ 
aussetzung, daß die Nieren in der halben 
Stunde vor der Injektion ebenso funktio¬ 
niert haben wie in der Stunde vorher, ver¬ 
hielten sich die Harnmengen in der halben 
Stunde vor und nach der Injektion wie 
35:110 oder wie 1:3, die Chloridmengen 


von Quecksilberionen durch Zurück¬ 
drängen der elektrolytischen Dissoziation. 
Die toxische Wirkung der Hg-Präparate 
soll eng an die Dissoziation des Mittels 
gebunden sein, in dem Sinne,’ daß bei 
gleichzeitigem Vorhandensein von 'Chlo¬ 
riden eine geringere Dissoziation und da¬ 
mit eine geringere Giftigkeit des Hg- 
Präparats vorhanden ist. ln diesem Sinne 
würde die mit Eintritt der Diurese (und 
der damit parallel gehenden Quecksilber¬ 
ausscheidung) auf tretende Kochsalzflut 
einen Schutzvorgang für die Niere dar¬ 
stellen. 

Wenn man bedenkt, daß bei der 
nekrotisierenden Sublimatnephrose Oli¬ 
gurie und verminderteChloridausscheidung 
—die z. B. in einem Falle von Volhard (4) 
bis 0,012 % herabging — auftritt, so 
ist es naheliegend, daß die nach Nova- 
surolinjektionen gefundenen Vorgänge im 
Harn sich zu den nach Sublimatvergif¬ 
tungen einstellenden Veränderungen wie 
Reizung und Lähmung verhalten. Ein 
ähnlicher Antagonismus zwischen beiden 
Zuständen kann auch hinsichtlich des 
Verhaltens der Chloride im Blut.gefunden 
werden. Für die schwere Quecksilber¬ 
vergiftung ist (zitiert nach Veil und 
Spiro [5]) eine Abnahme des Chlor¬ 
gehaltes charakteristisch. Während der 
Novasuroldiurese untersuchte ich den 
Chlorspiegel des Blutes nach der Mikro¬ 
methode von Bang. Trotzdem die Ver¬ 
suche wegen des nicht ganz scharfen 
Umschlages bei der Titration keineswegs 
völlig einwandfrei sind, kann doch ge¬ 
sagt werden, daß es sich in den ersten 
Stunden der Diurese um ein Ansteigen 
und nicht um ein Sinken der Chlorwerte 
handelte. 














342 


Die Therapie' der Gegenwart 1920 


Oktober 


Soll ein quecksilberhaltiges Mittel 
überhaupt als Diureticum in Betracht 
kommen, so rückt die Frage nach seiner 
relativen Schädlichkeit für den Gesamt¬ 
organismus unter den verschiedenen Hg- 
Präparaten in den Vordergrund. Nach 
den grundlegenden Untersuchungen von 
Müller, Schöller und Schrautti (6) 
hängt die Giftigkeit eines organisr'hen 
Quecksilberpräparats von seiner*Zersetz¬ 
lichkeit und seiner Ausscheidungsge¬ 
schwindigkeit ab. Es ist daher unsere 
Aufgabe, uns über diese beiden Eigen¬ 
schaften ein Urteil zu verschaffen. Hin¬ 
sichtlich der Zersetzlichkeit im Körper 
sind die organischen Hg-Präparate in 
relativ unschädliche Komplexe und be¬ 
deutend giftigere Halbkomplexe zu tren¬ 
nen, je nachdem beide oder nur eine Va¬ 
lenz des Hg an' einen Kohlenstoffkern ge¬ 
bunden ist. Nach dem bereits erwähnten 
Verhalten gegen Ammoniumsulfid in der 
Kälte ist das Novasurol unter die relativ 
unschädlichen komplexen Verbindungen 
einzureihen. Von einer Wirkung auf das 
Zentralnervensystem, wie sie als moleku¬ 
lare Wirkung einiger, wohl unzersetzlicher 
aber sich nur langsam ausscheidender 
organischer Hg-Präparate in der Literatur 
.beschrieben ist (Hepp [7]), konnte am 
Krankenbett nichts gesehen werden. 

Es ist nunmehr die zweite Kompo¬ 
nente, die Ausscheidungsgeschwindigkeit 
im Harn, zu besprechen. Die Unter¬ 
suchungen wurden nach der Methode von 
Almen (8) ausgeführt. Dabei ergab sich 
zunächst das verblüffende Resultat, daß 
sowohl bei intravenöser und intramusku¬ 
lärer Injektion — in letzterem Falle 
quantitativ anscheinend schwächer — 
das Mittel bereits nach zehn Minuten 
im Harn auftritt. Nur wenige Stunden 
ist das Mittel in gpoßer Menge im Harn 
zu finden, bald ist es bei der qualitativen 
Prüfung nach der genannten Methode, 
die bis zu 1:10 000 000 empfindlich ist, 
nur mehr in Spuren nachweisbar. Am 
folgenden Tag war der Nachweis mehrfach 
nicht mehr möglich. Es kann daher ge¬ 
sagt werden, daß im Wesen die Hg- und 
Wasserausscheidung bei diesem Mittel 
parallel gehen. Da nun Bürgi (9) — 
allerdings an schwer löslichen Hg-Salzen 
— das Gesetz aufgestellt hat, daß Polyurie 
und Hg-Ausscheidung sehr oft parallel 
gehen, daß die Urinausscheidung meist 
ein verkleinertes Bild der Hg-Kurve dar¬ 
stellt, scheint der Schluß gestattet zu 
sein, daß das wesentliche diuretische 
Prinzip an dem Mittel das Quecksilber 


ist. Betrachten wir nach dem Vorge¬ 
brachten also die Wertigkeit des Mittels 
nach den Kriterien von Müller, .Schöl¬ 
ler und Schrauth, so kommen wir zu 
dem Schluß, daß das Novasurol we^en 
seiner Komplexität und sehr auffallend 
raschen Ausscheidung vom experimen¬ 
tellen Standpunkt aus^ als ein für den 
Organismus relativ unschädliches Queck- 
s’ilberpräparat anzusehen ist. 

Schwierig zu beantworten aber ist 
die Frage, ob die ganze diuretische Wir¬ 
kung des Mittels auf das Hg zurückzu¬ 
führen jst. Gerade die ungemein rasche 
Ausscheidung des Quecksilbers würde 
diesen Gedanken nahelegen, da sie nach 
dem Vorgebrachten mit einer Harnflut 
einhergehen muß. Nach der Arbeit von 
Bürgi ist anzunehmen, daß nur jene Hg- 
Präparate nicht diuretisch wirken, welche 
langsam ausgeschieden werden. Gegen 
die alleinige Wirksamkeit des Hg auf die 
Diurese aber spricht in gewissem Sinne 
die Arbeit von Kleist (10) über ver¬ 
mehrte Diurese pach Anwendung kleiner 
Veronaldosen. Über die diuretische Wirk¬ 
samkeit der anderen Gruppen des Präpa¬ 
rats wage ich kein Urteil abzugeben. 

Soll die Einführung eines neuen Mit¬ 
tels zu einem bestimmten Zwecke be¬ 
gründet sein, so müssen gewisse Vorteile 
gegenüber ähnlichen, bisher zu dem glei- 
chen'Zwecke gebrauchten Präparaten vor¬ 
handen sein. Da seit Jendrässik (11) 
das Kalomel als das Diurese erzeugende 
Hg-Präparat kaE exochen gilt, ist ein 
Vergleich der beiden Mittel angezeigt. 
Vor allem ist dabei zu betonen, daß zur 
Erzielung einer Kalomeldiurese oft eine 
Verwendung des Mittels mehrere Tage 
hindurch nötig ist, während das Nova¬ 
surol rasch wirkt. Andererseits aber ist 
die Kalomelwirkung wohl meist viel 
intensiver, da die Diurese länger an¬ 
dauert. Während Kalomelkuren meistens 
nicht oft bei einem Kranken wiederholt 
werden können, ist die Anwendung des 
Novasurols zeitlich viel weniger be¬ 
schränkt. Fleckseder fand im Gegen¬ 
satz zur Bluteindickung bei der Koffein¬ 
diurese während jeder merkuriellen Diu¬ 
rese und speziell bei Kalomel eine ganz 
beträchtliche Hydraemie. Es wurden 

deshalb in einem Falle, der gut auf 
Novasurol reagierte, die Refraktometer¬ 
werte des Serums geprüft. 

Versuch vom 10. 4. Diurese vom 9: 4.. 
250 ccm. 10. 4. 8,15 Uhr U /2 Ampullen 
Novasurol intramuskulär. Diurese bis 

7 Uhr abends 3100 ccm. Beginn der 




X)kt6ber ' Die Therapie tfer Gegenwart-1920 343 


Diurese nach -1 Uhr, Ende^ der starken 
Harnflut nach M Uhr', mäßige Harn- 
vermehrüng noch am folgenden Tag. 
Durchschnittliche Stundendiurese am 
Vortag 10 ccm, maximale Stundendiurese 
am Versuchstag (fünf Stunden nach der 
Injektion) 475 ccm. fe - . 

Refraktometerwerte: 8 Uhr vormit¬ 
tags 53,55 = 6,887 % Eiweiß, 10,15 Uhr 
vormittags 55,45’= 8,172 % Eiweiß, 
•5 Uhr nachmittags 55,1 = 7,221 % Ei¬ 
weiß. 

Es konnte demnach in diesem Falle 
zu den untersuchten Zeiten keine Ab¬ 
nahme des Bluteiweißes, welche auf eine 
Hydraemie schließen hätte lassen, ge¬ 
funden werden. Ein zweiter Fall, der 
wie der vorhergehende an einer Leber¬ 
zirrhose litt und auf Novasurol keine 
Diurese bekam, hatte nach der Novasurol- 
injektion die gleichen Refraktometer¬ 
werte wie an einem Kontrolltag. 

Von praktischer Bedeutung dürfte der 
Unterschied des Verhaltens der Kalomel- 
und Novasuroleinwirkung auf die Nieren 
sein. Für das Kalomel gelten in der 
Literatur die mit renalen Hydropsien 
einhergehenden Nephropathien als Kon¬ 
traindikationen. Ich habe deshalb ur¬ 
sprünglich selbst bei Zeichen einer ganz 
leichten Nierenschädigung die Novasurol- 
anwendung nicht für angezeigt gehal¬ 
ten., bin aber schließlich von dieser stren¬ 
gen Fassung abgekommen: Allerdings 
erregt es von vornherein Bedenken, ein 
Hg-Präparat bei einem Nierenkranken 
anzLiwenden, wenn man überlegt, daß 
die gefährlichste schädigende Wirkung 
des Quecksilbers die Nierenfunktion be¬ 
trifft. In zwei Fällen mit Pfortader¬ 
stauung und gleichzeitiger Nierenschädi¬ 
gung — vorwiegend ein herdförmiger 
degenerativer Prozeß in den Tubulis trat 
auf das Novasurol keine vermehrte Diu¬ 
rese auf. Diese Versager wurden in dem 
Sinne gedeutet, daß das Hg durch die 
erkrankten Tubuli erschwert ausgeschie¬ 
den wurde. Dies würde dafür sprechen, 
daß das Mittel bei Nephropathien, die 
mit nephrotischen Symptomen einher¬ 
gehen, nicht indiziert ist. • Eigene Er¬ 
fahrungen über diesen Punkt konnte ich 
allerdings nicht sammeln. Bei leichten 
Albuminurien, wahrscheinlich toxischen 
Charakters ohne sonstige Zeichen einer 
diffusen Nephritis, trat zweimal ein Ab¬ 
sinken der Albuminurie auf Novasurol- 
injektionen ein, ohne daß Haematurie, 
ein positiver Sedimentbefund oder eine 
Veränderung des Allgemeinzustandes 


einen Anhaltspunkt für eine Nierenschädi- 
güng durch die Injektion geboten hätte. 
Der eine dieser Fälle hatte auf Kolomel 
mit einer vermehrten Albuminurie (ohne 
stärkere Diurese) reagiert. Die Beob¬ 
achtung, daß der Eiweißgehält des Harnes 
auf Novasurolinjektionen. abnimmt, 
wurde bereits von Zieler' (12), der das 
Mittel in die Therapie einführte, gemacht:* 
Ich möchte meine Ansicht über das Ka¬ 
pitel Novasurol und Nierenschädigung 
folgendermaßen präzisieren: Wenn ich 
auch- bislang eine sichere Nierenschädi¬ 
gung nicht gesehen habe, so erregt doch 
der hohe Quecksilbergehalt des Mittels 
Bedenken, das’ Präparat ohne alle Ein¬ 
schränkung als Diuretikum zu empfehlen; 
Es erscheint als ein Gebot der Vorsicht 
bei einem hydropischen Kranken zuerst 
jene harntreiberyien Mittel zu versuchen, 
die eine langdauernde Erfahrung als 
schädlich erwiesen hat. Erzielt man auf 
diese Weise aber keinen Erfolg;, so wird 
man die theoretischen Bedenken, die 
gegen das Mittel wegen seines hohen 
Metallgehalts vorliegen, hintansetzen 
können, um so mehr, als nach den bis¬ 
herigen Erfahrungen die schädigende Wir¬ 
kung des Präparats nicht häufig einzu¬ 
treten scheint. Andererseits ist der Er¬ 
folg ein sehr zufriedenstellender. 

Wegen der eben erörterten Frage der 
Schädigung der Hiere durch Noväsurol- 
anwendung sind endlich die mikroskopi¬ 
schen Befunde zweier Nieren bemerkens¬ 
wert, die von Fällen stammen, die intra 
vitam Injektionen mit dem Mittel be¬ 
kommen hatten. Der eine Kranke, 
G. C. Cirrhoris hepatis carcinomatosa 
in individuo luetico) hatte kurz vor seinem 
Tode zwei Novasurolinjektionen erhalten. 
Die erste war wirkungslos geblieben, auf 
die zweite war eine mäßige Oligurie .ein¬ 
getreten. Mikroskopisch waren die 
Epithelien der Mehrzahl *der Tubuli nor¬ 
mal, ein geringer Teil zeigte trübe Schwel¬ 
lung. Die Glonieruli waren in der über¬ 
wiegenden Mehrzahl intakt, hie und da 
war eine leichte Exsudation in die Bow- 
mannschen Kapseln zu finden. Da nach 
den histochemischen Untersuchungen von 
Almkvist (13) das Quecksilber durch 
die Tubuli ausgeschieden wird, sind Ver¬ 
änderungen an den Glomerulis wohl 
nicht in Zusammenhang mit dem Mittel 
zu bringen. Ob die tubulären Zellver¬ 
änderungen mit dem Novasurol in Zu¬ 
sammenhang gebracht werden können, 
ist schwierig zu beantworten. Bedenkt 
man aber, daß es sich um einen schweren 



344' • Di^ trhetanljB ^(^genyajrji iS30 r / _ Qlj^0^r 


Pöfator gehandelt hätte, daß-der Kranke 
Luäs mitgemaGht hatte und in einer langen 
Agonie gelegen war, so findet man so viele 
Möglichkeiten, auf die die relativ geringen 
Veränderungen bezogen werden können, 
daß die Schädigung durch das Novasurol 
in diesem' Falle nicht sehr hoch angesetzt 
werden kann. Ähnliche Veräilderungen, 
aber ohne Glomerulusschädigungen, wur¬ 
den auch in einem zweiten Falle gesehen, 

Bei der öbigen Besprechung des Falles 
G. wurde erwähnt, daß nach der zweiten 
Injektion eine .mäßige Oligurie gesehen 
wurde. Auch in einem zweiten Falle 
wurde die gleiche Beobachtung gemacht. 
Diese beiden Fälle sind die einzigen Be¬ 
obachtungen, die darauf schließen lassen, 
daß das Novasurol unter Umständen 
auch schädigend auf die Niere einwirken 
kann, obwohl wir uns yi diesen beiden 
Fällen nicht einwandfrei davon über¬ 
zeugen konnten. 

. Bei Kalomel sind bekanntlich Diar¬ 
rhöe und Diurese vikariierend. Starke 
Diarrhöen sah ich auf Novasurol nie, 
wohl aber, einige Male ganz mäßige Darm¬ 
reaktionen. In diesen Fällen war-die 
diuretische Wirkung etwas geringer als 
sonst. 

Bemerkenswert erscheint schließlich, 
daß zweimal bei einem Patienten mit 
Lebercirrhose, dessen Ascites von Zeit 
zu Zeit punktiert werden mußte, die 
Punktionsstelle nach einer Novasurolin- 
jektion auf der Höhe der Diurese zu fließen 
begann, nachdem sie vorher schon einige 
Tage lang nicht mehr sezerniert hatte. 
Kürzlich wurde der gleiche Befund bei 
einem zweiten Kranken erhoben. Hier 
war die Punktionsöffnung am Abdomen 
schon vier Tage geschlossen gewesen, 
die Sekretion begann auf der Höhe der 
Diurese und hielt noch einen Tag länger 
an, als die vermehrte Harnabsonderung. 
Von anderen Herren unserer Klinik wer¬ 
den noch zwei analoge Fälle beobachtet. 
Es ist daher der Gedanke naheliegend, 
bei Hautskarifikation zur Entlastung von 
ödematös geschwellter Haut gleichzeitig 
dem Kranken eine Novasurolinjektion 


zu gebeui da vielleicht auf diese Weis«“ 
sich .(Ter Erfolg der Skarifikatmn verviel-^ 
faltigen läßt, Diese Beobachtungetfe 
dürften sich in dem Sinne deuten lassen, 
daß die Resorption einer Ascites unter 
der Novasuroleinwirkung mindestens teil¬ 
weise auf dem Wege der erweiterten. 
Lymphbahnen zustande kommt. Es ist 
ja bekannt, wie eng verbunden oft dime^ 
trische und lymphagoge Wirkung eines 
Mittels sind. Es ist anzunehmen, daß 
die resorptionsbefördernde Fähigkeit des 
Novasurols auf Ergüsse in serösen Höhlen 
dann versagt, wenn sich dem Abfluß 
auf dem Lymphwege Hindernisse ent¬ 
gegenstellen, z. B. als Folge eines vor¬ 
angegangenen Entzündungsprozesses der 
serösen Haut. 

Zusammenfassend läßt sich sagen:: 
Die diuretische Wirkung des Novasurols. 
dürfte größtenteils auf seiner Queck¬ 
silberkomponente beruhem Da es eia 
komplexes Präparat ist, das sehr rasch 
ausgeschieden wird und die Ausscheidung: 
zugleich mit einer vermehrten Chloraus¬ 
schwemmung einhergeht, ist es als eiU' 
relativ unschädliches Quecksilberpräparat 
zu betrachten. Die diuretische Wirkung: 
setzt rasch ein, hört aber bald wieder auf. 
Schädigungen schwereren Grades wurdea 
bislang nicht gesehen. Trotzdem soll 
das Mittel wegen seines hohen Metall¬ 
gehaltes nur dort gegeben werden,, wo- 
die anderen Diuretica versagt haben. 
Die beste diuretische Wirkung scheint 
dann aufzutreten, wenn zwischen zwei. 
Injektionen eine Pause von etwa vier 
Tagen eingeschaltet wird. 

Literatur: 1. P. Laxl (W. kl. W. 1920,. 
S. 179). — 2. Fleckseder (W. kl. W. 1911, Nr 41 
und Arch. f. exper. Path. u. Pharm., Bd. 67). — 

3. Sabbotini (Biochem. Zschr, Bd. 7, S. 22). — 

4. Volhard (Doppelseitige haemotogene Niereii- 
erkrankungen, 1918). — 5. Veil und Spiro (M. m. 
W. 1918, Bd. 41). — 6. Müller, Schöller und 
Schrauth (Biochem. Z., Bd. 33). — 7. Hepp' 
(Arch. f. exper Path. u. Pharm. 1878, Bd. 9). — 
8.Alm6n nach Malys Tierchemie 1886. — 9. Bürgi 
(Arch. f. Derm. 1906, Bd. 79). — 10. Kleist (Ther.. 
d. Gegenw. 1904). — 11. Jendionik (D. Arch,. 
f. klin. Med. 1886, Bd. 38). — 12. Zieler (M. m. W. 
1917). — 13. Almkvist (Zschr. f. exper. Path. u.. 
Pharm., Bd. 82). 


über die Ausscheidung der Kieselsäure durch den Harn 
nach Eingabe verschiedener Kieselsäurepräparate. 


Von Dr. phil. F. Zuckmayer, Hannover. 


Durch die Arbeiten von Kobert und 
seinen Mitarbeitern sowie von Schulz 
und anderen ist die Bedeutung der Kiesel¬ 
säure für unseren Mineralstoffwechsel 
nachgewiesen, ihr weitverbreitetes Vor¬ 


kommen in allen Teilen des KörperSv 
— teilweise in bedeutender Menge — 
festgestellt und ihre Ausscheidungsver¬ 
hältnisse klargelegt worden. Die Aus¬ 
scheidung der Kieselsäure durch die. 




- r - ‘ 


QktoBer Die Therapie der Gegeniwart 1920 ' 345 

“= * - - — -—— - v ' ■ ■ ’ 


Dickdarmschkimhaut ist von Kobert^) 
ei nwan dfrei b ewi es en; G o n n e r m a n n s 7 
Analysen der Mucosa und der Sub- 
mücosa des Menschendarmes bestätigen 
dies. Daß durch die Nieren Kiesel¬ 
säure ausgescheiden wird, ist bekannt; 
Schulz^) gibt als Durchschnittszahl für 
den gesunden, tuberkulosefreien Menschen 
(vier Versuche) 0,1 g SiOg in der Tages¬ 
menge Harn an, Salkowsky*^) die gleiche 
Menge und Kelle®) fand 0,0076 bis0,015g 
SiOg pro Tagesmenge bei Tuberkulosen. 

Über die Resorption von Kieselsäure 
und das Verhältnis, in welchem sie durch 
Darm und Niere ausgeschieden wird, ist 
nichts bekannt; ebensowenig über die 
Höhe der Retention derselben im Orga¬ 
nismus. Die Resorption der SiOg an 
Menschen festzustellen, ist unmöglich, 
da die nichtresorbierte und die resorbierte 
in den Dickdarm abgeschiedene Kiesel¬ 
säure zusammen im Kote ausgeschieden 
werden. Einen Anhaltspunkt gewinnen 
wir aber durch die SiOg-Bestimmung im 
Harn nach Kieselsäurezulagen zu der üb¬ 
lichen, Nahrung und erhalten stark von¬ 
einander abweichende Resultate, je nach 
der Beschaffenheit der angewandten 
Kieselsäure. 

Die so erhaltenen Werte können aller¬ 
dings nur zum Vergleich untereinander 
benutzt werden, unter Berücksichtigung 
der Kieselsäureausscheidungen durch den 
Harn in der Zeit vor Verabreichung von 
SiOg-Zulagen. 

Das Interesse, welches neuerdings der 
Kieselsäuretherapie besonders bei Lungen¬ 
tuberkulose infolge der Versuche Kob er ts 
und Mitarbeiter entgegengebracht wird, 
veranlaßte die Untersuchung der SiO/o- 
Ausscheidung im Harn nach Eingabe 
von Kieselsäure in Form .verschiedener 
Präparate. 

Zum Vergleiche wurden 1.- der von 
Kob ert^) und Kühn^) angewandte 
Kieselsäuretee aus Herba Equiseti, Ga- 
leopsidis und Polygoni, 2. frisch bereitete 
kolloidale'Kieselsäurelösung, 3. kolloidales, 
Kieselsäure-Amylodextrin, 4. kolloidales 
Kieselsäure-Eiweiß, 5. kolloidales Kiesel- 
säure-Kasein-Metaphosphat herangezogen 


Robert u. Koch, Einiges über die Funk¬ 
tion des menschlichen Dickdarms, D. m. W. 1894, 
Nr. 47. 

2) Gonnermann, Tuberkiilosis 1917, Nr. 11. 

3) Nach Kühn, Ther. Mh. 1919, H. 6. 
Salkowsky,'H. S., Zschr. f. phys. Chem. 

83, S. 143—152, 1913. 

•^) Tuberkulosis 1917, H. 10 11 . 11." 

«) Ther. Mh. 1919, H. 6 u. M. m. W. 1918, 
H. 52. 


Es wurden also bei 1 und 2 gelöste Kiesel¬ 
säure, bei 3 und 4 und 5 feste kolloidale, 
an Amylodextrin beziehungsweise Eiweiß 
- gebundene Kieselsäure benutzt. 

Der Vergleich, der Harn-Kieselsäure¬ 
mengen nach Verabreichung der genannten 
SiOg-Zubereitungen soll zeigen, ob ein 
Unterschied derselben bezüglich der Aus¬ 
scheidung durch den Harn vorhanden ist. 

Er soll ferner zeigen, ob an Stelle des 
in seinem Gehalt an SiOg stark schwan¬ 
kenden Kieselsäuretees ein anderes festes. 
Präparat von gleich guter Resorption 
treten kann mit fest normiertem SiOg- 
Gehalt, welcher zugleich die umständr 
liehe tägliche Teezubereitung unnötig 
machen würde. Die Teeaufgüsse schwan¬ 
ken in ihrem SiOg-'Gehalt je nach Her¬ 
kunft, Standort und Sammelzeit der am 
gewandten Kräuter und je nach der 
Härte des benutzten Wassers sowie je 
nach der Bereitungsweise des Tees derart, 
daß in einem Liter desselben teils wenige 
Milligramme SiOg, teils bis zu 280 mg 
gefunden’) wurden. 

Zur Untersuchung wurde verschiedenen Per¬ 
sonen die zu prüfende SiOa-Zubereitung in einer 
Menge von 0,3 g SiOg auf einmal verabreicht und 
der Harn während des darauffolgenden Tages 
oder ,während mehrerer Tage gesammelt. • Bei 
allen Versuchen wurde auch an dem Tage vor 
dem Versuche der gesammelte Harn analysiert 
und diese Harnwerte als ngrmale Ausscheidung 
für die Versuchszeit zugrunde gelegt. Da wir in 
unserem Harn nicht unwesentliche Mengen SiOg, 
auch ohne Eingabe eines SiOg-Präparates, aus- 
scheiden, die offenbar aus unserer Nahrung 
stammen, und diese Kieselsäuremengen bei der 
gleichen Person innerhalb der kurzen Versuchs¬ 
zeit, wie wiederholte Bestimmungen in dem Harne 
vom Tage vor und nach dem Versuche ergeben 
haben, nur.wenig schwanken,- mußte diese aus 
der' Nahrung stammende Ausscheidung zur Er¬ 
mittelung der aus der Eingabe stammenden SiOg' 
mit in Rechnung gesetzt werden. Dies geschah 
in der Weise, daß der SiOg-Wert des Harns vom 
Tage vor dem Versuch auf die Harnmenge des 
Versuchstages umgerechnet und dann von der 
am Versuchstage'ausgeschiedenen SiOg-Menge ab¬ 
gezogen wurde. 

Diese Art der Berechnung wählte ich, anstatt 
das Mittel aus der SiOg-Ausscheidung'der Vor- 
und Nachperiode als Nahrungskieselsäure anzu¬ 
nehmen, weil ich so die größere Harnmenge des 
Versuchtages, die sich in den meisten Fällen 
ergab, berücksichtigen konnte. Ich vermied da¬ 
durch SiOg als aus dem Präparat stammend an¬ 
zunehmen, die vielleicht aus der Nahrung her¬ 
rührte. Dieses Vorgehen erscheint um so berech¬ 
tigter, als ohne SiOg-Zulagen bei größeren Harn¬ 
mengen meist auch größere SiOg-Mengen aus¬ 
geschieden werden. Wenn auch diese Berechnung 
nicht unbedingt richtig ist, so ergibt sie doch ein 
zum Vergleiche geeignetes Bild, das besonders 
übersichtlich in den Prozenten der Einnahme zum 
Ausdrucke kommt. In den Tabellen sind die 
auf diese Weise berechneten Zahlen sowohl in 

7) Kühn, Ther. Mh. 1919, H. 6. 

44 



346 


"^Die Therapie der Gegenwärt 1920 


Oktober 


Gramm SiOg, als auch in Prozenten der Einnahme 
angegeben. 

Um die individuellen Verschiedenheiten der 
SiOg-Ausscheidung durch den Harn auszuschließen, 
wurden auch bei den gleichen Personen die ver¬ 
schiedenen Präparate verabreicht. Außerdem 
wurden bei einigen Versuchen zugleich mit der 
Kieselsäure Kalkzulagen gegeben. 

Zur Analyse wurden je 300 bis 500 ccm 
Harn angewandt. Der Harn wurde in einer 
Platinschale verkohlt, die Kohle mit Soda und 
Salpeter verbrannt, die Schmelze gelöst, mit 
verdünnter Salzsäure zur staubigen Trockne ver¬ 
dampft und darauf noch zweimal mit Salzsäure 
.abgeraucht. 'Nun wurde mit Wasser und Salz¬ 
säure aufgenommen, die- SiOg abfiltriert,^ aus¬ 
gewaschen und nach dem Veraschen des Filters 
gewogen. Die Asche wurde zweimal mit Flu߬ 
säure abgeraucht, der geringe Rückstand ermittelt 
und von der gewogenen Kieselsäure in Abzug 
gebracht. Die Analysen zeigten gute Überein¬ 
stimmung. 

Um die Ausscheidung der SiOg im Harn bei der 
heutigen Ernährung festzulegen, wurden die Misch- 
'harne eines Tages von fünf verschiedenen Personen 
untersucht. Es ergaben dieselben Werte von 
0,0184 g bis 0,0253 g SiOg pro Liter Harn und 
zwar bei: Person I 0,0184 g SiOg, bei Person II 
0,0203 g SiOg, bei Person III 0,0253 g SiOg, bei 
Person IV 0,0180 g SiOg, und bei Person V 
0,0190 g SiOg im Liter, d. i. eine Tagesmenge von 
etwa 0,03 bis 0,06 g SiOg. Schulz sowohl, wie 
Salkowsky geben als Tagesausscheidung 0,1 g 
SiOg an. Solch hohe Werte sind bei den vor¬ 
liegenden Untersuchungen nie gefunden worden, 
sondern als Maximum 0,0630 g, als Minimum 
0,0153 g SiOg pro Tag beziehungsweise 0,0280 g 
und 0,0086 g SiOg pro Liter Harn. Die starken 
Schwankungen sind wahrscheinlich durch die 
Nahrung bedingt. 

Bei den Versuchen 1 bis 4 Tabelle I 
wurde ein Aufguß von kieselsäurehaltigen 
Kräutern verabreicht. Der von Kob ert 
und Kühn in die Heilkunde eingeführte 
Kieselsäuretee aus Herba Equiseti, Poly¬ 
gon! und Galeopsidis ergab nach Vor- 
schrift^) hergestellt einen SiOg-Gehalt von 
0,0489%. An den Versuchstagen wurden 
410 ccm des Aufgusses = 0,2 g SiOg ver¬ 
abreicht. Tabelle I gibt die gefundenen 
Werte an. 


und zwar wurden von Person I 38,4% 
der Einnahme, von Person II 39,1% aus¬ 
geschieden. I schied am Tage vor dem 
Wsuche 0,0147 g SiOg aus, die wohl aus 
der Nahrung stammt. Am Tage des Ver¬ 
suches mußte doch auch eine Ausschei¬ 
dung von Nahrungskieselsäure im Harn 
erfolgen; diese Menge, aus dem SIO 2 ’ 
Gehalt des Harns vom Vortage unter 
Zugrundelegung der Harnmenge des Ver- 
^suchstages zu berechnen, dürfte, wie oben 
erwähnt, einigermaßen der Wirklichkeit 
entsprechen. Der Abzug der auf diese 
Weise berechneten SiOg-Menge, als eine 
nicht der SiOg-Eingabe entstammende 
Ausscheidung erscheint um so mehr an¬ 
gebracht, als am Tage nach dem Ver¬ 
such eine nahezu gleiche Menge SiOg 
— bezogen auf die Harnmenge — aus¬ 
geschieden wurde, und als auch ohne 
SiOg-Eingabe bei größeren Harnmengen 
meist eine höhere SiOg-Ausscheidung ge¬ 
funden wurde. Da die Gleichmäßigkeit 
des Kieselsäuregehaltes des Harns in 
einer Anzahl von. Fällen bei der gleichen 
Person innerhalb der kurzen Versuchs¬ 
zeit festgestellt wurde, glaube ich mich 
berechtigt, diese Art der Berechnung 
allgemein durchzuführen, zumal der Zweck 
der Untersuchung in einem Vergleiche 
der Ergebnisse liegt. 

Die Personen I und 11 schieden im 
Versuch 1 und 2 innerhalb 24 Stunden 
nahezu gleiche Mengen SiOg in der , er¬ 
wähnten Weise als Prozente der Einnahme 
berechnet 38,7 beziehungsweise 39,1% 
aus. Am Tage darauf erhielt Person II 
Versuch 3 außer 0,2 g SiOg noch 0,2 g CaO 
in Form von Tricalcol (kolloidales Tri- 
calcium - Phosphat- Eiweiß). Die Aus¬ 
scheidung fiel darauf auf etwa zwei Drittel 
des Wertes ohne Kalkzulagc, beziehungs¬ 
weise auf 21,6% der Einnahme. Am 


Tabelle I. Kieselsäuretee. 


Vers. 

Per¬ 

Eingabe 


Harn 

Harn 

Harn 

Ausgeschiedene SiOg 
nach Abzug des am Vortage 
festgestellten SiOg-Gehaltes 

son 

am Vortage 

am 

1 . Tage 

am 2. Tage 


aes tiarns 

Summe 
in 0/0 der 
Eingabe 

Nr. 

Nr. 

g 

ccm 

1 . g SiO, 

ccm ] 

g SiOo 

ccm 

g SiO„ 

l.Tag 

g SiOa 

2. Tag 

g SiOa 

1 

I 

0,2 SiOo 

1300^ 

0,0147 

1760 

0,0973 

1650 

0,0176 

0,0774 

-0,0011 

38,7 

2 

II 

0,2 SiOa 

2200 ! 

0,0220 

2500 

0,1033 

— 

— 

0,0783 

39,1 

. 3 

II 

/0,2 SiOo 
\0,2 CaO“ 

2200 

0,0220 

2600 

0,0693 

_ 

— 

0,0433 

— 

21,6 

4 

II 

0,2 CaO 

2200 

0,0220 

2100 

0,0189 

2300 

0,0240 . 

-0,0021 

0,0010 

■ 0 


Die Zahlen der Tabelle I zeigen, daß 
die Ausscheidung der SiOg, die als Kiesel¬ 
säuretee =: 0,2 g SiOg eingegeben wurde, 
im Harn innerhalb 24 Stunden erfolgt 
8) Th’er. Mh. 1919, H. 6, S. 207. 


nächsten Tage wurde keine SiOg, sondern 
nur 0,2 g CaO als Tricalcol verabreicht 
(Versuch 4) und fiel dabei der Wert noch 
unter den Wert am Tage vor dem Ver¬ 
such, um tags darauf ohne Eingabe 





' ^ \ . Die Therapie der Gegenwart 1920 ; 347 


wieder nahezu auf den Wert am Vortage 
/-des Versu'chs^ zu steigen. Der Einfluß 
•der Kalkgabe auf die giOg-Ausscheiduhg 
ist auffällig; dieses Absinken der Menge 
der Harnkieselsäure infolge einer Kalk- 
gaße findet sich auch bei späteren Ver- 
' suchen. 


CaO nicht so stark zum Ausdruck wie bei 
Versuch 3 der Tabelle' I. 

Die Ursache der größeren Ausschei¬ 
dung der SiOa im Harn bei Verabreichung 
frischer kolloidaler SiOg-Lösung läßt sich 
vielleicht durch die geringere Teilchen¬ 
größe des Kolloids erklären. 


Tabelle II. Kolloidale SiOg-Lösung. 





' 

■■ 

Harn 




Vers. 

Per- 

Eingabe 

Harn 

‘ Harn 


son 

-am Vortage 

am 

1. Tagg 

am 2. Tage 

' 

aes i-iarns 










l.Tag 

2. Tag 

Summe 
in Vo der 

Nr. 

Nr. 

g 

ccm 

g SiO^ 

ccm 

g SiO„ 

ccm ‘ 

g SiOa 

g SiO^ 

g SiOa 

Eingabe 

5 

II 

0,2 SiOa 

2800 

0,0467 

2410 

0,1681 

2100 

0,0392 

0,1193 

-0,0034 

59,6 

6 

I 

0,2 SiOg 

1300 

0,0347 

1950 

0,1872 

1250 

0,0375 

0,1352 

0,0042 

.69,7 

7 

II 

/0,2 SiOa 
\0,2 CaO 

2100. 

0,0390 

2300 

0,1460 

2450 

0,0380 

0,1033 

-0,0065 

51,6 


Bei den Versuchen 5 bis 7 Tabelle II 
wurde eine frisch hergestellte kolloidale 
Kieselsäurelösung aus kristallisiertem Na¬ 
triumsilicat. und Salzsäure bereitet, als 
Lösung == 0,2 g SiOa verab¬ 
reicht. 

Die Person II Versuch 5 schied am 


Tabelle III. SiO.,-Aiiiylodextrin. 





1 

1 

1 ■ 

■ 1 

r 


1 

1 

Ausgeschiedene SiOa nach Abzug 

Vers. 

Per- 

Eingabe 

Harn 

Harn 

Harn 

Harn 

des am Vortage festgestellten 
SiOa-Gehaltes des Harns 


son 

am Vortage 

am 1 

. Tage 

am 2. Tage 

am 3. Tage 




Summe 












l.Tag 

2. Tag 

3. Tag 

in ®/d 

Nr. 

Nr. 

g 

ccm 1 

gSiOa 

ccm ! 

g SiOa 

ccm 

g SiO^ 

ccm 

1 g SiO, 

g SiOa 

g SiOa 

g SiOa 

der Ein¬ 
gabe 

8 

I 

0,2 SiO, 

1700 

0,0323 

1850 

0,0468 

1300 

0,0433 



0,0117 

0,0186 

_ 

15,1 

9 

II 

0,2 SiOg 

1900 

0,0355 

1900 

0,0570 

2000 

0,0493 

— 

— 

0,0215 

0;0119 

— 

16,6 

10' 

IV 

0,2 SiOg 

1400 

0,0252 

1500 

0,0550 

1450 

0,0589 

1200 

0,0340 

0,0280 

0,0328 

0,0124 

36,6 


Die Tabelle III zeigt die Ausscheidung 
der SiOg im Harn nach Eingabe von 
fester kolloidaler SiOg, die mit Amylo¬ 
dextrin als Schutzkolloid hergestellt 
wurde. Die Substanz enthielt etwa 10% ' 
SiOo; die verabreichte Menge entsprach 
0,2 g SiO.. 


Versuchstage 0,1681 g SiOg im Harn a.us, 
nach Abzug der aus dem Vortage be¬ 
rechneten Si02 ergab sich eine Ausschei- 
•dung von 59,6% der Einnahme. I schied 
in Versuch 6 am Versuchstage nach Ab¬ 
zug des ungerechneten SiOg-Wertes des 
Vortages 0,1352 g SiOg. aus, am Tage 
darauf 0,0042 g, das heißt also 67,6% 
■der Einnahme an SiOg am Versuchstage. 
Am Vortage schied Person I 0,0347 g, 
also nur etw^as weniger als am zweiten 
Versuchstage aus; auch hier findet sich 
die Übereinstimmung der SiOa-Werte vor 
und nach dem Versuch. 

Die Ausscheidung der frisch be¬ 
reiteten, kolloidalen SiOg-Lösung erfolgt 
in 24 Stunden und zwar in wesentlich 
höherem Grade, (zwischen 60 bis 70% der 
SiOg-Eingabe,) als nach Darreichung des 
Kieselsäuretees in Tabelle 1. Die gleich¬ 
zeitige Verabreichung von CaClg = 0,2 g 
CaO in Versuch 7 ergibt etwas geringere 
Ausscheidungswerte = 51,6% der Ein¬ 
nahme. Hier kommt die Wirkung des 


Tabelle III zeigt, daß die SiOg-Aus- 
scheidung bei Verwendung des festen 
kolloidalen SiOg-Amylodextrins sich über 
mehrere Tage hinzieht.* Die Ausscheidung 
der SiOg am ersten Tage der Einnahme 
ist geringer, als bei den Versuchen mit 
kolloidaler SiOg-Lösung und Kieselsäure¬ 
tee nach Tabelle II und I. Nach Ver¬ 
such 10, Person IV erscheint jedoch die 
Ausscheidung innerhalb von drei Tagen 
nahezu die gleiche zu sein wie bei Ver¬ 
abreichung von Kieselsäuretee. Die 
hohen Ausscheidungswerte bei Darrei¬ 
chung kolloidaler SiOg-Lösung (Tabelle I) 
werden hier nicht erreicht. 

Die gefundenen Werte zeigen, daß die 
Ausscheidung der SiOg und vielleicht 
auch die Resorption derselben eine lang¬ 
samere ist. In Versuch 10 zeigt Person IV 
höhere Ausscheidungswerte = 36,6% der 
Eingabe als die Personen I in Versuch 8 
= 15,1% der Eingabe und II in Versuch 9 
= 16,6% der Eingabe, wobei allerdings 
hervorgehoben werden muß, daß bei Ver- 

44* 

















348 _ j 1 _ ' Die Iftierapie der GegeiiwM / ‘ ^ 


such 8 und 9 der Harn des dritten Ver-, 
suchstages nicht untersucht wurde. 

Das wesentliche ufid bei den drei Ver¬ 
suchspersonen vorhandene Merkmal für 
das Verhalten des SiOg-Amylodextrin im 
Körper, ist die verlangsamte, sich über 
zwei bis drei Tage erstreckende Aus¬ 
scheidung der SiOg durch den Harn. 

Zur weiteren Aufklärung des Ver¬ 
haltens kolloidaler SiOg in fester Form 
wurde Kieselsäure-Casein mit ca. 10% 
SiOg-Gehalt zu den in Tabelle IV auf¬ 
geführten Versuchen benutzt. Das Kiesel¬ 
säure-Casein wurde aus gereinigtem kalk¬ 
freien Casein hergestellt; es löste sich 
in 0,5%iger Sodalösung vollständig mit 
geringer Opalescenz. Bei künstlicher Ver¬ 
dauung mit Pepsinsalzsäure geht das 
Präparat teilweise in Lösung; nach der 
Verdauung ist durch Zusatz von Soda- 
lösung bis zur Konzentration von 0,5% 
der ungelöste Niederschlag bei Körper¬ 
temperatur nicht mehr löslich. Während 
bei künstlicher Verdauung offenbar ein 
^chwerlösliches Produkt entsteht, scheint 
im Organismus das Präparat keine der¬ 
artige Zersetzung zu erfahren, sondern 
nach den Werten der Tabelle IV gut 
resorbiert zu werden. 


niedriger als diejenigen nach kollpi- 
daler SiOg-Lösuhg. Der Unterschied 
gegenüber dem SiOg-Amylodextrin (Ta¬ 
belle 111) zeigt sich darin, daß bei letzterem 
die Ausscheidung verzögert ist, während 
sie beim Kieselsäure-Casein innerhalb 
24 Stunden abläuft. Versuch 13 (Per¬ 
son III) zeigt im Vergleich mit dem 
anderen Versuchen dieser Reihe einen 
wesentlich niedrigeren Wert 15,2% der 
Eingabe, gegen 27,5% bei Versuch 11 
und 25% der Eingabe bei Versuch 12, 
ohne daß dafür eine Ursache angegeben 
werden kann. Bei den Versuchen 14 
(Person III), 15 (Person II) und 16 (Per¬ 
son I) wurde gleichzeitig mit der SiOg., 
eine Kafkzulage verabreicht. Auch hier 
sieht man wieder den verringernden Ein¬ 
fluß des Kalkes auf die SiOg-Ausscheidung. 
Bei Versuch 15 (Person II) entspricht 
einer geringeren Kalkzulage auch eine 
weniger verminderte SiOg-Ausscheidung,^ 
während in Versuch 15 bei 0,1 g CaO 
13,2% der Eingabe SiOg im Harn er¬ 
scheint, findet sich bei Versuch 14 und Ib 
bei 0,2 g CaO nur 2,5 beziehungsweise 
2,4% SiOg im Harn. Es ist dabei gleich¬ 
gültig, ob die Kalkzulage als Chlorcalcium 
oder als Tricalcol gegeben wird. 


Tabelle IV. SiOg-Casein. 



Per¬ 

son 





Harn 

1. Tage 



Ausgeschiedene SiO, 
nach Abzug des am Vortage 

Vers. 

Eingabe 

warn 

am Vortage 

am 

riarn 

am 2. Tage 

festgestellten SiOa-Gehaltes 
des Harns 










l.Tag 

2. Tag 

j Summe 
in ®/o der 
Eingabe 

Nr. 

Nr. 

g 

ccm 

g SiOa 

ccm 

g Sio. 

ccm 

g SiOo 

g SiOo 

g SiOa 

11 

III 

0,2 SiOa 

1000 

0,0253 

1130 

0,0836 



0,0550 


27,5 

12 

III 

0,2 SiO, 

2300 

0,0512 

2225 

0,0997 

2250 

0,0502 

0,0501 

0,0001 

25,0 

13 

III 

0,2SiO2 

2180 

0,0579 

2160 

0,0883 

— 

— 

0,0304 

_ 

! 15,2 

14 

III 

/0,2 SiOä 
\0,2 CaO 

2200 

0,0528 

2370 

0,0578 

— 

— 

0,0050 


2,5 

15 

'II 

/0,2 SiOa 
\0,1 CaO 

1990 

0,0557 

1970 

0,0824 

2020 

0,0548 

0,0267 

-0,0018 

13,3 

16 

I 

/0,2 SiOa 
\0,2 CaO 

1750 

0,0490 

1700 

0,0490 

1720 

0,0516 

0,0014 

0,0035 

2,4 


Die Werte zeigen, daß in 24 Stunden 
die Ausscheidung der SiOg beendet ist. 
In zwei Versuchen 11 und 12 (Person IV) 
wurde der Harn der ersten 15 Stunden 
und der folgenden 9 Stunden auch ge¬ 
trennt analysiert; es ergab sich, daß 
schon in dem Harn der ersten 15 Stunden 
etwa drei Viertel bis vier Fünftel der in 
24 Stunden ausgeschiedenen SiOg-Menge 
enthalten ist. Am zweiten Versuchstage 
war keine größere Ausscheidung von 
SiOg als am Vortage vorhanden. Die 
SiOg-Werte selbst sind niedriger als 
die Ausscheidungswerte nach Eingabe 
von Kieselsäuretee und wesentlich 


Es erschien nicht ausgeschlossen, dab 
das oben beschriebene Verhalten des 
SiOg-Caseins bei der künstlichen Ver¬ 
dauung in bestimmten Fällen von un¬ 
günstigem Einfluß auf die Resorbierbar¬ 
keit des Präparates im Organismus ist. 
Deshalb wurde ein gegen die Verdauung 
resistentes, im Darm aber lösliches Kiesel¬ 
säure - Casein - Metaphosphat hergestellt 
und zum Vergleiche herangezogen. Das 
Produkt hat einen Gehalt von etwa 10% 
SiOg und 3,5% PgOg. Es geht bei zwei¬ 
stündiger Verdauung mit Pepsinsalzsäure 
aus diesem Präparat keine SiOg in Lösung;, 
auch bleibt das Präparat nach der Ver- 









. Oktober 


Die Therapie der- Gegenwart 1920 


__ 

f 


dauung mit Pepsinsalzsäure in 0,5%iger 
Sodalösung löslich. 

Die Ausscheidung der SiOg dieses 
Präparates verteilt sich auf mehrere Tage; 
Tabelle V gibt die Ausscheidungszahlen 
der SiOg im Harn an. 


gehen, daß trotz SiOa’^^u^uhr am Ver¬ 
suchstage Versuch 21 (Person II)- nie¬ 
drigere Werte = 0,0560 g Si02 als am 
Vortage des Versuchstages = 0,0630 g 
SiOg erhalten werden. Wird Kalk ge¬ 
geben und keine Si02 Versuch 26 (Per- 


Tabelle V. Si02-Casein-Metaphosphat. 




... 

[' ■ 

1 

1 


1 

1 

1 

1 

1 Ausgeschiedene SiOg nach . 

Abzug 

Vers. 

Per- 

Eingabe 

Harn 

Harn 

Harn 

Harn 

des am Vortage festgestellten 
SiOg-Gehaltes des Harns 


son 

am Vortage 

am 

1. Tage 

am : 

2. Tage 

am 3 

!. Tage 


2. Tag 

3. Tag 

Summe 












l.Tag 

in 7. 

Nr. 

Nr. 

g 

ccm 

1 g SiOg 

ccm 

gSiOg 

ccm 

1 g SiO. 

ccm 

i g SiO. 

gSiOg 

gSiOg 

g SiO* 

der Ein¬ 
gabe 

It' 

J7 


0,2 SiOg 

2000 

0,0400 

2100 

0,0812 

2000 

0,0460 

■1200 

0,0280 

0,0392 

0,0060 

0,0040 

24,6 

18 


0,2 SiOa 

1800 

0,0154 

1700 

0,0874 

1650 

0,0353 

1400 

0,0168 

0,0728 

0,0111 

0,0048 

44,3 

19 

I 

0,2 SiOa 

1400 

0,0140 

1200 

0,0448 

1250 

0,0342 

1300 

0,0182 

0,0330 

0,0217 

0,0052 

29,9. 

20 

II 

0,2 SiO, 

2100 

0,0457 

2285 

0,0973 

2050 

0,0653 

— 

— 

0,0488 

0,0217 

— 

35,2 

21 

II 

/0,2 SiOo 
\0,2 CaO“ 

2550 

0,0630 

2670 

0,0560 

— 

— 

' — 

~ 

-0,0187 

_ j 

1 

— 

—9,3 

22 

II 

0,2'SiO2 

1780 

0,0356 

1875 

0,0666 

— 

— 

— 

— 

0,0291 


— 

14,5 

23 

II 

0,2 SiOa 

2050 

0,0340 

2100 

0,0700 

1950 

0,0403 

2200 

0,0198 

0,0350 

0,0078! 

-0,0168 

21,4 

24 

II 

0,2 SiO., 

2200 

0,0198 

2250 

0,0525 

2350 

0,0376 

2000 

0,0233 

0,0323 

0,0165! 

0,0053 

26,9 

25 

II 

/0,2 SiO^ 
\0,2 CaO 

2000 

0,0233 

2500 

0,0317 

— 

— 

1 

- 

t),0025 

— 

j 

1,2. 

26 

II 

0,2 CaO 

2500 

0,0317 

2500 

0,0217 

— - 

— 

— 

— 

-0,0100 

— 

1 

—5,0 

27 

II 

0,2 SiOs 

2500 

0,0217 

2300 

0,0383 

— 

— 

— 

— 

0,0183 

— 

- j 

9,1 

28 

II 

0,2 SiOj 

2300 

10,0383 

2750 

0,0917 

— 

— 

— 

— 

0,0461 

— 

_ 1 

23,0 


Die Versuche 17, 18 und 19 (Person I) 
und 20 (Person II) zeigen, daß innerhalb 
dreier Tage ca. 25 bis 45% der Einnahme 
an Si02 im Harn ausgeschieden werden. 
Die Ausscheidung ist meist am ersten 
Tage am größten und sinkt an jedem 
Tage weiter; am' vierten Tage konnte 
-eine Mehrausscheidung gegenüber dem 
Tage vor dem Versuch nicht mehr fest¬ 
gestellt werden. Daß die Ausscheidung 
der SiOg im Harn so langsam vor sich 
geht, kann mit verzögerter Resorption 
des Präparates oder mit einer langsamen 
Aufspaltung desselben zusammen hängen. 

Der Unterschied in den SiOg-Werten 
am Tage vor dem Versuche bei Person I, 
Versuch 17 und 18, 0,040 g beziehungs¬ 
weise 0,0154 g SiOg erklärt sich aus dem 
zeitlichen Auseinanderliegen (vier Mo¬ 
nate) beider Versuche. Versuch 19 (Per¬ 
son I) zeigt wieder ähnliche Anfangs¬ 
werte = 0,0140 g SiOg wie 18; diese 
Versuche folgen aber auch aufeinander. 

Auffällig ist, daß bei Versuch 23 
(Person II) am dritten Tage der Aus¬ 
scheidungswert unter den des Vortages 
absinkt; vielleicht liegt in einem un¬ 
bekannten Nahrungseinfluß die Ursache 
für diesen niedrigen Si02-Wert. Auch bei 
‘ diesem Präparat zeigt sich, daß eine 
Kalkzulage herabdrückend auf die SiOg- 
Ausscheidung durch den Harn wirkt; 
die Art der Kalkzulage (Chlorcalcium 
oder Tricalcol) ist ohne Einfluß. Diese 
Wirkung des Kalkes vermag soweit zu 


son II), so sinkt die Harnkieselsäure 
unter den Wert vom Vortage und zwar 
von 0,0317 g Si02 auf 0,0217 g SiOg. Ob 
diese Abhängigkeit der SiOg-Ausscheidung 
im Harn durch Kalkgaben durch eine 
vermehrte Si02 Ausscheidung in den 
Dickdarm veranlaßt ist, ob ein Un¬ 
löslichwerden der SiOa infolge Bildung 
unlöslicher Kalksilicate eintritt und da¬ 
durch die SiOg nicht resorbiert wird, oder 
ob eine wenigstens teilweise Retention im 
Organismus dabei eine Rolle spielt, läßt 
sich durch Versuche an Menschen nicht 
entscheiden. Aufklärung können hier 
Versuche am Vella-Fistel-Tier geben, die 
ich mir Vorbehalten möchte. — Jeden¬ 
falls zeigen die Zahlen der Tabelle V, 
daß eine einmalige Gabe des Si02-Casein- 
Phosphates eine über drei Tage sich er¬ 
streckende Si02-Ausscheidung im Harn 
veranlaßt, das heißt, daß die Kieselsäure 
einer Dosis von 0,2 g SiOg drei Tage im 
Körper kreist. Dies ist gegenüber den 
anderen untersuchten SiOg-Präparaten, 
dem Kieselsäuretee, der kolloidalen Si02- 
Lösung und dem Si02“Casein ein Vorteils 
Die verzögerte Ausscheidung hat da- 
Si02-Casein-Phosphat mit dem SiOg. 
Amylodextrin gemeinsam. Ersteres ist 
diesem jedoch dadurch überlegen, daß es 
im Magensaft unlöslich ist, daher den 
Magen nicht alteriert und unverändert 
an die Stelle der Resorption, den Darm¬ 
kanal gelangt. Da es sich bei der SiOg- 
Therapie um eine monate-, ja möglichst 














350 


Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


jahrelange Darreichung handelt, fällt 
dieser Vorteil noch mehr ins Gewischt. 

Zusammenfassung: Die Ausschei¬ 
dungswerte der SiOg im Harn lassen einen 
vergleichsweisen Schluß auf die Resorbier¬ 
barkeit der angewandten SiOg zu. 

Frische kolloidale SiOa-Lösung er¬ 
scheint am schnellsten und zum größten 
Teil im Harn, während der therapeutisch 
verwendete Kieselsäuretee geringere Aus¬ 
scheidungswerte, etwa die Hälfte als die 
frische kolloidale SiO-g-Lösung zeigt. 

Feste kolloidale SiOa-Präparate in 
Form von SiOa-Casein, SiOa-Amylo¬ 
dextrin oder SiOa-Casein-Metaphosphat 
zeigen ähnliche Ausscheidungswerte für 
den Harn, wie der Kieselsäuretee. Da¬ 
gegen ist bezüglich der Ausscheidungs¬ 
dauer ein Unterschied zwischen denselben. 
Die SiOa des Kieselsäuretees und SiOa- 
Caseins wird in 24 Stuncien im Harn aus¬ 


geschieden, während die SiOa-Ausschei-^ 
düng nach SiOa-Amylodextrin und SiQa“ 
Casein-Metaphosphat sich über drei Tage 
erstreckt. 

Das SiOa-Casein-Metaphosphat®) hat 
außerdem den Vorteil, den Magen nicht 
zu reizen und unverändert in den Darm 
zu gelangen, was bei einer langwährendea 
Darreichung wichtig ist. 

Eine gleichzeitige Kalkgabe setzt die. 
$iOa-Ausscheidung im^ Harn bei allen 
untersuchten SiOa-Zubereitungen herab; 
sie vermindert auch die Kieselsäuremenge 
im Harn, die aus unserer Nahrung 
stammt. Die Ursache dieses Einflusses 
sollen Versuche am Tiere mit Vellafistel 
aufklären. 

Das Präparat hat sich auch' bei der klini¬ 
schen und pharmakologischen Prüfung bewährt 
und wird unter dem Namen „Silicol‘‘ vom Lecin- 
werk, Dr. E. Laves (Hannover), hergestellt. 
M. m. W. 1920, H. 9. 


Cretinenbehandlung und Rassenhygiene. 

Von Dr. Fmkbeiner, prakt. Arzt, Zuzwi! (Schweiz). 


Bevor wir an die Behandlung des 
Cretinismus und der Cretinen heran¬ 
treten, müssen wir uns über Begriff und 
Wesen dieser Entartungsform des euro¬ 
päischen Menschen einigen. Daß die 
Cretinen Degenerierte sind, wird wohl 
von niemand bezweifelt. Aber während 
die einen als Ursache der cretinischen 
Entwicklungsstörung miasmatisch-tellu- 
rische Einflüsse annehmen, so sehen 
andere darin lediglich eine Form der Hypo¬ 
thyreose (oder gar bloß Jodmangel) und 
für Dritte handelt es sich einfach um 
eine chronische Infektionskrankheit. Es 
läßt sich für jede dieser Theorien ein 
gewisses Tatsachenmaterial als Beweis 
und Stütze beibringen, aber keine ver¬ 
mag einer strengen Kritik stand zu halten 
oder alle Symptome restlos und befriedi¬ 
gend zu erklären. Es ist hier auf diese 
Verhältnisse nicht weiter einzutreten, 
sondern bloß hervorzuheben, daß so¬ 
wohl die Verbreitungsweise wie das anato¬ 
mische Verhalten mit aller Entschieden¬ 
heit den Gedanken an eine rasseniuäßige 
Entartung nahelegen. Bezüglich Ver¬ 
breitung des Cretinismus erinnere ich 
daran, daß derselbe fast ausschließlich 
in kleinen Ortschaften vorkommt, da¬ 
selbst die Bürger vor den Frem.den auf¬ 
fallend bevorzugt und ein nahezu kon¬ 
stantes Geschlechtsverhältnis von zirka 
54 Männern auf 46 Weiber aufweist. 
I n Endemiegegenden finden wir die Vari¬ 


ationsbreite der Bürger bezüglich Körper¬ 
größe, Intelligenz, Ossifikationszustand 
und vielleicht auch noch in anderen Ver¬ 
gleichspunkten (Schilddrüsenfunktion, 
Magenchemismus usw.) auffallend groß, 
das heißt, wir finden abnorm viel Plus- 
wie auch abnorm viel Minusvarianten 
und beides in höheren Ausbildungsgraden; 
häufig ist. allerdings (durch selektive 
Vorgänge?) die Gruppe der Plusvarianten 
im Laufe der Zeit stark .zusammenge¬ 
schmolzen. Was ferner das anatomische 
Verhalten der Cretinen anbelangt, so 
bieten dieselben (und das scheint mir für 
die Theorie sehr wichtig!) in ihrer äußeren- 
Erscheinung, in ihrer Osteologie und in 
ihrer bisher kaum beachteten Ergologie 
so gehäufte Primitivmerkmale und An¬ 
klänge an kleinwüchsige fossile und 
exotische Naturvölker, daß auch thera¬ 
peutische Bestrebungen davon unbedingt 
Notiz nehmen müssen. Mag bei Annahme 
einer rassenhaft-degenerativen Ätiologie 
die Behandlung im ärztlichen Sinne zu¬ 
nächst als aussichtslos erscheinen, so darf 
ein solches Bedenken nicht ins Gewicht 
fallen; denn eine zutreffende Vorstellung 
über das Wesen der cretinischen Entartung 
vermag uns (und unsere Klienten!) doch 
wenigstens vor zwecklosen oder gar 
schädlichen Heilbestrebungen zu be¬ 
wahren. Und ich hoffe allerdings zeigen 
zu können, daß wenigstens in der Theorie 
auch bei Annahme einer Ätiologie im 





Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


351 


Sinne vorstehender Andeutungen eine 
rationelle Cretinenbehandlung und Pro¬ 
phylaxe recht wohl möglich erscheint; 
ob dieselbe nötig oder auch nur wtinsch- 
bar sei, das ist freilich wieder eine andere 
Frage. 

Die Aufgabe der Therapie ist 
beim Cretinismus (wie immer in der Medi¬ 
zin) eine doppelte: einmal sollen die vor¬ 
handenen Cretinen in normale Individuen 
umgewandelt, also „geheilt“ werden, und 
zum anderen gilt es, die Entstehung neuer 
Fälle zu verhüten. Die Mittel zur Er¬ 
reichung dieser beiden Ziele müssen ganz 
verschieden sein je nach der Ansicht, die 
wir uns vom Wesen der Entartung gebildet 
haben; und wenn irgendwo, so könnte 
hier ,,ex juvantibus“ auf die Natur der 
Endemie geschlossen werden. Auch unter 
diesem Gesichtspunkt bietet eine Betrach¬ 
tung dessen, was bisher in der Cretinen- 
therapie versucht und dessen, was dabei 
erreicht wurde, ein besonderes Interesse. 

A. Behandlung der cretinischen 
Individuen. 

Die Infektionstlieorie müßte, wenn 
sie richtig wäre, uns ein specifisches Mittel 
zur Bekämpfung der Endemie (wie auch 
zu prophylaktischer Verwendung) an die 
Hand geben. In Wirklichkeit verlautet 
davon aber bis heute kein Sterbens¬ 
wörtchen i). Durch Hekatomben von Ver¬ 
suchstieren hat man nachgerade heraus¬ 
gebrächt, wie man es anstellen muß, 
um Ratten kropfig zu machen; diese 
Versuche haben aber kaum für die 
Kropfbehandlung positive Anhaltspunkte 
geliefert und für die Cretinentherapie 
sind sie so gut wie wertlos. 

Eine Zeitlang schien es, als ob die 
Boden- und Trinkwassertheorie einer 
therapeutischen Anwendung fähig wäre. 
,,Änderung der Wasserleitung! Jura¬ 
wasser, kein Wasser aus marinen Sedi¬ 
menten!“ so lautete die siegessicher aus¬ 
gegebene Losung. Die Paradebeispiele 
Rupperswil, Asp und Densbüren 
machten die Runde durch die ganze 
Literatur, bis im Jahre 1913 die Zürcher 
Autoren Dieterle, Hirschfeld und 
Klinger ,,hinter dem Rücken“ von 
Bircher (wie sich dieser vorwurfsvoll 
ausdrückte) eine genaue Nachprüfung 
Vornahmen und dabei zu dem unwider¬ 
leglichen Ergebnis kamen, daß sowohl 
die geologischen Verhältnisse wie die 

9 Die Vaccine von Mac Garrison ist bis¬ 
her kaum zur Kropfbehandlung und m. W. noch 
nie in der Cretinentherapie verwendet worden. 


kropfige Durchseuchung der Bevölkerung 
keineswegs den Angaben Birchers ent¬ 
sprechen. 

Und dann kam die Schilddrüsen¬ 
behandlung, auf die ich, ohne Anspruch 
auf Vollständigkeit zu machen, mit 
einigen Worten eingehen muß. Ich will 
^ bloß den gegenwärtigen Stand der Frage 
skizzieren. 

a) Behandlung mit Thyreoidin- 
tabletten. 

Es ist sicher, daß in Fällen von wirk¬ 
lichem Ausfall der Schilddrüsenfunktion 
(bei Myxödem und bei postoperativer 
Cachexia strumipriva) durch Schild¬ 
drüsenmedikation die Ausfallserscheinun¬ 
gen großenteils beseitigt werden können; 
es ist nicht ernsthaft bestritten, daß 
eine hypothyreotische Quote auch bei 
Cretinen häufig vorhanden ist; — und 
es ist daher nicht zu verwundern, daß auch 
hier die Tabletten mit einem gewissen 
Anfangserfolg gegeben werden, nämlich 
so lange, bis die Schilddrüsenstörungen 
nachgeholt sind. Es wäre aber falsch, zu 
glauben, daß nicht auch ohne Schild¬ 
drüsenbehandlung der Entwicklungs¬ 
rückstand später noch einigermaßen aus¬ 
geglichen werden könne, und es wäre ein 
großer Irrtum, zu glauben, daß ein 
Cretin nach Verschwinden hypothyreo- 
tischer Symptome nun kein Cretin mehr 
wäre. Ganz im Gegenteil! Erst nach 
Abschluß der Wachstumsperiode und 
nach Abklingen der erwähnten Ausfalls¬ 
erscheinungen treten bei den echten, 
wenn ich so sagen darf: rassenhaften 
j Cretinen die eigentlich charakteristischen 
I Merkmale unverkennbar hervor: die typi¬ 
sche Haltung, der typische Gang, die 
Physiognomie, die Knochenverbiegungen, 
die primitive Mentalität, welche nicht 
ohne weiteres als Idiotie zu bezeichnen ist, 
und so fort. 

Es scheint ganz unbekannt zu sein, 

' daß auch cretinische Kinder sich ent¬ 
wickeln und eine richtige Wachstumskurve 
j darbieten; man hat kein Recht, jede 
Größenzunahme ohne weiteres einer all¬ 
fälligen Schilddrüsenb ehandlung gutzu¬ 
schreiben. Wenn Oswald behauptet: 
,,Geringste Zunahmen sind aber geeignet, 
sowohl dem Patienten2) wie dem Arzt 
Vertrauen in die Behandlung einzuflößen 
und beide aufzumuntern....“, so ist zur 


") Wohl eher unkritischen Angehörigen als 
dem Patienten selbst; dem Cretin ist es doch 
ganz einerlei, wie groß er ist! (Schweiz. Corr. Blatt 
1914, S. 15, 1345). 




352 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Oktober 


Entschuldigung dieses Standpunkts nur 
anzuführen, daß der Autor Erfinder eines 
Schilddrüsenpräparats ist 

Schilddrüsenbehandlung großen Stils 
und mk gutem Erfolg scheint zuerst in 
Nordamerika geübt worden zu sein 
(Literatur vgl. Scholz S. 468), ob aber 
wirklich an echten Cretinen und nicht 
vielmehr an Hypothyreosen und Myx¬ 
ödemfällen? Denn ob in den Vereinigten 
Staaten endemischer Cretinismus über¬ 
haupt vorkommt, ist durchaus nicht 
sicher. Die Versuche wurden dann auf 
Veranlassung von Wagner und von 
Kutschera in verschiedenen öster¬ 
reichischen Kronländern während ge¬ 
nügend langer Zeit auf Staatskosten 
in großem Umfange durchgeführt und 
nach einigen allzu hoffnungsfroh be¬ 
grüßten Anfangserfolgen in aller Stille 
wieder auf gegeben, und zwar schon vor 
deni Kriege. Nach Taussig (S. 154) 
handelt es sich bei diesen Erfolgen ledig¬ 
lich um Selbsttäuschungen der betreffen¬ 
den Forscher; und Scholz hebt hervor, 
wie gleichgültig, ja geradezu feindselig 
die Bevölkerung sich gegen die Tabletten¬ 
behandlung verhielt Die Kinderwuchsen, 
hörten und lernten vielleicht etwas besser, 
blieben aber Cretinen wie zuvor. Es 
konnte ja gar nicht anders sein. Die 
Schilddrüse ist nicht das einzige Organ, 
dessen Funktion bei Cretinismus leidet; 
wie bei Basedow, so ist auch hier noch 
an andere innersekretorische Drüsen zu 
denken: Thymus, Keimdrüse, vielleicht 
(sogar wahrscheinlich) Hypophyse und so 
fort. Man könnte eine „polyvalente 
Organtherapie“ versuchen, aber auch so 
dürfte eine schlechte Erbanlage nicht 
zu korrigieren sein. Was nützt es 
schließlich, wenn es gelingt, einen Cretin 
zum Wachsen zu bringen? Er braucht 
mehr Tuch zur Kleidung und ein größeres 
Nahrungsquantum, ohne daß seine 
Leistungen wesentlich andere oder bessere 
würden. Lohnt solcher Erfolg auch nur 
die mindeste Bemühung? Und noch 
eins! Bedenken wir die Gefahren der 
Organtherapie und die nicht so seltenen 
Todesfälle, die ihr nach Scholz zur Last 
zu legen sind, so gestaltet sich die Bilanz 
immer ungünstiger. 

Man kann also heute sagen: zeigen 
sich bei einem Cretin deutliche Anzeichen 
von Schilddrüseninsuffizienz, so mag man 
immerhin einen Versuch machen mit der 
Thyreoidinbehandlung. Man soll aber 
nicht erwarten, dadurch eine wirkliche 
und bleibende Heilung zu erzielen. 


b) Schilddrüsenimplantation. 

Schon ziemlich früh (Kocher 1892, 
Kummer 1896, Christiani 1901; alle 
zitiert nach Scholz S. 496) versuchten 
schweizerische Chirurgen statt der sonst 
üblichen Verabfolgung per os die Schild¬ 
drüse direkt in den Körper von Cretinen 
zu überpflanzen. Auf dem Chirurgen¬ 
kongreß 1914 inWiesbaden hatTh. Kocher 
ausführlich über Technik und Erfolge 
dieser Behandlungsmethode berichtet. 
Seine Ausführungen, über welche diese 
Zeitschrift (1914 S. 232) ausführlich refe¬ 
riert hat, sind in mehr als einer Hinsicht 
von großem Interesse. Es handelte sich 
danach um homöoplastische Implan¬ 
tation von Schilddrüsengewebe (am 
besten von Basedow-Schilddrüsen!) in 
Milz, Knochenmark, Thymuskapsel oder 
Peritoneum; am besten gelang die Über¬ 
pflanzung bei jungen, blutsverwandten 
und gleichgeschlechtlichen Tieren, und 
es erwies sich als nützlich, die ,, Immuni¬ 
tät“ des Wirtsorganismus durch vor¬ 
gängige Thyreoidinbehandlung (per os) 
abzuschwächen und die „Virulenz“ des 
Transplantates zu steigern; zu diesem 
Zwecke wurde die zu transplantierende 
Schilddrüse durch Jodmedikation vor¬ 
erst aktiviert. Es handelte sich also um 
eine sehr ingeniöse, aber nichts weniger 
als einfache .Methode, die schon darum 
einer Anwendung im großen zur. Aus¬ 
rottung der Endemie wohl kaum fähig 
ist. Die Tablettenbehandlung, welche 
daneben fortgeführt wurde (oder werden 
mußte?), scheint nach der Implantation 
besser gewirkt zu haben, indem man mit 
geringeren Mengen auskam. Wesentlich 
scheint mir aber das Geständnis, daß die 
besten Resultate bei Myxödem und 
Cachexia strumipriva beobachtet wurden, 
während Cretine und Cretinoide sich 
meistens refraktär verhielten, — also 
genau wie bei der Tablettenbehandlung. 
Es ist eben bei Cretinen, wie Kocher 
ausführt, die Blutbeschaffenheit chemisch 
von derjenigen normaler Menschen so 
different, daß die Transplantation nicht 
mehr homöo- sondern heteroplastisch 
wirkt. Eine Zwischenfrage: Wie weit 
ist es denn von der Konstatierung dieses 
wichtigen prinzipiellen Unterschiedes zwi¬ 
schen Cretinen und normalen Menschen 
bis zur Annahme einer rassenmäßigen 
Differenz? Und nicht nur vom normalen 
Menschen unterscheiden sich die Cre¬ 
tinen, sondern eben so sehr vom Myx¬ 
ödem. — Aus der anschließenden Dis¬ 
kussion sei bloß das Votum des gerade 





Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


353 


auf diesem Gebiete sehr erfahrenen Herrn 
Payr hervorgehoben; er war der Ansicht: 
wenn die interne Medikation keinen Er¬ 
folg- brachte, so hilft auch die Operation 
nicht viel, und er fragte sich, ob es nicht 
angezeigt wäre, zu gleicher Zeit noch 
andere Drüsen zu implantieren. Das 
wäre also wieder eine Art pluriglandulärer 
Organtherapie, wie oben schon ange¬ 
deutet. 

Auf andere mehr oder weniger moderne 
Behandlungsvorschläge (Verabfolgung von 
NaCl und von alkoholischen Getränken 
[!!] nach Allara; Ersatz des Kochsalzes 
durch Meersalz nach Taussig) brauche 
ich wohl nichl näher einzugehen. In 
neuester Zeit wendet man sich bei uns 
in der Schweiz speziell der Jodbehand¬ 
lung zu, auch schon in prophylaktischer 
Absicht (Kocher^), Roux^), Hun- 
ziker^), Klinger®); ob und welche 
Resultate dabei erzielt werden, bleibt 
abzuwarten, da sich die Versuche über 
viele Jahre erstrecken sollen. Die Thera¬ 
pie ist allerdings dasjenige Kapitel aus 
der Lehre vom Cretinismus, an dem sich 
der Wert oder Unwert einer Theorie am 
unzweideutigsten erweist und an welchem 
leider die meisten Autoren' gescheitert 
sind. Im entschuldbaren Bestreben, 
immer und überall heilend eingreifen, 
das heißt den natürlichen Lauf der Dinge 
zum vermeintlichen Vorteil des Menschen 
beeinflussen zu wollen, übersieht man 
gelegentlich, daß es eben gewisse unheil¬ 
bare Zustände wirklich gibt. 

Unter diesen Umständen wäre es 
unbescheiden, ja vermessen, wenn ich 
völlige Heiluitg des Cretinismus ver¬ 
sprechen wollte. Immerhin bedingt die 
von mir vertretene Auffassung vom Wesen 
der cretinischen Degeneration keineswegs 
den Verzicht auf jeden Behandlungsver¬ 
such; sehen wir von prophylaktischen 
Maßnahmen hier noch ab, so bleibt uns 

die Anstaltsbehandlung des 
Cretinismus 

als die zurzeit wirksamste Individual¬ 
therapie. Sie wird, wie mir scheint, von 
ärztlicher Seite entschieden zu .wenig 
geschätzt. Hans Jakob Guggenbühl, 
einem jungen, vielleicht etwas schwärme¬ 
risch veranlagten Schweizerarzt, gebührt 
das Verdienst, durch seine berühmte 
(eine Zeitlang hieß es; berüchtigte) Grün- 

3) Schweiz. Korr. Bl. 1917, S. 1655. 

4) Ebenda 1918, S. 369. 

5) Ebenda 1918, S. 261. 

6) Ebenda 1919, S, 575. 


düng auf dem Abendberg bei Interlaken 
im Jahre 1840 diese Anstaltsbehandlung 
inauguriert zu haben. Wenn er vielen 
als ein Charlatan galt, so läßt sich dieser 
Vorwurf heute nicht mehr aufrecht er¬ 
halten (vgl. Vortrag von K. Altherr auf 
der Vri. Konferenz für das Idiotenwesen 
in Altdorf, 1909). Ursprünglich wandte 
er sich mit seinen Ideen an seine Kollegen 
und an die Schweizer Naturforschende 
Gesellschaft, fand aber hier nicht die 
erwartete nachhaltige Unterstützung. Da 
ist es ihm nicht zu verdenken, daß er 
im Interesse seiner Pfleglinge später 
Hilfe annahm, wo er sie eben fand, nämlich 
bei pietistischen Kreisen; unredliche Ab¬ 
sichten haben ihm sicher fern gelegen. 
Seine Idee, cretinische Kinder in An¬ 
stalten zu vereinigen und hier deren 
geringe Fähigkeiten allseitig aufs beste zu 
entwickeln, um womöglich brauchbare 
Menschen aus ihnen zu erziehen, stieß 
vielfach auf Spott und Unverstand — 
und ist es heute zur Selbstverständlichkeit 
geworden. In den letzten Jahrzehnten 
hat sich die Zahl der Anstalten rasch ver¬ 
mehrt; während anfangs private und 
charitative Institute überwogen, werden 
neuerdings staatliche Häuser immer 
häufiger. Ein Besuch in einer solchen 
Anstalt vermag die Überzeugung zu 
wecken, daß die Arbeit an diesen Kindern 
nicht nutzlos ist, auch wenn keine voll¬ 
ständige Heilung erzielt werden kann. 

Was leistet nun die Anstaltsbehand¬ 
lung? 

Durch Entfernung aus einem unge¬ 
eigneten Milieu entlastet sie die Familie, 
wie auch die Schule von Geschöpfen, 
mit denen diese nichts anzufangen weiß, 
und den Kindern selbst bietet sie eine 
zusagende Umgebung, wo sie nicht ver¬ 
spottet und nicht (in Anwendung roher 
Erziehungsmittel) mißhandelt, dadurch 
verschüchtert und vollends unbrauchbar 
gemacht werden. Es wird für passende 
Ernährung .und wenn nötig für ärztliche 
Behandlung gesorgt (daheim stehts da¬ 
mit oft schlecht genug) und die geistigen 
Fähigkeiten, so gering sie sein mögen, 
werden entwickelt. Da die Anstalten 
in der Regel auf dem Lande gelegen sind, 
so ergibt sich von selbst eine Beschäfti¬ 
gung mit landwirtschaftlichen Arbeiten, 
Gartenbau usw., was für die Haushal¬ 
tungskosten eine fühlbare Entlastung 
bedeutet. Eine solche Erziehung könnte 
in einer gewöhnlichen Armenanstalt oder 
in einem Waisenhaus niemals gleich 
zweckmäßig durchgeführt werden, schon 

45 





354 


Die Therapie der Gegenwart^ 1920 


Oktober 


darum nicht, weil hier den Lehrkräften 
Zeit und Erfahrung zur Lösung solcher 
Spezialäuf gaben fehlen. Cretinenan- 
stalten möchte ich mit Refugien oder 
Reservationen vergleichen, worin diese 
verkümmerten und manchmal verkom¬ 
menen letzten Nachkommen einer ehemals 
friedlichen Urbevölkerung ein beschau¬ 
liches und ihren Fähigkeiten angemessenes 
Leben führen. 

Ein' mächtiges Mittel zur allgemeinen 
Kräftigung zurückgebliebener Kinder sei 
nicht vergessen; es ist dies ein 

intensiver Tiirnbetrieb. 

Daß die „edle Turnerei“ auf die Entwick¬ 
lung unserer Jungmannschaft den wohl¬ 
tätigsten Einfluß ausübt, das ist altbe¬ 
kannt; zahlenmäßig nachgewiesen wurde 
dieser Einfluß durch E. Mathias, der 
im Auftrag des eidgenössischen Turn¬ 
vereins auf die Landesausstellung hin 
(1914) an 600 bis 700 Turnern genaue 
Messungen und Wägungen angestellt 
hat’). In allen Merkmalen (Körpergröße, 
Brustumfang, Arm- und Beinumfang, 
Gewicht) standen die Turner gleichaltrigen 
Nichtturnern weit voran; die Unter¬ 
schiede waren mit dem Alter und der 
Turnzeit immer stärker ausgesprochen. 
Je jünger einer anfängt zu turnen, um 
so mehr Nutzen hat er davon; aber auch 
bei 20jährigen Jünglingen bleibt die 
Wirkung nicht aus. Am meisten be¬ 
günstigt das Turnen den Brustumfang 
(91 cm gegen 85) und das Gewicht (63,1 
gegen 58,4 kg) bei Vergleichung 21 jähriger 
Menschen. 

Die drei bei uns gepflegten Arten 
des Turnens verhielten sich nicht ganz 
gleich. Die Nationalturner (Ringer, 
Schwinger, Steinstoßer) standen schon 
mit 16 Jahren über dem Durchschnitt, 
verzeigten aber nachher nur relativ ge¬ 
ringe Zunahmen, Umgekehrt wiesen 
die Kunst- (oder Geräte-) turner bei ge¬ 
ringen Anfangsmaßen gewaltige Zu¬ 
nahmen auf; beim volkstümlichen 
Turnen (Leichtathletik) waren Anfangs¬ 
werte und Zunahmen vergleichsweise be¬ 
scheiden. Es scheint also namentlich 
das Kunstturnen empfohlen werden zu 
sollen. Merkwürdig ist, daß nicht bloß 
Arm- uhd Beinumfang, sondern auch 
die Körpergröße und das Gewicht günstig i 
beeinflußt wurden; es ergab sich, daß 
das Winterwachstum, das sonst hinter ! 
dem Sommerwachstum bekanntlich zu- | 


') Arch. Suisse d’Anthropologie 1914. 


rücksteht, beim Turnen anhält; auch das 
Gewicht nahm im Winter noch zu. — 
Nicht zahlenmäßig' nachweisbar ist die 
Zunahme der körperlichen Geschicklich¬ 
keit, des Selbstvertrauens, der Lebens¬ 
freude, welche das Turnen bewirkt. Es 
ist richtig, daß die Turner den Nicht¬ 
turnern gegenüber ein ausgesuchtes 
Menschenmaterial darstellen und daß 
leider heute gerade die vom Turnen sich 
fernhalten, welche davon den größten 
Nutzen erhoffen dürften. Ich verkenne 
die Schwierigkeiten keineswegs, welche 
speziell bei Degenerierten und Schwach¬ 
sinnigen der Einführung der Leibes¬ 
übungen entgegenstehen, und ich gebe 
sogar zu, daß bei den höchsten Graden 
des Vollcretinismus wahrscheinlich über¬ 
haupt darauf verzichtet werden muß 
(diese letzteren Fälle sind aber sehr selten). 
Aber mit der nötigen Geduld können 
auch muskelschwache Idioten an die 
Turngeräte gebracht werden und in den 
Anstalten dürfte es nicht allzu schwer 
sein, Eifer und Nachahmungstrieb zu 
erwecken^). Wenn (woran ich kaum 
zweifle) das Turnen nicht bloß bei Ge¬ 
sunden, sondern auch bei Entarteten 
und bei von der Entartung Gefährdeten 
die gleiche Wirkung hervorbringt: um 
wie viel, wie unendlich viel steht dann 
der Nutzen des Turnens höher, als eine 
eventuell durch Thyreoidin erzielte 
,,Heir‘wirkung! Beim Thyreoidin eine 
Anregung des Knorpelwachstums, beim 
Turnen eine Zunahme der Körpergröße, 
der Fülle, der Muskelkraft, der gesamten 
Lebensenergie! Im großen wurde das 
Turnen bisher bei Cretinen nicht ver¬ 
sucht; es sind mir aber immerhin einzelne 
Beispiele bekannt, wo Brüder von echten 
Cretinen durch eifriges Turnen sich zu 
strammen Burschen entwickelt haben, 
obschon auch bei ihnen schon deutliche 
Anzeichen der Endemie vorhanden ge¬ 
wesen waren. Möchte doch überall in 
den Anstalten ein Versuch mit plan¬ 
mäßigem Turnbetrieb gemacht werden. 

Die Aufgaben der individuellen Be¬ 
handlung der Cretinen lassen sich also in 
die Worte zusammenfassen: 


8) Nachträglich bemerke ich, daß schon 
Guggenbühl auf dem Abendberg gymnastische 
Übungen mit seinen Cretinen vornahm und 
dieselben für unerläßlich erklärte (Seite 93 
und 104). 

Die Anstaltsbehandlung befürwortet auch 
Kutschera vom Standpunkt der Kontakt¬ 
infektionstherapie aus, nämlich in dem Sinne, 
daß durch Internierung in Anstalten die Propa- 
I gation der Seuche hintangehalten werde! 




Ciktober 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Vereinigung in ländlichen Spezial- 
an§talten; 

planmäßige Leibesübungen am Turn¬ 
gerät; 

wenn nötig unterstützende Organ¬ 
therapie. 


3 55 


Eine ganze Anzahl der vorstehepd 
besprochenen Maßnahmen gehen über die 
Individualbehandlung schon hinaus ins Ge¬ 
biet der Prophylaxe; diesem zweiten Teil 
unseres Themas wollen wir uns nunmehr 
zuwenden. (Fortsetzung folgt im nächsten Heft.) 


Zusammenfassende Übersicht. 

über die accessorischen Nährstoffe (Vitamine). 

Bericht von Dr. Feuerhak, Berlin. 


Über die Bedeutung einiger lebens¬ 
wichtiger Nährstoffe, die außer dem Ei¬ 
weiß, Fett, Kohlehydraten und Mineral¬ 
stoffen in der Nahrung enthalten sein 
müssen, wenn sich diese nicht als unzu¬ 
reichend und als Ursache schwerer 'Er¬ 
nährungskrankheiten erweisen soll, ist 
in dieser Zeitschrift (Heft 11, 1919) von 
Prof. Jacoby berichtet worden. Auf 
klinische Beobachtungen wie auf Tier¬ 
versuche ist hingewiesen, die erkennen 
lassen, daß besondere Krankheitserschei¬ 
nungen, wie sie bei der Beri-Beri (infek¬ 
tiöser Polyneuritis) und dem Skorbut sich 
zeigen, nicht auf einseitige Kost zurück¬ 
zuführen sind, daß vielmehr der Mangel 
accessorischer Nährstoffe, sogenannter 
Vitamine, deren chemische Identifizie¬ 
rung noch nicht möglich ist, als Ur¬ 
sache dieser Ernährungskrankheiten an¬ 
zusehen ist. Über weitere Ergebnisse 
diesbezüglicher Forschungen hat vor 
kurzem Boruttau in der Zschr. f. phy- 
sik. u. diät. Ther„ 24. Band, Heft 7, be¬ 
richte!:. Er referiert besonders über die 
Versuchsergebnisse amerikanischer und 
englischer Forscher, die in einem schwer 
zugänglichen Sammelberich t^) nieder¬ 
gelegt sind. Von deutschen Forschungen 
sind vorher die Untersuchungen von 
Abderhalden an Ratten zu erwähnen, 
die teils mit entkeimten Getreidekörnern 
(Roggen, Weizen, Hafer), teils mit ge¬ 
schliffenem Reis gefüttert wurden. Bei 
den Tieren zeigte sich starke Beein¬ 
trächtigung des Geschlechtstriebes und 
der Fortpflanzungsfähigkeit, verküm¬ 
merte Entwicklung des Nachwuchses. 
Trotz Abwechslung in solcher Kost wur¬ 
den die genannten Schädigungen beob¬ 
achtet. Sie traten auch bei solchen Tieren 
auf, die mit reinen Nährgemischen ge¬ 
füttert waren. Bei Zusetzen zu solchen 

Report Oll the present state of knowledge 
concerning accessory food factors (vitamines). 
Compiled by a comittee appointed jointly by the 
Lister Institute and Medical Research Comittee. 
London H. M. Stationery Office 1919. 108 S. 


,,künstlichen Nahrungen“, insbesondere 
von Hefe, Spinat und Rüböl zusammen, 
konnte Besserung in der Ernährungs¬ 
krankheit der Tiere herbeigeführt werden. 
Abderhalden nimmt aus weiteren Ver¬ 
suchen an, daß bei normalen Tieren ein 
gewisser Vorrat von wirksamen Stoffen 
im Körper vorhanden ist, die der 
Nervenstörung (der Polyneuritis z. B. der 
Hühner und Tauben) entgegenwirken. 
Die amerikanischen und englischen For¬ 
schungen bringen zv/ar auch keine Klärung 
in die Chemie dieser wichtigen Stoffe, 
doch als ihr wichtiges Ergebnis sehen 
wir die Sonderung dieser charakteristi¬ 
schen, spezifischen Stoffe in Gruppen 
und die Feststellung des- Gehaltes be¬ 
stimmter Nahrungsmittel an diesen, also 
wertvolle quantitative Angaben. Nach 
ihren Versuchen hat man zwei Stoff¬ 
gruppen oder ,,Faktoren“ als wichtig 
anzusehen für das Wachstum junger 
Tiere und für die Gesunderhaltung er¬ 
wachsener und für die Verhütung von 
Erkrankungen der Haut mit ihren Horn¬ 
gebilden, der Conjunctiva und Cornea, 
diese zwei Faktoren sind erstens ein fett- 
oder lipoidlöslicher Faktor A — der durch 
Butterzusatz — und zweitens ein wasser¬ 
löslicher Faktor B, der durch Hefezusatz 
geliefert wurde. Die Grundkost setzte 
sich dabei aus gereinigtem Kaseinogen, 
gereinigter Stärke und reinem Mineral¬ 
salzgemisch zusammen, sie hatte, ohne 
Zusatz verfüttert, alsbaldige schwere 
Erkrankung der Tiere zur Folge, das 
Wachstum hörte auf. Eine Speicherung 
von A im Tierkörper ist anzunehmen — 
nicht von B. Der Ausfall von B zeigt be¬ 
sonders schnelle üble Wirkung bei jungen 
Tieren, der Ausfall von A und B hemmt 
die Fortpflanzungsfähigkeit und die 
Lebensfähigkeit der Nachkommen. Fak¬ 
tor B ist als identisch mit dem ,,anti- 
neuritischen“ Faktor oder ,,Vitamin“ 
Funks anzusehen. Sein Fehlen macht 
Erscheinungen der Beri-Beri-Krankheit, 
er findet sich in den Randschichten undi 

45* 




356 ^ , I Die Therapie der Qegefiwärt 1920^ , Öktöbief 


besonders im Keime der Getreidekörner 
(Reis,. Weizen). 

-V- Besonders liervorhebenswert erschei¬ 
nen die Versuche von M. Mellauby, die 
dem Faktor A besondere Bedeutung für 
die Rachitis zukommen lassen. Im Tier¬ 
versuch trat Skorbut bei ausschließlicher 
Trockenfütterung auf, Heilung erfolgte 
Tlurch Zusatz frischen Blattgemüses, auch 
konnte antiskorbutische Wirkung mit 
Keimen der im trockenem Zustand schäd¬ 
lichen Körner und Hülsenfrüchte er¬ 
reicht werden. 

Dem englischen Sammelbericht ist 
ein Anhang in Form eines Merkblattes 
beigegeben, es enthält eine Tabelle der 
gebräuchlicheren Nahrungsmittel, aus der 
zu ersehen ist, wie groß der Gehalt 
an den wirksamen Faktoren A und B 
und an dem antiskorbutischen Faktor 
ist. Aus ihr entnehmen wir, daß das anti- 
neuritische Prinzip, der Faktor B, der 
die Beri-Beri-Krankheit verhindert, seinen 
Hauptsitz im Samen der Pflanzen und 
in den Eiern der Tiere hat, auch in Leber 
und Gehirn reichlich, weniger im Fleisch 
zu finden ist, ganz besonders aber die 
Hefezellen reich daran sind auch Hefe¬ 
extrakte. In Erbsen, Bohnen und anderen 
Hülsenfrüchten sind sie über den ganzen 
Samen verbreitet — bei Getreide im 
Keimling und in der äußeren Schicht des 
Samens zu finden. ' Wertvoll sind auch 
besonders die Angaben, daß die Vitamine 
der Nahrungsmittel durch Erhitzen in 
Büchsen geschädigt werden, daß also 
Büchsenkonserven als insuffizient anzu¬ 


sehen sind, während mit dem 'Back¬ 
prozeß die Stoffe im Brot beziehungs^ 
weise Vollkornbrot nicht zerstört werden. 
Ersatzstoffe für Milchpräparate, Sahne 
und Butter, aus Leinöl, Kokosfett oder 
dergleichen ohne Zusatz tierischen Ma¬ 
terials hergestellt, erwiesen sich als in¬ 
suffizient und darum für Kinderernährung 
ungeeignet. Dagegen findet sich der 
•lipoidlösliche Faktor A besonders reich¬ 
lich in tierischen Fetten, im Milchfett 
wie auch im Lebertran. Ferner findet 
er sich in den Blattgemüsen und in den 
Getreidekeimen, er fehlt in den Wurzel¬ 
gemüsen. 

Frisches Gemüse und Obst erweist sich 
als reich an antiskorbutischen Stoffen, 
frische tierische Gewebe enthalten, sie 
in geringem Maße. Besonders reich 
zeigen sich Kohl, Kohlrüben, Zitronen, 
Apfelsinen, Himbeeren und Tomaten. 
Der Saft von Citrus medica behält auch 
in eingekochtem Zustand seine anti¬ 
skorbutische \\(irkung. 

Vereinigt sind alle drei wichtigen Er-' 
gänzungsstoffe besonders in der Voll¬ 
milch, im mageren Fleisch und in der 
Leber des Schlachtviehes, in frischen 
Gemüsen, frischen Mohrrüben und ge¬ 
keimten Getreidekörnern und Hülsen¬ 
früchten. ^ 

Beifolgende Tabelle aus der englischen 
Denkschrift gibt einen zusammenhängen¬ 
den Überblick über die Verteilung der 
drei Vitamine in den gebräuchlichsten 
Nahrungsmitteln. 


Art der Nahrungsmittel 

Antirachitisches 
Vitamin 
Fettlöslicher 
Faktor A 

Antineuritisches 
Vitamin 
Wasserlöslicher 
Faktor B 

Antiskorbutisches 

Vitamin 

Fette und Öle: 




Butter. 

--F-f 

0 


Rahm. 

-i--r 

. 0 


Lebertran . 

+++ 

0 


Hammeltalg. 




Rindsfett oder Nierenfeti. 

-FH- 



Arachisöl. 

+ 



Speck . 

0 



Olivenöl. 

0 



BaumwoIIsamenöl. 

0 



Kokosnußöl... 

0 



Kokosbutter . 

0 



Leinöl. 

0 



Fischtran, Walfischtran, Heringstran usw. . . . 

-FH- 



Gehärtete Fette, tierischen oder pflanzlichen ür- 




Sprungs . 

0 



Margarine, aus tierischen Fetten hergestellt . . 

je nach dem Ge- 




halt an Tierfett 



Margarine aus pflanzlichen Fetten oder Speck 


t 


(Schmalz). 

0 



Nußfett. 

-F 


■ 






















0ktöt»Vr I Die Therapie dfer Gfegeiyvaft 1920 / 


Art der Nahrungsmittel 

Antirachitisches 
Vitamin ' 
Fettlöslicher 
Faktor A 

Antineuritisches 
Vitamin 
Wasserlöslicher 
Faktor B 

Antiskorbutisches 

Vitamin 

Fleisch, Fisch usw.: 

! 



Mageres Fleisch (Ochse, Hammel usw.) .... 


-f 

. -f 

Leber . 

"1~ + 

-f-f 

-f 

Nieren-. 

+ + 

-f 

' 

Herz. 

-f-f- 

-f 


Hirn. 

+ 

-f-f 


Kalbsthymus (Briesel) ... 

+ 

-f-f 


Fisch (w.ei ß) . 

0 

sehr wenig, wenn 


Fisch (fett, Salm, Hering usw.). 

Fisch (Rogen).'. 

' -f-f 
-f 

überhaupt 

-f-f 


Büchseafleisch.• 

? 

sehr wenig 

0 

Milch, Käse usw.: 




Milch, Kuhmilch, voll, roh. 

„ ,, abgerahmt, roh. 

-l-f 

-f 

-f 

0 

-f 

-f 

„ „ getrocknet, voll. 

weniger als ++ 

-f 

weniger als -f 

„ „ gekocht, voll. 

nicht bestimmt 

-f 

desgleichen 

„ ,, kondens., gesüßt . 

-f 

-f 


Käse, vollfetter. 

Käse aus Magermilch. 

Eier: 

frisch.. 

-f 

0 

+ -f 

-f-f-f 

?0 

getrocknet. 

.-f-f- 

-f-f-f 

?0 

Getreide,- Hülsenfrüchte usw. 




Weizen, Mais, Reis, ganze Körner. 

-f- 

-f 

0 

„ „ Keimling. 

-f-f- 

-f-f-f 

0 

„ „ Kleie. 

0 

-f-f 

0 

Weißes Weizenmehl, reines, Kornmehl, polierter 



0 

Reis usw. 

0 

0 

Eierrahmpulver, Eierersatz, aus Getreideproduk- 



0 

ten hergestellt. 

0 

0 

Leinsamen, Hirse. 

-f-f 

-f-f 

0 

Getrocknete Erbsen, Linsen usw. 

-f-f 

0 

Erbsenmehl (gedörrt) . 

- 

, 0 

0 

Sojabohnen, gewöhnliche Bohnen. 

-f 

-f+ 

0 

Gekeimte Hülsenfrüchte oder Getreide. 

-f 

++ 

-f-f 

Gemüse und Obst: 




Kohl, frisch, roh . 

„ frisch, gekocht . 

-f-f 

-f 

-f-f-f 


-f 

-f 

„ «getrocknet. 

-f 

-f 

sehr wenig 

„ in Büchsen. 

Schwedische Steckrübe, roh, ausgepreßter Saft . 
Kopfsalat .. 

-f-f 

+ 

-f-f-f 

Spinat (getrocknet). 

-f-f 

+ 

-f 

Karotten) frisch, roh. 

-f 

+ 

„ getrocknet. 

sehr wenig 


weniger als + 

)> >) 

Zuckerrübe, frisch ausgepreßter Saft . 

Kartoffel, roh. 

-f 

+ 

„ gekocht . 

Schnittbohnen, Feuerbohnen, roh . .. 

Zitronensaft, frisch . 



-f 

-f-f 
-f-|—f 

„ konserviert. 

Limonensaft (lime juice), frisch. 

„ konserviert. 

Orangensaft, frisch. 

Himbeeren. 

Äpfel.\. 

Bananen.'. 

-f ' 

-f 

-f-f 
-f-f 

sehr wenig 
-f-f-f 
-f-f 
“f 

sehr wenig 

Tomaten (in Büchsen). 

Nüsse . 

, -f 

-f-f 

-f-f 

Diverses: 




Hefe, getrocknet. 


H—f-f 

0 

Hefeextrakt und antolysiert. 

? 

-f-f-f 

Fleischextrakt. 

0 

0 

0 

Malzextrakt. 

Bier. 


+ in einigen 
Proben 

0 

0 




































































358 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Oktober 


über neuere Eisen- und Arsenpräparate. 

Von Dr. med, Metdner, Sekundärarzt der inneren Abteilung des israelitischen Krankenhauses, Breslau. 


Der reichliche Bedarf, den die große Zahl 
blutarmer und nervenschwacher Individuen seit 
langem und bis auf die heutige Zeit an Kräfti¬ 
gungsmitteln hat und den die Ärzte gern durch 
Verordnung eisen- und arsenhaltiger Medikamente 
befriedigen, hat die Heilmittelindustrie in immer 
steigendem Maße veranlaßt, solche Zubereitungen 
in handlicher, gefälliger und bekömmlicher Form 
auf den Markt zu bringen. Es 'ist dabei Gutes 
und minder Gutes zutage getreten, manches ist 
geradezu als Modesache aufgekommen und wieder 
abgekommen, einiges hat sich gehalten, aber auch 
die von alters her gebräuchlichen einfachen Ver¬ 
schreibungsweisen der beiden Arzneimittel haben 
sich ihre Freunde bewahrt. Bei dieser Sachlage 
ist es nicht eben leicht, über das vorliegende 
Gebiet kritisch zu referieren. Vor allem muß 
auf Vollständigkeit verzichtet werden. Bewußt 
ausscheiden sollen von den Arsenpräparaten die¬ 
jenigen, die andern besonderen Zwecken dienen, 
wie das Salvarsan und seine Modifikationen und 
auch das Atoxyl und Arsacetin. Hier vielmehr 
ist es nur auf solche Mittel abgesehen, die dem 
häufigen Bedürfnis des Praktikers, einen minder¬ 
wertigen Blut- oder Allgemeinstatus auf arznei¬ 
lichem Wege zu heben, in Erfolg versprechender 
Weise entgegenkommen, und das sind die festen 
und flüssigen Eisen- und Arsenpräparate zum 
innerlichen Gebrauch und ihre ■ Kombinationen 
miteinander und mit in gleicher Richtung wirken¬ 
den Stoffen, wie dem Phosphor, dem Jod u. a., 
auch der Eierstockssubstanz, oder init Nährmitteln 
und nährmittelartigen Produkten, sowie ferner 
die injizierbaren Arsenpräparate einer sozusagen 
milderen Observanz (im Vergleich zum Salvarsan, 
Atoxyl und Arsacetin). Ehe in die Bericht¬ 
erstattung nach diesem ungefähren Schema ein¬ 
getreten wird, muß noch erwähnt werden, daß 
es unter den heutigen abnormen Verhältnissen 
geschehen kann, daß sich Präparate aufgeführt 
finden, die wegen Materialbeschaffungsscliwierig- 
keiten zurzeit nicht erhältlich siijid. 

Für eine Reibe der Eisen- und |Arsenpräparäte, 
besonders derbereits etwas älteren, muß es genügen, 
sie summarisch zusammenzustellen. Ich nenne 
hier von mehr oder minder eingeführten Hämo¬ 
globin präparaten das Hämatin-Albumin, das 
als Pulver etwa teelöffelweise, in Tablettenform 
bis zu acht Stück am Tage gegeben wird, das 
Hämatogen, Dynamogen, Perdynamin, das flüssig 
ist und in Gaben von einem Kinder- bis Eßlöffel 
verabreicht wird, das Bioferrin in'derselben Form 
und mit den gleichen Dosen, die ebenfalls flüssige 
Eubiose, die sich mit Arsen auch als Arsen- 
Eubiose im Handel befindet, das Hämatopan, ein 
trockenes Hämoglobin-Malzextrakt mit 0,6 % 
Eisen, hiervon gleichfalls ein Arsen-Hämatopan 
und auch ein Jod-Hämatopan. Beliebt sind ferner 
Arsen- und Jodferratose, jenes -tee-, dieses e߬ 
löffelweise zu nehmen, als Arsen-, beziehungsweise 
Jodferratin auch in Tablettenform erhältlich, jede 
Tablette zu 0,25, bis zu acht Stück täglich, Arsen- 
ferratin wird auch in einer Modifikation als 
,Arsenferratin süß‘' vertrieben; weiter Sanguinal 
und seine Kompositionen, z. B. mit Arsen, Jod, 
Chinin, als Pillen dreimal täglich ein bis drei 
Stück, als Liq. Sanguinal., gleichfalls mit Zu¬ 
sätzen, u. a. Arsen, für Kinder in Gaben von einem 
halben bis einen' Teelöffel, für Eryvachsene bis zu 
einem Eßlöffel, Phosphor haltig^ Präparate sind 
das Nucleogen in Tabletten mit je 0,05 Eisen- 
niicleinat und 0,0012 As (günstige Erfahrungen 


damit liegen auch aus neuerer Zeit vor), das Ledn, 
ein phosphorhaltiges Eisen-Eiwdß, von dem auch 
ein Jod- und ein Arsa-Lecin existiert (die Lecine 
werden sowohl in flüssiger, wie in Tablettenform 
hergestellt), das Metaferrin, ebenfalls ein phosphor¬ 
haltiges Eisen-Eiweiß in Tablettenform, mit den 
gleichen Kombinationen, in gelöster Form als 
Metaferrose, beziehungsweise Jod- und Arsen- 
Metaferrose, das Eisenprotylin, wiederum Phos- 
phqr-Eisen-Eiweiß, von Wormser in einer Arbeit 
aus 1916 besonders in der Granul 6 -Form gelobt, 
Dosierung bis dreimal täglich drei Stück, das 
Arsoferrin als Eisen, Arsen und Phosphor ent¬ 
haltende Tektolettes, nach beigegebener Ge¬ 
brauchsanweisung zu nehmen, in einer Arbeit von 
Braun aus 1919 für die frauenärztliche Praxis 
empfohlen. Zu den Eisenliquores sind zu 
zählen das Hämaticum „Glausch“, ein Mangan- 
Eisenlikör, der auch mit Arsen hergestellt wird, 
das Guderin, gleichfalls mangan- und eisenhaltig, 
das Anämin und Arsanämin, Eisen-, beziehungs¬ 
weise Arsen-Eisen-Pepsinsaccharat in flüssiger 
Form, das Hämalan, ein Eisen-Manganlikör mit 
Pepsin und Malzextrakt, davon auch ein Arsen- 
Hämalan, beide likörglasweise zu verabreichen, 
das Ferrescasan, Eisensaccharatlösung mit Salzen 
der Glycerophosphorsäure und geringen Mengen 
der Kakodylsäure, dreimal täglich ein Eßlöffel, 
die Hämatose, besonders als Arsen- und Arsen- 
Guajacol-Hämatose, in chinaweiniger Lösung 
oder als Tabletten (PoHack berichtet aus 1915 
über den Nutzen der flüssigen Arsen-Hämatose 
bei heruntergekommenen Kieferverletzten); eine 
Kombination mit Baldrian stellt das Eisen- 
Valerianat „Riebel“ dar, das auch mit Arsen 
hergestellt und in Gaben bis zu einen Eßlöffel ge¬ 
nommen wird. Phosiron ist das neutrale Eisensalz 
der komplexen Phosphor-, Asferryl, das der 
komplexen Arsenweinsäure, beide Präparate in 
Tabletten zu je 1,0, davon ein bis zwei Stück 
am Tage. Arsojodin und Arsobromin, deren Zu¬ 
sammensetzung sich aus der Benennung ergibt, 
werden nach beigegebener Gebrauchsanweisung 
genommen. Zusammenstellungen mit Nähr¬ 
mitteln oder nährmittelartigen Substanzen sind 
Eisenodda, teelöffelweise in Milch, Leciferrin, 
Ovolecithin und Eisenoxydhydrat, in Flaschen 
mit Meßglas, Maltzym mit Eisen, Jodella, ein 
Jodeisenleberthran, auch mit Phosphorzusatz als 
Jodella phosphata hergestellt, tee- bis kinder- 
bis eßlöffelweise, Romauxan, hauptsächlich als 
Eiweißnährmittel mit Eisengehalt gedacht, näm¬ 
lich Phosphor-Eisen-Protalbumose des Milch¬ 
eiweißes, bis zu drei gehäuften Teelöffeln täglich 
als Speisenzusatz. 

Ein älteres wohl eingeführtes Eisenpräparat 
ist das Blut an, ein alkoholfreier Liq. ferro- 
mangani peptonat. mit Acidalbumin; seine Halt¬ 
barkeit ohne Alkohol beruht auf Imprägnierung 
mit Kohlensäure. Es weist zu 0,6 % Eisen, zu 
0,1 % Mangan auf. Von Kombinationen des 
Blutans existieren: Jod-, China- und Brom- 
blutan, ersteres mit 0,1 % Jod, das zweite mit 
den 1% Chinarinde entsprechenden wirksamen 
Chinabestandteilen, letzteres mit 0,1 % Brom. 
Auch ein zuckerfreies Diabetiker-Blutan be¬ 
findet sich im Handel. — Ein neueres hier be¬ 
sonders einschlägiges Kombinationspräparat ist 
das Arsenblutan mit 0,01% ASg O 3 . Leng¬ 
fellner hat damit bei chlorotischen, anämischen 
und Schwächezuständen, auch nervösen, bei 
rachitischen, tuberkulösen und luetischen Kno- 




Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


359 


chenaffektionen, sowie bei Erschöpfung infolge 
sportlicher Überanstrengung günstige Erfolge 
gehabt; Baur lobt es — und auch das Blutan 
— als gutes, bekömmliches Kräftigungsmittel für 
schwächliche, unterernährte, blutarme Schul¬ 
kinder. — Alle Blutane werden likörglasweise 
dreimal täglich, am besten in Milch, genommen. 

Von der altbewährten Tct. ferri Athen- 
staedt, einer alkoholischen Lösung von alkali¬ 
freiem ' Eisensäccharat mit 0,2 % metallischen 
Eisens, gibt es auch eine Arsen-Kombination, 
Tct. ferri Athenstaedt arsenicosa, mit 
0,004% AsgOg, die Joachim bei den bekannten 
Indikationen gute Dienste geleistet hat. Seit 
einiger Zeit werden auch den beiden vorstehen¬ 
den, bis zu 14% alkoholhaltigen Präparaten ent¬ 
sprechende alkoholfreie Zubereitungen unter 
den Namen Athensa und Arsen-Athensa her¬ 
gestellt, die, wie sich Brodzki überzeugt hat, 
durch Sterilisierung sogar in heißen Kümaten 
haltbar sind. Topp hat über sie einen günstigen 
Bericht erstattet. — Verordnungsv/eise: mehrere 
Eßlöffel täglich. 

Die älteren Präparate Triferrin und Tri- 
ferrol sind paranucleinsaures Eisen (mit einem 
durchschnittlichen Gehalt von 23 % Eisenoxyd, 
9 % Stickstoff und 2,5 % Phosphor), beziehungs¬ 
weise die weingeistige Lösung dieser Substanz. 
Wegen der Unlöslichkeit des Triferrins im Magen 
findet keine Belästigung dieses Organs statt, wie 
überhaupt die Bekömmlichkeit dieser gut ein¬ 
geführten Medikamente, ebenso wie ihre energische 
Eisenwirkung von vielen Seiten anerkannt ist; 
für letztere gibt die von Salkowski festgestellte, 
durch Triferrinfütterung erzielbare, besonders 
ausgiebige Eisenspeicherung in der Kaninchen¬ 
leber die tierexperimentelle Grundlage ab. — 
Arsentriferrin ist arsen-paranucleinsaures Eisen 
in Mischung mit Triferrin derart, daß im fertigen 
Präparat 16% Eisen, 0,1% Arsen und 2,5% 
Phosphor enthalten sind. Die Dosis beträgt 
dreimal täglich 0,3 als Pulver oder eine Tablette, 
allmählich auf die doppelte Gabe steigend und 
wieder zurückkehrend; die Tabletten sind zu 
zerkauen. Arsen-paranucleinsaures Eisen wird im 
Gegensatz zu arsensaurem Eisen vom Darmkanal 
.aus schnell resorbiert. Mit dem Triferrin teilt 
das Mittel die Reizlosigkeit für den Magen. Wo 
doch einmal Magenbeschwerden auftreten, werden 
sie nach Gelhausen durch Einnahme der zer¬ 
kleinerten Tabletten während der Mahlzeiten mit 
anderen Speisen zusammen hintangehalten. Dieser 
Autor erzielte gute Erfolge bei Anämie und 
Chlorose, bei Skrophulose und bei neurastheni- 
schen und hysterischen Schwächezuständen; auch 
hebt er die vorteilhafte Wirkung auf gleichzeitig 
bestehende Schwächezustände hervor. Neben 
früheren Mitteilungen äußern sich aus neuerer 
Zeit über das Arsentriferrin noch günstig Jochem 
und Gehring, beide auch hinsichtlich der An¬ 
regung des Appetits, nach letzterem sogar bei 
Lungentuberkulose; jener will während der Medi¬ 
kation Gewürze und Obst vermieden wissen, 
dieser weist noch auf Besserung und selbst gänz¬ 
liche Beseitigung dysmenorrhoischer und amenor- 
rhoischer Zustände durch Arsentriferrin hin. — 
Arsentriferrol verhält sich zum Arsentriferrin 
wie_ Triferrol zum Triferrin. Erwachsene nehmen 
dreimal täglich einen Eßlöffel, Kinder dreimal 
täglich einen Kinderlöffel. Die Indikationen sind 
die bekannten. Empfehlungen liegen vor von 
Thomas, Ewald, der besonders auch auf die 
gute Verträglichkeit des Präparats selbst bei 
empfindlichen Ulcuskranken Wert legt, Hartung 
und Ury, der sich ganz im Sinne Ewalds 


äußert, ferne'r von Möller für vorkommende Fälle 
in der zahnärztlichen Praxis. — Jodtriferrin 
ist jodparanucleinsaures Eisen mit einem Gehalt 
von 15% Eisen, 8,5% Jod und 2% Phosphor; 
es wird als Pulver oder Tabletten zu 0,2 dreimal 
täglich genommen. Tierexperimentell ist es von 
Salkowski studiert, nach dem es, ohne Stö¬ 
rungen vertragen, das 'Jod selbst in hohen Dosen 
vollständig, das Eisen teilweise zur Resorption 
gelangen läßt und den Eisengehalt der Leber auf 
das Dreifache steigert. Das Präparat ist für die 
Verwendung bei allen Indikationen der Jod - 
Eisentherapie, insbesondere bei Skrophulose, be¬ 
stimmt. — Ovaradentrif errin ist eine Mischung 
von Triferrin und dem Ovarienpräparat Ovaraden 
im Verhältnis von 1;3. Aus neuerer Zeit liegen 
darüber empfehlende Berichte für die Behandlung 
der Amenorrhoe, insbesondere der Kriegs¬ 
amenorrhoe, von Ohrenstein, Cordes und 
Koslowsky vor. Das Präparat begegnet oder 
ist in letzter Zeit Herstellungsschwierigkeiten be¬ 
gegnet. — Im Triferrin-Maltyl ist das Triferrin 
mit einem Malzextraktpräpärat vereinigt. Es 
wird davon drei- bis viermal täglich ein E߬ 
löffel trocken gereicht, in der Kinderpraxis nach 
Villain, der besonders bei Arrythmien an¬ 
ämischer Kinder und solchen in der Rekonvales¬ 
zenz nach Diphtherie mit Vorteil davon Gebrauch 
gemacht hat, größeren Kindern dreimal täglich 
ein Kipderlöffel, kleineren ein gehäufter Thee- 
löffel auf jede Flasche. 

Regenerin ist ein Eisen-Mangan-Lccithin- 
Präparat mit einem Gehalt von 0,6% Fe und 
0,1% Mn, Arsen-Regenerin von derselben 
Zusammensetzung mit Zusatz von Arsacetin und 
Lith. kakodyl. ^ 0,04%. Beide kommen flüssig 
und in Tablettenform in den Handel und sollen 
sich bei den entsprechenden Indikationen, unter 
anderem auch in der Kinderpraxis, bewähren. 

Vorzugsweise als Arsenpräparat ist das 
Haemarsin zu bewerten, das aus Kakodylsäure, 
glycero-phosphorsaurem Calcium und Strychnin be¬ 
steht. Es wird eßlöffelweise nach dem Essen verab¬ 
reicht. Zur subcutanen und intramuskulären An¬ 
wendung sind sterile Ampullen erhältlich, in denen 
das glycero-phosphorsaure Calcium durch das 
entsprechende Natriumsalz ersetzt ist. Hirsch 
hat mit dem Präparat sowohl bezüglich des 
Fehlens von Nebenerscheinungen, als auch hin¬ 
sichtlich /.üverlässiger Wirksamkeit bei Fällen 
von Anämie, Erschupfungszuständen und Unter 
ernähruiig günstige Erfahrungen gesammelt. — 
Auch ein Haemarsin mit Guajakol und eines 
mit Lecithin befindet Mch im Handel. 

Gleichfalls ein Arsenpräparat, und zwar unter 
den neueren wohl das mit am weitesten ver¬ 
breitete, ist das Elarson. Es ist das Strontium¬ 
salz der Chlorarsinobehenolsäure. Das im Elarson 
enthaltene Arsen ist also an eine lipoide, äther 
lösliche, ungesättigte Säure der Fettreihe, die 
Behenolsäure. gebunden. Unter dem Einfluß 
der Magensalzsäure wird aus dem Elarson ein 
erheblicher Teil der arsenhaltigen Fettsäure frei, 
die sich soäter im alkalischen Darmsaft zu einem 
löslichen Salz von Seifencharakter verbindet; ein 
anderer Teil des Strontiumsalzes, der den Magen 
als solches passiert, erfährt im Darm eine Um¬ 
wandlung in das Alkalisalz. Die Salze sind im 
Darm ohne vorherige Bildung von arseniger 
Säure direkt resorbierbar. Die Resorption vom 
Magen aus als die Wurzel der schlechten Verträg¬ 
lichkeit mancher Arsenpräparate ist möglichst 
vermieden; Elarson ist daher auch mit ziemlich 
seltenen Ausnahmen gut verträglich. Die Re¬ 
sorbierbarkeit des Elarsons ist dabei recht be- 



Beo 


Die TJierapje der Gegen^vart 1920 Oktober 


friedigend, indem nur etwa ein Viertei des darin 
enthaltenen Gesamtarsens unverwertet abgeht. 
Die Dosierung beträgt dreimal täglich 1 bis 5 
Tabletten ä 0,5 mg Arsen und mehr, allmählich 
steigend und fallend, wie bei allen Arsenpräpa¬ 
raten üblich; bei hohen Dosen treten reichlichere 
Stuhlentleerungen auf, dies bleibt bei den als 
Eisep-Elarson-Tabletten (siehe später!) zu¬ 
geführten gleichen Arsenmengen aus. — Im 
Ei'nführungsaufsatz von Emfl Fischer und 
G; KlempereT werden klinische Erfolge an¬ 
gegeben bei sekundären Anämien, Schwäche¬ 
zuständen, auch von Phthisikern, sogar fiebernden, 
bei Chorea, Neuralgien und^Basedow. Leib holz 
hatte bei Anämien einschließlich Chlorose eben¬ 
falls gute Resultate, desgleichen Reinhardt und 
Walte rh cf er, nur hat letzterer bei Chlorosen 
nach Elarson profuse Menstrualblutungen erlebt, 
je einmal auch Durchfälle und' einen Herpes 
arsenicalis gesehen, weswegen er dabei zu vor¬ 
sichtiger Dossierung rät; bei primären.Blutkrank¬ 
heiten hat ihm die'Elarsonbehandlung keine be¬ 
sonderen Vorteile gebracht. Kohnstamm hat 
besonders bei Basedowscher Krankheit durch 
Kombinationsbehandlung mit Elarson und 
Merckschen Antithyreoidintabletten, beide Me¬ 
dikamente steigend und fallend, Erfolge erzielt; 
bei einem Luetiker, der bei früheren Kuren stets 
Quecksilberstomatitiden bekam, wurden diese 
durch Elarsonzugabe vermieden. Tuszewski lobt 
Elarson bei sekundären Anämien und Chlorosen, 
hier in Verbindung mit Eisen, sowie als Tonicum, 
desgleichen Gastal di bei sekundären Anämien, 
von denen nur zwei äußerst geschwächte Fälle 
mit Diarrhöen darauf reagierten. Das Auftreten 
von Durchfällen während Elarsonkuren ist auch 
von anderer Seite beobachtet worden, so besonders 
von Scheibner, der deswegen und auch wegen 
ungünstiger Beeinflussung der Menses das an¬ 
schließend zu besprechende Eisen-EIarson vor¬ 
zieht. N ei SS er hat solche Nebenwirkungen nicht 
gesehen, hingegen einmal vorübergehend starken 
Harndrang; ferner beschreibt er eine herab¬ 
setzende Wirkung des Elarsons auf erhöhten Blut¬ 
druck, die auch G. Klemperer für .Arterio- 
sklerotiker erwähnt. Von Lewinsohn liegt ein 
günstiger Bericht über Elarson bei einer größeren 
Anzahl verschiedener einschlägiger" Fälle vor, 
wobei ihn besonders der rasche Eintritt der 
angestrebten Arsenwirkung befriedigt hat. Aus 
späterer Zeit haben sich noch B'ogner, Hösch 
und Braitmaier lobend darüber geäußert. 
Klotz empfiehlt es und noch mehr das Eisen- 
EIarson (siehe unten!) für die Kinderpraxis, 
zwei- bis dreimal täglich eine halbe Tablette. 
Nach Maier und Sußmann soll Elarson bei 
Epileptikern die Zahl der Anfälle vermindern 
und die geistige Regsamkeit erhöhen. Von den 
bisher angeführten Autoren haben einige kurso¬ 
risch auch Erfolge des Elarsons bei Hautkrank¬ 
heiten berichtet; in einem eigens dieses Gebiet 
behandelnden Artikel berichtet Scherber über 
gute Erfahrungen mit Elarson bei den bekannten 
dermatologischen Indikationen. 

Eisen-Elarson-Tabletten sind Elarson- 
tabletten, deren jede noch 30 mg Eisen als Ferrum 
reductum enthält. Sie sind hauptsächlich für 
die Anwendung bei Chlorosen bestimmt, welche 
bekanntlich au^ eine Kombinationsbehandlung 
mit diesen beiden Substanzen am besten re¬ 
agieren. Man gibt dreimal täglich 1 bis 3 Tabletten, 
.steigend und fallend, nach den Mahlzeiten. Ihr 
Geschmack und ihre Bekömmlichkeit werden 
eigentlich vorbehaltlos gerühmt. Nach G. Klem¬ 
perer ist ihre Wirkung auf Chlorosen ausge¬ 


zeichnet, auf sekundäre Anämien befriedigend. 
Scheibner und Eulenburg schließen sich dem 
an, letzterer besonders für Neurosen auf an¬ 
ämischer Grundlage, auch Neuralgien, Neur¬ 
asthenie und Chorea. Mit günstigen Urteilen sind 
dann noch neben änderen H. E. Schmidt und 
Brühl hervorgetreten, dieser für das oto-rhino- 
iaryngologische Spezialgebiet. Schließlich wird 
noch in der Kinderpraxis bis zu dreimal täglich 
eine Tablette gern davon Gebrauch gemacht. 

Ein kombiniertes Eisen-Arsen-Präparat ist 
auch das Ferarson, eine Arsen-Strontium-Ver¬ 
bindung mit organischem Eisen und Lecithin¬ 
albumin in Tablettenform; jede Tablette enthält 
0,0005 Strontio-Arsen, 0,018 organischen Eisens 
und 0,025 Leeithinalbumin; Dosierung ein- bis 
fünfmal täglich zwei Tabletten, Kindern eine halbe 
bis drei Tabletten täglich. Das Präparat soll gut 
vertragen werden und bei den einschlägigen In¬ 
dikationen günstige Wirkung haben. 

Wie in dem letztgenannten Medikament ist 
auch im Eisen-Jodocitin Lecithin enthalten, 
und zwar 0,041 in der Tablette; ferner ist in jeder 
Tablette 0,0015 Eisen in anorganischer Bindung 
und 0,0075 Jod vorhanden. Die Dosis beträgt 
dreimal täglich 1 bis 3 bis 5 Tabletten. Nach 
Deutsch greift das Eisen-Jodocitin Zähne und 
.Verdauungstrakt nicht an und zeitigt günstigen 
Einfluß auf Skrophulose, Rachitis (wegen des 
Phosphorgehalts des Lecithins), spätsyphilitische 
Erscheinungen im Kindesalter, exsudative Dia- 
these mit Reizzuständen der Schleimhäute und 
Drüsenanschwellung, Anämien einschließlich Chlo¬ 
rose und auf Rekonvaleszenten nach akuten In¬ 
fektionskrankheiten. — Eisen-Jodocitin mit 
Arsen (0,0002 Acid. arsenicos. auf die Tablette) 
wird steigend und fallend von dreimal täglich 
ein bis dreimal täglich 3 Tabletten verabreicht. 
Im Eisen-Bromocitin und Eisen-Brom- 
ocitin mit Arsen tritt an Stelle des Jods Brom, 
und zwar 0,006 auf die Tablette. Diese Präparate 
sind in .gleicher Dosierung wie die Jodocitine .für 
den Gebrauch bei mit Anämie einhergehenden 
Neurosen, Neurasthenie und Hysterie bestimmt, 
sowie wiederum besonders für die Kinderpraxis 
in Fällen, wo neben der roborierend-tonisierenden 
eine länger dauernde Bromwirkung beabsichtigt ist. 

Auf der Grundlage reizlosen Pflanzeneiweißes 
ist das Eisenpräparat Ferro-Glidine aufgebaut; 
es wird in Tabletten hergestellt, deren jede 
0,025 Fe enthält; Dosierung zweimal täglich 
ein bis dreimal täglich 2 Tabletten. Es wird 
zur Anwendung bei Anämien, Chlorose, Schwäche¬ 
zuständen und in der Rekonvaleszenz empfohlen. 
Roeder berichtet aus dei; Kinderpraxis über gute 
Verträglichkeit und nachhaltige Erfolge, ebenso 
spricht sich Bloch lobend aus, und auch aus 
der englischen Litaratur liegt ein günstiger Be¬ 
richt von Mc Leod Munro vor. — Arsan ist 
Arsen-Glidine, ein Reaktionsprodukt von Arsen- 
chlorür und dem nucleinfreien Pflanzeneiweiß 
„Glidine“. Die chemische und physiologisch¬ 
chemische Untersuchung des Präparats durch 
Loe,b hat günstige Verhältnisse hinsichtlich der 
Abspaltbarkeit und Resorbierbarkeit des darin 
enthaltenen Arsens ergeben'. Es befindet sich 
in Tablettenform im Handel, jede Tablette ent¬ 
hält 1 mg Arsen; die Dosierung beträgt etwa 
zweimal täglich 1 bis 2 Tabletten. Mendelsohn 
hat es frei von Nebenerscheinungen und gut 
wirksam bei Morbus Basedow und nervösen Er¬ 
schöpfungszuständen und besonders geeignet für 
den Gebrauch bei Herzkranken gefunden. Bei 
Anämien, Chlorose und den anderen Indikationen 
der Arsenmedikation lobt es Flat au, besonders 



Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


361 r 


in Kombination - mit Ferro-Oli di ne. Schmelz 
fand es zusammen mit Jod-Glidine bei Tabikern 
nützlich. Für die Kinderpraxis empfiehlt es 
Uhlirz bei Pädotrophien. Auf dermatologischem 
Gebiet beurteiltes Amende bei geringen Neben¬ 
erscheinungen als voll wirksam. — Ein gebrauchs¬ 
fertiges Eisen-Arsen-Kombinationspräparat, das 
auf den gleichen Prinzipien wie die eben genannten 
beruht, ist As-Fe-Gli di ne, Tabletten mit einem 
Gehalt von je 1 mg As und 25 mg Fe; Dosierung 
und Indikationen ergeben sich aus dem Vor¬ 
stehenden. — Jod-Ferro-Glidine ist ein eisen¬ 
haltiges, jodiertes Pflanzeheiweiß. Als Jod-Eisen- 
Präparat ist es hauptsächlich für die Anwendung 
bei Skrophulose, auch Rachitis bestimmt; als 
weitere Indikationen werden chronische Endo¬ 
metritis, Malaria und tertiäre Lues angegeben. 
Tabletten mit je 25 mg Jod und ebensoviel Fe; 
zwei bis sechs am Tage, für die Kinderpraxis 
auch weniger. 

Ein weiteres Jod-Eisen-Präparat ist das 
Eisensajodin, das Eisensalz der Jodbehensäure; 
es enthält Eisen zu ca. 5,6, Jod zu ca. 25 %. Im 
Handel befindet es sich in Tabletten zu je 0,5, 
wovon Erwachsene bis sechs, Kinder bis drei am 
Tage einnehmen. Görges rühmt seinen guten 
Geschmack, seine Bekömmlichkeit und seine Un¬ 
schädlichkeit für die Zähne (im Gegensatz zum 
Jod-Eisen-Syrup); es hat sich ihm bei skrophu- 
lösen Kindern als recht erfolgreich bewährt; 
Jodismus ist dabei sehr selten. Der Empfehlung 
des Eisensajodins durch Görges haben sich andere 
Autoren angeschlossen: Dierbach für den 
gleichen Indikationsbereich, Echtermeyer,der 
davon allerdings gelegentlich leichte Magen¬ 
beschwerden sah, insbesondere für skrophulöse 
Lymphdrüsenschwellungen, Radziejewski für 
skrophulöse, beziehungsweise tuberkulöse Augen¬ 
leiden, Brühl auf dem Gebiete der Ohren- und 
Halskrankheiten und Ruhemann für ver¬ 
schiedenartige organische, mit Anämie einher¬ 
gehende Affektionen Erwachsener. — Auch eine 
Eisensajodin-Emulsion, ein Eisensajodin- 
Leberthran-und Eisensajodin-Malzextrakt 
mit 0,02 Jod und 0,008 Eisen in 10 ccm sind zu 
haben. Radziejewski erwähnt die Emulsion 
als geschmacksfrei, den Leberthran als weniger 
schmackhaft. 

Jodhaltig ist auch das Testijodyl; es weist 
sämtliche Eiweißkörper des Blutes auf, mit Aus¬ 
nahme des Fibrins, und ebenso den Gesamt¬ 
eisengehalt des Haemoglobins mit 0,25%, sowie 
15,24% Jod. Es ist in Dragees zu 0,5 käuflich, 
von aenen dreimal täglich ein bis zwei Stück 
gereicht werden. Hauptsächlich als Jodpräparat 
ist es von Wohlgemuth und Rewald hinsicht- 
I ich seines Verhaltens im Organismus studiert und 
als solches von verschiedenen Seiten auch thera¬ 
peutisch angewendet worden. Doch wird auch auf 
seinen Eisengehalt Wert gelegt, so von Blumen¬ 
thal für die Anwendung bei anämischen Zuständen, 
von Käfern an n für den Gebrauch bei Skrophu¬ 
lose und von L6nard für die Behandlung der 
Chlorose. Die durchschnittlich gute Verträglich¬ 
keit des Präparats wird von allen Autoren bezeugt. 

Prothaemin ist ein pulverförmiges Präparat, 
das sämtliche wichtigen Bestandteile des Blutes 
ohne konservierenden Zusatz enthält. Es wird 
nach den Angaben Salkowskis hergestellt, der 
auch seine gute Verträglichkeit und Ausnutzbar¬ 
keit im Tierexperiment dargetan hat. Sein Eisen¬ 
gehalt beträgt 0,2%; neben Eiweißkörpern ist 
in ihm besonders noch organisch gebundener 
Phosphor reichlich vertreten. Es wird mehrmals 
täglich theelöffelweise, mit etwas kalter Flüssig¬ 


keit gut verrührt undr.dann mit einem Getränk 
auf gefüllt, nach dem Essen genommen. Korb, 
hat damit bei Anämien, Chlorosen und beginnen-^ 
den Lungentuberkulosen Zunahme des Körper¬ 
gewichts, des Blutfärbstoffgehalts und der Erythro¬ 
zytenzahl erzielt. Entsprechende’ Erfolge bei 
diesen und ähnlichen Indikationen (Rekon¬ 
valeszenz, Skrophulose usw.) berichten Camp- 
hausen, Jüngerich und Gutowitz. Alle diese 
Autoren rühmen die durchschnittlich sehr gute' 
Bekömmlichkeit des Präparats selbst bei pro¬ 
trahiertem Gebrauch und seine öfters zu beob¬ 
achtende appetitanregende Wirkung. 

Den Blutpräparaten schließt sich in gewisser 
Weise ein neuartiges Medikament an, das Chlo- 
rosan. Es ist ein kombiniertes'Chlorophyll-Eisen- 
präparat, und zwar enthalten die im Handel be¬ 
findlichen Tabletten je 0,03 Chlorophyll und 0,005 
Eisen; die übliche Dosierung beträgt dreimal 
täglich 2 Tabletten (an Eisen also weit weniger, 
aber bei Darreichung von Eisen allein gegeben zu 
werden pflegt). — Die Chlorophylltherapie ist von 
Bürgi inauguriert. Nach ihm braucht der Orga¬ 
nismus zum Aufbau des Haemoglobinmoleküls 
Eiweiß, Eisen und viergliedrige " Pyrrolringe, 
Letztere können ihm in reichlichem Maße durch 
Zufuhr von Blutfarbstoff oder aber Chlorophyll 
geboten werden. Die gebräuchlichen Blut¬ 
präparate repräsentieren nicht reinesHaemoglobin, 
sondern Gesamtblut und darin — im Plasma¬ 
anteil — möglicherweise auch schädliche Stoffe. 
In dieser Hinsicht ist das in genügender Reinheit 
dargestellte Chlorophyll unbedenklicher; sein 
blutfarbstoffbildender Effekt hält dabei der tier¬ 
experimentellen und klinischen Prüfung völlig 
stand. Künstlich anämisierte Kaninchen werden 
durch Chlorophyll ebenso rasch wiederhergestellt 
wie durch Eisen und noch rascher durch Kom¬ 
binationsbehandlung mit beiden Substanzen, 
wie denn Bürgi auch sonst und schon länger für 
die kombinierte Arzneibehandlung als wirkungs¬ 
potenzierend eintritt; Tiere mit normalem Blut 
werden durch Chlorophyll sogar besser als durch 
Eisen an Hämoglobin und roten Blutkörperchen 
angereichert. Am Menschen wurden mit Chlorosan 
bei Chlorosen, sekundären Anämien, auch solchen 
tuberkulöser Individuen, sowie bei schweren 
Kinderanämien günstige Erfahrungen gemacht. 
Im allgemeinen eilt der Anstieg des Blutfarbstoff¬ 
gehalts demjenigen der Erythrozytenzahl voraus. 
Mit der Beeinflussung des Blutstatus ist die Wir¬ 
kung des Chlorophylls aber nicht erschöpft; es 
ist auch ein allgemein belebendes Agens. Als 
solches dokumentiert es sich experimentell durch 
eine leichte Erregung der Herz- und auch der 
Darmtätigkeil, wahrscheinlich führt es auch eine 
bessere Ausnutzung der Nahrung herbei. Die 
Herzwirkung macht es für Zustände mit ohnehin 
erregter Herzaktion minder geeignet; wohl aber 
hat es sich bei Arteriosklerotikern bewährt. Die 
Anregung der Peristaltik verursacht in seltenen 
Fällen Diarrhöen. Über gute Erfolge mit Chlorosan 
bei Grippenrekonvaleszenten berichtet Wein¬ 
berg. Die Wirkungsweise des Chlorophylls stellt 
sich Bürgi wie die des Eisens vor: dort wie hier 
ein Stoff, der in Jeder gemischten Kost enthalten 
ist, dessen besondere Medikation unter besonderen 
Umständen aber doch angezeigt erscheint, sei es, 
daß dadurch ein glei-chwohl vorhandenes Manko 
gedeckt (Substitution) oder ein Reiz ausgeübt 
werde, wobei beides auch Hand in Hand gehen 
kann (Substitutionsreiz). 

Unter den bisher besprochenen Präparaten 
befand sich bereits das oder jenes, das neben 
anderer auch zu subcutaner Anwendung bestimmt 

46 



362 


Die Therapie der Gegenwart 192Ö 


Oktober 


ist. Nun existiert noch eine Reihe neuerer Mittet, 
die ausschließlich fiir diesen letzteren Zweck vor¬ 
gesehen sind. 

Hierher rechnen zunächst diejenigen Medika¬ 
mente, welche von deutschen Firmen in den Handel 
gebracht, unter den veränderten Zeitverhältnissen 
einige früher eingeführte ausländische Präparate er¬ 
setzen sollen. Es sind dies die M.B.K- - Zuberei¬ 
tungen Ferr. arsen.-citric. ammon.. Fern kako- 
dylic., Natr. kakodylic., Natr. monomethyl- 
arsenicic. und Strychno-Phosphor-Arsen-Injektion 
(Astonin), sowie die Kakodyl-Einsprit'zungen 
Marke Ha-eR Natriumkakodylat, Ferrikako- 
dylat und Methyl-Dinatriumarseniat. Sie werden 
gebrauchsfertig in Ampullen abgegeben und haben 
vielfach Anklang gefunden. Hierher gehört auch 
das Arsamon. Es ist eine sterile Lösung von 
monomethylarsinsaurem Natrium, die in Einzel¬ 
dosen von 0,0135 g Arsen auf 1 ccm Flüssigkeit 
erhältlich ist. Es werden damit subcutane Ein¬ 
spritzungen von einer halben bis einer Dosis 
vorgenommen, und zwar täglich, bis zu 20 bis 
30 Injektionen, v. Hayek hat mit dem Präparat 
zu seiner Zufriedenheit gearbeitet bei jungen an¬ 
ämischen Leuten mit Erscheinungen chronischer 
Unterernährung, die meist auch eine specifische 
Lungenspitzenaffektion oder latente-Drüsentuber- 
kulose aufwiesen, sowie bei zwei Psoriasiskranken. 
Hinsichtlich des Fehlens von Nebenwirkungen ist 
es nach diesem Autor dem entsprechenden aus¬ 
ländischen Mittel „Arrhenal“ gleich und bezüglich 
des Ausbleibens lokaler Reizerscheinungen in der 
Umgebung der Stichstelle sogar überlegen. 

Ein weiteres Arsenpräparat zum hypoderma- 
tischen Gebrauch ist das So lagen; es ist Natr. 
arsenicos., mit verdünnter Salzsäure genau neu¬ 
tralisiert und steril auf Ampullen gefüllt, deren 
jede 0,01 Natr. arsenicos. enthält; zu einer Kur 
gehören 20 subcutane Einspritzungen je einer 
Ampulle; die Injektionen werden zwei- bis drei¬ 
mal wöchentlich vorgenommen. Sie sollen in¬ 
folge Beseitigung der alkalischen Reaktion durch 
die Neutralisierung ganz schmerzlos sein. 

Solarson ist das Mono-Ammoniumsalz der 
Heptinchlorarsinsäure. Es ist käuflich als 
wässerige, neutrale, isotonisch gemachte Lösung 
in Ampullen von rund 1 und 2 ccm, enthaltend 
3,' beziehungsweise 6 mg Arsen. Alle Bericht¬ 
erstatter stimmen darin überein, daß die sub- 
cutanen und intramuskulären Injektionen von 
Solarson schmerzlos seien, keine lokale Reaktion 
hervorrufen und in den üblichen, hinreichenden 
Dosen keine unerwünschten Nebenwirkungen im 
Gefolge haben. Ausnahmen finden sich wohl 
erwähnt, aber man gewinnt bei Durchsicht der 
Literatur doch den Eindruck, daß sie überaus 
selten und auch dann höchstens unerheblich sind. 
Auch für die endovenöse Beibringung trifft das 
gleiche zu (Rubens). Für die Durchführung 
einer Solarsonkur ist wohl ziemlich allgemein 
der Modus täglicher Einspritzungen von 1 ccm 
an zehn- bis zwölf aufeinander folgenden Tagen 
mit Wiederholung nach achttägiger Pause an¬ 
genommen, doch ist sowohl mildere Gestaltung 
mit Injektionen nur an jedem zweiten Tage noch 
gut wirksam (Bogner), als auch energischere 
Durchführung mit Erhöhung der Dosen ohne 
Schädigung möglich (besonders für die der¬ 
matologische Praxis — Joseph und Arnson). 
Gegenüber den Kakodylaten geht dem Solarson 
einerseits deren häufige häßliche Begleiterschei¬ 
nung, der Knoblauchgeruch der Ausatmungsluft, 
ab, und andererseits kommt vor allem sein Arsen¬ 
gehalt weit vollständiger und zuverlässiger zur 
Geltung. Die gute Ausnutzung des Arsens im 


Solarson ist sowohl tierexperimentell ermittelt, 
wie auch klinisch als typische Arsenwirkung durch 
die günstige Beeinflussung, die es selbst auf 
perniziöse Anämien ausübt,'' sicher gestellt 
(G. Klemperer, Rosenfeld)7- Das Hauptan¬ 
wendungsgebiet des Solarsons bilden sekundäre 
Anämien, Schwächezustände, Neurasthenie, Neu¬ 
ralgien mit Ischias, Basedow und Chorea. In 
diesem Sinne äußern sichu.a. van Rey und Baur- 
mann; dieser hat auch noch einen Fall von 
Migräne erfolgreich mit Solarson behandelt, jener 
auch noch bei Folgezuständen von Genickstarre, 
Malaria und Diphtherie, sowie bei Bauchfell¬ 
tuberkulose mit Nutzen davon Gebrauch gemacht. 
In der Malariatherapie spielt das Solarson ferner 
dadurch eine Rolle, daß chininresistent gewordene 
Fälle nach einer damit durchgeführten Zwischen¬ 
kur wieder besser auf Chinin reagieren (War- 
burg). Bei Prophylaktikern und im Frühstadium 
der Lungentuberkulose hat sich Radwansky 
mit Vorteil des Solarsons bedient. Neuerdings 
wird das Solarson sogar bei Grippe empfohlen, 
und zwar nach jeder Richtung, zur Verhütung 
(Fricke), zur Behandlung (Krüche) und in der 
Rekonvaleszenz (Sußmann). Gegen Neuralgien 
finden sich auch Fehlschläge des Solarsons an¬ 
geführt, so Weißbart bei Interkostalneuralgien 
und Ischias und Bogner bei Gesichtsneuralgie; 
Weißbart bezeichnet auch noch die Erfolge des 
Solarsons bei Chlorose als weniger eindrucksvoll, 
was aber wegen des Fehlens der Eisenquote nicht 
Wunder nehmen kann; sonst sprechen sich 
übrigens beide Autoren lobend über das Mittel 
aus. Ebenso ist Braitmaiers Bericht über seine 
Erfahrungen mit Solarson gehalten; er hat sie 
auch auf Hautleiden ausgedehnt und bei diesen, 
sowie z. B. bei Rachitis und Skrophulose erfolg¬ 
reich mit Höhensonne kombiniert. Speziell auf 
dem Gebiete dermatologischer Affektionen haben 
Joseph und Arnson, Hoffmann und Schäffer 
mit Solarson gearbeitet; als Indikationen dafür 
geben sie Lichen ruber planus, Psoriasis vulgaris, 
Neurodermitis, Akne bei Chlorose, Warzen, 
Pyodermie, Furunculose und Pemphigus an. Für 
die frauenärztliche Praxis, wo ein Arscnikale ja 
häufig angezeigt ist, fällen Mackenrodt, Hösch 
und Schergoff ein günstiges Urteil über Solarson. 

Ein für die intravenöse Beibringung be¬ 
stimmtes Eisenpräparat ist unter dem Namen 
Electroferrol von einer namhaften chemischen 
Fabrik kürzlich herausgebracht worden. — Es ent¬ 
hält 0,5% elektrisch zerstäubten, kolloidalen Eisens 
(nebst einem Schutzkolloid). Nach Heinz ist 
es im Tierversuch ungiftig. Das Präparat kommt 
in gebrauchsfertigen Ampullen für intravenöse 
Anwendung in den Handel. Am Menschen erfolgt 
auf die endovenöse Beibringung von 0,5 ccm 
Elektroferrol Schüttelfrost mit Fieber bis 38,5®, 
sowie Kopfschmerzen, ln der Wirkung ist es in 
Übereinstimmung mit dem Ticrexperiment als 
starkes Mittel zur Anregung der Bliitbildung an- 
zuschen. Therapeutisch soll die einmalige Dosis 
von 0,5 bis 1,0 gewöhnlich genügen; eventuell 
Wiederholung nach 14 Tagen. Anaphylaktische 
Shockwirkung ist nicht zu befürchten. Ver- 
suchenswert soll auch die innerliche Darreichung 
des Elektroferrols in Gaben von 20 Tropfen auf 
einen TheelÖffel Wasser sein. 

Ein zusammenfassendes Urteil über die be¬ 
sprochenen Präparate — etwa im Sinne einer 
Rangordnung — zu fällen, erscheint untunlich; 
es konnte nur auf eine für praktische Zwecke 
brauchbare Orientierung über die Fülle des Ge¬ 
botenen ankommen, und hoffentlich ist dieser 
Zweck einigermaßen erreicht. 





Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


.363 


Bücherbesprechungen. 


Prof. Georg Jürgens (Berlin), Infektionskrank¬ 
heiten. Berlin 1920. Verlag von Julius Springer. 
341 S. 

In dem „Gegensatz bakteriologischer Denkungs¬ 
art und ärztlicher Auffassung“ sucht Jürgens 
die letztere wieder mehr zur Geltung zu bringen. 
Nicht alle übertragbaren Krankheiten oder alle 
bakteriellen Infekte rechnet er zu den Infektions¬ 
krankheiten, die er als „unter dem Einfluß immuni¬ 
satorischer Vorgänge stehende Allgemeinerkran¬ 
kungen mit seKundär auftretender Lokalisation“ 
definiert. « 

Jürgens geht eigene Wege, die von den ge¬ 
wohnten stellenweise weit abweichen. Das doku¬ 
mentiert sich schon in seiner Einteilung der In¬ 
fektionskrankheiten, die er in sechs Gruppen: 
1. gemeingefährliche Volksseuchen, 2. epidemische 
Volksseuchen, 3. endemische Infektionskrankheiten, 
4. Blutinfektionskrankheiten, 5. Tierinfektions¬ 
krankheiten und 6. nicht ansteckende Infektions¬ 
krankheiten trennt. Dabei reiht er beispielsweise 
die Masern in die Gruppe 1, die Grippe in Gruppe 2 
ein; in Gruppe 6 widmet er vor Pneumonie, Ge-' 
lenkrheumatismus und anderen der „Erkältung“ 
als nicht ansteckender Infektionskrankheit ein 
eigenes jkurzes Kapitel. 

Eigenartig und diskutabel wie diese Einteilung 
sind zahlreiche Einzelheiten. Als Beispiel sei der 
Satz angeführt (S. 134): Es ist „eine ungewöhn¬ 
liche Erscheinung, daß ein Grippekranker seine 
Angehörigen ansteckt, daß in den Krankenhäusern 
Hausinfektionen eine beachtenswerte Rolle spielen. 

Eine skeptische und größtenteils ablehnende 
Stellung nimmt J ürge ns gegenüber der specifischen 
Therapie ein. Der Wirksamkeit der Schutzimpfung 
gegen Typhus schreibt er keine Wirkung zu, die 
antikörperanregenden Methoden bezeichnet er als 
„Scheintherapie“. Bei der Therapie der Pneumonie 
— die auf knapp einer ^ite abgehandelt ist, wie 
auch in den übrigen Kapiteln die Behandlung 
einen oft sehr geringen Raum einnimmt, —, ist 
das Optochin überhaupt nicht erwähnt. 

Die angeführten Hinweise sollen nur dartun, 
daß Jürgens’ Werk kein Lehrbuch im gewöhn¬ 
lichen Sinne für Studierende und jüngere Ärzte 
ist. Seinem Werte tut dies keinen Abbruch. Dem 
Älteren, der die Schulmeinung in sich auf genommen 
haJ und neue Lehren auf Grund bereits gewonnener 
eigener Erfahrung kritisch zu verarbeiten vermag, 
sei Jürgens’ Buch warm empfohlen: er wird vieles 
neu sehen lernen und auch da, wo er nicht zustimmen 
kann, Anregung und Bereicherung erfahren. 

Felix Klemperer (Berlin). 

Dr. med. et phil. Hermann v. Hayek (Innsbruck), 
Das Tuberkulose-Problem. Berlin 1920. 
Verlag von Julius Springer. 343 S. 

Die Tuberkulose ist dem Verfasser „in erster 
und letzter Linie ein immunbiologisches Problem“. 
Die chronische Tuberkulose ist eine Krankheit, 
die mit Immunitätsreaktionen beginnt und mit der 
Zerstörung lebenswichtiger Organe endet. Es ist 
fehlerhaft, einzelne Krankheitsstadien für „die“ 
Tuberkulose zu halten. Die Tuberkulose darf 
nicht dann erst als Krankheit aufgefaßt und be¬ 
handelt werden, wenn sie im tertiären Stadium in 
lebenswichtigen Organen physikalisch nachweis¬ 
bare Gewebsschädigungen gesetzt hat. Die latente 
Tuberkulose ist in Wirklichkeit keine ruhende 
inaktive Tuberkulose, sondern eine Tuberkulose, 
die unter stetem Kampf von der Durchseuchungs¬ 
resistenz in Schach gehalten wird. Jede Tuber¬ 
kulosediagnose erfordert die immunbiologische 


Analyse, sie erst rundet den anamnestischen und 
klinischen Befund zu einem Gesamtbild ab. Ins¬ 
besondere die Frühdiagnose darf nicht Zustands¬ 
diagnose, sondern' soll Entwicklüngsdiagnose 
sein. Die spezifische Behandlung muß nach im¬ 
munbiologischen Gesetzen geleitet werden. 

V. Hayek unterscheidet eine positive und 
negative Anergie und Allergie und versucht den 
Gegensatz zwischen der prophylaktischen (immuni¬ 
sierenden) und der anaphylaktisierenden Therapie 
zu überbrücken. 

Als V. Immunitätserscheinungen bezeichnet 
V. Hayek ganz allgemein die „Wechselwirkung 
zwischen einem Krankheitserreger und einem 
befallenen Organismus“; Immunität in diesem 
Sinne ist nicht Schutz, sondern Kampf, Die 
Immunitätsreaktionen deutet er als Antigen- 
Antikörperreaktionen, wobei er aber unter dem 
„Antigen“ ganz allgemein einen biologischen Reiz 
versteht, der durch den Krankheitserreger die 
Körperzellen trifft, und von den „Antikörpern“, 
den hypothetischen Trägern einer Abwehrfunktion 
der bedrohten Körperzeilen, es O'ffen läßt, ob sie 
chemisch faßbare Substanzen oder nur „Erschei¬ 
nungsformen eines immunbiologischen Energie¬ 
umsatzes durch physikalische Zustandsänderungen“ 
sind. Das Problem dej Tuberkuloseimmunität läßt 
sich durch keine der bekannten, experimentell 
bearbeiteten Grundformen humoraler Immunitäts- 
reaklionen restlos erklären. Alle Tuberkulin¬ 
theorien leiden an dem Fehler, daß sie eine Teil- 
erscheinung immunbiologischer Vorgänge als 
die erschöpfende Erklärung annehmen. 

Wie V. Hayek, von dessen Grundan¬ 
schauungen ich im Vorstehenden einiges wieder¬ 
gegeben habe, den Einzelfall immunbiologisch 
zu erfassen und die immunbiologische Be¬ 
handlung zu differenziern sucht, kann hier 
nicht wiedergegeben werden. Weder „die Gesetz¬ 
mäßigkeiten der Lokal-, Allgemein- und Herd¬ 
reaktion“, die er in Kapitel IX aufstellt, noch die 
„Leitsätze für die immunbiologische Tuberkulose¬ 
behandlung“ in Kapitel XIII bis XV kann ich 
in vielen Einzelheiten oder im ganzen als fertig 
und richtig anerkennen. Der Wert des v. Hayek- 
schen Buches liegt meines Erachtens nicht in 
seinem positiven Ergebnis, sondern in seinem 
Ideenreichtum, in der kühnen Aufstellung neuer 
Probleme — z. B. des Problems der getrennten 
Beeinflussung vorgeschrittener Krankheitsherde 
und solcher Herde, bei welchen eine kräftige Re¬ 
aktion, die. zur Antikörperluxusproduktion im 
Herd selbst führt, nicht gescheut zu werden braucht 
(S. 180); und sein außerordentlicher Reiz liegt in 
der Kritik v. Hayeks, die temperamentvoll und 
oft übers Ziel schießend — so z. B. in den Aus¬ 
führungen über die Heilstättentherapie, über 
Liegekur, Ernährungstherapie tisw. in Kapitel IV 
— die Lektüre des Buches so fesselnd und anregend 
gestaltet. Ein ungewöhnliches Buch, an dem kein 
Tuberkuloseforscher und kein Tuberkulosearzt 
wird Vorbeigehen dürfen. 

Felix Klemperer (Berlin). 

Prof. G. Deycke (Lübeck), Praktisches Lehr¬ 
buch der Tuberkulose. Berlin 1920. Verlag 

von Julius Springer. 298 S. 

Der Verfasser, der in der Türkei und in der 
Heimat vielseitige praktische Erfahrungen sammeln 
konnte und durch seine Leprastudien und seine 
gemeinsame Arbeit mit Much die experimentelle 
Tuberkuloseforschung bereichert hat, war vor 
vielen berufen, ein Lehrbuch der Tuberkulose zu 

46* 




364 ^ Die Therapie 4er 


schreiben. Nach kurzen einleitenden Kapiteln 
über die Geschichte der Tuberkulose, den Erreger, 
die Tuberkulose als Volksseuche, die Übertragung 
und Ansteckungswege des Tuberkelbacillus und 
die pathologische Anatomie ist der Hauptteil 
seines Buches der Lungentuberkulose gewidmet. 
Entsprechend dem praktischen Zwecke ist die 
Untersuchung und Behandlung besonders breit 
besprochen, bei letzterer kommt — was hervor¬ 
gehoben zu werden verdient — neben der Pärtigen- 
therapie, auf deren Boden Deyke naturgemäß 
steht, auch die Behandlung mit Alttuberkulin 
zu Wort. Auf das Friedmannsche Ver^ 
fahren setzt Deycke geringe Hoffnung, die 
Strahlentherapie und die chirurgische Behandlung 
würdigt er neben der hygienisch-diätetischen und 
der arzneilichen Behandlung nach Gebühr. — Es 
folgt ein „Abriß der übrigen Organtuberkulose“.. 
Kapitel über die „Miliartuberkulose“ und „die 
Beziehungen der Tuberkulose zum Kindesalter“ 
beschließen das Werk, das in ungemein fließender 
Darstellung den gegenwärtigen Stand unseres 
Wissens und Könnens auf dem Tuberkulosegeb’ete 
zur Darstellung bringt und Studierenden und 
Ärzten warm empfohlen zu werden verdient. 

Felix Klemperer (Berlin). 
Carl von Noorden und Hugo Salomon, Handbuch 
der Ernährungslehre. 1. Band: Allgemeine 
Diätetik (Nährstoffe und Nahrungsmittel, all¬ 
gemeine Ernährungskuren). Berlin 1920. Julius 
Springer. 1237 S. Preis 68 M. u. T.-Z. 

Ein „Standard-Werk“ der Weltliteratur, das 
einen stolzen Besitz der deutschen Wissenschaft, 
bilden wird und ihr so schnell nicht nachgemacht 
werden dürfte! Es ist ein würdiges Seitenstück 
zu Königs „Chemie der menschlichen Nahrungs^ 
und Genußmittel“, einem Werk, das meines 
Wissens auch noch in keiner anderen Sprache 
seinesgleichen hat. Dem Werke von v. Noorden 
und Salomon liegt eine ganz gewaltige Arbeit 
zugrunde. Mit Bienenfleiß und peinlichster Sorg¬ 
samkeit haben sie aus der Literatur ein riesen¬ 
haftes Material zusammengetragen, bis in die 
kleinsten Einzelheiten geprüft und gesichtet und 
in seiner mustergültigen Darstellung kritisch zu¬ 
sammengefaßt. Dabei kam den Autoren natürlich 
ihre eigene außerordentlich reiche Erfahrung auf 
dem Gebiete der Diätetik sehr zustatten. Daher 
trägt die Darstellung auch allenthalben einen aus¬ 
gesprochen subjektiven Charakter — ein großer 
Vorzug für ein solches Sammelwerk, der seine 
Lektüre niemals langweilig werden läßt, sondern, 
wo man es aufschlägt, immer wieder unterhaltend 
gestaltet. Die temperamentvolle Schreibweise und 
das gesunde ungeschminkte Urteil der Verfasser 
machen das , Lesen des Buches in vielen Teilen 
geradezu zu einem Genuß für den Kenner. Bei 
zahlreichen Stichproben, die ich in dem umfang¬ 
reichen Werke gemacht, habe ich in bezug auf 
Vollständigkeit der Darstellung auch nicht einen 
Versager gefunden. Über alles und jedes in der 
allgemeinen und speziellen Diätetik (Nährstoffe, 
Nahrungsmittel, Nährpräparate, Genußmittel, 
Kalorienlehre, Eiweißumsatz, Hygiene des Essens 
und Trinkens, Diätkuren, Überernährung und 
Unterernährung, vegetarische Kuren, Milchkuren, 
Obstkuren, Durstkuren, kochsalzarme Kost, künst¬ 
liche Ernährungsmethoden, Ernährung im Greisen- 
alter, in der Schwangerschaft und im Wochenbett 
und dergleichen mehr) gibt das Werk ausführlichste 
und zuverlässigste Auskunft. Niemand, der auf 
diesem Gebiete wissenschaftlich arbeitet, wird 
das Werk in Zukunft entbehren wollen, und auch 
der praktische Arzt wird sich daraus für alle 
Bedürfnisse der Praxis bestens unterrichten 


Opgenwart 1920 Oktobeir 


können.. Hoffentlich gelingt den Verfassern der 
zweite Teil, der die spezielle Diätetik bei einzelnen 
Krankheiten umfassen, soll, in gleich vorzüglicher 
Weise. Albu. 

Ärztebriefe aus vier Jahrhundertened. von 

Erich Ebstein^ (Leipzig). Berlin 1920. Julius 

Springer. 

, Doctores male pingunt, das Sprichwort von 
den schlecht schreibenden Ärzten bezieht sich 
nicht nur auf die Handschrift; das beste und 
interessanteste was wir in der Praxis erleben, 
dürfen wir nicht preisgeben. \^r sind ja mit 
Fug und Recht zum Berufsgeheimnis verpflichtet 
und nehmen — anders wie viele Repche, welche die 
Hälfte ihres Vermögens, nämli ch die, um welche 
sie zu Lebzeiten überschätzt werden, ins Grab 
mitnehmen — all unsere Familienkunde und 
unsere „Dompteurweisheit“ zu den Schatten 
hinab. Aber auch den Forschern, welche für und 
vor Ärzten lehren, fehlt oft, wenn sie alt, müde« 
und einsam geworden, die Lust zur Rückschau; 
das ,,Weißt du noch damals?“ lockt nicht mehr! 
Immerhin besitzen wir gerade aus den letzten 
Jahrzehnten einige vortreffliche ärztliche Lebens¬ 
beschreibungen, Erinnerungen und Briefsamm¬ 
lungen. Mit steigendem Wohlstand war einstens 
dio Möglichkeit gegeben, sich aus der.Praxis und 
dem Lehramt zeitig zurückzu dehen; diebetreffen¬ 
den Werke wurden auch stärker als früher begehrt 
und gelesen; es existieren ferner zwei sich er¬ 
gänzende biographische Lexica berühmter Ärzte 
und eine unlängst erschienene von Lebens¬ 
beschreibungen erfüllte Geschichte der Augen¬ 
heilkunde von H. Hirschberg. 

Ohne „Wertangabe“ nenne ich (Naturfprscher, 
die als Ärzte angefangen, einbegriffen) folgende 
Einzelwerke: v. Helrnholtz, Du Bois-Rey- 
mond, Virchow, E. v. Bergmann, Billroth, 
Karl Vogt, Boveri, K. Weigert, Aug. Weis¬ 
mann, Kußmaul, P. Ehrlich (eine Biographie 
ist in Vorbereitung), Th. Kölliker, J. Henle, 
Abbe, Gegenbaiier, Wiedersheim, K. E. 
von Baer, "Rob. Koch, Johannes Müller, 
Jacobson, Rob. Mayer, H. Fritsch, A. 
W. Freund, E. v. Leyden, A. von Graefe, 
E. Haffter; von Nichtdeutschen: Lamarck, 
Pasteur, Darwin, Fr. Treves, Roscoe, 
Pirogoff, Weressajew, Mandt, Vant’Hoff, 
RamonyCachal. 

Nun liegt ein ganzer Strauß von Ärztebriefen 
vor, natürlich kein „Mediocritätenbukett“ wie 
Mommsen einst im Kampf mit Fr. Althoff 
gewisse politisch gefärbte Berufungslisten nannte, 
sondern die sorgfältigste, von Paracelsus bis 
Ehrlich sich dehnende Auslese seitens eines 
Medicohistorikers, wobei der Inhalt der Briefe 
maßgebend war; alle interessant, insbesondere die 
von J. G. Zimmermann über seinen ärztlichen 
Verkehr mit Friedrich dem Großen; einige künst¬ 
lerisch in der Form, wenn auch nicht heran¬ 
reichend an unsere stärksten Briefschreiber — 
Bisrnarck, Nietzsche, Gottfr. Keller, Th. 
Fontane, Henriette Feuerbach. Die meisten 
haben die Gefahr, sich in der Tinte zu spiegeln, 
wie Bismarck von seinem Gegenspieler Gort- 
schakoff zu sagen pflegte, vermieden; Psychiater 
fehlen, wie auch in obiger Liste, ebenso praktische 
Ärzte. Für die zweite Auflage wären eventuell 
die wundervollen Briefe von Emin-Pascha (ur¬ 
sprünglich Dr. Ed. Schnitzer aus Neiße i. Schl.), 
von Dr. Richard Kandtim Kriegef, Gouverneur 
von Uganda und Erforscher der Nilquellen, sowie 
von dem im Burenkriege tätig gewesenen, 1904 f 
Dr. Hero Tilemann zu empfehlen. 





Oktober ’ . Die Therapie der Gegenwart 1920. ' 365 


Für viele von uns, die wir jetzo in Erdbeben-^' 
und apokalyptischen Zeiten sozusagen auf Scher¬ 
benbergen leben, dient die Flucht zu den Großen 
^als eilte Art Narkose. Jean Paul hät dafür ein 
'Wort: Dies Buch war für mich eine zweite Welt, 
auf welche die Seele hinausstieg, während sie 
den Körper den Stößen der Erde überließ. 

B. La quer ('^Viesbaden). 

V. Jaschl^e und Pankow; Rünges Lehrbuch 
der Geburtshilfe. Neunte, umgearbeitete 
Auflage. Mit 476, darunter zahlreichen mehr¬ 
farbigen Textabbildungen. Berlin 1920, 
Julius Springer. 

Das Rungesche Lehrbuch der Geburtshilfe^ 
hat durch die beiden• Verfasser eine .vollständige 
Umarbeitung erfahren, so daß man es wohl als 
ihr ganzes geistiges Eigentum betrachten muß. 
Ihrem Versprechen, den Hauptwert auf die für 
den Praktiker bestimmten Methoden zu legen, 
sind sie vollauf gerecht geworden. Hervorzuheben 
sind besonders die Abschnitte über die Nach¬ 
geburtszeit und das Wochenbett, deren genaue 
Schilderung sonst schwer zu finden ist. Drück 
und’ Ausstattung des Buches sind vorzüglich. 
Dem Geburtshelfer, der nicht klinisch arbeiten 
kann, sei dieses Werk auf das wärmste empfohlen. 

Pulverrnacher (Charlottenburg). 

Seitz u. Wintz, Unsere Methode der Röntgen¬ 
tiefentherapie und ihre Erfolge. Berlin- 
Wien 1920. Urban & Schwarzenberg. 

Das Erscheinen dieses. Buches wurde von 
Frauenärzten und Röntgenologen mit gleichem 
Interesse erwartet. Es stellt die Frucht lang¬ 
jähriger, intensiver Arbeit dar und bildet einen 
Merkstein in der Entwicklung der Strahlenbehand¬ 
lung. Derjenige, .der erwartet, daß man nach 
Ankauf eines Röntgenapparates mit Hilfe dieses 
Buches auch gleichwertige Röntgentherapie be¬ 
treiben könne, wird enttäuscht werden, anderer¬ 
seits wird auch der auf dem Gebiete der Röntgen¬ 
tiefentherapie tätige Röntgenologe mit Bedauern 
bemerken, daß die Wintz-Seitzsehe Methode 
auch für die gleiche Apparatur nebst Neben¬ 
apparaten nicht die gleichen Werte respektive Er¬ 
folge verspricht. Das ist bedauerlich. Seitz und 
Wintz sehen in ihrer Behandlung eine physika¬ 
lisch-mechanische Methode. Der mechanisierte 
Betrieb setzt bei richtiger Einstellung’nur eine 
genügend lange Bestrahlungsdauer voraus, um 
die Kastrations-, Sarkom-, Carcinomdosis zu er¬ 
reichen. Unter dieser Zeitdosis ist die Verab¬ 
reichung derjenigen Strahlendosis verstanden, 
welche die entsprechende Krankheit beseitigt. 
Da man aber nicht ohne Schaden unbegrenzt be¬ 
strahlen kann, so setzen die Verfasser die Therapie¬ 
dosis in Beziehung zu der Dosis, welche die Haut 
gerade noch ohne erste Schädiguhg verträgt. 
Seitz und Wintz setzen sich damit sehr leicht 
über die Tatsache hinweg, daß uns das biologische 
Verhalten der bösartigen Geschwülste noch ein 
Buch mit sieben Stegein ist. Wir wissen empirisch 
aber nicht nur, daß der Krebs desselben Organs 
sehr verschiedene Wachstumsbedingungen hat, 
sondern vor allem, daß bösartige Tumoren ver¬ 
schiedener Organe ganz verschieden verlaufen. 


Dieser biologische Faktor kommt allein durch die- 
Tatsache zur Geltung, daß ältere Röntgenologen 
unter weit ungünstigerer Strahlenausbeute, als 
jetzt möglich, glänzende und überraschende Re“- 
sultate erzielt haben. Auf der anderen Seite geht 
es aus den Darlegungen von Seitz und Wintz, 
nicht zum mindesten auf Grund ihrer glänzenden 
experimentellen • ‘Untersuchungen, zur Genüge- • 
hervor, daß ihre Methode für die Behandlung des- 
Uterus- und besonders des Portiocarcinoms die 
aussichtsreichste ist. Die Anwendung des 0,5 mm- 
Zinkfilters, der Intensivapparatur und nicht zu¬ 
letzt die tiefe Lage des zu beeinflussenden Organs: 
führen zu bewundernswerten Resultaten. Es. 
muß, wie es in dem Seitz-Wintzschen Buche 
geschieht, mit Nachdruck betont werden, daß^die 
Technik der Bestrahlung eine Voraussetzung guter 
Resultate ist. Wie könnte es sonst möglich sein, 
daß eine Universitätsklinik von der postoperatiyen' 
prophylaktischen Bestrahlung der Mammaca'rci- 
nome eine außerordentliche Verbesserung, eine 
andere eine starke Verschlechterung der End¬ 
resultate meldet. 

Das größte Verdienst des Buches sehe ich in 
dem mathematisch genauen Nachweis der ver¬ 
schiedenen Strahlenausbeute, je nachdem, ob 
eine bösartige Neubildung mehr an der Ober¬ 
fläche oder in der Tiefe gelegen ist. Nicht genügend 
scheint mir allerdings hervorgehoben, daß der 
Betrieb der Fernfelderbestrahlung dadurch außer¬ 
ordentlich verteuert wird. Interessenten mögen 
sich vor Augen halten, daß auch ein kleineres 
Krankenhaus die von der Erlanger Schule vor¬ 
geschlagene Röntgentiefentherapie nicht mit 
einem Spezialapparat ausführen kann. Im Jahre 
1918 wurden etwa 150 000 M. A.-Minuten (140 
bis 170 000 Milliamp^reminuten pg. 154) verab¬ 
reicht. Das ergibt bei einer Sekundenbelastung 
von 2,5 M. A. 1000 Bestrahlungsstunden im Jahre 
oder 3y2 —4 Stunden am Tage. Nimmt man an, 
daß die~Erlanger Klinik 1918 nur die Hälfte der 
jetzt vorhandenen Apparate besaß, so sind immer¬ 
hin zu der oben genannten Leistung drei bis vier 
Tiefentherapieapparate nötig gewesen. Jedes 
Institut mit größerem Material braucht eine An¬ 
zahl* von Apparaten; denn zum Dauerbetrieb 
gehört ein stets gebrauchsfertiger Ersatzapparat. 
Leistungen, wie sie in Erlangen verlangt werden, 
bringen an sich öftere Revisionen und Repara¬ 
turen der Apparate mit sich. In dieser Beziehung 
ist die Erlanger Klinik exzeptionell günstig dran; 
sie genießt die Unterstützung der Reiniger, Geb- 
bert u. Schall A. G., die nicht nur vorzügliche 
Apparate liefert, sondern durch einen Stab tüch¬ 
tiger Ingenieure die experimentell-physikalischen 
Arbeiten außerordentlich unterstützt hat. Es ist 
und bleibt ein Ruhmesblatt, daß unter den er¬ 
schwerenden Umständen des Krieges und seiner 
Folgeerscheinungen eine Universitätsklinik die 
Röntgentherapie so fruchtbringend beeinflußt 
hat. In der Arbeit der Erlanger Frauenklinik 
liegt System. Die Röntgenbestrahlung der bös¬ 
artigen Geschwülste und def Blutungen steht 
nicht mehr abseits: ihre Erfolge können neben der 
operativen Therapie bestehen, ja sie übertreffen 
dieselbe sogar häufig. Max Cohn (Berlin). 


Referate. 


Über die Wirkungen, welche der Al¬ 
kohol auf den Krieg und seine Folgen 
gehabt hat, machen sich Stimmen be¬ 
merkbar, die nicht alle gleicher Beach¬ 


tung wert sind. Jedenfalls kann man 
nicht scharf genug solchen Veröffent¬ 
lichungen entgegentreten, welche einzelne 
im Felde bedauerlicherweise vorgekom- 




366 Die Therapie der 


nienen Exzesse zu Schlüssen aufbauschen, 
•welche besagen zu sollen scheinen, daß 
dank unserem Alkoholismus den 
'Krieg verloren haben. Über den Rück- 
:gang des Alkoholismus während 
4es Krieges hat u. a. Dr. Schweis- 
/l^eimer in München Mitteilungen ge¬ 
macht, welche zur Weitergabe heraus- 
iordern. Die Bekämpfung des Alkohol- 
•verbrauchs ist von Beginn des Krieges 
.an von allen beteiligten Staaten für not¬ 
wendig befunden worden; sie erhielt ihren 
scMrfsten Ausdruck durch das strikte 
Alkoholverbot in Amerika und (erstaun¬ 
licherweise) in Rußland. In Deutschland 
begnügte man sich mit einer sogenannten 
alkoholfreien Mobilmachung, denn wirk¬ 
lich alkoholfrei war sie nicht. Immerhin 
aber verhinderten die diesbezüglichen 
Verordnungen Ausschreitungen, wie man 
sie bei solchen Anlässen von früher ge¬ 
wohnt war. Deutschland ist nach des Ver¬ 
fassers Meinung nicht mehr ein ,,feuchter“ 
Staat, da die Schnapsbereitung durch 
Benötigung der dafür erforderlichen 
Grundstoffe wesentlich eingeschränkt wer¬ 
den mußte, da für die Biererzeugung der 
wichtigste Bestandteil: die Gerste, fehlt, 
-das für Mostbereitung früher verwandte 
'Obst andere Verwendung fand, und 
schließlich der Wein so sehr im Preise ge¬ 
stiegen ist, daß er nur besonderen Kreisen 
noch zugänglich wird. Dazu kommen 
Verkürzung der Polizeistunde,. Schließung 
der Animierkneipen u. dgl. m. 

Der also verm.inderte Verbrauch an 
geistigen Getränken hatte einen erheb¬ 
lichen Rückgang der Alkoholerkrankungen 
zur Folge. In Deutschlands Anstalten für 
Geisteskranke belief sich-' die Zahl der 
wegen Alkoholismus Neuaufgenommenen 
im Jahre 1914 noch auf 6921 (6380 männ¬ 
liche, 541 weibliche); im Jahre 1916 war 
dieselbe auf 2266 (1986 männliche, 280 
weibliche) gesunken. Der Prozentsatz 
der wegen Alkoholismus in die Charite 
Auf genommenen, der im Jahre 1907 
20,6 bei den Männern, 3,2 bei den Frauen, 
bis August 1914 noch 14 beziehungsweise 
2,8 betrug, fiel im Jahre 1916 auf 3,3 bei 
den Männern und 0 bei den Frauen. Des¬ 
gleichen ist der Prozentsatz der Deliranten 
unter den alkol^olistisch Eingelieferten 
daselbst sehr erheblich gesunken: von 
47,3 Männern und 20 Frauen im Jahre 
1907 auf 9 beziehungsweise 0. Von Inter¬ 
esse ist, daß Bonhoeffer in der Charite 
eine Zunahme der wegen ,,pathologischem 
Rausch“ Aufgenommenen von 12% im 
Jahre 1912 auf 30 und 40% in den Jahren 


Gegenwart 1920 ' Oktober 

. - ■ , .- ■ ■ .. s , '.. 


1915/16 zu verzeichnen hatte. Diese Er¬ 
scheinung wird zum Teil auf die Über¬ 
weisung gerichtlicher Fälle aus dem 
Heere, sodann aber auch auf die " 
mangelnde Widerstandsfähigkeit zurück¬ 
geführt. Es wird ferner das beachtens¬ 
werte Moment hervorgehoben, daß die 
Aufnahme solcher Geisteskranken, welche 
äußeren Einflüssen nicht ihre Ent¬ 

stehung verdanken, wie der an jugend¬ 
licher Verblödung erkrankten Personen, 
'keine prozentuale Herabminderung er¬ 
fahren hatte (das d.ürfte sich in späteren 
Jahren erst bemerkbar machen, sofern 
der dafür angenommene Alkoholismus 
die rückschreitende Bewegung bei¬ 
behält. D. B.). ^ 

Mit Recht hebt Verfasser hervor, daß 
ein abgeschlossenes Bild erst dann ge¬ 
geben sei, wenn die Gesamtzahl ein¬ 
schließlich der Militärpersonen, bekannt, 
auch der Verbrauch an alkoholhaltigen 
Getränken während der Kriegs]ahre mit¬ 
geteilt sein würde. Wenn er schließlich 
noch dem ,,Kriegsbiere“ wegen seines ge¬ 
ringen Alkoholgehalts das Wort redet 
und es als ein wirksames Mittel zur Be¬ 
kämpfung des Alkoholismus bezeichnet, 
so wiederholt er, was der Nestor auf dem 
Gebiete de$ Kampfes gegen den Miß- 
brauch geistiger Getränke, A. Baer, 
vor vielen Jahrzehnten zum Ausdruck 
brachte, um sich damit die unauslösch¬ 
liche Gegnerschaft der Radikalabstinenten 
zuzuziehen.^ 

Ergänzend sei hierbei gestattet, unter 
Hinweis auf die in der ,,Chronik der so¬ 
zialen H^^giehe“ von Dr. Alexander 
Elster (Öffentl. Gesundheitspfl. 1919, 
Heft 5) veröffentlichten Daten noch mit¬ 
zuteilen, daß in den Irrenanstalten un¬ 
serer Ostprovinzen im Jahre 1913 unter 
4882 Kranken 335=6,9% an alkoholi¬ 
scher Geisteskrankheit litten, während 
das Jahr 1917 nur noch 2% aufwies. In 
den öffentlichen Irrenanstalten Schlesiens 
ist der Rückgang der männlichen Al- 
koholisten auf 85,6%, der an akuter Al¬ 
koholvergiftung Erkrankten sogar auf 
96,1% errechnet. Die Provinz Schlesien 
beziffert die Ersparnis dadurch im Jahre 
1917 auf rund 80 000 M. Daneben hatte 
dieschlesischeLande^versicherungsanstalt, 
die im Jahre 1913 für die Heilbehandlung 
Alkoholkranker 125 817 M., im Jahre 
1916 nur noch 8920 M. zu zahlen hatte, 
im Jahre 1917 nichts mehr dafür zu 
verausgaben. — Die Dresdener Heil- 
und Pflegeanstalt stellt genau dieselben 
günstige Rückwärtsbewegung wie auch 



Die Therapie der Gegeinwart 1920 


367 


Oktober ^ > 


T 


die Berliner städtischen Irrenanstalten 
festi). 

Diese nackten Tatsachen dürften auch 
denjenigen zu denken geben, welche jede 
Antialkoholbestr^ung für illusorisch 
halten. Schade nur, daß wir auf eine ob¬ 
jektive Darlegung dessen verzichten müs¬ 
sen, was der Alkohol im Felde sowohl in 
positiver wie negativer Richtung geleistet 
hat' Erst dann würden wir seinen Wert 
im Kriege voll einschätzen können. 

Waldschmidt. 

Der retroperitoneale Weg zur Eröff¬ 
nung tiefliegender Bauchabscesse wird von 
K ep p i ch angelegentlich empfohlen. Wenn 
auch dieses Verfahren bei perityphliti- 
schen Abscessen die Methode der Wahl 
darstellt, so verdient doch die Mitteilung 
des Verfassers, der sie auch auf andere 
Bauchabscesse -.angewendet wissen will, 
der besonderen Beachtung. Der Fall, in 
dem es gelang, einen in Nabelhöhe 
median gelegenen Absceß auf diesem Wege 
zu eröffnen, betraf einen Kriegsverletzten, 
der einen Becken-Mastdarmschuß erlitten 
hatte. Es war sofort die Freilegung des 
Mastdarms und dessen Naht ausgeführt 
worden. Der Kranke begann aber bald 
zu fiebern und verfiel immer mehr. Es 
fand sich an der oben bezeichneten Stelle 
•eine Resistenz, über der der Klopfschall 
tympanitisch war. Dadurch wurde es 
zur Gewißheit, daß man, wenn man den 
Absceß von vornher anging, durch die 
freie Bauchhöhle hindurchgehen mußte. 
K epp ich legte darum den Eiterherd 
retroperitoneal von einem linksseitigen 
Flankenschnitt frei. Das Peritoneum und 
der absteigende Dickdarm ließen sich 
weit nach der Mittellinie zu abschieben 
und es fand sich median von der Abgangs¬ 
stelle der Arteria iliaca communis eine 
Vorwölbung, in der der Absceß gefunden 
und eröffnet wurde. Die Heilung erfolgte 
glatt. Hayward. 

(Zbl. f. Chir. 1920, Nr. 6.) 

Auf Grund ausgedehnter experimen¬ 
teller Untersuchungen an Tieren konnte 
Nürnberger nachweisen, daß Bestrah¬ 
lungen der Hoden und Ovarien eine pa¬ 
thologische oder minderwertige Nach¬ 
kommenschaft nicht entstehen lassen. 
Die Keimzellen werden durch die Be¬ 
strahlung nicht direkt geschädigt, son¬ 
dern bleiben noch etwa 24 Stunden be- 


Auf der im Mai in Hamburg stattfindenden 
Versammlung der Irrenärzte wird von Peretti 
(Grafenberg) und Ritter Wagner-von Jauregg 
(Wien) über diesen Gegenstand umgehend Bericht 
erstattet. D. B. 


fruchtungsfähig; auffallend ist, daß die 
Spermatozoen weniger strahlenempfind¬ 
lich sind, als die Ovarien. Die innerhalb 
dieser 24 Stunden erzeugten Nachkom¬ 
men sind vollkommen normal; nach dieser 
Zeit kommt es nicht mehr zu einer klinisch 
nachweisbaren Konzeption. Tritt nun 
durch die Bestrahlungen keine dauernde 
Sterilität ein, so werden durch die Regene¬ 
ration der Keimdrüsen wieder normale 
Nachkommen erzeugt. Auch beim Men¬ 
schen konnte auf Grund von klinischen 
Beobachtungen und statistischen Er¬ 
hebungen in keinem Falle nachgewiesen 
werden, daß es durch die Bestrahlung zu 
einer Schädigung der Nachkommenschaft 
gekommen wäre. Einen wertvollen Bei¬ 
trag zur Frage der temporären Sterili¬ 
sation der Röntgenstrahlen liefern auch 
diese Tierexperimente; manüst berechtigt, 
bei strengster Indikation dieses Verfahren 
durchzuführen, welches gefahrlos ist und 
stets zum Ziele führt. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(Prakt. Erg. d. Geburtsh., 8. Bd., 2. H.) 

^ Auf Metpstasen des Krebses im Dou- 
glasschen Raume, wie am Rectum lenken 
Cade und Routier die Aufmerksamkeit 
des Praktikers, da die Kenntnis dieser 
pathologischen Zustände für Diagnose 
und Prognose von großer Wichtigkeit 
sind. In den Fällen, in denen der primäre 
Sitz des Krebses unbekannt ist, wird man 
durch das Fühlen, wie Rectoskopieren 
einen Befund aufnehmen können, der ein 
primäres Rectumcarcinom ausscnließt. 
Man muß nämlich in allen den Fällen, 
in denen nur eine breite Infiltration der 
Rectalwand ohne Geschwürsbildung ge¬ 
funden wird, stets an eine Metastase 
denken und die primäre Geschwulst¬ 
bildung in irgend einem Bauchorgane 
suchen. Ist es nun möglich gewesen, den 
Tumor zu finden, so ist dies ein Merk¬ 
zeichen für die Kliniker, daß man es mit 
einer Carcinomatose des Bauchfells zu 
tun hat, und für den Chirurgen, daß er 
sich nur auf eine palliative Operation be¬ 
schränken soll oder überhaupt von jedem 
Eingriff absehen muß. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(La Pr. m6d. 1920, Nr. 16.) 

Die weibliche Gonorrhöe hat nach 
Sänger ihren primären Sitz in der 
Urethra, wonach der Arzt auch seine 
Therapie einrichten muß; das Hauptziel 
ist, den Cervix uteri vor der Infektion zu 
schützen. Bei ambulanter Behandlung 
soll die Harnröhre einmal hei klinischer 
zwei- bis dreimal mit 5% Argonin oder 




X)ie Therapie der Gegenwart i92CL 


OktoBer 


durchgespritzt werden. Nicht ver¬ 
gessen werden darf die Behandlung der 
urethralen und paraurethralen Gänge, die 
mit einem feinen Stichbrenner verödet 
oder mit einem watteumwickelten und 
in Arg. nitrid. getränkten Platindraht 
ausgewischt werden. Ist die Absonderung 
aus der Urethra sehr stark, so wird ein 
mit 1% Ichthargan oder Ichthyolglycerin 
getränkter Tampon vor die Portio gelegt. 
Während der Menstruation muß un¬ 
bedingt Bettruhe eingehalten und dreimal 
täglich eine Atropinpille 0,001 genommen 
werden. Auf solche Weise ist es Sänger 
in manchen Fällen gelungen, die Ge- 
norrhöe auf die Harnröhre zu beschränken 
und dann in viel kürzerer Zeit und sicherer 
als eine Uterusgonorrhöe zu heilen. 

, ■ Pulvermacher (Charlottenbürg). 

(Mschr. f. Geburtsh., Bd. 53.) 

Im Gegensatz zu früheren Anschau"- 
ungen ist in den letzten Jahren nachge¬ 
wiesen worden, daß beim Menschen nach 
subcutaner und intravenöser Injektion 
von Hypophjsenextrakt eine deutliche 
Hemmung der Wasserausscheidung auf^ 
tritt. Dies gilt auch für die Diurese beim 
Diabetes insipidus, während die Wirkung 
beim Diabetes mellitus- bisher noch unge¬ 
klärt war. Schenk kommt auf Grund 
zahlreicher Untersuchungen zu dem Re¬ 
sultat, daß Hypophysenextrakte 
selbst in Dosen, die bei Gesunden und 
bei Patienten mit Diabetes insipidus zu 
vorübergehender Anurie führen, beim 
Diabetes mellitus gar nicht oder nur 
gering diuresehemmend wirken. Die 
als Begleiterscheinung alimentärer Glykos- 
urie auftretende gesteigerte Diurese wird 
dagegen durch große Extraktdosen be¬ 
einflußt. Kamnitzer (Berlin). 

(M. Kl., Nr. 22.) 

Durch das seitliche Anlegen einer 
Kolon-descendens-Fistel unter Lokal¬ 
anästhesie war es Brewitt möglich ge¬ 
worden, eine Reihe von Frauen zu retten, 
bei denen es nach der Operation durch ein 
Beckenexsudat zum Darmverschluß ge¬ 
kommen war. Von den mechanischen 
Verhältnissen dieser postoperativen Stö¬ 
rung wird eine gute Schilderung gegeben. 
Ein Erfolg kann nur dann erreicht werden, 
wenn nicht zu spät operiert wird. Es wird 
zuerst die Darmwandung mit feinen 
Seidenknopfnähten in Markstückgröße in 
die kleine Peritonenlöffnung eingenäht 
und ein Jodoformdocht d''rüber geknüpft. 
Es folgt nun sofort Punktion des Darms 
mit dicker Kanüle, um den Druck der 
Gase zu beseitigen. Eine Seidennaht be- 


' \ 

zeichnet die Mitte der eingenähten Darmr 
wand und schließt die Punktionsstelle. 
Quer zum Darmverläuf wird am nächsten 
Tage ein 1 cm langer Einschnitt gemacht. 
Das bedrohliche Bild ändert sich ganz 
plötzlich. Nach zehn bis zwölf Tagen hat 
sich der Zustand soweit gebessert, daß 
sich die F‘stel spontan schließt. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(Zbl. f. Gyn. 1920, Nr. 24.) 

Über Wesen und Behandlung der 
Neurasthenie hat Strümpell auf einem 
in Karlsbad veranstalteten internatio¬ 
nalen Kursus etwa folgendes vorgetragen: 

Unsere Anschauungen über Begriff 
und Wesen der Neurasthenie haben sich 
in neuerer Zeit wesentlich erweitert. 
Neurasthenie ist keine scharf abgegrenzte 
Krankheit, der Name bezeichnet eine 
ganze Gruppe von Krankheitserscheinun¬ 
gen, die man zu den sogenannten funktio¬ 
nellen Neurosen rechnet. Das Wort 
,,funktionell“ soll den Gegensatz zur 
,,anatomischen“ Erkrankung bezeichnen. 
Doch entsprechen sicher auch der funktio¬ 
nellen Störung gewisse organische, das 
ist also anatomische Veränderungen. Sie 
bestehen aber nicht in dauernden Ge¬ 
websschädigungen oder Gewebsneubil¬ 
dungen, sondern nur in Änderungen des 
funktionellen Zellzustandes und können 
daher jederzeit verschwinden oder sich 
verändern. Jede Zelle steht in ständiger 
Funktionsbereitschaft, deren Anpassung 
an eine bestimmte Reizstärke als die 
„funktionelle Einstellung“ der Zelle be¬ 
zeichnet wird. Die meisten funktionellen 
Störungen beruhen auf einer krankhaft 
veränderten funktionellen Einstellung be¬ 
stimmter Zellgruppen, beziehungsweise 
bestimmter Organe. Meist bezieht sich 
diese Einstellung wohl auf das Verhältnis 
der Zellen zum Nervensystem, so daß diese 
Zustände passend als Neurosen bezeichnet 
werden können. Es ist aber nicht aus¬ 
geschlossen, daß funktionelle Störungen 
der Gewebe auch unabhängig vom Ner¬ 
vensystem bestehen können, daß man 
also statt von Neurosen auch von Myosen, 
Adenosen und anderen sprechen könnte. 
Immerhin spielt der nervöse Faktor bei 
den meisten funktionellen Störungen 
sicher die größte Rolle, und zwar kommen 
unter den nervösen Funktionen wiederum 
am meisten die psychischen Funktionen, 
die Funktionen des Vorstellungslebens in 
Betracht. Wir müssen alle funktionellen 
Störungen einteilen in die organisch¬ 
funktionellen und in die psychogenen 
Störungen. Die Entstehung der letzteren 




Oktober 


Die Therapie deif Gegenwart 1Ö20 


3^ 


hängt zunächst von dem Inhalt der im 
Bewußtsein vorherrschenden Vorstellun¬ 
gen ab. Namentlich sind es Vorstellungen 
ängstlichen Inhaltes, die zahlreichen neur- 
asthenischen Krankheitszuständen zu¬ 
grunde liegen. Die Furcht vor dem 
Krebsleiden, vor dem Herzfehler, vor 
der . Geisteskrankheit ist die Hauptur¬ 
sache vieler Fälle von psychogener Neur¬ 
asthenie. Einen wichtigen Faktor stellen 
dabei die sogenannten Erwartungs¬ 
täuschungen dar: die lebhafte Erwartung 
einer -bestimmten Empfindung ruft die 
Illusion der erwarteten Empfindung her¬ 
vor. Aus dem gefürchteten Schmerz 
entsteht die eingebildete Schmerzemp¬ 
findung. Die letzte Ursache der abnormen 
funktionellen Einstellung des Nerven¬ 
systems und der anderen Organe muß in 
der gesamten ,,Konstitution“ der Kran¬ 
ken liegen. Alle Erörterungen über Neur¬ 
asthenie führen zur Untersuchung des 
Konstitutionsbegriffes. Wir müssen ent¬ 
sprechend dem oben Gesagten die orga¬ 
nisch-funktionelle und die psychischeKon- 
stitution unterscheiden. Die abnorme 
Konstitution kann sich in äußerlichen 
anatomischen Merkmalen bemerkbar 
machen oder nur in abnormer funktio¬ 
neller Einstellung der Organe. Bei den 
Neurasthenikern ist die abnorme psy¬ 
chische Konstitution meist das Vor¬ 
herrschende. Sie ist charakterisiert durch 
die große psychische Reizbarkeit, die 
sich aber nicht nur in bezug auf die 
psychischen Reize selbst, sondern auch 
oft auf zahlreiche körperliche physika¬ 
lische (Witterung!) und chemische (Alko¬ 
hol und andere) Reize bezieht. Gehen 
wir dem Wesen der Konstitutionsunter¬ 
schiede noch näher nach, so müssen wir 
auch das Gebiet der inneren Sekretion, 
der sogenannten endokrinen Drüsen be¬ 
rühren. Vor allem die Schilddrüse und 
die Geschlechtsdrüsen, letztere insbe¬ 
sondere beim weiblichen Geschlecht, ver¬ 
dienen auch bei der Entstehung neur- 
asthenischer Zustände Beachtung. Nicht 
selten hängt die Neurasthenie zum Bei¬ 
spiel mit Basedowerscheinungen zusam¬ 
men, in anderen Fällen mit Störungen 
der Ovarialfunktion und dergleichen. 
Auch die chemische Konstitution des 
Körpers kommt in Betracht. Anomalien 
des Stoffwechsels, wie zum Beispiel die 
Hämatoporphyrie, können den neur- 
asthenischen Zuständen zugrunde liegen. 
Machen wir uns alle diese verschiedenen 
Gesichtspunkte klar, die zur Beurteilung 
jedes einzelnen Falles von Neurasthenie 


herangezogen werden müssen, so sehen 
wir auch ein, vor welche komplizierte 
Aufgabe wir auch bei der Behandlung 
der Neurasthenie gestellt werden. Die 
Grundbedingung ist eine eingehende Dia¬ 
gnostik, nicht nur der Ausschluß anatomi¬ 
scher Erkrankungen, sondern auch die ' 
Beurteilung der besonderen Art der vor¬ 
liegenden funktionellen Störungen. Die 
Konstitution des Kranken verdient die 
eingehendste Berücksichtigung; an die 
Möglichkeit endokriner Störungen, die 
vielleicht durch eine Organtherapie 
günstig zu beeinflussen sind, ist stets zu 
denken. Von größter Bedeutung ist 
aber die psychische Behandlung. Nur 
der Arzt, der seine Kranken psychisch 
günstig zu beeinflussen versteht, wird bei 
der Behandlung der Neurasthenie gute 
Erfolge erzielen. Die Neurastheniker 
bedürfen vor allem des Trostes und der 
Beruhigung. Der Arzt muß ihren Ge¬ 
mütszustand zu ergründen suchen uad 
hiernach seine Behandlung einrichten. 
Die Suggestivbehandlung ist neben der 
unmittelbaren Psychotherapie oft unent¬ 
behrlich. Der Arzt muß sich daran ge¬ 
wöhnen, jeden einzelnen Krankheitsfall 
als eine besondere ihm gestellte Aufgabe 
zu betrachten. Dann wird er bei der 
Diagnose und Behandlung der Neur¬ 
asthenie das erreichen, was der Natur 
der Sache nach überhaupt zu erreichen ist, 

0. R. 

Welch verheerenden Folgen der Krieg 
auf die heimische Bevölkerung gehabt 
hat, und wie die Schäden einigermaßen 
wieder auszugleichen sind, ist eine Frage 
von allergrößter Wichtigkeit für den 
Fortbestand des Deutschen Reiches. Aus 
den verschiedensten Städten werden 
ziffernmäßige Daten gegeben, die in er¬ 
schreckender Deutlichkeit zeigen, was 
uns die Kriegszeit an Menschenmaterial 
gekostet hat. So veröffentlicht der 
Privatdozent Dr. Bürgers die Sferblich- 
keitsverhältnisse der Leipziger Bevöl¬ 
kerung in den Jahren 1912—18. Aus 
einer größeren Zahl von Tabellen und 
Kurven, welche er seinen ausführlichen 
Darlegungen beifügt, erhellt, wie un¬ 
günstig sich die Verhältnisse für diese 
Stadt gestaltet haben. Zunächst ist die 
Einwohnerschaft von 616 220 im Jahre 
1912 auf 563 946 im Jahre 1918 zurück¬ 
gegangen, wobei die Männer ein Minus 
von 76 222 aufzuweisen haben gegenüber 
einem Plus der weiblichen Bevölkerung 
von 23 948. Die allgemeine Sterblichkeit 
hat sich bei den Männern von 3995 

47 



^70 


Die Therapie der' Gegenwart 1920 


Oktober 


('== 132,5 auf 10 000 Einwohner) auf 5389 
(239,4), bei den Frauen von 3719 (111,1) 
auf 5389 (239,4), also insgesamt von 7714 
(124,8) auf 10 969 (194,5) gehoben. Die 
Zahl der Geburten fiel von 134 00 (6935 
männliche, 6465 weibliche) im Jahre 1912 
auf 6505 (3372 männliche, 3133 weib¬ 
liche) im Jahre 1918. Der Geburtenüber¬ 
schuß ist von + 65,9 auf — 83 herab¬ 
gedrückt, so daß Leipzig nur noch hinter 
München, welches von + 65,5 auf — 43,1 " 
glitt, übertroffen wird; während andere 
deutsche Großstädte ein noch trüberes 
Bild zeigen, so Berlin von + 99,4 auf 
— 147,4, Breslau von + 74,1 auf — 144, 
Hamburg von + 70,7 auf —• 120,7 usf. 
Die Hauptsteigerung der allgemeinen 
Sterblichkeit, welche ihren beredtesten 
Ausdruck in den Sterblichkeitsziffern für 
das weibliche Geschlecht erhält, setzt in 
Leipzig im Dezember 1916 ein und währt 
über Januar/Februar 1917,* um dank einer 
bnfluenzaepid^fnie im Oktober 1918 ihren 
Höhepunkt zu erreichen. Für die sonstige 
Todesursache wird in erster Linie die 
Tuberkulose verantwortlich gemacht; die 
Zahl der diesbezüglichen Todesfälle stieg 
von 18 auf 32,2 pro 10 000, das ist um 
91,6%. Besonders zeichneten sich hier¬ 
durch die Jahre 1917/18 aus, wiewohl 
schon im Laufe des Jahres 1916 eine ge¬ 
wisse Steigerung beobachtet ward. In den 
’Jahren 1915/16 machte sich Diphtheriebe- 
sonders unliebsam geltend, während 1917 
Herz- und Gefäßerkrankungen sowie 
Altersschwäche hervortraten. Wie nicht 
anders zu erwarten, geben diebeiden Jahre 
1917/18 ein recht ungünstiges Bild. —Was 
die Säuglingssterblichkeit anlangt, so 
konnte für Leipzig mitgeteilt werden, daß 
in dem Zeitraum 1912/18 keine Steigerung 
stattgehabt hat, allerdings auch keine Ab¬ 
nahme zu konstatieren war. Angesichts 
der hoh^n Sterblichkeitsziffern bei den 
unehelichen Kindern mußte man wahr- 
" nehmen, daß die Erwartungen, welche auf 
die Reichswochenhilfe gesetzt worden 
waren, vereitelt wurden. 

Ein Mehr aus diesem wertvollen Ma¬ 
terial wiederzugeben, würde den Rahmen 
der Berichterstattung übersteigen. Es sei 
schließlich nochmals hervorgehoben, daß 
die Tuberkulose besonders im Jahre 1918 
verheerend auftrat, nachdem sich bereits 
im Frühjahr der Einfluß der mangel¬ 
haften Ernährung geltend gemacht hatte, 
ein Einfluß, den deutlich die Einwirkung 
der unheilvollen Blockade, deren direkte 
Folgen für Leipzig auf 5000 Personen 
geschätzt werden, dartut. — 


Über Geburt und Tod in Chem¬ 
nitz während der Kriegsjahre verbreitete 
sich Med.-Rat Dr. Hauff e, Stadtbezirks¬ 
arzt in Chemnitz. Er stellte einen starken 
Rückgang der Geburten dreiviertel Jahr 
nach Kriegsbeginn fest, der im November 

1917 seinen höchsten Tiefstand, ein Viertel 
der Entbindungen im ersten Kriegsmonat, 
erhalten hat; im Jahre 1918 konnte ein 
kleiner Anstieg konstatiert werden. Die 
Zahl der Lebendgeburten sank von 8406 
im Jahre 1913 auf 3366 im Jahre 1918, 
die der Todesfälle stieg dagegen in den 
betreffenden Jahren von 4306 auf'5441. 
Im Jahre 1913 kamen auf 1000 Ein¬ 
wohner 26,69 Lebendgeborene, im Jahre 

1918 nur noch 12,38 (11,93 im Jahre 1917). 
Die Säuglingssterblichkeit bewegte sich 
zwischen 16,13% im Jahre 1913, 20,77% 
im Jahre 1914 und 15,71% im Jahre 

1918. Dabei muß die größere Anzahl 
stillender Mütter in Betracht gezogen 
werden: während z. B. 1913 noch ein 
Prozentsatz von 21,63 aller entbundenen 
Mütter überhaupt nicht stillten, fiel diese 
Zahl im Jahre 1918 auf 7,49%; besonders 
die Zahl derjenigen, welche diese Pflicht 
über sechs Wochen erfüllten, war nicht 
unwesentlich erhöht — Die Gesamt¬ 
sterblichkeit ist von 136^7 (1913) auf 200,2 
(1918) auf 10 000 Einwohner gestiegen, 
die Zahl der Tuberkulosesterblichkeit von 
13,21 auf 31,2 errechnet. Die Folgen der 
Hungerblockade werden auch durch diese 
Zahlen, zumal in Anbetracht der Tatsache, 
daß die Zahl der Einwohner bei Kriegs¬ 
beginn 326 563 betrug, bis Ende des 
Jahres 1918 einen Verlust von 54 646- 
aufzuweisen hatte, erhärtet — ein Um¬ 
stand, der nicht nachdrücklich genug 
immer wieder betont zu werden verdient. 

Im Anschluß hieran sei der Äußerun- 
gofi, welche Geh. Ober-Med.-Rat Dr. 
K r 0 h n e aus dem preußischen Ministerium 
des Innern gelegentlich der jüngsten Ver¬ 
sammlung der Medizinalbeamten über 
diesen Punkt machte, Erwähnung getan. 
Nach der Zeitschrift für Medizinalbeamte 

1919, Nr. 24, sagte er u. a.: ,,Ich weiß 
nicht, ob es in weiteren Kreisen unseres 
Volkes bereits hinreichend bekannt ist, 
wie furchtbar unser Volk in gesundheit¬ 
licher Beziehung durch diesen Krieg ge¬ 
litten hat, und welches Maß von Verlusten 
an Menschenkraft und Menschengesund¬ 
heit uns betroffen hat. Ich will nur fol¬ 
gende Zahlen erwähnen; Wir haben im 
Kriege verloren annährend 7 Millionen 
Menschen! Gefallen sind rund 2 Millionen 
Menschen; weiterhin sind 800 000 Men- 


Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


371 


scheiß der Heimatbevölkerung, was wir 
•statistisch nachweisen können, durch die 
Hungerblockade zugrunde gegangen, und 
schließlich haben wir lediglich infolge des 
Krieges seit 1915 einen Geburtenverlust 
von 4 Millionen zu beklagen — also ganz 
ungeheuere Verlustziffern— Krohne 
berechnet unter Berücksichtigung'^der 
Abtretung deutscher Landesteile den 
Menschenverlust für Deutschland auf über 
12 Millionen! Waldschmidt. 

' (Öffentl. Gesundheitspfl. 1919, Nr. 10.) 

Mit Styptysat, aus dem Hirtentäsch chen 
nach dem Ysatverfahren von der Ysat- 
fabrik Johannes Bürger in Wernigerode 
hergestellt, hat Oppenheim bei Uterus¬ 
blutungen aller Art in den meisten Fällen 
seine Erwartungen erfüllt gesehen, so- 
daß er dieses Mittel bei allen Geburts¬ 
blutungen, soweit sie nicht operativ an- 
zugreifen sind, sehr empfehlen kann. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(M. KI. 1920, Nr. 35.) 

Mit Einspritzungen- von Terpentinöl, 
das nach einem besonderen .Verfahren 
rektifiziert und von der Firma Ludwig 
Ostreich er in Berlin hergestellt wird, 
hat Hartog bei Eiterungen und 
Entzündungen der weiblichen Ge¬ 
nitalien recht gute Erfolge erzielt. 
Auffallend war die schnelle Besserung 
bei Parametritiden nach Abort und 
Geburt; bei den gonorrhoischen Er¬ 
krankungen ließen auch Ausfluß und 
Schmerzen bald nach, während eine 
wesentliche Änderung im objektiven Be¬ 
fund nicht sofort festzustellen war. Inner¬ 
halb einer Woche werden zwei Ampullen 
Terpichin mit einer drei bis vier Zenti- 
- meter langen Kanüle in die Glutäal- 
muskulatur eingespritzt. Wenn auch, 
wie die Erfahrung zeigt, mit anderen 
Mitteln bei diesen Erkrankungen eine 
Besserung erreicht wufde, so ist doch die 
äußerst schnelle Veränderung nach der 
guten Seite hin sowohl in subjektiver, 
wie objektiver Beziehung sehr über¬ 
raschend. Pulvermacher (Charlottenburg). 

(M. Kl. 1920, Nr. 18.) 


Die Frage' eines ursächlichen Zu¬ 
sammenhanges zwischen Trauma des 
Nervensystems und perniziöser Anämie 
erörtert J. Zadek auf Grund einer Ka¬ 
suistik des Städtischen Krankenhauses 
Neukölln. Die Ätiologie der Perniziosa 
ist nur in einer Minderzahl der Fälle 
— schätzungsweise zu 20 % — bekannt: 
Bothriocephalus, Leukämie,'Malaria, Blei,. 
Lues, Carcinose. Der Ursprung der über¬ 
wiegenden Mehrzahl (80 %) ist unbe¬ 
kannt. Die nervöse Komponente im 
Krankheitsbilde der Perniziosa umfaßt 
hauptsächlich funktionelle Symptome wie 
Schwindel, Kopfschmerz, Paraesthesieen, 
Koma. Nur selten finden sich organische 
Störungen: Hirnblutungen, Strangdegene¬ 
rationen. Organische Veränderungen des 
Nervensystems sind als Entstehungs¬ 
ursache kaum in Betracht gezogen wor¬ 
den: Eher hält man psychische Traumen, 
Kummer und Sorgen bei schlechten so¬ 
zialen Verhältnissen für bedeutsam, wo¬ 
durch sich die hohe Erkrankungsziffer 
bei Frauen der Arbeiterklasse erklärt. 

Die vorliegende Sammlung umfaßt 
fast 50 Fälle, unter denen drei (6 %) be¬ 
merkenswert sind, bei denen anamnestisch 
ein schweres Trauma des Nervensystems 
vorliegt. In der Literatur sind bisher 
nur wenige derartige Fälle beschrieben 
worden, und zwar weniger nach or¬ 
ganischen Verletzungen als nach allge^ 
mein psychisch-nervösen Einwirkungen, 
so nach Schock, Sturz mit dem Motor¬ 
rad, Eisenbahnunfall. Die drei eigenen 
Fälle des Verfassers umfassen sichere 
Perniziosae nach schweren Verletzungen 
des Schädels unter mittelbarer oder un¬ 
mittelbarer Beteiligung des Gehirns. 

Ein strikter Beweis für eine Ein¬ 
wirkung der Hirnverletzung auf das 
hämatopötische System ist naturgemäß 
nicht zu erbringen. Angesichts der un¬ 
zähligen Schädeltraumen des Weltkrieges 
bietet sich reichlich Gelegenheit dieser 
Anregung naehzugehen. 

Bosselmann (Berlin). 

(M. m. W. 1920, Nr. 33.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Bemerkungen zu dem A. Loewysehen Aufsatz über die 
Steinachschen Versuche im Augustheft 1920. 

Von Sanitätsrat Dr. B. Laquer, Wiesbaden. 


Die klaren’ A. Loewy sehen Ausfüh¬ 
rungen sind inzwischen durch W. Roux, 
Stutzin und P. Fürbringer in der 
D. m. W. 32 und 35 und 36 sowie durch 


Rom eis in der'M. m. W. 35 in kritischer 
Hinsicht erweitert worden; daß die Stelle, 
an welcher das Vas deferens nach -Stei¬ 
nach unterbunden und excidiert werden 


47* 



I 


372 Die Therapie der 


.soll, — im Gegensatz zu, der früher bei 
Prostatahypertrophie herkömmlichen, 'der 
S t e-i n a ch- Effekte ermangelnden ingui¬ 
nalen — eine gewisse Rolle spielt, hebt 
schon Roux hervor; — Fürbringer be¬ 
tont die geringe Zahl der klinischen Be¬ 
obachtungen Steinachs, Romeis den 
Mangel an Eindeutigkeit derselben, auch 
. ‘der Rattenexperimente. Von Bedeutung 
scheint aber auch — und dies ist bislang 
noch nicht erwähnt worden — die Aus¬ 
wahl der zu Verjüngenden, insbesondere 
-die Rücksicht auf die Beschaffenheit des 
Herzens; hier kann durch wahllose In- 
-dikationsstellung Lebensgefahr entstehen, 
denn eine neu gewonnene sexuale Betäti- 
.gungsmöglichkeit stellt gerade bei älteren 
Leuten große, ja maximale Ansprüche an 
das Gefäßsystem; siehe auch B. Naunyn 
und C. Hi.rsch in den betreffenden Ka¬ 
piteln des J. Schwalb eschen Lehrbuchs 
-der Greisenkrankheiten (1908), • Krehl 
der in Monographie über Herzkrankheiten 
in Nothnagels,,Handbuch“. E. v. Ley¬ 
den in Senator-Kaminers Ehe und Krank¬ 
heiten; V. Leyden hat vor langer Zeit, 
Zschr. f. klin. M. Bd. 11, Fälle von Herz¬ 
ruptur im Kohabitationsakt beschrieben. 
Man sollte, wenn die allgemeine Ver- 
. jüngung überhaupt gelingt,‘d'ie betreffen- 
-den ,,alten Herren“ dringend davor 
warnen, die Probe, auf das Exempel zu 
inachen und ihnen raten, sich mit der 
Besserung der allgemeinen funktionellen 
Leistungsfähigkeit genügen zu lassen. 

Steinachs Verdienste um die For- 
■schung bleiben, auch wenn seine Ratten¬ 
versuche sich, wie so oft, nicht auf die 
Menschen übertragen lassen, unbestritten 
ersten Ranges. Man lese auch A. Lip- 
3chütz: die Pubertätsdrüse, 1919, Bern 
und P. Kämmerers Bericht über Stei¬ 
nachs Forschungen in den ,,Ergebnissen 
der inneren Medizin“, Bd. 17, 1919. 

Nachschrift: Während des Druckes 
-dieser Zeilen fand gelegentlich der Nau- 
heimer Ärzte- und Naturforscherversamm¬ 
lung in der ,,Sektion für Chirurgie“ am 
Mittwoch, dem 23. September, eine kurze 
Debatte über die Verjüngungsoperation 
statt. Zuerst berichtete der chirurgischeMit- 
-arbeiter Steinachs, Prof. R. Lichten- 
stern-Wien über die Erfolge der Alters- 
bekämpfungbeimManne. Es ist Steinach 
gelungen, durch Neubelebung der Puber¬ 
tätsdrüse beim Versuchstiere die Alters¬ 
erscheinungen zum Schwinden zu bringen 
und dem Tiere eine neue Jugend einzu¬ 
flößen. Auf Veranlassung dieses Forschers 
hat Lichtenstern im Herbste 1918 diese 


Gegenwart 1920 ' Oktober 


Veisuche auf den Menschen übertragen 
und es gelang ihm, in einer Anzahl von 
Fällen gewisse Alters ersch ei nun gen zur' 
Rückbildung zu bringen. Lichtenstern 
-verfügt ütier 28 Fälle. Der Eingriff, der 
in der Unterbindung des Ausführungs¬ 
ganges der Geschlechtsdrüsen besteht, 
teils am Nebenhoden selbst, teils höher, 
oben, ist ein harmloser, in Lokalanästhesie 
leicht auszuführender. Die Indikation 
für diese Operation am Menschen besteht 
in den Veränderungen des Senium praecox 
bei Männern zwischen dem 40. und 50. 
Lebensjahre, wobei Vorbedingung das 
Fehlen schwerer Organerkrankungen ist. 
Weiter in der Bekämpfung der Alters¬ 
erscheinungen bei Menschen in hohem 
Lebensalter, deren Allgemeinzüstand aber 
noch so günstig ist, daß eine Wiederher¬ 
stellung wahrscheinlich erscheint. Auch 
hier bilden schwerere Organerkrankungen 
eine Kontraindikation. Endlich wurde 
bei jungen Menschen, bei denen eine ge¬ 
ringe Erotisierung seit der Pubertät, ge¬ 
ringere Ausbildung der Sexuszeichen und 
insbesondere geringere geistige Leistungs¬ 
fähigkeit bestand, der Versuch gemacht, 
durch diesen Eingriff eine vermehrte 
Funktion der Geschlechtsdrüse zu er¬ 
zielen. 

Die Erfolge bei den zwei ersten Grup¬ 
pen waren recht befriedigende. Von mar¬ 
kanten Erscheinungen war insbesondere 
das Verhalten der Haut auffällig; die 
früher trockene, spröde, unelastische Haut 
bekam Glanz, Elastizität und wurde gut 
durchfeuchtet. Rascheres Wachstum 
der Kopf- und Barthaare, Neubehaarung 
an verschiedenen Stellen des Körpers 
und der Extremitäten war ebenfalls zu 
beobachten. Rasche Gewichtszunahme, 
Erhöhung der körperlichen und geistigen 
Leistungsfähigkeit trat auf. Früher 
quälende Herzbeschwerden schwanden. 

Es konnte endlich eine auffallende Zu¬ 
nahme der Libido und Potentia coeundi 
festgestellt werden; die Erfolge bei der 
Gruppe der jüngeren, sexuell Zurückge- v 
bliebenen ist zurzeit noch nicht spruchreif. 

Der Eintritt dieser Veränderungen 
erfolgte acht Wochen bis fünf Monate 
nach dem Eingriff und ist deshalb ruhiges 
Zuwarten und ein lang fortgesetztes Be¬ 
obachten nach der Operation angezeigt. 
Die Auswahl der zu operierenden Fälle 
muß eine vorsichtige und sehr sorgfältige 
sein. Alles ungeeignete Material soll aus¬ 
geschaltet werden. 

Die bisherigen Beobachtungen am 
Menschen berechtigen zu dem Schlüsse, 




Öktober 


Dfe Therapie der Gegenwart 1920 


373 


daß die von Steinach am Tierexperi- 
ment gemachten Erfahrungen auf den 
Menschen anwendbar sind, daß die Wir¬ 
kung des von Steinach empfohlenen 
Eingriffes auch beim Menschen ähnliche 
Veränderungen nach sich zieht wie beim 
Versuchstier. Irgendeine lokale Schädi¬ 
gung oder'irgend einen ungünstigen Ein¬ 
fluß auf den Gesamtorganismus konnte 
auch bei doppelseitiger Unterbindung und 
bei längerer Beobachtungszeit in keinem 
der Fälle wahrgenommen werden. 

Sodann sprach Mühsam (Berlin) über 
Testikel-Radikaloperationen bei Sexual¬ 
neurose und ihre Erfolge (vgl. D. m. W. 
N. 29 d. J.). 

In der Diskussion empfahl E. Payr 
(Leipzig), falls Testikeln mangeln, Testi- 
kelscheiben von Blutverwandten Heraus¬ 
zunehmen und zu überpflanzen. Ferner 
wies er auf seine in der Nummer vom 
11. September des ,,Zbl. f. Chir.“ ver¬ 
öffentlichte Kritik der St ei nach sehen 
Versuche hin, sowie auf die alte Noth- 
nagelsche Bemerkung, daß unter tau¬ 
send Menschen etwa einer an Alters¬ 
schwäche stürbe, während Tiere umge¬ 
kehrt zu 999 7oo einen physiologischen 


Tod erleiden, da ihre Organe nicht so 
vielen und starken,’ krankmachenden In¬ 
sulten ausgesetzt seien wie die der Men¬ 
schen. Die Vasektomie sei niöht gar so 
harmlos; Choc Psychosen nicht selten. 
Kümmel (Hamburg) hat auch schon 
früher eine zweite Jugend nach subpubi- 
scher Prostatektomie mit Obliterationen 
der Vasadeferentia gesehen und führt 
die selteneren Fälle von Psychosen auf 
Urämie zurück. Asch off (Freiburg) hält 
das isolierte Vorhandensein und -Wirken 
der sogenannten Pubertätsdrüse histolo¬ 
gisch und physiologisch für noch nicht 
erwiesen. Von Haberer (Innsbruck): sah 
Todesfälle nach doppelseitiger Vasektomie 
durch Gangrän des Nebenhodens. 

Die Debatte ergab also noch viele 
strittige Punkte; .auch waren die Lich- 
tensternschen Krankengeschichten kli¬ 
nisch viel zu allgemein gehalten (Referent). 
Kritische Weiterprüfung der interessanten 
sexualbiologischen Fragen, welche nach 
Ansicht des Referenten nur nach sorgfäl¬ 
tigster klinischer Prüfung der Fälle, und 
zwar von hunderten von Kranken und 
Gesunden vor und nach der Steinach- 
schen Operation ist notwendig. 


Aus der 1. inneren Abteilung des Städtischen Krankenhauses Moabit. 

Augenkrisen bei Tabes. 

Von Leo Jacobsohn, Chaiiottenburg. 


Eine Belebung des einförmigen Bil¬ 
des, das die Tabes dorsalis dem Kliniker 
bietet, bewirken jene eigenartigen akut 
auftretenden, als Krisen bezeichneten 
Zustände, deren Prototyp die Magen¬ 
krise ist. Auch an Häufigkeit steht die 
Magenkrise an erster Stelle. Seltener 
schon sind die Darmkrisen, Blasen-, 
Nieren-, Klistoris-, Anal-, Larynx-, Pha¬ 
rynx- und Geschmackskrisen. In neuerer 
Zeit hat J. PaF) auf einen krisenartig 
eintretenden Zustand von Atmungsstill¬ 
stand aufmerksam gemacht, der von 
jenem Autor auf eine für die Tabes 
charakteristische Neigung zu zeitweiser 
Gefäßverengerung zurückgeführt wird. 
Das eindrucksvolle Bild einer vier Minuten 
anhaltenden Atmungspause mit tiefer 
Bewußtlosigkeit wurde im Krankenhause 
Moabit bei einer tabischen Kranken mehr¬ 
fach beobachtet^). Zu den seltensten 
Erscheinungen im Bilde der Tabes ge- 

J. Pal, Atmungs- und Gefäßkrisen bei 
Tabes. W. m. W. 1909, Nr. 11. 

2) Leo Jacobsohn, Krisenhaft auf tretende 
Bewußtlosigkeit mit Atemstillstand bei Tabes. 
Ther. d. Gegenw. 1910, Nr. 7. 


hören krisenartige, periodisch wieder¬ 
kehrende, auf den Augapfel lokalisierte 
Zustände. Ja, ein so erfahrener Autor 
und hervorragender Kenner wie Her¬ 
mann Oppenheim konnte noch in 
der vorletzten Auflage seines Lehrbuches 
(1909) sagen: „Es bleiben jedoch weitere 
Erfahrungen abzuwarten, ehe man diese 
Anfälle der Symptomatologie der Tabes 
einreihen kann.“ ^ Derartige Erfahrungen 
sind in den letzten zehn Jahren gemacht 
worden, und wenn auch etwa nur ein 
halb Dutzend Fälle der Kritik standhalten, 
so ist doch die Existenz der Augenkrise 
heute über jeden Zweifel sichergestellF). 
Die Seltenheit der auf dem Boden der 
Tabes entstehenden Augenstörung recht¬ 
fertigt die Mitteilung eines weiteren Falles. 

Es handelt sich um die 42 jährige verwitwete 
W'. K., die am 3. Juli 1920 im Krankenhaus Moabit 
Aufnahme fand. 

Als Kind Masern, Diphtherie, Lungenentzün¬ 
dung, hat infolge von Rachitis erst spät gehen ge¬ 
lernt. Seit sieben Jahren Menopause nach Total- 
extirpation. Im Anschluß hieran rechtsseitige 

2) R. Fabinyi, Tabische Augenkrisen und 
deren Entstehung. Zschr. f. Psych. u. Neurol. XXII, 
Heft 3. 




374 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Oktober 


Lähmung mit Sprachverlust. Deswegen längere 
ambulante Behandlung in der Charite mit Aus¬ 
gang in fast völlige Heilung. Im letzten Jahr 
mehrere Anfälle von vorübergehender Bewußt¬ 
losigkeit ohne Zungenbiß. Darauf Kopfschmerz, 
einigemal auch Erbrechen. . Seit zwei Monaten 
wiederholte Schmerzanfälle in der Magengegend 
und rechtem Hypochondrium mit starkem galligem 
Erbrechen. In dieser Zeit konnte Patientin nichts 
bei sich behalten, auch nicht Wasser, kam sehr 
herunter. Nach Überstehen der Brechanfälle 
schnelle Erholung. Seit 18 Jahren verheiratet, 
Lues in Abrede gestellt, keine Fehlgeburt. Von 
fünf Kindern sind vier angeblich an Kinderkrank¬ 
heiten gestorben. 

Aufnahmebefund: Stark gealterte, schlecht 
genährte Frau. Blässe der Haut und Schleimhäute. 
Das Brustbein springt vor, die Unterschenkel 
sind leicht verkrümmt. An der Herzspitze leises 
systolisches Geräusch, Puls 120, keine Verbreite¬ 
rung. Urin frei von Eiweiß und Zucker, im Sediment 
vereinzelte Leukocyten und Plattenepithelien. 

Pupillen beiderseits eng, lichtstarr, Konvergenz- 
re^ktion erhalten. Linker Abducens leicht paretisch 
Rechter Patellarreflex erloschen, linker nur mit 
Kunstgriffen auslösbar, Achillesreflex fehlt beider¬ 
seits. Rechter Radiusreflex erhöht, Sensibilität 
auf der ganzen rechten Seite leicht herabgesetzt 
(Reste der früheren Hemiplegie). Keine Ataxie. 
Wassermann Nonne 

Am zweiten Tage der Krankenhausbehandlung 
epileptiformer Anfall mit vierstündiger Bewußt¬ 
losigkeit ohne Zungenbiß und Bettnässen. Beim 
Erwachen Kopfschmerz, einmaliges Erbrechen. 

Eine darauf eingeleitete Quecksilberbehandlung 
wird wegen Stomatitis ausgesetzt und Neosalvarsan 
gegeben, das gut vertragen wird. In den nächsten 
drei Wochen keine neuen Erscheinungen, Patientin 
erholt sich und steht auf. Da stellte sich plötzlich 
nach vorangehendem Ziehen und Unbehagen ein 
‘ heftiger, bohrender Schmerz ein, den Patientin 
in den rechten Augapfel und die obere Begrenzung 
der Orbita verlegte. Gleichzeitig bestanden 
heftige Blendungserscheinungen, sodaß das 
Augenlid krampfhaft geschlossen blieb. Nach¬ 
träglich befragt, gab Patientin an, im Laufe des 
letzten Jahres mehrere Anfälle dieser Art gehabt 
zu haben. Die durch die starke Lichtscheu er¬ 
schwerte Untersuchung ergab einen klaren, nicht 


injizierten leicht tränenden Bulbus. Die Sehkraft 
war beiderseits herabgesetzt, rechts mehr als 
links. Augenhintergrund normal. Am nächsten 
Tage Steigerung der Beschwerden namentlich 
der Schmerzen und Blendungserscheinungen. Druck 
auf den Augapfel und Orbitalrand äußerst schmerz¬ 
haft. Das Augenlid wird weiter geschlossen ge¬ 
halten. Nach zwei weiteren Tagen hörten Schmer¬ 
zen und Lichtscheu auf. Das Auge konnte ohne 
Lichtscheu und Tränen offen halten werden, 
auch gab Patientin an, jetzt wieder klarer zu sehen. 

Fassen v^ir das Wesentliche des Krank¬ 
heitsbildes zusammen. Es handelt sich 
um eine 42jährige Frau, bei der Er¬ 
scheinungen von Lues cerelri mit denen 
der Tabes alternieren. Hirnluetisch ist 
die frühere Hemiplegie, die Neigung zu 
Krampfanfällen mit Bewußtlosigkeit, 
Kopfschmerz und Erbrechen. Hiervon 
völlig verschieden sind die periodischen, 
schmerzhaften, lang andauernden Brech¬ 
anfälle, die als gastrische Krisen anzu¬ 
sprechen sind und die in Verbindung 
mit Pupillenstarre und dem Verhalten 
der Knie- und Achillesreflexe die Dia¬ 
gnose Tabes sichern. Die Hirnlues ist 
offenbar älteren Datums, die Tabes noch 
im Stadium der Entwicklung. Als den 
Magenkrisen analoge Zustände sind die 
periodisch wiederkehrenden, krisenarti¬ 
gen, das Auge betreffenden Anfälle zu 
betrachten, deren letzten wir im Kranken¬ 
haus zu sehen Gelegenheit hatten. — Die 
spärliche Literatur über tabische Augen¬ 
krisen zeigt im großen und ganzen Über¬ 
einstimmung des mitgeteilten Falles mit 
den bisher beobachteten Krankheits¬ 
bildern. 

über Augenkrisen, Zsako und Benedek, 
Budapest! Orvosi Ujsag, 1913, Nr. 51, ref. Neurolog. 
Centralblatt 1915, S. 27. Weitere Literatur s. 
Fabinyi. 


Ans den inneren Stationen des Krankenhauses der Stadt Neukölln. (Direktor: Prof. Dr. 
R. Ekrmann, Abteilung Oberarzt Dr. Zadek). 

Versuche mit Dijodyl. 

Von Jeanette Sakheim. Assistenzärztin. 


Dijodyl ist ein von der Firma I. D. 
Riedel Aktiengesellschaft Berlin-Britz 
seit mehreren Jahren in den Handel ge¬ 
brachtes organisches Jodpräparat, das 
nach genauen Untersuchungen von Hoos 
und Wolf im Gießener Pharmakologischen 
Institut auf seine chemische Zusammen¬ 
setzung und auf seine Ausscheidung re¬ 
spektive Resorbierbarkeit hin, dem Jod¬ 
kalium als sehr nahestehend befunden 
worden ist. Das Präparat enthält 46,2% 
Jod und wird in Tabletten z-u-0,3 -oder 
in gefärbten Gelatinekapseln zu 0,3 Di¬ 
jodyl hergestellt. 


Bei der heutigen Jodknappheit haben 
wir das utis von der Firma zur Verfügung 
gestellte Präparat gern geprüft und wollen 
in Folgendem über die Ergebnisse unserer 
dreiviertel Jahre dauernden Beobach¬ 
tungen berichten. 

Wir haben Dijodyl in der Hauptsache 
auf einer Frauen-Lungen- und Nerven- 
station gegeben und haben es niemals aus 
äußeren Gründen absetzen müssen, vor 
allem hörten wir niemals Klagen über 
schlechten Geschmack und Widerwillen 
gegen das Medikament, da ja das Dijodyl 
in der Gelatinekapsel genommen, ge- 





Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 19^0 


375 


schmacklos ist, auch kein Aufstoßen ver¬ 
ursacht, weil es erst im Dünndarm zerlegt 
wird. Nur zweimal klagten Patientinnen 
über Magenschmerzen, die aber nach Dar¬ 
reichung des Dijodyls in einer anders ge¬ 
färbten Kapsel nicht wieder auftraten, 
also wohl funktionell bedingt waren. 
Während der ganzen Zeit haben wir 
weder Jodschnupfen noch Jodakne beob¬ 
achtet, auch nicht während einer Zeit, 
wo wir das Mittel in höheren Dosen (bis 
zu dreimal 5 Kapseln = dreimal 1,5 täg¬ 
lich) als gewöhnlich gaben. 

Den im allgemeinen in verhältnis¬ 
mäßig kurzer Beobachtungszeit schwer 
erkennbaren Joderfolg erzielten wir be¬ 
sonders bei Darreichung von Dijodyl an 
tuberkulöse Frauen im ersten Stadium 
der Krankheit, um Sputum zur mikro¬ 
skopischen Untersuchung zu bekommen. 
Fast immer hatten wir nach zweitägiger 
Darreichung von dreimal 0,3 Dijodyl 
Erfolg. Ferner gaben wir das Präparat 
bei chronischer Pneumonie, Lungen- 
abscessen, Pleuraergüssen und Asthma¬ 
bronchiale mit gutem Erfolg. Bei Tabes 
dorsalis, Arteriosklerosis und Lues cerebri 
unterstützte es in wirksamer Weise die 
sonst übliche Therapie, so daß wir das 
Präparat zur Weiteruntersuchung nur 
empfehlen können. 

Zum Schluß noch einige Kranken¬ 
geschichten. 

Fall 1. O. Sch., 34 Jahre. Lues cerebri. 

Seit drei Wochen dauernde heftige Kopf¬ 
schmerzen, die nachts heftiger werden. Ehemann 
hatte Lues. Befund: Wassermann positiv im 
Blut. Gesteigerte Reflexe. Lumbalpunktion 
310 m/m Druck, 19 Zellen, Lymphocyten, Wasser¬ 
mann negativ, Nonne-Apelt negativ, Nissel 0,02. 
Therapie: Jod in Form von Dijodyl und Salvarsan. 
Nach wenigen Wochen ist der Kopfschmerz völlig 
geschwunden, Patientin fühlt sich gesunden, 
nimmt zu, 

Fall 2. L. M., 53 Jahre. Arteriosclerosis, 
Lues III. 

.Früher luetische Regenbogenhautentzündung 
und Hautlues gehabt. Jetzt häufig Kopfschwindel 


und Mattigkeit (kommt herein mit einer leichten 
Grippe). Befund: Narben im Gesicht und an den 
Händen von der Hautlues stammend. Links 
Iritis luetica, Herz an der Spitze unreiner Ton, 
Ag stärker Pg. Arterienrohr verhärtet, Blutdruck 
R^ R. 140/90, Wassermann negativ, Lumbal¬ 
punktion Druck normal, Nonne-Apelt positiv, 
Nissel 0,03, Zellen 13, Lymphocyten Wassermann 
negativ. Therapie: Dijodyl. Nach vier Wochen 
Wohlbefinden, kein Kopfschwindel mehr, Patien¬ 
tin fühlt sich frisch. Gewichtszunahme. 

Fall 3. W. H., 42 Jahre. Lues III. 

Früher stets gesund. Ganz plötzlich erkrankt 
mit Kopfschmerzen, Doppelsehen, kloßiger Spra¬ 
che, Torkeln beim Gehen. Befund: Bulbär- 
sprache, vollkommene Ophthalmoplegie, auf¬ 
gehobene Sehnenreflexe, unwillkürlicher Abgang 
von Urin. Stuhlverhaltung. Therapie: Schmier¬ 
kur, Salvarsan. Besserung. In der Nachbehand¬ 
lung dreimal 0,3 Dijodyl; Die Erscheinungen gehen 
allmählich vollkommen zurück. 

Fall 4. Ch. W., 20 Jahre. Meningitis 
luetica. Drüsentuberkulose. 

Als Kind und jetzt Drüsentuberkulose. Vor 
einem halben Jahr Lues tonsillaris. Seit vier 
Wochen fast ununterbrochen Kopfschmerzen und 
Erbrechen. Befund: Nackensteifigkeit, Kernig, 
Hyperästhesien, Sehnenreflexe gesteigert, Pu¬ 
pillendifferenz, Wassermann Blut positiv. Lumbal¬ 
punktion: Druck hoch, Zellen vermehrt und 
pathologisch. Wassermann negativ. Therapie; 
Wiederholte Punktionen, nach Feststellung des 
luetischen Charakters Schmierkur, Salvarsan und 
Dijodyl dreimal 0,3. Alle meningitischen Er¬ 
scheinungen zurückgegangen. Gewichtszunahme. 

Fall 5. G. F., 28 Jahre. Lungenabsceß. 

Im Anschluß an eine Operation Husten, foeti- 
der Auswurf, Fieber. Befund: Lungenabsceß. 
Therapie: Pneumothorax. Darauf hört das 
foetide Sputum auf, in der Rekonvaleszenz Dijodyl 
dreimal 0,3. Sehr gute Gewichtszunahme und 
dauerndes Wohlbefinden. Die Lungen, die nach 
der Entfaltung,^noch Geräusche aufwiesen, sind 
völlig gereinigt. 

Fall 6. B. G., 67 Jahre. Asthma bronchiale. 

Seit 37 Jahren Asthma, mit vielerlei Medika¬ 
menten behandelt. Vor kurzem wegen desselben 
Leidens im hiesigen Krankenhaus. Damals mit 
Erfolg mit Jodkali behandelt. Patientin kommt 
in schwerem Anfall herein. Befund: Cyanose, 
Dyspnoe, Lunge: Schachtelton, tiefe Grenzen, 
Giemen und Pfeifen. Therapie: Anfall durch 
Morphium kupiert, dann gleich anschließend 
Dijodyl dreimal 0,3, seither noch ein kleiner 
Anfall und dann wochenlang anfallsfrei geblieben. 


über Nirvanolvergiftungen. 

Von Dr. E. H. G. Afzrott, Grabow i. M. 


Das 1916 von den Firmen Meister 
Lucius Brüning (Höchsta. M.) und Heyden 
(Radebeul) in den Handel gebrachte 
Nirvanol erfreute sich zunächst bei den 
Ärzten einer großen Beliebtheit. Es 
handelte sich um ein geschmackloses 
Präparat, das bei Tierexperimenten sehr 
günstige Resultate zeitigte. Wernicke 
lobte es ,,als ein ausgezeichnet sicheres 
Schlafmitter‘. 


Zur Vorsicht gemahnt wurde von 
verschiedenen Seiten, so von Pensky und 
Curschmann 1918, Goliner 1919; diese 
drei beobachteten Fälle von akuter N.- 
Vergiftung mit Bewußtlosigkeit. Über 
mehr chronische Intoxikationserscheinun¬ 
gen berichteten Frieda Röder, Char¬ 
lotte Jakob (D. m. W. 1919, Nr. 48) 
und Michalke (D. m. W. 1919, Nr. 14), 
letzterer in kurzer aphoristischer Form. 


376 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Oktober 


Besonders Jacob bringt eine klare, 
eindrucksvolle Schilderung von sechs 
Fällen, die kurze Zeit nach den Nirvanol- 
gaben zum Teil unter hohem Fieber ein 
masernähnliches Exanthem am Rumpf 
und den Gliedmaßen bekamen. Als 
charakteristisch schildert Jacob das 
„Nirvanolgesicht“ eine gedunsene, bläu¬ 
lich verfärbte Fazies mit stark ödematösen 
Augenlidern und Lippen. ,,Dieser An¬ 
blick war so auffallend und dazu so 
typisch, daß man aus diesem „Nirvanol- 
gesicht“ das kommende Exanthem mit 
Sicherheit Voraussagen konnte.Diese 
Vergiftungserscheinungen traten schon 
nach einigen Gaben yon abends 0,5 Nir- 
vanol auf. 

Reye (Hamburger Ärztlicher Ver¬ 
ein, 9. März 1920) berichtet ebenfalls 
über einige Fälle von dieser Intoxikation, 
die mit recht erheblichen akuten und 
chronischen Schädigungen einhergingen. 
Auch er beobachtet hohes Fieber, ge¬ 
dunsenes Gesicht, ein masernartiges, stark 
zuckendes Exanthem am ganzen Körper, 
Drüsenschwellungen und lebhafte Ent¬ 
zündung der Schleimhäute. Außerdem 
entwickelte sich bei einer Patientin eine 
sehr ausgedehnte, stark entstellende 
fleckige Pigmentierung an Hals, Rücken 
und Brust. Auf Grund dieser Beob¬ 
achtungen warnt Reye dringend vor 
der Anwendung des durchaus entbehr¬ 
lichen Mittels. 

Ich möchte aus meiner Erfahrung einen Fall 
beisteuern, der vierzehn Tage lang unter einem 
masernähnlichen Exanthem hoch fieberte, leicht 
delirierte und dem behandelnden Arzt zuerst 
Kopfzerbrechen verursachte. Es handelte sich 
um eine 32 jährige Klempnersfrau D. J., die 
am 13. Oktober 1919 mit den Symptomen einer 
rechtseitigen Peritonsillitis und hohem Fieber er¬ 
krankte. Am 14. Oktober wurde durch eine typische 
vertikale Incision in der oberen Gaumennische 
stinkender Eiter entleert. Wegen starker Schmer¬ 
zen erhielt Patientin abends 0,3 Nirvanol, und zwar 
vier Tage hintereinander. Am 21. Oktober fiel 
das gedunsene leicht cyanotische Gesicht auf und 
drei Tage später zeigte sich am Rumpf ein morbillen- 
ähnliches Exanthem mit hohem Fieber bis 39,6°, 
aber ohne Schnupfen, Bindehautentzündung. Ledig¬ 
lich die Mundschleimhaut zeigte burgunderrote 
Verfärbung (aber keine Koplikschen Flecken an 
der Wangenschleimhaut). Die Flecken waren groß 
und klein, oft in großer Ausdehnung konfluierend. 
Besonders war die Streckseite der Extremitäten 
befallen. Starker Juckreiz war zeitweise vorhanden. 
Patientin war mittags und abends meist sehr un¬ 
ruhig, delirierte aber nur wenig. Oedeme an den 
Beinen waren nicht vorhanden. Eiweiß im Urin: 0. 
Der Hautausschlag hielt fünf Tage an und der 
Patientin schien es besser zu gehen. Am 5. No¬ 
vember begannen an Händen und Füßen sich neue 


Maculae und Papulae zu zeigen; allmählich wurden 
auch die Streckseiten der Extremitäten und der 
Rumpf befallen. Patiehtfn hatte hohes Fieber, 
das nun bis zur Abschuppung acht Tage anhielt, 
und klagte über Kopfschnierzen. Sie war unleid¬ 
lich, wie mir'der Ehemann versicherte. An den 
Beinen sah das Exanthem zeitweise wie Urticaria 
aus. Auffallend war auch diesmal die Cyanose 
der Hände, Füße und des Gesichts. Nach 
acht Tagen beobachtete man feine glänzende 
Schuppen. 

Ein hinzugezogener Kollege hielt am wahr¬ 
scheinlichsten eine Art Serumkrankheit für vor¬ 
liegend. Das ganze Krankheitsbild war nur nach 
Art der Anaphylaxie zu erklären. Zweifellos hat 
es sich in unserem Falle auch um eine Nirvanol- 
vergiftung gehandelt, und zwar hervorgerufen 
durch außerordentlich niedrige Gaben von Nirvanol 
(vier Tage hintereinander ,j e 0,3!). 

Zusammenfassend ist hervorzuheben, 
daß die einzelnen Patienten sehr ver¬ 
schieden auf Nirvanol reagieren. In 
unserem Falle lag eine enorme Über¬ 
empfindlichkeit gegen das Mittel vor. 
Es dürfte sich wohl empfehlen — wie 
andere Autoren dies auch schon befür¬ 
wortet haben —, das Nirvanol dem freien 
Handel zu entziehen. Es verursacht 
zwar keine lebensbedrohlichenden Er¬ 
scheinungen, bereitet aber dem Kranken 
manche peinvolle und unruhige Stunde. 
Allein schon das Auftreten des hohen 
Fiebers bei der Medikation yon Nirvanol 
verbietet seine Anwendung bei schwäch¬ 
lichen und älteren Patienten. 

Nirvanol ist nicht als ein Schlaf¬ 
mittel anzusehen, das ähnlich wie 
Veronal, Adalin, Luminal eine 
sichere Wirkung beim Menschen 
erzielt. Bei seiner Anwendung werden 
häufiger schwere Nebenerschei¬ 
nungen, die einer Art Serumkrankheit — 
Anaphylaxie— ähneln, beobachtet. 
Es erscheint dringend geboten, neue 
Fälle von Nirvanolvergiftung z^ sam¬ 
meln und sie der Allgemeinheit zugäng¬ 
lich zu machen. 

Im Gegensatz zu E. Poulsson, 
Christiania (Lehrbuch der Pharmako¬ 
logie, 5. Auflage 1920), der von dem 
Mittel schreibt, es sei ein kräftiges Hyp- 
notikum ohne schädliche Wirkung auf 
Atmung und Kreislauf, muß nach den 
jetzt schon zahlreichen Veröffentlichungen 
immer wieder auf die Schädlichkeiten 
des Nirvanols hingewiesen werden. 

Literatur: 1. Maj erus (D. Zschr.f. Nervhlk. 
63, Heft 5 und 6, S. 312). — 2. Jacob (D. m. W. 
1919, Nr. 48). — 3.^ Michalke (D. m. W. 1919, 
Nr. 14). — 4. Reye (Ärztlicher Verein zu Hamburg. 
9. März 1920). 


Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr.G.Klemperer in Berlin. Verlag von Urb an & Schwarzenberg 
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berlin W57, 






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Die Therapie der Gegenwart 


heratisgegeben von 

61. Jahrgang Qel,, Med.-Rat Prof. Dr. Q. Klemperer 

Neueste Folge. X23I.Jahrg. BERLIN 

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11 . Heft 

November 1920 


Verlag von URBAN Ä SCHWARZENBERG in Berlin N 24 und Wien I 


Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementspreis halbjährl ch 
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Therapie der Gegenwart. Anzeigen. 


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Vereiniqre chemische Fabriken 

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Der heutigen Ausgabe liegt ein Prospekt der Firma C. H. Boehringer Sohn in Nieder-Ingelheim a. Rh. bei, der über 
eine neue Phase auf dem Gebiete der Forschung über Anwendung des Kampfers berichtet, und dem neuen Erzeugnis 
„Cadechol“ in Ärztekreisen weiteren Eingang verschaffen soll. Ferner liegt ein solcher der Verlagsbuchhandlung 
Urban & Schwarzenberg, Berlin N24 und Wien, über die soeben erschienene 12. bis 15. Auflage von „Guttmann, Medi- 
zinische Terminologie“ bei. 










Die Therapie der Gegenwart 


1920 


herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klenfperer 

in Berlin. XN U V ülliUül 


Nachdruck verboten. 


Ein deutsches Arzneimittel = Prüfungsämt. 

Von G. Klemperer. 


Es entspricht dein Beruf dieser Zeit¬ 
schrift, welche dem Fortschritte , der 
Krankenbehandlung dienen soll, wenn 
ich an leitender Stelle einen Plan be¬ 
spreche, dessen Verwirklichung die Besse¬ 
rung wesentlicher Mißstände im Arznei¬ 
mittelwesen verspricht. Der Aufschwung 
der Arzneimittelindustrie, welchem wir 
die Einführung vieler wirkungsvoller un¬ 
ersetzlicher Heilmittel verdanken, hat 
eine Reihe unerfreulicher Begleiterschei¬ 
nungen gezeitigt, unter denen die ärzt¬ 
liche Praxis und, das Ansehen des ärzt¬ 
lichen Standes in gleicher \Veise leidet. 
Alljährlich werden zum Teil von unbe¬ 
rufener und unverantwortlicher Seite eine 
Anzahl neuer chemischer Präparate auf 
den Markt gebracht, die in tönenden Pro¬ 
spekten bestimmte Heilerfolge verspre¬ 
chen, ohne daß eine genügende Prüfung 
vor der Einführung stattgefunden hätte. 
Oft wird die chemische Zusammensetzung 
der neuen Substanzen nicht bekannt ge¬ 
geben, so daß sich dieselben als Geheim¬ 
mittel charakterisieren, oft ist die che¬ 
mische Deklaration ungenau oder trüge¬ 
risch. In vielen Fällen werden alte Mittel 
unter neuem Namen herausgebracht oder 
es werden Gemische bekannter Sub¬ 
stanzen als neue Mittel deklariert. Der 
praktische Arzt, der von den neuen Er¬ 
rungenschaften der Arzneimittelwissen¬ 
schaft Nutzen ziehen möchte und der oft 
von seinem Klientel geradezu gedrängt 
wird, neue Mittel zu verordnen, ist in einer 
sehr schwierigen Lage. Wie soll er die 
Spreu von dem Weizen trennen? Wer 
hilft ihm, gegenüber der Suggestionskraft 
lockender Ankündigungen die rechte 
Kritik zu üben und seine Patienten 
vor dem Schaden zu bewahren, den 
die Anwendun ungenügend geprüfter, 
oft schädlicher Präparate hervorrufen 
kann. 

Seit langem besteht unter den denken¬ 
den Ärzten der lebhafte Wunsch nach 
einem unparteiischen Tribunal, das mit 
Sachkunde und Gerechtigkeit unter den 
Arzneimitteln Auswahl hielte, die guten 
und wertvollen hervorhebe und empfehle. 


die überflüssigen und schädlichen der 
Vergessenheit überlieferte. 

Gewiß gehört diese Aufgabe auch in 
den Pflichtenkreis der medizinischen Fach¬ 
presse; viele Zeitschriften und nicht zum 
wenigsten die ,,Therapie der Gegenwart“ 
haben ihre Leser über die pharmakologi¬ 
schen Neuerscheinungen zu unterrichten 
und in bezug auf ,die Verwertung kritisch 
zu beraten versucht. Aber diese Versuche 
konnten niemals ihren Zweck ganz er¬ 
reichen, da sie doch nur ein beschränktes 
Material bearbeiten konnten und in der 
Auswahl auf Zufälligkeiten angewiesen 
waren. Der Hauptmangel aber bestahd 
darin, daß den Redaktionen eine unab¬ 
hängige und leistungsfähige Prüfungs¬ 
und Auskunftstelle nicht zur Verfügung 
stand. Bestrebungen, solche Einrich¬ 
tungen zu schaffen, sind in den großen 
Körperschaften, die das Wohl und Wehe 
der Ärzte zu erwägen haben, seit langem 
lebendig. Im Anfang dieses Jahrhunderts 
hat die Gesellschaft deutscher Natur¬ 
forscher und Ärzte sich eingehend mit 
diesem Problem beschäftigt und einen 
Ausschuß zur weiteren Bearbeitung ein¬ 
gesetzt; es ist nicht gelungen, zu prakti¬ 
schen Schöpfungen zu gelangen. 

Danach wurde die Aufgabe vor etwa 
zehn Jahren von dem Kongreß für innere 
Medizin von neuem aufgenommen; es 
wurde eine ,,Arzneimittelkommis- 
sion“ geschahen, welche Mittel und 
Wege finden sollte, dem Arzt die Auswahl 
zwischen guten und wertlosen Arznei¬ 
mitteln zu erleichtern. Die älteren Leser 
werden sich des Versuches mit den Arznei¬ 
mittellisten erinnern, welche die frühere 
A.-K. den Ärzten zur Verfügung stellte 
und über welche in dieser Zeitschrift aus¬ 
führlich berichtet worden ist^). Die Aus¬ 
wahl für diese Listen geschah nicht nach 
einem Werturteil über die Mittel selbst, 
sondern nach der Art ihrer Ankündigung; 
sie bildete nur eine. Art von Inseraten- 
zensur. Auf die negative Liste kamen 
diejenigen Mittel, deren Anzeigen ihre 

») 1912, Seite 210 und Seite 334. 

48 




378 Die Therapie der Gegenwart 1920 Novetnber 


Zusammensetzung verheimlichte oder üb er 
ihre Eigenschaften, ihren Heilwert oder 
ihre Unschädlichkeit" irreführende Be¬ 
hauptungen aufstellte oder neue Namen 
für bekannte Gemische veröffentlichte. 
Diesel-Listen sind damals vielfach ange¬ 
griffen worden, aber sie durften sich der 
Zustimmung vieler ärztlicher Standes¬ 
organisationen erfreuen, insbesondere des 
Deutschen Aerztevereinsbiindes, und sie 
haben zweifellos den Erfolg gehabt, das 
damals etwas entartete Anzeigenwesen des 
Arzneimittelmarkts ^ erheblich zu ver-' 
bessern und dadurch dort wenigstens der 
Irreführung der Ärzte entgegenzuarbeiten. 
Aber das Listensystem stellte nur einen 
ersten Versuch dar, dessen Fortsetzung 
mit besseren Mitteln von der A. K. selbst 
lebhaft erstrebt wurde. Schon damals 
wurde betont, daß für die Reform des 
Arzneimittelwesens die Schaffung eines 
Untersuchungsamts unumgänglich not¬ 
wendig sei. 

Der Weltkrieg unterbrach auch diese 
Arbeit. 

Als es galt, nach der Niederlage sich 
zu erheben und in neuem Wirken die 
Grundlagen für wirksame Kraftentfaltung 
zu schaffen, trat auch die Arzneimittel¬ 
kommission zur Wiederaufnahme ihres 
Werkes zusammen. Sie hatte inzwischen 
ihre Zusammensetzung geändert und um¬ 
faßt jetzt unter dem alten Vorsitz von 
Penzoldt die Kliniker Stintzing 
(Jena), v. Bergmann (Frankfurt a. M.) 
und den Verfasser, die Pharmakologen 
Heffter (Berlin) und Gottlieb (Heidel¬ 
berg), als Vertreter der großen Ärztever¬ 
einigungen Dippe (Leipzig) und Stöter 
(Berlin), von der medizinischen Fach¬ 
presse Spatz (München). Diese Kom¬ 
mission hat in vielfältiger reiflicher Er¬ 
wägung einen neuen Aktionsplan gefaßt, 
über den ich heute meinen Lesern emp¬ 
fehlend berichten will. 

Der Plan ist von Vorstand und Aus¬ 
schuß der Deutschen Gesellschaft für 
innere Medizin eingehend beraten und 
gebilligt worden und der Vorstand des 
Deutschen Aerztevereinbundes hat eben¬ 
falls sein Placet gegeben. Das Charakte¬ 
ristische des neuen Unternehmens ist, daß 
es die positive Unterstützung und Be¬ 
lehrung der Ärzteschaft in den Vorder¬ 
grund rückt. Es soll eine Geschäfts¬ 
stelle begründet werden, welche das ge¬ 
samte Material über neue Arzneimittel 
sammelt, sowohl die Angaben der Dar¬ 
steller als auch die gesamte Literatur, 
und welche auf Grund dieses Materials 


jedem anfragenden Arzt die gewünschte 
Orientierung mitteilt. Es bestand aber 
Einigkeit in allen Kreisen darüber, daß 
die Arzneimittelkommission selbst in der 
Lage sein muß, neue Arzneimittel einer 
sachverständigen Prüfung zu unterziehen, 
ehe sie eine Auskunft erteilt. Solche 
Untersuchung mag überflüssig sein gegen¬ 
über den Erzeugnissen der chemischen 
Großindustrie, die selbst über erstklassige 
Untersuchungsstellen verfügt und ihre 
neuen Präparate erst nach erschöpfender 
Prüfung herauszugeben pflegt. Um so 
notwendiger aber ist eigene Prüfung 
gegenüber den zahllosen Produkten wenig 
leistungsfähiger Erfinder, die weder che¬ 
misch noch medizinisch die erforderliche 
Gewähr vorwurfsfreier Arbeit bieten. So¬ 
fern eine Prüfung am Krankenbett nötig 
erscheint, verfügt die Arzneimittelkom¬ 
mission über eine Reihe von Klinikern 
und Krankenhausärzten, die ihr die Er¬ 
gebnisse ihrer Prüfungen zur Verfügung 
stellen werden. Daneben aber ist ein 
analytisches Institut notwendig, in wel¬ 
chem die chemischen Angaben kontrolliert 
beziehungsweise die chemische Zusammen¬ 
setzung der Arzneimittel geprüft werden 
kann. Ohne ein solches Prüfungsamt ist 
die Arbeit der Arzneimittelkommission 
zur Unfruchtbarkeit verurteilt, am Fehlen 
derselben sind bisher alle-Reformversuche 
gescheitert. 

Die. Arzneimittelkommission hat des¬ 
halb den Beschluß gefaßt, an die Grün¬ 
dung eines solchen Arzneimittelprüfungs- 
anits heranzutreten. Eigene Mittel hat 
die Arzneimittelkommission nicht und 
öffentliche sind in unserer Zeit nicht er¬ 
hältlich. Andererseits liegt hier eine Auf¬ 
gabe vor, deren glückliche Lösung im 
eigenen Interesse des ärztlichen Standes 
liegt. Die Arzneimittelkommission ver¬ 
traut deswegen, daß die deutsche Ärzte¬ 
schaft selbst sich bereit finden wird, Hand 
mit anzulegen zur Begründung. Sie findet 
ein Vorbild in den Verhältnissen Nord¬ 
amerikas. Die große.amerikanische Ärzte¬ 
vereinigung besitzt ein solches Prüfungs¬ 
amt, dessen Tätigkeit sich großen An¬ 
sehens erfreut und in bemerkenswertem 
Umfange das. Geheimmittelunwesen ein¬ 
geschränkt hat. Auf Grund der Analysen 
ihres Prüfungsamts veröffentlicht der 
amerikanische Council aufklärende Mit¬ 
teilungen über neue Arzneimittel, welche 
den Ärzten für die Verordnung derselben 
maßgebend sind. 

Es ist nun an den deutschen Ärzten, 
sich selbst durch tätige Mithilfe an der 



Novelnber 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


379 


Gründung eines Arzneimittelprüfiings- 
> amts 2u Dßteiligen. Sie haben von dem¬ 
selben eine-persönliche Beratung in ihrer 
Berufsübung zu erwarten: Aber der er¬ 
hoffte Nutzen wird ihnen auch darin zu¬ 
gute kommen, daß 'sich hier ein aus¬ 
sichtsreicher Weg bietet, die Auswüchse 
der Heilmitteldarstellung in der .Ent¬ 
stehung zu bekämpfen. Wenn die Arznei¬ 
mittelkommission erst über eine klinisch 
und literarisch gut unterstützte Geschäfts¬ 
stelle und über ein leistungsfähiges Prü¬ 
fungsamt verfügt, so ist zu hoffen, daß 
ihr Urteil von der Arzneimittelindustrie 
vor der Einführung neuer Präparate in 
Anspruch genommen werden wird und 
dann wird wohl manches ,,Heirmittel“ 
ungeboren bleiben, das sonst die ärztliche 
Praxis in überflüssiger Weise belästigt 
oder gar diskreditiert hätte. Mit Recht 
sagt der Aufruf der Arzneimittelkommis¬ 
sion, der in diesen Tagen zur Verbreitung 
gelangt: ,,Hiermit wird nicht nur die Ar¬ 
beit des einzelnen Arztes, sondern auch 
das Ansehen der deutschen J\/ledizin und 
nicht zuletzt auch des ärztlichen Stanaes 
eine erhebliche Förderung erfahren.“ 


Die Ärzneimittelkommission appelliert 
an das Standesgefühl der deutschen Ärzte, 
daß sie durch eigene Beiträge helfen 
mxöchten, eine Einrichtung ins Leben 
treten zu lassen, die sicherlich von weit- 
tragendem putzen für sie alle sein wird. 
Die erforderlichen Kosten werden nicht 
sehr groß sein, da die Organisation im 
Anschluß an das pharmakologische Uni¬ 
versitätsinstitut des Herrn Geheimrat^ 
Heffter geplant ist. Immerhin bedarf 
es eines wenn auch nur kleinen Beitrages 
jedes deutschen Arztes, wenn das geplante 
Prüfungsamt bald ins Leben treten soll. 
Die Aufforderung zur Zahlung wird jedem 
deutschen Arzt in diesen Tagen persön¬ 
lich zugehen; Ich möchte den Lesern’ 
dieser Zeitschrift die Bitte warm anSN 
Herz legen, ihr Interesse für die Therapie 
durch einen Beitrag zu betätigen^) und 
dadurch an ihrem Teil mitzuhelfen, daß 
ein Feld deutscher Arbeit, welches jetzt 
durch manches Unkraut entstellt wird, 
zu neuem kräftigen Blühen gedeihe. 

Einzahlungen erbeten auf Postscheck-Konto 
Leipzig 873 21, Geschäftsstelle der Arzneimittel- 
kommission.' 


Aus dem Krankenliause der jüdisckeii Gremeiude zu Berlin, 

über Ulcus parapyloricum^). 

Von Prof. H. Strauß. 


Seit den Veröffentlichungen englischer 
und amerikanischer Chirurgen, vor allem 
seit dem Erscheinen des Moynihanschen 
Buches^), ist die Diskussion über das 
Ulcus duodeni nicht zur Ruhe gekommen. 
Hierbei ist aber in so vielen Punkten ein 
so großer Gegensatz zwischen den Auf¬ 
fassungen der Chirurgen und Internisten 
zutage getreten, daß die Kluft in den xA.n- 
schauungen zeitweilig fast unüberbrück¬ 
bar erschien. Eine neue Diskussionsbasis 
ist jedoch durch die vor kurzem erschie¬ 
nene Arbeit von Hart^) geschaffen wor¬ 
den, welche neues und höchst wertvolles 
Material beigebracht hat. Durch dieses ist 
die Betrachtung entschieden zugunsten 
der Anschauungen der Internisten ver¬ 
schoben worden und zwar sowohl in bezug 
auf Fragen der Diagnostik wie der Pro¬ 
gnostik und Therapie. Ganz allgemein 
mußten bis zum Erscheinen der Hart- 

1) Erweiterte Diskussionsbemerkung zu den 
Referaten über Ulcus duodeni auf der'II. Tagung 
für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten in 
Homburg. 

2) Moynihan, Ulcus duodeni (Dresden und 
Leipzig 1913, Steinkopf). 

3) Hart (Mitt. Grenzgeb. 1919, Bd. 31). 


sehen Arbeit die einschlägigen 'Fragen 
vorzugsweise auf Grund klinischer und 
bioptischer Erfahrungen diskutiert wer¬ 
den, da die pathologisch-anatomischen 
Befunde zum Teil recht widersprechend 
waren. Das den bioptischen Erfahrungen 
zugrunde Hegende Material war aber der 
Natur der Sache nach nur einseitig ge¬ 
schichtet. Gerade hierdurch kam es, daß 
man sich sogar über grundlegende Fragen 
der Diagnostik, Prognostik und Therapie 
bis jetzt nur schwer einigen konnte. 

Soweit die Diagnostik in Frage 
kommt, so muß leider nicht ohne eine ge- • 
wisse Resignation festgestellt werden, daß 
wir — wenn wir von einigen selteneren 
Röntgenbefunden absehen (siehe später) 
— kein einziges wirklich pathognomo- 
nisches Symptom für das Ulcus duodeni 
besitzen und daß auch nicht einmal ge¬ 
wisse als diagnostisch bedeutsam bezeich- 
nete Symptomenkomplexe einen direkt 
pathognomonischen (Charakter besitzen. 
Erwägt man ferner, daß auch bei der 
chirurgischen Behandlung der Krankheit 
Dauererfolge in einer nicht ganz unerheb¬ 
lichen Anzahl von Fällen ausgeblieben 

48* 





380 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


November 


sind, so ist dies Anlaß genug, die Leistungs¬ 
fähigkeit unserer Diagnostik, und im Zu¬ 
sammenhänge damit auch die internen 
und chirurgischen Aufgaben der Therapie 
immer wieder von neuem einer kritischen 
Betrachtung zu unterziehen.. Ich möchte 
an dieser Stelle aber nicht auf alle wichtig 
erscheinenden diagnostischen Fragen des 
großen hier interessierenden Gebietes ein- 
gehen, sondern mich nur mit der all¬ 
gemeinen Frage beschäftigen, inwieweit 
die Diagnose eines Ulcus duodeni über¬ 
haupt möglich und tatsächlich auch not¬ 
wendig ist. 

Nach dieser Richtung hatte ich schon 
im Jahre 191H), also zu einer Zeit, wo nicht 
bloß von chirurgischer Seite, sondern 
auch noch von der Mehrzahl der Inter¬ 
nisten eine scharfe Trennung des Ulcus 
duodeni vom Ulcus ventriculi als auch 
für praktische Zwecke wichtig bezeichnet 
worden ist, betont, daß es ,,für die interne 
Behandlung nicht von wesentlicher Be¬ 
deutung ist, ob das Ulcus 1 oder 2 cm 
links oder rechts vom Pylorus sitzt*' und 
im Jahie 1913^) gelegejitlich einer Be- 
sprechnung der Diagnostik und internen' 
Therapie des Duodenalgeschwürs aus¬ 
geführt, daß auch für praktische Zwecke 
die Feststellung eines Ulcus parapylori- 
cum®) in der Mehrzahl der Fälle genügt, 
und daß diese Diagnose auch häufiger ge¬ 
lingt, als die meist erheblich schwierigere 
Feststellung eines Ulcus duodeni. Aus den 
später erschienenen. Arbeiten — ich nenne 
speziell die Mitteilungen von K. Faber’). 
V. Bergmann®), Michaud®) und An¬ 
derer — erfuhr ich dann, daß schon 1906 
Soupault^o^ von einem ,,Ulcere juxta- 
pylorique** gesprochen hatte und geäußert 
hatte, daß die ulcerösen Läsionen des 
Duodenums dieselben Symptome dar¬ 
bieten, wie die Magengeschwüre in der 
Gegend des Antrum pyloricum. Je mehr 
ich aber die Dinge verfolgt habe, um so 
mehr schien es — und scheint es auch 
heute noch — mir notwendig, darauf hin¬ 
zuweisen, daß häufig auch bei der Dia¬ 
gnostik des Ulcus parapyloricLim der to- 

4) H. Strauß (M. KI. 1911, Nr. 21). ^ 

5) H. Strauß (Zschr. f. ärztl. Fortbild. 1913, 
Nr. 4). 

In diesem Begriffe sind nicht nur die cis- 
und transpylorischen Geschwüre, sondern auch 
die pylorischen Geschwüre selbst einbezogen. 

’) K. Faber (M. KI. 1913, Nr. 34). 

8) V. Bergmann (B. kl. W. 1913, Nr. 51 u. 
a. a. O. 

3) Michaud(in Mohr-Stähelins Handbuch der 
inneren Medizin). 

^'^) Soupault, Traite des maladies de l’esto- 
mac, Paris 1906). 


pische und der genetische beziehungs¬ 
weise histologische Faktor nicht scharf 
genug getrennt werden, so daß gar man¬ 
cher Fall, der nur ein ,,Affectio'“ para- 
pylorica darstellt, ohne weiteres als 
,,Ulcus** parapyloricum deklariert wird. 
Aus diesem Grunde scheint es mir not¬ 
wendig, auch hier nachdrücklichst zu be¬ 
tonen, daß der parapylorische Symptomen- 
komplex und die Ulcusdiagnose scharf 
auseinandergehalten werden müssen und 
daß man sich im Einzelfalle stets fragen 
muß, ob nur die Diagnose einer „Affectio“ 
parapylorica oder auch diejenige eines 
,,Ulcus** parapyloricum möglich ist. Nach 
dem Ergebnisse chirurgischer Kontrollen 
ist abk auch der parapylorische Sym- 
ptomenkomplex kein absolut untrüglicher, 
so sehr auch zuzugeben ist, daß in den¬ 
jenigen Fällen, in welchen er in genügender 
Vollständigkeit vorhanden ist, die Gefahr 
einer Fehldiagnose-doch nicht allzu groß 
ist (siehe später). Von seinen einzelnen 
Teilen bietet jedenfalls jeder einzelne die 
Möglichkeit einer Täuschung. ^ 11 

Soweit die funktionellen Symptome 
in Betracht kommen, so habe ich als 
für den parapylorischen Symptomen- 
komplex bis zu einem gewissen Grade 
charakteristisch an anderer Stelle^^) die 
,,Reiztrias“: Hyperästhesie, Hyper¬ 
sekretion und Hypermotilität beziehungs¬ 
weise Spasmophilie bezeichnet, und halte 
es für zweckmäßig, den diagnostischen 
Wert der einzelnen Glieder des Sym- 
ptomenkomplexes auch hier einer kurzen 
Betrachtung zu unterziehen: 

1. Hyperästhesie. Als differential¬ 
diagnostisch verwertbar hat sich mir 
weniger der Hungerschmerz als der Spät¬ 
schmerz und Nachtschmerz erwiesen. Der 
erstere gibt jedenfalls häufiger zu Täu¬ 
schungen Anlaß als die beiden letzteren. 
Ob der von F. MendeF^) schon 1903 und 
auch neuerdings wieder gerühmte scharf 
lokalisierte Perkussionsschmerz in allen 
Fällen tatsächlich ein Ulcus verrät, und 
ob die angegebene Empfindlichkeit auch 
stets auf das Duodenum zu beziehen ist, 
möchte ich erst dann mit Sicherheit ent¬ 
scheiden, wenn ich über ein ausreichendes 
bioptisches und autoptisches Kontroll- 
material verfüge. Zeitliche Veränderungen 
in der Gegend der percutorisch festgestell¬ 
ten Schmerzzone sind aber mir stets wert¬ 
voll erschienen. Ein großes Vertrauen 

11) H. Strauß (Jkiirs. f. ärztl. Fortbild. 1916, 
Märzheft). 

12) F. Mendel (M.m. W. 1903, Nr. 13 und 
D. m. W. 1920, Nr. 14/17). 





November 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


381 


habe ich auch stets einem scharf am Duo¬ 
denum beziehungsweise an der regio para- 
pylorica lokalisierten Röntgendruckpunkt 
entgegengebracht. Ebenso erschien mir 
auch eine ,,defense musculaire*' in der 
regio parapylorica stets einer besonderen 
Beachtung wert. 

2. Hypersekretion. Wichtiger als 
die Hyperacidität erschien mir stets — 
und ganz besonders auf Grund neuerer 
Erfahrungen, über welche ich in meinen 
„Magenkrankheiten durch Kriegswirkun- 
gen“^^) berichtet habe — die Hyper¬ 
sekretion, und zwar nicht bloß di^ kon¬ 
tinuierliche Form, sondern vor allem auch 
die erheblich häufigere digestive Form. 
Nach meinen Erfahrungen, über welche 
jüngst meine Assistentin, Fräulein. Dr. 
Wolpe^^), ausführlich berichtet hat, ent¬ 
fallen zwei Drittel bis drei Viertel aller 
Fälle von Hypersekretion auf eine Af- 
fectio parapylorica, wobei die Mehrzahl 
der betreffenden Fälle ein Ulcus para- 
pyloricum darstellen dürfte. Auch 
Kempiö), Sommerf eldi6), W. Wolffi’) 
Kaspar^^), Westphal und Katsch^^) 
und Andere haben über ähnliche Erfah¬ 
rungen berichtet. Die digestive Hyper¬ 
sekretion ist dabei durch Ermittelung des 
„Schichtungsquotienten“ sehr leicht fest¬ 
zustellen, und verdient für die Diagnose 
der vorliegenden Affektion eine erheblich 
größere Beachtung als die Hyperacidität, 
die ich zwar seltener fand, als die Hyper¬ 
sekretion, deren positiven Befund ich 
aber doch auch für den vorliegenden 
Zweck nicht absolut gering schätzen 
möchte. 

3. Hypermotilität beziehungs¬ 
weise Spasmophilie. Von den motori¬ 
schen Reizsymptomen habe ich besonders 
die Pylorospasmen mit ihren Folgen — die 
vpn Hart bei Ulcus duodeni gelegentlich 
beobachtete Pylorushypertrophie kann 
auch ich auf Grund von Autopsien be¬ 
stätigen — für die Diagnose schätzen ge¬ 
lernt. Ein gleiches kann ich auch von dem 
Röntgenbefund der „duodenalen Motili¬ 
tät“ mit ihren tief einschneidenden, auch 
an der kleinen Kurvatur und an der 

H. Strauß, Magenkrankheiten durch 
Kriegseinwirkungen (Biblioth. v. Coler-v. Schjei*- 
nig, Bd. 49, Berlin 1919, Hirschwald). 

i^)Wolpe(B. kl. W. 1919, Nr. 37). 

15) Kemp (Zschr. f. kl. Med., Bd. 72 und 
a. a. O.). 

1®) Sommerfeld (Arch. f. Verdauungskr., 
Bd. 19). 

■1’) W. Wolff (M. Kl. 1914, Nr. 32). 

18) Kaspar (D. Zschr. f. Chir., Bd. 131). 

18) Westphal und Katsch (Mitt. Grenzgeb., 
Bd. 26). 


Corpusregion sichtbaren Wellen und mit 
einer trotzdem zuweilen — aber meiner 
Erfahrung nach doch nicht allzu häufig — 
verlängerten Verweildauer des Röntgen- 
ingestums behaupten^®). Ihnen können 
sich als Reizsymptome nicht selten auch 
noch „Zähnelung“ der großen Kurvatur 
sowie zpweilen spastischer Sanduhrmagen 
— gelegentlich auch ein umfangreicher 
Gastrospasmus oder auch Cardiospasmus 
mit vorübergehender^^ Ansammlung des 
Röntgeningestums im Ösophagus sowie bei 
gewissen Duodenalaffektionen eventuell 
auch Retroperistaltik zugesellen. 

Neben diesen Reizsymptomen, 
welche ihren Grund darin haben, daß 
die Pylorusregion den Sitz sehr sensibler 
Angriffspunkte von Reflexapparaten dar¬ 
stellt, verdienen für die topische,. Dia¬ 
gnostik selbstverständlich auch noch auf¬ 
fällige morphologische Veränderungen 
des Röntgenbildes des Duodenums und 
seiner Umgebung — von welchen einige 
später noch bei der Besprechung der 
Ulcusdiagnostik erörtert werden sollen — 
vollste Beachtung. Soweit hierbei die 
Rechtsverziehung des Duodenums und 
Magens in Frage kommt, wird diese 
allerdings vielleicht ebenso häufig durch 
extraduodenale und extraventriculäre 
Affektionen — so insbesondere. Gallen¬ 
blasenaffektionen — bedingt, und es 
bedarf deshalb gerade dieser Befund in 
genetischer Richtung stets einer besonders 
kritichen Deutung. 

Selbstverständlich verdienen alle hier 
genannten Befunde nur in positiver 
Form Beachtung und es beweist ins¬ 
besondere ihr Fehlen nichts gegen eine Ver¬ 
änderung in der regio parapylorica. Außer¬ 
dem ist — dies muß immer wieder betont 
werden — vielleicht mit der alleinige 
Ausnahme des lokalisierten Röntgen- 
Druckpunktes auf kein einziges der ge¬ 
nannten topischen Symptome ein sicherer 
Verlaß. Sieht man von dem genannten 
Röntgen-Druckpunkt und den erwähnten 
abnormen morphologischen Röntgen¬ 
befunden am Duodenum und in seiner 
Nachbarschaft ab, so entsteht der Ver¬ 
dacht einer p.arapylorischen Affektion 
stets erst durch eine Summe der ge¬ 
nannten Symptome, und der Verdacht 
wird um so' stärker, je mehr von den 
genannten — an sich mehrdeutigen — 

20) Anmerkung: Tiefeinschneidende Peri¬ 
staltik ohne Motilitätsstörung pflege ich als 
„Kompensationsperistaltik“ zu bezeichnen, weil 
sie in effektvoller Weise der Überwindung 
eines Hindernisses dient. 




382 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


November 


Einzelsymptomen im konkreten Falle vor¬ 
handen sind. Zur Orientierung über die 
Fra'ge, wie oft bei gegebener Ulcusvoraus- 
setzung die Diagnose eines parapylori- 
schen Sitzes* desselben gelingt, habe ich 
vor einiger Zeit meine Assistentin Fräu¬ 
lein Dr. Wolpe^i) veranlaßt, 18 operativ 
kontrollierte Fälle meiner Abteilung kri¬ 
tisch zusammenzustellen. Dabei ergab 
sich folgendes: Unter diesen 18 Fällen 
scheiden drei aus, weil sich bei ihnen 
trotz nachgewiesenen Blutgehaltes der 
Faeces kein Ulcus, oder — wie ich 
glaube — kein Ulcus mehr, hatte nach- 
weisen lassen. Von den übrigen 15 Fällen 
zeigten 13 Fälle den Sitz .des Geschwürs 
in der Pylorusregion und zwei Fälle am 
Magenkörper. Wenn ich auch voll be¬ 
rücksichtige, daß ich nur solche Fälle 
der Operation überwiesen habe, bei wel¬ 
chen ein sehr ausgeprägtes Krankheits-' 
bild vorlag, so beweist das Ergebnis der 
vorliegenden Operationskontrollen meines 
Erachtens doch, daß es bei polysympto¬ 
matischen Fällen in einer nicht geringen 
Zahl von Fällen gelingt, die richtige topi¬ 
sche Diagnose zu stellen. Daß aber auch 
wichtige Teile des Symptomenkomplexes 
zu Täuschungen Anlaß geben können, 
haben wir unter anderem auch darin er¬ 
fahren, daß wir 6-Stundenrest und Hyper¬ 
sekretion zweimal auch bei Fällen von 
Ulcus der kleinen Kurvatur angetroffen 
haben. 

Wenn demnach der parapylorische 
Symptomenkomplex in einer Gruppie¬ 
rung, in welcher eine Vielheit von Sym¬ 
ptomen vorhanden ist, zwar kein patho- 
gnomonischer, aber doch ein wohl¬ 
charakterisierter ist und wenn er dabei 
für den Einzelfall um so mehr verwend- 
*bar ist, je mehr von den erwähnten Sym¬ 
ptomen vorhanden sind, so ist es aber 
immerhin, wie schon erwähnt wurde, ein 
Irrtum, zu glauben, daß alle topisch als 
Duodenalaffektion verdächtigen Krank¬ 
heitszustände auch immer durch ein Ulcus 
bedingt sein müssen. Ich habe Sektions¬ 
befunde in Erinnerung, bei welchen gastri- 
tische Prozesse ausschließlich oder vor¬ 
zugsweise in der Pylorusregion lokalisiert 
waren und erinnere mich unter anderem 
auch an tierexperimentelle, in gleicher Art 
lokalisierte Befunde, die ich bei Kanin¬ 
chen nach Eingießung von stark hyper¬ 
tonischen Kochsalzlösungen erhalten 
hatte. Auch Frankl und Plaschkes^^^ 

21) Wolpe (Arch. f. Ve'rdauungskr., Bd. 25). 

22) Frankl und Plaschkes (Arch. f. Ver- 
dauungskr., Bd. 24). 


trafen in acht Fällen von postinfektiöser 
„Kriegsgastritis“ bei der Autopsie die 
gastritischen Veränderungen ,,besonders 
im pylorischen Anteil, weniger im Fundus 
des Magens“ an. Ich halte diese Gastritis 
parapylorica, von welcher ich schon an 
anderer Stelle gesprochen habe, für iden¬ 
tisch mit dem, was Ramond^^) als 
Gastritis „inferior“ beschrieben hat, da 
diese durch vermehrte, später vermin¬ 
derte Schleimsekretion, reflektorische 
Hypersekretion des Obermagens, Spät¬ 
schmerz und rechtsliegende Schmerz¬ 
punkte charakterisiert sein soll. Ferner 
halte ich und zwar speziell auch Mei¬ 
ch io r^^) gegenüber an dem fest, was ich 
früher über die Unterscheidung des Ulcus 
superficiale und Ulcus profundum für 
diagnostische und prognostische Zwecke 
ausgeführt habe. Geben doch gerade die 
ausgezeichneten Untersuchungen von 
Hart wichtige Stützen für die Richtig¬ 
keit der Anschauung, daß oberflächliche 
Duodenalgeschwüre vollkommen aus- 
heilen können. Hart sieht sogar ki dem 
Umstand, daß man callöse Geschwüre 
am Duodenum seltener als am Magen¬ 
körper findet, einen Hinweis zu der Auf¬ 
fassung, daß Duodenalgeschwüre even¬ 
tuell noch leichter abheilen als Magen¬ 
geschwüre. " 

Aus dem Vorstehenden ergibt sich 
jedenfalls, daß präzise Ulcussymptome 
stets dann vorhanden sein müssen, 
Vv^enn man eine Affectio parapylorica im 
Sinne eines Ulcus deuten will. Es würde 
aber hier zu weit führen, auf die Ulcus¬ 
symptome in ihrer Gesamtheit einzu¬ 
gehen, und es soll deshalb von den zahl¬ 
reichen, für die Ulcusdiagnose in Frage 
kommenden Symptomen hier nur die 
Frage des diagnostischen Wertes der 
okkulten Blutungen eine kurze Er¬ 
örterung finden. 

Wie ich in meinen ,,Magenkrankheiten 
durch Kriegswirkungen“ (1. c.) ausführlich 
erörtert habe, ist nicht nur von verschie¬ 
denen Autoren, sondern auch durch zahl¬ 
reiche eigene Befunde bioptisch einwands¬ 
frei festgestellt, daß manifeste oder ok¬ 
kulte Blutungen keineswegs zu den 
obligatorischen Ulcussymptomen gehören. 
Die Zahl der negativen Blutbefunde in 
den Faeces schwankt bei den einzelnen 
Autoren jedenfalls zwischen etwa 25—50% 

2^ H. Strauß (Jkurs. f. ärztl. Fortbild. 1919, 
Märzheft). 

21) Ramond (Pr. m6d. 1918, Nr. 34). 

25) Melchior, Die Chirurgie des Duodenum 
(Stuttgart 1917, Enke). 



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' 1 - • \ ^ 

November Die Therapie der 


der Fälle. Trotzdem ist aber auch nach 
meiner Erfahrung ein positiver, kritisch 
erhobener und kritisch gedeuteter, Blut¬ 
befund in den Faeces für die Diagnose 
eines Ulcus von außerordentlich hoher 
Bedeutung. Da aber über die Methoden 
des Nachweises von okkultem Blut in 
den Faeces in den letzten Jahren außer¬ 
ordentlich viel debattiert worden ist, so 
will ich hier nur erwähnen, daß ich auf 
Grund von '• Vergleichsuntersuchungen, 
welche die Herren Dr. Schön und Dr. 
Wolfner mit den verschiedenen An¬ 
stellungsformen der Benzidinprobe an 
meiner Abteilung ausgeführt haben, auch 
jetzt noch an uder Benzidinprobe in einer 
ähnlichen Ausführungsform festhalte, 
wie ich diese seinerzeit durch Schlesinger 
und Holst^ß) hatte ausarbeiten lassen. 
Der letzteren gegenüber verzichte ich 
jetzt nicht nur auf das Aufkochen der 
Faecesmischung, sondern benutze auch 
als konstantes Präparat die Benzidin¬ 
tabletten von Goe decke und lasse 
schliej^lich seit längerer Z-eit sämtliche 
Phasen der Probe mit abgemessenen, 
stets gleichbleibenden Mengen dtrrch- 
führen. 

Es wird also die Benzidinlösung durch Auf¬ 
lösen einer Benzidintablette Goedecke (=0,15 
Benzidin, in 2 ccm Eisessig und 4 ccm Wasserstoff¬ 
superoxydlösung hergestellt. Von d^ Faeces 
wird ein etwa linsengroßes Parti Reichen in 4 ccm 
Wasser aufgeschwemmt, und von dieser Auf¬ 
schwemmung wird dann mit einem Glasstab — 
oder noch besser einem unbenutzten Holzstäb¬ 
chen (wie er für die Rektoskoptupfer gebraucht 
wird) — so viel in die Benzidinlösung übertragen, 
als an dem Glasstab beziehungsweise dem Holz¬ 
stab hängenbleibt. Der Aiblauf der Probe ist be¬ 
kannt. 

Wie die Herren Dr. Schön und Dr. 
Wolfner 27) vor kurzem mitgeteilt haben, 
wird die in dieser Form ausgeführte Probe 
weder von der Gregersenschen noch 
von der Boasschen Modification der 
Benzidinprobe an Brauchbarkeit irgend¬ 
wie übertroffen. Für Situationen, in 
welchen aber kein Benzidin zur Ver¬ 
fügung steht oder die Anstellung einer 
Kontrollprobeangezeigt erscheint, möchte 
ich hier als eine sehr einfache und wie es 
scheint, der Benzidinprobe ungefähr 
gleichwertige Probe eine von Thevenon 
und Rolland^s) angegebene Pyramidon- 
probe empfehlen, über welche Herr Dr. 


28) Schlesinger und Holst (D. m. W. 1906, 
Nr. 36). 

27) Schön und Wolfner (B. kl. W. 1920, 
Nr. 44). 

28) Thevenon et Rolland (Presse m6d. 1918, 
Nr. 46). 


Gegenwart 1920 383 


Arons aus meiner Abteilung noch be¬ 
richten wird 29). 

In manchen — allerdings im ganzen 
seltenen — Fällen von Ulcus duodeni 
vermag freilich — das soll hier speziell 
hervorgehoben werden — das Röntgen¬ 
verfahren durch Aufdeckung besonders 
wichtiger morphologischer Verände¬ 
rungen am Duodenalbild so z: B. durch 
einen persistierenden Bariumfleck, einer 
Hau deck sehen Nische oder anderer mehr 
oder weniger beweisender Befunde vor 
allem am Bulbus — so z. B. in Form von 
Propulsion, Dauerbulbus, Aussparungen 
usw. — aber zuweilen auch an anderen 
Teilen des Duodenums nicht bloß der 
Lokalisations-, sondern auch der Ulcus- 
diagnose mehr oder weniger wertvolle 
Dienste zu leisten. Allerdings ist für die 
Deutung dieser morphologischen Befunde 
— auch für die Rechtsverziehung ist dies 
schon gesagt — und noch mehr für die 
Deutung der funktionellen indirekten 
Röntgensymptome große Kritik nötig. 
Da diese Kritik aber nur von derjenigen 
Seite erfolgreich geübt werden kann, 
welche die einzelnen klinischen Symptome 
nicht nur in ihrer Gesamtheit, sondern 
auch in ihren verschiedenen Nuancen 
voll zu überschauen und zu werten ver¬ 
mag, so ist allerdings für den Inter¬ 
nisten eine weitgehende Vertrautheit 
mit vden durch das Röntgenverfahren 
am Duodenum erhältlichen Befunden 
und deren Deutung erforderlich. 

jedenfalls ist aber nach all dem, was 
wir erfahren haben, die Diagnose eines 
Ulcus parapyloricum meist eine recht 
komplizierte und häufig eine recht un¬ 
sichere. Wenn das letztere auch für die 
polysymptomatischen Fälle im allge¬ 
meinen nicht in gleichem Grade zutrifft, 
wie für die oligosymptomatischen Fälle, so 
habe ich doch — speziell in meiner Gut¬ 
achtertätigkeit während des Krieges — 
unsere diagnostische Notlage in Beziehung 
auf die letzteren Fälle oft außerordentlich 
drückend empfunden, und mich infolge¬ 
dessen über die Schwierigkeiten der Dif¬ 
ferentialdiagnosein meinen,,Magenkrank¬ 
heiten durch Kriegseinwirkungen“ in 
entsprechender Weise geäußert. Meines 
Erachtens gibt es für die Diagnostik des 
Ulcus parapyloricum im Einzelfall nur 

28) Die spektroskopische Untersuchung der 
Faeces nach Snapper, welche auch den Nach¬ 
weis des Hämato-Porphyrins in den Faeces ge¬ 
stattet, habe ich nur in einer begrenzten Zahl 
von Fällen ausführen lassen können, da die 
Kosten für das Aceton zurzeit sehr hohe sind. 



384 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


November 


„Richtlinien“, nicht aber eine einfache 
Forme Dabei sind die Schwierigkeiten 
für die Diagnostik in den einzelnen Fällen 
außerordentlich verschieden. Unter den 
Fällen, welche mit dem Namen eines 
Ulcus parapyloricum belegt sind, befindet 
sich meines Erachtens eine nicht ganz 
kleine Zahl von Fällen von Gastritis para- 
pylorica oder von funktionell bedingten — 
sei es psychogen, sei es reflectorisch oder 
sonstwie auf dem Nervenwege erzeugten 
— krankhaften Zuständen und schlie߬ 
lich noch eine Reihe von Veränderungen, 
welche auf die Pylorusgegend von der 
Serosaseite her übergegriffen haben. Nach 
letzterer Richtung hin hat Foerster^^) 
erst jüngst recht beachtenswerte Mit¬ 
teilungen über operativ kontrollierte 
Röntgenbeobachtungen veröffentlicht. Da 
also ein ganz Teil der als ,,Ulcus“ duodeni 
oder parapyloricum diagnostizierten Fälle 
überhaupt gar kein Ulcus darstellt, so 
werden wir uns nicht wundern, daß die 
Blutungs- und Perforationsgefahr 
doch nicht ganz so groß ist, als es uns nach 
dem etwas einseitig geschichteten Material 
der Chirurgen seit einem Jahrzehnt ge¬ 
lehrt worden ist. Die überaus gründlichen 
pathologisch-anatomischen Untersuchun¬ 
gen von Hart haben ab.er außerdem noch 
gezeigt, daß auch beim Duodenalgeschwür' 
tödliche Blutungen selten und Perfora¬ 
tionen nicht häufiger sind als beim 
Magengeschwür. Hart sagt unter an¬ 
derem^ ,,Und es fehlt'auch jeder Beweis, 
daß Perforation in die freie Bauchhöhle 
und tödliche Blutung durch Gefäßarrosion 
beim Zwölffingerdarmgeschwür eine grö¬ 
ßere Rolle als beim Magengeschwür 
spielen“ und er betont weiter ,,mit aller 
Bestimmtheit, daß die Prognose des 
Ulcus duodeni nicht schlechter als die 
des Ulcus ventriculi ist“. Hierbei schließt 
er sich voll meiner 1913 formulierten Pro¬ 
gnostik an, die lautete: ,,eine Krankheit, 
die in vieljähriger Dauer so und so oft 
ab geheilt oder zum mindesten für längere 
Zeit in die Latenz getreten ist, kann 
nicht generell eine so schlechte Prognose 
haben, als jetzt von chirurgischer Seite 
gelehrt wird“, und resümiert: ,,Das Ulcus 
duodeni heilt gleich häufig ab, bleibt 
gleich oft klinisch latent, führt etwa 
gleich oft zur Perforation wie zur profusen 
Blutung wie das Magengeschwür — mit 
einem Wort: es hat die gleiche Prognose.“ 
Die hier besprochenen Feststellungen 
und Erwägungen veranlassen mich, auch 


heute noch an dem festzuhalten', was ich 
vor sieben Jahren^^) über die Indikations¬ 
stellung für die interne und chirurgische 
Therapie gesagt habe. Es bedarf keiner 
Erörterung, daß die letztere außer für 
diejenigen Folgezustände, welche auf me¬ 
chanischem Wege zu schweren Störungen 
geführt haben, ohne weiteres bei allen 
Perforationen in Frage kommt. Hier 
genügt schon ein begründeter Verdacht 
zur Vornahme eines chirurgischen Ein¬ 
griffs. Sonst kommt aber die Operation 
meines Erachtens nur für solche Fälle in 
Frage, bei welchen einerseits die Diagnose 
eines Ulcus parapyloricum mit einem 
hohen Grad von Wahrkheinlichkeit ge¬ 
stellt werden konnte, andererseits eine 
langdauernde — eventuell mehrfach 
wiederholte — gründliche interne Behand¬ 
lung nicht zu einem günstigen Ergebnis 
geführt hat. Wie diese beschaffen sein 
soll, habe ich seinerzeit ausfürlich er¬ 
örtert (I. c.), und ist auch erst jüngst 
von F. Mendel (1. c.) beschrieben wor¬ 
den, der Erfahrungen auf dem vorliegen¬ 
den Gebiete schon im Jahre 1903 mit¬ 
geteilt und einen Teil seiner Patienten in¬ 
zwischen durch mehrere Jahrzehnte in Be¬ 
obachtung gehabt hat. Was speziell die 
Behandlung akuter bedrohlicher Massen- 
blutungen betrifft, so bin ich hier ein 
Gegner operativen Vorgehens geblieben, 
und stehe ich auch jetzt noch auf dem 
Standpunkt, den ich vor nahezu 20 Jah¬ 
ren in einer Diskussion zu einem Vortrage 
von Körte ausgesprochen habe^-). Jeden¬ 
falls habe ich eine ganze Reihe zunächst 
desolat aussehender Fälle von Massen¬ 
blutung bei maximaler Schonungsbehand¬ 
lung sich wieder erholen sehen und 
glaube kaum, daß die Zahl der auf chi¬ 
rurgischem Wege zu rettenden ähnlich 
schweren Fälle größer sein dürfte. Bezüg¬ 
lich der Behandlung rezidivierender mittel¬ 
starker Blutungen verhalte ich mich je¬ 
doch gegen eine Operation nicht prin¬ 
zipiell ablehnend, stelle aber die operative 
Indikation individualisierend von Fall 
zu Fall, weil die Erfahrung gelehrt hat, 
daß sich auch trotz Operation Blutungen 
nicht ganz selten wiederholen. Ich 
selbst verfüge — ähnlich wie Zweig^^^ 
und Andere — über eine ganze Reihe 
solcher Beobachtungen und habe auch 
eine nicht geringe Zahl von Fällen ge- 

31) H. Strauß (Zschr. f. ärztl. Fortbild. 1913, 
Nr. 4). 

32) H. Strauß (Sitzung des Vereins f. inn. 
Med. in Berlin 1900, Sitzung vom 21. Jan. 1901, 
cf. D. m. W. 1901, Nr. 8). 

33) Zweig (M. Kl. Bd. 16, Nr. 22). 


30) Foerster (Kongreß f. inn. Med. 1920). 





/ 


November Die Therapie der Gegenwart 1920 385 


sehen, welche schwere postoperative Stö¬ 
rungen (Verengerung der Gastro-Enter- 
ostomieöffnung, Ulcus pepticum jejuni 
usw.) dargeboten haben. Dies ist der 
Grund, warum ich bis jetzt im großem 
und ganzen meinem früher aufgestellten 
Indikationskreis treu geblieben bin. So¬ 
fern es sich nicht um eine Dauerstenose 
oder um eine Perforation handelt, pflege 
ich demnach im allgemeinen die Behand¬ 
lung zunächst mit einer systematischen 
Geschwürskur zu beginnen. Es wird 
sich dabei niemand darüber wundern, 
daß tiefgreifende Geschwüre schwerer 
abheilen als oberflächliche, und daß die 
interne Behandlung gegen ulcusähnliche 
Krankheitsbilder versagt, bei welchen 
die alleinige oder wenigstens die wich¬ 
tigste* Ursache der Störung in Verände¬ 
rungen an der Serosaseite der Pylorus- 
region (Verwachsungen usw.) gegeben 
ist. Eine grundsätzliche Bevorzugung 
der Frühoperation wäre meines Erach¬ 
tens nur dann aro Platze, wenn das ope¬ 
rative Vorgehen stets auch vor Rezidiven 
bewahren würde. Da dies aber nicht zu¬ 
trifft, so können auch operierte Fälle nie 
einer gründlichen internen Nachbehand¬ 
lung entbehren, es sei denn, daß die 
neuerdings von verschiedenen Seiten, so 
speziell von v. Haberer®^), Finsterer®^) 
u. A. empfohlene Resektion sicherer als 
diebisherigen Methoden die Neuentstehung 
von Geschwüren verhüten könnte. Vor¬ 
erst muß es aber noch Sache weiterer 


Anmerkung: An Stelle von Wismut, das seit 
einiger Zeit außerordentlich teuer ist, habe ich 
dabei in Analogie zu Escalin (G. Klemperer) 
seit einiger Zeit mit Erfolg 0,2—0,3 g Aluminium 
subtilissime pulveratum verabreicht. 

’ 34) V, Haberer (M. Kl. Bd. 16, Nr. 11, Zschr. 

f. ärztl. Fortbild. 1919, Nr. 12 und a. a. O.). 

35) Finsterer (Zbl. f. Chir. 1918, Nr. 52 u. 
a. a. 0.) 


Diskussionen sein, die Vorteile und Nach¬ 
teile des radikalen Vorgehens zu erörtern 
und festzustellen, bis zu .welchem Grade 
ein solches auch die Gefahr einer Neu¬ 
entstehung oder Wiederkehr von Ge¬ 
schwüren im Vergleiche zur internen 
Behandlung vermindert. Denn bei der 
Wertung eines chirurgischen Eingriffs ist 
— abgesehen vön den Gefahren des¬ 
selben — nicht nur dessen momentane 
Leistungsfähigkeit, die wir auf dem vor¬ 
liegenden Gebiete ja keineswegs gering 
einschätzen, sondern auch dessen Einfluß 
auf das definitive Fernbleiben von Ger 
schwürsprozessen zu berücksichtigen. Ge¬ 
rade mit Rücksicht auf das letztere Mo¬ 
ment habe ich mich schon vor vielen 
Jahren' veranlaßt gesehen, von einer 
„ Ulcusdiathese“ zu sprechen®®), welche 
in die therapeutische Fragestellung ebenso 
einzubeziehen ist wie diejenigen Äuße¬ 
rungen des Ulcus, welche in einem ge¬ 
gebenen Zeitpunkt den Gegenstand der 
therapeutischen Erwägungen ausmachen. 
Gegen diese „Geschwürsbereitschaft‘‘, 
welche ja die gleichzeitige Wirkung 
mechanischer Momente im Sinne von 
Aschoff u. A. nicht ausschließt, können 
wir allerdings erst dann erfolgreich Vor¬ 
gehen, wenn wir über die Pathogenese 
des Ulcus klarer informiert sind, als dies 
leider zurzeit noch der Fall ist. Auf 
die Fortschritte unseres Erkennens der 
Pathogenese des Ulcus müssen sich vor 
allem unsere weiteren therapeutischen 
Hoffnungen stützen, und es sind deshalb 
auch unter dem Gesichtspunkte der 
therapeutischen Fragestellung alle Fort¬ 
schritte der theoretischen Forschung auf 
diesem Gebiete mit großer Freude zu 
begrüßen. 

33) H. Strauß (M. KI. 1911, Nr. 21 und Zschr. 
f. ärztl. Fortbild. 1913, Nr. 4). 


Aus dem Eöutgen-Institut des Städtischeu Krankenhauses Moabit. 
Leitender Arzt: Dr. Max Cohn. 

Die Grundlagen der Röntgentiefentherapie ^). 

Von Dr: Adolf Calm.. Assistenzarzt. 


Unter den Errungenschaften der mo¬ 
dernen Therapie stehen die Röntgen- 
strahlen als ein Heilfaktor von hohem 
Werte rnit an erster Stelle. Diese Tat¬ 
sache wird leider vielfach auf den Uni¬ 
versitäten gegenüber den Studierenden 
noch nicht genügend gewürdigt und ist 
leider noch nicht hinreichend Allgemein- 

^) Vorgetragen auf dem wissenschaftlichen 
Abend im Krankenhaus Moabit. 


gut des praktischen Arztes geworden. 
Andererseits findet man häufig eine Über¬ 
schätzung der Leistungsfähigkeit der 
Strahlentherapie , besonders gerade an 
ihrem wundesten Punkte, bei den ma¬ 
lignen Tumoren, die dann leicht nach 
einem Mißerfolg überhaupt zu ihrer Dis¬ 
kreditierung führt. — Ich werde mir 
daher erlauben, Ihnen in großen Zügen 
an Hand der physikalischen und biologi- 

49 




386 Die Therapie der 


sehen Grundlagen der Bestrahlungs¬ 
therapie aufzuzeigen, daß diese Behand¬ 
lungsart heute ein wissenschaftlich gut 
fundiertes Gebiet darstellt, axif dessen 
Basis sich, vereint mit den praktischen 
Erfahrungen, die. Erfolge aufbauen. 

Die Entstehung der Röntgenstrahlen 
setze ich als Ihnen bekannt voraus. 
Analog den Lichtstrahlen weisen nun auch 
die Röntgenstrahlen ein Spektrum ver¬ 
schiedener Wellenlängen auf und dem¬ 
entsprechend sind ihre Eigenschaften 
gegeneinander verschieden. Die lang¬ 
wellige Strahlung ist die sogenannte 
weiche, die , kurzwellige die harte, da¬ 
zwischen liegen die Übergangsstufen. 
Beide Arten verhalten sich gegenüber 
einem Medium, auf das sie auftreffeh, 
andersartig und zwar werden die weichen • 
Strahlen von dem Medium absorbiert, 
die harten vermögen es mehr oder weniger 
zu durchdringen, wobei ich einmal von 
der auch nicht belanglosen Beschaffenheit 
des Mediums absehe. Diese Grundtat¬ 
sache ist für die Tiefentherapie ent¬ 
scheidend: denn soll eine Strahlung in die 
Tiefe zu einem dort gelegenen Krank¬ 
heitsherd gelangen, so muß sie hart oder 
penetrationsfähig sein, um nicht schon 
in den obersten Schichten des mensch¬ 
lichen Körpers absorbiert zu werden. Der 
modernen Technik ist die Lösung des 
Problems, möglichst kurzwellige Strahlen 
zu erzeugen, durch besonders konstruierte 
Röhren, wde die Glühkathoden- und Sie¬ 
deröhren, durch den Bau von Apparaten 
mit sehr hoher Spannung — bis zu 250000 
Volt — und durch die Filterung gelungen. 
Ein nennenswerter Mangel dieser neu¬ 
zeitlichen Apparatur wäre hervorzu¬ 
heben: wir,können mit ihr noch keine 
reine harte Strahlung, eine sogenannte 
homogene Strahlung, erzielen, sondern 
nur ein Strahlengemisch, in dem also 
noch weiche beziehungsweise mittelharte 
Strahlen neben den harten vorhanden 
sind. Das zwingt uns zu der schon er- 
Avähnten Filterung, um Schädigungen 
der Haut durch Absorption der weicheren 
Strahlung in ihr zu vermeiden. Im 
Gegensätze zum chemischen Filter, das 
qualitativ wirkt, d. h. Stoffpartikel von 
bestimmter Größe durchläßt oder nicht 
durchläßt, wdrkt das Strahlenfilter 
quantitativ in dem Sinne, daß es die 
gesamte Röntgenstrahlenmenge schwächt, 
die weiche' jedoch besonders. Diese 
differente Absorption gegenüber weicher 
und harter Strahlung wächst mit dem 
Atomgewicht und der Dicke des Fil- ' 


Gegenwart 1920 . . ' November 


terstoffes; z. B. absorbiert Blei mit 
seinem hohen Atomgewichte die w.eicheren 
Komponenten hundertfach stärker als 
die harten. Soll das Filter demnach 
.richtig gewählt sein, so muß es die weiche 
Strahlung möglichst vollkommen ab¬ 
halten, ohne zugleich auch die harte 
Strahlung allzusehr zu schwächen, mit 
anderen Worten: die Wahl des Filters, 
ob Al, Zn, Cu, Pb, ist abhängig von der 
Spannung der Apparatur, beziehungsweise 
der Härte der Röhre. Auf diese Weise 
kann eine praktisch homogene Strahlung 
erreicht werden. Die Gesamtstrahlen¬ 
menge erleidet durch die Filterung einen 
Verlust, zu dem sich ein zweiter nach dem 
Satz gesellt: die Strahlenintensität nimmt 
mit dem Quadrate der Entfernung ab. 
Diese Tatsache wird verständlich, wenn 
man sich den Brennpunkt der Röntgen¬ 
röhre als den Mittelpunkt zweier Kugeln 
vorstellt. Die zweite Kugel habe den 
doppelten Radius der ersten, dann hat 
diese größere Kugel die vierfache Ober¬ 
fläche und infolgedessen fällt auf jeden 
Quadratzentimeter ihrer Oberfläche nur 
der vierte Teil der radienförmig vom 
Brennpunkte ausgehenden Strahlung. Als 
dritter Verlust kommt die Streustrahlung 
in Betracht, unter der ein aus seiner ur¬ 
sprünglichen Richtung abgelenkter Teil 
der Primärstrahlung von gleicher Be¬ 
schaffenheit wie diese zu verstehen ist. 
Sie entsteht überall da, wo Röntgen¬ 
strahlen auf irgendwelche Moleküle auf¬ 
treffen und gehört in das Gebiet der 
Sekundärstrahlung. Die Zeichnung 1 



Fiff. 1. 


versinnbildlicht ihre Entstehung durch 
ein Filter. — Um nun die Art und die 
Menge der Strahlung zu messen,*gibt es 
eine Anzahl von Verfahren, leider aber 
noch keine einwandfreien, allgemein¬ 
gültigen. Das exakteste zur Bestimmung 
der Strahlenmenge ist die Ionisations¬ 
kammer, das lontoquantimeter, dessen 
schwierige Handhabung seinen Gebrauch 
^ in der Praxis vorläufig verhindert und 



Nov^ember 


Die Therapie- der Gegenwart 1920 


387 


das auch noch kein Einheitsmeßinstru¬ 
ment darstellt. Als Testobjekt di ent die 
Reaktion der Haut. Tritt auf ihr eine 
Rötung ein, so habe ich die zulässige 
Bestrahlungsmenge, die Erythemdosis, 
erreicht. . Diese Erythemdosis muß nun 
eine ganz variable Größe sein, die bei^ 
einer weichen Strahlung mit ihrer starken 
Absorption in der Haut schnell erreicht 
wird und mit zunehmender Härte der 
Strahlung weiter hinausrückt. Um die 
Größe der Erythemdosis als Konstante 
zu fixieren, haben Seitz und Winz 
den Maßbegriff der Hauteinheitsdosis 
(H. E. D.) = 100% geschaffen, mit der 
sie die Erzeugung des Erythems durch 
eine ganz bestimmte harte Strahlung fest¬ 
legen. Gegenüber der H. E. D. steht die 
Tiefendosis, die in Prozenten zur Ober¬ 
flächendosis die in die Tiefe gelangte 
Strahlenmenge ausdrückt. Daß die pro¬ 
zentuale Tiefendosis kleiner sein wird 
als die H. E. D. ist ohne weiteres ver¬ 
ständlich, wenn man den Verlust an 
Strahlung durch Absorption, quadratische 
Abnahme und Streuung berücksichtigt. 
Dieser Verlust ist alles andere als gleich¬ 
gültig für uns, denn wir gebrauchen 
häufig genug zur erfolgreichen Tiefen¬ 
therapie sehr große Strahlenmengen bis 
zur H. E. D. und über sie hinaus und 
müssen daher bestrebt sein, die Tiefen¬ 
dosis an Größe der Hautdosis gleichzu¬ 
machen. Der Weg der Zulunft in dieser 
Richtung ist vielleicht die weitere Här¬ 
tung der Strahlen. Heute gelingt es, auf 
Umwegen das gesteckte Ziel zu erreichen: 

1. durch die Mehrfelderbestrahlüng oder 
das Kreuzfeuer. 



Fig. 2 veranschaulicht diese Methode. 
Sie sehen, daß ich die Tiefenwirkung 
parallel der Felderzahl steigern und das 
Vielfache der Erythemdosis in die Tiefe 


geben kann, während ich die Haut pro 
Feld nur bis zur Erythemgrenze belaste. 
Der Nachteil dieses Verfahren ist:- je 
zahlreicher die Felder sind, um so kleiner 
werden sie, um so größer wird der Ziel¬ 
fehler auf den Tumor und die Gefahr, 
die später noch zu erörternde Reizdosis 
zu geben, beziehungsweise große Objekte, 
an einzelnen Stellen gar nicht zu treffen. 
Liegt ein Krankheitsherd nun oberfläch¬ 
licher, wie z. B. das Mammacarcinom, so 
gelingt eine Konzentration der Bestrah¬ 
lung von mehreren Einfallspforten kaum 
oder gar nicht mehr. Wenn Sie sich in 
Fig. 2 den Tumor oberflächlicher und 
kleiner eingezeichnet denken, wird Ihnen 
diese Tatsache ohne weiteres verständ¬ 
lich werden. Der großen Schwierigkeit, 
in solchen Fällen die erforderliche Dosis 
heranziibringen, wird man Herr: 

2. durch Vergrößerung des Röhren¬ 
hautabstandes und 

3. durch Vergrößerung des Einfall¬ 
feldes. 

Vergrößere ich z. B. den Röhrenhaut¬ 
abstand von 23 auf 50 cm, so erhöhe ich 
nach Seitz und Wintz die Tiefendosis 
um zirka 50%. Fig. 3 mag Ihnen diesen 



Vorgang erläutern. Die vom Punkte A 
kommende Strahlung breitet sich kegel¬ 
förmig aus. Käme die Strahlung aus 
der Unendlichkeit, so wäre sie praktisch 
parallel und damit die Einfallsintensität 
•und die Intensität in größerer Tiefe 
gleich. Das gesteckte Ziel wäre erreicht. 
Um mich ihm zu nähern, muß ich den 
Röhrenhautabstand im Verhältnis zur 
Schichtdicke des zu durchstrahlenden 
Gewebes möglichst vergrößern. Infolge 
der quadratischen Abnahme der Strahlen¬ 
intensität wird aber hierdurch die Ge- 
samtstrahknmenge bedeutend verringert, 
dagegen die Bestrahlungsdauer erhöht, 
Auf "diese Weise kommen die Dauer¬ 
bestrahlungen von vielen Stunden zu¬ 
stande. Vergrößere ich das Einfallsfeld 
von 8XS 10X15 cm, so erhöht sich 

49* 




388 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


November 


die Tiefendosis ebenfalls nach Seitz und 
Wintz um etwa 25%. Dies liegt an der 
Streustrahlung, die zum Teil als Zusatz¬ 
strahlung in der Tiefe in Betracht kommt, 
wie aus Fig. 1 ersichtlich ist, und die 
mit der Größe des Einfallfeldes zunimmt. 

Unsere physikalischen Betrachtungen 
haben uns gezeigt, daß wir nicht nur über 
genügend durchdringungsfähige Röntgen¬ 
strahlen verfügen, sondern auch ihre 
Menge den jeweiligen Anforderungen ent¬ 
sprechend variieren können. Um uns 
nun den therapeutischen Effekt der 
Röntgenstrahlen verständlich zu machen, 
und um eine rationelle Tiefentherapie zu 
treiben, müssen wir auch über die biolo¬ 
gischen Wirkungen Aufklärung suchen. 
Das Charakteristische der Röntgen¬ 
strahlenwirkung auf den lebendigen Or¬ 
ganismus ist die direkte Zellschädigung. 
Sie entsteht infolge der biochemischen 
Wirkung der Röntgenstrahlen, deren An¬ 
griffspunkt in erster Linie der Zellkern, 
erst weiterhin das Protoplasma ist. Je 
nach der Menge der absorbierten Strah¬ 
lung und der Empfindlichkeit der Zelle 
kommt es zu ihrer vorübergehenden Er- 
kpnkung oder zur bleibenden Schädigung 
bis zum Tode der Zelle. Die Absorption 
sehr kleiner Strahlenmengen bewirkt eine 
Erhöhung der Proliferation, sie stellt die 
Reizdosis dar. Sie sehen, daß wir die 
Röntgenstrahlen als ein Medikament auf¬ 
fassen können von einer den Giften ana¬ 
logen Wirkung. Und wie es bei diesen 
auch nicht gleichgültig ist, ob ich z. B. 
eine größere Dosis Morphium auf einmal 
oder sukzessive verabreiche, so muß ich 
auch die Röntgenstrahleiidosis je nach 
dem gewünschten Erfolge in einer oder 
mehreren Sitzungen verabfolgen. Im 
letzteren Fall ist dann der Erholungs¬ 
faktor der Zellen und eine gewisse Ge¬ 
wöhnung an das ,,Röntgengift“ in Rech¬ 
nung zu stellen. Der Grad der Zellschädi¬ 
gung steht also im gesetzmäßigen Ver-' 
hältnis zur Menge der Strahlung, der 
Absorptionsfähigkeit des Gewebes und 
zur specifischen Radiosensibilität der 
Zelle. Diese specifische Strahlenempfind¬ 
lichkeit der Zelle ist an ihren biologischen 
Charakter gebunden. Darüber hat die 
experimentelle Forschung Aufklärung ge¬ 
geben und gezeigt: je jüngeri^eine Zelle 
ist, je rascher sich der Kernteilimgsprozeß 
in ihr vollzieht und je lebhafter ihr Stoff¬ 
wechsel abläuft, um so radiosensibler ist 
sie. Die Samenzellen sind z. B. während 
ihres kargokinetischen Werdegangs hoch¬ 
gradig strahlenempfindlich, die ausge¬ 


reiften Spermatozoen weit weniger. Auf 
die Praxis angewandt, bedeutet dies, 
daß sich alle Organe mit vorwiegend 
,,tätigen“ Zellen für die Strahlentherapie 
eignen, so die Ovarien und Hoden, die 
Lymphdrüsen und die Milz mit ihren 
Keimcentren, die Hyperplasien der drü¬ 
sigen Organe, wie Thyreoidea, Thymus, 
Hypophysis, die malignen Tumoren mit 
ihren atypisch wuchernden Zellen. Dem¬ 
gegenüber reagieren die ruhenden Zellen, 
z. B. die Bindegewebszellen weit schwerer 
auf Röntgenstrahlen. — So lehren das 
Experiment und die Erfahrung, daß eine 
Dosierung nur aufgebaut werden kann 
auf Vergleich der biologischen Reaktionen 
mit der aufgewandten Stärke des Medika¬ 
ments, und daß eine bestimmte Dosis 
nur auf einem bestimmten Gewebe diese 
oder jene Wirkung ausübt, nicht aber, 
daß eine bestimrrite Dosis überhaupt eine 
bestimmte Wirkung hat. Dieselbe Strah¬ 
lenmenge auf ein Lymphosarkom ge¬ 
geben, hat eine ganz andere Wirkung als 
auf einen Skirrhus. — Diese Betrach¬ 
tungen führen uns dazu, den Kern des 
schwierigen Problems, warum gewisseZell- 
arten sehr strahlenempfindlich und andere, 
ihnen morphologisch ähnliche Zellen wenig, 
empfindlich sind, nicht allein in der ver¬ 
schiedenen Absorptionsfähigkeit der Ge¬ 
webe für Röntgenstrahlen, also in einer 
rein physikalischen Erklärung, zu suchen, 
wie das von einigen Seiten geschieht,, 
sondern auch in einer specifischen Strah- 
lenempfindlichekti der Zellen. Wenn 
nun Seitz und Wintz bestimmte Be¬ 
strahlungsdosen angegeben haben, für die 
Kastration 34%, für das Sarkom 60 bis 
70% und für das Carcinom 110% der 
H. E. D., gewissermaßen ein physikali¬ 
sches Verfahren, so ist darüber zu sagen, 
daß beide Forscher diese Dosen durch 
lange Versuchsreihen gewonnen haben 
und zwar eben im Vergleich zwischen 
biologischer «Reaktion und aufgewandter 
Strahlenintensität. Nach zwei Rich¬ 
tungen hin möchte ich aber diese Zahlen 
eingeschränkt wissen: einmal sind sie 
nur als Normen aufzufassen, und dann 
fußen sie auf gynäkologischen Erfahrun¬ 
gen, das heißt ihnen liegen Geschwülste 
mit einem umgrenzten, bestimmten Mut¬ 
tersubstrat und damit doch gewisse 
Typen zugrunde. Es sei dies gegenüber 
einem Überschwang von Hoffnungen, 
der nun glaubt, mit diesen Dosen mehr 
oder minder mechanisch eine erfolgreiche 
Therapie jedes Carcinoms oder Sarkoms 
einleiten zu können, besonders betont: 





l^ovember ^ Die Therapie der Gegenv^l^art 1920 389 


Es- gibt keine Ca^Dosis schlechthin und 
noch viel weniger' eine Sarkomdbsis. Ca 
und Ca ist ein Unterschied, der vielleicht 
noch deutlicher bei einem periostalen und 
einem Lymphosarkom zutage tritt, Tat- 
■sachen, deren man sich bei Anwendung 
der genannten Zahlen in anderen als den 
-gynäkologischen Körperregionen wohl be-, 
wuf5t sein sollte. An sich aber haben uns 
die.Untersuchungen der Freiburger und 
Erlanger Schule sehr viel weiter gebracht, 
so daß heute in der Carcinom- und Sar- 
.komtherapie die Großfelder- und Dauer¬ 
bestrahlung als die Methode der Wahl 
gilt. Gegenüber desolaten Fällen ist 
auch sie machtlos; diese sind für die 
Strahlenbehandlung quoad sanationem 


ebensowenig geeignet, wie für die Opera¬ 
tion. Unter Umständen kann ein Rück--' 
gang der Jauchung, eine Besserung der 
Schm.erzen usw. für gewisse Zeit .erzielt 
werden, aber auch das Gegenteil, wenn 
infolge zu großer Ausbreitung des Tumors 
irgendwohin die Reizdosis gegeben wird. 
Jedenfalls sollten solche Fälle nicht der 
Strahlentherapie zur Last gelegt werden. 
Zum Schluß möchte ich vor einer Über¬ 
tragung der Intensivmethode auf , die 
Therapie der inneren Medizin, wie der 
Leukämien, der Tuberkulose, des Morbus 
Basedowii warnen. Hier hat uns die Er¬ 
fahrung gelehrt, daß eine vorsichtige, 
individualisierte Bestrahlungsart sehr gute 
Erfolge zeitigt. 


Cretinenbehandlung und Rassenhygiene. 

Vofi Dr. Finkbeiner, prakt. Arzt, Zuzwil (Schweiz). (Fortsetzung.) 


B. Prophylaktische Maßnahmen 

gegen den Cretinismus haben zu allen 
Zeiten wichtiger geschienen und mehr 
Erfolg versprochen, als die trostlose In¬ 
dividualtherapie, und namentlich die 
älteren Autoren haben hierüber sehr 
gesunde Ansichten verfochten. Es lohnt 
sich wohl, dieselben der Vergessenheit 
zu entreißen. 

Guggenbühl schreibt: „Ursache des 
Cretinismus ist alles, was schwächt und 
die Lebenstätigkeit depotenziert; Vor¬ 
beugungsmittel dagegen alles, was den 
physischen und moralischen Charakter 
des Volkes hebt,“ und er empfiehlt 
speziell 

1. sorgfältige Bodenkultur, Drainage; 

2. bessere Wohnungen, Baugesetze, 
Baupolizei; 

3. abwechselungsreiche Nahrung, 
'Schnapsverbot, gutes Trinkwasser, jod¬ 
haltiges Kochsalzbei Kropfdisposition(l); 

4. Verhinderung der blutsverwandt¬ 
schaftlicheil Ehen und Verbindungen von 
Individuen, welche bereits Spuren des 
Cretinismus an sich tragen, Begünstigung 
der Rassendurchkreuzung, Verbesserung 
der physischen Erziehung; Kleinkinder¬ 
schulen und Musterdörfer; dann natürlich 
die Anstaltsbehandlung. 

Es ist geradezu erstaunlich, wie ver¬ 
nünftig und richtig- dieser lange Zeit 
als Charlatan verschriene Autor die 
Endemie und die Mittel zu ihrer Ver¬ 
hütung beurteilte; besseres vermögen 
wir auch heute darüber noch nicht zu 
sagen. 

Dem me stand auf dem gleichen 
Standpunkt; er verweist darauf, daß 


(schon damals!) die Endemie, namentlich 
die schwersten Formen derselben, unauf¬ 
haltsam zurückging; ,,der Cretinismus 
hat seine Akme überschritten; die Natur 
selbst strebt nach endlichem Erlöschen 
und unterstützt die Kraft durchbrechen¬ 
der Kultur“; in der Annahme eines 
völligen und spontanen Erlöschens der 
Endemie hat er sich aber doch wohl ge¬ 
täuscht. Richtig scheint seine Forderung, 
daß nur der Staat und der Gesetzgeber 
die wirksamen Mittel zur Abhilfe besitze. 
■„Redliche Sorge für das Wohl des Landes; 
gewissenhafte Förderung der. Volks¬ 
bildung, umsichtige Erforschung schäd¬ 
licher Einflüsse und beharrliche Versuche 
möglicher Abhilfe“ nennt er als Wege 
zum Ziel und lu^int: ,,Ein Hauptmittel: 
Verhinderung von Ehen in cretinischen 
Geschlechtern, ist bis dahin nur wohl¬ 
gemeinter Wunsch geblieben und wird 
aus höheren Rücksichten für die persön¬ 
liche Freiheit aller es auch ferner bleiben 
müssen.“ Solche altmodische, vormärz¬ 
liche Rücksichten haben in den letzten 
fünf Jahren doch wohl ihre allgemeine 
Geltung verloren und wir wissen, daß 
heute in Europa für die ,,persönliche 
Freiheit“ (und gar für die persönliche 
Freiheit aller!) kein Raum mehr ist. 
Tempi passati ... 

Rösch meint, wenn wirklich der 
Cretinismus an gewisse Örtlichkeiten ge¬ 
bunden wäre, so bliebe nichts anderes 
übrig, als solche Wohnplätze zu ver¬ 
lassen. Im einzelnen schlägt er vor: 

1. Bodenverbesserung, Entwässerung, 
Flußkorrektionen; 

2. baupolizeiliche Vorschriften; 




r - ' 

390 Die Therapie der 


\ 3. Bäume dürfen nicht zu nahe bei 

den Wohnungen stehen; 

4. gutes Trinkwasser; 

5. ‘Abstinenz von geistigen Getränken 
(Branntwein); 

6. bessere Ernährung; Entlastung von 
drückenden Abgaben (!), Steuernach¬ 
laß (!), Übernahme des Straßenunter¬ 
halts'durch den Staat, Beförderung des 
Wohlstands durch innere Kolonisation 
und Industrie; 

7. bessere Hautpflege (Bäder, Klei¬ 
dung usw.); 

8. sorgfältige Erziehung, Kleinkinder¬ 
schulen ; 

9. Schwangere sollen nicht dreschen (!), 
schneiden, nähen, schwere Lasten tragen, 
nicht jeder Unbill der Witterung und 
nicht psychischer Mißhandlung (!) aus- 
gesetzt sein, keinen Branntwein trinken; 

10. d:e Fortpflanzung des Menschen 
soll nicht mehr dem blinden Zufall 
überlassen bleiben wie bisher, sondern 

Mädchen aus Endemiegegenden sollen 
gesunde Burschen von auswärts hei¬ 
raten; 

Abkömmlinge von Cretinenfamilien 
sollen nie, auch wenn sie selbst ge¬ 
sund sind, unter sich heiraten; 

cretinische Individuen sollen selbst nie 
heiraten, auch wenn sie selbst bloß 
etwas vierschrötig,' geistesschwach 
oder mit lallender Sprache begabt 
wären; 

ist bloß der eine Teil leicht cretinoid, so 
ist die Ehe dann allenfalls zulässig, 
wenn der Mann der gesunde Partner 
ist (gleicher Ansicht ist Guggen- 
bühl S. 60). ' 

Von diesen Vorschlägen sind zwar 
einige schon verwirklicht, aber vieles 
bleibt noch zu tun, und aus dem Stadium 
des ,,frommen Wunsches'‘ wird die Pro¬ 
phylaxe des Cretinismus in absehbarer 
Zeit noch nicht herauskommen. Denn 
man muß sich vollständig darüber klar 
sein, daß eine unentwegte Durchführung 
solcher Maßregeln aufs allertiefste in 
unser gesamtes Leben einschneiden 
müßte. Und es ist noch sehr die Frage, 
ob die Ausrottung des Cretinismus so 
dringend und so .nützlich wäre, daß sie 
die Anwendung so drakonischer Vor¬ 
schriften erforderte. Ich persönlich bin 
der Ansicht, daß dies nicht der Fall ist 
und daß ein weiteres Bestehenlassen des 
Cretinismus keine unerträgliche Last be¬ 
deutet. Bloß der Vollständigkeit halber 
und weil meines Wissens das Problem 
in neuerer Zeit nie mehr von dieser Seite 


j- 

Gegenwart 1920 November 


her betrachtet wurde, will ich hier Mittet 
und Wege andeuten, wie zu einer Ein¬ 
dämmung und. sogar zu radikaler Aus¬ 
rottung des Cretinismus zü gelangen wäre.. 

Im einzelnen kommen folgende Punkte 
in Betracht: 

I. Erforschung des Cretinismus. 

Gestehen wir ruhig, daß unsere Kennt¬ 
nisse vom Cretinismus heute noch sehr- 
lückenhaft sind. Man hat das Problem 
viel zu sehr mit Fragen belastet, welche 
direkt damit kaum etwas zu tun haben.. 
Das Studium des Kropfes, derTaubstumm- 
heit, der Idiotie usw. §oll keinem ver¬ 
wehrt sein; aber man glaube nicht, damit 
für die Aufhellung des Cretinismus etwas 
zir leisten. Wenn wir wirklich vorwärts 
kommen wollen, so ist einmal das Pro¬ 
blem ausschließlich, direkt und nicht . 
mehr auf Umwegen in Angriff zu nehmen. 
Ich denke bei dieser Forderung nicht so 
sehr an eine Statistik (welche freilich 
auch noch fast vollständig neu zu schaffen 
ist), als vielmehr an die unerläßliche 
anatomische Grundlage; sehen wir ab 
von Gehirn, Kropf und einigen mehr 
fragmentarischen Knochenbefunden (alt 
das am vollständigsten bei Scholz ver¬ 
arbeitet), so wissen wir über die Anatomie 
der Cretinen noch sehr wenig. Es sind 
zwar Sektionsprotokolle solcher Menschen^ 
schon in ziemlich großer Zahl vorhanden, 
aber über die normale Anatomie der 
Cretinen, nämlich das Verhalten der 
Osteologie derselben, der Muskelabnormi¬ 
täten, des Verlaufs von Gefäßen und 
Nerven, mit einem Wort: über die An¬ 
thropologie der Cretinen liegen noch recht 
wenig brauchbare Angaben vor. Hier 
ist zunächst der Hebel anzusetzen; mit 
solchen Vorarbeiten ist das Fundament 
einer rationellen Prophylaxe zu schaffen. 

Die prophylaktischen Maßregeln selbst 
sind in zwei Gruppen zu teilen, je nach¬ 
dem sie in der Umgebung des Menschen 
oder beim Menschen selbst angreifen. 

11. Kulturelle Verbesserungen. 

Das Programm der alten Autoren 
ist in diesen Punkten großenteils ver¬ 
wirklicht, ohne daß dadurch die Endemie 
merklich beeinflußt worden wäre. Ent¬ 
sumpfung und Bodenverbesserungen sind 
heute bei uns. allerwärts durchgeführt 
und die meisten Gemeinden verfügen 
über gutes Trinkwasser (in den Berg¬ 
dörfern des Schweizer Jura, wo dies¬ 
bezüglich die Verhältnisse schlecht sind, 
ist Cretinismus nur wenig verbreitet!). 


' November Die Therapie der Gegenwart 1920 ^ 2(91 


Jedes Dorf hat seine Gesundheitskom¬ 
mission und organisatorisch dürfte da 
wenig zu ändern sein. 

Auch die Wohnungen sind in den Neu¬ 
bauten der letzten Jahrzehnte theoretisch 
einwandfrei; theoretisch, soweit Bau¬ 
meister und Baupolizei in Frage kommen. 
Praktisch, was den Unterhalt durch die 
Hausfrau- anbelangt, stoßen wir oft ge¬ 
nug auf elende’ Verhältnisse, und ich 
weiß nichts Ödere^ und Abstoßenderes, als 
ein neues Haus in unordentlichen Händen. 
Gewiß mag, wie Kutschera ausgeführt 
hat, das Abbrennen eines Hauses unter 
Umständen im hygienischen Sinne zu 
begrüßen sein; aber eine Cretinenfamilie 
in einem Neubau: mir graust davor! 

III. Prophylaxe beim Menschen selbst 

leisten wir bei den wirklichen Infektions¬ 
krankheiten schon dadurch, daß wir die' 
Erkrankten ^behandeln und durch deren 
Heilung die Ansteckungsquellen^ beseiti¬ 
gen. Beim. Cretmismus kommt diese 
Prophylaxe nicht in Frage. Eine erfolg¬ 
reiche Behandlung der Cretinen, welche 
diese instand setzt, siclT ihren Lebens¬ 
unterhalt selbst zu verdienen und eine 
Familie zu begründen, würde vernTutlich 
nicht zur Verminderung, sondern im 
Gegenteil zur Vermehrung des Cretinis- 
mus beitragen. Unser Ziel kann nicht 
sein, den Cretinen die Familiengründung 
zu ermöglichen, sondern im Interesse 
der Prophylaxe muß danach gestrebt 
werden, alle von der Endemie auch nur 
gestreiften Individuen . von der Fort¬ 
pflanzung auszuschließen. Davon später; 
vorerst sind zwei mehr äußerliche Punkte 
zu besprechen, nämlich bessere Lebens¬ 
haltung und bessere Körperpflege. 

a) Bestrebungen für bessere- 
^ Lebenshaltung 

sollen in erster Linie den Gesunden zugute 
kommen, nicht denen, die der Endemie 
schon erlegen sind. Ich verweise auf 
Punkt 6 bei Rösch. Ein wesentlicher 
Punkt sodann scheint mir bessere Aus¬ 
bildung der zukünftigen Hausfrauen zu 
sein^). Was jetzt nur einzelnen zugute 
kommt, nämlich Absolvierung einer Haus¬ 
haltungsschule, das sollte allen jungen 
Mädchen zugänglich gemacht werden und 
wäre auch auf dem Lande unschwer zu 


‘^) Wer die Notwendigkeit dieses Programm¬ 
punktes bezweifeit, möge sich durch den Artikel 
von Dr. Emil Reiß über „Hygiene und Küche“ 
(in Nr. 27 der M. KI. vom 6. Juli 1919) überr 
zeugen lassen. 


erreichen;' es brauchte bloß die schon 
fast überall bestehende Fortbildungs- • 
schule diesem Zweck dienstbar gemacht 
zu werden. Hier würden die jungen 
Töchter nicht allein die Führung eines 
Haushalts, sondern (was ebenso wichtig 
und ihnen meistens unbekannt) die Zu¬ 
bereitung einer schmackhaften Kost, ver¬ 
feinerten Gemüsebau, Krankenpflege und 
dergleichen mehr erlernen. Solche Forde¬ 
rungen mögen mit Cretinenprophylaxe 
scheinbar kaum etwas zu tun haben; ihre 
Erfüllung würde jedoch die häusliche Be¬ 
haglichkeit erhöhen und dadurch erst 
die" Durchfüfirung eines Alkoholverbots 
ermöglichen. All das -ist ja noch nicht 
der Inbegriff der Prophylaxe, aber doch 
nicht unwesentliche Vorbedingung, dazu; 
'namentlich das Alkoholproblem hat für 
unsern Gegenstand eine große praktische 
Bedeutung, die leider von .den neueren 
Autoren viel zu wenig beachtet wird. 

/ 

b) Bessere Körperpflege 
hat schon die Ungeborenen zu berück¬ 
sichtigen; ich muß jedoch gestehen, daß 
mir Forderung 9 be| Rösch in diesem 
Sinne viel sympathischer ist, als etwa 
das Taussigsche Postulat einer syste¬ 
matischen Kropfbekämpfung bei sämt¬ 
lichen graviden Frauen; kann doch die 
Struma der Schwangeren mit Fug und 
Recht als eine notwendige Kompen- 
sationserscheinuug b etrachtet werden. 
Warum in diese fein abgestimmten Re¬ 
gulierungsvorgänge mit grober Hand ein¬ 
greif en? 

Zurück zur Körperpflege! Da eine 
solche ohne Badegelegenheit undenkbar 
ist, so ist für jede Gemeinde die Errich¬ 
tung eines Brausebades anzustreben. Hier 
könnte, wie es in den Städten ja schon 
lange eingeführt ist, jedermann um ge¬ 
ringes Entgelt die bisher so sträflich 
vernachlässigte Körperpflege durchführen. 
Wenn im Mittelalter jedes Dorf seine 
Badestube hatte, so sollte ähnliches auch 
heute noch möglich sein. 

Ein weiterer sehr wichtiger Programm¬ 
punkt ist der, daß der schulentlassenen ^ 
Jugend beider Geschlechter Gelegenheit 
zu einem zielbewußten Turnbetrieb ge¬ 
schaffen werden sollte. Das Schulturnen 
hat sich (aus Gründen, die hier nicht zu 
erörtern sind) als vollständig wertlos 
erwiesen; das ergaben unsere Rekruten¬ 
prüfungen. Bis 1914 wurden alle unsere 
Stellungspflichtigen außer einer päda¬ 
gogischen Prüfung auch auf ihre körper- 
! liehe Gewandtheit geprüft und es zeigte 





3&2 Die Therapie der 


sich d&hei, daß diejenigen, welche nur 
, in der Schule geturnt hatten, genau so 
wenig leisteten, wie die Burschen, die 
überhaupt nie zum Turnen gekommen 
waren. Positive Ergebnisse liefert einzig 
das Vereinsturnen, das deshalb überall 
auch in ländlichen Verhältnissen all¬ 
gemein und verbindlich eingeführt werden 
sollte. Auf Einzelheiten, wie dies ge¬ 
schehen könnte und wie die Gefahren der 
Vereinsmeierei und des Alkoholismus da¬ 
bei zu vermeiden wären, ist hier zunächst 
nicht einzutreten; - wo ein Wille ist, da 
findet .sich immer ein Weg. Solche 
Körperpflege auf kommunaler Grundlage 
erscheint überall ..da von besonderer Be¬ 
deutung, wo künftig die allgemeine Wehr¬ 
pflicht ausgeschaltet wird. 

Man kann und wird, mir einwenden, 
für kostspielige hygienische Neuerungen 
sei leider heute kein Geld vorhanden; 
die Gegenwart hat andere Sorgen 1 Ge¬ 
wiß; aber es ist zu beachten, daß alle 
diese Vorschläge nicht charitativen 
Charakter haben, sondern in allererster 
Linie dem gesunden , Nachwuchs zu¬ 
gute kommen sollen; die Volksgesundheit 
ist (neben den Schätzen des Erdbodens! 
der wichtigste Teil jeden Nationalreich¬ 
tums, und darum kann das darauf ver¬ 
wendete Geld nicht als unproduktive 
Anlage angesehen werden. Ferner ist 
zu bedenken, daß Schulküche, Brause¬ 
bad und Turnhalle in Verbindung mit 
Versuchsgarten und TuruT (respektive 
Spiel-)platz in einer gemeinsamen An¬ 
lage vereinigt werden können, wodurch 
sich die Kosten wesentlich reduzieren; 
und daß die Benützung dieser Einrich¬ 
tungen, auch wenn sie obligatorisch er^ 
klärt ist, deswegen noch nicht unentgelt¬ 
lich sein muß; mit etwelchen Zuschüssen 
- aus öffentlichen Mitteln sollten sich 
Volksbad, Haushaltungsschule und Turn¬ 
verein leicht selbst zü erhalten vermögen. 
— Aber freilich: so hoch wir den Nutzen 
solcher Anstalten einschätzen mögen, 
an den Kern des Cretinenproblems und 
der Cretinenprophylaxe kommen sie 
kaum heran. 

c) Rasseiihygiene und Eugenik. 

Die-Frage: „Wie kann die Entstehung 
des Cretinismus verhütet werden?“ — 
diese Frage gehört durchaus ins Gebiet 
der Rassenhygiene. Liegen auch bisher 
verwertbare Beobachtungen noch kaum 
vor, so läßt sich nichtsdestoweniger der 
einzuschlagende Weg recht wohl einiger¬ 
maßen überblicken. 


Gegenwart 1920 Novemben 


Nehmen wir einmal an, unter irgend¬ 
einer Haustierart wäre .eine dem'Cretinis¬ 
mus vergleichbare Entartung aufgetreten; 
was wäre da zu tun? Würde, man sich 
tatenlos in sein unabwendbares Schicksal' 
ergeben? Würde man Abhilfe für un¬ 
möglich oder auch nur für schwierig. 
halten? Quod nonl Jeder simple Land¬ 
wirt wäre gewiß überzeugt, daß mit den 
allgemein bekannten und erprobten Züch¬ 
terregeln innerhalb von wenigen Gene¬ 
rationen die Gesundung der betreffenden 
Rasse erreicht werden könnte. Welches 
sind nun diese Züchterregeln ? Sie sind 
sehr einfach und lassen sich auf die For¬ 
mel zurückführen: es werden bloß die¬ 
jenigen Individuen zur Zucht zügelassen, 
welche 'die dem Vorgesetzten Züchtüngs- 
ziel entsprechenden Eigenschaften be¬ 
sitzen (Selektion); alle anderen werden 
eliminiert oder sterilisiert. Reinzucht 
(Inzucht in Verbindung mit Systematik' 
s.cher Blutauffrischung) befestigt das Re¬ 
sultat; dazu kommen ferner sorgfältige 
Abstammungskontrolle, Prämiierungen, 
verständige Haltung (Fütterung, Dressur, 
Gesundheitspflege) usw. 

Was der bewußte Wille des Tier¬ 
züchters bei den Haustieren, das leistet 
bei den frei lebenden Tieren der unerbitt¬ 
liche Kampf ums Dasein: nämlich Elimi¬ 
nation der minderwertigen Individuen. 
Der Mensch ist, wie es scheint, das einzige 
Wesen, bei dem eine zweckdienliche Aus¬ 
lese überhaupt nicht zur Geltung kommt; 
Zuchtwahl ist strengstens verpönt und 
widerspricht allen unseren heutigen Mo¬ 
ralbegriffen; geschlechtliche Selektion be¬ 
stimmt sich nicht nach körperlichen, son¬ 
dern wohl ausschließlich nach kulturellen 
Eigenschaften (Vermögen, gesellschaft¬ 
liche Stellung, Verstand) und der Kampf 
ums Dasein ist im zivilisierten Europa 
ausgeschaltet, indem unsere sozialen Ein¬ 
richtungen die Schwachen in jedem Sinne 
begünstigen. Wer will sich wundern, 
wenn das. Resultat der Zivilisation un¬ 
befriedigend ist und Degeneration be¬ 
deutet? 

Sehen wir in Endemiegegenden die 
Variationskurven allgemein verbreitert^®) 
und finden wir daselbst die Minusvarian¬ 
ten relativ zu stark vertreten, so läßt 
sich das Ziel der Prophylaxe mit anderen 


Wenn eine abnorm flache oder mehr- 
gipflige Variationskurve auf Rassenmischung zu¬ 
rückzuführen ist, so muß es möglich sein, durch 
zielbewußte Reinzucht eine mehr geschlossene 
Kurvenform zu erreichen. Dazu sind aber 
mehrere Generationen erforderlich. 




39a 


November Die Therapie^ der Gegenwart 1920 


Worten so umschreiben, daß der eine 
Schenkel der Variationskurven (nämlich 
, eben di^ Minusvarianten) zum Ver-, 
schwinden gebracht werden soll. Dies 
kann nach dem eben gesagten nicht als 
unerreichbar gelten,'aber man muß sich 
darüber klar sein, daß es unseren gegen¬ 
wärtig geltenden Moralbegriffen wider¬ 
spricht. Frühere Zeiten dachten darüber 
anders, und welche Anschaltungen in der 
Zukunft gelten werden, das wissen wir 
nicht. Immerhin lassen sich gewisse 
Keime zu neuen Entwicklungen heute 
schon erkeunen. 

Früher dachte man anders. Die 
Spartaner setzten ihre Minusvarianten 
im Taygetos aus, und die barbarisch 
grausamen Aiisrottiingskriege; mit denen 
zu allen. Zeiten der weiße Mann die Ur¬ 
bevölkerung in Europa wie in überseei¬ 
schen Ländern verfolgte, hatten schlie߬ 
lich alle den gleichen Endzweck: Rein- 
haltung der eigenen Rasse. Ganz das¬ 
selbe gilt wohl auch von den Hexenver¬ 
brennungen;’ es läßt sich zeigen, daß 
in den Sagen der Alpenländer eine un¬ 
unterbrochene Entwicklungsreihe von den 


Hexen über Feen und Teufel zur zwerg¬ 
haften Urbevölkerung hinführt. Und 
wenn noch in nicht allzu weit zurück¬ 
liegender Zeit Landstreicher wegen Baga¬ 
tellen „von Rechts wegen“ gehenkt wür¬ 
den, so befreite . auf solche brutal-sa^ 
distische Art die damalige Gesellschaft 
sich von Alkoholikern und anderen uner¬ 
wünschten Rassenelementen, welche heute 
in meist nutzloser Weise die Strafan¬ 
stalten und Be^seriingshäuser bevölkern. 
Auch das war im Endeffekt eine Art von 
praktischer Rassenhygiene. 'Aber nichts , 
liegt mir ferner, als etwa jene Zeiten 
zurück rufen zu wollen. 

Die Bewegungen, .welche schließlich 
rassenhygienische Wirkung haben können 
oder sollen, lassen sich in zwei Gruppem ‘ 
einreihen: es sind einmal gewollte, ge¬ 
setzgeberische (und sagen wir es gleich 
von Anfang an: meistens aussichtslose) 
Maßnahmen, denen auf der anderen Seite 
die viel langsamer, aber unwiderstehlich 
wirksamen spontanen Bevölkerungsbewe¬ 
gungen gegenüber stehen. Betrachten 
wir beide Gruppen kurz der Reihe nach. 

(Schluß folgt im nächsten Heft.) 


Zusammenfassende Übersicht. 

Der künstliche Pneumothorax^). 

Von Dr. K. Grein, Assistent an der Chirurgischen Klinik Halle, Dir. Rrof. Dr.VoeIcker. 


Die ständig steigenden. Erkrankungs¬ 
ziffern an Lungentuberkulose lenken 
mehr denn je unser ganzes Interesse auf 
die Behandlung dieser furchtbaren Volks¬ 
seuche. In den Behandlungsmethoden 
spielt seit über dreißig Jahren als aktivste 
Therapie die Anlegung eines künstlichen 
Pneumothorax eine Hauptrolle. Im 
folgenden soll daher eine Übersicht ge¬ 
geben werden, die kurz möglichst alle 
Punkte berührt, die den Kliniker und 
den Praktiker, die heutzutage an dieser 
Therapie nicht mehr vorübergehen kön¬ 
nen, besonders iriteressieren. 

Als hauptsächliche Literaturangabe möchte 
ich hinweisen auf die im Jahre 1912 in den Er¬ 
gebnissen der inneren Medizin erschienene Arbeit 
von F 0 r 1 a n i n i. In ihr findet man .alle grund¬ 
legenden Angaben über Theorie und Praxis der 
Pneumothoraxtherapie. Was an Arbeiten in den 
folgenden Jahren erschienen ist, hat zwar manche 
Erweiterungen und Richtigstellungen gebracht, 
in den Grundlagen aber die Anschauungen von 
F 0 r 1 a n i n i nicht geändert. Wir -haben es 
ja auch in dieser Arbeit mit einer 30 Jahre hin¬ 
durch gereiften Erfahrung des Begründers der 
Pneumothoraxtherapie zu tun. Denn im Jahrel882 


Nach einem Vortrage, gehalten im ärzt¬ 
lichen Verein zu Halle. 


machte F o r 1 a n i n i zum ersten Male in einem 
theoretischen Artikel den Vorschlag, die Lungen¬ 
tuberkulose durch den Pneumothorax anzugehen, 
I ohne daß der Vorschlag weitere Beachtung er- 
wa0. Den ersten praktischen Fall führte F o r 1 a - 
n i n i 1888 aus bei einem Fall von einseitiger 
Lungentuberkulose mit Pleuraerguß. Er wählte 
absichtlich diese Komplikation, weil bei ihr die 
Verletzung der Lunge fortfiel. An diese Arbeiten 
schlossen sich weiterhin hauptsächlich die Ar¬ 
beiten von M u r p h y in Amerika, von Brauer 
und AdolfSchmidt in Deutschland, S a u g - 
mann in Dänemark und von anderen mehr. 
Sie alle befaßten sich vor allen Dingen damit, die 
Methode auszuprobieren, Verbesserungen in der 
Apparatur einzuführen und die Indikationsstellung 
schärfer zu umgrenzen. Eine verhältnismäßig 
geringe Anzahl von Arbeiten liegen über andere 
Fragen vor, etwa über die Veränderung der 
' Pneumothoraxluft, über die anatomischen Ver¬ 
änderungen der kollabierten Lunge, über den 
Wirkungsmechanismus des Pneumothorax, über 
die Veränderungen des Blutbildes bei ihm usw. 

Während F o r 1 a n i n i den Pneumothorax ur¬ 
sprünglich nur bei Lungentuberkulose anwandte, 
war sein Schüler Riva R o c ci der erste, 
der ihn anwandte bei Bronchiektasen. Adolf 
Schmidt versuchte ihn bei Schluckpneumo- 
. nien. Weiter wurde er bei lebensbedrohlichen 
’ Hämoptysen angewandt. Das Hauptanwendungs¬ 
gebiet blieb .aber die Lungenschwindsucht. 

Ehe wir uns die Frage vorlegen, wann 
wir zur Pneiimotoraxtherapie greifen, 

50 




394 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Noveihber. 


\, 


müssen wir uns kurz, den Wirkungs¬ 
mechanismus klar machen. Sofort ein¬ 
leuchtend ist die Wirkungsweise auf^ie 
Zerstörungsfolgen der Lungentuberkulose, 
soweit sie zur Höhlenbildung geführt hat. 
Die bei. nicht aktiver Therapie stets 
klaffend gehaltenen Kavernen werden 
durch Kollabieren des Lungengewöbes 
zum Schließen gebracht. Es kommt zu 
Verklebungen und eventueller endgültiger 
Ausheilung. Ähnlich einfach ist auch 
die Erklärung der oft schon als iebens- 
rettend angewandten Pneumothorax- 
theräpie bei lebensbedrohlichem Lungen- 
bluten, wo es entweder durch direkte 
Kompression der betreffenden Gefäße 
zum Stillstand der Blutung kommt, 
^der durch Ischaemie infolge Kompres¬ 
sion durch das kollabierende Lungenge- 
gewebe. Vielleicht spielt auch noch der 
Umstand eine Rolle, daß die Atmung 
aufhört, die ja sonst Ursache ist für die 
bei jedem Atemzug eintreteiide intra- 
pneumonische Druckverminderung und 
die damit gerade die Blutaspmation be¬ 
wirkt. Viel schwerer zu erklären.ist die 
Wirkung des Pneumothorax auf den 
eigentlichen phthisischen Vorgang, das 
heißt,, warum es zum Aufhören des Grund¬ 
prozesses der Krankheit und sogar zu 
Heilungsvorgängen kommt. Forlalini 
glaubte zwar nicht, wie es nach ihm 
andere taten, daß der künstliche Pneu¬ 
mothorax direkt auf die Tuberkelbacillen 
wirke, nämlich durch Einschränkung der 
Sauerstoffzufuhr und durch Kohlen¬ 
säurevermehrung in der kollabierten 
Lunge, auch nicht, daß die Phthise als 
solche geheilt würde durch den Pneu¬ 
mothorax, sondern es würde nur die 
weitere Ausbreitung des Prozesses ver¬ 
hindert. Aber die Erklärung, die Forlalini 
• dazu gibt, fußt auf der Annahme und 
von einigen auch beobachteten Tatsache, 
daß, wenn Lungen mit partiellem Pleura¬ 
erguß tuberkulös erkranken, die Tuberku¬ 
lose die kollabierten Lungenteile nicht er¬ 
greift. Neuere Forschungen haben aber 
anderseits ergeben, daß imTierexperiment 
die durch den Pneumothorax kollabierten 
Lungenteile bei Einspritzungen von Tu¬ 
berkelbacillen in die Venen oder gar in die 
Trachea genauso gut tuberkulös erkrank¬ 
ten wie die anderen Teile. Wir wissen sicher 
nur folgendes: Es kommt zu einer Erweite¬ 
rung der Lymphspalten durch Stauüng 
und Verlangsamung im Lymphkreislauf, 
der viel abhängiger von der Atmung ist 
als der Blutkreislauf. Die Folge ist die 
Verminderung der Resorption von 


Toxinen mit den daraus resultierenden 
guten Allgemeinfolgen. Weiter kommt 
es zu einer bindegewebigen Neubildung, 
sei es z. B. durch lokale Ansammlung von 
Toxinen und dadurch bedingten ^ Reiz, 
oder sogar durch den Reiz des' einge¬ 
führten Stickstoffs. Der Anschauung, 
daß Anämie , die Ausbreitung behindere, 
steht die direkt gegenteilige Annahme 
entgegen, daß Hyperämie der kolla¬ 
bierten Lunge die Heilungstendenz för¬ 
dert. Am einfachsten ist es, sich vor¬ 
läufig mit der Vorstellung einer kombi¬ 
nierten Wirkung zu begnügen, die besteht 
im Aufhören des Dehnens und Zerrens im 
erkrankten Gewebe, in Kompression der 
Bronchialwege, die eine Verschleppung 
von infektiösem Material hindert, in Ver¬ 
langsamung des Lymphkreislaufs und 
ihren Folgen, und in der nachgewiesenen 
Bindegewebsneubildung. 

Bei der Frage der Indikationsstellung des 
künstlichen Pneumothorax betrachten wir zu¬ 
nächst die lebensbedrohlichen Blutungen 
aus der Lunge. Bei ihnen ist in der Literatur 
der Pneumothorax als lebensrettend in zahl¬ 
reichen Fällen erhärtet. Die Schwierigkeit da¬ 
bei ist natürlich die Feststellung, aus welcher 
Lungenhälfte die Blutung erfolgt ist. Sobald die 
Diagnose gesichert ist, gelingt es oft mit ein¬ 
maliger relativ geringer Luftblase die Blutung 
prompt zum Stehen zu bringen. Meist allerdings 
sind dann mehrere Nachfüllungen nötig. 

Ein zweites' Gebiet ist die Anwendung des 
Pneumothorax bei der"Bronchiektasen- 
bildung. In der Literatur ist die Zahl der be¬ 
richteten Fälle relativ gering. Das hängt einmal 
damit zusammen, daß die Zahl der Lungen¬ 
tuberkulosen bei weitem größer ist als die der 
Bronchiektasen. Ferner sind die Bronchiektasen 
viel schwieriger zu diagnostizieren als eine mehr 
oder minder ausgebreitete Lungentuberkulose. 
Weiter sind die Erfolge entschieden ungünstiger 
als die Heilerfolge des. Pneumothorax bei Lungen¬ 
tuberkulose,und es sind naturgemäß nicht die vielen 
Mißerfolge veröffentli cht worden. Schon 1907 schrieb 
Adolf Schmidt, „daß die Kompressions¬ 
therapie bei Bronchiektasen in der Regel ver¬ 
sagt“. .Günstige Erfolge wollen Frank und 
J a g i c gesehen haben (W. kl. Wchschr. 1910/12). 
Empfohlen wird er weiter von König, Ger¬ 
hard, PieLsticker, Volhard 
und anderen. Besonders .^ausführlich hat sich 
noch 1914 Z i n n in der Therapie der Gegenwart 
geäußert. Wenn man bedenkt, wie wenig meistens 
die innere Behandlung bei der Bronchiektasie 
erreicht, wie eingreifend ihre chirurgische Be¬ 
handlung ist, ist man auf alle Fälle verpflichtet, 
bevor man sich zur letzteren entschließt, die- 
Pneumothoraxbehandlung in Anwendung zu 
bringen.. Am günstigsten ist es, wenn man mit 
ihr wegen der starken Bindegewebsneubildung 
und Verwachsungen nicht zu lange wartet. Bei sehr 
vielen Fällen wird sich allerdings die Anlegung als 
unmöglich heraussteilen, und bei Fällen, bei denen 
scheinbar ein Erfolg auftritt, muß man sich jeder- 
z;eit vor Augen halten, daß gerade bei Bronchiek- 
tasenbildung längere Zeit scheinbare Heilung beob- 
achtet wird auch ohne jede Therapie. Mir ist in 
dieser Hinsicht ganz besonders der Fall eines 




fJovember 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


395 


Soldaten lehrreich gewesen, der durch seine 
Bronchiektasen nach alter Schußverletzung sehr 
-heruntergekommen war. Ihm war eine Thorako- 
-lyse nahegelegt worden, jedoch ihm gesagt wor¬ 
den, daß man es vorher noch einmal mit einer 
Pneumothoraxbehandlung versuchen wolle. Beim 
ersten Versuch gelang es nur eine ganz geringe 
-Menge Luft einzuführen, ohne daß man ganz 
sicher War, in den Pleuraraum gelangt zu sein. 
Beim zweiten Versuch konnte man überhaupt 
tkeine Luft zuführen. Die weiteren Versuche wur¬ 
den daher zunächst ausgesetzt. Nach einigen 
Tagen stellte sich plötzlich eine entschiedene 
Besserung ein. Die Temperatur ging herunter 
und es wurde kaum noch Auswurf entleert. Unter 
•diesen Umständen willigte der Betreffende nicht 
.in eine Thorakolyse ein, da er sich durch den 
Pneumathorax geheilt wähnte. Einige Zeit später 
wurde er abtransportiert in sein Heimatlazarett, 
wo kurz darauf das alte Krankheitsbild von 
neuem begann. 

> Mehr Erfolg wollen Ad. Schmidt und 
andere gesehen haben bei metapneumoni¬ 
schen Erkrankungen, Aspirationserkrankungen 
usw. Über ^te Erfolge der Anwendung der 
Pneumothoraxtherapie bei der Behandlung von 
Lungenschüssen mit Hämothorax be¬ 
richten Hess und Reichmann, welche 
diese Therapie^schon fast von Anfang des Krieges 
an ausgiebig angewandt haben. Sie lifeßen den 
Hämothorax frühzeitig ab und bliesen statt seiner 
Stickstoff ein. Über die spezielle Indikations¬ 
stellung, unter welchen Bedingungen und zu 
welchen Zeitpunkten Hess die Pneumo¬ 
thoraxtherapie bei Lungenschüssen einleitet, muß 
bei ihm im Original nachgesehen werden. 

Als gewissermaßen eine Fortsetzung seiner 
Therapie kann die Anwendung des Pneumothorax 
bei trockenen Rippenfellentzündungen gelten. 
Eingeführt hat sie M o r i t z in Cöln schon 1914. 
Er hat zum erstenmal bei wochenlang fort¬ 
bestehender trockener Rippenfellentzündung die 
Schmerzen durch vorübergehende Pneumothorax- 
Anlegung zum Schwinden und die Prozesse zur 
Heilung gebracht. Beeinflußt durch ihn hat 
Hess sie bei trockenen Rippenfellentzündungen 
im Gefolge von Lungenschüssen angewandt. 

Das speziellste Gebiet aber für den 
Pneumothorax ist natürlich das der 
Lungentuberkulose." Die erste Frage, 
die wir uns bei Anlegung eines Pneu¬ 
mothorax bei Lungentuberkulose vorzu¬ 
legen haben, ist die, was wir von ihm 
erwarten. Ich will durch Kollabieren 
eines Lungenteils den tuberkulösen Pro¬ 
zeß in ihm zum Stillstand oder gar zur 
Heilung bringen. Dazu muß ich mir 
zunächst die Gewißheit darüber verschaf¬ 
fen, in welchem Stadium sich die Lungen¬ 
erkrankung befindet. Diese Gewißheit 
läßt sich mit Wahrscheinlichkeit nur er¬ 
bringen, wenn neben der physikalischen 
Lungenbeobachtung auch der Röntgen¬ 
befund zu erheben ist. Je länger man 
sich mit der Beobachtung und Beur¬ 
teilung Lungenkranker abgibt, um so 
mehr zeigt sich einem auf Schritt und 
Tritt die auch überall anderswo gemachte 
Erfahrung, daß Fälle mit kaum verwert¬ 


barem physikalischem Lungenbefund im 
Röntgenbild einen ausgedehnten Lungen¬ 
prozeß zeigen, im Gegensatz zu Fällen,* 
wo üns das Röntgenbild gegenüber der 
physikalischen Untersuchung 'durchaus 
im Stiche läßt. Schon aus diesem Grunde, 
und nicht nur zur Kontrolle der Technik, 
gehört zur Pneumothoraxtherapie ein 
Röntgenapparat. 

Der physikalische Vorgang bei der 
Pneumothoraxtheräpie stellt von vorn¬ 
herein den Satz auf, daß ein Haupt- 
anweridungsgebiet die einseitige Lungen¬ 
tuberkulose ist. Ehe man sich die Frage 
vorlegt, welches Stadium der einseitigen 
Lungenerkrankung man angreifen soll, 
die allgemeinere Frage, soll man nun 
schon bei beginnender oder erst bei fort¬ 
geschrittener Lungentuberkulose Vor¬ 
gehen? Dogmatisch läßt sich diese Frage; 
nie beantworten, weil sie von der Initia¬ 
tive und den Erfahrungen des einzelnen 
abhängig ist. Lege ich den Pneumothorax 
im Frühstadium an, habe ich an Vorteilen 
voraus: 1. die größere Wahrscheinlichkeit, 
daß der Prozeß einseitig ist, 2. daß mich 
nicht Verwachsungen an der Schaffung 
eines kompletten Pneumothorax hindern,' 
3. daß es nicht zu Perforationen von 
Kavernen und damit zu Empyemen' 
kommt, 4. daß nach Abschluß der Kur 
wieder viel gesunde Lunge zur Atmung 
zur, Verfügung steht. Entsprechend sind, 
die Nachteile bei Anlegung nur in schweren 
Fällen; und doch wird man stets geneigt 
sein, leichtere Fälle zunächst mit der 
konservativen üblichen Behandlung an¬ 
zugehen, ehe man sich zum Pneumothorax 
entschließt, und das um so eher, da 
ja immer noch. Zeit zur Pneumothorax¬ 
therapie verbleibt, wenn die konservative 
Behandlung versagt. 

Was die Stadieneinteilung im Spe¬ 
ziellen anbelangt, so legen wir das Frän- 
kel-AlbrechtseheEinteilungsprinzip zu¬ 
grunde, welches^ unterscheidet: 1. die 
zirrhotische Foriii, 2. die knotige, 3. die 
käsig-pneumonische, 4. die miliare Form. 
Von diesen scheidet für unsere Betrach¬ 
tungen die letztere von vornherein aus. 
Jede der drei anderen Formen verschlech¬ 
tert sich prognostisch, wenn es zur Höh¬ 
lenbildung kommt, ohne daß, wie gesagt, 
Höhlenbildung an sich eine Kontra¬ 
indikation gegen die Pneumothoraxthera¬ 
pie bildet. 

Unter Zugrundelegung dieser Ein¬ 
teilung habe ich mich bei Anlegung 
eines künstlichen Pneumothorax von 
folgenden Gesichtspunkten leiten lassen: 

50* 




396 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


November 


1. Er ist indiziert bei einseitigen cir- 
rhqtischen Vorgängen und einseitfg chro¬ 
nischen Infiltrationsprozessen, wobei 
Kavernenbildting keinen Abhaltungsgrund 
bildet. 2. Versucht kann der Pneumotho¬ 
rax werden, wenn einseitige pneumonische 
Prozesse senr langsam verlaufen. 3. End¬ 
lich kann er gewagt werden, wenn es 
sich um einseitige cirrhotische und ein¬ 
seitig chroni^sch infiltrative Prozesse 
handelt, und auf der andern Seite nur 
geringe Prozesse von ziemlicn sicher in¬ 
aktivem Charakter vorliegen. Der Ent¬ 
scheid über die Inaktivität der Prozesse 
auf der andern Seite ist natürlich sehr 
schwer^Lind bleibt im wesentlichen- der 
Erfahrung und dem Können des Unter¬ 
suchers Vorbehalten. 

Häufiger hat man nämlich in der 
Literatur von Fällen berichtet, bei denen 
die geringen Prozesse der anderen Seite 
durch den Pneumothorax auf der schwer¬ 
erkrankten Seite im günstigsten Sinne 
beeinflußt wurden, sei es dadurch, daß 
Antitoxine frei werden, oder durch bessere 
Durchblutung der anderen Lunge. Wich¬ 
tig ist dabei auch die Kräftigung im 
Kampfe gegen den geringeren Prozeß 
durch die Besserung des Allgemeinzu¬ 
standes infolge der Bekämpfung der 
schwer erkrankten Lungenparti een. 

So ist z. B. auch bei doppelseitiger 
hochgradiger Tuberkulose sicherlich selbst 
der partielle Pneumothorax, wenn ein 
kompletter nicht mehr anlegbar ist, unter 
Umständen indiziert, nämlich dann, 
wenn durch diesen ,,Entspannungspneu¬ 
mothorax“, manche schwerwiegenden 
Symptome zeitweilig gut beeinflußt wer¬ 
den. Auf dieses Postulat hat zuerst 
G w e r d e r hingewi esen und für i linden Aus¬ 
druck ,,symptomatischer Entspannungs- 
pneumothprax“ geprägt. 

Sehr wichtig ist als zweites der Zu¬ 
stand der Pleuren, das heißt: haben wir 
es mit unbeteiligten Pleuren zu tun, 
zwischen die sich mit Leichtigkeit Luft 
einblasen läßt, oder mit Verwachsungs¬ 
pleuren? Perkutorische Lungenverschieb¬ 
lichkeit spricht an der Stelle für freie 
Beweglichkeit der Pleuren, ebenso gute 
Zwerchfellverschieblfchkeit vor dem 
Röntgenbild. Aber was man auch von 
dem Zustand der Pleuren erwarten mag: 
man kann den Pneumothorax stets ver¬ 
suchen. Es liegen äußerst lehrreiche Er¬ 
fahrungen darüber vor, daß bei schein¬ 
barer Unmöglichkeit der Lösung der 
Pleurablätter dieselbe schließlich doch 
noch gelingt. Besonders eindrucksvoll 


ist in dieser Hinsicht ein Fall Von* 
Stephan in Leipzig, bei dem dieser 
wegen Unmöglichkeit der Pleuralösurig: 
die Pneumothoraxanlegung . auf gegeben 
hatte. Auf dringendes .Bitten der Pa¬ 
tientin wurde sie wieder aufgenommen; 
es wurden an den'verschiedensten Stellen, 
der Pleura kleine Stickstoffdepots an¬ 
gelegt,- und in sechs Wochen nach vielen 
mühevollen Sitzungen gelang die An¬ 
legung eines kompletten Pneumothorax.. 

Noch ein-^Wort darüber, wie wir uns 
verhalten sollen bei de'r Indikationsstel¬ 
lung, wenn gleichzeitig andere Krank¬ 
heiten bestehen. Im allgemeinen ist der 
Pneumothorax kontraindiziert bei ernste¬ 
ren Erkrankungen des Kreislaufs und 
der Nieren, obschon in der Literatur be¬ 
hauptet worden ist, daß, wenn zuweilen 
Cylinder im Urin Vorkommen, das keine- 
Kontraindikation sei. Jedenfalls kann 
es keine Kontraindikation darstellen, 
wenn wir nur Eiweiß finden, bei dem wir 
stets die Vermutung hegen können, daß- 
es sich um einfache Toxinausschwem¬ 
mungen handelt. 

Sollte eine gut kompensierte Kreislauf¬ 
störung vorliegen, so kann man natürlich 
unbedenklich einen Pneumothorax ver¬ 
suchen, besonders, wenn der Lungen¬ 
prozeß bedrohlich erscheint. Belege für 
beide Vorkommnisse finden sich in der 
Literatur nach Forlanini kaum. For- 
lanini selbst hat bei einem Falle von 
gleichzeitiger Nierentuberkulose eine auf¬ 
fällige Besserung gesehen. 

Während man früher allgemein Kehl¬ 
kopftuberkulose als Gegenindikation ge¬ 
gen den Pneumothorax auffaßte, hat 
man neuerdings, gestützt auf eine Reihe 
von Beobachtungen, diese strikte fee- 
hauptung fallen lassen. 

Als weitere häufige Begleiterscheinung 
bei Lungentuberkulose bleibt uns noch 
die Darmtiiberkulose. Die Erfahrung 
hat gezeigt, daß ein Pneumothorax auf 
eine wirklich schwere ulcerative Darm¬ 
tuberkulose keinen Einfluß hat. Man 
darf nur nicht Durchfälle und Darm¬ 
tuberkulose gleichsetzen. Darmerschei- 
nungen, die erst während der Behandlung 
auftreten, haben eine ungünstige Pro¬ 
gnose; das gleiche gilt natürlich auch 
von neu auftretenden Kehlkopfaffektio¬ 
nen. Sollte neben der Lungentuberkulose 
Asthma oder Emphysem vorliegen, würde 
,man besser auf den Pneumothorax ver¬ 
zichten. 

Schließlich sei noch erwähnt, daß 
eine Reihe von Beobachtungen vorliegen, 



I 


November , Die Therapie der 


WO während der Behandlung eine Gra- 
vididät auftrat, oder wo wegen der Gra- 
vididät, um eine Verschlechterung zu 
verhindern, ein Pneumothorax angelegt 
wurde. Bei ihnen nahmen Geburt und 
Wochenbett einen guten Verlauf (Härter, 
Unverricht). 

Es sei hier kurz darauf hingewiesen, 
wie eigentlich die Lunge kollabiert. Es 
wird stets zuerst und am meisten die 
Spitze komprimiert, so daß bei neuem 
Infunktiontreten der Lunge es immer 
die untersten Partien sind, die zunächst 
wieder atmen. Das ist ja im allgemeinen 
bei der Tuberkulose, die sich mit Vor¬ 
liebe in den Spitzen lokalisiert, durchaus 
erwünscht. Im Tierexperiment, wie beim 
Menschen im Leben und durch die Sek¬ 
tion ist dieser Modus einwandfrei fest¬ 
gestellt. Selbst wenn ein Pneumothorax 
länger als zwei Jahre bestanden hat, 
hat man immer wieder Neuinfunktion¬ 
treten kollabiert gewesener unterer 
Lungenpartien beobachtet. 

Noch ein Wort über die Technik. 
Heutzutage bedient man sich als Füll¬ 
mittel wohl nur noch der Luft oder des 
Stickstoffs. Ich habe mich fast stets 
der gewöhnlichen Luft bedient, da man 
mit ihr am unabhängigsten ist. Welche 
Apparate man anwendet, und welche 
Nadeln, ob man sich der Brau ersehen 
Schnittmethode oder derF or 1 an i n i s c h en 
Stichmethode bedient, ist im Grunde 
gleichgültig. 

Vor der Anlegung bei einem klinisch indi¬ 
zierten Fall überzeuge ich mich natürlich durch 
Perkussion und Zwerschfellverschiebung vor dem 
Röntgenschirm über den Zustand der Pleura¬ 
verschieblichkeit. Welche Einstichstelle ich 
dann nehme, ist auch gleichgültig. Ich werde 
die Stelle nehmen, von der ich sicher annehmen 
kann, daß ein freier Pleuraraum vorliegt. Als 
einzige Vorbereitung empfiehlt sich die Ver¬ 
abreichung von etwas Morphium und eventuell 
etwas Kampfer; zur Desinfektion genügt etwas 
Jodtinktur; Lokalanästhesie ist entbehrlich. Beim 
langsamen Durchstechen der mit der Luftsäule 
und dem Manometer verbundenen Nadel zeigen 
die plötzlich eintretenden tiefen Aspirationen 
des Manometers an, daß man in der freien Pleura¬ 
höhle ist, und damit hat man gewonnenes Spiel. 
Viel schwieriger ist es natürlich, wenn Ver¬ 
wachsungen der Pleurablätter bestehen. Sieht 
man die Verwachsungen der Pleura in Gestalt 
von Einsinkung der Brustwand und tiefen respira¬ 
torischen Einziehungen, ist natürlich jeder Ver¬ 
such aussichtslos. Bei weniger ausgedehnten Ver¬ 
wachsungen muß man einen Versuch wagen. 
Aufs Manometer allein ist dabei kein Verlaß, 
sondern man läßt Luft oder Stickstoff unter 
Überdruck ein, und sieht sich dabei folgenden 
drei Möglichkeiten gegenüber: 

a) man kommt glücklich in eine Pleuralücke; 
die tiefen Aspirationen des Manometers zeigen 
uns das an; b) es gelingt mir durch Einblasen, 


Gegenwart 1920 397 


eine Lücke zu schaffen; das zeigt mir eben¬ 
falls dann das Manometer, und c) es gelingt mir 
nicht, Luft einzuführen. 

Um den Gefahren einer Embolie zu entgehen 
beim gewaltsamen Lösen von Verwachsungen, 
hat z. B. H 0 1 z g r e e n sich zunächst einer 
Einblasung von steriler physiologischer Koch¬ 
salzlösung in einigen Fälleii mit sehr gutem Er¬ 
folg bedient. Von einigen anderen\ sind seine 
Erfahrungen nachgeprüft und bestätigt worden. 
Wenn es nicht gelingt, einen kompletten Pneumo¬ 
thorax zu erreichen, besteht immer noch die 
Möglichkeit, daß auch ein inkompletter einen 
Erfolg hat. So sind Fälle .berichtet, wo eine 
größere Gasblase in der Nähe einer Kaverne 
gerade ausreichte, um diese und ihre Symptome 
zum Schwinden zu bringen. Jessen berichtet 
sogar von einem Falle, wo es'ihm gelang, die 
Kavernensymptome dadurch zu beseitigen, daß 
er mit einer Gasblase die Pleura costalis Vortrieb. 

Bei der Unmöglichkeit, zwischen die Pleuren zu 
gelangen, bestehen die beiden Möglichkeiten: 1. in 
die Lunge zu gelangen und 2. einen extrapleu¬ 
ralen Pneumothorax zu schaffen. Gelangt man 
in die Lunge, so entstehen nur kleine Manometer¬ 
schwankungen, das heißt, es ist kein eigentlicher 
negativer Druck nachweisbar, und es können 
große Mengen eingelassen werden, ohne daß 
sich die Druckverhältnisse ändern. 

Lege ich unbeabsichtigt eine extrapleurale 
. Blase an, so zeigt mir das Manometer das eben¬ 
falls sicher an durch seine kleinen Ausschläge 
und durch die Schwierigkeit, größere Luftmengen 
einzuführen. 

Die Brauersche Methode besteht in 
1. Lokalanästhesie mit Schleichscher 
Lösung, 2. einem 5 bis 7 cm langen 
Schnitt bis auf^ die Intercostalmuskel- 
fascie, 3. in Durchtrennung der Inter- 
costalmuskeln und Freilegung der Pleura, 
4. im Durchstechen der Pleura mit der 
Kanüle und 5. in Stickstoffeinblasung; 
danach 6. Naht der Intercostalmuskeln, 
7. Fasciennaht, und 8. Muskelnaht. 

Demgegenüber ist die Einfachheit 
der Forlaninischen Stichmethode be¬ 
stechend, die nur in Einführung einer 
Hohlnadel wie zu einer Pleurapunktion 
besteht. Angeblich besteht bei der Stich¬ 
methode eine ' größere Emboliegefahr 
Und damit kommen wir kurz auf die 
Gefahren, die uns während der Operation 
begegnen können. Es sind das 1. die 
größte, die der Gasembolie, 2. die der 
pleuralen Eklampsie, 3. die des sub- 
cutanen und tiefen Emphysems. 

Zunächst die Gasembolie. Soweit ich die 
Literatur überblicken kann, sind es etwa 15 Fälle, 
die veröffentlicht sind. Über die Zahlenverhält¬ 
nisse orientiert kurz, daß S a u g m a n n 1913 bei 
186 Fällen von Pneumothorax zwei Todesfälle er¬ 
lebte, von denen einer wahrscheinlich auf Embolie 
beruhte. Es zeigt das hinlänglich die Seltenheit 
des Vorganges an. Beachtenswert ist, daß mehr 
als die Hälfte der beobachteten Fälle sich bei 
Nachfüllungen ereigneten. Vielleicht wird das 
durch eine Erfahrung von B a e r erklärt, der 
röntgenologisch beobachtete, daß sich zuweilen bei 
lange bestehendem Pneumathorax der Unterlappen. 






398 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


November 


der Brustwand anlegt. Das gibt einem gleichzeitig 
wieder eine Mahnung, nur da einzustechen, 
wo man mit guter Wahrscheinlichkeit in eine 
freie Pleura gelangt, das heißt, sich nicht an feste 
Einstichpunkte zu binden. Kennzeichen der 
Embolie sind: momentane Atemlähmung, Kol¬ 
laps, tiefe Bewußtlosigkeit, Lähmungen und 
schließlich der Tod. 

Es ist zweifellos, daß die Brauer sehe 
Schnittmethode diese Gefahr wesentlich ver¬ 
ringert. Wenn man aber bedenkt, daß es bei der 
Brauer sehen Methode leichter zu Infektionen 
kommen kahn als bei der Stichmethode, und 
daß sie viel umständlicher ist als die letztere, 
kann man der Stichmethode unbedingt den Vor¬ 
zug geben. Vielleicht gelingt es mit der Brauer- 
schen Methode mehr Fälle der Pneumothoraxthera¬ 
pie zuzuführen, wenn man sie da anwendet, wo man 
mit der Stichmethode nicht zum -Ziele kommt. 
Denn mit der Brauer sehen Methode ist wohl 
eine ausgiebigere Explorierung des Pleuraraumes 
möglich, als mit der einfachen Stichmethode. 
Es sei noch hinzugesetzt, daß Vorsichtige zuerst 
Sauerstoff einströmen lassen, um sich von den 
Druckverhältnissen zu überzeugen. Das Moment 
abzuwarten, ob durch die Nadel Blqt austritt, 
schützt uns nicht. Es kann im Venenkreislauf 
der Lunge negativer Druck herrschen und durch 
die Nadel direkt Außenluft aspiriert werden. 
Aber bei den vielen Hunderten von glücklichen 
Pneumothorax-Fällen möchten wir die Gefahr 
der Luftembolie gering einschätzen, um so mehr, 
da sie bei jeder anderen Operation eintreten kann. 

Was das subkutane Emphysem anbelangt, so 
verläuft es wohl immer harmlos. Es tritt auf 
bei' zu hohem Füllungsdruck, indem aus der 
Pleurastichöffnung Gas zurückgepreßt wird. Be¬ 
fördert wird es durch Hustenstöße. Efn wesent¬ 
licher Nachteil ist, daß man eventuell mehrere 
Tage lang nicht nachfüllen kann, was die Gefahr 
von Pleuraverwachsungen bedeutet. 

Das tiefe Emphysem entsteht durch Rück¬ 
tritt aus dem Pleurastichkanal, wenn sich die 
Muskulatur schon geschlossen hat, und zwar be¬ 
sonders, wenn man versucht hat, durch hohen 
Druck dem Gas Eingang zu verschaffen. Diag¬ 
nostizierbar ist es angeblich durch tympani- 
tischen Klopfschall und eventuell durch Knistern, 
welches im Höhrrohr wahrnehmbar sein soll. 

Am wichtigsten ist die sogenannte pleurale 
Eklampsie. Es kommt zu ihr bei Einführung 
der Nadel in die Pleura, beim Verweilen der 
Nadel im Pleuraraum, oder auch beim Heraus¬ 
ziehen der Nadel. Es treten bei ihr auf Zeichen 
von Geistesverwirrung, Benommenheit, Bewußt¬ 
seinsverlust, schlaffe, einseitige Lähmungen, aus¬ 
gedehnte tonische Krämpfe, seltener klonische, 
Kreislaufs- und Atemstörungen. Bisweilen tritt 
der Anfall erst nach der Operation auf. Experi¬ 
mentell wird er bei Tieren hervorgerufen durch 
die Einführung reizender Stoffe in die Pleuren. 
Die Dauer des Anfalls schwankt zwischen einigen 
Minuten und einigen Stunden. Man sagt, daß 
je öfter die Anfälle auftreten, sie um so leichter 
tödlich verlaufen; deshalb bricht man bei wider- 
holtem Auftreten die Therapie ab. F o r 1 a n i n i 
hält streng daran fest, daß es sich um pleurale 
Reizerscheinungen handle, während andere dies 
bedrohliche Bild auf Gasembolie im Gehirn 
zurückführen wollen. Glücklicherweise tritt 
sie sehr selten auf und verläuft meist gutartig. 
Mit Vorliebe scheint sie nervös geschwächte 
Menschen zu befallen. Es empfiehlt sich daher, 
wenn es sich tatsächlich um pleurogene Reflexe 
handeln sollte, mit subkutanen Morphiumein¬ 


spritzungen oder, mit leichter Kokainisierung 
der Pleura zu arbeiten. Das letztere will F o r 1 a - 
n i n i bei verschiedenen Fällen mit gutem Er¬ 
folg angewandt haben. Die Therapie ist rein 
symptomatisch: künstliche Atmung, Herzmittel, 
eventuell prophylaktisch öder das Einatmen von 
Chlorpform. 

Bei Einleitung einer Kur ist der erste 
Zweck Erreichung des nötigen Gasvo¬ 
lumens. Mit einer Füllung gelingt der 
völlige Kollaps fast nie. Nachdem die 
erste Füllung gelungen ist, ist die nächste 
Aufgabe Nachfüllung. des resorbierten 
Gases, dazu genügen Nachfüllungen von 
500 bis 800 ccm, anfangs täglich, später 
wöchentlich und gegen Ende der Therapie 
monatlich und in noch größeren Zwischen¬ 
räumen. Man muß die Nachfüllung be¬ 
sonders im Anfang regelmäßig durch¬ 
führen, ^damit es nicht zur Loslösung 
schon verklebender Kavernenwände 
kommt. Die Schmerzen bei der Anlage 
sind meistens gering, zuweilen treten sie 
eine ganze Zeit nach der Füllung auf. 
Es handelt sich wohl immer um Zerrungen 
von Verwachsungen. 

Zum völligen Kollaps braucht die 
Lunge nicht auf den Hilus gedrückt zu 
werden, sie kann z. B. infolge von Ver¬ 
wachsungen in die Spitze gedrängt werden. 
Bei zu brüsken Zerrungen und Zerreißun¬ 
gen von Adhäsionen treten zuweilen leichte 
Temperatursteigerungen auf. Solche 
Fieber schwinden, wenn man seltener 
und weniger viel nachfüllt. Nur kurz er¬ 
wähnt sei,, daß es unter Umständen, 
z. B. wenn die Spitze adhärent ist, 
Zwerchfell und Mediastinum aber völlig 
frei sind, zu Erscheinungen von seiten 
h des Mediastinums kommt. Wenn aber 
durch Verdrängung des Mediastinums 
eine Einschränkung der anderen Lunge 
erfolgt, anstatt daß sie, wie wir hoffen, 
gerade vermehrt arbeitet, gehen uns die 
Vorteile der Mehrdurchlüftung der ande¬ 
ren Lunge verloren. 

Noch kurz die Frage, wann der Pneu¬ 
mothorax komplett ist. Das Röntgen¬ 
bild zeigt uns die kollabierte Lunge, die 
größeren Zwischenrippenräume, die Gas¬ 
blase, Abflachung des Zwerchfells, 
leichte Verlagerung des Mediastinums, 
deutlichere Zeichnung der Rippen und 
Wirbel. Klinisch sehen wir Asymmetrie 
des Brustkorbs, breite abgeflachte 
Zwischenrippenräume, Verlagerung des 
Spitzenstoßes, Schachtelton, Ausdehnung 
der Lungengrenze und Aufhebung des 
Atemgeräusches. Zweckmäßig hält sich 
der Patient in den ersten vierzehn Tagen 
im Bett auf, damit nicht durch Körper- 



Navember Die Therapie der 


anstrengung die eingeblasene Luftmehge 
schneller resorbiert wird. Besserungs^ 
Zeichen sind: allgemeines Wohlbefinden,, 
Auswurfabnahme,. Fieberabfall, Gewichts¬ 
zunahme. Dabei darf man sich aber 
nicht dadurch täuschen lassen,.daß oft 
.sofort nach der ersten Füllung das 
Fieber abfällt. Man kann sonst leicht 
die Enttäuschung der Wiederkehr des 
Fiebers erleben. Dieser . erstmalige 
Fieberabfall erklärt sich wohl aus der 
Verschlechterung der augenblicklichen 
Resorptionsbedingungen in . der kolla¬ 
bierten Lunge, ohne daß er eine wirkliche 
Besserung verbürgt. Ähnlich kann es 
mit dem sofortigen Nachlassen von 
Husten und Auswurf sein. Sie können 
auf Behinderung der Expektoration’be¬ 
ruhen, olpie daß eine wirkliche Besserung 
besteht. Eine solche ist erst dann vor¬ 
handen, wenn diese Zeichen längere Zeit 
anhalten. Kritisch kann ein „Pneumo¬ 
thorax auch eine Lungentuberkulose 
nicht zur Heilung bringen. 

Andererseits kann nach Einleitung der 
Pneumothoraxtherapie auch eine höhere 
Fiebersteigerung/ auftreten. Sie beruht 
wahrscheinlich auf Einpressung von 
Toxinen in-die Lymphräume und damit 
auf einer Überschwemmung des Orga¬ 
nismus mit Giftstoffen. 

Weniger leicht ist die Erklärung da¬ 
für, daß oft nach Beginn der Behandlung 
der Auswurf zunimmt. Forlanini meint, 
daß es sich um stagnierendes Kavernen¬ 
sputum handelt, welches jetzt gewisser¬ 
maßen aus den Kavernen herausgepreßt 
werde, ,' _ 

Es sind noch kurz eine Reihe von Kompli^ 
kationen anzuführen, die sich im Laufe der Be¬ 
handlung einstellen, sei es kurz nach der Ein¬ 
leitung der Therapie oder mit Vorliebe später, 
wenn die Patienten anfangen, sich wohl zu fühlen, 
und sie es an der nötigen Vorsicht fehlen lassen. 
Es sind das: 

1. Pleuritiden mit Erguß auf der Pneumo¬ 
thoraxseite, 

2. Perforation der kollabierten Lunge und 

3. der sogenannte Höhenzwischenfall. 

Lfrsachen der Pleuritiden sind: 1. Einwande¬ 
rung von Keimen von der Lunge her, 2. rheu¬ 
matische Einflüsse. Vielleicht beruht die leichtere 
Anfälligkeit der Pleuren bei Pneumothorax auf 
der Verlangsamung des Lymphkreislaufes und 
auf dem Atemstillstand der Lunge. Gerade der 
letztere soll das Eindringen von Bakterien in 
die intrapulmonalen Lymphgefäße erleichtern. 
Besonders leicht kommt es zu Ergüssen bei 
Erkältungen und Anginen. Bei letzteren hat 
man im Erguß dieselben Erreger wie auf dem 
Tonsillarabstrich gefunden. Saugmann er¬ 
klärt mit Recht: „die Ergüsse sind in der großen 
Mehrzahl eine unangenehme und unerwünschte 
Komplikation“. Denn einmal enthalten sie 
ja das plastische Material zur Schwartenbildung, 


Gegenwart 1920 399 

- ■ \ 

und' andererseits stellen sie, besonders die rechts¬ 
seitigen, eine Herzbelastung dar. Und doch 
indiziert ein Erguß als solcher noch nicht immer 
eine Punktion; denn einmal stellt er eine gleich¬ 
mäßige Kompression dar, und'andererseits resor¬ 
biert die» erkrankte Pleura viel langsamer als 
die gesunde, hat also weniger Nachfüllungen 
nötig. Es ist jaA/'ielleicht auch noch zu bedenken, 
daß das Exsudat oft Antikörper enthält. Die 
größte Gefahr aber ist die Verklebung der Pleuren 
bei späterer Resorption des Ergusses. 

Kommt es zu einem Empyem mit Fieber, 
müssen wir natürlich entleeren, eventuell mit 
B ü 1 a u scher Drainage oder Resektion. Leider 
kommt es in fast der Hälfte aller Fälle zur Bildung 
von Ergüssen, und zwar spielen dabei Erkäl¬ 
tungen die größte Rolle. 

Die Perforation der Pleuren erfolgt seltener 
durch Wachsen eines Herdes bis an die Oberfläche 
der Lunge, sondern viel häufiger durch ein Trauma. 
Erkennbar ist die Perforation einmal durch Ver¬ 
kleinerung des Pneumothorax, 2. durch Auf¬ 
treten von Atemgeräusch und durch Aufhebung 
der Immobilisation; sie führt fast immer 
zum Tode. 

Unter Höhenzwischerifall verstehen wir die Bq- 
einflussung des Pneumathoraxgases durch Höhen¬ 
unterschiede, das keißt durch intrapleurale Druck¬ 
steigerung infolge Ausdehnungsversuches des 
eingelassenen Gases. „Ein drei bis vier Liter 
fassender Pneumothorax, ein gut hergestellter er¬ 
reicht ein solches Volumen, befindet sich infolge 
einer Erhebung von 1000 bis 1500 Meter unter den¬ 
selben Verhältnissen, wie wenn 400 bis 800 ccm 
Stickstoff neu zugeführt werden.“ 

„Schickt man einen Patienten also zu einer 
Kur ins Gebirge, muß man, um ihn den Gefahren 
zu hohen Gasdruckes in der Pleura zu entziehen, 
200 bis 300 ccm Luft vorher ajpziehen.“ (Forla¬ 
nini). 

Über die Dauer der Unterhaltung 
eines Pneumothorax liegen wenig be¬ 
stimmte Angaben vor. Sicher ist, daß 
man die Kur nicht zu kurz, das heißt 
vor Abschluß eines Jahres abbrechen 
darf. Sichere klinische Angaben für tat¬ 
sächlich sicher erfolgte Heilung kann ich 
nicht machen. Man kann nur mit Wahr¬ 
scheinlichkeit auf eine Ausheilung schlie¬ 
ßen. Die Indikation für das Abbrechen 
der Kur nach ein bis zwei Jahren ist 
darin zu suchen, daß man möglichst 
viel der ausgeschalteten Lunge wieder 
in Funktion treten lassen möchte. Selbst¬ 
verständlich sind es immer nur be¬ 
schränkte Teile der Lunge, die sich 
wieder an der Atmung beteiligen. Denn 
einmal dauert die letzte Resorption aller 
Gase sehr lange, und ferner kommt es 
doch im Verlaufe der Resorption zu 
Schrumpfung der Brustwand wie bei 
Pleuritiden. 

Was nun den wirklichen Erfolg der 
Pneumothoraxtherapie anbelangt, so muß 
man an der Hand von jahrelang beob¬ 
achteten und veröffentlichten Fällen 
daran festhalten, daß eine Ausheilung der 


4^ 





400 


Die Therapie der Gegenwart 1^20 


November 


Lungentuberkulose durch sie unbedingt 
möglich ist und in vielen Fällen absolut 
zum Ziele geführt hat, wo alle anderen 
Mittel den raschen Fortschritt der Tuber¬ 
kulose nicht verhindern konnten. Haupt¬ 
schwierigkeit bei Durchfühfung der The¬ 
rapie ist einmal, die Kranken im Anfang 
der Kur lange genug im Krankenhaus 
festhalten zu können, ferner aber, sie 
nachher während der ambulanten Behand¬ 
lung zu regelmäßigen Nachfüllungen zu 
bewegen. Deshalb läßt sich der Pneu¬ 
mothorax zweifellos bei der arbeitenden 
Bevölkerung, besonders, wenn sie -nicht 
am Ort des Krankenhauses wohnhaft 
ist, viel schwerer durchführen als bei 
der wohlhabenden Bevölkerung, bei der 
außerdem noch Sanatorienaufenthalt, 
Tuberkulinkuren und allgemeine äußere 
Lebens'bedingungen einen viel günsti¬ 
geren Allgemeinzustand schaffen können. 
Statistiken über erfolgte Heilung und 
Nichtheilung lassen sich nicht anlegen. 


Einmal müßten die Fälle, um einwand- 
frei als geheilt gelten zu können, durch 
viele Jahre hindurch beobachtet sein, ^ 
was nicht immer möglich ist. Ferner’ 
wird der Pneumothorax ja seinen Zweck 
im gewfssen Sinne auch dann. erfüllt 
haben, wenn er Jahre hindurch einem 
Menschen das Leben verlängert und seine 
Beschwerden verringert hat, ohne daß 
er eigentliche Heilung der Lungen¬ 
schwindsucht herbeigeführt hat. Und 
ein besonders wichtiges Moment ist 
schließlich auch, daß mit Anlegung des 
Pneumothorax fast stets das Auswerfen 
von bacillenhaltigem Sputum aufhört, 
was veranlassen könnte, von einer hy¬ 
gienischen Indikation bei manchen. 
Fällen zu reden. 

Literatur; Eine vollständige' Literatur- 
Übersicht über alle künstlichen Pneumothorax 
berührenden Fragen findet sich in der 1918 er¬ 
schienenen Sonderveröffentlichung des Inter¬ 
nationalen Zentralblattes für Tuberkulose- 
Forschung. 


Repetitorium der Therapie. 

Die Behandlung 

der subakuten und chronischen Gelenkerkrankungen. 

Von G. Klemperer und L. Dünner. 


1. Allgemeines: Die Behandlung der 
mehr oder weniger chronisch verlaufen¬ 
den Gelenkerkrankungen mit' ihren lang¬ 
dauernden, schmerzensreichen Schwellun¬ 
gen, Deformitäten, Verwachsungen und 
Versteifungen ist nur zum geringen Teile 
von der diagnostischen Feststellung ihrer 
verschiedenen Formen abhängig. Nur 
die ätiologische Unterscheidung kann in 
gewissem Maße die Behandlung in be¬ 
sondere Bahnen lenken. Bei chronischen 
Gelenkentzündungen, die sich offensicht¬ 
lich aus akuter Polyarthritis entwickelt 
haben, wird man immer wdeder gelegent¬ 
liche Versuche spezifischer Behandlung 
mit Salicylaten machen, in geeigneten 
Fällen wird man Ausschälung der Ton¬ 
sillen vornehmen^). Bei nachgewiesenen 
luetischen Antecedentien wird man die 
entsprechenden Kuren versuchen. Bei 
gonorrhoischer Arthritis erweist sich 
systematische Injektionskur mit steigen¬ 
den Mengen von Gonokokkenvaccine 
(Gonargin, Arthigon) oft sehr wirksam. 
Bei gichtischen Gelenkerkrankungen wird 
man die Gichtmittel immer wieder wenig¬ 
stens zur Schmerzstillung heranziehen, 
im übrigen die besondere Gichtdiät von 

1) Vgl. die Behandlung’ des akuten Gelenk¬ 
rheumatismus, S. 147. 


Zeit zu Zeit verordnen. Eine weitere 
diagnostische Unterscheidung erweist sich 
für die Therapie nur in sehr begrenztem 
Maße fruchtbar. Ob es sich, mehr um 
exsudative' oder produktive, mehr um 
hypertrpphierende oder atrophierende 
Prozesse handelt, ob der Prozeß sich nur, 
auf das Gelenk beschränkt oder ob er 
schon Knorpel und Knochen in Mit¬ 
leidenschaft gezogen hat, ist für die Be¬ 
handlung wohl insofern wichtig, als die; 
exsudativen und hypertrophierenden Pro¬ 
zesse oft zu akuten Schüben reizen,, 
in denen sie besonders der Ruhe und 
Schmerrlinderung bedürfen, während oie 
aktiven Verfahren der Behandlung mehr 
den gewebsbildenden und abschleifenden 
Prozessen mit ihrem trägen und eintönigen 
Verlauf Vorbehalten sind. Im allgemeinen 
aber gilt sämtlichen Formen chronischer 
Gelenkentzündung das gleiche therapeu¬ 
tische Bestreben, für einen kräftigen 
Zustrom arteriellen und einen ungehin¬ 
derten Abfluß des venösen Blutes zu 
sorgen, die gehörige Verteilung des Blutes 
in den erkrankten Geweben zu regulieren, 
und also die natürliche Selbstheilung, so¬ 
weit möglich, zu befördern, ln gleicher 
Weise sucht man bei allen Gelenkerkran¬ 
kungen den Folgezuständen der Inaktivi- 





T^ovembei^ . Die Therapie der Gegenwart 1920 ^ 401 


tätsatrophie der Muskulatur und der 
sekundären Verwachsung und Verstei¬ 
fung von Gelenken entgegenzuwirken. 
Diesen gemeinsamen Indikationen dienen 
die physikalischen Behandlungsmethoden 
der Wärmebehandlung durch Umschläge, 
Hitzkasten, Diatherrnie und Bäder, der 
Bierschen Stauung, der Massage, der 
aktiven und passiven Gymnastik. Auch 
die medikamentöse Therapie erzielt zum 
Teil lokale Hyperämie, zum Teil dient 
sie symptomatischen Zwecken. Eine 
Ergänzung und Weiterführung der physi¬ 
kalischen Therapie, kann durch chirur¬ 
gische Behandlung geschehen, wozu wir 
die Gelenkpunktion, die Mobilisierung 
in der. Narkose sowie die Anordnung 
orthopädischer Apparate rechnen. Welche 
von den zahlreich zur Verfügung stehen¬ 
den Behandlungsmethoden man • im 
Einzelfall zur Anwendung bringt, ist zum 
Teil von den Besonderheiten der Erkran¬ 
kung, zum Teil von den Gewohnheiten 
und Wünschen der Patienten, zum Teil, 
von dem persönilichen, durch Ort und Zeit 
bedingten Ermessen des Arztes abhängig. 
Oft ist dem Patienten beschieden, der 
Reihe nach die verschiedensten Kuren 
durchzumacfien; man tut gut, nach den 
bisherigen Erlebnissen der Kranken zu 
fragen und solche Methoden zu erproben, 
die bisher noch nicht angewandt waren. 
Sehr wesentlich ist es, die moralische 
Widerstandskraft der Patienten zu heben,- 
indem man ihnen auch in scheinbar deso¬ 
later Lage wieder zu neuen Heilversuchen 
Mut macht. Manchmal erlebt man doch 
noch von unverminderter therapeutischer 
Beharrlichkeit gute ' Erfolge, wenn Arzt 
und Patient an Besserung fast schon 
verzweifelten. 

2. Hyperämisietende Behandlung. 

a) Umschläge, Packungen und 
T eilbäder. Dieselben erweisen sich wirk¬ 
samer bei subakuten als bei chronischen 
Prozess.en. Man hüllt die betroffenen 
Gelenke in Prießnitzkompressen, die man 
morgens und abends erneuert, oder man 
macht Kataplasmen mit warmem Brei 
oder Moor oder Fango^), die nach drei- 

2) Fangopackungen sollen anfangs Tempera¬ 
turen von etwa 45® haben; allmählich geht man 
zu höheren Hitzegraden über. Der gut durch¬ 
geknetete Fango wird 1 bis 2 cm dick auf¬ 
getragen, darüber kommt Leinen, darüber Gummi¬ 
papier, schließlich ein wollenes Tuch. Die Um¬ 
schläge werden mehrere Tage hintereinander 
wiederholt. Bei allen Umschlägen und Packungen 
ist die Hautpflege wichtig zur Vermeidung von 
Verbrennung und Entzündung. Man fette die 
Haut nach den Anwendungen sorgfältig ein. 


bis vierstündigem Liegen erneuert werden, 
oder man legt erhitzte Sandsäcke an die 
Gelenke. Oder rnan legt die erkrankten 
Glieder in geeignete Schüsseln oder Scha¬ 
len, die* mit oft'erneuertem heißen Wasser 
gefüllt sind. 

b) Behandlung mit Salben und 
Einreibungen. Die befallenen Gelenke 
werden mit Jodvasogen oder Ichthyol- 
salbe dick eingeschmiert oder mit Meso- 
tan oder Spifosal eingepinselt, danach 
dick mit Watte eingepackt und bleiben 
damit zwei bis. drei Tage verbunden. 
Oder man bepinselt die Gelenke mit einer 
gleichen Mischung von Terpentin und 
Olivenöl, belegt sie mit Guttapercha¬ 
papier, darüber einen dicken Wattever¬ 
band, der 24 Stunden liegen bleibt und 
nach eintägiger Ruhe erneuert wird. Bei 
chronischem Verlauf bevorzugt man Ein¬ 
reibungen, eventuell mit Chloroformöl, 
auch mit Linimenten,z.B. ammöniatosapo- 
natum oder camphoratum (Opodeldoc). 

c) Heißluftbehandlung. Man 
bringt die befallenen Gelenke in geeignete 
Heißluftkästen, in denen die Temperatur 
allmählich bis 90® und höher gebracht 
wird und läßt sie ein bis zwei Stunden 
darin. Mit Vorteil läßt man in geeigneten 
Fällen unmittelbar darauf Massage fol¬ 
gen. Eine mildere Form' der Heißluft¬ 
behandlung bildet das Anblasen mit dem 
Föhnapparat. 

d) Bi ersehe Stauung (passive Hy- 
perämisierung). Man legt eine etwa 6 cm 
breite Gummibindo. oberhalb des-be¬ 
troffenen Gelenkes um die Extremität, 
welche vorher mit Mullbinde eingewickelt 
wird. Es ist darauf zu achten, daß die 
Gummibinde nicht so fest angelegt wird, 
daß etwa der Arterienpuls. unterdrückt 
wird. Der gestaute Teil muß heiß und 
rot, niemals kühl und bleich oder blau 
sein. Auch darf die Binde die Schmerzen 
in den Gelenken nicht vermehren. Even¬ 
tuell ist sie abzuwickeln und von neuem 
loser anzulegen. Man läßt die Binde zu¬ 
erst zwei Stunden, täglich eine Stunde 
länger, eventuell (bei gonorrhoischer Ar¬ 
thritis) bis 22 Stunden liegen. 

c) Diathermiebehandlung. Diß 
Auflegung der Platten findet täglich 
einmal 15 bis 20 Minuten statt; sachver¬ 
ständige Handhabung muß vor zu starker 
Wärmeentwicklung eventuell Verbren¬ 
nungsgefahr schützen. Die in der Tiefe 
der Gewebe geschehende Erwärmung ist 
manchmal noch von Nutzen, wenn die 
anderen thermisch hyperämisierenden Me¬ 
thoden versagt haben. 


.51 





402 


November 


Die Therapie der 


5. Mechanische Behandlung (Gym¬ 
nastik und Massage). 

Dieselbe ist in der Regel nur bei 
einigermaßen reizlosem Verhalten, der 
Gelenke indiziert, während jedes Zeichen 
entzündlichen Nachschubes (Temperatur, 
Rötung und Schwellung) Ruhe^) erfordert. 
Man beginnt vorsichtig und mit allmäh¬ 
licher Steigerung mit geringfügigen Lage¬ 
veränderungen ^), geht dann langsam zu 
passiven Bewegungen über, eventuell- zu¬ 
erst im "warmen Bade, die man dem 
Widerstand und dem Schmerzgefühl an- 
,paßt und allmählich zu steigern sucht; 
bei langdauernden Nachschmerzen ist 
zu pausieren. Doch darf die Schmerz¬ 
reaktion, namentlich bei nervösen Pa¬ 
tienten, nicht entscheidend bewertet wer¬ 
den. Im allgemeinen ist man bei abklin¬ 
genden Prozessen aktiver, muß sich aber 
in jedem Falle bei der Beurteilung des 
Schmerzes von einem gewissen Taktge¬ 
fühl leiten lassen. Auch zu aktiven Be¬ 
wegungen ist der Patient anzuhalten, 
neben die systematische Gymnastik tritt 
der Gebrauch der Glieder zu den täg¬ 
lichen Verrichtungen beim Essen, Schrei¬ 
ben, Kämmen, eventuell Ankleiden, spä¬ 
ter Gehübungen mit Krücken oder im 
Gehstuhl. Der Arzt tut gut, sich mög¬ 
lichst viel selbst mit den Gelenkübungen 
zu beschäftigen, nicht nur weil er am 
besten beurteilt, wieviel er dem Patienten 
ohne Schäden zumuten kann, sondern 
vor jillem wegen der sehr wichtigen er¬ 
mutigenden Wirkung, die das tätige 
Interesse des Arztes auf die meist mi߬ 
trauischen und wenig ' 2 :uversichtlichen 
Kranken ausübt. — Bei vollkommenem 
Ablauf aller Reizerscheinungen findet die 
Gelenkgymnastik zweckmäßig an be¬ 
sonderen Apparaten statt, wie sie be¬ 
sonders in den Zanderinstituten zur Mo¬ 
bilisierung verwachsener und versteifter 
Gelenke geübt wird. Sind alle Versuche 
passiver Gymnastik ergebnislos, so ist 

3) Die Lagerung bei Ruhigstellung erfordert 
besondere Vorsicht zur Vermeidung der künftigen 
Versteifung in ungünstiger Funktionsstellung (vgl. 
S. 148). Auch sind die eventuell mit Schienen 
und Sandsäcken zu lagernden Gelenke ent¬ 
sprechend zu polstern und mit Drahtgestellen vor 
Druck zu ^chützen. Bei eventuellem Verband¬ 
wechsel isEmöglichst eine kleine Änderung in der 
Stellung der Gelenke vorzunehmen. Auch ist 
für aktive und passive Bewegung der benachbarten 
Gelenke (z. B. der Handgelenke bei Fixation des 
Ellenbogens) zu sorgen. 

^) Man schiebt z. B. unter das steife Kiiie für 
mehrere Stunden eine Rolle oder-belastet es nach 
langer Beugestellung vorsichtig mit einem Sand¬ 
sack. Die erreichte Stellung fixiert man für kurze 
Zeit durch einen Verband. 


Gegenwart 1920 


gewaltsame Dehnung im Ätherrausch an¬ 
gezeigt; unrnittelbar; nach diesem ge¬ 
wöhnlich vom Chirurgen vorgenommenen 
Eingriff bleibt der Patient mehrere Tage 
unter reichlichen Morphiumgaben in 
Bettruhe, während die erreichte Stellung 
durch gut gepolsterten Verband, Schienen 
und Sandsäcke fixiert wird. Klingen die 
Reizerscheinungen ab, so hat erneute 
passive upd eventuell aktive Gymnastik 
zu beginnen. — Eine Behandlungsmethode,, 
von der man in den meisten Stadien auch 
neben anderen Anwendungen ausgiebigen 
Gebrauch machen kann, ist die Massage, 
welche auf die Blutzirkulation den größten 
Einfluß ausübt und ebenso Aufsaugung 
und Rückbildung' wie regenerative Pro¬ 
zesse anzuregen vermag. Obwohl Strei¬ 
chen, Drücken, Erschüttern und Klopfen 
meist erst bei Reiz- und Schmerzlosig¬ 
keit empfohlen werden, kann ihre vor¬ 
sichtige Anwendung doch auch schon in 
entzündlichen und leicht fieberhaften 
Stadien von Nutzen sein, ln jedem Fall 
ist die Indikation zur Massage mit Über¬ 
legung zu stellen und ihre Ausübung, so¬ 
weit sie vom Pflegepersonal oder beson¬ 
deren Hilfskräften ausgeübt wird, sorg¬ 
fältig zu überwachen. Eine gute Ausbil¬ 
dung in der Massage sollte jeder Arzt be¬ 
sitzen, denn es gibt kaum eine andere 
therapeutische Methode, die gleich aus¬ 
gedehnter Anwendung fähig ist und so 
sichtbare Erfolge zeitigt. Außer den Ge¬ 
lenken sind die Muskeln, um vor Inaktivi¬ 
tätsatrophie geschützt zu werden, regel¬ 
mäßig zu massieren. 

Im Anschluß an die mechanische Be¬ 
handlung sei die Punktion der Gelenk¬ 
ergüsse erwähnt. Wenn solche stark an- 
wachsen und trotz hyperämisierender 
und mechanischer Behandlung nicht zu¬ 
rückgehen, so wird unter strengster Asep¬ 
sis der flüssige Gelenkinhalt durch Punk¬ 
tion entleert, um einer Kapselerschlaffung, 
vorzubeugen; in manchen Fällen wird 
die Punktion mehrfach wiederholt. Wir 
pflegen Indikation und Ausführung der 
Gelenkpunktion dem Chirurgen zu über¬ 
lassen. 

4, Medikamentöse Behandlung. Die 

lange' Dauer der Krankheit mit ihren 
häufig auftretenden Schmerzanfällen 
macht immer- wieder die gelegentliche 
Anwendung der sogenannten antirheuma¬ 
tischen Mittel notwendig, von welchen 
wir Vor allem eine schmerzlindernde 
Wirkung erwarten dürfen. Man hat die 
Auswahl zwischen der großen Anzahl der 
Salicylate und der gebräuchlichen Fieber-^ 




403 


November D|e Therapie der Gegen>yart 1920 


mittel, denen sich das Atrophan zugesellt; 
bei der Anwendung läßt man sich von der 
individuellen Verträglichkeit leiten und 
gibt das einzelne Mittel etwa acht Tage 
lang, wenn keine Übeln Nebenwirkungen 
eintreten. Man kann auch einen Versuch 
mit längerer Darreichung einer Jodkali¬ 
lösung (10/200 dreimal täglich einen E߬ 
löffel) machen. In Fällen von Verwach¬ 
sung und Versteifung versucht man die 
narbenlösende Wirkung von subkutanen 
Thiosinamininjektionen(l: Glycerin 10,0)^) 
oder seines^ in sterilisierten Ampullen 
käuflichen Salicyldoppelsalzes Fibro- 
lysin. 

5. Behandlung mit radioaktiven Sub¬ 
stanzen. Eines Versuches wert ist die 
Methode der Inhalation von Radium¬ 
emanation, die durch besondere Emana- 
torien^) geliefert wird; auch das kur¬ 
mäßige Trinken radiumhaltigen Wassers 
kann versucht werden; solches kann 
man aus stark radiumführenden Quellen 
(Oberschlerna, Brambach, Joachimstal) 
beziehen oder sich aus künstlichen Er¬ 
zeugern selbst bereiten®). Schließlich 
kann den Erfolg von Thorium-X- 
Injektionen"^) versuchen. All diese Kuren 
entbehren nicht der wissenschaftlichen 


5) Die Lösung muß vor jeder Injektion neu 
auf gekocht werden. 

Von der Berliner RadiogengesellschafL' 

’) Doramaci der Auergesellschaft in Berlin. 


Grundlage, da eine mobilisierende Ein¬ 
wirkung radioaktiver Substanzen auf 
ruhendes Bindegewebe, also eine even¬ 
tuell zur Heilung führende Tendenz be¬ 
wiesen scheint. 

6. Behandlung mit aktivierenden Sub¬ 
stanzen. Erlaubt sind Heilversuche miV 
Injektion von körperfremdem Eiweiß 
und anderen Entzündung anregenden 
Stoffen. Man darf also ein- bis zwei¬ 
mal wöchentlich Injektion von 1—^3 ccm 
sterilisierter Milch (in Ampullen vorrätig 
als Aolan) oder Caseinlösung (Caseosan) 
oder 5 % Zuckerlösüng ©der Knorpel¬ 
extrakt (Sanarthrit) machen. Bei vor¬ 
sichtiger Anwendung ist eine Schädigung 
ausgeschlossen, eine relative Heilwirkung 
oft unverkennbar. 

7. Badekuren. Wie heiße Bäder even¬ 
tuell mit Zusatz von Salz oder Sole oft 
guttun, so Ist auch der Besuch gewisser 
Badeorte mit einfachen oder gashaltigen 
Salzquellen oder Moor- oder Schwefel¬ 
bäder chronischen Rheumatikern sicher¬ 
lich nützlich, insbesondere wenn dort 
auch die übrigen Behandlungsmethoden 
von geschulten Ärzten besonders sach¬ 
verständige Anwendung finden. In Be¬ 
tracht kommen Wiesbaden, Teplitz, Oeyn¬ 
hausen, die Schwefelquellen von Nenn¬ 
dorf und Pistyan, die Moorbäder von 
Polzin, Elster, Franzensbad, Aibling und 
viele andere. 


Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen. 

Berliner Medizinische Gesellschaft. Sitzung vom 20. Oktober 1920. 


Prof. Felix^ Klemperer (Berlin-Rei¬ 
nickendorf): Über einige neuere Be¬ 
handlungsmethoden bei Lungen¬ 
tuberkulose. 

1. Proteinkörpertherapie: Über 
die von K. Schmidt (Prag) zuerst an¬ 
gewandte Milchtherapie bei Tuber¬ 
kulose hat R. Lewin in dieser Zeitschrift 
berichtet (April 1920); Vortragender kann 
sie nicht als Ersatz der Tuberkulinthera¬ 
pie anerkennen. Günstigere Erfahrungen 
machte er mit der Serumtherapie, 
die-Czerny und Eliasberg zur Be¬ 
handlung der Kachexie tuberku¬ 
löser Kinder empfohlen haben. Die Sub- 
cutaninjektion von V 2 ccm, später 1 ccm, 
zuletzt 2 ccm normalen Pferdeserums, in 
täglicher Wiederholung bis zu 100 und 
mehr Injektionen, wirkt nach einigen 
Wochen außerordentlich günstig auf das 
Allgemeinbefinden. Eine direkte Beein¬ 
flussung des tuberkulösen Leidens findet 

% 


nicht statt, das Serum dient nicht als 
Tuberkulinersatz — die Hebung des Ge¬ 
wichts aber, die Besserung der Temperatur 
usw. kommen mittelbar auch dem Grund-, 
leiden zuguter Für Erwachsene scheint 
die Serumtherapie nicht geeignet; Vor¬ 
tragender sah in allen Fällen nach den 
Einspritzungen örtliche Reizerscheinun¬ 
gen, zum Teil auch Fieber und anaphy¬ 
laktische Erscheinungen, während Kinder 
das Serum dauernd reaktionslos vertragen. 

2. Partigentherapie: Über den 
Inhalt der Deycke-Muchschen .Par¬ 
tigenlehre und die Einwände, die sich 
gegen sie erheben lassen, vergleiche den 
Bericht des Vortragenden und den Auf¬ 
satz von Dr. Tuszewski in dieser Zeit¬ 
schrift (Februar-März 1919 und Juli 
1920). Der Anspruch Muchs, daß seine 
,, Partigen g es etze“ ,,endgültig das 
Rätsel der Tuberkuloseimmunität lösen“ 
und sogar über die Tuberkulose hinaus 

51* 



4Q4 ' Die Therapie der 


allgemeine Gültigkeit für Infektionskrank-, 
heiten haben sollen, ist nicht ausreichend 
begründet. Die Immunitätsanalyse 
durch Ermittlung des fntracutantiters 
ist im Prinzip nichts anderes, als die ab¬ 
gestufte Cutanimpfung mit Alttuberkulin 
nach Ellermann-Erlandsen und An¬ 
deren. Beide versagen, weil die Haut ihre 
eigene Reaktionsfähigkeit hat, die keines¬ 
wegs immer der Antikörperbildung in an¬ 
deren Organen parallel geht. Die Intra¬ 
cutanprobe gibt keinen sicheren Maßstab 
der gesamten cellulären Immunität, für 
diagnostische, und prognostische Zwecke 
ist sie daher -nicht verwendbar. — Die 
Partigentherapie ist ihrem Wesen und 
ihrer Wirkung nach eine Tuberkulin¬ 
therapie. Das Partigengemisch MTbR 
steht am nächsten der Koch sehen Ba¬ 
cillenemulsion B. E., es kann wie diese 
verwendet werden, ohne wesentliche Vor¬ 
züge vor ihr zu besitzen. 

3. FriecTmanns Tuberkulose¬ 
mittel. Nach einem Überblick über die 
Entwicklung der Friedmannschen Be¬ 
handlung mit lebenden Schildkröten¬ 
bacillen aus Behrings Bovovaccination 
{vergleiche Ther. d. Geg. 1913, S. 29)' be¬ 
richtet Vortragender über seine eigenen 
vErfahrungen an 63 Fällen. 

Die Fieber- und Allgemeinreaktion 
nach Injektion des Friedmannmittels war 
im allgemein gering, meist ganz fehlend, 
desgleichen die Herdreaktion. Dagegen 
trat meist an der Stelle der Injektion ein 
Infiltrat auf, das in fast der Hälfte der 
Fälle nach verschieden langer Zeit durch¬ 
brach und einige Zeit secernierte, in der 
anderen Hälfte langsam sich verkleinerte. 
Eine innere Beziehung zwischen 
dem Verhalten des Impfdepots 
und dem Verlaufe der Krankheit 
war nicht zu erkennen. Bei einem 
durch intercurrente Erkrankung (Ruhr) 
ad exitum gekommenen Falle, bei dem 
das Infiltrat aufgebrochen war und ge¬ 
eitert hatte, ließ sich nachweisen, daß 
säurefeste Bacillen noch reichlich an der 
verheilten Impfstelle vorhanden waren 
=(von einem „Auslaufen“ der injizierten 
Bacillenemulsion kann also nicht die Rede 
sein). 

Eine unmittelbare Heilwir¬ 
kung in den nächsten Wochen nach der 
Injektion, ein ,,Schwinden der toxischen 
Tuberkulosesymptome: Nachlassen der 
Schmerzempfindlichkeit, der Nacht¬ 
schweiße, Stiche, des Beklemmungsge¬ 
fühls und Fiebers, Besserung des Schlafes“, 
wie" es Friedinann beschreibt, sah 


' > ■ ~ \ 

Gegenwart 1920 I ^ November 


Vortragendef nicht; ein eklatanter Um¬ 
schwung im Befinden des Patienten, ein 
Aufblühen der prophylaktisch geimpften 
schwächlichen Jugendlichen oder ähn¬ 
liches wurde nicht in einem Falle beob¬ 
achtet; die Nachtschweiße blieben teil¬ 
weise unverändert bestehen. 

Für die Beurteilung der späteren Heil¬ 
wirkung, des Endeffekts, scheidet Vor¬ 
tragender acht Fälle aus, die erst vor 
drei Monaten oder weniger injiziert wur¬ 
den; ferner neun chirurgische Fälle 
(von denen eine Mesenterialtuberkulose 
erwähnt wird, die acht Monate per injec- 
tionem starb, ferner zwei Halsdrüsenfälle 
bei jungen Mädchen, die teils unverändert 
blieben, teils Monate nach der Impfung 
noch neue Drüsen bekamen). Neun wei¬ 
tere Fälle wurden wegen Pleuritis oder 
besonders starker Belastung oder aus 
anderen Gründen prophylaktisch ge¬ 
impft; sie sind bisher lungengesund ge¬ 
blieben, für die Urteilsbildung über den 
Wert des Friedmannmittels kommen sie, 
bisher wenigstens, nicht in Betracht. 
Zwölf Fälle starben; drei aus inter¬ 
currenter Krankheit, sechs waren progreß 
und wurden nur zum Studium der Reak¬ 
tion oder solaminis causa geimpft. In drei 
von diesen Fällen aber, die sechs bis acht 
Monate nach der Impfung starben, war 
rnit Hoffnung auf Erfolg geimpft worden. 

Elfjähriges Mädchen, nach Exstirpation tuber¬ 
kulöser Drüsen am Halse wegen Dämpfung usw. 
über der rechten oberen Lunge auf die innere Ab¬ 
teilung verlegt — Röntgenbild zeigt Schatten¬ 
bildung bis zur dritten Rippe —, bleibt dort nach 
der Impfung vier Monate fiebeiios, ohne Husten 
oder Auswurf, klinisch ganz gesund, nimmt 
V /2 Kho zu; dann tritt ein Umschwung ein und 
innerhalb.drei Monaten kommt es zu rascher Aus¬ 
breitung der Tuberkulose und zum Exitus. 

Von den an intercurrenter Erkrankung Ge¬ 
storbenen ist ein Fall bemerkenswert, der zwei 
Monate nach der Impfung starb;, der geringe 
Lungenherd erwies sich als alt, vernarbt — er war 
bereits zur Zeit der Impfung fast geheilt, inaktiv 
gewesen —, daneben bestand aber eine frische 
Miliartuberkulose einer Hilusdrüse, die etwa ein 
bis zwei Wochen, höchstens drei Monate alt war; 
diese war entweder nach der Impfung entstanden 
oder doch durch sie nicht zu Heilungsvorgängen 
angeregt worden. 

Von den 25 Fällen, die noch am Leben 
sind, dürfen zwei als geheilt bezeichnet 
werden, zwei weitere geben subjektive 
Besserung an, die übrigen 21 sind besten¬ 
falls stationär geblieben, über die Hälfte 
davon (elf) sind verschlechtert. Unter 
den letzteren sind eklatante Frühfälle: 

Fräulein P., 25 Jahre alt. Im Februar bis 
März 1919 initiale Hämoptoe. 14. April 1919 
geimpft. Nach physikalischer Untersuchung und 
Röntgenbild unsichere Symptome im der linken 





November 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


405 


Spitze. Nach gutem Befinden im Sommer und 
Herbst Weihnachten 1919 erneute Blutung; jetzt 
im Krankenhause Pankow physikalisch und rönt¬ 
genologisch beiderseits deutliche Spitzenerkran¬ 
kung festgestellt (Demonstation beider Röntgen¬ 
platten). 

Krankenschwester E. S., 25 Jahre alt, 
pflegt ihre an akuter Phthise sterbende Schwester 
in April—Juni 1919; wurde selbst im Januar 1919 
wegen linksseitigem Spitzenkatarrh behandelt. 
Am 22. Mai 1919 geimpft; physikalisch nichts 
Sicheres nachweisbar, Röntgenplatte zeigt rechts 
im Spitzenfelde fraglichen kleinerbsengroßen Herd¬ 
schatten, links unregelmäßige Trübung der 
Spitze (?). Nach längerer Erholungsreise, bei 
gutem Wohlbefinden, tritt sie im September 1919 
an der Freiburger Frauenklinik zur Ausbildung 
als Hebamme ein. Im November 1919 fühlt sie 
sich schlecht, Prof. Küpferle findet röntgepo- 
logisch links im Spitzenfeld und in der Um¬ 
gebung des Hilus vereinzelte gut umschriebene 
Herdschatten, im Januar 1920 dazu rechts 
einen neu aufgetretenen infiltrativen Prozeß unter¬ 
halb der Spitze (Demonstration der drei Platten). 
Seit Mai 1920 liegt Patientin mit reichlichem 
bacillenhaltigen Sputum, Fieber usw. schwerkrank 
im Kreiskrankenhause Balingen (Chefarzt Dr. 
Schmid); seit Mitte Juli 1920 ist eine langsame 
Besserung zu verzeichnen. 

Unter den. stationär gebliebenen und 
den langsam sich verschlechternden Fällen 
befinden sich Fälle von sehr guter Pro¬ 
gnose, die noch jetzt, ein Jahr und länger 
nach der Impfung, in vorzüglichem 
Kräftezustand sich befinden. An einigen 
der Röntgenplatten, die Vortragender 
demonstriert, lassen sich sowohl Hei¬ 
lungsvorgänge (Schrumpfung, auch 
Resorption) wie auch Fortschritte (Ver¬ 
größerung von Schatten, Auftreten neuer 
Herde) nebeneinander erkennen. Die 
beiden Fälle, die sich subjektiv besser 
fühlen, und die beiden geheilten werden 
näher besprochen. Die beiden ersteren 
halten der Kritik nicht stand — der 
eine war nie aktiv krank gewesen, der 
andere ist tatsächlich nicht gebessert. 
Von den zv^/ei geheilten war der eine 
gleichzeitig mit einem wirksamen Pneu¬ 
mothorax behandelt worden, der andere 
zeigt überraschend gute Heilungsfort¬ 
schritte, sowohl klinisch (Gewichtszu¬ 
nahme von 38 Pfund, kein’ Auswurf oder 
Husten usw.) wie im Röntgenbilde (De¬ 
monstration). Bereits vor der Impfung 
aber hatte diese Patientin, deren Krank¬ 


heit erhebliche Ausbreitung in beiden 
Lungen zeigte, zwölf Pfund zugenommen. 
Ihr Fall steht ganz allein gegen die 
große Zahl der unbeeinflußten Fälle; 
es ist zwangloser, ihn als natürliche 
Heilung zu deuten, wie sie anerkannter¬ 
maßen in jedem Stadium der Krankheit 
Vorkommen kann. 

Zum Schluß prüft Vortragender die 
Frage, ob technische Fehler seine Mi߬ 
erfolge erklären können, und bespricht 
besonders die Dosierung. Er hat 
meist 0,5 „schwach“ subcutan injiziert. 
Der Einwand, daß dies zu viel war und 
daß 0,5 oder weniger „ganz schwach“ 
hätten gegeben werden müssen, ist nicht 
stichhaltig. Bei einer Untersuchung 
dreier Röhrchen ,,stark“, ,,schwach“ und 
,,ganz schwach“ fanden sich nach dem 
Ergebnis des Äusstrichpräparates und 
der Kolonienzahl auf Impfplatten wesent¬ 
lich mehr Keime in der ganz schwachen, 
als in der schwachen Emulsion (Pro¬ 
sektor Dr. Koch). Eine Dosierung leben¬ 
der Bacillen in so scharfer Abgrenzung 
ist in Ampullen, die eine größere Reihe 
von Tagen zum Gebrauch stehen sollen, 
gar nicht möglich; stets müssen sich, 
wie in jeder Kultur, im Sputum usw. 
neben den lebenden abgestorbene Ba¬ 
cillen finden und die Zahl der einen und 
der anderen wechselt. Aus dem verschie¬ 
denen Gehalt der Ampullen an toten 
Bacillen und ihren Zerfallsprodukten 
(nicht-specifischen Eiweißkö rpern und 
specifischen tuberkulinartigen Substan¬ 
zen) erklärt Vortragender auch das oben 
erwähnte scheinbar regellose Verhalten 
der Reaktion auf die Friedmann-In¬ 
jektion. 

Vortragender kommt zu dem Resul¬ 
tat: ' das Friedmannmittel übt 
keine Wirkung auf die Lungen¬ 
tuberkulose, jeder Fall nimmt 
seinen Lauf zum Besseren bis zur 
Heilung oder zum Schlechteren, 
oder er bleibt stationär, nach 
seiner Eigenart, seinen inneren 
und äußeren Umständen, unbe¬ 
einflußt von der Friedmann-In¬ 
jektion. (Autoreferat.) 


86. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte 
in Bad=Nauheim, 20.—25. September. 


Bericht von.Dr. Lilienstein, Bad-Nauheim. 


Die Naturforscher-Versammlung, welche zum 
ersten Mal nach dem Weltkrieg ihre Tagung ab¬ 
hielt, hat ihren ärztlichen Besuchern viele Wissen¬ 
schaftliche und praktische Anregungen gebracht; 
darüber hinaus hat sie durch ihre erstklassigen 


naturwissenschaftlichen Darbietungen in den 
Ärzten das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit 
dem gewaltigen Reich der großen Naturwissen¬ 
schaft in ' erhebender Weise gekräftigt. Der 
folgende Bericht referiert nach früherer Sitte nur 



406 


Die Therapie der Gegenwart 1920 November' 


solche Vorträge, welche zur Therapie in direkter 
oder indirekter Beziehung stehen. 

In der ersten allgemeinen Sitzung wurde das 
sehr aktuelle Thema des Stickstoffs behandelt. 
Bosch (Ludwigshafen) schilderte die Art der 
Gewinnung des Stickstoffs aus der Luft, durch 
die demnächst allein von den Fabriken Merseburg 
und Oppau 300 000 Tonnen gewonnen werden, 
während die Friedenseinfuhr an Guano, Chili- 
salpeter usw. insgesamt nur 55 000 Tonnen Stick¬ 
stoff enthielt. Die große Bedeutung des Stick¬ 
stoffs für die Ernährung der Tiere und Pflanzen 
wurde von Rubner (Berlin) erörtert und z. B. 
durch die Tatsache anschaulich gemacht, daß 
das Leben ein Ende findet, wenn die Zelle an¬ 
nähernd 50% ihres Eiweißgehalts verloren hat. 
Die 500 Millionen Menschen auf der Erde ver-. 
brauchen alle fast die gleiche Zahl von Calorien 
und gleiche Eiweißmengen. Die Ernährung 
Deutschlands bleibt noch immer stark hinter 
dem erforderlichen Mittel zurück und eine völlige 
körperliche und geistige .Gesundung der Massen 
ist erst mit der Rückkehr zu den gewohnten und 
X nötigen Formen der Ernährung zu erwarten. 

In der letzten allgemeinen Sitzung sprach 
Zumbusch (München) über „Probleme der 
Syphilis'L Er legte die Art der Ansteckung und 
die auf diese folgenden Früh- und Späterschei¬ 
nungen dar und verwies besonders auf die großen 
Unterschiede zwischen angeborener und erwor¬ 
bener Syphilis. Bei der erworbenen erfolgt die 
Ansteckung durch die Haut. Diese bildet in den 
ersten drei Wochen Schutzstoffe, wodurch es 
erst zu einer sich über Jahre hinstreckenden Aus¬ 
breitung der Krankheitserscheinungen kommt. 
Bei der angeborenen erfolgt die Ansteckung auf 
dem Wege der Blutbahn, die inneren Organe 
werden zuerst betroffen und können nicht die 
Schutzstoffe bilden wie die Haut. Die bei er¬ 
worbener Syphilis in die inneren Organe einge¬ 
drungenen Erreger werden vielfach dort mit einem 
Schutzwall umgeben, aus dem sich die besondere 
Art der Späterscheinungen erklärt. Dem Foetus 
werden die Erreger aus dem mütterlichen Blut 
durch die Nabelvene zugeführt und überschwem¬ 
men alsbald seinen ganzen Kreislauf, sowie die 
inneren Organe. Auf diese Weise entstehen viel 
schwerere Allgemeinerkrankungen, die häufig 
den Tod der Frucht zur^ Folge haben. Den Ge¬ 
samtgeburtenausfall durch früheres oder spä¬ 
teres Absterben der Frucht infolge angeborener 
Syphilis schätzt Zumbusch für Deutschland 
auf mehrere Hunderttausend im Jahre. Die 
Paralyse, die etwa 5% der Syphilitischen zehn 
Jahre und später nach der Ansteckung befällt, 
scheint gerade bei solchen Kranken aufzutreten, 
bei denen die Geringfügigkeit der Krankheits¬ 
erscheinungen in den ersten Stadien der Erkran¬ 
kung ein mangelhaftes Abwehrvermögen beweist. 

In gemeinsamer Abteilungssitzung wurden 
Referate über accessorische Nährstoffe von Stepp 
(Gießen), sowie über Hungerödem von Prym 
(Bonn) erstattet. Die diesen Referaten zugrunde 
liegenden Feststellungen finden sich in dem Be¬ 
richt von Feuer hak (voriges Heft, S. 355) sowie 
in den ausführlichen Übersichten in dieser Zeit¬ 
schrift 1918, S. 24, und 1919, S. 181. 

In einer anderen gemeinsamen Sitzung ver¬ 
schiedener Abteilungen wurde die Röntgen¬ 
therapie besprochen. Wintz (Erlangen) wies in 
seinem Referat über die Röntgentiefentherapie 
darauf hin, daß das heute Erreichte nur der eng¬ 
sten Zusammenarbeit von Technik, Physik und 
Medizin zu danken ist. Spannungsvermehrung 
und Strahlungsvermehrung sind die Hauptgrund¬ 


sätze, nach denen die Methoden aüsgebaut wur¬ 
den. Hand in Hand damit geht eine immer mehr 
sich verfeinernde Messung der Strahlenmenge, 
die zu einer genauen Dosierung unerläßlich ist. 
Eine Schwierigkeit für die Messung liegt darin, 
daß in allen von den Strahlen getroffenen Ge¬ 
weben Sekundärstrahlen entstehen. Sie beein¬ 
flussen das Gesetz, daß die Menge der Strahlen 
entsprechend dem Quadrat der Entfernung von 
der Röhre abnimmt. Man hat ein biologisches 
Maßsystem darauf auf gebaut, daß man die 
Menge der Strahlen bestimmte, die eben dazu 
nötig ist, um ein Gewebe zu schädigen. Setzt 
man-diese Zahl für die Haut gleich 100, so beträgt 
sie für Carcinom oft etwa 110. Daraus ergibt sich, 
daß es nicht möglich wäre, Carcinomgewebe zu 
vernichten, ohne die überliegende Haut und an¬ 
dere Gewebe zu zerstören. Deshalb läßt man 
von zwei oder drei Hautfeldern die Strahlen auf 
die Geschwulst gelangen, wo sie sich vereinigen. 
So wird, die Tiefenbestrahlung zu einer topo¬ 
graphisch-anatomischen Aufgabe, zu deren Lö¬ 
sung der Sitz der Geschwulst aufs genaueste be¬ 
kannt sein muß und zu deren Durchführung 
häufig besondere Vorarbeiten an Modellblöcken 
aus Wachs nötig sind. Noch stecken in Apparaten, 
Röhren und Verfahren Fehlerquellen, die aber 
immer mehr beseitigt werden. Von der Heilungs¬ 
ziffer von 100% sind wir heute noch weit ent¬ 
fernt, sind ihr aber schon näher als vor zehn 
Jahren. Erschwert wird die Aufgabe dadurch, 
daß oft der gealterte Körper das durch die 
Strahlen zerstörte Krebsgewebe nicht me.hr durch 
neues Gewebe ersetzen kann. Meßtechnisch rich¬ 
tige Bestrahlung und genauester topographisch¬ 
anatomisch ausgebauter Plan sind unerläßliche 
Vorbedingungen für den Erfolg der Tiefen¬ 
bestrahlung. 

Aus dem vollkommen verschiedenen Ver¬ 
halten der Sarkome gegenüber den Röntgen¬ 
strahlen, über das Jüngling (Tübingen) berich¬ 
tete, ergibt sich wieder die Richtigkeit der sich 
immer mehr durchsetzenden Erkenntnis, daß 
unter dem Sammelbegriff Sarkom Bildungen 
allerverschiedenster biologischer Wertigkeit zu¬ 
sammengefaßt werden. Manche Sarkome schwin¬ 
den völlig und für immer, andere bleiben durchaus 
unbeeinflußt. Lossen (Frankfurt) berichtete aus 
der Grödelsehen Röntgenabteilung über soge¬ 
nannte Fernwirkungen der Röntgenstrahlen, wor¬ 
unter Veränderungen an nichtbestrahlten Or¬ 
ganen nach der Bestrahlung eines anderen Or¬ 
gans verstanden werden, wie z. B. Heilung von 
Herzinsuffizienz oder Bronchialasthma nach Eier¬ 
stockbestrahlung oder günstige Beeinflussung der 
Leukämie durch Milzbestrahlung. Dietlen 
(früher Straßburg) gab einen Überblick, über die 
Anwendung der Röntgenstrahlen in der inneren 
Medizin. An den ersten wirklichen Erfolg, die 
Behandlung der Leukämie, knüpften sich Hoff¬ 
nungen, die nicht erfüllt wurden. Für die Ver¬ 
kleinerung der Schilddrüse und die der Thymus¬ 
drüse durch Röntgenbestrahlung sind wirksame 
Methoden ausgebaut, bei bedrohlicher Schwellung 
der Thymus kann die Bestrahlung unter Um¬ 
ständen lebensrettend wirken.. Wichtig sind die 
Ergebnisse der Bestrahlung der Hypophyse und 
der nicht operablen Geschwülste des Mediasti¬ 
nums. Ein röntgenbiologisches Grundgesetz sagt 
aus, daß die verschiedenen Gewebe, Organe und 
Zellen in ganz verschiedenem Maße für die Ein¬ 
wirkung der Strahlen empfindlich sind, und 
wiederum wirken verschiedene Strahlenmengen 
ganz verschieden auf die Organe ein. Kleinere 
Dosen rufen in vielen Fällen Reizzustände und 



November 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


407 


Steigerungen der Drüsensekretion hervor. Durch 
stärkere Strahleneinwirkung kann dann eine 
Lähmung der Drüsentätigkeit erreicht werden. 
Bei der günstigen Beeinflussung tuberkulöser 
Erkrankungen von Drüsen, Knochen und Ge¬ 
lenken handelt es sich nicht um zerstörende, son¬ 
dern reizsetzende Einwirkungen, welche die Ge¬ 
webe in den Zustand besserer Abwehrmöglichkeit 
gegen die eingedrungene Schädlichkeit bringen. 
Während Chirurgie und Gynäkologie gewebs- 
zerstörende Bestrahlungsmethoden ausbauen 
müssen, um die Geschwülste bekämpfen zu 
können, muß die innere Medizin auf den weiteren 
Ausbau von gewebsanregenden Bestrahlungen 
bedacht sein. Große Schwierigkeiten liegen heute 
noch darin, daß die hierzu nötigen und geeigneten 
Strahlenmengen bisher noch in keiner Weise sich 
bestimmen lassen. Bacmeister (St. Blasien) 
berichtet über Behandlung der Lungentuberkulose 
mit Röntgenstrahlen und weist darauf hin, daß 
auch hier die Strahlen nur in vorsichtigster Weise 
angewandt werden dürfen, da sonst gefährliche 
Gewebsschädigungen entstehen können. 

In der Abteilung für Chirurgie fand eine 
Besprechung statt über Steinachs Operation 
zur Erzielung einer Verjüngung; den Bericht über 
diese Diskussion hat La quer im vorigen Heft 
erstattet (S. 371). 

In der Abteilung für Kinderheilkunde sprach 
Langer (Charlottenburg) über„die Behandlung 
der Diphtheriebacillenträger''. Ausgehend 
von der Tatsache, daß der hintere obere Nasen¬ 
rachenraum der gewöhnliche Sitz der Diphtherie¬ 
bacillen nach Nasenrachenerkrankungen ist, emp¬ 
fahl er Spülungen mit einem stark chemothera¬ 
peutisch wirkenden Mittel, dem Flavicid, das 
mittels Pipette stündlich ein- bis dreimal in die 
Nase eingeträufelt werden soll. Mader (Frank¬ 
furt) sprach über die antibakterielle Wirkung des 
Suprarenins, das in Verbindung mit Silber- 
Tierblutkohle noch in kleinsten Mengen stark 
baktericid wirkt. Hochschild (Frankfurt) beob¬ 
achtete an 30 Fällen mittels des Okularmikro¬ 
meters nach Weiß das Verhalten der Hautcapil- 
laren bei der Scheinanämie der Säuglinge unter 
Eiweißmilchernährung und konnte dabei re¬ 
gressive Veränderungen der Capillaren feststellen, 
die mit der Veränderung der Nahrung ver¬ 
schwanden. 

ln der Abteilung für Augenheilkunde besprach 
Jeß (Gießen) die Gefahren der Chemotherapie 
für die Augen, insbesondere das aktuelle Thema 
der Sehstörungen nach Anwendung der modernen 
Chininderivate (Optochin, Eukupin). Es ist 
ihm gelungen, in dem einen Teil des Chinin¬ 
moleküls darstellenden sogenannten Chinolinring 
eine äußerst gilftige Chemikalie für Netzhaut und 
Sehnerv festzustellen. Die Notwendigkeit, sich 
in Zukunft der überaus empfindlichen Netzhaut 
als toxikologischer Reagens zu bedienen, wird be¬ 
tont. Brückner (Berlin) und v. Eicken (Gießen) 
referierten über Nebenhöhlen und Sehnerven¬ 
erkrankungen. ln bezug auf die viel diskutierte 
Frage der Nasenätiologie der retrobulbären 
Neuritis einigte man sich dahin, daß hier eine 
ständige Zusammenarbeit von Augen-, Nasen- 
und Nervenärzten unbedingt erforderlich sei, um 
jede andere Ätiologie auszuschließen, bevor sich 
der Rhinologe zu operativem Eingreifen ent¬ 
schließen dürfe. Igersheimer (Göttingen) be¬ 
richtete über nicht specifische Therapie in der 
Augenheilkunde und kommt zu dem Schluß, daß 
man in vielen Fällen mit derselben große Erfolge 
erzielen könne. Er erinnerte daran, daß mit der 


Injektion von nicht specifischem Pferdeserum bei 
nicht zu schweren Fällen von Diphtherie ähnliche 
Erfolge erzielt werden wie mit Diphtherieheil¬ 
serum. Grüter (Marburg) referiert über gute 
Erfolge mit Elliotscher Trepanation und Ab- 
hebelung des Ciliarkörpers bei chronischem Glau¬ 
kom und juv. Buphthalmus. Bei chronischem 
Glaukom sei diese Therapie der konservativen 
entschieden vorzuziehen. 

In der Abteilung für Neurologie und Psychiatrie 
sprach Kleist (Frankfurt a. M.) über seine Stu¬ 
dien an den konstitutionellen, aus inneren Grün¬ 
den (autochthon) auf tretenden, heilbaren Psy¬ 
chosen, die von Kräpelin als Äußerungen ein 
und desselben Krankheitsvorgangs, des manisch- 
depressiven Irreseins, aufgefaßt werden. Nach 
der vom Vortragenden im Jahre 1911 zuerst auf¬ 
gestellten Lehre handelt es sich um zahlreiche, 
in ihrem Symptombilde und in ihren Ursachen 
verschiedene Erkrankungen, zu deren Entstehung 
Störungen der inneren Sekretion mit mannig¬ 
faltigen abnormen Gehirnanlagen Zusammen¬ 
wirken. 

Jahne I brachte vorzügliche anatomische 
Untersuchungen der Großhirnrinde bei Paralyse 
(Spirochätenbefunde). Goldstein und Gelb 
(Frankfurt) führten kinematographisch Hirn- 
verletzte vor und zeigten, wie aus solchen Ver¬ 
letzungen auf die Lokalisation gewisser psychi¬ 
scher Funktionen im Gehirn geschlossen werden 
kann. Ebenfalls kinematographisch wurden von 
Köhler (Ettlingen) die psychischen Leistungen 
dargestellt, die an Menschenaffen auf Teneriffa 
beobachtet wurden. Es war ertaunlich, zu sehen, 
wie hoch entwickelt die an menschliche Intelligenz 
gemahnenden Funktionen dieser Tiere sind. 

Der Berichterstatter demonstrierte in dieser 
Abteilung ein neues Verfahren zum Nachweis 
bioelektrischer Ströme. Die Summe aller 
in einem lebenden Organismus ablaufenden 
Ströme, lonenwanderungen, Potentialgefälle, 
Aktionsströme usw. kann als lönenhaushalt 
bezeichnet werden und hat sicher eine ähnliche 
' Bedeutung wie der Wärmehaushalt, Zum Nach¬ 
weis dieser Ströme dienen bisher feinste Galvano¬ 
meter, Capillarelektrometer, Saitengalvanometer 
(Elektrokardiograph). Ich habe nun die Apparatur 
einer Funkenstation diesem Zwecke dienstbar ge¬ 
macht. Die Ströme werden bei meinem Instru¬ 
mentarium über einen (mechanischen) Unter¬ 
brecher und Elektronenröhren einem Telephon 
zugeführt. 

Stiefle (Linz) tritt dafür ein, daß die Ence¬ 
phalitis lethargica trotz ihres häufigen Auf¬ 
tretens während der Grippeepidemien doch als 
' eine selbständige Infektionskrankheit aufzufassen 
sei. Die von vielen Seiten heftig bekämpfte 
psychoanalytische Behandlung wird von 
Schmidt (Mainz) warm verteidigt. Gierlich 
(Wiesbaden) weist auf eigentümliche Formen 
hemiplegischer Lähmungen und ihre Beziehungen 
zur Phylogenese hin. Küppers (Freiburg) sieht 
in der parasitären Lebensführung die hauptsäch¬ 
lichste Ursache für die Entstehung der Hysterie, 
die sich immer nur aus Beziehungen des Menschen 
zu seinen Nebenmenschen entwickelt. 

Von aktuellem Interesse waren die Vorträge 
über psychologische Eignungsprüfungen, 
Assozationsversuche usw. (die von Sommer, 
Voß, Berliner, Koffka und den beiden Brü¬ 
dern Jaentsch vorgeführt und erörtert wurden). 
Solche Eignungsprüfungen werden voraussicht¬ 
lich in Zukunft für die verschiedensten Berufe 
Bedeutung gewinnen. An der Universität Münster 





408 


Die Therapie -der Gegenwart 1920 


November 


besteht z. B. bereits eine Eignimgsprüfstelle. Ihr 
Leiter, Goldschmidt, berichtet über die da¬ 
selbst gesammelten Erfahrungen und zeigte, daß 
'Sich die Prüfungen auf Eignung zu der einen oder 
anderen Berufstätigkeit bereits mannigfach be¬ 
währt haben. Freilich läßt sich ein praktischer 
Erfolg nur bei äußerster Vorsicht eines wirklich 
geschulten Experimentalpsychologen erwarten. 
Zur Fortbildung der Eignungsprüfungen erscheint 
deren Durchführung im Anschluß an Universi¬ 
täten und Technische Hochschulen dringend ge¬ 
boten. Es zeigt sich, daß hiermit zukünftige Prü¬ 
fungen, besonders für die Berufe der Kraftfahrer, 
Funker, Lokomotivführer, Mechaniker,^ Schlosser 
und viele andere ausgeführt werden können. Aller¬ 
dings kamen bei der Sitzung auch abweichende 
Ansichten und kritische Bedenken dieser neuen 
Methode gegenüber zum Ausdruck. 

In der gynäkologisch-geburtshilflichen Sektion 
wurde von Freund (Frankfurt a. M.) ein in seiner 
Einfachheit beachtenswertes Verfahren emp¬ 
fohlen: das sofortige Anlegen des Kindes an die 
Mutterbrust zur Auslösung von Uteruscontrac- 
tionen bei Blutungen post partum beziehungs¬ 


weise prophylaktisch. In der Proteinkörper¬ 
therapie fand das Caseosan warme Befürwortung 
seitens Esch (Marburg) und Salomon (Gießen). 
Mayer (Tübingen), berichtete über zahlreiche 
Versuche mit Luftfüllung der Bauchhöhle zu 
diagnostischen und therapeutischen Zwecken 
(Pneumoperitoneum). Ferner betonte derselbe 
die Vorzüge der Lumbalanästhesie, welche nur 
den Kopfschmerz als gelegentliche, unerwünschte 
und bisher nicht beeinflußbare Nachwirkung' hat. 
Nürnberger (Hamburg) hat bei Kreuzschmerzen 
ohne gynäkologischen Befund, Coccygodynie usw. 
präsacrale Injektionen mit Narcophin angewandt, 
deren günstige Wirkung anhaltend war. 

Hanauer (Frankfurt) weist auf Grund ddfe 
Materials des Frankfurter statistischen Amtes 
der letzten zehn Jahre nach, daß die Krebs- 
Sterblichkeit im Kriege sich nicht in der Weise 
geändert hat, wie es von vielen Seiten ange¬ 
nommen wurde. Die Bevölkerungsbewegung nach 
Alter und Geschlecht sei hierbei zu berücksich¬ 
tigen. Tatsächlich sind während des Krieges 
durchschnittlich jüngere Lebensalter vom Krebs 
dahingerafft worden als in Friedenszeiten. 


Bücherbesprechungen. 


C. Dorno, Physik der Sonnen- und Himmels¬ 
strahlung. — Die Wissenschaft, Einzeldar¬ 
stellungen aus der Naturwissenschaft und der 
Technik Bd. 63. 1919. Vieweg. Preis 6 M. 

Die Bedeutung von Licht und Luft als Heil¬ 
faktor ist jedem Laien geläufig. Sobald man 
.hier aber zu klaren Vorstellungen gelangen will, 
sieht gerade der wissenschaftlich geschulte Arzt 
sofort ein, wie mangelhaft ihm das Rüstzeug zur 
Verfügung steht. Das kleine Buch des um die 
Physik des Klimas sehr verdienten Verfassers ist 
geeignet, in schwierige Gebiete der angewandten 
Physik einigermaßen gemeinverständlich einzu¬ 
führen. Wer als Therapeut sich für klimatische 
Fragen interessiert, wird sich aus der flott ge¬ 
schriebenen Schrift reiche Belehrung verschaffen 
können. M. Jacoby. 

Felix Klemperer. Die Lungentuberkulose, 
ihre Pathogenese, Diagnostik und Be¬ 
handlung. Berlin und Wien 1920, Urban 
& Schwarzenberg. 155 Seiten. Preis 25 M. 

Das Buch will, wie die Vorrede sagt, nicht 
ein Lehrbuch für Studierende sein, sondern ein 
Ratgeber für den ärztlichen Praktiker, um ihn 
zu unterstützen in der Pflicht gesteigerter Auf¬ 
merksamkeit und Betätigung gegenüber dem 
jetzigen Anwachsen der Tuberkulose. 

Demgemäß sind in den Abschnitten über 
Entstehung, Infektionswege, Disposition, Ana¬ 
tomie, Statistik zwar alle wesentlichen Punkte 
berührt, aber doch mehr kursorisch behandelt, 
ausführlich dagegen die Diagnostik und die 
Therapie besprochen. 

Bei der Diagnostik werden die Goldscheider- 
sche Spitzenperkussion, die Tuberkulinproben, die 
Röntgenbefunde eingehender erörtert; der Wert 
dieser Methoden wird durchaus zugestanden, aber 
ihre Anwendung erfordert viel Kritik. Besonders 
nötig ist die Kritik bei der Verwertung der Einzel¬ 
symptome für die Frühdiagnostik; die Notwendig¬ 
keit eingehender Beobachtung und wiederholter 
Untersuchung wird nachdrücklich betont. 

Für die Einteilung der Krankheit ist das 
Albrecht-Fränkelsche Schema der zirrhoti- 
schen, knotigen und käsig-pneumonischen Form 


im allgemeinen genügend; um den einzelnen Fall 
kurz und scharf zu kennzeichnen, istBacmeisters 
kombinierte Einteilung nach vier Reihen von 
Gesichtspunkten zurzeit wohl die beste. 

Der therapeutische Teil, der fast die Hälfte 
des Buches einnimmt, behandelt zunächst die All¬ 
gemeinbehandlung, Luft-, Liege-, Bewegungskur, 
Diätetik, physikalische Behandlungsweisen, dann 
die Theorie und Technik der Tuberkulinkuren, die 
nach des Verfassers Erfahrung ein nützliches 
Unterstützungsmittel der gesamten Tuberkulose¬ 
therapie sind, nicht mehr und nicht weniger; auch 
die Deyke-Muchsehe Parthigentherapie wird 
eingehender besprochen; einen therapeutischen 
Fortschritt bedeutet sie nach Klemperers Er¬ 
fahrung nicht. Ebenso muß Klemperer die Er¬ 
folge des Friedmann sehen Mittels bezweifeln, 
so sehr er die Berechtigung der Grundlage, der 
Immunisierung durch lebende Bacillen, anerkennt. 

Nach einem Abschnitt über medikamentöse 
Behandlung folgt eine breitere Besprechung der 
Pneumothoraxtherapie mit genauer Erörterung 
der Technik, der Indikationen und Kontraindika¬ 
tionen. Ein kurzer Anhang handelt von der 
klimatischen, Badeorts- und Anstaltsbehandlung. 

Der Vorzug des Buches liegt darin, daß es 
alles Wesentliche über Tuberkulose enthält, aber 
mit Geschick gerade die neuen oder aufs neue 
angeregten praktischen Fragen mit ihrer wissen¬ 
schaftlichen Grundlage ausführlich und klar be¬ 
handelt, daß es überall, ohne vorschnell abzu¬ 
sprechen, vor einseitiger Bewertung und Über¬ 
wertung der diagnostischen und therapeutischen 
Neuerungen warnt, und immer wieder auf gründ¬ 
liche, allseitige Untersuchung, Beurteilung und 
Behandlung hinweist. D. Gerhardt. 

Prof. Dr. C. Garre und Prof. Dr. A. Borchard, 
Lehrbuch der Chirurgie. Mit 535 teils 
farbigen Abbildungen. Leipzig 1920. Verlag 
von F. C. W. Vogel. 

Es ist ganz besonders zu begrüßen, wenn dem 
praktischen Arzt, dem täglich chirurgische Fälle 
zugehen, ein Lehrbuch wie das vorliegende an 
die Hand gegeben wird, durch das ihm in denkbar 
bester Form die Anschauungen der modernen 





November 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


409 


Chirurgie zugänglich gemacht werden. Wird er 
doch hierdurch besser in die Lage versetzt, die 
schwere Frage der chirurgischen Indikations¬ 
stellung selbständig zu lösen, ein Problem, dessen 
hohe Bedeutung nicht immer erkannt und nicht 
eindringlich genug stets wieder betont wird, und 
von dessen Beherrschung in vielen Fällen das 
Leben des Kranken abhängt. Je nach der Vor¬ 
bildung des einzelnen nach der technischen Seite 
hin miiß sich der Praktiker selbst die Grenzen 
seines Könnens und .Handelns vorschreiben. 
Hierin wird er durch d^ Garre-Borchardsche 
Lehrbuch auf das trefflichste unterstützt, da¬ 
durch, daß es einesteils diejenigen Operationen, 
die der praktische Arzt, wofern fachärztliche Hilfe 
nicht zur Stelle ist, selbst ausführen muß, ein¬ 
gehend beschreibt, im übrigen aber vor allem die 
Symptomatologie und Diagnose in den Vorder¬ 
grund stellt. Hierbei verdient das Kapitel: 
Regionäre und funktionelle Diagnostik ganz be¬ 
sonders hervorgehoben zu werden, dem an präg¬ 
nanter, kurzer, aber doch erschöpfender Aus¬ 
drucksweise wohl nichts gleichartiges in der 
deutschen Literatur zur Seite gestellt werden 
kann. 

Die Einteilung des Stoffes entspricht ungefähr 
der der Lehrbücher der speziellen Chirurgie. 
Fragen der allgemeinen Chirurgie werden im 
einzelnen dort abgehandelt, wo sie zum Ver¬ 
ständnis der jeweils beschriebenen Erkrankung 
notwendig sind. Die topographisch-anatomischen 
Verhältnisse sind in den einschlägigen Teilen der 
einzelnen Abschnitte gebührend gewürdigt. Dem 
Rang entsprechend, den die Verfasser unter den 
deutschen Chirurgen einnehmen, ist das Buch aus 
einer reichen Erfahrung geschrieben und entbehrt 
vielfach nicht der persönlichen Note. Für das 
Kapitel „Operationskursus“ wären in einer neuen 
Auflage zum großen Teil andere Abbildungen zu 
wünschen. 

. Besonders hervorzuheben ist die. glänzende 
Ausstattung, die der Verlag dem Werke hat an¬ 
gedeihen lassen, und der wohlfeile Preis, der die 
Anschaffung des Lehrbuches dem Praktiker fast 
zur Pflicht macht. 

Das einleitende Kapitel: Das Lehren und 
Lernen in der Chirurgie von Garr6 behandelt 
Fragen der ärztlichen Ethik in vollendeter Form, 
deren Wert besonders hoch zu veranschlagen ist 
in einer Zeit, die ihr Ziel ganz im Sozialisieren 

Hayw.ard. 


Koblanck, Taschenbuch der Frauenheil¬ 
kunde. Zweite verbesserte Auflage, mit 63 Ab¬ 
bildungen. Berlin-Wien 1920. Urban & 
Schwarzenberg. 

Das für den Praktiker, wie den Studierenden 
gleibh wichtige Buch erscheint nach verhältnis¬ 
mäßig kurzer Zeit in zweiter Auflage, die noch 
an Wert dadurch gewonnen hat, daß zwei neue , 
Abschnitte auf genommen wurden: Eileiterschwan- 
gerschaf L und künstliche Kinderlosigkeit, während 
einige Kapitel, wie Erkrankung der Harnwege, 
Endometritis, wesentliche Verbesserungen zeigen. 
Dieser zuverlässige Ratgeber muß immer wieder 
empfohlen werden; Ausstattung und Druck sehr 
gut. Pulvermacher (Charlottenburg). 

San.-Rat Bratz und Bibliothekar G. Renner, 
Was ein Kranker lesen soll? Ein Rat 
geber für Kranke, ihre Ärzte und Pfleger. 
Berlin-Wien 1920, Urban & Schwarzenberg. 

In diesen 50 Seiten steht viel drin; in einem 
kurzen Vorwort, welches an des Referenten Skizze 
über „Geistige Diät von Nervenkranken“ (Strüm- 
pell-Erb'sche Ztschr. Bd. 23, 1903) anknüpft, 
wird der Titel in Ziel und Zweck weiter aus¬ 
geführt; die Renn ersehen Buchbesprechungen 
könnten wohl etwas ausführlicher sein; anderer- 
"seits erleichtern sie dem Kranken die Wahl der 
Bücher; man kann und soll das Büchlein getrost 
dem Kranken übergeben; Sanatorien, Heime, 
Heilstätten aller Art, auch die Hotels und Pen- 
sionate in Bädern und Sommerfrischen täten gut 
daran, ihre oft kümmerlichen Bibliotheken nach 
obigen Mustern zu vervollkommnen. 

B. La quer (Wiesbaden). 

Leopold Pulvermacher, Grundzüge der Be¬ 
handlung von Haut- und Geschlechts¬ 
krankheiten. Berlin-Wien 1920, Urban & 
Schwarzenberg, 8^, VIII, 249 S. 

Als eine willkommene Ergänzung der im 
gleichen Verlage erschienenen weitverbreiteten 
,,Therapie der Haut- und venerischen Krank¬ 
heiten“ von J. Schäffer ist Pulvermachers 
kürzeres Büchlein insofern zu begrüßen, als es 
besonders die an der Berliner Universitäts-Haut¬ 
klinik übliche dermato-venereologische Therapie 
berücksichtigt und auch sonst dem Praktiker 
durch übersichtliche alphabetische Anordnung 
und Berücksichtigung der allerneuesten Fort¬ 
schritte (insbesondere in der Syphilisbehandlung) 
zur raschen und zuverlässigen Orientierung ^ 
dienen kann. Iwan Bloch (Berlin). 


Referate. 


Uber ein neues Prinzip in der Chi¬ 
rurgie des Dickdarms und Mastdarms 
berichtet Prendl. Die Unsicherheit der 
Dickdarmnaht hatte Mikulicz schon 
im Jahre 1902 bewogen, die Dickdarm¬ 
resektion zweizeitig auszuführen. In 
dem ersten Akt wurde der meist durch 
einen Tumor verengerte Darmabschnitt 
vorgelagert, nachdem die zuführenden 
ernährenden Gefäße durchtrennt worden 
waren. Der zu- und abführende Schenkel 
wurden durch einige Nähte doppelflinten¬ 
artig aneinandergenäht und in der Folge¬ 
zeit, nachdem sich der erkrankte Darm¬ 


abschnitt abgestoßen hatte, der ent¬ 
standene Sporn mittels einer Sporn¬ 
quetsche beseitigt. Bei der zweiten Ope¬ 
ration wurde die hierdurch entstandene 
Darmlichtung wieder geschlossen. Dieses 
Verfahren wird heute nur noch in der 
Mehrzahl der Fälle von akutem Darm¬ 
verschluß geübt, da hier die Verhältnisse 
für eine direkte Darmnaht noch ungün¬ 
stiger liegen. Die Aussichten für die Naht 
des Dickdarms gestalten sich, im Gegen¬ 
sätze zu der Dünndarmnaht, besonders 
ungünstig wegen der Zartheit der Dick¬ 
darmwand, wegen des • breiten Mesen- 

52 



410 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


'November 


terialansatzes und wegen des derben In¬ 
halts des Dickdarms. Es war daher bis¬ 
her üblich, nach einer Dickdarmresektion 
den Stuhlgang durch Opiate für eine Reihe 
von Tagen anzuhalten, bis man, hoffen 
konnte, .daß die Darmwunden soweit 
geheilt waren, daß die Kotpassage die 
Darmnaht nicht mehr gefährdete. Trotz¬ 
dem' erfolgte in zahlreichen Fällen ein 
Nachgeben der Naht mit nachfolgender 
tödlicher Bauchfellentzündung. Prendl 
legte sich die Frage vor, ob es nicht mög¬ 
lich sei, die oben genannten Faktoren 
für die Dickdarmnaht günstiger zu ge¬ 
stalten. Es kam hierfür nur der dritte 
Punkt, die Beschaffenheit des Darm¬ 
inhalts, in Frage, und es galt zu unter¬ 
suchen, ob die Naht nicht vom Tage der 
Operation an so zuverlässig ist, daß man 
ihr die Passage des Darminhalts zumuten 
könne. Zu diesem Zweck mußte der 
Darminhalt möglichst dünnflüssig* ge¬ 
staltet werden. Prendl erreicht dieses 
durch die Verabfolgung von Rizinusöl, 
welches er vom Tage der Operation an 
gibt. Am Morgen der Operation erhält 
der Kranke, der zuvor in der üblichen 
Weise vorbereitet worden ist, 1—1% 
Löffel Rizinusöl, an jedem folgenden 
Tage bis zum elften Tage nach der Ope¬ 
ration einen halben Löffel. Das Ver¬ 
fahren hat sich außerordentlich bewährt, 
ln 17 Fällen, die nach dieser Methode 
behandelt wurden, erfolgte niemals eine 
Insuffizienz der Naht. Eine gewisse Vor- 
■^icht erfordert die Anlegung der Naht. 
Es muß die circulare Vereinigung der 
Darmlichtungen vorgenommen werden, 
um dem Darminhalt die Passage nach 
Möglichkeit zu erleichtern. Die geringe 
Verengerung, welche hierdurch entsteht, 
ist einer Knickung des Darmlumens, wie 
sie bei der seitlichen Vereinigung un¬ 
vermeidlich ist, vorzüziehen. Als Naht¬ 
methode wird eine doppelreihige Knopf¬ 
naht verwendet. Genäht wird mit Seide. 
Das Verfahren kommt zur Anwendung 
bei der Dickdarmresektion und der Mast¬ 
darmresektion. Bei der Coecumresektion 
erübrigt es sich, da hier der Darminhalt 
noch flüssig ist. Ebenso wie bei der Dick¬ 
darmresektion hat sich die Methode bei 
der Mastdarmresektion bewährt. Es ge¬ 
lang zwar nicht immer, das Auftreten 
einer Kotfistel zu vermeiden, doch war 
diese immer sehr klein und schloß sich 
in fast allen Fällen nach kurzer Zeit von 
selbst. 

Hayward. 

(Arch. f. klin. Chir. Bd. 114, Heft 2.) 


Einen Beitrag zur Bewertung des 
Blutbildes bei Fleckfieber veröffentlicht 
G. Zacharias. Die Untersuchung des 
Blutbildes bietet eine wesentliche Hilfe 
bei der Frühdiagnose der Krankheit. Im 
Gegensatz zü Typhus abdominalis be¬ 
steht beim Fleckfieber bei Ausschluß 
von Komplikationen eine polynucleäre 
Leukocytose auch bei niedrigen Gesamt- 
leukocytenzahlen. /Ein ^starker Leuko- 
cytenverbrauch führt zu dem Auftreten 
zahlreicher polynucleärer Zellen mit 
jugendlichen basophilen Granulationen. 
Möglicherweise sind diese Granula mit 
den von Prowazek beschriebenen Kör¬ 
perchen identisch. Hetsch (Berlin). 

(Beitr. z. Klin. d. Infekt.-Krankh. u. z.Immitn.- 
Forsch. 1919, Bd. 7, Heft 3—4.) / 

Die künstliche Frühgeburt nach der’ 
Zangemeisterschen Methode, über welche 
Grote ausführlich berichtet, kann auch 
in den Händen des praktischen Arztes 
sehr gute Erfolge erzielen, wenn folgende 
Forderungen mit ausreichender Sicher¬ 
heit erfüllt sind: genaueste Becken-’ 
messung — Zangemeistersche Vermes¬ 
ser —, möglichst genaue Bestimmung der 
Fruchtgröße, Kenntnis derjenigen Frucht¬ 
größen, welche bei verschiedenen Graden 
von Beckenenge eben noch eine günstige 
Prognose stellen und schließlich eine 
möglichst ungefährliche technische Durch¬ 
führung der Schwangerschaftsunter¬ 
brechung. Nach einer von Zange¬ 
meister empirisch gefundenen Kurve 
wird bei festgestellter Größe des Beckens 
und der Kindsgröße der Einleitungs¬ 
termin bestimmt. Die Schwangerschafts¬ 
unterbrechung erfolgt immer durch Me- 
treuryse — Zweifelsches Bläschen —; 
größere Ballons wurden nur sehr selten 
eingelegt. Bei 22 Frauen wurde die 
Frühgeburt eingeleitet; in zwei Fällen 
mußte die Entbindung durch Kaiser¬ 
schnitt erfolgen; außer einem mace- 
rierten Kinde wurden die anderen lebend 
geboren. Pu 1 v e fm a c h e r (Charlottenburg). 

(Mschr. f. Geburtsh., Juli 1920.) 

Die Verordnung von Kal. hypermaii- 
ganicum bei Furunkeln und Karbunkeln 
empfiehlt Fries - Göttingen. Schorn 
früher hat Wederhake eine 10%ige 
wässerige ,,Lösung'' oder besser Auf¬ 
schwemmung von Kal. hypermanganicum 
angewendet. Auch durch bakteriologische 
Untersuchungen ist die Zweckmäßigkeit 
dieser Behandlungsart erhärtet, da sich 
Kal. hypermanganicum als Specifictim 
gegen Staphylokokken erwies. Letztere 




November 


Die Therapie der Gegenwart'1920 


411 


sind in der Regel die Erreger von Furunkel 
und Karbunkel, welche man dement¬ 
sprechend als „Staphylomykosis circum¬ 
scripta cutis‘‘ ansprechen kann. Ganz 
beginnende Furunkel lassen sich durch 
Bestreichen mit der Lösung, wobei auch 
die umgebende Haut miteinbezogen wird, 
kupieren. Hat sich bereits eine gelbe 
Kuppe gebildet,, so wird diese mittels 
Pinzette abgehoben und in die ent¬ 
stehende Öffnung mit einem in einen 
Knopf endigenden Glasstäbchen, wie es 
in der Augenheilkunde gebräuchlich ist, 
die desinfizierende Lösung eingebracht. 
Bei größeren Karbunkeln kann man rein 
chirurgisch Vorgehen, einen Kreuzschnitt 
anlegen, die vier Hautlappen zurück¬ 
präparieren und den ganzen nekrotischen 
Herd wie eine Geschwulst exstirpieren. 
Hierbei wird es ohne emipfindliche Blu¬ 
tungen unter Umständen nicht abgehen. 
Bei solchen kann man aber auch mit 
gutem Erfolge, besonders bei Gesichts- 
fürunkelri und -Karbunkeln, mehr kon¬ 
servativ Vorgehen. Es genügt die Her¬ 
stellung einer oder mehrerer kleiner Öff¬ 
nungen, durch welche ein- oder mehrmals 
täglich die Kal. permanganat-Lösung ein¬ 
gebracht wird. Es stoßen sich dann 
spontan nekrotische Pfröpfe ab, die neue 
Wege zum Eindringen der desinfizieren- 
Lösung bieten. Hierbei wird zugleich, 
was für das Gesicht nicht unwichtig er¬ 
scheint, ein kosmetisch günstiger Erfolg 
erzielt. Bosselmann (Berlin). 

(D. m. W. J920, Nr. 33.) 

Als einfache und erfolgreiche Behand¬ 
lungsweise der Furunkulose des Säuglings 
empfiehlt St. Engel prolongierte heiße 
Bäder. Die Kinder werden zehn Minuten 
in ein Bad gebracht, das durch Zugießen 
von heißem Wasser auf 40—42^ erwärmt 
wird.. Die Bäder werden anfangs täglich 
bis zur Heilung wiederholt. Bei Kindern 
im ersten Vierteljahr soll die Temperatur 
der Bäder, die dann zweckmäßig kürzere 
Dauer haben, nicht über 40^ hinausgehen. 

Beachtenswert ist die Mitteilung von 
Cassel zu dieser therapeutischen Ma߬ 
nahme. (B. kl. W. Nr. 36.) Er weist auf 
die dringende Notwendigkeit hin, die 
gebrauchte Bett- und Leibwäsche, auch 
das Badetuch der Kinder, eine Stunde 
lang im. Kochkessel mit Seifenwasser 
auszukochen, um so durch Abtötung der 
Keime die Reinfektion des Patienten zu 
verhindern. Ferner soll die wasserdichte 
Unterlage, die ihrem eigentlichen Zweck 
entsprechend, das Durchsickern von 


Feuchtigkeit in Bettbezüge und Matratzen 
verhindern soll, nicht zu Einwicklungen 
mißbraucht werden, das heißt, sie soll 
nur die Größe 40:35 cm haben. So reicht 
sie an der Seite des Körpers bis zur spina 
ant. sup. des Beckens hinauf und läßt 
die Vorderseite des Bauches frei, es kann' 
also die Feuchtigkeit von Schweiß, Harn 
und Stuhl verdampfen. Ist die Unterlage 
zu groß, wird die ganze mittlere Partie 
des Säuglings verhüllt, so zersetzt sich 
der nicht verdunstete Harn, es entwickeln 
sich reizende Stoffe, die Haut wird ma- 
ceriert, und die Möglichkeit zur Infektion 
ist da. Aus demselben Grunde sind die 
Windelhosen aus Gummistoff bei älteren 
Säuglingen und Kindern verwerflich. Sie 
werden entbehrlich bei frühzeitiger Er¬ 
ziehung der Kinder zur Stubenreinheit.. 

(B. kl. W. 1920, Nr. 26.) Feuerhack. 

Uber Diagnose und Behandlung der 
Gallenblasenerkrankungen sprach Prof. 
Max Einhorn (New York) im Rahmen 
der Karlsbader Fortbildungsvorträge. Die 
korrekte Diagnose eines Gallenblasen¬ 
leidens ist nicht immer leicht, da die 
,,charakteristischen“ Symptome manch¬ 
mal irreführend sind. Fast alle Erkran¬ 
kungen der Gallenblase sind mit der Frage 
der Gallensteine eng verknüpft. Ent¬ 
weder prädisponiert die erkrankte Blase 
zur Steinbildung oder die Steine sind 
die Ursache des pathologischen Zustandes. 
Nach Naunyn, Aschoff und Bac- 
m ei st er entstehen Gallensteine durch 
bakterielle Infektion; die beiden letzteren 
Autoren nehmen an, daß sich gewisse 
Cholesterinsteine auch infolge von Stag¬ 
nation der Galle bilden. 10% aller an 
Erwachsenen vorgenommenen Obduk¬ 
tionen zeigen Gallensteine, ungefähr die 
Hälfte dieser Fälle hat, wie die Kliniker 
annehmen, Gallenbeschwerden gehabt. 
Nach Kehr ist nur bei 1 % der Gallen¬ 
steinträger ein operativer Eingriff not¬ 
wendig. Andere Chirurgen wollen das 
Indikationsgebiet .für Gallensteinopera¬ 
tionen sogar auf Fälle erweitern, welche 
nicht die charakteristischen Symptome 
zeigen. Für praktische Zwecke teilt Ein¬ 
horn die Gallenblasenaffektionen in vier 
Gruppen ein, als deren erste er die 
akute Gallenblasenentzündung mit und 
ohne Gelbsucht nennt. Sie ist durch 
Völle und Unbehaglichkeitsgefühl im 
rechten Hypochondrium, durch Anorexie, 
manchmal durch leichten Ikterus und 
durch mäßige, einige Tage währende 
Temperatursteigerung gekennzeichnet. 

52 * 





412 Die Therapie der 


, Die chronische oder wiederkehrende 
Gallenblasenentzündung zeigt dieselben 
Symptome, jedoch an Intensität und 
Dauer zunehmend. Manchmal begegnet 
man kolikartigen Schmerzen, welche nach 
hinten und oben ausstrahlen. Ein ähn¬ 
liches Bild verursachen Steine im Ductus 
cysticus, die Koliken treten hier in den 
Vordergrund. Befinden sich Steine im 
Ductus choledochus oder Ductus com¬ 
munis, so ist der je nach Vollständigkeit 
der Obstruktion an Stärke variierende 
Ikterus das Hauptsymptom. Das Em¬ 
pyem der Gallenblase weist eine unregel¬ 
mäßige, septische Temperatur, heftige 
Schmerzen im rechten Hypochondrium, 
Steifheit des M. rectus abdominis dexter, 
Leberschwellung und Schmerzhaftigkeit 
der ganzen Region auf. Das Blutbild 
zeigt Leukocytose mit vielen Polynu- 
clearen, im ganzen die Erscheinungen 
der Septikämie. Gruppe IV umfaßt die 
bösartigen Erkrankungen der Gallen¬ 
blase. Der Gallenblasenkrebs kann längere 
Zeit symptomlos bleiben, erst die Invol- 
vierung der Gallengänge erzeugt Ikterus. 
Therapeutisch lassen sich die Gallen¬ 
blasenerkrankungen in akute und chroni¬ 
sche einteilen. Akute Cholecystitis wird 
mit heißen Umschlägen, Opiaten, even¬ 
tuell mit Morphium oder Kodein-Bella- 
donnasuppositorien behandelt. Heiße 
Getränke und Irrigationen sind angezeigt. 
Bei schweren toxischen Erscheinungen 
(Perforationsgefahr) ist der Chirurg her¬ 
anzuziehen. Bei den chronischen Formen 
ist die Stagnation der Galle durch Trink¬ 
kuren zu bekämpfen, ferner der Infektion 
mit Hilfe von Urotropin, Salicyl und 
Aspirin (Darmspülungen) vorzubeugen. 
Einhorn hat gute Erfolge mit Glycerin 
(mit Bicarbonat 50:8 auf 150 Wasser 
kombiniert) gesehen. Die Anwendung 
von Olivenöl zwecks Abgangs von Steinen 
erscheint ziemlich problematisch. Die 
chirurgische Indikation besteht bei schwe- ‘ 
ren, wiederkehrenden Anfällen, ferner bei 
milden Fällen mit Leukocytose (die Poly- 
nuclearen vorherrschend), schließlich bei 
chronischem Ikterus. Kontraindikationen 
sind Herz- oder Nierenleiden, Diabetes 
mellitus, allgemeine Schwäche. o. R. 

Neue Anschauungen über Ikterus, die 
■großenteils auf seinen eigenen For¬ 
schungen beruhen, entwickelte Prof. 
Heyermanns van der Bergh (Ut¬ 
recht) in einem in Karlsbad gehaltenen 
Fortbildungsvortrag. Nicht in allen Fällen 
von gelblicher Verfärbung der Haut darf 


Gegenwart 1920 November 


man von Ikterus sprechen. Denn maach- 
mal wird diese Farbe von anderen Stoffen 
veranlaßt; so vor allem von lipochromen 
Pigmenten, dem sogenannten Lutein, das 
hauptsächlich aus der Nahrung stammt. 
Auch das zuerst von Schümm im Serun> 
bei der perniziösen Anämie nachgewiesene 
Hämatin kann zur abnormen Hautfarbe 
beitragen. Eine auf der Ehrlichschen 
Reaktion beruhende Methode des Bili¬ 
rubinnachweises und quantitative Schät¬ 
zung iri Blutserum ist imstande, einen er¬ 
höhten Gallenfarbstoff im Blute nach¬ 
zuweisen und damit die Diagnose sicher¬ 
zustellen. Mittels dieser Methode ist es 
möglich, in Fällen von Bauchschmerzen 
zweifelhafter Art in anfallsfreier Zeit und 
während des Anfalles einen Unterschied 
im Bilirubingehalt nachzuweisen und da-, 
durch die Diagnose sicherzustellen. Es 
hat sich herausgestellt, daß das Blut¬ 
serum bei der perniziösen Anämie — 
wenigstens wenn sich nicht eine Re¬ 
mission vorfindet, also in den Stadien 
des übernormalen Blutkörperzerfalles — 
eine Erhöhung des Bilirubinspiegels im 
Blute besteht. Bei allen sekundären 
Anämien, insbesondere beim Carcinom 
ist der Serumbilirubingehalt erniedrigt. 
In diesem Unterschiede besitzen wir ein 
außerordentlich wichtiges differential¬ 
diagnostisches Merkmal zwischen diesen 
beiden Gruppen von Krankheitszuständen. 
Es hat sich weiter herausgestellt, daß es 
mittels der erwähnten Methode leicht ge¬ 
lingt, das im Blute kreisende Bilirubni 
des früher hämolytisch genannten Ikterus 
(der heute wohl besser dynamischer Ik¬ 
terus genannt werden dürfte) von dem 
Bilirubin des Stauungsikterus zu unter¬ 
scheiden. Es werden einige aus diesem 
Verhalten hervorgehende praktisch-kli¬ 
nische Folgerungen .sowie die Auffassung 
über das Zustandekommen der physio¬ 
logischen Bilirubinämie und des dyna¬ 
mischen Ikterus besprochen. 0. R. 

Über Kohlensäurebäder bei Er¬ 
krankungen der Kreislaufsorgane sprach 
Professor Pässler (Dresden) gelegentlich 
eines Fortbildungsvortrags in Karlsbad. 
Die Balneotherapie der Kreislauf¬ 
störungen ist kein unbestrittenes Gebiet 
der Heilkunde, wird sie doch selbst in 
neuester Zeit noch ’ von manchen als 
v/irkungslos bei Herzkranken ganz ab¬ 
gelehnt, wie dies schließlich bei allen 
zunächst nur empirisch gefundenen Heil¬ 
methoden der Fall ist. Anderseits führt 
überschwengliche Fachsehung leicht zu 





413 


Novembet Die Therapie der 


falscher Indikationsstellung und schä¬ 
digt damit das Zutrauen zur Methode. 
Ehe eine wissenschaftliche Kritik mög¬ 
lich ist, muß man prüfen, ob und welche 
tatsächlichen FeststeHungem als Unter¬ 
lage bisher vorhanderi sind. Dabei 
ergibt sich, daß Bäder, und namentlich 
die salzhaltigen C 02 -Bäder, zweifellos 
Veränderungen des Kreislaufs hervorzu¬ 
bringen vermögen. Die uns bis jetzt 
bekannten analysierbaren und me߬ 
baren Veränderungen erlauben aber noch 
nicht, eine bestimmte Erklärung dafür 
zu geben, auf welchem Wege die so oft 
beobachteten großen Heilwirkungen einer 
Badekur zustande kommen. Die früher 
häufig gemachte Annahme, daß die Heil¬ 
wirkung der COo-Bäder durch Herz¬ 
übung oder Herzspannung zu er¬ 
klären sind, ist unbewiesen und unbe¬ 
friedigend. Die Heilwirkung beruht viel¬ 
mehr darauf, daß das einzelne Bad 
durch die Gesamtheit seiner Kreislaufs¬ 
wirkung eine wenn auch zunächst geringe 
und nur ganz vorübergehende Ver¬ 
besserung der Blutverteilung und Strö¬ 
mungsverhältnisse herbeiführt und da¬ 
durch den Circulus- vitiosus durchbricht, 
welcher bei Entstehung jeder Herz¬ 
insuffizienz sofort entsteht, indem das 
insuffiziente Herz auch die eigene Durch¬ 
blutung nicht mehr in normaler Weise 
gewährleistet. Aus dieser Auffassung 
von der Theorie der Badewirkung bei 
Herzleiden ergibt sich auch die Indi¬ 
kationsstellung. Sie erstreckt sich da¬ 
nach auf diejenigen Zustände, welche 
einerseits mit Herzinsuffizienz verbunden 
sind, anderseits keine Überanstrengung 
des Herzens durch die mit jedem Bade 
verbundenen Anforderungen an das Herz 
bedingen. 0. R. 

Die von Li ns er eingeführte Lues¬ 
behandlung mit Salvarsan-Sublimat 
hat den Nachteil, daß dem Organismus nur 
eine recht geringe Menge Hg (pro Kur zirka 
1,0 g) zugeführt wird. Es ist infolgedessen 
in verschiedenen Fällen nach einigen 
Monaten zu klinischen und serologischen 
Rezidiven gekommen. Versuche miL 
höheren Sublimatdosen führten bei fort¬ 
laufender Behandlung zu solchen Ver¬ 
härtungen der Venen, daß eine solche Kur 
nicht durchführbar war. Bruck und 
Becker haben an Stelle des Sublimats 
ein lösliches Hg-Präparat gewählt, das 
neben lokal guter Verträglichkeit die 
Einführung relativ hoher Hg-Dosen er¬ 
möglicht, das NovasuroK Es handelt sich 


Gegenwart 1920 


um ein Doppelsalz mit einem Gehalte 
von 33,9% Hg, das in Ampullen zu 2 ccm 
der 10%igen Lösung = 0,068 Hg in den 
Handel kommt. Die Technik der Be¬ 
handlung ist derart, daß. nach der üb¬ 
lichen Lösung der zu verwendenden Neo- 
salvarsandose diese in die Glasspritze auf¬ 
gezogen und das Novasurol nachgesogen 
wird. Nachdem man uingeschüttelt und 
eine halbe Minute gewartet hat, injiziert 
man intravenös, wobei die grünliche 
Farbe der Mischung das in die Spritze 
einströmende Blut nicht verdeckt. — 
Verfasser haben in ^keinem ihrer 59 so 
behandelten Luesfälle eine Schädigung 
der Venenwand noch sonstige Zwischen¬ 
fälle feststellen können. Die klinischen 
Erscheinungen gingen rapid zurück, ebenso 
war die serologische Beeinflussung durch¬ 
aus günstig Bei Männern wurden im 
ganzen 4 g Neosalvarsan + 0,4—0,5 g 
Hg, bei Frauen 3—3,5 g Neosalvarsan 
-f 0,4 g Hg gegeben. . 

Kamnitzer (Berlin). 

(M. m. W. 1920, Nr. 31.) 

Gegen den Bacillus des weichen 
Schankers hat R een stier na ein Anti¬ 
streptokokkenserum durch intravenöse In¬ 
jektionen von abgetöteten und lebenden 
Streptobacillenkulturen bei Schafböcken 
hergestellt und damit zirka 100 Fälle 
von Schankerbubonen behandelt. Dabei 
zeigte sich, daß nach intramuskulärer 
Injektion von 10 ccm Serum eine, ent¬ 
schiedene Besserung mit ausgesprochener 
Abnahme von Schmerz, Schwellung und 
Rötung eintrat. Eine Steigerung der 
Wirkung erzielte Verfasser bei Zusatz 
einer bestimmten Menge abgetöteter 
temperaturerhöhender Bakterien (z. B. 
Typhusbacillen) zum Serum. Sämtliche 
mit diesem Präparat behandelten Fälle 
von vorher nicht geschnittenen oder auf¬ 
gebrochenen Bubonen sind in ganz un¬ 
gewöhnlich kurzer Zeit — durchschnitt¬ 
lich etwas über eine Woche — zur Hei¬ 
lung gelangt —-bis auf 7, bei denen bei 
genauer Untersuchung im Punktionseiter 
Staphylokokken festgestellt wurden. In 
der Regel genügten zwei Injektionen m.it 
vier bis fünf Tagen Zwischenzeit. In 
keinem Fall kann es zum Rezidiv. Das 
weiche Schankergeschwür wird durch das 
Serumpräparat gleichfalls sehr günstig 
beeinflußt, doch empfiehlt es sich, es 
gleichzeitig durch Wegkratzen unter¬ 
minierter Ränder, Kupfersalbe und der¬ 
gleichen zu behandeln. Die Ungelegen- 
heiten bei der Serumbehandlung sind: 



414 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Novemb^er 


Schüttelfrost und hohes Fieber nach der 
Injektion, beträchtliche, einige Tage fort¬ 
bestehende Empfindlichkeit an der In¬ 
jektionsstelle (Glutäalmuskulatur) und 
bisweilen vorübergehende Empfindlich¬ 
keit in regionären Leistenlymphdrüsen. 

Kamnitzer (Berlin). 

(M.m. W. 1920, Nr. 31.) 

Eine Übersicht über den jetzigen Stand 
der Strahlenbehandlung in der Münchener 
Frauenklinik (Prof. Dö der lein) gab 
Seuffert im Cyclus der Karlbader Fort¬ 
bildungsvorträge. D%s erste Frauenleiden, 
das mit Erfolg mit Röntgenstrahlen ange¬ 
gangen wurde, waren die Blutungen in 
den Wechseljahren. Mit geringer Strah¬ 
lenintensität sind diese mit einigen Be¬ 
strahlungen zu heilen. Blutungen jün¬ 
gerer Frauen, Blutungen bei Myomen 
erfordern eine stärkere Strahlenmenge. 
Auch hier ist ein Erfolg der Bestrahlung 
vollkommen sicher. Selbst bei solchen 
Myomen, die Kompressionserscheinungen 
auslösen, kann man durch Bestrahlung 
Erfolge erreichen, die sich bereits nach 
der ersten Bestrahlung, lange bevor noch 
die Blutungen aufhören, im Verschwinden 
der Kompressionserscheinungen mani¬ 
festieren. Die besten Erfolge zeitigt die 
Bestrahlung bei der Dysmenorrhöe. 
Während früher eine Totalexstirpation 
des Uterus und der Ovarien das einzige 
Hilfsmittel darstellte, um die Frauen von 
ihren Schm-erzen zu befreien, gelingt es 
jetzt durch Bestrahlung eine Oligomenor- 
rhöe zu erzielen, beziehungsweise soweit 
zu kommen, daß die Blutungen voll¬ 
kommen aufhören. Selbst wenn die 
Blutung wiederkehrt, treten keine 
Schmerzen auf. Mangelhaft oder gar 
keine Erfolge erzielt man dann, wenn es 
sich um cystische Ovarialtumoren oder 
entzündliche Adnextumoren handelt. Bei 
Carcinomen muß man eine hohe Dosis 
wählen und das ganze erkrankte Gebiet 
unter die Carcinomdosis stellen. Würde 
man nur den primären Herd bestrahlen, 
so würde dies nur einen Reiz für das 
Wachstum des Carcinoms bilden und das 
Carcinom selbst rapid weiter um sich 


greifen. Daher wird auch durch die hohe 
Dosis jenes Gebiet unmittelbar betroffen, 
in welchem sich das Rectum befindet, 
und dieser Umstand stellt eben eine 
Komplikation dar, die aber in Anbe¬ 
tracht der Lebehsgefahr, welche durch 
ein weiteres Vordringen des Carcinoms 
bedingt ist, außer acht gelassen werden 
muß. Die Schädigungen des Rectums 
(Geschwüre, Fisteln), welche sich infolge 
der Strahlentherapie zu 'Anfang ergaben, 
betrugen 9 %, während bei der Operation 
10 % zu verzeichnen waren. Infolge der 
verbesserten Methoden aber sind seit 
zwei Jahren an der Münchener Klinik 
überhaupt keine Schädigungen des Rec¬ 
tums zu verzeichnen gewesen. Noch be¬ 
deutungsvoller aber ist das fast voll¬ 
kommene Fehlen einer akuten Lebens¬ 
gefahr, während doch bei Operationen die 
primäre Mortalität 10—15 % betrug. 
Auch' inoperable Carcinome muß man un¬ 
bedingt bestrahlen, da insofern eine 
Besserung eintritt, als die Blutungen, 
Eiterungen und Schmerzen aufhören. 
Aus diesen Gründen werden an der medi¬ 
zinischen Klinik Myome überhaupt nicht, 
Carcinome nur in den seltensten Fällen 
operiert. Seit dem Jahre 1913 gelangten 
über 1000 Fälle von Carcinom zur Beob¬ 
achtung. Von solchen Fällen, die durch 
Operation überhaupt nicht hätten ge¬ 
rettet werden können, sind noch 14 % 
durch Bestrahlung dem Leben erhalten 
wordjen und seit fünf Jahren beschwerde¬ 
frei geblieben. Gut operable Carcinome, 
welche in 40 % der Fälle durch Operation 
erhalten bleiben, wurden in 50 % durch 
Bestrahlung geheilt. Auch Carcinome 
der Mamma und des Rectums kamen zur 
Bestrahlung, 4 Mammacarcinome wurden 
dauernd durch Radium geheilt, zwei hier¬ 
von, bei denen die Axillardrüsen schon 
sehr stark infiltriert waren. ' Von zwei 
Rectumcarcinomen wurde das eine, 
welches für den eingeführten Finger nicht 
mehr passierbar war, nach einer zwei¬ 
maligen Radiumeinlage dauernd geheilt. 
— Auch Pruritus vulvae und Bauchfell¬ 
tuberkulose sind dankbare Objekte für 
die Strahlentherapie. 0. R. 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Zur Anwendung des Trypaflavins bei septischen Aborten. 

Von Dr. A. Mahlo, Hamburg. 

Die gute Wirkung des Trypaflavin bei I seine Anwendung bei septischen Aborten 
septischen Prozessen ist bekannt. Ich j hinweisen. Wir leben augenblicklich in 
möchte mit diesen Zeilen besonders' auf [ einer Epidemie von Aborten. Die Scham- 




November 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


415 


losigkeit, mit der die Abtreibung öffent¬ 
lich betrieben wird, kann kaum über¬ 
boten werden. Es gibt hier Frauen, die 
gehen wirklich hausieren und bielen sich 
als Abtreiberin den Frauen an. Seit der 
Einführung eines pilzartigen Stiftes haben 
viele, besonders manuell geschickte 
Frauen, die Möglichkeit, jederzeit selbst 
abzutreiben. Hand in Hand damit 
steigen die septischen Aborte. Mir selbst 
gehen im Monat etwa 30^—35 Aborte 
durch die Finger, die meisten sind einge¬ 
leitet, sei es durch einen Fall, oder durch 
Spritzen, durch Stift, oder sonstwie. Etwa 
5 % verlaufen davon septisch. Ein Be¬ 
weis, wie gut die Frauen mit dem Ab¬ 
treiben jetzt umzugehen wissen. Seit 
einem halben Jahre verwende ich nun 


bei allen septischen Aborten Trypaflavin 
intravenös. Meine Erfahrungen waren 
über Erwarten gut. Ich habe nach zwei 
bis drei Spritzen von 0,025/5 ccm Abfall 
des Fiebers, Nachlassen der Schüttelfröste 
regelmäßig gesehen. Das Anwendungs¬ 
gebiet habe ich in der Folgezeit erweitert. 
Ich spritze jetzt bei jedem Abort, der 
verdächtig riecht, gleich im Anschlüsse 
an die Ausräumung mit der Curette eine 
Ampulle Trypaflavin ein. Seitdem ich 
dies mache, ich spreche von einer Er¬ 
fahrung von etwa 20 Fällen, habe ich 
keinen ‘ septischen Abort' mehr gesehen. 
Meines Erachtens gehört in die Tasche 
eines jeden Arztes, der viel mit Abort¬ 
ausräumungen zu tun hat, eine 10-ccm- 
Spritze und Trypaflayinampullen. 


Anaesthesin als entzündungswidriges Mittel. 

Von Geh. San.-Rat Dr. P. Gast, Berlin. 


Bü einem Falle von Stomatitis und 
Glossitis, bei dem die stark geschwollene 
Zunge das Sprechen und Schlucken aufs 
äußerste behinderte, trat in wenigen 
Minuten erstaunliche Besserung der Be¬ 
schwerden durch Anwendung von An- 


ästhesin ein. Ein halbes Gramm wurde 
in einem Eßlöffel Olivenöl verrührt und 
zum Bepinseln der Zunge verwendet. 
Der Rest wurde allmählich verschluckt. 
Der. Erfolg war ein nachhaltiger. 


Solarson bei Herzkrankheiten. 

Von Dr. Walter Cohn, Berlin. 


Außerordentlich günstige Erfolge, die 
ich in mehreren Fällen von Herzkrank¬ 
heiten mit Hilfe des Arsenpräparats Sol¬ 
arson erzielte, veranlassen mich zu deren 
Bekanntgabe, zugleich als Aufforde¬ 
rung einer Nachprüfung in ähnlichen 
Fällen. 

Bei den Arsenpräparaten, die wir bei 
Infektionskrankheiten gegen deren Er¬ 
reger verwenden, sind wir uns bewußt, 
daß der chemischen Konstitution eine 
besondere Bedeutung zukommt. Bei den 
Infektionskrankheiten können wir die 
verschiedenen Präparate rm Laboratorium 
nach ihrer Wirksamkeit miteinander ver¬ 
gleichen und verfügen so über eine Me߬ 
methode, nach der wir bis zu einem ge¬ 
wissen Grade auch für die klinische Ver¬ 
wendung uns ein Urteil über die mehr 
oder mindergroße Wirksamkeit bilden 
können. Wir wissen heute, daß es keines¬ 
wegs, z. B. bei der Behandlung der Lues 
mit Arsen, nur darauf ankommt, das¬ 
selbe in möglichst verträglicher Form 
und etwa in möglichst großen Dosen ein- 
zuführen, sondern daß die Form und 
die chemische Bindung, mit der das 


Arsen dem Körper geboten wird, von 
allergrößtem Einfluß auf dessen Wirk¬ 
samkeit ist. — Auffallenderweise haben 
sich aber die gleichen Vorstellungen bei 
der auch sonst so häufig geübten Arsen¬ 
therapie bisher nicht durchgerungen. Wir 
sind da meines Erachtens noch zu sehr 
gewohnt, alle Arsenpräparate, so wie sie 
nur bekömmlich sind, mehr oder weniger 
gleichzusetzen. Wohl hat eine ganze 
Anzahl von Forschern sich bemüht, Licht 
in die Art der Arsenwirkung zu bringen. 
Es hat sich dabei aber meines Wissens 
nie darum gehandelt, Arsenpräparate ver¬ 
schiedener Konstitution miteinander zu 
vergleichen, sondern es sind meistens die 
Untersuchungen mit ein und demselben 
Präparat durchgeführt worden. So ar¬ 
beitete Bettmann mit Acidum arseni- 
cosum an Kaninchen, Kuhn und Alden¬ 
hoven an Meerschweinchen mit Atoxyl. 
Auf den Chemismus der Wirkung ist 
meines Wissens bisher nur Heffter in 
seinen Untersuchungen über die Wirkung 
der Kakodylate eingegangen. Er hat 
gezeigt, daß Magendarmschleimhaut, 
Muskeln, Nieren und Leber die einge- 



416 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


• November 


führte Kakodylsäure zu Kakodyloxyd 
oder Kakodyl zu reduzieren vermögen, 
daß aber höchstwahrscheinlich diese bei¬ 
den Produkte für die Therapie unwirksam 
bleiben und daß beim Kakodyl nur das 
Arsen zur Wirkung kommt, das im 
Körper als arsenige Säure beziehungs¬ 
weise als Arsensäure abgespalten wird. 

Solche Gedanken drängen sich mir 
aus' riieinen praktischen Erfahrungen ge¬ 
radezu auf. Wir haben wohl eine ganze 
Reihe gutverträglicher Arsenpräparate, 
die alle eine gewisse Wirkung zeigen, aber 
die Unterschiede in dem Grade der Wirk¬ 
samkeit sind doch ganz gewaltig. Beim 
Kakodyl können wir uns nach Heffters 
Untersuchungen eine Vorstellung machen, 
warum die Wirkung so unsicher ist. Es 
wird eben nur ein kleiner Teil des Prä¬ 
parats gespalten und für die beabsichtigte 
Therapie ausgenutzt. Am besten wirken 
meiner Erfahrungnach die Arsenpräparate 
Solarson und Elarson, die ihrer Konsti¬ 
tution nach einer besonderen Klasse von 
Arsenverbindungen angehören, die be¬ 
kanntlich von Emil Fischer entdeckt 
sind. Ich habe jedoch den Eindruck, daß 
das Solarson, das zudem eine subcutane 
Einspritzung ermöglicht, in seiner Kon¬ 
stitution noch vorteilhafter ist als das 
auch schon recht gute Elarson. Mag sein, 
daß schon die perorale Zuführung beim 
Solarson genügt, es überlegener erscheinen 
zu lassen. Erklärt doch Kunkel den 
Unterschied in der Wirkung oraler und 
SLibcutaner Arsentherapie damit, daß eine 
gewisse Menge Arsen in den unteren 
Darmabschnitten durch Schwefelwasser¬ 
stoff als Schwefelarsen unwirksam ge¬ 
macht wird, und E. v. Hoffmann hat 
dieses Schwefelarsen ja auch tatsächlich 
nachgewiesen. — Jedenfalls muß ich be¬ 
tonen, daß ich gleich gute Resultate wie 
mit dem Solarson mit keinem anderen 
Präparat erzielt habe und deshalb über¬ 
zeugt bin, daß dessen Konstitution von 
wesentlichem Einfluß bei der Wirkung 
ist. Geradezu frappierend war diese bei 
etwa zehn Fällen von Myokarditis und 
Herzmuskelschwäche, von denen ich drei 
gekürzte Krankengeschichten hier an¬ 
schließe: 

Fall 1: Patientin K-, 22 Jahre alt, stark 
anämisch, schwerer Gelenkrheumatismus vor 
einigen Jahren, klagt über heftige Herzbeschwer¬ 
den, Schwindel und Ohnmachtsanfälle. Die 


Untersuchung ergab blasse Schleimhäute, Puls 
schlaff ohne elastischen Druck, Herztöne unrein, 
Herztätigkeit unregelmäßig, Patientin war arbeits¬ 
unfähig. — Nach 16 Spritzen fühlt sich Patientin 
bedeutend,wohler. Puls elastisch, Herztöne reiner. 
Am Ende der Kur, nach 24 Spritzen kaum noch 
Erscheinungen am Herzen zu merken. Patientin 
arbeitet in einer • Druckerei eine ziemlich schwere 
Arbeit. — Kur datiert sechs Monate zurück, bis 
heute Wohlbefinden und Arbeitsfähigkeit. 

Fall 2: Fräulein Sch. klagt über heftige Herz¬ 
stiche, ungemeine Schwäche, kann kaum die 
Treppen zu ihrer Wohnung herauf steigen. Puls 
klein, Herztöne unrein. Am Ende der Kur Puls 
elastisch, Herztätigkeit etwas schneller als- normal. 
Herztöne völlig rein. Patientin ist wieder im¬ 
stande, ihre Wirtschaft zu' besorgen und ohne 
Beschwerden Treppen zu steigen. 

Fäll 3: Drogist K., blasser, etwas auf geschwom¬ 
mener Patient mit matter Herztätigkeit, klagt 
über sehr große Schwäche, Appetitlosigkeit und 
öftere Ohnmachtsanfälle. Puls klein unregelmäßig 
und ohne Elastizität. Herztöne dumpf, Herz 
nach links um einen Finger breit erweitert. — 
Nach 24 Spritzen Solarson ist Patient fast völlig 
hergestellt. Puls regelmäßig und voll, hat guten 
Appetit, an Gewicht zugenommen und fühlt sich 
seelisch und körperlich wie neu geboren. 

Es ist nun die Frage, worauf die 
frappante Wirkung des Solarson in diesen 
und zahlreichen analogen Fällen von 
Herzschwäche zurückzuführen ist. Eine 
Einwirkung auf den Herzmuskel selbst, 
wie sie Digitalis und teilweise Coffein 
ausübt, ist ja nicht anzunehmen. Es ist 
vielmehr wahrscheinlich, daß die Stär¬ 
kung des .Herzmuskels indirekt zustande 
kommt, indem der Tonus der die Herz¬ 
muskelarbeit regulierenden Nerven ge¬ 
stärkt wird. Außerdem ist die Einwirkung 
auf die psychischen Faktoren, auf die 
allgemeine Fühllage, in Betracht zu ziehen, 
die mehr oder weniger allen Arsenpräpa¬ 
raten zukommt und die beim Solarson 
ganz besonders ausgesprochen ist. Von 
einer Hebung des Kraftgefühls profitieren 
sicherlich auch die Herznerven und die 
Herzkraft. Schließlich ist zu bedenken, 
daß durch die Solarsonwirkung die Hem¬ 
mungen der Angstgefühle und krankhaften 
Vorstellungen fortfallen, welche vorher 
ungünstig auf die Herzarbeit eingewirkt 
haben. 

In der deutschen Literatur ist die 
Herzwirkung des Arsens nirgends er¬ 
wähnt, dagegen finde ich bei dem eng¬ 
lischen Kliniker Gibson^) die Be¬ 
merkung, daß Arsen ein vorzügliches 
Herztonicum ist. 

Die nervösen Erkrankungen des Herzens, 
übersetzt von Heller-Volhard, S. 48. 


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Inhaltsverzeichnis umstehend! 


Einbanddecke 







Therapie der Gegenwart. Anzeigen. 


12. Heft 


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Gehe & Co., A.-O., Dresden-N, betr.: „Maltosellol“. —ö. Pohl, Schönbautn Bz.Danzig, betr.; „Gelopol“. —Antigallinwerk, Friedrichs* 
hagen i. d. Mark, über: „Dr. med. Leichen’s Moorextrakt (Moorlauge)“ und der Verlagsbuchhandlung Urban & Schwarzenberg, 
, Berlin N24 und Wien, über das „Wiener Archiv für innere Medizin“. 













Die Therapie der Gegenwart 


1920 


herausgegeben von üeh, Med.-Rat Prof. Dr. ö. Klemperer 
in Berlin. 


Dezember 


Nachdruck verboten. 

Wesen und Behandlung der dauernden vasculären Hypertonie^). 

Von Prof. Dr. Egmont Münzer, Prag. 


Der normale maximale Blutdruck des 
•erwachsenen Menschen, das heißt der 
Druck, bei welchem der Puls in der Arteria 
radialis nicht mehr getastet wird, beträgt 
nach Riva-Rocci gemessen, 110—140 
mm H"g. Er kommt zustande durch den 
Widerstand, den das Blut beim Ein¬ 
strömen in das Capillarsystem findet; 
wir können diese Tatsache auch anders 
-ausdrücken und sagen, der Blutdruck 
ist die Folge des Widerstandes, 
er ist eine Funktion des Wider¬ 
standes. . Den Beweis hierfür bieten 
uns' die Messungen des Blutdrucks an 
verschiedenen Stellen des Gefäßsystems. 
Wenn wir den Blutdruck bei einem Men¬ 
schen gleichzeitig nach Riva-Rocci am 
Oberarm und nach Gärtner am Finger 
bestimmen, finden wir fast die gleichen 
Zahlen, oder mit anderen Worten, der 
Blutdruck nimmt von der Aorta bis zur 
Peripherie nur wenig ab. Erst im Ca- 
pillargebiete sinkt er jäh auf einen Wert 
von 7—10 mm Quecksilber, wie dahin 
.gerichtete eigene Untersuchungen der 
Physiologie gelehrt haben. Das ist also 
der Beweis für die oben ausgesprochene 
Behauptung. 

Bei einer Reihe von Menschen finden 
wir den maximalen Blutdruck niedriger 
als nonnal, z. B. 85—90—100 mm Hg.; 
diese Menschen zeigen also eine Hypo¬ 
tonie. Wir müssen annehmen, daß der 
Gesamtwiderstand, den das Abströmen 
des Blutes in und durch die Haargefäße 
findet, geringer ist als normal. Das 
braucht kein krankhafter Zustand zu 
sein, sondern kann konstitutionell bedingt 
sein, obwohl auch viele besonders kon- 
sumptive Krankheitszustände bekannt 
sind, die mit so erniedrigtem Tonus der 
Gefäße einhergehen. Als wesentlichstes 
Symptom kennen wir diese Hypotonie 
beim Morbus Addison. Eine solche Hypo¬ 
tonie verlangt im allgemeinen zur Aufrecht- 
^rhaltung normaler Circulation schon im 
Ruhezustände ein (etwas) vergrößertes 

Nach einem im ärztlichen Fortbildungs¬ 
kurse der deutschen medizinischen Fakultät in 
Prag am 12. Okt-ober 1920 gehaltenen Vortrage. 


Schlagvolumen des Herzens, woraus sich 
wohl die verminderte Arbeitsfähigkeit 
solcher Menschen erklären dürfte (1). An¬ 
dererseits finden wir Menschen, bei denen 
die Messung des Blutdruckes eine wesent¬ 
liche Erhöhung ergibt, der Blutdruck 
200—250 mm Quecksilber und noch mehr 
beträgt. Mitunter sehen wir diese Blut¬ 
druckerhöhung wieder schwinden; die 
Widerstandssteigerung, die zur Blut¬ 
druckerhöhung fwhrte, war eine nur vor¬ 
übergehende. Wir beobachten solche 
Erscheinungen, abgesehen von der ur¬ 
ämischen Blutdrucksteigerung akuter Ne¬ 
phritis, auf die ich noch zu sprechen 
komme, besonders bei schmerzhaften Zu¬ 
ständen; ich sah dies bei Nierenkolik, 
bei Ischias, bei Magenkrämpfen infolge 
Übersäuerung. Es handelt sich hier 
offenbar um auf dem Wege des Nerven¬ 
systems zustande gekommene reflek¬ 
torisch ausgelöste Widerständssteige- 
rungen, beziehungsweise Verengerungen 
des peripheren Capillargebietes. Pal (2) 
hat diesen Zuständen seine besondere 
Aufmerksamkeit geschenkt und sie als 
Gefäßkrisen beschrieben. 

Häufig aber finden wir eine solche 
Bludrucksteigerung dauernd bestehen, ja 
der Blutdruck steigt mitunter unter 
unserer Beobachtung zu außerordent¬ 
licher Höhe. Was liegt dieser dauern¬ 
den Hypertonie zugrunde? Wir 
gehen nicht fehl, wenn wir eine dauernde 
Verengerung eines größeren Teiles des 
Arteriolo - Capillargebietes annehmen. 
Werden die Haargefäße enger, dann wird 
der Widerstand'für das Einströmen des 
Blutes erhöht und die Summe dieser 
erhöhten Einzelwiderstände gibt eine Er¬ 
höhung des Gesamtwiderstandes, eine 
Steigerung des Blutdruckes. Je weiter 
die Verengerung im Arteriolo-Capillar- 
system fortschreitet, desto größer ist die 
Widerstandssteigerung, desto höher der 
Blutdruck. 

Diese Steigerung des Blutdruckes muß, 
falls sie dauernd ist, zu weiteren Ver¬ 
änderungen führen: 1. Die Herzarbeit 
wird gesteigert. Die Herzarbeit ist 





418 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Dezember 


gegeben durch das Produkt von Schlag¬ 
volumen und Blutdruck. Gesteigerter 
Blutdruck bedeutet also gesteigerte Herz- 
muskelarbeft; der Herzmuskel, und zwar 
der linke Ventrikel — wir sprechen ja 
vom Capillarsystem der Aorta — hyper- 
trophiert. Diese Hypertrophie können wir 
durch die Perkussion nicht nachweisen, 
weil, worauf Fr. Müller (3) aufmerksam 
machte, die einfache Hypertrophie, selbst 
wenn der Muskel um V 2 cm Dicke zu-/ 
nimmt, zu gering ist für den Nachweis 
durch die Perkussion. Dagegen hat 
Munk (4) letzthin behauptet, daß er diese 
Hypertrophie durch die Elektrokardio¬ 
graphie sicherstellen könne. Wenn gar 
nicht so selten bei Menschen mit stark 
erhöhtem Blutdruck eine Herzvergröße¬ 
rung deutlich nachweisbar ist, so handelt 
es sich fast immer schon um eine gewisse 
Schwäche des Herzens, Tier Herzventrikel 
ist dilatiert und die Vergrößerung der 
Dämpfung ist nicht• bedingt durch die 
Hypertrophie des Herzmuskels. Diese 
Herzschwäche gibt sich durch die meist 
vorhandene beschleunigte Herzaktion zu 
erkennen. 

2. Die Blutdrucksteigerung führt 
weiter zur erhöhten Spannung der 
Wand der Arterien. Den Beweis, 
daß dem tatsächlich so ist, liefert die Be¬ 
stimmung der Fortpflanzungsgeschwin¬ 
digkeit der Pulswelle. Für diese hat 
Newton die Grundbedingungen erkannt 
und Hoorweghatfür die Fortpflanzungs¬ 
geschwindigkeit die Fornrel gegeben: 

1 / 1 /o E ^ 
c = %.\/2gx — 

Wir sehen aus dieser Foimel, daß die 
Geschwindigkeit c wesentlich von E, vom 
Elastizitätsmcdulus, abhängt-). Eigene 
Untersuchungen, die ich zur Beantwor¬ 
tung dieser Frage anstellte, zeigten mir, 
daß die Fortpflanzungsgeschwindigkeit 
der Pulsw'elle bei normalem Blutdrucke 
9—12 m in der Sekunde beträgt, bei er¬ 
höhtem Drucke aber auf 16—20 m und 
darüber ansteigt. Es ist also bei stark 
erhöhtem Drucke tatsächlich eine erhöhte 
Gefäßspannung vorhanden. 

3. Schließlich muß eine solche Ver¬ 
engerung des Capillarsystems zu einer 
Störung des Stoffaustausches führen: 
Das Blut strömt mit einer Geschwindig¬ 
keit von 300 mm in der Sekunde durch 


2) Die Wanddicke d, der innere Radius des 
Gefäßes r und das spezifische Gewicht des Blutes ^ 
sind so kleine Werte, daß ihre Veränderungen 
chne nennenswerten Einfluß auf c bleiben. 


1 , z= 1/2 mn» 


Qx. 


Fig. 2. 


die Carotis, das heißt in der Sekunde 
strömt durch die Carotis ein ßlutcylinder, 
dessen Basis der Querschnitt der Carotis 
(Q), dessen Länge (1) i = 300 mm 
300 mm ist (Fig. 1). q/n -/Vq 

In der Cruralis ist die ^ 

Strömungsgeschwin- 

digkeit 200 mm in der Sekunde. Je weiter 
wir nun in die. Peripherie kommen, um 
so langsamer strömt das Blut, das heißt 
die Blutbahn wird, je näher wir gegen 
die Peripherie kommen, um so 
breiter. In den Capillaren strömt 
das Blut mit einer Geschwindig¬ 
keit von nur % mm in der Se- 
künde (Fig. 2, l^) und da in der- 
Zeiteinheit dieselbe Menge durch 
die Aorta, wie durch das Capillar- ^ 
System fließen muß, können wir 
schließen, daß das Strombett im 
Bereiche des Capillarsystems 
zirka 600 mal so groß ist, als a 
im Bereiche der Carotiden. Be¬ 
zeichnen wir mit Q den Quer¬ 
schnitt der Carotis, mit den 
Querschnitt des Capillargebietes, so muß^ 
300 X Q = % X Ql oder mit anderere 
Worten Qi = 600 Q. Diese außerordent¬ 
lich langsame Strömung im Capillargebiet 
ist nötig, weil ja hier der Stoffaustausch 
zwischen Blut und Geweben stattfindet,, 
hier tritt der Sauerstoff aus dem Blute in 
die Gewebe und die Kohlensäure aus dem 
Geweben in das Blut. Ein dauernd er¬ 
höhter Blutdruck bedeutet nun, wie wir 
gesehen haben, eine Verengerung eines 
großen Teiles der Capillargefäße, eine- 
Steigerung der Einzelwiderstände, die so 
groß sein muß, daß eine eventuelle Ent¬ 
spannung der restlichen, gesunden Ca¬ 
pillaren keinen Ausgleich darstellt, der 
Widerstand also erhöht, der Blutdruck 
dauernd vergrößert bleibt. Die Summe 
nun der Querschnitte dieser verengtem 
Capillaren, ven denen ein großer Teil 
bis zum vollen Verschlüsse des Lumens 
verengt ist und schwindet, 
gibt nun natürlich ein kleineres 
Strombett, das heißt, dieser 
Quet'schnitt Qo (Fig. 3), ist 
kleiner als Q^ und umgekehrt L I 

entsprechend größer als li, denn, 
falls die Blutmenge unverändert 
geblieben ist, muß das Blut, soll 
dieselbe Menge in der Zeiteinheit 
wie früher durchfließen, rascher 
strömen. Da nun gleichzeitig die Gesamt¬ 
oberfläche der verengten Capillaren kleiner 
ist als unter normalen Verhältnissen, er¬ 
folgt auch der Gasaustausch und Stoff- 


Fig. 3. 




Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


419 


Wechsel zwischen Blut' und Geweben 
innerhalb einer kleineren Fläche und unter 
rascherem Vorbeiströmen des Blutes, zwei 
Momente, die den , Stoffaustausch und 
vor allem den Gaswechsel zwischen Blut 
und Geweben wesentlich beeinträchtigen. 
Es wird uns daher nicht wundernehmen, 
zu beobachten, daß der Organismus sich 
vor einer Schädigung des Gasaustausches 
in solchen Fällen dadurch zu schützen 
trachtet, daß die Zahl der Sauerstoff¬ 
träger in der Volumeinheit des Blutes 
vermehrt wird.. Es kommt häufig zu 
einer, wenn auch nicht beträchtlichen 
doch deutlichen Polycythämie. Geis- 
böck hat diese Polycythämie bei Hyper¬ 
tonie als der Erste beschrieben, hat sich 
aber über den Zusammenhang, der zwi¬ 
schen Hypertonie und Blutkörperchen¬ 
vermehrung besteht, nicht geäußert. Ich 
glaube, daß die von mir gegebene Deutung 
die Verhältnisse klärt. Wir haben damit 
jenes Krankheitsbild zu Ehren gebracht, 
das einst unter dem Namen des apoplek- 
tischen Habitus eine große Rolle 
spielte. 

Wir haben bisher die Erscheinungen 
besprochen, die allgemein als Folgen einer 
Verengerung des Arteriolo - Capillarsy- 
stems anzusehen sind. Die Aorta löst sich 
capillar in allen Geweben und Organen 
des Körpers" auf, eine Erkrankung ihres 
Capillarsystems bedeutet also eine Er¬ 
krankung im ganzen Körper. Allerdings 
brauchen die Capillaren in den verschie¬ 
denen Organen nicht in gleicher Aus¬ 
dehnung erkrankt zu sein; bald wird 
das Capillarsystem dieses, bald das jenes 
Organs besonders von der Erkrankung 
ergriffen und je nachdem wird das Krank¬ 
heitsbild der Hypertonie noch besondere 
Lokalzeichen aufweisen: Bald bieten 
solche Kranke, wenn die Hirngefäße be¬ 
sonders beteiligt sind, Erscheinungen, die 
an Paralysis progressiva erinnern (wie dies 
besonders bei geistigsehr tätigen Menschen 
zu beobachten ist), bald wieder, wenn die 
Capillaren des Herzmuskels besonders er¬ 
krankt sind, sehen wir Störungen dieses 
Organes auftreten (Pulsus alternans), dann 
wiederum sind es Erscheinungen am 
Auge (Netzhautblutungen) oder in einem 
anderen Falle eine, Glykosurie, die unsere 
Aufmerksamkeit erregt. In vielen Fällen 
sind Veränderungen am Harne vorhanden. 
Bei der Allgemeinerkrankung des Capillar¬ 
systems erscheint es selbstverständlich, 
daß in allen Fällen auch ein paar Capil¬ 
laren in den Nieren erkrankt sind. Da 
nun die Harnuntersuchung fast stets ge¬ 


übt wird, wurden die Veränderungen des 
Urins am ehesten und stets festgestellt. 
Und nun glaubten die Ärzte in der 
Nierenerkrankung die Ursache der Blut¬ 
drucksteigerung vor sich zu haben; 
Nierenerkrankung, so lautete die 
Lehre, führe zur Blutdrucksteige¬ 
rung. Aber das Experiment zeigte, daß 
Entfernung einer, ja fast beider Nieren 
ohne Blutdrucksteigerung verläuft. Dann 
wieder sah der Arzt schwerste Blutdruck¬ 
steigerungen, die ihn zur Diagnose einer 
schweren Nierenschrumpfung veranlaßte, 
während . die Autopsien fast gesunde 
Nieren ergaben, und schließlich lehrte die 
Blutdruckmessung, daß schwerste paren¬ 
chymatöse Nieren erkrankung, Nephro¬ 
pathie, ohne jede Blutdrucksteigerung ab¬ 
läuft, ja nicht allzu selten mit Blutdruck¬ 
senkung einhergeht. So wurde allmählich 
die Kritik geweckt, bis endlich die Zweifel 
an der Lehre, daß die Blutdrucksteigerung 
von der Nierenerkrankung abhänge, nicht 
mehr überwunden werden konnten und die 
alte Gull-Suttonsche Lehre in etwas 
geänderter Gestalt neu auflebte. Alle 
eben genannten Schwierigkeiten fallen 
weg, bei der Annahme, daß die dau¬ 
ernde vasculäre Hypertonie Folge 
sei einer bisher nicht genug gewür¬ 
digten Systemerkrankung, einer 
Erkrankung des Arteriolo-Capil- 
larsystems, die Schrumpfniere nicht 
Ursache sondern Folge und Teil- 
erscheinung dieser Capillarerkrankung 
darstelle. Diese Anschauung gewinnt 
denn auch immer allgemeinere Aner¬ 
kennung. Meinungsverschiedenheiten be¬ 
stehen nur noch in der Beantwortung 
der Frage, was dieser Veränderung des Ca¬ 
pillarsystems zugrunde liege. Pal (5) und 
Munk (5) nehmen einen dauernden funk¬ 
tionellen Contraktionszustand an; ich 
selbst stehe auf dem Standpunkte, daß 
es sich um eine anatomische Veränderung, 
um eine Sklerosis arteriolo-capilla- 
ris oder kurz um CapillarSklerose han- 
d'elt. Die Annahme von Pal und Munk 
lehne ich aus folgenden Gründen ab: Es 
ist unwahrscheinlich, daß ein solch dauern¬ 
der funktioneller Contraktionszustand im 
Schlaf und in der Narkose unverändert 
weiterbesteht, daß wiederholte Schlag¬ 
anfälle mit vollkommener Veränderung 
der Psyche des Menschen nichts an dieser 
Innervationsstörung ändern. Auch spricht 
gegen die Annahme eines solchen funktio¬ 
nellen Contraktionszustandes, daß ein 
solcher Zustand zum vollkommenen 
Schwunde irgendeines Organes führen 

53* 


420 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Dezember 


solle; endlich liegen ja auch reichlich Be¬ 
funde von anatomischen Veränderungen 
der Arteriolo-Capillaren bei vasculärer 
Hypertonie vor — ich verweise auf die 
Veränderung an den Netzhautgefäßen, in 
den Anfangsstadien bei vasculärer Hyper¬ 
tonie. Es gibt aber noch einen weiteren, 
fast möchte ich sagen ausschlaggebenderen 
Beweis, die Capillarsklerose im Gebiete 
der Lungenarterie. Diese kann um so 
leichter und sicherer nachgewiesen werden, 
weil hier das ganze Gefäß in einem ein¬ 
zigen Organe, in der Lunge capillar endet. 
Das Krankheitsbild, das der Lungen- 
capillarsklerose entspricht, ist, wie ich 
schon seit Jahren wiederholt hervorge¬ 
hoben habe, das wahre Lungenemphysem 
und tatsächlich stützen die pathologischen 
Untersuchungen eine solche Annahme. 
[Posselt; Ljungdahl; Eppiiiger und 
Wagner (6)3).] 

Welches ist die Ätiologie dieser Capil¬ 
lar erkrankung? 

Die experimentelle Pathologie läßt 
uns hier vollkommen im Stiche. Das 
kommt daher, daß nicht beachtet wurde, 
daß wir im Gebiete der Aorta zwei funk¬ 
tionell wesentlich verschiedene Anteile zu 
unterscheiden haben: die großen Gefäße, 
die als Windkessel wirken und das Capil- 
largebiet, in dessen Bereich der Stoffaus¬ 
tausch zwischen Blut und Geweben vor 
sich geht. Die experimentelle Pathologie 
hat nun kaum begonnen, die Verände¬ 
rungen der Aorta und der größeren Ge¬ 
fäße, die Arterio- und Atherosklerose, zu 
studieren und die experimentelle Erzeu¬ 
gung dieser Erkrankung steht noch ganz 
im Beginne der Erforschung. Wieviel 
mehr gilt dies für die Erkrankungen des 
Capillarsystems. 

Die letzten Jahre haben uns eine 
Methode an die Hand gegeben, die ge¬ 
stattet, Veränderungen im Capillarsysteme 
zu studieren, die Capillaruntersuchungs- 
methodik; sie ist vielleicht bestimmt, uns 
in absehbarer Zeit die wertvollsten Er¬ 
kenntnisse zu verschaffen. Bis dahin 
müssen wir uns mit dem begnügen, was 
klinische Beobachtung lehrt. Da wissen 
wir denn, daß manche Infektionskrank¬ 
heiten mit Erkrankung der Capillargefäße 
der Haut einhergehen; ich erinnere an 
das Fleckfieber und vor allem an den 
Scharlach. Bei der Blutdruckmessung 
Scharlachkranker beobachtete man ähn¬ 
lich, wie bei Menschen, die an schwerer 

3) SieheMünzer: Gefäßsklerosen (Wien. Arch. 
f. inn. Med. 1920, Bd. II, S. 1). 


Capillarsklerose erkrankt waren,, das Auf¬ 
treten vielfacher punktförmiger Haut- 
blutungeh distal von der Manschette (7). 
Diese Beobachtung besitzt große Bedeu¬ 
tung; sie zeigt, daß bei Scharlachkranken 
die Capillargefäße affiziert sind, und legt 
die Möglichkeit nahe, daß die hier so 
häufig zu beobachtende Nierenerkran¬ 
kung nur Teilerscheinung der all¬ 
gemeinen Capillaraff ektion ist. 
Könnte es nicht sehr wohl sein, daß 
die Nierenentzündung solcher Kranken 
im wesentlichen abheilt, während die 
Capillaraffektion schleichend, an den 
übrigen Körperorganen (der Haut) weiter¬ 
bestehen bleibt, sodaß der vielleicht nach 
Jahr und Tag zu beobachtende hohe 
Blutdruck nur einfach das Endresultat 
der durch Scharlacherkrankung gesetzten 
Capillaraffektion darstellt? Sie sehen, 
daß eine solche Auffassung uns. manches 
leicht verständlich machen würde, was 
bisher der Erklärung schwer zugänglich 
schien. 

Und noch einer Erkrankung möchte 
ich hier Erwähnung tun, die in einer ge¬ 
wissen ursächlichen Beziehung zur Capil¬ 
larsklerose zu stehen scheint, der Gicht. 
Nur allzu häufig hören wir, daß Menschen, 
die eine Blutdrucksteigerung aufweisen, 
früher typische Gichtanfälle durchge¬ 
macht haben oder sonstige gichtische Ver¬ 
änderungen und mit der Gicht zusammen¬ 
hängende Erscheinungen aufweisen, so¬ 
daß wir irgendeinen Zusammenhang zwi¬ 
schen gichtischer Stoffwechselstörung und 
Capillarsklerose wenigstens vermuten dür¬ 
fen. Auch darauf darf ich vielleicht hin- 
weisen, daß Falta (8) speziell bei solchen 
Kranken mit stark erhöhtem Blutdrucke, 
durch entsprechende Mittel eine vermehrte 
Harnsäureausscheidung erzielen konnte. 

In bezug auf Prognose und Thera¬ 
pie der Hypertonie sind wir vorläufig 
zum größten Teil auf die reine Erfahrung 
angewiesen. Zunächst ist es ziemlich 
sicher, daß die Allgemeinerkrankung des 
Arteriolo-Capillarsystems (jederzeit) zum 
Stillstände kommen kann. Nur so ist es 
verständlich, daß Menschen 10, 15 Jahre 
und länger einen erhöhten Blutdruck 
zeigen, ohne nennenswerte Beschwerden 
zu äußern. Dadurch haben sich nicht 
wenige Ärzte veranlaßt gesehen, der 
Blutdruckmessung einen besonderen Wert 
abzusprechen. Das ist natürlich ein irriger 
Standpunkt. Über die außerordentliche 
Bedeutung der Kenntnis der Blutdruck¬ 
verhältnisse in jedem Falle kann kein 
Zweifel bestehen, darüber hat uns wohl 





Dezember 


Die Therapie der. Gegenwart 1920 


421 


das bisher Gesagte genügend belehrt. 
Prognose und Therapie der Capillar- 
sklerose sind verschieden, je nachdem es 
sich um eine Erkrankung ohne jedes 
Lokalzeichen, das heißt ohne Zeichen von 
Erkrankung bestimmter Organe handelt, 
oder mit -solchen Lokalerscheinungen. 
Im ersteren Falle, in dem es sich um Blut¬ 
drucksteigerung ohne Zeichen einer be¬ 
sonderen Affektion von Herz, Hirn oder 
Nieren handelt, haben wir zwei Indika¬ 
tionen zu erfüllen: wir haben das unter 
erschwerten Bedingungen arbeitende Herz 
zu schonen, also jede weitere vermeidbare 
Herzbelastung hintanzuhalten, und wir 
haben zweitens, soweit uns dies möglich 
ist, das Arteriocapillarsystem vor schäd¬ 
lichen Reizen zu bewahren. 

Der ersten Indikation entsprechen wir, 
wenn wir solche Kranke nicht schwer 
arbeiten lassen, wenn wir Bergbesteigun¬ 
gen, anstrengende Märsche, kurz alle 
sportsmäßige Betätigung verbieten. Die¬ 
ser Indikation entsprechend müssen wir 
auch die Ernährung regeln und dafür 
sorgen, daß die Nahrungszufuhr eine 
ganz mäßige sei und daß insbesondere 
die Flüssigkeitszufuhr auf das unbedingt 
nötige Minimum beschränkt bleibe, denn 
das Herz ist die Pumpe des Körpers und 
je mehr Flüssigkeit dem Darme zugeführt 
wird, desto mehr hat die Pumpe zu ar¬ 
beiten, muß die Flüssigkeit ansaugen und 
den Nieren zur Ausscheidung übergeben. 
Unter Flüssigkeit verstehen wir also auch 
Wasser. Daß wir alkoholische Getränke 
bei solchen Kranken am besten ganz aus¬ 
schalten, ist leicht verständlich, denn 
neben der Belastung durch die Flüssig¬ 
keit kommt hier die Reizwirkung des 
Alkohols für Herzmuskel und vielleicht 
auch Capillargefäße, besonders der Nieren, 
in Betracht. 

Der zweiten Indikation zu genügen, 
ist recht schwer; hier handelt es sich 
vor der Hand um ein vorsichtiges Tasten. 
Wir haben gehört, daß die Gicht in Be¬ 
ziehung zur Capillaraffektion steht und 
wissen, daß die akute Nierenentzün¬ 
dung, bei der neben der Erkrankung der 
Glomeruli vielleicht auch eine allgemein e 
Capillaraffektion vorhanden ist, häufig 
nach Erkältungen eintritt. Das sind ge¬ 
wisse Anhaltspunkte für unser therapeu¬ 
tisches Handeln. Wir werden also, ähnlich 
wie bei Gicht, für solche Kranke eine pu¬ 
rinarme Nahrung wählen und sie knapp 
halten. Weiter Vermeidung von Kälte¬ 
reizen und Verwendung lauer, beziehungs¬ 
weise warmer Bäder. Von Medikamenten 


aber käme Zufuhr alkalischer Getränke 
(Karlsbad) selbstverständlich in ganz 
kleinen Portionen in Betracht; ich lasse 
solche Kranke ständig früh ein achtel 
Liter Karlsbader Mühlbrunnen nehmen 
— und kleinste Jodsalzmengen, von wel¬ 
chem Mittel wir wissen, daß es wie'ein 
Katalysator die Verbrennung der Harn¬ 
säure begünstigt. 

Mitunter gelingt es auf diese Weise 
Kranke Jahre hindurch relativ be¬ 
schwerdefrei zu erhalten. Häufig aller¬ 
dings ist alle Mühe vergebens. Wir sehen 
unter unseren Augen die Krankheitser¬ 
scheinungen zunehmen und Beschwerden 
sich einstellen, die uns darüber belehren, 
daß bald das Herz, bald das Gehirn, bald 
die Nieren am Krankheitsprozeß beson¬ 
ders beteiligt sind. 

Ist der Herzmuskel stärker ergriffen,, 
dann tritt zur Herzhypertrophie sehr 
bald die Herzmuskelschwäche: der Kranke 
wird bei jeder Anstrengung kurzatmig-, 
er zeigt auch in Ruhe einen beschleunig¬ 
ten Puls, das Herz ist dilatiert, die Leber 
schwillt an, und meist ist auch eine 
Schwellung der Füße vorhanden. Die 
Behandlung eines solchen Kranken ist 
durch die Herzmuskelschwäche vorge.- 
schneben: Ruhe, knappe Kost, am besten 
eine leicht modifizierte Karelldiät, Ge¬ 
brauch lauer Bäder und andauernde Dar¬ 
reichung von Digitalis werden auch bei 
solchen Kranken einen erträglichen^ Zu¬ 
stand schaffen. Meist fürchten die Ärzte 
wegen des hohen Blutdruckes Digitalis 
anzuwenden. Dazu ist kein Grund. Ich 
empfehle, wenn Zeichen der Herzmuskel¬ 
schwäche vorhanden sind, unbekümmert 
um den Blutdruck, Digitalispräparate, 
womöglich dauernd, nehmen zu lassen. 
Wir befreien dadurch viele Kranke 
von schweren Beschwerden und erleich¬ 
tern ihnen das Dasein. Unter den Digi¬ 
talispräparaten selbst wäre das von 
Wiechowski neuerdings angegebene Di- 
ginorgin besonders empfehlenswert. 

Jetzt hätte ich noch die Aufgabe, 
über die Behandlung jener Kranken zu 
sprechen, bei denen die Nierengefäße an 
der allgemeinen Capillarerkrankung be¬ 
sonders beteiligt sind, das heißt, schwere 
Schrumpfniere, Nierensklerose vorhan¬ 
den ist. 

Die Lehre von den Nierenerkrankun¬ 
gen hat in den letzten Jahren wesent¬ 
lichen Ausbau erfahren. Wir unter¬ 
scheiden (9): 

1. Die Erkrankungen des Nieren¬ 
parenchyms, jene Erkrankungen, die man 




422 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Dezember 


früher mit Unrecht unter die Entzün¬ 
dungen rechnete und als parenchymatöse 
Nierenentzündungen bezeichnete; wir 
sprechen jetzt in solchen Fällen von Ne¬ 
phropathie (Aschoff) oder Nephrose 
(Müller) oder Nephrodystrophie (H^rx- 
heimer). 

Dann die an den Blutgefäßen der 
Niere sich abspielenden Erkrankungen, 
und zwar: 

2. Die akuten Nierenentzündungen, 
die Glomerulo-Nephritiden und 

3. die chronischen, mit reaktiven Er-' 
scheinungen (Schrumpfungsprozessen) ein¬ 
hergehenden Nephrocirrhosen, von denen 
uns hier der Hauptrepräsentant dieser 
Gruppe, die N. arteriolo-capillaro-sclero- 
tica (diffusa et dissiminata) besonders 
interessiert. 

Bei den Nephropathien ist der Blut“ 
daick normal, mitunter unternormal. Die 
Harnmenge ist normal oder vermindert; 
(nur wenn sich im Laufe der Erkrankung 
schrumpfende Prozesse hinzugesellen, 
kommt es zu reichlicherer Harnsekre¬ 
tion). Der Harn ist blaß und enthält 
meist vief Eiweiß. Die Ausscheidung der 
Salze, vor allem jene des Kochsalzes durch 
den Harn, ist gestört, und meist auch eine 
schwere Beeinträchtigung des Wasser¬ 
haushaltes vorhanden; es besteht Ödem¬ 
bereitschaft. 

Die Therapie hat diese Verhältnisse 
zu berücksichtigen, daher heißt es: ge¬ 
ringe Wasser- und Salzzufuhr, Schwitz¬ 
prozeduren; reizlose eiweißhaltige Kost; 
Gebrauch harntreibender Mittel, beson¬ 
ders des Harnstoffes. Eppinger emp¬ 
fahl zur Beseitigung der Ödeme solcher 
Kranker Thyreoidindarreichung, und zwar 
durch einige Zeit täglich 0,9—1,2 g 
trockene Substanz. Ich habe diese Medi¬ 
kation wiederholt vergebens versucht. 
Doch könnte dieser Mißerfolg an äußeren 
Umständen, vor allem an minderwirk¬ 
samen Präparaten, liegen und wäre in 
einschlägigen Fällen ein Versuch mit 
diesem Mittel sicher angezeigt. 

Bei den Nephritiden und Nephrocir¬ 
rhosen spielt sich der Krankheitsprozeß 
an den Gefäßen ab. 

In ersterem Falle besteht eine Herab¬ 
setzung der Harnsekretion bis zur vollen 
Anurie, dabei ist der Harn blutig und ent¬ 
hält ein reichliches Sediment organischer 
Formelemente (Blut, Blutcylinder). 

Bei der Nierensklerose ist die Harn¬ 
sekretion reichlich; der Harn hat ein. 
niedriges specifisches Gewicht, enthält 


kein Eiweiß oder Spuren von Eiweiß 
und gibt meist kein Sediment. 

ln diesen Fällen aber ist, wie ich (10) 
vor Jahren, wohl als einer der ersten 
mit modernen Methoden, nachgewiesen 
habe, die Ausscheidung der Endprodukte 
des Eiweißstoffwechsels gestört, Harn¬ 
stoff und N-haltige Extraktivstoffe sind, 
im Blute vermehrt nachweisbar, und die 
Retention dieser stickstoffhaltigen Ab¬ 
bauprodukte bildet das wesentliche Er¬ 
kennungszeichen der urämischen Ver¬ 
giftung. Sie gibt sich zunächst zu er¬ 
kennen durch Blutdrucksteigerung. Die 
Blutdrucksteigerung, die wir bei 
,, Schrumpfniere'' finden, hat allerdings mit 
Urämie nichts zu tun: ihre Pathogenese 
ist, wie wir wissen, eine andere. Doch 
mag es immerhin sein, daß die bei der 
Schrumpfniere infolge der Capillarsklerose 
gegebene. Blutdruckerhöhung durch die 
urämische Intoxikation eine Steigerung 
erfährt. Die Blutdrucksteigerung bei der 
akuten Glomerulo-Nephritis aber ist ein 
Zeichen und Folge der urämischen Ver¬ 
giftung, und so sehen wir sie auch schwin¬ 
den, sobald sich beim Abheilen der 
Nierenentzündung reichliche Harnsekre¬ 
tion einstellt. Der vorher stark erhöhte 
Blutdruck sinkt dann häufig bis unter 
die Norm, es tritt eine posturämische 
Hypotonie ein. 

. Die urämische Intoxikation gibt sich 
ferner zu erkennen durch Kopfschmerzen, 
Muskelzucken, zeitweise Atemnot, die 
sich anfallsweise zu schwerstem Asthma 
steigert und häufig mit Erscheinungen des 
Lungenödems einhergeht. Schließlich 
kommt es zu den bekannten, durch 
Hirnrindenreizung, und Hirnrindenerkran¬ 
kung bedingten Krampfanfällen und 
Ausfallserscheinungen (Amaurose usw.) 
(Münzer, F. Pick) (11). 

Die Behandlung der akuten Nieren¬ 
entzündung liegt außerhalb des Be¬ 
reiches des Vortragsthemas; aber auch 
bezüglich der Behandlung der Schrumpf¬ 
niere, der Nierensklerose, kann ich mich 
nach dem früher Gesagten kurz fassen: 
Es ist selbstverständlich, daß wir die bei 
der Capillarsklerose als richtig erkannte 
Therapie hier besonders strenge befolgen 
und vor allem in der Diät mit Rücksicht 
auf die eben erwähnte Retention der 
N-haltigen Abbauprodukte die Eiweißzu¬ 
fuhr durch die Nahrung außerordentlich 
einschränken, purinhaltige Eiweißkörper 
ganz vermeiden. Übrigens leistet dauernde 
Darreichung der Digitalis — in Verbin¬ 
dung mit Theobrominpräparaten — her- 






Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


42^ 


■vorragende Dienste. Gegen das urämische 
Asthma, sowie bei Anfällen von Lungtn- 
•ödem wirkt der Aderlaß vorzüglich. 

Wie weit das von mir (9) beim Coma 
urämicum nachgewiesene Basendefizit, 
■die'relative Acidose, für die Therapie Be¬ 
rücksichtigung verlangt, wird die Zu- 
Icunft lehren. 

Literatur: 1. E. Münzer, Ein Fall von 
-Morb. Addisonii... (Zschr. f. exper. Path. ü. 
Ther. 1914, Bd. 16). — 2. J. Pal, Gefäßkrisen 
-(Leipzig 1905, S. Hirzel). — 3. F. Müller, Be¬ 
izeichnung und Begriffsbestimmung.... (Berlin 
1917, A. Hirschwald). — 4. F. Munk, Die Hyper¬ 
tonie als Krankheitsbegriff... .»,{B. kl. W. 1919, 


Nr. 51). — 5. J. Pal, a) M. Kl. V, 1909; 1312 und 
b) Ebenda XV, 1919, 662; F. Munk, 1. c. Nr. 4 
und Pathologie und Therapie der Nephrosen.... 
(Urban & Schwarzenberg 1918). — 6. A. Posselt, 
(Volkmanns klin.Vortr. N. F. 1908, Nr. 504 bis 507); 
M. Ljungdahl, Untersuchungen über die Arterio¬ 
sklerose. ... (Wiesbaden 1915, Bergmann; H. Ep- 
pinger und R. Wagner, Zur Pathologie der 
Lunge (W. Arch. f. inn. Med. 1920, Heft 1). — 
7. Rumpel-Leede, (M. m. W. 1911, Nr. 6, 
S. 293). — 8. Falta, Aussprache zu Pals Vortrag 
(Wien, 25. April 1919). — 9.^A. Begun und 
E. Münzer, Nierenleiden.... (Zschr. f. exper. 
Path. u. Ther. 1919, Bd. 20). — 10. E. Münzer, 

a) V. Jaksch, klinische Diagnostik (3. Aufl. 1892; 

b) Urämie- (Prag. m. Wschr. 1912). — 

11. E. Münzer, (Prag. m. Wschr. 1899; F. Pick, 
D. Arch. f. klin. M., Bd. 56). 


Aus der Direktorialabteiluug des Eppendorfer Kraukenhauses (Med. Klinik). 

Direktor: Prof. Dr. Brauer. 

Zur Salvafsanbehandlung der Lungengangrän ^). 

Von Dr, W. Weis, Sekundärarzt. 


In neuerer Zeit sind von Groß (1) und 
von Stepp (2) Veröffentlichungen über die 
Salvarsanbehandlung bei Lungengangrän 
'erschienen, die von sehr günstigen Er¬ 
folgen berichten. Es handelt sich im 
ganzen um 13 Fälle, bei denen Heilung 
beziehungsweise Besserung erzielt wurde, 
auch in einem Falle, wo eine große 8:15cm 
messende Gangränhöhle röntgenologisch 
nachgewiesen war, erfolgte völlige Hei¬ 
lung. In den übrigen Fällen scheinen 
größere Höhlen nicht vorhanden gewesen 
zu sein, es bestanden aber neben dem 
fötiden Sputum Anzeichen des Gewebs¬ 
zerfalles, wie elastische Fasern und in 
einem Falle auch Lungenfetzen, einige 
Male waren auch Spirochäten im Aus¬ 
wurf gefunden worden. Fast jedesmal, 
so wird berichtet, trat im unmittelbaren 
Anschluß an die Salvarsandarreichung 
■eine merkliche Besserung ein, das Sputum 
verlor sehr schnell seinen Geruch, wurde 
nach anfänglichem Ansteigen an Menge 
geringer und verschwand dann. Das 
Fieber ging zurück und das Allgemein¬ 
befinden hob sich rasch. Manchmal gingen 
der Besserung starke Allgemeinreaktionen 
voraus. Diese Mitteilungen veranlaßten 
uns, die Behandlungsweise, zu der die 
erste Anregung von unserer Abteilung 
(Dr. Becker) ausgegangen war, wieder 
.anzuwenden. Ich kann heute nur über 
vier Fälle berichten. Die Lungengangrän, 
die früher in Hamburg sehr häufig war, 
ist in letzter Zeit anscheinend seltener ge- 
■worden, es mag das mit den derzeitigen 
Verhältnissen wie dem Rückgang des Al- 

^) Nach einer Demonstration im Hamburger 
ürztlichen Verein. 


koholismus, der verminderten Arbeit im 
Hafen, und anderem Zusammenhängen. 

1. 19jähriges Mädchen, das im Anschluß an 
einen Abort Brustschmerzen, Fieber und Auswürf 
bekommen hatte. Bei der Aufnahme im September 
1919 Infiltration im rechten Oberlappen, aus der 
sich eine Gangrän mit großem Zerfallsherd und 
reichlichem Gangränsputum entwickelte. Im 
Sputum keine Spirochäten nachgewiesen. Auf 
Behandlung mit Salvarsan zunächst sehr guter 
Einfluß, Temperaturabfall, Verschwinden des 
Auswurfs und Verschwinden des Zerfallherdes im 
Röntgenbilde. Dann aber wieder zunehmendes, 
stinkendes Sputum, Fieber und Zunahme des 
Röntgenbefundes. Im Sputum jetzt Spirochäten. 
Nochmals Salvarsanbehandlung, die aber diesmal 
gar keinen Erfolg brachte, sodaß Ende November 
1919 operiert wurde. Heilung. 

2. 57jährige Frau mit einem Gangränherd im 
linken Unterlappen, anscheinend im Anschluß 
an Pneumonie. Der Gangränherd lag hinter dem 
Herzschatten, zeigte Flüssigkeitsspiegel. Reich¬ 
lich Gangränsputum, keine Spirochäten. Alsbald 
Salvarsanbehandlung, 2 mal 0,45 und 2 mal 0,6 
Neosalvarsan mit eintägigen Pausen, also recht 
erhebliche Mengen. Ein wesentlicher Einfluß 
war hier nicht zu erkennen. Charakter des 
Sputums, Allgemeinbefinden und Fieber änderten 
sich nicht, das Sputum wurde vorübergehend 
etwas weniger. Operation, Heilung. 

Fall 3 und 4 sind für die Beurteilung 
der Methode nur mit Einschränkung zu 
verwerten, da sie Komplikationen auf¬ 
wiesen, und zwar Fall 3 mit Tuberkulose. 
Massenhaft Gangränsputum mit Spiro- 
chaeta refringens. 

Dieser Patient, ein 34jähriger Ar¬ 
beiter, bekam dreimal 0,45 und viermal 
0,6 Salvarsan. Irgendein Einfluß auf die 
Art und Menge des Sputums war nicht 
sichtbar. Der tödliche Ausgang schloß 
sich an eine Lungenblutung an. 

4. 37jährige Frau mit Gangränerscheinungen 
nach Grippe. Keine Höhlensympt'om'e. Sie 
erhielt 3 mal 0,3 Neosalvarsan, ein Einfluß auf 





424 


Die Therapte der Gegenwart 1920 


Dezember- 


die Beschaffenheit des Sputums zeigte sich nicht. 
Bei der Operation wurde der Gangränherd nicht 
gefunden, die Patientin ging dann zugrunde, und 
es fand sich, daß außer der Lungengangrän 
noch ein nach dem Mediastinum hin abgesacktes 
Pleuraempyem bestanden hatte. 

Die guten Erfolge also, die von Groß . 
und Stepp berichtet werden, haben wir 
nicht erzielt. In dem ersten Fall trat zwar 
eine auffallende Besserung ein, sie war 
aber nicht von Dauer, ln dem zweiten 
Fall kein erkennbarer Einfluß. Der dritte 
und viej*te Fall boten ja infolge ihrer Kom¬ 
plikationen von vornherein eine infauste 
Prognose, es ist aber immerhin be¬ 
merkenswert, daß sich die Sputumbe¬ 
schaffenheit nicht änderte, und daß im 
dritten Fall die Spirochäten aus dem 
Sputum nicht verschwanden. Im ganzen 
ist natürlich die Zahl der Fälle zu gering, 
um ein Urteil über die Behandlungsweise 
zuzLilassen. Ein Versuch ist jedenfalls zu 


empfehlen, man sollte aber, ‘ besonders 
wenn ein'Zerfallsherd deutlich markiert 
ist, nicht zu viel Zeit damit versäumen. 
Em zu langes Zuwarten kann bei der Bös¬ 
artigkeit, der Erkrankung doch verhäng¬ 
nisvoll werden. Die Operation dagegen,, 
von geübter Pfand ausgeführt, gibt doch 
bessere Chancen, ich verweise nur auf die 
Mitteilungen von Kis’sling (3) aus der 
Len hartzschen Abteilung. Genaueste kli¬ 
nische und röntgenologische Lokalisation 
ist dabei natürlich Voraussetzung. Beim 
Lungenabsceß liegen die Verhältnisse 
anders, hier kann man sich v.iel eher ab¬ 
wartend verhalten, gerade in letzter Zeit 
wieder haben wir mehrfach außerordent¬ 
lich umfangreiche Lungenabscesse spon¬ 
tan zur Ausheilung kommen sehen. 

Literatur: 1. Groß (Th. d. Geg. 1916,. 
Dezemberheft; M. m. W. 1919, Nr. 31). — 

2. Stepp (Ther. Halbmh. 1916, H. 6). — 

3. Kissling (Erg. d. Inn. Med. 1910). 


Aus der Provinzial-Fraiienklinik Köln (Prof. F. Frank). 

Placenta praevia und Landarzt. 

Von Dr. Fuhrmann, Assistenzarzt. 


Jeder Geburtshelfer, nicht bloß der 
auf sich allein angewiesene Landarzt, 
verspürt beim Begriffe,,Placenta praevia“ 
ein Gruseln. Auch der Facharzt weiß, 
daß die Behandlung des Vorliegens des 
Mutterkuchens sein ganzes Können in 
Anspruch nimmt, und zwar in einer Um¬ 
gebung, die dafür eigens zugerichtet ist. 

,,Die Placenta praevia gehört in die 
Klinik“, ist die von allen Lehrern der 
Geburtshilfe aufgestellte Forderung, deren 
Befolgung auf aem platten Lande schei¬ 
tert; zwei Umstände sind es, die eine 
Überführung in die Klinik (oder in fach¬ 
ärztliche Hand überhaupt) auf dem Lande 
vereiteln können: der Zustand der Krei¬ 
ßenden, der eine Ortsveränderung nicht 
verträgt; die weite Entfernung, welche 
Hilfsbedürftige und Hilfe trennt. 

Der nachfolgenden Besprechung soll 
die Annahme zugrunde gelegt sein, daß 
der Arzt allein auf sich gestellt, 
auch ohne den Beistand eines Kollegen, 
seine Maßnahmen zu treffen hat. Diese 
Annahme entspricht ja auch der Wirk¬ 
lichkeit. Denn wenn der Hilferuf den 
Landarzt erreicht, ist keine Frist mehr, 
ihn weiterzugeben; dann ist es hohe 
Zeit, höchste Zeit, zur Kreißenden zu 
eilen, bei der es ums Leben geht. 

Ein häufiges Ereignis ist ja das 
Auftreten dieser gefährlichen Geburts¬ 
umstände, die zu ihrer Beherrschung 


einen ganzen Mann und einen ganzen Arzt 
erfordern, nicht; auf 500 bis 600 Ge¬ 
burten ist ein Fall von Placenta praevia 
errechnet; auf die jährlich zwei Millionen 
Geburten in Deutschland ereignen sich 
also etwa 4000 Placentae praeviae, mit 
einer Muttersterblichkeit von 5 bis 
6%; 200 bis 300 Frauen verlieren wir 
also doch an der krankhaften Mutter¬ 
kuchenanlage; und zwar ist diese Sterbe¬ 
ziffer der klinischen Behandlung eigen;, 
die Privathausbehandlung hat eine- 
fast viermal höhere Müttersterblichkeit,, 
nämlich 20 %. Wenn alle Placenta- 
praevia-Kranken im Privathause ent¬ 
bunden werden müßten, so würde dieses- 
Schicksal jährlich 760 Müttern das Leben 
kosten; das genügt, um jeden Arzt nach 
der Hilfe einer Fachanstalt greifen zu 
lassen — sofern sie eben erreichbar ist.. 

Die Kindersterblichkeit bei Pla¬ 
centa praevia ist 60% für die Anstalten^),, 
zehnmal höher als die mütterliche- 
klinische; 2400 Kinder sterben an dem 
ungewöhnlichen Sitz des Mutterkuchens;: 
unter 5 Placenta-praevia-Kindern müssen 
3 sterben! Diese fürchterliche Zahl ist 
aber keineswegs der Unzulänglichkeit 
des ärztlichen Könnens zuzuschreiben;, 
deswegen nicht, weil die Placenta-praevia- 
Schwangerschaft ' ihr regelrechtes Ende 
sehr oft nicht erreicht 1200 von den 

^) Errechniingen^für Privathaus fehlen. 





Dezember 


Die Therapie der pegenwart 1920 


425 


.2400 toten Placenta-praevia-Kindern sind 
Fehl- beziehungsweise kaum lebensfähige 
Frühgeburten. Wenn man annimmt, 
daß von den kaum lebensfähigen Früh¬ 
geburten noch ein Bruchteil am Leben 
bleibt,.so kommt es darauf hinaus, daß 
^in Drittel echter Placenta-prae- 
via-Kinder keine Lebensaussich- 
tuii hat. 

Der Grund, warum die Hälfte aller Pla- 
centa - praevia - Schwangerschaften nicht 
ausgetragen werden, mit anderen Worten; 
die Ursache des Wehenbeginns schon im 
siebenten, achten, neunten oder zehnten 
Mondmonat statt am Ende des zehnten 
Mondmonats ist noch unbekannt 2). ist 
etwa der Umstand, daß der Mutterkuchen 
sich über dem inneren Muttermund ent¬ 
wickelt oder in seiner nächsten Nachbar- 
•schaft zugleich die Ursache des früh¬ 
zeitigen Wehenbeginns? Oder ist etwa 
der Zusammenhang so, daß abweichender 
Mutterkuchensitz und’frühzeitige Wehen- 
auslösung ein und dieselbe Ursache haben ? 

Damit ist die Frage der Ätiologie der 
-Placenta praevia berührt. Die Ursache des 
Einnistens des befruchteten Eies am Gebärmutter¬ 
ausgang, statt, wie gewöhnlich, in der Nähe der 
Tubenmündung, ist unbekennt. Man weiß nicht, 
warum das befruchtete Ei, ohne sich festzusetzen, 
durch die ganze Gebärmutter hindurchrutscht; 
vielleicht deswegen, ,,weil ihm die normale Klebrig- 
Jkeit oder Arrosionskraft seines Ektoderms fehlt“ 
<Bumm) oder deswegen, weil im Endometrium 
■,,eine abnorm ausgebreitete und abnorm starke 
Flimmerung“ 2) besteht. Diese Flimmer Über¬ 
bildung und -Überbewegung ist ein Befund 
chronischer Endometritis; die gesunde Schleim¬ 
haut hat einen lückenhaften Flimmerbelag 
{Ho eh ne) 3). Damit würde übereinstimmen die 
Beobachtung, daß Placenta praevia zehnmal 
häufiger bei Mehrgebärenden ist, als bei Erst- 
•gebärendcn; Mehrgebärende leiden ja natürlich 
häufiger an Gebärmutterkatarrhe als Erst- 
•gebärende. Mchrgebärende haben ja sozusagen 
eine Vergangenheit an Gelegenheit zu Endome¬ 
tritis: gestörte Wochenbette, Fehlgeburten, manu¬ 
elle Placentarlösungen. 

Aber außer dieser pathologischen Placcnta- 
praevia-Ätiologie gibt es noch eine anatomische; 
sie ist schön und einleuchtend. 

Gemeint ist die sogenannte Reflexatheorie 
der Placenta praevia. Sie stellt die Entstehung 
eines vorliegenden Mutterkuchens folgendermaßen 
dar: das Ei siedelt sich in der Nähe des inneren 
Muttermundes an und bildet sich seine Placenta 
an der Niststelle, regelrecht auf der Decidua 
serotina; aber nicht nur auf der Decidua serotina, 
•sondern auch auf der Reflexa, das heißt auf der 
dem Ei zugewandten Innenfläche der Reflexa 
wächst Placentagewebe. Natürlich muß diese 
Reflexa-Placenta früher oder später auf den 
inneren Muttermund zu liegen kommen; früher 

2) Auch die Ursache des Geburtsbcginncs am 
Ende der 40. Schwangerschaftswoche ist noch 
unbekannt. 

Nürnberger, A. E. G. 1918, Bd. 109, 
S. 733, nach Hoehne im Zbl. 1908 und 1911. 


oder später, jedenfalls aber dann, wenn die Decidua 
reflexa mit der Vera in ganzer Ausdehnung ver¬ 
wächst, die freie Lichtung der Üterushöhle 
aufhebend, also im Beginn des fünften Mond¬ 
monats. Allerdings ist das Kuchengewebe, 
wenn sich die Reflexa-Placenta auf den inneren 
Muttermund gelegt hat, von ihm noch getrennt 
durch das zarte Reflexhäutchen, und das ist 
der schwache Punkt an der Hofmeier^)-Kalten- 
bach®)schen Reflexatheorie. Ahlfeld®) lehnt 
die Theorie ab. 

Die Diagnose der Placenta praevia macht 
keine Schwierigkeiten: Blutung in der zweiten 
Hälfte der Schwangerschaft bei einer Mehr¬ 
gebärenden läßt, ohne weiteres, Vorliegen des 
Kuchens vermuten. Zwischen Vermutung und 
Diagnose liegt die Handlung der Untersuchung. 
Wenn die Fingerspitze mit dem eigen sich an¬ 
fühlenden Mutterkuchengewebe in unmittel¬ 
bare Berührung kommt, ist die" Diagnose ein¬ 
fach und sicher. Nicht mehr ganz sicher, aber 
höchst wahrscheinlich ist die Diagnose' dann, 
wenn die Fingerspitze nur mittelbar in Be¬ 
rührung mit Placentagewebe kommt: bei ge¬ 
schlossenem Muttermund; aber auch bei offenem 
Muttermund und weit seitlicher Lage des voran¬ 
gehenden Mutterkuchens. In beiden Fällen liegt 
zwischen Placenta und Finger mütterlicher Weich¬ 
teil. (Scheidengewölbe beziehungsweise mehr 
weniger entfaltet Cervix.) Durch ihn hindurch 
ist wohl der Schwamm der Placenta zu fühlen. 
Aber die Handlung der Untersuchung hat bei 
Placenta praevia etwas Eigentümliches: die 
Gefahr der Auslösung einer mehr minder heftigen 
Blutung. Der berührende Finger kann un¬ 
beabsichtigt Thromben loslösen, Placentagewebe 
freilegen, Wehen erregen; es sollte deswegen 
innerlich nur untersucht werden — bei Verdacht 
auf Vorliegen des Mutterkuchens, also bei 
Blutungen in der zweiten Schwangerschaftshälfte 
bei Mehrgebärenden —, wenn alles zum einschlä¬ 
gigen Eingriff bereit ist. 

Dieser Fall — des Untersuchungszwanges — 
ist in der Landpraxis immer gegeben: der herbei¬ 
gerufene Arzt kann und darf Schwangere und 
Hebamme nicht verlassen ohne Untersuchung 
und Urteil; das Urteil ist einfach, wenn Placenta¬ 
gewebe gefühlt wird. Aber die Untersuchung 
hat ihre Klippen. Der Untersucher kann getäuscht 
werden. Er kann sich selbst Placenta Vortäuschen, 
wo keine ist, z. B. durch derbe Blutgerinnsel. 
Derbes Blutgerinnsel setzt voraus länger zurück¬ 
liegende — wenn auch nicht starke — Blutungen. 
Solche Blutungen in der Schwangerschaft haben 
statt nicht bloß bei genital-lokalen Erkrankungen, 
sondern auch bei Allgemeinerkrankungen der 
Mutter. Unter den letzteren spielen eine Haupt¬ 
rolle die sogenannten akuten Exantheme, also 
Röteln, Masern, Scharlach, falsche und wahre 
Pocken. Bei ihnen neigt das Endometrium 
(übrigens auch beim nichtschwangeren Uterus) 
zu Blutungen. (Das ist offenbar so zu erklären, 
daß bei diesen Krankheiten das Exanthem — 
das heißt umschriebene Hyperämien — auch 
auf dem Endometrium Platz gegriffen hat.) 
Wissenschaftlich heißt der Zustand: Endometritis 
decidualis hämorrhagica (exanthernatica). Außer 
diesem Exantheinkatarrh der Gebärmutter- 
Schleimhaut kennen wir noch andere blutende 
Schleimhautentzündungen des Organs: die Endo¬ 
metritis decidualis hacmorrhagica gonorrhoica 

‘1) Verh. D. Ges. f. Gyn., Halle 1888. 

"9 Zbl. f. d. ges. Gyn., Bd. 18. 

®) Zbl, f. d. gos. Gyn., Bd. 21 und 32. 

54 




426 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Dezember 


und die luetica, beides Beispiele wohl rein 
ortiieher Erkrankungen. Vor Verwechslungen 
mit Placenta praevia, die für die Frucht ver¬ 
hängnisvoll werden könnten, schützt die Anamnese 
beziehungsweise die bestehende ursächliche Krank¬ 
heit. Es mag allerdings irgendeinmal nicht leicht 
sein, aus Blutgerinnseln im Muttermund bei 
einem Scharlach ohne Exanthem (aber Fieber!) 
oder etwa bei einer latenten Syphilis die Wahrheit 
zu finden. Es gibt noch eine Krankheit der Sieb- 
haut^) in der Schwangerschaft, welche zu Blu¬ 
tungen und Blutgerinnselbildungen im Mutter¬ 
mund führt; ihr Wesen ist auch eine Endometritis 
decidualis, eine Entzündung der Schwangerschaft¬ 
gewucherten Schleimhaut; sie äußert sich vor¬ 
wiegend in Zunahme der Zahl der Schleim¬ 
drüsen und in gesteigerter Absonderung der ver¬ 
mehrten Drüsen. Die abgesonderte deciduale 
Flüssigkeit — mehr weniger blutig gefärbt — 
sickert dauernd ab, Hydrorrhoea uteri gravi di 
decidualis [haemorrhagica], oder aber sie sammelt 
sich bei zeitweiser Verlegung des Halskanals 
in der Fruchthöhle zwischen Ei und Uterusmund 
an und fließt dann schubweise ab. Dieser Vor¬ 
gang kann eine Placenta praevia Vortäuschen. 

ln einer Besprechung von Blutungen aus 
der Schleimhaut der schwangeren Gebärmutter, 
also aus der Membrana decidua, muß — vom 
Gesichtspunkt der Vollständigkeit aus — auch 
erwähnt werden, daß Störungen in der physio¬ 
logischen Arbeit zweier Organe zu Blutungen 
aus der; Decidua führen können: des Herzens 
und der Nieren. Allerdings sind glücklicherweise 
die Blutungen nie so stark, daß sie placenta- 
praevia-ähnlich, also bedrohlich werden. 

Die bis jetzt genannten Vortäuschungen von 
Präviablutungen gehen aus von krankhafter 
Veränderung des mütterlichen Gewebes der 
Uterusschleimhaut; es gibt auch eine krankhafte 
Veränderung der äußersten kindlichen Eihaut, 
also des Chorions, welche prävia-ähnliche 
Blutungen machen kann. Diese Veränderung 
besteht in Wucherung des normal-2-schichtigen 
Epithelmantels der Chorionzotten. Die Wuche¬ 
rung findet überall da statt, wo Zotten sind; 
da aber der Zottenstand mit dem Alter des Eies 
sich ändert, so ändern sich auch die Stellen der 
genannten Epithelwucherung. Die zotten- 
reichste Zeit für das Ei ist derjenige Ent¬ 
wicklungsabschnitt, welcher liegt zwischen vierter 
und achter Woche; das ganze Ei ist ringsum mit 
Zotten besetzt. Und so findet auch die Wuche¬ 
rung der entartenden Zotten in dieser frühen Zeit 
der Schwangerschaft statt in der Weise, daß 
der ganze Zottenpelz wuchernd entartet: der 
Embryo wird ein Opfer der Erkrankung des 
Eies und stirbt ab. 

Die Wucherung der Zotten kann aber auch 
in einer späteren Schwangerschaftszeit beginnen, 
wenn die Eioberfläche bereits glatt ist und die 
Zotten nur auf einer einzigen Stelle, die Placenta- 
stelle, beschränkt sind. Wenn in diesem Falle 
die ganze Kuchenmasse entartet, so kostet die 
Umbildung dem Embryo wieder das Leben; 
manchmal aber wuchert nur ein Teil der Pla- 


Decidua (sc. membrana), auf deutsch „hin¬ 
fällige“ Haut (weil sie mit der Placenta aus¬ 
gestoßen wird), heißt im Hebammenunterricht 
„Siebhaut“, ,,weil sie, von zahlreichen, jetzt (d.h. 
in der Schwangerschaft) deutlich sichtbaren 
Drüsenöffnungen durchbrochen, wie ein Sieb 
durchlöchert ist“. Preuß. Hebammenlehrbuch, 
S. 95. 


centazotten und dann kann die Frucht lebend 
geboren werden. 

In allen Fällen, sei es nun, daß die Frucht tot 
ist und ausgestoßen wird, sei es, daß sie lebend 
geboren wird, in allen Fällen beginnt die Geburt 
der Blasenmole unter Blutung und geht 
auch weiter unter Blutung vor sich, ln der 
ersten . Hälfte der Schwangerschaftszeit wird 
man eine Fehlgeburt vermuten, in der zweiten 
Hälfte eine Placenta praevia. 

Vor der Verwechslung kann man sich schützen 
durch den Nachweis von Blasen in den blutigen 
Abgängen (hirsekorn- bis haselnußgroße hell¬ 
gefüllte Blasen, die auf feine Stiele aufgereiht 
sind); der Verdacht wird auf Blasenmole hiri- 
gelenkt, wenn der schwangere Uterus viel größer 
ist als der Schwangerschaftszeit entspricht. 

Eine Quelle der möglichen Täuschung für 
den Arzt ist das Zusammentreffen von Schwanger¬ 
schaft und Gebärmutterkrebs. 

Für die Differentialdiagnose will ich neben der 
Vaginaluntersuchung bloß auf die Exploratio- 
per rectum hinweisen. Diese Art der Untersuchung 
wird in der täglichen Praxis aus naheliegenden 
Gründen wohl wenig benützt, weniger als sie 
es verdient. Sie sollte nicht nur für Feststellungen 
im Rectum selbst gebraucht werden; gerade 
in der Geburtshilfe (und in der Gynäkologie) 
gelingen durch sie Ergänzungen, selbst Neuauf¬ 
nahmen im Befund, die oft überraschend schnell 
Klarheit schaffen. Auch beim Portio- und Cervix¬ 
krebs Schwangerer ist gerade vom Mastdarni' 
aus oft die entscheidende Härte, Wucherung 
Infiltration der Umgebung zu fühlen, im Gegensatz 
zur weichen, flüssig durchtränkten Auflockerung 
bei der Prävia. 

Eine Augenscheinnahme der Portio mit Hilfe- 
des Tr^latschen, noch besser des zweiteiligen 
Plattenspeculums wird eine weitere Unter¬ 
stützung zur Auffindung der Wahrheit sein. 
Wieder ist beim Krebs trotz aller Verwaschung 
durch die Schwangerschaft eine knotige Auf¬ 
treibung, ein Epithelverlust, ein Substanzdefekt,, 
eine Wucherung vielleicht sichtbar, die bei der 
Prävia fehlt, wo die gleichmäßig blaurot ge¬ 
färbte Scheidenschleimhaut in ununterbrochenem 
über die Portio gespannt ist. 

Es gibt außer dem Tast- und Gesichtssinns¬ 
befund noch einen sensorischen Eindruck, den 
man für die Erkennung des Krebses der zugäng¬ 
lichen weiblichen Geschlechtsteile heranziehen 
kann: den Geruchssinn; allerdings nur für den 
kundigen Untersucher. Man kann die fad-sü߬ 
lich, ekelerregende, aasige Eigentümlichkeit jenes 
Geruches nicht beschreiben, aber er ist be¬ 
zeichnend und wer ihn kennen gelernt hat, er¬ 
kennt ihn wieder. 

Für den allein gestellten Landarzt mag es 
keine Kleinigkeit sein, sich zu einer Geburts¬ 
leitung bei einer Portio- oder Cervixkrebskranken 
gerufen zu sehen. Glücklicherweise ist das Zu¬ 
sammentreffen von Genitalkrebs und Schwanger¬ 
schaft selten. Noch seltener ist das Austragen 
der Schwangerschaft beim Gebärmutterkrebs. 

Es scheint, daß nur zehn Fälle von Gebär¬ 
mutterkrebs aus dem zehnten^ Schwangerschafts¬ 
monat in der Literatur bekannt sind s). 

Für den alleinstehenden Praktiker ist aus dem 
Verlauf der Geburt beim Gebärmutterkrebs 


8) Gräfenberg, Ein Beitrag zur Kasuistik 
des Uteruscarcinoms am Ende der Schwanger¬ 
schaft, Zschr. f. Gyn. 1909, Nr. 21; dort zitiert': 
Marek, Uteruskrebs und Schwangerschaft. 



Uezeiriber 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


wichtig, daß die krebskranke Schwangere am 
regelrechten Ende der Schwangerschaft in die 
Geburt eintreten kann, ohne jede Ahnung 
und ohne jedes Anzeichen eines Krebses 
am Fruchthalter. Das gilt sowohl vom Portio¬ 
ais auch vom Cervixcarcinom, Die Geburt 
beginnt mit schwachen Blutungen; Blutungen 
sind auch ab und zu während der Schwanger¬ 
schaft aufgetreten, aber nur so schwach, daß man 
den Arzt erspart hat. Blutungen in der Schwanger¬ 
schaft, Blutungen bei Wehenbeginn — also 
durchaus das Präviabild. Dabei braucht die 
Blutung im Wehenbeginn gar nicht so stark zu 
sein, daß eine unaufmerksam untersuchende 
Hebamme den Arzt ruft. Aber sie wird nicht 
lange allein bleiben wollen: ,,die Geburt geht 
nicht vorwärts“. Die für die Untersuchung mehr 
weniger schwer erkennbaren Krebswucherungen 
haben Portio und Halskanal schlecht dehnbar, 
hart gemacht. Der wegen Verzögerung im Ge¬ 
burtsverlauf herbeigerufene Arzt findet sich 
mitten in die Sachlage hineingestellt. Zur Beur¬ 
teilung der Lage dient die Erfahrung, daß Portio¬ 
krebse eine Spontangeburt zulassen; Cervixkrebse 
aber machen eine genügende Erweiterung für 
Fruchtdurchtritt unmöglich. Das Hindernis 
muß umgangen werden (durch den Bauchkaiser¬ 
schnitt). Die Technik beherrscht der Landarzt 
nicht; die Lage ist dringend. Was tun? An¬ 
genommen, daß bis zur Ankunft des nächsten 
erreichbaren Facharztes (Geburtshelfers oder 
Chirurgen) immerhin 24 bis 36 Stunden ablaufen 
(und das ist wohl selbst unter den ungünstigsten 
Umständen noch erzielbar), so gilt es, den Ge¬ 
burtsfortgang zu unterbrechen oder wenigstens 
zu verzögern; mit andern Worten, die Wehen 
aufzuheben beziehungsweise abzuschwächen. Das 
kann man erreichen durch Verabfolgung von 
Narkoticis; Morphium 0,01 alle acht Stunden 
subcutan oder Pantopon in etwa der doppelten 
Dosis des Morphiums; allerdings muß man darauf 
gefaßt sein, das Kind durch diese Narkose schwer 
zu schädigen. Genitalkrebskranke müssen, noch 
in puerperio, der Operation zugeführt werden. 
Gegen eine Verwechselung anderer Blutungen 
aus dem Genitale mit Placenta praevia schützt 
wohl auch schon eine oberflächliche';Untersuchung 
durch die Hebamme; so z. B. gegen Verletzungs¬ 
blutungen, oder Blutungen aus Geschwüren, aus 
Varicen und Thromben der Vulva und Vagina. 

Die vorzeitige Ablösung der regelrecht 
sitzenden Placenta steht ja vor allem im Zeichen 
der inneren Blutung — ,,zuweilen wird nicht 
ein Tropfen Blutes nach außen ergossen“, sagt 
Bumm —, aber es kann auch dabei nach außen 
bluten und dann gilt es für den Arzt sich vor 
Verwechselung mit Präviasitz zu schützen. 
Blutung bei geschlossenen Weichteilen spricht 
für ,,vorzeitig“; ebenso Unstimmigkeit zwischen 
der Menge des abgegangenen Blutes und den 
Blutverlusterscheinungen der Kreißenden, weil 
bei der vorzeitigen Lösung nicht nur nach außen, 
sondern auch nach innen Blut verloren wird, das 
sich als gewaltiges retroplacentares Hämatom an¬ 
sammelt, während bei der Prävia die ganze ver¬ 
lorene Blutmenge zu Gesicht kommt; dieses 
Hämatom ist vielleicht sogar als pralle Geschwulst 
der Gebärmutter von außen festzustellen. Die 
digitale Untersuchung bringt die Entscheidung 
nicht immer und ohne weiteres. Die ganze Cervix 
kann noch geschlossen sein oder jedenfalls für 
den Finger nicht zugängig; ihre besonders auf¬ 
fallende Auflockerung spricht für Prävia; ein 
hinter dem Scheidengewölbe, das abgeflacht, 
aufgehoben oder selbst scheidenwärts vorgetrieben 1 


427 


ist, sitzendes Polster kann vorliegender Kuchen 
sein aber auch Blut, teils geronnen, teils flüssig, 
aus der vorzeitig sich lösenden Placenta. 

Bei der Besprechung der Behandlung 
der Prävia sollen, wie gesagt, solche 
Umstände zugrunde gelegt werden, bei 
denen der Arzt auf sich allein gestellt ist, 
bei denen der Rat, ,,den Fall rechtzeitig 
in eine geeignete Klinik zu überweisen“ 
unausführbar ist, weil die nächste Klinik 
beziehungsweise die nächste Anstalt mit 
Fachhilfe (Geburtshelfer oder Chirurgen) 
Tagereisen weit entfernt ist. ln der Land- 
praxis ist ausnahmslos die Sache so ®), 
daß der Arzt sozusagen mitten in die 
Geburt hineingestellt wird und die Er¬ 
eignisse bei der, Placenta praevia folgen 
sich dann so rasch, daß ein selbständiges 
Handeln für den ganz allein stehenden 
Arzt eben zwingende Notwendigkeit ist. 
Derjenige Arztanfänger, der geneigt ist, 
stets mit einem Auge nach Hilfe zu schielen, 
wird schwerlich Selbständigkeit erringen. 
Natürlich ist ein gewisser Grundstock 
von Handfertigkeit unerläßliche Vor¬ 
bedingung; auf ihr kann der Arzt, der 
das Zeug zum Mediziner in sich hat, 
getrost weiterbauen; es ist durchaus nicht 
notwendig für ihn, daß er alles, was 
technisch von ihm verlangt wird, schon 
einmal gemacht hat; die harte Notwendig¬ 
keit ist eine treffliche Lehrerin. Die 
wenigsten Ärzte haben als Studenten eine 
Schädelperforation ausgeführt, und trotz¬ 
dem verfügt jeder Arzt über diese Opera¬ 
tion — weil er muß; aber der Durch- 
schnitts-Arzt-Anfänger wendet die Me- 
treuryse nicht an — weil er nicht muß: 
er kann sie durch die Braxton-Hicks- 
Wendung umgehen. Und doch ist die 
Wendung bei Zweifingermuttermund viel 
schwerer, als die Metreuryse, Damit soll 
nicht etwa gesagt sein, daß die Metreuryse 
die Behandlungsweise schlechtweg der 
Prävia sei. Ein einziges Verfahren für 
die Prävia gibt es nicht. Jeder Fall ver¬ 
langt seine eigene Behandlung; und für 
jeden Fall das passende Verfahren zu 
beurteilen, das eben macht den Arzt aus, 
den guten Arzt. Es gibt auch einmal 
eine Placenta praevia, eine zweifellose, 
die gar keinen Eingriff verlangt. 

Für den alleinstehenden Landarzt gibt 
es ini Bauernhause fünf Verfahren, die 
ihm für die Prävia zur Verfügung sind, 
wobei der einzelne gegebene Fall auch 
mehrere Verfahren erheischen kann. 


^) Dem Schreiber dürfte ein Urteil über diese 
Verhältnisse zukommen, weil er jahrelang Praxis 
1 auf dem platten Lande ausgeübt hat. 

54* 





428 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Dezember 


Gerufen wird der Arzt, weil’s blutet, 
unter der Geburt mehr oder weniger stark 
blutet. Der Gedanke an Prävia löst die 
Association aus: „Braxton-Hicks-Wen¬ 
dung, vielleicht Tamponade“; aber er 
’ verfügt, ohne es sich zuzutrauen, noch 
über drei weitere, ausgezeichnete Ver¬ 
fahren: die Blasensprengung, die Metr- 
euryse und die manuelle Dehnung (frei 
nach Bonnaire). Welches Verfahren an¬ 
wenden, das entscheidet der Befund, • 

Zunächst entscheidet der Befund, ob 
überhaupt ein Eingriff und ob er sofort 
nötig ist. Dauert die Blutung bei der 
Ankunft des Arztes an, so wird eih- 
gegriffen. Die Art des Eingriffs diktiert 
der Stand der mütterlichen Weichteile: 
Vollkommen eröffneter oder hand¬ 
tellergroßer Muttermund erlaubt auch bei 
Schädellage und hochstehendem Kopf die 
Wendung und Extraktion; bei toter 
Frucht wird, sobald der nachfolgende 
Kopf auch nur den geringsten Wider¬ 
stand findet, perforiert. Vollkommen 
geschlossener Muttermund erheischt 
die Tamponade der Scheide. Ein Finger 
Durchgängigkeit erlaubt zweierlei: die 
Blasensprengung oder die Scheideritam- 
ponade. Die Blasensprengung dann, wenn 
der Finger neben dem Mutterkuchen¬ 
gewebe vorbei an die Eihäute gelangen 
kann. 

Ein einfaches scharfes Häkchen wird, 
Häkchenspitze auf dem Zeigefinger, eingeführt, 
am Ziel wird die Spitze eihautwärts gedreht, ein¬ 
gehakt; das Häkchen wird dann auf der ruhenden 
Hand zurückgeführt, der Zeigefinger erweitert den 
Eihautriß möglichst weit. 

Für den blutstillenden Erfolg der 
Blasensprengung ist Schädellage am gün¬ 
stigsten, aber nicht Voraussetzung. ,,Das 
Sprengen der Blase wirkt oft Wunder“, 
sagt Bumm. Wenn man nicht an die 
Eihäute gelangen kann, so bleibt es bei 
der Scheidentamponade. 

Soll die Tamponade wirksam sein, so muß sie 
gründlich sein. Aber gründlich läßt sich die 
Scheide nur ausstopfen, wenn man sie brauchbar 
entfaltet. Die Scheide brauchbar entfalten, ist 
Sache des Speculums. Am besten dazu sind die 
Riemenspecula (nach Doyen) mit ordentlichen 
Ausmaßen (12 cm lang, 6 cm breit u. ä.); die 
vordere Platte kann die Kreißende selbst halten. 
(Narkose ist ja nicht nötig.) Trelat- oder Cusco- 
Speculum genügt aber auch. Beginnend an der 
einen Seite des hinteren Scheidengewölbes wird 
Schlinge an Schlinge des Stopfmittels (Jodoform¬ 
gaze, Vioformgaze) gelegt bis herunter zum 
Scheideneingange. (Die Kreißende wird vorher 

— oder wenn die Blutung Eile erfordert nachher 

— katheterisiert. Von der festen, unter kräftiger 
Pressung stehende Tamponade des hinteren 
Scheidengewölbes könnte man neben der blut¬ 
stillenden Wirkung auch noch eine Reizung der 
wehenerregenden Cervicalganglien erwarten, wel¬ 


che beiderseits der Cervix dem hinteren Scheiden¬ 
gewölbe aufliegen. 

Wenn die Tamponade durchblutet ist, so daß 
auch in der Wehenpause das Blut herausrieselt, 
nicht nur sickert, muß sie entfernt werden; die 
Neuuntersuchung ergibt ja wohl einen neuen 
Befund. Erneuern.soll man — womöglich — 
die Tamponade, der steigenden Infektionsgefahr 
wegen, nicht. Wenn die Durchblutung keine 
Entfernung fordert, das Stopfmittel auch nicht 
ausgestoßen wird, soll man nach 6 Stunden die 
Gaze herausnehmen und wieder untersuchen. 

Zweifingerdurchgängigkeit erlaubt viererlei: 
die Tamponade, die Blasensprengung, die Metr- 
euryse, die Braxton-Hicks-Wendung, die Finger¬ 
dehnung (Bonnaire). 

Zunächst eine Überlegung: Trifft der Arzt eine 
sehr ausgeblutete Frau [Ohnmächten, Pulslosig¬ 
keit 1®) usw.], so tut er gut, nicht sofort zur Ent¬ 
bindung und damit zu neuer Blutentziehung zu 
schreiten, sondern vor allem dem Blutverlust zu 
steuern durch Tamponade und dann den Verlust 
zu ersetzen: 2 Liter Kochsalz^^) (NaCl-Pastillen, 
Karl Engelhard, Frankfurt a. M.) subcutan, das 
etwa aufgefangene flüssige oder geronnene Blut 
durch Windel filtriert als Tropfklystier (Martin- 
sche Kugel durch Vogel-Dallhausen, Köln, Her¬ 
zogstraße); Bettfußende auf Stühlen hochstellen,, 
eine Tasse heißen, schwarzen Kaffee, einen 
Schluck Kognak, ein halbes Dutzend Spritzen 
Narkoseäther, subcutan verteilen. 

Die Tamponade als Verfahren scheidet 
aus, wenn bei gesprungener Blase ein 
oder beide, Füße zu fühlen sind: der Arzt 
drückt mit Hilfe des einen herabgezoge¬ 
nen Fußes den Steiß auf die blutende 
Placenta; auch wenn bei stehender 
Blase, Kopf im Fundus, kleine Teile 
durch den Muttermund festzustellen sind: 
Blasensprengung, Holen eines Fußes. 

Die Blasensprengung als therapeu¬ 
tische Maßnahme scheidet aus dann, wenn 
die Eihäute nirgends zu erreichen sind: 
Praevia centralis-totalis. Hier genügt die 
Blasensprengung als blutstillende Ma߬ 
nahme nicht (wie sie bei der Praevia 
marginalis-Iateralis-partialis sicher vor¬ 
her genügt), sondern hier muß die Blut¬ 
stillung von einer eingreifenderen Hand¬ 
lung geleistet werden: der Braxton-Hicks- 
Wendung oder der Metreuryse. 

Die Metreuryse scheidet aus bei allen 
Becken-Endlagen, sei es, daß die Blase 
steht oder gesprungen ist (natürlich bei 
allen Zuständen, bei denen der voran¬ 
gehende Teil im Becken steht; wenn es 
hier blutet: Blasensprengung). Die Ballon¬ 
behandlung scheidet auch aus bei vor¬ 
gefallener (nicht bei vorliegender) Nabel¬ 
schnur (ohne andere kleine Teile oder 
neben solchen). Sie scheidet auch aus 

^®) Bei Pulslosigkeit ist die Lage nicht ver¬ 
zweifelt, wohl aber bei Lufthunger. 

^‘) Heute ersetzt durch Norrnosal (anorgani¬ 
sches Serum) Sächsisches Serumwerk, Dresden. 
Gebrauchsanweisung in der Packung. 





Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


429 


bei ausgebluteten Frauen, weil die Metr- 
euryse als nur einleitende, vorbereitende 
Maßnahme später noch eine zweite (aber¬ 
mals blutkostende) Handlung notwendig 
macht. 

Die Braxton-Hicks-Wendung ‘ paßt, 
sobald zwei Finger in den Uterus eingehen 
können, die ganze Hand in der Scheide^^), 
für alle Fälle. 

Es ereignet sich, daß der Arzt bei Nur- 
Zweifinger-Durchgängigkeit Schwierigkei¬ 
ten bei der Wendung oder beim Versuche 
der Metreuryse hat. Da ist die m an u e 11 e 
Dehnung der Cervix und des Mutter¬ 
mundes ein einfaches und sicheres Ver¬ 
fahren der Erweiterung auf jede ge¬ 
wünschte Weite. Man nennt diese Art 
der gewaltsamen Weichteilerweiterung 
nach Bonnaire, einem noch lebenden 
Pariser Geburtshelfer. Aber die Bon¬ 
naire sehe Methode besteht in gleich¬ 
zeitiger Einführung beider Zeigefinger 
in den Muttermund derart, daß beide 
Handrücken einander zugekehrt sind; 
rundum streichende, drückende Bewe¬ 
gungen dehnen den Ring; dann gesellen 
sich zu den beiden Zeigefingern beide 
Mittelfinger usw. Einfacher und ebenso 
wirksam ist das ,,früher allgemeines)“ 
geübte Verfahren, zuerst einen Finger, 
dann zwei Finger, dann drei ein und der¬ 
selben Hand einzuführen ,,und nach all¬ 
mählicher Dehnung die halbe oder auch 
die ganze Hand es)“. ,,Allmähliche 

Dehnung“ heißt allerdings: den einen 
Finger fünf Minuten liegen lassen, bis der 
nächste folgen darf, so daß bis zur Hand- 
durchgängigkei t etwa eine halbe Stunde 
verstreicht (je nach der Nachgiebigkeit 
der Teile). Bei strömender Blutung kann 
man also nicht für die ganze Hand er¬ 
weitern, wohl aber für die Braxton-Hicks- 
Wendung. Holländische Ärzte, Meurer^"^) 
und Treub^^), berichten allerdings von 


^2) Es erleichtert die Handlung, die ganze 
Hand, also auch den Daumen, in die Scheide zu 
legen. Allerdings bildet Bumm, Bild 567 und 568, 
den „Braxton-Hicks“ ab, mit Daumen außerhalb 
der Scheide. D öd erlein, Geburtshilflicher 
Operationskurs, 4. Aufl., Abb. 79 und 80, bildet 
ebenfalls den Daumen außen befindlich ab, läßt 
aber im Wortlaut ,,die eine Hand in die Scheide“ 
einführen (S. 88); Schröder-Olshausen-Veit 
hat die ganze Hand in der Scheide (12. Aufl., 
S. 372); Hammerschlag, Operative Geburts¬ 
hilfe, spricht sich nicht darüber aus, aber Franz- 
Pentzoldt-Stintzing,VII. Band, rät ausdrück¬ 
lich als Erleichterung die ganze Hand, und bildet 
auch so ab. 

13) Schröder, Lehrbuch, 12. Aufl., S. 314 
unter Accouchement force. 

1-») Mschr. f. Geburtsh. 1903, Bd. 17 S. 1299 
und 1902, Bd. 16 S. 114 und 1904, Bd. 19 S. 426ff. 


manueller vollständiger Erweiterung 
in drei und fünf Minuten, selbst bei Erst¬ 
gebärenden. Aber sie berichten auch von 
Cervixrissen, die in dem schwammigen, 
reich vaskularisierten Prävia-Cervix häu¬ 
fig tödlich sind. Wenn demnach die 
manuelle Dehnung mit großer Vorsicht 
anzuwenden ist, so ist sie doch ein brauch¬ 
bares Verfahren und in manchen Fällen 
sehr willkommen. 

Der Metreuryse steht der Arzt der 
Allgemeinpraxis ablehnend gegenüber. Die 
Gründe trifft Bumm, indem er sagt: ,,Die 
Methode .... erfordert aber größeres Ge¬ 
schick“ (als der Braxton-Hicks ist ge¬ 
meint) jjUnd einen komplizierteren Appa¬ 
rat und wird deshalb in der allgemeinen 
Praxis die Wendung kaum verdrängen“ 
(S. 642). Heutzutage kommt noch eine 
Schwierigkeit dazu, nämlich die Be¬ 
schaffung des Metreurynters, der Braun- 
schen Gummiblase. Aber in der Baumm- 
schen sterilen Tierblase ist ein voll¬ 
wertiger Ersatz gefunden. (In Einzel¬ 
packungen, steril, gebrauchsfertig, durch 
die Firma B. Braun-Melsungen.) Besteht 
der Arzt auf der Gummiblase, so muß 
er dieselbe, um sie immer gebrauchsfertig 
zu haben, wie alle Giimmisachen in einem 
verschlossenen, zinkblechausgeschlagenen 
Schränkchen, auf dessen Boden ein Schäl¬ 
chen 3%iger Carbollösung oder Terpentin¬ 
öl steht, entfaltet und hängend aufbewah¬ 
ren. Vor dem Gebrauch wird sie, luftleer 
gemacht und abgeklemmt, gekocht. Zum- 
Aufspritzen nimmt man eine 50-ccm- 
Spritze und gekochtes, einfaches Wasser. 
Nach der Aufspritzung klemmt man den 
Gummischlauch mit Gefäßklemme ab, 
befestigt an ihr einen Mullstreifen, an 
welchem ein Halbpfundgewicht über das 
Bettfußbrett herabhängt; länger als sechs 
bis acht stunden soll der Ballon nicht liegen. 

Ob der Metreurynter-Einführung auf 
jeden Fall die Blasensprengung voraus¬ 
zugehen hat (intra-amniale Metreuryse) 
oder ob der Ballon neben die Feuchtblase 
in die Gebärmutter gelegt werden soll 
(extra-amniale Metreuryse), darüber ist 
man sich nicht einig. Jedenfalls gibt für 
die nachherige innere Wendung und 
Extraktion die Schonung dej Eiblase 
viel günstigere Verhältnisse. Statistisch 
ist bezüglich Mutter- und Kindmortalität 
kein Unterschied zwischen intra-amnialer 
und extra-amnialer Metreuryse i^). Bei 

^^3) Zimmermann, Zbl. f. Gyn. 1909, tritt 
in einem sehr überzeugten, schönen Aufsatz mit 
Abbildungen des extra-amnialen Ballons für das 
letztere Verfahren ein. 





430 Die Therapie der 


Kyphotischen mit Herzverlagerung und 
bei unkompensierten Herzfehlern kann 
die extra-amniale Lagerung des Ballons 
einen Collaps (wegen des plötzlichen 
Volunien- und Druckzuwachses) herauf¬ 
beschwören; aber auch die plötzliche Ent¬ 
leerung der Fruchtblase. Narkose ist zur 
Metreuryse nicht notwendig. Einstellung 
mit Rinneiispekula, eine Lippe oder beide 
Muttermundlippen mit je einer Kugel¬ 
zange fassen und entgegenziehen; Ballon 
zusammengefaltet einführen. 

Die Ergebnisse zwischen Braxton- 
Hicks-Wendung und Metreuryse sind be¬ 
züglich der Müttermortalität gleich; aber 
beim Braxton-Hicks sterben, da man 
die Frucht nach der Wendung sich selbst 
überlassen muß, nicht extrahieren darf, 
drei Viertel der Kinder, die Metreuryse 
rettet ebensoviele. 

Die Nachgeburtsperiode bei Prä- 
via ist wohl nicht minder gefahrdrohend, 
wie die Eröffnungszeit. Sie ist lebens¬ 
bedrohend nicht deswegen, weil wieder 
sehr reichliche Blutungen einsetzen wer¬ 
den, die man nicht sofort kausal behan¬ 
deln könnte, sondern vielmehr deshalb, 
weil die Halbentbundenen möglicherweise 
den für eine regelrechte Placentaaus- 
stoßung fälligen Blutaufwand (er kann 
schwanken von fast 0 g bis 500 g, Bumm, 
S. 201) nicht mehr leisten kann; die 
Anämische ist vielleicht so nahe an der 
Grenze des Erträglichen, daß ein Neu¬ 
verlust von 10 g die zwischen Hoffen und 
Fürchten hin und her schwankende Lage 
zur schlimmen Entscheidung bringt. Von 
vornherein müßte man glauben, daß die 
Präviaplacenta, die ja schon in der 
Eröffnungsperiode teilweise gelöst war, 
in der Nachgeburtszeit besonders leicht 
ausgestoßen wird. Diese Erwartung er¬ 
füllt sich ,,gewöhnlich sofort^^^)“ bei der 
Praevia totalis-centralis; beim Marginal¬ 
sitz der Prävia bedarf es häufig nur des 
Crede (leere Harnblase und kontrahierter, 
in die Mittellinie gestellter. Uterus!). 
Jedenfalls darf bei ungeborener Prävia 
nicht übersehen werden ein Blutsickern 
in die Scheide (Bildung von Blutklumpen) 
oder in die Gebärmutter (Erscheinen von 
Blutklumpen bei der Expression). Die 
Prävia-Nachgeburtszeit neigt zu solchen 
Vorgängen, weil der im Cervix oder im 
unteren Uterinsegment eingepflanzte Ku¬ 
chen keine Muskelunterlage hat, welche 
durch Zusammenziehung die utero-pla- 
centaren Gefäße verschlösse. Das Corpus 

Richter, Geburtshilfliches Vademekum 
1913, Fall 61. 


Gegenwart 1920 Dezerhber 


Uteri kann bei diesen Sicker¬ 
blutungen hart sein. Es ist für 
den Arzt untunlich, die Halbentbundenen 
und sich selbst lange mit Auspreßver- 
suchen nutzlos abzuquälen; wenn der 
Crede auch in Narkose nicht zum Ziele 
führt, muß der Entschluß der manuellen 
Lösung .und Entfernung des Mutter¬ 
kuchens gefaßt und in der gleichen Nar¬ 
kose unverzüglich ausgeführt werden. 
Freilich kann es sich ereignen, daß wir 
die Frau durch den Eingriff zwar vom 
Verblutungstode retten, aber tödlich in¬ 
fizieren. Die Infektion ist neben der 
Blutung die Hauptgefahr bei der Placenta 
praevia. Wenn vorher auch noch tam¬ 
poniert war, ein Metreurynter lag, Brax¬ 
ton-Hicks, Bonnaire ausgeführt wurde, 
ist die Gefahr einer Infektion vergrößert. 
Aber es sind durchaus nicht mehrere 
intrauterine Eingriffe nötig, um nach 
Placenta praevia ein schweres, ja tötliches 
Wochenbettfieber heraufzubeschwören; 
der Zustand neigt an sich zur Infektion 
und zu bösem Verlauf derselben: wegen 
der nahe der Außenwelt sitzenden emp¬ 
findlichsten Stelle des kreißenden und ent¬ 
bundenen Uterus, der Placentarstelle mit 
ihren weit offenen Gefäßen, Blutgerinn¬ 
seln und ihrer Säfteanreicherung; jede 
untersuchende, jede operierende Hand, 
jedes Hilfsgerät kommt mit ihr in Be¬ 
rührung, muß an ihr vorbei; und wegen 
der Anämie, welche die Widerstands¬ 
fähigkeit der Puerpera gegen die statt¬ 
gehabte Infektion herabsetzt, aufhebt. 
Die Mortalität der manuellen Placenta- 
lösungen (überhaupt, nicht nur bei Pla¬ 
centa praevia) beträgt nach RosenthaP'^) 
13 %, die Morbidität 30 bis 66 % ^'^). 

Eine dritte, für die Placenta praevia bezeich¬ 
nende Gefahr, die glücklicherweise selten ist, 
bringt die Luftembolie, Lufteintritt ins eröffnete 
Gefäß der Placentarstelle. Daß sie bei vorliegendem 
Mutterkuchen besonders gern sich ereignet, hängt 
wieder mit der exponierten Lage der Placentar¬ 
stelle am Eingänge der Eihöhle zusammen. Ver¬ 
meiden läßt sich der Zufall, indem man bei 
Placenta-praevia-Eingriffen keine Beckenhoch¬ 
lagerung ^®), sondern höchstens Steinschnittlage 
(Oberkörper und Becken in gleicher Höhe, weitest 
gebeugte Knie- und Hüftgelenke) einnehmen läßt, 
und in Steinschnitt läge auch keine Seitenlage 
benutzt, weil dabei der schwere Fundus nach der 
Seite und tiefer fällt als die Placentarstelle liegt 
und so ansaugend wirkt. Man faßt also die Luft- 

Zitiert in Hammerschlag, Operative Ge¬ 
burtshilfe. 

IS) Bei geburtshilflichen Untersuchungen und 
Maßnahmen im ländlichen Querbette tritt leicht, 
ohne daß der Arzt es besonders anstrebt, Becken¬ 
hochlagerung ein, weil der Oberkörper der Unter¬ 
suchten in den muldenförmigen Strohsack des 
Bauernbettes hineinsinkt. 





Dezfember^ Die Therapie der 


«embolie bei Placenta praevia als eine Aspira¬ 
tionsembolie auf; man könnte auch an die Mög- 
iichkeit einer Impressionsembolie denken, da¬ 
durch zustande kommend, daß bei Handlungen 
-an der Haftstelle und beim Vorbeigehen an ihr 
Luft in offene Gefäße eingepreßt würde; ein 
Vorgang, der sicher auch vorkommt, wenn auch 
wohl seltener als die Ansaugung. Tritt der 
Zwischenfall, obwohl man ihn zu vermeiden 
:suchte, trotzdem ein, so handelt es sich darum, 
ihn zu erkennen; das ist nicht leicht, denn er 
gleicht aufs Haar einem anämischen Kollaps (mit 
oder ohne motorischer Unruhe): Lufthunger, 
Cyanose, Verfall der Gesichtsziige, verschwunde¬ 
ner Radialpuls. Die Unterscheidung bringt die 
Untersuchung des Herzens: An der Pulmonar- 
-arterie und an Tricuspidalis ein systolisches und 
auch , diastolisch noch hörbares merkwürdig 
glucksendes Geräusch, das leicht zu unterscheiden 
ist von dem sogenannten anämischen, weichen, 
blasenden, nur systolischen Geräusch; außerdem 
ändert sich die Eigenschaft des Luft- oder Schaum¬ 
geräusches beim Aufrichten der Befallenen dahin, 
daß es anders lautend, besonders leiser wird oder 
gar verschwindet, weil ein Teil der schaumbilden¬ 
den Luftblasen den Ort wechselt; sie steigen 
empor entweder an den höchsten Punkt des 
rechten Vorhofes, selbst in die Cava, oder sie ent¬ 
weichen in die Lungen. In jedem Falle, besonders 
in letzterem, bessert sich.der Zustand der Kranken 
zusehends: die Cyanose verschwindet und der 
Puls wird fühlbar Beim anämischen Herz¬ 
geräusch ändert sich durch das Aufrichten des 
Oberkörpers im Gegensatz zur wagerechten Lage 
nichts. Die Behandlung der Luftembolie besteht 
also — im Gegensätze zu derjenigen der Anämie 

im Auf richten des Oberkörpers. 

Die Nachgeburtszeit der Pla¬ 
centa praevia ist gezeichnet durch zv^ei 
Ereignisse, deren Zeichen unglücklicher¬ 
weise abermals die Blutung ist. Das ist 
der ungenügende Verschluß der Placentar- 
gefäße und dev Cervixriß. Beide sind die 
Folge der ungewöhnlichen, unnatürlichen 
Einpflanzungsstelle des Kuchens. Der 
muskelarme Cervix, der überdies noch als 
papierdünner Schlauch zur Bildung des 
unteren Uterinsegmentes mitverbraucht 
ist, kann keine gefäßschließende Kon¬ 
traktion aufbringen; er kann sich höch¬ 
stens, nach der Ablösung der Placenta, 
in Falten legen; aber eine Membran 
plombiert kein großes Gefäß. Die auf¬ 
gelockerte, dünne, mit Bluthohlräumen 
durchsetzte Cervix ist, wie natürlich, zer- 
reißlicher als ein gesunder Halsteil; für sie 
wird eine Beanspruchung, welche ein ge¬ 
sundes Gewebe durch elastische Nach¬ 
giebigkeit übersteht, zur Überbeanspru¬ 
chung: sie bricht, reißt ein und reißt 
unverhältnismäßig weit ein; unverhält¬ 
nismäßig weit will sagen, daß der Prävia- 
Cervix-Riß nicht wie der Riß einer ge¬ 
sunden, überbeanspruchten Cervix’ ge- 

19) Im Zbl. f. Gyn. 1920, Nr. 30, S. 832ff. 
schildern Lichtenstein und Thies je einen 
klassischen Fall von Metreurynter- und Spontan- 
Juftembolie. 


Gegenwart 1920 431 


staltet ist, der an der Außenseite, Schei¬ 
denseite, bis zum Scheidengewölbe reicht 
und an der Innenseite, Lumen¬ 
seite auch nicht höher hinaufgeht, 
sondern der Prävia-Cervix-Riß erstreckt 
sich inwändig bis zum inneren Mutter¬ 
mund und selbst ins Parametnum. Solche 
Risse sind auch in der Klinik für die Naht 
von. der Scheide her nur durch eine 
Operation zugänglich-zu .machen. Für 
den Landarzt im Bauernhause bleibt nur 
die Tamponade, die mauerfeste utero- 
vaginale Tamponade. Lege artis aus¬ 
geführt genügt sie wohl in den meisten 
Fällen auch beim hohen Cervixriß; immer 
genügt sie bei der atonischen Nach¬ 
blutung aus der Prävia-Placentar-Stelle. 

Die Ausführung dieser Tamponade ist nicht 
einfach und ohne Narkose kaum wirksam zu 
gestalten. Die ganze Hand ist in der Scheide, zwei 
bis drei Finger liegen im Uterus. Die andere Hand 
schiebt einen breiten Jodoformgazestreifen in die 
Scheide, bis sich einige Schlingen des Stopfmittels 
auf der inneren Hand angesammelt haben; sie 
werden von ihr in den Uterus gebracht, gegen die 
Viertubenecke geleitet und dort mit Hilfe der 
äu.ßeren gegendrückenden^Hand angepreßt. Und 
so geht es weiter; die äußere Hand schiebt immer 
neue öaze nach, welche von der inneren Hand 
Bausch für Bausch in die Höhle eingebracht und 
an der Uteruswand angelegt wird; und die äußere 
Hand modelliert gewissermaßen von den Bauch¬ 
decken her den Uterus über das eingebrachte 
Stopfmittel durch stärksten Druck. So wird die 
Placentarstelle, die ganze Uterushöhle, der Riß, 
das Scheidengewölbe, die ganze Scheide bis heraus 
zum Vulvaeingang mit Jodoformgaze (10 m und 
mehr!) ausgemauert. Wenn noch zwei bis drei 
Stunden lang eine gescheite Hebammö die Tam¬ 
ponade so hält, daß sie mit der einen Hand die 
Gebärmutter gegen die Schoßfuge drückt, mit 
der andern das Stopfmittel von der Vulva her 
entgegenpreßt, so dürfte jede Blutung stehen. 
Durch Eisbeutel auf den Fundus, Mutterkorn, 
Tenosin subcutan werden Nachwehen angeregt. 
Die Tamponade bleibt 24 Stunden liegen; nach 
12 Stunden muß katheterisiert werden, weil die 
feste Tamponade die Harnröhre zudrückt. 

Der Momburgsche Schlauch, ein l%m langei¬ 
daumendicker Gasschlauch aus rotem Paragummi 
ist heute wohl kaum zu beschaffen; er macht die 
uterovaginale Tamponade nicht entbehrlich, weil 
man ihn nach zwei Stunden abnehmen soll und 
weil es dann weiter bluten wird; er ist nicht un¬ 
gefährlich, weil er Quetschungen, ja Zerreißungen 
der Aorta selbst, des (gefüllten) Darmes und 
parenchymatöser Organe (Niere, Leber) machen 
kann, ohne bei fettreichen Bauchdecken immer 
wirksam zu sein. Er läßt auch sonst manchmal 
im Stiche, dann vielleicht, wenn die Arteriae 
spermaticae internae (s. ovaricae) oberhalb des 
gelegten Schlauches von der Aorta oder von den 
Arteriae renales abgehen und so weit rückwärts, 
in der Tiefe verlaufen, daß sie durch den Schnür- 
druck nicht mehr getroffen werden. 

Henckel hat empfohlen, die der Naht 
unzugänglichen Cervixrisse so zu j3e- 
handeln, daß die Cervix rücksichtslos 
herunter und zur Seite gezogen wird; nun 





432 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Dezember 


soll ein kräftiger Museux (oder zwei) der 
üteruskante entlang hinaufgeführt wer¬ 
den, so weit es die Nachgiebigkeit der 
Teile erlaubt (Vorsicht, keine Durch- 
stoßung) und "soll dort oben eingehakt 
und ganz geschlossen werden. Dann kann 
die Uterina mit gefaßt und abgeklemmt 
sein. Die Zange bleibt zweimal 24 Stunden 
liegen. Der wahrscheinlich mitgefaßte 
Ureter wird vernachlässigt. (Urinprüfung 
nach der Abnahme.) 

Die Frage, bei wie großem Blut¬ 
verlust der Tod eintritt, läßt sich exakt 
nicht beantworten. Jedenfalls hat die 
Erfahrung gezeigt, daß Frauen Blut¬ 
verluste besser vertragen als Männer, und 
magere, zartaussehende Frauen, besser 
als fette, vollblütige. Bei zwei Liter ist 
jedenfalls für alle die Grenze, deren Be¬ 
schreiten oder gar Übertreten die Kata¬ 
strophe bedeutet. Aber es hat praktisch 
wenig zu sagen, ein Maß anzugeben: das 
klinische Bild ist unzweideutig genug. 

Ist nun für den Arzt, der in der 
bitteren Lage ist, den äußersten Folgen¬ 
des Blutverlustes gegenüberzustehen, 
alles getan? Ist er dazu verurteilt, er¬ 
geben dem letzten Kampfe um das ent¬ 
fliehende Leben zuzusehen oder winkt 
selbst in dieser Stunde noch eine Hoff¬ 
nung seiner Kunst? Wir wissen alle aus 
dem Felde, daß es ärztlicher Geschick¬ 
lichkeit gelingt, pulslosen Anämischen, ja 
Sterbenden das Leben zu retten durch 
Einverleibung fremden Menschenblutes 
unmittelbar in den Blutstrom (Trans¬ 
fusion), und die Frauenärzte insbesondere 
wissen durch ihren Fachkollegen Thies 
in Leipzig, daß aussichtslos ausgeblutete 
Extrauterin-Schwangere — nach "der Blut¬ 
stillung — durch Zurückführung ihres, in 
die Bauchhöhle verlorenen Blutes in das 
Gefäßgebiet am Leben erhalten werden 
und sich in erstaunlich kurzer Zeit erholen. 

Kann der Landarzt in seiner unvor¬ 
bereiteten Umgebung diese im wahrsten 
Sinne lebenrettende Handlung vor¬ 
nehmen? 

Daß der Eingriff einfach und unab¬ 
hängig ist von einer Einstellung der 
Umgebung und von der Bereitschaft eines 
großen Rüstzeuges, ist im Felde unzählige 
Male bewiesen. 

An Gerätschaft ist notwendig: ein Irrigator 
mit 1% m Schlauch und eineStrauß-Moritzsche 
dicke Nadel. An Spendern fehlt es auf dem Lande 
nie; im Gegenteil, der Arzt hat die Auswahl. 
Die Angehörigen, die Nachbarschaft ist bereit, 
zur Lebensrettung % Liter Blut und mehr zu 
opfern. Der Arzt wird Personen unter 20 Jahren 
ausschließen, und unter den gesunden Mädchen 


zwischen 20 und 30 Jahren Umschau halten. 
Wenn der Eingriff Erfolg haben soll, muß der 
Augenblick, da der erste Tropfen Spenderblut in 
die Empfängervene fließt, schnell herbeigeführt 
sein. Und das kann in der Tat in längstens einer 
halben Stunde der Fall sein. 

Kochendes Wasser ist in jedem Gebärhause 
vorhanden. 

Auskochen des Irrigators nebst Schlauch und 
der Strauß-Moritzschen Nadel, einer Haken¬ 
pinzette, eines Ein-Liter-Glas- oder Porzellan¬ 
gefäßes, eines hölzernen Kochlöffels. 

Aderlaß bei der Spenderin, etwa % Liter, aus 
der Ellenbeugenvene. 

Die Spenderin Hegt, indem sie den (linken) 
Arm im rechten Winkel von sich abstreckt und 
auf einen Stock, in der vollen Faust gehalten, 
stützt. Reinigung der Ellenbeuge (Benzin, Äther, 
Brennspiritus und dergleichen oder nur Seifen¬ 
wasser). Stauung am Oberarm (Handtuch,. 
Radialpuls nicht abstauen). Die gewählte Vene 
kann man eröffnen entweder mit der Strauß- 
Nadel selbst oder mit einem Skalpell. Mit diesem 
gewinnt man einen stärkeren Blutstrom, also Zeit; 
das Skalpell muß aber eine sehr scharf schneidende 
Spitze haben; es soll deswegen nicht — stumpfend 
— ausgekocht, sondern nur mit Brennspiritus 
gründlich abgerieben werden. Wählt man zur 
Eröffnung die Nadel, so umgreift die linke Hand 
den Spenderina'rm, Daumen auf der Vene und 
sticht von lateral her ein; das Blut wird in das 
untergehaltene (ausgekochte und etwas ab¬ 
gekühlte) Glas- oder Porzellangefäß aufgefangen 
und. mit dem (ausgekochten) Kochlöffelstiel,, 
schon im Einfließen geschlagen (defibriniert). Die 
Spenderin rotiert den Arm nach auswärts, um 
ein Abfließen des Blutes auf die Haut zu ver¬ 
meiden (Asepsis) und öffnet und schließt ab¬ 
wechselnd ihre Faust um den Stock, um durch 
Muskelkontraktionen auch die tieferen - Venen 
auszupumpen. In einer Minute fließen so etwa 
100 ccm Blut aus. 

Bei einer Skalpell-Venen-Wunde geht es schnel¬ 
ler. Die Eröffnung geschieht so, daß der Arzt —■ 
wieder von lateral her — die Vene durch" die 
Haut hindurch aufschlitzt. Und zwar wird die 
Vene nicht längsgeschlitzt, auch nicht quer er¬ 
öffnet, sondern schräg zu ihrem Verlaufe. Indem 
die Messerspitze in einem Winkel von 45® auf 
die Haut aufgesetzt wird, beginnt der Hautschnitt 
am lateralen Umfange der Vene, geht in ihre 
vordere Wand und in ihr hinauf, mindestens 1 cm 
weit. Es soll Bedacht genommen werden darauf, 
daß der Hautschnitt länger ist als der Gefä߬ 
schnitt, was man beim Einstechen und besonders 
beim Herausführen des Messers erzielen kann.. 
Der Arzt ist darauf gefaßt, in der Haut einen 
unerwartet derben Widerstand zu finden. Wenn¬ 
alles gut gelungen ist (die Schärfe des Messers 
gewährleistet den Erfolg), dann schießt das Blut 
im Bogen hervor. Es gibt Zwischenfälle. So 
kann es sich ereignen, daß beim Nadelgebrauch 
das Blut in so spärlichem Druck herausfließt, daß 
es den Arm trifft, das darf nicht sein. Ein 5 cm 
langes Gummischläuchlein verlängert die Nadel 
genügend, um den Arm zu vermeiden. Beim 
Skalpellgebrauch kann eintreten, daß ein Fett- 
träubchen den Hautschlitz verstopft: es wird mit 
der Pinzette abgenommen; oder, daß Haut- und 
Gefäßschlitz nicht aufeinanderpassen. Verschie¬ 
bung der Haut stellt die Übereinstimmung her. 
Nach Abfluß von 500 bis 600 ccm wird das bis 
dahin fortwährend geschlagene Blut mit der 
gleichen Menge physiologischer Kochsalzlösung 
(NaCl-Pastillen), das in der Zwischenzeit gekocht 



Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


43S 


und auf 37® bis unter 40® C, jedenfalls aber 
unter 40® C (über 40® C Methämoglobinbildung) 
abgekühlt war, zusammengegossen und damit ist 
die Lösung für die Empfängerin fertig. Eine 
gestaute Ellenbeugenvene (oder die gestaute j 
Saphena interna an der Innenfläche der Tibia 
beziehungsweise in der Umgebung des Malleolus 
internus) wird durch Querschnitt und präpa- 
rando ^®) freigelegt auf eine Strecke von 5 bis 
10 cm. In der Nähe des oberen und unteren 
Wundwihkels wird ein Seiden-, Zwirn- oder 
Catgutfaden unter dem Gefäß durch- und knot-r 
bereit gelegt. Die Vorderwand der Vene wird 
aufgeschlitzt mit dem Messer; dasselbe muß sehr 
scharf und spitz sein, sonst gelingt dieser Teil 
des Eingriffes nicht. Beim Scheitern desselben 
knüpft man den unteren (distalen) Faden, schnei¬ 
det das Gefäß quer durch, hebt mit der Haken¬ 
pinzette die Vorderwand an und führt hier die 
Strauß-Moritzsche Nadel laufend ein. An sie ist 
angeschlossen • der 1 % ni lange Gummischlauch 
mit Irrigator, in welchen durch einen darüber ge¬ 
legten vierfachen Mullstreifen die Blut-NaCI- 
Wassermischung gegossen ist. Mit Hilfe des 
oberen (proximalen) Fadens ist die Nadel in das 
Gefäß eingebunden und die Stauungsbinde ist 
gelöst. In jedem Falle wird nach Entfernung der 
Nadel sowohl der obere als auch der untere Faden 
über dem Gefäße geknotet und das Zwischenstück 
der Vene herausgeschnitten. Der Irrigatorgummi¬ 
schlauch paßt nicht auf die Strauß-Moritzsche 
Nadel, weil seine Lichtung zu weit ist. Man muß 
seine Lichtung reduzieren mit Hilfe eines (gläser¬ 
nen) ,,Reduktionsstückes“, d. h. eines 5 bis 10 cm 
langen Glasröhrchens, dessen eines Ende die 
Lichtung des Irrigatorschlauches, dessen anderes 
Ende die Lichtung der Strauß-Moritzschen Nadel 
hat. Zwischen dem Glasreduktionsröhrchen und 
der Strauß-Moritzschen Nadel ist das oben schon 
benutzte 5 bis 10 cm lange Gummischläuchlein 
eingeschaltet. 

Der Arzt als Wissenschaftler will wissen, mit 
welchen Venen er bei dieser mittelbaren Trans¬ 
fusion zu tun hat. 

Die anatomischen Erinnerungen, die mit der 
Zeit abzublassen .pflegen, seien hier kurz auf¬ 
gefrischt. Die oberflächlichen Venen des Armes 
verlaufen schon vom Vorderarm an auf der 
Beugeseite, obwohl sie ihr Quellgebiet auf dem 
Handrücken haben, und zwar: das radiale 
Quellgebiet liegt auf der Rückseite der Daumen¬ 
gegend und wird gesammelt in der Vena cephalica, 
welche sich über den Radialrand des Vorder¬ 
armes auf die Beugeseite hinüberschlägt und so 
an der Daumenseite des Unterarmes über die 
Ellenbeuge zum lateralen Bicepsrand des Ober¬ 
armes verläuft und an der äußeren Bicepsfurche 
zur Mohrenheimschen Grube emporstrebt, um 
hier in die Vena subclavia einzumünden. Das 


^®) Die Assistenz kann man sich durch einen 
Wundsperrer ersetzen. 


ulnare Quellgebiet liegt auf der Rückseite der 
Kleinfingergegend und besonders in der*gut sicht¬ 
baren Vena salvatella (Name aus dem Arabischen) 
des vierten Zwischenknochenraumes; es wird ge¬ 
sammelt in der Vena basilica (arabisch basilik = 
innere Vene), welche sich um den Ulnaerand des 
Unterarmes auf die Beugeseite herumschlägt, 
hier ulnar in die Höhe läuft, durch die Ellenbeuge 
zum medialen Bicepsrand zieht und in der inneren 
Bicepsfurche oder erst in der Achselhöhle in die 
Vena brachialis einmündet. 

Diese beiden Venen, die radiale Cephalica und 
die ulnare Basilica sind in der Ellenbeuge ver¬ 
bunden durch einen Ast, der von der Cephalica 
nach der Basilica zieht und die Ellenbeuge in 
schräger • Richtung voa radial distal nach ulnar 
proximal überschreitet; das ist die Vena mediana 
cubiti. Sie ist ein starkes Gefäß, weil sie fast 
sämtliches Blut der radialen Cephalica nach der 
ulnaren Basilica überführt (so daß erstere am 
Oberarm sehr schwach geworden ist) und weil sie 
aus der Tiefe des Unterarmes herauf gespeist wird 
durch. Anastomosen, welche von den die Arteria 
radialis und ulnaris je doppelt begleitenden Venen 
herkommen. 

Die Vena mediana cubiti ist das Gefäß bei 
unserer Entnahme und unserer Zuführung von 
Blut. 

Aber es gibt Abänderungen des beschriebenen 
Verlaufes. 

Die häufigste ist folgende: Außer der radialen 
Hautvene, der Vena cephalica, und der ulnaren 
Hautvene, der Vena basilica, gibt es noch eine 
mittlere Hautvene der Beugeseite des Vorder- 
arrnes, die Vena mediana antibrach.ii; sie läuft in 
der‘Mitte des Vorderarmes bis gegen die Ellen¬ 
bogenbeuge; in der Beugegrube angelangt, teilt 
sie sich in zwei Äste, von denen der eine zur 
Cephalica nach außen läuft, die Vena mediana 
cephalica, der andere zur Basilica nach innen, die 
Vena mediana basilica; die Mediana basilica ist 
die stärkere und dient unserem Zwecke. 

Wie ersichtlich, ist kein einziger der Hand¬ 
griffe, aus welchen sich die mittelbare Transfusion 
zusammensetzt, schwierig; sie bestehen aus Kleine 
arbeit, wie sie viel schwieriger der Landarzt aus¬ 
führt, wenn er einen Fremdkörper aus der Horn¬ 
haut herausholt, wenn er eine Trommelfellparacen- 
these macht. Schwierig an der Ausführung ist, daß 
sie sich aus mehreren solchen kleinen, an sich 
technisch leichten Handgriffen zusammensetzt, 
deren reibungsloses Ineinanderspiel Schlag auf 
Schlag, nur den Erfolg gewährleistet. 

Aber in der Lage, für welche die 
Transfusion empfohlen ist, gibt es nur 
die Wahl zwischen untätig den Tod er¬ 
warten und entschlossen den letzten Ver¬ 
such zu unternehmen in der nicht un¬ 
berechtigten Hoffnung, ein Menschen¬ 
leben zu retten. 


Cretinenbehandlung und Rassenhygiene. 

Von Dr. Finkbeiner, prakt. Arzt, Zuzwil (Schweiz). 


Legislative Bestrebungen. 

Die moderne Rassenhygiene verlangt 
nicht mehr die Elimination der Minüs- 
varianten, sondern bloß deren Aus¬ 
schaltung von der Fortpflanzung, und 


(Schluß.) 

sie verlangt auch nicht einmal mehr die 
Kastration, welche ja wegen der in 
ihrem Gefolge unvermeidlichen inner¬ 
sekretorischen Störungen immer eine be¬ 
denkliche Verstümmelung ist, sondern sie 

v55 


Dezeratieir 


434 


•Die iTherapie der Qegenwa^ 1920 


begnügt , sich mit der Vasektomie oder 
mit der Röntgensterilisation, wobei so¬ 
wohl die Potentia coeundi, wie die sekun¬ 
dären Geschlechtsmerkmale erhalten blei¬ 
ben. Es ist hier nicht der Ort, die prak¬ 
tischen Versuche mit solchen Verfahren, 
wie sie aus verschiedenen Staaten schon 
vorliegen, zu referieren, es ist bloß zu 
konstatieren, daß dieser Weg auch für 
die Prophylaxe des Cretinismus durchaus 
gangbar erscheint. Dabei ist auf zwei Be¬ 
denken besonders hinzuweisen. 

Einmal wird man einwenden: wozu 
denn überhaupt Cretine sterilisieren? sie 
sind ja ohnehin schon impotent Selbst¬ 
verständlich hat die Operation bei echten 
Vollcretinen keine Indikation, obschon 
daran erinnert werden muß, daß echt 
cretinische Frauenzimmer immerhin le¬ 
bensfähige Kinder bekommen können. 
Wohl aber kämen als Kandidaten für die 
operative Sterilisation alle jene leicht 
cretinoiden Menschen in Betracht, von 
denen mit einiger Wahrscheinlichkeit eine 
minderwertige Nachkommenschaft zu er¬ 
warten ist. Die Schwierigkeit liegt nicht 
im Erkennen dieser Individuen, sondern 
in deren großer Zahl! 

Und hier erhebt sich sofort der zweite 
Eihwand: ist es denn so sicher, daß von 
cretinoiden Eltern unweigerlich cretine 
Kinder in die Welt gesetzt werden? 
Gehen durch konsequente Sterilisierung 
all der fraglichen Bevölkerungselemente 
dem Staat nicht auch eine Menge brauch¬ 
barer Sprößlinge verloren? Gewiß ist 
dies der Fall und sind sehr auffallende 
Beispiele dieser Art bekannt genug. Aber 
auch solche anscheinend gesunden Ab¬ 
kömmlinge aus Cretinfamilien können 
(und werden sehr häufig) ihrerseits durch 
latente Vererbung (Vererbung nach dem 
Genotypus, nicht nach dem Phänotypus) 
degenerierte Nachkommen erzeugen. Hier 
gilt es sich zu entscheiden, und w^er den 
Zweck will, nämlich das Verschwinden 
der Endemie, der darf auch das hierzu 
taugliche Mittel nicht scheuen, auch wenn 
dadurch zeitweise die Bevölkerungsver¬ 
mehrung in Frage gestellt wird. Dann 
ist es eben die Qualität auf Kosten der 
Quantität bevorzugt.* 

Als weitere gesetzgeberische Ma߬ 
nahme zur Eindämmung der Endemie 
wäre eine Erschwerung der Eheschließung 
in Betracht zu ziehen. Während die 
Züchter nur qualifizierte Tiere zur Nach¬ 
zucht verwenden und also bewußt Se¬ 
lektion treiben, ist beim Menschen in 
diesem Punkt alles erlaubt und dem Zu¬ 


fall überlassen. Unser schweizerisches 
Zivilgesetzbuch z. B. verlangt von den 
Nupturienten bloß, daß sie nicht in 
nahem Grade blutsverwandt und nicht 
geisteskrank sondern „urteilsfähig*' seien. 
Der Entscheid über diese Erfordernisse 
liegt beim Zivilstandesbeamten, eventuell 
kann ,,jedermann, der ein Interesse hat, 
Einsprache ... erheben** und muß die¬ 
selbe in Form einer gerichtlichen Klage 
verfechten. Aber auch dann liegt wieder 
der Entscheid über die Urteilsfähigkeit 
beim Gericht, also bei einer durchaus 
nicht sachverständigen Instanz, welche 
an Expertengutachten nicht gebunden 
ist. Kein Gericht würde es wagen, einen 
Cretinoiden, der einigermaßen fähig ist, 
seinen Lebensunterhalt selbst zu ver¬ 
dienen, für ,,urteilsunfähig** zu erklären; 
theoretisch wie praktisch ist also bei uns 
die Ehefähigkeit der Cretinoiden unan¬ 
gefochten, was für die weitere Ausbrei¬ 
tung des Cretinismus von grundlegender 
Bedeutung ist. 

Es wäre also zu fordern, daß in Ende¬ 
miegegenden die Eheschließung nur ge¬ 
stattet wäre, wenn durch ärztliches Attest 
das Fehlen einer cretinoiden Disposition 
bei den Brautleuten bezeugt wird. Haben 
wir uns aber einmal zu diesem schwer¬ 
wiegenden Entschluß durchgerungen, so 
dürfen wir natürlich beim Cretinismus 
allein nicht stehen bleiben; es ist dann 
auch auf andere leicht vererbliche Leiden 
(Tuberkulose, Geistes- und Geschlechts¬ 
krankheiten) zu achten und es erhebt sich 
die Frage, ob nicht auch gewisse morali¬ 
sche und finanzielle Garantien von den 
Ehekandidaten zu fordern seien? (in 
dem Sinne, daß nur bei Nachweis eines 
einigermaßen gesicherten Lebensunter¬ 
halts und eines guten Leumundes die 
Ehe gestattet wäre). Aber dadurch ist 
schon der Vorschlag ad absurdum ge¬ 
führt; denn es leuchtet ohne weiteres 
ein, daß jeder von uns ohne Ausnahme 
mindestens in irgendeinem der ob¬ 
genannten Punkte als belastet, somit 
als disqualifiziert anzusehen sein muß. 
Will man aber jeweilen nur die höchsten 
Grade von Belastung als Ehehindernisse 
gelten lassen, so wird die ganze Regelung 
wirkungslos und öffnet sich der Willkür 
ein allzu weiter Spielraum. Und wer soll 
die Zeugnisse ausstellen? Der Hausarzt? 
— er ist an seiner Klientel zu sehr inter¬ 
essiert. Ein Amtsarzt oder eine Kom¬ 
mission? — hier fehlt die persönliche 
Kenntnis der Kandidaten und sind Be¬ 
trugsmöglichkeiten gegeben. Sieht man 






IJeztober 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


435 


von einer gesetzlichen Regelung ab und 
'sucht die Lösung der Frage auf dem Boden 
der Freiwilligkeit, etwa so, daß kein 
Mädchen ,einem Manne Gehör schenkt, 
wenn er nicht im Besitz eines Attestes ist, 
:so steht solcher Lösung die Blindheit der 
Leidenschaft im Wege, die achtlos über 
.alle (auch ärztlichen) Ratschläge hin¬ 
weggeht. 

Sollen die schon bestehenden gesetz¬ 
lichen Ehehindernisse aus Blutsverwandt¬ 
schaft verschärft werden? Sollen Ehen 
zwischen Ortsbürgern (da diese in engerem 
•oder weiterem Grad immer unter sich 
verwandt sein müssen) überhaupt ver¬ 
boten sein? Auch das wären Fehlschüsse, 
die weit übers Ziel hinaus gingen. So 
verderblich auch ein während Jahr¬ 
hunderten geübtes Ineinander-Heiraten 
sein kann, so steht doch auch fest, daß 
bei gesunden Stämmen Inzucht .nicht 
schädlich, sondern veredelnd wirkt, wenn 
nur von Zeit zu Zeit frisches Blut zu¬ 
geführt wird. 

Wenn man in einer allzu frühen 
Eheschließung die Wurzel alles Übels sieht 
'(es gibt solche Autoren!), so wäre durch 
Heraufsetzen des gesetzlichen Heirats- 
.alters leicht Abhilfe zu schaffen. Aber 
jede Erschwerung der Eheschließung be¬ 
günstigt doch bloß die illegitimen Ver¬ 
bindungen, welche gewiß niemand als 
ein Palladium gegen cretinische Ent¬ 
artung ansehen wird. (Es gibt übrigens 
sichere Endemiegebiete mit durchschnitt¬ 
lich ungewöhnlich hohem Heiratsalter 
und geringer Fruchtbarkeit.) Die Gefahr 
■ der allzu frühen Eheschließung liegt nicht 
im ungenügenden Alter der Eltern, son¬ 
dern meines Erachtens eher darin, daß 
in solchen Fällen die Kinderzahl abnorm 
groß und dadurch das Keimmaterial im 
Lauf der Generationen erschöpft wird; 
aber welcher Gesetzgeber würde und 
könnte sich zu einer Limitierung der 
Kinderzahl entschließen!? 

Auf dem Wege der Ehegesetzgebung 
scheint mir also für die Prophylaxe des 
Cretinismus auch heute noch ein prakti¬ 
sches Ziel nicht zu winken. Man hat auch 
schon vorgeschlagen (Schallm ayer), 
durch eine Wehrsteuer, welche nur die 
vom aktiven Dienst Befreiten trifft, die 
Wehrfähigen als die durchschnittlich rasse¬ 
tüchtigeren Elemente zu begünstigen^^). 
Eine solche Militärpflichtersatzsteuer 

Bei Wegfall der allgemeinen Wehrpflicht 
• entfällt natürlich auch die Möglichkeit der Er- 
.hebung einer Ersatzsteuer. 


müßte aber, soll sie wirksam sein, so 
unerträglich hoch angesetzt werden, daß 
den Untauglichen überhaupt jede Exi¬ 
stenzmöglichkeit dadurch entzogen wird; 
auch dies ein unerreichbares Ziel und 
kaum erstrebenswert. Denn unter den 
Untauglichen befinden sich doch auch 
noch sehr wertvolle Rassenelemente, die 
man nicht ohne Schaden für die Allge¬ 
meinheit so stark benachteiligen darf. Der 
Soldat ist schließlich nicht der einzige 
und vielleicht nicht einmal der wertvollste 
Menschentypus. 

Soviel über gesetzgeberische Versuchs¬ 
möglichkeiten zur Eindämmung der cre- 
tinischen Endemie; die weitere Frage, 
ob die 

natürliche Entwicklung 

einem spontanen Verschwinden der En¬ 
demie zustrebe, scheint durch die von 
Ewald (S. 140) erwähnte Tatsache, daß 
gegenwärtig in mehreren deutschen Staa¬ 
ten (Baden, Thüringen, Harzgegend) bloß 
noch Kropf, jedoch kein Cretinismus 
mehr vorkommt, schon in bejahendem 
Sinne entschieden zu sein. Als ma߬ 
gebende Faktoren werden Verkehrsver¬ 
hältnisse und Kriege angeführt. Darauf 
ist nun noch kurz einzutreten. 

Verkehr und Industrie spielen zweifel¬ 
los bei der Verbreitung der Seuchen eine 
hervorragende Rolle. Aber während wir 
die Infektionskrankheiten überall dort 
antreffen, wo lebhafter Verkehr herrscht, 
so findet sich der Cretinismus umgekehrt 
gerade da, wo der Verkehr und der mo¬ 
derne Industriebetrieb noch nicht hin¬ 
gekommen sind; und wenn sonst die 
Seuchenverhütung durch Isolierung, Qua¬ 
rantäne usw. den Verkehr fernzuhalten 
sucht, so sind alle Autoren darüber einig, 
daß der Cretinismus zurücktritt, sobald 
bisher abgeschiedene Gegenden dem Ver¬ 
kehr erschlossen werden. Da nun die 
Entwicklung unverkennbar und ohne 
unser zutun dahin geht, Verkehr und 
Industrie in die hintersten Winkel zu 
tragen, so dürften wir davon automatisch 
auch eine Zurückdrängung der Endemie 
erwarten; ob im übrigen die Industrialisie¬ 
rung für bisher unberührte Bezirke im 
sozialen und hygienischen Sinn einen 
großen Vorteil bedeutet, das bleibe da¬ 
hingestellt. Was die Cretinenprophylaxe 
anbelangt, so ist das wesentliche und 
sanierende Moment nicht die Maschine 
als solche oder gar die Fabrikarbeit, auch 
wohl nicht einmal die bessere Lebens¬ 
haltung, sondern die Zufuhr frischer Be- 

55 * 



436 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Dezember 


völkerungselfemente in Gegenden, wo bis¬ 
her vorzugsweise Endogamie geübt wurde. 
Das dürfte im Sinne" der vorstehenden 
Ausführungen kaum zweifelhaft sein. 

Diese Entwicklung vollzieht sich, wie 
schon bemerkt, ohne unser Zutun. Wenn 
mäh durchaus sie begünstigen will, so 
wäre daran zu denken, durch Steuer- 
privilegi'en usw. die Ansiedlung der In¬ 
dustrie in geeigneten Gegenden zu er¬ 
mutigen. Ferner käme Erleichterung 
der Einbürgerung und vermehrte Gleich¬ 
stellung von Ortsbürgern und Nieder¬ 
gelassenen in Frage (z. B. Verdrängung 
des Heimatprinzips in der Arm.enpflege 
durch das Territorialprinzip; Anteil ah 
den Gemeindegütern für die Fremden). 
Aber auf Entgegenkommen ist in solchen 
Dingen seitens cer ländlichen Gemeinden 
nicht zu rechnen. 

Um zu zeigen, in welchem Maße die 
erwähnte Entwicklung unser Volk schon 
umgestaltet hat, führe ich bloß an, daß 
die schweizerische Bevölkerung im Jahre 
1850 bei zirka 2 400 000 Einwohnern 
6% kantonsfremde Schweizer und 3% 
Ausländer auswies; bis 1910 waren die 
ersteren auf 20%, die letzteren auf 12% 
angewachsen (die Bevölkerung auf zirka 
3 750 000). Es hatten sich somit die 
Ortsbürger, die noch 1850 mehr als 
neun Zehntel ausmachten, auf zwei 
Drittel der Gesamtbevölkerung vermin¬ 
dert. Es scheint mir nicht ungereimt, 
die Abnahme des Cretinismus in dem 
erwähnten Zeiträume, die allgemein be¬ 
hauptet wird, auf diese lebhaftere Volks- 
vermischung^“) zu beziehen; dies um so 
mehr, als der Cretinismus, wie zahlen¬ 
mäßig exakt nachweisbar ist, sich heute 
nur noch in den kleinsten Ortschaften 
und Weilern findet, die größeren Städte 
und Industriedörfer aber auffallend ver¬ 
schont sind. — 

Da der Krieg (wie die Industrie) auf 
die Zusammensetzung der Staaten und 


^2) Es ist eine Tatsache, an der man nicht 
achtlos Vorbeigehen darf, daß die Fremden in 
der Schweiz (zumeist Reichsdeutsche und Ita¬ 
liener) eine geringere Sterblichkeit, eine größere 
Geburtenzahl und damit einen höheren Bevöl¬ 
kerungszuwachs haben, als die Einheimischen. 

Hier wird die Abnahme der Entartung durch 
die lebhaftere Volksvermischung zu erklären 
versucht; weiter oben war aber zielbewußte Rein¬ 
zucht (allerdings in Verbindung mit zeitweiser 
Blutauffrischung!) als prophylaktisches Heil¬ 
mittel angeführt worden. Auf diesen schein¬ 
baren Widerspruch kann hier nicht näher ein¬ 
gegangen werden; er läßt sich bei allseltiger 
Kenntnis der Regeln der Vererbungswissenschaft 
ziemlich leicht lösen. 


der Völker bekanntlich tiefgreifende Wir¬ 
kungen auszuüben vermag, so ist es- 
nicht verwunderlich, daß er auch für 
Entstehung und Verschwinde^ cretini- 
scher Entartung verantwortlich gemacht 
wird. Lombroso (zitiert nach Ewald) 
hat hervorgehoben, daß in gewissen fran¬ 
zösischen Departementen, die durch die- 
Aushebungen und Kriege von 1789 bis 
1873 ihrer felddienstfähigen Jugend be¬ 
raubt wurden, nach dieser Zeit, als 
Produkt der Ehen der zurückgebliebenen 
kropfigen Individuen und der schlech¬ 
teren sozialen und hygienischen Zustände, 
Cretinismus auf getreten sei. Anderer¬ 
seits sollen schwer yerseuchte Gegenden 
wie das Wallis infolge der Napoleonischea 
Kriege ihre Endemie großenteils ver¬ 
loren haben. Es ist beides recht wohl 
denkbar, und die gleichen Momente dürf¬ 
ten auch heute noch wirksam sein. Ohne 
an frisch blutende Wunden zu rühren, 
darf ich doch vielleicht einige allbekannte 
Tatsachen anführen und in ihrer Bedeu¬ 
tung für unsere Endemie zu würdigeir 
versuchen. 

Europa hat in den letzten fünf Jahren 
zirka zehn Millionen Männer im besten 
Alter verloren und etwa ebenso viele 
dürften als Kriegsinvalide für die Er¬ 
haltung der Rasse nur noch in beschränk¬ 
tem Maße in Frage kommen. Es leuchtet 
ein, daß nach diesem Aderlaß, der einen 
sehr erheblichen Teil der Plusvarianten 
eliminiert hat, die Minusvarianten rein 
zahlenmäßig ein bedenkliches Überge¬ 
wicht bekommen müssen. Vergessen 
wir jedoch nicht, durch welche Momente- 
diese Einbuße in ihrer verderblichen 
Wirkung korrigiert wird. Vor allem wird, 
so lange die allgemeine Dienstpflicht 
nur die Männer beansprucht, durch das 
Verschontbleiben des weiblichen Ge¬ 
schlechts der Schaden zur Hälfte wieder 
ausgeglichen. Sodann ist an die un¬ 
geheure Durchrüttelung großer, bisher 
stagnierender Volksmassen zu denken.. 
Riesenhafte Heeresmassen haben jahre¬ 
lang in fremden Ländern gestanden und 
Gelegenheit gehabt, auf die ansässige 
Bevölkerung Einfluß zu gewinnen; fast 
ebenso große Heere haben als Kriegs¬ 
gefangene in friedlicher Tätigkeit fremde- 
Länder gesehen. Jede Nation ist als. 
Sieger in Feindesgebiet eingezogen und 
jede hat auch die Schrecken der Invasion 
kennen gelernt. Es ist undenkbar, daß 
solche Völkerwanderungen spurlos vor¬ 
übergehen sollten; die dadurch bewirkte 
allseitige Durchmischung und Blutauf- 




Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


437 


frischung kann und muß neue Entwick¬ 
lungsmöglichkeiten schaffen, von denen 
in bezug auf die cretinische Degeneration 
und deren Sanierung nur Gutes zu 
erhoffen ist. Und noch etwas! Wenn der 
männermordende Krieg es in erster Linie 
auf die Plusvarianten abgesehen hat und 
hier eine sehr unglückliche Auslese hielt, 
so haben Hungersnot und Seuchen 
<Fleckfieber, Grippe usw.) in ausgleichen¬ 
der Gerechtigkeit auch die Minusvarianten 
heimgesucht. Ich will diesen Gedanken 
nicht weiter ausführen, sondern bloß 
betonen, daß das zu allen Zeiten, nicht 
bloß heute, so gewesen ist, und daß heute 
das ganze Europa (mit Einschluß der 
Neutralen) unter den Kriegsfolgen leidet. 
Wenn wir hier und da erfahren, daß ganze 
Anstalten und Siechenhäuser ausgestörben 
sein sollen, so ist dies vom humanitären 
Standpunkt aus entsetzlich; aber die 
kühl rechnende Rassenhygiene vermag 
darüber leichter hinwegzukommen. 

Es ist mir ganz klar, daß meine Aus¬ 
führungen über Cretinenbehandlung und 
Rassenhygiene das Thema keineswegs 
erschöpfen und mit ihrem reservierten 
Abwägen aller Pro und Contra weder die 
heute noch maßgebenden Vertreter der I 


Thyreoidintherapie, noch die überzeugten 
Parteigänger der Rassenhygiene befriedi¬ 
gen können. Ich betrachte es auch keines¬ 
wegs als meine Aufgabe, positive Vor¬ 
schläge zu machen und unfehlbare Re¬ 
zepte anzugeben, und ich weiß mich frei 
von jeder Überschätzung des Cretinen- 
problems und seiner volkswirtschaft¬ 
lichen Bedeutung. Immerhin handelt es 
sich hier um ein Grenzgebiet mit viel¬ 
seitigen Beziehungen, und es ist ein 
Grenzgebiet, in welches auch der ge¬ 
wöhnliche Praktiker ohne allzu kompli¬ 
zierten wissenschaftlichen Apparat sich 
einen gelegentlichen Streifzug gestatten 
darf. 

Literatur: Allara, Vincenzo, der Cretinis- 
mus, seine Ursachen und seine Heilung; über¬ 
setzt von Hans Merlan. Leipzig 1894. — 
Dem me, Hermann, Über endemischen Cretinis- 
mus. Bern 1840. — Ewald, C. A., Die Erkran¬ 
kungen der Schilddrüse usw. Leipzig 1909. — 
Guggenbühl, Hans Jakob, Die Heilung und 
Verhütung des Cretinismus (Mitt. Schweiz. Naturf. 
Ges.) 1853. — Rösch, Untersuchungen über 
den Cretinismus in Württemberg. Erlangen 1844. 
— Scholz, Wilhelm, Klinische und anatomische 
Untersuchungen über den Cretinismus. Berlin 
1906. — Derselbe, Cretinismus (in Kraus & 
Brugsch, Spez. Path. u. Ther. inn. Krankh.; 
Urban & Schwarzenberg). — Taussig, Siegmund, 
Kropf und Cretinismus. Jena 1912. 


Das yyRepetitorium der inneren Therapie"^ von G. Klemperer fällt diesmal 
wegen Raummangel aus und wird im nächsten Heft fortgesetzt werden. Gleich¬ 
zeitig beginnt im nächsten Heft das yyRepetitorium der chirurgischen Therapie*^ 
von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Moritz Borchardt, Direktor der HI. chirurgischen 
Univ.-Klinik im Städt. Krankenhaus Moabit, Berlin, zu erscheinen. 


Bücherbesprechungen. 


Dr. Wilhelm Stekel, Störungen des Trieb- 
und Affektlebens (Die parapathischen Er¬ 
krankungen). IV. Die Impotenz des 
Mannes (Die psychischen Störungen der 
männlichen Sexualfunktion). Berlin-Wien 1920, 
Urban & Schwarzenberg, gr. 8». XII, 482 S. 
Preis 50 M., geb, 65 M. 

Das Schlußbekenntnis des Verfassers: ,,Die 
Psychotherapie“ hat ihre Berechtigung genau so 
wie die Pharmokotherapie, beleuchtet den Stand¬ 
punkt, von dem aus dieser neue Band geschrieben 
worden ist, ebenso wie die drei vorhergehenden. 
Es handelt sich um eine einseitige, aber geniale 
und faszinierende Betrachtung der psychischen 
Untergründe der männlichen Impotenz, in die 
uns Stekel, wie wir es von ihm gewöhnt sind, 
eine Fülle von tiefen und überraschenden, oft 
auch allzu kühnen, immer aber interessanten 
Einblicken tun läßt. Der Ausspruch Stekels 
(S. 74), daß man ohne gründliche Analyse des 
individuellen sexuellen Geschmackes keine Be¬ 
handlung eines Impotenten durchführen könne, 
ist sicher schon vor Freud und Stekel von 
allen einsichtigen Ärzten beherzigt worden, jeder 
hat nach den individuellen psychischen und (was 
mindestens ebenso wichtig!) physischen Be¬ 


sonderheiten des Einzelfalles geforscht, ohne 
allerdings so häufig infantile, Ödipus- und andere 
Komplexe, „Christusneurosen“, ,,Mutter- oder 
Vaterleibsträume“ zu finden, wie dies bei den 
Psychoanalytikern par excellence der Fall ist. 
Neuerdings erkennen diese letzteren ja immer 
mehr auch die Bedeutung somatischer Faktoren 
für die'Ätiologie der Impotenz, in erster Linie 
die Bedeutung von Störungen der inneren Sekre¬ 
tion, neben den psychischen an, wie dies auch 
Stekel in der vorliegenden Schrift getan hat, 
die neben der eigentlichen „Psychoanalyse“ zahl¬ 
reiche neue und interessante Beobachtungen über 
die besonderen Bedingungen der männlichen Po¬ 
tenz, über Pollutionen, Onanie und Potenz, Im¬ 
potenz und Ehe, Ejaculatio praecox, Impotentia 
paralytica, Orgasmusstörungen, Krieg und Im¬ 
potenz, Beruf und Sexualität usw. usw. bringt, 
zum Schluß freilich der ausschließlich psycho¬ 
analytischen Behandlung das Wort redet. 

Stekels neues Werk kann als eine eigenartige 
und umfassende Darstellung der Impotenz des 
Mannes sowohl den Spezialisten als auch den all¬ 
gemeinen Praktikern warm empfohlen werden. 

Iwan Bloch (Berlin). 




438 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Dezember 


Erich Sonntag, Grundriß der gesamten 
Chirurgie. Ein Taschenbuch für Studierende 
und Ärzte. Berlin 1920. Verlag von Julius 
Springer. Preis 38 M. und Sortimenlszu- 
schlag. 

Der Zweck des Buches wird von dem Autor 
im Vorwort mit folgenden Worten charakterisiert: 
„Die Darstellung der gesamten Chirurgie in Form 
eines kurzgefaßten Grundrisses, welcher dem 
Mediziner, vor allem dem studierenden, ein 
Kompendium für das Studium, ein Vademekum 
für den Unterricht und ein Repetitorium für das 
Examen in Form eines Taschenbuches bieten 
soll.“ Demgemäß enthält das Buch folgende 
Abschnitte: Allgemeine Chirurgie, spezielle Chirur¬ 
gie, Frakturen und Luxationen, Operationslehre, 
Verbandlehre. 

Sonntags Grundriß ist mit ungewöhnlichem 
Fleiß und großer, auf eigenen Erfahrungen an 
der Payrschen Klinik sich begründenden Kennt¬ 
nissen der gesamten Chirurgie geschrieben. Schon 
hierdurch erhebt es sich weit über den Stand 
der bekannten Bücher ähnlicher Art, die zumeist 
nur kurzgefaßte Auszüge der gebräuchlichen 
Lehrbücher sind. Der „Grundriß“ ist, wenn 
auch oft nur in Form von Stichworten,' dem 
studentischen Leser, an den er sich in erster 
Linie wendet, ein willkommener Führer, um ihm 
sein im Kolleg und durch^ das Studium der Lehr¬ 
bücher erworbenes Wissen in systematischer 
Form wieder aufzufrischen. Auch der Arzt wird 
ihm manchen praktischen Wink entnehmen 
können. Bei dem gewaltigen Lehrstoff der Ge- 
samtmedizin wird das Buch sicher auch ein gern 
gesehener Berater in Examenangelegenheiten 
sein. Hayward. 


Refe 

hl letzter Zeit sind zur Behandlung 
von Pneumonien große Dosen Campher 
mehrfach empfohlen worden. Campher 
soll auf die Pneumokokken specifisch 
bactericid wirken und durch Erweiterung 
der Lungengefäße den pneumonischen 
Herd rascher zur Resorption bringen. 
Daß aber bei höhen Campherdosen auch 
Vergiftungserscheinungen auftreten kön¬ 
nen, beweist ein Fall, der von Klein 
veröffentlicht wird. Es handelt sich um 
einen Studenten von 19 Jahren mit 
Bronchopneumonie. Verordnet wurde 
unter anderem zweimal täglich 10 ccm 
Oleum camphoratum forte. Eine halbe 
Stunde nach der vierten Einspritzung 
wurde Patient cyanotisch und bewußtlos, 
der Puls war unfühlbar, die Atmung hatte 
ausgesetzt. Erst nach 40 Minuten lang 
fortgesetzter künstlicher Atmung kommt 
sie wieder in Gang. Nach zwei Stunden 
trat wiederum Bewußtlosigkeit und. At¬ 
mungsstillstand ein. Künstliche Atmung 
P/4 Stunden lang. Beim Erwachen tob¬ 
suchtsartige Erregung. Diese Erscheinun¬ 
gen gleichen völlig denen, die bei akuter 
Camphervergiftung bekannt sind. Da 


Curt Adam, Taschenbuch der Augenheil¬ 
kunde für Ärzte und Studierende. Mit 
72 Textabb. u. 5 färb. Tafeln. Berlin-Wien 1920.. 
Urban & Schwarzenberg. 

Es spricht für die große Beliebtheit und Ver¬ 
breitung des Buches, daß zwölf Jahre nach der 
ersten Auflage in jetziger Zeit trotz aller Not 
im Buchhandel bereits die vierte Auflage hat 
erscheinen können. Sie hat wie die vorhergehen¬ 
den eine erhebliche Vermehrung und Vertiefung 
des Inhalts erfahren, und aus dem „Taschenbuch“' 
ist ein stattliches Buch von 400 Seiten geworden. 
In knapper Form, ohne unverständlich zu werden,., 
wird in geradezu erschöpfender Weise auf allen 
Gebieten das Wesentliche dargestellt, oder doch, 
soweit berührt, daß bei allen Vorkommnissen 
der praktische Arzt Rat und Führung findet.. 
Es sind genau die Grenzen bezeichnet, bis zu 
denen sein Können geht, und wo das Gebiet des 
Spezialisten beginnt. Die Therapie wird überall: 
besonders betont, aber auch die Differential¬ 
diagnose hat Verfasser in allen Kapiteln aus¬ 
giebig behandelt. Besonderer Wert ist auf den 
Zusammenhang zwischen Allgemeinerkrankung, 
und Augenleiden gelegt. Alle wirklichen Fort¬ 
schritte der letzten Jahre sind in der neuen Auf¬ 
lage berücksichtigt, und die Ergebnisse moderner 
Therapie kritisch behandelt. Auch der Spezialist 
wird daher in dem Buch, besonders im allgemeinen 
Teil, eine wertvolle Orientierung finden. EbensO' 
wird er die im Anhang gegebene reichhaltige 
Rezeptsammlung, das Verzeichnis der Blinden¬ 
anstalten, die Bemerkungen über Gutachten usw. 
mit Nutzen verwenden können. Gute Abbildungen 
im Text und auf Tafeln illustrieren die Schil¬ 
derungen. Fehr. 


rate. 

die Untersuchung des verwandten Prä¬ 
parates seine chemische Reinheit ergab, 
kann es sich im vorliegenden Falle nur 
um eine Camphervergiftung gehandelt 
haben. Obwohl Verfasser in anderen 
Fällen günstige Einwirkung hoher 
Campherdosen auf den Verlauf von Pneu¬ 
monien gesehen hat, hält er es doch für 
angezeigt, bei Bronchopneumonien zur 
Vorsicht zu mahnen. • Nathorff. 

(M. Kl. 1920, Nr. 32.) 

Über die von Grafe (Heidelberg) be¬ 
gründete Anwendung von' Caramel bei 
Diabetikern, welche G. Klemperer in 
dieser Zeitschrift referiert und empfohlen 
hat, berichtet neuerdings aus der Heidel¬ 
berger Klinik Dr. Reimer. Er verfügt 
über 55 Fälle leichtester bis schwerster 
Art und kommt zu außerordentlich gün¬ 
stigen Resultaten. Von allen Diabetikern 
wird Caramel vorzüglich assimiliert und 
auch für eine gewisse Zeit nach Beendi¬ 
gung der Caramelkur anhaltende Ent¬ 
zuckerung, ein Sinken der Acidosewerte 
und beträchtliche Erhöhung der Kohle¬ 
hydratbilanz in der überwiegenden Mehr- 




Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


439 


heit der behandelten Fälle festgestellt. 
Besonders günstig reagieren jugendliche 
Kränke. Dazu kommt die durch den 
hohen Caloriengehalt des Caramels be¬ 
dingte Erleichterung und Verbesserung 
der Ernährung. Am günstigsten wunien 
vier sehr schwere Fälle beeinflußt. Uber 
die Dauer der günstigen Einwirkung sind 
endgültige Angaben noch nicht zu 
machen. Bei sieben mit Caramel behan¬ 
delten Fällen, die sich zu späteren Ter¬ 
minen wieder in Behandlung begaben, 
konnte die Kur wegen Zuckermangels 
während des Krieges nicht wiederholt 
werden. Diese Fälle zeigten daher Ab¬ 
nahme der Kohlehydrattoleranz. Die 
Caramelkuren sollen jedenfalls öfters 
wiederholt werden, und es wäre inter¬ 
essant zu erfahren, ob diese Wieder¬ 
holungen ebenso günstig wirken und 
vielleicht sogar die Nachhaltigkeit der 
Wirkung erhöhen. 

Als störende Nebenwirkungen kom¬ 
men in Betracht; leichte und durch Tan¬ 
nin oder Opiumpräparate leicht stillbare 
Diarrhöen und in seltenen Fällen Wasser¬ 
retention. Eine Verringerung oder wesent¬ 
liche Verzögerung der therapeutischen 
Wirkung tritt dadurch nicht ein. ln 
keinem einzigen Falle wurde durch die 
Caramelverabreichung eine nachteilige Be¬ 
einflussung des weiteren Krankheits¬ 
verlaufs bewirkt. 

Jedenfalls dürften die Mitteilungen 
Reimers schon deshalb zu weiteren Ver¬ 
suchen anregen, weil das Caramel eines 
der wenigen für den Diabetiker gut 
assimilierbaren Kohlehydrate darstellt, 
das durch keinerlei wesentliche störende 
Neberiwirkungen schädlich wirkt. Ver¬ 
wendet wurde die von Merck herge¬ 
stellte Caramose (= Traubenzuckercara- 
mel) oder durch Erhitzen von Rohr- oder 
Traubenzucker hergestelltes Caramel. Das 
Erhitzen geschieht am besten in einem 
möglichst flachen und breiten Aluminium¬ 
topf (Rohrzucker, auf 175®, Trauben¬ 
zucker auf 175®) bis zum' Verschwinden 
jedes süßen Geschmackes und der Ver¬ 
gärbarkeit bis auf geringe Reste. Man 
gibt 150—200 g 6—12 Tage hindurch am, 
besten in Kaffee oder Kognak oder zu 
Puddings oder Cremes verarbeitet. 

. Blumenthal (Berlin). 

'"(oT^ATcirrkh^^ Heft"3/4.) 

Über einen Fall von Erythromelalgie 
bei Polycy thaemia vera berichtet 
Zondek. Beide Krankheitsbilder sind 


einzeln nicht häufig — in der Oppen- 
heimschen Poliklinik wurde unter 25 000 
Fällen nur. zweimal Erythromelalgie 
beobachtet —, ihre Kombination aber 
ist sehr selten und bis jetzt nur einige 
Male beschrieben worden. Es handelt 
sich um einen 39 Jahre alten Arbeiter, 
der mit der Diagnose ,,Plattfußbeschwer¬ 
den“ eingeliefert wurde. Die Unter¬ 
suchung ergab: Starke Milzvergrößerung, 
Rötung und Cyanose d»f Haut und der 
Schleimhäute. Blutbild: 7 000 000 Ery- 
throcyten, 26 000 Leukocyten, Hämo¬ 
globin 110®/o, Färbeindex 0,78. Im Aus¬ 
strich keine Polychromasie, keine Normo- 
blasten, keine Anisocytose. Weiße Blut¬ 
körperchen: unter anderem 12®^ eosino¬ 
phile Leukocyten, 4% neutrophile Myelo- 
cyten. Starke Durchblutung und Schwel¬ 
lung der Zehen des rechten Fußes, des 
rechten Fußrückens und der lateralen. 
Seite der unteren Hälfte des rechten 
Unterschenkels. Alle diese Teile zeigen 
starke Hyperhydrosis und Hyperästhesie^. 
Der Patellar- und Achillessehnenreflex 
rechts, ist erheblich gesteigert, Babinsky 
rechts deutlich positiv. Die grobe motori¬ 
sche Kraft des rechten Armes und Beines, 
ist wenig, aber deutlich und konstant 
herabgesetzt. Die Schmerzen im rechten 
Beine wurden wochenlang beobachtet und' 
waren jeder Therapie unzugänglich. Alle 
zwei bis drei Wochen traten Schmerz¬ 
anfälle auf. Über die Ätiologie beider 
Krankheitsbilder ist Sicheres nicht be¬ 
kannt. Ursprünglich wurde die Ery¬ 
thromelalgie von Cannois als Tropho- 
neurose und Angioneurose aufgefaßt, es 
hat sich aber herausgestellt, daß sie als. 
Symptomenkomplex bei den verschie¬ 
densten anscheinend meist centralen, aber 
auch bei peripherischen Nervenerkrankun¬ 
gen auftritt. So ist Kombination von 
Erythromelalgie mit Dystrophia mus- 
culorum, mit Tumor albus,' mit Tabes 
beobachtet worden. Während früher 
mehr peripherische angio-neurotische 
Symptome bei der Kombination von 
Erythromelalgie und Polycythaemia vera 
beobachtet worden sind, handelt es sich 
im vorliegenden Fall um eine organische 
centrale Erkrankung. Bei ersteren könnte 
die gleiche Ätiologie für beide Erkran¬ 
kungen vorliegen, bei dem beschriebenen 
Falle wäre es auch möglich, daß vorüber¬ 
gehende Gefäßstörungen im Centralner¬ 
vensystem auf Grund oder als Ursache 
der Polycythämie auch für die Erythro¬ 
melalgie in Betracht kämen. Dem Ver¬ 
fasser erscheint für den vorliegenden FaU 



440 Die Therapie der Gegenwart 1920 Dezember 


die Annahme des Kausalnexüs für beide 
Erkrankungen natürlich. 

Nathorff (Berlin). 

(B. kl. W. 1918, Nr. 50.) 

Auf die Schwierigkeiten, manche Fälle 
wn chronischer Grippe, wie sie im Au¬ 
sschluß an die letzten Epidemien beob¬ 
achtet worden sind, von Lungentuber¬ 
kulose zu unterscheiden, weist Treupel 
erneut hin. Bei chronischen Grippefällen 
finden sich Nachtsehweiße, dauernd er¬ 
höhte Temperaturen, ständig nachweis¬ 
bare Veränderungen sowohl an den unte¬ 
ren und seitlichen Lungenteilen wie an 
den Spitzen, ferner Blut im Auswurf und 
auch elastische Fasern. Da dies alles 
Zeichen sind, die für Tuberkulose als 
charakteristisch gelten, so ist die Kennt¬ 
nis ihres Vorkommens bei chronischer 
Grippe von großer praktischer. Bedeu¬ 
tung. Auch röntgenologisch sind diese 
Fälle schwer von Tuberkulose abzu- 
:gren:^en, da durch Verdichtungen und 
bindegewebige Stränge , der Tuberkulose 
sehr ähnliche Bilder entstehen. Zuweilen 
finden sich auch Schatten im Röntgen¬ 
bilde, die umschriebenen Eiterherden ent¬ 
sprechen. Daß es bei Einschmelzungen 
zum Aushusten elastischer Fasern kommt, 
ist erklärlich. Differentialdiagnostisch ist 
aber von Wichtigkeit, daß Herz und 
Kreislauf bei Grippe durch die Toxine 
•der Erreger früher und beträchtlicher ge¬ 
schädigt zu sein pflegen, als dies bei 
Tuberkulose zur Beobachtung kommt. 

(D. m. W. 1920, Nr. 42.) Nathorff. 

Die chirurgische Behandlung der 
Lungentuberkulose, die Naegeli zur 
sammentassend bespricht, steht nicht im 
Gegensätze zur internen, sondern setzte 
da ein, wo diese versagt. Von älteren 
Methoden kommen die Exstirpation tuber¬ 
kulös erkrankter Lungenpartien und die 
Eröffnung und Drainage von. tuberku¬ 
lösen Kavernen in Betracht, die aber 
wenig aussichtsvfdl sind. Die neueren 
Bestrebungen sind nicht auf die Lunge 
direkt gerichtet, sondern wollen diese 
durch extrapleurale Eingriffe günstig be¬ 
einflussen. Hierzu gehört die Resektion 
des obersten, frühzeitig verknöcherten 
Rippenknorpels; dadurch wird die Be¬ 
hinderung der Lunge in ihrer respiratori¬ 
schen Entfaltung behoben, die nach 
Freund die Ursache für die Lokalisation 
die beginnenden Lungentuberkulose in 
der Spitze ist. Eine andere Methode 
beabsichtigt, die .Ausheilung des Lungen¬ 
prozesses durch funktionelle Ruhigstellung 


der Lunge herbeizuführen. Dies wird am 
einfachsten und idealsten erreicht durch 
den künstlichen Pneumothorax, wobei je¬ 
doch die Lunge frei beweglich sein. muß. 
Für die Fälle, in denen Verwachsüngen 
den künstlichen Pneumothorax unmög¬ 
lich machen, kommt die extrapleurale 
Thorakoplastik (Brauer) in Frage. Die 
besten Resultate bei der modernen chi¬ 
rurgischen Behandlung der Lungentuber¬ 
kulose werden heute mit der von Sauer¬ 
bruch angegebenen paravertebralen Re¬ 
sektion erreicht, die in einer Resektion 
der ersten bis elften Rippe besteht. Bei 
selbst hierdurch nicht genügend beein¬ 
flußten- Fällen müssen kombinierte 'Me¬ 
thoden in Anwendung kommen. Hierzu 
sind die intra- und die extrapleurale Pneu¬ 
molyse zu rechnen. Letztere besonders 
von Friedrich als Apikolyse empfohlen. 
Bei der ersteren, die wegen der dam.it 
verbundenen Gefahr der Blutung wenig 
Anhänger gefunden hat, werden die sich 
straff ausspannenden, die Lunge’an der 
Thoraxwand fixierenden Bindegewebs- 
stränge durchschnitten, bei der letzteren 
wird bei Y^erwachsungen der Spitze der 
Oberlappen stumpf extrapleural heraus¬ 
geschält, um so bei ausgeführtem Pneumo¬ 
thorax oder bei Thorakoplastik die Re¬ 
traktion der Spitze zu ermöglichen. Der 
durch die Ablösung entstandene Hohl¬ 
raum wird durch Tamponade oder Fett 
ausgefüllt. Endlich ist noch die von 
Stüdt, Sauerbruch und anderen zum 
Zwecke der Ruhigstellung des Zwerch¬ 
fells empfohlene Phrenektoinie zu er¬ 
wähnen, wodurch jedoch nur eine teil¬ 
weise Ruhigstellung des Unterlappens er¬ 
zielt wird. Jeder dieser chirurgischen 
Eingriffe hat seine strenge Indikation, 
bei deren richtiger Stellung und sach¬ 
gemäßer Technik die chirurgische Be¬ 
handlung der Lungentuberkulose' sehr 
Gutes leistet. Das geht aus der neuesten 
Sauerbruchschen Statistik hervor, die 
von 381 operierten Patienten 134 — 35% 
als praktisch geheilt (mindestens andert¬ 
halb Jahre nach der Operation fieber- und 
sputumfrei und völlig arbeitsfähig) be¬ 
zeichnet. A Kamnitzer (Berlin). 

(Ther. Halbmonatshefte 1920, Heft 17.) 

Die Ansichten über die Entstehung 
der Magengeschwüre sind auch heute 
noch recht geteilt: mechanische Momente*, 
Superacidität, thrombotische Prozesse, 
Spasmen, neuropathische Konstitution, 
Chlorose und manches andere werden als 
Ursachen angesprochen. Auf Grund ein- 



Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


441 


gehender Untersuchungen im Aschoff- 
schen Institute nimmt Bauer erneut zu 
der Frage der Lokalisation und Ent¬ 
stehung der Magengeschwüre Stellung, 
ln allen von ihm untersuchten Fällen — 
55 an der Zahl — war die Lokalisation 
konstant. Alle Geschwüre fanden sich 
nämlich in einer ganz scharf begrenzten 
Zone, die als Magenstraße bekannt ist. 
Diese besteht aus einer an der kleinen 
Kurvatur gelegenen, durch vier zu ein¬ 
ander parallel verlaufende Längsfalten 
gebildeten und durch besonders angeord¬ 
nete Muskelzüge ausgezeichneten Rinne, 
deren Schleimhautüberzug weit weniger 
verschieblich als der anderer Magenteile 
ist. Neben dem besonderen anatomischen 
Bau besteht auch ein besonderes funktio¬ 
nelles Verhalten, da die Speisen in der 
Magenstraße hinabgleiten und erst dann 
die übrigen Magenteile füllen, was durch 
Röntgenaufnahmen sichergestellt ist. Die 
Schleimhaut der Magenstraße ist dem¬ 
nach allen Schädigungen zuerst ausge¬ 
setzt. Entstehen nun im Magen durch 
irgendwelche Ursachen kleine Schleim¬ 
hautdefekte oder Erosionen, wie sie wahl¬ 
los verstreut häufig bei Sektionen ge¬ 
funden werden, so werden solche an allen 
Stellen verheilen können, nur nicht im 
Bereiche der Magenstraße, da hier ein¬ 
mal die mangelhafte Verschieblichkeit der 
Schleimhaut die Defekte nicht überdecken 
kann, vor allem aber alle mechanischen, 
chemischen und thermischen Eigen¬ 
schaften der Speisen einen dauernden 
Reiz ausüben und die Heilung verhindern. 
Nun hat sich aber weiter gezeigt, daß in 
der Magenstraße nicht alle Teile für die 
Entstehung eines Geschwürs gleichmäßig 
disponiert sind, sondern daß zwei Prä¬ 
dilektionsstellen bestehen: Pylorusgegend 
ünd Magenmitte. Bei letzterer handelt es 
sich um eine Stelle an der Grenze zwi¬ 
schen Vestibulum und Corpus des Magens, 
die Aschoff als Engpaß des Magens, 
Isthmus ventriculi, bezeichnet hat. Es 
entsteht hier bei der Verdauung eine 
funktionelle Verengerung, die den Magen 
in zwei ungleich große Hälften teilt. Man 
kann demnach den Isthmus gleichsam 
als den Pylorus des Kardiateiles auf¬ 
fassen. So erklärt sich leicht, daß die 
Geschwüre mit Vorliebe am Isthmus 
und vor dem Pylorus ihren Sitz haben. 
Denn beide sind Absperr- und Durchla߬ 
vorrichtungen, an denen die Intensität 
aller der Heilung entgegenwirkenden Fak¬ 
toren am stärksten sein muß.. Außerdem 
sind ja auch sonst im Körper phyisologi- 


sche funktionelle Engen zur Lokalisation 
krankhafter Vorgänge disponiert. Die 
Erweiterung der Geschwüre an den er¬ 
wähnten Stellen erfolgt dann durch die 
Einwirkung des Magensaftes. Verfasser 
kommt daher zu der Ansicht, daß das 
Magenge.schwür nicht durch eine einzelne 
Ursache, sondern nur durch drei gleich¬ 
wertige, nicht substituierbare Bedingun¬ 
gen entstehen kann: Vorhandensein eines 
primären Defektes, hervorgerufen durch 
mechanische Ursachen oder kleine In- 
farcierungen der Schleimhaut, Lokalisa¬ 
tion desselben in der Magenstraße und 
Einwirkung der funktionell-anatomischen 
Faktoren. Daneben gibt es eine große 
Reihe anderer Ersatz- oder Substitufions- 
bedingungen, die bei der Entstehung des 
Geschwüres mitwirken können, aber nicht 
müssen. Diese sind meist konstitutio¬ 
neller Natur: z. B. asthenische Konstitu¬ 
tion, Vagusneurose, Chlorose. Die Haupt¬ 
sache aber bleiben für die Ulcusent- 
stehung die lokalen in Bau und Funk¬ 
tion des Magens selbst gelegenen Bedin¬ 
gungen. "Nathorff. 

(D. m. W. 1920, Nr. 41.) 

Für eine Mastdarmuntersuchung in 
gynäkologisc“hen und geburtshilf¬ 
lichen Fällen tritt Pfleiderer sehr 
energisch ein, indem er die großen Vor¬ 
teile gegenüber der üblichen Scheiden¬ 
untersuchung anführt: Vom Rektum aus 
kann man die ganze Beckenhöhle sehr 
ausgiebig austasten; Aufrichtungen der 
Gebärmutter gelingen recht leicht. Es 
ist möglich bei Kreißenden noch hinterher 
von der Scheide aus zu untersuchen, da 
die Ansteckungsgefahr durch die Klein¬ 
pilze des eigenen Darms sehr gering ist; 
es i^t noch der Vorteil zu beachten, daß- 
man durch Streichen der Kreuzbein- 
Gebärmutterbänder sehr kräftige Wegen 
auslösen kann. Eine Verkürzung dieser 
Bänder, welche schwere hysterische Er¬ 
scheinungen hervorruft, kann zur Bil¬ 
dung einer Falte führen, die Pfleiderer 
eine Sichel nennt; durch kräftige Massage 
schwinden die Schmerzen. Wenn nun 
am Schlüsse der Arbeit den Fachärzten 
der Vorwurf gemacht wird, daß sie auf 
diese pathologischen Veränderungen 
keinen Wert legen, so muß demgegen¬ 
über betont werden, daß erstens dieser 
Querwulst als Torus uterinus längst 
bekannt ist — siehe Waldeyer: Das- 
Becken — und, daß zweitens gegen die 
Verkürzung der Lg. sacrouterina, Para- 
metritis posterior,;^die Behandlung mit 

56 





442 


Dezember 


Die Therapie' der Oegenwart 1920 


der Diathermie mit bestem Erfolge an¬ 
gewandt wird. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(M.m.W. 1920, S..1 lieft.) 

Die Metrasthenie definiert Mansfeld, 
der die übliche Krankheitsbezeichnung: 
Metropathia haemorrhagica als.zu wenig 
besagend auf gibt, in folgender Weise: 
Wenn eine Frau unter übermäßigen Blu¬ 
tungen leidet, ohne daß eine Subinvo¬ 
lution der Decidua, ein submucöses 
Myom oder ein maligner Tumor vorliegt, 
so muß angenommen werden, daß irgend¬ 
ein Agens auf die sympathischen Ele¬ 
mente des Uterus so einwirkt, das die¬ 
selben asthenisch geworden sind, daß die 
Frau also an einer Metrasthenie leidet. 
Man kann sowohl von psychischen wie 
von hormonalen, lokal-entzündlichen 
sexualen Einflüssen sich das leicht vor¬ 
stellen. Die Metrasthenie hat ihren Aus¬ 
gang von einer Alteration der sympathi¬ 
schen Elemente (Receptoren nach Neu) 
des Uterus genommen. Auf diese Hypo¬ 
these wurde die Therapie eingestellt, die 
in einer Reihe von Fällen gute Erfolge 
erzielte. Da es galt, den Uterus zu toni- 
sieren, kam nur Adrenalin in Frage, das 
ein direktes Reizmittel der Uterusnerven 
ist. Zuerst wurde von einer Adrenalin¬ 
lösung (1:1000) 1 ccm mit 4 ccm physio¬ 
logischer Kochsalzlösung vermischt in 
verschiedenen Stellen der Portio einge¬ 
spritzt, dann wurde die Cervix mit der 
konzentrierten Lösung ausgewischt. In 
einigen Fällen muß jedoch angenommen 
werden, daß vom Eierstock aus der Reiz 
zu den starken Blutungen ausgeht; wurde 
nun das eine Ovar abgedeckt, das andere 
intensiv bestrahlt — halbseitige Röntgen¬ 
kastration —, so erzielteman eineOligo- 
menorrhöe. 

Pulvermacher (Charlottenbürg). 

• (Zbl. f. Gyn. 1920, Nr. 44.) 

Die Erfahrungen der Wiener Universi¬ 
tätsklinik für Kehlkopfkrankheiten ^ bei 
der Behandlung der Kranken mit Öso- 
phagusfrenidkörpern gibt Schlemmer in 
einer ausführlichen Bearbeitung wieder. 
Dem Material, welches einen Zeitraum 
von zehn Jahren umfaßt, liegen folgende 
Zahlen zugrunde: es wurde an der ge¬ 
nannten Klinik 1657mal die Ösophagos¬ 
kopie vorgenommen und hierbei in 529 
Fällen ein Fremdkörper nachgewiesen. 
508mal, das heißt in 96% der Fälle, 
konnte dieser durch das Ösophagoskop 
entfernt werden. Abgesehen von den be¬ 
deutenden Zahlen und den sich hieraus 
ergebenden Erfahrungen, welche die vor¬ 


liegende Arbeit besonders wertvoll er¬ 
scheinen lassen, sind es eine Reihe wich¬ 
tiger grundsätzlicher Fragen, die be¬ 
sonders für den praktischen Arzt von 
Interesse sind, 'welche ein ausführliches 
Referat an dieser Stelle rechtfertigen. 

Nach der Literatur besteht ein deut¬ 
licher Gegensatz zwischen der Auffassung 
vieler Chirurgen und der Laryngologen in 
der Beurteilung der Untersuchung und 
Behandlung der Kranken, welche einen 
Fremdkörper in der Speiseröhre haben 
oder zu haben glauben. Der Gang der 
Untersuchung durch den Praktiker und 
in der chirurgischen Klinik ist meist der, 
daß mit einer Sonde oder dem Gräten¬ 
fänger die Speiseröhre sondiert wird und 
daß.im Falle, daß ein Fremdkörper nicht 
gefunden wird, der Patient den Auftrag 
erhält, falls sich in einigen Tagen noch wei¬ 
tere Beschwerden zeigen, den Arzt oder die 
Klinik wieder aufzusuchen. In der gleichen 
Weise wird verfahren, wenn das Röntgen¬ 
bild oder die Röntgendurchleuchtung 
einen negativen Befund ergeben haben. 
Ist dagegen ein Fremdkörper nachge¬ 
wiesen, dann wird von verschiedenen 
Seiten der Versuch gemacht, ihn in den 
Magen hinabzustoßen oder es wird die 
Ösophagotomie ausgeführt. Der ge¬ 
schilderte Weg läßt die großen Fort¬ 
schritte, welche die Untersuchung der 
Speiseröhre mit dem Ösophagoskop in 
den letzten Jahren in der Hand des 
Spezialisten gemacht hat, vollkommen 
außer acht. Er setzt an Stelle dieses 
durchaus gefahrlosen Verfahrens ein sol¬ 
ches, welches in jedem Falle das Leben 
des Kranken auf das ernsteste bedroht, 
ohne daß es dadurch gelänge, die Diagnose 
zu präzisieren. Die Ösophagussonde als 
Untersuchungsmittel auf Fremdkörper 
sollte endgültig aus dem Instrumentarium 
des praktischen Arztes verschwinden und 
auch auf der Universität sollte diese Form 
der Anwendung nicht mehr gelehrt wer¬ 
den. — Die Dauer, während welcher der 
Fremdkörper in der Speiseröhre gesessen 
hat, ist kein Gegengrund zu der Unter¬ 
suchung mit dem Ösophagoskop. Sie 
schwankte in den Fällen des Verfassers 
zwischen einigen Stunden und vier 
Jahren. Die für die Technik wiclxtige 
Frage, ob man ein Instrument mit oder 
ohne Mandrin benutzen soll, wird von 
Schlemmer dahin entschieden, daß dem 
Instrument ohne Mandrin der Vorzug zu 
geben ist, da sonst die Untersuchung 
gegenüber derjenigen mit der Sonde 
keine Vorzüge bietet, indem man mit dem 



Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


443 


:mit Mandrin armierten Instrument ebenso 
leicht an dem Fremdkörper vorbeigleiten 
.kann. Das Wesentliche der Untersuchung 
liegt gerade darin, daß sie von Beginn ab 
xmter Leitung des Auges ausgeführt 
werden muß. .Beim Erwachsenen genügt 
■die Anwendung der Lokalanästhesie, bei 
Kindern muß Narkose zu Hilfe genommen 
werden.' Ist der Fremdkörper entdeckt, 
dann wird die Extraktion bei liegendem 
Instrument sofort angeschlossen. Stets 
-geht der Untersuchung mit dem Öso- 
phakoskop eine Röntgenuntersuchung 
voraus. Die Indikationen zur Öso¬ 
phagoskopie können in folgenden Leit¬ 
sätzen zusammengefaßt werden: 1. Wenn 
von einem Kranken die Angabe gemacht 
wird, daß er einen Fremdkörper ver¬ 
schluckthat und seitdem nichts mehr oder 
nur Flüssiges schlucken kann, wenn er 
Schmerzen im Halse, in der Höhe des 
Jugulums oder substernal, gegen die 
Schultern hin ausstrahlend hat. 2. Ana¬ 
loge Angaben gemacht werden, jedoch 
hinzugefügt wird, daß der Unfall schon 
tagelang oder noch länger zurückliegt. 
3. Diese subjektiven Angaben gemacht 
werden, die Röntgenuntersuchung aber 
ein negatives Resultat hatte. Die Öso¬ 
phagoskopie ist kontraindiziert: 1. beim 
'.Nachweis einer progredienten entzünd¬ 
lichen Phlegmone am Halse; 2. wenn das 
Schlingen sehr behindert oder aufgehoben 
ist; 3. wenn Fieber besteht; 4. wenn der 
Kranke einen schwerkranken oder sep¬ 
tischen Eindruck macht; 5. wenn Em¬ 
physem außen am Hals nachweisbar ist; 
6 . wenn nach anderweits ausgeführten 
Extraktionsversuchen der Verdacht auf 
tiine Perforation des Ösophagus besteht, 
-ln diesen Fällen muß die Ösophagotomie 
vorgenommen werden, die auch noch 
unter nachfolgenden Bedingungen in¬ 
diziert ist: Wenn während der Öso¬ 
phagoskopie eine Perforation der Speise¬ 
röhre eintritt; wenn der Fremdkörper 
nur unter schweren Nebenverletzungen 
■entfernt werden kann; das Röntgenbild 
positiv, die Ösophagoskopie aber negativ 
ausfällt. Eine Sonderstellung nehmen 
diejenigen Fremdkörper^ ein, welche 
magenwärts von einer Ätzstriktur sich 
festgekeilt haben. Hier, aber auch nur 
in Äesen Fällen, erscheint der Versuch 
berechtigt, unter Leitung des Öso- 
pliagoskops den Fremdkörper in den 
Magen hinabzubefördern. Ob eine Gastro¬ 
tomi e dann angeschlossen werden muß, 
^ergibt sich aus der Art und Größe des 
Fremdkörpers. 


Bei Periösophagitis, Mediastinalphleg- 
mone usw. darf mit dem chirurgischen 
Vorgehen nicht allzu lange gewartet 
werden. Es hat sich durch die Erfahrung 
gezeigt, daß es nicht richtig ist, auf den 
vermuteten Eiterherd direkt einzuschnei¬ 
den, sondern es muß die Freilegung des 
Mediastinums typisch so erfolgen, daß 
man zunächst die sicher nicht infizierte 
Seite sich zugänglich macht, dann eine 
Stelle jenseits der Perforation aufsucht, 
die ebenfalls sicher nicht mehr infiziert 
ist und diese beiden Gegenden auf das 
sorgfältigste nach außen tamponiert. Erst 
dann wird der eigentliche Eiterherd er¬ 
öffnet und nach chirurgischen Grund¬ 
sätzen behandelt. Auf diese Weise ge¬ 
lingt es mit Sicherheit, ein Weiterschreiten 
der Phlegmone nach der Tiefe zu ver¬ 
hindern, wie die zahlreichen günstigen 
Erfahrungen des Verfassers.beweisen. 

Hay ward. 

(Arch. f. kl. Chir. Bd. 114, Heft l,/2 .) 

Über Periproktitis und Fistula ani 

schreibt Moskowicz. Der Verfasser hat 
sein Hauptaugenmerk auf die schlechte 
Heilungstendenz der genannten Erkran¬ 
kungen gerichtet und ist hierbei zu teil¬ 
weise vollkommen neuen Anschauungen 
über die Wundheilung der in der Um¬ 
gebung des Afters und ■ des Mastdarms 
sich abspielenden Erkrankungen gekom¬ 
men. Die Kenntnis, daß entzündliche 
Prozesse in der. Umgebung des Aftere 
und des Mastdarms, sich selbst übers 
lassen, nur in den wenigsten Fällen aus¬ 
heilen, ist nicht neu. Meist wurden ope¬ 
rative Eingriffe vorgenommen, welche, 
wenn die Eiterung sich weit in das Becken¬ 
bindegewebe hinauf erstreckte, sich zu 
großen Operationen gestalteten, die nicht 
selten die Schlußfähigkeit des Afters in 
Frage stellten. Daß das scheinbar so ein¬ 
fache Leiden der Analfistel durchaus nicht 
zu den harmlosen Erkrankungen gehört, 
wie vielfach angenommen wird, haben 
Nachuntersuchungen gezeigt, die Mel¬ 
chior an der Breslauer Klinik ausgeführt 
hat. Von 95 Fällen erwiesen sich nur 70 
als geheilt, ungeheilt waren 22 und drei 
zeigten ein Rezidiv. Eine mehr oder 
weniger hochgradige Inkontinenz war in 
17 Fällen vorhanden. Die Ursache der 
schlechten Heilungstendenz sieht Mos¬ 
kowicz vor allem in mechanischen Ver¬ 
hältnissen. Er vergleicht die anatomi¬ 
schen Bedingungen, welchen diese Er¬ 
krankungen unterworfen sind, mit den 
Verhältnissen, wie sie bei der Heilung 
starrwandiger Höhlen, z. B. Empyem- 

56» 



.444 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Dezember, 


höhlen, oder starrwandiger Knochen¬ 
höhlen, z. B. bei der Osteomyelitis des 
Tibiakopfes vorliegen. Die Wände dieser 
Höhlen sind zu starr, als daß sie durch 
den Narbenzug zur Ausfüllung des De¬ 
fekts herangezogen werden könnten. Bei 
den Knochenhöhlen hilft man, nach dem 
Vorgänge von Neuber, sich dadurch, 
daß man die ganze Höhle abflacht und 
sie. zu einer • Mulde gestaltet, in deren 
tiefsten Teil ein entsprechender Haut¬ 
lappen hineingeschlagen ■ wird; bei den 
starrwandigen Empyemhöhlen werden 
durch Entrindung der Lungen oder durch 
die ausgedehnte Wegnahme von Rippen 
die starren Wände zu nachgiebigen 
Weichteillappen umgestaltet. Das un¬ 
nachgiebige Bindegewebe der Umgebung, 
bedingt durch die elastische Muskulatur 
des Rectums einerseits, welche bestrebt 
ist, das röhrenförmige Lumen des Mast- 
dafms zu erhalten und durch die straff 
gespannte Haut zwischen Tuber ischii 
und Anus andererseits schafft die gleichen 
Bedingungen, wie sie oben für die starr¬ 
wandigen Höhlen beschrieben worden 
sind. Die bisher geüEten Operationsver¬ 
fahren verfolgten den Zweck, aus der 
Fistel eine Wundfläche zu machen, was 
jedoch in vielen Fällen nicht ohne Durch¬ 
schneidung des. Sphinkters sich bewerk¬ 
stelligenläßt. Man vermeidet diese Schädi¬ 
gung, wenn man nach dem Neu berschen 
Prinzip einen Hautlappen in die ent¬ 
standene Wundhöhle hineinschlägt. Han¬ 
delt es sich um alte Fälle, dann muß 
man zuvor das gesamte Narbengewebe 
entfernen und dann die Haut, unter ent- 
sprechenderSchnittführung, so lagern, daß 
ihre Ränder bis in den tiefsten Teil des 
neu geschaffenen Wundbettes zu liegen 
kommen. Hier wird die Haut durch 
einige Nähte in ihrer Lage gehalten. Das 
Verfahren muß, entsprechend dem ein¬ 
zelnen Falle, den jeweiligen örtlichen Be¬ 
dingungen angepaßt werden. Bei der 
Behandlung der akuten Periproktis sollte 
man auf diese Verhältnisse schon durch 
die Schnittführung Rücksicht nehmen. 
Es erscheint darum nicht zweckmäßig, 
den periproktitischen Absceß durch einen 
radiären Schnitt zu spalten, sondern die 
Schnittführung sollte circulär zum Anus 
verlaufen. Man kann schon jetzt den 
dem Anus am nächsten liegenden Haut¬ 
rand durch einige Nähte in der Tiefe 
fixieren, wodurch für die Heilung sofort 
die günstigsten Bedingungen geschaffen 
werden. Zahlreiche gute Resultate, welche 
durch diese Verfahren erreicht wurden, 


lassen deren Anwendung angebracht er¬ 
scheinen. Hayward. 

(Arch. f. kl. Chir.. Bd. 114, Heft 1.) 

Auch für die Lungentuberkulose des^ 
Kindesalters bedeutet die Einführung der 
Pneumothoraxb ehandlung einen we¬ 
sentlichen Fortschritt. Helene Elias¬ 
berg berichtet über diesbezügliche Er¬ 
fahrungen aus der Universitäts-Kinder¬ 
klinik (Berlin). Der Pneumothorax wird 
bei jungen und jüngsten Kindern an¬ 
gelegt, bei beginn.enden Lungenprozessen,, 
auch bei doppelseitiger AffekFon. Rich¬ 
tige Erkennung der Art der Lungener¬ 
krankung ist erforderlich für die Indika¬ 
tion zur Pneumothoraxbehandlung. Da¬ 
bei ist zu beachten, daß chronische 
Pneumonien im Kindesalter auftreten 
können, wenn Fremdkörper in die Lunge 
gelangt sind, und auf Grund chronischer 
Bronchiektasien, die sich als häufig rezi¬ 
divierende pneumonische Prozesse dar¬ 
stellen. Ferner finden sich große Infil¬ 
trate auf dem Boden tuberkulöser Gewebs¬ 
veränderung. Man spricht .dann von epi¬ 
tuberkulöser Pneumonie. Die Abgrenzung: 
der epituberkulösen Pneumonie von der 
einen Lungenlappen infiltrierenden echten 
Tuberkulose ist schwierig. Dauernder 
negativer Bacillenbefund bei ausge¬ 
sprochenem auskultatorischem und per¬ 
kutorischem Befund, spricht mit Wahr¬ 
scheinlichkeit gegen echte Tuberkulose.. 
Das Röntgenbild zeigt bei epituberkulöser 
Erkrankung große, dichte, gleichmäßige 
Schatten, bei echten tuberkulösen Pro¬ 
zessen ist der Schatten weniger dicht und. 
läßt größere und kleinere Aufhellung er¬ 
kennen. Die Anwendung der Pneumo¬ 
thoraxbehandlung bei epituberkulöser 
Pneumonie erscheint überflüssig, da die 
Infiltrationsherde spontan zurückgehen. 
Pneumothoraxbehandlung zeigt günstige 
Erfolge bei Hilustuberkulose, Hämoptoe, 
kavei nösen Prozessen. Komplikationen, 
die die Pneumothoraxbehandlung in 
Frage stellen können, sind Pleuraadhä¬ 
sionen und Exsudatbildung. Diese 
tritt häufiger ein bei Verwendung unfil- 
trierter atmosphärischer Luft mit dem 
Heniusschen Apparat, jedoch nicht, wenn 
die Luft vorher gereinigt wird. Die Nach¬ 
füllung wird im Beginn alle drei bis vier 
Tage bis zur Erreichung des maximalen 
oder kompletten Pneumothorax vorge¬ 
nommen, später mit 14tägiger, endlich 
vier- bis sechswöchiger Pause. Zur Ver¬ 
meidung des bei der Nachfüllung öfter 
auftretenden komplizierenden Haut- 
emphysems, das infolge heftigen Schreiens 





Dezember 


Pie Therapie der Gegenwart 1920 


445 


der Kinder entstehen kann, ist Chlor- 
ätliylrausch in Anwendung zu bringen. 
Luftembolien sind so gut wie ausge¬ 
schlossen bei Beachtung der für Pneumo¬ 


thoraxanlegung notwendigen Kautelen. 
Als Minimum für die Unterhaltung des 
Pneumothorax sind zwei Jahre anzusehen. 
(D. m. W. 1920, Nr. 35.) Fruerhack. 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Ein Beitrag zu den Erfahrungen über das „Novasurol“ 
als Antisyphilitikum. 

Von Dr. Horst Auer, Berlin. 


•Zwei Jahre sind es jetzt her, seitdem 
das Novasurol zum ersten Male von den 
Elberfelder Farbenfabriken vorm. Friedr. 
Bayer u. Co. in den Handel gebracht 
worden ist. Rechtfertigte seine damals 
bereits langjährige klinische Anwendung 
sowie seine so günstig ausfallenden Er¬ 
folge vollkommen seine Einführung in 
die Syphilitistherapie, so hat es durch 
die Erfahrung der letzten Jahre die auf 
seine Wirkung und Eigenschaften gesetz¬ 
ten Hoffnungen in vollstem Maße erfüllt 
und bestärkt. Von den so reichlich in 
den Handel gebrachten Hg-Präparaten 
ist es wohl dasjenige, das zurzeit das 
größte Interesse und seiner einwandfreien 
Wirkung wegen weitere Beachtung ver¬ 
dient. Die per os verabreichten Hg-Salze 
haben lediglich dadurch so sehr an Be¬ 
deutung verloren, weil sie auf die Dauer 
einen ungünstigen Einfluß auf denMagen- 
Darmtraktus ausüben und von verhältnis¬ 
mäßig langsamer Wirkung sind. Die so 
lästige Schmierkur ist wegen der Unsicher¬ 
heit, wieviel von dem wirklich verabreich¬ 
ten Hg dem Körper tatsächlich einver¬ 
leibt wird, mehr und mehr in den Hinter¬ 
grund getreten. Sie bei primären Infek¬ 
tionen oder im sekundären Stadium als 
einziges therapeutisches Mittel zu ge¬ 
brauchen, ist heute bei der Kenntnis 
des Salvarsans und der Methodik des 
Quecksilbereinspritzens unter die Haut 
oder intramuskulär von der Mehrzahl der 
Ärzte aufgegeben. Dem primären Infekt 
von vornherein mit allen uns zu Gebote 
stehenden therapeutischen Mitteln ent¬ 
gegenzutreten, ist für den Arzt eine der 
vornehmsten Aufgaben in der Syphilis¬ 
therapie. Mag das Salvarsan auch heute 
noch so viele Gegner, auch unter den 
Ärzten, haben, seine fundamentale Be¬ 
deutung in der Behandlung der Lues wird 
trotz seiner jetzt erkannten und erwiese¬ 
nen Nachteile weiterhin bestehen bleiben. 
Auf die Gründe der Gegnerschaft des 
Salvarsans hier einzugehen, würde uns 
zu weit von unserem Thema abbringen. 
Neben dem Salvarsan kommt also dem 


durch Injektion verabfolgten Hg univer¬ 
selle Bedeutung für die Behandlung der 
Syphilis zu, so daß dieses kombinierte 
Heilverfahren, Salvarsan und Queck¬ 
silber, als die beste Syphilisbehandlung 
in bezug auf rasche und sichere Wirkung 
gilt. Nachdem zuerst lange Jahre hin¬ 
durch ausschließlich unlösliche Präparate 
in Anwendung gebracht wurden, die 
jedoch manche noch zu erwähnende 
Schattenseiten aufwiesen,, hat man ver¬ 
sucht, ein möglichst ideales und doch 
ebenso wirksames Hg-Präparat herzu¬ 
stellen, das jene unangenehmen Eigen¬ 
schaften nicht in sich birgt. Diese Eigen¬ 
schaften sind subjektiver und objektiver 
Natur. Was die ersteren anbelangt, so 
ist vor allem die mehr oder weniger, je¬ 
doch immer auftretende- Schmerzhahig- 
keit an der Applikationsstelle zu erwähnen. 
Diese Schmerzhaftigkeit kann bekannt¬ 
lich so hohe Grade annehmen, daß man 
bei empfindlicheren Patienten schon nach 
zwei bis drei Injektionen die Behandlung 
auszusetzen genötigt ist. Heftige Er¬ 
scheinungen, hohes Fieber, ausgedehnte 
Exantheme (Herxheimersche Reaktion, 
Stomatitis, Durchfälle, Erbrechen) pflegen 
gar zu oft nach den Injektionen aufzu¬ 
treten. Extensive Induration, ja Absceß- 
bildungen erhöhen die unangenehmen 
Eigenschaften dieser Präparate. Wie weit 
die gleichmäßige Resorption bei der De¬ 
potbildung von statten geht, ist jeden¬ 
falls bei dieser Art der Applikation durch¬ 
aus nicht sichergestellt. Verhinderung der 
Kumulierung im Körper, Schmerzlosig¬ 
keit an der Applikationsstelle und die 
Sicherheit der möglichst gleichmäßigen 
Quecksilbergiftwirkung sind demnach die 
Anforderungen, die an eine ideale Queck¬ 
silberverbindung gestellt werden müssen. 
Wie weit werden diese Bedingungen von 
dem Novasurol erfüllt? Indurationen 
kommen wie bei den unlöslichen Ver¬ 
bindungen so auch beim Novasurol vor. 
Auch eine gleichmäßige Verteilung der 
Flüssigkeit durch Massage an der Appli¬ 
kationsstelle kann oft eine solche Indu- 





446 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


DezembeF 


ration nicht verhindern, jedoch treten 
diese Knotenbildungen in weit geringerem 
Maße auf, als bei den unlöslichen Präpa¬ 
raten. Hinzufügen möchte ich bei dieser 
Gelegenheit, .daß bei der. Verwendung 
derartiger Präparate das Auftreten sub¬ 
jektiver Nachteile von individuellen Eigen¬ 
schaften abhängig zu sein scheint. Von 
einem luetisch erkrankten Ehepaare ver¬ 
trug die Frau die Novasurolinjektionen 
sämtlich ohne die geringsten Beschwerden, 
während der viel robustere Mann bereits 
nach den ersten Injektionen derartige 
Beschwerden an der Applikationsstelle 
äußerte, daß ich von einer weiteren Be¬ 
handlung mit dem Präparat Abstand 
nahm. Ihm unlösliches Quecksilber zu 
applizieren, scheiterte vollkommen. Zu¬ 
meist pflegen die auch beim Novasurol 
auftretenden Indurationen im Gegensatz 
zu denen des unlöslichen Hg mehr oder 
weniger schmerzlos zu sein, in den meisten, 
zirka 90 %, Fällen verlaufen die Injek¬ 
tionen überhaupt ohne jede äußere Reak¬ 
tion. Das Präparat als harmlos und völlig 
gefahrlos zu bezeichnen, ist jedoch nicht 
berechtigt. Kommen doch hohe Tempe¬ 
raturaufstiege (bis 41 0), wenn auch nur 
verschwindend wenig (von mir in drei 
Fällen beobachtet), Schüttelfrost, der 
nach ein- bis zweistündiger starker Vehe¬ 
menz ebenso schnell wie er sich einstellt, 
auch wieder abklingt, vor. (Wahrschein¬ 
lich lag in derartigen Fällen eine spirillo- 
toxische Wirkung vor.) Herxheimersche 
Reaktion habe ich nach dem Novasurol 
nicht beobachtet. In zwei Fällen sah ich 
24 Stunden nach einer Novasurolinjektion 
bei Primäraffekten ödematöse Schwellung 
des Gesichts- beziehungsweise des ganzen 
Körpers, der sich an den nächsten Tagen 
ein rupröses Exanthem in diffuser Aus¬ 
breitung zugesellte. Keinesweges können 
diese gemachten Erfahrungen, die weiter 
auszuführen nicht in den Rahmen der 
mir gestellten Aufgabe fallen, die großen 
Vorzüge des Novasurol beeinträchtigen 
und seine Anwendung in Zweifel stellen. 
Bei der furchtbaren Schwere der Krankheit 
— scheint doch die Syphilis in den letzten 
Jahren an Bösartigkeit in geradezu auf¬ 
fallender Weise zugenommen zu haben — 
sind derartige Reaktionen bei der Selten¬ 
heit ihres Auftretens nicht ausschlag¬ 
gebend zu bewerten, zumal sie sich nach 
dem Einspritzen von Neo-Salvarsaii wie 
nach dem unlöslichen Quecksilber in 
weit erhöhtem Maße zeigen. Ein Trug¬ 
schluß wäre es da, dem Salvarsan oder 
dem Quecksilber den Garaus zu machen. 


' Hier handelt es sich also nur darum, die 
Wahl zu treffen in der Art und Zusammen¬ 
setzung des Quecksilbers. Und da ist 
es entschieden das Novasurol, dem der 
Vorrang in der Reihe der Präparate 
gebührt. Wegen seiner Dünnflüssigkeit 
ist man imstande, die feinsten Kanülen 
zu benutzen und schon auf diese Weise 
schonend zu wirken. Die häufige Ver¬ 
abfolgung der Injektionen — ich gebe^ 
gewöhnlich jeden zweiten Tag einen ccm 
= 0,1 g Novasurol der 10%igen Lösung—, 
wird dabei ohne Murren oder leichten 
Überdruß von seiten des Patienten er¬ 
tragen. Im Gegenteil kann man sogar 
von einem günstigen Einfluß auf die- 
Psyche des Patienten sprechen, der durch' 
die häufige Behandlung sieht, daß gegen 
die furchtbare, ihn in seiner Stimmung 
niederdrückende Krankheit gewaltig vor¬ 
gegangen wird. Ich habe aus diesem letzt¬ 
erwähnten Grunde und weil bei einer 
Verabfolgung von 2 ccm auf einmal 
doch leichter stärkere Knotenbildung: 
und damit verbunden Schmerzhaftigkeit 
auftreten, davon Abstand genommen, ’ 
zweimal wöchentlich 2 ccm der Lösung 
zu injizieren. Hat sich der Patient erst 
einmal an die Einspritzungen gewöhnt, 
steht es immer noch im Belieben des 
Arztes, die einzuführende Quecksilber¬ 
menge zu erhöhen., Bleibt noch die 
therapeutische Wirkung letzten Endes 
das wesentliche! Beachtet man einer¬ 
seits, daß dem Körper mit jeder Nova¬ 
surolinjektion eine verhältnismäßig große 
Quecksilbermenge, nämlich 6 ctg, zu¬ 
geführt wird, andererseits dieses Queck¬ 
silber schneller resorbiert wird, als bei den 
unlöslichen Präparaten, der Fall ist, so 
ist es nicht zu verwundern, daß es speziell 
bei der Frühsyphilis eine prompte und 
sichere Wirkung aufweist. Diese akut 
einsetzende Wirkung habe ich fast durch¬ 
weg bei einfachen Primäreffekten gesehen, 
jedoch auch makulöse und papulöse 
Exantheme können bereits nach einigen 
Injektionen anfangen zu verschwinden, 
ohne in absehbarer Zeit Rezidive auf- 
kommen zu lassen. Um nun die Inten¬ 
sität der Wirkung in einzelnen Fällen 
besonders vor Augen zu führen, habe ich 
Patienten mit besonders schweren Symp¬ 
tomen ausschließlich Novasurol mit sehr 
gutem Erfolge gegeben, nachdem in zweien 
dieser Fälle sogar das Salvarsan im Stich 
gelassen hatte. Erzielt man mit der 
kombinierten Kur des Salyarsans -|- Nova- 
surols trotz längerer Behandlungszeit kei¬ 
nerlei günstigen Einfluß auf die Wasser- 







Dezember 


Die Therapie der Gegenwart J920 


447 


mannsche Blutreaktion, so werden uns 
auch andere Mittel in dieser Hinsicht im 
Stiche lassen. Es sind dies die Fälle 
hartnäckigster Syphilis, denen nur nach 
sehr langer Behandlungsdauer, wenn 
überhaupt, beizukommen ist. Auch 


unter Berücksichtigung dieses letzteren 
Punktes muß das Novasurol als zur¬ 
zeit' wertvollstes Präparat bezeichnet 
werden, das uns unter den Injektions¬ 
mitteln bei der Luestherapie zu Gebote 
steht. 


Über Dialacetin, ein neues Kombinationspräparat des Dials. 

Von Privatdozent Dr. Hans Hirschfeld, Berlin. 


Vor sechs Jahren berichtete ich über 
meine Erfahrungen mit dem von der Ge¬ 
sellschaft für Chemische Industrie in 
Basel in den Handel gebrachten neuen 
Schlaf- und Beruhigungsmittel ,,DiaL‘, 
einem Diallylmalonylharnstoff. Die gün¬ 
stigen Erfahrungen, die ich . damals 
machte, haben sich im Laufe der in¬ 
zwischen verflossenen Zeit, wie aus ver¬ 
schiedenen Publikationen von anderer 
Seite hervorgeht, bestätigt, und das Dial 
ist eines der verbreitetsten und belieb¬ 
testen Schlafmittel geworden. Leider war 
es in der letzten Zeit infolge Rohstoff¬ 
mangel in Deutschland schwer zu haben-. 
Üble Nachwirkungen irgendwelcher Art, 
insbesondere auch Arzneiexantheme sind 
meines Wissens nach Verabreichung- von 
Dial niemals beobachtet worden. Kam 
hier und da mal ein Versagen des Mittels 
vor, so lag das gewöhnlich an Fehlern 
der Verabreichung, die auf Mißverständ¬ 
nisse von seiten der Patienten zurück¬ 
zuführen waren. Auch Ärzte vergessen 
es vielfach darauf hinzuweisen, daß man 
Schlafmittel immer aufgelöst einnehmen 
soll, wodurch eine bessere und schnellere 
Resorption gewährleistet und Magen¬ 
störungen vermieden werden. Selbst¬ 
verständlich ist die Dosierung der Schlaf¬ 
mittel ganz von der Individualität des 
Patienten abhängig und ergibt sich häufig 
erst im Verlaufe der Behandlung. Nie 
sollte man versäumen, die Patienten 
darauf hinzuweisen, daß sie an den Tagen, 
an denen sie Schlafmittel genommen 
haben, sich auch gehörig ausschlafen. Es 
ist kein Wunder, wenn die Kranken über 
Benommenheit klagen, wenn sie sich am 
anderen Morgen frühzeitig wecken lassen, 
zu einer Zeit, wo die Wirkung des Mittels 
noch anhält. 

Wie auch die meisten anderen ge¬ 
wöhnlichen Schlafmittel, versagt das Dial 
in solchen Fällen, in denen die Schlaf¬ 
losigkeit durch Schmerzen bedingt ist. 
Gewöhnlich kombiniert man in solchen 
Fällen mit den Schlafmitteln Antipyretica 
und Antineuralgica. Die Gesellschaft für 
Chemische Industrie in Basel stellt jetzt 


unter dem Namen ,,Dialacetin“ eine Kom¬ 
bination her von Diallylbarbitursäure 
(Dial) und p-Acetaminophenolallyläther,. 
einer chemischen Verbindung, die sich 
vom Phenacetin dadurch unterscheidet, 
daß die Äthylgruppe durch den Allyl¬ 
rest ersetzt ist. Jede Tablette enthält 
0,25 g p-Acetaminophenolallyläther und 
0,1 g Diallylbarbitursäure (Dial). Im 
Dialacetin wird die klinisch erprobte hyp¬ 
notische Wirkung des Dials auf das zweck¬ 
mäßigste ergänzt durch den analgetischen 
Effekt des p-Acetaminophenolallyläthers, 
der, wie Tierversuche zeigten, das Ein¬ 
treten des Schlafes fördert und seine- 
Tiefe verstärkt. Durch die Kombination 
der beiden genannten Komponenten po¬ 
tenzieren sich im Sinne des Bürgischen 
Gesetzes die sedativen Wirkungen. Über¬ 
dies hat das Dialacetin durch die Ver¬ 
einigung gegenüber seinen Komponenten 
auch an Wirkungsbreite gewonnen: Wirk¬ 
same Gabe und toxische Dosis liegen weiter 
auseinander. Die antipyretische Wirkung. 

1 (geprüft am fiebernden Tier), erwies sich 
infolge der Substitutierung der Aethyl- 
gruppe im Phenacetin durch den ungesät¬ 
tigten Allylrest als beträchtlich gesteigert. 

Ich habe das Dialacetin in über 
50 Fällen von Schlaflosigkeit angewandt. 
Zunächst ergab eine Reihe von Ver¬ 
suchen bei gewöhnlicher neurasthenischer 
Schlaflosigkeit ohne besondere Kompli¬ 
kationen, daß die Stärke der Wirkung der 
des Dials überlegen zu sein scheint, da es 
sich auch in der gewöhnlichen Verab¬ 
reichung in der Dosis von einer Tablette 
selbst in hartnäckigen Fällen oft als wirk¬ 
sam erwies. Hervorheben möchte ich, daß 
auch die .doppelte Dosis, die sich mehrere 
Male als nötig erwies, keinerlei Schläfrig¬ 
keit und Benommenheit am anderen Tage 
zurückließ. Vorwiegend aber verabreichte 
ich Dialacetin bei solchen Fällen, wo die 
Schlaflosigkeit mit Schmerzen kombiniert, 
beziehungsweise durch solche bedingt 
war, wie bei Gesichtsneuralgien, akutem 
und chronischem Gelenkrheumatismus, 
Tabes und akuten Infektionskrankheiten, 
und konnte mich auch hier, von einigen 



448 


Die Therapie der Gegenwart 1920 


Dezember 


Versagern abgesehen, die natürlich- bei 
jedem Mittel zu erwarten sind, von seiner 
ausgezeichneten Wirksamkeit überzeugen. 

Ich glaube auf Grund meiner Er¬ 
fahrungen, daß das Dialacetin sich als 


zuverlässiges und von üblen Neben¬ 
wirkungen freies Mittel, sowohl bei 
gewöhnlicher, wie durch Schmerzen 
bedingter Schlaflosigkeit gut einführen 
wird. 


Aufruf der Arzneimittelkommission. 


Der folgende Aufruf, den wir schon 
im vorigen Heft angekündigt haben, ist 
in den vergangenen Wochen an die Adresse 
aller deutschen Ärzte abgesandt worden. 
Da aber infolge der durch die Zeitverhält¬ 
nisse bedingten Unvollkommenheit des 
Adressenmaterials eine- nicht geringe Zahl 
von Kollegen den Aufruf nicht erhalten 
haben, möge er von dieser Stelle noch ein¬ 
mal der Ärzteschaft unterbreitet werden. 

Sehr geehrter Herr Kollege 1 ' 

Wir wenden uns an Sie mit der dringenden 
Bitte um tätige Teilnahme für ein Werk, das zum 
Nutzen der deutschen Ärzteschaft bestimmt ist 
und das Sie selbst in Ihrer Berufsausübung unter¬ 
stützen soll. 

Sie haben gewiß oft peinlich die Unsicherheit 
empfunden, mit der Sie der Anpreisung neuer 
Arzneimittel gegenüberstanden'; vielleicht sind 
Ihnen auch üble Erfahrungen nicht erspart ge¬ 
blieben, wenn Sie auf Grund von Zeitungsanzeigen 
oder Veröffentlichunger neue Mittel anwendeten, 
deren Wirkungen den Ankündigungen keineswegs 
entsprachen. Die Arzneimittelkommission will 
Ihnen in dem Bestreben behilflich sein, neue 
Arzneimittel richtig zu beurteilen. Dabei tritt sie 
nicht in Gegensatz zu der Arzneimittelindustrie, 
die auf wissenschaftlicher Grundlage arbeitet und 
mit wohlbegründeten Empfehlungen an die Öffent¬ 
lichkeit tritt, und der wir viele wirkliche Bereiche¬ 
rungen unseres Arzneischatzes verdanken. Sie 
will nur die zahllosen unnützen und schädlichen 
Auswüchse der Arzneimittelproduktion mit allen 
auf Grund der Forschung und praktischen Er¬ 
fahrung zu Gebote stehenden Mitteln bekämpfen. 
Daher will sie Einrichtungen treffen, welche 
jedem deutschen Arzte die Möglichkeit gewähren, 
sich rasch über die Zusammensetzung und den 
Wert der neu eingeführten Arzneimittel zu unter¬ 
richten. Sie wird zu diesem Zweck eine Auskunlts- 
und Beratungsstelle errichten, welche in systema¬ 
tischer Weise das Material über neue Arzneimittel 
sammelt und auf Grund desselben jedem an¬ 
fragenden Arzte orientierende Antwort erteilt. 

Um eine feste Grundlage für ihre Urteile zu 
erlangen, plant die Arzneikommission die Errich¬ 
tung einer Prüfungsstelle im Anschluß an das 
Pharmakologische Institut der Universität Berlin 
(Geh. Rat Prof. Heffter). Dort soll durch er¬ 
probte Analytiker die Zusammensetzung neuer 
Arzneimittel in zweifelhaften Fällen nachkon¬ 
trolliert werden. Für die Prüfung am Kranken¬ 
bett haben sich zahlreiche Leiter von Kliniken 
und Krankenhäusern zur Verfügung gestellt. Wenn 
die Arzneimittelkommission mit solchen Hilfs¬ 
mitteln ausgerüstet sein wird, so ist bestimmt zu 
hoffen, daß ihr Urteil von der Arzneimittelindustrie 
vor der Einführung neuer Arzneimittel • in An¬ 
spruch genommen werden wird, und daß sich auf 


diese Weise die Möglichkeit bieten wird, die Aus¬ 
wüchse der Heilmitteldarstellung in wirksamer 
Weise zu bekämpfen. Hierdurch wird nicht nur 
die Arbeit des einzelnen Arztes, sondern auch das 
Ansehen der deutschen Medizin und nicht zuletzt 
auch des ärztlichen Standes eine erhebliche För¬ 
derung erfahren. 

Wir sind sicher, daß dies Programm Ihre Zu¬ 
stimmung finden wird; es ist aber nicht mit der 
theoretischen Teilnahme getan; das Werk kann 
nur ins Leben treten, wenn Sie praktisch dazu 
helfen. Die erforderlichen Mittel sind nicht allzu¬ 
groß, da die Organisation im Anschluß an ein be¬ 
stehendes staatliches Institut geplant ist. Auch 
ist zu hoffen, daß das analytische Prüfungsamt 
sich bald selbst erhalten wird. Immerhin bedarf 
es zur ersten Einrichtung einer gewissen Summe, 
welche durch die Beiträge deutscher, Ärzte zu¬ 
sammengebracht werden soll. Der Plan, den wir 
Ihnen hiermit unterbreiten, ist sowohl vom Vor¬ 
stand und Ausschuß der Deutschen Gesellschaft 
für innere Medizin als auch vom Vorstand des 
Deutschen Ärztevereinsbundes erörtert und ge¬ 
billigt worden. 

Sie fördern ein wesentliches ärztliches Standes¬ 
interesse, wenn Sie sich durch die Zuwendung 
eines kleinen Betrages beteiligen wollen. Wenn 
jeder deutsche Arzt mindestens 10 Mark beisteuert, 
ist die Ausführung unseres Planes gesichert. Für 
höhere Beiträge sind wir sehr dankbar. 
Penzoldt. Dippe. G. Klemperer. Stöter. 
von Bergmann. Gottlieb. Heffter. B. Spatz. 

Stintzing. Holste. 

Schon jetzt sind zahlreiche Beiträge 
eingegangen. Mit besonderer Dankbarkeit 
verzeichnen wir die Gabe eines öster¬ 
reichischen Kollegen, Herrn Dr. von 
Fleischl, von 1000 M. Die Herausgeber¬ 
schaft der Münchener medizinischen Wo¬ 
chenschrift hat 1000 M. gespendet, die 
Herren Verleger der Therapie der Gegen¬ 
wart, der Zeitschrift für ärztliche Fort¬ 
bildung sowie der Deutschen medizinischen 
Wochenschrift je 500 M. Groß ist die 
Zahl der deutschen Ärzte, welche bereits 
beigesteuert haben. An diejenigen Kollegen 
aber, deren Beitrag noch aussteht, ergeht 
noch einmal die dringende Bitte, dem ge¬ 
planten Wetke, das nur zum Nutzen der 
Ärzteschaft bestimmt ist, ihre Mitwirkung 
nicht zu versagen. Nocli ist die Begrün¬ 
dung des Arzneimittelprüfungsamts nicht 
gesichert, dazu bedarf es tatsächlich der 
Mithilfe jedes einzelnen deutschen Arztes. 
Das Postscheckkonto ist Leipzig Nr. 873 21, 
Geschäftsstelle der Arzneimittelkommission. 


Für die Redaktion verantwortlich Geh.Med.-Rat Prof.Dr. G. Klemperer in Berlin. Verlag von Urb an & Schwarzenberg 
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Sladthagen, Berlin W57. 




DIE THERAPIE DER GE6ERWART 

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MEDIZINISCH-CHIRURGISCHE RDNDSCHÄD 

FÜR PRAKTISCHE ÄRZTE. 

(62. Jahrgang.) 


Unter Mitwirkung hervorragender Fachmänner 


herausgegeben von 

Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer 

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Neueste Folge. XXIII. Jahrgang. 


URBAN & SCHWARZENBERG 


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Alle Rechte Vorbehalten. 


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Die Therapie der Gegenwart 

herausgegeben von 

62. Jahrgang Oeh. Med.-Rat Prof. Dr. G. KJemperer t Heft 

Neueste Folge. XXIII.Jafirg. BERLIN Januar 1921 

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Verlag von URBAN & SCHWARZENBERG in Berlin N 24 und WienI 

Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementspreis in Deutschland und 
den untervalutigen Ländern halbjährlich 18 Mark postfrei, im übrigen Ausland 40 Mark und 6 Mark Porto. 
Einzelne Hefte ä,50 Mark, bzw. 8 Mark. Man abonniert bei allen größeren Buchhandlungen, sowie direkt 
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’ i_i_ ’ tt» _i_ii»_a ^ 


















INHALTS-VERZEICHNIS 


Originalmitteilungen, Repetitorium der Therapie, zusammenfassende 
Übersichten, Kongreßberichte und therapeutischer Meinungsaustausch. 


Abortbehandlung. S. Joseph 299. 

Abort US, Soziale, eugenetische und Notzucht¬ 
indikation zur Einleitung des künstlichen. 
W. Wiegels 461, 

Alter, Einfluß des —s auf Stärke von Tuber¬ 
kulinlösungen. V. Kollert und M. Burger 318. 

Anämie, Ätiologie der perniziösen —. R. Sey- 
derhelm 241. 

— Coliindexbestimmungen und Mutaflorbehand- 
lung bei perniziöser —. J. Zadek 291. 341. 

Apyron, Neues —. (Magnesium acetylosali- 
cylicum). H. Fischer 277, 

Arthritiden, Behandlung chronischer — mit 
Proteinkörpern insbesondere mit Sanarthrit. 
R. Lämpe 93. 

Arthritis, Diagnostische und therapeutische Irr- 
tümer bei gonorrhoischer —. H. Schlesinger 47. 

— gonorrhoica. Einfache Behandlungsweise der 
— im Frühstadium. Fr. Lahmeyer 195. 

Aspirin als Hustenmittel. Hilgers 117. 

As pochin, eine neue Salicylchihinverbindung. 
F. Mendel 216. 

Asthma bronchiale, Adrenalinbehandlung. Karl 
Csepai 319. 

Atropinvergiftungen. R. Meißner 418. 

Augenstörungen nach Optochin und Ver¬ 
meidungen. G. A. Waetzoldt 96. 

Campherölinjektion'en, Intravenöse. K.Wohl- 
gemuth 484. 

Carcinom, Lehre vom infektiösen Ursprung. 
Em. Sachs 367. 

Caseosan bei akutem Dickdarmkatarrh. Gröp- 
1er 446. 

-behandlung in der dermatologischen Praxis. 

H. Krösl 365. 

Cesol und Neucesol bei inneren Krankheiten. 
V. Kollert und K. Bauer 381. 

Chinidinwirkung, Ungünstige — bei voll¬ 
kommenem Herzblock? Frz. M. Groedel 172. 

Chirurgie, 45. Versammlung der Deutschen 
Gesellschaft für —. Berlin 30. März bis 2. April 

" 1921. Bericht von W. Klink 179. 227. 

Choleval bei infektiösen Hauterkrankungen. 
Goldmann 366. 

Dermatologische Gesellschaft, 12. Kongreß 
der Deutschen —. Hamburg, Pfingsten 1921. 
Bericht von E. F. Müller 308. 

Diabetes, Renaler — und Bedeutung für Thera¬ 
pie der Zuckerkranken. E. Frank 167. 


Diabetes und chirurgischer Eingriff. M.Lauritzeh 
409. ^ 

-debatte, Epilog zur — von B. Naunyn 201. 

Digitalis bei chronischen Lungenkrankheiten, 
besonders bei Schwindsucht. C. Focke 426. 

-tinktur. Titrierte — (Digititrat Kahlbaum). 

H. Guggenheimer .194. 

Encephalitis letharg. G. Klemperer 136. 

Enuresis nocturna. Neues zur Lehre. J. 
Finckh 257. 

Ernährungsstörungen und ihre Behandlung 
mit Tonophosphan als Stoffwechselstimulans 
unter Berücksichtigung der Rachitis. C. Hoff- 
mann 422. 

Erysipelas migrans, Therapie. A. Salinger320. 

-H. Schmidt 236. 

Erythroltetranitrat in der Behandlung der 
Coronarsklerose und mancher Formen von 
Hypertonie. W. Zinn und K. Liepelt 329. 

Esalcopat, Zur Wirkung der Salvia. Apotheker 
Stöcker und Dr. A. Mahlo 485. 

Fluor albus, Psychogen., Bunnemann 132. 

Gonorrhoe, Weibliche — und Fluor, Trocken¬ 
behandlung der —. Walt. Treuherz 303. 

Hautdesinfektion mit Junijot. A. Rosen¬ 
berg 252. 

Hefeextrakt als Stomachikum und seine,Ver¬ 
wendbarkeit. Heinz 174. 

Heilentzündung und Heilfieber mit Berück¬ 
sichtigung parenteraler Proteinkörpertherapie 
nach Bier. Bericht von F. Klemperer 144. 

'Herzmassage, Physiologische —. Jobs. Hae¬ 
dicke 333. 

Hippokratische Medizin. G. Klemperer 449. 

Hypnotherapie. Alfr. Rothschild 60. 

Innere Medizin, Eröffnungsrede auf dem 
Kongreß für — von G. Klemperer 161. 

— 33. Kongreß für — in Wiesbaden 18. bis 
21. April 1921. Bericht von G. Klemperer 183. 
223. 265. 

Intrakardiale Injektion. Waith. Schulze 339. 

Jod -Ichthyolanstrich (Astaphylol). "S. Lissau 
486. 

Karlsbader Fortbildungskurs. Bericht von 
Julian Marcuse 473. 





IV 


Inlialts-Verzeichnis.“ 


If*. %.l^V 




Kieselsäurebehandlung bei Lungentuberku¬ 
lose. Max Roth 369. 

Kieselsäurezufuhr, Parenterale —._ F. Zuck¬ 
mayer 376. 

Kopfschmerzen peripheren Ursprungs und 
Heilung. L. Schmidt 156. 
Krampfkrankheiten, Chirurgische Behahd- 
lung. St. Westmann 260. 

Leberkrankheiten, Behandlung. G. Klem- 
perer 29. 67. 

Lichttherapie. F. Schanz 121. 

Liegehallen, Drehbare —. K. Gerson 368. 
Lokalanaesthetikum, Herstellung eines halt¬ 
baren gebrauchsfertigen —. Fr, v. Delbrück 364. 
Lues, Intravenöse Quecksilber-Salvarsanbehand- 
lung. S. Reines 407. 

Luminaltherapie bei Säugling. L. Salmony 
^83. 

Lungentuberkulose, Chirurgische Behandlung. 
W. Jehn281. 

— Röntgenbehandlung. 0. de la Camp 164. 

— Symptomatische Behandlung (Holopon und 
Eukodal). Leichtweiß 51. 

Lytophan, eine Phenylchinolindocarbonsäure. 

F. Gudzent und J. Keip 127. 

Magensekretion, Psychische Einflüsse auf —. 

G. R. Heyer 285. 

Milanol bei Hautkrankheiten. Fritz M. Meyer 
und Frz. K. Meyer 279. 

Morphiumvergiftung, Behandlung akuter —. 
L. Brauer 6. 

Myodegencratio cordis. H. Eppinger 81. 

Nährstoffe, Accessorische. H. Aron 79. 
Narkosen, Nirvanol bei —. Schlichting 159. 

Ne OS al varsan - No vasurol-Injektionen, In¬ 
travenöse kombinierte —, Treitel 199. 
Nervenkrankheiten, Behandlung von —. 

^ G. Klemperer 390. 436. 

Neucesol bei Diabetes insipidus. Erh. DeIoch363. 
Nitroglycerin - Darreichung, Neue Art. 
C. Winkler 484. 

Optarson als appetitanregendes Mittel bei 
Lungenkranken. Schuhes 317. 

— Kombination von Solarson und Strychnin. 
G. Klemperer 116. 

— Solarson-Strychninmischung. Georg Eisner 
235. 

Orthopädenkongreß, Bericht über den XVI. 
— Berlin 18. bis 20. Mai von Georg Müller 
230. 

Osteomalacie, Behandlung mit Asthmolysin, 
klin. Heilung. W. Blumenthal 279. 

Perikarditis, Diagnose und Therapie. L.Dunner 
453. 

Phloridzindiagnostik der Frühgravidität. 

Kamiiitzer und Joseph 459. 

Prteumonie|i, Behandlung schwerer — mit 
Pferdeserum und Aderlaß. Ad. Bingel 316. 


Proteinkörpertherapie, Dosierung und Inter- 
"vall bei —. F. Kleeblatt 209. 

Psyche, Wert der Behandlung der — bei inneren 
Erkrankungen, ihre Methoden und Erfolge, 
Erw, Moos 213. 248. 

Psychotherapie in ärztlicher Praxis unter Be¬ 
rücksichtigung der Hypnose. Disque 176. 

Puerperalfieber, Therapie. St. Wesimann 455, 

Radiumemanationstherapie. Engelmann 
347. 386. 430. 

Sanarthritbehandlung chronischer Gelenk¬ 
affektionen. Erna Herrmann 482. 

Schmerzen, Körperliche — (Bedeutung und 
Behandlung). Martin Sußmann 447. 

Schwangerschaft, Biologische Diagnostik, 
Kammitzer und Joseph 321. 

Schwangerschaftsunterbrechung, Grund¬ 
lagen der künstlichen —. Benthin 324. 

Seife, Einfluß auf Tuberkulose. W. Berg¬ 
mann 118. 

Silberlösungen, Intravenöse Behandlung mit 
kolloiden —. Plehn 243. 

Solarson bei Herzkranken. Firnhaber 40. 

Staphar, Erfahrungen. Dienemann 157. 

Steckschuß, Selbstheilung eines perivesikalerr 
— durch Austreten aus der Harnröhre. Dr, 
Pankow 488. 

Syphilisbehandlung, Einige Fragen der —, 
W. Wechselmann 15. 

Teno sin in der Frauenpraxis. Georg Katz 198. 

Terpichin bei entzündlichen Erkrankungen der 
Harnorgane. W. Karo 129. 

Traubenzuckerintusionen, Bericht über 
fremde und eigene Erfahrungen mit —, ins¬ 
besondere bei Herzkranken. Th. Büdingen 20. 

Tuberkulose, Experimentelle Grundlage der 
Friedmannschen Behandlungsmethode. L. Ra- 
binowitsch 1. 

Tuberkuloseinfektionen, Additionelle —im 
Alter Erwachsener. 0. Müller und H. Isele 41. 
87. 

Typhus, Ist (Pseudo-) Grippe —? Voltolini 77* 

Ulcera cruris, Pyoktaninbehandlung. Pran^ 
Seiler 488. 

Ulcus ventriculi — Sodbrennen. Hugo> 
Schmidt 197. 

Varicen und Folgezustände. M. Borchardt und 
S. Ostrowski 467, 

Verletzungen, Behandlung frischer—. M, Bor¬ 
chardt und Ostrowski 25. 61. 101. 141. 220. 
263. 305. 354. 399. 

Wehenmittel, Einfluß der neueren — auf die 
Leitung der Geburt. E. Sachs 10. 53. 

Zuckerkrankheit, Grundlinien der'diätetischeu 
Behandlung der —. C. v. Noorden 202. 

Zungen ne krose bei einem Kinde durch Be¬ 
rühren eines elektrischen Stechkontaktes. G. 
Klemperer 39. 






Abdominelle Untersuchung 440. 
Abführmittel 34. 

Abort 461. 

-behandlung 299. 

—, fieberhafter 474. 

Aderlaß 316. 

Adnexerkrankungen 404. 441. 

-tumoren 356. 

Adrenalinbehandlung 319. 

— -Wirkung 266. 

Aktinomykose 274. 

Alterseinfluß 318. 

Amputierte, Neurologische Un¬ 
tersuchung —r 309. 

Analfissuren 405. 

Anämie, Perniziöse 241. 291. 
Angina pectoris 473. 

Apoplexie 391. 

Apyron 277. 

Arbeitseinflußauf Herzgröße 270. 
Arbeitstherapie des Diabetes 225. 
Arhythmien 270. 
Arsenikvergiftung 441. 
Arthritiden, Chronische 93. 
Arthritis gonorrhoica 47. 195. 
Aspirin (Hustenmittel) 117. 
Astaphylol 486. 

Asthma bronchitale 319. 
Asthmolysin 279. 

Aspochin 216. 

Atropin bei Magengeschwür 269. 
Atropinvergiftungen 418. 
Augenschädigung 315. 

-Störungen 96. ^ 

Autotransfusion 354. , 

Basedow 181. 439. 473. 

—, operative Behandlung 474. 
Bauchfelltuberkulose 70. 
Bauchschmerz 228. 
Blasenlähmung 109. 

Blutacidose 225 . 

-drucksteigerung 34. 

— -körperchen, Permeabilität 
roter 270. 

— Resistenzprüfung 270. 

-menge 270. 

-plättchen 271. 

-Stillung 220. 

-transfusion 148. 181. 354. 

399. 442. 

Blutung 357. 

— und Blutstillung 110. 
Blutverlust, Behandlung 354. 
-Zucker 225. 

-Zusammensetzung 266. 

Bronchopneumonie 35. 
Brustwanddefekte 310. 

Butolan 191. 406. 

Calciumwirkung auf Herz 268. 
Camagol 149. 

Campherölinjektion, intravenöse 
484. 

Carcinom 367. 

Caseosan 191. 356. 365. 446. 
Cervicalkatarrh-Behandlung 
475. 

Cesol 381. 

— und Neucesol bei inneren 
Krankheiten 381. 


fiihldts’-Verzeiciiriik “ 


Sachregister. 


Chinidin Wirkung 172. 
Chininbehandlung Herzkranker 
475. 

Chloräthylrausch 310. 

Chlorylen 152. 

Cholesterin 357. 

-Stoffwechsel 265. 

Choleval' 366. 

Chorea 440. 

Coliindexbestimmungen291.341. 
Collargol in Chirurgie und Gynä¬ 
kologie 475. 

Conjunctivitis neonatorum 442. 
Coronarsklerose 329. 

Darmpathologie 269. < 

Diabetes 201. 409. 

—, Arbeitstherapie 225. 

—, Organotherapie 225. 

—, Pituglandolinjektion 225. 

—, Hungerkuren 226. 

—, Überempfindlichkeit 226, 

— insipidus 363. 442. 

—, Renaler 167. 

—Theorie und Therapie 473. 

-therapie, Neue und alte 223. 

—, Zuckerausscheidung 230. 
Diathermiebehandlung 404. 
Dickdarmkatarrh 446. 

Digitalis 426. 

-therapie 35. 

Digititrat 194. 

Diurese 442. 

Dünndarm, Autosterilisation 269. 
Duodenalgeschwür 70. 

Eklampsie 71. 

Empyeme (Pleura-) 357. 
Empyem, Fistelnde 182. 

— -fisteln 443. 

Encephalitis, lethargische 136. 
Entgiftung 111. 

Enuresis noct. 257. 

Epilepsie 358. 438. 

Erfrierungen 103. 
Ernährungsstörungen 422. 
Erysipel (Staphylokokken-) 181. 
Erysipelas migrans 236. 320. 
Erythroltetranitrat 329. 
Esalcopat 485. 

Eukodal 51. 

Fluor 303. 

— alb.. Psychogen. 132. 
Fraktur 359. 

Friedmanns Tuberkulosemittel 
1. 149. 446. 

Frühgravidität 459. 

Gastroenterostomie 310. 

Geburt 10. 

Gehirnkrankheiten 390. 

Gelatine 226. 

Gelbsucht 31. 

Gelenkaffektionen, Chronische 
482. 

— -erkrankungen 191.359. 443. 
-rheumatismus, Tonsillen¬ 
schlitzung bei 114. 

Geschwülste, Bösartige 228. 
Gicht, Pathogene 111, 265. 


Gichtproblem 111. 

Giftwirkung 445. 
Gonokokkensepsis 405. 
Gonorrhöe, Weibliche 72. 303. 
444. 

Grippe 77. 

Guanidinvergiftung 266. 
Gynäkologie, Diagnostische Irr- 
tümer 360. 

Halsgefäßverletzung 231. 
Hämatopprphyrie 72. 

Hämolyse' Intravitale 271. 
Hämophilie 442. 

Hämorrhoiden 311. 
Harnröhrensekret, Weibliches 
232. 

Hautdesinfektion 252. 
Hautgangrän nach Kochsalz¬ 
infusion 112. 

Haut- und Geschlechtskrank¬ 
heiten, Behandlung 309. 
Hefeextrakt 174. 
Heilentzündung 144. 

-fieber 144. 

Herzblock 172. 

— -fehler 270. 

-größe 266. 270. 

-kranke 20. 40. 

—, Hydropischer 152. 

— u. Aortenerkrankungen 73. 

-massage. Physiologische 333. 

Hippokratische Medizin 449. 
Hirschsprungsche Krankheit 274. 
Hohlglaspessare 312. 

Holopon 51. 

Hüftverrenkung 312, 
Humagsolan 112. 

Hungerkuren 226. 

Hustenmittel (Aspirin) 117. 
Hydrocephalus 393 . 
Hydronephrose 232. 
Hyperglykämie und Glykosurie 

225. 

Hypertonie 329. 473, 

Hypnose 176. 

Hypnotherapie 60. 

Hypophysen 444. 

Hysterie 436. 

Ikterus 476. 

— der Herzkranken 269. 

Ileus 228. 

Infektionskrankheiten 271. 
Infusion blutisotonischer Lö¬ 
sungen 354. 

Infusionen, Intravenöse 444; 
Injektion zur Wiederbelebung, 
Intrakardiale 181. 

Innere Medizin 161. 

—, Verhandlungen des 32. Kon¬ 
gresses für 147. 

Innervation, Myostatische 36. 
Instrumente aus rostfreiem Stahl 
181. 

Insufficientia vertebralis 482. 
Interstitielle Drüsen 360. 
Intrakardiale Injektion 339. 
Invaginationen 232. 

Ischias 396. 

-artige Erkrankungen 193. 





VI 


Inhalts - Verzeichnis. 


Jod-Ichthyolanstrich 486. 
Jonengleithgewicht und Gift¬ 
wirkung 445. 

Junijot 252. 

Kaffee, Überempfindlichkeit 
gegen 112. 

Kardiospasmus 227. 
Keuchhustenkranke Kinder 37. 
Kiesclsäurcbehandlung 369. 

-Zufuhr 376. 

Kinderkrankheiten 147. 

—, Prophylaktik und Therapie 
147. 

Klumpfuß, Angeborener 112. 
Knochen- und Gelenktuberku¬ 
lose 179. 

Kochsalzinfusion 112. 
KoehlerscheKrankheit desKahn- 
beins 4/6. 

Kohlehydrate, Abbau im Muskel 
224. 

—, Caramelisierte 224. 

Kollargol 270. 

Konstitutionstypen siehe Thy- 
mo-lymphaticus 114. 
Kopfschmerzen 156. 
Krätzemittel Mitigal 320. 
Krampfkrankheiten 260. 
Kreislaufpathologie 270. 
Kropfbehandlung 477. 

Kyphose 477. 

Lebercirrhose 33. 

-krankheiten 29. 67. 269. 

-Schwellung 30. 

Leukocyten 271. 

Lichttherapie 121. 312. 
Liegehallen 368. 

Liquor und Syphilis 308. 

- Untersuchung 271. 

Lokalanästheticum 364. 
Loosefilter 360. 

Lues 407. 

-behandlung 312. 

Lumbalanästhesie 74. 

— und örtliche Betäubung 182. 
Luminal 383. 

Lungengangrän 149. 

-kranke 317. 

-krankheiten 426. 

-phthise. Natürliche Hei¬ 
lungsvorgänge 183. 

-spitzen katarrh 149. 

Lungentuberkulose siehe auch 
Tuberkulose. 

— 39. 51. 281. 369. 

—, Atmungstherapie 189. 

—, Chirurgische Behandlung 188. 
—,xSponanheilung schwerer 188. 
—, Röntgentherapie 164. 189. 
—, Tuberkulinwirkung 190. 
Lupus vulgaris 150. 
Lymphosarkoleukämie 405. 
Lytophan 127. 

Magen- und Duodenalgeschwür 
74. 

-geschwür 112. 269. 

- Pathologie 268. 477. 

-resektion 360. 

- Sekretion 285. 315. 

-Spülungen 37. 

- Straße 269. 

Mark, Blutbildendes 271. 


Masern 274. 

Mastdarmkrebs 312. 

-Vorfall 313. 

Mastitis puerperale 442. 
Mehlfrüchtekur 223. 
Menstruation 150. 

Milanol 279. ' 

Milzpathologie 269. 

Mitigal 320. 
Morphiumvergiftung 6. 
Muskeltonus 75. 

Mutaflor 291. 341.. 
Myodegeneratio cordis 81. 

Nährstoffe, Accessorische 79. 
Narkolepsie 445. 

Narkose 233. 

—, Allgemeine 182. 

—n 159. 

Nebennierenreduktion 358. 
Neosalvarsan-Novasurol - Injek¬ 
tion 199. 

Nephritis 233. 

-lehre 473. 

Nervenlähmungen 398. 
Nervensystem, Vegetatives 268. 

-Verletzungen, Chirurgie der 

peripheren 272. ' 

Neucesol 363. 381. 

Neuralgien 396. 

Neurasthenie 436. 

Neuritis, Multiple 395. 

Neurosen 436. 
Nierendekapsulation 71. 
Nirvanol 159. 

Nitroglycerin-Darreichung 484. 
Normosal 364. 

Novasurol 478. 

Ohrenheilkunde 148. 

Optarson 116, 235, 317. 
Optochin 96. 

Organotherapie des Diabetes 225. 
Osteomalacie 279. 

Osteotomie 313. 

Oxyuren 406. 

Oxyuriasis 191. 

Pankreaserkrankungen 70. 
Pankreatitis 478. 

Paralysis agit. '440. 

Periarteriitis nodosa 151. 
Perikarditis 453. 

Peritonitis 228. 

Pferdeserum 316. 
Phloridzinglykosurie 225. 

-diagnostik 459. 

Phosphaturie 479. 

Physormon 444. 

Pituglandol 225. 

Placenta-Opton 234. 
Pneumonien 316. 
Pneumothoraxtherapie 313. 
Prostatektomie 314. 
Proteinkörpertherapie 93. 191. 
209. 

—, Parenterale 144. 

Psyche, Behandlung 213. 248. 
Psychotherapie 176. 
Pylorospasmus 361. 
Polycythämie 406. 
Polyomyelitis acuta 395. 
Puerperalfieber 455. 

Quecksilber-Neosalvarsanbe- 
handlung 407. 


Rachitis 361. 442. 
Radiumemanatiönstherapie 347. 

386. 430. 

Regulin 34. 

Rektale Untersuchung 314. 
Retinitis alb. 268. ♦ 

Retroflexio uteri 192. 

Röntgen- und Radiumtherapie 
404. 

-behandlung siehe« einzelne 

Krankheiten. 

-diagnostik innerer Krank¬ 
heiten 273. 

-energie 37. 

-kater 275. 

-ologie 273. 

-Schädigung 314. 

-strahlen, Einfluß auf Magen- 

saftsekretion 269. 

-strahlen, Messung und Do¬ 
sierung 404. 

-therapeutisches Hilfsbuch 

274. 

— -verfahren, Fortschritte 479. 
-, Leitfaden für röntgeno¬ 
logisches Hilfspersonal 148. 

Rückenmarkskrankheiten 390. 
Ruhr im Kindesalter 192. 

Sanarthrit 93. 191.“ 

-behandlung 482. 

Säuglingsanämien 362. 

-ernährung 38. 

Schmerzen, Körperliche 447. 
Schwangerschaft, Frühdiagnose 
75. 

—, Biologische Diagnostik 321. 

-glykosurie 75.. 

- Unterbrechung 324. 

Schwindsucht 426. 

Seife bei Tuberkulose 118. 
Sekretin 226. 

Selbstinfektion 315. 

Shock, Traumatischer 142. 
Silberlösungen, Kolloidale 243. 
Silbersalvarsan bei multipler 
Sklerose 480. 

Sklerose 480. 

—, Multiple 395. 

Skoliose 480. 

—n, Redression s^chwerer 113. 
Sodbrennen 197. ' 

Solarson 481. 

— bei Herzkranken. 40. 
Sonnenstich 362. 

Spina bifida 193. 

Spondylitis tuberculosa 481. 
Spontanfrakturen der Patella 

479. 

Steckschuß-Selbstheilung 488. 
Sterilisierung 113. 

Stoffwechsel, Pathologischer265. 
Strahleneffekte, Gynäkologische 
l48. 

Staphar 157. 

Stomachikum 174. 
Stuhlverstopfung 76. 
Sympathikotonie 153. 

Syphilis, resistente 481. 

-therapie 15. 151. 

Tabes, Heilbarkeit 234. 

— dorsalis 393. 

Tenosin 198. 406. 

Terpichin 129, 





Infialts-Verzeichnis. 


VII 


Tetanie 275. 

Thlaspan 39. 
Thymo-lymphaticus 114. 
Tonophosphan 422. 
Tonsillenschlitzung 114. 
Traubenzuckerinfusionen 20.152. 
Tri Chloräthylen 193. 
Trigeminusneuralgie 152. 398. 
Trinkkuren bei Kindern 474. 
Tripper 276. 

Trivalin 445. 
Tuberkulindiagnostik 235. 

-lösungen 318. 

Tuberkulose 1. 118. 276. 

—, Chirurgische 235. 

—, siehe auch Lungentuber¬ 
kulose. 39. 


Tuberkulose, Nachweis* 362. 

—, Spezifische Behandlung 
186. 

—, Klinische Therapie 186. 

—, Strahlenbehandlung 115. 

-infektionen, Additionelle 41. 

87. 

Typhus 77. 

Überempfindlichkeit gegen 
Kaffee 112. 

Ulcera cruris 488. 

Ulcus cruris-153. 

— ventriculi 197. 

— ventriculi und duodeni 153. 
Unterschenkelgeschwüre 115. 
Uzara 77. 


Vagotonie 153. 

Varicen 467. 

Verbrennungen 103. 
Verletzungen, Frische 25.61.101. 
141. 220. 263. 305. 354. 399. 

Wassermann-Reaktion 315. 
Wehenmittel 10. 53. 
Wiederbelebung, Intrakardiale 
Injektion zur 181. 

X-Bein 316. 

Zellfunktion, Steigerung 37. 
Zuckerkranke, Ther. 167. 
Zuckerkrankheit 202. 
Zungennekrose 39. 




Autorenregister. 

(Die Seitenzahlen der Original-Mitteilungen sind fett gedruckt.) 


Alsberg, J. 149. 
Alwens 189. 

Aron, H. 79. 

Aschoff 183. 

Aßmana 273. 

Aubry, L. 313. 

Bartels 114. 

Baruch 74. 

Bauer (Wien) 268. “ 
Bauermeister 34. 

Beltz 270. 

Benthin 324. 
Bergmann, W. 118. 
Bier, A. 144. 179. 
Bingel, Ad. 316. 
Birch-Hirschfeld 315. 
Bircher, E. 70. 

Birt 479. 

Bittorf 73. 

Blaschko u. Groß 444. 
Blühdorn 35. 
Blumenthal, Waith. 
279. 

Boden u. Neukirch475. 
Boenheim 477. 

Boese 475. 

Bonsmann 271. 
Borchardt, M. u. 
Ostrowski 25. 61. 

101. 141. 220. 263. 
305. 354. 399. 467. 
Böttner 270. 406. 
Brandenburg, K. 112, 
Brauer, L. 6. 188. 
Braun 182. 

Brugsch 35. 224. 
Brüning 228. 

Bruns 270. 

Bucky', G. 404. 
Büdingen, Th. 20. 
Bungart 74. 
Bunnemann 132. 
Bürger 225. 

Busch ke 150. 


de la Camp, O. 164. 
Citron 405. 

Collatz 226. - 

Colmers 228. 

Csepai, K. 319. 

Dardel 232. 

V. Delbrück, F. 364. 
Deloch, Erh. 363. 

Denk 182. 

Diemer, Th. 405. 
Dienemann 157. 

Disque 176. 

—, jr., L. 191. 

Ditler, R. 113. 

Dresel 224. 

Dreyfus 234. 

Drüner 275. 

Dünner 268. 453. 

Eiseisberg 229. 

Eisner 225. 

—, Gg. 235. 

Elias 226. 

Engelmann 347. 386. 
430. 

Eppinger 81. 233. 

Falta 223. 

Finckh, J. 257. 
Finsterer^ H. 74. 
Firnhaber 40. 

Fischer, Heinr. 277. 
Focke, C. 426. 

Frank 153. 473. 

—, E. 167. 266. 

—, L. (Berlin) 270. 

—, E. u. Nothmann 75. 
Fraenkel, J. 112. 
Franz (Berlin) 72. 
Friedemann,U.267.313. 
FronzLg 362. 

Full 269. 

Fürstenau, Immelmann 
u. Schütze 148. 


Garling 150. 

Gerhardt 186. 

G6ronne 191. 

Gerson, Karl 368. 
Gigon 226. 

" Gödde 231. 

Goerres 481. 

Goldmann 366. 
Goldscheider 226. 
Göppert u. Langstein 
147. 

Gorke 226. 

Grafe 75. 224. 

Graetz, H. 312. 
Greving 268. 

Griesbach 270. 

Groedel, Frz. M. 172. 
Gröpler 446. 

Groß 265. 

Grote 225. 

Grütz 148. 

Gudzent 193. 265. , 

—, F. u. Keip, J. 127. 
Guggenheimer, H. 194. 
Günther 72. 

Haedicke. Jobs. 333. 
Hartleib 310. 

Heffter 441. 

Heinz 174. 

Heller 315. 

Hellmuth 444. 
Herrmann, Erna 482. 
Herzog, F. 442. 

Hesse, E. 312. 

Hey^r 268. 285. 
Hilgers 117. 

Hirsch 440. 

—, H. 360. 

Hofbauer 189. 
Hoffmann, C. 422. 

—, G. 274. 

Holmgreen 473. 

Holst 473. 

Holzknecht, G. 273. 


Hoppe-Seyler 226. 
Hoesslin' 267. 

Hunaeus 149. 

Isaak u. Bieling 271. 
Isele, H. 41. 87. 

Jaeger 406. 

Jansen 267. 

V. Jaschke 474. 

Jehn, W. 281.310. 357. 
Joseph, S. 299. 
Jüngling 229. 
Jungmann 270. 

Junkel 443. 

Karo, W. 129. 
Kamnitzer u. Joseph 
321. 459. 

Katsch 269. 

Katz, G. 198. 
Kauffmann 442. 
Kennedy 475. 
Kirschner 182. 
Kleeblatt, F. 209. 
Klempei-er, F. 190. 

—, G. 29. 39. 116. 136. 
162. 183. 223. 265. 
390. 436. 449. 
Klewitz 208. 

Klink, W. 179. 
Klinkert 111. 

Klose 474. 

Klotz 361. 

Kocher, A. 153. 
Kolisch 225. 

Kollert, V. u. Bauer, 
K. 381. 

— u. Burger 318. 
König, E. 362. 

Koenig, Fritz 179. 

— (Würzburg) 112. 
Königer 272. 
Koopmann 114. 
Korbsch 152. 


VIll 


Infialts-Verzeichnis, 


.Koßmann 405, 

Kramer 152. 

Kraus 153. 

Krecke 477. 

Krecke, A. 312. 
Kretschmer 446. 
Kreuter 227. 

Krösl, H. 365. 

Kroetz 150. 
Kulenkampf 181. 
Kuntze, G. 192. 
Küpferle 190. 

Kurtzahn 357. 

Laache 76. 

Lahmeyer, Fr. 195. 
Lampe, Rud. 93. 

Lang 442, 

Lange 480. 

— (Frkf.) 266. 
Langstein 361. 474. 
Laquer 224. 

Lauritzen, M. 409. 
Lehmann, W. 272. 
Leicht weiß 51. 

Leidler, R. 148. 

Lenkj Rob. 274. 
Leschke 268. 

Lewy 224. 

Lichtwitz 226. 473. 
Liebermeister 150. 189. 
Liegner 314. 

Lippmann (Frkf.) 269. 
Lissau, S. 486. 

Löffler 225. 

Loning 225. 

Lübbert 71. 

Lust 147. 

Magnus-Alsleben 270. 
Martin 234. 

Mau, C. 235. 
Mayer-Bisch 359. 
Meier, Clot. 267. 
Meißner, R. 418. 
Mendel, Fel. 216. 
Meyer 360. 

—, Er. 190. 266. 442. 
—, Fr. M. u. Meyer, 
Frz. K. 279. 


Meyer-Birch 442. 
Meyersohn 480. 
Michaelsen 232. 
Minkowski 223. 

Molnar 443. 

V. Monakow 34. 

Moos 213. 248. . 
Morawitz 110. 

-— u. Denecke 267. 
Müller 481. 

—, Ernst 359. 

—Ernst Friedr. 271. 
308. 

J. 112. 

—, L. R. 268. 

—, Otfr. 41. 87. 

Nathan u. Flehme 151. 
Naunyn, B. 201. 
Neuland u; Peiser 38. 
“Neuwirth, K. 148. 
Nevermann 445. 

Nonne 308. 

Nonnenbruch 267. 478. 
V. Noorden, C. 202. 
310. 

Nordmann 229. 
Nürnberger 444. 
Nußbaum, A. 113. 

behlecker 181, 

Oehme 226. 

Opitz 312. 

Ostermann 181, 

Ottow 232. 


Pamperl, R. 275, 
Pankow’ 488. 
Perthes 228. 
Peterson 360. 
Pfaundler 274. 
Plehn 243. 

Plenz 313. 

Pleßner 193. 

Pongs 269. 

Pulay 112. 

Rabinowitsch, L. 1. 
Rehdes 362. 


Reichmann 446. 

Reines, S. 407. 

V. d. Reis 269. 

Reiß, E. 188. 

Rieder 275. 

Rietschel 276. 
Rqedelius 314. 
Rosenberg, Alb. 252. 
Rosenow 269. 
Rosenthal (Breslau) 
271. 

Roth, M. 369. 
.Rothschild, Alfr. 60. 
Rotter 269. 

Sachs, E. 10. 53. 

—^ Em. 367. 

Salinger, Alfr. 320. 
Salmony, L. 383. 
Salomon 315. 

Sandor 358. 

Schade 267, 

Schanz, F. 121. 482. 
Scheuermann 477. 
Schilling 271. 
Schlesinger, H. 47. 
Schlichting 159. 
Schmid, E. 316. 
Schmidt, H. (Lieben¬ 
stein) 236. 

Hugo 197. 

—, L. 156. . 

Schmiedeberg, O. 230. 
Schneider 39. 

V. Schrötter 115. 
Schultes 317. 

Schulze, W. 339. 
Seelmann 404. 

Seiler, Franz 488. 

Seitz 192. 

Selter 406. 

Seyderhelm, R. 241. 
266. 

Siemens, W. 481. 
Singer (Wien) 70. 268. 
Sonnenfeld 356. 
Sonntag 476. 
Steinkamm 274. 
Steinthal 358. 

Stephan 37. 189. 320. 



Stepp 225. 

Stöckel 109. 

Stöcker u. Mahlo 485. 
Strümpell 36. 476. 
Sudeck 181. 

Suermondt 360. 
Süßmann, M. 447. 

Toennießen 225. 
Traugott 226. 

Treitel 199. 

Treuherz, W. 303. 
Tutscheck 441. 

Uhlenhuth 186. 

Veraguth 309. 

Vogt 77. 181. 

Volhard 227. 268. 473. 
Völker 311. 

Volkmann 115. 
Voltolini 77. 

Voltz, F. 404. 

Wächter 315. 

Wacker u. Beck 357. 
Wagner 479. 
Warnekros 229. 
Waetzoldt, G. A. 96. 
Wechselmann 15. 
Weinberg 271. 
Westmann, St. 260. 
455. 

Wetterer, J. 276. 404. 
Wetzel 314: " 

Wiechmann 270. 
Wiegels 461. 

Wieland, H. 111. 
Wijnhausen 478. 
Wilhelm, M. 37. 
Winkler, C. 484. 
Wohlgemuth, K. 484, 

Zadek, J. 291. 341. 
Zinn, W. u. Liepelt, K. 
329. 

Zondek 39. 445. 
Zuckmayer, F. 376. 
Zumpe 479. 





Die Therapie der Gegenwart 


1921 


herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer 
in Berlin. 


Januar 


Nachdruck verboten. 

Aus dem Bäkteriologisclien Laboratorium des Krankeuiauses Moabit iu Berliu. 

Zur experimentellen Grundlage 
der Priedmannschen Behandlungsmethode der Tuberkulose^). 

Von Prof. Dr. Lydia Rabinowitsch. 


Sie haben gerade in der letzten Zeit 
recht viel von der Priedmannschen 
Behandlung der Tuberkulose gehört. Ich 
habe mich entschlossen, heute hier über 
die experimentelle Grundlage dieses Im- 
munisiertmgsverfahrens zu sprechen, weil 
ich annehme, daß die Frage noch immer 
allseitiges Interesse beansprucht. 

Ich will versuchen. Ihnen in großen 
Zügen die wichtigsten Bausteine vorzu¬ 
führen. Allerdings werde ich damit wohl 
denjenigen, welche mit der Frage vertraut 
sind, wenig Neues bieten. lljm aber auch 
vor diesen nicht mit ganz leeren Händen 
zu erscheinen, beabsichtige ich einige bei 
meinen fortgesetzten Studien dieser Frage 
gefundene und noch nicht bekannt ge¬ 
gebene Tatsachen meiner Darstellung 
einzuflechten. 

Robert Koch hat bereits 1890 auf 
dem X. Internationalen Medizinischen 
Kongreß in Berlin auf die Wichtigkeit 
und Unumgänglichkeit der Tierversuche 
bei der Prüfung eines neuen Mittels, hinge¬ 
wiesen. Ersagt: ,,Nicht mit dem Menschen, 
sondern mit dem Parasiten für sich inseinen 
Reinkulturen soll man zuerst experimen¬ 
tieren; auch wenn sich dann Mittel ge¬ 
funden haben, welche die Entwicklung 
der Tuberkelbacillen in den Kulturen 
aufzuhalten imstande sind, soll man nicht 
wieder sofort den Menschen als Versuchs¬ 
objekt wählen, sondern zunächst an 
Tieren versuchen, ob die Beobachtun¬ 
gen, welche im Reagenzglase gemacht 
wurden, auch für den lebenden Tierkörper 
gelten! 

Erst wenn das Tierexperiment ge¬ 
lungen ist, kann man zur Anwendung am 
Menschen übergehen.“ ^ 

Seit Jahren haben die verschiedenen 
Autoren versucht, Laboratoriumstiere mit 
lebenden oder abgetöteten Bakterien der 
Säugetier- oder Geflügeltuberkulose oder 

1) Vortrag, gehalten am 16. Dezember 1920 
am wissenschaftlichen Abend des Krankenhauses 
Moabit. 




mit den Produkten dieser. Keime gegen 
menschliche Tuberkulose zu schützen. 
Keine der,zahlreichen Methoden konnte 
jedoch als sicher wirkend anerkannt 
werdeji. • 

Bereits bei der E.atdeckung der spe- 
cifischen Färbbarkeit des Tuberkelbacillus 
hat Robert Koch vorausgesagfc, daß 
man sicher noch eine ganze Reihe von 
Bacillen finden wird, denen dieselben 
tinktoriellen Eigenschaften wie dem 
Tuberkelbacillus eigen sein werden. Unter 
Robert Kochs Leitung habe ich dann 
auch 1896 die ersten tuberkelbacillenähn¬ 
lichen säurefesten Stäbchen aus der Butter 
herausgezüchtet. Es folgten dann ver¬ 
schiedene Autoren mit ähnlichen Ent¬ 
deckungen. Petri isolierte ähnliche Stäb¬ 
chen gleichfalls aus der Butter, MoeIler 
aus Gras und Mist, Dubard, Bataillon 
et Ter re aus dem Tumor eines Karpfens. 
All diese Bakterien zeigten trotz ihrer 
verwandtschaftlichen Beziehungen zum 
Tuberkelbacillus gar keine oder nur ge¬ 
ringe Pathogenität für Versuchstiere. 

Mit der Entdeckung dieser säurefesten, 
tubcrkelbacillenähnlichen Stäbchen er- 
öffneten sich neue Aussichten für die 
Immunisierung von Meerschweinchen 
gegen echte Tuberkulose, 

F. Klemperer kam auf Grund von 
acht Versuchen an Meerschweinchen zu 
dem Schluß, daß durch subcutane be¬ 
ziehungsweise intraperitoneale Injektion 
der säurefesten Gras-, Butter- und Milch¬ 
bacillen ein abschwächender und hem¬ 
mender Einfluß auf die tuberkulöse In¬ 
fektion ausgeübt wird. Der Schutz war 
aber nur gering und vorübergehend, da 
alle vorbehandelten Tiere doch später in¬ 
folge der Einspritzung tuberkulösen Spu¬ 
tums zugrunde gingen. 

Möller prüfte die immunisierende 
Eigenschaften der einzelnen Vertreter der 
säurefesten Gruppe untereinander an 
Meerschweinchen und Kaninchen durch 
subcutane und intravenöse Injektionen, 

1 




2 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Januar 


und zwar mit avirulenten Repräsentanten 
dieser Gruppe gegen virulente Vertreter 
derselben. Sodann wurden sämtliche von 
MoeIler beschriebenen säurefesten Ba¬ 
cillen bezüglich des Schutzes, den sie den 
hiermit vorbehandelten Tieren gegen eine 
nachfolgende Infektion mit menschlichen 
Tuberkelbacillen verliehen, untersucht. 
Hierbei zeigte sich, daß selbst durch 
wiederholte Injektionen nur ein hem¬ 
mender Einfluß auf die Entwicklung der 
Tuberkulose, aber keine vollständige Im¬ 
munität zustande kam. 

Auch Koch und Schütz berichten 
im Verein mit Neufeld und Mießner 
anläßlich ihrer Immunisierungsversuche 
von Rindern gegen Tuberkulose über 
Immunisierung von Meerschweinchen mit¬ 
tels lebender Kulturen von Gras-, Mist-, 
Pseudoperlsucht- und Blindschleichen¬ 
tuberkulose-Bacillus. Eine größere Zahl 
von Meerschweinchen wurde meist intra¬ 
venös, in einigen Fällen auch intraperito¬ 
neal mit genannten Bacillen vorbehandelt 
und nach verschieden langer Zeit durch 
SLibcutane oder intraperitoneale Injek¬ 
tionen kleiner Mengen schwach virulenter 
Tuberkelbacillen auf ihre Immunität ge¬ 
prüft. Bei den so vorbehandelten Meer¬ 
schweinchen ließ sich zwar häufig eine 
Verzögerung im Auftreten der ersten In- 
fektionserscheinungen und im Verlaufe 
der Infektion nachweisen, insbesondere 
war die Erkrankung der Lymphdrüsen 
bei subcutaner Infektion bisweilen eine 
sehr geringe, so daß man bei nicht ge¬ 
nügend langer Beobachtung der Tiere 
leicht zu falschen Schlußfolgerungen hätte 
verleitet werden können; indes sind sämt¬ 
liche Meerschweinchen schließlich tuber¬ 
kulös geworden. 

Zu ähnlichen Resultaten gelangten 
Gaston und Galbrun, welche auf dem 
Pariser Tuberkulosekongreß 1905 über 
Immunisierungsversuche mittels des säure¬ 
festen Rabinowitschschen Butterbacil¬ 
lus berichteten. Und zwar wurden Meer¬ 
schweinchen nicht nur mit lebenden Kul¬ 
turen, sondern auch mit Stoffwechsel¬ 
produkten des Butterbacillus behandelt 
und gleichzeitig oder später mit Tuber¬ 
kulose infiziert. Die Bakterienprodukte 
des Butterbacillus übten keinen Einfluß 
auf den Verlauf der Tuberkuloseinfektion 
aus, während durch die Vorbehandlung 
mit Kulturen ein hemmender Einfluß auf 
die Entwicklung der Tuberkulose deutlich 
zutage trat. Die tuberkulösen Verände¬ 
rungen waren bei den behandelten Tieren 
geringgradig im Verhältnis zu denjenigen 


der Kontrolltiere, die bedeutend früher 
der Infektion erlagen. 

Eine vollständige Immunisierung wurde 
auch von den französischen Autoren 
nicht erreicht. 

Die Resultate dieser Autoren stimmen 
vollkommen mit meinen eigenen seinerzeit 
angestellten diesbezüglichen Immunisie¬ 
rungsversuchen überein. 

Der erste, der Immunisierungsversuche 
mit Kaltblütertuberkelbacillen vornahm, 
war Terre, der gemeinsam mit Dubard 
und Bataillon eine spontane Tuberku¬ 
lose beim Karpfen beobachtet und mit 
der isolierten Kultur umfangreiche Unter¬ 
suchungen angestellt hatte. Eine Im¬ 
munität gegen Tuberkulose konnte Terre 
bei Meerschweinchen durch VoTbehand- 
lung mit dem genannten Karpfenbacillus 
nicht erzielen, wenn auch einzelne Tiere 
relativ länger, ja mitunter doppelt so 
lange am Leben blieben, wie die Kontroll¬ 
tiere (z. B. 3j4 Monate zu 1 % Monaten). 

Auf die darauf folgenden Versuche 
von Küster, Marey und Dieudonne 
will ich hier nicht weiter eingehen. Da sie 
hauptsächlich, wie auch zahlreiche Ver¬ 
suche anderer Autoren (Hormann und 
Morgenroth, Auche und Hobs, Ra- 
mond Ravaut, Lubarsch, Klimmer 
und Andere) die Frage der Umwandlung 
von Säugetier- und Geflügeltuberkulose 
durch die Passage des Kaltblüterorganis¬ 
mus behandelt haben. 

Auf dem Pariser Tuberkulosekongreß 
1905 berichtete Behring in einer Dis¬ 
kussionsbemerkung zur Frage der Be¬ 
ziehungen der menschlichen zur tierischen 
Tuberkulose, er habe experimentelle Beob¬ 
achtungen über die Bacillen der Säuge¬ 
tier-, Geflügel- und Kaltblütertuberkel- 
bacillcn gemacht. Die drei Tuberkulose¬ 
arten haben gemeinsame Tuberkulinreak¬ 
tion, und außerdem wäre es möglich, mit 
den für Meerschweinchen wenig oder gar 
nicht virulenten säurefesten gegen die 
nächst höheren Virulenzstufen zu immu- 
ni zieren. 

Ferner ist es Calmette, Guerin und 
Breton mittels intrastomachaler .Einver¬ 
leibung der Kaltblütertuberkelbacillen und 
der säurefesten Stäbchen nicht gelungen, 
beim Meerschweinchen einen bemerkens¬ 
werten Immunisierungseffekt zu erzielen. 
Wie ich schon ausgeführt habe, konnte 
man also mit sämtlichen tuberkelbacillen¬ 
ähnlichen Stämmen beim Meerschwein¬ 
chen keine sichere Immunität er¬ 
reichen. 





Januar . 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


3 


Um so erfreulicher erschienen daher 
die von Friedemann 1903 mitgeteilten 
Ergebnisse, die dieser mittels einer von 
spontaner Schildkrötentuberkulose iso¬ 
lierten Kultur gewonnen hatte. Von den 
anderen Kaltblütertuberkelbacillen sollte 
sich der Fried mann sehe Bacillus unter¬ 
scheiden: 

1. Wachstumsmöglichkeit innerhalb 
weiter Temperaturgrenzen (gutes Fort¬ 
kommen schon bei Zimmertemperatur, 
üppigstes Wachstum bei 37^). 

2. Völlige Gleichheit des Aussehens 
der bei 37® gewachsenen Kulturen mit 
Säugetiertuberkelkulturen (menschliche 
Tuberkulose und Perlsucht). 

3. Erzeugung eines ganz leichten, loka¬ 
lisiert bleibenden und in vollständige Hei¬ 
lung übergehenden specifischen Herdes 
im Meerschweinchenkörper. 

4. Eine absolute und sicher bewiesene 
.Unschädlichkeit gegenüber allen unter¬ 
suchten Säugetieren: Meerschweinchen, 
Kaninchen, Hund, Ziege, Rind, Schaf, 
Schwein, Pferd. 

Fri edmann gelang es angeblich,durch 
eine einmalige geeignete (intravenöse) 
Vorbehandlung mit dem Schildkröten¬ 
bacillus, welchen er ,,als echten, nur wun¬ 
dersam mitigierten Tuberkelbacillus‘‘ be¬ 
zeichnet, ,,Meerschweine so hoch zu im¬ 
munisieren, daß sie eine Dosis mensch¬ 
licher Kultur, die nicht behandelte Tiere 
in drei Wochen an Tuberkulose tötet, 
ohne tuberkulös zu werden, überstehen. 
Auch gegen Perlsuchtstämme sollte die 
Friedmannsche Kultur Meerschwein¬ 
chen in gleicher Weise zu immunisieren 
imstande sein. 

Gegen diese günstigen Imnuinisie- 
rungsversuche Friedmanns mit Schild¬ 
krötenbacillen wandten sich bereits 1904 
in scharfer Kritik Libbertzund Ruppel 
von den Höchster Farbwerken, in deren 
Laboratorium ein Teil der Versuche von 
Friedmann ausgeführt worden ist. Diese 
Autoren stellten fest: 

1. Die Fri edm an nsche Kultur ist 
für Warmblüter nicht absolut ungefähr¬ 
lich. Sie erzeugt zwar keine Tuberkulose, 
sie kann aber Intoxikationen und organi¬ 
sche Veränderungen hervorrufen, welche 
Gesundheit und Leben der Versuchstiere 
zu gefährden imstande sind. 

2. Intravenöse Injektionen der Fri ed¬ 
mann sehen Kultur vermögen Warmblüter 
nicht vor einer späteren Infektion mit 
Tuberkulose zu schützen. 

3. Durch intravenöse Injektionen der 
Friedmannschen Kultur werden bei 


Warmblütern Tuberkuloseimmunstoffe 
nicht erzeugt. 

Auf die Veröffentlichung von Lib- 
berts und Ruppel hin wandte sich 
Friedmann an Orth'mit der Bitte unr 
Nachprüfung, ob die von Friedmann 
vorbehandelten Meerschweinchen gegen 
eine erneute Infektion mit echten Tuber¬ 
kelbacillen geschützt sind. Orth hat 
seinerzeit mich aufgefordert, diese Ver¬ 
suche mit ihm gemeinsam auszuführen 
und so haben wir nach allen Regeln der 
Pathologie und Bakteriologie die Ver¬ 
suche in Angriff genommen. 

Ich will hier nicht auf die Einzelheiten 
dieser in einem Zeiträume von mehr als 
zwei Jahren ausgeführten'Untersuchungen 
eingehen, es würde mich dies zu weit 
führen. Meine gemeinsamen Untersuchun¬ 
gen mit Orth haben ergeben, daß die 
Fri edm an nsche Behauptung einer er¬ 
zielten vollen Immunität — das heißt, 
daß es ihm durch eine einmalige Vorbe¬ 
handlung gelungen sei, ,,Meerschweine so 
hoch zu immunisieren, daß sie eine Dosis 
menschlicher Kultur, ,,die nicht vorbe¬ 
handelte Tieren in drei Wochen an Tuber¬ 
kulose tötet, ohne tuberkulös zu werden, 
überstellen“ — sich als absolut un¬ 
zutreffend erwiesen. 

Das Friedmannsche Immunisie¬ 
rungsverfahren war weder imstande, einen 
erheblichen Schutz gegen eine nachfol¬ 
gende bei nicht vorbehandelten Kontroll- 
tieren schneller oder langsamer verlau¬ 
fende tödliche Infektion zu gewähren, 
noch ein Stationärwerden des tuberku¬ 
lösen Prozesses zu bewirken. Es leistete 
nicht mehr und nicht weniger als die 
zahlreichen bereits Ihnen geschilderten 
Immunisierungsverfahren, welche mit an¬ 
deren Kaltblüterubcrkelbacillen, wie auch 
mit den verschiedenen säurefesten Butter-, 
Gras- und Mistbacillen angestellt worden 
sind. 

Nur noch einen Punkt meiner gemein¬ 
samen Untersuchungen mit Orth möchte 
ich hier erwähnen. , Dieser bezieht sich 
auf die strittige Frage der geringeren oder 
größeren Pathogenität der Schildkröten¬ 
tuberkelbacillen. 

Bei diesen unseren Untersuchungen 
haben wir von Friedmann keine Kul¬ 
turen seiner Kaltblütertuberkelbacillen 
bekommen, sondern stets bereits vorbe¬ 
handelte Tiere, die wir dann mit echten 
Tuberkelbacillen impften. Eins der vor- 
behandclten Tiere, das erkrankt ange¬ 
kommen ist, aber sich später erholte, 
wurde von uns ungeimpft belassen. Nach 





4 • . ■- ' Die Therapie der'Gegenwart‘ Janülf 


länger als einem Jahre haben wir dieses 
. Tier-getötet, um festzustellen, ob von der 
Vorbehandlung noch Spuren zu entdecken 
seien. 

Am Hoden- und Samenstrangbauch¬ 
fell dieses Tieres waren Neubildungen, 
welche makroskopisch wie mikroskopisch 
Tuberkeln glichen, an denen aber weder 
in frischen Ausstrichen, noch an Schnitten 
Tuberkelbacillen beziehungsweise säure¬ 
feste Stäbchen nachgewiesen werden 
konnten. -Die von hier angelegten Kul¬ 
turen sind steril geblieben. Dagegen 
gaben zwei mit dem erkrankten Hoden 
weitergeimpfte Tiere ein wenn auch ge¬ 
ringfügiges positives Resultat. In den 
verk-ästen Inguinaldrüsen dieser Meer¬ 
schweinchen waren vereinzelte säurefeste 
Stäbchen sichtbar. 

Herr Orth fand bei- der mikroskopi¬ 
schen Untersuchung, diese Inguinaldrüsen 
typisch tuberkulös, hier und da, insbe¬ 
sondere in einzelnen Riesenzellen, wurden 
säurefeste Stäbchen aufgefunden. 

Die von Friedmann also für diese 
seine Versuche benutzten Stämme konn¬ 
ten nicht als völlig harmlose Saprophyten 
angesehen werden und es mußte gewarnt 
werden, zu prophylaktischen Impfungen 
zumal bei Kindern, wie das von Fried¬ 
mahn und E. Müller seinerzeit auf’s 
wärmste empfohlen wurde, dieselben an¬ 
zuwenden. 

Auch zur Bekämpfung der Rinder¬ 
tuberkulose hat Friedmann sein Ver¬ 
fahren aufs wärmste empfohlen. Ein dies¬ 
bezüglicher Prüfungsversuch an Kälbern, 
der auf einem Gute des Grafen Oppersdorf 
in Schlesien unternommen wurde, hat 
aber gänzlich fehlgeschlagen. 

Auch die neuerdings von der Land¬ 
wirtschaftskammer der Provinz Branden¬ 
burg angestellten Versuche, über die in 
,der Sitzung der Berliner Madizinischen 
Gesellschaft vom 7. Dezember 1920 be¬ 
richtet wurde, haben ein durchaus nega¬ 
tives Resultat ergeben. 

Erwähnt sei hier, daß auch die experi¬ 
mentelle Nachprüfung der Friedmann- 
schen Angaben von Ehrlich seinerzeit 
ergab, daß den Schildkrötentuberkel¬ 
bacillen weder eine prophylaktisch-im- 
munisierende noch eine Heilwirkung beim 
tuberkulösen Meerschweinchen zukomme. 
Gleichfalls hat d'e amerikanische Re¬ 
gierung unter Andersons Leitung den 
Behauptungen Fri e d m a n ns bezüglich 
der Wirksamkeit und Harmlosigkeit semes 
Mittels widersprochen. 


. Aber trotz des negativen Ausfalls aller 
auf Fried man ns Wunsch vorgenoni- 
menen Tierversuche empfahl Friedmann 
seine.Behandlungsmethode mit demSchild- 
kröt'entuberkelbacillus und ließ sein Mittel 
bereits fabrikmäßig herstellen. Es sei' 
daher noch bemerkt, daß die Herstellungs¬ 
weise zuerst eine sehr mangelhafte war, 
daß die Ampullen außer den säurefesten, 
sehr zahlreiche andere Keime, auch Eiter¬ 
erreger enthielten, also stark verunreinigt 
waren. Ich habe seinerzeit darüber in 
der Medizinischen-Gesellschaft berichtet, 
will aber gleich an dieser' Stelle hervor¬ 
heben, daß diese Kinderkrankheit, wenn 
ich mich so ausdrücken darf, von Fried¬ 
mann überwunden wurde. Seit das 
Mittel in Leipzig, unter der Kontrolle 
von Kruse hergestellt wird, habe ich 
wenigstens bei den vielen von mir unter¬ 
suchten Ampullen keine Verunreinigung 
mehr durch andere Keime feststellen 
können. Die Angaben ,,stark“ und 
,,schwach“ bei dem Mittel dagegen haben 
nicht immer gestimmt, worauf- auch 
F. Klemperer letzthin in der Medizini¬ 
schen Gesellschaft aufmerksam gemacht 
hat. Es enthielten mitunter Ampullen 
mit der Bezeichnung ,,stark“ weniger 
Keime als die mit der Bezeichnung 
,,schwach“. 

Obwohl Friedmann'ja lange Zeit sein 
Mittel nicht freigab, war ich seit Jahren 
im Besitz von seinen Kulturen, die ich 
aus den mir verschiedenerseits zur Ver¬ 
fügung gestellten Ampullen mit Leichtig¬ 
keit herausgezüchtet habe. Wenn Fried¬ 
mann auch nur den von ihm Auserwähl¬ 
ten das Mittel zur Verfügung stellte, so 
waren auch unter diesen Auserwählten 
Ärzte, die gerne wissen wollten, womit 
sie eigentlich ihre Patienten behandeln. 

Mein Lehrer R. Koch pflegte uns zu 
sagen, man dürfe kein Präparat am Men¬ 
schen anwenden, ohne sich über die Rein¬ 
heit desselben persönlich vorher zu über¬ 
zeugen. 

Die von mir aus den Friedmann¬ 
ampullen herausgezüchteten Stämme 
verhielten sich nicht immer gleichmäßig. 

Manche von ihnen entwickelten sich 
nur bei Zimmertemperatur, die anderen 
hatten ihr Wachstumsoptimum bei Brut¬ 
temperatur. 

Ich habe Stämme,-die zuerst nur bei 
Zimmertemperatur zu wachsen schienen, 
auch iiach und nach an den Brutofen 
gewöhnt. 

Ich will ihnen Stämme zeigen, die 
bereits über 150 Passagen durchgemacht 






Die Therapie der Gegenwart' 1921 


.5 


haben.. — Die Gestalt der Stäbchen hat 
sich durch die Passagen .mitunter ge¬ 
ändert, sie sind schlanker, dünner, mehr 
Ähnlichkeit mit den echten Tuberkel¬ 
bacillen aufweisend, geworden. 

Was die pathogenen Eigenschaften 
der Friedmannkultur betrifft, so scheinen 
auch diese zu variieren. 

Die subcutane Verimpfung größerer 
Mengen an Kaninchen hat mitunter 
Impfabscesse gezeitigt, in welchen die 
Säurefesten mit Leichtigkeit nachge¬ 
wiesen werden konnten. Intravenöse In¬ 
jektionen riefen bei Kaninchen keine 
Veränderungen hervor. 

Das Verhalten der einzelnen Stämme 
Meerschweinchen gegenüber war ver¬ 
schieden. — So hat die Verimpfung einer 
halben Friedmannampulle auf ein Meer¬ 
schweinchen mitunter keine Verände¬ 
rungen beim Tiere gezeitigt, dagegen hat 
der eine von mir isolierte Stamm, den 
auch der bekannte Tuberkulosearzt 
Schröder-Schömberg an Meerschwein¬ 
chen verimpft hat, bei Anwendung 
größerer Mengen typische“ tuberkulöse 
Veränderungen hervorgerufen. Ich hatte 
wiederum Stämme, die selbst bei Anwen-' 
düng großer Dosen nur lokale, leicht auch 
zurückgehende Veränderungen zeitigten. 

Da Friedmann sich in den letzten 
Jahren nie genau über seine Kulturen 
geäußert hat, in seiner Patentschrift 
vom 29. Juni 1920 aber sagt, sein Ver¬ 
fahren bestehe auch darin, daß er viru¬ 
lente Tuberkelbazillen avirulent und 
avirulente noch avirulenter mache, so 
müßte man ja auch die Möglichkeit nicht 
völlig von der Hand weisen, daß er in 
seinen Ampullen mitunter nicht nur seine 
Schildkrötentuberkelbacillen, - sondern 
avirulent gemachte menschliche Tuberkel¬ 
bazillen habe. Wie vorsichtig man aber 
mit dem Avirulentmachen sein muß und 
wie leicht dabei auch bei großer Sorgfalt 
noch virulente Tuberkelbacillen übrig¬ 
bleiben können, weiß jeder, der solche 
Versuche angestellt hat. Mit großem 
Interesse habe'ich aus einer ganz kurzen 
Notiz im neuesten Lehrbuche von Cal- 
mette entnommen, daß auch er gleich 
mir der Meinung ist, das Friedmann sehe 
Tuberkulosemittel beherberge neben Kalt-- 
blütertuberkelbacillen auch echtemensch¬ 
liche Tuberkelbacillen. 

Meerschweinchen und Kaninchen 
durch wiederholte Vorbehandlung mit 
den Fri e dm a mischen Schildkröten¬ 
tuberkelbacillen gegen eine darauf fol¬ 


gende Infektion mit menschlichen Tuber^ 
kelbacillen respektive PerlsuchtbaciiKii 
.zu schützen, ist mir trotz aller Bemühun¬ 
gen nicht gelungen. Meine diesbezüg¬ 
lichen neueren Versuche sind insofern 
ungünstiger ausgefallen, als die s'einef- 
zeit gemeinschaftlich mit OTth ausge- 
führten, als die vorbehandelteii Meer¬ 
schweinchen, nur ganz vereinzelt länger 
am Leben blieben als die Kontrolltiere. 
Eine Erklärung für diese Tatsache finde 
ich darin, daß die uns seinerzeit von 
Friedmann zur Prüfung übergebenen 
vorbehandelten Tiere sämtlich sehr 
schwere, alte Tiere waren. Kein einziges 
darunter war unter 500 g schwer, ja es 
befanden sich darunter Tiere, die über 
1000 g wogen. Es ist aber eine bekannte 
Tatsache, daß junge Tiere, die gewöhn¬ 
lich bei Laboratoriumsversuchen ge¬ 
braucht werden (300—400 g schwer) für 
Tuberkulose viel empfänglicher sind als 
alte. 

Dieselben Resultate wie mitder. 
Vorbehandlung mittelst Friedmann¬ 
scher Schildkrötentuberkelbacil- 
ten konnte ich auch mit ande¬ 
ren säurefesten tuberkelbacillen¬ 
ähnlichen Stäbchen erzielen. Ja, 
es gelang mir sogar, durch die Vor¬ 
behandlung mit Prodigiosuskul- 
turen mitunter eine Resistenz¬ 
erhöhung gegenüber der nachfol¬ 
genden Tuberkuloseinfektion zü 
erreichen. 

Außer meinen früheren gemeinsam 
mit Orth auSgeführten Tierversuchen 
sind gerade in der letzten Zeit auch 
von anderen Autoren Versuche ver¬ 
öffentlicht worden, so von Klopstock, 
Lange, Selter, Kolle, Schloßberger 
u. a. Ich will hier auf die einzelnen Ar¬ 
beiten nicht weiter eingehen, möchte 
aber nur zusammenfassend sagen, daß 
kein einziger Autor die Tierver¬ 
suche vön Friedmann bestätigt 
hat. Gleich mir kommen auch diese 
Autoren zu dem Schluß, daß dieser so 
,,wundersam“ von Friedmann ,,miti¬ 
gierte“ Tuberkelbacillus sich in immunisa¬ 
torischer Hinsicht durchaus nicht von 
den anderen säurefesten Bakterien unter¬ 
scheidet. Auch der Hygieniker Kruse, 
der das Friedmannsche Mittel kon¬ 
trolliert und aufs wärmste empfiehlt, ist 
uns bis zum heutigen Tage trotz aller 
Erwartungen einen Bericht über Tier- 
vefs.Liche schuldig geblieben. 

So hab.en leider sämtliche An¬ 
gaben' Fri edm^anns bezüglich der 




6 


Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Immunisierung von Meerschwein¬ 
chen gegen Tuberkulose keine Be¬ 
stätigung gefunden. 

Allein Herr Schleich betonte letzt¬ 
hin in der Medizinischen Gesellschaft, wir 
sollten uns ja von den Tierversuchen 
emanzipieren, die Meerschweinchen im¬ 
ponierten ihm schon lange nicht, wenn 
man doch wenigstens mit Löwen arbeiten 
würde. 

Nun, geehrte Anwesende, ich bin 
gern bereit, der von mir anfangs zitierten 
Forderung meines Lehrers R. Koch 
untreu zu werden und sämtliche Tier¬ 
versuche zu ignorieren, wenn unsere 
Kliniker mir einwandfrei bewiesen, 
daß das von Fried mann und seinen 
Jüngern so warm empfohlene Mittel 


wirklich das so längstersehnte Allheil¬ 
mittel ist. Leider scheint dies ^ber doch 
nicht der Fall zu sein. 

,,Aufgabe der Wissenschaft ist es‘‘, 
wie Kant sagt, „teils der Verirrung einer 
noch rohen ungeübten Beurteilung, teils, 
welches weit nötiger ist, den Genie¬ 
schwüngen vorzubeugen, durch welche, 
wie es von Adepten des Steins der Weisen 
zu geschehen pflegt, ohne alle methodische 
Nachforschung geträumte Schätze ver¬ 
sprochen und wahre verschleudert wer¬ 
den'* und so wollen denn auch wir in 
diesem Sinne handeln, wollen weiter 
forschen und suchen. Jede ehrliche Ar¬ 
beit bringt uns vielleicht doch etwas 
näher dem so ersehnten, doch schwer zu 
erreichendem Ziele. 


Aas der Direktorial-Abteilang des Eppendorfer Krankenbaases 
(Mediziniscbe Universitß,tsklinik). 

Die Behandlung der akuten Morphiumvergiftung. 

Von Dr. Ludolph Brauer, o. ö. Professor, ärztlichem Direktor des Eppendorfer Krankenhauses. 


Die akute Morphiumvergiftung be¬ 
wirkt eine eigenartige Form von Hirn¬ 
narkose, insofern nach frühzeitiger Ab¬ 
stumpfung der Schmerzempfindung eine 
vorwiegende Lähmung des Atemcentrums 
folgt. Aus dieser Atemlähmung resultiert 
die Gefahr für das Leben, noch bevor die 
Funktion des Großhirnes vollständig aus¬ 
geschaltet ist und die Reflexerregbarkeit 
des Rückenmarks erlischt. 

Das klinische Bild der Vergifturg ist 
dadurch ausgezeichnet, daß sich etwa eine 
viertel bis eine Stunde nach Beginn der¬ 
selben eine allmählich an Tiefe zunehmende 
Benommenheit entwickelt, die sich all¬ 
mählich bis zum tiefsten Coma steigert. 
In den Anfangsstadien pflegt es zum Er¬ 
brechen und infolge der herabgesetzten 
Reizempfindlichkeit nicht selten zur Aspi¬ 
ration zu kommen. Mit dem tiefen Coma 
gehen die bedrohlichen Folgen der Schä¬ 
digung des Atemcentrums einher. Wäh¬ 
rend die Atmung nach kleineren Gaben 
nur tiefer und langsamer erfolgt, wird die¬ 
selbe nach größeren Dosen alsbald selte¬ 
ner, aussetzend und röchelnd. Nicht selten 
kommt es zu einem Cheyne-Stokes- 
schen Atemtypus und endlich unter Ver¬ 
flachung der Atembewegungen zum Tode 
durch Respirationsstillstand. Parallel mit 
diesen Veränderungen geht eine zuneh¬ 
mende, zum Schluß tiefste Cyanose einher. 
Der Blutdruck pflegt zu sinken, die Pu¬ 
pillen sind auffällig verengt, die Körper¬ 
temperatur ist erniedrigt, die Haut ist 


blaß und kalt. Gelegentlich kommt es 
zum Schluß "ZU Konvulsionen. 

Die Circulation wird im allgemeinen 
wenig beeinflußt. Durch Steigerung des 
centralen Vagustonus tritt nach vorüber¬ 
gehender Pulsbeschleunigung eine mäßige 
Pulsverlangsamung auf; im übrigen leidet 
der Kreislauf bei der Morphiumvergiftung 
erst sekundär, insofern infolge der zu¬ 
nehmenden Erstickung und wohl auch 
einer Parese der vasomotorischen Centren 
eine Erlahmung des Herzens eintritt. 
Nicht nur die tierexperimentelle, sondern 
auch die klinische Analyse des Bildes der 
akuten Morphiumvergiftung zeigt, daß 
die Patienten zwar an einer Morphium¬ 
vergiftung leiden, daß sie aber 
nicht an dieser, sondern an der 
sekundären Kohlensäure Intoxika¬ 
tion zugrunde gehen. Diese Kohlen¬ 
säureintoxikation gesellt sich dem reinen 
Bilde der Morphiumvergiftung hinzu; mit 
ihrer Beseitigung schwindet aus* dem kli¬ 
nischen Bilde der wichtigste lebens¬ 
bedrohende Faktor. Es verbleibt die 
unkomplizierteMorphiumvergiftung, deren 
Gefahr weit geringer ist, als gemeiniglich 
angenommen wird. 

Die Behandlung leichterer Grade der 
akuten Vergiftung hat in erster Linie für 
die Entfernung des Giftes aus dem 
Körper zu sorgen. Auch nach subcutaner 
Injektion wird ein großer Teil des Giftes 
unverändert in den Magen ausgeschieden 
und diese Ausscheidung dauert so lange. 



Jänuar 


'. Die Therapie der Gegenwart 1921 


7 


wie die Morphinwirkung überhaupt. Da¬ 
her muß es als wichtigste Aufgabe er¬ 
scheinen, in jedem Falle eine gründliche 
Magenauswaschung auszuführen und diese 
eventuell noch mehrfach zu wiederholen. 
Der Spülflüssigkeit kann eine geringe 
Menge von übermangansaurem Kali zu¬ 
gesetzt werden (etwa eine Lösung von 
ü,5 ® oo) zwecks Zerstörung des ausge¬ 
schiedenen Morphines. Ein Zusatz von 
Gerbsäure, um noch unresorbierte Reste 
in schwerlösliche Form zu bringen, ist 
wenig von Nutzen;’ eher könnte Tierkohle 
das' Morphin durch Adsorption binden. 
Eine Anwendung von Brechmitteln kommt 
nicht in Frage, da mit Eintritt der 
tieferen' Narkose die Erregbarkeit des 
Brechcentrums stark sinkt. Bei der 
Magenspülung ist mit größter Vorsicht 
vorzugehen; bei dem benommenen Pa¬ 
tienten ist die Gefahr einer Aspiration 
recht beträchtlich. Diese Vorsicht ist 
um so mehr am Platze, als schon in den 
Anfangsstadien der Vergiftung nicht selten 
ein Teil des Erbrochenen aspiriert wurde 
und zudem häufig in den oberen, Luft¬ 
wegen sich noch Schleim und Speisereste 
finden. 

Bei leichteren Vergiftungszuständen 
sind raschwirkende Abführmittel, ganz 
-besonders Kalomel oder salinische Prä¬ 
parate am Platze. Bei schwereren Ver¬ 
giftungen ist eine rechtzeitige Einwirkung 
der Abführmittel wohl nicht mehr zu 
erwarten. 

Neben einer Entfernung des in den 
Verdauungskanal ausgeschiedenen und 
dort erneuter Resorption wieder zugäng¬ 
lichen Giftes kommt die Entfernung der 
bereits aufgenommenen, vielleicht auch 
der im Centralnervensystem schon ver¬ 
ankerten Giftmengen in Frage. Wir 
suchen dieses durch Aderlaß und eine 
größere intravenöse Infusion von physio¬ 
logischer Kochsalzlösung (1 bis 2 Liter) 
zu erreichen. Der Infusion folgt eine 
lebhafte Harnflut. Während bei früheren 
Untersuchungen eine Ausscheidung des 
Morphins und seiner Umbildungsprodukte 
mit dem Harne bezweifelt wurde, konnten 
Kauf mann-Asser 1) zeigen, daß die 
Niere als Ausscheidungsorgan, wenigstens 
nach Anwendung größerer Morphiuir dosen 
ernstlich in Frage kommt. Die aus¬ 
geschiedene Menge war zwar wechselnd, 
in einzelnen Versuchen konnten aber bis 
zu 30 % und mehr des eingeführten Giftes 
im Harn der Versuchstiere wieder nach- 

Kaufmann-Asser, Biochem. Zschr. 1913, 
Bd. 54, S. 161. 


gewiesen werden. Auch wir fanden 
(Untersuchungen von Prof. Schümm) 
Morphium im Harn unserer schweren 
Vergiftungsfälle deutlich nachweisbar, 
halten daher die vorerwähnte Durch¬ 
spülung des Gefäßsystems neben der 
Magenspülung bei schweren Fällen von 
Morphiumvergiftung praktisch für not¬ 
wendig. 

Als Gegengifte kommen Präparate 
in Frage, die das Centralnervensystem, 
vor allem das Atemcentrum anregen; 
unter ihnen sind in erster Linie Atropin, 
Campher und Coffein zu nennen. Cam- 
pher- und Coffeinpräparate wirken als 
central erregende Mittel auf das Central¬ 
nervensystem, außerdem wirken sie der 
vasomotorischen Parese, die die schwere 
Morphiumvergiftung zu begleiten pflegt, 
entgegen. Digitalispräparate sind kaum 
indiziert, da die Wirkung des Morphins 
auf das Herz nur eine recht geringe ist. 

Als hauptsächlichstes Gegengift des 
Morphiums wird auf Grund tierexperi¬ 
menteller und klinischer' Beobachtung 
stets das Atropin genannt; es gilt als 
das stärkste chemische Erregungsmittel 
des Atemcentrums.' Allgemein anerkannt 
ist die Bedeutung des Atropins zur Ver¬ 
hinderung der Nebenwirkungen des in 
therapeutischer Dosis angewandten Mor¬ 
phins. Keineswegs eindeutig dagegen ist 
die Wirkung bei schwereren Morphium- 
vergTtungen. Jedenfalls ist auf eine 
richtige und vorsichtige Dosierung des 
.Atropins und besonders auf eine Berück¬ 
sichtigung des Stadiums der Morphium¬ 
vergiftung größter Wert zu legen. Keines¬ 
falls vermag ich dem Rate zuzustimmen, 
jeweils zum mindesten die Maximaldosis 
zu injizieren und diese je nach dem Ver¬ 
halten der Atmung noch öfters zu wieder¬ 
holen. Schon lange ist durch Bezold 
nachgewiesen und später durch Andere 
bestätigt, daß das Atropin eine centrale 
Erregung des Respirationsapparates be¬ 
wirkt und daß dieses im Tierexperiment 
bei akuten Vergiftungen mit Narcoticis 
verschiedener Art, besonders bei der 
Morphiumvergiftung deutlich in anta¬ 
gonistischer Weise zutage tritt. Aber 
schon experimentell ist zu bedenken, daß 
stärkere toxische Dosen von Atropin 
auch ihrerseits das Atemcentrum zu 
lähmen vermögen; es ist sehr wohl an¬ 
zunehmen, daß diese lähmende Wirkung 
bei. bereits schwer geschädigtem Atem¬ 
centrum frühzeitiger eintritt. So erklären 

2) Bezold und Blöbaum, Würzburger phy- 
siolog. Untersuchungen 1867, Bd. 1, S. 1. 




8 


Die,Therapie der Gegenwart 1921’ 


Januar 


sich die abweichenden Resultate, die 
Binz und Andere bei ihren Experimen¬ 
ten beobachteten. Ganz besonders Len- 
hartz hat die antagonistische Wirkung 
von Morphium und Atropin auf Grund 
eingehender Tierversuche intensiv be¬ 
stritten, und auch klinische Erfahrungen 
— ich verweise besonders auf die Mit¬ 
teilung von Erich Becker^) — mahnen 
zu größter Vorsicht. Sah doch Becker 
bei einer Morphiumvergifteten, bei der 
nach Lage des Falles und den bestehen¬ 
den Erfahrungen fast mit Sicherheit mit 
Überwindung der Gefahr zu rechnen war, 
der Injektion von 1 mg Atropinum sul- 
furicum alsbald den plötzlichen Tod 
folgen. Im ganzen haben wir im Eppen- 
dorfer Krankenhause bei einem recht 
beträchtlichen Beobachtungsmaterial von 
der Anwendung des Atropins keine irgend¬ 
wie hervorstechende Wirkung gesehen, so 
daß wir im allgemeinen von der Anwen¬ 
dung desselben Abstand nehmen. Kei¬ 
nesfalls sollte Atropin bei wirklich 
schweren Vergiftungen und be¬ 
sonders in späteren Stadien zur 
Verwendung kommen. Auch eine 
Überdosierung halte ich für gefahrvoll 
und nutzlos. Die Literatur findet sich in 
den vorzitierten Arbeiten von Lenhartz 
und Erich Becker. 

Bei weitem das wichtigste zur Be¬ 
kämpfung der Morphiumvergiftung ist die 
Kontrolle und Behandlung der 
schweren Atemstörungen und der 
damit einhergehenden Kohlen- 
säureintoxikation. Dieses ist, soweit 
die Beseitigung der todbringenden Sym¬ 
ptome in Frage kommt, der Kernpunkt 
der ganzen Behandlung. 

Im Beginn der Vergiftung und bei 
mäßigeren Morphiumdosen ist die An¬ 
regung des Atemcentrums durch indirekte, 
reflektorische Erregung vermittels Haut¬ 
reize, sowie durch Reizung der Endigungen 
des Nerv, trigeminus und olfactorius in 
der Nase zu erwirken. Die indirekte 
Erregung des Respirationscentrums wirkt 
kräftiger als die direkte Erregung durch 
pharmakologische Agenzien (Meyer und 
Gottlieb)'^). In praxi wird dieses, so¬ 
weit die Patienten noch nicht in tiefer 


Binz, B. kl. W. 1896, S. 885. 

-) Lenhartz, Arch. f. exper, Path. ii. Pharm. 
1887, Bd. 22. 

•>) Erich Becker, M. Kl. 1920, Nr. 18, S.467. 
Brauer, Zur Behandlung schwerer Mor¬ 
phiumvergiftungen. Beiträge u. Klinik der Tuber¬ 
kulose Bd. 45, S. 174. 

'^) Meyer und Gott lieb. Experimentelle 
-Pharmakologie 1920, S. 378. 


Benommenheit liegen, durch Umherfüh¬ 
ren oder durch sehr kräftiges Abklatschen 
mit nassen Tüchern erreicht. Die schmerz¬ 
erregenden Maßnahmen bringen die Pa¬ 
tienten häufig wieder etwas zum Bewußt¬ 
sein und zu tieferer geregelter Atmung. 
Nicht selten gelingt es, sie bei mittleren 
Giftdosen auf diese Weise leidlich bei 
Bewußtsein und guter Atmung zu erhalten. 
Man darf aber auch jetzt die Patienten 
keinesfalls außer Auge lassen, muß ihnen 
vielmehr eine dauernde Wache geben, die 
immer wieder für die Anregung der At¬ 
mung und Kontrolle des Gesamtbefin¬ 
dens sorgt, denn sonst verfallen die 
Patienten alsbald wieder in Schlaf. Mit 
erneuter oberflächlicher Atmung gesellt 
sich wiederum die Kohlensäureintoxika¬ 
tion hinzu, und aus der Summation beider 
Schäden kann es noch nachträglich zum 
Tode kommen. 

Zur reflektorischen Anregung von der 
Nase her sind neben mechanischen Kitzel¬ 
reizen Riechsalze, Ammoniak und ähn¬ 
liche chemisch wirkende Reizmittel zu 
verwenden. 

Versagen die vorgenannten Maßnah¬ 
men, so ist rechtzeitig zur künstlichen 
Atmung zu schreiten, tunlichst unter Dar¬ 
reichung von reinem Sauerstoff und even¬ 
tuell zur Anwendung von Apparaten zur 
künstlichen Atmung. 

Aber auch hier ist Vorsicht geboten. 
Bei ernsteren Vergiftungszuständen muß 
die künstliche Atmung über viele Stunden, 
oft über ein bis zwei Tage in Anwendung 
kommen. Dieses läßt sich praktisch häufig 
nicht durchführen. Außerdem ist mit 
künstlicher Atmung, sobald dieselbe nicht 
mit größter Sachkenntnis durchgeführt 
wird, die Gefahr der Aspiration verbunden 
und dieses um so mehr, als sich bei 
Morphiumvergifteten infolge des anfäng¬ 
lichen Erbrechens nicht selten Speise¬ 
reste in den oberen Atemwegen oder in 
gröberen Bronchien finden. Häufig sieht 
man dort auch beträchtliche Schleim- 
massefi angesammelt, die nicht nur die 
Atemwege verlegen und die Bemühungen 
der künstlichen Atmung wirkungslos 
machen, sondern durch alle jene Ma߬ 
nahmen in die feineren Bronchien und das 
atmende Lungengewebe herabgebracht 
werden. 

So sehe ich denn, und in diesem Zu¬ 
sammenhänge wird selbstverständlich nur 
von den schwersten Formen der Ver¬ 
giftung gesprochen, alle die bekannten 
Maßnahmen der künstlichen Atmung nur 
als recht bedingt nützlich an; ganz be- 





Januar 


Die Therapie der Oe^enwart 1921 


9 


sonders eine reine Sauerstoffatmung, bei 
der nicht für sehr guten Anschluß des 
Mundstückes gesorgt ist, hat nur wenig 
Bedeutung, und zwar um so weniger, je 
oberflächlicher und unregelmäßiger die 
Atembewegungen bereits sind. 

ln diesen Fällen ernstester Lebens¬ 
bedrohung durch Lähmung des Atem¬ 
centrums und consecLitive Kohlensäure¬ 
narkose hat sich mir dagegen das nach¬ 
folgende Verfahren, das sich auf tier¬ 
experimentelle Untersuchungen von Vol- 
hard^) stützt, auf das beste bewährt. 

Kommen die Patienten von vornherein 
mit so beträchtlicher Ateminsuffizienz auf, 
daß bei Berücksichtigung der großen Gift¬ 
menge mit einer Dauerwirkung der künst¬ 
lichen Atmung nicht gerechnet werden 


kann, oder versagt die iibhche künstliche 
Atmung, so wird, besonders auch im 
Hinblick auf die Gefahr der Aspiration 
respektive die Verlegung der oberen Luft¬ 
wege durch Schleim, ein Faktor, der 
zweifellos von großer Bedeutung ist, zur 
Tracheotomie geschritten. Die Trachea 
wird von etwa angehäuften Schleim¬ 
massen usw. befreit; dies kann durch An¬ 
saugen oder durch Austupfen geschehen. 
Es gelingt auch, durch Kompression des 
Brustkorbes oder durch Auslösen von 
Hustenreiz, durch Berührung der Gegend 
der Bifurkation Schleimmassen aus den 
gröberen Bronchien zutage zu fördern. 
Alsdann wird zu einer ausgiebigen und 
kräftigen Spülung des unteren Abschnittes 
der Trachea mit Sauerstoff geschritten. 
Die beistehende Abbildung läßt das 
Verfahren im einzelnen erkennen. Ein 
mittelstarker weicher Gummikatheter, der 

®) Volhard, Über künstliche Atmung durch 
Ventilation der Trachea ect. M.m.W. I90S, Nr. 5. 


die Tracheakanüle nicht ausfüllen darf, 
wird an eine mit Reduktionsventil ver¬ 
sehene Sauerstoff bombe angeschlossen, 
und zwar unter Zwischenschaltung eines 
Luftfilters und bei längerer Verwendung 
dieser Form der künstlichen Atmung 
unter Zwischenschaltung auch einer Vor¬ 
richtung zur Befeuchtung des einströmen¬ 
den Sauerstoffes. Die Stärke des durch¬ 
streichenden Sauerstoffstromes kann da¬ 
durch erprobt werden, daß man den 
Katheter zuvor in ein Sublimatschälchen 
eintaucht und das Ventil so stellt, daß 
ein lebhaftes großblasiges, nicht allzu 
gewaltsames Durchperlen gröberer Sauer- 
stoffblasen stattfindet. Die Spülung der 
Trachea kann ohne Schaden viele Stunden 
fortgeführt werden. Wird der Katheter 
bis zur Bifurkation 
oder gar in einen 
Hauptbronchus ein¬ 
geführt, so löst dieser 
mechanische Reiz zu¬ 
meist Hustenstöße 
aus, die zur Beförde¬ 
rung der Schleim¬ 
entleerung beitragen; 
auch wird hierdurch 
zweifellos die Atmung 
angeregt. Eine Lun¬ 
genblähung findet bei 
richtiger Dosierung 
des Sauerstoffstromes 
nicht statt, da die Luft 
bequem durch dieTra- 
chealkanüle neben 
dem Katheter oder 
durch die oberen Atemwege abströmen 
kann. Von irgendwelchen Vorrichtungen 
zur Erzeugung einer rhythmischen künst¬ 
lichen Atmung im Sinne Volhards konn¬ 
ten wir stets absehen. Es zeigte sich, daß 
die einfache Spülung der Gegend der 
Bifurkation und wohl auch der Flaupt- 
bronchien mit reinem Sauerstoff vollauf 
genügt, um nunmehr, sei es durch Dif¬ 
fusionsvorgänge, sei es durch die noch 
restierende oder durch die bald wieder 
einsetzende Atembewegung das Alveolar¬ 
gebiet genügend mit Sauerstoff zu ver¬ 
sehen. 

Durch diese Sauerstoffspülung wird 
auch der Abstrom der Kohlensäure aus 
dem Bronchialbaum befördert, so daß 
nunmehr das Blut sich nicht nur reich¬ 
lich arterialisieren, sondern sich auch von 
Kohlensäure befreien kann. Damit wird 
die additionelle Kohlensäureintoxikation 
beseitigt. Der Patient verliert meist 
rasch das cyanotische Aussehen infolge 




10 


Die Therapie der Gegenwart 192.1 


Januar 


genügender Bildung des hellroten, die 
Sauerstoffsättigung anze'genden Oxy¬ 
hämoglobins; auch wird die Kohlensäure¬ 
narkose behoben und damit die wichtigste 
Todesursache bei der Morphiumvergiftung 
beseitigt. Von Interesse ist die Beob¬ 
achtung, daß fast stets mit der wieder 
genügenden Zufuhr von Sauerstoff zum 
Blute ein wesentlich gebesserter, wenn 
nicht gar normaler Atemtypus einsetzt. 
Es scheint dieses, fast paradox zu sein, 
erklärt sich aber aus den folgenden Über¬ 
legungen. Im Gegensatz zum Morphium 
erregt die Kohlensäure das Atemcentrum. 
Bei der Morphiumvergiftung ist aber 
das geschwächte Atemcentrum d’eser nor¬ 
malen Erregung gegenüber unempfind¬ 
lich geworden; nur höhere Kohlensäure¬ 
werte sind zunächst noch in der Lage, 
die Atmung auszulösen. Der Sauerstoff¬ 
mangel an sich übt auf das Atemcentrum 
keinen Reiz aus, wohl aber werden die 
dem Atemzentrum untergeordneten mo-. 
torischen Rückenmarkcentren, durch 
deren Vermittlung die von dem Atem¬ 
zentrum stammenden Reize erst zur 
mechanischen Auswirkung kommen, bei 
Sauerstoffmangel unempfindlicher9), ja 
gelähmt. Diese Rückenmarkcentren sind 
somit im Gegensatz zum Atemcentrum 
für Sauerstoffmangel empfindlich. In- 


G. C. Mathison, Effects of asphyxia upon 
medullary centres. journ. of Physiologie 42, 
283, 1911. 

• R. Kaya, und E. H. Starling, Asphyxia in 
the spinal animal. Ibid. 39, 346. 1909. 


direkt wird daher der gesamte Atem¬ 
mechanismus, der seinen Ausgang nimmt; 
von dem Atemcentrum auch durch Sauer¬ 
stoffmangel ungünstig beeinflußt. Es 
ist daher verständlch, daß einerseits 
geringere Impulse, die bei Morphium- 
verg'ftung von dem Atemzentrum noch 
ausstrahlen können, bei einer durch Sauer¬ 
stoffmangel bedingten Parese der ge¬ 
nannten Rückenmarkcentren nicht mehr 
zur Wirkung kommen können und daß 
andererseits nach Beseitigung dieses 
Sauerstoffmangels die untergeordneten 
Centren auch auf geringere Reize wieder 
anzusprechen vermögen. So ist es denn 
erklärlich, daß, so auffälh'g dieses zu¬ 
nächst auch erscheint, mit einer ge¬ 
nügenden Sauerstoffzufuhr die normalen 
Atembewegungen, die zuvor schon ge¬ 
schwunden waren oder jedenfalls nur 
noch außerordentlich unregelmäß'g ver¬ 
liefen, wieder aufzutreten vermögen. 

Die reichliche Sauerstoffzufuhr, wie 
sie durch die Spülung der Bifurkations¬ 
gegend bewirkt wird, bedingt daher nicht 
nur eine bessere Ernährung der Gewebe 
und eine Beseitigung des Symptoms der 
Cyanose und der Kohlensäureanhäufung 
durch Ausschwemmung derselben aus 
dem Bronchialbaum ünd damit aus dem 
Blute, sondern sie führt auch zu einer 
Neubelebung des normalen Atemmecha¬ 
nismus und damit zu einer fortschreiten¬ 
den Beseit'gung des eigentlichen tot¬ 
bringenden Momentes bei der Morphium¬ 
vergiftung, der Kohlensäurevergiftung. 


Aus der geburtsMlflicli-gyiiäkologisclien Abteiluug des Kraukenliauses 
der jüdisclieu G-emeiude iu Berlin. 

Über den Einfluß der neueren Wehenmittel auf die Leitung 

der Geburt. 

Von Prof. E. Sachs, dirigierendem Arzt der Abteilung. 


Meine Herren! Das Recht, vor Ihnen 
über die seit 1911 in der Geburtshilfe ein¬ 
geführten Hypophysenextrakte als Wehen- 
mittel, insbesondere über das von mir 
fast ausschließlich benutzte Pituglandol, 
zu sprechen, schöpfe ich aus einer Er¬ 
fahrung an über 600 Fällen. 

Der Grund, weshalb ich mir dieses 
Thema zur Behandlung in Ihrem Kreise 
wähle, ist der, daß ich durch Unterhaltung 
mit Kollegen und durch die Durchsicht 
der gerade im letzten Jahre zahlreich 
neu erschienenen Lehrbücher der Ge¬ 
burtshilfe zu der Überzeugung gekom¬ 
men bin, daß diese Mittel in der Geburts¬ 
hilfe noch lange nicht die allgemeine 


Verwendung gefunden haben, die sie 
verdienen. Was die Lehrbücher mit- 
teilen, scheint mir der Bedeutung des 
Mittels nicht gerecht zu werden. 1917 
schrieb ich in einer sich mit dem Pitu¬ 
glandol beschäftigenden Arbeit^): ,,Die 

Anmerkung: Die Verwendung des Pituglandols 
und ähnlicher Präparate war durch Lieferungs¬ 
schwierigkeiten im letzten Jahre sehr behindert. 
Wie mir die Firma Chemische Werke Grenzach 
mitteilt, ist sie jetzt imstande, wieder größere 
Quanten Pituglandols herzustellen. Der Preis 
beträgt z. Zt. 6 M. für die Ampulle, wird aber 
infolge Verwendung ausländischen Rohmateriales 
erhöht werden müssen. Der Preis für 20 ccm 
einer zur Injektion benötigten 5 % sterilen 
Chininlösung beträgt zur Zeit etwa 13 M. 

1) Mschr. f. Geb. u. Gyn. 1917, Bd. XLV. 





Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


II 


Geburtshilfe hat durch Anwendung dieses 
Mittels ein anderes Gesicht bekommen. 
Die sekundäre Wehenschwäche, die früher 
oft allen Medikamenten trotzte, hat ihre 
Schrecken verloren; denn mit einer an 
Sicherheit grenzenden .Wahrscheinlichkeit 
läßt sie sich durch die Hypophysen¬ 
präparate beheben. Eine große Zahl 
von Operationen ist unnötig geworden, 
andere operative Eingriffe lassen sich 
durch die unterstützende wehentreibende 
Kraft jetzt vielmals leichter und gefahr¬ 
loser gestalten als früher; die größte 
Zahl der schweren Nachgeburtsstörungen 
ist jetzt sicher und schnell zu beherr¬ 
schen.“ 

Fast genau dieselben Erfahrungen, 
die ich mit dem Pttuglandol, besonders 
in der Form der intravenösen Dar¬ 
reichung gemacht habe, hat Werner^) 
mit der Verwendung des Chinins bei 
kombinierter intravenöser und intra-. 
muskulärer Injektion gemacht. Ich habe 
über diese Methode keine eigene Er¬ 
fahrung. Muschallik^) bestreitet aller¬ 
dings in einer kürHich erschienenen 
Arbeit die Richtigkeit der Angaben 
Werners. 

Anwendungsform. 

Wir kennen zwei respektive drei For¬ 
men der Pituglandol-Anwendung. Die 
subcutane und intramuskuläre, die ich 
nach ihrer Wirkung gleichsetzte, und 
die intravenöse. Beide sind meisten*^ 
wirksam, sie unterscheiden sich aber 
sehr voneinander, und dieser W’rkungs- 
unterschied ist von großer Bedeutung 
für ihre Verwendung im speziellen Fall. 

Bei der subcutanen und der intra¬ 
muskulären Gabe tritt die erste Wehe 
frühestens nach fünf, manchmal auch 
erst nach zehn Minuten ein; sie dauert, 
durch kurze, manchmal nur einviertel 
Minuten dauernde Wehenpausen unter¬ 
brochen, zwei bis fünf bis sieben Minuten 
und geht dann allmählich in normale, 
mittelstarke Wehen mit normalen Wehen- 
pausen über. Ihre Wirkung hält etwa 
eineinhalb Stunden an, dann tritt oft der 
vorher bestehende Zustand von Wehen¬ 
schwäche wieder ein. Eine erneute In¬ 
jektion wirkt dann meistens wieder ebenso 
gut wie die erste. Oft genug aber bleiben, 
entsprechend dem Fortschreiten der Ge¬ 
burt, gute Wehen bis zum Geburtsende 
bestehen. Hiervon unterscheidet sich 


2) Mschr. f. Oeb. u. Gyn. 1918, Bd. XLVIII 
und Zbl. f. Gyn. 1919, S. 405. 

3) Mschr. f. Geb. u. Gyn. 1920, Bd. LII, S. 378. 


die Wirkung des intravenös gegebenen 
Pituglandols in mehreren Punkten. ,,Bis¬ 
weilen noch während der Injektion, oft 
noch bevor die Nadel aus der Vene her¬ 
ausgezogen ist, in anderen Fällen nach 
höchstens einer Minute, setzt die erste 
Wehe ein. Sie ist entschieden viel stärker 
als die erste nach der subcutanen oder 
intramuskulären Darreichung auftretende 
Wehe. Ihre treibende Kraft ist viel wirk¬ 
samer. Sie dauert meistens eine'nhalb bis 
zwei Minuten, dann erschlafft der Uterus 
etwas, um nach einviertel bis e'nhalb 
Mmuten einer neuen, etwa ebenso starken 
Wehe wie der ersten Platz zu machen. 
Das dauert etwa fünf bis sieben Minuten. 
Die nächsten Wehen kommen dann in 
regelmäßiger Folge mit Pausen von ein 
bis zwei M'nuten.“ Versager, schon bei 
der subcutanen Gabe selten, gehören bei 
der intravenösen Injektion zu den Aus¬ 
nahmen. Aber: Die Wehentätigkeit er¬ 
lischt etwas früher als nach der subcuta¬ 
nen Gabe, manchmal schon nach drei¬ 
viertel Stunden. Der Unterschied, zwi¬ 
schen beiden Darreichungsformen bezieht 
sich also auf 1. schnelleres, fast augen¬ 
blickliches Emtreten der ersten Wehe, 

2. größere Intensität der ersten Wehe, 

3. seltenere Versager und 4. kürzere Dauer 
der Wehenwirkung bei der intravenösen 
Injektion. Hieraus ergibt sich d e Indi¬ 
kation für jede Anwendungsform von 
selbst: Die intravenöse Injektion darf 
nicht gegeben werden in Fällen, in welchen 
schon das intramuskulär gegebene Pitu- 
glandol eine Gefahr für die Mutter be¬ 
deutet. 

De intravenöse Injektion braucht 
nicht gegeben zu werden in Fällen von 
einfacher Wehenschwäche ohne sonstige 
Kompiikationen, in welchen die intra¬ 
muskuläre Gabe ausreicht. 

Die intravenöse Form der Darrexhung 
muß gewählt werden in Fällen, in welchen 
aus irgendeinem Grunde eine sofort ein¬ 
tretende Wehenwirkung erwünscht ist, 
oder in welchen es auf eine besonders 
starke Augenblickswirkung ankommt, 
selbst auf die Gefahr der kürzeren Wir¬ 
kungsdauer hin; diese kann durch eine 
erneute Gabe, intramuskulär oder wieder 
intravenös, oder nach beendeter Geburt 
durch Sekalepräparate ausgeglichen wer¬ 
den. 

Die intravenöse Form der Darreichung 
muß auch gewählt werden, wenn die intra¬ 
muskuläre Injektion versagt hat. 

Die von mir gebrauchte Menge beträgt stets 
1 ccm; nur in seltenen Fällen bei intravenöser 

2* 




12 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Jan^uar 


Injektion 0,5 ccm, wenn ich glaube, daß diese 
Dosis genügen wird. Bei ganz langsamer Injektion 
(Dauer etwa 35—45 Sekunden) erlebt man keine 
Komplikationen. Bei zu schneller Injektion ist 
vorübergehendes Erblassen, Herzklopfen, Übel¬ 
keit und kurzdauerndes Angstgefühl beobachtet 
worden. Werner empfiehlt für die Chinin¬ 
darreichung 0,5 ccm Chininum hydro- ! 
chloricum in 10 ccm destilliertem Wasser % 
gelöst intravenös und gleich danach die- g p. 
selbe Dosis intramuskulär zu verabfolgen. 

Die letztere Gabe kann fortbleiben, wenn 70 0 /^ 
man nur die sehr starke und schnell ein¬ 
setzende Wirkung der intravenösen Injek- 
tion haben will. Vor der subcutanen g. 
Injektion warnt er wegen Schmerzen und 
Nekrosengefahr.. 40 0 /^ 

Man hört bisweilen, daß Pitu- 3 ^^^^ 
glandol nicht in der Eröffnungs¬ 
periode gegeben werden soll, weil 
es hier doch nicht wirksam sei, 10 0/0 
und daß es in der Nachgeburts- 
p'eriode gefährlich sei, weil es keinen 
Dauerkontraktionszustand des Uterus be¬ 
dinge, Beides ist falsch. Pituglandol 
und ebenso Chinin machen sehr oft recht 
gute Wehen in der Eröffnungsperiode, 
und wenn sie in der Nachgeburtszeit 
keine Dauerkontraktionen wie Sekale 
auslösen, so wirken die sehr starkenWehen 
doch blutstillend; damit ist meistens der 
augenblicklichen therapeutischen Forde¬ 
rung genügt. Wenn die Wehen nicht zur 
Dauerkontraktion führen, so hindert nichts, 
die Gabe zu wiederholen oder sie von vorn 
herein mit Sekalepräparaten zu kombi¬ 
nieren, falls die Rlacenta schon aus¬ 
gestoßen ist. Allerdings ist die Wirkung 
auf die Wehen um so deutlicher, je weiter 
vorgerückt die Geburt ist; aber sehr oft 
vermag das Pituglandol auch in der Er¬ 
öffnungsperiode schon gute Wehen zu 
machen. Genaueres hierüber habe ich in 


Tabelle 1. 

Wirkung des Pituglandols auf den Geburts¬ 
fortgang in den verschiedenen Geburtsperioden. 

i„.Subcutane Intravenöse 

insgesamt Injektion Injektion 



■ II 


I n 11 


B|= Gute Wirkung. |=j=Mäßige Wirkung. I I = Versager. 
1 = Eröffnungsperiode, 2=Austreibungsperiode. 3 und 4 = 
Nachgeburtsperiode vor und nach Ausstoßung der Placenta. 

(Gute Wirkung in der Eröffnungsperiode nenne 
ich deutliche Erweiterung des Muttermundes 
unter dem Einfluß derWehen; in der Austreibungs¬ 
periode, wenn der vorangehende Teil wesentlich 
vorrückt, oder das Kind unter dem Einfluß der 
Pituglandolwehen geboren wird. Gute Wirkung 
in der Nachgeburtsperiode ‘ vor Ausstoßung der 
Plazenta nehme ich an, wenn der Uterus infolge 
der Wehen imstande war, die Placenta zu lösen, 
oder so hart wurde, daß ein Crede ausgeführt 
werden konnte, der zum Ausstößen der Placenta 
führte, d. h. wenn eine manuelle Placentarlösung 
unnötig wurde. Selbstverständlich gibt es in 
der dritten Geburtsperiode nur ein Gut oder 
Schlecht, kein Mäßig gut, d. h. entweder gelang 
es, die manuelle Lösung zu umgehen, oder nicht. 
Gute Wirkung nach Ausstoßung der Placenta 
nenne ich es, wenn die Blutung zum Stehen 
kommt.) 

Geburtsfortgang in der Austreibungs¬ 
periode. Am besten ist die Wirkung in 


einer früheren Arbeit mitgeteilt ^). Den 
sehr viel wichtigeren Einfluß des Pitu¬ 
glandols auf den Fortgang der Geburt 
habe ich in der folgenden Tabelle zu¬ 
sammengestellt. 

Wir sehen die weitaus bessere Wirkung in 
den späteren Geburtsperioden. 

Eine Erklärung für die bisweilen be¬ 
obachteten Versager findet man, wenn 
man die Wirkung auf die Wehen und auf 
den Geburtsfortgang miteinander ver¬ 
gleicht, und wenn man dann auch noch 
die Wirkung bei Erstgebärenden und 
Mehrgebärenden einander gegenüber¬ 
stellt. Wir finden in der Eröffnungs¬ 
periode trotz ziemlich guter Wehen in 
etwa 72 %, doch einen sehr guten Erfolg 
für den Geburtsfortgang nur in etwa 
50 %. Viel stärker ist der Erfolg für den 

4) Mschr. f. Geburtsh. 1914, Bd. XL. 


der Nachgeburtsperiode nach Ausstoßung 
der Placenta. Hier kommen fast gar 
keine Versager vor, besonders bei intra¬ 
venöser Injektion. Verhältnismäßig häu¬ 
fig (27 %) Versager dagegen hat man 
wieder in der Nachgeburtsperiode vor 
Entfernung der Placenta. Die Ursache 
hierfür wird klar durch Betrachtung der 
folgenden Tabelle, die die Wirkung des 
Pituglandols auf den Geburtsfortgang bei 
Erstgebärenden und Mehrgebärenden 
gegenüberstellt. 

Die Tabelle II zeigt die Wirkung auf 
den Geburtsfortgang bei Erstgebärenden 
und Mehrgebärenden , getrennt nach 
den verschiedenen Geburtsperioden. In 
der Eröffnungsperiode kommt es bei bei¬ 
den Kategorien oft dadurch zu einem 
(scheinbaren) Versager, daß es sich um 
Schwangerschaftswehen handelt. Zur 










Januar Die Therapie der Gegenwart 1921 


13 


Tabelle 2. 

Vergleich der Wirkung des Pituglandöls auf den 
Geburtsfortgang bei I. pp. (a) und bei 
M. pp. (b) in den einzelnen Geburtsperioden. 


12 3 4 

ab ab ab ab 



Einleitung der Geburt aber kann das 
Pituglandol ebensowenig sicher wie das 
Chinin verwandt werden. Hier ist es trotz 
Wehenerregung oft unwirksam. Daß die 
Weichteile einer Erstgebärenden schlech¬ 
ter beeinflußt werden als die einer Mehr- 
gebärendeh ist verständlich und erklärt 
auch die weit besseren Resultate bei Mehr¬ 
gebärenden in der Austreibungsperiode, 
obwohl die Stärke der Wehen sich bei 
beiden Kategorien nicht voneinander, 
unterscheidet. In der dritten Geburts¬ 
periode (vor Entfernung der Nachgeburt) 
dagegen hatten wir Versager nur bei 
Mehrgebärenden; offenbar dann, wenn 
alte endometritische oder atrophische 
Prozesse es zu einer so festen Adhärenz 
hatten kommen lassen, daß auch gute 
Wehen nicht helfen konnten. Bei Erst¬ 
gebärenden sind hier Versager nur selten, 
weil entzündliche Prozesse sehr viel selte¬ 
ner vorhergegangen waren. Besonders 
seit Verwendung der intravenösen Injekr 
tion hatten wir bei Erstgebärenden 
einen ausnahmslosen Erfolg in der Nach¬ 
geburtsperiode vor Entfernung der 
Placenta. 

Nach Austritt der Placenta ist eben¬ 
falls ein leichter Unterschied zugunsten 
der Erstgebärenden zu erkennen, was aus 
der Verbrauchtheit der Uterusmuskulatur 
der Mehrgebärenden leicht zu verstehen 
ist. 

Pituglandol und Chinin wirken eben 
in allen Geburtsperioden; sicher aber nur, 
sobald die Geburt begonnen hat. Einen 
Schaden haben wir auch von Versagern 
in der Eröffnungsperiode oder in der 
letzten Zeit der Schwangerschaft nie ge¬ 
sehen. Gerade von wiederholten kleinen 


Chiningaben (vier- bis fünfmal 0,25 in 
stündlicher Pause) sahen wir dagegen oft 
überraschende Erfolge, wenn es uns daran 
lag, am Ende der Gravidität eine Geburt 
einzuleiten. 

Ich gehe nun dazu über, den Einfluß 
der Wehenmittel auf die Leitung der Ge¬ 
burt bei den einzelnen geburtshilflichen 
Situationen zu besprechen. 

Behandlung der Wehenschwäche. 

Eine jede geburtshilfliche Lage kann 
durch Wehenschwäche kompliziert sein. 
Diese bedarf deshalb einer kurzen gemein¬ 
samen Betrachtung. 

Wie verhielt man sich früher in Fällen, 
die durch Wehenschwäche kompliziert 
waren? Man suchte womöglich die Ur¬ 
sache zu beseitigen, entleerte z. B. die 
überfüllte Harnblase. Handelte es sich 
um Folge einer Überdehnung des Uterus, 
so sprengte man zu geeigneter Zeit die 
Fruchtblase; lag eine durch lange Ge¬ 
burtsarbeit bedingte Übermüdung vor, 
so gab man Morphium oder ein Ana- 
lepticum. Diese kausale Therapie besteht^ 
hatürlich auch jetzt noch zu Recht. In 
anderen Fällen, z. B. beim vorzeitigen 
Blasensprung, führte man einen Kolpo- 
rynter oder gar einen Metreurynter ein. 
Dieser Eingriff war wegen seiner Infek¬ 
tionsgefahr schon nicht mehr ganz gleich¬ 
gültig. 

Zu diesen so beeinflußbaren Fällen 
gehörte aber doch nur eine kleine Zahl. 
Meist handelte es sich um Wehenschwäche 
ohne erkennbaren Grund. Dann ließ man 
die Kreißende herumgehen, gab ihr ein 
warmes Vollbad oder heiße Umschläge, 
suchte wohl auch durch Reiben des 
Leibes Wehen zu erregen und gab Chinin 
oder ein anderes mehr oder weniger wirk¬ 
sames Mittel. Bis zum Eintritt eines 
Erfolges verging gewöhnlich viel Zeit, 
was besonders bei ernsteren Indikationen 
zur Geburtsbeendigung, wie z. B. bei 
Fieber von Nachteil war. Die Wirkung 
blieb auch stets unsicher und ließ sich 
nicht in einem bestimmten Augenblick 
erzwingen. Die Folgen der Wehenlosig- 
keit für Mutter und Kind sind bekannt; 
Auch für den Arzt brachte sie vielerlei 
Unbequemlichkeiten mit sich. Manche 
Operation wurde nur wegen der Wehen- 
losigkeit, nur um die Geburt aus Zeit¬ 
mangel abzukürzen, vorgenommen. 

Und heute? Meine Tabellen zeigen, 
in wie seltenen Fällen, besonders, wenn 
die Geburt erst einmal in Gang gekommen 
ist, Versager eintreten. Bei primärer 













14 


Die Therapie der Gegenwart 1921' 


Januar 


Wehenschwäche, im ersten Geburts¬ 
beginn, braucht man auch jetzt nichts 
anzuordnen; man wird aber mit einer 
intramuskulären Injektion von 1 ccm 
Pituglandol, mit Chinin oder Chineonal 
(0,2 in einstündiger Pause vier-'bis fünf¬ 
mal) nichts schaden und oft überraschen¬ 
den Erfolg haben. Ich habe niemals bei 
primärer Wehenschwäche mehr zur Kol- 
poryse oder gar zur Metreuryse zu greifen 
gebraucht, was besonders bei Fieber als 
Indikation zur Geburtsbeschleunigung von 
großem Wert ist. Ist die Geburt erst 
weiter fortgeschritten, so übertrifft nach 
meiner Erfahrung Pituglandol, besonders • 
in .intravenöser Darreichung die Wirkung 
der per os gereichten Chininpräparate be¬ 
trächtlich. Nur in seltenen Fällen emp¬ 
fiehlt sich bei Ermüdungswehenschwäche 
durch Pantopon eine Pause in der Geburt 
eintreten zu lassen. 

Ob bei Versagern das von Werner 
empfohlene intravenös und zugleich intra¬ 
muskulär zu injizierende Chinin besser 
hilft, bleibt noch zu untersuchen.. 

Von 120 Fällen sekundärer Wehen¬ 
schwäche, die zum Teil (75 mal) mit intra¬ 
muskulärer Injektion, zum Teil (45 mal) 
mit intravenöser Injektion von Pitu¬ 
glandol behandelt wurden, hatte ich nur 
20 Mißerfolge, davon 17 mal in der Er¬ 
öffnungsperiode. Unter den 45 mit intra¬ 
venöser Injektion behandelten Fällen be¬ 
fanden sich 42 in der Austreibungszeit. 
Davon war die Geburt bei 25 Fällen so¬ 
fort, teils noch während der Injektion, 
teils zwei bis drei Minuten nachher be¬ 
endet; in 13 Fällen innerhalb der nächsten- 
5 bis 20 Minuten. Nur dreimal genügten 
die Wehen nicht ganz zur Geburts¬ 
beendigung, und in einem einzigen Fall 
genügten sie gar nicht. Denken wir 
daran, wieviel sonst wegen der Wehen¬ 
schwäche vorgenommene Operationen da¬ 
durch überflüssig werden; dann werden 
wir den Wert dieses Wehenmittels, erst 
recht zu schätzen wissen. 

Das Gebiet, auf dem das Pituglandol 
die größten Triumphe feiert, auf dem es 
keine Konkurrenz mit irgendeinem ande¬ 
ren Mittel zu scheuen hat, ist die 

Behandlung der Nachgeburtsblu¬ 
tungen. 

Sie sind auch das dankbarste Gebiet 
für die Verwendung der intravenösen 
Injektion; denn in keinem Augenblick 
der Geburt braucht man so wie hier 
gerade die Eigenschaften eines Wehen¬ 


mittels, die ich als typisch für die intra¬ 
venöse Injektion hervorgehoben habe: 
Fast absolut sichere Wehenwirkung, und 
vor allem sofortiges, nach Sekunden zu 
rechnendes Eintreten der Wirkung. War 
früher die Placenta noch im Uterus und 
es blutete, so wurde nach Entleerung der 
Blase versucht, durch Reiben Wehen an¬ 
zuregen. Genügte das nicht zur Blut¬ 
stillung, so wurde versucht, die Placenta 
zu exprimieren. Die dazu nötigen Wehen 
wurden durch Reiben oder Ergotin er¬ 
zeugt. Mißlang dies und blutete es weiter, 
so wurde wohl auch am nicht gut kon¬ 
trahierten Uterus ein Crede versucht und 
die partiell gelöste Placenta dadurch nur 
weiter partiell abgelöst. Dann mußte in 
Narkose nach wieder vergeblichem Crede- 
versuch die manuelle Lösung vorgenom¬ 
men werden. Dabei zeigte es sich dann 
oft genug, daß die Placenta ganz leicht 
abgeschält werden konnte und nur infolge 
von Wehenschwäche noch nicht gelöst war. 
Blutete es nun weiter oder begann die 
atonische Blutung erst nach Ansstoßung 
der Placenta, so traten die mechanischen, 
chemischen und thermischen Wehenmittel 
in Funktion. Ergotin, heiße Uterus¬ 
spülungen, Reiben des Uterus von den 
Bauchdecken her oder durch bimanuelle 
Handgriffe, Abknicken des Uterus über 
die Symphyse, Abklemmen der Uterinae, 
Uterustamponade, ja sogar die Uterus¬ 
exstirpation, das waren die früher ge¬ 
bräuchlichen Mittel. 

All dies kann, abgesehen von Ergotin 
und von äußerer Massage, jetzt ver¬ 
mieden werden, falls es sich nicht 
umeine wirkliche Placentaradhärenz 
handelte. Aber das Pituglandol muß 
intravenös gegeben werden, damit 
die Wirkung auch schnell genug eintritt. 
Sowohl vor wie nach der Ausstoßung der 
f^lacenta ist es indiziert. Nach Ausstoßung 
des Mutterkuchens gibt es zur Beherr¬ 
schung der reinen Atonie kein Mittel, das 
sich an Sicherheit und Promptheit der 
Wirkung nach völliger Entfernung aller 
Placentarreste mit der intravenösen Pitu- 
glandolinjektion vergleichen ließe. Es ist, 
als ob man einen Wasserhahn abdreht. 
Die geringere Dauerwirkung kann leicht 
durch ein Sekalepräparat ausgeglichen 
werden, dessen Wirkung' aber erst sehr 
viel später eintritt. In den 45 Fällen, in 
denen ich Pituglandol bei Atonien nach 
Ausstößen der Placenta anzuwenden Ge¬ 
legenheit hatte, wurde der Uterus jedes¬ 
mal sofort steinhart und die Blutung stand 
sofort. Secacornin dazu gegeben verbürgte 





Jantiar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


15 


die Dauerkontraktion. Nie brauchte ich 
zur Uterustamponade zu greifen, ge¬ 
schweige.denn zur. Exstirpation. Selbst¬ 
verständlich gilt dies nur dann, wenn 
keine Rißblutung vorliegt. 

Vor Ausstoßung der Placenta machen 
(wieder abgesehen von Rißblutungen) 
zwei ganz verschiedene Zustände ein 
gutes Wehenmittel nötig. Erstens: Re¬ 
tention ohne Blutung und zweitens: 
Blutung infolge partieller Lösung der 
Placenta. Es ist in meiner Abteilung 
streng verboten, eine manuelle Placentar- 
lösung vorzunehmen, bevor nicht Ver¬ 
sucht ist, durch energische, eventuell 
wiederholt gegebene intravenöse Pitu- 
glandolinjektionen stärkste Wehen anzu¬ 
regen. .Diese haben dreierlä Vorteile. 
Einmal führen sie zur Wehentätigkeit und 
dadurch zur Lösung der Placenta, wenn 
diese überhaupt spontan lösbar ist, 2. steht 
jede Blutung, solange der Uterus unter 
der Pituglandolwirkung steht und 3. er¬ 
möglicht die harte Konsistenz in manchen 
Fällen überhaupt erst einen gut auszu¬ 
führenden Credfechen Handgriff, der vor¬ 
her wegen der Schlaffheit des Uterus 
nicht möglich war. Wurde dann trotz 
des Pituglandols eine manuelle Lösung 
nötig, so erwies sie sich stets als wirklich 
indiziert; d, h. es handelte sich bei diesen 
Versagern wirklich um pathologisch ad- 
härente Placenten. Strikturen sah ich 
in meinen Fällen nie. 

Meist verläuft übrigens in den Fällen, 
in denen Pituglandol kurz vor dem Ende 
der Geburt gegeben war, die Placentar- 
periode nicht nur viel schneller, sondern 
auch auffällig bluttrocken. Diese Tat-' 
Sache machte ich mir für die 

Behandlung der sogenannten habi¬ 
tuellen Nachgeburtsblutungen 

nutzbar. Ich gebe in diesen Fällen im 
Augenblick des Einschneidens des Kopfes 
intravenös 1 ccm Pituglandol. Dann steht 
nach der meist sofort erfolgenden Geburt 
des Kindes die Nachgeburtsperiode noch 
unter dem Einfluß der ersten sehr starken 
Pituglandolwehe, und unter ihrer starken 
Wirkung pflegt sich die Placenta meist 


gleich zu lösen. Man hat nur darauf auf¬ 
zupassen, daß es nun nicht hinter die 
gelöste Placenta blutet. So kann man 
die habituellen Nachgeburtsblutungen sehr 
oft vermeiden; denn sie sind sehr oft nur 
durch fehlerhafte Leitung der Nach¬ 
geburtsperiode, durch vorzeitiges Expri- 
mieren bei wehenlosem Uterus bedingt 
und nur selten durch wirkliche Adhärenz. 
Ich verfüge über 20 so behandelte Fälle, 
bei denen die Frauen in mehreren vorher¬ 
gegangenen Geburten große Mengen Blut 
verloren hatten und bei denen die Placenta 
mehrfach manuell hatte gelöst werden 
müssen. 17 mal gelang es, die Lösung zu 
vermeiden, 14 mal war der Blutverlust 
unternormal, manchmal nur 30 bis 40 g. 
In Fällen; bei denen das Verfahren ver¬ 
sagte, zeigte die dann vorgenommene 
manuelle Lösung, daß es sich um feste 
Adhärenzen handelte. Daß wir die gute 
Wehenwirkung des Pituglandols zur An¬ 
regung von Wehen beim Kaiserschnitt 
benutzten, ist selbstverständlich. Selbst 
in der Eröffnungsperiode vorgenommene 
plötzliche Uterusentleerungen verlaufen, 
wie auch Baisch^) erst kürzlich mit¬ 
teilte, nach intravenöser Pituglandolinjek- 
tion ohne jede Atonie und machen eine 
Tamponade überflüssig. 

Über gleich günstige Resultate in der 
Behandlung der Nachgeburtsperiode bei 
Verwendung des Chinins berichtet Wer-^ 
n e r. 

Bei gewöhnlichen wie bei habi¬ 
tuellen Nachgeburtsblsutungen oder 
sonstigen Störungen in der Lösung 
der Placenta, und ganz besonders bei 
atonischen Blutungen nach Aus¬ 
stoßung der Nachgeburt ist das intra¬ 
venös verabreichte Pituglandol durch 
kein anderes Mittel zu übertreffen. Uterus¬ 
tamponade und Uterusexstirpation wer¬ 
den dadurch überflüssig. Läßt sich trotz 
der Injektion die Placenta wirklich nicht 
exprimieren, so pflegt sie so fest adhärent 
zu sein, daß die sonst sehr oft unnötig 
vorgenommene manuelle Placentarlösung 
sich als wirklich indiziert erweist. 

(Fortsetzung folgt im nächsten Heft.) 

5) Mschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. LI 11, S. 69. 


Über einige Fragen der Syphilisbehandlung. 

Von Prof. Dr. Wilhelm Wechselmann. Berlin. 


Von Alters her sind in der jHeilkunde 
kaum irgendwo die Kämpfe so heftig, so 
mit persönlichen Verunglimpfungen er¬ 
füllt gewesen, wie in der Frage der. Heil¬ 


mittel der Syphilis. Schon 1498 klagt der 
spanische Arzt Francesco Lopez de 
Villalobas in einem Gedicht über die 
Syphilis: 





16 


Dk Therapie der Gegenwart 1921 


Januar 


„Daß sich Gelehrte wie die Räuber hassen> 
Wie Hund und Katz einander abgeneigt “ 
und so geht es durch die Jahrhunderte 
weiter. Danach ist es auch nicht ver¬ 
wunderlich, daß ein in solch genialem Auf¬ 
bau gefundenes, in seinen Wirkungen ganz 
eigenartiges Mittel, wie das Salvarsan, 
die Gemüter und Geister auf das lebhaf¬ 
teste erregen mußte. Jetzt, ein Jahrzehnt 
nach seiner Einführung, ist das Salvar¬ 
san als ein unentbehrliches Hilfsmittel im 
Kampf gegen die Syphilis anerkannt und 
schwebt nicht mehr in der Gefahr, durch 
das Geschrei der Gegner verschüttet zu 
werden, selbst dann nicht, wenn Parla¬ 
mente und Minister schwierige wissen¬ 
schaftliche Fragen durch Majoritätsbe¬ 
schlüsse und Verordnungen regeln. Die 
Wissenschaft hat demgegenüber die Auf¬ 
gabe, ruhig fortzuarbeiten, den sachlichen 
Kern aus den heftigsten Angriffen, seien 
sie auch noch so seltsam vorgebracht, 
herauszuschälen und das Für und Wider 
sorgsam abzuwägen. Zwei Vorwürfe 
werden dem Salvarsan gemacht: 1. daß es 
giftig ist, 2. daß es die Syphilis nicht heilt. 
Tatsächlich smd das die beiden Kern¬ 
fragen, welche auch von Anfang an die 
Forscher beschäftigt haben. 

Nur machen sich die Gegner die Sache 
gar zu leicht, indem sie die vereinzelt vor¬ 
kommenden Unglücksfälle als voll aus¬ 
reichend erklären, um ein gesetzliches 
Verbot oder zum mindesten eine der¬ 
artige Knebelung des Salvarsans — der 
Pharmakologe Lewin beantragt 0,03 als 
Maximaldose zu erklären — zu fordern, 
daß sie einem Verbot gleichkommt. Da¬ 
bei ist alles, was dem Salvarsan vorge¬ 
worfen wird, auch bei kleinen Dosen 
beobachtet worden, und große Dosen von 
3 g sind, wie erst kürzlich wieder Wei- 
geldt aus der Strümpelsche Klinik be¬ 
richtete, straflos gegeben worden. Alles, 
was man als allgemeine oder organotrope 
Giftigkeit des Salvarsans beobachtet und 
mit phantasievoller Übertreibung berich¬ 
tet hat, kommt unter vielen tausenden 
von Salvarsaneinspritzungen kaum ein 
Mal zur Beobachtung und hat keinen 
erkennbaren Zusammenhang mit der an¬ 
gewandten Gabe und der im ganzen ver¬ 
abfolgten Salvarsanmenge. Daher ist 
auch die statistische Methode ganz un¬ 
geeignet zur Klärung dieser rein indivi¬ 
duellen Verhältnisse. Da Millionen gleich¬ 
artiger Einspritzungen ohne jede Störung 
gemacht werden, kann es sich nur um an 
einzelnen Menschen und auch hier nur 
in einem ganz bestimmten Zeitpunkt auf- | 


tretende unerwünschte Nebenwirkungen 
handeln; die Schwierigkeit besteht in der 
Ermittelung dieser individuellen Verhält¬ 
nisse und kann nicht durch die inhalt¬ 
lose. wenn auch noch so oft wiederholte 
Bezeichnung als Arsengiftigkeit gelöst 
werden. Wenn man von ganz vereinzelten, 
meist ungeklärten und bedeutungslosen 
' Vorkommnissen absieht, so handelt es 
sich bei den Salvarsanschädigungen um 
vier Gruppen L Neurorezidive, 2. Ikte¬ 
rus, 3. Hautentzündungen, 4. Gehirn¬ 
erscheinungen. 

Die in den ersten Monaten nach der 
Infektion in klinische Erscheinung treten¬ 
den Ausfallserscheinungen an den Gehirn¬ 
nerven, welche die aufgeregte Phantasie 
einzelner 'Syphilidologen durchaus als 
eine durch das Salvarsan erzeugte Nerven¬ 
lähmung ansprechen wollte und will, sind 
schon lange unter unerschrockener Dar¬ 
reichung des Mittels selten geworden und 
wenn sie überhaupt auftraten, gut ge¬ 
heilt; ja es ist heute sehr fraglich, ob 
ihre vermeintliche Häufigkeit — zumal 
die Erkrankung des Hörnerven — nicht 
nur durch aufnierksamere und plan- 
mässigere Beobachtung sich erklärt (En¬ 
gelmann). 

Ebenso verhält es sich mit der ge¬ 
samten cerebrospinalen Lues; nicht die 
klinischen Fälle haben zugenommen, son¬ 
dern die klinische und serologische Beob¬ 
achtung sind verfeinert und bei der 
Kenntnis des Zusammenhangs mit Lues 
ein umfangreicher und tieferer Einblick 
auch in die Anfangsformen, die sonst un¬ 
beachtet blieben, gewonnen worden. 

Verschiedene Äußerungen Nonnes, 
wonach nach Einführung des Salvarsans 
Tabes und Paralyse frühzeitig aufträten, 
haben lebhafte Beunruhigung erregt. 
Nach meinen Erfahrungen kann davon 
keine Rede sein und auch sonst findet 
man keine Unterlagen für eine so schwer¬ 
wiegende Annahme. Auch Nonne hat 
keine zureichenden Beobachtungen ge¬ 
macht, wie aus einer kürzlich erschienenen 
Zusammenstellung seines Schülers Pette’ 
hervorgeht. Er sagt ausdrücklich: ,,Einen 
Fall von Metalues nach intensiver und 
nach den heute gestellten Forde¬ 
rungen genügender Salvarsanbe- 
h an d lun g haben wir unter dem Kranken¬ 
hausmaterial nicht beobachtet^).“ Zwei 
Fälle mit kurzer, Inkubation bei sehr 
reichlicher Quecksilber- und mäßiger Sal- 

Der Sperrdruck findet sich in Fettes - 
Arbeit. 





Januar 


Dte Therapie der Gegenwart 1921 


17 


varsanzufuhf, durch welche ein ursäch¬ 
licher Zusammenhang des Salvarsans 
mit der Frühparalyse bewiesen werden 
soll, sind durchaus nichtssagend und 
ganz ungeeignet, in einer so bedeutsamen 
Frage ein Urteil zu fällen. 

Ebenso ist die Frage des Salvarsan- 
ikterus praktisch ohne größere Bedeu¬ 
tung. Man hat von jeher im ersten Jahre 
der Lues ohne Behandlung und nach Be¬ 
handlung mit Quecksilber Gelbsucht beob¬ 
achtet; daß diese auch nach Anwendung 
von Salvarsan oder Quecksilbersalvarsan 
äuftritt, ist nicht besonders auffällig. 
Auffällig ist nur ihre sehr starke — aber 
zeitweise verschieden starke — Zunahme 
seit 1915. Die Fälle, welche nach Salvar- 
sananwendung auftreten, treten während 
der Kur aber auch viele Monate danach 
auf; ein Teil mit positiver, ein Teil mit 
negativer Wassermannscher Reaktion. Es 
besteht jetzt durch die schlechten, zum Teil 
verdorbenen und infizierten Nahrungs¬ 
mittel überhaupt auch bei der nicht¬ 
syphilitischen Bevölkerung eine endemi¬ 
sche Infektion der Gallengänge, wie dies 
z. B. Albu in seiner Poliklinik beob¬ 
achtet hat. Es sind also verschiedene 
Umstände, welche die Gelbsucht be¬ 
dingen. Wie wenig eine Leberschädigung 
durch Salvarsan vorliegt, geht daraus 
hervor, daß wir nach anfänglicher Zu¬ 
rückhaltung die Fälle mit angepaßten 
Gaben von Salvarsan schadlos behandelt 
haben und dadurch sogar fast stets eine 
schnelle Abheilung erzielt haben. Die 
gelbe Leberatrophie ist seit Einführung 
des Salvarsans sicher nicht häufiger ge¬ 
worden und kann unter keinen Um¬ 
ständen als Folge einer Salvarsanzufüh- 
rung angesehen werden. Erst .heute 
haben wir die Sektion einer 22jährigen 
Arbeiterin gemacht, welche wegen frischer 
sekundärer Lues vom Arzt sechs Ein¬ 
reibungen mit grauer Salbe erhalten hat. 
Danach trat mäßiger Ikterus auf, wes¬ 
wegen sie am 24. November das Kranken¬ 
haus aufsuchte. Da sie subfebrile Tem¬ 
peraturen hatte und verschiedene Funk¬ 
tionsprüfungen vorgenommen wurden, 
wurde sie nicht behandelt. Urin frei von 
Leucin und Tyrosin. Am 1. Deiember 
wurde Patientin unruhig und verließ das 
Bett, schlief dann aber ein; am 2. Dezem¬ 
ber wurde sie somnolent; Steifheit der 
Muskulatur. Abends tetanische Krämpfe. 
Exitus 3. Dezember. Sektion ergab 
typische gelbe Leberatrophie. Hätte die 
Kranke Salvarsan bekommen, so würde 
sicher das allgemeine Urteil auf Salvarsan- 


vergiftung oder zum mindesten auf schwe¬ 
re Leberschädigung durch Salvarsan, bei 
schon bestehender Gelbsucht fehlerhaft 
angewendet, gelautet haben. Es ist Zeit, 
daß endlich mit dem törichten Hin¬ 
starren und der kritiklosen Beurteilung 
aller Krankheiten, welche bei Leuten, die 
einmal'Salvarsan bekommen haben, auf¬ 
treten, ein Ende gemacht wird. 

Von wesentlich größerer Bedeutung 
sind die Hautentzündungen. Während 
bei reiner Salvarsananwendung früher 
fast nur masern artige, in wenigen Tagen 
vorübergehende Hautausschläge zur Be¬ 
obachtung kamen, sieht man in den 
letzten Jahren ab und zu auch hierbei 
schwerere, sich über 2—3 Wochen hin¬ 
ziehende nässende, mit Schuppung heilen¬ 
de allgemeine Hautentzündungen, welche 
vielleicht mit der Unterernährung zu¬ 
sammenhängend Am meisten und schwer¬ 
sten werden diese schweren Formen nach 
kombinierter Kur beobachtet, mindestens 
in demselben Verhältnis, wie man sie 
nach kräftiger Einverleibung von Hg. 
immer zu sehen gewohnt war. Nach 
experimentellen Untersuchungen kann die 
gleichzeitige Darreichung beider Mittel 
eine erschwerte Ausscheidung beider Stof¬ 
fe durch die Niere zur Folge haben und 
der Körper gezwungen sein, die Haut zur 
Ausscheidung heranzuziehen. In den 
Schuppen findet man selbst noch nach 
Wochen große Mengen Quecksilber. Aber 
auch die Zufügung anderer Metalle zum 
Salvarsan, wie Silber oder Antimon (Da- 
nysz) wirken ebenso, wie die Zufügung 
von Hg. 

Da diese schweren Hautentzündungen 
immer die Gefahr einer septischen Infek¬ 
tion des seiner Oberhaut entbehrenden 
Körpers unter Umständen mit tötlichem 
Ausgang in sich schließen, welche durch 
alleinige Anwendung von Salvarsan ver¬ 
mieden oder doch ungeheuer eingeschränkt 
werden kann, kann man nach wie vor 
die praktischen Ärzte vor der allgemein 
beliebten Anwendung der kombinierten 
Kur, zumal in der ambulanten Behand¬ 
lung, nur eindringlichst warnen. 

Der schwerwiegendste Punkt in der 
Salvarsanfrage ist die sogenannte Ence¬ 
phalitis hämorrhagica. Sie steht sicherlich 
im Zusammenhang mit dem Salvarsan, 
wobei es gleichgültig erscheint, ob man 
sie — wie ich annehme zu Unrecht — 
als Arsenwirkung auffassen will. Es 
scheint, daß sie nur nach intravenöser . 
Anwendung des Salvarsans äuftritt. Un¬ 
sere fortgesetzten Bemühungen, Klarheit 



18 Dfe Therapie der Gegenwart 1921 Januar 


•in diese dunklen Verhältnisse zu bringen, 
haben gelehrt, daß es sich bei dem Ge- 
•hirntod nach Salvarsan einmal um ek- 
Jamptisch-urämische Zustände, beson¬ 
ders bei Nierenkranken und Schwangeren 
.handelt, vornehmlich aber um Throm¬ 
bosierungen kleiner Gefäße oder der Sinus 
lind der vena magna^Galeni des Gehirns. 
Es scheint, daß überstandene Infektions¬ 
krankheiten, vor allem die Grippe, Hals¬ 
entzündungen, Ohrentzündungen, aber 
auch Schädeltraumen bei manchen Men¬ 
schen Gefäßschädigungen im Gehirn ver¬ 
ursachen — wofür ja die Encephalitis 
nach Grippe ein klares Beispiel liefert —, 
welche latent bleiben und durch intra¬ 
venöse Salvarsanzufuhr sich schnell aus¬ 
breiten und tötlich werden können. Ähn¬ 
lich können chronische Infektionskrank¬ 
heiten wie Tuberkulose, Syphilis und 
schwere Bluterkrankungen die Vorbe¬ 
dingung für Thrombosen im Gehirn lie¬ 
fern. 

Es steht zu hoffen, daß es in nicht 
allzu langer Zeit gelingen wird, diejenigen 
Fälle rechtzeitig zu erkennen, bei denen 
die Anwendung von Salvarsan zu einer 
gewissen Zeit unterlassen werden muß; 
denn daß die Unverträglichkeit für Sal¬ 
varsan bei demselben Menschen nur in 
einem gewissen Zeitpunkt auftritt, geht 
daraus hervor, daß von manchen Men¬ 
schen eine starke Kur oder große Einzel¬ 
dosen anstandslos vertragen wurden, wäh¬ 
rend nach Monaten ganz geringe Dosen 
eine Thrombose im Gehirn auslösten; es 
müssen also in der Zwischenzeit .in den 
Hirngefäßen die Vorbedingungen für die 
Unverträglichkeit des Mittels ausgebildet 
worden sein. 

Alle diese Vorkommnisse können je¬ 
doch dem Salvarsan seine hervorragende 
Stellung im Kampfe gegen die Syphilis 
nicht rauben, solange es nicht gelingt, 
ein von allen Nebenwirkungen freies 
Mittel für eine erfolgreiche Syphilis¬ 
behandlung zu finden. Denn wenn man 
selbst den Gegnern sehr weit entgegen- 
kommen will, so kann man die Gefahren 
des QuecksillDers bestimmt nicht geringer 
einschätzen, wie die des Salvarsans, was 
ja auch der jahrhunderte lange Kampf der 
Mercurialisten und Antimercurialisten be¬ 
weist. Die Geschichte lehrt, daß neben 
den lauten und törichten Schreiern gegen 
das Quecksilber, auch eine große Zahl vor¬ 
züglich beobachtender und kritisch ab¬ 
wägender Ärzte nach reicher Erfahrung 
das Quecksilber verließen und die Krank¬ 
heit lieber ihren natürlichen Verlauf neh¬ 


men ließen. Erst die genauere Kenntnis 
der Nebenwirkungen des Quecksilbers 
und die Kunst, diese zu umgehen oder 
einzuschränken, haben schließlich seinen 
Sieg bedingt und die Anerkennung seiner 
therapeutischen Wirkung gebracht. Denn 
der Entscheid über den Wert eines Anti- 
syphiliticums liegt nicht, wie man zur 
Irreführung der öffentlichen Meinung be¬ 
hauptet, in der gelegentlichen Giftwir¬ 
kung desselben, sondern in dem Verhält¬ 
nis der Giftigkeit zum Heilerfolg. Es 
scheint mir ^unzweifelhaft, daß die^ Er¬ 
folge des Salvarsans in der Anfangszeit:, 
als Ehrlich sich noch nicht bemühte, 
die Giftwirkung herabzusetzen, wesent¬ 
lich bessere waren, als später, wo man 
den Lärm der Gasse fürchtend, durch 
Herabsetzung der Gaben und Verände¬ 
rung des Präparats die Wirkung ab¬ 
schwächte. Dabei scheinen die ver¬ 
meintlichen und wirklichen Gefahren, 
welche ja doch nur von besonderen zeit¬ 
lichen Zuständen der Behandelten ab- 
hängen, dadurch gar nicht beeinflußt zu 
sein. Es scheint jetzt, bei der klareren 
Einsicht in diese Verhältnisse, der Zeit¬ 
punkt gekommen zu sein, wo man unter 
sorgfältiger Berücksichtigung der erkenn¬ 
baren individuellen Gegenanzeigen, wie¬ 
der anfangen muß, eine energischere An¬ 
wendung des Salvarsans zu erproben. 
Es kann sich dabei nur um reine. Salvar- 
sananwendung handeln, da es nach wie 
vor unstatthaft erscheint, die Gefahren¬ 
zone des Salvarsans durch das bestimmt 
giftige Quecksilber zu erhöhen. Es ist 
unbegreiflich, wie leichtfertig dieser Um¬ 
stand von den Anhängern der kombinier¬ 
ten Behandlung fortgesetzt verschwiegen 
wird. Wir sehen Tag für Tag schwere 
Schädigungen auch nach geringen Queck¬ 
silbergaben und sehen z. B. Mund¬ 
entzündungen, wie wir sie früher nur 
äußerst selten sahen. Dies ist wohl be¬ 
dingt durch die schlechte Ernährung. 
Dazu kommt, daß klinische Versuche, 
sowie die zahllosen von anderer Seite 
kombiniert behandelten Fälle, welche ich 
gesehen habe, mich nicht im entferntesten 
überzeugen konnten, daß die Beifügung 
von Quecksilber zu Salvarsan eine nen¬ 
nenswert höhere Heilwirkung in sich 
schließt. Vielfach erhält man sogar, was 
auch andere kritische Beobachter melden, 
den Eindruck einer Herabsetzung der 
Heilwirkung. Das kann man natürlich 
nur beurteilen, wenn man sich unaus¬ 
gesetzt bemüht, ein möglichst klares Bild 
von der Salvarsanwirkung auf die Lues 






Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


19 


ZU bekommen. Auch dann bestehen noch 
sehr große Schwierigkeiten, um die ab¬ 
solute Heilwirkung" des Salvarsans auf die 
syphilitische Erkrankung des Individu¬ 
ums genau beurteilen zu können. Alles, 
was bisher über Behandlung und Heilung 
der Syphilis mitgeteilt worden ist, hat 
nur den Wert von persönlichen Ein¬ 
drücken und Glaubensbekenntnissen. Ver¬ 
nachlässigt wird das, was ich als erstes 
Wort bei der Einführung des Salvarsans 
sagte, daß wir nicht wissen, was aus 
einem Patienten, der mit frischem Pri¬ 
märaffekt zu uns kommt, werden wird, 
gleichgültig, ob wir ihn unbehandelt 
lassen oder behandeln. Wenn es Aufgabe 
jeder Wissenschaft ist, in ihrem eigenen 
Gebiet die Zukunft vorherzusagen, so 
steht die Syphilidologie noch sehr in den 
Anfängen. Der springende Punkt ist 
aber die Prognose des Einzelfalles. Diese 
hängt in erster Linie von der Natur der 
eingedrungenen Spirochäten und von 
Eigentümlichkeiten des befallenen Men¬ 
schen ab, erst in zweiter Linie von der 
Art der Behandlung. Levaditti will 
ja besondere für das Nervensystem giftige 
Spirochätenrassen nachgewiesen haben. 
Ich kenne demgegenüber zwei Fälle, wo 
jungfräulich in die Ehe getretene Frauen 
von ihren mit Primäraffekt behafteten 
Männern angesteckt wurden; während 
nun die Männer schwere Lumbalverände¬ 
rungen und der eine trotz energischer Be¬ 
handlung schwere Hirnsyphilis vom 
pseudoparalytischen Typus im ersten 
Jahre der Syphilis aufwiesen, hatten die 
Frauen leichte Syphilis, die schnell mit 
negativer Wassermannscher Reaktion und 
völlig normalem Lumbalpunktat aus¬ 
klang und bisher durch mehrere Jahre 
so verblieb. Es ist also bestimmt nicht 
eine Spirochätenrasse für alle Nerven¬ 
systeme gleich gefährlich, und wir wissen 
nicht, warum in einem Fall das centrale 
Nervensystem ergriffen wird, im anderen 
nicht. Darin liegt aber der Angelpunkt 
'der Prognose. Wir sehen ja, daß der alte 
Syphilitiker in den meisten einigermaßen 
ausreichend behandelten Fällen nur ge¬ 
fährdet ist durch syphilitische Erkran¬ 
kungen des centralen Nervensystems und 
der Aorta, welche im Gegensatz zu allen 
anderen Rückbleibseln der syphilitischen 
Erkrankungen von den Heilmitteln nur 
schwer zur Rückbildung gebracht werden 
und langsam zur Zerstörung lebens¬ 
wichtiger Organe führen. Das Verfehlte 
aller bisherigen schematischen Behand¬ 
lungsarten liegt aber darin, daß man, wie 


schon der alte Paracelsus klagt, „allen 
Kranken ein Lied singt“:. Es liegt doch 
auf der Hand, daß ein Kranker, der nach 
beendeter Kur dauernd negative Wasser- 
mannsche Reaktion und ein negatives 
Lumbalpunktat aufweist, eine ganz ande¬ 
re Behandlung erfordert, als ein solcher, 
dessen Lumbalpunktat sich nicht von 
dem eines Paralytikers unterscheidet und 
dessen Zukunft damit wahrscheinlich, 
schwer bedroht ist. Nach unseren Er¬ 
fahrungen scheint ein Lumbalpunktat, 
welches nach 1—2 Jahren negativ ist, 
später nicht mehr umzuschlagen. 

Leider können wir die frühzeitige 
-Diagnose der Aortensyphilis nicht stellen 
und auch das Röntgenbild läßt uns erst 
verhältnismäßig spät bei schwereren Ver¬ 
änderungen die Krankheit erkennen. Un¬ 
beeinflußbare positive Wassermannsche 
Reaktion bei negativem Lumbalpunktat 
erweckt immer Verdacht; leider aber 
verläuft ein nennenswerter Teil von syphi¬ 
litischen Aortitiden auch mit negativem 
Wassermann. Hinweise geben erhöhter 
Blutdruck bei gesunden, funktionstüch¬ 
tigen Nieren und subjektive Symptome, 
die schon Baglivi (1668—1707) klassisch 
schilderte: ,,dolor fixus in medio pectoris 
diu perseverans ac moleste sine tussi“.. 

In allen diesen Fällen bedeutet die 
reine Salvarsanbehandlung, welche man 
beliebig lange durch Jahre fortsetzen 
kann, einen mächtigen Fortschritt gegen¬ 
über der Quecksilberbehandlung, welche 
von Fournier zu einer ,,intermit¬ 
tierenden“ d. h. unterbrochenen gemacht 
wurde, nicht weil er damit die Syphilis 
zu heilen glaubte, sondern weil er erkannt 
hatte, daß es unmöglich war, das Queck¬ 
silber bis zu voller Wirksamkeit zu geben, 
weil gute Arzneiwirkung und schwere 
Giftwirkung dabei zu nahe aneinander¬ 
liegen. 

Die Überlegenheit des Salvarsans bei 
der Abortivbehandlung der Syphilis wird 
allgemein anerkannt; daß aber auch hier 
nur mit einem großen Prozentsatz, nicht 
mit einer Gesetzmäßigkeit der Heilung 
zu rechnen ist, habe ich nachgewiesen 
auch in der seronegativen Periode des 
Primäreffekts (Med. Klin. 1919 Nr. 39), 
was später von verschiedenen Seiten 
bestätigt wurde. Man darf eben nicht 
glauben, daß unsere Heilmittel unter 
allen Umständen gleichmäßig günstig 
auf den syphilitischen Prozeß wirken; 
man sieht beim Quecksilber und, wenn 
auch seltener beim Salvarsan syphi¬ 
litische Infiltrate längere Zeit resistent 

3* 





20 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Januar 


bleiben, ja sogar hämatogene Rezidive 
während der Kur auf treten. Bisher habe 
ich allerdings immer noch, gefunden, daß 
fortgesetzte, unter Umständen gesteigerte 
Salvarsanzufuhr zur Vernichtung und 
Aufsaugung der Herde führen. 

Es bedarf also bei der Schwierigkeit 
der wissenschaftlichen Erforschung dieser 
therapeutischen , Frage großer Sorgfalt 
und tunlichster Vereinfachung der Frage¬ 
stellung; wenn schon bei der verhältnis¬ 
mäßig einfachen Frage nach der Gift¬ 
wirkung die Kombination zweier toxi¬ 
schen Substanzen die größten Unklar¬ 
heiten erzeugt, so ist sie bei den so 
viel verwickelteren therapeutischen Fra¬ 
gen wissenschaftlich ganz wertlos und 
kann nur wirre Ergebnisse liefern. Daran 


ändert nichts der Stolz, mit dem die 
Väter dieser Hindernisse immerzu ihre 
Erfolge verkünden. Sie beweisen damit 
nur, daß sie die Grundfragen der Syphilis¬ 
behandlung noch gar nicht erfaßt haben. 
Die tiefer denkenden Syphilidologen 
haben es sich stets viel schwerer gemacht 
und sich das Wort des alten Paracelsus 
vor Augen gehalten: 

,,Und wie jeder Esel sein besondere 
Art hat, also habens auch die mala 
Frantzosen. Darumb sich keiner be- 
rühmen darff, er sey der Krankheit ohn 
zweiffel, er sey ihr gewaltig, er sey ihr 
Meister. Denn so oft, ein Frantzösischer, 
als offt ist eine besondere tück in der 
Krankheit, die den Arzt umtreibt, vexiert 
und verspot.“ 


Zusammenfassende Übersicht. 

Aus Dr. Biidingeus Heilanstalt im Koustauzer Hof zu Konstanz-Seehausen. 

Bericht über fremde und eigene Erfahrungen mit Trauben= 
Zuckerinfusionen, insbesondere bei Herzkranken. 

Von Theodor Büdingen. 


Infolge des Krieges und seiner Nach¬ 
wirkung hat es lange gedauert, bis die 
wissenschaftliche und praktische Medizin 
zu der von mir begründeten Behandlung 
der Ernährungsstörungen des Herzmus¬ 
kels 1) mit hochprozentigen Trauben¬ 
zuckerinfusionen, die ich 1913 hierbei zu¬ 
erst angewendet habe, Stellung genommen 
hat. Im Laufe der letzten Jahre sind 
nun eine Reihe von Veröffentlichungen 
aus Kliniken und Krankenhäusern in ver¬ 
schiedenen Zeitschriften erschienen, über 
die ich berichten und denen ich eigene 
Erfahrungen angliedern will. 

Hingewiesen sei in erster Linie auf 
die im Anschluß an meine Arbeiten ent¬ 
standenen experimentellen Untersuchun¬ 
gen von Privatdozent Dr. Nonnen- 
bruch in Würzburg, die uns weitere Ein¬ 
blicke in.die Wirkungsweise der Trauben¬ 
zuckerinfusionen 2) gewähren. In Ver¬ 
bindung mit den Ergebnissen anderer 
Forscher bietet sich folgendes Bild: 

Büdingen, Über die Möglichkeit einer 
Ernährungsbehandlung des Herzmuskels durch 
Einbringen von Traubenzuckerlösungen in die 
Blutbahn. (D. Arch. f. klin. M., Bd. 114, S. 534 
bis 579, 1914). 

2) Über die innere Hyperglykämie. Über die 
Veränderungen im Blut und Harn nach intra¬ 
venösen Traubenzuckerinfusionen. (Beides: Arch. 
f. exper. Path. u. Pharm. 1920). Über Blutzucker 
und Blutkonzentration. (Sitz.-Ber. d. phys.- 
med. Ges. zu Würzburg, Sitzung 15. Januar 1920). 


Nach Johannes Müller (Düsseldorf) ist die 
Quelle der Herzmuskelkraft der in einer Menge 
von 0,07 bis 0,12% beim Gesunden im Blut vor¬ 
handene Traubenzucker. Er ist weitgehend un¬ 
abhängig von der aufgenommenen Nahrung. 
Nur überreichliche („abundante“) Zuckerzufuhr 
auf natürlichem Wege kann die Leber zu einer 
höheren Abgabe an das Blut veranlassen. Die 
Leberbarriere wird, wie von Noorden sagt, 
dann durchbrochen. Ein Teil dieses Zuckers 
geht unverwertet mit dem Urin ab. Die von 
Bernstein und Falta auch bei üblicher Er¬ 
nährung angenommene Hyperglykämie (Blutüber¬ 
zuckerung), die sich nur auf der Venenstrecke 
von der Leber zum rechten Herzen finde, aber 
wegen des Zuckerverbrauchs innerhalb der Capil- 
larsysteme in den peripheren Venen nicht mehr 
nachgewiesen werden könne, hat sich durch die 
Versuche Nonnenbruchs als unrichtige Hypo¬ 
these herausgestellt3). In Bestätigung meiner 
Auffassung kann nach demselben Forscher eine 
Zuckerabgabe per os nicht zu einer solchen 
Konzentration des Zuckers im Herzblut und ins¬ 
besondere im Blute der Coronararterien führen, 
wie die intravenöse Traubenzuckerinfusion. 

Kommen also Ernährungsstörungen des Herz¬ 
muskels vor, die nach meiner Lehre entweder 
auf einem unterwertigen Blutzuckergehalt (Hypo¬ 
glykämie)^) oder ungenügender Zufuhr von 
normalem Blute (wie z. B. infolge von Vasor 
constriction der Kranzgefäße bei Coronarsklerose 
oder bei dieser allein) oder verminderter Ver¬ 
arbeitungsfähigkeit des Blutzuckers in der Herz- 


2) Siehe meine vorausgegangene Arbeit im 
D. Arch. f. klin. M. 1918, Bd. 128, S. 151 bis 162: 
Blutzuckerregelung, respiratorischer Gaswechsel 
und Körpertemperatur in ihren Beziehungen zu 
Traubenzuckerinfusionen bei gesunden und kran¬ 
ken Menschen. 

Blutzuckergehalt unter 0,07 bzw. 0,06%. 





Januar 


Die Therapie der Gegenw:art 1921 


21 


muskulatur (nkch Infektionen, Vergiftungen), 
beruhen, so ist die Behandlung durch Trauben¬ 
zuckereinläufe in die Blutbahn, welche die Ratio- 
•nierung des Blutzuckers durch die Leber umgehen, 
die folgerichtigste und wirksamste Behandlung. 
Dies habe ich an Hand zahlreicher Kranken¬ 
geschichten machgewiesen. 

Durch die Infusion wird, wie Nonnenbruch 
sagt, das Zuekergefälle, das heißt der Unterschied 
im Blutzucker und Gewebezuckergehalt größer. 
„Wird die Zuckerzufuhr reichlicher, so wird auch 
die Menge Zucker, die während einer Umlaufs¬ 
zeit in die Gewebe austritt, zunehmen.“ Beim 
Diabetiker wird nach Lüthje der infudierte 
Zucker weit besser als der von den Verdauungs¬ 
organen abgegebene Zucker verwertet. Auch 
bei dem gesunden Tier sah der gleiche Forscher 
Ähnliches. Nach Kausch ist es erstaunlich, 
wie gut, ja wie restlos eingespritzte größere 
Zuckermengen im Gegensatz zu den im Übermaß 
genossenen ausgenutzt werden können. Also 
keine oder nur ganz unbedeutende Glykosurie! 

Nach einer Infusion kommt es unter anderem 
mit größter Wahrscheinlichkeit zur Bildung von 
Glykogen in der Herzmuskelfaser, das als Vor- 
ratskraftstoff gewöhnlich dort gefunden wird 
(Aschoff, Berbl.inger). Ist die durch die 
Infusion verursachte Hyperglykämie infolge Ab¬ 
lagerung und Umwandlung des Zuckers in den 
Geweben verschwunden, so zeigt sich eine Zu¬ 
nahme des respiratorischen Quotienten, wie 
Bernstein und Falta nachgewiesen haben. 
Schließlich lösen die Traubenzuckerinfusionen 
nach Nonnenbruch ^„einen ganz erheblichen 
Austausch von Wasser; Kolloiden und Salzen 
zwischen Geweben und Blut aus, wobei die ein¬ 
zelnen Bestandteile weitgehend unabhängig von 
einander sind und bald eine überwiegende Strö¬ 
mungsrichtung aus den Geweben ins.Blut, bald 
umgekehrt haben“. So bewirken diese Infusionen 
physikalisch und chemisch bedeutsame, größten¬ 
teils therapeutisch willkommene Vorgänge im 
Organismus, Sie regen nach den verschiedensten 
Richtungen den Stoffwechsel an und können 
schädliche Stoffe aus den Geweben durch den 
geschilderten Austausch entfernen (Auswaschung 
des Körperinneren). 

Im folgenden möchte ich hauptsäch¬ 
lich praktische Erfahrungen zu Worte 
kommen lassen: 

Dr. Eberle, Oberarzt der chirurgischen Ab-- 
teilung des Stadtkrankenhauses in Offenbach a.M., 
schreibt im Arch. f. klin. Chir., Bd. 113, Heft 2: 
„Ich ließ die Infusionen auf einen früheren per¬ 
sönlichen Rat des internen Kollegen Büdingen 
(Konstanz) machen und habe in diesen und zahl¬ 
reichen anderen Fällen den Eindruck gewonnen,, 
daß sie von großem Nutzen sind. Es war auf¬ 
fallend, wie sehr sich die Schwerkranken dabei 
erholten, wie sie dadurch vielfach erst operations¬ 
fähig wurden und den Eingriff zweifellos viel 
besser ertrugen als andere nicht infundierte 
Schwerverletzte. Auch bei protahiert verlaufen¬ 
der Sepsis wurde diese hochprozentige Lösung 
verwendet und nie ernstere nachteilige Folgen 
von ihr gesehen. In einigen Fällen scheint sie 
aber direkt lebensrettend gewirkt zu haben.“ 

In der zweiten kürzlich erschienen 
Auflage seines Lehrbuches d'er funktio¬ 
neilen Diagnostik und Therapie der Er¬ 
krankungen des Herzens und der Gefäße 


urteilt August Hoffmann über meine 
Behandlung der Ernährungsstörungen 
d-es Herzmuskels (Kardiodystrophien) fol¬ 
gendermaßen: 

„ Ich habe diese Methode bisher in einer größeren 
Zahl von Fällen angewandt und niemals Nach¬ 
teiliges gesehen, dagegen nicht nur subjektiv, 
sondern auch objektiv günstige Wirkungen. 
Besonders in Fällen von anginösen Herzbeschwer¬ 
den haben die Infusionen günstig gewirkt, sodaß 
die Kranken imstande waren, größere Wege wieder 
ohne Beschwerden zurückzulegen, was sie vorher 
nicht konnten. — Fast alle Patienten, die doch 
.sonst vielfach gegen derartige Eingriffe sich leicht 
ablehnend verhalten, gaben subjektive Besserung 
an und wünschten die Fortsetzung der Kur.“ 

Objektive Merkmale eines günstigen Eim 
flusses der Infusionen bei Coronarsklerose,, Myo¬ 
karditis und Myodegeneratio cordis neben dem sub¬ 
jektiven Besserbefinden erkennt Pfalz®), ein 
Schüler August Hofmanns (Düsseldorf), in 
dem Verhalten der Urinsekretion (gewöhnlich 
Steigerung der Urinmenge nach jeder Infusion), 
dem Verschwinden des Pulsus alternans und der 
Wiederherstellung der Anspruchsfähigkeit auf 
Digitaliskörper. „Irgendwelche nachhaltigen 
Schädigungen wurden nicht beobachtet.“ In 
dem relativ häufigen Auftreten von Fieber sieht 
Pfalz „eine nicht beherrschbare Nebenwirkung 
auf das Wärmezentrum“. Ohne eine gesteigerte 
Erregbarkeit des Wärmezentrums, so bei Basedow, 
Diathesen, Quincke’schen Ödemen usw. aus¬ 
schließen zu können, muß ich auf Grund einer 
weit größeren Erfahrung (mehr als 8000 In¬ 
fusionen) widersprechen. 

Auch wir haben 1913 und 1914, dann wieder 
1915 infolge einer Beschädigung unseres Destil- 
i lationsapparates eine Reihe von vermeidbaren 
Schüttelfrösten und Fieberanfällen durch Wasser¬ 
fehler beobachtet, welche innerhalb der ersten 
zwei Stunden nach einer Infusion auftraten 
(Frühfieber). Zwischen 1914 und 1919 und später 
war das Fieber nur auf seltene und wohlcharakte¬ 
risierte Fälle beschränkt. So hat 1920 der Ab¬ 
teilungsoberarzt an meiner Anstalt Dr. Hubert 
vom 1. Februar bis 1. September ungefähr 900 
Infusionen gemacht und nur bei drei Herzkranken 
Fieber beobachtet, und zwar als Reaktion be¬ 
reits vorhandener entzündlicher Herde im Körper 
dieser Kranken (Strumitis, Appendicitis Simplex, 
Kiefereiterung). Die Abteilungsärztin Dr. H. 
Beuttenmüller hat innerhalb eines Jahres 
300 Infusionen ausgeführt und nur bei zwei 
Patienten — einem Fall von kardiodystrophisehen 
Beschwerden bei Cor ad.-posuni und Myocarditis, 
sowie von leichten Schmerzen in der Elliaddarm- 
gegend, ferner bei einem Falle von Endocarditis 
lenta — Fieber, beziehungsweise Zunahme des 
Fiebers nach den ersten sechs bis acht Infusionen 
auftreten sehen, später nicht mehr. Diese als 
Spätfieber von mir bezeichnctc, meist heilsame 
Reaktion, die drei bis acht Stunden nach der 
Infusion erst auftritt, habe ich im D.. Arch. f. 
klin. M., Bd. 128, Seite 151 bis 162, bereits ge¬ 
schildert. Ich komme darauf später zurück. 

Bei ausreichender Behandlung lassen 
sich selbst in Fällen organisch bedingter 
schwerer Ernährungsstörung des Herz¬ 
muskels langdauernde Befreiung von Be¬ 
schwerden und Wiederherstellung der 


Ö Verlag von I. F. Bergmann, Wiesbaden 1920. 


®) D. m. W. 1919, Heft 43, S. 1181. 



22 


Pk Therapie 4er Gegenwart* 192t 


'Jankar 


Arbeitsfähigkeit erzielen. Ich habe eine 
Reihe von älteren Patienten, die infolge 
von Coronarsklerose unheilbar' bei Wieder¬ 
kehr der Anfälle von Angina pectoris seit 
Jahren gewöhnlich einmal im Jahre zu 
mir kommen und nach einigen Wochen* 
wieder mit dem gleichen, erfreulichen Er¬ 
gebnis Weggehen oder solche mit chroni¬ 
scher Myocarditis, bei denen die verlorene 
Anspruchsfähigkeit auf Digitaliskörper 
wiederhergestellt oder eine Befreiung von 
der Digitalisbehandlung erzielt wird. Auch 
können durch Kardiodystrophien be¬ 
dingte Kompensationsstörungen bei Herz¬ 
klappenfehlern, sowie frische Myocardi- 
tiden dauernd'^beseitigt werden. 

Meine Behandlungsmethode ist eine 
Stoffwechsel- oder Ernährungstherapie 
des Herzmuskels. Sie will und kann 
die Digitaliskörper in ihrem gesicherten 
Anwendungsbereich nicht verdrängen, 
sondern sie nur dort wirksam ersetzen 
oder ergänzen, wo sie zu Unrecht oder 
wirkungslos allein angewendet wurden, so 
bei allen organisch bedingten Ernährungs¬ 
störungen des Herzmuskels, die durch 
Anfälle von Angina pectoris gekennzeich¬ 
net sind. Rein funktionelle Kardio¬ 
dystrophien ohne Herzerweiterung, wie 
ich sie in meinem Buche besonders als 
hypoglykämische Kardiodystrophien ge¬ 
schildert habe, bedürfen nur dann einer 
so eingreifenden Behandlung, wenn die 
damit verbundenen Beschwerden nicht 
auf andere Weise zurückgehen wollen. 

Jeder organischen Herzerkrankung 
kann nach meiner Lehre eine durch un¬ 
genügenden Blutzuckergehalt (Hypogly¬ 
kämie) oder ungenügende Blutzuckerzu¬ 
fuhr bedingte Kardiodystrophie aufge¬ 
pfropft sein. Eine Herzunterernährung 
ist auch als Teilerscheinung der Schädi¬ 
gungen des Herzmuskels durch infektiöse 
oder andere Gifte unter bestimmten Um¬ 
ständen anzunehmen derart, daß die 
regelrechte Blutzuckermenge nicht mehr 
ausreichend vom Herzen verbraucht wer¬ 
den kann. 

In dieser Beziehung berichtet Blank aus 
dem Krankenhaus München rechts der Isar 
(Direktor Prof. Sittmann)^) über seine Er¬ 
fahrungen bei Knollenblätterpilzvergiftung, deren 
Prognose als fast infaust gilt. Früher 60 bis 80% 
Mortalität, seit Anwendung der Traubenzucker¬ 
infusionen ein Rückgang auf 10%! „Der Erfolg 
der Traubenzuckerinfusionen ist zauberhaft“ 
schreibt Blank. Dies bei einem Leiden, dessen 
pathologisch-anatomischer Befund in Fällen, die 
zur Sektion gekommen sind, „in Verfettung der 
vergrößerten Leber, des Herzens und der Nieren“ 
bestanden hat (Blank)! 

7) M. m. W. 1920, S. 1032, Heft 36. ' 


Korb sch teilt aus der Abteilung des Prof. 
Ercklentz am Allerheiligen-Hospital in Breslau 
folgendes mit«): „Durch die Arbeiten Th. Bü¬ 
dingens ist die günstige Wirkung, welche die 
Traubenzuckerinfiisionen auf bestimmte * Er¬ 
nährungsstörungen des Herzens ausüben, ' den 
weitesten Kreisen der Ärztewelt bekannt ge¬ 
worden. Aber wie schon dieser Autor den An¬ 
wendungsbereich der Traubenzuokerinfusionen 
viel weiter gezogen hat, so wird man jetzt wohl 
allgemein den günstigen analeptischen Einfluß 
dieser Infusionen bei Infektionskrankheiten, 
bei Inanition, bei Urämie, bei Leberer¬ 
krankungen und anderen allgemeinen Schä¬ 
digungen des Körpers nicht mehr missen mögen.“ 

Nachdem Kausch in Fällen von 
Peritonitis aus Gründen allgemeiner 
ErnährungisotonischeTraubenzuckerinfu- 
sionen mit gutem Erfolge gemacht und 
ihre Anwendung bei Cholera empfohlen 
hatte, habe ich 1915 in dem mir unter¬ 
stellten Vereinslazarett hochkonzentrierte 
Lösungen zuerst bei einem Falle von lang¬ 
dauernder Sepsis mit Herzschwäche, 
dann, in andern Fällen von septikämischer 
Erkrankung, von croupöser Pneumo¬ 
nie, Grippeluagenentzündung, En¬ 
dokarditis lenta, Gelenkrheuma¬ 
tismus und Diphtherie zur Besserung 
der. durch Digitalis usw. nicht beeinflu߬ 
baren Herztätigkeit 2 ;um Schutze und zur 
Kräftigung des Herzens angewendet. In 
allen diesen Fällen, darunter auch Privat¬ 
patienten und von der Reichsversiche¬ 
rungsanstalt für Angestellte mir zu¬ 
gewiesene Kranken, war der Herzmuskel 
in Mitleidenschaft gezogen und schwer 
gefährdet. Ich hatte meist ausgezeichnete 
Erfolge, die ich zum TeH schon 1917 in 
meinem Buche ,,Ernährungsstörun¬ 
gen des Herzmuskels, ihre Bezie¬ 
hungen zum Blutzucker und ihre 
Behandlung mit Traubenzucker¬ 
infusionen mitgeteilt habe. 

Litchfieldio) hat Typhus, septische Peri¬ 
tonitis, Pneumonie, Meningitis usw. mit Trauben¬ 
zuckerinfusionen behandelt. Er sah sofort ein¬ 
tretende Besserung des Allgemeinbefindens, (Ab¬ 
nahme der Toxämie), Verlangsamung von Puls 
und Atmung, Zunahme der Amplitude des 
•Pulses und des Blutdruckes, Steigerung der Diu¬ 
rese, Beruhigung des vorher aufgeregten Kranken, 
Herbeiführung von Schlaf usw. Die Infusionen 
sind nach ihm unschädlich, wenn auch einzelne 
Fälle mit Schüttelfrost und Temperatursteige¬ 
rung reagierten. Wells, Clifford und Blan- 
kinship ^^) haben 319 Fälle von Grippelungen¬ 
entzündung mit hypertonischen Zuckerl ösungen 
(250 .bis 300 ccm, 5 bis 25% Lösung) behandelt. 
Die Erfolge waren gut, selbst bei Patienten, die die 
schwersten Symptome von Kollaps darboten. 
Von den Fällen starker Erkrankung starben 

8 ) M. m. W. 1920, S. 936, Heft 32. 

s) Verlag F. W. C. Vogel, Leipzig 1917. 

^0) Journal of the Amerik. med. assoc. August 
1918. 

ri) Gleiche Zeitschrift, Januar 1920. 





f 




JnjicL^rbares Giur^tikum 
üon i^eroorra^ender lüir^un^ 

Indication: 

Oedeme, cardialer und renaler Hydrops, 
Bright’scher Krankheit, Urämie, Eklampsie 
nach Laporatomien. 

Dosierung: 

/. per OS 2-3 Tabl. a 0,1 g 
2 intramuskulär u. iniraoenös 1 Ämp. 
m. 0,48 g 

3. rectal 1 Suppositorium mit 0,36 g 

¥ 

Proben und Literatur durch 

BVK-OULDENWERKE 

BERLIN NW7 











£Rl£impsl4^ 


„Bei Behandlung der Eklampsie kommt es auf möglichst 
rasche Entgiftung an. Dieselbe kann auf natürliche und 
künstliche Weise geschehen. Auf natürlichem Wege kann 
das Gift den Körper verlassen durch die Nieren und den 
Darm, hauptsllchlich aber durch die Nieren. Bisher hatte 
man kein Mittel, die Nierenfunktion zwar schonend, aber 
doch wirksam und rasch anzuregen. Es fehlte ein Diureti¬ 
kum, das injiziert werden konnte, bei dem man also nicht 
auf die Verabreichung per os angewiesen war und es liegt 
ein direktes Bedürfnis nach einem derartigen Mittel vor, 
solange die Eklamplischen komatös sind. Die innere Me¬ 
dizin kennt ein solches aber schon seil mehreren Jahren, 
das Euphyllin. Obwohl das Urteil dadurch erschwert wird, 
daß wahrend der Euphyllinkur die Entbindung jederzeit 
dazw'ischen kommen kann, darf man wohl zugunsten des 
Euphyllins in die Wagschale werfen, daß alle fünf damit 
behandelten Falle inlerkurenl verliefen und daß keinerlei 
Schädigungen beobachtet wurden, auch nicht bezüglich der 
Kinder. Solange das eklamplische Koma dauert, kommen 
für uns wohl nur die intramuskulären Injektionen in Frage, 
weil das Mittel schnell und sicher resorbiert werden soll. 
Klysmen und Suppositorien anzuwenden, ist ja hier mög 
lieh, aber da dauert die Resoiption langer Hat man durch 
Injektionen die Diurese schon etwas gehoben, so kann 
man natürlich mit rektaler Anwendung fortfahren oder bei 
Rückkehr des Bewußtseins mit stomachaler.“ 

Lichtenstein, Universitäts-Frauenklinik, Leipzig, 
(Zenlralblalt für Gynäkologie, 1914, Nr. 23). 

WassersuclTk 1 

„Die wirksamste Dosis für die intravenöse Injektion ist 
Euphyllin 0..ö—1,0 in o ccm Lösung. Bei alleren Fallen 
genügt ein Kardiakum allein oft nicht, aber ein Xanlhin- 
praparal allein intravenös angewandt, kann einen Einslrom 
erzielen. Bei noch alteren und schwereren Füllen von Herz- 
wassersiicht ist weder das eine oder das andere Mittel 
allein wirksam sondern nur die Vereinigung beider, am 
besten in Form von intravenösen Einspritzungen von Stro¬ 
phantin und Euphyllin. Die Neigung von Oederaen be¬ 
gegnet man durch Darreichung von Euphyllin (in Zäpfchen) 
das bisweilen schon vor. aber erst nach Eintreten der 
Digitaliswirkling seine was.sermobilisierende und harn¬ 
treibende Wirkung entfaltet,“ 

Dr F. Vollhardt. Hümatogene Nierenerkrankungen 
l (Brightsche Krankheit), Berlin, Julius Springer, 1918. 












.'JaMiiaT/ ' ' ' ' Dl« Iherapie der 


nur 6/5%, von den Fällen, die unter der üblichen 
Behandlung nach diesen Autoren sicher gestorben 
wären, wurden" 34,94% gerettet. Auch sie be¬ 
obachteten eine Anregung des Herzmuskels zu 
stärkerer Tätigkeit, 

Fälle von langdauerndem Fieber, dar-' 
unter zwei Fälle von Endocarditis lenta, 
von denen eine Patientin über ein Jahr 
mit kurzen Unterbrechungen fieberte, 
wurden durch meine Methode in wenigen 
Wochen fieberfrei. Diese zwei Fälle und 
andere sind trotz der Schwere ihrer Er¬ 
krankung wieder leistungsfähig geworden. 
Sehr bemerkenswert ist die von mir 
bereits oben' als meistens heilsam be- 
zeichnete Reaktion des Körpers auf Trau¬ 
benzuckerinfusionen, wenn sich. Eiter¬ 
erreger oder infektiöse Gifte in irgend 
einem Gewebe befinden, so nach kurz vor¬ 
her abgelaufenen Anginen, Pyelitis chro¬ 
nica, bei frischer' Myocarditis usw. Sie 
unterscheidet sich von dem Fieber infolge 
von Wasserfehlern, wie gesagt, durch 
späteres Auftreten. Unbeachtete chroni¬ 
sche Eiterungen, die schmerzlos ver¬ 
laufen, können auf diese Weise durch ein¬ 
gehende Fahndung nach dem Ursprung 
des Fiebers entdeckt werden. 

Ich habe eine Reihe lehrreicher Fälle dieser 
Art beobachtet, so kürzlich einen Fall von an¬ 
scheinend chronischer Myokarditis mit ‘ pulsus 
irregularis perpetuus, erheblicher Herzerweiterung, 
und versagender Herzkraft schon bei unbedeuten¬ 
den Leistungen. Der Mann bekam als einziger 
unter einer größeren Zahl infundierter Patienten 
am gleichen Tage Fieber. Er hatte seit Jahren 
eine schmerzlose Kiefereiterung, öfters Mandel¬ 
entzündungen und wahrscheinlich als Folge der¬ 
selben neben seiner chronischen Myokarditis 
einen frischen Entzündungsnachschub im Herz¬ 
muskel. Denn nach Beseitigung der Kiefereite¬ 
rung durch den Konstanzer Zahnarzt Missmahl 
flackerte auch nach den folgenden Infusionen, 
aber nicht mehr regelmäßig Fieber auf. Die 
Herzkraft hob sich trotz Fortbestehens des 
pulsus irregularis perpetuus in erfreulichster 
Weise. 

Herdreaktionen hat Hasenbein 
in der städtischen Krankenanstalt Kiel 
(Dirigierender Arzt: Prof. Dr. Hoppe- 
Seyler) durch intramuskuläre Rohr¬ 
zuckerinjektionen, in gleicher Weise wie 
durch die bekannten Milchinjektionen 
erzeugt und damit Heilerfolge bei der 
Behandlung der Gonorrhöe erzielt. ,,Bei 
Endometritiden und Adnexerkrankungen 
zeigten sich am Abend nach der Ein¬ 
spritzung Schmerzen und erhöhte Druck¬ 
empfindlichkeit der erkrankten Organe, 
verbunden mit Temperatursteigerung.“ 
Die symptomatischen Erfolge Bodmers 
bei der Lungentuberkulose — Verminde¬ 
rung, ja sogar Versiegen der Auswurfs¬ 


Oegen^wart 1921 • . '' ’ ’ 23 


menge und Aufhören .der Nachtschweiße 
— werden von Hasenbein bestätigt. 

Bei einer wahrscheinlich gonorrhöe- 
ischenMonathritis habeich ähnlicheHerd- 
und allgemeine Reaktion mit gutem End¬ 
erfolg durch Traubenzuckerinfusionen er¬ 
reicht. Ich möchte deshalb empfehlen, 
statt Rohrzucker,* der bekanntlich bei 
parenteraler Einverleibung im Körper 
nicht verwertet, beziehungsweise ver¬ 
brannt wird, Traubenzucker auch zwecks 
Stoffwechselsteigerung und zu Ernäh¬ 
rungszwecken, sowie in der gedachten 
Absicht regelmäßig anzuwenden. Nach 
Prof. Robert Schmidt in Prag kann 
„jeder Reiz, der genügend in- und extensiv 
den Organismus in Mitleidenschaft zieht, 
besonders auch in seinem circulatorischen 
und neurogenen Betrieb, Herdreaktionen 
auszulösen“. Dies kann ebenso durch 
Milchinjektionen, wie durch Tuberkulin¬ 
einspritzungen u. a. geschehen. ,,Ihre 
diagnostische Bedeutung liegt darin, daß 
auf diesem Wege latente Entkindungs- 
herde und diathetische Zustände manifest 
gemacht werden können; — ,,auf eine 
Zunahme der Entzündungsvorgänge er¬ 
folgt eine Abnahme derselben bis zur 
eventuellen Wiederherstellung eines nor¬ 
malen Gewebebetriebes“. ‘ In völliger 
Übereinstimmung damit habe ich Fieber 
oder Zunahme des bestehenden Fiebers 
durch Traubenzuckereinläufe in die Blut¬ 
bahn bei Vorhandensein eines entzünd¬ 
lichen Herdes im Körper herbeiführen 
können, ja es konnte mit großer Wahr¬ 
scheinlichkeit die Diagnose einer frischen 
Myocarditis oder eines Nachschubes bei 
einer chronischen Myocarditis daraus ge¬ 
stellt und diese Entzündungsvorgänge 
ebenso wie das Begleitfieber durch Weiter¬ 
behandlung beseitigt werden. 

Während bei Coronarsklerose die Be¬ 
schwerden zu verschwinden pflegen, kön¬ 
nen in solchen Fällen Schmerzen oder 
leichtes Druckgefühl in der Herzgegend 
nach den Infusionen als Reaktionser¬ 
scheinungen meist am gleichen Tage auf- 
treten. 

Gestützt auf diese Erfahrungen, bin 
ich der Ansicht, man sollte unbeschadet 
einer specifischen Therapie und anderer 
Maßnahmen die erwähnten Infektions¬ 
krankheiten mit hypertonischen’Trauben¬ 
zuckerinfusionen zum Schutze des Her¬ 
zens und zur Beeinflussung seines und 
des allgemeinen Stoffwechsels möglichst 
frühzeitig behandeln. Die Vereinfachung 


^2) M. m. W. 1920, S. 1222. 


12) D. Arch. f. klin. M. 1920, Bd. 131, S, 1. 






24 ' Die Therapie der 


der Technik durch Roger Korbsch^^) 
bietet, sofern einwandfrei destilliertes 
und sterilisiertes Wasser geliefert werden 
kann, diese Möglichkeit, allerdings auch 
hier nur für technisch gut ausgebildete 
und erfahrene Ärzte. Ich habe die be¬ 
gründete Zuversicht, daß durch früh¬ 
zeitige Anwendung der Infusionen man¬ 
cher Herzklappenfehler insbesondere in¬ 
folge von Gelenkrheumatismus^ und 
manche Siechtum herbeiführende''Herz¬ 
muskelschädigung vermieden ' werden 
kann. Eindringlich aber möchte ich vor 
Anwendung in der allgemeinen Praxis 
bei Herzkranken warnen, beziehungsweise 
meine Warnung wiederholen^^). Da ist 
fachärztliche Indikationsstellung und eine 
größere Erfahrung erforderlich, die sich 
nicht ohne weiteres übermitteln lassen. 
Eine nochmalige ausführliche Begründung 
dieser Stellungnahme gegen ambulante 
Behandlung behalte ich mir an anderem 
Orte vor. Hier sei außer auf das nach 
meiner Erfahrung nur selten auftretende 
Fieber auf die Möglichkeit zu großer Be¬ 
lastung eines gefährdeten und schwachen 
Herzens nicht nur durch die eingebrachte 
hochzentrierte Traubenzuckerlösung, son¬ 
dern durch das nach osmotischen Ge¬ 
setzen in die Blutbahn einstürzende Ge¬ 
webswasser bei Stauungszuständen und 
durch individuell gesteigerte Erregbar¬ 
keit der Gefäßnerven, ferner auf etwaige 
abnorme Durchlässigkeit der Gefäßwände 
bei Nephritis, bef schwerer Anämie und 
anderen Blutkrankheiten hingewiesen. 
Unter mehr als 8000 Infusionen habe ich 
etwa achtmal, meistensteils nicht kardial 
bedingtes Lungenödem auftreten sehen. 
Davon habe ich keinen Fall verloren. 

Wäre das Lungenödem kardial bedingt ge¬ 
wesen, so hätte die größere Hälfte der davon 
Betroffenen sich nicht nach wenigen Stunden 
wieder wohl und munter fühlen, sicherlich aber 
keine Spaziergänge beschwerdefrei machen können. 
Bei 47 Herzkranken wurden in diesem Jahre 
vor der Infusion Blutuntersuchungen vorgenom¬ 
men. In vier Fällen Wurde hochgradige sekundäre 
Anämie festgestellt, zwei davon bekamen nach 
Infusionen Lungenödem. Allerdings war in dem 
einen Fall zwei Tage vorher zwecks Beseitigung 

14) M. m. W. 1920, Heft 32, S. 936. 

12) Anm. des Herausgebers: Hier möchte 
ich meiner abweichenden Meinung Ausdruck geben. 
Ich kenne nicht wenig ärztliche Praktiker, welche 
durch ihre eingehende Beschäftigung mit Herz¬ 
kranken wohl imstande sind, die Indikation der 
intravenösen Traubenzuckerinfusion zu stellen 
und die Infusion selbst tadellos auszuführen. 
Auch sind die Bedingungen der häuslichen Pflege 
in vielen Fällen der Nachbehandlung nicht un¬ 
günstig. Ich möchte also das oft wertvolle 
Büd in gen sehe Verfahren der Privatpraxis der 
Ärzte nicht entzogen wissen. 


Gegenwart 1921 Janttap 


{ der Herzunregelmäßigkeit Chinidin g^eben 
worden, • und seit der letzten Infusion waren drei 
Tage vergangen. Immerhin legen diese zwei Fälle 
große Vorsicht bei schwerer Anämie nahe. 

Im Besitze der Erfahrung, die ich 
mir im Laufe der Jahre erworben habe, 
lassen sich derartige, immerhin denKran- 
ken .und seine Umgebung beunruhigende 
Ereignisse vermeiden, wenn man unge¬ 
eignete Fälle nach sorgfältiger Erhebung 
der Anamnese und nach gründlicher 
Untersuchung (röntgenologischer und 
Blutbefund, Blutdruckbestimmung, Elek¬ 
trokardiogramme usw. I) ausschließt und 
andere zweifelhafte Fälle durch herz¬ 
anregende oder beruhigende Mittel zweck¬ 
mäßig für die erste Infusion vorbereitet. 
In dieser Beziehung darf ich auf mein 
Buch und auf meine letzte Veröffent¬ 
lichung in der D. m. W.^®) verweisen.' 
Wenn die von mir angegebenen Vor¬ 
sichtsmaßregeln eingehalten werden, so 
darf ich im Hinblick auf die große Zahl 
der durch ihr Herzleiden schwer gefähr¬ 
deten Kranken, denen meine Trauben¬ 
zuckerinfusionskur zwar nicht immer 
Heilung, doch häufig Wiederherstellung 
der Arbeitsfähigkeit und Lebensfreude 
verschafft hat, gewiß sagen: Die Infusion 
i.st in-fachmännischer Hand ein ungefähr¬ 
licher Eingriff. 

Die Untersuchung und Behandlung 
zu infundierender Kranken muß Kliniken, 
Krankenanstalten und geeigneten Sana¬ 
torien Vorbehalten werden.* Letztere 
haben, sofern sie richtig geleitet sind, den 
anerkannten Vorzug größerer Erholungs¬ 
möglichkeit für chronisch Kranke. Die 
Anstaltsbehandlung sieht eine ihrer Haupt¬ 
aufgaben darin, vermeidbare seelische 
und nervöse Erregungen mit ihren Folgen 
für die Herzfunktion auszuschalten und 
führt deswegen eher Dauererfolge herbei, 
als die Infusionskur allein. Das Schick¬ 
sal der Herzkranken beruht weit weniger 
auf den organischen Veränderungen, wenn 
wir von den ein Weiterleben ausschließen¬ 
den Gewebszerstörungen absehen, als auf 
Störungen im Betrieb. In dieser Be¬ 
ziehung sind die beeinflußbaren Stö¬ 
rungen der Ernährung und der zum Teil 
eng damit verknüpften Seelen- und 
' Nerventätigkeit die wichtigsten. 

Neben den erwähnten Heilanzeigen 
für meine Behandlungsmethode kommen 
besonders auch Fälle mit Herzbeschwer¬ 
den nach Infektionskrankheiten in Be- 

^®) Grundzüge der Ernährungsstörungen des 
Herzmuskels (Kardiodystrophien) und ihrer Be¬ 
handlung mit Traubenzuckerinfusionen. D. m. 
W. 1919, Heft 3. 



Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


25 


tracht, die meist zu Unrecht als nervös an¬ 
gesehen werden. Je früher sie mit Trauben¬ 
zuckerinfusionen behandelt werden, um 
so rascher und besser sind die Erfolge, 
die ich in solchen Fällen, auch im Sinne 


der Vorbeugung ernsterer Herzleiden er¬ 
zielt habe. Es bedarf wohl keiner weiteren 
Betonung, daß Herzneurosen oder seelisch 
bedingte Herzbeschwerden anders be¬ 
handelt werden müssen. 


Repetitorium der chirurgischen Therapie. 

Von JÄ. Borchardt. 

Die Behandlung frischer Verletzungen. 

Von M. Borchardt und Ostrowski. 


Den Typus in der Behandlung frischer, 
akzidenteller Wunden stellen die Ver¬ 
letzungen des Schlachtfeldes und die 
gewerblichen Unfallverletzungen dar. Be¬ 
sonders die jüngsten Erfahrungen der 
.Kriegschirurgie haben unser Vorgehen 
bei der Versorgung frischer Wunden 
wesentlich beeinflußt. Hier sollen zu¬ 
nächst ihi wesentlichen die Unfallver- 
letzungen der Friedenschirurgie be¬ 
sprochen werden. Die Schußverletzungen 
werden in einem Sonderabschnitt für 
sich abzuhandeln sein. 

Es ist natürlich, daß gerade die Ex¬ 
tremitäten, als die funktionell am meisten 
beanspruchten Teile des Organismus, weit¬ 
aus. am häufigsten Verletzungen aus- 
gesetzt^^sind. Sie müssen deshalb bei 
einem Überblick über die Therapie frischer 
Wunden im Vordergrund stehen. Nach 
der Verschiedenheit der einwirkenden 
Gewalten sind wir gewohnt, drei Haupt¬ 
gruppen von Verletzungen zu unter¬ 
scheiden: 1. Verwundungen mit scharfen 
Instrumenten; 2. Quetschungen und 
3. Verwundungen größten Umfanges 
durch Zermalmung, Zerreißung oder 
Abriß ganzer Glieder, beziehungsweise 
von Teilen derselben. Als vierte Gruppe 
reihen sich an die Läsionen durch ther¬ 
mische Schädigungen (Erfrierungen und 
Verbrennungen). Pathologische Besonder¬ 
heiten ergeben sich — innerhalb dieser 
Gruppen so wenig, daß es zweckmäßig 
ist, die Behandlung dieser verschiedenen 
Verletzungsformerl zusammenfassend und 
mehr unter allgemeinen Gesichtspunkten 
darzustellen. 

1. Verletzungen durch scharfe 
Gewalt. 

Frische Schnittwunden, seien sie nun 
durch den glatten Schnitt von Hieb¬ 
waffen, Messern, Scheren oder durch 
Glas hervorgerufen, bieten insofern die 
günstigsten Aussichten auf glatte und. 
vollständige Heilung, als man sie prak¬ 
tisch zumeist als aseptisch ansehen kann, 


obwohl auch sie stets Bakterien ent-, 
halten. Kommen solche Wunden, frei 
von gröberen Schmutzteilen oder sonstigen 
Fremdkörpern, womöglich durch einen 
sauberen, aseptischen Verband abge¬ 
schlossen, zeitig genug, das heißt inner¬ 
halb der ersten sechs Stunden post 
trauma — nur dann haben sie den Cha¬ 
rakter frischer Verletzungen — in unsere 
Behandlung, so kann nach sorgfältiger 
Prüfung des Wundbettes die primäre 
Heilung durch die Naht oder durch Ver¬ 
kleben als das ideale Ziel angestrebt 
werden. 

Die Wundversorgung wird am besten 
in folgender Weise vorgenommen: Be¬ 
decken der Wunde mit einem kleinen 
Gazebausch, Rasieren der Umgebung in 
weitem Umkreise, Abreiben des fett¬ 
haltigen Schmutzes in der Nachbar¬ 
schaft mit Äther, Benzin oder Jodbenzin, 
Hautanstrich mit 5% Jodtinktur (10% 
gibt nicht selten Irritat'onen auf der Haut) 
oder Thymollösung, Abdecken der Wunde 
gegen ' die nicht gereinigte Umgebung. 
Die abdeckende Gazekompresse kann 
man zweckmäßig mit Mastix auf der 
Haut ankleben. 

Nach diesen Vorbereitungen folgt die 
Revision der Wunde. Zunächst gilt es, 
die Blutstillung auf das genaueste zu 
bewerkstelligen, damit sich nicht sekun¬ 
där Blutkoagula in der Wunde an¬ 
sammeln, welche die Haut abheben, 
prima Intentio verhindern und einen 
guten Nährboden für die Bakterien ab¬ 
geben, also die Infektion vorbereiten. 

Bei allen in die Tiefe gehenden Wun¬ 
den soll sich der Arzt Rechenschaft 
darüber geben, ob, beziehungsweise welche 
Muskeln, Nerven und Gefäße verletzt 
sein können. 

Oberflächliche, Uichtklaffende Schnitt¬ 
wunden werden einfach mit aseptischer 
Gaze bedeckt und diese mittels eines 
Verbandes oder mit Mastixlösung fest¬ 
gehalten. Die Mastixlösung wird mit 
einem kleinen Haarpinsel bis dicht an die 

4 





26 


Die Therapie der Gegenwart. 1921 


Januar 


Wundränder aufgepinselt. Sie dient 
nicht nur zur Fixierung der Verbände, 
sondern erfüllt noch die weitere sehr 
wichtige Aufgabe, daß sie die der Haut 
anheftenden Bakterien hindert, in die 
Wunde zu gelangen („Arretierung^* nach 
von Oettingen). Alle Manipulationen 
in der Wunde und ihrer Umgebung 
sollen, wenn' sie schmerzhaft sind, erst 
nach sorgfältiger lokaler Anästhesierung 
oder in kurzdauerndem Chloräthylrausch 
vorgenommen werden. 

Wunden, deren Ränder auseinander¬ 
klaffen, werden zweckmäßig durch einige 
in Abständen gelegte Nähte verkleinert. 
Statt durch Nähte kann man die Wund¬ 
ränder auch durch schmale .Mastix¬ 
streifen aneinanderbringeh und primäre 
Verklebung ohne Naht erzielen. Bleiben 
größere Buchten, in denen sich. Sekret 
ansammeln könnte, so ist es zweckmäßig 
durch kleine Gegenincisionen für wenige 
Tage einen Gazedocht hindurchzuziehen. 

Die weitere Behandlung ist abhängig 
von der Infektion. Wundschmerz, Tem¬ 
peratur- und Pulserhühung sind Zeichen 
der beginnenden Infektion. Auf Grund 
klinischer Erfahrungen im Kriege hat 
Schöne für en Eintritt der Infektion 
die. folgende Tabelle zusammengestellt: 

1. Akut endzündliche Symptome an 
der Wunde, sich äußernd in entzünd¬ 
licher Hyperämie nach 1%^, P/^, 3, 3 %, 
31 / 2 , 4, 51 / 2 , 6 / 2 , 714, 71 / 2 , 9 %, 10 % 
Stunden. 

2. Erste Eiterbildung nach 4, 6 ^, 
61 / 2 . Syz. 151/4 Stunden. 

3. Jauchung nach 8, 12, 13, 14,. 15%, ’ 
1 % Stunden. 

4. Gasphlegmone im Beginn nach i 
5, 5%, 6%, 7, 8, 10, 101 / 2 , 133%, 15, 
15%, 15%, 153 % Stunden. 

5. Ausgebrochene Gasphlegmonen mit 
Zeichen der Progredienz nach 3, 5, 6, 
7, 10, 11, 12, 13, 16, 16%, 19, 20, 20% 
Stunden. 

6. Infektion mit angezüchtetem Bak- 
terienmaterial: Beginn von retroperi- 
tonealen Phlegmonen nach Kolonschüssen: 
1. Nach 4%, 2. nach 43%, 3. nach 6%, 
4. nach 63%, 5. nach 83% Stunden. 

Die beste Prophylaxe gegen die Infek¬ 
tion ist die Ruhigstellung des verletzten 
Gliedes in Suspension und die Vermeidung 
starker Kompressionsverbände. Bei dem 
Auftreten der ersten Reizerscheinungen 
wird man ein oder mehrere Nähte lösen, 
schon verklebte Wundränder vorsichtig 
auseinanderdrängen, beim neuen Verband 
jeden Druck vermeiden, und wenn es sich 


um Extremitätsverletzungen handelt; die 
Glieder auf Schienen fixieren und sus¬ 
pendieren. 

Infizierte und infektionsverdächtige 
Wunden dürfen wir nicht durch die Naht 
schließen. 

Als infektionsverdächtige, oder als 
infizierte, unreine Wunden haben zu 
gelten, alle nicht mit scharfen Instru¬ 
menten gesetzten Verletzungen, also 
Quetsch-, Riß- und Platzwunden 
mit unregelmäßig zerrissenen, gequetsch¬ 
ten und unterminierten Hauträndern, 
mit offener oder bei kleiner Hautwunde 
größten Teiles subcutaner Zerreißung und 
Zerfetzung tieferer Gewebsschichten, 
Höhlen-, Taschen- und Gangbildung, so¬ 
wie Eröffnung von Gelenkhöhlen, Frei¬ 
legung, Periostentblößung oder Zer¬ 
trümmerung von Knochen und schlie߬ 
lich alle Wunden mit sichtbarer Ver¬ 
schmutzung, auch wenn sie frisch in 
unsere Behandlung kommen. 

Bei solchen Wunden stehen uns heute 
im wesentlichen zwei Methoden der 
Versorgung zur Verfügung; die erste, 
altbewährte und sichere, besteht darin, 
daß man die Wunde physikalisch so 
herrichtet, daß die der Infektion unaus- 
b leib li ch nachfolgenden Erscheinungen 
keinen Schaden stiften können; für die 
Wundsekrete und den sich bildenden 
Eiter müssen bequeme Abflußmöglich¬ 
keiten geschaffen -werden. 

Die Wunde muß mechanisch von 
grobem Schmutz gereinigt, gequetschte 
zum Absterben verurteilte Gewebsteile 
abgeschnitten werden, enge Wundkanäle 
sind zu • erweitern, aus langen Gängen 
flache Mulden zu bilden, alle Buchten 
und Taschen durch Anlegen von Gegen¬ 
incisionen gegen Sekretstockungen zu 
sichern. Nach exakter Blutstillung wer¬ 
den die Wunden, wenn die Blutung ge¬ 
stattet auf Kompression zu verzichten, 
lose mit steriler öder Jodoformgaze aus¬ 
gefüllt, in die Gegenincisionen Gaze, 
Gummi- oder Glasdrains eingelegt. 

War wegen unvollkommener Blut¬ 
stillung doch eine Kompression nötig, so 
tut man gut, schon nach 24 Stunden 
den fest sitzenden Verband [durch einen 
loseren zu ersetzen. 

Wir verzichten primärauf jegliche Naht, 
überlassen die Heilung der Wunde per 
secundam oder legen möglichst früh 
sekundär Nähte an. Ausnahmsweise im 
Gesicht kann man aus kosmetischen 
Gründen hier und da eine Situationsnaht 




Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


7 


anleg,en, die man beim ersten Eintreten 
von Infektionserscheinungen allerdings 
wieder entfernen muß. 

Wenn der wenig erfahrene Praktiker 
sich an diese Grundlagen hält, so wird 
er keinen Schaden stiften. 

Das zweite Verfahren besteht darin, 
daß man die infektionsverdächtigen Ge¬ 
webe ausschneidet und versucht, aus der 
infektionsverdächtigen eine aseptische 
Wunde zu machen: Dieses Verfahren 
knüpft sich an den Namen Friedrich. 
Es wird am ehesten Eftolg haben, je 
früher die Verletzten in unsere Behand¬ 
lung kommen. Es ist aber nach Kriegs¬ 
verletzungen vereinzelt auch noch 
24 Stunden nach dem. Trauma mit Erfolg 
angewendet worden. 

Es sollte eigentlich nur von erfahrenen 
Chirurgen angewendet werden. 

Das Verfahren besteht in dem sorg¬ 
fältigen Ausschneiden der ganzen Wünde 
1—2 mm vom Wundrande entfernt. 

Bei zerfetzten Hautwunden werden 
die Hautränder mit Hakenpinzetten ge¬ 
faßt und durch glatte Schnitte mit dem 
Messer oder der Schere abgetragen. Die 
hierzu verwendeten Instrumente werden 
beiseite gelegtaund durch frische ersetzt. 
Schicht für Schicht werden nun unter 
stetem Instrumentenwechsel zerrissene 
und nicht mehr lebensfähige Gewebsteile 
abgetragen, bis glatte Wundverhältnisse 
vorliegen. So kann es nötig werden, 
gequetschte Muskelstücke, ja Kapsel¬ 
teile eröffneter Gelenke herauszuschnei¬ 
den, um bis zum Grunde der Wunde 
aseptische zur Naht geeignete Gewebe 
zu schaffen. Die mechanische Wund¬ 
reinigung wird ergänzt durch die Ent¬ 
fernung der mit in die Wunde gerissenen 
Verunreinigungen (Holzsplitter, Stoff¬ 
fetzen, Geschoßstücke, Glassplitter, Erd- 
partkiel usw.) mittelst Pinzette und 
Tupfer. Blutko.agula werden durch Auf¬ 
drücken von Gazebäuschen beseitigt. 
Eventuell berieselt man das Wundbett 
mit warmer, steriler physiologischer Koch¬ 
salzlösung oder einer antiseptisch wir¬ 
kenden Lösung \2 bis 3%ige Borsäure¬ 
lösung, Solut. Hydrarg. oxycyanat. 
1:3000 bis 5000, Wasserstoffsuperoxyd, 
das durch Schaumbildung kleine Ge- 
websfetzen und Schmutzpartikel an die 
Oberfläche reißt. Von französischen 
Autoren wurde besonders die Carrel- 
Dakinsche Lösung empfohlen, die durch 
Chlor in statu nascendi bakterientötend 
wirkt. Die Carrel-Dakinsche Lösung 
wird folgendermaßen bereitet: 200 g 


Chlorkalk (mindestens 25% Chlorgehalt) 
werden mit Wasser fein verrieben, zehn 
Liter Wasser unter ständigem Umrühren 
hinzugefügt; dann werden 140 g Soda 
in gleichen Teilen Wasser gelöst, und der 
Chlorcalciumlösung zugesetzt. ■ Diese 
Mischung wird eine halbe Stunde lang 
gerührt und filtriert. 35 g Borsäure in 
200 g Wasser gelöst, und dann dem 
Filtrat soviel zugesetzt, bis mit Phenol- 
phthalin neutrale Reaktion oder bester 
noch durch Natr. bicarbonic. eine al¬ 
kalische Reaktion eintritt. Lösung im 
Dunkeln aufbewahren, höchstens acht 
Tage haltbar. (Fründ.) Wir selbst haben 
uns auf Grund klinischer und bakteriolo¬ 
gischer Untersuchung nicht von den viel 
gepriesenen Vorteilen der Carrel-Dakin- 
schen Flüssigkeit überzeugen können. 
Es kommt weniger auf die Art der Flüssig¬ 
keit an, die man verwendet, als auf die 
Sorgfalt, die man sonst der Wundbe¬ 
handlung widmet. 

In einem großen Teil der Fälle kann 
man nach diesem Verfahren behandelte 
Wunden noch durch primäre Naht ganz 
oder wenigstens zum größten Teile durch 
die Naht schließen, indem man zusammen¬ 
gehörige Schichten exakt miteinander 
vereinigt. Ein Drain oder Gazedocht 
kann, für einige Tage bis an den tiefsten 
Punkt der Wunde geführt, als Sicherheits¬ 
ventil für sich ansammelndes Wund¬ 
sekret von Nutzen sein. tes. Ist die Wund¬ 
toilette trotz aller Rigorosität unbefrie¬ 
digend, so bleibt die Wunde, locker mit 
Gaze ausgefüllt, am besten offen. Zeigen 
sich nach einigen Tagen keine Anzeichen 
einer Infektion, so kann man immer 
noch mit gutem Erfolge die Sekundär¬ 
naht ausführen oder durch quer über 
die Wunde gespannte Heftpflaster- oder 
Mastixstreifen eine schnelle Verklebung 
der Wundflächen zu erreichen suchen. 

Schon die Wundausschneidung nach 
Friedrich dient im wesentlichen der 
Prophylaxe gegen die Infektion frischer 
Wunden. Sie eliminiert durch radikale 
mechanische Maßnahmen innerhalb der 
ersten Stunden nach dem Trauma etwa 
in die Wunde eingedrungene Keime, Seit 
dem Kri ege verfügen wir ab er auch noch üb er 
ein wirksames Verfahren der chemisch¬ 
antiseptischen Wundprophylaxe. Das 
von Morgenroth dargestellte Chinin¬ 
derivat Vuzin (Isoetylhydrocuprein) hat 
eine so hochgradige, baktericide Kraft, 
daß es im Reagenzglas die Hauptinfektions¬ 
erreger (Streptokokken und Staphylo¬ 
kokken) noch in Verdünnungen von 





28 Die Therapie der Gegenwart 1921 Januar 


1:80000 abtötet. Eiweißhaltige Medien, 
also auch die Gewebe, schwächen diese 
Wirkung nur wenig ab. Andererseits 
erleiden die menschlichen Gewebe im 
Kontakt mit dem Mittel bei wirksamer 
und nicht zu starker Konzentration des¬ 
selben keine Schädigung. . Klapp zog 
daraus die Konsequenz und begründete 
das tief en-antiseptische Verfahren der 
Wundprophylaxe. 

Die Umgebung frischer Wunden wird, 
ob infektionsverdächtig oder nicht, wird 
mit Vuzinlösungen verschiedener Konzen¬ 
tration sorgfältig ganz nach Art der Infil¬ 
trationsanästhesie-um- und durchspritzt, 
bis die Wunde selbst durch einen Wall von 
antiseptischer Flüssigkeit von der Um¬ 
gebung abgeschlossen ist. Bei Extremi¬ 
tätenwunden ist unter Umständen eine 
totale Querschnittsdurchspritzung er¬ 
forderlich.Die Durchschnittskonzentration 
des Vuzins für die Gewebsdurchspritzung 
beträgt. 1:1000. Nur zur Füllung trau¬ 
matisch eröffneter Gelenke werden stär¬ 
kere Konzentrationen bis zu 1:500 bis 
300 verwendet. Nach der Füllung ist eine 
Abdichtung der Gelenke erforderlich. Da 
Vuzin die Gewebe reizt und Schmerzen 
hervorruft, ist ein Zusatz von Novocain 
im Verhältnis 0,5/100,0 Vuzinlösung 
zweckmäßig. Die Anwesenheit von 
Suprarenin hat die gleiche verstärkende 
und verlängernde Wirkung wie bei der 
lokalen Anästhesie. Wir erreichen da¬ 
durch als erwünschte Nebenwirkung eine 
für die notwendigen chirurgischen Ma߬ 
nahmen hinreichende Anästhesie und 
durch sie zugleich eine Kontrolle darüber, 
ob die antiseptische Lösung überallhin 
gedrungen ist. Mit Hilfe dieses Ver- 
f^ahrens,,der verstärkten Wundantisepsis“ 
sind wir in der Lage, noch eine große 
Anzahl infektionsverdächtiger Wunden 
ohne Gefahr per primam durch Naht 
zu schließen. Auch hier ist freilich die 
Erfahrung in der Wundbehandlung aus¬ 
schlaggebend und nicht die blinde Regel. 
Auch offen bleibenden Wunden können 
wir durch die Vuzintiefenantiseptis neben 
den sonstigen gegen die Infektion ge¬ 
richteten Maßnahmen wirksamen Schutz 
verleihen. 

Im weiteren Heilverlauf unterscheiden 
sich ,,vuzinierte“ Wunden von nicht 
tiefen-antiseptisch vorbehandelten da¬ 
durch, daß die genähten Wunden in 
den ersten Tagen Zeichen der Reizung 
(En tzündlicheSchwellung, Durchschneiden 
der Nähte, Fieber) und weiterhin eine 
weniger feste Wundränderverklebung 


zeigen. Bei offen gelassenen, vuzinierten 
Wunden fällt auf, daß in den ersten 
Tagen jede Sekretion fehlt; Nur eine, 
im Sinne eines rückläufigen, die Ge¬ 
webe reinigenden Lymphstromes wir- 
.kende . wässerige Absonderung (ausge¬ 
schwemmte Vuzinlösung) wird beobachtet. 
Die prophylaktische Vuzintiefenanti- 
sepsis, die auch in unserer Klinik bei/ 
allen größeren frischen Verletzungen mit 
gutem Erfolge angewendet wird,' kann 
allein oder in Verbindung mit der Wund- 
excision nach T^riedrich zur Zeit wohl 
als die wirksamste Wundprophylaxe 
gelten. 

Einer besonders vorsichtigen Behand¬ 
lung bedürfen Stichwunden. Bei ihnen 
ist besonders sorgfältig auf etwaige Ver¬ 
letzung von Muskeln, Nerven, Gefäßen, 
Knochen und Gelenken zu untersuchen. 
Zur besseren Übersicht über die in der 
Tiefe angerichteten etwaigen Nebenver¬ 
letzungen ist die Spaltung des Wundr 
ganges nötig. Die Versorgung aller dieser 
Nebenverletzungen hat zu folgen. Glatte 
Messerstiche machen die Infektionsgefahr 
weniger dringlich als z. B. die häufige 
Verletzung durch rostige Nägel. Solche 
Wundgänge sind breit zu spalten, dann 
locker mit Gaze zu füllen und offen zu 
halten. Radikaler ist die Ausschneidung 
des ganzen Wundganges mit Kombination 
der verstärkten Tiefenantisepsis. Jedoch 
sollte nur der Erfahrene sich auf dieses 
Verfahren einlassen. 

Bei der Behandlung der Lappen¬ 
wunden, Skalpierüngen und Schin¬ 
dungen ist Obacht darauf zu geben, ob 
die Ursache der Verletzung ein glatter, 
schräg oder tangential gerichteter Schnitt 
oder eine stumpfe Gewalt (Überfahrung 
oder Maschinenverletzung) war. Im 
ersten Falle führt nach Anfrischung der 
Wundränder und sorgfältiger Blutstillung 
die Einpassung des Lappens in den Defekt 
und seine lockere Fixierung durch einige 
Knopfnähte zur Einheilung, Je schmaler 
die den Lappen ernährende Hautbrücke 
ist, je schwächer die Blutung aus seinen 
Wundrändern ist, desto ungünstiger sind 
die Aussichten auf seine Erhaltung. 
Die Kopf- und Gesichtshaut ist besonders 
reichlich mit Blutgefäßen versorgt. Lap¬ 
pen mit schmaler Basis können glatt ein¬ 
heilen, wenn eine Situationsnaht sie in 
richtiger Stellung fixiert. Deshalb können 
auch Skalpierungsverletzungen bei Ab¬ 
lösung fast der ganzen Kopfhaut nach 
guter Blutstillung, sorgfältiger Einfügung 
des losgelösten Lappens restlos heilen, 




Januar 


Dk Therapie der Gegenwart 1921 


29 


wenn man sie in den Defekt zurück¬ 
lagert und für Abfluß der Sekrete sorgt. 
Infolge von Mangel an Deckungsmaterial 
restierende Lücken werden sofort mit 
Thierschlappen oder besser durch plasti¬ 
sche Hautverschiebungen an Ort und 
Stelle gedeckt. Ein gleichmäßiger Ver¬ 
band ohne nennenswerten Druck bewirkt 
ein glattes, möglichst faltenloses Anliegen 
des Lappens auf seiner Unterlage. 

Die Besprechung der Therapie der 
Schindungen, d. h. großer traumatischer 
Hautdefekte, fällt zusammen mit der Be¬ 
sprechung der plastischen Operationen, 
die in einem besonderen Abschnitt be¬ 
handelt werden sollen. 

Bei allen mit unsauberen Gegen¬ 
ständen gesetzten, zerklüfteten und ver¬ 
unreinigten Wunden müssen wir — be¬ 
sonders bei Verunreinigung mit Pulver¬ 
schleim, Sprengstücken, Erde und Holz¬ 
teilen, Stoffetzen usw. —an die ernste Ge¬ 
fahr einer drohenden Tetanusinfektion 
denken. Die Kriegserfahrung hat gelehrt, 
daß der Schwerpunkt der Tetanusbehand¬ 
lung in der Prophylaxe der Wund¬ 
behandlung liegt. Die subcutane oder 
intramuskuläre Injektion von 20 A.E. 
Tetanusantitoxin, am besten in die Nähe 
der verdächtigen Wunde, gewährt einen 
einigermaßen hohen Schutz neben der 
chirurgischen Versorgung der Wunde. 
Warten wir ab, bis die ersten Zeichen der 
Tetanusinfektion auftreten, so kommt 
in vielen Fällen die Serumtherapie zu 
spät. Die Unterlassung der prophylak¬ 
tischen Seruminjektion bei verdächtigen 
Wunden ist demnach ein grober Kunst¬ 


fehler. Lieber eine Injektion zu viel und 
unnötig, als eine zu wenig! 

Mehr noch als bei den inkomplizierten, 
frischen Verletzungen, ist bei den infek¬ 
tionsverdächtigen und infizierten Wunden 
die Ruhigstellung des verletzten Körper¬ 
teiles unbedingt geboten. Durch Aus¬ 
schaltung des Muskelspieles schließen wir 
einen Hauptfaktor für die Weiterver¬ 
breitung etwa eingedrungener Keime aus. 

Bei Verdacht auf besonders maligne 
Infektion (z. B. Anärobininfektion — 
Gasbrand —) kann es von Nutzen sein, 
die Wunde zur ständigen Kontrolle dem 
Auge zugänglich zu. erhalten. Das er¬ 
reichen wir durch die offene Wund¬ 
behandlung. Zunächst erfolgt die Wund¬ 
versorgung nach den oben gegebenen 
Grundsätzen. Dann aber unterbleibt 
jeder abschließende Verband (als Fremd¬ 
körper für die Wunde). Durch geeignete 
Lagerung des verletzten Körperteiles ist 
dafür gesorgt, daß die Wunde frei liegt 
und ihre Sekrete, sofern sie nicht schnell 
.eintrocknen, ungehinderten Abfluß haben. 
Ein korbartiger Drahtbügel, von einem 
Gazeschleier umhüllt, schützt den ver¬ 
letzten Teil vor dem Kontakt mit der 
Umgebung. So wird jede Sekretstauung 
vermieden, jede Veränderung des Gewebes 
sofort sichtbar und durch die Lufttrock¬ 
nung den in die Wunde eingeschleppten 
Keimen der Nährboden entzogen. 

Als Lagerungsapparat für offene Wund¬ 
behandlung eignen sich besonders die 
einfachen Braunschen Schienen. 


Die Wundinfektion wird' in einem be¬ 
sonderen Kapitel behandelt. 


Repetitorium der inneren Therapie. 

Behandlung der Leberkrankheiten. 

Von G. Klemperer. 


1. Allgemeines. Die Prophylaxe der i 
Leberkrankheiten deckt sich im all¬ 
gemeinen mit der Verhütung der Magen- 
und Darmkrankheiten, denn wenn der 
Verdauungsapparat ganz normal fungiert 
und frei ist von Infektionen, so fehlen 
viele mechanische und bakteritische Vor- 
b ed i n gun gen für Leb ererkrankungen. 

Neben der diätetischen Prophylaxe wird 
man die allgemein-hygienische in den 
Vordergrund rücken, weil regelmäßige 
Körperbewegung,' tiefe Atmung und ge¬ 
sundheitsgemäße Kleidung auch gute 
Circulationsverhältnisse in der Leber be¬ 
fördert und damit die Verlangsamung 


der Gallenströmung und deren Folgen^ 
Infektion und Steinbildung, verhindert- 
Kausale Therapie kommt nur bei den 
nicht seltenen Erkrankungen luetischen 
Ursprungs in Betracht; bei den auf 
Giftwirkung, z. B’. dem Alkohol, beruhen¬ 
den Erkrankungen kann die Fernhaltung 
weiterer Giftzufuhr heilsam wirken. Im 
übrigen ist zu bedenken, daß die Leber¬ 
krankheiten nur selten und eigentlich 
nur in hoffnungslosen Stadien den Zell¬ 
bestand angreifen und die lebenswichtige 
Funktion der Leberzellen stören, viel¬ 
mehr vor allem in Blutgefäßen und Gallen¬ 
wegen sich abspielen oder ihren Ursprung 





30 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Januar 


nehmen. Also verfolgt auch die Therapie 
der Leberkrankheiten mehr mechanische 
als biochemische Ziele. Hauptstreben ist 
Förderung der Circulat'on, des portalen 
und arteriellen Blutzuflusses und Erleich¬ 
terung des Abstroms zur unteren Hohl¬ 
ader, Unterstützung des freien Gallen¬ 
abflusses in den Darm, daneben Ver¬ 
hütung von Galleninfektion. Nur durch 
diese indirekten Einwirkungen suchen 
wir die ‘ specifische Arbeit der Leber¬ 
zellen, insbesondere die Gallenb'^reitung, 
in quantitativer und qualitativer Wese 
zu beeinflussen. Diese bescheidenen Auf¬ 
gaben werden zum großen Teil durch 
d e Sorge für Gesundhaltung des Magen¬ 
darmkanals erfüllt; wenn die normale 
.Verdauung befördert, sowie katarrha¬ 
lische Prozesse des Verdauungstraktus 
beseitigt werden, so wird einerseits die 
Pfortadercirculation befördert, anderer¬ 
seits der Fortschritt entzündlicher Schwel¬ 
lung vom Duodenum auf die Schleim¬ 
haut der Gallenwege verhindert und 

also der Gallenabfluß freigemacht; das 
freie Strömen der Galle ist auch das 
beste Mittel gegen das Eindringen der 
Darmbakterien in die Gallenwege. So 
deckt sich die Diätetik der Leberkrank¬ 
heiten zum großen Teil mit der des sub¬ 
akuten und chronischen Magenkatarrhs. 
Aus dem bekannten Enthaltungspro¬ 

gramm (vgl. 1919 S. 307) tritt besonders 
der Verzicht auf Gewürze und Alkoholika 
hervor, wegen deren Wirkung auf die 
Hyperämisierung der Magendarmschleim¬ 
haut, ferner bei vollkommenem Galleab¬ 
schluß vom Darm die Fernhaltung aller 
Fette wegen deren fast absoluter Unver- 
daul’chkeit ohne Galle (und Pankreas¬ 

saft). ln manchen Kategorien von Leber¬ 
krankheiten kann die Schonung des 
Magens durch eine gewisse Übung ab¬ 
gelöst werden, wenn es darauf ankommt, 
die Gallenabsche'dung anzuregen, da, 
wenigstens beim Gesunden, d'e Magenver¬ 
dauung den adäquaten Reiz für Leber¬ 
zellenarbeit, also ein physiolog'sches 
Cholagogum darstellt. Es ist Sache des 
speziellen Heilplans, festzustellen, wie 
weit der Zustand des Verdauungsappa¬ 
rates eine ergiebige Nahrungszufuhr ge¬ 
stattet, wenn sie durch die Rücksicht auf 
die zu fördernde Gallenabscheidung oder 
auf den gesamten Ernährungszustand 
erwünscht erscheint. Einfacher liegen die 
Verhältnisse in bezug auf die Flüss'gkeits- 
zufuhr, welche wohl in allen Leberkrank¬ 
heiten in regelmäßigem und reichlichem 
Maße erwünscht erscheint, da durch die¬ 


selbe eine verstärkte Absonderung ver¬ 
dünnter Galle in Gang gebracht wird; zum 
Getränk gesellt sich die rectale Flüssig¬ 
keitszufuhr durch Darmeinläufe, welche bei 
allen Leberkranken erwünscht sind. Eine 
Flüss’gkeitsbeschränkung dürfte wohl nur 
bei allgemeiner Fettleibigkeit mit hyper- 
ämischer Leberschwellung und bei Ascites 
in Frage kommen. Die von der Wasser¬ 
zufuhr erwartete Anregung der Qallen- 
sekretion wird durch höhere Temperatur 
des Getränks, sowie den Gehalt an ge¬ 
wissen Mineralbestandteilen vermehrt; 
so gTt besonders heißes Karlsbader Quell¬ 
wasser n’cht nur wegen der guten Wir- 
küng auf Magendarmfunktion, sondern 
auch wegen einer hypothetischen Be¬ 
ziehung zur Zellfunktion der Leber als 
Unterstützungsm'ttel jeder Lebertherapie. 
Auch eine Anzahl von Medikamenten 
erfreut s'ch gleicher Wertschätzung, die 
freil’ch weder allgemein anerkannt noch 
genügend begründet ist; kleine Dosen 
Kalomel gelten besonders als Stimulanzen 
der Leberzellen. Wenn die Diätetik mehr 
indirekte, d e medikamentöse Behandlung 
nur uns'chere Wirkung m hat, so dürfen 
wir der physikalischen Behandlung 
d'rekte und sichere, wenn auch nicht all¬ 
zu kräftige Wirkung erwarten. Bettruhe 
und lokale Wärmezufuhr durch Um¬ 
schläge beziehungsweise Wärmekissen, in 
manchen Fällen vorsichtige Massage, 
unterstützen durch lokale Hyperämisie¬ 
rung und Beförderung der Gallenströmung 
das natürliche Heilbestreben; starke Hitze¬ 
zufuhr wirkt schmerzstillend, unter Um¬ 
ständen krampflösend. Die operative 
Therapie tritt in die erste Linie, wenn es 
gTt, Folgen der Infektion zu beseitigen 
oder Konkremente zu entfernen, mit 
welchen die innere Behandlung nicht 
fertig werden kann. 

Leberschwellung. Die hochgradige 
Schwellung der Leber, welche zu unbe¬ 
quemen und schmerzhaften Gefühlen im 
rechten Hypochondrium Veranlassun g 
gißt und gewöhnl ch mit Verdauungs¬ 
beschwerden, oft auch mit allgemeinen 
Unlustgefühlen einhergeht, wird oft zum 
Gegenstand ärztlicher Beratung gemacht, 
obwohl sie meist nur eine Teilerscheinung 
eines umfassenden Krankheitsbildes ist. 
Immerh’n verdient die ,,Leberanschop¬ 
pung“ eine gesonderte therapeutische Er¬ 
wähnung, sei es auch nur um klar zu 
machen, daß d'e Behandlung erst nach 
Feststellung der Ursache einsetzen kann. 
Handelt es sich nur um Blutüberfüllung, 
und zwar um aktive Hyperämie, wie sie 





Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


31 


5ichbei schwelgerischem Lebenswandel der 
Vielesser und Trinker entwickelt, so be¬ 
steht die Behandlung in den Verordnun¬ 
gen, die wir bei Fettleibigkeit geben, 
mäßig zu essen und zu trinken, Alkohol 
zu meiden, sich viel im Freien zu be¬ 
wegen; mit Vorteil werden die hygienisch¬ 
diätetischen Kuren in geeigneten Bade¬ 
orten (Kissingen, Karlsbad, Marienbad) 
ausgeführt und durch Brunnentrinken 
unterstützt. Ist die Hyperämie der Leber 
eine passive, durch mangelhafte Saug¬ 
kraft des erkrankten Herzens bedingt, so 
wird die Leberschwellung durch Herz¬ 
therapie zum Schwinden gebracht. Ist 
die Blutüberfüllung teils aktiv teils passiv 
verursacht, wie es bei sitzender Lebens¬ 
weise der Stubengelehrten der Fall ist, 
so erweist sich die hygienische Beein¬ 
flussung der Lebensgewohnheiten, Ver¬ 
ordnung von Gymnastik und eventuell 
Massage, dazu die Behandlung der oft 
vorhandenen Verdauungs- und Hämor- 
rhoidalstörungen, als heilsam. Aber 
außer der einfachen Hyperämie können 
Infiltrationen, Hypertrophien oder Hyper¬ 
plasien zur Leberschwellung führen. Man 
muß die ganze spezielle und die Leber¬ 
pathologie genügend beherrschen, um zu 
wissen, ob es sich um Fettinfiltration, 
um hypertrophische Lebercirrhose, um 
Leberlues oder Lebercarcinom oder Amy¬ 
loid oder Leukämie oder auch um Gallen- 
^stauung aus verschiedenen Ursachen han¬ 
delt. In zweifelhaften Fällen wird eine 
abwartende Therapie sich auf allgemeine 
Pflege, vorsichtige Ernährung, lokale 
Wärmezufuhr, gelegentliche Verordnung 
von Stomachicis oder Abführmitteln be¬ 
schränken; eine zielbewußte Behandlung 
der Leberschwellung ist erst nach Fest¬ 
stellung ihrer Ursache und Emord- 
nung in eins der folgenden Krankheits¬ 
bilder oder Diagnose einer Allgemein¬ 
erkrankung iröglicb. 

Einfache (katarrhalische) Gelbsucht. 
Aufgabe der Behandlung ist d’e Beseiti¬ 
gung der entzündlichen Schwellung der 
Magendarmschleimhaut, deren Übergang 
auf den ductus choledochus zu dessen 
VerschTeßung und also zum Abschluß 
der Galle vom Darm, in der Folge zum 
Übertritt der Galle ins Blut geführt hat. 
Die Grundsätze der Behandlung decken 
sich also mitdenen derTherapie der akuten 
Gastritis und bestehen in Bettruhe, lokaler 
Wärmezufuhr und flüssiger sehr enthalt¬ 
samer, wässerig-brei’ger Diät, damit der 
Reizzustand der Magendarmschleimhaut 
sich schnell ausgleiche. Auch in den sel¬ 


teneren Fällen, in welchen die ,,Cholangie“ 
auf primärer Entzündung der Gallenwege 
beruht, besteht die Behandlung im wesent¬ 
lichen in weitgehender Schonung des Ver¬ 
dauungsapparats. Der ikterische Pa¬ 
tient soll in jedem Fall zu Bett liegen, 
wozu er bei leidlichem Allgemeinbefinden 
und drängenden Berufspflichten nicht 
immer leicht zu bewegen ist; dann ist 
an die nie auszuschließende Gefahr ernster 
Wendung zu schwerster Erkrankung zu 
erinnern. Die Lebergegend sei immer 
von warmem feuchten Umschlag oder 
Kataplasma oder Thermophor bedeckt, 
über N'^cht wird ein Prießnitzumschlag 
angelegt. In den ersten Krankheitstagen 
soll der Patient möglichst inhaltarme 
Nahrung bekommen, in etwa dreistünd¬ 
lichen Zwischenräumen dünnen Tee mit 
Zwieback, dünne Mehlsuppen ohne Butter, 
allenfalls mit etwas Fleischextrakt be¬ 
reitet, als erstes Frühgetränk ein Glas Karls¬ 
bader Mühlbrunnen, sonst abgestandenes 
Mineralwasser, auch ein bis zwe’ Glas ver¬ 
dünnten Rotwein, Gesamtflüssigkeits¬ 
menge etwa zwei LiteV. Nach drei bis vier 
Tagen Zulagen von Weißbrot, Kartoffel¬ 
püree, Griesbrei, weichgekochtem Reis, 
Apfelmus, nach weiteren drei Tagen kleine 
Portionen von weißem Fleisch, magerem 
Fisch, leichtem purriertem Gemüse (Spi¬ 
nat, Blumenkohl, Mohrrüben). Je lichter 
die Haut, je farbhaltiger der Stuhl, 
je heller der Urin wird, desto besser kann 
die Ernährung werden, desto mehr darf 
sie Butter und Eier enthalten. Während 
des ganzen Bestehens der Gelbsucht ist 
für regelmäß’'ge Stuhlentleerung zu sorgen; 
doch wende man das besonders beliebte 
Karlsbader Salz keineswegs täglTh an, 
da es leicht reizend wirkt, sondern gebe 
Tag für Tag Darmeinläufe von cfreiv’ertel 
Liter zuerst lauen, allmählich kälteren 
Wassers, wodurch n’cht nur mit der Be¬ 
förderung der Darmperistaltik Zusammen¬ 
ziehungen des Ductus choledochus an¬ 
geregt, sondern auch mit einer Bewässe¬ 
rung der Leber augenscheml’ch eine Ver¬ 
dünnung und Strömungserle'chterung der 
Galle erzielt wird. Regelmäßige Darm- 
eing'eßungen dürfen als d’rekte Behand¬ 
lungsmittel bei katarrhalischem Ikterus 
angesprochen werden. 

Ehie med’kamentöse Behandlung ist 
ke'neswegs notwendig; gewöhnlich kehrt 
die gestörte Magenfunktion ohne beson¬ 
dere NachhTfe zur Norm zurück; doch 
kann man verdünnte Salzsäure (15—20 
Tropfen nach der Mahlzeit) oder Mixtura 
Pepsini f. m. zweistündlich einen Eßlöffel 



32 


Die Therapie der Gegenwart 1Q21 


Januar 


oder auch, namentlich bei starker Ver¬ 
stopfunggelegentlich Infucum Rhei.f. m.i) 
zweistündlich einen Eßlöffel geben; auch 
Karlsbader Salz ist zeitweise erlaubt. 
Die Verordnung galletreibender Mittel 
ist bei einfachem Ikterus überflüssig. 

Symptomatische Behandlung erheischt das 
oft sehr quälende Jucken. In leichten Fällen 
genügt Einsalben der Haut mit 2 % Menthol 
oder 10 % Anästhesinsalben, oder Abreiben mit 
Franzbranntwein oder Mentholspiritus oder Essig¬ 
wasser. Für einige Stunden hilft eine einmalige 
Gabe von 1 g Antipyrin oder 0,3 Pyramiden oder 
dgl. Sehr angenehm sind laue Bäder mit Kleie¬ 
zusatz (ein Beutel mit Kleie wird im Badewasser 
ausgepreßt) oder mit Zusatz von Bolus alba (500 g 
in ein Bad aufgeschlemmt) oder mit Zusatz von 
Kaliumpermanganat (bis zur schwachroten Farbe 
des Bades. In ganz schweren Fällen macht die 
Unstillbarkeit und Unerträglichkeit des Juckens 
Morphiuminjektion insbesondere für die Nacht 
notwendig. 

Bei gutem Verlauf, wie ihn die über¬ 
wiegende Mehrzahl der Fälle innehält, 
schwindet die Gelbfärbung der Haut 
und Schleimhäute in zwei bis sechs 
Wochen. • Der Patient soll erst aufstehen, 
w,enn er ganz licht geworden ist. Der 
Übergang in normale Lebens- und Er¬ 
nährungsverhältnisse geschehe allmäh¬ 
lich, unter Berücksichtigung der indivi¬ 
duellen Verhältnisse, nicht' anders wie 
in der Rekonvaleszenz nach akuten In¬ 
fektionskrankheiten. 

Chronische Gelbsucht. Wenn an¬ 
scheinend einfache Gelbsucht unter sach¬ 
gemäßer Pflege nicht in längstens zwei 
Monaten zur Heilung führt, so ergeben 
sich die Anzeigen der weiteren Behandlung 
aus diagnoslisch-ätiologischen Erwägun¬ 
gen. Am naheliegendsten ist der Gedanke, 
ob es sich wohl um eine sekundär-syphili¬ 
tische Manifestation im Ductus chole- 
dochus, sei es diffuse entzündliche Schwel¬ 
lung oder Papelbildung handele. Liegen 
sonstige Sekundärerscheinungen vor oder 
ist eine specifische Infektion vor Wochen 
oder Monaten nachgewiesen, oder ist 
wenigstens die Wassermannprobe positiv, 
so zögere man nicht mit systematischer 
Hg-Behandlung, die oft in zwei bis drei 
Wochen zur vollkommenen Heilung führt. 
Freilich bedeutet positiver Wassermann 
ncch keineswegs, daß ein bestehender 
Ikterus luetischen Ursprungs ist; so bleibt 
die specifische Kur auch oft ergebnislos. 
In diesem Falle handelt es sich seltener¬ 
weise um chronische Cholangie, gegen 
welche kausale Heilverfahren nicht mög- 

h Inf. Rhizom. Rhei 8,0 :175,0 
Natr. bicarbon. 10,0 
Ol. Menth, piperit. gtt. IV 
Sir. simpl. ad 200,0 


h‘ch sind. Die Regeln der Ruhe und 
Schonung sind fortzusetzen wie beim 
einfachen Ikterus, nur daß die Diät 
reichhaltiger, nicht ganz salz- und fettarm 
zu halten ist. Bei der langen Dauer der 
Krankheit ist eben auf die Erhaltung der 
Kräfte entscheidender Wert zu legen. Die 
,,chalogogen“ Medikamente spielen eine 
größere- Rolle. Empfehlenswert ist Ka- 
lomel, fünfmal täglich 0,01 g, im ganzen 
30 Pulver oder Pillen; außerdem gibt man 
gelegentlich Natron salicylicum (6 : 200,0 
dreistündlich einen Eßlöffel) oder auch 
nach altem Brauche, der neuerdings 
experimentell gestützt ist, Ochsengalle 
(Fel tauri depur. sicc. in Pillen zu 0,1, 
drei bis vier Stück täglich) beziehungs¬ 
weise Natrium choleinicum in gleichen 
Dosen. Von Zeit zu Zeit läßt man von 
Karlsbader Mühlbrunnen zwei bis drei 
Glas täglich trinken, oder schickt die 
Patienten, sofern ^e reisefähig sind, zu 
systematischer Trinkkur nach Karlsbad. 
Es sind Fälle bekannt und theoretisch 
verständlich, in welchen nach vielmona- 
tiger Dauer des Ikterus doch noch voll¬ 
kommene Rückbildungeintrat. Die Regel 
aber ist, daß trotz aller Bemühung unter 
zunehmender Erschöpfung, oft unter den 
Erscheinungen hämorrhag scher Diathese, 
nach zwei bis drei Jahren das tödliche 
Ende eintritt. Während des chronischen 
Verlaufes hat man sich immer wieder die 
Frage vorzulegen, ob wohl ein chirurgi¬ 
scher Eingriff helfen könne. Derselbe 
kommt vor allem bei Verschluß des Chöle- 
dochus durch Gallenstein in Frage, wel¬ 
cher nicht in jedem Fall zu Schmerz¬ 
erscheinungen führen muß. Auch bei 
unsicherem Symptomenbild wird man die 
Probelaparatomie wagen, die bei even¬ 
tuellem Verschlußstein, aber auch in den 
seltenen Fällen isolierter Geschwulstbil¬ 
dung unlernoirmen werden kann. Der 
chirurgische Eingriff kann auch auf den 
Gedanken gestützt werden, daß der Ikte¬ 
rus auf einer chronischen Infektion der 
Gallenwege beruht; hier kann Anlegung 
einer Gallenfistel gewissermaßen durch 
Drainierung und Reinigung des infizierten 
Gefäßgebietes einen Umschwung bewir¬ 
ken. In anscheinend verlorenen Fällen 
von chronischem Ikterus halte ich die 
zeitweise Anlegung einer Gallenfistel für 
erlaubt und empfehlenswert. Bei allen 
Operationen lange ikterischer Patienten 
ist längere Zeit vor dem Eingriff die 
hämorrhagiL-che Diathese durch Darrei¬ 
chung von Kalksalzen und Koagulen zu 
bekämpfen. 




Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


33 


Lebercirrhose. Bei der sogenannten 
hypertrophischen Lebercirrhose, hoch¬ 
gradiger Leberschwellung mit allmählich 
nachlassenden Körperkräften, meist mit 
Ikterus, oft mit gelegentlichen Fieber¬ 
attacken einhergehend, beschränkt sich die 
Therapie auf die allgemeinen Grundsätze 
der Pflege, Schonung und Ernährung; 
medikamentös erfreut sich Kalomel be¬ 
sonderen Vertrauens, aber auch andere 
Stomachica und Cholagoga dürfen ge¬ 
legentlich angewandt werden. Karlsbader 
Trinkkur ist empfehlenswert. Wenn fort- ' 
schreitende Kräfteabnahme einen Übeln 
Ausgang ankündigt, ist man berechtigt, 
aus den eben entwickelten Gründen eine 
Probelaparatomie und eventuell eine- Ab¬ 
leitung der Galle nach außen vorzuneh¬ 
men, Bei der atrophischen Leber¬ 
cirrhose kommt es zuerst darauf an, die 
Ursache festzustellen, um durch deren 
Beseitigung einen Fortschritt des chroni¬ 
schen bindegewebsbildenden Prozesses in 
der Leber aufzuhalten. So kann bei 
alkoholistischer Cirrhose im Frühstadium 
durch absolute Alkoholabstinenz ein Still¬ 
stand und relative Heilung erzielt werden, 
ebenso wie bei luetischer Cirrhose durch 
energische Quecksilberkur. Ist die Ur¬ 
sache, wie so oft, nicht sicher festzu¬ 
stellen, so sucht man sie in Giftwirkungen, 
die vom Darm ausgehen, und wirkt diesen 
durch systematisches Abführen oder durch 
häufige Darreichung von Adsorbentien, 
wie Tierkohle oder Bolus alba (1920, 
S. 338) entgegen. Im übrigen behandelt 
man die Anfangserscheinungen katarrha¬ 
lischer Magen- und Darmerkrankung mit 
diätetischer Schonung und vorsichtiger 
medikamentöserTherapie nicht anders wie 
beim subakuten und chronischen Magen¬ 
katarrh (vgl. 1919, S. 307). Zur blanden 
Suppen- und Breidiät gibt man mit Vor¬ 
liebe Milch, in solchen Mengen wie sie der 
Darm verträgt, dazu leichte Gemüse, 
Apfelmus, Weißbrot mit Butter, aber 
wenig Fleischspeisen. ' Eine weitere Sorge 
betrifft den Ascites. So lange er noch 
gering ist, sucht man ihn durch salzfreie 
Diät und mäßige Beschränkung der Flüs¬ 
sigkeitszufuhr, auch diuretische Medi¬ 
kamente (vgl. 1919, S. 60), zu vertreiben; 
große Dosen Harnstoff sind zu empfehlen 
(Urea pur. 40, aq. ad 200, stündlich einen 
Eßlöffel); als letztes, gerade bei Leber¬ 
cirrhose noch aussichtsvolle Medikation 
gilt die Kombination gro,ßer Dosen von 
Kalomel (zwei Tage lang fünfmal täglich 


0,2 g) mit Digitalis (dreimal täglich 0,1 g); 
ist die Wasseransammlung so groß, daß 
sie starke örtliche und allgemeine Be¬ 
schwerden macht, so ist der Ascites durch 
Punktion möglichst vollständig zu ent¬ 
leeren. 

Die Punktion geschieht entweder im Sitzen 
in vorgebeugter Haltung an einem tiefen Punkt 
der Linea alba (nach vorheriger Urinentleerung) 
oder in Seitenlage an einem tiefgelegenen Punkt 
in der Verlängerung der vorderen Axillarlinie. 
Einer vorherigen Anästhesierung bedarf es nicht, 
zur Asepsis genügt Jodanstrich. Man nehme 
4 einen nicht zu starken Trokar (etwa 5 mm Durch¬ 
messer), damit der hervorquellende Flüssigkeits¬ 
strahl nicht zu schnell fließe; sonst kann es bei 
zu schneller Entleerung leicht zu Kollaps kommen. 
Der Puls ist während der Punktion zu kontrol¬ 
lieren, bei etwaiger Herzschwäche ist Wein zu 
reichen, bei wirklichem Kollaps die Entleerung 
zu unterbrechen. Sonst entleere man so viel 
als möglich, wenn das Abfließen sich verlangsamt, 
helfe man durch Druck der auf den Leib gelegten 
Hände oder um den Leib gelegter Handtücher 
nach. Nach Beendigung der Punktion bringt man 
den Patienten in Rückenlage, bzw. in die ent¬ 
gegengesetzte Seitenlage und schließt die Punk¬ 
tionsöffnung durch Heftpflaster. Wenn doch 

Flüssigkeit nachsickert, gelingt der Schluß leicht 
durch eine Nadel. 

Nach geschehener Punktion widmet 
man dem Patienten besonders sorgfältige 
Ernährung und reicht alsbald wieder 
Diuretica, weil die vom Druck des Acsites 
I befreiten Unterleibsorgane, besonders die 
Nieren, zu besserer Funktion befähigt 
sind. Die Punktion ist nach Bedarf be¬ 
liebig oft zu wiederholen. Wenn der 

Patient sich im vorgeschrittenen Stadium 
befindet, tritt die Allgemeinbehandlung 
des Schwerkranken in ihr Recht; be¬ 
sonders bedarf das geschwächte Herz der 
Excitation. 

Der Vollständigkeit halber sei der 
Versuch operativer Behandlung erwähnt, 
welchen Talma durch Laparatomie und 
Vernähen des Netzes mit den Bauch¬ 
decken gemacht hat. Die Operation ver¬ 
sucht, Verbindungen zwischen dem Wur¬ 
zelgebiet der Pfortader und den Haut¬ 
gefäßen herzustellen, um einen Teil des 
Pfortaderbluts in die Ursprünge der obern 
Hohlader abzulenken. Die Talmasche 
Operation ahmt das Heilbestreben der 
Natur nach, welches in den angeschwol¬ 
lenen Venen der Bauchhaut, der Kardia 
und des Anus zum sichtbaren Ausdruck 
kommt. So einleuchtend die Idee ist, 
so ist ihr der praktische Erfolg bisher 
versagt geblieben. Immerhin verdient 
die Talmasche Operation in aussichts¬ 
losen Fällen erneut angewendet zu werden. 

(Fortsetzung folgt.) 


5 




34 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Januar 


Referate. 


Seitdem Adolf Schmidt die Quel¬ 
lungsfähigkeit des Agaragar zur Grund¬ 
lage seines Abführmittels Regulin gemacht 
hat, sind auch andere leicht aufquellende 
Pflanzengewebe zur Beförderung der Peri¬ 
staltik gebraucht worden. So hat nament¬ 
lich Kohnstamm in dieser Zeitschrift 
(Jahrgang 1915, S. 283) den Genuß von 
Leinsamen und Flohsamen empfohlen. 
Jetzt berichtet Bauermeister, daß auch 
der Tragantgummi zu den „Pflanzen¬ 
mukoiden“ gehört, die infolge ihrer 
leichten Quellbarkeit den Stuhl volumi¬ 
nöser, geschmeidiger und also gleitbarer 
machen. Tragantgummi wird gegeben 
zwei- bis dreimal täglich teelöffelweise 
und bewährt sich bei hartnäckiger Obsti¬ 
pation als gutes Abführmittel. Leider 
ist es jetzt aber infolge großer Einfuhr¬ 
schwierigkeiten nicht zu beschaffen. In 
Übereinstimmung mit Kohnstamm be¬ 
richtet Bauermeister weiter, daß der 
leicht erhältliche Leinsamen dieselben 
Erfolge erziele. Dieser wurde roh, und 
zwar ein bis zwei Eßlöffel mit Wasser 
angerührt morgens und abends ange¬ 
wandt. Bei längerem Gebrauch traten 
auch hier die bei dem Regulin gerühmten 
Wirkungen zutage. In schweren Fällen 
wurde ein „Koprolin“ benanntes 
Präparat benutzt, das einen Zusatz von 
Cortex Frangulae enthält (auf 1000 Lein¬ 
samen 50,0 decoctum cort. frangul.). Die 
Anwendungsweise ist dieselbe wie beim 
rohen Leinsamen. Die Leinsamenpräpa¬ 
rate, die im Gegensatz zum Regulin und 
Tragant billig sind, würden sich, falls 
sich die günstigen Erfahrungen Bauer¬ 
meisters auch anderweitig bestätigen, 
zu ausgedehnterer Anwendung eignen. 

Blumenthal (Berlin). 

(Ther. Hmh. 1920, Heft 20.) 

Im Anschluß an den Aufsatz von 
Münzer über die klinische Bedeutung 
der Blutdrucksteigerung (im letzten Heft 
der Therapie) sei eine neuere Arbeit 
aus der Klinik Fr. Müllers (München) 
referiert, in welcher v. Monakow an der 
Hand einiger sorgfältig analysierter Er¬ 
krankungen über die Beziehungen zwi¬ 
schen Blutdrucksteigerung und Niere be¬ 
richtet. Von der Tatsache ausgehend, 
daß vorübergehende Blutdrucksteige¬ 
rungen aus verschiedensten organischen, 
nervösen und chemischen Ursachen her¬ 
aus zustande kommen, führt er Beweise 
dafür an, daß einerseits dauernde Blut¬ 
drucksteigerung ohne funktionelle und 


anatomische Nierenschädigung vor^ 
kommt, während andererseits diejenigen 
anatomischen bjlierenveränderungen, die 
Volhard u. a. als ursächliches und 
charakteristisches Moment für die Blut¬ 
drucksteigerung ansieht, auch ohne die¬ 
selbe Vorkommen können. Da ja selbst 
völlige Kierenausschaltung nicht zu Blut¬ 
drucksteigerung führt, wird die Annahme 
unhaltbar, daß mechanische Nierencircu- 
lationsstörungen den Blutdruck wesent¬ 
lich erhöhen können, und man kann sich 
daher die als renal bezeichnete Blutdruck¬ 
erhöhung nur so erklären, daß extra¬ 
renale Gefäße von der Niere aus beein¬ 
flußt werden. Die Möglichkeit, daß die 
Retention harnfähiger Schlacken hierbei 
eine wichtige Rolle spielen, stellt v. Mo¬ 
nakow nicht in Abrede, glaubt aber, 
daß dabei der Reststickstoff, der sich 
in der Hauptsache auf den Harnstoff 
bezieht, nicht immer erhöht zu sein 
brauche. Als gleichbedeutend der Harn¬ 
stoffzunahme im Blut ist die Harnsäure- 
vermehrung zu bewerten, die v. Mona¬ 
kow in einigen Fällen von Glomerulo¬ 
nephritis mit normalem Rest N feststellte, 
V. Monakow glaubt nun, daß der Ver¬ 
mehrung der Harnsäure im Blut dieselbe 
Bedeutung für die Blutdrucksteigerung 
zugemessen werden könne, wie der des 
Rest N überhaupt. Die von Volhard und 
Fahr in Fällen von Blutdrucksteigerung 
ohne funktionelle Nierenschädigung be¬ 
schriebenen sogenannfen präsklerotischen 
Nierenveränderungen an den kleinen Ge¬ 
fäßen, die sich in vielen Fällen aus¬ 
schließlich an den Nierengefäßen finden^ 
erklärt v. Monakow mit besonders 
leichter Lädierbarkeit der Nierengefäße 
erst als Folge der Blutdrucksteigerung, 
Die anatomischen Veränderungen auch 
an den Gefäßen anderer Organe genügen 
nicht zur Erklärung der Blutdrucksteige¬ 
rung, da ja sklerotische Veränderungen 
ausgedehntester Arteriolengebiete nicht 
zu solcher zu führen brauchen, v. Mo¬ 
nakow nimmt daher als wichtigste Ur¬ 
sache dafür Gefäßspasmen an, mit denen 
ja auch solche Fälle länger dauernder 
Hypertonie erklärt werden können, bei 
denen der Blutdruck nach längerer oder 
kürzerer Zeit, ohne daß ein Erlahmen 
der Herzkraft eingetreten ist, absinkt. 
Als Ursachen solcher Spasmen kommen 
Gifte (z. B. Blei), Lues, Gicht sowie das 
Klimakterium in Frage; auch Einflüsse 
der inneren Sekretion dürfen nicht unbe- 





Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


35 


rücksichtigt bleiben. , Von ganz beson¬ 
derer Bedeutung für die Erhöhung des 
Blutdrucks sind nervöse Erregungen, das 
heißt Gemütsbewegungen, welche zu Ge¬ 
fäßspasmen fühten. Monakow kommt 
als.o auf dem Wege exakter Feststellung 
zu demselben praktisch wichtigen Er¬ 
gebnis, welches von klinischer Seite neuer¬ 
dings mehrfach ausgesprochen worden 
ist. Ich möchte noch daran erinnern, daß 
G, Klemperer die Arsentherapie der 
beginnenden Arteriosklerose insbesondere 
gegen die ursächlichen nervösen Gefä߬ 
spasmen, welche den Blutdruck erhöhen, 
empfohlen hat. Blumenthal (Berlin). 

(D. Arch. f. klin. M. Bd. 133, 3. u. 4. H.ft.) 

Die Diagnose der Bronchopneumonie 
der ersten Lebenszeit ist oft nicht 
leicht zu stellen. Bei einer Erkrankung, 
die eine so große Rolle in der Neugebore- 
nenzeit und im Sauglingsalter spielt, er¬ 
scheinen die Ausführungen Blühdorns 
über ihr Krankheitsbild besonders be¬ 
merkenswert. Der physikalische Befund 
über die Lungen läßt oft im Stich, der 
Husten fehlt meist. Auch können manch¬ 
mal die sonst klinisch verwertbaren 
Symptome, wie erhöhte Temperatur, an¬ 
gestrengte Atmung, Nasenflügelatmung, 
vermißt werden. Als konstantestes 
Symptom ist meist anzutreffen die Cya- 
nose mit oder ohne Anfälle von As¬ 
phyxie. Die Cyanose ist aber ein viel¬ 
seitiges Symptom in der ersten Leben^:- 
zeit. Bei ihrer Bev/ertung hat man 
differentialdiagnostisch hauptsächlich 'in 
Betracht zu ziehen Bronchopneumonie, 
Sepsis und Herzstörungen. Intermit¬ 
tierende Cyanose spricht mehr für Lungen¬ 
prozeß, dauernde, mäßig cyanotische Ver¬ 
färbung mehr für Sepsis. Permanente 
Cyanose kann auch einziges Symptom 
einer Herzerkrankung sein, doch fehlen 
bei dieser Erkrankung die Anfälle von 
Asphyxie. Cyanose bei Frühgeburten 
spricht für Pneumonie oder Sepsis ■— bei 
ausgetragenen kräftigen Kindern eher für 
Herzerkrankung. 

Bei letzteren kann die Cyanose oft 
viel intensiver sein (Morbus cocruleus), 
während die Stauungscyanose bei Pneu¬ 
monie oder bei Sepsis weniger stark aus¬ 
geprägt ist. Schließlich muß differential 
diagnostisch noch ein Krankheitsbild mit 
Cyanose berücksichtigt werden, das Bu- 
din auf Hungerzustahd zurückführt, 
Göppert als Verdurstungserscheinung 
. ansieht. Therapeutisch ist bei der Bron¬ 
chopneumonie, deren Prognose in den 
ersten Lebenswochen stets sehr ungünstig 


gestellt werden muß, außer den üblichen 
Mitteln wie Abreibungen mit Spiritus, 
Glycerin oder Franzbranntwein, Bäder 
mit kühlen Übergießungen, Herzmitteln, 
die Zufuhr der notwendigen Flüssigkeits¬ 
menge zu beachten. Bei asphyktischen 
Zuständen kann die künstliche Atmung 
nach der Methode S so ko low ange¬ 
wandt werden. Bei Cyanose kommt in 
erster Linie Sauerstoff in Frage. 

(B.kl. W. 1920, Nr. 40.) Feuerhack. 

Über Digitalistherapie sprach Th. 
Brugsch in der Reihe der Vorträge über 
Therapie innerer Krankheiten, die zur¬ 
zeit in der Beiliner Vereinigung für ärzt¬ 
liche Fortbildung gehalten werden. 

Das Ind.kationsgebiet der Digitalis 
umfaßt die hypodynamischen Herz¬ 
erkrankungen, die extrasystolischen Un¬ 
regelmäßigkeiten des Pulses und den Pulsus 
irregularis perpetuus. 

Bei jedem Infekt ist Digitalis klinisch 
ohne Nutzen. Erfahrungsgemäß ist Digi¬ 
talis aber bei Typhus in gewissen Fällen 
unbewiesen nutzbringend. Bei Pneumonie 
ist es gut, Digitalis schon am ersten Tage 
der Eikrankung zu geben, um den rechten 
Ventrikel maximal arbeiten zu lassen und 
die Atmungsmechanik aufrecht zu erhal¬ 
ten. Man g.bt 0,3 bis 0,4 g pulv. fol. d’git. 
tit. pro Tag, bis zur Krisis im ganzen 
2 bis 3 g. 

Bei Insuffizienz des linken Ventrikels 
ist bei der Digitalistherapie zu berück¬ 
sichtigen, ob es sich um absolute Insuffi¬ 
zienz mit Ödemen, Asthma card. usw. 
handelt, oder ob die Vorläufer, Kurz¬ 
atmigkeit usw., Veranlassung geben, ärzt¬ 
liche Hilfe aufzusuchen. Im letzteren 
Falle kann man mit kleinen Digitalis¬ 
dosen den Patienten monate-, jahrelang 
in guter Kompensation erhalten. Acht 
Tage lang gibt man 0,2 pulv. fol. dig. tit., 
geht dann herunter auf 0,1, setzt aus, 
wenn der Puls unter 60 herabgeht und 
der Blutdruck sinkt. Als Präparate für 
lange Darreichung am besten geeignet 
erscheinen Dig'purat, Digifolin und Digi- 
pan. Sie können wochen-, monatelang 
gegeben werden. 

Verod'gen hat manchmal Neben¬ 
erscheinungen, die Veranlassung geben, 
einige Tage das Präparat fortzulassen; 
nach dieser Pause kann es wieder verab¬ 
folgt werden. Bei absoluter Insuffizienz 
sind schnell große Dosen erforderlich. 
Bei einem mit Digitalis bisher unbehandel¬ 
ten Fall gibt man am ersten Tage 4, am 
zweiten 4, am dritten 3, am vierten 3, 
am fünften 2, am sechsten 1 dcg Digitalis. 

5- 





36 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Januar 


Daran anschließend werden kleine Dosen 
gegeben, 1 bis 2 dcg, eine Pause von 
einer Woche- kami eingeschaltet werden. 
Pulvis fol. digit. ist seiner brechenerregen¬ 
den Wirkung ungeeignet. Außer den 
■genannten Präparaten kann Tinctura digi- 
talis 25 bis 30 Tropfen == 0,1 fol. digit. 
gegeben werden. 

Bei Insuffizienz des rechten Ventri¬ 
kels nimmt man mehr Rücksicht auf die 
Gefäße, erzielt mit kleinen Dosen Ein¬ 
wirkung auf die Nierengefäße. Bei 
Alkoholisten kann man geben: Infus, bulb. 
Sein. 5/120, dazu 1 g fol. digit. zugesetzt, 
ad 200 Aq. dest. Davon gibt man — ent^ 
sprechend dem vorstehenden Schema — 
vier Eßlöffel, drei Eßlöffel 'usw. Bei 
weiterer Behandlung sucht man mit 
Diureticis auszukommen, man' gibt Diu- 
retica vom dritten oder vierten Tage an, 
wenn die Pulsfrequenz heruntergeHt (vier¬ 
mal 1 g Diuretin), drei Tage lang. 

Zur Regulierung der Herztätigkeit bei 
extrasystolischer Unregelmäßigkeiten des 
Pulses gibt man Digitalis in der Dosierung 
1^2 dcg höchstens pro Tag (Tinctura 
digitalis 20 bis 30 Tropfen, auch Vero- 
digen ist gut). Paroxysmale Tachykardie 
spricht nicht immer aüf .Digitalis an, 
eventuell erreicht man prompte Wirkung 
mit y 2 mg Strophantin intravenös, auch 
oft gute Wirkung mit Aschners Versuch- 
(Druck auf die Augen). Gute Wirkung 
der Digitalis findet man beim Pulsus 
irregularis perpetuus, vor allem mit Gita- 
lin, man gibt also Verodigen eine Tablette 
zwei bis drei Wochen lang, geht der Puls 
unter 70, setzt man aus, steigt er wieder, 
gibt man erneut Verodigen. Kommt ein 
Digitalisbehandelter im Stadium der Ver¬ 
giftung (Blutdrucksteigerung, Pulsbe¬ 
schleunigung), leitet man Carellsche Milch¬ 
kur ein (es kann auch Schleimsuppe mit 
40 gZucker und30 g Fett gegeben werden), 
acht Tage lang diese Kur, gleichzeitig 
Morphium 0,01. Dann gibt man Scilla 
oder Infus. Adon. vernal. Bei Cumula- 
tionserscheinungen in der Digitab'sbehand- 
lung ist regelmäßig das Versiegen der 
Harnflut bemerkenswert und muß be¬ 
sonders berücksichtigt werden. 

Feuerhack. 

Die Arbeit Strümpells über myo- 
statische Innervation und myosta- 
tische Innervationsstörungen ist 
ein groß angelegter Versuch, eine 
Anzahl wenig geklärter Nervenkrank¬ 
heiten wie die Schüttellähmung, die 
Pseudosklerose, die sogenannte Wilson- 
sche Krankheit (progressive lenti- 


culäre Degeneration), sowie die an¬ 
geborene oder früh erworbene Athetose 
unter der Bezeichnung amyostatischer 
Symptomenkomplex auf,einen klinischen 
Nenner zu bringen. Die Untersuchungen 
des verdienstvollen Leipziger Klinikers 
sind geeignet, eine Lücke im Gebiete der 
Bewegungsphysiologie und Pathologie aus- 
zufülleh. Auf Grund histopathologischer 
Befunde wird unter Würdigung der.Tat¬ 
sache, daß auch bei den kleinsten, um¬ 
schriebenen Bewegungen fast die ge¬ 
samte Körpermuskulatur in Tätigkeit 
versetzt wird, kommt Strümpell zur 
Annahme eines für die ganze Myodyna- 
mik unentbehrlichen ,,myostatischen“ 
Apparates mit besonderen myostatischen 
Innervationseinrichtungen. Die zentri¬ 
fugale, motorische Impulse vermittelnde 
Pyramidenbahn ist ebenso wie der tonus¬ 
regulierende Anteil des Kleinhirns und 
Labyrinthes in seiner Bedeutung für die 
Bewegungsphysiologie und Pathologie ge¬ 
nügend gewürdigt worden. Dagegen hat 
die für das Zustandekommen der klein¬ 
sten Bewegung notwendige statische 
FJxation der Nachbargelenke keine ge¬ 
nügende Berücksichtigung gefunden. 
Schon seit einiger Zeit ist man namentlich 
durch die Arbeiten Wilsons auf ein 
eigentümliches Krankheitsbild aufmerk¬ 
sam geworden, das trotz wesentlicher 
Beteiligung des Muskelapparates in Form 
von Halb- oder doppelseitiger Rigidität 
mit Zittern eine Beteiligung der Pyra¬ 
miden vermissen läßt. Der von Wilson 
beschriebenen Krankheit, die als Prototyp 
der extrapyramidalen Prozesse besondere 
Bedeutung verdient, liegt in allen Fällen 
eine Zerstörung des einen oder beider 
Linsenkerne zugrunde. Das Charakte¬ 
ristische des Wilsonschen Komplexes 
sowie der in klinisch-pathogenetischer 
Hinsicht verwandten Störungen (Para¬ 
lysis agitans, Pseudosklerose, Athetose) 
sieht Strümpell in der Störung der 
zur Fixation eines Gelenkes notwendigen 
Zusammenwirkung der Extremitäten¬ 
muskeln. Sind die zu einem Gelenk 
gehörigen Muskeln in einen Zustand 
gesteigerter Kontraktion und Spannung 
versetzt, so entwickelt sich die für die 
Wilsonsche Krankheit sowie die Para¬ 
lysis agitans charakteristische Muskel¬ 
starre. In ähnlicher Weise wird das 
Zustandekommen des für die genannten 
Krankheiten typischen Muskelzitterns be¬ 
ziehungsweise der eigenartigen atheto- 
tischen Muskelbewegung auf eine Störung 
in der Gleichzeitigkeit und Gleichmäßig- 






Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


37 


keit der Muskelinnervation zurückgeführt. 
Auch für gewisse Formen der Enzephalitis 
lethargica sowie einige nervöse Erschei¬ 
nungen nach schweren Kohlenoxydver¬ 
giftungen, bei denen mehrfach autoptisch 
Linsenkernerweichungen festgestellt wor¬ 
den sind, nimmt* Strümp eil eine Stö¬ 
rung des myostatischen Apparates in An¬ 
spruch. Leo Jacobsohn (Charlottenburg. 

(Neurol. Zbl. 1920, H. 1.) 

Magenspülungen bei keuchhusten¬ 
kranken Kindern werden von M. Wil¬ 
helm empfohlen. Bei Säuglingen und 
jüngeren Kindern treten während des 
Keuchhustens häufig Appetitlosigkeit und 
herabgesetzte Nahrungsaufnahme ein, die 
zu bedrohlicher Gewichtsabnahme führen 
können. Bei'der Sondenfütterung dieser 
Kinder zeigte sich, daß der Magen mit 
großen Mengen glasigen '^Schleims und 
stagnierenden Milchresten gefüllt war. 
Diese Beobachtung veranlaßte systema¬ 
tische Magenspülungen, nach denen der 
Appetit der Kinder sich schnell hob. Die 
Magenspülungen wurden denn auch bei 
größeren neuropathischen Kindern an¬ 
gewandt, die bei jedem Hustenaiifall er¬ 
brachen. Ein oder zwei-Magenspülungen 
waren hinreichend, das Erbrechen dau¬ 
ernd zu beseitigen. Verf. benutzte 
zur Magenspülung körperwarmen Karls¬ 
bader Mühlbrunnen oder physiologische 
Kochsalzlösung. Lungenkomplikationen 
sind keine absolute Gegenindikation. 

(Ther. Hlbmh. 1920, Nr. 16.) Nathorff. 

Die Steigerung der Zellfunktion 
durch Röntgen-Energie macht Stephan 
(Frankfurt a. M.) zum Gegenstand einer 
größeren Abhandlung; dieselbe ist voll 
von interessanten Anregungen über die 
Wirkungsweise der Röntgenstrahlen auf 
innere Organe und therapeutischer Ver¬ 
suche der Röntgenbehandlung innerer 
Krankheiten. Die Erklärung hat fast 
ausschließlich hypothetischen Charakter; 
Stephans therapeutisches Vorgehen ist 
mehr spekulativ als experimentell zu be¬ 
werten. Stephan greift Seitzu.Wintz 
an, indem er die Festlegung des Begriffs 
der Carcinom-, Sarkom-Dosis nicht gelten 
lassen will. Er hat damit recht; denn diese 
Begriffe sind auch nur Hypothesen. Wenn 
Stephan gegen die Wintzsche An¬ 
schauung die Statistik von Perthes ins 
Feld führt, nach der die Tiefentherapie 
nach Mamma-Carcinom eher zu Rezidiven 
führe, als wenn gar nicht mit Strahlen be¬ 
handelt worden wäre, so stehen dieser 
vereinzelten Statistik zahlreiche andere, 
als wirkungsvollste die von Blumenthal, 


die das gerade Gegenteil beweist, ent¬ 
gegen. Die Arbeit Stephans sucht den 
Reizeffekt kleiner Röntgendosen in der 
Steigerung der spezifischen Funktion der 
Organzelle. In der Steigerung des Profer¬ 
mentgehaltes des Plasmas soll so die 
wesentliche Abwehrreaktion des Organis¬ 
mus auf eine drohende Verblutung zu 
erblicken sein. Die therapeutischen Ver¬ 
suche bei der akuten Nephritis machten 
in beiden Fällen der Tiefenbestrahlung 
den schweren Eingriff der operativen 
Dekapsulation unnötig. Der Versuch 
der Reizbestrahlung soll daher stets vor 
der Operation gemacht werden. Bei der 
Zuckerkrankheit werden zwei Phasen der 
Röntgenstrahlenwirkung berichtet. Eine 
primäre schließt sich unmittelbar an die 
Bestrahlung an und setzt die Zuckeraus¬ 
scheidung herab. Eine Spätwirkung be¬ 
steht darin, daß allmählich eine Er¬ 
höhung der Kohlehydrattoieranz eintritt. 
Bei schweren Pankreasdiarrhöen infolge 
von Achylie wird durch einmalige Tiefen¬ 
bestrahlung des Pankreas ein Ver¬ 
schwinden der objektiven Krankheits¬ 
zeichen innerhalb 48 Stunden erreicht. 
Der Funktionsreiz bei der Tuberkulose 
wird eingehender behandelt. Angeblich 
sollen die Ergebnisse der Tiefentherapie 
der tuberkulösen Drüsen mit Verbesse¬ 
rung der technischen Anwendungsweise 
schlechter geworden sein. Minimale Do¬ 
sierung bringe rasche Vernarbung 
des tuberkulösen Tumors hervor. 
Referent ist gerade der entgegenge¬ 
setzten Ansicht. Eine hundertfältige 
Beobachtung an Kassenpatienten, die 
anderwärts oft jahrelang bei verzettelten 
und kleinen Dosen ihre vereiternden und 
fistelnden Drüsen nicht loswerden konnten, 
wurden in wenigen Sitzungen mit einer 
besseren Apparatur und längeren Be¬ 
strahlungen geheilt. Wieviel Strahlen in 
einem bestimmten Falle das Optimum 
darstellen, wissen wir bis jetzt alle nicht. 
Auch die Forderung Stephans, ,,jene 
kleinste Strahlenmenge zu applizieren, 
die noch eben mit Sicherheit den Zell¬ 
funktionsreiz für die Bindegewebszelle 
auslöst“, hat keinen realen Hintergrund. 
Schließlich befaßt sich Stephan auch 
noch mit dem Zellfunktionsreiz beim 
Carcinom. Er verwirft die Abtötung der 
Geschwulstzelle und sieht in dem Effekt 
der Röntgentiefentherapie auch nur die 
erhöhte funktionelle Tätigkeit der Carci- 
nomzelle auf dem Wege der Beeinflussung 
des Bindegewebes. Max Cohn (Berlin). 

(Strahlenther. Bd. 11, Heft 2.) 





38 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Januar 


In einer Zeit, wo mangelhafte Milch¬ 
hygiene oder Milchknappheit so häufig 
große Schwierigkeiten in der Säuglings¬ 
ernährung auftreten lassen, erscheinen 
die Mitteilungen, die von W. Neuland 
und A. P eis er aus der Berliner Kinder¬ 
klinik Tcommen, besonders beachtenswert 
Hier wurde ein Weg erprobt, der über 
den Rahmen der Säuglingsernährung hin¬ 
aus Bedeutung gewinnen kann in weite¬ 
rem volkswirtschaftlichen Interesse. Es 
handelt sich um die Verwertung der Voll¬ 
milch in Form eines haltbaren, einwand¬ 
freien Vollmilchpulvers. Das aus 
Amerika kommende Vollmilchpulver ist 
nach dem Just-Hatmakerschen Ver¬ 
fahren hergestellt. Seine Haltbarkeit 
verdankt es keinen Konservierungs¬ 
mitteln, sondern der Maßnahme, daß 
sich die Milchtrocknungsmaschinen un¬ 
mittelbar am Ort der Milchgewinnung 
befinden, wodurch längere Beförderung 
und gröbere Verunreinigung und Zer¬ 
setzung der Milch'vermieden werden. 

Wiederholte Untersuchungen be¬ 
wiesen, daß das Milchpulver keimarm und 
.— was besonders wichtig ist — frei von 
Tuberkelbacillen ist. Das Pulver ist 
vollständig und leicht löslich. Eine 
Lösung von 13,5 g Milchpulver auf 100 g 
Wasser entspricht in der Zusammen¬ 
setzung einer guten Vollmilch. Mit 
einer kleinen Menge kalten Wassers wird 
das Pulver gelöst. Nun gießt man die 
für eine 13,5%ige Lösung notwendige 
Menge heißen Wassers hinzu, wobei sich 
auch die letzten, kleinen Pulverteilchen 
lösen. Man erhält so eine homogene 
Flüssigkeit, der rohen Milch in Aussehen, 
Geruch und Geschmack gleichend. Die 
Ernährungsversuche wurden an 62 Säug¬ 
lingen angestellt. Zur Herstellung von 
Halbmilch, Buttermehlnahrung und Milch¬ 
breien verwandt, wurde die Trocken¬ 
milch von den Säuglingen während der 
ganzen Dauer der Verabfolgung gern 
genommen. Buttermilch läßt sich nicht 
aus dem Pulver, Molke und Quark da¬ 
gegen durch Labung gewinnen, wenn 
man die Labung in kochendem Wasser 
auf dem Feuer vor sich gehen läßt. Von 
den Säuglingen, an denen die Trocken¬ 
vollmilch erprobt wurde, bekam die eine 
Gruppe, deren Kinder fast alle dem ersten 
Lebensvierteljahr angehörten, die Milch 
nur wenige Tage. Sie vertrugen den 
Milchaustausch ohne jegliche Beeinträch¬ 
tigung des Befindens. Die Kinder der 
anderen Gruppe wurden über längere 
Zeit mit Trockenvollniilchmischung er¬ 


nährt. Die Ergebnisse, die mit den ver¬ 
schiedensten Trockcnmilchmischungen er¬ 
zielt wurden, entsprechen durchaus denen 
mit gewöhnlicher Kuhmilch. Wo ge¬ 
wöhnliche Milchmischung nicht recht 
vertragen wurde, ergab sich auch kein 
Vorteil bei Darreichung von Trocken¬ 
milchmischung. Besonders günstig waren 
die Erfolge bei Verwendung der Trocken¬ 
milch zu Czerny-K1 einschmidtscher 
Buttermehlnahrung. Es erwies sich dabei 
als vorteilhaft, wenn die Fettmenge in 
der Mehlschwitze auf 5 g vermindert und 
gleichzeitig der -Zucker auf 7—12 g ge¬ 
steigert oder Malzsuppenextrakt hinzu¬ 
gesetzt wurde. Auch bei Zwiemilcher¬ 
nährung mit Muttermilch und Trocken¬ 
vollmilch wurden gute Ergebnisse erzielt. 

Das Anwendungsgebiet der Trocken- 
vollinilch deckt sich demnach mit dem der 
gewöhnlichen Vollmilch. In der heißen 
Jahreszeit, wo so leicht zersetzte Milch 
Ernährungsstörungen hervorruft, wo 
sich Mütter beim Abstillen aus dieser 
Angst heraus zu allzu einseitiger Er¬ 
nährung verleiten lassen, erweist sich 
die Trockenvollmilch als ein einwand-, 
freies Milchpräparat, das über die ganze 
heiße Jahreszeit gegeben werden kann 
und die Kinder bei gutem Gedeihen er¬ 
hält. Zur Verhütung von Skorbut er¬ 
scheint es allerdings notwendig, jedem 
Säugling mit der Trockenmilch frischen 
Apfelsinensaft oder frischen Zitronen¬ 
saft (5 ccm jeden zweiten oder dritten 
Tag) zu verabfolgen. Ebensowenig wie 
der antiskorbutische Faktor macht sich 
auch der antirachitische Faktor in der 
Trockenvollmilch geltend. Infolge ihrer 
leichten Löslichkeit ist die Trockenvoll¬ 
milch vielleicht geeignet, als konzentrierte 
und calorienreiche Nahrung Säuglinge 
mit Pyloruspasmus über die Gefahren der 
Inanition hinwegzuhelfen. Auch wird sie 
sich sicherlich bei anderen Krankheits¬ 
zuständen brauchbar erweisen, wo calo¬ 
rienreiche Nahrung ohne Erhöhung der 
Flüssigkeitszufuhr erforderlich ist. 

Welche allgemein-wirtschaftliche Be¬ 
deutung der Ausbau eines Verfahrens 
hat, das ein einwandfreies, haltbares 
Vollmilchpräparat in Pulverform schafft, 
ist ohne weiteres ersichtlich bei Erwä¬ 
gung ungünstiger örtlicher oder zeit¬ 
licher Verhältnisse, die die Milchversor¬ 
gung der Bevölkerung erschweren. 

(M. Kl. 1920, Nr. 47.) .Feuerhack. 

In der Jodtinktur sieht Froriep ein 
nie versagendes Mittel zur Behandlung 
infektiöser SclieidenerKränkungen, also 





Jantiar 


Die Therapie der OegenvVart 1921 


3Ö 


nur in solchen Fällen, in denen Cervix und 
Urethra von der Infektion freigeblieben 
sind. Referent hält es für seine Pflicht, 
an der Hand dieser Veröffentlichung davor 
zu warnen, auf Grund einiger Fälle eine 
antigonorrhoische Therapie zu rühmen. 
Abgesehen davon, daß Froriep den 
großen Fehler beging, nur die sekundäre 
Erkrankung der Scheitle zu behandeln, 
die doch selbst ausheilt, wenn Cervix 
und Urethra von Gonokokken frei wer¬ 
den, so ist auch die Beobachtungszeit 
eine viel zu kurze. Der Praktiker weiß 
es leider viel zu gut, daß die chemischen 
und -physikalischen Heilmethoden im 
Kampf gegen die Gonorrhöe in sehr 
vielen Fällen versagen. 

Pulvermacher (Charlottenbürg). 

(M.m. W. 1920, Nr. 42.) 

Mit'Thlaspan, welches von der Firina 
Denzel (Tübingen) aus der Bursa pastoris 
hergestellt wird, hat auch Schneider in 
der Tübinger Frauenklinik recht zu¬ 
friedenstellende Ergebnisse bei Metror¬ 
rhagien erzielen können; es ist zwar die 
Wirkung des Täschelkrautes auf den 
Uterus noch unklar; vielleicht sind es die 
senfhaltigen ätherischen Öle, da ja auch 
das Mutterkorn einen hohen Ölgehalt 
hat. Sowohl bei der Subinvolution im 
Wochenbett als auch bei den atonischen 
Nachblutungen hat sich das neue Mittel 
gut bewährt; wenn es auch per os gegeben 
werden kann — dreimal täglich 20 bis 
30 Tropfen —, so ist die intramuskuläre 
Einspritzung zu bevorzugen; es genügte 
oft eine Spritze; über vier Injektionen 
wurden nie gemacht. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(M.m. W. 1920, S. 1439.) 

Auf die Schwierigkeit der Beurtei¬ 
lung von Heilerfolgen der Lungen- 
Tuberkulose wird von Zondek mit 
Nachdruck hingewiesen. Er beobachtete 
in der Hisschen Klinik in den letzten drei 
Jahren vier Patienten, bei denen er eine 
erhebliche Besserung des Allgemein¬ 
befindens, der objektiven Zeichen und 
auch des Röntgenbefundes feststellen 


konnte, ohne daß eine besondere Behand¬ 
lung oder gar eine der specifischen Be¬ 
handlungsmethoden zur Anwendung ge.- 
kommen war. Der erste Patient —.ein 
dreißigjähriger Mann — bot im Jahre 
1915 das Bild einer floriden Phthise: 
Husten, Auswurf, Nachtschweiße und 
Temperaturen, Oberlappendämpfung mit 
broncho-vesiculären Atmen und Rassel¬ 
geräuschen; das Röntgenbild zeigte ty¬ 
pische kleinere und größere Herde. Nach 
drei Jahren wurde Patient wieder unter¬ 
sucht, er war inzwischen im Felde ge¬ 
wesen und war nicht behandelt worden. 
Das Allgemeinbefinden war erheblich 
besser, Husten und Temperaturen nicht 
mehr vorhanden. Schallverkürzungen 
rechts oben mit vesiculärem, leicht ab¬ 
geschwächtem Atemgeräusch, Im Rönt¬ 
genbilde sind die herdförmigen Verdich¬ 
tungen fast völlig geschwunden. Im 
zweiten Falle handelte es sich um eine 
46jährige Waschfrau, die mehrmals 
Hämoptoe gehabt hatte, hoch fieberte, 
der rechte Oberlappen war infiltriert, 
reichlich klingendes Rasseln vorhanden. 
Im Auswurf fanden sich reichlich Tu¬ 
berkelbacillen, das Röntgenbild zeigte 
diffuse Verschattung des rechten Ober¬ 
lappens. Es handelte sich also um eine 
gelatinöse käsige Pneumonie. Nach einem 
Jahre waren — ohne daß die Patientin 
sich einer besonderen Kur unterzogen 
hatte — das Allgemeinbefinden gut, 
das Gewicht erhöht, der Auswurf ver¬ 
schwunden, an den Lungen keine ob¬ 
jektiven Zeichen mehr nachzuweisen, das 
Röntgenbild ohne jede Schattenbildung. 
Auch in den beiden anderen Fällen, 
die Verfasser beschreibt, konnten Besse¬ 
rungen dnd Rückgang aller Verände¬ 
rungen im Röntgenbilde nachgewiesen 
werden ebenfalls ohne jede spezifische 
Therapie. Aus diesen Beobachtungen 
geht emnach erneut hervor, wie große 
Schwierigkeiten sich der Beurteilung der 
Wirkung einer specifischen Behandlung 
entgegenstellen und wie leicht man dabei 
zu Trugschlüssen kommen kann. 

(D. m. W. 1920, Nr. 46.) Nathorff. 


Therapeutlscher Meinungsaustausch. 

Zungennekrose bei einem Kinde durch Berühren eines 
elektrischen Steckkontakts. 

Im folgenden berichte ich von einem weil ich durch die Mitteilung vielleicht 
Unglücksfalle, der einem kleinen Kinde dazu beitrage, ähnliche Vorkommnisse zu 
beinahe das Leben gekostet hätte, verhüten. Das elfmonatige Kind hatte 





40 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Janiiäi* ^ 


beim Spielen eine am Boden liegende 
Starkstrom-Leitungsschnur ergriffen und 
den daran befestigten Steckkontakt so 
unglücklich in den Mund gesteckt, daß 
die Zunge die Leitung zwischen den beiden 
Metallstiften herstellte; das Kind schrie 
.laut auf und die herbeistürzende Mutter 
entfernte den Stecker im selben Augen¬ 
blick aus dem Munde. Bald danach 
schwoll die Zunge stark an, so daß 
Atmung und Schlucken sehr erschwert 
waren; nach zwei Tagen ging die Schwel¬ 
lung zurück; nun verfärbte sich der vor¬ 
dere Teile der Zunge gelblichgrau, und es 
bildete sich eine etwa die Mitte durch¬ 
ziehende Demarkationslinie. Am vierten 
Tage stieß sich die vordere Zungenhälfte 
ab und es entquoll dem Mund ein heftiger 
Blutstrom. ,Zum Glück war ein Arzt als¬ 
bald zur Stelle, der nach unvollkommenem 
Tamponadeversuch das Kind sofort in 
eine chirurgische Klinik brachte, wo eine 


kunstgerechte Umsteckung und L'gatur 
der blutenden Zungenwunde vorgenommen 
wurde. Das Kind war wachsbleich und 
fast pulslos geworden, hat sich aber all¬ 
mählich unter guter Pflege erholt und ist 
jetzt drei Monate nach dem Unfall wohl¬ 
auf und kräftig. Der Zungenstumpf ist 
frei beweglich, das lebhafte Kind macht 
Sprechversuche, vermag aber bisher nur 
Vokale und unartikulierte“ Laute zu 
bilden. 

Es ist eine alte Regel, daß man aus 
dem Greifbereich von kleinen Kindern 
alles entfernen soll, was sie in den Mund 
stecken können. Wieviel Unglück ist 
schon durch Verschlucken solcher Gegen¬ 
stände geschehen! Daß man aber mit 
elektrischen Leitungsschnüren und Steck¬ 
kontakten besonders vorsichtig sein soll, 
ist die ernste Lehre, die sich aus dem 
oben berichteten Unglücksfall ergibt. 

G. K. 


Solarson bei Herzkranken. 

Von San.-Rat Dr. Firnhaber, Berlin. 


Der Aufsatz von Dr. Walter Cohn im 
Novemberheft dieser Zeitschrift gibt mir 
Veranlassung, über einen schweren Fall 
von Herzkrankheit zu berichten, bei dem 
sich Injektionen von Solarson augenschein¬ 
lich besonders wirksam erwiesen haben. 
Bei dem 72jährigen General v. H. bestand 
seit Jahren zunehmende Herzinsufficienz 
aus Ateriosklerose, die sich in zeitweiser 
Atemnot und Ödemen äußerte; durch Ruhe, 
Digitalis und Diuretica gelang es, über die 
manchmal bedrohlichen Attacken hinweg¬ 
zukommen. ln neuerer Zeit traten in all¬ 
mählich kürzeren Zwischenräumen Anfälle 
von Schwindel und Bewußtlosigkeit ein, 
welche von 15 bis 75 Sekunden dauerten 
und höchst bedrohlich aussahen. Patient 
machte im Anfall den Eindruck eines 
Sterbenden, er war totenbleich, der Puls 
war verschwunden, die Herztöne nicht zu 
hören. Es kann sich also nicht qm einen 
Herzblock gehandelt haben, sondern das 
Herz setzte minutenlang vollkommen aus. 
Die Anfälle traten schließlich alle drei 
bis vier Stunden auf, Patient fühlte sie 
kommen und äußerte jedesmal die Empfin¬ 
dung, daß er sterben werde. Da nun das 
lange Leiden eine hochgradige Nervosität 
erzeugt hatte — der früher äußerst stramme 


und energische Herr war jetzt sehr reizbar 
und weinte oft — so bildete ich mir die 
Vorstellung, daß dem Aussetzen der Herz¬ 
tätigkeit neben den schweren sklerotischen 
Veränderungen (und vielleicht auf Grund 
derselben) nervöse Störungen zugrunde 
liegen könnten. In dieser Idee versuchte 
ich regelmäßige Injektionen von Solarson, 
da dies Mittel sich mir bei vielen anderen 
Schwächezuständen des Nervensystems gut 
bewährt hatte. Patient bekam täglich 
1 ccm Solarson eingespritzt, im ganzen 
24 Injektionen. Der Erfolg übertraf jede 
Erwartung. Von der zweiten Woche an 
wurden die Anfälle seltener, schließlich 
hörten sie vollkommen auf. Es sind seit¬ 
dem drei volle Jahre vergangen, der greise 
Patient lebt noch; er ist stets in ärztlicher 
Behandlung und braucht fast dauernd 
Digitalis, Diuretin und ähnliche Mittel, 
auch Narkotika und Schlafmittel, aber 
Anfälle yon Bewußtlosigkeit mit dem 
Gefühl der Vernichtung sind seit der Solar- 
sonkur nicht wiedergekehrt. Selbst bei 
kritischer Betrachtung wird man aus dem 
Fall schließen dürfen, daß Solarson wenig¬ 
stens bei den nervösen Begleiterscheinungen 
der Herzkrankheiten angewendet zu werden 
verdient. 


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Die Therapie der Gegenwart 


1921 


herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer 
in Berlin. 


Februar 


Nachdruck verboten. 


Aus der Medizinischen Klinik in Tübingen (Vorstand: Prof. Otfried Müller). 

Zur Frage der additionellen Tuberkuloseinfektionen im Alter 

des Erwachsenen. 

Von Otfried Müller, in Gemeinschaft mit Dr. Hedwig Isele, Assistentin der Klinik. 


Der beste Teil therapeutischer Be¬ 
strebungen ist noch immer die Prophy¬ 
laxe. Dieser in der Tuberkulosebekämp¬ 
fung der Vorkriegszeit bewährte und 
angesichts der heutigen Tuberkulose¬ 
gefahr so besonders wichtige Satz ist 
nicht immer eine banale Selbstverständ¬ 
lichkeit gewesen. Vielmehr schien er 
durch die Entwicklung unserer. Anschau¬ 
ungen über die Phthiseogenese bezüglich 
der exogenen Infektionsgefahr für den 
Erwachsenen lange Zeit hindurch in' 
Frage gestellt. 

Als ich Mitte der neunziger Jahre bei 
Karl Gerhardt in Berlin hörte, wies 
dieser so besonders sachlich urteilende 
Meister unserere Kunst regelmäßig auf 
die großen Zahlen von Erkrankungen 
hin, die er am Ärzte- wie namentlich 
Schwesternpersonal seiner mit dritten 
Stadien gefüllten, in den ungünstigen 
Räumen des alten Juliusspitales in Würz¬ 
burg und der alten Charite in Berlin 
untergebrachten schweren Tuberkulose¬ 
stationen zu verzeichnen gehabt habe. 
Ich weiß die Zählen heute nicht mehr. 
Sie waren aber groß und machten dem 
jungen Studenten einen nachhaltigen 
Eindruck. 

Als ich mein Studium vollendet hatte, 
war die Heilstättenbewegung in Gang 
gekommen, und man konnte überall 
hören, eine solche Heilstätte sei der 
gesundeste Ort der Welt; dort werde 
ganz gewiß niemand mit Tuberkulose 
infiziert. Daß zwischen licht- und luft¬ 
armen Sälen alter Spitäler, die mit 
offenen dritten Stadien belegt sind, und 
den hygienischen Musterräumen mo¬ 
derner und günstig gelegener Pracht¬ 
anstalten, die ganz vorwiegend geschlos¬ 
sene erste und zweite Stadien beher¬ 
bergen, wesentliche Unterschiede bezüg¬ 
lich einer etwaigen Ansteckungsgefahr 
bestehen müssen, liegt auf der Hand. 
Aber man war doch mittlerweile in 


manchen Kreisen nicht nur hinsichtlich 
der ersten und zweiten, sondern auch 
der offenen und der dritten Stadien 
leichtherziger geworden. 

Mir trat dieser Umschwung der Dinge 
besonders während meiner Marburger 
Assistentenzeit zu Beginn des Jahr¬ 
hunderts entgegen. E. Behring (I) und 
Römer(2) propagierten damals ihre Lehre 
von der Kindheitsinfektion durch den 
Darm. Wenn auch heute die Darm¬ 
infektion im allgemeinen als der Aus¬ 
nahmefall angesehen wird, so ist doch 
von der Behring-Römerschen Lehre 
die allgemeine Erkenntnis übrigge¬ 
blieben, daß wohl nur ein ganz ver¬ 
schwindender Bruchteil aller Menschen 
die Schwelle des Kindesalters ohne tuber¬ 
kulöse Infektion überschreitet. 

Von besonderer Bedeutung wurde in 
weiterer Ausführung dieser Gedanken¬ 
gänge die Lehre des Behringschülers 
Römer (2), welche die Tuberkulose des 
Erwachsenen lediglich als eine metasta¬ 
sierende Autoinfektion der in der Kind¬ 
heit erworbenen Herde aufgefaßt wissen 
wollte. Diese Lehre herrscht bei den 
Tuberkulosefachleuten heute vor. Viel¬ 
leicht war es zunächst dem großen sug¬ 
gestiven Einfluß des Entdeckers des 
Diphtherieserums zuzuschreiben, wenn 
man nach seinem berühmten Vortrag auf 
der Naturforscherversammlung in Kassel 
die Gefahr (I) der exogenen Tuberkulose¬ 
infektion im Alter des Erwachsenen einfach 
als eine ,,quantit6 n6gl:geable“ auffaßte. 

Durch V. Pirquets (3) Forschungen 
wurde dann die Römersche Theorie, 
welche sich zunächst mehr auf Meer¬ 
schweinversuche und Obduktionsbefunde 
gründete, in aussichtsreicher Weise an 
das Krankenbett übertragen; und die 
Lehre von den allergischen Perioden 
in Gestalt der interkurrenten akuten 
Infektionen, der Gravidität, der Unter¬ 
ernährung und des allgemeinen Elends 

6 





42 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Februar 


brachte die Ursachen der Autoinfektion 
dem Verständnis näher. 

Die so überaus zahlreichen Forscher, 
welche sich ganz der Römerschen Lehre 
anschlossen, im einzelnen hier aufzu¬ 
zählen, würde zu weit führen. Wer sich 
dafür interessiert, braucht nur in einem. 
Handbuch oder Lehrbuch der Tuberkulose 
nachzuschauen. Genannt seien hier nur 
einzelne Autoren, welche kleinere oder 
größere Einschränkungen machten, und 
denen es zu danken ist, daß die Lehre 
von den sogenannten ,,additioneIlen In¬ 
fektionen“ als kleines Sicherheitsventil 
für die scheinbar so handgreiflichen Be¬ 
obachtungen der alten Ärzte, für die 
nicht auszurottende Ansteckungsfurcht 
des Publikums und als Rechtfertigung 
bestehender Bestimmungen und Vor¬ 
schriften (Wohnungsdesinfektion, Kran¬ 
kenhausdesinfektion, Anlage offener Ab¬ 
teilungen, Friedenssanitätsordnung) übrig¬ 
blieb. Sehr vorsichtig nur wich Frey- 
muth(4) von der Römerlehre ab. Er 
erklärte den tuberkuloseinficierten Orga¬ 
nismus für immun gegen die krank¬ 
machende Wirkung einer selbst längere 
Zeit fortgesetzten Aufnahme kleinerer 
Mengen von Bacillen. Daraus aber, daß 
er ausdrücklich nur von kleineren Mengen 
spricht, läßt sich doch wohl der Schluß 
ziehen, daß die Sache bezüglich größerer, 
massiger Infektionen nicht ganz so klar 
liegt. Auch Hamburger (5) hält nicht 
absolut an dem Dogma der Autoinfektion 
fest. Ähnlich steht Ranke (6). Etwas 
entschiedener treten Selter (7), Hillen- 
b e r g(8) und R o e p k e(9) für die Möglichkeit 
einer exogenen Infektion ein, namentlich, 
wenn sie massig einsetzt. Am meisten 
erwärmensich von Hayek(lO), und beson¬ 
ders Gemach (11), Ast (12), Hochhaus 
(13), Sch lesin ge r(14) undAssmann(15) 
für die Möglichkeit exogener Tuberkulose¬ 
infektionen im Alter des Erwachsenen. 
Sieht man die Literatur durch, so ge¬ 
winnt man den Eindruck, daß sich seit 
der zweiten Hälfte des Krieges wieder 
mehr Forscher für die additioneile An¬ 
steckung erwärmen, als früher. Weiter 
unten wird sich zeigen, daß das kein 
bloßer Zufall ist. 

Nicht unerwähnt möge bleiben, daß 
der Altmeister Koch (16) selbst die 
Möglichkeit der Verschlimmerung eines 
tuberkulösen Krankheitsprozesses durch 
Ansteckung von außen anerkannt hat. 

Ich selbst hatte im Kriege Gelegenheit, 
mir an der Hand eines ungewöhnlich 


großen und ungewöhnlich gut „sortierten“ 
Krankenmateriales ein eigenes Urteil über 
die Frage der exogenen Tuberkulöse-, 
infektion im Erwachsenenalter zu bilden. 
Ich hatte in den ersten Jahren gegen 100, 
später immer noch 50 Lazarette in zwei-; 
monatlichen Abständen zu bereisen und 
alle inneren Kranken darin zu unter¬ 
suchen. Auch wurde ich vom Kriegs¬ 
sanitätsinspekteur und vom Sanitätsamt 
zur Tuberkulosebekämpfung herange^ 
zogen, so daß ich wenigstens in Tuber¬ 
kulosefragen ‘ leicht einen statistischen 
Überblick über sämtliche 178 württem- 
bergischen Heimatlazarette erhalten 
konnte. Endlich leitete ich selbst eine 
große Tuberkulosebeobachtungsstation. 

In der ersten Zeit schien 'mir wie so 
vielen anderen die Entwicklung der Dinge 
ganz im Sinne der Römerschen Lehre 
zu sprechen. Es war Schröder(17)durch¬ 
aus zLizustimmen, wenn er in diesem 
Sinne von einem ätiologischen Experiment 
größten Stiles sprach. War doch bei den 
Feldtruppen und besonders in den ersten 
Jahren des Krieges ganz ungleich viel 
weniger Gelegenheit zu exogener In¬ 
fektion, als bei den gleichen Menschen 
daheim in Arbeitsstätten und an Orten 
des öffentlichen Verkehrs. Wenn trotzdem 
viele Feldzugsteilnehmer erkrankten, so 
war man doch wohl gezwungen, die Strapa¬ 
zen des Krieges und die relativ dazu unzu¬ 
längliche Ernährungslage als anergische 
Periode anzusehen und dieser die Schuld 
an der Reinfektion der von den Anatomen 
(siehe z. B. Möckeberg (18) gefundenen 
alten Herde zuzuschieben. 

Daß die Tuberkuloserkrankungen in 
der Heimat bald noch mehr Zunahmen, 
wie beim Feldheer, ließ sich für die Männer 
leicht durch die Ausmusterung der 
schwächlicheren Konstitutionen, für die 
Frauen durch die Überbürdung mit un¬ 
gewohnt harter Arbeit erklären. Auch 
wurde in der Heimat wohl noch mehr ge¬ 
hungert als bei der Feldtruppe. 

Auffallend war mir nun aber, daß 
bald, nachdem wir schon im Sommer 1915 
begonnen hatten, alle tuberkulösen Heere^- 
angehörigen sehr streng in Sonderlaza¬ 
retten (Beobachtungsstationen, Heilstät¬ 
ten und Siechenstationen) unterzubringen, 
beim fachärztlichen Beirat Klagen über 
Ansteckungsfälle im Personal laut wurden. 
Diese Klagen gingen mir zunächst vom 
Roten Kreuz zu, welches seine Helferinnen 
und Hilfsschwestern so ziemlich in alleri 
Lazaretten hatte. Sie betrafen im wesent- 




Februar 


43 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


liehen ein Lazarett, welches, als"Lungen¬ 
heilstätte geltend, zahlreiche offene Tuber¬ 
kulosen beherbergte. Wie kam das Rote 
Kreuz dazu, gerade auf dieses Lazarett 
hinzuweisen ? Allgemeine Tuberkulose¬ 
furcht war es wohl nicht. Erkrankten 
doch gelegentlich auch in diesen und jenen 
nicht mit Tuberkulösen oder nur mit 
leicht Tuberkulösen belegten Lazaretten 
Rotekreuzschwestern an Tuberkulose. 
Ich ging der Sache nach und fand heraus, 
daß die Klagen berechtigt waren. In 
dem bewußten Lazarett erkrankten in 
der Tat ganz auffallend viel vorher als 
gesund eingestellte Schwestern an Tuber¬ 
kulose. Auch die Lazarettleitung selbst 
machte sich ihre Gedanken und tat das 
Mögliche, um dem Übel zu steuern. 
Bald kamen gleichlautende Klagen über 
ein zweites Lazarett hinzu, das als Siechen- 
station und Absterbehaus fast nur schwere 
offene Tuberkulosen -beherbergte. Das 
mußte doch zu Bedenken Anlaß geben, 
ob nicht in den genannten Anstalten 
Kontakte am Kranken vorkämen. 

Nun kamen natürlich, wie in der Be¬ 
völkerung sonst, so auch beim Ver- 
waltungs- und Pflegepersonal der ver¬ 
schiedensten, sicher nicht dauernd mit 
aktiv Tuberkulösen belegten Lazarette 
Erkrankungen an Tuberkulose vor. Sie 
mußten z. B. in den zahlreichen Ver¬ 
wundetenlazaretten ohne weiteres als 
metastasierende Autoinfektion im Sinne 
Römers aufgefaßt werden. Wenn sich 
aber auf breiter Grundlage nachweisen 
ließ, daß die Zahl solcher Personal¬ 
erkrankungen in den Tuberkuloselaza¬ 
retten und insonderheit auf den offenen 
Abteilungen den Durchschnittswert in 
den anderen Lazaretten wesentlich über¬ 
stieg, so mußte doch neuerdings der Ge¬ 
danke erörtert werden, ob nicht. bei 
Gelegenheit zu massiger und, dauernder 
exogener Infektion neben der endogenen 
Reinfektion, auch die additioneile Neu¬ 
ansteckung, d. h. der Kontakt am Kranken 
eine Rolle spielen könne. 

Da in Württemberg im ganzen 178 
Lazarette bestanden, von denen 27 teils 
Tuberkuloseabteilungen hatten, teils reine 
Tuberkuloselazarette waren, und da es 
sich im ganzen um rund 20000 Kranken¬ 
betten handelte, so ließ sich eine auf 
breiter Basis fundierte Enquete veran¬ 
stalten. Eine solche Untersuchung bot 
auch eine gewisse Gewähr für Sicherheit, 
weil dank der glänzenden Organisations¬ 
gabe des Obergeneralarztes Prof, von 
Lasser und der weitgehenden Kompe¬ 


tenzen zahlreicher spezialistisch vorge¬ 
bildeter Beiräte eine eingehende Speziali¬ 
sierung und sehr engmaschige Kontrolle 
dieser Heimatlazarette durchgeführt und 
damit eine ziemlich reinliche Scheidung 
des gewaltigen Krankenmateriales erreicht 
war. Man konnte also ziemlich sicher sein, 
aktive oder gar offene Tuberkulosen 
längere Zeit hindurch nur an ganz be¬ 
stimmten Orten zu finden. 

Ich erbat und erhielt daher im Sommer 
1918, nachdem die Tiiberkulosesonderr 
abteilungen mindestens drei Jahre be¬ 
standen hatten, vom Kriegssanitäts¬ 
inspekteur die Erlaubnis, sämtliche 178 
Heimatlazarette zu dienstlichen Mel¬ 
dungen darüber zu veranlassen, ob sich 
während des Krieges Personalerkran- 
kiingen an Tuberkulose überhaupt gezeigt 
und wie sich dieselben gegebenen Falles 
auf die Ärzte, auf das Verwaltungsper¬ 
sonal und auf das Pflegepersonal verteilt 
hätten. Besondere Rücksicht wurde bei 
diesen Meldungen auf die Tuberkulose¬ 
lazarette resp. -Abteilungen genommen, 
so daß sich ergeben mußte, ob diese eine 
stärkere Frequenz an Personaltuber¬ 
kulosen hatten als die gewöhnlichen 
Lazarette. 

Sehen wir zunächst, wie es mit den 
Personalerkrankungen an Tuberkulose in 
den 151 Lazaretten stand, die keine Tuber¬ 
kuloseabteilung hatten und demgemäß 
aktive oder gar offeneTuberkulosen immer 
nur ganz vorübergehend beherbergt haben 
können. Naturgemäß- kamen auch in 
diese Lazarette mit den Lazarettzügen 
tuberkulöse Heeresangehörige. Diese 
wurden aber bei den wöchentlichen Mel¬ 
dungen an die Centralstelle, wenn sie 
erkannt waren, bald eliminiert. Waren 
sie nicht erkannt, so dürften sie im 
höchsten Falle bis zu etwa zwei Monaten 
in den Lazaretten verblieben sein, denn 
in diesen Zwischenräumen hatten die 
fachärztlichen Beiräte die Lazarette zu 
besuchen. Die Tabelle I faßt die Mel¬ 
dungen dieser Lazarette zusammen. In 
Spalte 1 der Tabelle ist die laufende 
Nummer der 178 Anstalten aufgeführt, 
in Spalte 2 der Ortsname. In Spalte 3 
ist angegeben, ob es sich um ein Reserve¬ 
oder Vereinslazarett gehandelt hat. Die 
Spalten 4, 5 und 6 geben an, ob die 
Erkrankten zum Ärzte-, Verwaltungs¬ 
oder Pflegepersonal gehörten. Das letztere 
ist meistens gesondert als männlich (m) 
oder weiblich (w) angegeben. In der 
letzten Spalte 7 findet sich die Summe der 
Erkrankungsfälle beim Gesamtpersonal. 





Aulendorf . 
Blaubeuren. 
Cannstadt . 
Cannstatt . 
Cannstatt . 
Freudental . 
Heilbronn . 

Kirchheim . 
Liebenzell . 

Ludwigsburg 

Niedernau . 
Oehringen . 
Ravensburg 
Stuttgart . 
Stuttgart . 
Stuttgart . 

Stuttgart . 

Stuttgart . 
Stuttgart . 

Stuttgart . 

Stuttgart . 

Tailfingen . 
Tübingen . 

Wolfegg , . 


Sum- 24 Lazarette von | 
me: 151 Lazaretten i 


Vereinslazarett 
Vereinslazarett 
Vereinslazarett 
Reservelazarett I 
Reservelazarett II 
Genesungsheim 
Reservelazarett III 

Vereinslazarett 
Reservelazarett . . 

Reservelazarett II 

Reservelazarett 
Vereinslazarett 
ReserveJazarett 
Reservelazarett II 
Reservelazarett V 
Reservelazarett V 
Marienhospital 
Resevelazarett VI 

Reservelazarett VII 
Reservelazarett VIII 

Reservelazarett X 

Reservelazarett XI 

Vereinslazarett 
Reservelazarett II 

Vereinslazarett 


—männl.: 1 


I wbl.:l(alteTb?) | 
! m.: 1 (alte Tb!) ' 
i ml.: 1 (alte Tb!) , 
i weibl.: 1 


männl.: 2 (l La¬ 
borant) 


männl.: 1 


I weibl.; 1 
‘ männl.: 2 
: weibl.: 1 
I männl.: 4 
i weibl.: 3 
männl.: 1 
weibl.: 2 
männl.; 3 
männl.: 1 
männl.: 1 
weibl.: 4 

männl.: 1 
weibl.: 1 
männl.: 2 
männl.: 1 
weibl.: I 
männl.: 2 
weibl.: 5 
männl.: 2 
weibl.: 1 
wbl.: 1 Verdacht 
männl.: 1 
weibl.: 1 



Darunter sind 

Reservelazarette — meist in größeren Städten: 16 mit Erkrankungsziffer. 

Vereinslazarette:.8 mit Erkrankungsziffer. 

Die Erkrankungen verteilen sich auf das Personal in folgender Weise; 

Ärzte. 

Verwaltungspersonal | ! 0 } ± 

Pflegepersonal { Sief.’ : 23 } E® 


Da zeigt sich nun, daß von 151 
Lazaretten ohne Tuberkuloseab¬ 
teilung 24 d. h. 16% Tuberkulose¬ 
erkrankungen beim Personal zu 
melden hatten; 137 d. h. 84% gaben 
negative Meldungen ab. Es handelte 
sich um 3 Ärzte, 4 männliche Ver¬ 
waltungsbeamte und je 23 männliche und 
weibliche Pflegepersonen, zusammen also 
um 46 Menschen, die in der unmittel¬ 
baren Krankenpflege beschäftigt waren. 
Die Gesamterkrankungsziffer in diesen 
151 Lazaretten betrug 53, 


Hervorzuheben wäre noch, daß von 
den 24 Nichttuberkuloselazaretten, welche 
Tuberkulosefälle beim Personal meldeten, 
16 Reservelazarette in Städten und nur 
8 Vereinslazarette auf dem Lande waren. 
Da man wohl annehmen muß, daß die 
53 in diesen Lazaretten erkrankten Per¬ 
sonen aus sich selbst heraus reaktiviert 
worden sind, daß additioneile Infektionen 
durch vorübergehend auch in diesen 
Lazaretten anwesende tuberkulöse Heeres¬ 
angehörige überaus unwahrscheinlich 
sind, so zeigt sich in sehr schöner Weise, 





























Februar 


Pie Therapie der^.Oegep^airt .1921 


, Tab.e 11 e 2. 

Perso'aalerkrankungen an Tuberkulose hatten aufziiweisen: 
von 27 Lazaretten mit Tüberkulosestatioh 15 = 56% dieser Lazarette. 
. . • Die Erkrankungen verteilen sich auf: 



Lazarett 


Verwendung 


Etwaige Es ereigneten sich 
Zahl der gyf nicht auf 
tuber- . 
kulösen 

Patienten Station Station 


1 Alpirsbach . . | Reservelazarett 
4 Elisabettenberg | Reservelazarett 


5 Gmünd . . . 

6 . Göppingen . . 

7 Heilbronn . ; 

9 Hornegg . . . 

11 Ludwigsburg . 

13 Nagold' . 

14 Reutlingen . . 

17 Solitude . . . 

18 Stuttgart. . . 

20 Tübingen. . . 

21 Tübingen . . . 

25 Ulm. 

27 Wilhelmsheim 


Reservelazarett 
Vereinslazarett 
Reservelaz. I 

Reservelazarett 
Reservelaz. I 

Reserve lazarett 

Reservelazarett 
Reservelazarett 
Reservelaz. I 
Reservelaz. I 

Reservelaz. III 
Fest.-Hpt.-Laz. 
Vereinslazarett 


Beobachtstat.; Heilstätte; 

Pflegestätte.. Offene Tb.! 
Beobachtungsstation u. P.flege- 
stätte; offene Tb.! 
Sonderstation für Tb. 
Sonderstation für Tb. 
Beobachtungsstafon u. Sonder¬ 
station für offene Tb. 

Nur Beobachtungsstation 
Beobachtungsstation u. Sonder-^ 
Station für offene Tb. 
Pflegestätte." Fast nur 

offene Tb. 

Sonderstation für Tb. 
Sonderstation für'Tb. 

Nur Beobachtungsstation 
Sond§rstation-für Tb.; in de.r 
Regel nicht belegt. 

Nur Beobachtungsstation 
Pflegestation ‘ ' 

Beobachtungsstat. u. Heilstätte 



[5l| j 

Erkrankungen 


Zu samm en 

iTn 


Erkrankungen 


Die Erkrankungen verteilen sich auf das Personal in folgender Weise: 


auf der nicht 
Tb- auf Tb- 
Station Station 


Verwaltungspersonal 1 
Pflegepersonal | 


\ rnännlich 
weiblich 
männlich. . . 
weiblich . . . 


daß die Gelegenheit zur Reaktivierung 
alter tuberkulöser Prozesse unter den 
ungünstigen Verhältnissen der dichter und 
dauernder belegten und mit Nahrungs¬ 
mitteln schlechter versorgten Lazarette 
der Städte eine bessere war als unter 
den in jeder Beziehung günstigeren Ver¬ 
hältnissen der ländlichen Vereinslazarette. 

Weiter nun zu den 27 Lazaretten mit 
Tuberkuloseabteijungen. Von diesen 
meldeten 15 d. h.. 56% Personalerkran¬ 
kungen an Tuberkulose, trotzdem sie 
unter ähnlich guten und 'teilweise hin¬ 
sichtlich der Verpflegung noch besseren 
Verhältnissen arbeiteten, wie die oben 
hervorgehobenen Vereinslazarette. Man 
beachte: 151 Lazarette ohne 


Tuberkuloseabteilungen hatten 
in 16% positive und in 84% ne¬ 
gative Meldungen bezüglich Per¬ 
sonalerkrankungen an Tuberku¬ 
lose. 27 Lazarette mit Tuberkü- 
loseabteilungen hatten in 56% 
positive und in 44% negative Mel¬ 
dungen aufzuweisen. Das Nähere 
ergibt die Tabelle 2. Diese enthält in 
Spalte 1 wiederum die laufende Lazarett¬ 
nummer, in Spalte 2 ist der Ortsname und 
die Angabe, ob Reserve- Vereins- oder 
Festungslazarett enthalten. In Spalte 3 
ist angegeben, ob es sich um eine Beob¬ 
achtungsstation, eine Heilstätte oder ein 
Siechendepot gehandelt hat. Spalte 4 
bringt die ungefähren Bettenzahlen der 
















46 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Februar 


betreffenden Tuberkuloseabteilungen. 
Spalte 6 und 7 geben an, ob sich die 
Erkrankungsfälle auf der Tuberkulose¬ 
station oder auf einer nicht mit tuber¬ 
kulösen Kranken belegten Station des 
gleichen Lazarettes ergeben haben. In 
absoluten Zahlen ausgedrückt er- 
giebt die Tabelle 2 dann auch, daß 
in 151 Lazaretten ohne Tuber- 
kiiloseabteilung 53 d. h. 0,35 Men¬ 
schen pro Lazarett, in 27 Laza¬ 
retten mit Tuberkuloseabteilung 
aber 71 d. h. 2,6 Menschen pro 
Lazarett an Tuberkulose erkrank¬ 
ten. Im einzelnen erweist sich, daß 4 
Ärzte, 15 Verwaltungsbeamte (10 männ¬ 
liche und 5 weibliche), 32 Pflegepersoneh 
18 männliche und 14 weibliche) unmittel¬ 
bar auf den Tuberkulosestationen der 
betreffenden Lazarette; 1 Arzt, 4 männ¬ 
liche Verwaltungsbeamte und 15 Pflege¬ 
personen (zwölf männliche und drei weib¬ 
liche) auf den nicht mit tuberkulösen 
Heeresangehörigen belegten Stationen.des 
gleichen Lazarettes erkrankten. Während 
also in den 151 überhaupt nicht mit 
Tuberkulösen belegten Lazaretten ins¬ 
gesamt drei Ärzte, vier Verwaltungs¬ 
beamte und 46 Pflegebedienstete erkrank¬ 
ten, waren in den 27 Tuberkuloselazaret¬ 
ten fünf Ärzte, 19 Verwaltungsbeamte 
und 47 Pflegepersonen als tuberkulös 
erkrankt gemeldet. 

Für den Kundigen sagt die Tabelle 2 
aber noch mehr, als aus den einfachen 
Zahlen zu ersehen ist. Sie enthärlt nämlich 
die beiden Lazarette, derentwegen sich 
der fachärztliche Beirat veranlaßt sah, 
die Umfrage zu veranstalten: Nagold 
und Alpirsbach. 

Was zunächst Nagold betrifft, so 
waren in der Nähe dieser Schwarzwald¬ 
stadt in einem waldigen Seitentale große 
Mengen offner dritter Stadien unterge¬ 
bracht, die von den Beobachtungssta¬ 
tionen und Heilstätten als zu progredient 
für eine aussichtsreiche Behandlung ab¬ 
geschoben werden mußten. Die Leute 
verblieben dort, bis ihr Entlassungsver¬ 
fahren in geeignete Zivilpflege abge¬ 
schlossen war, oder starben auch dort ab, 
wenn eine entsprechende Zivilunter¬ 
bringung nicht oder nicht mehr möglich 
war.. Bei der Notwendigkeit, eine der¬ 
artige Siechenstation für Tuberkulöse 
zu errichten, hatten sich beträchtliche 
Schwierigkeiten ergeben. Niemand wollte 


sie haben. Alle Zivilanstalten und Kran¬ 
kenhäuser, die ihre Betriebe zu Lazarett¬ 
zwecken zur Verfügung gestellt hatten, 
wehrten sich auf das entschiedenste da¬ 
gegen, mit größeren Mengen schwer 
Tuberkulöser belegt zu werden.' Die 
Furcht der Zivilbehörden und teilweise 
auch des Publikums war eine große. Nach 
der Ansicht einer sehr beträchtlichen 
Anzahl von modernen Tuberkuloseärzten 
wäre diese Furcht für die erwachsene 
Umgebung unbegründet gewesen. Schlie߬ 
lich blieb nichts übrig, als ein militär¬ 
fiskalisches Gebäude, das frühere Militär¬ 
genesungsheim des XI11. Armeekorps, 
das völlig abseits menschlicher Wohn¬ 
stätten und dabei in gesundheitlich un¬ 
gewöhnlich günstiger Lage gelegen war, 
im Befehlswege zu bestimmen. In diesem 
Siechenhause wurde von Anfang an mit 
größtmöglicher Vorsicht verfahren. Vor 
allem ließ man das Pflegepersonal in ge¬ 
wissen Zwischenräumen —14 J^hr) 

wechseln. Trotzdem erkrankten an diesem 
Lazarett acht Menschen auf der offenen 
und einer auf der geschlossenen, nur ge¬ 
legentlich auch mit anderen Kranken 
notgedrungen belegten Station, die in 
einem getrennten Gebäude jenseits der 
Straße untergebracht war. Man be¬ 
achte: In 151 Nichttuberkulose¬ 
lazaretten erkrankten 53 Menschen, 
das heißt 0,35 pro Lazarett. In 
27 Tuberkuloselazaretten erkrank¬ 
ten 71 Menschen, das heißt 2,5 Men¬ 
schen pro Lazarett. Allein indiesem 
einen Siechenhaus erkrankten trotz 
großer Vorsicht und namentlich 
häufigem Personalwechsel neun 
Menschen. 

Will man selbst die ganze Sta¬ 
tistik in ihrer Aufmachung nicht 
gelten lassen, so bleibt doch fol¬ 
gende Tatsache: Faßt man allein 
die offene Siechenstation von Na¬ 
gold ins Auge, so erhält man eine 
Erkrankungsziffer von acht. Stellt 
man dem alle 177 anderen Laza¬ 
rette einschließlich der 26 an¬ 
deren Tuberkuloselazarette mit 
ihren 53 plus 71 weniger 8, das 
heißt mit insgesamt 116 Erkran¬ 
kungen gegenüber, so erhält man 
eine Durchschnittsziffer von 0,65 
pro Lazarett. Acht gegen 0,65, das 
gibt doch zu denken. 

(Schluß folgt.) 





Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


47 


Aus der dritten medizinisclien Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses in Wien. . 

Diagnostische und therapeutische Irrtümer bei der gonorrhoischen 

Arthritis. 

Von Professor Dr. Hermann Schlesinger. 


Meine Herren! Die Klinik der gonor¬ 
rhoischen Arthritis hat oft eine eingehende 
Bearbeitung und Darstellung gefunden. 
Dennoch ereignen sich nicht selten Fehl¬ 
diagnosen, welche recht peinliche Konse¬ 
quenzen nach sich ziehen können. Dies 
mag bei vielen Praktikern die Folge ge- 
• wisser festeingewurzelter Vorstellungen 
sein, welche noch aus der Zeit über¬ 
nommen wurden, in der die Klinik und 
die Behandlung der gonorrhoischen Ar¬ 
thritis weniger gut gekannt war. 

Auf Grund einer recht umfangreichen 
persönlichen Erfahrung — ich dürfte in 
30 Jahren Spitalstätigkeit mehrere 
hundert Fälle gesehen haben — möchte 
ich die Häufigkeit dieser Gelenkscrkran- 
kung betonen. Atypisches Verhalten er¬ 
schwert bisweilen die Erkennung, in den 
meisten Fällen wird aber die Diagnose 
möglich, wenn man folgende, oft von mir- 
den Hörern hervorgehobenen wesent¬ 
lichen Momente berücksichtigt: 

Die gonorrhoische Arthritis ist vor¬ 
wiegend oligo-artikulär, verläuft zumeist 
mit außerordentlich heftigen Schmerzen 
und führt in vielen Fällen frühzeitig zur 
Versteifung der Gelenke. Das Herz bleibt 
in de ungeheuren Mehrzahl der Fälle 
frei von Veränderungen. Die gewöhnliche 
antirheumatische Therapie, namentlich 
die Salicylbehandlung versagt; hingegen 
ruft subkutane oder intravenöse Einver¬ 
leibung von Gonokokken-Vaccine außer 
einer fieberhaften Allgemeinreaktion in 
der Regel eine Lokalreaktion in den er¬ 
krankten Gelenken, später Rückbildungs¬ 
vorgänge der Erscheinungen hervor, 
welche durch Stauungsbehandlung be¬ 
schleunigt werden. Die Blenorrhoe des 
Genitaltraktes kann zur Zeit des Fort¬ 
bestandes der Gelenksaffektion schon 
lange abgeklungen sein; besteht sie aber, 
so ist eine Verschlimmerung der Genital¬ 
affektion häufig von einer Verschlechte¬ 
rung des Gelenksprozesses gefolgt. 

Die angeführten diagnostischen Sätze 
bedürfen einer kurzen Erläuterung. Wohl 
ist die stets in der Literatur hervorge¬ 
hobene Bemerkung richtig, daß eine akute, 
isolierte Erkrankung des Knie- oder 
Sprunggelenkes an gonorrhoische Arthritis 
denken läßt. Aber es ist mindestens 
gerade so häufig, daß mehrere Gelenke 
an den oberen oder unteren Extremitäten 


gleicjhzeitig affiziert werden. In der Regel 
sind nur mehrere große Gelenke gleich¬ 
zeitig befallen, aber daneben können 
Finger- und Zehengelenke multipel an¬ 
schwellen. Wir sehen namentlich bei 
Frauen konform mit-Beobachtungen von 
Nasse oft gonorrhoische Rheumatismen 
an den oberen Extremitäten, besonders 
in den Hand- und Ellbogengelenken. 

Bei dieser Gelegenheit sei betont, daß 
die häufig geäußerte Ansicht, gonor¬ 
rhoische Arthritis sei seltener bei Frauen, 
wenigstens an unserem Materiale nicht 
zutrifft. Die Erkrankung verläuft weder 
seltener, noch leichter als bei Männern. 

Nicht selten beobachtet man af ebri le, 
schleichend e i n s e t z e n d e Formen, 
welche leicht zu Fehldiagnosen Veran¬ 
lassung geben, da zur Zeit der Entwick¬ 
lung der Gelenksleiden eine Gonorrhoe 
nicht oder kaum nachweisbar ist. Die 
Zugehörigkeit dieser, oft als chronische 
Rheumatismen angesprochenen Erkran¬ 
kungen zu den blenorrhagischen geht aus 
der typischen Reaktion nach Einver¬ 
leibung von Gonokokken-Vaccine (Ar- 
thigon) und aus den klinischen Er¬ 
scheinungen hervor. 

Die Schmerzhaftigkeit der gonor¬ 
rhoischen Gelenkserkrankung ist regel¬ 
mäßig so erheblich, daß ein schmerzloser 
oder nur wenig schmerzhafter Verlauf 
einer Arthritis eigentlich von vornherein 
gegen ihren blenorrhagischen Charakter 
spricht. Nur wenige Geienksaffektionen 
— so die bei Hämophilie, die nach 
schweren septischen Erkrankungen — 
sind dauernd so schmerzhaft wie die 
gonorrhoischen. Viele Kranke machen 
Wochen- und monatelang ein wahres Mar¬ 
tyrium durch, da nicht einmal die bereit« 
eingetretene Ankylose die ersehnte 
Schmerzfreiheit bringt. Auch bei ruhig 
gestelltem Gelenke sind fortwährend quä¬ 
lende Empfindungen vorhanden, welche 
wenigstens in den akuten Fällen durch 
geringe ungewollte Bewegungen und Er¬ 
schütterungen des Körpers unerträglich 
gesteigert werden. Die Ausnahmen von 
dieser Regel sind ziemlich selten; zu den¬ 
selben gehören mitunter der gonorrhoische 
Hydrops der Gelenke, welcher nur geringe 
Schmerzen verursachen kann. 

Die Versteifung der Gelenke ist 
stets bei der gonorrhoischen Arthritis zu 





Die- Therapie der Gegenwart 1921 


Februar 


48 


befürchten. Sie setzt oft überraschend 
schrieli nach den ersten Erscheinungen 
ein. Diese Erfahrung drängt zu früh¬ 
zeitiger, energischer Behandlung der ble- 
norrhagischen Affektion und zeigt die 
Gefahren einer Fehldiagnose mit ihren 
manchmal irreparablen Konsequenzen. 
Denn die Ankylosierung ist entgegen den 
Anschauungen mancher hervorragender 
Chirurgen fast immer vermeidbar. Es 
ist mir kein Fall in Erinnerung, welchen 
ich während der vielen Jahre meiner 
Spitalstätigkeit einem Chirurgen wegen 
einer schweren Ankylosenbildung hätte 
zuweisen müssen. Nur selten, in manchen 
besonders schwer verlaufenden Fällen, 
auch nach zu spät einsetzender Behand¬ 
lung mag eine der sinnreich erdachten 
Operationen wegen Ankylose der Gelenke 
erforderlich sein. Bloß gegen die gonor¬ 
rhoische Wirbelsäulenversteifung, welche 
vollausgebildet dem Bilde der Spondylose 
‘ Rhizomelique entspricht, sind wir thera¬ 
peutisch machtlos. Von dieser glück¬ 
licherweise nicht allzuhäufigen Form habe 
ich im unmittelbaren Anschlüsse an gonor¬ 
rhoischen Rheumatismus • mehrere Fälle 
beobachtet. 

Eingangs wurde hervorgehoben, daß 
das Herz in der Regel von anatomischen 
Veränderungen frei bleibt. Allerdings sind 
gonorrhoische Endocarditiden wiederholt 
beschrieben und eingehend geschildert 
worden, ich selbst habe mehrere Fälle der 
von Gohn und Schlagenhaufer ge¬ 
schilderten Formen beobachten können, 
jedoch handelt es sich stets um Raritäten. 
Dies kann nicht genug unterstrichen 
werden, weil ich selbst in ausgezeichneten 
Darstellungen, wie in der von Nobl die 
Ansicht vertreten finde, daß die Endo- 
carditis gonorrhoica ,,oft genug'‘ die blen- 
norrhagische Arthritis kompliziert. Auf 
viele, viele Dutzende von gonorrhoischer 
Arthritis entfällt nur ein Fall von Endo- 
carditis, d. h. der Praktiker hat bei dieser 
Gelenkskrankheit in der Regel mit in¬ 
taktem Herzen rechnen. Ein manifester 
Klappenfehler, resp. eine ausgesprochene 
Endocarditis lassen eher an eine andere 
Form einer Gelenkserkrankung denken. 

Nicht allgemein bekannt ist, daß 
selbst nach Ablauf oder scheinbarem 
Ablauf der Gonorrhoe des Genital¬ 
traktes die Gelenksaffektion noch 
fortschreiten kann. Besonders die 
fieberlosen, schleichend einsetzenden For¬ 
men gelangen dann zur Entwicklung. Wir 
haben wiederholt im Krankenhaus ge¬ 
sehen, daß das Vaginal- oder Urethral¬ 


sekret frei von Gonokokken war, während 
Gonokokkenvaccine, -subkutan eipver- 
leibt, eine stürmische Reaktion im kran¬ 
ken Gelenke hervorrief. 

Eine Kranke mit schwerer Omarthritis, welche 
wegen rasender Schmerzen Morphium-Injektionen 
erhalten mußte, hatte keinen Fluor, angeblich 
auch früher nie einen Ausfluß bemerkt. Das 
Vaginal- respektive Urethralsekret erwiesen sich 
bei wiederholten Untersuchungen als gonokokken¬ 
frei. Intravenöse Injektion von Arthigon erzeugte 
nicht nur Fieber, vorübergehende Zunahme der 
Gelenkschwellung und der Schmerzen, sondern 
auch eine plötzliche schmerzhafte Schwellung 
der Parametrien, in welchen sich offenbar blenor-- 
rhagische .Depots befanden. Wiederholte In¬ 
jektionen des gleichen Mittels führten zur Heilung 
des Gelenkprozesses. 

Da solche schleichende Arthritiden 
manchmal zur Entstehung schwerer Mus¬ 
kelatrophien Veranlassung geben, ist 
es verständlich, daß bisweilen die Ge¬ 
lenkserkrankung als sekundäres Leiden 
imponiert, während'man die Muskelatro¬ 
phie auf ein Nervenleiden bezieht. So sind 
uns wiederholt Kranke unter der Diagnose 
einer spinalen Muskelatrophie zugegangen, 
welche eine artikuläre Muskelatrophie 
nach Arthritis gonorrhoica hatten. Früh¬ 
zeitig und erheblich pflegt der periarti- 
kuläre Muskelschwund bei der Erkrankung 
des Schultergelenkes zu sein. 

Gerade die Lokalisation im Schulter- 
.gelenk pflegt zu einem anderen diagnosti¬ 
schen Irrtum zu führen. Bekanntlich gibt 
es eine, zumeist bei älteren Individuen 
auftretende, isolierte Erkrankung des 
Schultergelenkes, welche zu einer Ver¬ 
steifung des-Gelenkes führt. Sie nimmt 
ihren Ausgangspunkt von den periarti- 
kulären Schleimbeuteln unter dem Del- 
'toideus und von der Bicepssehne, resp. 
deren nächster Umgebung. Diese Omar¬ 
thritis (Maladie de Duplay) kann durch 
eine gonorrhoische Arthritis vorgetäuscht 
werden. Die unrichtige Diagnose bewirkt 
die Unterlassung der wirksamen spezifi¬ 
schen Therapie. 

Heftige, die blenorrhagische Arthritis 
begleitende Schmerzen können Neural¬ 
gien Vortäuschen. Allerdings muß die 
Einschränkung der. Beweglichkeit im Ge¬ 
lenke, sowie die Druckempfindlichkeit 
desselben sehr bald den Nervenschmerz 
als sekundäre Leiden erkennen lassen. 

Sehr oft verleitet eine vorhandene 
gonorrhoische Arthritis zu der Lieblings¬ 
diagnose vieler Ärzte bei schmerzhaften, 
mit Bewegungsstörung verbundenen Pro¬ 
zessen : Muskelrheumatismus oder 
Gicht. Wer sich zur Regel gemacht hat, 
erst dann an Muskelrheumatismus zu 





Februar 


Die Therapie der 


denken, wenn andere, zu Verwechslung 
führende Erkrankungen ausgeschlossen 
sind, der wird bei der Untersuchung bald 
ersehen, daß ein vielleicht vorhandener 
Muskelschmerz nur eine Zugabe zu einer 
Gelenksaffektion darstellt. Die Gelenks- 
affektjon wird dann unter Berücksichti¬ 
gung der eingangs, erwähnten Charaktere 
leicht sich als gonorrhoische deuten lassen; 
Das Fehlen anderer gichtischer. Erschei¬ 
nungen läßt Gicht zumeist auch ohne 
Stoffwechseluntersuchungen ausschließen.. 
Auch führt die Arthritis urica in der Regel 
nicht zu dauernd schmerzenden Anky¬ 
losen der..Gelenke. Ich habe wiederholt 
Kranke mit gonorrhoischer Arthritis ge¬ 
sehen, welche Gichtkuren, natürlich ohne 
Erfolg, absolviert hatten. 

Entwickelt sich der gonorrhoische 
Prozeß als akuter, polyartikulärer, so 
liegt eine Verwechslung mit dem gewöhn¬ 
lichen polyartikulärem Rheumatis¬ 
mus nahe. Hat aber eine mehrtägige 
energische Salicyltherapie keinen erkenn¬ 
baren Einfluß auf das Geienksleiden, fehlt 
das charakteristische Wandern des Ent¬ 
zündungsprozesses von Gelenk zu Gelenk, 
so steife man sich ja nicht auf die ur¬ 
sprüngliche Diagnose. Wir wissen ja, daß 
verschiedene infektiöse Prozesse unter 
dem Bilde des akuten Gelenksrheumatis¬ 
mus einsetzen können. Unter den dann 
in Betracht kommenden sind drei prak¬ 
tisch besonders wichtig: Tuberkulose, 
Lues und Gonorrhoe. Der tuberkulöse 
Gelenksprozeß klingt, wenn er als akutes 
polyartikuläres Leiden bego.nnen hat, in 
der Regel in allen Gelenken bis auf eines 
rasch ab; das Testierende Gelenk bietet 
bald das Bild des Tumor albus dar. Die 
fieberhaft verlaufende polyartikuläre Ge¬ 
lenkssyphilis wurde vor etwa zehn Jahren, 
40 Jahre nach der ersten völlig ver¬ 
gessenen Beschreibung von mir neu ent¬ 
deckt und an meiner Abteilung von 
Huszar studiert. Diese Gelenksaffektion 
ist ausschließlich einer antiluetischen Be¬ 
handlung zugänglich. Die offenbar nicht 
extrem seltene Krankheit ist durch nächt¬ 
liche Schmerzen, positive Wassermann- 
sche Reaktion, eigenartigen Röntgenbe¬ 
fund und durch den Effekt der Therapie 
zu erkennen. 

Auffallenderweise haben wir in den 
letzten Jahren zwei Kranke gesehen, 
welche klinisch und nach dem Ergebnisse 
der Reaktionen eine Kombination von 
luetischer und gonorrhoischer Arthritis 
darboten. Beide Fälle betrafen Frauen 
mit nächtlichen Exacerbationen der 


Gegenwart. 192L; , 49 


Schmerzen, eine in den Hand- und Finger¬ 
gelenken, eine, im Sprunggelenk; beide: 
hatten positive Wässerinannsche Re'aktipn 
im Serum.. Beide sprachen aber auf 
Gonokokkenvaccine mit Fieber und Lokal¬ 
reaktion an. In beiden. Fällen wurde 
Heilung, aber erst nach einer Kombination 
von antigonorrhoisc.her und antiluetischer 
Behandlung erzielt. * 

Die' Osteo-Arthritis deformans 
mit ihrer .(trotz möglicher Remissionen) 
schlechten Prognose .darf man nicht mit 
der prognostisch viel günstigeren Ar¬ 
thritis gonorrhoica verwechseln. Gerin¬ 
gere Schmerzen und mäßigere Bewegungs¬ 
beschränkung bei stärkerer Deformation 
der Gelenksgegend lassen die Östeo-Ar- 
thritis von der subakut verlaufenden 
gonorrho’schen Arthritis ‘ unterscheiden. 
Das Malum coxae, welches als solitäre 
Gelenksaffektion eine Sonderstellung ein¬ 
nimmt, entwickelt sich langsam, schlei¬ 
chend, unter ischialgischen Schmerzen, 
welche bei Bewegung zunehmen oder sich 
nur beim Gehen zeigen; eine nennens¬ 
werte Bewegungsbeschränkung kommt 
erst nach langer Dauer'des Leidens. Die 
Coxitis gonorrhoica führt rasch zur Anky- 
losierung; die Schmerzen sistieren auch 
nicht bei Bettruhe, die geringste passive 
Bewegung der Beine steigert sie in ex¬ 
zessiver Weise. 

Mitunter beschul-digt der Kranke ein 
geringfügiges Trauma als Ursache seines 
Gelenksleidens und suggeriert das schlie߬ 
lich seinem Arzte. Ich habe einige Male 
in der Konsiliarpraxis Patienten mit der 
,,phlegmonösen Form“ (König) einer 
monartikulären Arthritis gesehen, bei 
welcher wegen dezidierter Angaben des 
Kranken gar nicht an eine gonorrhoische 
Erkrankung gedacht worden war, obgleich 
die Untersuchung noch eine rezente Go¬ 
norrhoe ergab. 

Beim Bestände einer gonorrhoischen 
Arthritis ist eine prolongierte Darreichung 
von SalizyIpräparaten oder von Ato- 
phan nicht nur .nutzlos, sondern sogar 
nicht unbedenklich, weil die für thera¬ 
peutisches Eingreifen wertvollste Zeit un¬ 
genützt verstreicht. Das gleiche gilt von 
der Bekämpfung neuralgischer Schmerzen 
durch die gebräuchlichen Antineuralgica. 
Morphinismus als Folgezustand einer un¬ 
zweckmäßig behandelten gonorrhoischen 
Arthritis habe ich bei einem Arzte und.bei 
einer rankenschwester gesehen. 

Für die Behandlung kommen im 
wesentlichen zwei Methoden in Betracht, 
deren Kombination zumeist besonders 

7 




50 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Fetirüaf 


günstige Resultate zeitigt, die Stauungs¬ 
therapie und die Behandlung mit Gono- 
kokken-Vaccine. DieStauungstherapie 
steht bei dieser Affektion fast seit einem 
Vierteljahrhundert in Verwendung, ohne 
sich die dominierende Position erobert zu 
haben, welche sie verdient. Da ich un¬ 
mittelbar nach •Bier’s ersten Publi¬ 
kationen die damals neue Behandlungs¬ 
methode bei Kranken mit Arthritis gonor¬ 
rhoica verwendete und mich seither un¬ 
unterbrochen derselben bediene, war es 
mir möglich aus vielen eigenen und 
fremden Beobachtungen zu lernen. Der 
geringe Erfolg der Stauung in manchen 
Fällen ist nach meinen Erfahrungen oft 
durch folgende Momente bedingt. Die 
Angst des Arztes, die Schmerzen zu 
steigern, macht ihn zaghaft und unsicher. 
Er läßt sich dann durch den Kranken zu 
sehr beeeinflussen. 

Als ich meine jetzige Abteilung übernahm, 
lag daselbst ein Kindsmädchen mit einer Gonitis 
gonorrhoica; es hatte sich in beiden Kniegelenken 
eine spitzwinklige Beugekontraktur entwickelt. 
Angeblich steigerte Stauung die Schmerzen. 
Die von mir neuerlich eingeleitete Stauungs¬ 
behandlung, gegen welche sich die Kranke anfangs 
sehr sträubte, konnte noch die Kontraktur 
beseitigen. Patientin konnte das Krankenhaus 
zu Fuß ohne Stock oder Stütze, schmerzfrei 
verlassen. 

ln anderen Fällen ist die Stauung von 
zu kurzer Dauer. Der Arzt läßt die 
Stauungsbinde ^ bis ^4 Stunde liegen. 
Das ist viel zu wenig! Man muß die Zeit 
der Stauung rasch verlängern. Wir lassen 
die Binden 4—8 Stunden, andere noch 
länger liegen. Ein Schaden kann nicht er¬ 
folgen, wenn die Weisung gegeben ist, bei 
• Steigerung der Schmerzen die Stauung¬ 
binde abzunehmen. 

Man kann nicht früh genug mit der 
Stauungsbehandlung beginnen. Schon 
nach vier Wochen kann feste, irreparable 
Ankylosenbildung im Gelenke vorhanden 
sein; setzt erst in diesem Augenblick die 
Behandlung ein, so kommt sie zu spät. 

Nur die ,,phlegmonösen Formen“ ver¬ 
tragen mitunter die Stauung schlecht. 
Es kommt zu Blutungen in das erkrankte 
Gelenk und dessen Umgebung und damit 
zu einer Schmerzsteigerung. Jedoch ist 
dies nur ausnahmsweise der Fall. Selbst 
bei diesen Formen sollte man von Anfang 
an wenigstens den Versuch der Behand¬ 
lung mit Stauung machen und ihn, wenn 
er nicht gelingt stets wieder nach einigen 
Tagen Pause wiederholen. Schließlich hat 
man auch bei diesen Gelenksverände¬ 
rungen Erfolg. Die phlegmonöse Form 
König’s geht ausnahmsweise in Eiterung 


( über. In der Regel handelt es sich um 
. gigantische Anschwellung des Gelenkes 
und der benachbarten Weichteile; die 
derben Schwellungen rufen wütende 
Schmerzen ‘hervor. Ist sicher Eiter im 
Gelenke vorhanden — ein sehr seltenes 
Vorkommnis —, so ist nicht Stauung, 
sondern Incision und Entleerung des 
Eiters gebo.ten. Ich habe die Stauung 
bis zum spontanen Eiterdurchbruche fort¬ 
setzen gesehen; die destruktiven Vor¬ 
gänge sind dann sicher größer, als bei 
rechtzeitiger Eröffnung. 

Fehlerhaft ist es auch mit der Stau¬ 
ungsbehandlung vorzeitig aufzuhören. Der 
Gelenksprozeß pflegt dann bald wieder 
Fortschritte zu machen. Wenn die Not¬ 
wendigkeit vorhanden- ist, dann sollte die 
Stauungsbehandlung selbst monatelang 
fortgesetzt werden. Selbstverständlich ist 
die Stauung kunstgerecht vorzunehmen; 
die Stelle soll täglich gewechselt werden, 
ein unter die Binde gelegter Gazestreifen 
schont die Haut. 

Der von den Franzosen viel empfohlene 
Watteverband oder der von vielen 
Chirurgen angewendete Gipsverband (vgl. 
die Zusammenfassungen von Nobl, H. 
Weiß, Chiari), befördert die Ankylo- 
sierung und erklärt, warum machen 
Chirurgen so reiche Erfahrungen auf dem 
Gebiete der Ankylosenbehandlung nach 
gonorrhoischer Arthritis besitzen. Die 
Immobilisierung darf so wenig als wenig 
verwendet werden. Passive Bewegungen 
währen der Stauung oder bei Anwen¬ 
dung der Heißluft, im heißen Bade, oder 
während einer Diathermiebehandlung 
sind dringend geboten. 

Die Arthigon-Therapie erfreut sich 
mit Recht einer rasch wachsenden Be¬ 
liebtheit in Behandlung der gonor¬ 
rhoischen Arthritis. Mehrmals habe ich 
therapeutische Irrtümer bei Arthigon- 
anwendung gesehen. So wurde in mehre¬ 
ren Fällen die Behandlung mit Gono- 
kokken-Vaccine eingestellt, nachdem die 
erste Injektion eine schwere Lokalreaktion 
mit Zunahme der Schwellung und Schmer¬ 
zen herbeigeführt hatte. Nicht genügende 
Kenntnis der Nebenwirkungen hatte den 
Arzt zu der Annahme veranlaßt, er hätte 
mit der Therapie geschadet. Richtiger¬ 
weise wäre die Behandlung, in gleicher 
Form fortzusetzen. Schwere Lokalreak¬ 
tionen pflegen doch schon nach der 
zweiten oder dritten Injektion zu ver¬ 
schwinden. 

In anderen Fällen sah ich eine allzu-- 
rasche Applikation der Gonokokken-Vac- 




Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1Q21 


51 


eine; sie wurde täglich verabfolgt, statt 
jeden dritten bis vierten Tag. Ein recht 
schwerer Kollaps hatte in einem Falle 
diese stürmische aber unzweckmäßige 
Therapie in fataler Weise unterbrochen. 

Die gleichen unangenehmen Zufälle 
drohen bei allzu gehäufter Anwendung 
von Milchinjektionen, welche sich uns 
sonst als wirksames therapeutisches Ver¬ 
fahren erwiesen hatten. Wir haben mehr¬ 
mals eine durch Gonokokken-Vaccine ein¬ 
geleitete Besserung des Gelenkprozesses 
unter fMilchinjektionen weitere Fort¬ 
schritte machen gesehen. 

Daß bei der Anwendung von Hei߬ 
luft die üblichen Vorsichtsmaßregeln 
nicht vernachlässigt werden dürfen, ist 


eigentlich selbstverständlich. Unbedingt 
sollte der Kranke während der Dauer 
der Heißluft- oder Heißdampfapplikation 
nicht allein gelassen werden. Ein Kranker 
meiner Konsiliarpraxis hatte während der 
Anwendung des Heißluffcapparates einen 
Ohnmachtsanfall erlitten. Während der 
Synkope zog ’er sich umfangreiche Ver¬ 
brennungen schwerster Art zu. Der 
Kranke war längere Zeit allein gelassen 
worden. 

Die Zahl der diagnostischen und thera¬ 
peutischen Irrtümer ließe sich noch er¬ 
höhen. Die Vermeidung der gewöhnlichen 
häufigen Fehler ist im Interesse des 
Patienten und des Arztes dringend zu 
wünschen. 


Aus der Deutschen Heilstätte in Davos-Wolfgang (Leitender Arzt: Dr. E. Peters). 

symptomatischen Behandlung der Lungentuberkulose 
(Holopon und Eukodal). 

Von Dr. med. Leichtweiss. I. Assistenzarzt. 


Bei der Therapie der chronischen 
Lungenschwindsucht ist die rein sympto¬ 
matische Behandlung ein nicht zu unter¬ 
schätzender Faktor. Wenn sie auch bei 
schweren und aussichtslosen Fällen zur 
Linderung des qualvollen Leidens viel¬ 
fach unsere einzige ärztliche Hilfe dar¬ 
stellt, so kann sie andererseits bei noch 
besserungsfähigen Kranken neben den 
sonstigen therapeutischen Maßnahmen 
von nicht unwesentlicher Bedeutung sein. 
Es erscheint durchaus nicht gleichgültig, 
ob der kranke Organismus durch quälen¬ 
den Hustenreiz, Schmerzen, Schlaflosig¬ 
keit usw. in seinem Kräftezustand noch 
weiter herunterkommt, oder ob ihm durch 
eine geeignete Applikation von Be¬ 
ruhigungsmitteln eine solche Erleich¬ 
terung zuteil werden kann, daß die all¬ 
gemeine Erholung dadurch gefördert und 
indirekt auch der lokale Krankheits- 
prpzeß günstig beeinflußt wird. Dabei 
soll das angewandte Narkoticum zwar 
vollwertig in der gewünschten Wirkung, 
aber möglichst frei von unangenehmen 
Nebenerscheinungen sein, wie wir das 
von den gebräuchlichsten Morphium¬ 
derivaten her kennen. 

Zwei neuere Präparate dieser Gattung, 
Holopon und Eukodal, die wir seit 
Lihgefähr neun Monaten bei einer Reihe 
von Fällen ausgiebiger angewandt haben, 
scheinen diese Vorzüge in hohem Maße 
in sich zu vereinigen, sodaß eine nähere 
Mitteilung darüber gerechtfertigt er¬ 
scheint. 


Holopon ist ein von den Byk-Guldenwerken 
in Berlin hergestelltes neues Opiumpräparat, 
das auf dem Wege der Ultrafiltration gewonnen 
ist. Durch diese physikalische Methode war es 
möglich, alle wirksamen Bestandteile des Aus- 
gahgsproduktes in ihrem natürlichen Mischungs¬ 
verhältnis in wäßriger Lösung chemisch unver¬ 
ändert zu erhalten und von wertlosen Baiast¬ 
stoffen wie Fett, Wachs, Schleimstoffe usw. zu 
befreien. Das Ultrafiltrat hat gegenüber dem 
Opium den großen Vorteil, daß es auch subcutan 
gegeben werden kann, ähnlich wie Pantopon oder 
Pavon, die ja auch sämtliche Opiumalkaloide in 
reiner Form, allerdings auf chemischem Wege 
gewonnen, enthalten sollen. Die Dosierung ist 
identisch mit der der offizineilen Tct. Opii Simplex. 

Um die Wirkung des Holopons eindeutiger 
feststellen zu können, wurde es vorzugsweise 
denjenigen Kranken verabfolgt, die schon vorher 
andere Narkotica (Tct. Opii, Pantopon, Kodein 
usw.) längere Zeit genommen hatten; im ganzen 
gelangte das Mittel bei 19 Patienten^) zur An¬ 
wendung. Bei der vielseitigen Indikationsmög¬ 
lichkeit des Präparates haben wir es zunächst als 
Antidiarrhoicum versucht. Bei akuten und chro¬ 
nischen Durchfällen nicht tuberkulöser Art war 
die stopfende und beruhigende Wirkung mit 
Ausnahme eines einzigen Falles der der Opium¬ 
tinktur mindestens gleichwertig, der des Panto- 
pons entschieden überlegen. ’ Wir kamen dabei 
immer mit zwei bis drei Tabletten, oder zwei- bis 
dreimal 15 Tropfen Holopon aus, doch wurde 
von den meisten Patienten die Lösung gegenüber 
der Tablettenform bevorzugt. Irgendwelche un¬ 
angenehme Nebenwirkungen, insbesondere Er¬ 
brechen, wurden nicht beobachtet. Auch wurde 
im Gegensatz zu Opium niemals der Appetit 
ungünstig beeinflußt. Bei drei Fällen von schwerer. 


1) Ein Teil der hier aufgeführten Fälle lag 
auf der Abteilung des früheren Assistenzarztes 
der Deutschen Heilstätte, Herrn Dr. F. Rave, 
jetzt in Todtmoos, dem ich für seine mitgeteilten 
Beobachtungen an dieser Stelle meinen verbind¬ 
lichsten Dank ausspreche. 


1 * 




5’2 ■ . . ßie .Therapie der 


piiogredieriter LLuigen-- und Därmtuberkulose 
war die Überlegenheit des' Holopons gegenüber 
jedem anderen Präparat ganz .offensichtlich. 
Mit drei-'bis .viermal täglich 15 Tropfen erreichten 
wir.eine ausgezeichnete peristaltikhemmende Wir¬ 
kung. Durch die Ruhigstellüng des Darmes 
ließen die krampfartigen, quälenden Leibschmer¬ 
zen nach, die reichlichen, sehr dünnen Stühle 
gingen auf zwei bis drei von mehr breiiger Konsi¬ 
stenz zurück, und der durch Schmerzen und 
Husten gestörte Schlaf wurde wesentlich besser. 
Später 'lioß sich allerdings bei diesen rasch fort¬ 
schreitenden Fällen die zunehmende Entkräftung 
nicht mehr aufhalten, trotzdem wurde Holopon 
bis zum Schluß gern genommen und jedem 
anderen Präparat, insbesondere auch dem Panto- 
pon, das nicht so nachhaltig wirkte, vorgezogen. 
Auffallend war die angenehm beruhigende und 
intensiv schmerzstillende Wirkung, wie auch 
schon Mayer, Handtmann u. a. berichtet 
haben. 

Die zweite Gruppe, bei denen Holopon mit 
sehr gutem Erfolg gegeben wurde, betrifft Phthi¬ 
siker mit schwerem Lungen- und Kehlkopfbefund, . 
deren Allgemeinbefinden durch starken Husten 
und Auswurf sehr beeinträchtigt war. Traten'die 
Beschwerden vorzugsweise in der Nacht auf, 
so genügte meistens eine Dosis von 15 bis 20 
Tropfen oder ein bis zwei Tabletten - abends, um 
den lästigen Hustenreiz zu unterdrücken und einen 
ausgiebigen Schlaf zu sichern: Auch die sonst 
so anstrengende und häufig mit Erbrechen ver¬ 
bundene Expektoration am nächsten Morgen 
ging danach viel leichter vonstatten, die Pa¬ 
tienten fühlten sich durch den Schlaf erfrischt 
und. waren psychisch in gehobener Stimmung. 
Irgendwelche unangenehmen Nebenerscheinungen 
wurden dabei nicht beobachtet, es trat keine 
Gewöhnung an das Mittel ein, und die bisweilen 
vorkommende Verstopfung war bei dieser Dosis 
selbst nach wochenlangem Gebrauch nicht über¬ 
mäßig lästig. Sehr günstig wirkte Holopon auch 
zur Unterdrückung des Reizhustens bei Kehl¬ 
kopfkranken. Durch die Herabsetzung der all¬ 
gemeinen Reflexübererregbarkeit ließ der quälende 
und vielfach schmerzhafte Husten nach, so daß 
die Patienten mehr zur Ruhe kamen und wieder 
genügend Schlaf finden konnten. Auch der lokale 
Krankheitsbefund im Larynx wurde durch die 
vermehrte Ruhigstellung günstig beeinflußt. Nur 
bei ganz schweren Formen von Kehlkopfphthise 
mit ausgedehnten geschwürigen Prozessen und 
heftigen sekundären Schluckschmerzen waren 
Morphium- oder Eukodalinjektionen vorzuziehen. 
Durchweg lobten alle Patienten, die infolge starken 
Hustenreizes und Auswurfs an Schlaflosigkeit 
litten, die intensiv beruhigende und schlaf¬ 
bringende Wirkung des Holopons. Bei den Fällen 
von rein nervöser Insomnie dagegen schien das 
Opiumderivat den üblichen Schlafmitteln (Bar- 
bitu'rsäure usw.) an sedativer Kraft nachzustehen. 

Das zweite Präparat, über das ich 
meine Erfahrungen mitteilen möchte, ist 
das von Freund und Speyer in den 
Arzneischatz eingeführte und von der 
Firma E. Merck (Darmstadt) in den 
Handel gebrachte Eukodal. -Es ist ein 
aus dem Opiumalkaloid Thebain her¬ 
gestelltes neues Narkoticum (Dihydro- 
•oxykodeinonchloralhydrat) und deckt sich 
in seinem Indikationsgebiet ungefähr mit 
dem des Morphiums oder Kodeins. Wir 


’Gegen^i^arf 1921' . / Februar 


gaben es gegen die vielseitigen Beschwer-' 
den der Phthisiker, insbesondere zur 
Schmerzbekämpfung, zur Linderun'g des 
Hustenreizes und gegen Schlaflosigkeit^. 
In leichteren F-ällen kamen . wir fast 
immer’mit der innerlichen Verabreichung 
von ein bis zwei Tabletten zu 0,005 ;^ 
aus, während bei Beschwerden stärkeren 
Grades subcutane Injektionen von 0,01. 
seltener 0,02 erforderlich w.aren, um eine; 
schnelle und nachhaltige narkotische Wir¬ 
kung zu erzielen. . 

Uiisere Erfahrungen über Eukodäl stützen 
sich auf insgesamt 28 Fälle. Das Präparat wurde 
weitaus von den meisten Patienten sehr gut ver¬ 
tragen, irgendwelche ernstere Störungen der 
Herztätigkeit und des Kreislaufsystems konnten 
wir im allgemeinen nicht beobachten. Nur bei 
einem Fall von Asthma bronchiale (Vagotoniker), 
bei dem die erste Eukodalinjektion von 0,02 gut 
vertragen und .eine sehr gute, krampflösende 
Wirkung erzielt worden war, trat bei der zweiten 
Injektion (nach acht Tagen) heftiges Erbrechen 
und ein koljapsartiger Zustand auf, sodaß das 
Mittel abgesetzt werden mußte. Kurze Zeit 
■■ nach der Einspritzung klagte der Kranke, daß 
es ihm „schlecht“ .sei, er sah äußerst blaß und 
verfallen aus und erbrach fast eine Stunde lang 
ununterbrochen. Der Puls war klein, unregel¬ 
mäßig, die Pupillen sehr eng, fast reaktions¬ 
los, und kalter Schweiß bedeckte die Stirn, Nach 
Kampfergaben erholte sich der Patient darin 
verhältnismäßig rasch. Bei einem anderen Fall, 
bei dem am Abend Eukodal gegen heftige kolik¬ 
artige Schmerzen mit gutem Erfolg injiziert 
worden war, traten nachts Schweiße auf, eine. 
Nebenwirkung, auf die schon Rothschild auf¬ 
merksam gemacht hat. Außerdem wurde noch 
zweimal nach Einnehmen von einer Tablette 
über leichtes Erbrechen geklagt, eine ernstere 
Störung des Allgemeinbefindens war aber nicht 
zu konstatieren. Sonst wurde' das Präparat 
durchweg sehr gut vertragen und selbst nach’ 
wochenlangem Gebrauch keinerlei unangenehme- 
Nebenerscheinungen beobachtet. Insbesondere 
haben wir im Gegensatz zu Kreutzer niemals 
urticariaähnliche Hautausschläge nach dem Ge¬ 
brauch des Mittels gesehen. Trotzdem möchten 
wir bei der Indikationsstellung zu einer gewissen 
Vorsicht mahnen und Eukodal nicht als ein . in 
jedem Falle völlig harmloses Ersatzpräparat 
für Morphium betrachtet wissen. 

Die Anwendungsweise des neuen Narkoticums 
ist eine recht vielseitige. Am besten bewährte es 
sich uns als Analgeticum gegen die bei Lungen¬ 
kranken so häufig vorkommenden . Schmerzen 
der verschiedensten Art. Bei leichteren und 
schwereren Graden der Pleuritis sicca, bei 
Interkostalneuralgien, toxischen Gliederschmer¬ 
zen usw. genügten meist ein bis zwei Tabletten 
im Tage, um eine wohltuende Linderung der 
Schmerzen herbeizuführen. Bei allen stärkeren 
Schmerzanfällen, bei Gastralgien, Koliken, eben¬ 
so bei Asthma oder anderen dyspnoischen Zu¬ 
ständen wurde die subcutane Applikation wor- 
gezogen. Die narkotische Wirkung war dann 
entsprechend stärker und von längerer Dauer 
und der des Morphiums nicht nachstehend, ver¬ 
schiedentlich- sogar überlegen. Angenehm war, 
daß die Dosis meist nicht gesteigert zu werden 
brauchte. Bei Dysmenorrhöe sahen wir in .drei 
Fällen nach Darreichung von ein bis zwei Ta- 






Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


53 


bletten einen guten Erfolg, bei anderen wieder 
war es dem Pantopon nicht gleichwertig. 

Am häufigsten gaben wir Eukodal bei Schwer^ 
kranken zur Bekämpfung des übermäßigen 
Hustens und zur Herabsetzung der allgemeinen 
Reflexübererregbarkeit. Vielen Patienten, die 
durch reichlichen Auswurf und hartnäckigen 
Hustenreiz besonders während der Nacht nicht 
zur Ruhe kamen, gaben wir abends eine oder 
höchstens zwei Tabletten, wodurch ein aus¬ 
giebiger Schlaf erzielt wurde. Genügte die Dosis 
nicht, so war eine Injektion von 0,01 fast immer 
ausreichend. Am nächsten Morgen verspürten 
die Kranken keinerlei üble narkotische Nach¬ 
wirkungen, meistens fühlten sie sich sogar be¬ 
sonders erholt und ausgeruht. Auch war danach 
die morgendliche Expektoration wesentlich er¬ 
leichtert. Im Vergleich zu Heroin, Kodein oder 
Pantopon war die sedative Wirkung sicher viel 
intensiver und nachhaltiger. Wir können daher die 
günstigen Erfahrungen von Baum, Falk, 
Hesse, Wohlgemuth und Anderen nur be¬ 
stätigen. Auch bei nervöser Schlaflosigkeit 
nach erschöpfenden Krankheiten, insbesondere 
Grippe, hat sich Eukodal in einzelnen Fällen 
sehr bewährt. Eine Gewöhnung an das Mittel 
trat bei den meisten Patienten nicht ein, zum 
mindesten nicht so leicht wie bei Morphium, 
was sicher einen großen Vorzug bedeutet. Nur 
bei einem hoffnungslosen Fall von Lungentuber¬ 
kulose mit sekundären Bronchiektasien und 
500 ccm Sputum im Tag ist es nach monate- 
Jangem Gebrauch von drei Spritzen Eukodal (0,02) 
zu einem richtigen Eukodalismus im Sinne 
Alexanders gekommen. 

Zum Schluß sei noch auf eine besonders 
günstige therapeutische Wirkung des Eukodals 
bingewiesen, die wir bei zwei Fällen von aus¬ 


gesprochener Zyklonose beobachten konnten. 
Nach Frankenhäuser versteht man unter 
diesem Begriff gewisse Krankheitszustände, die 
bei einzelnen Personen bei Witterungswechsel, 
das heißt insbesondere beim Übergang vom so¬ 
genannten „schönen“ Wetter zu Wind, Regen 
oder Schnee aufzutreten pflegen. Im Hochgebirge 
ist es hauptsächlich der Föhn, der die zyklono- 
tischen Beschwerden hervorruft, und zwar machen 
sich die Symptome meist schon vor dem Eintritt 
des eigentlichen barometrischen Minimums be¬ 
merkbar. Frankenhäuser unterscheidet dabei 
drei Arten von krankhaften Erscheinungen, 
einen „kongestiven-cerebralen“, einen „katar- 
rhalischen-gastrointestinalen“ und einen „rheuma- 
toiden-peripheren“ Symptomenkomplex. Bei 
unseren beiden Fällen standen die kongestiven- 
cerebralen Beschwerden im Vordergrund des 
Krankheitsbildes, die Patienten klagten über 
dumpfe Kopfschmerzen, Schwindelgefühl und 
Schlaflosigkeit und zeigten eine gewisse nervöse 
Reizbarkeit bei vorwiegend depressiver Stim¬ 
mung. Beide hatten seither alle möglichen Anti- 
pyretica und Sedativa genommen, aber keine 
nachhaltige Erleichterung ihrer Beschwerden 
gefunden. Dagegen wirkte Eukodal ganz aus¬ 
gezeichnet. Nach Einnehmen von ein bis zwei 
Tabletten verloren sie prompt alle unangenehmen 
Sensationen, die intensiven Kopfschmerzen ver¬ 
schwanden vollkommen, und subjektives Wohl¬ 
befinden verbunden mit einer gewissen Euphorie 
trat ein. 

Die Zahl unserer Beobachtungen ist natürlich 
viel zu klein, um ein endgültiges Urteil über den 
therapeutischen Wert des Eukodals bei der 
Zyklonose abgeben zu können, aber die beiden 
erzielten Erfolge waren doch so eklatant, daß wir. 
zu einer Nachprüfung anregen möchten. . 


Aus der geburtsMlflicli-gyuäkologisclieii Abteilung des Krankenhauses 
der jüdischen Gemeinde in Berlin. 

über den Einfluß der neueren Wehenmittel auf die Leitung 

der Geburt. 

Von Prof. E. Sachs, dirigierendem Arzt der Abteilung. (Schluß.) 


Wir betrachten jetzt diesicli während 
«der Geburt selbst ergebenden, für 
die Anwendung eines guten Wehen¬ 
mittels geeigneten Situationen und be- 
.ginnen mit „Indikationen, die schon in 
der Eröffnungsperiode gegeben sein kön¬ 
nen. Dazu gehört z. B. das durch In- 
"fektian der Geburtswege bedingte 
Fieber.' 

Früher galt der Grundsatz bei Fieber 
•während der Geburt möglichst schnell 
nnd sei es auch mit großen eingreifenden 
'Operationen die Geburt zu beendigen. 
Untersuchungen, die ich an der Königs¬ 
berger Klinik vornehmen konnte, haben 
indes gezeigt, daß die Schnellentbin- 
•dung mit unter Umständen großen 
Inzisionen und anderen verletzenden 
•Operationen bei bestehender Infektion 
•schädlicher ist, als die etwas U'ngere 
Fieberdauer bei schonenderer Geburts- 
leitung^). Es soll beschleunigt entbunden 

^) Sachs, Zschr. f. Geburtsh. u. Gyn., Bd. 70 
•'S. 222 und D. m. W. 1912, Heft 28. 


werden, aber unter möglichster 
Schonung der Geburtswege. Ein 
wirklich gutes Wehenmittel setzt uns 
meist in den Stand, dies zu erreichen. 
Ich kann über zwölf Fälle berichten, die 
mit intravenösen Pituglandolin j ek- 
tionen behandelt wurden. Neun davon 
befanden sich in der Austreibungsperiode. 
Diese waren teils sofort, teils nach drei 
bis fünf Minuten beendet, ein Fall von 
septischer Wehenschwäche erst nach drei 
Viertelstunden, nach Wiederholung der 
Injektion. Ein zehnter Fall, bei dem der 
Muttermund handtellergroß war, ge¬ 
stattete ohne jede Muttermundsinzision 
nach fünf Minuten die Anlegung der 
Zange und im elften Fall war die Wirkung 
noch wertvoller. Die Zervix war für 
zwei Finger durchgängig. Eine sub- 
cutane Injektion hatte nur mäßige Wir¬ 
kung gehabt. Nach der intravenösen 
Injektion von 1 ccm Pituglandol war die 
Geburt innerhalb P /2 Stunde beendet. 
Nur im zwölften Fall hatte ich bei starker 




54 


Die Therapie der Gegenwart 1921’ 


Februar 


Rigidität des Muttermundes keinen Er¬ 
folg. 

Im ganzen habe ich bisher 22 Fieberfälle 
mit Pituglandol behandelt. Neun davon 
in der Eröffnungsperiode. Unter den 
zwölf intravenös gespritzten waren, zwei 
Erstgebärende. Gerade in Fällen von 
Infektionsfieber, bei denen es* auf einen 
möglichst sicheren Erfolg des Wehen¬ 
mittels ankommt, rate ich durchaus zur 
intravenösen Injektion, und zwar auch 
in der Eröffnungsperiode, falls das hierbei 
vorher intramuskulär gegebene Mittel 
nicht gut genug wirkt. Man wird bei 
Infektionszuständen das Mittel auch 
geben, ohne daß eine eigentliche Wehen- 
losigkeit besteht. In derartigen Fällen 
wirkt es noch intensiver; dann pflegt 
auch die intramuskuläre Darreichung zu 
genügen. 

Eine zweite Situation in der Eröff¬ 
nungsperiode, bei der es auf besonders 
gute Wehen ankommt, ist der 
Arm- oder Nabelschnurvorfall. 
Beides gefährliche Zustände für Mutter 
und Kind. Wehenschwäche erschwert ihre 
Beseitigung. Die Reposition gelingt; 
weil dann aber keine ausreichende Kraft 
den Kopf in der Eröffnungsperiode ge- 
•tiügend zu fixieren vermag, so tritt oft 
genug ein erneuter Vorfall ein, der beim 
Nabelschnurvorfall dem Kinde das Leben 
kosten kann. Diese Gefahr können wir 
durch ein nach der Reposition rechtzeitig 
gegebenes, sicher wirkendes Wehenmittel 
beseitigen. Hier ist wegen ihrer augen¬ 
blicklich eintretenden Wirkung die intra¬ 
venöse Injektion die allein richtige. Sie, 
beginnt oft, noch während die operierende 
Hand die Nabelschnur reponiert hält. 
Von 19 derart behandelten Fällen von 
Arm- oder Nabelschnurvorfall in der 
Eröffnungsperiode waren 18 erfolgreich. 
Nur einmal trat mehrere Stunden danach 
in der Austreibungsperiode ein erneuter 
Nabelschnurvorfall ein, dem das Kind 
erlag, weil der erneute Vorfall nicht 
schnell genug bemerkt worden war. 

Beim Armvorfall genügt meist die 
intramuskuläre Injektion, weil man den 
Kopf durch äußere Handgriffe und Lage¬ 
rung bis zum Eintritt der Wehen über 
dem Beckeneingang fixieren kann und 
die Gefahr für das Kind selbst bei er¬ 
neutem Armvorfall nicht so groß ist, wie 
beim Nabelschnurvorfall.. Daß man in 
besonderen Fällen beim Nabelschnur¬ 
vorfall in der Austreibungsperiode, wo 
sonst die Wendung und Extraktion das 
beste Verfahren darstellt, bei normalem 


Becken und günstigen Weichteilverhält-* 
nissen, durch eine intravenöse Pituglan- 
dolinjektion die Geburt ohne jeden opera¬ 
tiven Eingriff schnellstens beenden kann,, 
wird später noch erwähnt werden. 

Eine ähnliche Bedeutung hat viel¬ 
leicht, das Pituglandol zur 

Fixation des Kopfes 
nach Umwandlung einer Deflexionslage. 
Hamm (Fehling) empfiehlt dies Ver 
fahren. Ich habe keine eigene Erfahrung 
darüber. 

Die Möglichkeit die Geburt in der 
Austreibungsperiode bei gutvorbereiteten 
Weichteilen und beim Fehlen sonstiger 
Hindernisse meistens sofort durch intra¬ 
venöse Injektion eines guten Wehen¬ 
mittels beenden zu können, setzt uns in 
die Lage, wenigstens bei Mehrgebärenden 
die Zahl der entbindenden Opera¬ 
tionen sehr einzuschränken. Damit 
komme ich zu einem weiteren Gebiet 
der Pituglandolanwendung bei Schädel¬ 
lage, zu dem 

Ersatz der Zange^). 

Jede vermiedene Zangenoperation ist ein 
Gewinn; denn bei dem leichtesten opera¬ 
tiven Eingriff besteht die. Gefahr der 
Infektion; Verletzungen können hin¬ 
zu kommen und Operationen wegen 
^Wehenschwäche sind oft von schweren 
atonischen Blutungen gefolgt. 
Fast alle Beckenausgangszangen an 
Mehrgebärenden, deren Indikation nur 
Wehenschwäche oder Ermüdung ist,, 
lassen sich durch intensive Wehenanregung 
ersetzen. Andere Zangenoperationen,, 
z. B. am erst in Beckenmitte stehenden 
Kopf, der noch nicht gut zangengefecht 
rotiert ist, lassen sich durch die treibende 
Kraft des Pituglandols sehr erleichtern. 
Zu dem Zug der Zange kommt der Wehen¬ 
druck hinzu, so daß der Kopf sich leichter 
in und mit der Zange dreht, als wenn die 
Wehenkraft fehlt. Wird eine Zange vor 
völlig erweitertem Muttermund nötig,, 
so bewirkt eine kurz vor ihrem Beginn 
gegebene intravenöse Pituglandolinjek- 
tion schnell das völlige Verstreichen des* 
Muttermundes und erspart uns die. 
Muttermundsincisionen. Ich habe 
mehrere derartige Fälle erlebt und emp¬ 
fehle deshalb das Verfahren dringend. 

Ganz anders aber, wenn es sich um 
Geburtsstillstand infolge von Rigidität 
handelt. Dann ist ein zu stark wirkendes 
Wehenmittel kontraindiziert. Dann 

2) cf. Sachs, Über die durch geb. Operationen 
bedingten Schädigungen des Kinde» und ihre 
Verhütung. Th. d. Geg, 1920. 





Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


55 


bedeutet es eine Gefahr für das Kind. 
Selbst gute Wehen überwinden Weich- 
tei[Schwierigkeiten nicht so schnell, wie 
es z. B.' bei kindlicher Asphyxie nötig 
ist. Drängt dann die starke Pituglandol- 
wehe von oben und die rigide Scheide 
oder der straffe Damm von unten, so 
kann das Kind absterben. Ich vermeide 
also das Pituglandol, besonders in Form 
der intravenösen Injektion bei Rigidität 
der Scheide oder des Dammes. Wagt 
man es doch zu geben, so muß man 
gerüstet s.ein, im Fall der Verschlechte¬ 
rung des kindlichen Befindens die Frau 
sofort durch Scheidendammi'ncisionen 
oder mittels Zange zu entbinden. Diese 
muß also in- derartigen Fällen stets 
prophylaktisch ausgekocht sein. 

Die Gefahr der 

hohen Zange 

ist bekannt. Möglich ist sie beim engen 
Becken nur, wenn der Kopf den verengten 
Beckeneingang zum größten Teil schon 
überwunden hat. Auch dann noch ist 
die kindliche Mortalität groß; denn die 
quer zum Beckeneingang, frontooccipital 
am Schädel angelegte Zange, vergrößert 
durch unvermeidliche Kompression gerade 
den Durchmesser, der durch die verengte 
Conjugata vera hindurch soll. Hier leistet 
die intravenöse Injektion oft aus¬ 
gezeichnete Dienste. Wenn ein Durch¬ 
tritt überhaupt möglich ist, wenn der 
Kopf konfigurabel und durch Wehentätig¬ 
keit schon konfiguriert ist, dann genügt 
oft die sehr starke Pituglandolwehen- 
tätigkeit dazu, den Eintritt ins Becken 
zu erzwingen. Hinzu kommt, daß der 
während der ersten Wehen steinharte 
Uterus das Mitdrücken von außen, das 
„Kristellern“ viel wirksamer macht, als 
es beim schlecht kontrahierten Uterus 
möglich ist. So kann die hohe Zange 
fast stets umgangen werden; der Kopf 
tritt ins Becken ein, und wenn dann noch 
eine Zange nötig ist, so kann sie jetzt am 
im Becken stehenden Kopf angelegt 
werden. Gelang es den Pituglandol- 
wehen nicht den Eintritt zu erzwingen, 
so ist nach meinen Erfahrungen eine 
hohe Zange nicht ohne Schaden für das 
Kind möglich und der Fall reif zum 
Kaiserschnitt oder zur Symphyseotomie. 
Ich verfüge über 25 Fälle von engem 
Becken, die erfolgreich mit intravenöser 
oder intramuskulärer Pituglandolinjek- 
tion behandelt wurden. Da es sich beim 
engen Becken meist nur um Becken¬ 
eingangsverengerungen handelt, so ist, 
besonders bei Mehrgebärenden die Wir¬ 


kung des' intravenös injizierten Pitu- 
glandols oft direkt überraschend. Die 
erste Wehe, die den Kopf ins Becken preßt, 
drängt ihn auch oft durch die Vulva 
hindurch und beendet so die sich schon 
stundenlang hinziehende Geburt. Ich 
glaube sicher, daß besonders durch die 
intravenöse Anwendung des Pituglan- 
dols viele .Wendungen wegen As¬ 
phyxie, alle prophylaktischen Wen¬ 
dungen und alle hohen .Zangen aus 
der Therapie des engen Beckens schwin¬ 
den werden. Folgende Beispiele mögen 
zur Illustration dienen. 

1. 37jährige 3 p. Plattes Becken. Mutter¬ 
mund handtellergroß. Wehen fehlen seit zwei 
Stunden. Kopf quer im Beckeneingang. Vorder¬ 
scheitelbeineinstellung. Schwankende Herztöne. 
Injektion von 1 ccm Pituitrin intravenös mit 
vorzüglichem Erfolge, 30 Sekunden nach Beginn 
der Injektion wird das Kind lebend geboren. 

2. 39jährige 8 p. Plattes Becken. Mutter¬ 
mund völlig erweitert. Blase gesprungen. Kopf 
beweglich im Beckeneingang. Wehenschwäche. 
Injektion von 1 ccm Pituglandol intravenös. 
Nach wenigen Sekunden tritt eine drei Minuten 
dauernde Wehe auf, die sofort das Kind ins 
Becken und aus der Vulva heraus treibt. 

3. 22jährige 1 p. Allgemein verengtes plattes 
Becken. Muttermundsaum gerade noch zu fühlen 
Kopf fest auf den Beckeneingang aufgepreßt. 
Temperatur 38,6. Injektion von 1 ccm Pitu¬ 
glandol intravenös mit dem Erfolg, daß der 
Kopf nach zwei Minuten in der Vulva sichtbar 
wird -und die Geburt nach sieben Minuten be¬ 
endet ist. 

4. 41jährige 3 p. Schwankende Herztöne 
bei leicht verengtem Becken und sehr großem 
Kinde. Kopf beweglich im Beckeneingang. 
Pfeilnaht quer. Gleich die erste Wehe nach der 
intravenösen Injektion treibt den Kopf ins Becken; 
danach werden die Herztöne kräftig und regel¬ 
mäßig. Die Geburt ist nach weiteren zehn Minuten 
beendet. Kind zehn Pfund schwer, 56 cm lang. 

Mit der subcutanen Injektion erreicht 
man nicht so sicher eine so gute Über¬ 
windung des verengten Beckeneingangs. 
Daß eine gewisse geburtshilfliche Er- 
fahrung gerade in derartigen Fällen nötig 
ist, daß man ungefähr die Möglichkeit 
eines Durchtritts des Schädels durch 
den Beckeneingang abschätzen können 
muß, versteht man von selbst. 

Beim 

tiefen Querstand 

ist eine spontane Umwandlung durch 
Seitenlägerung nur bei guten Wehen 
erzielbar; sonst muß die Geburt durch 
eine nicht stets sehr leichte, schräg anzu¬ 
legende Zange beendet werden. Mehr¬ 
fach ist es uns gelungen, die zur Um¬ 
wandlung nötigen starken Wehen durch 
Pituglandol zu erzielen und dadurch 
die Zangenoperation zu erleichtern oder 
auch zu umgehen. Hierbei ist die intra¬ 
muskuläre Injektion der intravenösen 




56 


Die Therapie der Gegenwart 1921- 


Februar 


gleichwertig, wegen der längeren Wir¬ 
kungsdauer vielleicht sogar vorzuziehen. 
Beim tiefen Querstand empfiehlt übrigens 
auch Jaschke^) die Injektion eines 
guten Wehenmittels zur Umwandlung 
der Stellungsanomalie. 

Ich handele in Fällen, in denen ich 
durch Pituglandolinjektion eine Zangen¬ 
operation vermeiden will nach folgenden 
Grundsätzen. Keine Zangenopera¬ 
tion sollte ohne vorausgehende oder 
unterstützende intravenöse Pitu¬ 
glandolinjektion vorgenommen wer¬ 
den. Andererseits sollte, wenigstens bei 
rigiden Weichteilen keine intravenöse 
Pituglandolinjektion ausgeführt wer¬ 
den, ohne daß alles zur etwa sofort vor¬ 
zunehmenden Zangenoperation vor¬ 
bereitet ist. 

Es kommt garnicht selten vor, daß 
man nach Injektion des Pituglandols 
mit der zur Extraktion angelegten Zange 
den stark andrängenden Kopf zurück¬ 
halten muß, damit er nicht unter Zer¬ 
reißung des Dammes zu schnell durch¬ 
schneidet. 

Neu ist die Verwendung der Hypo¬ 
physenpräparate bei der 

Beckendurchtrennung. 

Hier stehen sich bezüglich der anzu- 
sciibcßenden Geburtsleitung zwei An¬ 
sichten gegenüber. Soll man die Spon¬ 
tangeburt nach der Beckendurchtrennung 
abwarten, oder sofort, das heißt operativ 
entbinden ? Ich nehme von beiden Ansich¬ 
ten das Gute. Die sofortige Entbin¬ 
dung und die spontane Entbindung. 
Wenn die Frau entbunden ist, so kommt 
die Knochenwunde zur Ruhe, die Frau 
braucht nicht mit durchtrenntem Becken 
noch weiter zu kreissen, nach der Ent¬ 
leerung des Uterus hört die Blutung 
aus der Operationswunde, wenigstens bei 
der Symphyseotomie fast von selbst auf. 
Solange man diese sofortige Entbindung 
nur operativ erzielen konnte, womöglich 
durch eine Wendung, mußte man als 
Nachteil die Gefahr eines jeden Ein¬ 
griffes für die des knöchernen Schutzes 
beraubten Scheidenwände mit in Kauf 
nehmen. Hier wieder überhebt uns die 
intravenöse Pituglandolinjektion aller 
Zweifel für unser Handeln. Jßtzt sind 
wir imstande die Geburt schnell, aber 
spontan zu Ende zu führen. War der 
Fall für eine Beckendurchtrennung ge¬ 
eignet, so genügt die sofort nach der 
Durchtrennung vorgenommene intra¬ 


venöse Pituglandolinjektion zusammen 
mit Impression des Schädels und Kristel¬ 
lerscher Expression trotz der noch be¬ 
stehenden Narkose fast stets dazu, den 
Kopf ins Becken zu drängen; meist bis 
zur Sichtbarkeit. Eventuell hilft nun 
eine für die Weichteile der Mehrgebären¬ 
den (denn nur bei diesen rate ich zu 
diesem Verfahren) ganz ungefährliche 
Beckenausgahgszange die Geburt schad¬ 
los beendigen. 

Empfehle ich die intravenöse . Ver¬ 
wendung der Wehenmittel zur Über¬ 
windung von Beckeneingangsverengerun¬ 
gen, so muß ich im Gegensatz dazu vor 
ihrer Verwendung bei B ecken au sgangs- 
verengerungen warnen, oder doch dar¬ 
auf aufmerksam machen, daß hier größte. 
Vorsicht bei ihrer Anwendung am Platze 
ist. Hier gilt dasselbe, was für Rigidität 
der . Scheide und des Dammes gesagt ist. 
Kurze starke Wehen vermögen im all¬ 
gemeinen den durch Beckenausgangs¬ 
verengerung gesetzten Widerstand nicht 
zu überwinden. Das Kind kommt durch 
den Gegendruck in Lebensgefahr. Eine 
Scheidendamminzision ist in solchen Fäl¬ 
len viel mehr am Platze. Bei Verwendung 
eines stark wirkenden Wehenmittels muß 
also die Zange ganz gewiß fertig aus¬ 
gekocht zur Hand sein. 

Beckenendlagen. 

1,4% Mortalität, über die ich bei einem 
Material von über 200 Fällen primärer 
Beckenendlagen berichten konnte (die 
Zahl der Fälle hat sich seitdem bei 
gleich günstigem Resultat fast verdoppelt), 
gegen 10 bis 15% durchschnittlicher Mor¬ 
talität in der Literatur, sind gewiß ein 
gutes Resultat. Dies verdanke ich in 
erster Linie der rationellen Anwendung 
des Pituglandols. Die in Beckenendlage 
liegenden Kinder sterben, wenn nach der 
Geburt des Rumpfes der Kopf nicht 
schnell genug folgt. Hochgeschlagene 
Arme oder schlechte Einstellung des nach¬ 
folgenden Kopfes sind die Ursachen für 
das Steckenbleiben; beides oft genug die 
Folge schlechter Wehen, und dadurch 
provozierter vorzeitiger Extraktion, die 
ohne gleichzeitige Wehenwirkung vor¬ 
genommen wird. Geschieht der Durch¬ 
tritt des Kindes unter Wehenwirkung, 
so bleiben die Arme viel häufiger am 
Rumpfe liegen, als wenn der Uterus 
schlaff und ohne Einfluß auf die Haltung 
des Kindskörpers ist. Also darf nur im 
Augenblick einer Wehe extrahiert werden. 

cf. Sachs, Die Behandlung der Beckenend- 
lagen. Zschr. f. ärztl. Fortbild. 1917, Heft 9. 


=') Geburtshilfe, IV. Aufl. 1920, S. 169. 


Februar 


57 


Die Therapie der 


Das erreichen wir durch Injektion eines 
guten Wehenmittels, intramuskulär, wenn 
wir zeitig genug dazu kommen; intra¬ 
venös, wenn wir, wie stets hach Wendun¬ 
gen, nicht fünf Minuten bis auf den Ein¬ 
tritt der Wirkung warten dürfen. Auch 
in diesen Fällen erlaubt die starke Uterus¬ 
kontraktion gute Unterstützung durch 
Expression von außen. 

Die Verwendung eines sehr gut wirken¬ 
den Wehenmittels ist bei der Entwick¬ 
lung des in Beckenendlage zur Geburt 
stehenden Kindes eine sehr wirksame 
Unterstützung', auf die niemals verzichtet 
werden sollte, wenn auch nur die gering¬ 
sten Schwierigkeiten bei der Geburt zu 
erwarten sind. Die Gesamtzahl von nur 
3,5 % toter Kinder bei über 300 Fällen 
von primärer und sekundärer Becken¬ 
endlage ^), spricht für die Richtigkeit 
meiner Behauptungen. 

Daß bei 

Querlage 

in der Austreibungsperiode jedes zu starke 
Wehenmittel kontraindiziert ist, brauche 
ich nicht zu betonen. Wohl aber habe 
ich Pituglandol mit Erfolg in der Er- 
öffnungspericde gegeben; stets nur bei 
stehender Blase. Ist diese gesprungen, 
so würde ich das Pituglandol nur ungern 
verwenden, nie intravenös, damit nicht 
die zu starken Wehen zu viel Frucht¬ 
wasser heraustreiben und eine spätere 
Wendung erschweren. 

Ein weiteres Kapitel, in dem das 
Pituglandol die Geburtsleitung verein¬ 
facht hat, ist das Gebiet der 
Placenta prävia. 

Die einfachste und für Mutter und Kind 
beste Behandlung, die Blasensprengung, 
scheitert oft daran, daß der voran¬ 
gehende Teil infolge mangelhafter Wehen¬ 
tätigkeit nicht nachrückt, und daß dann 
die Blutung infolge Fehlens einer Kom¬ 
pression nicht zum Stehen kommt. Durch 
eine intramuskuläre Injektion ist diese 
so notwendige Wehenwirkung fast stets 
zu erreichen. Dann steht die Blutung 
so lange, wie die Wehen andauern. Hören 
sie auf, so sind sie durch eine zweite 
Injektion wieder zu erzielen. Dabei 
erweitert sich zugleich der Muttermund 
und eine nun doch noch etwa notwendig 
werdende Metreuryse oder eine kombi¬ 
nierte Wendung ist nun viel leichter aus¬ 
führbar. Sehr viel häufiger als früher 
kommt man daher jetzt mit der Blasen¬ 
sprengung in Verbindung mit Pi- 
tuglandolinjektion allein aus. 


Gegenwart 192T 


Nach der kombinierten Wendung bei 
Placenta prävia ersetzt ein wirklich gutes 
Wehenmittel die hier nie ganz ungefähr¬ 
liche Belastung am Bein; denn die Cervix¬ 
erweiterung durch Wehenwirkung ist nach 
der kombinierten Wendung ungefähr¬ 
licher als die bei Placenta prävia durchaus 
zu verurteilende Cervixdehnung durch 
Zug am geborenen Kindesteil. 

Daß auch bei anderen Indikationen 
zur kombinierten Wendung, z. B. bei vor- 
zeitiger Lösung der Placenta bei 
normalem Sitz, eine intravenöse 
Pituglandolinjektion, hier zusarrtmen mit 
einem Dauerzug am herabgeschlagenen 
Bein, die Geburt sehr verkürzt und Cervix¬ 
inzisionen unter Umständen unnötig 
macht, leuchtet ein. 

Bisher handelte es sich stets mehr 
oder weniger um Wehenschwäche. Es 
gibt aber auch andere Indikationen zur 
Geburtsbeschleunigung, und gerade in 
den Fällen, in welchen keine Wehen¬ 
schwäche vorliegt, ist die Wirkung der 
Wehenmittel eine besonders gute. Die 
Behandlung des Infektionsfiebers mitPitu- 
•glandol habe ich schon erwähnt. Die 
Behandlung der Rectusdiastase, 
die unter Umständen so stark sein kann, 
daß eine Wirkung der Bauchpresse völlig 
fortfällt, schließt sich hier an. In derartigen 
Fällen gelingt es meist, die Wirkung des 
Uterusmuskels so zu verstärken, daß diese 
allein zur Geburtsbeendigung genügt. In 
Fällen, in denen die Frauen aus Angst vor 
Schmerzen, einmal auch in der bewußten 
Absicht, die Geburt des unerwünschten, 
unehelichen Kindes zu verhindern, jede 
Bauchdeckenwirkung unterdrückten, ist 
es mir mehrfach gelungen, durch Wehen¬ 
verstärkung so stark reflektorisch auf die 
Bauchpresse zu wirken, daß die Frauen 
mitpressen mußten, ob sie wollten oder 
nicht. 


. Sehr bedeutungsvoll und bisher noch 
nicht in diesem Zusammenhänge bespro¬ 
chen, ist die 

Behandlung der kindlichen 
Asphyxi e. 

Ich habe meine sämtlichen Fälle, in 
denen Pituglandol verabreicht wurde, 
auf die Frage der Beeinflussung durch 
das Mittel untersucht. 1917 konnte ich 
über 31 Fälle von beginnender As¬ 
phyxie berichten ^), bei denen ich durch 
intravenöse Injektion schnellstens die 
Geburt zu beenden und die Kinder aus. 
der drohenden Lebensgefahr zu retten 
®) Mschr. f. Geburtsh., Bd. XLV. 

8 





58 


.Die Therapie der Gegenwart 1921 . 


Febf^uar. 


vermocht hatte. In sieben Fällen von 
beginnender Asphyxie in der Eröffnungs¬ 
periode gelang es, die Geburt glücklich 
für das in Schädellage liegende Kind zu 
Ende zu führen. Nie allerdings war der 
Muttermund kleiner als kleinhandteller¬ 
groß. Fünfmal wurde .dabei nach kürze¬ 
ster Zeit ohne Muttermundsinzision eine 
leichte Zange möglich. Einmal, nach 
Nabelschnurreposition bei handteller-gro¬ 
ßem Muttermund erfolgte fast sofort die 
spontane Geburt eines lebensfrischen Kin¬ 
des, im siebenten Falle erholten sich die- 
Herztöne während der durch Pituglandol 
erreichten vollkommenen Erweiterung des 
Muttermundes so, daß die Spontangeburt 
abgewartet werden konnte. 

Noch sicherer sind die Resultate in 
der Aüstreibungsperiode. Hier berichtete 
ich über 24 Fälle mit zwei Erstgebärenden 
(die Zahlen haben sich seitdem natürlich 
sehr erhöht). Zehnmal bestand neben der 
drohenden Asphyxie .ein leichtes Mi߬ 
verhältnis zwischen Kopf und Becken¬ 
eingang; stets allerdings derart, daß die 
gereifte geburtshilfliche Erfahrung die 
Spontangeburt bei guten Wehen für mög¬ 
lich erachten, durfte. Stets konnte die 
■ Geburt nach der intravenösen Injektion 
in kürzester Zeit mit lebendem Kinde 
beendet werden. Die Zeiten schwankten 
zwischen 30 Sekunden und einigen Minu¬ 
ten. In zwei Fällen, in denen es bis zur 
Beendigung der Geburt zehn Minuten 
dauerte, erholten sich die Herztöne nach 
Überwindung des Beckeneinganges. In 
all diesen Fällen wurde also die sonst 
im Interesse des Kindes notwendige Wen¬ 
dung und Extraktion vermieden. Unter 
meinen Fällen von drohender Asphyxie 
bei über dem Becken stehendem Kopf, 
befindet sich ein Fall von Nabelschnur¬ 
vorfall, den ich derart zu einem glück¬ 
lichen Ende führen konnte. 

Ich hatte das Becken gerade vorher untersucht. 
Der Muttermund war völlig erweitert. Bei der 
Untersuchung durch den Studenten sprang die 
Blase. Dabei fiel mehr Nabelschnur weit vor die 
Vulva. Da ich nicht desinfiziert war, wagte ich es, 
die Geburt durch eine intravenöse Pituglandol- 
injektion zu beendigen, was mir gut gelang. 

In den übrigen Fällen stand der Kopf 
im Becken. Die Geburt war beendet in 
diesen Fällen: achtmal sofort, einmal 
nach einer Minute, einmal nach drei 
Minuten, einmal nach fünf und nach 
sieben Minuten. Nur einmal genügte die 
Injektion (0,5 ccm) nicht sofort zur Ge¬ 
burt, so daß eine Zange nötig wurde. 

Auch bei Beckenendlagen wandte ich 
das Mittel wegen Asphyxie erfolgreich an. 


In allen Fällen würde die Extraktion da¬ 
durch sehr erleichtert. Erwähnenswert 
scheint mir besonders folgender Fall. 

Frau W. 27 j ährige M. p. Sehr fette, gedrungen 
gebaute Frau, die schon mehrere Kinder, teils 
i. p., teils nachher verloren hatte. Einfache Stei߬ 
lage. Muttermund völlig erweitert. Blase ge¬ 
sprungen. Herztöne sinken plötzlich auf 60 bis 80. 
Die innere Untersuchung zeigt, daß der Steiß 
fest in Beckenmitte steht. Man fühlt die straff 
gespannte Nabelschnur zwischen den Gesä߬ 
backen hindurchziehen. Beim Versuch, die 
Nabelschnur über eine Gesäßbacke hinwegzu¬ 
streifen, reißt die Schnur ab. Sofortige Injektion 
von Iccm Pituglandol intravenös, unterstützt 
durch Expression, befördert nach wenigen Minuten 
den Steiß soweit heraus, daß man bequem mit 
dem Finger die Extraktion beenden kann. Die 
Nabelschnur spritzt. Kind lebt. 8 Pfund schwer. 

Hier wäre ohne die Injektion nur eine 
sehr schwere Extraktion imstande ge¬ 
wesen, das Kind zu retten. Bisweilen war 
das durch derartige starke Wehenwirkung 
schnell geborene Beckenendlagenkind, 
ohne daß eine Asphyxie bestanden hätte, 
kurze Zeit kreideweiß. Dies erkläre ich 
mir durch die starke Kompression, die die 
ganze Oberfläche des Kindes durch den 
stärkst kontrahierten Uterus erfuhr, be¬ 
sonders, wenn die Scheide nicht allzuweit 
war. Einen Schaden habe ich bei meinen 
Fällen- nie erlebt. Sollte die, Wirkung 
einmal nicht genügen, so hat man je nach 
Lage des Falles immer noch die Möglich¬ 
keit zur Zange, zur Wendung und Ex¬ 
traktion, die in tiefer Narkose trotz 
der Pituglandolwirkung stets möglich 
ist, oder — in klinischem Betrieb — 
zur Beckenspaltung. Oft genug erholen 
sich die Herztöne eines mit dem Kopf 
im Beckeneingang eingeklemmten Kindes 
schnell, sobald nach einer kurzen inten¬ 
siven Wehenwirkung der Kopf den Bek- 
keneingang überwunden hat.' Abzu¬ 
raten ist vor der intravenösen Pitu- 
glandolinjektion bei Asphyxie, wenn 
es sich um Rigidität alter Erst¬ 
gebärender handelt. Gleich nach der 
Injektion sinken oft die Herztöne auf 
100 oder 80, um sich nach einigen-Minuten 
wieder zu erholen. Dies nur durch die 
starke Wehe bedingte Sinken der kind¬ 
lichen Herztöne hat nichts zu sagen und 
braucht uns nicht zu einem Eingriff zu 
veranlassen, falls nicht schon vorher 
Zeichen einer sonstwie bedingten Störung 
des kindlichen Kreislaufes bestanden. 

Soviel von den Indikationen. Es gibt 
natürlich auch 

Kontraindikationen 
und unrichtige Anwendungen. Ein Nachteil 
der ausgezeichneten Wirkung ist, daß das 
Mittel von Studenten, die seine schöne 




Februar 


Die Therapie d^r Gegenwart 1921 


59 


“Wirkung im Kreissaal oder in der Poli¬ 
klinik sehen, wahllos im geburtshilflichen 
Kolloquium empfohlen und dann viel¬ 
leicht auch in der Praxis angewendet wird. 
.So kann es zu ganz törichten Indikations- 
:stellungen kommen. -Die eigentlichen Miß- 
-erfolge beruhen meist auf falscher An¬ 
wendung. Eine Schwangerschaft läßt 
sich durch Pituglandol nicht unterbrechen; 
wenn am Ende der Tragezeit die Blase vor¬ 
zeitig gesprungen ist, so kann die Geburt 
durch Wehenerregung ab und zu in Gang 
gebracht werden.. Eine Sicherheit im 
Erfolge besteht aber nicht. Bei über¬ 
dehntem Uterus tritt ohne Entlastung 
der Muskulatur auch nach Pituglandol- 
injektion keine geregelte Wehenwirkung 
•ein; Rigidität des Muttermundes und der 
'Scheide trotzen oft den besten Wehen. 
Derartige falsche Anwendungsformen muß 
man kennen, weil in bestimmten Fällen 
die schnell auf die Injektion folgende Be¬ 
endigung der Geburt die Voraussetzung 
für die Anwendung des Mittels ist, wie 
X, B. bei Asphyxie. 

Die 

Gefahren 

der erwähnten Wehenmittel sind nicht 
groß, wenn man falsche Indukations- 
stellungen vermeidet. Stets ist aller¬ 
dings eine genaue Kenntnis der Lage 
nötig; Krampfwehen, eine Querlage mit 
drohender Uterusruptur und dergleichen, 
dürfen nicht noch mit Wehenmitteln 
behandelt werden, ebensowenig ein Nabel¬ 
schnurvorfall in der Eröffnungsperiode 
ohne vorhergegangene Reposition. Fälle 
mit stark erhöhtem Blutdruck verlangen 
wegen der durch die starken Wehen 
bedingten Blutdrucksteigerung einen vor¬ 
hergehenden Aderlaß. Eine Uterusruptur 
habe ich nicht erlebt, obwohl ich das 
Mittel oft genug bei engem Becken nach 
lange vergeblicher Geburtsarbeit gab. Da¬ 
bei aber unterstützte ich die Uterus¬ 
wirkung regelmäßig durch starkes Mit¬ 
drängen von den Bauchdecken her, wo¬ 
durch nicht nur die treibende Kraft 
verstärkt, sondern vielleicht auch die 
Überdehnung des unteren Segmentes ver¬ 
mindert wird. 

Bei hochgradiger Wehenschwäche be¬ 
steht eine scheinbare Neigung zu Nach¬ 
blutungen. Aber nur dann, wenn die 
Wirkung des in partu gegebenen Pitu- 
iglandols aufgehört hat und die Nach¬ 
geburtsperiode erst zu einer Zeit eintritt, 
ln der die Wehenwirkung schon vorbei 
Ist. Dann aber handelt es sich nicht um. 


eine nach Pituglandol entstandene Atonie, 
sondern um das Wiedereintreten der vor¬ 
her schon vorhandenen. Gibt man bei 
Wehenschwäche im Augenblick der Ge¬ 
burt des Kindes eine erneute Pituglandol- 
gabe, eventuell kombiniert, nach Austritt 
der Placehta mit Ergotin, so vermeidet 
man alle Nachblutungen. 

Das sind die verschiedenen Anwen¬ 
dungsgebiete der Hypophysen extrakte 
und, falls es sich bewähren sollte, des 
intervenös gegebenen Chinins- Ich wollte 
mit meiner Aufzählung zeigen, welchen 
Einfluß diese Mittel auf die Leitung 
der Geburt gewinnen können. Durch 
ihre rationelle Anwendung können wir die 
entbindenden Operationen, dieZan- 
ge und Extraktion am Beckenende, stark 
einschränken (z. B. in vielen Fällen 
von Asphyxiegefahr), oder sie doch in 
ihrer Ausführung erleichtern (z. B. 
die Zange bei tiefem Querstand oder am 
noch nicht zangengerecht stehenden Kopf 
und die Extraktion nach Wendungen). 
So mancher verengte Beckeneingang 
kann unter , Umgehung der hohen 
Zange oder der prophylaktischen 
Wendung überwunden werden, 
Repositionsmanöver bei Arm- und 
Nabelschnurvorfair, die früher oft wegen 
Wehenschwäche zu keinem Erfolg führten, 
können jetzt erfolgsicherer vorgenommen 
werden; ebenso die Blasensprengung 
bei Placenta prävia und die kom¬ 
binierte Wendung. Bei Fieber und 
nach Beckendurchtrennungen kön¬ 
nen wir den Forderungen der möglichst 
schnellen, aber auch möglichst spon¬ 
tanen Entbindung jetzt Rechnung 
tragen und bewahren dadurch die Frauen 
vor der Gefahr operativen Eingreifens 
bei diesen beiden Zuständen. Gute 
Wehenmittel schützen vor zu langer Dauer 
der Geburt mit den Gefahren der Ent¬ 
kräftung und Infektion und zugleich 
vor den zur Verhütung dieser Zustände 
früher vorgenommenen operativen Ein¬ 
griffen. Daß wir ein neues Mittel zur B e- 
hebung der kindlichen Asphyxie- 
gef-ahr in die Hand bekommen haben, 
ist gewiß auch nicht zu verachten. 
Vor allem aber sind die Gefahren der 
Nachgeburtsperiode, vor und nach 
Lösung und Ausstoßung der Plä- 
centa auf ein Minimum herabgedrückt 
worden. 

Gute Wehentätigkeit ist eben eine der 
wichtigsten Bedingungen für den norma¬ 
len Ablauf der Geburt. Es wäre segens¬ 
reich für die Frauen, und beruhigend für 

8* 





63 


. Februar 


Die Therapie der Gegäiwart 1921 


die Ärzte, wenn die neuen, von mir er¬ 
wähnten Wehenmittel noch viel konse¬ 
quentere Verwendung fänden, als es bisher 
der Fall zu sein scheint. 


Anmerkung. Pituglandol, das noch nicht 
wieder in Apotheken erhältlich ist, wird von den 
Chemischen Werken Grenzach (Berlin, Wilhelm¬ 
straße 37/38) auf direkte Anfrage für Geburtshelfer 
unter Verrechnung über eine Apotheke geliefert.. 


Über Hypnotherapie. 

Von Dr. med. Alfred Rothschild (Karlsruhe.) 


Die kritisch angewandte hypnotische 
Therapie stellt große Anforderungen an 
den gewissenhaften Arzt, wie auch an 
die Ausdauer der Patienten. Es gibt- 
gewiß eine größere Anzahl geeigneter 
Fälle, die sofort auf die Hypnose an¬ 
sprechen und den Heilsuggestionen zu¬ 
gänglich sind. Andererseits müssen sich 
gewisse Kranken erst in die neuartige 
Situation einleben, in die sie bei hypno¬ 
tischer Behandlung, eintreten. Allmählich 
legen sie das Mißtrauen ab und geben 
sich dann gern und willig der Leitung 
des Arztes hin. Die Behandlungsdauer 
läßt sich in keinem Falle im voraus be¬ 
stimmen. Eine Unterbrechung der ein¬ 
geleiteten Heilbehandlung, wie sie oft¬ 
mals vorgenommen wird (Kuraufenthalte, 
Reisen zu Verwandten) kann den ganzen 
Erfolg-illusorisch machen oder die, Be¬ 
handlung unendlich in die Länge ziehen. 
Eine hypnotische Behandlung hat mit 
der bestimmten Forderung an den Pa¬ 
tienten zu beginnen, daß er außer mit 
seinen allernächsten Angehörigen mit 
niemand über die Behandlung spricht 
und sich in keinerlei Diskussionen über 
den Heilwert einläßt. Die Gedanken des 
Patienten müssen ganz auf die Maß- 
nahmien des Arztes eingestellt werden, 
doch muß eine kontrollierende und kri¬ 
tisierende Beobachtung unter allen Um¬ 
ständen ausgeschaltet werden. Nur dann 
läßt sich die Erschwerung hypnotischer 
Arbeit verhindern. Auch bei hochgebil¬ 
deten Personen sind zweifellos gute Er¬ 
folge zu erzielen, nur müssen bei deren 
Behandlung die Suggestionen feiner nuan- 
ziert und vor allem plausibel gehalten 
sein. Jeder einzelne Fall soll individuell 
behandelt werden. Auch ein gewisser 
Wechsel in der Art der Schlafsuggestionen 
muß ab und zu vorgenommen werden, 
wenn der Kranke nicht dazu gebracht 
werden kann, auf Kommando einzu¬ 
schlafen. Bei der Hypnose kommen zeit¬ 
lich zweierlei Suggestionen in Anwen¬ 
dung: die Schlafsuggestionen, die der 
Einleitung des hypnotischen Zustands 
dienen, und die Heilsuggestionen, die in 
der Hypnose bestimmt, klar, eindeutig 
und überzeugend gegeben werden müssen. 


Eine Variation bei den Heilsuggestionen- 
kommt viel weniger in Frage als bei den. 
Schlafeingebungen. Oftmals genügt nach 
einigen hypnotischen Sitzungen lediglich 
die Hypnose als solche, die Krankheits¬ 
symptome weiterhin verschwinden lassen. 
Denn die immer weiter sich vertiefende 
Autosuggestion des Kranken erkennt in. 
der Hypnose selbst den Heilwert. 

Sehr oft bekommt der Praktiker Fälle,, 
zu sehen, die in erster Instanz von Laien¬ 
hypnotiseuren „vorbehandelt“ sind. Han¬ 
delt es sich dabei um Kranke mit organi¬ 
schen Leiden, wie es öfters der Fall ist,, 
dann wurden sie bald von der Minder¬ 
wertigkeit dieser Laienarbeit überzeugt.. 
Zweifellos gehört es zu den verantwor¬ 
tungsvollsten Schritten des Hypnothera- 
peuten, wenn er sich an einzelne Sym¬ 
ptome organischer Krankheiten heran¬ 
wagt. Einmal kommt man leicht in fach¬ 
männischen Kreisen in Verruf, Dilet¬ 
tantenarbeit zu leisten, zumal wenn auch 
einmal eine erfolglose Behandlung be¬ 
kannt wird. Manchmal muß aber die 
ganze ärztliche Autorität aufgeboten: 
werden, um die Weigerung einer hypno¬ 
tischen Behandlung bei einem ungeeig¬ 
neten Fall aufrechtzuerhalten. 

Beispielsweise wurde ich vor einigen Monaten 
zu einer Patientin zwecks hypnotischer Behand¬ 
lung gerufen. Als ich zu der Kranken kam, be¬ 
stand ihre Begrüßung in den Worten: „Haben 
Sie Ihr Werkzeug zum Hypnotisieren dabei ?“* 
Bei der 72 jährigen Kranken bestand ein mani¬ 
scher Erregungszustand mit ausgesprochener 
Ideenflucht nebst Rede- und Betätigungsdrang.. 
Ihre Angehörigen zwangen mich förmlich, am 
Abend einen hypnotischen Versuch vorzunehmen.. 
Die Patientin konnte nicht in hypnotischen 
Tiefschlaf versetzt werden, aber wenigstens- 
soweit beruhigt werden, daß sie die eine Nachfe 
wenigstens ruhig schlief. Eine weitere hypnotische 
Behandlung wurde von mir strikte abgelehnt,, 
da ich der Überzeugung bin, daß man bei Geistes¬ 
krankheiten, selbst bei leichten Formen von 
Melancholie und Manie keine wesentlichen Er¬ 
folge erzielt, die den Aufwand an Zeit für die 
Behandlung gerechtfertigt erscheinen ließen. Da 
sich übrigens der Zustand bei der erwähnten 
Kranken verschlimmerte, mußte sie in Anstalts¬ 
behandlung gebracht werden. 

Erfolgreich konnte ich in einem Falle- 
von Angina pectoris mit starker psychi¬ 
scher Überlagerung die Hypnose an¬ 
wenden. 





Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


6f 


Es handelte sich um einen 42 jährigen Patien¬ 
ten, der seit 1918 an schwersten stenokardischen 
Anfällen litt, täglich bekam er 10 bis 15 Anfälle, 
hatte keine Nachtruhe mehr, der Schlaf blieb 
höchstens eine Stunde ungestört. Der Kranke 
nahm unkontrollierbare Mengen an Morphium 
und Nitroglycerin zu sich. Beim' Gehen war je¬ 
weilsschwerste Atemnot vorhanden, Patient mußte 
alle paar Schritte stehenbleiben. Als der Kranke 
zu mir kam, schrie und stöhnte er laut vor Schmerz. 
Eine Untersuchung war erst möglich, als er sich 
das in die Handfläche gegossene Nitroglycerin 
schleunigst zugeführt hatte. Die Wa.-R. war pos. 
Eine darauf hin vorgenommene äntiluetische 
Kur (Hg.-Neosalyarsan) blieb auf das subjektive 
Befinden ohne Einfluß. Weitere Kuren machte 
der Patient nicht durch. . Der Röntgenbefund er¬ 
gab ein nach rechts und links mäßig verbreitertes 
Herz. Die Herztöne sind frei von Geräuschen. 
Zweiter Aortenton etwas verstärkt. Puls 104. 
Blutdruck R.R. 195 mm (derselbe war früher 
angeblich 330). Urin: dauernd eiweißfrei. (Probe 
mit Sulfosalicylsäure) keine Cylinder. Die Unter¬ 
suchung des Nervensystems ergab gesteigerte 
Patellarreflexe, ebenso gesteigerte Achilles¬ 
sehnenreflexe, Romberg negativ, Rachen und 
Würgreflexe fehlen.. Pupillenreaktionen intakt. 
Da dem Patient von autoritativer Seite zur hyp¬ 
notischen Behandlung geraten worden war, 
wurde diese in Erwägung gezogen. Patient er¬ 
hielt zunächst einige Tage Diuretin 0,5 Dionin 
0,005 dreimal täglich, um auf die Coronargefäße 
dilatatorisch einzuwirken. Alsdann wurde mit 
der eigentlichen hypnotischen Behandlung begon¬ 
nen. In den ersten beiden Sitzungen verhielt 
sich Patient refractär, um aber von der dritten 
Sitzung ab in Sthlaftiefe 11 (Übergangsstadium 
der oberflächlichen zur tiefen Hypnose) zu kom¬ 
men. Bereits nach der vierten Sitzung war deut¬ 
liche Besserung in dem subjektiven Befinden des 
Kranken festzustellen, die Zahl der Anfälle sank 
auf zwei bis drei am Tage herab, die Nacht wurde 
durchgeschlafen. Anfangs wurde jeden zweiten 
Tag eine hypnotische Sitzung vorgenommen, 
später zweimal wöchentlich, zuletzt einmal in 
der Woche, im ganzen 13 Sitzungen in sechs 
Wochen. Der Blutdruck ging auf 175 mm Hg. 
zurück, um hier konstant zu bleiben. (Über 
Blutdruck und Hypnose soll in einem späteren 
Artikel ausführlich referiert werden.) Am Schlüsse 
der Behandlung war das subjektive Befinden 
deutlich gebessert, Patient schläft ohne Mittel 
die ganze Nacht durch. Die Zahl der Anfälle 
blieb auf fünf bis sechs in der Woche reduziert 
und kamen nur bei Anstrengungen oder Auf¬ 
regungen zur Auslösung, während im Ruhezustand 
der Patient sich meistens wohl fühlte, lediglich 
das Beklemmurgsgefühl tritt ab und zu "auf, 
hält sich aber in erträglichen Grenzen. An dem 
objektiven Befund hatte sich seit Beginn der 


Behandlung nichts geändert mit Ausnahme der 
nicht unwesentlichen Blutdrucksenkung. Eine 
neuerdings vorgenommene Wa.-R. war schwach 
positiv, so daß eine erneute Salvarsanbehandlung. 
eingeleitet wurde. 

Dieser Fall ist deswegen interessant,, 
weil tatsächlich eine bedeutende Hyper¬ 
tonie vorliegt, die zu Beschwerden führt,, 
bei denen sich aber der Patient in eine 
große Aufregung hineinsteigert. Diese 
psychische Komponente, die sich in den 
scheinbar unerträglichen Beklemmungs¬ 
gefühlen und der hochgradig gesteigerten 
Atemnot kundgibt, hat die pathologi¬ 
schen Vorgänge an den Coronargefäßen 
überlagert und ist dankbares Objekt 
hypnotischer Beeinflussung geworden. 
Auf alle Fälle wird nach einigen Monaten 
eine nochmalige kurze hypnotische Nach¬ 
behandlung notwendig sein. 

Derartige Fälle sind deshalb außer¬ 
ordentlich wichtig, weil sie zu denjenigen 
gehören, bei denen ärztliches Prestige 
bei Stellung der Indikation zur Hypnose 
auf dem Spiele steht. Jedenfalls glaube 
ich, daß man unbedingt dazu berechtigt 
ist, auch bei organischen Störungen je 
nach der Sachlage die Hypnose anzu¬ 
wenden, wenn man wenigstens einzelne 
Symptome günstig beeinflussen kann. 
Selbstverständlich wird die kausale 
Therapie im Vordergrund zu stehen haben. 
Aber wir haben im Laufe der letzten 
Jahre doch gelernt, den psychischen Vor¬ 
gängen und Begleiterscheinungen bei allen 
Erkrankungen größere Würdigung und 
Beachtung zu schenken. Die meisten 
organisch . erkrankten Patienten leiden 
psychisch außerordentlich unter ihrer 
Erkrankung, zumal, wenn eine sexuelle 
Infektion ätiologisch nicht sicher aus¬ 
geschlossen werden kann, diese Patienten 
vergrößern dann das Gros hysterischer 
und neurasthenischer Individuen. Dem 
Verantwortungsgefühl bleibt es Vorbe¬ 
halten, dort mit der Psychotherapie ein¬ 
zugreifen, wo wir dem Kranken helfen 
können, ohne Gefahr zu laufen, Schar¬ 
latanerie zu treiben. 


Repetitorium der chirurgischen Therapie. 

Von M. Borchardt. 


Die Behandlung frischer Verletzungen. 


Von M. Borchardt 

Bei tieferen Schnittverletzungen der 
Extremitäten ist die Durchtrennung von 
funktionell wichtigen Teilen (Muskeln, 
Sehnen, Gefäße und Nerven) eine häufige 
Komplikation. 


und S. Ostrowski. (Fortsetzung.) 

Die Prüfung auf Ausfallserscheinungen 
von seiten dieser Gebilde ist darum bei 
allen Wunden, die tiefer greifen als die 
Fascie, unbedingt vorzunehmen, und zwar 
bevor die Patienten narkotisiert sind. 






€2 


Die Therapie der Oegenwart 1921 


Februar 


Es sind also alle in Betracht kommenden 
Bewegungen zu prüfen, es muß die Sensi¬ 
bilität, es müssen die Circulationsverhält- 
nisse sorgfältig kontrolliert werden. 

Eine Unterlassung dieser Unter¬ 
suchungen kann sich später bitter rächen. 

Die Stümpfe durchschnittener Mus¬ 
keln ziehen sich zwar proximal und distal- 
wärts zurück, ihre Vereinigung ist aber 
fast stets ohne weitere Hilfsmaßnahmen 
zu erreichen. Allenfalls ist eine Erweite¬ 
rung der Wunde in der Längsrichtung 
vorzunehmen. Die Vernähung der Muskel¬ 
stümpfe geschieht in Entspannungs¬ 
stellung des entsprechenden Gliedes durch 
einfache Knopfnähte. Ein Schienen¬ 
verband sorgt für Fixierung und Siche¬ 
rung der Naht in der gleichen Entspan¬ 
nungsstellung. Nach etwa zehn bis 
vierzehn Tagen beginnt man mit aktiven 
und passiven Bewegungsübungen, mit 
Massage und Heißluftbädern; bei unvojl- 
kommenen Muskeldurchtrennungen kann 
man die Fixierung schon früher aufgeben. 

Größere Defekte in der Muskelfascie 
dürfen nicht vernachlässigt werden. Sie 
führen zuweilen zur Ausbildung von 
Muskelhernien, die an manchen Stellen, 
7. B. am Biceps brachii, am Rectus 
femoris und an anderen Stellen, lästige 
Funktionsstörungen herbeiführen können,- 
Wenngleich sich diese Störungen mit 
der Zeit auch auszugleichen pflegen, so 
ist es doch besser, ihr Auftreten überhaupt 
zu verhindern. Einige durch die Fascie 
gelegte Knopfnähte werden in der Regel 
zum Verschluß der Lücke genügen; eine 
fortlaufende Naht oder eine Dopplungs¬ 
naht, die eine doppelte Fascienlage 
schafft, ist manchmal noch sicherer. 
Dieser hermetische Verschluß aber darf 
nur angewendet werden, wenn die Wun¬ 
den einigermaßen rein sind. 

Anlaß zur operativen Wiedervereini¬ 
gung durchtrennter Sehnen hat man am 
häufigsten bei Schnittverletzungen an 
den distalen Extremitätenabschnitten 
(Verletzungen durch Glas, Messer, Sense, 
Beilhieb usw.). 

Das Aufsuchen besonders der in langen 
Sehnenscheiden gleitenden Sehnen¬ 
stümpfe in centraler Richtung kann 
schwierig werden, weil sie sich weit 
zurückziehen. 

Handelt es sich um Verletzung einer 
oder weniger Sehnen, so macht ihre Auf¬ 
findung und Adaption kaum besondere 
Mühe; anders dagegen, wenn zahlreiche 
Sehnen, z. B. die ganzen Streck- oder 
gar die Beugesehnen der Hand und Finger 


durchtrennt sind. Die distalen Stümpfe 
stellen sich meist von selbst in die Wunde 
ein, wenn man, je nachdem es sich um 
Durchschneidung von Streck- oder Beuge¬ 
sehnen handelt, den betreffenden Glied¬ 
abschnitt maximal beugt oder streckt. 
Ihre Enden werden zunächst entweder 
mit einer Naht angeschlungen oder mit 
einer feinen Pinzette unter Vermeidung 
jeglicher Quetschung fixiert. Mühsamer 
ist die Auffindung der centralen Stümpfe. 
In kleiner Wunde halte man- sich nicht 
lange mit Suchen auf, sondern erweitere 
sie durch ausgiebige Spaltung in der 
Längsrichtung des Gliedes. Zur Sicht¬ 
barmachung der proximalen Enden hilft 
eine Streichmassage vom Centrum zur 
Peripherie, durch welche Muskeln und 
Sehnen in die Wunde vorgedrängt wer¬ 
den. Auch die centralen Stümpfe werden 
angeschlungen oder durch feine Pincen 
festgehalten. Richtige* Vereinigung der 
zueinandcrgehörenden Sehnenenden ist 
Voraussetzung für eine spätere gute 
Funktion. Die regelrechte Ausführung 
einer komplizierten Sehnennaht erfordert 
gute anatomische Kenntnisse und viel 
Geduld. Die zusammengehörenden 
Sehnenenden werden durch eine der be¬ 
währten Nahtmethoden vereinigt. Die 
zuverlässigsten Methoden werden besser 
durch die beigefügten Abbildungen illu¬ 
striert, als durch langatmige Schilderung 
beschrieben; fast alle sind gleichwertig. 
Zu starke Schnürung der Enden muß 
vermieden werden, damit sie nicht nekro¬ 
tisch werden. Einlagerung der Naht¬ 
stellen unter Fett ist zweckmäßig. (Ab¬ 
bildung 1.) 

Vor dem Verbände noch muß geprüft 
werden, ob die Naht hält und ob die 
Sehnen frei gleiten. Wurde in Lokal¬ 
anästhesie operiert, so läßt man zur 
Kontrolle sofort aktive Bewegungen aus¬ 
führen! Hat man sich vom Erfolge der 
Naht überzeugt, dann wird die Fixation 
wieder in Entspannungsstellung des Glie¬ 
des vorgenommen, soll aber nur für mög¬ 
lichst kurze Zeit eingehalten werden. 
Kann man sich auf seine Naht verlassen, 
so darf unter Aufsicht des Arztes schon 
am vierten bis fünften Tage vorsichtig 
mit aktiven und passiven Bewegungen 
begonnen werden. Ist sachgemäße Auf¬ 
sicht und Hilfe nicht vorhanden, ist die 
Naht unsicher gewesen, so muß man die 
Fixation auf’ zehn bis vierzehn Tage 
ausdehnen. 

Wenn es die Wundverhältnisse nur 
einigermaßen zulassen, soll man dieSehnen- 




[Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


63 


naht unter allen Umständen primär an¬ 
streben. Nur bei stark verschmutztenWun- 
den muß man sie bis nach Abschluß der 
Wundheilung aufschieben und sekundär 
.ausführen. In solchen Fällen empfiehlt 
•es sich, die Stümpfe in der Nähe der 
Wunde.zLi fixieren, damit sich die Stümpfe 
nicht zu weit voneinander entfernen. 
Wenige Tage nach der Wundheilung 
führt man dann die sekundäre Naht aus. 

Größere Kontinuitäts-' 3 

;defekte in den Sehnen 
können durch Lappenab- 
^paltung vom proximalen 




Sehnennaht 
mach Hägler. 


nach 
Wölf 1er. 



nach Lange. 




nach 

■Wilms-Sievers. 



7 



nach 

Frisch. 


Abb. 1. Methoden der Sehnennaht. 


und vom distalen Sehnenende überbrückt 
werden. Auch Streifen von der Fascia 
lata sind zur Ausfüllung von Defekten 
oder zur Umhüllung bei unsicherer Naht 
warm zu empfehlen. 

Die früher schon vielfach verwendete 
Alloplastik mit zwischengelagerten Sei¬ 
den- oder Catgutfäden ist heute fast 
überall entbehrlich geworden. 

Nervenverletzungen werden erfah¬ 
rungsgemäß häufig übersehen. Nament¬ 
lich wird bei tieferen Schnittverletzungen 
.in der Gegend des Handgelenkes auf der 
Beugeseite eine Schädigung des N. me- 
dianus und ulnaris vielfach verkannt. 
Man schiebt die rrotorische Störung, 
die sich bei den Bewegungen der Finger 
: 2 eigt, mit Recht zunächst den in die 
Augen fallenden Sehnendurchtrennungc-n 


zu. Man vergißt, daß die über dem Hand¬ 
gelenk durchschnittenen Nn. medianus 
und ulnaris zwar auch noch motorische, 
viel mehr aber noch sensibleFasern bergen. 
Deshalb ist es eine grobe Unterlassüng, 
vor der Wundversorgung nicht auch die 
Möglichkeit einer Nervenverletzung in 
Betracht zu ziehen. Der Untersuchung 
auf motorische und sensible Störung 
sollte, wenn möglich, noch eine solche 
mit dem elektrischen Strome vorangehen. 
Auch die Nervennaht soll primär aus¬ 
geführt werden. 

. Welche glänzenden Erfolge die Ner¬ 
vennaht aufzuweisen hat, haben die 
Erfahrungen des letzten Krieges hin¬ 
reichend bewiesen. Nur bei starker Ver¬ 
unreinigung der Wunde, oder bei schon 
bestehender Infektion ist die primäre 
Naht zu unterlassen; uns ist sie aller-, 
dings auch dann noch gelegentlich ge¬ 
lungen, empfehlen wollen wir sie aber 
nicht, da der Versuch mit einem gewissen 
Risiko verbunden ist. Nach langdauern¬ 
den Eiterungen schiebt man die Sekundär¬ 
naht der Nerven am besten ungefähr 
sechs Monate nach Ausheilung der infi¬ 
zierten Wunde hinaus. Nur Nerven- 
stümpfe, deren Querschnittszeichnung 
deutlich normal ist und deren Konsistenz 
den gesunden Nerven entspricht, dürfen 
miteinander vereinigt werden. Sind die 
Enden stark gequetscht oder aufgefasert, 
so ist eine sparsame Anfrischung nötig. 
Bei der Wiedervereinigung ist darauf zu 
achten, daß die korrespondierenden Teile 
des Nervenquerschnittes genau anein¬ 
andergelegt werden, so daß Verschie¬ 
bungen nach der Seite und Verdrehungen 
um die Längsachse sicher vermieden wer¬ 
den. Da sich die Stümpfe dank ihrer 
Elastizität zurückziehen wie die Sehnen¬ 
stümpfe, so muß man sie manchmal 
bisweilen bis ins Gesunde hinein verfolgen, 
um ihre normale Lagerung richtig zu 
erkennen. Die korrespondierenden Stellen 
der Nervenstümpfe schlingen wir durch 
je drei feine Situationsnähte, die an den 
Rändern und in der Mitte angelegt sind, 
an. Die eigentliche Vereinigung der 
Nervenstümpfe geschieht durch feinste, 
nur das Perineurium fassende Nähte mit 
Seide oder mit Catgut. Durch kurz¬ 
dauernde Kompression muß die Blutung 
aus dem Nervenquerschnitt gestillt wer¬ 
den, denn Hämatome stehen den aus¬ 
wachsenden Nervenfibrillen hinderlich im 
Wege. 

Bei den Friedensverletzungen wird 
es nur selten nötig sein, größere Defekte 











64 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Februar 


durch besondere Methoden' zu über¬ 
brücken. Die vorsichtige Dehnung des 
centralen und peripheren Nervenstunipfes, 
die Entspannungsstellung der benach¬ 
barten Gelenke werden in der Regel 
genügen, um eine exakte Adaptierung 
zu ermöglichen. Allenfalls können durch 
Verlagerung der Nerven, z. B. des Ulnaris 
aus dem Sulcus internus des Ellbogens 
nach vorne, noch günstigere Bedingungen 
zur Wiedervereinigung der Nerven ge¬ 
schaffen werden. 

Bleibt bei ausgedehnten Zermal¬ 
mungen die direkte Vereinigung der ange¬ 
frischten Nervenstümpfe unmöglich, dann 
müssen wir zu einem der im Kriege so 
vielfach erprobten und bewährten Ueber- 
brückungsverfahren schreiten. Die an¬ 
fangs mit großem Enthusiasmus emp¬ 
fohlenen Edingerschen Röhrchen, durch 
deren gelatinösen Inhalt die proximalen 
Nervenfibrillen hemmungslos auswachsen 
und ihren Anschluß an den peripheren 
Nervenstumpf finden sollen, haben uns 
und anderen zuverlässigen Autoren keine 
Erfolge gegeben. Mehr Erfolg verspricht 
die Implantation von Nervenstücken, 
deren Berechtigung Bethe durch seine 
Experim.ente und Förster und Andere 
durch ihre klinischen Erfahrungen be¬ 
wiesen haben. Am zweckmäßigsten wird 
es sein, möglichst frisches oder demselben 
Individuum entnommenes Nervenmaterial 
zu benutzen. Steht solches nicht zur 
Verfügung, so ist auch bei der Verwendung 
von frischem, unter allen Kautelen der 
Asepsis entnommenem Leichenmaterial, 
eine erfolgreiche Implantation möglich. 
Sehr aussichtsreich erscheint nach einigen 
Kriegserfahrungen auch die Nerven- 
pfropfung. • Sie wird am besten so aus¬ 
geführt, daß der distale Stumpf des ge¬ 
schädigten Nerven mittels feinster Su- 
turen in einen Schlitz eines normalen 
Nervenstamm es implantiert wird. Dabei 
soll man darauf achten, daß die motori¬ 
schen Bündel des gelähmten mit motori¬ 
schen Bündeln des gesunden Nerven in 
Kontakt kommen. Bei dieser Operation 
muß man sich mit Hilfe der unipolaren 
oder bipolaren Elektrode darüber Rechen¬ 
schaft geben, welches das sensible, welches 
das motorische Areal des betreffenden 
kraftspendenden Nerven ist. Der Kraft¬ 
spender selbst darf weder in seinem 
motorischen noch in seinem sensiblen 
Anteil zu stark geschädigt werden. 

Die Frage der Umscheidung genähter 
Nerven ist noch nicht eindeutig ent¬ 
schieden worden. Am zweckmäßigsten 


erscheint es uns, wenn es- irgend möglich 
ist, die Nerven zwischen normale weiche- 
Fascien, Fett oder Muskelgewebe einzu- 
lagern. Da haben sie ihre natürliche Gleit¬ 
fläche. Allenfalls kann man sie mit ge¬ 
härteten Kalbsarterien umhüllen. Bef 
allen Manschettenbildungen, mit welchem 
Gewebe man sie auch ausführt, ist darauf 
zu achten, daß die Manschette weit 
genug ist und nicht durch sekundäre 
-Schrumpfung Schaden stiftet. 

Die Erfolge einer frisch ausgeführten 
Nervennaht können sich nach wenigen 
Monaten schon zeigen. Sie lassen aber' 
bisweilen auch lange, bis zu zwei Jahren, 
und mehr, auf sich warten. Die Behand¬ 
lung mißlungener Nervennähte durch 
erneute Operation oder ihr Ersatz durch 
Sehnentransplantation wird später an 
anderer Stelle besprochen werden. 

Behandlung frischer Gefäß Verletzungen^ 

Die Versorgung kleiner Gefäße in 
frischen Wunden bedarf einer Beschrei¬ 
bung nicht. 

Die Versorgung großer Gefäße aber 
hat durch die ausgezeichneten Studien 
Car reis einen vollkommenen Wandel, 
erfahren. Während man in früherer Zeit 
Blutungen aus Gefäßwunden, wenn die 
Lage und die Ausdehnung der Verletzung 
es zuließen, günstigstenfalls durch eine 
seitliche Ligatur oder eine fortlaufende 
seitliche Naht unter Erhaltung des Blut¬ 
stromes zu stillen in der Lage war, mußte 
man bei totaler bzw. subtotaler Durch¬ 
trennung eines größeren Gefäßes ohne 
Rücksicht auf die folgende Ernährungs¬ 
störung die Unterbindung des verletzten 
Gefäßrohres ausführen. Heute haben 
wir in der Carrel-Stichschen Gefäßnaht 
ein verläßliches Mittel, nicht nur seitliche- 
Gefäßwunden zu schließen, sondern auch 
vollkommen zerrissene Gefäße exakt cir- 
CLilär zu vernähen, ohne Nachblutung,, 
ohne Thrombose an der Nahtstelle be¬ 
fürchten zu müssen. Das bedeutet einen 
ganz enormen Fortschritt, denn wenn 
auch nicht in allen Fällen, in denen die- 
Hauptschlagader eines Gliedes unter¬ 
bunden worden ist, Gangrän eines mehr 
oder weniger größeren Gliedabschnittes 
auftrat, so war das doch häufiger der 
Fall, als man nach den Publikationen an¬ 
nehmen sollte; und wenn auch wirklich 
der Brand in manchen Fällen ausblieb,, 
so waren die Folgen der Ischämie doch 
häufig sehr unangenehme. 

Ob nach der Unterbindung der Carotis- 
communis, der Femoralis, der Axillaris> 



Februar 


' Die Therapie der Gegenwart 1921 


65 


aisw. schwere irreparable oder ob leichtere 
reparable Störungen auftreten, läßt sich 
mit Sicherheit nicht vorhersehen. Des¬ 
halb muß dringend gefordert werden, 
<iaß man bei allen akzidentellen Ver¬ 
letzungen solcher Gefäße, denen die Er¬ 
nährung einer größeren Körperregion zu¬ 
fällt, die Gefäßnaht versucht, ehe jnan 
sich zur Unterbindung mit ihren unüber¬ 
sehbaren Folgen entschließt. Voraus¬ 
setzung ist freilich, daß wir es mit an¬ 
nähernd aseptischen Wundverhältnissen 
zu tun haben, denn in infiziertem Gewebe 
wird die Nahtstelle selbst infiziert, es 
-leidet die Haltbarkeit und es treten, 
was noch schlimmer ist, an der Naht¬ 
stelle septische Thromben auf. 

An allen größeren und kleineren Ge¬ 
fäßen, an der Carotis, ist wie uns selbst, 
so auch anderen, die Gefäßnaht vielfach 
gelungen, ja selbst an der Aorta hat sie 
Braun mit Erfolg vorgenommen. 

Seitliche Wandverletzungen werden 
so durch die Naht geschlossen, daß man 
nach Abdrosselung des verletzten Gefäßes 
oberhalb und unterhalb der Verletzungs¬ 
stelle mittels elastischer eigens dazu 
konstruierter Klemmen von Höpfner, 
Carrel oder Jeger, mit Gummi¬ 
schläuchen oder mit Gazebändern den 
Wundschlitz durch zwei Winkelnähte 
strafft und die Wundränder durch, feinste 
fortlaufende Naht unter sorgfältiger Aus- 
krempelung 
und Adaption 
der Intirra 
•vereinigt. 

Zur Naht 
werden feinste 
runde oder 
grade Nadeln 
mit sehr feiner 
paraffinierter 
Seide verwen- 
-det.DieDurch- 
tränkung der 
Seide mit Pa¬ 
raffin dient da¬ 
zu, den Faden 
geschmeidig 

zu machen, die Abb.2. Oefaßna it nachCanel-Sticli. 

Stichkanäle 

.abzudichten und Thronibenbildung zu 
verhindern. (Abbildung 2.) 

Die circuläre Gefäßnaht wird so aus- 
geführt, daß nach temporärem Verschluß 
der Gefäßenden durch eins der genannten 
Hilfsmittel oder Instrumente, die Stümpfe 
zunächst sauber angefrischt werden, weil 


ihre Intima manchmal einige Millimeter 
ins Gefäßlumen hinauf verletzt ist. Von 
den Stumpfenden wird ferner die Ad- 
ventitia sorgfältig entfernt. Nunmehr 
werden in gleichen Abständen drei die 
ganze Dicke der Gefäßwand fassende 
Haltefäden angelegt und geknüpft, wäh¬ 
rend die Gefäßenden unter leichtem Zug 
an den Klemmen aneinandergebracht 
werden. Durch Anziehen der Halte¬ 
nähte wird das Gefäßlumen in ein gleich¬ 
zeitiges Dreieck verwandelt, dessen Seiten 
nun durch engstichige, dicht fortlaufende 
Naht mit einander vernäht werden. Die 
Intima wird dabei sorgfältig evertiert, 
sodaß Intima mit Intima breit an¬ 
einanderliegt. Die Naht der Gefä߬ 
scheide oder die Deckung der einreihigen 
Nahtstelle durch Nachbargewebe, Fett, 
Muskel oder Fascie beendigen den Eingriff. 

Etwaige Nachblutungen aus den Stich¬ 
kanälen werden durch vorübergehende 
Kompression mittels in Vaselin oder 
Paraffin getränkten Gazebäuschchen ge¬ 
stillt. Die Naht frischer Gefäßwunden 
ist leicht. Schwierigkeiten erwachsen 
erst bei Spätoperationen (siehe später 
Aneurysmen). 

Beim Abriß von Qliedteilen oder 
ganzen Gliedmassen wird in erster Linie 
die Blutung Gegenstand der Behandlung 
sein. 

Der Arzt ist hier nur selten in der 
Lage, die erste Hilfe zu bringen. Diese 
Aufgabe fällt den Laien zu. Eine hin¬ 
reichende Belehrung derselben über die 
Methoden der ersten Blutstillung ist 
heute in großen Betrieben wohl fast 
überall durchgeführt. Um so wichtiger 
aber ist die sekundäre Tätigkeit des 
Arztes. Die Gefahr der Nachblutung 
aus selbst kleinen Gefäßen verlangt ihre 
sorgfältige Ligatur im Stumpf; haben sie 
sich von der Wundfläche zurückgezogen, 
steht die Blutung zunächst infolge von 
Zerreißung, Aufrollung der Intima und 
sekundärer Thrombosenbildung, so muß 
man dennoch versuchen, die Stümpfe 
in den Muskelinterstitien aufzusuchen; 
durch wiederholtes Tupfen auf die Wund¬ 
fläche oder durch Streichmassage vom 
Centrum zur Peripherie kann man sie an 
erneut auftretenden Blutpunkten in der 
Tiefe des Wundtrichters erkennen und 
dann versorgen. Ueber die weiteren 
Maßnahmen zur Ueberwindung der Folge 
des Blutverlustes wird noch später be¬ 
richtet. 

Erlaubt der Zustand des Verletzten 
außer der Blutstillung durch Ligatur 

9 • ’ 




66 


Die Therapie* der Gegenwart 1921 


Februar 


der zerrissenen Gefäße zunächst keine 
anderen chirurgischen Maßnahmen zur 
Deckung des Stumpfes, so werden wir 
es zunächst mit der Anlegung eines 
aseptischen Druckverbandes genug sein 
lassen. Kramersche oder Pappschienen 
sorgen für die Fixierung des Stumpfes. 
Steigt die Temperatur, so muß man den 
Kompressionsverband abnehmen, ihn 
durch einen lockeren ersetzen und auch 
den aufgedrückten Tampon von Tag zu 
Tag lüften. Besteht die Gefahr der Nach¬ 
blutung, dann soll am Krankenbett, 
jederzeit leicht erreichbar, ein elastischer 
Gummischlauch hängen. Dem Praktiker, 
der nicht allzuoft in der Lage ist, den 
Abschnürschlauch zu verwenden, in 
dessen Instrumentarium der Gummi 
leicht verdirbt, empfehlen wir sehr, die 
von Sehrt angegebenen Metallklammern. 

Handelt es sich bei größeren Gliedern 
nur um eine partielle Abtrennung mit 
Erhaltenbleiben einer Gewebsbrücke, so 
kommt es für die Erhaltung des gefähr¬ 
deten Gliedstückes darauf an, ob die 
Hauptgefäße durchtrennt sind oder nicht. 
Sind sie intakt, so können Gliedab¬ 
schnitte, die nur noch mit einer schmalen 
Gewebsbrücke am Körper hängen, er¬ 
halten bleiben. So gelang es uns, einen 
im Ellbogengelenk abgerissenen Vorder¬ 
arm, der nur noch an der Cubitalis und 
an den Nerven hing, zur Anheilung zu 
bringen und eine volle Funktion des Ell¬ 
bogengelenks zu erzielen. Sind aber die 
Hauptgefäße (Arterien und Venen) ver¬ 
letzt, so ist, wie wir erwähnt haben, die 
Gefahr der Gangrän und Ischämie so 
groß, daß stets die Gefäßnaht versucht 
werden sollte. Ist sie aus Gründen der 
Infektionsgefahr oder wegen weitgehender 
Zerreißung des Gefäßrohres oder schwer 
ausführbar, oder hält sie nicht, so ist die 
Amputation des Gliedabschnittes un¬ 
vermeidbar. 

Alt ist die Vorschrift, bei partieller 
Abtrennung von Fingerkuppen oder Fin¬ 
gergliedern möglichst konservativ zu ver¬ 
fahren, d. h. dem Verletzten einen mög¬ 
lichst langen Stumpf zu erhalten. Auch 
heute noch ist diese Vorschrift richtig 
und zu beherzigen; aber dahin muß sie 
zweckmäßig ergänzt werden, daß auch 
Fingerstümpfe nur dann zu erhalten sind, 
wenn sie den Verletzten Nutzen bringen. 
Jeder, auch der kleinste Daumenrest, ist 
wertvoll. Aber ein nach langem Kranken¬ 
lager schließlich in Strecksteilung ver¬ 
heilter vierter Finger stört den Arbeiter 
mehr als er ihm nützt. Lose angewachsene 


Fingerkuppen, sind ihm hinderlich und. 
also zu entfernen. Bei allen Amputationen 
und Exartikulationen ist mit Sorgfalt 
darauf zu achten, daß die Greiffläche des 
Fingerstumpfes narbenfrei bleibt. 

An den Zehen wird mansichleichterzur 
Entfernung von Phalangen entschließen, 
da ihr Wegfall keine Funktionsstöruffg; 
bedingt. Nur das Köpfchen des Meta¬ 
tarsus I und V soll man-erhalten, da sie 
bei der Abwicklung des Fußes vom Wich¬ 
tigkeit sind. 

Quetschungen, Zermalmungen. Ihre 
Entstehungsursache bilden meist stumpfe; 
Gewalten (Überfahrung, Pufferquet-. 
schungen, Verschüttungen). Sie gehen, 
häufig mit mehr oder weniger aus¬ 
gedehnter und schwerer Gewebsschädi¬ 
gung einher. Die dabei entstehenden 
Nebenverletzungen werden nach den in- 
den Sonderabschnitten übk ihre Behand¬ 
lung angegebenen Regeln behandelt. Bei 
Quetschungen, Abschürfungen und Blu-- 
tungen der Haut selbst, meist durch Hin¬ 
gleiten am Boden, z. B. bei Kindern, zu¬ 
stande kommend, werden zunächst die 
in die Haut eingetriebenen Schmutz¬ 
partikel durch gründliche mechanische- 
Reinigung entfernt. Danach überläßt 
man eventuell nach einem leichten Jod-- 
anstrich die Läsionsstelle unter einem 
trockenen sterilen Verband der Trock-- 
nung. Sind subcutane oder subfasciale 
Blutergüsse vorhanden, so sind sie da¬ 
durch entstanden, daß das lockere Unter- 
hautzellgewebe beziehungsweise die Fascia 
und die Muskulatur ohne Verletzung der. 
elastischen und deshalb ausweichenden 
Haut gedehnt, überdehnt und schließlich 
zerrissen sind. Von kleinen, umschrie¬ 
benen Blutergüssen können alle Über¬ 
gänge zu den schwersten und ausgebreitet- 
sten Blutungen Vorkommen. Bei gefähr¬ 
licher Spannung der Haut, die besonders 
bei Überfahrungen durch schwerste Ver¬ 
letzung des Unterhautzellgewebes, an den 
Extremitäten z. B., circulär völlig von 
der Unterlage losgerissen sein kann (de- 
collement de la peau), muß der Gefahr 
der drohenden Hautgangrän durch Punk¬ 
tion der Blutansammlung oder mehrfache 
Einschnitte vorgebeugt werden. Kleinere 
Blutergüsse resorbieren sich bei Anwen¬ 
dung von Hyperämisierung und durch 
vorsichtige Massage schnell. Ruhig¬ 
stellung des verletzten Gliedes bei leichter 
Kompression der verletzten Teile unter 
gleichzeitiger Hochlagerung dürfte sich 
empfehlen. Es ist auch daran zu denken,, 
daß die subcutanen Blutansammlungem 





Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


6T 


starke Beimischung von Lymphe ent¬ 
halten können. Diese Lymphextravasate, 
die sich bei Zerreißung größerer Lymph- 
stämme hartnäckig immer wieder bilden 
können, muß man häufig punktieren und 
durch Kompressionsverbände zum Ver¬ 
schwinden zu bringen suchen. Die Be¬ 
handlung des traumatischen Hautemphy¬ 
sems, das gewöhnlich durch Einströmen 
von Luft aus gleichzeitig mitverletzten 
Teilen der Atmungsorgane, aber auch 
lufthaltiger Schädelknochen z. B. in die 
Gewebe entsteht, hat in der Verstopfung 
der den Austritt der Luft ermöglichenden 
Läsionsstelle und eventuell in der Ent¬ 
leerung durch mehrfache Incisionen in 
die lufterfüllten Gewebe zu bestehen. Die 
Behandlung des gefährlichen Mediastiiial- 
ernphysems wird bei den Thoraxver¬ 
letzungen besprochen. 

Das Resorptionsfieber, das sich an 
schwere Verletzungen anschließen kann, 
geht in wenigen Tagen zurück und muß 
von der Erhöhung der Körpertemperatur, 
die durch Infektion der Blutextravasate 
hervorgerufen wird, scharf unterschieden 
werden. In diesen Fällen bleibt die 
Temperatur hoch oder zeigt einige Tage 
nach dem Trauma dauernde Tendenz 
zum Ansteigen. Dabei steigert sich ge¬ 
wöhnlich auch der spontane Schmerz an 
der Verletzungsstelle. Alsdann ist so¬ 
fortige Verbandskontrolle notwendig. Je¬ 
der neue Verband muß ohne jeden Druck 
angelegt werden. 

Die Infektion bei den ungünstigen 
Ernährungsverhältnissen gequetschter Ge¬ 
webe ist die gefährlichste Komplikation. 
Findet sich bei diesen Verletzungen 


auch nur die kleinste, die Haut durch¬ 
setzende Läsion (entweder durch äußere 
Gewalt oder durch Anspießung zersplit¬ 
terter Knochen von innen her hervor¬ 
gerufen), so empfiehlt sich von vornherein 
breite Spaltung des Wundganges. Alle 
Taschen und Wundbuchten werden frei¬ 
gelegt, Blutergüsse ausgetupft, Blu¬ 
tungen gestillt, losgelöste Knochensplitter 
entfernt. Sachgemäße Gegenöffnungen, 
sorgen für bequemen Abfluß der ent¬ 
stehenden Wundsekrete. 

Die zum' größten Teile subcutane- 
Verletzung wird somit nach Möglichkeit 
in eine offene verwandelt. Die oft von 
ihrer Unterlage durch Blutergüsse weithin' 
abgehobene Haut kann sich nunmehrr ihre 
Unterlage wieder anlegen und findet da¬ 
durch günstigere Ernährungsbedingungen.. 
Die Heilung wird so beschleunigt und die 
Gefahr der Gangrän schlecht ernährter 
und unter Spannung stehender Hautteile 
vermindert. Tritt dennoch Gangrän ein,, 
so ziehen wir' anfangs den trockenen 
Verband vor, um den Brand zu beschrän¬ 
ken. Nach erfolgter Demarkation können 
dann feuchte Verbände die Abstoßung 
der abgestorbenen Teile beschleunigen 
helfen. Bleiben größere 'Wundflächen 
zurück, so schließt man sie, wenn mög¬ 
lich, durch plastische Verfahren an Ort 
und Stelle, durch Thierschlappen oder 
durch die Epithelpfropfung nach Braun, 
um den Eintritt etwaiger Contractur- 
bildungen zu vermeiden. Große Wund¬ 
flächen in der Nähe von Gelenken darf 
man unter keinen Umständen der 
Spontanheilung durch Granulation über¬ 
lassen. 


Repetitorium der inneren Therapie. 

Behandlung der Krankheiten der Leber und des Pankreas. 

Von G. Klemperer. (Schluß.) 


Gallensteinkrankheit. Im Kol kanfall 
gilt es den heftigen, oft unerträglichen 
Schmerz zu stillen, zugleich auch alles 
zu versuchen, was die entzündliche Schwel¬ 
lung der Gallenblase zur Rückbildung und 
den im Gallengang eingeklemmten Stein- 
zum Durchtritt'bringen könnte. Heiße 
Auflagen auf die Lebergegend übertönen 
den Schmerz, wirken auch hyperämi- 
sierend und krampflösend; feuchte Auf¬ 
schläge oder Kataplasmen oder Thermo¬ 
phore sind so heiß aufzulegen, als der 
Patient ertragen kann; doch hüte man 
sich vor Verbrennungen; die lokale Hitze¬ 
wirkung ist so lange fortzusetzen als noch 


Schmerzen bestehen. Meist erfordert der 
enorme Schmerz eine Morphiuminjeklion; 
am besten gibt man gleich 0,02 g; 1 cg 
genügt oft nicht zur Schmerzstillung, 
macht nicht selten Erregung und Er¬ 
brechen ; viele der sogenannten Morphium- 
ersatzmittel danken ihren guten Erfolg 
nur dem Umstande, daß sie in 1 ccm 0,02 g 
Morphium enthalten. Die Injektion 
ist bei sehr starken Schmerzen nach Be¬ 
darf, eventuell mehrfach, zu wiederholen; 

Z. B. Trivalin, das daneben noch Spuren von 
Cocain und Baldrian enthält. Auch die zu In¬ 
jektionen gebrauchte Pantoponlösung hat 0,02 g 
Morphium in 1 ccm. 


9* 




68 


Die Therapie der'Gegenwart 1921 


Februar 


sie wirkt nicht nur symptomatisch, son¬ 
dern oft auch kausal, indem sie durch 
Lösung des Muskelkrampfes das Hin¬ 
durchgleiten des Steins befördert. Unter¬ 
stützend .und subjektiv sehr erquickend 
wirkt oft ein lauwarmes Vollbad; zieht 
sich der Anfall in die Länge, so empfiehlt 
sich die Anlegung von etwa sechs (even¬ 
tuell blutigen) Schröpfköpfen in der Um¬ 
gegend der größten Schmerzhaftigkeit, 
oder auch von zwei bis vier Blutegeln über 
dem zu fühlenden Gallenblasentumor. 
Während der Kolik verschmähen die 
Patienten meist regelmäßige Nahrungs¬ 
aufnahme; sie sind zu häufigerem Trinken 
yon dünnem Tee, Mineralwasser, Suppen 
anzuhalten; beim Nachlassen der Schmer¬ 
zen ist zuerst leichte Krankenkost anzu¬ 
bieten, ganz langsam zur gewohnten Kost 
überzugehen. Stuhlgang ist durch Darm¬ 
einläufe zu erzielen; anfangs lauwarm, 
später kühl, am besten täglich gegeben, 
unterstützt die Eingießung den Ablauf 
der Kolik, indem sie die Darmperistaltik 
anregt und bei längerem Zurückhalten 
und Aufsaugen der Flüssigkeit auch als 
Cholagogon in Frage kommt. Bei längerer 
Dauer der Gallensteinkolik macht sich 
das Bedürfnis nach aktiver Unterstützung 
des Heilverlaufes geltend; man sucht 
ihm durch Anregung der Gallensekretion 
zu genügen, um vielleicht durch Ver¬ 
dünnung der Galle den entzündlichen Reiz 
für die Gallenwege zu mindern, zugleich 
die vis a tergo zu vermehren, welche dazu 
"beitragen kann, den Stein aus der Ein¬ 
klemmung zu befreien. So scheinen die 
sogenannten Cholagoga, wie Natrium sali- 
-cylicum (6 :200, dreistündlich einen E߬ 
löffel) oder Calomel in kleinen Dosen 
<zu 0,01 g zweistündlich)^) oder Sol. 
Sublimati (0,1 : 10,0 zweimal täglich fünf 
Tropfen) zu wirken. Auch die oft ange¬ 
wandte Ölkur dürfte gallentreibend, kaum 
als Gleitmittel wirken. Man gab früher 
•oft feinstes Öl zwei- bis dreistündlich 
tee- oder eßlöffelweise, wenn nicht Brech¬ 
reiz vorhanden; oder man verordnete täg¬ 
lich Einläufe von t)is Liter Öl. 
Die oft gerühmte Heilwirkung beruht 
manchmal auf Illusion, da die entleerten 
•anscheinenden Gallensteine sich als Mi¬ 
schung von Öl, Seifen und Kotbrocken 
erwiesen. Bei der Beurteilung der wirk¬ 
lichen Heilwirkung, d. h. der schmerzlosen 


Calomel 0,3 

Muss. pil. q. s. ut f. pil 30 
tgl, 5 St z. n. 

Calomel mit Podophyllin bildet das viel ge¬ 
lbrauchte Chologen. 


Beendigung der Kolik, ist stets zu be¬ 
denken, daß sie in mehr als drei Vierteln 
der Fälle ohne Kunsthilfe eintritt. — All¬ 
zulange Dauer der Koliken läßt die Frage 
der chirurgischen Beendigung hervor¬ 
treten; doch wird die Frage selten drin¬ 
gend; als absolute Indikation der Opera¬ 
tion im Anfall können nur Erscheinun¬ 
gen von drohender oder vollzogener Per¬ 
foration oder schwerer Sepsis gelten. 
Kurzdauerndes Fieber oder vereinzelte 
Fröste geben noch keine bestimmte An¬ 
zeige zur Operation; erst wenn das Fieber 
lange andauert, namentlich aber wenn das 
längere Bestehenbleiben des Gallenblasen¬ 
tumors auf Eiterung hinweist, wird man 
sich zur Operation entschließen. Probe¬ 
punktion der geschwollenen Gallenblase 
rate ich zu vermeiden oder sie doch erst 
auf dem Operationstisch vorzunehmen, 
weil sie leicht zur Infektion des Peri¬ 
toneums führen kann. Im allgemeinen 
verläuft aber die Gallensteinkolik auch 
beim Auftreten von Fieber und Schüttel¬ 
frost, beziehungsweise bei längerer'Dauer 
beträchtlicher Schwellung ohne Eingriff 
zu gutem Ende. Eine weitere Indikation 
liegt im chronischen Icterus durch Ver¬ 
schluß des Choledochus;, auch hier ent¬ 
schließt man sich meist erst nach mehr¬ 
monatigem Abwarten zur Operation. 

Nach überstandenem Kolikanfall ist 
die Verhütung neuer Anfälle zu er¬ 
streben. Wenn noch Gallensteine in der 
Gallenblase vorhanden sind, so ist dafür 
zu sorgen, daß sie in Ruhe liegen bleiben, 
daß Wanderung eines Steines in den 
Gallengang und Infektion der Blase ver¬ 
mieden wird. Die Möglichkeit der künst¬ 
lichen' Auflösung von Gallensteinen in 
der Gallenblase liegt außerhalb unseres 
Könnens. Man kann einigermaßen für 
Latenz sorgen durch- Vermeidung körper¬ 
licher Anstrengung, seelischer Erregung 
und diätetischer Unregelmäßigkeit. Je 
ruhiger und regelmäßiger der Patient 
lebt, je vorsichtiger er Magen- und Darm¬ 
störungen vermeidet, desto sicherer wird 
er vor neuen Gallensteinkoliken bewahrt 
bleiben. Zu den prophylaktischen Vor¬ 
nahmen gehört auch die Vornahme einer 
Karlsbader Trinkkur, teils durch gün¬ 
stige Beeinflussung der Magendarm¬ 
schleimhaut, teils durch die Anregung der 
Gallensekretion, deren Verdünnung und 
Strömungsbeschleunigung zur Verhütung 
der Infektion beiträgt. Eine vollkommene 
Sicherheit ist weder durch Ruhe und Diät, 
noch durch Karlsbader Kuren zu errei¬ 
chen, weil die Galle oft schon infiziert ist. 






Februar 


Die TherapieAder* Q-egenwar't i 


69 


sö daß das AÜfflackern neufer .Cholangitis 
und Cholecystitis von äußeren Einflüssen 
unabhängig ist; gelegentlich erfolgt auch 
die Infektion der Galle von der Blutbahn 
aus. Treten nun. trotz genügender all¬ 
gemeiner und'diätetischer Schonung im- 
m'er von neuem schwere Anfälle auf, 
oder auch deswegen, weil der Patient 
durch sozialen Zwang an der nötigen 
Schonung verhindert wird, so bietet- die 
chirurgische Entfernung der Gallenblase 
den einzigen Weg der sicheren Prophy¬ 
laxe. Operativer Eingriff wird auch nötig, 
wenn aus wiederholten Anfällen sich eine 
Chronische Wandverdickung der Gallen¬ 
blase gebildet hat, die als ein harter Tumor', 
an Carcinom erinnernd, zu fühlen ist. Die 
Operation ist um so dringender, als sich 
auf dem Boden der Cholecystitis ein pri¬ 
märes Carcinom entwickeln kann. 

Wirksamer ist die Prophylaxe, wenn 
es sich um die Verhütung neuer 
Steinbildung handelt. Mag - dieselbe 
nun aseptisch oder durch Galleninfektion 
erfolgen, fast immer beruht sie auf einer 
Verlangsamung der Gallenströniung. Die¬ 
ser hat die prophylaktische Beratung ent¬ 
gegenzuwirken, indem sie auch in diesem 
Fall zuerst die Notwendigkeit diätetischer 
Regelmäßigkeit und Schonung hervor¬ 
hebt, weil Magendarmkatarrh durch se¬ 
kundäre Schwellung des Choledochus zu 
Gallenstauurig führt. Die diätetische Ver¬ 
ordnung dringe auf öfteres Einnehmen 
kleiner Mahlzeiten, weil die normale 
Magendarm Verdauung den physiologi¬ 
schen Reiz der Gallensekretion darstellt. 
Wichtig ist häufige Getränkaufnahme. 
Besondere diätetische Beschränkung ist 
nicht notwendig; die Kost sei gemischt, 
das Fett darf nicht fehlen, weil die Ver¬ 
dauung desselben in besonderer Weise 
die Gallenströmung begünstigt. Man ver¬ 
gesse nicht, das langsame Essen und 
gutes Kauen zu betonen. Selbstverständ¬ 
lich, daß jede infektiöse Gastroenteritis 
zu vermeiden ist, weil die Infektion sich 
direkt auf die Gallenwege fortpflänzen 
und s'teinbildende Cholangitis verursachen 
kann. Gelegentliche Karlsbader Trink¬ 
kuren sind zur Prophylaxe der Gallen- 
steinbildung sicher nützlich, indem sie 
den Magendarmkanal sanieren, zum Teil 
wohl auch direkte Anregung reichlich^ 
Gallensekretion und Ströriiung. Wie weit 
hierbei'die specifische Zusammensetzung 
des Karlsbader Wassers mitspricht,' ist 
unsicher; wesentlich-ist gewiß auch die 
heiße Temperatur des'Brunnens. So ist 
cs 'denn' ein TVützlicher Rat, Patienten 


nach Gallensteinkaliken lange Zeit' auf 
nüchternen Magen ein Glas heißes Wasser, 
trinken zu lassen. Zur diätetischen Ord:- 
nung tritt die hygienische Beratung, wel¬ 
che die Vermeidung langen Sitzens; die 
Notwendigkeit häufiger . Bewegung, Vor 
allem auch tiefer Atembewegungen in den 
Vordergrund rückt. Es soll die Blut- 
circulatiori in der Leber befördert werden, 
die Atemgymnastik bedeutet eine Art von 
Lebermassage. Dazu tritt die. Sorge für 
zweckmäßige Kleidung; weder das Kor¬ 
sett noch Rockbänder oder Leibriemen 
dürfen die Gallenströmung in der Leber 
hemmen. Wenn durch Entbindungen 
oder starke Abmagerung der Druck der 
Bauchmuskulatür vermindert ist, welcher 
in der Norm ein Hauptbeförderungsmittel 
des Gallenflusses darstellt, ist durch 
zweckmäßige Leibbinden ein Ersatz zu 
besorgen. 

Die Bildung neuer Gallensteine kann 
insofern durch Medikamente verhindert 
werden, als sie durch gallentreibende Wir¬ 
kung den Gallenstrom beschleunigen und 
vielleicht durch Abscheidung in der Galle 
desinfizierend wirken^* So- mag die ge¬ 
legentliche Darreichung von kleinen Calo- 
mel- oder Sublimatdosen, beziehungsweise 
von Ochsengalle oder Gallensäuren (vgL 
S. 32) oder von Ölkuren (s. o.) auch in 
anfallfreier Zeit .gestattet sein. 

Luetische Lebererkrankungen. In 
therapeutischer Beziehung muß hervor¬ 
gehoben werden, daß viele Symptomen- 
bilder der Leberpathologie, die gewöhn¬ 
lich auf andere Ursachen zurückzuführen 
sind, auch durch Lues verursacht sein 
können. Icterus Simplex kann durch 
sekundärluetis.che Schleimhautentzündung 
der Gallenwege bedingt sein; fieberhafte 
Leberschwellung, welche dem Bilde der 
hypertrophischen Lebercirrhose sehr ähn¬ 
lich sein kann, kommt nicht selten im 
Tertiärstadium vor, ohne daß die anato¬ 
mische Ursache immer deutlich erkennbar 
ist. Atrophische Lebercirrhose, in diesem 
Falle mit tiefen Lappungen einhergehend, 
kann auf interstitieller Hepatitis luetica 
beruhen. Spätlues führt zu Gummiknoten, 
welche dem wirklichen Leberkrebs zum 
Verwechseln ähnlich sich anfühlen. Schlie߬ 
lich kann die akute gelbe Leberatrophie 
durch Lues verursacht sein. Es ist ein' 
nützlicher Rat, bei allen Leberkrank¬ 
heiten, namentlich bei ungewöhnlichen 
und langwierigen Verlaufsformen, an die 

3) Leibbinden müssen individuell angefertigt 
und angepaßt werden. Als gute Modelle sind 7 ai 
empfehlen Kalasiris und Heragürtel. ■ ’ 



70 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Februar 


Möglichkeit luetischer Ätiologie zu denken 
und eine specifische Kur zu versuchen, 
die nicht selten überraschende Erfolge 
erzielt. Manchmal genügt 5 % Jodkali¬ 
lösung, eßlöffelweise dreimal täglich ge¬ 
nommen; sonst wendet man intramusku¬ 
läre Einspritzungen von Hg salicylicum 
1:10 Paraffin liq. alle fünf Tage 1 ccm 
an. Salvarsan ist bei Lebererkrankungen 
besser zu unterlassen, weil es gerade in 
diesem Organ anscheinend leicht Schädi¬ 
gungen verursacht; nur wenn ausge¬ 
sprochene akute Leberatrophie luetischen 
Ursprungs verdächtig ist, mache man 
intravenöse Injektion von 0,6 Neosalvar- 
san, um durch diesen energischen Angriff 
vielleicht schnelle Heilung herbeizuführen. 

Erkrankungen des Pankreas. Die 
akuten Pankreaserkrankungen (Entzün¬ 
dung und Blutung), welche mit plötzlich 
einsetzenden schweren Leibschmerzen und 
schnellem Kollaps einhergehen und welche 
von Perforationsperitonitis nicht so leicht 
diagnostisch zu trennen sind, erfordern 
schnelle Laparatomie, da nur die recht¬ 
zeitige Ableitung des Pankreassekrets den 
Heilungsprozeß eriwglicht. Beim wesent¬ 
lichen Verdacht akuter Pankreaserkran¬ 
kung soll man nicht kostbare Zeit mit 
Abwarten verbringen, sich auch nicht 
durch subjektive Besserung nach Mor- 
phiuininjektion beirren lassen; das Klein- 
und Frequentbleiben des-Pulses nach 
anfänglichem Perforationsschmerz Jn der 


Oberbauchgegend * bleibt für den Ent¬ 
schluß zur Operation maßgebend. Nur 
das gleichzeitige Rückgehen der lokal- 
peritonitischen.und der Allgemeinerschei¬ 
nungen rechtfertigt ein gewisses Zuwarten, 
da mittelschwere Fälle akuter Pankreati¬ 
tis zur Selbstheilung gelangen können; 
die Diagnose wird in diesen Fällen durch 
die gleichzeitige Glykosurie sichergestellt. 
In zweifelhaften Situationen heftiger Ober¬ 
bauchschmerzen mit Kollaps würde ich 
die Laparatomie stets für weniger gefähr¬ 
lich halten als das bloße Zuwarten. 

Die Behandlung der Pankreasstein¬ 
koliken, welche der Diagnose manchmal 
durch die beträchtliche Glykosurie zu¬ 
gänglich werden, ist dieselbe wie der 
Gallensteinkoliken. 

Pankreascysten sind chirurgisch zu 
behandeln. 

Die chronischen Pankreaserkrankun¬ 
gen imponieren als Durchfallszustände 
beziehungsweise als Steatorrhoe und wer-, 
den nach der bei den Darmkatarrhen 
besprochenen Grundsätzen teils diätetisch, 
teils mit Pankreon (mehrmals täglich 
0,5 g) behandelt (1919 S. 307). 

Die chronische interstitielle Pan¬ 
kreatitis führt oft zu schwerem' Diabetes 
(vgl. 1920 S. 229). Sofern die Krankheit 
luetischen Ursprungs ist, ergibt sich die 
seltene Kategorie einer durch specifische 
Therapie heilbaren Form schwerer Zucker¬ 
krankheit. 


Referate. 


Die Behandlung der Bauchfelltuber¬ 
kulose mit Röntgenstrahlen wird von 
dem Schweizer.Chirurgen Dr. E. Bireher 
in Aarau auf Grund eines sehr großen 
Krankenmaterials warm empfohlen. Er 
hat nicht weniger als 155 Fälle von Peri¬ 
tonealtuberkulose mit Röntgentherapie 
behandelt. Der primären Strahlenbehand¬ 
lung werden alle Formen unterzogen mit 
Ausnahme der hochgradig ascitösen Fälle, 
in denen der Ascites zur Raumbeengung 
geführt hat, beziehungsweise älter als 
drei bis fünf Wochen ist. In diesen Fällen 
erfolgt zuerst die Operation, der sich die 
Nachbestrahlung anschließt. Dieses kom¬ 
binierte Verfahren hat besonders bei den 
hartnäckigen, rezidivierenden Fällen zu 
guten Erfolgen geführt und die Mortalität 
der Operation auf 4% herabgedrückt. 
Die Ileocoecal- und Genitaltuberkulose 
sind ebenso wie Bauchfell- und Darm¬ 
fisteln recht dankbare Objekte der Strah¬ 
lenbehandlung. Daß in leichteren Fällen 


die ambulante Behandlung zur Erspa¬ 
rung von Zeit und Geld für den Patienten 
durchgeführt werden kann, ist ein wei¬ 
terer Vorteil dieser Methode. Allgemeine 
Therapie, wie roborierende Diät, Kom¬ 
bination mit Höhensonnenbestrahlung, 
empfiehlt sich je nach Lage des Falles. 
70% der von Bircher beobachteten 
Fälle sind geheilt, beziehungsweise ge¬ 
bessert. Dr. Calm. 

(Strahlentherapie, Bd. XI, Heft 2. 

Im Cyclus der in Karlsbad abgehal¬ 
tenen Fortbildungsvorträge sprach Prof. 
Singer (Wien) über das Duodenal- 
Geschwtif, welcher vor kurzem von 
H. Strauß in dieser Zeitschrift behandelt 
v^orden ist (1920, S. 379). 

Der Vortragende zeigt zunächst, daß 
die mit vielem Geschick von dem Eng¬ 
länder Moynihan neu beschriebene 
Krankheit eigentlich eine Reprise alter, 
in Vergessenheit geratener Tatsachen ist. 
Ausgezeichnete Bearbeitungen aus dem 





Februar 


Die Therapre der Gegenwart 1921 


71 


Anfang des vorigen Jahrhunderts schil¬ 
dern schon das Symptomenbild der jetzt 
wieder modern gewordenen Krankheit, 
welche dem Magengeschwür so ähnlich ist. 

Während bis vor etwa einem De¬ 
zennium das Duodenalgeschwür als eine 
sehr seltene Erkrankung galt, lehren die 
statistischen Aufstellungen, daß die Zahl 
der Beobachtungen von Jahr zu Jahr im 
Anwachsen begriffen ist, besonders seit 
den Rekordoperationen der Amerikaner 
(Mayo), des* Engländers Moynihan. 
ln Deutschland und Frankreich hat 
man einen großen Teil der zum Duodenal¬ 
geschwür gehörigen Erkrankungen dem 
Geschwür des Magenausganges (Pylorus), 
beziehungsweise dem sogenannten ,,juxta- 
pylorischen Geschwür“ (Faber, Kopen¬ 
hagen) zugerechnet. 

Die Pathogenese, des Duodenal¬ 
geschwürs ergibt analoge Verhältnisse 
wie beim Geschwür des Magenkörpers. 
Auch hier zeigt sich, daß alte, von Mor¬ 
gagni und Virchow begründete An¬ 
schauungen in neueren Versuchen wieder 
aufleben. Auch die experimentellen 
Untersuchungen der Talma’schen Schule 
haben ihre Vorläufer in berühmten Ar¬ 
beiten von J. Schiff-Ebstein, Noth¬ 
nagel und Brown-Sequard, welche 
die Rolle des Nervensystems bei der Ent¬ 
stehung dieser Geschwürsformen erwiesen 
haben. Die neuere Wiener und Berliner 
Schule hat die Bedeutung des Nervus 
vagus für das Zustandekommen von 
Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüren 
in das rechte Licht gerückt. 

Vortragender hebt namentlich hervor, 
daß den chronischen Lungenerkrankungen 
(larvierte Tuberkulose) nach seinen Stu¬ 
dien ein wichtiger Platz bei den Ent¬ 
stehungsbedingungen der hierhergehörigen 
klinischen Komplexe gebührt. Die. so¬ 
genannten charakteristischen Symptome 
(Hungerschnierz usw.) sind vieldeutig und 
erfordern eine genaue Detaillierung. Die 
schwere Blutung faßt der Vortragende 
nicht als Komplikation, sondern als inte¬ 
grierendes Symptom dieser Geschwürs¬ 
form auf, ein Ereignis, das nach seinen 
Untersuchungen das Eingreifen des Chi¬ 
rurgen erfordert. Das Zwölffingerdarm¬ 
geschwür beginnt nicht selten unter dem 
Bilde der Magenneurose und führt in 
jahrelangem, progredienten Verlaufe zur 
Verengung des Pförtners. 

Die Resultate der Röntgenprüfung 
sind allein nicht entscheidend für die 
Diagnose, sondern nur im Zusammen¬ 
hang .mit allen klinischen Untersuchungs¬ 


behelfen zu verwerten. Mit der näheren 
Kenntnis der Veiiaufseigentümlichkeiten 
haben sich die Befürchtungen, die man 
noch vor kurzem an das Vorhandensein 
des Duodalgeschwüres knüpfte, wesent¬ 
lich gemildert. Auch die Erfahrungen 
der operativen Therapie haben ge¬ 
zeigt, daß der ursprüngliche Enthusiasmus 
für die Operation und die radikale Ein¬ 
stellung bei der Behandlung dieser Ge¬ 
schwürsformen nicht angebracht sind. 
Von Deutschland her beginnt eine Um¬ 
kehr namentlich der Chirurgen zu den 
konservativen Methoden der inneren 
Medizin. Der Vortragende nimmt in 
dieser Frage einen vermittelnden Stand¬ 
punkt ein. Sorgfältige Überwachung 
der Lebensführung, körperliche und 
geistige Ruhigstellung (nervöse Bedin¬ 
gungskomplexe) und diätetische Forde¬ 
rungen sind die Richtlinien der konser¬ 
vativen Behandlung. ,,Wenn die über¬ 
eilte Geschäftigkeit wieder der alten ab¬ 
wägenden und beobachtenden Haltung 
der internen Klinik Platz machen wird, 
dann werden die Karlsbader Quellen 
jenen Kranken zugute kommen, die 
schon vor Jahrhunderten inkognito hier 
Heilung gefunden haben.“ q ^ 

Die Nierendekapsulation bei 
Eklampsie, welche nach Edebohls mehr¬ 
fach mit Erfolg ausgeführt worden ist, 
wird neuerdings von Lübbert emp¬ 
fohlen. Bei dem ersten Fall, den er be¬ 
obachtet hat, handelte es sich um eine 
26jährige Erstgebärende. Die Schwanger¬ 
schaft war ohne Beschwerden verlaufen, 
der Partus war normal. Wegen starker 
Blutung wurde tamponiert. 114 Stunden 
nach der Entbindung trat der erste 
eklamptische Anfall auf, dem bis zum 
nächsten Morgen noch 24 zum Teil 
schwere Anfälle folgten. Im ganzen 
wurden nur 100 ccm Urin entleert, der 
0,4% Eiweiß enthielt. Nach der De- 
kapsulation beider Nieren hörten die 
Anfälle ganz auf, schon nach 48 Stunden 
betrug die Urinmenge zwei Liter, Albumen 
war nur noch in Spuren nachweisbar. 
Nach drei Wochen wurde Patientin ge¬ 
heilt entlassen.* Die zweite Patientin 
war 25 Jahre alt. Normaler Partus mit 
starkem Blutverlust. Nach vier Stunden 
ein eklamptischer Anfall. Nach dem 
siebenten Anfall wurden beide Nieren de- 
kapsuliert. Nach der Operation traten 
einige ganz kurze Anfälle auf. Die Urin¬ 
menge vor der Operation betrug nur 
einige ccm mit 0,2 % Eiweiß, zwei Tage 





1 % Die Therapie der 


nach der Operation aber schon 1400 ccm. 
mit 0,02 % Eiweiß. Auch.diese Patientin 
konnte nach drei Wochen beschwerde- 
frei entlassen werden. Verfasser erklärt 
die günstige Wirkung der Dekapsulation 
folgendermaßen: Die Eklampsie post 
partum wird durch ein latentes im 
Körper auch nach Ausstoßung der Pla- 
centa zurückgebliebenes Gift ausgelös.t, 
das durch die Nieren ausgeschieden werT 
den ..müßte. Bei der Schädigung der 
Nierenfunktion ist dies aber erst möglich, 
wenn durch die Operation eine Wieder¬ 
herstellung der Nierentätigkeit in die 
Wege geleitet ist NTathorff. 

(M. m. W. 1920, Nr. 48.) 

Über die Gonorrhöe des Weibes sprach . 
Prof. Franz im Rahmen der von dem 
Deutschen Fortbildungskomitee veran¬ 
stalteten Vorträge über Therapie innerer 
Krankheiten. Eine der größten Gefahren 
für die Ausbreitung ist in der Symptom- 
losigkeit der Gonorrhöe der Frauen zu 
sehen. Der Nachweis der Gonokokken 
ist in vielen Fällen schwierig; wo er 
leicht ist, sind meist auch die klinischen 
Erscheinungen deutlich genug. Die .pri¬ 
märe gonorrhoische Infektion betrifft bei 
Kindern die Urethra und Vagina, bei Er¬ 
wachsenen die Urethra und die Cervix, 
nicht die Scheide. Bei chronischer Gonor¬ 
rhöe des Mannes kann manchmal nur die 
Cervix der Frau infiziert werden. Der 
innere Muttermund stellt eine Barriere 
gegen die Ausbreitung der Gonorrhöe aus 
der Cervix in den Uterus dar. Gelangen 
die Gonokokken über den inneren Mutter¬ 
mund hinaus, sind sie auch in der Tuba, 
von wo aus ein Austritt in das Pelvo- 
peritoneum und zu den Ovarien statt¬ 
finden kann. Sehr gefährlich können 
ärztliche Manipulationen (Sonden) die 
Ascension beeinflussen. Sehr wichtig für 
die Diagnose ist die bei der akuten 
Gonorrhöe eventuell auftretende schmerz¬ 
hafte Schwellung- der Inguinaldrüsen. 
Chronische Gonorrhöe ist manchmal über¬ 
haupt nicht zu diagnostizieren. Bei Druck 
auf die Harnröhre ist bei dieser manchmal 
etwas Sekret auszupressen. Häufig er¬ 
kranken die Bartholineschen Drüsen — 
besonders der Ausführuhgsgang — ver¬ 
stopft er sich, so kann es zu Absceß- 
bijdung kommen. Rötung an den Aus¬ 
führungsgängen der Bartholineschen 
Drüsen findet man bei chronischer Gonor¬ 
rhöe. Gonorrhöe der Vagina ist bei Er^ 
wachsenen sehr selten (Colpitis grahulosa). 
Um eine echte gonorrhoische Infektion 
der Vaginalwand handelt es sich bei der 


•Gegenwart.1921 .Febrpar 


Vulvovaginitis der kleinen Kinder, .die 
niit starker Sekretion, .pro.fusen AbsonK 
derungen eirihergeht.- Der . Ausfluß,, 
das Symptom der Cervixgonorrhöe der 
Frau, kann öfter gering. sein,, er kann, 
andere Ursachen haben, als gonorrhoisch, 
nur erwiesen werden .durch mikroskopi-. 
sehen Nachweis der Gonokokken. . Starke. 
Schmerzhaftigkeit charakterisiert die 
Tubenerkranküng. Meist handelt es sich 
um doppelseitige Erkrankung der Tuben 
bei ascendierender -Gonorrhöe. Bei chro-. 
nischer Gonorrhöe^ kann sie noch nach 
Jahren auftreten bei besonders schädi¬ 
genden Momenten. Bei Tubenerkran¬ 
kung kommt eS' fast immer zur Pel.vo-, 
peritonitis, dauert die. Infektion länger,, 
so kommt es zu typischen Veränderungen, 
'der Tube, doch kann diese wieder funk¬ 
tionsfähig werden. Isolierte Eierstock¬ 
entzündung ohne Erkrankung der Tuben 
gibt es nicht. Diffuse gonorrhoische, Peri.- 
tonitis ist selten, sie hat gutartigen Cha¬ 
rakter. Für die. Behandlung ist wichtig 
zu bedenken, daß der' Verlauf der 
Gonorrhöe umso harmloser, je 
zurückhaltender der Arzt ist. Bei 
Cervixgonorrhöe ist von Scheidenspülun¬ 
gen oder Ätzung der Cervix abzusehen. 
Absolute Ruhe braucht die Frau, sie ist 
wie eine Schwerkranke drei Wochen fest 
im Bett zu halten. So kann die Ascension 
eventuell verhütet werden. Bei starken 
Beschwerden beim Urinlassen kann die 
Urethralgonorrhöe behandelt werden, aber 
nicht spritzen, sondern mit Urethralstäb¬ 
chen, Gonostyli (Bayer), mit Protargol 
(10%ig), 40 mm -lang, 4 mm dick, die 
täglich eingeführt werden. Die -Vulvo¬ 
vaginitis ist mit Vaginalglobuli (Protar¬ 
gol, 10%tig) zu behandeln. Bei Adnex¬ 
tumoren, chronischer Pelvoperitonitis ist 
die therapeutische Wirkung vielfach emp¬ 
fohlener Maßnahmen (z. B. Terpentinöl¬ 
injektionen) zweifelhaft. Erforderlich ist 
Bettruhe; bei der seltenen Bildung von 
Eitersäcken ist Operation indiziert, wo¬ 
bei Vorsicht anzuraten ist bezüglich der 
völligen Entfernung der Eierstöcke. 

Feiierhack. 

Über das Krankheitsbild der relativ 
seltenen genuinen akuten Hämato- 
porphyrie berichtet Günther unter Hin¬ 
zufügung einiger neuer Beobachtungen zu 
den etwa 20 bisher veröffentlichten typi¬ 
schen Fällen. Hämatoporphyrin (Hp), 
ein Hämoglobinabkömmling, nämlich 
eisenfreies Hämatin, wird normalerweise 
zu etwa 0,4 mg pro Liter im Harn aus¬ 
geschieden- und ist darin spektroskopisch- 



‘Februar , Die- Therapie 'der Gegenwart 1Q2D 7:3 


hiachweisbar. Pathologisch vermehrte 
Hp-Ausscheidung gründet sich auf einer 
noch dunklen Konstitutionsanomalie — 
Porphyrismus —, die meist Neuropathen 
mit Neigung zu ‘Hautpigmentierungen 
betrifft. Das in der Haut, dem Harn oder 
Kot zutage tretende Porphyrin leitet 
■sich dabei möglicherweise gar nicht immer 
vom Blutfarbstoff her; die Wahrschein¬ 
lichkeit synthetischer Porphyrinbildung 
ist vom Verf. anderenorts begründet 
worden. — Der Porphyrismus kann ver- 
•schiedene Krankheitszustände bedingen; 
bei Ablagerung sensibilisationsfähigen 
Hp.san der Körperoberf lache, der Häm a- 
toporphyri'a congenita, kommt es zu 
eigenartigen verstümmelnden Hautverän¬ 
derungen. Meist schließt sich die Hp.urie 
an akute Vergiftungen an, wie Sulfonal, 
Veronal, Bleivergiftung, aber auch an 
Typhus. Es gibt aber auch eine genuine 
akute Hämatoporphyrie, für die 
zwei ausfürliche neue Krankengeschichten 
beigebracht werden. Danach tritt der 
typische akute Anfall plötzlich mit hef¬ 
tigsten, unbestimmt lokalisierten Darm¬ 
koliken ein, Erbrechen, hartnäckiger 
Stuhlverhaltung bei schlaffen Bauch¬ 
decken und unter Entleerung einer an¬ 
fangs verminderten stets sauren, tief¬ 
braunen oder portweinfarbenen, oft nach¬ 
dunkelnden Harns, der immer Hp, oft 
Urobilin enthält. Röntgenologisch sind 
Darmspasmen nachweisbar; der schlie߬ 
lich produzierte Stuhl ist kleinknollig, oft 
blutig-schleimig, hp- und urobilinreich. Es 
bestehen keine Anzeichen für cutane 
Lichtüberempfindlichkeit. Die Anfälle, 
die einige Tage bis zwei Wochen dauern 
können, wiederholen sich zuweilen, oft 
erst nach jahrelangen Intervallen, in 
denen vermehrte Hp-Ausscheidung fort¬ 
besteht, meist an Schwere zunehmend. 
Polyneuritiden beherrschen manchmal das 
Krankheitsbild, und können zu bleibenden 
Lähmungen führen, 45% der berich¬ 
teten Fälle ging an aufsteigender Para¬ 
lyse zugrunde. Zur Pathogenese der Stö¬ 
rung wird als einfachste Theorie die An¬ 
nahme von Enterotoxinen angeführL wo¬ 
bei vielleicht das Hp selbst bei Über¬ 
schreitung einer gewissen Konzentrations¬ 
schwelle Reizwirkungen ausübt. Solango 
noch die Herkunft des Entero-Hp frag¬ 
lich ist, inuß die Krankheit un.ter die 
kryptogenen Affektionen aus konstitu¬ 
tioneller Anomalie eingereiht werden. 
Denn gerade auch die toxischen Formen 
weisen auf diese konstitutionelle Kompo¬ 
nente hin, wie ja allein schon aus der 


überwiegenden Zähl der vom Verf.unter¬ 
suchten Typhusfälle ohne Hp-Vermeh- 
rung hervorgeht. Die^ vereinzelten Be¬ 
funde von kombinierender beziehungs¬ 
weise alternierender kindlicher Aceton- 
ämie mit periodischem Erbrechen und 
von paroxysmaler Hämoglobinurie können 
zur Aufhellung der Pathogenese wenig 
beitragen. Man muß sich daher vorläufig 
begnügen, von einer liieist Neuropathen 
betreffenden Darmneurose zu sprechen, 
die sich auf dem Boden eines konstitutio¬ 
nellen Porphyrismus akut entwickelt. — 
Je nach der Lokalisation der Kolik¬ 
schmerzen können Appendicitis, Chole- 
lithiasis, Nephrolithiasis, Magen- und 
Duodenalaffektionen vorgetäuscht wer¬ 
den. Einige Patienten wurden einer 
Appendixoperation unterzogen. Oft ent¬ 
steht Ileusverdacht. Die Diagnose wird 
durch die spektroskopische Untersuchung 
des auffallend dunkeln Urins gestellt; sie 
schützt vor unnötigen chirurgischen Ein¬ 
griffen ; therapeutisch kommt nur allge¬ 
meine Pflege, vorsichtige Diät und Anwen¬ 
dung von Narkoticis in Frage. Joel (Berlin.) 

(D. Arch. f. kl. M., Bd. 134, H. 5 u. 6.) • 

Unter dem Namen Dyspragia cordis 
intermittens verbucht Bittorf eigen¬ 
artige anginöse Schmerzphänomene bei 
Herz- und Aortenerkrankungen von dem 
klassischen Bilde der Angina pectoris 
abzugrenzen. Dies erscheint ihm des¬ 
halb besonders von Wichtigkeit, weil 
diesen anginoiden Formen andere anato¬ 
mische Prozesse und andere funktionelle 
Vorgänge als der echten Angina pectoris 
zugrunde liegen, was vor allem für die 
Prognose von großer Bedeutung ist. 
Es handelt sich zumeist um Männer in 
den fünfziger und sechziger Jahren, die 
über folgende charakteristische Er¬ 
scheinungen zu klagen haben: Schmerzen 
in der Herzgegend, die nach dem Hals 
und dem linken Arm zu ausstrahleh und 
sich bis zum Vernichtungsgefühl steigern 
können. Atemnot tritt nicht auf, wohl 
aber vereinzelt Schweißausbruch. Das 
Wesentlichste ist aber, daß diese Schmerz¬ 
anfälle nie in der Ruhe, im Bett, im 
Schlaf oder bei langsam gleichmäßiger 
Bewegung auftreten, sondern stets nach 
raschem Gehen, Steigen oder anderen An¬ 
strengungen. Als begünstigende Momente 
kommen hinzu vor allem Kälteeinwirkung 
und stärkere Magenfüllung, daneben aber 
auch seelische Erregungen. Als objektive 
Zeichen finden sich bei diesen Patienten 
die Erscheinungen der Aortensklerose: 
Herzhypertrophie, klingender zweiter 

10 



74 


Februar 


-Die Therapie der 


Aorten tojn, leises systolisches Aorten¬ 
geräusch, Blutdrucksteigerung. Dazu 
gesellen sich manchmal die Symptome 
der arteriosklerotische Schrumpfniere. 
Ätiologisch kommen b.esonders Alkohol 
und Nikotin in Betracht, die Lues spielt 
keine Rolle. Anatomisch handelt es 
sich nach Ansicht des Verfassers um eine 
diffuse sklerotische-Erkrankung der Coro- 
nargefäße, die aber so gering ist, daß 
in der Ruhe die ausreichende Blutver¬ 
sorgung des Herzmuskels gewährleistet 
wird. Erst bei Anstrengungen versagt 
die Anpassungsfähigkeit und Erweitbar- 
keit der Coronarien. Vasomotorische 
Einflüsse wirken in gleichem Sinne un¬ 
günstig, es kann sogar zu einer paradoxen 
Verengung der Kranzgefäße unter dem 
Einfluß der Anstrengung kommen. Das 
Krankheitsbild ähnelt demnach sehr dem 
auch sonst in der Klinik bekannten inter¬ 
mittierenden arteriosklerotischen Dys- 
pragien, wie den intermittierenden arterio¬ 
sklerotischen Darmstörungen und der 
Dysbasia arteriosclerotica. Deshalb gibt 
Verfasser den beschriebenen Krankheits¬ 
erscheinungen den anfangs genannten 
Namen: Dyspragia cordis intermittens. 
Die Prognose ist wesentlich besser als 
die der echten Angina pectoris, es kommt 
höchst selten zu Herzinsuffizienz. Die 
Therapie deckt sich in der Hauptsache 
mit der bei der Angina pectoris bewährten. 

(M. Kl. 1920, Nr. 45.) Nathorff. 

Versager und unangenehme 
Nachwirkungen der Lumbalanästhesie 
sind in der letzten Zeit wiederholt be¬ 
schrieben worden.. Zuletzt hat Baruch 
in der B. kl. W. 1920 Nr. 13 mit diesen 
Fragen sich beschäftigt und ist hierbei 
zu dem Schluß gekommen, daß eine 
Liquorverarmung des Lumbalsacks für 
diese Erscheinungen verantwortlich zu 
machen sei. Dieser Liquorverlust wird 
nach Baruchs Meinung dadurch hervor¬ 
gerufen, daß aus dem Stichkanal des 
Lumbalsacks Liquor nachträufelt und 
hierdurch eine Stichkanaldrainage bedingt 
wird, die mehrere Tage anhalten kann, 
ln der Tat ist in einigen Fällen zu be¬ 
obachten, daß sich an der Stelle der 
Lumbalpunktion eine Durchtränkung der 
Weichteile entwickelt. Bungart glaubt 
die Beweisführung Baruchs nicht als 
stichhaltig anerkennen zu können.. Er 
führt hierfür folgende Tatsachen an: 
Einmal gibt es Operationen (z. B. an 
Gehirn und Rückenmark), bei denen das 
Nachsickern der Lumbalflüssigkeit in 
bezug auf Menge und Zeit ein wesent- 


Oegenwart 1921 


lieh erheblicheres ist und trotzdem werden 
nie entsprechende Erscheinungen beob¬ 
achtet. Dann haben wir es bei den 
Baruchschen Erklärungen mitVorgängen 
zu tun, die so alt sind wie die Lumbal¬ 
anästhesie selbst und trotzdem ist diese 
Häufung der Begleiterscheinungen erst 
in den letzten Jahren gesehen worden. 
Endlich haben einige Autoren festgesfellt, 
daß die Nacherscheinungen schwanden, 
sobald ein anderes Präparat in Anv/en- 
dung kam. Alles dies und die Fest¬ 
stellung, daß es sich um eine Form von 
Reizung der Hirn- und Rückenmarkshäute 
handelt, läßt Bungart zu dem Schlüsse 
kommen, daß Störungen vorliegen, die 
ihre Ursache entweder im Präparat oder 
in der Metallzusammensetzung der Spritzen 
haben, die unter den Kriegsverhältnissen 
eine Verschlechterung erfahren haben. 
Werden diese beiden Schäden behoben, 
dann ist auch mit dem Verschwinden 
der unangenehmen Erscheinungen zu 
rechnen. Hayward (Berlin.) 

(Zbl. f. Chir. 1921, Nr. 1.) 

Für die operative Behandlung des 
Magen- und Duodenalgeschwürs kommen 
nach H. Finsterers Ansicht erheblich 
mehr Fälle, als von mancher Seite an¬ 
genommen wird, in Betracht, zumal 
die Gefahren der Operation keineswegs 
größere sind, als die der konservativen Be¬ 
handlung. Während er für das akut ent¬ 
standene Geschwür die allgemein üblichen 
chirurgischen Indikationen stellt (Gefahr 
der Perforation, stärkere Blutung beim 
Versagen interner Behandlung), empfiehlt 
er die chronischen Magengeschwüre 
häufiger operativ anzugreifen, als es bis¬ 
her üblich war. Fehldiagnosen, wie z. B.- 
nervöse Hyperacidität und Magenerweite¬ 
rung verhindern nicht selten das indizierte 
chirurgische Vorgehen, aber auch die 
chronischen Geschwüre, die richtig und 
rechtzeitig diagnostiziert sind, sollten 
häufiger chirurgisch behandelt werden. 
Auch für die akute Blutung empfiehlt 
Finsterer selbst, wenn stärkere Anämie 
besteht, operatives Vorgehen; ebenso bil¬ 
den hohes Alter, Kachexie, Herz- und 
Lungenleiden keine Kontraindikation bei 
Anwendung der Lokalanästhesie. Fin¬ 
sterer nimmt für die konservativ be¬ 
handelten Fälle eine Mortalität von 20 
bis 25% an, während sie bei der Resek¬ 
tion mir 6—10%, bei der Gastroentero¬ 
stomie sogar nur 1—3% beträgt. Trotz 
der höheren Mortalität werden die besten 
Dauerresultate mit der Resektion, und 
zwar mindestens des halben Magens bei 





Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


75 


ulcus ventriculi und duodeni erzielt, wo¬ 
durch auch die Hyperacidität dauernd 
beseitigt werden kann. 

Blumenthal (Berlin). 

(Ther. Hmh. 1920, Heft 19.) 

Das Problem des Muskeltonus, mit 
dem sich früher fast allein Physiologen 
und Pathologen beschäftigt haben, hat 
in jüngster. Zeit auch für die Klinik ein 
erhöhtes Interesse gewonnen. Über die 
Beziehungen, die zwischen Muskeltonus 
und Gesamtstoffwechsel bestehen, ver¬ 
öffentlicht jetzt Grafe aus der Krehl- 
schen Klinik eingehende Untersuchungen. 
Die früher herrschende Anschauung ging 
dahin, daß Verkürzung und Arbeits¬ 
leistung der Muskeln Ausdruck einer 
einzigen Funktion, nämlich der Spannung 
sei. Im Gegensatz hierzu geht die heutige 
Ansicht dahin, daß die Spannung des 
Muskels durch zwei völlig voneinander 
verschiedene Vorgänge bedingt sei, 
einmal durch tetanische Kontraktion und 
zweitens durch Zunahme des sogenannten 
Tonus, der auch als innere Sperrung, 
plastischer Tonus oder myostatische Funk¬ 
tion bezeichnet wird. Dieser Muskeltonus 
ist von allen willkürlichen Bewegungen 
völlig unabhängig; er ist auch bei der 
quergestreiften Muskulatur des Warm¬ 
blüters vorhanden und dort wahrschein¬ 
lich dem Sarkoplasma eigentümlich. Man 
hat nun vielfach untersucht, ob dieser 
Muskeltonus von Einfluß auf den Stoff¬ 
wechsel und die Wärmeproduktion ist. 
Die Physiologen Parnas und Bethe 
haben gezeigt, daß kontrahierte Muschel- 
und Schneckenmuskeln trotz starker Be¬ 
lastung keinen anderen Energieumsatz 
hatten als erschlaffte Muskeln. Für 
andere Kaltblüter konnten diese Befunde 
nicht bestätigt• werden. Grafe hat es 
nun unternommen, auch beim Warm¬ 
blüter speziell beim Menschen ähnliche 
Versuche anzustellen. Er hatte bereits 
feststellen können, daß bei Katatonikern 
eine Herabsetzung der Wärmeproduktion 
auch dann eintrat, wenn eine ausge¬ 
sprochene allgemeine Muskelstarre vor¬ 
handen war. ' Mit Hilfe des Jaquetschen 
Respirationsapparates konnte er nun 
weiter zeigen, daß bei Meerschweinchen, 
die nach Tetanustoxininjektion eine 
Muskelstarre bekommen hatten, eine 
Steigerung des respiratorischen Gaswech¬ 
sels nicht aufgetreten war. Zweitens wurde 
der Gaswechsel bei in Hypnose erzeugter 
kataleptischer Starre an Menschen unter¬ 
sucht und festgestellt, daß derselbe nicht 
vermehrt war, während dieselben Per¬ 


sonen bei willkürlich erzeugter Muskel- 
.starre eine Steigerung des Stoffumsatzes 
bis zu 50% aufwiesen. Ähnliche Befunde 
wurden auch bei Patienten mit abnormem 
Tonus größerer Muskelgebiete also mit 
schlaffen und spastischen Lähmungen 
erhoben, ln allen Versuchen fielen die 
Werte des respiratorischen Gaswechsels 
in die Breite des Normalen. Und schlie߬ 
lich konnte Verfasser auch an Hunden, 
die nach Durchschneidung des Brust¬ 
markes ausgedehnte Lähmungen, hatten, 
zeigen, daß ebenfalls eine Beeinflussung 
des Stoffwechsels nicht vorhanden war. 
Aus all diesen Versuchen zieht Grafe 
den Schluß, daß ein nachweisbarer Ein¬ 
fluß des Muskeltonus auf den Gesamt¬ 
stoffwechsel sicher nicht vorhanden ist. 

(D. m. W. 1920, Nr. 49.) Nathorff. 

Von der -bekannten Tatsache aus¬ 
gehend, daß manche Frauen während der 
Gravidität Zucker im Harn ausscheiden, 
haben E. Frank und M. Nothmann 
auf der Minkowskisehen Klinik in Bres¬ 
lau Untersuchungen über die Verwert¬ 
barkeit der renalen Schwanger- 
schaftsglykosurie zur Frühdiagnose der 
Schwangerschaft angestellt, deren Er¬ 
gebnisse auch für den ärztlichen Prak¬ 
tiker Bedeutung gewinnen können. Bei 
30 Schwangeren in den ersten drei Monaten 
der Gravidität gelang es ohne Ausnahme, 
eine alimentäre Glykosurie zu erzeugen. 
In mehreren Fällen ermöglichte diese 
die Diagnose zu einer Zeit, zu der von 
den Gynäkologen eine Schwangerschaft 
noch nicht festgestellt werden konnte; 
die renale Glykosuria e saccharo scheint 
als Frühdiagnos'tikum der Schwanger¬ 
schaft bereits unmittelbar nach dem 
erstmaligen Ausbleiben der Regel ver¬ 
wendbar. Von besonderem Interesse 
sind zwei Fälle, bei denen die Diagnose 
auf extrauterine Gravidität in Frage kam; 
bei der Operation erwies sich der erste 
Fall, bei dem die Zuckerreaktion positiv 
ausgefallen war, als Tubengravidität, der 
andere, bei dem wegen negativen Ausfalls 
der Reaktion die Gravidität in Abrede 
gestellt worden war, als doppelseitige 
Zyste. 

Die Methodik ist einfach: Nach Ent¬ 
leerung der Blase mittelst Katheters 
werden am Vormittag 100 g chemisch 
reiner Traubenzucker in 350 bis 500 ccm 
Tee verabreicht und nach einer halben 
Stunde in Abständen von 15 Minuten 
die Urinportionen auf Zucker untersucht. 
(Erforderlich ist die Untersuchung des 
Harns auf Zucker und die Bestimmung 

10=^ 






:. 16 - 


Die Therapie der. [Qegenwant 1921 


Februar 


des Blutzuckers vor Beginn des Ver¬ 
suches. • Bei positivem .Ausfall der. Me¬ 
thode schlossen die Verfasser noch eine 
zweite Blutzuckerbestimmung zwischen 
zwei zuckerhaltigen, durch den Katheter 
gewonnenen Harnportionen an, um zu 
zeigen, daß der Traubenzucker tatsäch¬ 
lich bei Blutzuckerwerten abgesondert 
war, die an sich nicht zu einer Zucker¬ 
ausscheidung führen. Für die Praxis 
halten sie die einmalige Untersuchung 
des Blut- Li. Harnzuckers etwa eine 
-Stunde nach der Einnahme des Trauben¬ 
zuckers für genügend, nachdem die Blase 
eine halbe Stunde, nach Beginn des-Ver¬ 
suches möglichst entleert ist. — Ein 
negatives Resultat der Urinuntersuchung 
übrigens kann auch ohne Blutzucker- 
bestimmung verwertet werden.) - 

(M. m. W. 1920, Nr. 50.) F. K. 

Der norwegische Kliniker Prof. 
Laache (Kristania) sprach im Rahmen 
der Karlsbader Fortbildungsvorträge über 
Stuhlverstopfung und ihre Behandlung. 
Die normale Magen-Darmtätigkeit geht 
beim gesunden Menschen mit staunens¬ 
werter, fast mathematischer Präzision 
und Gesetzmäßigkeit vor sich, um in der 
•gewöhnlichen Zeit von 24 Stünden die 
unresorbierten Speisereste als Kot aus 
dem Körper fortzuschaffen. Für die 
meisten Leute ist ein bloß jeden zweiten 
Tag cintretender Stuhlgang schon als 
pathologisch zu bezeichnen, während für 
andere, die wenig essen und sich daran 
gewöhnt haben, dies wieder normal wäre. 
Es gibt aber Personen, die sich zwar eines 
täglichen Stuhlganges erfreuen, die.aber 
dennoch, weil sie den betreffenden Akt 
zu früh abschließen, sich mit dem Los¬ 
werden der sogenannten ,,Vorladung“ 
begnügen, eigentlich als permanent obsti- 
piert anzusehen sind. Wegen ihrer ge¬ 
wohnheitsmäßigen Defaecatio incompleta 
bleiben erhebliche Mengen von Residual¬ 
fäzes bei ihnen stets zurück, die zu 
größeren oder kleineren, mitunter zu 
sehr ernsthaften Beschwerden Veran¬ 
lassung geben können. Indes sind die 
Folgen, den zahlreichen ,,Koprotheo- 
rien“ zum Trotz, im allgemeinen nicht 
-ganz so schwer, wie man sie vielleicht 
von vornherein hätte aufkonstruieren 
können. Speziell dürfte die Gefahr einer 
Autointoxikation beim Intaktsein der zur 
Verfügung stehenden physiologischen Ent- 
giftungsorgane kaum übermäßig sein. 
Die v/ichtigste unter denselben ist eine 
gewisse Völle im Leib und die wegen Gas¬ 
auftreibung behinderte Zwerchfellbewe¬ 


gung; ferner kommen Schmerzen im 
Bauch (Darmkoliken, besonders bei Kin¬ 
dern), auch sonst im Körper, zum Bei^ 
spiel im Kopf, zugleich andere nervöse 
Erscheinungen, wie Indisponiertsein, 
Schwerfälligkeit, Hypochondrie und der¬ 
gleichen häufig vor.. Eine der größten 
Unannehmlichkeiten ist aber rein lokaler 
Art und rührt von der schon erwähnten, 
im Mastdarm allmählich angesammelten 
harten bis steinharten Scybalis. mit einer 
davon abhängigen, wegen eventueller 
Schädigung des Afters durch Hämor¬ 
rhoiden, Vorfall, Fissuren usw. mehr 
weniger peinvollen Defaecatio difficilis 
alias ,,Pyschezie“ her. Es ist nur er¬ 
klärlich, daß unter solchen Umständen 
der Kranke den Stuhlgang fürchtet und 
möglichst hinausschiebt, wodurch aber 
die Sachlage das nächste Mal nur noch 
verschlimmert wird. Während eines der¬ 
artigen Stuhlganges ist transitorische Am¬ 
blyopie, ferner Gehirnapoplexie wegen 
des starken Fressens mitunter beobachtet 
worden. Vollständige Darmverschließuhg 
(auch für Gase) ist ein seltenes Ereignis; 
der Unterschied zwischen einer mit ein¬ 
facher Kotstauung verbundenen Obsti- 
patio einerseits und einer koprostatischen 
Okklusion anderseits ist gewiß mehr als 
ein bloß gradueller aufzufassen. Daß 
Koprostase wegen Trägheit der Darm¬ 
bewegung auch zur Gallenstase führt — 
wie umgekehrt — ist anzunehmen. Bei 
Behandlung des chronischen Zustandes 
kommt es auf die Prophylaxe (Vernünftig¬ 
keit im Regime, namentlich in bezug 
auf passende Körperbewegung, -ferner 
in Diät und in einer schon von der Kinder¬ 
zeit an durchgeführten Pünktlichkeit im 
willkürlichen Anteile der normalen Funk¬ 
tion) vor allen Dingen an. Der Vege¬ 
tarianismus hat gerade hier, um genügen¬ 
des Transportmaterial für'den Kot her¬ 
beizuschaffen, ein unbestreitbares Lieb¬ 
lingsgebiet, derselbe ist aber nicht zu über¬ 
treiben; bei specifischer Obstipation soll 
die Kost eher reizlos sein. Von diäteti¬ 
schen Hilfsmitteln sind übrigens die 
saure Milch und das frühmorgens ge¬ 
trunkene kalte Wasser (bei Gelegenheit 
das salzige Meerwasser) bestens zu emp¬ 
fehlen. Die für akute Zustände unent¬ 
behrlichen m e d i k a m e n t e 11 e n Abführ¬ 
mittel sind für chronische Fälle,' nament¬ 
lich bei der habituellen Stuhlverstopfung 
nur in zweiter Linie in Betracht zu ziehen. 
Gut sind das Rizinusöl, der Rharbarber, 
die Cascara, die Senna, welche alle aber 
nicht als habituell, sondern nur gelegent- 




Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


77 


lieh auf bestimmte Indikationen verord¬ 
net werden sollen. Vor gewohnheits¬ 
mäßiger Einnahme derselben ist zu war¬ 
nen, weil Nebenwirkungen, zum Beispiel 
bei Aloe oder beim in der Regel ziemlich 
unschuldigen Phenolphthalein, eintreten 
können, namentlich aber deshalb, weil 
die Laxantien, in Analogie mit den ge¬ 
wohnheitsmäßig gebrauchten Schlafmit¬ 
teln (Hypnotica), allmählich zu wirken 
aufhören. Der Haupteinwand gegen ihre 
gewohnheitsmäßige Verwendung liegt aber 
darin, daß sie sich, wie alle künstlichen 
Mittel überhaupt, der Selbstregelung 
eines physiologischen Vorganges entgegen¬ 
gesetzten und daher, indem sie durch 
nachfolgende Darmschwäche die schon 
vorhandene Störung noch mehr ver¬ 
schlimmern, als wesentliches Glied des 
schließlich schwer zu durchbrechenden 
Circulus vitiosus zu bezeichnen sind. 

0. R. 

Mit Uzara hat Vogt experimentelle 
und klinische Untersuchungen angestellt, 
um seine Einwirkung auf den Uterus zu 
klären. Es hat sich nun gezeigt, daß 
dieses Mittel ein vorzügliches Antidys- 
menorrhoicum bei den Formen der Dys¬ 
menorrhöe ist, bei denen kein anatomi¬ 
scher Befund vorliegt. Die Wirkung unter¬ 


scheidet sich ganz auffallend von der¬ 
jenigen der bisher gegen Dysmenorrhöe 
empfohlenen Mitteln, welche als Narko- 
tica einen lähmenden Einfluß auf die 
Nerven ausüben. Bei einigen Fällen 
konnte auch die Beobachtung gemacht 
werden, daß die Blutungen schwächer 
wurden. Die Dosierung dieses Mittels, 
bei dem keine schädlichen Nebenwirkun¬ 
gen festgestellt werden konnten, ist sehr 
einfach: zweistündlich 30 Tropfen Liquor 
uzarae bis zur Wirkung oder zu gleichen 
Zeiten drei bis vier Tabletten, oder dreimal 
täglich ein Suppositorium; bei den ersten 
beiden Anwendungsweisen ist eine Über¬ 
dosierung unmöglich, da ein Teil von 
Uzara durch die Magensäure zerstört 
wird, während bei den Zäpfchen, die von 
der Uzaragesellschaft hergestellt werden, 
die vorgeschriebene Maximaldosis nicht 
überschritten werden darf, da doch alles 
resorbiert wird. Auch auf geburtshilflichem 
Gebiete wird sich wohl‘Uzara bald den 
ihm gebührenden Platz erobern, da es 
nach dem Ergebnis der experimentellen 
Untersuchungen und theoretischen Über¬ 
legungen bei schmerzhaften Schwanger¬ 
schafts- und Vorwehen, bei Krampfwehen 
und Tetanus krampflindernd sein muß. 

Pulvermacher (Charlottenburg.) 

(Zschr, f. Gyn., H. 3.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Ist (Pseudo-) Grippe Typhus? 

(Fortsetzung zu den gleichläutenden Artikeln in dieser Zeitschrift 1919 Heft 5 und 9.) 

Von Dr. Voltolini, Naumburg (Bober.) 


Im Mai- und Septemberheft 1919 
hatte ich an der Hand mehrerer bakterio¬ 
logisch und serologisch als Unterleibs¬ 
typhus erwiesener Krankheitsfälle dar¬ 
zutun versucht, daß viele der als ,,spani¬ 
sche Grippe“ und ,,Pseudo-Grippe“ 
angesprochenen und von erfahrenen Ärz¬ 
ten als solche behandelten Erkrankungen 
der vorjährigen Grippe-Epidemie nach¬ 
träglich als ein von dem Bilde der Lehr¬ 
bücher allerdings abweichender und des¬ 
halb so erhebliche diagnostische Schwie¬ 
rigkeiten bereitender Typhus be¬ 
ziehungsweise Paratyphus sich aus¬ 
wiesen. Einen weiteren Beweis hierfür 
möchte ich an der Hand zweier zufällig 
zur Beobachtung gelangter aus ganz ver¬ 
schiedenen Teilen Deutschlands stam¬ 
mender Fälle erbringen und über die 
in vieler Beziehung sehr bemerkenswerte 
Krankengeschichten kurz berichten: 

Fräulein Jda Sch., 37 Jahre alt, konsultierte 
mich im August v. Js. wegen äußerst quälender, 


zumal des Nachts auftretender und dadurch den 
Schlaf dauernd störender Kopfschmerzen, die 
besonders in Stirn und Hinterkopf ihren Sitz 
hatten und seit Monaten bestanden. Patientin 
führte ihr Leiden auf eine Erkrankung zurück, 
die sie von Februar bis Mai 1920 in Jena durch¬ 
gemacht hatte, wo sie mit hohem Fieber, Kopf- 
und Rückenschmerzen erkrankt war; ersteres 
hielt sich wochenlang auf 40®. Anfangs bestanden 
auch Durchfälle; wiederholt traten Schüttelfröste 
auf. Da die Kopf- und Rückenschmerzen keinem 
Medikament wichen, beschränkte sich der die 
Patientin wochenlang täglich besuchende Arzt 
Dr. X. schließlich auf Morphiuminjektionen. Er 
sowie der als Consiliarius zugezogene Prof. Dr. Y. 
stimmten darin überein, daß es sich um eine 
„neuartige Form der Grippe“, um „Darm-, 
Blasen-, Kopfgrippe“ handele. Diese eigen¬ 
artige Krankheit war damals nach Angabe der 
Patientin in Jena sehr verbreitet und forderte 
infolge ihres ominösen Namens zahlreiche Opfer! 
— Die abendlichen Temperatursteigerungen be¬ 
standen bis in die letzte Zeit hinein, auch nach¬ 
dem Patientin Jena längst verlassen und zur 
Pflege ihrer Mutter nach der Stadt Ch. über¬ 
gesiedelt war. — Die Untersuchung der Sch. ergab 
eine ausgesprochene Trigeminus-Neurologie mit 
typischen Schmerzpunkten im Gebiet des n. supra- 



78 


Die Thera^xie der Gegenwart 1Q21 


Februar 


und infraorbitalis; sie strahlten bis in den Hinter¬ 
kopf, in den Nacken und die Schultern aus; 
zeitweilig trat auch starke Tränensekretion auf. 
Das Ergrauen und Ausgehen der Haare im Gebiete 
des n.frontalis war höchst auffällig. Eine or¬ 
ganische Ursache des qualvollen Leidens war 
zunächst nicht festzustellen; Erkrankungen der 
Schädelknochen und des Periostes, der Zähne, 
der Nasen- und Stirnhöhlen sowie des Mittel¬ 
ohres waren nicht nachweisbar; der Urin war 
frei von Eiweiß und Zucker. — Da die genannten 
Beschwerden mit der Erkrankung im Frühjahr 
d. J. begonnen hatten und seitdem fortbestanden, 
lag es nahe, sie als die Ursache des Leidens 
anzusehen. und nachzuforschen, ob jene ,,neu- 
artige Form der Grippe“ nicht vielleicht 
eine andere Erkrankung dargestellt hatte. Die 
Einsendung einer Blutprobe ergab eine über¬ 
raschende Aufklärung: Widal positiv, Typhus 
50. Paratyphus 100. — (Untersuchungsamt 
Robert Koch, Berlin, Tagb. Nr. 866). Patientin 
war also im Februar dieses Jahres an Typhus 
und Paratyphus erkrankt; auf diese Erkran¬ 
kung allein konnte der positive Widal hinweisen, 
zumal Fräulein Sch. sonst stets gesund gewesen 
war, und erst seitdem die mitunter noch auf¬ 
tretenden Fieberbewegungen und sämtliche ner¬ 
vösen Beschwerden persistierten. „Nervenfieber“. 
Im Stuhl .und Urin wurden Typhusbazillen 
nicht gefunden. Und das ist ja auch nicht ver¬ 
wunderlich. Ist es ja doch die Regel, daß trotz 
possitivem Widal nach abgelaufener Erkrankung 
keine Bazillen mehr im Blute durch die Galle¬ 
kultur und auch nicht im Stuhl und Urin nach¬ 
gewiesen werden. 

Die Patientin begab sich anfangs November 
in das Krankenhaus zu Gr. „um sich den Kopf 
durchleuchten zu lassen.“ Wie mir der behandelnde 
Kollege mitteilte, ergab sich dabei nichts Patho¬ 
logisches; auch die Nebenhöhlen waren frei. 
Das Lumbalpunktat war klar und ohne Besonder¬ 
heiten. Nach kurzer Besserung traten die Kopf¬ 
schmerzen alsbald in alter Heftigkeit wieder 
auf, auch nach Ansicht des Kollegen lediglich 
eine Folge der überstandenen Infusionskrankheit. 

Es ergibt sich hieraus aufs neue, eine 
wie bedeutsame Rolle dem Widal — auch 
retrospektiv — bei der Beurteilung dia¬ 
gnostisch dunkler Krankheitsfälle zu¬ 
kommt, zumal, wie ich in den oben¬ 
genannten Artikeln referierte, das Agglu¬ 
tinationsphänomen nach Browne und 
Crampton 2, 12 und sogar 38 Monate 
nach überstandenem Typhus positiv ge¬ 
funden wurde. 

Eine praktisch erheblich größere Be¬ 
deutung beansprucht folgender Krank¬ 
heitsfall, der nach dem Gesetz von der 
Duplizität der Fälle zu gleicher Zeit zur 
Beobachtung kam. 

Ebenfalls wegen äußerst quälender Kopf- 
und Nackenschmerzen konsultierte mich Frau 
Gertrud F., die Wirtschafterin in einer Apotheke 
war(!) Sie konnte ihre Beschwerden trotz ver¬ 
schiedenster diesbezüglich angewandter Medi¬ 
kamente seit einer Erkrankung im März dieses 
Jahres nicht mehr los werden. Damals war sie 
in .der schlesischen Stadt L. mit Fieber, das 
zwischen 39° und 40° schwankte, Durchfällen 
und Rückenschmerzen erkrankt und war bis 
in den Monat Mai hinein schwer angegriffen 


und arbeitsunfähig. Der Arzt stellte damals 
„Grippe“ fest; eine in demselben Hause an der 
gleichen Krankheit darniederliegende Frau erlag 
ihr und ebenso deren Schwester und ein Kind. 
Auch die Patientin F. fieberte noch längere Zeit 
nach ihrer scheinbaren Wiederherstellung und 
behielt seitdem die quälenden Kopfschmerzen 
und Haarausfall zurück. — Die überstandene 
„Grippe“ bekam durch die Untersuchung der 
von mir eingesandten Dejektionen eine über¬ 
raschende Aufklärung, indem laut Mitteilung 
des. Medizinal-Untersuchungsamte's Breslau vom 
3. September (Tgb. Nr. 15830) im Urin Typhus¬ 
bazillen gefunden wurden! Inzwischen war 
Frau F. nach dem Kreise Lüben verzogen, und 
wie mir der dortige Kreisarzt Dr. Lange freund- 
lichst mitteiite, hatte sie sich im Kreise Jauer 
in einer Molkerei (!) vermietet, was er aber noch 
eben rückgänig machen konnte; sie ist alsdann 
unbekannten Aufenthalts nach einem anderen 
Kreise verzogen! 

Ich möchte hier auf den sehr bemer¬ 
kenswerten Aufsatz hinweisen, den 
Dr. Gaehtgens.in Nr. 7, 1919, der 
,,Zschr. f. ärzth Fortbild.“ veröffentlicht 
hat unter der Überschrift: ,,Über krank- 
heitsübertragung durch Gesunde“. Es 
ist nach seinen Ausführungen als ein 
besonderer Glücksumstand anzusehen, daß 
in den gerade zur Untersuchung gelangten 
Harnproben dieser Bacillenträgerin Ty¬ 
phusbacillen nachgewiesen werden konn¬ 
ten, denn bei den chronischen Bacillen¬ 
trägern erfolgt 1. c. die Bacillenaus¬ 
scheidung nicht regelmäßig und gleich¬ 
mäßig, sondern häufig in Schüben, so 
daß manche Bacillenträger einen posi¬ 
tiven Bacillenbefund oft nur in monate- 
und selbst jahrelangen Pausen aufweisen 
und erst bei wiederholten Nachunter¬ 
suchungen ermittelt werden. — Die Ge¬ 
fährlichkeit solcher Bacillenträger ergibt 
sich hieraus von selbst; zumal es auch 
in der neuesten Auflage (1920) der ,,The¬ 
rapie an den Berliner Universitäts-Kli¬ 
niken“ S. 122 heißt: ,,Für Bacillenträger 
und Dauerausscheider ist keine wirk¬ 
same Behandlung bisher bekannt“. Konn¬ 
ten doch (nach Gaehtgens) bei ständig 
kontrollierten Bacillenträgern die Ba¬ 
cillen bis zu zehn Jahren und darüber 
nachgewiesen werden. ,,Als längste Aus¬ 
scheidungsdauer konnte in einem Falle 
die Zeit von 70 Jahren unter Zugrunde¬ 
legung des Datums der überstandenen 
Typhuserkrankung angenommen wer¬ 
den.“ 

Jedenfalls geht aus den referierten 
Krankengeschichten zur Genüge hervor, 
wie notwendig und von welcher Bedeutung 
für die Allgemeinheit und Volksgesund¬ 
heit es ist, statt ,,Pseudo-Grippe“ 
oder,,Kopf-, Darm-, Blasengrippe“ 
zu diagnostizieren, in allen diagnostisch 





Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


79 


dunklen Krankheitsfällen an die Möglich¬ 
keit eines Typhus oder Paratyphus zu 
denken und Blut und Dejektionen da¬ 
raufhin untersuchen zu lassen. Die Aus- 
treitung einer so insidiösen und dele- 
bären Krankheit wie Typhus würde da¬ 
durch jedenfalls sehr erheblich einge¬ 
schränkt werden und die ,,Pseudo- 


Grippe“ als Krankheit sui generis sehr 
bald verschwinden. Denn schließlich 
ist es doch nicht gleichgültig, ob eine 
im Haushalte oder in einer Molkerei 
beschäftigte scheinbar gesunde Person 
von einer überstandenen Grippe restlos 
genesen ist oder ob sie lebende virulente 
Typhusbacillen ausscheidet. 


' Zur Frage der accessorischen Nährstoffe. 

(Bemerkungen zu dem Aufsatz von Dr. Feuerhcak im Oktoberheft S. 355 dieser Zeitschrift.) 

Von Prof. Dr. H. Aron. Breslau. 


ln einem kurzen Übersichtsreferat 
berichtet Herr Dr. Feuerhack auf Seite 
355 in der Oktobernummer dieser Zeit¬ 
schrift über die Bedeutung der accesso¬ 
rischen Nährstoffe (Vitamine). Er stützt 
sich dabei fast ausschließlich^) auf den 
kürzlich erschienenen Bericht des eng¬ 
lischen Comitee on accessory food factors 
(vitami'nes), der vom Lister Institut in 
London an alle maßgebenden Forscher 
versandt worden ist, den meisten deut¬ 
schen Ärzten aber sonst wohl schwer zu¬ 
gänglich sein dürfte. Bedauerlicherweise 
ist das Kapitel der accessorischen Nähr¬ 
stoffe und der durch ihren Mangel be¬ 
dingten Ernährungskrankheiten in der 
deutschen medizinischen Wissenschaft 
lange Zeit stiefmütterlich behandelt wor¬ 
den, und es ist daher bis vor wenigen 
Jahren uns deutschen Forschern schwer 
gewesen, uns mit unseren Arbeiten durch¬ 
zusetzen. Erst jetzt, als nach dem Kriege die 
ausländischen Forschungen in Deutschland 
bekannt wurden, fanden diese wichtigen 
Fragen endlich in der deutschen LiteraLur 
Interesse und Anerkennung. Die Tat¬ 
sache, daß es außer Eiweiß, Kohlehydrat, 
Fetten und Mineralstoffen lebenswichtige 
Nährstoffe gibt, hat der englische Physio¬ 
loge F. Gowland Hopkins zum ersten 
Male klar erkannt und nachgewiesen; 
von ihm stammt auch der Ausdruck 
,,accessory food factors“ (1912). Hop¬ 
kins kommt also auf diesem Gebiete 
der gleiche Ruhm zu, wie etwa Brown- 
Sequard für die Lehre von der ,,Inneren 
Sekre tion“. Sogleich nach Hopkins hat 

1) Anm. des Herausgebers: Zur Rechtfertigung 
meines Mitarbeiters Dr. Feuerhack bemerke 
ich, daß derselbe nur die Absicht und den Auf¬ 
trag hatte, den in ärztlichen Kreisen noch wenig 
bekannten Bericht des englischen Vitamin-Komi¬ 
tees zu referieren, insbesondere dessen sehr in¬ 
struktive Nahrungstabelle wiederzugeben. Dr. 
Feuerhack bezieht sich selbst im Eingang seines 
Referats auf den im Jahre 1919 in der Th. d. Geg. 
erschienenen Aufsatz von Prof. M. Jacoby 
(S. 401), in welchem die von Aron erwähnte 
Literatur zusammenfassend erwähnt ist. 


der damalige Straßburger physiologische 
Chemiker Franz Hofmeister mit einer 
Reihe von Schülern in grundlegenden 
Untersuchungen die Bedeutung der von 
ihm als „accessorische Nährstoffe“ be- 
zeichneten Nahrungsbestandteile weiter 
erforscht. Vor allem sind hier die Ar¬ 
beiten Wilhelm Stepps zu nennen, 
der zum ersten Male die Lebenswichtig- 
keit gewisser Fettbestandteile, der „.Li¬ 
poide“ durch sorgfältigst durchgeführte 
Forschungen erwiesen hat. Die Arbeiten 
des Holländers Ejkmann, welcher die 
experimentelle Polyneuritis entdeckte, 
und die Untersuchungen der Norweger 
Holst und, Fröhlich, die für das Ver¬ 
ständnis der Genese des Skorbuts und 
des Wesens der antiskorbutischen Stoffe 
entscheidend wurden, sind als weitere 
Marksteine in der Entwicklung der Lehre 
von den accessorischen Nährstoffen zu 
bezeichnen. Schließlich habe ich selbst im 
Jahre 1914 zum ersten Male den Nach¬ 
weis geführt, daß gewisse ,,Extraktstoffe“ 
unabhängig von Eiweiß-, Fett-, Kohle¬ 
hydrat- und Mineralstoffgehalt der Nah¬ 
rung für Leben und Gesundheit von aus¬ 
schlaggebender Bedeutung sind. Funks 
Anschauung, daß es sich um gewisse 
Amine, die von ihm sogenannten „Vita¬ 
mine“ handelt, hat sich bisher nicht be¬ 
stätigt. Die Auffassung, daß es außer 
Eiweiß, Fett, Kohlehydrat und Mineral¬ 
stoffen noch andere lebenswichtige Nah¬ 
rungsbestandteile gäbe, ist damals aller¬ 
dings von zahlreichen Forschern Abder¬ 
halden, Röhmann, auch Osborne 
und Mendel noch aufs schärfste be¬ 
kämpft worden, und es hat Jahre be¬ 
durft, ehe sich die neuen Lehren durch¬ 
zuringen vermochten. Von Röhmann 
abgesehen, haben die anderen Gegner 
aber die accessorischen Nährstoff-Fak¬ 
toren später voll erkannt, ja wie Abder¬ 
halden sowie Osborne und Mendel 
selbst wichtige Beiträge zu ihrer Kenntnis 
geliefert. 



80 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Februar 


Die weittragende Bedeutung der acces- 
sorischen Nährstoffe für die Ernährungs¬ 
lehre und Diätetik im allgemeinen sowie 
für viele klinische Fragen, haben Stepp 
und ich selbst in verschiedenen Arbeiten 
ausführlich darzulegen versucht. Der 
zusammenfassende Bericht des eng¬ 
lischen Komitees bringt zwar eine 
große Reihe neuer wertvoller Tat¬ 
sachen, bestätigt aber im wesent¬ 


lichen nur unsere früheren Anschau¬ 
ungen, wie sie Stepp in seiner muster¬ 
gültigen, aber leider viel zu wenig be¬ 
kannten zusammenfassenden Dar¬ 
stellung in den Ergebnissen der Inneren 
Medizin und Kinderheilkunde für die 
deutsche Wissenschaft schon Jahre vor 
dem von Feuerhak ausführlich refe¬ 
rierten englischen Bericht niedergelegt 
hatte. 


Berichtigung. 


Am Ende einer Veröffentlichung „Über are- 
kolinartig wirkende Verbindungen (Cesol)“ von 
A. Loewy und R. Wolffenstein auf S. 287 der 
Th. d. Geg. 1920 wird versucht, auf den Verfasser 
einer Cesol-Notiz im Spezialitäten-Abschnitt der 
„Therapeutischen Halbmonatshefte 1920, S. 28, den 
von ihm gegen R. Wolffenstein erhobenen Vor¬ 
wurf der Unwissenschaftlichkeit abzuwälzen. Als 
Begründung dieses Ablenkungsversuchs wird an¬ 
geführt, daß die Angaben der Therapeutischen 
Halbmonatshefte ohne tatsächliche Unter¬ 
lagen gemacht seien. Dieser Angriff auf die 
Wissenschaftlichkeit der Th. Hmh. ist aus der 
Luft gegriffen; denn unseren Angaben über Cesol 
lag eine ausführliche freundliche Auskunft der 
das Cesol herstellenden Firma Merck zugrunde. 
(Ohne derartige sachliche Unterlagen wäre ja 
wohl auch nicht verständlich, wie der Verfasser 
der Cesol-Notiz in den Th. Hmh. über die experi¬ 
mentell-pharmakologisch wirksame Dosis genau 
dieselben Zahlenangaben hätte machen können, 
wie Loewy und Wolffenstein.) Diese sach¬ 
lichen Angaben der herstellenden Firma sind 
übrigens auch Grundlage der nachdrücklichen 
Zurückweisung gev/esen, die sich R. Wolffen¬ 
stein in der Zschr. f. d. ges. exper. M., Bd. X, 
S. 223, gefallen lassen mußte; diese Zurückweisung 
wiederum bildete zusammen mit den Veröffent¬ 
lichungen in Bd. IX, S. 424 und 433 der Zschr. 
f. d. ges. exper. M. die Unterlage für die Behaup¬ 
tung der Th. Hmh., daß die Wissenschaftlichkeit 
von Herrn R. Wolffenstein durch den Ver¬ 
gleich der Cesol-Angelegenheit mit früherem 
Auftreten des Herrn Wolffenstein ,,eigenartige 
Streiflichter erfahre“. 

Unter Hinweis auf jene ausführlichen Dar¬ 
legungen in der Zschr. f. d. ges. exper. M. muß auch 
der in der Th. d. Geg. 1920, S. 288 unternommene 
Versuch zurückgewiesen werden, die ganze An¬ 
gelegenheit als einen Angriff der Th. Hmh. auf 
das Cesol selbst hinzustellen. Alle die Angriffe, 
gegen die sich die Veröffentlichung auf S. 287 der 
Th. d. Geg. wendet, richten sich — das sei an dieser 
Stelle ganz ausdrücklich hervorgehoben — viel¬ 
mehr ausschließlich gegen Herrn R. Wolffen¬ 
stein. Daher ist denn auch die Angabe unrichtig, 
es fänden sich in der Besprechung in den Th. 
Hmh. über die pharmakologische Wirkung des 
Cesols „den tatsächlichen gegenüber unzu¬ 
treffende Behauptungen“. Die pharmakolo¬ 
gischen Angaben jener Notiz sind vielmehr eine 
einfache Wiedergabe der von Umber gemachten 
Angaben, die allerdings um so eher erfolgen 
konnte, als sich Umbers Daten mit der brief¬ 
lichen Auskunft der Firma Merck deckten. 
Auch die chemischen Angaben der Notiz in den 


Th. Hmh. über den Zusammenhang zwischen 
Cesol und Arekolin, die Loewy und Wolffen¬ 
stein als „konstruierte Anschauungen“ be¬ 
zeichnen, sind eine einfache Übersetzung der von 
der Firma Merck mitgeteilten chemischen For¬ 
meln in eine dem praktisch ärztlichen Leserkreis 
verständlichere Sprache. Die auf die Chemie und 
Pharmakologie bezüglichen Sätze jener Notiz 
haben also ihre Unterlagen; wer behauptet, daß 
sie den Tatsachen widersprechen, trifft nicht den 
Verfasser jener Notiz, sondern dessen Quellen. 
In dem, dem Cesol selbst gewidmeten Abschnitt 
der Notiz in den Th. Hmh. bleibt dann nur noch 
ein einziger Satz zu erörtern. Er spricht von der 
Wahrscheinlichkeit, daß die Synthese des Cesols 
mit dem Wunsche zusammenhing, das natürliche 
Arekolin zu ersetzen, eine Annahme, die durch 
die Ausführungen von Loewy und Wolffen¬ 
stein selbst eine Stütze erhält (vgl. z. B. S. 287, 
Absatz 2. und 3). Der tatsächlichen Unterlagen 
entbehrt in jenem Satz nur die Vermutung, daß 
die Bemühungen um synthetische Herstellung des 
Arekolins bisher vergeblich gewesen seien; aber 
gerade diese Angabe, die einzige Stelle der Notiz, 
an welcher ein Gegenbeweis hätte einsetzen 
können, bemühen sich unsere Angreifer gar nicht 
zu widerlegen, und wir haben auch sonst, trotz 
mancher Bemühungen, keine Tatsachen erfahren 
können, die die Unrichtigkeit dieser Vermutung 
erwiesen hätten. 

Im Anschluß an die vorstehenden Ausführun¬ 
gen muß auch das von Loewy und Wolffen¬ 
stein (S. 288) verwertete Fehl-Erzeugnis des 
Referenten der Ther. d. Gegenw. (Bloch) richtig¬ 
gestellt werden. Sein Referat bringt eine Be¬ 
sprechung der klinischen Erfahrungen mit Cesol, 
die Decker in der D. m. W. 1920 No. 3 berichtet 
hat, und zwar decken sich Blochs sachliche An¬ 
führungen (stark abgeschwächtes Pilokarpin, 
hauptsächlich starke Speichelsekretion, von Dek- 
ker verwendete Dosis) genau mit den Angaben 
der Th. Hmh. 1920, S. 28. Wenn er also zu der 
Behauptung kommt, daß die Notiz in den Th. Hmh. 
im Gegensatz zu den günstigen klinischen Beob¬ 
achtungen (vgl. Deckers) stehe“, so ist das 
offensichtlich ganz und gar unrichtig. — Diese 
unsere Berichtigung des Blochschen Referates 
stellt gleichzeitig die zu diesem Referat unmittel¬ 
bar darauf auf S. 208 der Ther. d. Gegenw. er¬ 
folgte „Berichtigung“ R. Wolffensteins richtig, 
und die vorstehenden Zeilen dürften demnach die. 
dort (Ther. d. Gegenw. S. 208) von R. Wolffen¬ 
stein geübte Handhabung des Begriffs „Wahr¬ 
heit“ ins rechte Licht setzen. 

Die Redaktion des Spezialitätenteils 
der Therapeutischen Halbmonatshefte. 


Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urban&Schwarzenberg 
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Tahren von Ärzten empfohlenen „Uricedin - Stroschein“, das sich bei Bekämpfung der harnsauren Diathese und ihrer Folge¬ 
erscheinungen bewährt hat. Im selben Flugblatt wird auch auf das bei den Krankheiten des Gallensystems bewährte 

„Cholelysin-Stroschein“ aufmerksam gemacht 











Die Therapie der Qeg^enwart 


1921 


herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Q. Klemperer 
in Berlin. 


März 


Nachdruck verboten. 


Aus der 1. medizinischeii Klinik der Universität Wien (Prof. Fr. Wenckebach). 

über die sogenannte Myodegeneratio cordis i). 

Von Prof. Hans Eppinger. ~ 


Arbeitet der Gesanitbetrieb eines Röh- 
renpumpw-erkes — wie es gelegentlich 
vorkommt — mit einer Unterbilanz, so 
kann die Ursache im Motor liegen, in 
nicht wenigen Fällen funktioniert aber 
der Motor tadellos und doch ist der End¬ 
effekt nicht der gewünschte, weil teils 
Wasser aus den Röhren fließt, teils Ven¬ 
tile in den Hilfsmaschinen lädiert sind. 
Die menschliche Kreislaufmaschine, die 
für die Bewegung des Blutes in unserem 
Körper zu sorgen hat, besteht ebenfalls 
aus einer Mehrheit. Es ist falsch, sich vor¬ 
zustellen, daß eine geregelte Circulation 
nur vom Herzen abhängig ist; das Röhren¬ 
system und die anderen HiIfsmaschinen 
(wie z. B. Lunge, Zwerchfell, Vasomotoren, 
Muskelaktionen usw.) sind ebenso wichtig, 
wie der« Motor selbst. 

Die Unterbilanz in der Anlage, wie 
sie unter pathologischen Verhältnissen 
vom Kreislauf repräsentiert wird, gibt 
sich durch die Erscheinungen der Inkom¬ 
pensation. Wir sehen also Dyspnöe, Cya- 
nose, Unvermögen der Patienten leichtere 
Arbeit zu leisten, es kommt im weiteren 
Verlaufe zu Oligurie und schließlich zum 
Auftreten von Ödemen und Stauungs¬ 
organen. Schreitet der Prozeß weiter, so 
wird der Patient bettlägerig und ist nicht 
mehr imstande, außer unter den bedroh¬ 
lichsten Erscheinungen, die geringsten 
Verrichtungen zu leisten. In einem Gut¬ 
teil der Fälle ist die Ursache all dieser 
Komplikationen in einer Schädigung des 
Herzens zu suchen, es ist also, um im 
Beispiele zu bleiben, der Motor lädiert, 
sollte es aber nicht auch möglich sein, daß 
das Herz als geschädigtes Organ weniger 
im Vordergründe steht, während all das, 
was man als Peripherie des Kreislaufes 
zusammenfaßt, schwer darniederliegt? 

Gibt es nun Kraakheitszustände, die 
uns gestatten, diese Überlegungen über¬ 
haupt in Diskussion zu ziehen, oder hat 
all das, was wir zunächst rein spekulativ 
von der Bedeutung des peripheren Her- 

Nach einem Fortbildungsvortrage (Wien, 
am 7. Februar 1921). 


zens gesagt haben, nur theoretisches 
Interesse? Unter dem Namen der ,,so¬ 
genannten Myodegeneratio cordis“ habe 
ich ein — sicherlich nichtsNeues —Krank¬ 
heitsbild beschrieben, das geeignet er¬ 
scheint, im Zusammenhänge mit obiger 
Frage besprochen zu werden. Jeder 
erfahrene Arzt kennt Patienten, .die bei 
oberflächlicher Betrachtung die Charac- 
teristica eines schwer decompensierten 
Herzfehlers zur Schau tragen, wo sich 
aber bei der Analyse des Herzens selbst 
fast nur negative Zeichen erkennen lassen.. 
Da keine Geräusche über den Ostien zu 
vernehmen sind, und auch der dauernd 
niedere Blutdruck weder die Diagnose 
einer Nephritis, noch einer Hypertonie 
aufkommen läßt, und auch die (jröße des 
Herzens selbst die Annahme einer kardia¬ 
len Läsion unwahrscheinlich macht, so 
kann eventuell die Diagnose — Concretio 
cordis — in Erwägung gezogen werden. 
Jedenfalls tritt der Kliniker, wenn ein 
solcher Fall ad lustrationem kommt, mit 
einigem Zweifel vor den Anatomen, ver¬ 
läßt aber eventuell getröstet wieder den 
Seziersaal, wenn auch der Prosektor mehr 
oder weniger nur negative Befunde er¬ 
heben konnte, ln der Regel einigt man 
sich auf die Diagnose Myodegeneratio 
cordis, da es auf Grund des makroskopi¬ 
schen Herzbefundes unwahrscheinlich ist, 
all die schweren Folgeerscheinungen zu 
deuten; offenbar hat das Herz in vivo 
funktionell nicht das geleistet, was man 
von einem gesunden erwarten könne. Die 
Diagnose Myodegeneratio cordis wird lie¬ 
ber von klinischer Seite gestellt, während 
der Anatom doch eher geneigt ist, dieses 
oder jenes kleine Symptom in den Vorder¬ 
grund zu rücken (geringes Emphysem, 
nässige Arteriosklerose der Coronararte- 
rien, der Nierengefäße usw.). Zeigt sich 
außerdem noch das Herzfleisch brüchig 
und mürb, so wird darauf das größere Ge¬ 
wicht gelegt und die anatomische Schlu߬ 
diagnose doch zugunsten eines makro¬ 
skopisch nachweisbaren Substrates ver¬ 
schoben. Jedenfalls zeigt sich aber in 

11 




82 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


MärÄ 


solchen Fällen ^ine deutliche Discrepanz 
zwischen anatomischem und oft auch 
klinisch nachweisbaren Herzbefunde und 
der Schwere der in vivo beobachteten 
Erscheinungen. — Das voll entwickelte 
Krankheitsbild sah ich, wie schon seiner¬ 
zeit gesagt wurde, hauptsächlich bei 
Männern im Alter zwischen 45 bis 65 
Jahren. In einzelnen Gegenden wie z. B. 
in den Alpen (Steiermark) scheint es 
öfter vorzukommen. Zumeist handelt es 
sich um Menschen, die bereits vor ihrer 
Erkrankung sehr schwer und fett waren. 
Die ersten Zeichen, die an Krankheit 
mahnen, sind Schwellungen an den Bei¬ 
nen. Zunächst verschwinden sie noch 
über Nacht, später halten sie an, und sind 
trotz mehrtägigem Liegen noch nachweis¬ 
bar. Anfangs möchte man wegen Fehlen 
von Albuminurie, Dyspnöe, Stäuungs- 
leber, dem Gefühl von Herzklopfen einen 
stärker ausgeprägten Plattfuß, tiefliegen¬ 
den Varicen der Beine beschuldigen; 
werden allerdings die Schwellungen stär¬ 
ker, so beginnt man allmählich an seiner 
ursprünglich gestellten Diagnose zu zwei¬ 
feln und richtet seine Aufmerksamkeit 
neuerdings auf das Herz; auch jetzt 
verrät die Untersuchung des Herzens 
nichts Auffälliges; die Dämpfung ist 
zwar etwas größer, aber akustisch sind 
normale Verhältnisse zu erkennen; das¬ 
selbe gilt vom Harn und der Pulsspan¬ 
nung; Werte, die um 150 schwanken, 
sollen nicht irreführend sein, da sie bei 
Menschen im vorgerückteren Alter fast 
als normal angesehen werden können. Die 
Pulsfrequenz ist normal, sie ändert sich 
auch zumeist kaum, wenn der Patient 
aufsteht und geringe Bewegungen aus¬ 
führt. In den Anfangsstadien fehlt 
Bronchitis immer, höhere Grade von 
Emphysem mahnen stets zu Vorsicht. 
Subjektive Klagen, die auf eine Störung 
des Herzens hinweisen (Dyspnöe, Ortho- 
pnöe beim Liegen, das Gefühl von Kurz¬ 
atmigkeit usw.) fehlen. In diesem Sta¬ 
dium diagnostischen Zweifels mißt man 
einem eventuellen Eiweißbefunde im 
Harne große Bedeutung bei, zumeist 
fehlt aber Albumen vollkommen, so daß 
die Annahme eines renalen Ödemes weg¬ 
fällt. Da manchmal geringe Dosen an 
Digitalis genügen können, um innerhalb 
der ersten Monate noch die Ödeme zu 
bannen, so kommt man schließlich doch 
zu der Überzeugung, es müsse sich auch 
hier um einen kardialen Prozeß handeln. 
Dieses Anfangsstadium kann oft monate-, 
selbst jahrelang anhalten. 


Eine Änderung des Bildes zeigt sich 
oft im Anschluß an eine interkurrente 
Krankheit (Bronchopneumonie, Erysipel, 
Cholelithiasis), indem jetzt die Ödeme 
viel größere Dimensionen annehmen; war 
vorher schon eine Spur Albumen im Harne, 
so kann dies jetzt gleichfalls zunehmen; 
der nicht geübte Praktiker ist gern 
geneigt, hier von einer Nephritis zu 
sprechen; die reichliche Anwesenheit von 
Urobilinogen im Harne, sowie das cyano- 
tische Verhalten des Patienten mahnt 
aber zu Vorsicht. Gegen die Annahme, 
daß durch die früher erwähnte Kompli¬ 
kation das Herz geschädigt worden sei, 
und daß deswegen die Ödeme größere 
Dimensionen angenommen hätten, spre¬ 
chen die geringen kardialen Erscheinun¬ 
gen. Auf der Höhe einer Komplikation 
kann es zu Orthopnoe und Stauungs¬ 
bronchitis kommen, trotzdem muß man 
aber sagen, daß ein krasser Unterschied 
zwischen dem objektiven Befunde der 
Schwere der mittlerweile aufgetretenen 
Ödeme und dem Herzen, respektive den 
Gefäßen besteht. Sobald die akute Ver¬ 
schlimmerung zurücktritt, möchte man 
glauben, daß nunmehr auch die Ödeme 
wieder geringer werden; hier und da kann 
das der Fall sein, oft nehmen aber die 
Schwellungen noch weiter zu. Zuerst 
lagern sich die Ödeme an den Beinen ab, 
allmählich greift die Schwellung auch auf 
die Gesäß- und Rumpfpartie über. Das 
Abdomen nimmt rasch an Umfang zu, 
so daß oft der Arzt vor die Frage gestellt 
wird, handelt es sich nur um Ödem der 
Haut oder auch um Ascites. Eine hier 
eventuell vorgenommene Probepunktion 
belehrt uns, daß zumeist keine freie 
Flüssigkeit im Cavum peritonei vorliegt. 
Nicht wenige dieser Patienten laborieren 
seit Jahren an den verschiedensten Her¬ 
nien. Relativ spät beteiligen sich an der 
allgemeinen Wassersucht auch die Geni¬ 
talien. Die Bewegungsfreiheit solcher 
Menschen wird mit der Zeit so stark ein¬ 
geschränkt, daß sie bald zu dauernder 
Bettlägrigkeit verurteilt werden. 

Da der Prozeß der fortschreitenden 
Ödeme immer größere Dimensionen an¬ 
nimmt, so entwickeln sich langsam hilf¬ 
lose Kolosse, die sich selbst im Bette nur 
mehr mit Unterstützung bewegen können. 
Meist zeigen die Patienten große Teil¬ 
nahmslosigkeit, sie schlummern vor sich 
hin, ohne dabei in der Nacht wirkliche 
Ruhe zu finden; charakteristisch ist oft 
die geringe Kurzatmigkeit, die um so 
auffälliger ist, als die Patienten zumeist 




März 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


83 


mit kaum erhöhtem Oberkörper im Bette 
liegen. Die Nahrungsaufnahme, die an¬ 
fangs noch reichlich sein kann, reduziert 
sich oft auf ein Minimum. Sehr gequält 
werden solche Leute von Durst, trotzdem 
ist die Harnmenge nur sehr gering es 
besteht kein Fieber, im Gegenteil — Un¬ 
tertemperatur; der Harn ist immer hoch- 
gestellt und enthält reichlich Pigmente. 
Obstipation gehört nicht zu den Sel¬ 
tenheiten. Wenn weiter beobachtet 
werden kann, wie schütter das Haupthaar 
wächst, während die Barthaare kaum 
Wachstumstendenz zeigen, und auch die 
Nägel und die Haut selbst träge reagieren, 
so wird man unwillkürlich an eine myx- 
ödematöse Mitbeteiligung erinnert. Je 
stärker die Wassersucht zunimmt, desto 
eher können Erscheinungen auftreten, die 
tatsächlich auf eine schwere Herzaffektion 
hinweisen. So kann es bei den geringsten 
Anstrengungen (schon beim Versuche sich 
im Bette aufzusetzen) zu Atemnot kom¬ 
men, desgleichen zu Steigerung der Puls¬ 
frequenz und Zunahme der Cyanose. 
Kehren diese ödematösen Kolosse wieder 
in ihre alte Lage zurück, so flacht sich 
die vorher stark beschleunigte Atmung 
wieder ab, die Pulsfrequenz sinkt auf ihre 
ursprüngliche Höhe zurück und auch die 
Cyanose wird geringer. Durch das Ödem 
an den unteren Extremitäten können 
eigentümliche Veränderungen an der Haut 
auftreten, die vielfach an Ichthyosis er¬ 
innern. Eventuell auftretende Wunden 
oder Ulcera zeigen eine auffallend geringe 
Heilungstendenz. Im Anfang des ganzen 
Prozesses nützt manchmal noch Digitalis; 
je stärkere Dimensionen aber die Ödeme 
annehmen, desto weniger erzielt man da¬ 
mit. Im guten Glauben, diesen Leuten 
durch Cardiaca doch etwas zu nützen, 
wird ein Digitalispräparat nach dem 
anderen versucht: im Prinzip erreicht 
man mit keinem etwas Dauerndes. Es ist 
merkwürdig, wie gut selbst größte Digi¬ 
talismengen vertragen werden. Ganz 
Ähnliches gilt von Diuretin, im Anfang 
der Krankheit relativ schöne Erfolge, die 
sich aber von Monat zu Monat immer 
geringer gestalten. Manchmal erzielt 
man erfreuliche Resultate mit einem 
energischen Aderlaß oder durch Haut¬ 
punktion. Zuweilen fließt durch Ein¬ 
stiche in die Haut nur wenig Flüssigkeit 
ab, gelingt es aber durch Hautdrainage 
große Mengen an Ödemflüssigkeit abzu¬ 
lassen, so fühlen sich die Leute viel besser 
und es kann unter günstigen Bedingungen 
monatelang dauern, bevor die Wasser¬ 


sucht wieder in den Vordergrund tritt. 
Einige Male habe ich sehr schöne Erfolge 
mit Kalomel gesehen. 

Der Patient stirbt in der Regel nicht 
an den Folgen der Ödeme, sondern 
zumeist an Komplikationen. An den 
Kliniken sieht man diese Fälle selten, 
da sie vielfach als Marasmus gelten 
und dementsprechend bald an Ver¬ 
sorgungsanstalten abgegeben werden, hier 
sind auch solche Patienten viel häufiger 
zu finden. 

Der Versuch, solche Fälle einheitlich 
erklären zu wollen, stößt vielfach auf 
Schwierigkeiten, selbstverständlich kon¬ 
zentriert sich nach wie vor das Haupt¬ 
interesse auf das Verhalten des Herzens. 
Weil aber hier außer einer leichten Ver¬ 
breiterung der Herzschatten nach links 
und rechts, sowie dumpfer Töne keine 
sicheren Ursachen für die Entstehung 
der Ödeme angeführt werden können, 
die ja doch im Vordergründe des ganzen 
Krankheitsbildes stehen, so recurriert 
man diagnostisch auf die verschiedensten 
seltenen Krankheitsprozesse oder auf 
funktionelle Schäden des Herzmuskels. 
Zu letzterer Annahme glaubt man sich 
hauptsächlich dann veranlaßt, wenn es 
sich um ein Herz handelt, das früher 
schwer zu arbeiten hatte, jetzt aber 
unterleistungsfähig geworden; gelegent¬ 
lich bemüht man sich ein Mißverhältnis 
zwischen Körpermasse und Herzgröße 
zu konstatieren oder sucht die Ursache 
in einer Unterernährung des ganzen Orga¬ 
nismus zu begründen. Jedenfalls gewinnt 
man als Arzt den Eindruck, daß wegen 
des Mißverhältnisses zwischen objektivem 
Herzbefund und den schweren Ödemen 
irgendein individuelles Moment hier mit 
in Betracht kommen muß. Wenn man 
sieht, wie solche allmählich zu Kolossen 
verwandelte Menschen z. B. nach ge¬ 
glückter Hautpunktion förmlich neu auf¬ 
leben, ohne nach Entfernung der Ödeme 
über irgendwelche Herzbeschwerden zu 
klagen, so verstehen wir, wie recht solche 
Patienten haben, wenn sie gelegentlich 
sagen: wenn ich nicht geschwollen wäre, 
könnte ich ein gesunder Mensch sein. 

Auf Grund des eigentümlichen Ver¬ 
haltens der Haut, der Nägel, des Haar¬ 
ausfalles, der Disposition zu Hernien 
und des gesamten Habitus solcher 
Patienten, dachten wir an einenZusammen- 
hang zwischen einer forme fruste des 
Myxödems und diesem Krankheits¬ 
bilde und gaben Thyreoidtabletten. In 
nicht wenigen Fällen haben wir aus- 

11* 





84 


Die Therapie der Gegenwart 1921. 


März 


gezeichnete Erfolge - erzielt, denn die 
Diurese nahm nach kurzer Zeit bereits zu 
und innerhalb weniger Wochen erholten 
sich die Patienten, so daß von den ganzen 
Ödemen nichts anderes mehr übrig blieb 
als eine gleichsam zu weite, jetzt dünne 
Haut. Im Anfang waren wir mit der^ 
Darreichung von Thyreoidtabletten sehr 
vorsichtig, allmählig überzeugten wir uns 
aber, daß sie sehr gut vertragen wurden; 
vor allem gilt dies von der Herztätigkeit 
selbst — unliebsame Tachykardien als 
Ausdruck einer Schilddrüsenvergiftung 
sahen wir fast nie, ein Beweis mehr, 
wie berechtigt es war, hier von einer 
Unterfunktion der Schilddrüse zu 
sprechen. Jedenfalls forderten diese Be¬ 
obachtungen, die von anderer Seite be¬ 
reits bestätigt wurden, auf, sich für zwei 
Fragen zu interessieren: 1. besteht nicht 
ein Zusammenhang zwischen Ödem¬ 
bildung und Schilddrüsenfunktion? und 
2. könnten nicht so manche-Ödeme, wie 
sie im Gefolge sicherer Herzaffektion zu 
sehen sind, auch mit einer dispositioneilen, 
eventuell einer geringen myxödematösen 
Veranlagung Zusammenhängen? Die 
Analyse der ersten Frage ließ sich nur 
experimentell lösen, und tatsächlich waren 
wir bemüht, das Problem der Ödem¬ 
bildung auf breite Grundlage zu stellen. 

Zuerst konnten wir demonstrieren, 
daß .sich durch Schilddrüsenzufuhr im 
akuten Nierenversuch keine Diurese aus- 
lösen läßt; es kommt bei Kaninchen 
weder zu einer Steigerung der Harn¬ 
menge noch zu einer Zunahme des Nieren¬ 
volumens, wie man es von jedem Diureti- 
cum erwarten kann, das an der Niere 
angreift. Daß aber die Funktion der 
Schilddrüse mit dem Wasser und Salz¬ 
stoffwechsel in innigstem Zusammen¬ 
hänge steht, ließ sich einwandfrei in 
folgender Weise demonstrieren. Hunde, 
die mit Schilddrüse gefüttert wurden, 
schieden Wasser und Salz viel schneller 
aus als normale Kontrolltiere und umge¬ 
kehrt thyreoprive Hunde elimierten zu¬ 
geführtes Wasser und Salze, also die 
Hauptbestandteile der Oedems, viel lang¬ 
samer als normale Tiere. Wir schlossen 
daraus, daß ein Plus an Schilddrüse die 
Geschwindigkeit des Wasser- und Koch¬ 
salzexportes in unserem Körper beschleu¬ 
nigen kann und umgekehrt ein Minus 
desselben den normalen Lauf stark zu 
verzögern vermag. Noch krasser ließ 
sich der Unterschied demonstrieren, wenn 
Kochsalzlösungen subcutan verabfolgt 
wurden; während die normalen Tiere 


und ebenso die mit Thyreoid gefütterten 
die Flüssigkeit rasch resorbierten, blieb 
beim thyreopriven Hunde die Kochsalz¬ 
lösung die längste Zeit unter der Haut; 
sie verschob sich zwar von der Stelle der 
Injektion gegen die Bauch- und Brust¬ 
gegend, blieb aber schließlich als dicker 
am Bauch herunterhängender Wulst 
liegen. Da die Haut, wie entsprechende 
Versuche lehren^ als Ablagerungsstelle 
des Kochsalzes gilt, und sich bei thyreo¬ 
priven Tieren eine sichtbare Hemmung 
der Resorption demonstrieren ließ, so 
schien uns dies ein Beweis, daß der 
Angriffspunkt des Schilddrüsenextraktes 
dort liegt, wo wahrscheinlich physio¬ 
logischerweise das Kochsalz und das 
Wasser zurückgehalten wird, nämlich 
in den Depots der Haut. Diese Beob¬ 
achtungen am Tiere haben wir auf die 
menschliche Pathologie übertragen und 
bei Zuständen mit Hyperthyreoidismus 
ebenfalls eine beschleunigte Elimination 
des per os verabfolgten Salzes und Wassers 
gesehen, und eine starke Verzögerung 
feststellen können, wenn in gleicher Weise 
physiologische Kochsalzlösung beim myx¬ 
ödematösen Patienten dargereicht wurde. 
Für die Bedeutung der Gewebe im Ge¬ 
triebe des Salz- und Wasserstoffwechsels 
sprachen' auch folgende Beobachtungen: 
injiciert man in langsamem Tempo phy¬ 
siologische Kochsalzlösung intravenös; so 
kommt es nicht, wie man zunächst an¬ 
nehmen könnte, zu einer sofortigen Aus¬ 
scheidung des Kochsalzes- durch die 
Nieren. Die drei Gramm Kochsalz, 
die wir z, B. injiciert hatten, verschwinden 
gleichsam, d. h. sie finden sich weder 
im Blute noch im Harn — so daß man 
annehmen muß, sie seien in die Gewebe 
übergegangen. Mit der Existenz von extra¬ 
vasalen Gewebsräumen müssen schein¬ 
bar auch jene Salz-und Wasserquantitäten 
rechnen, die wir mit der Nahrung auf¬ 
nehmen. Denn wie sollten wir uns sonst 
die Tatsache erklären, warum diese beiden 
Substanzen nach dem Genüsse per os 
nicht sofort im Harne erscheinen, und 
warum sich ihre Ausscheidung unter 
gewissen Bedingungen durch viele Stun¬ 
den hinziehen kann. Es ist der Weg — 
um einen Vergleich zu wählen, den ich 
bereits einmal angewendet habe — den 
das Wasser und Salz nach ihrer Resorp¬ 
tion aus dem Darmkanal bis zur Niere 
zu nehmen hat, nicht eine gerade Flu߬ 
linie mit einem weiten Quellgebiete und 
nur einer Mündung. Ich glaube, der 
Flußlauf ist an vielen Stellen eng und 




März 


Die Therapie der Gegenwart 192T 


85 


wird vielleicht des öfteren durch Tal¬ 
sperren aufgehalten. Um diesen Engen 
auszuweichen, sind gleichsam Nebenwege 
für den Ablauf des gestauten Wassers 
gebaut, die gelegentlich zu den Haupt¬ 
bahnen werden können. Es dürften also 
Hindernisse für den Abfluß an den ver¬ 
schiedensten Stellen liegen,und wir müssen 
nicht glauben, daß die Barriere an der 
Mündung selbst gelegen sein muß, falls 
der Abfluß an der Mündung geringer 
wird oder ganz aufhört. Gut angelegte 
Stauungsbecken mit Seitenbahnen im 
Verlaufe des .ganzen Flusses können einer 
drohenden Überschwemmung noch be¬ 
gegnen, doch haben auch sie ihre Grenzen. 

An Hand dieses Vergleichs muli^an 
sich daher fragen, ob das Symptom Über¬ 
schwemmung — in unserem Falle das 
Ödem — nur darin zustande kommt, 
wenn ein Hemmnis an der Mündung 
des Flusses vorliegt, oder ob nicht an 
allen möglichen Stellen Störungen Vor¬ 
kommen können. Ich habe daher ge¬ 
meint, daß die Niere nicht allein jener 
Faktor ist, der für die Diurese bestim¬ 
mend ist; es spielt offenbar das große 
Schwammorgan — wie ich den ganzen 
Komplex der zellulären Gewebsräume 
bezeichnet habe — im Wasser- und Salz¬ 
stoffwechsel eine ebenso große, wenn 
nichj größere Rolle, als die Niere selbst. 

Übertragen wir diese _ Vorstellungen, 
die, bestrebt waren, den Ödemen in der 
.Pathologie der Nierenkrankheiten eine 
gewisse Selbständigkeit beizumessen, auf 
die kardialen Stauungen, so kontrolliert 
das Herz, ähnlich wie die Niere, das 
Gefälle im Blutstrome. Pumpt das Herz 
fehlerhaft, so breitet sich stromaufwärts 
ein Stauweiher aus und es kommt zur 
Stase des Blutes in'den Venen; als Folge 
gibt sich, daß Flüssigkeit in vermehrter 
Menge aus den Gefäßen austritt und 
sich in den Gewebsspalten ablagert. Es 
hängt nun offenbar ganz von der Be¬ 
schaffenheit der Gewebe ab, ob sich hier 
die Flüssigkeit länger öder kürzer auf¬ 
hält. Daß z. B. gesundes Gewebe trotz 
Stauung nicht immer zu Ödemen dis¬ 
ponieren muß, beweist der einfache Ver¬ 
such, wenn man bei einem gesunden 
Tiere die Vena femoralis abbindet; fast 
nie kommt es zur Entwicklung eines 
Ödems. Analoges kann man auch beim 
Menschen beobachten. Warum soll es 
daher nicht möglich sein, daß z. B. ganz 
geringgradige Stauungen bereits genügen 
können, um in disponierten Geweben 
starke Ödeme auszulösen, die sicher 


in einem dazu nicht geeigneten Organis¬ 
mus sich kaum Geltung verschaffen 
könnten. 

Die Wirkung von Thyreoidsubstanz 
als Diureticum glaubte ich ebenfalls 
auf dem Umwege der Gewebsbeschaffeh- 
heit erklären zu müssen. Je lebhafter: 
der Zellstoffwechsel in den Geweben vor 
sich geht, desto rascher dürfte sich die 
Gewebsflüssigkeit in Cireülation befinden; 
da wir nun wissen, einen wie lebhaften 
Stoffwechsel die Thyreoidea anzufachen 
vermag, so stellten wir die Theorie auf, 
daß der diuretische Erfolg der Schild¬ 
drüsensubstanzen dadurch zu erklären 
sei, daß durch Verfütterung von Schild¬ 
drüsentabletten die vorgelagerten Nah¬ 
rungsbestandteile von den Zellen kraft 
ihrer erhöhten Tätigkeit rascher in Arbeit 
genommen werden, wodurch die bei der 
Resorption mitgenommenen Wasser- und 
Salzstoffquantitäten frei werden und 
schließlich für die Ausscheidung durch 
die Nieren disponibel erscheinen. 

Meine Untersuchungen waren mit der 
An laß, wenn jetzt sowohl von klinischer als 
auch von experimentell-pathologischer 
Seite her die Sonderstellung der Ödeme 
betont wird und vielfach versucht wird, 
auch den unterschiedlichen Diureticis 
eine extrarenale Bedeutung beizumessen. 
Die neuesten Untersuchungen von El- 
linger sprechen ebenfalls zugunsten 
meiner Anschauungen, nur mit dem Unter¬ 
schiede, daß Ellinger für die Retention 
des Wassers und Kochsalzes vorwiegend 
physikalisch-chemische Kräfte beschul¬ 
digt, während ich im Anschluß an Asher 
vitale Momente in den Vordergrund rücke. 
Jedenfalls glaube ich aus allen diesen 
Angaben den Schluß ableiten zu können, 
das Ödem, das sich sowohl im 
Verlaufe vieler Nierenkrankheiten, 
als auch bei einzelnen Herzaffek¬ 
tionen findet, ist nicht nur von 
der Beschaffenheit der Niere, re¬ 
spektive des Herzens abhängig, 
sondern sicherlich spielt auch die 
Beschaffenheit der Gewebe hier 
eine ausschlaggebende Rolle. 

Von diesen zunächst rein theoretischen 
Überlegungen, glaube ich, muß man sich 
auch bei der Therapie der verschiedenen 
Formen von Ödemen leiten lassen. Die 
Thyreoidbehandlung war der Anfang, und 
tatsächlich kann man in vereinzelten 
Fällen damit ausgezeichnete Erfolge er¬ 
zielen. Leider hat das Thyreoid aber 
viele unangenehme Nebenwirkungen, so 
daß sich viele Ärzte, und zwar mit Recht 





86 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


“März 


scheuten, davon ausgiebigeren Gebrauch 
zu machen. In jüngster Zeit haben wir 
nun ein Präparat durch die. Unter¬ 
suchungen von Saxl in die Hand be¬ 
kommen —; Novasurol (Bayer & Co.), 
das wohl sicherlich. ebenfalls an der 
Peripherie anzugreifen scheint und das 
in vielen Fällen mehr zu leisten imstande 
ist, als das von uns ursprünglich gewählte 
Thyreoid. Novasurol ist ein Quecksilber¬ 
präparat — man gibt 2 cm intramuskulär 
(intraglutäal) —, das ganz ähnlich in 
seiner Wirkung sein dürfte wie das Kalo- 
mel. Gibt man Novasurol bei Fällen von 
sogenannter Myodegeneratio cordis, so 
kommt es innerhalb der kürzesten Zeit 
(oft schon nach zwei bis drei Stunden) zu 
den stärksten Diuresen. Harnmengen, 
die zwischen vier bis sechs Liter schwan¬ 
ken, gehören nicht zu den Seltenheiten. 
Meist klingt nach 24 Stunden die Diurese 
ab, um sich nach einer neuerlichen In¬ 
jektion wieder einzustellen. Da es sich 
um ein Quecksilberpräparat handelt, so 
ist auf eine entsprechende Zahnpflege 
zu achten. Unangenehme Komplikationen, 
wie Diarrhöen gehören zu den Selten¬ 
heiten, meist stellen sich dieselben nur 
dann ein, wenn es nicht zur Diurese 
kommt. Störungen von seiten des Her¬ 
zens haben wir nie gesehen, wohl dagegen 
das Gegenteil. Wenn die Patienten bis 
dahin nie Ruhe und Schlaf gefunden- 
hatten, so fühlen sie sich jetzt stark er¬ 
leichtert und wohl, wie seit langer Zeit 
nicht mehr. 

Die Erfolge bei Fällen von sogenannter 
Myodegeneratio cordis sind so augen¬ 
fällig, daß man mit Novasurol, das 
wohl sicherlich kein Herzmittel sein 
dürfte, fast von Ausheilung sprechen 
kann. Die bis dahin bestandene Cyanose 
tritt zurück, die Leberschwellung kann 
geringer werden, der Atem wird freier, 
so daß der Patient Bewegungen durch- 
■ fühlen kann, die bis dahin kaum mög¬ 
lich waren. Man gewinnt den Ein¬ 
druck, daß die Patienten nur an den 
Folgen der Ödeme gelitten haben: seit¬ 
dem der Ballast, mit dem der Patient, 
der vielleicht nur eine geringe Herz¬ 
schädigung hatte, weggefallen, arbeitet 
das Herz gegen geringere Widerstände 
und kann sich erholen. Wenn ich zunächst 
von Ballast gesprochen habe, so kann 
sich dies in doppelter Weise bemerkbar 
. machen; ein Patient mit ungefähr zehn 
Liter Ödem ist zu vergleichen mit 
einem Menschen, der stets zehn Kilo¬ 
gramm Gewicht herumzutragen hat; fällt 


dies einem gesunden Menschen schon 
schwer, um wie viel mehr muß ein Patient 
darunter leiden, dessen Herz bereits 
Zeichen von Schwäche zeigt. Das Ödem 
ist aber auch nicht gleichgültig für das 
Fließen des Blutes in den Capillaren und 
Venen. Die Mehrarbeit, die daraus er¬ 
wächst, ist wieder vom Herzen zu tragen, 
so daß auch in dieser Richtung die An¬ 
sammlung von Flüssigkeit in den Gewebs- 
räumen stets berücksichtigt werden muß. 
Wenn wir also gesagt haben, die Ödem¬ 
ansammlung muß zunächst nicht in un¬ 
mittelbarem Zusammenhänge stehen mit 
der Schwere der Herzläsion, so muß in 
weiterer Folge gesagt werden, daß die 
Zunahme von Schwellungen für das Herz 
jetzt von um so ungünstigerer Bedeutung 
sein kann. 

All das, was wir jetzt gesagt haben, 
bezieht sich in erster Linie auf jenes 
Krankheitsbild, das wir Myodegeneratio 
cordis genannt haben. Es gibt aber auch 
sichere Herzfehler und muskuläre Läsio¬ 
nen, wo sich ebenfalls ein Mißverhältnis 
zwischen Herzbefund und der Schwere 
der Inkompensationserscheinungen nicht 
hinwegleugnen läßt. Die Auscultations- 
und Percussionerscheinungen, um ein 
Beispiel zu nennen, lassen keinen Zwei¬ 
fel, daß es sich um ein kombiniertes 
Vitium handeln muß. Der Puls und die 
subjektiven Störungen sind aber bis 
auf die Ödeme und die consecutive 
Oligurie so gering, daß auch hier die Frage 
auftaucht, wie kommt es zu dieser hoch¬ 
gradigen Schwellung der Beine und dem 
Ascites, wo scheinbar das Herz, wenig¬ 
stens was die Frequenz und Rhythmik 
anbelangt, nicht so schwer geschädigt 
erscheint. Auch in solchen Fällen, die 
ich auf ihre Qualität die längste Zeit 
beobachtet habe und ich mich durch die 
verschiedensten Medikationen überzeugen 
konnte, wie wenig durch Digitalis und 
Diuretin zu erzielen war, gab ich Thyreoid 
und habe mich öfter von günstigen Er¬ 
folgen überzeugen können, wurde aber 
immer vorsichtiger, weil gelegentlich 
durch das Auftreten von Tachykardie 
der Eindruck nicht erwehrt werden konnte, 
daß das Thyreoid zwar eine günstige 
Wirkung quoad Diurese zeitigte, dafür 
aber das Herz in Mitleidenschaft zog. 
Die ausgezeichneten Erfolge, die wir bei 
der reinen Myodegeneratio cordis durch 
das Novasurol erreichten, waren Anlaß, 
dieses Mittel auch bei echten Klappen¬ 
fehlern mit schweren Ödemen zu ver¬ 
suchen. Auch hier konnten wir uns oft 




März 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


87 


Überzeugen, wie nach Injektion von 2 cm 
Noväsurol trotz bestehender, nicht hin¬ 
wegzuleugnender Herzinsuffizienz binnen 
kürzester Zeit die Diurese einsetzte. 
Harnmengen, die gelegentlich vier bis 
fünf Liter betrugen, zählen nicht zu den 
Seltenheiten. In dem Maße, als die Ödeme 
abnahmen, besserte sich das kardiale 
Bild,,,so daß man sagen mußte, seitdem 
die Ödeme bei diesem Herzfehler be¬ 
seitigt sind, geht es dem Patienten auch 
subjektiv viel besser. Manchmal,kommt 
es im weiteren Verlaufe zu neuen Ödemen, 
oft hält aber die Besserung wochenlang an. 
Unter der Voraussetzung,’ daß das Nova- 
surol nicht doch ein Cardiatonicum ist, 
wozu uns allerdings nichts an positivem 
Tatsachenmaterial auffordert, glaube ich 
aus diesen Beobachtungen den Schluß 
ableiten zu können, daß die ,,kardialen“ 
Ödeme nicht nur die alleinigen Folgen 
einer Herzschwäche darstellen. Das 
Primäre ist in den meisten — vielleicht 
sind wir vorsichtiger und sagen in allen — 
Fällen abhängig von einem Nachlassen 
der Herzkraft,’ wodurch der Druck im 
venösen System ansteigt und der Ab¬ 
transport der Gewebsflüssigkeit erschwert 
erscheint. Offenbar reagiert aber nicht 
jedes Gewebe in gleicher Weise, wenn der 
venöse Druck im Sinne einer Stauung 
steigt: ob hier die Bedingungen von der 
Tätigkeit der Drüsen mit innerer Sekretion 
abhängig sind, wie es manche Erfolge mit 
der ' Thyreoiddarreichung zu beweisen 
scheinen, oder ob hier physikalische 
Kräfte in Frage kommen, soll zunächst 
unberücksichtigt bleiben; Tatsache ist, 
daß sich viele kardiale Ödeme beseitigen 
lassen durch Medikamente, die zunächst 
nicht am Herzen angreifen und daß es 


dem Patienten nach Beseitigung der 
Ödeme manchmal ausgezeichnet geht. 
Die Erfolge sind auf Grund unserer Er¬ 
fahrungen an einem großen Herzmaterial 
so ausgezeichnet, daß man die Novasurol- 
injektion öfter anwenden soll. Kontra¬ 
indikationen sehen wir nur in einer gleich¬ 
zeitig bestehenden Nephritis. Auch hier 
erweist sich die Nierensklerose gegenüber 
der Nephritis als Krankheitsbild suigeneris, 
so daß auch Fälle mit arteriosklerotischer 
Schrumpfniere keine Kontraindikation 
darstellen. 

Die Auffassung, nicht alle Inkom¬ 
pensationsstörungen als Folge einer Herz¬ 
läsion hinzustellefi, erweist sich nicht nur 
theoretisch, sondern auch praktisch be¬ 
deutsam. Wie oft hat man Gelegenheit 
zu sehen, wie Patienten, die z. B. die 
Zeichen einer sogenannten Myodegeneratio 
cordis darbieten, die längste Zeit mit 
Digitalis gefüttert werden. Weil es dem 
Patienten nicht besser geht, wird in der 
Wahl des Arztes gewechselt; auch dieser 
Kollege gibt wieder Cardiatonica in 
irgendeiner neuen Kombination, um 
schließlich nach einer Zeit zu der gleichen 
Überzeugung zu kommen, daß hier mit 
Digitalis nichts erreicht wird. Der Wechsel 
des Arztes wiederholt sich womöglich 
noch einige Male und der Patient be¬ 
kommt neue Digitalispräparate. . ln 
manchen Fällen mag es sich um^eine Art 
Gewöhnung handeln, in vielen Fällen 
habe ich aber doch die Überzeugung 
gewonnen,. daß man im Prinzip der 
Therapie auf einem falschen Wege ist. 
Die Annahme, daß das Inkompensations- 
system Ödem nicht nur vom Herzen 
abhängig sei, dürfte für manche Fälle 
1 die Erklärung sein. 


Ans der Medizinischen Klinik in Tübingen (Vorstand: Prof. Otfried Müller). 

Zur Frage der additionellen Tuberkuloseinfektionen im Alter 

des Erwachsenen. 

Von 


Otfried Müller, in Gemeinschaft mit Dr. 

• In Alpirsbach, einer ebenso abseits 
des Schwarzwaldstädtchens in günstigster ' 
waldiger Lage gelegenen Anstalt mußten 
ebenfalls sehr zahlreiche offene dritte 
Stadien untergebracht werden, teils weil 
der Wunsch nach einer einigermaßen aus¬ 
sichtsreichen Heilbehandlung, die auch 
über Stadium 1 und 2 noch helfend ein¬ 
zugreifen versuchen sollte, laut gewor¬ 
den war, teils weil Nagold oft so belegt 
war, daß es die ihm eigentlich zufallenden 
Fälle nicht rechtzeitig aufnehmen konnte. 


Hedwig Isele, Assistentin der Klinik. (Schluß.) 
Auch hier wurde das Personal sehr sorg¬ 
fältig schon bei der Einstellung kontrol¬ 
liert und in ähnlichen Abständen wie in 
Nagold gewechselt. Entsprechend der 
etwa um ein Drittel größeren Zahl der 
Kranken und-dementsprechend auch des 
Personals erkrankten dort zwölf Menschen. 
Eine mit Nichttuberkulösen belegte Ab¬ 
teilung bestand in diesem Lazarett nicht, 
man bestrebte sich nur, Offene und Ge¬ 
schlossene nach Möglichkeit zu sondern. 
Da bekanntlich viele Fälle heute offen 





88- 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


März 


und morgen geschlossen sind, so darf 
man auf eine solche Sonderung bei einem 
einigermaßen fortgeschrittenen Material 
keinen allzu großen Wert legen. Machen 
wir für Alpirsbach die gleiche 
Sonderrechnung auf wie für Na¬ 
gold, so erhält man für dieses 
Lazarett die Erkrankungsziffer 12; 
für alle anderen 177 Lazarette ein¬ 
schließlich der 26 anderen Tuber¬ 
kuloseabteilungen 53 plus 71 we¬ 
niger 12, das heißt 112 insgesamt 
und 0,64 pro Lazarett. Es ergeben 
sich also entsprechend der etwa um ein 
Drittel stärkeren Belegzahl und Personal¬ 
zahl in Alpirsbach ganz gleiche Verhält¬ 
nisse wie in Nagold. 

Für Alpirsbach wird sich zudem in 
einiger Zeit die Probe auf das Exempel 
machen lassen. Die Anstalt ist inzwischen 
einer gründlichen Reinigung und Reno¬ 
vierung unterzogen worden, hat einige 
Zeit leer gestanden und arbeitet jetzt 
unter gleicher Leitung wie im Kriege als 
Sanatorium für leicht lungenkranke 
Damen. Da wird sich alsbald erweisen 
lassen, daß die unter den ungünstigen 
Bedingungen des Krieges vorgekommenen 
Kontakte unter den guten Bedingungen 
eines normalen Sanatoriumsbetriebes 
völlig ausbleiben. 

Diese beiden Anstalten sind bezüglich 
der exogenen Ansteckungsgefahr fraglos 
am meisten exponiert gewesen. Ich 
mache sie deshalb zum Kernpunkt meiner 
Ausführungen. Was die Beobachtungs¬ 
station und Heilstätte Wilhelmsheim be¬ 
trifft, so war sie nur anfangs reichlicher 
mit fortgeschrittenen Tuberkulosen be¬ 
legt. Später erhielt sie auf ihren ausdrück¬ 
lichen Wunsch ein mehr dem Friedens¬ 
gebrauch entsprechendes Krankenmate¬ 
rial. Die Heilstätte meldete auch, daß 
die sämtlichen im Laufe des Krieges in 
ihr erkrankten Ärzte, Verwalter und 
Pfleger schon früher tuberkulös erkrankt 
gewesen seien mit Ausnahme eines Wasch¬ 
küchenmädchens, das, früher gesund, erst 
nach dem Eintritt in die Anstalt erkrankte. 
Die Zahlen von Wilhelmsheim dürfen 
somit nicht annähernd gleich schwer in 
die Wagschale geworfen werden, v\§e die 
von Nagold und Alpirsbach. Immerhin 
wäre aber doch zu sagen, daß auch in 
anderen Lazaretten unter den Kranken¬ 
wärtern und dem Verwaltungspersonale 
zahlreiche Leute waren, die früher etwas 
an der Lunge gehabt hatten und deshalb 
nur heimatsverwendungsfähig geschrieben 
wurden. Diese mir in sehr vielen anderen 


Lazaretten persönlich bekannten früheren 
Kranken wurden, wie der Überblick er¬ 
weist, doch in den Nichttuberkulose¬ 
lazaretten in weit geringerem Ausmaß 
reaktiviert. An diesem Punkte kommt 
man auch bezüglich Wilhelmsheim nicht 
ohne weiteres vorbei. 

Um auch dem entgegengesetzten 
Standpunkt gerecht zu werden, sei her¬ 
vorgehoben, daß in Elisabethenberg eben¬ 
falls offene dritte Stadien untergebracht 
waren. Hier erkrankten nur zwei Leute 
aus dem Personal. Freilich wurde die 
Station in Elisabethenberg erst sehr viel 
später (soweit mir erinnerlich, Anfang 
1917) eingerichtet, wie die in Nagold und 
Alpirsbach, so daß die zeitliche Exposi¬ 
tion des Personals dort eine wesentlich 
geringere war. Das gleiche gilt für die 
sogenannte Solitude, wo auf der eigent¬ 
lichen Tuberkulosestation überhaupt 
keine Personalerkrankung gemeldet wurde. 

Die übrigen in der Tabelle 2 aufge¬ 
führten Sonderabteilungen und Pflege¬ 
stätten für offene Tuberkulose können 
mit Nagold und Elisabethenberg deshalb 
nicht verglichen werden, weil sie einmal 
viel kleiner waren und weil sie zweitens 
sehr vielfach längere Zeit überhaupt nicht 
belegt wurden. Sie waren nur örtliche 
Sammelreservoire, bestimmt, ihre Kran¬ 
ken entweder alsbald in Zivilpflege oder 
nach Nagold beziehungsweise später auch 
Elisabethenberg zu schicken. Die Beob- 
achtungsstatio/ien in Tübingen (Reserve¬ 
lazarett 3), Hornegg und Stuttgart (Re¬ 
servelazarett 1) weisen Erkrankungszif¬ 
fern auf, die etwa ihrer Bettenzahl nach 
abgestuft erscheinen. Sie hatten die 
Kranken nie dauernd, aber es ging natur¬ 
gemäß ein ununterbrochener Strom von 
aktiv tuberkulösen Menschen und viel¬ 
fach doch auch offenen Tuberkulosen 
durch sie hindurch, wenn auch die als 
offen Erkannten entsprechend militäri¬ 
scher Vorschrift überaus streng bezüglich 
der Zimmer, des Eßgeschirrs usw. isoliert 
wurden. 

Ich komme zu den in Tabelle 3 auf¬ 
geführten zwölf Tuberkuloselazaretten, 
welche keine Personaltuberkulosen zu 
melden hatten. Es sind das, wie bereits 
ausgeführt, 44% der mit tuberkulösen 
Heeresangehörigen überhaupt belegten 
Anstalten, während von den 151 Nicht¬ 
tuberkuloselazaretten, bekanntlich 127, 
das heißt 84% ohne Personaltuberkulosen 
geblieben waren. 

Dieser rein zahlenmäßige Unterschied 
wird noch bedeutsamer, wenn man die 




89 


März 


Die Therapie der Gegenwart 1921* 


Tuberküloselazarette, welche . negative 
Meldungen schickten, näher durchgeht. 
Da sind zunächst die beiden bekannten 
Lungenheilanstalten in' Schömberg, weiter 
die ganz moderne und mit jedem hygie¬ 
nischen Raffinement ausgestattete Volks-, 
heilanstalt Überruh, und die Heilanstalt * 
Balingen unter der Alb, welche zu einem 
sehr erheblichen Prozentsatz Knochen-, 
Gelenk- und Drüsen tuberkulösen auf¬ 
nahm. Diese Anstalten wurden von vorn¬ 
herein im wesentlichen mit ersten und 
zweiten Stadien belegt, sie hatten vielfach 


in Stuttgart Weimarspital (Nr. 19) nach 
ihrer Durchgangsfrequenz mindestens eine 
so gute Gelegenheit zu Kontakten ge¬ 
boten haben müßte wie Hornegg. Auch 
die Beobachtungsstation in Ulm (Nr. 23) 
hatte eine wenn auch geringere, so doch 
immerhin in Betracht fallende .Durch¬ 
gangsfrequenz, die schon Gelegenheit zu 
Kontakten hätte geben können, wenn 
solche überhaupt zugegeben werden will. 

Ich fasse nochmals kurz zu¬ 
sammen: Die Meldungen über Tu¬ 
berkuloseerkrankungen beim Per- 


Tabelle 3. 

Keine Personalefkrankungen an Tuberkulose hatten aufzuweisen: 
von 27 Lazaretten mit Tuberkulosestationen 12 = 44% dfeser Lazarette. 

Im einzelnen waren dies: 


Nr. 

Ort 

Name 

• 

, Art 

Verwendung 

Etwaige Zahl 
der 

tuberkulösen 

Lazarett¬ 

patienten 

2 

Balingen . . . 


Vereinslazarett 

Heilstätte 

40 

3 

Biberach.... 

— 

Vereinslazarett 

Sonderabt. für Tb. 

10 

8 

Herrenberg . . 

— 

Vereinslazarett 

Sonderabt. für Tb. 

10 

10' 

Leutkirch . . . 

— 

Vereinslazarett 

Sonderabt. für Tb. 

10 

12 

Mergentheim . . 


Reservelazarett 

Sonderabt: .für Tb. 

10 

15 

Schömberg. . . 

Neue Heilanstalt 
Dr. Schröder 

Vereinslazarett 

Beobachtungsstation, 
Heilstätte - 

cc. 50 

16 

Schömberg. . . 

Sanatorium 

Dr. Koch 

Genesungsheim 

Beobachtungsstation, 

Heilstätte 

50 

19 

Stuttgart . . . 

Weimarspital 

Zweiglazarett 

Beobachtungsstation 

50—60 

22 

Überruh . : . . 

(Versicherungs¬ 

heilstätte) 

Vereinslazarett 

■ 

Beobachtungsstation, 

Heilstätte 

200 

23 

Ulm. 

— 

Festungshilfsl. II 

Beobacht ungsstati on 

20—30 

24 

Ulm....... 

— 

Festhilfslaz. III 

Sonderabt. für Tb. 

wenige 

26 

Weingarten . . 

— 

Reservelazarett I 

Sonderabt. für Tb. 

10 


Keine Personalerkrankungen an Tuberkulose hatten aufzuweisen: 
von 151 Lazaretten ohne Tuberkulosestätion 127 = 84% dieser Lazarette. 


noch ein geschultes und erfahrenes Per¬ 
sonal und unterschieden sich somit durch 
ihre teilweise Belegung mit tuberkulösen 
Heeresangehörigen nicht wesentlich vom 
ihrem Friedensbetriebe. Ihre negativen 
Meldungen bestätigen somit nur das, was 
man auch früher schon wußte, nämlich, 
daß man in gut eingerichteten, gut gelei¬ 
teten und im wesentlichen mit geschlos¬ 
senen Tuberkulosen belegten Sanatorien 
in der. Tat vor Kontakten ziemlich sicher 
sein kann. 

Daß die kleinen Sonderabteilungen 
unter Nr. 3, 8, 10, 12, 24 und 26 keine 
Erkrankungen des Personals aufzuweisen 
hatten, ist vom Gesichtspunkte der vor¬ 
liegenden Arbeit nicht weiter verwunder¬ 
lich, da sie oft vorübergehend, teilweise 
sogar dauernd nicht belegt waren, das 
heißt mehr einen Bereitschaftsdienst aus¬ 
zuüben hatten. 

Vom Standpunkte der Gegenseite wäre 
zu sagen, daß die Beobachtungsstation 


sonal fielen bei 1.51 Lazaretten 
ohne Tuberkuloseabteilung 24mal, 
das heißt in 16% positiv und 137mal, 
das heißt in 84% negativ aus. In 
den 27 Lazaretten mit Tuberkulose¬ 
abteilung fielen sie 15mal, das 
heißt in 56% positiv und 12mal, 
das heißt in 44% negativ aus. Nach 
ab.saluten Zahlen angegebenkamen 
in 151 Lazaretten ohneTuberkulose- 
abteilung 53 Erkrankungen (das 
heißt 0,35.pro Lazarett), in 27 La¬ 
zaretten mit Tuberkuloseabteilung 
71 Erkrankungen (das heißt 2,6 pro 
Lazarett) vor. Die am meisten ge¬ 
fährdeten Lazarette hatten Er¬ 
krankungsziffern von neun be¬ 
ziehungsweise zwölf, 

. Stellt man .sich auf den Standpunkt 
eines Gegners dieser Berechnung, so kann 
.man darauf hinweisen, daß unter den 
Tuberkuloselazaretten, welche nicht über¬ 
wiegend mit offenen dritten Stadien, 


12 












90 


Die Therapie der Gegenwart 1921 „März 


sondern mehr mit geschlossenen ersten 
und zweiten Stadien belegt waren, Wil¬ 
helmsheim mit der stattlich ins Gewicht 
fallenden Zahl von 15 Erkrankungen 
vertreten ist. Man kann sagen, diese 
Leute waren mit einer Ausnahme schon 
vorher manifest tuberkulös gewesen, und 
darum nimmt ihre Reaktivierung nicht 
runder, auch wenn ihre Krankheits¬ 
prozesse bei Di'ensteintritt ruhig waren. 
(Man kann natürlich auch umgekehrt) 
gerade in der so reichlichen Reaktivierung 
alter tuberkulöser Prozesse den Beweis 
für die Bedeutung additioneller Infek¬ 
tionen bei Menschen erblicken, deren 
Tuberkuloseimmunität sich im labilen 
Gleichgewicht befindet). Weiter kann 
man darauf hinweisen, daß Elisabethen¬ 
berg, das neben Nagold und Alpirsbach 
die meisten offenen dritten Stadien über 
längere Zeitäume beherbergte (wenn auch 
weder der' Krankenzahl noch der Be¬ 
legungszeit nach so ausgiebig w!e die 
erstgenannten Lazarette), eine weitaus 
geringere Erkrankungsziffer zu melden 
hatte. Will man das tun, so kann man 
eine ganz andere Berechnung aufstellen. 

Man kann alsdann sagen: Ich lasse 
als Grundlage für die Entscheidung über 
die Frage der additionellen Infektionen 
überhaupt nur diejenigen Lazarette gel¬ 
ten, in denen nachweislich längere Zeit 
hindurch unausgesetzt offene dritte Sta¬ 
dien in reichlicher Zahl verweilt haben. 
Diese Lazarette waren: Alpirsbach mit 
einer Erkrankungsziffer von zwölf bei 
140 Betten, Nagold mit einer Erkran¬ 
kungsziffer von acht (auf offener Station) 
bei 100 Betten und Elisabethenberg mit 
einer Erkrankungsziffer von zwei bei etwa 
40 Betten auf offener Station. Das er¬ 
gibt zusammen 22 Erkrankungen in 
drei Lazaretten oder 7,3 pro Lazarett. 
Man kann weiter sagen: diesen drei La¬ 
zaretten stelle ich alle anderen württem- 
bergischen Heimatlazarette einschließlich 
der übrigen Tuberkuloseabteilungen, das 
heißt also 175 Anstalten mit 24 Tuber¬ 
kuloseabteilungen gegenüber, weil ich 
der Meinung bin, daß in den anderen gar 
nicht oder nicht dauernd mit offenen 
Tuberkulosen belegten Lazaretten eine | 
Kontaktgefahr überhaupt nicht in Be¬ 
tracht kommen kann. Dann hätte man 
also in 175 Anstalten noch 102 Erkran¬ 
kungen an Tuberkulose zu verzeichnen, 
das heißt 0,6 pro Lazarett. 

Faßt mau also nur die dauernd 
mit offenen Tuberkulosen belegten 
Lazarette zusammen und stellt 


diesen alle anderen, einschließlich 
der nur zeitweise mit offenen oder 
dauernd mit geschlossenen Tuber¬ 
kulosen belegten Lazarette gegen¬ 
über, so erhält man für die drei 
offenen Anstalten eine Durch¬ 
schnittsziffer von 7,3 Personal- 
tuberkulose, für die anderen eine 
solche von 0,6. 

Ich glaube, daß sich gegen diese nach 
meiner Auffassung schon zu vorsichtig 
aufgestellte Kalkulation nicht viel wird 
einwenden lassen. Man- wird allenfalls 
sagen können: Wie militärische Meldungen 
vielfach zustande gekommen sind, weiß 
man, und darum ist auf diese Zahlen 
kein Gewicht zu legen. Dann werde ich 
darauf hinweisen, daß die vorliegenden 
Zahlen durchaus meinen eigenen Erleb¬ 
nissen entsprechen. Ich habe das ge¬ 
sehen, andere Ärzte haben es auch ge¬ 
sehen, sogar Laien haben mich darauf 
aufmerksam gemacht. Wie kam es denn, 
daß ich in den exponierten offenen La¬ 
zaretten immerfort Klagen über Personal¬ 
erkrankungen zu hören bekam und diese 
zum Teil auch" selbst feststellen konnte, 
während das in den anderen Lazaretten 
nicht der Fall war? 

Weiter könnte man sagen: in den 
Tuberkuloseabteilungen ist eben mehr 
auf das Personal geachtet worden, und 
darum hat man auch mehr gefunden. 
Darauf ließe sich erwidern, daß dann 
doch der offensichtliche Unterschied zwi¬ 
schen den schweren offenen Abteilungen 
und der ganz überwiegenden Mehrzahl 
der Heilstätten nicht zu erklären wäre. 
Auch wäre hier ins Feld zu führen, daß 
die offenen Abteilungen mit rasch wech¬ 
selndem Personal • arbeiteten, die ge¬ 
schlossenen nicht in dem Maße. Es wäre 
doch merkwürdig, wenn bei viertel- bis 
halbjährig wechselndem Personal der 
gleiche Arzt so oft zunächst nichts fände 
und später aus übergroßer Peinlichkeit 
einen Befund erhöbe. 

Sodann ließe sich bedauern, daß die 
absoluten Zahlen des Personalbestandes 
der Tuberkuloselazarette und der Nicht¬ 
tuberkuloselazarette nicht vorliegen. Es 
ist dadurch, unmöglich, festzustellen, wie¬ 
viel Prozent des Personals in der einen 
und wieviel in der anderen Art von 
Lazaretten an Tuberkulose während des 
Krieges erkrankt sind. In der lastenden 
Arbeit des Krieges wurde es versäumt, 
diese Erhebungen anzustellen. 

Endlich kann man natürlich auch 
kommen und sagen: Man hätte das auf 





März 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


91 


die Tuberkuloseabteilungen einzustellende 
Personal so, wie es in einzelnen Lungen¬ 
heilanstalten üblich ist, einige Tage beob¬ 
achten und eventuell mit Röntgen und 
probatorischer Tuberkulinprovakation be¬ 
züglich des Grades seiner alten tuberkur 
lösen Veränderungen genau explorieren 
sollen. Das war im Kriege sachlich leider 
nicht möglich. 

Aber alle diese Einwände sind nicht 
imstande, in mir den Eindruck zu ver¬ 
wischen, daß die drei reichlich und dauernd 
mit offenen dritten Stadien belegten La¬ 
zarette durchschnittlich je 7,3, alle an¬ 
deren weniger oder gar nicht mit dritten 
Stadien belegten Lazarette aber durch¬ 
schnittlich je 0,6 Personalerkrankungen 
an Tuberkulose aufwiesen. Das läßt sich 
meines Erachtens nicht allein durch die 
Römersche Autoreinfektion erklären. Da 
müssen Kontakte stattgefunden haben. 
Ich komme also wieder zu dem zurück, 
was ich bei Gerhardt seinerzeit gehört 
habe, wenn auch in anderer Weise. Ger¬ 
hardt wußte noch nichts von der Regel¬ 
mäßigkeit der Kindheitsinfektion und 
von der Reaktivierungslehre. Er faßte 
die Kontakte wohl so auf, daß die davon 
Betroffenen zum ersten Male mit Tuber¬ 
kulose infiziert worden seien. Das ist 
heute nicht angängig. Wir müssen vor¬ 
aussetzen, daß auch die auf den offenen 
Abteilungen Erkrankten schon in ihrem 
früheren Leben mit der Tuberkulose Be¬ 
kanntschaft gemacht, daß sie eine mehr 
oder weniger kräftige relative Immunität 
gegen dieses Leiden erworben hatten. 
Wir sind aber doch wohl genötigt, den 
Schluß zu ziehen, daß diese mehr oder 
weniger stark ausgesprochene relative Im¬ 
munität im großen Durchschnitt der 
Personalzahlen in den nicht oder wenig 
exponierten Lazaretten infolge der Hun¬ 
ger- und Arbeitskrise ganz unvergleich¬ 
lich viel seltener durchbrochen worden 
ist als auf den offenen Abteilungen, wo 
zu der gleichen Krise noch die Möglich¬ 
keit additioneller Neuinfektion hinzutrat. 

Beim einzelnen werden die Dinge 
naturgemäß sehr verschieden und nach¬ 
träglich auf keine Weise mehr feststellbar 
sich zugetragen haben. Der eine wird 
schon relativ reaktivierungsbereit ge¬ 
kommen sein, der andere stärker resistent. 
Hier bedurfte -es nur eines kleinen An¬ 
stoßes, dort einer langen massigen Ein¬ 
wirkung. Meines Erachtens liegen die 
Dinge hier ganz ähnlich wie bei der 
Psychopathenlehre, die ebenfalls vor dem 
Kriege reichlich dogmatisch, während 


des Krieges wesentliche Umgestaltungen 
erfahren hat. Vor dem Kriege sagte man, 
wer hysterische Erscheinungen unter dem 
Druck exogener Verhältnisse bekommt, ist 
ein Psychopath von Haus aus; ist er das 
nicht, so bekommt er sie auch nicht bei 
den schwersten Insulten. In diesem Kriege 
konnte man von manchen Nervenärzten 
schon hören: die exogenen Momente sind 
derart gewaltig, daß schließlich jeder 
„hysteriefähig“ wird. Ich erinnere da an 
die Martiussche KonstitutionsformelC:P, 
das heißt Konstitution durch pathogene¬ 
tisches Moment. Ist C sehr klein, so wird 
schon ein geringfügiges pathogenetisches 
Moment das Gleichgewicht stören. • Ist 
aber P sehr groß, so wird auch eine robuste 
Konstitution erliegen. 

Als Endresultat möchte ich des¬ 
halb aus meinen Erlebnissen und 
statistischen Feststellungen fol¬ 
gendes formulieren: Die Römer¬ 
sche Reaktivierungslehre ist in 
diesem Kriege nach Art eines 
ätiologischen Experiments [Schrö¬ 
der (17)] auf breiter Basis bestätigt 
worden. Sie ist aber kein abso¬ 
lutes Dogma. Unter den anergi- 
schen Perioden, welche die Reak¬ 
tivierung veranlassen können, 
spielt bei massiger und längerer 
Einwirkung die additioneile In¬ 
fektion ebenfalls eine Rolle. Die 
wohltuende Vaccinierung, welche 
nach Schröder für den aktiv tuber¬ 
kulösen durch exogene Aufnahme 
vereinzelter Tuberkelbacillen be¬ 
wirkt wird, kann in ihr Gegenteil 
Umschlagen, wenn das Verhältnis 
C:P im speziellen Falle nicht das 
optimale ist. Ist die Widerstands¬ 
kraft eines Menschen im gegebenen 
Augenblicke, welche ich hier durch 
C ausgedrückt haben möchte, eine 
gute, so wird auch eine relativ be¬ 
trächtliche Infektion, welche ich 
hier durch P ausgedrückt wissen 
will, ertragen. Wird P unendlich 
groß und wirkt diese große Schäd¬ 
lichkeit andauernd ein, so werden 
nicht alle Menschen dem ein so 
kräftiges C entgegenzustellen ha¬ 
ben, daß sie ohne Neuinfektion, 
das heißt ohne Kontakt davon¬ 
kommen. 

In dieser Auffassung werde ich durch 
zwei sich scheinbar widersprechende Äuße¬ 
rungen Cornets bestärkt. Die eine be¬ 
sagt, daß in den ersten Brehmersehen 
Heilanstalten, wo noch viele Schwer- 

12* 





92 


März 


Die Therapie der 


kranke lagen und, Disziplin und Hygiene 
naturgemäß erst in den Anfängen ihrer 
Durchbildung waren,. bei den Zimmer¬ 
mädchen auffallend viele Lungenspitzen¬ 
tuberkulosen vorgekommen seien. Die 
andere Mitteilung besagt dann später, 
nachdem die Heilanstaltsverhältnisse sich 
von .Grund aus verändert hatten, daß die 
Ansteckungsfurcht in gut eingerichteten 
mit ersten und zweiten Stadien belegten 
Anstalten unbegründet sei. Genau das 
Gleiche sagt unsere Statistik. Unsere 
Schlüsse werden auch nicht angefochten 
durch die Angaben von Sanders, der 
bei guten hygienischen Allgemeinbedin¬ 
gungen und vorsichtigen und reinlichen 
Kranken in 27 Jahren keinen einzigen 
Fall von Ansteckung beim Personal ge¬ 
sehen hat. Der Soldat war nicht immer 
ein vorsichtiger und reinlicher Kranker 
und konnte es unter den ungünstigeren 
hygienischen Bedingungen des Krieges 
in improvisierten Anstalten auch nicht 
sein. 

Nun wird man sagen: das sind exzep¬ 
tionelle Verhältnisse gewesen, die liegen 
jetzt hinter uns, und darum haben die 
Kontakte bei länger dauernder und mas¬ 
siger Infektion keine allgemeine prakti¬ 
sche Bedeutung. Da bin ich anderer 
Meinung. Unser Volk lebt noch immer 
unter sehr ungünstigen hygienischen Be¬ 
dingungen. Die Hungerkrise ist keines¬ 
wegs überwunden. Die Wohnungskrise 
steht auf der Höhe. Die Reinlichkeit und 
die Desinfektionsmöglichkeiten sind in¬ 
folge der Brennstoffnot und der hohen 
Preise für Seife und Desinfektionsmittel 
schwer beeinträchtigt. Die guten Sitten 
und die Rücksicht auf den Mitmenschen 
haben fraglos nicht zugenommen. Die 
Tuberkulosekurve steigt dementsprechend 
noch fortgesetzt und wird noch einige 
Jahre steigen. 

Wir haben also damit zu rechnen, daß 
in engen Räumen zusammengepfercht 
nicht hinreichend reinlich und peinlich 
große Menschenmassen dahinleben, und 
daß unter ihnen viel mehr offene Tuber¬ 
kulosen sind wie vor dem Kriege. Nach 
dem, was sich aus den Lehren der offenen 
Lazarettstationen ergibt, müssen wir 
meines Erachtens mit zahlreicheren Kon¬ 
takten rechnen als -früher. Nicht nur die 
Kinder werden früher und schwerer in¬ 
fiziert und darum auch später leichter 
autoreaktiviert, sondern auch die Er¬ 
wachsenen werden zahlreicher sowohl 


Gegenwart 1921 


autoreaktiviert, als additionell infiziert 
werden. Wir haben also alle Ursache, 
unser Fürsorgewesen nach jeder Möglich¬ 
keit äuszubauen, die bestehenden gesetz¬ 
lichen Bestimmungen über Desinfektion 
usw. streng zu beachten, wie auch dem 
Arzte gegenüber der Omnipotenz der 
Wohnungskommissionen einen durch¬ 
schlagenden Einfluß zu sichern. 

Literatur: 1. v. Behring, Phthiseogenese 
und Tuberkulosebekämpfung (D. m. W. 1903 und 
1904, B. kl. W. 1906). —2. P. H. Römer, Tuber¬ 
kuloseimmunität, Phthiseogenese und praktische 
Schwindsuchtsbekämpfung (Beitr. z. Klin. d. 
Tbc. XVII); Experimentelles und Epidemiologi¬ 
sches zur Lungenschwindsuchtsfrage (B. kl. W., 
1912); Die Ansteckungswege der Tuberkulose 
(Handbuch der Tuberkulose Brauer-Schroeder, 
Bd, I); Kritisches und Anti kritisches zur Lehre 
von der Phthiseogenese (Beitr. z. Klin. d. Tbc., 
XII); Immunität gegen natürliche Infektion 
(ebendort). — 3. v. Pirquet, (siehe Fehr, Lehr¬ 
buch der Kinderheilkunde, 1917). — 4. Frey- 
muth, Über Tuberkuloseinfektion mit besonderer 
Berücksichtigung der Heilstätten (Beitr. z. Klin. 
d. Tbc., XX). —-5. Hamburger, Tuberkulose¬ 
immunität (Beitr. z. Klin. d. Tbc., XII); Was 
verdankt die Lehre von der Tuberkulose der ex¬ 
perimentellen Medizin? (Beitr. z. Kün. d. Tbc., 
XXXII); Über tuberkulöse Exacerbationen (W. 
kl. W., 1911). — 6. Ranke, Über den zyklischen 
Verlauf der Tuberkulose (Beitr. z. Klin. d. Tbc., 
XXI). — 7. Selter, Reinfektion und Immunität 
bei Tuberkulose (D. d. W., 1916); Die tuberkulöse 
Infektion im Kindesalter und ihre Bedeutung für 
die Phthise (D. d. W., 1918). — 8. Hillenberg, 
Kindheitsinfektion und Schwindsuchtsproblem 
(D. d. W., 1912). — 9. Röpke, zitiert nach 
H. Müller Sammelreferat über: Der Krieg und 
die Tuberkulose (Intern. Zbl, f. Tbc.Forsch., XI). 

— 10. V. Hayek, Über tuberkulöse Exposition 

und exogene tuberl^ulöse Infektion unter den be¬ 
sonderen Verhältnissen des Krieges (Intern. 
Zbl. f. Tbc.Forsch, XI. und W. kl. W., 1917); 
Tuberkulöse Disposition (W. kl. W., 191«). 

— 11. Comach (W. kl. W., 1917). — 

12. Ast, zitiert nach H. Müller Sammelreferat 
über: Der Krieg und die Tuberkulose (Intern. 
Zbl. f. Tbc.Forsch., XI). — 13. Hochhaus, Er¬ 
fahrungen über die Erkrankungen der Respira¬ 
tionsorgane im Kriege (D. med. W., 1916). — 
14. Schlesinger, zitiert nach H. Müller Sammel¬ 
referat über: Der Krieg und die Tuberkulose 
(Intern. Zbl. f. Tbc.Forsch., XI). — 15. Aßmann, 
Die militärische Untersuchung und Beurteilung 
Tuberkulöser im Kriege (D. d. W., 1917). — 
16. Robert Koch, zitiert nach P. Römer: 
Tuberkuloseimmunität, Phthiseogenese und prak¬ 
tische Schwindsuchtsbekämpfung (Beitr. z. Klin. 
d. Tbc., XVII). — 17. Schröder, zitiert nach 
H. Müller .Sammelreferat über: Der Krieg und 
die Tuberkulose (Intern. Zbl. f. Tbc.Forsch., XI). 

— 18. Mönckeberg, Tuberkulosebefunde bei 
Obduktionen von Kombattanten (Zschr. f. Tbc., 
XXIII). — 19. Cornet, Nekrolog für Brehmer 
(M. m. W., 1890). — 20. Cornet, zitiert nach 
Predöhl: Die Geschichte der Tuberkulose (Brauer- 
Schroeders Handbuch der Tuberkulose, I). — 
21. Sander, Über moderne Sanatoriumshygiene 
(Beitr. z. Klin. d. Tbc., VH). 





März 


Dk Therapie der Gegenwart 1921 


93 


Aus der innereu Abteilung des Stadtkrankenbauses Dresden-Jobannstadt 
(Leitender Arzt: Obermedizinalrat Prof. Dr. Kostoski). 

Die Behandlung chronischer Arthritiden mit Proteinkörpern, 
insbesondere mit Sanarthrit. 

Von Dr. Rudolf Lämpe. 


Das von Hei ln er auf. Grund eigen¬ 
artiger theoretischer Begründung zur Be¬ 
handlung von Gelenkerkrankungen emp¬ 
fohlene Sanarthrit wird in unserem Kran¬ 
kenhaus. seit über ein und einhalb Jahr 
angewendet. Wir verfügen bis jetzt über 
19 abgeschlossene Fälle. Wir haben uns 
im allgemeinen streng an die Vorschriften 
Heilners gehalten. Die Injektionen ge¬ 
schahen stets intravenös, in den ersten 
Vormittagsstunden. Durchschnittlich be¬ 
stand eine Kur aus sechs bis acht Einzel¬ 
injektionen, bisweilen wurden auch mehr 
Injektionen ausgeführt, selten weniger. 
In einzelnen Fällen wurde mit zwei ge¬ 
trennten Kuren behandelt. Zwischen den 
einzelnen Injektionen wurde je nach der 
Stärke der Reaktion eine zwei- bis sechs¬ 
tägige Pause gemacht. Als Anfangsdosis 
injizierten wir 1 ccm Stärke I, als zweite 
Dosis 0,5 oder 1 ccm von Stärke II. Die 
nächsten Dosen richteten sich nach den 
Reaktionen, die beide ersten Dosen her¬ 
vorgebracht hatten. Da nach Vorschrift 
Heilners möglichst zwei Starkreaktionen 
unter sechs Injektionen verlangt werden, 
waren wir bisweilen gezwungen, sogar bis 
2 ccm von Stärke II zu geben. Wie aber 
auch Heilner betont, konnten wir ein 
gesetzmäßiges Verhalten zwischen Stärke 
der Reaktion und der Stärke und Menge 
des injizierten Stoffes nicht konstatieren. 
Oft wirkte 1 ccm von Stärke I intensiver 
als 1 ccm von Stärke H. 

Unter Verzicht auf die Wiedergabe 
der einzelnen Krankengeschichten berichte 
ich im folgenden über unsere Behandlungs¬ 
ergebnisse. 

Unter unseren 19 Fällen waren zu er¬ 
zielen in fünf Fällen eine starke, in sechs 
Fällen zwei oder sogar drei bis vier starke 
Reaktionen. Der Temperaturanstieg wur¬ 
de meist eingeleitet durch einen Schüttel¬ 
frost, welcher seltener schon eine halbe 
Stunde, meist erst zwei bis vier Stunden 
nach der Injektion auftrat, gewöhnlich 
sehr heftig war und bisweilen über eine 
Stunde anhielt. Auch die mittelstarken 
Reaktionen, unter denen Heilner einen 
Fieberanstieg bis 39® versteht, setzten 
sehr oft unter einem ausgesprochenen 
Schüttelfrost, schnellem Temperaturan¬ 
stieg und denselben allgemeinen Erschei¬ 
nungen ein, wie die sogenannten starken 


Reaktionen, so daß eine Trennung zwi¬ 
schen den beiden Reaktionen nicht immer 
gemacht werden kann. Die größere Zahl 
der von uns beobachteten Fälle würde 
also noch, hinzukommen, bei denen man 
von einer ausgesprochenen Reaktion spre¬ 
chen kann. Die leichten Reaktionen 
(Temperatur zwischen 37 und 38®) waren 
nur von leichten Frösteln begleitet. 

Der Temperaturabfall erfolgte gewöhn¬ 
lich in einigen Stunden, durchaus nicht 
immer mit Schweißausbruch. Am näch¬ 
sten Tag war die Temperatur wieder 
normal oder sie zeigte dieselben leichten 
Erhebungen, die sie schon vor der Be¬ 
handlung aufwies. Sehr häufig klagten 
die Patienten bei den starken und mittel¬ 
starken Reaktionen über Kopf- und Kreuz¬ 
schmerzen, bisweilen über Brechreiz, ein¬ 
mal traten sehr heftige krampfartige Leib- 
schmerzvin mit Durchfällen auf. Erschei¬ 
nungen von seiten der Kreislauforgane, 
außer mäßigem Herzklopfen, und von 
seiten der Atmungsorgane haben wir 
nicht beobachtet. Nach dem Schüttel¬ 
frost, beim Absinken der Temperatur, trat 
öfters eine angenehme Müdigkeit und 
eine allgemeine Euphorie auf. Albuminurie 
wurde nicht gesehen. 

Als besonders charakteristisch sieht 
Heilner das Auftreten von Schmerzen 
in den befallenen Gelenken, vor allem bei 
starken und mittelstarken Reaktionen 
an. Auch in den Gelenken, die früher 
einmal entzündlich erkrankt waren, aber 
scheinbar ausgeheilt sind, oder in solchen, 
in denen der Prozeß eben erst beginnt, 
sollen leichte Schmerzen auftreten. Er 
bezeichnet diese Schmerzen als Mahnun¬ 
gen. Wir haben dieses Auftreten von 
starken Schmerzen in den befallenen Ge¬ 
lenken in der Mehrzahl der Fälle beob¬ 
achtet, meist besonders intensiv bei star¬ 
ken Reaktionen. Aber auch bei ganz 
leichten Reaktionen waren die Schmerzen, 
welche die Patienten als ziehende angeben, 
ziemlich ausgesprochen. Die Gelenk¬ 
schmerzen machten sich besonders wäh¬ 
rend des Schüttelfrostes und bei Abfall 
des Fiebers bemerkbar, in einigen Fällen 
traten sie erst in der folgenden Nacht ein. 
Im Gegensatz dazu trat in einer Anzahl 
von Fällen bei starken Reaktionen schon 
während des Schüttelfrostes in den be- 



94 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Märr 


falleneu Gelenken ein Nachlassen der 
bestehenden Schmerzen auf, die Gelenke 
konnten besser bewegt werden. Auch in 
Gelenken, die früher erkrankt gewesen 
und scheinbar ausgeheilt waren, machten 
sich Mahnschmerzen gar nicht selten be¬ 
merkbar. Wir haben aber auch Fälle 
gesehen, bei denen wir Entzündungs¬ 
erscheinungen an den Gelenken beob¬ 
achtet hatten, ohne daß einige Wochen 
später auf Sanarthritinjektionen Mah¬ 
nungen auftraten. Oft traten die Schmer¬ 
zen auch in Gelenken auf, für welche 
kein Anhaltspunkt einer früheren oder 
beginnenden Erkrankung vorlag. Eine 
Beziehung zwischen der Intensität der 
auftretenden Gelenkschmerzen und der 
endgültigen Besserung des Krankheits¬ 
zustandes haben wir nicht sichej fest¬ 
stellen können. 

Der therapeutische Erfolg der San- 
arthritkuren in unseren Fällen ist ein recht 
wenig ermutigender, er reicht bei weitem 
nicht an die günstigen Resultate Heil- 
ners und Umbers, die einen Mißerfolg 
nur in 30 % sahen, heran, aber auch die 
von anderen Kliniken veröffentlichten 
Erfahrungen, die von denen Heilners 
und Umbers, was den Erfolg betrifft, 
schon erheblich abweichen, können wir 
nicht bestätigen. Wir sahen unter 19 Fäl¬ 
len nur zwei gute Erfolge; und zwar einen 
bei primärer chronischer Arthritis (Fall 
Xll), den anderen bei Osteoarthritis de- 
formans (Fall XIII). Hier wurden die 
Gelenke, die lange Zeit vorher gebrauchs¬ 
unfähig gewesen waren, wieder gut be¬ 
weglich. ln einem anderen Falle (XI) von 
primärer chronischer Arthritis trat eben¬ 
falls eine gute Besserung ein, der aber 
dann bald eine Verschlechterung nach¬ 
folgte. Von den übrigen elf Fällen von 
primärer chronischer Arthritis zeigten ein- 
Fall eine Verschlimmerung, sechs Fälle 
keine, vier Fälle eine geringe Besserung. 
Von chronischer Polyarthritis rheumatica 
wurden drei Fälle behandelt, von denen 
zwei eine mäßige Besserung zeigten, ein 
Fall von Osteoarthritis deformans besserte 
sich gar nicht, ein anderer nur wenig. 
Jedenfalls waren die Erfolge bei diesen 
Besserungen so gering, daß man sie viel¬ 
leicht auch mit anderen Maßnahmen er¬ 
reicht hätte. Während der Sanarthrit- 
kuren selbst traten allerdings in verschie¬ 
denen Fällen Besserungen ein; dieselben 
hielten aber nicht an, sondern gingen nach 
Beendigung der Kur schnell wieder zu¬ 
rück. Die ein bis zwei starken Reaktionen, 
die Hei ln er verlangt, wurden allerdings 


nicht in allen Fällen ermöglicht; aber sie 
waren auch dort, wo sie erreicht wurden, 
ohne Einfluß.* Gerade in derh einen gün-. 
stig verlaufenen Falle war nie eine starke 
Reaktion auf getreten. 

Hei ln er verlangt nun eine Beob¬ 
achtungszeit von mindestens vier Monaten 
nach der ersten Injektion, um über den 
Erfolg oder Mißerfolg ein endgültiges 
Urteil fällen zu können. Wir haben die 
Mehrzahl der Fälle mehrere Monate nach 
der ersten Injektion schon aus dem Grun¬ 
de beobachten können, weil sie weiterer 
Behandlung und Beobachtung" im Kran¬ 
kenhause bedurften. Natürlich konnten 
wir nicht immer abwarten, ob noch ein 
Erfolg der Sanarthritkur auftreten würde. 
Die Patienten klagten weiter über ihre 
Beschwerden, und wir miußten andere 
therapeutische Maßnahmen ergreifen. Wir 
haben auch bei einer größeren Anzahl von 
Patienten eine nachträgliche Besserung; 
erzielt, haben aber durchaus den Ein¬ 
druck, daß diese Besserung vieliriehr der 
angewandten Behandlung zugerechnet 
werden muß, als der Nachwirkung des 
Sanarthrits, denn wir sahen solche Besse¬ 
rungen auch ohne Sanarthrit bei der 
gleichen Behandlung. 

Wie auch bereits in anderen Arbeiten aus¬ 
gesprochen ist, hat die Wirkungsweise des Sanar¬ 
thrits große Ähnlichkeit mit der unspecifischen 
Leistungssteigerung, wie sie durch die Protein¬ 
körper ^hervorgerufen wird. Auch parenteral 
einverlefbtes Eiweiß und seine Spaltprodukte 
entfalten eine intensive Allgemeinwirkung im 
Körper, die sich auf jede Körper und Organ¬ 
zelle erstreckt und dort vitale Vorgänge erzeugt. 
(Protoplasmaaktivierung nach Weichhardt.) 
Diese vielseitige Wirkung auf den Organismus 
macht sich in Fieber, Stoffwechselbeschleunigung,. 
Hyperleukocytose usw. bemerkbar. Auch die 
Wirkung der Proteinkörper tritt am erkrankten 
Gewebe als Herdreaktion besonders hervor. 
Es kann zu einer Einschmelzung und Abstoßung 
des erkrankten Gewebes kommen und dadurch 
eine Heilwirkung erzielt werden. Lindig und 
von den Velden sind der Ansicht, daß fermen¬ 
tative Prozesse am Ort des Krankheitsprozesses 
in unspecifischer Weise aktiviert werden. Es. 
werden dabei starke vasomotorische Reaktionen 
beobachtet, die mit vermehrtem Lymphstrom 
und Leukozytenanhäufung einhergehen. Schmidt 
sagt, daß den Spaltprodukten der Proteinkörper 
bei parenteraler Zufuhr ein hyperämisierender 
und entzündungerregender Einfluß zukommt,, 
der vor allem dort sich äußert, wo ein Entzün¬ 
dungsprozeß bereits im Gange ist, beziehungs¬ 
weise eine Bereitschaft für eine Entzündung be¬ 
steht. Diese schmerzhaften Reaktionen in den 
erkrankten und krank gewesenen Gelenken sind 
von ihm besonders nach Milchinjektion beob¬ 
achtet worden, sie wurden begleitet von Rötungen 
und Schwellungen. Nach weiteren Milchinjek¬ 
tionen kehrte dann das Gelenk zur Norm zurück. 
Wir können dies bestätigen. Döllken weist 
besonders auch auf eine negative Herdreaktion,. 



März 


Die rherapie der Gegenwart 1Q21 


95 


bei welcher nach der Injektion die Empfindlich¬ 
keit in den entzündeten Gelenken bedeutend 
nachläßt und später in vermindertem Maße 
wiederkehrt, hin. Im Gegensatz dazu hat Den ecke 
als einziger bei chronischen Arthritiden nach 
Milchinjektion und Caseosaninjektionen nie eine 
Spur von Herdreaktionen gesehen, trotz intensiver 
Allgemeinreaktion. 

Die Allergemeinreaktionen, wie wir sie nach 
Sanarthrit beobachteten, waren im großen und 
ganzen dieselben wie sie nach parenteral einver- 
leibtei Eiweiß auftreten. Die Herdreaktionen, 
die nach Sanarthritinjektionen in der großen Mehr¬ 
zahl der Fälle und ziemlich intensiv einsetzten, 
waren allerdings ausgesprochen stark. Sie traten 
auch vor allem in den Gelenken auf, von denen 
man annehmen konnte, daß sie noch nicht völlig 
gesund respektive früher einmal krank gewesen 
waren. In wenigen Fällen konnten wir auch eine 
sogenannte negative Herdreaktion beobachten. 

Hei Ine r betont ausdrücklich, daß das San¬ 
arthrit eiweißfrei hergestellt wird, daß also eine 
Proteinkörperwirkung nicht in Frage kommt. Die 
Untersuchung des Sanarthrits auf Albumosen und 
Peptone ist häufig aiisgeführt worden, mit wenigen 
Ausnahmen ist die Bimetreaktion stets negativ 
ausgefallen. Dagegen konnte Denecke Amino¬ 
säuren nachweisen, weist aber trotzdem einen 
Vergleich mit der Proteinkörperwirkung zurück. 
Nun werden die Erscheinungen, wie sie nach 
parenteral einverleibten Protein körpern auftreten, 
auch nach Einwirkung physikalisch und chemisch 
wirkender Energiearten auf den Körper beob¬ 
achtet. Man nimmt an, daß aus der organischen 
Substanz des Körpers auf den Reiz hin Spalt¬ 
produkte, leistungssteigernde' Stoffe, entstehen, 
die also auch eine Protoplasmaaktivierung im 
Sinne Weichhardts erzeugen. Hierher gehören 
kolloidale Metalle, Salzlösungen usw. Lindig 
nimmt an, daß ebenso wie nach parenteraler 
Einverleibung von körperfremdem Eiweiß auch 
nach Einwirkung elektrischer Energie, Radium¬ 
strahlen, parenteraler Zufuhr rein chemischer 
Produkte proteolytische Fermente im Blutkreis¬ 
lauf erzeugt beziehungsweise gesteigert werden. 
Diese Fermente sind ein Produkt lebender Zellen, 
ihre Aufgaben bestehen in der Auslösung hydro¬ 
lytischer und oxydativer Spaltung und in anderen 
mit intramolekularer Verschiebung von H. und 
O.H.-Gruppen einhergehenden Prozessen. Auch 
das Sanarthrit Heilners dürfte wohl 
von gleichsinniger Wirkung, also un¬ 
spezifisch sein. 

Das • Anwendungsgebiet der Proteinkörper¬ 
therapie scheint ein fast unerschöpfliches zu sein. 
Die leistungssteigernde Wirkung auf die gesamte 
Zelltätigkeit und die therapeutisch besonders 
wirksame Reaktion an dem erkrankten Gewebe 
ist schließlich für jede Krankheit wertvoll. Und 
doch bedarf diese Therapie noch weitgehender 
Forschung, ehe sie für die Praxis allgemein an¬ 
wendbar ist. Gerade über die detaillierte Wirkung 
beim kranken Organismus sind wir fast noch 
ganz im unklaren. Mit Recht betont Schitten- 
helm, daß keineswegs jeder Proteinkörper die¬ 
selbe Wirkung hat, und entsprechend verhält es 
sich auch mit der Einwirkung chemischer und 
physikalischer Energiearten. Bei der einen 
Krankheit löst dieser, bei der anderen jener Stoff 
die bessere Wirkung aus. Ebenso wichtig ist die 
Dosierung. Eine zu große Dosis kann zu einer 
Leistungsverminderung, zu einer proteinogenen 
Kachexie führen, eine zu kleine kann wirkungs¬ 
los bleiben. Es gilt, in jedem Falle die optimale 


Dosis zu finden. Auch die Intervalle zwischen 
den einzelnen Dosen-sind sicher von Wichtigkeit. 
Die Konstitution wird ebenfalls eine nicht zu 
unterschätzende Rolle spielen. Jedenfalls sind 
die Erfolge von der Individualität des erkrankten 
Organismus weitgehend abhängig, so daß zur Zeit 
eng umschriebene Indikationen für die Anwendung 
nicht aufzustellen sind. 

Es ist leicht möglich, daß Hei ln er in 
seinem Sanarthrit einen Körper gefunden 
hat, der die lokalen Prozesse bei chroni¬ 
scher Arthritis oft recht günstig beein¬ 
flußt; aber auch hier müssen noch nicht 
bekannte Momente gefunden und berück¬ 
sichtigt werden, um eine optimale Wir¬ 
kung zu erreichen. 

Wir haben bei chronischer Arthritis 
seit vielen Jahren vom zweiprozentigen 
Collargol Heyden recht gute Erfolge ge¬ 
sehen. Sie sind sehr viel besser, als die 
von uns bei Sanarthrit beobachteten und 
auch als diejenigen, die in der letzten Zeit 
von anderer Seite über Sanarthrit berich¬ 
tet worden sind. Patienten, die Monate 
und Jahre lang jeder möglichen Therapie 
getrotzt hatten, bekamen wieder ge¬ 
brauchsfähige Glieder. Die Allgemein- 
erscheinungen waren ungefähr dieselben 
wie die bei Proteinkörpern beobachteten, 
Herderschemungen traten allerdings sub¬ 
jektiv nicht so heftig und so häufig auf 
wie nach Sanarthrit. Die sogenannte 
Zweiphasigkeit, auf die Schmidt beson¬ 
ders aufm.erksam macht, fanden wir bei 
Collargol oft ausgesprochen. Den Schmer¬ 
zen in den Gelenken nach der Injektion 
folgte ein erhebliches Nachlassen derselben 
noch an demselben oder am nächsten 
Tage; entsprechend verhielt sich das All¬ 
gemeinbefinden, einer Verschlimmerung 
folgte ein angenehmer, fast euphorisch zu 
nennender Zustand. Bemerkenswert war 
vor allem auch, oft im Gegensatz zum 
Sanarthrit, daß die vorher subfebrilen 
Temperaturen schon nach der ersten In¬ 
jektion normal wurden und es auch 
blieben. 

Die Wirkung war auch hier im all¬ 
gemeinen am besten, je öfter starke Reak¬ 
tionen nach'der intravenösen Zufuhr von 
Collargol auftraten. Böttner nimmt an, 
daß das Collargol eine wenn auch ab¬ 
geschwächte Anaphylaxie erzeugende Wir¬ 
kung hat, und daß deshalb Injektionen im 
anaphylaktischen Intervall stärkere Reak¬ 
tionen haben. Er betont, die Wichtigkeit 
dieser Tatsache zur Herbeiführung von 
starken Herdreaktionen und empfiehlt, 
die zweite Injektion frühestens am neun¬ 
ten oder zwölften Tage zu machen. Ob 
das Schutzkolloid des Collargols, das aus 




96 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


März . 


Eiweißkörpern besteht, einen Anteil an 
■der Wirkung hat, ist bei der außerordent¬ 
lich geringen zur Verwendung kommenden 
Menge allerdings unwahrscheinlich. Lüd- 
ke spritzt etwa 0,1 Proteinkörper ein, um 
eine Reaktion zu erreichen; in der von 
uns • verwandten Collargolmenge (siehe 
unten) sind nur 0,008 Proteinkörper vor¬ 
handen. Wir haben erwogen, hur das 
Schutzkolloid zu injizieren; da uns aber 
von der Fabrik mitgeteilt wurde, daß das 
Ausgangsmaterial bei der Herstellung des 
Collargols Veränderungen erleidet, haben 
wir davon abgesehen. Wir haben nach 
der ersten Injektion in den meisten Fällen 
die stärkste Reaktion erhalten und ge¬ 
sehen, daß die zweite Injektion, einige 
Tage nach der ersten gemacht, gewöhnlich 
schwächer ausfiel, später dagegen wieder 
stärker. Aber dies gilt in einer großen 
Anzahl von Fällen auch wieder nicht. 
Bisweilen waren auch zwei kurz hinter¬ 
einander verabreichte Injektionen von 
gleich intensivem Erfolge oder die erste 
Injektion blieb ohne jede Reaktion und 
erst die zweite kurz darnach gegeben, 
brachte die erwünschte Wirkung hervor. 
Von der Dosierung scheint die Wirkung 
nicht so sehr abhängig zu sein. Wir geben 
gewöhnlich als Anfangsdosis nur. 2 ccm 
und erreichten damit sehr intensive Reak¬ 
tionen, bei den. nächsten Injektionen muß 
allerdings die Dosis etwas größer ge¬ 
nommen werden (bis 8 ccm), um einen 
Erfolg zu erzielen, aber ein gesetzmäßiges 
Verhalten hat sich auch hier noch nicht 
finden lassen. 

Die Häufigkeit der chronischen Arthri¬ 
tiden und die Hilflosigkeit, welche die¬ 
selbe so oft schon in frühen Jahren bei 
Personen verursacht, die sonst völlig ge¬ 
sund und leistungsfähig sein würden, darf 
nicht ruhen lassen, immer noch neue Mög¬ 
lichkeiten zu suchen, hier helfen zu kön¬ 
nen. Wahrscheinlich bietet der weitere 
Ausbau der Proteinkörpertherapie gün¬ 
stige Aussichten hierzu. Die anderen und 
bisher bewährten Behandlungsmethoden 
dürfen darüber nicht außer acht gelassen 
werden. Wir haben auch durch dieselben 
allein bei konsequenter Behandlung oft 
recht gute Erfolge erzielt. Durch richtige 


Kombination dieser therapeutischen Ma߬ 
nahmen gelingt es uns vielleicht, an den 
erkrankten Gelenken eine möglichst opti¬ 
male Herdreaktion hervorzurufen (z. B. 
Kombination von Sanathrit und 
Diathermie) oder eventuell auch die in 
ihrer Vitalität gesteigerten Körperzellen 
für ein Medikament (z. B. Natr. salicyl.) 
besonders empfänglich zu machen. 

Literatur: 1. Heilner, Die Behandlung d. 
Gicht u. anderer chron. Gelenkentz. mit Knorpel¬ 
extrakt (M. m. W. 1916, Nr. 28). — 2. Heilner, 
dasselbe, (M. m.'W. 1917, Nr. 29). — 3. Heilner, 
dasselbe (M. m. W. 1918, Nr. 36). — 4. Umber, 
Zur Pathogenese chronischer Gelenkerkr. u. ihre 
Behandl. durch Heilners Knorpelextrakt (M. m. 
W. 1918, Nr. 36). — 5. Mayr, Über die Behandl. 
chron. Gelenkentzünd, beim Haustier mit Heil¬ 
ners Knorpelpräparat u. Beziehungen zwischen 
Gelenkerkrankungen von Mensch u. Tier (M. m. 
W. 1918, Nr. 36). — 6. Stern, Behandl. chron. 
Gelenkerkr. mit Sanarthrit Heilner, (M. m. W. 
1920, Nr. 22). — 7. Reinhart, Die Behandl. der 
chron. Gelenkerkrankungen mit Sanarthrit Heil¬ 
ner (D. m. W. 1919, Nr, 49). — 8. Denecke, 
Die Behandl. d. chron. Arthritis mit Sanarthrit 
u. Proteinkörpern (Ther. d. Gegenw. 1920, H. 6.) 

— 9. Reimann, Zur Behandl. d. chron. Gelenk¬ 
entzündungen mit Sanarthrit Heilner (Th. d. 
Geg. 1920, H. 3). — 10. Weichhardt, Über 
Proteinkörpertherapie (M. m. W. 1918, Nr. 22). 

— 11. Weichhardt, Über unspecifische Lei¬ 
stungssteigerung (M. m. W. 1920, Nr. 4). — 
12. Weichhardt und Schräder, Dasselbe (M. 
m. W. 1919, Nr. 11). — 13. Weichhardt, Er¬ 
müdungsstoffe (Hb. d. path. Mikroorganismen 
Kolle-Wassermann, 2. Aufl.). — 14. Von den 
Velden," Beiträge zur parenteralen Protein¬ 
körpertherapie ^JB. kl. W. 1919, Nr. 21.) — 
15. Döllken, Über die elektiven Wirkungen der 
Heterovakzine u. Pröteinkörper (M. m. W. 1919, 
Nr. 18). — 16. R. Schmidt, Über Proteinkörper¬ 
therapie u. parenterale Zufuhr von Milch (Med. 
Kl. 1916, Nr. 7). — 17. Derselbe, Zur Frage d. 
Herdreaktion, ihrer Specifität u. ihrer diagn.-ther. 
Bedeutung (D. Arch.' f. kl. Med. 1919, Bd. 131). 

— 18. Derselbe, Über das Problem der Protein- 
kbrpertherapie (Med. Kl. 1920, Nr. 27). — 19. Lin- 
dig, Das Kasein als Heilmittel (M. m. W. 1919, 
Nr. 33). — 20. Kaufmann, Erfahrungen mit 
kolloidalem Palladiumhydroxydul (M. m. W. 1913, 
Nr. 23). — 21. Grode, Über Proteinkörper¬ 
therapie (Zschr. f. ärztl. Fortb. 1919, Nr. 24). — 
22. Schittenhelm, Zur Proteinkörpertherapie 
(M. m. W. 1919, Nr. 49). — 24. Derselbe, Der 
gegenwärtige Stand der Immuno- u. Chemo¬ 
therapie der Infektionskrankheiten, 32. Kongreß 
f. inn. Med. (ref. M. m. W. 1920, Nr. 19). — 
25. Böttner, Zur Collargoltherapie des chron. 
Gelenkrheumatismus m. besonderer Berücksich¬ 
tigung der Collargolanaphylaxie (M. m. W. 1920, 
Nr. 12, D. Arch. f. klin. Med. 1919, Nr. 25). 


Aus dem Städtischen Krankenhaus Moabit in Berlin. 

Die Augenstörungen nach Optochin und ihre Vermeidung. 

Von Dr. G. A. Waetzoldt. 

Der folgende Aufsatz ist ein Auszug düngen und Tabellen zu finden sind, 
aus einer kürzlich eingereichten Disser- Er will an Hand der gesamten, über die 
tation, in der die eingehenden Begrün- Frage existierenden Literatur und eigener 



März 


Dk Therapie der Gegenwart 1921 


97 


Erfahrungen untersuchen, ob die viel¬ 
fach gehegten extremen Befürchtungen 
bezüglich der Augengefährlichkeit des 
Optochins berechtigt sind, wie die Neben¬ 
wirkungen des Optochins und seiner 
Verwandten zustande kommen, was an 
ihnen dem Optochin als solchem, das 
heißt also einer besonderen Organotropie 
desselben, zur Last fällt und was schlie߬ 
lich lediglich einer falschen Dosierung 
zuzuschreiben ist. 

Das Auftreten der Augenstörung geschieht 
in einem Teil der Fälle plötzlich, wobei aber 
vielleicht doch bei genauester Untersuchung 
schon etwas zu finden gewesen wäre. In anderen 
Fällen finden sich prämonitorische Störungen 
in Gestalt subjektiver Erscheinungen von seiten 
des Auges, Ohres und des Allgemeinbefindens, 
Erbrechen und oft schon sehr früh weite und 
träge Pupillen. Nach etwa 1 bis 24 Stunden 
kommt es dann in einem Teile der Fälle zur 
Amaurose, wobei es kaum einen Unterschied 
macht, ob das Mittel weitergenommen wurde 
oder nicht. Vereinzelt trat die Störung erst 
mehrere Tage nach der letzten Optochingabe auf. 

Die Befunde aller Art sind oft auf einem Auge 
stärker als auf dem anderen. Die Pupillenbefunde 
schwanken zwischen träger Reaktion der weiten 
Pupille und völliger Starre bei maximaler Weite. 
Innerhalb von acht Tagen tritt zumeist Besserung 
dieses Befundes ein (zuerst Engerwerden, dann 
Reaktion auf Konvergenz, dann solche auf Licht, 
beide zuerst noch träge). Nur in schweren Fällen 
dauern die Pupillenstörungen.länger. Am Hinter¬ 
grund können Befunde überhaupt fehlen, da 
manchmal nur eine kurzdauernde Anämie vor¬ 
handen ist. Die Arterien sind meist eng, die 
Venen weit und geschlängelt, die Pupille zeigt 
Oedem (Verschleierung), das sich auch auf die 
Retina ausdehnen kann. Während das Oedem 
langsam abnimmt, zeigen sich schon im Laufe 
der ersten Woche die bekannten Einscheidungen 
an den Arterien. Die Enge der Arterien nimmt im 
Laufe des ersten Monats noch weiter zu, hie und 
da tritt schon Pigment, das heißt Narben, auf. 
Im zweiten Monat findet man auch schon narbig¬ 
atrophische Herde in der Retina. Die Gefäße 
werden, so weit sie nicht vollständig von den 
im Laufe der ersten Monate immer häufiger und 
ausgedehnter werdenden Einscheidungen ver¬ 
deckt und oblitteriert sind, erst im Laufe des 
zweiten Vierteljahres allmählich weiter. Der 
Visus ist oft schon nach 24 Stunden, in einzelnen 
Fällen sogar noch wesentlich eher wieder normal, 
die totale Amaurose dauert selten über einige' 
Tage (14 Tage gehören schon zu den Ausnahmen, 
nur Lorant sah Dauer über ein halbes Jahr). 
Von dem Zeitpunkt an, wo sich der Visus exakt 
bestimmen läßt, steigt er sehr verschieden schnell 
zum Status quo ante an, Schwankungen kommen 
allerdings noch nach Monaten, ja nach Jahren vor. 
Das Gesichtsfeld zeigt ganz anfangs meist zentrale 
Skotome, dann öfter Einschränkungen verschie¬ 
denen Grades, die lange bestehen bleiben und oft 
auch bei gutem Visus sehr stark sind (Röhren¬ 
sehen). Als Rückstand bleibt nach Monaten ge¬ 
wöhnlich eine mäßige Einschränkung bestehen 
lind kleine Skotome, die kaum zur Besserung 
neigen. Das Farbensehen kommt oft schnell 
wieder, auch bei noch recht engem Gesichtsfeld. In 
anderen Fällen bleibt es ganz erloschen oder 
fehlt entweder peripher oder" zentral für alle oder 


nur einzelne Farben, besonders oft für blau. Der 
Lichtsinn kann, wie erwähnt, schon gleich anfangs 
gestört sein. Abgesehen von Biedl ist dies 
in der zweiten Woche zuerst gesehen worden. 
Die Störungen sind meist sehr hartnäckig und 
wphl oft irreparabel. 

Im Zusammenhalt mit dem klinischen Bilde 
und den — meist experimentell gewonnenen — 
gleichartigen Befunden bei Chininamaurosen geht 
aus den Obduktionsbefunden der Optochinamau- 
rosen hervor, daß neben einer primären toxischen 
Wirkung auf die Ganglienzellen- der Retina und 
auf deren Gefäße (adrenalinähnliche Wirkung? 
Gefäßkrampf?) die zu Thrombenbildung führen 
kann, (bösartige Fälle) sowie vielleicht auch auf 
das Sinnesepithel, als sekundäre Wirkungen 
von den Ganglienzellen aufsteigende Degenera¬ 
tion und Veränderungen im, Opticus und in den 
Sinnesepithelien als Folge der Gefäßschädigung 
anzusehen sind. 

Ein Vergleich der Störungen 
nach Optochin, Chinin und ihren„Ver- 
wandten ergibt eine weitgehende Über¬ 
einstimmung. Doch wird man sie nicht 
völlig gleichsetzen dürfen. (Zurücktreten 
der Augenerscheinungen beim Chinin 
gegenüber den Hauteruptionen und Ge¬ 
hörsstörungen, die beide ihrerseits beim. 
Optochin und seinen Derivaten völlig 
in den Hintergrund treten.) Auch an 
den Augen finden sich beim Chinin 
einige Störungen, die beim Optochin 
noch nicht beschrieben sind, vielleicht 
aber, da es sich vorwiegend um Narben 
und Ausheilungserscheinungen zu han¬ 
deln scheint, noch beschrieben werden 
werden. Nur beim Chinin ist bisher (ein¬ 
mal) die Kornealanästhesie beschrieben, 
was umso auffallender ist, als Optochin 
und seine Derivate viel stärkere lokale 
Anästhetica sind, als Chinin. Einige an¬ 
dere Erscheinungen sollen dem Optochin 
eigentümlich sein. Die Dosen, nach denen 
Chininamaurosen auftreten, sind, das 
sollte nicht vergessen werden, oft recht 
gering (1 bis 3 gr.)- 

Für die Beurteilung und Begut¬ 
achtung bestehender Störungen sind 
einige Punkte wichtig, die oft übersehen 
werden. Zunächst die Beeinflussung 
des Befundes durch den Körperzustand 
(Ermüdung, Haltung usw.), sodann die 
außerordentlich unsichere Prognose (Mög¬ 
lichkeit von Änderungen im guten oder 
schlechten Sinne noch nach Jahren), 
so daß alle bisherigen Beobachtungen 
durch Nachuntersuchungen eine Korrek¬ 
tur erfahren können), und schließlich 
die Erfahrungstatsache, daß nur in den 
allerseltensten Fällen von Chinin- wie 
Optochiiiaugenschädigung eine Blindheit^ 
im sozialen Sinne zurückbleibt (von den 
in der Literatur bekannten Fällen sind 
vielleicht die von Lorant und Oliver 

13 



98 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


März 


hierlierzurechnen). Wohl aber kann eine 
beträchtliche Einschränkung der Seh¬ 
leistung (besonders bezüglich des 'Ge¬ 
sichtsfeldes, des Lichtsinnes und des 
Farbensehens) dauernd sein und eine 
erhebliche Erwerbsbeschränkung machen. 
Geheilte Amaurosen sollen übrigens bei 
erneuten Chininkörpergaben zu Rezidiven 
neigen. (Schreiber.) 

Zieht man in Betracht, daß das 
Chinin und wohl auch das Optochin 
(in der Leber) zum größten Teile zer¬ 
stört wird, so wird nur unter folgenden 
Bedingungen eine bedrohliche Er¬ 
höhung des Chininkörperspiegels 
im Blute möglich sein: 1. Massive ein¬ 
malige Dosen zumal mit Umgehung der 
Leber oder 2. geringere, sehr schnell auf¬ 
einander folgende Dosen, die sich für die 
Resorption im Darm summieren, oder 
3. Insuffizienz der Leber oder der Nieren. 
Letztere scheint doch recht selten zu 
sein, da nach intravenösen Gaben kaum 
je Augenschädigungen gesehen sind, also 
die Nieren immer imstande waren, den 
bei großen intravenösen Gaben nicht 
niedrigen Chininkörperspiegel des Blutes 
auf ein unschädliches Niveau zu bringen. 

Überempfindlichkeit gegen Chinin 
ist nicht selten, und zwar sowohl solche, 
die schon nach der ersten Gabe sich zeigt, 
als auch solche, die erst nach einigen oder 
vielen gut vertragenen Dosen auftritt. 
Zu der letzteren Art gehört auch der 
von Spiethoff beschriebene Fall von 
Optochinidiosynkrasie. Subjektive Augen¬ 
erscheinungen sind dabei nicht häufig, 
doch wurden oft weite träge Pupillen und 
feuchter Glanz der Augen wie bei leichter 
Atropinwirkung gesehen. Prädisponierend 
sollen Nervosität und hohe Außentempe¬ 
ratur wirken. Verwendung von schwer¬ 
löslichen anstelle von leichtlöslichen Ver¬ 
bindungen soll Überempfindlichkeitser¬ 
scheinungen vermeiden lassen, tut es 
jedoch keineswegs sicher und dauernd. 
Optochinidiosynkrasie scheint doch selten, 
was vielleicht mit ein Grund dafür ist, 
daß es erst verhältnismäßig so spät be¬ 
merkt wurde, daß hohe Dosen gefährlich 
— sein können. 

Für die Optochinbehandlung 
lassen sich aus dem Vorstehenden unter 
Berücksichtigung der Tatsache, daß Op¬ 
tochin an sich nicht giftiger ist als andere 
Chininkörper folgende Schlüsse ziehen: 
1. Schwer lösliche Präparate in nicht zu 
häufigen Dosen sind vorzuziehen; bei 
leichtlöslichen Präparaten ist besonders 
auf seltene Dosen zu achten. 2. Insuffi¬ 


zienz der Nieren ist nur bei Versagen oder 
Umgehung der Leber das heißt bei rek¬ 
taler oder parenteraler Anwendung von 
größerer Bedeutung, da in anderen Fällen 
die entgiftende Wirkung der Leber sicher 
genügt. Zu Störungen kam es überdies 
bislang nur nach Applikation vom Dick¬ 
darm aus in einigen Fällen, immerhin 
könnte bei schwerer Nephritis und hoher 
parenteraler Dosis doch einmal ein Un¬ 
glück passieren. 

Sucht man sich nun ein Bild über die 
Bedingungen, die Optochinschäden 
entstehen lassen, zu machen, so ist klar, 
daß sie nicht einfach sein können. Sind 
doch enorme Dosen ohne Schaden ge¬ 
geben und andererseits schwere Schäden 
nach verhältnismäßig kleinen Dosen ent¬ 
standen. So sind denn auch zahlreiche 
Ursachen für die Optochinschäden ver¬ 
antwortlich gemacht worden. Diejenigen, 
die im Zustande des Patienten abgesehen 
von der die Behandlung erfordernden 
Krankheit liegen sollten, sind ohne Be¬ 
deutung. 

Weder ließ sich nachweisen, daß der Zustand 
der Augen noch das Alter oder Geschlecht einen 
Einfluß auf die Häufigkeit der Optochinschädi- 
gungen habe, besonders, wenn man die Zusammen¬ 
setzung der Gesamtheit der Behandelten in bezug 
auf diese Merkmale in Rechnung stellt. Auch 
der Zustand der Nieren, über den allerdings oft 
jede Angabe fehlt, dürfte von geringer Bedeutung 
sein, denn einerseits wird über gut vertragene 
Optochinkuren bei schwer Nierenkranken be¬ 
richtet, andererseits ist' in einer Anzahl von 
Amaurosefällen eben die Gesundheit der Nieren, 
soweit sie sich mit einfachen, klinischen Mitteln 
feststellen läßt, bestätigt. Auch die Auffassung, 
daß toxische Abbauprodukte der Chininkörper, 
die aus irgendeinem Grunde länger oder in höherer 
Konzentration zur Wirkung auf das Auge kommen, 
die Störungen verursachten, kann, mangels 
jeden Anhaltspunktes dafür, vorläufig nicht 
angenommen werden. ■ Die Frage der Diät wird 
weiter unten genauer besprochen werden. Sie 
leitet auf den Einfluß, den die Krankheit als 
solche auf die Häufigkeit der Optochinschäden 
haben könnte. Es ist sicher, daß nur außerordent¬ 
lich wenig, und mit Ausnahme der Fälle von 
Izar-Nicosia und Bärmann auch nur sehr leichte 
Fälle bei nicht durch Pneumokokken hervor¬ 
gerufenen Erkrankungen sich ereignet haben, 
trotz der immer zunehmenden Verwendung der 
Optochinkörper bei solchen Erkrankungen und 
oft recht sorgloser Dosierung. Schon Stähelin 
vermutete 1914 einen Einfluß der Krankheit auf 
die Störungshäufigkeit. Auf die präziseren in 
dieser Richtung gehenden Vermutungen Böhn- 
kes, der annahm, daß atypische Pneumokokken¬ 
stämme (Neufeld) die Toxicität des Optochins 
erhöhten, ist nicht weiter eingegangen worden. 
Eine Erklärung, warum die Pneumokokkenerkran¬ 
kungen bevorzugt werden, fehlt zurzeit noch. Ein 
Zusammenhang der Störungshäufigkeit mit der 
Schwere der Erkrankung und der Fieberhöhe 
läßt sich gleichfalls nicht nachweisen. Der Be¬ 
hauptung, daß besonders spät in Behandlung 





99 


März Die Therapie der 


kommende Fälle Störungen bekämen, steht die 
andere gegenüber, daß es besonders die Früh¬ 
fälle sind, die ja bei dem Wunsche, möglichst früh 
zu behandeln, die große Mehrheit des Materials 
-ausmachen. Die Störungen verteilen sich nun auf 
die Optochinbehandelten etwa entsprechend der 
Verteilung der Früh- und Spätfälle überhaupt, 
so daß keiner Kategorie in dieser Hinsicht ein 
Vorzug zukommt. Die Behandlungsdauer und 
von ihr abhängig die Gesamtdosen ergeben durch¬ 
aus ein Überwiegen der kurzen Behandlungs¬ 
dauern und der niedrigen Gesamtdosen (über 
die Hälfte der Fälle zwei Tage und weniger 
Behandlungsdauer und unter drei Gramm Ge¬ 
samtdosis) ein Ergebnis, das sich nur unwesentlich 
ändert, wenn man nur die schweren Schädigungen 
in Betracht zieht und die leichten Fälle aus- 
scheidet, und .wenn man die nach Auftreten der 
Allgenstörung gegebenen Dosen mitrechnet. 

Als wesentliche Ursache der 
Augenstörungen bleibt also die eigent¬ 
liche Dosierung, deren Fehlerhaftigkeit 
schon früh als die eigentliche Ursache 
der Amaurosen erkannt wurde. 

Der Dosierung dreimal 0,5 gr Opto- 
chinum hydrochl., die anfangs die übliche 
war, fallen schwere bleibende Fälle fast 
gar nicht, leichte nur' in ganz geringem 
-Umfang zur Last. Ja auch die nicht so 
sehr seltenen Fälle, in denen die gleiche 
Einzeldosis öfter, bis zwölfmal in 24 Stun¬ 
den, gegeben wurde, weisen keine schweren 
und erstaunlich wenig leichte Störungs¬ 
fälle auf. Einen Fall, wo nach fünfmal 
0,5 gr Eucupinum bihydrochloricum, das 
einen Tag lang gegeben wurde, eine 
schwere, wegen des Todes der Patientin 
an Puerperalsepsis nicht länger zu ver¬ 
folgende Amaurose entstand, beschrieb 
ch in der erwähnten Dissertation. 

Infolge der Störung wurde aber die 
Dosierung dreimal 0,5 gr aufgegeben .und 
•durch die von sechsmal 0,25 gr Opt. hydr. 
in vierstündlichen Dosen ersetzt, indem 
man sich vorstellte, daß hierbei eine 
gefährliche Konzentration des Mittels 
im Blute nicht erreicht, eine therapeutisch 
genügende aber erhalten würde. Daß 
ersteres nur bedingt richtig ist, wurde 
oben dargelegt. Es ist nun ein müßiges 
Unterfangen, Prozentsätze auszurechnen, 
wieviel Störungen auf das Hundert oder 
Tausend so behandelter Fälle kommen, 
•da die Zahl der Behandelten ja nicht an¬ 
nähernd bekannt ist und auch vielleicht 
einzelne Störungen nicht ihren Weg in 
•die Literatur gefunden haben. Genug, 
dieser Dosierungsform gehören die weit¬ 
aus meisten leichten und eine nicht unbe¬ 
trächtliche Anzahl schwerer Störungen 
.an, deren Aufzählung hier zu weit führt, 
unter denen aber — wie immer unter 
dem Vorbehalt einer genügenden Be- 


O egen wart 1921 


Obachtungszeit — eine ganze Anzahl 
Dauerschädigungen sind. Ähnliches gilt 
für die von Einzelnen angewandte Ver¬ 
minderung der Einzeldosis in dieser 
Dosierungsform auf 0,2 gr. 

Theoretisch am wichtigsten erscheinen 
mir die nicht häufigen Fälle, in denen 
Dosen meist zwischen 0,2 und 0,3 gr 
Optochin. hydrochl. öfter als alle vier 
Stunden, meist- dreistündlich, also acht¬ 
mal in 24 Stunden gegeben worden sind. 
Zu diesen Fällen gehören ein großer Teil 
der ganz schweren und dauernd geschä¬ 
digten Fälle. Fast alle Autoren, die mit 
solchen Dosierungsformen gearbeitet 
haben, haben unverhältnismäßig viele und 
vor allem schwere, bleibende Störungen 
gesehen, was bei der verhältnismäßigen 
Seltenheit der Dosierungsform besonders 
auffällt. 

Einige wenige Störungen, di.e mit Aus¬ 
nahme des Falles Hensen-Möller leicht 
und nicht dauernd waren, sind auch 
nach der Dosierung vier- bis fünfmal 
0,25 gr Optoch. hydrochl. beobachtet 
worden. Schließlich gibt es noch einige 
Fälle, die nach sehr geringen Gesamt¬ 
dosen, und jedenfalls nicht allzu hohen 
Einzeldosen (bezüglich 0,5 — 0,25 —0,25) 
in durchaus erlaubten Abständen (be¬ 
züglich 12 — 4 — 12 Stunden) ziemlich 
schwere Störungen bekamen. Hier han¬ 
delt es sich doch jedenfalls um Über¬ 
empfindlichkeit. Einen sehr auffallenden 
Fall sah ich selbst. Ein Pneumoniker 
bekam 48 Stunden nach Einstäubung 
von minimalen Mengen von Optochinum 
hydrochlor. in ein Auge eine etwa 
36 Stunden dauernde Amaurose, die ohne 
jeden Befund verlief (außer schlechter 
Pupillenreaktion), keine Störungen hinter¬ 
ließ, aber auf beiden Augen vollständig 
war. 

Nach Optochinum basicum sind 
Störungen kaum bekannt. Die einzigen 
von größerer Schwere, die von Warburg 
und Vogt beobachteten, erhielten zwei¬ 
beziehungsweise dreistündliche Gaben von 
0,25 gr beziehungsweise 0,2 gr. Der Fall 
von Manliu nach elftägiger Verab¬ 
reichung von sechsmal 0,25 gr war sehr 
leicht und passager, und die leichten 
Störungen, die Mendel trotz Milchdiät 
und fünfstündlicher Verabreichung sah, 
sind wohl nur infolge der extremen 
darauf verwendeten Sorgfalt entdeckt 
worden. 

Nach Optoch. salicyl, dem Ester, sind 
nur von Löb sehr leichte passagere 
Störungen nach sechsmal 0,25 bex)bachtet 

13* 





ICO ' Die Therapie der Gegenwart 1921 ' - ' ■ März 


worden, während von anderer Seite wesent¬ 
lich mehr ohne Schaden gegeben wurde. 

Zusammenfassend wird man sagen 
dürfen, daß besondere Beachtung rein 
erfahrungsgemäß- also 1. die Art des 
Präparates; 2. die Häufigkeit der Dosen; 
3. die Höhe der Einzeldosis; 4. die Ge¬ 
samtdosis verdienen. Nebenher ist auch 
ein Augenmerk zu richten^ auf den Zu¬ 
stand der Nieren und des Verdauungs¬ 
apparates, die Diät und Vermeidung von 
Irrtümern bei der Verabreichung. 

Bezüglich der Art des Präparates 
ist es auffallend, daß das Optochinum 
hydrochloricum das einzige Präparat der 
ganzen Chiningruppe ist, nach dem häufig 
Augenstörungen beobachtet worden sind, 
und daß es zugleich auch das Wasser¬ 
löslichste ist. Trotz der Behauptung, 
daß Resorption und Verteilung der Chinin¬ 
körper im Organismus von der Art des 
Präparates unabhängig seien, wird man 
doch wohl so leicht lösliche Verbindungen 
am besten ganz aus der Therapie aus¬ 
schalten, zumal bekanntlich zur Be¬ 
kämpfung der Chininnebenwirkungen mit 
Erfolg die unlöslichen Präparate verwen¬ 
det worden sind. Bemerkt sei auch, 
daß das in dem beschriebenen Amaurosen¬ 
fall verwendete Eucupinum bihydro- 
chloricum leicht (1 : 15) in Wasser löslich 
ist. Jetzt wird regelmäßig die Eucupin- 
base — und zwar im großen Umfange — 
gegeben, ohne daß man von Störungen 
hört. Die so verhängnisvolle Häufigkeit 
der Dosen wird man am besten so be¬ 
kämpfen, daß man nie öfter als 'sechs- 
stündlich, also viermal in 24 Stunden 
das Mittel gibt. Mit viermal (also sechs¬ 
stündlich) 0,25 gr ist auszukommen; 
dies sollte für den Erwachsenen von 
normalem Gewicht als Normaldosis 
gelten. Da ein Gramm Optochin. salicyl. 
%: Base entspricht, ergibt sich 

für den Ester eine Normaldosierung von 
sechsstündlich (viermal in 24 Stunden) 
0,3 bis 0,4 gr. Optochintannat ist ein 
Präparat der Kinderpraxis. 

Die Höhe der Gesamtdosis im 
Verlaufe einer Erkrankung, mit anderen 
Worten die Frage, wie lange das Optochin 
gegeben werden soll, hat sehr verschiedene 
Lösungen gefunden. Eine Häufung von 
Störungen bei hohen Gesamtdosen ist 
nicht beobachtet, weder bei pneumoni¬ 
schen noch bei langdauernden nicht¬ 
pneumonischen Erkrankungen, sind doch 
15, ja 25 gr im ganzen bei Pneumonien 
gegeben worden, mit Ausnahme von 
Manlius Fall ohne Schaden. 


Die Entscheidung der weiteren Frage, 
ob man bei Auftreten leichter prämoni- 
torische Störungen absetzen oder das 
Mittel weitergeben soll,, ist nicht leicht. 
Die allermeisten Autoren setzen bei 
Ohrensausen, Flimmern usw. sofort ab, 
ohne Rücksicht auf das Aufhören der 
therapeutischen Wirkung, doch wurde 
schon erwähnt, daß unter Weitergeben 
eine ganze Anzahl leichter Störungen 
zurückgingen oder sich , jedenfalls nicht 
verschlimmerten. Immerhin wird man 
sicher gehen, unbedingt bei den leich¬ 
testen Störungen von seiten des Auges 
und auch des Ohres sofort das Mittel 
abzusetzen.' 

Die Diät stellte Mendel auf Grund 
seiner Anschauungen über die Nieren¬ 
schädigung bei Pneumonie in den Vorder¬ 
grund der prophylaktischen Maßnahmen 
gegen Augenschädigungen. Auch wenn 
man. nicht der Ansicht ist, daß die 
Nierenschädigungen eine Rolle beim Zu-* 
standekommen der Amaurosen spielen, 
wird man, wie aus dem Dargelegten er¬ 
hellt, eine Diät empfehlen, bei der die 
Salzsäureproduktion und -konzentratioii 
des Magens möglichst gering ist, um die 
Entstehung leichtlöslicher Verbindungen 
zu vermeiden. 

Bei der Dosierung des Opto- 
chins im Kindesalter ist viel ge¬ 
fehlt worden, ein meist sehr ungefähres 
Gutdünken herrschte vor. Nicht weniger 
als sechs Fälle von großenteils sehr 
schweren Störungen sind bekannt. In 
vier Fällen waren dabei einfach die — 
an sich schon zu hohen — Dosen für' 
Erwachsene beibehalten worden, in einem 
Falle wurden 0,1 gr der Base, diese aber 
stündlich gegeben und im letzten Falle 
bekam ein Kind von Jahren die 
Hälfte der für Erwachsene üblichen 
Dosis. Nicht seiten wurden allerdings 
auch erschreckend hohe Dosen gut ver¬ 
tragen. 

• Ich möchte vorschlagen, dem Kinde 
alle sechs Stunden so viel mal 0,015 gr 
Optochinbase zu geben, als es Jahre zählt. 
Diese Dosierung erreicht im 18. Lebens¬ 
jahr die Normaldosierung für Erwachsene 
von 60 kg Gewicht. Für den Ester ent¬ 
sprechen dem 0,02 gr je Lebensjahr 
und Dosis. Optochintannat enthält nur 
33 %'Base, man wird also sechsstündlich 
für jedes Lebensjahr 0,04 bis 0,05 gr 
geben können, das heißt ein Plätzschen. 
Biedert-Vogel geben je Lebensjahr ^20 
der Erwachsenendosis. Eine Berechnung 
nach dem Gewicht wäre natürlich bei 




Mär^ 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


•101 


deir sehr schnell wechselnden und sehr 
verschiedenen Gewichten gleichaltriger 
Kinder wünschenswert, doch kennt man 
es selten genau. Setzt man den Er¬ 
wachsenen von 60 kg Gewicht als Norm, 
so ergeben sich für die Dosis und das Kilo 
Körpergewicht 0,004 gr Base, 0,0066 gr 
Ester oder 0,0125 gr Tannat. Brauchbar 
sind die Zahlen.nur unter der Voraus¬ 
setzung, daß Kinder nicht überempfind¬ 
lich gegen Optochin sind, wofür aller¬ 
dings jeder Anhalt fehlt. Die Ergebnisse 
der Berechnung nach dem oben gegebenen 
eigenen Vorschlag, wie nach dem von 
Biedert-Vogel stimmen — einiger¬ 
maßen normale Gewichte vorausgesetzt — 
jenseits des schsten Lebensjahres mit 
der Dosierung nach dem Gewicht ziemlich 
überein. Unter dieser Grenze weichen sie 
etwas nach unten von ihr ab, und zwar 
im ersten Lebensjahr der eigene Vor¬ 
schlag noch mehr als die Berechnung nach 
Biedert-Vogel. Ich möchte dies jedoch 
für keinen Nachteil halten, da bei Klein¬ 
kindern Störungen sehr schwer zu be¬ 
merken sind, also besondere Vorsicht 
am Platze ist. 

Von parenteralen Anwendungen 
sind Nebenwirkungen ernster Art nur 
nach Anwendung bei Dysenterie (Spul¬ 
ring bei Appendikostomie) bekannt (Bär¬ 
mann) deren Ursache nicht ganz klar 
ist, immerhin scheint bei dieser An¬ 
wendungsform besondere Vorsicht ge¬ 
boten. Subkutan wurde die Base in Öl 
(Kampferöl soll nach manchen Autoren 
antagonistisch wirken) gegeben in Gaben 
zwischen 0,45 und 1,0 gr in 24 Stunden 
in verschiedener Verteilung. Da mit 
verhältnismäßig langsamer Resorption zu 
rechnen ist, wird man — vorausgesetzt, 
daß man eine ölige Lösung der Base ver¬ 
wendet, — nicht wesentlich weniger zu 
geben brauchen, als per os. Gleiches gilt 
von den bislang kaum verwandten intra¬ 
muskulären Anwendungen. Auch bei 
intravenöser Anwendung sind irgendwie 
beträchtliche Nebenwirkungen bisher 
nicht gesehen worden, bei Dosen zwischen 


0,1 ünd 1,0 gr in 24 Stunden in verschie¬ 
dener Verteilung, die bis zu zehn Tagen 
gegeben wurden. Hier wird man, da eine 
sehr lösliche Verbindung (Optochin. 
hydrochlor.) verwendet werden muß, doch 
etwas vorsichtiger sein, und jederifalls 
über 0,6 gr in 24 Stunden nicht hinaus¬ 
gehen, die Abstände zwischen den Einzei- 
dosen nicht unter sechs Stunden, diese 
selbst nicht über 0,2 gr wählen. 

Für Kinder würden sich die Gaben 
für'intramuskuläre und subkutane An¬ 
wendung in. öliger Lösung auf 0,015 gr 
Base je Lebensjahr stellen, während bei 
intravenöser Verabreichung nicht über 
0,01 gr Optochinum hydrochloricum je 
Dosis und Lebensjahr gegeben werden 
sollte. Für Eucupin dürfte mutatis 
mutandis das gleiche gelten, wie für 
Optochin. Für Vuzin bedarf es besonderer 
Vorschriften nicht, da die verwandten 
Lösungen sehr dünn, die Gesamtdosen 
sehr gering und nach bisherigen Er-' 
fahriingen schon wegen der sehr geringen 
Löslichkeit ungefährlich sind. 

Intraspinal sind je nach dem Alter 
0,01 bis 0,1 gr im allgemeinen in drei- 
promilliger Lösung gegeben worden. Nur 
Landsberger sah nach 0,1 gr allerdings 
in fünfpromilliger Lösung, die übrigens 
nach Leschke gut vertragen wird, in 
der Hälfte seiner Fälle Blasenlähmungen, 
sonst sind Nebenwirkungen, die mit 
Sicherheit auf das Optochin zurückgehen, 
nicht bekannt. Nach Kronfeld kann 
auch durch die entzündete Pia aus der 
Blutbahn Optochin in' den Lumbalsack 
ausgeschieden werden, also ist auch eine 
orale Therapie meningealer Erkrankungen 
möglich. -Die Normaldosis für lumbale 
Anwendung dürfte zwischen 0,06 und 
0,08 gr in dreipromilliger Lösung liegen. 
Bei Kindern mit ihrem verhältnismäßig 
höheren Gehirngewicht und Piafläche 
wird man unbedenklich das Doppelte 
von dem geben können, was ihrem Alter 
zukäme, das heißt Vio der Erwachsenen¬ 
dosis je Lebensjahr bei gleicher Kon¬ 
zentration. 


Repetitorium der chirurgischen Therapie. 

Von M. Borchardt. 


Die Behandlung frischer Verletzungen. 


Von M. Borchardt und S. Ostrowski. 


(Fortsetzung.) 


Fremdkörper und ihre Entfernung. 

Über die Behandlung grob verun¬ 
reinigter Wunden ist in den vorangehen¬ 
den Abschnitten bereits das Notwendige 


gesagt worden. Fremdkörper im eigent¬ 
lichen Sinne (Nadeln, abgebrochene Mes¬ 
serklingen, Geschosse, Glassplitter, Holz¬ 
splitter) müssen nach Möglichkeit gleich- 



102 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


' März 


falls entfernt werden. Grundsätzlich sind 
solche Fremdkörper operativ anzugreifen, 
die in der Volarfläche der Hand oder 
Plantarfläche des Fußes liegen, offen in 
Wunden sichtbar oder durch unbedeu¬ 
tende Eingriffe leicht zu erreichen sind. 
Fremdkörperabscesse werden eröffnet. Der 
sie verursachende Fremdkörper ist in 
diesen Fällen leicht aufzufinden und zu 
extrahieren. Entfernt werden von vorn¬ 
herein solche Fremdkörper, die erfah¬ 
rungsgemäß zur Infektion führen können 
{Tetanus nach Holzsplitterverletzung!). 
Von den • Geschossen gehören zu dieser 
Kategorie besonders die Projektile mit 
rauher Oberfläche (Granat- und Minen¬ 
splitter). Ein großer Teil der Fremdkörper 
heilt bei sachgemäßer Behandlung asep¬ 
tisch ein. Verursachen sie durch Druck 
auf benachbarte Nervenstämme Schmer¬ 
zen oder durch ihre Lage in der Nähe 
von Sehnen oder der Bewegung besonders 
ausgesetzten Muskeln oder durch ihre 
Anwesenheit in Gelenken Funktions- 
stöningen, so müssen sie dennoch ent¬ 
fernt werden. Bei jeder Fremdkörper- 
entfernung aber ist genau abzuwägen, in 
welchem Verhältnis die Größe der Be¬ 
schwerden zur Größe und den Gefahren 
des notwendigen operativen Eingriffes 
steht. 

Ein unentbehrliches Hilfsmittel bei 
der Aufsuchung in den Körper eingedrun¬ 
gener Fremdkörper besitzen wir in der 
Röntgenuntersuchung. Es sollte kein 
Versuch zur Entfernung von Fremd¬ 
körpern unternommen werden, ohne daß 
zuvor eine genaue röntgenographische 
Lagebestimmung gemacht und auf Grund 
derselben der Operationsplan festgelegt 
wird. Zur ungefähren Lagebestimmung 
genügt eine Röntgenaufnahme in zwei 
aufeinander senkrecht stehenden Ebenen. 
Wir erfahren auf diese Weise sofort, 
ob z. B. ein von der Streckseite in eine 
Gliedmasse eingedrungenes Geschoß vor, 
hinter, seitlich von oder in dem Knochen 
selbst gelegen ist. Zur genauen Fest¬ 
stellung derTiefenlage eines Fremdkörpers 
sind zahlreiche Methoden erdacht worden. 
Je nachdem es sich um eine Tiefenlokali¬ 
sation eines Fremdkörpers im Schädel 
oder in den Extremitäten oder im Rumpfe 
handelt, bevorzugen wir die Bestim¬ 
mungsmethode von Levy-Dorn oder 
von Fürstenau. 

Wollen wir z. B. die Entfernung eines 
im Schädel oder in einer Gliedmassesitzen¬ 
den Geschosses von der Hautoberfläche • 
feststellen, so fixieren wir vor dem Durch¬ 


leuchtungsschirm auf der dem Beobachter 
zu-und'abgekehrten Seite des betreffenden 
Körperteiles je eine Bleimarke so, daß die 
Schatten der Bleimarken und des Fremd¬ 
körpers sich für das beobachtende Auge 
decken. Dasselbe wiederholen wir nach 
Drehung des Gliedes um 45 bis 90®. 
Nunmehr legen wir unter sorgfältiger An¬ 
passung an die Oberfläche des Gliedes, 
seine Konfiguration genau nachahmend, 
ein biegsames Bleiband oder Cyrtometer, 
das die einzelnen, in gleicher Höhe liegen¬ 
den Marken miteinander verbindet. Mar¬ 
kiert man nun die Lage derselben auf 
dem Bleiband und überträgt den Umriß 
des Gliedes auf Papier, so ist die Lage des 
Fremdkörpers durch den Schnittpunkt 
der Verbindungslinien zwischen je zwei 
Marken bestimmt. Wir kennen^ dadurch 
die Entfernung des Fremdkörpeis von 
jedem Punkt der Hautoberfläche. 

Für die Feststellung der Tiefenlage 
von Fremdkörpern in Körperteilen, die 
ihren Umfang und mithin ihre Konfigu¬ 
ration mit den Atmungsphasen ändern 
(Brust und Bauch), ist das Verfahren von 
Fürstenau sehr geeignet. Man markiert 
zunächst auf der Vorderseite des Rumpfes 
des Patienten vor dem Röntgenschirm in 
der Nähe des Punktes, den man sich durch 
Projektion des Fremdkörpers auf die 
vordere. Rumpfwand gegeben denkt, einen 
Fixpunkt mit einer Bleimarke. Eine bei 
unveränderter Körperlage unter einer seit¬ 
lichen Verschiebung der Röntgenröhre 
von 6,5 cm von der Bleimarke und dem 
Fremdkörper gemachte Doppelaufnahme 
gibt uns auf der Platte ein Doppelbild der 
Marke und des Fremdkörpers. Der senk¬ 
rechte Fokusabstand der Röntgenröhre 
von der Platte beträgt 60 cm. Nunmehr 
werden die Spitzen eines Tasterzirkels, 
der eine Skala mit den nach einer leicht 
aufzustellenden Formel errechnetenTiefen- 
werten trägt, auf zwei korrespondierende 
Punkte je eines Doppelbildes gesetzt 
und auf der Tiefenskala des Zirkels die 
Entfernung des Fremdkörpers von der 
Platte bei ventro-dorsaler Aufnahme un¬ 
mittelbar abgelesen. Um seinen Abstand 
von der vorderen Körperoberfläche zu 
finden, hat man nur nötig, die gefundene 
Zahl vom Tiefendurchmesser des Körpers 
zu subtrahieren. 

Beide Methoden geben uns nun zwar 
Aufschluß über die Tiefenlage des Fremd¬ 
körpers, zeigen uns aber nicht den Weg 
an, auf dem wir sicher operativ zu ihm 
gelangen können. Das gelingt mit Sicher¬ 
heit auf folgende Weise: Vor dem Rönt- 




März 


103 


Die Therapie der 


genschirm wird eine mit einem Metall¬ 
knopf versehene sterile Nadel in der Rich¬ 
tung des Centralstrahles auf den Fremd¬ 
körper eingestochen. Dabei müssen sich 
Nadelknopf- und Fremdkörperschatten 
genau decken. Nun drehen wir den 
Körperteil um 45® und wiederholen das 
gleiche Manöver mit einer zweiten Nadel. 
Dringen wir danh bei der gleich anzu¬ 
schließenden Operation zwischen den Na- 
.delköpfen unter Schonung wichtiger Teile, 
wie Nerven, Sehnen und Gefäße, in die 
Tiefe, so müssen wir den Fremdkörper 
am Treffpunkte beider Nadelspitzen fin¬ 
den. 

Bei der operativen Aufsuchung von 
Fremdkörpern in der Schädel-, Thorax- 
und Bauchhöhle, wo wir das Doppelnadel¬ 
verfahren kaum anwenden können, leistet 
uns das Perthes- Gasheysche Teocho- 
Kryptoskop gute Dienste. Der Patient 
liegt — fertig zum Eingriff — vorbereitet 
auf einem Röntgentisch, zugleich Ope¬ 
rationstisch, unter dem sich horizontal 
eine Röntgenröhre verschieben läßt. Über 
dem Tisch ist der Schirm befestigt. Bei 
dem Perthesschen Modell schaltet der 
Operateur durch Pedale das Saallicht und 
Röntgenlicht ein und aus und kann sich 
in jeder.Phase des operativen Vorwärts- 
schreitens darüber orientieren, ob er sich 
auf dem richtigen Wege zum Fremd¬ 
körper befindet. Grashey erspart durch 
sein Kryptoskop dem Operateur die fort¬ 
währende Adaption von dunkel und hell. 
Das mit dem Kryptoskop bewaffnete 
Auge kann auch bei Tageshelle Dunkel¬ 
adaption behalten, während unter Leitung 
des anderen Auges operiert wird. 

Die vollendetste Röntgen-Operations¬ 
einrichtung ist von Holzknecht in der 
V. Eiselsbergschen -Klinik geschaffen 
worden. 

Gut bewährt hat sich in vielen Fällen 
das sogenannte Fremdkörpertelephon. Es 
besteht aus zwei Hörern, die durch eine 
federnde Metallspange verbunden sind 
und am Kopf des Operateurs befestigt 
werden. Zwei Elektroden (eine nadel¬ 
förmige und eine gabelförmige Elektrode) 
stehen durch zwei in Metallgehäusen sich 
automatisch auf- und abrollende elasti¬ 
sche Metallbänder mit den Hörern in Ver¬ 
bindung. Ist man nach vorangegangener 
Tiefenbestimmung, geleitet.von Narben, 
Fistelgängen usw., in die mutmaßliche 
Nähe des Fremdkörpers gedrungen, so 
wird die Gabelelektrode in die Wunde 
eingesetzt und die Nadelelektrode zwi¬ 
schen den Gabelbranchen in die Gewebe 


Gegenwart 1921 


eingestochen. In dem Augenblick, wo sie 
den Fremdkörper berührt, schließt sich 
ein elektrischer Stromkreis und erzeugt 
ein für den Operateur deutlich hörbares 
Alarmsignal. 

Je nach der Beschaffenheit des zutage 
geförderten Fremdkörpers, dem Zustand 
der ihn umgebenden Gewebe und dem 
nach der Verletzung verstrichenen Zeit¬ 
raum (cave: die latente Infektion) werden 
wir die Wunde nach Auskratzung der 
den Fremdkörper umgebenden Granu¬ 
lationen oder Excision des ganzen Herdes 
ganz oder nur teilweise unter Sicherung 
durch einen Gazedocht schließen. Zweck¬ 
mäßig ist hier eine ausgiebige Vuzin- 
infiltration gegen eine etwa aufflammende, 
bis zum Zeitpunkte der Operation latente 
Infektion. — Diese Infiltration wird 
wenige Tage vor dem geplanten Eingriff 
gemacht und eventuell während der Ope¬ 
ration wiederholt. 

Verbrennungen und Erfrierungen. 

Die Therapie der Verbrennungen muß 
sich auf die örtlichen Gewebsschädigungen 
und die Allgemeinerscheinungen erstrek- 
ken. Die leichtesten Verbrennungen 
(I. Grades), die nur von einer mehr oder 
weniger lebhaften Rötung der betroffenen 
Hautpartien, dem Verbrennungschmerz 
und später allenfalls von einer Schälung 
der geschädigten oberflächlichen Epider- 
misschicht gefolgt sind, kommen kaum in 
unsere Behandlung. Jedem Laien bekannt 
ist die subjektiv wohltuende Wirkung des 
Brandlinimentes (Aq. calcis, 01. lini. ü), 
die die entzündliche Hautspannung ver¬ 
mindernde Wirkung von Kühlsalben (La¬ 
nolin mit Beimischung von essigsaurer 
Tonerde, ,,Unna“sche Kühlsalbe usw.), 
weiter die austrocknende Wirkung der 
Brandbinde ,,Bardeila“ (eine mit Wismut 
und Talcum ü bestreute Mullbinde). 
Die gleiche und daneben auch schmerz¬ 
stillende Wirkung hat das Bestreuen der 
geschädigten Hautstellen mit Dermatol, 
Viro- oder Xeroform, oder Anästhesin 
(teuer). Das letztere ist auch zweckmäßig 
5 bis 10 %ig in Pasten oder Salbenform 
anwendbar. 

Häufiger kommen wir in die Lage, 
höhere Grade der Verbrennung zu be¬ 
handeln. Neuere therapeutische Vor¬ 
schläge zielen teils auf eine hautdesinfi¬ 
zierende (Eiweißkoagulation), teils eine 
adsorptive, teils eine bakterienarretierende 
Behandlung hin. Wir haben dabei streng 
nach den Vorschriften der Asepsis zu ver¬ 
fahren, denn die Verhütung der Infektion 



104 


März 


Die Therapie der-Gegentort 1921 


von Brandwuirden ist für den weiteren- 
Verlauf der Heilung von größter Bedeu¬ 
tung und deshalb unsere erste und dring¬ 
lichste Aufgabe. Geschlossene Brand¬ 
blasen überlassen wir, wenn sie klein sind, 
der Eintrocknung, größere-eröffnen wir 
mit einer ausgeglühten Nadel oder mit 
einem Scherenschlag. Bei schon eröffne- 
ten Blasen wird die sich meist zusammen¬ 
rollende Epidermisdecke am besten mit 
steriler Pinzette und Schere’abgetragen. 
Das freiliegende Corium wird mit einem 
Salbenverband oder einer Brandbinde 
bedeckt. Der Wismuttalkummischung 
kann zur Schmerzlinderung Anästhesin 
im Verhältnis 1 : 10 zugesetzt werden. 
Auch das Eucupin in 2 %iger Konzen¬ 
tration in Salbenform sei an dieser Stelle 
als brauchbares Antisepticum und An- 
ästheticum erwähnt. Bei der von Ren¬ 
ner empfohlenen Bepuderung mit einer 
Wismut-Kaolin-Mischung wird besonders 
die schnelle Austrocknung der Wunden, 
die Verhinderung der Infektion und die 
Verhütung von Narbenkeloiden gerühmt. 
Schmerzstillende und zugleich antisep¬ 
tische Wirkung haben mit 10 %igem 
Tymol- oder Jodoformöl getränkte Ver¬ 
bände. 

Früher ist vielfach die Pikrinsäure zur 
Behandlung von Verbrennungen empfohlen 
worden. Sie gerbt die Haut und ver¬ 
hindert Blasenbildung. Auch der Brand¬ 
schmerz soll schnell beseitigt werden. 
Nach der Anwendung des Mittels, das 
sehr bald nach dem Trauma auf die Haut 
gepinselt werden soll, sind allerdings ver¬ 
einzelt Vergiftungserscheinungen und Zeir 
chen von Nierenreizungen beobachtet 
worden, die zur Vorsicht mahnen. In der 
von Heußner angegebenen Salbenform 
soll das Mittel dürch Resorption nicht 
gefährlich werden können (Acid. picric.2,0, 
glycasine (Beyersdorff) ad 100,— picra- 
sine). 

Brandwunden III. Grades erheischen 
eine ganz besonders aseptische Versor¬ 
gung. 

Von der geübten rigorosen Haut¬ 
desinfektion durch rücksichtsloses Bürs¬ 
ten der alterierten Hautstellen, zu¬ 
erst mit Wasser und Seife, dann mit 
Alkohol und Sublimat — Maßnahmen, die 
man begreiflicherweise nur in Narkose 
ausführen kann —, und die zuerst von 
Sonnenburg empfohlen wurden, sind die 
meisten Chirurgen abgekommen.Eine grob¬ 
mechanische Reinigung stark verschmutz¬ 
ter Stellen muß allerdings in jedem Falle 
vorgenommen werden. Neuerdings ist 


die primäre Desinfektion verbrannter 
Hautteile wiederum von einzelnen Auto¬ 
ren (Enderlen, Schöne,, Flörken) 
wärm empfohlen worden. Nach der alten 
S0nn enbu r.gschen Vorschrift wurden 
zunächst alle Epidermisfetzen abgetragen,, 
Brandblasen aufgeschnitten. Nach gründ¬ 
licher Reinigung mit Wasser und Seife 
durch energisches Bürsten erfolgt Ab¬ 
spülung mit sterilem Wasser, alsdann 
Trocknen mit sterilen Tüchern, Waschung, 
mit Äther, Sublimat oder 3%iger 

Borsäurelösung. Auf die Wunde kommt 
ein steriler Gazeverband, der bis zu acht 
Tagen liegen bleiben kann. Beim Ab¬ 
heben des Verbandes zeigen sich dann 
Verbrennungen II. Grades meistens ge¬ 
heilt, solche. III. Grades weisen frische 
Granulationsflächen auf. Wir sind auch 
ohne diese etwas energischen Maßnahmen 
stets gut ausgekömmen. 

Bis zur Demarkierung und Abstoßung 
nekrotischer Teile steht die Infektions¬ 
gefahr im Vordergründe. Nach erfolgter 
Abstoßung entstehen mehr oder weniger 
in die Tiefe dringende granulierende Wun¬ 
den, deren Heilungstendenz oft träge ist. 
Bei den stärksten Graden der Verbren¬ 
nung (Verkohlung und Verbrennungdurch 
elektrischen Starkstrom, Schmelzofen- 
hitze, Fliegerabsturz- und Tankverbren¬ 
nungen) können schwerste Gewebsdestruk- 
tionen hervorgerufen werden. Bei aus¬ 
gedehnten Gewebsdefekten kann die Hei¬ 
lung häufig nur durch Bildung ungünstiger 
Narben erfolgen. -An den Extremitäten 
können daraus verhängnisvolle Funk¬ 
tionsstörungen entstehen: Im Gesicht das 
Narbenektropion der Augenlider und grobe 
Verziehungen des Mundes. Bekannt 
sind die durch Narbenzug von Weich¬ 
teilen in der Nähe von - Gelenken ent¬ 
standenen Beuge- und Streckcontracturen 
der Glieder, die häufig nur durch plasti¬ 
sche Operationen zu beseitigen sind. 
Durch zweckentsprechende Maßnahmen 
in den ersten Phasen der Behandlung 
kann man diesen üblen Folgen einiger¬ 
maßen Vorbeugen, wenn man die Regel 
befolgt, bei Verbrennungen der Beuge¬ 
seiten von Extremitäten in Strecksteilung, 
bei solchen der Streckseite in Beuge¬ 
stellung zu verbinden. Einzelne Autoren 
haben gute Erfolge bei offener Wund¬ 
behandlung gesehen (austrocknende Wir¬ 
kung der Luft), andere wiederum, be¬ 
sonders Bier, sahen schnelle und gün¬ 
stige Heilung unter verklebenden Ver¬ 
bänden. Die Epithelisierung granulieren¬ 
der Flächen wird durch Applikation von 






105 


März Die Therapie der Gegenwart 1921 


Scharla'chrotsalbe, Terpentinemulsion, 
natürliches und l^ünstliches Sonnenlicht 
oder durch Heißluftduschen angeregt. 

Um zu verhüten, daß sich starre Nar¬ 
ben und dadurch sekundäre Funktions¬ 
störungen des betroffenen Körperteiles* 
herausbilden, ist es geraten, die Wund¬ 
flächen frühzeitig durch Transplantation, 
.von Epidermislappen nach Thiersch 
oder durch Pfropfung nach Braun zu 
decken und sie nicht der Spontanheilung 
zu überlassen. Die Deckung nach 
Thiersch genügt im allgemeinen für 
solche Körperteile, die keiner stärkeren 
Belastung ausgesetzt sind. Anderenfalls 
müssen z. B. bei Lokalisation der Ver¬ 
brennung an den Handflächen und Fu߬ 
sohlen, oder, wenn eine knöcherne Unter¬ 
lage nahe ist, gestielte Lappen, die durch 
Haut mit Unterhautfettgewebe gebildet 
werden, überpflanzt werden. Anlaß zu 
Sekundäroperationen geben zumeist im 
Gesicht Lidektropien, Mundverziehungen, 
Verunstaltungen sonstiger Art, an den' 
Extremitäten die Klumphand oder der 
Klumpfuß und an den Abgangsstellen der 
Extremitäten die sogenannten Flügel¬ 
fellbildungen. 

Bei Narben, deren operative Behand¬ 
lung von vornherein wenig aussichtsreich 
erscheint, ist in einzelnen Fällen erfolg¬ 
reich die Röntgentherapie versucht wor¬ 
den. Von konservativen Maßnahmen zur 
Erweichung von Narben nach Verbren¬ 
nung sei noch die Narbenauflockerung 
durch Injektion von Fibrolysin (Thiosin- 
amin. natrium salicylic.) in subcutaner, 
intramuskulärer oder intravenöser An¬ 
wendungsform erwähnt (cave Neben¬ 
erscheinungen: Exantheme, Kopf¬ 

schmerz, Schwindel, Erbrechen, Haut¬ 
blutungen, beträchtliche lokale Schmer¬ 
zen). Wir selbst haben vom. Fibrolysin 
keine eklatanten Erfolge gesehen." 

Unna hat auf hypertrophische starre 
Narben — zumeist Keloide — das Pepsin 
mit seiner andauenden Kraft wirken 
lassen. Durch täglich erneuerte Um¬ 
schläge mit einer Pepsinborsäurelösung 
(Pepsini 1,0, Acid. boric. 3,0, Aq. dest. 
ad 100,0) hat er in einer Reihe von Fällen 
Rückgang der Narbenhypertrophie, Ge¬ 
schmeidigkeit und Verschieblichkeit vor¬ 
her harter und unbeweglicher Narben er¬ 
zielt. Die Behandlung dauert allerdings 
monatelang. 

Neben dem Fibrolysin ist im Kriege 
zur Erweichung großer, starrer, funk¬ 
tionshemmender Narben das Cholin in 
Form seines salzsauren oder borsauren 


Salzes empfohlen worden (Fränkel). Es 
ist ein Spaltprodukt, des Lecithhis und 
entsteht auch beim Gewebeabbau durch 
Röntgenbestrahlung. -Es spielt als Hor¬ 
mon in der Regulierung des Gefäßtonus 
unter den Produkten der Organe des so¬ 
genannten ■ chromaffinen Systems eine 
bedeutende Rolle. Das Adrenalin erhüht 
den Gefäßtonus, das Cholin vermindert 
ihn durch hochgradige Erweiterung der 
Gefäße. Werner führte das Mittel unter 
dem Namen ,,Enzytol“ in die Therapie 
der malignen Geschwülste ein, indem er 
auf Grund der oben mitgeteilten Beob¬ 
achtung durch intravenöse Cholininjek¬ 
tionen die Röntgenwirkung imitieren, 
bzw. verstärken wollte. Fränkel zog 
das Cholinchlorid zur Erweichung von 
Narben heran, indem er die gefä߬ 
erweiternde Wirkung des Stoffes aus¬ 
nutzen und dadurch eine Hyperämi- 
sierung der Narbenumgebung erreichen 
wollte. Die Technik der Behandlung ist 
folgende (neueste Mitteilung): In die 
Umgebung der Narbe wird eine 5—10% 
salzsaure Cholinlösung injiziert, ohne daß, 
die Injektion in die Narbe selbst zu er¬ 
folgen braucht; eine Gewebsreizung tritt 
nicht ein. Im Anschluß an die Injektion 
wird sofort eine verstärkende Hyperämi- 
sierung der Narbenumgebung durch Hei߬ 
luftapplikation unter genauer Berück¬ 
sichtigung der Wärmeverträglichkeit ge- 
lähmterTeilevorgenommen. Neben diesen 
Maßnahmen wird noch die ganze ,Skala 
energischer medico-mechanischer Übun¬ 
gen ausgenutzt. So gelang Fränkel die 
Auflockerung und Beweglichmachung 
starrer, anderen Behandlungsmethoden 
trotzender Narben. 

Prognostisch ist die Feststellung wich¬ 
tig, ein wie großer Teil der Körperober¬ 
fläche von der Verbrennung betroffen ist. 
Ist mehr als ein Drittel geschädigt, so ist 
mit einem Weiterbestand des Lebens 
kaum zu rechnen. Viele Verbrennungen 
werden erst dadurch zu ernsten Schädi¬ 
gungen, daß die erhitzten oder schwe¬ 
lenden Kleidungsstücke noch längere Zeit 
an Ort und Stelle liegenbleiben und da¬ 
durch die Hitzeschädigung noch wesent¬ 
lich erhöht wird. 

Neben den örtlichen Symptomen bleibt 
noch ein Komplex von Allgemeinsym¬ 
ptomen zu behandeln. Die meist sehr 
peinigenden Schmerzen und die häufig 
sehr ausgesprochene motorische Unruhe 
erfordern die Darreichung von Morphium 
oder Chloralhydrat per os oder per 
elysma. Bei sehr ausgedehnten Ver- 

14 




106 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


März 


brennungen wirken lauwarme Dauer¬ 
bäder schmerzlindernd und beruhigend 
und geben günstige Bedingungen für eine 
schnellere Abstoßung abgestorbener Haut¬ 
partien. 

Den durch die starke Wasserent¬ 
ziehung quälenden Durst bekämpfen wir 
durch Einflößung reichlicher Getränke¬ 
mengen. So wirken wir zugleich auch 
durch Durchspülung der Nieren der 
häufig drohenden Anurie entgegen, die 
einerseits durch die Entwässerung des 
Körpers, andererseits aber dadurch ent¬ 
steht, daß das aus den in Massen zugrunde¬ 
gehenden Erythrocyten freiwerdende 
Hämoglobin durch Verstopfung der Harn¬ 
kanälchen die Harnpassage behindert. 
Intravenöse Kochsalzinfusioneh —evtl, in 
Form der intravenösen Dauertropfinfu¬ 
sion — sind noch wirksamer, aber zu¬ 
weilen technisch bei ausgedehnten Zer¬ 
störungen der Haut schwer ausführbar, 
wenn keine geeigneten Venen auffindbar 
sind. Dann bietet das rectale Dauer¬ 
tropfklistier einen fast vollwertigen Er¬ 
satz dafür. Neuerdings hat man in der 
Erwägung, daß die durch die Hitzeein¬ 
wirkung in. großen Mengen zugrunde¬ 
gehenden roten Blutkörperchen eines Er¬ 
satzes bedürfen, in Fällen schwerer Ver¬ 
brennung mit Erfolg die Bluttransfusion 
ausgeführt. 

Hat man eine bereits mehrere Tage 
alte, schlecht behandelte Verbrennung 
mit ausgebildeter Infektion vor sich, so 
ist nach den Regeln vorzugehen, die wir 
bei der Behandlung infizierter Wunden 
zu befolgen haben. Bei infizierten Ver¬ 
brennungen größerer Ausdehnung werden 
im allgemeinen nicht alle Stellen von der 
Infektion gleichmäßig betroffen sein. In 
solchen Fällen ist es zweckmäßig, durch 
Teilverbände zu verhindern, daß infizierte 
und nicht infizierte Wundstellen unter 
einer Verbanddecke liegen. 

Röntgenschädigungen der Haut. 

Ihre Behandlung gleicht in vieler Hin¬ 
sicht der Therapie der Verbrennungen, 
nur daß wir es hier mit weit hartnäckige¬ 
ren Affektionen zu tun haben als dort. 
Dank den wirksamen Schutzmaßnahme 
die in der modernen Röntgentechnik für 
Arzt und Patient vorgeschrieben sind, ist 
die Häufigkeit der Röntgenverbrennungen 
doch sehr verringert worden. 

Die Schädigungen der Haut durch das 
Röntgenlicht reichen von leichten Graden 
der Dermatitis bis zu den schwersten Ul- 
cerationen, die einer Behandlung den 


größten Widerstand entgegensetzen. Im 
allgemeinen sollte jeder Röntgenbeschä¬ 
digte es vermeiden, sich Röntgenbelich¬ 
tung auszusetzen. Bei der Röntgen- 
dermatitis sind alle Waschungen mit irri¬ 
tierenden Mitteln (Sublimat, Karbol, Al¬ 
kohol, scharfe Seifen, Lysoform usw.) zu 
vermeiden, desgleichen brüskes Bürsten^ 
ganz besonders das Hantieren mit Gips. 
Die Behandlung ist überhaupt ähnlich 
der Behandlung des akuten irritablen 
Ekzems. Sonnenbelichtung wirkt un¬ 
günstig. Empfohlen werden warme Bäder 
mit Soda- oder Pottaschezusatz, auch das 
Seewasser soll nach Gocht (Selbstbeob¬ 
achtung) günstigen Einfluß auf die Der¬ 
matitis bzw. das bereits bestehende Rönt¬ 
genekzem haben. Den lästigen Juckreiz 
und das schmerzhafte Brennen der Haut 
mildern feuchte impermeable Verbände 
mit Bleiwasser oder essigsaurer^ Tonerde 
durch aufquellen der Epidermis. Im 
übrigen sind die aus .der großen Reihe 
der antiekzematösen Mittel der Dermato¬ 
logie bewährten Substanzen anzuwenden. 
Von Glycerinpräparaten sei das Kalo- 
derma oder Kalophan genannt. Unter 
den Teer- und Schwefelpräparaten emp¬ 
fiehlt Gocht eine Kombination beider 
Präparate in folgender Zusammensetzung: 
Hydrarg. sulfurat. 1,0 
Sulfur, präcipitat. 10,0 
• Lianthral 10*0 

Ung. casein ad 100,0 
Das Präparat soll einen guten Hautüber¬ 
zug schaffen, unter dessen Schutz die 
Heilung der Dermatitis wesentlich be¬ 
schleunigtwird. Bei Brüchig- und Rissig¬ 
werden der Haut, insbesondere auf der 
Streckseite der Fingergelenke, ist Ruhig¬ 
stellung erforderlich, die am besten durch 
circLiläre Zinkpflasterstreifen bewirkt 
wird. Gegen Hyperkeratose wirkt Ätzung 
mit 30 % igem Wasserstoffsuperoxyd, 
Waschungen mit Pernatrolseife, und die 
Applikation der Heb raschen Bleisalbe 
günstig. 

Geschwürige Prozesse mit träger Hei¬ 
lungstendenz werden bisweilen durch Pin¬ 
selung mit Jodtinktur oder Eosinlösung, 
durch Chloräthylvereisung oder Kohlen¬ 
säureschneebehandlung einer schnelleren 
Heilung zugeführt. Gut sind auch pro¬ 
trahierte warme Dauerbäder sowie eine 
hyperämisierende Behandlung durch 
Hitzeapplikation (Fön oder Heizkasten), 
Höhensonnen- oder Quarzlichtbestrah¬ 
lungen bis zur Reizung. 

Chirurgische Maßnahmen müssen bis¬ 
weilen angewendet werden, wenn es nicht 





März 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


107 


gelingt, Warzen oder ausgedehntere Hy- 
perkeratosen sowie Ulcerationen durch 
konservative Mittel zu beseitigen. Sie 
bestehen bei nicht zu großer Ausdehnung 
in der Excision dieser Gebilde und der 
nachfolgenden plastischen Deckung. Bis¬ 


weilen genügt bei Ulcerationen die Um¬ 
schneidung nach Nußbaum. Vor allem 
muß auch daran gedacht werden, daß 
sich aus diesen chronischen Prozessen ge¬ 
legentlich .doch bösartige Neubildungen 
entwickeln können. 


Therapeutisches aus Vereinen u. Kongressen. 

Prof. Aug. Bier: Heilentzündung und Heiifieber mit besonderer 
Berücksichtigung der parenteralen Proteinkörpertherapie. 

(Berliner Medizinische Gesellschaft. Sitzung vom 2. Februar 1921. M. m.W. 1921 Nr. 6.) 
Besprochen von Prof. Felix Klemperer. 


Der kürzlich von August Bier, dem 
Entdecker der ,,Hyperämie als Heil¬ 
mittel“, gehaltene Vorfrag soll im folgen¬ 
den ausführlich wiedergegeben werden; 
er ist in gleicher Weise historisch inter¬ 
essant und lehrreich, wie therapeutisch 
anregend. 

Die Bluttransfusion, die zuerst 
1667 (mit Lammblut) bei Menschen von 
Denis ausgeführt wurde, hat über 200 
Jahre eine Rolle in der Therapie gespielt. 
Ihre Erfolge, die nicht nur auf die Heilung 
und Besserung von Krankheiten sich er¬ 
strecken sollten, sondern auch auf Hebung 
des Wohlbefindens, der Ernährung, der 
Blutbeschaffenheit, kurzum auf eine 
zuweilen großartige Förderung des All¬ 
gemeinbefindens mit ansehnlicher Ge¬ 
wichtszunahme, wurden durch die Trans¬ 
plantation des fremden Blutes, das un¬ 
mittelbar als solches dem Blutempfänger 
zugute kommen sollte, erklärt. Die nach¬ 
weisliche Unrichtigkeit dieser Erklärung, 
der Zerfall des gespendeten artfremden 
Blutes und die daran sich knüpfenden 
unliebsamen Nebenerscheinungen führten 
in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr¬ 
hunderts zur Verwerfung der Transfusion. 
Hasse, ihr Hauptvertreter und Wieder- 
erwecker in damaliger Zeit, gestand zu, 
daß das transfundierte Blut im Empfänger 
aufgelöst werde, aber er nahm an, daß das 
aufgelöste Blut den Organen des Körpers, 
und zwar in erster Linie den Verdauungs¬ 
organen, Leber und Pankreas, als Nahrung 
diene und sie zu gesteigerter Tätigkeit 
anrege; die Transfusion von artfremdem 
und arteigenem Blut führe zu einem 
merkwürdigen Wohlbehagen, zur Hebung 
des Allgemeinbefindens und zur Gewichts¬ 
zunahme; in dieser Wirkung auf das All¬ 
gemeinbefinden und die Ernährung, nicht 
in einer Beeinflussung der Krankheits¬ 
herde, sei ihr Heileffekt begründet. Auch 
diese Ansichtsänderung hielt den Rück¬ 
gang der Transfusion nicht auf; Pan ums 


und Landois’ vernichtende Kritik be¬ 
deutete das Ende der Transfusion von 
fremdartigem Blut und Ernst v. Berg¬ 
mann verdammte 1883 auch die Trans¬ 
fusion arteigenen Blutes. 

A. Bier nahm die Transfusion von 
Blut, insbesondere von fremdartigem, An¬ 
fang des Jahrhunderts (D. m. W. 1901 
Nr. 15) von neuen Gesichtspunkten aus 
wieder auf. Als Anhänger des Heilfiebers 
und der Heilentzündung hatte er beide,, 
besonders aber die letztere, durch Herbei¬ 
führung bzw. Steigerung ihrer vornehm¬ 
sten Erscheinung, der Hyperämie, zu er¬ 
zeugen oder zu verstärken gesucht. An 
den Gliedmaßen, am Kopfe und Rumpfe 
war ihm dies diirch einfache physikalische 
Maßnahmen (Stauung) gelungen. Ein 
Mittel, um dasselbe an inneren Körper¬ 
teilen zu erreichen, schien ihm die Ein¬ 
spritzung artfremden Blutes in die Venen 
zu sein. Dabei sah er den gefürchteten 
Zerfall des Blutes gerade als das Wirk¬ 
same an: das zerfallene Blut wirke als 
Reiz auf alle Zellen des Körpers (Heil¬ 
fieber), besonders aber auf den Entzün¬ 
dungsherd (,,und fast alle Krankheits¬ 
herde befinden sich im Zustande der Ent¬ 
zündung“), weil seine Zellen eine höhere 
Reizbarkeit besitzen, als die Zellen des 
übrigen Körpers (Heilentztindung). Auf 
diese Heilentzündung kam es Bier in 
erster Linie an; vor allem wollte er chro¬ 
nische Entzündungsherde akut machen, 
ein Mittel, das seit uralten Zeiten ge¬ 
bräuchlich, unter verschiedenen Vorstel¬ 
lungen immer wiederkehrt. Außer de- 
fibriniertem Blut benutzte Bier Serum, 
aufgeschwemmte rote Blutkörperchen, 
Brei von Leber und Milz — letztere nur 
subcutan und intramuskulär — zu Ein¬ 
spritzungen, kehrte aber bald zum de- 
fibriniertem Blute zurück. Auf diese 
Arbeiten gründet Bier den Anspruch, 
,,als erster Proteinkörpertherapie bewußt 
getrieben“ zu haben. 


14 * 




108 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


März 


Die Haupterscheinungen der Pro- 
teink.örpertherapie sind seit langem 
bekannt und Jm wesentlichen schon von 
den alten Transfusoren beobachtet, näm¬ 
lich: Fieber mit seinen Nebenerschei¬ 
nungen, nach seinem Abklingen das Ge¬ 
fühl des Behagens und erhöhte Leistungs¬ 
fähigkeit (Euphorie), Anregung des Ver¬ 
dauungsapparates, der Blutbildung und 
Ernährung, ,,die umstimmende Wirkung 
der Transfusion auf den ganzen Körper“, 
ferner die schlafrnachende Wirkung usw. 
Bier fand diese alten Angaben.bei seinen 
Transfusionen vollkommen bestätigt; be¬ 
sonders fiel ihm das Wohlbefinden, der 
gesunde Hunger, das bessere Aussehen 
und die Gewichtszunahme nach derTrans- 
fusion auf. Die schweren sogenannten 
j,Transfusionserscheinungen“, wie Er¬ 
stickungsanfälle, Ohnmächten, Blutharnen 
usw., welche die Methode in Mißkredit 
gebracht hatten, führte er auf Über¬ 
dosierung zurück; statt der früheren 
größeren Mengen infundierte er im allge¬ 
meinen intravenös nur Mengen zwischen 
2 und 20 ccm Blut. Als wirklich neue 
Beobachtungen der modernen Protein¬ 
körpertherapeuten sieht Bier nur an: 
1. die vermehrte Harnabsonderung, 2. die 
von* Weich har dt an Ziegen beobachtete 
vermehrte Milchabsonderung, 3. die. blut¬ 
stillende Wirkung. Nicht neu dagegen 
ist die Kenntnis, daß die eingeführten 
Eiweißkörper auf alle Organe des Kör¬ 
pers wirken. Das haben die alten Trans¬ 
fusoren bereits ausgesprochen, welche an 
die Transplantation, des übertragenen 
Blutes glaubten, und Bier, der dem ein¬ 
gespritzten Blute lediglich die Rolle 
eines Reizes zuschrieb, hat niemals daran 
gezweifelt, daß dieser Reiz den ganzen 
Körper — wenn auch nicht gleich¬ 
mäßig — träfe. 

Gegenüber der Erklärung der Pro¬ 
teinkörpertherapie durch ,,Proto¬ 
plasma aktivier ung“ (Weichhardt) 
greift Bier zurück auf Virchows Reiz¬ 
theorie, welche den funktionellen, nutri¬ 
tiven und formativen Reiz unterscheidet. 
Im Falle der Bluttransfusion bzw. Pro¬ 
teinkörpertherapie kommt in der ver¬ 
mehrten Tätigkeit der Drüsen die funk¬ 
tionelle Reizwirkung zum Ausdruck; daß 
auch ein nutritiver Reiz statthat, zeigt die 
Gewichtszunahme und die Neubildung 
von Blutbestandteilen; Zellteilungen im 
Entzündungsherde weisen auf einen 
formativen Reiz. In dem neuen Worte 
,,Protoplasmaaktivierung“ sieht Bier nur 
■eine Übersetzung von Reizung — Weich¬ 


hardt sagt: ,,Protoplasmaaktivierung ist 
gesteigerte Leistungsfähigkeit,“ Virchow: 
,,Die Anregung zu gesteigerter Tätigkeit 
riennen wir einen Reiz“ —; und diese 
Übersetzung erscheint ihm obendrein noch 
schlecht, weil der Reiz, zum mindesten 
der formative und wahrscheinlich auch 
der nutritive, mehr den Kern der Zelle als 
das Protoplasma trifft. Den Einwand, 
Prptoplasmaaktivierung sei doch etwas 
anderes als Reiz, weil dieser eine mehr 
vorübergehende, jener eine langdauernde 
Tätigkeit ausübe, läßt Bier nicht gelten; 
denn 1. gehe die Wirkung der Trans¬ 
fusion wie die der Proteinkörperein¬ 
spritzung gewöhnlich schnell vorüber, 
und beide müßten, um nachhaltig zu 
wirken, mehrfach wiederholt werden, und 
2. sei es durchaus nichts Ungewohntes, 
von einem einmaligen Reiz Dauerwir¬ 
kungen zu sehen. Als schädlich aber sieht 
Bier ,,das überflüssige Schlagwort Proto¬ 
plasmaaktivierung“ an wegen der Gefahr, 
daß es die Begriffe des Heilfiebers und 
der Heilentzündung in den Hinter-grund 
drängt, denen Bier größte Bedeutung 
beimißt. Vom Fieber freilich ist es 
noch nicht erwiesen, daß es Krankheiten 
günstig beeinflußt; aber Fieber und 
Entzündung gehören engst zusammen 
und von der Entzündung hält Bier den 
Beweis für erbracht, daß sie ein Heil¬ 
mittel ist. 

Zum Verständnis der Entzündung 
als Heilmittel ist es nötig zwei Dinge 
voneinander zu scheiden: 1. das Passive, 
die Schädigung, und 2. das Aktive, die 
Reaktion auf die Schädigung. Nur die 
letztere ist das Heilende. Der Schmerz 
gehört nicht zu den Kardinalsymptomen 
der Entzündungsreaktion, er ist lediglich 
eine Folge der Schädlichkeit. Dement¬ 
sprechend können die entzündlichen Re¬ 
aktionen, die sich im wesentlichen aus 
der Hyperämie entwickeln, den Schmerz 
lindern oder beseitigen. Auch das fünfte 
Symptom, das man später den vier klassi¬ 
schen Kardinalsymptomen hinzufügte, 
die functio laesa, hat nach Bier 
nichts mit der Entzündungsreaktion zu 
tun, sondern ist ebenfalls Folge der Schäd¬ 
lichkeit. 

Der entzündete Teil stellt zwar seine 
gewöhnliche Arbeit ein, aber er bekommt 
neue Funktionen oder richtiger seine all¬ 
gemeinen Zellfunktionen werden außer¬ 
ordentlich gesteigert (Antikörperbildung, 
Abbau und Aufbau von Geweben und 
anderes mehr). Die Entzündungsreaktion 
ist eine gewaltige Kraftleistung des Kör- 




109 


März 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


pers, um sie ausüben zu.können, läßt er 
die, .gewöhnliche Arbeit ruhen. 

•Der Entzündungsherd zeigt eine 
erhöhte Reizbarkeit. Das hat Vir- 
chow schon betont, vor allem aber hat 
Hugo Schulz darauf hingewiesen, daß 
für kranke Organe Reize sehr stark sein 
können, die für gesunde kaum als Reize 
sich geltend machen.. Bier selbst sah bei 
seinen Bemühungen, die Entzündung zu 
verstärken, daß die geringsten Reize, deren 
Einfluß auf den unveränderten Körper gar 
nicht bemerkbar ist, sie auf das heftigste 
steigern können. Hinzukommt zu der 
Reizbarkeit des Entzündungsherdes seine 
Eigenschaft, allerlei in den Kreislauf ge¬ 
langte fremdartige Stoffe aufzufangen und 
festzuhalten; dadurch wirkt das Reiz¬ 
mittel im Entzündungsherde in viel größe¬ 
rer Menge (in höherer Dosis) als im übrigen 
Körper. Die erhöhte Massenwirkung des 
Reizmittels zusammen mit der erhöhten 
Reizbarkeit des Entzündungsherdes er¬ 
möglichen es, chronische Entzündungsherde 
durch allerlei Reizmittel akut zu machen. 
Bei den chronischen Entzündungen ist 
die aktive Tätigkeit des EntziVndungsherdes 
abgeschwächt oder erloschen; sie akut 
machen, heißt die erschlaffte Tätigkeit 
wieder anfachen, wodurch oft die günstig¬ 
sten Heilwirkungen oder wenigstens Besse¬ 
rungen erzielt werden. Für besonders 
schädlich hält Bier die chronischen 
Ödeme, weil sie für sekundäre Infektionen 
empfänglich machen, schädliche Toxine 
aufspeichern usw.; sie müssen beseitigt 
werden. Das akute entzündliche Ödem 
dagegen wirkt nach Biers Auffassung 
genau entgegengesetzt, also heilend. 

Von ausschlaggebender Bedeutung für 
den Effekt der Proteirikörper ist ihre 
Dosierung:,,Kleine Mengen derPro- 
teinkörper wirken umgekehrt wie 
große, jene anregend, diese läh¬ 
mend.“ Diese entgegengesetzte Wirkung 
kleiner und großer Dosen hatte Hugo 
Schulz zuerst an Arzneimitteln erkannt; 


er war dabei ausgegangen von dem von 
Arndt (1885) aufgestellten biologischen 
Grundsatz: „Schwache Reize fachen die 
Lebenstätigkeit an, mittelstarke fördern 
sie, starke hemmen sie, stärkste heben sie 
auf.“ Dem Arndt-Schulzschen Gesetz 
schreibt Bier eine überragende Bedeutung 
zu, es gilt nicht nur für die Arzneiwirkun¬ 
gen, sondern auch für elektrische und 
andere physikalische Reize, es gilt für die 
Stauungshyperämie, deren nützliche oder 
schädliche Wirkung eine reine Dosierungs¬ 
frage ist, für das Röntgenlicht, für die 
Transfusion von Tierblut, wie für alle 
Proteinkörper — kurz für alle Mittel. 

Die anscheinend neue Erkenntnis, daß 
unspezifische Eiweißkörper auf die ver¬ 
schiedensten Krankheiten günstig einwir¬ 
ken können, gibt nur die alte Erfahrung 
wieder, die an den Derivantien, Revulsiva, 
Moxen, Kataplasmen u. v. a. gewonnen war: 
daßunspecifische Reize heilend wir¬ 
ken auf alle möglichen Krankhei¬ 
ten. Die Erklärung hierfür sieht Bier in 
der gleichartigen Wirkung aller dieser 
Mittel im Sinne der Verstärkung der Heil¬ 
entzündung und des Heilfiebers. Zahlreiche 
Mittel wirken dabei auf dem Umwege einer 
Spaltung des eigenen Eiweißes des 
Behandelten, die Eiweißspaltprodukte 
erst erzeugen Fieber und Entzündung. 

Die Anerkennung der Specifität, der 
Wirkung specifischer Körper auf beson¬ 
dere specifische Krankheitsstoffe und 
-herde wird durch diese Lehre, wie Bier 
hervorhebt, nicht erschüttert. 

Die neuzeitliche Proteinkörpertherapie 
stellt so eine direkte Fortführung älterer 
therapeutischer Methoden, speciell der 
Bluttransfusion dar. Ihr eigentlicher Fort¬ 
schritt liegt darin, daß sie an Stelle anderer 
Mittel, die grundsätzlich gleich wirken, 
chemisch rein darstellbare und leicht dosier¬ 
bare Stoffe mit wenig unangenehmen 
Nebenwirkungen gesetzt hat, die für die 
allgemeine Anwendung besser sich eignen. 

(Fortsetzung folgt.) 


Referate. 


Zur Heilung der Blasenlähniung bei 
traumatischer Schädigung derSphincteren- 
muskulatur hat Stöckel ein Operations¬ 
verfahren angegeben, welches sich auf das 
von Göbel und Frangenheim stützt, 
und das auch bereits von anderen 
Operateuren mit gleich gutem Erfolge 
angewandt wurde. Der Grund des 
Versagens der meisten Eingriffe zur 
Hebung dieses für die Frauen oft un¬ 


erträglichen Zustandes beruht haupt¬ 
sächlich darauf,, daß. die Anatomie des 
Operationsfeldes nicht genau studiert 
wurde, zumeist wurde der von Kali sch er 
genau beschriebene Befund' vernach¬ 
lässigt, daß es einen ringförmigen 
Sphincter der weiblichen Harnblase 
nicht gibt, daß vielmehr die glatte 
urethrale Ringmuskulatur bereits an 
der Vorderwand vor dem Orificiiim int. 





110 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


März 


endet, sich dagegen an der Hinterwand 
bis auf das Trig. fortsetzt; hieraus ergibt 
sich, daß die Mm. der hinteren Harn¬ 
röhrenwand und des vorderen Blasen¬ 
bodenabschnittes den Abschluß besorgen. 
Bei diesen nicht perforierenden Ver¬ 
letzungen am hinteren Halbkreis der 
inneren Harnröhrenmündung, welche am 
häufigsten infolge der Geburt, die auch 
ohne Kunsthilfe verlief, entstehen, ist es 
für den Operateur geboten, daß er das 
ganze Sphincterengebiet vollkommen frei¬ 
legt; es muß darauf geachtet werden, daß 
die Narben in der Muskulatur durch die 
Schere, welche tangential zur Blase und 
senkrecht zur Scheidenwand arbeitet, be¬ 
seitigt werden. Wenn so bis über die 
Ureteren hinaus die Blase freipräpariert 
ist, geht man daran, die Muskelrisse mit 
recht breitfassenden Catgutnähten zu 
vereinigen. Bei den inkomplizierten Fäl¬ 
len wird durch diese Muskelplastik ein 
voller Erfolg erzielt. Liegen jedoch noch 
starke Verwachsungen zwischen Blase, 
Harnröhre und Beckenwand vor, fehlt die 
hintere Urethralwand und ist zum Sphinc- 
terriß noch eine Fistel hinzugekommen, 
so muß noch eine künstliche Ringbildung 
um den Blasenhals vorgenommen werden, 
und zwar auf folgende Weise: Nachdem, 
wie bereits beschrieben, die Blase frei¬ 
präpariert und vernäht ist, wird aus der 
vorderen Rectusscheide ein möglichst lan¬ 
ges, schmales Fascienrechteck so heraus¬ 
präpariert, daß an seiner Innenfläche die 
beiden Mm. pyramidales haften bleiben, 
und die Verbindung mit der Symphyse 
nicht verletzt wird. Nach medianer 
Spaltung dieses Lappens und Durch- 
stoßung der Beckenfascie werden die 
Streifen einfach oder gekreuzt an der 
Hinterseite des Blasenhalses vernäht. Ne¬ 
ben dem Pyramidalisring wird jederseits 
ein dünner Gazestreifen aus dem ab¬ 
dominellen Operationsgebiet durch die 
an einer Stelle offenbleibende Scheiden¬ 
wunde in die Scheide hindurchgeführt, 
welcher nach drei Tagen allmählich ge¬ 
kürzt wird; für acht Tage bleibt ein 
Dauercatheter liegen. Bei dieser durch 
-die Operation erreichten Ringbildung 
handelt es sich um eine Wirkung der 
Muskel, nicht der Pyramidales, sondern 
der Recti; eine active Funktion kommt 
ihm nicht zu; es kommt nur darauf an, 
daß er den Blasenhals gut umschließt und 
durch die Bauchmuskeln hochgehalten 
und gehoben wird. 

Als Konkurrenzoperationen wären 
noch die Levatorplastik und Uterus¬ 


interposition nach Wertheim-Schauta 
anzuführen, die bei gut ausgewählten 
Fällen*auch einen Erfolg erreichen lassen. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(C. f. Gyn. 1921, Nr. 1.) 

Blutung und Blutstillung, die früher 
als allein abhängig von der Fibrin¬ 
gerinnung gedacht wurden, sind nach 
neueren Forschungen von der Blutplätt¬ 
chenagglutination stark mitbedingt, also 
von der Bildung eines Plättchenthrombus, 
der das verletzte Gefäß pfropfartig ver¬ 
schließt. Er wird in seinem Kopfteil frei 
von Fibrinfäden gefunden. Duke hat da¬ 
her folgerichtig zwischen Blutungszeit 
(B. Z.) und Gerinnungszeit (G. Z.) ge¬ 
schieden, wobei B. Z. die Zeit (meist zwei 
bis drei Minuten) bis zum spontanen Still¬ 
stand einer durch die .Frankesche Nadel 
gesetzten capillären Blutung bedeutet. 
Morawitz kommt bei einer neuerlichen 
Untersuchung über die Beziehungen 
zwischen Blutungs- und Gerin¬ 
nungszeit zu folgenden Ergebnissen. 
Die beiden Zeiten brauchen durchaus 
nicht gleichsinnig verändert zu sein. Bei¬ 
spiele für verlängerte B. Z. bei normaler 
G. Z. bieten Purpuraerkrankungen, wie 
die essentiellen Thrombopenien (Frank) 
und die symptomatischen, eben Fälle von 
Leukämie und perniziöser Anämie; Bei¬ 
spiele für gleichsinnige Veränderungen 
beider Funktionen: die Hämophilie, die 
Cholämie, die experimentelle Phosphor- 
und Arsenvergiftung. Immer ist bei 
langsamer Gerinnung auch die Blutung 
verlängert, doch darf man nicht umge¬ 
kehrt schließen. Ist die B. Z. bei normaler 
Gerinnung verlängert, so liegt dies an 
Plättchenarmut des Blutes. Morawitz 
glaubt daher, daß eine völlige Unabhängig¬ 
keit zwischen Plättchenagglutination und 
Fibringerinnung nicht angenommen wer¬ 
den darf. Wesentlich ist dabei die Ge¬ 
rinnung, und er hält es für wahrscheinlich, 
daß es allerfeinste Fibrinfäden sind, die 
die Plättchen zusammenballen und ver¬ 
stricken. So wäre es verständlich, daß 
bei mangelhaftem Gerinnungsvermögen 
eine Blutung trotz reichlich anwesender 
Plättchen nicht steht und daß anderer¬ 
seits bei erhaltenem Gerinnungsvermögen 
Plättchenmangel verlängerte Blutungs¬ 
zeit verursacht, die sich bei allmählicher 
Vermehrung der Thrombocyten normalen 
Werten wieder annähert. Aus diesen 
Beobachtungen ergibt sich für die Frage 
chirurgischer Eingriffe bei Patienten mit 
Verdacht der Blutungsbereitschaft fol- 





März 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


im’ 


gende praktische Nutzanwendung: Man 
beginne mit Prüfung der B. Z.; ist diese 
regelrecht, so erübrigen sich weitere 
Untersuchungen, - ist sie verlängert, so 
bestimme man die G. Z. und prüfe noch 
die Gefäßresistenz durch den Rumpel- 
Lee d eschen Versuch, der bei verlängerter 
B. Z. meist positiv ist. Fallen alle Unter¬ 
suchungen ungünstig aus, so ist für jede 
chirurgische Maßnahme Zurückhaltung 
angezeigt. Ist nur die B. Z. verändert, 
so sei durch lokale Koagulenanwendung 
oder intravenöse Injektion von Gelatine¬ 
oder hypertonischen Lösungen Steigerung 
der Gerinnungsgeschwindigkeit anzu- 
S^^^ben. Iß jQgj (Berlin). 

(Med. Kl. 1920, Nr. 50.) 

Durchaus neue Gesichtspunkte bringt 
eine experimentelle Studie von Hermann 
Wieland (aus dem Pharmakol. Institut 
Freiburg i. B.) über Entgiftung durch 
adsorptive Verdrängung. Wenn es 
sich auch zunächst um theoretische.Frage¬ 
stellungen handelt, haben die Ergebnisse 
doch auch Interesse für den Praktiker. 
Ein isoliertes Fraschherz kann man längere 
Zeit nur mit Salzlösung ernähren. Schlie߬ 
lich aber verliert es seine Leistungs¬ 
fähigkeit. Dann besteht ein Zustand der 
Ermüdung oder Hypodynamie, der durch 
Zufuhr kleiner Mengen von Serum wieder 
beseitigt werden kann. Es war nun un¬ 
geklärt, worauf diese geheimnisvolle Rolle 
des Serums beruht. Wieland ermittelte, 
daß auch gegenüber der Vergiftung des 
Herzens mit einer Gallensäure (Desoxy- 
cholsäure) das Serum ganz so wirkt wie 
gegen Ermüdung, und kam durch diese 
weitgehende Analogie geleitet zu der Er¬ 
kenntnis, daß. auch die Ermüdung des 
Herzens eine Vergiftung mit Substanzen 
darstellt, die bei der Herzarbeit gebildet 
werden. Daß seine Anschauungen sich in 
der richtigen Bahn bewegten, ergab die 
Fruchtbarkeit seiner Fragestellung. Wenn 
das Serum als .Gegengift funktioniert, so 
muß es bei der Gallensäurevergiftung 
durch Stoffe ersetzt werden können, 
welche mit den Gallensäuren Additions¬ 
verbindungen bilden. Solche Substanzen 
sind durch die bedeutungsvollen Unter¬ 
suchungen von Heinrich Wieland in 
großer Zahl bekannt. Untersucht wurden 
auf ihre das Herz entgiftende Funktion 
Ölsäure, Xylol, Äther und Campher. Sie 
alle sind imstande, das mit Gallensäure 
vergiftete Herz in seiner Leistungsfähig¬ 
keit wiederherzustellen. Aber auch ge¬ 


ringe Mengen Tierkohle wirken restituie¬ 
rend auf das ermüdete wie auf das durch 
Gallensäure vergiftete Herz. So kommt 
Wieland zu einerphysikalisch-chemischen 
Deutung der Befunde. Alle diese ent¬ 
giftenden Stoffe sind oberflächenactiv. 
Sie werden an der Oberfläche des Herzens 
adsorbiert und verdrängen das dort ge¬ 
bundene Gift. Nach dieser Vorstellung 
ist der Campher kein specifisches Herz¬ 
mittel, sondern er wirkt dadurch, daß er 
Stoffe, welche die Herztätigkeit hemmen, 
beseitigen kann. Diese Auffassung er¬ 
leichtert einigermaßen die bisher noch 
sehr unklare Vorstellung von der thera¬ 
peutischen Herzwirkung des Camphers. 

Martin Jac oby (Berlin). 

(Arch. f. exper. Path. ] u. Pharm. Bd. 89, 
H. 1 und 2.) 

D. Klinkert (Rotterdam), der kürz¬ 
lich das Gichtproblem vom allgemein¬ 
pathologischen Standpunkt erörterte (Z. 
f. kl. Med. 89, H. 1 u. 2), veröffentlicht 
eine klinisch-historische Studie zur P a tho- 
genese der Gicht. Wesentlich ist ihm 
gegenüber der rein chemischen Betrach¬ 
tungsweise die nervöse Natur des Lei¬ 
dens, jener Spannungszustand des Nerven¬ 
systems, der im Anfall seine Entladung 
findet. Auf die Abhängigkeit des Gicht¬ 
anfalls von Erregungen sowie auf die 
häufige Koinzidenz mit paroxysmaler 
Tachykardie und anderen nervösen An¬ 
fällen wurde oft hingewiesen. Auch De¬ 
pressionszustände auf dem Boden harn¬ 
saurer Diathese sind bekannt. Charcot 
verglich den epileptischen mit dem gichti¬ 
schen Insult. Und wenn Garrod, ob¬ 
gleich Entdecker der Hyperurikämie und 
damit Urheber der chemisch gerichteten 
Gichtforschung, sagte: ,,Das Dasein der 
Harnsäure im Blute an sich kann die Ent¬ 
stehung des Gichtparoxysmus nicht er¬ 
klären“, so ging Duckworth noch einen 
Schritt weiter: ,,Bei der primären oder 
erblichen Gicht ist die Hyperurikämie 
eine sekundäre Erscheinung, in ihrer 
Stärke von der Gichtneurose a.bhängig“. 
Klinkert selbst hält den Gichtanfall für 
eine angioneurotische Entzündung der Ge¬ 
fäßnerven. Solche Auffassung beeinflußt 
natürlich die Therapie; im Gichtanfall 
wird man sich von activer Behandlung 
zurückhalten und für die ganze gichtische 
Diathese körperliches und geistiges Ma߬ 
halten zur ersten Maxime der Behänd- 
lung machen. jogi (Berlin). 

(Berl. Kl.Woch. 1921, Nr. 2.) 





112 


'Die Therapie der Gegenwart 1921 


März 


E. Pulay hat an 48 Patienten Ver¬ 
suche mit Humagsolan zur Beeinflussung 
des Haarausfalles gemacht und hat fest¬ 
gestellt, daß dies Hornpräparat allein 
weder den Haarausfall kupieren noch den 
Haarwuchs anregen kann, daß ihm jedoch 
für das Längen- und Dickenwachstum 
der Haare eine wertvolle Bedeutung zu¬ 
kommt. Das Humagsolan stellt einen 
Ernährungsfaktor (eine Wachstumssub¬ 
stanz) im Sinne eines Vitamins dar. Die 
Therapie des Haarausfalles hat sich in 
erster Linie mit der Aufdeckung der den 
Haarausfall bedingenden Ursachen zu be¬ 
schäftigen und sucht diese durch kausale 
und lokale Behandlung sowie allgemeine 
therapeutische Maßnahmen zu beein¬ 
flussen. Das Humagsolan ist ein aus¬ 
gezeichnetes Mittel zur Unterstützung 
der bisher üblichen Therapie, indem es 
den Haarnachwuchs erheblich beschleu¬ 
nigt. Die Dosierung beträgt dreimal drei 
Pillen täglich. Bei Auftreten von Magen- 
und Darmbeschwerden kann man durch 
langsam steigende Dosen mit einer Pille 
täglich beginnend allmählich die Dosis 
von neun Pillen erreichen. 

V. Hinüber (Berlin). 

(Med. Kl. 1920, Nr. 48.) 

Auf das Vorkommen von Überemp- 
findlichkeit gegen Kaffee infolge der 
langjährigen Kaffee - Entwöhnung 
weist Prof. Brandenburg an der Hand 
einiger Beobachtungen hin. Es handelte 
sich um Frauen, meist mit thyreogen oder 
sklerotisch sensibilisierten Herzen, die 
nach Kaffeegenuß üb er Schwindel, Angst¬ 
gefühl, Wallungen, Ohnmachtsanwand¬ 
lungen, Herzbeschwerden bis zum Bilde 
der Angina pectoris klagten und den ob¬ 
jektiven Befund eines kleinen faden- 
förmigen^ Pulses bei blasser, kühler Haut 
boten. Ärztlich verordnete Coffein- und 
Cainpherinjektionen konnten diesen Zu¬ 
stand der Übererregtheit natürlich nicht 
beeinflussen. Derartige Fälle von Kaffee- 
Überempfindlichkeit dürften jetzt öfter 
Vorkommen; neben dem Kaffeeverbot 
werden psychische Beruhigung und kühle 
Umschläge die Anfälle schnell zum 
Schwinden bringen. E. Joel (Berlin). 

(Med. Kl. 1920, Nr. 50.) 

Über Fernresultate beim angeborenen 
Klumpfuß berichtet Professor J. F ra enk e 1, 
Berlin. Verfasser verwirft grundsätzlich 
die Achillotomie, auch die plastische Ver¬ 
längerung der Achillessehne. Alle Fälle, 
deren günstiges Behandlungsresultat er 
zehn Jahre nach der Behandlung in 
Lichtbildern nachweist, wurden ohne 


Sehnenschnitt, ohne Narkose nach vor¬ 
ausgegangenem Dampf- oder Heißwasser¬ 
bad mit allmählicher Umstellung und 
nachfolgendem Gipsverband behandelt. 
Gehen durften die Patienten im Gips¬ 
verband entweder gar nicht oder nur mit 
(jehbügel. Soweit es aus den Abildungen 
ersichtlich ist, waren die „Fernresultate‘‘ 
durchaus zufriedenstellend. Einige der 
Behandelten haben als Frontsoldaten den 
Krieg mitgemacht. Georg Müller. 

(Zschr. f. orthop. Chir., Bd. 40, H. 5.) 

J. Müller erörtert einen Fall von 
Hautgangrän nach subcutaner Koch¬ 
salzinfusion. Bei einerPatientin, die wegen 
starker Blutung post partum 1000 ccm 
Kochsalzlösung unter die Haut der Ober¬ 
schenkel erhielt, verfärbte sich zwei Tage 
nach der Infusion 20 cm distal von den 
Einstichstellen die Haut dunkelblau und 
hob sich nach weiteren zwei Tagen in 
Blasen ab. Trotz der Verbände mit 
Combustinsalbe vergrößerten sich unter 
heftigsten Schmerzen die gangränösen 
Hautstellen, und' der Prozeß schritt in 
die Tiefe fort. Da eine chemische und 
thermische Wirkung abzulehnen ist, die 
Zusammensetzung der Lösung war kor¬ 
rekt, die Temperatur nur 35®, eine Appli¬ 
kation in die Fascie sicherlich nicht statt¬ 
gefunden hat, und der Fall bakteriologisch 
einwandfrei war (Temperatur nur bis 
37,4®), muß als Grund für die Gangrän 
eine Drucknekrose, bedingt durch ver¬ 
zögerte Resorption und dadurch ver¬ 
längerte Druckwirkung auf das umgebende 
Gewebe angesprochen werden. 

Horovitz (Berlin). 

(Med. Kl. 1920, .Nr. 31.) 

Prof. König (Würzburg), erörtert die 
Bedenken, der der totalen Quer¬ 
resektion des chronischen Magengeschwürs 
entgegenstehen, so daß die meisten Ope¬ 
rateure eine einfache Gastroenterostomie 
vorziehen; neben der hohen Mortalität 
(bis 14 %) findet er die Schwierigkeit der 
Totalresektion in der ungenügenden Indi¬ 
kation zu einem immerhin so radikalen 
Vorgehen bei einem durch Anämie ge¬ 
schwächten Organismus. K. untersucht 
zuerst die beiden Formen der über¬ 
standenen und der floriden Ulceration 
und deren Entzündungserscheinungen am 
Magen und seiner Umgebung. Bei alten 
Entzündungen sind häufig alle den Magen 
umgebenden Organe, wie. Leber, Gallen¬ 
blase, Pankreas und Omentum durch 
fibrinöse Verwachsungen mit der Ge¬ 
schwürsstelle fest verklebt, so daß bei 
deren Ablösung während der Operation 







März 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


113 


oft ein Durchbruch des Ulcus in die 
Bauchhöhle erfolgt. Schnitzler sagt 
sogar, daß in allen Fällen von solch weit¬ 
gehender Verwachsung zuerst ein Durch¬ 
bruch geschehen sein müsse, so daß die 
Verbackungen gewissermaßen einen spon¬ 
tan-reparativen Vorgang nach der Per¬ 
foration darstellen. Die Mageneröffnung 
bei der Operation ist nach ihm also nicht 
eine primäre, sondern eine Wiedereröff¬ 
nung des Ulcus. Bei der floriden Ent¬ 
zündung finden sich neben der flammen¬ 
den Röte als Infiltrationsvorgang an der 
Ulcüsstelle noch Hyperplasie der zahl¬ 
reichen den Magen umgebenden Lymph- 
drüsen, die aber erst bei vorgerückter Ent¬ 
zündung indurieren und somit zu Ver¬ 
wechselung mit carcinomatösen Drüsen 
Veranlassung geben könnten.. Danach 
sind es die entzündlichen Vorgänge, die 
der Heilung eines chronischen Ulcus be¬ 
sonders entgegenstehen und gegen die 
sich die Behandlung vor allem richten 
müsse. Durch „Ruhigstellung, Fernhal¬ 
tung von Schädlichkeiten und Kom¬ 
pression“ könnte man hier, ganz ähnlich 
wie beim Unterschenkelgeschwür, die 
Therapie einleiten. In diesem Sinne emp¬ 
fiehlt er eine von Roth-Lübeck als 
,,Faltungstamponade“ angegebene Ope¬ 
ration, deren Wesen darin besteht, daß 
die Magenwand von der Ulcüsstelle bis 
zum Pylorus mehrfach durch etagenför¬ 
mige Nähte gerefft und so die dem Ge¬ 
schwür gegenüberliegende Wand fest in 
dieses hineingepreßt wird. Auf diese 
Weise wird die Magenpassage bis zum 
Pylorus völlig verschlossen, so daß eine 
Gastroenterostomie gleichzeitig angelegt 
werden muß. Roth und König haben 
durch röntgenologische Nachprüfung ihrer 
zumeist von weiteren Ulcusbeschwerden 
verschonten Patienten festgestellt, daß 
die Gastroenterostomie gut funktionierte 
und die Pyloruspassage völlig oder fast 
völlig durch die Faltungstamponade ver¬ 
ödet war. Im Hinblick auf die immer noch 
großen Gefahren der Totalresektion bei 
Magenulcus verdient die Faltungstam¬ 
ponade weitere Anwendung und Nach¬ 
prüfung. Klauber. 

(M. m. W, 1920, Nr. 47.) 

A. Nussba'um, Bonn, berichtet über 
Redression schwerer Skoliosen durch 
ein abnehmbares Gipskorsett. Ver¬ 
fasser legt in vertikaler Suspension ein 
Gipskorsett an, schneidet es vorn und 
hinten längs auf, armiert die beiden 
Schalen dann oben und unten mit 
Kramerschienen, die in Verschlußvorrich¬ 


tungen auslaufen, welche durch Hebel¬ 
wirkung ein festes Anlegen des Gips¬ 
korsetts gestatten. Die Druckwirkung 
wird durch alle zwei Tage nachgestopfte 
Zellstoffplatten verstärkt. Das Korsett 
wird nur am Tage getragen urid zwecks 
Vornahme von Massage und gymnasti¬ 
schen Übungen zeitweise abgenommen. 
Verfasser hat in zwei bisher so behan¬ 
delten Fällen gute Erfolge erzielt. Ob 
sie dauernde sein werden, daran zweifelt 
der Verfasser und mit ihm der Referent. 
Alle in den letzten Jahrzehnten ange¬ 
gebenen Behandlungsmethoden mit Gips¬ 
panzern — und ihre Zahl ist nicht klein 
— haben uns enttäuscht, und wir sind 
immer wieder zu der alt bewährten Trias: 
Stützkorsett, Gipsbett und Gymnastik 
zurückgekehrt. Georg Müller. 

(Zschr. f. orthop. Chir., Bd. 40, H. 3.) 

Rudolf Ditler berichtet über eine 
Reihe von Tierversuchen, durch die er 
die Sterilisierung des weiblichen Tier¬ 
körpers durch parenterale Sperma¬ 
zufuhr prüfte. An Stelle der experimen¬ 
tellen Kastration, bei der die inneren 
Sekretionsstoffe (Hormone) dem weib¬ 
lichen Organismus verloren gehen, wollte 
Dittler durch intravenöse Injektion des 
arteigenen Ejakulats bei Kaninchen ,,Ab¬ 
wehrstoffe“ ähnlich den Antigenen und 
Schutzfermenten erzeugen, die eine nach¬ 
her erfolgende Begattung unwirksam 
machen. Es gelang ihm durch mehrmalige 
Spermainjektion (insgesamt 2—5 ccm) in 
die Ohrvenen eine Sterilität der so be¬ 
handelten Kaninchen hervorzurufen, die 
allerdings nur bis zur Dauer von vier 
Monaten anhielt. Während dieser Zeit 
war auch die serologische Kontrolle posi¬ 
tiv, d. h. das Blut der behandelten Tiere 
agglutinierte und immobilisierte rascher 
als normales Blut die mit ihm zusammen¬ 
gebrachten Spermatozoen. Nach kleineren 
Injektionsmengen dauerte die Aggluti¬ 
nationskraft und die künstliche Sterilität 
entsprechend kürzere Zeit. 

Es ist interessant, daß die Kaninchen 
nach Behandlung mit artfremdem, z. B. 
menschlichem Sperma, normal empfäng¬ 
nisfähig blieben. Daß es sich bei der 
,,Spermasterilität“ nicht um Hormon¬ 
wirkung, sondern vielmehr um allgemeine 
Immunisierung handelt, geht auch daraus 
hervor, daß die lokalen Generationsvor¬ 
gänge ungestört blieben; es zeigte sich 
nämlich bei mehrmaliger Laparotomie 
während der Injektionszeit, daß stets 
Corpora lutea spuria vorhanden waren, 
daß also Eireifung und Follikelsprung 

15 




114 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


März 


normal vor sich gingen, ohne daß eine 
Befruchtung trotz mehrmaliger Deckung 
eintrat. Während der ganzen Behand- 
lüngszeit waren die allgemeinen Körper¬ 
funktionen der Tiere normal, auch wurde 
bei Wiederaufnahme der Impfungen nach 
längerer Pause jede Anaphylaxieerschei¬ 
nung vermißt; doch stellte sich bei lang¬ 
dauernder Spermabehandlung stärkere 
Gewichtsabnahme ein, die zweimal sogar 
zu allgemeiner Kachexie und Atrophie 
der Keimdüsen mit konsekutivem Si- 
stieren jeder Geschlechtsfunktion führte. 
Insbesondere diese Nebenwirkungen wer¬ 
den uns neben anderen Erwägungen ver¬ 
anlassen, erst weitere Versuche mit art- 
. eigenen und artfremden Spermainjek¬ 
tionen bei höheren Säugetieren abzu¬ 
warten, bevor wir an eine Anwendung 
dieser Methode temporärer Sterilisierung 
beim Menschen denken dürfen. 

Klauber (Berlin). 

(Med. Kl. 1920, Nr. 52.) 

Unter den pathologischen Konstitu¬ 
tionstypen ist der sogenannte Status 
thymo-lymphaticus derjenige, der am häu¬ 
figsten diagnostiziert, mit dem aber auch 
am meisten Mißbrauch getrieben wird. 
Hart rät bei der Entscheidung der Frage, 
ob ein primärer pathologischer Konsti¬ 
tutionstypus oder eine sekundär erworbene 
krankhafte Veränderung des Organismus 
vorliegt, schärfste Kritik zu üben. Von 
den Versuchen, ein ganz bestimmtes Merk¬ 
mal als charakteristisch für den Status 
thymo-lymphaticus zu bezeichnen, ist 
einmal die Angabe Scheiddes über eine 
Hyperplasie der Zungengrundfollikel er¬ 
wähnenswert, die sich häufig bestätigt 
findet, und ferner Bartels Feststellung, 
daß einem hypertrophischen Stadium der 
Lymphdrüsenveränderung ein atrophi¬ 
sches mit Bindegewebswucherung folgt, 
was aber noch der Nachprüfung bedarf. 
Die angenommene primäre Schwäche der 
Lymphdrüsen ist noch nicht sicher be¬ 
wiesen. Viele in der Literatur beschriebene 
Fälle von Status thymo-lymphaticus 
halten der Kritik nicht stand, da Ent¬ 
wicklungsgrade des lymphatischen Appa¬ 
rates für pathologisch gehalten worden 
sind, die sehr wahrscheinlich noch inner¬ 
halb der-physiologischen Breite liegen. 
Exakte Zahlenwerte für die normale 
Lymphdrüsenentwicklung wie auch für 
die Thymusgröße fehlen heute noch. Auf 
beide ist diese oder jene besondere Er¬ 
nährungsweise von Einfluß, was bisher 
viel zu wenig beachtet worden ist. Dem 
Verständnis des Bildes des Status thymo- 


lymphaticus kommt man am nächsten, 
wenn man auch in all den Fällen, in 
denen eine Schwellung des lymphatischen 
Apparates sich nicht auf eine ektogene 
oder endogene Schä igung zurückführen 
läßt, an eine sekundäre Veränderung 
denkt, die abhängig ist von einem endo¬ 
genen Faktor, nämlich der konstitutio¬ 
nellen Anomalie des Thymus als eines 
Teilorganes des endokrinen Systems. Die 
erhöhte, vielleicht auch krankhafte Tätig¬ 
keit des Thymus führt zu einer Wuche¬ 
rung der lymphoiden Elemente im ganzen 
Organismus. Mit der Bezeichnung ,,Thy¬ 
mustod“ ist größter Mißbrauch getrieben 
worden. Selbst in solchen Fällen, wo jede 
Möglichkeit einer anderen Erklärung 
plötzlichen oder unerwartet schnellen 
Todes fehlt und daher seine Annahme 
berechtigt erscheint, ist das Wesen der 
Thymuswirkung nicht sicher zu erklären. 
Der Streit darüber, ob der Thymus durch 
seine abnorme ^Größe rein mechanisch 
oder durch sein Übermaß und eine krank¬ 
hafte Veränderung seines specifischen Se¬ 
kretes verhängnisvoll wird, ist dahin ent¬ 
schieden, daß zweifellos eine zu große 
ThymusdrüsedurchDruckauf dieLuftröhre 
gelegentlich zum plötzlichen Erstickungs¬ 
tod führen kann, daß aber im wesent¬ 
lichen eine toxische Wirkung des Organes 
in Betracht zu ziehen ist. Gegenüber der 
alten Erfahrung, daß der Status thymo- 
lymphaticus die Entstehung und den 
Verlauf vieler Infektionskrankheiten un¬ 
günstig beeinflußt, ist zu bemerken, daß 
die Tuberkulose dabei verhältnismäßig 
gutartig verläuft. Ferner soll , die Ent¬ 
stehung von Appendicitis, Magengeschwür 
und bei Frauen das Auftreten von Ek¬ 
lampsiebegünstigt sein. Vielleicht|bestehen 
auch Beziehungen des Status zum Auf¬ 
treten der lymphatischen Leukämie. Das 
eigentliche konstitutionelle Moment beim 
Status thymo-lymphaticus liegt ziemlich 
verborgen in der primären Störung des- 
endokrinen Systems, deren Manifestation 
lediglich die Vermehrung des lymphoiden 
Gewebes darstellt. Kamnitzer (Berlin.) 

Zschr. f. ärztl. Fortbild. 1920, Nr. 23. 

Ober Erfolge, die er bei akutem- 
und recidivierendem Gelenkrheumatismus 
durch Tonsillenschlitzung erreicht hat,, 
berichtet Koopmann. Obgleich in der 
Literatur des öfteren auf den Zusammen¬ 
hang der chronischen Tonsillitis mit dem 
Gelenkrheumatismus hingewiesen worden 
ist, werden die Erkrankungen der Ton¬ 
sillenhäufig übersehen und vernachlässigt. 
Diese Tatsache findet darin eine Er- 





März 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


115 


klärung, daß viele Ärzte sich bei der 
Untersuchung der Mandeln mit einer ein¬ 
fachen Inspektion des Rachens begnügen. 
Da jedoch sehr häufig die Pfropfe ledig¬ 
lich hinter den vorderen Gaumenbögen 
sitzen, bleiben viele Fälle von chronischen 
Tonsillitiden der einfachen Besichtigung 
der Mundhöhle mit Hilfe des Spatels ver¬ 
borgen. Um sie in jedem Falle zu er¬ 
kennen, ist es erforderlich, durch Hinweg¬ 
ziehen der vorderen Gaumenbögen mittels 
eines Häkchens sich die ganze Mandel zu 
Gesicht zu bringen. Oft genug kommen 
dann auf der ursprünglich für gesund 
erachteten Tonsille einige Pfröpfe mit 
oder ohne Eiter zum Vorschein. Da es 
erwiesen ist, daß in vielen Fällen von 
Arthritiden, besonders von akuten und 
subakuten rheumatischen Polyarthritiden, 
die Erreger von den Mandelkrypten ihren 
Ausgangspunkt für die Invasion in den 
menschlichen Körper nehmen, so ist es 
zur erfolgreichen Bekämpfung solcher 
Krankheiten erforderlich, diese Eingangs¬ 
pforten zu verlegen. Dies zu erreichen, 
ist das Ziel der tonsillaren Behandlung 
bei Polyarthritis. In der Behandlung der 
Tonsillen gibt es verschiedene Methoden: 

1. die. verstümmelnden (die vollständige 
Entfernung der Mandeln, die Abtragung 
der Tonsille bis auf eine Basalplatte), 

2. die konservativen (Expression und 
Massage, oder Aussaugen durch ein Saug¬ 
röhrchen). Zwischen den verstümmelnden 
und rein konservativen Methoden steht 
die des Schützens der Tonsillen, die zuerst 
von Ruault und Guggenheimer an¬ 
gegeben wurde. Nach den mit den ver¬ 
schiedenen Arten der Tonsillenbehand¬ 
lung gemachten Erfahrungen erscheint es 
zweckmäßig, zu versuchen, zunächst mit 
der konservativen Behandlung bzw. mit 
dem Tonsillenschlitzen -die Polyarthritis 
zu beeinflussen. Mißlingen diese Me¬ 
thoden, so ist es immer noch möglich, die 
verstümmelnden anzuwenden. Bei den 
drei vom Verfasser mitgeteilten Fällen 
von akutem und recidivierendem Gelenk¬ 
rheumatismus mit chronischer Tonsillitis 
trat nach dem Auspressen der Tonsillar- 
pfröpfe und dem Schlitzen der Mandeln 
eine prompte Entfieberung ein, ein 
schnelles Zurückgehen der Gelenkaffek¬ 
tionen, ein ■ Geringerwerden der Herz¬ 
symptome, in einem Fall ein völliges 
Verschwinden der Herzgeräusche (Myo¬ 
karditis). Vor allem fühlten sich die 
Patienten sehr bald nach der Tonsillen¬ 
schlitzung subjektiv außerordentlich er¬ 
leichtert. Die Mandeln wurden mit dem 


von Moritz Schmidt angegebenen, 
senkrecht zur Achse des Handgriffs an¬ 
gebrachten Sichelmesser geschlitzt; die 
gesetzten Schlitze mit Jod ausgepipselt. 

Horovitz (Berlin.) 

(Zschn f. Physik, diät. Ther. 1920, H. 10.) 

In seiner Arbeit über die Strahlen¬ 
behandlung der Tuberkulose stellt 
V. Schrötter, Wien, die Forderung auf, 
daß der Tuberkulöse jedweder Art in eine 
Heilanstalt gehört, in der Sonnenkuren 
vereint mit den Vorteilen klimatischer 
Einflüsse optmale Heilerfolge gestatten. 
Ein frommer Wunsch im armen Deutsch¬ 
land! Diese Heilerfolge können und 
müssen durch örtliche Behandlung mit 
Röntgenstrahlen und Quarzlampe ins¬ 
besondere bei peripherer Tuberkulose ge¬ 
steigert werden. Röntgenstrahlen allein 
• sind schon imstande, bei der chirurgischen 
Tuberkulose Erfolge zu erzielen, die die 
chirurgische Tätigkeit auf ein immer enger 
gezogenes Indikationsgebiet weisen. Der 
tbeoretische Teil der Arbeit gibt einen 
Überblick über den heutigen Stand der 
Genese des Hautpigmentes, seine Be¬ 
deutung für den, Körperhaushalt des 
Tuberkulösen und die Möglichkeit, den 
Pigmentstoffwechsel durch Strahlen¬ 
wirkung zu steigern. Das Pigment wird 
als ein Sensibilisator aufgefaßt, vermöge 
dessen strahlende Energien in chemi¬ 
sche transformiert und photokatalytische 
Wirkungen im erhöhten Maße erzielt 
w-erden. Für die Haut selbst ergibt sich 
daraus die Funktion einer inkretorischen 
Drüse, worauf auch die Wechselbe¬ 
ziehungen zu Nebennieren und Ovarien 
hinderten. Es scheint mir jedoch fraglich 
zu sein, ob nicht auch noch andere Vor¬ 
gänge in der Haut als der Pigmentations- 
prozeß bei der günstigen Beeinflussung 
der Tuberkulose eine wichtige Rolle 
spielen. Auch gegenüber der Behauptung, 
daß die Antigentherapie eine Ausnutzung 
oder Verminderung disponibler Energetik 
verursacht, daß dagegen die Heliotherapie 
eine energetische mit positiver Bilanz 
infolge Zufuhr lebendiger Kraft ist, wer¬ 
den manche Bedenken laut werden. Hier 
stecken wir noch tief in ungeklärten 
Fragen — in der Praxis werden beide 
Therapien versagen, wenn die Reserven 
des Körpers nicht mehr ausreichend sind. 

(Strahlenther., Bd. XI, H. 2. Calm (Berlin.) 

Bei der Behandlung chronischer Unter¬ 
schenkelgeschwüre hat Volkmann mit 
der Nervendehnung gute Erfolge zu ver- 
; zeichnen. Das Verfahren ist zuerst 1872 

15* 





116 


Die Therapie der Gegenwart' 1921 


März 


von Nußbaum empfohlen worden, später 
wurde es von französischen Autoren 
wieder aufgegriffen und außer beim Unter¬ 
schenkelgeschwür erfolgreich bei dem Mal 
perforant zur Anwendung gebracht. 
Volkmann verfügt über 12 eigene Fälle, 
von denen 9 geheilt und einer gebessert 
sind. Stets wird der Nervus saphenus 
in Angriff genommen, dann je nach der 
anatomischen Lage des Geschwürs die’ 
Nn. cutaneus surae lateralis und medialis, 
der Nervus peronaeus superficialis und 
profundus. Die Operation wird, wie 
folgt, ausgeführt: Lokalanästhesie. Auf¬ 
suchen des N. saphenus in der Rinne 
zwischen Schienbeinkante und Gastro- 
cnemius, dicht unterhalb der Tuberositas 
tibiae. Die anderen Nerven werden in der 
Kniekehle freigelegt. Man hebt den Ner¬ 
ven aus der Wunde heraus und dehnt ihn 
in der Richtung nach der Peripherie zu. 


Das richtige Maß ist dann erreicht, wenn 
die Haut entsprechend der Ansatzstelle 
der Endverzweigungen des Nerven kleine 
Einziehungen zeigt. 2—3 Tage nach der 
Operation beginnt das Geschwür sich zu 
reinigen und vom dritten Tage ab setzt 
die Epithelisierung vom Rande her ein. 
Die weiteren Verbandwechsel erfolgen 
alle drei Tage; es wird Borzinksalbe auf¬ 
gelegt. Daß die schnelle Heilung der 
Operation zugeschrieben werden muß, 
steht außer Zweifel, da einmal die Kranken 
trotz langer Behandlung keinerlei Zeichen 
von Besserung zeigten, andererseits die 
lokale Behandlung mit indifferenten Mit¬ 
teln unverändert nach der Operation 
durchgeführt wurde. Ob die Erfolge von 
Dauer sind, läßt sich einstweilen noch 
nicht entscheiden, da hierfür die Beob¬ 
achtungszeit noch zu kürz ist. 

(Zbl. f. Chir. 1921 No. 6.) Hayward. 


Therapeutischer Meinungsaustausch, 

über eine Kombination von Solarson und Strychnin. 

Von G. Klemperer. 


Vor Jahresfrist wurde mir von den 
Elberfelder Farbenfabriken ein Präparat 
zur klinischen Prüfung übergeben, welches 
im ccm 0,01 g Solarson gleich 4 mg AS 2 O 3 
und 1 mg Strychnin enthielt. Obwohl es 
sich nur um eine Mischung bekannter 
und erprobter Substanzen handelte, schien 
mir das Präparat doch der Anwendung 
am Krankenbett wert zu sein, weil es die 
guten Wirkungen des Solarson in einer 
für die Praxis wertvollen Weise zu er¬ 
gänzen versprach. Solarson steht im 
Rufe, die Nerven zu kräftigen und ist 
ein bewährtes Tonikum in Zuständen von 
Ermattung und Überreiztheit; aber diese 
Wirkung tritt doch nur langsam und all¬ 
mählich auf und es schien mir oft wün¬ 
schenswert, das Solarson mit einem schnell 
anregenden Mittel zu kombinieren. So 
habe ich seit lange in der Praxis empfohlen, 
in dieselbe Spritze zu 1 ccm Solarson 
0,1 ccm einer l%igen Strychninlösung hin¬ 
zuzunehmen. Bei der Anwendung dieser 
kombinierten Injektion wurde oft ein 
schnelles Eintreten subjektiven Wohl¬ 
befindens und Kraftgefühls bemerkt, wel¬ 
ches nach einfacher Solarsoneinspritzung 
in diesen Fällen vermißt worden war. 
Eine andere Situation, in. der eine Er¬ 
gänzung • gerade durch Strychnin gutes 
Ergebnis für die Kranken verhieß, boten 
die Schwächezustände während und nach 
Infektionskrankheiten dar. Gerade für 


diese hat man das Solarson vielfältig emp¬ 
fohlen, weil insbesondere in der Rekon- 
valescenz eine Auffrischung des Nerven¬ 
systems und eine Anregung der Blut¬ 
bildung von Bedeutung ist. Aber im 
Mittelpunkt der Erscheinungen steht doch 
häufig Kleinheit und Frequenz des Pulses, 
welche nicht so sehr auf Herzschwäche 
als vielmehr auf Erschöpfung der Vaso¬ 
konstriktoren beruht. Gegen diese wird 
in neuester Zeit mit besonderem Erfolg 
Strychnin angewandt. Schließlich wird 
diesem Mittel eine direkte Kräftigung des 
Herzmuskels zugeschrieben, von der man 
namentlic.h in akuten Infektionskrank¬ 
heiten Gebrauch machen darf, in welchen 
Digitalis so oft versagt. Nun ist ja neuer¬ 
dings auch mehrfach von der Anwendung 
des Solarsons bei Herzkranken die Rede 
gewesen; aber es scheint sich dabei doch 
nur um nervenstärkende Wirkung ge¬ 
handelt zu haben, die sicherlich auch in 
diesen Fällen erwünscht und wertvoll ist. 

Eine Kombination von Strychnin und 
Solarson durfte also mit Vertrauen unter 
der besonderen Indikation der Euphori- 
sierung, der Vasokonstriktion und der 
Herzkräftigung angewendet werden. Ich 
habe das kombinierte Präparat in zahl¬ 
reichen Fällen dieser Kategorien regel¬ 
mäßig injiziert. Die erzielten Ergebnisse 
sind subjektiv sehr befriedigend gewesen. 
Die Injektionen werden ebenso reizlos 





Marz 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


117 


und ohne jede Nebenwirkung vertragen, 
wie die einfachen Solarsons. Sehr häufig, 
trat das gesteigerte Wohlbefinden, die 
erhöhte Euphorie hervor, die. man viel¬ 
leicht auf das Strychnin beziehen darf. 
Zahlreiche Rekonvalescenten haben sich 
unter dem Gebrauch dieser Injektionen 
relativ schnell erholt, .während Puls¬ 
spannung und Frequenz sich besserte. 
Ich habe auch vielen Herzkranken die 
Solarson - Strychninmischung injiziert; 
aber wenn es sich um wirkliche Kompen- 
satiohsstörung handelte, habe ich doch 
nicht auf Digitalis verzichten zu dürfen 
geglaubt, so daß ich über die wirkliche 
Strychninwirkung in diesen Fällen nichts 
Sicheres aussagen kann. In schweren 
Schwächezuständen bei Pneumonie und 
Sepsis habe ich übrigens auch nach hohen 
Strychnindosen (bis 5 mg) nicht so ein¬ 
deutige Resultate gesehen wie andere 
-Autoren, so daß ich mich den Lobrednern 
dieser Therapie bei bedrohlicher infek¬ 
tiöser Herzschwäche nicht anschließen 
möchte. Viel besser waren die Ergebnisse 
bei nervösen Herzstörungen, besonders 
bei den Schmerz- und Druckempfindun¬ 
gen in der Herzgegend, auch bei Angst¬ 
zuständen und Schwindel ohne organi¬ 


schen" Herzbefund. Analoge Erfolge habe 
ich schon früher mit Solarson allein er¬ 
zielt, doch schien die Wirkung bei dem 
kombinierten Präparat schneller einzu¬ 
treten. In gleicher Weise ist schwer ,zu 
entscheiden, wieviel von der guten Wir¬ 
kung dem Strychninzusatz zuzuschreiben 
ist bei ausgesprochen guter Beeinflussung 
der Basedowsypmtome. Zusamnienfas- 
send möchte ich der Meinung Ausdruck 
geben, daß der Praxis in der Soiarson- 
Strychninmischung ein brauchbares Prä¬ 
parat dargeboten ist zur Behandlung von 
Schwächezuständen des Nervensystems, 
zur Erzielung einer gewissen Euphorie und 
zur Linderung nervöser Herzbeschwerden. 
Da dem Strychnin von den meisten 
Autoren eine Erhöhung des Blutdruckes 
zugeschrieben wird, so möchte ich seine 
Anwendung nicht befürworten bei be¬ 
ginnender Arteriosklerose, deren nervöse 
Grenzsuztände ich gern mit Elarson oder 
So'larson behandle. 

Die Elberfelder Farbenfabriken h-aben 
die Solarson - Strychninmischung mit dem 
Namen Optarson benannt; die Ergeb¬ 
nisse meiner Prüfung lassen mich hoffen, 
daß das neue Medikament dieser optimis¬ 
tischen Bezeichnung Ehre machen wird. 


Erfahrungen mit Aspirin, besonders als Hustenmittel. 

Von Geh. San.-Rat Dr. Hügers (Bad Reinerz). 


In Nr. 32 der D. m. W. hat Wilh-elm 
Ebstein auf die hustenlindernde Wir¬ 
kung des Aspirin hingewiesen; zahlreiche 
Erfahrungen am eigenen Leibe und in der 
ärztlichen Praxis haben mir diese be¬ 
stätigt. 

Nach einem in meiner Studienzeit über¬ 
standenen schweren Empyem, welches 
meine vitale Lungenkapazität dauernd 
auf 2000 bis 2200 ccm herabdrückte, 
blieb ich für Erkrankungen der Atmurigs- 
organe besonders disponiert und seit 
Ende der achtziger Jahre jedem neuen 
Auftreten der Influenza preisgegeben. 
Beginnend mit den gewöhnlichen ner¬ 
vösen Symptomen kam es fast regelmäßig 
zu Bronchitiden, Lobulärpneumonien, 
p'leuritischen Reizungen und wochen- und 
monatelangen Niederlagen. 

Charakteristisch war intensiver quälen¬ 
der Hustenreiz, der mich am Einschlafen 
hinderte und zwang, halbe Nächte in 
sitzender Stellung zuzubringen. 

Gichtische Anlage, die im Jahre 1898 
den ersten schweren Podagraanfall 


machte, mag an der Heftigkeit der 
Katarrhe mit Schuld tragen. 

Die Annahme, daß erhöhte Tempera¬ 
tur an dem unstillbaren, namentlich 
abends auftretenden Husten schuld sei, 
erwies sich als irrig, da ich fast regelmäßig 
nur morgens und vormittags erhöhte 
Temperatur hatte. 

Narcotica, auch- nach Dettweilers 
Empfehlung in Verbindung mit Anti- 
pyreticis genommen, halfen nicht viel. 
Mit der Einführung des Aspirin wurde 
das ganz anders. Zufällig beobachtete 
ich, als ich abends wegen Kopfschmerz 
Aspirin nahm, daß ich nicht nur leicht 
einschlief, sondern auch, daß der quälende 
Husten ausblieb. 

Seitdem habe ich regelmäßig beim 
ersten Anzeichen von. Influenza Aspirin 
genommen mit dem Erfolge, daß die An¬ 
fälle leichter und schneller verliefen, und 
daß der gefürchtete Husten ausblieb. 
Meine Erfahrungen in der Praxis waren 
gleichgute. 

In den ersten Krankheitstagen ge¬ 
nügten drei Dosen zu 0,5 in 24 Stunden, 




118 


Die Therapie der Geg;enwart 1921 


März 


dann zwei und vom fünften Tage 
ab noch eine abendliche Dosis von 
0,5 g. 

Ich kann mich der Anschauung nicht 
erwehren, daß Aspirin 1. ein hervor¬ 


ragend wirksames Hustenmittel ist, 2. das 
Einschlafen erleichtert, und 3. bei In¬ 
fluenza ähnlich wie bei den Rheumatoid- 
Erkrankungen eine specifische Wirkung 
entfaltet. 


Über den Einfluß der Seife auf Tuberkulose. 

Von Wilhelm Bergmann (Andernach a. Rh.) 


Veranlassung zu. der folgenden 
Mitteilung gab ein hartnäckiger Fall 
eines tiefgreifenden tuberkulösen Anal- 
eschwürs, welches durch Seifenbehand¬ 
lung fast ganz geheilt ist. Es betraf 
einen mäßig arteriosklerotischen, fünfzig¬ 
jährigen Patienten mit ausgeheilter Spit¬ 
zentuberkulose, bei dem eine eiternde 
äußere Analfistel von 15 mm Tiefe zu 
einem hartnäckigen' quälenden Ekzem 
geführt hatte. Im Fisteleiter konnte ich 
Tuberkelbacillen nachweisen. Eine Ope¬ 
ration lehnte der Patient ab. Nachdem 
das Ekzem durch Ruhe und Umschläge 
mit essigsaurer Tonerde beseitigt war, 
ließ ich die Analgegend vier Monate lang 
täglich mit Wasser und Seife reinigen 
und m die Fistel einen mit Jodoform be- 
puderten Jodoformgazetampon einführen. 
Als die Eiterung danach nicht zum Still¬ 
stand kam, empfahl ich jeden Morgen 
nach der Defäkation die Analgegend wie 
bisher mit Wasser und Seife zu reinigen, 
dann aber die ganze Gegend, insbesondere 
die Stelle der Fistelöffnung, tüchtig mit 
Seife einzureiben und erst nach % Stunde 
abzuspülen. Nach drei Wochen hörte die 
Eiterung vollständig auf. Auch keine 
Spur von Eiter war mehr zu bemerken. 
Bis auf den heutigen Tag setzt Patient 
die Behandlung noch fort. Die Fistel ist 
bis auf 2 mm zugeheilt. 

Es dürfte demnach wohl keinem Zwei¬ 
fel unterliegen, daß unter der Seifenbe¬ 
handlung die Heilung des tuberkulösen 
fistulösen Geschwürs sich vollzieht bzw. 
zum größten Teil bereits Vollzogen hat. 

Im vorliegenden Falle lagen die Ver¬ 
hältnisse für das völlige Eindringen der 
Seife in das Fistelinnere ausnahmsweise 
günstig, da der Fistelgang ziemlich gerad¬ 
linig verlief und von vornherein nicht 
sehr in die Tiefe ging. Es kann also an¬ 
genommen werden, daß die Seife bei der 
Einreibung in den Ifistulösen Gang hinein¬ 
gepreßt worden ist. 

Ob allein das Eindringen der Seife von 
der äußeren Öffnung her in das Fistel¬ 
innere oder ob auch oder gar haupt¬ 
sächlich die Durchdringung der Haut 


heilend in Betracht kommt, ist in Anbe¬ 
trachtkrummliniger und verästelter Fistel¬ 
gänge, wie sie oft genug Vorkommen, 
unter Umständen von großer Bedeutung. 

Wenn man sich vorstellt, was ge¬ 
schieht, wenn eine Hautstelle tüchtig mit 
Seife eingerieben wird, so erscheint es 
sehr wohl denkbar, 'daß die Seife bis in 
die Lymphspalten der Stachel- und Riffel¬ 
zellenschicht und von da aus mit dmi 
Lymphstrom in den Blutkreislauf gelangt; 
denn durch die chemische Wirkung der 
Seife wird die normalerweise auf der 
Oberfläche der Haut befindliche Fett- 
bzw. Talgschicht aufgelöst und entfernt. 
Dadurch wird die Haut gewissermaßen 
zur Resorption befähigt. Ist doch der 
Erfolg der Kappesserschen Schmier¬ 
seifeneinreibung wohl sicher auf die per- 
cutane resorbierende Wirkung zurück¬ 
zuführen. 

Nach Matthes ist bei chronischen 
Peritonitiden die Einreibung von 5 g 
Schmierseife in die Haut des Abdomens 
oft von gutem Erfolge gewesen. 

Nach His ist die Kappessersche 
Schmierseifenbehandlung geeignet, Drü¬ 
sengeschwülste und Dermatosen zum 
Schwinden zu bringen. Er empfiehlt 
V 2 —^ Kaffeelöffel voll Schmierseife jeden 
zweiten Tag mit wenig Wasser auf Rük- 
ken, Brust oder Bauch sanft einzureiben 
und nach einer Viertelstunde im Bade 
oder mit lauwarmem Wasser abzuwaschen. 

Während in solchen Fällen die Ein¬ 
wirkung der Seife vermittels des Strom¬ 
kreises der Körpersäfte anzunehmen ist, 
dürfte im vorliegenden Falle der Fistula 
ani externa eine direkte Wirkung der 
Seife an Ort und Stelle in Betracht kom¬ 
men. 

Die chirurgische Behandlung der Mast¬ 
darmfistel ist zweifellos das mit Recht 
dominierende Verfahren. Aber es sind 
doch in manchen Fällen Rezidive und 
unangenehme Folgezustände, wie Incon¬ 
tinentia alvi, nicht zu vermeiden. 

Auch aus diesen Gründen dürfte es 
zu empfehlen sein, in geeigneten Fällen 





119 


Mäfz Die Therapie der Gegenwart 1021 


Seifenbehandlung bei Fisteln zu ver¬ 
suchen. 

Im Anschluß an diesen Fall möchte ich 
die Aufmerksamkeit auf etwas lenken, was 
uns vielleicht, wenn präzise Nachfor¬ 
schungen dieselben Resultate ergeben 
sollten, wie sie aus den nachfolgend aiif- 
geführten statistischen Angaben hervor¬ 
zugehen scheinen, im Kampfe gegen die 
Tuberkulose weiterbringen würde. 

In der Zeit vor meiner Hiilstättentätigkeit 
— von 1909 bis Ende 1917 bin ich Heilstätten¬ 
arzt gewesen — waren mir nur sehr wenige Fälle 
von Lungentuberkulose bei Wäscherinnen vor 
Augen .gekommen. So wenig, daß es mir auffiel, 
und ich beschloß, dieser Erscheinung mal näher 
auf den Grund zu gehen und nachzuforschen, ob 
es nicht lediglich etwa 'Zufall wäre. Ich habe 
mich damals in einem Schreiben an das Reichs¬ 
gesundheitsamt gewendet und angefragt, ob es 
Statistiken gäbe, aus welchen zu ersehen wäre, 
in welchem Zahlenverhältnis die einzelnen Be¬ 
rufsklassen von der Tuberkulose ergriffen seien. 
Soviel ich mich entsinne, war der Bescheid ein 
negativer. 

In der Lungenheilstätte, in welcher ich tätig 
gewesen bin, war alles auf Tuberkulinbehand¬ 
lung eingestellt, weil der Chefarzt ein sehr eifriger, 
um nicht zu sagen enragierter Tuberkulinthe¬ 
rapeut war, welcher diese Behandlung für wich¬ 
tiger als das hygienisch-diätetische Heilverfahren 
hielt. • 

Von dem Geiste, der in jener Heilstätte 
herrschte, wurde auch ich ergriffen, und so 
hatte ich den Gedanken, welcher mich veranlaßt 
hatte an das Kaiserliche Gesundheitsamt zu 
schreiben, ganz aus dem Auge verloren. 

Daß nur so wenig an Lungentuberkulose 
erkrankte Wäscherinnen mir vor Augen gekommen 
sind, war mir gerade deshalb so besonders auf¬ 
fallend erschienen, weil doch gerade jene Erwerbs¬ 
klasse nach meiner Ansicht in bezug auf Tuber¬ 
kuloseinfektion ganz besonders gefährdet sein 
müßte. Da die Wäscherinnen die Wäschestücke 
natürlich nur im trocknen Zustande eingeliefert 
bekommen, so sind auch die daran haftenden 
Sputumteile der phthisischen Kundschaft in 
trocknem Zustande. Beim Hantieren mit diesen 
Wäschestücken findet ein Rütteln und Schütteln 
statt, wodurch die trocknen Sputumstäubchen 
und mit ihnen die Tuberkelbacillen in die Luft 
geraten und von den Wäscherinnen sicher in 
Mengen eingeatmet werden. 

Man müßte daher annehmen, daß sehr viele 
der Wäscherinnen der Tuberkulose zum Opfer 
fielen. Wenn aber das gerade Gegenteil der Fall 
ist, wie es nach den folgenden statistischen An¬ 
gaben zu sein scheint, dann ist das nicht anders 
zu erklären, als daß mit der Beschäftigung des 
Waschens etwas verbunden sein muß, was einen 
Schutz gegen die Tuberkulose verleiht. 

Ich gebe zunächst in folgendem einen Auszug 
aus den mir zur Verfügung stehenden Jahres¬ 
berichten der Kaiserin-Augusta-Victoria-Volks¬ 
heilstätte in Landeshut in Schlesien wieder: 

Es waren im Jahre 

1904 unter 84 Pfleglingen 0 Wäscherinnen 

1905 „ 328 „ 2 

1907 „ 407 • „ 0 

1908 „ 724 „ 0 

1909 „ 747 „ 5 

1910 „ 750 „ 3 


1911 unter 827 Pfleglingen 1 Wäscherinnen 

1912 „ 883 „ 2 

1913 „ 684 „1 

1914 „ 745 „ 3 

1915 „ 674 „ 2 

Also 0—^/7%, in allen außer einem Jahre 
unter ^/3%. Zu bemerken ist dazu noch, daß die 
Pfleglinge aus allen Gegenden Schlesiens, ins¬ 
besondere aus Breslau und anderen großem Städten, 
und aus dem industriereichen Oberschlesien 
stammen, wo sicher viele Personen dem Gewerbe 
der Wäscherei obliegen. 

Nach dieser Feststellung dürfte es nun wohl 
von wachsendem Interesse sein, mal zu sehen, 
wie es denn in andern Frauenheilstätten mit diesen 
Verhältnissen steht. 

Ich wandte mich nun dieserhalb an den Chef¬ 
arzt der nächstgelegenen Frauenheilstätte, Herrn 
Dr. Schüler in Waldbreitbach, und fragte an, ob 
seine Heilstätte im-Jahresberichtsaustauschver¬ 
hältnis mit den andern Heilstätten Deutschlands 
stände. Mich interessierten besonders die Berichte 
der Frauenheilstätten. Zutreffendenfalls bäte 
ich ihn, mir Einblick zu gewähren. 

Herr Dr. Schüler hatte nun die außerordent¬ 
lich große Freundlichkeit, mir gleich eine Anzahl 
Berichte zu übersenden, wofür ich ihm an dieser 
Stelle meinen ergebensten Dank auszusprechen 
nicht verfehlen möchte. Ich lasse nun hier einen 
Auszug aus diesen Berichten folgen. 

Es waren in der Heilstätte in Öberkaufungen 
bei Cassel im Jahre 1910 unter 181 Frauen 0, 
1912 unter 341 Frauen 3, 1913 unter 363 Frauen 
2 Wäscherinnen, 1916 unter 573 Frauen 1 
Wäscherin; in Slaventzitz (Oberschlesien) 1910 
und 1911 unter 362 Frauen unter der Rubrik der 
Wäscherinnen und Plätterinnen 3; in Fürth i. B. 
1910 unter 361 Frauen 0, 1911 unter 364 Frauen 
2 Wäscherinnen; in Cottbus 1910 unter 485 
Frauen 4 Arbeiterinnen in Wäschereien, eben¬ 
daselbst 1911 unter 524 Frauen 3 Arbeiterinnen 
in Wäschereien. Es ist aus diesen letzten An¬ 
gaben nicht zu erkennen, ob es gerade speziell 
Wäscherinnen waren; denn es können auch 
Plätterinnen oder sonst in der Wäscherei be¬ 
schäftigte Personen gewesen sein, im Jahre 1915 
ebendaselbst unter 435 Frauen nur 1 Wäsche¬ 
arbeiterin; in Waldbreitbach 1916 unter 667 
Frauen in der Rubrik der Büglerinnen und 
Wäscherinnen 2, 1916 unter 824 Frauen unter 
der Rubrik Büglerinnen und Wäscherinnen 8. 

Von den vom Kölner Verein zur Verpflegung 
Genesender 1918/19 in Kurorte bzw. Heilstätten 
geschickten 476 weiblichen Lungenkranken sind 
unter der Rubrik der Putzfrauen, Wäscherinnen, 
Büglerinnen 21 aufgeführt. 

Also in den Heilstätten, in welchen die 
Wäscherinnen allein unter einer besonderen 
Rubrik aufgeführt sind, 0—%, in denjenigen 
Heilstätten, in welchen zugleich mit den Wäsche¬ 
rinnen auch Plätterinnen aufgeführt sind, ^—1%. 

Die Zahlen vom Kölner Verein zur Ver¬ 
pflegung Genesender sind kaum zu verwerten, da 
außer Plätterinnen auch noch Putzfrauen in der 
Rubrik der Wäscherinnen aufgeführt sind. 

Man kann aus solchen Angaben keine ver¬ 
wertbaren Schlüsse ziehen, auch nicht etwa den 
derjenigen steigernden Tendenz in den Kriegs- 
zeiten, welche etwa auf Mangel an Seife zurück¬ 
geführt werden könnte. Aber selbst wenn es 
sich lediglich um Wäscherinnen handelte, käme 
für den steigenden Prozentsatz mindestens ebenso 
sehr, wenn nicht noch mehr, die Ernährungsnot 
in Betracht. 




120 ' Dk; Therapie-'der ^Qegemvatt. 192.1' Mät-z 


Jedenfalls aber lassen die statistischen An¬ 
gaben aus den hier herangezogenen Jahres¬ 
berichten erkennen, daß in den Heilstätten der 
verschiedensten Gegenden Deutschlands überall 
dieselben Zahlenverhältnisse vorherrschen: 
0-^/7 %. 

Das Bild wird sich auch wohl kaum ändern, 
wenn man noch mehr Frauenheilstätten in den 
Kreis der Erwägung zieht. Es ergibt sich also, 
daß die Zahl der lungenkranken Wäscherinnen 
in allen Frauenheilstätten eine tatsächlich ganz 
auffallend geringe ist. 

Ob man aber berechtigt ist, aus diesen 
Verhältnissen den allgemeinen Schluß 
zu ziehen, daß die Tuberkulose unter 
den Wäscherinnen überhaupt sehr selten 
sei, dürfte trotzdem noch sehr fraglich 
sein; denn gar manche Arbeiterfrau be¬ 
schäftigt sich neben ihrer Hausfrauen¬ 
tätigkeit m-it Waschen. Und von diesen 
Frauen sind viele nicht mehr in der Lan¬ 
desversicherung, haben also keinen An¬ 
spruch mehr auf Heilstätten-Heilver¬ 
fahren durch die Landesversicherung. 

Dem steht allerdings gegenüber, daß 
vielen solcher Frauen im Erkrankungs¬ 
falle Heilverfahren auf Kosten der Armen¬ 
verwaltung und wohltätiger Vereine, na¬ 
mentlich derjenigen zur Bekämpfung der 
Tuberkulose gewährt werden. 

In Anbetracht der nicht ganz sicheren 
Faktoren der Berechnung habe ich mich 
der Mühe unterzogen, die Sterberegister 
der Stadt Andernach vom Jahre 1913 bis 
1919 einer genauen Durchsicht zu unter¬ 
ziehen. 

Es ist unter den an der Tuberkulose gestorbenen 
weiblichen Personen nicht eine einzige Wäscherin 
aufgeführt. Dabei ist aber zu bedenken, daß unter 
anderen eine Anzahl verheirateter Frauen in 
Betracht kommt, bei denen nur das Gewerbe 
bzw. der Stand des Mannes angegeben ist. Wenn 
auch in manchen dieser Fälle aus dem Stande 
und Gewerbe des Mannes, wie z. B. Baumeister, 
Regierungssekretär, Postsekretär, Lokomotiv¬ 
führer, Schlossermeister usw., zu schließen ist, 
daß sich die Frauen wohl nicht mit Waschen 
nebenbei Geld verdient haben, so bleiben die 
Sterberegister doch leider eine solche Unterlage 
für die in Betracht kommenden Statistiken, 
daß sie für sich allein nicht ausreichend sind. 
Man kann aber auf Grund dieser Unterlagen doch 
zu einem sehr brauchbaren Resultat gelangen, 
wenn man bezüglich der an Tuberkulose ge¬ 
storbenen Arbeiterfrauen in deren Familie oder 
sonstwo nachforscht, ob sie etwa Waschfrauen 
gewesen sind. Das liegt durchaus im Bereiche der 
Möglichkeit und es wäre sehr zu wünschen, daß 
es geschehe, wenn nicht bereits dem Verfasser 
unbekannte Statistiken vorliegen, aus denen sich 
ergibt, daß die Wäscherinnen genau in demselben 
Verhältnis oder noch mehr an Lungentuberkulose 
erkranken, wie die andern Berufsklassen. 

Da jedoch die Sterberegister überall denselben 
Mangel der Angabe des Gewerbes verheirateter 
Frauen aufweisen wie in Andernach, so werden 
maßgebende Statistiken über die hier inter¬ 
essierende Frage bis jetzt wohl kaum irgendwo 
existieren. 


Ehe. man mit sicheren Verhältnissen 
im positiven Sinne re.chnen kann, dürfte 
es als verfrüht erscheinen, sich .Reflexi¬ 
onen darüber hitizugeben, woran es zu¬ 
treffend enfalles liege, daß so wenig 
Wäscherinnen, der Tuberkulose zum Opfer 
fallen. Da es indessen dazu dienen könnte, 
die in Betracht kommenden Behörden, 
die Verwaltungen der Städte und Ge¬ 
meinden zur Aufstellung brauchbarer Sta¬ 
tistiken aufzumun.tern, so dürfte es doch 
nicht ganz zwecklos seip. 

Zuvor möchte ich jedoch noch anführen, daß 
ich mich aus meiner Studentenzeit einer zur vor¬ 
liegenden Frage sehr interessanten Sektion er¬ 
innere. Es handelte sich um eine Wäscherin. 
Sie war nicht an Tuberkulose gestorben,, sondern 
an irgendeiner anderen Krankheit. 

Es war eine ziemlich kräftige Person. In 
beiden Lungenspitzen befanden sich Kavernen. 
Dieselben waren aber vol.lständig ausgeheilt. 
Ihre schiefrig verfärbten Wandungen bestanden 
aus Bindegewebe und zeigten an einzelnen 
Stellen leichte narbige Einziehungen. 

Es hatten also bei dieser Person sogar bereits 
tuberkulöse Einschmelzungsprozesse, und- zwar 
in beiden Lungenspitzen, stattgefunden, un.ddoch. 
war die Tuberkulose noch zur Ausheilung gelangt. 
Ob die Gestorbene schon lange Zeit Wäscherin 
gewesen war und ob die Tuberkulose während, 
dieser Zeit oder schon vorher ausgeheilt- war, 
weiß ich allerdings leider nicht. Jedenfalls aber 
ermuntert.auch dieser Fall zur Herstellung einer 
brauchbaren Statistik. 

Wenn genaue statistische Erhebungen 
unsere Resultate aus üen Heilstättenbe¬ 
richten bestätigen, dann kann es kein 
blinder Zufall sein, daß so wenig Wäsche- 
rinnen der Tuberkulose zum Opfer fallen, 
trotzdem sie doch der Gefahr der In¬ 
fektion wie kaum eine andere Berufsklasse 
außer Krankenpflegepersonal ausgesetzt 
sind. Dann könnten wir nichts Besseres, 
tun, als die Tuberkulösen -eben dasselbe 
tun zu lassen, was die Wäscherinnen tun: 
Stundenlange Einreibungen der Haut mit 
Seifenlauge und stundenlange Inhala¬ 
tionen von Seifenlaugendämpfen. Wir 
hätten dann eine Therapie der Tuber¬ 
kulose entdeckt, welche, nicht mehr erst 
erprobt zu werden brauchte, sondern 
längst erprobt wäre. Je größer das zu 
erhebende statistische Material sein wird, 
desto kleiner werden die Fehler und desto 
sicherer und zuverlässiger werden die 
Schlußfolgerungen sein, welche man dar¬ 
aus ziehen kann. 

Wenn also nicht bereits durch ein¬ 
wandfreie Unterlagen das Gegenteil er¬ 
wiesen ist, \vürde es sich empfehlen, die 
notwendigen statistischen Erhebungen 
wenigstens in einigen größeren Städten 
vornehmen zu lassen. 


Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urban&Schwarzenberg 
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Die Therapie der Gegenwart 


1921 


herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer 
in Berlin. 


April 


Nachdruck verboten. 

Die Grundlagen der Lichttherapie i). 


Von Dr. Fritz Schanz, 

Das Licht ist ein Gemisch von Strahlen 
verschiedenster Wellenlänge, deren Wir¬ 
kung auf unseren Körper wir ganz ver¬ 
schiedenartig empfinden.. Ein Teil wird 
von unserer Haut als Wärme wahrgenom¬ 
men, ein Teil vermag unsere -Netzhaut 
als Licht zu erregen, ein dritter Teil 
vermag weder in unserer Haut, noch in 
unserem Auge eine Empfindung auszu¬ 
lösen, für seine Wahrnehmung fehlt uns 
das Sinnesorgan, und doch ist er für 
unseren Organismus außerordentlich wich¬ 
tig. Er wird gebildet von den Strahlen, 
die im Spektrum jenseits von Violett 
liegen. Diese ultravioletten Strahlen 
verraten sich durch ihre chemische Wirk¬ 
samkeit. Mittels der photographischen 
und der fluorescierenden Platte lassen 
sich diese Strahlen wahrnehmen. Einsen 
hat zuerst erkannt, daß ihnen besondere 
Heilwirkungen zukommen. Er hat den 
Lupus der Haut geheilt dadurch, daß er 
Licht, das besonders reich an solchen 
Strahlen war, auf diese Krankheitsherde 
konzentrierte. Seine Behandlung hat 
zu glänzenden Resultaten geführt und 
allenthalben Anerkennung gefunden. 
Seine Erfolge gaben Veranlassung, auch 
bei anderen Tuberkuloseformen die Licht¬ 
behandlung zu erproben. So war es vor 
allem Dr. Bernhard in St-. Moritz, der 
zeigen konnte, daß Wunden aller Art 
unter der Einwirkung des. Sonnenlichtes 
auffallend rasch heilen. Während Bern¬ 
hard noch vorwiegend den Krankheits¬ 
herd und seine nächste Umgebung be¬ 
lichtete, konnte Rolli er in Leysin zeigen, 
daß man die beste Wirkung bei Bestrah¬ 
lung des ganzen Körpers erreicht. Die 
Ergebnisse dieser Behandlung sind viel¬ 
fach nachgeprüft und bestätigt worden. 
Wir sind um ein neues Heilmittel reicher. 
Wir kennen jetzt die Allgemeinbehand¬ 
lung innerer Leiden mit Licht. Mit Be¬ 
geisterung wird sie geübt, und doch gilt 
es erst noch, die Grundlagen dieser The¬ 
rapie genauer festzulegen. Das Aller- 

T Vortrag, gehalten in der Gesellschaft für 
Natur- und Heilkunde zu Dresden am 5. No¬ 
vember 1920. 


Augenarzt in Dresden. 

. erste muß sein das Studium des Lichts. 
Mit welchem Licht erreichen wir praktisch 
. die besten Erfolge? 

Bernhard hat seine Erfolge in 
St. Moritz, Ro liier in Leysin mit direkter 
Sonnenstrahlung erzielt. Es sind dies 
Orte in Höhenlagen von 1200 bis 1500 m. 

Das Sonnenlicht im Hochgebirge ist 
in seiner Wirkung dem Licht in dem Tief¬ 
land weit überlegen. Worin bestehen die 
Unterschiede zwischen dem Licht im 
Hochland und in der Tiefebene? Ist es 
lediglich die verschiedene Intensität des 
Lichts, dem diese Wirkung zukommt? 
Wäre dies der Fall, so müßte durch 
längere Exposition auch in der Ebene 
gleiche Wirkung zu erzielen sein. In 
Wirklichkeit stehen die Wirkungen im 
Tiefland denen im Hochgebirge so wesent¬ 
lich nach, daß man annehmen muß, 
daß die verschiedene Zusammensetzung 
des Lichtes dabei eine Rolle spielt. Das 
Licht im ultravioletten Teil des Spektrums 
muß erhebliche Unterschiede zeigen. Das 
Ultraviolett beginnt bei 2 400 und 
reicht im Sonnenspektrum günstigen¬ 
falls bis 2 290 Auch bei Ballon¬ 

fahrten bis 2 8000 hat man dieselbe 
Ausdehnung des Spektrums gefunden. 
Wenn auch die Ausdehnung des Spek¬ 
trums sich nicht ändert, so erleidet das 
Strahlengemisch beim Durchgang durch 
die Atmosphäre doch sehr erhebliche Ver¬ 
änderungen dadurch, daß die Strahlen 
je nach ihrer Wellenlänge verschieden 
stark beeinflußt werden. Je kurzwelliger 
sie sind, desto stärker werden sie absor¬ 
biert, reflektiert und diffundiert. Wolken, 
Nebel, Verunreinigungen der Luft ver¬ 
ändern die Zusammensetzung des Lichtes, 
aber schon die Moleküle der Luft allein 
wirken in diesem Sinn. Sie zerplittern 
den Lichtstrahl, diese Absplitterung des 
Lichtes an den Molekülen der Luft ist 
bedeutend stärker für die blauvioletten 
und ultravioletten als für die roten 
Strahlen. Auf dieser erhöhten Absplitte¬ 
rung des kurzwelligen Lichtes an den 
Molekülen der Luft beruht die gelbe 
Farbe der Sonne und die blaue Farbe 


16 





122 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


• April 


des Himmels. Wenn unsere Erde ohne 
Atmosphäre wäre, müßte der Himmel 
schwarz aussehen. Dadurch, daß das 
direkte Sonnenlicht bei dem Durchgang 
durch die Luft blauyiolette Strahlen in 
erhöhtem Maße verliert, erscheint, die 
Sonne unserem Auge gelb. Beim Sonnen¬ 
aufgang und -Untergang erscheint sie 
rot, ihr Licht hat eine größere und dich¬ 
tere Luftschicht zu passieren und ver¬ 
liert in erhöhtem Maße die blauvioletten 
Strahlen. Die blauvioletten Strahlen, 
die vom direkten Sonnenlicht abgesplit¬ 
tert werden, bedingen die blaue Farbe 
des Himmels. Je mehr das direkte 
Sonnenlicht in die Atmosphäre vordringt, 
desto mehr wird es an solchen Strahlen 
verlieren, diese kommen dabei immer 
mehr dem diffusen Himmelslicht zugute. 
In dem verschiedenen Gehalt des Lichtes 
an kurzwelligen Strahlen liegt die Er¬ 
klärung der Heilerfolge bei den Ver¬ 
suchen von Bernhard und Rollier und 
den ungenügenden Ergebnissen bei den 
ähnlichen Versuchen, die in der Ebene 
ausgeführt worden sind. Im Hochgebirge 
hat man die glänzendsten Erfolge zur 
Winterszeit. Im Sommer sind dort die 
entzündungserregenden Strahlen im Licht 
zu intensiv. Zu dieser Jahreszeit erzeugt 
dort das Licht heftige Entzündungen an 
der Haut und den Augen. Gletscherbrand, 
Schneeblindheit sind dann allgemein be¬ 
kannte Wirkungen des Lichtes. Im 
Winter treten diese Wirkungen nicht so 
hervor, die Patienten können länger dem 
Licht ausgesetzt werden, dem die heilende 
Wirkung zukommt. Rollier betont ganz, 
ausdrücklich, daß er selbst Entzündungen 
der Haut bei seinen Patienten möglichst 
zu vermeiden sucht dadurch, daß er sie 
erst allmählich an das Licht im Hoch¬ 
gebirge gewöhnt. 

Wenn wir im Tiefland versuchen 
wollen, das Sonnenlicht therapeutisch 
besser auszunützen, so wird es nötig, das 
Sonnenlicht im Hochgebirge mit dem im 
Tiefland vor allem in seinem Gehalt an 
Ultraviolett zu vergleichen. Dafür be¬ 
saßen wir bis vor kurzem kein Instrument. 
Ich habe deshalb auf einem biologischen 
Weg zu zeigen versucht, daß das Ultra¬ 
violett im Tageslicht auch bei uns einen 
mächtigen Energiefaktor darstellt, den 
wir weit unterschätzen. An den Pflanzen 
sehen wir am besten die Wirkungen des 
Lichtes, und darum habe ich diese für 
meine Versuche gewählt. Ich habe den 
Pflanzen in Treibbeeten durch Gläser das 
ultraviolette Licht entzogen. Die Pflanzen 


zeigten auffällige Veränderungen in ihrer 
Gestalt. Sie wurden länger, die Blätter 
wurden schmäler, dünner, die Zwischen¬ 
glieder der Stengel länger und dünner. 
An allen Pflanzen waren bei ausgedehnten 
mehrere Jahre* wiederholten Versuchen 
ganz gesetzmäßig dieselben Veränderun¬ 
gen festzustellen. Das Ultraviolett des 
TageHichtes beeinflußt die Gestaltung 
unserer gesamten Vegetation. Das Edel¬ 
weiß, das von dem Hochgebirge in das 
Tiefland versetzt wird, zeigt diese Ver¬ 
änderung, es wird ein langaufgeschossenes 
Gewächs, das damit seine alpine Tracht 
verliert. Ich glaube auch die Erklärung 
für diese Erscheinung gefunden zu haben. 
In dem Biol. Zbl., Bd. 36, in den Berichten 
der Deutschen Botanischen Gesellschaft 
1918 und 1919 und in Pflüg. Arch., 
Bd. 181, sind diese Versuche ausführlich 
besprochen. 

Als ich diese Versuche angefangen 
hatte, hörte ich, daß Prof. De mb er einen 
Spektralphotometer für Ultraviolett kon¬ 
struiert hatte, mit dem er nach Teneriffa 
reiste, um dort Lichtmessungen vprzu- 
nehinen. Er wurde während des Krieges 
dort zurückgehalten, und so entschloß 
ich mich, mir selbst einen solchen Apparat 
zu bauen. Der Apparat, der in meiner 
Arbeit: Der Gehalt des Lichtes an Ultra- 
violett^) genauer beschrieben ist, ge¬ 
stattet nicht nur, das Sonnenlicht an 
verschiedenen Orten und zu verschie¬ 
denen Tageszeiten auf seinen Gehalt an 
Ultraviolett zu vergleichen, sondern auch 
mit dem Licht künstlicher Lichtquellen 
in Vergleich zu bringen. Mit dem Quarz- 
spektrographen hatte ich das Licht der 
für die Lichtbehandlung in Frage kommen¬ 
den Lichtquellen schon verglichen, das 
Dembersehe Instrument bot mir Ge¬ 
legenheit, diese Vergleiche weiter durch¬ 
zuführen. 

Fig. I .zeigt die Spektren der vier 
Lichtwellen, die für die Lichttherapie 
in Frage kommen. Das erste Spektrum 
ist dasjenige des Sonnenlichtes in Dresden. 
Das äußerste Ende im Ultraviolett ist 
bei der kurzen Expositionszeit nicht zum 
Ausdruck gekommen. Im Hochgebirge 
hat dies höhere Intensität, Das Spektrum 
reicht aber auch dort nicht weiter als 
etwa / 290 fifi.. Als Ersatz für das Licht 
im Hochgebirge wird das Licht der Quarz¬ 
lampe empfohlen, die mit einem Glüh¬ 
lampenring und einem Reflektor umgeben 
ist. Sie wird als ,,Künstliche Höhen- 

0 V. Graefes Arch. f. Ophthalm. Bd. 103. 





Die Therapie der Gegenwart 1Q21 


April 


123 


sonne“ allgemein angepriesen. Das 
dritte Spektrum ist dasjenige der Quarz¬ 
lampe. Es reicht bis gegen 220 ///<, 


60Ü 500 400 


300 


2 . 



Vso sec. 


Fig. 1. 


600 

Spektren 1. 


500 400 350 

des Sonnenlichts, 
4. 


300 


250 


Qi 


520 500 


1*50 


während das Sonnenspektrum nur bis 
/ 290 //// sich erstreckt. Das Spektrum 
des Sonnenlichtes ist kontinuierlich, das 
Spektruni des 
Quarzlichtes ist ein 
ausgesprochenes 
Linienspektrum, 
einige Lichtarten 
erreichen sehr hohe 
Intensitäten, wäh¬ 
rend andere voll¬ 
ständig fehlen. Ge¬ 
rade die ultra¬ 
violetten Strahlen, 
die im Sonnenlicht 
fehlen, sind beson¬ 
ders intensiv darin 
vertreten. Dieser Überschuß an Strahlen 
ist es, der rasch die Entzündungen der 
Haut erzeugt und verhindert, daß Sich 
die Patienten 
länger dem Licht 
aussetzen kön¬ 
nen, das vor 
allem heilend 
wirkt. Dem 
Sonnenlicht viel 
ähnlicher ist das 
Licht der offenen 
Bogenlampe.Das 
zweite Spek¬ 
trum stammt 
von einer solchen 
Lampe. Es ist 
viel gleichmäßi¬ 
ger als das Spek¬ 
trum der Quarz¬ 
lampe. Wenn es 
auch ebenso weit 
in das Ultra¬ 
violett reicht wie jenes, so enthält cs 
doch in diesem Spektralbereich keine 
Banden von einer Intensität wiedas Quarz¬ 
licht. Das vierte Spektrum ist das einer 
SOOOkerzigen Nitralampe. Der glühende 
Draht ist mit einer Glashülle umgeben, 


die das Spektrum des Lichtes, das der 
Glühfaden aussendet, stark verkürzt. 

Diese vergleichenden Untersuchungen 
„1 der Lichtquellen 

Beiichtzeit habe ich mittels 
des De mb ersehen 
Spektralphoto¬ 
meters für Ultra¬ 
violett weiter fort¬ 
zusetzen vermocht. 
Das Resultat wird 
illustriert durch die 
Kurven in Fig. 11. 

Kurve 1 ist diejenige 
des Sonnenlichtes, sie steigt bis zu einem 
Maximum, das bei / 370 /<// liegt, an¬ 
nähernd gradlinig an, dann fällt sie 


2. des offenen Bogenlichts, 3. der Quarzlampe 
der Nitralampe. 


g 




— 

1 1 






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\ . 

1 ^1' . . 


WO 


350 

fju fju l/^ellen/angen 


300 


250 


200 


F'ig. II. 1. SonnvnlichU 11. Offene Bogenlampe. III. Quarzlampe. IV. Nitralampe. 

I 

steil abwärts bis' / 320 mx und verläuft 
sich gegen / 300 ////. Die Kurve 11 ist 
j diejenige der offenen Bogenlampe, Kurve 



111 diejenige der Quarzlampe, Kurve IV 
d’e der 3000kerzigen Nitralampe. Die 
Kurven dieser drei künstlichen Licht¬ 
quellen sind in Fig. 111 besonders wieder¬ 
gegeben. Um die Einzelheiten besser 
darzustellen, wurde die Ordinate gegen 

16* 






124 


Die Tiierapie der .Gegenwart 1921 April 


Fig. II um das Vierfache vergrößert. 
Die Kurve (II) der offenen Bogenlampe 
zeigt ein langsames Ansteigen bis l 410 
unter Ausbildung einiger kleiner Maxima. 
Von X 410 f^i .1 steigt sie steil an und er¬ 
reicht ihr Maximum bei >1385 Dann 
fällt die Kurve ebenso rasch bis X 260 
bildet nochmals ein Maximum bei X 250 
und erreicht den Nullwert bei X 220 

Die Kurve (111) der Quarzlampe zeigt 
einen sehr wechselnden Verlauf. Es liegt 
dies daran, daß das Spektrum des Quarz- 
lichtes ein Linienspektrum ist. In dem 
Ultraviolett, das im Sonnenlicht gar nicht 
mehr enthalten ist, zeigt diese Kurve 
noch zwei hohe Maxima. Hier liegt die 
Ursache, daß das Quarzlicht so rasch 
entzündungserregend wirkt. 

Die Kurve (IV) der Nitralarnpe steigt 
zu einem flachen Maximum bei X 460 (.m 
an und fällt dann langsam bis X 330 
auf den Nullwert. 

'Wenn man sich nach diesem Vergleich 
die Frage vorlegt, mit welcher Licht¬ 
quelle läßt sich am ehesten ein Licht her- 
stellen, das das Sonnenlicht in der Thera¬ 
pie ersetzen kann, so wird kein Zweifel 
sein, daß man das Licht der offenen 
Bogenlampe vor allem für diese 
Zwecke a u s z u n ü t z e n versuchen 
muß. 

Mit dem Spektralphotoineter von 
Dember sind wir jetzt imstande, das 
Ultraviolett des Sonnenlichtes im Hoch¬ 
land mit dem im Tiefland und in allen 
Breitenlagen zu vergleichen. Wenn wir 
jetzt sehen, wie das Licht an verschiedenen 
Stellen der Erde Verschiedenartig wirkt, 
mit diesem Instrument vermögen wir 
zu- ermitteln, worauf diese verschieden¬ 
artigen Wirkungen beruhen. Mittels dieses 
Instrumentes werden wir auch heraus¬ 
finden, welchen Strahlen des Sonnen¬ 
lichtes vor allem die heilenden Wirkungen 
zukommen. 

Haben wir uns über die Eigenschaften 
des Lichtes, das für die Verwendung in 
der Therapie in Frage kommt, ein Urteil 
gebildet, so gilt es, sich die Frage vor¬ 
zulegen, wie wirkt das Licht auf unseren 
Organismus. Wenn wir darüber ein 
Urteil erlangen wollen, so müssen wir 
auf die elementarsten Wirkungen des 
Lichtes zurückgehen, wir müssen prüfen, 
welche Veränderungen die lebende Sub¬ 
stanz durch Licht erleidet. Mit dieser 
Frage habe ich mich zuerst^) befaßt, 

Wirkungen des Lichts auf die lebende 
Substanz, Pflügers Arch. f. Physiol. Bd. 161, 1 


als ich sah, wie die Augenlinse unter Ein¬ 
wirkung des Lichtes fluoresciert. Die 
Fluorescenz besteht darin, daß unsicht¬ 
bares, ultraviolettes Licht in länger- 
welliges, sichtbares verwandelt wird. Eine 
solche Umwandlung der Energie ist — 
rein physikalisch gedacht — undenkbar 
ohne Veränderung des Mediums, in dem 
die Umwandlung stattfindet. Ich legte 
mir daher bei^ der Augenlinse die Frage 
vor, wie kommt es, daß diese während 
des ganzen Lebens im Licht fluoresciert 
und daß uns an derselben keine Verände¬ 
rungen bekannt sind, die mit dieser Fluo¬ 
rescenz Zusammenhängen. Die Erwägung 
dieser Frage drängte mir die Vermutung 
auf, daß die Veränderungen in der Linse, 
die sich bei allen Menschen im Laufe des 
Lebens aüsbilden, mit dieser Umwand¬ 
lung der strahlenden Energie Zusammen¬ 
hängen. Es lagen schon Beobachtungen 
vor, die darauf hinwiesen. Ich habe sie 
systematisch weitergeführt; ich konnte 
schließlich zeigen, daß nicht nur Linsen¬ 
eiweiß, sondern auch andersartige Ei¬ 
weißlösungen durch Licht Veränderungen 
erleiden, die darin bestehen, daß aus 
leichtlöslichen Eiweißkörpern schwerer 
lösliche werden. Dann konnte ich zeigen, 
daß es zahlreiche Stoffe (Sensibilisatoren) 
gibt, die imstande sind, diesen Prozeß im 
positiven oder negativen Sinne zu beein¬ 
flussen. 

Welche Lichtstrahlen sind es, die 
diese Wirkungen erzeugen? Nur die 
Lichtstrahlen können in einem Medium 
zur Wirkung gelangen, die von ihm ab¬ 
sorbiert werden. Um festzustellen, welche 
Lichtstrahlen auf die lebende Substanz 
wirken, wurde es daher nötig, zu prüfen, 
welche Strahlen von ihr absorbiert we'rden. 
Die lebende Substanz besteht im wesent¬ 
lichen aus Eiweiß. Dialysierte Eiwei߬ 
lösungen sind leicht gelblich gefärbt, sie 
verraten dadurch schon, daß sie in Blau 
und Violett anfangen, Licht zu absor¬ 
bieren. Prüft man sie mittels eines 
Quarzspektrographen, so zeigt sich, daß 
ihr Absorptionsvermögen in Ultraviolett 
besonders intensiv ist^). Daraus ergibt 
sich, daß die Wirkungen des Lichtes, die 
wir an Eiweißlösungen wahrnehmen, vor 
allem von den ultravioletten Strahlen 
erzeugt werden. Sichtbare Strahlen wer¬ 
den nur dann wirksam, wenn ein Farb¬ 
stoff als Sensibilisator zugegen ist. ■ Dann 
werden diejenigen S.trahlen wirksam, die 

Lichtreaktion der Eiweißkörper, Pflügers 
Arch. Bd. 164 und Biochemische Wirkungen des 
1 Lichtes, ebenda Bd. 170. 




April 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


125 


ZU der Farbe des Farbstoffes komple¬ 
mentär sind. 

. Das, was ich hier für das leblose Ei¬ 
weiß gefunden, war an lebenden Organis¬ 
men zum Teil schon festgestellt. Wir 
wissen es schon aus den Arbeiten von 
Tappeiner und seinen Schülern. Ihnen 
war aufgefallen, daß -Infusorien bei sehr 
großer Verdünnung gewisser Farbstoffe 
zugrunde gingen, während sie manchmal 
bei viel höherer Konzentration am Leben 
blieben. Als Ursache stellte sich heraus, 
daß dies davon abhing, ob gleichzeitig 
Licht auf die Infusorien wirkte oder nicht. 
Von einer großen Anzahl Farbstoffe wurde 
dies festgestellt. Die Fluorescenz solcher 
Stoffe erschien Bedingung. Im Dunkeln 
sind solche Stoffe häufig völlig wirkungs¬ 
los. Sie wirken erst in Gegenwart von 
Licht, sie werden nicht etwa wirksam, 
weil sich im Licht eine Substanz bildet, 
die giftig wirkt. Man bezeichnet diesen 
Vorgang als optische Sensibilisation. Es 
liegen schon ausgedehnte Versuche vor, 
die zeigen, daß diese Sensibilisation auch 
bei den Warmblütern Vorkommen kann. 
Eosin ist ein vielfach erprobter Sensibili¬ 
sator. An diesem Farbstoff hat HerteU) 
gezeigt, daß es die zur Farbe komplemen¬ 
tären Strahlen sind, die dabei wirksam 
werden. Ein Farbstoff, der sich im Körper 
bildet und der einen sehr intensiven 
Sensibilisator darstellt, ist das Haemato- 
porphyrin. Meyer-Betz®) hat dies 
auch für den Menschen durch einen 
Selbstversuch bestätigt. 

Ganz besonders intensiv wirken auf 
die Eiweißlösungen die ultravioletten 
Strahlen, die im Tageslicht der Tiefebene 
so gut wie nicht enthalten sind. Ihre 
Wirkungen sind destruktuierend. Schon 
wenn wir aus dem Tiefland ins Hochland 
kommen und die Intensität der Strahlen 
um X 300 iiii zunimmt, sehen wif Ent¬ 
zündungen der Haut auftreten, beim 
Quarzlicht sehen wir solche Entzündungen 
schon nach kurz dauernden Belichtungen. 
Entziehen wir dem Quarzlicht durch 
Vorschalten eines Glases die Strahlen 
von weniger als X 300 so verliert es 
fast vollständig die Fähigkeit, entzün¬ 
dungserregend zu wirken. Wir müssen 
demnach zwei Arten von ultravioletten 
Strahlen unterscheiden: die Strahlen von 
X 400—300 /t/t und die von X 300—200 
Die letzteren fehlen dem Sonnenlicht in 
der Tiefebene fast vollständig, die ersteren 
sind in ihm viel intensiver vertreten als 

ö) Zschr. f. allgem. Physiol. 4—5. 

. 6) D. Arch.f. klin. Med. Bd. 112, S. 476, 1913. 


im Licht jeder künstlichen Lichtquelle. 
Den ersteren hat man bis jetzt zu wenig 
Beachtung geschenkt. Man hat sich nicht 
klar gemacht, daß zwischen den sicht¬ 
baren und . den destruktuierend auf die 
lebende Substanz wirkenden Strahlen 
noch ein großer Spektralbereich liegt, 
der biologisch besonders wirksam ist und 
bei dem wir die heilenden Wirkungen des 
Lichtes vor allem zu suchen haben. 

Wenn wir die Lichtstrahlen nach ihren 
Wirkungen auf die lebende Substanz 
einteilen wollen, so müssen wir vier 
Arten unterscheiden: 

1. die ultraroten: sie wirken auf die 
Moleküle, sie erhöhen deren Schwin¬ 
gungen und steigern die Temperatur, 
in die Moleküle selbst vermögen sie 
nicht einzudringen, chemische Ver¬ 
änderungen werden durch diese Strah¬ 
len nicht erzeugt; 

2. die sichtbaren: von diesen wirken 
auf die lebende Substanz diejenigen 
chemisch, die durch einen Farbstoff, 
der mit dem Plasma der Zelle eine 
innige Verbindung bildet, absorbiert 
werden. Es sind dies die Strahlen, die 
zu der Farbe komplementär sind. 
Die übrigen Strahlen aus diesem 
Wellenlängenbereich vermögen nur 
thermisch die lebende Substanz zu 
beeinflussen; 

3. die ultravioletten von etwa X 400 bis 
gegen X 300 mr. sie wirken direkt 
chemisch auf die lebende Substanz; 
sie vermögen ohne Vermittlung eines 
Sensibilisators in das Molekül einzu¬ 
dringen und dasselbe zu verändern; 
sie sind biologisch besonders wirksam; 

4. die ultravioletten Strahlen von weniger 
als X 300 ^i(i\ sie dringen auch in das 
Molekül, sie bewirken lebhafte chemi¬ 
sche Veränderungen, sie wirken 
destruktuierend auf die lebende Sub¬ 
stanz. Der Aufbau der lebenden Sub¬ 
stanz wird zerstört. Die Veränderun¬ 
gen, die diese Strahlen erzeugen, kann 
der Organismus nicht mehr ausnützen. 
Das Gewebe geht da, wo sie in erheb¬ 
licher Intensität einwirken, zugrunde. 

Aus diesen Untersuchungen ersehen 
wir, wie das Licht im allgemeinen auf 
die lebende Substanz einwirkt. Können 
wir solche Wirkungen des Lichtes auf 
unseren Körper im speziellen feststellen? 
An der Linse des Auges glaube ich diesen 
Prozeß zuerst genauer erkannt zu haben 7). 
Mit zunehmendem Alter verhärtet sich 


’) M. m. W. 1914, Nr. 34. 



Die Therapie der Gegenwart 1921 


April 


126 


der Linsenkern. Er absorbiert am meisten 
ultraviolettes Licht. Auf Kosten der 
leichtlöslichen Eiweißkörper bilden sich 
dort schwerer lösliche, die Linse verliert 
dadurch ihre Accommodationsfähigkeit, 
wir werden weitsichtig. Dadurch, daß der 
Kern der Linse verhärtet und in der 
Peripherie die Linsenfasern durch be¬ 
ständig wechselnde Anspannung des Ac- 
commodationsmuskels Verschiebungen er¬ 
leiden, kommt es zur Lockerung der 
Linsenstruktur und mit der Zeit zu 
Trübungen. Es kommt zur Bildung des 
Altersstars. Die eigenartige Verteilung 
der ultravioletten Strahlen in der Linse, 
die mehr oder weniger homogene Struktur 
derselben, die durch Licht bedingten Ver¬ 
änderungen des Kapselepithels beein¬ 
flussen den Prozeß. Die Wirkungen des 
Lichtes auf die Linse müssen sich durch 
das ganze Leben summieren, weil die 
Linse nicht imstande ist, auf Lichtreize 
zu reagieren, sie ist nerven- und gefäßlos. 
Anders liegt es bei der Haut.Diese reagiert 
lebhaft auf Lichtreize und doch bleiben 
mit der Zeit Veränderungen bestehen. 
Man vergleiche nur die Haut, die viel der 
Lichtwirkung ausgesetzt ist, mit der¬ 
jenigen, die gewöhnlich vor Licht ge¬ 
schützt wird. Die Veränderungen der 
Augenlinse sind mit diesen Veränderungen 
der Haut in Analogie zu stellen. 

Ultraviolette Strahlen wirken am 
Auge auch auf die Netzhaut. Diese 
Strahlen sind direkt nicht sichtbar. Sie 
bewirken aber ebenso wie in der Linse 
Fluorescenz in der Netzhaut. Von der 
Hoeve^) hat gezeigt, daß diese Strahlen 
imstande sind, gegen Ende des Lebens 
auch in der Netzhaut Schädigungen zu 
erzeugen. Er zeigte, daß sich die senile 
Degeneration der Netzhautmitte bei sol¬ 
chen Menschen fand, die eine auffallend 
klare Linse besaßen. Er fand einen ge¬ 
wissen Gegensatz zwischen sensiblem Star 
und seniler Makuladegeneration. Er 
erklärt dies aus der Heterogenität der 
Linse. Eine sehr homogene Linse läßt 
das Ultraviolett besser durch, sie ist 
ein geringerer Schutz der Netzhaut als eine 
heterogene, die letztere neigt mehr zur 
Starbildung als jene. 

Eigentümliche Sehstörungen sehen wir 
bei den toxischen Amblyopien. Die Mittel, 
die toxische Amblyopien erzeugen, absor¬ 
bieren erheblich im Ultraviolett. Das 
legte den Gedanken nahe, daß es sich 
bei diesen Erkrankungen um optische 

®) V. Graefes Arch. f. Ophthalm. 98. 


Sensibilisationen der Netzhaut handelt?). 
Um dies zu prüfen, habe ich Kaninchen 
Optochin und Methylalkohol in den 
Rachen geträufelt, habe ihnen das eine 
Auge lichtdicht geschlossen und das 
andere Auge dem Tageslicht exponiert. 
Auf den dem Licht ausgesetzten Auge 
erhielt ich Veränderungen der Netzhaut 
und des Sehnerven, ,an den dunkel ge- 
gehaltenen Augen waren keine Verände¬ 
rungen festzustellen. Durch die Einver¬ 
leibung des Optochins und Methylalkohols 
hatte Licht, dem wir uns sonst ungefähr¬ 
det aussetzen, die Fähigkeit erlangt, die 
Netzhaut schwer zu schädigen. Meine 
Vermutung wurde durch diese Versuche 
bestätigt, bei den toxischen Amblyopien 
handelt es sich um optische Sensibili- 
sation der Netzhaut. 

Das Licht vermag im Serumeiweiß 
auf Kosten der leichtlöslichen Eiwei߬ 
körper schwererlösliche zu bilden. Auch 
im Serumeiweiß vermögen Sensibilisa¬ 
toren, die sich im Körper bilden.oder ihm 
mit der Nahrung zugeführt werden, diese 
■Veränderungen zu beeinflussen. Das 
hatten mir schon früher vorgenommene 
Untersuchungen gelehrt, und ich hatte 
auch schon früher^o) gezeigt, daß solche 
Vorgänge beim Sonnenstich-Hitzschlag 
eine Rolle spielen. Jetzt habe ich eine 
Untersuchung über die Wirkung des 
Lichtes auf das Blut abgeschlossen 
in der ich zeigen konnte, daß das Licht 
auch die Haemolyse und den Zerfall des 
Blutfarbstoffes beeinflußt, und daß auch 
dabei den Sensibilisatoren besonderer Ehi- 
fluß zukommt. Eosm, Haematoporphyrin, 
Optochin, Chinin, vermögen die Wirkung 
des Lichtes auf die Haemolyse und die 
Zersetzung des Blutfarbstoffes wesentlich 
zu steigern. 

Bei diesen Versuchen beschäftigte 
mich besonders das Nitrobenzol. Während 
des Krieges sind bei Arbeitern in Muni¬ 
tionsfabriken eigenartige Erkrankungen 
beobachtet worden, die durch Nitrobenzol 
erzeugt waren. Nitrobenzol absorbiert 
sehr intensiv Ultraviolett, es wirkt als 
mächtiger Sensibilisator auf das Blut im 
Reagenzglas. Ich bin der Ansicht, daß 
es auch im lebenden Körper in gleicher 
Weise zur Wirkung gelangt. Die Zahl 
der Erkrankungen bei Munitionsarbeitern 
war im Winter gering und hat im Sommer 

Wirkungen des Lichtes bei den toxischen 
Amblyopien, Ztschr. f. Augenheilk. Bd. 43. 

1®) Sonnenstich—Hitzschlag, M. m. W. 1915, 
Nr. 29. 

Ztschr. f. phys. u. diätet. Therapie, Bd. 24. 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


April 


127 


stark zugenonimen. Koelsch, der diese 
Erkrankungen eingehender bearbeitet hat, 
nimmt an, daß die Wärme die starke 
Zunahme der Erkrankungen bedingt hat. 
Nach meinen Versuchen ist anzunehmen, 
daß die erhöhte Lichtwirkung die Zu¬ 
nahme der Erkrankungsfälle im Sommer 
verursacht hat. Meiner Überzeugung 
nach handelt es sich bei den Nitrobenzol¬ 
vergiftungen auch um optische Sensibili- 
sation des Blutes. 

Nitrobenzol wirkt auch als Sensibili¬ 
sator auf die Netzhaut, bei derartigen 
Munitionsarbeitern sind vielfach auch 
toxische Amblyopien zur Beobachtung 
gekommen. 

Auch bei dem haemolytischen Ikterus, 
dessen Aetiologie noch sehr im Dunkeln 
liegt, wäre zu prüfen, ob nicht auch da 
die optische Sensibilisation eine Rolle 
spielt. Das Krankheitsbild der Nitro¬ 
benzolvergiftung ist diesem sehr ähnlich. 

Bei der Behandlung der Malaria mit 
Chinin erwähnten Ziemann und Nocht, 
daß mehrfach nach Chinin Albuminurie 
aufgetreten ist, die sich stets als Zeichen 
beginnender Haemolyse herausstellte. 
Chauffert und Ziemann beobachteten 
bei Chininbehandlung zuweilen Urobili- 
nurie, sie erklärten diese aus dem ver¬ 
mehrten Zerfall infizierter roter Blut¬ 
körperchen. Könnte nicht auch das 
Licht bei Gegenwart von Chinin den ver¬ 


mehrten Zerfall der Blutkörperchen be¬ 
dingt haben? 

Als Folgeerkrankung der Malaria wird 
das Schwarzwasserfieber angesehen. Fast 
ausschließlich wird die weiße Rasse davon 
betroffen. Chinin wird bei Malaria all¬ 
gemein gebraucht, es ist ein ausgezeich¬ 
neter optischer Sensibilisator.. Könnte 
es sich bei dem Schwarzwasserfieber nicht 
auch um eine optische Sensibilisation 
handeln? Die Frage ist von einer Seite 
schon einmal aufgeworfen worden, von 
anderer wurde dies bestritten, weil solche 
Erkrankungen auch zu Zeiten vorkämen, 
wo nicht die größte Sonnenglut herrscht. 
Dieser Grund braucht nicht stichhaltig 
zu sein. Nur die Strahlen an der Grenze 
der Sichtbarkeit kommen für eine solche 
Sensibilisation in Frage, denn nur diese 
können bis zum Kapillarnetz der Haut ein- 
dringen. Diese Strahlen aber sind infolge 
der eigentümlichen Verteilung des Lichtes 
durch die Atmosphäre bei leicht bedeck¬ 
tem Himmel in diffusem Tageslicht 
stärker vertreten als im blauen Himmels¬ 
licht. Ohne genaueres Studium der 
Lichtverhältnisse in den Tropen läßt 
sich die Möglichkeit, daß das Schwarz¬ 
wasserfieber eine Sensibilisationserkran- 
kung ist, nicht abweisen. Untersuchungen 
mit dem oben erwähnten Apparat von 
Dember wären geeignet, diese Frage zu 
klären. 


Aus der I. medizinisclieii Klinik der Universität Berlin (Direktor: Geh. Med.-Bat Prof. Dr.JHis). 

Über „Lytophan‘S eine Phenylchinolindicarbonsäure. 

Von Prof, D.r. F. Gudzent und cand. med. Toh. Kein. 


Von der Firma C. A. F. Kahlbaum, 
Adlershof, wurde uns zur klinischen Prü¬ 
fung eine Phenylchinolin-Dicarbonsäure 
übergeben, von folgender Konstitutions¬ 
formel: 

COOH 

I I \=C,,HnNO, 

\/\/ 

N COOH 

Das Präparat unterscheidet sich von 
dem bereits bekannten Atophan dadurch, 
daß es eine Carboxyl-Gruppe mehr ent¬ 
hält, als die Phenylchinolin-Carbonsäure. 
Es ist demnach zu erwarten, daß es auch 
in seiner biologischen und therapeutischen 
Wirkung dem Atophan ähnlich ist. Da 
es aber mancherlei Vorzüge sowohl hin¬ 
sichtlich seiner Giftigkeit, als auch seiner 
Bekömmlichkeit haben sollte, glaubten 
wir das Präparat einer klinischen Prüfung 


unterziehen zu dürfen. Die pharma¬ 
kologische Prüfung des Präparates wurde 
von Dr. Joachimoglu vom pharmako¬ 
logischen Institut der Universität Ber¬ 
lin vorgenommen und ergab folgendes 
Resultat: 

,,Es wurde eine Lösung benutzt, die 
3 % Dicarbonsäure in Sodalösung (2^/4 % 
Soda) enthielt; die Lösung reagierte gegen 
Lackmus ganz schwach alkalisch. 

Frösche: Bei Injektion an Land¬ 
fröschen (25 g) in den Brustlymphsack 
in Mengen von 15 bis 30 mg reiner Di¬ 
carbonsäure traten auch nach drei Tagen 
keinerlei Symptome auf. 

Bei Atophan beobachtete Starken- 
stein^) nach Mengen von 20 mg Atophan- 
Natrium erst erhöhte Reflexerregbarkeit 
und dann Lähmung. 

D Biochem. Zschr. Bd. 106, H. 416, S. 172 
bis 189, 1920. 





128 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


April 


Kaninchen: Bei Kaninchen mit 
einem Körpergewicht von 1, 8 kg treten 
bei subcutaner Injektion von 0,5 bis 
1,0 g reiner Dicarbonsäure in der oben 
erwähnten Sodalösung keinerlei, Sym¬ 
ptome hervor. Das Körpergewicht bleibt 
unverändert, nahm sogar in einem Falle 
in den nächsten Tagen noch zu. Ein 
Kaninchen (1,76 kg) erhielt an einem Tage 
in vier Injektionen insgesamt 2,4 g Di¬ 
carbonsäure. Auch hier traten keinerlei 
Krankheitssymptome hervor. 

Nach Starkenstein ruft 0,5 g Ato- 
phan pro Kilogramm bei Kaninchen 
Paresen hervor, die gleiche Dosis zwei bis 
drei Tage hintereinander gegeben, führte 
bei subcutaner Injektion zum Tode. 

Hunde: 5,9 g bis 12 g Dicarbonsäure 
in obiger Lösung Hunden mit einem 
Körpergewicht von 6 bis 7 kg per os ge¬ 
geben, rufen keinerlei Symptome hervor, 
ln einem Falle trat nach Applikation von 
12 g sechs Stunden später Erbrechen auf. 
Bei einem Hunde, der 24 g Dicarbonsäure 
an einem Tage per os erhalten hatte, war 
in den nächsten Tagen die Freßlust 
geringer, das Körpergewicht nahm ab. 
Andere Symptome traten nicht auf. 

Nach Starkenstein rufen 1 bis 2 g 
Atophan per os Hunden appliziert Er¬ 
brechen und ein bis zwei Stunden später 
Paresen und allgemeine Lähmung hervor. 

Zusammehfassend ist also zu sagen, 
daß diese Substanz ganz erheblich weniger 
giftig ist als das Atophan. Wenn auch 
diese Versuche noch in mancher Richtung 
vervollständigt werden müssen, so ge¬ 
statten sie doch den Schluß, daß auch 
beim Menschen die untersuchte Dicarbon¬ 
säure in bezug auf Nebenwirkung sich 
weniger different erweisen wird, als das 
Atophan.'' 

Wir prüften nun zunächst die Ein¬ 
wirkung des Lytophan auf den Purinstoff¬ 
wechsel. Es wurden vier stoffwechsel¬ 
gesunde Patienten purinfrei ernährt 
und ihnen dann an zwei aufeinander¬ 
folgenden Tagen je 3 beziehungsweise 
4 g per os verabfolgt. In laufenden 
Untersuchungen wurde die vierund- 
zwanzigstündige Menge des Harnes, das 
specifische Gewicht, die Phosphoraus¬ 
scheidung, der Gesamtstickstoff nach 
Kjeldahl, Harnsäure- und Purinbasen 
nach Krüger-Schmidt, und die Harn¬ 
säure im Blute nach Zondeck-Maase 
bestimmt. Aus redaktionellen Gründen 
geben wir nur die Harnsäure- und Purin¬ 
basenausscheidung wieder. 


1. Patient: Bu. Ulcus ventriculi. 

Urin. 

Vorperiode: 0,354 g U (Mittelwert der 

0,014 g Purinbasen tgl. Ausscheid.) 
Versuchsperiode: 

1. Tag: 0,646 g U = -}- 0,292 g U 

0,019 g P = H- 0,005 g P 

2. Tag: 0,641 g U = + 0,287 g U 

0,019 g P = + 0,005 g P 

3. Tag: 0,482 g U = + 0,128 g U 

0,017 g P = + 0,003 g P 

4. Tag: 0,619 g U = + 0,265 g U 

0,023 g P = + 0,009 g P 

= + 0,972 g U 
= -j- 0,022 g P. 
Blut-U. . in 100 ccm 
Tag vor der Darreichung mittags 4,1 mg U 

1. Tag nach Darreichung mittags 3,5 mg U 

2. Tag nach Darreichung morgens 4,6 mg U 

3. Tag nach Darreichung mittags 3,2 mg U 

Demnach haben wir im Urin eine Mehraus¬ 
scheidung von 0,972 g U und 0,022 g Purinbasen. 
Aus dem Blutbefund ist irgendein gesetzmäßiger 
Gang nicht zu erkennen. 

2. Patient: Bd. Ulcus ventriculi. 

In diesem Falle konnten wir eine Mehraus¬ 
scheidung nicht beobachten; ob für diesen Pa¬ 
tienten die Menge des Präparates zu klein war 
oder ob es von ihm nicht vorschriftsmäßig ge¬ 
nommen ist, läßt sich nicht entscheiden. 

3. Patient: Ha. Ulcus ventriculi. 

Urin. 

Vorperiode: 0,292 g U, 0,019 g P 
Versuchsperiode: 

1. Tag: 0,299 g U = + 0,007 g U 

0,020 g P = + 0,001 g P 

2. Tag: 0,224 g U 

0,015 g P 

3. Tag: 0,356 g U = -f 0,064 g U 

0,017 g P 

4. Tag: 0,295 g U = + 0,003 g U 

0,020 g P = -f 0,001 g P 

5. Tag: 0,392 g U = -f 0,104 g U 

0,022 ,g P = -f 0,003 g P 

= + 0,178 g U 

= -I- 0,005 .g P. 

Blut-U. in 100 ccm 

Tag vor der Darreichung mittags 5,0 mg U 

1. Tag nach Darreich, d. Mittels mittags 4,0 mg U 

„ ,, „ „ abends 3,9 mg U 

2. „ „ „ „ „ morgens 4,1 mg 

2. „ „ „ „ „ mittags 4,5 mg U 

2. ,, ,, ,, ,, abends 2,6 mg U 

3. ,, ,, ,, j, ,, mittags 2,8 mg U 

3. „ „ „ „ „ abends 2,5 mg U 

Auffällig ist, daß dieser Patient, ohne daß ein 
sonstiger Versuchsfehler in Frage kommt, erst 
nach zwei Tagen mit einer Mehrausscheidung auf 
das Präparat antwortet. Vom Blut gilt auch 
hier dasselbe wie beim ersten Patienten. 

4. Patient: Tp. Pankreas Ca. 

. Urin. 

Vorperiode: 0,361 g U, 0.020 s- P 
Versuchsperiode: 

1. Tag: 0,493 g U = + 0,132 g U 

0,025 g P = -I- 0,005 g P 

2. Tag: 0,360 g U 

0,052 g P = + 0,031 g P 

3. Tag: 0,392 g U = -f 0,031 g U 

0,021 g P = + 0,001 g P 

4. Tag:i 0,456 g U = -f- 0,095 g U 

0,016 g P = 

= -4- 0,258 g U 

= + 0,038 g P. 





ApiHlV. ^ ■ b%.Therapie 129 


Bliit-U. in 100 ccm 

Tag vor d. Darreich, d. M. mittags 1,5 mg U 

1. „ nach „ „ „ „ .mittags 3,5 mg U 

1. „ „ • „ „ „ „ abends 2,2 mg U 

2. „ „ „ „ „ „ morgens 2,8 mg U 

2. „ „ „ „ „ „ mittags 4,0-mg U- 

2. „ „ „ . „ „ „ abends 2,7 mg U 

3. „ „ „ „ „ „ mittags 2,5 mg U 

3. „ „ „ „ „ „ abends 2,9 mg U 

Mit Ausnahme vom zweiten Patienten 
Bd. konnten wir stets eine Mehraus¬ 
scheidung von Harnsäure und Purinbasen 
im Harn feststellen. Im Blut dagegen 
sahen wir mit Ausnahme von Patient 4, 
der eine Erhöhung zeigte, keine deutlichen 
Ausschläge. 

Es ist nicht unsere Absicht, auf die 
Theorie der Wirkung der Phenylchinolin- 
Dicarbonsäure einzugehen, wir möchten 
aber hervorheben, daß die Wirkung auf 
den Purinstoffwechsel deutlich in Er¬ 
scheinung tritt. 

Die klinische Prüfung nahmen wir in 
einem ziemlich weitgesteckten Rahmen 
vor, indem wir das Präparat nicht nur 
Gichtkranken und Rheumatikern gaben, 
sondern auch Patienten mit allerlei 
Schmerzen anderer Ätiologie. Wir prüften 
den Einfluß des Präparates auf Gicht, 
Migräne, Rheumatismus, Neuralgie, Lum¬ 
bago und Arthritiden aller Art. . 

Das Präparat wurde in der von uns 
verabfolgten Dosis beschwerdelos ver¬ 
tragen, nur zwei Patienten klagten über 
etwas Magendruck. 

Um die therapeutische Wirkung des 
Lytophan rein hervortreten zu lassen 
und Täuschungen, verursacht durch spon¬ 
tane Besserung, möglichst vorzubeugen, 
gaben wir zunächst das Präparat — in 
einer Dosis von 3 bis 4 g täglich—nur zwei 
Tage lang. Wir achteten vornehmlich 
darauf, ob die Schmerzen gelindert oder 
beseitigt wurden. Wir behandelten zu¬ 
nächst 21 Patienten und hatten in diesem 
Sinne einen ausgesprochenen Erfolg bei 
14 Patienten, die an Migräne, Rheumatis¬ 


mus, Neuralgie, . Gicht, Lumbago, Ar¬ 
thritis und Neuritis litten. Bei sieben 
Patienten, die Gicht, Migräne, Rheuma¬ 
tismus, Arthritis deformans, Arthritis 
chronica und Polyarthritis chronica hatten, 
sahen wir keinen Erfolg. 

Von einer Wiedergabe der Kranken¬ 
geschichten müssen wir aus redaktionellen 
Gründen Abstand nehmen. 

Nachdem wir uns so von der thera¬ 
peutischen Wirkung überzeugt hatten, 
gaben wir einer Patientin im Verlauf 
von acht Wochen in Pausen von drei, 
dann vier, schließlich von fünf Tagen 
je zwei Tage lang, im ganzen 60. g 
Lytophan. Die Patientin litt an Ar¬ 
thritis deformans. Wir konnten irgend¬ 
eine schädliche Wirkung trotz der hohen 
Dosis nicht feststellen, vielmehr bemerk¬ 
ten wir eine bedeutende Abschwellung 
der Gelenke, auch gab Patientin an, daß 
sie, nachdem sie ungefähr acht Tage mit 
dem Mittel behandelt war, keine Schmer¬ 
zen mehr hätte. 

Auf Grund unserer Beobachtungen 
hat sich also das Präparat als wirksam 
bei Gicht, subacutem Rheumatismus, 
Neuralgie und Migräne erwiesen, während 
bei dem chronischen Gelenkrheumatismus 
in vielen Fällen, wie dies ja auch bei 
anderen Mitteln der Fall ist, eine prompte 
schmerzlindernde Wirkung nicht immer 
eintrat. Da wir das Mittel aus den schon 
vorher angeführten Gründen nur einmal, 
und zwar zwei Tage hindurch ge¬ 
geben hatten, muß es einer späteren 
Prüfung Vorbehalten bleiben, ob auch 
hier nicht mit größeren Dosen Erfolge zu 
erzielen sind. Die von uns mitgeteilte 
eine Beobachtung ermutigt zu derartigen 
Versuchen, zumal einer so ausgedehnten 
Medikation bei der beobachteten guten 
Bekömmlichkeit und geringen Giftigkeit, 
wodurch das Lytophan sich von ähnlichen 
Präparaten so vorteilhaft heraushebt, 
keine Bedenken entgegenstehen. 


ÜberTerpichin bei entzündlichen Erkrankungen der Harnorgane v. 

•Von Dr. Wilhelm Karo (Berlin.) 


M. H.! Die im Jahre 1917 erschienene 
Arbeit Klingmüllers über die Behand¬ 
lung von Entzündungen und Eiterungen 
durch Terpentineinspritzungen rollt ein 
uraltes Problem auf, das schon in der Medi¬ 
zin des 18. Jahrhunderts eine bedeutende 
Rolle gespielt hat, ich meine das Problem 

1) (Vortrag, gehalten in der Berliner Urolö- 
gisehen Gesellschaft am 1. Februar 1921). 

2) D. m. W. 1917, Nr. 41. 


der Ableitung der Krankheit in Form von 
Haarseilen, Fontanellen, Moxen oder Fixa- 
tionsabscessen. 

Wie dieses Problem im Laufe der 
Jahrhunderte trotz aller grundlegenden 
Aenderungen im medizinischen Denken 
immer und immer wieder die Therapie zu 
beeinflussen wußte, das zu erörtern liegt 
nicht im Rahmen meiner heutigen Aus¬ 
führungen, ebensowenig will ich mich auf 

17 



130 


Di^' Therapie def Gegenwart 192^1 


eine Besprechung der schon recht be¬ 
trächtlichen Literatur über die Terpentin¬ 
ölbehandlung einlassen. Ich verweise 
vielmehr lediglich auf die vortreffliche 
Arbeit von Becher aus der Bruckschen 
Klinik in Altona (Dermat. Wschr. 1920, 
Bd. 71), in der Sie alle historischen und 
literarischen Daten kritisch besprochen 
finden. 

Vornehmlich Dermatologen und Gy¬ 
näkologen haben sich mit Eifer und oft 
bemerkenswertem Erfolge der Terpentin- 
ölbehandluhg angenommen, während von 
urologischer Seite, wenn ich von meinen 
eigenen Arbeiten absehe, bisher keinerlei 
nennenswerte Veröffentlichungen vor¬ 
liegen. 

Der anfängliche Enthusiasmus, mit 
dem die oft ganz wunderbaren Erfolge der 
Terpentinölbehandlung in Fällen von in¬ 
fektiösen Hautkrankheiten sowie bei der 
Gonorrhöe begrüßt worden waren, wich 
nun bald einer gfößeren Skepsis, als sich 
herausstellte, daß die Klingmüllerschen 
Terpentininjektionen in einer großen An¬ 
zahl von Fällen sehr schwere, unangenehme 
Nebenerscheinungen bewirkten. Aus¬ 
gedehnte, hartnäckige Infiltrate, die die 
Kranken oft jeglicher Bewegungsfähig¬ 
keit beraubten, Abscesse, hohes Fieber 
sowie Lähmungen traten durchaus nicht 
selten im Anschluß an die Injektionen auf, 
so daß viele Autoren die Terpentinein¬ 
spritzungen wieder aufgaben. So schrieb 
Poehlinann (Med. Klin. 1919): ,,Es ist 
bedauerlich, daß diese zweifellos sehr wirk¬ 
same Methode wenigstens in ihrer jetzigen 
Gestalt zur Behandlung der Bartflechte 
nicht empfohlen werden kann.'‘ 

In dem Bestreben, die zweifellos über¬ 
aus wirksame Terpentinöltherapie für 
unsere Kranken weiter nutzbar zu machen, 
suchte ich den Ursachen dieser so lästigen 
Nebenerscheinungen nachzugehen und 
konnte durch eingehende Kontrollver- 
suche einwandsfrei feststellen, daß die 
oben genannten Komplikationen lediglich 
durch Verunreinigung des im Handel 
befindlichen Terpentinöls bedingt werden. 

Langwierige chemische Versuche mit 
den verschiedensten Terpentinölen des 
Handels ergaben die große Verschieden¬ 
heit dieser Präparate und es stellte sich 
heraus, daß nur ein völlig gereinigtes und 
säurefreies Öl, das keine monocyklischen 
Terpenkohlenwasserstoffe enthalten darf, 
für unsere Zwecke brauchbar ist. 

Als Frucht dieser ausgedehnten Ver¬ 
suche wurde das Ter pich in dargestellt. 
In diesem Präparat besitzen wir ein 


April 


absolut reines, oxydfreies Terpentinöl, 
dessen Wirkung durch Kombination mit 
Chinin und Anästhesin gesteigert ist. Seit 
zwei Jahren verwende ich ausschließlich 
Terpichin wohl fast täglich und habe nie¬ 
mals irgendwie nennenswerte unange¬ 
nehme Nebenwirkungen im Anschluß an 
die Injektionen auftreten sehen. Die Ein¬ 
führung des Terpichins bedeutet aber 
auch eine Vereinfachung der Technik. 
Denn während das gewöhnliche Terpentin¬ 
öl nach Klingmüllers eigenen Angaben 
zur Vermeidung von Abscessen mit langer 
Nadel auf die Knochenfascie deponiert 
werden muß, kann das Terpichin ohne 
jeden Schaden für den Kranken in belie¬ 
biger Tiefe intraglutäal eingespritzt wer¬ 
den. Mit fortschreitender Erfahrung habe 
ich mich auch davon überzeugt, daß es 
vollkommen gleichgültig ist, ob einmal 
bei der Injektion, zufällig ein Blutgefäß 
getroffen wird. Daher habe ich die ur¬ 
sprünglich geübte Vorsicht, nach Ein¬ 
stechen der Nadel die Spritze abzunehmen, 
um zu sehen, ob etwa aus der Kanüle 
Blut tropft, wieder aufgegeben. In der 
Regel werden die Injektionen jeden zwei¬ 
ten Tag gemacht, doch habe ich auch, 
namentlich bei klinischen Kranken, in 
Fällen, in denen ich eine intensivere 
Wirkung erstrebte, eine Woche hindurch 
täglich injiziert, ohne daß es zu Intoxi¬ 
kationserscheinungen oder lästigen Neben- 
wirljungen gekommen wäre. 

Über meine praktischen Erfahrungen 
mit der Terpichinbehandlung möchte ich 
mich in Ihrem Kreise heute kurz fassen, 
denn einmal setze ich meine mehrfachen 
Publikationen über dieses Thema als 
Ihnen bekannt voraus, dann aber ver¬ 
weise ich auf meine jüngste Arbeit in der 
,,Zeitschrift für Urologie^* Bd. 15, H. 1, 
die bereits abgedruckt war, als die Auf¬ 
forderung zu meinem heutigen Vortrag 
seitens des Herrn Schriftführers an mich 
erging. 

Als Basis für die Diskussion möchte 
ich meine praktischen Erfahrungen in 
folgende Sätze zusammenfassen: 

Die Terpichintherapie ist indiziert in 
allen Fällen von entzündlichen Erkran¬ 
kungen der Harn- und Sexualorgane, in 
denen ein operativer Eingriff nicht in 
Frage kommt. Zunächst also bei der 
Gonorrhöe und deren Komplikationen. 
Oft gelingt es, durch nur wenige Terpichin- 
injektionen den eitrigen Ausfluß aus der 
Harnröhre auf ein Minimum zu reduzieren, 
in vereinzelten Fällen ihn sogar voll¬ 
kommen zu unterdrücken. Indessen ist 



• Apm 


Die Therjipie der Gegenwart 1921 


^31 


die Terpichintherapie keine Kaüsalthera- 
pie der Gonorrhöe, sie ist lediglich eine 
sehr wertvolle Unterstützung der all¬ 
gemein üblichen lokalen antiseptischen 
respektive internen^) Behandlung, aber 
als solch eüberaus wirksam. Denn durch 
systematische klinische Kontrollversuche 
konnte festgestellt werden, daß unter dem 
Einfluß des Terpichins der Verlauf der 
Gonorrhöe ein milderer und kürzerer ist, 
als in den Fällen, die lediglich der lokalen 
Therapie unterworfen werden. Kompli¬ 
kationen der Gonorrhöe scheinen durch 
eine systematische Terpichintherapie ver¬ 
meidbar zu sein. Dies gilt sowohl für die 
Gonorrhöe des Mannes, als auch für die 
der Frau. 

Etwa schon bestehende Komplika¬ 
tionen, wie Epididymitis, Prostatitis, Cysti- 
tis colli, Spermatocystitis usw., werden in 
kurzer Zeit zur Rückbildung gebracht. 
Besonders hervorheben möchte ich die 
günstige Beeinflussung der Polyarthritis 
gonorrhoica, die oft schon durch wenige 
Terpichininjektionen zu kupieren ist. 

Eklatanter noch als bei der Gonorrhöe 
ist der günstige Einfluß der Terpichin¬ 
therapie bei der Coliinfektion der Harn¬ 
wege. Sowohl die Colicystitis der Kinder 
wie die Colipyelitis der Erwachsenen 
reagiert überraschend prompt auf die 
Terpichininjektionen. Ebenso bildet die 
chronische Cystitis, namentlich die Bla¬ 
sentuberkulose, ein dankbares Objekt für 
die Terpichintherapie. Selbstverständlich 
muß vor Einleitung der Behandlung eine 
exakte urologische Diagnose gestellt wer¬ 
den, die festzustellen hat, ob nicht die 
Cystitis lediglich ein Symptom respektive 
eine Folge einer einseitigen descendieren- 
den Niereneiterung ist. Man wird also 
eine einseitige Nierentuberkulose zunächst 
exstirpieren und erst nach der Nephrekto¬ 
mie, falls erforderlich, die restierende 
Blasentuberkulose durch Terpichin zu be¬ 
einflussen versuchen. Ebenso wird man 
Konkremente oder Tumoren chirurgisch 
angreifen und abwarten, ob nicht schon 
durch die Operation eine Ausheilung 
der Sekundärinfektion der Blase zu er¬ 
reichen ist. 

Welche Wirkungen üben nun die 
Terpichininjektionen aus? Nur ganz 

Anmerkung bei der Korrektur: Neben dem 
in meinen früheren Arbeiten genannten Buccos- 
perin verordne ich neuerdings mit ausgezeich¬ 
netem Erfolge den Eukystol-Tee, der infolge 
seiner eigenartigen Zusammensetzung nicht nur 
diuretisch, sondern auch harndesinfizierend und 
reizmildernd wirkt. 


selten kommt es bei längerer Terpichin¬ 
therapie zu subjektiven Beschwerden, wie 
allgemeiner Mattigkeit, Schlaffheit und 
Schlaflosigkeit. Im Gegenteil tritt meist 
eine auffallende Besserung des Allgemein- 
iDefindens und eine Steigerung des Körper¬ 
gewichts ein. Objektiv können wir stets 
zweierlei feststellen: Die erste Folge ist 
eine deutliche Steigerung der Diurese, 
und zwar handelt es sich nicht nur um 
eine vermehrte Wasserausscheidung durch 
die Nieren, sondern auch um eine erhöhte 
Salzausscheidung, denn die Konzentra¬ 
tion des Harns nimmt nicht prozentualiter 
der Steigerung der. Harnmenge ab. Die 
Steigerung der Harnmenge dauert bei 
einzelnen Kranken bis 24 Stunden, sie 
tritt bei gesunden Nieren schon etwa eine 
Stunde nach der Injektion auf, während 
bei Nephritikern eine Verzögerung einzu¬ 
treten pflegt. Meine ursprünglichen Be¬ 
denken, bei Nephritikern Terpichininjek¬ 
tionen zu machen, habe ich bald auf¬ 
gegeben, nachdem ich mich davon über¬ 
zeugen konnte, daß niemals eine Exacer¬ 
bation des nephritischen Prozesses als 
Folge der Injektion auftrat. Im Gegen¬ 
teil habe ich oft den Eindruck gehabt, 
als ob in manchen Fällen das Terpichin 
die Nephritis günstig zu beeinflussen 
vermag. Diese Frage bedarf aber noch 
weiterer "Klärung. 

Die zweite Folge der Terpichininjek- 
tion ist eine ausgesprochene Hyperleuko- 
cytose, die schon eine halbe Stunde nach 
der Injektion nachweisbar ist und meist 
24 Stunden andauert und in einzelnen 
Fällen eine Zunahme der Leukocyten bis 
auf aas Dreifache der. normalen Menge 
bedingt. 

Versuchen wir nun, uns über, die 
Wirkungsweise des parenteral einverleib¬ 
ten Terpichins eine Vorstellung zu machen: 
Handelt es sich bei der ganzen Terpichin- 
theiapie um das eingangs erwähnte Pro¬ 
blem der Ableitung der Krankheit, oder 
hat das Terpichin eine specifisch bacteri- 
cide Eigenschaft? Wirkt etwa das Terpi¬ 
chin analog den Vaccinen durch Bildung 
von Antikörpern? Beruht etwa das 
Geheimnis der Terpichintherapie auf der 
durch die Injektion bedingten Hyper- 
leukocytose, die den Organismus im 
Kampf gegen die Bakterien unterstützt? 

All diese Anschauungen finden in der 
Literatur ihre Vertreter, ohne überzeu¬ 
gend wirken zu können, wenn man sich 
vergegenwärtigt, bei welcher Menge von 
untereinander total verschiedenen Krank¬ 
heitsgruppen die Terpichintherapie sich 

17* 




iä2 


April 


Dl« Therapie der Gegenwart 1921 


als wirksam erwiesen hat. Abgesehen von 
den verschiedenartigsten parasitären und 
exsudativen Hautkrankheiten sind posi¬ 
tive Erfolge bei gynäkologischen Krank¬ 
heiten berichtet, zu denen sich, als ein 
weiterer Indikationskreis, die vielen ent¬ 
zündlichen Prozesse im System der Harn- 
und Sexualorgane gesellen. Ebenso liegen 
Erfolge bei entzündlichen Erkrankungen im 
System der Gallenwege vor. Weiterhin wira 
von einwanafreier Seite über auffallende 
Heilungen des chronischen Gelenkrheuma¬ 
tismus berichtet. Auch bei der Gicht, der 
Ischias und Lumbago liegen positive 
Resultate vor. Die Tuberkuloseärzte be¬ 
richten über günstige Resultate in Fällen 
von Bronchiektasen und Kavernen, hier 
soll das eitrige fötide Sputum oft über¬ 
raschend schnell sich verdünnen respektive 
ganz sistieren; und schließlich wird von 
zahnärztlicher Seite berichtet, daß schwere 
Fälle von Stomatitis ulcerosa oft fast 
specifisch auf Terpichin reagieren. 

Aus dieser etwas summarischen Zu¬ 
sammenstellung ergibt sich also, daß wir 
es bei der Terpichintherapie weder mit 
einer bestimmten Gruppe von Organen, 
noch mit einer eng umschriebenen Klasse 
von Krankheitserregern zu tun haben. 
Es kann s’ch also nicht um eine specifi- 
sche Therapie handeln, weder im organo- 
tropen noch im bakteriotropen Sinne. 

Es drängt sich daher der Gedanke auL 
die Wirkung des Terpichins in Parallele 
zu stellen mit der anderer parenteral ein- 
verleibter Medikamente, speziell mit der 
Proteinkörpertherapie. Bei dieser wird 


bekanntlich Milch oder deren Surrogate 
wie Caseosan usw. injiziert, während in 
unserem Falle es sich um ein pharma¬ 
kologisch eng umschriebenes Produkt wie 
Terpentin handelt. Der Effekt ist biolo¬ 
gisch jedenfalls der nämliche. Wenn wir 
uns nämlich die Theorie Weichardts 
zu eigen machen, kommt es durch die 
Injektion zu einer parenteralen Verdauung 
zerfallener Eiweißkörper, die auf den 
Organismus als Protoplasmaactivierung, 
d. h. als Steigerung der Leistungsfähigkeit 
der verschiedensten Organsysteme nach 
verschiedenen Richtungen hin wirkt. Es 
kommt also zu einer Mobilisierung aller 
im Organismus schlummernden Abwehr¬ 
möglichkeiten, als deren klinischen Aus¬ 
druck wir in unserem Falle die Hyper- 
leukocytose und die Steigerung der Diu¬ 
rese anzusprechen haben! Es handelt sich 
also um eine omnicelluläre biologische 
Therapie, deren Wirksamkeit in letzter 
Linie abhängig ist von der Reaktions¬ 
fähigkeit des Gesamtorganismus. Wenn 
wir von diesem Gesichtspunkt aus an die 
Bewertung der Terpichintherapie heran- 
gehen, werden wir uns auch durch Mi߬ 
erfolge, die ja, wie bei jeder Therapie, un¬ 
ausbleiblich sind, nicht abhalten lassen, 
diese Therapie immer und immer wieder 
zu versuchen und die Grenzen ihrer 
Leistungsfähigkeit zu studieren. Jeden¬ 
falls glaube ich, daß man auch bei größter 
Skepsis die parenterale Terpichintherapie 
als eine wertvolle Bereicherung unserer 
therapeutischen Hilfsmittel auch in der 
Urologie bewerten wird. 


Über psychogenen Fluor albus. 

Von Dr. Bunnemann, Ballenstedt (Harz).’ 


Im ersten Bande der Zschr. f. Hypnot. 
(1992/93) berichtet Moll über einen von 
Renterghem (Clinique de Psychothera¬ 
pie suggestive, Compte rendu bisannuelle 
1887—1889) beobachteten Fall von Fluor 
albus, den letzterer in der Hypnose geheilt 
haben will. 

,,Es handelt sich um einen Fall, wo Erosionen, 
an der Cervix Uteri, Endometritis cervicalis und 
schwere Leukorrhoe Vorlagen. Die anatomischen 
Veränderungen wurden durch spezialistische Be¬ 
handlung gebessert, aber der Ausfluß blieb be¬ 
stehen, ja er nahm zu. Die Kranke klagte außer¬ 
dem darüber, daß sie von der Vorstellung be¬ 
herrscht würde, das Schicksal ihrer Mutter teilen 
zu müssen, die an Gebärmutterkrebs gestorben 
war. Diese Zwangsvorstellung konnte durch 
Suggestion im somnambulen Zustande entfernt 
werden. Nun wird als Schlußsatz erwähnt, daß 
einige Sitzungen genügten, um die Krankheit 
vollständig zu heilen. Da als Krankheit hier 
nicht zuerst die Zwangsvorstellung, sondern eine 


Uteruskrankheit angegeben ist, so besagt dieser 
Schlußsatz eigentlich, daß auch die letztere 
Affektion geheilt wurde und der Ausfluß schwand. 
Indessen würde ich, auch wenn dies der Fall war, 
nicht ohne weiteres die Suggestion als Ursache 
hiervon betrachten, wenn nicht genauere weitere 
Mitteilungen über die Dauer der Heilung vor¬ 
liegen. Ich halte es nicht für unmöglich, daß 
lediglich der Nachlaß der lokalen Behandlung 
eine Verminderung des Ausflusses bewirkte, zu¬ 
mal da mir Fälle bekannt sind, wo die sogenannte 
lokale Therapie bei Schleimhautaffektionen nur 
Unheil anrichtete.“ 

Ist eine Erkrankung sicher durch Sug¬ 
gestion zu beseitigen, so kann man sie 
eben so sicher als psychogen ansprechen. 
Man m.uß Moll recht geben, daß der er¬ 
wähnte Fall, so wie ihn Renterghem 
berichtet hat, nicht als sicher psychogen 
angesehen werden kann. Es gibt in der 
Literatur noch einige Hinweise auf eine 
mögliche suggestive Beseitigung des Fluor 




April 


Die Therapie der Gegenwart. 1921 


133 


albus, auf die wir noch zurückkommen 
werden, aber auch an ihnen ist kein bin¬ 
dender Beweis für ihre Psychogenese er¬ 
bracht. Ich habe nun durch Jahre einen 
Fall von Fluor albus beobachtet,' der 
zwölf Jahre allen möglichen gynäkologi¬ 
schen Mitteln widerstanden hatte, als es 
mir gelang, ihn in einer Hypnose völlig 
zu beseitigen. Derselbe blieb dann ein 
ganzes Jahr fort, um dann im Anschluß 
an eine sexuelle Erregung im Traum 
wieder aufzutreten, verschwand abermals 
auf eine hypnotische Suggestion und, 
nachdem er wieder über ein halbes Jahr 
sich nicht gezeigt hatte, gelang es mir, den¬ 
selben in einer hypnotischen Suggestion 
in alter Stärke wieder hervorzurufen. 

In diesem Falle müssen wohl die Be¬ 
denken Molls und müssen, meine ich, 
alle wissenschaftlichen Bedenken zurück¬ 
treten, wenn man die Objektivität der 
Beobachtung nicht anzweifeln will. 

Frau E. B. aus H. kam 1916 in mein Sana¬ 
torium mit der Diagnose: „Depressionszustand, 
der eine Reihe hysterischer Momente in sich 
birgt.“ Sie war Mitglied einer disponierten 
Familie, der besondere Grund aber ihrer Er¬ 
krankung lag wohl darin, daß ihr Mann an einer 
luetischen Optikusatrophie seit zwölf Jahren er¬ 
krankt war, und die Pflege des unverträglichen, 
schwer zu behandelnden Mannes in der bewußten 
Erwartung einer kommenden Paralyse sie zer¬ 
rieben hatte. Die Patientin blieb zunächst in 
meinem Sanatorium bis zum 4. Dezember 1916 
und gesundete, ohne daß Hypnose angewandt 
wurde, soweit, daß ein Versuch, sie auf Wunsch 
ihrer Angehörigen nach Hause zurückkehren zu 
lassen, möglich erschien. Aber schon auf der 
Reise bekam sie einen Weinkrampf, offenbar aus 
Angst, daß sie den alten Verhältnissen nicht ge¬ 
wachsen sein könne. Am 27. April 1918 kam sie 
wieder in einem ganz traurigen Zustande, gewöhnt 
an Pantoponeinspritzungen und täglich öftere 
Hypnosen. Ich möchte mich gleichwohl ganz an 
das einzelne Krankheitssymptom halten und, nur 
erwähnen, daß es mir wohl gelang, ihr in einiger 
Zeit ihre Medikamente abzugewöhnen, daß es 
mir aber nicht ratsam erschien, bei der großen 
Schwäche, welche bestand, und der großen Er¬ 
regung, welche keinen natürlichen Schlaf auf- 
kommen ließ, die abendlichen Schlafhypnosen 
auszusetzen. 

Der Fluor, an dem sie schon bei ihrem ersten 
Hiersein gelitten hatte, bestand in mäßigem 
Grade weiter, als die Patientin wiederkam. Am 
6. März 1919 berichtete mir unsere Schwester, 
daß derselbe sich sehr verschlimmert habe. Am 
8. abends klagte die Kranke selbst über den 
starken Ausfluß und sagte, daß sie in den letzten 
Tagen viel an ihren Mann habe denken müssen, 
der sich damals mit den Zeichen der progressiven 
Paralyse in der Anstalt befand. Ich hypnotisierte 
sie nun, wie alle Abend und sagte ihr, daß ihr 
Ausfluß mit ihren Gedanken an ihren Man» zu¬ 
sammenhinge, sie würde sich beruhigen und der 
Ausfluß würde am nächsten Tage verschwunden 
sein. Am nächsten Tage berichtete mir die 
Kranke, daß der Ausfluß besser geworden sei, 
und am Nachmittage, daß er ganz verschwunden 


sei. Darauf erzählte sie nun, daß ihr in einer der 
vorangehenden Nächte, in deren Gefolge sich der 
Ausfluß verschlimmert habe, dreimal Männer, 
ihr Mann und andere, .im Traume mit sexuellen 
Gelüsten genaht seien. Am selben Abend sagte 
ich ihr in der Hypnose, daß, wenn der wollüstige 
Traum, den sie einige Nächte vorher gehabt habe, 
mit irgendwelchen Erlebnissen Zusammenhänge, 
ihr diese einfallen würden und daß sie mir die¬ 
selben am anderen Morgen erzählen würde. Es 
ist das eine von Kohnstamm angegebene sehr 
verläßliche Methode, Angstkomplexe aufzu¬ 
decken und beim Patienten selbst eine Wieder¬ 
erinnerung (Palimnese) von im Unbewußten 
fixierten ängstlichen Erlebnissen zu erzeugen, auf 
welche viele Psychotherapeuten großen Wert 
legen. Mir selbst will die Palimnese an sich nicht 
so wertvoll erscheinen, als daß der ideelle Inhalt 
einer im Unbewußten fixierten Angst dem Arzte 
dadurch bekannt wird und er nun die Möglichkeit 
hat, durch geeignete Gegenvorstellungen darauf 
einzuwirken. Durch die einfache Wiedererinne¬ 
rung läßt sich meiner Ansicht nach ein Angst¬ 
komplex nicht auslöschen. Am 10., morgens, 
erzählte mir nun die Patientin, daß ihrem Manne 
vor 12 Jahren in Tölz vom Arzte wegen seiner 
überstandenen Geschlechtskrankheit jeder ge¬ 
schlechtliche Verkehr verboten sei. Er habe ihr 
das mitgeteilt, habe aber gleichwohl nicht auf¬ 
gehört, sie zu bitten, und auch ihr selbst sei es 
nicht möglich gewesen, wirksam zu widerstehn. 
Jedesmal aber, wenn es zum geschlechtlichen 
Akte gekommen sei, habe sie große Angst gehabt. 
Der Hausarzt habe ihr mehrfach Mittel gegeben 
zur Verhütung der Empfängnis, aber gleichwohl 
sei sie wieder schwanger geworden, und die Angst 
um die Gesundheit des werdenden Kindes habe 
sie nicht mehr verlassen. Zunächst habe der 
Arzt davon gesprochen, daß er ihr das Kind 
nehmen wolle, dann aber habe er gesagt, daß sie 
die Schwangerschaft geduldig austragen müsse, 
und sie habe sie in ständiger Angst ausgetragen. 

Schon in Tölz habe sich der Ausfluß gezeigt, 
der besonders in der ersten Zeit stark gewesen 
sei. ln der Heimat habe zuerst der Hausarzt und 
dann ein Spezialarzt sie örtlich behandelt, zu¬ 
nächst mit Ausspülungen, dann aber auch mit 
Beizungen. Noch im Jahre 1917 sei in einer 
Frauenklinik wegen starker Blutungen und 
wegen des Ausflusses eine Auskratzung der Gebär¬ 
mutter vorgenommen, aber beides habe sich 
nachher in alter Stärke wieder eingestellt. (Auch 
die Menstruationsanomalien ließen sich hier in 
der Hypnose regeln.) Sie habe seitdem dauernd 
Ausspülungen machen müssen. 

Nach diesen Kundgebungen und nach dem 
Erfolge der Suggestion konnte die Psychogenese 
des Krankheitssymptomes nicht mehr zweifelhaft 
sein. Um aber allen Zweifeln begegnen zu können, 
um zu zeigen, daß unmöglich zufällig mit der 
hypnotischen Einwirkung das Auf hören des Aus¬ 
flusses zusammengefallen sei, kam ich nach mehr 
als Jahresfrist darauf, nach dem Beispiele von 
Nonne 1) und Kohnstamm, welch letzterer Fieber 
in der Hypnose beseitigt und um Irrtümer zu 
vermeiden, auch in der Hypnose wieder hervor¬ 
gerufen hatte (M. Friedmann und 0. Kohn¬ 
stamm’: Zur Pathogenese und Psychotherapie 
bei Basedowscher Krankheit, zugleich ein Beitrag 
zur Kritik der psychoanalytischen Forschungs- 
richtung; Zsch. f. d. ges. Neurol., Bd. 23, Heft 4/5, 
S. 379), den Ausfluß in der Hypnose wieder- 

’•) Nonne: Referat auf d. 8. Jahresvers. il. 
Gesellschaft d. Nervenärzte. 




134 


Die Therapie der- Gegenwart 1921 


April 


erstehen zu lassen.. Nachdem, wie schon gesagt, 
nach Jahresfrist derselbe wieder aufgetreten und 
in der Hypnose wieder beseitigt war, hatte er sich 
über ein halbes.Jahr abermals nicht gezeigt. Am 
15. Oktober 1920 nun suggerierte ich der Patientin 
in der Hypnose, daß sie ihren Ausfluß wieder¬ 
bekommen würde. Zufällig geschah dieses einen 
Tag vor Eintritt der Menstruation. Als ich daher 
am anderen Morgen die Kranke besuchte, er¬ 
zählte sie mir, daß sie rechtzeitig unwohl ge¬ 
worden sei. Sie habe in der vergangenen Nacht 
geträumt, daß ihr Ausfluß wieder da sei und habe 
sich im Traume ebenso schlecht gefühlt als zu der 
Zeit, wo er wirklich bestanden habe. Auf meine 
Frage, ob sie denn Ausfluß habe, verneinte sie. 
Nun wissen wir ja, daß der gewöhnliche Ausfluß 
zurücktreten kann, wenn die Menstruation ein- 
tritt. Ich nahm daher an, daß der Ausfluß in 
meinem Falle sich nach Aufhören der Menstruation 
zeigen werde. Ich hatte /mich nicht geirrt, am 
18., als dem letzten Tage des Unwohlseins, sagte 
die Kranke, daß sie Schmerzen im Leibe habe und 
sich so fühle, als ob sie Ausfluß bekommen würde. 
Am nächsten Morgen war derselbe, ohne daß die 
hypnotische Suggestion wiederholt worden wäre, 
im stärksten Masse vorhanden, mit allen subjek¬ 
tiven Beschwerden, welche ihn sonst begleiten. 
Auf einmalige hypnotische Suggestion am folgen¬ 
den Abend war er wieder vollständig beseitigt. 

Es ist mir seitdem kein weiterer Fall 
von der Beweiskraft des angeführten be¬ 
gegnet, gleichwohl mögen hier noch zwei 
weitere Fälle angeführt werden, an die 
ich einen Fall aus der Literatur ankniVpfen 
möchte. 

Bei einer Dame, bei der ich ausgesprochene 
hysterische Anfälle zu beobachten Gelegenheit 
hatte, schwand der viele Jahre seit der Ver¬ 
lobungszeit bestehende Fluor durch Wachsug¬ 
gestion. Ich eröffnete derselben, sie würde in der 
Verlobungszeit irgendwelche sie sehr erregende 
und ängstigende Erlebnisse gehabt haben, die 
Angst, welche sich im Unbewußten fixiert habe, 
habe den Ausfluß veranlaßt. Wenn sie sich über¬ 
zeugen lasse, daß kein anderer, vor allem kein 
körperlicher Grund dafür mehr vorliegend sei, 
so würde derselbe bald verschwunden sein. Die 
Dame war ganz glücklich, als sie mir einige Tage 
nachher berichten konnte, daß sie von ihrem 
schon so viel behandelten Übel befreit sei. Sie 
hat mir später aus der Heimat noch Nachricht 
über den Fortbestand ihrer Heilung gegeben. 
Was sie erregt hatte, konnte oder wollte sie mir 
nicht sagen, vielleicht bringt uns der folgende Fall 
auf die richtige Vermutung. 

Es handelt sich um eine Dame, die zum 
zweiten Male verheiratet, mit ihrem Manne in 
Scheidung lag, weil ein hartnäckiger, vielfach 
behandelter Ausfluß, der auch nicht besser wurde, 
als ein Professor die Unterlassung jeglicher 
lokaler Behandlung verordnet hatte, und ein 
damit verbundener Vaginismus ihr unmöglich 
gemacht hatte, sich ihrem Manne hinzugeben. 
In diesem Falle war das Sekret in dem Universi¬ 
tätslaboratorium mikroskopisch untersucht und 
frei von pathogenen Erregern gefunden. Die 
Kranke reagierte auf den Versuch, sie zu hypnoti¬ 
sieren so, daß sie in krampfhaftes Weinen aus¬ 
brach. Als dies das zweite Mal auch der Fall war, 
unterblieben weitere Versuche. Wachsuggestion 
hatte keinen Erfolg. Am Schluß ihres Aufent¬ 
haltes konnte ich die Anamnese dahin vervoll¬ 
ständigen, daß der Ausfluß am Tage vor der 


Hochzeit entstanden war. Die Kranke beteuerte, 
daß sie nie vorher, auch in ihrer ersten Ehe nicht, 
die durch den Tod des Ehemannes ihrön Ab¬ 
schluß gefunden hatte, an Ausfluß gelitten habe. 
In ihrer Prozeßstimmung sagte.sie in weiner¬ 
lichem Tone: ,,Er hat ja selbst, gesehn, daß ich 
keinen Ausfluß hatte.“ Als ich über diese ihr 
unwillkürlich entfahrene Bemerkung erstaunt 
war, gab sie zu, daß ihr Mann in der Verlobungszeit 
die mannigfachsten Versuche, sie zum Coitus zu 
bewegen, wenn auch ohne Erfolg, gemacht und 
sie jedesmal damit in Angst und Erregung ver¬ 
setzt habe. Damit schien mir eine psychogene 
Wurzel des Krankheitssymptomes gefunden und 
ein Analogieschluß auf den vorangehenden Fall 
möglich. 

ln der Monographie von Tucky und 
Tatzel (,,Psychotherapie“, Berlin-Leipzig 
Heusers Verlag, 1895) berichtet Tatzel 
• über folgenden Fall: 

Frau E., 26 Jahre alt. Sie ist eine starke, abeia 
bleichsüchüge Frau. Sie hat vor 6 Monaten ge¬ 
heiratet und seitdem sehr starken Weißfluß 
gehabt. Durch denselben ist eine solche Schmerz¬ 
haftigkeit und brennendes Jucken in den äußeren 
Geschlechtsteilen eingetreten, daß sie kaum 
gehen kann. Einen Monat lang war sie in Be¬ 
handlung eines Frauenarztes, der ihr schließlich 
eine Operation vorschlug, zu der sie sich aber 
nicht entschließen konnte. Schon nach wenigen 
Sitzungen war sie von ihrer Verstopfung befreit, 
der Weißfluß war hartnäckiger, er verlor sich erst 
nach und nach, sodaß erst nach drei Wochen die 
Heilung vollständig war. 

WilLman in diesem Falle nicht an¬ 
nehmen, daß die Dame von ihrem Ehe¬ 
manne in der ersten Nacht gonorrhöisch 
infiziert gewesen sei, wogegen spricht, 
daß eine Behandlung eines Frauenarztes 
von einem Monate ohne Erfolg blieb — 
so wird auch hier auf pränuptiale psy¬ 
chische Traumen geschlossen werden 
können. 

dn dem letzten Falle wird berichtet, 
daß die betreffende Dame bleichsüchtig 
gewesen sei. Dazu möchte ich noch einige 
Zitate anführen aus einer Arbeit von 
Wetterstrand: ,,Der Hypnotismus und 
seine Anwendung in der praktischen Me¬ 
dizin“ (Wien und Leipzig, Urban u. 
Schwarzenberg, 1891). 

S. 67 ff., 16. Kapitel: „Anämischer Zustand 
Bleichsucht.“ — ,,Alle diese anämischen Zu¬ 
stände, welche ihre Quelle nicht in einem schweren 
inneren Leiden haben, sind der Behandlung mit 
hypnotischer Suggestion zugänglich.“ S. 68: „Mit 
Bestimmtheit kann ich sagen, daß sich der Zu¬ 
stand nach wenigen Sitzungen bessert, der Appetit 
größer wird, die sonst kalten Hände und Füße 
warm werden, die Kopfschmerzen verschwinden 
und das Merkwürdigste von allem, der Fluor 
aufhört.“ S. 68, unten: ,,Es erscheint merk¬ 
würdig, daß ein so rebellisches, so vielen Mitteln 
trotzendes Übel, wie der Fluor, der Suggestion 
weicht. Ich behandelte im Frühjahr 1887 ein 
17jähriges Mädchen, bei welcher der Fluor sehr 
. hartnäckig war und allen Mitteln trotzte, nach 
der 5. Sitzung jedoch aufhörte.“ S. 69, Kranken¬ 
geschichte 75: „Der Fluor verschwunden.“ 76: 







Die Therapie, der Gegenwart’ 1921 


135 


^,Der Fluor und alle Nervenschmerzen sind ver¬ 
schwunden.“ 

Die Entwicklungsjahre junger Mäd¬ 
chen geben Anlaß zu mannigfachen sexu¬ 
ellen Traumen, doch kann man mit Sicher¬ 
heit aus der Analogie der vorangehenden 
Fälle keinen Schluß a,uf derartige ursäch¬ 
liche psychische Momente machen. Immer¬ 
hin zeigen auch diese Fälle, daß in der 
Literatur mehrfacher Anhalt gegeben ist, 
für die Annahme einer Psychogenese des 
Fluor albus; beweisend ist erst mein Fall 
gewesen. 

Während der Drucklegung ist noch 
folgender Fall zur Beobachtung ge¬ 
kommen: 

Fräulein W. M., 30 Jahre alt, aus 0., kam 
10. Januar i921 in Behandlung. Hysterie. Starker 
IFIuor albus. Innenseite der Oberschenkel wund. 
3. Mär2 hypnotische Palimnese. An ihr ist im 
-Februar 1919 ein Versuch gemacht, sie zu ver¬ 
gewaltigen. Darnach Ausfluß und wochenlang 
-dauernde Krankenhausbehandlung. Aufhören des 
Ausflusses. Dezember 1920 wieder starker Aus¬ 
fluß. Sei sexuell erregt gewesen, von Haus fort¬ 
gelaufen und an den Ort des Vergewaltigungs- 
A^ersuches gekommen. Da habe sie einen Ruck 
durch den Körper verspürt und gemerkt, daß 
sie unwohl geworden sei. Am Abend habe sich 
herausgestellt, daß nicht Blut, sondern weißer 
Fluß sich gezeigt habe. 4. März hypnotische 
:Suggestion: der Ausfluß hat keine körperliche 
Ursache, sondern ist nur aus der Erinnerung an 
die im Anschluß an den Vergewaltigungsversuch 
vorhandene Angst hervorgegangen. Er wird am 
nächsten Tage verschwunden sein. 5. März Aus¬ 
fluß völlig beseitigt. 24. März St. id. 

Wollen wir nun versuchen, tiefer in 
das Verständnis der Psychogenese einzu¬ 
dringen und darüber uns klar werden, in 
welchem Verhältnis ein bakterieller und 
ein psychogener Fluor albuS steht, so j 
müssen wir uns von vornherein sagen, daß 
•ein Verständnis mit unserer gewöhnlichen 
materialistisch-mechanistischen Betrach¬ 
tungsweise nicht zu gewinnen ist. (S. 
Bunne mann: ,, Verschi edene Betrach¬ 
tungsweisen und die Neurosenfrage'‘, 
•Monatsschr. f. Psych. u. Neur., Bd. 41). 
Alle katarrhalischen Erscheinungen der 
Schleimhäute haben offenbar den Zweck, 
Produkte von körperlichen Schädigungen, 
Krankheitsstoffe, körperfremde Substan¬ 
zen nach außen zu befördern, so der 
Schnupfen, der Katarrh der Luftröhre 
und der Bronchien, der Durchfall und ein 
gleiches müssen wir auch von dem Ka¬ 
tarrh der Scheide annehmen. Die darin 
liegende Anschauungsweise entspricht 
nicht der gewöhnlichen, mit der die nor¬ 
male und die pathologische Physiologie 
rechnen. Wir sind von Haus aus gewöhnt, 
anzunehmen, daß Ursache und Wirkung 
3n einem direkten Zusammenhänge stehen, 


die einfache Folge des schädigenden 
Reizes ist der Katarrh. Der Reiz nun, den 
irgendeine Schädigung setzt, ist zunächst 
weiter nichts als eine materielle,.das heißt 
eine räumlich-zeitliche Veränderung, Als 
solche pflanzt er sich auf Nervenbahnen 
fort. Aber an irgendwelcher Stelle muß 
das räumlich-zeitliche Material umge¬ 
wertet, zum vitalen Bedürfnisse des Or¬ 
ganismus in Beziehung gesetzt werden. 
Es erhält eine Bedeutung, die der An¬ 
nahme der Schädigung entspricht, nicht 
dieser selbst. Dem vitalen Werte, das 
heißt dem angenommenen Werte ent¬ 
sprechend, macht sich eine Äußerung 
wieder im räumlich-zeitlichen Sein gel¬ 
tend, erwächst produktiv wieder eine 
materielle Veränderung in ihrer zweck¬ 
mäßigen Form. Das Krankheitsprodukt 
ist so ein dem organischen Bedürfnisse 
entsprechendes Mittel, ist dem schädigen¬ 
den Reize gegenüber organischer Abwehr¬ 
mechanismus. Das gleiche gilt von dem 
Vaginismus, welcher sich bei der Digital¬ 
untersuchung mit einer krampfhaften Zu- 
sammenziehung der Adduktoren verge¬ 
sellschaftet erwies, die die Alten ja Cu- 
stodes Virginüm zu nennen pflegten. 
Beide, Vagmismus und Adduktoren¬ 
krampf, lassen sich leicht als in der Angst 
vor Vergewaltigung fixierter Abwehr¬ 
mechanismus verstehen. Im Renter- 
ghemschen Falle geht der Fluor aus der 
Angst vor körperlicher eigener Schädi¬ 
gung, in meinem Falle aus der Angst vor 
Schädigung des keimenden Lebens, in 
den Fällen pränuptialer sexueller Traumen 
aus Angst vor Schädigung der ethischen 
Persönlichkeit hervor, in jedem Falle ist 
er als Abwehraktion aufzufassen, wie der 
Vaginismus und der Adduktorenkrampf. 
Zwischen Ursache und Wirkung liegt also 
in jedem Falle im organischen Getriebe 
ein innerer subjektiver Faktor. Wie für 
unsere Orientierung in unserer Umwelt 
nicht die Welt in Frage kommt, so wie 
sie ist, sondern so wie wir sie anschauen, 
so wie sie für uns mit menschlichen Er¬ 
kenntnismitteln ist, so kommt auch in 
der organischen Entwicklung nicht das 
in Frage, was ist, so wie es ist, sondern 
so wie es sich in subjektiver Umwertung 
darstellt. Dieser Satz vermag in allen 
seinen Konsequenzen durchdacht für 
unsere Lebens- und Leidensbetrachtung 
von gründstürzender Bedeutung zu wer¬ 
den; er allein ermöglicht uns die Er¬ 
fahrungstatsachen, welche wir oben be¬ 
schrieben haben mit unserem vorherigen 
Wissen in Einklang zu bringen, er setzt 




136 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Aprifi 


uns erst in den Stand, das Verhältnis von 
bakteriellem und psychogenem Fluor albus 
richtig zu erkennen. 

Der Unterschied zwischen beiden ist 
danach nun der, daß das räumlich-zeit¬ 
liche Material den umwertenden Zentren 
auf zwei verschiedenen Wegen zugeht, 
und dieses auf das ihm so zugehende 
Material verschieden eingestellt ist. Wäh¬ 
rend in dem einen Falle der Weg durch 
die nervöse Verbindung von reizgetroffe¬ 
ner Stelle der Cervikalschleimhaut und 
umwertenden Hirnzentren gegeben ist, so 
^eht derselbe in dem anderen Falle durch 
unsere Sinnesorgane zu ebendenselben 
umwertenden Hirnzentren. Wenn die 
Kranke hört, daß ihr Mann luetisch infi¬ 
ziert gewesen sei und daß ein geschlecht¬ 
licher Verkehr für sie und das keimende 
Leben gefahrvoll sei, und wenn sie gleich 
wohl die sexuelle Berührung fühlte, so 
sind die dementsprechenden auralen und 
taktilen Reize ebenso räumlich-zeitliches 
Material, wie die Reizung der Cervikal¬ 
schleimhaut, sie werden ebenso auf 
Nervenbahnen fortgeleitet und harren 
ebenso einer subjektiven Umwertung 
wie jene. 

In dem nervösen, hysterischen Zen¬ 
tralorgan ist nun eine ungewöhnliche 
Reaktivität vorhanden, die ich subjek¬ 
tive Überwertigkeit genannt habe. (Siehe 
Bunnemann: ,,Der Begriff des Mittels 
in der Hysterielehre“, Archiv f. Psych. u. 
Nervenkr., Bd. 59 Heft 1 und ,,Die Neu¬ 
rosenfrage und das Arndtsche biologische 
Grundgesetz“, Neuro log. Zentralbl. 1916 
Nr. 5.) Vermöge dieser besonderen Re¬ 
aktivität, die sich sowohl in der erkenn¬ 
baren Richtung der Funktion als auch 
in der intensiven Aft der Entäußerung 


zu erkennen geben kann, ist in den vor¬ 
liegenden Fällen die instinktive Phan¬ 
tasietätigkeit besonders auf den durch 
die Sinnesorgane führenden Weg einge¬ 
stellt und da zu Übertreibungen geneigt. 
Es ist von Befürchtungen, die auf diesem 
Wege erweckt werden, besonders ab¬ 
hängig, auf Gefahren, die von dieser 
Seite gemeldet werden, besonders auf 
merksam aber auch besonders eingestellt 
auf den sich dieses Weges bedienenden 
Hypnotiseur, durch ihn auf diesem Wege 
weit über die Grenzen normaler Beein¬ 
flußbarkeit beeinflußbar, zumal, wenn 
im Schlafe jede kritische Gegenvorstel¬ 
lung wegfällt. Schlaf aber und Hypnose 
unterscheiden sich ebenfalls durch weiter 
nichts, als durch den Weg, welchen 
Schlaf und Hypnose auslösende Reize 
nehmen. Die organische Funktion fällt 
verschieden aus, je nachdem auf welchen 
Weg die umwertenden Zentren vorwie¬ 
gend eingestellt sind. Der Schlaf ist ein 
dissoziativer Prozeß von organischer 
Zweckmäßigkeit, ein organisches Mittel^ 
das auf der instinktiven Annahme seiner 
Notwendigkeit fußt, diese letztere aber 
wieder ist sowohl durch im Blute krei¬ 
sende Abbauprodukte und Ermüdungs¬ 
körper zu beeinflussen, als durch die 
den Worten und Gesten des Hypnoti¬ 
seurs entsprechenden Sinneserregungen. 

Verstehen wir also, daß zwischen Ur¬ 
sache und Wirkung im organischen Leben 
in jedem Fall ein innerer subjektiver 
Faktor liegt, der auf verschiedenen Wegen 
zu beeinflussen ist, so ist das Verhältnis 
von infektiösem und psychogenen Fluor 
für uns verständlich, so erkennen wir, daß 
zwischen beiden kein wesentlicher, sondern 
nur ein formaler Unterschied besteht. 


Zusammenfassende Übersicht 

über Encephalitis lethargica. 

Von G. Klemperer. 


Aus dem Kreise der Leser sind zahl¬ 
reiche Anfragen über das neuerliche Auf¬ 
treten der epidemischen Encephalitis, 
insbesondere ihre Ursachen, ihre Erken¬ 
nung und Behandlung an mich gelangt, 
die ich durch das folgende Übersichts¬ 
referat beantworten möchte; dabei stütze 
ich mich ebensowohl auf die bisherige 
Literatur wie auf die eigene Beobachtung 
von etwa 40 Fällen im Krankenhaus und 
in der privaten Praxis. Ich verweise auch 
auf die Aussprache des vorjährigen Kon¬ 
gresses für innere Medizin, über welche 


in dieser Zeitschrift (1920 S. 260) berich¬ 
tet ist. 

Die Geschichte der neuen Seuche 
beginnt für uns mit der Beschreibung, die 
Economo im Jahre 1917 von ihrem Auf¬ 
treten in Wien gemacht hat; aber es 
scheint, daß die sogenannte Nona, welche 
vor 30 Jahren in Norditalien, der Schweiz 
und dem südlichen Österreich geherrscht 
hat, der Lethargica wesensgleich gewesen 
ist und in einzelnen Fällen sich erhalten 
hat, bis es aus unbekannten Gründen im 
Donaureich zu einem erneuten Ausbruch 





April 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


137 


gekommen ist, der sich alsdann über ganz 
Europa fortgepflanzt hat. 

Der Name der Krankheit, welcher von 
Econom 0 herrührt, darf als sehr glück¬ 
lich bezeichnet werden, da er die anato¬ 
mischen Veränderungen des Gehirns und 
-das Hauptsymptom der Schlafsucht in 
gleicher Weise hervorhebt. Die Laien 
•Sprechen meist' von ,,Schlafkrankheit“. 
Es braucht an dieser Stelle nicht gesagt 
;zu werden, daß die neue Krankheit nichts 
mit der afrikanischen Schlafkrankheit zu 
tun hat. Denn diese ist streng auf die 
Tropen beschränkt, da sie nur durch den 
Stich einer tropischen Fliege übertragen 
wird (Glossina palpalis); man kennt die 
Protozoenart, welche das Contagium dar- 
5tellt, Trypanosoma gambiense, welches 
im Blut des Erkrankten kreist und leicht 
nachzuweisen ist. Nichts von alledem gilt 
bei der europäischen Schlafkrankheit. 
Und auch die klinischen Verlaufsformen 
sind deutlich unterschieden, insofern als 
die afrikanische Schlafkrankheit das letzte 
Stadium einer mit Drüsenschwellungen 
•einhergehenden langsam verlaufenden In¬ 
fektion darstellt, während unsere Lethar- 
■gica ohne längere Vorkrankheit einsetzt. 
Schließlich endet die afrikanische Seuche 
immer tödlich, während bei uns die 
Prognose um so besser ist, je langsamer 
'die Krankheit abläuft. 

Die Ätiologie unserer Encephalitis 
ist noch nicht geklärt; sie schließt sich 
manchmal an Influenza an; aber wieweit 
'ein Zusammenhang mit derselben besteht, 
ist ganz unsicher; ich möchte mich denen 
.anschließen, welche diese ursächliche Be¬ 
ziehung in Abrede stellen, da schwer zu 
verstehen ist, warum gerade das Auf¬ 
flackern der neuen Seuche bei uns mit 
•dem Schwinden der Grippeepidemie zu¬ 
sammenfällt; übrigens sind die Fälle, in 
^denen die Encephalitis mit grippeartigen 
Symptomen beginnt, doch selten, und 
:schließlich: welche Infektionskrankheit 
setzt nicht gelegentlich wie eine Influenza 
■ein? Die bisherigen bakteriologischen 
Befunde sind nicht entscheidend. Der 
sogenannte Streptococcus pleomorphus 
{Wiesner), der vielfach festgestellt wor- 
'den ist, findet sich auch bei anderen 
Infektionskrankheiten und das gelegent¬ 
liche Vorkommen der sogenannten In¬ 
fluenzabacillen kann nichts beweisen. Aus¬ 
schlaggebend für die Beurteilung der 
Grippeätiologie scheint mir die Tatsache, 
daß die hierbei oft nach wirklicher Influ¬ 
enza beobachtete Encephalitis sowohl 
klinisch als auch namentlich anatomisch 


andere Befunde ergeben hat als die 
Lethargica. 

Der Übertragungsmodus ist uns 
unbekannt. Eine Kontaktinfektion scheint 
ausgeschlossen. Ich habe weder auf den 
Krankenhaussälen, wo die Patienten in 
keiner Weise isoliert wurden, noch auch 
in Familien jemals eine direkte An¬ 
steckung beobachtet. Man wird wohl 
annehmen dürfen, daß die Infektion durch 
Einatmung geschieht und daß die Erreger 
auf dem Blutwege dem Gehirn zugeführt 
werden. Welcher Umstand sie gerade in 
diesem Organ und in diesem besonders im 
Mittelhirn haften läßt, vermögen wir nicht 
zu erklären. 

Die, anatomischen Veränderungen 
sind von bemerkenswerter Geringfügig¬ 
keit; makroskopisch ist oft so wenig zu 
sehen, daß unser Prosektor Geheimrat 
Benda in den meisten Fällen die Diagnose 
mit Sicherheit erst nach der Mikroskopie 
des gehärteten Gehirns stellen konnte. 
Verdachterregend ist Hyperämie und 
Ödem der Hirnhäute und der grauen 
Substanz, gelegentlich sieht man miliare 
Blutungen. Beweisend sind die mikro¬ 
skopischen Befunde von Lymphocyten- 
infiltraten um die Gefäße, kleinste Hämor- 
rhagien sowie lokalisierte Gangliendegene¬ 
rationen und Gliawucheruungen, welche 
besonders im Thalamus, Corpus Striatum, 
Hirnschenkel und Brückenhaube, aber 
auch in andern Hirnpartien konstatiert 
werden. Einschmelzungs- oder Erwei¬ 
chungsherde werden nicht gefunden. In 
den Fällen meiner Beobachtung, die zur 
Obduktion kamen, enttäuschte jedesmal 
die relative Geringfügigkeit des anatomi¬ 
schen Befundes gegenüber der außer¬ 
ordentlichen Schwere des klinischen Ver¬ 
laufs; sicherlich beruhte derselbe zu nicht 
geringem Teil auf einer rein toxischen 
Beeinträchtigung der Hirnsubstanz, aus 
der sich auch der häufige Wechsel der 
klinischen Erscheinungen erklären dürfte. 

Nach Verlauf und Symptomen 
möchte ich drei Formen der Krankheit 
unterscheiden, zwischen denen natürlich 
Übergänge Vorkommen: die schwerste, 
akut komatöse Form, die mittlere Form 
der eigentlichen Schlafkrankheit (lethar¬ 
gische Form), und die leichte fast abor¬ 
tive Form der nervösen Reiz- und Schwä¬ 
cheerscheinungen (rudimentäre Form). 
Diese Einteilung scheint mir praktisch 
brauchbarer als die von den hauptsäch¬ 
lichen Symptomen des Einzelfalles ab¬ 
geleitete Unterscheidung eines lethargi¬ 
schen, Paralysis-agitans-artigen und cho- 

18 



m 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Aprili 


reiformen Krankheitstypus; denn die ver¬ 
schiedenen Reizerscheinungen kommen 
ebenso wie die Lähmungen sehr wechselnd 
bei leichtem wie bei schwerem Krank¬ 
heitsbild vor. 

Die komatöse Form beginnt plötzlich, 
mit sehr kurzer Prodrome von Mattigkeit 
und Kopfschmerzen. Der Übergang von 
blühender Gesundheit in schwerste Krankr 
heit ist so unvermittelt, daß es den Laien 
schwer wird, an natürliche Ursachen zu 
glauben. In einem meiner Fälle brach ein 
junger Monteur auf dem Wege zur Ar¬ 
beitsstätte plötzlich zusammen, wurde 
bewußtlos ins Krankenhaus gebracht und 
starb nach zwei Tagen; ein zweiter Fall 
betraf eine junge Ehefrau, die sich des 
Abends noch im Familienkreise lebhaft 
unterhalten hatte, am nächsten Morgen 
aber anscheinend aus festem Schlaf nicht 
zu erwecken war und unter Vergiftungs¬ 
verdacht ins Krankenhaus gebracht wur¬ 
de; sie starb am vierten Tage im tiefem 
Koma. Das Symptomenbild bietet außer 
der absoluten Bewußtlosigkeit nichts Cha¬ 
rakteristisches. In einzelnen Fällen sind 
schwere Delirien beobachtet. Das Fieber 
schwankt zwischen 38 und 40®; die Herz¬ 
tätigkeit ist im Anfang kräftig und regel¬ 
mäßig, um allmählich zu erlahmen; auch 
die Atmung ist im Anfang nicht gestört. 
So bietet die Diagnose sehr große Schwie¬ 
rigkeiten; Verwechselungen sind ebenso¬ 
wohl mit apoplektischem oder paralyti¬ 
schem wie mit urämischem Koma, mit 
Hirntumor, ja mit jeder möglichen Hirn¬ 
krankheit 1) vorgekommen. Die Unter¬ 
scheidung von epidemischer wie tuber¬ 
kulöser Cerebrospinalmeningitis ist schwer 
möglich, wenn neben Genickstarre und 
positivem Kernig die Lumbalpunktion 
erhöhten Druck im Liquor aufweist; so 
habe ich es in zwei Fällen gesehen, in 
denen bei der Obduktion neben den 


0 Ich habe bei einer Patientin fälschlich En- • 
cephalitis lethargica diagnostiziert, welche bewußt¬ 
los aufgefunden war und bei welcher die Unter¬ 
suchung neben hohem Fieber nur geringfügige 
bronchopneumonische Herde und eine endarteri- 
itische Gangrän der Zehen des rechten Fußes ergab. 
Der Exitus trat nach zwei Tagen ein und die 
Obduktion ergab eine ausgedehnte Hirnerweichung 
aus Hirnembolie infolge des seltenen Ereignisses 
einer luetischen Narbenbildung in der rechten 
Carotis, die zur vollständigen Thrombosierung 
derselben geführt hatte; die Zehengangrän, die ich 
auf Thrombosierung der Arteria poplitea durch in¬ 
fektiöse Endarteriitis zurückgeführt hatte, beruhte 
ebenfalls auf Embolie. Ein anderer Fall von ver¬ 
meintlicher Encephalitis ergab als Todesursache 
einen Cysticercus am Boden des vierten Ventrikels. 
In beiden Fällen war das Fieber auf terminale 
Bronchopneumonie zurückzuführen. 


typischen encephalitischen Herden in der; 
Haube des Hirnstammes eine ausge¬ 
sprochene meningitische Reizung gefun¬ 
den wurde. In allen anderen Fällen sahen, 
wir ebenso wie alle anderen Autoren den. 
Liquor cerebrospinalis im wesentlichen 
normal, ein Zeichen, das für die Diffe¬ 
rentialdiagnose oft sehr wichtig ist. In 
mehreren Fällen haben wir reflektorische 
Pupillenstarre bei negativer Wassermann¬ 
reaktion gefunden. Der Verlauf der akut, 
komatösen Form scheint in der über-^ 
wiegenden Mehrzahl der Fälle schnell, 
tödlich zu sein; von meinen Fällen ist 
keiner gerettet worden. Doch ist auch 
Vorübergehen der Bewußtlosigkeit und 
Übergang in die Mittelform beobachtet.^ 
Von der Häufigkeit des Auftretens dieser 
schwersten Form ist die Mortalität der 
Gesamtepidemie bedingt; daraus, daß; 
zumeist die schweren Fälle ins Kranken¬ 
haus kommen, erklärt sich die Sterblich¬ 
keitsziffer einzelner Statistiken von 25 bis 
50 %. In Wirklichkeit dürfte der Anteil 
der schweren Fälle an der Gesamtmorbi¬ 
dität bedeutend geringer sein und sich 
aus der Gesamtzahl eine Sterblichkeit vom 
etwa 10% ergeben. 

Aus dem Gesagten geht ohne weiteres-- 
hervor, daß die Diagnose der komatösen 
Form der Encephalitis mit Sicherheit 
eigentlich erst durch die Autopsie gestellt 
werden kann. Die Behandlung muß sich 
auf Pflege, Ernährung und Excitation 
beschränken. Alle Versuche sero- und 
chemotherapeutischer Einwirkung sind 
fehlgeschlagen; speziell haben auch alle- 
Heilmittel, die bei der Grippe gelegent¬ 
lich Erfolg zu haben schienen, bei der- 
Encephalitis vollkommen versagt. 

Viel mannigfaltiger ist der Verlauf der' 
lethargischen Mittelform. Hier ist meist 
der Beginn ein allmählicher, mit all¬ 
gemeinen Infektionsprodromen einher¬ 
gehend. Kopfschmerzen, Schwindel, Er¬ 
brechen, Gliederschmerzen, allgemeines 
Unbehagen, oft auch Schlaflosigkeit wer¬ 
den berichtet; in mehreren Fällen war 
Doppeltsehen das erste charakteristische- 
Symptom, das die Diagnose auf die 
richtige Spur lenkte. Sehr wechselnd ist 
der Fieberverlauf; in einzelnen Fällen 
waren von Anfang an hohe Temperaturen 
vorhanden, meist schwankte das Fieber 
zwischen 37,5 und 39 in ganz unregel¬ 
mäßiger Weise, zweimal habe ich wie auch 
andere Autoren ganz fieberlosen Verlauf 
beobachtet. Mehr oder weniger schnell, 
geht diese Form in das charakteristische 
Stadium der Lethargie über, welche durchs 




April 


Die. Therapie, der Gegenwart. 1921 


139 


encephalitische Herde im sogenannten 
Schlafcentrum bedingt zu sein scheint 
(nach Trömner im Thalamus opticus, 
nach Mauthner im Boden des dritten 
Ventrikels). In der Mehrzahl der Fälle 
scheinen die Patienten wirklich dauernd 
zu schlafen; auf Anruf erwachen sie, 
geben auf Befragen Antwort, sind aber 
teilnahmlos und sinken alsbald wieder in 
Schlaf zurück; dabei verlangen sie nicht 
nach Speise und Trank, schlucken aber 
gut, wenn sie nach dem Erwecken ge¬ 
füttert werden; lassen von selbst nicht 
Urin, tuen es aber meist auf Anruf. In 
vielen Fällen aber handelt es sich weniger 
um wirklichen Schlaf, als vielmehr um 
einen eigentümlichen Zustand von Mattig¬ 
keit und allgemeiner Erschlaffung, in 
welchem die Kranken an nichts Anteil 
nehmen und in welchem sie durch die 
gleichzeitige Ptosis beider Augenlider den 
Eindruck von Schlafenden machen. In 
diesem Stadium kommen die verschieden¬ 
sten Formen von Hirnnervenlähmung vor; 
insbesondere sind die Kerne des Oculo- 
motorius, Trochlearis, Abducens, seltener¬ 
weise auch Facialis und Trigeminus, so¬ 
wie Hypoglossus und Glossopharyngeus 
beteiligt. Es wurden neben der erwähnten 
Ptosis Doppeltsehen, verlangsamte Pu¬ 
pillenreaktion, Akkomodationsparese, auf¬ 
gehobene Corneal- und Conjunctival- 
reflexe, Sprachstörung, Erschwerung der 
Kau- und Schlucktätigkeit beobachtet; 
oft verschwinden diese Symptome nach 
mehrtägiger Dauer. Charakteristisch ist 
vielfach eine mehr oder weniger aus¬ 
gesprochene Muskelsteifigkeit, die sich 
sowohl in einem maskenartigen Gesichts¬ 
ausdruck als in der Haltung der Extremi¬ 
täten zu erkennen gibt. Man hat die Fälle 
von besonderem Hervortreten der Muskel¬ 
steifigkeit als eigenen Typus der extra¬ 
pyramidalen motorischen Funktionsstö¬ 
rung (lethargisch-rigiden Symptomenkom- 
plex) herausgehoben. Strümpell weist 
darauf hin, daß die Regungslosigkeit, mit 
der diese Kranken zu Bett liegen, auf 
einer Bewegungsarmut infolge mangeln¬ 
den Bewegungstriebes, also auf psycho¬ 
motorischen Hemmungen beruht. Darauf 
beruhen auch die oft beschriebenen Dauer¬ 
stellungen, welche man den Kranken ähn¬ 
lich wie im kataleptischen Tonus oder wie 
bei schwerer Hysterie geben kann. Wenn 
sich der Zustand der Rigidität und des 
maskenartigen Gesichtsausdrucks mit zit¬ 
ternden Bewegungen vereint, so kann die 
Krankheit das getreue Abbild der Para¬ 
lysis agitans darbieten. Andere Fälle, in 


welchen choreaartige Zuckungen und all¬ 
gemeine Muske-lunruhe im Vordergrund 
stehen, werden als choreatisch-athetoti- 
sche Form der Encephalitis zusammen¬ 
gefaßt. Wieweit eine solche Trennung 
•zweckmäßig ist, erscheint fraglich an¬ 
gesichts der neuerdings besonders von 
Bonhoeffer hervorgehobenen Tatsache, 
daß man die beiden extrapyramidalen 
Motilitätsstörungen sich ablösen und 
nebeneinander bestehen sieht. Besondere 
motorische Reizerscheinungen, die mehr¬ 
fach beobachtet sind, stellen die Myo- 
clonien, wie z. B. isolierte Bauchmuskel¬ 
krämpfe, vor allem aber der Sin- 
gultus, dar. Das epiderriische Auftreten 
des Schluckauf ist neuerdings an ver¬ 
schiedenen Orten, zuerst in Wien, später 
in Frankreich und der Schweiz beobachtet 
worden; er dürfte auf einer vorüber¬ 
gehenden, wahrscheinlich toxischen Schä¬ 
digung im cervicalen Kerngebiet des 
Phrenicus beruhen. Als wirkliches Sym¬ 
ptom der Encephalitis wird man den 
Singultus nur bei zweifellosem Vorhanden¬ 
sein anderweiter Reiz- oder Lähmungs¬ 
erscheinungen deuten dürfen und nicht 
vergessen, daß dies Symptom, abgesehen 
von seiner terminalen Bedeutung, auch 
auf psychischer Ursache und auf degene- 
rativer Rückenmarkserkrankung beruhen 
kann. 

Das subjektive Befinden der Kranken 
ist bei der Mittelform ein wechselndes; 
werden sie aus dem Schlafe erweckt, so 
antworten sie auf Befragen wie Typhus¬ 
kranke, daß es ihnen gut gehe. Aber 
auch hier gilt, daß es ihnen erst wirklich 
gut .geht, wenn sie sich schlecht fühlen. 
Viele äußern dauernd ein peinliches Er¬ 
müdungsgefühl. Manche machen auch 
nach überstandenem Schlafzustand noch 
lange einen blöden Eindruck. Es sind 
auch Traumzustände und leichte Delirien 
beobachtet. Wirkliche Schmerzen oder 
auch nur stärkere subjektive Beschwerden 
scheinen nicht vorzukommen. 

Die Dauer der Krankheit ist wechselnd 
und dürfte im allgemeinen zwischen drei 
Wochen und drei Monaten schwanken. 
Rezidive von unberechenbarer Dauer sind 
nicht selten. Die Krankheitsdauer wird 
manchmal wesentlich beeinflußt durch 
das Auftreten einer Pneumonie, die als die 
einzige gefährliche Komplikation der 
Krankheit bezeichnet werden darf. Es 
handelt sich anscheinend immer um 
Bronchopneumonien mit dem klinischen 
und anatomischen Charakter der Grippe¬ 
erkrankung; doch sind auch Aspirations- 

18* 





140 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


April 


pneumonien durch Schlucklähmung beob¬ 
achtet. Einen Beweis der Zusammen¬ 
gehörigkeit von Encephalitis und Grippe 
darf man aus dem Auftreten der Pneu¬ 
monie keinesfalls entnehmen; Wiesner 
betrachtet eine Schädigung der dorsalen 
Vaguskerngruppe durch den encephali- 
tischen Prozeß als Ursache der Lungen¬ 
komplikationen. 

Die Diagnose der Mittelform ist aus 
dem charakteristischen Schlafzustand in 
Verbindung mit der okulomotorischen und 
der extrapyramidalen Motilitätsstörung 
leicht zu stellen. 

Die Prognose der Mittelform ist ad 
bonam vergens; die Möglichkeit eines 
ungünstigen Ausgangs ergibt sich aus dem 
immerhin beobachteten Übergang in die 
schwere Form und aus der gelegentlich 
noch spät einsetzenden, immer gefähr¬ 
lichen Pneumonie. 

Die Behandlung hat allen Indikationen 
der Allgemeintherapie der Infektions¬ 
krankheiten, nicht anders wie beim Abdo¬ 
minaltyphus, zu genügen. Nur die Anti- 
pyrese tritt ganz zurück; kühle Bäder 
kommen kaum in Frage. Von besonderer 
Bedeutung ist die Sorge für die Ernäh¬ 
rung. Zumeist genügt es ja, die Patienten 
.aufzurütteln und zu füttern; oft aber ist 
.Nahrungszufuhr durch den Schlauch not¬ 
wendig. Sorgfältige Überwachung des 
Eßaktes ist noch lange nach dem Schwin¬ 
den der eigentlichen Lethargie von Be¬ 
deutung, weil die Patienten oft beim Essen 
cinduseln und die Nahrung halbgekaut im 
Mund behalten, ohne zu schlucken. Eben¬ 
so ist die Sorge für regelmäßige Urin¬ 
entleerung,eventuellen Katheterismus, 
und die Überwachung des Stuhles von 
Wichtigkeit. Trotzdem eine kausale 
Therapie nicht möglich ist, sind doch viel 
Einwirkungsmöglichkeiten gegeben; von 
der ärztlichen Aufmerksamkeit und der 
sorgsamen Pflege hängt nicht selten das 
Schicksal des Kranken ab. Eine spezielle 
Indikation können die motorischen Reiz¬ 
zustände darbieten, welche nach Ab¬ 
klingen der Schlafstörung eventuell die 
Anwendung von Opiaten und Schlaf¬ 
mitteln notwendig machen. Man hat in 
solchen Zuständen auch von der Hypnose 
Gebrauch gemacht (Späth), welche z. B. 
bei unstillbarem Singultus Anwendung 
verdienen dürfte. 

^ Die leichte, rudimentäre Form ist da¬ 
durch ausgezeichnet, daß die fieberhaften 
Erscheinungen kurz und unbedeutend 


sind, und die eigentliche Schlafstörung 
vollkommen fehlt, während cerebrale Reiz- 
und Schwächeerscheinungen von wech¬ 
selnder Dauer und Intensität beobachtet 
werden. Gewöhnlich erkranken die Pa¬ 
tienten grippeartig mit mehrtägigem Fie.- 
ber, dessen Natur nicht festzustellen ist; 
danach sind sie wochenlang auffallend 
matt, teilnahmslos, ohne Energie und 
Initiative. Gleich im Beginn oder erst im 
weiteren Verlauf kommt es häufig zu 
okulomotorischen Störungen, besonders 
zu Ddppeltsehen, zu Unfähigkeit des Nah¬ 
lesens, zu Facialislähmung oder zu Sin¬ 
gultus. Die Diagnose dieser Fälle ist sehr 
schwer, wenn man nicht an die gleich¬ 
zeitige Epidemie denkt. Zur Verwechslung 
fordert namentlich die Lues auf.' In 
einem Fall von vorübergehendem Doppelt¬ 
sehen eines jungen Kaufmannes, der nach 
fünftägiger unklarer Fieberkrankheit sich 
schwer erholte, war von drei verschiedenen 
Ärzten hintereinander Wassermannreak¬ 
tion gemacht und trotz negativen Aus¬ 
falles antiluetische Kur verordnet worden, 
weil bei dem Doppeltsehen Lichtstarre 
der Pupillen konstatiert war. Sehr richtig 
sagt Bonhöffer: ,,Die fast pathogno- 
mische Bedeutung der Lichtstarre der 
Pupillen für centrale Lues ist durch die 
Erfahrungen beiEncephalitis erschüttert.“ 
Zur richtigen Diagnose führt, neben der 
Bewertung der Wassermannreaktion na¬ 
mentlich im Liquor, die Beobachtung des 
Verlaufs, die bei der rudimentären Form 
der Encephalitis ein relativ schnelles 
Schwinden der Erscheinungen ohne speci- 
fische Therapie ergibt. — Wenn die Kern¬ 
symptome zurücktreten und die all¬ 
gemeine Leistungsunfähigkeit und das 
subjektive Schwächegefühl im Vorder¬ 
grund der Klagen stehen, ist man leicht 
geneigt, an Neurasthenie zu denken. Hier 
wird die Würdigung des früheren Ver¬ 
haltens, die anamnestische Feststellung 
des stattgehabten Fieberanfalls, zuletzt 
der Verlauf die Entscheidung brihgen. 
Die Behandlung der rudimentären For¬ 
men wird sich auf hygienische und diäte¬ 
tische Verordnungen beschränken; wichtig 
ist die psychische Beruhigung der Kran¬ 
ken durch die diagnostische und pro¬ 
gnostische Klärung des Falles; bei den an 
Neurasthenie erinnernden Fähen ist für 
lange Ruhezeit zu sorgen; das mangelnac 
Kraft- und Selbstgefühl wird ebenso durch 
Zuspruch wie durch klimatische Ein¬ 
wirkung und Arsenmedikation allmählich 
wieder hergestellt. 




Die Therapie der Gegenwart 1921 


141 


April 


Repetitorium der chirurgischen Therapie. 

Von M. Borchardt. 

Die Behandlung frischer Verletzungen. 

Von M. Borchardt und S. Ostrowski. (Fortsetzung.). 


\ Erfrierungen. 

Wenn wir Erfrierungen noch ganz 
frisch während der Kältestarre zu be¬ 
handeln haben, so läßt sich zunächst noch 
nicht- absehen, in welchem Umfange die 
Kälteschädigung bleibend sein wird. Erst 
nach dem Aufhören des eigentlichen Er¬ 
frierungsvorganges zeigt es sich, ob eine 
Erfrierung ersten Grades (Rötung der 
Haut und Schwellung), zweiten Grades 
^(Blasenbildung, oberflächliche Substanz¬ 
verluste) oder dritten Grades (Gangrän 
der Haut, eines Gliedabschnittes oder 
einer ganzen Extremität) die Folge sein 
wird. Es ist eine alte Regel, frostbeschä¬ 
digte Körperteile erst allmählich aus der 
Kälte in die Wärme zu überführen. Man 
erwärmt die erfrorenen Körperteile sehr 
langsam in einem mit Schnee oder Eis 
versetzten Wasserbade. Rötet sich da¬ 
nach der geschädigte Teil wieder, so läßt 
das auf eine weniger schwere Gewebs- 
•schädigung schließen. Bleibt er blaß und 
empfindungslos, so handelt es sich um 
eine bedrohliche Circulationsstörung. 
Hier leistet, wie Kroh und Bundschuh 
zeigen konnten, die Streich- und Knet¬ 
massage bisweilen gute Dienste. Sie 
wird in halbstündigen Intervallen wäh¬ 
rend des ersten Tages wiederholt.' Bleibt 
der Erfolg aus, so kann die Saugbehand- 
Jung nach Bier oder die rhythmische 
Stauung nach Thies (3 Minuten Stauung, 
2 Minuten Staupause), bisweilen zur 
Wiederherstellung der Circulation führen. 
Es darf aber nicht verhehlt werden, daß 
von manchen Autoren die Stauung ab¬ 
gelehnt wird, weil sie nach ihrer Meinung 
•die gefürchtete venöse Stase begünstige. 
Von hyperämisierenden Mitteln sei wei¬ 
ters die Heißluftbehandlung genannt, die 
auch bei der Beschleunigung der Demarka¬ 
tion der dem Gewebstod verfallenen 
Teile eine günstige Wirkung entfaltet. 

Die leichtesten Grade der Erfrierung 
heilen ohne weitere besondere Maßnah¬ 
men, eine Sonderstellung nehmen die so¬ 
genannten Frostbeulen ein, chronische, 
zumeist bei jedem Kälteeintritt rezidi¬ 
vierende Gefäßstörungen, diffus oder cir- 
CLimscript an der Streckseite der Hände 
und Füße — besonders an den Gro߬ 
zehenballen — auftretende Rötungen und 
Schwellungen der Haut mit heftigem 


Juckreiz in der Wärme und besonders 
nach Malträtieren durch Kratzen auf¬ 
tretenden Geschwürsbildungen. Anänli- 
sche Individuen sind am häufigsten von 
dieser Affektion befallen, die oft ein 
schwieriges Behandlungsobjekt sein kann. 
Wichtig ist vor allem die Prophylaxe. 
Bei Personen, deren Tätigkeit lang¬ 
dauernden Aufenthalt in der Kälte oder in 
der Nässe erfordert, ist auf gutsitzendes, 
nicht schnürendes Schuhwerk und weite 
Strümpfe zu achten, Von.Dreyer ist für 
Soldaten ein Schuh angegeben worden, 
der als lockerer Schaftstiefel leicht und 
bequem angezogen werden und durch 
breite Lederspangen genügend festen Sitz 
erhalten kann. Von alters her wird als 
Prophylaktikum gegen die Erfrierung der 
Füße bei Soldaten das sogenannte Leimen 
der Füße empfohlen. Strümpfe oder 
Fußlappen werden mit folgender Mi¬ 
schung dick bestrichen und noch warm 
auf die Füße gezogen: Glycerin 500,0, 
Brunnenwasser 350,0, Leim 150,0 (durch 
Kochen gemischt). Ein gutes Vor- 
beugungsmittel soll auch das von' den 
Münchener Luitpoldwerken hergestellte 
Dermotherma sein, eine Verbindung von 
Formaldehyd, Acid. lacticum, Campher- 
Menthol-Thymol, Extract. arnic. fluid., 
Extract. capisci fluid, und Sapo dialysat. 

Mit Geschwürsbildungen einhergehende 
Frostbeulen erfordern die Behandlung 
mit feuchten Verbänden, später Salben¬ 
verbänden (Langenbeck'Sche Salbe). 

Handelt es sich um die schwersten 
Formen der Erfrierung, die Frostgangrän 
ganzer Gliederabschnitte oder Glieder, so 
hat unsere Hauptsorge zunächst der Ver¬ 
meidung der Infektion zu gelten, die bis 
zur Vollendung der Demarkation des 
irreparabel geschädigten Gewebes die 
Hauptgefahr bildet. Feuchte Gangrän 
ist durch rechtzeitige Entfernung der 
Oberhaut und austrocknende Verbände 
in eine trockene zu verwandeln. 

Ausgezeichnetes leistet hierbei die 
Dosquetsche offene Wundbehandlung. 
Zu warnen ist vor der Anwendung des 
Jodanstriches. Unter den sich bildenden 
Krusten kann der Brand wieder feuchter 
werden. Austfocknungsmittel sind das 
Kaolin, das Dermatol, Airol, Kieselsäure¬ 
pulver und die pulverisierte Tierkohlc. 



142 


Aprir 


Die ,Therapie der Gegenwart 1921* 


Solange die Infektion ausbleibt, sei man 
nicht zu voreilig mit der Absetzung er¬ 
frorener Teile, sondern schiebe diese bis 
zur endgültigen Demarkierung auf. Häu¬ 
fig gelingt es so unter Zuhilfenahme von 
Suspension der erfrorenen Glieder noch 
Abschnitte zu erhalten, die man vor der 
Beseitigung der venösen Stauung durch 
die Suspension schon verloren glaubte. 

Versagt dieses Hilfsmittel, so bleibt 
noch als ultima ratio vor der verstüm¬ 
melnden Operation das Verfahren /Jer 
multiplen Incisionen nach Nöske. Über 
den Finger- und Zehenkuppen werden 
bis auf den Knochen reichende, quere 
Incisionen angelegt, eventuell noch Längs- 
incisionen auf Finger-, Hand-, Fuß- und 
Zehenrücken hinzugefügt, und nun mehr¬ 
mals am Tage die Saugglocke zum Ab¬ 
saugen des stagnierenden Venenblutes an¬ 
gesetzt. In Campheröl getauchte und in 
die Wunden gelegte Tampons verhüten 
eine Verklebung derselben. Der Erfolg 
ist der, daß die Demarkationslinie oft 
weiter distalwärts rückt und, wenn über¬ 
haupt, doch viel weniger Gewebe ge¬ 
opfert zu werden braucht. 

Daneben sind auch Wechselbäder, 
kohlensaure Bäder, Wechselluftduschen 
und Faradisation von Nutzen. 

Das Beherrschende in der Therapie 
der Erfrierungen ist also die konservative 
Therapie. Der Hauptzweck der Früh¬ 
operationen (Abkürzung des Heilverfah¬ 
rens) wird zumeist doch nicht erreicht. 
Nachoperationen lassen sich oft trotzdem 
nicht vermeiden. Nur wenn bei feuchter 
Gangrän die Gefahr der fortschreitenden 
Phlegmone oder Sepsis droht, muß der 
gangränöse Gliedabschnitt frühzeitig ge¬ 
opfert werden. Als Prinzip gilt hierbei, 
möglichst einfache Wundverhältnisse zu 
schaffen. Nie sollte die primäre Wund¬ 
naht gemacht werden. Sehnenscheiden 
sind einige Zentimeter proximalwärts zu 
spalten und offen zu halten, weil die Ge¬ 
fahr der in ihnen fortschreitenden Eite¬ 
rung droht. Die Besprechungen der ge¬ 
nauen Indikationen, wo zu amputieren 
ist, die Prognose der einzelnen Formen 
der Stumpfbildung soll hier als zu weit¬ 
gehend unterbleiben. Auf die Stumpf¬ 
deckungen kann meistens primär keine 
Rücksicht genommen werden, sie muß 
fast immer plastischen Nachoperationen 
Vorbehalten bleiben und wird bei diesen 
an den Beinen am besten durch gestielte 
Lappen von der anderen Extremität, an 
den Armen durch gestielte Brust- oder 


Bauchlappen bewerkstelligt. Zwei plasti¬ 
sche Operationen wollen wir aber als be¬ 
sonders wichtig noch erwähnen. Das ist 
erstens die Bildung der sogenannten. 
Mittelhandfmger bei Verlust aller Finger 
durch Spaltung der Intermetacarpalräu¬ 
me und Auskleidung derselben mit Haut. 
Zweitens die sogenannte Fingerauswechse¬ 
lung oder Fingerzehenauswechselung. Ihr 
Zweck ist, funktionell wichtige, verlorene 
Finger plastisch durch einen weniger 
wichtigen erhaltenen Nachbarfinger oder 
die Großzehe zu ersetzen. 

Die Behandlung des akuten traumatische» 
Shocks. 

Während das klinische Bild des Shocks 
im allgemeinen ein einheitliches und 
wohlbekanntes ist, läßt sich das von 
der Art seiner Entstehungsursache nicht 
aussagen. Und doch ist gerade die 
Differenzierung der ihn auslösenden Mo¬ 
mente für eine rationelle Therapie des 
Shocks von großer Bedeutung. Nach 
der einen Ansicht (Erschöpfungstheorie) 
reagieren Rückenmark und verlängertes 
Mark auf außergewöhnlich mächtige peri¬ 
phere Reizungen mit einer Art von 
Stupor, das heißt einer allgemeinen funk¬ 
tionellen Hemmung, die sich auf Herz¬ 
tätigkeit, Atmung, Gefäßinnervation,kurz 
den gesamten vitalen Tonus erstreckt.. 
Nach der Theorie von Fischer steht die 
reflektorische Lähmung der vasomotori¬ 
schen Nerven im Vordergrund. Durch die 
Parese der Vasocqnstrictoren kommt es 
zu einer starken Überfüllung der Venen,, 
besonders im Bereiche des Pfortader¬ 
systems. Es erfolgt gewissermaßen eine 
Verblutung in die Visceralgefäße hinein 
und durch diese akute Plethora abdomina¬ 
lis eine gewaltige Blutdrucksenkung im 
extravisceralen Teile des Gefäßsystems, 
die schließlich sekundär durch Anämie 
des Hirns und verlängerten Markes zum 
Herzstillstand führt. Daneben-übt aber 
auch die Reizung des Sympathicus und 
Vagus auf die Hemmungscentren des 
Herzens unmittelbar eine bedeutende Wir¬ 
kung aus. 

Die Erscheinungen des Shocks werden 
einerseits durch jähe Gewalteinwirkungen 
auf räumlich sehr ausgedehnte Körpef- 
gebiete, andererseits durch Wirkung auf 
besondere Nervengebiete hervorgerufen. 
Im ersten Falle kommen als Ursache 
schwere Verletzungen (Artilleriegeschoß- 
wirkungen, Maschinenverletzungen, 
schwere Verbrennungen, Explosionstrau¬ 
men usw.). in Frage, im zweiten Ver- 






April 


Die Therapie dör Gegenwart :1921 


143 


letzungen mit besonderen Angriffspunkten 
(Brust- und Bauchtraumen) durch 
stumpfe oder scharfe Gewalt, spontan 
erfolgende akute Magendarm Perforationen 
oder Blutungen, das Zerren an der 
Mesenterialwurzel .durch Manipulationen 
an den Därmen beim Auspacken und Ab¬ 
suchen derselben. 

Auch plötzlicher schwerer Blutverlust 
oder hochgradige Erregungen durch Angst 
oder Freude können zu den gleichen 
Folgen führen. Sehr zu beachten ist 
auch das Angstgefühl des Patienten vor 
operativen Eingriffen. 

Besonders von französischen Autoren 
wird neben dem nervösen Shock und dem 
sogenannten Verblutungsshock bei schwe¬ 
ren Verwundungen noch eine weitere 
Form, der sogenannte Verletzungsshock 
beschrieben. Er unterscheidet sich von 
den ersteren Formen dadurch, daß er erst 
etwa 3—10 Stunden nach dem Trauma in 
die Erscheinung tritt. Er wird am häufig¬ 
sten bei multiplen Verletzungen oder soli¬ 
tären Wunden mit ausgedehnter Gewebs¬ 
zerstörung beobachtet und setzt ein, wenn 
die Entwicklung von bakteriellen Giften 
in der Wunde oder von schädlichen 
Stoffen, die intermediär aus den abge¬ 
bauten Gewebstrümmern entstehen, zur 
Resorption gelangt sind und zur Toxämie 
geführt haben (toxämischer Shock). 

Unter den klinischen Erscheinungen 
des Shocks treten hervor: Ein zunehmender 
Kräfteverfall, Abnahme der Herztätigkeit, 
kaum fühlbarer, oft unregelmäßiger, mei¬ 
stens verlangsamter, seltener mehr oder 
wenig beschleunigter Puls, oberflächliche, 
oft jagende Atmung, Abkühlung besonders 
der prominenten Körperteile, Leichen¬ 
blässe der Haut, Weite und Reaktions- 
losigkeit der Pupillen, Erbrechen, unfrei¬ 
williger Kot- und Urinabgang. Oft be¬ 
gleiten hochgradige motorische Unruhe 
bei angstvollem Gesichtsausdruck, lautes 
Schreien, Wiederholen derselben Worte 
diese Symptome (erethischer Shock), oder 
es bleibt bis zum Tode ein Zustand völliger 
Apathie bestehen (torpide Form des 
Shocks). Das Sensorium pflegt meist un¬ 
getrübt zu sein, im Gegensatz zu dem Ver¬ 
halten bei der gewöhnlichen Ohnmacht 
oder dem Kollaps. 

Was nun die Behandlung des Shocks 
betrifft, so vermögen wir in vielen Fällen 
mit Hilfe gleich zu erörternder Ma߬ 
nahmen ihn überwinden zu helfen. Es 
bleiben leider aber genug Fälle übrig, in 
denen, die Wirkung des Shocks trotz aller 


gegen seine verschiedenen Symptome ge¬ 
richteten Mittel fortbesteht und selbst bei 
anfangs anscheinend leichteren Graden 
der tödliche Ausgang nicht abzuwenden 
ist. Nicht immer kommt in diesen Fällen 
der Shock allein als Ursache in Frage. Es 
ist für eine erfolgreiche Therapie von vorn¬ 
herein .von größter Wichtigkeit, festzu- 
stellen, welcher Anteil der Erscheinungen 
bei einem unter dem Bilde des Shocks in 
unsere Behandlung kommenden Kranken 
ätiologisch diesen zufällt und welcher 
Anteil anderen Ursachen zugeschrieben 
werden muß. Als solche sind in erster 
Linie zu nennen: Innere Blutungen, 
Lungenembolie, Perforationsperitonitis. 
Die Zeichen dieser Erkrankungen können 
von denen des Shocks so überlagert sein, 
daß eine Entscheidung sehr schwierig sein 
kann. Besonders trifft das für die Diffe¬ 
renzialdiagnose des Shocks und der inneren 
Blutung zu. Im allgemeinen muß aber 
einige Stunden nach seinem Einsetzen 
der Shock einen deutlichen Rückgang 
seiner Erscheinungen erkennen lassen. 
Geschieht das nicht, so haben wir allen 
Grund, an eine innere Blutung, z. B. bei 
einem Bauchtrauma, oder an eine be¬ 
ginnende Bauchfellentzündung zu denken 
und uns für ein sofortiges operatives Ein¬ 
greifen einzurichten. Dabei ist zu be¬ 
merken, daß der durch Perforation eines 
Hohlorganes in die Bauchhöhle bedingte 
Schmerzshock in der Narkose zu schwinden 
pflegt und alle als Shocksymptome ge¬ 
deuteten Zeichen während des Operations¬ 
verlaufes weiterhin nachlassen. Wichtig 
für uns und zugleich ein Zeichen von übler 
Vorbedeutung ist die Senkung der Tempe¬ 
ratur unter normale Werte und eine zu¬ 
nehmende Pulsverschlechterung trotz aller 
Stimulierung des Herzens. 

Glauben wir erkannt zu haben, daß' 
eine reineShockwirkungvorliegt,so kommt 
es zunächst darauf an, den Kranken vor 
der Einwirkung äußerer Reize zu schützen. 
Grelles Licht ist abzublenden, Geräusche 
sind nach Möglichkeit durch Verbringung, 
des Kranken in einen ruhig gelegenen 
Raum abzudämpfen, der zur Vermeidung 
stärkerer Abkühlung des Patienten ge¬ 
nügend erwärmt sein muß. Im letzten 
Kriege wurden hierzu besonders auf fran¬ 
zösischer Seite Heißluftkammern einge¬ 
richtet. Bei Mangel an solchen tut auch 
die Erwärmung des Bettes durch Ther¬ 
mophore oder die Einpackung des Kran¬ 
ken in heiße Tücher ihren Dienst. Der 
Kopf des Kränkendst tief, die Beine sind 
erhöht zu lagern. Eventuell ist die oben 





144 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


April 


erörterte bedrohliche Blutdrucksenkung 
durch Autotransfusion, das heißt Aus¬ 
treibung des Blutes aus den elevierten, 
von der Peripherie rumpfwärts elastisch 
cingewickelten Extremitäten und dadurch 
hervorgerufene Verkleinerung des Blut¬ 
kreislaufs zu bekämpfen. Gegen die be¬ 
drohliche Blutdrucksenkung durch Über¬ 
füllung des visceralen Gefäßsystems käme 
folgerichtig die intravenöse Kochsalz¬ 
infusion in Betracht. Über die bisweilen 
wunderbare Wirkung der Infusion, die 
besonders augenfällig wird, wenn ihr das 
den Blutdruck steigernde Adrenalin oder 
Pituitrin zugesetzt wird, kann wohl kaum 
ein Zweifel sein. Dennoch wird ihr Nutzen 
von V. Man teuffei beim Shock bestritten 
und nur dann zugegeben, wenn neben dem 
Shock auch starker Blutverlust entstanden 
ist. In diesem Falle können wir noch nach 
dem Versagen der Kochsalzinfusion die 
Blutüberpflanzung als lebensrettenden 
Eingriff heranziehen. In der Bauch- und 
Brusthöhle Vorgefundenes Blut kann even¬ 
tuell durch das Verfahren der Eigenblut¬ 
transfusion, das später bei der Beschrei¬ 
bung der Bluttransfusionstechnik genauer 
mitzuteilen sein wird, wieder in das Gefä߬ 
system des Kranken zurückgegeben wer¬ 
den. Bei dem oben erwähnten, von fran¬ 
zösischer Seite beschriebenen toxämischen 
Shock versagen die gewöhnlichen Ma߬ 
nahmen (Kochsalzinfusion, Aufenthalt in 


der Heißluftkatnmer, , Bluttransfusion 
usw.) vollkommen. Weitgehende chirur¬ 
gische Eingriffe scheinen mehr zu schaden 
als zu nützen. Dagegen sahen französi¬ 
sche Chirurgen durch frühzeitige Ein¬ 
spritzung eines polyvalenten Immun¬ 
serums Nutzen. Wurden je 20 ccm 
dieses- Serums mit je 20 ccm Tetanus¬ 
serum gespritzt, so trat kein Shock auf. 

Zur Erhöhung des Gefäßtonus kann 
man Strychninum nitricum zu 0,005 sub- 
cutan verabfolgen, zur He.rzstimulierung 
Campher, Coffein, Äther, zur Blutdruck¬ 
erhöhung Adrenalin und Pituitrin ver¬ 
abfolgen. Belebend wirkt die Verab¬ 
reichung von heißem Glühwein und 
Kaffee. 

Bei großer psychischer und motori¬ 
scher Unruhe werden wir das Morphin 
nicht entbehren können. Auch kann man 
in diesen Fällen nach Bergmanns Vor¬ 
schlag den Kranken einige Züge Äther 
I einatmen lassen, bis der Puls voller und 
der Kranke ruhiger wird. Tiefe Narkose 
sowie jeder langdauernde und große ope¬ 
rative Eingriff haben zu unterbleiben, bis 
der Shock überwunden ist, es sei denn, daß 
unaufschiebbare Eingriffe, wie Gefä߬ 
unterbindungen, Bauchoperationen, Tra- 
cheotomJe dazu nötigen. Alle diese Ein¬ 
griffe sind auf das Mindestmaß des Not¬ 
wendigen zu beschränken und möglichst 
schnell und zart auszuführen. 


Therapeutisclies aus Vereinen u. Kongressen. 

Prof. Aug. Bier: Heilentzündung und Heilfieber mit besonderer 
Berücksichtigung der parenteralen Proteinkörpertherapie. 

(Berliner Medizinische Gesellschaft. Sitzung vom 2. Februar 1921. M. m. W. 1921 Nr. 6.) 

Besprochen von Prof. Felix Kleraperer. . (Fortsetzung.) 


Aus der umfangreichen Diskussion, 
die sich an Biers Vortrag anschloß, sei 
folgendes wiedergegeben: 

Goldscheider sieht die Protein¬ 
körpertherapie als celluläre Reizthera¬ 
pie an, wobei unspecifische Zellreize spe- 
cifische Wirkungen hervorbringen (speci- 
fische Abwehrprodukte). Die Protein¬ 
körpertherapie bringt besonders bereits 
vorhandene Bereitschaften der Zellen zum 
stärkeren Ausdruck. Goldscheider 
schreibt ihr auf Grund eigener Beobach¬ 
tungen große Bedeutung zu, betont je¬ 
doch, daß sie die specifische Therapie 
nicht verdrängen oder ersetzen kann. 
Weichardts ,,Protoplasm.aactivierung“ 
bedeutet Erhöhung der Reizbarkeit des 
Protoplasmas als Zellbestandteil; dabei 
wird das lebendige reizbare Eiweißmolekül 


für sich betrachtet, gleichsam wie eine 
Zelle (wie dies auch in Ehrlichs Seiten 
kettentheorie der Fall ist), — Voraus¬ 
setzung aber ist der celluläre Zusammen¬ 
hang. So betrachtet, bildet diese For¬ 
schungsrichtung keinen Gegensatz, zu 
Virchow, sondern eine weitere Fort¬ 
setzung seiner Lehre. Protoplasmaactivie- 
rung ist nichts anderes als Erhöhung des 
cellulären Reizzustandes. Ein solcher 
liegt bei den Erkrankungen, bei denen 
die Proteinkörpertherapie angewandt 
wird, bereits vor. Sie soll diesen Zustand 
der erhöhten^ Reizbarkeit und Tätigkeit 
der Zellen (Überempfindlichkeit, Hyper¬ 
ergie), welcher als Reaktion auf die krank¬ 
machende Schädigung erfolgt ist, weite» 
steigern. Sie kommt daher hauptsächlich 
bei Insuffizienz der natürlichen Abwehr- 



April 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


145 


reaktion des Körpers, also bei chronisch 
gewordenen Krankheiten in. Betracht, 
kann aber auch bei akuten nützlich sein. 
Die Zustände erhöhter Erregbarkeit sind 
sehr häufig mit funktioneller Schwäche 
vergesellschaftet. Die krankhafte Über¬ 
empfindlichkeit .läßt sich auf die physio¬ 
logische Überempfindlichkeit zurück¬ 
führen, wie sie durch Reiz und Reiz¬ 
summation erzeugt wird. Der dissimila- 
torischen Wirkung des Reizes folgt eine 
assimilatorische (Verworn), die oft als 
Überschußreaktion sich gestaltet. Von.; 
der physiologischen Funktionssteigerung 
durch Reizung unterscheidet sich die 
pathologische nur durch ihre Intensität 
und ihre Fixierung. Die gesamte Reiz¬ 
therapie wirkt im Sinne der Erhöhung 
der krankhaften cellulären Überempfind¬ 
lichkeit, wo diese insuffizient ist, oder 
ihrer Dämpfung, wo sie exzessiv gewor¬ 
den ist. Die Proteinkörpertherapie ist 
nur eine besondere Anwendungsform der 
Reiztherapie. Für sie gilt, wie für die ge¬ 
samte Reiztherapie, daß allgemeine Reize 
specifische Wirkungen auszulösen ver¬ 
mögen. Denn die Reaktion hängt von der 
Eigenart des gereizten Organs oder Zell¬ 
komplexes ab; auch in der physikalischen 
Therapie zeigt es sich überall, daß der 
Reizerfolg nicht allein von der Qualität 
der Reize, sondern von der specifischen 
Energie der gereizten Teile abhängt. 
Die Johannes Müllersche Lehre von 
der specifischen Energie der Sinnessub¬ 
stanzen zeigt sich in größter Verall¬ 
gemeinerung gültig. — Hinsichtlich der 
Dosierung, welcher sowohl bei der spe¬ 
cifischen wie der Proteinkörpertherapie 
stets die größte Bedeutung zugeschrieben 
wurde, betont Goldscheider, daß das 
Arndtsche Gesetz nur ein grobes Schema 
gibt, in Wirklichkeit aber die Beziehungen 
viel komplizierter liegen. Jeder Reiz hat 
erregende und erregbarkeitsherabsetzende 
(bahnende und hemmende) Wirkungen. 
Dieselben hängen nicht allein von der 
Intensität der Reize, sondern auch von 
der vorhandenen Reizbarkeit des gereiz¬ 
ten Organs, also vom Verhältnis der Reiz¬ 
stärke zur bestehenden Reizbarkeit ab. 

A. P1 e h n wendet sich gegen Biers Auf¬ 
fassung, daß es gleichgültig sei, was man 
einspritze, und daß es nur auf die Reak¬ 
tion, namentlich die örtliche, ankomme. 
Für die ,,inneren“ Krankheiten trifft 
das nicht durchweg zu. Es mag gleich¬ 
gültig sein, ob Serum, Casein oder Milch 
injiziert wird, aber gewiß ist es nicht das¬ 
selbe, ob man Casein oder Tuberkulin 


spritzt. Es kommt doch auf die Voraus¬ 
setzungen an, die im gespritzten Organis¬ 
mus gegeben sind, und da spielen die * 
komplizierten Fragen der Anaphylaxie, 
der örtlichen Gewebssensibilisierung und 
andere hinein, welche noch in weitem 
Maße undurchsichtig und unberechenbar 
sind. Bei der Heilwirkung der Metalle, 
von Salvarsan und Kollargol beispiels¬ 
weise, spielt auch eine Proteinwirkung 
mit, indem ein Teil der Parasiten zu¬ 
grunde geht und das aus ihrem Zerfall 
herrührende Eiweiß zur Wirkung kommt. 
Wenn dies meist unter AMgemeinreaktion 
und Fieber geschieht, so ist nicht die 
Reaktion Ursache der Heilung, son¬ 
dern die Heilung, i. e. Parasitenvernich¬ 
tung, Ursache der Reaktion. — Als 
Beispiel für die Kompliziertheit der in 
Frage kommenden Verhältnisse führt 
Plehn an, daß Caseininjektionen trotz 
starker Allgemeinreaktion wirkungslos 
bleiben können, während sie in anderen 
Fällen ohne solche günstig wirken. 

Zimmer, ein Assistent Biers, hält 
die Art des Präparates für weniger wich¬ 
tig, er sah von den verschiedensten Mit¬ 
teln ähnliche Wirkungen. Da das Ca- 
seosan häufig sich als verdorben erwies 
und üble Nebenwirkungen ausübte, wird 
an der Bi ersehen Klinik neuerdings 
Yatren mit Casein gespritzt. Was die 
Dosierung betrifft, so sind dreierlei Ge¬ 
webe zu unterscheiden: das gesunde, das 
akut entzündete und das chronisch er¬ 
krankte. Auf das erstere hat das art¬ 
fremde Eiweiß keine Wirkung, bei dem 
akut entzündeten ruft es eine schnell 
vorübergehende Steigerung der Entzün¬ 
dung hervor, bei dem chronisch erkrank¬ 
ten eine sehr langsam verschwindende. 
Deshalb sind chronische Erkrankungen 
mit sehr viel kleineren Dosen zu behan¬ 
deln, insbesondere bei der Gicht geht 
Zimmer bis zu den allerkleinsten, fast 
homöopathisch anmutenden Dosen her¬ 
unter. Überdosierung kann zu starker 
Schädigung führen. Die Dosierung rriuß 
im Einzelfalle empirisch gewonnen wer¬ 
den, sie soll immer an der Schwelle der 
wirksamen Reizung bleiben. Zimmer 
schlägt daher den Namen ,,Schwellen¬ 
reiztherapie“ für die Proteinkörper¬ 
therapie vor. 

Benda, der, wie vorher V/esten- 
hoeffer und später Lubarsch, inter¬ 
essante Ausführungen zur Frage der 
Entzündung machte, wies darauf hki, 
daß die Reaktionen, welche das Wesen 
der Entzündung ausmachen, in einem 

19 





146 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


April 


zwangsläufigen Verhältnis zu den aus- 
lösenden Reizen stehen, welches zunächst 
‘ von der Frage unabhängig ist, ob die 
Reaktionen für das betroffene Individuum 
zweckmäßig sind oder nicht. An Einzel¬ 
beispielen legt erklär, daß.die Wanderung 
-der Leukocyten und Phagocyten und 
selbst die produktiven Vorgänge, also 
Vorgänge, deren defensorische und repa- 
ratorische Tendenz klar zutage liegt, 
Schaden stiften können. Daraus geht 
hervor, ,,daß auf die Gutartigkeit der 
spontanen Reaktionen kein unbedingter 
Verlaß ist und der Arzt mit ihrer Ent¬ 
fesselung zu Heilzwecken im Sinne Biers 
einige Vorsicht üben muß“. 

Auch S. Bergei wendet sich dagegen, 
die Entzündung als eine stets ■ gleich¬ 
bleibende Reaktion und als immer gleich¬ 
artig wirkende Heilmaßnahme der Natur 
.aufzufassen. Klinische Erfahrungen wie 
pathologisch-anatomische Befunde wider¬ 
sprechen solcher Anschauung. Beide 
lehren, daß die Entzündungsformen nicht 
überall die gleichen sind, sondern daß 
bestimmte Krankheitsursachen gesetz¬ 
mäßig auch bestimmte Entzündungs¬ 
erscheinungen hervorrufen, die oft wesent¬ 
lich voneinander differieren. Die entzünd¬ 
liche Reaktion ist bei Staphylokokken- 
und Streptokokkenerkrankungen eine 
andere, als bei Tuberkulose und Lues, und 
wieder eine andere bei Diphtherie- oder 
Pneumokokkeninfektion; die Entzün¬ 
dungsform ist abhängig von der Entzün¬ 
dungsursache. Gerade wenn man den 
natürlichen Entzündungsvorgang als das 
Heilsame ansieht und in der Therapie das 
Heilprinzip der Natur nachahmen und 
unterstützen will, muß man also zu dem 
Schluß kommen, daß man mit einer ver¬ 
einheitlichten, immer gleichartig wirken¬ 
den künstlich erzeugten Entzündungsform 
unmöglich alle Krankheitsursachen beein¬ 
flussen kann. Nicht bloß die Intensität, 
die Dosierung des Reizmittels ist von gro¬ 
ßer Bedeutung, sondern vor allem muß 
auch die Qualität des die jeweilige 
Reaktion bedingenden Reizes berücksich¬ 
tigt werden. & handelt sich nicht um 
eine gleichartige therapeutische Wirkung 
der Proteinkörper auf die verschiedensten 
Krankheiten durch Erzeugung einer ein¬ 
heitlichen, für alle Krankheiten heilsamen 
Entzündung, sondern die Proteine üben 
bei den verschiedenen Krankheitszustän¬ 
den eine ungleichmäßige Wirksamkeit aus, 
und es ist zweckmäßig und notwendig, 
durch Auswahl des jeweilig passenden 
Proteinkörpers bei verschiedenen Erkran¬ 


kungen auch verschiedene, der Art der 
Krankheitserreger annähernd angepaßte 
Reaktionen hervorzurufen. 

Fr. Meyer bringt experimentelle Be¬ 
weise dafür, daß unspecifische Substanzen 
eine specifische Reaktion auslösen können; 
er hält unspecifische und specifische 
Therapie für im Wesen identisch. 
Ziemann dagegen führt klinische Er¬ 
fahrungen dafür an, daß es sehr wohl 
auf die Art des Mittels ankommt; es 
bedarf noch vieler Versuche in der Klinik, 
um bestimmte Indikationen für die An¬ 
wendung der verschiedenen Proteinkörper 
zu gewinnen; bisher haben wir in der 
Proteinkörpertherapie, wie in der Anwen¬ 
dung der metallischen Verbindungen, z. B. 
Kollargol, noch keinen festen Boden unter 
den Füßen. — Hallauer warnt vor indi¬ 
kationslosem und zu hoch dosiertem Ein¬ 
spritzen der Proteinkörper. Er hat in 
Tierversuchen mit Casein, Albumosen 
und anderen Eiweißstoffen festgestellt, 
daß es sich dabei keineswegs um indiffe¬ 
rente Stoffe handelt, sondern daß sie alle 
als Parenchymgifte wirken, Entzündungen 
in Leber und Niere hervorrufen, und daß 
sie zum großen Teil unverändert durch 
Galle und Urin wieder ausgeschieden 
werden. — A. Meyer weist auf die Bedeu¬ 
tung der Konstitution und Kondition hin, 
deren Verschiedenheit eine ungleiche Wir¬ 
kung gleicher Dosen desselben Protein¬ 
körpers bei verschiedenen Menschen — 
z. B. verschiedene pyrogenetische Reak¬ 
tionsfähigkeit — bedingt. Schließlich 
wendet sich Morgenroth gegen die ver¬ 
schwommenen ,,mythologischen“ Vor¬ 
stellungen, die mit dem Ausdruck Proto- 
plasmaactivierung verbunden werden; er 
sieht in der ganzen Richtung der Protein¬ 
körpertherapie eine schädliche Abkehr 
von dem festen Boden der alten specifi- 
schen Immunitätstherapie und der 
Chemotherapie. 

Aus dem Gesamt des Bi ersehen Vor¬ 
trags und der anschließenden Aussprache 
ergibt sich, daß die ganze Frage der 
Proteinkörpertherapie noch sehr in Fluß 
ist und gesicherte Indikationen rowohl 
hinsichtlich der Krankheiten, bei denen 
sie anzuwenden ist, wie hinsichtlich der 
Wahl der Präparate und ihrer Dosierung 
bisher nicht gegeben werden können. Der 
Praktiker möge daraus die Mahnung zu 
großer Zurückhaltung entnehmen. Die 
bestechenden Vorstellungen der ,,omni- 
cellulären“ Reiztherapie, der allgemeinen 
,,leistungssteigernden“ Wirksamkeit der 




Die Therapie der Gegenwart 1921 


147 


-April 


parenteralen Eiweißkörperzufuhr verfüh¬ 
ren leicht zu übertriebener Anwendung. 
Demgegenüber sei noch einmal hervor¬ 
gehoben, daß die subcutane und noch 
mehr die intravenöse Zufuhr von Ei¬ 
weißstoffen kein indifferenter Eingriff 
ist. Eine Allgemeintherapie zur Hebung 
des Allgemeinzustandes, j ein Allheil¬ 
mittel für Krankheitszustände überhaupt 
•darf die Proteinkörpertherapie nicht 
werden, dazu haben wir andere weniger 
•eingreifende Mittel und Methoden zur 
Verfügung. Die unspecifische Eiwei߬ 
therapiemuß weiter erprobt und erforscht 
werden, aber vor ihr und über ihr muß 
die specifische Therapie Ziel und Gegen¬ 
stand der Forschung bleiben. Wo eine 
.solche sich bietet, verdient sie den Vor¬ 
zug — so ist beispielsweise das Diphtherie¬ 
serum bei Diphtherie dem normalen 
Pferdeserum, das Tuberkulin in der Be¬ 
handlung der Tuberkulose der Milch¬ 
behandlung vorzuziehen. Bei den ent¬ 
zündlichen und Infektionskrankheiten, bei 
denen eine specifische Handhabe bisher 
nicht gegeben ist, so besonders bei den 
chronischen Gelenkentzündungen und bei 


schweren septischen Erkrankungen, sind 
Versuche mit der Proteinkörpertherapie 
berechtigt. Die Warnung Biers vor Über¬ 
dosierung ist dabei zu beherzigen und 
auch Zimmers Empfehlung fallender 
Dosen verdient Berücksichtigung. Das 
wichtigste Erfordernis auf diesem ganzen 
Gebiete aber ist eine kritische Beurteilung 
der Behandlungsresultate.. Ob die Gicht, 
die Blutkrankheiten u., a. m. überhaupt 
ein Betätigungsfeld der Proteinkörper¬ 
therapie darstellen, steht noch sehr dahin. 
Nicht jede Besserung oder vorübergehende 
Heilung, die im einen oder anderen Falle 
nach einer Subcutaninjektion eintritt, ist 
ihr auf das Konto zu schreiben; erst eine 
größere Reihe von Erfolgen berechtigt zur 
Annahme eines ursächlichen Zusammen¬ 
hanges. Die alte Transfusionstherapie 
krankte und scheiterte an der kritik¬ 
losen Verallgemeinerung und der Protein¬ 
körpertherapie droht dieselbe Gefahr. 
Die befremdende ,,Ehrenrettung“, die 
Prof. Bier in seinem Schlußworte den 
bekannten Güstrower Ärzten Krull zu¬ 
teil werden ließ, zeigt die Größe dieser 
Gefahr. 


Bücherbesprechungen. 


Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen 
Gesellschaft für innere Medizin. Herausgegeben 
von dem Vorsitzenden Professor 0. Minkowski 
(Breslau). München, Verlag von J. F. Bergmann. 

Die Verhandlungen des inneren Kongresses, 
welche in früheren Jahren meist zu Beginn des 
Herbstes erschienen, sind durch die Ungunst der 
Zeit erst jetzt fertig geworden. Obwohl unsere 
Leser über ihren wesentlichen Inhalt unterrichtet 
sind (vgl. Mai- und Juniheft 1920), wird doch der 
vorliegende Band manchem willkommen sein. 
•Schittenhelms ausführliches Referat über die 
specifische Behandlung der Infektionskrankheiten 
bietet weit mehr, als in unserem gedrängten Bericht 
gegeben werden konnte; viele eingehende Dis¬ 
kussionen, z. B. über die Encephalitis leth^rgica, 
bringen sehr interessantes Material. Die Einzel- 
A'orträge bieten ein vollkommenes Spiegelbild der 
Avissenschaftlichen Tätigkeit, die auch in der 
Kriegszeit in den Kliniken nicht geruht hat, und 
Averden vielen willkommene Anregung gewähren. 
Es ist zu hoffen, daß der Band, der diesmal die 
Vorträge und Aussprachen in besonders präziser 
Form enthält, weit über den Kreis der Mitglieder 
der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin 
Verbreitung finden und manchen Kollegen zum 
erwünschten Eintritt in die Gesellschaft anregen 
Avird. G. K. 

Lust, Diagnostik und Therapie derKinder- 
krankheiten. Mit speziellen Arzneiver¬ 
ordnungen für das Kindesalter. Ein Taschen¬ 
buch für den praktischen Arzt. Zweite neu¬ 
bearbeitete Auflage. Berlin-Wien 1920. Urban 
& Schwarzenberg. 471 Setten. 54 M. 

Kaum ein Jahr nach der erstmaligen Heraus¬ 
gabe des vorliegenden Buches erscheint eine 
•zweite Auflage. Vieles ist umgearbeitet worden, 


zum Teil neu bearbeitet, wie z. B. die Kapitel 
über die infektiösen Darmerkrankungen, über 
die Ernährungsstörungen bei künstlicher Er¬ 
nährung und über die Luesbehandlung. Die Dar¬ 
stellung der einzelnen Krankheitsbilder zeigt eine 
gut verständliche Fassung, die therapeutischen 
Ratschläge sind in willkommener Klarheit präzi¬ 
siert. Dem in der Praxis stehenden Arzt, der 
bereits einige Kenntnisse der Kinderkrankheiten 
besitzt, ist hier ein gutes Nachschlagebuch ge¬ 
geben, das ihm in allen Fragen der Kinderheil¬ 
kunde das praktisch Wissenswerte vermitteln 
kann. Man darf wohl glauben, daß dem vor¬ 
liegenden Buche weite Verbreitung beschieden 
sein wird. Feuerhack. 

Göppert u'-’d Langstein, Prophylaxe und 

Therapie der Kinderkrankheiten. Berlin. 

Julius Springer. 

Es gibt zahlreiche Neuerscheinungen auf dem 
Gebiete der Kinderheilkunde, und bei den bereits 
erschienenen Lehrbüchern waren in kurzer Zeit 
immer wieder Neuauflagen notwendig. Man hat 
darin sicherlich einen Beweis dafür zu erblicken, 
daß das Bedürfnis der Ärzte, ihre Kenntnisse 
auf dem Gebiete der Kinderheilkunde zu ver¬ 
tiefen, von Jahr zu Jahr wächst. Im vorliegenden 
Werk von Göppert und Langstein finden wir 
eine wertvolle Ergänzung des bisher Gebotenen. 

Über den Rahmen eines therapeutischen 
Vademekums hinaus gibt dieses Werk in aus¬ 
führlicher Weise Einzelheiten in der Indikation 
und Ausführung an, die zum Erfolg der Therapie 
notwendig sind. Kaum ein anderes Werk vermag 
eine so vollständige Anschauung der Behandlungs¬ 
lehre im Kindesalter zu geben und zwar unter 
Berücksichtigung der mannigfaltigsten Verhält¬ 
nisse. Daß hier eine reiche, besonders auch 

19* 





148 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


April 


persönliche Erfahrung auf therapeutischem 
Gebiet zusammengefaßt niedergelegt ist, dafür 
bürgen die Namen der Verfasser. 

Vorausgeschickt wird dem speziellen Teil der 
Behandlungsmethoden der einzelnen Krank¬ 
heiten ein allgemeiner Teil, der die Grundzüge der 
Ernährung, Pflege und Erziehung des gesunden 
und kranken Kindes behandelt. Wertvolle 
Auskunft geben die Kapitel der therapeutischen 
Technik — unterstützt von anschaulichem Bild¬ 
material. Im medikamentösen Teil findet sich 
ein übersichtliches und leicht verständliches, 
alphabetisches Verzeichnis der gebräuchlichsten 
Arzneimittel mit Dosierung für die verschiedenen 
kindlichen Alterstufen. Der Schluß gibt ein 
erschöpfendes Verzeichnis der zu besonderen 
Kurzwecken geeigneten Anstalten und Erholungs¬ 
stätten Deutschlands und Österreich-Ungarns. — 

Feuerhack. 

Rudolf Leidler, Ohrenheilkunde für den prak¬ 
tischen Arzt. Mit 36 Abbildungen (18.— M 
ohne jeglichen Teuerungszuschlag). . Urban 
& Schwarzenberg, Berlin und Wien 1920. 

Das Buch will den Kollegen, die sich die für 
die allgemeine Praxis notwendigen Kenntnisse 
durch Arbeit an einer Ohrenstation angeeignet 
haben, in allen otologischen Fragen ein Berater 
und Helfer sein. In Kürze und Klarheit werden 
auf 278 Seiten, dem modernen Stande der Fach¬ 
wissenschaft entsprechend, alle wichtigen Kapitel 
der Ohrenheilkunde ausgezeichnet dargestellt, so 
daß die vom Verfasser gestellte Aufgabe als gelöst 
zu betrachten ist. Das Buch ist infolgedessen 
dem praktischen Arzt zur Anschaffung dringend 
zu empfehlen. G. Brühl (Berlin). 


Di. Karl Neuwirlh, Gynäkologische Strahlen¬ 
effekte und eine merkwürdige Alopecie. 
143 Seiten. Berlin 1919. Verlag von Alfred Hölder. 

Neuwirth gibt eine sehr fleißige Übersicht 
über die Wirkung der Röntgenstrahlen, wie die 
Radium- und Mesothoriumeffekte, wobei er auch 
die neuesten Typen der Röntgenröhren (Coolidge) 
bespricht. Veranlassung zu dieser Arbeit war ihm 
ein Fall, bei dem nach einer intensiven Röntgen¬ 
bestrahlung eine Alopecie der Kopfhaare eintrat; 
im Anschluß daran verbreitet er sich auch noch 
im allgemeinen über die Alopecie. Die‘diesbezüg- 
lichen Publikationen, besonders über die Neben¬ 
wirkungen der Röntgenstrahlen, sind gut verwertet, 
so daß der Arzt, welcher sich über einschlägige 
Fälle orientieren will, genügende Auskunft erhalten 
wird. In einem Anhang ist die zu jeder Seite 
gehörige Literatur genau angeführt. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

Fürstenau, Immelmann und Schütze, Leitfaden 
des Röntgenverfahrens für das rönt¬ 
genologische Hilfspersonal. Dritte, ver¬ 
mehrte und verbesserte Auflage. Stuttgart. 
Ferd. Enke. 

Der Kreis, für den das Buch bestimmt ist, 
kann unbedingt erweitert werden, da der Arzt, 
welcher sich mit den Grundbegriffen des Röntgen¬ 
verfahrens vertraut machen will, eine sehr klare 
Darstellung aller Einzelheiten findet, ohne daß 
besondere physikalische Kenntnisse vorausgesetzt 
werden. Der Abschnitt über die gasfreien Röhren 
ist sehr lesenswert. Wer sich mit der Strahlen¬ 
therapie beschäftigen will, kann aus diesem Leit¬ 
faden sehr viel lernen. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 


Referate. 


Ursprünglich wurde das Verfahren der 
Bluttransfusion mit defribiniertem Blut 
ausgeführt, wobei vielfach Nebenerschei¬ 
nungen, wie Schüttelfröste, Ikterus, Ne¬ 
phritis und andere auftraten. Als erster 
berichtete Garrel über direkte Blut¬ 
transfusion. Auf Grund der alten Beob¬ 
achtung, daß jedes menschliche Blut auf 
das Blut eines anderen hämolytisch oder 
agglutinierend wirken kann, empfahl 
Garrel vor jeder Transfusion das Blut 
auf diese Eigenschaft zu untersuchen. In 
den letzten Jahren ist die direkte Blut¬ 
transfusion vielfach ausgeführt worden, 
ohne daß der Frage der biologischen Vor¬ 
prüfung des Blutes immer genügend Auf¬ 
merksamkeit geschenkt worden ist. Man 
hat vielfach das Blut eines ,,gesunden 
Menschen“ oder ,,Blutsverwandten“ als 
geeignet vorausgesetzt, ohne zu berück¬ 
sichtigen, daß auch bei blutsverwandten 
Menschen gewisse biologische Reaktionen, 
wie z. B. Hämolyse und Agglutination 
auftreten können. Die wichtige Forderung, 
daß unangenehme Transfusionsreaktionen 
nach Möglichkeit auszuschalten sind, 
scheint am leichtesten dann erfüllbar, 
wenn mit dem zu transfundierenden Blute 


möglichst wenig eingreifende Prozeduren, 
wie z. B. Defibrinieren oder Zusatz von 
Natrium citricum, vorgenommen werden. 
Je nativer das Blut ist, umso günstiger 
wird seine Wirkung auf den Empfänger 
sein. Die Bluttransfusion kommt vor 
allem beim Morbus maculosus Werlhofii 
in Frage, aber auch bei perniziöser 
Anämie ist ihre günstige Wirkung be¬ 
kannt, und es ist zu hoffen, daß auch 
bei Leukämie — möglichst frühzeitig 
angewandt — heilsame Beeinflussung 
auftreten wird. Grütz berichtet über 
einen schweren Fall von Morbus macu¬ 
losus Werlhofii bei einem 20jährigen 
Manne, bei dem nach der ersten Trans¬ 
fusion, die mit dem Blut eines ungeeig¬ 
neten Spenders vorgenommen wurde, 
keine Änderung auftrat, nach der zweiten 
jedoch eine stetig fortschreitende Besse¬ 
rung einsetzte, die zur vollständigen Hei¬ 
lung führte. Erwähnt sei noch, daß 
Garrel die Bluttransfusion von der 
Mutter auf das Kind bei Barlowscher 
Krankheit zweimal mit — wie er glaubt — 
lebensrettender Wirkung ausgeführt hat. 

Kamnitzer. 

(Berl. KI. Woch. 1921, Nr. 3.) 





April 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


149 


Dr. Hunaeus (Hannover) empfiehlt 
das Kalk-Magnesiä-Präparat Camagol, das 
er bei 150 Kindern in der Anstalts- und 
Privatpraxis während eines Zeitraumes 
von 1% Jahren angewandt hat, als ,,eine 
Bereicherung unseres Arzneischatzes in 
der Kinderpraxis“. - Er sah bei an¬ 
geborener und frühzeitig erworbener 
Rachitis, sowie auch bei Frühgeborenen 
meist schon' nach zwei Monaten unter 
Darreichung von dreimal einer halben 
bis einer Tablette nachweislichen Erfolg; 
bei den Rachitikern im zweiten und dritten 
Lebensjahr gab er neben der üblichen 
antirachitischen Diät (nicht mehr als 
ein halber Liter Milch, frisches Gemüse 
und Obst), entsprechender Freiluft-, bzw. 
Sonnenbehandlung mit Massage viermal 
täglich eine Tablette. Kalkleberthran- 
behandlung wirkt in vielen Fällen ebenso 
günstig, indeß stößt der Lebertran oft 
auf Widerstand, besonders in den heißen 
Monaten, während das gutschmeckende 
Camagol von den jüngeren Kindern in 
Milch, von den älteren in Tablettenform 
als Nachtisch meist gern genommen und 
gut vertragen wird. Auch bei spasmo- 
philerDiathese erwies sich Camagol als 
nützlich, endlich bei den fälschlicherweise 
oft auf Anämie oder latente Tuberkulose 
bezogenen Beschwerden älterer Kinder 
im Alter von sechs bis vierzehn Jahren, 
die jetzt so häufig sind und wahrscheinlich 
mit der mangelhaften Ernährung in und 
nach dem Kriege (Fehlen von Milch, 
Genuß des Kriegsbrotes u. a.) in Zu- 
samm.enhang stehen. Diese schlaffen und 
blassen Kinder, die über Müdigkeit, 
Kopfschmerzen, auch Schmerzen in der 
linken Seite und in den Waden u. a. m. 
klagen, meist einen Hämoglobingehalt 
von 70 bis 80 % haben, und mehr an 
Circulationsstörung als an wirklicher 
Anämie leiden, wurden durchschnittlich 
in drei Monaten bei viermal täglich 
zwei Camagoltabletten wesentlich ge¬ 
bessert, bzw. geheilt, nachdem Eisen- 
und ähnliche Präparate vorher vergeblich 
angewandt wären. F. Kl. 

(M. Kl. 1921, Nr. 10.) 

Zu den Beobachtungen, welch eine 
Schädigung Tuberkulöser durch die 
Friedmannsche Heilmethode wahrschein¬ 
lich machen, fügt Dr."* Groß, Oberarzt 
des Tuberkulosekrankenhauses in Som¬ 
merfeld, zwei neue Fälle' hinzu. Er 
berichtet zuerst über eine Frau, bei der 
wegen eben beginnender Tuberkulose 
künstlicher Abort ausgeführt und die von 
Friedmann selbst mit seinem Bacillen¬ 


emulsion behandelt worden war; drei 
Monate nach der Impfung starb sie an 
ausgedehnten ‘ käsig-pneumonischen Pro¬ 
zessen. Bei einem zweiten Fall mittel¬ 
schwerer Tuberkulose trat zehn Tage 
nach der Friedmann-Impfung stark:re¬ 
mittierende Temperatur ein, unter deren 
Fortdauer der Patient nach drei Monaten 
stirbt. Wenn auch die Fälle nicht den 
Beweis erbringen, daß die Behandlung 
an der Verschlechterung und dem töd¬ 
lichen Ausgang schuld ist, so geht doch 
aus ihnen wie aus vielen früheren Be¬ 
richten ganz einwandfrei hervor, daß das 
Friedmannsche Mittel den Fortschritt der 
Tuberkulose nicht aufhalten kann. Des¬ 
wegen verdienen sie wohl einem weiteren 
Kreis mitgeteilt zu werden. 

Wahrmund (Berlin)- 

Da in der letzten Zeit häufiger über 
gute Erfolge, die mit Salvarsan bei 
Lungenabscessen und Lungengangrän er¬ 
zielt worden sind, berichtet worden ist, 
teilt J. Alsberg vier Fälle von Lungen¬ 
gangrän mit. Von diesen gelangten zwei 
ohne eine besondere Therapie zur spon¬ 
tanen Ausheilung ohne irgendwelche 
Nachwirkungen. Bei dem dritten Fall 
liegt eine deutliche Beeinflussung der 
Heilung durch Neosalvarsan vor; un¬ 
mittelbar nach der ersten - Injektion 
nahmen die Auswurfsmengen auffallend 
schnell ab. Der vierte Fall, bei dem es 
eine Zeitlang den Anschein hatte, als 
wollte der Prozeß spontan ausheilen, 
wurde durch Neosalvarsan nicht günstig 
beeinflußt; es trat vielmehr eine Ver¬ 
schlechterung ein, die einen chirurgischen 
Eingriff erforderte. In zwei Fällen von 
Bronchiektasen wurde durch Neosal¬ 
varsan einmal nur eine vorübergehende 
Besserung, das andere Mal gar kein 
Erfolg erzielt. Neosalvarsan ist bei den 
betreffenden Lungenerkrankungen ein 
Mittel, das nicht unbedingt eine heilende 
Wirkung ausübt, obwohl man nach den 
Mitteilungen mancher Autoren den Ein¬ 
druck gewinnt, als sei es geradezu ein 
Specifikum. Horovitz (Berlin). 

(D. m. W. 1920, Nr. 29.) 

Es ist eine alte Erfahrung, daß nicht 
jeder sogenannte Lungenspitzenkatarrh 
auf Tuberkulose beruht und in neuerer 
Zeit wird mancher Arzt Fälle von 
Dämpfung über einem Oberlappen mit 
Bronchialatmen und kleinblasigen Rassel¬ 
geräuschen gesehen haben, in denen das 
Sputum frei blieb von Tuberkelbacillen 
und die ohne specifische Kuren glatt 
geheilt sind. Es ist wohl kein Zweifel, 



150 


Die Therapie der 


daß unter den Fällen von angeblich 
geheilter Tuberkulose nicht wenige sind, 
die nichts mit Tuberkulose zu tun hatten, 
sondern in Wirklichkeit unspecifische 
Bronchopneumonien gewesen sind. 
Gerade in unserer Zeit, wo so zahlreiche 
verschleppte Grippeerkrankungen Vor¬ 
kommen, sind diese fälschlich als Tuber¬ 
kulose diagnostizierten Oberiappenpneu- 
monien nicht selten. Es ist sehr dankens¬ 
wert, wenn solche Fälle mit genügendem 
'Beweismaterial immer wieder bekannt¬ 
gegeben werden, denn sie tragen ins¬ 
besondere zur Stärkung der Kritik gegen¬ 
über den sogenannten specifischen Heil¬ 
methoden bei. ln diesem Sinne berichten 
wir über die Erfahrungen, welche neuer¬ 
dings G. Liebermeister (Düren) mit¬ 
teilt. Er verfügt über 14 Beobachtungen 
vonOberlappendämpfung,.deren sämtliche 
Zeichen eine Spitzentuberkulose sehr 
wahrscheinlich machten, bei denen aber 
Bacillen im Sputum fehlten und die Tuber¬ 
kulinreaktion bis zu 10 mg negativ blieb. 
Alle 14 Fälle, die der Verfasser für 
Grippe-Bronchitiden- bzw. Bronchopneu¬ 
monien erklärt, sind vollkommen aus¬ 
geheilt. In der Diagnose einer nicht¬ 
tuberkulösen Affektion soll man sich aber 
auch durch eine positive Tuberkulin¬ 
reaktion nicht beirren lassen, wenn das 
Sputum bacillenfrei ist, denn die Reaktion 
kann ja von alten vernarbten Tuberkulose¬ 
herden herrühren. Auch hierfür führt 
Li.ebermeister einen beweisenden Fall 
an. Die Mitteilung mahnt von neuem zur 
möglichst vorsichtigen Beurteilung tuber¬ 
kuloseverdächtiger Fälle, namentlich ehe 
man sich zur Einleitung einer specifischen 
Kur entschließt. Zweifler (Berlin). 

(D. m. W. 1921, Nr. 10.) 

Über die Behandlung des Lupus vul¬ 
garis mit dem Friedmannschen Mit¬ 
tel berichtet Buschke (Berlin) an der 
Hand von 16 durch ihn beobachteten 
Fällen mit dem Ergebnis, daß durch 
dieses Mittel ein nachweisbarer Fortschritt 
bisher nicht erzielt sei; höchstens ih ganz 
leichten Fällen von Hauttuberkulose seien 
Heilwirkungen zu beobachten, die aber 
auch ebensogut durch die bisherige Be¬ 
handlung mit Excision, Ätzung und Sal¬ 
benverbänden in Verbindung mit Höhen¬ 
sonnenbestrahlung erreicht worden seien. 
Verf. bringt das Friedmannsche Mittel 
in Parallele zu dem Alttuberkulin, 
bei dem auch die anfangs sehr über¬ 
schätzte Heilwirkung zugunsten einer 
biologisch-diagnostisch verwertbaren Re¬ 
aktion zurückgetreten sei. Aber auch 


*; Gegenwart .1921= 


hierin habe das Alttuberkulin noch einen 
Vorzug vor dem Friedmannschen Mittel, 
da ersteres nach probatorischer Injektion 
einen deutlichen, über die sichtbare 
Hautaffektion hinausreichenden reak¬ 
tiven Hof aufweist, der die notwendige 
Excisionsgrenze angibt. Beim Fried¬ 
mannschen Mittel hingegen ist diese 
vergrößerte Herdreaktion nicht deutlich 
aufgetreten. Wenngleich schon Fried¬ 
mann selbst, im Jahre 1912, erklärte, 
daß die Hauttuberkulose der Behandlung 
die größten Schwierigkeiten darböte, und 
obgleich in 39 vom Verfasser zusammen¬ 
gestellten Fällen anderer Autoren bei 38 
keine Heilwirkung angenommen werden 
konnte, rät Verf. doch, frühere nach 
Fried mann behandelte Fälle von Haut¬ 
tuberkulose noch einmal nachzuprüfen, 
da ja auch bei der chirurgischen Tuber¬ 
kulose das Friedmannsche Mittel erst 
später seine Heilkraft entwickelt und be¬ 
wiesen habe. Klauber (Berlip). 

(B. kl. W. 1921, Nr. 1.) 

Über den Einfluß der Menstruation 
auf das leukocytäre Blutbild hat Gar- 
li n g Untersuchungen vorgenommen. Nach 
neueren Forschungen soll das Ovarium 
eine vagotonisierende Funktion haben, 
die während der Menstruation gesteigert 
ist. Als Ausdruck dieser vermehrten Er¬ 
regung des autonomen Systems soll eine 
Veränderung des weißen Blutbildes, be¬ 
sonders eine Eosinophilie auftreten. Doch 
blieben diese Ansichten nicht unwider¬ 
sprochen. Garling hat nun an einer 
Reihe von gesunden Frauen und Patien¬ 
tinnen einen genauen Blutstatus während 
der Periode erhoben. Er fand niemals 
Zunahme der Gesamtzahl der Leuko- 
cyten, die Lymphocyten und Monocyten 
zeigen in dem größeren Teil der Fälle 
eine geringe Vermehrung. Die Eosino¬ 
philen waren zwar in der Hälfte der Fälle 
vermehrt, aber nur in so geringem Maße, 
daß von einem konstanten Zusammen¬ 
hänge zwischen Eosinophilie und Men¬ 
struation keinesfalls gesprochen werden 
kann. Für die Klinik ist dies Ergebnis 
deshalb wichtig, weil das Bestehen oder 
Fehlen einer Eosinophilie trotz gleich¬ 
zeitiger Menses diagnostisch verwertbar 
bleibt. - Nathorff. 

(D. Arch. f. klin. M. 1921, Bd. 135, H. 5 u. 6.) 

Die Klinik der Periarteriitis nodosa be¬ 
spricht Kroetz an der Hand eines auf 
der Rombergschen Klinik beobachteten 
Falles unter Berücksichtigung der ge¬ 
samten vorliegenden Literatur. Im ganzen 





151 


^Äpfil ' ‘ ' Die:Th€Tapie4er 


sind bis jetzt 52 Fälle der Krankheit be¬ 
schrieben worden. Es handelte sich um 
einen 39 Jahre alten Kaufmann, der 
sechs. Monate vor dem Beginn seines 
Leidens sich luetisch infiziert hatte, aber 
ausreichend mit SalVarsan und Queck¬ 
silber behandelt worden war. Die Krank¬ 
heit begann plötzlich mit beiderseitiger 
Peroneuslähmung und langdauernder 
Pneumonie. Die Temperatur blieb auch 
nach Abklingen der Pneumonie subfebril, 
der Puls beschleunigt. Der Kranke 
magerte rasch ab und verfiel zusehends, 
kolikartige Leibschmerzen stellten sich 
ein. - Schließlich entwickelte sich das Bild 
einer schweren Nierenerkrankung mit 
Hypertonie. Vor dem nach 4%monatlicher 
Krankheitsdauer eintretenden Tode traten 
noch heftige Schmerzen zu beiden Seiten 
des zweiten Lendenwirbels und blutiger 
Auswurf auf. Vermutungsdiagnose: pri¬ 
märer Rückenmarkstumor mit Lungen¬ 
metastasen. Die Sektion ergab Peri¬ 
arteriitis nodosa mit multiplen Aneurys¬ 
men und typischen Veränderungen an 
fast allen kleineren Arterien. Dieser Fall 
beweist also, wie schwierig die Dia¬ 
gnose der Periarteriitis nodosa intra vitam 
sein kann; auch aus der Literatur geht 
hervor, daß ein eindeutig umschriebenes 
und allgemein gültiges Krankheitsbild 
nicht aufstellbar ist, da besondere patho- 
gnomonisch wichtige Symptome fehlen 
können. Am besten unterscheidet man 
zwei Symptomgruppen: einmal die All¬ 
gemeinerscheinungen, wie Fieber, Milz¬ 
tumor, Polynucleose, Anämie, Schweiße 
und der akute Krankheitsbeginn. Alles 
Zeichen ohne jede specifische Ausprägung. 
Größerer diagnostischer Wert ist den in 
manchen Fällen nachweisbaren Gefä߬ 
veränderungen beizulegen. Jedoch sind 
deutlich tastbare subcutane Knötchen 
nur in drei Fällen beobachtet worden, in 
denen dann nach Probeexcision die Dia¬ 
gnose bestätigt wurde. Alle sonstigen 
Organbefunde sind uncharakteristisch. 
Von Bedeutung ist aber zweifellos das 
klinische Syndrom: epigastrischer Krampf¬ 
schmerz, Neuritis und Nephritis, das in 
einem Fünftel der Fälle auftrat und hier 
und da auch ohne Hautknötchen die 
richtige Diagnose hat vermuten lassen. 
Eine sichere klinische Diagnose ist aber 
meist unmöglich. Erwähnt sei, daß aus¬ 
gebreitete anatomische Periarteriitis no¬ 
dosa klinisch völlig latent bleiben kann. 
Das Leiden führt in elf Zwölftel der Fälle 
schubweise zum Tode, die Dauer schwankt 
zwischen sieben Monaten .und zehn Tagen. 


• Gegenwart 192t 


Aber auch längere Remissionen sind be- 
schirieben worden. Bei dem klinisch ge¬ 
heilten Zwölftel der Fälle waren nur Haut 
und Muskelgefäße betroffen. Die Er¬ 
krankung beruht nicht auf degenerativen 
Vorgängen, sondern, wie heute allgemein 
anerkannt wird, auf einer primären Ent¬ 
zündung. Es handelt sich wahrscheinlich 
um eine Kombination angeborener Gefä߬ 
hypoplasie mit erworbenen Schädigungen 
der Gefäßwände. Diese sind durch alle 
Infekte, besonders aber durch die Lues 
bedingt. Eine specifische Therapie ist 
unbekannt. Nathorff. 

(D. Arch. f. klin. M. 1921, Bd. 135, H. 5 u. 6.). 

Ihre Erfahrungen mit den von Ko Ile 
in die Syphilistherapie eingeführten Sal- 
varsanverbindungen, Si Ibersalvarsan 
und Sulfoxylatsalvarsan, teilen E. 
Nathan und E. Flehme mit. Sie haben 
in den letzten zwei Jahren 1000 Patienten 
mit ungefähr 15 000 Injektionen von 
Silbersalvarsan und ungefähr 3000 In¬ 
jektionen von Sulfoxylatsalvarsan be¬ 
handelt. Bei der reinen Silbersalvarsan- 
therapie wird bei florider Syphilis mit 
0,05 g Silbersalvarsan begonnen, um 
stürmische Reaktionen zu vermeiden. 
Je nachdem die erste Injektion ver¬ 
tragen wurde, wird am zweiten Tage 
nach der ersten Injektion die Dosis auf 
0,1, am zweiten bis dritten Tage danach 
auf 0,2 g, am dritten bis vierten Tage 
danach auf 0,3 g Silbersalvarsan erhöht, 
um nunmehr jeden vierten bis fünften 
Tag eine Injektion von 0,3 g Silber¬ 
salvarsan folgen zu lassen, bis die Gesamt¬ 
menge von 3 bis 4 g Silbersalvarsan 
erreicht ist. Bei Fällen von latenter bzw. 
etwas älterer Syphilis wird gleich mit 
der Dosis 0,1 g Silbersalvarsan begonnen. 
Treten irgendwelche stärkere Reaktions¬ 
erscheinungen auf, so muß man mit der 
Dosis wieder heruntergehen und sich 
mit einer kleineren Dosis wieder ein¬ 
schleichen. Bei der Kombination von 
Silbersalvarsan und Sulfoxylatsalvarsan 
verfuhren die Verfasser nach mannig¬ 
fachen Variationen der Methode schlie߬ 
lich derart, daß sie mit Silbersalvarsan 
beginnend jeden dritten bis Vierten Tag 
abwechselnd in steigender Menge eine 
Injektion von Silbersalvarsan (Höchst¬ 
dosis 0,3 g) und Sulfoxylatsalvarsan 
(Höchstdosis 0,4 g) Vornahmen, bis zu 
einer Gesaintdosis von ca. 2,0 bis 2,5 g 
Silbersalvarsan und 2,0 bis 3,0 g Sulfoxy¬ 
latsalvarsan. Eine Anzahl von Patienten 
wurden einer kombinierten Quecksilber- 
salvarsankur unterzogen, und zwar derart. 




i^2 Die Therapie der 


daß zuerst 0,05 und 0,1 ccm Hydrar- 
gyrum salicyL, dann Silbersalvarsan und 
Quecksilber abwechselnd bis zur Er¬ 
reichung der Gesamtmenge von 0,85 bis 
1,00 ccm Hydrargyrum salicyl. und 
3,0 g Silbersalvarsan injiziert wurden. 
Das Silbersalvarsan ist bei alleiniger 
Anwendung ein äußerst wirksariies Prä¬ 
parat zur schnellen Beseitigung aller 
infektiösen Symptome der Syphilis. Es 
dürfte hinsichtlich seiner therapeutischen 
Fähigkeit dem Altsalvarsan entsprechen, 
übertrifft aber das Neosalvarsan in dieser 
Beziehung zweifellos. Für das Sulfoxylat- 
salvarsan ist charakteristisch die Lang¬ 
samkeit und die Gleichmäßigkeit der 
Rückbildung der floriden Erscheinungen. 
Von 81 mit Silbersalvarsan allein be¬ 
handelten Fällen wurden 10 durch 
Mengen bis zu 1,0 g, 16 durch Mengen 
bis zu 2,0 g, 24 durch Mengen bis zu 
3,0 g, 2 durch Mengen bis zu 3,5 g, 
Silbersalvarsan wassermannegativ. Von 
30 mit Sulfoxylatsalvarsan allein be¬ 
handelten Fällen wurden 5 durch Mengen 
bis zu 2,0 g, 10 durch Mengen bis zu 
3,0 g, 6 durch Mengen bis zu 4,0 g 
Sulfoxylatsalvarsan negativ. Einige 
Fälle, bei denen durch eine Reihe kom¬ 
binierter Neosalvarsan-Hydrarg. salicyl.- 
Kuren und durch Silbersalvarsankuren 
ein Negativwerden der Wassermannschen 
Reaktion nicht erzielt werden konnte, 
wurden schließlich durch eine Sulfoxylat- 
salvarsankur wassermannegativ. Im 
allgemeinen wurde das Silbersalvarsan 
von der weitaus überwiegenden Zahl 
aller Patienten völlig reaktionslos ver¬ 
tragen, sowohl bei reiner Salvarsan- 
therapie als auch in Kombination mit 
Sulfoxylatsalvarsan oder Hydrargyrum 
salicyl. Von Nebenwirkungen sind zu 
nennen Fieber, welches besonders bei 
florider Frühsyphilis relativ häufig auf¬ 
trat; Erbrechen wurde in einigen Fällen 
bald nach der Injektion beobachtet. 
Nur in ganz wenigen Fällen wurde über 
Brechreiz, Magenschmerzen und Druck¬ 
gefühl in der Magengegend geklagt. 
Ikterus trat nur bei zwei Fällen auf. 
Hauterscheinungen (toxische Erytheme, 
urticarielle Erytheme und mittelschwere 
Toxidermien) wurden in zwölf Fällen 
gesehen. Neurorezidive wurden fünfmal 
beobachtet, je zwei Fälle nach Silber- 
salvarsankur und Silbersalvarsan-Sulf- 
oxylatsalvarsankur, ein Fall nach kom¬ 
binierter Silbersalvarsan- Quecksilberkur. 

[Horovitz (Berlin). 

[(TherjMh.J920, Nr. 21.) 


Gegenwart 1921 . April 


Um die yon Th. Büdingen be¬ 
gründete • Ernährungstherapie des Herz-, 
muskels mittels 15- bzw. 20 prozentiger 
Traubenzuckerinfusiorien auch für hy. 
dfopische Herzkranke nutzbar zu ge¬ 
stalten, versuchte Dr. Roger Korbsch 
(Breslau) auf der Krankenhausabteilung 
von Prof. Ercklentz, die Konzentration 
der Zuckerlösung zu steigern. Er gelangte 
dabei zu 50 prozentigen Glykoselösungen, 
die intravenös zu 20 ccm' verabfolgt, 
anstandslos vertragen wurden. Man kann 
diese hochprozentigen Dextroselösungen 
als Träger für Strophanthin benutzen, 
auch besteht gegen die Steigerung der In¬ 
jektionsmenge auf 50 ccm und darüber 
keine Kontraindikation. Ein besonderer 
Vorteil der stärkeren Lösung, die nament¬ 
lich, wenn sie angewärmt ist, sich sehr 
leicht injizieren läßt, besteht darin, daß 
sie steril bleibt; daß die Methode mit 
einer einfachen 20 ccm Spritze auskommt 
und jeden größeren Infusionsapparat über¬ 
flüssig macht, läßt sie für die Praxis 
besonders geeignet erscheinen. f, k. 

(D. m. W. 1921, Nr, 12.): 

, Die Behandlung der Trigeminusneur¬ 
algie mit Chlorylen (Trichloräthylen 
Kahlbaum) wird von Kramer warm 
empfohlen. Nach einer Beobachtung aus 
dem Jahre 1915 waren Arbeiter in einer 
Fabrik mit Trichloräthylen, das als Fett¬ 
lösungsmittel zum Reinigen von Metall¬ 
teilen benutzt wurde, in Berührung ge¬ 
kommen und hatten es in großen Mengen 
eingeatmet. Sie erkrankten an Schwindel, 
Übelkeit und Erbrechen, außerdem fand 
sich ein leichtes Ödem der Sehnerven¬ 
papille und eine Anästhesie des Trige¬ 
minus ohne Schädigung des motorischen 
Anteils dieses Nerven. Auch nach Ab¬ 
klingen der sonstigen Vergiftungserschei¬ 
nungen blieb die sensible Lähmung be¬ 
stehen. Einer Anregung Oppenheims 
folgend, versuchte Pleßner, der diese 
Vergiftungsfälle beschrieben hatte, das 
Trichloräthylen zur Behandlung der Tri¬ 
geminusneuralgie zu verwenden, und hatte 
bei zwölf Fällen vollen Erfolg, ohne daß 
dabei ungünstige Nebenerscheinungen sich 
zeigten. Kramer hat diese Resultate 
im allgemeinen bestätigen können. Erbe¬ 
handelte 108Kranke mit echterTrigeminus- 
neuralgie. Das Mittel wurde auf Watte 
getropft und dem Patienten so lange zum 
Einatmen gegeben, bis ein Geruch nicht 
mehr zu spüren war. Es wurden 25 bis 
30 Tropfen verwandt, in manchen Fällen 
auch zweimal 20 Tropfen in Abständen 
von fünf bis zehn Minuten. Die Behänd- 



Die Therapie der Gegenwart 1921 


153 


April 


lung erfolgte in den ersten Wochen meist 
täglich, später gewöhnlich nur zwei- bis 
dreimal die Woche. Von den nachunter¬ 
suchten Kranken konnten 58 Fälle ver¬ 
wendet werden. In sieben Fällen erfolgte 
eine völlige Heilung, ohne daß später ein 
Rezidiv wieder eintrat. In fünf Fällen 
trat ebenfalls völlige Heilung ein, der 
jedoch nach einigen Monaten, in einem 
Fall erst n^ach einem Jahre, Rezidive folg¬ 
ten. In 14 Fällen trat erhebliche Besse¬ 
rung, jedoch ohne völliges Schwinden 
der Schmerzen ein, ohne daß Rezidive 
folgten, während in 20 Fällen vorüber¬ 
gehend eine mehr oder minder erhebliche 
Besserung eintrat, der auch später wieder 
Rezidive folgten. Zwölf Fälle blieben un¬ 
beeinflußt. Die Erfolge, die teils bald, 
teils erst nach Wochen eintraten, waren 
bei frischen akuten Neuralgien besser, als 
bei chronischen Fällen. Hayward. 

(B. kl. W. 1921, Nr. 7.) 

Die Behandlung des Ulcus cruris mit 
hochprozentiger Kochsalzlösung emp¬ 
fiehlt Kraus, veranlaßt durch die im 
Felde damit erzielten guten Heilergeb¬ 
nisse. Die Behandlung wird derart ge- 
handhabt, daß nach sorgfältiger Ab¬ 
spülung des Geschwürs mit 10%iger 
Kochsalzlösung jeden Morgen ein feuch¬ 
ter Verband mit derselben Lösung ange¬ 
legt wird. Abends wird nach Entfernung 
der Binde und des Zellstoffes die auf dem 
Geschwür liegende Mullkompresse nur 
mit -10% Kochsalzlösung angefeuchtet. 
Die sich reichlich entwickelnden Granu¬ 
lationen werden alle zwei bis drei Tage 
mit Ifem Höllensteinstift geätzt. Auf 
diese Art sind auch größere Geschwüre 
in zirka zehn Tagen abgeheilt. 

Kamnitzer (Berlin). 

(M. m. W. 1920, Nr. 50.) 

Albert Kocher liefert eine vortreff¬ 
liche Übersicht über die Diagnose und 
chirurgische Therapie des Ulcus ventfi- 
culi und duodeni. Die Arbeit gibt an Hand 
von 180 sehr genau beobachteten Fällen 
die Theodor Kocherschen Anschau¬ 
ungen wieder. Es werden die wirklichen 
Dauerresultate der Behandlung des Ulcus 
mit der Gastroenterostomie und die Dia¬ 
gnose des Ulcus besprochen. Hier soll vor 
allem über den Abschnitt über dieTherapie 
berichtet werden. Die Mitteilung der 
Dauerresultate in der vorliegenden Ar¬ 
beit ist um so wertvoller, als es sich um 
Beobachtungen handelt, die bis zu neun¬ 
zehn Jahren zurückreichen. Ursprüng¬ 
lich wurde die Gastroenteiostomie als 
die Operationsmethode beim Ulcus ven- 


triculi empfohlen. Mißerfolge und die 
Vervollkommnung der Technik der Resek¬ 
tion führten dazu, daß ein Teil namhafter 
Chirurgen sich von der Gastroentero¬ 
stomie abwandte und die Resektion be¬ 
vorzugte; den Standpunkt der mittleren 
Linie nahmen diejenigen ein, die im all¬ 
gemeinen der Gastroenterostomie treu 
blieben, aber für das Ulcus callosum die 
Resektion forderten. Kocher hält diese 
Auffassung nicht für richtig, da auch 
beim Ulcus callosum seine Erfolge mit 
der Gastroenterostomie keineswegs hinter 
denen der Resektion zurückstehen. Zu¬ 
gunsten der Gastroenterostomie für alle 
Fälle spricht die Beobachtung, daß keines 
der mit diesem Verfahren behandelten 
Geschwüre später perforiert ist, auch 
waren spätere Blutungen sehr selten. Es 
liegen von 180 Fällen über 144 Operierte 
Nachrichten vor. Die Resultate werden 
in drei Kategorien eingeteilt. Zur ersten 
Gruppe gehören diejenigen Fälle, welche 
angeben, daß sie seit der Operation nie¬ 
mals mehr Schmerzen gehabt haben.. 
Gruppe II hat zeitweise Beschwerden, 
namentlich nach Diätfehlern: Druck, 
leichte Schmerzen, Aufstoßen. Die 
Kranken der dritten Gruppe haben 
wieder typische Ulcusbeschwerden, Blu¬ 
tungen, Ulcus pepticum jejuni oder Car- 
cinom. Sieben Kranke (3,9%) sind an 
der Operation gestorben. Zu Gruppe I 
gehören 111 Fälle (78,7 %), zu Gruppe II 
14 (9,9%), zu Gruppe IH 15 (11,4%). 
Arbeitsfähig sind 88,6%. Zu Gruppe III 
ist zu bemerken: fünf Patienten (alles 
Ulcera callosa ventriculi) sind an Magen- 
carcinom gestorben, darunter einer zwölf 
Jahre nach der Operation. Zwei Kranke 
leiden wieder an Blutungen, man muß 
also annehmen, daß das Geschwür nicht 
geheilt ist. Ulcusrezidive wurden zweimal 
gesehen. Vier Fälle zeigten das Bild des 
Ulcus pepticum jejuni (2,3 %). Die 
Gastroenterostomie wird genau an der 
großen Kurvatur stets im Antrumteil als 
Gastroenterostomia jetrocolica ausge¬ 
führt. Die Länge der Öffnung soll 6—7 cm 
betragen. Das Loch im Mesokolon muß 
reichlich bemessen werden, um Ein¬ 
schnürungen zu verhüten, und muß später 
sorgsam wieder verschlossen werden. Es 
wird eine durchgreifende Seidennaht und 
eine Lembert-Seidennaht angelegt. 

Hayward. 

(Arch. f. klin. Chir., Bd. 115, Heft 1/2.) 

Den gegenwärtigen Stand der Lehre 
vonderVagotonie und der Sympathikotonie 
unterzieht Frank einer eingehenden kri- 

20 



J54 


Die Therapie der 'Gegenwart -1921- Aprit 


tischen Würdigung. Bekanntlich werden 
alle glatten Muskeln und Drüsen doppelt 
innerviert und zwar vom Sympathicus 
und vom Parasympathicus. Letzterer 
wird auch als kranio-sakrales autonomes 
System oder erweiterte Vagusgruppe be¬ 
zeichnet. Die Einheitlichkeit dieser Ner¬ 
vengruppen, die stets antagonistisch wir¬ 
ken, besteht nicht anatomisch, wohl aber 
ist sie physiologisch zu beweisen. Ihre 
Unterscheidung ist durch pharmakolo¬ 
gische Prüfung möglich, da wir Sub¬ 
stanzen kennen, die elektiv alle parasym¬ 
pathischen Nerven reizen: das Cholin, 
und solche, die nur den Sympathicus zu 
erregen vermögen: das Adrenalin. Unter 
dem Einflüsse des Cholins beziehungs¬ 
weise des ihm gleichsinnig wirkenden 
Muskarins, Pilokarpins und Physo¬ 
stigmins werden alle sekretorischen Ele¬ 
mente in lebhafte Tätigkeit versetzt, es 
tritt Speichelfluß und vermehrte Ab¬ 
sonderung aller Verdauungssekrete ein, 
ferner wird nicht nur der Tonus der glatten 
Muskulatur aller Organe erhöht, sondern 
auch derjenige der Skelettmuskeln bis 
zur Rigidität gesteigert. Im Gegensatz 
hierzu besteht die Adrenalinwirkung in 
der Verminderung und Hemmung aller 
Sekretionen, in der Erschlaffung der 
Organmuskulatur und Sistieren der ryth¬ 
mischen Organtätigkeit. Ferner tritt 
durch Gefäßcontraction Blutdrucksteige¬ 
rung ein, während umgekehrt Parasym- 
pathicusreizung von Gefäßerschlaffung 
und Blutdrucksenkung gefolgt ist. Es 
ist nun eine Eigentümlichkeit des vege¬ 
tativen Nervensystems nicht nur kurze, 
starke Impulse, sondern einen dauernden 
tonischen Erregungsstrom auszusenden. 
Auf Grund der erwähnten Tatsachen 
hatten nun seinerzeit Eppinger und 
Heß in . großer Verallgemeinerung der 
Ansicht Ausdruck gegeben, daß das ganze 
sympathische und parasympathische 
System sich stets in einen tonischen Er¬ 
regungszustand befände und daß durch 
Tonuserhöhung im Gebiete einer der 
beiden Nervengruppen eine Gleichge¬ 
wichtsstörung in der Innervation ein- 
treten müsse. Den Zustand, bei dem alle 
parasympathisch versorgten Organe ab¬ 
norm reizbar sind, bezeichneten sie als 
Vagotonie, den Zustand dauernder Tonus¬ 
erhöhung im Sympathicusgebiete als Sym- 
pathikotonie. An der Hand zahlreicher 
Untersuchungen kamen sie zu dem Schluß, 
daß alle Menschen, die auf Pilokarpin 
eine starke Reizbarkeit des Parasym¬ 
pathicus aufweisen, auf Adrenalin nicht 


reagieren, und daß starke Reaktion auf 
Adrenalin andererseits eine Pilokarpin¬ 
wirkung ausschließe. Diese von Eppin¬ 
ger und Heß behauptete Gesetzmäßig¬ 
keit ist nun von einer großen Reihe Nach¬ 
untersuchern nicht bestätigt werden: es 
gibt vielmehr viele ganz gesunde Men¬ 
schen, die auf Adrenalin oder auf Pilo¬ 
karpin oder gar auf beide Mittel reagieren. 
Ausgesprochene sogenannte Vagotoniker 
reagieren wohl stark auf Pilokarpin, aber 
bei ihnen ist auch Adrenalin durchaus 
nicht ohne Wirkung. Und ferner reagieren 
keineswegs immer sämtliche Organe, son¬ 
dern die Wirkung beschränkt sich häufig 
nur auf ein markantes Symptom: so be¬ 
wirkt Pilokarpin manchmal Speichelfluß, 
ohne daß bei dem Untersuchten sich 
sonst eine Übererregbarkeit parasympa¬ 
thisch innervierter Organe einstellt. Es 
zeigt sich also, daß die strenge schema¬ 
tische Scheidung, wie sie Eppinger und 
Heß vorgenommen haben, nicht mehr 
aufrechtzuhalten ist. Die abnorme Er¬ 
regbarkeit braucht nicht nur auf gestei¬ 
gertem Nerventonus zu beruhen, sondern 
auch organische und funktionelle Er¬ 
krankungen, ^ besonders erhöhte Inan¬ 
spruchnahme durch Hormone, können 
ein ähnliches Ergebnis der pharmako¬ 
logischen Prüfung verursachen. Nach 
der Ansicht Franks sind die Vagotoniker 
als Neurastheniker aufzufassen, bei denen 
vaso- und viszeromotorische Symptome 
im Vordergründe stehen, die wir mittels 
unserer erweiterten Kenntnisse jetzt leich¬ 
ter auffinden können. Wenn auch bei 
diesen Menschen die Zeichen parasym¬ 
pathischer Erregbarkeit überwiegen, so 
fehlen sympathische Reizerscheinungen, 
besonders nach Adrenalinanwendung, bei 
ihnen keineswegs. Sind dagegen in, der 
Mehrzahl Symptome vorhanden, die als 
sympathicotonisch gedeutet werden müs¬ 
sen, so besteht meist der Verdacht einer 
Thyreotoxikose zu Recht, da das Schild¬ 
drüsenhormon das gesamte autonome 
System in einen dauernden Erregungs¬ 
zustand zu bringen vermag. Daher ist es 
nicht verwunderlich, daß bei^ Thyreo¬ 
toxikose neben sympathischer Übererreg¬ 
barkeit auch Zeichen parasympathischer 
Reizung meist mit vorhanden zu sein 
pflegen. Es mag daher zweckmäßiger er¬ 
scheinen, an Stelle von Vagotonie und 
Sympathikotonie von allgemeiner vege¬ 
tativer Neurose zu sprechen. Bei der 
Aufnahme eines vegetativ-nervösen Sta¬ 
tus, der nach Frank heute bei vielen 
Krankheiten zu einem integrierenden Be- 




ApHl 


Die Therapie def Gegenwart 1921 


155 


standteile einer tiefer schürfenden Kran¬ 
kenuntersuchung gehört, kann man dann 
durch pharmakodynamische Prüfung er¬ 
mitteln, ob und welche Zeichen, .sym¬ 
pathischer oder parasympathischer Über¬ 
erregbarkeit vorhanden sind. Dabei ist 
freilich zu beachten, daß diese Prüfung 
manchmal von unangenehmen Zuständen 
begleitet ist. Wenn nun auch die Lehre 
Eppingers und Heß' nicht mehr völlig 
aufrechtzuhalten ist, so ist es aber 
wiederum viel zu weitgehend, sie ganz 
zu verwerfen, da in ihr zweifellos ein 
richtiger Kern steckt. Es war nur eine 
ungerechtfertigte Verallgemeinerung, an¬ 
zunehmen, daß das gesamte autonome 
System stets tonisch erregt sei. Es ist 
vielmehr sehr wohl möglich, daß an 
einigen Organen jeder Tonus völlig fehlen 
kann, an anderen einer vom den beiden 
Antagonisten nur einen hemmenden Ein¬ 
fluß zu haben braucht. Ob nun ein uni¬ 
verseller oder nur ein partieller Sym- 
pathicotonus vorhanden ist, müßte sich 
zeigen lassen, wenn es gelänge, den ge¬ 
samten Sympathicus. elektiv auszüschal- 
ten, da dann durch Fortfall der sympa¬ 
thischen Erregung geradezu ein ,,pseudo- 
vagotonischer“ Symptomenkomplex ent¬ 
stehen müßte. Daß es sich aber dabei 
nicht um parasympathische Übererreg¬ 
barkeit handelt, ginge daraus hervor, daß 
die Funktionen derjenigen Organe, bei 
denen ein Sympathicotonus gar nicht 
Vorgelegen hat, nicht; geändert sein dürf¬ 
ten. Solch ein Mittel, den ganzen Sym¬ 
pathicus elektiv zu lähmen, besitzen wir 
nun tatsächlich in dem. Histamin, einem 
der wichtigsten Bestandteile des Mutter¬ 
korns, das aber auch im Organismus leicht 
entstehen kann und ebenfalls einer der 
wirksamen Faktoren bei der Vergiftung 
mit Wittepepton und bei der Erzeugung 
des anaphylaktischen Shocks zu sein 
scheint. Bei Anwendung des Histamins 
entsteht nun durch völlige Sympathicus- 
ausschaltung ein sich je nach Art der 
Dosierung mehr oder weniger rasch ent¬ 
wickelndes Bild eines parasympathischen 
Symptomenkomplexes: Blutdrucksen¬ 

kung, Bronchialmuskelkrampf, beschleu¬ 
nigte Peristaltik, Temperatursturz. Da¬ 
gegen werden zumeist Vermehrung der 
Sekretionen und eine Herzschlagverlang¬ 
samung vermißt, die doch bei Reizung 
des Parasympathicus deutlich vorhanden 
sein müßten. Der Beweis, daß es sich 
bei der Histamintoxikose wirklich um 
Sympathicushypotonie und Pseudovago- 
tonie, nicht um echte Vagotonie handelt. 


wird aber außerdem noch ex juvantibus 
erbracht: denn zur Beseitigung ist das 
sympathicusreizende Adrenalin dem Para¬ 
sympathicus lähmenden Atropin weit 
überlegen. Die Entstehung der Sym- 
pathicohypotonie wäre nun aber außer 
durch Lähmung durch Histamin .durch 
Verminderung des im Blute kreisenden 
Adrenalins denkbar, das ja die Aufgabe 
hat, die Funktion des Sympathicus elektiv 
anzuregen. Zu verminderter Adrenalin¬ 
produktion kommt es bei Hypoplasie des 
gesamten chromaffinen Systems, die 
wiederum eine Teilerscheinung derjenigen 
Konstitutionsanomalie ist, die man als 
Status thymico-lymphaticus bezeichnet. 
So erklärt sich (iie häufig beobachtete 
Tatsache, daß der Status thymico-lympha¬ 
ticus mit parasympathicotonischen Er¬ 
scheinungen, die ihren Grund in Sym¬ 
pathicushypotonie haben, kombiniert ist. 
Und auch jene plötzlichen Todesfälle im 
kalten Bad oder bei der Narkose, bei . 
denen die Sektion einen Status thymico- 
lymphaticus ergibt, lassen sich nunmehr 
eher deuten, wenn man die häufige Kom¬ 
bination dieser Konstitutionsanomalie 
mit Sympathicohypotonie kennt. Die 
sogenannte exsudative Diathese wäre 
nach Franks Ansicht vielleicht .durch 
eine Kombination einer konstitutionellen 
Histamintoxikose mit Hypoplasie des 
chromaffinen Systems und Sympathico¬ 
hypotonie zu erklären. Bei allen er¬ 
wähnten Krankheitsbildern ist demnach 
der parasympathische Symptomenkom¬ 
plex lediglich eine Erscheinungsform der 
Sympathicushypotonie, da nur solche 
parasympathischen Gebiete betroffen 
sind, die durch einen physiologischen 
Sympathicustonus gehemmt zu sein 
pflegen. Außer dieser Pseudovagotonie 
gibt es aber doch eine echte Vagotonie. 
Während Eppinger und Heß aber 
meinten, daß diese in der Hauptsache 
bei jugendlichen Individuen vorkommt, 
ist Frank der Ansicht, daß sie gerade 
dem höheren Alter eigentümlich ist. 
Die echte Vagotonie gehört zum Bilde 
der Paralysis agitans, die nach neueren 
Forschungen bekanntlich auf einer 
Erkrankung der Linsenkerne beruht, 
deren regulierender Einfluß auf die 
Centren des Muskeltonus aufgehoben 
wird. Bei der Paralysis agitans finden 
sich neben vielen Zeichen parasympathi¬ 
scher Übererregbarkeit, wie Speichel¬ 
fluß, Supersekretion, Tränenträufeln, vor 
allem Rigidität der gesamten querge^ 
streiften Muskulatur, die Frank auf 

20* 





156 


Die Therapie der Oegenwart 1921 


Apri 1 


Grund eigener Forschungen als para¬ 
sympathische Reizerscheinung anspricht. 
Gestützt werden diese Anschauungen 
durch Tierversuche. Im Tierexperiment 
hat Sherrington gezeigt, daß nach 
Durchtrennung des Hirnstammes in der 
Vierhügelgegend nicht nur Muskelstarre 
und Rigidität, sondern auch deutlich er¬ 
höhter Vagustonus hervorgerufen wird. 
Es läßt sich also durch Ausschaltung der 
Einflüsse des Vorderhirns experimentell 
eine ,,klassische Vagotonie“ erzeugen. 


So hat die Lehre von der Vagotonie 
wesentlich andere Gestalt angenommen, 
als ursprünglich Eppinger und Heß 
ihr sie gaben. Das Verdienst dieser 
beiden Forscher bleibt aber darin be¬ 
stehen, die Fortschritte auf den Ge¬ 
bieten der experimentellen Erforschung 
des vegetativen Nervensystems für die 
Klinik und auch für die Therapie in 
weitem Umfange fruchtbar gemacht zu 
haben. Nathorff. 

(D. m.W. 1921, Nr. 6 u. 7.) 


Therapeutlsctier Meinungsaustausch. 

Mitteilung aus Dr. L. Schmidt und Dr. ;E. Weiß Kuranstalt Bad Pistyen. 

Beitrag zu den Kopfschmerzen peripheren Ursprungs und deren 

Heilung. 

Von Dr. L. Schmidt, Bad Pistyen/ 


Diese Art Kopfschmerzen gehören 
eigentlich in jene - Kategorie, die man 
gemeinhin mit dem Namen ,,reflektorisch‘‘ 
bezeichnet. Das Wort ,,reflektorisch“ 
verschleiert jedoch den eigentlichen Sitz 
der Erkrankung, oder betont denselben 
nicht zur Genüge. 

Nachdem die Lokalisation dieses 
eigenartigen Leidens nicht nurdiagnostisch 
von Interesse, vielmehr die einzige Mög¬ 
lichkeit ist, hartnäckige und jahrelang 
bestehende Kopfschmerzen, die bisher 
jeder Behandlung trotzten, in wenigen 
Wochen mit absoluter Sicherheit auszu¬ 
heilen, haben wir schon in der Über¬ 
schrift an Stelle des üblichen Ausdruckes 
,,reflektorische“ Kopfschmerzen lieber die 
Bezeichnung ,,Kopfschmerzen peripheren 
Ursprungs“ gewählt. 

Im Prinzip sind diese Art Kopf¬ 
schmerzen ziemlich bekannt. Die Be¬ 
ziehungen zwischen Peripherie und zentral 
gelegenen Organen sind namentlich in 
den letzten Jahren klinischbesondersdurch 
die Headschen Zonen, therapeutisch vor¬ 
züglich durch die Nervenpunkte von 
Cornelius in das Bereich ärztlichen 
Denkens und Handelns mit Erfolg ein¬ 
getreten und sollen hier nicht weiter er¬ 
örtert werden. 

Es kommt uns diesmal nur darauf an, 
die Aufmerksamkeit auf den Zusammen¬ 
hang zu lenken, der zwischen gewissen 
Infiltraten der Nackengegend und 
oft jahrealten Kopfschmerzen, 
manchmal bis zur Kindheit zurück¬ 
reichend, bestehen und den' Kranken 
fast keinen Tag oder keine Woche des 
Lebens froh werden lassen. 

Diese Infiltrate sind manchmal schon 


bei der Inspektion zu erkennen, indem 
man die Nackenpartien des Kranken einer 
genauen Besichtigung unterzieht. (Strenge 
zu achten ist auf die peinlich symme¬ 
trische Haltung des Kopfes, weil selbst 
geringe Abweichungen in der Haltung 
leicht pathologische Differenzen zwischen 
beiden Seiten Vortäuschen könnten.) 

Durch genaue Übersicht gelingt es 
selbst noch so feine Unterschiede zwischen 
der rechten und linken Seite wahrzu¬ 
nehmen, welchen bei der Betastung auch 
fühlbare Unterschiede der Konsistenz 
entsprechen. Wir bedienen uns der drei 
mittleren Finger, die breitspurig erst auf 
der einen Seite, dann auf der anderen, 
von oben nach abwärts gleiten, zunächst 
mit Vermeidung eines jeden tieferen 
Druckes. Schon bei diesem Vorgänge 
lassen sich auch geringe Unterschiede in der 
Konsistenz der beiderseitigen Gewebe 
leicht nachweisen. Auf der Suche nach 
genauerer Orientierung, wie weit diese 
Unterschiede in die Tiefe führen, ver¬ 
stärken wir allmählich den Druck, doch 
stets mit Bedacht, durch Anwendung von 
zu viel Kraft unser Tastgefühl nicht zu 
schädigen. Die Betastung zieht so immer 
weitere und tiefere Gebiete in die Unter¬ 
suchung ein. 

Haben wir auf diese Weise den ganzen 
Nacken abgetastet — anatomisch handelt 
es sich dabei hauptsächlich um das 
vom Cucullaris bespannte Gebiet — 
finden wir häufig bald da, bald dort eine 
kleinere, oder größere infiltrierte Stelle, 
von der der Kranke keine Ahnung hatte, 
und die' interessanterweise auch nicht 
immer sonderlich druckempfindlich zu 
sein scheint. 





April 


Die Therapie der Gegenwart 1-921 


157 


Was nun die Beschaffenheit dieser 
Infiltrate betrifft, sind dieselben stets 
diffus. Also nicht circumscript, wie etwa 
,,Punkte“ oder ,,Knoten“. Flächenhaft 
können sie die Größe eines Kindhand¬ 
tellers erreichen und der Tiefe nach kutan, 
subkutan liegen, oder, durch die Muskeln 
hindurch, bis an die Knochen reichen. 
Einigermaßen nähern sie sich der Vor¬ 
stellung, die wir von den sogenannten 
,,rheumatischen Schwielen“ haben. 

Hinsichtlich des eigentlichen Sitzes 
dieser chronischenVeränderungen,zweifel¬ 
los entzündlicher Natur, sind wir mangels 
jeder Autopsie an jene Vorstellungen ge¬ 
bunden, die wir von den rheumatischen 
Erkrankungen im allgemeinen haben. 

Dies führt zu der Annahme, daß es 
wahrscheinlich die präformierten Ge¬ 
bilde bindegewebiger Art sind, die zu 
einem Ansatz von Bindegewebe in¬ 
folge Entzündung besonders disponiert 
scheinen, also vorzüglich: subkutanes 
Bindegewebe, Fascien und Sehnenenden, 
das Bindegewebe zwischen den Muskel¬ 
fibrillen und Auflagerungen am Periost. 
Schließlich ist ja die Endstation jeder 
kleinzelligen Infiltration, so weit sie nicht 
in Eiter übergeht, die bindegewebige 
Entartung. 

Die Kopfschmerzen, worüber die 
Kranken seit Jahr und Tag klagen, 
haben zumeist keinen einheitlichen Typus. 
Die Kranken werden fast alltäglich oder 
nur in Zwischenpausen von wenigen 
Tagen durch dieselben befallen, oft schon 
des morgens beim Erwachen. Die In¬ 
tensität der Schmerzen ist auch recht 
verschieden, manchmal nur recht unan¬ 
genehm, ein anderes Mal geradezu 
quälend. Auffallend ist, daß nur ein 
Perzentsatz der Kranken über ausge¬ 


sprochene Abhängigkeit von schlechtem 
Wetter klagt. 

Das Verhältnis dieser, von Nackenin¬ 
filtraten irradiierten Kopfschmerzen zum 
Rheumatismus überhaupt ist durchaus 
nicht klar. Tatsache ist, daß ein großer 
Teil der Rheumatiker, gleichviel welcher 
Natur, selbst bei vorhandenen Nacken¬ 
infiltraten, eigentlich nicht gar zu oft 
über Kopfschmerzen zu klagen pflegt. 
Andererseits sei hervorgehoben, daß es 
sich öfters auch um Leute handelt, die 
den Badeort nicht zum Zwecke der 
Heilung aufsuchen und nur als Begleit¬ 
personen wegen ihrer Kopfschmerzen uns 
gelegentlich konsultieren. Mit anderen 
Worten: es können auch Kopfs chm er¬ 
zen bei ,,Nichtrheumatikern“ ihren 
Ursprung in N a c k e ji i n f i 11 r a t e n 
haben. Ein Umstand, der scheinbar 
häufiger vorkommt und die Aufmerksam¬ 
keit in hohem Maße verdient. 

Haben wir das Leiden einmal genau 
lokalisiert, gelingt es mit Leichtigkeit, 
jahrealte, quälende Beschwerden in weni¬ 
gen Tagen, zumeist in ein bis zwei Wochen 
zu heilen, ohne daß es bei der Kürze der 
Zeit immer gelingt, auch die Infiltrate 
restlos zur Resorption zu bringen. 

Die Behandlung besteht in lokalen 
Schlammapplikationen in Form von Um¬ 
schlägen von 40—45^ C, 32—36° R, eine 
halbe bis eine Stunde lang täglich. 
Ferner in eingehender — allerdings sach¬ 
kundiger — Massage des Infiltrates und 
seiner Umgebung, wobei man sich auch 
der Hilfe eines nicht zu starkenVibrations- 
apparates bedienen kann. 

Nach-unseren Erfahrungen gibt es in 
der Medizin, wohl nicht viel gleich dankbare 
Aufgaben, die mit relativ wenig Mitteln 
so leicht gelöst werden können. 


Erfahrungen mit Staphar (Maststaphylokokkeneinheitsvakzine) 

nach Strubell. 

Von Stadtarzt Dr. Dfenemann, Dresden. 


Seit Jahren behandelte ich Furunkel 
in meiner Praxis mit Injektionen von 
Opsonogen. Ein gegen dieses Mittel sich 
refraktär verhaltender Fall erinnerte mich 
an eine Arbeit von Prof. StrubelP) über 
Maststaphylokokken Vakzine. Da damals 
das Präparat nicht im Handel war, über- 


0 D. m. W. 1919, Nr. 38: Strubell, Über 
Staphar. Weitere Veröffentlichungen: D. m. W. 
192Ü, Nr. 18: Krebs, Über Erfahrungen mit 
Staphar. Derm. Wschr. 1910, Galewsky, Über 
Behandlung von Pyodermien und ähnlichen 
Affektionen mit Staphar. 


ließ mir Prof. Strubell größere Mengen 
von ihm hergestellten ,Staphars“ (der 
gesetzlich geschützte Name) zu Ver¬ 
suchen. Meinen Dank für diese kollegiale 
Liebenswürdigkeit möchte ich ihm durch 
Veröffentlichung meiner Erfahrungen be¬ 
weisen. Jetzt ist das Präparat im Handel 
zu haben. Es wTd hergestellt von der 
Abteilung Impfstoffwerke der Deutschen 
Celluloidfabrik, Eilenburg. 

Strubell, als Verteidiger und Weiter¬ 
bilder der Wrightschen Lehre bekannt, 
glaubte auf die Forschungsergebnisse von 



158 Die Therapie der 


Deycke und Much hin, auch aus dem 
StaphylQkokkenkörper Partialantigene 
isolieren zu können. Es gelang ihm, auch 
hier einen Eiweißkörper, einen Fettsäure¬ 
lipoidkörper und Neutralfettbestandteile 
nachzuweisen. Die starke Giftigkeit des 
Staphyloalbumins und die nachgewiesene 
Wirksamkeit der übrigen* Bestandteile 
gegen Staphylokokkenerkrankungen legte 
ihm den Gedanken nahe, ob es nicht mög¬ 
lich sei, durch ein von ihm ausgearbeitetes 
Mästungsverfahren eine Vermehrung der 
Lipoidbestandteile im Bakterienkörper zu 
erreichen. Das Gelingen dieses Versuchs 
ließ ihn nun nicht nur ein weniger giftiges 
Produkt gewinnen, sondern ermöglichte 
auch die Anwendung im großen. Diese 
Maststaphylokkeneinheitsvakzine nannte 
er ,,Staphar“ (Staphylokokkenaufschlie- 
ßungsrest). 

Staphar kommt in den Handel in 
Aufschwemmungen 1 : 1000. Seine An¬ 
wendung ist sehr einfach: Intrakutane 
oder intramuskuläre Injektionen in der 
Nähe der Infektionsstelle. Die Dosis ist 
von Strub eil auf 0,2—0,5ccm angegeben: 
ich und andere haben unbeschadet bis 
1 ccm gegeben, ja sogar 2—4 ccm sind 
schadlos vertragen worden. 

Wenn ich Erfahrungen mit Staphar 
zuf allgemeinen Kenntnis bringe, so ist 
es nicht meine Absicht, die Wirksamkeit 
der Staphylokokkenvakzine überhaupt zu 
bekräftigen. Hierüber ist genug ge¬ 
schrieben. Es werden aber dem Prak¬ 
tiker ebenso Wie mir Fälle von Staphylo¬ 
kokkenerkrankungen begegnen, bei denen 
die bisher bekannten Präparate wirkungs¬ 
los sind. An solchen Fällen vermag dann 
das Staphar, seine Überlegenheit zu be¬ 
weisen. 

Ich habe im Laufe eines Jahres mir 
über 40 Fälle Notizen gemacht, fast alle 
betrafen eine Folge von Furunkelbil¬ 
dungen. Wenn nicht das Auftreten neuer 
Furunkel mit einigen Einspritzungen ver¬ 
hindert wurde, erfolgte doch die Bildung 
dann unter weniger stürmischen und 
schmerzhaften Erscheinungen, schließlich 
kam es nur zu kleinen Follikulitiden, die 
reaktionslos eintrockneten. Unangenehme 
Nebenwirkungen habe ich nie erlebt. 

Der erste Fall, der mich zur Verwendung von 
Staphar veranlaßte, betraf einen Oberleutnant, 
der im Felde 1918 an einer Furunkulose erkrankte, 
die jeder Behandlung trotzte. Er hatte auch in 
früheren Jahren Öfters an Furunkuloseanfällen 
gelitten. Außer Anämie bestanden keine Krank¬ 
heitszeichen. Er trat im Mai 1919 in meine Be¬ 
handlung. Es fanden sich mehrere große Furunkel 
mit starker Infiltratbildung. Eröffnung erfolgte 


Gegenwart 1921 ^ April' 


meist spontan. Allgemeinstörung bestand nicht, 
die früheren Erkrankungen hatten dem Körper 
eine gewisse Resistenz verschafft. Ich begann 
mit den von mir damals verwendeten Opsono- 
geninjektionen. Eine lokale Behandlung außer 
Schutzverbänden erfolgte nicht. Anfangs guter 
Erfolg. Bald traten neue Furunkel auf. Schwefel¬ 
bäder und Schwefelsalbe, Alkoholresorcin,,Queck¬ 
silberpräparate und andere lokale Maßnahmen 
wirkungslos. Auch eine erneute Opsonogenkur 
mit stärksten Dosen im Oktober blieb ohne Erfolg. 
Da entsann ich mich Strubells Veröffentlichung. 
Das von ihm zur Verfügung gestellte Präparat 
wurde in Dosen von 0,4 im Dezember angewendet. 
Es erfolgten 10 Injektionen bis zur Menge von 
1,0 ccm. Die Fu'runkel verschwanden ziemlich 
rasch, um bis 27. Dezember 1920 nicht wieder 
aufzutreten. An diesem Tage erschien Patient 
mit einem Furunkel an der Hand. Viermal 
Staphar 0,5 brachte Spontaneröffnung und 
Heilung ohne Folgeerscheinung. 

Vom Dezember 1919 ab habe ich nunmehr 
nur Staphar gegen Staphylokokkenerkrankungen 
angewandt. Wirkungslos erwies es sich bei einem 
Fall von Alveolarpyorrhoe, bei Akne juvenilis, 
Mastitis. Eine gute Einwirkung erzielte ich auf die 
1920 so häufigen, mit Pustelbildung einhergehen¬ 
den Pyodermieen. 

Erwähnenswert erscheint mir der Fall eines 
Arbeiters, der am 24. August 1920 an diffuser 
Schwellung, Rötung und Schmerz der rechten 
Hand erkrankt war. Ein Chirurg machte eine 
tiefe Incision zur Entleerung des Panaritiums. 
Vorübergehender Besserung folgte Lymphangitis 
mit starker Schwellung des ganzen Unterarmes, 
die Incision entleerte keinen Eiter mehr. Nach 
der dritten Injektion Staphar Rückgang der 
Erscheinungen, nach fünfter Incision Arm völlig 
abgeschwollen. Auf eine circurnskripte fluk¬ 
tuierende Stelle wird eingestochen. Nach Ent¬ 
leerung des Eiters: Heilung. 

Auch drei Fälle von erysipelartiger Haut¬ 
rötung und Schwellung an den Fingern nach 
kleineren Verletzungen, ohne daß es zur Eiter¬ 
bildung kam, wobei sich die Entzündung von Tag 
zu Tag zentralwärts ausbreitete, kamen auf drei 
S.taphareinspritzungen zu Stillstand und Heilung. 

Ein 60 Jahre alter Diabetiker litt seit Wochen 
an Nackenfurunkeln. Behandlung bisher erfolglos. 
5 Staphätinjektionen brachten kurze Besserung. 
Nach STagen erneut karbunkelartiges tiefsitzendes 
Infiltrat. Nach weiteren 5 Injektionen Spontan¬ 
eröffnung und glatte Heilung. 6 Wochen später 
erneuter tiefsitzender Furunkel am Nacken. 
Staphar beseitigt schnell Schmerz und Allgemein¬ 
erscheinungen. Am dritten Tage Spontanentlee¬ 
rung. Acht Wochen darnach wieder Furunkel 
im Nacken. Erneut 5 Staphar. Darnach seit 
Monaten kein Rezidiv. 

Am 6. Juli 1920 trat ein 71 Jahre alter Herr 
mit Karbunkel des Nackens in Behandlung. Der 
angeblich kleine Furunkel hatte sich zwar unter 
Umschlägen spontan eröffnet, es bestand aber ein 
nur blutiges Serum absondernder Krater und 
eine starke Infiltration der Umgebung, die sich 
rasch weiter auf Kopf und Schultern ausbreitete. 
Ein Chirurg exzidierte ein kleinfingergroßes Ge- 
websstück und lehnte weitere Behandlung des sich 
bösartig ausbreitenden Karbunkels ab. Das In¬ 
filtrat ging bis zum Wirbel, bis zu den Ohr¬ 
muscheln und zu den Spinae. Die Gewebs- 
interstitien in der Excision entleerten auf Druck 
Eitertröpfchen. Es bestand Fieber und große 
Hinfälligkeit. Staphar 0,5 erleichterte Patienten 
so, daß er in die Sprechstunde kommen konnte. 




159 


April • Die Therapie der Gegenwart 1921 


Auf weitere Injektionen fiel Fieber ab, AUgemein- 
zustand besserte sich. Es erfolgte Abgrenzung 
des erkrankten Gewebes und im Verlauf von 
vier Wochen stieß sich ein 15 cm breiter und 
10 cm langer gangränöser Teil des Haut- und 
Unterhautzellgewebes unter profuser Eiterung 
ab. Es erfolgte gute Heilung ohne störende 
Narbenbildung. Besonders auffällig war hier 
dcs dauernd gute Allgemeinbefinden d(s Patienten 
trotz der schweren Erkrankuhg. 

Einen interessanten Verlauf nahm die Behand¬ 
lung von Schweißdrüsenabszessen der rechten 
Achselhöhle bei einem 33 Jahre alten Arbeiter. 
Mehrere bis taubeneigroße Tumoren mit großer 
Schmerzhaftigkeit und Rötung der Haut und 
diffuser Infiltration der Achselhöhle verloren auf 
4 Staphar ihre weiche teigige Beschaffenheit, die 
fühlbaren Tumoren wurden kleiner, derber. Die 
ganze infiltrierte Partie der Achselhöhle 
schrumpfte zu einer derben, harten, brettartig 
den Rippen anliegenden Platte zusammen, sodaß 
ein Heben des Armes ähnlich wie bei einer Narben¬ 
schrumpfung unmöglich wurde. Es bestand 
andauernd Fieber. Es wurde schließlich durch 
Incision ein fühlbarer Abszeß entleert und Heilung 
trat ein. 

Bei einem 30Jährigen Patienten mit Sykösis 
parasitaria, welche bis zu haselnußgroßen, derben, 
umschriebenen, tiefsitzenden Knoten geführt 


hatte, waren die verschiedenen Behandlungen 
wirkungslos geblieben. Ich verzichtete auf jede 
äußere Behandlung außer Bepinselung mit Jod¬ 
tinktur und injizierte Staphar. Nach vierwöchiger 
Kur waren die Knoten bis auf Reste verschwunden 
und keine neuen mehr aufgetreten. Vier Wochen 
später stellte sich Patient völlig erscheinungslos 
vor und blieb so bis heute. 

Wie gesagt, verzichte ich in diesem 
Bericht auf Anführung aller der Fälle von 
Furunkulose, in denen eine schnellere 
Heilung als sonst erreicht oder das Auf¬ 
treten neuer Erscheinungen unterbunden 
wurde; aber je länger ich mit Staphar 
arbeite, um so sicherer fühle ich mich in 
der Behandlung der Furunkulose, sodaß 
ich Spaltungen, wenn es sich nicht um 
sehr leicht erreichbare verflüssigte Eiter¬ 
herde handelt, stets unterlasse und auch 
jede Lokalbehandlung, abgesehen, von 
Bädern und Alkoholumschlägen in man¬ 
chen Fällen und Schutzverbänden, für 
überflüssig halte. Einen eigentlichen Mi߬ 
erfolg mit Staphar habe ich bisher nicht 
erlebt: 


Aus der Privatfrauenkliuik Dr. Scklickting-Wernigerode. 

Unsere Erfahrungen mit Nirvanol bei Narkosen. 

Von Dr. Schlichting. 


Wenn ich meine Erfahrungen mit 
Nirvanol bekannt gebe, so bin ich dazu 
veranlaßt dadurch, daß jetzt wiederholt 
über Nirvanolvergiftungen berichtet 
wurde und Autoren wie Reye (Ham¬ 
burger Ärztlicher Verein 9. März 1920) 
und Atzrott (Ther. d. Gegenw. 1920, 
Heft 10) in ihrer Verurteilung des Mittels 
so weit gehen, daß sie es dem freien 
Handel ganz entzogen sehen möchten. 
,,Nirvanol ist nicht als ein Schlafmittel 
anzusehen, das ähnlich wie Veronal, Ada- 
lin, Luminal eine sichere Wirkung beim 
Menschen erzielt. Bei seiner Anwendung 
werden häufiger schwere Nebenerschei¬ 
nungen, die einer Art Serumkrankheit 
— Anaphylaxie — ähneln, beobachtet.“ 
(Atzrott.) 

Die Erfahrungen an dem Material 
meiner Frauenklinik mit Nirvanol recht- 
fertigen dies ablehnende Urteil nicht. Ich 
habe die Notizen über die von uns an¬ 
gewandten Schlafmittel gesammelt. Die 
Beobachtungen dürften darum noch wert¬ 
voller sein, weil in dem kleinen Betrieb 
der behandelnde Arzt seine Kranken 
zweimal täglich sieht und deshalb alle 
Wirkungen und Beschwerden genau beob¬ 
achten kann, besser, als es in der Privat¬ 
praxis und auf großen Krankenabtei¬ 
lungen möglich ist. 


Vom Januar 1919 bis Ende November 
1920 haben wir Nirvanol 215 mal (0,5, 
einmal 1,0) gegeben. Seitdem noch weitere 
24 mal. 

Selbstbeobachtung: Zweimal habe ich 
in schlaflosen Perioden je 0,5 Nirvanol 
genommen und danach einen festen zehn- 
bis elfstündigen ruhigen, träum losen 
Schlaf gehabt, aus dem ich erquickt und 
mit Wohlbehagen aufwachte. Zunächst 
fällt auf, daß man noch etwas unorientiert 
ist. Nach dem Waschen ist jede Spur 
von Müdigkeit geschwunden. Von keinem 
anderen Schlafmittel habe ich bei der 
gleichen Dosis solch ausgiebige Wirkung 
verspürt. (Ähnliches berichtet Br es 1er 
von seinem Selbstversuch.) Üble Neben¬ 
oder Nachwirkungen irgendwelcher Art 
sind bei den 239 Fällen in meiner Klinik 
nicht beobachtet bis auf einen Fall (all¬ 
gemeines Exanthem nach lokaler Rönt¬ 
genbestrahlung d. M. W. 1920 S. 1337), 
bei dem ich an eine Nirvanolwirkung 
auch gedacht habe. 

Was uns das Nirvanol so wertvoll ge¬ 
macht hat, ist die narkosesparende Wir¬ 
kung. Wir geben einige Stunden vor der 
Operation 0,5 Nirvanol. Von Schwestern 
unterstützt, erscheint die Patientin leicht 
taumelig und sehr müde im Operations¬ 
saal; sie hat kein Interesse an den Dingen 




160 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


April 


der Umwelt und will nur schlafen. Das 
Unangenehme der Stunden kurz vor der 
Operation und der Vorbereitungen im 
Operationssaal ist für die Patientin nicht 
vorhanden. In dieser seelischen Schonung 
erblicke ich einen besonders wichtigen 
Faktor zur Empfehlung dieses Mittels. 
Die Narkose verläuft leicht und fast 
immer ohne Störungen. Der Verbrauch 
an Narkosematerial ist sehr gering, auch 
bei langdauernden Operationen. Wir ver¬ 
wenden in der Regel das Gemisch II 
(Chloroform 37,8, Äther 55,0, Aethyl- 
chlorid 6,3), bei dem wir in den letzten 
Wochen das Aethylchlorid fortgelassen 
haben, weil es nicht immer in einwand¬ 
freier Qualität in den Handel kommt. 
(Narkoseschwester und Assistenz klagten 
über Reizungen der Schleimhäute und 
auch bei den Kranken wurden postope¬ 
rative Reizungen der Augenbindehäute 
und oberen Luftwege beobachtet.) Seit 
dem Gebrauch von Nirvanol sind wir von 
Einspritzungen vor der Operation — wir 
gaben früher Morphiumscopolamin oder 
Morphium in den üblichen Dosen — ganz 
abgekommen, weil sie überflüssig sind. 
Dadurch ist das postoperative Erbrechen 
ganz erheblich eingeschränkt. 

Wer zum ersten Male nach Nirvanol- 
gaben Narkosen macht, täuscht sich 
immer über die Tiefe der Narkose, weil 
die Kranken schon ohne Narkose schlafen 
und, wenn keine Erfahrung des Narkoti¬ 
seurs vorliegt, erlebt man bei Beginn der 
Operation Abwehrbewegungen. Ein Ex- 
citationsstadium wird nur selten beob¬ 
achtet. 

Aus der sehr umfangreichen Literatur, 
die ich zur Verfügung habe, kann man 
folgendes über Nirvanol entnehmen: 

1. Die meisten Autoren loben das 
Mittel wegen seiner guten Wirkung, es 
wird ein langdauernder, fester Schlaf er¬ 
zielt. Auch die völlige Geschmacklosig¬ 
keit wird hervorgehoben. 

2. Aus Irrenanstalten liegen zahlreiche 
gute Beobachtungen vor. Es hat sich 
u. a. in der Therapie der Epilepsie und als 
Anaphrodisiakum bewährt. 

3. Auch in der Kinderheilkunde ist 
Nirvanol mit Erfolg angewendet (Röder). 

4. Es sind eine Reihe von Vergiftungen 
ohne tödlichen Ausgang beobachtet; es 
wurden 1,5+ 2,4 g (Pensky), 5—6 g 
(Oolliner), 2,7 g (Schlichtegroll) ent¬ 
gegen ärztlicher Verordnung auf einmal 
genommen. 


5. Häufiger wird eine leichte Tempe¬ 
raturerhöhung und nicht selten ein typi¬ 
sches Arzneiexanthem (am häufigsten von 
Gei 11 unter 85 Patienten 17 mal) beob¬ 
achtet. Dies Exanthem tritt nach mehr¬ 
fachen Dosen häufiger auf, selten nach 
einer Gabe. 

6. Es sind mehrere Todesfälle nach 
Nirvanolgaben bei Kranken beobachtet 
(Majerus, Reye). 

Vergiftungen nach Einnahme größerer 
Mengen eines Schlafmittels sind in der 
Literatur über fast alle Schlafmittel be¬ 
schrieben, ich will hier nur den Todesfall 
nach einer geringen Gabe Veronal bei 
gleichzeitiger Darreichung von Filix 
(Harnack, Vrtljschr.f.gerichtl. M., Bd.38 
Heft 1) anführen. 

Diese Vergiftungen können nur da¬ 
durch emgeschränkt werden, wenn Schlaf¬ 
mittel nicht mehr in viel zu großen Ori¬ 
ginalpackungen in die Hand des Kranken 
kommen, sondern der Arzt nur so viel 
verschreibt, als für ein oder zwei Gaben. 
nötig ist und gegen den Apotheker un- 
nachsichtlich in jedem Fall eingeschritten 
wird, wo entgegen der Verordnung mehr 
abgegeben wurde. 

Arzneiexantheme werden nach vielen 
unserer gebräuchlichen Mittel (Jod, Ada- 
lin, Antipyrin u. a. m.) beobachtet. Daß 
sie bei meinen zahlreichen Nirvanolfällen 
nicht auftraten, mag vielleicht daran 
liegen, daß wir das Mittel vor oder auch 
nach den Operationen auf nüchternen 
Magen oder bei flüssiger Kost gaben. 
Sehr interessant ist die Mitteilung von 
GeiII, der in einem Fall, wo im März 
nach 11 Dosen (in toto 4,6 g) Exanthem 
auftrat, im August nach 17,6 g in 29 auf¬ 
einander folgenden Dosen kein solches 
beobachtete. Kurse h mann empfiehlt 
gleichzeitig Anwendung von Calcium bei 
Idiosynkrasie. 

Die Todesfälle mahnen natürlich zu 
großer Vorsicht, dies gilt besonders für 
die freie Praxis. 

Möglichst schnell muß klinisch genau 
studiert werden, wann normalerweise eine 
Nirvanolgabe ausgeschieden ist; darüber 
fehlen noch Erfahrungen. — Zur Ein¬ 
leitung der Narkose kann ich das Mittel 
auf Grund meiner Erfahrungen emp¬ 
fehlen, zumal wo die Ersparnis an Nar- 
.kosemitteln, neben dem Vorteil für die 
Kranken, wirtschaftlich auch ins Gewicht 
fällt. 


F ür die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg 
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, BerlinW57. 















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Die Therapie der Gegenwart 


1921 


herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer 
in Berlin. 


Mai 


Nachdruck verboten. 

Eröffnungsrede zum XXXIII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für innere Medizin, Wiesbaden, 18.—21. April 1921. 

Von G. Klemperer. 


Nie ist unsere Gesellschaft in tieferer 
Bewegung zu ihrer Tagung zusammen¬ 
getreten als heute, da wir zum ersten 
Male nach dem Schicksalsjahre 1914 uns 
in unserer Geburts- und Heimatstadt zu¬ 
sammenfinden. So mag dem Sohne zumute 
sein, welcher nach langer Frist ins Eltern¬ 
haus heimkehrt, das vom verheerenden 
Blitzstrahl getroffen worden ist. — Die 
Trauer der Brüder ist seine Trauer. 

Tiefe Erschütterung läutert und be¬ 
freit den Menschen; er kehrt zurück zum 
Urständ der Natur und fühlt, wie innig 
und untrennbar er dem Boden der Heimat 
verwachsen ist. 

Wir sind versammelt als Ärzte zur 
Aussprache über unsere beruflichen Ziele, 
zur Förderung unserer Kunst und Wissen¬ 
schaft. Aber wir sind deutsche Ärzte. 
Nie haben wir inniger die Heimat geliebt, 
als da wir sie im Unglück wissen, und 
übermächtig ist in uns der Wunsch, mit¬ 
zuhelfen am Wiederaufbau des gestürzten 
Vaterlandes. Mit freudigem Stolz emp¬ 
finden wir, daß kein Stand mehr dazu 
berufen ist als der ärztliche. Wenn jede 
Hand und jedes Hirn in Deutschland sich 
rühren muß, um die Heimat aufzurichten, 
welche Bedeutung kommt dann dem 
Stande zu, der für die Gesundheit der 
Schaffenden zu sorgen hat? Was wir für 
das gemeine Wohl im Krieg und Frieden 
geleistet haben, liegt offen vor aller Augen. 
Hätte unser unbesiegtes Heer wohl vier 
lange Jahre, die Heimat vor dem über¬ 
mächtigen Feinde schützen können, wenn 
nicht ratend, helfend und heilend ihm 
die Ärzte zur Seite gestanden hätten, 
von denen so viele ihre Treue mit dem 
Tode besiegelt haben! 

Und die Heimat selbst, gewiß, es steht 
schlimm um sie; aber wie würde es wohl 
in Deutschland aussehen, wenn nicht 
ärztliche Kunst die Seuchen ferngehalten 
hätte, die unsere Grenzen tagtäglich be¬ 
drohten? Gar mancher, der heute im 
rosigen Lichte atmet, ahnt wohl nicht, 
daß er das Leben nur der unermüdlichen 
Arbeit der Ärzte verdankt. 


Wenn wir heute in dieser feierlichen 
Stunde das Gelübde ablegen würden, 
dem Vaterlande zu dienen wie bisher, 
wahrlich, wir dürften uns damit ^be¬ 
gnügen. Aber begreiflich ist es in der 
Hochspannung unserer vaterländischen 
Begeisterung, daß wir uns fragen, ob wir 
irgendwie die bessernde Hand anlegen 
können, um das Maß unserer Leistungen 
zu vermehren. 

Könnte vielleicht eine noch stärkere 
Einwirkung der Ärzte auf die Gesundheit 
der Volksgenossen stattfinden, wenn eine 
andere Ordnung des Verhältnisses von Arzt 
zu Patienten in Frage käme? Wenn der 
Arzt aufhörte, der freigewählte Berater 
des Einzelnen zu sein, um der vom Staat 
eingesetzte Versorger einer Gemeinschaft 
zu werden ? Die &örterung dieser Stan¬ 
desfrage fällt nicht ganz aus dem Rahmen 
der Probleme, mit denen wir uns satzungs¬ 
gemäß zu befassen haben; da wir für 
den Fortschritt der Krankenbehandlung 
sorgen, ist es der Stand der Kranken, 
dessen Wohlfahrt wir dienen. In deren 
Interesse darf gesagt werden, daß kein 
menschliches Verhältnis so wie das von 
Arzt zu Patient ganz individualistisch, 
nur auf Persönlichkeit basiert ist und 
jeder planwirtschaftlichen Ordnung wider¬ 
strebt. Es darf als eine der Natur dieses 
Verhältnisses entsprechende Entwicklung 
bezeichnet werden, daß selbst in den 
Organisationen, welche nach ihrem Wesen 
und ihrem Aufbau zur beamtlichen Ord¬ 
nung des ärztlichen Berufes hinstreben, 
sich mit zwingender Gewalt die un¬ 
begrenzte freie Arztwahl durchzusetzen 
beginnt. 

Viel näher indes liegt uns die Frage, 
ob die Leistungen der Ärzte gesteigert 
werden können dadurch, daß wir ihre 
Ausbildung verbessern. Sicherlich ist 
diese Frage nicht dringend, denn die 
Leistungen der deutschen Ärzte werden 
willig oder widerwillig von der 'Welt 
anerkannt und wo sie bezweifelt worden 
sind, hat sich die Falschheit der Be¬ 
schuldigungen stets erweisen lassen. 

21 



162 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Mai 


Aber es entspricht dem deutschen 
Wesen, namentlich in der jetzigen Zeit, 
wo der Ruf nach Reform an Haupt und 
Gliedern durchs Volk tönt, daß wir 
unseren Blick prüfend auf unser ,Unter¬ 
richtswesen richten. Einig sind *alle in 
der Grundfrage, daß am System unserer 
Ausbildung, an der innigen Verschwiste- 
rung von Wissenschaft und Praxis nicht 
gerüttelt werden darf. Stets hat es den 
Inhalt der Eröffnungsreden unseres Kon¬ 
gresses gebildet, in welchem Maße Theorie 
und Praxis sich im ärztlichen Leben zu 
ergänzen haben. Es besteht volle Einig¬ 
keit darüber, daß die Fortschritte der 
Praxis von der Vertiefung der wissen- , 
schaftlichen Durchbildung ablrängen. Was 
die ;ärztlichen Reformbestrebungen in 
letzter Zeit kennzeichnet, sind organisa¬ 
torische Fragen, die sich zum Teil zu 
gewissen Forderungen verdichtet haben, 
welche mit dem Anspruch nach gesetz¬ 
licher Formulierung auftreten. 

Von diesen Forderungen scheint mir 
eine allgemeiner Zustimmung wert zu 
sein. Daß nämlich der angehende Medi¬ 
ziner in der Krankenpflege praktisch 
unterrichtet werde. Ich habe diese 
Forderung seit Jahren mehrfach mit 
Erfolg praktisch durchgeführt und glaube, 
daß es nützlich und förderlich für den 
jungen Studenten der Medizin ist, wenn er 
im Beginn des ersten und zweiten Studien¬ 
jahres je sechs Wochen als Wärter im 
Krankenhause dient. Diese Einrichtung , 
scheint mir nicht nur wichtig für die 
Grundlagen der Berufsbildung, d. h. für 
die Erlernung der Krankenpflege, die die 
unentbehrliche Grundlage der Kranken¬ 
behandlung ist. Ich denke mir den 
Pflegedienst vor allem als ein Mittel der 
Auswahl und der Siebung. Unser Beruf 
ist überfüllt, er bietet nur noch wenigen 
Platz, immer dringender wird die Pflicht, 
Auswahl zu halten unter denen, die sich 
dem Dienst der Heilkunst widmen. Eine 
behördliche Auswahl oder ein Numerus 
clausus scheint mir nicht möglich. Um 
so wichtiger ist die Pflicht der Selbst¬ 
prüfung des Nachwuchses, ob er die 
innere Eignung für den ärztlichen Beruf 
besitzt. Dazu bedarf es nicht nur der 
Gaben des Wissens und des Denkens, 
sondern vor allem der Fähigkeit der 
Hingabe, die notwendig ist, um die 
niedrigsten Dienste auch dem geringsten 
Mitmenschen zu leisten. Die ärztliche 
Helmzier heißt: ,,Ich dien’!“ Die ärzt¬ 
liche Kunst ist auf Menschenliebe basiert, 
und nur wer so innige Liebe zum Men¬ 


schen besitzt, daß ihn das Bewußtsein, 
gedient und geholfen zu haben, über 
Mühsal und Enttäuschungen hinweghebt, 
der ist geeignet, Arzt zu werden. 

Neben der seelischen Eignung aber 
diene der Krankenpflegedienst der Aus¬ 
wahl im Sinne der körperlichen Auslese.; 
indem jede Anforderung im Tages- und 
Nachtdienst gestellt wird, zeige es sich, 
ob die Körperkraft des Anfängers den 
außerordentlichen Anforderungen des 
ärztlichen Berufes gewachsen ist. Hierbei 
denke ich namentlich an unsere weib¬ 
lichen Kolleginnen, für welche die körper¬ 
lichen Anforderungen neben den geistigen 
und seelischen vielfach zu hoch sind. 
Ich selbst bin von jeher für die Freiheit 
des Frauenstudiums, auch des ärztlichen, 
eingetreten, aber die Erfahrung berech¬ 
tigt mich zu der Mahnung an alle Eltern 
und Erzieher, sie sollen aufs reiflichste 
überlegen und insbesondere die Körper¬ 
eignung prüfen, ehe sie ihre Töchter dem 
schwersten aller Berufe zuwenden, j ’• 

So sehr, ich einem praktischen Kran¬ 
kendienst zustimme, ,so wenig kann ich 
mich mit einer zweiten Forderung be¬ 
freunden, welche das ärztliche Studium 
auf sieben Jahre verlängern will. Gewiß 
sind die theoretischen Anforderungen an 
die Ärzte von Jahr zu Jahr gewachsen, 
hat der wissenschaftliche Stoff erheblich 
zugenommen. Aber dennoch muß sich 
durch Abstoßung von Überflüssigem die 
Möglichkeit ergeben, das Studium zu¬ 
sammenzudrängen. Es auf sieben Jahre 
verlängern, heißt unseren Beruf zu einem 
pliitokratischen zu machen, heißt, die 
wirtschaftliche Selbständigkeit der jungen 
Ärzte, speziell ihre Heiratsmöglichkeit 
in schmerzlicher Weise hinausschieben. 
Ich glaube, daß der leitende Gedanke 
bleiben muß, daß der junge Arzt die 
Grundlagen der Berufsübung zu lernen 
hat; daß er ein vollkommener Arzt 
werde, das kann ihn nur das Leben, nur 
die verantwortliche Ausübung ärztlicher 
Tätigkeit lehren. Es muß gelingen, die 
theoretische Vorbildung in zwei Jahre 
zusammenzudrängen. Bei fleißiger Aus¬ 
nutzung der Ferien für das Selbststudium 
müssen vier Semester für Anatomie, 
Physiologie, Chemie und Physik aus¬ 
reichen; insbesondere wenn die Präpa¬ 
ri er Übungen auf ein Semester beschränkt 
und dafür wahlweise physikalische oder 
chemische Laboratoriumsarbeit ein¬ 
gesetzt wird, kann der Unterricht den 
jungen Mediziner genügend naturwissen¬ 
schaftlich denken lehren und so weit 



Die Therapie der Gegenwart 1921 


163 


Wai 


vorbilden, daß auf der gegebenen Grund¬ 
lage das ärztliche Lehrgebäude mit Vor¬ 
teil aufgerichtet werden kann. Weitere 
sechs Semester müssen für die ärztliche 
Ausbildung ausreichen; für die Innere 
und chirurgische und Frauenklinik halte 
ich je vier Semester für unbedingt not¬ 
wendig. In dieser Zeit lernt der Medi¬ 
ziner zur Genüge ärztlich denken und 
handeln. Wenn der klinische Lehrer 
stets auf der physiologischen Grundlage 
aufbaut und dem Schüler Gelegenheit 
gibt, durch eigene Beobachtung und 
Untersuchung das Verständnis der Ur¬ 
sachen und des inneren Zusammenhanges 
der Krankheitszeichen zu erlangen, dann 
reichen sicherlich vier Semester, um Er¬ 
kennung, Beurteilung und Behandlung 
der Krankheiten zu lernen; dann gewinnt 
der Schüler die innere Kritik und die 
innere Freiheit, sich auf jedem Gebiete 
ärztlicher Kunst selbständig zurechtzu¬ 
finden. In sechs klinischen Semestern 
bleibt neben -dem eigentlichen klinischen 
Unterricht Zeit genug, um die notwen¬ 
digen Kurse der physikalischen und chemi¬ 
schen Diagnostik, der praktischen Chi¬ 
rurgie und Geburtshilfe durchzumachen, 
um pathologische Anatomie und Physio¬ 
logie zu lernen und von den wichtigsten 
Nebenfächern wahlweise so viel Kennt¬ 
nisse zu erringen, als für den Beginn'der 
ärztlichen.-Praxis notwendig sind. 

Ich stehe auf dem Standpunkt derer, 
welche den gründlichen Unterricht in 
Spezialfächern nicht der eigentlichen ärzt¬ 
lichen Studienzeit zuweisen; die spezia- 
listische Ausbildung kann nur durch 
Assistenz in Spezialkliniken und bei 
Spezialärzten gewonnen werden. 

Bei mfeinem Plane ist freilich not¬ 
wendig, daß die Studierenden die Ferien 
genügend ausnützen. Aber ich glaube, 
den Luxus von fünf Monaten Ferien 
dürfen sich unsere Studenten nicht mehr 
leisten. Sie sollten sechs Wochen in den 
Osterferien und zehn Wochen in den 
Herbstferien in den Hospitälern ver¬ 
bringen. Und damit komme ich zu 
einer der Hauptfragen, die jetzt zur 
Diskussion stehen: Soll das praktische 
Jahr auch in Zukunft von den Ärzten 
abgeleistet werden? Ich unterschätze 
nicht die Bedeutung der Gründe, welche 
dafür sprechen und dennoch ist es meine 
feste Überzeugung, daß die Nachteile der 
Verlängerung eines erwerbslosen Zustan¬ 
des allzu schwerwiegend sind, w’ährend 
die Vorteile der Hospitalausbildung auch 
innerhalb der fünfjährigen Studienzeit 


'erreicht werden könnten. Ich wäre dafür, 
daß die jungen Mediziner in den drei 
Jahren ihrer klinischen Studienzeit in 
jedem Jahr sechs Oster- und zehn Herbst¬ 
wochen als Famuli im Krankenhaus tätig 
sein müssen. Diese 48 Wochen prakti¬ 
schen Krankenhausdienstes sollen das 
praktische Jahr ersetzen. Man hat ge¬ 
sagt, daß es nicht Anstalten genug in 
Deutschland gäbe, die Zahl der Studie¬ 
renden in dieser Zeit unterzubringen. 
Aber die Zahl wird bestimmt ausrei.chen, 
wenn man auf zwanzig Krankenbetten 
einen Famulus einstellt. In der eingehen¬ 
den Beschäftigung mit je zwanzig Kran¬ 
ken wird der Famulus Fühlung mit den 
Kranken gewinnen und die medizinische 
Technik sich aneignen, die er notwendig 
braucht. Es ist außerordentlich erfreu¬ 
lich, daß unsere großen Kommunen die 
Krankenhäuser der ärztlichen Ausbildung 
zur Verfügung stellen. Unsere Stadt- 
Väter haben erkannt, daß der Nutzen 
für die Kranken um so größer ist, je ein¬ 
gehender die ärztliche Untersuchung und 
Versorgung stattfindet, und daß sie sich 
selbst einen Dienst leisten, wenn sie für 
die Heranbildung eines leistungsfähigen 
Ärztestandes sorgen. 

Wenn also das Studium in fünf 
Jahren abgeschlossen ist, müßte freilich 
die Ableistung des Examens in möglichst 
kurzer Zeit ermöglicht werden. Es sollte 
nur in den Hauptfächern stattfinden und 
sich auf die unbedingt notwendigen Er¬ 
fordernisse der wissenschaftlichen Grund¬ 
lagen und der ärztlichen Praxis be¬ 
schränken unter bewußtem Verzicht auf 
Gedächtniswerk und Ornamentik. 

Wenn ich diese Wünsche für die 
Organisation des Unterrichts der Schüler 
ausspreche, so möchte ich einen weiteren 
für den Nachwuchs der Lehrer äußern. 
Die Tr'äger des medizinischen Unterrichts 
in Deutschland stehen heute auf einer 
anerkannten Höhe. Wir dürfen mit 
Befriedigung sagen, daß es da keiner 
Erneuerung bedarf. Die Hochschul¬ 
reform wird sicherlich nützlich sein, in¬ 
dem sie den Kreis der bevorrechteten 
Lehrer vergrößert und ihre Auswahl er¬ 
leichtert, aber auch hier handelt es sich 
um organisatorische, nicht um prinzipielle 
Änderung. Aber es war in der Vergangen¬ 
heit leichter möglich, die wissenschaft¬ 
liche Qualität des akademischen Nach¬ 
wuchses sicherzustellen, als es in Zukunft 
sein wird. Die meisten Kliniker ver¬ 
langten von ihren Assistenten, daß sie 

21* 





164 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Mai 


eine abgeschlossene methodische Aus¬ 
bildung in irgendeinem Gebiete der Wis¬ 
senschaft durchmachten, ehe sie zur 
Klinik übertraten. So großer Zeitauf¬ 
wand wird in Zukunft kaum mehr mög¬ 
lich sein und es wird auch nicht den 
Prinzipien unserer Zeit entsprechen, sie 
nur den Söhnen der Reichen zuteil 
werden zu lassen. 

Deswegen möchte ich den Wunsch 
aussprechen, daß an jeder Klinik von 
Staatswegen eine überzählige Assistenten¬ 
stelle eingerichtet werde, deren jeweiliger 
Inhaber ein volles Jahr zu rein wissen¬ 
schaftlicher Ausbildung einem theore¬ 
tischen Institut überwiesen würde. Die 
Früchte solcher Arbeit werden dem kli¬ 
nischen Dienst, dem Unterricht und vor 
allen Dingen der Selbstentwicklung der 
künftigen Kliniker zugute kommen. 

So sehr ich gesucht und geprüft habe, 
ich habe im Gebiet der ärztlichen Aus¬ 


bildung ■ keine anderen Stellen finden 
können, an denen wir verbessern köhjiten, 
um unseren Stand zu befähigen, dem 
deutschen Volke intensiver und wirkungs¬ 
voller zu dienen als bisher. 

Es geht in der Medizin wie auf anderen 
Gebieten deutschen Geisteslebens; wir 
brauchen uns unserer Leistungen nicht 
zu schämen. Die deutsche Politik hat 
die Niederlage erlitten, an deren Folgen 
wir so entsetzlich schwer zu tragen 
haben; die deutsche Kultur steht fest. 
Die deutsche* Eiche ist entlaubt und vom 
Sturm umtobt, aber tief greifen ihre 
Wurzeln ins Erdreich, und drinnen im 
Stamme, da lebt die schaffende Gewalt. 
Möge auch dieser Kongreß zeigen, daß 
in uns die guten Geister lebendig sind, 
die Deutschlands Zukunft verbürgen, der 
Geist der Einigkeit, der Hoffnung und 
der Arbeit. In diesem Geist erkläre ich 
den Kongreß für eröffnet. 


Ans der Medizinisclien Klinik der Universität Freihnrg i. B. 

Die Röntgenbehandlung der Lungentuberkulose^). 

Von 0. de la Camp. 


Mein Referatthema lautet: ,,Die Rönt¬ 
genbehandlung der Lungentuberkulose“. 

Die allgemeine Fassung ,,Strahlen¬ 
behandlung der Lungentuberkulose“ hätte 
durch Bezugnahme auf die physikalischen 
und biologischen Verwandtschaftsbezie¬ 
hungen zwischen Sonnenlicht-, ultra¬ 
violetter, Radium- und Röntgenbestrah¬ 
lung einen breiteren Aufbau des vorlie¬ 
genden Erkenntnisstoffes ermöglicht und 
vor allem die notwendige Betrachtung des 
wechselseitigen Verhältnisses zwischen ört¬ 
licher und allgemeiner Strahlenwirkung 
in den Vordergrund gerückt. Die zur 
Verfügung stehende kurze Zeit verlangt 
jedoch die obige thematische Beschrän¬ 
kung und gleichzeitig Verzicht auf einiger¬ 
maßen vollständige Literaturberücksichti¬ 
gung. Letztbeztiglich verweise ich auf die 
in jüngster Zeit besonders in der ,,Strah¬ 
lentherapie“ erschienenen umfangreichen 
Abhandlungen von Heußner, Manfred 
Fraenkel, Strauß, Wetterer, Ste¬ 
phan, V. Schrötter und Anderen. 

Die schon bald nach der Entdeckung 
der Röntgenstrahlen von französischen 
und später deutschen Forschern unter¬ 
nommenen Versuche, die menschliche 
Lungentuberkulose mit der neuen Form 
strahlender Energie zu beeinflussen,kamen 

U Referat, gehalten auf dem 33. Kongreß für 
innere Medizin zu Wiesbaden am 18. April. 


mangels klarer Erkenntnis der Vorgänge 
am Wirkungsort nicht über allgemeine, 
auf Ablehnung oder Empfehlung der Me¬ 
thode eingestellte Werturteile hinaus. 
Auch die frühzeitig von verschiedenen 
Seiten begonnenen klinischen und histo¬ 
logischen Forschungen über den Röntgen¬ 
strahleneinfluß auf die periphere Tuber¬ 
kulose der Haut, Drüsen und des Skelett¬ 
systems bedurften für die Bestrahlungs¬ 
fragen internerTuberkulose der Ergänzung. 
Wertvoll waren in dieser Beziehung die 
Beobachtungen von Brünings und 
Alb recht an experimentell erzeugter 
Larynxtuberkulose, grundlegend für die 
Frage der Beeinflußbarkeit tuberkulösen 
Gewebes durch Röntgenstrahlen in der 
Lunge die Untersuchungen von Küpferle 
und Bacmeister. 

Diese stellten an einem großen Tier¬ 
material fest, daß durch methodisch be¬ 
stimmte Anwendung harter filtrierter 
Röntgenstrahlen eine sowohl auf dem 
Blut-, wie auf dem Atmungswege beim 
Kaninchen durch den Typus humanus 
erfolgte tuberkulöse Lungenerkrankung 
im Beginn zu unterdrücken, im Verlauf 
heilend zu beeinflussen sei, und zwar da¬ 
durch, daß das relativ schnell wachsende 
tuberkulöse Granulationsgewebe in Nar¬ 
bengewebe umgewandelt wird. Eine ab¬ 
tötende Einwirkung der Röntgenstrahlen 




Mai 


Die Therapie der 


auf den Erreger selbst ließ sich nicht fest¬ 
stellen. 

Damit war ein für allemal festgelegt — 
und das hat sich auf Grund vielfältiger 
klinischer Erfahrung als durchaus zu¬ 
treffend erwiesen —, daß es sich bei dem 
Röntgenbestrahlungsproblem der Lun¬ 
gentuberkulose nur um die Unterstützung 
eines Naturheilvorgangs handeln kann 
und daß alle Fälle, in denen nicht die 
örtliche und zeitliche Beeinflussungs¬ 
möglichkeit eines specifischen produktiv¬ 
entzündlichen Zellmaterials vorliegt, aus¬ 
zuscheiden haben. Überträgt man die 
von vielen Seiten am bestrahlten Drüsen¬ 
gewebe erhobenen Befunde, daß schon 
auf kleine Strahlenmengen der produktiv 
entstandene Tuberkulöse Zellkomplex 
unter sich weiterhin bildender Vernarbung 
reagiert, daß exsudativ erkranktes Drü¬ 
sengewebe zerfällt und die verkäste Drüse, 
in ihrem nekrobio-tischen Zellbrei nicht 
mehr radiosensibel, sich mehr oder minder 
refraktär verhält, so ist für die Lunge 
therapeutisch verwendbar offensichtlich 
nur die erste Reaktion, die Vernarbungs¬ 
begünstigung. Eine Einschmelzung eines 
tuberkulösen Herdes in der Lunge würde 
alle Gefahren einer schnell entstandenen 
Kaverne herauf beschwören. 

Man hat nun meiner Meinung nach 
nicht mit viel Glück und Berechtigung 
schließlich einen zu prinzipiellen Gegen¬ 
satz zwischen einer Zerstörung des tuber- 
. kulösen Gfanulationsgewebes durch Rönt¬ 
genstrahlen einerseits und einem Strahlen¬ 
reiz auf das proliferierende junge Ersatz¬ 
bindegewebe andererseits geschaffen. Das 
sich im tuberkulösen Granulationsgewebe 
zur Abwehr des eingedrungenen Feindes 
’ zusammenfindende und weiter im Hei¬ 
lungsfalle der Vernarbung anheimfallende 
Zellmaterial entstammt, worauf die von 
Aschoff und seiner Schule mit der vi¬ 
talen Karminfärbung angeselltten Unter¬ 
suchungen neuerdings wieder verweisen,im 
wesentlichen dem Bindegewebe.Stephan 
wendet sich deshalb in einer jüngst erschie¬ 
nenen Arbeit über die Steigerung der Zell¬ 
funktion durch Röntgenenergie mit einigem 
Recht gegen die Forderung der Zerstörung 
dieses später endgültig bindegewebig um¬ 
zuwandelnden und abzuschließenden Re¬ 
aktionsgewebes. Der Begriff Zerstörung 
des tuberkulösen Granulationsgewebes 
darf sich naturgem äß ebensowenig zur Vor¬ 
stellung der Herbeiführung eines Sub¬ 
stanzverlustes, wie derjenige der Reizung 
des proliferierenden Bindegewebes zu der 
einer Art spontaner Gewebswucherung I 


Gegenwart 1021 165 


versteigen. Nur in fließenden Übergängen 
und dauernden Zellfunktionsbeziehungen 
läuft die gewebliche Metamorphose efnes 
Vernarbungsvorgangs ab. 

Viel zitiert und benutzt wird in der 
Strahlenforschung das Arndtsche ^bio¬ 
logische Grundgesetz: Schwache Reize 
föxdern die Lebenstätigkeit, stärke hem¬ 
men sie und sehr starke heben sie auf. 
Im vorliegenden Falle würde sich also 
die Aufgabe ergeben, eine Röntgenenergie¬ 
menge zur Verfügung zu stellen, die die 
Weiterentwicklung des tuberkulösen Grä- 
nulationsgewebes hemmt und die Ent¬ 
wicklung des mobilisierten Bindegewebes 
fördert. Niemals kann sich aber daraus 
der Begriff einer uniformierten ,,Tuber¬ 
kulosedosis“ entwickeln, denn auf der 
anderen Seite der Gleichung stehen ört¬ 
lich und in ihrer Wechselbeziehung zum 
Gesamtorganismus jeweils veränderliche 
individuelle Lebensvorgänge in einem 
unter besonderen Bedingungen entstan¬ 
denen und wieder verschwindenden Zell¬ 
komplex. Mithin kann auch der Begriff 
der ,,Vernichtungsdosis“ für das radio¬ 
sensible schnell wuchernde Granulations¬ 
gewebe und der der ,,Reizdosis“ für das 
mobilisierte Bindegewebe keine klare Ab¬ 
grenzung finden. Ob beide Vorgänge 
Folgen eines einheitlichen Reaktions¬ 
geschehens, etwa einer Hyperämie, wie 
Menger meint, sind, erscheint nach den 
vorliegenden histologischen Bildern zum 
mindesten zweifelhaft. 

Der schon oben erwähnte Grundsatz, 
daß es sich bei der Röntgenbehandlung 
der Lungentuberkulose nur um eine sehr 
feinfühlige Unterstützung des natürlichen 
HeilungsVorganges handeln kann, findet 
aber durch die eben angestellten kurzen 
Überlegungen neuerliche Betonung. 

Wie sich die seinerzeit schon von 
Finsen durch Anwendung des ultra¬ 
violetten Lichtes erhoffte Abtötung der 
Tuberkelbacillen ini lebenden Gewebe 
nicht erreichen ließ, so scheint auch eine 
gleichsinnige Röntgenwirkung illusorisch. 
Die Beobachtung von Küpferle über 
geringfügigere Virulenz beim Überimpfen 
des aus bestrahlten Tierlungen gewon¬ 
nenen Materials lassen jedoch indirekte 
auf dem Gebiete der Allgemeinwirkungen 
liegende Strahleneinflüsse vermuten. Auch 
scheint die Frage nach neuesten For¬ 
schungen, die sich auch mit Zusätzen be¬ 
sonderer radioaktiver Substanzen oder 
unter Strahleneinwirkung im Organismus 
entstandener Zellabbau- und inter¬ 
mediärer Stoffwechselprodukte zu den 



m * 


Die Therapie der Gegenwart 192.1 


Mai 


Nährböden befassen, noch nicht abge¬ 
schlossen. 

'Beweise für Allgemeinwirkungen bei 
der Bestrahlung der Lungentuberkulose 
sind ferner der Leukocytensturz, der etwa 
in 24 Stunden wieder Ausgleich findet, 
sowie die häufig beobachtete geringfügige 
Temperatursteigerung, der erst die er¬ 
wünschte Temperatursenkung folgt. Die 
Temperatursteigerung ist, ebenso wie die 
öfters eintretende Husten-, Sputum- 
und Krankheitsgefühlsvermehrung, ent¬ 
sprechend den Vorgängen bei der Tuber¬ 
kulinreaktion als eine durch die lokale 
Strahlenwirkung bedingte Autotuber- 
kulinisierung aufzufassen und übermittelt 
wiederum die Verpflichtung sorgfältiger 
Dosierung unter Beachtung der zweifellos 
komplizierten Immunisierungsvorgänge. 

Der Erfolg in geeignet ausgesuchten 
und bestrahlten Fällen menschlicher Lun¬ 
gentuberkulose läßt sich nun dahin zu¬ 
sammenfassen, daß die bekannten Zeichen 
klinischer Heilung in schnellerem Tempo 
und besonderer Vollständigkeit erreicht 
werden. Führende Kriterien sind die 
Körpergewichts- und Temperaturkurven, 
örtliche Befundsbesserung und zunehmen¬ 
des Gesundungs- und Leistungsgefühl. 

Welches sind nun die geeigneten Fälle 
und welches ist die geeignete Technik? 

Entsprechend den dargelegten Wir¬ 
kungen der Röntgenstrahlen auf das tuber¬ 
kulöse Gewebe in der Lunge sind ledig¬ 
lich die zur Latenz neigenden, stationären 
oder mindestens langsam fortschreitenden 
Fälle der knotigen und cirrhotischen, also 
der an sich schon zur Vernarbung neigen¬ 
den Lungentuberkulose, bezüglich Phthise 
Gegenstand der Bestrahlung. Auszu¬ 
scheiden haben alle miliaren, pneumoni¬ 
schen und exsudativen Formen und 
Mischformen, bei denen der Organismus 
der Masse oder der Giftproduktion des 
Erregers gegenüber machtlos, nicht die 
Abwehrmaßnahmen seines Zellstaates in 
Funktion treten oder verharren lassen 
kann. 

Vorbedingung jeder Bestrahlung ist 
mithin eine nicht nur quantitativ, sondern 
auch qualitativ unter Beziehung auf 
sorgfältige klinische Beobachtung ein¬ 
schließlich kritischer Röntgendiagnostik 
erfolgte Analyse des Falles, wie sie die 
durch die Arbeiten von Albrecht und 
Albert Fraenkel, Aschoff, Nicol, 
Küpferle, Gräff, Ranke, Bacmeister 
und Andere geschaffenen Kriterien er¬ 
möglichen und verlangen. 


Kontraindikatiönen sind also die er¬ 
wähnten Verlaufsarten, nicht aber an 
sich das Vorhandensein von Kavernen, 
Neigung zu Blutungen, Pleurakompli¬ 
kationen usw. Die durch die heilende 
Schrumpfung der Lungen- und Bronchial¬ 
drüsenherde veranlaßten neuralgiformen 
Schmerzen dürfen übrigens nicht fälsch¬ 
lich auf Pleurareizung bezogen werden. 

Und welches ist die geeignete Technik? 

Die oben kurz erwähnten allgemeinen 
Gesichtspunkte über die Erfolgsdosis be¬ 
leuchteten die Schwierigkeit der Aufgabe. 
Die Einschmelzung einer tuberkulös er¬ 
krankten Drüse oder eines Skelettherdes 
kann durch Fistelauskehr des Zellbreies 
zur Heilung führen; in dem resorptiv 
besonders begabten Lungenorgan kann 
ein solcher Vorgang schlimmste Folgen 
haben. Es verlangt daher das radiosen¬ 
sible tuberkulöse Granulationsgewebe für 
den gewünschten Strahlenerfolg eine 
scharfe optimale Dosierung mit bester 
Technik. Weiter setzt ein Strahlenerfolg 
nicht nur eine quantitative, sondern auch 
eine qualitative Charakterisierung des 
Strahlenpharmakons voraus, wie sie die 
Spektralanalyse im konstanten Betrieb 
ermöglicht. 

Bei Verwendung geeigneter Filter 
(10—15 mm Aluminium, 0,5 mm Zink 
oder 1 mm Kupfer) und gasfreier Röhren 
ist bei nicht tiefliegendem tuberkulösen 
Lungenherd unter Verwendung eines Fel¬ 
des von 10:10cm zunächst eine relativ ge¬ 
ringe Dosis =i/io H.E.D= 14—15 elektro¬ 
statische Einheiten nach Friedrich zu 
verwenden. Die Empfehlung mit klei¬ 
neren Dosen zu beginnen und nur langsam 
zu steigen, entspricht der erst durch viele 
Mißerfolge teuer erkauften Tuberkulin- * 
erfahrung. Im übrigen richtet sich Felder¬ 
größe und -Verteilung, Reaktionspausen, 
Wiederholung der Bestrahlungsdosis ganz 
nach dem Einzelfall. Der eben ange¬ 
zogene Vergleich - mit dem Tuberkulin 
verpflichtet ebenso zum Individualisieren 
und zur Vermeidung eines engen Schema¬ 
tismus. Erschwert wird das Bestrah¬ 
lungsproblem dadurch, daß nach noch 
nicht veröffentlichten Untersuchungen von 
Küpferle das Lungengewebe ganz andere 
Strahlenresorptionsbedingungen hat, als 
der übrige Körper. Man kann also die 
Tiefendosierung nicht mit dem sonst 
gebräuchlichen Wasserphantom vorneh¬ 
men. 

Nur bei stationärer Beobachtungs¬ 
möglichkeit und bester sonstiger Versor¬ 
gung des reaktionsfähigen Lungenkranken 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


167 


Mai,, 


darf eine Bestrahlungsbehandlung unter-7 
nommen werden. . Ambulante Bestrah¬ 
lungen sind zu verwerfen. 

Einen beachtenswerten und begründe¬ 
ten Vorsphlag hat M. Fraenkel gemacht: 
Die mit besonderer Technik vorgenom¬ 
mene, Lungenbestrahlung mit Reizdosen 
auf Milz und lymphatisches System zu 
verbinden. Eigene diesbezügliche Er¬ 
fahrungen stehen mir nicht zur Ver¬ 
fügung. 

Auch sonst hat man, um den lokalen 
Strahlenerfolg mit allgemeineren Wir¬ 
kungen strahlender Energie zu verbinden, 
empfohlen die Röntgenbestrahlung mit 
Sonnenlicht-, Quarzlampenbestrahlung, 
innerlicher Anwendung von Emanationen 
•usw. zu verbinden. Bacmeister z. B., 
der wohl auf dem Gebiete der Lungen¬ 
tuberkulosebestrahlung zur Zeit die größte 
klinische Erfahrung besitzt, läßt Quarz¬ 
lampenbestrahlung der Röntgenbehand¬ 
lung vorangehen ünd folgen. Der Ge¬ 
samterfolgkann wohl so gesteigert werden, 
die Kritik muß naturgemäß Erschwerung 
erfahren. Gute Aussichten scheint die 
Bestrahlung einer ira Pneumothorax still¬ 
gestellten Lunge zu bieten. 


In der gesamten Strahlenbiologie ste¬ 
hen wir noch am Anfang der Erkenntnis. 
Wer den Umfang der sich aufdrängenden 
Probleme ermessen will, möge. den vor 
etwa Jahr erschienenen Aufsatz von 
V. Schrötter über Theorie und Praxis 
der Strahlenbehandlung der Tuberkulose 
lesen, in dem der Verfasser auf fünf klein 
bedruckten Seiten lediglich einschlägige 
offene Fragen rein thematisch zur Bear¬ 
beitung empfiehlt. 

Die Röntgenstrahlen sind kein All¬ 
heilmittel für Lungentuberkulose, nur in 
kritisch ausgesuchten Fällen können sie 
in der Hand des wohl ausgerüsteten und 
wissenden Arztes die Naturheilung unter¬ 
stützen. 

Lernen wir vom Tuberkulin uns vor 
jedojin überschwänglichen Optimismus 
fernzuhalten! Erkennen wir aber ebenso 
an, daß hier ein wertvolles Hilfsheilmittel 
für die sozial wichtigste Infektionskrank¬ 
heit weitere Erforschung erfahren soll! 

Zwei Grundsätze hippokratischer ärzt¬ 
licher Ethik verpflichten dabei zur doppel¬ 
ten Vorsicht: das ,,primum non nocere“ 
und das ,,natura sanat, medicus curat“! 


Über renalen Diabetes und seine Bedeutung für die Therapie 

der Zuckerkranken^). 

Von Prof. Dr. E. Frank, Breslau. 


M. H. Wenn im Rahmen dieser Aus¬ 
sprache auf Wunsch der Kongreßleitung 
auch vom renalen Diabetes die Rede sein 
soll, so erscheint mir dies ein Ausdruck 
dafür zu sein, daß aus, einer vor wenigen 
Jahren noch sehr akademischen Frage 
eine praktisch wichtige Angelegenheit 
geworden ist. Seitdem Lepine und 
Klemperer vor 25 Jahren die Möglich¬ 
keit eines Nierendiabetes .in der mensch¬ 
lichen Pathologie als erste erwogen haben, 
ist die Frage zwar öfters diskutiert wor¬ 
den, eine entscheidende Wendung hat sie 
aber erst genommen, als der Fortschritt 
der Untersuchungstechnik die quantita¬ 
tive Verfolgung des Zuckers im Blute zu 
einer leicht zu handhabenden und beim 
einzelnen Individuum häufig wiederhol¬ 
baren Methode gemacht hat. In der 
Weltliteratur sind wohl jetzt (abgesehen 
von der Schwangerschaftsglykosurie) min¬ 
destens 100 Fälle niedergelegt^). 

1) Referat, gehalten auf dem 33. Kongreß für 
innere Medizin zu Wiesbaden am 20. April. 

2) Im Jahre 1913 waren es noch kaum zehn 
Fälle. Der erste beweisende Fall ist 1901 von 
Lüthje publiziert worden. Weitere Beobachtungen 


Wir sprechen von ,,renalem Dia¬ 
betes“, wenn trotz der Unversehrtheit 
aller am Schicksal der Kohl-enhydrate im 
Organismus beteiligten Organe dennoch 
Traubenzucker im Harn auftritt^). Da¬ 
bei kann es sich darum handeln, daß die 
Nieren dem Plasma ihrer Capillaren deh 
Zucker entreißen, so daß das gesamte 
Blut bis auf Spuren an Zucker verarmen 
kann. Das ist der Fall beim Hungertiere 
im Phlorhizindiabetes, der durch dauernde 
Erschöpfung der Kohlenhydratvorräte des 
Organismus zu Leberverfettung, schwerer 
Acidose und einer sonst unbekannten 
Steigerung der Zuckerbildung aus Eiweiß 
führt. 

Glücklicherweise scheint der Phlor- 


stammten von Naunyn, Bönniger, Weiland, 
Tachau, Frank. Jetzt verfügen einige Autoren 
bereits über ein gut untersuchtes eigenes Material 
von etwa 20 Fällen (Salomon, Wynhausen, 
Elzos und Jacobsen). 

3) Im Tierexperiment ist nach Minkowskis 
Vorgang zu fordern, daß nach doppelseitiger 
Nierenexstirpation keine Hyperglykämie eintritt. 
Das ist für den Phlorhizindiabetes von Min¬ 
kowski und für die Uranglykosiirie von Frank 
bewiesen. 





1,68 


Die, Therapie der Gegenwart .1921 i 


.Mai 


hizindiabetes kein Analogon in der 
menschlichen Pathologie zu haben. Die 
Existenz des Nierendiabetes beim Men¬ 
schen ist vielmehr dadurch gegeben, daß 
der Blutzucker zu denjenigen Stoffen des 
Blutes gehört, welche eine Sekretions¬ 
schwelle haben, das heißt von den Nieren 
nicht unter allen Umständen, sondern erst 
dann ausgeschieden werden, wenn ein 
nicht allzu niedriger Grenzwert über¬ 
schritten wird. Zahlreiche Untersuchun¬ 
gen mit Amylaceenbelastung und Trau¬ 
benzuckerüberschwemmung haben ge¬ 
lehrt, daß dieser Grenzwert vom Normal¬ 
wert des Blutzuckers ziemlich weit ent¬ 
fernt ist, daß eine breite Zone von Hyper¬ 
glykämie existiert, welche für die Nieren 
noch keinen Anreiz zur Zuckersekretion 
bedeutet. Hamann und Hirschmann^) 
setzen den Schwellenwert auf Grund' der 
Untersuchung an 50 gesunden Personen 
wie manche Voruntersucher auf 0,17 bis 
0,18% im Gesamtblut an. Verfolgt maii, 
wie dies Paula Grünthal auf meine 
Veranlassung getan hat, den Blutzucker 
nach oraler Zufuhr von 100 g Trauben¬ 
zucker in viertelstündlichen Intervallen 
mittelst der Bangschen Mikromethodik, 
so findet man, daß Werte von 0,18% bis 
zu 0,2% vorübergehend gar nicht selten 
erreicht werden^), ohne daß — auch für 
unsere schärfsten Reagentien — Zucker 
im Harn nachweisbar würde; Isaac und 
Traugott kommen an einem großen 
Material zu dem nämlichen Resultat. 

Studiert man umgekehrt z. B. bei der 
Entzuckerung von Diabetikern an Hun¬ 
gertagen oder beim Nachlassen einer 
alimentären oder Adrenalinglykosurie das 
Absinken des Blutzuckers, so werden die 
letzten Spuren Traubenzucker häufig erst 
bei viel niedrigeren Werten des Blut¬ 
zuckers ausgeschieden. Es erscheint mir 
aber nicht angängig, aus diesen ,,Ab- 
klingungskurven“ die Schwellenwerte zu 
ermitteln, wie das Knud Faber und 
A. Norgaard neuerdings für Diabetiker 
tun; denn die beim Diabetes dauernd, 
bei Kohlenhydrat-Überlastung vorüber¬ 
gehend zu höchster Aktivität angesporn¬ 
ten Nierenepithelien kommen offenbar 
nicht sofort zur Ruhe, sondern setzen auch 
bef aufhörender Überschwemmung des 
Blutes mit Zucker dessen Abscheidung 
noch eine kurze Zeit fort (,,posthyper- 
glykämische“ renale Glykosurie). 

0 Zitiert nach Hagedorn, Acta Scandinavica 
Medica Bd. 53. 

Die Kurve steigt übrigens meist nicht gerad¬ 
linig an, sondern zeigt zwei Spitzen. 


Wir definferen den mensch¬ 
lichen renalen Diabetes als inter¬ 
mittierende oder dauernde Ab¬ 
sonderung traubenzuckerhaltigen 
Harnes, welche vor sich geht bei 
einem unterhalb des Schwellen¬ 
wertes sich bewegenden Zucker¬ 
gehalt des Blutplasmas. Der Nieren¬ 
diabetes des Menschen verläuft demnach 
nicht eigentlich mit Hypoglykämie, son¬ 
dern man findet niedrig normale Werte 
(0,06%) bis hinauf zu einer Hyperglykä¬ 
mie von 0,18%. Die Nieren pflegen dabei 
im allgemeinen weder morphologisch noch 
funktionell geschädigt zu sein, aber im 
Tierexperiment erweisen sich diejenigen 
Gifte (Uran, Chrom, Sublimat) als Er¬ 
zeuger einer renalen Glykosurie, welche 
bei intensiverer Einwirkung das klassische 
Bild der reinen Nephrose machen. 

Über die Ursachen des renalen Diaf 
betes sind wir noch ganz im unklaren. 
Einen ersten -Weg des Verständnisses 
weisen vielleicht die Beobachtungen von 
Lepine, daß die intravenöse Einver¬ 
leibung von Organextrakten eine Glyko¬ 
surie ohne Hyperglykämie hervorruft: im 
Zusammenhänge hiermit ist die Ent¬ 
deckung von Frank und Nothmann zu 
betrachten, daß die Niere des menschli¬ 
chen Weibes für Zucker durchläs'sig wird 
fast unmittelbar nachdem das befruchtete 
Ei die gewebslösenden Zotten seines 
Chorions in die Schleimhaut der Gebär¬ 
mutter gesenkt hat. Möglicherweise be¬ 
wirken solche ins Blut gelangenden 
Organextraktstoffe lonenverschiebungen 
und Alkalinitätsänderungen im Proto¬ 
plasma der Nierenzellen. Denn nach den 
Untersuchungen von Hamburger und 
Brinkmann an den Glomerulis der 
Froschniere ist die Fähigkeit des Glome- 
rulusepithels, Glukose zurückzuhalten, so¬ 
wie die Größe des retinierten Quantums 
durchaus abhängig von dem gegenseitigen 
Mengenverhältnis des Kaliums und Cal¬ 
ciums sowie von der Titrationsalkalinität 
in der Durchströmungsflüssigkeit. 

Die klinische Erscheinungsform des 
renalen Diabetes hat man früher gern 
aprioristisch konstruiert, man hat das 
Postulat aufgestellt, die Zuckerausschei¬ 
dung müsse von der Kohlehydratzufuhr 
völlig unabhängig sein, in dem doppelten 
Sinne, daß Kohlehydratzulagen keine 
Steigerung,Kohlehydratentziehungen kein 
Verschwinden des Harnzuckers zur Folge 
habe. Eine imnier wachsende Erfahrung 
hat die mangelnde Stichhaltigkeit dieses 
Kriteriums gelehrt. Wir wissen heute,. 



Mai Di« Therapie der öegentort 1921 169 


daß der normale Blutzuckerwert keine 
starre Größe ist, daß schon jede reichliche 
Kohlehydratmahlzeit, erst recht Trauben¬ 
zuckerzufuhr, ihn nicht unbeträchtlich 
erhöhen, daß umgekehrt Kohlehydrat¬ 
karenz und gar Hunger ihn deutlich 
senken kann. Je nach der Empfind¬ 
lichkeit der abnorm funktionie¬ 
renden Nierenzelle wird wahr¬ 
scheinlich der eine schon beieinem 
subnormalen Blutzuckerspiegel, 
der andere erst bei einem der 
Schwelle sich nähernden Werte 
Zucker im Harn ausscheiden. So 
erklärt es sich, daß häufig früh nüchtern 
und selbst bei gleichmäßiger über den 
Tag verteilter Amylaceenkost der Harn 
zuckerfrei ist, während nach einer vor¬ 
wiegend aus Amylaceen bestehenden 
Mahlzeit oder nach dem Genuß von 
Mono- und Disacchariden die Störung 
alsbald manifest wird, und andererseits 
zeigen Fälle, die sich selbst bei völliger 
Nahrungsentziehung nicht entzückern, 
eine von der Größe und Art der Kohle¬ 
hydratzufuhr merkbar abhängige Schwan¬ 
kung der ausgeschiedenen Zuckermenge, 
insbesondere darf es nicht befremden, 
daß die Blutzuckerkurve nach Trauben¬ 
zuckereinverleibung denselben Verlauf 
zeigt wie in der Norm: alimentäre ,,Hy¬ 
perglykämie“ darf also nicht ohne weite¬ 
res gegen die Diagnose eines* renalen 
Diabetes ausgespielt werden. ’ In den 
klassischen Fällen allerdings erscheint 
Zucker im Harne bei einem Zuckergehalt 
des Plasmas von 0,07—0,11%. 

Beim Studium der bei einer jeden 
Frau in der Schwangerschaft sich 
entwickelnden physiologischen re¬ 
nalen Glykosurie kann man sich mit 
leichter Mühe davon überzeugen, daß 
diese verschiedenen Formen lediglich gra¬ 
duelle Unterschiede der nämlicheh, im 
Wesen stets gleichen Störung darstellen. 
Bei der nicht seltenen heredo-famili- 
ären Gruppe haben sich ebenfalls alle 
Abstufungen innerhalb einer Familie fin¬ 
den lassen (Salomon, Jacobson). 

Das klinische Bild des renalen 
Diabetes ist mit wenigen Strichen ge¬ 
zeichnet. Zufällig — bei einer schulärzt¬ 
lichen Untersuchung, bei der Gestellung, 
bei der Begutachtung für eine Versiche¬ 
rung, während einer Gravidität — wird 
Traubenzucker im Harn gefunden; meist 
ist es weniger als 1 % in der 24stündigen 
Menge, mehr (1,5—2%) wohl nur in Ein¬ 
zelportionen oder in spärlichem Gesamt¬ 
harn. Auch bei abundanter Kohlehydrat¬ 


zufuhr sind 20—30 g das Höchstmaß des 
ausgeschiedenen Zuckers, und dennoch 
will auch bei strenger Diät die Entzucke¬ 
rung nicht gelingen. In anderen Fällen 
schwindet der Zucker mit der Beschrän¬ 
kung der Kohlehydrate rasch; es fällt 
auf, daß er früh nüchtern fehlt, während 
nach den Mahlzeiten der Harn deutlich 
reduziert. Einev Abhängigkeit von der 
Kohlehydratmenge der Nahrung wird 
also merkbar, die bei eigens darauf ge¬ 
richteter Untersuchung sehr demonstrabel 
werden kann und dann auch bei den 
Fällen der ersten Gruppe nachweisbar 
ist. Doch sollen natürlich von der Art 
der Ernährung unabhängige, offenbar 
auf wechselnder Einstellung der Niere 
beruhende Schwankungen der ausgeschie¬ 
denen Zuckermenge nicht geleugnet wer¬ 
den. Die Diagnose gewinnt an Wahr¬ 
scheinlichkeit, wenn Geschwister, Ascen- 
denten des Untersuchten nach seiner 
Kenntnis ebenfalls an ,,leichtem Diabetes“ 
leiden; sie wird fast sicher, wenn erst auf 
Grund seines Harnbefundes bei anderen 
Familienmitgliedern die Anomalie eben¬ 
falls aufgedeckt wird^). 

Beschwerden, über welche diese Men¬ 
schen klagen, haben unmittelbar mit ihrer 
Glykosurie wohl nichts zu tun. Leichte 
Ermüdbarkeit und Schwäche, auffälliges 
Durstgefühl, Potenzstörungen haben ge¬ 
wiß in manchem dieser Fälle die Unter¬ 
suchung des Harnes veranlaßt; es handelt 
sich aber lediglich um neurasthenische 
Begleiterscheinungen, die vielleicht nicht 
immer zufällig, sondern in einer allge¬ 
meineren Konstitutionsanomalie mit ver¬ 
wurzelt sind. Gelegentlich mögen sie 
auch, wie Wynhausen und Elzas sehr 
hübsch ausführen, die suggestiven Folgen 
der Entdeckung der Zuckerkrankheit 
beziehungsweise eingehender anamnesti¬ 
scher Erhebungen des Arztes sein, der 
auf frühdiabetische Symptome fahndet. 
Furunkulose, Alveolarpyorrhoe, Neuritis 
coincidieren manchmal rein zufällig mit 
der renalen Glykosurie und können dann 
leicht zu Mißdeutungen Veranlassung 
geben. Ob leichte Albuminurie und 
Hämaturie, die mehrfach beschrieben ist, 
ebenfalls ein Zufallsbefund ist oder doch 


D Brugsch und Dresel (Med. Kl. 1919) 
haben über eine Familie berichtet, in der von 
55 Deszendenten 13 (darunter ein Säugling) die 
Zückerausscheidung zeigten. Jarlöw (Acta 
Medica Scandinavica, Bd. 54) stellte renale 
Glykosurie bei sieben von 15 Familienmitgliedern 
fest, Salomon fand sie bei füiif Geschwistern, 
deren Vater ebenfalls an leichtem Diabetes ge¬ 
litten hatte. 


22 





170 


Die Therapie der 


in selteneren Fällen die Funktionsäno- 
nialie der Niere greifbar fundiert, ist vor 
der Hand wohl nicht zu entscheiden: 
bei ausgeprägter Nephritis oder Ne¬ 
phrose kommt renale Glykosurie kaum 
vor. 

Vom prognostischen Standpunkte 
aus darf die renale Glykosurie nach dem 
nunmehr vorliegenden, recht großen Ma¬ 
terial als eine harmlose Anomalie bezeich¬ 
net werden, etwa wie die orthostatische 
Albuminurie [Diabetes innocens (Salo- 
mon) oder innocuus (Rosenfeld). 
Die-Schwangerschaftsglykosurie hört mrt 
der Entbindung auf. Die Feststellung der 
renalen Natur einer Zuckerausscheidung 
geschah mehrfach zehn bis zwanzig Jahre 
nach ihrer erstmaligen Entdeckung. Sa lo - 
monhatbei seinen 13 im Jahre 1914 mit¬ 
geteilten Fällen nach fünf und sechs 
Jahren eine Nachprüfung vorgenommen 
und dabei eine Änderung des Status nicht 
wahrgenommen, wiederum den niedrigen 
Blutzuckergehalt während der gering¬ 
fügigen Zuckerausscheidung konstatiert, 
vor allem niemals den Übergang in einen 
echten Diabetes melitus gesehen. Für 
den Therapeuten ergibt sich daraus die 
Konsequenz — und deshalb ist die Kennt¬ 
nis dieser Fälle praktisch so wichtig —, 
daß bei sicher festgestelltem re¬ 
nalen Diabetes von diätetischen 
Beschränkungen abgesehen werden 
darf. Welchem Zwecke sollten sie auch 
dienen 1 Weder eine Steigerung der Tole¬ 
ranz, noch eine Herabsetzung der Hyper¬ 
glykämie kommt hier in Frage, der Zucker¬ 
verlust ist kaum hoch anzuschlagen und 
eine Schädigung der Nieren scheint aus 
ihrer abwegigen Partialfunktion nicht zu 
resultieren. 

Alles spitzt sich also auf die Frage zu, 
ob es möglich ist, durch eine kurzfristige 
Beobachtung — zumal bei jüngeren In¬ 
dividuen — den harmlosen Nierendiabetes 
mit derjenigen Sicherheit zu erkennen, 
welche es dem seiner Verantwortung sich 
bewußten Arzte gestattet, den Rat des 
laissez faire, laissez aller zu erteilen. 

Es fehlt nicht an Stimmen, die zur 
Vorsicht mahnen; v. Noorden glaubt, 
daß der Diabetes der Jugendlichen, der 
nachher eine, schlimme Wendung nimmt, 
sich in seinen ersten Anfängen als gering¬ 
fügige Glykosurie ohne Hyperglykämie 
präsentieren könne. Lauritzen be¬ 
hauptet sogar, daß der echte Diabetes 
der Kinder und jüngeren Leute nicht 
selten als beträchtliche Glykosurie bei. 
Blutzuckerwerten von 0,06 bis 0,08 % 


Gegenwart 1921 'Mai 


beginne, während erst im Laufe der' 
Krankheit die erhebliche Hyperglykämie 
hinzukomme, welche die wahre ^ Natur 
des Prozesses verrät. 

Meine persönliche Meinung ist fol¬ 
gende: Der renale Diabetes geht niemals 
in einen gewöhnlichen Diabetes melitus 
über; wohl aber kann der hyperglykä- 
mische Diabetes leichten Grades, 
sei es, daß er dauernd bleibt, sei es, daß 
er als Vorstadium einer schweren Form 
auftritt, mit dem renalen Diabetes 
verwechselt werden. Es ist nämlich 
nicht ungewöhnlich, daß der echte Dia¬ 
betes intermittierend verläuft, das heißt 
nur nach Kohlehydratbelastung für 
einige Stunden einen Anstieg des Blut¬ 
zuckers zeigt. Ein zu einer beliebigen 
Tageszeit festgestellter Normalwert des 
Blutzuckers bei Zucker im Gesamtharn 
des Tages beweist also wenig für die renale 
Natur des betreffenden Falles; es muß 
vielmehr, der Nachweis erbracht werden, 
daß der Zucker auch wirklich zu einer 
Zeit sezerniert wurde, in welcher der Blut¬ 
zucker sich unterhalb des Schwellen¬ 
wertes befand und nicht etwa mit einem 
der Beobachtung entgangenen, wesentlich 
höheren Blutzuckerwerte koinzidierte. 
Wenn v. Noor den in zehn Fällen früh 
nüchtern einen niedrigen Blutzucker¬ 
spiegel fand, so braucht es nicht wunder¬ 
zunehmen, daß einige von diesen sich 
später zu einem Diabetes ernsten Grades 
auswuchsen. 

Zur Zeit der Absonderung zuckerhal¬ 
tigen Harn.es pflegt man beim echten 
Diabetes auch sehr milder Art eine be¬ 
trächtliche Hyperglykämie (mehr als 0,2 % 
im Plasma) nicht zu vermissen, und 
Schwierigkeiten dürften dann nur die 
Fälle machen, bei denen man Blutzucker¬ 
werte nahe der Grenze (0,17—0,19%) 
findet: hier wird (wenn ein solcher Be¬ 
fund, z. B. nach 100 g Traubenzucker 
per OS erhoben wird), zunächst in der 
Tat nicht zu entscheiden sein, ob die 
leichteste Form der renalen Glykosurie 
oder ein Diabetes hyperglykämicus levis- 
simus vorliegt. Auch die Verfolgung der 
Blutzuckerkurve, die im Falle des ge¬ 
wöhnlichen Diabetes doch ein längeres 
Verweilen auf der Höhe und ein lang¬ 
sameres Abklingen zeigt, kann differen- 
tialdiagnostisch verwertet werden. 

Für die Diagnose erscheint es also 
dringend erwünscht, die Produktion 
zuckerhaltigen Harnes unmittelbar vor 
und nach der Blutentnahme zu erweisen, 
das heißt die Blutentnahme vorzunehmen, 




Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1Q21 


171 


nachdem der durch Katheter entleerte 
Harn der letzten Viertelstunde sich 
zuckerhaltig erwiesen hatte, und nach 
einer weiteren Viertelstunde eine neue 
Harnportion zu untersuchen. Die gleiche 
Prozedur wird etwa anderthalbe Stunde 
nach einer Mahlzeit mit 200 g Kohle¬ 
hydrate oder eine Stunde nach Genuß 
von 100 g Traubenzucker zu wiederholen 
sein. Die Bestimmung des Zuckers ge¬ 
schieht am besten im Blutplasma. 

Sehr schwierig zu beurteilen sind die 
seltenen, neuerdings aber von mehreren 
Seiten (Salomon, Wynhausen und 
Elzas, Faber und Noorgaard) mit¬ 
geteilten und eingehend untersuchten 
Fälle, in welchen bei normalem Blut¬ 
zuckerspiegel Einzelportionen und Tages¬ 
harne mit höheren Zuckerprozenten (3 bis 
8%) entleert werden, so daß täglich 
80—100 g Zucker in Verlust gehen 
können. Auch solche Fälle sind durch 
Jahre hindurch stationär geblieben; auch 
sie können familiär sein, wobei beachtens¬ 
werterweise einzelne Familienmitglieder 
die übliche Form der leichten renalen 
Glykosurie aufweisen. Man wird bei der 
weiteren Untersuchung derartiger In¬ 
dividuen sein Augenmerk darauf zu rich¬ 
ten haben, ob nicht hier echte Störun¬ 
gen der Zuckerverwertung durch 
die Kombination mit einem renalen 
Diabetes maskiert werden. Wenn 
aus einem solchen Fall sich schließlich 
doch gelegentlich eine bösartige Form des 
Leidens entwickelt, wäre scheinbar der 
Übergang eines renalen in einen pankrea- 
tischen Diabetes vollzogen, der doch in 
nuce stets vorhanden war. Jedenfalls 
möchte ich vorerst nicht entscheiden, ob 
auch für diese merkwürdigen Fälle ein 
ganz liberales Regime zulässig ist, wie 
es Faber und Norgaard ihrer Patientin 
schließlich mit gutem Erfolge gestatteten. 

Schließlich wäre noch zu erwähnen, 
daß natürlich Diabetes melitus und 
renalis rein zufällig bei dem gleichen In¬ 
dividuum Zusammentreffen können. So 
habe ich eine Patientin beobachtet, bei 
welcher ein latenter Diabetes erstmalig 
während einer Schwangerschaft zur Gly¬ 
kosurie führte, die sogar nach der Ent¬ 
bindung wieder verschwand. Genauere 
Untersuchung der Blutzuckerkurve tind 
der weitere Verlauf lehrten, daß bei der 
aus einer Diabetikerfamilie stammenden 
Dame ein echter Diabetes vorlag, der in 
seinen Anfängen erst durch das temporäre 
Hinzutreten einer renalen Komponente 


manifest wurde. Doch dies ist ein seltenes 
Vorkommnis, das nur die Fülle der. in 
Wirklichkeit anzutreffenderi Formen illu¬ 
strieren soll. Im allgemeinen wird man 
daran festhalten dürfen, daß eine Glykos¬ 
urie mäßigen Grades in.der Schwanger-, 
Schaft fast stets rein renalen Ursprungs 
ist, selbst dann, wenn gleichzeitig Aceton 
im Harn gefunden wird. Nach Novak 
und Borges kommt eine Acidosis in der 
Schwangerschaft sehr leicht zustande, 
auch wenn die Kohlehydrate noch nicht 
vollständig entzogen sind. Das Neben¬ 
einander einer Schwangerschaftsacidose 
und einer renalen Schwangerschaf tsglykos- 
urie ist damit gegeben. . 

M. H.! Im Handbuch der Pathologie 
des Stoffwechsels zog v. Noorden 190b. 
bei Besprechung des sogenannten Nieren¬ 
diabetes das damals nur zu berechtigte 
Resume: Was man bis jetzt darüber 
lehrte, ist ein luftiges Kartenhaus. Die 
klinische Symptomatologie der Krankheit 
renaler Diabetes muß noch von Grund 
aus aufgebaut werden. Ich glaube, dieser 
Forderung ist heute entsprochen: Der 
renale Diabetes ist eine Realität, eine 
Krankheit sui generis, die — durchaus 
abgetrennt vom Diabetes melitus — als 
eigenes Kapitel der Nosologie und der 
Therapie — zu behandeln ist. 

Literatur: E. Frank, Der renale Diabetes 
der Menschen und Tiere (Verh. d. Kongr. f. 
innere Med. 1913). Derselbe, Über experi¬ 
mentelle und klinische Glykosurien renalen 
Ursprungs (Arch. f. exper. Path. u. Pharm. 
Bd. 72, )913; Literatur bis 1913). Der^ 
selbe. Über harmlose Formen der Zucker¬ 
krankheit bei jüngeren Menschen (Ther. d. 
Gegenw. 1914). Derselbe u. Paula Grünthal, 
siehe der letzteren Dissertation (Breslau 1920). 
Beiträge zur Frage des renalen Ursprunges der 
Schwangerschaftsgiykosurie (unter Zugrunde¬ 
legung der Blutzuckerkurven). Derselbe und 
M. Nothmann, Über die Verwertbarkeit der 
renalen Schwangerschaftsgiykosurie zur Früh¬ 
diagnose der Schwangerschaft (M. m, W. 1921). 
H. Salomon, Über Diabetesinnocens der Jugend¬ 
lichen (D. m. W. 1914). Derselbe, Weitere Er¬ 
fahrungen über Diabetes innocens (W. kl. W. 
1919). 0. J. Wynhausen und M. Elzas, Diabetes 
innocens (Arch. f. Verdauungskrankh. 1920, 
Bd. XXVI). K. Faber und Norgaard, Chron. 
renale Glykosurie (Acta Medica Scandinavica, 
Bd. 54; Verhandl. des 9. nordischen Kongr. f. 
innere Med. 1919, Acta Medica Scandinavica, 
Bd. 53). Derselbe und A. Jacobson, Fälle von 
mildem Diabetes (Ibid.). Lauritzen, Diskussi¬ 
onsbemerkungen zu diesen Vorträgen, v. Noor¬ 
den, Die Zuckerkrankheit (7. Aufl., 1917). 
Lepine, Glykosurie durch Organextrakte. Le 
Miabete sucre (Paris, Alcan frtos, 1909). Ham¬ 
burger und Brinkmann, Das Retentions¬ 
vermögen der Niere für Glucose (Bioch, Zschr^ 
Bd.88). 


22* 





172 


Die Therapie .der Gegenwart "1921 


AJai 


Aus dem Sanatorium Grroedel, Bad Nauheim. 

Ungünstige Chinidinwirkung bei vollkommenem Herzblock? 

Von Privatdozent Dr, Franz M. Groedel, Frankfurt a. M.-Bad Nauheim. 


Der Patient, über den ich berichten 
will, hat mit 20 Jahren einen schweren 
Gelenkrheumatismus durchgemacht, der 
ihn neun Wochen lang ans Bett fesselte. 
Es soll damals auch das Herz ergriffen 
gewesen sein. Mit 23 Jahren wurde viel¬ 
leicht Lues akquiriert. Dem Hausarzt war 
diese Tatsache verheimlicht worden. WaR 
war aber später negativ. Im Jahre 1914, 
mit 64 Jahren traten die ersten Beschwer¬ 
den auf, so daß Patient den starken Alko¬ 
holkonsum (Brauereibesitzer) und den 
übertriebenen Nikotingenuß einschränken 
mußte. Zunächst bestand nur Kurz¬ 
atmigkeit. Im Laufe der nächsten Mo¬ 
nate stellte sich auch Gefühl unregel¬ 
mäßiger Herztätigkeit ein. Die Puls¬ 
frequenz sank von 60 auf 30 p. M. Nach 
Ansicht des Hausarztes Symptome dro¬ 
hender Urämie. Nach einer Nauheimer 
Kur etwa drei Jahre lang relatives Wohl¬ 
befinden. Durch äußere Verhältnisse 
Wiederholung der Kur vorerst unmög¬ 
lich. 

1917 im Mai erster Ohnmachtsanfall. 
Seitdem Gefühl der Pulsationen bis in 
den Kopf und dauernd etwas Schwindel. 
Zweite Ohnmacht Anfang Juni, dritte 
leichtere Ende Juni. Nach der zweiten 
Kur in Nauheim wieder relatives Wohl¬ 
befinden. Im Juni des nächsten Jahres 
(1918) Grippe. Trotzdem keine beson¬ 
deren Herzbeschwerden. Während der 
dritten Nauheimer Kur einmal im Kino 
schwerer Anfall. Trotzdem Kurverlaut 
sehr gut. Relatives Wohlbefinden bis 
Juli 1919. Angeblich durch Überarbei¬ 
tung ausgelöst zahlreicheAnfälle, davon 
drei sehr schwer, mit Nausea, Erbrechen 
usw. ohne vollkommenen Bewußtseins¬ 
verlust. Pulsfrequenz bei den Anfällen 
bis zu 25 p. M. Seitdem dauernd ein¬ 
genommener Kopf, Gefühl der Herz¬ 
pulsationen, Gefühl von Unsicherheit. 
Nach der Kur in Nauheim vollkommenes 
Wohlbefinden. Keine Anfälle. Einzige 
Belästigung: der hafte Herzschlag im 
ganzen Körper und das sehr ,,ängstliche 
Gefühl“. Neuerliche Kur 1920 in Nau¬ 
heim. Während derselben ohne vorher¬ 
gehendes Unwohlsein abends nach •einem 
etwas zu reichlichen Abendessen und 
etwas größerer Flüssigkeitsaufnahme * 
schwerster Anfall von Herzangst. Pa¬ 
tient sitzt vollkommen pulslos starr auf 
seinem Stuhl, die Zigarre ist ihm ent- | 


fallen, nur auf Anruf atmet er tief. Spre¬ 
chen unmöglich. Nach wenigen Minuten 
Exitus trotz Campher usw. 

Die Auskultation des Herzens er¬ 
gab bis zum Jahre 1919 nur Unreinheit 
des ersten Tones, und leichte Akzentua- 
tion des zweiten Aortentons; vom Jahre 
1919 an bestand ein systolisches Aorten¬ 
geräusch und starke Akzentuation des 
zweiten Tones. 

Die orthodiagraphisch ermittelten 
Herzmaße waren: 

1914Juli: 5,8-1-12,5 = 18,3 cm Transversal¬ 
dimension bei 28,5 cm basaler Lungenbreite 

1914 Dezember: 5,8-f 12,6 = 18,4 cm Trans¬ 
versaldimension bei 28,5 cm basaler Lungenbreite. 

1917 Juli: 5,2-1-12,0 = 17,2 cm Transversal¬ 
dimension bei 28 cm basaler Lungenbreite. 

1918 August: 5,2-fl2,6 = 17,8 cm Trans¬ 
versaldimension bei 28,7 cm basaler Lungenbreite. 

1919 September: 5,4+13,5 = 18,9 cm Trans¬ 
versaldimension bei 27,8 cm basaler Lungenbreite. 

Die Aorten maße betrugen: 

1918: 3,0+ 3,7 = 7,5 cm Aortenbreite bei 

10,5 cm Ascendenslänge. 

^ 1919: 4,0+ 3,0 = 7,0 cm Aortenbreite bei 

10.5 cm Ascendenslänge. 

1920: 4,3+ 3,7 = 8,0 cm Aortenbreite bei 

9.5 cm Ascendenslänge. 


Die Blutdruckzahlen lauteten 


1914: diastolisch 

100, 

100, 

systolisch 

220 

mm. 

1917: diastolisch 
230 mm. 

systolisch 

250 

bis 

1918: diastolisch 

75, 

systolisch 

220 

bis 

170 mm. 

1919: diastolisch 

55, 

systolisch 

200 

bis 

160 mm.. 

1920: diastolisch 
150 mm. 

50, 

systolisch 

210 

bis 


Der Urin enthielt, abgesehen von 
selten auftretenden Eiweißspuren, keine 
pathologischen Bestandteile. 


Lunge, Leber und sonstige Organe 
ohne Befund. Durch Inspektion keine 
Abnormität nachweisbar. 

Die Pulszahlen wurden während der 
verschiedenen Kuren ebenso wie die Blut¬ 
druckwerte täglich ein- oder mehrmals 
in Kurven eingetragen. Ich gebe von 
den ersteren nur einige Durchschnitts-- 
werte. 

1914: 40—50, Ende der Kur 70. 

1917: 30, 33, 30, 30, 36, 28, 36, 36. 

1918: 36, 36, 32. 30, 36, 38, 36, 36, 40. 

1919: 33, 38, 34, 40, Ende der Kur 33, am 
Herz 66. 

1920: 30, 28, 28, 39, 26, 38, 40. 

Neben allgemeiner Regulierung der 
Lebensweise, Alkoholeinschränkung und 
Reduktion der Zigarrenzahl, bekam Pa¬ 
tient seit 1914 ziemlich kontinuierlich 




Mai 


Die' Therapie der Gegenwart 1921 


173 


etwas Digitalis. 1917 gab ich an Stelle 
von Digitalis dreimal täglicF^ 0,2 Cam- 
pher und 0,00025 Atropin, offenbar mit 
subjektiv gutem Erfolg. Alle anderen 
Medikamente wurden vom Patienten als 
unbekömmlich zurücjcgewiesen. Eine 
längere Jodkur wurde aber trotzdem 
jedes Jahr durchgeführt. 1919 wurde 
einige Tage lang Atropin injiziert. Es 
verursachte Hitze und Kopfdruck. Da¬ 
gegen bekam Physostigmin sehr gut. 
Ebenso Pilocarpin. Es provozierte Bige- 
^minie, so daß am Ende der Kur bei 
33 Pulsen 66 Herzcontractionen zu hören 
waren (siehe Elektrokardiogrammschilde- 
ru]^). Nach monatelangem Aussetzen 
wurde 1920 wieder versucht, mit Injek¬ 
tionen die Pulsfrequenz zu heben. Zu¬ 
nächst wurde wieder einigemal Atropin, 
dann Physostigmin versucht. Teils un¬ 
angenehme, teils garkeine Reaktion. Da¬ 
nach wieder zwei bis dreitägig mit gutem, 
subjektivem Erfolge Pilokarpin. 

Die fünf Badekuren brachten dem 
Patienten subjektiv und wohl auch ob¬ 
jektiv die größere Erleichterung. Er 
fühlte sich nach jedem einzelnen Bad 
wohler. Über die günstige Wirkung der 
G02-Bäder bei Leitungsstörungen hat 
Theo Groedel vor Jahren berichtet. 
Ich verweise auf die betreffende Publika¬ 
tion. Entsprechend der Schwere des 
Falles, dem hohen Blutdruck und dem 
Alter des Patienten wurden die Bader 
sehr vorsichtig gegeben: Halbbäder, in¬ 
different warm, kurze Badedauer von 
acht bis zehn Minuten, drei bis vier Bäder 
pro Woche, lange Ruhezeit nach dem 
Bad, Überwachung im Bad. 

Im Laufe der sechsjährigen Beobach¬ 
tung wurden wiederholt Elektrokardio¬ 
gramme aufgenommen. Ich will einige 
derselben kurz charakterisieren. 

Juli 1914: typisches Ekg.-Bild eines Blocks. 

5. Juli 1917: typischer Block. Etwa 2:1 
Rhythmus. 

Abi. I: Vorhofzacke (A)-f, Vorschwankung 
der Ventrikelinitialzacke (Ja) + , aber klein, die 
Initialschwankung (J) selbst groß und —, die 
Nachschwankung von J, Jp deutlich ausgeprägt 
und +, die Ventrikelfinalzacke (F) ziemlich groß 
und -f. 

6. Juli 1917, Abi. I: wie vorstehend; Abi. II: 
A + , J + , normal groß, Jp klein und —, F. 
normal; Abi. III: A-f, Ja vorhanden —, j -f, 
dreimal so groß wie bei II, Jp klein —, F + aber 
klein. 

12. Juli 1917: Abi. I ergibt das gleiche Bild 
wie Abi. II am 6. Juli, also J -|-. 

• 16. Juli 1917: Abi. I ergibt das gleiche Bild 
wie Abi. I am 6. Juli, also' J —. 

24. Juli 1917: Ebenso wie vorstehend. 

30. Juli 1917: Ebenso. Die Größe von J ist 
sehr verschieden. Einmal eine Extrasystole. 


20. August. 1918,: Abi. I wie 1917; Abi. II 
fast wie I, Abi. III Initialgruppe besteht nur 
aus einer gespaltenen positiven Zacke. 

23. August, 3. September, 9. September, 
14. September, 15. September, 22. September 
1919 wie vorstehend. 

27. September 1919 ausgesprochene Bigemini. 

27. Juli 1920 gleiches Bild wie 1918 und 1919, 
aber F—. ^ 

Es zeigt also das Ekg.^'seit 1914 das 
typische Bild eines Herzblo'cks. 1917 
ist das Bild des Ventrikel-Ekg. vom 
linken Herzen in Abi. I entschieden vor¬ 
wiegend, während in Abi. H das normale 
Ekg. erscheint. Also umgekehrtes Ver¬ 
halten wie normal. Vorübergehend tritt 
auch noch einmal das normale Ekg.-bild 
in Abi. I auf. Dauernd vorhanden sind 
die Symptome einer kompletten Disso¬ 
ziation. Etwa 2:1 Rhythmus. Das Bild 
des Blocks bleibt bis zum Tode unver¬ 
ändert. Während aber 1917 die Form 
des Kammer-Ekg. noch nicht dauernd 
verändert erscheint, bleibt vom nächsten 
Jahre an der Zustand stets der gleiche. 
Inzwischen hat auch Abi. H und HI 
eine anormale Form angenommen. Es 
ist also die Vermutung berechtigt, daß 
der Prozeß zunächst einseitig anfing. 
Sehr interessant ist die Begimini des 
Ventrikels nach Pilocarpininjektionen 
im Jahre 1919. Und ebenso ist das Ne- 
gativwerden der Finalzacke, im letzten 
Lebensjahre wichtig. 

Herr Prof. Mönckeberg hat das 
Herz von seinem Schüler cand. med. 
Schneider genau untersuchen lassen 
und mir folgenden Bericht geschickt: 

^ „Die Untersuchung auf Serienschnit¬ 
ten ergab eine totale Unterbrechung des 
Systems im Grus commune, von dem 
stellenweise überhaupt nichts mehr nach¬ 
zuweisen war. Die Unterbrechung war 
zweifellos durch eine auf das System be¬ 
schränkte Myomalacie mit nachfolgender 
Narbenbildung zustande gekommen, und 
diese Myomalacie hatte ihre Ursache 
wiederum in einem bereits bei der makro¬ 
skopischen Präparierung zutage treten¬ 
den Verschluß des, Ramus septi fibrosi 
aer rechten Kranzarterie.‘‘ 

Dieser Befund läßt immerhin daran 
denken, daß zwischen dem anfangs zeit¬ 
weise auftretendem, später dauernd vor¬ 
handenem Überwiegen des Kammer-Ekg.- 
bildes vom linken Ventrikel und der 
pathologisch-anatomisch festgestellten Ur¬ 
sache des Leidens und des Symptom¬ 
komplexes — dem Verschluß des Ramus 
septi fibrosi der rechten Kranzarterie — 
ein Zusammenhang besteht. 



174 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


- Mai 


Kehren wir nochmals zur Besprechung 
de,r Therapie zurück. Da Patient durch, 
die Bradykardie sehr geplagt wurde, 
suchte ich immer wieder nach eihem 
Mittel zur Beschleunigung der Ventrikel¬ 
frequenz. Ausgehend von der Beobach¬ 
tung, daß Chinidin in der Mehrzahl der 
Fälle, bei denen es sich mir für die Be¬ 
handlung der Vorhoftachykardie und des 
Vorhofflimmerns günstig erwiesen, eine 
Ventrikeltachykardie erzeugt hatte, wo¬ 
durch es dem Vorhof quasi ermöglicht 
wurde, sich dem Ventrikeltempo wieder 
anzupassen, wollte ich Chinidin auch bei 
Herzblock versuchen. 

Ich verordnete dem Patienten am 
ersten Tage neben dem bereits erprobten 
Pilocarpin dreimal 0,1 Chinidin. Am 
nächsten' Tage bekam er dreimal 0,2; 
am folgenden wieder mit Pilocarpin drei¬ 
mal 0,3 Chinidin. Am vierten Tage hatte 
er bereits zweimal 0,4 Chinidin genom¬ 
men. Abends trat, wie oben geschildert, 
der Exitus ein. Pulsfrequenz und Blut¬ 


druck waren gegenüber den vorhergehen¬ 
den Tageij nicht merkbar verändert. 
Für eine Schädigung des Zentralnerven¬ 
systems durch Chinidin lagen keine An¬ 
haltspunkte vor. Ob zwischen Chinidin 
und Exitus ein Zusammenhang bestand, 
bleibe dahingestellt. 

Ich habe meine Erfahruiigen mit 
Chinidin bei diesem Falle von Herzblock 
auf dem letzten Kongreß deutscher, 
Naturforscher und Ärzte in Bad Nauheim 
in der Diskussion kurz bekannt gegeben, 
nachdem Winterberg ebendort aus ähn-^. 
liehen Überlegungen wie ich Chinidin bei, 
Herzblock empfohlen, aber die Fälle mit 
schneller Ventrikelfrequenz ausgeschlossen 
hatte. Bei meinem Falle bestand Brady¬ 
kardie und etwa 2:1 Rhythmus. Die 
Chinidinwirkung bei perpetueller Irregu¬ 
larität ist noch nicht restlos geklärt. Wir 
werden auf Grund meiner Erfahrung 
jedenfalls mit der Chinidinverwendung 
bei Blockfällen'" vorerst noch zuwarten 
müssen. 


Aus dem Pharmakologischen Institut der Universität Erlangen. 

Über Hefeextrakt als Stomachicum und seine medizinische 

Verwendbarkeit. 

Von Prof. Dr. Heinz. 


Die Extraktivstoffe des Fleisches sind 
nach den berühmten Pawlowschen Ver¬ 
suchen die stärksten Anreger der Sekre¬ 
tion des Magensaftes. Nach den Ver¬ 
suchen von Bickel sind es nicht die aus 
dem Muskelfleisch in heißes Wasser 
(,,Fleischbrühe‘‘) reichlich übergehenden 
Kreatin und Kreatinin, sondern andere 
Purinstoffe — sowie wohl auch andere 
,,höhere Eiweißabbauprodukte“ —, die 
als Säurelocker wirken. 

,,Fleischextrakt“ (z. B. Liebigsches 
Fleischextrakt) wirkt stärker auf die 
Magensaftsekretion als ,,Fleischbrühe“. 
Die technische Herstellung von Liebig- 
schem Fleischextrakt erfolgt durch Er¬ 
hitzung des zerkleinerten Fleisches mit 
Wasser im Autoklaven. Dabei bilden 
sich — durch hydrolytische Spaltung — 
Eiweißabbauprodukte; und diese sind es,, 
die, im Verein mit den Purinstoffen, die 
Sekretion des Magensaftes so mächtig 
anregend). 

Aus Hefe, d. h. aus gereinigter, ent- 
bitterter Bierhefe, nach demselben tech¬ 
nischen Verfahren wie Fleischextrakt (Er¬ 
hitzung im Autoklaven)gewonnener Hef e- 

Vergleiche v. Noorden-Salomon, ,,All¬ 
gemeine Diätetik“, Berlin 1920, Springer, S. 273. 


extrakt enthält ganz dieselben Extrak¬ 
tivstoffe wie das Fleischextrakt: Fleisch¬ 
milchsäure, Purinstoffe (außer Kreatin 
und Kreatinin!), durch hydrolytische 
Spaltung entstandene höhere Eiwei߬ 
abbauprodukte usw. Tadellos hergestell¬ 
ter Hefeextrakt, z. B. der ,,Cenovis- 
Extrakt“ der Cenovis-Nährmittelwerke 
München hat ganz ähnlichen Geschmack 
wie Liebigsches Fleischextrakt; ja sein- 
Wohlgeschmack ist bedeutend größer: 
es fehlen ihm nämlich die in den'Fleisch¬ 
extrakt übergehenden, bitterlich schmek- 
kenden Collagenstoffe des Bindegewebs- 
anteiles des Fleisches. Ich habe, als ich 
das Cenovis-Extrakt vor zwei Jahren 
zufällig kennen lernte, sofort an mir (wie 
späterhin an verschiedenen Kollegen) die 
außerordentliche appetitanregende Wir¬ 
kung des Cenovis-Extraktes konstatiert. 
Durch Versuche mit Magenausheberung 
an verschiedenen meiner Schüler stellte 
ich ferner fest, daß auf Zufügung von . 
Cenovis-Extrakt zur Mahlzeit die Magen-/ 
Saftabsonderung stark vermehrt wurde. 

Der Hefeextrakt ist, wie der Fleisch¬ 
extrakt, ' zäh und klebrig. 'Cenovis- 
Extrakt enthält (der Haltbarkeit wegen) 
ca-. 14 % Kochsalz, schmeckt daher stark 




Mai 


.175 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


salzig. Um den ■ Hefeextrakt in genau 
dosierbare, bequem und angenehm zu 
nehmende Form zu bringen, habe ich 
aus demselben mit Hefepulver Tabletten 
geformt. Diese „Magen-Tabletten‘‘, 1 g 
wiegend und 25 % Cenovis-Extrakt und 
75 % Nährhefe enthaltend, sind leicht 
herzustellen, halten sich gut, sind gut 
zu zerkäuen oder auch im ganzen zu 
schlucken und schmecken sehr angenehm. 

Mit'diesen Magen-Tabletten hat in 
letzter‘Zeit Hr. Kleeblatt (München) 
in meineni Institut Untersuchungen an 
sich selbst, einem Studierenden der Medi¬ 
zin und vier Insassen der Heil- und 
Pflegeanstalt Erlangen angestellt. 

Hr. Kleeblatt machte an sich fol¬ 
gende, in ihren Resultaten sehr über¬ 
zeugende Versuche: 

Er nahm^ morgens nüchtern 500 ccm Wasser 
von 37,5® C. Nach zehn Minuten Ausheberung: 
Gesamtacidität zirka %. Am nächsten Morgen 
wurden zu der gleichen Menge Wasser vier Magen¬ 
tabletten (gleich 1 ,g Hefeextrakt) gekaut und 
geschluckt. Magenausspülung nach zehn Mi¬ 
nuten: Gesamtacidität 12= freie HCl (bei der 
Flüssigkeitsmenge von % 1 Wasser sehr viel!). 
Hefeextrakt ist also ein stärkster Säurelocker. 
In einem dritten Versuch wurden wieder 500 ccm 
Wasser getrunken, und. unmittelbar darauf vier 
Magentabletten zerkaut und wieder ausgespien. 
Nach zehn Minuten Probeausheberung: Gesamt¬ 
acidität 6. Hier ist also reiner „Appetitsaft“ ent¬ 
standen. 

Dieselbe Versuchsreihe ist von mir bereits vor 
einem Jahre an einem Cand. med. mit ganz dem¬ 
selben Resultat ausgeführt worden. (1. Gesamt¬ 
acidität 1 —, 2. Gesamtacidität 14 —,3. stark 
positive HCl-Reaktion.). 

Kleeblatt stellte dann folgende Versuche 
an sich selbst an: Er nahm jeweils morgens nüch¬ 
tern das übliche Probefrühstück (300 ccm Tee 
und eine Semmel) einmal ohne, und am nächsten 
Tage mit je vier Magentabletten. An den ersten 
zwei Versuchstagen Ausheberung nach fünfzehn 
Minuten; an dem zweiten Tagespaar nach 30 Mi¬ 
nuten; am dritten nach 45 Minuten, am vierten 
nach 60 Minuten. An den Tagen, an welchen die 
Magentabletten eingenommen wurden, erfolgte 
beträchtliche Vermehrung der Gesamtacidität, 
wie auch der Magensaftmenge. Auch hier zeigt 
also der Hefeextrakt seine starke safttreibende 
Wirkung.' 

Schließlich stellte Kleeblatt noch folgende 
Versuchsreihen an sich an. Er nahm (auf nüch¬ 
ternen Magen) je 300 ccm Haferschleimsuppe, be¬ 
reitet aus 15 g Hafermehl, 300 ccm Wasser 
und 3 g Kochsalz. An je einem Tage wurden 5 g 
Cenovisextrakt in der Suppe verrührt (es wurden 
dann 0,7 g Kochsalz weniger zugegeben, da ja 
der Cenovisextrakt 14% NaCl enthält). Aus¬ 
heberung nach je 15, 30, 45 und 60 Minuten. 
Auch hier wieder die gleichen Resultate: starke 
Vermehrung der Gesamtacidität wie auch der 
Magensaftmenge. 

Kleeblatt stellte schließlich an vier Insassen 
der Erlanger Heil- und Pflegeanstalt Versuche 
mit Probefrühstück, mit und ohne je vier-;Magen¬ 
tabletten, an. Ausheberung nach einer halben 


Stunde. Auch hier zeigte sich wieder die starke 
safttreibende Wirkung des Hefeextraktes: in 
einem Falle stieg die Gesamta'cidität von 14 
auf 72! 

Die Versuche von Kleeblatt am 
Gesunden erweisen aufs deutlichste die 
safttreibende Wirkung des Hefeextrak¬ 
tes. Der Hefeextrakt ist tatsächlich das 
wirksamste, ja geradezu das gegebene — 
weil ,;physiolögische'‘ — Stomachicum. 
Anstatt zehn Tropfen Acidum hydro- 
chloricum dilutum vor dem Essen zu 
geben, ist es doch richtiger, durch die 
vier unmittelbar vor dem Essen ge¬ 
nommenen Magen-Tabletten 100 oder 
mehr ccm Pepsinsalzsäure vom Magen 
selbst erzeugen zu lassen.. 

Die Magen-Tabletten wirken zugleich 
stark appetitanregend. Sie sind, wie der 
Hefeextrakt, aus dem sie hergestellt sind, 
von großem Wohlgeschmack. Der Ceno- 
vis-Extrakt wird ja überall in der Küche 
in ausgedehntem Maße zum Würzen von 
Suppen, Saucen, Gern üsen usw. angewandt. 
Wichtiger als die Benutzung als kulina¬ 
risches Mittel durch den Gesunden er¬ 
scheint für den Arzt die Verwendung 
beim Kranken: zunächst beim Magen¬ 
kranken; dann aber auch als Mittel gegen 
Appetitlosigkeit bei den verschiedensten 
pathologischen Zuständen. Die aus dem 
Ceno vis-Extrakt hergestellten, genau do¬ 
sierten, bequem zu verwendenden Magen- 
Tabletten stellen ein einfachstes, „physio¬ 
logisches“ Stomachicum .von sicherer Wir¬ 
kung dar, das bei allen Formen von 
Appetitlosigkeit beziehungsweise man¬ 
gelnder Magensaftsekretion, bei akutem 
und chronischem Magenkatarrh usw., 
dann aber auch — zwecks vermehrter 
Aufnahme und verbesserter Ausnützung 
der Nahrung — bei Rekonvaleszenten 
von fieberhaften oder sonstigen ,,kon¬ 
sumierenden“ Krankheiten, wie über¬ 
haupt bei schwächlichen Individuen, deren 
Nahrungsaufnahmevermögen gesteigert 
werden soll, indiziert erscheint. 

Der Hefeextrakt eignet sich in hervorragender 
Weise noch für einen anderen wichtigen medizini- 
nischen Zweck, nämlich, in Kombination mit 
Hefepulver, zur Herstellung von Pillengrund¬ 
masse. Pillen können ja auf verschiedenste Weise 
hergestellt werden. Wenn vom Arzt die Pillen¬ 
grundmasse nicht speziell angegeben wird, schreibt 
das deutsche Arzneibuch vor, im allgemeinen 
Succus Liquiritae depuratus plus Pulvis Liqui- 
ritiae zu nehmen. Auf andere Weise hergestellte 
Pillen werden sehr oft hart und in Magen- be¬ 
ziehungsweise Darmsaft unlöslich. Die bekannten 
Blaudschen Pillen, und zwar gerade dann, wenn 
sie genau nach der Vorschrift des deutschen (oder 
englischen) Arzneibuches hergestellt sind, ver¬ 
lassen den Magen-Darmkanal fast genau so, wie 
sie aufgenommen worden sind. Hierüber hat 



176 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Mai 


Dr. Grönberg, Viborg (Finnland), sehr inter¬ 
essante Untersuchungen angestellt. Er bezog aus 
120 verschiedenen europäischen Apotheken Pilulae 
ferri carbonici Blaudii. Er fand, daß die nach; 
der deutschen, wie auch der englischen Pharma¬ 
kopoe hergestellten Blaudsehen Pillen unver¬ 
ändert im Stuhl zu finden waren und 90 bis 97% 
des gegebenen Fe enthielten. | 

Nur die schweizerische Pharmakopoe hat die 
— sehr vernünftige — Bestimmung, daß vom 
Apotheker hergestellte Pillen erst abgegeben 
werden dürfen, nachdem der Apotheker sich über¬ 
zeugt hat, daß einige Probepillen, mit warmen 
Wasser öfter geschüttelt, im Reagensglas zer¬ 
fallen. 

Die aus Hefeextrakt und Hefepulver (gereinig¬ 
ter, entbitteter Bierhefe) hergestellten Pillen zer¬ 
fallen leicht und sicher im Magen-Darmkanal. 
Man findet keine ungelöste Pille im Stuhl wieder. 
Aus den Pillen beginnt sich schon im Munde Hefe¬ 
extrakt zu lösen und erzeugt angenehmen Ge¬ 
schmack. Im Magen betätigt der Hefeextrakt 
seine stomachische Wirkung und ist daher be¬ 
sonders geeignet für Medikamente, die leicht den 
Magen „lädieren“ (Eisen, Arsen, Chinin, Digi¬ 
talis usw.). Ich habe im Pharmakologischen In¬ 
stitut Erlangen Pillen aus Hefeextrakt und Hefe¬ 
pulver hergestellt mit Ferrum reductum (0,05 
pro Pille), Arsen-Pillen (mit 0,001 As pro Pille), 
Digitalis-Pillen nach dem Skodaschen Rezept: 


Digitalis-Pulver, Chinin und- Extr. Valerianae 
(0,05 *Plv. fol. Dig. titr. pro Pille), sowie Kreosot- 
Pillen (0,05 pro Pille). 

Zur Herstellung der Pillen verwandte ich Nälir- 
hefe von der Pharmazeutischen Fabrik Schönniger 
(Erlangen) und Hefeextrakt der Cenovis-Nähr- 
mittelwerke, München. Der „Cenovis-Extrakt“, 
wie er in der Küche verwendet wird, ist als Con- 
stituens für Pillen ohne weiteres nicht geeignet, 
weil nach längerer Lagerung die Pillfen trocken, 
wenn auch nicht unlösbar werden, Es wird des¬ 
halb von den Ceriovls-Werken ein Medizinalhefe¬ 
extrakt zur Anfertigung von Pillen' hergestellt 
(ohne Suppenkräuterzusatz), welcher heller in der 
Farbe ist, geschmeidig bleibt, und daher für die 
Herstellung von Pillen geeigneter ist. 

Es lassen sich tatsächlich mit keinem anderen 
Constituens Pillen technisch leichter und, bezüg¬ 
lich der Dosierung, sicherer herstellen als mit 
Hefee:jftrakt und Hefepulver. Die Herstellung 
ist bequemer und sauberer als mit Succus und 
Pulvis Liquiritiae. Diese Rohstoffe müssen wir 
zudem' für teueres Geld aus dem Auslande (Süd¬ 
europa) beziehen; Hefeextrakt und Hefepulver 
stellt unsere einheimische Industrie dar. Aus 
diesen beiden Grundmassen hergestellte Pillen 
von Eisen, Arsen usw. stehen wegen ihrer leichten 
Zerfallbarkeit und der stomachischen Wirkung 
des Hefeextrakts den bisher gebräuchlichen 
Eisen-, Arsen- usw. Pillen weit.voran. 


Psychotherapie in der ärztlichen Praxis unter besonderer 
Berücksichtigung der Hypnose. 

Von Sanitätsrat Dr. Disque, Kreisarzt a. D., Nervenarzt, Potsdam. 


Die Psychotherapie wendet man ^be¬ 
sonders bei Psychoneurosen an, bei denen 
es sich vor allem um psychische Störungen 
handelt. Zu den Psychoneurdsen zählt 
man neuerdings die Neurasthenie und 
Hysterie, die Organneurosen des Herzens, 
des Magens, des Darms, der Blase, die 
traumatischen Neurosen, dann psychische 
Krankheitssymptome, die mit Zwangs¬ 
vorstellung, Angstgefühlen (Platzangst 
usw.) mit psychischen sexuellen Störungen 
einhergehen. Wir sehen, daß diese Krank¬ 
heiten, die Psychoneurosen, die Mehrzahl 
bilden von allen Patienten, die zum prak¬ 
tischen Arzt, ins Sprechzimmer kommen, 
während in den Krankenhäusern mehr 
organisch Kranke vorhanden sind. 

Bei\der Behandlung der Psychoneuro¬ 
sen und yor allem der Neurasthenie, sind 
zunächst" durch eine Ruhekur und Über¬ 
ernährung die Erschöpfungszustände zu 
beseitigen. Wägungen müssen von Zeit 
zu Zeit vorgenommen werden. Gewichts¬ 
zunahme wirkt auch psychisch günstig 
auf den Patienten, (jeringe Gewichts¬ 
abnahme wird man darum auch nicht mit- 
teilen. 

Sind keine großen Erschöpfungszu¬ 
stände vorhanden, so ist eine Arbeits¬ 
therapie zweckmäßig. Leichte Garten¬ 


arbeiten, nicht anstrengende geistige Ar¬ 
beiten, Anlegen von Sammlungen, Aus¬ 
züge aus wissenschaftlichen Werken, eine 
regelmäßige Beschäftigung sind von Be¬ 
deutung. Eine Zeiteinteilung, an die sich 
der Patient halten muß, ist am besten 
vom Arzt vorzuschreiben. 

Selbstverständlich muß jede Ursache 
der Psychoneurosen beseitigt werden. Bei 
anhaltenden Erregungen und geistigen 
Überanstrengungen ist Patient von zu 
Hause zu entfernen. Bei Magen- und Herz¬ 
neurosen nicht nach einem Badeort, z. B. 
Karlsbad, Nauheim u. a.^), am besten in 
ein klinisch geleitetes Sanatorium, um 
psychisch behandelt zu werden, oder 
aufs Land, um die nötige Ruhe zu 
haben, eventuell auch besser ernährt zu 
werden. Die Angehörigen wirken auf den 
Patienten oft nicht günstig ein, dadurch, 
daß sie nicht verstehen,.daß er wirklich, 
wenn auch nur psychisch krank ist, und 
daß es sich bei ihm nicht um Einbildung 
handelt. Man muß eben auf die Klagen ein- 
gehen und sich nicht abstoßend verhalten, 
wenn man dem Patienten helfen will. 


1) Disqiie, ,,Organische und funktionelle 
Acliylia gastrica“ (Arch. f. Verdauungskr. 1914, 
H. 3) und ,,Therapie der Magen- und Herzneu¬ 
rosen“ (Ther. d. Gegenw. 1916, Heft. 7). 





Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


\ 


177 ‘ 


Bei der so wichtigen psychischen Be¬ 
handlung der Psychoneurosen hat ein 
»vernünftiges Zureden großen Wert. Auch 
die] Aufklärung ist von Bedeutung. Dies 
nennt man Persuasion. Wenn zum Bei¬ 
spiel Patient Stiche in der Herzgegend hat, 
wird man demselben nach Flatau 
sagen, weil sie die Überzeugung haben, 
sie seien herzkrank, haben sie die Stiche 
in der Brust. Es liegt aber kein solches 
Leiden vor. Der Puls mag noch so rasch 
schlagen, eine Gefahr jst damit niemals 
verbunden. Derselbe wird allmählich 
langsamer, sobald die Furcht und Er¬ 
regungen nachgelassen haben. Wenn die 
feste Überzeugung bei ihnen vorhanden 
ist, daß sie kein Herzleiden haben, werden 
auch nachts keine Beschwerden vor¬ 
handen und der Schlaf besser sein. Kann 
Patient nicht schlafen, so wird man ihn 
zu überzeugen haben, daß es gar nichts 
zu bedeuten hat, wenn er einige Nächte 
nicht oder überhaupt schlecht schläft. 
Er soll nur ruhig auf dem Rücken liegen 
bleiben, ruhig und tief atmen und sich 
fest vornehmen einzuschlafen. Der Schlarf 
wird dann nach und nach schon kommen. 
— Bei Schmerzen und Kopfdruck wird 
man sagen, daß dies mit den nervösen 
Beschwerden zusammenhängt, daß kein 
organisches Leiden vorliegt. Bei Angst¬ 
gefühlen und Platzangst muß man dem 
Patienten Zureden, und ihn ermuntern, 
allein und ohne Begleitung über einen 
Platz zu gehen. 

Auch bei manchen organischen Leiden 
ist die Psychotherapie in Verbindung mit 
Übungstherapie zweckmäßig, so z. B. bei 
Tabes. Es ist hier die Grundlage der 
ataktischen Störung die Störung der 
Sensibilität. Patient wird auf einem 
Kreidestrich auf dem Fußboden psychisch 
mit aller Willenskraft die Ataxie zu unter¬ 
drücken suchen und so besser gehen 
lernen. 

Bei Tic und Chorea werden durch 
Übungen am Spiegel die Zuckungen und 
unwillkürlichen' Bewegungen mit festem 
Willen unterdrückt. 

Auch die elektrischen Anwendungen 
gehören bei den Psychoneurosen zur 
Psychotherapie, wenn sie auch bei organi¬ 
schen Nervenleiden mit Lähmungen und 
Atrophien somatisch mit Erfolg ange¬ 
wandt werden. Kann bei einem Psycho- 
neurotiker angeblich der Arm nicht ge¬ 
hoben werden, zeige ich durch den fara- 
dischen Strom, daß derselbe gehoben 

-) Flatau, „Kursus der Psychotherapie und 
des Hypnotismus“, 3. Auf]., Berlin 1920, Karger. 


wird, so wirkt dies auf denselben psy¬ 
chisch ein. Er kommt zu der Über¬ 
zeugung, daß er denselben doch heben 
kann. Kauffmann hat durch fara- 
dische Ströme beim Militär sehr schöne 
Erfolge erzielt. Dieselben sind aber 
sehr schmerzhaft und deshalb in der 
Privatpraxis, wo man mit dem Patienten 
nicht im Kommandotone reden kann, und 
nicht die Autorität des Vorgesetzten hat, 
schwer durchzuführen. Hier sind die 
schwachen faradischen Ströme, welche 
der Patient fühlt und, die galvanischen 
Ströme, wobei die schmerzstillende Ano¬ 
de auf den schmerzhaften Körperteil, die 
. Kathode auf einen anderen Körperteil ge¬ 
setzt wird, anzuwenden. Dies wirket nicht 
nur somatisch, sondern vor allem auch 
psychisch, da Patient sieht, daß etwas 
mit ihm geschieht, besonders wenn man 
ihm noch sagt, daß die elektrischen An¬ 
wendungen von günstiger Wirkung bei 
ihm sind, und daß die Beschwerden so 
verschwinden. (Suggestive Präparation.) 

Die so wichtige Psychotherapie mit 
verändertem Wachzustand, die Hypnose, 
ist nur ein Ast an dem großen Baume der 
Psychotherapie. Manchmal kommen wir 
mit einfachen Suggestionen im Wach¬ 
zustand nicht zum ZieH), dann, aber nur 
dann sollte nach meiner Ansicht die 
Suggestion im veränderten Wachzustand 
in der Hypnose, und zwar nur durch den 
Arzt zur Heilung von Psychoneurosen 
stattfinden. Jede Hypnose in den Händen 
eines Laien, auch zu Schauzwecken, sollte 
behördlich verboten sein. ' 

Als ich vor 25 Jahren das Buch von 
Fo'reH), „Der Hypnotismus und die 
Psychotherapie 1895“, anschaffte, war ich 
überrascht über die durch Psychotherapie 
zu erzielenden Erfolge. Ich habe in den 
letzten 25 Jahren an mehreren tausend 
Patienten auch bei meiner sechzehn¬ 
jährigen Tätigkeit im Sanatorium Hyp¬ 
nose angewendet und nicht in einem 
einzigen Falle schädliche Folgen beob¬ 
achtet, wie dies auch Flatau hervorhebt. 

Selbstverständlich muß man die Tech¬ 
nik der Hypnose vollständig-beherrschen 
und dem Patienten jedesmal vor dem 
Erwachen sagen, daß er sich sehr wohl 
fühlt, daß Kopfschmerzen und Müdigkeit 
nicht vorhanden sind. Damit keine Auto- 

3) Disqii6, „Behandlung der Kriegsneurosen 
durch Hypnose, Wachsuggestion n. elektr. An¬ 
wendung“, Ther. d. Gegenw., Mai 1918 und „Be¬ 
handlung der Krankheiten durch Wasserheilver¬ 
fahren, Massage, Gymnastik, Diät, Elektrizität, 
Hypnose“. 7. Aufl. Leipzig 1904, 0. Spamer. 

0 9. Aufl., Stuttgart 1919, Enke. 

23 




Die Therapie der, Qegenwah 1921, 


178 


Mäi 


Suggestionen entstehen, und auch von 
Unberufenen Hypnosen nicht ausgeführt 
werden sollen, füge ich noch hinzu, daß 
der Patient nur vom Arzt hypnotisiert 
werden kann. Wie ich beobachtet habe, 
ist die Hypnose um so leichter durchzu¬ 
führen, und die Suggestion um so tiefer, 
je öfter man dieselbe beim Patienten an¬ 
wendet. Die ersten Male tritt oft keine 
oder keine Hypnose ein. 

Bei Geisteskranken ist sie leider nicht 
möglich, weil der Geisteskranke seine 
Gedanken leider nicht genügend kon¬ 
zentrieren kann. Auch wenn vorher 
Patient erklärt, daß er nicht hypnotisiert 
werden will, oder daß er eine Abneigung 
dagegen hat, rede ich ihm nie zu und 
wende die Hypnose nicht an, da man 
dann keinen &folg damit hat. Nach 
Lewandowski^) ist die Hypnose eine 
medizinisch recht wirksame Handlung 
und bei 90 % aller Menschen anwendbar. 

Bei der Ausführung fixiere ich den 
Patienten mit den Augen, oder lasse ihn 
einen glänzenden Kopf eines Perkussions¬ 
hammers fixieren. Ich sage ihm, daß ich 
ihn, um seine Nerven zu beruhigen in 
einen schlafähnlichen Zustand versetzen 
will, er wird dabei alles hören, was ich 
spreche. Ich lege meine Hand auf die 
Stirne des Patienten, drücke die Augen¬ 
lider leicht herunter und sage, daß die 
Augenlider immer müder und schwerer 
werden, daß die Arme, welche auf den 
Knien aufliegen, bleischwer werden. Bei 
diesen Worten hebe ich die Arme in die 
Höhe und lasse dieselben' mit einem 
leichten Ruck wieder fallen. Der Patient 
hat nun tatsächlich mehr oder weniger 
ein Gefühl von Müdigkeit. Ich bitte ihn 
nun, die Augen zu schließen, oder schließe 
ihm dieselben mit der Hand selbst und 
sage in befehlendem Tone: ,,Schlafen 
Sie.‘‘ Dabei kann man, um die Müdigkeit 
noch mehr zm-suggerieren, leichte Strei¬ 
chungen der Arme oder Beine vornehmen. 
Nun läßt man die Suggestionen folgen, 
welche auch eine posthypnotische Wir¬ 
kung haben sollen. Einem Mädchen z. B., 
das an spastischer Obstipation litt, habe 
ich die posthypnotische ' Suggestion ge¬ 
geben, daß sie jeden Morgen um 8 Ühr 
zu Stuhl gehen wird. Dies ist auch 
prompt geschehen. Man sagt dem Patient, 
daß die Stimmung, der Schlaf, der 
Appetit, der Stuhl usw. nach .und nach 
besser werden wird, daß vorhandene 
Schmerzen, krampfartige Anfälle und 

5) „Praktische Neurologie für Ärzte“. Berlin 
1920, Springer. 


Angstgefühle u. a. verschwinden. Nach 
meiner Ansicht soll nicht gleich das erste 
Mal zu viel versprochen werden, sonst ver¬ 
liert der Patient das Vertrauen zur Hyp¬ 
nose, wenn der Erfolg nicht nach der 
ersten Anwendung eintritt. Man wird die 
Wirkung beobachten und bei den weiteren 
Hypnosen, wepn eine Besserung zu kon¬ 
statieren ist, erst bestimmt sagen, daß 
die Beschwerden vollständig verschwin¬ 
den. — Bei dem Erwecken legedch die 
Hand dem Patienten auf die Stirne und 
sage, wenn ich auf drei zähle, wird 
das Gefühl von Müdigkeit verschwun¬ 
den sein, er werde die Augen öffnen 
können und gar keine Beschwerden haben. 
Die Dauer der Hypnose beträgt einige 
Minuten bis eine Stunde. Es gibt auch 
Däuorhypnosen, bei denen man den Pa¬ 
tienten mehrere Stunden oder die ganze 
Nacht in der Hypnose liegen läßt. Dies 
geschieht aber besser in Sanatorien, wo 
eine größere Beobachtung möglich ist. — 
Wer kann hypnotisieren? Jeder Arzt ist 
dazu imstande, am besten der, der die 
größte Autorität den Kranken gegen¬ 
über besitzt. Hoffmann sagt in seinen 
Vorlesungen über allgemeine Therapie 
S. 314: ,,Man irrt sich, wenn man 
glaubt, durch abweisendes Schweigen 
solche Probleme aus der Welt schaffen 
zu können, es wäre eitel Torheit, wenn 
der Arzt diese Waffen nicht gebrauchen, 
oder gar aus der Hand geben, oder 
andern überlassen wollte.“ — Erst in 
den letzten Dezennien hat das Wesen 
der Hypnose wissenschaftlich durch die 
Fortschritte der Physiologie und Psycho^ 
logie eine Erklärung gefunden. Forel, 
Braid, Charcot, Liebault und viele 
andere haben hier aufklärend gewirkt. 
Doellken hat nachgewiesen, daß die 
Funktion der Sinnesorgane Auge und 
Ohr in der Hypnose herabgesetzt sind. 
Die Flüstersprache kann nicht so weit 
gehört, auch Buchstaben nicht so weit 
gesehen werden als im Wachzustände. 
Auch der Geruch, die Muskel-Gefühls¬ 
und Schmerzempfindung sind in der 
Hypnose nach Kauffmann herabgesetzt. 
Die Pupillen sind erweitert, der Puls und 
die Atmung beschleunigt. Die Augen 
treten hervor*^). 

Es gibt nach Forel drei Grade der 
Hypnose. Im ersten Grad können die- 
Augen noch geöffnet, Patient kann aber 
schon beeinflußt werden. Im zweiten 
Grade können die Augen nicht rnehr ge- 

®) Kauffmann, ,,Suggestion und Hypnose“. 
Berlin 1920, Springer. 





Mai 


Die Therapie Gegenwart 1921 


179 


öffnet werden. Man kann dann schon 
Muskelstarre hervorrufen. Im dritten 
Grad der Amnesie weiß Patient nicht 
mehr nach der Hypnose, was mit ihm 
geschehen ist. Die gegebenen Suggestionen 
haften aber posthypnotisch. 

Dauererfolge bei der Hypnose habe 
ich wie J. H. Schultz’) sehr viele ge- 
•srehen. 

Für die Hypnose sind nach Forel und 
Flatau vor allem diejenigen Krankheiten 
geeignet, deren wesentlicher oder einziger 
Ursprung psychischer Natur ist: 1. die 
Zwangsneurosen, Angstzustände, Platz¬ 
angst und anderes, 2. Enuresis nocturna, 

3. Krampfformen allgemeiner oder lokaler 
Natur, hysterische Krämpfe, auch zum 
Unterschied von Epilepsie, dann bei Tic¬ 
formen und Chorea mit Übungstherapie, 

4. Morphiumsucht, Alkoholsucht, 5. Ma¬ 

gen-, Herzneurosen, nervöses Asthma, 
6. Störungen des Schlafs, 7. sexuelle 
Störungen, 8. manche Stotterformen, be¬ 
sonders psychischer Natur. Dazu kommt 
noch 9. bei Narkosen die Hypnonarkose®), 
um das Excitationsstadium vor der Opera¬ 
tion, die Menge des Betäubungsmittels 
--— 

’) J. H. S c h u 11 2 ,,,Seelische Krankenbehand¬ 
lung“, Fischer, Jena, und ,,Über Schnellheilung 
von Friedensneurosen“, M. KI. 1921, Nr. 13. 

8) Friedländer, „Die Hypnose und Hypno- 
narkose“. Stuttgart 1920, Enke. 


und die postnarkotischen Wirkungen da¬ 
durch herabzusetzen. 

Wenn ich alles zusammenfasse, möchte 
ich sagen, die suggestive Behandlung ist 
bei Psychoneurosen von vorzüglicher Wir¬ 
kung. Man soll aber mit der Hypnose bei 
Psychoneurosen nicht alles machen wollen, 
man soll dieselbe nur anwenden, ‘ wenn 
die Wachsuggestion,’ die mekamentöse, 
physikalische, elektrische und diätetische 
Behandlung nicht .zum Ziele führen. 

Jedenfalls sind alle Organe des Pa¬ 
tienten, besonders Magen und Herz und 
das Nervensystem, sowohl vom prakti¬ 
schen Arzt als auch vom Spezialarzt 
genau zu untersuchen, damit auch in be¬ 
zug auf organische Krankheiten nichts 
versäumt wird. Schon diese genaue Un¬ 
tersuchung erweckt Vertrauen, und der 
Arzt hat es dann leicht, auf den Patienten 
psychisch einzuwirken, besonders wenn 
er ihn bei Psychoneurosen überzeugt, daß 
kein organisches Leiden vorhanden ist. 
Auch die chirurgische und vor allem die 
antiluetische Therapie ist bei der Neurolo¬ 
gie nicht zu vernachlässigen. Die Psy¬ 
chotherapie kann bei den Psycho¬ 
neurosen in der ärztlichen Praxis 
durch keine andere Therapie er¬ 
setzt werden und ist darum für 
den praktischen Arzt von der 
größten Bedeutung. 


Therapeutisclies aus Vereinen u. Kongressen. 

45. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, 
Berlin, 30. März bis 2. April 1921. 

Bericht von W. Klink, Berlin. 


Die Versammlung tagte unter dem 
schneidigen Vorsitz von Sauerbruch und 
war reich , an vaterländischen Kund¬ 
gebungen, besonders bei der Mitteilung 
des Ausschlusses der deutschen Chirurgen 
aus der Internationalen Gesellschaft für 
Chirurgie. 70 Schweizer und 7 holländische 
Chirurgen haben gegen diesen Ausschluß 
scharfen Einspruch erhoben. Es war \er- 
freulich, die Einmütigkeit zu sehen, mit der 
die Versammlung ihren deutschen Stand¬ 
punkt über den internationalen stellte. 

Bier und Fritz König berichteten über die 
Abgrenzung der konservativen und chirur¬ 
gischen Behandlung der Knochen- und 
Gelenktuberkulose. — Bier stellte folgenden 
Satz auf: Die operative Behandlung der chirur¬ 
gischen i Tuberkulose ist, von wenigen Fällen 
abgesehen,, nicht mehr berechtigt, weil die Er¬ 
folge der konservativen Behandlung viel besser 
■sind. Eine Indikation zur Operation gibt drohende 
amyloide Entartung, hinzutretende Sepsis, 
schwere kavernöse Lungentuberkulose bei gleich¬ 


zeitiger Gelenktuberkulöse. Der extrakapsuläre 
Herd braucht nicht operiert zu werden, denn er 
heilt mit großer Sicherheit, ob er ins Gelenk 
durchbricht oder nicht, und zwar besser, als 
wenn man ihn operiert. Die Entfernung eines 
großen Sequesters ist ganz überflüssig, sogar 
schädlich, denn er resorbiert sich mit großer 
Sicherheit, ja, er scheint sogar zum Wiederaufbau 
mit verwandt zu werden. Ein subluxiertes Ge¬ 
lenk soll nicht reseziert werden, denn es kann 
durch Verband in gute Lage gebracht werden 
und gut heilen. Tiefliegende kalte Abscesse re¬ 
sorbieren sich von selbst, oberflächliche werden 
punktiert, ohne Einspritzung. Für die Henlesche 
Operation an der Wirbelsäule hat er nie eine In¬ 
dikation gesehen; sie ist stets schädlich. Auch 
Leute über 70 Jahre kann man konservativ be¬ 
handeln. Es läßt sich darüber streiten, ob man 
einen alten Menschen mit Gelenktuberkulose 
jahrelang konservativ behandeln soll oder lieber 
sofort amputieren soll. Natürlich kann auch die 
konservative Behandlung versagen. Das wich¬ 
tigste Mittel der konservativen Behandlung ist 
das Sonnenlicht. Beim Lupus ist die bakterien¬ 
tötende Wirkung des Sonnenlichts das wirksame. 
Für tiefe Herde gilt das nicht. Das Pigment ist 

23* 





Mai .• 


180 , Die Therapie der Gegenwart 1921 


es auch njcht.^ Wer-sich nicht pigmentiert, ver¬ 
trägt die Lichtbehandlung nicht, er reagiert mit 
Fieber und Entzündung. Das kam aber nur ein¬ 
mal, bei einem Albino, vor. Das wesentliche der 
Lichtwirkung ist ihre Entzündungserregung. Fie¬ 
ber und Temperatursteigerung sind nicht gleich¬ 
bedeutend. Vor dem Licht hat Bier andere ent¬ 
zündungserregende Mittel angewandt: Wärme, 
Stauung, die eiweißzersetzende Wirkung art¬ 
fremden Blutes. Die allgemeine Wirkung des 
Lichtes bekommt man auch durch die Protein¬ 
körpertherapie; die Wirkung ist dieselbe. Auf 
die Wundheilung wirkt die Sonne nicht besser 
als andere Dinge, es fällt nur hierbei das ewige 
Tamponieren und Drainieren und Losreißen des 
Verbandes weg. Mit der Stauungsbehandlung in 
Verbindung mit Jodkali kann m^n dieselben Er¬ 
folge, wie mit der Sonnenbestrahlung erzielen. 
Jod allein wirkt gar nicht auf den tuberkulösen 
Prozeß, aber ganz vortrefflich in Verbindung mit 
Stauung oder Sonnenlicht. Die kalten Abscesse 
und mächtigen granulösen Wucherungen werden 
dadurch vermieden. Jodismus tritt dabei nicht 
auf oder schwindet, wenn man das Mittel einige 
Tage aussetzt. Tuberkulin hat er in der Anstalt 
in Hohenlychen verlassen, gebraucht es aber 
noch in der städtischen Poliklinik. Das Material 
setzt sich aus lauter schweren Fällen mit hohem 
Fieber, über 70% aufgebrochene Tuberkulose, 
zusammen. Das gute Aussehen der Kranken in 
Hohenlychen kann nicht durch die leider sehr 
schlechte Verpflegung bedingt sein. Von dem 
Friedmannschen Mittel hat er keine Erfolge ge¬ 
sehen. Die Tuberkulose fordert keine feststehen¬ 
den Verbände, sondern nur Entlastung. Die 
oberen Gliedmaßen brauchen keinen Verband. 
Die unteren Gliedmaßen werden mit Bettruhe 
behandelt, brauchen also auch keine Entlastung. 
Aber die Richtigstellung muß durch Verbände 
erfolgen. Feste Verbände haben leicht Ankylose 
zur Folge. Mit methodischen Bewegungen wird 
begonnen, wenn die Schmerzen geschwunden 
sind, was nach ein bis zwei Wochen erreicht ist. 
Dann ist die Gefahr der Knochenzerstörung vor¬ 
bei. Es genügen ganz geringe Bewegungen. Die 
wichtigste Frage ist die, ob man auch in der 
Ebene Erfolge haben kann. Bei 1300 bis 1400 
Tuberkulösen hat er dieselben Resultate, wie im 
Hochgebirge. Ein neuer Versuch wird mitten 
in Berlin auf einem Exerzierplatz gemacht. 
400 Kranke werden da dauernd ambulant behandelt 
werden. Bier ist überzeugt, daß die Erfolge 
ebensogut wie in Hohenlychen sein werden. 
Man soll nicht dauernd besonnen, sondern mit 
den Mitteln wechseln, und dosieren. Kranke 
Kinder von der See soll man in die Soolbäder und 
solche aus dem Binnenlande an die See schicken. 
Umstimmung ist nötig. Die Vermehrung der 
Blutkörperchen irn Hochgebirge ist nur An¬ 
passung ah die verdünnte Luft. Der Sonnen reiz 
in der Ebene verursacht auch Vermehrung der 
Blutkörperchen. Jeder tuberkulöse Herd am 
Körper wird durch die Sonnenbehandlung kon- 
gestioniert, das heißt in einen Zustand der Ent¬ 
zündung gebracht. In Hohenlychen heilen etwa 
70%. Es werden ohne Unterschied die schwersten 
Fälle genommen, auch amyloide. Wenn aus 
äußeren Gründen Ungeheilte die Anstalt ver¬ 
lassen müssen, werden sie in derselben Weise 
zu Hause weiterbehandelt, mit gutem Erfolg. 
Die Sterblichkeit betrug 3,8%, darunter viele 
Amyloide; bei den meisten bestand das Amyloid 
schon bei der Aufnahme. Es läßt sich nicht 
diagnostizieren, denn Eiweiß und Cylinder schei¬ 
den viele aus, die später ganz ausheilen. Es 


handelt sich dabei um ein^ toxische Nephritis. 
Fast ebenso '^iele starben ^n Meningitis, selbst 
nach Heilung des primären Herdes. Also die 
Neuentstehung tuberkulöser Herde wird durch 
die Sonhenbehaudlung nicht verhindert. Die 
übrigen starben an sonstiger Tuberkulose und 
anderen Krankheiten. Außer der chirurgischen 
Tuberkulose war die Tuberkulose des Darmes, 
des Bauchfells, der Hoden und des Urogenital¬ 
apparats einschließlich der Nieren am dankbar¬ 
sten für die Sonnenbehandlung. Seit einem Jahr 
wird auch die Lungentuberkulose besonnt, wie 
Bier hofft, mit gutem Erfolge, doch muß man 
individualisieren. In der Prophylaxe spielt die 
Gymnastik, wie sie die Griechen trieben, eine 
große Rolle. Sie ist um so nötiger, als die mit 
der allgemeinen Wehrpflicht verbundene Gym¬ 
nastik, weggefallen ist. 

König führte folgendes aus: Der tuberkulöse 
Herd ist eine Gefahr für den Körper und muh 
entfernt werden, denn er kann zu einer Verall¬ 
gemeinerung der Tuberkulose führen. Dieser 
Grundsatz ist 1872 von Hueter aufgestellt. Die 
operative Entfernting kranker Drüsen brachte 
nur 60% Heilung* Es wurde auch nicht die 
Lungentuberkulose und der postoperative Tod 
dadurch verhindert. Die konservative Behand¬ 
lung ist der Operation der Drüsen vorzuziehen. 
Eine Umfrage bei 22 Chirurgen ergab drei Gruppen 
bezüglich ihrer Stellungnahme gegenüber der 
Knochentuberkulose; die erste Gruppe bildet 
Bier allein. Es nähern sich ihm einige Chirurgen, 
bei jugendlichen Kranken. Die zweite -Gruppe 
operiert bei Versagen der konservativen Behand¬ 
lung. Hier hat sich gezeigt, daß auch das Schwei¬ 
zer Klima die Kniegelenkstuberkulose nicht heilen 
kann. Die dritte Gruppe entfernt den kranken 
Herd sofort. Es fehlt leider eine Kritik über die 
Erfolge der Stauung. Eine Statistik hat keinen 
großen Wert, da die meisten Chirurgen nur die 
schwersten Fähe resezieren. Von 1900 Nach¬ 
untersuchten waren 371 gestorben, von denen 
ein großer Teil im Gelenk ausgeheilt war. Dauernd 
geheilt sind 68%. Schlottergelenk bestand bei 
1%. Das Handgelenk zeigte 75% gute Erfolge. 
Die Nachbehandlung ist ausschlaggebend für den 
Erfolg. Werden die Knochenherde im Gesunden 
ausgeräumt, so sind die Erfolge wunderbar. Die 
Epiphysenlinie muß möglichst geschont werden. 
Bei örtlicher Tuberkulose am Knochen, besonders 
in Gelenknähe, muß man den Herd entfernen. 
Wenn er in das Gelenk durchbricht, muß reseziert 
werden. Bei schwerer tuberkulöser Mischinfek¬ 
tion muß erlaubt sein, sofort zu operieren. Wenn 
bei konservativer Behandlung der Prozeß weiter¬ 
schreitet, muß man eingreifen dürfen, ehe Am¬ 
putation nötig wird. Auch bei alten Leuten muß 
man resezieren dürfen. Die Resektion ist nur 
eine Episode neben der Allgemeinbehandlung 
der Tuberkulose. 

Garre bekennt sich als überzeugter An¬ 
hänger der konservativen Behandlung. Er wendet 
jetzt reichlich Röntgenbestrahlung an und seine 
Erfolge sind besser als 1913. In kalte Abscesse 
wird Jodoform eingespritzt. Stauung und Jod 
verwendet er nicht, wohl aber fixierende Ver¬ 
bände, da es sich ja meist um ambulante Kranke 
handelt. Die Heilungen bei konservativer Be¬ 
handlung zeigen oft Rückfälle, da die Herde 
nicht, wie bei Resektion, geheilt, sondern nur 
abgekapselt sind. Das gilt auch für Biers Fälle. 
Bei Kindern ist er konservativer geworden. Aber 
Sequester in Gelenknähe und eiternde Fisteln 
werden operiert, ebenso ausgedehnte Gelenkzer¬ 
störung, denn bei diesen regeneriert sich nur 



. M ai 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


181 


wenig und ohne Operation treten Rückfälle auf. 
Abscesse, die das Rüc^kenmark komprimieren, 
sind zu entleeren. Eiseisberg: Bei Kindern ist- 
möglichst konservativ zu verfahren, doch werden 
gelegentlich Sequester entfernt. Quarzlampe 
und Röntgenbestrahlung, besonders die erstere, 
geben gute Erfolge bei Drüsen, weniger bei Kno¬ 
chentuberkulose. Der fixierende Verband ist in 
der'ambulanten Behandlung unentbehrlich. Wo 
möglich keine Resektion im Sprung-, Hand- und 
Ellbogengelenk, nur bei lange bestehender Eite¬ 
rung. Die Amputation muß auch gelegentlich aus¬ 
geführt werden. Nach ihr geht Lungentuberkulose 
oft schnell zurück. Auch die soziale Indikation 
•ist zu berücksichtigen. Bei kalten Abscessen 
wird gespalten, Jodoformglycerin eingefüllt und 
zugenäht. Spondylitische Abscesse müssen lange 
konservativ behandelt werden. Müller (Rostock) 
hat sich von der^ufsaugung großer Sequester 
durch konservative Behandlung in Hohenlychen 
überzeugen lassen. — Anschütz: Die Röntgen¬ 
bestrahlung wirkt bei dem Hüftgelenk schlecht, 
bei Knie-, Hand- und Fußgelenk recht gut. — 
Borchard hat trotz ausgedehnter Sonnen¬ 
behandlung die Resektion und ‘Sequestrotomie 
nicht aufgegeben. — He nie berichtet über 70% 
Dauerheilung nach acht Jahren bei konservativer 
Behandlung. Hat in der Stadt Dortmund mit 
Sonnenbestrahlung auch gute Erfolge. — 
Kümmell ist großer Anhänger der Stauung, der 
Luft- und Sonnenbehandlung. Kalte Abscesse 
spaltet er, füllt mit Jodoform und näht zu. — 
Nach Shoemakers Ansicht kann die Sonne 
das Entstehen der Tuberkulose verhüten, denn 
in den holländischen Kolonien kennt man keine 
Tuberkulose. — Gocht hält es für nötig, daß 
die ambulante konservative Behandlung durch 
Zeiten stationärer Behandlung unterbrochen wird. 
— Goebei hat seit acht Jahren das Friedmann- 
sche Mittel bei verschiedenen chirurgischen Tuber¬ 
kulosen angewandt, hat keine Schädigung, aber 
viele Dauerheilungen gesehen. — Das Tuberkulin 
wird bei Bier seit acht Jahren in der ambulanten 
Behandlung verwandt. Es hat eine große Heil¬ 
kraft, aber auch gewisse Gefahren. Die Methode 
von Dönitz ist ungefährlich. Alttuberkulin wird 
bis zum Auftreten einer Herdreaktion eingespritzt. 
Dann wird unterbrochen und allgemeine Reiz¬ 
mittel angewandt. Nach vier bis acht Wochen 
wird wieder eingespritzt und so abwechselnd fort¬ 
gefahren. Die Kranken dürfen nicht zu elend 
sein, die Herde nicht zu ausgedehnt sein. Am 
besten eignen sich Tuberkulose der Weichteile, 
Drüsen und Skrophuloderma. Bei Knie-, Hüft- 
und Wirbelsäulentuberkulose ist es verboten. 
Bei Behandlung des Fußes sind entlastende Vet- 
bände nötig. — Tilmann impft jeden Tuberku¬ 
losen im Abstand von vier Wochen nach Deycke- 
Much. Bleibt der Titer unverändert oder hat 
er zugenommen, so ist das ein gutes Zeichen und 
die Behandlung ist konservativ; hat aber der 
Titer abgenommen, so verfährt er radikal. — 
Clairmont wendet die Wildbolzsche Methode 
der Eigenharnreaktion bei Tuberkulosen zur 
Pirquetschen Reaktion an. Der Urin wird einge¬ 
dickt. Das Antigen kann im Harn fehlen, kann 
zu spärlich vorhanden sein; es kann ferner eitle 
positive Reaktion durch Harnstoff oder Salze 
entstehen, ohne Anwesenheit von Antigen; und 
schließlich gibt es Kranke, bei denen die Reaktion 
versagt. Bei florider Tuberkulose ist die Reaktion 
meistens positiv, doch manchmal schwach. Nicht¬ 
tuberkulöse reagieren nicht, oder nur schwach. 
Sie ist positiv im Frühstadium. Im chronischen 
Stadium läßt sie^m Stich. Das Alter spielt keine 


Rolle. Bei fünf radikal Operierten, die vorher 
stark positiv waren, war die Reaktion nachher 
negativ. Konservativ Behandelte zeigen die 
Reaktion gewöhnlich weiter, aber abnehmend. 

Kulenkampf beschreibt eine Krankhei,t,-die 
er Staphylokokkenerysipel nennt. Sie tritt 
im Gesicht auf, sieht aus, wie Rose, nur ist die 
Färbung blaurot. Grenzen verwaschen» Häufig 
Bläschen. Durch die Röte ziehen sich perlschnur¬ 
artige Stränge. Hohes Fieber. Puls niedrig, voll. 
Euphorie. Schüttelfrost bisweilen im Beginn oder 
Verlauf. Dauer 5 bis 24 Tage. Prognose schlecht. 
90% Mortalität. Durch zahlreiche Thromben 
kommt es zur Sepsis. Nur frühzeitige Incisi’on 
hilft. Der Erreger ist der Staphylokokkus. — 
Müller (Rostock) möchte die Krankheit als 
Furunkulose und Phlegmone bezeichnet wissen^ 
doch berechtigten die vorgeiührten Bilder die 
Bezeichnung Staphylokokkenerysipel. 

Vogt berichtet* über die Grundlage und 
die Leistungsfähigkeit der intrakardialen 
Injektion zur Wiederbelebung. Es komtnt 
nur die intraventrikuläre Form in Betracht. Das 
Medikament muß am Herzen selbst angreifen 
und darf das Myokard nicht schädigen. Spätestens 
zehn Minuten nach dem Herzstillstand muß die 
Injektion erfolgen, sonst spricht das -Großhirn 
nicht mehr an, wenn auch das Herz wieder an¬ 
fängt zu arbeiten. Auch für die Herzmassage ist 
15 Minuten nach Stillstand der späteste Zeitpunkt. 
Campher, Coffein, Digitalis sind zu schwach oder 
reizen das Myokard. Strophantin schädigt das 
Myokard schwer. Die Nebennierenpräparate 
wirken großartig, werden auch vom Herzmuskel 
gut vertragen. Das Suprarenin hebt die sechsfache 
tödliche Chloroformdosis auf. Maximaldosis 
1 ccm. Hypophysin steht ihm an Wirkung kaum 
nach; man kann es auch bei Blutdrucksteigerung 
anwenden, das Suprarenin aber nicht. Die In¬ 
jektion erfolgt im vierten und fünften Intercostal-' 
raum am oberen- Rippenrand. Er erlebte fünf¬ 
zehn Dauererfolge. 

Oehlecker berichtet über 150 Bluttrans¬ 
fusionen von Vene zu Vene, mit Hilfe einer 
Spritze. Im ganzen 800—1000 ccm transfundiert. 
Erst 10 ccm und wenn dann keine gefährlichen 
Symptome als Zeichen von Hämolyse auftreten, 
wird weiter gespritzt. Die serologischen Vorunter¬ 
suchungen lassen oft im Stich. Verwandtschaft, 
Geschlecht, Rasse spielen keine Rolle. Man kann 
auch denselben Spender zweimal nehmen. Der, 
allerdings nur vorübergehende, Erfolg bei sekun¬ 
dären Anämien bei Carcinom war oft überraschend. 
Auch bei perniziöser Anämie ist der Erfolg nur 
vorübergehend, doch gut. Ein Kranker hat sich 
35 Transfusionen machen lassen. — Hotz legt 
wohl Wert auf vorhergehende serologische Unter¬ 
suchung. Einer Hämolyse geht immer Aggluti¬ 
nation vorher und die Untersuchung läßt sich 
schnell ausführen, wenn man immer Serum vor¬ 
rätig hat. 

Ostermann berichtet über Instrumente 
aus rostfreiem Stahl, die bei Krupp in Essen 
hergestellt werden. Dieser Stahl enthält 20% 
Chrom und 7 bis 8% Nickel. Er wird nicht einmal 
von Salpetersäure angegriffen. Die Instrumente 
sehen schön aus, haben sich bei längerer Probe 
gut bewährt. Ihr Preis ist etwa der dreifache 
von gewöhnlichen, vernickelten. 

Sudeck unterscheidet bei der Basedowschen 
Krankheit die klassisehe Basedowkrankheit, 
den Thyreoidismus und die Fo.rmes frustes. 
Die Basedowkrankheit ist eine Dysthyreose. Der 
Unterschied gegen Thyreoidismus kann durch 
einen quantitativen Unterschied der Sekretion 



182 


Die 


Therapie 


der Gegenwart 


1921 ; 


Mär 


gegeben sein. Formes frustes haben mit. der 
Schilddrüse wenig oder nichts zu tun, wenn auch 
ein Kropf besteht; es handelt sich um Sekretions¬ 
störungen anderer innerer Organe. Die Opera¬ 
tionsergebnisse sind bei ihnen schlecht. Seit vier 
Jahren entfernt Sud eck bei Basedow beide 
Schilddrüsenhälften bis auf einen kleinen Stumpf 
mit Unterbindung der Arterien. In einem Falle 
trat Tetanie auf, nachdem vor der Operation 
lange Röntgenbehandlung durchgeführt worden 
war. Alle weniger radikalen Methoden geben 
schlechte Erfolge. In fünf ganz besonders schweren 
Fällen hat er die Schilddrüse gänzlich entfernt. 
Bei Schilddrüsenfütterung fühlten sich alle fünf 
wohl. Herzvergrößerung blieb bestehen. Aber 
diese Methode ist nicht als Regel zu empfehlen. 
Er hatte bei 280 Basedowoperationen mit nicht 
radikalen Methoden 52%, mit radikalen Methoden 
90%, mit der Totalexstirpation 100% Heilung. 
Die Heilung hängt von dem Zustand der Schild¬ 
drüse ab. Die gleichzeitige Entfernung der 
Thymus ergab keinen Unterschied im Erfolg. 
Die Operation beim Thyreoidismus ergab in 
letzter Zeit noch ein Drittel Mißerfolge. Das 
liegt an diagnostischen Fehlern. — Eiseisberg 
und Sauerbruch warnen vor der bewußt aus- 
geführteu Totalexstirpation. 

Kirschner füllt bei alten fistelnden Em¬ 
pyemen nach Freilegung von vorn die am 
schwersten auszufüllende Kuppe der Höhle 
durch die eingelegte Mm. pector. mai. und 
min. aus. — Götze läßt eine kleine Maske 
dauernd tragen, die die Lunge dehnt. — Küm- 
mell empfiehlt bei kleineren Höhlen die Fistel 
auszukratzen, nicht zu tamponieren, mit un¬ 
durchlässigem Stoff zu bedecken. Nach vierzehn 
Tagen schließt sich die Fistel, die vier bis fünf 
Monate bestanden hat. — Jänkel hat in einem 
Vierteljahr eine ungeheure Höhle zum Schwund 
gebracht durch Spülungen und Eingießung von 
Pepsin 1 % — Borsäurelösung. Jedenfalls wurde 
dadurch die dicke Schwarte aufgelöst. 

Von Bronchektasen sind etwa 80% ange¬ 
boren und auf den linken Unterlappen beschränkt; 
elfmal ist dieser Lappen reseziert. Die ersten 
sechs sind gestorben. Bei weiteren sieben hat 
S'auerbruch in mehreren Sitzungen operiert. 
Von ihnen sind sechs geheilt. 

Braun berichtete über die Abgrenzung 
der allgemeinen, derLumbal- und derört- 
lichen Betäubung. Die Lumbalanästhesie hat 
eine viel größere Mortalität im Gefolge, als die 
Allgemeinnarkose. Die Gefahr nimmt mit der 
Ausbreitung des Mittels nach oben zu. Sie ist 
zu beschränken auf Operationen im‘ Bereich der 
untersten Rückenmarkssegmente. Mit dieser 
Beschränkung dürfte die Sterblichkeit erheblich 
sinken.' Sie ist ein wertvolles Ausnahmeverfahren 
mit beschränktem Anwendungskreis. Nur in 
1% der Operationen ist sie angezeigt. Die* hohe 
Sakralanästhesie steht der Lumbalanästhesie an 
Gefahr kaum. nach. Die Gefahr besteht in der 
schnellen Aufsaugung des Novocains. Sie wird 
hart bedrängt durch die parasakrale Anästhesie. 
Die Venenanästhesie hat wenig Anhang gefunden. 
Die Lokalanästhesie -ist in ihrer ursprünglichen 
Form ungefährlich. Sie wird in manchen An¬ 


stalten, in 90% aller Operationen ausgeführt. Er 
selbst wendet sie in 50% an. Toxische Neben-* 
Wirkungen des Novocain bestimmen die Grenzen 
der Lokalanästhesie. Hier scheinen örtliche 
Unterschiede zu herrschen. So klagen manche 
Chirurgen über Erbrechen und Nierenreizung. 
Novocainvergiftung, kommt bei der alten Art 
selten vor. Erst nach sehr großen Dosen oder 
Einspritzung dicht an der Wirbelsäule treten 
Vergiftungserscheinungen auf. Bedenklich ist die 
Einspritzung ins Ganglion Gasseri. Die örtliche 
Betäubung hat die Lungenerkrankungen nach 
Bauchoperationen nicht vermindert. Bei lange 
dauernden Bauchoperationen empfiehlt er Mor- 
phin-Scopolamin, Lokalanästhesie, und wenn 
nötig, zwischengeschobene kurze Allgemeinnarkose. 
Die paravertebrale Anästhesie ist viel zu umständ¬ 
lich, die Nadelführung zu unsicher, die Dosis zu 
hoch, Kollapse nicht selten. Die gervicalanästhesie 
muß auch noch verbessert wÄden. Über die 
Splanchnicusanästhesie läßt sich noch kein 
sicheres Urteil fällen. Die Anästhesie des Plexus 
brachialis hat sich weit verbreitet, es besteht bei 
ihr allerdings die Gefahr der Verletzung von 
Lunge und Pleura. 

Denk berichtete über die allgemeine Nar¬ 
kose. Ihre Gefahr hat bedeutend abgenommen. 
Der Aether wird immer mehr als Narkoticum 
der Wahl verwandt, da er viel harmloser als 
Chloroform ist. Ein primärer Herztod tritt bei 
ihm wohl nicht ein. Am besten sind die offenen 
Narkoseapparate oder offene Masken mit Tropfen¬ 
methode. Lungenkomplikationen sind meist 
auf behinderte Atmung infolge Wundschmerz 
zurückzuführen. Daher ihr häufiges Auftreten 
nach Operationen der oberen Bauchgegend. Die 
Aspirationspneumonie läßt sich durch gute Tech¬ 
nik vermeiden. Scopolamin-Morphin wird in 
größeren Dosen nicht mehr gegeben. In Wien 
lassen sie es wegen Einwirkung auf das Herz weg. 
Sie geben Atropin mit Morphin oder Pantopon. 
Nach der Operation sind Atemübungen und steile 
Lagerung • angezeigt. Gegen den Wundschmerz 
Morphin. Auch Chinin ist ein gutes Prophylak- 
ticum. Chloroform soll möglichst vermieden 
werden. Besonders verboten ist es bei Opera¬ 
tionen an der Leber und im Bereich der Pfort¬ 
ader. Längeres Fasten vor der Operation schä¬ 
digt die Leberzellen. Die Billrothmischung ist 
sehr zu empfehlen. Auch die Narkose im ver¬ 
kleinerten Kreislauf ist gut, doch ist eine Neigung 
zu Phlebitis festzustellen. Chloräthyl wird zürn 
Rausch ausgedehnt angewandt; in größerer Dosis 
und für längere Operationen ist es ein schweres 
Gift. 

Ein Diskussionsredner hat mehrfach durch die 
Bauchdecken Novocain-Suprarenin in die Bauch¬ 
höhle gespritzt, bis zu großen Mengen, ohne üble 
Folgen. Es trat fast immer völlige Unempfind¬ 
lichkeit der Bauchhöhle ein. In einigen Fällen 
trat eine allgemeine Anästhesie bei erhaltenem 
Bewußtsein auf, in zwei Fällen Erregungszustände. 
— Kausch macht nur noch 20% Lokalanästhe¬ 
sien. Er gibt 1,5 mg Scopolamin. — Eiseis¬ 
berg hatte in 1000 Lumbalanästhesien keine 
Schädigung, Kopfschmerzen in 7%. — Müller 
(Rostock) erlebte bei 5000 Lumbalanästhesien 
einen Todesfall. 





Mm Die Therapie der Gegenwart 1921 • 183' 

■ - . ■ — ■ . - \ — ■ — ■ ■ - ■ • — , ■ . - 

33. Kongreß der Deutsclien Gesellschaft für innere Medizin, 
Wiesbaden, 18.—21. April 1921. 

Bericht von G. Kiemperer. 


Seitdem ich diese Zeitschrift heraus¬ 
gebe, seit 21 Jahren, habe ich mit wenig 
Ausnahmen alljährlich einen Bericht über 
den Kongreß für innere Medizin geschrie¬ 
ben. Nun wird mir die Freude-^uteil über 
die Tagung zu berichten, ^er ich selbst 
Vorsitzen durfte. Bei ihrer’^Vorbereitung 
Jhabe ich mich von der Meinung leiten 
lassen, die ich von dem Begründer des 
Kongresses, meinem un verge ß li chen 
Lehrer Leyden, überkommen habe, daß 
alles Forschen und Streben der inneren 
Medizin in der Therapie gipfeln müsse, 
und habe deswegen, mit Zustimmung der 
berufenen Gesellschaftsorgane, als Gegen¬ 
stände der großen Referate therapeuti¬ 
sche Probleme gewählt, die ich ebenso 
vom wissenschaftlichen wie vom prak¬ 
tischen Standpunkt erörtert wissen wollte. 
Es waren als Verhandlungsgegenstände 
die Behandlung der Lungentuberku¬ 
lose und des Diabetes mellitus be¬ 
stimmt, zwei Gebiete, auf denen in den 
letzten Jahren viele wichtige neue Fragen 
der Entscheidung harrten, an denen in 
gleicher Weise die wissehschaftlichen For¬ 
scher wie die ärztlichen Praktiker inter¬ 
essiert waren. 

An die großen Referate mit deh'an¬ 
schließenden Mitteilungen und Aus¬ 
sprachen reihten sich fast 100 Einzelvor¬ 
träge besonders aus den Gebieten des 
Stoffwechsels und der Verdauung, der 
Hämatologie, und der Herz- und Nieren¬ 
krankheiten; durch Gruppierung^ und 
Verständigung gelang es, fast alle Vor¬ 
tragenden zu Gehör und zur Wirkung 
gelangen zu lassen. In mir ist bei der 
Ordnung und Leitung der Verhandlungen 
stets das Gefühl lebendig gewesen, das 
jede öffentliche Wirksamkeit beherrschen 
und durchdringen muß: Ehrfucht vor der 
Leistung. So traten bedeutsame Mit¬ 
teilungen jüngerer Forscher, die zum 
Teil praktische Fortschritte brachten, 
gebührend in den Vordergrund und ver¬ 
schafften auch den ärztlichen Teilnehmern 
wirkliche Anregung und Förderung. Es 
gereicht mir zur größten Genugtuung, daß 
eine überaus große Anzahl ausübender 
Ärzte an der Tagung teilgenommen und 
die Mitgliedschaft erworben hat; die 
Deutsche Gesellschaft für innere Medizin 
dient in gleicher Weise den Interessen 
der Praktiker wie der Kliniker; denn die 
innere Medizin, deren Fortschritt aus so 


vielen Quellen der reinen Wissenschaft 
gespeist wird, ist das Hauptarbeitsgebiet 
des praktischen Arztes. Möchte der- fol¬ 
gende Bericht in vielen Lesern die Vor¬ 
stellung lebendig und wirksam werden 
lassen, daß es eine vornehme Pflicht der 
deutschen Ärzte ist, sich einer Gesell-, 
Schaft anzuschließen, welche den Beruf 
hat, das Hauptstück ärztlicher Lebens¬ 
arbeit zu fördern und auszugestalten. 

Die Verhandlungen wurden eingeleitet durch 
die Eröffnungsrede, welche in diesem Hefte ab¬ 
gedruckt ist. Das Hauptreferat begann mit dem 
Vortrag von Aschoff (Freibürg) über die natür¬ 
lichen Heilungsvorgänge bei der Lungenphthise. 

Die Absicht des Vortragenden war es, unter 
Zusammenfassung der neueren Untersuchungen 
die Wege anzudeuten, auf denen sich in der Frage 
der natürlichen Heilungsvorgänge der Lungen-' 
phthise die zukünftigen pathologisch-anatomischen 
Forschungen bewegen müssen. Auch hier wie 
auf fast allen Gebieten der Nosologie hat sich 
die pathogenetische am fruchtbarsten .erwiesen: 
wo und wie entwickeln sich die verschiedenen 
Formen? Man unterscheidet an der Lunge ein 
exkretorisches oder Bronchial- und ein respirie¬ 
rendes oder Alveolarsystem. Dieses gliedert sich 
in Lappen, Läppchen und Azini. Über letztere 
besitzen wir noch kein ganz klares Bild. Die hier 
noch bestehenden Widersprüche gründen sich 
auf eine nicht genügende Unterscheidung der 
Bronchioli respiratorii verschiedener Ordnung. 
Durch die zunehmende Zahl dieser Alveolen 
unterscheiden sich die in kurzen dichotomischen 
Verästelungen ineinander übergehenden respira¬ 
torischen Bronchioli 1., II. und III. Ordnung. 
Erst mit dem überall von Alveolen besetzten 
Gängen beginnt das rein respiratorische System. 
Aus dieser Komplikation des Aufbaues ergibt sich 
die Schwierigkeit, seine Funktion zu analysieren. 

Dieses respiratorische System im engeren 
Sinn ist es, in welchem siqhdie wichtigsten Ent¬ 
zündungen abspielen. Die Wirbelbildungen hinter 
dem Engpaß der Bronchioli terminales und der 
Bronchioli respiratorii I, die zunehmenden sack¬ 
artigen Ausbuchtungen der Wandungen im Gebiet 
des Bronchiolus respiratorius II. bedingen leicht 
ein Liegenbleiben von allerlei Fremdkörpern, also 
auch Von Mikroorganismen. Hier beginnen fast 
alle aerogenen Entzündungen der Lunge: Mit 
dem von Rindfleisch eingeführten Begriff der 
acinösen Herdbildung soll aber nicht nur eine 
räurnliche, sondern auch eine funktionelle Vor¬ 
stellung verbunden werden, da der reaktive Pro¬ 
zeß trotz der Verstopfung der respiratorischen 
Bronchiolen sehr bald auf die Alveolengänge über¬ 
zugreifen pflegt. Demgemäß, versteht der Vor¬ 
tragende unter Acinis die von einem Bronchiolus 
respiratorius beherrschte, durch dessen Teilung 
in die vorerwähnten Gebiete bis zu den Alveolar¬ 
säcken zum Ausdruck kommende letzte Einheit 
des respiratorischen Systems. Was sich vor¬ 
wiegend hier ausbreitet, ist ein acinöser Prozeß. 

Neben diesen räumlichen Begriffen kommt 
es zum Verständnis der Heilungsvorgänge auf 
die Kenntnis der Reaktionsformen des phthisisch 
affizierten Organismus an. Neben dem Sitz der 
Erkrankung muß uns die Eigenart des phthisi- 






184 Die Therapie der 


scheh Prozesses interessieren; Es gilt zwei Haupt¬ 
formen defensiver Reaktion, die produktive und 
die exsudative, die teils gemischt, teils rein auf- 
treten können. Die erste Reaktion wird, wie man 
^allgemein annimmt, von den Bacillen selbst, die 
zweite durch die aus ihrem Zerfall frei gewordenen 
Gifte bestimmt. 

Bei Unterscheidung der produktiven von der 
exsudativen Phthise und bei Berücksichtigung 
ihrer Lokalisation im exkretorischen und im re¬ 
spiratorischen System ergibt sich zwanglos fol¬ 
gende Einteilung: Beide Gruppen beginnen mit 
acinösen Formen, um sich dann über Läppchen 
und Lappen auszubreiten. Für die äcinös-pro- 
duktive Phthise ist die knötchenförmig vor¬ 
springende Kleeblattform charakteristisch. Durch 
Infektion von Nachbarbronchiolen häufen sich 
die acinösen Herde zu Knoten an. Diese häufigste, 
meist mit Indurationsvorgängen verbundene Form 
der chronischen Lungenphthise wird als acinös- 
nodöse Plrthise bezeichnet, die sich zum Bild 
der cirrhotischen Phthise entwickeln kann. 

Ähnlich entwickelt sich die exsudative 
Phthise, die sich neben ihrer stärkeren Neigung 
zur Verkäsung gegenüber der produktiven Form 
durch größere Konfluenz ihrer Herde auszeichnet, 
zumal Ausheilungsvorgänge erst spät und un¬ 
vollkommen einsetzen. Es kommt also, besonders 
bei stärkerer Infektion, zur lobulär- und 
lobär-exsudativen Phthise beziehungsweise 
zur lobulär und lobär verkäsenden Phthise. 

Bei beiden phthisischen Reaktionsformen läßt 
sich von einer defensiven und von einer pro¬ 
liferativen Phase sprechen. In allen Entwick¬ 
lungsstadien der defensiven Prozesse, schon vor 
oder erst nach eingetretener Verkäsung kann 
nun der Umschlag in die Heilung, in die repa- 
ratorische Phase eintreten. - 

Bei der produktiven Form der defensiven 
Reaktion zeigt die histologische Beobachtung, 
da'ß die Reparation in einer ganz spezifischen 
Narbenbildung besteht. Die Epitheloidzellen 
bilden ein hyalin geschwollenes Faser- und Band¬ 
system. Ist das Centrum des Tuberkels schon 
verkäst, so geht der sich eindickende Käse ganz 
allmählich in das specifische hyalin-fibröse Narben¬ 
gewebe über. Das verkäste'Centrum kann sich 
mit Kalk beladen, durch zunehmende Eindickung 
kleiner werden, eine Organisation des Käses etwa 
wie die des gewöhnlichen Fibrins lehnt der Vor¬ 
tragende ab. Deshalb die unvollkommene Heilung 
phthisischer Herdbildungen. Der Herd wird ab¬ 
gekapselt, aber nicht umgewandelt (obsolete 
Phthise). Auch der ursprünglich perifokale 
Reaktionshof kann sich an diesen Ausheilungs¬ 
vorgängen beteiligen. Die nicht resorbierten 
Exsudatmassen werden organisiert. So ent¬ 
wickelt sich, und zwar unter teilweiser besonders 
starker Zerstörung des elastischen Gewebes, eine 
zweite nicht specifische Kapsel. Diese doppelte 
Einscheidung eines Käseherdes mit specifischer 
und nichtspecifischer Kapsel ist ein Gesetz. 

Bei der exsudativen Form spielen beim Über¬ 
gang der defensiven zur reparativen Phase die 
Resorptionsprozesse eine besondere Rolle (Reso¬ 
lutionsform der Phthise). Klinisch nachweisbare 
umfangreiche Aufhellungen sprechen dafür. Die 
bereits verkästen Exsudatmassen unterliegen 
solcher Resolution nicht mehr; es kann Erweichung 
eintreten, die aber vorwiegend zur gefährlichen 
Entleerung an geeigneten Abführstellen führt. 
In der Regel entwickelt sich mit Stillstand des 
exsudativ-verkäsenden-Prozesses an der Grenze 
der Verkäsung ein specifisches Granulati’ons- 
gewebe, welches nun seinerseits auf die Um- 


' Gegenwart 1921 Mat 


gebun^ fortschreiten kann. Kommt auch dieser 
Prozeß zum Stillstand, so können nun im Bereich 
des specifischen Granulationsgewebes die gleichen 
Vorgänge, d. h. die Umwandlung in eine speci- 
fische hyalin-fibröse Narbe einsetzen wie bei der 
obsoleszierenden Form. Ihr schließt sich nach 
außen wieder.eine nicht specifische Narbe an. 

Diese reparativen Reaktionen bei der Phthise 
sind ungemein -häufig. Ausheilung bildet die 
Regel, Nichtausheilung die Ausnahme. Doch 
gehen von s'ölchen unvollkommen ausgeheilten 
Herden außerordentlich leicht neue phthisische 
affektiv-reaktive'Prozesse aus. 

Zu den genannten Defensiv-, Reparativ- und 
Rezidivformen tritt noch eine als Komplika¬ 
tionsform bezeichnete, .von der Erweichung 
der verkästen Massen ihren Ursprung nehmend. 
Diese im defensiven wie auch noch im reparativen 
Stadium mögliche. Erweichung führt zur Bildung 
von Kavernen. Immerhin muß das Urteil betreffs 
einer wirklichen Reinigung sehr zurückhaltend 
sein, da anscheinend gereinigte Kavernen bei 
genauer mikroskopischer Durchmusterung oft 
genug proliferative, vielfach verkäsende Prozesse 
auf weisen.' 

Die Frage der Ausheilbarkeit einer Lungen¬ 
phthise hängt also wesentlich von ihrem Charakter 
ab. Wenig wissen wir dann, warum sich das 
eine Mal vorwiegend produktive, das andere Mal 
vorwiegend exsudative Prozesse entwickeln, wa¬ 
rum die ersteren bald zur frühzeitigen Induration, 
die letzteren zur schnellen Resorption gelangen 
oder beide zur Verkäsung fortschreiten, warum 
einmal die käsigen ^Massen sich eindicken, ver¬ 
kalken und abgekapselt werden können, ein ander¬ 
mal aber erweichen. — Man denkt zunächst an 
verschiedene Virulenz, Menge, Suspensionsform 
der Phthisebacillen, an Mischinfektionen usw. 
Doch ist diese Erklärung nicht für alle Fälle aus¬ 
reichend, z. B. für Infektionen, die bald mit 
produktiver, bald mit exsudativer Defensivform 
verlaufen. Bestimmte Stoffwechselstörungen, wie 
der Diabetes, bestimmte physiologische Um¬ 
stimmungen, wie das Puerperium, lassen die 
exsudativen Formen stärker hervortreten. Um¬ 
gekehrt geben Reizzustände, z. B. durch die ver¬ 
schiedenen Koniosen, einen günstigen Boden für 
die produktive Reaktionsform. Andere ^Autoren 
betonen den Antagonismus zwischen Nephritis, 
Carcinom, Vitium cordis und der proliferierenden 
Phthise. Andererseits befördert die Krebs¬ 
kachexie die Rezidivbildung aus verkreideten und 
verkästen Herden. Jede Erschöpfung läßt die 
exsudative Reaktion lebhafter werden. Die Er¬ 
weichung ist zweifellos mit abhängig von stärkeren 
Durchströmungen, wie das die Durchbruchs¬ 
prozesse nach Masern, Grippe, Keuchhusten 
zeigen. Wovon die erwünschte schnelle Ver¬ 
kalkung abhängt, ist unbekannt. 

Der Morphologe kann jedoch zu dem letzten 
noch übrigbleibenden Problem, ob im Ablauf der 
Phthise selbst gesetzmäßige Schwankungen der 
Reaktionsformen, anscheinend abhängig von den 
durchlaufenen Immunitätsstadien Vorkommen, 
anatomische Belege beisteuern. 

Während nämlich die kindliche Phthise 
durch unregelmäßige Lokalisation, starke Mit¬ 
beteiligung der Drüsen und große Neigung zu 
Generalisation gekennzeichnet ist, so die der 
Erwachsenen durch den Ausgang von den Spitzen 
und die vorwiegende Beschränkung auf die Lunge. 
Man hat versucht, diese Unterschiede mit ana¬ 
tomischen Differenzen der kindlichen und der 
erwachsenen Lunge zu erklären. Der Vortragende 
glaubt, daß beim Erwachsenen dem stärkeren 




Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


185 


Rußgehalt, der zunehmenden Verlegung der 
Lymphgefäße, der fortschreitenden Reduktion des 
lymphatischen Gewebes, also besonderen Alters¬ 
umstimmungen, die entscheidende Rolle zukommt, 
wobei auch zu bedenken ist, daß der Mensch mit 
zunehmendem Alter gegen die phthisische Infek¬ 
tion weniger empfänglich wird. Trotzdem- aber 
genügen diese Altersdifferenzen und pathologi¬ 
schen Veränderungen nicht, um die großen Ver¬ 
schiedenheiten der beiden Ablaufsformen zu 
erklären. Mit Ranke unterscheidet man den 
Primäraffekt, die allergische, besser anaphylak¬ 
tische Periode und die Periode der relativen 
Immunität. Man pflegt nun die kindliche Phthise 
mit den beiden ersten Perioden, die des Erwach¬ 
senen mit der dritten zu identifizieren. 

Das Charakteristische des phthisischen Primär- 
.affektes im Säuglings- und Kindesalter ist sein 
unregelmäßiger Sitz und sein typischer Aufbau. 
Er stellt stets eine acinöse oder lobulär-exsudative, 
schnell verkäsende Phthise mit auffallend großer 
Heilungstendenz und raschen Stillständen dar. 
Doch erwirbt nicht jedes Kind einen Primäraffekt 
der Lunge. Die positive Pirquetreaktion kann 
auch auf andere lokalisierte Phthiseinfektion zu¬ 
rückgeführt werden. Ein Teil der Primäraffekte 
geht direkt oder nach kurzer Pause in ein ulceröses 
Stadium' über mit unregelmäßig lokalisierten 
Kavernen inmitten käsig-pneumonischer Herd¬ 
bildung. Charakterisiert ist diese Pejriode durch 
Metastasenbildung auf lymphogenem und häma-^ 
togenem Wege mit Einbruch in den Bronchial¬ 
baum und endobronchialer Ausbreitung; kurzum 
Entwicklung einer generalisierten Phthise, die in 
der hämatogenen miliaren Phthise als in der 
septisch metastasierenden Form ihren Höhepunkt 
erreicht. 

Die Häufigkeit ausgeheilter phthisischer In¬ 
fektionen bei der letzten Gruppe, der isolierten 
Phthise, besagt nichts, wenn man nicht weiß, ob 
es sich dabei um ausgeheilte Primäraffekte oder 
ausgeheilte Reinfekte handelt. In allen Fällen 
von Lungenphthise muß nach dem kindlichen 
Primäraffekt gesucht werden zur Vergewisserung, 
daß tatsächlich die kindliche Infektion erst die 
isolierte Lungenphthise ermöglicht. 

Nimmt man nun den Reinfekt in einer durch 
Primäraffekt disponierten Lunge als Ausgangs¬ 
punkt der fortschreitenden Lungenphthi-se des 
Erwachsenen, so betritt man ein Gebiet, wo die 
Mannigfaltigkeit der Form das einzig Gesetz¬ 
mäßige zu sein scheint. Diese Form neigt mehr 
zur Chronizität und zur Heilung, eben als Ausdruck 
einer relativen Immunität. Da es bei den Re- 
infekten mehr zur Bildung von Nachbarherden 
kommt, so entstehen oft strahlige isolierte, oder 
bei gleichzeitigem Einsetzen mehrerer Reinfekte, 
zusammenhängende schwielige Narben. Das da¬ 
zwischenliegende Gewebe kann emphysematös 
oder atelektatisch sein. 

Die Bedingungen, die zur Lokalisation des 
Reinfektes gerade in den Spitzen führen, hängen 
mit der Frage der Heilbarkeit aufs innigste zu¬ 
sammen. Da biochemische Unterschiede in den 
einzelnen Lungenabschnitten unter gewöhnlichen 
Umständen nicht angenommen werden können, 
so bleiben nur physikalische Erklärungen übrig. 
Bei Voraussetzung einer nicht allzustarken In¬ 
fektion scheint nicht nur ihr Haften, sondern auch 
ihre Heilung von einem bestimmten Maße respi-’ 
ratorischer Energie abhängig, die ein bestimmtes 
Maß von Bewegungsenergie im Blut- und Lymph- 
strom voraussetzt. Sinkt die respiratorische Kraft, 
kommt der Zeitfaktor für eine genügende ört¬ 
liche Wechselwirkung stärker zur Geltung, so wird 


die Infektion effektiv. Sinkt die respiratorische 
Kraft noch weiter, so wird damit die Ausbreitung 
des Virus, die Giftdiffusion beschränkt, die 
Selbsthemmung der Bacillen begünstigt, die 
Heilung bei sonst gesunden Körperkräften ge¬ 
fördert. Der Sitz des Reinfektes scheint jeden¬ 
falls für die Heilung oder Nichtheilung nicht in 
Betracht zu kommen. 

Es käme, da der Sitz des Reinfektes nicht 
das Entscheidendeist, noch seine Ausbreitungs- 
größe in Betracht. Die Zahl der acinösen und 
acinös-nodösen Herde, die sich aus einem solchen 
Reinfekt entwickeln, ist verschieden groß, zweifel- 
• los mit abhän^g von der Ausdehnung des infekr 
tiösen Prozesses im Bronchialsystem. Aus diesem 
können immer wieder neue acinöse Infektionen 
erfolgen. Die Behauptung, daß jede Phthise, 
die die dritte Rippe (v. Hansemann) oder die 
fünfte Rippe (Tendeloo) überschreitet, klinisch 
unheilbar sei, mag praktisch zutreffen, doch sieht 
man ohne weiteres, die gleichen Heilungsvorgänge 
wie im Ober- und Mittelgeschoß auch im Unter¬ 
geschoß einsetzen, wenn es sich um die acinös- 
nodöse Phthise handelt. Das Entscheidende liegt 
in dem Hinzutreten komplizierender Er¬ 
weichungsvorgänge. Selbst bei ausgedehnter 
Verkäsung der acinös-nodösen Herde, bei aus¬ 
gesprochener käsiger Bronchitis, kann durch 
obsoleszierende Prozesse die Ausschaltung des 
infektiösen Herdes von der übrigen Lunge Zu¬ 
standekommen. Entstehen aber klinisch nach¬ 
weisbare Kavernen, dann ist der Fall klinisch ver¬ 
loren; denn die Fälle von klinisch geheilter Phthise 
mit nachgewiesenen Kavernen stellen noch immer 
Ausnahmen dar, ebenso die Selbstheilungen von 
Kavernen durch Druck größerer Exsudate, wie 
auch durch kreidige Verödung des abführenden 
Bronchus. 

Auf die Frage also: warum könnten bestimmte 
Phthisen ziemlich leicht, andere nur schwer, 
andere gar nicht zur Heilung gebracht werden, 
kann der pathologische Anatom folgende Ant¬ 
worten geben: Nicht so sehr Sitz und Aus¬ 
breitung als Charakter derselben entscheidet 
über die klinische Heilbarkeit. Insbesondere für 
die Therapie ist zu bemerken: 

1. Bei unkomplizierten proliferieren- 
den Phthisen hängt die Ausheilbarkeit außer von 
den immunisatorischen Kräften und dem Gesamt¬ 
zustand voir einer genügenden Schonung des er¬ 
krankten Lungengebietes durch möglichste Ruhe¬ 
stellung ab. 

2. Bei den exsudativen Formen der un¬ 
komplizierten prolif erierenden Phthisen 
Vermeidung aller Reizmethoden, welche die Lunge 
mobilisieren (Bestrahlungen, bestimmte Anti¬ 
körperbehandlungen), während die gleichen Me¬ 
thoden bei den produktiven, zumal nodös- 
zirrhotischen Formen die natürliche Neigung zur 
Induration unterstützen können. 

3. Bei den ausgeheilten (indurierten oder 
zirrhotischen) Phthisen: systematische Durch¬ 
lüftung der atelektatisch-bronchiektatischen Par¬ 
tien. 

4. Bei komplizierter Phthise kann Scho- 
nungs- oder specifische Kur die kavernösen Pro¬ 
zesse, die sich auch in mehr oder weniger immo¬ 
bilisierten Lungenabschnitten rücksichtslos aus¬ 
breiten, nicht .beeinflussen. Die Behandlung 
könnte nur eine chirurgische sein. 

5. Die mit anatomischen Belegen zu stützende 
Annahme eines Zusammenfallens der produktiven 
und exsudativen, proliferierenden und indurieren- 
den anatomischen Formen der Phthise mit 
bestimmten Allergiezuständen muß sich 

24 





^86 


Die, Therapie der Gegenwart 1921 


Mai 


auch für die immun biologische Therapie fruchtbar 
erweisen. 

Es folgte das Referat von Uhlenhuth (Ber¬ 
lin) über die experimentellen Grundlagen der 
specifischen Behandlung der Tuberkulose. Eine 
echte Immunität kennen wir bei der Tuberkulose 
nicht. Wie bei der Syphilis haben wir hier eine 
sogenannte „Infektionsimmunität“, d. h. eine 
relative Resistenz gegenüber einer Neuinfektion, 
solange lebende Tuberkelbacillen im Körper vor¬ 
handen sind. 

Es handelt sich also um eine Resistenz in einem 
Körper, bei dem die Infektion noch besteht, nicht 
wie bei anderen Infektionskrankneiten um eine 
Immunität, bei der das Individuum die Krankheit 
überstanden hat. Diese relative Immunität be¬ 
ruht in erster Linie auf einer durch virulente 
lebende Tuberkelbacillen erzeugten Umstimmung 
der Körperzellen, die wir als Überempfindlichkeit 
zu bezeichnen pflegen (allergische Resistenz). 
Insofern kann allerdings auch sie als eine Immu¬ 
nitätserscheinung angesehen werden. 

Der sichtbare und experimentelle Ausdruck 
der specifischen Überempfindlichkeit ist die Tu- 
berkelinreaktion, die als diagnostisches Mittel in 
der Tier- und Humanmedizin von unschätzbarem 
Werte ist. Das Tuberkulin wirkt nicht direkt auf 
die Tuberkuln, sondern, auf das lebende tuberku¬ 
löse Gewebe, das mit Hyperämie und Entzündung 
reagiert. Die specifische Tuberkulösetherapie 
beim Menschen macht sich diese von Koch ge¬ 
schaffene experimentelle Grundlage zunutze, in¬ 
dem durch schwache Herdreaktion (Hyperämie 
und Entzündung) die Heilung des tuberkulösen 
Prozesses gefördert wird. Dabei muß betont 
werden, daß Tierversuche an Meerschweinchen 
und Kaninchen für solche Heilversuche wenig 
geeignet sind, und daß auch die Beobachtungen 
am Menschen (z. B. bei Lupus) als experimentelle 
Grundlagen zu dienen haben. Es soll jedoch nicht 
verkannt werden, daß auch gewisse antitoxische 
Blutantikörper durch ihre entgiftende Wirkung 
symptomatisch von Nutzen sein können. Die 
bei der Behandlung entstehenden antibakteriellen 
Blutantikörper scheinen eine wesentliche Bedeu¬ 
tung nicht zu haben, ob sonst uns noch unbekannte 
Antikörper bei der Tuberkulosetherapie eine 
Rolle spielen, wissen wir nicht, es fehlt dafür die 
experimentelle Grundlage. 

Auch die Deyke-Muchsche Partigentherapie 
ist eine Tuberkulosetherapie mit kleinsten Dosen. 
Eine echte Immunisierung mit durch Lecithin 
oder Milchsäure aufgeschlossenen Tuberkelbacillen 
und der Summe der Partigene (Eiweiß, Fett¬ 
körper, Gifte) ist im Tierversuch und beim Men¬ 
schen nicht gelungen. Der Nachweis von Fett¬ 
antikörpern steht noch aus. Ob die planmäßige 
Erzeugung von Partialantikörpern gegenüber den 
von Much in nicht sehr schonender Weise will¬ 
kürlich dargestellten milchsäure- und wärme¬ 
resistenten Partigenen vorteilhaft oder notwendig 
ist, erscheint zweifelhaft. Eine Immunisierung 
gegenüber Tuberkelbacillen tritt sicher dadurch 
nicht ein. Die viel einfachere Behandlung mit den 
von Koch in denkbar schonender Weise herge¬ 
stellten Tuberkulinpräparaten (Neutuberkulin, 
Bacillen-Emulsion) wird nach den bisherigen Er¬ 
fahrungen auch durch das Partigenverfahren zum 
mindesten in ihrer Wirkung nicht übertroffen. 

Die prophylaktische Immunisierung mit Tu¬ 
berkulinpräparaten gegenüber der Tuberkulose- 
Infektion ist im Experiment nicht gelungen, und 
auch die Erfahrungen beim Menschen sprechen 
nicht dafür, eine therapeutische Wirkung von 


totem Bacillenmaterial beruht in erster Linie 
auf der geschilderten Tuberkulinwirkung. 

Die therapeutische Verwendung von viru¬ 
lenten' lebenden Tuberkelbacillen ist experimen¬ 
tell noch wenig versucht und auch wohl nicht un¬ 
gefährlich. Die Schutzimpfung mit lebenden 
Tubefkelbacillen ist experimentell begründet und 
theoretisch der einzige Weg, auf dem eine Immu¬ 
nität, wie sie die Natur uns vermacht, erzielt 
werden kann. Man würde aber dadurch den Or¬ 
ganismus, wenn auch nur leicht, infizieren. Die 
Immunisierung mit kleinen Dosen artgleicher 
virulenter Tuberkelbacillen dürfte zwar wenig¬ 
stens für den Menschen zu gefährlich sein. Hin¬ 
gegen dürfte man vielleicht mit lebenden abge- 
schwächt^en Bacillen zum Ziele kommen, wie die 
Rinderversuche von Calmette mit durch Galle' 
abgeschwächten Bacillen beweisen. Die Schutz¬ 
impfung der Rinder mit lebenden menschlichen 
Tuberkelbazillen (Behrings-Bovovaccin, Kochs 
Tauruman) hat zwar in der Praxis keine befrie¬ 
digende Ergebnisse gezeitigt^ doch wird durch sie 
ein beachtenswerter zeitlich begrenzter Schutz 
erzielt, der zu weiteren Versuchen in dieser Rich¬ 
tung auff ordert. 

Die Schutzimpfung des Menschen, die unter 
bestimmten Verhältnissen angezeigt wäre, mit 
virulenten Rindertuberkelbazillen dürfte ebenso, 
wie die therapeutische Anwendung zur Zeit noch 
zu gefährlich sein, doch wären auch vielleicht 
durch geeignete Abschwächung Fortschritte zu 
erzielen. 

Die Schutz- und Heilimpfung mit säurefesten 
Bacillen (Friedmann u. a.) hat im Tierversuch 
beim Meerschweinchen und Kaninchen versagt, 
doch scheinen Versuche an Rindern zur Klärung 
der Frage notwendig. Es fehlt dabei offenbar die 
zur Umstimmung des Gewebes notwendige Reiz¬ 
wirkung. Über Schutzversuche an Menschen 
wissen,wir noch nichts Bestimmtes. Die Heil¬ 
erfolge am Menschen sind noch zweifelhaft. Dar¬ 
über muß der Kliniker entscheiden. 

Die Serumtherapie upd Prophylaxe entbehrt 
noch der experimentellen Grundlage, wenigstens 
insofern, als eine Wirkung auf die Tuberkulose¬ 
infektion nach- unseren Kenntnissen über die 
Immunitätsverhältnisse in Frage kommt. Sie ist 
auch bei einer so chronischen Krankheit nicht 
aüssictitsreich. Allenfalls kann eine symptoma¬ 
tische Serumbehandlung in einzelnen Fällen in 
Frage kommen. 

Die Tuberkuloseforschung und experimentelle 
Therapie kann nur gefördert werden, wenn wir 
nicht bei Versuchen an Meerschweinchen und Ka¬ 
ninchen stehen bleiben, sondern bei der Rinder¬ 
tuberkulose anfangen, bei der ähnliche Verhält¬ 
nisse vorliegen \^äe beim Menschen. Zunächst 
scheint das experimentelle Studium der Schutz¬ 
impfung bei Rindern Aussicht auf Erfolg zu ver¬ 
sprechen. Vor allem dürfte die Chemotherapie, 
die zur Zeit allerdings noch der sicheren expe¬ 
rimentellen Grundlage entbehrt, aussichtsreich 
sein; sie ist wohl der-einzige Weg, auf dem es viel¬ 
leicht noch einmal gelingen,.wird, den Erreger der 
Tuberkulose an der Wurzel zu treffen und sie 
wie die Syphilis zur Ausheilung zu bringen. 

Vorläufig sollten wir aber an der Tuberkulin¬ 
therapie festhalten, die noch das beste ist, was 
wir von spezifischen Mitteln besitzen. 

Die Gesichtspunkte der klinischen Therapie 
wurden von Gerhardt (Würzburg) vorgetragen. 

Aus dem Gebiete der Tuberkulose-Behandlung 
greift der Berichterstatter drei Fragen heraus: 
1. Wie weit können wir den einzelnen Fall ge- 




Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


187 


nügend beurteilen, um die Einwirkung der an¬ 
gewandten Heilmittel zu kontrollieren, 2. die Heil¬ 
stättenbehandlung, 3. die Tuberkulinbehandlung. 

1. Die Verlaufsweise der Lungentuberkulose 
ist sehr verschieden: spontane Heilung, schwan¬ 
kender, zumeist fortschreitender Verlauf, rasch 
zum Tode führende Formen; entsprechend ver¬ 
schieden ist auch die Bedeutung des ärztlichen 
Handelns. Gibt es neue Anhaltspunkte -für die 
Prognose des einzelnen Falles zur Ableitung be¬ 
stimmter Indikationen? Hereditäre Belastung 
und Habitus phthisicus spielen für die Erkennung 
der Virlaufsart eine geringere Rolle. Wesentlicher 
sind schon frühere anderweitige tuberkulöse Er¬ 
krankungen, indem aus voller Gesundheit tuber¬ 
kulös Erkrankende meist eine ungünstige Prog¬ 
nose haben. Einen gewissen Maßstab für. den wei¬ 
teren Verlauf bildet die räumliche Ausdehnung 
des Prozesses, wichtiger aber ist die Frage, ob die 
Krankheit still steht oder fortschreitet und in 
welchem Tempo. Neben der Feststellung der kli¬ 
nischen Symptome wird jetzt auf das anatomische 
Bild der vorliegenden Erkrankung mehr geachtet, 
und dies besonders an der Hand der röntgenolo¬ 
gischen Befunde: ob zirrhotische (Hilusstränge), 
ob pneumonische (diffuse Beschattung), ob kno¬ 
tige Form überwiegen (mehr oder weniger scharf 
begrenzte Schatten, je nach dem, ob es sich um 
die mehr benignen produktiven oder die maligneren 
exsudativen Formen handelt). — Neuerdings ist 
man bestrebt, auf das immunbiologische Ver¬ 
halten nach Tuberkulinproben, besonders auf die 
Beeinflußbarkeit der Reaktion durch die Behand¬ 
lung ein prognostisches Urteil zu gründen, das 
aber keinesfalls grob schematisch erfolgen darf. 
So bedeutet Abnahme der Überempfindlichkeit 
bei zunehmenden Krankheitserscheinungen er¬ 
lahmende Antikörper-Produktion, somit üble 
Prognose; Abnahme der Überempfindlichkeit bei 
klinischer Besserung dagegen zunehmende Un¬ 
empfindlichkeit gegen das Krankheitsgift, An¬ 
näherung an den Zustand der Allergie, gute Prog¬ 
nose. — Alle diese Bestrebungen geschehen unter 
der Voraussetzung, daß die bisherige Verlaufsweise 
keine Änderung erfährt, was für die Mehrzahl der 
Fälle zutrifft. Trotzdem bleibt ein großer Anteil 
unberechenbarer, völlig unvermuteter Wendungen 
übrig. Bei einfacher Spitalbehandlung nach 
wochenlangem continuierlichen Fieber allmähliche 
Entfieberung und Gewichtszunahme; Verschwin¬ 
den ausgedehnter Infiltrationen, bei schwerem 
Kriegs- oder Arbeitsdienst Heilung von typischen 
käsigen Pneumonien, und schließlich die große 
Zahl der autoptisch festgestellten Tuberkulosen, 
ohne daß von ernsteren Erkrankungen oder be¬ 
sonderen Behandlungen berichtet wird. Um so 
zurückhaltender muß man mit der Bewertung 
spezieller Methoden sein und nur auf Grund großer 
Zahlen und längerer Beobachtung wird man ur¬ 
teilen dürfen, zumal noch die meisten neueren Me¬ 
thoden auf initiale oder doch zur Zirrhose neigende 
Fälle angewendet sein wollen. So wird es auch ver¬ 
ständlich, daß der einzelne Beobachter kaum im- 
.stande ist, über mehrere neuere Methoden, wie 
etwa die Verwendung von Kupfer- und Gold¬ 
salzen, Injektionen von körperfremdem Eiweiß 
ein eigenes Urteil zu gewinnen. 

2. Brehmer wollte die Disposition zur Tuber¬ 
kulose bekämpfen, er suchte die Herzkraft durch 
die verdünnte Gebirgsluft und durch dosierte 
Körperbewegungen zu heben; gleichzeitig ver¬ 
weist die erste Vorbedingung, einen tuberkel-im¬ 
munen Anstaltsort zu wählen, abermals aufs Ge¬ 
birge. Nach Entdeckung des Tüberkelbacillus 
bestand ein gewisser Gegensatz zwischen den Heil¬ 


stättenärzten und den Anhängern der neuen Lehre, 
die ganz direkt den Infektionserreger bekämpfen 
wollten und in den Heilstätten baöillenreiche, ge¬ 
fährliche Orte erblickten, bis man mehr und mehr 
einsah, daß die Heilstättenhygeine und die . Er¬ 
ziehung zu ihr kein geringes Kampfmittel auch 
außerhalb der Heilstätten bedeute. Wirkliche Än¬ 
derungen erfolgten durch die von Dettwei 1er ein¬ 
geführte Freilüftliegekur; sodann durch die Ein¬ 
sicht, daß das Höhenklima im Heilplan nichts 
absolut Notwendiges darstelle. Anfangs glaubte 
man die Luftverdünnung mit ihren Wirkungen 
der Atmungserleichterung und Blutneubildung 
sei das wichtigste Moment und suchte Ersatz in 
der pneumatischen Kammer und in der Kuhn- 
schen Saugmaske. Später wurde der Hauptwert 
der intensiven Belichtung beigelegt, die den Stoff¬ 
wechsel und die Blutbildung anregen sollte. Sorg¬ 
fältige Ausnutzung der Sonnentage im Tiefland, 
künstliches Licht mit besonderem Reichtum an 
pltravioletten Strahlen werden als Ersatz ange¬ 
führt. Schließlich ist die Reinheit der Gebirgs¬ 
luft, ihr geringer Staub- und Bakteriengehalt, 
ihre seltene Nebelbildung von Bedeutung. — Es 
ergibt sich nun die Frage, ob Heilstättenkuren in 
der Zeit von ^ Jahr vollkommen ihre Wirkung 
entfalten können. Die Statistiken antworten 
hierauf, daß von den Behandelten nach fünf 
Jahren etwa 60 %, nach zehn Jahren etwa 
40—55%, nach fünfzehn Jahren etwa 40%. voll 
arbeitsfähig waren. Dabei erhält die alte For¬ 
derung, Fälle aus dem ersten Stadium zu 
schicken, immer neue Bestätigung. Aus dieser 
Beschränkung der Heilstättenbehandlung und 
aus ihrer Befristung folgt einerseits die Not¬ 
wendigkeit von Tuberkulosekrankenhäusern zur 
Isolierung der Schwerkranken und andererseits 
die Notwendigkeit von Fürsorgeeinrichtungen. 
Fraglich bleibt, ob die Heilstätten,die in Deutsch¬ 
land bei Vierteljahrskuren 64000 Patienten im 
Jahr aufnehmen können, eine wirklich ausschlag¬ 
gebende Rolle im Kampf gegen die Volksseuche 
spielen können. Denn die Zahl der Behandlungs¬ 
bedürftigen wird auf 800000 geschätzt. Anderer¬ 
seits wird auf die allgemeine Abnahme der Tuber¬ 
kulosesterblichkeit, die in allen Kulturländern 
schon lange vor der Heilstättenbewegung be¬ 
gonnen habe, hingewiesen. Der Abfall dieser 
Kurve ist seitdem nicht steiler geworden und so 
beruht der Rückgang der Tuberkulose wohl am 
meisten auf eine Verbesserung der Hygienie im 
weitesten Sinn. Deshalb bleibt auch eine weit¬ 
gehende, gut zusammenarbeitende Fürsorgetätig¬ 
keit das erste Erfordernis, besonders für die 
Jugend. 

3. Am Lupus hatte sich erwiesen, welche ge¬ 
waltigen Reaktionserscheinungen sich innerhalb 
des Heilungsvorganges abspielen konnten, und 
weitere Erfahrungen an der Lungentuberkulose 
forderten zu kleinen und kleinsten Tuberkulin- 
Dosen auf. Zweifellos gibt es Fälle, die unter der 
Behandlung mit Tuberkulindosen auffallend gün-^ 
stig verliefen. Größere vergleichende. Beobach¬ 
tungsreihen lassen jedoch den erwarteten Aus¬ 
schlag zugunsten des Tuberkulins nur mäßig 
deutlich hervortreten. Den heutigen Stand der 
Tuberkulinfrage bezeichnet vielleicht am besten 
die Angabe von Ritter, daß er in 10—20% 
wahrscheinlich, in 60—70% vielleicht günstigen 
Einfluß sah, in 10% keinen. Von den Verbesse¬ 
rungsbestrebungen am Tuberkulin, z. B. die wirk¬ 
samen Stoffe aus den Bacillen besser in Lösung 
zu bringen, giftige unspecifische Begleitkörper 
zu entfernen, haben besonderes Interesse Deyke- 
Muchs Partialantigene erweckt. Die Berichte 

24» 



188 


Die'Therapie der Gegenwart 1921' . 


Mai 


über die praktischen Erfolge lauten verschieden. 
— Eine allgemeine neuere Tendenz ist es, die 
Tuberkulin-Therapie dem immunbiologischen Ver¬ 
halten des Einzelfalles anzupassen. So geht 
Hayek von folgender Überlegung aus: Bei ab¬ 
wehrkräftigem Körper ist es nützlich, durch reich¬ 
liche Giftzufuhr die lokalen Reaktionen^u steigern. 
Bei Versagen der natürlichen Gegengiftproduktion 
muß Gegengiftbildung an anderer Stelle pro¬ 
voziert werden, die dann an den floriden Herden 
als Unterstützungsmittel wirksam werden können. 
Im ersten Fall mit deutlich lokaler aber auch all¬ 
gemeiner Reaktion, im zweiten kleine einschlei¬ 
chende Dosen. Die Einordnung in diese beiden 
Hauptgruppen vollzieht sich auf Grund der lo¬ 
kalen Reaktionen bei Tuberkulinproben, und 
dementsprechend soll sich die Therapie die be¬ 
sonderen Eigenschaften der verschiedenen Tuber¬ 
kuline zunutze machen, zum Teil mehr Avidität 
zum floriden Herd, zum Teil mehr zu den gründen 
Zellen des kranken Organismus zu äußern. Ob¬ 
schon keine ausgedehnten Erfahrungen vorliegen, 
scheint diese Art immunbiologischer Anpassung 
und Verfeinerung für die Behandlung des Einzel¬ 
falles wichtig zu werden. — Eine neue Art speci- 
fischer Therapie bildet die Impfung mit Kalt¬ 
blüter-Tuberkulin deren methodische Grund¬ 
lagen gesichert erscheinen. Die Beurteilung der 
klinischen Wirksamkeit ist noch nicht abgeschlos¬ 
sen. — Einen anderen Weg geht man jetzt mit 
der Bekämpfung der Sekundärinfektionen durch 
specifische Vaccine-Therapie, an die sich die Tu¬ 
berkulinkur anschließen soll. — In bezug auf die 
Frage, ob vorbeugende Impfung schützen kann, 
ist zunächst auf den negativen Ausfall des Tier¬ 
versuchs hinzuweisen, sodann aber auch darauf, 
daß von der überwundenen leichten .Kindheits- 
.Infektion her ein gewisser Schutz gegen Tuber¬ 
kulose besteht. Wahrscheinlich überwinden Neu¬ 
infektionen mit übergroßen Bacillenmengen (es 
wird an die Häufigkeit der Tuberkulose beim 
Pflegepersonal in Tuberkulose-Lazaretten er¬ 
innert) diese Schutzkräfte, aber ebenso möglich 
ist auch, daß ohne Reininfektion, lediglich durch 
Erlahmen der Schutzkräfte die latenten Herde 
sich in sekundären und tertiären Erkrankungen 
manifestieren können. Petruschky ist seit 
langem dafür eingetreten, durch kleine, aber län¬ 
gere Zeit eingeführte Tuberkulinmengen den auch 
durch alltägliche Gesundheitsschwankungen leicht 
veränderlichen Durchseuchungswiderstand anzu¬ 
regen. Wenn beim klinisch gesunden Kind die 
positive Hautreaktion einen Kampfzustand 
zwischen Tuberkelbacillen und Körperzellen an¬ 
zeigt, soll z. B. durch Hauteinreibungen von Tu¬ 
berkulinglycerin die Schutzkörperbildung angeregt 
werden; ärztliche Kontrolle solle alle halbe Jahr 
erfolgen. Zusammenfassend bemerkt der Vor¬ 
tragende, daß die hygienisch-diätetische Behand¬ 
lung der Heilstätten, Sonne, Luft, Lichtbad, 
Hydrotherapie; aber auch Medikamente, Fieber¬ 
mittel, Expektorantien, Narcotica und anderes 
bei vielen Tuberkulösen den HeilungsVorgang 
begünstigen oder den Fortschritt der Krank¬ 
heit hemmen können. Specifische Mittel in aller¬ 
hand Modifikationen wie Kochs Tuberkulin wer¬ 
den umsomehr nützlich, je besser wir lernen, sie 
dem Einzelfall anzüpassen. Zur Prophylaxe sind 
vor allem die Fürsorgestellen berufen, wenn sie 
mit reichlichen Mitteln zu tatkräftiger Hilfe 
ausgestattet werden. Zu hoffen ist, daß auch für- 
die Prophylaxe im Tuberkulin ein wesentliches 
Unterstützungsmittel entstehen wird. — 

Als Ergänzung des Gerhardt sehen Referates 
diente der Vortrag von de la Camp (Freibürg) 


-über Röntgentherapie der Lungentuberkulose, 
welcher in diesem Heft abgedruckt ist. 

Zum Schluß erstattete Brauer (Hamburg) 
das Referat über die chirurgische Behandlung 
der Lungentuberkulose. Dieselbe ist 
in den letzten zwei Dezennien von vielen Seiten 
und mit mannigfacher Fragestellung in ^An¬ 
griff genommen. Nach anfänglicher Skepsis haf 
sich die Erkenntnis gefestigt, daß bei richtiger 
Auswahl der Fälle und passender Technik sehr 
befriedigende Resultate erzielt werden; nur muß 
man sich yor Vielgeschäftigkeit und Schematismus 
hüten. Jeder Fall erfordert besondere Überlegung 
und Erfahrung. Die Freund sehe Operation 
hat man fallen lassen. Große Hohlräume können 
ausnahmsweise eröffnet werden, am b'esten nach 
vorheriger Plastik. Die gewichtigste Umgestaltung 
der Anschauungen und die besten Resultate brachte 
die Lungenkollapstherapie in ihren verschiedenen 
Formen, Pneumothorax und ausgedehnte Thoraco- 
plastik. - Beide Methoden befördern nicht nur die 
Schrumpfungstendenz in der kranjken Lunge, 
sondern bringen auch aktiv wirkende Heilmomente 
zur Geltung. Voraussetzung ist, daß die andere 
Lunge gesund ist. Der Lungenkollaps wirkt durch 
Änderung der Blut- und Lymphzirkulation, sowie 
durch Begünstigung der Entleerung des Auswurfs. 
Es kommt zur Bindegewebsneubildung und 
Schrumpfung, sowie zur Abstoßung der kranken 
Teile. Der künstliche Pneumothorax erfordert eine 
sorgfältige Auswahl der Fälle, richtige Technik 
bei Anlegung und Fortführung der Behandlung, 
Vermeidung zu großer Druckwerte, passende Aus¬ 
wahl des Zeitpunktes, wann der Lunge wieder die 
Entfaltung zu ermöglichen ist, Behandlung der 
auftretenden Exsudate u. a. m. Die Einzelheiten 
werden ausführlich besprochen. 

Die Thoracoplastik kann in mehrfachen Formen 
ausgeführt werden. Hier kommt es ganz besonders 
auf richtige Technik an. Die Operation kommt 
dort in Frage, wo breite Rippenfellverwachsung die 
Lufteinblasungen unmöglich macht. Der Lungen¬ 
kollaps ist dann durch Herausnahme von Rippen 
zu bewirken, wobei es wichtig ist, sowohl die Aus¬ 
dehnung wie die Lokalisation richtig zu wählen, 
damit unter möglichst großer Schonung des Kranken 
eine weitgehende Verkleinerung der kranken Lunge 
erreicht wird. Nach vielfältigen mehrjährigen Er¬ 
fahrungen zahlreicher Autoren, unter denen der 
Vortragende besonders Friedrich Wilms, 
Lucius Spengler und Sauerbruch nennt, ist 
man auch hier jetzt zu leidlich- gefestigten An¬ 
schauungen gekommen. Brauer veranschaulicht 
das Vorgehen an einem Patienten, bei dem er 
die Operation vor dreiviertel Jahren ausgeführt 
hat. Von technischen Einzelheiten abgesehen, 
kommt es hauptsächlich darauf an, die Lungeti- 
verkleinerung dadurch zu erreichen, daß das 
Schulterblatt tief in den Brustkorb hineinsinkt, 
und daß die Entnahme der ersten bis elften resp. 
zweiten bis zehnten Rippe ;,so ausgeführt wird, 
daß hiernach zwar der Brustkorb seitlich einge- 
dellt, aber doch nicht.des Haltes in fehlerhafter 
Weise beraubt ist. Röntgenbilder sowie ver¬ 
schiedenartige Präparate erläutern die Einzelheiten. 

An die Referate schloß sich eine Reihe von 
Einzelvorträgen. 

E. Reiß (Frankfurt a. M.) sprach über Spon¬ 
tanheilung schwerer Lungenphthisen. Er 
betonte die zweifellose Tatsache, daß nicht allzu¬ 
seltene Fälle von Lungentuberkulose III. Grades 
mit schwerstem Allgemeinzustand eines Tages 
wieder aufleben und einer dauernden klinischen 
Heilung entgegengehen. Wenn solche schwere 
Fälle spontan heilen können, so müssen sie durch 



Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1921; 


ein wirkliches Heilmittel aüch künstlich beein¬ 
flußbar sdn, sie sind also der eigentliche Prüf¬ 
stein für Wert oder Unwert jeder Tuberkulose¬ 
therapie. Wer die schweren Fälle ausschließt, 
verzichtet von vornherein auf den^einzigen Beweis 
für die Heilkraft seiner Methode. Es sollte also 
als Richtlinie für jedes Tuberkulose-Heilverfahren 
allgemein gefordert werden, daß es auch schwere 
Fälle in einem nicht geringen Prozentsatz heilt. 
So bringt die künstliche Pneumothorax anerkann¬ 
termaßen mindestens .25 % auch schwerster Fälle 
noch zur Heilung- Heilverfahren, die neu be¬ 
ginnende Fälle beeinflussen, übertreffen die All- 
gemeinbehandlung nicht. 

Hofbauer (Wien) besprach die Atmungs¬ 
therapie der Lungentuberkulose,, die er als spe- 
cifische Behandlung bezeichnete, insofern, als 
Atembewegungen das im Körper befindliche 
Autotuberkulin- mobilisieren und zur ver¬ 
mehrten Resorption bringen. Hofbauer ver¬ 
weist darauf, daß hochfieberhafte Phthisiker bei 
respiratorischer Ruhigstellung entfiebern, wäh¬ 
rend fieberfreie Patienten bei starken Atem¬ 
bewegungen sowohl Fieberbewegungen als auch 
namentlich im Bereich ihres Lungenherdes Lokal¬ 
reaktionen aufweisen. Die „Autotuberkulinisa- 
tion“ soll durch vorsichtige ganz allmähliche Stei¬ 
gerung der Atemleistung erzielt werden; auch die 
schweren Fälle sind dieser Therapie zugänglich. 
Sie muß unter steter Kontrolle der Temperatur 
iind^es Gewichtes durchgeführt werden. Es han¬ 
delt sich keineswegs immer um eine Verstärkung, 
sondern in manchen Fällen um Herabsetzung bzw. 
Lahmlegung der Atemtätigkeit. In allen Fällen 
ist Erziehung zu dauernder nasaler Atmung nötig 
wegen der dadurch erreichten Lüftung der Spitzen 
und centralen Lungenpartien. Im übrigen muß 
sich die Atmung nach der Lokalisation des Pro.- 
zesses richten, denn nur lokale Veränderung der 
Atemtätigkeit ruft die Beeinflussung des Krank¬ 
heitsherdes hervor. So werden die Hiluspartien nur 
durch Bauchatmung beeinflußt. Schwere All¬ 
gemeinerscheinungen erfordern stärkere Atmung 
der gesunden Teile, nur in seltenen Fällen Schweige¬ 
behandlung oder Pneumothorax bzw. chirurgische 
Behandlung. Neigung zu Hämoptoe ist keine 
Kontraindikation für richtig durchgeführte respi¬ 
ratorische Mehrleistung; Schaden ist durch Atem¬ 
therapie niemals entstanden; dagegen berichtet 
Vortragender über eine Reihe ganz erstaunlicher 
Heilerfolge von teilweise schon zehnjähriger Dauer. 
R. Stephan (Frankfurt) sprach über biologische 
Richtlinien für die Röntgentherapie. Während 
frühere Autoren die Einschmelzung des speci- 
fischep Granulationsgewebes durch sehr starke 
Bestrahlung forderten und davon sekundäre Um¬ 
wandlung in festes Narbengewebe erhofften, ging 
Referent von der Vorstellung aus, daß eine funk¬ 
tioneile Leistungssteigerung der epithelividen Zell¬ 
elemente durch die kleinste, eben noch als wirksam 
erkannte Strahlenmenge zu erstreben sei. Die 
Möglichkeit einer homogenen Bestrahlung des 
gesamten Krankheitsherdes wurde erfüllt durch 
Fernfeldbestrahlung mit einem Fokushautabstand 
von 1 m, wobei der ganze Thorax sich im Strahlen¬ 
kegel befand und der Verlust an Strahlung durch 
Dispersion und Absorption praktisch vernach¬ 
lässigt werden konnte. So erhielt die erkrankte 
Lunge in allen Partien durchschnittlich V 20 bis V 40 
der H. E. D. Zur Kontrolle der pathologisch¬ 
anatomischen Wirkung wurden in achttägigen 
Pausen Blitzaufnahmen gemacht. Es ergab sich 
eine ganz zweifellose Beeinflussung der tuberku¬ 
lösen Infiltration, kenntlich an einer Verkleinerung 
und Verdichtung vorher großfleckiger, wolkiger 


\m 


Trübungen und an strangförmiger Streckung peri- 
bronchitisch angeordneter breiter Schattenzonen. 
Die Veränderungen, welche durchaus dem 
Röntgenbild .der Narbenherde bei. spontaner Aus¬ 
heilung, glichen, traten schon wenige Tage nach 
der Bestrahlung auf und sind zweifellos als 
Röntgenstrahlenwirkung zu deuten. Danach sind 
die Bestrebungen abzulehnen, welche auf eine 
primäre Nekrotisierung des Granulationsgewebes 
abzielen. Vortragender macht keine statistischen 
Angaben, betont aber, daß den oft überraschenden 
Heilungserfolgen auch zahlreiche Versager gegen¬ 
überstehen, namentlich bei vorgeschrittenen 
Prozessen. Nach einer Theorie von der Leistungs¬ 
steigerung macht er die Heilwirkung zwangsläufig 
abhängig von der Reaktionsfähigkeit des Organis¬ 
mus überhaupt und von der Vitalität und An- 
sprechbarkeit des tuberkulösen Granulations¬ 
gewebes im besonderen; erst größere Erfahrung 
wird über die praktische Anwendbarkeit der 
Röntgentherapie entscheiden. 

Auch Alwens (Frankfurt a. M.) sprach über 
. Röntgentherapie; er macht auf die große Schwierig¬ 
keit aufmerksam, die die Vergleichung ver¬ 
schiedener Röntgenplatten macht, da es kaum 
möglich ist, zwei vollkommen gleichwertige Auf¬ 
nahmen zu machen. Auch die Auswahl der Fälle 
macht Schwierigkeiten, da sich Zumeist nicht 
reine zur Schrumpfung neigende, sondern mit 
exsudativen Prozessen kombinierte Formen Vor¬ 
kommen. Auch die Dosierung ist nicht so einfach, 
da eine exakte Tiefendosis auch mit einem 
Instrumentarium von bekannter Leistungsfähig¬ 
keit nur schwer zu ermitteln ist. Da nach dem 
physikalischen Befund und dem Röntgenbild nicht 
mit Sicherheit festzustellen ist, wie tief unter der 
Oberfläche die einzelnen Herde liegen, so kann 
dieselbe Dosis auf denselben Herd einmal von 
vorn und einmal von hinten appliziert ganz ver¬ 
schiedene Reaktionen auslösen. Selbst bei An¬ 
wendung der Stephanschen Methode des Fern¬ 
felds und filtrierte harte Strahlung von etwa 
10 bis 20 % H. E. D. erscheint die von Bac- 
meister empfohlene Einleitung des Heilver¬ 
fahrens mit Höhensonne ratsam, weil Reaktionen 
auf dieselbe zur großen Vorsicht mit Röntgen¬ 
strahlen mahnen. Besondere Zurückhaltung ist 
bei Hilustuberkulose ratsam, weil danach miliare 
Dissemination beobachtet wurde. Ambulante Be¬ 
strahlung ist ZU widerraten. Alwens' Material 
umfaßt 23 Fälle, von denen 14 günstig beeinflußt 
wurden; sechsmal trat Verschlimmerung ein, 
vier davon starben. A. hält die Röntgentherapie 
für eine Unterstützung der Naturheilung, die unter 
Vermeidung jeder stärkeren Reaktion durchge¬ 
führt werden sollte. 

Liebermeister (Düren) macht auf die großen 
Täuschungsmöglichkeiten aufmerksam, die bei der 
Betrachtung von Röntgenbildern zwecks Be¬ 
urteilung von Hei lungs Vorgängen unterlaufen 
können. Schon kleine Veränderungen in der 
Aufnahmetechnik können sichtbare Verände¬ 
rungen im Bild erzeugen, die die Illusion von 
Heilung hervorrufen. L. verlangt danach, daß 
auf jeder Platte ein aus Metall- und Knochen¬ 
stückchen bestehendes Testplättchen so angebracht 
wird, daß es, ohne von Körpersubstanz bedeckt 
zu sein, mit röntgenographiert wird. Diese Test¬ 
plättchen geben auf jeder Platte der Gesamt¬ 
wirkung aller äußeren Umstände im Bild Aus¬ 
druck. Es dürfen also nur solche Originalplatten 
miteinander verglichen werden, deren Test¬ 
plättchen in derselben Schärfe und Abgrenzung 
auf den Platten erscheint. 




190 


Die Therapie de r Gegenwart 1921 


vMal 


Wie schwierig übrigens die klinische Deutung 
der Röntgenbilder tuberkulöser Lungen ist, wurde 
besonders deutlich durch die zahlreichen Demon¬ 
strationen anatomisch-röntgenologischer Diaposi¬ 
tive, die Küplerle (Freiburg) am folgenden Tage 
machte; er zeigte das Charakteristische der Schat¬ 
tenbildung der einzelnen Erscheinungsformen, aus 
denen sich das komplizierte’ Bild der fortschreiten¬ 
den Lungenphthise zusammensetzt. Gelingt es, 
die ineinander übergehenden Veränderungen in 
ihren Einzelerscheinungen aufzulösen, so kann 
man das Bild auch qualitativ nach anatomischen 
Vorstellungen beurteilen. Aber auch dann ist die 
Beurteilung etwaiger therapeutischer Verände¬ 
rungen von der gleichzeitigen Bewertung des 
klinischen Bildes abhängig. 

Auch F. Klemperer (Berlin) macht auf die 
großen Schwierigkeiten bei der Deutung von 
Röntgenbildern aufmerksam. Er demonstriert ein 
Lüngenpräparat, in dem die beiden Formen der 
Tuberkulose, die produktive und die exsudative, 
sich überlagern; solche Fälle sind nicht selten; 
eine diagnostische Trennung beider Formen ist 
durch Röntgenstrahlen ebensowenig als durch 
andere physikalische Methoden möglich. 

Die Tuberkulin Wirkung machte Erich Meyer 
(Göttingen) zum Gegenstand einer interessanten 
Mitteilung. Er ging von der Tatsache aus, 
daß bei manchen Tuberkulösen eine auf¬ 
fallende Eintrocknung der Gewebe besteht, 
während es im kachektischen Stadium zu einer 
Hypalbuminose mit Verwässerung des Blutes 
kommen kann. Diese verschiedenen Stadien 
unterscheiden sich in ihrem Verhalten gegenüber 
einer Tuberkulininjektion. Die Fälle mit ein-' 
gedicktem Blut reagieren meist mit Wasser¬ 
retention und Gewichtszunahme, selten mit zu¬ 
nehmender Bluteindickung und Gewichtsverlust. 
Die kachektische Tuberkulose zeigt keine Reaktion 
bezüglich des Wasserhaushalts. Nur die Fälle, 
bei denen die pathologische Eindickung unter 
Gewichtszunahme beseitigt wird, reagieren gut 
auf Tuberkulin. Da hierzu relativ große Tuber¬ 
kulindosen nötig sind, deren Wiederholung sich 
verbietet, ging M. zu unspecifischer Behandlung 
mit 2 ccm 10%iger Kochsalzlösung über, welche 
bei mehrfacher Wiederholung zu großer Gewichts¬ 
zunahme führt (durch Wasserretention und Ansatz 
von Körpersubstanz). Dabei werden die Blut¬ 
werte allmählich normal; auch der allgemeine 
Zustand hebt sich; am auffallendsten ist das 
schon von anderen beobachtete Sistieren der 
Nachtschweiße. Dieselbe Wirkung wird auch 
durch hypertonische Traubenzuckerlösung, aber 
auch durch Darreichung größerer Mengen von 
Rohrzucker per os erzielt. Man kann also durch 
unspecifische Mittel eine specifische Wirkung des 
tuberkulösen Giftes .beseitigen. Die Wasser¬ 
reaktion der Tuberkulose kann als Kriterium dafür 
benutzt werden, wie sich der Patient gegenüber 
der Tuberkulinkur verhalten wird. Nur bei 
solchen, die auf NaCl-Injektionen eine Körper¬ 
gewichtszunahme unter Besserung der Blutwerte 
zeigen, ist eine specifische Therapie mit kleinsten 
Dosen angezeigt. 

• Aus der Aussprache seien folgende Mit¬ 
teilungen hervorgehoben: 

Hei nz (Erlangen) hat mit Extrakt von Kälber- 
lymphdrüsen bei Versuchstieren eine Steigerung 
der Lymphocyten im Blut erzeugt und hofft da¬ 
durch einen Einfluß auf tuberkulöse Erkrankungen 
zu gewinnen, da Lymphocyten angeblich die 
Tuberkelbacillen vernichten, wofür H. freilich 
nur wenig Beweise beibringt. Von anderer Seite 
wird diese Meinung denn auch bestritten. 


Leschke berichtet über therapeutische Ver¬ 
suche mit Tuberkelbacillen, die er mit Wasser¬ 
stoffsuperoxyd aufgeschlossen hat, wodurch er 
ein dem Muchschen Partigen anscheinend über¬ 
legenes Tuberkulin erhielt; die Erfolge waren aber 
nicht größer als die mit gewöhnlichem Tuberkulin. 
Auch die früheren Tierversuche mit den Partial¬ 
antigenen haben negative Ergebnisse gehabt. 

Lommel (Jena) erinnert an den Satz des 
Hippokrates, daß Lungenkranke, die Abscesse 
bekommen, gesund werden; oft verläuft Phthise 
nach Drüsenabscessen, Rippencaries usw. be¬ 
sonders günstig; die Eiterung scheint die Rolle 
eines primären Herdes zu spielen und eine Durch¬ 
seuchungsresistenz herbeizuführen. Deswegen 
sollten Eiterungen nicht chirurgisch entleert 
werden; man könnte sie als specifische Fontanelle 
bezeichnen. In therapeutischer Beziehung ist das 
wirksamste Antigen zur Erzeugung specifischer 
Resistenz der lebende Bacillus; aber die An¬ 
wendung lebender Bacillen ist zu gefährlich. Der 
Fortschritt wird durch die Vermeidung dieser 
Gefahr erzielt werden. 

Felix Klemperer hebt hervor, daß die 
Tuberkulmbehandlung in keiner Weise immuni¬ 
siert. Die Muchschen Partigene haben ein Tuber¬ 
kulinwirkung; es fehlt ihnen die gesicherte Grund¬ 
lage der experimentellen Immunisierung, Much 
baut Hypothese auf Hypothese so hoch, daß man 
oben vergißt, daß der feste Boden unten fehlt. 

Wichtige Mitteilungen zur Lehre von den 
Fettpartigenen macht Bürger (Kiel). Er macht 
darauf aufmerksam, daß die Antigennatur chemi¬ 
scher Körper von ihrer Komplexität abhängt; 
einfache Körper, wie Aminosäuren oder Glyceride, 
die im Stoffwechsel vieler Tiergattungen ohne 
chemische und biologische Differenzierung erzeugt 
werden, haben keine Eignung zum Antigen. B. 
hat nun mehrere Tuberkelbacillenfette chemisch 
rein dargestellt und als hochmolekulare Fettsäuren 
bzw. Ester und Kohlenwasserstoffe identifiziert; 
antigene Eigenschaften ließen sich an ihnen nicht 
nachweisen. Auch die neuerdings aus 430 g Perl¬ 
suchtbacillen gewonnenen und analysierten Fett¬ 
körper hatten keine antigene Eigenschaften. Da¬ 
nach bleibt von den Muchschen Lehren nicht viel 
übrig. — Erwähnt sei noch die Mitteilung Lönings 
(Halle) zur medikamentösen symptomatischen 
Therapie; er verwendet zur Antipyrese und gleich¬ 
zeitigen Schmerzstillung einen Abkömmling des 
Melubrins, welchen die Höchster Farbwerke unter 
der Bezeichnung Novalgin in den Handel bringen, 
weiches bei subkutaner Injektion auch als un¬ 
schädlicher Morphiumersatz wirken kann. 

Aus der Diskussion über den künstlichen 
Pn e u m 0 1 h 0 r a X sei die Statistik von Zinn (Berlin) 
über 160 Fälle hervorgehoben; hiervon waren nur 
1 °/o verschlechtert, vorzeitig der Behandlung ent¬ 
zogen 16 Vo» ^'licht wesentlich gebessert 28% 
(die meisten dieser Fälle sind später gestorben), 
wesentlich gebessert bis zur Arbeitsfähigkeit 33®/o, 

■ länger dauernde Erfolge (über drei Jahre hinaus)- 
22 o/o. Im ganzen sind in der Berichtszeit von 
10 Jahren 53 Kranke gestorben. 

F. Klemperer (Berlin) stellt die Indikation 
weiter als Brauer und hat auch bei akuten 
Fällen käsiger Pneumonie Erfolge erzielt. 

Stürtz (Köln) hob die Vorteile des Sauerstoff-^ 
gases hervor, bei dessen Einblasung insbesondere 
die Emboliegefahr viel geringer sei als bei Luft 
oder N. Jedenfalls sollte bei der ersten Sitzung 
stets ö, und erst später N eingeblasen werden. 

I Nach dieser Methode hat Stürtz in 300 Pneu- 
I mothoraxfällen keinen Embolietodesfall erlebt. 




Mai 


Die Therapie'der Gegenwart 1921 ' 


191 


Das Ende der Besprechung bildete ein Schlu߬ 
wort von, Brauer, welcher der Meinung Ausdruck 
gab, daß über alle wichtigen Fragen in den letzten 
Jahren weitgehende Einigung erzielt ist. Bezüg¬ 
lich der Luftembolie dürfe man nicht die Ver- 
^ hältnisse verwechseln bei Einbringung von Sauer¬ 
stoff in die Körpervenen oder in die Lungenvenen. 
In letzterem Falle kommt das, Gas so rasch in 
das Herz und eventuell in lebenswichtige Zentren, 
daß von einer Resorption gar nicht gesprochen 
werden kann. Die Untersuchungen von Wever 
haben dieses über allem Zweifel sichergestellt. 
Die Indikation darf jetzt weiter gefaßt werden. 
Sehr vorsichtig sei man bei dem Bestände frischerer 
Prozesse, ältere fibröse Prozesse gestatten sehr 


wohl die Pneumothoraxtherapie. Während früher 
bei Beurteilung der für die Behandlung in Frage 
kommenden Banken. Seite starker Nachdruck 
darauf gelegt werden mußte, nur bereits schwerere 
Prozesse unter Pneumothorax zu setzen, hat sich 
gezeigt, daß man recht wohl verantworten kann, 
auch mittelschweren, vielleicht sogar gelegentlich 
leichteren Krankheitsprozessen gegenüber die Be¬ 
handlung anzuwenden. Nur muß man immer 
wieder sich vor Augen halten, daß das Pneumo¬ 
thoraxverfahren nicht ohne Schattenseiten und 
von recht langer Dauer ist. Prozesse also, die 
in ein bis zwei Jahren mit einiger Wahrschein¬ 
lichkeit auch ohne Operation heilen bieten, keine 
Indikation. (Fortsetzung folgt im nächsten Heft.) 


Referate. 


Auf Grund sehr günstiger Erfahrungen 
an 40 Fällen empfiehlt Dr. L. Disque jun. 
(Potsdam) die Behandlung der Oxyuriasis 
mit Butolan, einem Benzyl-Phenol-Ab- 
kömmling, das die Bayerischen Farben¬ 
fabriken in Tablettenform von 0,5 g in 
Handel gebracht haben. Erwachsene 
nehmen sechs Tage hintereinander dreimal 
täglich eine Tablette, Kinder unter sechs 
Jahren zweimal täglich eine Tablette. 
Dadurch werden die jungen Oxyuren im 
unteren Dünndarm unschädlich gemacht. 
Zur Bekämpfung der in den tieferen Darm¬ 
abschnitten lebenden Würmer werden vom 
vierten Tage ab täglich Einläufe mit 
einem Liter Wasser , von 20® mit Zusatz 
von einem Eßlöffel Liqu. Alum. acetici 
gemacht; das Wasser läßt man langsam 
in linker Seiten- oder Knieellenbogenlage 
einlaufen. In einigen Fällen, in denen 
Disque aus äußeren Gründen von der 
Verwendung der Klistiere absehen mußte, 
erzielte er mit Butolan allein prompte 
Wirkung. Zur Verhütung des Kratzens 
am After während des Schlafes, das zur 
Reinfektion führt, empfiehlt Disque die 
Anwendung einer weißen Präzipitatsalbe 
mit 10% Cycloformzusatz, die den Juck¬ 
reiz beseitigt und weitere Schutzma߬ 
nahmen (Badehose u. dgl.) überflüssig 
macht. Auf peinlichste Händereinigung 
nach jeder Defäkation und vor jedem 
Essen (mit Nagelreiniger, Seife und Bürste) 
ist natürlich zu achten. • f. K. 

(M. Kl. 1921, Nr. 13.) 

Zur Proteinkörpertherapie der Gelenk¬ 
erkrankungen sprach Gerönne (Wies¬ 
baden) auf dem diesjährigen Balneologen- 
tag, wobei er seine Erfahrungen an der 
Krankenhaus-' und Badehausabteilung 
verwertete. Er hat in dem letzten Jahre 
zehn chronische Gelenkerkrankungen nach 
Art des primär chronischen und sekundär 
chronischen Gelenkrheumatismus sowie 
der Arthritis deformans mit Caseosan, 


und 14 Fälle mit Sanarthrit nach ganz 
gleichen Richtlinien behandelt. Er 
kornmt zu dem Schluß, daß das Caseosan 
mindestens die gleichen, wenn nicht bes¬ 
sere Effekte entfaltet, wie das Sanarthrit; 
in der Sanarthritbehandlung sieht er keine 
kausale und specifische Behandlung der 
Gicht und anderer chronischen Gelenk¬ 
erkrankungen, sondern lediglich eine be¬ 
sondere Form der Proteinkörpertherapie. 
Einzelnen glänzenden Erfolgen dieser 
Therapie stehen eine größere Anzahl Ver¬ 
sager gegenüber; insbesondere wurde die 
echte Arthritis deformans weder vom 
Caseosan noch vom Sanarthrit auf die 
Dauer günstig beeinflußt, am besten 
waren die Erfolge beim primär chroni¬ 
schen, weniger gut beim sekundär chro¬ 
nischen Gelenkrheumatismus. Außerdem 
hat G. noch.sechs Fälle von akutem 
gonorrhoischen Gelenkrheumatismus mit 
Caseosan behandelt; die Erfolge waren 
durchaus gute. Immerhin gestalteten sich 
die Erfolge bei 22 mit Gonokkenvaccine 
behandelnden Fällen doch zweifelsohne 
günstiger. Die Gonokokkenvaccine wird 
am besten intravenös in großen Dosen 
gegeben; je frischer die Erkrankung, desto 
besser die Aussichten. Eigenvaccine 
zeitigte bessere Resultate, wie Arthigon 
und Gonargin. Zweifellos aber entfaltet 
auch die Iso-Vaccine-Behandlung beim 
gonorrhöischen Gelenkrheumatismus ihre 
therapeutischen Wirkungen in der Haupt¬ 
sache auf dem Wege der Heilentzündung, 
des Heilfiebers (Bier), der Protoplasma¬ 
aktivierung (Weichardt). Von uner¬ 
wünschten Nebenwirkungen der Protein¬ 
körpertherapie sah Gerönne im An¬ 
schluß an 2 ccm Caseosan intramuskulär 
bei einem Fall von Rheumatoid (nach 
Staphylokokkensepsis) Auftreten einer 
hämorrhagischen Nephritis, die vorher 
nicht vorhanden gewesen war. Offenbar 
also Aufflackern einer Herdnephritis. Er 




192 


^ Die Therapie der Oegentwart 1921 


Mai 


rät also zur Vorsicht bei Anwendung der. 
Proteinkörpertherapie, die ja nur bei 
Erzwingung" einer Allgemein- und Herd¬ 
reaktion zu Erfolgen führt. Im Gegen¬ 
satz zu dieser brüsken Protoplasmaakti¬ 
vierung mit Caseosan, Sanarthrit und 
stark wirkenden Vaccinen steht die 
schonende Art der Protoplasmaaktivie¬ 
rung, die durch mannigfache physikali¬ 
sche Heilverfahren, insbesondere auch 
durch heiße Thermalbäder zu erzielen ist. 
Anschließend an die esophylaktischen 
Vorstellungen von Hoff mann und 
W. Krebs sieht Gerönne in der Bade¬ 
reaktion, die ja bei den Gelenkerkrän¬ 
kungen nach den ersten Thermalbädern 
so häufig auftritt und die subjektiv und 
objektiv . eine Verschlimmerung des 
Krankheitsbildes darstellt, die negative 
Phase der Protoplasmaaktivierung, der 
dann meist die positive, heilsame zu 
folgen .pflegt. Übrigens will Gerönne 
nicht jeden Erfolg der Thermalbäder als 
Protoplasmaaktivierung deuten,- vielmehr 
sprechen nocii mannigfache andere Fak¬ 
toren bei der Heilwirkung der Bäder mit; 
z. B. die schmerzstillende Wirkung des 
heißen Bades, die in den erkrankten Ge¬ 
lenken aktive Bewegungen ermöglicht und 
damit der arthrogenen Muskelatrophie ent¬ 
gegenwirkt. Vielleicht wird dadurch auch 
in geeigneten Fällen die Abscherung des 
kranken und die Neubildung jungen, ge¬ 
sunden Knorpelgewebes ermöglicht. O. R. 

Für die operative Behandlung der 
Retroflexio uteri gibt nach Seitz nicht 
die pathologische Lage, sondern das Vor¬ 
handensein von Komplikationen und 
gleichzeitige Erkrankung anderer Organe, 
welche eine Operation erfordert, die Ver¬ 
anlassung. Wenn dem Anscheine nach 
eine inkomplizierte Retroflexio vorliegt, 
so können doch noch immer Kompli¬ 
kationen, wie Pericolitis, Perisigmoiditis 
adhäsiva, falls sie nicht beachtet werden, 
das Endresultat einer Operation sehr 
illusorisch machen. So ist auch zu er¬ 
klären, daß nach vielen Operationen, wie 
z. B. Alexander-Adams, weder in 
subjektiver noch objektiver Beziehung 
eine Heilung festzustellen ist, da die 
komplizierenden Erkrankungen nicht be¬ 
seitigtsind. Ein operatives Verfahren, das 
fast immer eine absolute Heilung herbei¬ 
führt, ist die Ventrofixation nach Doleris- 
Schauta-Eröffnung des Peritoneums, Be¬ 
festigung der Lig. rotunda in Schleifen¬ 
form auf dem Rectus. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(Arch. f. Gynäk., Bd. 114, H. 1.) 


In einer Abhandlung über Ruhr im 
'Kindesalter gibt G. Kuntze eine zu¬ 
sammenfassende Darstellung der Er¬ 
fahrungen, die gelegentlich der Epi¬ 
demien der letzten Jahre in verschiedenen % 
Kinderkrankenhäusern gemacht wurden. 
Gegenüber den deutlichen Ruhrsym¬ 
ptomen älterer Kinder sind die Erschei¬ 
nungen im SäuglingsaRer schwieriger zu 
bewerten, zumal ähnliche Krankheits-' 
bilder unter den Sommererkrankungen 
der Säuglinge nicht ohne weiteres eine 
specifische Infektion voraussetzen lassen. 
Bei Häufung der Krankheitsfälle, bei un¬ 
gewöhnlicher Infektiosität ist der Verdacht 
der ,,Ruhr in engerem Sinne“ berechtigt. 
Über ihre Erreger ist der einzelnen 
Autoren Ansicht nicht einheitlich, der 
bakteriologische Nachweis im Stuhl mi߬ 
lingt häufig. 

Man scheidet zweckmäßig die ein¬ 
heimische Ruhr im Kindesalter in echte 
Dysenterie und Pseudodysenterie. 

Differentialdiagnostisch ist bei Be¬ 
wertung der blutig-eitrigen Stühle zu 
beachten, daß ähnliche Erscheinungen 
auftreten bei der Grippe (gastro-intesti- 
nale Form), bei Sepsis, Genickstarre, bei 
tuberkulösen Darmgeschwüren, beim 
Barlow, sowie auch bei Masern. Hier ist 
indessen das klinische Bild durch beson¬ 
dere Merkmale gekennzeichnet. Die In¬ 
fektionsquelle ist der von den Kranken ent¬ 
leerte Kot, als Überträger sind die Fliegen 
zu bekämpfen. Besonders häufig und 
schwer erkranken Kinder im alimentär 
gefährdeten Alter, vor allem die künstlich 
ernährten. Die Sterblichkeit der Säug¬ 
linge ist doppelt so groß wie die der äl¬ 
teren Kinder, auch steht kindliche Pseudo¬ 
dysenterie der Shiga-Kruse-Ruhr nur 
wenig nach an Schwere des Verlaufs. 
Vielfach beobachtet man bei Kindern 
Fälle mit schleichendem Beginn, die Kin¬ 
der zeigen sich unleidlich, trinken schlech¬ 
ter, haben hin und wieder Fieberzacken, 
einigemal wird schleimiger Stuhl entleert, 
dann wieder guter Stuhl, schließlich setzt 
eines Tages die manifeste Ruhr ein. Toxi¬ 
sche Formen der Ruhrerkrankung sind 
sowohl bei Shiga-Kruse-Fällen, als auch 
bei Flexner-Fällen, als auch bei Pseudo¬ 
dysenteriefällen beobachtet worden, mit 
Krämpfen, mit Benommenheit, auch mit 
völliger Bewußtlosigkeit. • Die Fieber- 
bewegung ist uncharakteristisch, zuweilen 
fehlt Fieber. Schleimbeimengungen findet 
man fast immer im Stuhl der Erkrankten, 
nicht immer Blut, andererseits wiederum 
reichlich vermehrte blutig-eitrige Stühle. 





Mai 


Dte‘ Therapie der Gegenwart 1921 


193 


Aus Zahl und Aussehen der Stühle läßt 
sich kein Rückschluß auf die Dauer und 
Schwere der Krankheit machen. 

Bei jüngeren Kindern beobachtet man 
zuweilen initiales Erbrechen. Zu Kompli¬ 
kationen der Ruhr kommt es im Kindes¬ 
alter kaum, Rezidive wurden mehr oder 
weniger schwer sowohl bei Pseudodysen¬ 
terie, als auch bei Shiga-Ruhr, als auch bei 
Y-Ruhr von einzelnen Autoren'berichtet. 
Der bakteriologische Nachweis der Ruhr 
ist nur in geringem Prozentsatz zu er¬ 
zielen, trotz aller Kautelen. Zur Diagnose¬ 
stellung mag. auch bei älteren Kindern 
die Serumagglutininprobe herangezogen 
werden, doch als Frühsymptom ist sie 
nicht verwertbar. 

Als therapeutische Maßnahme ist 
gründliche Entleerung des Darmes in 
den ersten Krankheitstagen erforderlich, 
auch bei Säuglingen ist mindestens ein 
Eßlöffel Ricirtusöl auf einmal oder ein 
bis anderthalb Teelöffel dreistündlich zu 
verabfolgen. Vielfach empfohlen werden 
zu Beginn der Erkrankung Darmspülun¬ 
gen (Kamillentee öder Tonlösung ein bis 
zwei Liter), im weiteren Verlauf, hier 
gegen die Tenesmen, in kleinerer Menge, 
auch Tannineinläufe (^%) bei älteren 
Kindern. Gegen Koliken kann Atropin 
gegeben werden (im ersten bis sechsten 
Lebensjahre dreimal —3 mg), bei äl¬ 
teren Kindern am besten Opiumzäpfchen 
(0,01 Extr. opii aqua, 0,2 Anaesthesin), 
oder 6 Tropfen Tinctufa opii auf 100 aqua, 
davon ein- bis zweistündlich ein Teelöffel 
bis zur Beruhigung, eventuell auf zwölf 
Tropfen steigend, bei starker Unruhe 
Chloralhydrat. Tannin oder Tierkohle 
per OS ist wegen Beeinträchtigung des 
Appetits nicht-zu empfehlen. Nützlich 
sind lokale Wärmeapplikationen, doch 
auch kühle Aufschläge, zuweilen Eisblase 
vorteilhaft, Von der Behandlung mit 
Ruhrserum sind nur wenig Erfolge be¬ 
richtet. 

Für das alimentär gefährdete Alter 
ist nach kurzer Teepause Eiweißmilch gut 
anwendbar, nach anderen Angaben Kel- 
lersche Malzsuppe, wertvoll auch die 
Molketherapie nach Göppert, der auch 
bei älteren Kindern, bei denen die Ernäh¬ 
rungsmethode sich kaum von der Er¬ 
wachsener unterscheidet, zwei Drittel 
Molke-, ein Drittel Haferschleimgemische 
mit Plasrnonzusatz empfiehlt. 

Bei jungen Kindern in schweren 
Fällen muß Frauenmilch gegeben werden, 
auch müssen schwerste Fälle eventuell 
mit Schlundsonde ernährt werden. Eichel¬ 


kakao wird, anfangs mit Wasser, später 
mit Milch gekocht, von älteren Kindern 
gern genommen, auch kann man diesen 
konzentrierte Eiweißmilch und Mehl¬ 
suppe zu gleichen Teilen geben. Zur Be¬ 
hebung der Appetitlosigkeit gibt man 
vorteilhaft frühzeitig rohen Fleischsaft, 
ein bis zwei Eßlöffel Apfelsinensaft oder 
zweimal täglich durchgerührtes saccha¬ 
ringesüßtes Blaubeerkompott, wenn mög¬ 
lich 50—100 g feingewiegtes Fleisch. 
Bald kann man Brei geben, auch Quark 
und Eier verwenden. Feuerhack. 

(M. Kl. 1921, Nr. 11.) 

Daß eine Spina bifida occulta die 
Ursache mehr oder weniger schwerer 
ischiasartiger Erkrankung seinkann, 
berichtet Gudzent an der Hand von 
zwei Fällen. Bei dem ersteren handelt 
es sich qm eine 33jährige Patientin, die 
vor neun Jahren nach dem ersten Wochen¬ 
bett mit Schmerzen im linken Bein er¬ 
krankt war; im zweiten Wochenbett ge¬ 
sellten sich hierzu Schmerzen gleicher 
Art auch im andern Bein. Beide Male 
wurde die Diagnose Ischias gestellt, doch, 
trotz sachgemäßer Therapie trat keine 
Besserung auf. Bei der jetzigen Unter¬ 
suchung fanden sich beiderseits typische 
Ischiassymptome. Auffallend war eine 
Druckempfindlichkeit des letzten Lenden¬ 
wirbels, eine merkwürdige Veränderung 
an den Füßen, an denen die Sehnen des 
Muse, extensor hallucis longus verkürzt 
erscheinen, und eine Extension der großen 
Zehen bedingte. Die übrigen Organe 
ließen keine Veränderung erkennen. Die 
Röntgenaufnahme der Kreuzbeingegend 
und Lendenwirbelsäule ergab eine große 
Spalte im fünften Lendenwirbel. Im 
zweiten Falle handelt es sich um einen 
jungen ehemaligen Offizier, der erst nach 
dreijähriger Kriegszeit eine Ischias be¬ 
kam, die gleThfalls aller Behandlung 
trotzte. Auch hier wurde röntgenologisch 
eine Spaltbildung des fünften Lenden¬ 
wirbels festgestellt. Es dürfte sich emp¬ 
fehlen, in allen Fällen von Ischias oder 
ischiasähnlichen Erkrankungen, besonders 
dann, wenn die bekannten therapeuti¬ 
schen Maßnahmen nicht zum Ziele führen, 
nach Spaltbildungen zu fahnden. Thera¬ 
peutisch kommt die Deckung des Spaltes 
durch Knochenplastik in Frage. 

(B.kl. W.Nr. 11,1921.) Kamnitzer. 

Vor einigen Jahren berichtete Pleß- 
ner über Vergiftungen mit Trichlor- 
aethylen bei Fabrikarbeitern, die diesen 
Stoff als Fettlösungsmittel zum Reinigen 
von Metallteilen benutzt hatten. Die 


25 




194 


. Die Therapie der Gfeg.enwatt.-1*921 / “ ‘ ^ ‘ ^ - l^ai 


Vergiftung äußerte sich einmal in 
Allgemeinerscheinungen, wie Schwindel, 
Übelkeit und Erbrechen, und dann in 
einer Anästhesie des Trigeminus ohne' 
Schädigung des motorischen Anteiles der 
Nerven. Die Empfiridungsstöriing betraf 
das ganze vom Trigeminus versorgte Ge¬ 
biet, blieb jedoch streng auf dieses be¬ 
schränkt und hielt auch nach Abklingen 
der' sonstigen Vergiftungserscheinungen 
an. Oppenheim'regte an, diese Eigen- 
.schaft des Trichloraethylens zur Behand¬ 
lung der Trigeminusneuralgie nutzbar 
zu machen, was auch geschah und gün- ' 
s.tige Resultate zeitigte.* Kramer hat 
im ganzen 108 Kranke auf diese Art be¬ 
handelt, alles echte Trigeminusneuralgien. 
Fälle mit zweifelhafter Diagnose wurden 
nicht berücksichtigt. Die Behandlung 


besteht darin, daß das Mittel auf. Watte 
getropft und dem Patienten zum Ein-- 
atmen gegeben wird, so lange, bis. kein 
Geruch . mehr zu spüren ist. Als ;Dosis . 
wetden 20—30 Tropfen verwandt, • 

, manchnlal auch zweimal 20 Tro.pfen iii 
Abständen von fünf bis zehn Minuten. 
Die ^Behandlung erfolgt in den ersteh 
Wochen täglich, später zwei-'bis dreimal 
wöchentlich. - Ungünstige Nebenwirkun¬ 
gen sind nicht beqbacht'et worden. Ver¬ 
fasser kommt zu dem Resultat, daß in 
einem erheblichen Teil der Fälle eine 
ausgesprochene günstige' Wirkung auf 
die Trigeminusneuralgie zu erkennen ist; 
insbesondere hat es sich in Fällen, die 
gegenüber” der sonstigen Behandlung re¬ 
fraktär waren, bewährt. Kananitzer,' 
(B.kl.W. 1921, Nr,7.) ’ 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Aus der’ HI. medizinisclien Kliuik der Universität Berlin 
' (Direktor: Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Gold sch eider). 

Über titrierte Digitaiistinktur (Digititrat Kahlbaum). 

Von Priv.-Doz. Dr. H. Guggenheimer. 


Die Bemühungen, Reinglykoside aus 
den Digitalisblättern darzustellen, sind 
bisher fehlgeschlagen. Auch Krafts 
Gitalin, unter dem Namen Verodigen im 
Handel, ist kein chemisch einneitlicher 
Körper, sondern ein Gemenge von meh¬ 
reren Stoffen. Es erhebt sich auch immer 
wieder die Frage, ob wir bei der Ver¬ 
wendung derartiger Reinsubstanzen der 
Digitalisblätter am Krankenbett die¬ 
selbe Wirkungsstärke erreichen, wie mit 
Extrakten der Gesamtdroge. Mehrfach 
günstigen Erfahrungen mit Verodigen 
stehen Beobachtungen von Maisei aus 
der Erlanger medizinischen Klinik gegen¬ 
über, der bei periodischer Darreichung an 
denselben Patienten die Wirkung von 
Folia Digitalis mit der des Verodigens 
verglich. Dabei pflegte die therapeuti¬ 
sche Wirkung der Gesamtdroge rascher 
und intensiver in Erscheinung zu treten 
als bei Verodigen, Letzteres hatte auch 
den Nachteil, bei größeren Dosen häu¬ 
figer unangenehme Nebenwirkungen zur 
Folge zu haben. ' 

Bei der Anwendung von Digitalis in 
der ärztlichen Praxis kommt es in erster 
Linie darauf an, ein wirksames Präparat 
in Händen zu haben, das auch stets 
gleichwertig ist, wollen wir nicht in 
dem einen Fall durch Unterdosierung, 
im anderen Falle durch Überdosierung 
den optimalen therapeutischen Effekt in 


Frage stellen. Ein gleichmäßiges Prä¬ 
parat-gewährleistet einstweilen nur die 
pharmakologische Auswertung der Blätter 
durch den Tierversuch. Wiejoachiraoglu 
in systematischen Untersuchungen ge¬ 
zeigt hat, ist die Ausbeute an Digitalis¬ 
glykosiden in hohem Maße abhängig von 
der Art der Extraktion. Den wirksam¬ 
sten Extrakt, erhielt 'er bei Extraktion 
mit absolutem Alkohol im Soxhletapparat. 
.Die’ Extraktion mit kaltem Wasser, ergibt 
nur zirka 60%, die Bereitung der Digi¬ 
talistinktur, nach den Vorschriften des 
D. A. B. 5 vorgenommen, etwa 75 % der 
bei Soxhletextraktion erhaltenen Glyko¬ 
sidmenge. Durch gleichmäßige Methodik 
der Auswertung der Alkoholextrakte, der 
der systolische Herzstillstand beim Frosch 
zugrunde gelegt ist, gelingt es nach diesem 
Verfahren, ein konstant wirksames Prä¬ 
parat herzustellen, dessen Wirkungsstärke 
nach den auch für die neue Auflage des 
D. A. B. vorgesehenen Vorschriften so 
eingestellt sein muß, daß der Wert der 
verwendeten Digitalisblätter sich nur 
zwischen 1600 bis 2000 Froschdosen, die 
Wertigkeit der Tinktur zwischen 100 bis 
160 Froschdosen bewegen darf. Die 
methodischen Fehlerquellen bei dieser ver- 
vollkommneten Art der Auswertung sind 
gering und betragen nicht mehr als 10%. 

Nach diesem Vorgehen wird von der 
Chemischen Fabrik Kahlbaum (Adlers- 




Promptere Sedaiivwirkung 
Erschwerte Gewöhnung 
Bessere Verträglichkeit 
Länger andauernde Wirkung 
Schonung des Atmungszentrums 


dem Op um 


Schnellere Stopfwirkung 
Rasche Resorption 
Reizlose Injizierbarkeit 
Abwesenheit oon Nebenwirkungen 
Gleichmäßigere Zusammensetzung 


Proben nnd Literatur durch 

BVK-OULDENWERKE 

CKem.FAbrIR ARtlenoesellscRs^fi 
BFRFI N NWT 

C N 795 27000 11.21 




















LUeraitiir^ Auszüge 

„Wie ich mich überzeugt habe, tritt infolge Abwesen¬ 
heit der verzögernden Ballaststoffe die volle Opium¬ 
wirkung außerordentlich rasch und ausgiebig ein, ohne 
daß andererseits die Dauer der Wirkung irgendwie be¬ 
einträchtigt wäre, im Gegenteil schien häufig insbeson¬ 
dere die narcotische Wirkung verlängert zu sein.“ 

Prof. Dr. Blumenthal, Berlin, Berl. Klin.Wschr. 1916 Nr.3 
„Holopon ist bei entzündlichen oder congestlven 
Dysmenorrhöen ausgezeichnet wirksam bei subcutaner 
Injektion oder noch besser bei rektaler Anwendung 
in Form der Suppositorien. Diese letztere Methode 
arbeitet auch am besten der Morphiumsucht entgegen." 
Professor Dr. Kroemer, Greifswald, 

Zeitschr. f. ärztliche Fortbildung 1916 Nr. 4 
„In 13 Fällen von Daimtuberculose in voi geschrit¬ 
tenen Stadien zeitigte die Behandlung teils Holopon- 
tabletten allein, teils mit Holopontabletten und In- 

I jectionen, oder nur mit Injectionen gute Erfolge. Die 
Schmerzen wurden ganz wesentlich herabgemindert 
und statt der flüssigen Entleerungen stellten sich 
2—3 mal täglich breiige Stühle ein.“ 

Dr. Handtmann, Lungenheilstätte Beelitz bei Berlin 
Zeitschr. für Tuberculose 1916 Nr. 4 
„In 24 Fällen von inoperabelem Carcinom zeigte sich 
das Holopon dem Morphium überlegen, als nach seiner 
Darreichung Kopfschmerzen, Erbrechen und Herz¬ 
klopfen gar nicht oder nur in geiingerem Grade auf¬ 
traten als nach Morphium.“ 

Oberarzt Dr. Welnreb, Berlin 

Münchner Med. Wochenschrift 1916 Nr. 16 
„Das Holopon hat vor dem Morphium die recht 
schätzenswerte Eigenschaft voraus, daß es so gut wie 
gar keine Nebenerscheinungen, wie Kopfschmerz oder 
Erbrechen, verursacht, daß eine Beschleunigung der 
Herztätigkeit nicht eintritt und daß es eine gleich¬ 
mäßige, vor allem rasch auftretende Wirkung bezüg¬ 
lich der Schmerzstillung ausübt.“ 

Dr. Bruck, Aerztliche Rundschau Nr. 44 1919 

„In dem Ultrafiltrat des Opiums haben wir ent¬ 
schieden einen äußerst wertvollen Zuwachs zu den 
bereits bekannten Derivaten des Opiums und zu den 
verwandten Medicamenten erhalten und zwar um so 
wertvoller, als in der Tat dieses Präparat von allen 
üblen Ligenschaften, welche den bisher gebräuchlichen 
, Opiaten innewohnten, frei zu sein scheint.“ 

Dr. Arnheim, Berlin, Fortschr. d. Med. 1920 Nr. 2 ^ 



Mär • - . ^ Die^'Therapie-dfer öegeawart 1921 - ' 


. hof) unter Kontrolle des hiesigen,pharma¬ 
kologischen, Instituts eine Digitalistinktür 
unter dem Namen Digititrat hergestellt, 
die wir auf ^unserer klinischen Abteilung 
bereits 0ber ein Jahr mit bestem Erfolg 
erprobten. Wenn .sich bisher die offi^'nelle 
Digitalistinktür nicht so recht einbürgerte, 
so mag dies, wie Heffter kürzlich mit 
Recht h^rvorhob, nicht allein in der Un- 
glei chmäßigkeit des Ausgangsmaterials, 
sondern vor allem auch mit der unzu¬ 
länglichen iForm der beliebten Dosierung 
nach Tropfenzahl Zusammenhängen. Ähn¬ 
lich wie bei der üblichen Verwendung des 
Digalens,'die'sich meist auf die Verord- 
nunjg von mehrmals täglich 10 bis 
20 Tropfen beschränkt, gab man unter 
Vernachlässigung der alkoholischen Lö¬ 
sung des Präparats im allgemeinen viel 
zu geringe Dosen. Im übrigen ist die auf 
1 ccm der Tinktur, .entsprechend 0,1 Folia 
Digitalis, fallende Tropfenmenge, je nach 
der Form der verwendeten-Tropfflasche 
oder Tropfpipette, recht verschieden. Sie 
kann zwischen 30 und 70 Tropfen schwan¬ 
ken. Als Grundlage einer exakten Do¬ 
sierung muß deshalb die Abmessung nach 
Kubikzentimeter vorgenommen werden, 
wofür ein entsprechend geeichtes Glas¬ 
röhrchen dem Handelapräparat beige¬ 
geben werden soll. - 

Halten wir uns an die von Edens 
angegebene Indikationsstellung für die 
wirksamste Anwendung- der Digitalis, so 
ist die Beeinflussung des Kreislaufes bei 
insuffizienten hypertrophischen Herzen 
unter täglichen Gaben von 2 bis 3 ccm 
Digititrat eine ausgezeichnete. Bei der 
auf Vorhofflimmern beruhenden Ar- 
rhythmia perpetua. genügten meistens 
ähnliche Gaben, um bei vorhandener 
Tachykardie die Pulszahl herabzudrücken 
und die Qualität der einzelnen Pulse zu 
verbessern. Bei gleichzeitiger Bettruhe 


und unter Berücksichtigung diätetischer 
Maßnahmen gelang es uns, selbst der¬ 
artige Kranke mit nicht unbeträchtlicher 
Stauungsleber in ein kompensiertes Sta¬ 
dium zu bringen und auch bei ambulanter 
Weiterbehandlung noch lange so zu er¬ 
halten. Wir pflegen in solchen Fällen 
dauernd Dosen von etwa zweimal % ccm 
der Tinktur weiter nehmen zu lassen und 
beobachteten davon bisher keinerlei un¬ 
angenehme Nebenwirkungen. Aber auch 
die Verträglichkeit ^größerer Dosen bis 
zu 3 ccm ist eine gute, Übelkeit und Er¬ 
brechen sahen wir bei der von uns ge¬ 
übten Art der Dosierung dabei bisher bei 
keinem Patienten auftreten. Daß man 
die diuretische Wirkung häufig erst durclr 
gleichzeitige Verabreichung von Theo¬ 
brominpräparaten voll erzielen kann, ent¬ 
spricht einer auch bei anderen Digitalis¬ 
präparaten gemachten Erfahrung. Dies 
gilt vor allem für die kardial dekom- 
pensierten Hypertonien. Auch die mitunter 
bei Myodegeneratio cordis bestehenden, 
wohl nicht lediglich kardial bedingten 
beträchtlichen Ödeme können sich, wie 
erst neuerdings von Eppinger wieder 
hervorgehoben wurde, Digitalis gegenüber 
refraktär verhalten. 

Sehen wir von diesen einer weiteren 
Medikation bedürfenden Zuständen ab, 
s:o möchten wir die nach den exakten 
«Untersuchungen Joachimoglus einge¬ 
stellte titrierte Digitalistinktur als ein 
Präparat bezeichnen, das frei von un¬ 
angenehmen Nebenwirkungen in der an¬ 
gegebenen Dosierung eine volle Digitalis¬ 
wirkung erzielen läßt und in der Kon- 
stanz^einer Zusammensetzung sich auch 
nach klinischen Erfahrungen als zuver¬ 
lässig erwies. Namentlich für die An¬ 
wendung in Krankenhäusern fällt auch 
der niedrig gehaltene Preis von Digititrat 
ins Gewicht. 


Aus dem Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Barmbeck (Abteilung: Prof, Erich Plate). 

Eine einfache Behandlungsmethode der Arthritis gonorrhoica im 

Prühstadium. 


Von Dr. Friedrich Lahmeyer, ehemals Assistenzarzt der Abteilung, 
jetzt Badearzt in Wildbad i. Schwarzwald. 


Der in Nr. 2 dieses Jahrgangs er¬ 
schienene Aufsatz von Schlesinger über 
,,Diagnostische und therapeutische Irr- 
tümer bei der gonorrhöischen Arthritis“ 
hat uns veranlaßt, auch an dieser Stelle 
noch einmal kurz auf eine Behandlungs¬ 
weise der Arthritis gonorrhoica hinzu¬ 
weisen, wie sie sich auf unserer Abteilung 


bei einem sehr großen Material an Gelenk¬ 
fällen auf das beste bewährt hat. "Nähere 
Ausführungen hierüber mit Beschreibung 
technischer Einzelheiten haben wir in 
Nr. 32 der dermatologischen Wochen¬ 
schrift 1920 gegeben, es soll hier nur kurz 
das wesentliche Prinzip angedeutet wer¬ 
den. Wie auch Schlesinger betont, ist 

25^ 



196 


Dte Therapie.‘der Gegenwart 192X 


Mai 


die Hauptgefahr bei jeder Arthritis go¬ 
norrhoica die der Ankylosierung^ 
diese muß sich vor allem unser therapeu¬ 
tisches Handeln richten. Die Neigung 
zur Ankylosierung ist bei der Arthritis 
gonorrhoica deshalb so groß, weil es schon 
ganz ungewöhnlich früh zu Usuren und 
weiter zur völligen Zerstörung des Ge¬ 
lenkknorpels kommt, so wie wir es sonst 
nur bei schweren Strepto- oder Staphylo¬ 
kokkenempyemen der Gelenke sehen. 
Durch Schrumpfung des stark geschwol¬ 
lenen periartikulären Gewebes wird das 
Gelenk immobilisiert, die erkrankten 
Knorpelflächen werden aneinanderge¬ 
preßt, gelangen zur Verklebung, und bald 
resultiert die Ankylose. Dieser Knorpel- 
Schädigung vorzubeugen oder den schon 
teilweise zerstörten Knorpel zur Regene¬ 
ration anzuregen, muß unser Ziel sein, 
eine Aufgabe, die ja auch Heilner, 
wenn auch auf einem ganz anderen Wege, 
zu lösen versucht hat. Wir gingen in 
unseren Erwägungen von entwicklungs¬ 
geschichtlichen und physiologischen Tat¬ 
sachen aus. Nach den Untersuchungen 
von Roux werden bei jeder Bewegung 
eines normalen Gelenks Teile der Ober¬ 
fläche des Knorpels losgerieben. Diese 
Abscherung des Knorpels regt denselben 
gleichzeitig zur Regeneration an, sie ist, 
wie Roux sagt, der ,,specifische Tätig¬ 
keitsreiz für die Chondroblasten“. Eine. 
Knorpelneubildung kann also nur herbei¬ 
geführt werden durch Bewegung im Ge¬ 
lenk, und zwar durch eine Bewegung, wie 
sie unter normalen physiologischen Be¬ 
dingungen zustande kommt. Im Verfolg 
dieses Gedankens hat Plate i) schön vor 
längerem den Grundsatz ausgesprochen, 
nur ein richtig gebrauchtes Gelenk kann 
gesund bleiben oder gesund werden. Für 
unseren Fall angewandt heißt das also, 
daß wir schon frühzeitig versuchen müssen, 
einen regenerativen Reiz auf den dem 
krankmachenden Virus besonders aus¬ 
gesetzten Gelenkknorpel auszuüben. Die¬ 
sen Reiz können wir nur durch aktive 
Bewegung des Gelenks erzielen. Das 
Haupthindernis für die praktische Aus¬ 
führung der Bewegung bilden die heftigen 
Schmerzen und hartnäckigen Muskel¬ 
spasmen. Das beste Mittel, beide zu 
beseitigen, ist das körperwarme Bad. Wir 
bringen deshalb unsere Patienten von 
dem Tage ihres Eintritts in unsere Be¬ 
handlung an, in jedem Stadium der Er¬ 
krankung, trotz schmerzhaftester Gelenk¬ 
entzündung, trotz hohen Fiebers in ein 
1) Plate, D. m. W. 1912, Nr. 51. 


Bad von 37 Grad, unterstützen sie ge¬ 
nügend und fordern sie auf, das erkrankte 
Gelenk zu bewegen. Man ist immer wieder 
von neuem erstaunt, wie Patienten, die 
im Bett nicht die geringste Bewegung aus- 
führeh, jetzt im Bade das Gelenk, wenn 
auch anfänglich nur um wenige Grade 
bewegen. Mit immer größer werdendem 
Zutrauen der Patienten werden auch die 
Fortschritte in der Bewegungsmöglichkeit 
täglich größer. Schmerzen dürfen auf 
keinen Fall entstehen und entstehen auch 
nicht bei.der Methode, deshalb machen 
wir niemals, auch nicht im Bade, passive 
Bewegungsversuche, wie sie Schles'inger 
empfiehlt, denn die Spasmen, die wij ja 
doch gerade vermeiden wollen, treten da¬ 
bei unweigerlich auf, und Zerrungen, 
Blutungen im Gelenk, akute Exacer¬ 
bationen sind die Folge. Gewöhnlich 
genügt es, die Patienten vor- und nach¬ 
mittags je eine Stunde in das Bewegungs¬ 
bad zu bringen, nach einigen Tagen fangen 
dann die Patienten von selbst an,*auch 
im Bett vorsichtige Bewegungen zu ma¬ 
chen. Mit diesen frühzeitigen Bewegungen 
wird gleichzeitig dem Zustandekommen 
der Muskelatrophie auf das beste vor¬ 
gebeugt und eine Besserung der ganzen 
CircLilations-' und Resorptionsverhältnisse 
erzielt, so daß außer der günstigen Beein¬ 
flussung des Knorpels eine beschleunigte 
Resorptiön des periartikulären Infiltrates 
erzielt wird, ehe Schrumpfungsprozesse 
einsetzen. 

Außerdem wenden wir zur Unter¬ 
stützung Arthigon an, später Massage 
und andere resorptionsbefördernde physi¬ 
kalische Methoden, in der Hauptsache 
aber legen wir Gewicht auf eine von 
Anfang an durchgeführte Bewegungs¬ 
therapie. 

Um ein klares Bild der therapeutischen 
Wirkung unseres Verfahrens zu erhalten, 
haben wir im vorletzten Jahr 18 Fälle 
von Arthritis gonorrhoica, schwerer und 
mittelschwerer Art, mono- und polyarti- 
kuläre, akute und subakute Fälle, nur mit 
Biewegungsbädern ohne jedes andere Hilfs¬ 
mittel behandelt. Eine Behandlung der 
Schleimhautblennorrhöe ging selbstver¬ 
ständlich nebenher. Abgesehen von vier 
Fällen, die noch andere Komplikationen 
aufwiesen, kamen alle Patienten mit völlig 
tadelloser Funktion zur Entlassung. Die 
Behandlungsdauer überstieg keinmal acht 
Wochen. Auf Einzelheiten ist in der oben 
zitierten Arbeit von mir näher eingegan¬ 
gen. Besonders schön zeigt sich der Ein¬ 
fluß auf die Temperaturkurve. Hohe 



Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1Q21 


197 


Temperaturen fielen innerhalb weniger 
Tage zur Norm, trotz — oder vielleicht 
gerade infolge — der Bewegungen. Eine 
Patientin, welche auf einer anderen Ab¬ 
teilung über drei Wochen Temperaturen 
zwischen 38 und 39 Grad hatte, kam bei 
uns prompt zur Eri'tfieberung, nachdem 
weiter nichts mit ihr gemacht war, als 
daß sie ins Bad gesetzt wurde und sich 
bewegen mußte. Ausdrücklich sei noch 
betont, daß wir nur Bäder von 37 Grad, 
keine heißen Bäder verabfolgen. 

Diese Behandlung der Arthritis gonor¬ 
rhoica mit Bewegungsbädern führen wir 
seit einer langen Reihe von Jahren syste¬ 
matisch durch. Wir betrachten sie allen 
anderen Methoden gegenüber als über¬ 
legen und möchten sie dringendst emp¬ 


fehlen.. Ein g;'oßer Vorteil der Methode 
ist ihre Einfachheit, sie* kann in jedem 
Haushalt, wo eine Badewanne ist, durch¬ 
geführt werden und bedarf jedenfalls bei 
weitem nicht in dem Maße der ständigen 
ärztlichen Überwachung, wie die Stau¬ 
ungsbehandlung, auch ist letztere bei 
Erkrankungen des Hüftgelenks nicht an¬ 
wendbar.' Ein weiterer Vorteil ist auch 
ihre Schmerzlosigkeit, die dem Patienten 
zu einer baldigen Belastung und richtigen 
Benutzung den Mut gibt. Die richtige 
Benutzung eines Gelenkes ist aber, wie 
Plate immer wieder betont, die unum¬ 
gängliche Voraussetzung, nicht nur ein 
Gelenk gesund zu erhalten, sondern auch 
ein krankes Gelenk wieder zu einem 
normalen zu machen. 


Zur Therapie des Ulcus ventriculi — Sodbrennen. 

Von Dr. med. Hugo Schmidt, Bad Liebenstein, früher Straßburg i. Eis. 


Das Ulcus ventriculi wird noch immer 
fast ausschließlich durch Bettruhe und 
Schonungsdiät, die offenbare Blutung 
wohl mit einer Gelatinelösung bekämpft. 
Von einem direkten Heilmittel hört man 
kaum etwas. Ich möchte deshalb die 
Aufmerksamkeit der Kollegen auf das 
reine Glycerin lenken, das schon bei 
äußeren Wunden eine ausgesprochen blut¬ 
stillende Heiltendenz hat. Glycerin kann 
auch innerlich genommen werden und 
hat sich mir in den letzten Jahren gerade 
bei Magenblutungen, beim Magengeschwür 
als ausgesprochenes Heilmittel mehrfach 
ganz ausgezeichnet bewährt. Es wird 
kaffee- bis eßlöffelweise mehrmals am 
Tage jedesmal vor der Nahrungsaufnahme 
genommen und zwar entweder pur oder 
mit Zusatz von 5 bis 10 % Bismuthum 
subnitricum. Es entfaltet dabei sowohl 
subjektiv eine beruhigende, schmerz¬ 
lindernde, das Druckgefühl mindernde 
Wirkung als auch objektiv die Wirkung, 
daß die Resistenz und Auftreibung der 
Magengegend in wenigen Tagen mit der 
fortschreitenden Heilung nachläßt und 
der entzündliche, fühlbare Tumor kleiner 
wird und allmählich schwindet. Das 
Glycerin hat hierbei nur Vorzüge: es 
erweist sich als Heilmittel ohne Nach¬ 
teile; denn es kann auch in großen Dosen 
genommen werden, ohne irgendwie schäd¬ 
lich zu wirken, es hat einen süßen Ge¬ 
schmack, der wohl von keinem Patienten 
verweigert wird. Trotzdem hat es bis 
heutzutage meines Wissens in der Thera¬ 
pie des Ulcus ventriculi auch bei den 
maßgebenden Autoren nicht die Rojlc 


gespielt, die seinen ausgezeichneten Eigen¬ 
schaften entspricht. Es ist Zweck dieser 
Zeilen, zur weiteren Prüfung und An¬ 
wendung dieses Medikamentes bei Magen¬ 
geschwür anzuregen. 

Die blutstillende, heilende Wirksam¬ 
keit des Glycerins geht übrigens soweit, 
daß es auch bei ambundanten carcino- 
matösen Magenblutungen in demselben 
Sinne wirkt und zur ununterbrochenen 
Blutstillung, also zu einer relativenWund- 
heilung führen kann. Eine solche starke 
Magenblutung beobachtete ich am 
20. Februar 1920 bei einer 63jährigen 
Patientin, die secundär nach Lebercarci- 
nom (chronischer Ikterus) an Magen- 
carcinom erkrankte. Es wurde neben 
Adrenalintropfen und Gelatine innerlich 
nur Glycerin (dreimal einen Eßlöffel 
voll, später weniger) gereicht. Die Blu¬ 
tung wurde dadurch prompt gestillt und 
trat auch bis zu dem am 13. Juli 1920 
erfolgten Exitus nicht wieder auf. 

Im Anschluß hieran möchte ich zur 
Therapie des Sodbrennens der All¬ 
gemeinheit eine Anregung geben, die nach 
meiner Erfahrung und Erprobung nicht 
nur sicher wirksam ist, sondern auch in 
seinem Erfolg leicht erklärt werden kann. 
Das Sodbrennen kommt nämlich nicht 
vom Essen, sondern vom Trinken; es ver¬ 
dankt seine Entstehung nicht etwa den 
Speisen, die gekaut werden müssen, son¬ 
dern der reichlichen oder kalten oder 
heißen oder sauren Flüssigkeit, die der 
Patient bei der Mahlzeit zu sich nimmt. 
Es gibt Leute, die sogar von Milch Sod¬ 
brennen bekommen können. 



198 ^ 


Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Läßt man die Leute, die zu Sodbrennen 
neigen, trocken essen, so tritt kein Sod¬ 
brennen mehr auf. Zur Trockenkost ge¬ 
hören auch alle Breie, sofern sie nur 
körperwarm genossen werden. An 
Flüssigkeit darf so viel getrunken werden, 
als zur Herstellung eines Breies im Magen 
notwendig oder dienlich ist oder das 
Bedürfnis des Patienten nach Flüssig¬ 
keit zur Stillung seines Durstes es ver- 
■ langt. Es ist selbstverständlich, daß auch 
die Flüssigkeit am besten dabei körper¬ 
warm genommen wird. Unter diesen 
Voraussetzungen bedarf es einer weiteren 
Therapie des Sodbrennens mittels alka¬ 
lischer Wässer nicht. Ja, der Patient 
kann sogar unter Umständen ein umfang¬ 
reiches Menu ohne Magenstörung und 
ohne Sodbrennen bewältigen. 

Wie ist das zu erklären? Das Sod¬ 
brennen verdankt seine Entstehung der 
Hyperacidität des Magensekrets, indem 
kleine Mengen des flüssigen, stark sauren 
Mageninhalts in die Speiseröhre regur- 
gitieren. Vermeidet man aber durch die 
beschriebene Einschränkung der Flüssig¬ 
keitszufuhr, daß der Mageninhalt dünn¬ 
flüssig wird, und sorgt dafür, daß er nur 
Breiform hat oder annehmen kann, so 
kann auch der hyperacide Magensaft 
nur ganz langsam und kriechend den 
Speisebrei durchsetzen; die Verdauung 


kann eventuell schneller erfolgen wie 
gewöhnlich, aber eim Regufgitieren des 
Mageninhalts in die Speiseröhre, ist 
mechanisch und physikalisch einfach 
unmöglich. 

Ist der Mageninhalt aber dünnflüssig, 
so ist leicht einzusehen, daß der stark 
saure Magensaft seine (Salz-)Säure bald 
und gleichmäßig der ganzen Flüssig¬ 
keit mitteilt: letztere wird insgesamt 
stark sauer und wird durch, den dadurch 
gesetzten Reiz auf die muskulöse Magen¬ 
wand kleine Teile der stark sauren Flüs¬ 
sigkeit nach der Speiseröhre hin aus¬ 
pressen können. Dadurch ist auch gut 
der Erfolg zu verstehen, den v. Leyden 
seinerzeit bei Hyperacidität des Magens 
dadurch erzielte, daß er viele trockene 
Semmel essen ließ. Diese trockenen 
Semmeln mußten zunächst gut gekaut 
und eingespeichelt werden: kamen sie 
so in den nüchternen oder leeren Magen, 
so bildeten sie dort einen dicken Brei, 
gesellten sie sich zu einem dünnflüssigen 
Mageninhalt, so machten sie vermöge 
ihrer leichten Aufnahmefähigkeit für flüs¬ 
sige Speisen letztere zu einem dickflüs¬ 
sigen Brei. In beiden Fällen war dann 
von Sodbrennen, dem unangenehmen 
Begleitsymptom der Hyperacidität, keine 
Rede mehr: Sodbrennen konnte einfach 
mechanisch nicht mehr auftreten. 


Tenosin in der Frauenpraxis. 

Von Dr, Georg Katz, Frauenarzt in Berlin-Friedenau 
(aus der Frauenklinik des Verfassers). 


Nachdem die Mutterkornpräparate wie 
so viele galenische Medikamente während 
und nach dem Kriege immer seltener und 
teurer geworden waren, wurde der Wunsch 
nach einem gleichwertigen Ersatz, der 
zudem die wirksamen Bestandteile nicht 
in einer von Jahr zu Jahr schwankenden 
Menge enthielt, immer reger. Den Farben¬ 
fabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., 
Leverkusen, ist es nun gelungen, auf 
synthetischem Wege ein Präparat herzu¬ 
stellen, das die wirksamen Bestandteile 
des Mutterkorns in Reinsubstanz enthält. 
Es handelt sich hierbei um die beiden 
chemisch reinen Basen, das .Beta-Imid- 
azolylaethylamin und das p-Oxyphenyl- 
aethylamin, beides Stoffe, die schon 
1909/10 von den englischen Forschern 
Barger und Dale aufgefunden worden 
sind. Das Beta-Imidazolylaethylamin ist 
der wirksamere Bestandteil, es 'bewirkt 
stets starke Contractionen der Uterus¬ 
muskulatur. Daneben sinkt, trotzdem 


das Herz stärker arbeitet, der Blutdruck 
in den-Arterien infolge einer peripher an¬ 
greifenden Vasodilatation. Di eseBlutdruck- 
senkung wird aber aufgehoben durch den 
zweiten Bestandteil, das p-Oxyphenyl- 
aethylamin, welches auffällige Blutdruck¬ 
steigerung hervorruft. In seiner chemi¬ 
schen Zusammensetzung und pharmakolo¬ 
gischen Wirkung ähnelt das letzte sehr 
dem Adrenalin. Neben der Gefäßwirkung 
kommt dem p-Oxyphenylaethylamin eine 
specifische Uteruswirkung zu, und zwar 
bewirkt es Contractionen des graviden 
Uterus, während beim virginellen Uterus 
Erschlaffung eintritt. Die Vereinigung 
dieser beiden Körper stellt nun das 
Tenosin dar. 

Bei uns fand das Mittel die gleiche 
Anwendung wie die Mutterkornpräparate. 
In Fällen von Nachgeburtsblutungen wie 
auch bei allen atonischen Blutungen 
nach Abortausräumungen stellte sich stets 
eine kräftige Contraction der Uterus- 





Mal . Die Therapie der Qegei4wart 1921 


199 


muskulatur ein. In der Regel injizieren 
wir 1 ccm Tenosin. Aus dem uns vor¬ 
liegenden Material erwähnen wir folgen¬ 
den typischen Fall: 

Bei Frau L. (beginnender Abort Ende dritten 
Monats) hatte ein Schädelknochen, als er mit 
dem Abortlöffel herausgezogen wurde, durch seine 
scharfe Kante die Wand des Uterus verletzt. 
Trotz leerer Gebärmutter bestand völlige Atonie 
und reichliche abundante Blutung, die ihren Ur¬ 
sprung zum größeren Teil aus der deutlich fühl¬ 
baren Rißwunde nahm. Zehn Minuten nach In¬ 
jektion von Tenosin stand die Blutung. Uterus 
gut contrahiert, 

Ferner verabreichen wir das Tenosin 
mit Vorliebe nach Adnexoperationen so¬ 
fort nach beginnender wiedereinsetzender 
Menstruation, da diese erfahrungsgemäß 
sehr oft stärker zu' verlaufen pflegt. Die 
specifische’ Wirkung des Präparates hat. 
sich auch in solchen Fällen stets ge¬ 
zeigt. 

Bei Adnexblutungen selbst bewährte 
sich Tenosin vorzüglich in Verbindung 
mit Hydrastinin. Wir geben dreimal 
täglich je zehn Tropfen Tenosin und 
Liquidrast. 

Fräulein B. hat nach kriminellem Abort eine 
rechtsseitige Adnexentzündung zurückbehalten. 
Die menstruelle Blutung dauert zehn Tage, ist von 
großer Intensität, zwischendurch Menorrhagien. 
Nach Verabreichung von Tenosin in Kombination 
mit Liquidrast in der angegebenen Dosis, die 
Fräulein B. während der Blutung täglich nahm. 


nahm die Menstruation an Dauer und Intensität 
ab. Keine Menorrhagien mehr. Die dritten regel¬ 
mäßig einsetzenden Menses dauerten vier Tage, 
doch wurde gleich zu Beginn Tenosin genommen. 
Patientin ist jetzt nach einem halben Jahre ge¬ 
sund. 

Auch bei Menorrhagien infolge Endo¬ 
metritis haben wir Tenosin versucht und 
durch richtige Anwendung fast immer eine 
Auskratzung der Gebärmutter vermiede;!. 

Bei Frau A. F. dauerten die Menses durch¬ 
schnittlich zehn Tage mit reichlichem Blutabgang. 
Sie erhält vor der Regel dreimal zehn Tropf eh 
täglich drei Tage lang, bei Beginn der Regel 
dreimal täglich 25 Tropfen Tenosin bis zum 
Schluß des Blutens. Dauer der Menses daraufhin 
sechs Tage. Deutliche Verminderung des Blutes. 

Zum Schluß sei noch einer profusen 
Blutung gedacht, die sich ebenfalls unter 
dem Einfluß des Tenosin wesentlich 
besserte. 

Frau G., 34 Jahre alt, leidet an heftigen pro¬ 
fusen Blutungen, die den Verdacht einer Metro- 
pathia haemorrhagica hervorrufen, da weder eine 
Endometritis, noch ein anderer krankhafter 
Genitalbefund erhoben wird. Auch hier lassen 
auf Tenosindarreichung die Blutungen nach, die 
nächste Regel, während der Tenosin dreimal 
täglich 25 Tropfen eingenommen werden, verläuft 
normal. 

Auf Grund unserer Erfahrungen kön¬ 
nen wir für die gynäkologische Praxis 
Tenosin als ein vollwertiges stets konstant 
zusammengesetztes Mutterkorn-Ersatz- 
präpärat empfehlen. 


Aus dem Dematologisclieii Institut von Dr. Bab uud Dr. Treitel. 

Über intravenöse kombinierte Neosalvarsan-Novasurol- 

Injektionen. 

Von Dr. Treitel. 


Seit neun Monaten habe ich, veran¬ 
laßt durch die Versuche von Bruck und 
Mulzer, in meiner eigenen Praxis die 
kombinierten Neosalvarsan - Novasurol- 
Injektionen angewandt. Wenn mir auch 
die gleichzeitige Anwendung von Queck¬ 
silber und Neosalvarsan außerordentlich 
verlockend erschien, so trat ich an die 
Versuche doch mit Vorsicht heran, zumal 
man ja nicht weiß, was chemisch aus der 
Mischung beider Medikamente entsteht. 
Im ganzen habe ich etwa 500 Injektionen 
gemacht. Ich habe solche Fälle zu den 
Versuchen benutzt, bei denen eine frische 
Infektion vorlag, und die noch unbe¬ 
handelt waren, oder solche Fälle, bei 
denen trotz energischer Behandlung mit 
mehreren Kuren der Wassermann immer 
noch positiv war. Zu einer Kur verwandte 
ich acht Injektionen, die in vier Wochen, 
zweimal ^ wöchentlich, gegeben wurden, 
von je 0,45 Neosalvarsan. Anfangs setzte 


ich den ersten beiden Neosalvarsaninjek- 
tionen nur 1 ccm Novasurollösung, ent¬ 
sprechend 0,1 Novasurol hinzu, nahm 
dann erst von der dritten Spritze ab den 
vollen Inhalt der Novasurol-Original-Am- 
pullen, 2,2 ccm entsprechend 0,22 Nova¬ 
surol, hinzu. Nach einigen Wochen be¬ 
reits ging ich dazu über, von Anfang an 
den vollen Inhalt der Novasiirolampullen 
zu allen acht Injektionen hinzuzusetzen. 
Die Herstellung ist sehr einfach; man 
zieht zu dem in etwa 5 ccm Wasser ge¬ 
löstem, in die Spritze aufgezogenen Neo¬ 
salvarsan den Inhalt der NovasurolampuIIe 
durch die Kanüle hinzu und schüttelt 
den Inhalt der Spritze, solange Luft in 
derselben ist, ein paarmal kräftig um. 
Die helle Neosa.Ivarsanlösung verwandelt 
sich dabei in eine undurchsichtige, grau¬ 
grünliche Mischung. Nach Entfernung 
der Luft erfolgt dann sofort die Injektion. 
Besonderen Wert habe ich auf die mög- 




200 , 


Die Therapie der Gegenwart 1021 


Mai 


liehst sofortige Anwendung nach der 
Fertigstellung der Lösung gelegt. Die 
Injektion in die Vene bietet technisch 
nicht die geringste Schwierigkeit, sie 
ähnelt insofern der Injektion von Silber- 
salvarsan, als es sich ja auch hier um 
einen undurchsichtigen Stoff handelt. 

Während andere Autoren behaupten, 
daß keine so intensive Mundpflege nötig 
sei als bei anderen Hg-Kuren und auch 
das Rauchen erlauben, habe ich auf die 
Mundpflege den größten Wert gelegt, und 
zwar besonders deshalb, weil bei einer 
jungen Patientin, die ihren Mund über¬ 
haupt nicht gespült hatte, um zu Hause 
nichts von ihrer Krankheit merken zu 
lassen, Erscheinungen einer typischen 
Hg-Vergiftung auftraten. 

Die Patienten, die doch fast alle wäh¬ 
rend der Behandlung ihrem Berufe nach¬ 
gingen, klagten vielfach über Mattigkeit, 
die oft so groß sei, daß sie froh seien, 
wenn sie sich abends ins Bett legen könn¬ 
ten. Übelkeit und Erbrechen traten nicht 
öfter als nach reihen Salvarsaninjektionen, 
besonders aber dann auf, wenn die Pa¬ 
tienten entgegen meinem Rate gleich 
nach dem Essen zur Behandlung kamen. 
Zwei besonders schwächliche und auch 
sonst neurasthenisch veranlagte Patienten 
klagten über Schmerzen in der Nieren¬ 
gegend. Es habe sie nach den Ein¬ 
spritzungen, besonders nach den beiden 
ersten, die ganze Nacht hindurch ordent¬ 
lich gerissen; da es sich in diesem Fall 
um sehr wohlhabende Patienten handelte, 
die sich trotzdem zur Fortsetzung der 
Kur bereit erklärten, wird wohl ein guter 
Teil der Klagen der Veranlagung der 
Patienten zuzuschreiben sein. Besonders 
auffällig ist es, daß viele der Patienten 
gegen Ende und nach Schluß der Kur 
über ein Gefühl des Kribbelns und des 
Juckens besonders in den Beinen klagten, 
daß öfters in der Folge durch ein Gefühl 
des Einschlafens abgelöst wurde und erst 
nach einigen Wochen verschwand. Der 
Urin wurde ständig kontrolliert, wies 
aber in keinem Falle Besonderheiten auf. 
Auch Ikterus trat in keinem Falle auf. 

Die äußeren Erscheinungen der Lues, 
Exantheme, Papeln, verschwanden sehr 


schnell nach der ersten Injektion, das 
Ulcus durum selbst bei frischen. Infek¬ 
tionen war nach spätestens zwei bis drei 
Injektionen abgeheilt. Die * Wirkung 
übertrifft in dieser Beziehung noch die 
des Silbersalvarsans. Ich habe im ganzen 
50 Patienten behandelt, von denen, wie 
wir es leider oft erleben, elf vor Vollen¬ 
dung der Kur nach einigen Injektionen 
aus der Behandlung wegblieben, da ihre 
Erscheinungen geschwunden waren. So 
bleiben 39 Fälle übrig. Davon waren 
16 frische Infektionen, neun mit schon 
positivem Wassermann, sieben mit noch 
negativem. Zwei von diesen 16 Patienten 
erschienen nicht zur Blutuntersuchung 
nach der Kur. Bei den übrigen 14 war 
der Wassermann nach beendeter Kur 
negativ. Sieben dieser Patienten er¬ 
schienen nach zwei bis drei Monaten zu 
einer zweiten Blutuntersuchung, die auch 
negativ ausfiel. Trotzdem habe ich in 
all diesen Fällen eine zweite Kur mit je 
sechs reinen Neosalvarsaninjektionen von 
je 0,45 durchgeführt. 

Bei den 23 Patienten, bei denen es 
sich um ältere Infektionen handelte, war 
der Wassermann in allen Fällen vor der 
Behandlung positiv. Nach der Behand¬ 
lung erschienen vier von diesen 23 Pa¬ 
tienten nicht mehr zur Blutuntersuchung. 
Von den übrigen Fällen blieb der Wasser¬ 
mann in neun Fällen positiv, bei einem 
dieser Kranken war es die siebente anti¬ 
luetische Kur. In den übrigen zehn Fällen 
war der Wassermann nach. Beendigung 
der Kur negativ, ln sechs Fällen konnte 
durch eine zweite Blutuntersuchung sechs 
Wochen später festgestellt werden, daß 
der Wassermann negativ geblieben war. 

Es wird natürlich längerer Beobach¬ 
tung bedürfen, um den Kuren mit kom¬ 
binierten intravenösen Hg-Salvarsan-In¬ 
jektionen den Platz zuzuweisen, den sie 
unter den antiluetischen Kuren verdienen. 
Schon heute aber muß ich sie nach meinen 
Erfahrungen als eine äußerst wirksame 
und angenehme Behandlungsform be¬ 
zeichnen, die bei sachgemäßer Anwen¬ 
dung nicht mehr Gefahr bietet, als die bis 
jetzt angewandten Mittel, insbesondere 
die reine Salvarsanbehandlung. 


Druckfehlerberichtigung. 

Auf Seite 72, 2. Spalte, 24. Zeile von als ,,Gonostyli-Bayer“ anstatt ,,Gö¬ 
nnten, sind die unter dem Nameii ,,Go- nostyli-Beiersdorf“ bezeichnet, 
nostyli“ hergestellten Urethralstäbchen 

Ffir die Redaktion verantwortlich Geh.Med.*Rat Prof.Dr. G.Klemperer in Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg 
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berlin W57, 





JUL 14 192» 


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62. Jahrgang Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer 

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6. Heft 

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1921 


herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. ö. Klemperer 
in Berlin. 


Juni 


Nachdruck verboten. 

Wie vor 21 Jahren der greise Altmeister Kuß maul einen seitdem berühmt ge- 
%vordenen Aufsatz in der .^Therapie der Gegenwart'' veröffentlichte, so wird unserer Zeit¬ 
schrift heute die Auszeichnung zuteil, eine Äußerung unseres großen Lehrers Naunyn 
über die Wiesbadener Diabetesaussprache publizieren zu dürfen. Die Deutsche Gesellschaft 
für innere Medizin huldigte anläßlich dieser Aussprache ihrem Ehrenmitgliede, „dessen 
Arbeiten die heutige Therapie des Diabhtes begründet haben". Wir möchten dieser Huldi¬ 
gung den Dank an den hochverehrten Meister anschließen, daß er nicht verschmäht, aus 
seiner Zurückgezogenheit hervorzutreten, um den deutschen Ärzten die praktischen Folge¬ 
rungen aus seinen Lehren von neuem ans Herz zu legen. 

Epilog zur Diabetesdebatte. 

^ Von B. Naunyn. 


Es war mir leider nicht vergönnt, dem 
Kongresse beizuwohnen, so sehr mich das 
diesjährige Programm, nicht allein durch 
die Diabetesdebatte, anzog, und ich muß 
dem Herrn Präsidenten sehr dankbar sein, 
daß er mir ermöglicht, mich nachträglich 
zu äußern. * 

Die Besprechung der Diabetestherapie 
war für die medizinische Welt ein wich¬ 
tiges Ereignis; sie war sehr an der Zeit. 
Dank einiger Übertreibungen und ein 
wenig lauter Anpreisungen von allerhand 
Sonderkuren begann sich in ärztlichen 
Kreisen eine gewisse Unruhe zu zeigen; 
es drohte zu Unsicherheit über die 
Grundlagen und Grundsätze der Diabetes¬ 
therapie zu kommen, und doch waren 
diese Grundlagen längst gelegt, seit zwei 
Jahrzehnten standen sie bei uns in 
Deutschland fest. Sie sind nun kodifiziert, 
für jedermann zugänglich und hoffentlich 
verbindlich. 

Es ist gute ernste Arbeit. Wie jetzt 
unsere Diabetestherapie so nett und rund 
dasteht, merkt man kaum, wieviel frucht¬ 
bare Arbeit darin steckt und was an Vor¬ 
urteilen überwunden werden mußte; doch 
sind ja noch genug unter uns, die schon 
im letzten Jahrzehnt des verflossenen Jahr¬ 
hunderts die allgemeine Nahrungsein¬ 
schränkung und bald auch die Fleischbe- 
^ Schränkung — weit überXantani hinaus 
— als Grundlage jeder Behandlung ernster 
Diabetesfälle vertraten, und sie haben 
es damals erlebt: selbst verdienstvolle 
Forscher glaubten, nachdrücklich und laut, 
den Vorwurf erheben su sollen, daß der Dia¬ 
betische bei solch allseitig eingeschränkter 
Diät „verhungern“ müsse. Und gar die 
Hungertage! Hat man sie damals als 
„unmenschlich“ verpönt so geht man 


jetzt darin sehr weit auch einmal weiter, 
als nötig und gut ist Denn man darf 
nicht vergessen, daß jeder Hungertag, selbst 
einem mageren Diabetiker, ein Kilogramm 
seines Körpergewichtes kosten kann, und 
daß der Verlust schwer wieder einzubringen 
ist Jetzt war „Nahrungsbeschränkung“ 
Stichwort doch wäre es gut gewesen, noch 
nachdrücklicher zu betonen, wie es nicht 
nur, und in manchen Fällen sogar weniger, 
ankommt auf die qualitative Zusammen¬ 
setzung, auf den geringen Zuckerwert der 
Nahrung, als auf die quantitative Beschrän¬ 
kung im ganzen: in leichten Fällen bedarf 
e^ oft nur einer solchen, und zwar einer 
sehr mäßigen, und wieder in manchen 
schweren Fällen mit nur noch geringer 
Zuckerausscheidung geht es ohne strenge 
Beschränkung des Gesämmtkalorien- 
wertes der Nahrung nicht ab: erst diese 
erzwingt die Aglykosurie, nachdem die 
qualitative Regulierung vielleicht keinen 
vollen Erfolg erreicht hatte. Und bei 
der Besprechung des Zuckerwertes der 
Nahrung hat man einer schwer zu 
schätzenden Fehlerquelle kaum gedacht. 
Für ihn kommt nur die Menge des vom 
Darme resorbierten Zuckers in Betracht, 
und diese braucht keineswegs gleich 
dem Kohlehydrat der Nahrung zu sein. 
Denn die Kohlehydrate können im Darme 
vergären; die meisten nur zu einem 
kleinen Teil, doch einige viel stärker. Die 
Menge des so für den Zuckerwert verlore¬ 
nen Kohlehydratanteils ist nicht sicher zu 
bemessen -— doch dürfte sie bei einigen 
Mehlarten, so dem Hafermehl, besonders 
groß sein, und groß genug, u m für den Zucker¬ 
wert der Nahrung in Betracht zu kommen. 

Die Diskussion beschränkte sich, sehr 
weise, auf die Therapie; doch kann man 

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Die Therapie der Gegenwart 1921 


Juni 


als Praktiker nicht wohl von Therapie 
reden, ohne sich über die Prognose zu 
verständigen. Es liegt in der Natur der 
Krankheit, daß sie von der einen Seite 
leicht zu rosig, von der'andern zu trübe 
erscheint. Denn auch schwere Fälle sind 
erfolgreicher Behandlung zugängig, doch 
ergeben sie selten einen guten Dauer¬ 
erfolg, und das gleiche gilt von sehr 
vielen Fällen, die, nach ihrer Toleranz 
bemessen, anfangs kaum als schwer 
anzusprechen, bereits längere Zeit be¬ 
stehen, inveteriert sind, Auch bei 
ihnen muß man damit rechnen, daß die 
Krankheit trotz allem sich hinschleppt 
und in der einen oder andern Form zum 
vorzeitigen Ende führt. Deshalb ist es vor 
allem Pflicht des Arztes, in jedem Falle 
sofort eine ernste Behandlung einzuleiten, 
die dann Klarheit schafft über die Natur 
des Falles und über das, was weiter zu 
geschehen hat. 

Doch sollte dies ein Epilog und nicht 
eine Epikrise sein oder gaf wieder eine 


•* ‘Ti 

neue Diskussion einleiten! . Es war die 
Erinnerung an die Entwicklung des nun 
Erreichten, der ich dienen wollte, und da 
drängt sich die an einen Mann auf, dessen 
Name mir in den Aussprachen nicht 
begegnet ist: W. Weintraud, der lang¬ 
jährige Sekretär und in seiner selbstlosen 
begeis'terungsfähigen Art der eifrigste För¬ 
derer unserer Gesellschaft, nimmt auch 
in der Geschichte der Diabetestherapie 
eine erste Stelle ein. Seine gi'oße Arbeit, 
in der bibliotheca medica aus dem Jahre 
18931 bringt zu dem stattlichen Bau zwei 
Ecksteine: er hat, als erster, bewiesen, 
mit wie wenig Proteinsubstanz der Diabe¬ 
tiker auch auf die Dauer auskommt, und 
er hat die Rolle des^Fettes in der Diabetes¬ 
ernährung festgestellt. Die erste Tat¬ 
sache wurde eine der allerfolgenreichsten 
und auch über die andere bedarf es 
keines Wortes; die störende Rolle, die 
das Fett hier und da durch Steigerung 
der Acidose spielt, kann daran nichts 
ändern. 


Über die Grundlinien der diätetischen Behandlung der Zucker« 

krankheit. 

Von Prof. Carl von Noorden, Frankfurt a. M. 


Unter Anlehnung an ein, größeres 
Referat, welches ich kürzlich auf der 
Tagung der Deutschen Gesellschaft für 
innere Medizin erstattete, sollen hier die 
Grundlinien der diätetischen Therapie 
des Diabetes mellitus besprochen werden. 
Alle anderen Methoden, insbesondere alte 
und neue Formen medikamentöser Be¬ 
handlung dieser Krankheit sind Hilfs¬ 
mittel untergeordneten Ranges. Bei 
Ärzten und Laien, die mit der Geschichte 
der Diabetestherapie nicht vertraut sind, 
können manche neuere Veröffentlichungen 
den Anschein erwecken, als ob die Diä¬ 
tetik des Diabetes in den letzten Jahren 
völlig neue, früher unbekannte Wege ein¬ 
geschlagen habe. In Wirklichkeit handelt 
es sich aber teils nur um ernährungs¬ 
technische Weiterentwicklung alter For¬ 
men, teils um einseitige Übertreibung 
wohlbekannter Grundsätze. 

Von den wechselnden Theorien über 
die Art der diabetischen Stoffwechsel¬ 
störung ist die diätetische Therapie un¬ 
berührt geblieben. Sowohl dje Theorie 
der Nichtoxydation wie die Theorie der 
Überproduktion des Zuckers wußten sich 
mit den empirisch gefundenen und er¬ 
probten Richtlinien der Diätetik abzu¬ 
finden. Dies trat deutlich auf dem Wies¬ 
badener Kongreß zutage, wo 0. Min¬ 


kowski und C. von Noorden trotz 
entgegengesetzten theoretischen Stand¬ 
punktes hinsichtlich therapeutischer Fra¬ 
gen völlig übereinstimmten. Neueste 
Untersuchungen aus dem G. Embden- 
schen Institute machen es übrigens wahr* 
scheinlich, daß bei der diabetischen Stoff¬ 
wechselstörung die Kohlenhydratvor¬ 
stufen (Glykogen und Enol-Zwischen- 
form) in übertriebenem und verstärktem 
Maße in . Traubenzucker übergehen 
{= Überproduktion von Zucker) und daß 
der zum Transporte durch das Blut 
dienende Traubenzucker nur in abge¬ 
schwächtem Maße in reaktionsfähigere 
und leichter oxydable Kohlenhydrat¬ 
formen zurückgeführt wird (Nicht-Oxy¬ 
dation). Diese neuen Befunde schlagen 
eine wichtige und erwünschte Brücke 
zwischen den beiden umstrittenen älteren 
Theorien. 

1. Allgemeiner Gang einer plan¬ 
mäßigen diätetischen Behandlung. 

Alle Formen der diätetischen Behand¬ 
lung tragen den Charakter der Schon¬ 
kuren, die einen in höherem, die anderen 
in geringerem Grade. Die strengeren 
Formen sind nur für kurze Fristen ge¬ 
eignet. Sie bilden den wesentlichen Be¬ 
standteil der ,,einleitenden Behandlung“. 





20ä 


Juni>Die Therapie der Gegen^yart 1921 


In der ,,Dauerkosf' erscheinen sie mehr 
als periodisch wiederkehrende Ein¬ 
schiebsel. 

A. Strenge. Schonungsku^en als ein¬ 
leitende Behandlung. ^ 

Sie sind unbedingtes Erfordernis, wenn 
die Gesamtlage des Kohlenhydrat-Stoff¬ 
wechsels hinter dem erreichbaren Opti¬ 
mum zurücksteht. In dieser Lage be¬ 
finden sich alle noch nicht behandelten 
Diabetiker und fast alle Diabetiker, die 
bisher mit unzulänglichen Maßnahmen 
behandelt wurden. Diese bilden die große 
Mehrzahl aller Kranken. Denn von sel¬ 
tenen Ausnahmen abgesehen greift die 
allgemeine ärztliche Praxis nur zu halben 
Maßnahmen. Nur aus diesem Grunde 
wachsen viele gutartigen Fälle allmählich 
zu schlimmeren Formen aus. Sich selbst 
und den Patienten damit zu trösten, es 
handle sich bei den anfänglich nur transi¬ 
torisch auftretenden kleinen Zuckermen- 
gen um ,,alimentäre'* oder „neurogene" 
Glykosurie und nicht um Diabetes, ist 
ein verwerfliches Verfahren. Für den 
Diabetes ist es gerade charakteristisch, 
daß Glykosurie auf solche alimentären 
und nervösen Reize hin auftritt, welche 
beim Gesunden diese Folge nicht bringen. 

. Unmittelbare Aufgabe der Schonungs¬ 
kuren* ist es, die abnorme Erregüng und 
Erregbarkeit des zuckerbildenden Appa¬ 
rates zu dämpfen und dadurch eine 
größere Toleranz für die Erreger der 
Zuckerbildung zurückzuerobern. Bei “ 
dieser Gelegenheit wird gleichzeitig fest¬ 
gestellt, wie der Kranke auf Kohlen¬ 
hydrate und auf Proteine reagiert. Solche 
Ermittlungen werden unter dem Worte 
,,Toleranzprüfung" zusammengefaßt. 

Die einleiten'den strengen Schonkuren 
und Toleranzbestimmungen erfordern 
sachkundige Leitung und scharfe Auf¬ 
sicht. Sonst können sie leicht zu irriger 
Beurteilung der Lage und damit zu bleiben¬ 
den Nachteilen für die Kranken führen. 
Mit steigender Häufigkeit pflegt man sie 
daher in klinische Anstalten zu verlegen. 
Selbst der erfahrenste Spezialarzt wird 
Bedenken tragen, diese verantwortungs¬ 
vollen Kuren ambulatorisch durchzu¬ 
führen. 

B. Aufbau der Dauerkost. 

Nachdem die einleitende Schonungs¬ 
kur ihren Zweck erfüllt, und nachdem 
man den Einfluß verschiedener Kost¬ 
formen auf Hyperglykämie, Glykosurie 
und Acetonurie festgestellt hat, wird 


langsam tastend die Dauerkost aufgebaut. 
Wenn möglich wird dieselbe so geordnet, 
daß der Urin zuckerfrei bleibt. Dies ist 
natürlich nur in einem Teil der Fälle er¬ 
reichbar. In anderen Fällen wären dazu 
so scharfe Maßnahmen erforderlich, daß 
mit der Zeit. schwere Nachteile ent¬ 
stehen (Kräfteschwund, Anstieg der Ace¬ 
tonurie usw.). Man hat drei Ziele ins 
Auge zu fassen: 1. möglichst geringe 
Glykosurie; 2. möglichst geringe Aceton¬ 
urie; 3. Aufrechterhaltung guten Kräfte¬ 
zustandes. Wie man diese Aufgabe am 
besten und vollkommensten löst, ist fall¬ 
weise verschieden. Kaum daß zwei Dia¬ 
betikern genau die gleichen Verordnungen 
dienlich sind. Auf geschickter, indivi¬ 
dualisierender Einstellung beruhen alle 
Dauererfolge. In der Spezialbehandlüng 
des Diabetes weiß man dies seit Jahr¬ 
zehnten; die allgemeine ärztliche Praxis 
berücksichtigt es leider noch immer nich't 
zur Genüge. Man bedenke aber, daß man 
diabetische Menschen zu behandeln hat 
und nicht nur die diabetische Stoff¬ 
wechsellage. Es ergeben sich daraus zahl¬ 
reiche weitere Vorschriften über die ganze 
Lebensweise, über Tätigkeit, über Ver¬ 
teilung von Ruhe, und Arbeit, ferner 
physikalische und medikamentöse Ma߬ 
nahmen. Hierauf kann ich hier nicht 
näher eingehen. In der Regel ist es rat¬ 
sam, die Kranken nicht auf stets gleich¬ 
bleibende Dauerkost einzustellen, sondern 
nach bestimmtem Plane verschiedene 
Kostformen sich ablösen zu lassen (Wech- 
sclkost). Zum Beispiel läßt man eiwei߬ 
reiche und kohlenhydratarme Kost ab¬ 
wechseln mit eiweißarmer und kohlen¬ 
hydratreicher Kost. Auch andere* Mög¬ 
lichkeiten bestehen. Von äußerster 
Wichtigkeit ist das periodische Ein¬ 
schalten strengerer Schonungskuren,deren 
Dauer nach einzelnen Tagen bis zu 
mehreren Wochen schwankt, und deren 
Form und Fofge sich nach den Erforder¬ 
nissen des Einzelfalles richtet. Diese Ein¬ 
schiebsel verstärken den Charakter der 
Wechseldiät; sie haben ferner den Zweck, 
etwaige leichtsinnige oder unfreiwillige 
Überschreitungen.der Vorschriften wett¬ 
zumachen und etwa wiederkehrende Über¬ 
erregung der Zuckerproduktion zu ver¬ 
hüten. Von Zeit zu Zeit müssen neue 
Ermittlungen feststellen, ob das früher 
Verordnete noch zu Recht besteht oder 
abgeändert werden muß. Jederzeit muß 
kraft hinreichender Kontrolle die Kost 
sich elastisch nicht nur der jeweiligen 
Stoffwechsellage anschmiegen, sondern 

26* 



204 


Die Therapie der Gegenwart 192.1 ‘ ' Juni 


.auch anderen körperlichen Verhältnissen, 
etwaigen Komplikationen, äußeren Um¬ 
ständen und der Psyche Rechnung tragen. 

II. Die Einzelformen der Schon¬ 
kuren. 

A. Die kohlenhydratfreie Diät. 

' Eine wirklich kohlenhydratfreie Kost 
läßt sich praktisch nicht durchführen; 
auch Fleisch und grünes Gemüse ent¬ 
halten. gewisse Mengen Kohlenhydrat. 
Genauer ist es also, wenn wir von ,,mög¬ 
lichst kohlenhydratfreier Kost“ sprechen. 
Von organischen Nährstoffen enthält sie 
im wesentlichen nur Proteine,, Fette und 
Lipoide. Wir unterscheiden folgende 
Formen: 

1. Volle Fleischkost (= volle Ei- 
weiß-Fettdiät oder = gewöhnliche strenge 
Diät). Sie enthält etwa 140—150 g Pro¬ 
tein, entsprechend etwa 500 g zubereite¬ 
tem Fleisch. Das Fleisch wird^-teilweise 
durch andere Eiweißträger (Eier, Käse 
u. a.) ersetzt. Im übrigen enthält die Kost 
konlenhydratarme Gemüse, Luftbret aus 
Pflanzenkleber (Glidine, Gluten); der 
Kalorienbedarf wird durch Fett gedeckt. 

2. Halbe Fleischkost (B, Naunyn) 
mit etwa 75 g Protein. Im übrigen wie 
oben. 

3. Gemüse-Eierkost (von Noor- 
clen) ohne Fleisch, Fisch und Käse. Mit 
vier.bis fünf Eiern führt die Kost .50 bis 
60 g Protein zu. 

4. Verschärfte Gemüsekost (von 
Noor den). Mit 4 bis fünf Eidottern 
enthält die Kost 35—45 g Protein. 

Bei den beiden ersten Formen sollte 
die Gesamtfettzu?uhr 150 g, bei den I 
beiden letzten Formen 120 g täglich nicht 
übersdireiten, da bei Ausschluß von 
Kohlenhydraten höhere Fettgaben das 
Entstehen von Acetonkörpern begün¬ 
stigen-. 

In der angeführten Stufenfolge liefern 
uns die kohlenhydratfreien Kostformen 
äußerst wirksame und erprobte Hilfs¬ 
mittel, um abnorme Steigerung der 
Zuckerproduktion zu dämpfen und zu 
verhüten. 

Für scharfe Schonkuren ist die erste 
Form ungeeignet; ihr Proteingehalt ist 
viel zu hoch. Als Dauerkost bildete sie 
früher eine sehr beliebte, gleichsam die 
klassische Form der Diabetesdiät. Als 
wahre Dauerkost wird sie. aber schon seit 
langem nicht mehr benutzt; in leichteren 
Fällen würde man damit dem Kranken 
unnötige Entbehrungen auferlegen, in 
schwereren Fällen hätte man mit den 


Gefahren der Acetonurie zu rechnen. 
Wohl aber ist die erste Form äußerst 
wertvoll und brauchbar, wenn sie zeit¬ 
weilig von anderen, kohlenhydratreichen 
Kostformen abgelöst wird. Ich verweise 
auf ^spätere Beispiele. Von leichtesten 
und unzweifelhaft gutartigen Fällen ab¬ 
gesehen, sollte man aber niemals die volle 
Fleischkost längere Zeit hindurch vereint 
mit Kohlenhydratträgern nehmen lassen. 
Denn eiweißreiche Kost zusammen mit 
Kohlenhydraten ist niemals eine 
Schonungs-, sondern stets eine Reizkost. 
R. Kö lisch begründete diesen Satz 
bereits vor,mehr als 20 Jahren. 

Die zweite Form der kohlenhydrat¬ 
freien Kost wird ebensowenig und aus 
gleichen Gründen wie die volle Fleisch¬ 
kost als wahre Dauerkost benutzt. Für 
leichtere Fälle ist sie als Schonkost ver¬ 
wendbar, und sie erfüllt hier oft deren 
Zweck in ausreichendem Maße; Aller¬ 
dings sollte sie dann stets, von einzelnen 
Tagen anderer Schonkost unterbrochen 
werden. Wegen ihres geringeren Protein¬ 
gehaltes eignet sich die zweite Form auch 
zur Unterlage für ,,gemischte Kost“, in¬ 
dem man sie als ,,Hauptkost“ behandelt 
und eine gewisse Menge von Kohlen¬ 
hydratträgern als ,,Nebenkpst“ hinzufügt. 

Die .dritte und vierte Form sind 
Schonkost erster Ordnung. Wegen ihrer 
außerordentlichen Armut an Protein 
dürfen beide Formen nicht in längerer 
Folge verabreicht werden. Sonst leidet 
der Kräftezustand. Um so brauchbarer 
sind sie als Einzelschontage oder in kurzer 
Folge von zwei bis drei Tagen. Sie be¬ 
währten sich trefflich als Schaltstücke 
vor und nach sogenannten ,,Kohlen¬ 
hydratkuren“. Breiter Anwendung fähig 
— namentlich in schwereren Fällen — ist 
die Kombination von Gemüsetagen mit 
Kohlenhydratträgern. Wenn auch nicht 
gerade Schonkost, ist diese Gruppierung 
doch keine ,,Reizkost“. Für lange Dauer 
ist sie freilich zu eiweißarm. Die Ei¬ 
weißarmut fällt um so mehr in die Wag¬ 
schale, als die N-Substanz fast ausschlie߬ 
lich in vegetabilen Nahrungsmitteln steckt 
und nicht so gut resorbiert wird, wie aus 
animalischem Material. Die Verluste 
durch den Kot schwanken zwischen 20 
und 30 % und mehr. 

B. Hungertage. — Hungerkuren. — 
Unterernährung. 

1. Hungertage stellen den vorge¬ 
schobensten Posten der Schonungskuren 
dar. Ihre Empfehlung stammt von A. 



Juni 


Die Therapife der 


Cantani (1870); ihm schloß sich mit be¬ 
sonderem Nachdruck B. Naunyn, später 
auch ich selbst an. Die“mit Bettruhe ver¬ 
bundenen Fasttage, welche alle Nahrungs¬ 
reize von der Leber fernhalten ynd die 
Ansprüche der-Qewebe an Versorgung mit 
Zucker möglichst herabdrücken sollen, 
verglich ich mit den Sonntagen, die die 
werktägliche Arbeit unterbrechen und der 
Erholung dienen (1912). Sowohl bei den 
einleitenden, die übermäßige Erregung 
der Zuckerproduktion dämpfenden stren¬ 
gen Schonkuren wie später als Ein¬ 
schiebsel in der Dauerkost leistet 40- bis 
OOstündiges Fasten treffliche Dienste. 
Nur leeres Getränk (Tee, schwache 
Fleischbrühe, Branntwein mit Wasser) 
wird dabei gestattet. Bei drohender Ge¬ 
fahr des Säurekomas gibt es kein besseres 
Mittel, die Acidosis zu bekämpfen. 

2. Hungerkur. Zu planmäßigen und 
länger sich hinziehenden Kuren benutzte 
zuerst M. Guelpa .d^s Fasten. Sorg- 
fälfiger und mit besserer “Stütze auf theo¬ 
retische Grundlagen baute F. M. Allen 
■die Hungerkuren aus, und zwar im Wesent¬ 
lichen für die Zwecke der einleitenden 
strengen Schonkuren. Sogleich im Be¬ 
ginne derselben folgen sich mehrere Fast¬ 
tage. Auf eine einmonatige Kur fallen 
im Durchschnitt zehn Fasttage. Es ergibt 
^ich daraus eine höchst kalorienarme Er¬ 
nährung. In der ersten Kurwoche ent¬ 
fallen vier bis acht, in der letzten Kur¬ 
woche 18—22 Kalorien täglich auf 1 kg 
Körpergewicht. Nachdem mittels dieser 
scharfen Kur Hyperglykämie, Glykosurie 
und Acetonurie auf das erreichbare Opti¬ 
mum zurückgeführt worden sind, wird 
langsam und vorsichtig die Dauerkost 
aufgebaut. Auch sie ist knapp bemessen 
und führt nur so viel Nahrung zu, wie 
zur Aufrechterhaltung befriedigenden 
Kräftezustandes unbedingt nötig ist. Sie 
folgt dabei dem Grundsätze A. Bou- 
chardat’s: ,,Demanger le point possible“ 

Als Schonkur leistet das Allensche 
Verfahren zweifellos Vortreffliches. Es 
faßt, ohne grundsätzlich neues zu bringen, 
von den schon früher bekannten Scho- 
nungsmethodeil die weitestgehenden in 
besonders scharfer Form zusammen. Es 
fragt sich nur, ob diese außerordentliche 
Härte des Vorgehens notwendig ist. Für 
eine kleine Minderzahl von Fällen, wo 
Gefahr im Verzüge, ist dies ohne 
weiteres zuzugeben. Da ist der kürzeste 
Weg zugleich der sicherste. Nach eigenem 
Urteil und nach dem Urteil aller Redner 
..auf dem Wiesbadener Kongresse führen 


Gegenwart 1921 205 

— ,.i.. 

in der großen Mehrzahl der Fälle aber 
mildere Verfahren ebenso .sicher und in 
kaum längerer Zeit zu dem gleichen Ziele. 
Auch diese älteren, milderen Verfahren 
bedienen sich nach dem Vorbilde A. Can¬ 
tanis einzelner Fasttage; es wird aber 
keine ,,Hungerkur“ daraus. 

3. Knappe Dauerkost. Bei der 
Al len sehen Methode bildet knappe Er¬ 
nährung ein Hauptstück der Dauerkost; 
d. h. der Kalorienwert der Gesamtkost 
rückt unter das sonst übliche Maß- der 
Erhaltungskost (J. P. Joslin). Obschon 
bereits von Prout, Cantani, Bou- 
chardat, v. Düring, Naunyn u. a. 
Vorbereitet, wurde die Diaeta parca doch 
zuerst von R. Ko lisch vor mehr als 
20 Jahren planmäßig zur Behandlungs¬ 
methode erhoben. In der Annahme, daß 
beim Zuckerkranken der Gesamtstoff- 
Wechsel abnorm niedrig sei oder doch zu 
abnorm niedriger Einstellung gezwungen 
werden könne, sind manche in dieser 
Hinsicht zu Weit gegangen. Eine spezi¬ 
fisch-diabetische Erniedrigung des Ka¬ 
lorienumsatzes gibt es nicht. Auf das 
richtige Maß zurückgeführt, kehrt die 
Forderung knapper Ernährung in allen 
neueren Schriften der Diabetesliteratur 
wieder. Auf zwangsmäßig knapper Kost 
beruhte die günstige Einwirkung der 
Kriegsernährung auf den Diabetes. Hier 
machte sich insbesondere auch die Be¬ 
schränkung des Fleischverzehrs und über¬ 
haupt der Proteinträger geltend. Knappe 
Eiweißzufuhr schafft höhere Toleranz für 
Kohlenhydrate (R. Ko lisch). Die neuere 
Diabetestherapie hat den Grundsatz an¬ 
genommen; sowohl der gesamte Kalorien¬ 
wert wie der Proteingehalt der Kost ist 
auf dasjenige Maß zu beschränken, wel¬ 
ches zur Aufrechterhaltung eines be¬ 
friedigenden Kräfte- und Ernährungs¬ 
zustandes gerade hinreicht. Mit wohl¬ 
gemeinter Überfütterung wird stark ge¬ 
sündigt und viel geschadet, oft gegen 
den Willen der Ärzte. Fälschlich wird 
das-Parallelgehen von Ernährungszustand 
(großenteils Fett!) und Kräftezustand als 
etwas selbstverständliches angenommen. 
Sehr oft verläuft aber die Entwicklung 
dieser beiden Größen in entgegengesetzter 
Richtung. Es ist also sehr verkehrt, jeden 
Gewichtsanstieg des Zuckerkranken als 
erfreulichen Gewinn zu buchen. 

C. Kohlenhydratkuren. 

Die Kohlenhydratkuren datieren von 
der Empfehlung der Haferkuren (v. No Or¬ 
den, 1903). Die Theorie von einer Sonder- 



r2Ö6 Die Therapie der 


Wirkung der Haferstärke fiel .schon bald. 
Inzwischen wurde erkannt, daß man an 
Stelle des Hafers andere Kohlenhydrat¬ 
träger -verschiedenster Art wählen kann 
(E. Lampe 1909, L. Blum 19iru. a.). 
Während man sich früher auf einheitliche 
Kohlenhydratträger beschränkte, zeigte 
W. Falta, daß sich bei gleicher Wirkung 
.auch Amylaceengemische verwenden 
lassen. Dies ist von Vorteil, wenn man 
die Kohlenhydratkuren sehr lange aus¬ 
dehnen will, bedeutet aber keine grund¬ 
sätzliche- Neuerung. Ein Vorläufer der 
Haferkur war die Mossesche Kartoffel¬ 
kur. Daß sie sich nicht durchsetzte und 
alles in allem ein Fehlschlag war, hat 
durchsichtige Gründe; sie wurde viel zu 
lange ununterbrochen fortgesetzt. Sehr 
häufg kam es. zu Überlastung und zu 
Verschlechterung der ganzen Stoffwechsel¬ 
lage. 

Zum Unterschied von Mosse faßte 
ich die Haferkuren von vornherein zu 
kurzfristigen Kuren, d. h. zu einer Gruppe 
von drei bis höchstens vier Tagen zu¬ 
sammen. Jede solche Periode ward von 
Schontagen erster Ordnung, d. h. von 
Gemüsetagen, häufiger von verschärften 
Gemüsetagen^ umrahmt. An Stelle eines 
der Gemüsetage trat später meist ein 
Hungertag. Die Gesamtdauer der so ge¬ 
stalteten Kur erstreckt sich im Durch¬ 
schnitt auf sieben Tage. Wenn die Sach¬ 
lage es fordert, folgen sich zwei bis drei, 
selten noch mehr solcher Perioden. Der 
Wiederaufbau anderer Kost vollzieht sich 
stets langsam und vorsichtig über Ge- 
müsetage. Wie lange es dauert, bis man 
der Gemüsekost wieder Fleisch oder 
Kohlenhydrat oder beides zulegen darf, 
richtet sich ganz nach Lage des Einzel¬ 
falles. Dies alles ist auf andere Formen 
der Kohlenhydratkuren übernommen wor¬ 
den und beherrscht auch die Kostordnung 
Faltas. 

Kohlenhydratkuren, in der beschrie¬ 
benen Weise verabfolgt, sind Scho¬ 
nungskuren. Das schonende Prinzip ist 
hier die außerordentliche Eiweißarmut 
der Kost, während bei der gewöhnlichen 
strengen Diät es die Kohlenhydratarmut 
ist. Als zweifellos erwiesen gilt der Satz: 
die Kost einer Kohlenhydratkur muß 
proteinarm sein, wenn man auf gute Be¬ 
kömmlichkeit rechnen will. Der Gehalt 
an Nährstoffen, welche eine Kohlenhydrat¬ 
kur bietet, hängt natürlich von Wahl und 
Menge des Materials ab und auch davon, 
ob man einen der Geniüsetage durch 
einen Fasttag ersetzt. Für eine sieben¬ 


Oegenwart 192,1 ’ ^ Juna 


tägige Haferkur (drei Gemüsetage, drei 
Hafertage, ein Fasttag) ergab sich mir 
selbst als täglicher-Durchschnitt: 35—40 g: 
Protein, 50—55 g Kohlenhydrat und in 
Anbet^-acht des beigefügten Fettes 1500> 
Kalorien. Den Kalorienwert könnten 
größere Fettgaben an den Amylaceen- 
und Gemüsetagen beliebig steigern. 

Obwohl niedriger Proteingehalt der 
Kost Voraussetzung für günstige Wirkung 
der Haferkur auf Glykosurie und Aceton- 
urie ist, harren noch manche Fragen der 
Lösung. Bei gleicher Kohlenhydratzufuhr 
besteht keineswegs ein konstantes, um¬ 
gekehrt proportionales Verhältnis zwischen 
Proteingehalt und Wirkungsgrad. Nicht 
nur die Menge von Protein und von 
Kohlenhydrat beherrscht den Erfolg, son¬ 
dern auch die Art des Kohlenhydrat¬ 
trägers und die Art etwaiger-begleitender 
Eiweißträger sind von Einfluß. Zum Bei-' 
spiel stören 400 g Fleisch (Rohgewicht) 
die Wirkung einer Haferkur viel mehr als 
100 g Glidine (Weizenkleber), trotz glei¬ 
chen Proteingehaltes. Ich nehme an, daß 
sowohl in den Kohlenhydratträgern wie 
in etwa begleitenden Eiweißträgern noch 
Nebenstoffe vorhanden sind, die als po¬ 
sitiv bzw. negativ wirkende Reizkörper 
die Zuckerproduktion beeinflussen, und 
zwar unter Umständen im entgegenge¬ 
setzten Sinne wie die Proteinkörper. Die 
Erkundung über die wechselseitige Be¬ 
einflussung der verschiedenen Eiweiß- und 
Kohlenhydratträger ist eine der wichtig¬ 
sten Aufgaben für die Weiterentwicklung 
der Diabetikerkost. Denn allem Anscheine 
nach spielen diese wechselseitigen Be¬ 
ziehungen nicht nur bei den Kohlen¬ 
hydratkuren, sondern auch bei gewöhn¬ 
licher gemischter Diabeteskost eine große 
Rolle. 

Die Kohlenhydratkuren wurden an¬ 
fangs stark angegriffen, erfreuen sich aber 
seit längerer Zeit zunehmender Wert¬ 
schätzung. Was ich schon bei ihrer Ein¬ 
führung voraussagte, hat sich bestätigt. 
Sie wurden zu einem unentbehrlichen 
Hilfsmittel für die Bekämpfung der Aci- 
dosis. Man hat hier nur die Wahl zwischen 
dem Heranziehen von Kohlenhydratkuren 
und strengsten Hungerkuren. Wo Gefahr 
im Verzüge, habe ich selbst empfohlen,, 
sich der Hungertage zu bedienen. Dies 
geschah im Jahre 1912 (New Aspects on 
Diabetes, New York, J. B. Treat and Co., 
1912); die Allenkur datiert erst aus 
späterer Zeit. Man soll in acidotischen 
Fällen auch immer wieder auf einzelne 
Hungertage zurückgreifen; aber immer 



Juni . ^ , Die Therapie der Gegenwart 1921 207 


aufs neue zu den scharfen Hungerkuren 
Aliens zurückzukehren, geht nicht an. 
Da treten die Kohlenhydratkuren in ihr 
Recht. Ich möchte sagen, daß es heute 
keine rationelle Behandlung schwerer 
Diabetesfälle gibt, die auf Kohlenhydrat- 
kuren verzichten könnte. 

Der schwache Punkt der Kohlen¬ 
hydratkuren.ist ihre große Eiweißarmut. 
Wir können dies nicht umgehen; denn 
auß Verbindung von viel Eiweiß mit viel 
Kohlenhydrat entsteht unter allen Um¬ 
ständen eine schädliche Reizkost. Jene 
Eigenschaft der Kohlenhydratkuren be¬ 
dingt, daß wir sie in der Dauerkost des 
Diabetikers nur als Einschiebsel ver¬ 
wenden dürfen. Mosse dehnte die Kar¬ 
toffelkuren über lange Zeiten aus und 
scheiterte damit. Neuerdings kommt W. 
Falta in seinem Buche über. ,,'Mehl¬ 
früchtekuren“ wieder auf langgedehnte 
Perioden höchst 'eiweißarmer, kohlen¬ 
hydratreicher Kost zurück (wochen- und 
monatelang!). Obwohl die Vorschriften 
Faltas eigentlich eine Verherrlichung der 
von mir eingeführten Haferkuren dar¬ 
stellen — freilich mit einigen unwesent¬ 
lichen technischen Modifikationen —, muß 
ich seinen Kostplan doch bekämpfen, weil 
die Kost viel zu eiweißarm ist. Ich hatte 
auf dem Wiesbadener Kongreß.die Genug¬ 
tuung, daß sich alle Redner dem an¬ 
schlossen. 

III. Die Ordnung der Dauerkost. 

, Auch die Dauerkost muß eine Scho¬ 
nungskost sein. Wir stellen sie aus den 
verschiedenen Formen der Schonungskost 
zusammen. Wie wir diese Formen grup¬ 
pieren, hängt von der Lage des Einzel¬ 
falles ab. Ich gebe im. folgenden einige 
Beispiele für leichte, mittlere und schwere 
Fälle. Es sind aber eben nur Beispiele, 
die für einzelne Fälle passen, für die Mehr¬ 
zahl gründlicher Umformung bedürfen. 
Wir müssen die Gesamtkost so gestalten, 
daß der Ernährungs- und Kräftezustand 
befriedigend bleibt. Der durchschnitt¬ 
liche Eiweißverzehr sollte beim Er¬ 
wachsenen mittleren Körpergewichtes 
nicht wesentlich unter 0,9—0,1 g pro kg 
sinken, vorausgesetzt, daß ein großer Teil 
des Proteins in animalischer Form ge¬ 
reicht wird. Wenn ausschließlich Vege- 
tabilien die Eiweißträger sind, muß die 
Kost etwas reicher mit Protein ausge¬ 
stattet werden. Wenn wir sehr große 
Proteinmengen geben, müssen wir Kohlen¬ 
hydrate weglassen und umgekehrt. Lang¬ 
gestreckte eiweißarme Perioden vermeiden 


wir, machen dagegen von eingeschalteten 
eiweißarmen Tagen (Gemüsetagen mit 
und ohne'^ Beigabe von Kohlenhydraten), 
von Hungertagen, von Kohlenhydrat¬ 
tagen und von ganzen Kohlenhydratkuren 
planmäßigen Gebrauch. Wir ziehen aber 
auch kohlenhydratfreie. Kost (sogenannte 
,,strenge Diät“) heran und statten die¬ 
selbe mit reichlichen Mengen Eiweiß'aus. 
Wenn die Stoffwechsellage, insbesondere 
das Verhalten der Acetonkörper, es irgend¬ 
wie erlaubt, sollte man dies nicht nuran^ 
vereinzelten Tagen, sondern periodisch 
eine oder mehrere Wochen lang tun. Bei 
hinreichender Vorsicht ist strenge, eiwei߬ 
reiche Kost auch in schweren acidotischen 
Fällen anwendbar. Nur schalte man stets 
nach je vier bis sieben Tagen strenger Diät 
einen Kohlenhydrattag mit nachfolgen¬ 
dem Hungertage oder verschärftem Ge- 
i^setage ein. 

1. Beispiel für leichte Fälle: 

Vier bis sieben Tag^e kohlenhydratfreie Diät 
und je nach Sachlage werden täglich oder jeden 
zweiten Tag Kohlenhydratträger hinzugefügt. Wie 
viel, ergibt sich aus den vorausgegangenen Tole- 
ränzbestimmungen. An den Kohlenhydraftagen 
soll die Proteinmenge 100 Gramm nicht wesent- 
l ich ü berschreiten. Dann; 

Ein Tag: strenge Diät ohne Zulage von Koh¬ 
lenhydrat. 

Ein Tag: Kohlenhydrattag (vorzugsweise^ 
Obsttag oder Obst-Reistag). 

Ein Tag: Gemüsetag (einfach oder verschärft. 

Mehrfache Wiederholung dieser Reihe. 

Aller sechs bis zehn Wochen eine Kohlenhydrat¬ 
kur (Hafer oder andere Amylaceen). 

2, Beispiel für Fälle mittelschwerer 
Glykosurie. 

Fünf Tage: Strenge Diät mit 90 bis maximo 
100 Gramm Eiweiß, größtenteils animalischerArt. 

" Ein TagKohlenhydrattag (meist Obsttag; 
vergleiche darüber E. Lampe, Therap. Mo¬ 
natshefte 1918, Septemberheft). 

'ETn Tag: Fasttag (oder verschärfter Gemüse¬ 
tag). 

Die Reihe beginnt von neuem. 

Aller vier bis acht Wochen eine Kohlenhydrat¬ 
kur. 

Der Schwerpunkt dieser Kostordnung 
liegt darin, daß man unter dem Schutze 
der wöchentlich wiederkehrenden Kohlen¬ 
hydrat-und Hungertage die wirkungsvolle 
strenge Diät viele Monate, sogar Jahre 
hindurch, ohne Gefahr der Acidosis, fort¬ 
führen kann. Die eingeschobenen Kohlen- . 
hydratkuren sichern dies. Die beschrie¬ 
bene Kostordnung nebst ihren durch Lage 
des Einzelfalles bedingten Abarten be¬ 
zweckt, mittelschwere Formen, die infolge 
nachlässiger Behandlung aus leichten For- 



^08 


. Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


men sich entwickelten, wieder auf gün¬ 
stigere Stoffwechsellage zurückzuschrau¬ 
ben. Dies gelingt oft; aber es gelingt 
niemals, wenn man auf strenge Diät ganz 
verzichtet. Fälle mittelschwerer Glyko- 
surie, die an sich gutartig waren und nur. 
wegen schlechter Vorbehandlung aus¬ 
arteten,, sind sehr häufig. Bei keiner 
anderen Form ist die Verantwortung 
des Arztes größer. Ändere Fälle mittel¬ 
schwerer Glykosurie sind unaufhaltsam 
auf dem Wege zur schweren Form. Sie* 
sind nach den für schwere Formen gül¬ 
tigen Grundsätzen zu behandeln. 

3. Beispiel für schwere Fälle. 

/ Erster Tag: Strenge Diät (Eiweiß in der Regel 
zwischen 100 und 120 Gramm. Gegen gelegent¬ 
liche Überschreitungen ist nichts einzu wenden) . 

Zweiter Tag: Eiweißarme Kost mit Ausschluß 
von Fleisch und Käse. Der Proteingehalt der 
Kost soll 50 bis 60 Gramm nicht übersteigen. Diese 
Kost erhält eine Zulage von Kohlenhydratträgern 
im Gesamtwert von etw'a 100 Gramm Brot. Wir 
macheniiierbei von der Erfahrung Gebrauch, daß 
eiweißarme und besonders fleischfreie Kost eine 
größere Gabe von Kohlenhydraten gestattet. 

Dritter Tag: wie erster Tag. 

Vierter Tag: wie zweiter Tag. 

Fünfter Tag: wie erster Tag. 

Sechster Tag:' Kohlenhydrattag (Auswahl der 
Kohlenhydratträger nach erprobter Bekömmlich- 
ke'it und nach Übereinkunft mit dem Patienten). 

Siebenter Tag: verschärfter Gemüsetag oder 
Hungertag). 

Achter Tag: wie zweiter Tag. 

Neunter Tag: wie erster Tag. 

Zehnter Tag: wie zweiter Tag. 

Elfter Tag: wie erster Tag. 

Zwölfter Tag: wie zweiter Tag. 

DreizehnterjjTag: Kohlenhydrättag (vergleiche 
sechster Tag). 

Vierzehnter Tag: Hungertag (oder verschärfter 
Gemüsetag). 

Die Reihe beginnt von neuem. — 
Hieran schließen sich als weitere Ma߬ 
nahmen : 

a) Mit Rücksicht auf bestellende oder 
drohende Acidosis aller ein bis zwei 
Monate, selten nach längeren Pausen, 
ein bis zwei typische Kohlenhydrat¬ 
kuren, nach Art der Haferkuren oder 
ihrer Abarten geordnet. 

b) Wenn es die Lage des Falles, ins¬ 
besondere das Verhalten der Acidosis, 
irgendwie erlaubt, sei dringend empfohlen, 
von Zeit zu Zeit ein- bis zweiwöchige 
Perioden eiweißreicher, strenger 
Diät einzuschalten, in jeder Woche von 


einem Kohlenhydrattag und einem folgen¬ 
den Hunger- oder verschärftem Gemüse¬ 
tag unterbrochen. Es ist oftmals erstaun¬ 
lich, wie sehr sich dabei der allgemeine 
Kräftezustand hebt. 

c) Jährlich ein- bis zweimal müssen 
die Patienten schärfere Schonkureh 
sich unterziehen; dies am besten unter 
klinischer Aufsicht. 

Trotz der Einzeltage mit hoher Pro¬ 
teinzufuhr ist die Kost im ganzen eiwei߬ 
arm. Der Eiweißumsatz, gemessen am 
Harnstickstoff, beläuft sich in der 
14 tägigen Wechselperiode erfahrungsge¬ 
mäß auf durchschnittlich 60—65 g. Die 
Häufung der Proteine auf . bestimmte 
Tage, die Häufung der Kohlenhydrate auf 
andere Tage befriedigt einerseits das Ver¬ 
langen der Patienten nach Eiweiß- bzw. 
Kohlenhydratträgern besser und hat an¬ 
dererseits ausgesprochenere Schonwir¬ 
kung, als wenn beide Gruppen von Nähr¬ 
stoffen stets gleichmäßig verteilt wären. 

An dieser Stelle muß ich mit beson¬ 
derer Schärfe hervorheben, daß die auf¬ 
gestellte Kostordnung nur ein Beispiel 
und kein allgemein gültiges Programm 
sein soll. Wer bei schweren Fällen 
schematische Vorschriften gibt, wird nichts 
Gutes erreichen und sogar häufig schaden. 

Sobald man sieht, daß die Kranken 
fortschreitender Acidosis verfallen und 
unrettbar dem Ende entgegengehen, soll 
man sehr liberal sein. Jede Kost ist dann 
die richtige, welche dem Kranken ge¬ 
schmacklich liegt und dabei doch grobe 
Überlastungen mit Kohlenhydraten und 
. Proteinen verhütet. Wöchentlich einge¬ 
schaltete Bett- und Fasttage pflegen auch 
diesen, in dauernder Gefahr schwebenden 
Kranken gut zu bekommen. Manchmal 
halten sich bei solchen liberalen Vor¬ 
schriften die Kranken überraschend lange 
in leidlichem Zustande. Patienten dieser 
Art, welchen die an Proteinträgern höchst 
arme, an Mehlspeisen und grünen Ge¬ 
müsen reiche Kostordnung Faltas be- 
hagt, können natürlich auch davon Ge¬ 
brauch machen. Für die meisten ist es 
aber eine entbehrungsreiche Zwangskost. 

Eine genauere Begründung der in 
diesem Aufsatze erteilten Ratschläge 
findet sich in den Verhandlungen des 
33. Kongresses für innere Medizin. 





Juni' j . Die Therapie der Gegenwart 1921 ' 209‘ 

Alis der Chirurgisdieii Klinik der Universität Frankfurt a. M. 

" Zur Frage 

der Dosierung und des Intervalls bei der Proteinkörpertherapie. 

Von Dr. med. F. Kleeblatt, Bad Homburg, früher Assistent der Klinik. 


Bei der ausgebreiteten Anwendung der 
Proteinkörpertherapie in den letzten Jah-" 
ren ergab sich volle Übereinstimmung"der 
Autoren darin, daß in dieser Behandlungs¬ 
methode der, unspecifischen Leistungs¬ 
steigerung eine wertvolle Bereicherung 
des allgemeinen Arzneischatzes gewonnen 
ist, die sich sicher noch eine ganze Reihe 
, Anwendungsgebiete erobern wird. Keine 
einheitliche Anschauung besteht aber über 
die Dosierung, man hat den Eindruck, 
als hätten die Autoren auf den Erfahrun¬ 
gen bei der Diphtherieserumanwendung 
fußend, durchschnittlich Dosen von fünf 
bis. zehn Kubikzentimeter Milch, Aolan, 
Kaseosan usw. angewandt. Es ist zu 
verwundern, daß man, obwohl schon 
R. Schmidt die Parallele mit der Tuber¬ 
kulinanwendung- zog, nur selten ver¬ 
suchte, ähnlich wie hier mit kleinen und 
kleinsten Dosen zu arbeiten, obwohl man 
doch bei der Tuberkuliribehandlung ge¬ 
lernt hatte, daß man nur hierbei die 
Möglichkeit der feinen und individuellen 
Abstufung hat. (Lindig weist allerdings- 
eindringlich auf die, Wichtigkeit der indi¬ 
viduellen Dosierung hin und beginnt 
häufig mit kleinen Dosen von Kaseosan.) 
Besonders Sahli zeigte aber, daß schon 
mit minimalen Injektionsmengen von 
Tuberkulin genügende, wenn auch nicht 
klinisch ohne Blutuntersuchung erkenn¬ 
bare Reaktionen erzielbar sind. Und wenn 
auch, abgesehen von der Tuberkulose, 
das Erzeugen einer manifesten Herd¬ 
reaktion, ja das Manifestmachen eines 
latenten Entzündungszustandes, beson¬ 
ders bei Neuralgien unbekannter Ätiologie 
häufig ein durch die Proteinkörperbehand¬ 
lung zu wünschendes Resultat ist, so ist 
dieser Reiz auch bei kleinen Dosen oft 
schon intensiv genug, um im Sinne 
Schmidts eine Herdreaktion zu erzeu¬ 
gen. Dazu kommt noch das konstitu¬ 
tionell durchaus verschiedene Verhalten 
der einzelnen Organismen, die sich nach 
Schmidt besonders im pyrogenetischen 
Reaktionsvermögen ausspricht, um eine 
individuelle Dosierung zu verlangen. Den 
Anstoß zur starken Verminderung aer 
üblichen Injektionsmengen erhielt ich 
durch Beobachtung zweier nebeneinander 
behandelter Fälle von cnirurgischer Tuber¬ 
kulose, die ich nocn als Assistent der 
Frankfurter chirurgischen Universitäts¬ 


klinik unter Herrn Prof. Schmieden 
behandelte^). Es handelte sich um einen 
Fall von Rippencaries mit großem Absceß 
und um einen Fungus des rechten Hand¬ 
gelenkes. In beiden Fällen spritzte ich 
je einen Kubikzentimeter steriler Milch 
intramuskulär ein. Im ersten Falle er¬ 
folgte nach sechs Stunden Schüttelfrost, 
hohes Fieber, starke allgemeine und 
Lokalreaktion. Am nächsten Tage waren 
alle Erscheinungen abgeklungen, der Pa¬ 
tient befand sich wohl. Im Verlauf von 
sechs Wochen kam bei wöchentlichen 
Injektionen von je einem Kubikzentimeter 
Milch der Rippenabsceß zur Resorption. 
Im zweiten Falle aber, der dieselbe Dosis 
zur gleichen Zeit erhielt, trat danach drei 
Wochen anhaltendes hohes, remittieren¬ 
des Fieber auf, wobei der Patient sich 
sichtlich verschlechterte. (Also eine bei 
unrichtiger Tuberkulindosierung oft ge¬ 
sehene Folge, die aber unbedingt ver¬ 
mieden werden mußte.) Nach mehreren 
Wochen begann icf bei dem Patienten 
die Kur nochmals, diesmal aber mit dem 
zehnten Teil der Dosis, also mit 0,1 Kubik¬ 
zentimeter Milch, jetzt mit gutem Erfolg. 
Es trat kein Fieber mehr auf,, das All¬ 
gemeinbefinden hob sich, der Appetit 
wurde ausgezeichnet, das Gewicht nahm 
zu, und der lokale Befund ging sichtlich 
langsam zurück. Ich habe seitdem in 
allen folgenden Fällen die Behandlung 
mit 0,1 bis 0,2 Kubikzentimeter Milch 
intramuskulär begonnen und hatte zur 
Erzielung einer ausgesprochenen Herd¬ 
reaktion nie nötig, auf über einen Kubik¬ 
zentimeter zu steigen. Wo ich mit kleinen 
Dos,en keinen Lokalerfolg erzielte, hatte 
ich ihn auch mit großen nicht. (Die all¬ 
gemeine funktionssteigernde Wirkung war 
jedoch in allen Fällen bis auf einen, den 
wir noch näher besprechen, auffällig.) 
Blutuntersuchungen, die ich im Verlaufe 
der Kuren anstellte, brachten mich der 
^Frage des Behandlungsintervalles 
näher. Die allgemeinen Blutveränderun¬ 
gen nach Milchinjektionen sind schon von 
Schmidt und Kaznelson in ihren 
ersten Arbeiten beschrieben, ich gehe 
hierauf nicht näher ein, weil Literatur¬ 
studium und eigene Untersuchungen mir 

1) Ich danke Herrn Prof. Schmieden auch 
an dieser Stelle bestens für die freundliche Über¬ 
lassung der Krankengeschichten. 

27 ] 





210 


Die Therapie; der 


ergaben, daß es nur auf die individuelle 
Reaktion ankommt. Besonders Ar¬ 
no Idi wies auf die individuelle leukocy- 
totische Reaktion im Anschluß an Arthi- 
gonovaccinierung hin. Diese individuelle 
Blutverschiebung erkennt man am besten 
im gefärbten Blutäusstrich; die Leuko- 
cytenzählung als solche sagt nichts Speci- 
fisches über die jeweilige individuelle 
Reaktion aus, dagegen ließ sich aus der 
Beobachtung der Verschiebung des weißen 
Blutbildes im Prozentverhältnis die Dauer 
der Reaktion und deren Abklingen er¬ 
kennen und damit der Zeitpunkt, wann 
wieder gespritzt werden konnte. Also 
ganz analog dem Sahlischen Behand¬ 
lungsschema bei Tuberkulinkuren, wo die 
nächstfolgende Injektion erst nach Ab¬ 
klingen aller Erscheinungen erfolgen darf. 
Die Blutveränderung ist schon nach Stun¬ 
den erkennbar und hält durchschnittlich 
bis zu fünf Tagen an. Die Hauptver¬ 
schiebungen betrafen die Lymphocyten, 
meist war eine vorübergehende Verminde¬ 
rung zu beobachten, aber auch Vernieh- 
,rungen kamen vor. Auf eine Verall¬ 
gemeinerung der Befunde kommt es hier 
aber nicht an, jeder Fall muß für sich 
betrachtet werden und erfordert indivi¬ 
duelle Behandlung. 

Mein Schema ist also: Vor der Be¬ 
handlung Blutausstrich. Wenn möglich 
nach sechs Stunden erneuter Ausstrich und 
dann nach zwei und vier Tagen. Ist die 
Blutzusammensetzung wieder dem Aus¬ 
gangspunkte angenähert, kann erneut ein¬ 
gespritzt werden. Durchschnittlich ist 
dies nach fünf Tagen der Fall. Nachdem 
die individuelle Reaktion feststeht, 
braucht man bei dermächsten Injektion 
das Blut nicht zu untersuchen. Ändern 
sich die manifesten lokalen und All¬ 
gemeinerscheinungen, werden sie zum 
Beispiel schwächer, erfolgt erneuter Blut¬ 
status und Erhöhung der Dosis. Das 
weitere Fortschreiten ergibt sich von 
selbst aus dem Vorhergesagten. Bei 
diesem vorsichtigen Vorgehen, daß auch 
an die Arbeitskraft des Arztes keine 
allzu hohen Anforderungen stellt (die 
serologische Methode Salomo ns dagegen 
erscheint mir für die Praxis durchaus 
illusorisch), können auch geeignete Tuber¬ 
kulöse behandelt werden und dann auch 
mit Erfolg. Es gelten hierfür geradeso 
die Worte Sahlis, die er in seinem Buche 
über die Tuberkulinbehandlung schreibt: 
,,Es handelt sich keineswegs darum, hoch 
zu steigen, sondern vielmehr für jeden 
Fall das therapeutisc^'>e Optimum der 


r Gegenwart 1921 \ . Juni 


Dosierung zu finden“ und ebenso können 
analog seine weiteren Worte für unser 
Kapitel übertragen werden: „Eine kor¬ 
rekte Tuberkulintherapie erfordert eine 
sehr genaue Beobachtung des Kranken, 
geradesb gut wie eine Digitalisbehand¬ 
lung.“ Mit der Anwendung der kleinsten 
uncf kleinen Dose bleiben wir auch im 
Einklang mit dem Arndt-Schulzschen 
Gesetz, auf das Bier neulich so eindring¬ 
lich wieder hinwies. 

Welche ausgezeichneten. Wirkungen 
mit den kleinen Dosen erzielt werden 
können, sollen einige kurze Kranken¬ 
geschichten zeigen. 

Fall 1. K. G., vor 15 Jahren Diphtherie, 
seitdem Armneuralgien, die mit gelegentlichen 
Intermissionen auftreten.. In letzter Zeitjieftige 
nächtliche Exacerbationen der Schmerzen in 
beiden Armen. Erste Injektion von' 0,2 Milch 
am 2. August 1920. Nach sechs Stunden begin¬ 
nende Reaktion, Steifigkeit, kann die Arme kaum 
heben. Nachts heftige Schmerzen in den Schultern 
und im Rücken. Temperatur 37,8. Nach 24 Stun¬ 
den alles vorbei. Danach nur noch dumpfes Ge¬ 
fühl in den Armen. Kann wieder schlafen. Am 
10. August zweite Injektion. 0,2 ccm Milch. Tem¬ 
peratur 37,1. Sehr heftige Lokalreaktion. Wieder 
ganz steif und Anschwellung des rechten Hand¬ 
gelenkes, Schmerzen im linken Kniegelenk. Dauer 
der Reaktion diesmal 48 Stunden. Danach keine 
Schmerzen mehr. Nur noch etwas dumpfes Ge¬ 
fühl in den Schultern. 16. August dritte Injektion 
0,2 ccm Milch. Reaktion geringer. Wieder große 
Steifigkeit, nachts einige Stunden heftige Schmer¬ 
zen. Danach fast völlig beschwerdefrei. Pa¬ 
tientin machte eine Badekur, während der sie 
sich sehr gut erholt. Da nach der Rückkehr ge¬ 
legentlich noch Schmerzen auftreten, am 29. Sep¬ 
tember vierte Injektion 0,2 ccm Milch. Nach¬ 
mittags Magen- und Kopfweh, Temperatur 37,2, 
Schmerzen in den Armen, Steifigkeit und span¬ 
nendes Gefühl in beiden Handgelenken, Schmerzen 
im rechten Schultergelenk. Nach dieser Injektion 
dauernd schmerzfrei bis zum Februar 1921, wo 
mit dem Rückfälligwerden einer Bleichsucht 
auch wieder leichte Schmerzen in den Armen 
auftraten. Zur Zeit deswegen abwechselnd Milch- 
(0,2) und Elektroferroleinspritzungen (0,5 ccm). 
Zurzeit im März sowohl die chlorotischen, wie 
die neuralgischen Beschwerden fast ganz ver¬ 
schwunden. 

Blut Untersuchungen: Vor der Behandlung 
697o Neutro, 5% gr. Ly., 24% kl. Ly., 2% Übg., 
07o Eos. 

Sechs Stunden nach der Einspritzung 57% 
Neutro, 2% gr. Ly., 38% kl. Ly., 1% Eos, 
2% Mono. 

Zwei Tage danach 777o Neutro, 

Ly., 15%% kl. Ly., 2% Mono und 0,57o Übg. 

Nach sechs Tagen normal. 

Fall 2. Frau S., Arthritis urica. Seit vielen 
Jahren ziehende „lange“ Schmerzen, besonders 
im rechten Arm, aber auch im linken und in den 
Beinen. Häufig Kribbeln in den Fingern und in 
den Zehen. Gelegentlich Anschwellungen der 
Fingergelenke. Schmerzen besonders nachts 
heftig. 27. Februar 1921: 0,2 ccm Milch. All¬ 
gemeinreaktion minimal, kein Fieber, schläft 
nachts zum erstenmal. 31. Januar: 0,4 ccm Milch, 
keine Allgemeinreaktion aber Blutreaktion. Vor- 





Juni Die Therapie der Gegenwart 1921 211> 


übergehend schwellen nach zwei Tagen das rechte 
Sternoclaviculargelenk, das rechte Schultergelenk 
und einige Fingergelenke rechts an und werden 
schmerzhaft, dagegen sind die „langen“ Schmerzen 
im Arm völlig verschwunden. 6J Februar: Ge¬ 
lenke abgeschwollen und schmerzfrei. Patientin 
erhält im ganzen noch fünf Milchinjektionen zu 
0,5 ccm in fünftägigen Abständen. Die Schmerzen 
sind bis auf kleine Mahnungen vollkommen ver¬ 
schwunden. Blutunter'suchung vor der Ein¬ 
spritzung : 

Neutro öS^/o, gr. Lv. 5%, kl. Ly. 25%, Eos 
5%, Mono 12%. 

Ein Tag danach 

Neutro 67%, gr. Ly. 8% kl. Ly. 30%, Eos 
1%, Mono 27 o. 

Vier Tage danach 

Neutro 647o, gr. Fy. 8%, kl. Ly. 15%, Eos 
0%, Mono 67o, Mastellen 1%, also annähernd 
normal. 

Merkwürdig war hier das vorübergehende i 
Zurüchtreten . der Eosinophilen, was auch in 1 
einigen anderen Fällen beobachtet wurde, in 
einem Versager (siehe Fall 7) stiegen sie dagegen 
gerade excesslv an. 

Fall 3. M. K., Chlorose, Muskelrheumatismus. 
In letzter Zeit- viel Schwindel, Ohnmächten, 
Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit. Knötchenförmige 
•sehr schmerzhafte Infiltrate der Schultermuskeln 
(Myogelose nach Schade). Behandlung: Hei߬ 
luft, Massage, Milchinjektionen. 

10. Februar: 0,1 ccm Milch, sehr starke All- 
gemeinreaktion, Müdigkeit, reißende Schmerzen 
in den Gliedern. Nach 36 Stunden Wohlbefinden. 
Noch zwei Spritzen von 0,1 und 0,2 ccm Milch 
in wöchentlichen Abständen. Schon nach der 
ersten Spritze guter Appetit, keine Ohnmächten 
mehr. Nach vier Wochen gutes Allgemeinbtfin- 
den, Muskelinfiltrate verschwunden, obwohl die 
Massage nicht fortgesetzt wurde. Der Hämo- 
globingehalt, der vor der Behandlung 60% be¬ 
trug, stieg jedoch nicht an. Dies stimmt mit 
den Befunden von Schmidt und. Kaznelson 
überein. Daher werden jetzt Blaudsche Pillen 
gegeben. 

Blutbefund vorher: 

Neutro 507o, gi'- Fy. 3%,, kl. Fy.35%, Eos 
77o, Mono 37o, Mast 2%,. 

- Zwei Tage danach 

Neutro 587o, gr. Ly 5%, kl. Ly. 27%, Eos 
•6%, Mono 37o> Mast 1%. Nach'fünf Tagen 
normal. 

Fall 4. M. S., Thyreogene Asthenie. Leichte 
Struma, leicht aufgeregt, anfallsweise arbeits¬ 
unfähig, mit Schmerzen im Epigastrium, in den 
Oberschenkel ausstrahlende Schmerzen; röntgeno¬ 
logisch Magenatonie. Erregte Herzaktion, häufig 
Lufthunger. Im ganzen fünf Milchinjektionen, 
steigend von 0,1 auf 1 ccm. Allgemeinreaktion 
gering. Lokal im rechten Bein Schmerzen, keine 
Einwirkung auf den Krankheitszustand, dagegen 
14 Pfund Gewichtzunahme. In diesem Falle 
tritt also nur die allgemeine funktionsteigernde 
Wirkung der Milch hervor. Auch die Blutreak- 
tion war hier nicht ausgesprochen, keine ver¬ 
wertbare Verschiebung. 

Fall 5. P. K., sekundäre Anämie bei Colitis 
gravis ulcerosa und Polyneuritis. Zuerst 1 ccm 
Elektroferrol intramuskulär, da dieses sehr starke 
Schmerzen machte, wird jetzt in wöchentlichen 
Pausen siebenmal je 0,25 Elektroferrol intra¬ 
venös verabreicht. ■ Nach drei Stunden trat 
Jedesmal ziemlich starke Allgemeinreaktion auf, 
ziehende Schmerzen in den Beinen, leichter Druck 
üm Kopf, Temperatur bis 37,6. Also ähnliche 1 


Wirkungen wie bei den Milchinjektionen. Heinz 
machte ja schon darauf aufmerksam, daß mit 
Elektroferrol ähnliche Wirkuiigen, wie mit Pro¬ 
teinkörpern zu erzielen sind. Der Hämoglobin¬ 
gehalt stieg von 48% auf annähernd 70% in 
fünf Wochen. Die Blutreaktion war sehr aus¬ 
gesprochen. 

Vorher 

Neutro 49%, gr. Ly., 4,6V„, kl. Ly. Eo? 
4,6%, Mono 3,37o, Ubg. 0,37„, Mast \ 

Anderthalb Stunden danach 

Neutro 62%, gr. Ly. 6%, kl. Ly. 21%, Eos 
2%, Mono 97o, Übg.0% Mast 

Ein Tag danach 

Neutro 657o; Ly. 87o. kl. Ly. 16%, Eos 
.2%, Mono 87o, Übg.07o, Mast 17o. 

Sechs Tage danach 

Neutro 45,57o, gr. Ly. 57o, kl. Ly. 37,5, Eos 
3,5%, Mono 5,57o, Übg. P/o, Mast 1%. 

Auch das Allgemeinbefinden besserte sich in 
diesem Falle. Auf den Lokalprozeß wurde je- 
doch kein we s entlich er Einfluß ausgeübt. 

Fall 6. H. D., 34 Jahre.. Atypische Lfnter- 
lappentuberkulose, links zweiten Grades. An¬ 
fangs chronischer Verlauf, unter bronchopneui 
monischen Erscheinungen ’ akutes Aufflammen 
des Prozesses mit starker Ausbreitung. Tuber¬ 
kelbacillen + . Nach Abklingen der akuten Er¬ 
scheinungen Beginn mit Caseosaninjektionen. 

15. Dezember: 0,2 Caseosan intramuskulär. 
Temperatur 38,1 rectal, geringe-Allgemeinerschei- 
nungen, keine vermehrten Lokalerscheinungen. - 

20. Dezember: 0,2 Caseosan. Temperatur 
38,1, etwas mehr Husten. Leichtes Beklemmungs¬ 
gefühl. 

29. Dezember: 0,2 Caseosan. Abends 38,5 
rektal. Starke Allgemeinreaktion, Müdigkeit, 
Schwere der Glieder, etwas vermehrte lokale 
Geräusche. ■ 

6. Januar: 0,2 Caseosan nachmittags, nachts 
gut geschlafen, am^ nächsten Abend 38,1 rectal. 

8. Januar: Reaktion abgeklungen. 

Schon nach dem Abklingen der zweiten 
Spritze wurden die sonst allgemein leicht erhöhten 
Temperaturen normal. Die Nachtschweiße hörten 
ganz auf. Das subjektive Wohlbefinden des 
psychisch sehr labilen Patienten wurde wesent¬ 
lich besser. Die Kur wurde nicht fortgesetzt, da 
der Patient sich nach einem Sanatorium im 
Schwarzwald begab, wo die Besserung anhält, 

B1 u t u n te r s u ch Li n g e n. Vorher: 

71 % Neutro, 7 7o gr. Ly., 9 % kl. Ly., 10 % 
Mono, 0 % Eos, 1 % Mast, 2 7o Übg. 

Gesamtleukocytenzahl: 4000. 

Sechs Stunden nach der Einspritzung: 

63 7o Neutro 1 % gr. Ly., 30% kl. Ly., 1 % 
Eos, 5 7o Mono. 

Gesamtleukocytenzahl: 8000. 

Drei Tage später: 

73.5 Neutro, 4,5 7o §r. Ly., 16,5 kl. Ly., 0,5 7o 
Eos, 7,5 % Mono, 1 7o Übg., 0,5 % Mast, 0,5 7o 
Myelo. 

Auszählung nach Arneth: Starke Linksver¬ 
schiebung. 

Sechs Tage nach der zweiten Injektion: 

72.5 Neutro 3% gr. Ly,,' 8,5% kl. Ly., 3 % 
Eos, 11% Mono, 1,5% Übg., 0,5 7o Mast. 

Also fast das Ausgangsblutbild, aber ver¬ 
mehrtes Auftreten von Eos;; was nach Brösam- 
len und Zeeb prognostisch günstig ist. 

Einen Tag nach der dritten Injektion keine 
Blutreaktion mehr. Da auch die Allgemein¬ 
erscheinungen sehr gering waren, könnte' jetzt 
mit der Dosis gestiegen werden. 


27* 



212 Pi€ Therapie der 


Auf einen Versager der Behandlung möchte 
ich aber wegen seiner paradoxen Reaktion be¬ 
sonders hinweisen. 

Fall 7. H. S., 47 Jahre. Nervöse Dyspepsie, 
Askariden, Neuritis des Plexus lumbalis. 

; Vier Wochen’ nach Entstehung der Neuritis, 
die mit heftigen Schmerzen und Atrophie einher¬ 
ging, Versuch einer Milchbehandlung: 0,25 Milch 
irjtramuskulär. Blutausstrich vorher: 

60% Neutro, 27% kl. Ly., 6% Eos., 6% 
Mono, 2 % Ubg. 

Zwei Tage danach .noch dauernde Schmerzen, 
die eher heftiger wie vorher sind. Blutausstrich: 

40 % Neutro, 1 % gr. Ly., 25,5 % kl. Ly., 
15,5% Eos, 10% Mono, 4,5% Übg., 3,5% 
Mast. 

Also eine exzessive Vermehrung der Eos., 
auch die Mono- und die Mastzellen waren stark 
vermehrt. 

Nach sechs Tagen: 

41 7o-Neutro, 4% gr. Ly., 41 % kl. Ly., 9% 
Eos, 4% Mono, 1 % Mast. 

Also immer noch starke Vermehrung der Eos. 
Die Schmerzen sind etwas geringer geworden, die 
{<ur wird aber nicht fortgesetzt. 

Wir sehen also in diesem Falle die gesteigerten 
Erscheinungen nicht am zweiten oder dritten 
Tage wieder verschwinden, sondern anhalten und 
erst in etwa zehn Tagen wieder zurückgehen. 
Außerdem ist die exzessive Ausschwemmung der 
Eosinophilen auffällig. Vielleicht kommen wir 
dem Verständnis dieser paradoxen Reaktion 
näher, wenn wir bedenken, daß bei dem Patienten 
Wurmeier nachgewiesen waren, und daß sich 
schon vor der Behandlung 6% Eos. fanden. Der 
Patient wat also schon mit einem Eiweißwurmgift 
sensibilisiert, und die parenterale Zufuhr von 
Milch verursachteeine anaphylaktische Reak¬ 
tion, die^sich in den vermehrten Schmerzen und 
der Eosinophilie äußerte. Hierbei ist an das Aus¬ 
lösen von Erscheinungen der ex'sudativen Diathese 
bei Kindern mit latenter Veranlagung zu erinnern, 
die durch Vaccination und Tiiberkulinisierung 
erfolgen kann (Pfaundler). Auch hierbei tritt 
ja Eosinophilie auf. Vermutlich sind auch er¬ 
wachsene Diathetiker hierher zu rechnen. Auch 
an diesem Falle ergibt sich die Wichtigkeit der 
Blutuntersuchung. Patienten mit Eosinophilie 
wären also nur mit Vorsicht zu behandeln, zum 
mindesten vorher nach den Ursachen derselben 
zu forschen, eventuell eine Wurmkur durchzu¬ 
führen. (ln Fall 2 und 3 war trotz der Eosino¬ 
philie der Erfolg gut.) Es bleibt weiterer Er¬ 
fahrung überlassen, herauszufinden, welche Orga¬ 
nismen primär von einer Proteinkörperbehandlung 
auszuschließen sind. 

Aus unseren Fällen ist also zu ent- 
, nehmen, daß es nicht auf stürmische Reak¬ 
tionen zum Erfolg ankommt: ,,Mit jeder 
Injektionsbehandlung sind plötzliche re¬ 
aktive Wirkungen notwendigerweise ver¬ 
bunden, auch wenn sie grob-klinisch 
nicht zu erkennen sind. Nur der Häma¬ 
tologe erkennt sie.“ (Sahli.) 

Es ist nicht im Rahmen dieser kurzen 
Mitteilung gelegen, hier auch noch auf 
die Indikationen der Proteinkörperbehand¬ 


Gegenwärt 1921 . . \ ' ' Juni 


lung einzugehen, zumal diese Fragen 
noch im Fluß sind. Aber es ist ganz klar, 
daß diese Therapie nicht das Allheilmittel 
sein kann, daß kritik- und bedenkenlos 
angewandt werden kann. Ha Hauer hat 
in der Diskussion zu Biers Berliner Vor¬ 
trag eindringlich auf die Gefahren der 
Proteinkörpefanwendung hingewiesen, be-^ 
sonders auch auf das hochdosierte Spritzen. 
Ich habe den Eindruck, daß die Behand¬ 
lung besonders geeignet ist für Fälle von 
,,Entzündungstorpor“, wo. dieses ,,große 
Heilmittel der Natur“ (Bier) nicht in¬ 
tensiv genug wirkt, um mit der Schäd¬ 
lichkeit fertig zu werden. Bei diesen 
Fällen, scheint mir die Proteinkörper¬ 
therapie vorzüglich zu wirken, besonders 
da sie auch latente Herde des öfteren 
ans Licht bringt und damit weitere Fin¬ 
gerzeige zur Behandlung gibt. Nicht zu 
unterschätzen ist die allgemein roborie- 
rende Wirkung, die besonders bei der 
Chlorose auffällig ist. 

Zusammenfassend wäre also zu 
sagen: 

1. Die Proteinkörperbehandlung hat 
individuell wie bei der Tuberkulinkur zu 
erfolgen. 

2. Zum Auslösen von heilenden Reak¬ 
tionen genügen sehr häufig schon Dosen 
von 0,1 bis 0,3 ccm Milch. Die Steige¬ 
rung der Dosis muß den klinischen Er¬ 
scheinungen angepaßt werden. Auch 
Caseosan und Elektroferrol wirken in 
kleinen Dosen. 

3. Das Behandlungsintervall ergibt 
sich aus der Beobachtung der Verschie¬ 
bung im weißen Blutbild. Erst nach Ab¬ 
klingen der reaktiven Bluterscheinungen 
wird weiter gespritzt. Die Blutreaktion 
ist durchaus individuell, es läßt sich nur 
für den betreffenden Fall ein Schema 
aufstellen. 

4. Bei Eosinophilie im Blute ist Vor¬ 
sicht am Platze. Exsudative Diathese 
und Wurmkrankheit,können eine GegeiiT 
anzeige abgeben. 

Literatur: Arnoldi, Zschr.f.klin.Med. 1918,. 
Bd.86. Bier, M.m.W. 1921, Nr. 6. Brösamlen 
und Zeeb, D. Arch. f. klin. Med. 1916, Bd. 118. 
Hallauer, M. m. W. 1921, Nr. 10. Kaznelson, 
Zschr. f. klin. Med. 1916, Bd. 83. Derselbe, 
Tlier. Mh. 1917. Lindig, M. m. W. 1920, Nr. 34. 
Pfaundler, Lehrb. d. Kinderheilk. v. Feer,. 
6. Aufl., Jena 1920. Salomon, M. m. W. 1920, 
Nr. 52. Sahli, Tuberkulinbehandlung, 4. Aufl., 
Basel 1913. R. Schmidt u. Kaznelson, Zschr. 
f. klin. M. 1916, Bd. 83. R. Schmidt, D. Arch., 
f. klin. M. Bd. 131. 



jjuni :Die Tfa«rapie der Gegenwart 1921 213 

Aus der Medizinischea Kliaik der TJaiversität Gießea (Direktor: Prof. Dr. Voit). 

Über den Wert der Behandlung der Psyche bei inneren 
Erkrankungen, ihre Methoden und Erfolge^). 

Von Dr. Erwin Moos, Assistent der Klinik. 


Es ist begreiflich, wenn es zunächst 
merkwürdig anmutet, wenn von der 
inneren Klinik eingehend über die Be- 
■liandlung der Psyche* .gesprochen wird. 
.So selbstverständlich es erscheint, daß 
■jeder gute Arzt bei der Behandlung eines 
-organischen Leidens gleichzeitig die 
Psyche seines Patienten in Beobachtung 
hält, so wenig wird es uns in manchen 
Fällen klar, wie weitgehend die mensch- 
fSiche Psyche auf körperliche Erkrankungen 
einwirken kann. Die nicht genügende 
■diagnostische Bewertung des Psychischen 
^hat oft Konsequenzen in der Therapie, 
■die nicht wünschenswert erscheinen. Wir 
-sehen es immer wieder, daß die Kranken, 
'deren organische Krankheitssymptome 
'psychogenen Ursprungs sind oder solche, 
die psychische Heilhemmungen organi- 
.scher Leiden haben, aller medikamen¬ 
tösen Therapie trotzen. Es ist deshalb 
begreiflich, daß man für diese oft ver¬ 
zweifelten Fälle nach anderen therapeu¬ 
tischen Wegen sucht. 

Von einer ganzen Reihe interner 
.Autoren, wie Kraus, Goldscheider, 
Krehl, Strümpell, Matthes,Fleiner, 
Rosenbach und Curschmann dem 
Jüngeren, ist auf die Wichtigkeit des 
Psychischen in der inneren Medizin hin- 
^ewiesen worden und auf die Zusammen¬ 
hänge organischer Leiden mit psychischen 
Insulten. Auf den Wert des Psychischen 
' wurde aufmerksam gemacht, aber es 
blieb mehr bei diagnostischen Hinweisen. 
■‘Nonne, Schultz (Jena), Ernst Weber 
{Berlin) ebneten die Wege zu systema¬ 
tischer Psychotherapie auch in den nicht 
psychiatrischen Disziplinen. 

F. Mohr (Coblenz) hat die theore¬ 
tisch erwogenen Möglichkeiten in die in¬ 
terne Praxis übertragen und in mehreren. 
Arbeiten auf die Verwertbarkeit beson¬ 
ders der neueren psychotherapeutischen 
Methoden bei inneren Erkrankungen hin¬ 
gedeutet. Durch ihn wurde ich auf die 
Therapie aufmerksam, die sich bei allen 
meinen hierzu geeigneten Fällen be¬ 
währte. Ich selbst ging zunächst skep¬ 
tisch an die Nachprüfung seiner Aus¬ 
führungen. Bevor ich über behandelte 
-Fälle berichte, möchte ich kurz erwähnen, 

•^) Nach einem Vortrag, gehalten in der medi- 
^^inischen Gesellschaft zu Gießen. 


wie ich allmählich in die Behandlung der 
Psyche hereingedrängt wurde. Zunächst 
sah ich, daß ich bei einer schwer herz¬ 
kranken Patientin, mit Ödemen an allen 
Extremitäten, mit Ascites, Pleuratrans- 
südat, also einer Herzinsuffizienz mit 
schwerster Dekompensation, durch 
Hypnose für eine ganze Nacht tiefen 
Schlaf erzielen konnte, wo große Dosen 
Morphium wirkungslos geblieben waren. 
Dieser Fall ermunterte zur Anwendung 
der Hypnose bei anderen organischen 
und gemischt psychisch-organischen Kran¬ 
ken. Nach zeitweisem Versagen der Hy¬ 
pnose suchte ich nach anderen psycho¬ 
therapeutischen Möglichkeiten, die ich 
in der Persuasions- und Aufklärungs¬ 
methode von Dubois und Rosenbach 
und vor allem in der von Breuer, Freud 
und den Schülern Freuds angegebenen 
Psychoanalyse auch bei meinen intern 
Kranken als verwertbar schätzen lernte. 
Ein Bericht über eine Anzahl behandelter 
Fälle erscheint mir unerläßlich, er kann 
allerdings nur einen bescheidenen Aus¬ 
blick auf die angewandte Psychotherapie 
bringen, deren Methoden grundsätzlich 
bekannt sein dürften. 

Fall I. Frau M. W. aus B., 42 Jahre. Dia¬ 
gnose: Asthma bronchiale, Hysterie. 

Die Patientin war im Jahre 1898 bereits in 
unserer Klinik mit der Diagnose Chlorose, 1908 
mit der Diagnose Hysterie, 1909 als Asthma bron¬ 
chiale. ln den alten Kranken blättern ist von 
einer ganzen Reihe nervöser Beschwerden be¬ 
richtet, so von Schlaflosigkeit, dauernder Müdig¬ 
keit, Ekelempfindung vor dem Essen, von ner¬ 
vösen Kopfschmerzen, Globus hysterikus, Hitze- 
und Frostempfindungen. Bei der Aufnahme am 
23. März 1920 gibt Patientin an, daß sie sich nicht 
erinnern kann, seit zwölf Jahren auch nur einen 
Tag ohne Anfall gewesen zu sein. Schlimmer 
noch als die ununterbrochenen Asthmaanfälle 
seien die quälenden Angstzustände, unter denen 
sie beständig zu leiden habe. Zu Hause habe sie 
sich wochenlang schon nicht mehr gelegt, auch 
über Nacht im Stuhl gesessen, weil schon, wenn 
sie das Bett sah, Angstgefühl und mit diesem 
Asthmaanfälle ausgelöst wurden. An irgend 
welche Arbeit sei nicht mehr zu denken gewesen. 

Befund bei der jetzigen Aufnahme: Voll¬ 
kommen heruntergekommener Ernährungszu- 
S'tand, fast Kachexie. Auch in anfailsfreiem Zu¬ 
stand deutlicher Exophthalmus. Thorax: fa߬ 
förmig, ganz hochgezogen, starr. Epigastrischer 
Winkel stumpf. Wirbelsäule stumpf, kyphotisch. 
Hochgradiges Emphysen der Lunge mit ausge¬ 
dehnter diffuser Bronchitis, die jeweilig im Anfall 
stärker wurde. Überlagerung des Herzens durch 
Lungengewebe. An beiden Oberschenkeln zahl¬ 
reiche Narben und Schorfe von unsauberen In- 





214 


Die Therapie der 


jektionen (Patientin hatte zu Hause von einem 
zwölfjährigen Töchterchen nach eigner Angabe 
täglich bis zu 10 Spritzen Morphium und Asth- 
molisin bekommen). Eosinophilie im Blut 12^ %. 

In den ersten vier Wochen unserer klinischen 
Behandlung erschöpften wir unsere gewohnten 
asthmatherapeutischen Maßnahmen. Jod, Kali, 
Atropin, Asthmolisin, mehrere Spritzen am Tage, 
Adrenalin, Morphium, Saengersche Heilmethode 
erzielten keine oder ‘nur ganz vorübergehende 
Besserung. Brom, Digitalis hatten den gleichen 
negativen Erfolg. Die Patientin war nicht zu 
bewegen, ins Bett zu gehen, sie saß nachts 
nach heftigen Anfällen, bei denen sie schrie, 
daß man es im ganzen Hause hören konnte, 
im Stuhl; tagsüber konnte sie nur mit Mühe 
von einem Zimmer ins andere gehen. Da es 
uns immer schon aufgefallen war, daß die Ner¬ 
vosität und die Miterkrankung der Psyche das 
Krankheitsbild beherrschten und wir uns mit 
Medikamenten nicht mehr zu helfen wußten, 
wollte ich wenigstens den Versuch machen, 
durch Psycho-Therapie eine Besserung zu er¬ 
zielen. Bei dem erregten Zustand der Patientin 
mißlang eine Hypnose zunächst vollständig. Ich 
beschäftigte mich mit der Frau in den ersten 
Wochen täglich oft einige Stunden. Schon in den 
ersten Tagen beobachtete ich, daß ich einigen Ein¬ 
fluß bei der Patientin erzielte. Dadurch ermun¬ 
tert, ging ich an eine eingehende Analyse des 
ganzen Seelenzustandes. Dabei gelang es, die 
Angstzustände sehr bald zu beheben. Unter 
langsamer, aber konsequenter Entwöhnung vom 
Morphium und allen anderen Medikamenten 
brachte ich sie soweit, daß sie tagsüber ganz von- 
Anfällen frei wurde, in der Küche und iiti Saal 
mitarbeitete. Der Schlaf wurde auf Hypnose 
befriedigend, die nunmehr gut gelang. Auch die 
schlimmen abendlichen Anfälle blieben fort, bis 
ich den Fehler beging und die Frau über Pfing¬ 
sten zu ihrer Mutter beurlaubte, wo durch den 
Anblick der gleichfalls abends auftretenden müt¬ 
terlichen Asthmaanfälle die alten Associationen 
bei der Patientin wieder so angeregt wurden, daß 
sie in wesentlich schlimmerem Zustande in die 
Klinik zurückkam. In der Klinik gelang es, die 
einzelnen Anfälle wieder zu koupieren. Mein Be¬ 
streben ging dahin, die krankhaften Gedanken¬ 
associationen der Frau so umzustellen, daß sie 
selbst fähig wurde, die Angstzustände zu hem¬ 
men und eingetretene Anfälle zu koupieren. Das 
gelang so weit, daß die Frau ihren großen Haus¬ 
halt zu Hause jetzt versorgen und stundenweit 
gehen kann. Die abendlichen Anfälle konnte ich 
hier verhindern, aber sie ist zu Hause über sie 
nicht immer Herr geworden. Die Eosinophilie 
ging im Verlaufender Behandlung von 1232 /o 
5 % zurück. Die bronchitischen Geräusche über 
die Lungen waren weniger geworden, das Em¬ 
physem gleich geblieben. Nach Beseitigung von 
Diarrhöen, die beständig die Anfälle begleiteten, 
5 Pfund Gewichtszunahme. 

Es wird interessieren, was die Psycho-Ana- 
lyse der Frau ergab. 

Der erste Asthmaanfall trat während ihrer 
sechsten Schwangerschaft auf. Schon eine ganze 
Zeitlang vorher war die Patientin in einer nieder¬ 
geschlagenen Stimmung. Sie ärgerte sich darüber, 
daß sie wieder in Hoffnung war und mußte immer 
wieder denken, daß ihr schlechtes Ergehen eine 
Strafe dafür sei, daß sie ihrer Mutter nicht ge¬ 
folgt war, die die Heirat absolut nicht hatte zu¬ 
geben wollen. Auf einem Ausflug mit ihrem 
Manne kam sie in ein stark gefülltes Eisenbahn¬ 


Gegenwart 1921 Jun» 


abteil, in dem schlechte Luft war. Sie fühlte sich^ 
besonders infolge ihrer vorgeschrittenen Gravi¬ 
dität sehr beengt und konnte nicht genügend^ 
Luft bekommen. Mit einem Male nun tauchte in« 
ihr eine fürchterliche Angst auf, daß sie einem 
solchen Anfall bekommen könnte, wie sie ihn 
zu Hause abends oft bei ihrer Mutter gesehen^ 
hatte. Es entstand augenblicklich ein erstmaliger 
schwerer Asthmaanfall, der sich nun immer abends^ 
sowie bei jedem Ärger zu Hause wiederholte. Merk¬ 
würdigerweise hatte, die Mutter auch wie sie 
die Hitze- und Frostempfindungen und eine 
Reihe anderer nervöser Symptome, über die die 
Kranke klagte. Die Patientin gab mir eine mark¬ 
stückgroße schmerzhafte Stelle rechts unter dem- 
Rippenbogen an, für deren Ursache ich organisch’» 
keine Anhaltspunkte finden konnte. Infolge¬ 
ähnlich gerichteter zahlreicher Ideen Verbindun¬ 
gen, die ich kannte, fragte ich sie, wo denn ihre- 
Mutter eine solche schmerzhafte Stelle habe. Sie- 
antwortete mir prompt, an derselben Stelle und* 
genau so groß. Aus allen Krankheitssymptomen^ 
ließ sich eine starke Bindung der Kranken an die- 
Mutter erkennen. Es bestanden ausgesprochene- 
Mutterkomplexe. Diese starke Bindung an die 
Eltern fand ich auch bei meinen anderen Fällen- 
oft als auslösende Ursache für psychogene Krank- 
heitssymptome, die auftreten, sobald diese In¬ 
dividuen im Leben in schwierige Lagen kommen,, 
in denen sie allein keinen Ausweg finden und in 
denen dann die Sehnsucht nach dem Geborgen¬ 
sein in der früheren Umgebung mit geradezu 
elementarer Gewalt auftaucht. Es scheint, daß^ 
die Krankheitssymptome geliebter Menschen des¬ 
halb übernommen werden, weil unbewußt an¬ 
genommen wird, daß diese für eigene überstandene 
Krankheiten am meisten Verständnis, Mitleid 
und infolgedessen Liebe und eventuell Hilfe auf- 
bringen, die ersehnt wird. Bei der Analyse der 
Appetitlosigkeit associerte die Patientin ein Er¬ 
lebnis, das einige zwanzig Jahre zurücklag, Sie 
hatte gesehen, ’ wie der Hund ihrer damaligen 
Herrin von ihrem Teller zu fressen bekam. Sie 
war daraufhin tagelang appetitlos. Durch das^ 
Wiedererleben, Erkennen und Abreagieren des¬ 
damaligen Affektes wurde der Appetit der Pa¬ 
tientin bei uns wieder normal. Die Analyse der 
Diarrhöen, die alle Asthmaanfälle der Patientin* 
begleiteten, ergab folgendes: Die Patientin saß» 
vor einigen Jahren bei einem längeren Kranken¬ 
lager auf ihrem Nachtstuhl zu Defäkation. Sie 
sah, wie eine Frau aus dem Nachbarhaus auf ihr 
Haus zulief, augenscheinlich um sie zu besuchen.. 
Sie wurde von einer plötzlichen Furcht ergriffen,, 
daß diese Frau sie in dem ihr peinlichen Zustande¬ 
sehen würde; sie konnte nun erst recht nicht von* 
ihrem Nachtstuhl herunter und hatte augenblick¬ 
lich Durchfall. Dieser Durchfall trat von da at> 
bei jedem Anfall auf, so daß die Patientin in der 
Klinik nie ohne Stechbecken sein konnte. Nach' 
Wiedererleben des damaligen Affektes ver¬ 
schwanden die Durchfälle und die Kranke nahm< 
nunmehr fünf Pfund zu. 

Nach der Entlassung hat mir die Patientin 
mitgeteilt, daß es ihr zu Hause noch besser er¬ 
gangen sei als hier. So blieb es vier Monate, bis- 
vor vier Wochen heftige erneute psychische 
Traumen (schwere Erkrankungen zweier Kinder- 
und eine Phthise des Mannes) neue abend¬ 
liche Anfälle hervorriefen. Auf neue ambulante 
Behandlung geht es der Kranken wieder besser* 
im ganzen genommen wurde wesentliche Bes¬ 
serung, keine Dauerheilung erzielt. 

Fall II. Frau M. K., 30 Jahre. Diagnose:: 
Asthma bronchiale. 





Juni Die Therapie der 


Patientin war zuerst in der Klinik im März 
1920 wegen schwerer Grippe, Broncho-Pneu- 
ihonie mit sekundärem Pleura-Exsudat. Vor 
ihrer Entlassung aus der Klinik mußte wegen 
eines leichten Lungenspitzenkatarrhs ein Heil¬ 
stättenantrag gemacht werden. Vor Genehmigung 
desselben vier Monate nach ihrem Fortgang aus 
der Klinik erfolgte abermalige Aufnahme der 
Patientin bei uns wegen typischer Asthmaan¬ 
fälle, mit denen sie schon gut vierzehn Tage lang 
zu Hause zu tun gehabt hatte. Sie waren auf¬ 
getreten bei Anstrengung, Ärger und Aufregung 
und besonders bei trübem Wetter. 

Aufnahmebefund: Typische Asthmalunge 
mit tiefstehenden Lungenspitzen und diffuser 
Bronchitis; Eosinophilie im Blut 16%. Alter 
Spitzenkatarrh. 

Die psycho-analytische Anamnese ergab: vier¬ 
zehn Tage vor der Aufnahme trat der erste Asth¬ 
maanfall auf unter folgenden Umständen: der 
Ehemann, der beim Bau eines Brunnens be¬ 
schäftigt war, hatte versprochen, um acht Uhr 
abends zurückzusein. Als er eine Stunde später 
noch nicht gekommen war, überfiel sie plötzlich 
der schreckhafte Gedanke, ihr Mann sei in den 
bereits acht Meter tiefen Brunnen gefallen und 
tot geblieben. Mit dem Angstgefühl, daß sie bei 
diesem Gedanken empfand, trat, wie das wohl 
schon jeder bei schreckhaften Erlebnissen em¬ 
pfunden hat, ein intensives Beklemmungsgefühl 
auf der Brust ein. Vielleicht leise bewußt tauchte 
die Erinnerung an ihre früher überstandene Lun¬ 
genentzündung, deren Schmerzen und Luftnot 
auf. Sie mußte nach Luft ringen und so wurde 
der erste richtige Asthmaanfall, der bis tief in die 
Nacht hinein dauerte, bis der nunmehr eingetrof¬ 
fene Ehemann mit allen ihm bekannten Mitteln 
endlich eine Besserung erzielte. Die nächsten An¬ 
fälle traten auf bei Wortwechsel mit ihrem Mann, 
wenn sie die Kinder schlagen mußte oder sonst 
bei irgendwelchen Aufregungen. Es kam auch 
in diesem Falle gelegentlich zu der von Freud 
so benannten Flucht in die Krankheit. Ich denke 
mir den psychologischen Vorgang so: die Kranke 
hatte beobachtet, wie sie beim ersten Anfälle in 
hohem Maße Mitleid und Liebe des Mannes er¬ 
weckte. Die Anfälle treten nachher zum gleichen 
Zwecke auf, um Ärger zu vermeiden und dann 
automatisch bei Jeder intensiven Gemütserregung. 
Anfänglich mag ein leises Bewußtsein des zu er¬ 
reichenden Zwecks bei den Kranken dabeisein. 
Nachher tauchen die psychischen Vorgänge ganz 
unter die Bewußtseinsschwelle, sie geschehen 
zwangsrnäßig. Die Kranken sagen uns, ich kann 
keinen Ärger mehr vertragen, dann wird es mir 
immer so beklommen auf der Brust, ich muß 
nach Luft ringen, ich kann nicht hinter den Atem 
kommen tisw. Bei Erhebung der Anamnese kam 
sicher durch Gedankenassociation ein Anfall, 
so daß ich am Schreibtisch in vier bis fünf Meter 
Entfernung die giemenden und brummenden 
Geräusche auf der Brust der Patientin hören 
konnte. Ich machte der Patientin klar, daß es 
darauf ankäme, dep angstvollen Gemütsaffekt zu 
hemmen und wie man das machen müsse. Der 
Anfall war in wenigen Minuten koupiert. Nach 
drei analytischen Sitzungen erreichte ich unter 
gleichzeitiger Aufklärung der Patientin, daß jetzt 
sechs Monate kein Anfall aufgetreten ist. 

Die Eosinophilie ging von 16% auf 4% zu¬ 
rück. In mehreren Briefen teilt mir die Frau mit, 
daß sie keine Anfälle mehr habe. Bei einem Dorf¬ 
brand im Odenwald sei sie sehr erschrocken, sie 
habe Beklemmungsgefühl auf der Brust gehabt. 


Gegenwart 1921 215 


aber einen Anfall infolge meiner Aufklärung ver¬ 
mieden. 

Dieser Fall war infolge der Jugend der Pa¬ 
tientin und der verhältnismäßig kurzen Krank¬ 
heitsdauer unvergleichlich günstiger als das zwölf 
Jahre alte Asthma der vorhin erwähnten Patientin 
von zweiundvierzig Jahren im Klimakterium. 
Frau K. war irh übrigen frei von nervösen Symp¬ 
tomen, Frau W. hatte der hervösen Symptome 
über fünfzehn, unter ihnen als das schlimmste das 
Asthma. Wehn wir bedenken, daß alle diese 
Symptome einmal die Asthmaanfälle beständig 
begleiten, dann aber auch, wenn eines von ihnen 
auf associativ psychogenem Wege ausgelöst wurde, 
mit Sicherheit gleichzeitig alle anderen und be¬ 
sonders einen Asthmaanfall im Gefolge hatte, so 
verstehen wir, wie bei dieser Frau, wie sie sich 
selbst ausdrückte, ein Anfall den anderen jagen 
mußte. Wir verstehen weiter, wie schwer es ist, 
solche krankhaften Associationen umzuarbeiten ^ 

Klinisch besonders wichtig für uns ist das Ver¬ 
schwinden des sehr reichlichen Auswurfes bei der 
ersten Frau und-der Rückgang der Eosinophilie 
im Blut der beiden Patientinnen. 

Eine weitere Asthmapatientin habe ich eben 
noch in ambulanter Behandlung. Sie ist jetzt 
drei Wochen anfallfrei. 

Fall IV.- Frau A,, 38 Jahre alt. Diagnose: 
spastische Obstipation. Beschwerden: Seit vier 
Monaten beständige Müdigkeit, schlechter Schlaf, 
Herzklopfen, Schmerzen in der Herzgegend. 
Hartnäckige Stuhlverstopfung mit zeitweisen 
Schleim- und Blutbeimengungen im Stuhl. Ap¬ 
petitlosigkeit, seelisch -depressive Verstimmungen. 

Befund : Lunge, Herz o. B. Abdomen: Ent¬ 
lang des Colon transversum und descendens fühl¬ 
barer harter druckschmerzhafter Strang. 

Im Stuhl zeitweise etwas frisches hellrotes 
Blut und Schleim. Bei der Rektoskopie war, so¬ 
weit das Rektoskop reichte, eine intakte Schleim¬ 
haut zu sehen. Die Röntgenuntersuchung ergab 
an Magen und Dünndarm nichts Besonderes, da¬ 
gegen starke spastische Contractlonen am Quer¬ 
dickdarm. 

Vier Wochen lang versuchten wir vergeblich 
mit Laxantien, Brom den Zustand der Patientin 
zu bessern. Wir kamen zu keinem Erfolg. Die 
Kranke wurde immer mehr verstimmmt, die Be¬ 
schwerden blieben. 

Nach einer Hypnose wurde für eine Nacht 
guter Schlaf und vorübergehende Besserung der 
anderen Beschwerden erzielt. Dann kehrte der 
alte Zustand wieder. 

Nach dreitägiger psycho-analytischer Be¬ 
handlung hatte Patientin täglich ohne Laxantien 
Stuhl. Auf weitere psychische Behandlung hin 
verschwanden der Reihe nach die Schlaflosigkeit, 
der Appetitmangel, die Herzbeschwerden. 

Der Dickdarm war bei erneuter Durchleuch¬ 
tung auch im Querteil breit und nicht mehr 
spastisch kontrahiert. 

Die Frau kam einige Male ambulant wieder, 
fühlt sich seit sechs Monaten vollkommen wohl. 
Die Analyse ergab starke Bindung an ein Kind, 
das sie ein Jahr wegen Hals- und Nasendiphtherie 
mit ■ schwerer Herzerkrankung gepflegt hatte. 
Sie war körperlich und seelisch ganz herunter¬ 
gekommen, hatte die immer geklagten Beschwer¬ 
den des Kindes so mitempfunden, daß sie selbst 
nach Gesundung des Kindes mit diesem erkrankte: 
Herzklopfen, Stechen in der Herzgegend, Mü¬ 
digkeit, Schlaflosigkeit, auf denen dann 1914 erst¬ 
malig gehabte Darmerscheinungen, Verstopfung, 
Blutbeimengungen im Stuhl, Appetitlosigkeit 
auf pfropften. (Schluß folgt im nächsten Heft.) 





"21‘6 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Juni 


Aspochin, eine neue Salicylchininyerbindung. 

Von Dr. Felix Mendel^ Essen (Ruhr). 


■Es ist das große Verdienst Bürgis, 
als Erster die hervorragende Bedeutung 
der Arzneimittelsynthesen für die 
Therapie erkannt und ihre praktische 
Handhabung durch die Formulierung eines 
allgemein gültigen Gesetzes aus der ein¬ 
fachen Empirie heraus auf eine wissen¬ 
schaftliche Basis gestellt zu haben. Der 
vou Bürgi aufgestellte Lehrsatz, daß 
gleichgerichtete Arzneimittel bei Kombi¬ 
nation ihre Wirkung addieren, Medika¬ 
mente hingegen mit verschiedenen An¬ 
griffspunkten ihre Wirkung über die Ad¬ 
dition hinaus potenzieren, hat nicht nur 
dem Praktiker den Weg gewiesen, aus 
seinen eigenen Erfahrungen heraus Medi¬ 
kamente -erfolgreich zu kombinieren, son¬ 
dern vor allem auch die pharmazeutische 
Industrie zur Herstellung einer großen 
Reihe von Arzneimittelkombinationen an¬ 
geregt, in denen der Synergismus ihrer 
Einzelbestandteile therapeutisch ausge¬ 
nutzt wird. Bei dieser praktisch frucht¬ 
bringenden wissenschaftlichen Erkenntnis 
•erschien es mir besonders interessant, eine 
Arzneikomposition als Erster klinisch er¬ 
proben zu dürfen, welche von dem be¬ 
kannten Erfinder des Thermitverfahrens, 
Professor Dt. Hans Goldschmidt zuerst 
dargestellt wurde, und, obwohl sie als 
besonders naheliegend bezeichnet werden 
muß, merkwürdigerweise in der Phar¬ 
mazie, wenigstens in brauchbarer und 
wirksamer Form, bisher keine Anwendung 
gefunden hat. 

Es handelt sich um. eine chemische 
Verbindung der Acetylsalicylsäure 
und des Chinin, also um eine Kom¬ 
bination zweier unserer wirksamsten und 
gebräuchlichsten Heilmittel,, die neben 
ihren verschiedenartig gerichteten speci- 
fischen Eigenschaften auch eine Reihe 
anscheinend gleichgerichteter Wir¬ 
kungsfolgen besitzen, die aber pharma¬ 
kologisch auf abweichende Angriffspunkte 
zurückgeführt werden müssen. Ihr bisher 
noch nicht erforschter Synergismus ver¬ 
sprach von vornherein besonders inter¬ 
essante und für die Praxis brauchbare 
Resultate. 

Verbindungen zwischen der ein¬ 
fachen Salicylsäure und Chinin bestan¬ 
den bereits, aber infolge des hohen Mole¬ 
kulargewichts des Chinin charakterisierten 
sich die betreffenden Körper in der 
Hauptwirkung als Chininpräparate, in 
denen die Salicylwirkung nur ganz unter¬ 


geordnet oder überhaupt nicht zum Aus¬ 
druck kam. So weist das Salochinin 
die einzige in der Therapie bekannt ge¬ 
wordene Salicylchininverbindung bei 
72,5 %Chinin nur 26,5' % Salicylsäure- 
rest auf und besitzt, auch infolge seiner 
schweren Resorbierbarkeit, nur eine 
schwache Chinin- und gar keine Salicyl¬ 
wirkung, An dem gleichen Fehler' der 
überragenden Chininwirkung leidet auch 
das Chineonal, eine Verbindung von 
Chinin und Diätylbarbitursäure, das fast 
70 % Chinin und nur 30 % der schlaf¬ 
machenden Säure enthält. 

Die veresterungsfähige OH-Gruppe 
des Chinin einerseits und der Alkaloid¬ 
charakter des Chinin andererseits bieten 
aber die Möglichkeit,, dem Chininkern 
zwei Acetylsal.icylsäurereste anzu¬ 
gliedern, ein Umstand, Welcher bisher 
bei der Herstellung von Kombinations- 
-produkten nicht berücksichtigt wurde. 
Unser Kombinationsprodukt von Chinin 
und , Acetylsalicylsäure, vom Erfinder 
Aspochin genannt, das diese beiden 
Möglichkeiten ausnutzt, enthält mehr als 
die Hälfte (51,6 %) Acetylsalicylsäure und 
weist einen Chininrest von fast gleicher 
Höhe (48,4 %) auf, also einen für die 
therapeutische Wirksamkeit beider. Kom¬ 
ponenten rnöglichst günstige Zusammen¬ 
setzung. 

Die technisch nicht einfache Dar¬ 
stellung des Aspochin, die in der zu 
Ehren von Hans Goldschmidt heraus¬ 
gegebenen Festschrift 1) von Oskar 
Neuß eingehend geschildert wird, inter¬ 
essiert mehr den Chemiker als den Arzt. 
Chemisch ist das Aspochin das acetyl- 
salicylsaure Salz des Acetylsalicylsäure 
Chininesters. Es stellt ein weißes kristal¬ 
linisches Pulver dar mit einem Schmelz¬ 
punkte von 162®. Es ist leicht löslich 
in Chloroform und Alkohol, löslich in 
Äther, aber schwer löslich in Wasser 
und von bitterem Geschmack. 

Nach der Zusammensetzung des Mit¬ 
tels war a priori eine stark fieberherab- 
setzende Wirkung bei den verschieden¬ 
artigsten Infektionskrankheiten von ihm 
zu erwarten, insbesondere bei solchen, die 
sonst auf Aspirin oder Chinin mit starkem 
Fieberabfall reagieren, wie Angina, Grip- 


Beiträge zur Metallurgie und andere Ar¬ 
beiten auf chemischem Gebiete. Herausgegeben 
V. O. Neuß. Verl. Th. Steinkopp, Dresden u. Lpz. 
1921. 



Juni 


Die Therapie der 


pe, Pneumonie. Wider Erwarten ver¬ 
sagte das Mittel bei allen diesen fieber¬ 
haften Erkrankungen entweder vollstän¬ 
dig oder seine antifebrile Wirkung war 
wenigstens in den von uns angewandten 
Dosen so gering, daß irgend ein Vorzug vor 
der Darreichung der einzelnen Kompo¬ 
nenten und den übrigen bisher, bekannten 
Fiebermitteln nicht konstatiert werden 
konnte. Es wurden deswegen weitere 
Versuche, das Mittel als ein besonders 
wirksames Antifebrile zu erproben, bald 
aufgegeben. Damit war die Erwartung 
des Erfinders, im Aspochin ein Mittel 
gegen Grippe, sei es specifischer oder auch 
nur palliativer Wirkung gefunden zu 
haben, hinfällig geworden. 

Auch beim akuten fieberhaften Ge¬ 
lenkrheumatismus war eher ein Ein¬ 
fluß aüf die Gelenkschmerzen als auf den 
Fieberverlauf zu konstatieren. Jeden¬ 
falls leistete bei dieser Erkrankungsform 
das-Aspirin in genügender Dosis verab¬ 
reicht mehr als das Kombinations¬ 
produkt. 

Bei der chronischen Form des Ge¬ 
lenkrheumatismus, auch bei den aku¬ 
ten Schmerzattacken der Arthritis de¬ 
form ans gelang es dagegen in mehreren 
Fällen, mit einem Gramm Aspochin, des 
Abends gereicht, dem Patienten eine 
ruhige schmerzfreie Nacht zu verschaffen, 
ohne daß ein Einfluß auf die Gelenk¬ 
schwellungen zu konstatieren war. Der 
Erfolg muß also mehr der analgesie- 
renden als der antirheumatischen Wir¬ 
kung des Mittels zugeschrieben werden. 

Die hervorragend schmerzlindern¬ 
de Wirkung, die der Acetylsalicylsäure 
in weit höherem Maße als den einfachen 
Salicylaten zukommt, und welche auch 
dem Chinin eigentümlich ist, mußte 
Veranlassung geben, gerade bei den¬ 
jenigen schmerzhaften Erkrankungen 
das Kombinationsprodukt der beiden 
Pharmaka zu versuchen, bei denen ihre 
Einzelbestandteile sich bereits bewährt 
haben, zumal gerade hier ein ausge¬ 
sprochener Synergismus der den beiden 
Mitteln eigenen zentralanalgetischen 
Wirkung zu erwarten war. 

Bei Neuralgie des Trigeminus 
und einzelner Äste desselben, wie sie nicht 
selten im Gefolge der Grippe und anderer 
Infektionskrankheiten auftreten, erwies 
das Aspochin schon in Einzeldosen von 
0,5 eine schnelle und sichere Wirkung, 
selbst in solchen Fällen, in denen Migrä- 
nin, Pyramiden und ähnliche Mittel 


Gegenwart 1921. 217 


keinen oder doch keinen so ausgesproche¬ 
nen und sicheren Erfolg gezeitigt hatten. 

Hervorragend bewährte sich das 
Mittel bei Migräne, besonders in solchen. 
Fällen, in denen Flimmerskotom, He¬ 
mianopsie, Blässe des Gesichts und andere. 
Symptome dem Auftreten des Kopf¬ 
schmerzes vorangehen und auf einen Ge¬ 
fäßkrampf als Ursache des Leidens hin- 
weisen. Wenigstens bei diesen sogenann¬ 
ten angiospastischen, sympathiko- 
tonischen Migräneformen kann man 
von einer gewissermaßen specifischea 
Wirkung des^ Aspochin sprechen, denn 
der überraschend prompte Erfolg des 
Mittels bei den einzelnen Anfällen ist in 
der Hauptsache seiner gefäßerweiternd 
den Wirkung zuzuschreiben, welche so¬ 
wohl die Acetylsalicylsäure als auch, wie 
neuerdings LatzeH) nachgewiesen, das. 
Chinin in ausgiebigsten Maße besitzt. 
Eine Dosis, besonders gleich in der Aura 
oder bei Beginn des Anfalles genommen^ 
genügte • meist schon, um in. kürzerer 
Zeit, als es andere Mittel vermögen, ein 
Abklingen des Schmerzes und seiner Be¬ 
gleiterscheinungen zu bewirken. 

Auch bei den verschiedensten Arten 
von Cephalalgie, mochte sie nun auf 
Chlorose, Neurasthenie, Hysterie zurück- 
. zuführen sein, oder als sogenannter habi-’ 
tueller Kopfschmerz aufgefaßt werden, 
erwies sich das Aspochin als vorzüg¬ 
liches Palliativmittel. Auch in zwei 
Fällen von syphilitischem Kopf¬ 
schmerz im 2. Stadium war es yon über¬ 
raschend schneller Wirkung, als Jod¬ 
kalium und Quecksilberinjektionen selbst 
nach mehreren Tagen noch keine Besse¬ 
rung gebracht hatten, so daß es in solchen 
Fällen zur Linderung der nächtlichen 
Exacerbationen direkt empfohlen werden 
muß. 

Die ausgesprochen sedative Wir¬ 
kung des Aspochin, die sich besonders bei 
' den Neuralgien konstatieren ließ und 
seine prompte. Einwirkung auf Hemikra- 
nie mußte einen Versuch auch bei An¬ 
fällen von '«Bronchialasthma mit unse¬ 
rem Mittel rechtfertigen, besonders wenn 
wir mit den neueren Autoren diese Er¬ 
krankung als eine Vagusneuros^ mit 
tonischen Krampfzuständen der Bron¬ 
chialmuskeln auffassen. In drei typi¬ 
schen Fällen von Bronchialasthma, in 
denen die gebräuchlichen Mittel (Atropin, 
Asthmolysin, Jodkalium) versagt hatten, 

'^) Latzei, Die gefäßerweiternde Wirkung des 
Chinin. W. kl.'W. 1920, Nr. 3. 


28 




218 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Juni 


ließ schon nach einer Dosis Aspochin die 
quälende Atemnot nach, und nach zwei 
weiteren im Laufe des Tages verabreichten 
Dosen war der Anfall in der Hauptsache 
überwunden. Da aber die bekannte 
psychische Labilität der meisten 
Asthmatiker die Beurteilung des Einzel¬ 
erfolges sehr erschwert, so genügt die 
geringe Anzahl unserer Fälle natürlich 
nicht, um ein allgemein gültiges Urteil 
über die asthmolytische- Wirkung des 
Aspochin zu fällen, sondern weitere Be¬ 
obachtungen müssen erst ergeben, wie 
weit die suggestive Wirkung des „neuen 
Mittels“ oder die direkte Herabstim¬ 
mung des Vagotonus durch das Aspo¬ 
chin für die Wirkung in Anrechnung 
kommt. Auffallend war besonders der 
Erfolg bei einem vierzehnjährigen Mäd¬ 
chen, das seit Jahren an schweren Asthma¬ 
anfällen litt, die, wenn sie eintraten, eine 
mehrere Nächte anhaltende schwerste 
Atemnot hervorriefen. Zum ersten Male 
wurde durch unsere Medikation, der Anfall 
so gemildert, daß die Patientin schon in 
der ersten Nacht das Bett nicht zu ver¬ 
lassen brauchte. 

Aspirin wie Chinin haben bekannter 
Weise eine Einwirkung auf den Uterus. 
Aspirin wird schon seit langem zur 
Schmerzlinderung der Wehen der Wöch¬ 
nerinnen empfohlen. Es ist wohl auch, 
das gebräuchlichste Mittel bei den ver¬ 
schiedensten Arten der Dysmenorrhoe. 

Seit alters her kennt man die wehen¬ 
fördernde Wirkung des Chinin, das 
zu diesem Zwecke besonders in der 
neuesten Zeit sowohl intravenös, intra¬ 
muskulär aber auch enteral Verabreicht 
wird. Nach einer neuesten Veröffent¬ 
lichung aus der Breslauer Hebammen- 
lehranstalt^) übertraf sogar die ein¬ 
fache Darreichung des Chinin per os 
die beiden anderen komplizierteren An¬ 
wendungsmethoden und ist in ihrer 
Wirkung der subcutanen Injektion von 
Hypophysenpräparaten gleichzustellen. 
Dabei hat das Chinin vor dem Sekale und 
den Hydrastispräparaten dell Vorzug, 
niemals tetanische Kontraktion 
des Uterus hervorzurufen. 

Auch Salipyrin, ein in seiner Zu¬ 
sammensetzung dem Aspochin ähnliches 
Kombinationsprodukt, soll Gebärmutter¬ 
blutungen, soweit sie mit der Menstrua¬ 
tion in Zusammenhang stehen, nach 
Stärke und Dauer günstig beeinflussen. 

3) Muschallik, Mschr. f. Geburtsh., Heft 6, 
Dezember 1920, 


Außerdem soll es schmerzstillend bei 
gleichzeitiger Dysmenorrhoe . wirken, 
Wenn aber eine Kombination eines ein¬ 
fachen Salicylats mit Antipyrin schon 
diese Wirkung ausübt, so muß min¬ 
destens ein gleicher, wenn nicht gar ein 
stärkerer therapeutischer Effekt von 
einem Kombinationsprodukt aus Aspirin 
und Chinin, dem Aspochin, zu erwarten 
sein, da das Aspirin stärkere analgetische 
Wirkung besitzt, als das einfache Salicy 
lat und Chinin in seiner Wirkung, 
schmerzlose Uteruscontractionen hervor¬ 
zurufen, gerade in neuerer Zeit sich be¬ 
sonders bewährt hat und sicher dem 
Antipyrin nach dieser Richtung hin an 
Wirksamkeit überlegen ist. 

Unsere zahlreichen praktischen Er¬ 
fahrungen haben die Richtigkeit dieser 
theoretischen Überlegung bestätigt, was 
ich aus einer großen Reihe von Beob¬ 
achtungen durch einige besonders präg¬ 
nante Krankengeschichten beweisen 
möchte. 

Fall eins: Einundzwanzigjährige Frau, seit 
einem Jahre verheiratet. O para, Menses alle drei 
Wochen mit unerträglichen, meist zwei Tage an¬ 
haltenden krampfartigen Schmerzen, die zur Bett¬ 
ruhe zwingen und bis fünf Tage anhaltenden 
starken Blutungen. Status: Besonders nach 
den Menses sehr blaß und elend aussehende Frau 
ohne sonstige Besonderheiten. Uterus und seine 
Anhänge normal. Therapie: Sofort bei Be¬ 
ginn der Menses Aspochin dreimal täglich 0,5. 
Die Menses verlaufen schmerzlos, sind schon nach 
drei Tagen beendet, ohne wie bisher den Orga¬ 
nismus zu schwächen. Derselbe Verlauf bei der 
nächsten Periode. 

Zweiter Fall: Zweiundvierzigjährige Frau, III 
para, sehr anämisch, mit vergrößertem, sich prall 
anfühlendem, mäßig retroflektiertem' Uterus. Die 
letzten beiden Menses trotz Hydrastis und Secale 
so stark und anhaltend, daß ein Frauenarzt wegen 
der das Leben bedrohenden Blutung zur Exstir¬ 
pation des Uterus riet. Bei Beginn der nächsten 
Periode dreimal täglich 0,5 Aspochin drei Tage 
lang. Darauf normaler Blutverlust von drei¬ 
tägiger Dauer. Derselbe Erfolg bei der nächsten 
Periode. Seitdem ständig normale Menses, auch 
ohne Aspochin. 

Dritter Fall: Vierzigjährige Frau, sehr leicht 
erregbar. Alle vierzehn Tage starke Blutungen, 
nachher großes Schwächegefühl und Schlaflosig¬ 
keit. Status: Uterus etwas vergrößert retro- 
vertiert, Erosion am Muttermund; eitriger Fluor. 
Therapie : Neben Lokalbehandlung der Endome¬ 
tritis chronica sofort bei Beginn der nächsten Pe¬ 
riode Aspochin. Blutverlust und Dauer der Menses 
auf die Hälfte reduziert, allmählich Besserung der 
Lokalerkrankung und Nachlassen der Blutungen, 
die aber am schwächsten sind, wenn noch weiter 
Aspochin genommen wird. 

Vierter Fall: Blasses schlecht genährtes, 
sechsunddreißig Jahre altes Fräulein, aber im 
übrigen gesund, klagt über heftige Schmerzen 
während der Menses und meistens in der Mitte 
zwischen zwei Menstruationen. Organbefund: 
negativ, wird aber schon seit zwei Monaten wegen 
angeblicher Oophoritis mit Diathermie behandelt. 




Die Therapie der Gegenwart 1921 


219 


Juni 


f)urch Aspochin Beseitigung der Schmerzen und 
.allmähliche Besserung des Allgemeinbefindens. 

Fünfter Fall: Zweiunddreißigjähriges Fräu- 
deih hat bei jeder Menstruation rasende Schmerzen 
‘.mit heftigen! Erbrechen und nervösen Herzstö- 
vrungen, die eine Morphiuminjektion durch den 
j\rzt schon seit Jahren erfordern. Dabei starker 
Blutverlust. Organbefund: abgesehen von einer 
Heichten Retroflexio negativ. Aspochin sofort bei 
Einsetzen der Schmerzen gegeben, beseitigt diese, 
rso daß keine Morphiuminjektion nötig wird. Es 
ikommt auch nicht zum Erbrechen und den an- 
'deren Komplikationen von seiten des Herzens. 
Die Blutungen bleiben hingegen so stark 
wie bisher. 

Sechster Fall: Zweiunddreißigjährige Frau, 
III para, hat vor sechs Wochen abortiert. Wegen 
anhaltender Blutung Curettement vor drei Wochen, 
•trotzdem noch ständiger Abgang von Blutgerinsel 
.unter wehenartigen Schmerzen. Therapie: Bett- 
iruhe, Sandsack auf den Leib und Aspochin. Auf- 
.^ hören der Beschwerden nach drei Tagen. 

Siebenter Fall: Achtunddreißigjährige Frau, 
II para, menstruiert regelmäßig und ziemlich 
iStark, klagt über heftige neuralgische Schmerzen 
dm Kopfe und beiden Beinen während der Periode, 
»die oft mehrtägige Bettruhe notwendig machen. 
Pyramiden, Salipyrin, Aspirin ohne Erfolg. Nach 
.Aspochin völliges Nachlassen der nervösen Be¬ 
nsch werden. 

Die Zahl dieser frappanten Heil- 
-erfolge besonders bei der Dysmenorrhoe, 
.bei der das Aspochin fast nie versagte, 
.‘könnte beliebig vermehrt werden, wäh- 
irend die Wirkung auf die Blutung in 
•einzelnen Fällen eine überraschende ist, 
Jn anderen dagegen weniger wirksam 
;.zutage tritt, wenn auch eine mäßige 
Herabsetzung des Blutverlustes fast stets 
.zu konstatieren war. Diese Unsicher- 
JJieit des Erfolges bei Blutungen 
ist selbstverständlich auf die verschiede¬ 
nen Grundursachen der Menorrhagie zu¬ 
rückzuführen. Eine sichere Wirkung ist 
"wohl weniger in den Fällen zu erwarten, 
^-die auf Störungen der Ovarialfunktion 
;zu beziehen sind, als in den Wirklichen 
Metropathien, den organischen oder 
funktionellen Störungen der Uterus¬ 
muskulatur oder der Mucosa uteri. 

Durch die peristaltischen Contrac- 
tionen, die das Chinin, was sowohl physio- 
äogisch als auch klinisch festgestellt ist, 
.auch am nicht graviden Uterus hervor¬ 
ruft, werden die Gefäße verengert, die 
menstruelle Fluxion herabgesetzt und die 
congestiven Zustände beseitigt und damit 
•die eigentliche Ursache der Menorrhagie“ 
;in solchen Fällen behoben, wo sie in 
‘Störungen der Contractilität der Uterus¬ 
muskulatur oder in einer Hyperplasie 
der Uterusschleimhaut begründet sind. 

Ich bin überzeugt, daß mit diesen Dar- 
ilegungen, die das Resultat von mehr als 
Huindert Einzelbeobachtungen darstellend 


der Indikationskreis des Aspochin noch 
lange nicht geschlossen ist. Aber unsere 
zahlreichen Erfahrungen auf den ver¬ 
schiedensten Gebieten der praktischen 
Medizin haben doch schon den Beweis er¬ 
bracht, daß das neue Kombinationspro- 
dukt von Acetylsalicylsäure und Chinin, 
das Aspochin, bei manchen Erkrankun¬ 
gen überraschende Wirkungen zeitigt, die, 
wenn sie auch meist nur symptomatischer 
Natur sind, doch diesem Mittel einen 
dauernden Platz in unserem Arzriei- 
schatze sichern. Vor allem ist neben 
seiner centralanalgetischen Wirkung 
auch die sedative Beeinflussung des 
vegetativen Nervensystems hervor¬ 
zuheben, die sich bei Hemicranie, Asthma 
und Dysmenorrhoe in überraschender 
Weise geltend macht. Wegen der gleich¬ 
zeitigen menostatischen Wirkung ver¬ 
dient es vor anderen ähnlichen Medika¬ 
menten besonders in solchen Fällen den 
Vorzug, in denen Menorrhagi-e und 
Dysmenorrhoe, wie es bei Jugend¬ 
lichen sehr häufig der Fall ist, kom¬ 
biniert auftreten und das um so eher, 
als es' bei richtiger Dosierung und An¬ 
wendung frei ist von irgendwelchen 
störenden Nebenwirkungen. 

Die Darreichung des Aspochin ge¬ 
schieht am besten in Tabletten oder auch 
in Kapseln. Die Dosis für Erwachsene 
muß natürlich den vorliegenden Indi¬ 
kationen angepaßt werden. In den meisten 
Fällen genügt aber 0,5 pro dosi, und über 
2,0 pro die braucht in keinem Falle 
hinausgegangen zu Werden. Bei Kindern 
und schwachen Personen genügen selbst¬ 
verständlich entsprechend kleinere Dosen. 

über das Verhalten des Aspochin im Magen¬ 
darmkanal sind in dem Privatlaboratorium von 
Hans Goldschmidt eine Reihe von Versuchen 
angestellt worden, die zu folgendem Ergebnis ge¬ 
führt haben: 

Die Salzsäure des Magens spaltet mit größter 
Wahrscheinlichkeit jenes Molekül Aspirin, welches 
in Salzbindung mit dem Chinin steht, schon im 
Magen ab, derart, daß die Salzsäure des Magens 
an Stelle dieses Aspirinmoleküls tritt und nun 
also neben der freien Acetylsalicylsäure, die erst 
im Darm gespalten und resorbiert wird, ein salz¬ 
saurer Aspirinchininester im Magen verbleibt. 
Das zweite Molekül Aspirin, welches an den Ester 
gebunden und viel fester mit dem Chininkern ver¬ 
ankert ist, wird den Magen unverändert passieren 
und erst durch die alkalischen Darrpsäfte in seine 
Componenten zerlegt respektive verseift werden. 

Wir können also annehmen, daß so¬ 
wohl das abgespaltene Aspirin wie die 
aus dem Ester in alkalischer Flüssigkeit 
sich trennenden Komponenten, Chinin 
und Aspirin erst vom Darm aus zur 
Wirkung gelangen. Diese verlangsamte 

28* 




220 


Die Therapie der Gegenwart 1021 


Juni} 


Resorption ist als die Ursache der. 
schwachen antifebrilen Wirkung unseres 
Mittels anzusehen. Sie hat aber den 
großen Vorteil, daß das Aspochin nicht 
dre unangenehmen Nebenwirkungen auf 
den Magendarmkanal besitzt, die dem 
Chinin eigentümlich sind und in keinem 
einzigen Falle seiner Darreichung Symp¬ 
tome von Schädigungen des Verdauungs- 
contractus, wie wir sie so oft beim Chinin 
erleben, im Gefolge hat. Wir müssen also 
annehmen, daß der Aspirinchininester 
gerade wegen seiner Schwerlöslichkeit im 
Magen, obwohl er wie das Chinin basische 
Eigenschaften besitzt, doch eine weit 
schwächere Reizwirkung als dieses auf 
die Magenschleimhaut ausübt. Auch die 
übrigen störenden Nebenwirkungen auf 
das Nervensystem, wie Ohrensausen, 
Schwerhörigkeit, Schwindelgefühl, Er¬ 
brechen, welche so oft die Chininmedika¬ 
tion erschweren, fehlen bei der Aspochin- 
darreichung. Nur vereinzelt klagten be¬ 
sonders empfindliche Patientinnen nach 


größeren Dosen über Ohrensausen,welches 
wohl, teils dem Aspirin,' zum anderen 
Teile dem Chinin zugeschrieben werden 
muß. Diese langsame Resorption des 
Aspochin, die durch die eigenartige Dop¬ 
pelbindung des Chinin an die Acetyl¬ 
salicylsäure bedingt ist, verhütet ein zu 
schnelles Eindringen des Chinin in die 
Blutbahn und damit seine störender^' 
Nebenwirkungen. Schon diese Eigen¬ 
schaft des Aspochin, die es. vor allen bis¬ 
her bekannten Chininpräparaten aus¬ 
zeichnet, macht es zu einer für die Praxis 
besonders brauchbaren Chininsalicyl- 
Verbindung, die sich, bei allgemein seda¬ 
tiver Wirkung, vor allem als als ein 
Specificum gegen. Menstruations¬ 
beschwerden der verschiedensten Art 
erwiesen hat^). 

Aspochin wird hergestein in dem Labora¬ 
torium von Prof. Dr. Hans Goldschmidt, Char¬ 
lottenburg 5, und ist zu beziehen von der Han¬ 
delsgesellschaft Deutscher Apotheker m. b. H.,. 
Berlin NW 21. 


Repetitorium der chirurgischen Therapie. 

Von M. Borchardt. 

Die Behandlung frischer Verletzungen. 


Von M. Borchardt 

Blutstillung 

und Behandlung des Blutverlustes. 

A. Blutstillung. 

Die erste Stillung von traumatischen 
Blutungen (die sogenannte provisorische 
Blutstillung) ist eine Aufgabe, die ebenso 
häufig dem Laien wie dem Arzt zufällt. 
Sie erfordert Geistesgegenwart und die 
Kenntnis einer Reihe von Handgriffen, 
die bei aller Primitivität, schnell und sach¬ 
gemäß angewendet, den Verblutungstod 
abwenden können. Bei schwersten trau¬ 
matischen Blutungen kann, wenn über¬ 
haupt noch Hilfe möglich ist, nur die au¬ 
genblickliche digitale Kompression den 
tödlichen Ausgang durch Verblutung ver¬ 
hindern. Blutet es aus einer Extremitä¬ 
tenwunde in rythmischem Strahle und 
zeigt sich, daß ein größeres Arterienrohr 
verletzt ist, so komprimieren wir sofort 
den Hauptarterienstamm oberhalb der 
blutenden Steile am Orte der Wahl. 
Typische Stellen für die wirksame Kon> 
pression sind an der unteren Extremität 
die Gegend des Hunterschen Kanals 
an der Innenseite des Oberschenkels, 
noch besser der horizontale Schambein¬ 
ast, an der oberen Extremität der sulcus 


und S. Ostrowski. (Fortsetzung) 

bicipitalus internus, Axilla und noch, 
weiter pjoximal die erste Rippe. Nur 
wenn der Sitz der Blutung so weit rumpf- 
wärts gelegen ist, daß eine weiter proxi¬ 
mal stattfindende digitale Kompression 
technisch unmöglich ist, wird die direkte- 
Kompression in der Wunde das einzige 
Rettungsmittel sein. Bei Blutungen im 
Bereich der unteren Rümpfhälfte kann 
immerhin noch die Kompression der 
Bauchaorta durch die mit größter Energie, 
in Nabelhöhe in den Leib gestemmte^ 
Faust Rettung bringen. Blutungen aus 
Venenwunden sind durch Kompression 
oberhalb und unterhalb der Verletzungs¬ 
stelle im Bereich der Extremitäten relativ 
leicht zu stillen. An der unteren Extre¬ 
mität genügt bei den so häufigen und 
bedrohlich aussehenden Blutungen aus 
geplatzten Varixknoten bisweilen schon 
die steile Hochlagerung des Beins zum 
Sistieren der Blutung. Anders bei Ver¬ 
letzungen der großen Halsvenen. Hier' 
können Blutungen häufig schwerer zu 
beherrschen sein als bei arteriellen Ver¬ 
letzungen. Handelt es sich um offene Ver¬ 
letzungen, so ist manchmal die einzige 
Möglichkeit, der Blutung Herr zu werden, 
die, daß man kurzerhand mit dem in die-- 



Die Therapie der Gegenwart 1921 • 


22f 


Juni' 


Wunde eingeführten Finger das Loch in 
der Vene verschließt. Damit ist zugleich 
auch' eine Hauptgefahr bei Venenver¬ 
letzungen — die Luftembolie durch Luft¬ 
aspiration — beseitigt. 

Da die digitale Kompression anstren¬ 
gend ist und nur kurze Zeit mit Erfolg 
ausgeübt werden kann, so muß sie mög¬ 
lichst bald durch eine Umschnürung des 
Gliedes mittelst einer Binde oberhalb der 
blutenden Wunde ersetzt und gesichert 
werden. Im Notfall genügt ein aus den 
Kleidern des Verletzten gerissener Zeug¬ 
streifen oder eine mit einem Holzknebel 
zusammengedrehte Schnur. Der von Es¬ 
ki arch angegebene Hosenträger dürfte 
nur in den seltensten Fällen zur Verfügung 
stehen. Der Arzt verwendet am besten 
den elastischen Schlauch nach Esmarch 
oder eine 5—6 cm breite kräftige, aus 
Gummi oder aus mit Gummi durchwirk- 
. tem Stoff bestehende Binde. Beide werden 
bei senkrecht eleviertem Gliede angelegt. 
Blutsparung durch Auswicklung des in 
der Extremität vorhandenen Blutes in zen¬ 
tripetaler Richtung vor der Abschnürung 
mit der elastischen Binde wird bei starker 
arterieller Blutung wegen der Erfordernis 
des schnellen Handelns zu unterlassen 
sein. Die erste Tour, allenfalls noch die 
zweite besorgen die eigentliche Abschnü¬ 
rung, sie müssen deshalb unter stärkster 
Ausnutzung der elastischen Kraft der 
Binde gewickelt werden. Die übrigen 
Touren wirken nur unterstützend. Die 
letzte dient unter schlaufenartiger Aus¬ 
ziehung zum Durchstecken und zur Be¬ 
festigung des noch nicht abgerollten 
Bindenteiles. Die Muskulatur muß beim 
Anlegen der Binde nach Möglichkeit ent¬ 
spannt sein. Blaß-livide Verfärbung, des 
distalen Gliedabschnittes, weißliche Ver¬ 
färbung der Finger oder Zehen zeigen den 
Eintritt der Blutleere an. Starke Venen¬ 
füllung, tiefblaue bis schwarzblaue Ver¬ 
färbung der Haut unter Zunahme des 
Volumens der Extremität bedeutet nicht 
genügende Arterienkompression bei völ¬ 
ligem Abschluß des venösen Rückstrom¬ 
weges, also Stauung und erfordert Ab¬ 
nahme der Binde und Wiederholung der 
Abschnürung. Eine leichte Blaufärbung 
spricht nicht gegen die Vollkommenheit 
der arteriellen Blutunterbrechung, sie ist 
bedingt durch das stagnierende venöse 
Restblut, wenn die Extremität nicht aus¬ 
gestrichen oder ausgewickelt war. Am 
Arm hat die elastische Umschnürung 
stets oberhalb der Umschlagstelle des 
N. radialis zu erfolgen, um diesen von der 


folgenschweren Drucklähmung zu bewah¬ 
ren, vermeidbar ist sie trotzdem nicht 
immer. Für die oberen Extremitäten ver¬ 
wenden wir am besten die elastische Bin¬ 
de, .für die unteren den stärkerer Bean¬ 
spruchung ausgesetzten Schlauch, neuer¬ 
dings lieber als den Esmarchschen' 
Hohlschlauch den dauerhafteren Voll¬ 
gummischlauch. Die Intensität der Um¬ 
schnürung soll nicht stärker sein, als zur 
Aufhebung des Blutstromes eben not¬ 
wendig ist. Sie wird bei einem muskel¬ 
schwachen Individuum geringer sein müs¬ 
sen als bei einem muskelstarken. Im all¬ 
gemeinen nimmt man an, daß die Dauer 
der Umschnürung ohne Schädigung der' 
Gewebe zweieinhalb bis drei Stunden be¬ 
tragen kann. 

Bei dem empfindlichen Mangel an 
Gummi, der leichten Zerreiblichkeit und 
häufigen Ergänzungsnotwendigkeit der’ 
Gummibinden und Schläuche ist das von 
Sehrt angegebene Kompressarium ais¬ 
willkommener Ersatz zu betrachten, nach 
mancher Richtung sogar als eine Verbes¬ 
serung. Der Kompressor besteht aus 
zwei ein Oval bildenden gebogenen Bran¬ 
chen, die an der Spitze leicht nach außen' 
abgebogen sind und durch eine Schrau¬ 
benvorrichtung gespreizt und genähert 
werden können. Das Instrument wird 
über ein mehrfach zusammengefaltetes 
Handtuch so um die Extremität gelegt, 
daß die eine Branche sich stets auf der 
Seite der großen Gefäße befindet. Durch 
Andrehen der Schraube werden die Bran¬ 
chen geschlossen und können je nach Be¬ 
darf fest aneinander gebracht oder schnell 
wieder gelockert werden. (In unserer 
Klinik verwenden wir einen Leitring, der 
die Spitzen der Branchen umfaßt und 
ein Vorbeischeren derselben verhindert.) 
Auch für die Kompression der Bauchaorta 
ist das Instrument geeignet und ent¬ 
sprechend abgeändert. Das Aortenkom- 
pressarium trägt an der Innenfläche des 
den Bauchdecken anliegenden Arms eine 
Metallpelotte, die den Druck auf die^ 
Aorta auszuüben hat. 

Der Anwendungsbereich der elastischen 
Blutleerbinde und der Sehrtschen Klam¬ 
mer reicht am Arm bis zur Axilla, am- 
Bein bis zur Leistenbeuge. Hier muß ihr 
Sitz in besonderer Weise gesichert werden.. 
An der oberen Extremität helfen wir uns« 
gegen die Gefahr des Abrutschens der 
Binde dadurch, daß wir sie in Form vom 
Achtertouren, die sich auf der Schulter¬ 
höhe kreuzen, anlegen oder sie durch zur 
gesunden Axilla hinziehende Bindenzügel 




222 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Juni 


^befestigen. Am Bein erzielen wir sicheren 
Sitz entweder gleichfalls durch Achter- 
iouren um das Becken mit Kreuzung an 
-der Hüfte oder mit Hilfe des Trendelen¬ 
bur gschen Spießes. Das etwa 40 cm 
lange stilettartige Instrument wird vom 
Trochanter major aus bis auf den Knochen 
vor diesem und hinter den großen Ge¬ 
mäßen vorbei ein- und dicht unterhalb des 
Dammes ausgestochen. iTber ihm wird 
;nun die blutleere Binde angelegt. Ein¬ 
facher und weniger brüsk ist das Ein- 
■■schlagen eines Nagels an der oberen Ex¬ 
tremität in das Tuberculum majus, an 
der unteren in den Trochanter major, um 
ein Abwärtsrutschen des abschnürenden 
Schlauches zu vermeiden. 

Ein souveränes Mittel zur Bekämpfung 
lebensbedrohlicher Blutungen aus den 
großen Gefäßstellen des Oberschenkels 
nahe dem Becken oder dem Becken selbst 
besitzen wir in der Momburgschen 
Blutleere. Nach dem Vorgang Mom- 
burgs wird zwischen Rippenbogen und 
Darmbeinkamm ein fingerdicker etwa 
-eineinhalb Meter langer starker Schlauch 
nnter festem Anziehen so um den Leib 
gelegt, daß eine richtige „Wespentaille“ 
resultiert. Ein Assistent kontrolliert wäh¬ 
nend des Anziehens des Schlauches den 
Femoralispuls. Im Augenblick seines Ver¬ 
schwindens ist die Aortenkompression 
gelungen. Neben den unleugbaren Vor¬ 
teilen des Verfahrens in Fällen höchster 
Not gebieten gewisse Gefahren, die es mit 
sich bringt (Beobachtung von Todesfällen) 
boch größte Vorsicht und seine Aufspa¬ 
rung im allgemeinen für die Notfälle. Die 
Gefahren bestehen erstens in einer Schä¬ 
digung der Herzfunktion durch die zu¬ 
nächst erfolgende Überlastung und nach 
Lösung der Blutleere entstehende plötz¬ 
liche Entlastung des Herzens, zweitens in 
der Möglichkeit einer direkten Schädigung 
der Aortenwand und des Darmes. (Es ist 
nach der Momburgschen Blutleere Blut¬ 
abgang aus dem Rectum beobachtet wor¬ 
den). Während der Narkose ist von Be¬ 
ginn der Blutleere an infolge der Ver¬ 
kleinerung des Blutkreislaufes durch die- 
rselbe die Dosierung des Narkoticums zu 
vermindern. Arteriosklerose, überhaupt 
degenerative Prozesse des Herzmuskels 
und der Gefäße, Erkrankungen der Nie¬ 
ren, bei deren Vorhandensein im allge¬ 
meinen die Momburgsche Blutleere 
nicht angewendet werden soll, können 
wir nur als relative Kontraindikationen 
gelten lassen, die wir in Fällen der Not 
doch vernachlässigen müssen. 


Zu erwähnen is't noch ein Handgriff, 
der sich bei der Abnahme der Blutleere 
empfiehlt. Läßt man dem durch den 
Mo m bürg-Schlauch gestauten Blute 
nach seiner Abnahme ungehemmten Zu¬ 
strom zu den unteren Extremitäten, so 
kann ein schwerer Herzcollaps die Folge 
der’momentanen Blutdrucksenkung sein. 
Man vermeidet dies, indem man die Ex¬ 
tremitäten vor der Abnahme des Bauch¬ 
schlauches an ihrer Wurzel umschnürt 
und diese Umschnürung erst einige Zeit 
nach Lösung des Momburg-Schlauches 
abnimmt. Der Schlauch kann zweck¬ 
mäßig durch das bereits beschriebene 
Aortenkompressarium nach Sehrt er-v 
setzt werden. Der Sehrtsche Aorten¬ 
kompressor hat den Vorteil, daß er durch 
geringste. Verminderung des Schrauben¬ 
zuges einen ganz allmählichen Ausgleich 
der künstlich geschaffenen Blutkreislauf¬ 
verkleinerung gestattet. 

Schwierigkeiten bereitet bisweilen die 
Versorgung blutender Knochengefäße, be¬ 
sonders, wenn sie sich in die sie beher¬ 
bergenden Knochenkanäle zurückgezogen 
haben. 

Gelingt es nicht, durch Verhämmern 
des die Knochenkanalmündung umge¬ 
benden Knochengewebes mit Hilfe von 
Hammer und einem stumpfen Meißel, 
eventuell eines eigens dazu konstruierten 
Kantenmeißels die Kanalmündung zu 
verschließen, so führt sicher das Eintrei¬ 
ben eines kleinen Elfenbeinstiftes, von 
dem man verschiedene Dicken vorrätig 
hält, zum Ziele. Stetige diffuse schwer 
stillbare Blutungen sehen wir häufig bei 
Amputationen aus der Markhöhle des 
Kochenstumpfes auftreten. Ein aus dem 
fortfallenden Knochen genommener Bol¬ 
zen schließt, in den Markraum fest ein¬ 
gekeilt, diesen dicht ab und verhindert 
zugleich die unerwünschte, zu lästigen 
Exostosen führende Knochenneubildung 
aus dem Mark. Die Zahnärzte stillen 
alveoläre Blutungen nach Zahnextrak¬ 
tionen durch Einpressen von Guttapercha 
oder sterilem Kork. Bei mehr diffusem 
Charakter der Knochenblutung, z. B. in 
ausgemeißelten Höhlen oder bei Trepa¬ 
nationen verstreicht man die Spongiosa¬ 
maschen am besten mit sterilisiertem 
Bienenwachs, oder fährt mit dem Glüh¬ 
eisen oder mit dem Thermokauter (Kugel¬ 
brenner) leicht über die blutenden Kno¬ 
chenwundfläche. Verzichtet man von 
vornherein auf einen vollständigen pri¬ 
mären Wundschluß, weil die Beherrschung 





Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


223 


<ler Blutung nicht vollkommen gelungen 
ist, so ist für die meisten Fälle eines der 
■sichersten und gebräuchlichsten Mittel 
<iie feste Jodoformgazetamponade. Über¬ 
zeugt man sich einige Tage später nach 
Entfernung der Gaze, daß die Blutung 
steht, so läßt sich durch die Sekundärnaht 
-oder durch- Zusammenziehen der Wund¬ 


ränder mit Heftpflaster noch unter Um¬ 
ständen eine Heilung per primam er¬ 
zielen. 

Als besonders bei Sinusverletzungen 
angegebenes Tamponadematerial wollen 
wir das zu einem Knäuel geballte und in 
die Sinuswunde eingepreßte Catgut er¬ 
wähnen. (Fortsetzung folgt im nächsten Heft.) 


Therapeutlscties aus Vereinen u. Kongressen. 

33. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin, 


Wiesbaden, 18. 

Bericht von 

Das zweite große Referat über den jetzigen 
Stand der Therapie des Diabetes wurde von 
Prof, von Noorden erstattet, den wesentlichen 
Inhalt desselben hat der Vortragende in dem 
.Aufsatz zusammengefaßt, der in diesem Heft 
-S. 202 veröffentlicht ist. 

Die Aussprache über dies Referat wurde auf 
Ersuchen des Vorstandes von einigen Forschern 
-eingeleitet, deren Arbeiten zum Fortschritt der 
Lehre vom Diabetes erheblich beigetragen haben. 
An erster Stelle sprach der Entdecker des Pan¬ 
kreasdiabetes Prof. Minkowski (Breslau) über 
das Neue und Alte in der Diabetestherapie. Er 
hob hervor, daß er sich trotz verschiedener 
theoretischer Auffassungen doch in bezug auf die 
Behandlung nicht allzuweit von dem Referenten 
-entferne. In den neuen praktischen Maßnahmen 
sieht er weniger eine Revolution, als vielmehr 
-eine folgerichtige Evolution, zum Teil allerdings 
auch die Überhebung alter Erkenntnisse. Be¬ 
kanntlich hat Naunyn nicht nur Einschränkung 
-der Kohlehydratkost, sondern auch Regelung der 
Eiweißzufuhr und Einschränkung des gesamten 
'Stoffumsatzes gefordert. In welcher Weise die 
Eiweißentziehung auf die Zuckerzersetzung ein¬ 
wirkt, ist noch unklar. Der Fortschritt der 
Therapie liegt darin, daß man in der Beschränkung 
der Eiweißzufuhr und des Gesamtkostmaßes viel 
weiter gehen kann, als man früher für möglich 
‘gehalten hat, und daß man durch längere Eiwei߬ 
beschränkung eine Hebung der Toleranz- für 
Kohlehydrate erzielt. Auch die Faltasche Mehl- 
■früchtekur ist neben Eiweißarmut durch Kohle¬ 
hydratbeschränkung charakterisiert, da sie nur 
•^twa ein Sechstel der zugeführten 2800 Kalorien 
durch Kohlehydrate deckt. Die Bezeichnung 
.„Kohlehydratkuren“ ist irreführend; unbe- 
;schränkte Kohlehydratzufuhr ist nach wie vorab- 
^ulehnen. Im übrigen muß man fes4;stellen, wie 
■weit man im Einzelfall mit der Einschränkung 
des Kostmaßes, des Eiweißes und der Fette gehen 
kann. Eine günstige Wirkung der Schonungs¬ 
therapie ist nur zu erwarten, wenn die Funktions- 
■störung nicht zu stark ist; bei vollkommen aus¬ 
geschaltetem Pankreas ist auch den neueren 
Methoden kein Erfolg beschieden. Das Haupt¬ 
gebiet der Kohlehydratkuren bilden die schweren 
Fälle mit Acidosis; in den mittleren Fällen ist 
öfterer Wechsel zwischen der alten Eiweißfett¬ 
diät und Faltascher Kost ratsam; für die 
leichteren Fälle, die die überwiegende Mehrzahl 
bilden, bleibt es bei der Einschränkung der 
Kohlehydrate bis zur Toleranzgrenze, unter Ver¬ 
meidung reichlicher Kost, aber jedenfalls unter 
Wahrung der körperlichen Leistungsfähigkeit; 
gelegentliche negative Nahrungsbilanzen sind 


21. April 1921. 

Q. Kletnperer. (Fortsetzung.) 

gestattet, können sogar nützlich wirken. So 
erklärt sich die gute Wirkung der Alienschen 
Hungerkuren, die übrigens in Naunyns Hunger¬ 
tagen ihren Vorläufer finden. Das besondere ist 
nur, daß Allen die Kur mit Hunger beginnt, 
sie längere Zeit fortsetzt und so langsam mit der 
Nahrungszufuhr ansteigt, daß das Wiederauf¬ 
treten der Glykosurie vermieden wird. Die 
Hungerkur wird bei täglicher Zufuhr von 50 bis 
100 g Cognak überraschend gut vertragen, sollte 
aber nur in schweren Fällen angewendet werden. 
Dabei müssen die Patienten absolut ruhen und 
sind zu beobachten, damit die Kur bei drohender 
Entkräftung rechtzeitig abgebrochen werden kann. 
Etwa in allen Fällen Hungerkuren anzuwenden 
wäre eine Übertreibung. Minkowski schließt 
mit der Feststellung, daß durch die* neueren Be¬ 
handlungsmethoden unsere alten und bewährten 
Grundsätze keineswegs erschüttert sind, daß keine 
der neueren Methoden etwas prinzipiell Neues 
bietet, daß aber in ihren technischen Einzelheiten 
manche Bereicherung unseres, therapeutischen 
Rüstzeuges enthalten ist; sie bieten namentlich 
der individualisierenden Behandlung einen 
größeren Spielraum. Eine schematische und mi߬ 
bräuchliche Anwendung der neuen Methoden 
könnte sicher mehr Unheil stiften, als es die über¬ 
triebene Kohlehydratentziehung jemals getan hat. 
Denn diese bietet eine Gefahr nur für die schweren 
Fälle mit großer Acidosis, die nicht so zahlreich 
sind wie die leichten Fälle, die durch übertriebene 
Kohlehydratzufuhr in schwere übergeführt oder 
durch Unterernährung geschädigt werden könnten. 

Hiernach sprach Falta (Wien) über seine 
sogenannte Mehlfrüchtekur. Er geht davon aus, 
daß der Zuckerwert einer Kost, d. h. die Menge 
des aus dieser Kost im Organismus entstehenden 
Zuckers ebenso von dem Eiweiß- wie von dem 
Kohlehydratgehalt derselben abhähgt. Aus 100 g 
Eiweiß entstehen nach Falta 80 g Zucker, also 
auf 1 g N 5 g D. Er faßt dies Verhältnis in die 
Formel ZW = 5 N -f K. Die Assimilationsgröße 
erhält man, wenn man die Menge des ausgeschie¬ 
denen Zuckers von dem Zuckerwert der zu¬ 
geführten Nahrung abzieht. Auch bei der Tole¬ 
ranzbestimmung muß der Eiweißgehalt berück¬ 
sichtigt werden; die Toleranz entspricht dem 
Zuckerwert derjenigen Kost, die ohne Zucker¬ 
ausscheidung vertragen wird. Eiweiß und Kohle¬ 
hydrate können nach dem in der Formel für ZW 
enthaltenen Schlüssel vertauscht werden; nur 
darf man unter das Eiweißminimum nicht herab¬ 
gehen. Die strenge Kost stellt sich nach Faltas 
Formel so dar: 26 N -f 20 Kh. ZW = 150. Die 
Mehlfrüchte (Amylaceenkost) so: 5 N -f 125 Kh. 
ZW = 150. Der Rest wird stets durch Fett ge- 



224 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Junt. 


deckt. Die Acidosis wird durch Eiweißgehalt 
gesteigert, durch Kohlehydrate herabgesetzt. 
Nahrungsfett übt auf die Acidosis bei niedriger 
Eiweißzufuhr keinen Einfluß; deswegen ist die 
Kalarienbeschränkung in solchen Fällen falsch. 
Da das Wesen der diätetischen Behandlung in 
der Schonung der Funktion der Zuckerverbren¬ 
nung liegt, so kann in Fällen hohen Assimilations¬ 
wertes eine vorwiegende Eiweißkost nicht schaden; 
doch ist das gelegentliche Angebot von Kohle¬ 
hydrat auch hier nützlich. Bei mittlerer Assi¬ 
milationsgrenze ist Eiweißnahrung erlaubt, doch 
durch Schontage (Gemüsekost) zu unterbrechen; 
bei sehr niedriger Assimilationsgrenze tritt die 
ketoplastische Wirkung des Eiweißes zu sehr her¬ 
vor, dazu sind längere Mehlfrüchtekuren, durch 
Schontage unterbrochen, zu verordnen, auch 
Hungertage sind dazwischen zu legen. Je größer 
die Acidosis, desto geringer soll die Eiweißzufuhr 
sein. Selbst die schwersten Fälle sind durch aus¬ 
schließliche Mehlfrüchtekost noch längere Zeit zu 
erhalten. Für die Beurteilung der Schwere eines 
Falles ist aber nicht nur die Reaktion auf die 
Kostordnung, sondern auch die natürliche Pro¬ 
gressivität entscheidend. Neben dem alimentären 
Faktor tritt wesentlich der nervöse hervor; es 
gibt auch Fälle von höchst geringer Progressivität 
(sogenannte gutartige Diabetes), die anscheinend 
vegetative Neurosen darstellen. Auch bei vascu- 
lärer Hypertonie findet sich harmlose Glykosurie, 
die übrigens durch Aderlässe zum Verschwinden 
gebracht werden kann. Falta schließt mit der 
Empfehlung seiner Mehlfrüchtekuren für die vor¬ 
geschrittenen und schweren Fälle. Die Anhänger 
der Naturheillehre haben ähnliches schon lange 
gepredigt; die Schulmedizin hat sich dem lange 
Zeit verschlossen. Mit der Empfehlung der 
Haferkur hat No o rd e n den Bann gebrochen; seit¬ 
dem ist dieser Weg weiter verfolgt worden; durch 
die Einführung der Mehlfrüchtekuren ist er 
theoretisch verständlich und praktisch in weite¬ 
stem Ausmaß gangbar geworden. 

Die danach folgenden Ausführungen von 
Frank (Breslau) über renalen Diabetes sind im 
Maiheft (S. 167) veröffentlicht. 

Schließlich sprach Grafe (Heidelberg) über die 
Behandlung von Diabetikern mit cara- 
melisierten Kohlehydraten. 

Die von ihm zuerst auf der Wiesbadener 
Tagung 1914 empfohlene Therapie des Diabetes 
mit caramelisiertem Zucker hat sich auch seitdem 
weiter bewährt. Die wichtigsten Vorteile, keine 
oder nur geringe steigernde Wirkung auf die 
Zuckerausscheidung bei oft sehr günstigem Ein¬ 
fluß auf Acidose und Zuckertoleranz haben alle 
Nachuntersucher bestätigen können. Da die 
Wirkung eine individuell etwas verschiedene sein 
kann, empfiehlt es sich, Caramel wenigstens bei 
jedem mittelschweren und schweren Diabetiker 
erst auszuproben, ehe man den Genuß in beliebiger 
Menge gestattet. Zu achten ist vor allem auch 
auf die Darmwirkung. Caramel kann in Form 
einer Kohlehydratkur analog etwa der Haferkur ge¬ 
geben werden, oder als Sonderzulage zu der übrigen 
Kost. Ein besonderer Vorteil ist, daß ohne Ge¬ 
fahr der Acidose sehr rasche Entzuckerung oft 
erreicht wird. Eine befriedigende Deutung der 
Wirkung fehlt vorläufig ganz, da sowohl die Ver¬ 
änderungen des Zuckers beim Rösten wie der 
Abbau im Organismus noch fast vollkommen un¬ 
bekannt sind. Grafe ist in letzter Zeit mit 
Erfolg dazu übergegangen, auch andere Kohle¬ 
hydrate (Brod, Kartoffeln, Reis, Hafer, Gries, 
Weizenmehl usw.) zu caramelisieren. Da bei zu 
langer Röstung und bei Anwendung zu hoher 


Temperaturen leicht partielle Verkohlung ein- 
tritt und der Geschmack zu sehr leidet, hat sichF* 
eine vollkommene Caramelisierung bisher noch, 
nicht als durchführbar erwiesen, doch ist die 
Wirkung auf die Glykosurie meist weit geringerj,, 
als dem Gehalt an noch verzuckerbarer Stärke 
entspricht. Aus den mitgeteilten Beobachtungen’ 
ergibt sich, daß nach der Caramelisierung der 
Kohlehydrate die Glykosurie meist auf ein VierteJ» 
bis ein Zehntel der Menge herabsinkt, welche ohne 
diese Vorbehandlung ausgeschieden wird. 

So eröffnet sich die Möglichkeit auf einfache 
Weise die Ernährung der Diabetiker viel rationeller 
und für den Zuckerhaushalt schonender zu ge¬ 
stalten, als es bisher möglich war. 

Die anschließende Reihe der Einzelvorträge 
über Diabetes, welche vorwiegend theoretisches 
Interesse boten, wurde eröffnet durch Mittei¬ 
lungen von Brugsch, Dresel und'Lewy (Berlin)- 
über cerebrale Veränderungen und deren Einfluß- 
auf den Zuckerstoffwechsel. Die Autoren hatten> 
schon früher gezeigt, daß durch Verletzung eines 
dorsalen Vaguskernes Innervation der Nebenniere 
und Glykogenmobilisierung mittels des Adrenalins¬ 
erzielt werden konnte; auch umfangreiche Ver¬ 
letzungen, welche den vegetativen Oblöngatakern" 
nicht treffen, haben keine Erhöhung des Blut¬ 
zuckers zur Folge. Dagegen war nicht zu erklären,, 
warum unter gewissen Bedingungen ein Absinken, 
des Blutzuckerspiegels eintrat. Die neueren 
Untersuchungen haben ergeben, daß zur Erzie¬ 
lung eines verminderten Blutzuckers eine Ver¬ 
letzung im vorderen Ende des vegetativen Oblon- 
gatakernes erforderlich ist, daß hier also ein. 
Hemmungscentrum für die Glykogenausschwem¬ 
mung gelegen sein mußte. Die Exstirpations¬ 
versuche zur Feststellung, welche Centren ia 
dieser vjorderen Abteilung des so ausgedehnten- 
vegetativen Oblohgatakerns gelegen wären, haben 
ergeben, daß nach Exstirpation des Pankreas, so¬ 
weit sich übersehen läßt, insbesondere seines 
Hilus, Zellgruppen in der genannten Gegend 
retrograd degenerieren. Daraus ergibt sich, daß- 
im vegetativen Oblöngatakern unter anderm so¬ 
wohl die Centren für vermehrte Zuckeraus¬ 
schwemmungmittels Adrenalin, durch Innervation, 
der Nebenniere über den Sympathicus, als auch 
die für einen vermehrten Glykogenaufbau durch 
Innervation der specifischen Tätigkeit des Pan¬ 
kreas über den Vagus gelegen sind. In diesem' 
Sinne kann man also mit Bezug auf die specifische 
Funktion die Nebenniere ein sympathisches, das 
Pankreas ein vagisches Organ nennen, obwohl, 
nach Exstirpation des letzteren auch symphatische 
Ganglienzellen retrograd degenerieren. 

Anschließend an diese experimentellen For¬ 
schungen wurden histologische Untei:suchungem 
an Diabetikergehirnen vorgenommen. Die Durch¬ 
forschung von Serienschnitten ergab umschriebene 
schwere Erkrankungsherde an einer bestimmten. 
Stelle der Medulla oblongata (äußeres Glied des 
Glob. pall.). Die Autoren nehmen drei überein¬ 
andergeordnete Centren für den Zuckerstoff¬ 
wechsel an, analog der Wärmeregulation; die 
relative Höhe des Zuckerspiegels wird im Nucletis 
periventricularis, die absolute Höhe im Glob. 
pall. reguliert. 

La quer (Frankfurt a. M.) hat im Embden- 
schen Laboratorium neue Untersuchungen über 
den Abbau der Kohlehydrate im Muskel angestellt;; 
er fand, daß die Menge der Milchsäure, welche 
bekanntlich das Maß der Kohlehydratzersetzung 
darstellt, durch Zusatz von Glykogen zum Muskel¬ 
brei wesentlich gesteigert wird, während Trauben¬ 
zuckerzusatz die Milchsäure nicht vermehrt. Es 



Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


225 


'ist also Traubenzucker im Muskel unverbrennbar, 
er stellt die Transportform, nicht die Reaktions- 
Torrn dar; erst durch Umwandlung oder Abbau 
wird Traubenzucker verbrennungsfähig. Es wird 
elurch diese Versuche die alte Annahme Min¬ 
kowskis gestützt, daß die Umwandlung der 
'Dextrose in Glykogen eine Vorbedingung für den 
Zuckerverbrauch ist und daß im Diabetes gerade 
diese Funktion geschwächt ist. 

Löffler (Basel) hat das Verhalten des Blut- 
..zuckers im höheren Alter studiert. Er ging von 

• der bekannten Tatsache des höheren Blutzucker¬ 
spiegels im Alter aus und fand nach Einnahme von 
'20 g Traubenzucker in 100 g Wasser durch schnell¬ 
folgende Blutzuckerbestimmungen, daß regel¬ 
mäßig eine Steigerung der Glykämie erreicht wird, 
die erheblich höher ist, als unter gleichen Be¬ 
dingungen bei Jugendlichen und auch länger 
dauert, ohne von Glykosurie gefolgt zu sein. 

Toenniessen' (Erlangen) besprach die Be¬ 
ziehungen des Blutzuckers zur Blutacidose. Er 
.unterscheidet eine primäre Acidosis durch An¬ 
häufung von normalen Abbaustufen des Trauben¬ 
zuckers, die infolge der diabetischen Stoffwechsel¬ 
störung nicht zersetzt werden können, und die 
•sekundäre' Acidosis durch überstürzten Eiweiß- 
und Fettabbau. Er konnte eine Abhängigkeit des 
Blutzuckers von der Blutacidose nachweisen; die¬ 
selbe sinkt durch Alkalizufuhr zugleich mit dem 
Blutzucker, während beide bei Säurezufuhr 
steigen. Als vermutliche Ursache der Acidosis 
•spricht Toenniessen die Brenztraubensäure an, 
•deren mangelhafte Zerlegung als primäre Ursache 
des Diabetes in Betracht kommt. 

Eisner (Berlin) besprach die Beziehungen 
zwischen Hyperglykämie und Glykosurie. Er 
fand gewisse Typen, die auf alimentäre Kohle¬ 
hydratbelastung mit besonders starker Hyper- 
glykämie reagieren; dieselben stehen inZusammen- 
hang mit besonderer Erregung des autonomen 
Nervensystems, der Sympathicotonie. Also 
kommt die alimentäre Hyperglykämie wahr¬ 
scheinlich auf nervösem Wege zustande; übrigens 
ist nicht nur die Höhe, sondern auch die Dauer 

• der Hyperglykämie von Bedeutung. Die Nieren¬ 
zellen scheinen dieselbe Aufnahmefähigkeit für 
Glykogen zu haben, wie die übrigen Körperzellen, 
Avie aus ihrem schon von Ehrlich gezeigten 
Glykogengehalt bei Diabetes hervorgeht. 

Stepp (Gießen) hat früher bei acidotischen 
Diabetikern Substanzen mit Aldehydeigenschaften 
nachgewiesen; er bringt in seinem Vortrag den 
Beweis, daß es sich dabei wirklich um Acetaldehyd 
handelt; dieser Beweis wurde mit einer tadellosen 
.-chemischen Exaktheit geführt, es ließ sich z. B. aus 
der Aldehydverbindung .auch das Anhydrid mit 
•dem geforderten Schmelzpunkt darstellen. Stepp 
konnte auch aus normalem Harn Acetaldehyd 
in Spuren gewinnen, sodaß er diese Substanz wohl 
mit Recht als normales intermediäres Abbau¬ 
produkt des Kohlehydratstoffwechsels anspricht. 
Da das Acetaldehyd bei schwerem Diabetes bis 
;zu 50 % der sogenannten Ketonkörper beträgt, 
wird man sich in Zukunft sowohl theoretisch wie 
praktisch etwas näher mit dieser Substanz be- 
'.schäftigen müssen. 

Grote (Halle) hat den Einfluß innerer Sekrete 
i(Inkrete) auf die Phloridzinglykosurie geprüft. 
Er zeigt, daß mit Phloridzin gleichzeitige Ein¬ 
spritzung voll Schilddrüsenextrakten stark för¬ 
dernd, von Thymus stark hemmend auf die 
.Zuckerausscheidung wirkt. In der Klinik zeigten 
Fälle von Athyreosis (Myxödem und Fettsucht) 
:sowie Hypophysenerkrankungen sehr geringe 
'Glykosurie nach Phoridzinjektion, während die 


Harnzuckerwerte bei Basedow und anderen Thy- 
reotoxikosen, insbesondere auch manchen Neuro¬ 
sen sehr hoch waren. Aus den Feststellungen 
scheint sich eine Möglichkeit zu ergeben, eine 
Funktionsprüfung der inkretorischen Drüsen, 
vielleicht „eine individuelle Blutdrüsenformel“ 
zu erreichen. 

Löning (Halle) berichtet in seinem Vortrag 
über Organotherapie des Diabetes Heilversuche 
mit Metabolin, einer von Vahlen aus Hefe 
dargestellten Substanz, welche so)vohl die alkoho-- 
lische Zuckergärung beschleunigt als auch bei 
experimentellen Glykosurien die Zuckerausschei¬ 
dung herabsetzt. Die von Löning berichteten 
Einwirkungen des Metabolins auf die Glykosurie 
verschiedener Diabetiker, namentlich auch die 
Nachhaltigkeit derselben, erscheinen so augen¬ 
fällig, daß weitere Prüfung des Mittels sicherlich 
geboten erscheint; bei immer wiederkehrender 
Wirkung in großen Beobachtungsreihen wird die 
allgemeine Anerkennung dem neuen Mittel nicht 
versagt bleiben. 

Schließlich sparch Bürger (Kiel) über die 
experimentellen Grundlagen einer Arbeits¬ 
therapie des Diabetes. Es ist seit langem be¬ 
kannt, daß Muskelarbeit die Zuckerausscheidung 
vermindert, daß aber schwere Fälle die Arbeit 
schlecht vertragen und oft mehr Zucker danach 
ausscheiden. Bürger hat nun in sehr eingehenden 
Versuchen das Schicksal intravenös injizierten 
Zuckers bei der Arbeit verfolgt und hat einmal 
verminderte Zuckerausscheidung im Arbeitsver¬ 
such gegenüber dem Ruheversuch gefunden, an¬ 
dererseits nach vorheriger Gemüsekost und Ka¬ 
renzzeit, welche die Leber glykogenarm machten, 
eine stärkere Arbeitshyperglykämie. Eine gleiche 
Erhöhung des Blutzuckergehalts nach Arbeit 
findet sich nur bei Diabetikern; sie scheint ein 
neues Symptom der Zuckerkrankheit darzustellen. 
Für das Eintreten derselben ist der Glykogen¬ 
bestand der Leber sowie der Charakter des Dia¬ 
betes, schließlich die Erregbarkeit des Nerven¬ 
systems maßgebend. Der Zeitpunkt für eine 
systematische Arbeitstherapie ist gekommen, 
wenn eine negative Arbeitsreaktion, das heißt 
Absinken des Blutzuckers nach der Arbeit, er¬ 
reicht ist. Praktisch wird sie dadurch erkannt, 
daß der agiykosurisch gemachte Diabetiker, bei 
mäßiger Überschreitung der Toleranzgrenze, durch 
Arbeit zuckerfrei wird, während er bei gleicher 
Kost im Ruhezustand zuckerfrei geblieben war. 
Das Ziel der Arbeitstherapie ist Zunahme der 
Muskulatur, deren Schwinden für Diabetes 
charakteristisch ist und damit Zunahme der dem 
Muskel eigentümlichen antidiabetischen Wirk¬ 
samkeit (Glykogenfixation, Kohlehydratabbau) 
Der klinische Erfolg der Muskelübungskuren ist 
augenfällig; sie unterstützen die diätetische Be¬ 
handlung; durch die Arbeitstherapie wird die To¬ 
leranz so gesteigert, daß Brotzulagen gewährt 
werden können, ohne daß Glykosurie entsteht. 
Über das Maß der zu leistenden Arbeit müssen 
noch Erfahrungen gesammelt werden; einfache 
Spaziergänge in der Ebene genügen jedenfalls 
nicht; schwer acidotische Fälle sind von Arbeits¬ 
therapie auszuschließen. 

Nachdem noch Schild (Hörde) einige^ gute 
Erfolge von Pituglandolinjektion berichtet 
hatte, wurde die Aussprache von Kolisch 
(Karlsbad) eröffnet, welcher darauf hinweisen 
konnte, daß er den Grundsatz der Nahrungsein¬ 
schränkung und der Eiweißverminderung bereits 
1899 mit voller Deutlichkeit ausgesprochen hat; 
er hat diese Grundsätze aus den praktischen Er¬ 
folgen vegetarischer Diät abgeleitet. Auch hat 

29 



226 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Jun® 


er in systematischer Weise Eiweiß durch Kohle¬ 
hydrat ersetzt und dadurch das damals paradox 
erscheinende Resultat des Absinkens der Glyko- 
surie erzielt. Faltas Regime ist nur eine Wieder¬ 
holung seiner Kostvorschriften. Kolisch schließt 
sich im allgemeinen den Noor den sehen Vor¬ 
schriften an, will aber keineswegs Fleisch für 
längere Zeit missen, da der Mensch als geborener 
Fleischfresser du^ch vegetarische Kost auf die 
Dauer geschwächt wird. Mit großer Schärfe 
wendet sich Kolisch gegen die Hungerkuren, die 
teilweise dem Grundsatz der Humanität wider¬ 
sprächen; er zitiert ein Protokoll von Allen, der 
als Erfolg notiert, daß ein diabetisches Kind nach 
einer längeren Hungerkur zuckerfrei starb. Wenn 
Kolisch alle Hungerkuren als ,,fanatische 
Excesse“ bezeichnet, schießt er zweifellos weit 
übers Ziel hinaus, denn der Hunger bewährt sich 
oft als wertvolles Heilmittel; i-n Übereinstimmung 
mit den Kranken eingeleitet und durchgeführt, 
kann die Hungerkur jeder Härte entkleidet wer¬ 
den. Auch in der Polemik gegen seinen glück¬ 
licheren Nachfolger Falta war Kolisch wohl zu 
scharf, indem er dessen Konsequenz und Energie 
in der Durchführung des neuen Regimes unter¬ 
schätzt. 

Oehme (Bonn) berichtet über den Einfluß 
des Extrakts der Duodenalschleimhaut (Sekre¬ 
tin) auf den Blutzuckergehalt. Solche Versuche 
sind deswegen von großem Werte, weil das Se¬ 
kretin das Haupterregungsmittel der Pankreas¬ 
funktion darstellt, sodaß der Sekretinreiz der 
Einwirkung der Nahrungszufuhr auf Pankreas 
und Leber entsprechen dürfte. Es gelang nun 
Öhme durch besonders feine Versuchsanordnung 
eine Hypoglykämie durch Sekretininjektion bei 
Hunden und Kaninchen nachzuweisen, auch nach 
Pankreasexstirpation kam es dazu; gleichbereitete 
Extrakte anderer Organe hatten diesen Effekt 
nicht. Es finden sich also im Duodenalschleim¬ 
hautextrakt Stoffe, welche die Zuckerverwertung 
im Körper begünstigen, offenbar durch Hem¬ 
mung der Zuckerbildung in der Leber. 

Gorke (Breslau) machte nähere Angaben 
über Durchführung von Hungerkuren, die später 
von Minkowski ergänzt wurden. Die Behand¬ 
lung.begann mit zwei bis drei hintereinander lie¬ 
genden Hungertagen, in denen bei Bettruhe reich¬ 
liches Trinken und größere Alkoholmengen ge¬ 
stattet waren. Nach den Fasttagen wurde zunächst 
in steigenden Mengen ausgekochtes Gemüse, dann 
Eiweißzulagen und zuletzt Fett gewährt. Die 
Unterernährungsperiode, in der höchstens 1500 Ca- 
lorien zugeführt wurden, dauerte drei bis vier 
Wochen. Darauf Steigerung bis höchstens 
2000 Calorien unter Zulage von Cerealien und Kar¬ 
toffeln. Die wichtigsten Vorzüge der langfristigen 
Hungerkur sind schnelles Schwinden der objek¬ 
tiven und subjektiven Symptome und vor allem 
der Acidosis. Gewöhnlich ist Patient am- dritten 
Tage zuckerfrei und am siebenten Tag ist der 
Blutzucker normal. Der Nachteil der Gewichtsab¬ 
nahme wird durch folgende N-Retention-kompen¬ 
siert. Störende Nebenerscheinungen wurden nicht 
beobachtet. Kontraindiciert ist die Hungerkur 
jenseits des 65. Lebensjahrs, bei schwerer Neur¬ 
asthenie und progresser Tuberkulose oder Nieren¬ 
schrumpfung. Bei leichten Formen kommt Hun¬ 
ger nicht in Frage. In Gegensatz zu Allen er¬ 
strebt die Breslauer Klinik keineswegs eine Re¬ 
duktion des Körpergewichts, sucht vielmehr bei 
möglichster Erhaltung desselben die Toleranz zu 
vermehren und die Acidosis auszuschalten. 

Traugolt (Frankfurt a. M.) berichtet, daß 
Diabetiker ein anderes Verhalten als Gesunde 


gegenüber aufeinanderfolgenden Zuckergaben^ 
zeigen. Während bei diesen.20 g Zucker Hyper¬ 
glykämie machen, die durch nachfolgende 100 gi 
nicht .mehr ansteigt, wird bei Diabetikern durch 
die zweite Dosis von 10 g D der Zuckerspiegel noch 
erhöht. Renaler Diabetes verhält sich wie der 
Gesunde. Therapeutisch folgt daraus, daß man^ 
Diabetikern Kohlehydrate in sehr kleinen Einzel- 
dosen geben soll, die die Reizschwelle der Leber 
nicht erreichen. 

Elias (Wien) berichtet zuerst die physiologisch 
bedeutsame Tatsache, daß Hefezellen je nach der 
Menge zugefügten Alkali in einem zuckerfreien? 
Medium steigende Mengen von Glykogen bilden.. 
Weiter hat er die praktisch wichtige Beobachtung: 
gemacht, daß die diabetische Hyperglykämie 
durch intravenöse Injektionen von saurem oder 
alkalischem Natriumphosphat um 20—40% herab¬ 
gesetzt wird. Die Glykosurie bleibt danach drei 
Tage stark vermindert. 

Hoppe-Seyler (Kiel) spricht über die Diät 
arteriosklerotischer Diabetiker, die augen¬ 
scheinlich an interstitieller Pankreatitis leiden; 
diese vertragen schlecht Fleisch und Fett, und 
werden am besten mit breiiger Kost, insbesondere 
Milchspeisen, Eiern und Gemüse genährt.. 
Nahrungsentziehung ist in solchen Fällen oft 
durch Beschränkung der Darmgärung nützlich.. 
Ein Versuch mit spezifischer Kur sollte bei 
früherer Lues gemacht werden, wenngleich die- 
Aussichten meist gering sind. 

Goldscheider (Berlin) macht darauf auf¬ 
merksam, daß beim Diabetes eine Cberempfind- 
lichkeit vorliege, die durch die Reizbarkeit des* 
Gesamtorganismus wie durch die Summe der 
überhaupt zufließenden Reize beeinflußt wird.. 
Die Generalisation derselben vollzieht sich tcils- 
durch die Hormone, teils durch nervöse .Ver¬ 
bindungen. Dabei nimmt Goldscheider in Über- 
einstimmung mit den heutigen Mitteilungen von, 
Brugsch einen nervösen Transpositionsapparat 
an, welcher das zentrale mit dem trophischen (den 
Kohlehydrat-Stoffwechsel beherrschenden) Ner¬ 
vensystem verbindet und sowohl psychische wie 
physische Reize nach beiden Richtungen leitet.. 
Es ist deswegen auch für die Diätetik wichtig, irr 
welchem Reizbarkeitszustand sich der Gesamt¬ 
organismus befindet. Alle Reizungen, sowohl die 
der äußeren Lebensbedingungen als auch die der 
Ernährung kommen in Betracht. Deswegen wirkt 
bloße Ruhekur oft sehr günstig, ebenso Badekuren. 
Auch bei der Behandlung des Diabetes ist die- 
Persönlichkeit zu berücksichtigen. 

Gigon (Basel) rät, bei Mehlfrüchtekuren 
zeitweise Fleischtage einzuschalten, um dem, 
Nahrungsbedürfnis zu genügen. In bezug auf die- 
Heredität des Diabete's macht er die Bemerkung,, 
daß der Diabetes der Frau für die Nachkommen¬ 
schaft gefährlicher sei als der des Mannes. 

Collatz (Darmstadt) läßt an Hunger tagen 
50—80 g Gelatine in Form von wohlschmecken¬ 
den Gelees (Wein-, Fleisch-, Fruchtgelees) ver¬ 
zehren. Danach schwindet die Glykosurie wier 
nach absolutem Hunger. Gelatine wirkt diuretisch 
wie Harnstoff. Die Aminosäuren der Gelatine 
sind anscheinend keine Zuckerbildner, vermögen 
aber das Nahrungsbedürfnis zu decken und ver¬ 
hindern die Ketonurie. Bei schwerer Acidosis gibt 
Collatz daneben 50 g Traubenzucker täglich als 
Tropfklistier. An Stelle von Gelatine kann man 
auch das sogenannte Glucopan, ein aufge¬ 
schlossenes Gelatinepräparat, geben. 

Lichtwitz (Altona) weist darauf hin, daß^ 
die eiweißarme Kost der Kriegszeit insbesondere 
auf die Leber und die Inkretdrüsen schwächeqdi 



Juni 


Die Therapie der .Gegenwart 1921 


227 


eingewirkt hat. Daher die große Häufung von 
Ikterusfällen, sowie von endogener Adipositas und 
Störungen des Wasserhaushalts auf endokriner 
Basis. Die günstige Beeinflussung mancher 
Diabetesfälle im Krieg mag auf die Schwächung 
der Thyreoidafunktion durch Aminosäurenmangel 
zu beziehen sein. Andererseits bedarf auch das 
Pankreas zur Erhaltung seiner zuckerzersetzenden 
Funktion der Aminosäuren, es darf also die Zu¬ 
fuhr des animalischen Eiweiß keineswegs zu sehr 
beschränkt werden. 

Volhard (Halle) hat seit zwölf Jahren in jedem 
Fall von Diabetes die Kur mit Hungertagen be¬ 
gonnen, um Glykosurie, Acidosis und Hypergly¬ 
kämie zum Verschwinden zu bringen. Als Al len- 
sehe Kur dürfte man höchstens das strenge 
Schema bezeichnen, nach welchem die Diät auch 
nach den Fasttagen noch geregelt wird. Auch 
ohne Fasttage kann man die Hyperglykämie be¬ 
seitigen, „indem man den Hahn des Zuckergefäßes 
einfach aufdreht und den Überschuß ablaufen 
läßt“. Das gelingt durch intramuskuläre Injektion 
von 1 cg Phlorizin. — Weiter weist Volhard 
darauf hin, daß die fälschlich al^ Arteriosklerotiker 
bezeiebneten Patienten mit Hypertonie oft Glyko¬ 
surie haben; dabei genügt eine einfache Ein¬ 
schränkung der Gesamtnahrungszufuhr bei ge¬ 
mischter Kost zum schnellen Verschwinden des 
Zuckers. . 

Im Schlußwort setzte sich Grafe mit Licht¬ 
witz auseinander, der gegen die Eigenschaften 
des Caramels polemisiert hatte. Grafe betonte 
die festgestellte Tatsache, daß Caramose zu 80 bis 
90% ausgenutzt würde, daß die-Acidose danach 
absinkt und daß eine spezifisch-dynamische 
Wirkung durch den Respirationsversuch bewiesen 
wäre. Auch Frank konnte Einwände, welche 
gegen die sichere Abgrenzung des renalen Diabetes 
erhoben waren, auf Grund seiner Beobachtungen 
zurückweisen. Falta betonte die gute Verträg¬ 


lichkeit seiner langfristigen N-armen-Diäten, ist 
aber durchaus nicht gegen gelegentlichen Wechsel.. 
Er kann nicht zugeben, daß das laisser aller bei 
ganz schweren Fällen erlaubt sei; haben sie auch; 
keine Zukunft, so müsse man ihnen doch die 
Gegenwart erträglich machen. Minkowski 
gegenüber betont er, bei aller Anerkennung der 
Naunynschen Lehre, daß er doch mit der Kohle¬ 
hydratkost beträchtlich weiter gehe als die 
Naunynsche Schule. 

Minkowski beschränkte sich im wesentlichen 
auf Ergänzungen der Bemerkungen seines Assi¬ 
stenten Gorke über die Hungerkur. 

No Orden hob die praktische Übereinstimmung 
mit Minkowski hervor bei weitgehenden theore¬ 
tischen Differenzen; in diesem Betracht begeg¬ 
neten sie sich in der Erkenntnis, daß sie beide- 
nicht genau wüßten, ob sie Recht hätten. 

Falta gegenüber betonte Noorden, daß die 
Hauptdomäne der Mehlspeisediät bei verlorenen 
Fällen liege, denen man auf verschiedene Weise 
Erleichterung schaffen könne; hier gelte das Wort: 
morituri te salutant. Scharf wendete er sich 
gegen Faltas ZW-Formel, die er für willkürlich 
erklärte. Zahlen sind etwas Heiliges; aber das; 
Umtauschverhältnis zwischen Eiweiß und Kohle¬ 
hydrat wechsele nach Auswahl des Materials und 
nach Aufbau der Gesamtkost. Die Hungerkuren 
erklärte er nochmals für erlaubt und nützlich, nur 
die Warnung vor Übertreibungen war berechtigt. 
V. Noorden schloß, indem er den Diskussions¬ 
rednern für die Ehrenrettung des Proteins dankte, 
das man in gemessenen Zwischenräumen und. 
Mengen dem Diabetiker gönnen sollte. 

Der Schlußberichi: im nächsten Heft wird' 
über die zahlreichen Einzelvorträge berichten,, 
welche am 2. und 4. Kongreßtage besonders über 
die Pathologie des Kreislaufs und des Stoff¬ 
wechsels gehalten« werden. 


45. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, 
Berlin, 30. März bis 2. April 1921. 

Bericht von W. Klink, Berlin. (Schluß.) 


Beim Kardiospasmus empfehlen die meisten 
Chirurgen die Hellersche Operation, das heißt 
die extramucöse Spaltung der verengerten Strecke. 
Doch warnt Bier vor zu häufigem Operieren. 
Man soll erst ein Vierteljahr lang Schluckver¬ 
suche durchführen und wird in den meisten Fällen 
mit dem Faden zum Ziel kommen ohne Operation. 

Kreuter berichtet über 473 Gastroenter¬ 
ostomien wegen callösem und penetrierendem 
Magengeschwür, davon 19 vordere, der Rest 
hintere. 80—90% gute Erfolge. Zweimal post¬ 
operative Blutung. Wegen Ulcus pepticum 
ieiuni mußten sie nie operieren, es konnte also 
nur vermutet werden, vielleicht wurden die Be¬ 
schwerden durch ein rückfälliges Magengeschwür 
bedingt. Höchstens 2% sind bösartig gewesen 
oder geworden. Bei mehrfachen Geschwüren trat 
nur in 55% Heilung ein. Beim pylorischen Uleus 
wurde der Pylorus mit dem Lig. teres geschlossen. 

Die Bedeutung des Pylorus für das Zustande¬ 
kommen des postoperativen Jeiunalgeschwüres 
besprach Habe rer. Unter 710 Resektionen er¬ 
lebte er keines, nach 71 Pylorusausschaltungen 14, 
nach 265 Gastroenterostomien dreimal Ulcus 
ieiuni. Namentlich der künstlich verengerte Py¬ 
lorus, besonders beim Ulcus duodeni, gibt Ver¬ 
anlassung zum peptischen Jeiunalulcus. Nach 
Operation des Jeiunalulcus sah er in 18 Fällen 
zwei Rückfälle. Einmal hat er bei der zweiten 


Operation das Duodenalgeschwür und den Pylorus 
entfernt und seitdem ist der Kranke geheilt. Bier 
war früher großer Anhänger der Resektion beim* 
callösen Geschwür und hat die Gastroenterosto¬ 
mie nur gemacht, wo die Resektion unmöglich 
war und gerade diese scheinbar aussichtslosen 
Fälle gaben ausgezeichnete Ergebnisse. Die Frage 
Resektion oder Gastroenterostomie hält er noch 
nicht für geklärt und empfiehlt die Gastroenter¬ 
ostomie. — Eiseisberg sah das Jeiunalgeschwür 
in 10% der Gastroenterostomien auf treten.. 
36 mal mußte wegen desselben wieder operiert 
werden; selbst nach großen Resektionen trat es 
wieder auf. Also kann im Pylorus nicht die Ur¬ 
sache liegen. Es gibt auch heute noch Chirurgen, 
die kein Jeiunalulcus erlebt haben. Die großen 
Querresektionen liefern schlechte Ergebnisse. Die 
einfache Gastroenterostomie muß mit strenger 
Indikation öfter ausgeführt werden. —• Gar re' 
hat erst in letzter Zeit einigemale ein Jeiunal¬ 
geschwür auftreten sehen trotz zahlreicher Gastro¬ 
enterostomien. Auch er hatte mit der Gastro¬ 
enterostomie in den schwersten Fällen gute Er¬ 
folge. Pylorusverschluß macht er nur beim Duo¬ 
denalgeschwür, sonst schaltet er den Pylorus 
nicht aus. 

Seifert hat Untersuchungen über die Bio¬ 
logie des großen Netzes angestellt. Es zeigt einen 
ähnlichen Funktionswechsel, wie das Knochen- 

29» 





:228 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Jünl 


-mark. Beim Foetus finden sich Milchflecken im 
.Netz, die sich später in Fettknoten umwandeln. 
.Aber bei Ansprüchen örtlicher oder allgemeiner 
Natur können sich wieder Milchflecken bilden. 
Die Zellen dieser Milchflecken sind die eigent¬ 
lichen specifischen Organelemente des Netzes. 
Sie sind phagocytischer Natur und Vermittler 
von Stoffwechselprozessen. — In der Diskussion 
wird auf die große Rolle hingewiesen, die das 
große Netz bei der Bekämpfung der Peritonitis 

• spielt. ' Aus seinem festen Zellverband mobilisiert 
es in Minuten eine Unmenge freier Zellen, die 
-die Bakterien auf nehmen und wegführen, ebenso 
-wie eingespritzte Tusche. 

Brüning spricht über Bauchschmerz. Die 
Hohlorgane haben ihr Schmerzcentrum im Gan- 

■ glion coeliacum, der Uterus im Ganglion sacrale. 
Nach Kümmells Erfahrungen ist der lokale 
Druckschmerz ungeheuer wichtig, besonders bei 
Gallenblase und Wurmfortsatz; weniger sicher 
ist Duodenum und Magen. Der McBurneysche 
Punkt stimmt oft nicht, besonders bei der larvierten 
Appendicitis; hier sitzt der Schmerzpunkt in der 
Nähe des Nabels. Auch Magenschmerzen kann 

•der chronisch erkrankte Wurmfortsatz auslösen, 

■ die mit der Entfernung des Wurmfortsatzes 
schwinden. 

Colmers empfiehlt bei Peritonitis und Ileus 
eine zeitige Enterostomie zur Entleerung des 
Darmes. Auch Braun ist Anhänger derselben. 
Rust empfiehlt zur Ausspülung der Bauchhöhle 
10%ige heiße Kochsalzlösung, bis zu 1 1. Sie 
ergibt eine ungeheuere Blutdrucksteigerung, bis 
zu zwei Tagen, eine starke, schnelle und anhal¬ 
tende Kontraktion des ganzen Darmes und Magens. 
tEs bildet sich ein Transsudat, das nach fünf 
Stunden wieder geschwunden ist. Eingeklemmte 
'•Darmteile erholen sich sehr schnell. Erholen sie 
sich nicht, so dürfen sie nicht versenkt werden. 
Bei Peritonitis ist die Methode verboten, weil 
dann Bakterien und Toxine schnell aufgesaugt 
würden. Die Eingießung darf nur in Narkose 
erfolgen, weil sie furchtbar schmerzhaft ist. 

Das vierte Hauptreferat wurde von Perthes 
erstattet über Röntgen- und Radiumbehandlung 
der bösartigen Geschwülste. Er zieht nur ope¬ 
rable Carcinome in den Kreis seiner Betrachtung. 
Kombination von Röntgenstrahlen und Radium 
leisten das beste. — Hautcarcinome und die 
ihnen nahestehenden Lippencarcinome können 
zur Rückbildung gebracht werden. Auch da ist 
man zur Verwendung harter, hochgefüterter 
Strahlen übergegangen und hat besonders gutes 
vom Radium gesehen. Die guten Erfolge be¬ 
treffen das Basalzellen- und das verhornende 
Plattenzellencarcinom. Die kosmetischen End¬ 
ergebnisse sind sehr gut. Für Lippencarcinome 

• ergibt Bestrahlung und Operation nach drei 
Jahren 80% Heilung. Weniger günstig als an 
Haut und Hautschleimhautgrenze liegen die Ver¬ 
hältnisse beim Carcinom der Schleimhaut selbst. 
Nach Röntgenbestrahlung sind keine Heilungen 
beobachtet, wohl aber nach Radiumbestralilung. 
Beim Zungencarcinom ist die papillare Form 
günstiger, als die infiltierende. Bei ihm ist man 
‘berechtigt, weitere Versuche mit Bestrahlung 
an Stelle der Operation zu machen. Auch beim 
Kiefercarcinom sind längere Radiumheilungen 
beobachtet worden, doch soll man von der Ope¬ 
ration wegen Jhrer oft guten Erfolge nicht ab- 
’gehen. Ähnlich liegt die Frage beim Wangen- 
carcinom. — Pharynx- und Larynxcarcinom 
kamen durch Bestrahlung zur klinischen Heilung, 
.aber es traten fast regelmäßig Rückfälle auf oder 


sekundäre Metastasen vereitelten den Erfolg. 
Günstiger waren die Erfolge beim Carcinom des 
Larynxeingangs. Die kleinen Carcinome der 
Larynx selbst, die durch halbseitige Exstirpation 
entfernt werden können, sprechen auf Bestrahlung 
schlecht an und sollen operiert werden. — Beim 
Oesophaguscarcinom hat ihm die kombinierte 
Radiumröntgenbehandlung beachtenswerte Er¬ 
folge gebracht. Der operativei^ Behandlung ist es 
jedoch sehr schwer zugänglich. Infolge auf treten¬ 
dem Glottisödem bei der Bestrahlung kann die 
Tracheotomie nötig werden. — Carcinome des 
Magen-Darmkanals' sollen, wenn operabel, mög¬ 
lichst bald operiert werden. Nur beim Rectum- 
carcinom ergibt die Bestrahlung recht beachtens¬ 
werte Erfolge; doch liegen keine abschließenden 
Ergebnisse vor. — Mammacarcinome können 
durch Bestrahlung zur Rückbildung und klini¬ 
schen Heilung gebracht werden. Es liegen wenig 
Nachuntersuchungen vor. Die operative Heilung 
dreimal so groß, wie bei Bestrahlung. Einstweilen 
sollen alle operablen Mammacarcinome operiert 
werden. — Beim Uteruscarcinom sind die Ergeb¬ 
nisse der Bestrahlung nicht besser als die der 
Operation. Die Frage ist noch unentschieden. 
Im ganzen kann man sagen: Man soll nur be¬ 
stimmte ausgesuchte Fälle bestrahlen, also Car¬ 
cinome am Oesophagus, ausgewählte Fälle an 
Haut und Lippen, das Carcinom der Zunge und 
oberhalb der Stimmbänder und vielleicht vor¬ 
sichtig tastend das des Rectum. Umso freudiger 
sind die Leistungen der Bestrahlung beim inope¬ 
rablen Carcinom zu begrüßen: Das Einschmelzen 
bei großen Mammacarcinomen, wie Geschwüre 
vernarben, wie die Ödeme zurückgehen. Leider 
ist der Erfolg nur vorübergehend und Dauererfolge 
nur Ausnahmen. Es bilden sich Rückfälle oder 
Metastasen. Inoperable Carcinome können durch 
Bestrahlung in operative Formen übergeführt 
werden. Ob dieser Weg beim Magencarcinom sich 
bewährt, bedarf der weiteren Prüfung. Rückfälle 
können durch Bestrahlung niedergehalten werden. 
Das sehen wir besonders beim Mammacarcinom. 
Auch beim Oberkiefer sah er einen beweisenden 
Fall. Die prophylaktische Nachbestrahlung nach 
der Operation ergab an der Tübinger Klinik 
weniger langdauernde Heilung und mehr Rück¬ 
fälle, vor allem, im ersten Jahr, als die Operation 
ohne Nachbestrahlung. — Vom Sarkom reagieren 
die Lymphosarkome gut auf die Bestrahlung. 
Es sind Heilungen bis zu fünf Jahren beobachtet. 
Bei periostalen Sarkomen der Röhrenknochen, 
des Beckens und Schultergürtels ist Bestrahlung 
zu versuchen. Bei myelogenen Riesenzellen¬ 
sarkomen besteht Konkurrenz zwischen Bestrah¬ 
lung und Resektion. Bei Osteosarkomen des 
Schädels hat die Bestrahlung lange Heilung ge¬ 
bracht, bei Oberkiefersarkomen keine wesent¬ 
lichen Erfolge; sie sind zu operieren. Bei inope¬ 
rablen Sarkomen ist ein Versuch mit Röntgen 
dringend angezeigt, desgleichen bei Gliosarkomen 
des Gehirns. Sehr nennenswert sind die Erfolge 
bei Geschwülsten der Hypophyse und Fibromen 
des Nasenrachenraumes. — Außer den primären 
Röntgenschädigungen, die sich durch geeignete 
Dosierung bekämpfen lassen, gibt es sekundäre 
Schädigungen, die sich noch nach Jahren zeigen 
können. Es kann zu einer Röntgenkachexie 
kommen. Zum Glück sind sie selten. Aber die 
Unsicherheit des Erfolges der Bestrahlung muß 
doch immer stark in Rechnung gesetzt werden. — 
Eine Carcinomdosis für alle Carcinome gibt es 
nicht. Es bestehen große Unterschiede. Manche 
Carcinome schmelzen leicht ein und andere 
sprechen auf die vielfache Dosis nicht an. Es 



Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


229 


kann nur eine Carcinominindestdosis geben. 
Noch größer sind die Unterschiede beim Sarkom. 
Lymphosarkome sprechen leicht an, Melano- 
sarkome und Oberkiefersarkome nur schwer. Die 
Verschiedenheit der Sensibilität ist auch nicht 
durch, Verschiedenheit der Histologie zu begrün¬ 
den. Sogar innerhalb desselben Tumors gibt- es 
verschieden reagierende Zellen. Man muß in 
einer Sitzung oder durch wenige starke Be¬ 
strahlungen sein Ziel zu erreichen suchen. Der 
Hauptangriffspunkt ist die Zelle selbst. Die 
Bestrahlung kann außer einer Schädigung der 
Vitalität der Zelle auch eine Steigerung derselben 
bringen; aber nur bei sehr kleiner Dosis. Diese 
Wirkung auf die Zelle selbst ist elektiv. Man 
kann aber auch durch die Bestrahlung das Wach¬ 
sen neuer Carcinomknoten anregen, und zwar bei 
starker Bestrahlung durch Schädigung des nor¬ 
malen Gewebes der Umgebung und dadurch Ver¬ 
nichtung des Schutzes. Auch durch Schädigung 
des allgemeinen Körperschutzes kann das Carci- 
nom neu zu wuchern anfangen. 

ln der Besprechung führte Jüngling folgendes 
aus: Bei den Cancroiden ist der Erfolg im all¬ 
gemeinen an die auf einen Schlag verabreichte 
Mindestdosis geknüpft. Die Strahlenwirkung ist 
rein lokal. Ein Erfolg ist nur dann zu erwarten, 
v/enn es möglich ist, die ganze Gefahrenzone mit 
einer für die Bekämpfung des Carcinoms nötigen 
Strahlendosis zu durchsetzen. Voraussetzung 
für die Anwendung ist, daß das Carcinom über¬ 
haupt schon einmal durch Bestrahlung geheilt 
ist. In einem Fall trat 1^ Jahr nach der Be¬ 
strahlung ein Geschwür auf, das Nekrose des 
ganzen Unterkiefers verursachte. Wegen der 
Gefährlichkeit der Dosis lehnt er die .Nach¬ 
bestrahlung beim Lippen- und Magencarcinom ab. 
Beim Rectumcarcinom wird man sich sehr über¬ 
legen, den geschwächten Kranken nach der 
Operation noch durch die Bestrahlung zu gefähr¬ 
den. Beim Mammacarcinom ist die Technik sehr 
schwierig, der Erfolg unsicher. Die Mehrzahl der 
Rückfälle im ersten Jahr tritt im bestrahlten 
Gebiet auf. Sie sind eine Folge der Schädigung 
des Gewebes durch die Bestrahlung und die größte 
Gegenanzeige gegen die Nachbcstrahlung. Die 
Erfolge der Operation sind an den meisten Kliniken 
durch Nachbestrahlung nicht nennenswert ge¬ 
bessert. Die Frage der Zweckmäßigkeit der 
Nachbestrahlung ist noch im Versuchsstadium. 
Weder Grundlage noch Methode liegen fest. Für 
die ^große Allgemeinheit ist sie abzulehnen. 

M^arnekros wendet die Großfeldermcthode 
mit vier Feldern an. Das Gebiet muß homogen 
durchstrahlt werden. Eine intensive Bestrahlung 
greift natürlich den Kranken an. Von einer 
lebenbedrohenden Komplikation kann man nicht 
sprechen. Neben den Erfolgen gibt es Mißerfolge. 
Es gibt keine Sarkom- oder Carcinomdosis, auch 
nicht in der Gynäkologie. Seine Dauererfolge von 
1912 bis 1916 sind 9 % inoperable, 33 % operable 
Collumcarcinome; 2% inoperable Vaginacarci- 
nome. Auch bei inoperablen Mammacarcinomen 
sind seit fünf Jahren Heilungen beobachtet. Ein 
inoperables Rezidiv eines Magencarcinoms ist seit 
sieben Jahren geheilt. — Wintz hält an der 
Carcinomdosis fest. Für operable Carcinome hat 
er-eine klinische Heilung von 50 % für fünf Jahre, 
von 83 % für drei Jahre. Solche Erfolge hat man 
bei Operationen nicht. — Die Nachbestrahlung 
wird von Kiel, Rostock, Frankfurt, Würzburg, 
Wien empfohlen, von den anderen Kliniken niebt. 


Eiseisberg hat 41 inoperable Carcinome und 
Sarkome bestrahlt; 13 sind gebessert, 17 un- 
gebessert, in 15 Fällen ist die Geschwulst seit 
drei Vierteljahren geschwunden. Unter 50 nach¬ 
bestrahlten Mammacarcinomen traten nach einem 
Jahr zwei Rückfälle auf, nach drei Jahren 35; 
23 sind über sieben Jahre rückfallfrei. Er emp¬ 
fiehlt eine mehrmonatige ausgedehnte Nach¬ 
bestrahlung. Auch bei der Radiumbestrahlung, 
sah er mehrere außerordentliche Erfolge. — Bier 
hat noch kein inoperables Carcinom durch Be¬ 
strahlung heilen sehen. Uterus- und Mamma- 
carcinome reagieren besser auf Bestrahlung als 
die anderen. Er ist ein radikaler Anhänger der 
Operation, operiert auch Rückfälle, selbst mehr¬ 
mals. Empfiehlt das alte Glüheisen wieder. — 
Schmieden empfiehlt mit wenig Ausnahmen 
für operable Geschwülste Operation und Be¬ 
strahlung. Er hält es sogar für möglich, daß durch 
die Bestrahlung der Geschwulst selbst Fern¬ 
metastasen zum Schwinden kommen. 

Keysser hat seit acht Jahren durch aktive 
Immunisierung die Rezidive bösartiger Ge¬ 
schwülste zu verhüten gesucht. Es handelte sich 
um Carcinome, Sarkome, Grawitzschen Tumor, 
Fälle, in denen ein Rückfall zu erwarten war. 
Nach radikaler Exstirpation wurde aus der Ge¬ 
schwulst mit Kochsalzlösung eine Emulsion her¬ 
gestellt, Carbolsäure zugesetzt und diese Mischung 
in steigender Menge injiziert. Diese Nachbehand¬ 
lung dauert vier bis fünf Monate. Die meisten 
sind über sieben Jahre rezidivfrei geblieben. Von 
14 Fällen sind zehn geheilt, vier bekamen Rezidive, 
doch waren diese gutartig und kapselten sich ab 
an Stelle des infiltrierenden Wachstums des 
ersten Tumors. — Bier weist darauf hin, daß die 
Versuche, eine Geschwulst durch Umstimmung 
zu beeinflussen, von ihm selbst ausgegangen sind, 
nicht durch Zuführung anderer Stoffe, sondern 
durch Beeinflussung des Körpers selbst. Durch 
die Bestrahlung stirbt die Krebszelle nicht ab. 
Was man einspritzt, ist einerlei, es muß nur eine 
Reaktion des Körpers hervorrufen. Große Krebse 
verschwinden danach; sie stoßen sich oft ab. 
Aber der Mensch heilt nicht. Es entstehen Rück¬ 
fälle oder der Mensch geht an Vergiftung zu¬ 
grunde. Die Rückfälle können noch während der 
Behandlung auftreten. Die Röntgenbestrahlung 
bringt den alten Krebs weg, aber sie hindert 
nicht das Entstehen neuer, oft noch während der 
Bestrahlung. Bei seiner Bluteinspritzung hat er 
niemals serologische Wirkung gesehen, sondern 
nur Wirkung entzündlicher Reaktion. 

Nord mann empfiehlt die Operation ,der 
akuten Cholecystitis im Anfall; sie ist im akut 
entzündlichen Stadium viel leichter, als im Zu¬ 
stand chronischer Entzündung. Über 90.% aller 
Morphinisten sind Gallenkranke. — Körte hat 
bei seinen Operationen auch gute Erfolge. Er 
tamponiert nicht mehr, da die Tamponade nichts 
nützt, aber sehr schadet. Es wird nur ein Glas¬ 
drain für 24 bis 48 Stunden eingesetzt. 

Franz weist auf die schlechten Erfolge der 
Behandlung der Oberschenkelschußfrakturen im 
letzten Kriege hin; es starben in den vorderen 
Formationen 42,5 %, zu Hause 9 %. Es sind die¬ 
selben Zahlen wie im Kriege 1870/71. Unsere 
Feinde hatten im Anfang 80 bis 95 % Sterblich¬ 
keit, sind dann aber auf 20 % gesunken, nachdem 
sie 25 bis 30 % amputierten. Wir hätten mehr 
primär amputieren sollen. 

Zum Vorsitzenden für das nächste Jahr wurde 
Hildebrand (Berlin) gewählt. 





230 


4 - 


Die Therapie der Gegenwart 1921/ 


' Juni 


Vom XVI. Orthopädenkongreß, Berlin, 18.—20. Mai 1921 

Bericht von San.-Rat Dr. Georg Möller, Berlin. 


Der diesjährige Orthopäden-Kongreß brachte 
mancherlei, das auch den Nichtfacharzt inter¬ 
essiert. 

SSpitzy (Wien): Frische Fälle von kalten 
Abscessen mit Herdreaktionen auf Tuberkulin¬ 
impfung sind der Klimato- und Serumtherapie 
zugänglich und erfordern, auch wenn sie Fisteln 
zeigen, keine örtlichen Eingriffe. Ältere Fälle mit 
nur schwacher Herdreaktion können durch ortho¬ 
pädische Behandlung, Strahlentherapie, Stauung, 
Wärmeapplikation insoweit beeinflußt werden, 
daß eine Abdrosselung des tuberkulösen Herdes 
sich erreichen läßt. Es tritt raschere Verflüssigung 
des Herdinneren ein. Abscesse werden entleert 
Hoher Heilungsprozentsatz. Alte Herde ohne 
Herdreaktion sind den genannten Therapien nicht 
mehr zugänglich. 

Wittek (Graz): Heliotherapie ist indirekt bei 
allen tuberkulösen Erkrankungen, insbesondere 
der sogenannten chirurgischen Tuberkulose 
<Knochen, Gelenke, Drüsen, Peritoneum, Haut), 
bei fast allen Blutkrankheiten (Anämie, Chlorose, 
Leukämie) bei peripheren Neuralgien, bei Osteo¬ 
myelitis, bei Rachitis, ulcus cruris, Morbus Base- 
dowii. Die Heliotherapie ist überall möglich und 
soll überall durchgeführt werden. In der sonnen¬ 
armen Zeit durch Quarzlampen- und Röntgen¬ 
bestrahlung zu unterstützen. 

Stein (Wiesbaden); .Das wirksame Prinzip 
der künstlichen Lichtquellen ist wahrscheinlich in 
den ultravioletten Strahlen zu suchen. Die natür¬ 
liche HDchgebirgssonne ist jeder künstlichen Licht¬ 
quelle überlegen. Die besten Erfolge werden bei 
einer geeigneten Kombination der Röntgenbe¬ 
handlung mit künstlichen Lichtquellen bzw. natür- 
iicher Sonne erzielt. Neben der Strahlen- und 
Röntgenbehandlung ist die rein orthopädische 
Behandlung in allen Fällen von Knochen- und 
Gelenktuberkulose unerläßlich. 

Gocht (Berlin): Die ambulante orthopädische 
Behandlung wird bei tuberkulösen Knochen- und 
Gelenkprozessen am Schultergürtel am bequem¬ 
sten mit Schienen- und Hülsenapparaten durch¬ 
geführt, am Hüftgelenk und der unteren Extre¬ 
mität durch entlastende, extendierende und ruhig¬ 
stellende Qipsverbände und Schienenhülsenappa¬ 
rate, an der Wirbelsäule und am Kreuzbein durch 
entlastende und inklinierende Gips- und sonstige 


Korsette, eventuell mit Kopfextensionsvorrich- 
tungen. 

Stossei (Mannheim) verwirft jedes gewalt¬ 
same Redressement bei koxitischen und goniti- 
schen Kontrakturen. Für die Hüfte empfiehlt er' 
Etappenverbände ohne Narkose, für das Knie 
Ruhe, Wärme, vorsichtige Extension im Bett. 
Bei starker Kontraktur Tenotomie und Osteotomie. 

Georg Müller (Berlin) hat in zwei Fällen 
schwerster gonkischer Kontraktionen durch paren¬ 
teraler Proteinkörpertherapie — er spritzte alle 2 
bis 3 Tage 10 g Aolan (Ernst Fr. Müller) intra¬ 
muskulär ein"— günstige Erfolge erzielt 

Erich Müller (Berlin): Die Rachitis, ist eine 
allgemeine Stoffwechselkrankheit; sie tritt in den^ 
ersten Lebenswochen, vielleicht öfter schon vor 
der Geburt, auf. Vitaminreiche* Nahrungsmittel 
wirken günstig ein. Bestimmte endokrine Drüsen 
stehen in Beziehung zum Knochenwachstum und 
Kalkstoffwechsel. Zu den innersekretorischen 
Drüsen scheint auch die Haut zu gehören, damit 
wäre auch die erstaunliche Wirkung des Lichtes 
zu erklären. Vitamine und Licht würden also auf 
die Rachitis mittelbar durch die endokrinen 
Drüsen wirken. Die diätetische Behandlung muß 
schon in den ersten Lebenswochen, ja sogar schon 
in den letzten drei Schwangerschaftsmonaten, in 
denen das Skelett hauptsächlich gebildet wird, 
einsetzen. 

Huldschinsky (Berlin-Dahlem): Die Theorie 
der Ultraviolettwirkung bei Rachitis verlangt 
eine neue Theorie der Aetiologie. Diese muß inr 
Lichtmangel begründet sein (Fehlen der Rachitis ^ 
bei Farbigen und Naturvölkern). Ferner; alle 
Rachitis-Heilmittel haben Beziehungen zum Licht 
(Phosphor, Sonne, Aetorophyle, Lebertran). Die 
Prophylaxe muß schon im Säuglingsalter einsetzen 
zur Verhütung der sogenannten orthopädischen 
Rachitis und der sozial-hygienischen Schäden: 
Zahncaries, Gesichtsverbildung, Zwergwuchs, 
Plattfuß, Skoliose. Das Ziel der Strahlentherapie 
muß das modellierende Redressement sein, d. i. 
die allmähliche Einwirkung auf den verbildeten 
Skeletteil im Erweichungszustand, unter Fixierung 
des Resultates durch die Bestrahlung. Die Ultra- 
violettherapie der Rachitis ermöglicht, statt die 
Abheilung der Knochenweichheit abzuwarten, zu 
angreifenden Methoden (gewaltsames und etappen- 
weises Redressement) überzugehen. 


Referate. 


Der greise Begründer der wissenschaft¬ 
lichen Pharmakologie Prof. 0. Schmie¬ 
deberg überrascht seine Verehrer durch 
eine inhaltreiche Abhandlung über die 
Vorgänge bei der Zuckerausschei¬ 
dung im Diabetes, in der er die Ergeb¬ 
nisse zusammenfaßt, zu denen er mit 
seinen Schülern im Laufe der Jahre ge¬ 
kommen ist. Es ist von großem Inter¬ 
esse, die Anschauungen des Altmeisters 
kennen zu lernen, welche für uns auch 
dann lehrreich sind, wenn wir uns ihnen 
nicht vollkommen anschließen können. — 
Zu den im Organismus leicht und voll¬ 
ständig verbrennbaren Stoffen der Fett¬ 


reihe gehört der Traubenzucker, die d- 
Glykose, der unter den Stoffen dieser 
Reihe, insofern eine Sonderstellung ein¬ 
nimmt, als er das einzige, als direkte 
Energiequelle dienende Kohlehydrat ist. 
Normalerweise wird keine Glykose im 
Harn ausgeschieden. Selbst wenn man 
größere Mengen davon direkt ins Blut 
spritzt, geht nur sehr wenig in den Harn 
über. Während bei unverändertem Oxyda¬ 
tionsvermögen des. Organismus und er¬ 
haltener Verbrennbarkeit der Glykose ein 
richtiger Diabetes nicht entsteht und da 
selbst in den schwersten Fällen von Dia¬ 
betes das Oxydationsvermögen unver- 





231 


Juni • Die Therapie der Gegenwart 1921 

-___s___-- - - •_^_i!_^_^_^ 


’ ändert erhalten ist, muß im Diabetes der 
Traubenzucker u/nverbrennbar und da¬ 
mit auch für die Zwecke des Organismus 
unbrauchbar geworden sein. Dies ist 
bisher in den Erörterungen über das Zu¬ 
standekommen der diabetischen Glykos- 
urie nur wenig in Frage gekommen, und 
doch ist es nach Schmiedeberg eine un¬ 
abweisbare Forderung für alle Diabetes-' 
formen, deren Ursachen nicht in einer 
Veränderten Nierentätigkeit zu suchen 
sind. -Verfasser betrachtet zunächst den 
Kohlenoxyddiabetes. Straub hat als 
erster an Hunden festgestellt, daß bei 
der Kohlenoxydvergiftung nur dann 
Zucker im Harn auftritt, wenn die Tiere 
vorher ausreichend mit Fleisch oder mit 
Eiweiß oder Leim gefüttert waren. Bei 
eiweißarmer, doch an Traubenzucker oder 
Stärke reicher Kost blieb die Zuckeraus¬ 
scheidung aus. Rosenstein stellte aus 
den Verdauungsprodukten des Fibrins 
durch Pankreasgewebe ein möglichst leii- 
cin- und peptonfreies alkoholisches Ex¬ 
trakt (diabetogene Substanz) dar, das 
bei alleiniger Verfütterung keine, bei 
Kohlenoxyd Vergiftung nach vorheriger 
Verfütterung regelmäßig Glykosurie be¬ 
wirkte. Die Forderung der UnVerbrenn¬ 
barkeit des Zuckermoleküls kann beim 
Kohlenoxyddiabetes dadurch erfüllt wer¬ 
den, daß die diabetogene Substanz mit 
dem Zucker eine unverbrennbare Ver¬ 
bindung eingeht, aber erst bei der Ver¬ 
giftung. Durch einen derartigen Vorgang 
läßt sich auch am einfachsten das Zu¬ 
standekommen der Glykosurie beim 
Pankreasdiabetes und beim Diabetes me- 
iitus erklären. Für die Bildung der un¬ 
verbrennbaren Zuckerverbindung kom¬ 
men drei Faktoren in Betracht; die Gly- 
kose, die diabetogene Substanz und ein 
aus dem Pankreas stammendes Ferment, 
das aller Wahrscheinlichkeit nach unter 
‘gewöhnlichen Umständen die Verbiiädung 
der beiden ersten Substanzen verhindert. 
Im normal ernährten Organismus sind 
alle drei nebeneinander enthalten und im 
Gleichgewicht; bei Änderung des gegen¬ 
seitigen Mengenverhältnisses kommt es 
zur Störung desselben. Bei allen drei 
Diabetesformen ist demnach die Zucker¬ 
ausscheidung sowohl von dem Fortfall 
oder der Verminderung der Ferment¬ 
wirkung und vom Zuckergehalt des Or¬ 
ganismus als auch von einer verstärkten 
oder verminderten Bildung von diabeto- 
gener Substanz abhängig. Naunyn hat 
wiederholt betont, daß in Fällen von 
schwerem Diabetes melitus der Zucker- 


I _ ■ . 

gehalt des Harns meist umso größer ist, 
je mehr Fleisch gegessen wird und daß 
in vielen Fällen der Harn nur bei geringen 
Fleischrationen zuckerfrei wird. Was 
die Wirkung des Plilorizins anbetrifft, 
so denkt Schmiedeberg an eine., läh¬ 
mende Wirkung des Phlorizins auf das 
Pankreas, wodurch die Wirkung des 
eben erwähnten Ferments unterdrückt 
werden würde. Es wäre danach der Phlo- 
rizin- ein Pankreasdiabetes. Dagegen 
spräche nur das Fehlen der Hypergly¬ 
kämie, die jedoch nach Schmiedeberg 
keine notwendige Bedingung für das Zu¬ 
standekommen eines Diabetes ist. Sie 
hängt von der Geschwindigkeit der Ab¬ 
spaltung des Zuckers und der diabeto- 
genen Zuckerverbindung und seiner Aus¬ 
scheidung in den Nieren ab; aber die 
Geschwindigkeit besteht nur im Ver¬ 
hältnis zur Geschwindigkeit der Bildung 
der diabetogenen Zuckerverbindung. — 
Der Adrenalindiabetes ist höchstwahr¬ 
scheinlich ein Pankreasdiabetes, da experi¬ 
mentelle Untersuchungen eine' lähmende 
Wirkung des Adrenalins auf das Pankreas 
ergeben haben. Dadurch kommt es auch 
hier zum Fortfall der Fermentwirkung 
und zur Bildung der unverbrennbaren 
Zucker Verbindung. Kamnitzer (Berlin). 

(Zschr. f. exper. Path. ii. Pharmakol., Bd. 90, 
H. 1 u. 2.) 

Zur Frage der Verletzung der großen 
Halsgefäße und ihrer Behandlung berich¬ 
tet H. Gödde (Oberhausen). Nach einer 
Zusammenstellung Weises aus der neue¬ 
ren Literatur wurde nach Carotisver¬ 
letzungen mit Aneurysmabildung, also 
älteren Verletzungen, fünfzehnmal die 
Unterbindung ausgeführt, achtmal an 
der Carotis communis, siebenmal an der 
Carotis interna. Davon wurden sieben 
Patienten geheilt, vier starben, vier er¬ 
litten schwere centrale Lähmungen. Von 
fünfzehn Verletzungen, bei denen die 
Gefäßnaht ausgeführt wurde, heilten vier¬ 
zehn, einer starb. 

Bei frischen Carotisverletzungen wurde 
fünfzehnmal unterbunden, davon zweimal 
Carotis interna. Fünf wurden geheilt, 
drei starben, sieben trugen schwere Läh¬ 
mungen davon. Zweimal wurde die 
, primäre Naht mit sehr gutem Erfolg aus¬ 
geführt. 

In Göddes Fall, Minensplitterver- 
letzLing, die zwei Stunden nach dem Un¬ 
fall zur Operation kam, war die Vena 
jugularis interna vollkommen zerfetzt, die 
Carotis communis ganz durchschlagen. 
Beide Gefäße wurden unterbunden. Glatte 






232 Pie Therapie der Gegenwart 1921 ' VJitnl 


Heilung ohne Lähmungserscheinungen. 
Der drohende Zustand des Patienten er¬ 
laubte nicht, die Gefäßnaht auszuführen, 
die sonst die Methode der Wahl sein 
muß. W. Heyn (Berlin). 

(D. Zschr. f. Chir., Bd. 161, Heft 3/5.) 

Um aus der weiblichen Harnröhre 
Sekret zu entnehmen, ohne die Patientin 
irgendwie zu belästigen, gibt Ottow 
einen neuen Handgriff an, der sich sehr 
bewährt hat: Nach dem üblichen Reinigen 
der äußeren Geschlechtsteile mit einem 
Sublimatwattebausch wird ein Sims- 
sches rinnenförmiges Scheidenspecctilum 
eingelegt, wodurch die Vulva entfaltet 
und das Ostium ext. der Harnröhre frei¬ 
gehalten wird. Sobald nun der Zeigefinger 
der linken Hand in der Rinne vorgeführt 
und hinter der Schoßfuge in .sagittaler 
Richtung auf die Harnröhre aufgelegt 
ist, soll er nicht ausstreichend oder aus¬ 
drückend vorgezogen werden, sondern 
an Ort und Stelle liegen bleiben, wobei 
nur eine kräftige sukzessive von der 
Fingerspitze zur Fingerwurzel fortschrei¬ 
tende Druckbewegung ausgeübt wird. 
Auf diese Weise gelingt es, den Sekret¬ 
tropfen herauszubekommen, ohne daß 
eine Gefahr des Verwischens besteht. 
Die rechte Hand kann nun mühelos in 
üblicher Weise das Sekret entnehmen. 

Pul Vermacher (Charlotenburg). 

(Zbl.f. Gyn; 1921,. Nr. 16.) 

Gustave Dar de 1 (Bern) beschreibt 
einen Fall von doppelseitiger Hydro- 
nephrose mit Anurie bei Wandernieren. 
Gegenüber den Anschauungen früherer 
Autoren, die die Wandernieren im all¬ 
gemeinen als unschädliche Anomalien an¬ 
sahen, wissen wir heute, daß die Ren 
mobilis in nicht seltenen Fällen, sei es 
durch den Schmerz, sei es durch die Ver¬ 
änderungen, die sie den Nieren selbst 
oder den benachbarten Organen verur¬ 
sacht, oft die Veranlassung sehr ernster 
Krankheitsbilder sein kann. 

Die erworbene Hydronephrose gehört 
zu denjenigen Nierenerkrankungen, die am 
häufigsten doppelseitig Vorkommen. Auch 
die Wanderniere findet sich, obwohl sie in 
der überwiegenden Mehrzahl der Fälle auf 
der rechten Seite lokalisiert ist, nicht 
selten doppelseitig. Eingehende Berück¬ 
sichtigung der diesbezüglichen Literatur. 

Sehr instruktiv ist in Dardels Fall 
die Anamnese. (Zeitweise vollkommene 
Anurie, dann wieder Entleerung sehr 
großer Mengen Urins, sehr wechselnde 
Harnmengen, Schmerzen, sichtbare Vor¬ 
wölbung des Abdomens usw.) 


Nach mehreren vorausgegangenen ty¬ 
pischen Anfällen rechtsseitiger inter¬ 
mittierender Hydronephrose hatte sich 
die Hydronephrose plötzlich definitiv ge¬ 
schlossen. Operation: Einnähung des 
rechtsseitigen hydronephrotischen SackeS 
in die Haut. Ureter ließ sich nicht bis zur 
Blase sondieren. 

Nun anscheinend linksseitige ,,r€flek- 
torische‘' Anurie — und auch linksseitige 
Nierenbeckendraiiiage nach außen. Auch 
hier gelang es nicht, den Ureter bis zur 
Blase zu sondieren. Patientin (64jährige 
Frau) starb sieben Stunden nach der 
zweiten Operation. 

Autopsie ergab folgenden Befund: 
Linke Niere leicht vergrößert, Kapsel 
adhärent, Schnittfläche gelblich, leicht 
getrübt. Rinde 4 mm breit. Mark¬ 
pyramiden klein, Nierenbecken sehr er¬ 
weitert. Der linke Ureter, der spitz¬ 
winklig vom Becken abgeht, ist sehr eng, 
aber bis zur Blase durchgängig. 

An der Stelle der rechten Niere fand 
sich nur ein großer, schlaffer, dünnwandi¬ 
ger Sack. Am unteren Pol noch ein 
kastaniengroßer Nierenrest. "Der rechte 
Ureter ist vollkommen abgeknickt, je¬ 
doch auch gut durchgängig. 

Zum Schluß der Arbeit zwei Röntgen¬ 
bilder kollargolgefüllter hydronephroti- 
scher Nierenbecken und Mitteilung der 
Krankengeschichten. 

Verfasser kommt zu der Überzeugung, 
daß es sich empfiehlt, Wandernieren früh¬ 
zeitig zu behandeln, bevor es zur Aus¬ 
bildung einer Hydronephrose kommt. 
Führt konservative (orthopädische) Be¬ 
handlung nicht zum Ziel, Nephropexie 1 

W. Heyn (Berlin). 

(Arch. f. klin. Chir., Bd. 115, Heft 1/2.) 

Dr. Elisabeth Michaelsen schreibt 
über- Invaginationen. Im Kranken¬ 
haus St. Georg kamen in den letzten 
15 Jahren 343 Ileusfälle zur Beob¬ 
achtung, hiervon waren 43 = 12,5% 
durch Invagination verursacht. Mehrere 
Tabellen geben eine gute Übersicht über 
die Dauer der Erkrankung, Therapie (Ein¬ 
lauf, Operation, die in Desinvagination 
oder Resektion oder Anus praeter besteht) 
und über die Häufigkeit in den verschie¬ 
denen Lebensaltern. Verfasserin kommt 
am-Schluß ihrer Arbeit zu folgender Zu¬ 
sammenfassung: 

Die meisten Invaginationen fallen auf 
das Säuglingsalter (56%), auf das Kindes¬ 
alter 28%, auf Erwachsene 16%. Am 
häufigsten ist die Invaginatio ileocoecalis, 
bei den Säuglingen 100 %, bei größeren. 




Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


233 


Kindern. 33%, bei Erwachsenen 14%. 
Bei den beiden letzten Gruppen überwiegt 
die iliacale Form. 

Auf 43 Invaginationen kommen 3 
{== 7%) doppelte Einscheidungen. 

Ätiologie bleibt meist ungeklärt. Darm¬ 
katarrhe bei Säuglingen scheinen nur eine 
untergeordnete Rolle zu spielen. Prädis¬ 
ponierend scheint ein mobiles Coecum oder 
Sigmoid zu sein. 

Ein die Invagination veranlassender 
Tumor braucht nicht dauernd an der 
Spitze derselben zu sitzen. 

Nicht alle Invaginationen lassen sich 
nach der spastischen Theorie Nothnagel- 
Proppings erklären. Bei infiltrierenden 
Tumoren muß man die Leichtenstern- 
.sche Theorie der paralytischen Ent¬ 
stehungsweise heranziehen. 

Der Krankheitsbeginn ist bei Kindern 
meist viel stürmischer und schwerer, viel¬ 
leicht wegen des engeren Darmlumens. 
Die Mortalität ist bei Säuglingen am 
größten = 75%, bei größeren Kindern 
33%, bei Erwachsenen 43%, im Durch¬ 
schnitt 58,1 %. Als Therapie verdient die 
operative Desinvagination, even¬ 
tuell nach vorher versuchten Einläufen, 
hei Säuglingen und Kindern den Vorzug. 
Bei Erwachsenen gibt auch die. Resektion 
gute Resultate. M. Borchardt (Berlin). 

(D. Zschr. f. Chir., Bd. 161, Heft 3/5.) 

Die elementare Gefahr jeder tiefen 
Narkose besteht in der Überdosierung, 
wobei die Wirkung auf die Medulla ob- 
longata übergreift, was zum Atemstill¬ 
stand führt. Hierzu disponiert besonders 
das Chloroform, das eine nur geringe Nar¬ 
kosenbreite hat. Ferner dem Chloroform 
eigentümlich ist die meist tödlich endende 
Herzsynkope, die eintreten kann, ehe es 
überhaupt zur Allgemeinnarkose gekom¬ 
men jst. Außerdem beobachtet man nach 
Chloroformnarkosen toxische Spättodes- 
■fälle, die auf der Affinität des Chloro¬ 
forms zu dem Parenchym 'der großen Drü¬ 
sen sowie der Skelett- und Herzmuskulatur 
beruhen. Hierbei können Zellschädigun¬ 
gen dieser Organe auch nach Ausschei¬ 
dung des Narkoticunis weiter zunehmen 
und rasch zum Tode führen. Vorwiegend 
dem Äther eigentümlich sind entzünd¬ 
liche Nachkrankheiten der oberen Luft¬ 
wege und der Lunge. Bel vorhandenen 
Katarrhen ist deshalb die Narkose zu ver¬ 
meiden. Unbedingt dafür zu sorgen ist, 
daß die Kranken nach Beendigung der 
Narkose, während der jede Abkühlung 
zu verhindern ist, nicht noch lange im 
Halbschlaf liegen bleiben, sondern bald 


wach werden und gehörig atmen. Auch 
in den nachfolgenden Tagen ist eine 
methodische Atemgymnastik fortzusetzen. 
Ein wirksames Mittel zur Herabsetzung 
der Reizwirkurig des Äthers besteht in der 
gleichzeitigen Verabreichung von Atropin 
(Morph, mtir. 0,2, Atrop. 0,01, Aq. dest. 
ad 20,0, 20 Minuten vor Beginn der 
Narkose 1 bis 2 ccm subcutan). Eine ge¬ 
legentliche Gefahr stellt die akute Magen¬ 
lähmung dar, die meist nach Bauchopera¬ 
tionen auftritt und deren erste und einzige 
Symptome vielfach gesteigerter Durst, 
Unruhe, leichter Anstieg des Pulses 
sind. Weiterhin kann es zu gußweisem, 
galligen Erbrechen, Auftreibung des 
Leibes, Singultus und schließlich zum 
Exitus kommen. Diese Komplikation 
läßt sich durch Vermeidung allzu langer 
Karenz vor der Operation und durch Zu¬ 
rückhaltung bei der Wiederaufnahme der 
Nahrung verhindern. Sowohl nach Äther 
als auch nach Chloroform kommt es viel¬ 
fach zu vorübergehender Acidose, die be¬ 
sonders beim Diabetiker bedenklich ist. 
Wenn möglich, soll man deshalb bei 
Zuckerkranken die Narkose zugunsten 
der peripheren Anästhesie vermeiden. 
Letztere ist in neuerer Zeit erheblich aus¬ 
gebaut worden. Wenngleich man auch 
hierbei vor Komplikationen nicht absolut 
sicher ist, so hat sie doch vor der Nar¬ 
kose mancherlei Vorteile. Für bestimmte 
Operationen, wie z. B. solche des Ge¬ 
sichtes, des Schädels, des Halses, bei 
Brustfellempyem ist sie besonders ge¬ 
eignet. Während bei Bruchoperationen 
kleinere Eingriffe, wie z. B. Bauchopera¬ 
tionen, gut unter örtlicher Schmerzstil¬ 
lung vorgenommen werden können, ist 
die für größere erforderliche Splanch- 
nicusanaesthesie noch oft unvollständig. 
Ebenso ist die bei Eingriffen am Hals 
und am Rumpf in Beti-acht kommende 
Paravertebralanästhesie nicht frei von 
Zwischenfällen. Kamnitzer. 

(Ther. Hmh. 1921, Nr. 6.) 

Eppinger bespricht die Indika¬ 
tionen zur chirurgischen Behand¬ 
lung der Nephritis. Dieselbe sucht 
durch Dekapsulation die extreme Span¬ 
nung der Nierenkapsel und die dadurch 
herbeigeführte Nierenstauung aufzuheben. 
Sie kommt im Verlaufe der akuten Ne¬ 
phritis in Betracht, wenn Anurie einge¬ 
treten ist. Am günstigsten sind die Aus¬ 
sichten, wenn die Operation innerhalb 
der ersten 24 Stunden vorgenommen 
wird. Ferner soll man dekapsulieren, 
wenn die Obligurie im Verlauf einer aku- 

30 




'.234 


Die Therapie der Gegenwart 1921 . Juni 


ten Nephritis stark zunimnit. Auszu¬ 
schließen ist eine eventuelle Herzinsuffi¬ 
zienz. Außerdem, wenn das bedroh¬ 
liche Stadium der akuten Nephritis mit 
hohem Blütdruck, Oligurie, Hämaturie 
und Druckempfindlichkeit der Nieren 
länger als einen Monat dauert. Bei chro¬ 
nischen Nephritiden wird man nur dann 
eine Dekapsulätion erwägen, wenn es zu 
einer akuten Exacerbation mit Anurie 
und Hämaturie gekommen ist. Nieren¬ 
sklerosen kommen für die chirurgische 
Behandlung nicht in Frage. Bei der aku¬ 
ten Nephrose läßt sich eine Anurife oft 
durch die Dekapsulation bannen, ebenso 
wie man damit bei nephritischer Massen- 
blutung mit bedrohlicher Hämaturie 
meist günstige Erfolge erzielen wird. Bei 
nephritischer Nephralgie gelingt es ge¬ 
wöhnlich, durch die Dekapsulation die 
Schmerzen zum Verschwinden zu bringen. 
Bei sicherer einsichtiger Nephritis soll 
man schon deshalb die Operation aus¬ 
führen, weil mit der Möglichkeit einer 
nephrotoxischen Schädigung der bis da¬ 
hin gesunden Niere gerechnet werden 
muß. Ebenso soll bei Nephritis aposte- 
matosa die Dekapsulation unbedingt aus¬ 
geführt werden. Früher war die Eklam¬ 
psie in graviditate ein Indikationsgebiet 
für die Entkapselung, doch ist dieser 
Standpunkt allgemein verlassen, 

JTher. Hmti. 1921, Nr. 8). Kamnitzer. 

Mft Placenta-Opton, welches nach den 
Angaben Abderhaldens von der Firma 
Merck aus menschlichen Placenten her¬ 
gestellt wird — jede Ampulle enthält 
0,05 Placenta-Opton —, hat Martin 
(Elberfeld) recht zufriedenstellende Ver¬ 
suche angestellt. Zu beachten ist, daß 
es im Gegensatz zu den Hypophysen¬ 
präparaten nur bei den Fällen angewandt 
wurde, bei welchen ohne voraufgegangene 
Wehentätigkeit die Fruchtblase ge¬ 
sprungen war. Während man vorher 
durch die aufgelegte Hand keine Wehen 
beobachten konnte, traten letztere sofort 
nach der ersten Einspritzung auf, wobei 
sonstige Mittel zur Anregung der Geburt 
nicht herangezogen wurden. Es konnte 
so festgestellt werden, daß durch das 
Placenta-Opton rhythmische Zusammen¬ 
ziehungen des Hohlmuskels ausgelöst 
wurden. Wenn auch in den einzelnen 
Fällen die Wirkung verschieden war, so 
tritt' doch deutlich hervor, daß im all¬ 
gemeinen ein Eintritt der Wehen erzielt 
wurde. War erst das erreicht, so ließen 
die Wehen nicht mehr nach; meist wurden 
vkv Ampullen innerhalb acht Stunden in 


die Glutäen - injiziert. Weder für die 
Mutter, noch für das -Kind trat eine 
Schädigung ein. Demgegenüber war das 
Mittel bei überfälligen Schwangeren. er- 
Jolglos.. Über die Art der Wirkung läßt 
sich bis jetzt noch nichts sagen, nur das 
steht fest, daß im Placenta-Opton Be¬ 
standteile enthalten sind, welche rhyth¬ 
mische Zusammenziehungen des Hohl-- 
muskels auslösen. Zu gleichem Resultat 
ist auch Puppe 1 bei seinen Versuchen 
mit dem Placenta-Opton gekommeUj, 
dessen Arbeit in demselben Heft steht. 

Pulver mach er (Charlotten bürg.) 

(Mschr. f. Geburtsh. 1921, Heft 5.) 

In einer bemerkenswerten Abhandlung 
zur Heilbarkeit des Tabes teilt uns 
G. L. Dreyfus seine langjährigen Er¬ 
fahrungen in der Behandlung dieser 
Krankheit mit. Während er anfänglich 
(1911—1913) abwechselnd Salvarsan und 
Quecksilber gab, ist er seit sechs Jahren 
von der kombinierten Kur abgekommen, 
weil er beobachtet hatte, daß diese dort 
schadete, wo das Salvarsan allein später 
noch Nutzen brachte. Das Jod dagegen 
soll in den behandlungsfreien Zwischen¬ 
räumen gegeben werden. Wenn man bei 
der Behandlung der Tabes Erfolge er¬ 
zielen will, darf man in der Wahl des 
Salvarsanpräparates und der Einzeldosis 
sich an kein Schema halten. Für alle 
Tabiker aber gilt die Grundforderung: 
,,große Gesamtdosis (4—5 g Silbersal- 
varsan, 8—10 g Neosalvarsan usw.) wäh¬ 
rend einer Kur bei vorsichtigster Einzel¬ 
dosierung, und chronisch intermittieren¬ 
der Behandlung“. Die behandlungsfreien 
Zwischenräume sollen etwa 3—6 Monate 
betragen, die ganze Kur währt durch¬ 
schnittlich drei bis fünf Jahre. Nur äu¬ 
ßerste Zähigkeit des Arztes und unent¬ 
wegte Ausdauer ermöglichen Besserung 
oder gar Heilung. An dem Krankheits-^ 
verlauf eines Tabikers, den D. in der 
Lage war, über mehr als zehn. Jahre zu 
beobachten, wird gezeigt, w^as durch eine 
konsequent durchgeführte Kur erreicht 
werden kann. Während der ersten vier 
Beobachtungsjahre, während welcher 
Zeit eine Schmierkur, eine einmalige intra¬ 
muskuläre Salvarsaninjektion und eine 
Kalomelkur deutliche Verschlimmerung- 
hervorriefen, schritt das Leiden unauf¬ 
haltsam fort. Im Verlauf und nach dee 
ersten Salvarsankur trat jedoch einr 
deutliche Besserung ein, die anhielt und' 
bei konsequent durchgeführter Weiter¬ 
behandlung zum Verschwinden nahezir 
aller subjektiven und objektiven Sym- 




Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


235 


ptome ' führte. Entsprechend dem kli- 
nischp Verhalten wurde die Wassermann¬ 
reaktion im Blut negativ und der Liquor, 
der früher die für Tabes charakteristischen 
Veränderungen' aufwies, zeigte wieder 
einen normalen Befund. 

(Wir sind auch Anhänger specifischer 
Therapie der Tabes und sind ebenfalls der 
•Meinung, .daß das Heil in häufig erneuter 
Behandlung liegt, bei möglichster Be¬ 
achtung des Allgemeinbefindens. Wir 
haben aber auch von Schmierkur ‘ und 
Kalomel oft gute Erfolge gesehen. Die 
Einzelbeqbachtung, auf die Dreyfus sich 
beruft, kann nicht viel beweisen; Ver¬ 
schlimmerungen ebenso wie langdauernde 
Stillstände sieht man auch ohne Behand¬ 
lung. Nur lange Beobachtungszeiten ent¬ 
scheiden. Aus solchen entnehmen wir 
im Krankenhaus Moabit die Lehre, daß 
zwischen Hg und Salvarsan in der Tabes¬ 
therapie kein wesentlicher Unterschied 
besteht). Horovitz (Berlin). 

Dr. C. Mau (Kiel) berichtet über 
die Tuberkulindiagnostik in der chir¬ 
urgischen • Tuberkulose. Ein Material 
von 99 Fällen mit 111 teils sicher tuber¬ 
kulösen, teils . tuberkuloseverdächtigeri 
Erkrankungsherden. Fälle mit klinisch 
nachweisbarem Lungenbefund wurden 
ausgeschlossen. Technik: In allen Fällen 
zunächst Pirquet, bei negativem Ausfall 
desselben noch intracutan 0,1 mg und 
1,0 mg Alttuberkulin Koch, bei positivem 
Ausfall gleich die subcutanen Proben. 
Ursprünglich Beginn mit 0,2 mg, in den 
letzten Fällen gleich mit 1,0mg,dann 5,Obis 


10,0 mg. Die Probe wurde abgebrochen,, 
wenn deutliche Herdreajction eintrat. 

. Injektionszeit morgens. Injektionsstelle: 
Bauchhaut (ausgenommen die Fälle von 
Bauchtuberkulose). Bei fieberhaften Reak¬ 
tionen Wurden vor der nächsten Injektion 
zwei temperaturnormale Tage abgewartet. 

Die behandelten Fälle umfassen das 
ganze Gebiet der chirurgischen Tuber¬ 
kulose. Die Ergebnisse faßt Verfasser 
einerseits nicht so optimistisch wie Kopp¬ 
ler, Bromeyer u. a., aber auch nicht 
so pessimistisch wie Sundt und Duth- 
weiler in ihren Arbeiten auf. Verfasser 
konnte eine positive Herdreaktion in etwa 
zwei Drittel der Fälle chirurgischer Tuber¬ 
kulose beobachten. Geschlossene Tuber¬ 
kulosen reagierten häufiger positiv als 
fistelnde und mit Abscessen komplizierte; 
Ausgeheilte Fälle gaben keine Herd¬ 
reaktion. Nur subjektive. Angaben einer 
Herdreaktion sind nicht eindeutig. Bei 
negativem Ausfall sämtlicher Reaktionen 
ist Tuberkulose mit Sicherheit auszu¬ 
schließen, beim negativen Ausfall von 
Temperatur- und Herdreaktion- bei posi¬ 
tiver Stichreaktion mit großer Wahr¬ 
scheinlichkeit abzulehnen. 

Eine negative Herdr^ktion bei posi¬ 
tiver Temperaturreaktion spricht nicht 
gegen Tuberkulose. Jedenfalls ist die 
diagnostische Tuberkulininjektion, wenn 
sie auch nicht in allen Fällen zum Ziel: 
führt, doch eine wertvolle Bereicherung, 
der Diagnostik und, wenn sie genau tech¬ 
nisch ausgeföhrt wird, jedenfalls un¬ 
schädlich.’ M. Borchardt (Berlin). 

(D. Zschr. f. Chir., Bd. 161, Heft 3/5.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Aus dem städtischeii Krankenhaus Südufer-Eerlin (leitender Arzt: Dr. Georg Eisner) 

Über Optarson, eine Solarson«Strychninmischung. 

Von Dr. Georg Eisner. 


Von den Farbenfabriken vorm. Bayer 
& Co., Leverkusen, ist mir seit etwa 
drei viertel Jahren ein Präparat zur Ver¬ 
fügung gestellt worden, das in 1 ccm neben 
0,01 g Solarson (= 4 mg ASoOg) zunächst 
0,75 mg, später 1 mg Strychninum nitricum 
enthielt und jetzt unter dem Namen 
Optarson in Ampullen zur subcutanen 
Injektion in den Handel gekommen ist. 
Das Anwendungsgebiet ergibt sich ohne 
weiteres aus der Art der Zusammensetzung 
des Mittels. Ich brauche deshalb nicht 
näher darauf einzugehen und will nur auf 
die Arbeit von Blank (1) hinweisen, der 
kürzlich die Anwendungsmöglichkeiten des 


Strychnins näher auseinandergesetzt hat. 
Es sei nur noch erwähnt, daß Wenke- 
bach (2) das Strychnin sehr für die Be¬ 
handlung der Extrasystolie empfiehlt, und 
daß kürzlich von W. Cohn (3) und Firn¬ 
haber (4) die Bedeutung des Solarsons 
für die Behandlung gewisser Herzkrank¬ 
heiten, besonders solcher nervöser Natur, 
hervorgehoben wurde. 

Ganz neu ist die kombinierte Behand¬ 
lung mit Arsen und Strychnin nicht. Ab¬ 
gesehen davon, daß viele Ärzte schon 
immer bei ihren Verordnungen derartige 
Zusammenstellungen gemacht hatten, gab 
es auch bereits im Handel ähnliche Ver- 


30* 






236 


Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


binduligeii. Burrougli-We llcome hatten 
mehrere derartige Präparate hergestellt. 
Das Asthonin (MBK.) und das Strych- 
notonin (ein ungarisches Präparat) sind 
Verbindungen von Arsen, Strychnin und 
glycerinphosphorsaurem Natron. Beide* 
Mittel gelten als gute roborierende und 
tonisierende Präparate. — Der Vorzug 
des Optarsons beruht auf der nunmehr 
von zahlreichen Autoren anerkannten be¬ 
sonderen Wirkung des Solarsons. 

Über den Wert des Optarsons kann 
ich mich sehr kurz fassen. Ich habe bei | 
40 bis 50 Kranken, bei denen eine dem 
Mittel entsprechende Indikation vorlag, 
die Behandlung durchgeführt und fast 
immer gute, mitunter sogar ausgezeichnete 
Erfolge gesehen. Meist wurden allerdings 
20 bis 25 Injektionen, mehrmals sogar 30 
vorgenommen, bei einigen Kranken täg¬ 
lich, bei anderen alle zwei Tage. Ohne 
auf Einzelheiten näher eingehen zu wollen, 
sei nur hervorgehoben, daß die meisten 
Patienten sich schon nach wenigen Ein¬ 
spritzungen frischer und kräftiger zu 
fühlen begannen, sie wurden ruhiger, 
schliefen gut, bekamen vor allem Appetit 
und nahmen infolgedessen schnell an Ge¬ 
wicht zu'. Es wurden Körpergewichtszu¬ 
nahmen bis zu 20 bis 25 Pfund in wenigen 
Wochen gesehen. Zunahme des Hämo¬ 
globingehaltes und Steigen der roten Blut¬ 
körperchenzahlen war stets in mehr oder 
weniger hohem Grade festzustellen. Nach 
den bisherigen Beobachtungen war der 
Erfolg auch kein schnell vorübergehender, 
sondern hielt lange Zeit an. 

Zwei Fälle seien kurz besonders er¬ 
wähnt. Es handelte sich um Erschöp¬ 


fungszustände nach Encephalitis le- 
thargica mit noch deutlich vorhandenen 
Zeichen dieser Erkrankung, sehr größer 
Mattigkeit, Teilnahmslosigkeit und einer 
gewissen Schlafsucht. In beiden Fällen 
trat nach Optarsonbehandlung eine auf¬ 
fallende Besserung ein. Die Kranken er¬ 
holten sich schnell, sie würden lebhaft 
und munter und bekamen Interesse für 
die Vorgänge um sie herum. Ich empfehle 
das Optarson für die postencephalitischen 
Zustände, wie überhaupt für postinfektiöse 
Schwächezustände, besonders. — Einen 
ganz ausgezeichneten und noch besonderer 
Erwähnung werten Erfolg hafte ich bei 
einer 42 jährigen Patientin mit perniziöser 
Anämie. In zweieinhalb Monaten stieg 
unter Verabfolgung von insgesamt 66 ccm 
Optarson der Hämoglobingehalt von 20% 
auf 80% (nach Sahli), die Erythrocyten- 
zahl von 1 172000 auf 3390000. Das 
Blutbild, das anfangs Anisocytose, 
Poikilocytose, Megalocytose, Polychrom- 
atophilie und vereinzelte Normoblasten 
aufwies, wurde fast ganz normal. Der 
Allgemeinzustand besserte sich ent¬ 
sprechend. Die Patientin fühlte sich 
völlig gesund und zeigte eine frische 
Gesichtsfarbe. 

Die bisher mitgeteilten günstigen Beob¬ 
achtungen von G. Klemperer (5) und 
Lange (6) kann ich auf Grund meiner 
Resultate bestätigen. 

Literatur: 1. Blank (Th. d. Geg. 1920, 9). 

— 2. Wenkebach, Die unregelmäßige Herz¬ 
tätigkeit und ihre klinische Bedeutung. Verlag 
W. Engelmann. 1914. — 3. W. Cohn (Th. d. Geg. 
1920, 11). — 4. Firnhaber (Th. d. Geg. 1921, 1). 

— 5. G. Klemperer (Th. d. Geg. 1921, 3). — 
6. Lange (D. m. W. 1921, 17). 


Zur Therapie des Erysipelas migrans. 

Von Dr. Hugo Schmidt, Bad Liebenstein, früher Straßburg i. Eis. 


•Jedermann weiß, daß sowohl die 
essigsaure Tonerde, wie auch der Alkohol 
•ein gutes Desinfektionsmittel ist. Beide 
Mittel werden zur Behandlung des Ery¬ 
sipels mit Recht empfohlen. Besser aber 
ist noch die Kombination beider, 
etwa in folgender Verbindung: 

Rp. Liqu. aliim. acet. 5,0 

Aqu . 50,0 

Spir, dil ad , . 100,0 

Statt Spir. dil. kann auch der 75 %ige 
Alkohol oder der gewöhnliche Brenn¬ 
spiritus verwendet werden. Beide Vari¬ 
anten scheinen mir in praxi die gleiche 
desinfektorische Kraft zu besitzen, die — 
soviel mir bekannt — auch wissenschaft¬ 
lich erprobt und bestätigt ist. 


Diese Kombination von verdünnter 
essigsaurer Tonerde mit Spiritus ist zwei¬ 
fellos ein kräftigeres Desinfektionsmittel 
als seine Komponenten einzeln ver¬ 
wendet. Es bewährt sich ganz ausge¬ 
zeichnet bei Phlegmonen der Haut mit 
fortschreitendem, bösartigem Charakter, 
und vermag den entzündlichen Prozeß 
auffallend schnell zu lokalisieren. Deshalb 
verwendete ich es in obiger Form kürzlich 
bei einem Erysipel eines dreimonatigen 
Säuglings, das von einem Halsintertrigo 
aus bereits über die ganze Brust und beide 
Schultern vorgedrungen war. Das Mittel 
wurde zu Umschlägen verwandt, die über 
das ganze Gebiet der entzündeten Haut 
gelegt und jedesmal dann wieder erneuert 



Die Therapie der Gegenwart 1921 


237 


Jani 


wurden, sobald sie trocken geworden | 
"waren: Der Erfolg war prompt. Innerhalb 
drei Tagen war das Erysipel an allen 
Stellen zum Stillstand gebracht und nur 
wenig über die oben beschriebenen An¬ 
fangsgrenzen hinausgewa'hdert. 

Bald darauf probierteMch das Mittel 
auch bei einer Mastitis acuta puerperalis, 
die in der Nähe des Warzenhöfes be¬ 
gonnen hatte, mit dem Erfolg, daß die 
Phlegmone in ganz engen Grenzen lokali¬ 
siert blieb, die eitrige Reifung innerhalb 
z)yei Tagen erfolgte und nach der In- 
cision der ganze Prozeß in acht Tagen 
abgeheilt war. Dabei brauchte das Kind 
nicht abgesetzt zu werden, sondern trank 


I vermittels eines .Warzenhütchens an der 
erkrankten Brust weiter. 

Wenn man bedenkt, welch’ heikle Er¬ 
krankung eine phlegmonöse Mastitis 
puerperalis darstellt, so muß man ge¬ 
stehen, daß mit dem genannten Mittel 
hier cito, tuto et jucunde geheilt worden 
war. Eine Empfehlung der glücklichen 
Kombination, der verdünnten essigsauren 
Tonerde mit Spir. dil. beziehungsweise 
Brennspiritus erscheint mir aber gerade 
für Erysipel angebracht und zwar um so 
mehr, als die einzelnen Bestandteile 
leicht zu beschaffen, unter. Umständen 
sogar in der Familie selbst alle vorrätig 
sind. 


Aus dem Dermatologisclien Institut von Dr. Bah und Dr. Tr eitel, Berlin. 

Mitigal, ein neues Krätzemittel. 

Von Dr. Wilhelm Stein, Assistenzarzt. 


Unter den zahlreichen Mitteln zur 
Krätzebehandlung sind die meist be¬ 
währten für den Patienten, der nament¬ 
lich in der Privatpraxis die ambulante 
Durchführung der Kur wünscht, dadurch 
unangenehm, daß sie die lästige Neben- 
^wirkung starken Geruches oder unan- 
"genehmer Beschmutzung der Wäsche mit 
sich bring'en. Antiscabiosa, denen diese 
Nachteile nicht anhaften, sind in letzter 
Zeit im Preise so gestiegen, daß wir un¬ 
sere Erfahrungen mit Mitigal hier zur 
Kenntnis bringen, da es sich uns durch 
seine gute Wirkung, seine Unschädlich¬ 
keit für den Patienten und seine Billig¬ 
keit bewährt hat. 

Chemisch stellt Mitigal eine organische 
Schwefelverbindung mit fest im Kern ge¬ 
bundenen Schwefel dar. Der Gehalt an 
Schwefel ist ungefähr 25 %. Mitigal ist 
ein hellgelbes, dickflüssiges Öl, das fast 
als geruchlos zu bezeichnen ist. In der 
Kälte manchmal vorhandene Trübung 
der Flüssigkeit verschwindet bei mäßiger 
Erwärmung. 

Wir haben Mitigal in folgender Weise 
angewandt: 

Der ganze Körper, der Hals bis zum 
Schildknorpel ausgenommen, wurden 
gründlich mit der Flüssigkeit eingerieben. 
Der^ Patient, der in den meisten Fällen 
di€ Einreibung selbst vornahm, rieb sich 
mit der Hand fest ein. Wir. ließen die 
Patienten die Einreibung abends vor dem 
Schlafengehen vornehmen und am darauf¬ 
folgenden und dritten Tag, im ganzen 
dreimal, wiederholen. Am fünften Tage 


gaben wir ein Reinigungsbad, den Ange¬ 
hörigen der Krankenkassen meist ein 
Schwefelbad. In einzelnen Fällen mußte 
die Kur wiederholt werden, da infolge 
wochenlangen Bestehens der Scabies Aus¬ 
schläge vorhanden waren. Auch diese 
'Pustelbildungen heilten unter Mitigal- 
anwendung sehr schnell ab. Bei einem 
hartnäckigen Fall wurden die nach der 
Kur noch vorhandenen Borken mit er¬ 
weichenden Salben nachbehändelt. 

Meist beseitigte schon die erste Ein¬ 
reibung den Juckreiz, nach dreimaligem 
Einreiben gaben alle Patienten an, daß 
derselbe geschwunden sei. Rezidive wur¬ 
den bei den von uns nachuntersuchten 
Patienten nicht beobachtet. Bei einigen 
Patienten, die nach sechs Wochen wegen 
anderer Erkrankung wieder erschienen, 
konnten wir uns von dem Dauererfolg der 
Behandlung überzeugen. 

Schädigende Nebenwirkungen traten 
bei Durchführung der Behandlung nicht 
auf. Intensive Entzündungserscheinungen 
der Haut, wie Ekzeme, Dermatitis und 
andere, wie sie andere Krätzemittel öfter 
hervorrufen, konnten wir nicht feststellen. 
Die Urinkontrolle ergab ebenfalls die 
Unschädlichkeit des Mittels, im Gegensatz 
zum Perubalsam und seinen Ersatzmit¬ 
teln, die öfter die Nieren in Mitleiden¬ 
schaft ziehen. Was die Patienten in An¬ 
betracht der Knappheit an Wäsche be¬ 
sonders angenehm empfanden, war der 
Umstand, daß Mitigal nur wenig Flecken 
hervorrief und keinerlei störenden Geruch 
besitzt. 





238 


Die Therapie der Gegenwart 1921. ^ , Juni 

Zittmannin, ein Unterstützungsmittel bei Salvarsan und Hg-Kuren. 

^ ' Von Dr. med. Fritz Fulda, Mannheim. 


Gerade in unserer Zeit, welche die I 
Erfolge der Salvarsanbehandlung in ihren | 
verschiedenen Formen voll anerkennt, | 
erscheint es angebracht, auf ein Präparat | 
hin'zuweisen, welches dazu angetan ist, i 
die Wirkung dieses vorzüglichen Heil¬ 
mittels zu verstärken und zu erleichtern. 
In einer großen Reihe von Fällen muß 
wegen Zeit- oder Geldmangel von Bade¬ 
kuren abgesehen werden, in vielen Fällen 
kann nur eine leichte intercurrerite Jod¬ 
oder Quecksilberkur angewandt werden. 
Deshalb ist es um so erfreulicher, wenn 
man zur Unterstützung der Heilwirkung 
und als Mittel zur Nachkur zu einem 
Medikamente greifen kann, das sich ohne 
jede Berufsstörung und unangenehme 
Nebenerscheinungen anwenden läßt. Es 
ist dies das seit langen Jahren erprobte 
und anerkannte Sarsaparillepräparat, das 
schon im Jahre 1536 von Nikolaus 
Monardos in Sevilla als wirksames Heil¬ 
mittel gegen Syphilis erwähnt wurde. 
Nach Europa kam die Sarsaparille durch 
die Spanier, welche bei den Eingeborenen 
von Amerika die Droge als hochgeschätz¬ 
tes Mittel gegen Haut- und Geschlechts¬ 
krankheiten kennengelernt hatten. Spä¬ 
ter hat die Sarsaparille als Mittel gegen 
Lues und auch als Blutreinigungsmittel 
im Arzneischatz aller Länder Aufnahme 
gefunden. In Deutschland erschien das 
bekannteste Präparat, das Dekokt Zitt- 
manni, nach dem Dresdener Arzte Dr. 
Zittmann so genannt; es fand so auch in 
den Arzneimittellehren Aufnahme und 
hat auch bis heute dort seinen Platz be¬ 
hauptet. Seltsamerweise liegen exakte 
Forschungen über die Sarsaparille trotz 
ihres großen Verbrauchs nicht vor. Ihre 
Anhänger betonen die große durch¬ 
greifende Blutreinigung und fassen in 
diesem Begriff die erhöhte Anregung von 
Diurese und Schweiß, sowie die Ver¬ 
mehrung von Speichel- und Schleim¬ 
absonderung zusammen. 

Der Hauptgrund, warum die An¬ 
wendung der Sarsaparille in Deutschland 
im Vergleich zum Ausland, wo sie weit 
verbreiteter ist, weniger Anhänger hat, 
liegt in der veralteten Darreichungsform , 
des Dekokt Zittmanni. Deshalb war es, 
notwendig, die Präparate der Sarsaparille 
in eine bequeme, leicht anzuwendende 
Form zu bringen, wie es nun tatsächlich 
durch die Zittmannintabletten gelungen 
ist. Diese sollen als Nachkur nach Sal- 


I varsan und Quecksilber während der 
I Karenzzeit oder in Fälten, wo eine Gegen- 
I indikation gegen Salvarsan besteht, an- 
I gewendet werden. Besonders zu emp- 
I fehlen ist das Zittmannin auch bei Patien¬ 
ten, die schlechter Ernährungsverhältnlsse 
halber gegen Salvarsan in größeren Men¬ 
gen empfindlich sind, sodaß die kleinen 
Dosen zu einer vollständigen Heilwirkung 
nicht genügen. ' Auch als Kombination 
mit einer Schmierkur werden die Zfft- 
mannintabletten mit Erfolg angewandt. 
Außerdem haben die Tabletten noch den 
nicht geringen Vorzug der billigeren Ver¬ 
ordnungsweise. Sie kommen in Schach¬ 
teln zu 40 und 80 Tabletten in den Handel. 
Die Dauer der Kur soll vier bis sechs 
Wochen währen, nht Verordnung von 
dreimal zwei bis dreimal vier Tabletten 
täglich. 

Die Absicht, die Heilkraft der Sarsa¬ 
parille vollkommen auszunutzen, dabei 
aber ein Mittel herzustellen, das sich 
leicht und bequem nehmen läßt, ohne 
Berufsstörung zu erzeugen, darf durch 
die angestellten Versuche wohl als ge¬ 
lungen betrachtet werden. Dabei darf 
nicht vergessen werden, daß das Präparat 
völlig ungiftig ist, und somit ohne schäd¬ 
liche Nebenwirkung in vorgeschriebener 
Dosis monatelang genommen werden kann. 
Mit Sicherheit ist anzunehmen, daß Zitt¬ 
mannin den Körper auf nachfolgende, 
anstrengende Salvarsan-und Quecksilber¬ 
kuren langsam vorbereitet; auch nach 
beendeter Salvarsankur konnte beob¬ 
achtet werden, daß sich die Patienten 
unter dem Einfluß von Zittmannin rascher 
erholten. Alte luetische Geschwüre heil¬ 
ten schneller ab und verschwanden bald 
ganz ohne Anwendung von anderen Heil¬ 
faktoren. 

Zusammenfassend kann wohl behaup¬ 
tet werden, daß in dem Zittmannin ein 
Mittel gefunden wurde,, das gute und zu¬ 
verlässige Dienste leistete, anstrengende 
antiluetische Kuren einzuleiten, Salvar¬ 
san und Quecksilberkuren wirksam zu 
unterstützen und zu einer befriedigenden 
Nachkur'zu dienen. 

Zur Beleuchtung der guten Heil¬ 
erfolge dienen , die fachärztlichen- Beob¬ 
achtungen von Dr. med. Richter in Ber¬ 
lin, welche in der Klin. ther. Wschr. 1920, 
Nr. 29/30, veröffentlicht wurden, und 
der Bericht des Dr. med. Graemer in 







Juni ’ Die Therapie der Gegenwart 1921 239 


Chemnitz in äen ,,Fortschr. d. M.“ 1920, 
-Nr. 11. Den dort geschilderten Fällen 
kann ich eine weitere Anzahl von Krank¬ 
heitsfällen anschließen, in welchen die 
Zittmannintabletten spezifische, Kuren 
in vorteilhafter Weise unterstützt haben; 
wegen des Raummangels nehme ich von 
der Wie^dergabe Abstand. 


Nach den bisher gemachten Erfah¬ 
rungen darf angenommen werden, daß 
die Zittmannintabletten, deren wirk¬ 
sames Prinzip ja schon lange geschätzt 
wird, in ihrer angenehmen Datreichungs- 
form ein wertvolles. Hilfsinittel bei der 
spezifischen Behandlung der Lues in 
allen Stadien darstellen. 


VeroiFentlichiiiig der Arzneimittelkommission der Deutschen Gesellsohaft 

für innere Medizin. 

Die neuen Abkömmlinge des Chinins. 


Während wir gegen Protozoenkrank¬ 
heiten im Chinin, im Salvarsan, im 
Emetin zuverlässige ätiotrope Heilmittel 
besitzen, war das gegenüber Bakterien¬ 
infektionen nicht der Fall, wenn wir von 
der Salicylsäure absehen, die wahrschein¬ 
lich auf den unbekannten Erreger des 
Gelenkrheumatismus ätiotrop wirkt. 
Durch die Untersuchungen von Morgen- 
roth und seinen Schülern haben sich in 
gewissen Abkömmlingen des Chinins Stoffe 
gefunden, die in anscheinend elektiver 
Weise gegen Staphylokokken, Strepto¬ 
kokken, Pneumokokken und Diphtherie¬ 
bacillen ätiotrop wirken. Die von der 
Chininfabrik Zimmer & Co., Frankfurt 
a. M. hergestellten Stoffe sind Abkömm¬ 
linge des Hydrocupreins. Ihre chemische 
Zusammensetzung und ihre Beziehungen 
zum Chinin zeigt die folgende Zusammeng- 
stellung: 

Chinin; CiBHaoN 2 | 

Cuprein; C 19 H 20 N 2 | q|^ 

r o H 

Hydrocuprein: C19H22N2 | 

Aethylhydrocuprein / OC 2 Hr) 
(Optochin): C19H22N2 i OH 
Isoamylhydrocuprein / OCöHu 
(E ucupin): C19H22N2 (OH 
Isooctylhydrocuprein / COsHi: 
(Vuzin): C19H22N2 ( OH 
Bei den Untersuchungen Morgen- 
roths hat sich ergehen, daß allen eine 
abtötende Wirkung, z. B. für Strepto¬ 
kokken gemeinsam ist, daß sich aber der 
Grad der Wirksamkeit innerhalb der 
homologen Reihe verschieden verhält. 
Besonders empfindlich siiKl die Pneumo¬ 
kokken gegen Aethylhydrocuprein, 
bekannt unter dem Namen Optochin. 
Es kommt als im Wasser unlösliches Opto- 
chinum basicum und als dessen salzsaures 
Salz Optochinum hydrochloricum in 
Wasser im Verhältnis 1:8 löslich, in den 


Handel. Auch das schwerlösliche Opto- 
cWnum tannicum und der Optochinsali- 
' cylester wurden versucht. Es zeichnet 
sich vor dem Chinin durch seine specifi- 
sche Wirkung auf Pneumokokken aus, 
die es bereits in Lösung vor 1:300 000 ab¬ 
tötet. Es hat sich daher bei der Pneumo¬ 
kokkeninfektion der Hornhaut, dem Ulcus 
corneae serpens, in Einträufelung einer 
0,5—l,0%igen Lösung als sehr wirksam 
gezeigt. Auch bei der Pneumokokken¬ 
pneumonie ist es vielfach innerlich ange¬ 
wendet worden. Doch sind in der Be¬ 
urteilung die Ansichten der Ärzte immer 
noch geteilt. Während die einen dein; 
Optochin bei der Behandlung der Pneu¬ 
monie eine, specifische Wirkung zu 
sprechen, bestreiten andere vollständig 
das Vorhandensein derselben und schrei¬ 
ben ihm höchstens eine fiebervermin¬ 
dernde Wirkung zu. Man sieht aus den 
I zahlreichen vorliegenden Veröffentlichun¬ 
gen, daß von der im Tierversuch und bei 
der örtlichen Anwendung am Auge be¬ 
fundenen Wirkung bis zum Heilerfolge 
bei der menschlichen Pneumonie noch 
ein eben so weiter Schritt ist, wie bei der 
Anwendung von Salvarsan zur Bekämp¬ 
fung der Syphilis des Menschen im späten 
Stadium. Wenn wir uns. nun aus den 
vorltegenden Mitteilungen ein Bild über 
die klinischen. Erfahrungen machen wol¬ 
len, so stößt das auf verschiedene Schwie¬ 
rigkeiten, denn die Arbeiten sind außer¬ 
ordentlich ungleich, manche enthalten nur 
wenige Fälle, der Anfang der Behandlung 
war bald früh, bald spät und das Kranken¬ 
material je nach dem Alter und anderen 
Umständen wechselnd. Die Anwendung 
der statistischen Methode zur Beurteilung 
des Heilwertes ist nur ausnahmsweise be¬ 
folgt. Um die Wirksamkeit eines Arznei¬ 
mittels richtig zu beurteilen, müssen eine 
größere Anzahl von möglichst gleich¬ 
artigen Fällen abwechselnd teils ohne, 
teils mit dem zu pfüfenden Mittel behan- 




240 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Juni 


delt werden. Diesen Grundsatz scheinen 
mir zwei Autoren (Hess und L. Jakob) 
befolgt zu haben. Der bekannte frühere 
Erlanger Kliniker Penzoldt hat durch 
Befragen einer größeren Anzahl von Kol¬ 
legen, auch auf Grund von Kranken¬ 
blättern aus Lazaretten und eigenen Er¬ 
fahrungen, sich ein ziemlich umfangreiches 
Bild von der Wirkung des Optochins zu 
machen versucht. Er kommt ebenso wie 
wie die beiden genannten Autoren zu dem 
Schluß, daß eine ätiotrope Wirkung auf 
die menschliche Pneumonie bisher noch 
nicht erwiesen ist. Das geht daraus her¬ 
vor, daß die Abkürzung der Krankheit 
durch Optochin sich kaum nachweisen 
läßt, wie eine statistische Zusammen¬ 
stellung zeigt. Man darf also vielleicht 
nur zugeben, daß eine günstige Beein¬ 
flussung des Fiebers und auch des sub¬ 
jektiven Befindens des Kranken zu er¬ 
zielen ist, besonders dann, wenn die Be¬ 
handlung recht frühzeitig einsetzt. 

Bezüglich der Dosierung ist in den 
letzten Jahren insofern eine gewisse 
Übereinstimmung unter den Ärzten fest 
zustellen, als die Einzeldose von 0,2 g 
Optochin. hydrochlor. oder 0,2—0,3 g Op¬ 
tochin. basicum angewandt wurde. Bei 
letzterem hat man außerdem durch be¬ 
sondere diätetische Maßnahmen oder Dar¬ 
reichungen von Alkalien eine rasche Re¬ 
sorption infolge rascher Lösung im Magen 
zu verhindern gesucht. 

Von den Nebenwirkungen des Op¬ 
tochin, die bei der innerlichen Anwendung 
verschiedentlich berichtet worden sind, 
ist die am meisten gefürchtete die vorüber¬ 
gehende oder andauernde Schwächung i 
des Sehvermögens, bis zur völligen Amau¬ 
rose. Bis vor drei Jahren waren etwa 
60 Fälle von schweren Augenerkrankungen 
infolge der innerlichen Optochinanwen- 
dung bekannt geworden. Ob diese starke 
Verminderung durch die zunehmende Ver¬ 
wendung der schwerlöslichen Optochin- 
präparate und die Befolgung der diäteti¬ 
schen Vorschriften verursacht worden ist, 
wie manche Ärzte annehmen, ist fraglich, 
denn in der Mehrzahl der Fälle scheint noch 
immer das Optochin. hydrochlork. be¬ 
nutzt worden zu sein, und außerdem hat 
man auch bei der Verwendung des 
Optochin. basicum vereinzelte Schädi¬ 
gungen des Sehvermögens beobachtet. 
Viel mehr scheint der Hauptgrund der 
Abnahme der schweren Sehstörungen 
darin zu bestehen, daß die Ärzte den 


ersten Zeichen auftretender Nebenwir¬ 
kungen, wie Ohrensausen und Augen- 
flimmern, größere Aufmerksamkeit zu 
schenken und durch sofortiges Aussetz«n 
des Mittels schwere Vergiftungserschei¬ 
nungen zu verhüten gelernt haben. Jeden¬ 
falls erfordern weitere Versuche mit Op¬ 
tochin am kranken Menschen wegen der 
damit verbundenen Gefahren eine ständige 
und sorgfältige ärztliche Aufsicht und 
sollen daher nur in Krankenhäusern und 
Kliniken angestellt werden. 

Aus neuerer Zeit liegen einige Mit¬ 
teilungen vor über die Behandlung der 
durch Pneumokokken verursachten Me¬ 
ningitis mit Optochin. Da es sich hier bei 
' um Injektionen von sehr kleinen Optochin- 
dosen (0,03—0,04 Optochin. hydrochlor.) 
in den Lumbalsack handelt, so ist die 
Gefahr einer Schädigung des • Sehver¬ 
mögens ausgeschlossen. 

Das Euktipin (Isoaniylhydrocuprein) 
ist ein weißes, in- Wasser unlösliches 
Pulver. Das salzsaure Salz löst sich in 
Wasser.' Es hat eine örtlich schmerzstil¬ 
lende Wirkung und ist deshalb bei Tenes- 
miis und Hämorrhoiden empfohlen wor¬ 
den. Die örtliche Behandlung der Mund- 
und Rachenhöhle durch Austupfen mit 
alkoholischer und wässeriger Lösung zur 
Beseitigung der Diphtheriebazillen hat 
sich anscheinend nicht besonders bewährt,' 
namentlich wird über Schädigungen der 
Schleimhaut geklagt. Über die innerliche 
Anwendung des Eukupins bei Grippe, in 
Dosen von 1,2 bis 1,5 g täglich etwaMrei 
Tage lang, sind bisher noch nicht genügend 
umfangreiche Erfahrungen initgeteilt wor- 
. den, insbesondere ist wohl kaum ’einc 
etwaige ätiotrope Wirkung anzunehmen. 

Das IsooctylhydrocLiprein. hydrochlo- 
ricum, bekannt als Vuzin, besitzt gegen¬ 
über den verbreiteten Erregern der Wund¬ 
krankheiten, den Streptokokken und Sta¬ 
phylokokken eine sehr starke bakterizide 
Wirkung und hat sich im Tierversuch in 
Konzentrationen von 1 : 2000 auch bei 
Gasbrandinfektionen gut bewährt. Von 
einer Reihe von Chirurgen ist es zur In¬ 
filtration der Gewebe (sogenannte Tiefen¬ 
antisepsis) benutzt worden. Indessen be¬ 
findet sich die Anwendung noch i'm Ver¬ 
suchsstadium. Wenn man auch bei der 
Anwendung verdünnter Lösungen (1:2000) 
schon einigen Nutzen sieht, so scheint die 
Anwendung stärkerer Lösungen durch die 
nekrotisierenden Eigenschaften des Vuzins 
beschränkt zu sein. A. Hefter. 


Für die Redaktion verantwortlich Geh.Med.-Rat Prof.Dr. G.Klempercrin Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg 
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berlin W57. 




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Nachdruck verboten. 

Aus der Medizinisclien Klinik der Universität Göttingen. 


Über die Ätiologie der 

Von Richard 

Die Untersuchungen der letzten Jahre 
über die Ursache der perniziösen Anämie, 
auf die ich an dieser Stelle nicht näher 
eingehe, haben ergeben, daß alle Stoffe, 
die man bisher für die Ursache dieser 
Krankheit gehalten hat,-wie z. B. Öl¬ 
säure und lipoide Substanzen, als solche 
nicht in Betracht kommen. Diese Lipoide 
lösen zwar die roten Blutkörperchen im 
Glase auf, es ist aber nicht gelungen, 
mit ihnen im Tierversuch eine perniziöse 
Anämie zu erzeugen. 

Es besteht wohl heute kein Zweifel 
mehr darüber, daß das Symptomenbild 
der perniziösen Anämie als Folge einer 
‘Giftwirkung aufzufassen ist, mag es sich 
dabei um die Bothriocephalus-Anämie 
oder um die kryptogenetische perniziöse 
Anämie des Menschen handeln. Es 
müssen dies Gifte sein, die vor allem das 
Knochenmark in ganz bestimmter und 
exquisiter Weise schädigen und daneben 
auch zu einer gesteigerten Hämolyse 
führen. 

Was sind dies für Gifte und woher 
stammen sie ? Frühere Untersuchungen 2 ) 
über eine analoge Anämie bei Tieren 

Vorgetragen auf dem 33. Kongreß der 
Deutschen Gesellschaft für innere Medizin, Wies¬ 
baden, 21. April. 

2 ) R. Seyderhelm, Über die perniziöse 
Anämie der Pferde (Beitrag zur vergleichenden 
Pathologie der Blutkrankheiten). (Beitr. z. path. 
Anat., Bd. 58, S. 285/318.) — K. R. Seyder¬ 
helm und R. Seyderhelm, Die Ursache der 
perniziösen Anämie der Pferde (Arch. f. exper. 
Path. u. Pharm., Bd. 76, S. 149/201). — Die¬ 
selben, Wesen, Ursache und Therapie der perni¬ 
ziösen Anämie der Pferde (Arch. f. wiss. Tierhlk., 
Bd. 41, 1914). — Dieselben, Experimentelle 
Untersuchungen über die Ursache der perni¬ 
ziösen Anämie der Pferde (Berlin. tierärztl.Wschr. 
1914, Nr. 34). — R. Seyderhelm, Über echte 
Blutgifte in Parasiten der Pferde und des Men¬ 
schen und ihre Beziehung zur perniziösen Anämie 
(Münch, tierärztl. Wschr. 1917, Nr. 29 u. 30). — 
Derselbe, Über die Eigenschaften und Wir¬ 
kungen des Oestrins und seine Beziehungen zur 
perniziösen Anämie der Pferde (Arch. f. exper. 
Path. u. Pharm., Bd. 82, S. 253). — Derselbe, 
Zur Pathogenese der perniziösen Anämien (D. 
Arch. f. kl. Med. Bd. 126, S. 95). — Ausführliche 
Publikation im nächsten Band der Erg. d. Inn. Med. 


perniziösen Anämie^). 

Seyderhelm. 

hatten mir ergeben, daß in verschiedenen 
Parasiten Gifte enthalten und nachweis¬ 
bar sind, mit denen es im Tierversuch 
gelang, eine schwere Anämie zu erzielen, 
die vor allem in der Art der Beeinflussung 
des Knochenmarks eine außerordentlich 
weitgehende Analogie mit den charakte¬ 
ristischen Erscheinungen bei der perni¬ 
ziösen Anämie des Menschen aufweisen. 
Besonders auffallend war die Tatsache, 
daß diese Parasitengifte im Gegensatz 
zu den Lipoiden die roten Blutkörper¬ 
chen im Glase nicht auf lösen, sondern 
völlig intakt lassen. Es erinnert dies an 
die allgemein bekannte Tatsache, daß 
auch die sogenannten experimentellen 
Blutgifte, wie z. B. das Pyrodin, in vitro 
keine Hämolyse erzeugen. 

Aber nicht nur in gewissen Parasiten 
der Tiere, sondern vor allem auch im 
Bothriocephalus war es mir gelungen, 
eine Fraktion zu gewinnen, die ein ganz 
analog wirkendes Gift enthält, und mit 
dem man leicht im Tierversuch eine 
schwere Knochenmarksschädigung, Mega- 
loblastose und hyperchrome Anämie, er¬ 
zielen kann. Aber noch mehr: Auch im 
Darminhalt respektive in den Faeces des 
gesunden Menschen ließen sich ganz 
analoge Gifte nachweisen, Gifte, deren 
Provenienz aus den Darmbakterien, vor 
allem der Colibacillen, durch ^analoge 
Untersuchungen von Darmbakterien- 
Reinkulturen sichergestellt werden konn¬ 
te. Bemerkenswert war auch hier wieder¬ 
um, daß solche zum Beispiel aus Coli- 
reinkulturen gewonnenen toxischen Frak¬ 
tionen außerhalb des Tierkörpers, also 
in vitro, die roten Blutkörperchen nicht 
auflösen und die experimentellen Anä¬ 
mien, die man mit ihnen erzeugen konnte, 
waren die gleichen, wie sie sich mit dem 
Bothriocephalusgift gewinnen ließen, d. h. 
auch sie erwiesen sich als schwerste Blut- 
und Knochenmarksgifte, führten zu einer 
megaloblastischen Entartung und zum 
Bilde einer durch hochgradige Aniso- 
cytose, vor allem Megalocytose, aus¬ 
gezeichneten hyperchromen Anämie. Daß 

31 





242 


Die Therapie der Gegenwart 1021 Juli 


es sich hierbei nicht, wie von anderer 
Seite eingewendet worden ist, um Ana¬ 
phylaxieerscheinungen handelt, geht aus 
der weiter festgestellten Tatsache her¬ 
vor, daß sich aus Reinkulturen von nicht 
pathogenen Mikroorganismen (B. sub- 
tilis, Hefe) keine derartigen Gifte ge¬ 
winnen ließen. 

Das alte Problem der Bothriocephalus- 
anämie, warum nämlich von tausenden 
Menschen, die einen Bothriocephalus in 
sich tragen, nur ganz wenige an einer 
Anämie erkranken, wiederholt sich hier 
in analoger Weise. Nicht die Anwesen¬ 
heit bestimmter Gifte allein führt zur 
Entstehung der perniziösen Anämie, son¬ 
dern es gesellt sich dem noch ein wei terer 
Faktor hinzu, ein Faktor, ,in dem wir 
die eigentliche Ursache der perniziösen 
Anämie zu erblicken haben. Ebenso wie 
zwischen dem Bothriocephalus des ge¬ 
sunden und des an Anämie erkrankten 
Menschen bezüglich des Giftgehaltes kein 
Unterschied besteht, ebenso beherbergt 
der gesunde Mensch die gleiche Menge 
hochgradig toxischen bakteriellen Darm¬ 
inhaltes wie der an perniziöser Anämie 
erkrankte. 

Die Fragestellung ließe sich also nicht 
nur bei der Bothriocephalusanämie, son¬ 
dern auch bei der kryptogenetischen perni¬ 
ziösen Anämie so formulieren: 

Aus welchem Grunde führt in einem 
Falle die Anwesenheit der Gifte zur 
perniziösen Anämie, in tausenden Fällen 
hingegen nicht? 

A priori ließen sich zur Erklärung 
dieser Frage zwei Möglichkeiten erörtern: 
Entweder es ist ein normalerweise vor¬ 
handener Entgiftungsvorgang gestört oder 
aber es werden diese Giftstoffe durch die 
Darmwand hindurchgelassen, d. h. re¬ 
sorbiert im Gegensatz zum Normalen, 
wo die Beschaffenheit der Darmwand 
eine Passage verhindert. Diesem letz¬ 
teren Gedankengange folgend, ging ich 
der Frage nach, ob sich bei perniziös¬ 
anämischen Menschen außerhalb des Be¬ 
reiches des Darmes durch entsprechende 
chemische Verarbeitung der betreffenden 
Organe analoge Giftstoffe nachweisen 
lassen. Und es gelang hierbei in vier 
daraufhin untersuchten Fällen von kryp¬ 
togenetischer perniziöser Anämie analog 
wirksame Gifte in den mesenteriellen 
Lymphdrüsen aufzufinden. Die analoge 
Untersuchung dieser Drüsen bei- zehn 
anderen Patienten, die an anderen Krank¬ 
heiten gestorben waren, darunter Fälle 


von Carcinom,- Tuberkulose, Status thy- 
molymphaticus und Pseudoleukämie, ließ 
derartige Gifte in' keinem einzigen Falle 
nachweisen. Die aus den mesenterialen 
Lymphdrüsen bei perniziöser Anämie ge¬ 
wonnenen toxischen Fraktionen verhiel¬ 
ten sich wiederum völlig analog jenen aus 
dem Bothriocephalus und aus den Darm¬ 
bakterien. Im Vordergrund stand auch 
hier wiederum die exquisite Knochen¬ 
marksschädigung und megaloblastische 
Entartung der erzielten hyperchromen 
Anämien. Diese Ergebnisse dürften in 
dem Sinne zu verwerten sein, daß allein 
im Falle der kryptogenetischen pernizi¬ 
ösen Anämie die in Frage kommenden 
Gifte aus dem Darminhalt durch die 
Darmwand hindurchgelangen, und dann 
das Knochenmark schädigen, daneben 
aber zu gesteigerter Hämolyse führen. 

In der weiteren Verfolgung dieses 
Gedankenganges sollte festgestellt wer¬ 
den, ob es vielleicht gelingt, durch völlige 
Ausschaltung des als Giftquelle anzu¬ 
sehenden Koloninhalts den Verlauf der 
perniziösen Anämie zu beeinflussen. Zu 
diesem Zwecke wurde bei verschiedenen 
Patienten in der Weise vorgegangen, daß 
durch Anlegung eines kompletten Anus 
praeternaturalis in der Cöcalgegend das 
Kolon in seiner gesamten Ausdehnung 
ausgeschaltet und durch Spülungen von 
oben und unten keimfrei gemacht wurde. 
Ich möchte ganz kurz über den Erfolg 
zweier auf diese Weise operativ behandel¬ 
ter Fälle berichten: 

Beide Fälle hatten bereits zwei Remis¬ 
sionen hinter sich, wurden seit mehreren 
Wochen klinisch behandelt, ohne daß 
dabei durch Arsen, Tierkohle oder Blut¬ 
transfusion eine Beeinflussung der ^An¬ 
ämie erzielt werden konnte. Beide Fälle 
waren fast moribund und extrem an¬ 
ämisch, wie aus den Kurven zu ersehen 
ist. ln beiden Fällen trat unmittelbar 
im Anschluß an die Ausschaltung des 
Kolons ein exquisiter Umschwung auf. 
Nicht nur das subjektive Befinden besserte 
sich, nicht nur der völlig brachgelegene 
Appetit kehrte plötzlich wieder, sondern 
auch die Blutwerte gingen rapid aufwärts 
und nach Verlauf weniger Monate boten 
beide Patienten das Bild blühender Ge¬ 
sundheit. In beiden Fällen wurde nach 
Ablauf von fünf respektive sieben Mona¬ 
ten der Anus praeternaturalis wieder ge¬ 
schlossen und wie in einem Experimente 
trat auch jetzt wiederum ein völliger 
Umschwung auf. Das alte schwere Bild 
der chronischen Intoxikation kehrte wie- 


Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


243 ' 


der und die Blutwerte sanken-wiederum 
auf extrem niedrige Werte. Und obwohl 
.es bei dem einen Patienten durch Ver¬ 
abreichung von Tierkohle, d. h. durch 
Adsorption der Giftstoffe gelungen war, 
eine vorübergehende Besserung zu er¬ 
zielen, kam wenige Monate später dieser 
Patient zum Exitus und auch der andere 
Fall steht kurz vor der Auflösung. 

Aus ‘ dem Verlauf dieser Fälle folgt 
selbstverständlich nicht, daß die An¬ 
legung eines Anus praeternaturalis als 
therapeutischer Eingriff bei der perni¬ 
ziösen Anämie in Frage* kommt. Aber 
wenngleich mir bekannt ist, daß plötz¬ 
liche Remissionen oft ganz unerwartet 
bei der perniziösen Anämie das Bild von 
heute auf morgen völlig verändern kön¬ 
nen, so glaube ich doch in diesen beiden 
Fällen annehmen zu dürfen, daß sowohl 
die geschilderten Remissionen wie Rezi¬ 
dive bei ihnen nicht nur zeitlich, sondern 
auch ursächlich mit den operativen Ein¬ 
griffen in Zusammenhang zu stellen sind. 

Und sowohl aus dem Verhalten der 
beiden operierten Fälle, als auch aus dem 
Nachweis der Knochenmarks- und Blut¬ 
gifte in den mesenterialen Lymphdrüsen 
bei perniziöser Anämie glaube ich die. 
vorhin gestellte Frage nach der Ursache 


der perniziösen Anämie dahin beantworten 
zu dürfen, daß eine für gewöhnlich nicht 
stattfindende abnorme Resorption von 
Darmgiften bakterieller Provenienz das 
ätiologische Moment in der Genese der 
perniziösen Anämie darstellt, voraus¬ 
gesetzt selbstverständlich, daß weitere 
Untersuchungen an einem größeren Ma¬ 
terial, wie es dem einzelnen nicht zur 
Verfügung steht, diese Befunde bestä¬ 
tigen. 

Es liegt sehr nahe, zur Erklärung die¬ 
ser abnormen Darmdurchlässigkeit all¬ 
gemein dispositioneile Momente, Momente 
der Konstitutionspathologie, heranzu¬ 
ziehen. Daß speziell vielleicht der Achylia 
gastrica in diesem Zusammenhang eben¬ 
falls eine besondere Bedeutung zukommt, 
möchte ich hier nur andeuten. 

Für die Ziele der Therapie folgt aus 
diesen Untersuchungen, daß sie weiter 
in der Richtung zu verfolgen sind, die 
im Darmkanal vorhandenen bakteriellen 
Giftstoffe zu beseitigen. Adsorption der 
Giftstoffe durch indifferente Medien, Des¬ 
infektion, Umstimmung der bakteriellen 
Flora und eventuelle Herstellung eines 
Immunserums liegen auf diesem Wege, 
der trotz der bisherigen bekannten Mi߬ 
erfolge weiter beschritten werden muß. 


Aus dem Städtischen Krankenhause am Urhan zu Berlin. 

Über die intravenöse Behandlung mit kolloidalen Silberlösungen. 

Von Prof. Dr. Plehn, ärztlichem Direktor. 


Kolloidale Silberpräparate wurden zu¬ 
erst 1896 von Crede in Salbenfo'rm an¬ 
gewendet. Später, außer zu Einreibungen, 
als Lösung zum Einträufeln in den Con- 
junctivalsack an Stelle von Argentum 
nitricum, und zur Wundbehandlung; ver¬ 
einzelt auch innerlich, sowie als Klysma. 
Ihre eigentliche Bedeutung hat die Silber¬ 
therapie aber erst gewonnen, seit die 
in tra venöse Darreichungsweise, wie 
anderer Medikamente, so auch des Silbers, 
allgemeinere Verbreitung in der Klinik, 
wie in der Ärzteschaft gefunden hat. Nur 
von der intravenösen Silberbehandlung 
soll im folgenden die Rede sein; jede 
andere tritt ihr gegenüber, wenigstens 
für den inneren Kliniker, vollständig zu¬ 
rück. 

Die kolloidalen Silberlösungen stellen, 
Suspensionen allerfeinster, ultramikro¬ 
skopischer Silberteilchen in Wasser dar. 
Die feine Verteilung wird durch chemische 
oder elektrische Zerstäubung erreicht, und 
die Teilchen werden durch ein ,,Schutz¬ 


kolloid“ — meist Gummizusatz — 
daran verhindert, zu verklumpen und sich 
niederzuschlagen. Das Schutzkolloid um¬ 
gibt die einzelnen Silberpartikel mit einer 
dünnsten Schicht und stabilisiert das 
Suspensoid gegenüber der Salzwirkung 
der Körpersäfte (Elekrolyte). Bei den 
anderen, namentlich den auf elektrischem 
Wege hergestellten Präparaten, ist die 
Größe der Teilchen so gering, daß die ab¬ 
stoßende Wirkung ihrer negativ elektri¬ 
schen Ladung genügt, um sie dauernd 
in der Schwebe zu erhalten, und es des¬ 
halb, wenn überhaupt, so doch nur ge¬ 
ringster Mengen von Schutzkolloid be¬ 
darf. 

Die physikalische Wirkung kolloidaler 
Lösungen ist von der Gesamtoberflächen¬ 
größe der einzelnen Teilchen abhängig. 
Für eine bestimmte Silbermenge ist sie 
deshalb um so größer, je feiner die Teil¬ 
chen sind. Für die physiologische, be¬ 
ziehungsweise therapeutische Wirkung 
kommt außerdem aber auch die Menge 

31 * 





244 


Die Therapie der Gegenwart 1921 - ' Juli 


Silber in Betracht, welche im gleichen 
Volumen Lösung enthalten ist. Ich muß 
nach eigenen Erfahrungen jedenfalls sa¬ 
gen, daß das älteste, auf chemischem Wege 
gewonnene Collargol-Heyden und das 
Dispargen-Reis holz mit höherem Dis¬ 
persionsgrad, dem deutschen Elektrargol 
an Wirksamkeit mindestens nicht nach¬ 
steht, sondern es wahrscheinlich noch 
übertrifft. Das meistversprechende Prä¬ 
parat müßte danach theoretisch das neue 
,,Elektrocollargol zehnfach stark“ 
von hfeyden sein, welches auf elek¬ 
trischem Wege hergestellt wird und hohen 
Silbergehalt mit geringster Teilchengröße 
verbindet (0,6% Ag gegen 0,06 des alten 
Elektrocollargol- Heyden). Uns fehlen 
noch ausreichende Erfahrungen mit diesem 
Mittel, um vergleichen zu können. Ob das 
für die älteren Elektrafgole als Vorteil 
betrachtete Fehlen der fieberhaften 
Reaktion tatsächlich ein solcher ist, 
erscheint fraglich, denn wahrscheinlich 
stehen Heilwirkung und Reaktion in ge¬ 
wissen Beziehungen zu einander, wie wir 
noch sehen werden. 

Das Anwendungsgebiet der kolloiden 
Silberlösungen ist sehr groß, —wenn man 
die Literatur durchsieht. Es gibt wenige 
Infektionskrankheiten, bei welchen es 
nicht versucht wurde, und Erfolge be¬ 
richtet sind: 

Scharlach, Masern, Typhus, Paratyphus, Cho¬ 
lera, Pneumonie, Grippe und Grippepneumonie, 
Pest, Erysipel sind hier zu nennen. Bei Menin- 
•^jitis gab Cholievina Dispargen intralumbal. 
Der Kritik halten die berichteten Erfolge meist 
nicht stand. Der Verlauf, den diese akuten In¬ 
fektionskrankheiten ohne Silbertherapie ge¬ 
nommen hätten, läßt sich um so weniger voraus¬ 
sehen, als überall darauf hingewiesen wird, daß 
die Anwendung im ersten Beginn erfolgen müsse, 
um wirksam zu sein. 

Ernster scheinen die günstigen Berichte von 
Chayla über die Wirksamkeit bei Blattern 
und von Denman zu sein^). Auch die Angaben 
von Richter2) über specifische Wirkung beim 
Wolhynischem Fieber sind überzeugend. 

" Teichmann®), Kersten^) und Colievina 
loben das Fulmargin beim Fleckfieber. Wider¬ 
sprechend werden die Erfolge bei der Endo¬ 
karditis beurteilt. Engelen®) betrachtet das 
Fulmargin auf Grund von 16 günstig verlaufenen 
Fällen als Specificum gegen dieses Leiden. Schind¬ 
ler dagegen erlebte einen Todesfall mit Dispargen 
und warnt davor* bei Beteiligung des Herzens. 
Es handelte sich um eine Puerperalinfektion, 
wobei die Silberkolloide auch sonst am meisten 
gebraucht und gerühmt werden®) [Aron"^), 


1 ) M.m. W. 1906, S. 1790. 

2 ) Ther. d. Gegenw. 1917, Heft 3. 
®) D. m. W. 1916, Nr. 41. 

^) Ebenda Nr. 27. 

®) Aerztl. Rdsch. 1914, Nr. 22. 

®) Mschr. f. Geburtsh., Bd. 44. 

') D. m. W. 1920, Nr. 35. 


' Saalfeldt®), Mertens*), Rudolf^®) und 
viele Andere]. Auch Böttner warnt wegen der 
oft großen Schwere der Reaktiom Er beobachtete 
Erscheinungen, die er. als anaphylaktische deu- ’ 
tet^^). Wir selber haben das Kollargol anfangs 
vielfach bei Endokarditis gegeben, ohne ein¬ 
deutige Erfolge erzielen zu können, und haben 
diese Behandlung deshalb schon seit Jahren auf¬ 
gegeben, sofern die Diagnose sicher ist. Anders 
liegen die Dinge bei manchen Formen der Sepsis 
(zu welchen auch das Puerperalfieber gehört). 
Trotz des lebhaften Eintretens von Kausch^“) 
und vorher PageD®) und der anerkennenden 
Mitteilungen von Reichmann hat die intra¬ 
venöse Silberbehandlung septischej Allgemein¬ 
infektionen bei den deutschen Chirurgen bisher 
keinen Eingang gefunden. Sie paßt auch keines¬ 
wegs für alle Fälle. Überall dort, wo ein dem 
Messer unzugänglicher Eiter- oder Entzündungs¬ 
herd immer neue Schübe von Toxinen oder 
Bakterien in den Blut- oder Lymphkreislauf lie¬ 
fert, behandelt man auch mit Silber vergebens. 
So bei Pylephlebitis, bei Phlebitis in der Um¬ 
gebung des Uterus, schweren Entzündungen von 
dessen Wand und seiner Adnexe, bei Lungen- 
abscessen. Eine Ausnahme scheinen Eiterungen 
im Gewebe der Nieren zu bilden. Wolff^^) be¬ 
richtet über zwei solche Fälle, und ich selber 
behandelte eine Frau, bei welcher sich nach 
einem septischen Abort unter wochenlang 
wechselnden Fieberbewegungen an verschiedenen 
Körperstellen lymphangitische und phlebitische 
Entzündungsherde bildeten, bis schließlich unter 
stärkerem Fieber und .Auftreten von Eiweiß, 
Blut und Eiter im Harn, die rechte Niere hoch¬ 
gradig schmerzhaft wurde und zu^ doppelter 
Mannsfaustgröße anschwoll. Bereits nach der 
ersten intravenösen Kollargölinjektion verschwan¬ 
den die Schmerzen; nach zwei weiteren, im Laufe 
der nächsten Woche gegebenen, die krankhaften 
Ausscheidungen. Der Tumor wurde auch für 
die Palpation unempfindlich, sollte aber entfernt 
werden, da wieder Fieber auftrat, doch entzog 
sich die Kranke weiterer Beobachtung. 

Es gibt aber auch ,,echte“ Septikämie- 
fälle, wo die Bakterien im Blute kreisen, 
ohne — wenigstens zunächst — einen 
Locus minoris resistentiae zu finden, an 
welchem sie sich ansiedeln und örtliche 
Entzündungsherde schaffen können. In 
solchen nicht eben häufigen Zuständen 
wirken die Silberlösungen direkt heilend, 
gleichgültig, ob es sich um Streptokokken 
oder Staphylokokken handelt. Wir wenden 
sie also stets an, wenn sich bei fieberhaften 
Krankheiten Bakterien aus dem Blut 
züchten lassen, ohne daß es gelingt, 
irgendwo im Körper die Quelle aufzu¬ 
finden, aus welcher sie stammen könnten. 
Wo sie versagten, da zeigte die Obduktion 
noch stets diese der Diagnose im Leben 
entgangene Quelle in Form etwa einer 


8 ) Zbl.f. Gyn. 1917, Nr. 23. 

*) Akad. f. prakt. Med. Cöln 1918. 

^®) M. KI. 1920, Nr. 35. 

^^) M.m. W. 1920, Nr. 12. 

12 ) M. KI. 1911, Nr. 35. 

1 ®) Ebenda 1911, Nr. 33. 

1^) Zschr. f. ärzf. Fortbild. 1916, Nr. 4. 





Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


245 


ulcerösen Endokarditis, eines schwer in¬ 
fizierten Uterus, einer Pylephlebitis oder 
dergleichen. 

Wenn Genesung eintrat, sind wir be¬ 
rechtigt anzunehmen, daß solche ört¬ 
lichen Bakterienbrutstätten gefehlt haben. 
Hierfür ein Beispiel: 

Prof. D., bekannter Operateur, verletzte sich 
bei der Operation eines jauchenden Carcinoms. 
Die kleine Stichwunde heilte glatt. Bald darauf, 
zuweilen mehrmals täglich, Schüttelfrost und 
Fieber, anfangs bis 41 ® C; später etwas weniger. 
Klinische Untersuchung durch verschiedene Auto¬ 
ritäten ohne Ergebnis. Prof. H. züchtete aus 
dem Blut wiederholt Reinkulturen hämolytischer 
Streptokokken. Nach drei Tagen 3 ccm 5%iges 
Kollargol abends, ln der Nacht drei Stunden 
lang sehr schwerer Frost; Beklemmungen; Herz¬ 
schwäche. Schlaf nach Morphium. Am nächsten 
Morgen fieberfrei; große Prostration, aber kein 
Fieber wieder. Die Streptokokken waren schon 
am nächsten Tage verschwunden und blieben es, 
obgleich Patient weitere Injektionen ablehnte. 
Langsame Rekonvaleszenz; nach acht Tagen 
nochmaliger kurzer Fieberanstieg ohne Strepto¬ 
kokken im Blut. Endgültige Heilung. 

Eine Beobachtung wie diese — und 
sie steht nicht allein — legt es nahe, das 
Kollargol oder entsprechende Präparate 
auch bei Bakteriämien anzuwenden, wo 
bereits örtliche Entzündungsherde ent¬ 
standen sind, falls diese chirurgisch an¬ 
gegriffen werden können. Es läßt sich 
so vielleicht verhüten, daß neue Herde 
an weniger zugänglichen Stellen vom 
Blut aus sich bilden. , 

Dem Kliniker fehlen hier eigene Er¬ 
fahrungen. Ein weites Anwendungsgebiet 
haben die Silberkolloide bei der Gonor¬ 
rhöe gefunden. Nach Menzi kürzen 
sie bei intravenöser Injektion die Dauer 
der frischen Urethral- und Cervixgonor¬ 
rhöe des Weibes und der bekanntlich so 
hartnäckigen Blennorrhoe der Kinder 
außerordentlich ab Franzmeyer 

bestätigt diese AngabePakuscher 
fand das Silber bei männlicher Gonorrhöe, 
namentjich bei Epididymitis, wirksam, 
während es bei Prostatitis im Stich ließ. 
Auf die Gelenkerkrankungen kommen wir 
noch. Weber^’^) und Oekart loben 
die intravenöse Silberbehandlung gerade 
bei Prostatitis; wenigstens bei manchen 
Formen. Bei Epididymitis ließ es Weber 
im Stich. Da stets noch Lokaltherapie 
getrieben wurde, so ist es schwer, ein 
Urteil abzugeben. Eigene Erfahrung steht 
mir nicht zu Gebote. Die Literatur ist 
mit den zitierten Beispielen nicht an¬ 
nähernd erschöpft. 

1°) M. Kl. 1918, Nr. 36. 

16) Zbl. f. Gyn. 1919, Nr. 31. 

17) Derm. Wschr. 1919, Nr. 11. 

16) Ebenda Bd. 68. 


Die praktisch weitaus Wichtigste Rolle 
spielt die Silberbehandlung bei den Ge¬ 
lenkentzündungen, vor allem beim 
akuten Gelenkrheumatismus, bei 
welchem das Silber ein Specificurp dar¬ 
stellt, wie das Salicyl, nur daß es fast 
ausnahmslos auch dann noch wirkt, wenn 
Salicyl, Atophan, Antipyrin usw. ver¬ 
sagen. Seit ich 1908 über die Behandlung 
des akuten Gelenkrheumatismus bericln 
tete 19), haben sich meine Erfahrungen 
an weiteren Hunderten von Kranken 
di-eser Art vermehrt, ohne daß ich das 
damals Gesagte einzuschränken brauchte. 
Seit der Silberbehandlung kommt es 
nicht mehr vor, daß selbst verschleppte 
Fälle nicht geheilt werden. Beim ersten 
Anfall, und rpeist auch noch beim ersten 
etwa auftretenden Rezidiv, wird eine 
energische Salicylkur'durchgeführt. Bei 
unvollständiger Wirkung oder beim zwei¬ 
ten Rezidiv tritt dann das Silber in seine 
Rechte. 

Aber auch sonst erweist das Silber 
eine besondere Wirksamkeit bei entzünd¬ 
lichen Gelenkaffektionen aus unbekannter 
Ursache, oft selbst in chronischen Zu¬ 
ständen. Wo eine Heilung aus anatomi¬ 
schen Gründen ausgeschlossen ist, da 
wird doch häufig noch eine Besserung der 
subjektiven Beschwerden und der Funk¬ 
tion erzielt. Für die specifische Wirkung 
auf die Gelenke hier ein Beispiel: 

Herr W., cand. med. Von Stich in den Finger 
vor drei Wochen nach Lymphangitis und Achsel¬ 
drüsenschwellung ausgehehde Allgemeininfek¬ 
tion. Hohes Fieber, keine Fröste; Pleuritis rechts; 
schmerzhafte Schwellung der Gelenke, beson¬ 
ders hochgradig im linken Knie- und Handgelenk; 
systolisches Geräusch am Herzen; Puls: 130; 
Milzdämpfung verbreitert; Leber nicht nachweis¬ 
bar vergrößert; Harn: Alb. -f, Urbgn. -f-h, 
Urbln. 

28. März 1913: 3 Uhr: 3,5 ccm 5 %iges Kol¬ 
largol intravenös; 7 Uhr: Temperatur: 39,7; 
Puls: 141; kein Frost. 29. März: Temperatur: 
38,2; Puls: 108; starker, anhaltender Schweiß. 
Gelenke abgeschwollen und weniger 
schmerzhaft; Appetit gut; abends wieder 
höheres Fieber. 30. März: Leidliche Nacht nach 
Pantopon, 10 Uhr: Ödem der rechten Brust¬ 
seite; 4,5 ccm 57oiges Kollargol. 7 Uhr: Frost; 
Temperatur 40,4; Odemgebiet zeigt stellenweise 
Fluktuation; Phlegmone en cuirasse. 31. März: 
Vielfache Eröffnung und Spaltung der Phlegmone 
im Ätherrausch (Prof. Z.). 1. April: „Knie- und 
Handgelenk in bester Verfassung“; Allgemein¬ 
zustand unverändert schlecht. 5. April: Unter 
fortdauernd hohem Fieber und Delirium Exitus 
letalis. 

Bei einem schwersten pyämischen 
Prozeß hat hier also das Kollargol die 
beteiligten Gelenke in kürzester Frist zu 
dauernder Heilung gebracht, ohne freilich 


16) D. m. W. 1908. 




246 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Juli 


den rasch tödlichen Ausgang abwenden 
zu können. Reichmann teilt einen 
ähnlichen Fall mit Nach.d^r Literatur 
scheinst es, als wenn die Silberpräparate 
bei öelenkerkrankungen unverdienter¬ 
weise nicht soviel angewendet werden, wie 
bei septischen Prozessen. Ich fand nur 
relativ wenige kurze Mitteilungen dar¬ 
über 21) 22 ) 23) 24) 25) 26 ) 27) 28) 29)^ Häu¬ 
fige Versager — neben einzelnen Erfolgen 
,— haben wir bei der gonorrhoischen 
Arthritis gehabt, bei welcher das Silber 
von verschiedenen Dermatologen beson¬ 
ders gerühmt wird. Freilich sind es 
meist veraltete Fälle, die der Kliniker 
sieht. Aber ich habe den Eindruck, daß 
wir mit-Bi er'scher Stauung und Arthigon 
rascher und sicherer zum .Ziel kommen. 

Wie soll man sich die Wirkungsweise des 
kolloidalen Silbers vor^tellen? Das unbefriedigte 
Kausalitätsbedürfnis des deutschen Arztes ist hier 
ein Haupthindernis für die allgemeinere Auf¬ 
nahme der Silberbehandlung. Ganz einfach ist 
der Zusammenhang jedenfalls nicht. Zunächst 
steht fest, daß das Silber die Blutbahn sehr rasch 
verläßt. Es wird von den Sternzellen (Retikular- 
endothelien) in Leber, Milz, Knochenmark ab¬ 
gefangen und lagert sich besonders auch in den 
Nierenepithelien ab®°). Marie und Petre 
Ni CU 1 es CU konnten sieben Minuten nach der 
Injektion von 2 ccm Fulmargin keine Silber¬ 
körnchen im Blut mehr nachweisen Das 
beweist nichts, auch nicht gegen die Wirksamkeit 
im Blut selber, denn aus den Zelldepots wird 
fortgesetzt Silber an die Körpersäfte abgegeben, 
und es dauert sehr lange, bis das Metall den 
Organismus vollständig wieder verlassen hat. 
Sehr denkbar wäre es, daß das feinzerstäubte 
Silber mit seiner ungeheuren Oberfläche adsorp- 
tiv auf die giftigen Stoffwechselprodukte der 
Krankheitserreger — vielleicht »auf diese selbst — 
wirkt. Das Silber ist direkt bactericid, wie 
Cernovadeanu und Henri feststellten ^ 2 ); es 
könnte also die adsorbierten Bakterien töten. 
Friedenthal vermutet, daß „verhältnismäßig 
lösliches Oxyd und Hydroxyd“ des Silbers bei 
Herstellung des „Suspensoids“ entsteht und die 
starke desinfizierende Wirkung hat, welche auch 
er anerkennt33) Johannessohn sah Wirkung 
auf verschiedene Bakterien, die in zehn Minuten 
von einer %%igen Lösung abgetötet wurden34). 
Von anderen Untersuchern wird nur entwicklungs¬ 
hemmende Fähigkeit zugegeben. Die Tatsache, 
daß in vielen mit Silberlösungen günstig beein- 

20) 1. c. 

21) Junghans (M.m. W. 1912, Nr. 45. — 

22) Moewes (Ther. d. Gegenw. 1917, Heft 8). — 

23) Eberstadt (M. m. W. 1917, Nr. 35). — 

2 ^) Böttner (M. m. W. 1920, Nr. 12). — 

2fi) Ewald (M. Kl. 1912, S. 1923). — 26 ) Göbel 
(M. Kl. 1915, S. 683). — 27 ) Witthauer (M. Kl. 
1907, S. 1266). —28) Uhlmann (Schweiz. Korr.Bl. 
1915, Nr. 40). — 29 ) Schönfeld (D. m. W. 1913, 
S. 146). 

30) Voigt (Biochem. Zschr. Bd. 62, 63, 68, 73.). 

31) Zitiert bei Engelen (Aerztl. Rdsch. 1912, 
Nr. 52 und 1913, Nr. 1). 

32) Zitiert nach Engelen (1. c.). 

33) Ther. d. Gegenw. 1918, Heft 7. 

3^) Zitiert nach Schindler, 1. c., S. 15. 


flußten Fällen von Bakteriämie die Bakterien 
alsbald aus dem Blute verschwinden, ist jeden¬ 
falls unbestreitbar. Vielleicht wird diese Wirkung 
indirekt noch dadurch befördert, daß die Substanz 
der zunächst nur zum Teil abgetöteten Krank¬ 
heitskeime die reaktive Bildung specifischer Gifte 
herbeiführt, die weitere Parasiten vernichten. 
Immerhin dürfte die adsorbierende und zer¬ 
störende Wirkung auf die im Leben von ihnen 
gebildeten Toxine und die bei ihrem Untergang 
freiwerdenden Endotoxine die wichtigste sein. 
Die kolloidale Silberlösung scheint hier nach Art 
eines anorganischen Fermentes als Katalysator 
zu wirken, indem sie die natürliche giftbindende 
und (wahrscheinlich durch Oxydation) zerstörende 
Tätigkeit des Organismus steigert. Darauf 
deutet auch die vermehrte N-Ausscheidung hin35). 
Aggazzotti fand, daß kolloidales Silber Kanin¬ 
chen gegen die zehnfach tödliche Dosis von 
Diphtherie-, Tetanus- und Dysenteriegift schützte, 
während es diese Stoffe in vitro nicht verändert®«). 
Als Giftbindung und Zerstörung ist wohl folgende 
eigene Beobachtung zu deuten: Ein kräftiger 
Mann mittleren Alters erkrankte an schwerer 
Staphylokokkensepsis mit Schüttelfrösten 
und täglichen Fieberanfällen, ohne daß es gelang, 
einen örtlichen Entzündungsherd aufzufinden. 
Aus dem Blut wurden mehrfach Staphylokokken 
in Reinkultur gezüchtet. Unter Kollargolinjek- 
tionen Entfieberung und Heilung. Rasche 
Rekonvaleszenz und starke Gewichtszunahme. 

Während dieser ergaben wiederholte weitere 
Blutuntersuchungen die fortdauernde Anwesen¬ 
heit sehr zahlreicher Staphylokokken in Rein¬ 
kultur, ohne irgendeine Störung des Wohl¬ 
befindens. 

Ich möchte das damit erklären, daß die Aus¬ 
scheidungen der in ihren vitalen Funktionen 
vielleicht geschwächten Mikroorganismen durch 
das aus den Depots nach dem Krankheitsablauf 
weiter abgeschiedene Silber paralysiert wurden. 

Die beschriebenen Vorgänge werden weiter 
dadurch gefördert, daß nach kurzdauerndem 
Leukocytensturz eine starke Leukocytose ein- 
tritt (Waitz, C. A. Hoffmann u. A.). Dünger 
verfolgte den Vorgang auch experimentell beim 
Kaninchen; er zitiert Achard und Weil, welche 
eine Leukocytenabnahme von 20 bis 59 % un¬ 
mittelbar bis zwei Stunden nach der Injektion, 
allerdings sehr großer Gaben, feststellten. Dann 
trat für etwa fünf Tage Hyperleukocytose infolge 
eines Reizzustandes des Knochenmarks ein. Der 
Wechsel betrifft ausschließlich die polymorph¬ 
kernigen Leukocyten, und Dünger will die 
„Reaktion“ (von welcher gleich die Rede sein 
wird) auf den raschen Untergang dieser Zellen, 
und das Freiwerden von Fermenten dadurch, 
zurückführen. Diese „Reaktion“, eine meist 
mit Frost, selbst Schüttelfrost, einhergehende, 
oft von Unbehagen, Kopfschmerzen, Abgeschla- 
genheit begleitete Temperaturerhebung um ein 
bis mehrere Grade, beginnt eine Viertel bis mehrere 
Stunden nach der Einspritzung, und dauert einige 
Stunden bis zu einundeinhalb Tagen. Sie steht 
in einem gewissen Zusammenhang mit den 
Heilungsvorgängen. Noch mehr gilt das von der 
örtlichen Reaktion, welche sich im Auftreten 
oder in der Steigerung etwa vorhandener Schmer¬ 
zen und Schwellungen in dem kranken Gelenk 
oder Entzündungsherd äußert. Die von ver¬ 
schiedenen Seiten berichteten und zum Teil auf An¬ 
aphylaxie bezogenen lebenbedrohenden Zustände 


35) Schindler (I. c.). 

3 ®) Zitiert nach Engelen (1. c.). 





Dk Therapie- der Gegenwart 1921 


247 


Juli 


und selbst Todesfälle, haben wir nach tausenden 
seit 15 Jahren gemachten Injektionen niemals be¬ 
obachtet. Aber Schindler ^7), Engelen ^®), 
Arnold 39) berichten darüber. Löwenberg 
sah nach 10 ccm 2%igem Kollargol mehrtägige 
Anurie mit urämischen Erscheinungen, und 
Cohn berichtet über statke uterine Blutungen, 
die feste Tamponade erforderten 

Die Reaktion ist keineswegs zum Heilerfolg 
erforderlich. Namentlich beim Gelenkrheumatis¬ 
mus ist es die Regel, daß nach der ersten Ein¬ 
spritzung eine deutliche bis kräftige Allgemein¬ 
reaktion auf tritt und auch die örtliche wenigstens 
angedeutet ist. Nach der zweiten, von uns meist 
nach fünf Tagen gegeben, bleibf sie bereits oft 
aus, oder pflegt doch schwächer auszufallen, und 
später ist sie kaum bemerkbar, selbst wenn man 
mit der Dosierung steigt. Dabei sind die weiteren 
Einspritzungen für die endgültige Heilung doch 
nicht überflüssig. Bei septischen Erkrankungen 
ist ähnliches zu beobachten. Ich kann hier die 
Angaben von anderer Seite bestätigen, daß gewisse 
Beziehungen zwischen der Schwere der Erkran¬ 
kung und der Stärke der Reaktion bestehen. Die 
alte Anschauung, daß im Fieber selbst die Ursache 
der Heilwirkung zu suchen sei (,,Heilfieber“), 
k^nn schon deshalb nicht für alle Fälle zutreffen, 
weil diese Wirkung, wie gesagt, auch ohne Fieber 
eintreten kann, und weil ein auf anderem Wege 
erzeugtes Fieber (Proteintherapie) keineswegs 
immer die gleiche Heilwirkung hat. Ich bin eher 
geneigt, zu glauben, daß das Fieber und seine 
Begleiterscheinungen eine Folge der Heilung, 
d. h. des Parasitenunterganges, und der von den 
Endotoxinen (Antigerien) ausgelösten Antikörper¬ 
bildung sind. Auf alle Fälle bedeutet es eine ge¬ 
steigerte Abwehrbetätigung des Organismus gegen 
Schädlichkeiten. Es ist deshalb nicht ohne 
weiteres als Ziel der Arzneimittelindustrie zu be¬ 
trachten, Silberpräparate herzustellen, welche 
keine ,,Reaktionen“ auslösen. Das wurde z. B. 
von dem ersten deutschen Elektrargol gerühmt 
und traf bei unseren Versuchen zu. Leider war 
aber auch die Heilwirkung so unbefriedigend, daß 
wir bald zum fiebererregenden Kollargol zurück¬ 
kehrten. In meiner Arbeit über die Behandlung 
des Gelenkrheumatismus (1908, I. c.) führte ich 
die Fieberwirkung des Kollargol auf die ziemlich 
beträchliche Menge „artfremdem Eiweiß“ zurück, 
die ihm als „Schutzkolloid“ beigefügt ist (0,75% 
Silber, 0,25% Eiweiß). Heute möchte ich, wie 
gesagt, mindestens eine starke Teilhaberschaft 
der Parasitenantikörperbildung annehmen. Nach 
unseren heutigen Anschauungen über Protein¬ 
körpertherapie ist es sehr wohl denkbar, daß die 
Eiweißbeigabe die Silberwirkung im Kollargol 
wesentlich befördert. Denn so berechtigt wir 
nach den Arbeiten von Friedenthal, Engelen, 
Schindler u. A. über Fulmargin sind, in d^r 
Theorie von dem auf elektrischem Wege feinst 
verteilten Silber von annähernd vollkommener 
Reinheit therapeutisch das Bessere zu erwarten, 
so wenig zeigen sich diese Präparate doch in 
der Praxis dem alten Kollargol mit den gröberen 
Silberpartikeln und dem relativ hohen Eiwei߬ 
gehalt überlegen. Auf die geringere Silbermenge 
im gleichen Volumen läßt sich das kaum zurück¬ 
führen, denn höhere Dosierung dürfte da aus- 
gleichen. Größere Erfahrung mit dem neuen 


37) 1. c. 

3«) 1. c. 

33) Zbl. f. inn. M., Nr. 43. 
^3) D. m. W. 1916, S. 1461. 
*1) M. m. W. 1909, S. 532. 


Heydenschen „Elektrocollargol-Heyden konzen¬ 
triert zehnfach stark“ wird da vielleicht aufklären. 

Bis jetzt kann ich nach eigenen Er¬ 
fahrungen und nach Würdigung der Mit¬ 
teilungen in der Literatur nicht behaup¬ 
ten, daß ein deutlicher Untefschied in der 
Wirkung der gebräuchlichen Silberkolloide 
sich feststellen läßt; außer vielleicht einer 
geringeren Wertigkeit der älteren auf 
elektrischem Wege hergestellten Präpa¬ 
rate mit ganz schwachem Silbergehalt, 
wie das von Clin, Elektrocollargol Heyden, 
Lysargin usw. Hervorzuheben ist, daß das ’ 
Fulmargin auch subcutane Anwendung 
zuläßt und auch dabei wirksam sein soll. 
Im übrigen ist hier nur von intravenö¬ 
sem Gebrauch die Rede, und auch kein 
Grund vorhanden, ihn durch ein anderes, 
auf alle Fälle weniger wirksames Ver¬ 
fahren zu ersetzen. 

Was die Technik betrifft, so ist sie 
heute, nach allgemeiner Einführung der 
Salvarsantherapie, wohl jedem Arzt ge¬ 
läufiger, als noch vor 15 Jahren. Von 
der Notwendigkeit, die Vene vor der In¬ 
jektion freizulegen (Kausch), kann nicht 
ernsthaft mehr die Rede sein. Um so 
sorgfältiger ist darauf zu achten, nichtnur, 
daß die Nadel zur Zeit der Einspritzung 
richtig liegt, sondern auch, daß nicht 
schon beim Einstechen die gegenüber¬ 
liegende Gefäßwand verletzt wird. Auch 
muß die Nadel vor dem Einführen gründ¬ 
lich von der Silberlösung befreit werden, 
mit der sie außen etwa benetzt ist. Die 
Stauung geschieht am besten durch Stoff¬ 
binde (Taschentuch) und Knebel, wenn 
es sich um Arm oder Bein handelt. Sie 
kann so von jedem Laiengehilfen leicht 
ausgeführt und ohne Veränderung der 
Lage des Gliedes gelöst werden. Wir 
haben gefunden, daß Verletzungen der 
Venenwand am sichersten vermieden wer¬ 
den, wenn man erst die freie Nadel ein¬ 
führt und dann, wenn das Blut gleich¬ 
mäßig aus ihr abtropft, die Binde lockern 
läßt und die vorher m.it der Lösung be¬ 
schickte Spritze aufsetzt. Ihre Ent¬ 
leerung soll sehr langsam geschehen. Hat 
es sich nicht vermeiden lassen, daß Lösung 
ins Gewebe gelangte, so äußert der 
Kranke sofort lebhafte Schmerzen. Die 
Operation ist dann abzubrechen, und 
man versucht, möglichst viel von der 
Flüssigkeit durch Streichen und Massieren 
aus der Stichöffnung wieder zu entfernen, 
oder doch im Gewebe zu verteilen. Kühle 
Umschläge mit essigsaurer Tonerde lin¬ 
dern die Schmerzen', verhindern aber 
nicht, daß sich eine entzündliche Schwel- 



248 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Juli 




lung um die Stichstelle bildet, welche erst 
nach Tagen zurückgeht und weitere Be¬ 
nutzung der Vene ausschließt. Eiterungen 
und Nekrosen haben wir nie gesehen. 

Die kolloiden Silberlösungen sind nicht 
isotonisiert. Zusatz von Salzen aber würde 
das Silber ausfallen lassen (Elektrolyt- 
wirkung). Man darf deshalb keine zu 
großen Mengen einführen, da sich sonst 
die roten Blutkörperchen auflösen und 
,,Kalivergiftung eintritt“ (??), Wir be¬ 
nutzen noch immer vorwiegend das alte 
Kollargol-Heyden, aber fast nur in fünf¬ 
prozentiger Lösung, von der wir 3 bis 
5 ccm einspritzen. Sonst wird meist 
zweiprozentige Lösung gebraucht, und 
bis 15 und 25 und mehr eingeführt 
(Kausch u. A.). Was sich überhaupt 
erzielen läßt, wird schon mit geringeren 
Mengen erreicht. Im übrigen scheint es 
auch auf die Konzentration anzukommen 
und nicht gleichgültig zu sein, ob man 
z. B. 0,2 g Kollargol in 5 % oder 2 % 
Lösung gibt. Wenn man sich erinnert, 
daß die primäre Abtötung einer gewissen 
Menge von Krankheitserregern und die 
dadurch ausgelöste Antikörperbildung 
wahrscheinlich ein wichtiger Heilfaktor 
ist, so wird das verständlich. Wir ver¬ 
meiden tägliche Anwendung des Kollargol 
und machen meist jeden fünften, höch¬ 
stens (in manchen Fällen von Sepsis) 
jeden zweiten Tag eine Injektion. Der 
Organismus soll sich nicht an den Reiz 
gewöhnen, welcher die Antikörperbildung 


auszulösen hat. Zu lang dürfen die 
Intervalle aber auch nicht sein, weil man 
sonst mit unerwünschter Anaphylaxie^ 
rechnen muß, die Böttner nach 11 Tagen 
auftreten und bis zum 41. Tage andauern 
sah (Tierversuch). 

Zum Schiu&sei noch die von A. Edel¬ 
mann und V. Müller angegebene Ver¬ 
bindung von Metylenblaunitrat und Sil¬ 
bernitrat erwähnt, welche Merck als 
,,Argochrom“ in den Handel bringt. Die 
parasiticiden Eigenschaften beider Sub¬ 
stanzen sollen durch ihre Verbindung 
noch gesteigert werden und die der reinen 
Silberkolloide noch übertreffen. Anfangs 
wurde das „Argochrom'‘ auch gegen die 
Malaria empfohlen. Wir fanden es hier 
ebensowenig nachhaltig wirksam, wie die 
anderen Silberpräparate. Da es außer¬ 
dem trotz aller Vorsicht fast regelmäßig 
zum Verschluß der Vene führt, in welc^ 
es gespritzt wird, so haben wir aufgehört, 
es zu versuchen. 

Dagegen sahen wir ausgezeichnete 
Wirkung vom Jodkollargol-Heyden. 
Sie scheint in Fällen älterer Gelenk¬ 
affektionen die der einfachen Silber¬ 
lösungen in der Tat noch zu übertreffen. 
Das Präparat wird in Substanz zu 0,02 
Jodsilber in zugeschmolzeneu Ampullen 
versandt und ist nach Zusatz von 10 ccm 
sterilen Wassers, in dem es sich leicht 
löst, gebrauchsfertig. 

Böttner (I. c.). 


Aus der Medizinisclieu Klinik der Universität Grießen (Direktor: Prof. Dr. Voit). 

Über den Wert der Behandlung der Psyche bei inneren 
Erkrankungen, ihre Methoden und Erfolge. 

Von Dr. Erwin Moos, Assistent der Klinik. (Schluß.) 


gegenüber dem Angreifer im Gefolge 
haben. 


Die psychische Einwirkung auf den 
Organismus kann man sich am besten 
klar machen am einfachen Beispiel des 
Erschreckens. Denken wir uns einen 
Überfall auf einen Menschen.. Der psy¬ 
chisch feste, gesunde Mensch wird mit 
richtigen, schnellen Associationen und den 
aus ihnen folgenden logischen Maßnahmen 
reagieren. Er ergreift die Flucht oder 
findet sofort den richtigen Gegenstand 
und setzt sich mit diesem in geeigneten 
Verteidigungszustand. Auf den psychisch 
labilen Menschen wirkt der schreckhafte 
Sinneseindruck so, daß er eine Gemüts¬ 
bewegung erzeugt die falsche körperliche 
Reaktionen: Erstarren der Muskulatur, 
Weinen, Zittern usw. und damit Abwehr¬ 
unfähigkeit und sofortiges Unterliegen 


Nach Art des Errötens bei Scham¬ 
gefühl oder des Erblassens bei Wut oder 
Schrecken werden bei psychisch labilen 
Menschen nicht immer Vasomotoren oder 
Dilatoren im Gesicht sondern auch in 
Brust-, Bauch- und Unterleibsorganen 
innerviert; es kommt zu spasmophilen 
Zuständen, die das eine Mal ein Bronchial¬ 
asthma, das andere Mal entsprechende 
Magen- und Darmsymptome usw. im Ge¬ 
folge haben können. 

Bei der obstipierten Frau A. war es auf psy¬ 
chogenem Wege zu Dickdarmspasmen gekommen. 
Gleichzeitige Sekretionshemmung führten zu 
Eindickung und Verhärtung der Fäcesmassen, die 
nun rein mechanisch derartige Reizungen der Dick¬ 
darmschleimhaut bewirkten, daß es zu Blut- und 



Juli 


Die Therapie, der Gegenwart 1921 


249 


V Schleimabsonderungen kam. In diesem Falle ist 
das Primäre die psychogen bedingte Contractur 
' des Darmes und daran schließt sich die organische 
Seite der Symptome an, Blutungen eventuell Ent¬ 
zündungsvorgänge. Hier wird es verkehrt sein 
und es erwies sich auch in unserem Falle als 
falsch, die organische Seite zuerst oder ausschlie߬ 
lich in Angriff zu nehmen, da das nicht an der 
Wurzel des Übels anfaßt. Einfügen möchte ich 
hier noch einen Fall von Oesophagospasmus, der 
nach meinem Vortrage aufgenommen wurde, 
zunächst aller internen Therapie trotzte und dann 
auf Psychoanalyse in vier Wochen heilte. 

Fall V. Dr. X., Student, Diagnose: habi¬ 
tuelle Obstipation. 

Patient litt seit sieben Jahren unter hart¬ 
näckiger Obstipation, gibt an, in letzter Zeit nie 
mehr Hunger verspürt zu haben. Tiefe Depres¬ 
sionszustände haben ihm die Lust am Leben ge¬ 
nommen. Seit längerer Zeit bestand Mogigra- 
phie, die gemeinsam mit den anderen Symptomen 
fast jegliches Arbeiten unmöglich machte. 

In diesem Falle bestanden keine Dickdarm- 
spasmen. Die Fäcesmassen wurden lediglich wie 
die Röntgendurchleuchtung ergab, in der Ampulle 
retiniert. 

Die Psycho-Analyse erzielte unter anfänglichen 
sehr heftigen psychischen Reaktionen, die bei 
jeder Behandlung auftreten und den Arzt nicht 
schrecken dürfen, Heilung in wenigen Wochen. 
Dem Patient geht es nach vier Monaten jetzt 
vollkommen gut; er kann ungehemmt arbeiten 
und hat keine Beschwerden mehr. Der Therapie 
zu Hilfe kam in diesem Falle die hohe Intelligenz 
des Kranken, der schnell auffaßte und nach an¬ 
fänglichen Widerständen intensiv mitarbeitete, 
teilweise an Hand von Büchern, die ich ihm 
empfahl. 

Fall VI. Anna E., Hausmädchen. In der 
Klinik vom 10. November bis 3. Dezember 1920. 

Anamnese: Patientin hatte als Kind Schar¬ 
lach, Masern, Gelenkrheumatismus, Nierenent¬ 
zündung. 1916 Typhus, 1917 Blutvergiftung vom 
rechten Zeigefinger ausgehend, der amputiert 
werden mußte. Nach der Blutvergiftung noch¬ 
mals Nierenentzündung mit Erscheinungen von, 
Atemnot und Herzschwäche. 

Jetzige Beschwerden: Herzklopfen, Schmer¬ 
zen in der Herzgegend, Kopfschmerzen, depres¬ 
sive Verstimmungen. 

Befund : Etwas blasses Mädchen in normalem 
Ernährungszustand; Hämoglobin 70%. Über 
.der linken Lugenspitze leichte Schallverkürzung 
und bei rauhem etwas verschärftem Atem nach 
Hustenstößen einige feinblasige Rasselgeräusche. 

Keine orthodiagraphische Herzverbreiterung; 
geringe Tropfenherzform im Röntgenschirm. Lei¬ 
ses sysfolisches Geräusch über der Herzspitze. 
Zweiter Pulmonalton etwas klappend. 

Abdomen: Appendixwunde noch etwas secer- 
nierend, fast verheilt. 

Bei den vielen Infektionen, die vorausgegangen 
waren, wagte ich zunächst nicht, die Tachykardie 
als nicht organisch ani^usprechen, besonders auch, 
weil die Patientin eine Lungenspitzenaffektion 
hatte, bei denen wir tachykarditische Erschei¬ 
nungen beobachten. Am 18. November machten 
wir auf den Nachweis von Taenia-saginata-Glie¬ 
dern im Stuhl mit Filmaron-Chloroform eine er¬ 
folgreiche Bandwurmkur. Als die Tachykardie 
auch daraufhin gleich blieb, die Blinddarmwunde 
inzwischen geheilt war, und wir außer Tempe¬ 
raturfälschungen einen typischen hysterischen 
Anfall sahen, hielt ich eine Psycho-Analyse für 
angebracht. Nach acht Tagen waren sämtliche 


Beschwerden gebessert, sowohl die psychischen 
Erscheinungen als auch die Kopfschmerzen, die 
Pulsbeschleunigung und die Herzsensationen be¬ 
seitigt. 

Kurz berichten möchte ich über drei chronische 
Ischiasfälle, von denen der erste und letzte akut 
mit Fieber begonnen hatte. In allen drei Fällen 
handelte es sich um Frauen, Mitte bzw. Ende def 
vierziger Jahre. Bei- der ersten Frau waren die 
Ischiasdruckpunkte vom Wadenbeinköpfchen 
ah aufwärts stark schmerzhaft, der Las^gue wai 
fraglich, die Achillessehnenreflexe waren beider¬ 
seits gleichmäßig vorhanden. Bei der zweiten Frau, 
deren Leiden ein halbes Jahr bestand, waren am¬ 
kranken linken Bein alle Ischiasdruckpunkte in 
typischer Weise schmerzhaft, der Lasegue deut¬ 
lich positiv. Der Wadenumfang betrug am 
wohl physiologisch etwas schwächeren linken Bein 
einen halben Zentimeter weniger als rechts. Die 
dritte Frau war acht Monate ischiaskrank; sämt¬ 
liche Ischiasdruckpunkte bis zur Austrittsstelle 
des Nervus ischiadicus am Foramen ischiadicum 
stark positiv. Lasögue positiv. Unterschenkel¬ 
umfang am kranken linken Bein ein Zentimeter 
weniger als rechts. Achillessehnenreflex fehlte am 
kranken linken Bein. Bei allen drei Frauen 
wandten wir bis zu vier Wochen lang vergeblich 
alle gewohnten klinischen medikamentösen und 
mechanischen Heilmaßnahmen an. Ich konnte 
bei allen drei Frauen dann durch Hypnose fest¬ 
stellen, daß die Krankheitserscheinungen auf 
psychogenem Wege festgehalten wurden. Die 
Kranken gingen in Hypnose und posthypnotisch 
im Wachzustand vorübergehend ohne Hinken 
und ohne Schmerzen. Bei den beiden ersten 
Frauen blieben auf weitere Hypnosen mit nach¬ 
folgender Aufklärung nach Dubois und Rosenbach 
die Beschwerden und Erscheinungen an dem 
kranken Bein fort. Nur der Wadenumfang bei der 
zweiten Frau blieb am linken .Bein wie er gewesen 
war. Bei der dritten Frau, die eine sehr schwere 
Hysterika war, glich sich durch Massage, Elek¬ 
trisieren usw. die Atrophie am kranken Bein aus, 
trotzdem wurde irgendwelche Besserung nicht 
zugegeben. Sie hinkte nach wochenlanger Be¬ 
handlung in gleicher Weise weiter und war kaum 
zum gehen zu bewegen. Nach einigen tiefen Hyp¬ 
nosen ging sie gut, sie wurde gebessert nach Hause 
entlassen, um nach sechs Wochen mit den alten^ 
Beschwerden wieder in der Klinik zu erscheinen.' 
Ich ging nun auch bei dieser Patientin an eine 
ganz eingehende Psycho-Analyse, durch die er¬ 
reicht wurde, daß die Patientin jetzt stundenweite 
Gänge ohne Hinken und Ermüdung machen und 
ihren Haushalt mit zwei Kindern versorgen kann. 
Andere hysterische Symptome besserten sich 
wesentlich, doch dürften sie nicht geheilt sein. 

Fall X. Frau S., 35 Jahre. Diagnose: Neur¬ 
asthenie. Dysmenorrhöen, Vaginismus (aus der 
Frauenklinik zu uns überwiesen). In der Klinik 
vom 21. Juli bis 31. Juli 1920. Kinderkrankheiten 
für uns belanglos. September 1919 Operation in , 
der Frauenklinik wegen Gebärmutterknickung. 
Die Schmerzen im Leib, besonders bei den Menses, 
besserten sich nach der Operation nicht; da in 
der Frauenklinik neue Anhaltspunkte nicht ge¬ 
funden wurden, kam Patientin zu uns, besonders 
deshalb, weil Schleim und Blutabgang im Stuhl 
beobachtet worden war. 

Befund : Abdomen weich, Brustorgane o. B. 
Von der Symphyse aufwärts links am Nabel 
vorbeigehend eine 15 cm lange, auf der Unterlage 
nirgends verwachsene Narbe. Druckempfind¬ 
lichkeit zwischen Nabel und Leiste links. Probe¬ 
frühstück ergab normale Säurewerte bei • etwas 

32 




250 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


erhöhtem Rückstand. Sanguis negativ. , Mikro¬ 
skopisch 0 . B. Die Magen- und Darmdurch¬ 
leuchtung zeigte einen Stierhornmagen miti star¬ 
kem Tonus, guter; Peristaltik; der Pylorus war 
etwas weit rechts, Teidlich beweglich. Motilität 
des Magens normal. Die Breipässage durch den 
Darm ließ krankhafte Veränderungen nicht er¬ 
kennen. Ebenso war die Darmschleimhaut, so¬ 
weit das Rektoskop reichte, intakt. 1 

Die Psychoanalyse ergab folgende interessante 
Anhaltspunkte. Die Patientin hatte von 1913 bis 
1916 Tag und Nacht ihren Vater zu pflegen, der 
1916 an Magen- und Darmkrebs starb. Derselbe 
hatte besonders in der letzten Zeit immer viel 
Blut und Schleim im Stuhl. Bei seinem Tode war 
die Patientin durch körperliche und seelische 
Anstrengung vollkommen heruntergekommen. 
Schon bei den ersten Menses nach dem Tode 
des Vaters fiel ihr auf, daß diese länger dauerten, 
daß sie stärker blutete und daß sie mehr Schmer¬ 
zen hatte, als dies früher der Fall gewesen war. 
Sie machte sich Sorge, daß es ihr einmal so gehen 
könnte, wie. ihrem verstorbenen Vater. Nach 
Rückkehr des Mannes hatte sie vom ersten Bei¬ 
schlaf ab heftige Schmerzen in der Vaginal¬ 
gegend, die jetzt so stark geworden waren, daß 
ihr der Verkehr kaum noch möglich und direkt 
zum Ekel geworden ist. Schon nach einigen 
wenigen auf klärenden Sitzungen berichtet die 
Patientin über wesentliche Besserung zu Hause; 
sie mußte die Behandlung unterbrechen und kam 
neun Tage zur Nachbehandlung wieder. Jetzt 
hat sie keine Schmerzen beim Coitus mehr. Die 
Regelbeschwerden sind gebessert, vorhanden ge¬ 
wesene nervöse Beschv/erden verschwunden. 

Analogie zwischen ihren vermehrten Blutungen 
und den Symptomen ihres Vaters. Die Patientin 
kam immer wieder auf die starke Bindung an 
ihren Vater zu sprechen, der ihr beständig als 
das Idealbild eines Mannes vorschwebe, mit dem 
auch ihr Mann, den sie sehr verehre, keinen Ver¬ 
gleich vertrage. ^ 

Die Patientin war noch zweimal ambulant in 
letzter Zeit in der Klinik. Sie gab an, daß die 
früheren Beschwerden nicht mehr vorhanden 
seien. Merkwürdigerweise haben die vorletzten 
Menses nur einen Tag, die letzten Menses nur zwei 
Tage gedauert, während sie früher immer acht 
Tage anhielten. Beschwerden und Schmerzen 
hat sie nicht mehr dabei. Ob die Besserung der 
dysmenorrhoischen Beschwerden auch durch die 
Psychotherapie eingetreten ist, entzieht sich 
meiner Kenntnis. Jedenfalls trat sie auffällig 
gleichzeitig mit der Behandlung ein. 

Fall XI. Patentin Kar. Kr., Näherin, 18 Jahre, 
imbezille Patientin. Diagnose: Hysterie, kommt 
wegen Schmerzen in der Magengegend,' spürt 
Brennen im Leib direkt nach den Mahlzeiten, kein 
saueres Aufstoßen, kein Erbrechen, Appetitlosig¬ 
keit, Kopfschmerzen. Probefrühstück o. B. 

Röntgendurchleuchtung ergibt Angelhaken¬ 
magen mit gutem Tonus, normaler Peristaltik und 
Motilität. Pylorus frei beweglich. Breipassage 
durch Darm o. B. Stuhl o. B. 14 Tage nach der 
Aufnahme typischer hysterischer Anfall mit ver¬ 
mehrten Leib schmerzen, Luftmangel und Zuckun¬ 
gen am ganzen Körper. 

Auf zwei Hypnosen alsbaldige Besserung des 
Appetits. Patientin konnte alles essen. Der 
Belag auf der Zunge, der vorher durch nichts zu 
beseitigen war, verschwand. Ebenso vergingen 
die Kopfschmerzen und das Brennen im Leibe. 
Entlassung beschwerdefrei mit vier Pfund Ge¬ 
wichtszunahme. 


Juli 


Fall XII. Frl. K-, 42 Jahre. Diagnose: Neur¬ 
asthenie, Klimakterium, Colicystitis. 

Nach der Colicystitisbehandlung nach Haas, 
bei der durch sehr anstrengende Lichtbäder, 
Gaben von Phosphorsäure und Salicyl eine Über¬ 
säurung des Harns und dadurch ein schnelleres 
Absterben der Colibazillen erzielt wird, traten 
infolge der eingetretenen Schwäche derartig ner¬ 
vöse Schwindelanfälle auf, daß die Patientin nicht 
mehr auf sein konnte. Sie blieben noch lange 
Zeit, daß schließlich eine Auslösung durch körper¬ 
liche Schwäche infolge der. Schwitzkuren nicht 
mehr in Betracht bleiben konnte und ein psycho¬ 
genes Festhalten angenorhnien werden mußte. In 
einer Sitzung ließ sich analysieren, daß diese 
Schwindelanfälle seit 17 Jahren mit wechselnder 
Häufigkeit und Stärke aufgetreten waren, so daß 
sie die Patientin öfter arbeitsunfähig gemacht 
hatten. Erstmalig waren sie entstanden infolge 
intensiven Wunsches nach einem geliebten Manne, 
der der Patientin infolge Verheiratung nicht er¬ 
reichbar war. Die Entdeckung ihrer Neigung 
erschien ihr verbrecherisch; bei dem Gedanken 
an sie wurde es ihr-erstmalig schwindelig. Nach¬ 
dem sie diesen im Unterbewußtsein vergraben 
gewesenen Affekt wiedererlebt hatte, konnte sie. 
ihn augenblicklich selbst abreagieren und die 
Schwindelerscheinungen verschwanden, die tage¬ 
lang anderer Behandlung trotzten. 

Fall XIn. Helene S., 25 Jahre. In der 
Klinik vom 11. Juni bis 31. Juli 1920. Diagnose: 
Basedow. 

Anamnese: Ich gehe auf diese Anamnese wieder 
etwas ausführlicher ein, weil sie mir außerordent¬ 
lich charakteristisch erscheint für den Aufbau 
einer psychogenen Erkrankung. Mutter starb 
an Herzschlag, Vater und ein Bruder sind gesund. 
Als Kind Masern, außerdem zweimal Diphtherie. • 
Der jetzigen Erkrankung ging ihre Entlobung im 
Winter 1919 voraus. Ihr Bräutigam heiratete ein 
anderes Mädchen aus ihrem Dorf. Die Patientin 
kam alsbald in eine tiefgehende Gemütsverstim- 
mung. Es verging ihr jegliche Lust zum Arbeiten. 
Der Umgang mit ihrem Vater, der diese Heirat 
hintertrieben hatte, war ihr ein Greuel. Sie 
konnte ihn nicht mehr sehen. Abends konnte sie 
infolge der Gedanken, die sie sich machte, nicht 
mehr einschlafen und schlief bald überhaupt 
schlecht. Wenn sie nachts wach lag, stellte sich 
Herzklopfen und Beklemmungsgefühl ein, das 
sich um die Weihnachszeit immer mehr steigerte. 
Alsbald litt sie auch unter häufigem nächtlichem 
Schwitzen und wurde nun auch über Tag bei 
den kleinsten Anlässen leicht aufgeregt und spürte 
in sich eine beständige Unruhe. Erst nachdem 
alle diese Erscheinungen vorhanden waren, fiel 
ihr auf, etwa im Februar 1920, daß ihr Hals zu 
schwellen anfing und daß ihre Augen größer 
wurden. Der Schlaf wurde immer schlechter, der 
Appetit verschwand. Zu dem Herzklopfen ge¬ 
sellten sich stechende Schmerzen in der Herz¬ 
gegend. 

Befund: Große Patientin in reduziertem Er¬ 
nährungszustand. Starke Verdickung des Halses, 
besonders in der Schilddrüsengegend. Augen 
glasig-glänzend, stark aus den Augenhöhlen her¬ 
vorgetrieben. Stellwag+, Möbius -|-, Graefe 
schwach -f-. Einige feuchte feinblasige Rassel¬ 
geräusche über der leicht schallverkürzten linken 
Lungenspitze. Sonst Lunge o. B. Röntgenolo¬ 
gisch über der Lunge kein Befund. Herzmaße: 
31/2 :7y2 cm. 

1 

Spitzenstoß im fünften Interkostlaraum, ziem¬ 
lich stark hebend, innerhalb der Mammillarlinie. 





Jijli ^ . Die Therapie der 


Leichtes systolisches Geräusch über der Mitralis. 
,Zweiter Pulmonalton etwas akzentuiert. Wech¬ 
selnde Tachykardie. Abdomen o. B. Reflexe 
gesteigert. Tremor der Hände. Dermographie 
sehr stark positiv. Gewicht bei 1,68 m 56,7 kg. 
Zickzacktemperatureri abends bis 37,5 im An¬ 
fang. Blutbild: 72 % Neutrophile, 18 % Lympho- 
,zyten, große Mononukleäre und Übergangsformen 
je 5%. Blutdruck 110 mm Hg. 

26. Juni 1920: Auf Bettruhe anfangs leichte 
Besserung des Schlafes und Allgemeinbefindens. 
7. Juli immer wiederkehrende Beschleunigung 
der Herztätigkeit, häufige psychische Alterationen. 
14, Juli dauernde Unruhe, Klagen über Schmerzen 
in der Herzgegend, deutliches systolisches Ge¬ 
räusch über der Herzspitze, Spitzenstoß sehr 
stark hebend. 16. Juli: Über dem Cor ist jetzt 
ein ausgesprochener Galopprhythmus erkennbar. 
Starkes Hautschwitzen. Exophthalmus, Augen¬ 
symptome, Halsumfang wie im Anfang. __ 

21. Juli: Trotzdem die Patientin sehr auf¬ 
geregt ist und starkes Herzklopfen hat, wird 
Hypnose versucht, die sofort gelingt. Dabei war 
interessant zu sehen, wie drei Minuten nach der 
Hypnose das Herz vollkommen ruhig schlug bei 
normaler Pulsfrequenz. Posthypnotisch schlief 
die Kranke in der nächsten Nacht von abends 
9 Uhr bis morgens ununterbrochen, nachdem 
vorher durch Sedativ^a absolut kein Schlaf mehr 
zu erzielen war und die Patientin ganze Nächte 
wach im Bett lag. Dies brachte mich darauf, 
die psychotherapeutische Behandlung fortzu¬ 
setzen, weil ich mir sagte, es erscheint möglich, 
daß man durch Beseitigung der jetzt hauptsäch¬ 
lich hervorstechenden nervösen Symptome Ein¬ 
fluß auf die endokrinen Drüsen, hier speziell auf 
die Schilddrüse, erzielen kann. Eingehende täg¬ 
lich ein bis zwei bis zu einer Stunde dauernde 
psycho-analytische Sitzungen hatten eine über¬ 
raschende Besserung zur Folge. 

29. Juli: Die Patientin schläft jede Nacht, ist 
im allgemeinen ruhig und stets fröhlich gestimmt, 
die lästigen Schweiße haben aufgehört, die Herz¬ 
aktion ist dauernd normal geworden mit einer 
Ausnahme morgens, wo sie von einem schreck¬ 
haften Traume vom Tode ihrer Mutter wach 
geworden war. Nach diesem Traume wurden 
108 Pulsschläge gezählt. Halsumfang ist bis jetzt 
von 38 auf 36 cm zurückgegangen^ dazu der 
Exophthalmus Vollkommen, aber erst, das sei 
nochmals bemerkt, unter der psycho-therapeuti- 
schen Behandlung. Entlassung gebessert. Ambu¬ 
lante Weiterbehandlung. Es geht der Patientin 
jetzt sehr gut. Sie kann zu Hause alle Arbeit 
tun, klagte im Anfang noch etwas über Herz¬ 
klopfen, das jetzt auch vollkommen verschwunden 
ist. Starke Gewichtszunahme, zu Hause noch 
weitere 12 Pfund. 

Es ist wohl kaum nötig, davor zu warnen, 
nun alle Basedowerkrankungen psycho-therapeu- 
tisch heilen zu wollen. Dieser Fall war mittel¬ 
schwer und sicher psychogenen Ursprunges. 
Nonne fand unter 39 Basedowfällen zehn mit 
sicherer psychogener Ätiologie. Er erwähnt einen 
Fall von Schnellheilung von Lenhartz durch 
einmalige intensive Suggestion. 

Bei den vielen vorkommenden ge¬ 
eigneten Fällen dürfen wir uns der Not¬ 
wendigkeit nicht verschließen, daß auch 
die innere Medizin einer Systematisierung 
ihrer Psychotherapie bedarf. Gerade die 
innere Klinik mit ihrem reichlichen Unter¬ 
suchungsmaterial scheint mir berufen 


Gegenwart 1921 1 251 


und verpflichtet, die neueren psychOr 
therapeutischen Methoden auf ihre Ver-* 
wertbarkeit zu prüfen. Sie wird Physi¬ 
sches und Psychisches vor Anwendung 
jeglicher Psychotherapie streng scheiden 
und so vor Enttäuschungen bewahrt 
bleiben. 

In einer Reihe geeignet befundener 
Fälle und zwar vor allem solchen, bei 
denen wesentlich Einzelsymptome zu be¬ 
seitigen sind, wird die Hypnose mit Erfolg 
heranzuziehen sein, die mir auch noch 
gute Dienste leistete, wenn ich differen¬ 
tial-diagnostische Zweifel hatte, ob es 
sich um organische oder um psychogene 
Erscheinungen handelte. Im übrigen 
verwandte ich die Hypnose zeitweise zur 
Unterstützung der Psychoanalyse. 

Weiterhin ist bei leichteren Fällen die 
Persuasionsmethode mit einfacher Auf¬ 
klärung über das Zustandekommen vor¬ 
handener Symptome, sowie es Rosen¬ 
bach und Dubois geübt haben, mit 
gutem Erfolg verwendbar. 

Bei allen Patienten, bei denen es sich 
um komplizierte tief im Unterbewußtsein 
verankerte Zustände handelt, werden wir 
irpmer nur durch die Psychoanalyse' zum 
Ziele kommen, die auch bei meinen Fällen 
eine weitaus größere Rolle spielt, als es 
in diesem Berichte scheinen mag. Das 
Wesen der analytischen Behandlung be¬ 
steht darin, daß man durch geeignete 
Methoden im Unterbewußtsein veran¬ 
kertes, nicht bewußtseinsfähiges Material 
an die Oberfläche des Bewußtseins treten 
läßt, dadurch den früher damit verbunden 
gewesenen Affekt zum Abreagieren bringt, 
falsche Ideenassoziationen löst, und so 
den Kranken instand setzt, mit den In¬ 
stanzen seines bewußten Denkens und 
Wollens das Triebhafte in sich zu über¬ 
winden und einer höheren Verwertung 
zuzuführen. Bei den komplizierten Fällen 
müssen wir uns des ganzen Rüstzeuges 
der Erforschung unbewußter Zustände 
bedienen und dementsprechend Wochen 
und Monate an ihnen arbeiten. 

Das erste meiner Ansicht nach wich¬ 
tigste Hilfsmittel der Psychoanalyse ist 
das Auftauchenlassen sogenannter freier 
Einfälle, ein zweites das Assoziations¬ 
experiment, das von Jung (Zürich) aus¬ 
gebaut worden ist. 'Ein drittes Hilfsmittel 
endlich haben wir in der Verwertung der 
Träume, Wie jeder von sich selber weiß, 
offenbart sich uns im Traume häufig 
ein Streben, eine Triebregung, die wir 
uns im wachen Leben infolge moralischer 
und konventioneller Hemmungen nicht 

32* 



252 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Juli 


klar machen können, mit ejner Deutlich¬ 
keit, vor der es kein Ausweichen gibt. 
Man braucht da gar keine gekünstelten 
Deutungen, wie sie ein Teil der sogenann¬ 
ten strengen Freudschen Analytiker 
üben,,um den Patienten klar zu machen, 
was in ihnen vorgeht. Wir müssen uns 
vorstellen, daß im leisen Schlafzustand 
der Träume die intensivsten Sinnesreize 
und Gemütsbewegungen des Taglebens 
nach Ausschaltung des Oberbewußtseins 
noch oder dann erst recht vorhanden 
sind und Reflexe auslösen. Diese Reize 
sind-im Tagleben überdeckt, überwuchert 
und greifen gleichwohl dirigierend in das 
menschliche Denken und Handeln sein. 

Die Schwierigkeiten der Psycho¬ 
analyse sind manchmal ungeahnt große 
und das ist wohl auch ein Hauptgrund, 
weshalb sie bei Patienten und Ärzten auf 
Widerstand stößt. Dafür führt uns aber 
die Analyse bei genügender Ausdauer 
zum Ziele, wenigstens muß ich das von 
meinen Fällen sagen. Ich habe außer den 
angeführten eine ganze Reihe anderer 
behandelt. 

Bei der Behandlung müssen wir uns 
frei halten von aller Mystik, andererseits 
dürfen wir aber auch besonders als Ärzte 
nicht davor zurückschrecken, Dinge, die 
uns die Erfahrung immer wieder erkennen 
läßt, in der Therapie mit Takt und großer 
Rücksichtnahme auf den Seelenzustand 
der Kranken zu verwenden. 

Man darf selbstverständlich nicht so 
weit gehen und nun wie Freud alles auf 
das Sexualleben zurückführen wollen. 
Neben dem Sexual- beziehungsweise Art¬ 
erhaltungstrieb gibt es einen Ernährungs¬ 
trieb, einen Trieb nach Machtstellung 
und so viele andere ererbte und erworbene 
lustbetonte Streben und Triebregungen, 
deren Nichtbefriedigung zu Ausfalls¬ 
erscheinungen führen kann. Darüber aber 
müssen wir uns im klaren sein, daß wir 


die meisten unserer Regungen frei und 
ohne Hemmungen offenbaren können, 
während fast alle Kulturmenschen die 
Neigungen, die in die Sexualsphäre ge¬ 
hören, nicht offenbaren. Hier sind die 
meisten Menschen vor sich und anderen 
unfrei und gehemmt. Das ist der Grund, 
warum es im Sexualleben eher zu ein¬ 
geklemmten Affekten und auf diesen 
auf gepfropften psychogen bedingten 
Krankheitssymptomen kommt. 

Literatur: v. Krehl, Über nervöse Herz 
erkrankungen und den Begriff der Herzschwäche 
m.rn.W. 1906, Nr. 48, S. 2333). Goldscheider, 
Über psycho-reflektorische Krankheitssymptome 
(D.m.W. 1907, Nr. 17, S. 665). Flein er, Verdau¬ 
ungsstörungen und Psychoneurosen (M. m. W. 
1909, Nr. 10, S. 489). Möbius, Tatsächliches und 
Hypothetisches über das Wesen der Neurasthenie 
(Neurol. Beitr. 1894). Kraus, Die Abhängig¬ 
keitsbeziehungen zwischen Seele und Körper in 
I Fragen der inneren Medizin (Erg. d. Inn. Med. 
1908, Bd. 1). Strümpell, Einige Bemerkungen 
über das Wesen und die Diagnose der sogenannten 
nervösen Dyspepsie (D. Arch. f. klin. M. 1902, 
Bd. 73). W. Wiindt, Grundriß der Psychologie 
(zwölfte Auflage, Leipzig 1914). Derselbe, 
Grundzüge der physiologischen Psychologie. Du- 
bois. Die Psychoneurosen und. ihre psychische 
Behandlung (Bern 1905). Rosenbach, Nervöse 
Zustände und ihre psychische Behandlung (Berlin 
1903). Freud, Vorlesungen zur Einführung in 
die Psychoanalyse (Leipzig und Wien 1916). 
Derselbe, Über Psychoanalyse: Fünf Vor¬ 
lesungen, gehalten zur 20 jährigen Gründungsfeier 
der Clark University in Worcester, Mass., Sep¬ 
tember 1909 (Keipzig-Wien 1920). A. Forel, 
Der Hypnotismus oder die Suggestion und die 
Psychotherapie (Enke, Stuttgart 1918). Ernst 
Weber (Berlin), Der Einfluß psychischer Vor¬ 
gänge auf den Körper, insbesondere auf die Blut¬ 
verteilung (Berlin 1910). Wilh. Stekel, Nervöse 
Angstzustände und ihre Behandlung (3. Aufl., 
Wien-Berlin 1921). F. Mohr (Koblenz), Die Be¬ 
deutung des Psychischen in der inneren Medizin 
(M. Kl. 1909, H. 31 u. 32). Derselbe, Entwick¬ 
lung und Ergebnisse der Psychotherapie in neuerer 
Zeii: (Erg. d. Inn. Med. 1912, Bd. IX). Derselbe, 
Das Wesen und die therapeutische Bedeutung 
der Psychoanalyse (Zschr. f. ärztl. Fortbild. 1920, 
H. 4). Derselbe, Die Beziehungen der Psycho¬ 
therapie zur Gesamtmedizin (Zschr. f. ärztl. Fort- 
I bild. 1908, H. 19 u. 20). 


Aus der L cMrurgisclien Abteilung (Direktor: Prof. Dr. R. Mübsam) und der Bakterio- 
logiscben Abteilung (Dr. Kurt Meyer) des städtischen Rudolf-Vircbow-Krankenbauses. 

über eine neue Methode der Hautdesinfektion mittels „Junijot“. 

Von Dr. Albert Rosenburg, Volontärassistent der Klinik. 


Die im Jahre 1908 von Grossich 
eingeführte Desinfektion der Haut mittels 
Jodtinktur hat sich' allmählich zu der 
universellen Methode entwickelt, und.hat 
in fast allen Kliniken alle anderen Des¬ 
infektionsmethoden verdrängt. Im all¬ 
gemeinen hat sich die Joddesinfektion 
der Haut sehr gut bewährt, ihr Haupt¬ 
nachteil ist aber die nicht seltene Über¬ 


empfindlichkeit der Haut vieler Kranken, 
die auf einmaligen Jodanstrich schon mit 
einem hochgradigen, mitunter bullösem 
Ekzem reagiert. Es ist deshalb nicht 
verwunderlich, daß manche Operateure 
sich anderer Desinfektionsmittel bedienen. 
Hierzu kommt, daß D öder lein fest¬ 
stellte, daß auch die Jodtinktur die Haut 
nicht völlig keimfrei macht. Er versuchte 




253 


Juli Die Therapie der Gegenwart 192i 


■deshalb durch Herstellen eines sterilen 
Überzuges die Bakterien für die Dauer 
Ader Operation zu fixieren, indem er über 
den Jodanstrich einen Überzug von Gau- 
danin (einer Lösung von Paragummi in 
Formanbenzin) bringt. Alle Verfasser, 
die diese Methode nachprüften, kamen 
zu den besten Resultaten: es wurde fast 
völlige Keimfreiheit erzielt. Zu gleicher 
•Zeit hat v. Herff 50.%’gen Aceton- 
Alkohol mit sekundärem Anstrich von 
Dermagummit zur Hautdesinfektion emp¬ 
fohlen. — Der kurze Zeit gebrauchte 
Chirosoter, eine Lösung von wachs- 
'Und- balsamartigen Stoffen in Tetra¬ 
chlorkohlenstoff, hat wegen der hoch¬ 
gradigen Reizung der Haut sich nicht 
einführen können. — Der Unterschied der 
Desinfektionsmethoden Döderleins und 
v. Herffs einerseits und Grossichs ande¬ 
rerseits ist der, daß bei dem Vorgehen 
der' genannten Gynäkologen eine in¬ 
differente Gummihaut die bei Bauch¬ 
schnitten eventuell vorquellenden Darm- 
schlingen gegen die Desinfektionsmasse 
schützt. Ob die Jodtinktur die Darm¬ 
serosa angreift, wie obige Autoren an¬ 
nehmen, und so zu Verwachsungen Anlaß 
gibt, ist noch heute nicht eindeutig 
•entschieden. 

Schon 1911 machte Propping auf 
■das vermehrte Vorkommen mechanischer 
Darmverschlüsse seit Einführung der Jod¬ 
desinfektion aufmerksam. Er konnte 
nachweisen, daß eine halbe Stunde nach 
Jodanstrich ein befeuchteter Kochsalz¬ 
tupfer noch Jod von der Haut annimmt 
.und eine befeuchtete Stärkebinde 'eine 
starke Jodreaktion gibt. Hingegen findet 
nach Beendigung der Operation, beson¬ 
ders wenn das Operationsfeld und seine 
Umgebung mit Feuchtigkeit in Berüh¬ 
rung gekommen und dadurch auch ent¬ 
färbt ist, keine Jodreaktion mehr statt. 
Im Tierexperinient konnten Propping 
und Heinz nachweisen, daß, wenn man 
Jodtinktur mit der Darmserosa in Be¬ 
rührung bringt oder minimale Mengen 
von Jodtinktur in die Bauchhöhle der 
Versuchstiere einspritzt, sich in kurzer 
Zeit Fibrinauflagerungen, sowie feste 
Membranen und Stränge zwischen den 
Darmschlingen bilden. Verfasser beob¬ 
achteten innerhalb eines halben Jahres 
bei 70 einfachen oder mit Absceßbildung 
komplizierten Appendicitiden sechsmal 
Abknickungen oder Adhäsionen, während 
sie in dem Jahre vor Einführung der 
Joddesinfektion bei 300 Appendicitiden 
nur fünfmal mechanische Darmver¬ 


schlüsse beobachten konnten. Propping 
empfahl, die Darmserosa durch feuchte 
Kompressen vor der Berührung mit der 
Jodtinktur zu schützen, was auch nach 
den Erfahrungen anderer Autoren die 
Nachteile der Methode in vielen Fällen 
aufhebt. Die Rehnsche Klinik jedoch 
ersetzte 1914 die Jodtinktur durch das 
von Bechhold angegebene Frovido- 
form, das aber den Nachteil hat, daß 
es farblos ist, und daß es sich nur 24 Stun¬ 
den hält. In seiner im Januar 1921 er¬ 
schienenen Publikation weist Propping 
erneut auf die Nachteile der Jodtinktur¬ 
desinfektion hin. Er vergleicht die in 
letzter Zeit aus der Schmiedenschen 
Klinik von Flesch-Thebesius ver¬ 
öffentlichten 22 Fälle von Adhäsionsileus 
mit den zwölf Fällen des Rehnschen 
Materials. Er glaubt, daß selbst eine 
achtfache Lage feuchter Kompressen die 
Darmserosa nicht genügend schützt, da 
das Jod von der warmen Haut verdunstet 
und die Maschen ohne weiteres durch¬ 
dringt. Er empfiehlt besonders die 5 %ige 
Providoformtinktur, die, wie-er im Tier¬ 
experiment nachweisen konnte, keinerlei 
Adhäsionen macht, obgleich sie dieselbe 
Desinfektionskraft hat, wie die Jod¬ 
tinktur. Außerdem bildet sie nach Ver¬ 
dunsten des Alkohols einen feinen harzigen 
Überzug auf der Haut und fixiert da¬ 
durch auch rein mechanisch die Bak¬ 
terien. 

Hierzu kommt, zur Zeit jedenfalls, 
noch ein wirtschaftlicher Gesichtspunkt: 
der hohe Preis, der Jodtinktur, die aus 
dem Auslande eingeführt werden muß. 
Man verwendet deshalb zur Zeit aus Spar¬ 
samkeitsrücksichten an den Berliner Klini¬ 
ken zur Hautdesinfektion eine 5%ige 
Jodtinktur an Stelle der 10 bis 12%igen, 
die Grossich ursprünglich angab. — 
Angeblich soll ihre Desinfektionskraft 
dieselbe sein. 

Die Firma Aktiengesellschaft für medi¬ 
zinische Produkte Berlin hat nun unter 
dem Namen ,,Junijot“ ein Präparat 
herausgebracht, das einen spirituösen, 
durch ein besonderes zum Schutze an¬ 
gemeldetes Perkolätionsverfahren ge¬ 
wonnenen Auszug aus einer in Deutsch¬ 
land wild wachsenden Pflanzenart (Cu- 
pressineae: Retinospora plumosa) dar¬ 
stellt und deshalb in unbeschränkter 
Menge lieferbar ist. Das Junijot ist 
eine grünlich fluoreszierende Flüssigkeit, 
die, dünn aufgetragen, beim Verdunsten 
ein dünnes, hellgrünes Häutchen auf der 
Haut bildet. Zwei Minuten nach dem 





254 


Öie Therapie 


det* Gegenwart 


19211 


JitlT 


Aufstrich ist das anfangs klebrige Häut¬ 
chen trocken. Juni jo t hat gegenüber der 
bisher auf unserer Abteilung gebräuch¬ 
lichen Jodtinktur den Vorteil, daß es die 
Haut nur ganz leicht grün färbt und so 
jede Rötung und Kontur der Haut deut¬ 
lich erkennen läßt. Da so die äußeren 
Eigenschaften diese Tinktur besonders 
zur Hautdesinfektion geeignet erscheinen 
ließen, habe ich auf Veranlassung von 
Herrn Dir. Prof. Dr. R. Mühsam in der 
bakteriologischen Abteilung des Rudolf- 
Virchow-Krankenhauses (Leiter: Dr. Kurt 
Meyer) die Desinfektionskraff des neuen 
Mittels ausprobiert. Die chemische Ana¬ 
lyse ergab, daß die Tinktur nur 20% 
Alkohol neben vielen Harzen enthält, so 
daß hier von einer Alkoholdesinfektion 
nicht die Rede sein kann. 

Um die Desinfektionskraft des Junijots im 
Vergleich mit der 5%igen Jodtinktur zu prüfen,, 
wurden zuerst zwei gehäufte Ösen von Staphylo¬ 
kokkenkulturen in die Originallösung gebracht 
und nach einer Minute Einwirkung zwei Ösen 
des infizierten Desinfektionsmittels in Bouillon 
überimpft. In beiden Fällen blieb die 
Bouillon steril. 

Als zweiter Versuch wurde 1 ccm Junijot mit 
1 ccm Staphylokokkenaufschwemmung, die durch 
Abschwemmung einer 24stündigen Schrägagar¬ 
kultur mit 10 ccm physiologischer Kochsalzlösung 
und nachherige Filtration durch Glaswollfilter 
hergestellt war, versetzt und ebenfalls nach einer 
Minute Einwirkung zwei Ösen überimpft. Die 
Bouillon blieb steril. Es hatte also diese 
Mischung, in der sich Junijot, respektive 5%ige, 
Jodtinktur, in einer Verdünnung von 1 :2 be-' 
findet, die Bakterien innerhalb einer Minute ab¬ 
getötet (vgl. auch Tabelle I). 

Ebenso tötet Junijot in einer Verdünnung 
von 1 : 3 Staphylokokken nach einer Minute Ein¬ 
wirkung ab. In einer Verdünnung 1 :4 (1 ccm 
Junijot, 1 ccm steriles Wasser und 2 ccm Staphylo¬ 
kokkenaufschwemmung) werden die Bakterien 
erst nach 15 Minuten abgetötet (vgl. Tabelle I). 

Eine Verdünnung 1 ; 5 tötet selbst nach einer 
Stunde Einwirkung nicht mehr ab, hat also für 
eine Desinfektion keinerlei praktischen Wert mehr. 


Tabelle I. 

Die bakterientötende Kraft des Junijots. 
(Testbakterien: Staphylokokken.) 


Ver¬ 

dünnung 

1 

3 

5 

nach Minuten 

10 15 30 45 60 120 

180 

240 

1 : 2 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

1 : 3 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

1 : 4 

■ + 

+ 

+ 

+ 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

1 : 5 

+ 

+ 


+ 

+ 

+ 

+ 

+ 

+ 



1 : 10 

+ 


+ 

+ 




+ 





0 steril -|- Wachstum 
Üm weiterhin die Versuchsbedingur.gen den 
Verhältnissen im Körper anziinähern, wurde zu 
• Junijol eine Bakterienaufschwemmung in Ascites¬ 
flüssigkeit, anstatt in Kochsalz, zugesetzt. Die 
Wirkung w'ar eine entschieden schwächere, da 
eine Verdünnung von 1 :4 selbst nach vier 
Stunden noch keine Abtötung der Keime herbei¬ 
führte. Eine Verdünnung von 1 :2 w'ar nach 
einer Minute steril. 


Der zweite. Versuch in dieser Richtung, bei 
dem ich in einer | Verdünnung von J :3 eim 
Sechstel sterilen.Wassers durch Humanol, .bei 
Operationen gewonnenes menschliches Fett, er¬ 
setzte, beeinflußte die Desinfektionskraft nicht.. 

Da die bakterientötende Konzentration, des 
Junijöts im Körper wohl nur selten erreicht 
Wird, so ist ^ür die Praxis die entwicklungs¬ 
hemmende Wirkung des Mittels von viel größerer 
Bedeutung, da der Körper mit einmal geschädig¬ 
ten Keimen wohl immer fertig wird. 

Die entwicklungshemmende Wirkung des Ju¬ 
nijots wurde im Vergleich mit der gebräuchlichen 
Jodtinktur (5 %) und mit einer 5 %igen Karbol¬ 
kochsalzlösung (Phenol) geprüft, indem Bouillon¬ 
röhrchen mit fallenden Mengen der Desinfektions¬ 
flüssigkeiten versetzt wurden, so daß die Gesamt¬ 
menge jedesmal 5 ccm Mischung beträgt. In 
dieses Gemisch wurden, zwei Ösen Bakterien-- 
kulturell eingeimpft. Die Kulturen wurden siebem 
Tag^ hindurch beobachtet, da aber nach dem> 
vierten Tage keine Änderung des Ergebnisses^ 
mehr eintrat, so habe ich in den Tabellen ILundj 
III nur die ersten vier Tage eingetragen. Bei 
Tabelle II waren die Testbakterien Staphylo¬ 
kokken, bei Tabelle III Streptokokken. 


Tabelle II (Staphylokokken). 


Ver¬ 

dün¬ 

nung 

Junijot 
nach Tagen 
12 3 4 

Jodtinktur 
nach Tagen 
12 3 4 

Phenol 
nach Tagen 
12 3 4 

1 : 10 

1 0 0 0 0 

0 0 0 0 

0 0 0 0 

1: 25 

0 0 + + 

+ + + -(- 

4- 4- 4- 4- 

1: 50 

+ + + + 

+ + + + 

4- 4- 4- 4- 

1:100 

+ + + + 

_ 1 _ - 1 _ 

4- 4- 4- + 

1:250 

4- + -f- -f 


4- -f 4- 4- 

1:500• 

+ + + + 

"T + + -4“ 

4- -h 4- --4 


0 steril 

4 - Wachstum 


Tabelle III (Streptokokken). 


Ver- 

Junijot 

Jodtinktur 


Phenol 

dün- 

nach 

Tagen 

nach 

Tagen 

nach 

Tagen 

nung 

1 2 

3 

4 

1 

2 

3 4 

1 

2 

3 

4 

1: 10 i 

0 0 

0 

0 

0 

0 

0 0 

0 

0 

0 

0 

1.: 25 

0 0 

4- 

4- 

0 

4- 

4- 4- 

0 

0 

0 

0 

1: 50 ! 


-L 

4- 

4- 


4- -4 

+ 

4- 

4- 

4“ 

l: 100 

4_ 

4~ 

4- 

4- 

4- 

4- -f 

4- 

4- 

4- 

4- 

1: 250 

4- 4- 

4~ 

1 

1 

+ 

4" 

4- -f- 

-h 

4- 

4- 

4- 

1:500 

4- 4- 

4- 

4_ 

4- 

4- 

4- 4- 

4- 

+ 

4- 

4- 


0 steril + Wachstum 


Wir sehen also, daß das Junijot erst in einer- 
Verdünnung von T : 10 entwicklungshemmend, 
w'irkt, seine Desinfektionswirkung ist also in Ver-- 
dünnung eine relativ geringe. 

So gut nach den bakteriologischen 
Untersuchungen das Junijot zur Haut¬ 
desinfektion geeignet erscheint, so 
muß doch seine Eignung als Wundtinktur 
mit Reserve aufgenommen werden. Es 
liegen mir einige Gutachten von prakti¬ 
schen Ärzten vor, die mit Junijot bei 
eiternden Wunden gute Resultate erzielt 
'haben. Meine eigenen klinischen Erfolge 
sind bisher noch nicht eindeutig, so daß- 
ich hierzu keinerlei Stellung nehmen will. 
Es ist möglich, daß Junijot, das in nicht 
zu großen Massen in die Wundhöhle ge- 








Juli _ Die Therapie der Gegenwart 1921 • 255' 


bracht, ein Häutchen bildet, so durch 
Luftabschluß und durch lokale Des¬ 
infektion soweit wie es mit den Bakterien 
in Berührung kommt, entwicklungshem¬ 
mend wirkt. Ich will aber ausdrücklich 
nochmals erwähnen, daß ich meine Stel¬ 
lungnahme zu den klinischen Erfolgen für 
später aufschiebe. 

Um nun die Hautdesinfektionskraft 
des Junifots unter Umständen, die 
möglichst denen bei Operationen an¬ 
geglichen sind, zu erproben, habe ich die 
Paul- Sarweysche Versuchsanordnung 
wie'folgt entsprechend modifiziert. 

, Es wurden bei Frauen beide Oberschenkel an 
ihrer Vorderseite mit sterilem Wasser angefeuch¬ 
tet und ein Drittel der vorher abgegrenzten 
Fläche zur Bestimmung des Keimgehaltes der 
Haut mit sterilen Stäbchen abgekratzt. Diese 
Stäbchen wurden in 3 ccm Bouillon heftig aus¬ 
geschüttelt und von dieser Bouillon Platten 


I gegossen. (Platte I.) Jetzt wird 2) die ganze' 
.übrige Fläche, rechts mit 5%iger Jodtinktur,, 
links mit „JuniJot“ überstrichen und 2a) nach 
zwei Minuten, 2b) nach zehn Minuten ein weiteres^ 
Drittel der Fläche mit sterilen Stäbchen abgekratzt 
und die Stäbchen wie oben verarbeitet. (Platte 
Ila und Ilb.) Um nun 3) die Tiefenbakterieh,. 
die bei länger anhaltenden Operationen und bei 
eventuellen Schweißausbrüchen des Patienten an 
die Oberfläche kommen, in ihrer Wirkungskraft 
nach dem Anstrich mit obigen Desinfektions¬ 
mitteln beurteilen zu können, wurde auf die 
Oberschenkel je ein Tupfer aufgelegt, und Patient 
unter einem Lichtkasten zum Schweißausbruch 
gebracht. Die Innenseite des Lichtkastens war 
mit einem sterilen Tuch bespannt. Die Tupfer 
mußten etwa 15 bis 25 Minuten liegen, wenn im 
Lichtkasten sechs Birnen in Tätigkeit waren, bis¬ 
ein genügender Schweißausbruch erfolgte. Die 
Tupfer werden zerschnitten und in 30 ccm Bouillon: 
ausgeschwemmt, je 3 ccm dieser Ausschwemmung 
dann zu Platten verarbeitet. (Platte HI.) 'Zu¬ 
letzt werden 4) beide Flächen nochmals mit 
sterilen Stäbchen abgekratzt und zur Platte IV 
verarbeitet. 


Tabelle IV. 


Versuch I. 

16jähriges Mädchen (in Behandlung wegen Absceß am 
linken Oberschenkel).* 

Versuch 11.. 

27jährige Frau (in Behandlung wegen’ 
linksseitigem Bubo nach Appendicitis). 


Junijot 

Jodtinktur 

Junijot 

Jodtinktur 

Platte I 

187 

371 Kolonien 

"280' 

106 Kolonien 

Platte 11 a 

3 

2 „ 

8 

3 „ 

Platte Ilb 

4 

1 ■ „ 

13 

0 ,, 

Platte III 

4 

26 „ 

2 

2 „ 

Platte IV 

12 

4 

10 

3 


Versuch III. 

25jähriges Mädchen; vor zehn Tagen Herniotomie. 


Platte I 

1 Jodtinktur 

80 Kolonien 

65 „ 


Platte Ila ‘ 

i-iatte iia . Jodtinktur 

2 „ 

4 .. 

2 X Sporenbildner 

3 X Kokken, 1 x Pseudodiphtherie 

Platte llb 

1 ' 

Sporenbildner 

riatte 11 D Jodtinktur 

3 „ 

2 X Kokken, 1 große Kolonie Sporenbildner 

Junijot 1 

15 „ 

9 verschiedene Sporenbildner, 1 Xgram-nega- 

Platte III 


tive Stäbchen 

Jodtinktur 

4 „ 

Sporenbildner, 'davon viele schon frei 

Junijot 

15 „ 

9 verschiedene Sporenbildner, 1 große Kolonie 

Platte IV 


Sporenbildner 

Jodtinktur 

4 „ 

3 verschiedene Kokken, 1 x Streptothrix 


Versuch IV. 

28jährige Frau mit operierter Nabelhernie. 


lunijot 

Platte I 

Jodtinktur 

56 Kolonien 

24 „ 

darunter große Kolonien (Heubacillen), die das 
Wachstum der andern hemmen 
darunter eine große Kolonie, die das Wachstum 
der andern hemmt 

•Platte Ila ^ 

Jodtinktur 

3 „ 

0 „ 

2 verschiedene Sporen, 1 gram-negatives Stäbch. 

Platte Ilb ■ 

Klane iid jodtmktur 

00 CO 

2 Sporenbildner, 6 Kokken 

1 -Sarcine, 5 Sporen, 8 verschiedene Kokken 

Platte III 

Kiatte 111 Jodtinktur 

4 „ 

2 „ 

2 Sporenbildner, 2 verschiedene Kokken 

1 Sarcine, 1 Kokke 

Platte IV J^^ririot 

riaue IV Jodtinktur 

- 2 ' „ 

5 „ 

2 verschiedene Sporenbildner 

3 verschiedene Kokkenarten 














I 


256 


Die Therapie der Gegenwart 1921.. 


JuU 


Es wurden’ die Kolonien gezählt und durch 1 
mikroskopisches Präparat bestimnit, um festzu- 1 
stellen, wie sich die vegetativen Formen verhalten, -I 
da wir ja nur diese abtöten können. Eine Wachs- i 
tumshemmung oder Desinfektion von Sporen- 
bildnern, die ja durch kein anderes Haut¬ 
desinfektionsmittel abzutöten sind, können wir 
also auch nicht erwarten. 

Aus obigen Tabellen ersehen wir, daß 
das Junijot selbst sehr bakterienreiche 
Hautschichten bis auf einige Sporen¬ 
bildner keimfrei macht. Im Gegensatz 
zur Jodtinktur finden wir in den mit 
Junijot desinfizierten Hautpartien fast 
keine Kokken, Während Wir, wie wir oben 
sehen, in den mit Jodtinktur desinfizier¬ 
ten Partien immer Kokken gefunden 
haben. Da es bisher auch nicht gelungen 
ist, mit irgendeinem anderen Haut¬ 
desinfektionsmittel Sporenbildner abzu¬ 
töten, so kann für die Praxis die Haut¬ 
desinfektion durch Junijotanstrich inner¬ 
halb der möglichen Grenzen als voll¬ 
ständig angesehen werden. Das bei 
diesen Versuchen vorgenommene Ab¬ 
kratzen des Desinfektionshäutchens läßt 
beim nachfolgenden Schweißausbruch die 
Tiefenbakterien leichter an die Oberfläche 
kommen, Was in der Praxis nicht der Fall 
ist, so daß also die Resultate in der 
Praxis bedeutend günstigere sein werden, 
als bei diesen Versuchen. 

, Während die Jodtinktur vermöge ihrer 
fettlösenden Eigenschaften bis in die 
kleinsten Spalten eindringt, besonders da 
nicht nur der Alkohol das Fett löst, 
sondern auch das Jod mit den Fett¬ 
molekülen eine lösliche Verbindung ein¬ 
geht, ohne seine keimtötende Wirkung zu 
verlieren (Grossich) und dort die Bak¬ 
terien tötet, wirkt ,,Junijot“ durch Ab¬ 
töten der Bakterien der Oberfläche und 
durch Bildung eines Häutchens, das die 
Tiefenbakterien genügend gegen das Ope¬ 
rationsfeld abschließt. Würde die Jod¬ 
tinktur nach einmaligem Anstrich die 
Kokken völlig abtöten, so würde dieses 
eine vollständige, ideale Desinfektion be¬ 
wirken. Leider aber ist dieses nicht der 
Fall, wie meine obigen Tabellen zeigen. 
In letzter Zeit hat Seedorf in den Acta 
chirurgica Skandinavica die Desinfektions¬ 
kraft der Jodtinktur untersucht und fest¬ 
gestellt, daß ein einmaliger Jodanstrich 
zur Hautdesinfektion nicht genügt. Er 
empfiehlt eine zweizeitige Methode, die 
zwölf Stunden vor der Operation mit 
Bürste und Seife erst oberflächlich reinigt, 
dann mit 70%!gem Äthylalkohol des¬ 
infiziert, jetzt wird ein steriler Tupfer 
aufgelegt und erst eine halbe Stunde 


vor der Operation in Abständen von fünf 
bis, zehn Minuten das Operationsfeld mit 
einer einprozentigen, Jodäthylalkohol¬ 
oder Propylalkohollösung desinfiziert. 
Auch für die dringenden Operationen hält 
er den dreimaligen Jodanstrich für un¬ 
bedingt erforderlich, eine Methode, die 
sich klinisch wegen der noch gesteigerten 
Gefahr der Hautekzeme Wohl von selbst 
verbietet. Diese Versuche weisen uns 
also immer wieder auf die Suche nach 
neuen, besseren Mitteln hin. Daß Wir 
ein solches gutes Ersatzmittel für Jod¬ 
tinktur in dem Juni jo t gefunden haben, 
glaube ich an der Hand obiger Versuche 
bewiesen zu haben. Es kommen noch 
die sehr, günstigen physikalischen Eigen¬ 
schaften hinzu, besonders die Bildung 
eines Häutchens, das die Bakterien fixiert 
und vom Operationsfeld fernhält. Ferner 
ist ein weiterer Vorteil, daß bei Laparo¬ 
tomien aus dem Abdomen herausgelagerte 
Darmschlingen nur mit dem Häutchen, 
das keine Desinfektionskraft mehr hat 
und deshalb auch keine Reizwirkung aus¬ 
üben kann, in Berührung kommen. Es 
können also auch nicht Adhäsionen durch 
die Berührung entstehen. Wenn der Jod¬ 
tinkturanstrich von dem Operateur wegen 
des vollständigen Verdeckens jeder ent¬ 
zündlichen Rötung und jeder Kontur mit¬ 
unter vermieden Werden muß, so ver¬ 
wischt Juni jo t die Farbe der Haut fast 
gar nicht und gibt ihr nur einen feinen 
grünlichen Schimmer, was einen großen 
Vorteil besonders für die Poliklinik be¬ 
deutet, um so mehr, als Juni jo t sich mit 
Wasser und Seife n^ach einigen Stunden 
völlig entfernen läßt. Eine Reizung 
der Haut Wurde noch nie beob¬ 
achtet. Das Mittel wirkt, da es sehr 
stark nach Fichtennadeln riecht, stark 
desodorisierend, was bisweilen ebenfalls 
von Vorteil ist. 

Unter diesen Umständen glaube ich 
Junijot für die Hautdesjnfektion Warm 
empfehlen zu können, um so mehr, als 
auch die bis jetzt angestellten klinischen 
Versuche kein ungünstiges Resultat ge¬ 
zeitigt haben. Zu einem abschließenden 
Urteil über die klinischen Versuche ist 
bis jetzt die Versuchsdauer noch zu kurz, 
obgleich auch hier keinerlei Nachteile be-, 
obachtet wurden. 

So glaube ich, daß Juni jo t unseren 
Erwartungen entspricht und daß seine 
Einführung in die chirurgische Praxis 
dringend empfohlen werden muß. 

Literatur: 1. Bechhold, M. m. W. 1914, 
Nr. 37. 2. V. Brunn, Beitr. z. klin. Chir. 1907, 



Juii , Die Therapie der Gegenwart T921 257 


S. 630. 3. Gr OS sich, Zbl. f. Chir. 1908, Nr. 44. 

4. Derselbe, B. klin. W. 1909, Nr. 43. 5. Der¬ 
selbe, Zbl. f. Chir. 1910, Nr. 21. 6. Derselbe, 
Allg. Wien. m. Ztg. Jahrg. "55, 1910, Nr. 45, 

5. 489. 7. V. Herff, Zbl. f. Chir. 1909, Nr. 52. 
8 . Kolle-Wassermann, 2. Auf]., Bd.III, S.443ff. 


9. Littauer, M. m. W. 1907, S. 1031. 10. Prop- 
ping, Zbl. f. Chir. 1911, Nr. 19. 11. Derselbe, 
M. m. W. 1921, Nr. 1, S; 11. 12. Schenk und 
Scheib, M. m. W. 1907, S. 1976. 13. Seedorf, 
Acta chirurgica Scandinavica Bd. 52, H. 5, S. 436, 
1920. 14. Wedei:hake, Zbl. f. Chir. 1907, Nr. 23. 


Neues zur Lehre von der Enuresis nocturna. 

Von Kreisarzt a. D. Dr. Finckh", Arendsee i. M. 


Der nachstehende Bericht fußt auf 
einer fast vier Jahre umfassenden Beob¬ 
achtung eines Falles von Enuresis noc¬ 
turna, der zur Mitteilung geeignetscheint, 
da die dabei gemachten Erfahrungen ein 
neues Licht auf die Ursachen des Lei¬ 
dens werfen. 

Es handelt sich um ein 9%jähriges Mädchen, 
das neuropathisch belastet, aber weder epileptisch 
noch hysterisch ist. Es ist sonst völlig gesund, 
leidet auch, wie vielfache Untersuchungen er¬ 
gaben, an keiner Form von Kreislaufstörungen; 
keine Kriegsernährungsschäden. Die Enurese 
besteht seit früher Kindheit und hat -sich im 
Laufe der Jahre insofern etwas gebessert, als sie 
seltener wurde, ohne aber je ganz zu verschwinden. 
Sie tritt vollkcmmen unregelmäßig auf, früher 
bis zu dreimal in einer Nacht, mehrere Tage hinter 
einander oder auch ganz vereinzelt, nie aber in 
regelmäßig wiederkehrenden Perioden oder im 
Gefolge periodischer Verstimmungen. Eine Ände¬ 
rung des Bildes war allmählich noch insofern zu 
erkennen, als die Menge des im Schlafe entleerten 
Urins sich nicht unwesentlich verringerte. Er¬ 
ziehungseinflüsse, Gewöhnung, Regelung der Diät 
blieben ohne erkennbaren Erfolg. 

Gelegentlich einer leichten Angina im März 
1917, die Bettbehandlung erforderte, wurde zum 
ersten Male länger dauernde Sauberkeit fest¬ 
gestellt, die zu genauerer Beobachtung Anlaß 
gab. In der Folge stellte sich das Bettnässen 
wieder ein, verschwand aber regelmäßig, meist 
für kürzere Zeit, sobald für ^ oder 1 Tag Bett¬ 
behandlung eintrat. Eine über mehrere Tage 
ausgedehnte Bettbehandlung im Jahre 1920 hatte 
denselben Erfolg. Als nach 12 Tagen noch einmal 
eingenäßt wurde, kam Suggestionsbehandlung, 
erst im Wachen, dann in leichter Hypnose hinzu, 
die zu einem bisher recht befriedigenden Erfolg 
führte. 

Das auffälligste in mehreren Beobachtungs¬ 
reihen war die bei Tag und Nacht gelassene Urin¬ 
menge. Als auffälligste Abweichung von der 
Norm zeigte sich ein Überwiegen der Urinabsonde¬ 
rung bei Nacht, nämlich in der ersten Beob¬ 
achtungsreihe von 11 Nächten wurde achtmal 
bei Nacht 50—87% der Gesamturinmenge ent¬ 
leert, in einer zweiten von 29 Nächten achtzenmal, 
in einer dritten von 56 Nächten dreiunddreißigmal, 
also direkt eine Umkehrung des normalen Typus, 
Bettruhe änderte daran im Jahre 1917 nichts, 
während Ende 1920 die nächtliche Urinmenge 
dabei auf 25—48% herabgedrückt wurde, ein 
Verhältnis, das sich regelmäßig wiederholte^ wenn 
sich in den Kreislauf der Schul- und anderen 
Pflichten der Sonntag als Ruhetag einschob. Am 
Sonntag belief sich die nächtliche Leistung auf 
36—48%, zuweilen setzte sich diese Senkung auf 
die nächsten zwei bis drei Nächte fort, um bis zum 
Wochenende die durchschnittliche Höhe von 
55—58% wieder zu erreichen. Kontrollunter- 
su'chtingen bei gesunden Kindern ergaben als 


Durchschnitt ca. 33%. Merkwürdig War sodann 
der sprunghafte Wechsel der Gesamturinmengt, 
im Jahre 1917 derart, daß von einem Tag zurri 
anderen Spannungen bis zu 660 ccm Differenz sich 
ergaben. Die Kurve erhielt so das Aussehen einer 
Fieberkurve von abendlichem Anstieg und mor¬ 
gendlicher Remission. Im Jahre 1920 wurde ein 
einziges Mal eine Spannung von ca. 600 ccm auf¬ 
geschrieben, sonst betrug die Differenz zwischen 
zwei Tagen nie mehr als 200, höchstens einmal 
bis 250 ccm. Außerdem waren Steigerungen der 
Menge innerhalb 24 Stunden von mehrtägigen 
ganz erheblichen Senkungen gefolgt und endlich 
muß hinzugefügt werden, daß 1917 in der ersten 
Beobachtungsreihe von 11 Nächten (einschließlich 
achttägiger Bettruhe) einmal eingenäßt wurde, 
in der zweiten von 34 Nächten siebenmal und 
endlich 1920 während 89 aufeinanderfolgenden 
sechsmal, und zwar 1920 in ganz geringfügiger 
Menge. Besonders hervorgehoben zu werden ver¬ 
dient, daß zugleich mit dem Bettnässen schwerer, 
bloierner Schlaf beobachtet wurde, aus dem das 
Kind kaum zu erwecken war, um Urin zu lassen 
(in der Regel um 10 Uhr nachmittags). Endlich 
sei noch erwähnt, daß gleichzeitig auch hin und 
wieder, meistens aber unabhängig von der Enurese, 
im ganzen selten^ Schlafwandeln auftrat. 

Es war endlich von Interesse, zu wissen, wie 
Sich die Urinmergen vor und nach Mitternacht 
verteilten. Zuvor sei bemerkt, daß nach Landois 
die Urinabsonderung nachts zwischen 2 und 
4 Uhr am geringsten und nachmittags zwischen 
2 und 4 Uhr em stärksten ist. Tobler in Feers 
I Lehrbuch der Kinderheilkunde gibt an, daß der 
Harnabgang im Schlafe am häufigsten in den 
ersten Nachtstunden, meist vor Mitternacht er- 
folgei Ich verfüge in dieser Richtung über ein 
reiches Beobachtungsmaterial, da das Kind 
regelmäßig gegen 10 Uhr nachmittags auf ge¬ 
nommen wurde. Sie wurde jeden Abend zwischen 
7 und 7%|Dhr zu Bett gebracht, so daß sie bis 

10 Uhr etwa 3 Stunden geschlafen hatte. Es war 
geradezu die Ausnahme, wenn bis dahin schon 
eingenäßt worden war. Was die Urinverteilung 
vor und nach Mitternacht betrifft, so verfüge ich 
nur über eine Beobachtungsreibe von sechs auf¬ 
einanderfolgenden Nächten. Die Menge verteilte 
sich wie[ folgt: 

Von 7 Ea. bis 7 h p. 255 ccm, bis 11 h p. 75 ccm, 
bis 7"a. 285 ccm, zus. 615 ccm. 
von 7 h a. bis 7 h p. 300 ccm, bis 11 h p. 75 ccm, 
bis 7 ha. 185 ccm, zus. 560 ccm 
von 7 h a. bis 7 h p. 520 ccm, bis 11 h p. 130 ccm, 
bis 7 ha. 435 ccm u. E., zus. 1025 ccm u. Emir, 
von 7 h a. bis 7 h p. 225 ccm, bis 12 h p. 240 ccm, 
bis 7 ha. 130 ccm u. E., zus. 600 ccm u. Enur. 
von 7 h a. bis 7 h p. 210 ccm, bis 12 h p. 240 ccm, 
bis 7 h a. 290 ccm, zus. 740 ccm 
von 7 h a. bis 7 h p. 420 ccm, bis 3 ha. 215 ccm, 
bis 7 ha. 270 ccm, zus. 900 ccm. 

Teilen v. H. ausgedrückt heißt dies, daß nach 

11 oder 12 Uhr fünfmal bis zum Morgen 60 bis 
77% der nächtlichen Urir.menge entleert wurden, 

33 





258 / ' Die Therapie der Gegenwart 1921 ' . Juli 


wahrscheinlich auch das sechste Mal, genaue 
Feststellungen ließen sich wegen des Einnässens 
in dieser Nacht aber nicht machen. Anhangsweise 
sei noch beigefügt, daß in der. Zeit zwischen 
2 und 4 Uhr'nachmittags überhaupt kein Urin 
gelassen wurde, sondern in der Regel um ca. l>‘h p. 
und dann erst wieder am späten Nachmittag. 
Die Hauptabsonderung des Nachturins in den 
Nachmitternachtsstunden steht mit der weiteren 
Beobachtung im Einklang, daß das Einnässen 
recht häufig erst nach Mitternacht erfolgte, ohne 
indes gerade zur Regel zu werden. 

« Am interessantesten und auffälligsten 
an diesem Fall ist die Umkehrung des 
Sekretionstypus des Urins, der gegen alle 
Regel ist und fraglos,als Ergebnis der 
neuropathischen Belastung gelten muß. 
Daß bei dem Kinde auch sonst vasomo¬ 
torische Störungen wirksam waren, zeigte 
sich an ihrem nicht selten recht blassen 
Aussehen bei nervöser Ermüdung, ohne 
daß sonst Anzeichen von Blutarmut Vor¬ 
lagen. Im Einklänge mit dieser Auf¬ 
fassung steht die Tatsache, daß im Jahre 
1920 mit der Sicherheit des Experiments 
die Sekretion sich der Norm näherte, 
sobald kürzere oder längere Ruhepausen 
eingeschoben wurden. Da es sich dabei 
um Befreiung von Schulbesuch und -auf- 
gaben handelte, die körperliche Bewegung 
aber so ziemlich die gleiche blieb, mußten 
nervöse Faktoren für diesen Ausgleich 
maßgebend sein. Daß psychische Ein¬ 
flüsse auf die Urinsekretion einwirken, 
z.' B. Angst, Schreck, Erwartung, einen 
steigerr;den Einfluß haben, ist ja hin¬ 
länglich bekannt. Wenn die in meinem 
Falle gemachte Beobachtung richtig ist — 
und sie konnte oft genug auf ihre Richtig¬ 
keit geprüft und regelmäßig bestätigt 
werden —, so würde also die neuropathi- 
sche Belastung in dem Sinne gewirkt 
haben, daß das Nervensystem des Kindes 
von geringer Widerstandskraft, also leicht 
erschöpfbar ist und daß diese Erschöpf¬ 
barkeit die letzte Ursache für die nächt¬ 
liche Mehrleistung im Gang der täglichen 
Nierenarbeit ist. Naturgemäß wird die 
nervöse Erschöpfung abends am stärksten 
und also die Harnmenge bei Nacht am 
größten sein müssen. Beleg für die Wahr¬ 
scheinlichkeit dieser Behauptung ist fer¬ 
ner, daß ganz regelmäßig zwischen 7h a. 
und 1 h. p. kein Urin gelassen wird und 
ebensowenig, wie schon erwähnt, zwischen 
1 h. und den späten Nachmittagsstunden, 
vielleicht deswegen, weil in der Regel auf 
die Mittagsmahlzeit eine zweistündige 
Ruhepause folgt, die meist im Bett zuge- 
gebracht wird, das heißt die Nerven sind 
durch die Bettruhe ausgeruht. Daß die 
Erschöpfung des Centralnervensystems i 


im Sinne einer erhöhten Reizbarkeit mit 
der Zunahme des Urins antwortet, stehf 
im Einklang nicht nur zu dem Urimdrang 
bei starker seelischer Erregung, sondern 
auch mit der Steigerung der Schwei߬ 
absonderung bei derselben psychischen 
Verfassung, der Erhöhung der Reflexe in 
nervösen Zuständen und gesteigerter, ge¬ 
mütlicher Erregbarkeit in der Nervosität. 

Es liegt nun nahe, das Bettnässen 
lediglich auf das Konto der nächtlichen 
Harnflut zu setzen, und diese Annahme 
würde wesentlich an Wahrscheinlichkeit 
gewinnen, wenn die Enurese immer nur 
auf die Zeiten einer besonders gesteigerten 
Urinabsonderung fiele. Viermal war in 
der Tat auch an den Enuresetagen die 
Gesämturinmenge übef 1000 ccm, natür¬ 
lich ohne en ins Bett gegangenen Urin 
gesteigert. Aber ihnen stehen ebenso 
viele Beobachtungen gegenüber, in denen 
die Gesamtmenge ganz wesentlich ge¬ 
ringer war. Außerdem war in den ersten 
vier Fällen der Nachturin im Verhältnis 
keineswegs so besonders reichlich, in 
zwei von den letzten vier aber gegen oder 
über 60% der Gesamtmenge. Wenn es 
nun auch nicht zu leugnen ist, daß bei 
starker Urinabsonderung an sich auch 
die Gefahr des Einnässens größer ist, so 
ist eine große Gesamtmenge doch sicher 
nicht der einzige und wahrscheinlich nicht 
einmal sein wichtigster Grund. Beweis 
dafür ist die Tatsache, daß wenigstens 
ebensooft bei einer hohen Gesamtmenge 
und Beteiligung der Nacht bis zu 60 und 
mehr Prozent das Bett trocken blieb. Es 
müssen also notwendig noch andere Ur¬ 
sachen zum Zustandekommen der Ejnu- 
rese mitwirken. Es ist hier zweierlei 
möglich, entweder eine besonders starke 
Schlaftiefe oder eine erhöhte Reizbarkeit 
der Blase, die Urindrang und -entleerung 
auch Zustandekommen läßt, wenn der 
Grad der Blasenfüllung an sich noch keine 
Entleerung verlangen würde. Für die 
erste spricht die oft gemachte Wahr¬ 
nehmung, daß in den kritischen Nächten 
das Kind nur mit äußerster Mühe wach 
zu bekommen war, um seine Notdurft zu 
verrichten, und oft genug kam sie aus 
der Schlaftrunkenheit überhaupt gar 
nicht heraus. Die Schlaftiefe war für die 
Eltern sogar ein recht brauchbarer Grad¬ 
messer für die Wahrscheinlichkeit des 
Einnässens. Daß andererseits Harndrang 
auch ohne starke Blasenfüllung in seelisch¬ 
nervösen Reizzuständen vorkommt, wurde 
schon wiederholt betont. Ich glaube, daß 
die nervöse Er.schöpfung dasselbe Er- 





> Juli ^ th6fäpie def O^geiiwäfl: 1021 , __ _259 


gebnis zeitigen kann und daß beim Zu- 
istandekommen des Einnässens bald die 
^ine, bald die.andere Ursache und zu¬ 
weilen sogar vielleicht die eine zusammen 
rnit der anderen wirksam ist. 

In dem vorliegenden Falle hätten wir 
somit als Ursache des Bettnässens die 
neuropathische Belastung anzusehen, die 
sich äußert in einer abnormen nervösen 
Erschöpfbarkeit. Diese wird ihrerseits 
Ursache für eine Umkehrung des Sekre- 
■fionstypus, der die Haupturinmenge auf 
die Nacht verlegt, ferner für abnorme 
Schlaftiefe entsprechend der Schwejre der 
Erschöpfung und, endlich für nervöse 
Reizzustände der Blase mit abnormem 
Urindrang. 

Was den spontanen Verlauf des Lei¬ 
dens angeht, so ist eine gewisse Besserung 
nicht zu verkennen, sowohl was die Häufig¬ 
keit des Bettnässens .als auch die Menge 
des dabei entleerten Urins bestrifft. Viel¬ 
leicht wird man sogar behaupten dürfen, 
daß die tägliche Urinmenge anfängt sta¬ 
biler zu werden und nicht mehr so abnorm 
hoch ist. Denn es ist festgestellt worden, 
daß die tägliche Harnmenge mit den 
Jahren nicht gewachsen, sondern eher 
icleiner geworden ist. Wenn man 1917 
sicher von einer Polyurie reden mußte, 
ist dies jetzt im Durchschnitt nicht mehr 
der Fall, jedenfalls sind jetzt Werte über 
1000 ccm eine große Seltenheit. Während 
1917 die tägliche Durchschnittsmenge 
•etwa 900 ccm betrug, überschreitet sie 
jetzt 850 ccm nicht mehr, sondern bleibt 
recht häufig unter diesem Wert. Jeden¬ 
falls ist es nicht gezwungen, hierfür eine 
nervöse Ursache aufzusuchen in der Rich¬ 
tung einer geringeren nervösen-Erschöpf¬ 
barkeit des Gehirns, die dann auch für 
die seltenere Enurese in Anspruch zu 
nehmen wäre. Als Stütze für diese An-, 
-Sicht ist anzuführen, daß jetzt die geistige 
Anspannung durch die Schule ungleich 
"größer ist, als 1917, wo der Schulbesuch 
für das Kind erst begann. Trotzdem war 
1920 keine Zunahme der Krankheits- 
•symptome, vielmehr eine unverkennbare 
Besserung zu konstatieren. 

Wenn also diese Erklärung richtig ist, 
so wäre die Besserung des abnormen Zu- 
•standes auf Rechnung einer erhöhten 
Widerstandsfähigkeit des Centralnerven¬ 
systems zu setzen, und in der Tat bewegt 
sich die Behandlung seit Jahren nach 
■dieser Richtung. Auf diesem Wege wäre 
■also, mit fortschreitender Ertüchtigung 
■des Nervensystems, die endgültige Hei¬ 
lung des Leidens zu erwarten und die 


Voraussage somit eine günstige. Immer¬ 
hin aber würden hach dem bisherigen 
Gang der Anomalie noch mehrere Jahre 
bis zu diesem Erfolge vergehen, und es 
erhebt sich die Frage, ob dieser Weg nicht 
durch ein weiteres ärztliches Eingreifen 
erheblich abzukürzen wäre. 

Damit kommen wir zum Schluß auf 
die Behandlung zu sprechen. xDaß die 
sorgfältige Berücksichtigung der Jeichten 
Erschöpfbarkeit der Nerven nicht ohne 
Erfolg bleibt, lehrt die vorliegende Beob¬ 
achtung zur Genüge. Sie ist so wichtig, 
daß sie meines Erachtens die Grundlage 
jedes aktiven V-orgehens bleiben'muß. 
Aber auch sie führt nur langsam zum Ziel. 
Ich habe daher, wie schon viele Andere 
vorher, mit der Suggestion einen weiteren 
Behandlungsfaktor einzuführen versucht. 
Soweit die bisherigen Beobachtungen 
, einen Schluß zulassen, ist der Erfolg er¬ 
mutigend. Freilich wird die Suggestion, 
sei es Wach- oder Schlafsuggestion, darauf 
verzichten müssen, die vorhandene Dis¬ 
position, also die nervöse Erschöpfbar¬ 
keit und damit die Sekretionsanomalie zu 
beseitigen; diese muß vielmehr allmählig 
von selbst, unter Nachhilfe durch ent¬ 
sprechende Behandlung, sich ausgleichen. 
Die Suggestion beseitigt bekanntlich ja 
auch nur Krankheitssymptome, aber nicht 
die Anlage zu einer Krankheit oder diese 
selbst, am wenigsten eine angeborene 
Anlage. Sie hat. sich' vielmehr darauf zu 
beschränken, daß der Wille, in der Nacht 
aufzuwachen, sooft sich Urindrang meldet, 
geweckt und gestärkt wird. Diese Sug¬ 
gestion muß durch wiederholte Eingebung 
so kräftig werden, daß die dementspre¬ 
chende Autosuggestion ein nie versagen¬ 
des Mahnzeichen wird; diese Aufgabe 
kann die Suggestion wohl erfüllen.^ 

Ich glaubt diesen Fall den Ärzten 
nicht vorenthalten zu dürfen, einmal 
weil er wissenschaftlich nicht ohne Inter¬ 
esse ist und eine neue und, wie ich meine, 
eine befriedigendere und restlosere Er¬ 
klärung der Enuresis nocturna zuläßt, 
sodann weil er die Wege zu einer immerhin 
nicht aussichtslosen Bekämpfung des 
Leidens weist, was besonders dem be¬ 
handelnden Arzt erwünscht sein muß, der 
ja vor derartigen oft geradezu verzweifel¬ 
ten Fällen direkt ratlos steht. Als eine 
Schwäche meiner Arbeit kann der Um¬ 
stand gelten, daß meine ganze Beobach¬ 
tung scheinbar nur auf diesem einen Fall 
beruht, den man von anderer Seite viel¬ 
leicht als einzigen in seiner Art bezeichnen 
könnte. Das ist aber sicher nicht richtig, 

33* 






260 ; Die Therapie der Gegenwart 1921. Juli 


denn seitdem ich auf die Eigenart dieses 
Leidens durch den vorliegenden Fall auf¬ 
merksam geworden bin, sind mir schon 
eine ganze Reihe von Beobachtungen 
entgegengetreten, die den oben geschil¬ 
derten Fall geradezu photographisch treu 
kopieren. Also einzig in seiner Art ist der 
Fall sicher nicht. Ich wage sogar zu be¬ 
haupten, daß diese Fälle sich um so mehr 
häufen werden, je mehr die Aufmerksam¬ 
keit auf sie gelenkt wird. Das war ein 
weiterer Grund, der mich zur Veröffent¬ 
lichung meiner Erfahrungen veranlaßte. 
Freilich stehen einer genauen Feststellung 
in der Praxis schwere, oft unüberwind- 
-liche Hindernisse entgegen. Der prakti¬ 
sche Arzt wird nicht leicht Zeit und Ge¬ 
legenheit zu so ins Einzelne gehenden 


Beobachtuhgen haben, auch gehört sehr 
viel Geduld und Interesse von seiten der 
Angehörigen dazu, da sie sich in de r Rege 
an den verschiedenen Beobachtungen be¬ 
teiligen müssen. Endlich wird das Kran¬ 
kenhaus,,sonst der gegebene Ort für ein¬ 
gehende und länger dauernde Unter¬ 
suchungen, für solche vorliegender Art 
recht wenig Material liefern können, weil 
ihm eine wesentliche Grundbedingung, 
die Beobachtung in den alltäglichen 
Lebensbedingungen mit dem gewöhn¬ 
lichen Tageslauf, den Arbeiten und Pflich¬ 
ten des täglichen Lebens und den sich 
daraus ergebenden Schädlichkeiten für 
das Nervensystem fehlt'. Auch aus diesem 
Grunde sah ich mich zur Veröffentlichung 
meines Materials veranlaßt. ' ' 


ZusammeDfassende Übersicht. 

Neue Wege 

der chirurgischen Behandlung der Krampfkrankheiten. 

Von Dr. med. StephatT iVestmann, Berlin.J 


Die Beobachtung, daß nach einem 
Kopftrauma Zuckungen und Krämpfe 
einzelner Körperteile, unter Umständen 
sogar des ganzen Körpers auftreten kön¬ 
nen, legte die Vermutung nahe, daß vom 
Cerebrum oder genauer von der Hirn¬ 
rinde der Krampfimpuls ausgehen müsse. 
Ich will hier nicht näher auf die Ge¬ 
schichte der chirurgischen Epilepsie¬ 
behandlung eingehen, die eben durch 
das .Moment des Kopftraumas immer 
wieder angeregt- wurde, die Epilepsie 
durch operative Maßnahmen zu behan¬ 
deln. Alle Operationen, die wie bisher 
den Schädel beziehungsweise das Gehirn 
und seine Häute als den ätiologischen 
Herd der Epilepsie angriffen, hatten den 
Zweck, etwa vorliegende Veränderungen, 
die imstande sind, einen Reiz auf die 
Hirnrinde auszuüben, zu beseitigen oder 
das Centrum, das dem in ^Zuckung ge¬ 
ratenden Körperteile entspricht, zu exstir- 
pieren. Aber keine von den zahllosen 
vorgeschlagenen Methoden konnte bisher 
zu einem voll befriedigenden Resultate 
führen, wie ja überhaupt die.ganze Lehre 
von der Kopfverletzung als Ätiologie der 
Epilepsie auf schwachen Füßen steht. 
Wie käme es sonst, daß bei einem Men¬ 
schen ein leichteres Kopftrauma Krämpfe 
nach sich zieht, Während bei einen> an¬ 
deren schwere Verletzungen ohne Folgen 
ausheilen. Wohl mit Recht sieht Auer¬ 
bach neben Entzündungsprozessen, Heri- 
dität und Kopftrauma in einem unbe¬ 


kannten Etwas eine unumgänglich not¬ 
wendige ätiologische Komponente, die 
Krampffähigkeit des Organismus zur 
Krampfbereitschaft zu steigern, und er 
nennt dieses Etwas „epileptische Dia- 
these“ oUer ,,spasmophile Disposition“. 

War bei den nach Kopftraumen auf¬ 
tretenden Krämpfen noch ein mutma߬ 
licher Zusammenhang zwischen Krampf 
und exogener Reizung zu erkennen, so> 
war man bei den zum Krankheitsbilde 
der genuinen Epilepsie gehörigen Krampf¬ 
anfällen ganz auf Theorien und Hypo¬ 
thesen zu ihrer Erklärung angewiesen 
und versuchte, mit Hilfe des Experi¬ 
ments Licht in das Dunkel zu bringen. 
Kußmaul und Nothnagel glaubten 
im Vasomotoreneentrum den Sitz der 
Krampferregung gefunden zu haben, und 
als Wiechowski und Jensen die bis 
dahin geleugnete Existenz von Vaso¬ 
motoren im Gehirn nachgewiesen hatten,, 
glaubte man eine Brücke zwischen dem 
Vasomotorencentrum und der von 
Kocher als kram pfauslösendes Moment 
angesprochenen Druckschwankung im 
Liquor cerebrospinalis gefunden-zu haben 
und sich so die teilweisen Erfolge der 
Koch er sehen Ventiloperation erklären 
zu können. 

Mit der Lehre von den Drüsen mit 
innerer Sekretion kamen dann auch Er¬ 
klärungsversuche, die auf Grund experi¬ 
menteller Ergebnisse in der Überfunktion 
einzelner endokriner Drüsen oder in dem 



Juli. 


261 


t Die Therapie der 


Ausfall anderer Drüsen eine Beeinflus¬ 
sung der Krämpfe suchten. Ich erinnere 
hierbei an die Glandulae parathyreoideae, 
bei deren Insuffizienz oder gänzlichem 
Fehlen es zu konvulsivischen Reizzu¬ 
ständen und zu tetanischen Krämpfen 
kommt, oder an die Schilddrüse selbst, 
deren Exstirpation beim Hunde ein akutes 
Krankheitsbild rhit klonischen und toni¬ 
schen Krämpfen hervorzurufen imstande 
ist, und auch die von Lundborg unter 
dem Namen der Myoklonie beschriebene 
Krankheit wird von ihm als eine endogene 
Intoxikationskrankheit hervorgerufen 
durch eine Insuffizienz der Glandula 
thyreoidea aufgefaßt. Auch auf Zusam¬ 
menhänge zwischen einem Ausfall der 
Hodensekretion und Epilepsie hat Fi¬ 
scher bei ■ Frühkastrationen und bei 
Eunuchoidismus hingewiesen. 

Einen neuen Gesichtspunkt in der 
Beurteilung der Epilepsie wie der’ Krampf¬ 
krankheiten überhaupt, nimmt H. Fi¬ 
scher im Jahre 1920 in seiner Arbeit 
,,Ergebnisse zur Epilepsiefrage“ ein, in¬ 
dem er den Krampfmechanismus sowohl 
central, das heißt veln Gehirn aus, wie 
auch peripher für angreifbar hinstellt. 
Der Krampf an sich ist eine von der quer¬ 
gestreiften Körpermuskulatur geleistete 
exzessive Arbeit. Da nun die Reiz- 
ansprechbarkeit der Körpermuskulatur 
nicht nur central, sondern auch peripher 
beeinflußbar ist, wie .besonders die Beob¬ 
achtungen über die Nebennierenhyper¬ 
beziehungsweise Hypofunktion ergeben 
haben, so ist es interessant, zu unter¬ 
suchen, welche Bedeutung dem Neben¬ 
nierensystem für den Krampfmechanis¬ 
mus zukommt, da ja eine Wechselwirkung 
.zwischen Nebennierenfunktion und Mus¬ 
keltonus unverkennbar ist. Ich denke 
hierbei an die muskuläre Asthenie bei 
Addisonscher Krankheit, oder umge¬ 
kehrt hat Langlois festgestellt, daß 
durch Nebennierenextrakt die Zuckungs¬ 
kurve Addisonkranker zur Norm zurück¬ 
gebracht werden kann, und daß das sub¬ 
jektive Gefühl der Muskelermüdung nach¬ 
läßt, während beim normalen Menschen 
bei Adrenalininjektionen die Muskelkraft 
erhöht wird. 

H. Fischer benutzte nun diese Er¬ 
gebnisse physiologischer Forschung zu 
Tierexperimenten, bei denen er zu dem 
Resultat kam, daß die Krampffähigkeit 
der Tiere mit Reduzierung der Neben¬ 
nierensubstanz im Körper proportional 
abnimmt, und daß an Stelle des tonisch¬ 
klonischen Krampfes mehr ein /grob¬ 


' ■ ■ . • ■ / 

Gegenwart 1921* 


schlägiger Tremor der Extremitäten auf- 
tritt. Als Krampfgift verwandte er 
Arnylnitrit und als Versuchstiere Kanin¬ 
chen. 

Bei doppelseitiger Nebennierenexstir¬ 
pation konnte er, vorausgesetzt, daß- 
keine, accessorischen Nebennieren im Or¬ 
ganismus Waren, mit. Arnylnitrit keine 
Krämpfe^ mehr auslösen. Fischer hält 
die Nebennierenrindensubstanz für die 
Krampffähigkeit für unerläßlich, während 
das Mark, das ja dem im ganzen Körper 
verbreiteten chromaffinen System ' an¬ 
gehört, nur sekundär für die Krampf¬ 
fähigkeit von Belang ist, da seine Sekre- 
tionsarbeit von der Rinde abhängig ist. 

Interessant ist auch die Beobachtung: 
Fischers, daß nicht nur die motori¬ 
schen Entladungen, sondern auch die- 
ihnen parallel gehende Bewußtlosigkeit 
nach Nebennierenexstirpat'ion ausbleiben; 
er folgert hieraus, daß das Auftreten von 
Bewußtseinsstörungen an andere cen¬ 
trale Vorgänge als nur an direkte Gift- 
Wirkungen auf das Cerebrum und speziell 
auf die Hirnrinde gebunden ist. 

Das Tierexperimient beweist weiter,, 
daß man auch praktisch direkt eine peri¬ 
phere und eine centrale Komponente des- 
Krampfmechanismus trennen kann. Zur 
Prüfung der peripheren Komponente be¬ 
nutzte Fischer eine Form traumatischer 
Krämpfe, indem er durch elektrische- 
Hirnrindenreizung eine größere Krampf¬ 
fähigkeit des Organismus herbeiführte,, 
die analog den traumatischen Krämpfen 
beim Menschen erst nach einem bestimm¬ 
ten Zeitintervall eintrat. Durch Neben¬ 
nierenreduktionen, also durch einen peri¬ 
pheren Eingriff, gelang es ihm, die 
Krämpfe bedeutend abzuschwächen, bei 
völliger Exstirpation reagierten die Tiere 
nur solange m'it Krämpfen auf . selbst 
starke Hirnrindenreizungen, wie diese 
direkt einwirkten. Umgekehrt zeigte 
Fischer durch Steigerung der Neben¬ 
nierenfunktion, die er durch Kastration 
oder Alkoholintoxikation herbeiführte,, 
daß sich die periphere Krampffähigkeit 
nicht nur herabsetzen, sondern auch 
steigern läßt. 

Wie kommt nun diese Wirkung des 
Nebennierensystems auf die Krampf¬ 
reaktion zustande? H. Fischer glaubt, 
daß in der anisotropen Substanz der 
quergestreiften Muskulatur eine für den 
Adrenalinangriff receptive Substanz, die 
sogenannte ,,Myoneuraljunktion“ vor¬ 
handen ist, die zwischen die Muskelsub¬ 
stanz und die von Boeke im Jahre 1909 



262 ' . . , _Die Therapie der Gegen%ft‘ 1921 __ ' JuÜ 


entdeckten accessorischen, marklosen und 
autonomen Nervenfasern in der quer- 
getreiften Muskulatur, ihrem ,,Tonusan-- 
teir‘, eingeschaltet ist. 

Es gibt demnach eine doppelte An¬ 
griffsfläche der Muskeltonusfunktion; ein¬ 
mal im autonomen Nervensystem (Boeke) 
.als rein nervöse Beeinflussung des Muskel¬ 
tonus und zweitens in der receptiven Sub¬ 
stanz der quergestreiften Muskulatur als 
Beeinflussung biochemischer Natur. 

Das Sekretionsprodukt des chrom- 
.affinein Systems greift peripher die recep- 
tive Substanz an; da nun dieses chrom- 
affine System als innersekretorische Drüse 
in die ganze innersekretorische Korrela- 
.tion eingeschaltet ist und in enger Be-' 
Ziehung zur Nebennierenrinde steht, so 
-erklärt sich der Einfluß des ganzen, 
Nebennierensystems auf die Muskelarbeit 
.und — durch seine Wirkung auf den 
Tonusanteil — auch auf den Krampf- 
.anfall, wc^bei durch die Nebeneinander- 
schaltung auch anderer endokriner Ap¬ 
parate neben die Nebenniere auch der 
Einfluß dieser Apparate auf die funk¬ 
tionellen Zusammenhänge zwischen 
Nebenniere und quergestreifter Musku¬ 
latur gesichert ist. 

Die praktische Folgerung für die 
therapeutische Ausbeutung dieses experi¬ 
mentell nachgewiesenen Anteils des Neben¬ 
nierensystems an der Krampffähigkeit 
beziehungsweise Krampfbereitschaft des 
Körpers zog Brüning, und entfernte 
in geeigneten Fällen eine Nebenniere. 

Schon im Jahre 1856 berichtet 
Brown-Sequard über die Erfolge von 
^in- und doppelseitigen Nebennierenexstir¬ 
pationen an Säugetieren verschiedener 
Art, die sämtlich binnen weniger Stunden 
— höchstens 37 Stunden — tötlichen Er¬ 
folg hatten. Ihm traten Gratiolet und, 
Philippeaux entgegen, welche die 
Schuld am letalen Ausgange der opera¬ 
tiven Technik zuschoben und bewiesen, 
•daß einseitige beziehungsweise unvoll¬ 
ständige Entfernung das Überleben der 
Versuchstiere veranlassen kann, sofern nur 
'ein Achtel der Nebennierensubstanz er¬ 
halten bleibt. 

Brüning entfernte die linke Neben¬ 
niere, da der Zugang zu ihr technisch 
einfacher ist als zur rechten, deren Exstir¬ 
pation infolge der Nähe der Gallenblase 
und der Leber gefahrvoller zu sein kheint. 
Er wählte von den drei Zugangswegen, 
nämlich 1. dem von einem Lumbalschnitt 
wie zu einer Nierenoperation aus, 2. einem 
seitlichen in der vorderen Axillarlinie 


den dritten, transperitonealen, der ihm 
die beste Übersicht und Orientierungs¬ 
möglichkeit zu geben schien. Er führte 
den Schnitt vom Processus xiphoideus 
ungefähr 10 cm nach abwärts, durch¬ 
trennte dann den linken Rectus quer und 
ging im Musculus obliquus externus einige 
Zentimeter nach unten. Nach Verdrängen 
der Milz und des Magens nach oben und 
des Colon transversum nach unten legte 
er das hintere Peritoneum frei, das er 
durchtrennte und im retroperitonealen 
Fettgewebe die etwas medial von der 
linken Niere liegende Glandula supra- 
renalis aufsuchte und exstirpierte. Bisher 
Wurden nach dieser Methode von Brü¬ 
ning neun Patienten mit epileptischen 
Anfällen und teilweise mit bereits be¬ 
ginnender Demenz operiert. Nach den 
von ihm gemachten Angaben ist zum 
mindesten die Aussprechbarkeit des 
Muskelsystems für Krampfanfälle be¬ 
deutend herabgesetzt worden, so zwar, 
daß in einzelnen Fällen die Krämpfe über¬ 
haupt nicht mehr auftraten, in anderen 
die Reizschwelle so weit erhöht werden 
konnte, daß es mit geeigneten Medika¬ 
mente, wie z. B. Sedobrol oder Luminal 
bei sonst unbeeinflußbaren Fällen ge¬ 
lang, Anfälle zu unterdrücken oder ganz 
zu verhüten. 

Was das Blutbild anlangt, das ja bei 
Epileptikern eine Verschiebung zur neutro¬ 
philen, poJynucleären Leukocytose auf¬ 
weist, so bildete es sich nach dem Ein¬ 
griff zur Norm zurück. Auch zeigte 
Schlund, daß im Gegensatz zu der 
sonst bei Adrenalininjektionen auftreten¬ 
den relativen Lymphocytose nach der 
durch die Nebennierenreduktion plötzlich 
einsetzenden Unterfunktion des Adrenal- 
systems eine Herabsetzung der relativen 
Lymphocytose eintritt. Sofort nach der 
Operation sank im Duchschnitt die 
Lymphocytenzahl von zirka 40 % auf 
etwa 15%, um dann Wieder die Tendenz 
zu einer Einstellung auf normale Werte 
zu zeigen. Eine Erhöhung des Blut¬ 
zuckerspiegels tritt nach den Unter¬ 
suchungen Bauschs bei den operierten 
Patienten in keinem Fall auf. Betreffs 
der Prognose der mit Nebennierenexstir¬ 
pation behandelten Fälle von genuiner 
Epilepsie ist natürlich der EinWand einer 
späteren vicariierenden Hypertrophie der 
anderen (rechten) Nebenniere berechtigt, 
jedoch ist nach Brüning mit dieser 
Möglichkeit bei Individuen, die bereits 
das Pubertätsalter überschritten haben, 
kaum zu rechnen. Andererseits ist selbst- 




Juli 


i Die Therapie der Gegenwart X921 


263 


verständlich' nur ein Teilerfolg zu erwar¬ 
ten, wenn etwa accessorische . Neben¬ 
nieren besonders aus Rindensubstanz 
längs des Vom Testis beim Deszensus 
zurückgelegten Weges Vorkommen und 
nicht entfernt worden sind. 

Wenn in der Behandlung der Epilepsie 
auf Grund der von H. Fischer einge¬ 
führten Trennung zwischen cerebralem 
und peripherem Krampfkomponenten die 
Nebennierenentfernung angeraten wird, 
so ist diese natürlich nur als ein Mittel 
•anzusehfen, ein Symptom zu beseitigen, 
freilich ein solches, das den Kranken 
unsozial macht und ihn verhindert einen 
geregelten Beruf nachzugehen. 

Literatur: Auerbach, Mitt. Grenzgeb. 
Bd. 19. Bausch, Blutzuckerspiegel vor und nach 
der therapeutischen Nebennierenreduktion bei 


Krampfkranken nach Heinrich Fischer, D. m. 
W. 1920, Nr. 49. Biedl, Innere Sekretion, 1916.' 
Brown-Sequard, Cpt. r. de Biol. 1856. Brü¬ 
ning, Die Exstirpation der Nebenniere zur Be¬ 
handlung von Krämpfen, Zbl. f.'Chir. 1920, Nr. 43. 
Derselbe, Die Nebennierenredüktion als krampf¬ 
heilendes Mittel, D. m. W. 1920, Nr. 49. H. Fi¬ 
scher, Psychopatologie des- Ennuchoidismus und 
dessen Beziehungen zur Epilepsie, Zschr. f. d. 
ges. Neurol. 1919, Bd. 59. Derselbe, Zum Ausbau 
der tierexperimentelien Forschung in der Psychi¬ 
atrie, Mschr. f. Psych. 1920. Derselbe, Ergeb¬ 
nisse zur Epilepsiefrage, Zschr. f. d. ges. Neurol, 
1920, Bd. 56. Derselbe, Die Bedeutung der 
Nebennieren für die^ Pathogenese und Therapie 
des Krampfes, D. m. W. 1920, Nr. 52. Jensen, 
Pflüg. Arch. Bd. 103. Möller, Kritisch experi¬ 
mentelle Beiträge zur Wirkung des Nebennieren- 
extraktes, Inaug.-Diss. Würzburg 1906. Nagel, 
Handbuch der Physiologie 1907. Schlund, Über 
das Verhalten des relativen morphologischen 
weißen Blutbildes vor und nach der operativen 
Nebennierenreduktion bei Krampfkrankheiten 
nach H. Fischer, D. m. W. 1920, Nr. 46. 


Repetitorium der chirurgischen Therapie. 

Von M. Borchardt. 

Die Behandlung frischer Verletzungen. 

Von M. Borchardt und S. Ostrowski. (Fortsetzung.) 


Sehr wirksam ist besonders bei paren¬ 
chymatösen Blutungen die Tamponade 
mit in Wasserstoffsuperoxyd getränkter 
Gaze, der aus den aufperlenden Gas¬ 
blasen sich bildende Schaum dringt in 
alle Buchten und Nischen der Wunde und 
verschließt durch den Druck der Gas¬ 
blasen kleinste Gefäßlumina und Ge- 
websspalten. Manche Autoren warnen 
vor der Gefahr der Gasembolie. Diffuse 
Blutungen aus großen Wundflächen (Am¬ 
putationsflächen, Wundflächen bei Mam¬ 
maamputationen) beherrscht man oft ge¬ 
nug schon durch Aufdrücken mit heißer 
physiologischer Kochsalzlösung befeuch¬ 
teter Gazekompressen. Das .früher häufig 
angewendete Eisenchlorid mit seiner blut¬ 
stillenden Eigenschaft wird in der mo¬ 
dernen Chirurgie kaum noch ^gebraucht.' 
Für die Blutstillung in accidentellen oder 
operativ gesetzten Wunden am Schädel¬ 
dach, am Gesichtsschädel, in der Mund¬ 
höhle und der Nasenhöhle ist die Anämi- 
.sierung durch Nebennierenpräparate (Ad-- 
irenalin, Suprarenin oder Epirenan) un- 
■entbehrlich geworden. Man umspritzt das 
‘Operationsgebiet bzw. Wundgebiet mit 
■einer physiologischen Kochsalzlösung, der 
‘etwa 20 Tropfen einer Lösung der genann-' 
ten Nebennierenpräparate 1 : 1000 auf 
100 Kochsalzlösung zugesetzt sind oder 
tamponiert die Wunde mit in IVoo Adre¬ 
nalinlösung getränkten Gazebäuschen. 
Über die Kombination von Nebennieren¬ 


präparaten in anästhesierenden Lösungen 
wird später bei der Besprechung der ört¬ 
lichen Betäubungsmethode zu reden sein. 

Alle die eben beschriebenen Ma߬ 
regeln sind nur Notbehelfe bzw. vorläu¬ 
fige Maßnahmen, die endgültige Versor¬ 
gung der verletzten Gefäße fällt der defi¬ 
nitiven Blutstillung zu. Wir unterschei¬ 
den hierzu zweckmäßig offene und sub¬ 
kutane Blutungen, die letzteren sind die 
Folgen stumpfer Gewalteinwirkungen und 
erheischen bisweilen eingreifende Opera¬ 
tionen zu ihrer Stillung. Beispiele hierfür 
mögen folgende Kategorien von Blutun¬ 
gen sein: 

Zerreißung der Arteria meningea me- 
dia bei Schädelbrüchen, Sinusblutungen, 
Zerreißungen von Lungengefäßen bei 
stumpfen Verletzungen des Thorax, von 
Eingeweidegefäßen bei Traumen der 
Bauchhöhle (Mesenterialgefäßblutungen 
durch Abriß des Mesenteriums bei Über¬ 
fahrungen, Puffer- und Stierhornverletz¬ 
ungen). Bei subcutanen Blutungen ist es 
unsere Aufgabe, durch operative Frei- 
legLÜig des blutenden Gefäßes zunächst 
die gleichen Verhältnisse zu schaffen, wie 
sie bei den offenen Gefäßverletzungen 
bereits vorliegen. Hierzu ist, wie gezeigt 
wurde, unter Umständen eine Trepa¬ 
nation, eine Laparotomie oder Thora- 
kotemie erforderlich. Wo es angängig 
ist, z. B. an den Extremitäten im kleinen 
Becken, werden wir untei Blutleere ar- 





^4 


Die Therapie der Gegenwart 1921* 


Juli 


beiten. Wo dies nicht möglich ist, bei Ver¬ 
letzungen des Kopfes, Halses, Bauches 
und des Thor^ax leistet die Tamponade 
für den Augenblick gute Dienste. Eine 
Gazekompresse wird in die blutende 
Wunde hineingedrückt und für einige 
Minut< n fest angepreßt. Sehr häufig be¬ 
herrscht man dadurch/schon Blutungen 
aus Gefäßen niederer Ordnung. Nach 
einiger Zeit wird unter langsamem Lüften 
eines Endes der Kompresse Schritt für 
Schritt jedes blutende^Lumen mit Schie¬ 
bern oder Pincen geschlossen. Die 
Hauptsache ist, daß immer nur eine 
kleine leicht übersehbare Fläche auf¬ 
gedeckt wird. Erheischt der Zustand des 
Patienten schnelle Beendigung be¬ 
ziehungsweise Abbruch der Operation, 
so kann die Tamponade unter , einem 
Druckverband als zuverlässiges Blut¬ 
stillungsmittel liegen bleiben. Ersetzen 
wir sie bei der Operation durch nach¬ 
folgende Unterbindungen, so ist die 
Hauptsache, daß immer nur ein kleiner 
Teil der von der Tamponade beherrschten 
Fläche aufgedeckt wird. Kleine verletzte 
Gefäße in Gewebe von normaler Kon¬ 
sistenz, mögen sie teilweise oder ganz 
durchgetrennt sein, versorgt man, indem 
man die korrespondierenden Enden auf¬ 
sucht, diese mit Gefäßklemmien ver¬ 
schließt und durch Fadenumschnürung 
versorgt. Die hierzu verwendeten In¬ 
strumente, das Unterbindungsmaterial 
und die Technik der gewöhnlichen Ligatur 
dürfen als bekannt vorausgesetzt werden. 

Retrahieren sich die Gefäßstümpfe in 
das sie umgebende Gewebe oder ragen sie 
nur wenig über die Wundfläche hervor, 
was z. B. in schwartig um'gewandelten 
Gewebspartien (Narben usw.) vorkommt, 
so fassen die gewöhnlichen Instrumente 
nicht. Wir bedienen uns hier der Um¬ 
stechung. Mit der mit einem Faden 
armierten Nadel durchdringen wir eine 
dünne Gewebsschicht neben dem Gefä߬ 
lumen kreuzweis und schnüren durch 
Anziehen und festes Knoten der Faden¬ 
enden das Gefäß mit einem kleinen Be¬ 
zirk vom Nachbargewebe ab. Das Liegen¬ 
lassen von Gefäßklemmen in der Wunde 
und Mithineinnehmen in den Verband 
peihorreszieren wir im allgemeinen. Den¬ 
noch werden wir diesen Notbehelf bei 
tiefen buchfgen Wunden, in denen die 
Ligatur manchmal technisch unmöglich 
ist, besonders, wenn es sich um zerreiß- 
liche, durch die Blutung zerwühlte Ge¬ 
webe handelt, nicht gänzlich entbehren 
können. 


Blutungen aus kleineren Gefäßen, ins¬ 
besondere Hautgefäßen kann m.an durch 
Abdrehen oder Quetschung mit der 
Blunkschen Klemme beherrschen. Beiden 
Methoden bewirken eine Aufrollung der 
Gefäßintima und dadurch einen Ver¬ 
schluß des Gefäßlumens, sparen Unter¬ 
bindungsmaterial und ermöglichen da¬ 
durch eine lückenlosere Adaption der 
Hautränder bei der Naht. Ein Nachteil, 
ist, daß sie nicht absolut vor Nach¬ 
blutungen sichern. ‘ 

Das beste Mittel zur Vermeidung von. 
solchen oder zur Beherrschung bestehen¬ 
der Blutungen wenigstens aus Gefäßen, 
größerer Ordnung ist die radikale Methode 
der Unterbindung. Sie kann im Bereich 
der Wunde, möglichst nahe der Gefäß-- 
wunde selbst ausgeführt werden und 
wird dann als Unterbindung am Ort der 
Not bezeichnet. Suchen wir die ver¬ 
letzten Arterien oberhalb, die Vene unter¬ 
halb der Läsionsstelle auf und ligieren. 
sie hier fern von der Wunde, so haben 
wir am Orte der Wahl unterbunden. Wenn 
nun auch die erste Methode der letzteren 
nach Möglichkeit vorzuziehen ist, weil 
diese unter Umständen wegen des Mit¬ 
verschlusses wichtiger Collateralbahnen 
meist viel erheblichere Zirkulationsstö¬ 
rungen zur Folge haben muß, so werden 
wir die Methode der Wahl doch in den 
Fällen nicht entbehren können, wo in 
großen vielbucht^gen unübersehbaren 
Wundhöhlen zahlreiche Gefäße bluten' 
und die Blutung durch Tamponade nicht 
beherrscht werden kann. Über ihre Be¬ 
deutung als präliminarer Eingriff zur 
Blutsparung bei gewissen Operationen 
wird später zu sprechen sern. Stets ist 
bei Verletzungen (Durchtrennung) größe¬ 
rer Gefäße das zentrale und periphere 
Ende zu unterbinden, da, wenn nur eme 
verschlossen wird, die Blutung aus dem 
anderen durch collateralen Blutzufluß 
weiter fortdauern kann. Zwischen den 
Ligaturen einmündende Collateralgefäße 
müssen gleichfalls durch Ligierung ver¬ 
sorgt werden. Die anatomischen Ge¬ 
sichtspunkte, nach denen die Gefäße 
bei Verletzungen an typischer Stelle 
aufzusuchen sind, sollen hier nicht 
eingehender behandelt werden, da die 
Technik der typischen Unterbindungen 
in den einschlägigen Operationslehren 
festgelegt ist. 

Handelt es sich um die Versorgung 
der Stümpfe größerer Gefäße, z. B. von 
Arterien, die nach dem Verschluß mit 
der Klemme eine stäikere Pulsation 



Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


265 


zeigen, so ist die Unterbindung besonders 
sorgfältig auszuführen. Hierbei muß 
kurz die Frage gestreift werden, ob Cat¬ 
gut oder Seide, zur Ligatur verwendet 
werden. Seidenligaturen halten wegen der 
rauhen* Oberfläche der Seide besser und 
gleiten weniger leicht ab, als das durch 
die Gewebsfeuchtigkeit bald quellende 
und schlüpfrig werdende Catgut. Das 
letztere gewährt wegen seiner leichten 
Resorbierbarkeit nicht die Haltbarkeit 
der Ligatur, Wie die unresorbierbare Seide, 
wenn man sie auch durch stärkere Jod¬ 
imprägnation verzögern kann. Dafür ver¬ 
schuldet der Seidenfadenknoten besonders 
bei Verwendung stärkerer Nummern 
häufig langdauernde Fadeneiterungen, 
die man besonders häufig bei Laparoto¬ 
miewunden und an Amputationsstümpfen 
wahrnehmen kann. Diese sehr lästige 
Komplikation läßt sich dadurch ver¬ 
meiden, daß man feinere antiseptisch 
imprägnierte Seide benutzt und diese 
vornehmlich in aseptischen Wundgebieten 
verwendet. Kocher unterband nur in 
eitrigem Terrain mit Catgut. Gebraucht 
man im infizierten Wundterrain dennoch 
Seide als das sichere Unterbindungs- 
material, so kann man den oben be¬ 
schriebenen Fadeneiterungen dadurch Vor¬ 
beugen, daß man starke Fäden lang und 
zur -Wunde heraushängen läßt. Nach 
einiger Zeit überzeugt man sich von Zeit 


zu Zeit durch leisen Zug, ob die Ligatur 
bereits so weit gelockert ist, daß man sie 
ohne Gefahr einer' Nachblutung entfernen 

kann. 

Bei der Unterbindung größerer Ge¬ 
fäßstümpfe ist es Wichtig, sie vor^ An¬ 
legung der Fadenschlingen gut zu iso¬ 
lieren, um zu verhindern, daß periyasculä- 
res Gewebe mit eingebunden wird und 
die Sicherheit der Unterbindung ge¬ 
fährdet. Die Isolierung des Gefä߬ 
stumpfes erfolgt durch Fassen, seines 
Endes mit der anatomischen Pincette 
und Zurückstreifen der Gefäßscheide mit 
einem zweiten gleichartigen Instrument. 
Hinter der quer angelegten Pincette erfolgt 
die Unterbindung. Bei Gefäßstümpfen 
mit veränderter Wandung (z. B. ab¬ 
normer Brüchigkeit oder Erweichung 
durch Infektion) besteht die Gefahr, daß 
die Fäden schnell durchschneiden. Da¬ 
gegen hilft die Anlegung einer Doppel¬ 
ligatur, und zwar so, daß beide Fäden 
sich berühren und die Druckfläche der 
Ligatur dadurch vergrößert wird. Den 
gleichen Effekt erzielt man, wenn man 
einen Gewebspfropf, z. B. ein Muskel¬ 
stückchen in das Gefäßlumen einführt 
und über diesem den Schnürfaden knotet, 
oder wenn man das Gefäßstumpfende so 
umlegt, daß man die Unterbindung nach 
Art der Bummschen Nabelschnurligatur 
am gedoppelten Gefäßrohr ausführt. 


Therapeutisches aus Vereinen u. Kongressen. 

33. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin, 
Wiesbaden, 18^— 21. April 1921. 

BerichtaVO^G. Klemperer. (-Schluß.) 


Die ersten Einzel vertrage betrafen die Patho¬ 
logie des Stoffwechsels. Groß (Greifswald) begann 
mit Mitteilungen über Cholesterinstoffwechsel. 
Der Vortragende, welcher in früheren Unter¬ 
suchungen gezeigt hatte, daß bei der soge|iannten 
Fettdegeneration der Nieren dieselben für'Lipoide 
durchgängig seien, berichtet diesmal über quan¬ 
titative colorimetrische Bestimmung des Chole¬ 
steringehalts im Blut und Urin. Im normalen 
Harn werde niemals Cholesterin gefunden, auch 
nicht bei reichlicher Zufuhr, während es bei 
allen Nephropathien, auch den Glomerulus- 
entzündungen, im Harn nachweisbar ist. Bei 
Nephrosen steigt die- Urincholesterinmenge auf 
über 1 g. Die Höhe der Ausscheidung hängt von 
der Nahrungszufuhr ab: fettreiche Kost steigert 
die Cholesterinmenge des Blutes von 120 mg auf 
370 mg in 100 ccm Blut, des Urins von täglich 
80 mg bis 1,2 g pro die; bei cholesterinreicher 
Kost betrugen die Zahlen 400 mg und 1,8 g. 
Bei Nephrosen ist trotz der erhöhten Ausscheidung 
der Cholesterinblutspiegel erhöht. Bei Amyloid¬ 
niere ist im Harn auffallenderwcise kein Cholesterin 
nachweisbar, während die Blutwerte sehr hoch 
sind (bis 1 g in 100 ccm Blut). Die Amyloid¬ 


niere ist also für Cholesterin undurchgängig. Die 
hohen Cholesterinzahlen des Urins bei Nephrosen 
wurden von mehreren Seiten bestätigt, die Er¬ 
höhung des Blutspiegels dagegen bestritten. 
No Orden betonte die therapeutische Bedeutung 
dieser Frage, indem fettreiche Kost die Nieren 
anstrengt; zur vollkommenen Nierenschonung 
seien fettarme Kohlehydratträger (Reis, Obst, 
Zucker, allenfalls abgerahmte Milch, aber nicht 
Vollmilch) empfehlenswert. 

Die Pathogenese der Gicht, die auf früheren 
Kongressen oft im Mittelpunkt der Besprechungen 
stand, wurd» diesmal nur durch einen Vortrag 
von Gudzent berührt, welcher neues Material 
für Begründung der alten Lehre von der Ge- 
websbindung der Harnsäure bei brachte; hierfür 
hat er den neuen Namen Uratohistechie geprägt. 
Er zeigt, daß Mononatriumurat, welches nach 
intravenöser Einspritzung von .Gesunden durch 
den Urin ausgeschieden wird, bei Gichtkranken 
nach einiger Zeit weder im Urin noch im Blut 
nachweisbar, also sicherlich von den Geweben 
an sich gerissen wird. Der gegen die Gewebs- 
bindung von Thannhauser (München) vor¬ 
gebrachte Einwand, daß die Ödeme Gichtkranker 

34 



266 


Dk Therapie der Gegenwart 1921 


Juli. 


nicht reicher an Harnsäure seien als die von 
Nichtgichtikern ist offenbar nicht beweiskräftig. 
Gudzent teilte noch Befunde mit, nach denen 
im Blut von Gichtkranken die Harnsäure nicht 
immer vermehrt sei; damit rüttelt er an einem 
Lehrsatz, den wir schon als gesichert, sogar dia¬ 
gnostisch verwenden zu dürfen glaubten; Brugsch 
bezweifelte denn auch diese Angaben Gudzents, 
ebenso wie er die theoretischen Folgerungen ab¬ 
lehnte; nach Brugsch kommt die Harnsäure 
durch Diffusion aus dem Blut in die Gicht¬ 
organe. Im übrigen teilte Gudzent zahlreiche 
Befunde über den Harnsäuregehalt von Leichen^ 
Organen und solchen von Hühnern und Tauben 
mit, die für die Physio-Pathologie von erheblicher 
Bedeutung sein dürften. —.Den Zusammenhang 
des Purinstoffwechsels mit dem Nervensystem 
besprach Ul 1 mann (Berlin), indem er im Tier¬ 
versuch die Allantoinausscheidung nach Coffein 
zu analysieren suchte. Es zeigte sich, daß die 
durch Coffein beziehungsweise Diuretin beim 
Kaninchen bewirkte Mehrausscheidung von Allan- 
toin nach Splanchnicusdurchschneidung fort¬ 
fällt, d. h. also, daß der Reiz zur Allantoinaiis- 
schwemmung, den das central angreifende Coffein 
verursacht, über die Splanchnicusbahn zur Leber, 
wahrscheinlich unter Vermittlung der Nebenniere, 
verläuft. Zur Illustrierung seiner Befunde ver¬ 
weist Ul 1 mann auf anderweite Angaben, daß 
Adrenalin eine Mehrausscheidung von Allantoin 
macht, sowie daß man aus der künstlich durch¬ 
bluteten Leber durch Adrenalin eine Purinaus¬ 
schwemmung erzielen kann. — Schließlich be¬ 
richtete Rother (Berlin), daß Röntgenbestrah¬ 
lung der Thymusdrüse zu erheblicher Ver¬ 
mehrung der Harnsäureatisscheidung führe; es 
wäre vielleicht möglich, diese Tatsache bei 
Basedowfällen diagnostisch für die Beteiligung 
des Thymus zu verwerten. 

Ganz neue Tatsachen wurden in den Vor¬ 
trägen von Frank (Breslau) über Guanidlnver- 
giftung und Lange (Frankfurt) über Adrenalin¬ 
wirkung bekanntgegeben. 

Frank ging von der Pekelharingschen Ent¬ 
deckung aus, daß bei der tonischen Innervation des 
Skelettmuskels (Haltung, Rigidität, Starre) Kreatin 
frei wird, während dies bei tetanischen Krämpfen 
nicht der Fall ist. Kreatin ist Methylguanidin¬ 
essigsäure.. Guanidin wirkt als Krampfgift, wie 
bereits früher von englischen Autoren nach¬ 
gewiesen ist, in ähnlicher Weise wie die Epithel¬ 
körperexstirpation. Frank hat die Vergiftung 
mit Dimethylguanidin näher studiert und hat 
alle Zeichen der Tetanie dadurch erzeugt; unter 
andern auch hochgradige galvanische Übererreg¬ 
barkeit. Durch einmalige oder selten wieder¬ 
holte Injektion des Giftes wurden allmählich 
hervortretende langdauernde Wirkungen hervor¬ 
gerufen. Diese Eigenschaft der Haftung und 
Cumulation erinnert an die Wirkungsweise der 
Digitalis oder des Thyreoidins. Ferner wirkt das 
Guanidin nicht erregend, sondern es steigert die 
Erregbarkeit zahlreicher nervöser C^itra und der 
parasympathischen Endapparate. 

Lange berichtete über Wirkungen des Ad¬ 
renalins auf die Skeletimuskulatur, welche er 
im Embdensehen Institut festgestellt hatte. Er 
wandte neue Methoden an zur Feststellung der 
Permeabilität der Muskelfasergrenzschichten, in¬ 
dem er den Austritt von Phosphorsäure aus dem 
Innern der Muskelfaser chemisch feststellte, 
andererseits den Eintritt von Kaliumionen in 
die Muskelfaser durch die Beobachtung des 
Lähmungsverlaufs ermittelte. Es ließ sich zeigen, 
daß Adrenalin die Durchgängigkeit der Grenz¬ 


schichten für ein- und austretende Stoffe herab¬ 
setzt; der Permeabilitätszustand ist aber ma߬ 
gebend für Erregbarkeit und Leistungsfähigkeit 
des Muskels. Diese Feststellung ist klinisch sehr 
bedeutungsvoll; sie kann z. B. die sekretions¬ 
vermindernde Wirkung des Adrenalin beim Bron¬ 
chialasthma erklären; die Hyperglykaemie nach 
Adrenalininjektion beruht danach vielleicht auf 
der erschwerten Aufnahmefähigkeit der Musku¬ 
latur für Traubenzucker. 

Die Reihe der Vorträge über Blutzusaaunen- 
Setzung wurde eröffnet durch Mitteilungen von 
Erich Meyer und Seyderhelm über den Ein¬ 
fluß derselben auf die Herzgröße. Vor einiger 
Zeit hatte E. Meyer über einen Fall berichtet,, 
bei dem infolge starker Verminderung der Blut¬ 
menge durch Magenblutung das Herz ganz klein 
geworden war, um in der Rekonvaleszenz wieder 
zur normalen Größe zurückzukehren. Zur 
weiteren Aufklärung über dies Verhältnis wurde 
das Herz von Kaninchen vor und nach dem Ader¬ 
laß -beziehungsweise nach' Kochsalzinfusion rönt- 
gologisch kontrolliert; es zeigte sich, daß ein 
Aderlaß von 30 bis 40 ccm die Herzgröße ver¬ 
kleinert, und daß die frühere Größe sich nach 
24 bis 36 Stunden wiederherstellt; Ersatz des- 
Blutes durch physiologische Kochsalzlösung, 
ändert nichts an der Herstellung; 6% Gummi¬ 
lösung führt ebenso wie zu längererBlutverdün- 
nung so auch zu schneller Herzvergrößerung,, 
welche über das ursprüngliche Maß hinausgehen 
kann. Die Herzgröße wird also durch den Colloid- 
gehalt der zirkulierenden Blutmenge mitbestimmt. 
Durch Einlaufenlassen einer Gummilösung in 
die Gefäße kann man jeden beliebigen Grad von 
Herzvergrößerung erzeugen, während Infusion 
selbst von 50 ccm Kochsalzlösung ohne vorher¬ 
gehenden Aderlaß das Herz in keiner Weise ver¬ 
größert. Die Regula'tion der Herzgröße erfolgt 
nicht central, sondern peripher, denn wenn das 
Halsmark unterhalb des Vasomotorencentrums 
durchschnitten war, so verhalten sich die Tiere 
nach dem Aderlaß bezüglich der Herzgröße wie 
normale. Die Abhängigkeit der Herzgröße von 
der Blutmenge und dem Colloidgehalt des Blutes 
ist als tonogener Faktor zu bezeichnen, zu wel¬ 
chem sich in der klinischen Betrachtung als 
Ausdruck der Muskelschädigung der myogene 
Faktor hinzugesellt. Diese bemerkenswerte Mit¬ 
teilung gab Wenckebach Veranlassung, darauf 
hinzuweisen, daß die Herzgröße durchaus nicht 
so abhängig ist von der Intaktheit der Herz¬ 
funktion wie allgemein angenommen wird. Auch 
bei ganz normalem Herz ist die Funktion ebenso- 
wie Foimi und Größe von der Größe des Blut¬ 
zustroms, d. h. von der diastolischen Füllung ab¬ 
hängig. Die Dauer der diastolischen Periode,, 
die Atembewegung, die arteriellen Widerstände 
und die vasomotorische Regulierung der Blut¬ 
verteilung beeinflussen die Herzgröße. Man darf 
also die Abweichungen von der als normal er¬ 
kannten Herzfigur nicht ohne weiteres auf Herz¬ 
krankheit beziehen. Diese Betonung der Variabili¬ 
tät der Herzgröße rief Moritz (Köln) zum Wider¬ 
spruch hervor; er brachte zum Ausdruck, daß. 
solche programmatische Erklärung namentlich 
den Praktiker verwirren müsse, der gewohnt sei, 
die Dilatatio cordis als eine gegebene und dia¬ 
gnostisch verwertbare Größe zu betrachten. Die 
Wahrheit sei, bei aller Anerkennung des Wencke-- 
b ach sehen Standpunkts, daß es darauf ankomme, 
das Herz stets unter den gleichen Bedingungen 
zu untersuchen; bei glcichbleibenden äußeren 
Faktoren ist die Herzgröße als konstant anzu¬ 
sehen. Später wies Strasburg er (Frankfurt) dar- 





Juli 


Die Therapie der Gegen\;^art 1921 


2&r. 


auf hin, daß Verkleinerung des Herzens, wie sie 
der Aderlaß verursacht, die Herzarbeit verringert 
und also bei Herzschwäche den vorher bestehen¬ 
den Schaden kreis durchbricht; die Herzver¬ 
kleinerung durch Aderlaß wäre um so bedeutender, 
je schneller das Blut aus der Ader entwiche. 
Es empfehle sieh also, das Blut im vollen Strahl 
aus der Ader spritzen zu lassen, worauf schon 
Kußmaul hingewiesen habe. Frey wies auf 
die Herzvergrößerung so vieler Gravidae hin, die 
nach der Geburt verschwinde und wahrscheinlich 
mit der vermehrten Blutmenge Zusammenhänge. 

Es folgte eine Reihe von speziellen Mitteilungen 
über Blutveränderungen unter experimentellen 
und pathologischen &dingungen. Nonnenbrach 
(Würzburg) zeigte, daß Infusion von 6 % Gummi¬ 
lösungen durchaus nicht, wie Bayliss angenom¬ 
men hatte, den Abstrom des injizierten Wassers 
in die Gewebe hemmt; die Zahl der roten Blut¬ 
körperchen ist zwei bis drei Stunden nach In¬ 
fusion einer Gummilösung dieselbe wie nach 
Infusion einer Ringerlösung; auch bei entnierten 
Tieren ließ sich keine längerdauernde Plethora her- | 
vorrufen. Es ließ sich weiter zeigen, daß das Ei¬ 
weiß sich weitgehend am Austausch zwischen Blut 
und Geweben beteiligte, daß aber die Kurve der 
Blutmenge und des Serumeiweißes keineswegs 
parallel liefen, daß vielmehr Eiweißeinstrom und 
Ausstrom durchaus vom Flüssigkeitsaustausch 
unabhängig war, so daß die üblichen Refrakto¬ 
meterbestimmungen, welche auf konstantem Ei- 
weißgehalt aufgebaut sind, kaum als zuverlässig 
gelten dürfen. Nach Purinkörperdarreichung 
konnte Nonne^ibruch regelmäßig einen Eiwei߬ 
einstrom im Blut feststellen. 

Auch Jansen (München) berichtete über das 
Verhältnis zwischen Blut und Gewebsflüssigkeit, 
indem er verschiedene Salzlösungen in den 
menschlichen Unterarm injizierte, gleichzeitig das 
Blut aus der zugehörigen Armvene untersuchte 
und nach wechselnden Zeiten den durch Capillar- 
drainage gewonnenen blutfreien Gewebssaft auf 
seine Bestandteile prüfte. Der Kochsalzspiegel 
war nach zwei bis drei Stunden stets 10 bis 20 mg 
höher als im Blut, der Rest-N entsprach dem¬ 
jenigen des 'Blutes. Diese Einstellung erfolgte 
vor beendeter Resorption, hängt also nicht von 
^den osmotischen Gleichgewichtszuständen ab. 
'Die kolloidalen Körper stiegen im Verlauf der 
ganzen Resorption in ihrer Konzentration; die 
. Eiweißmenge erreichte kurz vor beendeter Re¬ 
sorption Werte von 0,7 bis 1 %. Man darf diese 
Zahl nicht als Annäherungswert der wahren Ei- 
weißkonzentrationen im normalen Gewebssaft 
ansprechen, da das Eiweiß auf den Injektionsreiz 
auch aus den Gewebszellen stammen kann. 

Schade (Kiel) hat mit der Methode der 
■Messung der H-Ionenkonzentration den Säure¬ 
grad in Blut und Gewebe festgestellt; dabei fand 
er im normalen Gewebe dieselben W6rte wie im 
Blut; im erschöpften Muskel wurde Säuerung 
konstatiert. Ödemfliissigkeit hat dieselbe Reak¬ 
tion wie Gewebssaft; akute Entzündung führt zu 
örtlicher Acidose, insbesondere eitriger Exsudate. 
Ähnlich gerichtete Versuche von Pohle (Wies¬ 
baden) zeigten, daß die Ausscheidung saurer 
Farbstoffe durch den Harn durch die gleich¬ 
zeitige Darrei-chung von Säuren befördert werden 
kann, während Ausscheidung alkalischer Farb¬ 
stoffe durch Alkali beeinflußt wird. So wäre es 
vielleicht therapeutisch möglich, durch gleich¬ 
zeitige Gaben analog reagierender Substanzen 
Speicherungen basischer oder saurer Substanz im 
Körper zu erreichen. 


Eine analoge Methode hat Frl. Clofilde Meier 
(Halle) zur Beleuchtung der Wirksamkeit nar¬ 
kotischer Mittel benutzt. Wenn die Erregung 
als Änderung von Colloidzuständen aufzufassen ist, 
so verursacht die Narkose eine Hemmung der¬ 
selben. Die Erregungen werden von elektrischen 
Erscheinungen begleitet, die an den Grenzflächen 
durch Veränderungen in der Salzkonzentration 
entstehen. Durch Titration mit Kohlensäure kann 
man die Ladung der Plasifiahautcolloide mensch¬ 
licher Blutkörperchen prüfen. In reiner physiolo¬ 
gischer Kochsalzlösung macht die COg-Bindungs- 
kurve bei der Wasserstoffzahl 6,67 einen Knick,, 
der die plötzliche Mehraufnahme von CO 2 an das- 
Hämoglbbin infolge der Entladung der Plasma- 
hautcclloide bedeutet. Bei Zusatz von Urethan 
oder Alkohol zur Waschflüssigkeit der roten Blut¬ 
körperchen, tritt die Entladung bei einer niedri¬ 
geren Wasserstoffzahl, einer mehr alkalischen 
Reaktion, auf. Mittels der CO.g-Bindung hat 
Straub (Halle) das Blut der Nierenkranken 
untersucht und dabei die Bindungskurve gegen¬ 
über der Norm oft erheblich erhöht, oft herab- 
1 gesetzt gefunden; durch Analyse des Alveolar-- 
gases wurde auch COg-Spannung des arteriellen 
Blutes festgestellt. Die Herabsetzung der COgr 
Bindung bedingt keine Änderung der normalen 
H-Ionenkonzentration. In manchen Fäflen wurde' 
echte Acidosis konstatiert, welche nicht auf patho¬ 
logischer Säurebildung beruht wie beim schweren. 
Diabetes, sondern auf Niereninsuffizienz, wodurchi 
die normalen Säuren des Stoffw.echsels an der 
Ausscheidung gehindert werden. Zur Prüfung 
dieser Hypothese hat Straub die Chloride und 
Bicarbonate, den säurelösliche P und Rest N, 
ferner durch Gefrierpunktbestimmung die Ge¬ 
samtsumme bestimjnt. Bei Gesunden ist nicht 
nur die Reaktion, sondern auch die Konzentration 
der einzelnen Säureanionen nahezu konstant. Den- 
Nierenkranken geht diese Fähigkeit oft verloren;*, 
bei ihnen ist die Gesamtsumme der Säureanionen 
bunt zusammengesetzt, was Straub als Poikilo- 
pikrie (nach Analogie von Poikilothermie) be¬ 
zeichnet. 

Morawifz und Denecke (Greifswald) haben 
refraktometrisch die Konzentration des Blut¬ 
serums in den Armvenen vor und nach völliger 
Abschnürung des Arms untersucht und bei Nor¬ 
malen eine etwa 5 %ige Abnahme des Eiweiß- 
gehaltcs gefunden; bei Nierenkranken, aber auch 
bei akuten Infektionskrankheiten, war die Serum¬ 
dichte dagegen erhöht. Aus diesen Befunden 
schließen die Autoren auf den Grad der Durch- 
i lässigkeit der Gefäße. 

U. Friedemann hat bei der Serumkrankheit 
eine starke Retention von Wasser und Kochsalz 
gefunden; die NaCl-Zurückhaltung ist relativ 
stärker als die des Wassers; das Kochsalz wird be¬ 
sonders in der. Haut retiniert. Es scheint, als ob 
reichliche Kochsalzgaben in der Nahrung den 
Ausbruch der Serümkrankheit hemmen; intra¬ 
venöse Injektion 10%iger NaCl-Lösting beein¬ 
flußt die Symptome günstig, insbesondere den 
Juckreiz. 

Hoeßlin (Berlin) hat die Frage zu klären ge¬ 
sucht, ob bei bestehenden Ödemen und knapper 
Eiweißzufuhr in erster Linie das Ödemeiweiß 
angegriffen wird oder ob es wieder in den Kreis¬ 
lauf zurückkehrt und als Zellmaterial verwendet 
wird. Durch Feststellung des Verhältnisses von N,- 
NaCl, Phosphorsäure, Kreatinin und^ löslichem 
Schwefel in Urin entwässernder Ödematösis 
suchte er sich über den Verbleib der Ödembestand¬ 
teile zu vergewissern und kam zu dem Resultat,, 
daß das Öde'meiweiß an Stelle des Körpereiweißes- 

34* 



*268 


Die Therapie der Gegenwart 1921^ 


Juli 


versetzt wird, wobei der Gesamt-N-Umsatz ein 
auffallend geringer ist. 

Dünner (Berlin) hat die Möglichkeit, Koch¬ 
salz durch ßromsalze zu substituieren und zur 
Ausscheidung zu bringen, dazu benutzt, das Koch¬ 
salz aus den Ödemen zu verdrängen und dadurch 
Diurese zu erzeugen. In der Tat hatte Brom¬ 
natrium eine stark diuretische Wirkung, die nach 
intravenöser Injektion von 10—20%igen Lö¬ 
sungen noch stärker htervortrat. In mehreren 
Fällen überdauerte die Diurese noch längere Zeit 
die Brommedikation. 

Singer (Wien) hebt weniger die diuretische, 
als vielmehr die blutdruckheräbsetzende Wirkung 
der Bromsalze hervor. Derselbe Autor bespricht 
den Einfluß" des Calciums aufs Herz; er ver¬ 
wendet 10 % CaClg-Lösung und ' beobachtet 
danach eine der Digitalis analoge Wirkung, welche 
•sich freilich selbst in günstigen Fällen rasch er¬ 
schöpft; insbesondere wird die Digitaliswirkung 
durch vorhergehende oder gleichzeitige Calcium¬ 
therapie befördert. „Kalk scheint als Peitsche 
^und Zügel für Digitalis zu wirken.*^ 

Aus der Diskussion möchte ich die Bemerkung 
won Frey hervorheben, daß die Feststellung 
Morawitz* von der erhöhten Gefäßdurchlässig¬ 
keit bei Purpura und Endokarditis gegen die 
vasculäre Natur der Ödeme sprechen, denn bei 
diesen Krankheiten gibt es keine Ödeme. Wie 
•.ungeklärt diese Verhältnisse noch sind, ergab sich 
.aus den folgenden Auseinandersetzungen von 
/Haas (Gießen), welcher aus den wechselnden 
Unterschieden des Eiweißgehalts der Ödeme und 
aus dem fehlenden Verhältnis zwischen NaCl und 
Eiweiß gerade auf den vasculären Ursprung der 
■Ödeme schließt. 

Klewitz wies nach, daß die Albumosen im 
Blut Fiebernder nicht vermehrt seien. 

Volhard zeigte, daß die sogenannte Retinitis 
.albuminurka nur bei Blutdrucksteigerung ein- 
tritt; der Grad der Veränderung ist abhängig vom 
.Zustand der Gefäße im Verhältnis zur Herzkraft. 
Die Netzhautgefäße sind stärkst kontrahiert. 
Zwischen den Nierenveränderungen und der Netz¬ 
haut bei Nierenkrankheiten besteht ein Parallelis¬ 
mus. Auch die Nierengefäße sind bei der akuten 
Nephritis stark ischämisch.. Bei der genuinen 
Hypertonie beteiligen sich die Arterien nicht an 
.der aktiven Contraction. L. Hahn (Teplitz- 
Schönau); berichtet über einen Fall plötzlicher 
Erblindung auf beiden Augen bei einem 5 jährigen 
Mädchen, bei welcher in einer Universitäts- 
Augenklinik „akute Netzhautnekrose infolge 
Endarteriitis obliterans der Centralarterien“ 
diagnostiziert war. Das Kind hatte Herzhyper¬ 
trophie, Blutdruck 120. Pat. wurde durch hohe 
Papaverindosen in 3 Wochen völlig geheilt. Blut¬ 
druck ging auf 80 zurück. Es hat sich in diesem 
bemerkenswerten Fall um eine angiospastische 
Gefäßsperre in der Retina als Teilerscheinung 
einer allgerheinen Hypertonie bei gesunden Nieren 
•gehandelt. 

Das vegetative Nervensystem war der Gegen¬ 
stand der folgenden Vorträge. Der Erlanger 
Kliniker L. R. Müller sprach sich für die Wahr¬ 
scheinlichkeit aus, daß das Wachstum des Fett¬ 
gewebes von einem Zentrum im Zwischenhirn 
beeinflußt wird. Hierfür sprechen Fälle von 
Dystrophia adiposo-genitalis ohne Beteiligung der 
Hypophyse. Es kommen Fälle von halbseitiger 
beziehungsweise von Fettsucht beider Unter¬ 
extremitäten vor; bei letzteren ist eine Beteiligung 
des Rückenmarks wahrscheinlich. Bei der Sklero¬ 
dermie findet sich Schwund des Fettgewebes. 
Fälle von Hemiatrophia facialis beweisen die Be¬ 


teiligung des Centralnervensystems an den tro- 
phischen Vorgängen; das trophische Centrum ist 
in dem 3. Ventrikel zu suchen. Greving (Er¬ 
langen) verlegt auf Grund seiner histologischen 
Studien die Centren für alle vegetativen Funk¬ 
tionen in Zwischenhirn und Hypothalamus; die 
Centren entsprechen in ihrer cellularen An¬ 
ordnung nicht den Hirnkernen, es handelt sich 
vielmehr um Anhäufung bestimmter Zelltypen, wie 
,sie sich im visceralen Vagus kern finden. Leschke 
(Berlin) besprach die Abhängigkeit des Stoff- 
austausches zwischen Blut und Gewebe vom 
Nervensystem. Dieser Austausch sowohl in bezug 
auf Flüssigkeit wie gelöste Substanzen unterliegt 
der peripheren Regulation durch die Kapillaren, 
wie sich aus fortlaufenden Prüfungen der Blut¬ 
zusammensetzung nach Injektion hypertonischer 
Lösungen ergibt. Aber der Stoffaustausch ist 
auch abhängig vom Nervensystem, denn nach 
Einstich in die Basis des Hirnstammes bei Ka¬ 
ninchen bekommt man je nach der Stichstelle 
bald vermehrten Blutkochsalzgehalt mH oder ohne 
Polyurie, bald verminderten Kochsalzgehalt. Salz- 
und Wasserbahnen verlaufen getrennt, die Be¬ 
wegung des Wassers und der gelösten Salze wird 
unabhängig von einander reguliert. Auch an 
Fröschen kann man die Bedeutung des Zwischen¬ 
hirns für die osmotische Regulation beweisen, 
indem nach Durchtrennung der medianen Zwi¬ 
schenhirnteile erhebliche Wasseraufnahme und 
Retention stattfindet im Gegensatz zur fort¬ 
schreitenden Gewichtsabnahme hungernder 
Kontrolltiere. Bauer (Wien) trug seine Beob¬ 
achtung vor, daß bei Patienten mit dauernd er- 
höntem Blutdruck (permanenter Hypertonie) der 
Austausch zwischen Blut und Geweben anders 
wie bei Normalen vor sich geht, indem bei den 
Hypertonikern die Blutverdünnung nach Injektion 
hypertonischer Salzlösungen relativ gering ist. Er 
nahm diese Beobachtung zum Anlaß weiterer 
Mitteilungen über die Klinik der essentiellen 
Hypertonie, die erlauf Gemütsbewegungen zurück¬ 
führt und bei der er sowohl cerebellare als rheuma¬ 
toide Symptomenbilder beschreibt (Hochdruck¬ 
rheumatismus). Für die Behandlung erweist sich 
oft der Aderlaß sehr heilsam, oft das Capillargift 
Colchicin oder Theobrominpräparate: 

Weitere Vorträge waren der Magenpathologie 
gewidmet. Heyer (München) wählte zur Prüfung 
des psychischen Einflusses auf die Magensekre¬ 
tion den originellen Weg der Hypnose, indem er 
den tief hypnotisierten Patienten die Speisen¬ 
aufnahme suggerierte und dann dauernd mittels 
der Duodenalsonde den Magensaft absaugte.’ Es 
sollte auf diese Weise sicherer als bisher fest¬ 
gestellt werden, ob-die von Pawlow beim Hunde 
gefundene überwiegende Bedeutung der Psyche 
für Sekretion des Magensaftes und Entleerung des 
Mageninhalts auch für den Menschen Geltung 
habe. Es gelang, ein Bild vom Verlauf der psy¬ 
chisch bedingten Magenverdauung zu gewinnen. 
Im leeren Magen wurde fast immer eine beträcht¬ 
liche Menge Inhalts von hoher eiweißverdauender 
Kraft gefunden;'auf die Suggestion der Speisung 
erfolgte nach kurzer. Latenzzeit Sekretion von 
40—80 ccm Magensaft. Dieser Saft war ver¬ 
schieden nach Suggestion von Bouillon, Fleisch, 
Brot* und Milch. Bei Bouillon zum Beispiel kam 
es schnell zu lebhafter Sekretion, die bald nach¬ 
ließ, nach Milch kam die Sekretion langsamer in 
Gang und versiegte langsamer. Milch und Brot 
bewirkten weit größere Pepsinabsonderung als 
Bouillon. Ein Zusammenhang zwischen Menge 
des Magensafts und Gehalt an Salzsäure, wie ihn 
Pawlow in umgekehrter Proportion gefunden 



Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


269 


hatte, ließ sich nicht nachweisen. Die Wirkung 
von Affekten auf die Sekretion war sehr deutlich; 
Angst und Schrecksuggestionen verminderten die 
Saftabsonderung bis zum Stillstand; freudige 
Affekte wirkten weniger deutlich, öfter im nega¬ 
tiven, niemals im vermehrenden Sinn. Mit der 
Zeit trat bei allen Versuchspersonen starke 
Schleimsekretion ein, die wohl von der dauernden 
Benetzung des leeren Magens mit Salzsäure her¬ 
rührte. 

Pongs (Frankfurt) suchte die schmerzstillende 
Wirkung des Atropin bei Magengeschwür zu 
analysieren; er fand sie unabhängig von dem 
Salzsäuregehalt, der nach Atropin nicht ver¬ 
mindert, eher vermehrt wird. Man wird doch 
wohl, trotz der bisherigen Negierung seitens der 
Pharmakologen, eine direkte Lähmung sensibler 
Fasern durch Atropin annehmen müssen, welche 
der motorischen Hemmung parallel gehen dürfte. 

Kolter (Berlin) trug über den Einfluß der 
Röntgenstrahlen auf die Magensaftsekretion 
vor, indem er eine günstige Wirkung der Be¬ 
strahlung auf Magengeschwür und Pylorospasmus 
als gegeben ansah; die Untersuchung geschah an 
schleimgefütterten Hunden mit Pawlowscher 
Fistel. Bestrahlungen mit geringen Röntgendosen 
ergaben keine Einwirkung; bei Übersteigen der 
üblichen therapeutischen Dosis kam es zu Stei¬ 
gerung der Saftmenge bei prozentual gleich¬ 
bleibender HCl-Menge, die von einer Schädigung 
der Magendrüsen gefolgt war. Noch weitere Er¬ 
höhung der Röntgendosis führte zu Hautver¬ 
brennung, schließlich zu Darmverbrennung und 
Kräfte verfall. Die Obduktion des Versuchs¬ 
tiers zeigte eine dem Einfallsfeld entsprechende 
atrophische Zone auf der Magenschleimhaut mit 
Schwund des Drüsenparenchyms; Rundzellen¬ 
infiltration war nicht nachweisbar. 

Katsch hat in Röntgenbildern festgestellt, 
wie weit beim Menschen von einer Magenstraße 
die Rede sein kann, ob schattengebende Flüssig¬ 
keit an der kleinen Kurvatur bis zum Pylorus 
läuft. Es ergab sich, daß die Magenstraße be¬ 
ziehungsweise der Sulcus gastricus weder konstant 
das Ausgangslumen beim Füllungsvorgang des 
Magens darstellt, noch als bevorzugter Weg für 
den Flüssigkeitstransport für den vollen Magen 
ist. Die Flüssigkeit umfließt auf vielen Wegen 
den festen Mageninhalt. Von der kleinen Kurvatur 
ist nur ein kurzer Abschnitt unmittelbar unter der 
Cardia stärker bestr'chen. Ohne die Mitwirkung 
mechanischer Momente bei der Ulcusgenese zu 
bestreiten, muß man nach Katschs Feststellungen 
doch sagen, daß die Entstehung un'd Chronicität 
des Ulcus an der kleinen .Kurvatur durch die 
größere Inanspruchnahme derselben nicht mehr 
zu erklären ist. Singer wandte freilich dagegen 
ein, daß die Magenstraße nur bei Gastrospasmus 
ausgeprägt erscheint und daß ihre Formation von 
den Tonusverhältnissen abhängig ist; die Lokali¬ 
sation des Ulcus an der kleinen Kurvatur hängt 
von der Hypertonie beziehungsweise dem Spas- 
m US ab. 

Das Gebiet der Darinpathologie betraf der 
Vortrag des Greifswalder Dozenten v. d. Reis 
über die Autosterilisation des Dünndarms. Die 
originelle Methode, mittels deren er das Bakterien- 
wachstüm mitten im Darm prüfte, besteht im 
Verschluckenlassen sinnreich konstruierter cylin- 
drischer Hülsen, die durch einen Eisenkern ge¬ 
schlossen sind. Sind diese Patronen im Darm 
angelangt, was man vor dem Röntgenschirm kon¬ 
trollieren kann, so werden sie durch einen vor den 
Bauch gebrachten Elektromagneten geöffnet und 


können sich mit vDarminhalt vollsaugen; während 
nach Entfernung des Elektromagneten eine innen 
befindliche Feder die Hülse wieder schließt. Diese 
sogenannten „Darmschiffchen“ waren geeignet, 
die Frage zu entscheiden, ob darmfre'mde Bakte¬ 
rien im Dünndarm abgetötet werden. Bekannt 
war schon, daß verschluckte Prodigiosuskulturen 
nicht im Stuhl nachweisbar sind. Dasselbe 
Resultat erhielt v. d. Reis, wenn er Prodigiosus- 
bouillon aus seinen Schiffchen direkt in den 
Dünndarm eintreten ließ. Er fand weiter, daß' 
Prodigiosus auf Seidenfäden, in Darmschiffchen 
eingeschlossen, abgetötet wurde, wenn die be¬ 
ladenen Schiffchen im Dünndarm mit Darminhalt 
sich füllten. Wenn die Schiffchen ungeöffnet den 
Darm durchliefen, war der Prodigiosus an den 
darin enthaltenen Seidenfäden lebend geblieben. 
Dasselbe Resultat wurde auch mit Staphylokokken 
und mit Bac. subtilis, ja sogar mit Bact. coli 
erzielt; die Abtötung geschah ebenso im Hunger¬ 
zustand, als wenn dib Schiffchen im speisebrei¬ 
gefüllten Darm geöffnet wurden. Da weder Galle 
noch Pankreassaft bakterizid wirken, auch der , 
Einfluß der Peristaltik ausgeschlossen ist, so kann 
die Sterilisation nur als Leistung des gesamten 
Dünndarminhalts angesprochen werden. 

Die Verhandlungen wandten sich alsdann den 
Leberkrankheiten zu, in deren funktionelle 
Diagnostik Full (Frankfurt) die Messung des 
Blutfibrinogens einführen will, da die Leber nach 
physiologischen Feststellungen das einzige Organ 
ist, in dem Fibrinogen gebildet wird und die Menge 
desselben in Leberkrankheiten nachweisbar ab¬ 
nimmt. Full brachte eine Reihe interessanter 
Fälle, in welchen durch die relativ leicht ausführ¬ 
bare quantitative Fibrinogenbestimmung (nach 
Wohlgemuth) Diagnose und Prognose von 
Leberaffektionen wesentlich gefördert wurden. 

Dem neuerdings viel erörterten Ikterus- 
problem galten die Feststellungen von Beckmann 
(Halle). Bekanntlich nimmt Hymans v. d. Bergh 
im Blutserum Ikterischer zwei verschiedene Arten 
von Bilirubin an, die er durch die Diazoreaktion 
unterscheidet; der Vortragende zeigte nun, daß 
die physikalisch-optische Analyse der spektralen 
Absorption keine.Verschiedenheiten zwischen den 
beiden Bilirubinformen aufzeigt; das Bilirubin 
eines Serums vom katarrhalischen Ikterus gab 
dieselbe „Serumkurve“ wie die von hämolytischem 
Ikterus mit stark verzögerter indirekter Diazo¬ 
reaktion. Die Ursache der von Hymans gezeigten 
Verschiedenheiten der Bilirubinreaktion ist da¬ 
nach noch ganz ungeklärt. 

An der Hand dieser Reaktion versuchte Lipp- 
mann (Frankfurt) die Natur des Ikterus der 
Herzkranken aufzuklären. Oft ist derselbe ein 
reiner Stauungsikterus, wie aus der Entfärbung 
der Stühle und der fehlenden Urobilinurie hervor¬ 
geht; oft aber ist der Urobilingehalt des Harns 
sehr erhöht, und es besteht Bilirubinämie mit 
sehr verzögerter schwacher Hymans-Reaktion; 
für diese Fülle ist eine funktionelle Leberschädi¬ 
gung wahrscheinlich und der Ikterus durch Para- 
pedese nach Minkowski zu erklären; in den 
schweren Formen ist eine Miterkrankung der fein¬ 
sten Gallenwege anzunehmen. 

■Schließlich wurde die Milzpathologie be¬ 
leuchtet durch den Vortrag von Rosenow 
(Königsberg) über den Einfluß der Milz auf die 
Reaktionsfähigkeit des Knochenmarks. Bisher 
war ein hemmender Einfluß der Milz auf die 
erythropoetische Funktion des Knochenmarks be¬ 
kannt; insofern als nach Milzexstirpation die Zahl 
der roten Blutkörperchen zunahm und namentlich 
kernhaltige sogenannte Jollykörperchen reichlich 





270 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Juli 


im Blut erscheinen. Rosenow hat nun den 
Einfluß der Milzexstirpation auf den leukomyelo- 
ischen Apparat geprüft, indem er den Effekt 
leukotaktischer Injektionen (Na. nucleinicum) bei 
Tieren vor und nach der Entmilzung verglich; es 
ergab sich eine erheblich höhere Nucleinleuko- 
cytose beim milzfreien als beim Milztier; die 
Unterschiede betragen bis über 150 %. Je jünger 
die Versuchstiere waren, desto größer zeigte sich 
.die Wirkung der Milzexstirpation auf den Leuko- 
cytenanstie’g nach Nucleineinspritzung. Durch 
diese Experimente erhält die therapeutische Milz¬ 
exstirpation in allen Zuständen von Leukopenie 
und Thrombopenie eine zuverlässige Stütze. 

Der letzte Tag des Kongresses war vor allem 
der Pathologie des Kreislaufs und der Häma¬ 
tologie gewidmet. Trotz des vorwiegend theore¬ 
tischen Charakters ergaben sich doch aus vielen 
Vorträgen auch für die ärztlichen Zuhörer viele 
anregende Zusammenhänge. Zur Theorie- der 
Reizleitungsstörung des Herzens sprach Edens 
(St. Blasien), über elektrokardiographische Fragen 
Groedel (Nauheim). Die praktisch-prognostische 
Bedeutung der Arhythmien beleuchtete Magnus- 
Alsleben (Würzburg), indem er die Beeinflussung 
des Schlagvolumens durch dieselben experimen¬ 
tell prüfte. Er verglich Carotisdruck und plethys- 
mographiertes Zeitvolumen, während er mit dem 
faradisehen Strom Extrasystolen und Arhythmia 
perpetua erzeugte. Es zeigte sich, daß die Kom¬ 
pensation in den Perioden der Arhythmie fast 
vollkommen- war und meistens nicht um mehr 
als 10% von der Norm differierte; auch bei 
Arhythmia perpetua blieben die ausgeworfenen 
Blutmengen fast gleich hoch; selten trat Ver¬ 
minderung bis zu 30 % auf. Nur wenn tiefe 
Chloroformnarkose das Herz schädigte, oder bei 
direkter frequenter Reizung der Ventrikel ver¬ 
minderte sich das Schlagvolumen bis auf die 
Hälfte. Auch nach Durchschneidung von Vagus 
und Accelerans wurden die Schlagvolumina durch 
künstlich erzeugte Arhythmie nicht vermindert. 
Die Versuche dürften die alte ärztliche Meinung 
stützen, daß Pulsunregelmäßigkeiten an und für 
sich prognostisch nichts bedeuten, daß ihre 
Würdigung viel mehr von dem Gesamtzustand 
des Herzens und des Nervensystems abhängt. 

Über die Ursache der Dekompensation 
bei Herzfehlern sprach Jungmann (Berlin); oft 
beginnt die Kompensationsstörung mit Fieber¬ 
bewegungen, die auf infektiöse Myocarditis durch 
Streptococcus viridans zurückzuführen sind. Zur 
Verhütung von Nachschüben bei Klappenfehlern 
empfiehlt sich Durchmusterung und eventuelle 
Ausschaltung aller Infektionsquellen, insbesondere 
in Nase und Rachen. Andererseits empfiehlt sich 
auch die unspecifische Behandlung mit Caseosan. 

An diese therapeutischen Bemerkungen,schloß 
sich zwanglos die Mitteilung von Böttner 
(Königsberg) über die Wirkungsweise des Kollar- 
gol, welchem ja eine besondere antibakterielle 
Kraft zugeschrieben wird, so daß viele Ärzte dres 
Mittel gleichsam als specifisches Mittel gegen 
septische Prozesse verwenden. Böttner hat nun 
das Schutzkolloid in derselben Konzentration, 
in welcher es im Kollargol die feinsten Silber¬ 
teilchen in physikalischer Lösung hält, ohne Silber 
zu Injektionen verwendet und hat festgestellt, 
daß dies Schutzkolloid allein die typischen Wir¬ 
kungen des körperfremden Eiweiß auslöst. Das 
ungeschützte ■ feinyerteilte Silber, freilich in ge¬ 
ringerer Konzentration als sie durch den Zusatz 
des Kolloids zu erhalten ist, hat keine derartigen 
Einwirkungen ausgeübt, selbst nach intravenöser 
Injektion von 50 ccm fein verteilten Silbers trat 


keine. Temperatursteigerung ein. Man kann 
danach sicher sagen, daß die Kollargolwirkung 
nicht etwa eine specifische Silberwirkung ist,, 
sondern daß es sich um einen nichtspecifischen 
Gewebsreiz handelt. Ob daneben noch das im 
Körper deponierte Silber bei seiner allmählichen 
Resorption spätere Wirkungen ausüben kann, 
muß dahingestellt bleiben. 

Zur Pathologie des Kreislaufs zurück führte 
die Mitteilung von L. Frank (Berlin), welcher 
durch eine besondere Kombination von -Reck- 
linghausenscher Manschette mit einer Marey- 
schen Trommel die dauernde Registrierung des 
Blutdrucks in verschiedenen Höhen erreicht hat 
und auf diese Weise in der Lage war, kurzdauernde 
arterielle Druckschwankungen zu demonstrieren. 
Von besonderem praktischen Interesse war der 
Nachweis eines fast regellosen Schwankens, 
Sinkens und Steigens bei den funktionellen 
Schwankungen der vasomotorischen Neurosen; 
dabei zeigt sich in diesen Fällen die Herzaktion, 
nach dem Zeitabstand der Systolen gemessen und 
nach Maßgabe des Elektrokardiogramms, ganz 
normal und es fehlen auch die Zeichen der Über¬ 
erregbarkeit des Vagus. 

Bruns (Göttingen) .berichtete über den Ein¬ 
fluß der Arbeit auf Herzgröße, Blutdruck und 
Puls. Während wir gewöhnt waren, Vergrößerung 
des Herzens durch Überanstrengung als sicher 
anzusehen, zeigte der Vortragende, daß mit 
steigendem Blutdruck sich der Herzschatten im 
Röntgenbild regelmäßig verkleinert; nur in etwa 
10 % wurde das Herz bei der Arbeit größer, in 
etwa 20 % schwankte es zwischen Vergrößerung 
und Verkleinerung; auch nach der Arbeit blieb 
das Herz in 80% dauernd kleiner; die seltene 
Vergrößerung war stets auf psychische Einflüsse 
zurückzuführen; auch die Abhängigkeit der Blut¬ 
druckschwankungen von ^psychischen Einflüssen 
wurde von neuem konstatiert. Die Unterschiede 
zwischen diesen klinischen Feststellungen und 
den Tierexperimenten dürften größtenteils auf 
die beim Menschen überwiegenden nervösen 
Momente zurückzuführen sein. 

Es folgen nunmehr die hämatologischen Vor¬ 
träge. Griesbach (Hamburg) berichtete über 
eine klinisch brauchbare Methode zur Bestimmung 
der Blutmenge; er benutzt dazu intravenöse 
Injektion indifferenter Farbstoffe, indem er nach 
einer bestimmten Zeit, bevor die Ausscheidung 
des Farbstoffes begonnen hat, die Konzentration 
im Serum kolorimetrisch bestimmt und daraus 
mittels des Hämatokrit ohne weiteres die Blut¬ 
menge berechnet. Kongorot war gut benutzbar, 
weil es vom Menschen im Gegensatz zum Hund 
nur langsam ausgeschieden wird, so daß Be¬ 
stimmungen vier Minuten Postinjektionen ver¬ 
wertbare Resultate ergeben. Es ergab sich eine 
mittlere Blutmenge von 6,2 % des Körper¬ 
gewichts. Bei Polycythämie betrug die Blut¬ 
menge 10 %, Erhöhung auch bei Herzfehlern 
(höchster Wert bei Pulmonalstencse 18 %), 
Zurückgehen bei besserer Kompensation, Er¬ 
höhung auch bei sekundärer Anämie. 

Über die Permeabilität der roten Blut¬ 
körperchen für verschiedene chemische Sub¬ 
stanzen sprach Wiechmann (München); die 
wertvolle Arbeit hat vorläufig nur physiologisches 
Interesse. Mehr klinisch verwertbar erscheinen 
•die Mitteilungen von Beltz (Köln) über Resi¬ 
stenzprüfung roter Blutkörperchen mittels der 
von Groß eingeführten Methode der Ariimoniak- 
hämolyse, welche wegen ihrer relativ großen Ge¬ 
schwindigkeit und Konstanz anderen Resistenz¬ 
bestimmungen überlegen ist. Es ergab sich, daß 




Juli 


Dk Therapie der Gegenwart 1921 


271 


das Serum gesetzmäßig hemmend wirkt; diese 
hämolysehemmende Fähigkeit des Serums erwies 
sich erhöht bei Hypertonien und Nephropathien. 
Schilling (Berlin) machte weitere Mitteilungen 
über seine bekannten Bestrebungen, die Leuko- 
cyten in vier Klassen einzuteilen (Myelocyten, 
Jugendliche, Stabkernige und Segmentkernige) 
und aus dieser Klassifizierung praktisch verwert¬ 
bare Schlüsse abzuleiten. Er empfiehlt, das 
qualitative Leukocytenbild bei jeder Blutunter¬ 
suchung mitzubestimmen und hält die' Fest¬ 
stellung der neutrophilen Kernverschiebung für 
eine außerordentlich wichtige Methode, die symp¬ 
tomatisch, diagnostisch und prognostisch wert¬ 
voll ist. Schilling hat sich eine eigene Sprache 
gebildet, an die man sich nur mühsam gewöhnt. 
Neben den normalen Leukocytenbildern sieht er 
hyperregenerative (Leukämie), regenerative (ju¬ 
gendliche Verschiebung akuter Infektionen und 
Intoxikationen), chronisch-stabkernige (chronische 
neutrophil-beeinflussende Prozesse) • und degene- 
rative Bilder (neutrophilschädigende Prozesse); 
den Anteil der verschiedenen Formen bestimmt 
er prozentisch. Er geht von der Lehre aus, daß 
der Kern der Neutrophilen sich vom Bläschen 
im Myelocyten streckt über den jugendlichen 
Wurst- zum reiferen Stabkern und sich schließlich 
in Segmente einteilt; diese bilden'eine Kette mit 
fädigen Verbindungen. Schilling demonstrierte 
eine Reihe schöner Mikrophotogramme, welche 
den Kernumwandlungsprozeß als eine innere 
Reifung vom Rundkern zur Segmentierung zu 
erweisen schienen, wobei die Segmente in beliebi¬ 
ger Form und gleichzeitig an mehreren Steilen 
angelegt werden. Man hatte den Eindruck, als 
ob durch diese Bilder der Einwand, daß es sich 
hierbei um künstliche Erzeugnisse handeln könne, 
zurückgewiesen sei. Man wird wohl den Ar net h- 
Schillingschen Differenzierungen auch in der 
klinisch-hämatologischen Diagnostik in Zukunft 
größeren Wert beilegen müssen. — Um über 
Abstammung der Blutplättchen zur Klarheit 
zu gelangen, hat Rosenthal (Breslau) die be¬ 
kannten Immunitätsreaktionen herangezogen. Von 
den Versuchskaninchen wurden die einen mit 
Erythrocyten, die andern mit Leukocyten, die 
dritten mit Blutplättchenaufschwemmungen in¬ 
jiziert und danach die Agglutinationsfähigkeit 
ihres Serums gegenüber den "verschiedenen Kör¬ 
perchen geprüft. Es ergab sich, daß nur nach 
Injektion von Weißen oder Plättchen Immun¬ 
stoffe gegen Blutplättchen erzeugt wurden, nicht 
durch Injektion von Roten, und daß nach In¬ 
jektion von Blutplättchen das Immunserum nur 
Leukocyten beziehungsweise Blutplättchen agglu- 
tinierte, nicht aber Erythrocyten. Danach müssen 
zwischen Blutplättchen und Leukoppese nähere 
Beziehungen walten als zur Erythropoese, wie 
dies der älteren Wriglitschen Anschauung ent¬ 
spricht. — Ein überraschendes Licht fiel auf 
die hämolytischen Blut-, Milz- und Leberkrank¬ 
heiten aus den sehr bedeutsamen Studien von 
Isaak und Bieling (Frankfurt a. M.) über intra- 
•vitale Hämolyse. Sie bewiesen durch schöne 
Versuche an Mäusen, deren Beweisstücke zum Teil 
bildlich demonstriert wurden, daß die Auflösung 
des Blutes nach Injektion specifischer Hämolysine 
nicht, wie man bisher annahm, innerhalb der 
Blutbahn erfolgt, sondern daß dort nur die Bin¬ 
dung des Ambozeptor stattfindet, während die 
wirkliche Auflösung der Blutkörperchen in der 
Milz stattfindet. Dies ist mit vollkommener 
Sicherheit festzustellen, weil das Mäüseblut 
komplementfrei ist. Übrigens findet ein Auf¬ 
fressen roter Blutkörperchen in der Milz nicht 


statt, es ist ein rein humoraler Vorgang, bei dem 
in kurzer Zeit ein Viertel der gesamten Blutmeng^ 
in der Milz aufgelöst wird. Dieser akute Blutzerfall 
führt auch zu Hämoglobinurie. Neben der Milz 
beteiligt sich funktionell gleichartiges Gewebe in 
anderen Organen an der Hämolyse, so daß Milz¬ 
exstirpation diese Funktion nicht ganz aufhebt. 
Auf Grund dieser experimentellen Feststellungen 
ist es möglich, die Pathogenese hämolytischer 
Anämien des Menschen besser aufzuklären als 
bisher; man darf annehmen, daß durch Gifte 
chemischer oder bakterieller Natur geschädigte 
Blutkörperchen die Produktion von Autolysinen 
in der Milz auslösen; außerdem wird das in der 
Milz erfolgende Zusammentreffen der ambozeptor¬ 
beladenen Erythrocyten mit dem Komplement 
Ursache anaphylaktischer Erscheinungen werden, 
die sich vorwiegend im splenohepatischen Gebiet 
abspielen müssen. So sind die schweren Leber¬ 
veränderungen im Tierexperiment erklärlich und 
so ist vielleicht auch der hämolytische Ikterus 
zu erklären. Aus dieser originellen Betrachtung 
fällt auch Licht auf das Entstehen der akuten 
Leberatrophie im Verlauf der Lues und anderer 
Infekte. 

E. Fr. Müller (Hamburg) behandelte die Bedeu¬ 
tung des blutbildenden Markes der Röhrenknochen 
für den Ablauf der akuten Infektionskrankheiten. 
Er fand in allen Infektionskrankheiten, die mit 
Bakteriämie einhergehen, auch das Knochenmark 
der Wirbelkörper von den Bakterien durchsetzt. 
Dagegen waren die Röhrenknochen, in denen sich 
neues funktionsfähiges Mark entwickelt hatte, 
fast immer keimfrei, was der Vortragende als 
Beweis keimhemmender Energie zugleich mit 
vermehrter Leukopoese anspricht. Beim Typhus 
zeigte sich das Mark keimhaltig, während zu¬ 
gleich Leukopenie bestand, das ist als Zeichen 
herabgesetzter Abwehrkraft zu deuten. 

Den Abschluß der hämatologischen Reihe 
bildete der Vortrag von Seyderhelm (Göttingen) 
über perniziöse Anämie; ich bin dem Herrn 
Verfasser sehr zu Dank verpflichtet, daß er mir 
den Abdruck dieser praktisch bedeutsamen Mit¬ 
teilung in diesem Heft gestattet hat. 

Es folgten einige Mitteilungen über die dia¬ 
gnostischen Verfeinerungen der Liquorunter¬ 
suchung. Bonsmann (Köln) hat die Goldsol- 
und Mastixmethode angewandt und durch wieder¬ 
holte Untersuchungen die sogenannten Kurven¬ 
typen bei Lues und Meningitis kontrolliert; er 
kommt zu dem Resultat, daß es diagnostisch ver¬ 
wertbare Typen in diesen Krankenheiten, ebenso 
bei der Encephalitis gibt. Weinberg (Rostock) 
hat den Liquor in verschiedenen Portionen auf¬ 
gefangen und gefunden, daß man in den verschie¬ 
denen Gläschen sowohl nach Eiweißgehalt wie 
Zellzahl, aber auffälligerweise auch in bezug auf 
Wassermannreaktion verschiedene Resultate be¬ 
kommt. Danach muß man annehmen, daß die 
Zellvermehrung im Liquor der Ausdruck eines 
lokalen Prozesses der Meningen ist. Die Wasser¬ 
mannreaktion kann sich stufenförmig ändern. 
Auch bei Lumbalpunktionen, die in mehrtägigen 
Zwischenräumen folgen, kann die Wassermann¬ 
reaktion in den beiden Punktaten vollkommen 
verschiedene Resultate geben. Um sicher ver¬ 
wertbare Ergebnisse zu erhalten, wird man danach 
in Zukunft die einzelnen Untersuchungen in ver¬ 
schiedenen Liquorportionen vornehmen müssen. 

Das Gebiet der Infektionskrankheiten, welches 
den vorherigen Kongreß beherrscht hatte, wurde 
diesmal nur flüchtig gestreift. Ein argentinischer 
Arzt, Carlos Heuser, berichtete über gute 




272 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Juli 


Resultate der Typhusbehandlung mit Xhinosol; 
Königer (Erlangen) sprach über Wirkung und 
Methodik der allgemeinen kausalen „unspecifi- 
schen“ Behandlung Infektionskranker. Unspeci- 
fische Mittel können je nach der Zeit und Häufig¬ 
keit einerseits die Infektion steigern, andererseits 
eine Resistenzsteigerung herbeiführen. Die Be¬ 
achtung der Pausengröße ist nach Königer bei 
der Anwendung jeder Behandlungsart von be¬ 
sonderer Bedeutung. .Unspecifische Mittel in 
kurzen Pausen angewendet, führen zu kontinuier¬ 
licher Anregung und Tonussteigerung, während 
jede Behandlung in größeren Intervallen an¬ 
gewendet eine Resistenzabschwächung nach sich 
zieht. 

Damit war das Programm erledigt und der 
Vorsitzende konnte zur festgesetzten Zeit den 
Kongreß schließen, indem er in kurzer .Rede die 
Summe der geleisteten Arbeit hervorhob und zu¬ 
gleich mit dem Hinweis auf die starke Teilnahme 
der Ärzte die Doppelnatur der Gesellschaft be¬ 
tonte, welche ebenso sehr den wissenschaftlichen 
Grundlagen als der praktischen Ausgestaltung der 
inneren Medizin zu dienen habe. Mit herzlichen 
Dankesworten von Schwalbe (Berlin) an den 
Vorsitzenden klang die Tagung aus. 

•-i: 


Die Mitgliederversammlung bestimmte als 
nächstjährigen Tagungsort wiederum Wiesbaden; 
für eins der folgenden Jahre wurde unter warmen 
Sympathiebezeugungen für die deutsch-österreichi¬ 
schen Kollegen Wien in Aussicht genommen. 
Den Vorsitz für das nächste Jahr übernimmt 
Gerhardt (Würzburg). An Stelle des aus¬ 
scheidenden Vorsitzenden wurde Brauer (Ham¬ 
burg) in den Vorstand gewählt, an Stelle des 
verstorbenen Schriftführers Weintraud dessen 
Amtsnachfolger Gerönne. Die freiwerdenden 
Plätze im Ausschuß der Gesellschaft wurden 
durch die Zuwahl von Volhard (Halle), La quer 
(Wiesbaden), Stähelin (Basel), Hymans v. d. 
Berg (Utrecht), Felix Klemperer (Berlin) 
besetzt. — Der Ausschuß hat neben anderen 
geschäftlichen Verhandlungen einen Antrag Hoff- 
mann (Düsseldorf) angenommen, wonach die 
bisherigen Vorsitzenden der Gesellschaft dauernd 
Mitglieder des Ausschusses sein sollen, so wie es 
auch bei der Gesellschaft für Chirurgie und der 
Deutschen Naturforscher und Ärzte der Fall ist. 
Dieser Antrag, welcher für die Tradition und das 
Gedeihen der Gesellschaft nicht ohne Bedeutung 
ist, wird, . da er eine Satzungsänderung bedingt, 
der nächsten Mitgliederversammlung zur Annahme 
empfohlen werden. 


Bücherbesprechungen. 


Walter Lehmann, Die Chirurgie der periphe¬ 
ren Nervenverletzungen mit besonderer 
Berücksichtigung der Kriegsnervenver¬ 
letzungen. Mit einem Geleitwort von Prof. 
Dr. Rudolf Stich. Berlin-Wien 1921, Urban 
& Schwarzenberg. XII und 271 Seiten mit 66 
teils mehrfarbigen Abbildungen und drei mehr¬ 
farbigen Tafeln. 

Verfasser, ein Schüler Stichs, hat während 
der Kriegsjahre das große Nervenmaterial der 
Göttinger Klinik und Lazarette beobachtet, und 
wenn nötig, 'operiert. Über seine eigenen Erfolge 
und Erfahrungen bei 115 Nervenoperationen 
hat er vor einigen Jahren in einer Arbeit berichtet 
(Bruns Beitr., Bd. 112). 

In dem vorliegenden Werk handelt es sich 
um eine monographische Darstellung des Gesamt¬ 
gebiets der Chirurgie der peripheren ^Nervenver¬ 
letzungen — um eine kritische Zusammenfassung 
des bisher Erreichten und, wie Stich in dem Vor¬ 
wort zu dieser Arbeit treffend bemerkt, vielleicht 
auf Jahrzehnte hinaus Erreichten. 

Das Erscheinen eines solchen Werkes ist auf 
das freudigste zu begrüßen, wenngleich die darin 
behandelten Fragen nicht mehr zu den aktuellen 
Tagesfragen unseres Faches gehören. Sehen wir 
von den großen Referaten Edingers und För¬ 
sters, auf der neunten Jahresversammlung der 
Gesellschaft deutscher Nervenärzte, Bonn, Sep¬ 
tember 1917, ab, die also mitten in den Krieg fielen, 
so ist noch das ausgezeichnete kritische Sammel¬ 
referat Wexbergs, der mit der Besprechung der 
einschlägigen Literatur bis zum Beginn des Jahres 
1919 abschließt, zu erwähnen. Lehmann gibt 
uns in anderer Form ein zusammenfassendes 
Werk über die Chirurgie der peripheren Nerven¬ 
verletzungen, in dem alles, was bis jetzt als un¬ 
bestrittener und dauernder Besitz unserer Wissen¬ 
schaft gelten kann, die eingehendste Berücksich¬ 
tigung findet. Das Buch zerfällt in drei große 
Teile und elf Abschnitte. Im ersten Teil werden 
die allgemeine Ätiologie und Symptomatologie, 
die pathologisch-anatomischen Grundlagen der 
Nervenverletzungen, die Diagnose, Indikalions- 


stellungTzu konservativem und operativemTVer- 
fahren kurz aber erschöpfend besprochen, der 
zweite Teil behandelt die Therapie der Nerven¬ 
verletzungen und ihre Folgezustände, wobei aus¬ 
führlich die allgemeine operative Technik, sowie 
im speziellen die Technik der Resektion und Naht, 
der äußeren und inneren Neurolysis und ihr An¬ 
wendungsgebiet, die Operationsmethoden bei 
großen Nervendefekten (die plastischen Nerven¬ 
operationen) und ihre Erfolge, .^die Prognose 
der {Nervenoperation, Ursachen der Mißerfolge 
besprochen wird. Der dritte Teil umfaßt die 
spezielle Ätiologie, Symptomatologie und Thera¬ 
pie der Nervenverletzungen (ChTrurgie der Hirn- 
nerven, des Plexus brachialis und lumbosacralis 
und der großen peripheren Nerven der oberen 
und unteren Extremität. trUm nicht den Rah¬ 
men eines Referats zu [überschreiten, greifen 
wir , aus dem reichhaltigen Inhalt der j Mono¬ 
graphie einige Fragen heraus, die seinerzeit 
Gegenstand lebhafter Diskussionen waren. So 
z. B. die Frage des Zeitpunktes einer Nerven¬ 
operation. Verfasser ist Gegner der unbedingten 
Frühoperation und hält in^Übereinstimmung mit 
Borchardt, Förster, Spielmeyer und An¬ 
deren den frühesten Termin, wenn die Indukation 
richtig ist, nicht vor drei bis fünf Monaten. In¬ 
dessen soll die einmal als notwendig erkannte 
Operation nicht über den sechsten Monat hinaus¬ 
geschoben werden. Als äußerste Grenze, der 
Wartezeit sind nach Lehmann zwei Jahre nach 
der Verletzung zu betrachten, denn nach noch 
längerem Warten würde eine nachher erfolgreiche 
Naht (im anatomischen Sinne mit Durchwachsen 
der Nahtstelle von Nervenfasern) nicht zum Ziele 
führen, denn die neugebildeten Nervenfibrillen 
würden auf keine funktionsfähigen und kontrak¬ 
tilen Muskelreste treffen, wie das Lehmann an 
der Hand eines histologischen Präparats beweist. 

Die Nerventubulisation zur Überbrückung 
größerer Defekte, sei es nach Edinger oder nach 
Enderlen, Steinthal (Eigenserum) verwirft 
Lehmann vollkommen, da alle diese Methoden 
im Widerspruch stehen mit den Ergebnissen 




Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


27ä 


exakter Forschung. Die einfache Tubulisatioh 
dagegen liefert die besten Resultate, aber auch 
nur dann, wenn die Diastase kleiner als 2 cm ist. 
In allen anderen Fällen soll man gar keinen Ver¬ 
such damit machen. 

Von den plastischen Operationen mit homoio- 
oder autoplastischem Material sagt Lehmann, 
daß wir von Transplantationserfolgen beim Men¬ 
schen noch weit entfernt sind. Diese Auffassung 
bedarf noch der Korrektur! (Ref.). 

Auch viele andere sehr wichtige Fragen, so 
z. B. die beste Art oder Umscheidung (vielleicht 
ausführlicher S. 96), die Indikation zur plastischen 
Ersatzoperation (mit ausführlicher Schilderung 
der Perth.es sehen Methode zur Beseitigung der 
irreparablen Radialislähmung). und andere mehr 
finden eine eingehende und kritische Erörterung. 
Zu den Untersuchungen Stoffels über den ana¬ 
tomischen Bau der peripheren Nerven nimmt 
Lehmann eine bestimmte Stellung ein. In 
Übereinstimmung mit den bekannten neueren' 
Untersuchungen von Borchardt und Wjas- 
menski und anderen meint Lehmann, daß der 
Bau des Nerven durchaus nicht so einfach ist, 
wie ihn Stoffel glaubte darstellen zu können 
und daß das „Schlagwort von der Kabelnatur des 
Nerven“ unzutreffend ist. Die Untersuchungen 
von Borchardt und Wjasmenski fanden in 
den Kapiteln .über die Chirurgie am Medianus 
und Radialis eine eingehende Würdigung. Dem 
Buche ist ein Literaturverzeichnis ■ beigegeben, 
das die wichtigsten Arbeiten deutscher Autoren 
bis zum Beginn des Jahres 1920 enthält. Die 
Ausstattung des Buches, Druck und Papier sind 
vorzüglich. Die Sprache des Autors überall klar 
und präzise. Das Buch gibt für alle Interessenten 
eine ausgezeichnete Orientierung. 

W. Heyn (Berlin). 

G. Holzknecht (Wien), Röntgenologie. Eine 
Revision ihrer technischen Einrichtungen und 
praktischen Methoden. Teil II, Heft 1. Berlin- 
Wien 1921. Urban & Schwarzenberg. - 

Das vorliegende, von Hatidek (Wien) verfaßte 
Heft behandelt die Röntgendiagnostik des Herzens 
und der großen Gefäße, der Lungen und der Ver¬ 
dauungswege und ist der wertvolle Niederschlag 
der Erfahrungen, die der Verfasser im reichen 
Maße in der internen röntgenologischen Massen¬ 
praxis des Krieges gesammelt hat. Durch die 
Zeitereignisse "überholt, ruht die bleibende Be¬ 
deutung des Buches darin, daß es in prägnanter 
Form und scharfer Heraushebung des Wesent¬ 
lichen über den Rahmen der militärischen Begut¬ 
achtung hinaus Richtlinien für röntgenologische 
Gutachtertätigkeit bei Rentenverfahren, Versiche¬ 
rungen usw. gibt. Zu diesem Zwecke erscheint es 
mir bei einer folgenden Auflage nur wünschenswert 
lediglich unter dem Gesichtspunkte militärischer 
Tauglichkeit und Untauglichkeit zusammengefaßte 
Krankheiten zu trennen und in ihrer Bedeutung 
für die Leistungsfähigkeit des erkrankten Indi¬ 
viduums einzeln zu würdigen. — Aus dem Herz¬ 
kapitel sei die neuartige Anlage von Tabellen zur 
Beurteilung der Herzgröße erwähnt, denen im 
wesentlichen Körpergewicht, Neigungswinkel des 
Herzens und Thoraxbreite zugrunde liegen. Es 
ist der Versuch, die jetzt noch vorherrschende 
große normale Schwankungsbreite bei der Ortho¬ 
diagraphie auszuschalten, um jederzeit einen Herz¬ 
befund nachprüfen, bzw. vergleichen zu können. 
In dem Kapitel der-Lungenuntersuchungen scheint 
mir die Ansicht des Verfassers, daß die photo¬ 
graphische Aufnahme neben der Durchleuchtung 
meistens entbehrlich ist, zu weit gegangen zu sein. 


Die Fülle feinster Details auf der Platte, die „die 
Grenzen zwischen Normalem und Pathologischem 
verwischt“, soll auch für den Geübten eine 
Mahnung zur vorsichtigsten Beurteilung des 
Lungenbefundes und ein Antrieb zur weiteren 
Forschung sein, nicht aber dazu dienen, den Kopf 
einfach in den Sand zu stecken. Der Ungeübte 
möge im Interesse des Patienten seine Deutungs¬ 
kunst nicht an der Lungenplat-te versuchen. Dem 
Urteil, daß es meist nicht gelingt, aus dem Lungen¬ 
befund ein Einteilungsschema der Tuberkulose in 
scharfer Begrenzung vorzunehmen, ist nur bei¬ 
zustimmen. Aus dem Kapitel über die Ver¬ 
dauungswege sei die rechte Seitenlage mit Becken¬ 
hochlagerung bei mangelnder Füllung des Pylorus 
und Biilbus duodeni als empfehlenswert hervor¬ 
gehoben. Ein von Lilienfeld geschriebener An¬ 
hang orientiert in übersichtlicher Weise über die 
Ausführung der gangbaren Aufnahmen. — Das 
sehr flüssig geschriebene Buch wird auch dem 
Kliniker eine willkommene Bereicherung seines 
Wissens sein und ihn mit dem Wert und Nutzen 
des Röntgenbefundes vertrauter machen. 

Ca Im (Berlin). 

Prof. Assmann, Röntgendiagnostik innerer 
Krankheiten. Verlag von C. F. Vogel. Leip¬ 
zig 1921. 

Das Werk'von Assmann stellt den Nieder¬ 
schlag der klinisch-röntgenologischen Beobach¬ 
tungen der Leipziger inneren Klinik dar. Ein 
groß angelegtes Werk, das dadurch eine Besonder¬ 
heit darstellt, daß von einem Kliniker das ge¬ 
samte Gebiet der Röntgenologie in der inneren 
Medizin dargestellt ist. Das "^Material, das hier 
zusammengetragen ist, stellt ohne Zweifel die 
gut gesichtete Arbeit von vielen Jahren dar, um 
so mehr anzuerkennen, als der Autor während 
des ganzen Krieges im Felde stand und seine 
Arbeiten unterbrechen mußte. Verfasser legt 
besonderen Wert darauf, hinzuweisen, daß die 
Röntgendiagnostik nur ihre volle Auswirkung 
haben könne, wenn sie in engster Beziehung zur 
klinischen Beobachtung steht. Das werden auch 
alle Röntgenologen gern anerkennen, und es wäre 
nur zu wünschen, daß diese Zusammenarbeit in 
höherem Maße als bisher gepflegt werde. Der 
Referent muß allerdings betonen, daß Kliniker, 
die wie Assmann die Röntgenologie beherrschen, 
zu den größten Seltenheiten gehören. Die innere 
Klinik wie die Röntgenologie kann ihre Freude 
darüber nur aussprechen, daß ein an Vielseitig¬ 
keit so reiches Material in so vorzüglicher Dar¬ 
stellung der Allgemeinheit zugänglich gemacht 
worden ist. Vorteilhaft fiel es auf, daß die schema¬ 
tische Darstellung und der Vergleich zwischen 
anatomischem und Projektionsbild in hervor¬ 
ragend klarer Weise gelungen ist. Es kommt 
immer wieder zum Ausdruck, daß Assm'ann von 
den Vergleichen des Röntgenbildes mit dem 
anatomischen Befunde reichen Nutzen gezogen 
hat. Jedem Kapitel ist eine reiche Literatur¬ 
angabe angeschlossen. In dem Kapitel über das 
normale Lungenbild, das die Grundlage für die 
röntgenologische Tuberkulosediagnostik bildet, 
glaubt Referent in der Würdigung seiner grund¬ 
legenden Arbeit auf diesem Gebiete schlecht weg¬ 
gekommen zu sein. Man liest da nichts, daß 
schon im Jahre 1909 von ihm eine experimentelle 
Arbeit erschienen ist, die einwandsfrei nachweist, 
daß die Gefäße der röntgenologischen Lungen¬ 
zeichnung entsprechen. Assmann ist erst im 
Jahre 1911 mit derselben logischen Begründung 
diesem Problem nähergetreten. Auch im Literatur¬ 
verzeichnis ist die Arbeit des Referenten nicht 

35 



274 


r Die Therapie der Gegenwart 1921 


Jul 


erwähnt, während diejenige vom Jahre 1911 ver¬ 
merkt ist. 

Besonderes Lob verdient die ausgezeichnete 
Ausstattung des Buches. Verlag und Verfasser 
sind von der Ansicht ausgegangen, daß die Wieder¬ 
gabe von Röntgenaufnahmen nur einen Zweck 
hat, wenn man dasjenige, das geschrieben wird, 
auch auf den Bildern sieht. Die Tfextabbildungen 
sind ebenso vorzüglich wie diejenigen der Tafeln. 
Wenn man das vorliegende Werk studiert, so 
kommt man erst zu der rechten Erkenntnis, wie¬ 
viel uns in den letzten fünf Jahren gefehlt hat. 
Die photographische Darstellung ist zum ersten¬ 
mal wieder in Aufnahme gekommen. Die Her¬ 
stellung solcher Tafeln ist außerordentlich kost¬ 
spielig. Darauf ist es zurückzuführen, daß das 
ungebundene Exemplar 330 M. kostet. Trotzdem 
wird es seinen Weg finden und namentlich im 


Ausland der deutschen Wissenschaft Ehre ein- 
legen. Max Cohn. 

Robert Lenk, Röntgentherapeutisches Hilfs¬ 
buch für die Spezialisten der übrigen 
Fächer und die praktischen Ärzte. 
Berlin 1921. Julius Springer. 8 M. 

In diesem Leitfaden, in dessen Vorworte 
Holzknecht die wichtige Stellung des prakti¬ 
schen Arztes zu den Spezialisten betont, sind 
nach einem allgemeinen Teile mit der Erklärung 
der Behandlungsformel in alphabetischer Reihen¬ 
folge die Krankheiten aufgeführt, die sich für 
die Bestrahlung eignen; in äußerst klarer Weise 
erhält hier der Arzt die Möglichkeit im Verein mit 
dem. Röntgenologen seine Patienten behandeln 
zu können. Ein unbedingt brauchbares Büchlein. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 


Referate. 


Steinkamm (Essen) berichtet über 
drei Fälle von Aktinomykose des Ge¬ 
sichtes, die nach erfolgloser Behandlung 
mit Jodkali, Salvarsan und operativen 
Eingriffen der Röntgenbehandlung 
unterzogen wurden. Nach anfänglicher 
Lokalreaktion trat in allen drei Fällen 
nach wiederholter Bestrahlung restlose 
Heilung ein. Max Cohn. 

(Strahlenther. Bd. XII, Heft II.) 

G. Hoffmann berichteten mono¬ 
graphischer Darstellung über Hirsch- 
spfungsche Krankheit unter besonderer 
Berücksichtigung der in der Leipziger 
chirurgischen Klinik seit dem Jahre 1911 
operierten Fälle. Hoff m anns eigene Beob¬ 
achtungen betrafen 13 Männer, 3 Frauen, 
2 . Kinder. Sieben endigten letal. Ver¬ 
fasser ist der Ansicht, daß die kongenitale 
Veranlagung, d. h. die angeborene oder 
in frühester Jugend erworbene Verlänge¬ 
rung, Erweiterung^und Verdickung eines 
Dickdarmteils, insonderheit der Flex. sig- 
noidea, bei weitem nicht so selten ist, wie 
dies von den meisten Autoren bisher an¬ 
genommen wurde. Wenn auch die volle 
Ausbildung des Symptömenkomplexes 
meist erst in späteren Lebensjahren zu 
mehr oder minder großer Vollendung ge¬ 
deiht, wenn auch sekundäre Ursachen 
schließlich das auslösende Moment der 
Krankheitserscheinungen hervorrufen, so 
liegt eben doch primär eine Verlängerung, 
Erweiterung oder Verdickung vor, ohne 
die die sekundären Ursachen nicht ihre 
volle Wirksamkeit entfalten können. In 
einem (bisher nicht beobachteten) Falle 
lag bei einem Kind ein congenitaler 
Schnürring an der Flex. recto-romanum 
vor, der den typischen Symptomenkom- 
plex auslöste. 


Als Therapie kommt Entero-Anasto- 
mose (eventuell zweifach nach Schmieden) 
oder Resektion in Frage. Letztere soll 
die Methode der Wahl seih und nach 
Möglichkeit rnehrzeitig ausgeführt werden. 

Willibald Heyn (Berlin). 

(D. Zschr.f. Chir. Bd. 161, S. 175.) 

Bei der außergewöhnlich hohen Konta- 
giosität'der Masern, schon im katarrhali¬ 
schen Prodromalstadium, ist es praktisch 
unmöglich, die Ansteckung zu verhindern. 
Da sich aber die Erkrankung in vielen 
Fällen durchaus nicht als harmlos erweist, 
insbesondere Kinder in den ersten drei 
Lebensjahren, vor allem rachitische Säug¬ 
linge und Kleinkinder der Armenbevölke¬ 
rung, sehr gefährdet sind, ist es angezeigt, 
eine wertvolle Masernprophylaxe, auf 
die Pfaundler hinweist, in Anwendung 
zu bringen. Sie ist mit einer an Sicherheit 
grenzenden Wahrscheinlichkeit imstande, 
den Ausbruch der Krankheit zu ver¬ 
hindern. Es handelt sich um die intra¬ 
muskuläre Injektion von Masernrekon¬ 
valeszentenserum, über dessen Anwen¬ 
dung Degkwitz vor einem Jahr berich¬ 
tete, ein Verfahren, das sich bei Be¬ 
kämpfung von Masern-Hausepidemien in 
Säuglingsheimen, Krippen und ähnlichen 
Einrichtungen ganz besonders wertvoll 
erwies. Das Rekonvaleszentenblut wird 
von einem kräftigen sonst gesunden ins¬ 
besondere von Lues und Tuberkulose 
freien Kranken gewonnen, und zwar mög¬ 
lichst am siebenten bis neunten Tag nach 
der Entfieberung und nach unkomplizier¬ 
tem Verlauf. Das Serum ist mehrere 
Monate haltbar, wenn es unter Phenol¬ 
zusatz im Vakuum getrocknet wird, aber 
auch im flüssigen Zustand steril gewonnen 
und aufbewahrt, längere Zeit. Zweck- 




Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


275 


mäßig wird Mischserum von verschiedenen 
Kranken genommen. Nach den bisherigen 
Erfahrungen beträgt die Schutzdosis etwa 
3%—4 ccm. Diese Dosis genügt bei In¬ 
jektionen vor dem fünften Tage nach 
stattgehabter Ansteckung bzw. nach erst¬ 
maligem Kontakt mit einem ansteckungs¬ 
fähigen Masernkranken. Am fünften und 
sechsten Tage nimmt man die doppelte 
Menge. Wird zu spät injiziert, d. h. 
zwischen dem siebenten und elften Tag 
der Inkubation, so erreicht man in der 
Regel nichts. Wie lange der durch die 
Injektion von Masernserum verliehene 
Schutz dauert, steht noch nicht fest, 
jedenfalls handelt es sich um Monate. 
Serum beliebiger gesunder Erwachsener 
kommt wegen seiruer geringen Konzen¬ 
tration der Schutzstoffe gegen Masern 
nicht in Betracht. Kinder, die am 
sechsten Inkubationstag erfolgreich gegen 
den Ausbruch der Masern durch Injektion 
geschützt wurden, liefern ihrerseits ein 
wirksames Schutzserum. Irgendwelche 
Schädigungen sind bisher nicht beob¬ 
achtet worden, Serumkrankheit und ana¬ 
phylaktische Erscheinungen andere'r Art 
blieben aus, da es sich um arteigenes Ei¬ 
weiß handelt. Die Gewinnung des Serums 
außerhalb von Anstalten ist schwierig, 
es wird zweckmäßig in Krankenanstalten 
bezogen. Feuerhack. 

(M.m. W. 1921, Nr. 9.) ] 

Die Ursachen des Röntgenkaters, _ der 
sich in Kopfschmerzen, Schwindel, Übel¬ 
keit, Erbrechen äußert, sind nach den 
Untersuchungen von Rieder (Frankfurt 
a. M.) einmal in exogenen Momenten zu 
suchen, wie Ozon Vergiftung, elektrischer 
Aufladung des Patienten. Diese Schädi¬ 
gungen sind durch hohe, gut gelüftete 
Räume, durch die Ventilfunkenstrecken 
einschließende Glasröhren, durch hoch¬ 
polierte Hochspannungsleitung und durch 
Ableitung der elektrischen Aufladung des 
Patienten zur Erde (Erdungsbinde) zu 
vermeiden. Als endogenes Moment spielt 
die Größe des durchstrahlten Körper¬ 
raumes (Ferngroßfelderrnethode!) mit der 
entsprechenden Schädigung der getroffe¬ 
nen Körperzellen und der daraus resul¬ 
tierenden Allgemeinvergiftung nach Mei¬ 
nung des Verfassers die Hauptrolle. Daher 
Einengung des Bestrahlungsfeldes im 
Rahmen des Zulässigen. Das bei Be¬ 
strahlung des Splanchnicusgebietes fast 
immer auftretende Erbrechen läßt sich 
durch sehr hohe Laudanon-Scopolamin- 
dosen hintanhalten, durch die auch sonst 


die motorische Unruhe des Patienten bei 
Dauerbestrahlungen behoben wird. Ich 
vermisse die nähere Würdigung der drü¬ 
sigen Organe, insbesondere des Ovariums 
und der Milz, bei deren Bestrahlung häufig 
eine schwere Nausea bei disponierten In¬ 
dividuen trotz kleiner Dosen und Felder 
auftritt. Das im Verhältriis zum Nutzen 
der Bestrahlung kleine Übel soll zwar 
tunlichst vermieden werden, muß aber 
oft wie die Narkosenachwehen bei einer 
Operation mit in Kauf genommen werden. 

(Strahlenther. Bd. Max Cohn. 

Aus der Prager Deutschen chirur¬ 
gischen Klinik berichtet R. Pamperl 
über Entstehung und Behandlung der 
postoperativen Tetanie. In den Jahren 
von 1911—1920 wurden dort 630 Kropf¬ 
operationen ausgeführt. In fünf Fällen, 
in denen postoperative Tetanie (p. o. T.) 
auftrat, wurden zu deren Bekämpfung 
Schilddrüsenpräparate (entweder Pferde¬ 
epithelkörperchen oder Parathyreoidin- 
tabletten) gegeben. Als aussichtsreichstes 
Verfahren muß jedoch immer die freie 
Transplantation von Epithelkörperchen 
(E. K.) angesehen werden. Hinsichtlich 
der' Operationstechnik an der Prager 
Klinik ist hervorzuheben, daß ,,stets die 
Hinterfläche der beiden Seitenlappen der 
Schilddrüse mit Rücksicht auf die E. K. 
und den Recurrens zurückgelassen 
wird“. Die Art. thyreoidea inferior wird 
sehr selten unterbunden. Zusammen¬ 
fassend ist zu sagen, daß die postoperative 
Tetanie durch Verabreichung von E. K.- 
Präparaten und Narkoticis auch in schwe¬ 
ren Formen gebessert, vielleicht Sogar ge¬ 
heilt werden kann. Man wird durch diese 
Therapie unter anderem die Einleitung 
einer Frühgeburt vermeiden können und 
für die Transplantation von E. K. Zeit 
gewinnen. Das Auftreten der p. o. T. 
scheint außer durch Schädigung der E. K. 
durch ausgedehnte Reduktion von Schild¬ 
drüsengewebe, durch chronische Stö¬ 
rungen der Herzaktion und durch Stö¬ 
rungen der inneren Sekretion bei Morbus 
Basedowii begünstigt zu werden. Die 
p. 0 . T. wird meist bei Frauen beobachtet. 

Willibald Heyn (Berlin). 

(D. Zschr. f. Chir. Bd. 161, S. 258.) 

Im Anschluß an das vorstehende 
Referat seien die anatomischen Unter¬ 
suchungen berichtet, welche Drüner über 
die Epithelkörperchen- Überpflan¬ 
zung bei postoperativer Tetanie an¬ 
gestellt hat. Bei 20 frischen Leichen hat 
der Autor die Epithelkörperchen aufge- 

35* 



276 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Jul! 


sucht und diejenigen Gewebsstücke, wel¬ 
che makroskopisch als solche ange¬ 
sprochen werden mußten, mikroskopisch 
untersucht. Dabei ergab sich das über¬ 
raschende Resultat,' daß in mehr als 
.einem Drittel der Fälle die ,,Epithel¬ 
körperchen“ aus Lymphdrüsen oder Stru¬ 
magewebe bestanden. Auch wenn der 
ganze Situs (Epithelkörperchen und 
Schilddrüse) der Leiche entnommen 
wurde, fand mehrfach eine Verwechslung 
mit Lymphdrüsen statt. In einem der 
Fälle war diese Drüse tuberkulös infiziert, 
ohne daß sonst eine Tuberkulose an der 
Leiche nachweisbar gewesen wäre. Dem¬ 
nach ist die Wahrscheinlichkeit, daß es 
sich bei Gebilden, die mit bloßem Äuge 
als Epithelkörperchen gedeutet und über¬ 
pflanzt werden, auch wirklich um' solche 
handelt, sehr gering, vielmehr versprechen 
nur solche Operationen Aussicht auf Er¬ 
folg, bei denen größere Gewebsstücke 
überpflanzt werden, welche die Epithel¬ 
körperchen sicher enthalten, das heißt 
im allgemeinen diejenigen Teile, die man 
bei der Strumektonie zurückläßt. Drüner 
schlägt vor, beide hinteren Kapsel¬ 
abschnitte ganz frischer Leichen zu ver¬ 
wenden, die am besten in Knochenmark 
oder Muskulatur verpflanzt werden. Von 
besonderer Bedeutung für das Gelingen 
der, Transplantation ist eine möglichst 
schnelle Wiederherstellung des Kreislaufs 
der Epithelkörperchen, da deren Lebens¬ 
fähigkeit sehr schnell erlischt. Bei den 
hiernach sehr geringen Aussichten der 
Operation muß mit aller Entschiedenheit 
die Schonung der Epithelkörperchen bei 
der Strumektomie gefordert werden. 

(Zbl. f. Chir. 1921, Nr. 7.) Hayward. 

Während die Röntgenstrahlen bis¬ 
her nur zur Behandlung der Gonarthritis 
und Adnexitis herangezogen wurden, hat 
Dr.J. Wetterer diese auch zur Behand¬ 
lung des akuten und chronischen 
Trippers verwandt. Verfasser berichtet 
zuerst über seine äußerst günstigen Er¬ 
fahrungen bei Arthritis gonorrhoica, Per- 
costitis blennorhagica, Adnexitis blennor- 
hagica, Prostatitis, Spermatocystitis, Epi- 
didymitis. Auch zur Behandlung der Me- 
tritis, Salpingitis und Oophoritis blennor¬ 
hagica erscheinen ihm seine bisherigen 
Versuche ermutigend. Bei der Behand¬ 
lung des akuten und chronischen Trippers 
reagieren die frischesten Fälle am gün¬ 
stigsten. Der Erfolg äußert sich im Nach¬ 
lassen der Schwellung und Druckempfind¬ 
lichkeit der Penis, Nachlassen der sexu¬ 


ellen Reizerscheinungen und im schnel¬ 
leren Eintritt der Akme' des Prozesses, 
sowie raschem Abklingen der Reaktion. 
Die chronischen Fälle verhalten sich nach 
Bestrahlung wie akute, indem sozusagen 
ein Rezidiv der akuten Infektion eintritt, 
das dann wie ein akuter Fall ohne Kom¬ 
plikationen abheilt. Auch zur Provo¬ 
kation hat Verfasser die Röntgenstrahlen 
mit bestem Erfolg verwendet. Die Tech¬ 
nik ist einfach. Verfasser arbeitete mit 
harten Strahlen, wobei er unter 1 mm 
Kupfer + 1 mm Al auf jedes Hautfeld 
ungefähr 350 F gab. Max Cohn. 

(Strahlenther. Bd. XII, Heft II.) 

Bei den vielen widersprechenden Re¬ 
sultaten in der Behandlung der Tuber¬ 
kulose nach Friedmann erscheinen die 
theoretischen Erörterungen Rietschels 
beachtenswert über die Frage, ob den 
Friedmannschen Tuberkelbacillen ein spe- 
cifischer Einfluß auf die Tuberkulose zu¬ 
geschrieben werden soll, oder wie ihr Ein¬ 
fluß gedeutet werden kann. Die Tier¬ 
versuche zahlreicher Experimentatoren 
sprechen gegen jede specifische Immuni¬ 
sierung. Der Friedmannsche Bacillus muß 
nach den Tierversuchen wahrscheinlich 
nicht als Tuberkelbaclllus angesehen wer¬ 
den, sondern mehr oder weniger als^Sa- 
prophyt gelten. Theoretisch ist aber denk¬ 
bar, daß die Behandlung nicjit völlig 
v/irkungslos ist. Spricht man zum leichte¬ 
ren Verständnis der Heilungsvorgänge der 
Tuberkulose bei immun-biologischer Be¬ 
trachtung -von Antigen- und Antikörper¬ 
reaktionen, wobei Antigen als biologischer 
Reiz aufgefaßt werden soll, der die Kör¬ 
perzellen trifft, und die Antikörper als 
die hypothetischen Träger der Abwehr¬ 
funktion der bedrohten Körperzellen, so 
sollten die Friedmannbacillen in diesem 
Sinne als Antigen wir.ken und damit die 
Bildung echter Tuberkuloseantikörper 
zellulär oder humoral anregen. Tuber¬ 
kulöse Herde können nicht nur mit spe- 
cifischen aus Tuberkelbacillen entstande¬ 
nen Zufallsprodukten beeinflußt werden, 
sondern auch durch andere Antigene, 
auch durch Substanzen, die überhaupt 
keinen Antigencharakter tragen (Terpen¬ 
tin, Zucker, Salze). Man ist daher be¬ 
rechtigt, von einer unspecifischen Reiz¬ 
körpertherapie zu sprechen, bei der man 
zwischen echten Antigenen und Nicht- 
Antigenen unterscheiden kann. Alle diese 
Stoffe stellen Reize für die Zelle dar und 
regen durch ihre parenterale Einverlei¬ 
bung eine augenblicklich in Gang befind- 




Juli Die Therapie der Gegenwart 1921 ' 277 


liehe Aritikörperbildung an. Je nach der 
Resistenz des Körpers können diese Reize 
auch Schaden stiften, und praktisch ist 
diese Frage daher ein Dosierungsproblem. 
Nun könnte man annehmen, daß mit den 
Friedmannbacillen kein wirkliches Tuber¬ 
kuloseantigen, sondern ein unspecifisches 
Antigen injiziert wird. Im Körper ist 
damit ein Herd angelegt, aus dem durch 
Zerfall der saprophytischen Bakterien 
dauernd Stoffe frei werden, die einen Reiz 
auf die Zelle ausüben und damit eine Anti¬ 
körperbildung gegen diese Stoffe veran¬ 
lassen. Gleichzeitig wird die Zelle ver¬ 
anlaßt, auch mehr Abwehrstoffe gegen 
die Tuberkulose zu produzieren. Als Vor¬ 
zug des Friedmannantigens könnte man 
annehmen, daß es ein lebendes Antigen 
ist, daß diese Bakterien für den mensch¬ 
lichen Körper so-gut wie avirulent sind, 
daß sie mit ihrer längeren Lebensdauer 
und damit länger dauernden Produktion 
von Zerfallsprodukten längere Reizwir¬ 
kung ausüben. Das Infiltrat, das Wochen 
und Monate lang bestehen kann, zeigt eine 
Reaktion des Körpers an, ein Wachstum 
der säurefesten Stäbchen findet statt und 
zu gleicher Zeit ein Zerfall durch die 


reaktive Tätigkeit des Körpers. Daß der 
Reiz, der die Zelle trifft, sie auch außer 
der Antikörperbildung gegen die säure¬ 
festen Bacillen zur Produktion von Ab¬ 
wehrstoffen gegen eine bestehende Tuber¬ 
kulose veranlaßt, ist durchaus wahr¬ 
scheinlich. Ist die Zelle nicht mehr fähig, 
Antikörper zu bilden, besteht sogenannte 
,,negative Anergie'*, ' so können auch 
geringe Reize schädliche Wirkung haben 
und Fortschreiten der Tuberkulose be¬ 
günstigen. Zweifelhaft erscheint es, ob 
es möglich ist, mit Friedmannbacillen den 
Säugling vor Tuberkuloseinfektion zu 
schützen unter der erörterten Voraus¬ 
setzung der Wirkungsweise. Zur Stützung 
dieser Hypothese durch klinische Er¬ 
fahrung gilt es festzustellen, ob auch 
andere saprophytische, säurefeste, für den 
Menschen unschädliche Stäbchen ähn¬ 
liche oder gleiche Wirkung haben, die 
ebenfalls so lange im Körper als Depot 
liegen bleiben und längere Zeit antigen¬ 
bildend sind, und ferner zu untersuchen, 
ob nicht auch andere chronisch sich hin¬ 
ziehende Infektionen durch Friedmannr 
bacillen zu beeinflussen sind. 

(M. m. W. 1921, Nr. 15.) Feuerhack. 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Aus der inneren Abteilung des St. Vincenzbanses zu Köln (Chefarzt: Prof. Dr. Hnismans). 

Das neue Apyron, Magnesium acetylosalicylicum. 

Von Helnr, Fischer. 


Als Ersatzmittel für Aspirin wurde 
vor einigen Jahren von Johann A. Wül¬ 
fing (Berlin) ein Präparat hergestellt, 
bei dem die Acetylsalicylsäure an Lithium 
gebunden war. Unter dem Namen 
Apyron kam dies Medikament in den 
Handel. Neuerdings hat nun dieselbe 
Fabrik eine Verbesserung vorgenommen, 
indem sie das Lithium durch Magnesium 
ersetzte. Das Magnesium acetylosali^yli- 
cum hat den Namen Apyron behalten. 
Es setzt sich zusammen aus 93,8 % Acetyl¬ 
salicylsäure und 6,2 % Magnesium. In 
betreff des Acetylsalicylsäuregehaltes 
unterscheidet es sich von dem Lithium 
acetylosalicylicum, das 96,26% Acetyl¬ 
salicylsäure enthielt, nur wenig. Das neue 
Apyron kommt in der gleichen Form wie 
das frühere als Tabletten zu 0,5 g und als 
Pulver in Ampullen zu 1,0 g, letzteres zur 
intramuskulären und subcutanen Injek¬ 
tion, in Gebrauch.' 

Bei der chemischen Nachprüfung des Apyrons 
wurde zuerst festgestellt, ob das Präparat noch 


freie Säure enthielte oder völlig neutral reagiere. 
Zu diesem Zweck wurden zwei Tabletten oder 
eine Ampulle in ein Meßglas mit 50 ccm destil¬ 
liertem Wasser gebracht. Das Medikament löste 
sich in dieser Wassermenge restlos auf. Nach Zu¬ 
satz von Phenolphthalein wurde dann die Lösung 
mit Vio n NaOH titriert. Bei Apyron in Tabletten 
wies nur die erste Sendung geringe Spuren von 
freier Säure auf. Bei den späteren Proben färbte 
sich die Lösung schon beim Zusatz des Indikators 
schwach rosa. Ein Tropfen NaOH genügte, um 
eine deutliche Ratfärbung zu bewirken. Die 
Apyrontabletten waren also ein völlig neutrales 
Pulver. Auch nachdem die Tabletten 14 Tage 
frei gelegen hatten, war keine Säure nachzuweisen. 
Anders war das Ergebnis bei Apyron in Ampullen. 
Bei wiederholten Untersuchungen von verschie¬ 
denen Sendungen ergab sich immer ein konstanter 
Wert von freier Säure. Eine Rotfärbung trat stets 
erst nach Zusatz von 0,6 ccm Vio n NaOH auf. 
Es handelte sich hier um minimale Mengen von 
Acetylsalicylsäure, die durch das Magnesium nicht 
gebunden waren. Diese Spuren von Säure sind 
aber für die Anwendung des Präparates völlig be¬ 
langlos. Nie trat bei den intramuskulären Ein¬ 
spritzungen außer einem geringen Schmerz, durch 
den. Druck der Flüssigkeit im Gewebe hervor¬ 
gerufen, eine Hautrötung oder sonst ein Zeichen 
einer örtlichen Reizung auf. Daß die Spuren von 
Säure keine freie- Salicylsäure. darstellten,-ergab 





2 , 1 § * . Die, Therapie der Gegenwart 1921 Juli 


eine Probe mit Eisenchlorid. - Bei Zusatz eines 
Tropfens Eisenchlofid zu einer Apyronlösung trat 
ein fleischfarbener Niederschlag von acetylsalicyl- 
saurem. Eisen aüf. Eine Violettfärb'ung, wie sie 
charakte/istisch für Salicylsäure ist, stellte sich 
nicht ein. 

Um nun die Vorgänge bei einer Medikation 
per OS zu verfolgen, wurde die Einwirkung des 
Magensaftes auf eine Apyronlösung 1,0: 50,0 fest¬ 
gestellt. Die.gleiche Menge filtrierten Magensaftes, 
dessen Säureverhältnisse freie Salzsäure 27 , Ge- 
samtacidität 47 waren, wurde mit ebensoviel 
Apyronlösung vermischt. Die sofortige Probe mit 
Eisenchlorid ergab nur acetylsalicylsaures Eisen. 
Die Lösung wurde jetzt in einen Thermostaten 
von • Körpertemperatur gebracht.' Nach fünf 
Minuten trat bei einer zweiten Untersuchung 
neben dem fleischfarbenen Niederschlag auch eine 
geringe Violettbraunfärbung auf. Nach zehn 
Minuten sah man nur diese violette Farbe. Bei 
einem zweiten Magensaft von der Acidität 5:18 
konnte dasselbe beobachtet werden. Da der Ge¬ 
danke nahe lag, die freie Salzsäure bewirke die 
Zersetzung des Apyrons, wurde die gleiche Ver¬ 
suchsanordnung mit Magensaft ohne freie Salz¬ 
säure vorgenommen. In zwei Fällen, bei einem 
Magensaft von der Acidität 0:15 und einem 0: 20, 
trat noch nach 30 Minuten keine Violett¬ 
färbung auf.' 

Nach diesem Ergebnis wurde der Einfluß der 
Salzsäure auf Apyron festgestellt. Bei Zusatz von 
ein paar Tropfen Salzsäure zu einer konzentrierten 
Apyronlösung 1,5 :30,0 sah man einen feinkristalli¬ 
sierten weißen Niederschlag sich entwickeln. Bei 
Schütteln der Flüssigkeit oder Schlagen mit einem 
Glasstab wurde die Aiisfällung sehr lebhaft. Dieses 
Pulver wurde abfiltriert und zweimal mit destil¬ 
liertem Wasser ausgewaschen. Um nun nachzu¬ 
weisen, ob dies Pulver Acetylsalicylsäure oder 
Salicylsäure därstelle, wurden zwei Proben in ein 
Reagenzglas gebracht. In das erste Röhrchen 
wurde nur Wasser", in das zweite etwas Wasser 
und Alkohol gegossen. Im ersten Glas bildete sich 
eine Aufschwemmung, während sich das Pulver 
in der alkoholischen Lösung glatt auflöste. Bei 
Zusatz von Eisenchlorid trat in beiden Fällen 
Violettfärbung ein. Der kristallinische Nieder¬ 
schlag, der bei Zusatz von Salzsäure ausgefallen 
war, erwies.sich also als Salicylsäure. Die Fähig¬ 
keit, aus einer Apyronlösung Salicylsäure zu bilden, 
besaß nun die Salzsäure nicht allein, auch Schwefel¬ 
säure und Phosphorsäure vermöchten das gleiche. 
Zum vollkommenen Beweis, daß die Salzsäure im 
Magen Salicylsäure abspalten kann, fehlte nun 
noch ein Versuch. Es mußte untersucht werden, 
ob die Salzsäure in so geringen Mengen, wie sie 
sich im Magensaft findet, imstande ist, Salicyl¬ 
säure zu bilden. Es wurde deshalb eine so dünne 
Lösung hergestellt, daß 10 ccm bei Zusatz von 
2,0 Vio n NaOH einen Farbenumschlag gaben. Die 
Lösung überstieg also, die normale Acidität des 
Magensaftes nicht. Die Untersuchung verlief in 
derselben Weise, wie bei den Prüfungen des Magen¬ 
saftes. Bei Zusatz von Eisenchlorid sah man nach 
fünf Minuten einen fleischfarbigen Niederschlag 
neben einer violetten Färbung. Nach zehn Minuten 
war nur noch eine Violettfärbung zu erkennen. 
Das Resultat stimmte also genau mit dem Er¬ 
gebnis überein, das die Versuche mit Magensaft 
gezeitigt hatten. 

Man würde aber fehlgehen, wenn man auf 
Grund dieser chemischen Nachprüfungen Be¬ 
fürchtungen wegen der Bekömmlichkeit des Prä¬ 
parates. hegen würde. Alle Patienten, auch die¬ 
jenigen, die Apyron in größeren iVlengen längere 


Zeit hindurch erhielten, hatten keinerlei Magen¬ 
beschwerden. Eine Erklärung hierfür kann 
die schnelle Resorption bieten. Schon 15 bis 
20 Minuten nach der Apyrongabe wurde die aus¬ 
geschiedene Salicylsäure im Harn nachgewiesen. 
Immerhin ist aber die Möglichkeit nicht ausge¬ 
schlossen, daß' es auch einmal zu einer Reizung 
des Magens kommt, besonders wenn der Patient 
an einer Hyperacidität leidet. In einem solchen 
Falle empfiehlt es sich, vor der Apyrongabe 
Natrium bicarbonicum zu verordnen oder das Prä¬ 
parat! n Milch oder Mineralwasser gelöst zu geben. 
Sollte es aber doch nicht vertragen werden, so 
bietet sich noch immer durch die Wasserlöslich¬ 
keit des Apyrons die Möglichkeit einer subcutanen 
oder intramuskulären Injektion. 

Was nun die therapeutische Wirksam¬ 
keit des Apyrons anbetrifft, so steht sie 
in keinem Punkte der Acetylsalicylsäure 
nach. Bei einem Fall von akutem Gelenk¬ 
rheumatismus war am folgenden Tage die 
Temperatur schon zur Norm abgesunken, 
auch die Schwellungen der Gelenke sowie 
die Schmerzen hatten wesentlich nach¬ 
gelassen. Nach 20 Tagen war der Patient 
völlig beschwerdefrei. Er hatte dreimal 
täglich zwei Tabletten sowie täglich ein¬ 
mal im Anschluß an eine Apyrongabe 
eine halbe Stunde lang Heißluftkasten 
erhalten. Dieselbe Therapie wurde auch 
bei Patienten m.it chronisch recidivieren- 
dem Gelenkrheumatismus angewandt. 
Alle Patienten bekundeten, daß schon 
kurz nach der Einnahme des Apyrons die 
Schmerzen nachließen, um 3—4 Stunden 
lang völlig zu schwinden. Die gute anti¬ 
neuralgische Wirkung konnte bei ver¬ 
schiedenen Patienten mit Occipital- und 
Trigeminusneuralgie beobachtet werden. 
Die Kopfschmerzen ließen in kürzester 
Zeit nach. Selbst veraltete Fälle wiesen 
einen guten Heilerfolg auf. 

Eine Krankheit muß besonders her¬ 
vorgehoben werden, bei der mit Apyron 
auffallend gute Erfolge erzielt wurden. 
Es war dies die Ischias. Diese Patienten 
erhielten keine Tabletten, sondern zwei¬ 
mal täglich eine Injektion in den Gesä߬ 
muskel. Hierfür wurde 1,0 g Apyron in 
3—5 ccm sterilem Wasser aufgelöst. Täg¬ 
lich bekamen die Kranken nach einer 
solchen Apyrongabe eine halbe Stunde 
lang Heißluftkasten. Selbst sehr heftige 
■ Schmerzen ließen gleich nach und die 
Heilung schritt schnell voran. Ein Patient, 
der vor Schmerzen nicht im Bett liegen 
konnte, war schon nach fünf Tagen bei 
ruhiger Lage schmerzfrei. Nach weiteren 
14 Tagen konnte Patient schon das Bett 
verlassen. Bemerkenswert war, daß eine 
vorübergehende Apyrongabe in Tabletten 
bei weitem nicht so wirksam empfunden 
wurde, wie die Injektion. Nach einer Ein- 






Juli ' Die* Therapie-der OegeriwM. 1901 .. . ....... _-.:^79 


Spritzung waren die Schmerzen’ 4—6 | 
Stunden lang fast völlig geschwunden. 
Durchschnittlich waren die Kranken mit 
erst kürzlich aufgetretener Ischias in 
wenigen Tagen wieder beschwerdefrei, bei 
chronischer Ischias dauerte die Heilung 
3—4.Wochen. Nur ein Patient, der schon 
seit einem Jahr an Ischias litt, und- bei 
dem alle Mittel erschöpft waren, wurde 
zwar so weit gebessert, daß er umherging. 
Eine völlige Heilung War aber nicht zu 
erzielen. 

Unangenehme Nebenerscheinungen, 
wie Herzbeschwerden, Ohrensausen, 
Magenkatarrh oder Nierenschädigungen 


konntea in keinem Falle beobachtet wer¬ 
den. Alle Patienten hoben clen\ ange¬ 
nehmen, schwach bitteren Geschmack des 
Präparates hervor und nahmen daher 
das Apyron lieber als Aspirin., Zusammen¬ 
fassend läßt sich sagen, daß das. neiie 
Apyron ein gut lösliches, leicht verdau¬ 
liches Salicylpräparat ist, das in seiner 
therapeutischen Wirkung der Acetylsali¬ 
cylsäure gleichsteht,, diese aber in der 
Behandlung der Ischiaserkrankung noch 
übertrifft Einen besonderen Vorteil bietet 
die Möglichkeit der Injektion, da man es 
hierdurch auch den Patienten mit emp¬ 
findlichem Magen, geben kann. 


Osteomalade — Behandlung mit Asthmolysin — klinische Heilung, 

Von Dr. Walther Blumenthal, Coblenz. 


Die Seltenheit der Erkrankung, auf 
der anderen Seite die prompte Wirkung 
der Behandlung mögen die Veröffent¬ 
lichung eines Einzelfalles entschuldigen. 

Frau H., 50 Jahre alt. Fünf Kinder, davon 
zwei klein gestorben. Eine Fehlgeburt. Seit 
etwa zehn Jahren schießende Schmerzen in den' 
Beinen. Kann seit vier Jahren kaum mehr 
gehen, ist seit etwa einem Jahre ständig bett¬ 
lägerig. Rücken wurde krumm, Gestalt kleiner. 
Am rechten Unterarm schmerzhafte Verdickung, 
die für gichtisch gehalten wird. Beine können 
in der Hüfte nicht gestreckt werden. Menfcs 
stark gewesen, seit einem Jahr Menopause. 

Befund: Typische, ziemlich vorgeschrittene 
Osteomalacie mit federndem Brustbein, Karten¬ 
herzbecken, schlecht geheilter Spontanfraktur 
der rechten Elle. Unterschenkel federn, ih der 
Adduktorenmuskulatur schmerzhafte Spasmen. 
Streckung des Beines in der Hüfte, auch passiv, 
wegen großer Schmerzhaftigkeit und Spannung 
unmöglich. Allgemeinzustand schlecht, Anämie, 
Weinerlichkeit, Willensschwäche. 

Konzil mit Frauenarzt (Dr. Kreisch in 
Coblenz): Operative Kastration in Rücksicht auf 
den schlechten Allgemeinzustand abzulehnen. 
Röntgenkastration unsicher, da man bei dem 
verbogenen Becken nicht weiß, wo die Ovarien 
liegen. Außerdem wären bei der erheblichen 
Schwächung der Widerstandsfähigkeit Strahlen¬ 
schädigungen zu fürchten. Versuch mit Organo¬ 
therapie erscheint angebracht. Der Konsiliarius 
schlug Pituglandol vor. Ich war dafür, das sonst 
gegen Asthma viel verwandte Asthmolysin 
(Weiß-Kade) zu wählen, ein Gemisch von Hypo¬ 
physenextrakt mit Suprarenin. Die Gründe 
waren folgende: zunächst waren mit beiden 
Komponenten des Präparats früher bei Osteo¬ 


malacie Heilerfolge erzielt. Dann sprach aber 
stärk auch ein rein wirtschaftliches Moment mit. 
Zwölf Ampullen eines reinen Hypophysenpräpa¬ 
rats kosteten damals je nach Herkunft etwa 
100 bis 170 M>.; die gleiche Menge Asthmolysin 
war für 16,50 M. erhältlich! * 

Therapie: Täglich eine Ampulle Asthmolysin 
subcutan, daneben Phosphorleberthran, pflajnz- 
liche Kost, später milchsaurer Kalk. * 

Der Erfolg war verblüffend. Beginn der Be¬ 
handlung am 25. Februar 1921. 1. März: Schmer¬ 
zen in den Beinen geringer, Beweglichkeit größer. 
7. März: Keine Schmerzen mehr in den Beinen. 
Diese können spontan gestreckt werden. Die 
Adduktorenspasmen sind geschwunden. Psycho¬ 
gene Momente kommen hierfür nicht in Betracht, 
da die Kranke nicht wußte, daß diese Spasrrien 
zum Krankheitsbilde gehörten und da absichtlich 
niemand danach gefragt hatte. 12. März: Steht 
allein an einem^ Stuhl, was sie seit über einem 
Jahre nicht gekonnt hatte. 4. April 21 (nach 
38 Injektionen): Geht gestützt gut, auch einige 
Schritte allein. Knochen überall vollkommen 
fest, Kreuzbein tragfähig, keine Schmerzen beim 
Gegen oder Stehen. 

Die Kranke wäre binnen kurzem imstande 
gewesen, allein zu stehen und länger zu gehen, 
wenn ihre große Ängstlichkeit und Energielosig¬ 
keit dem nicht im Wege gestanden hätte. Unter 
Einflüssen, die ich nicht zu beurteilen vermag, 
hatte sie zudem heimlich ab 4. April 1921 die von 
einer Krankenschwester gemachten Einspritzun¬ 
gen inhibiert. Am 19, April 1921, wo ich sie zu¬ 
letzt sah, war der klinische Befund wie am 
4. April 1921, besonders waren keine Schmerzen 
da. Fortschritte im Gehen waren nicht zu ver¬ 
zeichnen, ärztlich geleitete Geh Übungen stießen 
auf heftigen Widerstand bei der Kranken. Ich 
legte daraufhin die Behandlung’ nieder. 


über Erfahrungen mit Milanol bei Hautkrankheiten. 

Von Dr. Fritz M. Meyer und cand. med. Franz Karl Meyer. 


Durch die Fortschritte, die in der 
Behandlung von Hautkrankheiten durch 
die Ausbildung der Strahlenbehandlung 
erzielt worden sind, ist die Zahl derjenigen 
Dermatosen, bei denen die Medikamenta- 


tion im Vordergründe der therapeutischen 
Maßnahmen steht, erheblich eingeengt 
worden. Aber abgesehen davon,, daß 
viele Dermatologen und vor allem Zähl- 
reiche praktische Ärzte aus den ver- 




^2^ ’ Die Therapie der öeg^wart 1921 \ ;JuIi 


schiedensten Gründen nicht in der Lage 
sind, in geeigneten Fällen ihre Kranken 
der Strahlenbehandlung zuzuführen, gibt 
es doch noch eine Reihe von Haut¬ 
krankheiten, bei denen die Auswahl der 
richtigen Salbe von nicht zu unter¬ 
schätzender Bedeutung ist. Überdies 
wird man auch dann, wenn man Röntgen¬ 
oder Quarzlichtstrahlen anwendet, sei es 
als Adjuvans, sei es aus hygienischen 
Gründen, die physikalische Therapie mit 
einer Salbenapplikation verbinden. 

Die unleugbare Tatsache, daß zahl¬ 
reiche, nicht fachärztlich ausgebildete 
Ärzte bei der Rezeptur einer Salbe sich 
nicht von bestimmten, auf die betreffende 
Hautkrankheit gerichteten Gedankengän¬ 
gen leiten lassen, sondern, ganz, wenige 
Salben, geradezu in einem Turnus wieder¬ 
kehrend, verordnen, läßt es wünschens- 
Y^ert erscheinen, wenigstens über eine 
Salbe zu verfügen, die in vielen Fällen 
Nutzen zu schaffen vermag und selbst 
da, wo sie' an und für sich nicht indiziert 
ist, infolge ihrer chemischen Struktur 
keine Schädigungen, insbesondere in der 
Fdrm unerwünschter Irritationen, hervor- 
ruft. 

Eine solche Salbe hat vor mehreren 
Monaten die Firma Athenstaedt u. Re- 
deker, Hemelingen uns zu Versuchs¬ 
zwecken zur Verfügung gestellt. Der 
wirksame Körper in dieser Salbe ist das 
Milanol, das basische trichlorbutylmalon- 
saure Wismut. Es ist ein weißes, wasser¬ 
unlösliches Pulver, in Chloroform und 
vegetabilischen Ölen löslich. Wir haben 
die Salbe mit 2, 5 und 10% Milanol an¬ 
gewendet. Da wir uns sehr bald über- 
^zeugten, daß die Salbe auch in höherer 
Konzentration, selbst bei empfindlichster 
Haut, keine Reizungen hervorruft, 
andererseits die durch die 10% Salbe 
erzielten Resultate nicht besser waren 
als diejenigen, welche die 5% Salbe 
zeitigte, so haben wir sehr bald nur die* 
letztere Form für unsere Versuchsreihen 
gewählt. 

Das große Quantum, das uns im 
Laufe der Zeit zur Verfügung stand, er¬ 
möglichte uns, an sechzig Kranken unsere 
Erfahrungen zu sammeln, die sich bei 
Niederschrift dieser Arbeit auf vier Mona¬ 
te erstrecken. Um die Verhältnisse der 
täglichen Praxis völlig nachzuahmen, ha¬ 
ben wir uns nicht nur auf die ausschlie߬ 
liche Verordnung von ,,Milanol“ be¬ 
schränkt, sondern da, wo es angebracht 


erschien, ^^Milanol“ mit anderen thera¬ 
peutischen Vorschriften beziehungsweise 
der Strahlenbehandlung kombiniert. Be¬ 
züglich der Erfolge steht im Vorder¬ 
gründe das. Ekzem, und zwar im akuten 
wie im subakuten und chronischen Sta¬ 
dium. Bei dieser Erkrankung decken sich 
unsere Erfahrungen mit denen, die Taen- 
zer in der Derm. Wschr., Jahrgang 1920, 
bekanntgegeben hat. Nicht nur, daß 
die Kranken regelmäßig, ganz gleich, um 
welche Form des Ekzem es sich handelt, 
selbst wenn sie in Konnex mit Wasser 
und Seife bleiben müssen, sehr bald einen 
deutlichen Rückgang des Juckreizes und 
des Spannungsgefühles feststellen, nein, 
auch der objektive Befund zeigt auf¬ 
fallenden Rückgang sämtlicher Symp¬ 
tome: Abblassen der Entzündungser¬ 
scheinungen, Versiegen der Sekretion, 
Schließung vorhandener Risse usw. Es 
gelang uns, viele Fälle von Ekzem in 
wenigen Wochen zur Heilung zu bringen, 
ohne daß eine Strahlenbehandlung Platz 
greifen mußte. 

Ein weiteres Indikationsgebiet stellen 
die starken Hautreizungen dar, die fast 
regelmäßig im Anschluß an energische 
Krätzekuren auftreten und wegen des 
heftigen Juckreizes den Kranken be¬ 
trächtliche Beschwerden machen. Auch 
hier sehr bald ein völliges Verschwinden 
aller Erscheinungen. Sehr günstige Re¬ 
sultate erzielten wir auch bei der gerade 
in letzter Zeit besonders häufigen Im¬ 
petigo contagiosa, vor allem bei der 
schweren und ausgedehnten Form. Wir 
haben mehrfach feststellen können, daß 
da, wo die sonst meist vorzügliche 5% 
weiße Präziitatsalbe nicht prompt genug 
die Herde zum Schwinden brachte, auf 
Anwendung von ,,Milanol“ das Bild sich 
änderte und die Krankheit schnell be¬ 
seitigt wurde. 

Wenn wir noch kurz erwähnen, daß 
bei vielen Pyodermien, kleinen Furunkeln 
und bei nicht sehr ausgedehnten Unter¬ 
schenkelgeschwüren die Salbe einen gün¬ 
stigen Önfluß ausübte, so ist damit 
natürlich noch nicht der Anwendungs¬ 
kreis geschlossen, sondern wir sind über¬ 
zeugt, daß bei weiterer Nachprüfung, 
zu der unsere Veröffentlichung anregen 
möge, noch manche Dermatose erfolgreich 
reagieren wird. Jedenfalls steht für uns 
schon heute fest, daß das „Milanol“ in 
der Therapie der Hautkrankheiten eine 
wesentliche Bereicherung darstellt. 


Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg 
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berlin W57, 





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Die Therapie der Gegenwart 


1921 


herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer 
^ in Berlin. 


August 


Nachdruck verboten. 

Aus der Ghirnrgisclieu Klinik zu München (Direktor: Geh. Bat Prof. Dr. F. Sauerhruch). 

Die chirurgische Behandlung der Lungentuberkulose i). 

Von Dr. W. Jehn, Oberarzt der Klinik. 


M. H.! Die günstige Wirkung ^es Ex¬ 
sudates der Pleura auf gewisse Formen 
einseitiger Lungentuberkulose ist bekannt. 
Sie gab den Anstoß zu operativen Me¬ 
thoden der Tuberkulosebehandlung: dem 
therapeutischen Pneumothorax sowie der 
extrapleuralen Thorakoplastik. 

Beide Methoden verfolgen das gleiche 
Ziel, durch ,,Kollaps“ und Ruhigstellung 
der erkrankten Lunge die anatomischen 
Verhältnisse und biologischen Vorgänge 
in ihr so zu beeinflussen, daß schließlich 
die Tuberkulose ausheilt. Die Erfah¬ 
rungen vergangener Jahre haben gezeigt, 
daß in der Tat durch diese mechanische 
Beeinflussung der Lunge bestimmte, vor¬ 
wiegend cirrhotische Formten der Tuber¬ 
kulose mit und ohne Kavernen ausheilen 
können. Das beweisen die Arbeiten aus 
der Tuberkuloseliteratur über den the¬ 
rapeutischen Pneumothorax und die ex¬ 
trapleurale Thorakoplastik. 

Heute möchte ich Ihnen in kurzen 
Zügen über die großen Erfahrungen un¬ 
serer Klinik berichten. Meinen Ausfüh¬ 
rungen liegen zugrunde die Erfahrungen 
und Beobachtungen Sauerbruchs an 
rund 450 Kranken, die von ihm in den 
Jahren 1907 bis 1921 an den Kliniken zu 
Marburg, Zürich, Greifswald, München, 
sowie in den Sanatorien zu Davos, Arosa, 
St. Blasien, Ambri Piotta, St. Remo und 
Bischofsgrün operiert wurden. Dabei muß 
betont werden, daß das Material vom 
Jahre 1907bis 1918 —im ganzen 380 Fälle 
— abgeschlossen ist, während das Mate¬ 
rial der letzten 2^4 Jahre aus unserer 
Münchener Zeit — im ganzen 70 Fälle — 
noch nicht als definitiv abgeschlossen an¬ 
gesehen werden kann. 

Von vornherein muß dem Iirtum ent¬ 
gegengetreten werden, daß die chirur- 

Vorgetragen auf dem 33. Kongreß der 
Deutschen Gesellschaft für innere Medizin am 
18. April 1921. Da wir leider nicht in der Lage 
waren, den Vortrag seiner Bedeutung entsprechend 
in unserem Bericht wiederzugeben, bringen wir 
ihn jetzt mit gütiger Erlaubnis des Verfassers 
zur ausführlichen Publikation. 


gische Behandlung der Lungentuberkulose 
nur den Patienten begüterter Kreise zu¬ 
gute kommt. Im Gegenteil, es finden 
sich unter unseren Kranken Menschen 
aller Volksschichten und Berufsklassen. 
Darin liegt die große soziale Bedeutung 
dieser operativen Maßnahmen, gerade in 
heutigerZeit, wo die Tuberkulose in er¬ 
schreckender Weise die Gesundheit der 
gesamten Nation bedroht. 

Hinzu kommt, daß durch die opera¬ 
tiven Maßnahmen selbst größte Kavernen 
der Lunge ausheilen können und somit 
einmal das Betreffende Individuum in 
relativ kurzer Zeit arbeits- und erwerbs¬ 
fähig, sodann aber vor allem als ,,Ba¬ 
zillenträger“ für seine Umgebung aus¬ 
geschaltet wird. Es liegt auf der Hand,, 
daß unsere operativen Eingriffe nur für 
einseitige oder vorwiegend einseitige Er¬ 
krankungen in Frage kommen. Nach 
Brunner erfüllen etwa 10%d^r tuberku¬ 
lösen Lungenerkrankungen in Davos diese 
Bedingung. Nehmen wir an, daß in etwa 
der Hälfte dieser Fälle ein wirksamer thera¬ 
peutischer Pneumothorax sich anlcgen 
läßt, so bleiben für eigentlich chirurgische 
Eingriffe noch etwa 5% übrig. Scheinbar 
eine kleine Zahl, die jedoch im Hinblick 
auf Hunderttausende von Lungenkranken 
in Deutschland zu enormer Größe an¬ 
wächst. Für einen chirurgischen Eingriff 
kommen vor allem die chronisch fibrösen 
Formen der Lungentuberkulose mit und 
ohne Kavernen in Frage. Infolge der 
natürlichen HeilungsVorgänge bei diesen 
Formen kommt es zu ausgedehnter Binde- 
gewebsentwicklung vom peribronchialen, 
perivaskulären und subpleuralen Binde¬ 
gewebe aus. Die Folge davon ist eine 
gewaltige Schrumpfung der erkrankten 
Lunge. Es projiziert sich bei diesen 
Kranken der Charakter ihres Leidens ge¬ 
wissermaßen auf ihre Brustwand, indem 
die erkrankte Seite sich einzieht, die 
Interkostalräume sich verkleinern, das 
Zwerchfell in die Höhe gezogen und das 
Mediastinum nach der erkrankten Seite 
‘ hin verzogen wird. Im Rcntgcnbilde 

36 





282 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


August 


sehen wir daher ein Zusammenrücken der 
Rippen, eine starke Verziehung des Mittel¬ 
feldes und einen Hochstand des Zwerch¬ 
fells auf der kranken Seite. Daneben 
sehen wir das Lungenfeld je nach dem 
Grade der Erkrankung verdichtet, bei 
kavernösen Formen der Tuberkulose sich 
scharf abgrenzend die Reservoire des 
Sputums, die Kavernen. Klinisch sind 
diese Fälle dadurch charakterisiert, daß 
sie einen äußerst chronischen Verlauf 
nehmen. Je nach Größe und Zahl der 
Kavernen wechseln die Sputummengen, 
von Zeit zu Zeit weisen unerwartet auf¬ 
tretende Hämoptysen auf den langsam 
fortschreitenden Zerfall des Lungenge¬ 
webes hin. Fast alle unsere Kranken 
haben, ehe sic einem chirurgischen Ein¬ 
griff unterzogen werden, längerdauernde 
Kuren in Sanatorien una Heilstätten 
durchgeinacht, ohne daß es zu einer de¬ 
finitiven Ausheilung ihrer Tuberkulose 
gekommen ist. Es ist daher unsere Auf¬ 
gabe, dieser Schrumpfungstendenz der 
Lunge entgegenzukommen und durch 
Entspannung des Lungengewebes auch 
größeren Höhlen die Möglichkeit zu geben, 

‘ auszuheilen. Rein einseitige Tuberkulosen 
vorgeschrittenen Grades kommen kaum 
in unsere Behandlung. Geringgradige alte 
Prozesse der anderen Seite stellen keine 
Gegenindikation. Sehr wichtig ist die 
Frage, oK diese Prozesse wirklich inaktiv 
sind. Hier sind wir auf das Urteil aller 
Fachärzte für Tuberkulose angewiesen. 
Ein wer tvo lies Un terstützungsm om en t 
stellt die von Stürtz angegebene Phreni¬ 
kotomie dar. Sie wird nach Sauer¬ 
bruchs Vorschlag in unsicheren Fällen 
als ,,Funktionsprüfung“ bei der Ein¬ 
leitung der Behandlung ausgeführt. Oft 
schon genügt eine geringe Einengung der 
kranken Seite durch die Phrenikotomie 
und damit eine unbedeutende Mehrbe¬ 
lastung der sogenannten gesunden Seite, 
um einen ruhenden Prozeß, wenn auch 
nur für kurze Zeit, zum Aufflackern zu 
bringen. Tritt Fieber auf oder ändert 
sich der physikalische Befund, so er¬ 
scheint der Fall für eine weitere operative 
Behandlung ungeeignet. In anderen Fäl¬ 
len kann schon nach der Phrenikotomie 
•eine wesentliche Besserung im lokalen und 
Allgemeinbefund des Patienten auftreten, 
so daß damit die allgemeinen Bedingungen 
für den Patienten sich bessern. Wir haben 
^.Iso in der Phrenikotomie eine Methode 
der operatiyen Behandlung der Tuber¬ 
kulose kennengelernt, die einmal ein 
wichtiger Indikator sein kann für das 


Verhalten der anderen Seite, sodann aber 
auch den Prozeß auf der kranken Seite 
leidlich günstig beeinflussen kann. Sie 
kommt daher für uns nur als probatorische 
oder auch als Unterstützungsoperation in 
Frage, eine selbständige Bedeutung hat 
sie nicht. 

Dagegen stehen uns zur Einengung 
und Ruhigstellung der erkrankten Seite 
verschiedene Verfahren- zur Verfügung: 
der therapeutische Pneumothorax sowie 
die extrapleurale Thorakoplastik. Bei 
freiem Pleuraspalt ist unbestritten der 
therapeutische Pneumothorax das' Ver¬ 
fahren der Wahl. Auf seine große Be¬ 
deutung" für die Ausheilung der Tuber¬ 
kulose hinzLiw’eisen erübrigt sich. Sie ist 
fast allgemein anerkannt. Dagegen darf 
nicht verschwiegen werden, daß dem Ver¬ 
fahren eine Reihe von Komplikationen 
und Gefahren anhaften, die vor allem, 
wenn ein Pneumothorax nicht nach ab¬ 
soluter Indikation angelegt wui^de, für 
den Kränken verhängnisvoll werden 
können. 

Dem einzelnen Spezialisten für die 
Tuberkulosebehandlung begegnen diese 
schweren Komplikationen vielleicht nicht 
so häufig, er verfügt meist über kein allzu 
großes Material an Beobachtungen. Selbst 
großen Sanatorien entgehen vielfach diese 
Fälle. Dagegen sind sie leider in relativ 
großer Anzahl in den chirurgischen Ab¬ 
teilungen der einzelnen Krankenhäuser 
an zu treffen. 

Sehen wir ab von den leicht zu ver¬ 
meidenden Zwischenfällen beim Anlegen 
eines Pneumothorax: dem Pleurareflex, 
dem interstitiellen Emphysem der Lunge, 
der Luftembolie sowie der Überdosierung 
des Druckes-, unter dem der Pneumo¬ 
thorax angelegt wird, so sind es die 
Exsudate, welche sich in einer großen 
Anzahl der Fälle früher und später im 
Pneumothoraxraum entwickeln und so 
verhängnisvoll werden können. Sie treten 
in fast 50 % -aller Pneumothoraxfälle auf 
und haben'verschiedene Bedeutung. Wir 
kennen sie als seröse Ergüsse, als eitrige 
rein tuberkulöse Exsudate ohne Bei¬ 
mengung von Mischinfekten, sowie vor 
allem als die verschiedenste Form der 
bland oder schwer mischinfizierten Em¬ 
pyeme. Allerr gemeinsam ist, daß sie 
unter Umständen äußerst schnell sich 
entwickeln können, daß somit die Druck¬ 
verhältnisse im Pneumothoraxraum er¬ 
heblich hohe positive Werte erreichen 
und somit rasch eine lebensbedrohende 
Mediastinalverdrängung auftreten kann. 





283 


August Die Theriäpie der Gegenwart 1921 


Die einzelnen Formen haben daneben je 
nach der Art ihrer Entstehung sowie vor 
allem nach Gehalt an Bakterien eine 
besondere Bedeutung. Sei es nun, daß 
durch Lösen von Adhäsionen, durch 
Durchbruch von Kavernen in denPneumo- 
thoraxraum, durch Infektion von der 
Lunge aus auf dem Lymphwege sich 
bland oder schwer infizierte Ergösse im 
Pneum'othoraxraume bilden, so ändert 
sich mit einem Schlage die Gesamt¬ 
situation für das betreffende Individuum. 
Die schwersten Formen sind entschieden 
diejenigen, bei denen es zum Durchbruch 
von Kavernen in die Pleura kommt; sie 
bilden das Bild der allerschwersten Misch¬ 
infektion. Diese Patienten gehen in der 
Mehrzahl der Fälle zugrunde. Auch der Ver¬ 
such, sie operativ zu retten, schlägt meist 
fehl. Wir verfügen über eine große An¬ 
zahl von Beobachtungen eines von anderer 
Seite angelegtem Pneumothorax, bei 
denen diese Komplikationen und in der 
Mehrzahl der Fälle der Tod eintrat. Auf 
die Behandlung dieser einzelnen Exsudat¬ 
formen kann ich an dieser Stelle nicht 
eingehen, sie ist von Brauer und Speng¬ 
ler, sowie von Sauerbruch, Jehn und 
V. Muralt niedergelegt worden. Wich¬ 
tiger erscheint mir darauf hinzuweisen, 
daß in vielen Fällen diese Exsudate eben 
dann entstehen, wenn von nicht genügend 
geschulter Seite Pneumothoraxversuche 
unternommen werden und daß anderer¬ 
seits eine große Anzahl dieser Exsudate 
nicht beobachtet werden, wenn der thera¬ 
peutische Pneumothorax nur von Sach- 
verständ^’gen nach sorgfältiger kritischer 
Untersuchung angelegt wird. 

Wir haben entschieden an der Hand 
eines großen Materiales den Eindruck, 
daß in dieser Hinsicht manches geschieht, 
das geeignet sein kann den Wert und die 
Bedeutung des therapeutischen Pneumo¬ 
thorax in Mißkredit zu bringen. Unsere 
Auffassung ist, daß unter allen Umständen 
in gee'gneten Fällen unter sorgfältiger 
kritischer Bewertung aller eben be¬ 
sprochener Momente der therapeutische 
Pneumothorax bei freiem Pleuraspalt an¬ 
zulegen ist. Besteht diese Möglichkeit 
infolge partieller oder totaler Verwach¬ 
sungen der Lunge mit ihrer Pleura 
parietalis und pulmonalis nicht, so tritt 
die Erwägung an uns heran, durch eine 
extrapleuiale Thorakoplastik der Lunge 
die Möglichkeit zu geben sich zu retra- 
hieren. 

Für alle diejenigen Fälle, bei denen 
infolge von Verwachsungen über der i 


Lungenspitze nur ein partieller Pneumo¬ 
thorax über dem Unterlappen angelegt 
werden kann, ist so vorzugehen, daß über 
dem nicht retrahierten Teile der Lunge 
eine partielle extrapleurale Thorakoplastik 
ausgeführt wird, mit anderen Worten, 
daß wir die kombinierte xMethode eines 
partiellen therapeutischen Pneumothorax 
mit einer Thorakoplastik anwenden. Dieses 
Verfahren können wir mit Ranke als 
ein Idealverfahren bezeichnen. 

In weitaus der größten Zahl der Falle 
wird unser Bestreben dahingehen, die 
erkrankte Lunge durch eine Totalthorako- 
plastik zum Kollaps zu bringen. Klinische 
Erfahrungen und Beobachtungen haben 
uns gelehrt, daß wir stets bei allen aus¬ 
gedehnten Brustwandresektionen bei Lun¬ 
gentuberkulose über dem Unterlappen 
zu beginnen haben. Denn bei umgekehr¬ 
tem Vorgehen ist die Gefahr der Aspi¬ 
ration außerordentlich groß. Daß die 
extrapleurale Thorakoplastik, selbst wenn 
sie in großer Ausdehnung ausgeführt wird 
nie zu einem so vollständigen Kollaps 
der Lunge führt wie der Totalpneumo¬ 
thorax, ist aus anatomischen Gründen 
verständlich. Trotzdem werden selbst 
durch partiellen Lungenkollaps die mecha¬ 
nischen und biologischen Verhältnisse in 
der Lunge so beeinflußt, daß wir selbst 
bei schwersten Fällen einseitiger Tuber¬ 
kulose einen guten Erfolg eintreten sehen, 
wenn wir sie nach Sauerbruchs Vor¬ 
schlag als paravertebrale Rippenresektion 
äusführen. Es werden 4 bis 8 cm lange 
Stücke aus jeder Rippe subperiostal re¬ 
seziert. Die Operation wird je nach Lage 
der Fälle in einer, zwei, gelegentlich auch 
mehreren Sitzungen ausgeführt, immer so, 
daß über den unteren Thoraxpartien be¬ 
gonnen wird. 

Die einseitige Operation ist gelegent¬ 
lich ein großer Eingriff. Plötzliche Atem¬ 
behinderung durch Mediastinalflattern 
können unter Umständen in den ersten 
Stunden nach der Operation den Tod 
des Operierten zur Folge haben. Sie wird 
von uns nur in ausgewählten Fällen mit 
kräftigem Herzen und möglichst fixiertem 
Mittelfell ausgeführt. Weitaus die Mehr¬ 
zahl aller Fälle wird zweizeitig operiert: 
der Eingriff wird so dosiert und der Or¬ 
ganismus kann so sich leichter an die 
neuen mechanischen und biologischen 
Veihältnisse anpassen. Während wir 
früher ausschließlich in Lokalanästhesie 
operierten, führen wir jetzt bei geringen 
Sputummengen — bis 30 ccm — die 
Operation in Narkose aus. Einige üble 

36* 




284 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


August X 


Zwischenfälle bei Verwendung von.Novo¬ 
kain haben uns mehr Vorsicht in der An¬ 
wendung dieses Mittels geboten. 

. Wichtig ist, daß diese Operationen 
ln größter Geschwindigkeit ausgeführt 
werden. Hier sind Minuten gelegentlich 
von großer Bedeutung. Bei einiger Übung 
gelingt es in 15 bis 20 Minuten die Opera¬ 
tion aiiszuführen. 

Ebenso wichtig ist eine sachgemäße 
Nachbehandlung. Eine aufmerksame 
sachverständige Pflege sichert den Er¬ 
folg. Meist tritt nach der Operation für 
einige Tage Temperatur bis zu 39® auf. 
Üer Puls geht bis 120 Schläge in der 
Minute in die Höhe. Die Temperaturen 
sind fast typisch und wohl so aufzufassen, 
daß es infolge des Lungenkollapses zu 
einer Toxinüberschwemmung des Körpers 
kommt. Der Hauptwert der* Nachbe¬ 
handlung ist darauf zu legen, daß die 
Operierten vom ersten Tage an genügend 
expektorieren. Zur Erleichterung wird 
Morphium in großer Dosis gegeben. Es 
nimmt die Schmerzen und wirkt so als 
Expektorans. 

Neben dieser Methode der extra¬ 
pleuralen Thorakoplastik verfügen wie, 
noch über einige Verfahren, die nur als 
unterstützende Operationen ausgeführt 
werden. Eine praktische Bedeutung.haben 
sie unseres Eerachtens als selbständige 
Methoden nicht mehr. Über die Phreni¬ 
kotomie wurde oben bereits das Wesent¬ 
liche vorgetragen. Wir warnen dringend 
vor der intrapleiiralen Pneumolyse zur 
Beseitigung von Strängen bei inkomplet¬ 
tem therapeutischem Pneumothorax. Wir 
sahen schwierige Zwischenfälle. Für dieses 
Verfahren bietet die oben besprochene 
Kombination von Pneumothorax mit 
extrapleuraler Thorakoplastik einen vol¬ 
len und sicheren Ersatz. 

Wird bei großen starrwandigen Ka¬ 
vernen durch die extrapleurale Thorako¬ 
plastik kein vollständiger Erfolg erzielt, 
so kann die extrapleurale Pneurnolyse mit 
der Thorakoplastik kombiniert werden. 
Sie ist ungefährlich: die Lunge wird nach 
Resektion einiger Rippen stumpf vom 
Brustkorb losgelöst. Die so entstehende 
Höhle kann tamponiert oder der sekun¬ 
dären Heilung überlassen werden. Auch 
können Plomben mit Fett und Paraffin 


eingelegt werden. Wegen der Gefahren 
dieser Methoden, die darin beruhen, daß 
vor allem die Plomben nach außen oder 
gar in die Lunge durchbrechen können, 
verwenden wir sie nur äußerst selten. 

Ebenso reserviert verhalten wir uns 
gegenüber der Kaverneneröffnung. Sie 
sollte nur vorgenommen werden bei starr¬ 
wandigen Hohlräumen, welche durch ein¬ 
fache Thorakoplastik nicht zum Kollaps 
gebracht werden können und bei denen 
infolge jauchigen Zerfalles ihres Inhaltes 
durch Resorption der Allgemeinzustand 
schwer geschädigt würde. Nach vorheriger 
Rippenresektion wird die Kaverne wie 
ein Absceß eröffnet. Etwaige bestehen¬ 
bleibende Lungen- bzw. Bfonchialfisteln 
werden später plastisch verschlossen. 

M. H.! Ich'konnte Ihnen in großen 
Zügen die Gesichtspunkte schildern, nach 
denen in unserer Klinik die'operative 
Behandlungder Lungentuberkulose durch¬ 
geführt wird. Wenn ich jetzt dazu über¬ 
gehe, Ihnen über unsere Resultate zu 
berichten, so betone ich, daß, wie ein¬ 
gangs erwähnt, nur das Material der 
Jahre 1907 bis 1919, im ganzen 380 Fälle, 
hier besprochen werden soll. Die Re¬ 
sultate der folgenden Jahre werden dem¬ 
nächst von Brunner bekanntgegeben. 
Von 380 Kranken wurden 134 = 35% 
geheilt. Die Operationsmortalität inner¬ 
halb der ersten Tage ist gering und beträgt 
2%. Größer ist dagegen die Anzahl der 
Todesfälle in den ersten Wochen. Sie 
beträgt 12®/o. Von den somit übrig¬ 
bleibenden weiteren 50% verteilen sich 
die Verhältnisse so, daß etwa 20 % wesent¬ 
lich gebessert, weitere 20 % gebessert und 
der Rest von 10% nach anfänglichem 
Stillstand oder Besserung später ge¬ 
storben ist. 

Der Skepsis und den Bedenken, die 
im Anfänge der operativen Behandlung 
der Lungenituberkulose entgegengebracht 
\vurden, sind jetzt diese Zahlen entgegen¬ 
zuhalten. Sie’beweisen, daß einmal unsere 
anatomischen und klinischen Vorstel- 
lungm von der Heilbarkeit der einseitigen 
Lungentuberkulose durch operative Ma߬ 
nahmen richt'g sind, sodann aber, daß 
es gelingt, bei richtiger Auswahl der Fälle 
mindestens ein Drittel aller Operierten 
aus vorher Schwerkranken zu arbeits¬ 
fähigen Menschen zu machen. 



August 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


" 28 ^ 


Aus der 11. mediziuisclieii Universitätsklinik in München (Direktor: Prof. Fr. Müller). 


Psychische Einflüsse auf die 

Von <L 

Es ist gewiß kein „Rückschritt'*, 
wenn in Vergessenheit geratene Kennt¬ 
nisse der früheren wieder ins Bewußtsein 
gehoben werden, um nun im Verein mit 
den inzwischen gefundenen Tatsachen 
.zu einem tieferen und umfänglicheren 
Erfassen der lebendigen Vorgänge zu 
führen. Die medizinische Forschung der 
letzten Jahrzehnte war mit der Aus¬ 
wertung von Möglichkeiten, die sich durch 
Verfeinerung technischer Hilfsmittel und 
die Fortschritte der Nachbarwissenschaf¬ 
ten boten, derart beschäftigt, daß über 
der Fülle der Arbeitsgebiete, und der Ent¬ 
deckungen manches alttiberkommene ärzt¬ 
liche Wissen stark in den Hintergrund 
gedrängt Wurde; ja, nicht nur dies: Die 
Sehweise dieser Epoche war mit der¬ 
artiger eifriger Einseitigkeit auf ihre Ar¬ 
beitsmittel eingestellt, daß sie diese für 
die einzigen Arbeitsmöglichkeiten, ihre 
Ergebnisse für die allein ,,exakten" hielt. 

. Wie unter den |roßen Erfolgen der 
Virchowschen cellular- und organpatho¬ 
logischen Betrachtiingsart der Blick für 
den Organismus als Ganzes, so versank 
im Lichte der zahllosen chemischen und 
physikalischen Forschungen das Wissen 
ins Dunkel, daß der Mensch — als 
Mensch! — dadurch nicht erfaßt wird, 
daß man ihn als ein ,,höheres Tier" oder 
als chemisch-physikalischen Prozeß allein 
betrachtet; das Wissen um die psychi¬ 
schen Vorgänge, ihre Wechselseitigen Be¬ 
ziehungen zum Physischen und ihre emi¬ 
nent wichtige Rolle gerade auch bei allen 
krankhaften Prozessen versank. 

Es würde den zur Verfügung stehen¬ 
den Raum weit überschreiten, sollte hier 
eine ausführliche Definition dessen ge¬ 
geben werden, was diese ,,Psyche" ist; 
es genügt zu sagen, daß darunter eine 
primäre lebendige Kraft verstanden wird, 
die zwar ohne greifbare physische Vor¬ 
gänge nicht gedacht werden kann und 
nicht existiert (also nicht etwa der alten 
„Lebenskraft" gleichzusetzen ist, welche 
man als eine reine Hypothese kausal vor 
den Ablauf der lebendigen Prozesse setzen 
wollte), die aber ebensowenig aus diesen 
chemischen und physikalischen Verände¬ 
rungen erklärt werden kann. Diese 
psychischen Vo/gänge (und ihr physi¬ 
sches Korrelat) haben in ihrer prinzi¬ 
piellen Bedeutung neuerlich zuerst die 
Psychotherapeuten wieder betont; ge- 


menschliche Ma^ensekretion. 

L Heyer. 

wußt von ihnen und vor allem mit den 
resultierenden Möglichkeiten gearbeitet 
hat der gute Arzt immer. Die Erfolge des 
„alten Practicus", der so oft mit den 
ällerneuesten Errungenschaften nichts an¬ 
zufangen gewußt und doch seinen Pa¬ 
tienten geholfen hatj beruhen unter an¬ 
derem auf dem geschickten Erfassen und 
oft unbewußten Eingehen auf solche 
psychischen Verhältnisseseiner Patienten. 
Das Wissen um diese Dinge ist auch von 
einsichtigen Wissenschaftlern immer wie¬ 
der betont worden. So weist Fleiner jn 
seiner Arbeit über die Darmerkrankungen 
in Kraus-Brugschs Sammelwerk un¬ 
zählige Male auf die Rolle psychogener 
Komplikationen hin und führt Erfolge, 
die ihm neuerlich beschieden waren/’auf 
seine gewachsene psychotherapeutische 
Erfahrung zurück. Aber in breiten Mittel¬ 
schichten ist es fast Mode geworderi, 
solche Anschauungen mit einer Skepsis zu 
bedenken, wie sie dem täglichen Markt 
chemisch-physikalischer Operationen n icht 
entgegengebracht wird. 

Daran mag mit Schuld sein^ daß 
heutigentages die Kurpfuscher sich — in 
phantastischer Manier freilich — der aus 
der Suggestibilität, den inneren Bedürf¬ 
nissen der Kranken, ergebenden Möglich¬ 
keiten zum Erfolg weitgehend bedienen; 
ebenso wie die offizielle Medizin sich 
dieser dankbaren Waffen entledigt hat. 
Das vollkommen falsche Vorurteil, daß 
alle psychogenen Komponenten krank¬ 
hafter Zustände „hysterisch" seien, trägt 
wohl auch viel zu der allgemeinen Ab¬ 
neigung bei, solche Verhältnisse zu be¬ 
rücksichtigen und therapeutisch auf dem 
psychischen Wege anzugehen. Muß das 
aber so sein? 

Es kann sich für uns nicht darum 
handeln, heute einfach vergangene An¬ 
schauungen wieder aufzunehmenj son¬ 
dern im Rahmen unserer heutigen An¬ 
schauungen müssen Wir streben, jenes 
große einstige Wissen — wie es z. B. in 
Hufelands immer noch lesenswerten 
Werken lebt — in unserer Form wieder 
lebendig zu machenj sollte dabei irgend¬ 
eine herrschende Vorstellung sich als 
revisionsbedürftigerweisen, wäre das nicht 
zu bedauern 1 

Mit den exakten Methoden des Experi¬ 
ments gilt es zu forschen. So gewonnene- 
Resultate werden dann auch dem Arzt 





Die Therapie der Gegenwart 1921 


August 


am Krankenbett helfen können und ihn 
lehren, wie oft mit ein paar Worten^ 
einigen Suggestionen oder richtig ge¬ 
wählten Anordnungen mehr erreicht wer¬ 
den kann, als mit vielen und teueren 
Medikamenten. Zu diesem Erfolg muß 
aber neben dem einfachen seelischen Takt 
— -"eine Voraussetzung — das Wissen 
kommen. Um dieses ist es noch dürftig 
bestellt: Was wissen wir von den Ein¬ 
wirkungen der psychischen Vorgänge auf 
die physiologischen Abläufe und umge¬ 
kehrt? Hier harrt ein großes Arbeits¬ 
gebiet noch der Erforschung. Wir wissen, 
daß — neben und in Verbindung mit den 
endokrinen Drüsen — das vegetative 
Nervensystem es ist, in welchem solche 
Prozesse großenteils vor sich gehen. 
Webers Arbeiten über die Blutverschie- 
hungen bei geistigen Vorgängen geben da 
bereits wertvolle Aufschlüsse; aber zahl¬ 
lose Fragen sind noch unbeantwortet. 

Ich bin der Aufforderung der Schrift¬ 
leitung deshalb gern gefolgt, hier über 
die Ergebnisse von Arbeiten zu berichten, 
die sich mit den sekretorischen Leistungen 
des menschlichen Magens beschäftigen. 
Sie geben einigen vorläufigen Aufschluß 
über die mannigfaltige Abhängigkeit dieser 
Arbeit von psychischen Vorgängen und 
ermöglichen auch bereits gewisse thera¬ 
peutische Konsequenzen, auf die hier der 
Hauptakzent gelegt werden soll. 

Schon Pawlow hatte die große Rolle 
des Appetits für die Magensekretion des 
Hundes bewiesen; „Appetit ist Saft“. 
Viele spätere Studien bestätigten und er¬ 
weiterten seine genialen Forschungen. 
Für den Magen des Menschen aber wurde 
die Rolle der Eßlust — von Einigen 
z. B. als ,,zu animalisch“ — abgelehnt; 
Experimente an Magenfistelpatienten 
-ergaben keine eindeutigen Resultate. Mit 
der üblichen klinischen Prüfung mittels 
Probeessen war hier Klärung unmöglich. 
Niemand weiß, wieviel von dem Ausge¬ 
heberten Appetitsaft und wieviel später 
durch chemische Einwirkungen abgeson- 
’derter Saft, wieviel Mengenteile über¬ 
haupt Magensaft und Speichel, Nahrung 
oder Gallerückfluß sind. Andererseits 
würde die Feststellung, daß schon die 
einfache innere Beschäftigung mit der 
Speise — also ihr Anblick, Geruch und 
Verlangen usw. — wirksam ist, wichtige, 
physiologische und therapeutische Finger¬ 
zeige geben. 

Wir haben, um Aufschluß hierüber zu 
bekommen, geeignete magengesunde Indi¬ 


viduen hypnotisiert, ihnen in tiefer Hyp¬ 
nose scharf präzisierte Suggestionen von 
Speisung gegeben und durch eine in der 
Hypnose, also ohne Wissen der Patienten, 
eingeführte Sonde (ähnlich der üblichen 
Duodenalsonde) die Wirkung solcher 
Suggestinonen untersucht^). 

Es darf an dieser Stelle erwähnt wer¬ 
den, daß auch der ,,leere“ Magen stets 
mäßige Mengen meist sauren Inhalts auf¬ 
wies. 

Wir stellten fest, daß ohne Ausnahme 
auf solche suggerierte — also rein fiktive.— 
Speisung hin, stets lebhafter Fluß von 
Magensaft auftrat. Bis zum Beginn dieser 
Sekretion verging eine individuell ver¬ 
schiedene Latenzzeit von ein bis sieben 
Minuten, die Menge des abgesonderten 
Saftes, welcher 20—25 Minuten, mitunter 
noch länger floß, schwankte, und zwar 
schien sie abhängig zu sein von der Leb¬ 
haftigkeit, mit der die Suggestion auf¬ 
gefaßt war, also eine Appetitwirkung. 
Im ganzen erhielten wir pro Versuch zwi¬ 
schen 20—100 ccm reinen Saft. Ist schon 
diese psychogene SÄretion interessant^ 
so ist es noch mehr der Umstand, daß 
ihr jeweiliger Ablauf ganz verschieden 
war, je nachdem welche Speise wir sug¬ 
geriert hatten. Schon PaWlow teilte 
Kurven mit, die zeigten, daß bei Fleisch-, 
Brot- oder Milchfütterung in der Zeit¬ 
einheitganzunterschiedliche Mengen Saft 
abgesondert werden. Bei Fleisch- oder 
bei uns aus versuchstechnischen Gründen 
bei Bouillon — folgt einer sofortigen 
hohen Sekretion ein alsbaldiger Abfall 
und Stillstand. Bei Milch steigt die Se¬ 
kretion langsamer an und fällt auch lang¬ 
samer wieder ab; bei Brot verläuft die 
Saftmengenkurve noch protrahierter, ist 
nicht so gleichmäßig und namentlich in 
ihrem Abfall stark schleppend. 

Ein Vergleich der Pawlowschen Kur¬ 
ven mit den unseren wird diese Verhält¬ 
nisse am besten illustrieren (S. 287): 

Hierin haben wir einen weiteren Bei¬ 
trag zu den Abhängigkeiten psycho¬ 
physischer Vorgänge. Aber auch die fer¬ 
mentative Eiweißverdauungskraft in 
diesen Magensäften ist specifisch einge¬ 
stellt auf die Art der suggerierten Nah¬ 
rung. Auch hier geben Kurven wieder 
das beste Bild. 


1) Die Einzelheiten der angewendeten Technik 
sind ausführlich im Archiv für Verdauungskrank¬ 
heiten Bd. XXVII, Heft 4/5ff., mitgeteilt, dort 
auch die Literatur. 


August 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


287 



stunden- 
Periode 



Fig. 2. Saftmengen in Stunden-Perioden beim Hund. 
(Nach Pawlow.) 

verdaute 

Eiweißsäule 


Die Rolle des Appetitsaftes für den 
folgenden Teil der Verdauung ist außer¬ 
ordentlich groß. Er ermöglicht, wie 
Pawlow gezeigt hat, die Vorgänge erst^ 
die dann zu Freiwerden von Proteinen, 
Extraktivstoffen usw. führen, und damit 
zum Erguß weiteren Saftes durch die 
chemische Reizwirkung dieser Verdau- 
ungsprodukte. Der Appetit ist also nicht 
etwa eine gleichgültige angenehme Emp¬ 
findung, sondern notwendigfür den ganzen 
Akt der Magen Verdauung! 



Fig. 3. Ei weiß verdauende Kraft des menschlichen Magensaftes. 



I Diese Untersuchungen gaben die posi- 
I tiven Grundlagen ab für weitere Experi¬ 
mente, die sich mit der Frage beschäf¬ 
tigten, wieweit nun dieser psychogene 
Saftfluß auf psychischem oder pharma¬ 
kologischem Wege wieder gebremst wer¬ 
den kann. Daß Angst vor der Prozedur 
der nachfolgenden Ausheberung die Säure¬ 
verhältnisse nachträglich beeinflußt, hat 
Li. A. Gradnauer^) in einer hübschen 

2) D. Arch. f. kl. Med. 1911, 101 u. 102. 










288 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


August 


■ Arbeit gezeigt. Können dies aber auch 
.andere seelische Emotionen, die während 
•der Arbeit des Magens im Patienten vor- 
.gehen? Oder ist es gleichgültig, in wel¬ 
cher Verfassung sich der Essende befindet? 

Wir bewirkten durch geeignete Sug¬ 
gestionen den Fluß von Appetitsaft; 
wenn dieser kräftig im Gange war, unter¬ 
warfen wir die V.-P. lebhaften Vorstel¬ 
lungen von einerseits Furcht, Schrecken 
•oder Besorgnissen, von andererseits freu¬ 
digen Ereignissen, wie sich das in der 
Hypnose leicht erzielen läßt. Sie schafft 
ja gerade die gewünschte Versuchslage, 
•daß sich unsere V.-P. nicht in dem un¬ 
durchschaubaren Tausenderlei der be¬ 
wußten und unterbewußten seelischen 
Schwingungen des Wachen befindet, son- 
•dern ein eingeengtes inneres Leben hat, 
das wir weitgehend kennen, ja (suggestiv) 
beherrschen können. Die dann von uns 
gewollten seelischen Prozesse verlaufen 
dadurch denkbar intensiv. Es zeigte sich, 
daß so erzeugte Affekte eine störende 
Wirkung auf den Saftfluß hatten, wobei 
es sich im wesentlichen als gleichgültig 
erwies,, ob sie eu- oder dysphorischer Art 
waren. Es liegt allerdings im Wesen der 
freudigen Sensationen, daß sie langsamer 
aufklingen; die Vorstellung der Todes¬ 
gefahr (etwa durch eine Verschüttung im 
Kriege) überfällt den Menschen erklär¬ 
licherweise mit plötzlicherer und un¬ 
widerstehlicherer Gewalt als etwa die 
eines Lotteriegewinnes; in dem 
ersteren Falle ist die innere Situation als 
eine force majeure sofort da, in dem 
zweiten kann eine langsamere innere Ein¬ 
stellung stattfinden. Demgemäß War das 
Versiegen der Sekretion auch bei den 
angenehmen Sensationen etwas lang¬ 
samer — von etwa drei bis fünf Minuten 
Dauer —, während der Eintritt dysphori¬ 
scher Vorstellungen in den meisten Fällen 
schlagartig den Saftfluß sistieren ließ; 
selten flössen noch einige Kubikzentimeter 
Saft. Nur einmal, interessanterweise bei 
einem ausgesprochenen ,,Vagotoniker“ 
(Asthma bronch., Hypersecretio und 
motilitas ventriculi), trat mit dem Er¬ 
lebnis einer Verschüttung ein momen¬ 
taner abundanter Saftfluß ein, der zwei 
Minuten anhielt; dann war jede Sekre¬ 
tion erloschen. 

Wurden die Suggestionen rechtzeitig 
wieder beseitigt, erholte sich die Sekretion 
meist wieder, der Saft floß von neuem. 

Daß solche Störungen des normalen 
Ablaufes auch weitergehend von ner¬ 
vösen Anomalien des Gesamtstatus be¬ 


wirkt werden können, bewies ein Epilep¬ 
tiker: dieser zeigte vor und nach dem 
Anfall ganz atypische Verläufe. 

Wir erblicken in diesen Resultaten 
einen deutlichen Hinweis darauf, daß 
eine Ablenkung der inneren Aufmerksam¬ 
keit vom Eßakt dem Verdauungsverlauf 
auch dann noch schädlich ist, wenn der 
Verdauungsprozeß schon begonnen hat. 
Diese Störung ist sicher zum Teil durch 
Tonusverlagerung im autonomen Nerven¬ 
system bewirkt (siehe die bereits genann¬ 
ten Web ersehen Studien über die Blut¬ 
verschiebungen bei geistigen Vorgängen). 
Es scheint aber noch eine aktive Hem¬ 
mung vorzuliegen, denn wie die gleich 
zu berichtenden Versuche mit Medika¬ 
menten beweisen, ist eine einfache Blockie¬ 
rung des sekretionserregenden Nervus 
vagus nicht imstande zu bremsen, wenn 
die fördernden Impulse die in der Magen¬ 
wand gelegenen Systeme nervöser Art 
erst einmal erreicht und in Tätigkeit ge¬ 
bracht haben. 

Wir untersuchten nämlich den Ein¬ 
fluß von Atropin (beziehungsweise dem 
gleichsinnig wirkenden ungefährlicheren 
Eumydrin)und Pilokarpin. Die Resultate 
mit letzterem wechselten so stark, daß 
sich Schlüsse daraus nicht ziehen lassen. 
Seine medikamentöse Verwendung scheint 
noch nicht spruchreif, dazu ist es gefähr¬ 
lich, weil eine auffallende Neigung der 
Magenschleimhaut zu Blutungen zu beob¬ 
achten war. — Mit Atropin dagegen 
konnten wir wenigstens einen Teil der 
Ursachen, weswegen auch diese bisher 
mitunter verschiedene Wirkungen ergeben 
hat, aufklären. Es ist nämlich von großer 
Wichtigkeit, wann die Belladonna ge¬ 
geben wird. Gaben wir das Medikament, 
ehe die Suggestion erfolgte oder unmittel¬ 
bar nach dem Beginn der ersten Sekre¬ 
tion — höchstens ein bis zwei Minuten 
später —, so wurde die Menge des Magen¬ 
saftes ganz bedeutend geringer und seine 
freie Säure unter die sonstige Norm ge¬ 
drückt. Gerade bei sonst stark hyper- 
aciden Patienten war diese Wirkung am 
deutlichsten. Wenn wir jedoch ein¬ 
spritzten, nachdem der Fluß schon im 
vollen Gange war, konnten wir diese 
zweifache Wirkung nicht mehr konsta¬ 
tieren: Weder Menge noch Acidität wurde 
irgendwie nachweisbar beeinflußt. Die 
Größe der gegebenen Dosen erwies sich 
als ohne sicheren Einfluß. 

Diese Verhältnisse entsprechen recht 
gut unseren derzeitigen Vorstellungen. 
Den Angriffspunkt des Atropins verlegen 




August 


Die Therapie der . Gegenwart. 1921' 


289> 


wir in die Endigungen des. Vagus in der 
Magenwand. Werden diese gelähmt, ehe 
noch der psychogene Impulsstattgefunden 
hat oder wenigstens ehe er in ausreichender 
Intensität wirksam werden konnte, so ist 
damit der Weg ins intramurale System 
des Magens versperrt oder wenigstens er¬ 
schwert. Wir haben dann — ganz oder 
teilweise — den Erfolg Pawlows bei 
Vagusdurchschneidung, mach welcher kein 
Appetitsaft mehr fließt. Ist aber die Er¬ 
regung in dies System bereits überge¬ 
gangen, so kann die nachträgliche Sperre 
nichts mehr nützen, bei der offenbar 
weitgehend selbständigen Tätigkeit dieses 
Organs ist ein Einfluß nicht mehr mög¬ 
lich. Nun kann nur noch positive Hem¬ 
mung etwas ausrichten. Diese glauben 
wir in den Affektversuchen wirksam zu 
sehen (siehe oben). 

Daraus ergibt sich, daß die Atropin¬ 
behandlung von Hypersekretion und -aci- 
dität auf durchaus richtigen Voraus¬ 
setzungen basiert. Doch muß die Ordina¬ 
tion darauf Rücksicht nehmen, daß der 
Patient seine Pille nicht erst nimmt, 
wenn er schon am Eßtisch sitzt oder gar, 
wenn die Beschwerden schon eingetreten 
sind, sondern rechtzeitig zu festbestimm- 
ten Zeiten, ehe irgendwelche Situationen 
oder Assoziationen zur Sekretion des 
Appetitsaftes geführt haben.. Denn wenn 
natürlich die Vagussperre bei der spä¬ 
teren ,,chemischen“ Sekretion in jedem 
Falle noch nützlich ist, so ist doch, wie 
oben bereits betont, der Appetitsaft in 
engem Zusammenhang auch mit der 
zweiten Periode der Sekretion zu denken. 

Weitere Studien betrafen die Frage 
der Säurekonzentration. Bekanntlich ist 
es noch strittig, ob der Magen immer 
gleichkonzentrierten Saft ergießt oder ob 
er diese Konzentrationsbreite weiter¬ 
gehend ändern kann. Wir titrierten un¬ 
seren — ja nur mit Magenschleim ver¬ 
mischten — Saft mit Dimethylparaamido- 
benzol und Phenophtalein in der von 
Michaelis angegebenen Weise; wir 
sagten uns, daß wir ein umgekehrt pro- 
gortionales Verhalten der freien und der 
gebundenen Säure und eine etwa gleich¬ 
mäßige Gesamtsäure zu erwarten hatten, 
wenn der Saft ursprünglich etwa in der 
gleichen Konzentration ergossen worden 
war. Dies war aber nicht der Fall; mit¬ 
unter entsprach einem Absinken der 
freien HC 1 in derselben Probe ein An¬ 
stieg der gebundenen, aber ausschlag¬ 
gebend war diese Beziehung nicht, beide 
Kurven liefen weitgehend unabhängig 


nebeneinander her. Die Kurve für die 
gebundene Säure blieb annähernd kon¬ 
stant; die für freie unterliegt starken 
Schwankungen. Gesetzmäßigkeiten ini 
diesem Verlauf zu finden, ist uns nicht 
gelungen. Die Meinung Pawlows, daß. 
je rascher der Saft an der alkalischen 
Magenwand herabfließe, desto höher die 
freie Säure sei,bestätigte sich nitht. Super¬ 
sekretion und Superacidität sind nicht 
dasselbe, wenn beide natürlich auch ver¬ 
eint Vorkommen können. 

Schließlich prüften wir den von Man¬ 
chen behaupteten Einfluß von Eingießun¬ 
gen ins Rectum auf die Sekretion von 
Mafgensaft. Nicht immer, aber in den 
meisten Versuchen erfolgte bei solchen 
Eingießungen ein fast sofortiger lebhafter 
aber nur fünf bis zehn Minuten dauernder 
Fluß von Saft. Dieser kann nicht durch 
Resorption von Extraktivstoffen auf dem. 
Blutweg zustandegekommen sein; denn 
mit warmem Leitungswasser trat der 
gleiche Erfolg ein, wie mit Bouillon. Es. 
mußten jedoch größere Mengen (einhalh 
bis ein Liter) gegeben werden, um den 
Fluß zu erzielen; wir möchten den Anraz 
in dem Füllungsgefühl des unteren Darmes 
erblicken. 

Wenn schließlich kurz das Ergebnis 
der skizzierten Versuche in diätetischer 
und therapeutischer Hinsicht zusammen¬ 
gefaßt werden soll, so läßt sich — indem 
wir die Pawlowschen und sonstige Er¬ 
fahrungen mit einbeziehen — folgendes 
sagen: 

Der Appetit, das Verlangen nach 
Speisung und ihre genußreiche Aufnahme 
ist von großer Bedeutung für die Menge 
des ergossenen Appetitsaftes. Wir wissen 
aber, vor allem äus Pawlows genialen 
Arbeiten, daß dieser für die weitere Ab¬ 
wicklung der Magen- und Pankreassekre¬ 
tion unentbehrlich ist. Durch seine Wir¬ 
kung erst werden diejenigen Stoffe in 
ausreichender Menge aus der genossenen 
Speise freigemacht, die zu der nach¬ 
folgenden chemischen Erregung führen. 
Dagegen bewirkt Fehlen des Appetit¬ 
saftes überlanges Verweilen der Nahrung 
im Magen — mit allen seinen üblen 
Folgen — und schlechte Ausnützung des 
Genossenen. Je reichlicher dieser initiale 
Saftstrom, desto besser die Verdauung! 
Den Appetit zu heben, muß also in allen 
Zuständen von Krankheit und Schwäche 
ein Hauptbestreben des Arztes sein. 
Diese Hebung kann einmal durch die 
bekannten Mittel, insbesondere die Amara, 
erfolgen. Die Wirkung dieser Stoffe ge- 

37 





200 . 


Die Therapie der Gegenwart 1921' 


August 


schiebt sicher auch großenteils auf psychi¬ 
schem Wege; ihre direkte vom Magen 
aus ist schwach; sie dürften.im wesent 
liehen dadurch 'anregen, daß sie wie 
Fleischextrakt wohlschmeckend oind und 
damit Appetitvorstellungen wecken, oder 
wie die Bittermittel, daß sie den Zustand 
von Indifferentismus der Geschmacks¬ 
empfindung durch scharfe Kontrastwir¬ 
kung überwinden. Zum anderen sollte 
man von diesen Mitteln nicht alles Heil 
erwarten! Es gilt vielmehr, die äußeren 
Bedingungen zu prüfen, diese so zu ge¬ 
stalten, daß sie nicht wie so oft eine Er¬ 
schwerung, sondern ein Optimum der 
Verdauung bedeuten. Unruhe, Erre¬ 
gungen und anderweitig ablenkende Ein¬ 
drücke während der Mahlzeiten sind 
schädlich (Zeitungslesen, innerlich Weiter¬ 
arbeiten an den Tagesgeschäften). Da¬ 
gegen können gewohnheitsmäßige, ja zere¬ 
monielle Gebräuche, die regelmäßig die 
Mahlzeiten begleiten, auf dem Weg der 
bedingten Reflexe von großem Vorteil 
sein. .(Ich erinnere an das Kind mit der 
Magenfistel: dem man längere Zeit 
regelmäßig vor dem Essen einen Trom¬ 
petenton vorblies, bis schließlich auf den 
Ton der Trompete allein schon Magensaft 
aus der Fistel floß.) Diesen Erfolg hat 
das Glas Wasser oder Tokayer, hat das 
besondere Eßzimmer, der schön gedeckte 
Tisch, der besondere Anzug (England), 
ja schließlich das Tischgebet. Die Tafel¬ 
musik dient ähnlichen Zwecken: eine 
wohlgefällige Stimmung hervorzurufen, 
Welche die Ablenkungen des Alltäglichen 
wegnimmt und dem Vorgang des Essens 
eine gewisse Feierlichkeit und Wichtigkeit 
verleiht. 

Davon scharf verschieden, ja das 
gerade Gegenteil hiervon wäre etwa Auf¬ 
merksamkeit auf den Eßakt und den 
Verdauungsprozeß als solchen! 

In welchem Kontrast zu dem steht 
das Leben vieler Menschen, namentlich 
in den Großstädten! Kein Wunder, daß 
da die ,,schwachen Mägen“ an der Tages¬ 
ordnung sind. Symptomatische Therapie 
ist in solchen Fällen natürlich nutzlos; 
Bei den täglichen Gewohnheiten hat die 
Kur anzusetzen. Und tut es unbewußt 
ja auch oft, etwa mit der Empfehlung der 
alljährlichen Badereise, wo dann der 
Mensch mit einem gewissen Verpflich¬ 


tungsgefühl, sich ausgiebig zu erholen und 
heraufzuesisen, die Mahlzeiten mit Ruhe, 
Zeit und Genuß begeht. Von den kom¬ 
plizierteren Affektionen infolge schwerer 
gemütlicher Verwirrungen (bei Neurosen 
z. B.) kann hier nicht die Rede sein; 
diese gehören zur Behandlung ihrer 
,,Magen leiden“ in die Sprechstunde des 
Psychotherapeuten. 

Aber auch anderweitig Kranken, am 
Magen-Darm nur sekundär Mitbetroffene 
vermag Berücksichtigung dieser psychi¬ 
schen Verhältnisse günstig zu beeinflus¬ 
sen. Kleine Gaben häufigerer Mahlzeiten, 
diese geschickt ausgewählt, gefällig ge¬ 
reicht, werden ganz anders wirken, als 
noch so ausreichend berechnetes aber 
widerwillig oder gar nicht verzehrtes 
Calorienfutter. Mitunter kann die direkte 
Suggestion oder Hypnose die vermin¬ 
derte Eßlust heben; ein Fall von Typhus 
abdominalis, den ich hypnotisch über 
seine Kopfschmerzen völlig hinweg¬ 
brachte, nahm die gegebenen Appetit¬ 
suggestionen lebhaft an. 

Von der speziellen therapeutischen 
Indikation der Atropinkur ist bereits ein¬ 
gehend gesprochen worden. 

Aus der sekretionserregenden Wirkung 
größerer Rectaleinläufe ergibt sich die 
Konsequenz, diese etwa bei Ulcus ven- 
triculi, nicht in Form großer Klysmen, 
sondern zu Ernährungszwecken als Tropf¬ 
klistier und zur Darmentleerung als klei¬ 
nere Klistiere zu verabfolgen, die man 
ganz langsam einlaufen läßt. Das Flei- 
nersehe Ölklistier würde sich wohl be¬ 
sonders empfehlen. _ 

Die neuerlich angegebene Verwendung 
der Duodenalernährung bei Ulcus ventri- 
culi unter Umgehung des Magens scheint 
irrig in ihren Voraussetzungen: der ,,psy¬ 
chische“ Saft wird ohne im Magen durch 
Speise abgesättigt zu sein, sicher trotzdem 
ergossen, also der umgekehrte Effekt er¬ 
reicht werden! 

So ermöglicht die Berücksichtigung 
der psychophysischen Zusammenhänge 
dem Arzt neue Wirkungsmöglichkeiten. 
Die .Wechselbeziehungen zu psychischen 
Vorgängen, die man als ,,funktionell“ 
vielfach so ungern konstatiert, heißt es 
nur benutzen, um sich gerade aus ihnen 
neue Hilfsmittel zu schaffen. 




August Die Therapie der Gegenwart 1921 29i 

\ ' ' 

Aus der zweiten inneren Abteilung des städtischen Krankenhauses Neukölln 
(dirigierender Arzt: Oberarzt Dr. Zadek). 

Coliindexbestimmungen und Mutaflorbehandlung bei perniziöser 

Anämie. 

Von I. Zadek. 


Durch die Prüfung verschiedener Coli- 
rassen sowie der gegenseitigen Wachs¬ 
lumsverhältnisse von Coli- und Typhus- 
Jbakterien ist Nißle^) die Feststellung 
wesentlicher Unterschiede im biologi¬ 
schen Verhalten menschlicher Colistämme 
•gelungen. Sie wurden gefunden beim 
Zusammenbringen von Coli- und Typhus¬ 
bacillen in bestimmten Mengenverhält- 
.nissen, wobei sich zeigte, daß bestimmte 
CoUrassen sehr bald die Typhusbacillen 
in fh-rem Wachstum beeinträchtigen und 
schließlich kulturell ganz verdrängten, 
während- ändere Colistämme diese Eigen¬ 
schaften in sehr viel geringerem Grade 
oder gar nicht aufwiesen. Ohne vor¬ 
läufig eine Erklärung für dieses unter¬ 
schiedliche -Verhalten der Colistämme ab¬ 
geben zu können, besteht also die Mög¬ 
lichkeit, unter Anwendung einer be¬ 
stimmten, hier nicht ausführlicher wieder¬ 
zugebenden Methodik und Auszählung, 
«durch Feststellung des „antagonistischen 
Index“, den Grad der antagonistischen 
Fähigkeiten eines Colibakterium zu be¬ 
stimmen und damit kräftige ,,hoch- 
wertige‘‘ Colirassen von schwächeren 
,,minderwertigen“ zu trennen. 

Nißle hat in vergleichenden Stuhl¬ 
untersuchungen bei der Mehrzahl der 
Gesunden (und auch bei akuten Darm¬ 
infektionen) antagonistisch mittelmäßige 
Colistämme gefunden; einzelne Personen, 
die auffallend wenig zu Darmstörungen 
neigen und trotz reichlicher Gelegenheit 
Darminfektionen gegenüber dauernd re¬ 
sistent bleiben, beherbergen sehr häufig 
einen besonders hochwertigen Colistamm, 

• während bei länger anhaltenden Magen- 
' darmkrankheiten, wie überhaupt bei 
chronischen Krankheitszuständen, die 
auf eine abnorme Zusammensetzung der 
Darmflora zurückzuführen sind, neben 
der bakteriologischen Bestätigung dieser 
Beimengung aller möglichen Mikroorga¬ 
nismen in den Faeces (eigentliche In¬ 
fektionserreger, Proteusbacillen, Strepto- 

Nißle: a) Über die Grundlagen einer neuen 
ursächlichen Bekämpfung der pathologischen 
Darmflora (D. m. W. 1916, Nr. 39); b) Die ant¬ 
agonistische Behandlung chronischer Darmstö¬ 
rungen mit Colibakterien (M. Kl. 1918, Nr. 2); 
c) Weiteres über die Mutaflorbehandlung unter 
besonderer Berücksichtigung der chronischen 
Ruhr (M. m. W. 1919, Nr. 25). 


kokken usw.) ein auffallend minderwerti¬ 
ger Coliindex besteht, oft in Verbindüng 
mit Coliarmut oder fast völligem Coli- 
mangej, dann meist vergesellschaftet mit 
verschiedenen Saprophyten. 

Den naheliegenden Weg, in solchen 
Fällen mit vermindertem Coliindex durch 
perorale Verabreichung eines hochwerti¬ 
gen Colistammes therapeutisch vorzu¬ 
gehen, hat Nißle ebenfalls .beschriften. 
Das Präparat ,,Mutaflor“2) enthält in 
zwei verschiedenen Packungen Rein¬ 
kulturen von Colibakterien, die zur Ver¬ 
meidung der Magensaftwirkung in Gelo- 
duratkapseln eingeschlossen sind: ‘Die 
,,Normalpackung“ birgt eine blaue Kap¬ 
sel als Anfangsdösis, d. h. den Belag 
einer Agarplatte von 10 cm Durchmesser,, 
und 19 rote Kapseln mit der dreifachen 
Bakterienmenge; die ,,Schwach dosierte 
Packung“ weist 4 kleine und 6 große 
(blaue und rote) auf; sie ist für solche 
Fälle bestimmt, die ein vorsichtiges An¬ 
steigen der Tagesdosis ratsam erscheirieri 
lassen und dient daher hauptsächlich 
zur Vorbereitung für den' Gebrauch, der 
Normalpackung. Neuerdings existiert 
noch eine ,,Kinderpackung“, über die 
ich keine eigene Erfahrung besitze. 

Die mit diesem Mittel beharidelteri 
Fälle von chronischer Ruhr und anderen, 
auch nichtinfektiösen Colitiden mit ab¬ 
normer Darmflora und minderwertigem 
Coliindex, ergaben Nißle und Gei Be®) 
günstige Resultate, besonders auch in 
vorher erfolglos behandelten Fällen. 
Neben der Besserung der subjektiven 
Beschwerden gelang es objektiv, den er¬ 
hofften Erfolg zu erzielen, das heißt 
durch Verabreichung des hochwertigen 
Colistammes per os und Verdrängung 
des primär vorhandenen krankhaften, 
minderwertigen den Mutaflorstamm zur 
Ansiedlung im Darm zu bringen, damit 
einen hochwertigen antagonistischen Coli¬ 
index zu erzielen und etwa vorhandene 
infektiöse Keime oder Saprophyten aus¬ 
zumerzen. Die Ansiedlung des Behahd- 
lungsstammes sowie der höherwertige 

2) Hersteilende Firma G. Pohl, Berlin NW.ßT, 
Turmstraße 68. 

®) A. Geiße: Behandlung infektiöser Darm¬ 
erkrankungen mit „Mutaflor“ (Th. d. O. IQ!?!, 
März). 


37* 



2^ 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


August 


Coliindex lassen sich nach Nißle dabei 
kontrollieren durch Agglutinationsproben 
der aus dem Stuhl gezüchteten Coli- 
bakterien mit einem von Kaninchen 
gewonnenen, in üblicher Weise gegen 
Coli immunisierten Serum; denn während 
die schwachen Colistämme überhaupt 
keine brauchbaren Agglutininmengen lie¬ 
ferten, zeigten im Gegensatz dazu die 
stärkeren Colirassen ausgesprochene An¬ 
tigeneigenschaften mit einem hohen Ag¬ 
glutinationstiter, und ihre agglutinieren¬ 
den Sera verhalten sich specifisch, das 
heißt sie reagieren außer mit den homo¬ 
logen nur mit den Colistämmen von 
ähnlich hohem antagonistischen Index 
bis zur vollen oder annähernd vollen 
Tffergrenze, 

Aus der bisher über diesen Gegen¬ 
stand sowie weitere Behandlungsresultate 
erschienenen Literatur seien hier Lan- 
ger^,^ Rörig^) und Mertz®) genannt. 

Bei der Prüfung des Coliindex ver¬ 
schiedener Stuhlgänge hat man sehr bald 
antagonistisch auffallend minderwertige 
Colirassen auch in einzelnen Krankheits¬ 
gruppen. gefunden, die Organverände¬ 
rungen außerhalb des Magendarmtraktus 
betrafen, z. B. bei Ruhrrheumatismus, 
Milchschorf, Gicht u. a. Die dadurch 
erneut in den Vordergrund tretende 
wissenschaftliche Frage eines etwaigen 
Kausalnexus zwischen ungünstiger Darm¬ 
flora und jenen Krankheitslokalisationen 
hat schon deswegen eminent praktisch- 
klinisches Interesse, weil konstante Be¬ 
funde dieser Art ein nicht unwichtiges 
diagnostisches Hilfsmittel darstellen 
könnten und außerdem durch Verab¬ 
folgung von Mutaflor und Verdrängung 
jener minderwertigen Colirassen die Mög¬ 
lichkeit zu therapeutischen Erfolgen, und 
bei ihrer Bestätigung der Beweis ätiologi¬ 
scher, bisher vermuteter oder ganz un¬ 
bekannter Beziehungen zwischen ant¬ 
agonistisch minderwertigen Colistämmen 
zu jenen pathologischen Veränderungen 
gegeben ist. 

Zu diesen Krankheiten, bei der Nißle 
in .13 Fällen einen auffallend minder¬ 
wertigen Coliindex fand, gehört auch die 
perniziöse Anämie. Es mußte hierbei 
die Untersuchung des Stuhles und' die 
Behandlung mit Mutaflor entsprechend 

*) Langer: Der antagonistische Index der 
Cölibazillen (D. m. W. 1917, S. 1317). 

*) Rörig: Behandlung der Coliinfektion der 
Hamwege mit Mutaflor (M. m. W. 1919, S. 1142). 

*) Mertz: Behandlungsversuche bei er¬ 
nährungsgestörten Säuglingen mit Mutaflor (Mschr. 
f'Kindhlk., Bd. 18, H, 5). 


den eben skizzierten Gesichtspunkten 
für denjenigen von vornherein das größte 
Interesse bieten, der die Bildungsstätte 
des noch kryptogenetischen Toxins beim 
Morbus Biermer in den Magendarm^ 
traktus zu verlegen geneigt ist’); um so 
mehr, als der konstante Befund der 
neuerdings wieder vielfach diskutierten 
Achylia gastrica dringend dazu auffor^ 
derte, auf ähnliche Verhältnisse im Darm 
zu fahnden, die biologisch-funktionell derr 
Magenveränderungen gleich zu setzem 
wären und als deren Ausdruck der ant- 
agpnistisch minderwertige Coliindex, even¬ 
tuell in Verbindung mit einer pathologi¬ 
schen Darmflora, anzusehen wäre. 

Als vor zirka zwei Jahren an die 
Untersuchung dieser Verhältnisse bei der 
Perniziosa gegangen wurde, war es vom 
vornherein klar, daß einmal in dia-^ 
gnostischer Hinsicht das antagonistische 
Verhalten der Colistämme fortlaufend,, 
das heißt in den verschiedenen Stadien 
der Krankheit, während der Rezidive 
und * Remissionen, geprüft und in Be¬ 
ziehung gesetzt werden mußte zu den 
klinischen Geschehnissen; dabei wurde 
besondere Beachtung der Frage einer 
aus dem Verhalten des Coliindex abzu¬ 
leitenden Möglichkeit prognostischer Be¬ 
urteilung geschenkt, sowie ob etwa in 
den Fällen von perniziöser Anämie mit 
bekannter Ätiologie (Lues, Botriocepha- 
lus, Gravidität) durch die Stuhlunter¬ 
suchung Unterschiede und differential¬ 
diagnostische Anhaltspunkte gegenüber 
den viel zahlreicheren Fällen von krypto¬ 
genetischem Morbus Biermer gewonnen 
wurden. Fernerhin wurden bei der thera¬ 
peutischen Verabfolgung des Mutaflor 
der zeitliche Eintritt der Ansiedlung 
des Behandlungsstammes, die Bedin¬ 
gungen für dieses Zustandekommien uncf 
etwaige Abhängigkeiten von anderen Me¬ 
dikamenten beziehungsweise der Nah¬ 
rungszusammensetzung, sowie vor allem 
geprüft, ob sich die Verdrängung des 
antagonistisch minderwertigen Coli- 
stammes tatsächlich von eklatantem und' 
nachhaltigem Einfluß auf den Verlauf 
und die klinische Besserung erwies. 

Die regelmäßige Untersuchung der 
Stühle wurde ausschließlich im Institut 
von Professor Nißle in Freiburg i. B. 

’) Zadek: a) Beiträge zur Aetiologie, Klinik 
und Hämatologie der perniziösen Anämie (B. k. W. 
1917, Nr. 53); b) Zur Therapie der kryptogeneti¬ 
schen perniciösen Anämie (D. m. W. 1919, Nr. 41); 
c) Trauma des Nervensystems und perniciöse 
Anämie (M. m. W. 1920, Nr. 33). 




^ August 


293 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


vorgenommen, der in freundlichster Weise 
'die Befunde kontrollierte und eingehende 
Berichte übermittelte. So kann heute 
iiber ein Material von zwanzig Fällen mit 
perniziöser Anämie berichtet werden, von 
^denen zunächst kurze Auszüge®) folgen. 

Fall 1: 67jähriger Invalide, klinisch-hämato- 
^ogisches Vollbild einer kryptogenetischen perni- 
-ziösen Anämie, seit kurzem bestehend. Achylie. 
Im September 1919 ergab die Stuhluntersuchung 
'einen außerordentlich minderwertigen Coliindex 
5und neben Coli sehr zahlreiche uncharakteristische 
‘Saprophyten, sowie vereinzelte Proteusbacillen. 
Nach dreiwöchentlicher Mutaflortherapie und 
'eiweißarmer Ernährung Besserung des Befindens, 
Blutbefundes und Coliindex bei reichlichem Sapro- 
phytenbefund, auch Proteus. Ein halbes Jahr 
»ohne Behandlung: leidliches Befinden, mittel- 
anäßiger Blutstatus, mittlerer Coliindex mit vielen 
Saprophyten und Proteus. Sechs Wochen Muta- 
•flor: dabei Verschlechterung des Befindens, kli¬ 
nischen und hämatologischen Bildes und Auf¬ 
treten eines sehr verminderten Coliindex mit 
‘Saprophyten und Proteusbacillen. Kurz darauf 
Exitus.' Sektion. 

Resum6: Bei einer noch nicht lange be¬ 
stehenden kryptogenetischen perniziösen Anämie 
wird nach einer sehr kurzen Mutaflordarreichung 
ohne andere Therapie die Besserung des Krank¬ 
heitsbildes und Blutbefundes sowie Colündex an- 
^ebahnt, der ohne Behandlung ein halbes Jahr 
mittelmäßig bleibt(Remission). Bei sechswöchent¬ 
licher Mutaflortherapie tritt ein zum Tode führen¬ 
des Rezidiv auf (bestätigender Obduktionsbe¬ 
fund) mit sehr minderwertigem Coliindex ante 
-exitum. 

Fall 2: 36jähriger Arbeiter, kryptogenetische 
perniziöse Anämie im ziemlich schlechten Zustand 
des ersten Rezidivs. Achylie. Im September 1919 
zeigt die Stuhluntersuchung einen minderwertigen 
Coliindex und neben Coli zahlreiche Kokken, meist 
In Diploform, Proteusbacillen und mäßig zahl¬ 
reiche uncharakteristische Saprophyten. Während 


®) Der Raumersparnis halber mußte von der 
^eingehenden Wiedergabe des klinischen, hämato- 
logischen und anatomisch-histologischen Bildes 
abgesehen und der Hauptwert auf die Mitteilung 
der Stuhlbefunde vor, bei und nach verschiedenen 
Behandlungskombinationen in den einzelnen 
Stadien gelegt werden. Die Diagnose, das Stadium 
der Krankheit und der Verlauf wurde nach gleich¬ 
mäßiger Bewertung klinisch-hämatologischer Kri¬ 
terien beschrieben, wie sie anderen Ortes (cf. 7) 
ausführlich auseinandergesetzt sind. In sieben 
Fällen liegen bestätigende Sektionsbefunde vor. — 
In therapeutischer Hinsicht sei vorweg bemerkt, 
daß gewisse, in der Behandlung der Perniciosa 
■Gemeingut gewordene Maßnahmen, ohne hier 
regelmäßig angeführt zu sein, in jedem Falle zur 
Durchführung gelangten; dahin gehören völlige 
Bettruhe bis zur Remission, reichliche, leicht ver¬ 
dauliche Nahrung, Mundpflege usw. Vermieden 
wurde während der Mutaflordarreichung alles, 
was die verabfolgten Colibakterien in der vollen 
Entfaltung ihrer Wirksamkeit und Ansiedelung 
beeinträchtigen konnte, also keine Behandlung 
mit Salzsäure oder Adstringentien (Tierkohle 
usw.). Außerhalb der stationären Behandlung 
konnte die Mutaflortherapie — schon wegen des 
für unsere Klientel sehr hohen Preises — oft nicht 
durchgeführt werden; so erklären sich die langen 
Zwischenpausen in einzelnen Fällen.) 


der folgenden drei Monate Behandlung mit eiwei߬ 
armer Diät, Mutaflor, Magendarmspülungen®), 
Injektionen von Neosalvarsan und Natrium arseni- 
cosum, dabei bessert sich das Allgemeinbefinden 
und der Blutstatus langsam aber ständig derartig, 
daß im Februar 1920 das klinische und hämatolo- 
gische Bild der Polyglobulie (mit sieben Millionen 
Erythrocyten) besteht, während der Coliindex ziem¬ 
lich minderwertig bleibt bei dauernder Anwesen¬ 
heit zahlreicher Saprophyten. Um dieselbe Zeit 
eingetretener Durchfall zwingt zur Absetzung 
des Mutaflor. Ein halbes Jahr ohne jede Behand¬ 
lung: Dabei tritt allmählich wieder das klinisch- 
hämatologische Syndrom der Perniziosa auf, 
während im Juli 1920 die Agglutinationsprobe 
einen vollwertigen Colistamm ergibt mit Über¬ 
wiegen der Coli in den Faeces. Seitdem besteht 
bis heute ohne Therapie eine stationäre perniziöse 
Anämie mit gleichmäßig schlechtem Allgemein- 
und Blutstatus bei recht minderwertigem Coli¬ 
index mit zahlreichen Saprophyten und Proteus 

Res um 6: Bei einem Morbus Biermer im 
ersten Rezidiv tritt nach dreimonatlicher Muta- 
florbehandlung in Kombination mit einer stark 
stimulierenden Therapie und Magendarmspü¬ 
lungen volle klinische Remission ein, sogar mit 
Erscheinungen der Polyglobulie, während die An¬ 
siedelung des Colistammes erst später gelingt, als 
bereits aufgetretener Durchfall zur Absetzung des 
Mutaflor gezwungen hatte und wieder das klinisch- 
hämatologische Bild der Perniziosa eingetreten 
war. Sehr bald wurde bei leidlichem Befinden 
ein verminderter Index bei vielen Saprophyten 
und Proteus konstatiert. 

Fall 3: 32jährige Ehefrau, kryptogenetische 
perniziöse Anämie im schwersten Zustand djes 
zweiten Rezidivs. Achylie'. Im November 1919 
außerordentlich minderwertiger Coliindex mit 
ganz spärlichen, nicht völlig typischen Coli und 
massenhaften uncharakteristischen Saprophyten. 
Drei Monate Mutaflor, wobei unter häufigen 
Durchfällen, die ohne völlige Aufgabe der Muta¬ 
flortherapie zur vorübergehenden Abgabe einer 
blauen Kapsel veranlassen,, klinisch-hämatolo- 
gisch volle Remission eintritt, während die 
Besserung des Coliindex damit nicht gleichen 
Schritt hält; Mitte Februar 1920 ist er noch 
ziemlich'minderwertig, wenn auch gegenüber dem 
früheren deutlich gesteigert; auch finden sich im 
Stuhl mehr Colibakterien. Erst im Juli 1920, 
als Mutaflor längst abgesetzt ist, erweisen sich 
die Colibakterien als vollwertig, überwiegen in 
den Faeces und stimmen serologisch fast völlig 
mit dem Behandlungsstamm überein. Seitdem 
besteht ein geradezu glänzendes Allgemeinbe¬ 
finden mit entsprechend günstigem kaum mehr 
die Charakteristika der Perniziosa aufweisenden 
Blutbild, und auch der Coliindex erweist sich — 
ohne weitere Mutaflorgaben — innerhalb der 
nächsten dreiviertel Jahre als vollwertig, wobei 
die Colibakterien im Stuhl weit überwiegen neben 
spärlichen Saprophyten. 

Resum6: Unter Mutaflor tritt bei einer 
Anämia perniciosa im schwersten Stadium des 
zweiten Rezidivs nach drei Monaten volle, lange 
Zeit anhaltende Remission ein, wobei die Ansiede¬ 
lung des Behandlungsstammes nur langsam ge¬ 
dingt, nachdem das Mittel bereits abgesetzt ist. 
Der hochwertige Coliindex bleibt in der Folgezeit 
ohne Therapie bei glänzendem Befund bestehen. 

Fall 4: 46jähriger Gasarbeiter. Vollstadium 
einer kryptogenetischen perniziösen Anämie; 


®) Die Magendarmspülungen wurden vor der 
Verabreichung des Mutaflor vorgenommen. 





294 


Die Therapie der Öege.n^rt 1921 August’. 


übereinstimmendes schweres klinisches und häma- 
tologisches Bild. Achylie. Im Novemjber 1919 
erweist sich der Coliindex als sehr minderwertig; 
neben, spärlichen Coli finden sich im Stuhl zahl¬ 
reiche uncharakteristische Saprophyten und 
massenhaft Kokken in Diploform, keinerlei In¬ 
fektionserreger. Behandlung mit Mutaflor, eiwei߬ 
armer Diät und Magendarmspüluhgen. Dabei 
tritt eine wesentliche Besserung des Allgemein¬ 
befindens und Blutbildes ein. Indessen erweist 
sich nach zwei Monaten der Coliindex als außer¬ 
ordentlich minderwertig mit derselben Bakterien¬ 
flora wie oben. Beim Versuch, zwei rote Kapseln 
Mutaflor zu geben, tritt nach drei Tagen Durch¬ 
fall auf, so daß auf eine rote pro die zurück¬ 
gegangen wird. Unter Verschlechterung des 
klinisch-hämatologischen Bildes finden sich Ende 
Januar 1920 im Stuhl bei deutlich minder¬ 
wertigem Coliindex etwas zahlreichere Coli bak¬ 
teriell mit ziemlich vielen Saprophyten. Ohne 
wesentliche Änderung tritt kurz darauf der 
Exitus ein. 

Resum^; Trotz dreimonatlicher Behandlung 
mit Mutaflor in Verbindung mit eiweißarmer 
Diät und Magendarmspülungen tritt bei einer 
schweren, keine Tendenz zur durchgreifenden 
Besserung zeigenden und zum Tode mit be¬ 
stätigendem S'ektionsbefund führenden krypto¬ 
genetischen perniziösen Anämie keine Änderung 
des Coliindex ein. 

Fall 5: 47jährige arbeitende Ehefrau. Völlig 
benommen im schwersten Stadium einer perni¬ 
ziösen Anämie im September 1919 eingeliefert. 
Achylie. Der Coliindex ist sehr minderwertig, 
neben Coli finden sich mäßig zahlreiche uncha¬ 
rakteristische Saprophyten, von denen ein Teil 
in schleimigen Kolonien wächst, außerdem sehr 
reichliche Proteus. Spontane Remission aus 
schwerstem Koma. Gleich darauf Beginn der 
Mutaflortherapie vier Monate lang. Nach einigen 
Wochen auftretender Durchfall zwingt zur tage¬ 
weisen Absetzung des Mittels. Das klinische Bild 
sowie der Blutstatus bessert sich zusehends bis 
zur vollen Remission, während noch Ende Ok¬ 
tober atypische Coli mit stark vermindertem 
Index, Mitte Dezejmber ein nur wenig höherer 
Coliindex gefunden wird. Entlassen mit der 
Weisung, Mutaflor weiter zu nehmen, wird die 
Patientin schon nach wenigen Wochen mit 
schwerem Recidiv wieder eingeliefert und stirbt 
trotz sofortiger Mutaflorverabreichung nach vier¬ 
zehn Tagen. 

Resum^: Nach spontaner Remission aus 
tiefstem Koma einer kryptogenetischen perni¬ 
ziösen Anämie tritt unter Mutaflor klinisch und 
hämatologisch volle Remission ein, während der 
Coliindex bei abnormer Darmflora sich nur wenig 
hebt und minderwertig bleibt. Trotz Weitergabe 
des Mutaflor setzt nach wenigen Wochen ein zum 
Tode führendes Rezidiv mit bestätigendem Sek¬ 
tionsbefund ein. 

JFall 6: 54jähriger Arbeiter. Ausgesprochene 
perniziöse Anämie auf dem Boden einer Lues. 
WR. positiv. Spinale Symptome. Achylie. Coli¬ 
index minderwertig, wenn auch nicht so hoch¬ 
gradig wie sonst bei perniziöser Anämie, fast reine 
Coliflora neben vereinzelten uncharakteristischen 
Saprophyten. Einjährige ununterbrochene kli¬ 
nische Behandlung mit Mutaflor, wobei von Zeit 
zu Zeit auftretende Durchfälle zur vorübergehen¬ 
den Verabreichung einer blauen Kapsel Veran¬ 
lassung geben. Dazu Injektionen von Natrium 
arsenicosum subcutan, Neosalvarsan in der hier 
üblichen Dosierung intravenös. Sehr langsame 


Besserung des Befundes und Blutes, Nerven¬ 
erscheinungen und WR. bleiben positiv. Mehr¬ 
fache Stuhluntersuchungen zeigen bei derselben 
Darmflora einen mittelmäßigen Coliindex, bis. 
nach fast di;ei Vierteljahren Anzeichen für eine 
teilweise Ansiedelung des Behandlungsstammes^. 
auftreten (serologische Prüfung), der einen Monat 
später bei hochwertigem Coliindex im Stuhl vor¬ 
herrscht. Um diese Zeit ist die Injektionskur 
beendet, die WR. zweifelhaft geworden, der Blut¬ 
status sowie das klinische Bild erheblich gebessert..- 
Bei alleiniger Behandlung mit Mutaflor tritt dann 
allmählich im Laufe von vier Monaten eine ge¬ 
ringe Verschlechterung im klinisch-hämatologi¬ 
schen Befunde ein, die WR. ,wird wieder positiv 
und der Coliindex erweist sich bei ziemlich reich¬ 
lichem Saprophytenbefund in den Faeces nur als 
gut mittelmäßig. Der Patient wird jetzt erneut 
unter Fortsetzung der Mutaflortherapie mit 
Neosalvarsan und Modenol (mildes Quecksilber- 
Arsenpräparat) behandelt. 

Resume: Bei einer auf Lues basierenden 
perniziösen Anämie bringt eine einjährige un¬ 
unterbrochene Mutaflortherapie, kombiniert mit 
Neosalvarsan- und Arseninjektionen, sehr lang¬ 
same, aber fast völlige Remission mit Ansiede¬ 
lung des Behandlungsstammes und Besserung des- 
Coliindex. Trotz Weitergabe des Mutaflor all¬ 
mähliche Verschlechterung des Befindens, Blutes 
und Coliindex. 

Fall 7: 54jährige Ehefrau. Schweres Stadium 
eines Morbus Biermer. Achylie. Im Stuhl massen¬ 
haft uncharakteristische Saprophyten und schwach 
milchsäurebildende Colibakterien, die sich ant¬ 
agonistisch deutlich minderwertig erweisen. Sechs 
Wochen lang bis zum Tode Behandlung mit 
Mutaflor, zwei Bluttransfusionen, Injektionen 
von Natrium arsenicosum subcutan und Neo¬ 
salvarsan intravenös. Acht Tage ante exitum ist 
der Behandlungsstamm angesiedelt, der Coliindex 
vollwertig bei Vorherrschen der Coli neben spär¬ 
lichen Saprophyten. Dabei fortdauernde Ver¬ 
schlechterung des Allgemeinbefindens und Blut¬ 
bildes mit Exitus. 

Resume: Bei einer foudroyant verlaufenden, 
trotz Mutaflor, Arsen- und Neosalvarsaninjek- 
tionen sowie Bluttransfusionen nach sechs Wochen 
zum Tode führenden kryptogenetischen perni¬ 
ziösen Anämie ist der Coliindex kurz ante exitum 
vollwertig und die Ansiedelung des Mutaflor- 
stammes gelungen. 

Fall 8: 53jährige Ehefrau. Klinisches und 
hämatologisches Vollstadium einer kryptogene¬ 
tischen perniziösen Anämie. Achylie. Der Coli¬ 
index ist sehr minderwertig; im Stuhl finden 
sich neben spärlichen uncharakteristischen Sapro¬ 
phyten überwiegend Bakterien, die sich in 
mancher Beziehung kulturell coliähnlich ver¬ 
halten, doch in der Kolonie deutlich vom Aus¬ 
sehen der Colikulturen abweichen und dement¬ 
sprechend mehr als ein Ersatz fehlender Coli¬ 
bakterien, nicht als atypische, anzusehen sind 
(Nißle). Behandlung mit Mutaflor (drei Wochen 
eine blaue, dann eine rote Kapsel pro die). Na- 
trium-arsenicosum-Injektionen, eiweißarmer Diät 
und Magendarmspülungen. Nach vier Wochen 
volle Remission mit entsprechendem Blut- und 
Allgemeinstatus und vollwertigem Coliindex, wo¬ 
bei die serologische Prüfung Ansiedelung des 
Behandlungsstammes ergibt mit fast reiner 
Coliflora im Stuhl neben spärlichen uncharakte¬ 
ristischen Saprophyten. Ein halbes Jahr un¬ 
unterbrochen lediglich mit Mutaflor behandelt, 
wobei vorübergehende Durchfälle zur gelegent- 





August 


Die Therapie der Gegenwart 1921. 


295 


liehen Darreichung nur einer blauen Kapsel ver¬ 
anlassen. Befinden, Blutbild und Coliindex 
bleiben gut. Vier Wochen außerhalb des Kranken¬ 
hauses ohne Mutaflor; danach eingeliefert mit 
schwerem Rezidiv und entsprechendem schlechten 
klinisch-hämatologischen^Bild, während der Coli¬ 
index vollwertig und die Darmflora gegen früher 
unverändert gefunden wird. Sofort Mutaflor, 
eiweißarme Diät, allwöchentlich 10 ccm Blut¬ 
injektionen intramuskulär. Sehr langsame Besse¬ 
rung der klinischen und hämatologischen Sym¬ 
ptome; der Coliindex bleibt bei wiederholter 
Prüfung andauernd vollwertig bei reiner Coliflora. 

Resurn^: Bei einer ausgesprochenen krypto¬ 
genetischen perniziösen Anämie tritt sehr rasch 
nach vier Wochen unter Mutaflorbehandlung in 
Verbindung mit Arseninjektionen und Magen¬ 
darmspülungen bei eiweißarmer Diät volle Re¬ 
mission und vollwertiger Coliindex mit Ansiede¬ 
lung des Behandlungsstammes und Verdrängung 
der atypischen Colibakterien ein. Die Remission 
hält ein halbes Jahr unter Beibehaltung lediglich 
der Mutaflortherapie an. Nach vierwöchigem 
Aussetzen des Mittels setzt ein schweres Rezidiv 
mit sehr langsamer Erholung ein, während der 
Mutaflorstamm im Darm fest angesiedelt und 
der Coliindex vollwertig bleibt. 

Fall 9: 22jährige Kontoristin. Als beginnen¬ 
der Morbus Biermer entdeckt. Achylie. Sehr 
minderwertiger Coliindex mit reichlichem Sapro- 
phytenbefund im Stuhl. Nach vierwöchentlicher 
Behandlung mit Arsacetin per os und Mutaflor 
tritt glänzende Remission mit gutem Allgemein¬ 
befinden und völlig verändertem Blutstatus auf. 
Dabei ist der Coliindex vollwertig, und die neben 
zahlreichen Saprophyten in den Faeces befind¬ 
lichen Colibakterien erweisen sich als mit dem 
Mutaflorstamm übereinstimmend. Ein Viertel¬ 
jahr außerhalb des Krankenhauses ohne Muta¬ 
flor. Danach Verschlechterung des Allgemein¬ 
status mit typischem perniziösen Blutbild und 
mittelmäßigem Coliindex neben reichlichem Sapro- 
phytenbefund im Stuhl. Steht zur Zeit erneut 
uhter Mutaflortherapie. 

Resume: Bei einer perniziösen kryptogene¬ 
tischen Anämie im Beginn bei einer Jugendlichen 
tritt nach vierwöchiger Behandlung mit Muta¬ 
flor und Arsacetin volle Remission ein unter 
Ansiedelung des Behandlungsstammes und ent¬ 
sprechendem vollwertigem Index. Nach Ab¬ 
setzen des Mittels aus äußeren Gründen rapide 
Verschlechterung unter erneutem Auftreten eines 
minderwertigen Coliindex. 

Fall 10: 46 jährige Ehefrau. Schwerstes 

komatöses Stadium einer kryptogenetischen perni¬ 
ziösen Anämie. Achylie. Coliindex ziemlich 
minderwertig, etwas geringerer Grad als sonst 
bei Perniziosa. Mäßiger Saprophytenbefund in 
den Faeces. Sofort Mutaflor bei eiweißarmer Diät 
und Natrium-arsenicosum-Injektionen. Nach 
wenigen Tagen spontane Remission mit rascher 
Besserung des klinisch-hämatologischen Bildes 
(Blutkrise). Nach vier Wochen völlig verändertes 
Bild mit glänzendem Allgemeinzustand, während 
der Coliindex mittelmäßig ist und in der Darm¬ 
flora sich ziemlich reichliche uncharakteristische 
Saprophyten und Proteusbacillen finden. Nach 
weiteren vier Wochen fast reine Coliflora, die einen 
guten Index aufweist und bei der serologischen 
Prüfung sich als angesiedelter Mutaflorstamm 
herausstellt. Andauernd gutes Befinden unter 
Mutaflor (im ganzen vier Monate gegeben). Ein¬ 
einhalb Monate außerhalb des Krankenhauses 
ohne Mutaflor. Danach unverändert gutes All¬ 


gemeinbefinden, weitere Besserung des Blut- 
' Status, aber ziemlich minderwertiger Coliindex; die 
Colibakterien zeigen serologisch keine deutliche 
Reaktion gegenüber specifischem agglutinieren¬ 
dem Serum und sind vergesellschaftet mit spär¬ 
lichen uncharakteristischen Saprophyten. 

Res um 6: Bei einem schweren Morbus Biermer 
tritt spontane Remission aus Koma heraus ein, 
die durch Mutaflor und Arsen gefördert wird, so 
daß bereits nach sechs Wochen bei günstigem 
klinisch-hämatologischem Status der Coliindex 
'vollwertig wird. Nachdem nach viermonatiger 
•Mutaflorbehandlung das Mittel eineinhalb Monate 
aus- äußeren Gründen ausgesetzt wird, erweist 
sich der Coliindex als ziemlich minderwertig bei 
unverändertem Fortbestehen eines guten klinisch- 
hämatologischen Bildes. 

Fall 11:41 jährige Ehefrau. Schweres Stadium 
einer kryptogenetischen perniziösen Anämie. 
Achylie. Coliindex minderwertig; neben Coli 
finden sich im Stuhl sehr reichliche große und 
kleine uncharakteristische Saprophyten sowie 
spärliche Proteusbacillen. Behandlung mit Muta¬ 
flor, Arsacetin per os und Neosalvarsan-In¬ 
jektionen. Nach fünf Wochen gute Remission 
mit entsprechend günstigem Blutbild, aber plötz¬ 
lich Auftreten von genuiner Pneumonie, der die 
Kranke nach wenigen Tagen erliegt. (Über den 
Fall, insbesondere über den wichtigen Sektions¬ 
befund erfolgt anderen Ortes eine genaue Mit¬ 
teilung.) 

Res um 6: Bei einer schweren kryptogeneti¬ 
schen perniziösen Anämie tritt nach Eintritt 
voller, durch Mutaflor, Arsacetin und Neosalvar¬ 
san bedingter Remission Exitus letalis an inter¬ 
kurrenter Lungenentzündung ein. 

Fall 12: 50jährige Ehefrau mit kryptogene¬ 
tischer perniziöser Anämie. Achylie. Sechs¬ 
wöchige Bettruhe bei eiweißarmer Diät, Pepsin- 
Salzsäure und Tierkohle per os sowie Magen¬ 
darmspülungen bringen leidliche Besserung des 
Blutbildes und Allgemeinbefindens. Der Coli¬ 
index erweist sich trotzdem als sehr minderwertig, 
neben Colibakterien finden sich im Stuhl massen¬ 
haft uncharakteristische Saprophyten. Die Kranke 
wird ambulant mit Mutaflor, Diät und Solutio 
Fowleri weiter behandelt, nimmt aber offensicht¬ 
lich die Mittel nie regelmäßig und ist therapeuti¬ 
schen Maßnahmen überhaupt wenig zugänglich. 
Während eines Jahres wechseln Zeiten besseren 
Befindens und Blutbildes mit schlechteren ab, 
bis ziemlich unvermittelt Koma auf tritt, in dem 
die Patientin trotz Bluttransfusion und Mutaflor 
(zwei rote Kapseln täglich!) nach drei Tagen 
stirbt. Typischer Sektionsbefund. 

Resumö: Bei einer ohne Mutaflorbehandlung 
eingetretenen leidlichen Remission eines Morbus 
Biermer'zeigt sich der Coliindex bei pathologischer 
Darmflora sehr minderwertig. Bei unzulänglicher 
Mutaflortherapie tritt innerhalb eines Jahres 
keine wesentliche Besserung im Krankheitsbilde 
ein, bis plötzlich Koma mit tödlichem Ausgang 
erfolgt. 

/ Fall 13: 52jähriger Fleischer. Kryptogene¬ 
tische perniziöse Anämie. Achylie. Besonders 
schwere und anhaltende Glossitis. Nach acht¬ 
wöchiger Behandlung mit eiweißarmer Diät, 
Tierkohle und Solutio Fowleri per os sowie 
Magendärmspülungen setzt volle, ein halbes Jahr 
anhaltende Remission ein. Während dieser Zeit 
erste Stuhluntersuchung: es finden sich reich¬ 
liche, meist schleimige Kolonien bildende Sapro¬ 
phyten und nur spärliche Colibakterien, die sich 
antagonistisch sehr minderwertig verhalten. Bei 





296 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


August 


langsam einsetzender Verschlechterung des Blut- 
- bildes und Allgemeinstatus tritt nach mehr¬ 
wöchiger Verabfolgung von Mutaflor eine schwere, 
fieberhafte, rasch zum Tode führende Cysto- 
pyelitis e|n. (Auch über diesen Fall, besonders 
über den Sektionsbefund erfolgt besondere Mit¬ 
teilung.) 

Res um 6: Ohne Mutaflorbehandlung rascher 
Eintritt der ein halbes Jahr anhaltenden Re¬ 
mission eines Morbus Biermer bei der üblichen 
Therapie, wobei ein sehr minderwertiger Coliindex 
bei pathologischer Darmflora gefunden wird. 
Während des langsam einsetzenden Rezidivs 
unter Mutaflortherapie tritt plötzlich der Exitus 
an interkurrenter Erkrankung ein. 

Fall 14: 42 jähriger Arbeiter mit krypto¬ 
genetischer perniziöser Anämie. Achylie. Im 
Stuhl reichliche uncharakteristische Saprophyten 
neben spärlichen Colibakterien, die sich ant- 
agopistisch als deutlich minderwertig erweisen. 
Während sechsmonatiger stationärer Behandlung 
mit eiweißarmer Diät, Natrium-arsenicosum- und 
Neosalvarsaninjektionen sehr langsame Besserung 
des klinisch-hämatologischen Bildes, wobei die 
Darmflora zwar allmählich zahlreichere Coli¬ 
bakterien ergibt, der Coliindex indessen minder¬ 
wertig bleibt. Ein halbes Jahr draußen ohne 
Mutaflor mit Arsen per os behandelt, wobei Blut- 
und Allgemeinstatus befriedigend bleibt. Der 
Coliindex erweist sich nunmehr als ziemlich hoch¬ 
wertig, während die Colibakterien durch speci- 
fisches Serum nicht agglutinierbar sind. 

Res um 6: Bei einer während des ganzen 
Verlaufs der Krankheit niemals mit Mutaflor be¬ 
handelten kryptogenetischen perniziösen Anämie 
tritt unter der- hier üblichen Therapie zwar lang¬ 
same, aber volle, jetzt schon ein Jahr anhaltende 
Remission ein, und der zuerst und lange Zeit bei 
pathologischer Darmflora gefundene antago¬ 
nistisch minderwertige Coliindex macht spontan 
einem vollwertigen Platz. 

Fall 15: 31jährige Ehefrau mit einer seit 
drei Jahren beobachteten, fast geheilten perni¬ 
ziösen Anämie auf syphilitischer Basis. Achylie. 
Bei gutem Allgemeinbefinden und fast normalem 
Blutbild treten tertiäre Ulcera specifica am linken 
Oberarm auf. Der zum ersten Male um diese Zeit 
untersuchte Stuhl weist neben reichlichen un- 
charakteristischen Saprophyten Colibakterien auf, 
die antagonistisch einen etwas minderwertigen 
Index zeigen. Auf erneute antisyphilitische Be¬ 
handlung (Modenol- und Neosalvarsaninjektionen 
in Verbindung mit Jod per os) rasche Heilung der 
Ulcera bei unverändert günstigem Blut- und All¬ 
gemeinstatus. Die seitdem im Darm befindliche 
Coliflora weist stetig einen minderwertigen Index 
auf, und die Colibakterien zeigen bei der 
Agglutinationsprobe auch nach mehrmaligem 
Überimpfen keine Reaktion mit einem dem 
Mutaflorstamm homologen Serum. 

Resum^: Bei einer ätiologisch durch Lues 
bedingten, fast geheilten perniziösen Anämie mit 
tertiären, durch antisyphilitische Therapie rasch 
geheilten Ulcera, besteht bei fast normalem .Blut¬ 
bild und entsprechend günstigem Allgemeinbefund 
(ohne Mutaflorbehandlung) dauernd ein minder¬ 
wertiger Coliindex. 

Fall 16: 57 jährige Ehefrau. Anfang 1919 
schwere kryptogenetische perniziöse Anämie. 
Achylie. Im Frühjahr 1919 bei geringer Besserung 
des Allgemeinbefindens und BlutstatuS (nach 
Arsen per os und Magendarmspülungen) Splenek- 
tomie. Zunächst gar kein Erfolg, eher Verschlech¬ 
terung bei andauernder Bettlägerigkeit. Erst 


nach einem Jahre beginnt ohne spezielle Therapie 
die Besserung. Die um diese Zeit zum ersten Male 
vorgenommene Stuhl Untersuchung ergibt neben 
uncharakteristischen Saprophyten, Streptokokken 
und vereinzelten Proteusbacillen überwiegend 
Colibakterien mit einem antagonistisch außer¬ 
ordentlich minderwertigen Index. Ohne weitere 
besondere Behandlung hat sich ein Jahr später 
das Allgemeinbefinden weiter gehoben, der Blut¬ 
befund ist noch sehr charakteristisch für Perni¬ 
ziosa, wenn auch erheblich gebessert. Der Coli¬ 
index erweist sich jetzt als gut mittelmäßig, jedoch 
finden sich neben Colibakterien ziemlich reich¬ 
liche uncharakteristische Saprophyten und der 
Colistamm zeigt mit specifischem agglutinierendem 
Serum keine deutliche Reaktion. 

R e s u m 6: Bei einer schweren, keine Tendenz 
zur Remission zeigenden kryptogenetischen perni¬ 
ziösen Anämie tritt nach Milzextirpation sehr 
spät und langsam Besserung im Befinden und 
Blutbilde ein. Ohne Mutaflorbehandlung ist der 
Coliindex ein Jahr post splenectomiam noch sehr 
minderwertig bei pathologischer Darmflora, erst 
ein weiteres Jahr später hebt er sich bei ent¬ 
sprechender Besserung des klinisch-hämatolo¬ 
gischen Bildes unter starkem Dominieren der Coli¬ 
bakterien im Darm, wenn auch nicht zur Voll¬ 
wertigkeit. 

Fall 17: 52 jährige Ehefrau im schweren 

Stadium eines Morbus Biermer, fast komatös. 
Achylie. Die neben sehr zahlreichen uncharak¬ 
teristischen Saprophyten im Stuhl vorhandenen 
Colibakterien wiesen einen außerordentlich min¬ 
derwertigen Index auf. Sechsmonatige Muta¬ 
flortherapie bei eiweißarmer Diät und Natrium- 
arsenicosum-Injektionen bringt langsame, aber 
stetige Besserung des klinisch-hämatologischen 
Bildes, indessen hat die Remission schon vor Be¬ 
ginn der Mutaflorbehandlung spontan eingesetzt. 
Allmonatliche Stuhluntersuchungen zeigen eine 
sehr langsame, der klinischen Besserung nach¬ 
hinkende Hebung des Coliindex, wobei lange Zeit 
massenhafte Proteusbacillen neben zahlreichen 
uncharakteristischen Saprophyten im Stuhl über¬ 
wuchern. Erst die letzte Untersuchung nach halb¬ 
jähriger Mutaflortherapie weist einen .fast voll¬ 
wertigen Coliindex mit Überwiegen der Colibak¬ 
terien im Darm auf, die allerdings beim Abimpfen 
von der Platte keine Reaktion mit specifischem 
agglutinierendem Serum ergeben. 

Resumd: Bei der aus Koma heraus spontan 
einsetzenden Remission einer kryptogenetischen 
perniziösen Anämie mit schließlich erreichtem 
leidlichen klinischen Zustand bringt eine sechs¬ 
monatige Mutaflorbehandlung in Kombination 
mit Arseninjektionen einen fast vollwertigen Coli¬ 
index unter Verdrängung der pathologischen 
Darmflora und serologisch nachweisbarer biolo¬ 
gischer Abänderung des Behandlungsstammes. 

Fall 18: 56jährige Ehefrau. Vollstadium 
eines Morbus Biermer, vor kurzem anderwärts 
mit der Fehldiagnose Carcinoma ventriculi lapa- 
rotomiert. Achylie. Die Stuhl Untersuchung er¬ 
gibt trotz vielfacher Versuche überhaupt keine 
Colibakterien; neben zahlreichen uncharakte¬ 
ristischen Saprophyten und ebenso zahlreichen 
Proteusbacillen finden sich spärliche Pyocyaneus- 
bacillen. Während der — im ganzen bisher fünf 
Monate durchgeführten Mutaflorbehandlung — 
in Verbindung mit eiweiß- und bakterienarmer 
Ernährung (nur gekochte Speisen!) tritt eine 
Blutkrise mit entsprechendem Blutbild und be¬ 
ginnender klinischer Remission auf; die nunmehr 
nachweisbaren Colibakterien erweisen sich als 





. 297 


August - Die Therapie der Gegenwart 1921 . 


nicht agglutinierbar mit specifischem Serum. 
Dabei treten bei Verabreichung einer roten Kapsel 
jedesmal so profuse Diarrhöen auf, daß immer 
wieder von der Darreichung der roten Kapsel 
Abstand genommen werden muß und nur eine 
blaue Kapsel gegeben wird. Trotz Fortsetzung 
der Mutaflortherapie tritt bereits nach vier 
Wochen ein schweres Rezidiv mit erheblichem 
Erythrocytensturz und sehr schlechtem Allge¬ 
meinbefinden auf, während die zu gleicher Zeit 
vorgenommene Stuhluntersuchung einen ziemlich 
vollwertigen Coliindex äufweist, wobei allerdings 
keine Agglutination der Colibakterien mit speci¬ 
fischem Serum zu erzielen ist. Fortsetzung der 
Mutaflortherapie in Kombination mit wöchent¬ 
lichen iritraglutäalen Blutinjektionen von 10 ccm. 
Dabei sehr langsame Hebung des Allgemein¬ 
befundes mit schlechtem Blutbild und ausge¬ 
sprochenen hämolytischen Erscheinungen, wäh¬ 
rend der Coliindex nunmehr vollwertig ist und 
die Colibakterien positive Agglutination mit spe¬ 
cifischem Serum ergeben. 

Resume : Im Vollstadium einer kryptogene¬ 
tischen perniziösen Anämie werden im Stuhl 
keine Colibakterien gefunden. Nach dreiwöchiger 
Mutaflorbehandlung in Kombination mit bak¬ 
terienarmer Nahrung, wobei die nach einer roten 
Kapsel regelmäßig auftretenden Durchfälle nur 
die Darreichung einer blauen Kapsel zulassen, 
tritt eine Blutkrise mit rascher klinisch-häma- 
tologischer Remission auf, die indessen bei fort¬ 
gesetzter Mutaflorbehandlung nach vier Wochen 
einem schweren Rezidiv Platz macht. Trotzdem 
zeigen die Colibakterien jetzt eine Steigerung 
ihres antagonistischen Index, ohne agglutinierbar 
zu sein, und nach weiteren drei Monaten Muta¬ 
flortherapie mit Blutinjektionen ist der Coliindex 
vollwertig, während das klinisch-hämatologische 
Bild eine schwere Perniziosa zeigt. 

Fall 19: 38jähriger Arbeiter. Beginnender 
Morbus Biermer mit charakteristischem Blut¬ 
bild. Achylie. Stationärer Zustand trotz Arsen¬ 
injektionen. Nach einem halben .Jahr ergibt die 
erste Stuhluntersuchung neben zahlreichen un- 
charakteristischen Saprophyten Colibakterien, 
die einen deutlich minderwertigen Index auf¬ 
weisen. Wird anderwärts ambulant mit Arsen 
weiterbehandelt, ohne daß bisher eine klinische 
Änderung eingetreten wäre. 

Res um 6: Ohne Mutaflorbehandlung findet 
sich bei einem Fall von beginnender kryptogene¬ 
tischer perniziöser Anämie nach halbjähriger 
Arsendarreichung derselbe klinisch-hämatolo¬ 
gische Status bei minderwertigem Coliindex und 
pathologischer Darmflora. 

Fall 20: 64 jähriger Invalide. Ausge¬ 

sprochene kryptogenetische perniziöse Anämie. 
Achylie. Achtwöchige Behandlung mit ^weiß- 
armer Diät und Natri um-arsenicqsum-Injek¬ 
tionen bringt fast völlige Remission'. Die um 
diese Zeit zum ersten Male vorgenommene Stuhl¬ 
untersuchung ergibt nur spärliche Saprophyten 
und Colibakterien mit einem gut mittelmäßigen 
Index. Seitdem besteht mehrere Monate gutes 
Allgemeinbefinden mit entsprechendem Blut¬ 
befund; indessen hat sich der Coliindex wieder 
verschlechtert und neben den serologisch nicht 
agglutinierbaren Colibakterien finden sich zahl¬ 
reiche uncharakteristische Saprophyten. 

Resume: Ohne Mutaflorbehandlung tritt 
nach achtwöchiger Arsentherapie bei eiwei߬ 
armer Ernährung in einem Fall von Morbus 
Biermer eines Greises gute Remission mit gut 
mittelmäßigem Coliindex auf, der sich bei an¬ 


haltend günstigem Allgemeinbefinden bald wieder 
verschlechtert. 

Sucht man nach den eingangs auf¬ 
gestellten Richtlinien die für die Dia¬ 
gnose, Prognose, Ätiologie und Therapie 
der perniziösen Anämie aus diesen zwan¬ 
zig Fällen sich ergebenden Resultate ab¬ 
zuleiten, wäre zunächst folgendes zu be¬ 
merken über: 

I. Die diagnostische Bedeutung 
des antagonistischen Coliindexbei 
der perniziösen Anämie. 

In obigem Material ist die praktisch 
wertvolle generelle Tatsache eines minder¬ 
wertigen Coliindex der perniziös Anämi¬ 
schen durchweg festgestellt worden. Es 
kann demnach die Angabe Nißles be¬ 
stätigt werden, daß der antagoni¬ 
stisch minderwertige Colistamm 
zu den diagnostischen Kriterien 
der perniziösen Anämie gehört 
mit der Einschränkung, daß dieses aus¬ 
nahmslose Verhalten einmal bei allen 
unbehandelten, das ausgeprägte klinisch- 
hämatologische Bild aufweisenden Fällen 
(Nr. 1 bis 17, 19 und 20), fernerhin,in 
jenen refraktären, meist foudroyant ver¬ 
laufenden, trotz energischer Therapie 
keine Tendenz zur Erholung zeigenden 
Fällen (Nr. 4, 18, 19) zutrifft, schließlich 
bis auf vereinzelte Ausnahmen (Fälle 8 
und 18) in den rezidivierenden Stadien 
der Krankheit. Dagegen kann und wird 
in der Regel während der Remission 
dieses oft jahrelang sich hinziehenden 
Leidens, sei sie spontan (Fall 10), nach 
alleiniger Mutaflorbehandlung (Fälle 1 
und 3), nach sonstiger Therapie ohne 
(Fälle 14, 16, 20) oder mit Kombination 
von Mutaflor (Fälle 6, 8, 9, 17) erfolgt, 
ein mittelmäßiger oder vollwertiger Coli¬ 
index gefunden werden; mit anderen 
Worten: hierbei geht der — gleichgültig 
aus welchen Ursachen zustande gekom¬ 
menen — klinisch-hämatologischen Besse¬ 
rung die des antagonistischen Coliindex 
parallel. Dabei darf nicht unerwähnt 
bleiben, daß vereinzelt die Hebung des 
antagonistisch minderwertigen Coliindex 
zu einem höherwertigen der klinisch- 
hämatologischen Besserung in der Re¬ 
mission zeitlich nicht unbeträchtlich 
nachhinkt (Fälle 2, 3, 14, 16, 17). 

Fernerhin ist bemerkenswert, daß ge¬ 
rade in den beiden auf Lues basierenden 
Fällen (Nr. 6 und 15) ante therapiam 
eine zwar minderwertige Col'irasse ge¬ 
funden wurde, deren antagonistischer 
Index indessen ausdrücklich als nicht so 

38 


298 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


August 


minderwertig bezeichnet wurde wie sonst 
bei perniziösen Anämien. In diesem 
Zusammenhang ist die Beobachtung inter¬ 
essant, daß die eihe dieser beiden ätio¬ 
logisch durch Syphilis bedingten perni¬ 
ziösen Anämien (Nr. 15) im gesamten 
Material dadurch eine Sonderstellung ein¬ 
nimmt, daß hier allein trotz fast völliger 
Heilung ein dauernd etwas minderwerti¬ 
ger Coliindex beharrlich festgehalten 
wird. Die Feststellung eines nur mäßig 
minderwertigen Coliindex bei den syphili- 
schen Anämien reiht sich den übrigen 
klinisch-differentialdiagnostischen Merk¬ 
malen an, die neuerdings diese Formen 
der Perniciosa mit bekannter Genese 
(Lues, Gravidität, Botriocephalus) von 
dem eigentlichen kryptogenetischen Mor¬ 
bus Biermer abgrenzen helfen, als da 
sind: Die fehlende Achylie bei der Botrio- 
cephalusanämie (Pappenheim^®),Nicht¬ 
auftreten der Glossitis (Sakheim^^), bei 
den Luesfällen u. a.; im Grunde sind 
diese charakteristischerw’eise den Ver- 
dauungstraktus betreffenden Symptome 
nur ein Hinweis, daß für diese ätiologisch 
klarliegenden perniziösen Anämien die 
Pathogenese eine vermutlich völlig andere 
ist, als beim Morbus Biermer, indem das 
Hämotoxin bei jenen primär offenbar 
nicht im Magendarmkanal angreift, wäh¬ 
rend bei diesem eine gastro-intestinale 
Entstehung sehr wohl im Bereich der 
Möglichkeit liegt. Ich bedaure es gerade 
mit Rücksicht auf diese wichtige Frage 
sehr, daß in meinem Material außer den 
syphilitischen Anämien keine Fälle mit 
einer bezüglich der Pathogenese der Per¬ 
niziosa sich allgemeiner Anerkennung er¬ 
freuenden bekannten Ätiologie (Gravi¬ 
dität, Botriocephalus) enthalten sind. 

Am stärksten dokumentiert sich das 
krankhafte Verhalten der Darmbakterien 
bei der perniziösen Anämie dann, wenn 
die Feststellung des antagonistischen Coli¬ 
index einfach an der Unmöglichkeit der 
kulturellen Auffindung von Colibakterien 
im Stuhl scheitert. Ein solches, anschei¬ 
nend nicht häufiges Vorkommnis, zeigt in 
obigem Material der Fall 18, bei dem trotz 
mehrfacher Versuche in den Faeces keine 


Pappenheim: Die Anämien in Spezielle 
Pathologie und Therapie innerer Krankheiten, 
herausgegeben von Kraus und B rüg sch. 

Sakheim: Die Glossitis Hunteri bei der 
perniziösen Anämie. Folia hämatologica. 1921. 


Colibacillen »gefunden wurden und die 
Darmflora neben zahlreichen uncharakte¬ 
ristischen Saprophyten aus massenhaften 
Proteus- und spärlichen Pyocyaneus- 
bacillen bestand. Aber auch sonst setzt 
sich die Darmflora bei der perniziösen 
Anämie aus einer abnormen Wucherung 
von Mikroorganismen zusammen, neben 
Coli in der Regel aus Saprophyten ver¬ 
schiedenster Art (Fälle 3, 6, 7, 9, 10, 12, 
13, 14, 15, 17, 19, 20), häufig vergesell¬ 
schaftet mit Proteusbacillen (Fälle 1, 2, 
5, 11, 16, 18), seltener mit Pyocyaneus 
(Fall 18), Diplokokken (Fälle 2, 4) oder 
Streptokokken (Fall 16). In Verbindung 
mit der fast stets feststellbaren Coliarmut 
(Fall 8) wird der hieraus resultierende 
antagonistisch minderwertige Coliindex 
verständlich. 

Insbesondere scheinen Proteusbacillen 
häufig in der Darmflora Perniziös-An¬ 
ämischer vorzukommen und eine be¬ 
stimmte Rolle zu spielen; nach einer 
mündlichen Mitteilung Nißles kann bei 
ihrem dominierenden Nachweis von vorn¬ 
herein auf ein antagonistisch minder¬ 
wertiges Verhalten des begleitenden Coli- 
Stammes geschlossen werden. Mit der 
einer klinisch-hämatologischen Besserung 
der Perniziosa in der Regel Hand in Hand 
gehenden Hebung des Coliindex ist unter 
entsprechendem allmählichen Überwiegen 
der Colibakterien im Stuhl ein Zurück¬ 
treten jener abnormen Keime verbunden. 
Indessen ist in einzelnen, nicht ganz we¬ 
nigen Fällen trotz zustande gekommener 
klinisch-hämatologischer Remission der 
Coliindex bei entsprechender pathologi¬ 
scher Darmflora minderwertig geblieben 
(Fälle 12, 13, 15, 20), und zwar auch nach 
Mutaflorbehandlung (Fälle 2 und 5), und 
umgekehrt sind, wenn auch entschieden 
seltener, nach Mutaflortherapie antago¬ 
nistisch vollwertige Colibacillen bei deso¬ 
latem klinischen Zustande, sogar direkt 
ante exitum gefunden worden (Fälle 7 
und 18); da die Stuhluntersuchungen in 
den letzten beiden Fällen während der 
Mutaflorverabreichung vorgenommen 
wurde, ist es sehr wohl möglich, daß we¬ 
nigstens ein Teil der genommenen Muta- 
florbakterien den Darm ohne direkte Be¬ 
rührung mit dem schädigenden Agens 
passiert uno den hochwertigen Coliindex 
bewirkt hat. 

(Schluß folgt im nächsten Heft.) 


-August 


Die Therapie* der Gegenv^art 1921 


299 


Aus der OMrurgiscleu Abteilung des Krankenhauses Moabit 
(Direktor: Geh. Rat Prof. Dr. M. Borchardt). 

Abortbehandiung. 

Von Dr. S. Joseph, Assistent. 


Die Behandlung des Aborts ist für den 
-Arzt, besonders für den praktischen Arzt, 
von allergrößter Wichtigkeit. Doch ist 
-die Abortfrage nicht nur eine rein medi¬ 
zinische, sondern auch eine bevölkerungs¬ 
politische. Ungeheuer groß ist die Zahl 
.der Aborte, die, trotzdem wir nur auf 
Schätzung angewiesen sind, uns doch ein 
Bild geben, wieviel Menschenleben jähr- 
Jich dem Staate verlorengehen. Nach 
Bumm beträg ihre Zahl 400 000, nach 
.anderen Autoren (Fehling, Kr ohne) 
sogar 500 000, zirka 15—20% aller- 
Schwangerschaften. Sachgemäße Be¬ 
handlung des Aborts bewahrt eine große 
Zahl der Frauen vor lebenslänglichem 
Siechtum. Von den drei großen Gruppen, 
den Spontamborten, den ärztlich beab¬ 
sichtigten oder künstlichen Aborten und 
den kriminellen, nehmen die kleinste Zahl 
die Spontanaborte ein; leider sind uns 
die Ursachen hierfür meistens unbekannt 
oder, wenn wir sie wissen, bleiben sie 
trotz aller Maßnahmen unbeeinflußt. Sie 
werden hervorgerufen durch Anomalien 
und Erkrankurtgen des mütterlichen Or- 
;ganismus, wie Lues und Gonorrhöe, durch 
Lageabweichungen und Geschwülste des 
■ Uterus, durch Veränderungen am Foetus 
und seinen Anhängen. Zwei unserer Be¬ 
einflussung zugänglichen Ursachen der 
spontanen Aborte sind Lues und nach 
•einigen Autoren die Berufstätigkeit der 
Frau. 70—80% aller Schwangerschafts¬ 
unterbrechungen kommen auf das Konto 
der Lues, 10—20% davon sind Aborte. 
Eine andere durch entsprechende Ma߬ 
nahmen vermeidbare Ursache ist die Be¬ 
rufstätigkeit der Frau. Körpererschütte¬ 
rungen infolge schwerer Arbeit können 
durch Blutungen den Haftapparat des 
Eies lockern. In einigen Berufsarten 
können Gifte, wie Blei und Phosphor die 
Gravidität stören; so soll bei Arbeiterin¬ 
nen in der Schriftgießerei jede dritte 
Schwangerschaft mit einer Fehlgeburt 
•enden. 

An zweiter Stelle stehen die beab¬ 
sichtigten, künstlichen, aus Gesundheits¬ 
rücksichten ärztlich eingeleiteten Aborte. 
Ihre Zahl wird auf 1 % aller Aborte ver¬ 
anschlagt, ist aber wahrscheinlich noch 
höher. 70% aller künstlichen Aborte 
kommen auf das Konto der Lungentuber¬ 
kulose. Inwieweit die Unterbrechung der 


Gravidität bei den einzelnen Krankheiten 
berechtigt ist, will ich hier unberücksich¬ 
tigt lassen. 

„Jeder Abort einer Frau zwischen 
dem 31. und 36. Jahr ist ein krimineller.'* 
Eine Anschauung, die in ihrem Urteil 
doch etwas zu weit geht. Einige Autoren 
vertreten den Standpunkt, daß der Ab¬ 
gang des Eies in Stücken für den krimi¬ 
nellen Abort charakteristisch sei.. Auch 
diese Auffassung ist anfechtbar. Nach 
anderen Autoren soll Fieber typisch sein 
für die Folgen der Abtreibung. Diese An¬ 
sicht scheint mir überholt zu sein, wenn 
man bedenkt, daß auch die Abtreiber in 
der Technik und Asepsis Fortschritte ge¬ 
macht haben. Allerdings spricht Fieber 
im höchsten Grade für eine Manipulation. 
Ein sicheres Zeichen für ein Krimen 
haben wir nicht, es sei denn, daß man 
deutliche Verletzungen am Genitale nach- 
weisen kann. Nicht jede Blutung einer 
gebärfähigen Frau braucht ein Abort zu 
sein, selbst wenn die Anamnese die Ver¬ 
mutung nahelegt. So häufig werden Pa¬ 
tienten wegen Blutungen kürettiert, ohne 
daß überhaupt eine intrauterine Schwan¬ 
gerschaft bestanden hat. Solch übereilter 
Eingriff kann oft recht unangenehme 
Folgen haben. Auf die verschiedenen 
Ursachen der Blutungen bei Frauen will 
ich nicht näher eingehen. Aber auch 
Blutungen während der-ersten Schwanger¬ 
schaftsmonate brauchen nicht immer zum 
Abort zu führen. Die Blutungen bei sol¬ 
chen als Abortus imminens' bezeichneten 
Fällen kann manchmal recht erheblich 
sein. Solche Fälle, bei denen sonst kein 
Zeichen einer unterbrochenen Gravidität 
vorhanden ist, durch irgendeine Mani¬ 
pulation, sei es durch häufiges Unter¬ 
suchen, durch Sondieren oder Tampo¬ 
nieren, letzteres wird recht häufig ge¬ 
macht, anzugreifen, wäre falsch. Die The¬ 
rapie für den drohenden Abort ist sehr 
einfach: Fort mit jedem Instrument, ein¬ 
malige Untersuchung, strenge Bettruhe 
und vielleicht etwas Opium genügen 
schon, um oft recht erhebliche Blutungen 
zum Stillstand zu bringen und somit die 
Gravidität zu erhalten. Allerdings gehört 
hierzu sehr viel Geduld. Gibt es doch 
Schwangerschaften, die während der 
ganzen Schwangerschaft wegen Blutun¬ 
gen das Bett hüten müssen, dafür aber 

38* 





. 300., 


/ • -• : 

Die Therapie der Gegenwart 1921 ^ ^ , Augus^r 


auch ein lebendes Kind zur Welt bringen. 
Ist nun der Abort nicht mehr aufzu¬ 
halten, verliert die Patientin dauernd 
größere Stücke Blut, wie die Patientinnen 
anzugeben pflegen, so gelten,.wenn ein 
Eingriff vorgenommen werden muß, die 
Grundsätze, die man bei einem richtigen 
Partus zu beachten hat. Strengste Asep¬ 
sis ist die Hauptforderung. In einem Teil 
der Fälle wird es nicht notwendig sein, 
einzugreifen, da spontane Ausstoßung 
erfolgt. Diese kann durch wehenanre¬ 
gende Mittel, wie Pituglandol, Pitruitin, 
Hypophysin und Chinin unterstützt 
werden. Eine ausgezeichnete Wirkung 
übt das Chinin in der Kombination mit 
dem Ersatzpräparat Tenosih aus. Das 
so häufig angewandte Secale zur An¬ 
regung der Wehen vor Ausstoßung der 
Frucht bleibt ohne Wirkung, ja, ist 
sogar kontraindiziert, da es durch seine 
kontrahierende Wirkung einen eventuellen 
Eingriff sehr erschwert. 

ln der operativen Behandlung des 
Abortes hat man streng zu scheiden zwi¬ 
schen aseptischen und fieberhaften Abor¬ 
ten. Bis heute gibt es eine einheitliche 
Behandlung des Abortes noch nicht. Beim 
aseptischen Abort ist ein sofortiger Ein¬ 
griff nur bei ganz bedrohlichen Blutungen 
angezeigt. In dem größten Teil der Fälle 
wird der Foetus spontan ausgestoßen. 
Eine ausgedehnte Desinfektion der Va¬ 
gina ist nicht erforderlich, da es selbst 
bei fortgesetzten Spülungen, wie man es 
früher gemacht hat, nicht gelingt, die 
Vagina keimfrei zu machen. Die von 
vielen Praktikern so häufig angewandte 
Tamponade zur Anregung von Wehen 
und zur Erweiterung des Muttermundes 
hat so gut wie gar keinen Erfolg, führt 
zur Stauung von Sekreten, bietet einen 
güns’tigen Nährboden für die Keime und 
erhöht so die Infektionsgefahr. Emp¬ 
fehlen würde ich sie nur bei sehr starken 
Blutungen für den Transport zum.Kran¬ 
kenhaus, wo Tamponade sofort entfernt 
werden kann und die Operation gleich 
angeschlossen wird. Recht häufig wird 
der operative Eingriff in der Sprech¬ 
stunde oder im Privathause begonnen. 
Während der Operation fängt die Pa-' 
tientin sehr stark zu bluten an, dann wird, 
ohne die Operation zu beenden, die Pa¬ 
tientin in die Klinik geschickt, nachdem 
in aller Eile locker tamponiert ist, so daß 
es in den Uterus ruhig hinein bluten kann. 
Das ist ein Kunstfehler. Jede angefan¬ 
gene Operation muß beendet werden. 
Die stärksten Blutungen stehen meistens, 


wenn der Uterus leer ist, vorausgesetzt,^ 
daß sonstige Verletzungen nicht ent¬ 
standen sind. Ist die Blutung nicht so^ 
ernst, daß sofort eingegriffen werden^ 
muß, so verfährt man am schonendsten,^ 
indem man ein bis zwei gut sterilisierte- 
Laminariastifte in die Cervix legt. Für 
den Praktiker am bequemsten sind die 
steril in Glasröhrchen aufgehobenem 
Stifte. Meistens ist nach einigen Stunden/ 
der, Muttermund schop soweit, daß mam 
bequem mit einem Finger in die Uterus- 
höhle kommt. Sollte der Muttermund' 
jetzt noch nicht genügend weit sein, so» 
kann man mit zwei bis drei Hegarstiften 
dilatieren. Muß sofort eingegriffen wer¬ 
den, so dilatiert man sofort mit dem 
Hegarschen Metalldilatatoren. Hierbei 
ist die größte Vorsicht geboten. Der 
Dilatator ist ein gefährliches Instrument,, 
mit dem man sehr leicht die während der 
Gravidität aufgelockerten Gewebe ver¬ 
letzen kann. Die Blutung solcher Ver¬ 
letzung ist oft sehr schwer. So wurde- 
vor kurzem ein Fall eingeliefert, bei dem 
mit dem Dilatator die rechte Cerviswand’ 
dicht vor dem inneren Muttermund per¬ 
foriert war. Der ’ behandelnde Arzt: 
glaubte, er sei im Uterus und diktierte- 
weiter. Bei der Curettage setzte eine- 
sehr starke Blutung ein. Die hier vor¬ 
genommene Laparotomie ergab eine Zer¬ 
reißung der Arteria und Vena uterina. 
und der Vena hypogastrica. 

Man dilatiert gewöhnlich so weit, bfe 
man mit dem Finger gut in den Uterus- 
hineinkommt, dann löst man vorsichtig: 
die an der Uteruswand sitzenden Placen- 
tateile, indem man sich den Uterus vom 
den Bauchdecken aus auf den Finger 
stülpt, und sucht die gelösten Teile sofort 
zu entfernen. Darauf kurettiert man mit 
einer großen, scharfen, breitbasigen Cu- 
rette recht vorsichtig so lange, bis mam 
das knirschende Geräusch der Musku¬ 
latur hört. Gelingt es nicht, manuell dem 
Föten oder den Kopf des Föten, der* 
häufig abreißt, durch den engen Mutter¬ 
mund herauszubefördern, so eignet sichi 
zum Fassen desselben sehr gut die Winter- 
sche Abortzange. Es gibt nun viele- 
Autoren, die jedes Instrument verwerfen. 
Zweifellos bringt diese Behandlungsart 
am wenigsten Gefahren mit sich. Doch- 
ich halte die Anwendung dieser beiden 
Instrumente für ganz ungefährlich, nach¬ 
dem man vorher manuell alles gelöst 
und zum Teil Entfernt hat, und sich so 
über die Lage des Uterus, Ansatzstelle' 
der Placenta genau orientiert hat. Das. 




August^ 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


301 


schlechteste, gefährlichste, aber doch leider 
noch so häufig angewandte Instrument 
ist die Kornzange. Gerade hiermit sind 
die meisten Verletzungen angerichtet wor¬ 
den. Ebenso ist vor den beliebten kleinen 
Curetten, die nicht weniger gefährlich 
sind, als die Kornzange, zu warnen. Auch 
mit der Abortzange sind Verletzungen 
von Bumm, Sellheim, Herz und andern 
beschrieben worden, bei denen die Uterus¬ 
wand mitgefaßt und zerrissen, ja sogar 
Darmschlingen hervorgezogen sind. Des¬ 
halb ist es dringend notwendig, mit der 
Abortzange nur vorher gelöste Teile zu 
entfernen, ohne auch nur die geringste 
Gewalt anzuwenden. Die nach der Aus¬ 
räumung einsetzende Blutung steht' mei¬ 
stens, wenn der Uterus ganz leer ist. Eine 
Tamponade des Uterus ist sehr- schwer, 
und nur bei ganz bedrohlichen Blutungen 
angebracht. Die Contractioii des Uterus 
kann durch mechanische Mittel, wie heiße 
beziehungsweise kalte Spülungen, durch 
Reiben des Uterus und durch medika¬ 
mentöse Mittel, wie Sekale beziehungs¬ 
weise Tenosin und Hypophysin, noch 
unterstützt werden. Andere Mittel zur 
Blutstillung sind Ätzen der Uteruswand- 
mit 50 %iger Eisenchloridlösung oder 
Carbolsäure. Eine Vergiftung tritt nicht 
ein, weil der sich bildende Schorf die 
Resorption verhindert. Auf einen Fehler, 
der so häufig begangen wird, möchte ich 
aufmerksam machen. Nachdem derUterus 
curettiert und schon gespült ist, wnrd oft 
nachgefühlt, ob noch Reste zurück¬ 
geblieben sind. Hierdurch werden wieder 
Keime, sei es von der nicht mehr sterilen 
Hand des Operateurs, sei es aus der 
Scheide, die eine große Bakterienflora 
enthält, in die in eine frische Wundhöhle 
umgewandelte Uterushöhle gebracht. 

Nach dieser eben angegebenen Methode 
wird verfahren, wenn größere Reste 
im Uterus enthalten sind. Nimmt man 
aber nach dem Untersuchungsbefund an, 
daß nur kleine Brocken im Uterus zu¬ 
rückgeblieben sind oder daß es sich um 
eine Endometritis post abortum handelt, 
dann genügt es, mit einer kleineren aber 
doch breiten Curette zu curettieren, nach¬ 
dem man vorher vorsichtig mit einigen 
niedrigen Nummern der Hegarschen Me¬ 
talldilatatoren erweitert hat. 

Dieser Behandlunsgmethode des «asep¬ 
tischen Abortes stehen einige Autoren 
gegenüber, die dem Instrument allein den 
Vorrang geben. Sie verschmähen das 
lange Herumkneten auf dem Bauch der 
Patientin bei der manuellen Ausräumung 


und sind der Ansicht, daß durch den 
Finger die Keime noch mehr in die Wand 
des Uterus hineingedrückt werden. 

Ich komme jetzt zu der zweiten Kate¬ 
gorie der Aborte, zu den fieberhaften. 
Gerade in den letzten Jahren haben sich 
hier zwei Therapien herausgebildet, deren 
Anhänger sich schroff gegenüberstehen. 
Das ist die aktive und exspektative Be¬ 
handlung. Bis vor etwa zehn Jahren gab 
es nur eine Ansicht, aktiv vorzugehen,, 
aus dem Uterus möglichst schnell* die 
infizierten Reste zu entfernen. Die 
Infektion des Abortes erfolgt sowohl 
durch aktiven Keimimport auf die Wund¬ 
fläche im Uterus, als auch durch spontane 
Keimassension. Eine Übertragung durch 
das Blut ist sehr selten. 

Die von den verschiedenen Autoren 
vorgenommene Einteilung des fieber¬ 
haften Abortes nach dem Bakterienbefuncf 
hat nur wissenschaftlichen Wert, ist für 
den Praktiker undurchführbar und hat 
praktisch nicht so große Bedeutung. Auch 
die Trennung der Aborte in akut-fieber¬ 
hafte und chronisch-fieberhafte, wie 
Warnekros sie angibt, kommt nur für 
die Klinik in Betracht. Für den Praktiker 
kann es nur eine Einteilung geben, solche,, 
bei denen die Infektion noch auf dem 
Uterus beschränkt ist und solche, bei 
denen die Entzündung schon weiter vor¬ 
geschritten ist. Diese Trennung allein 
kann dem Praktiker für seine Eingriffe 
als Richtschnur gelten. Ja, einige Autoren 
gehen sogar noch weiter: ,,Nicht der 
Nachweis bestehenden oder vorausgegan¬ 
genen Fiebers, nicht die bakteriologische 
Untersuchung, sondern einzig *und allein 
der Palpationsbefund soll das thera¬ 
peutische Vorgehen bestimmen.“ 

Ich beginne mit der letzten Art von 
Aborten, bei denen die Infektion schon 
weiter gegangen ist. Hierin sind sich alle 
Autoren einig, diese Kategorie von 
Aborten muß exsp^ktativ behandelt wer¬ 
den, wenn durch manifeste pathologisch¬ 
anatomische Veränderungen neben dem 
Uterus ein Fortschreiten der Infektion 
nachweisbar ist. Diese Aborte sind als 
kompliziert zu betrachten. In diesen 
Fällen hat man nicht den Abort, sondern 
den dadurch entstandenen Entzündungs¬ 
prozeß, die Salpingitis, Parametritis und 
Peritonitis, zu behandeln. Zum Zustande¬ 
kommen einer Infektion sind disponie¬ 
rende Momente notwendig, und hierzu 
gehört an erster Stelle die Retention 
infizierter Eireste, so daß durch den utero- 
placentaren Kreislauf eine dauernde 



302 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


' August 


Brücke zwischen infiziertem fötalen Ge¬ 
webe und mütterlichem Organismus auf- 
rechterhalten wird. Solange diese Ver¬ 
bindung besteht, ist auch die Möglichkeit 
vorhanden, daß immer wieder frische 
Keime von diesem ,,Anreicherungsver¬ 
fahren'* in das mütterliche Blut über¬ 
gehen. — Der positive Blutbefund besagt 
nichts, solange die Circulation hier er¬ 
halten ist. Ich will hier vorwegnehmen, 
daß.in sehr vielen Fällen, sofern der utero- 
placentare Kreislauf unterbrochen ist, 
die Blutbefunde negativ ausfallen. Des¬ 
halb stehen heute die meisten Autoren 
^uf dem Standpunkt, möglichst schnell 
schonend den Uterus zu entleeren. Ob 
der Föt schon abgegangen ist oder nicht, 
ob die ganze Placenta oder größere 
Placentastücke im Uterus enthalten sind, 
ist auch hier für den operativen Eingriff 
ohne Bedeutung. Es gilt nur der Grund¬ 
satz auszuräumen, ohne neue Verletzun¬ 
gen zu verursachen, da nach der Aus¬ 
räumung eine Wundhöhle entstanden ist, 
die ohnehin genügend Infektionsmöglich¬ 
keiten bietet. 

Bei offenem Muttermund gestaltet 
sich die Operation genau so, wie beim 
aseptischen Abort. Es ist wichtig, mit 
dem Finger auch die kleinsten Teile zu 
ontfernen, da sie den weiteren Heilungs¬ 
verlauf nur stören können. Ist der Mutter¬ 
mund geschlossen, so ist der Eingriff 
komplizierter. Man muß jetzt sofort mit 
den Hegarschen Metalldilatatoren erwei¬ 
tern und dann wieder manuell ausräumen. 
Schonender ist auch hier die Laminaria- 
behandlung, doch soll hierbei infolge 
Stauung des Sekretes häufig Fieber auf- 
freten. Die Schäden der Laminaria- 
behandlung werden zweifellos über- 
schätzt. Der Laminariastift liegt ja nur 
wenige Stunden. Die Sekretstauung kann 
man etwas verhindern indem man Hohl¬ 
stifte verwendet. Durch die Laminaria- 
^tifte wird die Cervix leicht gedehnt und 
nachgiebiger. Einrisse, wie sie sonst auf- 
treten müssen, werden vermieden, wenn 
man nach Entfernung des Laminaria- 
stiftes noch mit dem Hegar erweitert. 
Ich rate davon ab, nach manueller Aus¬ 
räumung mit der Curette nachzukuret- 
fieren oder gar ohne vorherige Lösung der 
Placenta zu kurettieren. Es gibt Autoren, 
die auch beim septischen Abort die 
manuelle Ausräumung verwerfen und der 
Curette den Vorzug geben aus Gründen, 
wie ich sie beim aseptischen Abort an¬ 
geführt habe. Es werden aber wohl 
sicher mehr Keime in die weiten Blut- und 


Lymphgefäße- gelangen, die durch die 
Curette eröffnet werden. Außerdem 
betone ich nochmals, daß die Curette 
ungefährlich ist in der Hand des Geübten. 
Und selbst der Geübteste kann mit der 
Curette gerade beim septischen Uterus, 
der noch weicher und deshalb leichter zu 
perforieren ist, als der aseptische, Ver¬ 
letzungen yerursachen. Man muß be¬ 
denken, daß manchem Praktiker die 
Übung fehlt und daß jede Perforation das 
Leben der Patientin aufs schwerste ge¬ 
fährdet. An jede Ausräumung eines 
fieberhaften Abortes schließe man eine 
heiße Alkoholspülung, die die Kontraktion 
des Uterus anregt. 

Zum Schluß noch ein Wort über dm 
expectative Behandlung des septischen 
Abortes. Wie bereits hervorgehoben, war 
bis vor zirka zehn Jahren die aktive 
Therapie die Methode der Wahl, bis 
Winter mit einer neuen Behandlungsart 
hervortrat, ganz konservativ zu verfahren. 
Nach seiner Ansicht ist die Methode des 
Eingriffes nicht abhängig von dem Fieber, 
sondern vom bakteriologischen Befund 
des Uterus beziehungsweise Scheiden¬ 
sekretes und des Blutes. Winter räumte 
allen mit hämolytischen Streptokokken 
infizierten Aborten wegen der Pathogeni¬ 
tät und Virulenz der Keimart eine Sonder¬ 
stellung ein. ,,Es gibt nur eine bakteriolo¬ 
gische Indikationsstellung." Walthard 
geht noch weiter. Er will in diese Kate¬ 
gorie die mit Gonokokken und Staphylo¬ 
kokken infizierten Aborte eingereiht wis¬ 
sen. Die Autoren sind der Ansicht, daß 
sich bei diesen Aborten ein sogenannter 
Demarkationsfall bildet, der bei der Aus¬ 
räumung zerstört wird, sodaß es leicht 
infolge der diesen Keimen eigenen ,,Pene¬ 
trationsfähigkeit" zu einer Sepsis kommen 
muß. Es ist aber demgegenüber fest¬ 
gestellt worden, daß die große Pene¬ 
trationsfähigkeit keine besondere Eigen¬ 
schaft der Streptokokken ist, sondern 
daß sie auch andere Keime besitzen. Die 
Gegner dieser expectativen Methode 
stützen sich darauf, daß selbst bei streng¬ 
stem konservativen Verhalten Sepsis ein- 
treten kann, während andererseits trotz 
aktiven Vorgehens die Streptokokken- 
Bakteriämie verschwindet. So konnte 
oft festgestellt werden, daß die vor der 
Ausräumung im Blut vorhandenen Keime 
nach dem Eingriff nicht mehr nachweisbar 
waren. Es ist klar, daß diese genaue 
bakteriologische Untersuchung für den 
Praktiker nicht möglich ist. Außerdem 
ist die Dauer dieser Behandlung wesent- 



August 


Die’ Therapie der Gegenwart 1921 


303 


lieh länger. Der" Zeitraum, bis das end- 
-gültige Ergebnis der bakteriologischen 
Untersuchung vorliegt, beträgt, wie Neu, 
ein Anhänger der konservativen Behand¬ 
lung zugibt, 2—5 Tage. Eine dringende 
Indikation zur sofortigen Ausräumung 
fieberhafter Aborte gibt es nach Neu 
selbst bei schweren Blutungen nicht 
mehr. Doch hierin stimmen die Anhänger 
der konservativen Therapie nicht überein. 
Benthin, ein eifriger Verteidiger der 
^xpectativen Methode, gibf/zu, daß in 
8—10% aller Fälle wegen zu starker 
Blutung eingegriffen werden muß. Gerade 
in letzter Zeit hatte ich Gelegenheit, sehr 
stark ausgeblutete Aborte zu beobachten. 
Und wenn die Blutung auch durch gründ¬ 
liche Tamponade zu beherrschen ist, so 


ist wohl kaum zu zweifeln, daß bei der 
großen Infektionsgefahr, die die Tam¬ 
ponade bietet, solche ausgebluteten Pa¬ 
tientinnen eher einer Infektion erliegen 
werden. 

Nach der eben ausgeführten aktiven 
Methode sind im Krankenhause Moabit 
gegen 450 Aborte behandelt worden. 
Von diesen 450 Aborten ist ein septischer 
Fall ad exitum gekommen, ein zweiter 
Fall, der ad exitum kam, war vorher be¬ 
reits ankurettiert worden, war bei der 
Einlieferung schwer septisch, kann also 
wohl nicht dieser Behandlungsmethode 
zur Last gelegt werden. Die Zahl der be¬ 
handelten Fälle scheint mir groß genug zu 
sein, um auf den Wert der Methode einen 
Rückschluß machen zu können. 


Ans der vormals Lassar’schen Klinik in Berlin. 

Zur Trockenbehandlung der weiblichen Gonorrhoe und des Fluor. 

Von Dr. Walter Treuherz, Assistent der Klinik. 


In unserer Klinik sind bis jetzt die 
verschiedensten Mittel zur Beseitigung 
der weiblichen Gonorrhoe und des Fluor 
angewandt worden. Es wurden in 15 %iger 
Ichthynatlösung getränkte Tampons gegen 
die Cervix gelegt, die Urethra wurde mit 
Ichthynat gepinselt, Formaldehydtam¬ 
pons in Verbindung mit Spülungen mit 
Liq. Alum. acet., AgNOg-Spülungen wur¬ 
den appliziert, Holzessig und vieles mehr. 
Von allen diesen Mitteln ist festgestellt 
worden, daß sie sehr wohl die Gonorrhoe 
oder den Fluor beseitigen können; aber 
sie tun das nicht sicher und ihre Appli¬ 
kation ist nicht selten mit Schädigungen 
der Vaginal-, Urethral- und vor allem 
der Cervicalschleimhaut verbunden, ganz 
abgesehen davon, daß man den einst¬ 
weilen noch auf Urethra und Cervix be¬ 
schränkten Prozeß durch die Spülungen 
oft genug nach den Tuben treibt. Häufig 
war die Anwendung dieser Mittel auch 
noch recht schmerzhaft (Urethralpinse¬ 
lungen mit Ichthynat usw.), so daß es 
oft genug vorkam, daß die Patientinnen 
sich nur unregelmäßig zur Behandlung 
•einfanden. 

Es lag daher der Gedanke nahe, ein 
Mittel zur Beseitigung der beiden Krank¬ 
heiten heranzuziehen, das die Gefahr 
•der Verschleppung der Gonorrhoe oder 
des mit Bakterien überladenen Sekretes 
ausschließt, dabei aber möglichst gut in 
alle Falten und Buchten der Genital¬ 
schleimhäute einzudringen vermag; nach 
diesen Überlegungen War von vornherein 
unerwünscht jede Behandlung, zu deren 


Unterstützung Ausspülungen irgend¬ 
welcher Art notwendig gewesen wären, 
jedes Mittel dagegen erwünscht, das 
trocken anwendbar und wirksam ist. 

Die Trockenbehandlung der Gonorrhoe 
ist — aus den schon angedeuteten Grün¬ 
den — zuerst von Nassauer durchgeführt 
worden; als einziges Mittel, das hierzu ge¬ 
eignet sein sollte, machte Nassauer 
Bolus alba bekannt. Dies ist eine sehr 
gut absorbierende, aber nur sehr unzu¬ 
länglich desinfizierende Substanz, die 
bald noch weitergehende Fehler aufwies, 
infolge deren sie als unzweckmäßig ab¬ 
gelehnt wurde. Zu diesen Fehlern gehört 
die Tatsache, daß die mit Bolus behandelte 
Schleimhaut im Laufeder Behandlung mit 
Krusten und Bolusbröckeln bedeckt wird, 
die nur sehr schwer entfernbar sind, daß 
weiterhin das Einführen von Speculis in 
die völlig trockene und rissig gewordene 
Vagina Schmerzen und Blutungen her¬ 
beiführt, welche nur vermieden werden 
können, wenn auf die von Nassauer 
selbst verpönte Methode der Spülungen 
zurückgegriffen wird. Diese letzte Not¬ 
wendigkeit entzog der Bolusbehandlung 
völlig den Boden und nicht zuletzt auch 
die Berechtigung, als Trockenbehandlung 
aufgefaßt zu werden. 

Von einer wirklichen Trockenbehand¬ 
lung kann doch nur dann die Rede sein, 
wenn das in die Vagina oder in die Cervix 
gebrachte Medikament sich von selbst 
in den dort vorhandenen Sekreten auf¬ 
löst, diese desinfiziert und von 
selbst nach außen befördert. 





304 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


August 


Diese Forderung wurde vor einigen 
Jahren durch zwei Präparate annähernd 
erfüllt, die in Form von Stylis oder 
Tabletten in die Vagina eingeführt wur¬ 
den, sich dort unter Entwicklung von 
Kohlensäure auflösten und dabei noch 
ein blutstillendes oder ein antiseptisches 
Mittel als Zusatz enthielten (Ensemori 
und Tampospuman). 

Den Gedanken, Wunden oder wunde 
Stellen der Schleimhäute usw. mit Mit¬ 
teln zu behandeln, die nach ihrer Applika¬ 
tion Kohlensäureschaum entwickeln und 
dadurch am besten geeignet sind, in jede. 
noch so verborgen liegende Stelle der 
Wunde einzudringen, hat Mendel (Essen) 
vor mehreren Jahren ausgesprochen (M. 
m. W. 1915, Nr. 27, S. 932—934); er hat 
die Durchführbarkeit dieses Gedankens 
Während des Krieges bewiesen, und es hat 
sich gezeigt, daß die von ihm hergestellten 
„Kohlensäurewundstifte“ sich sehr gut 
bewähl*t haben. 

Die Auffassung, daß der Sauerstoff 
in statu nascendi besonders günstige Wir¬ 
kungen auf Wunden beziehungsweise 
Schleimhäute ausübe, teilte er nicht; er 
wies nach, daß der Sauerstoff so gut wie 
gar nicht desinfizierend wirke, und daß 
erstarke Reizwirkungen ausübt; die letzt¬ 
genannte Eigenschaft dürfte sehr störend 
bei der Anwendung eines Sauerstoff ent¬ 
wickelnden Mittels wirken. 

Das schon vorher zur Wundbehand¬ 
lung in Form von Stylis benutzte Mittel 
wandte Mendel bald darauf in Pulver¬ 
form zur Behandlung des Fluors und der 
weiblichen Gonorrhoe mit Erfolg an (M. 
m. W. 1916, Nr. 39, S. 1386—88). Er 
Wählte die Pulverisierung deshalb, weil 
das in Form von Stylis in die Vagina ge¬ 
brachte Medikament sich seiner Ansicht 
nach nicht fein genug in alle Spalten und 
Buchten der Schleimhaut hineinbringen 
ließ. Das von ihm angegebene Kohlen¬ 
säurewundpulver (Dr. Klopfer) besteht 
aus einem Gemenge von 9 Teilen Wein¬ 
säure, 10 Teilen doppeltkohlensaurem 
Natron und 19 Teilen Zucker und ist 
durch die Fabrik Dr. Klopfer (Dresden) 
zu beziehen. Die beiden ersten Bestand¬ 
teile wirken (wie schon lange bekannt 
ist) anästhesierend und desinfizierend und 
veranlassen das Aufbrausen des Gemi¬ 
sches bei Berührungen mit irgendwelchen 
Sekreten aus der Vagina, der Cervix usw., 
der Zucker hat, nach den Arbeiten von 
Spiro und von Herff eine stark des¬ 
infizierende Wirkung. 


Dieses Mittel habe Ich nun drei Mo¬ 
nate lang bei den Patientinnen unserer 
Poliklinik auf seine Wirksamkeit geprüft 
und ich habe dabei sehr günstige Resul¬ 
tate gesehen. Für das Mittel sprechen: 

1. die leichte Form der Anwendung: 
das Pulver wird mittels eines Gebläses 
in die entfaltete Vagina und auf die Cervix 
geblasen^),und zwar einmal täglich. . 

2. die völlige Schmerzlosigkeit, sogar 
bei der Einführung des Mittels in die 
Urethra; die Behandlung der Urethra 
habe ich mit kohlensauren Wundstiften 
ausgeführt, welche sich mit Leichtigkeit 
in die Urethra hineinschieben lassen und 
dort natürlich dieselben Wirkungen ent¬ 
falten, wie das Wundpulver an der Cer¬ 
vix. Es kommt vor, daß die Stifte un¬ 
mittelbar nach dem Einführen in die 
Urethra wieder nach außen gleiten; dies 
wird am besten dadurch vermieden, daß« 
man einen Augenblick die Öffnung der 
Urethra zudrückt; sobald der Stift be¬ 
gonnen hat sich auf zulösen, gleitet er 
nicht mehr nach außen. 

Das in die Vagina gebrachte Pulver 
entwickelt dort sofort- einen stark des¬ 
infizierenden Schaum unter hohem Druck 
(CO-Innendruck), welcher den Schaum 
in alle Spalten und Buchten der Schleim¬ 
haut treibt und so in idealer Weise das 
Medikament in alle Stellen der infizierten 
Schleimhaut trägt. Hierbei hat es noch 
die (von Mendel in der obenerwähnten 
Arbeit angegebenen) Vorteile, daß es die 
Vitalität der Schleimhaut aufrechterhält; 
hierdurch kommt der mechanischen und 
chemischen Wirkung des Mittels die Ab¬ 
wehrtätigkeit der Schleimhaut zu Hilfe. 

Bei vielen Patientinnen ging die Menge 
des Sekretes schon nach acht Tagen stark 
zurück und nach vier bis sechs Wochen 
war das Sekret vollständig verschwunden. 

Zur Illustration zwei kurze Kranken¬ 
geschichten: 

Frl. D. Gonorrhoe, Fluor, seit etwa zwei' 
Monaten in Behandlung. Therapie bis dahin r 
Ichthynattampons, Ichthynatsupositorien, Aus¬ 
spülungen mit Liq. Alum. acet. und Formalin¬ 
tampons. Am Ende dieser zwei Monate langen 
Behandlung hat der Ausfluß nur wenig an Stärke 
nachgelassen, im mikroskopischen Präparat des- 
Cervixsekretes finden sich reichlich Leukocyten. 
Seit dem 26. Januar Kohlensäurewundpulver 
(Mendel), sonst keine anderen Maßnahmen. 

1. Februar: Cervix ein wenig gerötet, Fluor 
vermindert, enthält reichlich Leukocyten. 

5. Februar: Cervix blaßrot, wenig Fluor. 

8. Februar: Fluor wieder stärker geworden. 

1) Ein hierfür besonders geeignetes Gebläse 
ist von Gebrüder Lappe in Essen (Ruhr) nach der 
Angabe von Sanitätsrat Dr. Mendel in Essen 
hergestellt worden und von dort zu beziehen. 





August 


305 


Die Therapie der Gegenwart 1921' 


15. Februar: Fluor vermindert. 

23. Februar: Fluor fast völlig verschwunden. 

14 Tage gar keine Behandlung. 

8., März: Wenig Sekret, glasig, enthält ganz 
vereinzelte Leukocyten. 

15. März: Kommt unregelmäßig; Befund wie 
am 8. März. 

20. März: Geheilt entlassen. 

Frl. T., Prostituierte, Gonorrhöe und Fluor. 

26. Januar bestand mäßig starker Fluor, Cervix 
Gonorrhoe. Mikroskopisch: Gonokokken nach- 
igewiesen. Im Cervixsekret sehr viel Leukocyten. 

1. Februar: Fluor nachgelassen. 

8. Februar: Fluor fast völlig verschwunden, 
mikroskopisches Präparat enthält nur noch ver¬ 
einzelte Leukocyten, keine Gonokokken, über¬ 
haupt keine Bakterien irgendwelcher Art 
<das erste Präparat hatte neben Gonokokken die 
übliche ungeheure Menge von anderen Bakterien 
enthalten). 

Kommt unregelmäßig vom 10. bis 25. Februar, 
daher nur schlechte Behandlung. Seit dem 
26. Februar wieder regelmäßig. 

26. Febrvar enthält das Präparat viel Leuko¬ 
cyten, keine Gonokokken. 

2. März: Nur noch ein glasiger Tropfen an der 
Cervix, vereinzelte Leukocyten. 

Seitdem nicht wiedergekommen. 

Diese beiden aus meinen übrigen 
Krankengeschichten herausgegriffenen Be¬ 


funde zeigen einerseits, daß das Kohlen¬ 
säurewundpulver die Fähigkeit besitzt, 
da günstig und verhältnismäßig schnell 
zu wirken, wo schon monatelange Be¬ 
handlung nur geringe Erfolge gehabt hat, 
dann aber auch, daß es, gleich von vorn¬ 
herein angewendet, in sehr kurzer Zeit 
den Fluor beseitigt und das Cervixsekret 
überhaupt völlig bakterienfrei 
macht (dieser ^Befund kehrt bei allen 
meinen Untersuchungen wieder) was nach 
den Arbeiten von v. Herff und Spiro 
allerdings nicht verwunderlich ist. 

Wenn ich mir auch nach einer verhält¬ 
nismäßig kurzen Zeit der Untersuchungen 
nicht gestatten darf, ein abschließendes 
Urteil über die Wirkungen des Kohlen¬ 
säurewundpulvers bei der Bekämpfung 
der Gonorrhoe und des Fluor zu fällen, 
so sind die bis jetzt erzielten Resul¬ 
tate doch' so ermutigend, daß ich es 
für angezeigt halte, das Interesse der 
Allgemeinheit auf dieses Mittel zu 
lenken. 


Repetitorium der chirurgischen Therapie. 

Von M. Borchardt. 

Die Behandlung frischer Verletzungen. 


Von • M. Borchardt 

Gute Wirkung hat besonders bei pa¬ 
renchymatösen Blutungen das Andrücken 
von in 3%igem Wasserstoffsuperoxyd 
getränkter Gaze. Der aus den aufperlen¬ 
den Gasblasen sich bildende Schaum 
dringt in alle Buchten und Nischen der 
Wunde und schließt durch den von ihm 
ausgeübten Druck allerdings nur kleinste 
Gefäßlumina. Diffuse Blutungen aus 
großen Wundflächen (Amputationsflächen 
an Extremitäten, Mammaamputations¬ 
wunden) beherrscht man oft schon durch 
Aufdrücken von mit warmer physiologi¬ 
scher Kochsalzlösung befeuchteten oder 
auch trockenen Gazekompressen. Man 
muß das Manöver nur in Ruhe einige 
Minuten fortsetzen und dann die Kom¬ 
pressen möglichst sanft entfernen. Sachs 
und Barfurth empfehlen die Tamponade 
mit nichtentfetteter Rohwatte. Diese 
hat, im Gegensatz zur hydrophilen Gaze 
oder Watte, die Eigenschaft, völlig trocken 
zu bleiben. Dadurch wirkt sie nicht 
gleichzeitig drainierend, sondern gewähr¬ 
leistet einen festen, wirklichen Abschluß 
der zu komprimierenden blutenden Wund¬ 
fläche. Die Watte ist in Beutel von nicht 
hydrophiler Gaze eingchüllt und in dieser 
Form in sterilen Packungen fertig im 


und S. Ostrowski. (Fortsetzung.) 

Handel zu beziehen. Die Rohwattetam¬ 
ponade kann, da die Watte sich nicht 
vollsaugt und deshalb nicht zersetzt wird, 
mehrere Tage — bis zu acht Tagen und 
mehr — liegen bleiben. Über eigene Er¬ 
fahrungen damit verfügen wir nicht. Das 
früher in der Chirurgie häufiger ange¬ 
wandte Eisenchlorid mit seiner verschor- 
fenden, darum blutstillenden Eigenschaft, 
wird jetzt kaum noch gebraucht. Da¬ 
gegen erweist sich besonders bei diffusen 
Blutungen aus der Nasen- und Blasen¬ 
schleimhaut das Antipyrin als ein brauch¬ 
bares Mittel. Im ersteren Falle wird es 
in Substanz angewendet, im letzteren in 
2 %- bis 5 %iger Lösung in die Blase in¬ 
jiziert. Von den in der Gynäkologie ge¬ 
bräuchlichen Hämostypticis seien hier 
die Hydrastis- und Mutterkornpräparate 
sowie das Styptol (Cotarnin. phtaliciim) 
und das Stypticin (Cotarnin. hydrochlari- 
cum) erwähnt, weil sie in der Blasen¬ 
chirurgie bei der Behandlung von Schleim¬ 
hautblutungen, lokal oder subcutan ein¬ 
gebracht, doch einen gewissen Nutzen 
bringen können. 

Unstreitig den ersten Rang in der 
Zahl der örtlichen medikamentösen Blut¬ 
stillungsmittel nehmen die Nebennieren- 

39 



306 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


August 


Präparate ein. Bei der Blutstillung von 
akzidentellen oder operativ gesetzten 
Wunden des Schädeldaches des Gesichts¬ 
schädels, der Mund- und Nasenhöhle, 
des Pharynx und Larynx ist die Anämi- 
sierung durch Adrenalin (organisches Ex¬ 
trakt), Suprarenin oder Epirenan (syn¬ 
thetische Präparate) ein wichtiges Hilfs¬ 
mittel. Man umspritzt das Wundgebiet 
mit einer physiologischen Kochsalzlösung, 
die auf je 100 ccm etwa 16 bis 20 Tropfen 
einer Adrenalinlösung I : 1000 enthält, 
oder tamponiert die Wunde mit Gaze¬ 
bäuschen, die in 1 Adrenalinlösung 

getränkt sind. 

In neuerer Zeit hat man unter Aus¬ 
nutzung der jüngsten Forschungen über 
die Vorgänge bei der Blutgerinnung mit 
Erfolg hartnäckige Blutungen besonders 
aus parenchymatösen Organen (Leber, 
Milz, Niere) dadurch zum Stillstand ge¬ 
bracht, daß man Organsäfte oder Organ¬ 
stückchen auf die blutende Stelle appli¬ 
zierte: Preßsaft auf Strumen oder Blut¬ 
serum (Menschen- oder Rinderserum, im 
Notfälle das stets zur Verfügung stehende 
Diphterieserum, wirken, mit der bluten¬ 
den Stelle in Berührung gebracht, oftmals 
augenblicklich blutstillend. 

Man weiß heute, daß fast alle Gewebs- 
arten gerinnungsfördernde Substanzen, 
sogenannte Thrombenzyme, enthalten. 
Den gleichen Erfolg hat das Aufnähen 
oder Austamponieren einer Wunde von 
frei transplantiertem Muskel-, Fascien- 
oder Fettgewebe. Durch die Einführung 
dieses Verfahrens in die Chirurgie der 
Leber und Milz ist die Beherrschung von 
Blutungen aus diesen Organen weit siche¬ 
rer und vollkommener geworden. Seine 
Wirkung beruht auf der örtlichen Zu¬ 
führung von Thrombenzymen, die eine 
beschleunigte Blutgerinnung herbeiführen. 

Die Reihe der weiteren zur Bekämp¬ 
fung parenchymatöser Blutungen ange¬ 
gebener Methoden findet, um Wieder¬ 
holungen zu vermeiden, ihre Besprechung 
am zweckmäßigsten ’-m Zusammenhang 
mit der Darstellung der Theraj^ie solcher 
Blutungen, die durch pathologische Ver¬ 
änderungen des Gerinnungsvorganges be¬ 
dingt sind. 

Kann eine Blutung aus der Schwere 
der vorliegenden Verletzung nicht erklärt 
werden, beziehungsweise gelingt es nicht, 
eine Blutung mit den oben beschriebenen 
Mitteln zu beherrschen, so müssen wir an 
das Vorliegen einer Hämophilie denken, 
zumal wenn wir erfahren, daß der Kranke 
auch sonst schon bei geringfügigen Ver¬ 


letzungen zu außergewöhnlichen Blu^ 
tungen neige. Die neueren Behandlungs¬ 
arten der Hämophilie beziehungsweise 
der hämorrhagischen Diathesen fußen auf 
den Ergebnissen der jüngsten Forschungen 
über die Blutgerinnung und bewegen sich 
demgemäß in biologischer Richtung. 

Die Blutgerinnung wird normalerweise 
durch eine Anzahl^ von Substanzen be¬ 
wirkt, die im Blute zum Teil fertig vor¬ 
gebildet vorhanden sind oder erst bei 
dem Gerinnungsakt selbst entstehen. 

Diese Substanzen sind: 

1. Das im Plasma gelöste Fibrinogen. 

2. Kalksalze. 

3. Das Fibrinferment Thrombin, das 
sich erst während der Gerinnung aus einer 
Vorstufe, dem Thrombogen, bildet. 

4. Die Thrombokinase, wejche das 
Thrombin aus dem Thrombogen bei 
Gegenwart der Kalksalze entstehen läßt. 

Im unverletzten Gefäßrohr bleibt die 
Gerinnung aus, weil 1. die intakte Gefä߬ 
wand keine für die Ablagerung von Fibrin¬ 
belag notwendigen Unebenheiten auf¬ 
weist, 2. die Thrombokinase in den un¬ 
versehrten Zellen eingeschlossen ist. Die 
aus den physiologisch zugrunde gehenden 
Zellen freiwerdende Kinase wird, so 
nimmt man an, durch das im Blut 
kreisende Antithrombin unwirksam ge¬ 
macht. Tritt nun eine Verletzung eines 
Gefäßes ein, so wi-rd aus den zertrümmer¬ 
ten Endothelzellen Thrombokinase frei. 
Durch ihre Bindung mit dem Throm¬ 
bogen und den voihandenen Kalksalzeii 
entsteht das Thrombin, welches das schon: 
vorhandene Fibrinogen in Fibrin um¬ 
wandelt. Bei der hämophilen Blutge¬ 
rinnung ist das von der Norm Abweichende 
die Gerinnungsverzögerung, die man sich 
durch eine ungenügende Kinaseabschei- 
dung verursacht denkt: 

Schema der Blutgerinnung nach Fuld- 
Rosin: 


Blutplasma Organzellen 

I . 1 

Thrombogen Thrombokinase 



Kalksalze 

Thrombin \ 
+ Thrombogen J 


= Fibrins 


Eine dieser Anschauung von dem 
Wesen der Blutgerinnung Rechnung tra¬ 
gende Therapie kann also auf zweierlei 
Weise einsetzen. Sie kann entweder als 



August 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


307 


fehlend angenommenen Gerinnungsfaktor 
direkt in die Blutbahn oder auf die 
blutende Stelle bringen oder indirekt 
dem Blut Substanzen einverleiben, die 
eine Beschleun'guhg des Gerinnungsvor- 
ganges bewirken. Reine Kinasen darf 
man nicht in die Blutbahn einbringen, 
weil ihre gerinnungsmachende Wirkung 
so groß sein kann, daß Thrombosen ent¬ 
stehen können. Zur Einspritzung geeignet 
sind: Frisches Menschen- oder Tierserum, 
im Notfälle auch älteres, abgelagertes, 
aber weniger wirksames Serum (Di¬ 
phtherieserum) oder das allerdings schwer 
zu beschaffende Plasma aus gesundem 
Blut, weiter Extrakte aus zelligen Or¬ 
ganen (Leber, Niere), die reichlich Kinase 
enthalten. Sehr wirksam ist ferner die 
Einverleibung von frischem, nativem, ge¬ 
sundem, vollständigem oder in bestimmter 
Weise vorbehandeltem Blut mit seinen 
kinasereichen zelligen Bestandteilen in 
die Blutbahn des Hämophilen oder intra¬ 
muskulär. (Siehe nächsten Abschnitt: 
„Behandlungdes Blutverlustesdurch Blut¬ 
transfusion“.) Das mit Natrium-citricum- 
Lösung zur Gerinnungshemmung ver¬ 
setzte Spenderblut fördert, wie Tierver¬ 
suche gezeigt haben, die Gerinnung des 
Hämophilikerblutes nicht weniger als 
natives oder defibriniertes Blut. Dem 
letzteren werden ganz besonders gerin¬ 
nungsfördernde Eigenschaften nachge¬ 
rühmt. Alle diese (Blutungs-)Stoffe wirken 
auch bei lokaler Applikation am Orte 
der Blutung. 

Für die örtliche Anwendung eignen 
sich aber besonders die rein hergestellten 
Thrombokinasen. Man kann sie entweder 
selbst hersteilen, indem man frische Leber 
oder Niere fein verreibt, in Kochsalz¬ 
lösung emulgiert und die'Emulsion durch 
ein Filter passieren läßt, oder aber man 
benutzt zweckmäßiger die von Strong 
aus der Schafslunge unter aseptischen 
Kautelen hergestellte, unter dem Namen 
„Clauden“ im Handel befindliche Kinase, 
die als Pulver auf die blutende Stelle auf¬ 
geblasen wird. Von vielen Chirurgen wird 
das von Fonio aus Säugetierthrombocyten 
gewonnene Koagulen zur Blutstillung 
benutzt. Das weißliche thermostabile, 
wasserlösliche Pulver wird im Verhältnis 
1 : 10 in physiologischer Kochsalzlösung 
gelöst, kurz aufgekocht und mittels Tam¬ 
pon oder unmittelbar auf die blutenae 
Stelle aufgebracht, nachdem diese sorg¬ 
fältig von Gerinnseln befreit ist. Nach 
unserer Erfahrung wird die Bedeutung 
dieser Stoffe vielfach überschätzt. 


Von indirekt wirkenden thrombo- 
kinetischen Stoffen ist eine ganze Anzahl 
im Gebrauch. In erster Linie das Pepton- 
Witte, das merkwürdigerweise die Ge¬ 
rinnungsfähigkeit normalen Blutes herab¬ 
setzt, die des Hämophilikerblutes jedoch 
erheblich steigert. Man injiziert etwa 
10 ccm einer 5%igen Lösung 0,5 Pep¬ 
ton in die Blutbahn. 

Seltener zur Anwendung kommende 
Mittel sind Injektionen von Schilddrüsen¬ 
extrakt sowie einer 2 %igen Lösung von 
nucleinsaurem Natron. 

Von den Behandlungsmethoden, bei 
aenen mit einem Mangel an Kalksalzen im 
Hämophilikerblut gerechnet wird, ist viel¬ 
fach die Anwendung der Kalksalze im 
Gebrauch. Zumeist werden große Dosen 
von Calcium lacticum (10 bis 15 g pro die) 
per OS oder intravenöse Injektionen von 
Calcium chloratum in Lösung (wenige 
Kubikzentimeter einer* 1- bis 2%igen 
Lösung) empfohlen. Wir verwenden die 
Calciumsalze hauptsächlich prophylak¬ 
tisch gegen cholämische Blutungen. Be¬ 
weisende Erfolge haben wir aber davon 
nicht gesehen. Bei Lungenblutungen und 
solchen aus dem Magendarmkanal haben 
intravenöse Injektionen von hypertoni¬ 
scher 5- bis 10%iger Kochsalzlösung 
eventuell in Kombination mit Cal¬ 
cium chloratum (van der Velden) bis¬ 
weilen einen eklatanten Erfolg. Bekannt 
und immer wieder empfohlen ist die 
lokale, subcutane, intramuskuläre An¬ 
wendung, sowie die Verfütterung von 
Gelatine, obwohl die Meinungen über 
ihren tatsächlichen therapeutischen Wert 
geteilt sind. Zur Injektion haben sich die 
sterilen, ampullären', nach Erwärmung auf 
Körpertemperatur gebrauchsfertigen, 20- 
bis 30 %igen Gelatinelösungen ,,Merk“ gut 
bewährt. Gelatinelösungen, die gleich¬ 
zeitig eine Beimengung von Kalksalzen 
enthalten, sind unter dem Namen „Cal- 
cine“ im Handel erhältlich. 

In der jüngsten Zeit ist nun durch die 
Entdeckung Stephans von der Be¬ 
schleunigung der Gerinnungszeit des Blu¬ 
tes und der Erhöhung des Gerinnungs¬ 
fermentes im Blute durch Röntgenbe¬ 
strahlung der Milz der praktischen Chi¬ 
rurgie ein neues Hilfsmittel zur Blut¬ 
stillung gegeben worden. Wenn seine 
weitere Erprobung an einem umfang¬ 
reicheren Material seine Zuverlässigkeit 
erweisen sollte, so wird dem Verfahren in 
der Therapie der kapillären und parenchy¬ 
matösen Blutungen sowie der Hämo¬ 
philie und hämorrhagischen Diathesen 

39* 





308 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


August 


ein hervorragender Platz eingeräumt wer¬ 
den müssen. Aus den Versuchen Step¬ 
hans, deren Resultate schon durch eine 
Reihe praktischer Erfolge gestützt sind 
puracz u. A.), geht hervor, daß der Milz, 
tind zwar ihrem reticulo-endothelialen 
Anteil für die Blutgerinnung eine wesent¬ 
liche Bedeutung zukommt, und daß man 
hieraus in therapeutischer und prophy¬ 
laktischer Hinsicht Nutzen ziehen kann. 
In Frage kommen für die Behandlung 
mit einer Röntgenbestrahlung der Milz 
alle Fälle von Hämophilie, hämorrha¬ 
gische Diathesen, cholämische Blutungen, 
schwer stillbare parenchymatöse Blu¬ 
tungen bei Magen-:, Nieren-, Leber-, Stru¬ 
maoperationen während des Eingriffes 
und postoperativ. Die Indikation zur 
prophylaktischen Milzbestrahlung ist vor 
allen operativen Eingriffen gegeben, bei 
denen man auf schwer zu beherrschende, 
parenchymatöse bzw. kapilläre Blutun¬ 


gen gefaßt sein muß oder vor deren Aus¬ 
führung man, allgemein gesagt, durch 
eine der Methoden zur Bestimmung der 
Blutgerinnungszeit (Fonio-Schulz) eine 
Verzögerung der Gerinnungszeit festge¬ 
stellt hat. Auf alle Einzelheiten kann hier 
nicht genauer eingegangen werden. Die 
Bestrahlung wird in rechter Seitenlage des 
Patienten nach Abgrenzung des Milz¬ 
feldes bei einem Focusabstand von 28 cm 
vorgenommen. Für therapeutische Wir¬ 
kung ist ein Drittel, für prophylaktische 
ein Viertel der Erythemdosis erforder¬ 
lich. Wird prophylaktisch bestrahlt, so 
ist zu beachten, daß nach den Erfah¬ 
rungen von Juracz der günstigste Zeit¬ 
punkt zur Bestrahlung hinsichtlich der 
Höhe der Bildung von Gerinnungsfer¬ 
menten etwa 15—20 Stunden vor dem 
Operationstermin liegt, so daß ein Patient, 
der am Morgen operiert werden soll, be¬ 
reits am Abend vorher zu bestrahlen wäre. 


Therapeutisches aus Vereinen u. Kongressen 

12. Kongreß der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft 
zu Hamburg, Pfingsten 1921. 

Bericht von Dr. Ernst Friedrich Müller, Hamburg. 


Der seit der letzten Tagung zu Wien im Jahre 
1913 erstmalig nach dem Kriege anberaumte Kon¬ 
greß der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft 
hatte als Hauptverhandlungsgegenstände zwei 
Themen auf die Tagesordnung gesetzt, die durch 
ihre Wahl zeigen, wie eng die dermatologische 
Wissenschaft mit den großen Fragen der allge¬ 
meinen medizinischen Forschung zusammenhängt. 

Der erste Tag des von mehr als 400 Teilneh¬ 
mern aus allen Teilen Deutschlands, sowie aus 
-dem neutralen und zum Teil auch feindlichen Aus¬ 
land besuchten Kongresses, der in den Räumen 
der Hamburger Universität abgehalten wurde, 
war dem Thema: „Liquor und Syphilis“ ge¬ 
widmet. 

’ Als erster sprach Nonne (Hamburg) in einem 
großzügig angelegten Referat über die mikro- 
■skopischen, chemischen und biologischen Reak¬ 
tionen der Spinalflüssigkeit und ihre verschieden¬ 
artigen Kombinationen bei den organischen 
syphilitischen Erkrankungen des Nervensystems. 
Trotz ihres für die Diagnostik nicht hoch genug 
einzuschätzenden Wertes hält er daran f3st, daß 
sie nur Hilfsmittel und keinesfalls allein aus¬ 
schlaggebend für die Diagnose und Therapie sein 
können, jedoch sei der weitere Ausbau der be¬ 
sonders durch die neue Mastixreaktion noch objek¬ 
tiver und einheitlicher zu gestaltenden Liquor- 
Diagnostik in möglichst weitem Umfange er¬ 
wünscht. Den Änderungen der Liquorreaktion 
bei syphilitischen Nervensysiemerkrankungen in 
bezug auf die Bewertung der Syphilisheilung steht 
er noch skeptisch gegenüber, besonders da sie in 
der Deutung der einzelnen Symptome noch nicht 
restlos erkannt sind. Seinem mit außerordent¬ 
lichem Beifall aufgenommenen Referat schloß 
sich ein Vortrag von Kyrrle (Wien) an, der be¬ 
sonders auf Liquorveränderung im Frühstadium 
der syphilitischen Erkrankung einging, um an 


Hand eines riesenhaften Materials von über zehn¬ 
tausend Lumbalpunktionen über die Veränderung 
und die Beeinflussung der pathologischen Liquor¬ 
befunde durch die spezifische Behandlung be¬ 
richtet. Aus dieser Statistik schien die Über¬ 
legenheit des Salvarsans allein und kombiniert 
den anderen Methoden gegenüber deutlich hervor¬ 
zugehen. 

Nach ihm sprach Sachs (Heidelberg) über die 
Deutung und Auffassung der Wassermannschen 
Reaktion als Krankheitsreaktion, an welche sich 
Mitteilungen Kaff kas (Hamburg) über biologisch¬ 
serologische Untersuchungsmethoden des Liquor 
und deren Ergebnisse anschlossen. Von höchstem 
Interesse waren die von Ko Ile gemachten Aus¬ 
führungen über die Aktivierungsmöglichkeiten 
des Salvarsans bei der Kaninchensyphilis. Sie 
gaben nach seinen eigenen Worten dem Hörer 
einen großartigen Einblick in die gewaltigen Ex¬ 
perimentalarbeiten des Georg Speyer-Hauses 
unter Mitarbeit der verschiedenen Disziplinen. 
Wenn auch noch nicht zu einem praktisch brauch¬ 
baren Abschluß gekommen, so zeigte sich doch 
die Wichtigkeit der noch wenig bekannten Wech¬ 
selwirkungen der Metall- und Salvarsanpräparate 
im menschlichen und tierischen Körper und die 
große Bedeutung der Kolloidchemie für die Er¬ 
forschung und Verwertung dieser neu entdeckten 
Zusammenhänge. 

Als letzter berichtet Rost (Freiburg) über 
die sogenannte Abortivbehandlung an Hand einer 
durch die Deutsche Dermatologische Gesellschaft 
veranstaltete Sammelforschung, die es immerhin 
für möglich erscheinen läßt, die beginnende 
Syphilis durch eine einzige Kur zu heilen und eine 
Allgemeindurchseuchung des Organismus von 
vornherein zu verhindern. 

Gerade zur letzten Frage zeigte die äußerst 
lebhafte Diskussion die Wichtigkeit der noch un- 





August 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


30Ö 


geklärten Frage der Salvarsandosierung, die erst 
einer wirklichen Abortivheilung die Voraus¬ 
setzung geben müßte. Unter den Vorträgen der 
am Nachmittag des ersten Tages in den verschie¬ 
denen Sälen tagenden Versammlungen seien be¬ 
sonders angeführt Vorträge von Stern (Düssel¬ 
dorf) über die Infektionsmöglichkeiten durch 
Paralytiker, von Brock (Kiel) über den Zusam¬ 
menhang von Hautkrankheiten und innerer Se¬ 
kretion, von Lipschütz (Wien) über Unter¬ 
suchungen über den fieberhaften Bläschenaus¬ 
schlag und vomWichmann (Hamburg) über die 
Hauttuberkulose. 

Der zweite Tag brachte zunächst als zweites 
Hauptthema die feferate über die Behand¬ 
lung der Haut- und Geschlechtskrank¬ 
heiten mit Organismus Waschungen und 
Einspritzungen unspecifischer Stoffe. 

Weichardt (Erlangen) sprach über die theo¬ 
retischen Grundlagen der Wirkungsweise dieser 
Heilmethoden, die er nicht einem bestimmten 
Organsystem zuschreibt, sondern in einer Lei¬ 
stungssteigerung aller Zellfunktionen zu sehen 
glaubt. Er glaubt weiter, der Kolloidstabilität 
und ihren Schwankungen besondere Wichtigkeit 
für den Wirkungsablauf einräumen zu müssen. 
Klingmüller (Kiel) spricht über die Terpentin¬ 
behandlung und schloß daran unter Voraus¬ 
setzung der Weichardt sehen Theorien eine 
Besprechung der Anwendungsgebiete der Ter- 
pentininjektion bei parasitären Hautkrankheiten 
und Trichophytien. Er hält das Terpentin, dessen 
angeblich schmerzlose Einspritzung in der Dis¬ 
kussion vielfach bestritten wird, für einen be¬ 
sonders aussichtsreichen Stoff in der Protein¬ 
körpertherapie. Nach Linser (Tübingen), der 
über die von' ihm zuerst eingeführten Einsprit¬ 
zungen von normalem und schwangerem Serum 
berichtet, gibt R. Müller (Wien) ein ausgedehntes 
Referat über die Einführung, Ausdehnung und die 
heutigen Anwendungsgebiete der Milchinjek¬ 
tionen, wobei er sehr genau über Behandlungs¬ 
arten und Erfolge, besonders bei eitrigen Haut¬ 
affektionen und den gonorrhoischen Komplika¬ 
tionen berichtet. Auch hier war die Aussprache 
äußerst rege. Neben einfacher Anerkennung 


bzw. Ablehnung der unspezifischen Behandlungs¬ 
methoden wurde von einzelnen Rednern be¬ 
sonders die Notwendigkeit einer Erkennung der 
Wirkungsweise in den Vordergrund gestellt. 
E. F. Müller (Hamburg) wies auf die hohe Be¬ 
deutung des myeloischen Systems innerhalb 
dieses Wirkungsablaufes hin und verlangte die 
Benutzung toxinfreier Präparate, um nicht durch 
Nebenwirkungen auf Irrwege in der Erkenntnis 
zu kommen. 

Mit dem Schlußwort Klingmüllers über die 
enorme Wichtigkeit der neuen unspecifischen 
Behandlungsmethoden, die auch in der Veterinär¬ 
medizin außerordentlich schnell an Umfang ge¬ 
wannen, schloß die Besprechung dieses zweiten 
Themas. 

Es folgten am Nachmittag des zweiten Tages 
Einzelvorträge über Syphilis (unter diesen sei 
Richter' (Hamburg) über das von ihm ange¬ 
gebene kolloide Hg.-Präparat, Kontraluesin, und 
Ri ecke (Göttingen) über das Verhalten der 
roten Blutkörperchen bei Syphilis erwähnt). 
Weiter wurde die Vaccinebehandlung des Schan¬ 
kers und Fragen auf dem Gebiet der Gonorrhöe 
behandelt. 

E. Ho ff mann (Bonn) zeigte seine neuen 
Leuchtbildmethoden. Nachdem am Abend des, 
zweiten Tages ein Festmahl im Uhlenhorster 
Fährhaus die Teilnehmer vereinigt hatte, galt der 
dritte Verhandlungstag im Hörsaal der Dermato¬ 
logischen Universitätsklinik des Krankenhauses 
St. Georg (Prof. Arning) der Vorstellung von 
Fällen. Der vierte und letzte Tag begann mit 
einer Schlußsitzung in dem von Prof. Nocht ge¬ 
leiteten Tropeninstitut, wo seltene Hautkrank¬ 
heiten der tropischen Zonen gezeigt und be¬ 
sprochen wurden, und endete mit der Besichtigung 
des bekannten Dermatologikums, des Privat- 
fcrschungsinstituts von Prof. Dr. P. G. Unna 
sowie anderer wissenschaftlicher Institute. 

Mit dem Beschluß, die nächste Tagung in 
Dresden stattfinden zu lassen, ging der Kongreß 
nach einer wissenschaftlich äußerst anregenden 
und in bezug auf die Hauptthemen nach einer den 
heutigen Stand der Forschung klärenden Tagung 
auseinander. 


Referate. 


Über neurologische Untersuchungen 
an Amputierten mit willkürlich beweg¬ 
lichen Prothesen wird von Veraguth 
(Zürich) berichtet. Während früher ein 
z. B. am unteren Drittel eines Oberarmes 
Am putierter wegen Inaktivitätsatrophie 
außer den verlorenen auch die noch 
restierenden Muskeln eingebüßt hatte, 
werden letztere nach der neuen Sauer¬ 
bruch sehen Methode wieder zur Tätigkeit 
gerufen. Jede Motilitätserneuerung nun, 
sagt Verfasser, ist undenkbar ohne die 
Mitwirkung von Sensibilitäten. Wichtig 
sind dabei, vor allem zur Auslösung 
koordinierter und sinnvoller Bewegungen, 
die mnemischen Deposita, die im Gehirn 
in Form von Erfahrungen über die Folgen 
der Bewegung seit Anbeginn seiner Lei¬ 
stung aufgestapelt sind. Ausgehend von 
diesen beiden wichtigen Feststellungen 


mußte Verfasser nun herausfinden, welche 
Sensibilitäten dem amputierten Oberarm 
noch zur Verfügung standen. An sechs, 
zum Teils links, zum Teil rechts Ampu¬ 
tierten prüft Verfasser die Oberflächen- 
und Tiefensensibilitäten, die Exkursionen 
in den künstlichen Gelenken, stellt Zeige¬ 
versuche mit der und an die Prothese an 
und läßt schließlich noch Scheibenwürfe 
ausführen. Die Ergebnisse trägt Verfasser 
genau in Scheiben und Tafeln ein. Ver¬ 
fasser kommt zu dem Schluß, daß unter 
optimalen Bedingungen neue Koordi¬ 
nationsmöglichkeiten in vielfacher Ver¬ 
mehrung denkbar sind. Es müßten eben, 
was gewiß schwierig ist, genügend Kraft¬ 
quellen geschaffen werden. Man könnte 
sich nach Ansicht des Verfassers z. B. vor¬ 
stellen, daß die Kombinationsmöglich¬ 
keiten am Oberarm dadurch vergrößert 



310 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


August 


werden könnten, daß man durch höhere | 
Spaltung des Biceps oder Triceps deren 
einzelne Hälften als mehr oder weniger 
selbständige Kraftquellen wirken ließe. 

Friedmann (Berlin). 

(D. Zschr. f. Chir., Bd. 161.) 

Einen Beitrag zur Technik des 
Thoraxverschlusses bei großen 
Brustwanddefekten liefert Jehn. Die 
Erfahrungen, welche seiner Mitteilung 
zugrunde liegen, entstammen der Sauer- 
bruchschen Klinik in Zürich und Mün¬ 
chen. Während des Krieges hat sich die 
Einnähung der Lunge in den Brustwand¬ 
defekt gut bewährt. Immerhin darf dieses 
Verfahren nur als ein Notbehelf angesehen 
werden. Die jetzt geübte Methode besteht 
darin, daß zur Deckung des Defektes das 
Zwerchfell verwendet wird. Das Ver¬ 
fahren kommt zur Anwendung bei breiter 
Eröffnung des Thorax nach Schußver- 
ietzuhgen, ferner bei der Entfernung 
großer Tumoren der Brustwand oder bei 
ausgedehnten Brustwandresektionen we¬ 
gen chronisch entzündlicher Prozesse. 
Die Operation gestaltet sich folgender¬ 
maßen: Nach Entfernung der erkrankten 
Abschnitte wird unter Druckdifferenz 
die Pleurahöhle weit eröffnet. Es gelingt 
nun leicht nach Beiseiteschieben der 
Lunge den Nervus phrenicus in der Tiefe 
aufzusuchen und zu durchschneiden. Das 
Zwerchfell wird dadurch gelähmt und 
kann dann ohne Schwierigkeiten in das 
Thoraxfenster hineingezogen werden. Hier 
wird es an den Rippen festgenäht. Dieser 
Verschluß der Pleurahöhle wird noch da¬ 
durch verstärkt, daß die umgebenden 
Weichteile auf das Zwerchfell aufgenäht 
werden, eventuell nach deren Mobilisie¬ 
rung. An zwei Krankengeschichten zeigt 
der Verfasser die Wirksamkeit des Ver¬ 
fahrens. Hayward. 

(Zbl. f. Chir. 1921, Nr. 14.) 

Hart leib wirft die Frage auf: Ist 
der Chloräthylrausch so ganz ungefährlich ? 
Zwei Zufälle, von denen der eine einen 
unglücklichen Ausgang nahm, sind Ver¬ 
anlassung zu der Veröffentlichung. Bei 
der ersten Kranken, bei der eine Opera¬ 
tion wegen Gallensteinen vorgenommen’ 
werden sollte, wurde der Chloräthylrausch 
zur Einleitung der Narkose verwendet. 
Nachdem die Kranke 20 Tropfen erhalten 
hatte, setzte die Atmung aus und der 
Puls wurde unregelmäßig. Die Unter¬ 
suchung des Herzens ergab eine gewaltige 
Irregularität, von der der Verfasser sagt, 
daß sie derart war, wie er sie noch nie 
gehört habe und für die er auch keinen 


/ 

Vergleich heranziehen kann. Von der 
Operation wurde Abstand genommen. 
Die Patientin gab später an, daß trotz¬ 
dem sie äußerlich einen ruhigen Ein¬ 
druck machte, sie doch sehr aufgeregt 
gewesen sei. Für diese Fälle birgt, wie 
das auch schon anderweits beschrieben 
ist, der Chloräthylrausch gewisse Gefahren 
in sich. Der zweite Fall soll hier genauer 
beschrieben werden: Es handelte sich 
um einen 46jährigen Mann, der an einer 
Appendicitis acuta perforativa (36 Stun¬ 
den) litt. Auch hier wurde die Narkose 
mit Chloräthyl eingeleitet. Nach 40 Trop¬ 
fen wurde der Puls unregelmäßig. Jetzt 
wurde die Narkose mit Äther fortgesetzt: 
Es fand sich die Appendix an mehreren 
Stellen perforiert, das Coecum phleg¬ 
monös. Nach der Operation setzte die 
Atmung zeitweilig aus und es mußte 
künstliche Atmung gemacht werden. Der 
Kranke kam nicht wieder zum Bewußt¬ 
sein, obwohl schließlich Puls und Atmung 
regelmäßig sind. Nachts erfolgt plötzlich 
der Tod. Leider konnte eine Obduktion 
nicht vorgenommen werden. Die beiden 
Fälle mahnen durchaus zur Vorsicht, und 
es erscheint geboten, daß ähnliche Fälle 
mitgeteilt werden, damit es gelingt, auch 
für den Chloräthylrausch, den wohl nie¬ 
mand mehr missen möchte, genaue Gegen¬ 
indikationen festzulegen. Hayward. 

(Zbl. f.Chir. 1921, Nr. 20.) 

Nach Gastroenterostomie ist die interne 
Nachbehandlung das wertvollste Vor¬ 
beugungsmittel gegen nachträgliche Ent¬ 
wicklung von Ulcus pepticum jejuni. 
Wie diese sich zu gestalten hat, setzt 
V. Noorden im einem lehrreichen Auf¬ 
satz auseinander. Wenn überhaupt, so 
entsteht das Ulcus jejuni meist in den 
ersten Wochen oder Monaten nach der 
Operation. Während dieser Zeit soll 
die Ernährung mit schwachen ' Säure¬ 
lockern geschehen. Hierbei ist auch die 
,,psycho-reflektorische Saftsekretion“ zu 
berücksichtigen, welche die Fernhal¬ 
tung gerade der sogenannten ,,Lieblings¬ 
speisen“ verlangt. Man gebe häufig kleine 
Mahlzeiten; Verfasser weist besonders auf 
die sekretionshemmende Kraft der Fette 
und die stark säurehemmende des Kaseins 
hin, die sich besonders bei frischem Top¬ 
fenkäse geltend macht. Von Fetten eignen 
sich am besten Suppenflcischfett, frische 
und zerlassene Butter, pflanzliche Öle. 
Außerdem können auch weichgekochte 
oder zu lockeren Speisen verarbeitete 
Eier, Weizenbrot, Suppen aus feinen 
Zerealien- oder aufgeschlossenen Legu- 





August 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


311 


minosenmehlen gegeben werden. Alkohol 
ist bedenklich. Diese laktovegetabile Kost 
schraubt die Saftsekretion des Magens 
auf das denkbar geringste Maß zurück. 
Frühestens nach drei Wochen kann man 
anderen milden Käse, Kartoffelbrei, Ge¬ 
müse und gekochtes Obst, darauf Nudeln, 
Mehlspeisen, Teegebäck zulegen. Alles 
muß sorgfältig gekaut werden. Durch 
diese Kost wird das Jejunum an die Auf¬ 
nahme pepsinsäurereicheren Magenin¬ 
haltes gewöhnt. An Medikamenten könn¬ 
te man vielleicht Antipepsin, z. B. Amy- 
nin (dreimal täglich ein Teelöffel, eine 
halbe Stunde nach den Mahlzeiten) oder 
Atropin verwenden. Häufiger als Ulcus 
jejuni postoperativum sind Darmdyspep¬ 
sien, die sich gewöhnlich erst in späteren 
Monaten oder Jahren einstellen, wenn die 
Operierten zur freigewählten Kost zu¬ 
rückkehren. Zur Vermeidung dieser Stö¬ 
rungen muß von animalischen Stoffen 
rohes oder geräuchertes Bindegewebe aus- 
scheiden. Das Fleisch soll zart, bindege- 
websarm und abgelagert sein. Gebra¬ 
tenes Fett ist zu vermeiden. Gemüse, 
Salate, Obst dürfen nicht in rohem Zu¬ 
stande genossen werden; dies führt leicht 
zur Gährungsdyspepsie. Vor den Genuß 
rohen Materials ist auch deshalb zu 
warnen, weil bei Gastroenterostomose 
dauernd erhöhte Gefahr des Einschleppens 
der Nahrung anhängender, schädlicher 
Keime in den Darm besteht. Bei einiger 
Vorsicht kann der Gastroenterostomierte 
seinen Darm dauernd gesund erhalten. 

(Ther. Hmh. 1921, Nr. 7). Kamnitzer. 

Über die Behandlung der Hämor¬ 
rhoiden macht Prof. Völker (Halle) für 
die Praxis wertvolle Ausführungen. Die 
Anfangszustände, welche durch Jucken, 
Stuhlbeschwerden, Katarrhe usw. gekenn¬ 
zeichnet sind, bei denen aber die eigent¬ 
lichen schweren Erscheinungen, Blutun¬ 
gen usw., fehlen, erfordern folgende sym¬ 
ptomatische Behandlung; Laxantien zur 
Regelung des Stuhlganges, kühle Wa-'^ 
schungen des Afters, Einspritzungen von 
adstringierenden Lösungen (Höllenstein 
I rlOOO) in den unteren Darmteil, Hantel¬ 
pessare. Für die ausgebildeten Hämor¬ 
rhoidalknoten empfiehlt Völker folgende 
Einteilung mit Rücksicht auf die Wahl 
der Therapie: 1. Hämorrhoiden mit freier 
Blutcirculation, 2. aseptisch thrombosierte 
Hämorrhoidalknoten, 3. Hämorrhoidal¬ 
knoten mit Prolaps der Schleimhaut, 
4. eingeklemmte Hämorrhoidalknoten. 

Von den Hämorrhoidalknoten mit 
freier Blutcirculation, eingeteilt in innere 


und äußere, sind die inneren die Ursache 
der Beschwerden und Blutungen, während 
die äußeren meist nur geringe Beschwer¬ 
den machen. Die Behandlung der inneren 
Hämorrhoidalknoten ist sehr wichtig. 
Statt des Abbrennens mit dem Thermo¬ 
kauter unter Benutzung der Langenbeck- 
schen Zange, wobei nach Lösung der 
Zange die Gefahr der Nachblutung be¬ 
steht, wendet Völker Carboiinjektionen 
an (Acidum carbolicum liquefactum). Für 
die Technik zu beachten ist, daß die In¬ 
jektion richtig in den erweiterten Venen¬ 
knoten gemacht wird, und daß die in¬ 
jizierte Menge Carbolsäure so gering als 
möglich ist. Technik: Pressen lassen und 
Einstich in den sichtbaren Knoten mit 
ganz feiner Nadel, nicht zu tief und nicht 
hinten wieder heraus. Um möglichst 
wenig zu injizieren, benutzt Völker 
Spritzen mit Einteilung in zwanzigstel 
Kubikmillimeter. Jeder Teilstrich ent¬ 
spricht ungefähr einem Tropfen. Ein 
halber Teilstrich, also ein halber Tropfen 
genügt. Wird zuviel eingespritzt, wird 
nicht nur die Intima verätzt, sondern es 
kommt zur Gangrän und sekundärer 
Eiterung. Ist die Technik richtig ge¬ 
lungen, kommt es zur aseptischen Throm¬ 
bosierung des Knotens und aus der 
thrombosierten Vene wird ein binde¬ 
gewebiger Strang. Nach einigen Tagen 
verlieren sich die bisherigen Schmerzen. 
Die Dauererfolge sollen gut sein. Diese 
Operation wird nicht ambulant vor¬ 
genommen, sondern besser mit 24 Stunden 
Bettruhe. Die äußeren Hämorrhoidal¬ 
knoten werden am besten abgebrannt oder 
excidiert; das Abbinden lieber vermeiden, 
da der abgebundene Knoten gangränös 
wird und eventuell zu einer Phlebitis 
Veranlassung gibt. 

Die thrombosierten Hämorrhoidal¬ 
knoten, charakterisiert durch ihr ziemlich 
plötzliches Auftreten mit lebhaftem 
Schmerz, durch ihre Lokalisation an der 
Grenze zwischen äußeren und inneren, 
von Kirschgröße und harter Konsistenz, 
behandelt man am besten durch Schlit¬ 
zung mit einem feinen Messerchen nach 
vorheriger Injektion von einem oder zwei 
Tropfen Novocainlösung. Das kleine, 
schwarze Coagulum tritt aus dem Knoten 
heraus und die Erscheinungen lassen so¬ 
fort nach. 

Bei prolabierten Hämorrhoiden sind 
die Carboiinjektionen ungeeignet. Exci- 
sion des Hämorrhoidalkranzes nach dem 
Whiteheadschen Verfahren unter Scho- 




312 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


August 


nung des Sphincter ani zur Vermeiaung 
sekundärer Afterstrikturen. 

Bei den eingeklemmten Hämorrhoiden 
kommt es zur Blutstauung, die oft sogar 
zur Gangrän führt. Die Knoten sind 
mißfarbig, entzündet, die eingetretene 
Thrombosierung ist nicht aseptisch, son¬ 
dern treten mehr oder weniger Erschei¬ 
nungen von septischem Fieber auf. In 
diesem Falle keine Einspritzungen oder 
Operationen, sondern Dehnung des 
Sphincter zur Erleichterung der Circu- 
lation und feuchte Umschläge. Nach Ab¬ 
klingen der Entzündungen und Fieber¬ 
erscheinungen Excision. 

(M. KI. 1921, Nr. 14.) Seiler (Berlin). 

Mit Hohlgiaspessaren, welche von der 
Badisch-Thüringischen Glasinstrumenten- 
fabrik C. Hülsmann in Thomas- und 
Hodgeform hergestellt werden, ist Opitz 
sehr zufrieden, da sie sehr leicht sind, 
sich leicht reinigen lassen, absolut nicht 
reizen. und erheblich billiger sind, als 
Hartgummipessare. Wenn vielleicht be¬ 
fürchtet wird, daß diese Hohlglaspessare 
beim Tragen zerbrechen könnten, so ist 
dem gegenüberzuhalten, daß bis jetzt 
noch kein derartiger Fall gemeldet wurde, 
und daß auch mit der Möglichkeit nicht 
zu rechnen ist; es sei denn, daß eine so 
große Gewalt angewendet würde, bei der 
auch sonstige schwere Verletzungen Vor¬ 
kommen müßten. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(Zbl.f. Gyn. 1921, Nr. 16.); 

Dr. H. Graetz berichtet über 11 Fälle 
von angeborener Hüftverrenkung, bei 
denen zwecks Retention des eingerenkten 
Hüftkopfes intrakapsuläre Einspritzungen 
von reinem Alkohol angewandt wurden. 
Es wurden 1—3 ccm in Narkose an der 
hinteren und oberen Kapselpartie inji¬ 
ziert, darnach die Kapsel kräftig massiert. 
Vor der Injektion muß die Spritze ange¬ 
saugt werden, damit die Kanüle nicht in 
ein Blutgefäß gerät. In 7 Fällen war das 
anatomische und ^funktionelle Resultat 
ein ideales, in 2 Fällen ein gutes. In 
2 Fällen blieb das Resultat aus. Es wird 
weiter zu prüfen sein, ob die erreichten 
Resultate lediglich den Alkoholinjektionen 
zu verdanken sind, und nicht, wie wir das 
häufig sehen, eine zweite Reposition mit 
nachträglichen Gipsverbänden das der 
ersten Reposition versagte Resultat er¬ 
reichte. [Georg Müller. 

(Zschr. f. orthop. Chir., Bd. 41, Heft 1/2.) 

Auf den Wert der Lichttherapie 
bei der Luesbehandluag weist Dr. E. 


Hesse hin. Ausgehend von der Er¬ 
fahrungstatsache, daß in den tropischen 
Ländern die Lues bedeutend gutartiger 
verläuft, die Tabes und Paralyse meistens 
sogar gänzlich fehlen und von den anderen 
auch bereits wissenschaftlich erforschten 
Einflüssen des Lichtes auf die verschie¬ 
denen Zellschichten der Haut, kommt 
der Verfasser auf die Tätigkeit der ver¬ 
schiedenen Funktionen einer normalen 
gesunden Haut zu sprechen. Außer ihrer 
Aufgabe als Schutzorgan nach außen 
wird auf ihre Bedeutung als Schutzorgan 
nach innen, nämlich als Hauptbildung¬ 
stätte der Antikörper, hingewiesen. Der 
adäquate Reiz für das Hautorgan ist 
nach dem Verfasser das Licht. Es kommt 
daher besonders als Unterstützung für 
die Behandlung der Lues II, deren Haupt¬ 
erscheinungen in der Haut liegen, in Frage.. 
Auch für die Vorbeugung der Tabes und 
Paralyse hält Verfasser die Lichttherapie 
neben der chemotherapeutischen für 
äußerst wichtig. Über Wahl der Licht¬ 
quelle und genaue Dosierung werden 
keine Angaben gemacht. Max Cohn. 

(Strahlenther. Bd. XII, Heft II.) 

Die Heilbarkeit des Mastdarmkrebses 
ist durch die rechtzeitige Erkennung be¬ 
dingt; immer wieder muß auf die Wichtig¬ 
keit der Frühdiagnose hingewiesen 
werden, wie es in dankenswerter Weise 
jüngst A. Krecke in München getan hat. 
Diese Frühdiagnose bereitet selbst dem 
Ungeübten keine Schwierigkeit, sofern 
er es nicht scheut, den Finger in den 
Mastdarm einzuführen und den Mastdarm 
nach allen Seiten gut abzutasten. Selbst 
ein kleines Carcinom wird ihm in diesem 
Falle nicht entgehen. Die digitale Mast¬ 
darmuntersuchung gehört eigentlich zu 
jeder sorgfältigen Allgemeinuntersuchung, 
sie ist angezeigt, wenn Klagen über ganz 
leichte Unregelmäßigkeiten der Stuhl¬ 
entleerung, oft monatelang die einzigen 
Zeichen des beginnenden Krebses, vor¬ 
liegen. Die digitale Untersuchung ist 
unbedingt notwendig, wenn örtliche Be¬ 
schwerden von seiten des Mastdarmes 
vorliegen: leiser Druck im Mastdarm, 
geringe Schmerzen bei der Defäkation, 
Abgang von Schleim und leichten Blut¬ 
spuren. Ist die Fingeruntersuchung in 
diesem Falle ergebnislos, so tritt das 
Rektoskop in Anwendung. Die Rekto¬ 
skopie ist ferner erforderlich, wenn bei 
einem Kranken unklare Störungen der 
Magen- und Darmtätigkeit auftreten, be¬ 
sonders, wenn sie mit unbestimmten 


August 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


313. 


Empfindungen im ganzen Leibe, mit Gas¬ 
sperre, leichter Abmagerung einhergehen, 
oder wenn aus dem Darm nur wenig Blut 
abgeht, das auf andere Weise nicht er¬ 
klärt werden kann. Plötzlich aus dem 
Mastdarm einsetzende Blutung deutet mit 
großer Wahrscheinlichkeit auf ein hoch¬ 
sitzendes Carcinom hin. 

Um bei der Anwendung des Rekto- 
skops keine Darmperforation zu verur¬ 
sachen, ist jede Gewaltanwendung zu 
vermeiden und muß genaue Kontrolle 
mit dem Auge geübt werden. Nie in 
Narkose rektoskopieren, da in diesem 
Falle die notwendige Schmerzäußerung 
des Patenten fortfällt, die den Arzt 
darauf aufmerksam macht, wenn er auf 
falschem Wege ist! Seiler (Berlin). 

(M. m. W. 1921, Nr. 16.) 

Über die Behandlung des Mastdarm- 
•vorfalles bei Kindern schreibt Plenz. 
Er hat im Verlauf von zwei Jahren 
14 Fälle von Mastdarmvorfall bei Kindern 
mittels der freien Fascientransplantation 
operiert und geheilt. Der Verfasser hat 
über diese Fälle auf einem der letzten 
.Abende der Berliner Gesellschaft für 
Chirurgie berichtet, fand hier jedoch für 
•das operative Vorgehen nicht allgemeine 
Zustimmung. Wohl mit Recht betont 
er, daß mit der Mitteilung an die Mütter, 
daß das Leiden mit der Zeit von selbst 
-ausheilt, wenig Nutzen gestiftet werde. 
Einmal ist es der Mutter lästig, stets den 
Prolaps zurückzubringen, dann aber auch 
leidet das Befinden der Patienten dar¬ 
unter, da die Kinder mit der größten 
Angst jeder Stuhlentleerung entgegen¬ 
sehen. Es ist darum nicht nur die Be¬ 
seitigung des Leidens sondern vor allem 
auch die Hebung des Allgemeinbefindens, 
welche das operative Vorgehen als an- 
gezeigt erscheinen lassen. Hayward. 

(Zbl.f.Chir. 1921, Nr. 20.) 

Dr. L. Aubry berichtet über Ergeb- 
uisse der supracöndylären Osteotomie bei 
Beugecontracturen des Kniegelenkes. Es 
wurden im ganzen 104 Fälle in der 
Langeschen Klinik (München) mit line¬ 
arer, keil- und bogenförmiger Osteotomie 
behandelt. Bei 40 Fällen konnte das End¬ 
resultat, das durchweg als günstig zu be¬ 
zeichnen ist, nachgeprüft werden. Die 
Beweglichkeit im Kniegelenk war nach 
der Operation geringer, als vor derselben. 
Zu Rezidiven neigten am meisten die 
tuberkulösen Fälle. Sie ließen sich ver¬ 
meiden durch ein- bis mehrjähriges Tragen 
von Stütz- und Nachtapparaten. Ver¬ 


fasser verlangt mit Recht, daß der prak¬ 
tische Arzt von diesen Dingen so viel ver¬ 
stehen solle, um wenigstens die Kontrolle 
über die operierten Fälle zu üben, und sie 
so vor Rezidiven zu schützen. 

Georg Müller. 

(Zschr. f. orthop. Chir., Bd. 41, Heft 1/2.) 

Das Indikationsgebiet der Pneumo¬ 
thoraxtherapie ist neuerdings von - U. 
Friedemann in einem kühnen Versuch 
auf die Behandlung der kruppösen 
Pneumonie ausgedehnt worden. Aus¬ 
gehend von dem Grundsatz der Chirurgie, 
ein akut entzündetes Glied möglichst 
ruhigzustellen, bezweckt Friedemann 
durch Anlegung eines Pneumothorax die 
entzündete Lunge von der Atembewegung 
zu befreien. Diese bedingt ja die wech¬ 
selnde Erweiterung und Kompression der 
Lymphspalten, wodurch angeblich die in 
der Lymphe enthaltenen Bakterien und 
Toxine in den Lymphstrom hinein¬ 
gepumpt werden. Die Atembewegungen 
führen auch zu Gewebsläsionen, indem 
sie die durch Fibrin verklebtenAlveolar- 
Wände voneinander reißen und also der 
Heilung entgegenwirken. Das alles soll 
durch einen Pneumothorax vermieden 
Werden. Besonders aber werden die sehr 
quälenden Pleuraschmerzen aufgehoben, 
die durch die Reibung der Pleurablätter 
entstehen. Akute tuberkulöse Prozesse 
haben sich freilich für eine Pneumothorax¬ 
therapie ungeeignet erwiesen, es kam da¬ 
nach zu Progredienz und sogar miliarer 
Aussaat. Im Gegensatz hierzu hält 
Friedemann die kruppöse Pneumonie 
für durchaus geeignet, allerdings unter 
der Voraussetzung, daß es sich um eine 
einseitige Pneumonie handelt und keine 
Verwachsungen bestehen. Bei Über¬ 
greifen der Erkrankung auf die andere 
Lunge wurde der Verlauf durch den 
Pneumothorax keineswegs in ungünstiger 
Weise beeinflußt. Was die Technik 
anbelangt, so wählt man am besten die 
vordere und mittlere Axillarlinie in Höhe 
des fünften I.K.R. und läßt 400 bis 
600 ccm Stickstoff einblasen. Unter¬ 
brechung der Füllung bei Oppressions- 
gefühl. War die Pneumonie nicht in¬ 
zwischen abgeklungen, dann zweit§ Fül¬ 
lung nach zwei Tagen von gleicher Menge. 
Friedemann gibt die Krankengeschich¬ 
ten von sieben Fällen an, bei denen er 
überall einen guten Erfolg verzeichnen 
konnte. Häufig ließen schon während 
der Füllung die Schmerzen nach und 
wurde die Atmung freier. Die Ein¬ 
wirkung auf den Krankheitsprozeß machte 

40 




314 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Augüst 


sich dahin bemerkbar, daß bald nach der 
Füllung die Temperatur schnell lytisch her¬ 
abging und die toxischen Erscheinungen 
nachließen, ln einem Falle wurde sogar 
am zweiten Krankheitstage die Pneu¬ 
monie kupiert und am vierten Tage begann 
die Resolution. 

Friedemanns Krankengeschichten 
sind ermutigend genug, um dem in der 
Methodik geübten Arzt die Anlegung 
des Pneumothorax bei kruppöser Pneu¬ 
monie versuchsweise zu gestatten. 

(D. m. W. 1921, Nr. 16.) Seiler (Berlin). 

Die Dauerberieselung der Blase 
vor und nach der Prostatektomie, ins¬ 
besondere der zweizeitigen, wird von 
Roedelius nach den Erfahrungen der 
Kömmellschen Klinik in Hamburg emp¬ 
fohlen. Die Resultate der Prostatektomie 
haben sich ganz wesentlich gebessert, seit¬ 
dem allgemein vor der Operation der 
Zustand der Nieren einer genauen Prü¬ 
fung unterzogen wird und in denjenigen 
Fällen, bei denen schlechte Werte bei der 
Nierenfunktion gefunden werden, oder 
sonst der Allgemeinzustand als nicht be¬ 
friedigend bezeichnet werden muß, zu¬ 
nächst eine Blasenfistel angelegt wird. 
Der Zweck dieses Verfahrens besteht 
darin, daß durch die Fistel die Ent¬ 
lastung der Nieren eine allmählichere sein 
soll, wie es bei der sofortigen Entfernung 
der Prostata der Fall ist, und dann darin, 
daß durch die Fistel der infolge der 
Cystitis oft stark eitrige Urin eine bessere 
Beschaffenheit erhält. Trotzdem gelingt 
es nicht immer, dieses Ziel vollkommen 
zu erreichen, da auf dem Blasenboden 
sich der Eiter festsetzt. Hier hat sich 
die Dauerberieselung auf das beste be¬ 
währt. Der Verfasser legt ein dickes Drain 
in die Blasenfistel ein, durch welches man 
die Dauerberieselung in der Weise ein¬ 
richtet, wie es vom Kochsalztropfeinlauf 
bekannt ist. Durch die Harnröhre wird 
ein Dauerkatheter eingeführt. So gelingt 
es in verhältnismäßig kurzer Zeit, die 
Blase hinlänglich rein zu bekommen, daß 
eine Vereiterung des Prostatabettes nach 
der Prostatektomie nicht mehr zu be¬ 
fürchten ist. Auch nach der Operation 
wird mit der Berieselung fortgefahren, 
wobei die Berieselung als Blutstillungs¬ 
mittel dient. Man läßt nun heiße Koch¬ 
salzlösung in der gleichen Weise, wie 
oben beschrieben, einlaufen. Wenige Tage 
nach dem Eingriff wird das dicke Drain 
durch einen Spülkatheter ersetzt. Im 
ganzen dauert die Zeit der Berieselung 


drei bis acht Tage. Durch die Dauer¬ 
berieselung wird der Heilungsverlauf 
wesentlich günstiger gestaltet und ’ das- 
Krankenlager erheblich abgekürzt. 

(Zbl. f. Chir. 1921, Nr. 13.) Hayward. 

Die rectale Untersuchung während 
der Geburt, deren Technik Krönig 
seinen Hebeammenschülerinnen schon 
innerhalb 2% Monaten beibringen zu 
können erklärte, wird von Liegner am 
Material der Breslauer Universitätsklinik 
einer kritischen Würdigung unterzogen, 
wobei sich folgende Ergebnisse zeigten: 
Nur derjenige wird imstande sein, durch 
die rectale Untersuchung eine Diagnose 
zu stellen, welcher in der vaginalen voll¬ 
kommen sicher ist; es sind unbedingt für 
den Untersucher Erinnerungsbilder not¬ 
wendig, welche durch die bisherige Me¬ 
thode gewonnen sind-und zum Vergleich 
herangezogen werden müssen. Wenn 
also die Untersuchung durch den Mast¬ 
darm allein den an sie gestellten Anforde¬ 
rungen nicht gerecht wird, so muß doch 
zugegeben werden, daß der erfahrene 
Geburtshelfer in vielen Fällen durch sie 
eine angenehme Zugabe erhält, wenn er 
gezwungen ist, während der Geburt des 
öfteren zu untersuchen, oder wenn er 
in Anbetracht eines eventuellen Kaiser¬ 
schnittes den Geburtskanal nicht be¬ 
rühren will. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(Zbl. f. Gyn. 1921, Nr. 6.) 

Während die Röntgenschädigung der 
Haut genau erforscht und beschrieben ist, 
hat man über unbeabsichtigte Schädi¬ 
gungen anderer Organe nur sehr ver¬ 
einzelt publiziert. ' Aus der gynäkologi¬ 
schen Bestrahlungspraxis sind Darm¬ 
schädigungen beschrieben worden, wobei 
aber die. alleinige Schuld der Röntgen¬ 
strahlen noch teilweise geleugnet wird. 
Über zwei Fälle, bei denen außer 
Hautschädigungen noch Schädigun¬ 
gen anderer Organe nachgewiesen 
wurden, berichtet Dr. E. Wetzel. Bei 
dem ersten Fall handelt es sich um die 
Bestrahlung von tuberkulösen Halsdrüsen, 
wobei infolge eines Dosierungsfehlers ein 
Ulcus des Kehlkopfes, das zum Verlust 
der Stimmbänder geführt hatte, auftrat. 
Bei dem zweiten Fall handelt es sich um 
eine Magenca, wobei nach normaler In¬ 
tensivbestrahlung ohne "Überdosierung 
Exitus unter peritonitischen Erschei¬ 
nungen eintrat. Der Sektionsbefund ergab 
eine Durchschmelzung der Magenwand 
von außen nach innen und des linken 
Leberlappens von innen nach außen, als 




At^ust 


Dfe Therapie der Gegenwart 1921 


315 


deren einwandfreie Ursache der Verfasser 
die Röntgenstrahlen annimmt. Bei dieser 
Gelegenheit weist Verfasser auf die Be¬ 
deutung der Netzschwankungen hin, die 
im zweiten Fall die einzige Ursache der 
Überdosierung sein müssen, da in diesem 
Fall mit jzwei verschiedenen Röhren be¬ 
strahlt wurde, von denen eine besonders 
stark durch Netzschwankungen beein¬ 
flußt wurde. 

Über den Einfluß der Röntgenstrahlen 
auf die Magensekretion berichtet Dr. 
F. Wächter. Er fand bei acht Fällen 
mit normalen Säurewerten einheitlich 
eine Herabminderung der Säurewerte 
außer bei zwei Fällen von Magenneurose, 
bei denen er den umgekehrten Effekt be¬ 
obachtete. Auch bei Hyperacidität trat 
eine Herabminderung der Säurewerte 
nach Bestrahlung ein mit der gleichen 
Ausnahme bei einem Fall von Neurose. 
Fälle von Anacidität, die selbst bei Salz¬ 
säuregaben keine freie Säure aufwiesen, 
ließen nach Bestrahlung langsam eine 
Steigerung der freien Säurewerte nach- 
weisen. Allgemein gültige Regeln glaubt 
Verfasser nicht aufstellen zu können. 

Über Schädigungen des Auges 
durch Röntgenstrahlen berichtet 
Prof. Birch-Hirschfeld. Er unter¬ 
suchte einen Patienten, der wegen Ader¬ 
hautsarkom intensiv bestrahlt w’orden 
war und fand neben Gefäßwandzerstö¬ 
rungen eine starke Trübung der Horn¬ 
haut, während Iris und Linse keine Ver¬ 
änderungen aufwiesen. Bedeutend un¬ 
günstiger erwies sich der Einfluß der 
Röntgenstrahlen bei dem vorher nor¬ 
malen Auge eines wegen Lidcancroids 
bestrahlten Patienten. Hier stellte sich 
eine starke entzündliche Schwellung der 
Conjunctiva bulbi et tarsi, eine Trübung 
der Hornhaut und eine bedeutende Steige¬ 
rung der Tension bis zu 40 mm Hg ein, 
die zur vollständigen Erblindung des 
Auges führt. Verfasser hält das Glaukom 
für eine Folgeerscheinung der Bestrah¬ 
lung und rät daher zu größter Vorsicht 
bei Bestrahlungen des Auges. 

Max Cohn. 

(Strahlenther. Bd. XII, Heft II.) 

Den Ausdruck Selbstinfektion wünscht 
Salomon beseitigt zu sehen; in Zukunft 
soll nur noch von einer endogenen Spon¬ 
taninfektion in der Gynäkologie die Rede 
sein. Wenn nun auch anerkannt wird, 
daß es eine endogene Infektion gibt, so 
darf man sich zum Beweise hierfür nicht 
damit begnügen, das gleiche Verhalten 


der Keime auf Hämolyse vor der Ope¬ 
ration und im sekundären Infektionsherd 
festzustellen. Es müssen noch zahlreiche 
andere Differenzierungsmethoden heran¬ 
gezogen werden, welche die Mikroben¬ 
identität klarstellen. Nicht anders hat 
man sich der Selbstinfektion in der Ge¬ 
burtshilfe gegenüber zu verhalten. Die 
endogene Infektion kommt verhältnis¬ 
mäßig recht häufig vor; sie betrug bei 
dem Material, das aus der Gießener 
Klinik dieser Arbeit zugrunde gelegt 
wurde, 11,1%. Das Wesen der endogenen 
Infektion besteht nun darin, daß bisher 
latent lebende Scheiden- und Cervixkeime 
durch eine Verschiebung des Gleich¬ 
gewichts zwischen Organismus und Mi¬ 
kroben plötzlich ihre virulenten Eigen¬ 
schaften entfalten können, und zwar be¬ 
sonders dadurch, daß die immunisieren¬ 
den Kräfte des Körpers nicht mehr das 
Übergewicht über die toxischen Kräfte 
der Scheidenmikroben haben. Aus diesem 
Grunde ist es nun geboten, vor jedem 
gynäkologischen Eingriff die Scheide auf 
virulente Mikroben und das Blut auf 
seinen Gehalt an Toxineri zu untersuchen, 
um eine eventuell eintretende endogene 
Infektion auszuschalten. Ist eine endo¬ 
gene Infektion festgestellt worden, so 
soll hierdurch nicht der operierende Arzt 
ganz entlastet werden, vielmehr ist es 
notwendig, ihm die Möglichkeit zu geben 
gegen die endogene Infektion anzu¬ 
kämpfen, das heißt Unschädlichmachen 
der Scheidenmikroben, künstliche Er¬ 
höhung der immunisierenden Kräfte des 
Körpers durch Autovaccine und Beein¬ 
flussung des Zeitpunktes der Operation. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(Arch. f. Gynäk., Bd. 114, H. 1.) 

Über Unstimmigkeiten zwischen 
der Wassermann- Reaktion und dem 
klinischen Befund hat Prof. Heller 
(Charlottenburg) kürzlich sehr beachtens¬ 
werte Mitteilungen gemacht. Der AII- 
geineinpraktiker pflegt häufig Diagnose 
und Therapie der Lues allein von dem Aus¬ 
fall der Wassermann-Reaktion abhängig zu 
machen und dem klinischen Bild zu wenig 
Bedeutung beizulegen. Während Laien 
gewöhnlich der Ansicht sind, daß Lues 
nur bei positiver Wassermann-Reaktion 
behandelt werden muß, darf der Arzt 
diesen Standpunkt auf keinen Fall teilen. 
Die Wassermann-Reaktion ist ein biolo¬ 
gischer Vorgang, der auf der Einwirkung 
sehr labiler Substanzen beruht, eine ganz 
exakte Wassermann-Reaktion gibt es 
nicht; die Resultate von gleichen Pa- 

40* 



316 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


August 


tientinseren bei verschiedenen Instituten 
sind oft ungleich, selbst wenn die Reaktion 
vorschriftsmäßig ausgeführt war. Trotz 
sicheren Bestehens von Syphilis ist die 
Wassermann-Reaktion doch in einigen 
Fällen negativ. 1. In der Zeit 4—6 Wo¬ 
chen post infectionem werden im Blute 
noch keine Reagine gebildet. Die Wasser¬ 
mann-Reaktion ist also negativ.' In 
diesem Falle ist allein der Spirochäten¬ 
nachweis sichere Methode. 2. Im Se- 
Icundärstadium fällt im allgemeinen die 
Wassermann-Reaktion positiv aus, doch 
beobachteten wir,häufig einen negativen 
Ausfall. F. Zimmern^), Hamburg, gab' 
noch in letzter Zeit mehrere solcher Fälle 
bekannt. Die Ursache sucht er in einer 
gewissen Salvarsan- und Hg-Festigkeit 
der Spirochäten. 3. Nach Ablauf der 
Sekundärsymptome tritt oft eine Art 
Selbstreinigung des Blutes ein, die eine 
negative Wassermann-Reaktion zur Folge 
hat. 4. Im Tertiärstadium fällt die 
Wassermann-Reaktion nur in etwa 45 % 
positiv aus. 5. Bei der malignen Lues ver¬ 
läuft der Prozeß so stürmisch, daß es nicht 
zur genügenden Bildung von Antistoffen 
kommt und ein negativer Ausfall der 
Wassermann-Reaktion die Folge ist. 6. Bei 
den Müttern syphilitischer congenitaler 
Kinder zeigt ein verhältnismäßig hoher 
Prozentsatz der Mütter, nach Heller 
15—18 %, niemals Syphilissymptome und 
reagiert wassermannnegativ. Der Theorie 
nach sind diese Frauen syphilitisch. Sie 
sollen aber nur bei sicheren Indikationen 
behandelt werden. Expectatives Ver¬ 
halten kann nach Heller nicht schaden. 

Die Wassermann-Reaktion kann aber 
auch positiv ausfallen, selbst wenn kli¬ 
nisch kein Anhalt für Syphilis vorliegt. 
Bei Fleckfieber, Rückfallfieber, Lepra, 
Pellagra, Scharlach, nach Narkosen und 
bei Malaria ist oft eine positive Wasser¬ 
mann-Reaktion zu verzeichnen, gelegent¬ 
lich auch bei Lupus erythematodes und 
bei Ulcus molle. Setzt in solchem Falle 


die spezifische Behandlung ein, so ist sie 
natürlich von Erfolg begleitet, aber der 
Kranke lebt in dem trüben Gedanken, an 
Syphilis erkrankt zu sein. Auch bei 
Tumoren kann die Wassermann-Reaktion 
positiv ausfallen; hierbei kann auch gleich¬ 
zeitig Syphilis bestehen. Heller steht 
auf dem Standpunkt, daß auch sonst noch 
gelegentlich unspecifische Reaktionen Vor¬ 
kommen, die, wenn sie von dem Arzt 
kritiklos verwertet werden, den Kranken 
in schwere seelische Not stürzen können. 
In jedem Fall ist die Wassermann-Re¬ 
aktion mit Kritik und Skepsis zu ver¬ 
werten. Wenn der serologische und 
klinische Befund nicht mit einander über¬ 
einstimmen, so wird eine negative Wasser¬ 
mann-Reaktion gegenüber einem sicheren 
klinischen Befund nichts sagen und die 
Therapie wird die„ Diagnose sichern. Bei 
zweifelhafter Diagnose wird die positive 
Wassermann-Reaktion die Diagnose 
stützen. Bei negativem Ausfall ist die 
Untersuchung zu wiederholen. Wenn 
klinisch nichts für Syphilis spricht, die 
Wassermann-Reaktion aber positiv aus¬ 
fällt, so ist auf eine ganz schwache Re¬ 
aktion kein Gewicht zu legen; bei starker 
und stärkster Reaktion untersuche man 
wiederholt. Ein vorsichtiges Abwarten 
in diesem Fall wird keinen Schaden 
bringen. Seiler (Berlin). 

(Zschr. f. ärztl. Fortbild. 1921, Nr. 11; M. Kl. 
Nr. 16.) 

Dr. Elisabeth Schmid weist an der 
Hand eines sinnreich erdachten Modelles 
nach, daß das X-Bein (was übrigens allen 
erfahrenen Orthopäden längst bekannt ist) 
ursächlich mit einem stets vorhandenen 
Knickfuß zusammenhängt. Therapeutisch 
ist deshalb zunächst der Knickfuß durch 
Fußstützen, eventuell in Verbindung mit 
Innenschienen, zu beseitigen. Ferner 
kommen Tag- und Nachtschienen, sowie 
Übungen in korrigierendem Sinne zur An¬ 
wendung. Georg Müller. 

(Zschr. f. orthop. Chir., Bd. 41, Heft 1/2.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Aus der Medizinischen Abteilung des Landeskrahkenhauses zu Brauuschweig. 

Über die Behandlung schwerer Pneumonien mit Pferdeserum und 

Aderlaß. 


Von Prof. Dr. Adolf Bingel. 


Es ist vielfach beobachtet worden, 
daß die Injektion von Pferdeserum einen 
günstigen Einfluß auf den Ablauf yon 
Pneumonien, insbesondere auch von Grip¬ 


pepneumonien ausübt. Wir selbst sahen 
das bei manchen Fällen, während wir 
uns bei andern von einem Einfluß nicht 
überzeugen konnten. 




August 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


317 


Der Aderlaß spielte früher in der Be- 
liandlung der Pneumonie eine nicht un¬ 
bedeutende Rolle, während er heute 
weniger geübt und meist auf.die Fälle 
von Insuffizienz des. rechten Ventrikels 
mit beginnendem Lungenödem beschränkt 
wrd. 

Wenn das eine Mittel nicht sicher 
wirkt und das andere in seiner Wirkung 
zweifelhaft erscheint, so ist es eine ziem¬ 
lich grobe Überlegung, beide zu kombi¬ 
nieren. 

Wir haben das in der Weise getan, 
daß wir dem Patienten 12 bis 20 ccm 
Pferdeserum intramuskulär verabfolgten, 
nach einigen Stunden einen ausgiebigen 
Aderlaß von etwa 600 ccm machten und 
nach einigen Stunden die Serumgabe 
wiederholten. Wir haben das Verfahren 
bisher bei zwanzig schweren das Leben 
unmittelbar bedrohenden croupösen Pneu¬ 
monien angewandt und zwar mit dem 
erfreulichen Erfolge, daß am Tage nach 
dem Eingriff die Krisis beziehungsweise 
die Lysis einsetzte. In einigen Fällen war 
der Erfolg nur von kurzer Dauer, eine 
Wiederholung des Verfahrens hatte dann 
endgültige-Wirkung. Daß dabei die üb¬ 
liche Therapie mit Umschlägen und Herz¬ 
mitteln, insbesondere Campher, nicht 
außer acht gelassen wurde, ist selbst¬ 
verständlich. 

Von einer Aufführung der Kranken¬ 
geschichten sehe ich ab.. 

Ich weiß sehr wohl, daß auch bei den 
schwersten scheinbär verlorenen Pneu¬ 
monien jederzeit ein Umschwung zum 
Bessern auch unter der gewöhnlichen oder 
.gar keiner Therapie einsetzen kann. In 
den meisten meiner, wie gesagt, sehr 
schweren Fälle war aber das Krankheits¬ 
bild ein so schweres, die Besserung setzte 
so prompt und regelmäßig nach der 
Serum-Äderlaß-Therapie ein, daß ich an 


einen ursächlichen Zusammenhang glau¬ 
ben muß und daß ich es bereits nicht mehr 
wagen möchte, eine schwere Pneumonie 
ohne diese Behandlung zu lassen. 

Folgende Vorstellung habe ich mir 
von Art und Weise der Wirkung der 
^ Therapie gemacht. Während der pneu¬ 
monische Prozeß in der Lunge spielt, 
besteht im Körper ein Säftestrom vom 
Blut in die Gewebe, es werden eine Anzahl 
von Stoffen in den Geweben zurück¬ 
gehalten, vom Wasser und dem Kochsalz 
ist ja das allgemein bekannt. Ich stelle 
mir hun vor, daß die im artfremden Ei¬ 
weiß des Pferdeserums enthaltenen ,,Reiz¬ 
körper“ ebenfalls in die Gewebe abfließen 
und daher am Orte der Erkrankung in 
den Lungen nicht zur Wirkung kommen 
können. Wird nun durch einen aus¬ 
giebigen Aderlaß — darauf, daß er 50Q 
bis 700 ccm beträgt und daß diese Menge 
in möglichst kurzer Zeit entnommen wird, 
lege ich besonderen Wert — ein Säfte¬ 
strom aus den Geweben in das Blut an¬ 
geregt, so gelangen damit auch.^lie ,,Reiz¬ 
körper“ in das Blut und können ihre 
Wirkung in der erkrankten Lunge ent¬ 
falten. Es wäre auch möglich, daß nicht 
das Pferdeserum an sich, sondern die 
durch seine Einverleibung hervorgebrach¬ 
ten Reaktionskörper im weitesten Sinne 
das wiiksame Agens darstellen, dem durch 
die Säftestromumkehrende Wirkung des 
Aderlasses der Angriff auf die erkrankte 
Lunge ermöglicht wird. 

Genaueres Studium unter gewissen 
Variationen der Therapie wird uns klarer 
sehen lassen, möglich auch, daß die Er¬ 
klärung der Wirkung eine ganz andere 
sein muß. 

Zweck dieser kurzen Zeilen ist zu-^ 
nächst nur, zu einer Nachprüfung auf¬ 
zufordern, um rein empirisch festzu¬ 
stellen, ob ich mich nicht in meinen Beob¬ 
achtungen getäuscht habe. 


Optarson als appetitanregendes Mittel bei Lungenkranken. 

Von Chefarzt Dr. Schuftes, Lungenheilstätte Grabowsee. 


Im Jahre 1921 brachten die Elber- 
felder Farbwerke unter dem Namen 
Optarson ein Präparat in den Händel, das 
im ccm 1 cg Solarson (= 4 mg ASgOg) 
und 1 mg Strychninnitrat enthielt. Im 
Märzheft dieser Zeitschrift berichtete 
G. Klemperer über seine Beobach¬ 
tungen bei Schwächezuständen während 
und nach Infektionskrankheiten, bei 
nervösen Herzstörungen, bei Angstzu¬ 
ständen und Schwindel ohne organischen 


Herzbefund. Wenn er auch gute Ergeb¬ 
nisse von Arsen allein (Solarson) schon 
vorher gesehen hatte, so neigt er doch zu 
der Ansicht, daß die schneller eintretende 
Wirkung der Komponente des Strychnins 
zuzuschreiben ist. 

Es lag deshalb nahe, das Optarson 
auch bei Schwächezuständen einer chro¬ 
nischen Infektionskrankheit, nämlich 
der Lungentuberkulose, zu versuchen und 
hierbei den Einfluß zu prüfen, den es auf 



318 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


August' 


die Anregung des Appetits übte. 
Klagen über ,,schlechten Appetit bei vor¬ 
handenem Hunger“ sind ja bei Phthi¬ 
sikern so häufig, daß sie für den Kranken 
im Vordergrund seines Leidens stehen 
und die im übrigen hinsichtlich des 
Hauptleidens vorhandene Euphorie zu 
unterdrücken scheinen. Gelingt es uns, 
den Appetit anzuregen, und das Gewicht 
zu heben, so handeln wir — wenigstens 
bei den beginnenden Erkrankungen — 
auch kausal. Denn darüber bestehf'Wohl 
kein Zweifel, daß als Folge der Unter¬ 
ernährung die Lungentuberkulose in den 
letzten Jahren viel schneller den Tod der 
Kranken herbeigeführt hat, als wir es 
früher gesehen haben. 

Optarson wurde bei neun Patienten, 
die an Lungentuberkulose litten, bei all¬ 
gemeiner Schwäche und Appetitlosigkeit 
angewandt, nachdem alle sonst üblichen 
Mittel ohne Erfolg geblieben waren. Alle 


Fälle waren fieberfrei. Es handelt sich um 
sechs offene und drei geschlossene Formen.. 

In allen Fällen waren die Ein-^ 
Spritzungen schmerzlos und Wurden reiz¬ 
los vertragen. 

Bei zwei vorgeschrittenen Fällen mit 
positivem Bacillenbefund vermochte das. 
Mittel nicht aen Appetit zu heben, in den 
anderen Fällen, auch b§i einer Reihe vom 
Schwerkranken, war eine günstige Wir¬ 
kung unverkennbar, mehrfach war sie- 
von Dauer, bei einzelnen ließ mit dem 
Aussetzen des Mittels auch der Appetit 
nach. Ab und zu trat, und dies dürfte- 
der tonisierenden Wirkung des Strychnins 
in erster Linie zuzuschreiben sein, schon 
nach 1—2 Spritzen eine auffällige Besse¬ 
rung des Appetits ein, die von langer 
Dauer war, ohne daß die Behandlung¬ 
fortgesetzt wurde. 

Det Eindruck, den wir gewonnen 
haben, war recht gut. 


Aus der II, medizinisclieu .Universitätsklinik inJiWien (Vorstand: Hofrat Prof. Ortner).. 

Über den 

Einfluß des Alters auf die Stärke von Tuberkulinlösungen, 

Von V. JKollert und M. Burger. 


Wenn wir eine einschleichende,^ mög¬ 
lichst reaktionslose Tuberkulinbehandlung 
durchführen wollen, so kommt es dabei, 
abgesehen von dem individuellen immuni¬ 
satorischen Zustand des Kranken, haupt- 
sä:chlich auf die exakte Dosierung des 
Mittels an. Zunächst unverständliche, 
fieberhafte Reaktionen im Verlaufe einer 
Kur sind nicht selten darauf zurück¬ 
zuführen, daß tatsächlich eine andere 
Menge Tuberkulin dem Kranken injiziert 
wurde, als es beabsichtigt war. Verwendet 
man z. B. nicht stets die gleiche Spritze, 
so muß man auf Abweichungen bis zu 
40 % zwischen zwei Tuberkulinspritzen 
rechnen. Wir wollen uns in den folgenden 
Ausführungen nur mit jenem Dosierungs¬ 
fehler beschäftigen, der durch die Ver¬ 
änderung der Stärke lange aufbewahrter 
Tuberkulinlösungen bedingt ist. Die Ver¬ 
anlassung zur Anstellung der Unter¬ 
suchungen gab folgender Umstand: Apo¬ 
theken, ja Institute, bringen Verdünnun¬ 
gen in den Handel, die von den praktischen 
Ärzten im Vertrauen auf die Konstanz 
der Präparate benützt werden. Anderer¬ 
seits liegen Angaben in der Literatur vor, 
die auf eine starke Abschwächung der 
Lösungen nach kurzer Zeit hinweisen. 
Es erschien untersuchenswert, welcher 
Standpunkt gerechtfertigt ist. 


Die Angaben in der Literatur, soweit: 
wir sie überblicken können, sind darüber 
recht spärlich. Riviere und Morland (1)^ 
geben für eine steril bereitete, an einem 
kühlen Ort aufbewahrte Lösung eine Halt¬ 
barkeit von 14 Tagen an. E. Merck (2) 
liefert nur konzentriertes Tuberkulin und 
begründet dies damit, daß Verdünnungen 
nicht länger als 8 bis 14 Tage brauchbar 
seien. Dem gegenüber empfehlen Ban¬ 
delier und Röpke (3) für Alttuberkulin, 
für Neutuberkulin TR und Neutuberkulin 
Bacillenemulsion die gebrauchsfertigen 
Verdünnungen von Fresenius, für sen¬ 
sibilisierte Bacillenemulsion analoge Prä¬ 
parate der Höchster Farbwerke. Auch 
das Tuberkulin B^raneck kommt be¬ 
kanntlich in 15 verschiedenen Verdün¬ 
nungen in den Handel. 

Unsere Versuche beziehen sich nur auf 
das Alttuberkulin Koch des Wiener Sero¬ 
therapeutischen Instituts. Als Verdün¬ 
nungsflüssigkeit wurde 0,25 %ige Karbol¬ 
säure verwendet. Die Lösungen waren 
in dunklen Wrightschen Fläschchen auf- 
bewahrt. Verdunstungsfehler wurden 
durch Markierung des Flüssigkeitsspiegels 
vermieden. Die Prüfung der Stärke eines. 
Präparates erfolgte derart, daß ein Kran¬ 
ker mit einer frisch bereiteten und einer 
alten Lösung am Oberarme in 10 bis 15 cm' 





-August 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


329 


Entfernung je eine intrakutane Injektion 
von 0,1 ccm Inhalt erhielt und daß dann 
4er Ablauf der nachfolgenden Reaktionen 
.studiert wurde. Es War stets die gleiche, 
•entsprechend gereinigte Spritze und die- 
-selbe Platiniridiumnadel in Verwendung. 
Wir benutzten nur solche Reaktionen 
zum Endurteile, die. sich aus korrekt an- 
;gelegten intracutanen Papeln entwickel¬ 
ten; dabei galten die gleichen Kriterien 
wie sie der eine von uns (4) früher zum 
Vergleich der Stärke verschiedener Tuber- 
:«kulinpräparate ausgearbeitet hatte. Ver- 
^glichen wurde die Größe und Farbe des 
Erythems, die Größe, Härte und Höhe 
des Infiltrates. Die Ablesungen erfolgten 
nach 24 und 48 Stunden; auf etwaige 
Spätreaktionen Wurde geachtet. Jeder 
Fall war nur einmal in Verwendung. Mit 
Tuberkulin vorbehandelte Kranke waren 
ausgeschlossen. 

Die aus ^en Versuchen abgeleiteten 
Folgerungen stützen sich auf 70 verwend¬ 
bare Fälle. Geprüft wurden Verdün¬ 
nungen 1 : 10, 1 : 100, 1 : 1000. Auf 
höhergradige Verdünnungen mußte ver¬ 
zichtet werden, da diese bei der Intra- 
•cutanmethode zu häufig negative Resul¬ 
tate ergaben. 

Bei den geschilderten Verdünnungen 
konnten Abschwächungen nachgewiesen 
werden in Proben, die 51, 48, 28 Tage 
alt waren. Dagegen zeigten Lösungen im 
Alter von 9, 14, 21 Tagen keinen Unter¬ 


schied gegenüber frisch bereiteten. Der 
Grad der Verdünnung des Tuberkulins 
scheint in den oben genannten Grenzen 
keine Rolle für die Raschheit der Ab¬ 
schwächung des Präparates zu spielen. 

Wurde eine Lösung in einer weißen, 
verschlossenen Wrightschen Flasche auf¬ 
gehoben, dem diffusen Tageslichte aus¬ 
gesetzt und in Zimmertemperatur gehal¬ 
ten, so ergab sich bei der geschilderten 
Methodik keine deutlich nachweisbare 
Abschwächung gegenüber einer gleich 
alten Lösung, die in dunkler Flasche vor 
Licht geschützt aufbewahrt worden war. 

Der Vergleich einer in Ampullen ein¬ 
geschmolzenen, mehrere Monate, ja viel¬ 
leicht Jahre alten Tuberkulinlösung mit 
einer frischen ergab eine mäßige Ab¬ 
schwächung der alten Verdünnung. 

Zusammenfassend läßt sich sagen: 
Tuberkulinlösungen können ohneSchaden, 
falls sie steril und gegen Verdunstung 
geschützt sind, drei Wochen aufbewahrt 
werden. Alte Lösungen büßen etwas an 
Stärke ein und sind deshalb bei Kranken, 
bei denen wegen hochgradiger Tuber¬ 
kulinempfindlichkeit sogenannte kritische 
Punkte in der Behandlung vermieden 
werden müssen, nicht angezeigt. 

Literatur: 1. Riviere and Morland,Tuber- 
culin treatment, London 1912. — 2. E. Merck^ 
Med. Spezialpräparate 1916, S. 340. — 3. Ban¬ 
delier'und Röpke, Lehrb. d. spez. Diagnostik 
1920. — 4. Kollert, Brauers Beitr. z. KHn. d. 
Tbc., Bd. 30. 


-Aus der L medizinischen Klinik derjUniversität in Budapest (Direktor: Prof.Dr^R.Balint). 

[Zur Frage der Adrenalinbehandlung des Asthma bronchiale. 

Von Dr. Karl Csepai, Assistent der Klinik. 


Seit den Untersuchungen von Kaplan 
=wird das Adrenalin bei der Behandlung 
'des Asthma bronchiale vielfach angewen- 
4et. Im allgemeinen wird die ausgezeich¬ 
nete Wirkung auf den asthmatischen 
Anfall überall anerkannt. Das Mittel hat 
aber den Nachteil, daß es auf den Orga¬ 
nismus nicht indifferent ist. Die Unter¬ 
suchungen von Josue, A. v. Koränyi 
usw. zeigen, daß die wiederholten Injek¬ 
tionen von Nebennierenextrakten eine 
schwere degenerative Gefäßschädigung 
bei Kaninchen hervorrufen. Bei einer 
Erkrankung, wie Asthma bronchiale, wo 
die Anfälle oft sich häufen, wo deshalb 
ziemlich oft die Adrenalinanwendung not¬ 
wendig sein kann, muß diese nachteilige 
Wirkung des Mittels in Betracht gezogen 
werden. Man sollte daher bestrebt sein, 
mit möglichst geringen Adrenalinmengen 
4ie erwünschte therapeutische Wirkung 


zu erzeugen. Das Asthmolysin, welches 
neben Adrenalin auch Pituitrin enthält, 
scheint auch diesen Zweck zu haben, 
wobei allerdings noch immer ziemlich 
viel Adrenalin zur Anwendung kommt. 

Wie ich gezeigt habe, wird die Blut¬ 
drucksteigerung nach Adrenalininjektion 
bei Menschen durch Papaverin nicht nur 
nicht aufgehoben, sondern sogar gestei¬ 
gert. In der Annahme, daß das Papaverin 
auch andere Wirkungen des Adrenalins 
unterstützt, habe ich die beiden Mittel 
bei dem Asthma bronchiale kombiniert 
angewendet, indem ich 0.04 g Papaverin 
und 0,25 bis 0,5 mg Adrenalin gegeben 
habe. Die Versuche haben gezeigt, daß 
das Papaverin auch in dieser Hinsicht 
die Wirkung des Adrenalins fördert, in¬ 
dem durch die Anwendung der beiden 
Mittel trotz der geringen Adrenalindosen 
eine ausgezeichnete Wirkung zu erreichen 



320 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


August 


war. Das Mittel wird zur subcutanen 
Injektion von Richter mit dem Namen 
Spasmolysin in den Verkehr gebracht. 
Ich glaube, daß die Anwendung des 
Mittels mehrfache Vorteile hat. In der 
von Richter hergestellten Form ist es 
durchaus beständig, kann in unbeschränk¬ 
ter Menge und billiger als Asthmolysin 
(Lysasthmin) hergestellt werden. Das 
Papaverin hat daneben schon selbst ge¬ 
wisse spasmolytische Eigenschaften und 


nach meinen Versuchen fördert es be¬ 
deutend die Adrenalinwirkung, so daß- 
alles in allem mit bedeutend weniger 
Adrenalin derselbe Effekt zu erreichen 
ist. Das Mittel wirkt nach meinen Beob¬ 
achtungen bei anderen vagotonischen Er¬ 
krankungen, wie Colica mucosa, Ein¬ 
geweidespasmen usw., auch recht günstig. 

Literatur: Kaplan, Med.News86,19, p.871,, 
1905. — Josue, C. R. de la Soc. Biol. 55, 1903. 
— A. von Koränyi, D. m. W. 1906. — Cs6pai„ 
W. kl. W. Nr. 16, 1921. 


„Zur Therapie des Erysipelas migrans.‘* 

Von Dr. med. Alfred Salinger, Schnackenburg (Elbe). 


Im 6. Heft der von mir hochgeschätz¬ 
ten „Therapie der Gegenwart“ lese ich 
einen Artikel „Zur Therapie des Erysipelas 
migrans“ von Dr. Hugo Schmidt. 
Darin wird eine Mischung von essigsaurer 
Tonerde und verdünntem Alkohol zur 
Behandlung des Erysipel und phlegmo¬ 
nöser Entzündungsprozesse warm emp¬ 
fohlen. Verfasser führt einen Fall von Ery¬ 
sipel bei einem dreimonatigen Säugling 
und eine Mastitis akuta puerperalis an. Das 
Erysipel kam auf die Umschläge mit des 
Verfassers Mittel hin bald zum Stillstand, 
die Mastitis lokalisierte sich schnell und 
heilte nach einer Incision bald ab. Wenn 
man die beiden vom Verfasser angeführten 
Fälle einigermaßen kritisch betrachtet, 
so wird man ohne weiteres sagen müssen. 


daß ein Erysipel besonders bei einem 
Säugling auch ohne Therapie rasch zum 
Stillstand kommen kann, ja daß dies 
sogar die Regel ist. Zu dem zweiten Fall 
wird man bemerken müssen, daß die 
Mastitis verschieden in Erscheinung tritt, 
und zwar verläuft die ein^ Brustdrüsen¬ 
entzündung leicht, kapselt sich sehr 
schnell in einem Absceß ab, nach dessen 
Incision die Heilung auffallend schnell 
erfolgt, während die andere von vorn¬ 
herein stürmisch beginnt, von dem einen 
Quadranten auf den anderen überspringt 
und bald die ganze Mamma eitrig unter¬ 
miniert. Die vom Verfasser angeführten 
Fälle können somit auch ohne An¬ 
wendung seines Mittels ebenso günstig, 
verlaufen sein. 


Bemerkung zu dem Aufsatz des Herrn Dr. Stein „Mitigal, ein 
neues Krätzemittel,“ in Heft 6 dieser Zeitschrift. 

Von Dr. Stephan, Brandenburg. 


Herr Dr. Stein sagt im Schlußabsatz: 
. im Gegensatz zum Perubalsam und 
seinen Ersatzmitteln, die öfter die 
Nieren in Mitleidenschaft ziehenEine 
solche Behauptung ohne Beweise aufzu- 
stellen, ist nicht recht. Vom käuflichen 
Perubalsam ist erwiesen und bekannt, daß 
er in einer Anzahl von Fällen die Nieren 
gereizt (Gaßmann, M. m. W. 1904, 
Nr. 30; Richarz, M. m. W. 1906, Nr. 9) 
und sogar den Tod an Nierenentzündung 
zur Folge gehabt hat (Deutsch, Zschr. f. 
Medizinalbeamte 1905, Nr. 13). Solche 
üblen Wirkungen hat aber nicht der echte, 
natürliche, sondern nur der verfälschte, 
mit schädlichen Harzen vermischte Peru¬ 
balsam (Kakowski, Arch. f. Denn., 
Bd. 15, H. 3). Weil nun der Perubalsam 
schon seit längerer Zeit so Iiäufig ver¬ 
fälscht wird, daß es ziemlich schwer hält, 
garantiert reinen, sicher unschädlichen 


Perubalsam zu bekommen, hat sich die 
Industrie bemüht, dem echten Perubalsam 
gleichwertige Ersatzpräparate herzu¬ 
stellen, deren absolute Reinheit garan¬ 
tiert werden sollte. Die Bemühungen 
waren von Erfolg gekrönt. 

Ich persönlich verwende Perugen, das 
— nebenbei bemerkt — dreimal niedriger 
im Preise ist als Perubalsam. Perugen ist in 
hunderttausenden von Fällen angewendet 
worden; es liegt eine sehr reichhaltige 
Literatur darüber vor; aber nicht ein 
einziger Fall von Nierenreizung ist jemals 
berichtet worden. Perugen ist absolut 
ungefährlich für die Nieren. So 
lange Herr Dr. Stein nicht in der Lage ist,, 
mir das Gegenteil aus der Literatur oder 
aus seiner Praxis zu beweisen, bestreite 
ich ihm das Recht, zu behaupten, daß der 
Perubalsam und seine Ersatzmittel 
öfter die Nieren in Mitleidenschaft ziehen. 


Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg' 
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berfin W57. 






















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Siimidans für den Appetit 

VMi.Uhlmaxin,JnhApoth.E.RArHFrankfuriaJi.^^ 


Diesem Heft liegt je ein Rimdschreiben der Firma C. F. Boehringer & Soehne ö. m. b. H.,Maanheim-Waldhof, über verschiedene 
Jh\'.»)arate, und des Verlages des „Anzeiger für Ärzte und Apotheker, Nürnberg,“ über „Ermer, Medizin.Taschenhandbuch“ bei. 













Die Therapie der Gegenwart 

herausgegeben von fleh. Med.-Rat Prof. Dr. ü. Klemperer ^ 

1921 taBerJin. September 


Nachdruck verboten. 


Aus der 1. medizMsclien und der cMrurgischen Abteilung des Städtischen Kranken-. 
hauses Moabit (Prof. G. Klemperer und Prof. M. Borchardt). 

Zur biologischen Diagnostik der Schwangerschaft. 

Von Dr. Kamnitzer und Dr. Joseph, Assistenzärzten. 


iWir wissen durch die Arbeiten von 
E. Frank, daß die während der Schwan¬ 
gerschaft vorkommende Ausscheidung von 
Traubenzucker durch den Harn eine Form 
des renalen Diabetes darstellt So nennen 
wir nach dem Vorgang von G. Klempe- 
Ter die Glykosurie, welche in weiten 
Grenzen von dem Zuckergehalt der Nah¬ 
rung und des Blutplasmas unabhängig ist, 
und welche bei vollkommener Intaktheit 
der zuckerbildenden und zuckerzerset¬ 
zenden Organe augenscheinlich auf einer 
besonderen Reizung der Nieren beruht 
Daß eine solche wirklich bei der Schwan¬ 
gerschaf tsglykosurie vorliegt, hat Frank 
durch gleichzeitige Feststellung des Zuk- 
kergenalts von Harn und Blut bewiesen; 
der Traubenzucker trat im Harn der 
Schwangeren auf, während im Moment 
der Absonderung der Blutzucker normale 
oder unternormale Werte aufwies. Frank 
konnte ferner zeigen, daß es bei jeder 
Schwangeren gelingt, durch Ernährung 
mit 100 g Traubenzucker oder reichlicher 
Mehlkost eine Glykosurie zu erzeugen. 
Dies Phänomen hat er in Gemeinschaft 
mit No th mann für. die Frühdiagnose 
der Schwangerschaft verwertet Es 
scheint mit Sicherheit für bestehende . 
Schwangerschaft zu sprechen, wenn eine 
Frau oder ein Mädchen nach nüchternem 
Genuß von 100 g Traubenzucker alsbald 
Traubenzucker im Urin ausscheidet, ins¬ 
besondere wenn dabei der Blutzucker¬ 
gehalt nicht über die Norm erhöht ist 
Frank berichtet über 22 Frauen, welche 
er mit dieser Methode auf Schwanger¬ 
schaft prüfte; 19 reagierten auf 100 g 
Traubenzucker mit einer Glykosurie — 
diese erwiesen sich als sicher schwanger; 
drei bekamen nach 100 g Traubenzucker 
keine Glykosurie, und die weitere Beob- 

Anmerkung des Herausgebers: Das dia¬ 
gnostische Problem, welchem die vorstehende 
Arbeit sich widmet, ist so innig mit vielen Fragen 
der Therapie verknüpft, daß ihre Veröffentlichung 
in dieser Zeitschrift wohl gerechtfertigt sein 
dürfte. 


achtung erwies sie als nicht schwanger. 
Bei sieben positiv reagierenden Frauen 
war die Gravidität in einem so frühen 
Stadium, daß die gynäkologische Unter- ' 
suchung sie nicht sicher feststellen konnte. 
Die Blutzuckeruntersuchung ergab jedes¬ 
mal zur Zeit der Glykosurie Werte unter 
0,19 %, welche Frank als obere Grenze 
normalen Blutzuckergehaltes anspricht 
(Nur bei wirklichem, aber latentem Dia¬ 
betes^ bei Leberkrankheiten und bei thy¬ 
reotoxischen Zuständen komijien höhere 
Blutzuckerwerte nach Traubenzucker¬ 
zufuhr vor.) Frank und Nothmann 
haben dann an Stelle des Traubenzuckers 
eine aus Mehlspeisen bestehende Probe-. 
kost eingeführt; indem sie je 160 g Sem¬ 
mel, 60 g Mehl und 200 g Kartoffeln dar¬ 
reichten und nach dieser Mahlzeit die 
Schwangerschäfts-Verdächtigen auf Gly¬ 
kosurie untersuchten. Dies Verfahren 
erwies sich aber als weniger zuverlässig, 
indem von zehn schwangeren Frauen nur 
sechs mit Glykosurie reagierten, vier 
nicht. Von diesen bekamen zwei nach 
100 g Traubenzucker ■ Glykosurie, eine 
dritte entzog sich der Beobachtung, die 
vierte reagierte auch auf 100 g Trauben¬ 
zucker nicht; diese Frau war im vierten 
Monat schwanger, und Frank hält es für 
möglich, daß bei vorschreitender Gravi¬ 
dität die Probe versagte. 

Wir haben uns zur Aufgabe gemacht, 
die Franksche Methode nachzuprüfen, 
indem wir den Zuckergenalt des Urins 
und des Blutes bei möglichst zahlreichen 
nichtschwangeren und schwangeren. Frau¬ 
en nach Zucker- bzw. kohlehydratreicher 
Kost verglichen. In bezug auf die Metho¬ 
dik folgten wir zuerst den Angaben von 
Frank und Nothmann, indem wir 
zuerst die Zuckerfreiheit des Urins fest¬ 
stellten und den Nüchternwert des Blut¬ 
zuckers bestimmten, hiernach die Probe¬ 
kost gaben und den Urin zuerst nach- 
einer halben Stunde, dann in viertelstün¬ 
digen Abständen prüften, bis der even- 

41 



322 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


September 


tuen vorhandene Traubenzucker nicht 
mehr nachweisbar war. Gleichzeitig mit 
dem ersten positiven Urinzuckerbefund 
wurde die zweite Blutzuckerprobe, in 
vielen Fällen nach Verschwinden des 
Harnzuckers eine letzte Blutzuckerprobe 
angestellt. 

Folgendes Protokoll zeigt den'Verlauf 
eines Versuches. 

Frau Sp. klagt über Schmerzen im Unterleib; 
letzte Menses vor 6 Wochen. Kein sicherer gynäko¬ 
logischer Befund. 

11. Februar 1921: Im Urin kein Zucker. 

12^: Blutzuckergehalt nach Bang 0,09%. Trinkt 
500 g Tee, darin gelöst 100 g Traubenzucker. 
P®: Urin zuckerfrei. 

P®: 28 ccm Urin mit 0,2% Glykose. Blut¬ 
zuckergehalt 0,247o. 

P®: 32 ccm Urin mit 0,2% Glykose. 

P®: 16 ccm Urin mit 0,4% Glykose. 

2*°: 15 ccm Urin mit 0,27o Glykose. 

2®®: Urin zuckerfrei. 

74 Stunden nach 100 g Traubenzucker begann 
eine geringfügige Glykosurie, welche 114 Stunden 
anhielt; im ganzen wurden 0,214 g Traubenzucker 
ausgeschieden. Der vorher normale Blutzucker 
betrug bei Beginn der Glykosurie 0,24%. 

Nach dem positiven Ausfall der Versuche be¬ 
trachteten wir die Patientin als schwanger. Die 
weitere Entwicklung bestätigte diese Annahme; 
die Menses traten nicht wieder ein, und nach vier 
Wochen war auch der gynäkologische Befund 
beweisend. 

Bemerkenswert ist in diesem Fall der hohe 
Blutzuckerbefund, welcher die von Frank für 
renalen Diabetes angegebene Grenze übersteigt. 
Wir werden auf die Deutung dieses Befundes 
zurückkommen. 

Mit Traubenzucker haben wir nur 
wenig Versuche an Schwangeren ange- 
steJIt; alle reagierten, wie der eben berich¬ 
tete, mit Glykosurie. Es schien uns aber 
praktisch, an Stelle des Traubenzuckers 
eine andere Kohlehydrat-Probekost an- 
7uwenden, da der Traubenzucker nicht 
gern genommen wurde und auch für sehr 
häufige klinische Versuche zu teuer war. 
Die von Frank und Nothmann ange¬ 
gebene Probemahlzeit aus Semmel, Mehl 
und Kartoffel wurde von den Frauen nur 
mit Widerwillen verzehrt. Wir sind nach 
vielem Ausprobieren zu einer Probemahl¬ 
zeit gekommen, welche aus einer Mischung 
von 75 g Reis (Rohgewicht) mit 100 g 
Rohrzucker und viel Tee bestand. Diese 
Mahlzeit ist verhältnismäßig billig, wird 
gut genommen und scheint an Kohle¬ 
hydratgehalt die unterste Grenze' des 
Notwendigen darzustellen; mit weniger 
Rohrzucker werden die Resultate un¬ 
sicher. 

Folgende Protokolle zeigen den Ver¬ 
lauf einiger Versuche. 

Fr. R., gravida im 3. Monat. 

10^®: Urin frei von Zucker, Blutzucker 0,13%, 
75 g Reis, 100 g Rohrzucker und 500 g Tee. 


10^®: Urin zuckerfrei. 

II®°: Im Urin Spuren von Zucker, Blutzucker 

0,188 7o. 

, lU®: Im Urin 0,4% Zucker. 

■n®o:0,2 7o. 

IP®: Spur. 

12<«: Spur. 

12^®: Urin zuckerfrei, Blutzucker 0,117%. 

Fr. O., 35 Jahre, gravida im 2.' Monat. 

12®®: Urin zuckerfrei, Blutzucker 0,069%. 75 g- 
Reis, 100 g Rohrzucker, 500 g Tee. 

12®®: Urin 0,2% Zucker, Blutzucker 0,164 %. 
1245; Urin positive Zuckerreaktion. 

1®®: Ebenso. 

P^:0,8 7o. 

P®: 0,2 7o. 

2®®: Urin zuckerfrei, Blutzucker 0,061 %. 

Frl. K., 22 Jahre, gynäkologisch: Gravidität 
im 1. Monat fraglich. 

10®®: Urin zuckerfrei, Blutzucker 0,103%. 

10^®: 75 g Reis, 100 g Rohrzucker, 500 g Tee. 
11®®: Urin 0,6% Zucker. 

12®®: Blutzucker 0,235%. 

P®: Urin 0,2 % Zucker. 

P®: Urin zuckerfrei. 

2®®: Blutzucker 0,09 %. 

Mit der Reis-Zuckermahlzeit haben 
wjr 20 Fälle von sicherer Gravidität unter¬ 
sucht, darunter einige, bei denen die kli¬ 
nische Diagnose zur Zeit der Unter¬ 
suchung noch unsicher war und erst durch 
die weitere Beobachtung sichergestellt 
wurde; es waren auch zwei Aborte da¬ 
runter. Von den Graviden waren fünf irti 
ersten, fünf im zw^eiten, sechs im dritten,, 
eine im vierten Monat, eiiieTubargravidät, 
bei welcher die klinische Diagnose erst 
durch Punktion und Operation gesichert 
wurde. 

Alle'20 Gravidae reagie.teii mit posi¬ 
tiver Zuckerausscheideung; dieselbe be¬ 
gann dreiviertel Stunde nach der Probe¬ 
mahlzeit und hielt bis lu zwei Stunden,, 
bei einigen Fällen etwas- länger an. Im 
Gegensatz dazu trat bei 30 sicher nicht 
schwangeren Frauen und Mädchen nach 
der Reis-Zuckermahlzeit keine Glyko¬ 
surie auf. 

Unsere Nachprüfung^ setzt uns also 
in die Lage, die Franksche Methode der 
Schwangerschaftsdiagnostik ,als praktisch 
brauchbar zü empfehlen. Dabei möchten 
wir freilich hervorheben, daß die Zahlen 
natürlich noch viel zu gering sind, um die 
absolute Verwertbarkeit der Methode zu 
beweisen. Es handelt sich dabei um den 
Nachweis einer erhöhten Reizbarkeit der 
Nierenepithelien; dabei haben wir es mit 
einem Schwellenwert der Empfindlich¬ 
keit zu tun, welche wahrscheinlich indi¬ 
viduellen Schwankungen unterw^orfen sein 
dürfte. Dafür spricht einmal der nega¬ 
tive Ausfall in Frank-Nothmanns Fall 
von Gravidität im vierten Monat; dafür 





September Die Therapie der Gegenwatt 1921 323 


spricht auch die Abhängigkeit der Reak¬ 
tion von einer bestimmten Höhe des 
Zuckergehalts der Probenahrung. In meh¬ 
reren unserer Versuche genügten 75g Rohr¬ 
zucker mit 75 g Reis, um positive Zucker¬ 
reaktion im Urin der Schwangeren zu er¬ 
halten; in anderen wiederum blieben 75 g 
Rohrzucker ergebnislos, während 100 g 
eine prompte Reaktion hervorriefen. - 
Schließlich möchten wir darauf . hin- 
weisen, daß es nicht sicher ist, ob die 
Entstehung der Schwangerschattglyko- 
surie in allen unseren Fällen ausschließlich 
renalein Ursprungs ist. Ein solcher ist nur 
mit Bestimmtheit anzunehmen, wenn 
der Blutzuckergehalt die Norm nic]it 
überschreitet. Als solche bezeichnet 
Frank 0,19 %. Unter unseren 20 Fällen 
überstieg der Blutzuckergehalt nicht we¬ 
niger als zehnmal diese Grenze, indem er 
zur Zeit der Glykosurie bis zu 0,26 % 
anstieg. Es ist hiermit die renale Natur 
der Glykosurie keineswegs als ausge¬ 
schlossen zu betrachten Denn wir kennen 
zahlreiche Fälle von solcher Hypergly¬ 
kämie, ohne daß es zur Zuckerausschei¬ 
dungkäme; die Schwelle der Nierendurch¬ 
lässigkeit liegt in diesen Fällen eben über 
0,26% Blutzucker, und es bedeutet die 
Glykosurie dann doch eine Nierenreizung. 
Aber man betritt damit einen schwan¬ 
kenden Boden. Man könnte sich ebenso¬ 
gut vorstellen, daß dieselben syncytiären 
Reizstoffe, die auf die Nieren in beson¬ 
derer Weise wirken, auch andere Organe 
beeinflussen und z. B. auf die Leber im 
Sinne erhöhter Zuckerproduktion ein¬ 
wirkten. Wie nun auch weitere Unter¬ 
suchungen über die ursächlichen Ver¬ 
hältnisse der Schwangerschaftsglykosurie 
nach Kohlehydratbelastung entscheiden 
mögen, so zeigt sicherlich das starke 
Schwanken des Blutzuckergehalts ein 
Moment des Individuellen, welches eine 
gewisse Vorsicht in der praktischen Aus¬ 
wertung der Frankschen Schwanger¬ 
schaftsprobe zur Pflicht macht. 

Wir haben nun versucht, dasselbe 
Ziel wie Frank auf einem ähnlichen Weg 
zu erreichen, ohne den Blutzuckergehalt 
in so wechselnder Weise zu beeinflussen. 
Es erschien uns wünschenswert, von der 
Probekost loszukommen, auch deshalb, 
weil dieselbe auch in der von uns gege¬ 
benen Zusammensetzung an die Will¬ 
fährigkeit der Patientinnen noch immer 
große Anforderung stellte. Es gab noch 
eine andere Möglichkeit, eine besondere 
Nierenreizung hervorzurufen, welche sich 


zu der syncytiären hinzuaddieren muß, um 
die Glykosurie zu erzeugen, das ist die Dar¬ 
reichung kleinster Gaben von Phloridzin. 
Dies Glykosid erzeugt bekanntlich im 
Tierversuch eine Glykosurie, ohne den 
Blutzuckerspiegel zu erhöhen, oft unter 
Erniedrigung des Blutzuckergehalts. Die 
Meringsche Phloridzinglykosurie wurde 
vor 25 Jahren von G. Klemperer als 
Modell des menschlichen Nierendiabetes 
angesprochen; es lag nahe, das Phloridzin 
als specifisches Reizmittel zu benutzen, 
um die. zur Auslösung der Schwanger¬ 
schaftsglykosurie notwendige Schwellen¬ 
wertserhöhung der Nierenreizbarkeit her¬ 
beizuführen. 

Um bei gesunden und normalen Men¬ 
schen mit Sicherheit eine Glykosurie 
herbeizuführen, braucht man gewöhnlich 
0,01 g; geht man mit der Phloridzindosis, 
herab, so wird das Ergebnis unsicher. 
Bei 4 mg gibt es zahlreiche Versager, mit 
3 mg Phlörid 2 ^in gelingt es nur selten, bei 
normalen Menschen Glykosurie hervor¬ 
zurufen. Bei 2,5 mg Phloridzin scheint die 
untere Grenze der Phloridzinempfindlich- 
keit normaler Nieren erreicht zu sein. 

Während nun die meisten gesunden 
Menschen nach Injektion von 2,5 mg 
Phloridzin keinen Zucker ausscheiden, ruft 
die Injektion dieser Menge bei Schwan¬ 
geren anscheinendregelmäßignach 
einer halben Stunde eine deutliche 
Glykosurie hervor. 

Wir gebrauchten eine 0,l%ige Lösung, indem 
wir 0,03 g Phloridzin in 30 ccm Wasser auf¬ 
kochten und davon 2,5 ccm intramuskulär in¬ 
jizierten. Die Lösung muß unmittelbar vor der 
Injektion frisch hergesteilt werden, da das Phlo¬ 
ridzin beim Erkalten ausfällt. Die Einspritzung: 
ist schmerzlos oder nur ganz wenig und schnell 
vorübergehend schmerzhaft. Die Probe wurde 
stets nüchtern angestellt. Der Urin wurde mit 
Xylanders Reagens geprüft. Es wurden keine 
Arzneimittel gereicht, die etwa eine positive 
Reaktion her vorrufen konnten. 

30 von uns untersuchte Schwangere- 
haben eine halbe Stunde nach Injektion: 
von 0,0025 g Phloridzin positive Zucker¬ 
reaktion im Urin gezeigt. Die Mehrzähl) 
der untersuchten Schwangeren befand sich, 
im ersten Monat der Gravidität, sieben im 
Zweiten, fünf im dritten, eine im vierten. 
Bei vielen der geprüften Patienten war 
die Schwangerschaft noch ganz fraglich,, 
zum Teil sogar unwahrscheinlich, erst 
der positive Ausfall der Phloridzinppbe- 
bestimmte uns, die Diagnose zu 
Bei einer Patientin bestanden unsichere' 
Zeichen der Tubargravidität. In 
diesen Fällen positiver Phloridzinprooe 

41* 


324 


September 


Die Therapie der G^enwart 1921 


wurde die Schwangerschaft durch den 
Verlauf 2 :weifelsfrei bewiesen. Hinzu¬ 
traten neun Aborte mit positiver Zucker¬ 
ausscheidung nach 0,0025 g Phloridzin. 
Bei diesen Aborten blieb die Phloridzin¬ 
probe noch sechs bis acht Tage positiv, in 
einem Falle bis zu zehn Tagen, aber länger 
als zehn Tage haben wir in keinem Falle 
nach geschehenem Abort Phloridzingly- 
kosurie erhalten. Gegenüber diesen 30 
Schwangeren und 9 Aborten haben wir 
70 Kontrollen bei nichtschwangeren 
Frauen und 10 Kontrollen bei Männern 
angestellt. 

Die zehn Männer reagierten negativ. 

Unter den 70 weiblichen nichtschwan¬ 
geren Frauen und Mädchen haben 63 
nach 2,5 mg Phloridzin keine Glykosurie 
gehabt. Einige derselben wären klinisch 
sehr verdächtig auf Schwangerschaft, die 
Menses waren ausgeblieben, sie selbst, 
zum Teil auch die behandelnden Ärzte, 
nahmen Gravidität an. Aber nach der 
negativen Phloridzinprobe bewies der Ver¬ 
lauf bei allen 63, daß sie in Wirklichkeit 
nicht schwanger waren. Einige hatten 
regelmäßige Blutungen und es bestand 
Verdacht auf Abort; aber auch hierbei 
ergab die weitere Untersuchung, daß die 
negative Phloridzinprobe uns zu Recht 
bestimmt hatte, einen Abort auszu¬ 
schließen. Nach dem bisherigen Ergebnis 
unserer Prüfungen glauben wir also mit 
einer großen Wahrscheinlichkeit aus¬ 
sprechen zu dürfen, daß das Ausbleiben 
einer Glykosurie nach Injektion 
von 2,5 mg Phloridzin das Bestehen 
einer Schwangerschaft ausschließt. 

Weniger sicher ist die positive Probe 
zu •verwerten. Unter unseren 70 weib¬ 
lichen KontroIIpersonen haben sieben nach 
Injektion von 2,5 mg Phloridzin Glykos¬ 
urie gezeigt, ohne daß sich Schwanger¬ 
schaft bei ihnen nachweisen ließ. Einige 
konnten nicht genügend lange beobachtet 


werden, um die Schwangerschaft sicher 
ausschließen zu können, aber bei mehreren 
bewies der weitere Verlauf mit Bestimrht- 
heit, daß sie nicht schwanger waren. Bei 
der Mehrzahl dieser positiv reagierenden 
Nichtschwangeren trat die Zuckerreaktion 
erst nach 1—1% Stunden im Urin auf, 
während sie bei Schwangeren ausnahmslos 
prompt nach einer halben Stunde ein¬ 
trat. ^ Mehrere dieser nichtschwangereh 
Frauen wurden während der Menstruatian 
untersucht; es wäre weiter zu prüfen, ob 
der menstruelle Erregungszustand auf die 
Nieren in ähnlicher Weise wie die Gravi¬ 
dität gewisserniaßert glykotrop zu wirken 
vermag. Obwohl die geringe Zahl unserer 
bisherigen Untersuchungen eine prak¬ 
tische Verwertung noch nicht gestattet, 
möchten wir doch schließen, daß die 
Urinzuckerprobe nach intramuskulärer In¬ 
jektion von 2,5 ccm einer 0,1 %iger Phlo¬ 
ridzinlösung bei der Untersuchung auf 
.Schwangerschaft angestellt zu werden 
verdient Bleibt hiernach der Urin in den 
nächsten zwei Stunden zuckerfrei, so 
scheint der Schluß erlaubt, daß eine 
Schwangerschaft nicht besteht. Ist eine 
halbe Stunde nach der Phloridzininjektion 
die Zuckerprobe positiv, so ist eine hohe 
Wahrscheinlichkeit für Schwangerschaft 
vorhanderf; tritt die Zuckerreaktion erst 
nach einer Stunde auf, so ist sie nicht in 
positivem Sinn verwertbar. 

Es ist möglich, daß die weitere Herab¬ 
setzung der Phloridzindosis den positiven 
Ausfall der Zuckerprobe bei Nichtschwan¬ 
geren verhindern wird; aber es besteht 
dabei die Gefahr, daß sie gelegentlich 
auch bei Schwangeren negativ wird. Ohne 
uns zu präjudizieren, möchten wir vor¬ 
läufig im Gegensatz zu anderen biologi¬ 
schen Reaktionen bei der Phloridzin¬ 
diagnostik der Schwangerschaft nur dem 
negativen Ausfall der Probe entscheiden¬ 
den Wert beimessen. 


Aus der Universitäts-Frauenklinik in Königsberg i. Pr. 

(Direktor: Gek. Rat Prof. Dr. Winter). 

Die Grundlagen der künstlichen Schwangerschaftsunterbrechung^). 

Von Prof. Dr. Benthin. 


Es kann keinem Zweifel mehr unter¬ 
liegen, 'daß die Zahl der Schwanger¬ 
schaftsunterbrechung ständig zunimmt. 
Statistische Erhebungen an dem Material | 
unserer Klinik ergaben, daß wir gegen¬ 
über’-piner Abortfrequenz von 15—18% 
yo^demJKriege, nach dem Kriege eine 

f) Vortrag, gehalten auf der Nordostdeutschen 
öesel Isch af t f ür Gy näko iogi e, Da nzi g, 2 5. J uni 1921. 


solche von 30% zu verzeichnen hatten. 
Während die Abortfrequenz früher all¬ 
gemein nach Hegar 8—10% betrug, hat 
sie sich heute auf 20% verdoppelt. 
(Bumm 20%, Nürnberger 17,8%, 
Siegel 8—9%.) 

Ist auch der Hauptgrund für die 
sprunghafte Zunahme der Fehlgeburten 
zwanglos in dem Umsichgreifen derkrimi- 



September 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


325 


nellen Fruchtabtreibung in erster Linie 
zu suchen, so steht es* doch gleichfalls 
außer Diskussion, daß ärztlicherseits die 
Indikation zur Schwangerschaftsunter-, 
brechung nicht selten zu weit gestellt 
wird. 

Alan kann sich des Eindrucks nicht 
erwehren, daß durchaus nicht immer die 
Frage der Schwangerschaftsunterbrech¬ 
ung mit dem wünschenswerten, sittlichen 
Ernst behandelt wird, daß sogar zuweilen 
recht laxe Ansichten herrschen und in 
Einzelfällen direkt fahrlässig gehandelt 
Wird. Ein weiterer Grund dafür, daß in 
praxi häufiger ein Abortus arteficialis 
eingeleitet wird, liegt darin, daß die 
medizinische Indikation, die allein aus¬ 
schlaggebend sein kann, zugunsten ande¬ 
rer Momente, insbesondere sozialer Natur, 
in den Hintergrund gestellt wird. Neben 
einer mangelhaften Kenntnis des Ein¬ 
flusses der Gravidität auf beste|hende Er¬ 
krankungen ist es besonders die Über¬ 
wertung der Gefahren bei. Bestehenlassen 
der Schwangerschaft. Nur so findet die 
Tatsache ihre Erklärung, daß bei sorg¬ 
samer, klinischer Prüfung bei mehr als 
der Hälfte der Fälle die ärztlicherseits 
geforderte Unterbrechung von, uns abge¬ 
lehnt Werden mußte. (Von 78 zur Unter¬ 
brechung eingewiesenen Fällen aus den 
Jahren 1910—1915 wurde nur 42 mal = 
58% die Unterbrechung ausgeführt. Ähn¬ 
lich lauten übrigen^^ die Feststellungen 
V. Jaschkes, nach dem in 278 Fällen 
von 385 der Abortus arteficialis als un¬ 
begründet angesehen werden mußte. Tat¬ 
sächlich ist die Schwangerschaftsunter¬ 
brechung aus medizinischer Indikation 
verhältnismäßig selten nötig. Als Beweis 
dafür möchte ich erwähnen, daß an der 
Königsberger Klinik innerhalb von 23 
Jahren nur 210 Aborte eingeleitet wurden. 
Der Überschätzung der Gefahren durch 
Fortbestand der Schwangerschaft, des 
Nutzens durch eine Unterbrechung steht 
andererseits eine Unterschätzung der Ge¬ 
fahrlosigkeit eines solchen Eingriffs gegen¬ 
über. In Wirklichkeit ist der Nutzen der 
Schwangerschaftsunterbrechungnicht sel¬ 
ten nur ein scheinbarer. Die Schäden 
aber werden verkannt. Sie sind sicherlich 
in der Außenpraxis größer als in der 
Klinik. Ich habe das Material unserer 
Klinik darauf durcharbeiten lassen. Da¬ 
nach betrug die Gesamtsterbeziffer 7,14%, 
3,81% der Frauen starben an den Folgen 
des operativen Eingriffs. Erhebliche 
Verletzungen kamen in 3,81 % der Fälle 
vor. Übergroße Blutverluste wurden bei 


8,57% ■ mit 2,38% Todesfällen beob¬ 
achtet, 45,14% fieberten wenn auch 
meist nur einen Tag, In 6,1% traten 
Nacherkrankungen außerhalb der Gebär¬ 
mutter auf. Von den Fällen, bei denen 
eine Verschlimmerung des Grundleidens, 
auftrat, sehe ich dabei vollkommen ab. 
Das sind doch Zahlen, die bedenklich 
stimmen müssen. Um so mehr ist es 
notwendig Grundlagen zu schaffen und 
Richtlinien festzulegen. 

Wann ist nun die Indikation zur 
Schwangerschaftsunterbrechung gegeben 
und wann nicht? Für den Arzt besitzt 
auch heute noch der Leitsatz alleinige 
Gültigkeit, daß eine Unterbrechung nur 
dann berechtigt ist, wenn bei Fortbestehen 

^ der Schwangerschaft aller Voraussicht 
nach inoperable Schäden gesetzt werden 
bzw. durch kein anderes Mittel die Besse¬ 
rung eines Leidens zu erwarten steht. Im 
einzelnen kann es allerdings manchmal 
schwierig sein, den richtigen Weg zu 

I finden. 

! Verhältnismäßig einfach liegen die 
Dinge bei Erkrankungen des Eis und der 
Genitalorgane. 

Die Behandlung des Grundleidens bei 
Erkrankung der Genitalorgane (Lage¬ 
veränderungen, Entzündungen, Tumoren) 
ist in diesem Falle das gegebene. Nur bei 
fixiertem, incarcerierten, retroflektierten 
Uterus wird, wenn der abdominale Weg 
nicht mehr beschritten werden kann, 
die Unterbrechung nicht zü umgehen 
sein. Desgleichen wird man bei Carcinom 
des Uterus im Interesse der Mutter 
radikal vorzugehen haben. Ebenso kon¬ 
servativ wird man im allgemeinen bei 
Erkrankungen des Eis namentlich bei 
Blutungen verfahren können. Auch bei 
abgestorbener Frucht liegt zunächst kein 
Grund zum Eingreifen vor. Indiziert ist 
die künstliche Unterbrechung nur bei 
langdauernden Blutungen mit sekundärer 
Anämie (50% Haemoglobin), bei Placenta. 
prävia, Blasenmole und bei Foetus mor- 
tuus dann, wenn ärztliche Beobachtung 
unmöglich ist oder Intoxikationserschei- 
niingen auftreten. Bei akutem Hydram- 
nion ist die Unterbrechung selbstverständ¬ 
lich am Platze. 

Schwieriger schon ist die Indikations¬ 
stellung bei Leiden, die bei sonst ge¬ 
sundem Körper durch die Schwanger¬ 
schaft hervorgerufen werden, bei den 
Schwangerschaftstoxikosen. 

Bei der Eklampsie als der gefährlich¬ 
sten Komplikation haben sich die ge¬ 
wonnenen, konservativen, therapeutischeri 




226 \ 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


September 


Richllinien wohl allgemeine Geltung ver-, 
schafft, weil erfahrungsgemäß die in 
früheren Monaten auf tretende Eklampsie 
an und für sich eine relativ gute Prognose 
bietet und durch konservative Stroganoff- 
therapie gewöhnlich erfolgreich bekämpft 
wird. Nur in den seltenen schweren und 
■bei den atypischen Fällen, bei denen die 
Krämpfe fehlen, wird, ohne sich indessen 
großen Nutzen versprechen zu dürfen, 
eingegriffen werden müssen. Viel größeres 
praktisches Interesse erfordert die viel 
häufiger vorkommende Hyperemisis. Je¬ 
dem ist es eine geläufige Tatsache, daß 
in den jneisten Fällen, auch Wenn sie 
scheinbar schwer sind, oft schon durch 
Änderung der äußeren Lebensbedingun¬ 
gen z. B. allein durch Transferierung in 
eine andere Klinik, durch Klimawechsel, 
Aufstellung eines Ernährungsregims 
manchmal ein schlagartiger Umschwung 
zur fortschreitenden Besserung auftritt. 
Trotzdem aber gibt es, wenn auch sehr 
selten, Fälle, die, sobald nicht rechtzeitig 
eingegriffen, unter zunehmender Ver¬ 
schlechterung das Allgemeinbefinden und 
Auftreten von Intoxikationserscheinun¬ 
gen, Erhöhung des Pulses und der Tem¬ 
peratur, Albuminurie Ikterus, cerebrale 
Reizerscheinungen, zuweilen überraschend 
rasch tödlich enden. Bei Anzeichen von 
Intoxikation ist die Unterbrechung selbst¬ 
verständlich. Will man nicht kritiklose 
Prophylaxe treiben und andrerseits nicht 
zu spät eingreifen, so muß man zugeben, 
•daß es schwierig sein kann, den Zeitpunkt 
zur begründeten Unterbrechung richtig 
zu stellen. Tatsächlich folgen die aus¬ 
geprägten Intoxikationssymptome ein¬ 
ander gewöhnlich sehr rasch, wenn sie 
nicht gemeinsam auftreten. Soviel steht 
aber fest, daß bei erstem Auftreten der 
Albuminurie und des Ikterus, der ge¬ 
legentlich beobachtet wird, wegen der 
dann ernsten Prognose sofortiges, aktives 
Vorgehen geboten ist. Von vier Patienten 
•starben trotz Unterbrechung zwei. Man 
wird sich deshalb, will man nicht schaden, 
doch unter Umständen schon früher zur 
Unterbrechung entschließen müssen. Hier 
aber setzen die Schwierigkeiten der Be¬ 
urteilung ein, denn es hat sich gezeigt, 
daß auf die Erhöhung der Pulsfrequenz 
allein, ja selbst auf Temperatursteige¬ 
rungen allein, nicht allzuviel zu geben ist. 
Erweist sich aber bei Bestehen dieser 
Symptome die Hyperemesis trotz sorg¬ 
fältiger klinischer Behandlung als un¬ 
beeinflußbar, so glaube ich, daß be¬ 
sonders, wenn cerebrale Symptome hin¬ 


zutreten, mit der Unterbrechung nicht 
länger zu warten ist. Wichtig ist jedoch 
zu betonen, daß solche schweren Fälle 
doch zu den großen Seltenheiten gehören. 

Häufiger taucht die Frage der Schwan¬ 
gerschaftsunterbrechung auf bei Koinzi¬ 
denz der Schwangerschaft mit der Trias 
der wichtigsten Organerkrankungen; des 
IJerzens, der Lungen und der Nieren. 

So unerwünscht diese Komplikationen 
an sich sind, so verschieden sind sie er¬ 
fahrungsgemäß zu bewerten. Besonders 
trifft das zu für die namentlich von inter¬ 
nistischer Seite gefürchteten Herz¬ 
krankheiten. Kritische Durchsicht 
und Bearbeitung haben doch ergeben 
daß die Gesamtmortalität nur 2—4% be¬ 
trägt, daß die älteren Statistiken die 
Dinge viel zu schwarz sahen und daß es 
bei der Beurteilung der Frage, ob unter¬ 
brochen werden soll oder nicht, auf die 
Art der Erkrankung und vor allem auf 
die Leistungsfähigkeit des Herzens an¬ 
kommt. Stellt die Gravidität auch an das 
Herz große Anforderungen, so steht es 
doch fest, daß bei kompensiertem Herz¬ 
klappenfehler eine Unterbrechung ein 
Kunstfehler ist; selbst bei der ungünstigen 
Mitralstenose kann bei Fernhaltung aller 
Schädlichkeiten die Schwangerschaft ohne 
Gefahr für die Mutter zu Ende gehen. 
Anders liegen die Dinge bei herabgesetzter 
Leistungsfähigkeit des Herzens bezie¬ 
hungsweise des Herzmuskels, bei vor¬ 
handener Dekompensation. Sind bereits 
lebensbedrohliche Erscheinungen (Lun- 
genoedem, Nephritis) vorhanden, so ist 
jedes zu lange Warten natürlich schädlich, 
ln den leichteren Fällen aber ist, wenn es 
sich nicht um eine Herzmuskelerkrankung 
selbst handelt, ein konservatives Verhalten 
nicht nur gestattet, sondern geboten. 
Die interne Herztherapie ist das zunächst 
Gegebene. Erst bei ihrem Versagen ist 
bei erneutem Auftreten von Dekompen¬ 
sationsstörungen der Abortus artificialis 
am Platze. 

Fast noch verantwortungsvoller ist 
die Indikationsstellung bei der Tuber¬ 
kulose. Fest steht, daß eine Tuberkulose 
der Lunge durch eine Gravidität sich 
verschlimmern kann und daß umgekehrt 
die Fortnahme des Eis nicht selten 
einen günstigen Einfluß ausübt, derart, 
daß selbst bei vorgeschrittener Gravidität 
durch die künstliche Frühgeburt wenig¬ 
stens beim ersten Turbanstadium noch in 
66 ^ 3 % Besserung erzielt werden kann. 
Und doch wäre es unstatthaft, generell 
ciie Unterbrechung zu befürworten, schon 





September 


Die Therapie der Gegenwart 1921' 


32T 


deswegen, weil die Aussichten, auf Besse¬ 
rung von der Schwere und Ausdehnung 
der Erkrankung und von dem Zeitpunkte, 
wann unterbrochen wird, abhängig ist.» 
Bei einer progredienten Lungentuber¬ 
kulose, wie übrigens auch bei Kehlkopf¬ 
tuberkulose darf freilich nicht gezögert 
werden. Nur in hoffnungslosen Fällen 
wird man von einer Unterbrechung Ab¬ 
stand nehmen, weil durch einen Eingriff 
mehr geschadet als genutzt wird. Kon¬ 
servativ aber hat man sich in allen jenen . 
Fällen zu verhalten, bei denen eine 
latente Tuberkulose vorliegt. Die Be¬ 
rechtigung ergibt sich aus der Fest¬ 
stellung, daß. bei den Frauen, bei denen 
wegen Tuberculosis latens die Unter¬ 
brechung von uns abgelehnt wurde, durch 
das weitere Bestehen der Schwanger¬ 
schaft keine Verschlechterung konstatiert 
wurde und daß durch die Geburt oder 
Wochenbett nur selten und dann niemals 
-eine dauernde Schädigung eintrat. 
Schwieriger sind die Fälle von manifester 
Tuberkulose zu beurteilen, wenn eine 
Progredienz nicht erwiesen ist. Denn 
auch bei manifester Tuberkulose ist ein 
ungünstiger Einfluß doch nur in der 
Hälfte der Fälle zu erwarten. Hier kann 
nur die klinische Beobachtung unter 
internistischer Kontrolle den Zweifel, ob 
«in leichter oder schwerer Fall vorliegt, 
beheben. Wichtig ist, daß weder der 
positive Bacillenbefund noch eine Ge¬ 
wichtsabnahme noch ein kurzer Tempe¬ 
raturanstieg, selbst nicht ein Haemoptoe 
allein die Unterbrechung indiziert. Die 
Pflicht zu unterbrechen haben wir nur 
dann, wenn starker Gewichtssturz bei 
■gleichzeitigem, schlechten Allgemeinzu¬ 
stand, hereditärer Belastung auftritt oder 
liohes Fieber beziehungsweise Jang¬ 
dauernde subfebrile Temperaturen be¬ 
obachtet werden. Ist eine Progredienz 
des Prozesses nicht anzunehmen, so wird 
man unter sorgfältiger Beobachtung, be¬ 
sonders wenn Schonung oder gar Heil¬ 
stättenbehandlung möglich ist, ohne 
Schaden abwarten. 

Eine planmäßige Indikationsstellung 
ist auch bei den Nierenerkrankungen 
in der Schwangerschaft notwendig. Wir 
wissen, daß die Eiweißausscheidung an 
sich sehr häufig ist und nach Zange¬ 
meister bis zu 79% noch als physiolo¬ 
gisch anzusehen ist. Es wird deshalb 
darauf ankommen zu differenzieren, ob 
es sich lediglich um eine durch die Gra¬ 
vidität bedingte auf toxischer Basis ent¬ 
standene, sogenannte Nephropathie han¬ 


delt oder um eine akute oder chronische 
Nierenentzündung. Daß zu einer chroni¬ 
schen Entzündungauch noch ein Schwan¬ 
gerschaftsalbuminurie oder auch eine 
akute Nephritis sich aufpfropfen kann, 
kompliziert die Diagnose allerdings, aber 
solche Fälle sind doch sporadisch zu 
finden. Freilich ist auch ohnehin die 
Differentialdiagnose zwischen diesen pro¬ 
gnostisch ganz verschieden zu bewerten¬ 
den Krankheitsbildern nicht immer leicht. 
Jedoch schützen genaue Anamnese, rich¬ 
tige Einschätzung des objektiven Be¬ 
findens und nicht zu vergessen eine ge- 
nüegnde Beobachtung meist vor Irr-, 
tümern. Ist für die Nephropathie das 
späte Auftreten von hohem Eiweißgehalt 
in der Gravidität mit granulierten und 
hyalinen Cylindern und das relativ früh¬ 
zeitige Auftreten cerebraler Symptome 
(Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, 
Augenflimmern) von Wichtigkeit, so fin¬ 
den sich bei der echten Nephritis haupt¬ 
sächlich Epitheleylinder. Bei der akuten 
sieht man häufig rote Blutkörperchen, 
Bei der chronischen Nephritis geben 
wiederum der hohe Blutdruck, der relativ 
geringe Eiweißgehalt, die nicht selten 
vorhandene Herzhypertrophie auffällige 
Hinweise. Die weitere Grundlage für 
die Indikationsstellung ist von der ver¬ 
schiedenen prognostischen Wertigkeit ab- \ 
hängig. Nach den bisherigen Erfahrungen 
kann es keinem Zweifel unterliegen, daß 
die an Nephropathie Erkrankten nahezu 
stets völlig-gesunden. Komplikationen 
ernster Art können nur auftreten in 
Form der Eklampsie, die aber nur in 8% 
der Fälle und dann meist leicht in die 
Erscheinung tritt, durch Blutungen in¬ 
folge vorzeitigen Placentabruchs, durch 
Augenstörungen, die aber auch, wenn es 
sich' allein um eine Amaurose handelt 
und Augenhintergrundsveränderungen 
fehlen, restlos abheilen. Nur die fort¬ 
schreitende Retinitis albuminurica bei 
voraussichtlich langer Dauer bis zur 
Niederkunft und vor allem die Ablatio 
retinae erfordern sofortiges Eingreifen, 
sonst aber wird man entsprechend den 
günstigen Erfahrungen mit der internen 
Therapie ruhig abwarten können. Gleich 
konservatives Verhalten erfordert die 
akute Nephritis, die leaiglich mit internen 
Mitteln anzugreifen ist. Anders liegen die 
'Dinge bei der chronischen Nephritis, 
weil in der Schwangerschaft eine Ver¬ 
schlechterung eintreten kann und Urämie, 
Apoplexie, Komplikationen von Seiten 
des Herzens gelegentlich irreparable 




328 Die TtierapieMer 


Schäden setzen können. Zu betonen ist 
jedoch, daß durch Schonung und richtige 
Behandlung auch hierbei dauernde Schä¬ 
den verhütet werden können, so daß eine 
prophylaktische Unterbrechung auch bei 
dieser Krankheit unberechtigt .ist. Un¬ 
umgänglich notwendig ist die Unter¬ 
brechung bei Exacerbation der Erkran¬ 
kung in früheren Graviditätsmonaten, bei 
dekompensiertem Nierenherz, Urämie 
Retinitis und trotz Behandlung steigender 
Oedeme. 

Klarer ist der Weg bei der Pyelitis 
vorgezeichnet, weil diese Erkrankung 
unter sachgemäßer Behandlung oft schon 
in der Gravidität abklingt. Selten liögt 
eine vitale Indikation zum Eingreifen 
bei zunehmender Verschlechterung des 
Allgemeinzustandes und bei Nierenab- 
scessen, wenn ein chirurgisches Eingreifen 
nicht mehr möglich ist, vor. 

Kürzer kann ich mich bei den Stoff¬ 
wechselerkrankungen, bei Störungen der 
inneren Sekretion, bei den Leber- und 
Blutkrankheiten fassen, weil die An¬ 
sichten sich hier meist schon seit langem 
gefestigt haben. 

Die guten Resultate mit der Thy- 
reoidectomie bei der Struma geben uns 
an die Hand, daß die chirurgische Thera¬ 
pie zur Bekämpfung auftretender Stö¬ 
rungen das Verfahren der Wahl ist, ein 
Verfahren, das übrigens auch bei dem 
Basedow in Frage kommt, sobald die 
innere Therapie versagt hat, und gefahr¬ 
drohende Erscheinungen von Seiten des 
Herzens (hochgradige Erregungszustände, 
Entkräftigung, Dyspnoe) vorhanden sind. 
Eine Unterbrechung wäre nur dann indi¬ 
ziert, wenn ein chirurgischer Eingriff als 
zu gefährlich abgelehnt wird. 

Besondere Vorsicht erheischt dagegen 
der Diabetes, weil doch die Gefahr des 
Comas häufiger in als außerhalb der 
Gravidität vorliegt. Die weitere Tat¬ 
sache aber, daß ein Coma doch nur aus¬ 
nahmsweise auftritt, und dann auch stets 
Vorboten die Gefahr rechtzeitig anzeigen, 
gestattet auch bei Diabetes abzuwarten, 
um so mehr, als durch strikte diätische 
Behandlung die Erkrankung erfolgreich 
bekämpft werden kann. Der springende 
Punkt liegt darin, die Vorboten eines 
Comas rechtzeitig zu erkennen. Ohne zu 
schaden wird man erst dann unter¬ 
brechen, wenn trotz Diät der Zucker¬ 
gehalt steigt, Acidosis oder gar eine 
steigende Albuminurie auftritt. 

Bei der so seltenen Tetanie ist bei 
Versagen der interneh Behandlung, Häu- 


Gegenwart 1921 September 


füng und Schwererwerden- der Anfälle 
das aktive Verfahren nicht zu umgeheuv. 

* Dagegen verlangt die Osteomalacia 
eine Unterbrechung nie, da in schweren 
Fällen allein die Kastration als Heil¬ 
faktor in Betracht kommt. 

Auch,bei den Lebererkrankungen 
ist die Indikationsstellung' verhältnis¬ 
mäßig einfach, wenn erst die Genese des 
Ikterus geklärt ist. Die Fälle von Chole- 
lithiasis,accidentellen und katarrhalischen 
Ikterus scheiden aus. Geboten ist die 
Unterbrechung nur bei der akuten, gelben 
Leberatrophie. 

Nahezu unverändert sind die An¬ 
schauungen bei den Blutkrankheiten 
geblieben, insofern es sich erneut gezeigt 
hat, das sowohl bei der Leukämie wie bei 
der perniziösen Anämie die Unter¬ 
brechung stets vorgenommen werden muß. 

Als letzte Gruppe der Erkrankungen 
sind noch die Erkrankungen des Nerven¬ 
systems und der Psyche zu besprechen. 
Die Forderung, bei der Frage der Schwan¬ 
gerschaftsunterbrechung jedesmal einen 
Spezialisten hinzuzuziehen, ist natürlich 
hierbei besondere Notwendigkeit. All¬ 
gemein haben die Studien der führenden 
Psychiater ergeben, daß eine Unter¬ 
brechung auch bei diesen Erkrankungen 
selten vorzunehmen ist, um so mehr, als.^ 
die Unterbrechung durchaus nicht immer 
den erwünschten Umschwung zur Besse¬ 
runggewährleistet und andererseits durch 
den Fortbestand der Gravidität zumeist 
nicht eine ungünstige Beeinflussung zu 
konstatieren ist. Bei der Epilepsie 
beobachtet man allerdings zuweilen eine 
Häufung der Anfälle durch die Gravidität. 
Für gerechtfertigt erscheint jedoch eine 
Unterbrechung nur bei starker Vermeh¬ 
rung der Anfälle, bei zunehmenden psychi¬ 
schen Störungen und allerdings ohne 
Verzug bei dem gefährlichen Status epi- 
lepticus. Auch bei der Chorea haben 
sich die früheren Anschauungen über 
den Nutzen der Schwangerschaftsunter¬ 
brechung, die auch in dieser Beziehung 
kein Allheilmittel darstellt, geändert. Un¬ 
umstößliche Richtlinien lassen sich nicht 
aufstellen. Sicher ist nur, daß bei der 
Chorea acutissima alles umsonst ist und 
andererseits nur die schweren, rezidivie¬ 
renden Fälle mit gleichzeitig einher¬ 
gehender Psychose und komplizierenden 
Organerkrankungen. (Herz, Nieren) Ein¬ 
griffe notwendig machen. Desgleichen 
ist auch bei der Polyneuritis nur in den 
schwersten Fällen bei erheblicher Be- 





September 


' fi 

Die Therapie der. Gegenwart 1921 


329, 


teiligung des Nervus opticus eine Unter¬ 
brechung erlaubt. 

■ Bei den Psychosen kommt die Fort- 
nahme des Eies nur in Frage bei den 
schweren Depressionszuständen. 

Dieser Standpunkt gilt auch für die 
Dementia praecox, bei der Kon¬ 
zessionen im Sinne dner Unterbrechung 
lediglich bei Auftreten neuer Schübe zu 
machen sind. 

Sind damit in kurzen Zügen die 
'Grundlagen für die Unterbrechung aus 
medizinischer Indikation gegeben, so fragt 
es sich, ob noch andere Indikationen dem 
Arzt zu einer Schwangerschaftsunter¬ 
brechung die Berechtigung geben.. 

Die Mehrzahl der Ärzte hat sich in¬ 
zwischen dazu bekannt, daß es für den 
Arzt andere Indikationen als die medizi¬ 
nischen nicht geben darf, wenn nicht die 
Ethik des ärztlichen Standes Schaden 
nehmen soll. In vollejr Erkenntnis der 
vielfach vorhandenen äußeren Not der 
Frauenwelt ist trotzdem die Anerkennung 
einer sozialen Indikation zur Schwanger¬ 
schaftsunterbrechung eine Unmöglich¬ 
keit. Es würde zu weit führen, hier alle 
Gegengründe anzuführen; Tatsache ist 
jedenfalls, daß der Willkür Tür und Tor 
geöffnet würden, um so mehr, als wir 
Ärzte gar nicht in der Lage sind, den 
wirtschaftlichen Notstand zu beurteilen, 
daß der Frauenwelt nur damit geschadet 
würde und daß ein Raubbau am Volks¬ 
körper inauguriert Würde, . den unser 
ohnehin geschwächter Volkskörper be¬ 
sonders heutzutage sich nicht gestatten 
kann. 

In der ausgiebigen Diskussion, die 
sich an mein in Köln auf dem bevöl¬ 
kerungspolitischen Kongreß gehaltenes 
Referat über den Schutz des keimenden 
Lebens anschloß, ist es denn auch — von 
Einigen parteipolitisch engagierten Un¬ 


entwegten abgesehen — zum Ausdruck . 
gekommen, daß die soziale Indikation 
als einziger Grund für die Einleitung eines 
Abortes doch abzulehnen sei, weil es einen 
einwandfreien Weg, ihr zum Siege zu ver¬ 
helfen, nicht gibt. Selbstverständlich 
wird man als Arzt den sozialen Verhält¬ 
nissen Rechnung tragen, aber nur dann, 
wenn eine Erkrankung ohnehin vorliegt 
und Zweifel bestehen, ob auf Grund der 
eben erörterten Richtlinien eine Unter¬ 
brechung vorzunehmen ist oder nicht. 

Noch einmütiger kam man^an gleicher 
Stelle zur Ablehnung der eugenischen 
Indikation, der vorläufig noch größten¬ 
teils die. volle Wissenschaftliche Unter¬ 
lage fehlt. Selbst Vorkämpfer der Euge¬ 
nik, wie z. B. Hirsch, geben zu, daß 
diese Indikation noch nicht reif wäre, 
anerkannt zu werden. 

Und schließlich die Notzuchtsindika¬ 
tion. Unsere Erfahrungen, die wir nach 
den Russeneinfällen sammeln konnten, 
erhärteten die schon oft ausgesprochene 
Ansicht, daß Empfängnis aus Notzucht 
zu den Seltenheiten gehört. Ob Notzucht 
vorliegt oder nicht, hat der Richter zu 
entscheiden! 

Dies sind in großen Zügen die Grund¬ 
lagen, die die Königsberger Klinik unter 
Verwerturig der Literatur, gestützt auf 
reichliche Erfahrung, bei kritischer Beur¬ 
teilung, gewonnen hat. Weiterarbeiten 
und Modellieren ist naturgemäß not- 
. wendig. Trotz Strebens nach möglichster 
Klarheit verbietet sich ein Schematisieren. 
Die Wirklichkeit stellt stets neue Pro¬ 
bleme. Der individuellen Behandlung 
bleibt noch weiter Spielraum. Sie ist 
sogar bei genügender Selbstkritik un¬ 
bedingtes Erfordernis, sie darf aber nicht 
dazu führen, daß ärztliche Ethik Schiff¬ 
bruch erleidet. Nihil nocere — aber 
semper lege artis! • 


Über das Erythroltetranitrat in der Behandlung 
der Coronarsklerose und mancher Formen von Hypertonie. 

Von Prof. Dr. W. Zinn”und Dr. K. Liepelt in Berlin. 


Langjährige günstige Erfahrungen mit 
dem Erythroltetranitrat veranlassen uns, 
dieses Medikament, das in der allgemeinen 
Praxis noch Wenig eingeführt ist, für die 
Behandlung der Angina pectoris und bei 
manchen Hypertonien an dieser Stelle zu 
empfehlen. Wir haben seit mehr als zehn 
Jahren.das E. teils in gemeinsamer Tätig¬ 
keit, teils jeder von uns an Kranken der 
eigenen Beobachtung in ausgedehntem 
Maße angewandt. Das E. lernte der eine 


von uns (Z.) kennen, als sein Lehrer Karl 
Gerhardt von seiner Ehrenpromotion in 
Edinburg das Präparat im Jahre 1898 
nach Berlin mitbrachte. Es konnten 
leider nur Wenige Versuche Wegen der 
geringen Menge des Mittels gemacht 
werden. Das E. Wurde damals nur in 
England hergestellt und war wegen seiner 
Explosionsgefährlichkeit schwer zu be¬ 
schaffen und zu verarbeiten. 

In der deutschen Literatur wird das 


42 




330 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


September 


E. unseres Wissens zum ersten Male von 
Ortner 1911 besprochen und auf Grund 
zahlreicher guter Erfahrungen bei Coro- 
narsklerose warm empfohlen. Es ver¬ 
mochte in manchen Fällen einen steno- 
kardischen Anfall zu unterdrücken, be¬ 
sonders hat es sich als Prophylacticum 
gegen neu wiederkehrende anginöse An¬ 
fälle bewährt. Wir haben auf diese An¬ 
regung hin das E. wieder aufgenommen 
und sind in einer umfangreichen Er¬ 
fahrung an mehreren hundert Kranken 
(es sind mehr als 500) in den letzten zehn 
Jahren zu günstigen Ergebnissen gelangt, 
die hier kurz mitgeteilt seien. 

In der neueren Literatur der Herz¬ 
krankheiten findet das E. bei mehreren 
Autoren in Lehrbüchern und Aufsätzen 
bereits die entsprechende Erwähnung, so 
in der eben erschienenen Neuauflage 
des bekannten Rombergschen Werkes, 
in dem Aufsatz von Edens: Die medika¬ 
mentöse Behandlung der Kreislauf¬ 
schwäche und an anderen Orten. Trotz¬ 
dem ist das Mittel noch wenig gewürdigt 
und hat in der Praxis noch nicht die Be¬ 
deutung erlangt, die es verdient. Ins¬ 
besondere fehlen Berichte über jahrelange 
Erfahrungen. 

Zunächst einige Worte über die che¬ 
mischen und pharmakologischen Eigen¬ 
schaften des Mittels. Wir verdanken diese 
Angaben der Firma Merck in Darmstadt, 
die unsere Wünsche, zu einer brauchbaren 
und bequemen Dosierung zu gelangen, 
stets gefördert hat. 

Das Erythrolum tetranitricum (Ery- 
throltetranitrat QHß [0 . NOg] 4 ) ist das 
Nitrierungsprodiikt des vieratomigen Al¬ 
kohols Erythrit, der sich als solcher in 
einer Algenart Protococcus vulgaris findet 
und ferner auch bei Zersetzung des Ery¬ 
thrins entsteht, das in manchen Flechten, 
besonders in Rocellaarten vorkommt. 
Das Erythroltetranitrat bildet große, in 
kaltem Wasser unlösliche, in Alkohol 
leicht lösliche, bei 61 schmelzende 
Kristallblätter, die, ähnlich dem Nitro- 
glyceiin, durch Stoß und rasches Er¬ 
hitzen explodieren. 

Nach den Untersuchungen von J. B. 
Bradbury gehört das E. zu der Klasse 
der gefäßerweiternden Mittel, aus der das 
Amylnitrit und das Nitroglycerin schon 
lange in größerem Maßstabe praktisch 
verwertet werden. Wie diese beiden Prä¬ 
parate wird das E. bei Angina pectoris, 
Asthma cardiale und verwandten Zu¬ 
ständen verordnet. Bradbury gibt das 
Mittel in der Dosis von 4 ccm einer alko¬ 


holischen Lösung"(1 : 60) vier- bis,sechs¬ 
stündlich in einem kleinen Weinglas voll 
Wasser. Die explosive Eigenschaft des 
E. erfordert bei "der Dispensation die 
größte Vorsicht Die Firma Burroughs, 
Wellcome and Co. und die Firma Thurner 
in London fertigten deshalb Tabletten zu 
je .0,03 der Substanz mit etwas Schoko¬ 
ladenmasse gemengt an. 

Bradbury empfahl das E. an Stelle 
der gebräuchlichen Nitrite besonders des¬ 
halb, weilseine gefäßerweiternde Wirkung,, 
wiewohl weniger energisch eintretendV 
doch weit länger andauert als beim Nitro¬ 
glycerin, Amylnitrit und anderen Nitriten. 

G. Oliver sah die gefäßerweiternde 
Wirkung des Nitroglycerins schon nach 
15 Minuten —nach unseren Erfahrungen 
meist schon nach fünf Minuten — ein- 
treten. Während sich ein gleicher Effekt 
bei 0,06 E. erst nach 30 Minuten zeigte. 
Indessen besteht dessen Wirkung nach 
einer Stunde noch fort, wenn die Nitro- 
glycerinwirkung bereits völlig erloschen 
ist, und hält bis zu 3% Stunden, ja noch 
länger, in der gleichen Höhe an. Ähnlich 
äußert sich A. Bruntoh. Bradbury 
berichtet über einen Fall von Angina 
pectoris bei einem 75 jährigen Greise, bei 
dem das E., in sechsstündigen Pausen und 
den Dosen von je 0,06 genommen, an¬ 
dauerndes Wohlbefinden sowie Aus¬ 
bleiben der Anfälle bewirkte, während 
Nitroglycerin dieselben nicht zu bannen 
vermochte.. Bradbury betont, daß er 
das E. nicht empfohlen habe, um das 
Amylnitrit und Nitroglycerin in einem 
bereits bestehenden Anfalle von Angina 
pectoris zu ersetzen, sondern daß das neue 
Mittel sich vorzugsweise dazu eigne, das 
Eintreten der Anfälle zu verhüten. 

Simon und C. Schmidt haben bei 
Adams-Stokesscher Krankheit Dosen von 
0,0015 g Atropin, sulfur. neben E. mit 
Erfolg verabreicht. Es zeigte sich sehr 
bald eine Abnahme der Schwindel- und 
Ohnmachtsanfälle und die Patienten wur¬ 
den wieder arbeitsfähig. Das E. für sich, 
allein brachte den geschilderten Effekt 
nicht zustande. Denn bei alleiniger Ver¬ 
wendung des E. kehrten die Krankheits¬ 
symptome wieder. 

Bei unseren eigenen Beobachtungen 
zeigte sich bald, daß die Dosierung der 
englischen Literatur für unsere Fälle meist 
zu hoch war. Wir verwandten deshalb 
zunächst Pillen in^ der Einzelgabe von* 
0,005 g. Doch machte die Explosiv¬ 
gefahr des E. große Schwierigkeit in der 
Pillendispensierung in den Apotheken. 





September 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


33J 


Wir begrüßten es daher als einen großen 
Fortschritt für die praktische Einführung 
des Mittels, als unter den bekannten 
M.B.K.-Compretten (Merck, Boehringer, 
Knoll) auch gebrauchsfertige E.-Tabletten 
in den Handel kamen. 

Das Hauptindikationsgebiet des E. 
sind nach unseren Erfahrungen gleichfalls 
die oft sehr quälenden Beschwerden der 
Coronarsklerose außerhalb der eigent¬ 
lichen stenokardischen Anfälle. Viele 
dieser Kranken haben eine große Zahl 
von sehr lästigen, oft dauernden Be¬ 
schwerden, die mit großer Mannigfaltig¬ 
keit in den Einzelheiten geklagt werden 
und bei jedem Patienten eine individuelle 
Note haben. Wir erwähnen nur einzelne 
der bekannten Beschwerden: mehr oder 
weniger starker Druck und Schmerz in 
der Gegend der Brustbeins, des Herzens, 
schmerzhafte Ausstrahlungen in die Arme, 
besonders den linken, in den Leib, Steige¬ 
rung bei der geringsten Anstrengung 
körperlicher und geistiger Natur, Angst, 
vermehrte vasomotorische Erregbarkeit 
usw. 

Im stenokardischen Anfall selbst war 
in unseren zahlreichen Versuchen das 
Nitroglycerin dem E. überlegen. Die 
Wirkung des Nitroglycerins zeigt sich 
hier am schnellsten bei der mehrfach emp¬ 
fohlenen Anwendung der alkoholischen 
Lösung (am besten auf Zucker), die schnell 
zur Resorption und nach Wenigen Minuten 
zur nachweisbaren deutlichen Wirkung 
kommt: entweder von der 1% alkoholi¬ 
schen Lösung zwei- bis viermal zwei bis 
zehn Tropfen oder in der besonders ge¬ 
eigneten Form nach Ros in Nitroglycerin 
0,02, Spiritus vini 20,0, davon zehn 
Tropfen = % mg ein- bis viermal auf 
leeren Magen. Die Dauer der Nitrq- 
glycerinwirkung beträgt etwa eine Stunde. 

Die Wirkung des E. tritt bei dem 
üblichen Einnehmen in Tabletten lang¬ 
samer ein, in etwa einer halben bis einer 
Stunde. Die.Wirkung ist dafür Wesent¬ 
lich nachhaltiger und erstreckt sich über 
mehrere Stunden hin. Dadurch ist man 
leicht in der Lage, durch eine täglich etwa 
dreimal Wiederholte Dosis eine lange an¬ 
dauernde Wirkung zu erzielen. Die Nitrit¬ 
wirkung äußert sich in Gefäßerweiterung 
mit Blutdrucksenkung und Pulsbeschleu¬ 
nigung und zeigt sich beim E. oft sehr 
deutlich, ln günstigen Fällen geht dieses 
Verhalten aus der Beobachtung und den 
Angaben der Kranken klar hervor. Wird 
die Dosis zu hoch gewählt, so ist die Er¬ 
weiterung der sichtbaren Gefäße, be¬ 


sonders des Kopfes, Weicherwerden und 
Beschleunigung des Pulses leicht erkenn¬ 
bar, und von dem Patienten wird ein leb¬ 
haftes Gefühl von Hitze, Unbehagen im' 
Kopfe, vermehrtes Klopfen der Gefäße 
angegeben. Daraus geht hervor, daß auch. 
die übrigen Nitritwirkungen, nämlich die 
Erweiterung nicht nur der Haut-, sondern, 
auch der Kranz-, Hirn- und Darm gef äße 
zustande kommt. Dieser Einfluß auf das- 
Gefäßsystem ist nach Fijehne die Folge 
der Reizung der Vasomotorenzentren und 
Wohl auch ein peripherer direkt auf die 
Gefäßwände (siehe bei Poulsson, Lehr¬ 
buch der Pharmakologie "s.“ 188). Über¬ 
große Gaben wirken auf das Herz wie 
auf die allgemeine Muskulatur lähmend 
(Edens). 

Die zweite Hauptgruppe für die An¬ 
wendung des E. sin.d diejenigen Fälle, bei 
Welchen stärkere Symptome der Hyper¬ 
tonie bestehen. Die dauernd vermehrte 
Gefäßspannung bedingt häufig erhebliche 
Beschwerden wieKopfdruck,Kopfschmerz, 
Schwindel (Gefahr der Apoplexie), Herz¬ 
beschwerden, Reizbarkeit und andere. In. 
der Verminderung der Tension wird natür¬ 
lich nur ein Symptom bekämpft. Es ist 
selbstverständlich, daß bei diesen Fällen, 
eingehend die Ursache (Adipositas, Al¬ 
kohol-, Nikotinabusus, geistige Über¬ 
anstrengung, Nierensklerose, allgemeine 
Angiosklerose usw.) für die Aufstellung: 
des therapeutischen Planes berücksichtigt 
werden muß. Die diätetische, hydrothera- 
peutischeunddie Schonungsbehandlungist 
zuerst genau zu regeln. Danach fragt sich,, 
ob und welche medikamentöse Therapie 
zur Herabsetzung des abnorm hohen Blut¬ 
drucks für den einzelnen Fall angezeigt 
ist. Neben Diuretin, Jod, Papaverin,, 
Kalksalzen kommt hier das E. zu seinem 
Recht. Wir richten uns für seine Ver¬ 
ordnung mehr nach den subjektiven Be¬ 
schwerden der Kranken als nach der Höhe 
des Blutdruckes. Selbst höherer Blut¬ 
druck (180 und mehr mm Hg Riva-Rocci) 
Wird von manchen Kranken jahrelang 
ohne wesentliche Klagen ertragen. Wäh¬ 
rend andere schon bei niedrigerem Drucke 
(160—170 mm Hg) unter den oben ge¬ 
nannten Symptomen sehr leiden. Diese 
Dinge sind bekanntlich abhängig von der 
Ausbreitung und der Intensität der Ar¬ 
terienveränderungen. Bei der ausge¬ 
sprochenen Nierensklerose, bei aer die 
Hypertonie mit ein Kompensations¬ 
vorgang sein kann, kommt die medika¬ 
mentöse Herabsetzung des hohen Blut¬ 
druckes kaum in Frage, erfordert jeden- 

42» 



332 


September 


♦ Die Therapie der Gegenwart 1921 


falls besondere Vorsicht. Wir wollen 
dabei die Streitfrage, ob die dauernde 
beträchtliche Hypertonie ohne Erkrankung 
des Nierengefäße oder nur bei einer 
solchen (Romberg) vorkommt, hier 
außer acht lassen. 

Auf das E. reagieren naturgemäß am 
günstigsten die Fälle von Hypertonie, bei 
denen ein erhöhter Gefäßspasmus noch 
ohne schwere anatomische Veränderungen, 
besonders Starre, der Arterien besteht. 
Hier kann das Mittel seine-^pharmako- 
logische Wirkung, Erweiterung der Ge¬ 
fäße, Herabsetzung der Tension, am besten 
entfalten. Der therapeutische Erfolg oder 
Mißerfolg kann in solchen Fällen die 
klinische Diagnose, die im Anfang die 
Unterscheidung eines funktionellen Ge¬ 
fäßspasmus von einer dauernden Hyper¬ 
tonie durch allgemeine Angiosklerose nicht 
immer gestattet, direkt fördern. - 

Welche Stellung man auch zu der 
komplizierten theoretischen Frage der 
Hypertonie einnehmen mag, die Not¬ 
wendigkeit ihrer medikamentösen Be¬ 
handlung (im Rahmen der übrigen Thera¬ 
pie) ergibt sich in nicht wenigen Fällen 
mit den geschilderten Beschwerden für 
den Praktiker als notwendig. 

Viele unserer Kranken, bei denen sich 
das E. bewährte, zeigten irrt Verlaufe der 
Behandlung eine Herabsetzung des Blut¬ 
drucks von verschieden langer Dauer. 
Leitend für die Beurteilung des Erfolges 
waren ferner für uns die Angaben einer 
deutlichen Besserung von seiten der 
Kranken, die ganz überwiegend in ambu¬ 
lanter Behandlung standen. 

Wir verordnen das E. in Form der 
M.B.K.-Compretten, und zwar 25 Com¬ 
pretten je 0,005 in Originalpackung (Preis 
zur Zeit 3,50 M.). Dieses Präparat ist 
durch die bei der Comprettenpressung 
benutzte Grundmasse nach der Mitteilung 
der Firma Merck frei von jeder Explosions¬ 
gefahr, so daß es sich weder durch Druck, 
Schlag oder Stoß noch selbst beim Halten 
in die offene Flamme entzündet. 

Wir geben dreimal täglich eineXom- 
prette, mit einem Schluck Wasser vor 
dem Essen zu nehmen. In den günstigen 
Fällen zeigt sich die Wirkung meist vom 
zweiten bis dritten Tage an und wird von 
den Kranken, namentlich denen mit 
Stenokardie, oft sehr anschaulich ge¬ 
schildert. Wir verzichten wegen Raum¬ 
ersparnis auf dieWiedergabe von Kranken¬ 
geschichten. 

Wir verfügen über eine sehr große 
Zahl von Beobachtungen von Coronar- 


sklerose und Hypertonie im Alter von 
40 bis 75 Jahren. Die beruflichen Ver¬ 
hältnisse der großen Stadt bringen es mit 
ihren großen Anstrengungen mit sich, 
daß die' Schädigung des Gefäßsystems, 
auch in relativ jüngeren Jahren, hier so 
häufig ist. 

Notwendig ist der lange fortgesetzte 
und wiederholte Gebrauch des E. über 
Monate und eventuell Jahre hin. Die erste 
Periode der E.-Verordnung dauert meist 
drei Wochen, sie wird mit kurzen Pausen 
von je 8—14 Tagen monatelang wieder¬ 
holt, je nachdem sich ein Erfolg zeigt. 

BeiAdams-StokesscherKrankheitkann 
gelegentlich die Kombination von E. mit 
Atropin nach Simon und Schmidt ver¬ 
sucht werden. 

Wir haben von der vorgeschlagenen 
Dosierung (drei- bis viermal 0,005 täglich) 
die besten Erfolge gesehen. Ein indivi¬ 
duelles Vorgehen ist aber bei dem vielge¬ 
staltigen Krankheitsbilde der Coronar- 
sklerose und der Hypertonie unerläßlich. 
Dosierung, Zeit der Einnahme des Mittels, 
Dauer der Anwendung muß je nach Be¬ 
darf geändert werden. Es empfiehlt sich 
auch nicht, die Behandlung zu schnell 
abzubrechen, da der Erfolg zuweilen erst 
gegen Ende der ersten Woche einsetzt. 
Wo er vorhanden ist, gibt der Kranke 
die Wendung zum Besseren nach oft qual¬ 
vollen, lange bestehenden Beschwerden 
meist sehr charakteristisch an. 

Neben den 0,005 Compretten sind die 
stärkeren Compretten zu 0,03 im Handel. 
Die beiden Dosierungen ermöglichen einen 
weiten Spielraum für ihre Anwendung. 
Die hohe Dosierung der englischen Ärzte 
(0,03 bis 0,07 g) widerraten wir, möchten 
sie jedenfalls nur für einzelne Fälle zu- 
[ lassen. Wir sahen nach den größeren 
Gaben von über 0,03 mehrmals fast regel¬ 
mäßig erhebliche, sehr lange anhaltende 
Gefäßerweiterung und allgemeine Er¬ 
regung verbunden mit starken Beschwer¬ 
den, die recht unangenehm und gelegent¬ 
lich nicht gefahrlos erschienen. Die gleiche 
Erfahrung’erwähnt Ortner. Die Gründe 
der Differenz in der Dosierung zwischen 
den englischen Ärzten und uns konnten 
Wir nicht aufklären. Jedenfalls zeigt das 
M.B.K.-Präparat die besten Wirkungen 
in weit geringerer Dosis als das englische. 

Manche Patienten sind schon gegen 
die Tagesdosis von dreimal 5 mg emp¬ 
findlich und klagen über Kopfschmerz 
und Gefäßklopfen. In den Fällen, die auf 
dreimal 5 mg nicht reagieren, nehme man 



September Die Therapie der Gegenwart 1921 333- 


die Steigerung der Dosis nur langsam vor. 
Jede Verwendung eines differenten Medi¬ 
kaments erfordert einige Übung/und Er¬ 
fahrung. . DicN richtige Individualisierung 
ist ärztliche Kunst. 

Selbstverständlich ist das E. auch 
nicht in jedem Falle wirksam,'eine Anzahl 
von Kranken verhält sich refraktär. Daß 
das ganze Regime jedes Patienten genau 
geregelt werden muß, wurde bereits be¬ 
tont. 

Wir haben das E. auch bei Verenge¬ 
rungen der Splanchnicusgefäße (Dys- 
pragia intermittens Ortner) hin und wieder 
mit Nutzen, bei der Dysbasia angiosclero- 
tica intermittens dagegen in der Regel 
ohne Erfolg gegeben. 


Ganz vorwiegend sind die Beschwerden¬ 
der Coronarsklerose und mancher Fälle 
von Hypertonie das Anwendungsgebiet 
des E. , • ! 

Literatur: 1. Ortner, Circulationskrank- 
heiten. IL Medikam. u. physik. Ther. d. Arterio¬ 
sklerose. (Jahreskurse f. ärztl. Fortbild. 1911, 
H. 2, S. 46; J. F. Lehmanns Verlag, München.) — 

2. Romber.g, Lehrbuch der Krankheiten des 
Herzens und der Blutgefäße. (Stuttgart 1921.) — 

3. Edens, Die medikam. Beh. d. .Kreislauf¬ 
schwäche. (Zbl. f. Herz- u. Gefäßkrankh. 1920^ 
H. 17 bis 19). — 4. J. B. Bradbury (Brit. m. 
Journ. 1895, Nr. 1820),— 5. G. Oliver (Brit. m. 
Journ. 1896, I., S. 1375).—6. A. Brunton (Brit. 
m. Journ. 1897, Nr. 1892, S. 851). — 7. Brad¬ 
bury (Brit. m. Journ. 1897, Nr. 1893, S. 907). — 
8. Simon u. E. Schmidt (Bull. med. 1905,. 
Nr. 18, S. 205). — 9. Rosin, Der gegenwärtige 
klin. Stand d. Herz- ’u. Gefäßlues (D. m. W. 1920, 
Nr. 40, S. 1116):— 10. Edens, a. a. O. 


Die physiologische Herzmassage. 

Von Dr. Johannes Haedicke, 

Besitzer und leitender Arzt des* Sanatoriums Kurpark in Oberschreiberhau. 


Der Fall der Krankenpflegerin Minna 
Braun, die am 28. Oktober 1919 in 
selbstmörderischer Absicht Morphium und 
Veronal eingenommen hatte, bewußtlos 
mit nur noch schwachen Lebenszeichen 
im GruneWald aufgefunden, von einem 
Arzt eingehend untersucht, lege artis ge¬ 
setzlich für tot erklärt und eingesargt, 
dann aber, als der Sarg polizeilich zurFest- 
stellung ihrer Persönlichkeit geöffnet 
Wurde, atmend vorgefunden^ in ein Kran¬ 
kenhaus gebracht und dort völlig wieder¬ 
belebt worden war, hat dem im Volke trotz 
aller Beschwichtigungsversuche zäh fest¬ 
gehaltenen Glauben an den Scheintod 
und der Furcht, lebendig begraben zu 
werden, eine gewisse Unterstützung ver¬ 
liehen. 

Es ist daher unverständlich, wenn 
gerade mit Bezug auf diesen Fall Professor 
Dr. C. Harfi) führenden Zeit¬ 

schrift von neuem versucht, Scheintod 
und Wiederbelebung zu leugnen: ,,Indem 
man zugeben mußte, daß noch nach dem 
gesetzlichen Tode des Individuums deut¬ 
liche Lebenserscheinungen an den einzel¬ 
nen Körperteilen und Organen sich nach- 
weisen lassen, kam man sogar bei diesen 
rein wissenschaftlichen Betrachtungen 
dazu, von einem Scheintode zu sprechen. 
Es gebe eben vom letzten Herzschlag und 
Atemzuge bis zum völligen Erlöschen aller 
Lebensvorgänge im Körper einen Zu¬ 
stand, in dem das Individuum weder be- 

^) Die Zeichen des unzweifelhaft eingetretenen 
Todes. Zschr. f. ärztl. Fortbild. Nr. 22 v. 15. No¬ 
vember 1919, S. 633. 


stimmt dem Leben noch dem Tode an¬ 
gehöre. Aber mit Recht hat Jo res diese 
Vorstellung abgelehnt, weil das Wort 
,Scheintbd‘ mit der Möglichkeit der Wie¬ 
derbelebung rechne, die in Wahrheit nicht 
mehr, vorhanden ist. Vielmehr sei mit 
dem ' Aufhören der Atmung und dem 
Stillstände des Herzens der allmähliche 
Eintritt auch desjenigen Zustandes un¬ 
abwendbar, den man bei dem Erlöschen 
aller Lebensfunktionen sämtlicher Ele- 
meiltarbestandteile des Organismus wis¬ 
senschaftlich als Tod bezeichnen, müsse. 

Wie solche Bekundungen mit der medi¬ 
zinischen Wissenschaft vereinbar sind, 
nachdem durch Erfahrung und zahlreiche 
Versuche einwandfrei festgestellt worden 
ist, daß Scheintod und eigenmächtige 
Wiederbelebung (Autobiosis) bei Pflanzen 
und Tieren bis hinauf zu den Wirbeltieren 
eine weitverbreitete Erscheinung sind, 
die auch beim Menschen nicht nur nichts 
Wunderbares und Unmögliches ist, son¬ 
dern, wie auch der Fall Braun beweist, 
auch wirklich vorkommt, muß dem Urteil 
der Akademiker überlassen bleiben. Für 
den praktischen Arzt sind sie jedenfalls 
völlig wertlos; denn dieser muß die be¬ 
stimmte und verantwortliche Entschei¬ 
dung treffen, ob Tod oder Scheintod vor¬ 
liegt, und er ist nicht in der bequemen 
Lage, aus rein theoretischen Spekula¬ 
tionen den Scheintod einfach leugnen zu 
können. Vielmehr ergibt sich für ihn die 
Pflicht, dem Wesen des Scheintodes una 
der Wiederbelebung auf den Grund zu 
genen, damit künftig das Lebendigbe- 





334 


Die Therapie der G^enwart 192J 


Septettiber 


graben nur Scheintoter mit voller|Sicher- 
heit vermieden wird. 

Für die bisher physiologisch weder er¬ 
klärte noch auch verständliche Tatsache, 
daß ein ,,scheintoter“ Mensch, dessen 
„Gemeinleben“ infolge des Erlöschens 
von Bewußtsein, Atmung, Herztätigkeit 
und ..Blutkreislauf völlig urtterbrochen, 
aber infolge Erhaltung der Lebensfähig¬ 
keit seiner lebenswichtigen Zellen wieder 
herstellbar ist, durch die ,,künstliche At¬ 
mung“ wieder zu vollem Leben erweckt 
werden kann, habe ich an anderer Stelle^) 
als die bisher übersehene mechanische 
Grundlage nachgewiesen, daß das Blut 
auch noch auf eine andere Weise in Fluß 
gebracht werden kann,’ als allein durch 
die Zusammenziehungen des Herzens. 

Der Atmungsmechanismus, der in dem 
•Zusammenwirken von Zwerchfell und 
Brustkorb besteht, und für den ich die 
Bezeichnung „Brustpumpe“ vorgeschla¬ 
gen habe^) in Anlehnung an denAüsdruck 
„Bauchpresse“ für das Zusammenwirken 
von Zwerchfell und Bauchwand, besitzt 
nicht nur entsprechend der heutigen An¬ 
schauung für das Herz und aen Blutkreis¬ 
lauf die Bedeutung eines mechanischen 
Hilfsmittels, sondern er wirkt auch un¬ 
abhängig vom Herzen bewegend auf das 
Blut ein und erzeugt einen regelmäßigen 
Blutkreislauf zwischen Herz und Lungen, 
der unabhängig ist von der Herztätigkeit. 
Dieser selbständige „Atmungsblutkreis¬ 
lauf durch die Lungen“ begleitet jeden 
Atemzug das ganze Leben hindurch vom 
ersten Schrei des Säuglings bis zum 
letzten Seufzer des Greises, und bei 
fehlender Herztätigkeit bildet er die 
mechanische Grundlage für die Wieder¬ 
belebung durch die künstliche Atmung. 

Diese vollzieht sich demnach so, daß 
zuerst das Blut zwischen Lungen und 
Herz Wieder in Bewegung gesetzt wird, 
das sich in den Lungen von der über¬ 
schüssigen Kohlensäure reinigt und 
frischen Sauerstoff aufnimmt, den es dem 
Herzen zuführt. Dadurch wird das Herz 
wiederbelebt, und erst an dritter Stelle 
folgt nach Wiederbelebung des Atem¬ 
zentrums im Gehirn durch das Blut die 
Wiederherstellung der selbständigen At¬ 
mung. 

2) Haedicke, Über Scheintod, Leben und 
Tod. Ein Beitrag zur Lehre vom Leben und 
von der Wiederbelebung. Verlag von Hans 
Pusch, Berlin 1921. 

2) Haedicke, Über die Bedeutung der „Brust- 
pumpe'‘ für Atmung und Blutkreislauf. Fortschr. 
d. M., Nr, 3 vom 15. Februar 1921. 


Bisher teilt man umgekehrt die An¬ 
sicht von 'E§marchs, daß zuerst die 
Atmung\und dann erst Herztätigkeit und 
Blutumlauf zurückgerufen ^werden könn¬ 
ten und müßten: ,,Die erste und dringend¬ 
ste Aufgabe ist es, die Atmung Wieder- 
herzusteilen; erst wenn dies gelungen ist, 
darf man den Blutkreislaufund die Wärme 
des Körpers zurückzurufen suchen., sonst 
gefährdet man den Erfolg“^). 

. Zu diesem Zwecke werden mechanische 
Reize empfohlen. So schreibt von Es- 
march^): „Um die Herztätigkeit wieder^ 
herzustellen, stellt man sich so an die 
rechte Seite des Scheintoten, daß man 
ihm das Gesicht zukehrt, und führt mit 
dem Daumenballen der rechten Hand 
möglichst kräftige und schnelle Schläge 
gegen die Herzgegend aus (Herzmassage 
nach Maß).“ — Rühlemann®) emp¬ 
fiehlt zu demselben Zweck: „Wenn der 
Scheintote zu atmen beginnt, ist durch 
Reiben des Körpers und durch Schlagen 
der Herzgegend mit einem feuchten zu¬ 
sammengedrehten Tuche der Blutkreis¬ 
lauf anzuregen“. — Blume’^) hält eben¬ 
falls ,,zur Anregung des Blutkieislaufes 
Schlagen der Herzgegend mit einem 
nassen, zusammengelegten Taschen- oder 
Handtuche“ für wirksam. 

Diese genannten Mittel sind Wohl 
bestenfalls dazu geeignet, einen noch be¬ 
stehenden Blutkreislauf durch Reizung 
des Herzens zu fördern oder einzelne Zu¬ 
sammenziehungen des noch reizfähigen 
Herzens auszulösen, aber niemals ver¬ 
mögen sie einen schon erloschenen Blut¬ 
kreislauf bei einem infolge Sauerstoff¬ 
mangels erstickten Herzen ,,ziirückzu- 
rufen“. 

In der ,,künstlichen Atmung“ da- * 
gegen besitzen wir ein Mittel, das nicht 
nur als künstliche Luftpumpe für die 
Lungen, sondern auch als künstliche 
Blutpumpe für Herz und Lungen, sowie 
drittens als physiologische Herzmassage 
wirkt. Denn das Herz wird dadurch auf 
physiologischem Wege zu seiner physio¬ 
logischen Tätigkeit angeregt, und außer¬ 
dem durch Zuführung von Nahrung und 
Sauerstoff gekräftigt und wieder zur selb¬ 
ständigen Tätigkeit befähigt. 

'*)von Esmarch, Die erste Hilfe bei plötz¬ 
lichen Unglücksfällen. Leipzig 1906, S. 69. 

s) Ebenda, S, 73. 

®) Ruhlemann, Unterrichtsbuch für Sa¬ 
nitätskolonnen vom Roten Kreuz. Dresden 1913, 
S. 187. 

Blume, Der Samariter. Karlsruhe 1912, 

S. 42. 



September . Dfe Therapie der Oegenwart 1921 < 335 


Diese physiologische Herzmassage, 
'durch künstliche Betätigung der Brust¬ 
pumpe ist den bisher geübten Verfahren 
grundsätzlich überlegen. Denn sowohl 
der elektrische Strom als auch mecha¬ 
nische Erschütterungen der Brust wie 
Eingriffe am Herzen selbst mit oder ohne 
Eröffnung der Bauch- oder Brusthöhle 
lassen sich erfolgreich anwenden nur 
bei einem auf diese Weise noch reizbaren 
Herzen und regen nur die Zusammen¬ 
ziehung des Herzmuskels selber an. 

Dagegen kaiin nach C. Ludwig die 
erloschene Reizbarkeit des Herzens wie- : 
<i€fhergestellt werden durch Zuführung 
sauerstoffhaltigen Blutes. Sogar der 
Sauerstoff der Luft wirkt in demselben 
Sinne, denn nach Landois wird ein | 
Herz, das in einem sauerstoffreien Medium 
wie Wasserdampf oder im Vakuum zu 
schlagen aufgehört hat, in sauerstoffhal¬ 
tiger Luft aufs neue zu Bewegungen än- 
geregt. 

Abgesehen davon, daß diese mecha¬ 
nischen Reize die Nerven und Muskeln 
des Herzens auch zur Unzeit treffen, z. B. 
erfolglos Während aer refraktären Phase 
oder vor Eintritt der normalen Systole, 
und dadurch die Herztätigkeit stören und 
das Herzgewebe schädigen können, bleibt 
diese Art der Herzmassage ohne unmittel¬ 
baren Einfluß auf die eben so wichtige 
Entfaltung und Füllung der Herzhöhlen 
durch das Einsaugen neuen Blutes. — 
Die physiologische Herzmassage dagegen 
erleichtert bei noch schlagendem Herzen 
sowohl die Entleerung besonders des 
rechten Herzens inv.die Lungen als auch 
seine Füllung durch unmittelbares An¬ 
saugen von Blut aus den Hohladern und 
den der Brust benachbarten Körper¬ 
te ilen/. 

Beim Scheintoten ohne Atmung und 
Blutkreislauf müssen die mechanische 
und die physikalische Herzmassage des¬ 
wegen völlig versagen, weil sie von dem 
an Sauerstoffmangel.erstickten und wegen 
des unterbrochenen Blutstromes auch 
nicht mehr ernährten Herzen eine Arbeit 
verlangen, zu der dies gar nicht mehr 
fähig ist. — Die physiologische Herz¬ 
massage dagegen setzt das Blut unmittel- 
L)ar in Bewegung und versorgt dadurch 
das Herz soWohT mit Nahrung als auch 
mit frischem Sauerstoff, so daß es sich 
erholen kann, sofern dies noch mög- 
Jich ist. 

Die physiologische Herzmassage kann 
aber nur dann Erfolg haben, wenn 


1. nur die Gefahr der Erstickung in¬ 
folge Mangels an Sauerstoff vorliegt, 

2. die Zuführung frischer, sauerstoff¬ 
haltiger Luft bis in die Lungenbläs¬ 
chen möglich ist, 

3. die Luft durch die Wandungen der 
Lungenbläschen und der Haargefäße 
ausreichend mit dem Blut in Be¬ 
ziehung treten kann, 

4. die roten Blutkörperchen den Sauer- 

' Stoff sowohl ausreichend aüfnehmen 

als ihn auch an die Gewebe des 
Körpers wieder abgeben, 

5 . das Herz noch belebungsfähig ist und 
durch seine Tätigkeit das Blut wieder 
dauernd in Umlauf bringen kann, 

6. in den Blutgefäßen kein wesentliches 
Hindernis für den Kreislauf besteht, 

7. das Atemzentrum und,andere lebens¬ 
wichtige Gewebe nicht bereits zer¬ 
stört sind, 

8. die Ausführung möglich und für den 
Kranken nicht schädlich ist. 

Ist von diesen Voraussetzungen auch 
nur eine nicht erfüllt, dann mag man noch 
soviel Luft und Blut in die Lungen zu 
purhpen versuchen — es ist umsonst. 

Systematische Atemübungen werden 
selbständig oder als Teil der ,,schwedi¬ 
schen Massage“ bereits vielfach ange¬ 
wendet und sind in Deutschland besonders 
durch Gerte 1 in die Behandlung der 
Herz- und Kreislaufstörungen eingeführt 
worden. Zu diesen bekannten und be¬ 
währten Verfahren tritt die physiologische 
Herzmassage nicht in Gegensatz, sondern 
enthält und ergänzt sie in akuten Fällen 
bedrohlicher Herzschwäche und Herzstö¬ 
rungen, wo sie allein noch helfen kann, 
wofern Hilfe überhaupt noch möglich ist. 

Die physiologische Herzmassage dient 
nicht nur zur Übung eines noch leistungs¬ 
fähigen Herzens, sondern sie unterstützt 
in erster Linie das versagende Herz; sie 
ist wie die ,,künstliche Atmung“ eine 
Hilfeleistung zur Rettung des unmittelbar 
bedrohten Lebens. Deshalb muß sie mehr 
als jedes andere Mittel zugleich wirksam 
und gefahrlos sein. Aus diesem Grunde 
tritt sie in bewußtem Gegensatz zu den¬ 
jenigen gymnastischen Atmungsübungen, 
die vornehmlich mit einer Vertiefung der 
Einatmung verbunden sind. Bei tiefen 
Einatmungen wird durch den sich schnell 
verstärkenden negativen Druck im 
Brustfellraüm das Blut stärker in die 
Brusthöhle aus der oberen und besonders 
unteren Hohlader eingesaugt und da- 



33Ö \ Dk Therapie der 


durch allerdings die Bewegung des Blutes 
gefördert^ sö daß tiefe Einatmungen sehr 
wohl geeignet sind, Störungen, der Blut¬ 
bewegung im großen Körperkreislauf 
gßnstig zu beeinflussen. Aber die Steige¬ 
rung des negativen Druckes wirkt, wie 
vielfach übersehen wird, gleichzeitig auf 
das Herz im entgegengesetzten Sinne ein, 
indem sie das Blut in der rechten Herz¬ 
hälfte wie auch in den Lungen festhält, 
deren Entleerung vermindert und die 
Zusammenziehung der Herzwandungen 
hemmt. Das Herz wird durch Vertiefung 
und Verlängerung der Einatmung ge¬ 
zwungen, verstärkte passive Widerstands¬ 
bewegungen' auszuführen, die zwar ein 
ausreichend leistungsfähiges Herz üben 
und kräftigen können, aber bei einem 
erschöpften und versagenden Herzen eine 
unnötige und schädliche Mehrarbeit be¬ 
deuten und bei diesem daher unbedingt 
vermieden werden müssen. 

Damit erledigt sich unter anderem das 
Verfahren der künstlichen Atmung von 
Brosch—Meyer—Loewy, bei dem die 
physiologischen 16 Atemzüge in der Minute 
von etwa 500 ccm ersetzt werden durch 
nur sechs bis acht künstliche Atemzüge 
von je 2—3000 ccm Luftgehalt. ^ 

Für das kranke und schwache Herz 
trifft in erhöhtem Grade zu, was nach 
Landois^) für das gesunde gilt: „Die 
Stellung des Brustkorbes in mittlerer 
Lage, wobei der elastische Zug der Lungen 
nur mittlere Stärke hat, nämlich 7,5 mm 
Quecksilber (Donders), liefert für die 
Herzaktion somit die günstigsten Ver¬ 
hältnisse: einerseits hinreichende diasto¬ 
lische Ausdehnung der Herzhöhlen sowie 
andererseits unbehinderte Entleerung der¬ 
selben bei der Systole.“ 

Wir müssen uns daher auch bei der 
physiologischen Herzmassage an die 
physiologische Mittellage halten und, 
wenn eine Steigerung der Atemgröße 
angezeigt und möglich erscheint, diese. 
Wie auch Herz empfiehlt, vornehmlich 
durch Vertiefung der Ausatmung be¬ 
wirken, weil dabei keine gefährlichen 
Druckverhältnisse für das Herz entstehen. 

Aus diesen Erwägungen ergibt sich 
folgende einfache Vorschrift für die Aus¬ 
führung der physiologischen Herzmassage: 

1. Der Brustkorb des liegenden Kranken 
wird durch Erheben der Arme seit¬ 
lich des Kopfes und Verschränkung 
der Unterarme oberhalb des Kopfes 


s) Lehrb. d. Phys. 1900. 10. Aufl., S. 121. 


Gegen^rt 1921 ' September 


in dauernde Silvestersche Einat¬ 
mungsläge gebracht. 

2. Dann legt man die Hände so auf die 
mittleren Rippen, etwa die fünften 
bis neunten feppenpaare, daß die 
Endglieder der Daumen in der Höhe 
des Schwertfortsatzes den Rippen¬ 
knorpeln auf liegen, während die ge¬ 
spreizten Finger nach schräg abwärts 
möglichst viele Rippen umfassen,, 
und die Daumenbällen und Hand¬ 
wurzeln dicht an den Rippenbogen 
heranreichen. 

3. Alsdann drückt man die Rippen in 
der Richtung^auf die Wirbelsäule 
beiderseits kräftig, aber elastisch zu 
sammen (Ausatmung, Entleerung des 
rechten Herzens und der Lungen). 

4. Ohne Kunstpause läßt man darauf 
mit dem Druck etwas langsamer 
nach, bis die Rippen ihre Anfangs¬ 
lage wieder erreicht haben. Die unter 

, Entspannung der Armmuskeln leicht 
gelüfteten Hände des Arztes ver¬ 
bleiben in Berührung mit der Brust 
des Kranken (Einatmung, Füllung 
des i;echten Herzens und der Lungen).. 

5. Dieses elastische abwechselnde Zu¬ 
sammendrücken der Rippen wird 
entsprechend der Atmung des Kran¬ 
ken etwa 20—30 Mal in der Minute 
wiederholt. 

Die physiologische Herzmassage kann 
auch sehr bequem und Wirksam mittels 
des „Atmungsgürtels“ als eines jederzeit 
und überall leicht herzustellenden Ersatzes 
für den Roßbachschen Atmungsstuhf 
nach der in meiner Schrift über Scheintod 
und Wiederbelebung angegebenen Vor¬ 
schrift ausgeführt werden. 

Diese physiologische Herzmassage nach 
unserer Vorschrift durch abwechselndes 
Zusammendrücken und Freigeben der 
mittleren Rippen in Einatmungslage be¬ 
sitzt eine gewisse Ähnlichkeit mit der 
Herzmassage nach Oertel. Aber dieser 
verstärkt in Ausatmungslage lediglich 
die selbständige Ausatmung und erzielt 
daher eine gute Wirkung nur bei erhal¬ 
tener kräftiger Atmung, vveniger bei 
schwacher und gar nicht bei fehlender des 
Scheintoten. Die physiologische Herzmas¬ 
sage dagegen stützt sich vor allem auf 
eine kräftige Einatmung und erstrebt 
neben der guten Entleerung des Herzens 
und der Lunge auch eine bessere Neufül¬ 
lung derselben mit Blut und Luft. Der 
Druck auf die Rippen hat vornehmlich 
den Zweck, den Druck- und Raumunter- 




September 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


337 


schied Zwischen Ein- und Ausatmung 
herzüstellen und zu vergrößern; zugleich 
wirkt er mechanisch anregend auf den 
Herzmuskel und als Reiz auf das Gehirn. 
Die physiologische Herzmassage ist daher 
wirksam sowohl beim Lebenden als auch 
beim Scheintoten. 

Die beim Lebenden erhaltene Atmung 
Lann bei gewöhnlicher Beschaffenheit 
der Lunge, der Leber und des Magens 
auch dazu benutzt werden, um die Atem¬ 
größe etwas zu steigern. 

Die ersten hundert Kubikzentimeter 
Ergänzungsluft beeinträchtigen noch eben¬ 
sowenig die Arbeit des Herzens wie die 
ersten hundert Kubikzentimeter Reserve¬ 
luft die Leber gefährden. Man kann daher 
unbedenklich mit Hilfe der eigenen At- • 
miing des Kranken und eines mäßigen, 
sich der Ausatmung anschließenden Druk- 
kes auf die Rippen außer den 500 ccm 
Atmungsluft noch je 250 ccm Ergänzungs- 
luftund Reserveluft wechseln,und so durch 
die physiologische Herzmassage einen 
Luftwechsel von 20—^30 x 1000 ccm oder 
20—30 Minutenlitern und damit eine 
ausgiebige Lüftung der Lungen und des 
Blutes sowie eine kräftige Unterstützung 
der Herztätigkeit und des Blutkreislaufes' 
erzielen. 

Infolgedessen genügt es, die physiolo¬ 
gische Herzmassage immer nur etwa 
1—2 Minuten lang auszuführen und dann 
eine Pause einzuschieben, währenü der 
man den Kranken sorgfältig beobachten 
muß. In dieser Weise ist so lange fortzu¬ 
fahren, bis sich der Zustand des Kranken 
entweder gebessert hat oder sich als aus¬ 
sichtslos erweist. 

Wenn der Kranke unwillkürlich in¬ 
folge Überladung seines Blutes mit Koh¬ 
lensäure die Einatmung verfielt und 
selbst kräftig einatmet, kann man auf die 
Silve st ersehe Einatmungslage verzich¬ 
ten und durch den Rippendruck lediglich 
die Ausatmung vertiefen, um Herz und 
Lungen besser zu entleeren und den Blut¬ 
umlauf zu beschleunigen. Man fordert 
alsdann den Kranken auf, auch selbst 
kräftig auszuatmen. Dadurch wird seine 
Aufmerksamkeit von den subjektiven 
Beschwerden und Empfindungen abge¬ 
lenkt sowie eine leichtere und ergiebigere 
Ausatm.ung und Entleerung des Herzens 
erreicht als allein durch den passiven 
Druck auf die Rippen. Als günstige Fol¬ 
gen machen sich, sofern eine Hilfe über¬ 
haupt noch möglich ist, allmählich eine 
Besserung des Blutumlaufes, Förderung 


des Blutgaswechsels, Verminderung der 
Cyanose, Linderung der Atemnot und 
Milderung der für das Herz so Verhängnis-' 
vollen tiefen Einatmungen sowie Erleich¬ 
terung des Auswurfes bemerkbar. 

Ist aber die selbständige Atmung des 
Kranken nur flach und matt, dann darf 
auf die dauernde Einatmungsstellung der 
Brust nicht verzichtet werden. Denn das 
Wesentliche der physiologischen Herzmas¬ 
sage wie der künstlichen Atmung besteht 
nicht nur in einer mechanischen Einwir¬ 
kung auf den Herzmuskel, aucn nicht nur 
in der Entleerung des Herzblutes in die 
großen Gefäße durch Verengerung des 
Brustraumes bei der Ausatmung, sondern 
vor allem in aer Ansaugung von Blut in 
Herz und Lungen durch die Einatmungs¬ 
bewegung Lina in der Entleerung des 
Lungenblutes in das linkt Herz durch die 
Ausatmungsbewegung des Brustkastens, 
also in def Verstärkung bzw. Erzeugung 
des ,,Atmungs-Blutkreislaufes“. 

Wenn man entsprechend aer Atemnot 
des Kranken den Druck auf die Rippen 
etwa 30 mal in der Minute ausführt, so 
bewirkt man eine sechzigmalige Förde¬ 
rung der Blutbewegung und der Herz¬ 
tätigkeit. Denn bei den 30 Einatmungen 
wird Hauptsächlich die Füllung des rech¬ 
ten Herzens und durch Ansaugung seines 
Inhaltes auch die der Lungen erleichtert, 
während bei den 30 Ausatmungen die 
Entleerung aller Herzhöhlen und die Fül¬ 
lung des linken Herzens durch Entleerung 
des^ Lungenblutes in den linken Vorhof 
begünstigt wird. 

So ersetzt die physiologische Herzmas¬ 
sage beim Scheintoten die Atmung und 
die Herztätigkeit; beim Lebenden fördert 
sie unter Mitwirkung dessen eigener At¬ 
mung den Gasaustausch zwischen Lun¬ 
genblut und Lungenluft, ferner die Ent¬ 
leerung und Füllung des rechten Herzens 
wie der Lungen mit Blut, drittens die 
Blutbewegung im Herzen, im kleinen 
Lungenkreislauf und in den großen Ge¬ 
fäßen nahe dem Herzen, vieitens den Zu¬ 
fluß von Lymphe und ChyLis in die Brust¬ 
höhle und zum Herzen, insgesamt also 
den Säftestrom im ganzen Körper. 

Die physiologische Herzmassage ist da¬ 
her angezeigt sowohl bei der erloschenen 
Herztätigkeit und Blutbewegung des 
Scheintoten als auch bei Herzschwäche 
und Verlangsamung des Blutkreislaufes 
infolge unzureichender Lüftung des Blu¬ 
tes. Diese Zustände vermag sie unter 
günstigen Umständen zu beseitigen. Bei 

43 





338 


I 


Die Therapie der Gegenwart 1921 , 


September 


Herzschwäche aus anderen Ursachen kann 
die physiologische Herzmassage wohl vor¬ 
übergehend kräftigend und regelnd, aber 
nicht heilend wirken. 

Die physiologische Herzmassage ver¬ 
spricht aber nur dann Erfolg, ohne selbst 
zu schaden, wenn im wesentlichen eine 
Beeinträchtigung nur der Herztätigkeit 
vorliegt ohne wesentliche Veränderungen 
der Lungen oder anderer lebenswichtiger 
Organe. ^Ansammlung von Luft oder 
Flüssigkeit im Brustfellraum schließt im 
allgemeinen ebenso Wie Lungenentzün¬ 
dung ihre erfolgreiche Anwendung aus. 
Würde sie bei Entzündung oder Ver¬ 
dichtung der unteren Lungenlappen aus¬ 
geführt, dann droht ebenso eine tödliche 
Zerreißung der Lunge wie eine Quet¬ 
schung der Leber bei in Salzwasser Er- 
tiunkenen. 

Dagegen bildet das Lungenödem kein 
Hindernis, sondern vielmehr eine drin¬ 
gende Anzeige für ihre Anwendung, wenn 
es die Folge zunehmender Herzschwäche 
ist und den Kranken daher ebenso un¬ 
mittelbar mit dem Tode bedroht wie das 
Lungenwasser den in Salzwasser Ertrun¬ 
kenen. Die physiologische Herzmassage 
kann daher auch bei beginnendem Lun¬ 
genödem das Leben retten, wenn es in 
der gewonnenen Zeit gelingt, das ver¬ 
sagende Herz wieder leistungsfähig zu 
machen, wobei auch andere, chemische 
wie physikalische Mittel zu benutzen 
sind. 

Die physiologische Herzmassage er¬ 
laubt also dem Arzt, die Anzeigen für 
Rettungs- und Wiederbelebungsversuche 
zu erweitern. Lassen sich erstickte Ver¬ 
unglückte und ertrunkene Neugeborene 
wieder beleben, dann ist dies auch bei 
Kranken nicht völlig ausgeschlossen, de¬ 
ren Herz lediglich wegen mangelhafter 
Blutlüftung schließlich versagt, Während 
das Atemzentrum und andere lebens¬ 
wichtige Gebiete noch nicht unwider¬ 
ruflich zerstört sind. 

Hufelandberichtetnach vanEyssel- 
steijn^) von einem Mädchen, das 
nach einer Schädelverletzung 45 Minuten 
lang scheintot war und doch noch durch 
Elektrizität dem Leben wiedergegeben 

*) Die Methoden der künstlichen Atmung. 
Berlin 1912. Springer. 


wurde. Kuliabko^®) gelang es, das Herz: 
eines vierjährigen an Lungenentzündung: 
verstorbenen Kindes nach 20 Stunden 
völlig zu beleben (Tigerstedt). H. E. 
Hering hat das Herz eines 35 Jahre 
alten, an Dementia paralytica gestorbenen 
Mannes 11 Stunden nach dem Tode wie¬ 
derbelebt und 3 %: Stunden hindurch den 
Herzschlag beobachtet. Böhm^^) hat 
„Katzen, deren Atmung und Herzschlag 
durch Erstickung oder Vergiftung durch 
Kalisalze oder Chloroform bereits 40 Mi¬ 
nuten völlig aufgehört hatten, und bei 
denen der Druck der Carotis auf Null ge¬ 
sunken war, durch rhythmische Kom¬ 
pression des Herzens in Verbindung mit 
künstlicher Respiration wiederbelebt.“ 
Der Arzt sollte daher nicht nur bei 
Unglücksfällen, sondern auch bei Schlag¬ 
anfällen, Schädelverletzungen, Gehirner¬ 
schütterungen, Shock nicht minder als 
bei Verblutungen (hierbei in Verbindung 
mit Kochsalz-Eingießungen) die physio¬ 
logische Herzmassage ernstlich versuchen^ 
Auch beim plötzlichen Versagen eines 
kranken oder bisher anscheinend ge¬ 
sunden Herzens („Herzschlag“) ist ein Er¬ 
folg nach den guten Erfahrungen mit der 
mechanischen und physikalischen Herz¬ 
massage bei gewissen Herzleiden nicht 
mit Sicherheit auszuschließen. 

Bei der Behandlung von Herzleiden 
und besonders der Kreislaufschwäche ist 
die physiologische Herzmassage in Form 
systematischer Atemübungen mit mäßiger 
Vertiefung der Ein- und Ausatmung ein 
physiologisches, sehr einfaches und wirk¬ 
sames Hilfsmittel zur Entlastung und 
Kräftigung des Herzens, zur Regelung der 
Herztätigkeit, zur Förderung des Blutkreis¬ 
laufes und zur Milderung der subjektiven 
Beschwerden, insbesondere der teilweise 
psychogenen Atemnot Sie läßt sich in 
dieser bekannten und bewährten Form^ 
nicht nnr von dem Facharzt, sondern 
auch von jedem praktischen Arzt und 
sogar von dem Kranken selbst nach ärzt¬ 
licher Anleitung und Anordnung jederzeit 
und überall, auf Spaziergängen bei Terrain¬ 
kuren wie im Bett, leicht ausführen und 
verdient daher, in allen geeigneten Fällen 
angewendet zu werden. 

C. Hirsch in Penzold-Stintzing, Hand¬ 
buch der Therapie. Jena 1910. Fischer. 4. Aufl. 
Bd. 3. 

Landois, Physiologie. 1900. 





. September. 


Di^ Therapie^ider Gegenwart 19!2i 


339 


Aus dem Knappscliaftskraiikeuliause Bleicherode a. Harz. 

Zur intrakardialen Injektion. 

Von Dr. Walther Schulze, Chefarzt. 


Seit einer Veröffentlichung von den 
Veldens in Nr. 10 des Jahrgangs 1919 
der Münchener Medizinischen Wochen¬ 
schrift ist in ärztlichen Kreisen • das 
Interesse an der intrakardialen Injek¬ 
tion erwacht, die wohl überhaupt zuerst 
von V. d. Velden angegeben Wurde, da 
er sie seit etwa zwölf Jahren anwendet 
und lehrt. Schon vor oben genannter 
Arbeit erschienen während des Krieges 
einige Veröffentlichungen über diesen 
Gegenstand: Szubinski teilte drei Fälle 
mit, wo er mit dem Verfahren bei völligem 
Kollaps eine Wiederbelebung der Herz¬ 
tätigkeit erzielen konnte, deren längste 
Dauer aber nur zehn Stunden betrug. 
Ruediger (1916) hatte das Glück, einen 
vollen Erfolg zu erzielen, indem die 
Kranke noch fünf Monate in erträglichem 
Zustande lebte. In Volkmanns 1917 
mitgeteiltem Falle konnte das Leben nur 
um 1% Stunden durch die intrakardiale 
Injektion verlängert werden. 

Als Indikation für die Anwendung der 
intrakardialen Injektion bezeichnet von 
den Velden selbst die Fälle, Wo ,,bei 
träge oder nicht mehr fließendem Lymph- 
und Blutstrom an die Erfolgsorgan¬ 
elemente im Herzen, und zwar itn Herz¬ 
muskel, mit einem excitierenden Arznei¬ 
mittel“ herangekommen werden soll, d. h. 
also Fälle im Stadium höchstgradiger 
Circulationsstörung, unmittelbar vor dem 
Herztode oder sogar während und nach 
demselben, wo die intrakardiale Injek¬ 
tion als ultima ratio dienen soll. Auch in 
den kurz nach v. d. Veldens Arbeit 
folgenden Veröffentlichungen von Zuntz 
und Hesse sind ähnliche Indikationen 
aufgestellt Worden, besonders Wurde von 
diesen auch noch die Anwendung bei 
Operations- und Narkosekollapsen emp¬ 
fohlen, von Zuntz sogar ein Fall von 
dauernd erfolgreicher Wiederbelebung 
etwa fünf Minuten nach Tod intra opera- 

Anmerkung des Herausgebers: Verfasser emp¬ 
fiehlt die intrakardiale Injektion unter Erweite¬ 
rung der bisher zur Diskussion stehenden In¬ 
dikationen zur allgemeinen Anwendung in Fällen 
von Herzschwäche, wenn die intravenöse Injek¬ 
tion untunlich ist. Ich möchte nicht verfehlen, 
dieser Empfehlung ein Wort der Warnung mit¬ 
zugeben, da vorläufig die geringe Zahl der vor¬ 
liegenden Beobachtungen es nicht gestattet, die 
Gefahr des Eingriffs abzuschätzen. Bis auf 
weiteres würde ich der intrakardialen Injektion 
nur in Fällen dringendster Lebensgefahr zu¬ 
stimmen. 


tionem durch Einspritzung von Supra- 
renin in das Herz mitgeteilt. Dieser Fall 
ist einer der wenigen, die bisher bei der 
üblichen strengen Indikationsstellung von 
Dauererfolg begleitet gewesen sind. 

Da mir durch persönliche Mitteilung 
V. d. Veldens die intrakardiale Injektion 
bekannt geworden war und ich sie im 
Felde durch ihn hatte ausführen sehen, 
Wandte ich sie in dem von mir geleiteten 
Krankenhause an, allerdings auch nur als 
letztes Mittel, den schwer danieder¬ 
liegenden Kreislauf wieder in Gang zu 
bringen. Ein Dauererfolg war mir dabei 
bisher versagt. Narkosekollapse bezie¬ 
hungsweise -todesfälle erlebte ich in den 
letzten Jahren infolge weitgehender An¬ 
wendung von Lokal-, Leitungs- und 
Lumbalanästhesie und möglichst weit- 
gshender Vermeidung des Choroforms 
zugunsten des Äthers bei der Narkose 
glücklicherweise nicht, so daß die An¬ 
wendung der Herzeinspritzung in solchen 
Fällen von mir nicht geübt zu werden 
brauchte. 

Da ich nun durch vielfache Ein¬ 
spritzungen die Überzeugung gewonnen 
hatte, daß der Einstich in Herzmuskel 
oder Herzhöhle völlig ungefährlich und 
ohne schädliche Folgen ist, wenn man nur 
die Vorsicht gebraucht, feine Kanülen 
zu verwenden, so hielt ich es für ohne 
weiteres möglich, die Indikationen für diese 
Art der Einspritzung weiter zu stellen, 
als der Urheber der Methode selbst es 
empfiehlt, und zwar für solche Fälle, wo 
Digitalis- beziehungsweise Strophanthin¬ 
therapie angezeigt ist, eine kräftige, 
schnelle Wirkung gewünscht wird und es 
unmöglich ist, Venen zur Injektion zu 
benutzen. 

Ein solcher Fall' bot jsich mir, als kürzlich 
ein siebenjähriges Mädchen eingeliefert wurde 
mit schwerem dekompensierten Herzfehler, der 
nach einer in diesem Frühjahr überstandenen 
doppelseitigen Lungenentzündung zurückgeblieben 
sein sollte. Seit sechs Wochen war das Kind in¬ 
folge von Herzbeschwerden dauernd bettlägerig, 
seit drei Wochen sind Beine und Leib stark an¬ 
geschwollen, Kurzatmigkeit und Blausucht auf¬ 
getreten. Objektiv fand sich bei dem schwer¬ 
kranken, abgemagerten Kinde ein enorm erweiter¬ 
tes Herz, lautes systolisches Geräusch über dem 
ganzen Herzen, besonders über der Spitze, faden¬ 
förmiger, kaum fühlbarer, unregelmäßiger Puls 
von etwa 140 Schlägen in der Minute, starke 
Cyanose, Dyspnöe, hochgradige Schwellungen an 
allen abhängigen Partien, besonders Unterschen¬ 
keln und Füßen, starker Ascites, fast völlige 

43* 



340 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


September 


Anurie, Stauungsleber und -milz. Sofort vor-: i 
genommene Punktion des Ascites, subcutane 
Einspritzungen von Campher und Coffein in 
großen Dosen brachten keine Besserung, nament¬ 
lich trat keine Steigerung der Diurese auf. Ich 
wollte daher gern einen Versuch mit Strophanthin 
machen, doch war es unmöglich, eine zur Injek¬ 
tion geeignete Vene zu finden. Deshalb entschloß 
ich mich zur intrakardialen Injektion, die in der 
Folge, da sie gute Wirkung hatte, im ganzen 
15 mal bei dem Kinde angewendet wurde. Sehr 
bald nach den ersten Einspritzungen besserten 
sich die Harnausscheidung und die Dyspnoe, die 
Ödeme verringerten sich, und der Allgemein¬ 
zustand veränderte sich merklich zum Guteh. 
Vier Wochen nach der Aufnahme machte die Pa¬ 
tientin ein Erysipel durch, und die dadurch natür¬ 
lich vermehrte Herzschwäche vermochten auch 
•die intrakardialen Strophanthineinspritzungen 
nicht mehr zu bessern, so daß das Kind nach 
sechswöchigem Krankenhausaufenthalt an Ver¬ 
sagen der Herzkraft starb. 

In der Technik richtete ich mich nach 
den Vorschriften v. d. Veldens.und stach 
im 4. Intercostalraum, etwa 1—2 Finger 
breit links vom linken Sternalrand, ein, 
kontrollierte,'ob die Nadel die Bewegungen 
des Herzmuskels mitmachte, und in¬ 
jizierte dann in das Myokard. Wie Volk¬ 
mann und Hesse, habe ich mich im 
Gegensatz zu v.^ d. Velden wiederholt 
davon überzeugt; daß es nicht schwer ist, 
in den Ventrikel zu kommen, da man 
durch Aufsaugen von Blut mit der Spritze 
leicht feststellen kann, ob man im Herz¬ 
muskel oder in der Herzhöhle ist. Bei 
noch schlagendem Herzen wähle ich die 
Injektion in das Myokard, deren richtige 
Ausführung mir die drehende Bewegung 
der Nadel ohne Austritt von Blut beweist. 
Bei dem Versuch, ein schon stillstehendes 
Herz wieder in Gang zu bringen, über¬ 
zeuge ich mich durch Ansaugen von Blut, 
daß ich in der Herzhöhle und nicht etwa 
bloß in der Thorax-Muskulatur bin, und 
spritze entweder in den Ventrikel oder 
ziehe die Nadel ein wenig zurück und 
spritze in den Herzmuskel. 

Während Hesse es für falsch hält, in 
das rechte Herz und in das Myokard des 
rechten Ventrikels zu spritzen, halte ich 
es für weniger wichtig, in welchen Teil des 
Herzens die wirksame Substanz kommt, 
sondern für die Hauptsache, daß sie über¬ 
haupt in das Herz kommt. Am bequem¬ 
sten jedenfalls ist wohl die Einspritzung 
in das rechte Herz, in das man auf die 
oben beschriebene Weise ohne großes 
Suchen und Abtasten kommen muß. 
Henschen empfiehlt sogar die Ein¬ 
spritzung in den Herzbeutel, und gerade 
bei seinem einzigen dauernd erfolgreichen 
Falle will er in diesen gespritzt haben. 
Ich möchte aber doch bezweifeln, ob man 


bei einom nicht durch Erguß ausgedehnten 
und vom Epikard abgehobenen Herz¬ 
beutel mit Sicherheit sagen kann, ob man 
mit der Nadel in diesem oder in dem 
Herzen selbst sich befindet. 

•Die von Hesse, Volkmann, Szu- 
binski bevorzugte Auflösung des Stro¬ 
phanthins oder Suprarenins in 20—30 ccm 
Kochsalzlösung halte ich nicht für nötig, 
vielleicht sogar füf ungünstig. Erstens 
wird die wirksame Substanz dadurch zu 
sehr verdünnt, während es doch bei der 
intrakardialen Injektion gerade auf eine 
starke Reizwirkung ankommt, dann aber, 
wird auch das Herz durch die Zuführung 
der Flüssigkeitsmenge noch mehr belastet, 
obgleich es ja durch die Überdehnung der 
Herzmuskulatur in den in Frage kom¬ 
menden Fällen gewöhnlich schon reichlich 
mit Blut angefüllt ist. Zum mindesten 
würde ich empfehlen, vor der Einspritzung 
der Flüssigkeitsmenge von 20—30 ccm 
erst die gleiche Quantität Blut abzu¬ 
saugen. Daß das leicht gelingt, davon 
konnte ich mich gelegentlich an einer im 
Augenblick der Einlieferung sterbenden 
Patientin (toxische Herzlähmung nach 
Diphtherie) überzeugen, bei der ich einen 
— leider vergeblichen — Versuch mit der 
intrakardialen Injektion und Entlastungs¬ 
punktion des rechten Herzens machte. 
Henschen, dessen Arbeit ich damals 
noch nicht kannte, empfiehlt sogar die 
Absaugung von 200—400 Blut aus dem 
rechten Herzen, was sicher nur bei noch 
zirkulierendem Blute möglich ist, in Ver¬ 
bindung mit Infusion von Kochsalzlösung 
oder ähnlichem. 

Vielleicht eröffnet sich auch noch ein 
Ausblick, die intrakardiale Injektion nicht 
nur für das Herz, sondern auch für die 
Lunge nutzbar zu machen. Knauer und 
Enderlen empfehlen, zur Behandlung 
der Paralyse und Hirnlues die Salvarsan- 
injektionen nicht intravenös, sondern in 
die Caroticfen zu machen, damit das wirk¬ 
same Mittel nicht erst auf Umwegen, son¬ 
dern direkt an das kranke Organ heran¬ 
geführt wird. In Analogie dazu halte ich 
es nicht für ganz unmöglich, das Sal- 
varsan durch die intrakardiale Injektion 
in den rechten Ventrikel auf dem direk¬ 
testen Weg durch die A. pulmonalis und 
ihre Verzweigungen, die ja auch mit denen 
der Bronchialarterien ein gemeinsames 
Capillarnetz haben, zur Lunge zu bringen, 
um Lungensyphilis, die ja nach den Ver¬ 
öffentlichungen von Rößle und Anderen 
gar nicht so selten ist, wie sie klinisch 
diagnostiziert wird, und Lungengangrän, 




September 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


341 


für die ja Salvarsan ebenfalls specifisch 
wirken soll, zu heilen. Es fehlt mir die 
Gelegenheit, um im Tierversuch festzu¬ 
stellen, ob Salvarsan -beij direkter Ein¬ 
führung in das Herz auf'dieses irgend¬ 
welche schädigenden Wirkungen hat, aber 
ich halte es für sohr wohl möglich, daß 
solche nicht eintreten, wenn man nicht 
zu große Dosen vorsichtig anwendet. ^ 
Zusammenfassend möchte ich emp¬ 
fehlen, die Indikationen für die An¬ 
wendung der intrakardialen Injektion zu 
erweitern und diese nicht nur als ultima 
ratio, sondern überall da zur Anwendung 
zu bringen, wo schnelle Herzwirkung 
nötig ist und die Venen zur Einspritzung 


ungeeignet sind. Außerdem möchte ich 
hinweisen auf die eventuelle Verwertung 
zum Zwecke der Beeinflussung von Lun¬ 
genkrankheiten (Lues oder Gangrän) mit 
specifischen Mitteln. Die intrakardiale 
Injektion ist meiner Überzeugung nach 
völlig ungefährlich und vom praktischen 
Arzte genau so gut auszuführen wie die 
intravenöse Injektion. 

Literatur: 1. Henschen (Schweiz, m. W. 
1920, Nr. 14). — 2. Hesse (M. m. W. 1919, 
Nr. 21). — 3. Knauer (M. m.’ W. 1919, Nr. 23). 
— 4. Ruediger (M. m. W. 1916, Nr. 4). — 
5. Szubinski (M. m. W. 1915, Nr. 50). —6. von 
den Velden (M. m. W. 1919, Nr. 10). — 7. Volk¬ 
mann (M. Klin. 1917, Nr. 52). — 8. Derselbe 
(D. m. W. 1919, Nr. 35. — 9. Zuntz (M. m. W. 
1919, Nr. 21). 


Ans der zweiten inneren Abteilung des städtischen Krankenhauses Neukölln 
(dirigierender Arzt: Oberarzt Dr. Zadek). 

Colündexbestimmüngen und Mutaflorbehandlung bei perniziöser 

Anämie. 

Von I. Zadek. - (Schluß) 


II. Die prognostische Bedeutung 
aes antagonistischen Coliindex bei 
der perniziösen Anämie. 

Wenn also in den Vollstadien der 
perniziösen Anämie stets und zur Zeit der- 
Rezidive fast immer ein antagonistisch 
minderwertiger Coliindex bei pathologi¬ 
scher Darmflora gefunden wird, ist aus 
dem Grad dieser festgestellten Minder¬ 
wertigkeit und der qualitativen und quan¬ 
titativen Beteiligung von mehr oder 
weniger pathogenen Mikroorganismen kein 
diagnostisch-prognostischer Rückschluß 
auf das Stadium und die Dauer des vor¬ 
liegenden Krankheitsbildes zulässig; denn 
es können klinisch-hämatologisch die 
schwersten Symptome bei nur wenig ge¬ 
schwächtem Colistamm und geringen Bei¬ 
mengungen artfremder Pilze vorhanden 
sein — besonders bei den nicht krypto¬ 
genetischen perniziösen Anämien (Fälle 6 
und 15), aber auch im Koma des Morbus 
Biermer (Fall 10) — andererseits Re¬ 
missionen der Krankheit bei antagonistisch 
recht minderwertigem Coliindex und 
massenhafter Wucherung von abnormen 
Keimen Vorkommen (Fälle 2, 5, 10, 12, 
13, 15). Da es sich in diesen letzteren 
Fällen mit Ausnahme der auf Lues ba¬ 
sierenden und daher eine Sonderstellung 
einnehmenden perniziösen Anämie (Nr.15) 
entweder um nur kurzdauernde Besserun¬ 
gen mit rasch erneut einsetzenden und 
tödlich endigenden Rezidiven handelt 
(Fälle 5 und 13) oder um unvollständige 
Erholungen mit schleichendem Verlauf 


(Fälle 2 und 12), während der Fall 10 
wegen zu kurzer Beobachtungszeit pro¬ 
gnostisch nicht beurteilt werden kann, 
gestattet ein trotz klinisch-hämatologi- 
scher Remission gefundener konstant 
minderwertiger poliindex, meist mit ent¬ 
sprechendem Überwiegen einer patho¬ 
logischen Darmflora, eine ungünstige 
Prognose zu stellen. 

Der umgekehrte Schluß — gute Pro¬ 
gnose, d. h. lange Dauer einer einge¬ 
tretenen Remission beim Befunde ant¬ 
agonistisch vollwertiger und überwiegender 
Colibakterien und spärlichem Nachweis 
besonderer Keime im Darminhalt — ist 
nicht mit derselben Sicherheit und nur 
unter Vorbehalt erlaubt. Er trifft zu für 
die längere Zeit (meist jahrelang) an¬ 
haltenden Besserungen bei glänzendem 
Allgemeinbefinden und Vollwertigem Coli¬ 
index (Fälle 3, 8, 14, 17), weniger schon 
für diejenigen perniziösen Anämien mit 
nur einige Monate anhaltenden Re¬ 
missionen und antagonistisch mittel¬ 
mäßigen oder auch vollwertigen Coli¬ 
bakterien (Fälle 1, 6, 9), gar nicht für die 
sprunghaft verlaufenden, aus gutem Zu¬ 
stand bei entsprechend günstigem Ver¬ 
halten der Colibacillen plötzlich in mehr 
oder minder schwere Rezidive, meist mit 
^^wieder minderwertigem Coliindex, zurück¬ 
fallenden perniziösen Anämien (Fälle 7, 
18, 20). 

Für die prognostische Beurteilung und 
Bedeutung des antagonistischen Coliindex 
scheiden infolge von unzureichenden 





342 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


September 


Untersuchungen die Fälle 11, 12 und 19 
aus, da hierbei aus äußeren Gründen 
immer nur je eine Stuhlprüfung vorge¬ 
nommen werden Konnte. 

III. Die ätiologische Bedeutung 
des antagonistischen Coliindex bei 
der perniziösen Anämie. 

Gerade diejenigen unter den zuletzt 
angeführten Fällen (Nr. 7 und 18), die bei 
unverändert schlechtem klinisch-hämato- 
logischen Befunde trotz energischer The¬ 
rapie unter Anwendung von Mutaflor 
auffälligerweise ein rasches Umschlagen 
des vor der Behandlung minderwertigen 
in einen konstant festgehaltenen voll¬ 
wertigen Coliindex zeigen, weisen ebenso 
wie diejenigen, bei denen die Besserung 
des antagonistischen Coliindex hinter der 
klinischen Remission zeitlich erheblich 
zurückbleibt (Fälle 2, 3, 14, 16), zwingend 
auf die schon allgemein aus dem bisher 
geschilderten, wechselvollen antagonisti¬ 
schen Verhalten der Colibakterien bei der 
perniziösen Anämie abzuleitende Folge¬ 
rung hin, daß die jeweilige Zusammen¬ 
setzung der Darmflora und der Grad der 
antagonistischen Fähigkeiten der Coll- 
bakterien bei der Perniziosa nicht etwa 
primär das klinisch-hämatologische Bild 
und das Stadium des Leidens bestimmen, 
also auch nicht als primäre oder etwa 
alleinige Ursache der Krankheit in Be¬ 
tracht kommen, sondern vielmehr den 
sekundären Ausdruck der einen so ver¬ 
schiedenen Krankheitsverlauf bedingen¬ 
den, bislang unbekannt gebliebenen Fak¬ 
toren darstellen, also letzten Endes ab¬ 
hängig sind von dem nach wie vor krypto¬ 
genetischen Toxin des Morbus Biermer. 
Damit wird das antagonistische Verhalten 
der Colibakterien sowie die bakteriologische 
Prüfung des Stuhles auf ein den übrigen 
klinisch-hämatologisctien Erscheinungen 
der perniziösen Anämie koordiniertes 
Symptom zurückgeführt, dessen erheb¬ 
liche diagnostische und, wie hier gezeigt 
wurde, oft genug auch prognostisch zu 
verwertende Bedeutung vor allem für die 
praktische Erkennung und Behandlung 
nunmehr feststehen dürfte. Darüber 
hinaus verdient es, ähnlich wie die in 
meinem Material durchweg bestätigte 
Achylie, für die wissenschaftliche For¬ 
schung der Perniziosa als ein weiteres 
,,intestinales Stigma'‘ die größte Be¬ 
achtung, besonders von seiten der An¬ 
hänger der Theorie einer ätiologisch pri¬ 
mär gastro-intestinal angreifenden hämo- 
toxischen Noxe. 


IV. Die Therapie der perniziösen 
Anämie mit Mutaflor. 

Bei dem so generell festgestellten 
antagonistisch minderwertigen Verhalten 
der meist spärlich vorhandenen und mit 
massenhaften Mikroorganismen vergesell¬ 
schafteten Colibakterien bei der perni¬ 
ziösen Anämie erschien von vornherein 
eine Verfütterung von Mutaflor, also von 
besonders starken Colistämmen, in be¬ 
stimmter Menge umso mehr angebracht, 
als die bisherigen, so vielfachen thera¬ 
peutischen Versuche bei dieser Krankheit 
— ganz abgesehen von den auf das Blut 
und Knochenmark wirkenden Maßnahmen 
(Arsen, Salvarsan, Bluttransfusionen, 
Milzexstirpationen usw.) —durch Diätetik, 
Medikamente oder Magendarmspülungen 
in der beabsichtigten Entgiftung des 
Organismus das biologische Verhalten der 
Colibakterien mit unzureichenden Mitteln 
zu beeinflussen bestrebt waren; denn so¬ 
wohl die üblichen Stomachica (Salzsäure, 
Pepsin etc.) und die so beliebten Ad- 
sorbentien (Tierkohle, Bolus alba usw.) 
wie eine noch so sorgfältig und zweck¬ 
mäßig ausgewählte Nahrung können 
immer nur neben der vorerst nicht fa߬ 
baren, hypothetischen Giftabsorption, auf 
die quantitative Zusammensetzung der 
Darmbakterienflora günstig wirken, nie¬ 
mals aber den antagonistisch als minder¬ 
wertig festgestellten Colistamm in einen 
starken umwandeln. 

Wie schon Nißle gefunden hat, ver¬ 
langt die Therapie der perniziösen Anämie 
ein vorsichtiges Ansteigen der Mutaflor- 
dosis (mindestens 6, am besten 10 bis 
20 Tage lang je eine blaue Kapsel, also 
zunächst Verwendung der schwachdo¬ 
sierten Packung). Im Gegensatz zu den 
Darminfektionskrankheiten ist ein hier 
öfters versuchtes Ansteigen über eine rote 
Kapsel pro die hinaus (cf. Fall 4) wegen 
der Gefahr profuser Diarrhöen im allge¬ 
meinen nicht zweckmäßig und in obigem 
Material nur in einem Fall besonders be¬ 
drohlicher Art (Nr. 12) angewendet und 
anstandslos vertragen worden. Die Dosis 
optima der Mutaflortherapie bei der per¬ 
niziösen Anämie ist demnach eine rote 
Kapsel pro die vor dem Mittagessen. Es 
ist nicht zu leugnen, daß selbst dabei 
nicht selten stärkere Durchfälle auftraten 
(Fälle 2, 3, 5, 6, 8, 18), die zwar meist 
vorübergehender Natur waren, aber doch 
zur zeitweiligen (Fälle 3, 6, 8) oder dau¬ 
ernden (Fall 18) Verabreichung nur einer 
blauen Kapsel öfters Veranlassung gaben; 
nur einmal (Fall 2) mußte wegen regel- 



September 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


343 


mäßig nach schwächsten Dosen von Muta¬ 
flor auftretender unstillbarer Durchfälle 
von der Behandlung mit dem Mittel über¬ 
haupt Abstand genommen werden. Mög¬ 
licherweise empfiehlt sich in solchen Fällen 
die Benutzung noch geringerer Coli- 
bakterienmengen, wie sie in der hier nicht 
erprobten Kinderpackung gegeben sind. 

Diese relative Empfindlichkeit des 
Darmes perniziös Anämischer gegen Muta¬ 
flor stimmt überein mit dem schon lange 
bekannten erhöhten Reaktionsvermögen 
dieser Kranken gegen Medikamente, z. B. 
Abführmittel'und scheint uns ein weiterer 
Hinweis auf die beim Morbus Biermer 
generell vorhandene, möglicherweise ätio¬ 
logisch eine Rolle spielende, funktionell¬ 
biologische Minderwertigkeit des Magen- 
darmtraktus zu sein. Darüber hinaus sei 
aber ausdrücklich bemerkt, daß nach den 
mehrjährigen Erfahrungen mit Mutaflor 
— in Einzelfällen (Nr. 6) ununterbrochene 
Anwendung über ein Jahr hinaus — in 
keinem einzigen Falle irgendwelche ern¬ 
steren oder nachhaltigen Störungen, ge¬ 
schweige denn Schädigungen durch das 
Mittel beobachtet worden sind. Selbst¬ 
verständliche Voraussetzung ist die Ein¬ 
haltung besonderer, oben bereits in der 
Hauptsache angeführter Vorschriften: 
■täglich eine einmalige Gabe vor der Haupt¬ 
mahlzeit unter Vermeidung von irri¬ 
tierenden Medikamenten, insbesondere 
von Stomachica und Adsorbentien, sowie 
stete Benutzung frischer, am besten im 
Eisschrank aufzubewahrender Kapseln: 
wenn irgend möglich keine Unterbrechung 
der Mutaflortherapie vor der erreichten 
Wirkung. 

Wenden wir uns der Hauptfrage nach 
der Wirksamkeit des Mutaflor bei der perni¬ 
ziösen Anämie zu, ist von vornherein daran 
zu erinnern, daß die kritische Bewertung 
jedweder Therapie beim Morbus Biermer 
nicht mit Unrecht ihren entscheidenden 
Einfluß auf den Verlauf der bis heute 
unheilbaren Krankheit in Abrede stellt. 
Abgesehen von den ätiologisch bekannten, 
nach Entfernung der Noxe einer wirk¬ 
lichen Restitutio ad integrum zugäng¬ 
lichen perniziösen Anämie, kann es sich, 
da die Behandlung mit Mutaflor das Wort 
von der Unheilbarkeit des kryptogene¬ 
tischen Morbus Biermer leider nicht auf¬ 
gehoben hat, bei den therapeutischen Be¬ 
strebungen nach wie vor immer nur um 
das Ziel zeitlich möglichst rasch ein¬ 
setzender und anhaltender Remissionen 
lind Intermissionen, mit Hinausschieben 
des Rezidivs, handeln. An diesem Ma߬ 


stab gemessen genießt das Arsen bei den 
Ärzten einen unumstrittenen Ruf, wän- 
rend alle übrigen Medikamente und Be¬ 
handlungsverfahren (einschließlich . der 
Milzexstirpation) von den besten Kennern 
der Perniziosa nicht einheitlich und zu¬ 
meist recht skeptisch beurteilt werden; 
mir selbst haben bisher die Bettruhe, 
Diätetik, konsequent durchgeführte 
Magendarmspülungen in Kombination mit 
Arsen die besten Dienste geleistet (cf. 7b). 

Wie steht es in dieser Beziehung mit 
dem Mutaflor? Zur Illustration seiner 
Wirksamkeit beim Morbus Biermer sind 
drei Fälle (Nr. 1, 3, 5) lediglich damit 
behandelt worden; der tödliche Ausgang 
bei dem ersten (Nr. 1) könnte auf Rech¬ 
nung einer naph eingetretener Remission 
zeitlich unzulänglichen Mutaflordarrei- 
chung gesetzt werden, was bei Nr. 5 nicht 
angängig ist, da hier das Mittel fünf Mo¬ 
nate lang bis zum ziemlich plötzlich aus 
der Remission heraus erfolgenden Exitus 
gegeben wurde. In beiden Fällen hat man 
übrigens den Eindruck, daß sowohl die 
Besserung als auch das Rezidiv unab¬ 
hängig von den verabreichten Coli- 
stämmen zustande gekommen ist. Ledig¬ 
lich im Falle 3 ist eine erhebliche und an¬ 
haltende Remission zu konstatieren; in¬ 
dessen hat sich diese seit fast vier Jahren 
beobachtete Patientin durch eine nach 
dem ersten Rezidiv sehr rasch einsetzende 
Besserung und drei Jahre (!) ohne jede 
Therapie bestehende Intermission aus¬ 
gezeichnet! Und vergleicht man diese 
drei lediglich mit Mutaflor behandelten 
perniziösen Anämien mit jenen, zur Kon¬ 
trolle absichtlich unter Beiseitelassen 
dieses Mittels anderweitig therapeutisch 
beeinflußten (Fälle 13, 14, 15, 16, 19, 20), 
so lassen sich bei ähnlicher Sachlage be¬ 
züglich des zwischen Remissionen und 
Rezidiven völlig unregelmäßigen zeit¬ 
lichen Verlaufes nirgends irgendwelche 
entschiedene Vorzüge bei den ,,Mutaflor- 
fällen‘' quoad vitam et restitutionem fest¬ 
stellen. 

Kann Mutaflor Rezidive zeitlich auf¬ 
halten? Bei der Durchsicht des Materials 
kommt man zu einer Verneinung der 
Frage, da mehrfach (Fälle 1, 5, 6, 7, 8, 18) 
trotz Darreichung von Mutaflor nach er¬ 
folgter klinisch-hämatologischer Re¬ 
mission, oft in kurzer Zeit, Rezidive und 
Todesfälle eintraten. 

Da demnach die alleinige Mutaflor¬ 
therapie bei der perniziösen Anämie keine 
entscheidenden Erfolge aufzuweisen hatte, 
ist das Mittel mit den verschiedensten 



344 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


September- 


anderen Behandlungsmethoden kombi¬ 
niert worden, vor allem mit Arsenpräpa¬ 
raten. Zur Anwendung gelangten die 
Splutio Fowleri (Fall 12) und das Arsacetin 
per OS (Fall 9), sowie Natrium arsenicosum 
in subcutanen Injektionen (Fälle 10 u. 17) 
und Neosalvarsan intravenös, in Ver¬ 
bindung mit Arsacetin (Fall 11), Natrium 
arsenicosum (Fall 6) oder Bluttransfusi¬ 
onen (Fall 7). Abgesehen davon, daß die 
Solutio Fowleri bei der Behandlung der 
Perniziosa den übrigen hier genannten 
Arsenpräparaten unseres Erachtens unter¬ 
legen ist, scheidet der Fall 12 für die Kritik 
wegen unzulänglicher Anwendung der 
Medikamente aus. Diese stark stimu¬ 
lierende Therapie hat zweimal keine Er¬ 
folge gezeitigt, nämlich einmal in einem 
schleichend (Nr. 6) und fernerhin bei einem 
foudroyant (Nr. 7) verlaufenden Fall. Im 
übrigen konnte bei dieser kombinierten 
Behandlungsmethode auch in schwersten 
Stadien der Krankheit — vergleiche die 
im Koma befindlichen Fälle 10 und 17 — 
nach oft recht kurzer Zeit eine länger¬ 
dauernde Remission erzielt werden. 

Die hierin zum Ausdruck kommende 
günstige und in der Therapie der Per¬ 
niziosa unentbehrliche Wirkung des Arsen 
findet weitere Bestätigung durch die Fälle, 
die, abgesehen von diesen Mitteln, gleich¬ 
zeitig mit Magendarmspülungen behandelt 
wurden (Fälle 2 und 8); hier ist nach auf¬ 
fallend kurzer Zeit, in wenigen Wochen, 
jedesmal prompt anhaltende Besserung 
erreicht worden und ich habe den Ein¬ 
druck, daß sich die Verbindung von Arsen, 
Magendarmspülungen und Mutaflor unter 
allen hier versuchten therapeutischen 
Kombinationen als die glücklichste her¬ 
ausgestellt hat, wenn also stark stimu¬ 
lierende, blutregenerierende Maßnahmen 
(Arsen) sich den entgiftenden (Magen¬ 
darmspülungen plus Mutaflor) hinzu¬ 
addieren. Es scheint mir ein wertvolles 
Ergebnis dieser schwierig zu entwirrenden 
vielseitigen Versuche zu sein, daß beide 
Komponenten zur erfolgreichen Herbei¬ 
führung vollständiger und anhaltender 
Remissionen, wenigstens in den schweren 
Stadien des Leidens, notwendig sind: 
immer unter Anerkennung der Tatsache, 
daß recht häufig bei der perniziösen 
Anämie Verbesserungen und Verschlech¬ 
terungen unberechenbar und anscheinend 
spontan einsetzen können. Lediglich ent¬ 
giftende Verfahren, sei es daß sie in 
Magendarmspülungen (Fall 4) oder Muta- 
florverabfolgung (Fälle 1 und 5) allein 
bestünden, erreichen das Ziel noch 


schwerer oder garnicht als ausschließlich 
auf die Blutregeneration gerichtete thera¬ 
peutische Bestrebungen. 

Zweifellos treten dabei die toxin¬ 
hemmenden Methoden gegenüber den 
roborierenden etwas in den Hintergrund 
und sind ihnen in der Endwirkung unter¬ 
legen: das beweisen die günstig ver¬ 
laufenen, unter Ausschluß von Mutaflor 
im ^ wesentlichen mit Arsen behandelten 
Fälle (Nr. 14, 15, 20) und umgekehrt die 
nicht recht , wirkungsvolle Therapie mit 
Adsorbentien und Magendarmspülungen 
allein (Fall 12), während wieder die Kom¬ 
bination dieser Verfahren mit dem Arsen 
(Fall 13) sich als besonders effektvoll er¬ 
weist. Andererseits illustrieren jene trotz 
energischer Arsendarreichung (Fall 19), 
auch in Verbindung mit Mutaflor (Fälle 6 
und 7), und trotz Bluttransfusionen (Fall 8) 
keine Tendenz zur Besserung zeigenden 
perniziösen Anämien die Notwendigkeit 
der Mitanwendung stark entgiftender 
Maßnahmen in ernsteren Fällen, die ers't 
durch die Verbindung von Mutaflor mit 
Magendarmspülungen gewährleistet ist.- 
Es scheint mir kein Zufall zu sein, wenn 
in den interessanten Fällen 5 und 18 nach 
Mutaflor allein bereits in kurzem, ium 
Teil unter den Erscheinungen der Blut¬ 
krise, eine volle Remission einsetzt, die 
indessen auffälligerweise bereits nach vier 
Wochen einem schweren, nur sehr langsam 
der Besserung zugänglichen Rezidiv Platz 
macht; offenbar hat sich hier die Nicht¬ 
benutzung von Blutstimulantien als ver¬ 
hängnisvoll und das lediglich entgiftend 
wirkende Mutaflor als nicht ausreichend 
für eine anhaltende Intermission erwiesen. 

Von besonderem Interesse ist schlie߬ 
lich die Einwirkung der im Mutaflor ver¬ 
abfolgten antagonistisch besonders starken 
Colistämme auf die Bakterienflora und die- 
spärlichen, primär stets m.inderwertigen 
Colibacillen der perniziös Anämischen. 
Da an einer intestinal erfolgenden Auf¬ 
schließung der Mutaflorbakterien nicht zu 
zweifeln ist, andererseits die Untersuchung- 
des Stuhles nach wochen- und monate¬ 
langer Verabreichung des Mittels sehr 
häufig einen gar nicht oder nur wenig 
veränderten Coliindex ergibt, erhellt hier¬ 
aus, daß die kräftigen Colibakterien durch 
die Darmpassage in mehr oder weniger 
schwache biologisch umgestimmt werden; 
selbst wenn sie bei der antagonistischen 
Prüfung als ganz oder nahezu vollwertig 
befunden werden, dokumentieren sie durch 
die serologische Agglutinationsprobe oft 
genug (Fälle 16, 17, 18) Eigenschaften, 




September 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


345 


die von den ursprünglichen der Mutaflor- 
bakterien abweichen. Somit besteht bei 
der perniziösen Anämie eine hartnäckige 
Neigung zur Modifikation verabfolgter, 
antagonistisch starker Colistämme. Es ist 
oben bereits darauf hingeA\iesen worden, 
daß diese so schwer vor sich gehende 
Daueransiedelung unveränderter Muta- 
florbakterien abhängig ist von den uns 
vorläufig unbekannten, den Verlauf des 
Leidens bestimmenden Faktoren; das zeigt 
in diesem Zusammenhänge wiederum die 
Tatsache einer in der Remission ohne 
Mutaflorbehandlung spontan. vor sich 
gehenden Umwandlung des während des 
vorangegangenen Rezidivs minderwertigen 
Coliindex in einen vollwertigen (Fall 14). 

Einer kurzen Besprechung bedürfen 
die unternommenen Versuche, die zeitlich 
rasch einsetzende Daueransiedelung des 
Mutaflorstammes zu begünstigen. Neben 
der durchweg angewendeten eiweißarmen 
Kost ist dieses Ziel in einem Fall (Nf. 18) 
durch Verabreichung einer bakterien¬ 
armen Nahrung erstrebt worden, indem 
nur gekochte Speisen und Getränke ge¬ 
geben wurden. Diese Technik ist nicht 
leicht durchzuführen und stellt vor allem 
an die Geduld des Patienten nicht geringe 
Anforderungen. Hierbei ist die zeitliche 
Ansiedelung des Behandlungsstammes 
nicht sonderlich verkürzt worden (fünf 
Monate), wobei allerdings zu berück¬ 
sichtigen bleibt, daß einmal beim Fehlen 
von Colibakterien überhaupt die Darm¬ 
flora aus den verschiedensten Mikro¬ 
organismen bestand, also das Haften des 
Mutaflorstammes von vornherein mit 
größeren Schwierigkeiten zu kämpfen 
hatte als sonst bei Perniziösen, fernerhin 
die beabsichtigte Wirkung erschwert 
wurde durch die Unmöglichkeit der Ver¬ 
abreichung ausreichender Mutaflorgaben 
(nur eine blaue Kapsel täglich). Ohne 
daher aus dieser einen Beobachtung 
irgendwelche Schlüsse ziehen zu wollen, 
ist doch in diesem in mehrfacher Be¬ 
ziehung interessanten Fall sehr bemer¬ 
kenswert, daß die Ansiedelung des Be¬ 
handlungsstammes seitdem, trotz einge¬ 
tretenen klinisch-hämatologischen Re¬ 
zidives, dauernd weiter besteht. 

Weiterhin geht man wohl nicht fehl 
in der Vorstellung, daß durch die vor der 
MutaBordarreichung vorgenommenen Ma¬ 
gendarmspülungen die Ansiedelung des 
Behandlungsstammes erleichtert wird 
:.(Fälle 2, 4, 8). Während die ersten beiden 
Fälle (Nr. 2 und 4) keinen bevorzugten 
Verlauf genommen haben, scheint es kein 


zufälliges Ereignis zu sein, wenn in dem 
dritten. (Nr. 8) bei dieser Behandlungs¬ 
methode auffällig rasch, nämlich bereits 
nach vier Wochen, der antagonistische 
Coliindex sich als vollwertig herausstellte 
und die serologische Prüfung Überein¬ 
stimmung mit dem Behandlungsstamm 
ergab. Die damit Hand in Hand gegan¬ 
gene klinisch-hämatologische Rernission 
hielt unter Beibehalten der Mutaflot- 
therapie % Jahr an und bei dem nach 
Absetzen des Mittels eingetretenen Re¬ 
zidiv blieb der Behandlungsstamm im 
Darm fest angesiedelt und dement-' 
sprechend der Coliindex vollwertig. Die 
oben bereits theoretisch gefolgerte und 
praktisch erwiesene günstige Kombination 
von Magendarmspülungen und Mutaflor 
(am besten in Verbindung mit Arsen) er¬ 
fährt dadurch erneute Bestätigung. 

Versucht man nach diesen kritischen 
Darlegungen und Analysen vorliegender 
Fälle die Stellung des Mutaflor in der 
Therapie der perniziösen Anämie abzu¬ 
grenzen, so wäre kurz etwa folgendes zu 
sagen: Entscheidende Einflüsse auf den 
Verlauf, insbesondere den zeitlichen Ein¬ 
tritt der Remissionen kommen dem Mittel 
nicht zu; als vermutlich intestinal ent¬ 
giftend wirkende Maßnahme ist sein Platz 
in der Therapie der Perniziosa neben den 
übrigen ähnlich wirkenden Verfahren, wie 
vor allem den Magendarmspülungen, ge¬ 
geben und seine bevorzugte Anwendung, 
innerhalb dieses therapeutischen Rah¬ 
mens, in breiterem Maße umso eher ange¬ 
zeigt, als der beim Morbus Biermer 
generell bestehende antagonistisch minder¬ 
wertige Coliindex seine Benutzung ge¬ 
bieterisch fordern sollte, ln diesem Sinne 
wirkt er als zweifellos unterstützendes 
Moment und trägt zum raschen und nach¬ 
haltigen Eintritt der Remjssionsstadien 
der Krankheit bei, ohne jedoch, gleich¬ 
zeitig die dafür unerläßliche stimulierende 
und die Blutregeneration fördernde Wir¬ 
kung des Arsen oder der Blutinjektionen 
entbehren zu können. 

Im Ganzen hat sich die für die Schaf¬ 
fung des Präparates und seine Anwendung 
bei der perniziösen Anämie ursprünglich 
gegebene Grundlage, nämlich der ant¬ 
agonistisch minderwertige Coliindex, für 
die Diagnose und Prognose des Morbus 
Biermer wertvoller erwiesen als die The¬ 
rapie mit Mutaflor. Das kann nicht 
wundernehmen, da bei der perniziösen 
Anämie, im Gegensatz zu denLDarm- 
infektionskrankheiten, wie hier gezeigt 
wurde, der minderwertige Colistamm in 

44 



346 Die Therapie der 


sekundärer Abhängigkeit von dem krypto¬ 
genetischen Toxin steht, also die Therapie 
mit Mutaflor nicht ursächlich anzugreifen 
und bessernd zu wirken imstande ist. Die 
Behandlung mit antagonistisch starken 
Colirassen wird aber umso sicherer Erfolge 
und völlige Heilungen erzielen, je aus¬ 
schließlicher die bakterielle Wucherung 
primär das Darmleiden beeinflußt. Daß 
diese Verhältnisse bei der perniziösen 
Anämie nicht ebenso 'liegen, kann als 
indirekt gewonnenes, aber nicht minder 
wertvolles Ergebnis dieser Behandlungs¬ 
versuche mit Mutaflor gebucht werden. 

In praktischer Hinsicht ergibt sich aus 
alledem die Notwendigkeit, Mutaflor bei 
der perniziösen Anämie ununterbrochen 
und lange Zeit, wochen- und monatelang, 
bis zur anhaltenden und möglichst voll¬ 
ständigen Remission zu' verabreichen, 
besser noch einige Zeit darüber hinaus. 
Die am besten in Abständen von zirka 
vier Wochen erneut vorzunehmende Coli- 
•indexbestimmung bildet einen wertvollen 
Fingerzeig'für die Weitergabe oder Ab¬ 
setzung des Mittels. Die Fälle (z. B. Nr: 9), 
die nach einem m^istaus äußeren Gründen 
erfolgten frühzeitigen Abbruch der The¬ 
rapie einen raschen Umschlag des voll¬ 
wertigen Coliindex in einen minder¬ 
wertigen unter den klinisch-hämatologi- 
schen Erscheinungen des Rezidivs auf¬ 
weisen, können als Warnung dienen, das 
in einer einmaligen bakteriologischen und 
serologischen Stuhluntersuchung während 
der Remission zustande gekommene gün¬ 
stige Resultat als ausreichend zu be¬ 
trachten. Erst mehrmalige Stuhlunter- 
suchüngsbefunde von antagonistisch und 
serologisch mit dem Behandlungsstamm 
übereinstimmenden Colibakterien geben, 
bei gleichzeitigem Bestehen eines klinisch- 
hämatologisch günstigen Befundes, eine 
Indikation zum versuchsweisen Aufgeben 
der Mutaflortherapie, die indes auch ohne 
irgendwelche Schädigungen dauernd an¬ 
gewendet werden kann. 

Zusammenfassung. 

I. Bei der unbehandelten perniziösen 
Anämie findet sich stets ein antagonistisch 
minderwertiger Coliindex, in höherem 
Grade beim kryptogenetischen Morbus 
Biermer als bei der auf Syphilis beru¬ 
henden Perniziosa. Unter entsprechendem 
Zurücktreten der Colibakterien setzt sich 
die Darmflora aus den verschiedensten 
Mikroorganismen zusammen, unter denen 
Proteusbacillen besonders häufig Vor¬ 
kommen. 


'\ ■ 

Gegenwart 1921 September 


2. Im Stadium der Rezidive besteht 
fast immer, unabhängig von der ange¬ 
wandten Therapie (auch nach Mutaflor- 
behandlung) ein antagonistisch minder¬ 
wertiger Coliindex; Während der Re¬ 
missionen ist er zumeist, ebenfalls unbe¬ 
einflußt von der jeweiligen Behandlung, 
höherwertiger; bleibt er Während der 
klinisch-hämatologischen Besserung kon¬ 
stant minderwertig, ist mit großer Wahr¬ 
scheinlichkeit ein baldiger Eintritt eines 
neuen Rezidives vorauszusagen. Dagegen 
schließt ein nach der Behandlung in der 
Remission vollwertig gewordener Coliindex 
das baldige Wiedereinsetzen klinisch- 
hämatologischer Verschlechterung nicht 
aus. 

3. Der festgestellte Grad der Minder¬ 
wertigkeit des antagonistischen Coliindex 
geht nicht ohne Weiteres der Schwere des 
Krankheitsbildes parallel. Vereinzelt wird 
der Coliindex, unabhängig von der ange¬ 
wandten Therapie, vollwertig bei schlech¬ 
tem, keine Tendenz zur Besserung zei¬ 
genden Allgemeinbefinden. 

4. Das Wechselvolle Verhalten des 
antagonistischen Coliindex sowohl Wie der 
pathologischen Darmflora in den einzelnen 
Stadien der Krankheit wird ursächlich 
durch die vorläufig noch unbekannten, 
jenen Krankheitsverlauf bedingenden Fak¬ 
toren bestimmt; die primäre Noxe für die 
perniziöse Anämie stellt der antagonistisch 
minderwertige Coliindex nicht dar. 

5. Die Feststellung des antagonisti¬ 
schen Coliindex hat erhebliche diagnosti¬ 
sche und prognostische Bedeutung für die 
perniziöse Anämie. 

6. Mutaflor wird am besten in einer 
Dosis von einer roten Kapsel täglich ver¬ 
abreicht. Die in jedem Fall mehrere Tage 
oder Wochen vorher abzugebende Dosis 
nur einer blauen Kapsel muß beim Auf¬ 
treten von Durchfällen und in einzelnen, 
besonders empfindlichen Fällen, dauernd 
beibehalten werden. Eine völlige Unter¬ 
brechung der Mutaflortherapie ist uner¬ 
wünscht und unnötig, da irgendwelche 
Schädigungen, selbst bei jahrelangem Ge¬ 
brauch, nicht zu befürchten sind. 

7. Auch bei mehrmonatlichem Ge¬ 
brauch des Mittels gelingt es öfters nicht, 
den Mutaflorstamm zur dauernden An¬ 
siedelung zu bringen; selbst.bei nach¬ 
weisbar vollwertigem Coliindex erweist 
die serologische Agglutinationsprüfung oft 
genug vom Behandlungsstamm abwei¬ 
chende biologische Eigenschaften. Die bei 
der perniziösen Anämie bestehende hart¬ 
näckige Neigung zur Modifikation der ver- 





September 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


347 


abfolgten starkwertigen Colirassen fordert 
zur möglichst langwährenden Behandlung 
mit Mutaflor auf, bis die Remission sich 
als vollständige und anhaltende erweist 
und der Coliinüex dauernd vollwertig 
bleibt. 

8. In seiner Wirkung wird das Mutaflor 
als entgiftende Maßnahme aufgefaßt und 
ähnlichen Behandlungsverfahren mit dem¬ 
selben Endzweck an die Seite gestellt, vor 
allem den Magendarmspülungen. Ebenso 


wenig wie diese vermag Mutaflor allein 
entscheidende Erfolge bei der perniziösen 
Anämie zu erzielen. Dazu bedarf es neben 
der Unterstützung durch anderweitige 
toxinzerstörende Mittel vor allem der 
blutregenerierenden Wirkung des Arsens. 
Am besten hat sich für die Behand¬ 
lung der schwereren Formen der 
perniziösen Anämie die kombinierte 
Anwendung von Arsen, Mutaflor 
und Magendarmspülungen bewährt. 


Zusammenfassende Übersicht. 

Der jetzige Starid der Radiumemanationstherapie. 

Von Dr. Engelmann, Kreuznach. 


Vor sieben Jahren hatte ich Gelegen¬ 
heit, hier an dieser Stelle mich über 
Radiumemanationstherapie äußern zu 
dürfen. Damals war die für die breitere 
medizinische Öffentlichkeit als jung gel¬ 
tende Therapie, die in Wirklichkeit schon 
in reiferem Alter stand — waren in Kreuz¬ 
nach doch schon seit fünf Jahren, wie 
ich damals feststellen konnte, also jetzt 
zwölf Jahre, an anderen Orten seit zehn 
Jahren, allerdings nicht so systematisch 
wie hier, reichlichste therapeutische Er¬ 
fahrungen mit Radiumemanationsbehand- 
iung gesammelt worden — eine viel be¬ 
sprochene und auch viel umstrittene 
Therapie. 

Es ist jetzt stiller geworden in dieser 
Hinsicht in der Tagesliteratur. Ab¬ 
geschlossene Lehrbücher und Monogra¬ 
phien zeugen aber dafür, daß die Therapie 
flügge geworden ist und sich ihren festen 
Platz erobert hat. 

Ein einigermaßen abgerundetes Bild 
haben wir jetzt von der biologischen 
Wirkungsweise der Radiumemanation, 
und es ist uns gelungen, die therapeuti¬ 
schen Erfolge damit in plausiblen Zu¬ 
sammenhang zu bringen, so daß die 
Therapie und Indikationsstellung, wenn 
sie sich auch nicht im wesentlichen seit 
meinen damaligen Ausführungen geändert, 
doch an Sicherheit gewonnen hat. 

Physikalisches. 

Die Anschauungen über die physika¬ 
lischen Eigenschaften der Radiumemana¬ 
tion haben sich im großen und ganzen 
nicht geändert. Die Radiumemanation 
Avird von Radium beziehungsweise Ra¬ 
diumsalzen abgegeben. Sie ist ein gas¬ 
förmiges Zerfallsprodukt in .der Zerfalls¬ 
reihe des Radium. Emanation ist ein 
Edelgas, geht keine chemischen Ver¬ 


bindungen .ein, ist in verschiedenen Me¬ 
dien verschieden löslich (in Lipoiden sehr 
bedeutend). Emanation zerfällt weiter, 
seine Lebensdauer beträgt nach der Hal¬ 
bierungszeit berechnet 3,85 Tage. Bei 
diesem Zerfall in weitere Elemente wird 
Energie in Form von dunkeln Strahlen 
abgegeben, a-, /?- und y-Strahlen, welche 
verschiedene Eigenschaften haben und 
therapeutisch Wirken. 

Der praktische Vorgang ist nun der, 
daß diese Emanation aufgefangen Wird, 
sei es in Luft, in Wasser oder in sonstigen 
Medien, und nun therapiebereit ist: sie 
kann dann in den Organismus hinein 
und an ihn herangebracht werden, sei 
es, im ersten Fall durch die Inhalations¬ 
methode, durch Trinken von radium¬ 
emanationshaltigem Wasser, durch In¬ 
jektionen stark emanationshaltig gemach¬ 
ter Flüssigkeiten, sei es, im zweiten Fall, 
durch Bäder, Umschläge, Eingießungen 
und Ausspülungen solcher radioaktiver 
Flüssigkeiten. 

Aus der kurzen Lebensdauer der 
Emanation ergibt sich eine gewisse Un¬ 
sicherheit in der Verordnung. Man kann 
dieser Unsicherheit dadurch begegnen, 
daß man das emanationshaltige Wasser, 
darum Wird es sich meist handeln, immer 
frisch beschaffen läßt oder es konzentrier¬ 
ter verschreibt, als es genommen werden 
soll, und den Tagesverlust berechnet. 
Bei Inhalation muß die Emanation dem¬ 
gemäß stets frisch zugeführt werden. 

Das Wirksame bei der Emanation 
sind die Strahlen, die undy-Strahlen, 
die beim Abklingen, wie erwähnt, ent¬ 
stehen, und deren Wirkungsweise wir uns 
ähnlich den Radium- und Thorium¬ 
strahlen, auch ähnlich den Röntgen¬ 
strahlen, vorzustellen haben, in abge- 

44* 





348 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


September: 


schwächter Form, da es sich um geringe 
Energien handelt. Emanationstherapie 
ist also Strahlentherapie, innere Strah¬ 
lentherapie, wenn wir von Bädern und 
Umschlägen absehen, wo die äußere 
Strahlenwirkung dazu kommt. 

Biologisches. 

Um die biologisch-therapeutische Wir¬ 
kungsweise zu verstehen, müssten wir 
theoretisch folgendes wissen: wie wirken 
die Becquerel-Strahlen und wo wirken 
sie?, d.h. wie und wo verteilt sich die 
Emanation im Organismus, daß die Bec¬ 
querel-Strahlen zur Wirkung kommen 
können? Verfolgen wir ihren Weg. 

Beim Trinken von Emanationswasser 
wird die Emanation im Magendarmkanal 
bei der Resorption des Wassers mit 
resorbiert und kommt in den venösen 
Kreislauf durch die Pfortader. Ein 
kleinster Teil wird beim Trinken inha¬ 
liert, und kommt direkt in die Lungen, 
der größere Teil auf deni Wege durch , 
das Herz in dieselben, hiervon geht ein 
gewisser Teil durch die Atmung vermut¬ 
lich verloren, der größte Teil gelangt in 
den arteriellen Blutkreislauf, wie Messun¬ 
gen zahlreicher Autoren gezeigt haben. 
Nach einmaligem Trinken von mittel¬ 
starkem Emanationswasser konnte ich 
beispielsweise in Tierversuchen noch nach 
zwei Stunden Emanation im arteriellen 
Blut feststellen. Wird langsam getrunken, 
läßt sich ein gewisser Emanationsspiegel 
noch länger im Blut erreichen. Durch 
den Darm (rectal) eingeführtes Emana¬ 
tionswasser läßt sieh ebenfalls bald und 
längere Zeit in der Ausatmungsluft nach- 
weisen. In dem Emanationsgehalt der 
Ausatmungsluft haben wir überhaupt ein 
■gewisses Kriterium für den Emanatioiis- 
gehalt des Körpers. 

So kommt die Emanation zu den 
Zellen. Im allgemeinen können wir uns 
vorstellen, daß die Verteilung im Körper 
eine gleichmäßige ist. Jedoch konnte 
ich bei einer bestimmten Versuchsanord¬ 
nung feststellen, daß die Emanation bei 
Durchfließen eines Capillarsystems in 
dem Gewebe sofort absorbiert wird. So 
daß also an der ursprünglichen Eintritts¬ 
stelle der Emanation in den Organismus 
die Gewebe stärker unter Emanations¬ 
einwirkung stehen — bei Trinken also 
die Leber beispielsweise — wie die peri¬ 
pheren Körperstellen. Durch den all¬ 
mählichen Nachschub bei langsamer und 
häufiger Zufuhr wird sich das zum großen 
Teil ausgleichen. Das zeigen auch klini¬ 


sche Beobachtungen. Trinken Gichtiker 
kleinste Mengen Radiumwasser, so treten 
Reaktionserscheinungen ebenso an den 
nahen wie an den entfernteren Gelenken 
auf und ebenso werden an diesen Stellen 
später im Verlaufe der Kur Resorptions¬ 
vorgänge (Einschmelzen von Tophi) beob¬ 
achtet.. Durch eine Wirkung seitens des 
Centralnervensystems ist das nicht zu 
erklären. Da wirkt Emanation an Ort 
und Stelle. 

Etwas anders ist die Verteilung der 
Emanation und das Verhalten ihres Spie¬ 
gels, wenn sie durch Inhalieren auf dem 
Wege des Respirationstraktus in das Blut 
und in den Organismus gebracht wird. 
Geschieht diese Einatmung mit Hilfe 
der sogenannten Emanatorien (kleine 
Räume, die mit Emanation in gewisser 
Konzentration angefüllt sind und Vor¬ 
richtungen zur Erneuerung der Luft 
haben), dann wird eine recht restlose 
Ausnützung der Emanation erzielt. Die. 
mit einem Atemzuge beispielsweise inha¬ 
lierte Emanation würde, wenn man in 
emanationsfreie Atmosphäre exhalierte, 
zum Teil mit ausgeamtet werden und 
nur der Teil, der vom Blut aufgenommen 
ist, in den Körper weiter transportiert 
werden. Nun atmet man aber in Emana- 
toriumsluft derselben Dichtigkeit aus und 
so wird die Emanation festgehalten, mit 
dem zweiten Atemzug die des ersten 
Atemzuges wieder zurückgerissen und so 
fort. So kommt es sogar fast zu einer 
gewissen Anreicherung des Blutes mit 
Emanation, zum mindesten halten sich 
Emanation im Blut und in dem Emana- 
torium die Wage. Messungen haben 
ergeben, daß durch die Adsorptionsfähig¬ 
keit der Blutkolloide für Radiumemana¬ 
tion der Gehalt des Blutes an Emanation 
den des Emanatorium erreicht, ihn bis¬ 
weilen sogar übertrifft. Die Vorzüge 
und Nachteile der beiden Methoden, 
Emanation dem Körper zuzuführen, er¬ 
geben sich daraus von selbst. Ich komme 
noch darauf zurück. 

Die chemische Wirkung der Radium¬ 
emanation ist als eine oxydierende fest¬ 
gestellt. In welchem Sinne Radium¬ 
emanation chemisch wirkt, das zeigt uns 
die Beeinflussung organischer Substanzen 
durch Becquerel-Strahlen analoger aller¬ 
dings stärkerer Präparate von Radium, 
Thorium oder Aktinium: der Molekular¬ 
verband der Zellen wird durch Hydrolyse 
und Desamidierung gelockert. Es kommt 
sehr auf die Konzentration der Emana¬ 
tion an. Auf der anderen Seite sind auch 




September 


349 


Die Therapie .der Gegenwart . 1921, 


synthetische Prozesse unter Emänations- 
einwirkung beobachtet. 

Die Becquerel-Strahlen ähneln in ihrer 
chemischen Wirkungsweise den ultra¬ 
violetten und Röntgenstrahlen. Alle 
Strahlengattungen (auch die Sonnen¬ 
strahlen) vermögen exo- und endoenerge- 
tische Prozesse. einzuleiten und zu be¬ 
schleunigen. Der Unterschied zwischen 
den dunkelen Strahlen und den Licht¬ 
strahlen liegt hauptsächlich darin, daß bei 
ersteren die lythischen, zerstörenden Pro¬ 
zesse bedeutend überwiegen (Fa Ita). Doch 
auch nur mit Einschränkung darf dieser 
Satz bestehen, denn schwächere Strahlen, 
Becquerel oder Röntgen, wirken zweifellos 
anregend, andererseits wirken stärkste 
Sonnenstrahlen zweifellos zerstörend. 

Ob diese chemische Wirksamkeit der 
Emanation zur Erklärung aller biologi¬ 
schen Beeinflussungen, die zahlreich ex¬ 
perimentell nachgewiesen sind, zu ver¬ 
wenden ist, muß die Zukunft lehren. 
Vorläufig ist nicht immer ein rechtes 
System in die vorliegenden Forschungs¬ 
ergebnisse zu bringen. Die Versuche sind 
so verschiedenartig angelegt; bei ihrer 
Bewertung müssen Wir uns immer vor 
Augen halten, daß es in der Natur der 
Emanation liegt, daß ihre Stärke ständig 
wechselt, so daß ohne ständige kontrol¬ 
lierende Messungen des jeweiligen Ema¬ 
nationsgehaltes keine Gewähr ist über 
die gerade im Augenblick des Experiments 
entwickelte Energie, und daß schließlich 
die Meßmethoden und Stärkebezeichnun¬ 
gen nicht immer ganz einheitlich waren. 
Denn die Versuche sind in einer längeren 
Zeitperiode vorgenommen, in der die 
Kenn'tnisse der Becquerel-Strahlen sich 
dauernd fortentwickelt haben, so daß die 
Versuchsanordnungen der letzten Jahre 
ganz anders gewertet werden müssen, 
wie weiter zurückliegende. ln diesem 
Punkte liegt eine Erschwerung gegen¬ 
über biologischen Untersuchungen ande¬ 
rer pharmakologischer Substanzen. 

Unter kritischer Berücksichtigung die¬ 
ses Moments können wir aber doch eine 
Linie erkennen, in der die biologische 
Wirkungsweise der Emanation liegt: in 
nicht zu starken Dosen, bei mittlerer 
zeitlicher Einwirkung, hat sie eine för¬ 
dernde Wirkung auf eine große Anzahl 
biologischer Vorgänge; höhere Dosen wir¬ 
ken hemmend, starke und stärkste Dosen 
zerstörend. 

So ist es bei der Beeinflussung der 
Fermente, so bei. anderen biologischen 
Vorgängen. 


Falta macht wohl nicht mit Unrecht 
darauf aufmerksam, daß man bei Be¬ 
wertung der Fermentversuche,' die in 
recht großer Anzahl vorgenommen wurden 
(das diastatische Enzym, das fettspal-, 
tende Ferment, das tryptische Ferment, 
Invertin und Emulsin Wurden von Bik- 
kel, Löwenthal, Wohlgemut, Da- 
nyß und anderen untersucht, das glyko- 
lytische Ferment von Wohlgemut und 
mir usw.), unterscheiden muß zwischen 
der Beeinflussung der Fermente und des 
Substrats. Ferment und Substrat reagie¬ 
ren verschieden auf die Becquerel-Strah¬ 
len, daraus mögen sich die oft unverständ¬ 
lich erscheinenden differierenden Werte 
erklären, indem man einmal eine Hem¬ 
mung, einmal Förderung der fermenta¬ 
tiven Prozesse beobachtete. 

Bei den endocellulären Fermenten 
glaubt ebenderselbe Autor immer Förde¬ 
rung annehmen zu müssen. Warum 
sollte aber nicht bei starker oder langer 
Einwirkung Hemmung beziehungsweise 
Zerstörung festzustellen sein? So oft 
sind die Versuche auch nicht variiert. 
Verläuft doch auch die Einwirkung der 
Becquerel-Strahlen auf niedere pflanz¬ 
liche Organismen in diesem Sinne. Mal 
Hemmung oder gar Zerstörung, bei langer 
intensiver Einwirkung, mal Förderung. 
Es ist die Kunst, die Dosis herauszu¬ 
finden, die fördernd auf die Wachstums¬ 
vorgänge wirkt, denn nur fördernde Dosen 
werden anregend auf den Organismus, 
also im letzten Sinne therapeutisch gün¬ 
stig, einwirken und den Therapeuten 
interessieren. Die zerstörenden oder 
hemmenden Dosen nur in dem negativen 
Sihne, daß man weiß, wie man sie ver¬ 
meiden kann. 

Die Grenze zwischen Förderung und 
Hemmung liegt allerdings bei den niederen 
Organismen sehr tief. Mucor mucedo und 
Hefe werden z. B. nur durch kleine Dosen 
Radiumemaiiation günstig, d. h. im an¬ 
regenden Sinne, beeinflußt'.größere Dosen 
vvirken sofort hemmend und' zerstörend. 
Ähnlich ist es bei höheren pflanzlichen 
Organismen. Eine große Reihe recht 
interessanter Versuche sind da von Bec¬ 
querel, Körnicke, Stoklasa und 
anderen vorgenommen worden, inter¬ 
essant deswegen, weil die Ergebnisse prak¬ 
tische Konsequenzen haben könnten, und 
Weil man eine dosierbare Beeinflussungs¬ 
methode auf das Wachstum der Pflanzen 
hat, wie selten, und zwar das Wachstum 
der verschiedensten Pflanzenteile (Wurzel, 
Blüten, Stengel usw.), je nach Anlage des 




350’^ _ - _Die Therapie der Gegenwart 1921_ • September 


Versuchs. Ich greife zur Illustrierung 
eine charaktefistische Versuchsandrdnung 
von Stoklasa heraus. Stoklasa stellte 
bei gewissen Pflanzen fest, daß Radium¬ 
emanationswasser in schwachen Dosen 
(15 bis 30 Macheeinheiten) einen günstigen 
Einfluß auf Keimung hat. Bei höheren 
Dosen (schon bei 50 bis 100 Macheein¬ 
heiten) wirkt das radioaktive Wasser 
hemmend. Er hat in großangelegten 
Versuchen unter Einfluß von radioakti¬ 
vem Wasser größere Pflanzenmassen (bei 
Felderversüchen) geerntet wie sonst (30 
bis 60 Macheeinheiten). Bei höheren 
Dosen stellte er allerdings schädigenden 
Einfluß auf das Wachstum der Pflanzen 
fest. — In einem Emanatorium von 20 
bis 30 Macheeihheiten pro Liter wurden 
in Pflanzenversuchen die Erträge von 
30 % auf 90 % erhöht. Bei Kultur¬ 
pflanzen öffnen sich die Blätter früher. 
Die Atmung der Pflanzenzellen wird an¬ 
geregt. Kurz, seine Versuche ergaben, 
daß Radiumemanation in schwachen Do¬ 
sen die Karyokinese der Zellen, die ganze 
Entwicklung der Pflanze, ferner die Me¬ 
chanik des Stoff- und Gasaustausches, 
photodynamische Assimilation im Chlo- 
renchym, Blütenbildung und Befruchtung 
äußerst günstig beeinflussen. Zu starke 
Dosen verursachten toxische Erschei¬ 
nungen. 

Bei Kresse konnte ich sehr wohl das 
Konzentrationsoptimum von Emanati¬ 
onswasser feststellen, um Wachstums¬ 
beförderung zu sehen. Die Dosis ist im 
Verhältnis zu den getrunkenen Dosen 
gering und hängt natürlich von dem 
Volumen der Erde und der Anzahl der 
Keime ab. In einem Blumentopf bei 
20 bis 30 Samenkörnern wirkte Gießen mit 
40 ccm Wasser von 50 bis 100 Mache¬ 
einheiten günstig, schon bei 400 Mache¬ 
einheiten war Hemmung zu sehen. 

Auf niedere tierische Organismen 
wirkte Radiumemanation in eben dem¬ 
selben Sinne: in kleinen Dosen fördernd, 
bei hohen Dosen hemmend. Es kann 
nicht oft genug darauf hingewiesen 
werden, wie ungemein wichtig exakte 
Angaben der Emanationsstärke und der 
Dauer der Einwiikung (ein nicht zu 
unterschätzender Faktor, wie wir nach¬ 
her sehen werden), bei allen derartigen 
Versuchen sind. Denn sie erlauben nur, 
die Resultate richtig zu gruppieren und 
mit Sicherheit einen Rückschluß auch 
auf die praktische Verwertung und auch 
auf die Kenntnisse der Mechanik der 
biologischen Wirkungsweise zu ziehen. 


Bei höheren -tierischen Organismen 
ist die Beeinflussung naturgemäß eine 
viel kompliziertere. 

Die Wirkungsweise der Becquerel- 
Strahlen in hohen Dosen, wie sie im all¬ 
gemeinen durch die Bestrahlungen mit 
Radium, Thorium und Mesothorium ge¬ 
läufig sind, ist als eine in der Hauptsache 
zerstörende bekannt: denn durch Zer¬ 
störung von Zellen oder Zellkomplexen 
wurden Geschwülste geheilt, Drüsen zur 
Resorption gebracht, Hauterkrankungen 
beseitigt usw. Allerdings auch da sind 
die Anschauungen im Fluß, viele, so vor 
allem Stephan^), wollen die therapeu¬ 
tische Wirkung, beispielsweise der Rönt- 
gehstrahlen, in einer Anregung der Zell¬ 
funktion der die kranken Stellen um¬ 
gebenden Zellen, ja unter Umständen des 
ganzen Organismus sehen. 

Bei innerer Bestrahlung, wie man die 
Anwendung von Radiumemanation viel¬ 
fach bezeichnet hat, handelt es sich meist 
um unverhältnismäßig geringe Strahlen¬ 
energien (in der Hauptsache, von Aus¬ 
nahmen, starken Injektionen, abgesehen), 
und demgemäß müssen wir eine biologi¬ 
sche Wirkungsweise im anregenden Sinne 
im tierischen Organismus erwarten. 

Ich kann und will nur skizzenhaft 
einiges andeuten und nur das bringen, 
was exakte Versuchsanordnungen ergeben 
haben und Was vor kritischer Betrachtung 
bestehen kann. 

Emanation bewirkt im lymphatischen 
Apparat sehr häufig eine Hyperleukocy- 
tose, nie eine Leukopenie. Der Ery- 
trocytenapparat wird nicht so häufig 
beeinflußt, manchmal im Sinne einer 
Hyperglobulie. Ich selbst beobachtete 
eine auffallende Zunahme der roten Blut¬ 
körperchen in einem Falle von perniziöser 
Anämie, wo Thorium vorher nicht gewirkt 
hatte. 

Herz und Gefäßsystem sind erst in 
spärlichen Versuchen unter Emanations¬ 
wirkung beobachtet. Man fand meist 
eine Blutdrucksenkung 2). Kernen und 
Kisch stellten in neusten Beobachtungen 
zum mindesten keine Blutdrucksteigerung 
bei Fröschen fest. 

Das chromaffine Gewebe wird in Mit¬ 
leidenschaft gezogen. Pigmentierungen 
sind beobachtet worden unter dem Ein¬ 
fluß großer Dosen oder bei langandauem- 
der Applikation. Als Nebenbefund machte 
ich ähnliche Beobachtungen. Nach länger 

1) M. m. W. 1920, Nr. 11. 

2) Zbl. f. Herzkrkh, 1919, Nr. 16. 





September 


Dte Therapie der Gegenwart 1921 


351 


dauernder Anwendung von mittelstarken 
Emanationswasserkompressen fand ich in 
mikroskopischen Schnitten stärkere Pig¬ 
mentierung der Haut wie bei Kontroll- 
versuchen 

. Auf die Magenfunktion scheint Emana¬ 
tion auch unter Umständen fördernd zu 
wirken (Achylie). 

Die Diurese wird angeregt, manchmal 
kommt es zu Albuminurie. 

Auf Keimdrüsen wirkt Emanation 
zweifelsohne fördernd. Tierversuche und 
Beobachtungen bei therapeutischen Ma߬ 
nahmen sprechen dafür ganz eindeutig. 
Der respiratorische Stoffwechsel steigt 
sowohl nach Trinken von Emanations¬ 
wasser, wie nach Inhalieren von Emana¬ 
tion, wie exakt nachgewiesen. Die Wärme¬ 
bildung wird gesteigert, daher auch manch¬ 
mal leichte Temperaturerhöhungen. Die 
Beeinflussung des PurinstoffWechsels 
spielt in der Emanationstherapie eine 
ganz besondere .Rolle. Die Einwirkung 
auf den U-Stoffwechsel im Sinne einer 
erhöhten Ausscheidung ist sehr eklatant 
und daher erklärt sich als Hauptindika¬ 
tion für. Emanationstherapie die Gicht. 
Die Beobachtungen sind ganz eindeutig 
und so übereinstimmend, daß man nicht 
allein eine mittelbare Wirkung (durch 
Anregung des Stoffwechsels im all¬ 
gemeinen, Beeinflussung der Funktion des 
Lymphocytenapparates und damit ge¬ 
wisser Fermente), sondern eine unmittel¬ 
bare Wirkung auf die Harnsäure anneh¬ 
men muß. 

Da die bisherigen Reagenzglasver¬ 
suche betreffend chemischer Zersetzung 
von Harnsäure unter Emanationswirkung 
nur bei Anwendung sehr aktiver Präpa¬ 
rate, also ungleich höherer Dosen, in 
diesem Sinne verliefen, glaubte man nicht 
ohne weiteres Analogieschlüsse auf die 
therapeutischen Dosen, die ja viel 
geringer sind, ziehen zu dürfen, besonders 
wenn man beoenkt, in welcher Verdün¬ 
nung die Emanation an der Zelle wirkt. 
Man kann nun sehr wohl diese Resultate 
mit den menschlichen Stoffwechselver¬ 
suchen in Einklang bringen, Wenn man 
die beobachtete Tatsache zu Hilfe nimmt, 
daß die kolloiden Gewebssäfte günstigere 
Löslichkeitsverhältnisse, bieten und so 
geringere Emanationsmengen erfordern. 

Eine ausgesprochene Wirkung auf das 
Nervensystem, also Nervengewebe,scheint 
entsprechend den später zu erörternden 
klinischen Beobachtungen bei nervösen 

Verh. D. Kong. f. inn. M. 1913. 


Störungen oder auch bei Nervengesunden 
anzunehmen zu sein und ist bei größeren 
Dosen auch histologisch nachzuweisen. 

Aus den bisher vorliegenden biolo¬ 
gischen Beobachtungen läßt sich un^ 
gezwungen ein Grundgesetz erkennen, das 
sich in den Satz formulieren läßt, daß 
die Becquerel-Strahlen in kleinen Dosen 
die im Protoplasma sich abspielenden 
Prozesse fördern, in großen Dosen auf das 
Protoplasma zerstörend wirken (Falta). 

Über den Mechanismus dieser Ein¬ 
wirkung können Wir uns auch eine ge¬ 
wisse Vorstellung machen, wenn wir an 
die fördernde Wirkung auf die Pflanzen¬ 
entwicklung denken, an die Beeinflussung 
der Harnsäureausscheidung, an die Wir¬ 
kung auf gewisse chemische Prozesse. 

Diesen Vorstellungen glaube ich durch 
eine Reihe von Versuchen aus dem 
Chemismus des intermediären Stoff¬ 
wechsels einen gewissen weiteren Unter¬ 
grund gegeben zu haben, die der Kenntnis 
des Mechanismus der Einwirkung radio¬ 
aktiver Stoffe ein gutes Stück näher¬ 
bringen und andererseits sehr wohl zu 
den obigen Resultaten passen. 

Beim künstlich durchbluteten über¬ 
lebenden Organe lassen sich gewisse 
Lebensvorgänge unter fast normalen 
Lebensbedingungen, wie man annehmen 
kann, beobachten, ebenso auch Abwei¬ 
chungen natürlich. Beobachtungen. .am 
intermediären Stoffwechsel sind so mög¬ 
lich. 

Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit 
waren bei Anwendung einer genügend 
feinen Methode Resultate zu erwarten, 
wenn die chemisch-biologische Wirksam-, 
keit derart war, wie man sie sich vor¬ 
stellte. 

Die Leber ist bei Trinken von Emana¬ 
tionswasser sehr intensiv, wie Messungen 
gezeigt haben, durch Emanation zu be¬ 
einflussen. Beobachtungen des Chemis¬ 
mus des intermediären Stoffwechsels inner¬ 
halb der überlebenden Leber durften als 
aussichtsvoll erscheinen, um den Mecha¬ 
nismus der Strahlenwirkung möglichst 
nahe an der Zelle zu studieren. Dem¬ 
gemäß wurden die Versuche, die in dem 
chemisch-physiologischen Institut von 
Prof. Embden vorgenommen Wurden*), 
angestellt. Versuchstiere erhielten einige 
Tage Radiumwasser von bestimmter Kon¬ 
zentration mit Schlundsonde, Wurden 
nach einer 24stündigen Hungerperiode 
entblutet, die Leber samt zu- und ab- 

0 Strahlenther., Bd. IX, 1920. 





352 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


September 


führenden Gefäßen herausgenommen und 
in den Durchströmungsapparat gebracht. 
Dann wurde Isovaleriansäure oder Tyrosin 
zu dem Durchströmungsblüt zugesetzt 
und nun die Acetessigsäurebildung beob¬ 
achtet, In zahlreichen Versuchen haben 
Embden, Michaud und andere eine 
ziemliche Konstanz der Acetessigsäure¬ 
bildung unter konstanten Verhältnissen 
festgestellt. Es fand sich nun bei dieser 
Versuchsanordnung, daß die Leber der 
Versuchstiere (Hunde), die der Radium¬ 
emanation ausgesetzt waren, höhere Acet- 
essigsäuremengen bildeten, wie die von 
unbehandelten Kontrolltieren und wie die 
der zahlreichen früheren Versuche von 
Embden und seinen Schülern. 

Die Resultate dieser Versuchsanord¬ 
nungen schienen also unsere Vermutung, 
daß eine Beeinflussung der Zeflfunktion 
bestände und auch nachzuweisen sei, zu 
bestätigen. Da die Acetessigsäurebildung 
aus Isovaleriansäure im wesentlichen ein 
Oxydationsvorgang ist, so dürfen wir 
aus der Vermehrung der Acetessigsäure 
in der isolierten Leber der mit Radium- 
emanationswasser behandelten Tiere ein 
Hinweis darauf erblicken, daß durch die 
Becquerel-Strahlen die Leberzellen ein 
erhöhtes Oxydationsvermögen für 
zugesetzte Isovaleriansäure gewonnen ha¬ 
ben. Wenn wir diese für die Leberzellen 
im speziellen Falle nachgewiesene Ein¬ 
wirkung der Becquerel-Strahlen, die in 
einer Steigerung des Oxydations¬ 
vermögens zu bestehen scheint, auch 
für andere Zellen und Zellengruppen an¬ 
nehmen würden, so würde dies in Einklang 
stehen mit den vermuteten, beobachteten 
und auch in dem Ergebnis nachgewiesenen 
fördernden Einfluß der Emanation auf 
mannigfache Lebensvorgänge. 

Im übrigen sind die Anschauungen 
über die verschiedenen Strahlenwirkungen 
noch im Fluß. Die Erscheinungen der 
Latenz, Fernwirkung und Nachwirkung 
scheinen nach Falta bei den verschiede¬ 
nen Strahlengattungen eine Rolle zu 
spielen. D'ie Frage ist bei der Indikations¬ 
stellung und Anwendungsform nicht ganz 
unwichtig. Die Wirkungsweise der Ra¬ 
diumemanation besteht nicht nur in dem 
fördernden oder hemmenden Einfluß auf 
die Zellen, sondern auch in seiner Eigen¬ 
tümlichkeit, bei längerer Einwirkungunter 
Umständen auch bei geringerer Konzen¬ 
tration energischer zu wirken, wie bei 
kürzerer Anwendung und hoher Kon¬ 
zentration. An anderer Stelle machte ich 
schon darauf aufmerksam, daß die Funk¬ 


tionssteigerung der Zellen unter , Emana¬ 
tionseinwirkung eine Analogie darstellt, 
zu der von Stephan vertretenen An¬ 
schauung, daß allgemeine Röntgenisie- 
rung des Organismus auf die Zelle"funk¬ 
tionsanregend wirkt und darin die Wir¬ 
kungsweise der Röntgenstrahlen zu su¬ 
chen ist. 

Messung und Dosierung. 

Ein Wort hier über die Maßbezeich¬ 
nung. Als Konzentrationseinheit wird 
meist die Mache ein heit verwendet. Es 
hat sich eingebürgert, sie auch für die 
Dosierung der Trinkkuren und sonstigen 
Anwendungsformen zu benutzen, obwohl 
es sich hierbei nicht um Konzentrations¬ 
einheiten, sondern um absolute Mengen 
handelt. Abgekürzt wird meist M.E. 
geschrieben. Man versteht darunter eine 
Stromeinheit, und zwar in Tausendstel 
der elektrostatischen Einheit, welche den 
Betrag angibt, den die in einem Liter 
Luft oder Wasser enthaltene Emana¬ 
tionsmengen zu unterhalten vermag. 

Die Maßeinheit Curie ist eine Mengen¬ 
einheit und Wäre zweckentsprechender 
zur Angabe der Stärke der Dosierungen 
in der Therapie zu verwenden wie Mache¬ 
einheiten. Doch ist letztere Bezeichnung 
einmal eingebürgert. Mikrocurie ist gleich 
Viooooo Curie und entspricht etwa 2670 
Macheeinheiten. 

Die Messung hat zwei Aufgaben zu 
erfüllen, die vorhandenen Strahlenarten 
zu definieren und den Gehalt an radium¬ 
aktiven Substanzen zu bestimmen. Die 
Strahlenarten setzen wir bei der prak¬ 
tischen Anwendung als bekannt voraus. 
Den Therapeuten interessiert es zu wissen, 
wie stark der Emanationsgehalt eines 
Präparates, eines Wassers, einer Flüssig¬ 
keitsmenge ist, wie er die Stärke messen 
und wie er sie bezeichnen kann. Daß 
Emanation, dieses färb- und geruchlose 
Gas, dessen Anwesenheit wir mit unserem 
Sinn nicht feststellen können, gemessen 
Werden kann, beruht unter anderem auf 
seinem lonisierungsvermögen, d. h. Luft, 
die mit Emanation in Berührung kommt, 
von den Strahlen derselben beeinflußt 
wird, wird leitend für den elektrischen 
Strom gemacht. Ist beispielsweise ein 
Elektroskop geladen und bringt man es 
in Verbindung mit Luft, welche durch 
Emanation ionisiert ist, so wird die 
Schnelligkeit der Entladung ein Maßstab 
für die Ionisation, d. h. Leitfähigkeit 
der Luft und damit für die Strahlungs¬ 
intensität. 





September 


, Die Therapie der Gegenwart 1921 


353^^ 


Solche Messungen sind mit Elektro- 
skop und Meßeinrichtungen z. B. nach 
Elster-Geitel, sehr einfach auszufüh¬ 
ren, die Technik diiffte in einigen Stunden 
erlernt sein. Dadurch ist es möglich, 
jederzeit Stichproben über den Emana¬ 
tionsgehalt eines Präparates anzustellen. 
Nur so können Über- oder Unt^rdosie- 
rüngen, sei es durch lässige Behandlung 
der Apparate seitens des Unterpersonals 
oder irgendwelche Versehen oder durch 
Versagen des betreffenden Apparates ver¬ 
mieden und rechtzeitig entdeckt werden. 
Bei allen klinischen - und biologischen 
Beobachtungen halte ich derartige Eigen¬ 
kontrollen für unumgänglich notwendig. 
Ich versäumte nie, bei Tier- und Menschen¬ 
versuchen in jedem Stadium der Ver¬ 
suche eine Kontrolle des jeweiligen Ema¬ 
nationsgehaltes. Eine solche Forderung 
liegt schon in der physikalischen Un¬ 
beständigkeit des Mittels gegenüber ande¬ 
ren pharmakologischen Präparaten. 

Wie ich aus Erfahrung weiß, sind die 
Vorstellungen in breiten Ärztekreisen 
nicht ganz klar, wieviel Macheeinheiten 
die gebräuchlichsten Bäder, Quellen, Ein¬ 
richtungen, Apparate usw. enthalten bzw. | 
produzieren, und welche Anforderungen i 
an eine Emanationskur bezüglich der 
Stärke zu stellen sind. 

Die stärksten Quellen von Joachinis- 
thal enthalten an der Anwendungsstelle 
(Bäderhaus) ca. 600 Macheeinheiten pro 
Liter, das wären für ein Bad 180 000 
Macheeinheiten. Solche Bäder sind zu¬ 
meist zu stark, sie müssen verdünnt wer¬ 
den. Andererseits ist für eine Trinkkur 
solches Wasser zu schwach, bei 200 g bei¬ 
spielsweise hätten wir nur 30 Macheein¬ 
heiten. Man muß mindestens 2000 bis 
10 000 Macheeinheiten pro die für eine 
vollwertige Trinkkur verlangen. Sonst ist 
sie wirkungslos und der Erfolg ist nur ein 
eingebildeter. Für Inhalationskuren ist 
eine .Stärke von mindestens 10 Mache¬ 
einheiten pro Liter Luft zu verlangen. 

Hieran knüpft sich die Frage für 
den praktischen Arzt, der sich für die 
Therapie interessiert, der sie in den Kreis 
seiner Behandlungsmethoden ziehen will, 
wo Radiumemanationskuren vorgenom¬ 
men werden sollen. Falta beantwortet 
die Frage, die auch er stellt, so: zu einer 
Radiumemanationskur gehört unbedingt 
Ruhe, sie soll daher in einem Kurort vor¬ 
genommen werden. Verfügt der betref- I 


fende Kurort nicht über die (soeben ari- 
gedeuteten) notwendigen starken Quellen, 
so soll er durch entsprechende Einrich¬ 
tung dafür sorgen, daß beliebig dosier¬ 
bare Kuren vorgenommen werden können. 
Schwere Fälle sollen in Krankenhäusern 
und Sanatorien behandelt werden, -r- Ich 
möchte dem noch hinzufügen: leichte 
Emanationskuren, die ambulant neben 
dem Berufe durchgeführt werden sollen 
und können, könpen überall vorgenommen 
werden. Trinkkuren, Inhalationskuren, 
Kompressenbehandlung lassen sich jeder¬ 
zeit überall ausführen; Vorbedingung ist 
selbstverständlich, daß das Wasser, die 
Inhaliereinrichtung zur Verfügung steht.. 
Apparate, die genügend starkes Ema¬ 
nationswasser produzieren, könnten in 
ausgedehnterem Maße wie bisher von d.en 
Fabriken geliefert in Apotheken, zur Ver¬ 
fügung stehen. Es ist zu hoffen, daß dieser 
Teil der Industrie sich nun in ruhigeren 
Zeiten wieder entwickelt, Wieder ansetzt 
dort, wo vor dem Kriege aufgehört Wurde, 
und daß entsprechend den neueren An¬ 
schauungen der Anwendung stärkerer 
Dosen auch dementsprechende Apparate 
zu mäßigen Preisen auf den Markt ge¬ 
bracht werden. 

Die weitere Forderung Falta’s, daß 
in Kurorten genügend starke Heilmittel 
zur Verfügung stehen müßten, ist eigent¬ 
lich selbstverständlich und wird hoffent¬ 
lich erfüllt werden. Man soll sich nur frei 
machen von dem Vorurteil, als ob nur 
natürliche Heilmittel zur Verwendung 
kommen dürften. Die Wirkung eines 
Bades von beispielsweise 60 000 Mache¬ 
einheiten ist nach dem heutigen Stande 
unserer Anschauung keine andere, ob das 
Wasser nun aktiviert ist oder aus der 
Quelle stammt (selbstverständlich nur 
bezüglich der Strahlenwirkung). Es 
kommt darauf an, daß die Therapie an 
einem Orte heimisch ist und reichliche 
Erfahrungen bestehen, dann schicke man 
seine Patienten getrost dorthin. 

Die Beurteilung, Welche Kurorte über 
die genügend starken therapeutischen 
Mittel verfügen, wdrd nicht ganz leicht 
sein. Das zur Verwendung kommende, 
sei es natürliche, sei es künstliche Ema¬ 
nationswasser muß pro Liter mindestens 
10 000 Macheeinheiten enthalten, davon 
gehe man aus. Dies gilt für Trinkkuren. 
Ein Bad soll, wie schon erwähnt, min¬ 
destens 30 000 Macheeinheiten enthalten. 

(Fortsetzung folgt iiri nächsten Heft.) 


45 





354 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


September 


Repetitorium der chlrurglsclien Therapie. 

Von M. Borchardt. 

Die Behandlung frischer Verletzungen. 

\ Von M. Borchardt und S. Ostrowski. (Fortsetzung.) 


B. Die Behandlung des Blut¬ 
verlustes. 

Im allgemeinen verhält sich das Indi¬ 
viduum innerhalb gewisser Grenzen Blut¬ 
verlusten gegenüber recht verschieden. 
Männer scheinen empfindlicher zu rea¬ 
gieren als Frauen, die z. B. bei Ruptur 
der graviden Tube oft ungeheure Blut¬ 
verluste öhne besondere Maßnahmen zum 
Ersatz des verlorenen Blutes überstehen. 
Bei den Blutverlusten leichteren und mitt¬ 
leren Grades bedarf es meist keiner 
momentanen, einen Blutersatz schaffen¬ 
den Behandlung. Die mehr oder weniger 
ausgesprochene Anämie, die diesen Blu-. 
tungen häufig folgen kann, heilt von selbst 
oder unter der üblichen, in der Darreichung 
von Eisen- und Arsenpräparaten be¬ 
stehenden, Therapie. Anders bei der 
Behandlung akuter, lebensbedrohender 
Anämien. Hier spielt die Frage eines 
schnellen Ersatzes für das zu Verlust 
gegangene Blut eine entscheidende Rolle. 
Die Fähigkeit, des Organismus, auch bei 
schweren Gefäßverletzungen die Blutung 
durch die aus' Mangel einer vis a tergo 
.schließlich erfolgende Blutdrucksenkung 
zum Stillstand kommen zu lassen, darf 
uns nicht zur Untätigkeit beziehungsweise 
einer abwartenden Haltung bestimmen. 
Wollen wir aber durch eine der dem 
Blutersatz dienenden Behandlungsmetho¬ 
den Erfolg sehen, so muß zuvor möglichst 
eine Hauptbedingung erfüllt sein:'Die 
Quelle der Blutung muß verstopft sein. 
Ohne vorausgehende Blutstillung ist ein 
Versuch des Blutersatzes unrationell und 
wenig aussichtsvoll. Die Gefahren schwe¬ 
rer Blutverluste für den Körper bestehen 
einmal in dem absoluten Flüssigkeits¬ 
verlust (Entwässerung), dann dem Defizit 
an endokrinen Stoffen und Salzen, dem 
Ausfall an Sauerstoffträgern und der da¬ 
durch bedingten Insuffizienz des Gasstoff¬ 
wechsels, weiter aber auch in einer Her¬ 
absetzung des Blutdruckes durch die 
Entleerung der Gefäße und die dadurch 
für das Herz und die Atmung direkt und • 
indirekt (mangelhafte Reizung ihrer ner¬ 
vösen Centren) sich ergebenden Folge¬ 
erscheinungen. Alle niese Punkte muß 
eine rationelle Therapie des Blutverlustes 
berücksichtigen.. Seit langem dienen 
diesem' Zweck in der Chirurgie drei Haupt¬ 


verfahren: 1, die Autotransfusion, 2. die 
Infusion blutisotonischer Lösungen, 3. die 
Bluttransfusion. 

Die Autotransfusion ist ein behelfs¬ 
mäßiges Verfahren, das wir für Fälle 
höchster Not, die uns zunächst keine 
Zeit zu anderen Maßnahmen lassen, nicht 
entbehren können. Der Kranke wird da¬ 
bei mit dem Kopf tief gelagert, seine 
Extremitäten werden eleviert und von 
der Peripherie her zum Rumpf hin aus¬ 
gewickelt. Die so bewirkte Einengung 
des Kreislaufes durch Zusammendrängüng 
des Blutes auf ein engeres Stromgebiet 
sorgt dafür, daß lebenswichtige Körper¬ 
gebiete in ausreichender Weise durch¬ 
strömt, der Blutdruck gehoben, die Herz¬ 
kraft gebessert und die Atmung durch 
ausgiebigere Durchblutung des Atem¬ 
centrums in der Medulla oblongata an¬ 
geregt wird. Für sich allein kann das 
Verfahren nur vorübergehend für kurze 
Zeit seinen Zweck erfüllen. Im Vergleich 
zu den beiden anderen Methoden verhält 
es sich etwa wie die provisorische Blut¬ 
stillung zur definitiven. 

Ist- die Kreislaufdynamik durch zu 
starke Entleerung der Gefäße gröber be¬ 
einträchtigt und droht dem Herzen durch 
das dadurch bedingte ,,LeerIaufen‘' Ge¬ 
fahr, so bedarf es einer schleunigen Auf¬ 
füllung des Gefäßsystems. 

Die Infusion blutisotonischer Lösungen 
zum Ausgleich von Blutverlusten ist eine in 
der praktischen Chirurgie überaus häufig 
notwendige und unentbehrliche Ma߬ 
nahme. Neben dem schnellen Ersatz 
des Flüssigkeitsverlustes hilft sie uns die 
durch Vasokonstriktorenlähmung hervo'r- 
gerufene bedrohliche Blutdrucksenkung 
überwinden, durch Durchspülung des 
Körpers (innere Organismuswaschung) die 
Ausscheidung von Toxinen bei Infektionen 
beschleunigen und durch Alkalizufuhr den 
Gasstoffwechsel des Blutes gewährleisten. 
Außer der am häufigsten gebrauchten, 
0,9 %igen physiologischen Kochsalz¬ 
lösung erfüllt diesen Zweck noch eine 
Reihe zum Teil aus anderen Gesichts¬ 
punkten zusammengesetzter Lösungen, 
zum Teil in noch vollkommnener Weise. 
Die 0,9 %ige Lösung entspricht von den 
beiden Forderungen nach physikalischer 
und physiologischer Isotonie streng ge- 





September 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


355^ 


Tiomnien nur der ersten; der zweiten in¬ 
sofern nicht genau, als neben dem NaCl 
in den Geweben noch andere Salze eine 
Rolle spielen. Für die Erklärung von 
Fieberbewegungen nach Infusion physio¬ 
logischer Kochsalzlösungen ist hierdurch 
vielleicht ein Hinweis gegeben. Bei der 
•einer physiologisch isotonischen Lösung 
in strengem Sinne am nächsten kommen¬ 
den Ringerschen Lösung fehlt diese Be¬ 
obachtung. Sie hat nach der Empfehlung 
Lockes folgende Zusammensetzung: 
NaCl 0,9, KCl 0,042, CaCls 0,024, NagCÖg 
0,03, aq. dest. ad 100,0. 

Thieß hat folgende Änderung der Zu¬ 
sammensetzung vorgeschlagen und ex¬ 
perimentell begründet: 

NaCl 0,85, KCl 0,03, CaClg 0,03. 

Anstatt der Eitaigießung dieser Lö¬ 
sungen kann unter bestimmten Verhält¬ 
nissen die Infusion von Zucker-Salz¬ 
lösungen oder reinen Traubenzucker- 
iösungen geboten sein. Die Kuhnsche 
Alkalisacharatlösung enthält 4,0 Dex¬ 
trose, 0,04 Calciumsacharat und 0,85 | 
Natriumchlorat auf 100,0 aq. dest. | 
Sie soll, da Traubenzucker gerinnungs- | 
hemmend wirkt, die Thrombosengefahr 
bei der Infusion verhindern. Die Ein¬ 
gießung reiner Zuckerlösungen (5 bis 7 % 
Traubenzucker enthaltend) ist geboten., 
wenn gleichzeitig Nierenerkrankungen mit 
Salzretention eine' Gegenanzeige gegen 
Infusion von Salzlösungen abgeben oder 
bei bedrohlicher Herzschwäche eine Be¬ 
lebung des Herzmuskels erwünscht ist. 
Diese sehr bemerkensweite Wirkung des 
Traubenzuckers auf den funktionsschwa¬ 
chen Herzmuskel ist neuerdings von 
Büdingen zur Grundlage einer Ernäh¬ 
rungstherapie des kranken Herzmuskels 
gemacht worden, die auch in der Chirurgie 
Beachtung finden muß. Büdingen in¬ 
fundiert bei Erschöpfungszuständen des 
Herzmuskels 15 bis 20 %ige Trauben- 
zuckeriösungen, eventuell mehrfach, 
und meint danach eine merkliche Er¬ 
holung desselben gesehen zu haben. In 
letzter Zeit ist man dazu überge¬ 
gangen, wesentlich konzentriertere Lö¬ 
sungen (50 %ige Dextroselösungen) zu 
infundieren. In der Chirurgie kämen für 
eine solche Behandlung toxische Schwä¬ 
chezustände des Herzmuskels bei Infek¬ 
tionen oder Herzmuskelschwäche ex a - 
aemia bei schweren Blutungen in Frage. 

Die Technik der Infusion sowie die 
dazu gehörige Apparatur sollen hier nicht 
eingehender beschrieben werden. Sie sind 
jedem Praktiker wohl bekannt. Sehr 


zweckmäßig sind die im Handel erhält¬ 
lichen Glastuben, die, zugeschmolzen, ab¬ 
gemessene Mengen steriler Infusions¬ 
lösungen enthalten und nach Erwärmung 
im Wasserbade auf 40® die sofortige In¬ 
fusion gestatten. Verbindet man das zu¬ 
gespitzte Tubenende nach Abbrechen der 
Spitze mit einem sterilen Schlauch, der 
mit der Infusionsnadel armiert ist, so hat 
der Praktiker somit die Möglichkeit, ohne 
besondere Mühe und technische Schwie¬ 
rigkeit die Infusion auszuführen. Die 
isotonischen Salz- und Zuckerlösungen 
werden, körperwarm, in Mengen von 500 
bis 1000 ccm subcutan, rectal oder intra¬ 
venös infundiert. Die Art der Einführung 
hängt von der Dringlichkeit des Falles 
ab. Bei akuter Anämie oder plötzlicher, 
bedrohlicher Blütdrucksenkung ist die 
intravenöse Infusion die Methode der 
Wahl, in weniger eiligen Fällen einer der 
beiden zuerst genannten Wege. Das 
Hauptkriterium ist und bleibt in jedem 
Falle die Beschaffenheit aes Blutdruckes, 
Wenn bei weit unternormalen Werten 
desselben die Resorption aus dem sub- 
cutanen Gewebe oder durch die Rectal- 
khleimhaut in Frage gestellt ist, so wäre 
es unzweckmäßig, den subcutanen oder 
rectalen Weg zu wählen. 

Wichtig ist die Dosierung der einzu¬ 
führenden Lösungsmengen und die Re¬ 
gulierung des Önflußtempos. Es ist 
durchaus nicht gleichgültig, ob 500, 1000 
oder 2000 ccm einlaufen. Übersteigt die 
eingeführte Menge, was sehr bald unter 
gewissen Umständen eintreten kann, den 
augenblicklich . notwendigen Bedarf, so 
muß der Organismus die plötzliche, für 
ihn schädliche Überlastung des Gefä߬ 
systems auszugleichen suchen. Er tut 
dies teils durch Herabsetzung des Gefä߬ 
tonus und wirkt dadurch gerade unserer 
Absicht, den Blutdruck zu heben, ent¬ 
gegen oder dadurch, daß die überschüssige 
Flüssigkeit in die GeVv^ebe diffundiert und 
hier gleichfalls eine Überlastung für den 
Flüssigkeitsaustausch in den Geweben 
bedeutet. Deshalb lassen wir unter ge¬ 
nauer Pulskontrolle so lange Flüssigkeit 
einfließen, bis der Pulsdruck sich merk¬ 
lich gebessert hat. 500 bis höchstens 
1000 ccm werden hieizu meistens hin¬ 
reichen. Läßt die Wiiküng nach, so 
wiederholen wir die Infusion oder schließen 
an die erstmalige Infusion die neuerdings 
empfohlene intravenöse Dauerinfusion an. 
Sie bewirkt eine langsame Nachfüllung 
des Gefäßsystems und vermeidet jede 
schädliche Überlastung desselben. Die 

45* 






356 


Die Thej^apie der Gegenwart 1921 


September 


Apparatur ist ähnlich der gleich bei der 
rectalen Dauertropfinfusion zu beschrei¬ 
benden. Die Infusionsnadel bleibt durch 
einen zweckmäßigen, die Venaesectio- 
wunde schützenden Verband fixieit, in 
die Ellbogenvene eingebunden, liegen. 
Der Vorzug des Verfahrens ist der, daß 
jederzeit in schonendster Weise, wenn es 
nötig wird, aus einem etwa 50 cm über 
der Einflußhöhe in einem Wärmeisolier- 
mante.1 stehenden Reseivoir Flüssigkeit 
nachfließen kann. Schaltet man in dem 
Zuleitungsschlaiich die Martinsche Tropf¬ 
kugel ein und drosselt den Schlauch durch 
den sogenannten Tropfenregulator, so 
kann man bei genau regulierter Tropf¬ 
folge Flüssigkeit in die Vene eintropfen 
lassen. Bei bedrohlicher Herzschwäche 
ist es ein leichtes, durch Beifügung von 
herzstimulierenden und blutdruckstei¬ 
gernden Mitteln (wie Strophantin, Digi¬ 
talispräparaten, Adrenalin oder Pituri- 
trin) schnelle Wirkung zu erzielen. Die 
Möglichkeit, durch Adrenalinzusatz den 
sinkenden Blutdruck schnell zu heben, 
ist ein weiterer Vorteil der intravenösen 
Infusionsmethode; denn bei den anderen 
sind wir gezwungen, das die Resorption 
hemmende Adrenalin wegzulassen. Die in¬ 
travenöse Dauerinfusion läßt sich aber nur 
bei ruhigen Patienten und unter Wahrung 
sorgfältigster Asepsis durchführen. 

Durch die rectale Dauerinfusion ver¬ 
mögen wir gleichfalls in schonendster 
Weise dadurch dem Körper mit Leichtig¬ 
keit größere Flüssigkeitsmengen zuzu¬ 
führen, daß wir durch Tropfenregulierung 
mit den gleichen Apparaten, wie sie oben 
beschlieben winden, durch ein Darmrohr 
nur so viel einfließen lassen, als die Mast¬ 
darmschleimhaut eben aufsaugen kann. 
Dem eigentlichen Tropfeinlauf ist ein 
Reinigungseinlauf vorauszuschicken. 


Die subcutane Infusion erfolgt‘meist 
unter die Haut der Biust (Infraclavi- 
culargruben), des Bauches oder der 
Oberschenkel. Die Einverleibung größe¬ 
rer, d. h. wirksamer Flüssigkeitsmengen 
unter die Haut ist jedoch häufig recht 
schmerzhaft. Daneben muß noch auf 
einige Punkte aufmerksam gemacht wer¬ 
den, deren Nichtbeachtung zu allerlei 
Schädigungen für den Patienten iühren 
kann. Die Hautspannung darf nicht zu. 
hohe Grade erreichen, da in einzelnen 
Fällen schon Gangrän der Haut beob¬ 
achtet wurde. Deshalb empfiehlt es sich, 
von Anbeginn der Infusion durch eine 
sanfte Streichmassage für ■ eine hin¬ 
reichende Verteilung der Flüssigkeiten im 
Subcutangewebe zu sorgen und gleich¬ 
zeitig diese Verteilung durch ein häuii- 
geres Verschieben der' Infiisionsnadel im 
Unterhautzellgewebe zu erleichtern. Zu 
langes Liegenlassen der Nadel bringt, die 
Gefahr der Infektion mit sich und ist 
deshalb tunlichst zu vermeiden. Neuer¬ 
dings ist geraten worden, von der In¬ 
fusion unter die Brusthaut abzusehen, da 
hier die * Hautspannung trotz der oben 
genannten Hilfsmaßnahmen doch recht 
empfindliche Grade erreichen kann. Es 
ist erklärlich, daß dadurch die Atmung 
mechanisch und willkürlich behindert und 
dem^ Entstehen oder der Förderung schon 
bestehender Limgenkomplikationen Vor¬ 
schub geleistet (wird. Wir infundieren 
an unserer Klinik subcutan fast aus¬ 
schließlich bei Kindern und bevorzugen 
aus den dargelegten Gründen die intra¬ 
venöse und rectale Infusion mit befriedi¬ 
gendem Resultat. Trotzdem ist die sub¬ 
cutane Infusion die Methode der Wahl 
für die Praxis und hier unentbehrlich, 
weil sie wirksam und technisch einfach 
zugleich ist. 


Referate. 


Für die Behandlung der entzündlichen 
Adnextumoren hat sich das Terpentin, 
wie aus der reichhaltigen Literatur zu 
ersehen ist, sehr bewährt. Die von einigen 
Autoren gemeldeten Mißerfolge sind nach 
Sonnenfeld darauf zurückzuführen, daß 
die Einspritzungen in zu großen Ab¬ 
ständen erfolgten, und daß auch während 
der Menses eine Pause eintrat. Bei den 
tuberkulösen Adnextumoren hat dieses 
Mittel völlig versagt; auch das hierfür 
empfohlene Caseosan ergab nur Mi߬ 
erfolge. Um nun zu prüfen, ob das Ca¬ 
seosan überhaupt bei der Behandlung ent¬ 


zündlicher Erkrankungen in Frage komme,. 
wurde es als Caseosan-Heyden außer 
bei drei tuberkulösen noch bei 37 Adnex¬ 
erkrankungen, die teils im akuten, teils 
im chronischen Stadium waren, von 
Sonnenfeld angew^andt; der Erfolg war 
folgender: Das Caseosan, welches nur in 
der Klinik intravenös eingespritzt wer¬ 
den kann und den Patienten große Be¬ 
schwerden macht, ist dem Terpentin sehr 
unterlegen, welches gereinigt und entharzt 
z. B. als Terpichin zur Injektion genom¬ 
men wird, und das an Wirksamkeit und 
Schnelligkeit des Erfolges alle übrigen kon- 




■September 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


357 


5ervativen Behandlungsmethoden über¬ 
trifft. Pulvermacher (Charlottenburg). 

(Zbl.f. Gyn. 1921, Nr. 19.) 

Zur Frage der Verminderung der Blu- 
'tung bei Operationen nach prophylak¬ 
tischer Röntgenbestrahlung der Milz be¬ 
richtet Kurtzahn aus der Königsberger 
chirurgischen Klinik (Kirschner) über 
experimentelle Untersuchungen am Men¬ 
schen und kommt zu dem Schluß, daß 
nach den'doitigen Erfahrungen die Frage, 
•ob durch prophylaktische Milzbestrah- 
iung bei dem gewöhnlichen Operations¬ 
material eine praktisch wesentliche Blut¬ 
ersparnis zu erzielen ist, verneint werden 
muß. Willibald Heyn (Berlin). 

(Zschr.f. Chir. Bd. 162, H. 5/6, S. 373.). 

In der Gruppe der Sondernährstoffe 
oder Vitamine nimmt nach den Unter¬ 
suchungen von Wacker und Beck das 
Cholesterin eine wichtige Stellung ein, 
indem es \vahrscheinlich zu jenen Körpern 
jgehört, die eine antirachitische Wirkung 
.ausüben. Das Cholesterin, das sich in 
^llen Körperzellen, besonders in den 
Leukocyten, im Nervengewebe und in 
der Galle findet, kann im Serum ver¬ 
mindert sein, so bei den meisten Infek¬ 
tionskrankheiten, oder es kann, wie bei 
Ikterus und manchen Nierenerkrankungen, 
vermehrt sein. In seiner Begleitung be¬ 
findet sich ein Lipochrom, das den athe- 
romatösen Cholesterinesterablagerungen 
und den Xanthomen ihre Farbe gibt. 
Eine physiologische Hypercholesterin- 
ämie kommt außer im Senium während 
-der letzten Mon'ate der Schwangerschaft 
vor; bei der Hündin unter gleichzeitiger 
Verminderung des Gallen-Cholesterins. 
Der Durchschnittswert der Frauenmilch 
an Cholesterin ist 0,14 g pro Liter, der des 
-Colostrums etwa das Dreifache davon. 
Prozentual auf das gesamte Milchfett be¬ 
rechnet, ist die Frauenmilch cholesterin- 
reicher als die Kuhmilch und steht an 
Cholesteringehalt dem Lebertran nahe.— 
Klinisch beobachteten die Verfasser an 
Säuglingen bei Cholesterinzulagen grö¬ 
ßeren Widerstand gegen Infekte ver¬ 
schiedenster Art, raschere Gewichtszu¬ 
nahmen bei Atrophikern, Besserung der 
Stühle. Die Stoffwechselversuche geben 
“hierfür die Erklärung, nämlich erstens 
durch den Zusammenhang zwischen pho- 
lesterin und Fettstoffwechsel. Bei Über¬ 
schreitung der Fettoleranz, also bei 
schlechter Resorption, kommt es zu 
n ega ti ven Cho les te rinb ilan zen, ebenso 
bei Durchfällen. Dies gibt auch einen 
^gewi^sen Hinweis auf das Zustande¬ 


kommen der Rachitis beim überernährten 
Kinde. Ferner vermindert Cholesteriri- 
darreichung die Ausscheidung von Erd¬ 
seifen im Stuhl. Andere Autoren fanden 
bereits bei Lebertranbehandlung niedri¬ 
gere Kalkwerte im Stuhl, höhere im Blut. 
Entsprechend sind wohl auch jene An¬ 
gaben zu deuten, nach welchen Kinder — 
wie z. B. auf den Hebriden — unter küm¬ 
merlichsten Luft- und Lichtverhältnissen 
aufwachsen, aber vollkommen frei von 
Rachitis sind; diese Kinder bekommen 
im ersten Jahr nur die Brust, auch die 
spätere Ernährung ist cholesterinreich. 
Die Folgezustände bei Cholesterin-Karenz 
stehen mit dem Tierexperiment im, Ein¬ 
klang. Das aus Gallensteinen durch Alko¬ 
hol-Extraktion gewonnene Cholesterin 
Wurde längere Zeit verabreicht in Tages¬ 
dosen von 0,15, in Milch suspendiert. Es 
ist angezeigt bei allen Ernährungsstö¬ 
rungen nach fettarmer Ernährung und 
bei allen Durchfällen, e. joei (Berlin). 

(B.kl. W. 1921, Nr. 18.) 

Die Behandlung der Pleura-Em¬ 
pyeme hat aus der Kriegs- und Grippezeit 
neue Erfahrungen gewonnen, die W. John 
(Münchner chirurgische Klinik),eingehend 
bespricht. Daß die chirurfrische Behand¬ 
lung wie früher den ersten Platz einnimmt, 
bleibt außer Zweifel, aber sie sollte sich 
nient bloß mit ■'Entleerung aes Exsudats 
begnügen, sondern als wichtigstes Ziel 
die Wiederentfaltung der Lunge und die 
Vermeidung einer partiellen oder totalen 
Empyemresthöhle vor Augen haben. Von 
aen verschiedenen Empyemen, den trau¬ 
matischen, autochthonen, para- und meta¬ 
pneumonischen, den Empyemen bei Lun- 
genabseeß und -gangrän und den durch 
Perforation entzündlicher Prozesse aus 
der Nachbarschaft entstandenen Ergüssen 
neigen einige zur Selbstheilung: Durch¬ 
bruch unter die Haut oder — besonders 
bei den interlobäien Empyemen — in 
einen Bronchus. In dor Regel aber würde 
der Patient ohne Behandlung an Infektion 
oder Mediastinalverdrängung zugrunde 
gehen. Die Therapie gestaltet sich dann 
folgendermaßen: Führt einmalige oder 
wiederholte Punktion nicht zur Entfiebe¬ 
rung und Resorption, so wird zur Thorako¬ 
tomie geschritten mit dem allgemeinen 
Plan einer schonenden Entlastung der 
Pleuia bei gleichzeitiger Blähung aer 
Lunge, um einen offenen Pneumothorax 
möglichst zu vermeiden. Nach ausgiebiger 
Punktion am Vorabend wird am nächsten 
Tage in Lokalanästhesie und unter Druck¬ 
differenz von 10 bis 12 ccm Wasser durch 



358 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


September 


Resektion von zwei bis drei Rippen breit 
eröffnet und entleert. Unter Belässung 
eines gewissen Zwischenraums zwischen 
geblähter Lunge und parietalem Brustfell 
Einführung eines großen Mikulicztampons 
und Anlegung eines durch Mastix be¬ 
festigten abdicTitenden Perthesschen Bill- 
rothbattistverbandes. Nach etwa drei 
Tagen unterWasserdruckVerbandwechsel, 
desgleichen wieder nach acht bis 14 Tagen. 
Nach etwa 2% Wochen Abnahme des 
abdichtenden Verbandes. Gelegentliche 
kleine Komplikationen, wie z. B. Reten¬ 
tionen durch zu schnelle Verklebung oder 
Temperaturanstiege durch zu lebhafte 
Resorption seitens der geblähten Lunge, 
sind leicht zu beseitigend Das Verfahren 
ist besonders bei para- und metapneump- 
nischen Empyemen angezeigt; bei trau¬ 
matischen, Absceß- und Gangränempy¬ 
emen sowie bei stark verdrängenden Er¬ 
güssen erst einige Tage nach gewöhnlicher 
Thorakotomie. Das Druckdifferenzver¬ 
fahren bewährt sich besonders dadurch, 
daß es die entstellenden und oft lebens¬ 
gefährlichen plastischen Nachoperationen 
überflüssig macht. Was für die nicht¬ 
tuberkulösen Empyeme Ziel der Behand¬ 
lung ist: die Wiederentfaltung der Lunge, 
muß bei den tuberkulösen Empye¬ 
men vermieden werden. Die Thorako¬ 
tomie hat aber hier noch die andere 
Gefahr, den Weg für eine schwere Misch¬ 
infektion der Pleura zu bahnen. Nur wo 
diese besteht, darf die Thorakotomie 
ausgeführt werden, indem hier'die Gefahr 
der allgemeinen Sepsis höher zu veran¬ 
schlagen ist, als die Gefahr der fort¬ 
schreitenden ^Lungentuberkulose. Man 
Wird auch hier mit Tamponade vergehen, 
die gleichzeitig auf die Lunge kompri¬ 
mierend und auf das Exsudat absaugend 
wirkt. Die bald nach der Thorakotomie 
aasgeführte Thorakoplastik zeitigt hier 
und da gute Erfolge. Ein anderer Weg 
ist der von Spengler angegebene, lach 
ergiebiger Punktion auren eine exfcra- 
pleurale Plastik den Brustkorb so einzu¬ 
engen, daß sich ein neues Exsudat aus 
Raummangel nicht mehr oder doch nicht 
zur bisherigen Größe entwickeln kann. 
Gleichzeitig wird dadurch die Lunge in 
Retraktion gehalten. Seröse und bland¬ 
eitrige Exsudate soll man punktieren und 
durch Einspritzungen von Lugolscher 
Lösung keimärmer zu machen suchen. 
Mischinfizierte Empyeme wird man thora- 
kotomieren, um die drohende Intoxikation 
abzuwenden. Die plastische Deckung des 
Defektes wird man in solchen Fällen mihr 


dosieren, wenngleich die Aussichten auf 
Heilung gerade hier ungünstig sind. 

E. Joel (Berl.n). 

(M. m. W. 1921, Nr. 12 u. 18. 

• Die Nebennierenreduktion in der 
Behandlung der genuinen Epilepsie, über 
welche in dieser Zeitschrift ausführlich 
berichtet worden ist (S. 260), ist neuer¬ 
dings von zwei.-verschiedenen Chirurgen 
mit sehr verschiedenem Erfolg ausgeführt 
worden. Steinthal (Stuttgart) berichtet 
über sieben Fälle von genuinei Epilepsie,, 
welche bisher erfolglos mit den bekannten 
Mitteln behandelt worden sind und b^i. 
denen er sich zu dem immerhin recht 
schweren Eingriff entschlossen hat. Es 
handelte sich um fünf männliche und zwei 
weibliche Individuen, die im Alter von 
15 bis 29 Jahren standen. Bei einem 
Kranken war ein Kopftrauma voran¬ 
gegangen, welches vielleicht für die Epi¬ 
lepsie als ursächliches Moment in Frage 
kam, die anderen zeigten die echte genuine 
Form. Die Dauer der Erkrankung betrug; 
stets mehrere Jahre. Alle Fälle waren 
unter die schweren Formen zu rechnen. 
Steinthal hielt sich bei der Wahl des 
Operationsverfahrens an die Vorschriften 
von Küttner, der nach Wegnahme der 
zwölften Rippe zunächst die Niere und 
dann an deren oberen Pol die Nebenniere 
freilegt. Der Autor gibt diesem Weg 
vor dem transperitonealen den Vorzug,, 
in erster Linie deshalb, weil das Peri¬ 
toneum geschont bleibt, dann aber auch, 
wegen der Möglichkeit einer zweckmäßi¬ 
gen Drainage im Falle einer nicht voll- 
komm^men Blutstillung. Nur vier Fälle 
heilten reaktionslos, zweimal mußte wegen 
Verhaltung die Wunde wieder geöffnet 
werden, bei einem weiteren Kranken, bei 
dem die Nierenvene bei der Operation 
verletzt worden war, mußte die Niere 
später entfernt werden. Die Haupt¬ 
schwierigkeit der Operation liegt darin,, 
daß es nicht leicht ist, die Nebenniere 
vollkommen zu entfernen, ohne daß Reste 
Zurückbleiben. In keinem der Fälle 
ist ein durchschlagender Erfolg 
erzielt worden. Wohl zeigte es sich, 
daß die nächste Zeit nach der Operation 
die Anfälle zunächst ausblieben, aber 
dann stellten sie sich wieder genau wie 
früher ein. Zusammenfassend erklärt 
nach diesen Erfahrungen der Autor, daß- 
die Nebennierenreduktion bis jetzt keines¬ 
wegs als ein Heilmittel gegen die genuine 
Epilepsie betrachtet werden kann. 

Zu dem gleichen Gegenstand schreibt 
Sändor (Ujpest, Ungarn). Er hat vier 





September 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


359 


Fälle operiert. Auch dieser Autor hebt 
die Schwierigkeiten der Operation hervor. 
Er ei lebte zweimal im Anschluß an die 
Operation pneumonische Erscheinungen 
mit Empyem; einer dieser Kranken ist 
gestorben. Bei zwei Kranken, deren Be¬ 
obachtungszeit allerdings nur eine sehr 
kurze ist (vier Wochen beziehungsweise 
zwölf Tage), haben sich bisher keine 
neuen Anfälle gezeigt. Bei einem weiteren 
Kranken, bei dem die Operation mehrere 
Monate zurückliegt und bei welchem eine 
schwere schon zur Verblödung führende 
Form bestand, sind die Anfälle sehr selten 
geworden und auch in ihrem Charakter 
wesentlich milder als vor der Operation. 
Immerhin gibt Sändor selbst an, daß 
seine Beobachtungszeit für eine Beur¬ 
teilung eines wirklichen Erfolges zu kurz 
ist, glaubt jedoch, daß man nicht nur 
berechtigt, sondern verpflichtet ist, auf 
diesem verheißungsvollen Wege fortzu¬ 
fahren. Havward. 

(Zbl. f. Chir. 1921, Nr. 25.) 

Ernst Müller veröffentlicht aus der 
Leipziger Klinik einen Fall von Fraktur 
beider Großzehensesambeine am linken 
Fuße. In den meisten Fällen, besonders 
beim Fehlen eines vorausgegangenen Trau¬ 
mas ist die Differentialdiagnose recht 
schwierig, ob es sich um eine Fraktur 
oder eine kongenitale Teilung^ dieses klei¬ 
nen Knochens handelt. Stumme hat 
deshalb folgende Unterscheidungsmerk¬ 
male zusammengestellt: 

1. Die Frakturen zeigen scharfe Ecken 
und Spitzen, die kongenitalen Tei¬ 
lungen dagegen Abrundungen an den 
einander zugekehrten Trennungs¬ 
linien. 

2. Den Frakturlinien fehlt die Corti- 
calis, die Teilungen haben sie. 

3. Die Bruchstücke können die mannig- 
fachsteForm zeigen, die kongenitalen 
haben fast stets rundliche oder ovale 
Form. 

4. Die Bruchstücke werden nach einiger 
Zeit Zeichen einer Verheilung dar¬ 
bieten bzw. ganz verwachsen. Die 
kongenitalen Teilungen bieten bei 
wiederholten Aufnahmen immer das 
gleiche Aussehen. 

Im vorliegenden Fall konnte hiernach 
einwandfrei eine Fraktur festgestellt 
werden. Außerdem waren noch die 
Grundphalangen I—IV sämtlich frak- 
turiert. (Patienten war ein vier Zentner 
schweres Eisenstück auf den linken Fu߬ 
rücken gestürzt.) Besonders erwähnens¬ 


wert ist hier die Fraktur beider Sesam- 
beine. ^-Willibald Heyn (Berlin). 

(Zschr. f. Chir. Bd. 162, H. 5/6, S. 392.) 

Neuerdings berichtet Mayer-Bisch . 
(Med. Klinik Göttingen) über die erfolg¬ 
reiche Behandlung chronisQn deformieren¬ 
der Gelenkerkrankungen mit Schwefel, 
welche in Frankreich seit zwei Jahren 
.sehr empfohlen wird. Angewandt wurde 
1,0 g Sulfur, depurat. in 100,0 g Ol. 
Olivarum, wovon intraglutäal in Ab¬ 
ständen von sechs bis sieben Tagen zu¬ 
nächst je 2 ccm danach allmählich über 
5 bis 10 ccm injiziert wurde. Die Injek¬ 
tionen wurden so häufig wiederholt, als 
es der Zustand des Patienten erforderte. 
Diese Behandlungsweise wurde in 15 Fäl¬ 
len, und zwar bei primär chronischer 
Arthritis und Osteoarthritis deformans, 
bei Polyarthritis chronica rheumatica und 
bei chronischer Versteifung der Wirbel¬ 
säule teilweise mit sehr gutem Erfolg; 
angewandt. *'12 bis 24 Stunden nach der 
Injektion trat bei allen Patienten Fieber 
(bis 39 ®) mit schwerem Krankheitsgefühl 
auf. An der Injektionsstelle gelbliche Ver¬ 
färbung der Haut und im Urin Urobilin. 
Mit Beginn des Fiebers Nachlassen der 
Schmerzen in aen Gelenken und Zunahme 
der Beweglichkeit. Entfieberung trat 
nach 24 bis 48 Stunden ein. Bei erneuter 
Injektion Nachlassen der Reaktion ohne 
Beeinflussung des therapeutischen Effekts^ 
Nur in einem Falle mußte wegen un¬ 
günstiger Beeinflussung des Allgemein¬ 
zustandes von der Kur Abstand genom¬ 
men werden. 

Es wurden von fünf Fällen von primär 
chronischer Arthritis vier völlig be¬ 
schwerdefrei; bei einem Falle von Osteo¬ 
arthritis chronica deformans wurde keine 
Besserung erzielt, ebenso in einem Falle 
von Osteoarthritis deformans des Hüft¬ 
gelenks; vier Fälle von chronischer Poly¬ 
arthritis rheumatica wurden geheilt. Bei 
einem Falle von subakuter Arthritis 
rheumatica trat trotz der Schwefelbehand¬ 
lung ein Rezidiv aus. Bei drei Fällen von 
chronischer Versteifung der Wirbelsäule 
wurde einer fast völlig beschwerdefrei, 
zwei etwas gebessert. Mithin erscheinen 
für die Schwefelbehandlung geeignet alle 
Fälle von primär chronischer Arthritis, 
chronische Arthritis rheumatica und be¬ 
dingt chronische Versteifungen der Wir¬ 
belsäule, dagegen ungeeignet die Fälle 
von Osteoarthritis deformans, die sich 
hauptsächlich auf die gioßen Gelenke 
lokalisiert. E. Borchart (Berlin). 

(M.m. W. Nr. 17.) 



360 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


September 


Diagnostische Irrtümer auf gynä¬ 
kologischem Gebiete werden nach Peter- 
son dadurch begangen, daß man nicht 
daran denkt, daß Abdominalorgane ver¬ 
lagert sein können. An der Hand von fünf 
Fällen wird gezeigt, welche Fehldiagnosen 
gestellt werden können, wenn man nicht 
an einen abnormen Situs denkt. So wurde 
der durch eine Öffnung im hinteren 
Scheidenraum vorgefallene ampulläre Teil 
der Tube mit einem Granulom verwechselt, 
mehrmals wurden Nierencysten für Ova- 
rialcystome angesehen; bei einer Wander¬ 
milz, welche auf einem retroflektierten 
Uterus saß, wurde die Diagnose auf Myom 
gestellt. Am Schluß seiner Arbeit kommt 
Petersen zu folgenden Schlußfolge- i 
Tungen: Irrtümer in der gynäkologischen 
Diagnose, welche durch dislozierte Or¬ 
gane entstehen, sind nicht ungewöhnlich, 
wenn auch die Literatur hierüber wenig 
berichtet; daß sie Vorkommen, ist da¬ 
durch zu erklären, daß oft Oberflächlich¬ 
keit und vorgefaßte Meinungen vor¬ 
herrschen, wodurch wichtige Angaben 
in der Anamnese und physikalische Be¬ 
funde übersehen oder unbekannt sind. 
D,em für die Patientin oft verhängnisvollen 
Übel kann dadurch abgeholfen werden, 
daß sämtliche diagnostischen Hilfsmittel 
herangezogen werden. In jedem Falle 
sollte eine Diagnose gestellt und schrift- 
hch fixiert werden, um aus Irrtümern, 
die sich bei der Operation heraussteilen, 
2 u lernen. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(Amer. Journ. of Obst, and Gyn. 1920, Nov.). 

Zum Kapitel der interstitiellen Drüse 

nimmt Meyer auf Grund seiner lang¬ 
jährigen Forschungen Stellung. Es gibt 
nach seiner Meinung beim Menschen 
eine solche Drüse überhaupt nicht 
und für ihn ist Pubertätsdrüse nur 
ein leeres Schlagwort. Wenn in Be¬ 
tracht gezogen wird, daß zur Aus¬ 
bildung sekundärer weiblicher Merkmale, 
der körperlichen und geistigen, keine 
• Ovarien notwendig sind, und daß die 
Funktion der Thecazellen, aus denen an¬ 
geblich diese Drüse besteht, unbekannt, 
ja die Bedeutung für den übrigen Körper 
höchst fragwürdig ist, so wird man den 
diesbezüglichen Veröffentlichungen gegen¬ 
über recht skeptisch sein. Was nämlich 
als interstitielle Drüse geschildert wird, 
ist nichts anderes, als eine Masse völlig 
zurückgebildeter, sehr bald kernloser Zell¬ 
reste, deren Lipoidgehalt keine Funktion, 
sondern eine schwere Resorbierbarkeit 
erklären läßt, Meyer erklärt ausdrück¬ 


lich, daß eine Pubertätsdrüse beim Men¬ 
schen in Gestalt irgendwie auffälliger 
Thecamengen oder einer echten Zell¬ 
anhäufung bis jetzt noch nicht nach¬ 
gewiesen worden sei, und daß ihre Un¬ 
wichtigkeit für die Weibwerdung zur 
Genüge daraus hervorgehe, daß weibliche 
Wesen ohne Ovarien und ebensolche mit 
Hoden zur vollen Entwicklung an Körper 
und Geist kommen. 

Pulvermacher (Charlottejiburg). 

(Zbl. f. Gyn. 1921, Heft 17.) 

Über die Erfahrungen mit dem Loose¬ 
filter bei der Strahlenbehandlung des 
Brustkrebses, das im Gegensatz zu den 
verschiedenen Metallfiltern aus Metall¬ 
salzkristallen besteht, berichtet Dr. H. 
Hirsch. Er stellte fest, daß die Erfolge 
bei der Behandlung unter Loosefilter 
sich in keiner Weise von den mit der bis¬ 
herigen Technik erreichten unterscheiden. 
Besonders sah Verfasser keine besondere 
Einwirkung auf den Brustkrebs, auf die 
Loose vorzüglich hingewiesen hatte. 

Max Cohn. 

(Strahlenther. Bd. XII, Heft II.) 

! 

Über die zweite Billrothsche Methode 
der Magenresektion und ihre Resultate 
berichtet W. F. Suermondt aus der 
Leidener chirurgischen Klinik (Prof. 
Zaaijer) an der Hand von 100 operierten 
Fällen, von denen 82 Fälle Ulcera-, 14Car- 
cinom- und 4 Ptosis-Erkrankungen be¬ 
trafen. 50 Fälle konnten genau nach¬ 
untersucht werden. Verfasser ist der An¬ 
sicht, daß, wenn man schon die Ulcera 
chirurgisch angeht, die Resektion nach 
Billroth II vor allen anderen Methoden 
den Vorzug verdient. Die besten Ergeb¬ 
nisse gibt die Modifikation nach Reichel, 
wobei der Magenstumpf, sei es im ganzen 
— oralis totalis —, sei es teilweise — ora- 
lis inferior —, retrokolisch mit der ober¬ 
sten Jejunumschlinge verbunden wird, 
die dann möglichst kurz genommen wird. 
Geht dies Verfahren nicht, mache man 
eine G. E. antecolica oralis ohne Entero- 
anastomose. Beim Anlegen der G. E. re- 
trocolica muß auf gehörige weite Mobi¬ 
lisierung der kleinen Kurvatur und darauf 
geachtet werden, daß der Darm ohne Ab¬ 
knickung oder Verdrehung längs des Ma¬ 
genstumpfes läuft. Dadurch ist in dem 
einen Fall die Öffnung mehr nach links, 
im anderen mehr nach rechts gerichtet. 
Sowohl bei der Resektion wie bei der Aus¬ 
schaltung bekommt man niedrige Säure¬ 
werte. Hierdurch wird die Rezidivgefahr 
bedeutend herabgesetzt. Die nachunter- 



September 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


361 


suchten Patienten wiesen größtenteils 
namhafte Gewichtszunahme auf. 

Willibald Heyn (Berlin). 

^ (Zschr. f. Chir. Bd. 162, H. 5/6, S. 299.) 

^"Prof. Langstein bespricht auf Grund 
der eigenen Erfahrungen die Indikationen 
für die eventuelle Operation des kind¬ 
lichen Pylorospasmus. Die chirur¬ 
gische Behandlung soll nur bei schweren 
Fällen Anwendung finden. Die leichteren 
Formen, bei denen das Erbrechen keine 
starken Dimensionen zeigt, bei denen die 
Kinder niemals so entkräftet werden, daß 
ihre Saugkraft an der Brust erlahmt, 
können bei zweckmäßiger Technik der 
Ernährung in 8—12 Wochen restlos zur 
Heilung kommen. Man wird sie nicht den 
Gefahrenchancen einer Operation aus- 
setzeji. Von den schweren Fällen ist ein 
Teil auch bei zweckmäßigster Behandlung 
und Pflege nicht zu retten, ein anderer 
Teil, der ein langes Krankenlager durch¬ 
zumachen hat, hat nur Aussicht auf Ge¬ 
nesung, wenn die notwendigen For¬ 
derungen der Therapie und Pflege pein- 
lichst durchgeführt werden. Mögen auch 
die Gefahrenchancen der Operation nicht 
völlig beseitigt sein, ihr Prozentsatz an 
Todesfällen ist nicht größer als bei bester 
innerer Behandlung, die einen außer¬ 
ordentlichen, kostspieligen Apparat viele 
Wochen hindurch erfordert, während die 
Operation das Krankheitsbild in Kürze 
beheben kann. Es gilt, schnell zu einem 
Urteil zu kommen über den voraussicht¬ 
lichen Verlauf des Krankheitsfalles, denn 
durch Verschleppen könnte das Kind zu 
einem Inanitionszustand kommen, der 
es für operativen Eingriff ungeeignet 
werden läßt Als schwer gilt ein Fall, 
wenn das Erbrechen schon sehr früh auf- 
tritt, sich rasch steigert, und bereits am 
Ende der dritten Lebenswoche ein voll 
entwickeltes Krankheitsbild zeigt; außer¬ 
dem dann, wenn die zwei Tage hindurch 
fortgesetzte Wägung des Erbrochenen in 
vorher abgewogenen Speitüchern ergibt, 
daß 2/3 und mehr der aufgenommenen 
Nahrungsmenge erbrochen wird; schlie߬ 
lich dann, wenn das Leiden familiär auf- 
tritt. 

Wenn auf Grund dieser Kriterien der 
Fall als ein schwerer angesehen werden 
muß, so ist der Versuch einer Pylorus- 
sondierung gerechtfertigt. Gelingt sie, 
so ist von der Operation abzusehen, 
andernfalls ist operativ vorzugehen. Rönt¬ 
genologische Untersuchung vor der Opera¬ 
tion ist zweckmäßig, doch nicht unbedingt 
notwendig, um eventuelle Krankheits¬ 


ursachen auszuschließen, welche einen 
Pylorospasmus Vortäuschen. 

Die Entscheidung muß innerhalb 4—6 
Tagen erfolgen, wenn der Fall frisch zur 
Beobachtung kommt Bei wochenlangem 
Bestehen der Erkrankung ist die Ent¬ 
scheidung schwieriger, da die Operation 
bei der hochgradigen Abmagerung 
schlechte Aussichten bietet Voraus¬ 
setzung für Überweisung in operative 
Behandlung ist ein guter, schnell und 
sicher operierender Chirurg, . Gewähr¬ 
leistung guter Nachbehandlung und 
Pflege. Feuerhack. 

(B. kl. W. 1921, Nr. 13.) 

Die neuerdings mehrfach erörterte An¬ 
nahme, daß die kindliche Rachitis auf 
einem Mangel an accessorischen Nähr¬ 
stoffen (Vitaminen) beruhe, wird von dem 
Kinderarzt Klotz (Lübeck) bekämpft 
Die Anhänger der Vitaminlehre glauben 
sich bezüglich der Rachitis zu ihren Be¬ 
hauptungen berechtigt durch den Rück¬ 
schluß, daß gemischte Kost, frische Vege- 
tabilien Rachitis heilen und sie verhüten, 
ebenso die an fettlöslichen, antirachi¬ 
tischen Faktoren^)reichen Nahrungsstoffe: 
Vollmilch, Sahne, Butter, Leberthran. 
Ihre Theorie finden sie gestützt durch* 
zahlreiche Beobachtungen an Menschen 
und an Tierexperimenten, die jenseits 
des Ozeans wie auch in Deutschland aus¬ 
geführt wurden. Von den Amerikanern 
kamen aber Heß und Unger in bezug 
auf den antirachitischen Faktor zu voll¬ 
kommen entgegengesetzten Anschauungen 
wie ihre Landsleute. Heß und Unger 
prüften an einem großen Kindermaterial 
in New York die Behauptung der Gowland- 
Hopkins-Schüler nach. Sie fanden, daß 
eine an antirachitischen Faktoren sehr 
reiche Nahrung (Vollmilch, Sahne, Butter 
mit Leberthran) Rachitis nicht verhüten, 
sie auch nicht heilen konnte. Im Gegen¬ 
satz dazu hatte eine an antirachitischen 
Vitaminen arme, dagegen an den Faktoren 
B und C reiche Nahrung (Magermilch, 
Mehl, Hefeextrakt, Zucker, Apfelsinen¬ 
saft u. dgl.) keineswegs die erwartete 
Häufung der Rachitis zur Folge. Als be¬ 
sonders bemerkenswerter Einwand gegen 
die Avitaminosetheorie muß betont wer¬ 
den, daß gerade Säuglinge, die frühzeitig 
mit Vollmilch, besonders roher Vollmilch 
oder sahneangereichertef Vollmilch er¬ 
nährt sind — also den antirachitischen 
Faktor reichlich erhalten haben —, an 

Vergleiche die Übersicht über die Vitamine 
in dieser Zeitschrift. 1920. S. 355. 

46 





362 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


September 


schwerster Rachitis erkranken. Ferner 
kann häufig beobachtet werden, daß von 
Kindern, die mit Milch von derselben 
Frau ernährt worden sind, eins an Ra¬ 
chitis erkrankt, das andere von Rachitis 
geheilt wird. Ferner ist einwandfrei nach¬ 
gewiesen, daß mit Quarzlichtbestrahlung 
schwere Rachitis bei völlig gleichbleiben¬ 
der Ernährung in zwei bis drei Monaten 
geheilt werden kann. Eine außerordent¬ 
liche Bedeutung hat die rachitische Dis¬ 
position. Das Erblichkeitsmoment in 
gewissen Rachitikerfarnilien durchkreuzt 
jegliche, auch intensivste • Prophylaxe. 
Trotz vitam'inreichster Ernährung kann 
der Ausbruch der Krankheit nicht ver¬ 
hütet werden. 

Unter Berücksichtigung aller dieser 
Tatsachen ist es verfrüht, die Rachitis 
kurzweg als Avitaminose zu bezeichnen; 
gilt es doch, noch zahlreiche Widersprüche 
auf diesem Gebiet zu lösen. 

(B. kl. W. 1921, Nr. 19.) Feuerhack, 

Für die Therapie der Säuglingsanä- 
mien erscheinen Mitteilungen von Marga 
Frouzig aus dem städtischen Säuglings¬ 
heim in Breslau beachtenswert. Aus¬ 
gehend von der Annahme, daß die ge¬ 
mischte Kost, speziell die Gemüse, deren 
heilsame Wirkung bei Säuglingsanämien 
seit längerer Zeit bekannt ist, diese Wir¬ 
kung vermöge'ihres Gehaltes an Extrakt¬ 
stoffen auszulösen vermögen, wurden 
sechs Fälle von typischer Säuglingsanämie 
mit Mohrrübenextrakt Rubio (Aron 
und Samelson) behandelt. Es handelt 
sich um den sogenannten ,,chior-anämi- 
schen“ Typ der Säuglingsanämien, wie 
er mehr oder weniger ausgesprochen bei 
vielen zu lange einseitig mit Kuhmilch 
ernährten Kindern auftritt. Die Anämie 
war in erster Linie eine Oligochromämie, 
weniger war die Erythrocytenzahl ver¬ 
mindert, mehr reduziert der Blutfarb¬ 
stoff, Alle mit Mohrrübenextrakt be¬ 
handelten Kinder erhielten ausreichend 
Milch, auch sonst reichlich Calorien, aber 
in Form extraktstoffarnier Nahrungs¬ 
mittel (Zucker, Nährzucker, Mehl), aber 
keinerlei Gemüse, kein Fleisch oder Brühe. 
Die Extraktstoffe wurden ausschließlich 
in Form von Rubio gegeben, von den Kin¬ 
dern sehr gern genommen und vorzüglich 
vertragen. Die Kinder nahmen an Ge¬ 
wicht zu, sahen b'esser aus, zeigten größere 
Lebhaftigkeit und ausgesprochene Hämo¬ 
globinvermehrung. Diese Resultate zei¬ 
gen, daß solche Anämien sehr gut thera¬ 
peutisch zu beeinflussen sind durch kon¬ 


zentrierte Extraktstoffe, ohne daß die 
bisher nötige Milchreduktion erforderlich 
wird, die einer Unterernährung gleich¬ 
kommt. Feuerhack. 

(D.m. W. 1921, Nr. 15.) 

Die starke Hitze und die kritiklose 
Übertreibung der an sich nützlichen 
Sonnenbäder haben auch in diesem Som¬ 
mer vielfach zu gefährlichen Erscheinun¬ 
gen von Sonnenstich geführt. Während 
die Behandlung sich gewöhnlicb auf Ab¬ 
kühlung und Herzkräftigung beschränkt, 
berichtet neuerdings Rehdes (Trave¬ 
münde) von aer Heilkraft wiederholter 
Lumbalpunktionen. Er geht von der An¬ 
nahme aus, daß das serös zellhaltige 
Transsudat der Hirnhäute sehr rasch bei 
schwerer Insolation zu erhöhtem, oft 
lebensgefährlichem Hirndruck führt, der 
durch rechtzeitige Lumbalpunktion be¬ 
seitigt werden kann. Gleichzeitig glaubt 
ei hierdurcn die von den Zellen gebildeten 
toxischen Abbauproaukte zum Teil ab¬ 
leiten zu können. Rehdes Fall betraf 
.einen 36jährigen Herrn, welcher nach 
einem fünfstündigen Sonnenbad drei Stun¬ 
den später unter den schweren Sympto¬ 
men der Insolation erkrankte und weitere 
zwei Stunden später in Behandlung kam. 
er zeigte Insolationserythem und Ver¬ 
brennung zweiten Grades und war be¬ 
nommen; Brechreiz, Puls 48. Nacken¬ 
steifigkeit, laterale Augenbewegung un¬ 
möglich, Bulbi druckempfindlich. Lum¬ 
balpunktion (Anfangsdruck 330, End¬ 
druck 80, abgelassen 28 ccm, Liquor etwas 
trübe). Nach der Punktion subjektive 
Besserung', Sensorium klar. Nach 16 
Stunden Wiederholung aer Lumbalpunk¬ 
tion wegen erneuter Beschwerden (Druck 
100 bis 85, abgelassen 6 ccm, 92 Zellen, 
vorwiegend Lymphocythen). Nach der 
Punktion allgemeines Wohlbefinden. Am 
dritten Krankheitstage Stauungspapille 
links, Neuritis optici rechts. Am zwölften 
Krankheitstage allgemeines Wohlbefin¬ 
den. Obwohl in einem solchen Falle 
natürlich nicht zu sagen ist, ob der Patient 
nicht auch ohne Lumbalpunktion genesen 
wäre, wird man sich in gefahrdrohenden 
Fällen von Insolation mit Hirndruck- 
erscheiniingen doch mit Vorteil dieses 
Verfahrens erinnern. 

(M. Kl. Nr. 19.) E. Borchart (Berlin). 

Ernst König gibt einen Beitrag zum 
Nachweis aktiver Tuberkulose durch 
die intracutane Eigenharnreaktion 
(Wildbolz). Wildbolz^ Verfahren be¬ 
ruht auf der Annahme, daß in einem 


‘September 


^Die Therapie der Gegenwart 1921 


363 


Organismus, der eine aktive Tuberkulose 
"beherbergt, Tuberkuloseantigene im Serum 
circulieren und im Harn ausgeschieden 
werden, was nach Latentwerden der Tu¬ 
berkulose nicht mehr geschieht. Wild- 
bolz bezeichnet seine Reaktion als 
specifisch. Lanz (Leysin) berichtet über 
günstige Erfahrungen mit der Wildbolz- 
schen Reaktion. König legte am Ober¬ 
arm drei intracutane Quaddeln an, zwei 
mit dem Harn, eine als Kontrolle mit 
Alttuberkulin (1 : 3000). 


Nach Königs Erfahrungen ist die 
Eigenharnreaktion nach Wildbolznicht 
specifisch. Ihr positiver Ausfall ist 
kein Beweis für aktive Tuberkulose, ihr 
negativer Ausfall läßt Tuberkulose nicht 
mit Sicherheit ausschließen. 


Die Wildbolzsche Reaktion hat nach 
K. noch keinen sicheren Beweis für die 
Ausscheidung tuberkulinähnlicher Körper 
im Harn erbracht. M.Borchardt. 


(D. Zschr. f. Chir., Bd. 161, Heft 3/5.) 


Thepapeutlsctier Meinungsaustauscli, 

Aus der 

Medizinischeu Klinik der Universität Breslau (Direktor &eli. Med. Rat Prof. Dr. Minkowski). 

Über die Anwendung des Neucesols beim Diabetes insipidus. 

Von Dr. Erhard Deloch. 


OjDgleich bei der medikamentösen Be¬ 
handlung des Diabetes insipidus die Hy- 
pophysenhinterlappenextrakte als das sou¬ 
veräne Mittel allgemein Anerkennung ge¬ 
funden haben, haften ihm doch einige 
Mängelan, vor allem der teure Preis. Denn 
wenn man auch mitunter bei geeigneter 
Diät durch längere Behandlung mit Hypo¬ 
physenextrakten den Zustand der Wasser- 
Tiarnruhrkranken auch über die Zeit der 
Injektionen hinaus günstig beeinflussen 
Rann, ist eine andauernde Besserung wohl 
kaum zu erwarten. Es käme noch die 
Zuführung von Hypophysenextrakt per os 
in Frage, die aber, wie allgemein bekannt, 
nicht einmal symptomatisch irgendwel¬ 
chen Einfluß auf den Krankheitsverlauf 
hat. Es erschien daher berechtigt, ein 
Arzneimittel zu erproben, das infolge der 
Möglichkeit peroraler Zufuhr dem Pa¬ 
tienten auch ohne ärztliche Inanspruch¬ 
nahme, wenn auch nur symptomatisch, 
.gewisse Erleichterung verschaffen kann. 
Dieses Medikament ist das Neucesol 
(Merck) Während bisher bei Durst¬ 
zuständen das C-sol, ein Pyridinderivat, 
in der inneren Medizin von Umber, in 
•der Chirurgie von Osterland und Dek- 
ker empfohlen wurde, ist neuerdings von 
Loewy und Wolffenstein durch Re¬ 
duktion des Cesols ^in neues Präparat, 
Neucesol, hergestellt worden, das bereits 
in kleineren Dosen wirken und weniger 
lästige Nebenerscheinungen haben soll. 
Pharmakodynamisch steht es dem Pilo¬ 
carpin am nächsten, zeigt aber nicht wie 
dieses, selbst bei Leuten mit labilem vege- 

Dieses, sowie Cesol wurde mir von der 
Firma E. Merck (Darmstadt) freundlichst zur 
Verfügung gestellt. 


tativen Nervensystem die starke Wirkung, 
insbesondere nie starken Schweißaus- 
brauch, Erbrechen, Leibschmerzen. Wir 
haben in drei Fällen von Diabetes insipidus 
sowohl Cesol (0,2 : 1 in Form der In¬ 
jektion), als auch Neucesol in den Stärken 
0,01, 0,025, 0,05 : 1 subcutan und zu 0,05 
peroral (in Tablettenform) angewendet 
und kommen zu folgendem Ergebnis: 

1. Auf den Wasserhaushalt und die 
Blutzusammensetzung haben weder Cesol 
noch Neucesol einen wesentlichen Ein¬ 
fluß. Menge und specifisches Gewicht des 
Harns, Molenkonzentration aes Harns und 
Blutes zeigen keine wesentliche Verände¬ 
rung. 

2. Die Magen-Darmsymptome wurden 
nicht beeinflußt. Nach Loewy und 
Wolffenstein soll das Neucesol die 
Darmperistaltik erhöhen. 

3. Günstig beeinflußt wird bis zu ge¬ 
wissem Grade das Durst- und Trocken¬ 
heitsgefühl im Munde, indem regelmäßig 
nach der Daireichung für längere Zeit die 
stark eingeschränkte Speichelsekretion in 
Gang gebracht wird. Besonders bei einem 
Patienten, der über sehr lästiges Trocken¬ 
heitsgefühl frühmorgens klagte, besserte 
sich diese Erscheinung, wenn er abends 
ein bis zwei Tabletten Neucesol nahm. 

4. Mitunter :ritt leichte Schwei߬ 
absonderung auf, die aber als durchaus 
angenehm empfunden wurde. 

5. Was die Wirkung des Cesols und 
Neucesols in der verschiedenen Dar¬ 
reichungsform und Dosierung miteinander 
verglichen anlangt, so ist festzustellen, 
daß die subcutane Zufuhr schnellere und 
nachhaltigere Wirkung bei beiden Präpa- 

46* 





September 


364 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


raten zur Folge hatte, als die perorale 
Darreichung. Ferner traten nach Cesol 
(0,2) mitunter zehn Minuten bis eine halbe 
Stunde dauernde Kopfschmerzen sowie 
stärkere Schweißausbrüche auf. Auf Neu- 
cesol sahen wir selbst in aer Dosierung 
0,05 : 1 (bei subcutaner Injektion) nie 
diese lästigen Nebenerscheinungen. 

Wir kommen, demnach zu dem Schluß, 
daß Neucesol sowohl in Form der Injek¬ 
tion (0,025 und 0,05 : I) als ganz besonders 
in Form peroraler Darreichung bei der 
Dauerbehandlung aes Diabetes insipidus 
zu empfehlen ist. Sowohl tagsüber kann 
es dem Wasserharnruhrkranken in ge¬ 
wisser Hinsicht Erleichterung verschaf¬ 
fen; besonders möchten wir aber Gaben 
von ein bis zwei Tabletten Neucesol vor 
dem Schlafengehen empfehlen, aa es bei 


den Kranken, wie wir wiederholt beob¬ 
achten konnten, das Durstgefühl während 
der Nacht herabsetzt, so daß aiese bei 
mäßiger Wasseraufnahme am Abend ihren 
Schlaf doch nicht so oft zu unterbrechen 
gezwungen sind. Betreffs der Tagesdosis 
sahen wir bei Darreichung von fünf, sechs 
bis acht Tabletten (0,25 bis 0,4 g) pro dfe 
(auch mehrere Tage hindurch) keine 
irgendwelche üble Nachwirkung. Tech¬ 
nisch sei noch bemerkt, daß die Tabletten 
am besten in Fläschchen mit paraffinier¬ 
tem Korken (wie sie auch von der Firma 
geliefert werden) aufzubewahren sind, «da 
sie sehr hygroskopisch sind und, der Luft 
ausgesetzt, leicht zerfallen. 

Literatur: Loewy und Wolffenstein, Th. 
d, G. 1920. —Umber,Th. d. G. 1919. — Decker^ 
M. m. W. 1919. — Osterland, M. m. VV. 1920- 


Aus der I. chimrgisclien Abteilung des städtischen Rudolf-Vircbow-Krankenbauses Berlin- 
.... . (Direktor: Prof. Dr. R. Miiksani) 

Zur Herstellung 

eines haltbaren, gebrauchsfertigen Lokalanaesthetikums. 

Von Dr. Friedrich von Delbrück. 


Seit den ersten Anfängen der örtlichen 
Betäubung ist es das Ziel pharmazeuti¬ 
scher Bestrebungen gewesen, ein Lösungs¬ 
mittel für Novocain-Adrenalin zu finden, 
das eine möglichst lange andauernde 
Haltbarkeit der Lösung garantiert. Ge¬ 
lang es auch, Novocain allein in Lösung 
haltbar zu machen, so gingen diese Ver¬ 
suche fehl, wenn der Lösung Adrenalin 
zugemischt wurde. Das farblose Adre¬ 
nalin hat nämlich die Eigenschaft, sich 
bei Anwesenheit minimaler Mengen Alkali 
sofort in Oxy-Adrenalin umzusetzen, das 
kenntlich an seiner rosaroten Farbe eine 
Unwirksamkeit der Lösung verbürgt. 
Man hat versucht, das in fast allen 
Anästhesie-Lösungen sich abspaltende 
Alkali unwirksam zu machen, indem man 
offizinell einige Tropfen Salzsäure zu¬ 
setzte, was jedoch die ,,sogenannte phy¬ 
siologische Kochsalzlösung“ kaum phy¬ 
siologischer machen dürfte. — Da seit 
kurzem eine bekannte Fabrik sogar ein 
Präparat einer ,,unbegrenzt haltbaren“ 
Novocain-Adrenalin-Lösung in farblosen 
Ampullen in den Handel bringt, dessen 
Haltbarkeit durch das zehnfache (!) des 
offizineilen Gehalts an freier Salzsäure 
(0,1 %) hervorgerufen wird, erscheint es 
mir nicht unwichtig, in einer Kombination 
des Serumsalzes „Normosal“ mit Novo¬ 
cain-Adrenalin ein Anaestheficum ent¬ 
deckt zu haben, daß außer seiner Haltbar¬ 


keit den Vorzug hat, zugleich das un¬ 
schädlichste und wirksamste aller bisher 
dargestellten Anaesthetica zu sein. 

Die Herstellung geschieht auf folgende 
Weise: In einem Erlenmeyer-Kolben wird 
eine möglichst geringe Menge (20—40ccm) 
Normosallösung gegossen, in die dann die 
betreffende Anzahl Novocainsupremin- 
Tabletten hineingeworfen wird. (Bei¬ 
spielsweise: für 500ccm 2%iger Anästhe¬ 
sie 80 Tabletten ,,A“ der Höchster Farb¬ 
werke.) Man läßt die Flüssigkeit im 
Kolben einmal aufkochen, gießt sie sofort 
in einen Meßzylinder und füllt diesen mit 
kalter Normosallösung bis 500 auf. Man 
hat nun eine farblose, unzersetzte licht¬ 
empfindliche Lösung, die ich in eine sterile, 
braune, mit einem Mullpfropfen ver¬ 
schlossene Flasche abfülle und aufbe¬ 
wahren kann. 125 ccm dieser 2%igen 
Stammlösungkann ich zwecks Herstellung 
einer %%igen 375 ccm-Normosallösung 
zugießen und ich habe 500 ccm %%ige 
Anästhesie. Beide Lösungen sind nun 
jederzeit gebrauchsfertig, und halten sich 
mindestens eine Woche lang unzersetzt, 
kenntlich daran, daß die Flüssigkeit 
Wasserklar und farblos ist. 

Auf meine Anregung hin sind die 
Sächsischen Serumwerke damit beschäf¬ 
tigt, das pulverförmige Normosal mit 
Novocain-Adrenalin derart zu kombi¬ 
nieren, daß man das Pulver nur in sterilem 



September 


Die Therapie der Gegenwart 1921. 


36Q 


Wasser zu lösen braucht, um eine stets 
^gebrauchsfertige haltbare Anästhesie her¬ 
zustellen, wodurch meine jetzige Zube¬ 
reitungsweise, die ja kaum von der sonst 
■üblichen abweicht, eine große Verein¬ 
fachung erfährt. 

Während bisher vor jeder Operation 
<was besonders bei eiligen äußerst störend 
wirkte) das Anaestheticum jedesmal frisch 
zubereitet werden mußte, steht nunmehr 
jederzeit gebrauchsfertige Lösung in allen 
Konzentrationen zur Verfügung. 

Während bisher die oft schon nach 
•einer halben Stunde völlig verdorbenen 
Lösungen fortgegossen werden mußten, 
ist ein sehr viel sparsamerer Anästhesie¬ 
verbrauch durch Benutzung meiner Zu¬ 
bereitungsweise garantiert. 

Ich stellte innerhalb neun Wochen 
zehnmal Anästhesielösung her, bei zwei 
dieser Lösungen beobachtete ich nach Ab¬ 
lauf einer Woche eine Zersetzung. Mit 
diesen Anästhesien Wurden 38 Ope¬ 
rationen in örtlicher Betäubung ausge- 
Tührt. 

Bei diesen 38'Fällen mußte bei fünf 
Patienten Narkose zu Hilfe genommen 
werden: bei einer Strumektomie, Weil die 
Patientin äußerst nervös und ungebärdig 
war, bei zwei Thorakoplastiken, bei denen 
die Interkostalnerven statt mit 2%iger 
mit %%ig€r Lösung blockiert waren, bei 
einem Anus praeter bei Zerrung des 
parietalen Bauchfells und im Verlauf 
einer Sektio alta während Entfernung 
eingekeilter Blasensteine. 

Bei den übrigen 33 konnten wir fest¬ 
stellen,' daß nach Gebrauch meiner Lö¬ 
sung: 

1. die Anästhesie sofort einsetzte und 
sich die übliche Wartezeit von zehn 
Minuten erübrigte; 


2. daß die Tiefe der Unempfindlichkeit 
sehr viel größer War, als bei unseren 
früheren Lokalanästhesien mit NaCl- 
Lösung; 

3. daß man ungleich blutleererpperierte. 
Diese auf den ersten Blick merkwürdig 

erscheinenden Tatsachen, lassen sich leicht 
erklären: 

Da die ,,physiologische NaCl-Lösung“ 
nach den Berichten Straubs lähmend 
a^uf die Zellfunktionen Wirken soll, muß 
die Resorption des Anaesthesicums lang-* 
sanier vor sich ,gehen, als wenn das 
Anaestheticum auf die ihrer physiologi¬ 
schen Tätigkeit ungeschädigte Zelle trifft, 
Wie das bei Einspritzung von Serumsalz¬ 
lösung der Fall ist. Daher die schnellere 
Wirkung. Wird doch nach den Versuchen 
von Eckstein die Normosallösung sehr 
viel rascher resorbiert als die NaCl-Lösung, 
folglich auch die in ihr enthaltenen Stoffe. 

Da Adrenalin durch die gefäßver¬ 
engernde Wirkung einmal den Grad der 
Unempfindlichkeit selbst erhöht, anderer¬ 
seits den Abtransport des Novocains ver¬ 
hindert; ist es klar, daß die Anästhesie, 
tiefer, länger und unschädlicher sein muß, 
wenn man ein chemisch völlig intaktes 
Adrenalin einspritzt als eines, das (wie 
bei der bisher üblichen Lösung) zum Teil 
zersetzt ist und somit auch nur einen Teil 
seiner Wirksamkeit hat. 

Hierdurch wird auch die vollkomme¬ 
nere Blutleere der Gewebe erklärt. 

Denken wir nach diesen Erwägungen 
noch daran, daß im Gegensatz zur ,,phy¬ 
siologischen Kochsalzlösung“ Professor 
Straubs Normosal keine Funktionsschädi¬ 
gung des Gewebes hervorruft, was bei 
der Wundheilung doch recht erheblich 
ins Gewicht fällt, dürfte eine Zubereitung 
der Anästhesie mit Normosallösung in 
Zukunft ein Erfordernis bedeuten. 


Caseosanbehandlung in der dermatologischen Praxis. 

Von Dr. H. Krösl, Innsbruck. 


Das Caseinpräparat Caseosan hat sich 
ganz besonders bei Ulcera mollia, veneri¬ 
schen Bubonen und bei lokalisierten 
eitrigen Prozessen der Haut wie Furunkeln 
und Abscessen sehr bewährt. Es sei mir 
gestattet, im folgenden ganz kurz über 
eine Anzahl von mit Caseosan behandelten 
Fällen zusammenfassend zu berichten. 
Angewendet wurde es vor allem bei den 
gonorrhoischen Komplikationen. Bei der 
Gonorrhoea ant. acuta wurde von einer 
Anwendung des Präparates abgesehen, 


da die Unbeeinflußbarkeit derselben durch 
ähnlich wirkende, wie Collargolund Gono- 
kokken-vaccine, erwiesen ist. Bei Fällen 
von Urethritis gonorrh. posterior trat 
nach den Injektionen eine Klärung der 
zweiten Urinportion meist prompt ein, 
doch war die Wirkung keine anhaltende, 
nach Aussetzen der Injektionen traten 
fast durchwegs Rückfälle auf. Auch bei 
Epididymitis und Prostatitis war nicht 
die gewünschte Wirkung zu erzielen. Da¬ 
gegen bewährte sich das Mittel sehr gut 




366 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


September 


bei Ulcus niolle und venerischen Bubonen. 
Die Ulcera reinigten sich sehr rasch und 
zeigten bald die Tendenz abzuheilen. Bei 
venerischen Bubonen trat oft nach den 
Injektionen — besonders wenn dieselben 
im Frühstadium begonnen wurden — 
eine Resorption ein, ohne daß die Pa¬ 
tienten Bettruhe halten mußten. Kam 
der Fall spät in Behandlung, so daß eine 
Resorption nicht mehr zu erzielen war, 
so habe ich den sicheren Eindruck ge¬ 
wonnen^ daß durch die Caseosanbehand- 
lung die Reinigung und Abheilung der 
inzidierten Drüse rascher erfolgte. Auch 
hier gingen die Patienten bei ambulanter 
Behandlung ihrem Berufe nach, die 
Schmerzen im Entzündungsherd waren 
geringer, das subjektive Wohlbefinden 
wurde bedeutend gehbben. Selbstredend 
wurde bei allen Fällen neben der Verab¬ 
reichung von Caseosan auch die lokale 
Therapie eingeleitet und durchgeführt. 

Bei eitrigen Prozessen der Haut, be¬ 
sonders bei Furunkeln und Carbunkeln, 
waren die Erfolge sehr zufriedenstellend. 
Auch hier ging die Erweichung und 
schließliche Abstoßung der nekrotischen 
Gewebsteile viel rascher vor sich als bei 
den nur lokal behandelten Fällen, die 
raschere Reinigung und das schnelle Er¬ 
scheinen gesunder Granulationen war 
deutlich zu konstatieren. Besonders her¬ 
vorheben möchte ich noch einen Fall von 
Purpura haemorrhagica der äußeren-Haut 
und der Schleimhäute mit stark blut¬ 
haltigem Harn. Derselbe war schon 
längere Zeit mit allen möglichen Medika¬ 
menten, zuletzt mit einer Serie von Elec- 
trargolinjektionen erfolglos behandelt 
worden. Er kam mit einer frischen 
Gonorrhoea posterior zur Behandlung und 
bekam zur Unterstützung der Therapie 
derselben Caseosan. Nach einigen In¬ 
jektionen waren die Haemorrhagien an 
den Beinen verschwunden, nach kurzer 
Zeit war der Harn nicht mehr bluthaltig, 
nach acht Injektionen war die Purpura 
geheilt, ohne bis heute — nach viermonat¬ 
licher Beobachtungszeit — zu rezidi- 
vieren. 


Was die Technik der Verwendung an¬ 
belangt, so wurde das Präparat intravenös¬ 
verabreicht, und zwar in.die vorher ge¬ 
staute Cubitalvene in zweitägigen Inter¬ 
vallen. Da durch die intravenöse Dar¬ 
reichung eine bessere und raschere Aus¬ 
nutzung und Wirksamkeit des Mittels zu 
gewärtigen war, gelangten kleinere Posen, 
als bei intramuskulärer Injektion zur Ver¬ 
wendung, und zwar bei Männern be¬ 
ginnend mit 1 ccm, bei Frauen und 
jugendlichen Individuen mit 0,5 ccm,, 
steigend um 0,5 ccm bei jeder Injektion 
bis 2 ccm pro dosi. Um das Auftreten 
eines anaphylaktischen Shoks, wie er bef 
Milchinjektionen von mehreren Autoren 
beobachtet wurde, zu vermeiden, wurden 
nie größere Pausen zwischen zwei auf¬ 
einanderfolgenden Injektionen gemacht 
als zwei bis drei Tage, und war auch tat¬ 
sächlich kein einziges Mal ein solcher zu 
beobachten, wie ich auch sonstige unan¬ 
genehme Nebenerscheinungen nie wahr¬ 
nehmen konnte. Gewöhnlich reagierten 
die Patienten auf die erste Injektion mit 
geringen Temperatursteigerungen, die mit¬ 
unter von Kopfschmerzen beglertet waren, 
jedoch nie länger als einige Stunden an¬ 
hielten, die zweite und die folgenden In¬ 
jektionen wurden fast durchweg reaktions¬ 
los vertragen, ja, das subjektive Wohl¬ 
befinden war stets gebessert. - 

Zusammenfassend möchte ich nun 
sagen, daß die Verwendung des Caseosan 
vor allem in der ,dermatologisch-venero- 
logischen Praxis bei eitrigen Prozessen 
indiziert ist, wo es allein eine raschere- 
Einschmelzung eines bereits erweichten 
oder erweichenden Herdes, wenn nicht 
eine Rückbildung desselben bewirkt, also- 
besonders bei Furunkeln, Carbunkeln,. 
Abscessen, venerischen Bubonen und in¬ 
fektiösen Prozessen der Haut überhaupt. 
Es soll mit diesen Zeilen kein ab¬ 
schließendes Urteil über die Verwendbar¬ 
keit und Wirksamkeit des Caseosan gefällt 
werden, soviel läßt sich aber wohl heute 
schon sagen, daß es eine wertvolle Be¬ 
reicherung unseres dermatologischen Arz¬ 
neischatzes darstellt. 


Choleval^) bei infektiösen Hauterkrankungen. 

Von Dr. med. Goldmann, Reinheim. 


Die Häufigkeit und Hartnäckigkeit, 
mit der die Furunkulose in letzter Zeit 
auftrat, veranlaßte mich, nach einer 

1) Besteht aus kolloidalem Silber und gallen¬ 
saurem Natrium. 


xMcthode zu suchen, diese rasch und wirk¬ 
sam zu bekämpfen. Zu dieser Zeit teilte 
Prof. Walther (Gießen) seine Behand¬ 
lung der Endometritis mit Choleval mit. 
Ausgehend von dem Gedanken, daß die 



September 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


S67 


Mischinfektionen der Haut vielleicht auf 
analoge Art durch dieses stark bakterizide 
Mittel zu beeinflussen wären, versuchte 
ich das Choleval bei Furunkulose. Er¬ 
mutigend wirkten dabei die Prüfungs¬ 
ergebnisse des Cholevals von Du.faux 
und -Bernhard gegenüber Staphylo¬ 
kokkenkulturen, sowie die mannigfache 
desinfizierende Wirkung, die das Choleval 
nach den Untersuchungen von Betz und 
Walther, sowie Neumann bei Ruhr 
ausübt. Am interessantesten waren für 
mich die Veröffentlichungen von Pran- 
ter, der das Choleval bei Ulcus cruris 
und ekzematösen Hauterkrankungen mit 
Erfolg verwandte. 

Ich benutzte das, Choleval bei den 
verschiedensten Formen der Furunkulose 
und sonstigen Hauterkrankungen. 

Beobachtungen an acht Kranken 
ergeben, daß Choleval bei den verschie¬ 
densten Hauterkrankungen infektiöser 
Natur, insbesondere bei Furunkulose, 
eine auffallend rasche und sicher heilende 
Wirkung ausübt, die zweifellos auf die 
starke bakterizide Kraft des Mittels zu¬ 
rückzuführen ist. Es wirkt also nicht nur 
gonokokkentötend, sondern hat eine eben¬ 
so stark abtölende Wirkung auf Staphylo¬ 
kokken und sicher auch auf Misch¬ 
infektionen verschiedenster Art. Es ist 


2) Die Krankengeschichten haben der Redak¬ 
tion Vorgelegen; wegen des Raummangels wird 
auf den Abdruck verzichtet. 


anzunehmen, daß die vielseitig bakteri¬ 
zide Wirkung des Cholevals auf seiner 
Doppelfunktion beruht, indem zunächst 
das gallensaure Natrium den Z^ellkomplex 
stört, keimtötend und adstringierend 
wirkt, und so die Entzündungserreger 
dem bakteriziden Silber zugänglich 
macht. 

Die Einfachheit seiner Applikation 
und die Billigkeit machen das Choleval 
bei seiner prpmpten Wirkung zu einem 
wertvollen Mittel im Kampf gegen die 
so oft jeder Behandlung trotzende Furun¬ 
kulose. 

Es wäre noch darauf hinzuweisen, daß 
die Wäsche durch ^raunfärbung geschä¬ 
digt wird. Zur Entfernung solcher 
Flecken genügt Befeuchtung mit 10%iger 
Lösung von unterschwefligsaurem Natron 
(Fixiersalz) und nachheriges Auswaschen 
mit Wasser. Bei Furunkulose an behaar¬ 
ten Körperstellen wird man zweckmäßig 
zuerst enthaaren, wozu sich das C lasen- 
sehe Mittel eignet: 

Baryi sulfarati . . 50,0 

AmyL _ 

Zinc. oxydat aa . 25,0, 

das man vor Gebrauch mit warmem Was¬ 
ser zu Brei verrührt und auf die Haut 
aufträgt. 

Literatur: Walther, M. m. W. 1921, Nr. 4. 
Dufaux, M. m. W. 1915, Nr. 39. Bernhard, 
Zbl. f. Bakt. 1920, Heft. 1. Betz, M.m. W. 1920, 
Nr. 13. S. Neumann, M. KI. 1918, Nr. 26. 
Pranter, W. kl. W. 1920, Nr. 39. , 


II. Beitrag zur Lehre von dem infektiösen Ursprung des Carcinoms. 

Von Dr. Emanuel Sachs, Hostomitz a. d. Biela. 


Gestützt auf meine kleine statistische 
Arbeit in der Prager medic. Wochen¬ 
schrift 1915 Nr. 9 gestatte ich mir, neuer¬ 
lich auf das gehäufte Auftreten von Car- 
cinom in der kleinen Ortschaft Krzemusch 
(974 Einwohner) die Aufmerksamkeit der 
Ärzte zu lenken. 

Vom Jahre 1915 an kamen folgende 
Fälle von Carcinom zur Beobachtung: 

a) in Krzemusch: 

1. Frau L., Bergmannsfrau, 58 Jahre alt, 
Carcinom ventriculi, t 1916- 

2. Frau D., Maurersfrau, 62 Jahre alt, Car¬ 
cinom ventriculi, f ^916 (durch Suicid). 

3. Frau R., Landwirtsfrau, 42 Jahre alt, 
Carcinom oesophagi, f Januar 1921. 

4. Frau K., Obergärtnersfrau, 62 Jahre alt, 
Carcinom ventriculi, t April 1921. 

5. Frau Kl., Hausdienersfrau, 53 Jahre alt, 
Carcinom ovarii, t April 1921 (Werkskolonie). 

6. Frau Sch., Bergmannsfrau, 47 Jahre alt, 
Carcinom uteri, f 1921 (dz. im Duxer Spital). 


b) In der fünf Minuten von Krzemusch ent¬ 
fernten Ortschaft Kniebitschken (15 Nummern) 
starben : 

7. Anton Ha., Bergmann, 52 Jahre, Car¬ 
cinom ventriculi et hepottis, j 1919. 

8. Anton Häuf . . ., Landwirt, 72 Jahre, 
Carcinom recti, f 1918. 

9. F. Ho. . ., Bergmann, 60 Jahre, Car¬ 
cinom recti, t 1916. 

Da die Orte Krzemusch und Knie- 
bitschkeanur fünf Minuten von einander 
entfernt sind und in gleichem Niveau 
liegen, so können sie als zusammengehörig 
und der Ausgangspunkt der Carcinomfälle 
als auf gemeinsamer Grundlage beruhend 
(Grundwasser?) betrachtet werden. 

Man wende nicht ein, daß die im Jahre 
1915 und oben beschriebenen neun Car¬ 
cinomfälle auf ein zufälliges Zusammen¬ 
treffen zurückgeführt werden können, daß' 
auch anderwärts häufig Carcinom beob- 



. Dk Therapie der Gegenwart. 1921, September 


achtet wird und dann wieder längere Zeit Tätigkeit Carcinomerkrankungen nur 
nicht. Der Umstand jedoch, daß Falll, ganz sporadisch vorkamen. Da die Ein- 
3/4 und 6 in den an den Teich angren- wohner (meist Bergleute, Professionisten 
zenden Häusern vorkamen, weist wieder- oder landwirtschaftliche Arbeiter) durch 
um auf meine in der ersten Arbeit geäu- die ganzen 20 Jahre der Beobachtungsz^it 
ßerte Ansicht hin, daß das Teich- oder unter den gleichen Bedingungen lebten 
beim Teiche befindliche Brunnen- wie die in Krzemusch, in allen Ortschaften 
Wasser beziehungsweise das. Grund- rpeines dichtbevölkerten Rayons zusam- 
wasser das uns noch unbekannte m’engenommen nicht so viel Carcinonr- 
yirus enthalte. Der in der Werks- fälle beobachtet wurden wie in dem Dörf- 
kolonie (Fall 5) und die in Kniebitschken chen Krzemusch mit Kniebitschken 
vorgekommenen Fälle (7, 8 und 9) weisen allein, so liegt doch für einen denkenden 
auf eine durch das gleiche Grundwasser Arzt die Vermutung, man könnte schon 
zu erklärende gemeinsame Infektions- sagen, die Gewißheit nahe, daß in diesem 
quelle hin. letzteren Orte unbedingt ein Carcinom- 

In allen diesen Fällen (man beachte in herd vorhanden sein müsse und daß es 
Krzemusch nur Frauen, in Knie- nur einer gründlichen Untersuchung aller 
bitschken nur Männer) ist hereditär in Betracht kommenden Faktoren (vpr 

— bis auf Fall 6, deren’Vater Potator war allem des Grundwassers und Teichwas- 

— nichts Belastendes nachzuweisen. Alle sers, sowie des Erdbodens) bedürfe, um in 
diese Carcinomkranken lebten, solange diese so hochwichtige und heiß umstrit- 
ich sie kannte — seit 20 Jahren — unter tene Frage über den Ursprung des Gar¬ 
den gleichen Bedingungen, Lues, Aus- cinoms Klarheit zu bringen. Es stehen 
Schweifungen und dergleichen waren nicht mir als Landarzt weder Laboratorien noch 
zu erweisen, die Lebensweise aller war sonstige wissenschaftliche Behelfe zur 
als mäßig zu bezeichnen. Daß die oben .Verfügung, ich will, soweit ich imstande 
angeführten Erkrankungen wiederum für bin, an Versuchstieren meine Beobach¬ 
eine Infektion im Orte sprechen, be- tungen sammeln und falls ein Ergebnis zu¬ 
weist der Umstand, daß in der Nachbar- tage tritt, später veröffentlichen, aber 
gemeinde Nemetschken (viel tiefer gelegen, Sache der neugegründeten Krebsgesell- 
•ca. % Stunde entfernt, mit der gleichen schaft in Prag wäre es, hier auf diesem 
Einwohnerzahl und in der gleichfalls heißen Boden zu schürfen und zu 
tiefer gelegenen Marktgemeinde Hosto- forschen, und vielleicht gelingt es 
mitz (mit 4000 Einwohner) sowie in den meiner Anregung, den ersten Lichtstrahl 
15 umliegenden Ortschaften während in das Dunkel des Carcinomursprungs 
meiner mehr als 20 jährigen ärztlichen zu werfen. 

Drehbare Liegehallen. 

Von Sanitätsrat Karl Gerson, B^rlin-Schlachtensee, 

Eine Behandlung Tuberkulöser ohne kaum in Frage kommen, und die höheren 
Liegehallen ist heute nicht mehr denkbar. Kosten einer drehbaren Liegehalle fielen 
Brehmer hat gezeigt, daß die natürlichen gar nicht ins Gewicht gegenüber aen Vor- 
Heilfaktoren, Licht, Luft una Sonne, zur teilen für die Kranken. Denn infolge der 
Heilung der Tuberkulose unentbehrlich längeren Besonnung könnte auch die 
sind. Je länger diese natürlichen Heil- Behandlungszeit der Kranken abgekürzt 
faktoren, vor allem die Sonne, täglich auf werden, weil' die Heilung ceteris paribus 
die Kranken einwirken, um so besser sind in kürzerer Zeit zu erwarten wäre. An 
die Erfolge. Die bisher übliche stabile sonnenlosen und windigen Tagen hätte 
Bauart der Liegehallen eriaubt_die Be- die Drehbarkeit der Halle den Vorteil, 
sonnung der Insassen täglich aber nur daß die Kranken vor scharfen Winden 
eine gewisse Anzahl von Stunden. Um geschützt werden könnten, ohne ihr 
nun die ganze Sonnenscheindauer Lager verlassen zu müssen. Die so be- 
für die Kranken auszunutzen, liegt wirkte längere Ruhehaltung der Kranken 
der Gedanke nahe, die Liegehallen dürfte gleichfalls ihre Genesung beschleu- 
drehbar zu gestalten, um sie nach dem nigen. 

Stand der Sonne einstellen zu können. Die drehbaren Liegehallen können 
Technische Schwierigkeiten dürften dabei auch in mehreren Etagen errichtet werden. 


Für die Redaktion verantwortlich Geh.Med.-RatProf.Dr. G.Klemperer in Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg 
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berlin W57. 






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1921 


herausgegeben von Geh. Med.-Rat ProL Dr. G. Klemperer 

in Berlin. 


Oktober 


Nachdruck verboten. 


Aus der I. inneren Abteilung des Stadtkrankenbauses Friedrickstadt zu Dresden 

(Prof. Dr. Päßler). 

Zur Frage der Kieselsäurebehandlung bei Lungentuberkulose. 

Von Dr. med. Max Roth. 


Durch die Arbeiten Koberts und 
seiner Schüler hat die Kieselsäuretherapie 
der Lurigentuberkulose in den letzten 
Jahren viele Anhänger gefunden, wenn 
sie auch schon früher, zum Teil allerdings 
unbewußt, getrieben wurde, aä zahlreiche 
Lungen- oder Auszehrungstees alter Me¬ 
dizinbücher sich als außerordentlich SrOg- 
haltig erwiesen haben. Im folgenden solh 
vornehmlich auf Grund eigener Unter¬ 
suchungen und Beobachtungen, die Frage 
nach den Grundlagen der Si 02-Therapie 
einer kritischen . Betrachtung unterzogen 
Werden.' 

Die Si02 wurde bisher in den verschiedensten 
Formen therapeutisch und experimentell verab¬ 
reicht. Die einfachste Darreichung besteht 
zweifellos in einer möglichst Si02-haltigen 
Kost. Kobert empfiehlt hierzu auf Grund 
seiner Analysen als besonders geeignete Nahrungs¬ 
mittel Hirse und Gerste. In einem Teller Hirse¬ 
mus, der etwa 20 g trocknen Samens entspricht, 
sind fast 100 mg Si02, in derselben Menge Gerste 
in Form von Brot oder Grütze über 160 mg Si02 
in löslicher Form enthalten. Gerstenmalz und 
Gerstenbier enthalten ebenfalls beträchtliche Men¬ 
gen gut löslicher Si02. Außerdem stehen eine 
Anzahl sehr SiOg-reicher Wildgemüse, von denen 
besonders die Brennessel und die Ackermelde zu 
nennen sind, in Form von Spinat oder Salat zur 
Verfügung. Die Nahrungsmittelhot der Kriegs¬ 
jahre hat viele Kreise auf diese mit Unrecht 
vernachlässigten Pflanzen aufmerksam werden 
lassen. Kobert ist ferner für die Verabreichung 
SiOg-haltiger Mineralwässer eingetreten. In 
einem Liter der Glashäger Mineralquelle sind z. B. 
53 mg SiOa enthalten. Andere Quellen sind nach 
einer ebenfalls von Kobert mitgeteilten Tabelle 
noch weit reicher an Si02,. die Wernerfeldquelle 
in Brückenau soll s^ar 509 mg im Liter ent¬ 
halten. Weiter habeff’sich, wie schon erwähnt, 
eine Anzahl von Tees als Si02-reich erwiesen, 
jedoch ist ihr Si02-Gehalt je nach dem Standort 
der Pflanzen und der Jahreszeit der Einsammlung 
erheblichen Schwankungen unterworfen. In drei 
Tassen der am meisten üblichen Teemischung aus 
Herba Eqüiseti, Herba Galeopsidis und Herba 
Polygoni sind 43bis 272mg Si02 gefunden worden. 

Von anorganischen und organischen 
Si02-Verbindungen erwies sich das zuerst 
therapeutisch angewandte Nä-Wasserglas in¬ 
folge seines Gehaltes an überschüssiger Na-Lauge 
als schädlich (Kobert), während das von Merck 
hergestellte Natr. silic. puriss. als thera¬ 
peutisch verwertbar erkannt- wurde. Das Präpa¬ 
rat reagiert alkalisch, enthält aber.keine Na-Lauge. 

47 


Neuerdings hat jedoch Schuhbauer bei Fütte¬ 
rungsversuchen an weißen Mäusen festgestellt, 
daß diese bei Verfütterung von etwa 0,1 mg des 
Natr.. silic. puriss. Merck pro Gramm Körper¬ 
gewicht meist schon nach acht bis zehn Tagen 
erkrankten und nach 14 Tagen bis drei Wochen 
unter dem klinischen und pathologischranatomi- 
schen Bilde einer Darmentzündung verendeten. 
Schuhbauer nimmt an, daß sich bei Zutritt 
von H 2 O durch hydrolytische Spaltung freie 
Natronlauge im Darm bildet und ätzend auf die 
Schleimhaut wirkt. Im Dünndarm soll infolge 
der physiologischen alkalischen Reaktion des 
Darmsaftes diese freie Natronlauge erst recht zur 
Geltung kommen. In einer zweiten Versuchsreihe 
stellte Schuhbaüer weiterhin fest, daß man 
den Tieren bis zu 1 mg pro Gramm Körpergewicht 
von einem neutralisierten, d. h. bis zur neutralen 
Reaktion der Lösung mit einer physiologisch un¬ 
wirksamen Säure versetzten Merckschen Natrium- 
Silicat ohne schädliche Wirkung verfüttern kann. 
In. Verbindung mit einer Arbeit von Breest 
konnte gleichzeitig gezeigt werden, daß die’ Re¬ 
sorption des Merckschen Präparats’ durch die 
Neutralisation erhöht wird. Breest hat gleich¬ 
altrigen, engverwandten weißen Mäusen zum 
Grundfutter verschiedene Si02-Präparate zu¬ 
gesetzt und durch Aschenanalysen der ganzen 
Tiere feststellen können, daß der SiO 2 -Gehalt des 
Körpers durch geeignete Si02-Zufuhr mit dem 
Futter erhöht werden kann. Die Mengen der 
zurückgehaltenen. Si 02 sollen gering sein, er¬ 
scheinen aber doch bedeutend, wenn man berück¬ 
sichtigt, daß der Si02-Gehalt normaler weißer 
Mäuse etwa 1 mg, der nach SiOg-Fütterung ver¬ 
aschter Mäuse aber 3,5 bis 4 mg betrug. Da es 
sich bei diesen Versuchen um gesunde Tiere 
handelte, bleibt die Frage offen, ob bei. einem 
kranken Organismus die Verhältnisse anders 
liegen — sei es im Sinne einer erhöhten Speiche¬ 
rung oder aber im Sinne einer „Deminerali¬ 
sierung“. Ferner stellt Breest in seiner Arbeit 
fest,, daß Si02 in Hydratform vom Organismus 
nicht resorbiert wird. 

Eine Reihe fester Kolloider, aber an AmylOt 
dextrin beziehungsweise Eiweiß gebundener Prä¬ 
parate (koll. Si02-Eivveiß, koll. Si02-Amylo- 
dextrin und koll. Si02-Kasein-Metaphos- 
phat) hat Zuckmayer unter gleichen Versuchs¬ 
bedingungen am Menschen geprüft und — nach 
der Ausscheidung im Harn zu urteilen — be¬ 
sonders vorteühafte Resorptionsverhältnisse für 
das letztgenannte Präparat gefunden, das den 
anderen Präparaten auch dadurch überlegen sein 
. soll, daß es im Magensaft unlöslich ist, den Magen 
nicht reizt, und unverändert an die Resorptions¬ 
stelle im Darm gelangt. Das Präparat ist identisch 
mit den Si 1 icol-Tabletten- der Lecinwerke- 
Hannover, und ist insbesondere von Kühn 
therapeutisch verwendet und empfohlen worden. 





370 ßk Therapie der 


Jede TaMette: enthält 0,J g koH. SiOa:. Kühn: 
hat sich nach neueren Mitteilungen auch der Dar¬ 
reichung reiner Si02 in kolloidalem Zu¬ 
stand zugewendet. Er injizierte jeden zweiten 
Tag instramuskulär 0,5 bis 2,0 ccm einer von den 
Lecinwerken-Hanriover hergestellten 0,8 bis 1 pro- 
zentigen Lösung. Das würde einer Dosis von 
.4 bis 20 mg SiOz pro injectione entsprechen. 
Außer geringer Schmerzhaftigkeit und schnell 
schwindender Infiltration wurden keine Nachteile 
beobachtet. 

Zuckmayer hat bei seinen Untersuchungen 
gefunden, daß. frische kolloidale SiOa am schnell¬ 
sten und ausgiebigsten von allen untersuchten 
Präparaten im Harn ausgeschieden wurde (bis 
69,7 % der Eingabe). 

Bedenken gegen die therapeutische Verwend¬ 
barkeit der kolloidalen Si 02 ließen sich aus den 
Arbeiten von Alessaudrini und Scala über die 
Ätiologie und Pathogenese der Pellagra herleiten. 
Diese Autoren sehen nämlich als Ursache der 
Pellagra eine chronische Säureschädigung des 
Organismus mit Störungen im Mineralstoff¬ 
wechsel, hervorgerufen durch kolloidale Lösung 
der Si02 im Trinkwasser der Pellagragegenden. 
Im Tierversuch sollen bei Kaninchen, Meer¬ 
schweinchen, Hunden nnd Affen nach Verab¬ 
reichung von Wasser aus Pellagragegenden und 
ebenso nach oraler, intraperitonealer und sub- 
cutaner Zufuhr von kolloidaler Si02 die klinischen 
und anatomischen Kennzeichen der Pellagra auf- 
treten. Eine Bestätigung dieser Ansichten ist 
unseres Wissens bisher nicht erfolgt. 

Die folgenden Untersuchungen be¬ 
schäftigen sich mit einem von der che¬ 
mischen Fabrik v. Heyden zur Verfü¬ 
gung gestellten Präparat, das nach den 
Angaben der Herstellerin ca. 1 % koll. 
Si Og und als Dispersionsmittel ein Ei¬ 
weißschutzkolloid enthält. Das Präparat 
stellt eine schwer bewegliche, fast wasser¬ 
helle Flüssigkeit von saurer Reaktion und 
uncharakteristischem, leicht adstringie¬ 
rendem Geschmack dar. Nach mehrtä¬ 
gigem Stehen bilden sich häufig am Boden 
kleine Fetzen und Flocken, die aus aus¬ 
gefallener Si Og bestehen sollerti Die Halt¬ 
barkeit des Präparates ist demnach be¬ 
grenzt. 

Seine intravenöse Zuführung schied 
von vornherein aus. Sie kommt ja bei 
einer Behandlung, die sich über Monate 
und Jahre erstrecken soll, schon aus rein 
praktischen Gründen kaum in Frage. Zu¬ 
dem bildet sich — Wie zu erwarten war — 
im ReagenzglasversuchbeiZusatz vonkoll. 
Si Og zu Blutserum, serösen Exsudaten 
oder Transsudaten je nach deren Eiwei߬ 
gehalt ein mehr oder minder dicker Nie¬ 
derschlag, offenbar Albumin- und Glo¬ 
bulinverbindungen der Si 0^, Wie sie Ro¬ 
bert und Siegfried bei analogen Ver¬ 
suchen mit dem Merckschen Natr. silic. 
puriss. nachgewiesen haben. Die Gefahr 
embolischer Organschädigungen ist dem¬ 
nach außerordentlich groß. 


Gegenwart 1921\ Oktober 


Auf das .eigenartige Verhalten der 
Si Og gegenüber den roten Blutkörperchen 
kann hier nicht eingegangen Werden. 
Kleinste Dosen Si Og können jedenfalls 
den Ablauf biologischer Reaktionen (Hä¬ 
molyse) in weitgehendem Maße beein- 
hussen. 

Französische Arbeiten von Scheffler, 
Sartory und Pellisier haben sich Übri-’ 
gens in neuerer Zeit mit der intravenösen 
Injektion von kieselsaurem Natrium be¬ 
schäftigt, in der Absicht, dadurch eine 
günstige Beeinflussung der Stoffwechsel- 
vorgänge bei Arteriosklerose, besonders 
in Fällen mit gesteigertem Blutdruck zu 
erzielen. Es Wurde zunächst festgestelit, 
daß Meerschweinchen pro Kilo Körper¬ 
gewicht 2/io mg ohne Schädigung ver-' 
tragen. Bei mg zeigten sich Vergif¬ 
tungserscheinungen, bei 7io gingen die 
. Tiere zugrunde. Beim Menschen Wurden 
anfangs 0,001 mg pro. die, später 0,01 bis 
0,015 mg ohne Nebenwirkungen mehr¬ 
mals injiziert, angeblich mit gutem Er¬ 
folge auf arteriosklerotische Beschwerden 
wie Dyspnoe, Angina pectoris, cerebrale 
Störungen. Es handelt sich also bei den 
Versuchen dieser Autoren nur um ganz 
außerordentlich geringe Dosen, von denen 
man sich für die Therapie der Lungen¬ 
tuberkulose keinerlei Ergebnisse ver¬ 
sprechen könnte. 

Mit dem v. Heydenschen Präparat 
wurden versuchsweise einige intraglutä- 
ale Injektionen von 0,5 cm (= ca. 5 mg 
Si O 2 ) vorgenommen. Die Injektionen 
schienen unmittelbar nicht besonders 
schmerzhaft zu sein. Nach einigen Stun¬ 
den trat jedoch meist eine sehr erhebliche, 
bis 24 Stunden und länger anhaltende 
Schmerzhaftigkeit auf. Besonders magere 
Patienten klagten sehr, konnten schlecht 
auf der injizierten Seite liegen, Schlaf und 
Gang Waren zum Teil stark beeinträchtigt. 
Infiltrate konnten nicht gefühlt werden, 
Wohl aber bestand sehr erhebliche Druck¬ 
ern pfindlichkeit. Die Durchführung einer 
durch längere Zeit fortgesetzten Injek¬ 
tionsbehandlung erschien danach ausge¬ 
schlossen. 

Subcutane Injektion beim Kaninchen 
schien schon in kleinsten Mengen sehr 
schmerzhaft zu sein. 

Wir verzichteten nach diesen Erfah¬ 
rungen auf die parenterale Einverleibung 
des Mittels und gaben es per os. Die Pa¬ 
tienten bekamen zweimal täglich 5 ccm 
des Präparates, meist in einem Schluck 
Kaffee. Dies entspricht einer Tagesmenge 
von 100 mg Si Og. So konnte das Mittel 



Oktobfi^f Die Therapie 4er Öegems^ärt* 1921 


371 


monatelang ohne Schwierigkeiten und 
Nebenerscheinungen verabreicht werden. 
Nur bei offenkundigen Darmerscheinungen 
wird es anscheinend nicht gut vertragen. 

Um auch leichteste NierSischädigun- 
gen nicht zu ubersehen, Wurde der Urin 
der ersten Fälle täglich mit der Sulfosali- 
cylsäureprobe untersucht. Die Probe fiel 
immer negativ aus. 

Zur Behandlung kamen 20 Fälle aller 
Stadien der Lungentuberkulose, meist 
natürlich mehr oder minder schwere mit 
und ohne Fieber, wie sie das Durch¬ 
schnittsmaterial einer Krankenhauslun¬ 
genstation'bilden. Die Hälfte der Fälle 
Wurde — Worüber noch zu sprechen sein 
wird — gleichzeitig mit Kalzan (Calc. 
natr.-lact.) behandelt. 

Besonderer Wert Wurde auf die Fest¬ 
stellung der jResorptionsverhältnisse der 
per os verabreichten koll. Si.Og gelegt, 
indem die Si O^-Ausscheidiing im Harn 
vor und nach regelmäßiger Zufuhr ge¬ 
prüft wurde. Daß nach den Unter¬ 
suchungen von Kobert und Gonner- 
mann neben den Nieren auch die Leber 
(Galle) und die Dickdarmschleimhaut als 
Austrittsptorten der Si Oo in Fragu 
kommen, konnte für unsere Zwecke un¬ 
bedenklich vernachlässigt werden. 

Die Literaturangaben über die täglich im Harn 
ausgeschiedehe Si02-Menge schwanken ziemlich 
erheblich. Neuberg gibt in seinem Buche über 
den Harn nur unwägbare Spuren an, bei Neu¬ 
bauer-Huppert ist ebenfalls nur von f„sehr 
kleinen Mengen“ ohne Zahlenangabe, die Rede. 
Auf der anderen Seite wurde von Hammarsten 
0,3 g Si02 in 1000 ccm Harn gefunden. 
H. Schulz bekam in Selbstversuchen Durch¬ 
schnittstageswerte von 0,1 bis 0,15 g Si02 und 
wies auf die weitgehende Abhängigkeit dieser 
»Werte vom Si02-Gehalt der Nahrung hin: nach 
Zufuhr nicht kleiehaltigen Brotes betrugen die 
entsprechenden Werte nur 0,061 bis 0,09 g. Den 
von Schulz gefundenen Tagesdurchschnitt von 
0,1 g Si02 konnten Kahle und Salkowski 
bestätigen. 

Kahle fand nun weiter bei Tuberkulösen und 
Krebskranken sehr viel geringere Werte. Sie 
schwankten zwischen 0,01 bis 0,007 g Si02 in der 
• Urintagesmenge. Inwieweit diese niedrigen Werte 
durch die namentlich bei Krebskranken doch 
häufig sehr geringe Nahrungsaufnahme beeinflußt 
worden sind, steht dahin. Im Zusammenhang mit 
früheren Untersuchungen von Kunkel und 
Rohden, die auf Grund ihrer Pankreasanalysen 
in diesem Organe eine Art Si02-Speicher für den 
Organismus sahen, hat Kahle weiterhin bei 
Tuberkulösen einen verminderten, bei — nicht 
operierten —. Carcinomkranken einen erhöhten 
Si02-Gehalt des Pankreas, gefunden. Er nahm 
daher bei beiden Krankheiten eine Störung der 
Si02-Bilanz des Organismus an, für deren Zu¬ 
standekommen er mehrere hypothetische Mög¬ 
lichkeiten auf stellte. Nachuntersuchungen von 
Schulz haben diese angeblichen Beziehungen des 


&• 

Pankreas zum Si02-StoffWeichsel nicht bestätigt. 
Seine Befunde sind aber neüerdings wieder von 
Kahle unter ausführlicher Mitteilung seiner zahl¬ 
reicheren Untersuchungsprotokolle angegriffen 
worden. Nach diesen würden sich bei käsiger 
Pneumonie und hemmungsloser Phthise die 
geringsten, bei ausgeheilter Lungentuberkulose 
die höchsten SiOa- Werte im Pankreas finden. 

Ferner gibt Zuckmayer als durchschnitt¬ 
liche Tagesmenge — bei anscheinend gesunden 
Individuen — 0,03 bis 0,06 g Si02 im Harn an. 
Als Maximum fand er 0,063, als Minimum 0,015 g 
SiOa pro die. 

Weiterhin hat Gonnermann bei Patienten 
von Kühn, — also bei Tuberkulösen —, die noch 
nicht mit SiOa behandelt waren, 0,013 bis 0,08 g, 
in anderen Fällen 0,03 bis 0,045 g SiOa im Liter 
Harn gefunden.^'* Für Tuberkulöse, die zwei be¬ 
ziehungsweise viör Monate lang SiOa Tee ge¬ 
trunken haben, führt Kobert zwei Analysen an, 
durch die 0,07 beziehungsweise 0,18 g Si 02 in der 
Urintagesmenge festgestellt wurde. Die ent¬ 
sprechenden Werte vor Einsetzen der SiOa- 
Behandlung sind nicht bestimmt worden. 

Eine Nachprüfung dieser Verhältnisse 
durch Harnanalysen war infolge des weit¬ 
gehenden Entgegenkommens der Firma 
V. Heyden möglich. Die Analysen er¬ 
folgten im Fabriklaboratorium, und zwar 
in der W>.ise, daß dem untersuchenden 
Chemiker (Herr Dr. Kegel) die Herkunft 
des Harns (Tuberkulöser oder Nicht¬ 
tuberkulöser, vor oder nach Si Og-Zufuhr) 
völlig unbekannt war. 

Um zunächst bei nicht mit SiO^ be¬ 
handelten Tuberkulösen einen Durch¬ 
schnittswert zu erhalten, wurde von 
17 Fällen aller Stadien, darunter sechs 
schweren,die imTagesurin ausgeschiedene, 
aus der Nahrung stammende Si Og be¬ 
stimmt. Wir erhielten bei der gewöhn¬ 
lichen gemischten Krankenhauskost diese 
Werte: zweimal 0,03, achtmal 0,04, je 
dreimal 0,05 und 0,06 g Si Og pro die. 
Offenbare Darmstörungen, die die Re¬ 
sorptionsverhältnisse hätten stören kön¬ 
nen, bestand bei keinem der Kranken. 
Die Ausscheidungswerte bei den Schwer¬ 
kranken erwiesen sich weder als besonders 
hoch noch als besonders niedrig. Ein Fall, 
der auf Milchdiät gesetzt war, schied nur 
0,01 g Si Og in 24 Stunden aus. Der Si Og- 
Gehalt der Milch wird nach Kobert sehr 
verschieden angegeben. Pfyl fand nur 
0,0019 g Si Ogim Liter Kuhmilch, während 
Kobert auf Grund der von ihm veran- 
laßten Analysen die entsprechende Zahl 
auf 0,028 g Si Og berechnet. Die bei' 
reiner Milchdiät zugeführte Si Og-Menge 
ist also auf jeden Fall recht gering. 

Nach Einsetzen regelmäßiger Zufuhr 
von kolloidaler SiOg (0,1 g pro die per os) 
wurden 22 Harnanalysen ausgeführt. Sie 
ergaben wesentlich höhere Werte, wie 

47* 







372 


Die Therapie .der iGtegenwart: 1921 


man aus nachstehender Tabelle ersieht. 
Es wurde gefunden eine 

Tagesmenge SiOs von 0,04 g in fünf Fällen 
}) }> 0,05 g ,, drei ,, 

,, 0,06 g „ zwei „ 

» M „ 0,07 g „ drei 

>> n „ 0,08 g „ drei 

• » 0,09 g „ zwei „ 

„ „ „ 0,10 g „ zwei „ 

« » „ 0,16 g „ zwei „ 

Zweifellos kann also eine nennenswerte 
Resorption der koll. SiOg stattfinden, die 
sich dann in einer erhöhten SiOg-Aus- 
scheidung durch die Niere geltend macht. 
Dies geht besonders deutlich aus den bei 
den einzelnen Patienten vor und während 
der SiOg-Behandlung gefundenen Werten 
hervor. In einigen Fällen verdoppelte 
sich der ursprüngliche SiOg-Wert nach 
regelmäßiger SiOg-Zufuhr z. B. von 0,04 
auf 0,08 und 0,09 g, von 0,05 auf 0,1. In 
anderen Fällen war der Unterschied 
weniger groß, die entsprechenden Werte 
betrugen z. B. 0,Ö4 vor und 0,05 g nach 
SiOg-Zufuhr. Die Fälle verhalten sich 
also ohne ersichtliche Ursache recht un¬ 
gleich. Auf weitere Einzelheiten einzu¬ 
gehen würde jedoch zu weit führen. 

Zum Vergleich wurden die Ausschei¬ 
dungsverhältnisse der SiOg bei 15 Nicht¬ 
tuberkulösen — meist Leuten, die von 
interkurrenten Krankheiten genesen 
waren geprüft. Wir fanden folgende 
Werte: einmal 0,02, zweimal 0,03, sieben- 
m a 10,04, zweimal 0,05 und zweimal 0,07 g 
SiOg in der Tagesmenge. Die niederen 
Werte erhielten wir durchweg bei Leuten, 
die statt des üblichen Schwarzbrotes 
Weißbrot bekamen. Einigen dieser 15 
Fälle wurde für ein paar Tage SiOg in 
der* üblichen Form in einer Gesamtmenge 
von etwa 1,5 g zugeführt. Danach ergaben 
die Analysen von sechs Harnen: einmal 
0,04, dreimal 0,05 und zweimal 0,06 g 
SiOg pro die. Ein einwandfrei deutlicher 
Unterschied der vor und nach der SiOg- 
Behandlung gewonnenen Werte zeigte 
sich hieibei allerdings nicht. Die Zahl 
der Analysen ist jedoch zu klein, um 
hieraus irgendwelche Schlüsse ’ableiten 
zu können. 

' Es sei hier noch eine Frage berührt, 
die in der neueren SiOg-Literatur eine 
gewisse Rolle spielt: die Frage nach den 
Resorptions- und Ausscheidungsverhält¬ 
nissen der SiOg bei kombinierter SiOg- 
Kalkbehandlung. 

Helwig hat (in der Arbeit von Robert) 
Versuche an Kaninchen mit rectalen Einläufen 
eines Si 02 -Quellwassers gemacht und glaubt 
festgestellt zu haben, daß der Einfluß auf die 
Phagocytose bei diesen Tieren gleich hoch blieb, 


'Oktober 


ob' nun eine synthetische Quellösung mit oder 
ohne Calciumgehalt verwandt würde. Auf Grund 
dieser gleichen auf Si 02 -Wirkung zurückgeführtehi 
biologischen Reaktion nimmt Helwig die gleichen 
von der Calciumkomponente unbeeinflußten Re- 
sorptionsverh^Wtnisse der SiOg an. 

Dagegen's.oll nach Zuckmayers schon mehr¬ 
fach erwähnten Untersuchungen durch gleich¬ 
zeitige Kalkgabe (Chlorcalcium oder Tricalcol) die 
Si02-Ausscheidung bei Darreichung aller unter¬ 
suchter SiOg-Verbindungen herabgesetzt und auch 
die aus der Nahrung stammende Si02-Menge ver¬ 
mindert sein. Die "Ursache dieser Erscheinung 
ist noch ungeklärt und auch Üurch die üblichen 
Versuche am Menschen nicht zu klären. Zwei 
Möglichkeiten kommen zunächst in Frage: einmal 
können sich im Darm unlösliche Calciumsilicate 
bilden, die nicht resorbiert werden, oder aber die 
Si02 wird resorbiert, aber die Ca lei um Wirkung im 
Organismus zurückgehalten. Theoretisch wäre 
noch eine vermehrte Ausscheidung der Si02 durch 
den Dickdarm möglich. 

In der Praxis wih Kühn von der kombinierten 
Calcium-Si02-Behandlung Günstiges gesehen ha¬ 
ben, empfiehlt aber, beide Medikamente getrennt 
zu geben, in der Weise, daß nach mehrwöchiger 
energischer Si02-Behandlung während einer Si02^ 
Pause Kalk in genügender Dosierung gegeben, 
oder daß die Kalkdarreichung mit intramusku¬ 
lären Si02-Injektionen verbunden wird. 

Wir selbst behandelten — wie schon 
erwähnt — zehn unserer Patienten gleich¬ 
zeitig mit SiOg und Kalzan. Beide Mittel 
wurden jedoch zu verschiedenen Tages¬ 
zeiten gegeben, so daß die Wahrschein¬ 
lichkeit der Bildung unlöslicher Ca-Sili- 
cate im Darm gering ist. Bei diesen 
Patienten wurden acht Harnanalysen 
ausgeführt. Die Ergebnisse wichen in 
keiner Weise von denen nicht mit Kalk 
behandelter Patienten ab. Bei zwei 
Fällen, deren SiOg-Werte erst ohne gleich¬ 
zeitige Kalkwirkung festgestellt Worden 
waren, fanden sich im Gegenteil, während 
einer SiOg-Kalkperiode, sogar auffallend 
hohe SiOg-Tagesmengen. Diese Unter-, 
suchungen lassen also eine durch Kal-® 
ziumwirkung verminderte Resorption be¬ 
ziehungsweise Ausscheidung der SiOg 
nicht erkennen. 

Zusammeiifassend ergibt sich also aus 
unseren Untersuchungen folgendes: I. Die 
tägliche SiOg-Ausscheidung bei Tuber¬ 
kulösen beträgt bei gewöhnlicher ge¬ 
mischter Kost im Durchschnitt 0,04 g. 
Als Maximum werden 0,06, als Minimum 
0,03 g gefunden. Den gleichen Durch¬ 
schnittswert erhielten wir bei Nichttuber¬ 
kulösen in Übereinstimmung mit Ana¬ 
lysen von Gonnermann und Zuck¬ 
mayer, im Gegensatz zu den Befunden 
von Schulze, Kahle und Salkowski, 
die einen erheblich höheren Wert (0,1 g) 
angeben. Eine Störung im SiOg-Stoff¬ 
wechsel TubeTkulöser konnte auf diese 
Weise also nicht nachgewiesen werden. 



Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


373 


Die erhaltenen Werte sind offenbar in 
erster Linie vom SiOg-Gehalt der Nahrung 
•abhängig. 

II. Nach medikamentöser Zufuhr 
kollodialer SiOg findet eine erhebliche 
Erhöhung der Ausscheidungswerte statt. 
Das Präparat wird also ausgiebig resor¬ 
biert, der Organismus erhält reichlich 
SiOg angeboten. Anscheinend besteht 
•auch in der Resorption der SiOg zwischen 
Tuberkulösen und Nichttuberkulösen kein 
Unterschied. Inwieweit die vermehrt auf¬ 
genommene SiOg vom tuberkulösen Or¬ 
ganismus zur Einleitung von Heilungs¬ 
vorgängen ausgenutzt werden kann, muß 
zunächst offen bleiben. ' 

III. Die von Zuckmayer behauptete 
verringerte SiOg-Ausscheidung bei gleich¬ 
zeitiger Darreichung von SiOg und Kalk 
konnte nicht bestätigt werden. 

Nachdem die gute Resorbierbarkeit 
der koll. SiOa erwiesen war, konnte man 
mach ihrer Verabreichung physiologische- 
Reaktionen erwarten, die als SiOg-Wir- 
kiing gedeutet worden sind. 

Insbesondere kam hierbei der Einfluß der 
•Si02 in Frage, der nach den Untersuchungen von 
Schülern Roberts auf die Zahl der Leukocyten 
und ihre prozentuale Zusammensetzung bestehen 
soll. So hatte Zickgraf nach Verabreichung 
Si02-haltiger Glashäger Mineralquelle eine starke 
Vermehrung der Leukocyten, speciell der neutro¬ 
philen bis um 200 % und gleichzeitig eine auf¬ 
fallende Zunahme der mehrkernigen, gegenüber 
den ein- und zweikernigen neutrophilen Zellen 
gefunden. Also eine Verbesserung des Blutbildes 
im Sinne Arneths. Das Maximum der Wirkung 
trat meist am zweiten oder dritten Tage ein. 
Schwarz und Ladendorf (zit. nach Robert) 
bestätigen diese Angaben nach eigenen Unter¬ 
suchungen. Helwig (zitiert nach Robert) kam 
^um gleichen Ergebnis an klinisch gesunden 
Menschen und stellte außerdem im Tierversuche 
eine deutliche Steigerung des opsonischen Index 
■fest. Helwig glaubt demnach, daß die Abwehr¬ 
kräfte des Organismus im Rampf gegen Infek¬ 
tionen durch geeignete Si02-Darreichung erhöht 
werden könnten. 

Aus neuerer Zeit liegen Blutuntersuchungen 
von Resseler vor, die dieser an fünf Fällen nach 
Einnahme von täglich drei Teelöffel Sil. veget. 
-clialysat. Golaz (entspricht 43 bis 212 mg Si02) 
und ferner an elf Fällen ausgeführt hatte, die 
Ralk und Si02 (0,75 mg) enthaltende Tabletten 
bekommen hatten. Die durchschnittliche Leuko- 
cytenzahl vor dem Einnehmen der SiO^-Präparate 
betrug 9206. Sie stieg nach zwölf Stunden auf 
durchschnittlich 10 384. Die entsprechenden 
Zahlen für die Neutrophilen waren 58.8% vor, 
61,1 % nach SiOs-Zufuhr, während die Lympho- 
■cyten durchschnittlich von 30,3 % auf 27,9 % 
.zurückgingen. Das sind freilich so minimale 
■ Zahlenunterschiede, daß man sie ohne weiteres 
als innerhalb der Fehlergrenzen beziehungsweise 
der physiologischen Schwankungen liegend an- 
sehen kann. Resseler hält aber diese Reaktion 
der leukocytären Elemente für geeignet, einen 
heilsamen Einfluß auf die Lungentuberkulose aus¬ 


zuüben. Er sieht ihn in Erhöhung der Stoff- 
wechselvorgänge und der Schutzkörperbildung im 
Organismus. 

Die Nachprüfung dieser Angaben ge¬ 
schah an zwölf mittelschweren, unkom¬ 
plizierten, meist ganz fieberfreien Fällen 
von Lungentuberkulose, die in den ersten 
Tagen 200 mg, später lOO mg koll. SiOg 
per OS täglich erhielten. Um vermeidbare 
Fehlerquellen auszuschalten, wurden am 
frühen Morgen zwei Füllungen der 
Bürckerschen Kammer gezählt. DieBlut- 
entnahme geschah in der gleichen Körper¬ 
stellung (Jörgensen). Einige Kontroll- 
zähltingen an nicht mit SiOg behandelten 
Patienten ergaben trotz dieser Vorsichts¬ 
maßnahmen Schwankungen der Leuko- 
cytenzahlen an aufeinanderfolgenden 
Tagen nach oben und unten bis zu 1500. 
Von den Objektträgerausstrichen wurden 
400 Leukocyten differenziert unter Be 
rücksichtigung ihrer verschiedenen pro¬ 
zentualen Verteilung in den Rand- und 
Centralfeldern (Meu lengrach t, Ste¬ 
phans). Die Zählungen wurden vor der 
SiOg-Zufiihr und in den nächstfolgenden 
vier bis fünf Tagen vorgenommen. Bei 
den meisten Patienten wurde das Blut¬ 
bild im Verlaufe der Behandlung in ge¬ 
wissen Abständen weiter verfolgt. 

Eine deutliche Zunahme der Leuko- 
cytenzahl (um 3000—5000) wurde nur in 
zwei Fällen und auch hier nur an einzelnen 
Tagen beobachtet. " In vier Fällen war 
eine Tendenz der Leukocytenzahl zum 
Steigen vielleicht vorhanden, hielt sich 
aber in sehr bescheidenen Grenzen. Vier 
weitere Fälle wurden überhaupt nicht 
erkennbar beeinflußt, und bei zweien zeigte 
sich eher eine Neigung zum Sinken der 
Leukocytenzahl. Die aus den zwölf Einzel¬ 
werten ge\yonnene Durchschnittszahl der 
Leukocyten vor der SiOg-Behandlung be¬ 
trug 8979, die entsprechenden Zahlen der 
nächstfolgenden Tage nach Einsetzen der 
Si0.2-Wirkung waren 9200, 9417, 9606 
und 9717. Eine geringe Tendenz zur Ver¬ 
mehrung der Leukocyten könnte man 
aus diesen Durchschnittszahlen neben 
herauslesen. Ob dieser geringe zahlen¬ 
mäßige Unterschied praktisch lür den 
Organismus in Frage kommt, ist jedoch 
mindestens sehr zweifelhaft. 

Bei der Differenzierung der Ausstriche 
ergab sich zunächst, daß fünf Fälle keine 
Änderung der prozentualen Leukocyten- 
zusammensetzung von Belang erkennen 
ließen. Eine Klassifizierung der Neutro¬ 
philen nach Arneth haben wir nicht 
vorgenommen. Auffälliges Verhalten der 





374 


Die Therapie der Gegenwart 1921 > 


Olctober 


Kernlappung wurde bei der Durchsicht 
der Präparate jedoch nicht beobachtet. 
Eine Zunahme der Neutrophilen auf 
Kosten aer Lymphocyten fanden wir nur 
in zwei Fällen und nur in Höhe von 8 bis 
9%. Dagegen konnte in fünf Fällen eine 
stetige Zunahme der Lymphocyten und 
Abnahme der Neutrophilen festgestellt 
werden,’die meist auch wieder. 7—9% 
betrug. Nur in einem dieser Fälle stiegen 
die Lymphocyten kontinuierlich von 14 
auf 32 %, während die Neutrophilen von 
74—57% sanken. Die Gesamtzahl der 
Leukocyten blieb dabei unbeeinflußt. 
Auch bei den übrigen Fällen war ein 
irgendwie gesetzmäßiges Verhalten zwi¬ 
schen Änderung der Gesamt- und Ver¬ 
hältniszahl der Leukocyten nicht erkenn¬ 
bar. Ebensowenig wurden die Werte für 
die Eosinophilen und großen Mononucle- 
ären, durch die Si 02 -Zufiihr beeinflußt. 

Die im weiteren Verlaufe der SiOg- 
Behandlung erfolgten Zählungen ent¬ 
sprachen durchaus dem jeweiligen Stande 
der Krankheit, indem sich vor allem bei 
den günstig.verlaufenden Fällen eine zum 
Teil recht erhebliche Lymphocytose ent¬ 
wickelte. 

Endlich wurden Leukocytenzählungen 
bei vier Fällen vorgenommen, die einen 
in der Krankenhausapotheke hergestellten 
Tee mit täglich 50—90 mg SiOg bekamen. 
Die erhaltenen Werte ließen keine Be¬ 
einflussung des wei-ßen Blutbildes er¬ 
kennen. 

Das Ergebnis dieser Untersuchungen 
ist demnach folgendes: 

I. Tägliche Zufuhr von 200 mg koll. 
SiOg per OS bewirkt im Durchschnitt nur 
eine ganz geringe Tendenz der Leuko- 
cytenzahl zum Steigen. Nur in einzelnen 
Fällen ließ sich eine Vermehrung der 
Leukocyten um 3000—5000 nachweisen. 

II . Die prozentuale Zusammensetzung 
der Leukocyten wird durch die SiOg ent¬ 
weder gar nicht beeinflußt (fünf unter 
zwölf Fällen), oder es kommt zu einer 
stetigen, meist aber unter 10 % betragen¬ 
den Zunahme der Lymphocyten auf 
Kosten der Neutrophilen (fünf unter 
zwölf Fällen). Das umgekehrte Verhalten 
wurde im Gegensatz zu den Beob¬ 
achtungen früherer Autoren nur zweimal 
festgestellt. 

III. Das Blutbild im weiteren Verlaufe 
der SiOg-Behandlung entspricht durchaus 
dem jeweiligen Stande der Krankheit. 

IV. Der Einfluß der koll. SiOg auf das 
weiße Blutbild, der bei der erwiesener¬ 
maßen guten Resorption des verwendeten 


Präparats nach aen bisherigen Mittei¬ 
lungen auf diesem Gebiete zunächst zu 
erwarten war, kann also nur in sehr be¬ 
schränktem Umfange bestätigt werden. 
Es erscheint daher sehr gewagt, erhöhte 
Abwehrmöglichkeit des Organismus im 
Kampfe gegen die Infektion, gesteigerte 
Stoffwechselvorgänge usw. auf Grund von 
biologischen Blutreaktionen nach SiOa- 
Darreichung zu erhoffen. 

Aus der sonstigen klinischen Beob¬ 
achtung der mit koll. SiOg behandelten 
Fälle sei nur noch kurz erwähnt: floride 
Formen der Lungentuberkulose wurden,, 
wie ja zu erwarten, gar nicht beeinflußt, 
zeigten auch bei der Sektion keinerlei 
auffällige Neigung zur Vernarbung. Ob 
an sich gutartige Fälle, auch wenn sie 
schon vorgeschritten waren, in ihren 
Heilungsbestrebungen durch Si02-Zufuhr 
unterstützt wurden, vermag ich auf Grund 
meines klinischen Materials weder zu be¬ 
jahen noch völlig abzulehnen. Ein ein¬ 
deutiger Einfluß der SiOg-Therapie auf 
die manifesten klinischen Krankheits¬ 
erscheinungen (Lungenbefund, Tempera¬ 
turverlauf, Sputum- und Bacillenmenge, 
Schweiße usw.), der als ein wesentliches 
Abweichen von dem sonst zu erwartenden 
Verlauf der einzelnen Fälle zu deuten 
gewesen wäre, war weder unmittelbar 
noch nach monatelanger Darreichung, 
des Mittels erkennbar. Eine günstige 
Deutung ließ allenfalls der pathologisch¬ 
anatomische Lungenbefuna zweier zur 
Sektion gekommener Fälle von chronisch¬ 
kavernöser Phthise zu, insofern der Obdu¬ 
zent, der von der vorausgegangenen SiOg- 
Behandlung keine Kenntnis hatte, das 
derbe schwielige Narbengewebe in den 
zum Teil mit größeren Hohlgeschwüren 
durchsetzten Lungen als auffallend stark 
entwickelt bezeichnete. Einen ähnlichen 
Befund beschreibt Kesseler in einem 
Falle, der sich nach halbjähriger SiOs- 
Zufuhr das Leben genommen hatte und 
bei dem sich ebenfalls eine überraschend 
starke bindegewebige Umwandlung und 
Abkapselung der tuberkulösen Herde fand. 
Es darf jedoch nicht verschwiegen werden, 
daß in dem einen unserer Fälle eine frische 
peribronchitische Aspirationsaussaat in 
bisher gesunde Lungenteile ohne erkenn¬ 
bare Heilungstendenzen nicht verhütet 
worden war und das Ende herbeigeführt 
hatte. 

Von besonderem Interesse sind in 
diesem Zusammenhänge Arbeiten aus 
dem Rößleschen Institut, insbesonaere 
die tierexperimentellen Studien 





Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


375 


Kahle, der schwer mit Tuberkulose in¬ 
fizierte Meerschweinchen ijiit einem SiOg- 
Präparate behandelte und schon nach 
kurzer Zeit so deutliche Vernarbungs¬ 
vorgänge feststellen konnte, daß man 
anatomisch mit Sicherheit unbehandelte, 
gleich schwer infizierte Kontrolltiere und 
behandelte Tiere zu unterscheiden ver¬ 
mochte. Die fortschreitende Bindege¬ 
webs- und Narbenbildung in den tuber¬ 
kulösen Prozessen soll direkt propor¬ 
tional der Länge der Behandlungsdauer 
und der Menge des verabreichten SiOg- 
Präparates sein. Rößle gibt außerdem 
in seiner letzten Veröffentlichung be¬ 
merkenswerte Mitteilungen über die Tu¬ 
berkuloseerkrankungen bei Staubarbeiten, 
insbesondere im Porzellangewerbe, wäh¬ 
rend sein Schüler Vollrath durch aus¬ 
gedehnte statistische Erhebungen über 
Lungenerkrankungen unter den Porzellan¬ 
arbeitern Thüringens der verbreiteten 
Anschauung über die Schädlichkeit des 
SiOg-haltigen S^taubes und seiner zur 
Lungentuberkulose disponierenden Eigen¬ 
schaften entgegentritt. 

Unsere Stellung zur Frage der SiOg- 
Behandlung der Lungentuberkulose möch¬ 
ten wir zum Schluß auf Grund dieser 
Untersuchungen und Beobachtungen da¬ 
hin festlegen; Für die Lungentuberkulose 
des Menschen ist ein ernsthaftzu nehmen¬ 
der Beweis für narbenfördernde Wirkung 
der SiOg noch nicht erbracht. Die gün¬ 
stige therapeutische Beeinflussung der 
exp e'r im en t e 11 en M e ers c h w e i nc h en t u b e r- 
kulose durch SiOg-Darreichung (Kahle) 
läßt sich nicht ohne weiteres auf die Ver¬ 
hältnisse beim Menschen übertragen. Auch 
die bisher meist gerühmte Eigenschaft der 
SiOg, auf das leukocytäre Blutbild günstig 
einzuwirken und damit den Organismus 
in seinen Heil- und Abwehrbestrebungen 
zu unterstützen, hat sich bei unserer Nach¬ 
prüfung zum mindesten als sehr unsicher 
erwiesen. Sicher nachgewiesen ist nur, 
daß es eine Anzahl SiOg-Präparate gibt, 
die nach ihrer Ausscheidung im Harn 
zu urteilen in ausreichendem Maße vom 
Organismus aufgenommen werden. Bei 
der leicht durchführbaren, ohne Schäden 
über lange Zeit fortzusetzenden Dar¬ 
reichung eines solchen Präparates steht 
der Organismus dauernd unter einem er¬ 
höhten Angebot von SiOg. Die Möglich¬ 
keit ihrer Verwendung zur narbigen Um¬ 
wandlung tuberkulösen Granulationsge¬ 
webes ist damit gegeben. Trotz der noch 
recht unsicheren wissenschaftlichen Basis 
möchten wir daher die auch von der 


Volksmedizin gestützte SiOg-Therapie der 
Lungentuberkulose nicht einfach für er-' 
ledigt halten. Vollkommen unklar ist 
natürlich die Frage nach der zu einer 
optimalen Wirkung dem Organismus not¬ 
wendigen Menge der SiOg., Es fragt sich 
sogar, ob nicht eine einfache diätetische 
Behandlung mit SiOg-reicher Kost — wie 
sie z. B. Kühn als unterstützendes Moment 
neben der medikamentösen SiOg-Zufuhr 
angegeben hat — zur Bereitstellung der 
zur Vernarbung notwendigen SiOg-Mengen 
ausieichend sein würde. Statistische Fest¬ 
stellungen, die sich hierfür verwerten¬ 
ließen, über die Tuberkuloseverhältnisse 
in bestimmten Bevölkerungen, deren 
Nahrung notorisch sehr reich an SiOg ist 
(Gerstenbrot, Bier, Hirse), sind meines 
Wissens nicht bekannt. Man wird jedoch 
namentlich bei den nicht von vornherein 
bösartig verlaufenden Fällen von Lungen¬ 
tuberkulose unbedenklich ein gut resrr- 
bierbares SiOg - Präparat in möglichst 
.handlicher Form reichen können. 

Literatur: 1. Alessandrini u. Scala, Bei¬ 
trag zur Ätiologie und Pathogenese der Pellagra 
(Zschr. f. Chemother. u. verw. Geb. 1914, Bd. 2, 
H. 2/4, S. 156). — 2. Dieselben, Contributo 
nuovo alla etiologia e patogenesi della pellagra 
(Memoria. Ann. d’ig. sperim. 1914, Bd. 24, Nr. I, 
S. 12. Ref. K. Z. Bl. 1914, Bd. XI, S. 468). — 

3. Breest, Zur physiol. Wirkung der Kieselsäure. 
Über die Resorption der Kieselsäure (Biochem. 
Zschr. 1920, Bd. 108, H. 4—6, S. 309—316). — 

4. Gerhartz u. Striegel, Über Kieselsäure¬ 
behandlung (Brauers Beitr. z. Klin. d. Tuber¬ 
kulose. Bd. 10, H. 1). — 5. Hammarsten, Lehr¬ 
buch d. phys. Chem. 1907, 6. Aufl.). — 6. Jör¬ 
gensen, Abhängigkeit der Leukocytenzahl von 
der Körperstellung (Zschr. f. klin. Med. 1921,. 
Bd. 90, H. 3/4). — 7. Kahle, Einiges über den- 
Kieselsäurestoffwechsel bei Krebs und Tuber^ 
kulose und seine Bedeutung für die Therapie der 
Tuberkulose (M. m. W. 1914, Nr. 14, S. 753). — 
8. Derselbe, Über die Beziehungen des Pankreas- 
zum Kieselsäurestoffwechsel u. Versuche über 
therapeut. Beeinflussung experimenteller Meer¬ 
schweinchentuberkulose durch Kieselsäuredar¬ 
reichung (Beitr. z. Klin. d. Tbc. Bd. 47, H. 2, 

5. 296). — 9. Kesseler, Zur Frage der Kiesel¬ 
säuretherapie bei Lungentuberkulose (D. m. W. 
1920, Nr. 9, S. 239). — 10. Kobert, Über kiesel¬ 
säurehaltige Heilmittel insonderheit bei Tuber¬ 
kulose (Rostock-M., Warkentiens Verlag). — 
11. Kühn, Zur Behandlung der Lungentuber¬ 
kulose mit Kieselsäure (M. m. W. 1918, Nr. 52, 
S. 1459). — 12. Derselbe, Kieselsäure und 
Tuberkulose (Ther. Mh. 1919, H. 6). — 13. Der¬ 
selbe, Zur Methodik der Kieselsäuredarreichung’ 
bei Lungentuberkulose (M' m. W. 1920, Nr. 9, 
S, 253—255). — 14. Derselbe, Neue Probleme 
in der Behandlung der Lungentuberkulose mit 
besonderer Berücksichtigung der Kieselsäure¬ 
frage (Zschr. f. Tbc. 1920, Bd. 32, H. 6, S. 321). — 
15. Kunkel, Sitzungsber. d. phys. med. Ges. zu 
Würzburg. 1898, S. 78. — 16. Meulengracht, 
Bemerkungen zur Technik der Differentialzählung 
der weißen Blutzellen. Deckglaspräparate contra 
Objektglaspräparate (Acta med. scandin. 1921, 



376 


Die Therapie der Gegenwart 1Q21 


Oktober 


Bd.54, H.3. Ref. K. Z. Bl. 1921, Bd. 17, H.2).— 
17. Neubauer-Huppert, Analyse des Harnes 
<Wiesbaden 1910, S. 69 u. 147). — 18. Neuberg, 
Der Harn, Teil I (Berlin 1911, S. 74). — 19. Roh¬ 
den, 20.'Kongr.f. inn. Med. 1902. — 20. Rössle, 
Zur Siliciumbehandlung der Tuberkulose (M. m. 
W. 1914, Nr. 14, S. 756). —21. Derselbe, Über 
die Tuberkulose bei Staubarbeitern, im besonderen 
im Porzellangewerbe (Beitr. z. Kl. d. Tbc. Bd. 47, 
H. 2, S. 325). — 22. Salkowski, Über den Nach¬ 
weis der Kieselsäure im Harn ohne Veraschung 
desselben (Zschr. f. phys. Chem. 1913, Bd. 83, 
S. 143). — 23. Sartory u. Pellisier, Über die 
Anwendung des kieseis. Natriums bei intra¬ 
venöser Injektion (Ref. K. Z. Bl. 1921, Bd. 15, 
H. 9, S. 536). — 24. Scheffler, Sartory u. 
Pellisier, Les injections intraveineuses de silicate 
de soude (Presse med. 1920, Jahrg. 28, Nr. 82, 
S.806. Ref. K.Z. Bl. 1921, Bd. 16, H. 6, S. 288).— 
25. Schuhbauer, Zur phys. Wirkung der Kiesel¬ 
säure. Die Einwirkung der Kieselsäure auf den 
tierischen Organismus (Biochern. Zschr. 1920, 


Bd. 108, H.4—6, S.304—308). —26. H. Schulz, 
Einige Bemerkungen über Kieselsäure (M. m. W. 
1912, S. 440).— 27. Derselbe, Die quantitative 
Ausscheidung der Kieselsäure durch den mensch¬ 
lichen Harn (Pflüg. Arch. f. d. ges. Phys. 1912, 
Bd. 144, S. 350). — 28. Derselbe, Über den 
Kieselsäuregehalt der menschl. Bauchspeichel¬ 
drüse mit Bemerkungen über die Gewichtsver- 
hältnissc der Drüse in den verschiedenen Lebens¬ 
altern (Biochern. Zschr. 1915, Bd. 70, S. 464). — * 
29. Stephans usw., Have differential leucocyte 
coLints any value? (Ann. of trop. med. a. para- 
sitolog. 1921, Bd. 14, S. 371. Ref. K. Z. Bl. 
Bd. 17, H. 5, S.282). —30. Vollrath, Die Tuber¬ 
kulose der Porzellanarbeiter Thüringens (Beitr. 
z. Kl. d. Tbc. Bd. 47, H. 2, S. 237). — 31. Zick¬ 
graf, Über die Darreichung von kieselsäure¬ 
haltigem Mineralwasser in Lungenheilstätten 
(Zschr. f. inn. Med. 1908, Nr. 29). — 32. Zuck¬ 
mayer, Ausscheidung der Kieselsäure durch den 
Harn nach Eingabe verschiedener Kieselsäure¬ 
präparate (Ther. d. Gegenw. 1920, H. 10). 


über parenterale Kieselsäurezufuhr. 

Von Dr. phil. F. Zuckmayer, Hannover. 


Während die innerliche Verabreichung 
der Kieselsäure von Kobert und seinen 
Mitarbeitern, Kühn und anderen genau 
bearbeitet ist, und über die Ungiftigkeit 
der Kieselsäure auch durch die vor kurzem 
erschienenen Arbeiten von Schuh- 
bauer^) und Breest^) kein Zweifel be¬ 
steht. finden wir über die parenterale An¬ 
wendung derselben nur wenige Angaben. 

Kobert^) spritzte einem Kaninchen eine kurz 
vor der Anwendung mittels verdünnter Salzsäure 
neutralisierte Lösung von Natr. silicic. puriss. 
Merck (3 Tage lang 50 mg und über einen Monat 
lang 100 mg, zusammen 3,8 g des Präparates) unter 
die Haut; das Tier frißt, nimmt nicht ab, im Harn 
findet sich kein Eiweiß, aber*reichlich Si02. Von 
Botschareffü fand bei subcutaner Einspritzung 
eine nur mäßig konzentrierte Lösung desselben 
Präparates nur wenig wirksam; erst lOprozentige 
Lösungen wirken nekrotisierend auf das Unter¬ 
hautzellgewebe. Bei diesen hohen Dosen kam es 
in den gewundenen Kanälchen der Niere zur Ab¬ 
lagerung von Silicaten, die sich in Ätznatron 
lösten. Kobert stellte bei erneuten Versuchen 
fest, daß ein Kaninchen von 3 kg 68 mg des 
Natr. silicic. puriss. Merck unter die Haut einge¬ 
spritzt ohne Eiweißharn oder sonstige patho¬ 
logische Veränderungen ertrug, nur die Harn¬ 
menge war vermehrt. Eine Katze gleichen Ge¬ 
wichtes schädigten 90 mg des Präparates, sub- 
cutan gegeben, nicht. Kobert u. Siegfried^) 
stellten fest, daß eine neutralisierte Natrium¬ 
silicatlösung auf rote Blutkörperchen aggluti¬ 
nierend wirkt, mit Serum sowie mit undefibri- 
niertem Blut einen Niederschlag bzw. ein volumi¬ 
nöses mit agglutinierten roten Blutkörperchen 
vermischtes Fibringerinnsel gibt. 

Sie ziehen hieraus den Schluß, daß intravenöse 


ü Biochern. Zschr. 1920. Bd. 108. 

^) Ebenda 

Ü Kobert, Über kieselsäurchaltige Heilmittel 
insonderheit bei Tuberkulose. 2. Aufl. S. 8. 

Ü Botschareff, Beiträge zur Frage über die 
Wirkung der Kieselsäure auf den Nieren-Organis- 
mus. Diss. St. Petersburg 1902, zit. n. Kobert^). 


Einspritzungen von Natriumsilicat, sofern sie 
nicht außerordentlich langsam und verdünnt vor¬ 
genommen werden, nicht pharmakologisch, son¬ 
dern grob mechanisch wirken, das heißt, daß sie 
durch Embolisierung in lebenswichtigen Organen 
oder schwere Schädigungen der Ausscheidungs¬ 
stellen den Tod herbeiführen dürften. Als Be¬ 
stätigung fand Siegfried in einem Versuch bei 
einer Katze von 2875 g nach Einspritzung von 
10 ccm einer fast neutraien Lösung des 
Merck sehen Präparates — 150 mg, entsprechend 
81 mg Si02 (das heißt pro Kilo Körpergewicht 
20 mg SiOs) in eine Fußvene langsam innerhalb 
10 Minuten, daß das Tier während 24 Stunden 
keine Atemnot hatte, reichlich Milch zu sich 
nahm, nach 40 Stunden jedoch starb, nachdem 
es schon vorher mehrere Stunden apathisch ge¬ 
legen hatte. Die Sektion ergab kleine Blutaus¬ 
tritte unter dem Endokard des linken Ventrikels, 
größere in die Magenschleimhaut, zahllose in die 
Dünndarmschleimhaut, sowie in nach unten ab¬ 
nehmender Anzahl auch im Dickdarm, offenbar 
infolge kleiner Gefäßverlegungen und dadurch 
hervorgerufener Stauungen: Im Darminhalt fand 
sich Blut, der Harn war blutig, und die Niere wies 
hochgradige Blutüberfüllung und hämorrhagische 
Durchsetzung des abgesonderten Gewebes auf. 
Auch Picot und von VogH) sahen schon nach 
kleinen Dosen ihrer allerdings wohl nicht so reinen 
Präparate bei intravenöser Einspritzung den Tod 
eintreten. Kobert sagt zum Schluß dieser Aus¬ 
einandersetzung, daß für Natriumsilicat ebenso¬ 
wenig wie für Tannin die intravenöse Injektion 
paßt, während innerlich beide gut vertragen 
werden. 

Kobert bringt in der gleichen Abhandlungü 
ein Autoreferat HelwigsÜ ,,Über die Wirkung 
der Kieselsäure auf das Blutbild und die phago- 
cytäre Kraft des Blutes'. Helwig verwendet 
zu seinen Versuchen Kaninchen, denen er teils 
rectal, teils subcutan, sowie intravenös Kiesel¬ 
säure einveiieibt, und zwar in Form einer Kiesel¬ 
quelle oder einer reinen Ki^^selsäurelösung als 
Natr. silicic. Merck. Er verabreicht subcutan oder 


^) Zitiert nach Kobert. 

®) Veröffentlichungen der Zentralstelle für 
Balneologie. 1918, Bd. 3, H. 4, S. 75. Zitiert nach 
Kobert. 



Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1921 •. 


377 


intravenös 0,00005 bis 0,01 g pro dosi und findet 
eine große Anregung der Phagocytose. Auch die 
Kieselsäurebehandlung von Tieren, welche durch 
Vorbehandlung mittels Öpsonogen (= Staphylo¬ 
kokkenvaccine) in ihrer bakteriellen Schutzkraft 
gewissermaßen geschwächt waren, ergab über¬ 
einstimmend, und zwar wachsend mit der Dosis 
der Si02 eine deutliche Steigerung des phago- 
cytären Index. Helwig verwendet teilweise die 
als Hämolysedosis im Reagenzglase festgestellte 
Menge von 0,005 g pro 1 ccm uhd 0,01 g pro 
-1 ccm sogar intravenös, ohne daß eine’ schlimme 
Wirkung auf das Tier (wenigstens nicht im Auto¬ 
referat, das Original steht mir nicht zur Ver¬ 
fügung) erwähnt wird. 

Kühn'^) verwendete kolloidale Kieselsäure¬ 
lösung intramuskulär beim Menschen, und zwar 
0,004—0,008 g SiOg pro dosi speziell bei Lungen¬ 
tuberkulose an Stelle der peroralen Si 02 -Dar- 
reichung oder zugleich mit derselben, ohne daß 
außer einer vorübergehenden Schmerzhaftigkeit 
Nebenerscheinungen auftreten. Kühn hatte, die 
Unschädlichkeit dieser Einspritzungen zuvor an 
Tierversuchen klargestellt. Durch Vorbehandlung 
von Meerschweinchen mit Injektionen von kollo¬ 
idaler Kieselsäure®) konnte Kühn die Tiere gegen 
Tuberkulose immunisieren. 

Mit Ausnahme der oben erwähnten Fälle, in 
welchen Kobert und Siegfried einer Katze 
90 mg Natr. silicic., der anderen 20 mg Si02pro 
Kilo Gewicht in gleicher Form einspritzten, sind 
die Tierverusche an Kaninchen ausgeführt. Da 
der SiOg-Stoffwechsel beim Kaninchen infolge der 
Pflanzenkost quantitativ in ganz anderen Bahnen 
abläuft und es nicht ausgeschlossen schien, daß 
dies von einem gewissen Einfluß auf die Wirkung 
auch parenteral gegebener SiOg sein könnte, wählte 
ich einen Hund von 19 kg Gewicht als Versuchstier. 

Außer von Kühn, der kolloidale Kieselsäure¬ 
lösung verwendet, wurden zu den oben ange¬ 
führten Versuchen Lösungen des Merckschen 
Natr. silicic. puriss. oder kurz vor der Injektion 
mit Säure neutralisierte Lösungen dieses Präpa¬ 
rates angewandt. 

Daß Natr. silicic. nicht nur Si02-Wirkung ent¬ 
faltet, sondern infolge hydrolytischer Spaltung 
auch die Ätznatronwirkung zutage tritt, geht aus 
den Versuchen SchuhbauersD hervor, der die 
im Dünndarm auftretenden Verätzungen der 
Schleimhaut nach Eingabe von Natr. silicic. durch 
Neutralisation dieser Salzlösungen mittels Säure 
aufhebt. Fraglos ist jdie Giftigkeit der kiesel¬ 
sauren Salze, die in älteren Arbeiten erwähnt wird, 
auf die Natron Wirkung der Präparate zurück¬ 
zuführen; die SiOo an sich ist ungiftig (Breest-). 

Da die hydrolytisch gespaltenen Lösungen des 
Natr. silicic. daher auch für die parenterale Dar¬ 
reichung wenig geeignet erschienen, wurden 
kolloidale Kieselsäurelösungen, in reinem Zustande 
mittels Dialyse aus reinstem kristallisierten 
Natriumsilicat (Nag SiOj -}- aq) und Salzsäure 
erhalten, zu den folgenden Versuchen angewandt. 

Aber auch die Losungen kolloidaler SiOg 
können von ihrer Herstellungsart herrührende 
Verschiedenheiten aufweisen, die ihre thera¬ 
peutische Wirkung beeinflussen. Die Kieselsäure 
fällt bekanntlich aus den Lösungen ihrer Salze 
durch Zusatz von verdünnter Säure meist in Form 
eines voluminösen Niederschlages aus, jedoch 
nicht immer. Mitunter wird durch Säurezusatz 
zu Lösungen kieselsaurer Salze eine wasserklare 
Lösung erhalten; es hängt dies von der Ver- 

0 M. m. W. 1920. No. 9, S. 254. 

8 ) Zschr. f. Tbc. 1920. Bd. 32, H. 6 


düniiLing, der Säuremenge und der Arbeitsweise 
ab.' Derartige Lösungen lassen sich nach gewissen 
Methoden regelmäßig darstellen und enthalten die 
Kieselsäure in kolloidaler Form gelöst. Auch die 
mittels Säure erhaltenen voluminösen Nieder¬ 
schläge bestehen aus kolloidaler Kieselsäure; der 
Unterschied zwischen der kolloidalen Lösung und 
dem kolloidalen Niederschlage liegt nur in der 
Größe der Kieselsäureteilchen, das ist dem Disper¬ 
sitätsgrade. Durch mancherlei Einflüsse, z. B. 
Salze, Gefäße aus weichem Glase, geht eine kollo¬ 
idale Kieselsäurelösung (Kieselsäure-Sol) leicht in 
eine feste Form (Kieselsäure-Gel) über, sie ge¬ 
latiniert. 

Daß aber eine Substanz anders wirken kann, 
wenn ihre Teilchen größer oder kleiner sind bzw. 
wenn sie gelöst oder unlöslich ist, dürfte außer 
Zweifel sein. Es kommt daher bei der Fest¬ 
stellung der Si 02 -Wirkungen vor allem darauf an, 
daß zu den Versuchen die Kieselsäure immer in 
derselben Form, d. i. von gleicher Teilchengröße 
verwendet wird. Dies läßt sich aber nicht er¬ 
reichen, wenn man kurz vor der. Injektion eine 
Natriumsilicatlösung mit Säure neutralisiert, da 
die Bedingungen immer verschieden sind (es 
kommt hierbei auf geringe Unterschiede an) und 
da auf diese Weise nur selten Lösungen gleicher 
DispersTät erhalten werden. Ich stellte mir 
Kieselsäurelösungen aus kristallisiertem Natrium¬ 
silicat (Na 2 SiOg -f- aq) durch Einlaufenlassen 
solcher Lösungen in etwas überschüssige verdünnte 
Salzsäure bei 10® C und nachfolgende schnelle 
Dialyse her. Die dialysierte Lösung wurde auf 
1 Prozent Si02-Gehalt eingestellt und nach zu 
Patent angemeldetem Verfahren durch Zusatz 
äußerst geringer Mengen von Säuren oder von 
Alkalien (für 100 ccm Lösung 0,005—0,05 ccm 
Normalsäure oder Alkali) stabilisiert; ohne diese 
Zusätze gelatinieren die Lösungen meist nach 
kürzerer oder längerer Zeit. Zwecks Herstellung 
der von Bakterien lei bern freien SiOo-Lösungen 
wurde unter aseptischen Kautelen gearbeitet und 
gegen frisch destilliertes Wasser dialysiert. Die 
kolloidalen Si02-Lösungen wurden in strömendem 
Dampf sterilisiert. Zu den Versuchen wurden 
Si02-Lösungen verschiedener Darstellungen ange¬ 
wandt, um zu ermitteln, ob sich selbst unter den 
gleichmäßig hergestellten kolloidalen Lösungen 
noch Unterschiede in der Wirkung äußern würden. 

Zu Beginn der Versuche wurde mit SiOg- 
Lösungen gearbeitet, die mittels sehr geringer 
Säuremengen stabilisiert, aber nicht dauernd 
haltbar waren, sondern die teils nach Wochen, 
teils nach Monaten die SiOg in gelatinöser Form 
ausschieden. Derartige Versuche sind nicht mit 
aufgeführt, da sie keine übereinstimmenden Er¬ 
gebnisse lieferten. 

Es ergab sich nämlich, daß bei der subcutanen 
und intramuskulären Injektion kolloidaler Kiesel¬ 
säurelösungen ==- 0,005—0,01 g Si02 an dem 19 kg 
schweren Hunde nach einigen Stunden Fieber 
auftritt, das je nach Menge der kolloidal gelösten 
Si02 bis über 40,5® C steigt und 5—15 Stunden 
anhält, um innerhalb 1—2 Stunden wieder zur 
Norm abzusinken. Alle haltbaren Kieselsäure¬ 
lösungen zeigten dabei ein ähnliches Verhalten, 
während die Lösungen, welche nach längerer oder 
kürzerer Zeit gelatinierten, d. h. die Si02 in 
fester Form abschieden, manchmal Fieber mach¬ 
ten, manchmal aber auch nicht, offenbar je nach 
dem Grade, wie die Teilchengröße der kolloidalen 
SiOs sich verändert hatte. Vorher schon gelati¬ 
nierte Kieselsäurelösung, die also feste kolloidale 
SiOo in Suspension enthielt, ergab bei subcutaner 
rder intramuskulärer Injektion überhaupt kein 

48 





378 ' , ^ Die Therapie der (jegenwart 1921 .. ^ " 'ÖletöWr , . 













































Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


379 


Fieber. Hieraus geht hervor, daß die Erhöhung 
der Körpertemperatur nach parenteraler Si02- 
Zufuhr mit der Teilchengröße der kolloidalen 
SiOg, d. i. dem Dispersitätsgrade des Si02-Kolloids 
konform geht. 

Ich führe nur die Versuche an, welche mit 
aseptisch hergestellten und sterilisierten kollo¬ 
idalen Si02-Lösungen angestellt wurden. Die 
Einspritzung der Lösung wurde abwechselnd am 
rechten und linken Hinterlauf des Tieres subcutan 
an der von Haaren befreiten, gut mit Wasser und 
Alkohol gereinigten Stelle mittels steriler Glas- 
Spritze ausgeführt. 

Die Körpertemperatur der Versuchstiere wurde 
mehrmals in —Istündigen Intervallen vor der 
Injektion im After festgestellt und ebenso nach 
der Injektion —1 stündlich gemessen. Die Ta- 
t)elle zeigt die erhaltenen Resultate. 

Heryorzuheben ist, daß auch mit den 
gleichen Si Og-Lösungeh nicht immer die 
.gleichen Zahlen erhalten wurden, wie die 
Versuche I und VI ergeben; in Versuch I 
wurden nicht so große Werte bezüglich 
der Erhöhung der Temperatur wie in Ver- 
'Such VI erreicht; dafür ist die Temperatur¬ 
erhöhung in Versuch I von längerer Dauer 
als in Versuch VI. 

Die Versuche II und V zeigen, daß die 
Dauer der Temperaturerhöhung von der 
Menge der hochdispersen Si Og abhängig 
ist, während 10 mg der kolloidalen Si Og- 
Lösung Nr. 22 in Versuch II eine sech¬ 
zehnstündige Erhöhung um 2,7 o C er¬ 
gaben, zeigten 5 mg der gleichen Lösung 
in Versuch V nahezu dieselbe Erhöhung 
aber nur von acht Stunden Dauer. 

Die. Versuche III und VIII sind, um 
•einen etwaigen Unterschied zwischen einer 
mittels Spuren Alkali und einer durch 
Spuren Säure stabilisierten Lösung fest¬ 
zustellen, mit der kolloidalen Si Og-Lö¬ 
sung Nr. 18, die mittels Spuren - Säure 
stabilisiert war, ausgeführt. Diese Lö¬ 
sung wurde aus einer mit Spuren Alkali 
haltbar gemachten Si Og-Lösung Nr. 18 
durch Zusatz von Normalsäure so herge¬ 
stellt, daß 100 ccm der Lösung 0,04 ccm 
Normalsäure enthielten. Zu Versuch III 
wurde die zweimal 20 Minuten in strö¬ 
mendem Dampf sterilisierte Lösung so¬ 
fort nach der Fertigstellung verwendet; 
in Versuch VIII, nachdem sie über zwei 
Monate aufbew'ahrt war. Diese Versuche 
zeigen, daß eine hochdisperse Si Og-Lö- 
sung durch .die Aufbewahrung nicht an 
Wirksamkeit bezüglich der Temperatur¬ 
erhöhung verliert. Auffällig ist nur, daß 
die ältere Lösung eine größere Erhöhung 
der Körpertemperatur hervorrief als die 
frische. Eine Erklärung dafür fehlt; es 
dürfte wohl ein Zufall dabei eine Rolle 
spielen. In Versuch IV wurde die mittels 
Alkali stabilisierte Si Og-Lösung Nr. 18, 


welche zur Herstellung der Lösungen für 
Versuch III und VH diente, benutzt. 
Es zeigte sich hierbei, daß eine dem Ver¬ 
such VIII sehr ähnliche Wirkung er¬ 
halten wurde. Es hängt also das Auf¬ 
treten der Temperaturerhöhung nicht 
von dem Stabilisierungsmittel, sondern 
von der Teilchenkleinheit der kolloidalen 
Si'Og ab. 

In Versuch VII werden gleichzeitig 
mit der kolloidalen SiOg-Lösung Nr. 22 
(= 0,005 g SiOg) 0,1 g krystailisiertes 
Chlorcalcium injiziert, um eine etwaige 
Modifikation der Wirkung — vielleicht 
eine Entgiftung — durch die Kalkgabe 
festzustellen. Wenn auch so hohe Werte 
wie bei Kieselsäuregaben allein nicht er¬ 
reicht wurden, so ist doch wohl eine Ab¬ 
schwächung der SiOg-Wirkung durch 
Kalk hieraus nicht zu entnehmen, sonst 
hätte bei der im Vergleich zur SiOg-Menge 
hohen Kalkgabe ein größerer Unterschied 
gefunden werden müssen. Vielmehr 
scheint es nicht ausgeschlossen, daß durch 
die große Kalksalzmenge ein Teil der SiOg 
sich an der Injektionsstelle in fester kol¬ 
loidaler Form ausschied und so der Wir¬ 
kung entzog. Ein Vorgang, wie er beim 
Aufbewahren eines solchen Gemisches 
von kolloidaler SiOg-Lösung und Chlor¬ 
calcium nach einigen Stunden sich in 
vitro abspielt. 

In Versuch IX wurde eine in einer 
Ampulle zur gelatinösen Masse erstarrte 
SiOg-Lösung Nr. 17 verwendet, um fest¬ 
zustellen, ob grobdisperse kolloidale SiOg 
die gleichen Erseneinungen wie hoch- 
Qisperse SiOg-Lösungen auslöst. Um diese 
gelatinöse Masse injizieren tu können, 
wurde sie durch Aufsaugen und Aus¬ 
spritzen gemischt, bis sie ganz gleich¬ 
mäßig war. Es zeigte sich eine Erhöhung 
der Körperwärme von nur 0,3 ® C und 
zwar nur drei Stunden lang, woraus zu 
schließen ist, daß die Wirkungen der SiOg 
von ihrem Dispersitätsgrade abhängig 
und grobdisperse kolloidale SiOg Wohl 
ohne Einwirkung auf die Körperwärme 
ist Die Temperaturerhöhung ist so ge¬ 
ring, daß sie nicht mit Sicherheit als SiÖg- 
Wirkung angesehen werden kann. 

Die Versuche X und XI Wurden an 
einem Kaninchen von 3,7 kg vorgenom¬ 
men zur Feststellung, ob an einem Orga¬ 
nismus, dessen Mineralstoffwechsel auf 
die Bewältigung größerer Mengen SiOg 
eingestellt ist, die parenterale SiOg- 
Zufuhr die gleichen Erscheinungen wie 
beim Hunde auslösen würde. In Versuch 
X wurde mit einer Menge kolloidaler 

48* 





380 


j 

) 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Oktober 


SiOo-Lösung, welche unter Berücksich¬ 
tigung aes Körpergewichtes dem Versuch 
II beim Hunde entspricht und dort 
16 Stunden lang eine Erhöhung der Kör¬ 
perwärme um 2,7 ® C hervorrief, keine 
meßbare Temperatursteigerung erzielt. 
Die Während 28 Stunden fortgesetzten 
Messungen ergaben nahezu gleiche Werte; 
die höchste Differenz betrug einmal 0,2 ^C. 
Zu Versuch XI wurae die dreifache Menge 
der gleichen Lösung wie in Versuch X 
verwendet und dabei eine deutliche Er¬ 
höhung der Körperwärme erreicht. Diese 
Dosis von 0,0075 g SiOg erzeugte nur 
eine Steigerung um 1 ^ C etwa sieben 
Stunden lang, während sie beim Hunde 
von 19 kg nach obigen Versuchen sicher 
eine zehnstündige Erhöhung um zwei bis 
2,5 ® C bewirkt hätte. Das Kaninchen re¬ 
agiert also auf die subkutane SiOs-Gabe 
viel schwächer als der Hund. Es ist somit 
verständlich, oaß bisher die Wirkung pa¬ 
renteral zug^führter SiOg auf die Körper¬ 
wärme in der Literatur nicht erwähnt ist, 
da die Injektion von SiOg meist an Ka¬ 
ninchen vorgenommen wurde und bei 
diesen Tieren die geringe Wärmesteige¬ 
rung nicht auffiel. 

Von besonderem Interesse war es 
nunmehr, auch beim Menschen die Wir¬ 
kung subkutaner Si Og-Gaben festzu¬ 
stellen. Ein gesunder 46 jähriger Mann 
zeigt nach subkutaner Injektion von 
14 ccm der kolloidalen mittels Spuren Al¬ 
kali stabilisierten Kieselsäurelösung Nr. 22 
= 0,005 g SiOg eine nach fünf Stunden 
einsetzende Temperaturerhöhung um 1,8 
bis 2 ® C, die etwa vier Stunden anhielt 
und dann in annähernd 1% Stunden ver¬ 
schwunden war. Eine gewisse Abge- 
schlagenheit und Müdigkeit dauerten 
Während der Wärmeerhöhung; kein Ei¬ 
weiß im Harn, kein Zucker. Nach Ab¬ 
sinken der Temperatur trat wieder Wohl¬ 
befinden ein. 

Einem 20jährigen an Furunkulose 
leidendem Manne wurde 1 ccm der kolloi¬ 
dalen Kieselsäurelösung Nr. 22 0,01 g 

SiOg intramuskulär ins Bein injiziert. 
Wobei sich eine sieben Stunden anhal¬ 
tende Temperaturerhöhung von 2,2 bis 
2,4 ^ C zeigte. Mattigkeit, Durst sowie 
Spannung an der Injektionsstelle wurden 
bemerkt; der Harn war eiweißfrei; Leu- 
kocyten 13000. Die lästige Furunkulose 
heilte in kurzer Zeit ab. 

Ferner wurde eine subkutane Injek¬ 
tion von gelatinierter kolloidaler Kiesel¬ 
säure, also von grober Dispersion, mit 
physiologischer Kochsalzlösung aufge- 


schjemmt entsprechend 0,005 g 
(Nr. 17 wie in Versuch IX der Tabelle) am 
gesunden Manne vorgenommen, Wobef 
außer einigen Schwankungen von 0,1 bis 
0,2 ö C keine Erhöhung der Körperwärme 
gefunden Wurde. Auch beim Menschen 
zeigt sich also, daß hochdisperse kolloi¬ 
dale Kieselsäurelösung (Kieselsäure-Sol) 
wesentliche Steigerung der Körperwärme 
hervorruft. Während grobdisperse kolloi¬ 
dale Kieselsäure (Kieselsäure-Gel) un¬ 
wirksam ist, d. h. die Wirkung der Kiesel¬ 
säure auf die Temperatur von ihrem Dis¬ 
persitätsgrade abhängt. 

Zusammengefaßt zeigen die Versuche 
also, daß nach subkutanen Gaben von 
einigen Milligramm SiOgals hochdisperse 
kolloidale Kieselsäurelösung Erhöhung der 
Körpertemperatur auftritt. Die Tempe¬ 
ratursteigerung bleibt mehrere Stunden 
bestehen und fällt dann in einigen Stunden, 
zur Norm ab. Vor allem ist diese Er¬ 
scheinung von dem Dispersitätsgrade der 
SiOo abhängig; hochdisperse SiOg, alsa^ 
in dem Zustande, in Welchem sie sich uns 
als klare Lösung dokumentiert (SiOa- 
Sol), erzeugt Temperaturerhöhung; kol¬ 
loidale SiOg geringer Dispersität, in Form 
der gelatinierten Kieselsäure (SiOg-Gel) 
gibt keine Änderung der Körpertempe¬ 
ratur. Sowohl beim Fleischfresser, dem 
Hunde, als auch beim Pflanzenfresser, dem 
Kaninchen, zeigt sich diese Wirkungp 
ebenso beim Menschen. Bei dem Kanin¬ 
chen geben jedoch erst wesentlich größere 
Mengen (auf das Körpergewicht bezogen) 
als beim Hunde eine Reaktion. Es spielt 
dabei keine Rolle, ob die hochdisperse 
SiOg mittels Spuren Alkali oder Säuren 
stabilisiert ist. Da die kolloidalen SiOg“- 
Lösungen oftmals durch den Einfluß des. 
Glases sehr leicht gelatinieren, das heißt 
in gröber disperse SiOg übergehen und 
somit bei der Injektion die Körpertem¬ 
peratur nicht mehr erhöhen, ist es wichtig,, 
nur solche Lösungen zu verwenden, die 
dauernd haltbar sind, was am sichersten 
durch Stabilisierung mit äußerst geringen 
Alkalimengen erreicht wird. 

Durch gleichzeitige Verabreichung von 
im Verhältnis zur angewandten SiO^ 
großen Mengen Chlorcalcium ist es nicht 
möglich, die temperaturerhöhende, Wir¬ 
kung der SiOg beim Hunde zu unter¬ 
drücken. Besonders die Dauer, weniger 
die Größe der Steigerung der Körper¬ 
wärme ist abhängig von der verabreichten 
Menge kolloidaler Kieselsäurelösung. 

Subkutane Gaben kolloidaler SiOg- 
Lösung können die interne Darreichung 



Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


381 


der SiOg nicht ersetzen, weil so große 
Mengen SiOg, Wie sie bei peroralen Gaben 
zur Resorption gelangen, ohne Gefähr¬ 
dung subkutan nicht einverleibt werden 
können. Während beim Menschen Einzel¬ 
gaben von 200 bis 400 mg SiO^ als hoch¬ 
disperse kolloidale Lösung peroral gut 
vertragen und bis 70 % innerhalb 24 
Stunden mit dem Harn ausgeschieden 
werden, also jedenfalls in erheblicher 
Menge im Blute kreisen, rufen subkutan 
verabreicht 5—10 mg wesentliche Tem¬ 
peraturerhöhung hervor und machen 
schon 20 mg heftige Erscheinungen. 

Welche Prozesse sich durch subku¬ 
tane Zufuhr hochdisperser kolloidaler Si Ög 
im Organismus abspielen und sich uns in 
einer Erhöhung der Körpertemperatur 
zeigen, ist unbekannt. Ob und welche 
Zusammenhänge mit der Luithlenschen 
Kolloid-Therapie oder mit Weichhardts 
Protoplasmaaktivierung bestehen, ob die 
Erscheinungen auf der physikalischen 
Natur der kolloidalen Kieselsäure oder 


auf biophysikalischen Zustandsänderun¬ 
gen beruhen, müssen künftige Arbeiten 
entscheiden. 

Die vorliegenden Versuche geben für 
die therapeutische Prüfung der kolloidalen 
Kieselsäurelösung den Fingerzeig, die 
Mengen für die subkutanen und intra¬ 
muskulären Gaben für den Menschen 
nicht höher als 5—10 mg .SiOg zu wählen. 
Die Prüfung selbst erhält die Berechtigung 
dadurch, daß in der kolloidalen SiOg- 
Lösung ein in jeder Hinsicht, selbst be¬ 
züglich des Dispersitätsgrades, gut defi¬ 
nierbarer, einfacher Körper vorliegt, dem 
alle unkontrollierbaren Eigenschaften feh¬ 
len, welche z. B. den Proteinkörpern, dem 
Terpentin und dergleichen eigen sind pnd 
welche die Forschung erschweren. Über 
die intravenöse Darreichung hochdis¬ 
perser kolloidaler Kieselsäurelösungen und 
über die dabei auftretenden Erscheinun¬ 
gen, welche wegen ihrer Heftigkeit be¬ 
sondere Vorsicht gebieten, soll demnächst 
berichtet werden. 


Aus der II. medizinisclieu Universitätsklinik in Wien 
(Vorstand: Hofrat Prof. Dr. N. Ortner). 

Erfahrungen mit Cesol und Neucesol bei inneren Krankheiten* 

Von V. Kollert und K, Bauer. 


Gegen quälendes Durstgefühl besitzen 
wir kein in jedem Falle wirksames Arznei¬ 
mittel. Deshalb wurde das von Loewy 
und WoIffenstein dargestellte und von 
Umb er empfohlene Cesol beziehungsweise 
Neucesol von uns aufs wärmste begrüßt. 
Da die Veröffentlichungen der genannten 
Autoren in dieser Zeitschrift erschienen 
sind, können wir ihren Inhalt als bekannt 
voraussetzen; das gleiche gilt v^^ohl von 
den Mitteilungen Deckers und Oster¬ 
lands. Wir möchten nur kurz erinnern, 
daß die Cesole dem Arecolin nahestehen; 
ihre Wirkung soll sich hauptsächlich auf 
die Speichelsekretion und Darmperistal¬ 
tik beziehen; Pupillenverengerung und 
Schweißsekretion dagegen sollen in den 
Hintergrund treten. 

Wir haben das Mittel zur Bekämpfung 
des Durstgefühles vorwiegend bei Nieren- 
und Herzerkrankungen durch längere 
Zeit verwendet sowie seine die Peristaltik 
anregende Wirkung mehrfach geprüft und 
möchten unser Urteil in folgender Weise 
zusammenfassen: Man kann durch die 
Cesole den bei den oben genannten Krank¬ 
heiten im Stadium der Ödembildung auf- 
tretendeh Durst - gelegentlich etwas zu¬ 
rückdrängen, doch ist ein vollständiger 


Behandlungserfolg selten. Wegen mehr¬ 
facher Nebenwirkungen lehnen die Kran¬ 
ken eine durch längere Zeit fortgesetzte 
Anwendung des Mittels häufig ab. Gün¬ 
stiger ist unser Eindruck hinsichtlich der 
Förderung der Darmperistaltik. Die 
Cesole kommen zwar nicht als Abführ¬ 
mittel in Betracht, erleichtern dagegen 
manchmal wesentlich den Abgang von 
Darmgasen. Wegen etwa geringerer 
Nebenwirkungen ist das Neucesol dem 
ursprünglichen Präparate vorzuziehen. 

Durch das Entgegenkommen der Fir¬ 
ma E. Merck standen uns von Cesol 
Ampullen zu 0,25, 0,2 und 0,05, von 
Neucesol solche zu 0,01, 0,025 und 0,05 g 
zur Verfügung. Weiter benutzten wir 
Neucesol in Tabletten zu 0,05 g, teils in 
dieser Form, teils in der entsprechenden 
Menge Wassers gelöst als subkutane In¬ 
jektionen oder als Tropfen. 

Die von Umber empfohlene Verab¬ 
reichung des Cesols in Gelatinekapseln 
ist nach E. Merck wegen der hygrosko¬ 
pischen Eigenschaft dieses Mittels wieder 
verlassen. Die subkutanen Injektionen 
rufen keine lokale Reizung hervor; die 
Tabletten wirken ebenso wie die Ein¬ 
spritzungen. Der bittere Geschmack des 





382 Die Therapie der 


Präparates wurde manchmal unangenehm 
empfunden. 

Die Dosierung ist aus mehrfachen 
Gründen etwas schwierig. Zunächst ver¬ 
ursacht die * gleiche Menge des Mittels 
nicht stets dieselben Erscheinungen, was 
vielleicht teilweise von leichten Tonus¬ 
schwankungen des autonomen Nerven¬ 
systems abhängig ist. Auch tritt nach 
•mehrtägiger Verabfolgung manchmal eine 
Erschöpfung der Wirkung ein; nach einer 
kur 2 :en Pause ist dies wieder behoben. 
Geringe Unterdosierungen machen die 
Verabreichung des Mittels oft nutzlos; 
leichte Überdosierungen erzeugen bereits 
unerwünschte Nebenerscheinungen. Als 
optimale Dosis beim Menschen möchten 
wir für Cesol 0,1, für Neucesol 0,025 bis 
0,03 g bezeichnen. Eine einmalige Wieder¬ 
holung dieser Gabe im Laufe des gleichen 
Tages erwies sich häufig als zweckmäßig. 
Nicht selten sahen wir Kranke, bei denen 
eine größere oder kleinere Dosis besser 
wirkte. 

Der Erfolg der subkutanen Injektion 
setzt bezüglich der vermehrten .Speichel¬ 
sekretion manchmal in zwei bis drei 
Miauten ein, in anderen Fällen vergehen 
10 bis 15 Minuten bis zu ihrem Eintritt. 
Die Nebenwirkungen, deren häufigste der 
Brechreiz ist, sind gewöhnlich nach 30 Mi¬ 
nuten am stärksten ausgeprägt; nach 
einer Stunde sind sie stets geschwunden. 
Die speicheltreibende Wirkung des Mittels 
währt vier bis zwölf Stunden. Hie Imd 
da, im ganzen jedoch selten, stellt sich 
nach dem Abklingen ein erhöhtes Durst¬ 
gefühl ein. 

Wir wollen nunmehr die Wirkung der 
Cesole nach Organen geordnet besprechen. 
Während das Arecolin bekanntlich Miosis 
erzeugt und die Konjunktiven reizt, 
konnten Loewy und Wolffenstein in 
der erwähnten Abhandlung diese Wirkung 
am Auge bei den Cesolen kaum nach- 
weisen. Auch wir sahen beim Menschen 
durch 5%ige in den Konjunktivalsack 
eingeträufelte Lösung weder Hyperämisie- 
rung der Bindehäute noch Verengerung 
der Pupille. Nach der Cesolgabe ein¬ 
getropftes Homatropin erzeugte im vor¬ 
behandelten Auge gleich starke Mydriasis 
wie im Kontrollauge. Wurde im Stadium 
der abklingenden Homatropinwirkung Ce¬ 
sol in den Bindehautsack geträufelt, so 
konnte nur selten eine etwas raschere 
Rückkehr der Pupille zur normalen Größe 
beobachtet werden. 

Vermehrte Nasensekretion sahen 
wir einmal im Verlaufe einer Nausea., 


Gegenwart 1921 Oktober 


Auftreten von Speichelfluß gab, 
wie schon erwähnt, Veranlassung zur Ein¬ 
reihung der Präparate in den Arzneischatz. 
Wir verwendeten das Mittel, wenn Kranke 
über Trockenheit im Munde klagten; diese 
war auch oft objektiv nachweisbar. Weni¬ 
ge Minuten nach der Injektion wurde die 
Durchfeuchtung besser. Hatte eine leichte 
Überdosierung stattgefunden, so sah man. 
nach einer viertel bis einer halben Stunde 
den Kranken häufig schlucken oder den 
Überfluß des Speichels nach außen ent¬ 
leeren. Diese Reaktion war meist nach 
•einer Stunde geschwunden, die vermehrte 
Durchfeuchtung des Mundes blieb jedoch, 
allerdings in einem abnehmenden" Maße, 
durch mehrere Stunden erhalten. Pituitrin 
(,,Dr. Heisler“), das nach Pal die Tätig¬ 
keit der Drüsen mit äußerer Sekretion 
hemmt, scheint in Dosen von 0,25 g die 
Wirkung von 0,05 g Neucesol paralysieren 
zu können. Schwellung der Parotiden 
während der Speichelsekretion wurde 
nicht bemerkt. Diesbezüglich erscheint 
eine Kranke mit Parotisschwelluhg und 
Speichelfluß, Vergrößerung der Glandulae 
submaxillares, myxödematöser Haut¬ 
beschaffenheit und Osteoporose bemer¬ 
kenswert. Sie erinnerte vielfach an den 
durch Baumstark beschriebenen Fall 
von beiderseitiger Speicheldrüsenvergrö¬ 
ßerung und Myxödem. Bei unserer 
Patientin traten zeitweise spontane 
Schwellungen namentlich der linken 
Speicheldrüse auf; durch 0,2 Cesol 
konnte eine solche Volumzunahme trotz 
reichlichen Speichelflusses nicht erzielt 
werden. 

Vermehrte Bronchialsekretion sa¬ 
hen wir einmal mehrere Stunden nach 
Injektion von Cesol; daraufhin angestellte 
Versuche, bei Kranken mit trockenem, 
zähem Bronchialsekret durch Cesol die 
Expektoration zu erleichtern, schlugen 
fehl. 

Starker Schweißausbruch auf der 
Höhe der Cesolwirkung ist selten, kommt 
aber vor. 

Von einiger Bedeutung erscheint die 
Reaktion des Magens auf Cesolverab- 
reichung, da Nausea und Erbrechen die 
häufigsten unerwünschten Nebenerschei¬ 
nungen des Mittels sind. Sieben bis zehn 
Minuten nach einer zu hohen Dosis setzt 
das Gefühl des Unwohlseins ein und er¬ 
reicht, wie bereits erwähnt, ziemlich rasch 
seine grö-ßte Stärke, um dann wieder ab¬ 
zuklingen. Die Ptyalorrhöe dürfte nicht 
die einzige Ursache des Unbehagens sein. 



Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


383 


da man' diese Empfindung in seltenen 
Fällen auch ohne vermehrte Speichel¬ 
bildung beobachten kann. Nicht selten 
klagen die Kranken gleichzeitig über 
heftiges Sodbrennen. Wir vermuteten 
daher eine vennehrteSalzsäureproduk’tion, 
fanden aber bei mehrfacher Untersuchung 
:20 Minuten nach der Cesolgabe herab¬ 
gesetzte Säurewerte im Magen. Im 
- Röntgenbild des Magens wurde auch zur 
Zeit der Nausea nichts Charakteristisches 
gefunden. 

Arecolin erregt bekanntlich die Darm¬ 
peristaltik und wird deshalb in der Tier- 
arzneikunde gebraucht, in der Human¬ 
medizin jedoch wegen seiner Nebenwir¬ 
kungen nicht verwendet. Auch nach Cesol 
•isahen wir einige Male bald eine nicht 
diarrhöische Stuhlentleerung auftreten; 
dies war aber nur ausnahmsweise festzu- 
stellen'. Dagegen berichteten viele Kranke 
über vermehrtes Abgehen von Flatus. Wir 
verwendeten daher das Mittel mehrfach 
gegen Meteorismus und konnten oft mit 
dem Erfolge zufrieden sein. Gelegentlich 
versagten die Cesole jedoch auch in dieser 
Hinsicht. Wie bekannt, sind die Ursachen 
der Gasansammlungen im Darm mannig¬ 
facher Art; nur dort, wo eine etwas ver¬ 
mehrte Peristaltik den Zustand erleichtern 
kann, ist ein Erfolg der Cesoldarreichung 
.zu erwarten. Am bemerkenswertesten in 
•dieser Hinsicht war ein Kranker mit 
Pylethrombosis, dem Ascites und Meteo- 
Tismus hochgradige Beschwerden verur¬ 
sachten. Es gelang bei ihm oft durch 
Neucesol, die Spannung des Bauches be¬ 
deutend zu verringern. Auch die Schmer¬ 
zen, unter denen ein anderer Kranker litt, 
dessen Leiden als Dyspraxia intermittens 
^rteriosclerotica gedeutet wurde, schwan¬ 


den jedesmal rasch nach Anwendung des 
Mittels. 

Ferner scheinen die Cesole manchmal 
Kontraktionen »der Harnblase zu 
bewirken. So sahen wir bei einem Kranken 
einige Minuten nach der Injektion einen 
heftigen Harndrang auftreten; ein anderer 
Patient, ein 13 jähriger Knabe, der schon 
mehrere Gaben des Mittels ohne irgend¬ 
welche Nebenwirkungen vertragen hatte, 
klagte nach 0,1 g Cesol auf der Höhe der 
Wirkung über einen so heftigen krampf¬ 
artigen Schmerz in der Blasengegend, 
daß ihm Morphin verabreicht werden 
mußte. 

Am Herzen und an den Gefäßen 
konnten wir klinisch keine Veränderungen 
nachweisen; der Puls bleibt unverändert. 

Eine Verschiebung des weißen Blut¬ 
bildes tritt nicht ein. Pyridin führt nach 
Heinz zur Bildung yon lichtbrechenden 
Körperchen in den Erythrocyten. Im 
Hinblick darauf haben wir mehrfach das 
Blut nach Cesolinjektionen auf derartige 
Gebilde untersucht, ohne jedoch ein posi¬ 
tives Ergebnis zu erhalten. 

Da die Firma E. Merck uns auf eine 
eventuelle wurmtreibende Wirkung 
der Cesole aufmerksam machte, möchten 
wir erwähnen, daß wir in einem Falle nach 
Cesol den Abgang eines Ascaris sahen; ob 
es sich dabei um die Wirkung des Prä¬ 
parates handelte, könnte nur durch wei¬ 
tere diesbezügliche Beobachtungen ent¬ 
schieden werden. 

Literatur: Baumstark, M. m. W. 1917, 
S. 840. — Deckek, M. m. W., S. 1494. — Heinz 
nach Kunkel, Handb. der Toxikologie 1901.— 
Loewy und Wolffenstein, Th. d. Geg. 1920. 
— Osterland, M.m.W. 1920, S. 1315. — Pal, 
D. m.W. 1916, S. 1030. — Um.ber, Th. d. Geg. 
1919. 


Aus dem Waisenhaus und Kinderasyl der Stadt Berlin 
(LeitenderArzt: PrivatdozentDr. L. F.Meyer.) 

Luminaltherapie beim Säugling. 

yon Dr. Leonie Salmony. 


Arzneiliche Verordnurigen beim Säug¬ 
ling werden in der Praxis oft vermieden, 
-weil über die Dosierung in diesem Lebens- 
' alter Unsicherheit herrscht. Entschließt 
man sich aber zu einer medikamentösen 
Therapie, dann geschieht es oft mit allzu¬ 
großer Vorsicht, so daß man unter Um¬ 
ständen unter der wirksamen Dosis bleibt, 
■wie es — um nur zwei wichtige Beispiele 
herauszugreifen — so häufig bei der Be¬ 
handlung mit Atropin und Chloralhydrat 
geschieht. So kommt man fast nie zu 


dem gewünschten Erfolg, wenn man bei 
schwerer Eklampsie unter 0,25 g Chloral¬ 
hydrat pro dosi gibt; am besten verordnet 
man — beim älteren Säugling — sogar 
0,5 g Chloralhydrat, das man gleichzeitig 
mit 0,25—0,5 g Urethan kombiniert. 
Ähnliche Gesichtspunkte müssen bei der 
Atropintherapie maßgebend sein. Ist doch 
gerade der Säugling relativ viel unemp¬ 
findlicher als das ältere Kind und der 
Erwachsene gegen dieses Arzneimittel. 
Beschränkt man sich beim Atropin nicht 





384 


Die'Therapie der Gegenwart 1921 


Oktober 


I 

auf homöopathische Dosen, sondern gibt 
täglich von einer Lösung 0,01 : 10,0 drei¬ 
mal 2—5 Tropfen (Extr. Belladonna die 
entsprechend zehnfache Menge), so er¬ 
zielen wir Erfolge, z. B. bei Ruhr (Be¬ 
seitigung der Darmspasmen und Ver¬ 
minderung der Entleerungen), bei Pyloro- 
spasmus 'und Erbrechen auf anderer 
Grundlage, bei asthmatischen Zuständen 
und Ekzem, die bei kleineren Dosen nie¬ 
mals zu erwarten sind. Freilich gehen die 
Ansichten betreffend Dosierung der eim 
zelnen Arzneimittel noch sehr auseinander 
und selbst über ein relativ ungefährliches 
Medikament wie Luminal herrscht in 
dieser Hinsicht noch keine Einigkeit. 
Während z. B. Friedländer bis zum 
zweiten Lebensjahr nur Mengen Von 0,005 
bis 0,01 empfiehlt, geben Klotz und Como 
0,01—0,05 pro dosi in demselben Alter 
und Göppert rät zu 0,03—0,05 für die 
Zeit vom siebenten bis zwölften Monat. 
Es schien daher wünschenswert, an einer, 
größeren Reihe von Säuglingen Dosierung 
und Wirkungsweise dieses Sedativums 
klinisch zu untersuchen. Angewandt 
wurde das Mittel bei Spasmophilie, 
Asthma bronchiale., bei chronisch-spasti¬ 
schen Zuständen (Mikrocephalie), bei 
Pneumonie, Keuchhusten, bei den Jak¬ 
tationen der ernährungsgestörten Kinder, 
bei zwei Fällen von schmerzhafter Otitis 
media. 

Trotzdem uns für diese Zustände, bei 
denen bald eine erhöhte Erregbarkeit des 
Nervensystems und der Muskulatur, bald 
Husten, Atemnot, Schmerzen, bald all¬ 
gemeine Unruhe und Schlaflosigkeit mehr 
im Vordergrund waren, eine große Reihe 
erprobter Hypnotika und Narkotika zur 
Verfügung stehen, scheint uns das Lu¬ 
minal infolge seiner hypnotischen und 
vielleicht auch hypalgetischen Wirkungs¬ 
weise der Anwendung wert zu sein. Lu¬ 
minal ist bekanntlich ein Derivat des 
Veronals, löst sich kaum in Wasser, aber 
leicht in verdünnten Alkalien. Wir be¬ 
dienten uns vorzugsweise des (wasser¬ 
löslichen) Luminalnatriums (in der Lö¬ 
sung 1 : 250,0), das 90 % reines Luminal 
enthält. Die Luminaltabletten — ä 0,1 
und 0,3 in Originalröhrchen von F. Bayer 
& Co. — waren wegen ihres kleinen For¬ 
mates (das die genaue Teilung in die für 
den Säugling notwendigen Einzeldosen 
erschwerte) und wegen ihrer Wasser¬ 
unlöslichkeit nicht sehr geeignet für unsere 
Zwecke. Von der oben ei wähnten Lösung 
von Luminalnatrium wurden je nach Be¬ 
darf zwei- bis viermal 10 g (0,04) im ersten 


Lebensjahre gegeben, vereinzelt sogar un(f 
ohne Nachteil Einzeldosen bis zu 15 . g:“ 
(0,06). Bei debilen oder neugeborenem 
Kindern soll man sich auf Mengen von- 
je 5 g (0,02) beschränken und bei Klein¬ 
kindern kann man, wenn Gaben vom 
0,Ö5 g wirkungslos bleiben, auf einmalige- 
Mengen von 0,1 Luminalnatrium über¬ 
gehen, die aber dann nicht öfter als einmal 
in 24 Stunden zu geben sind. Ein Schema, 
für die Dosierung beim Kleinkind könnert 
wir noch nicht geben; dazu sind unserer 
Erfahrungen vorerst zu klein; wir haben' 
jedoch den Endruck, daß die Empfind¬ 
lichkeit — ähnlich wie bei Atropin — 
oberhalb des ersten Lebensjahres ver¬ 
hältnismäßig größer zu sein scheint als 
beim Säugling. Ist eine Verabreichung: 
per OS nicht möglich, so soll man dieselbe 
Menge in der nämlichen Konzentration 
per klysma einführen. Ferner kann mam 
von einer 20 %igen sterilen. Lösung von- 
Luminalnatrium (gebrauchsfähig nur wenn 
wasserklar) 2—3 Teilstriche subcutan in¬ 
jizieren; bei letztererForm der Anwen¬ 
dung muß betont werden, daß niemals- 
eine lokale Reaktion (Nekrose), vor der 
in der Literatur vielfach gewarnt wird, 
auftrat. Bis zum Eintritt der Wirkung: 
des Luminals vergingen durchschnittlich 
20 Minuten, selten weniger (10 Minuten)* 
und nur vereinzelt mehr (30 Minuten).. 
Die Art der Einführung hatte auf die- 
Schnelligkeit des Eintrittes der Wirkung' 
keinen Einfluß. 

Ohne deutliche Überlegenheit gegen¬ 
über der bisher üblichen Therapie blieb* 
das Luminal im akuten Krampfanfall des 
spasmophilen Säuglings, abgesehen vom 
den Fällen, bei denen wegen der momen¬ 
tanen Unmöglichkeit der rektalen oder 
oralen Zuführung (von Chloral und Ure- 
than) Luminal als subcutane' Injektion, 
von Vorteil war. 

Ebenso beobachteten wir einen Mi߬ 
erfolg des Luminals bei einem Kinde mit 
Asthma bronchiale, das sich z. B. bei. 
nachträglicher Anwendung von Adrenalin? 
sofort besserte und nach einigen Tagen« 
abklang. Wohl konnte man auch hier 
durch Luminal Schlaf herbeiführen und 
somit zeitweise das K’nd von seiner- 
quälenden Atemnot befreien. Erwachte 
das Kind jedoch aus seinem (Luminal-) 
Schlaf, so traten die Bronchialmuskel¬ 
krämpfe in ihrer ursprünglichen Inten¬ 
sität auf. 

Nun zu den Krankheitsgruppen, be^ 
denen das Luminal den bisherigen Thera- 





Oktober i Die Therapie der' Gegenwart 1921 




"peiiticas gleichwertig, vielleicht sogar 
Silber legen, ist! 

So sahen wir bei chronisch-spastischen 
Zuständen der Muskulatur (durch. Mikro- 
-cephalie oder Geburtsträumen bedingt), 
bei denen die Säuglinge durch den dauern¬ 
den Muskelkrampf heftige Schmerzen 
haben und sich dadurch schlaflos, laut 
schreiend, bei minimaler Nahrungsauf¬ 
nahme stunden- und tagelang im Bett 
mmherwerfen, eine prompte Beeinflussung; 
•die Kontrakturen ließen nach und die 
Kinder fanden endlich den langentbehr- 
len, ruhigen Schlaf. Gerade bei diesen 
Fällen, bei denen ja oft technisch eine 
-orale oder rektale Zuführung unmöglich 
•oder unzureichend ist, tat uns das Luminal 
•'Wiederum, als Injektion angewandt, gute 
Dienste. 

Sehr zu empfehlen ist das Luminal 
bei der Bronchopneumonie des Säuglings, 
sowohl gegen die durch Schmerzen und 
Lufthunger bedingte Unruhe als auch 
::gegen den Husten und die Dyspnoe; es 
•wirkt dabei zwar nur symptomatisch, ist 
jedoch trotzdem ein wertvolles thera¬ 
peutisches Mittel, da durch zwei- bis drei¬ 
malige tägliche Gaben von 0,04 g^ die 
Kinder einen dauernden, nicht zu tiefen 
Schlaf finden, aus dem nur selten der 
Husten sie aufschreckt; die schnelle At- 
rmung wird gleichzeitig langsamer. Die 
Nahrung wird besser aufgenommen und 
v^erwertet, da die Mahlzeiten, zu denen 

• der kleine Kranke meist spontan erwacht 
•oder leicht zu wecken ist, durch die 

Herabsetzung des Hustens besser ge¬ 
nommen und behalten werden. 

Einen deutlich günstigen Einfluß hat 

• die Luminalverabreichung auf die Anzahl 
— nicht auf, die Stärke — der Husten- 

•anfälle bei Pertussis. Bei Säuglingen 
gaben wir dreimal 0,04 Luminalnatrium 
m achtstündigen Pausen innerhalb 
24 Stunden^ während wir beim Klein¬ 
kind eine einmalige Dosis von 0,1 (sogar 
•einmal 0,15) vorzogen, die wir abends vor 
•dem Schlafengehen verabreichten. Wir 
sicherten dadurch dem Kinde die ihm so 
besonders notwendige Nachtruhe, konn- 
"ten aber keineswegs erreichen, daß die 
Zahl oder Intensität der Anfälle am 
^-nächsten Morgen irgendwie günstig be¬ 
einflußt wurden. 

Die dauernden Jaktationen des er- 
mährungsgestörten Säuglings konnten öf¬ 


ters durch eine einmalige Gabe von 0,04 
Luminalnatrium behoben werden und das 
noch eben unruhige Kind fiel bald in 
einen mehrstündigen Schlaf. 

Ein erfolgreicher Versuch mit Luminal 
wurde ferner in zwei Fällen von schmerz¬ 
hafter Otitis media gemacht, bei denen 
dieses Sedativum den Kindern die schon 
mehrere Tage entbehrte Nachtruhe ver¬ 
schaffte. 'Wir wissen wohl, daß wir mit 
einem der üblichen Opiate dieselbe Wir¬ 
kung hier erreicht hätten. Uns war es 
aber interessant, daß wir auch in diesen 
Fällen, wo die Schmerzen im Mittelpunkt 
standen, Schlaf erzielten. 

Vergiftungserscheinungen haben wir 
nur in einem Falle in Form eines typischen 
Luminalexanthems, wie^ es schon öfter 
beschrieben ist, gesehen* und zwar nach 
einer Dosis von 0,1 Luminal (die vier Tage 
hintereinander immer abends gegeben 
worden war) bei einem sechsjährigen 
(vagotonischen?) Kinde. Das Sensorium 
war — entgegen Beobachtungen anderer 
Autoren — nicht getrübt, jedoch war eine 
Fiebersteigerung bis zu 40® vorhanden. 
Nach'Absetzen des Mittels fiel die Tem¬ 
peratur lytisch innerhalb drei Tagen zur 
Norm ab und trat nach einer zufälligen 
Wiederholung der Luminalmedikation, in 
der man zu diesem. Zeitpunkt noch nicht 
die Ursache des Krankheitszustandes er¬ 
kannt hatte, nebst dem Exanthem sofort 
wieder auf. Diese Intoxikation, die wir 
nie bei den zahlreichen mit Luminal be¬ 
handelten Säuglingen sahen, weist uns 
meines Erachtens nachdrücklich darauf 
hin, die Dosierung beim Kleinkind mit 
Vorsicht und an einem größeren Material 
auszuprobieren. 

Bei kurzer Zusammenfassung der Wir¬ 
kungsweise des Luminals auf den Säug¬ 
ling muß zugestanden werden, daß das 
Luminal ein Sedativum ist, bei dem neben 
seiner beruhigenden und schlafmachenden 
Wirkung außerdem eine direkte Beein¬ 
flussung von Schmerz und Atmung eine 
Rolle zu spielen scheint. Eine elektiv 
antispasmodische Wirkung konnte nicht 
festgestellt werden. 

Literatur: 1. Friedländer: Die Behand¬ 
lung epileptischer Anfälle (Ther. Hmh. 1919/24)^ 
2. Como: Über Luminal (Inang. Dissertation. 
Würzburg 1914). 3. Fortschritte in der medika¬ 
mentösen Therapie der Kinderkrankheiten (Ther. 
Hmh. 1915/3). 4. Meyer, Gottlieb: Experi¬ 
mentelle Pharmokologie (Urban & Schwarzen¬ 
berg 1914). 


49 





386' ' ■ Die Therapie der Gegenwart ;1921; . j • Oktober- 

Zusammenfassende Übersicht. 


Der jetzige Stand der Radiumemanationstherapie. 

Von Dr. Engelmann, Kreuznach. (Fortsetzung.) 


Therapeutische Anwendung. - 

Die Radiumenianation kommt in fol¬ 
genden therapeutischen Formen zur An¬ 
wendung: durch Trinken, durch Inha¬ 
lieren, Bäder, Umschläge, Packungen, 
Einläufe, Spülungen und Injektionen. 
Wir sahen oben, wie Wir uns die Einver¬ 
leibung der Em.anation bei Trinken 
. vorzustellen haben, daß ein gewisser Teil 
wohl durch die Lungen exhaliert wird, 
aber noch reichlich Emanation zurück¬ 
bleibt, um in den Arterienkreislauf über¬ 
zugehen und noch nach über zwei Stunden 
daselbst nachgewiesen zu Werden. Wenn 
wir alle zwei bis drei Stunden Emanations¬ 
wasser zuführten, könnten wir theoretisch, 
und man tut es hier und da auch praktisch, 
den Körper den ganzen Tag über unter 
Emanationswirkung setzen. Doch da dies 
störend und lästig wäre, und da anderer¬ 
seits gar nichts gesagt ist, daß eine 
dauernde Überschwemmung des Organis¬ 
mus das therapeutisch Wirkungsvollste 
ist, so begnügt man sich, den Patienten 
zwei- bis dreimal täglich eine bestimmte 
Dosis trinken zu lassen. Messungen haben 
ergeben, daß bei gefüllten Magen die Re¬ 
sorption eine verzögerte ist, also möglichst 
lange Radiumemanation, von dem Magen, 
der gewissermaßen ein Depot darstellt, 
abgegeben wird. Die Vorschrift lautet 
also: zwei- bis dreimal täglich nach dem 
Essen langsam z. B. 2000 Macheeinheit'en 
trinken. 

Eine weitere sehr* zweckmäßige und 
wiikungsvolle Anwendungsform ist die In¬ 
halationsmethode. Die oben erwähn¬ 
ten theoretischen Eiwägungen machen 
dies plausibel, zahlreiche Messungen haben 
die Vermutungen bestätigt, klinische Er¬ 
fahrungen gesichert. In Emanatorien, 
kleinen Räum.en, die luftdicht abge¬ 
schlossen sind, damit keine Emanation 
entweichen kann, mit entsprechender 
Sauerstoffzuführung und Einrichtung zur 
Reinigung der verbrauchten Luft, sind 
in verschiedenen Größen und in ver¬ 
schiedener Ausführung konstruiert und 
enthalten die Emanation in der geforder¬ 
ten Stärke: beispielsweise pro Liter Luft 
4 —6—18 Macheeinheiten. Der Patient 
(oder die Patienten, es handelt sich ja 
um Gesellschaftsinhalation) hält sich ein 
bis zwei Stunden dort täglich auf, atmet 
die emanationshaltige Luft ein und macht 


sein Blut und damit den Körper radio-- 
aktiv. Kurorte wie Joachimsthal, Baden- 
Baden, Kreuznach und wohl noch andere 
mehr, die in der Lage sind, über natür¬ 
liche Emanation, sei es aus Quellen, sei 
es aus der Luft, zu verfügen, sind in der 
Lage, geräumige, bequeme und luftige- 
Räume zu bieten. 

So ;at beispielsweise Kreuznach ein- 
sehr komfortables Naturemanatorium,. 
das aus einer Höhle Emanationsluft irr 
beträchtlichen Mengen, pro Liter 20 Mache¬ 
einheiten mindestens ständig erhält. Es - 
muß verlangt Werden, daß solche Emana¬ 
torien allermindestens 8—10 Mache-- 
einheiten enthalten, damit der Aufenthalt 
darin eine specifische Wirkung ausübt_ 
Mit einstündigem Inhalieren täglich Wird 
man auskommen,* unter Umständeri wird 
man zwei Stunden verschreiben. Bei 
entsprechenden Indikationen kommen. 
stärkere Inhalationsgehalte in Betracht. 
Es ist Falta beizustimmen, daß die 
Möglichkeit voihanden sein muß, die • 
Dosen innerhalb einer gewissen Breite 
zu variieren. Die Wiener Klinik gibt bis 
1200 Macheeinheiten pro Liter Luft. Die- 
oben angegebene Stärkezahl 10 bis 12' 
iVfacheeinheiten wird im allgemeinen aus¬ 
reichen. 

Um Bettlägerigen und Wegunfähigen 
die Vorteile einer Inhalationskur zu¬ 
kommen zu lassen, hat man transportable 
Einzelinhalationsapparate konstruiert,, 
deren sich die Industrie vielleicht auch 
Wieder annehmen wird. 

Ich habe seinerzeit einen solchen kleinen Ap¬ 
parat®) nach Anregung von Salinendirektor Neu¬ 
mann ' verbessert, ausprobiert und mit Prof. 
Bickel der medizinischen Gesellschaft in Berlin 
vorgeführt. Man atmet mittels einer Gesichts¬ 
maske Luft ein, die durch Radiumemanations¬ 
wasser streicht und dadurch radioaktiv wird. 
Einfache Bedienung erlaubt es, daß der Patient 
selbst durch schnelleres oder langsameres Zulaufen 
von Emanationswasser die Stärke variiert. Da- - 
durch, daß Emanationswasser benutzt wird, ist 
man von anderen Präparaten unabhängig, denn 
dieses ist immer leicht zu verschaffen. So ist der 
Apparat denkbar primitiv. Man exhaliert in die 
Maske, die zweckmäßig Nase und Mund bedeckt, . 
und so gegen die dort ständige vorhandene Ema¬ 
nationsluft, dadurch wird eine zu schnelle Abgabe 
der Emanation vermieden. Laufende Blutmes— 
sungen haben mich überzeugt, daß der Emana- 
tionsgehalt des Blutes groß ist. Der Apparat ist 
als Zusatzapparat zu einem Emanationswasser 
bereitenden Apparat gedacht, einem Emanator,. 
Aktivator oder wie man denselben nennen wilL- 


‘) B. kl. W. 1911, Nr. 15. 




Oktober , Die Therapie der Gegenwart 1921 387 


In diesem Falle speziell als Zusatzapparat zu dem 
Neu mann'sehen Aktivator, der auch denkbar 
primitiv, übersichtlich und vor allem sehr zuver¬ 
lässig ist. Eine solche Kombination ermöglicht 
eine erschöpfende Emanationstherapie jeglicher 
Form: Trinkkuren, Inhalationskuren, Bäder, 
Packungen, Kompressen, Ausspülungen und Ein¬ 
läufe. 

Über die Wertigkeit der beiden An¬ 
wendungsformen ist man sich jetzt wohl 
im allgemeinen einig. Beide Therapien 
sind Wirksam, Welche man anWendet ist 
Geschmatksache, wenn man nicht durch 
äußere Verhältnisse auf eine angewiesen 
ist. Bei intensiv gewünschter Anwendung 
ist Kombination zweckmäßig. Wenn die 
Gelegenheit es zuläßt, verbinde man eine 
von den beiden Anwendungsformen oder 
beide mit Radiumemanationsbädern. 

Während die alten Erfahrungen mit 
radioaktiven Quellen, durch die man ja 
eigentlich auf den Heilfator Emanation 
kam, darauf hinwiesen, Bäder zu geben, 
kam man eine Zeitlang davon ab, durch 
die Erwägung, daß im Bade Emanation 
vermutlich nicht so leicht und intensiv 
einverleibt würde, wie durch die Methode 
des Trinkens oder Inhalierens. Nachdem^ 
ich zuerst bei Strasburger nachwies, 
daß Emanation im Bade nicht nur durch 
Einatmen der über dem Badewasser 
ruhenden Emanationsluft wiiksam würde, 
sondern daß auch die Haut Emanation 
in den Körper eindringen läßt, begann 
man die Bäder, gewissermaßen innerlich 
Wissenschaftlich beruhigt, wieder zu dem 
Rechte kommen zu lassen, das alte Er¬ 
fahrung empirisch zugestanden hatte und 
kam mehr und mehr sorgfältig beob¬ 
achtend zu der Überlegung, daß zweifel¬ 
los auch die direkte Einwirkung des die 
ganze Haut wie einen Mantel umgebenden 
Emanationswasser durch die direkte 
Strahlenwirkung ein nicht zu vernach¬ 
lässigender therapeutischer Frktor sei. 
Die entthronten Bäder Wurden wieder 
eingesetzt und es war gut. Wenn Kom¬ 
pressen eindeutig wirken, dann sicher 
auch Bäder. Es kommt eben nicht nur 
der Einatmungsfaktor in Betracht. Die 
Komponente des Wasserbades als solches 
ist dabei noch nicht mal in Rechnung 
gesetzt. 

Über die ganz besondere Wirkung der 
Emanationsbäder auf den Blutdruck 
spreche ich Weiter unten. Ein Ema¬ 
nationsbad soll eine Stärke von mindestens 
12000 Macheeinheiten haben, um den 
Namen als solches zu rechtfertigen. 
Schwächere Bäder dürfen auf keinen 
Fall als Radiumbäder gelten. Stärkere 


Bäder sind häufig bei individualisierender 
Verwendung zweckmäßig: 20000—30t)00 
Macheeinheiien Wird die Norm sein. 
Stärkere Bäder sind oft nicht gleichgültig, 
aber . häufig nützlich. Radiumbäder 
haben vielfach eine ausgesprochene/augen- 
blicklich zur Erscheinung kommende, be¬ 
ruhigende und SGhlafbefördernde Wirkung. 
Sie Werden dabei angenehm und er¬ 
frischend befunden. - Die Wirkung und 
der Enderfolg ist entsprechend der 
Wirkung der Emanation,.- Wie er oben 
skizziert ist. 

Kommen örtliche begrenzte Erkran¬ 
kungen in Betracht und Wollen wir eine 
längere Einwirkung haben, wie die der 
über eine gewisse Zeitdauer nicht mög¬ 
lichen Bäder, sind Kompressen von 
gutem Erfolg. Ein Tuch Wird mit Ema¬ 
nationswasser getränkt, recht lange und 
ausgiebig, ausgerungen und in Form des 
Priesnitz auf den betreffenden Körper¬ 
teilbefestigt. Derartige Umschläge wirken 
subjektiv lindernd und objektiv heilend. 

Entsprechende Ganzpackungen mit 
Radiümemanationswasser sind außer¬ 
ordentlich Wiikungsvoll und können Bä¬ 
der, Wo solche technisch nicht möglich 
sind, zum Teil ersetzen. 

Die Anwendung trockener Kom¬ 
pressen übergehe ich hier, da dabei 
die reine Strahlenwirkung zur Geltung- 
kommt, Weniger die Emanation, von der 
hier die Rede sein soll. Es ist dies mehr 
eine Form der Bestrahlung mit radio¬ 
aktiven Stoffen, nur mit schwächeren 
Präparaten. Darunter Würden auch die 
vielfach gebräuchlichen Radiumsalben, 
Radiumkugeln und Radiumsuppositorien 
(für vaginale und rectale Therapie) fallen. 

Will man Körperhöhlen dem Einfluß 
von' Emanation aussetzen, wie Mund¬ 
höhle, Nasenhöhle, Scheide und Darm, 
so haben Wir in den Spülungen mit Ema¬ 
nationswasser eine denkbar bequeme 
Form und in der Tat sind schöne Erfolge 
damit erzielt. Zahnärzte berichten über 
Spülungen mit Emanationswasser, bei 
Nasenerkrankungen ist ein Versuch mit 
Emanation erfahrungsgemäß erfolgver¬ 
sprechend, Spülungen der Scheide sind 
erprobt. Ein warm.er Befürworter der 
sogenannten Bleibeklistiere war Eich¬ 
holz. Er wollte durch dieselbe vom 
Mastdarm aus auf die Beckenorgane 
wirken und sah von den resorptionsbe¬ 
fördernden Eigenschaften der Emanation 
schöne Erfolge. Die Therapieform wird 
in Kreuznach viel ausgeübt. 


49* 



3^8 


Die Therapie der Gegenwart 1921 / 


Oktober 


Blieben noch die Injektionen in 
Haut, Bindegewebe, Muskeln und die 
Venen zu besprechen. Da es sich meist 
hierbei um Radiumlösung handelte, 
soweit Erfahrungen vorliegen, nicht Ra- 
diumemanati'onslösungen, jene An¬ 
wendungsform also streng genommen 
zur Radiumtherapie gehört, erübrigte 
sich eine Erörterung hier. Doch muß ich 
der Injektion von Emanationslösungen 
Erwähnung tun. Es ist dies eine Anwen¬ 
dungsform, die noch in den Kinderschuhen 
steckt und vielleicht noch ausgebaut 
werden kann. Die Vorteile der Injektion 
von Emanationslösung gegenüber den 
bisher angewandten Radiumlösungen, bei 
denen wie bei Thoriumlösungen, jä reich¬ 
liche Erfahrungen vorliegen, sehe ich ein¬ 
mal in dem Kostenpunkt. Vorausgesetzt, 
daß es gelänge kleinste Mengen Injek¬ 
tionsflüssigkeiten so mit Emanation an¬ 
zureichern, aaß sie ähnlich stark wie 
Radiumlösungen würden, wäre das Ver¬ 
fahren wesentlich billiger wie jenes. Aber 
auch im Sinne einer intensiven Emana¬ 
tionsbehandlung, also starken und schnel¬ 
len Überschwemmung des Körpers mit 
Radiumemanation, um gewaltige Ein¬ 
wirkungen bei hartnäckigen Fällen (viel¬ 
leicht auch bei gewissen Stoffwechsel¬ 
erkrankungen!) zu erzielen, halte ich die 
Anwendungsform für aussichtsvoll. Über 
therapeutische Erfahrungen mit solchen 
Emanationslösungen ist mir nichts be¬ 
kannt; ich selbst habe nur in Tierver¬ 
suchen starke emanationshaltige Koch¬ 
salzlösungen zur Prüfung des Blutdrucks 
und der Emanationsverteilung in die 
Venen, in Arterien und in den Lumbal¬ 
sack infundiert. Es würde mich freuen, 
wenn die Zeilen die Anregung zur Ausar¬ 
beitung einer Methode zur Herstellung 
und Ausprobierung solcher Emanations¬ 
lösungen geben würden. Im staatlichen 
Radiuminstitut zu London erinnere ich 
mich solche Lösungen gesehen zu haben. 

Ich fasse zusammen: Trinkkur, In¬ 
halation, Bäder, Kompressen (Ganz¬ 
packungen) und Spülungen der Körper¬ 
höhlen sind die Formen, mit denen wir 
die Emanation zur therapeutischen Wir¬ 
kung bringen können. Ob man Trinkkur 
oder Inhalation anwendet, entscheiden 
jeweils äußere Umstände; vorsichtiger 
dosieren kann man mit ersterer, inten¬ 
siver einwirken mit letzterer. Ist sehr 
intensive Einwirkung eiwünscht, kom¬ 
biniert man beides zweckmäßig. Zur 
Verstärkung der Wirkung komm^en Bäder, 
die bei Hauterkrankungen, multiplen Er¬ 


krankungsstellen, bei Einwirkung auf die 
Gesamtkonstitution und den Kreislauf, 
von unbestrittenem Wert sind. Bei ört¬ 
lichen Erkrankungen tritt dazu die An¬ 
wendung von Kompressen und Aus¬ 
spülungen. 

Wann sind Emanationskuren anzu¬ 
wenden? 

Indikationen. 

Die drei Hauptkrankheitsgruppen sind: 
Erkrankung der Gelenke und Mus¬ 
keln, Gicht und Nervenerkrankun¬ 
gen. Es sind dies zugleich die Haupt¬ 
indikationsgruppen für einen großen Teil 
unserer Badeorte. Und wie sich aus der 
baineologischen Erfahrung heraus mit 
der Erkenntnis der Radioaktivität man¬ 
cher Quellen die bewußte therapeutische 
Anwendung der Emanation bei gewissen 
Erkrankungen und dann ihr systematischer 
Ausbau entwickelte, so bleiben diese 
Krankheitsgruppen auch Weiterhin die 
Hauptdomäne für erfolgreiche Emana¬ 
tionstherapie. 

Gelenkerkrankungen. 

Gelenkerkrankungen im akuten Sta¬ 
dium sind im allgemeinen keine geeig¬ 
neten Behandlungsobjekte, obwohl von 
Noorden und Falta mit hohen Dosen 
gelegentlich respektable Erfolge dabei 
gesehen haben. 

Dagegen die primär chronischen Ar¬ 
thritiden und zwar weniger die Arthritis 
deformans, mit der aktiven Wucherung 
der Knochen — und Knorpelsubstanz, 
den regressiven Vorgängen, Wie Verfall 
des Knorpels, Aufsaugung und Rarifi- 
kation des Knochens und schließlich der 
Sklerosierung der Gelenke, Wie die Gruppe 
der primär chronischen Polyarthritiden, 
die sich anatomisch durch den Beginn der 
Erkrankung an der Synovialis und der 
Kapsel, übergreifend auf das periartiku- 
läre Gewebe, sogar Sehnenscheiden und 
Schleimbeutel, charakterisiert. —- Dabei 
sind die exsudativen, nicht zu alten 
Formen die therapeutisch dankbarsten. 
Weiterhin spielen natürlich Alter und 
Konstitution eine Rolle. Zum kleinenTeil 
kommt es zu Heilungen, zum größeren 
Teil zu Besserungen, zu einem Stillstand 
der Prozesse, zum kleinsten Teil zu keiner 
sichtlichen Beeinflussung des Krankheits¬ 
prozesses. Zu ' dieser letzten, kleinsten 
Gruppe zählen die Formen, die ätiologisch 
auf Lues, Gonorrhöe una Tuberkulose 
zurückzuführen sind. Hinsichtlich des 
Alters werden von allen Autoren als gut 
beeinflußbar die Gelenkerkrankungen der 



Oktober 


D4e Therapie der Gegenwart 1921 


38Ö 


Jugend, als schlecht beeinflußbar die des 
Alters bezeichnet. 

Dies ist etwa die Anschauung, die 
sich auf jahrelange Emanationstherapie 
gründet, wie sie His, Gudzent, Falta, 
Strasburger, um nur einige Namen zu 
nennen, an einem reichen Krankenmaterial 
festgelegt haben. Für Falta, einen der 
kritischsten Kenner der Emanations¬ 
therapie, gehört die Emanationsbehand- 
iung, ,,bel manchen der oben be¬ 
sprochenen Krankheitsformen zu 
dem Wirksamsten, was wir in die¬ 
ser Beziehung besitzen, sie über- 
trifft ' in einzelnen Fällen alle 
andern Behandlungsmethoden“. 
Aus meiner Erfahrung und der meiner 
hiesigen Kollegen kann ich aus einem" 
reichhaltigen Krankenmaterial dies be¬ 
stätigen. Bei einer Badeklientel ist es 
allerdings nur roher Eindruck und kann 
^s nur sein; so exakte Feststellungen wie 
an klinisch streng beobachtetem Material 
liegen nicht vor, und die anderen be¬ 
kannten Heilkomponenten kommen dazu. 
Ich persönlich kann nur sagen, daß ich 
meine hiesigen Erfahrungen an auswärti¬ 
gem Krankenhausmaterial verschiedener 
Kliniken bei Kuren nach meinen Anord¬ 
nungen bestätigt gefunden habe. 

Die Sachlage ist also die: Emanations- 
Iherapie ist bei diesen Gelenkerkrankun¬ 
gen nicht die Therapie sondern eine 
Therapie und zwar eine, mit der auf jeden 
Fall ein Versuch gemacht werden soll, 
vor allen Dingen, wenn andere Therapien 
versagt haben. 

Die Methode der Behandlung ist: 
trinken oder inhalieren, wenn größere 
Mengen Emanation nötig sind, beides, 
Bäder, falls die Möglichkeit gegeben und 
vor allem Kompressen. Mit kleinen Dosen 
beginnen, einschleichen, da fast immer die 
den Balneologen geläufige Reaktion ein- 
tritt, am vierten bis sechsten Tag, die 
meist guten Erfolg verspricht und nicht 
zu Unterbrechungen veranlassen soll. Die¬ 
se Reaktion kann sich auch in der Weise 
äußern, daß Schmerzen in Gelenken und 
an Stellen auf treten, die vor kürzerer 
oder längerer Zeit befallen waren, ja 
auch da, wo früher noch nie Krankheits- 
orscheinungen manifest gewesen waren. 
Es rührt und regt sich im ganzen Körper. 
Jedenfalls ist schon die Reaktion bzW. 
ihr Ausbleiben differentialdiagnostisch zu 
verwerten. 

Vielleicht, daß man bei sorgfältigerer 
Auswahl der beeinflußbaren Fälle noch 


bessere Heilerfolge sieht. Mir fällt in der 
Literatur auf, zufällig ist es gerade die 
ausländische, die sich anfangs weniger 
mit der Frage der Radiumemanation 
beschäftigte, daß betont wird, p^riarti- 
kuläre Affektionen gäben günstigere Heil¬ 
erfolge. Die Italiener Teissier und 
Rebattu®) heben dies hervor, sie sahen 
ihrerseits weiterhin bei trophoneuri- 
tischen Arthropathien mit hemiplegischer 
und symmertischer Deformation weniger 
Erfolge, dagegen guten Erfolg bei den 
diathetischen und toxischen Arthropa¬ 
thien, bedeutende Erfolge bei den gonor¬ 
rhoischen, den tuberkulösen und den 
syphilitischen. Das widerspricht eigen¬ 
tümlicherweise den deutschen Erfah¬ 
rungen. Zu ähnlichen Resultaten bzw. 
der günstigen Heilerfolge, bei periartiku- 
lären Prozessen vorzüglich, kommt ein 
Bericht aus dem staatlichen Radium¬ 
institut zu London ’). Bemerkenswert 
ist, daß die Engländer und Italiener 
.verschiedene Methoden anwandten: die 
Italiener lassen inhalieren, nach der 
His'sehen Schule, die Engländer bevor¬ 
zugten die Trinkkur, und zwar gaben sie 
Wie von Noorden, Falta und neuer¬ 
dings auch Strasburger, sehr hohe, 
Dosen, täglich bis zu 700000 Mache- 
Einheiten und mehr. Wie Falta sahen 
sie bei Fällen, die sonst jeder Therapie 
trotzten, mit diesen Dosen gute Erfolge. 
Die Dosierungsfräge für gewisse Indika¬ 
tionen ist zweifellos noch im Fluß. Der 
Krieg unterbrach auch hier die Forschung. 
Mir selbst stehen keine Erfahrungen 
über höhere Dosen zu Verfügung. Stär¬ 
kere Bäder, über 50000 Macheeinheiten 
scheinen mir zum Mindesten nicht gleich¬ 
gültig. — Eine Gruppe von Gelenk¬ 
erkrankungen möchte ich noch hervor¬ 
heben, die durch die Art ihres Verlaufes, 
durch schnell wechselndes Auftreten von 
Schwellungen, durch das Auftreten bei 
nervös veranlagten Individuen, und da 
abwechselnd in ihren Symptomen, oft 
parallel zu dem Verhalten des ganzen 
nervösen Apparates, darauf hindeuten, 
daß die sensiblen Nerven dabei eine große 
Rolle spielen. Diese Gruppe von Gelenk¬ 
erkrankungen halte ich besonders für 
Emanationstheraphie geeignet, sie spricht 
auf alle Anwendungsformen, Trinken, 
Inhalieren, Bäder, vor allem Kompressen 
sehr gut an, verlangt aber mit Rücksicht 
auf das nervöse Moment vorsichtige Do- 


®) Strahlenther., Bd. IV, S. 244 ff. 
’) Strahlenther., Bd. IV, S. 734ff. 




390 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Oktober 


sierung. Mittlere Dosen, 4000—6000 
Macheeinheiten Trinkkur, ca. 12 Mache¬ 
einheiten im Liter Luft Emanatoriurn, 
sind wirksam und ausreichend. 

’ Muskelrheumatismus. 

Diese Erkrankungen der sensiblen 
Nerven der Gelenke leiten , über zu den 
entsprechenden Erkrankungen der Mus¬ 
kelnerven und der Anwendung der 
Emanationstherapie bei dem Muskel- 
rheumatis-mus Im weiteren Sinne, sei 
es, daß man für seine Entstehung Ver¬ 
änderungen im Muskelgewebe, sei es 
Neuralgien der sensiblen Muskelnerven 
(nach Ad. Schmidt) annimmt. Die 
guten Erfoge bei dieser Erkrankungs¬ 
gruppe waren nach der Erfahrung der 
Balneologen zu erwarten und haben sich 
bestätigt. 

Als eine eigentliche Kriegskrankheit 
wird sie vermutlich bei manchem Kriegs¬ 
teilnehmer als Folge der durchgemachten 
Strapazen und Erkältungen auftreten 
und so ein dankbares Objekt für Emana¬ 
tionstherapie sein. 

Behandlung, Wie bei den rheuma¬ 
tischen Gelenkerkrankungen, also mög¬ 
lichst alle Formen, unter Betonung, daß 
Trinkkuren allein oft zum Erfolge führen. 
Mittlere Dosen sind ausreichend, vor¬ 
sichtige Anwendung wegen oft schmerz¬ 
hafter Reaktionen am Platze, individuell 
steigernd, bei refraktären Fällen zu hohen 
Dosen. — Bei der neuralgischen Form 


vermutet Falta promptere Reaktionen 
auf die Therapie alsbeidermyalgischen. 

Periphere Nervenerkrankungen. 

Nächst diesen Erkrankungsgruppen, 
die man gemeiniglich unter dem Sammel¬ 
namen Rheumatismus zusammenfaßt. 
Wären Neuralgien im weiteren Sinne, 
in noch weiterem alle Erkrankungen 
der pheripheren Nerven, Gegen¬ 
stand der Emanationsbehandlung. 

Während man bei dem Rheumatismus . 
den Heilfaktor der Emanation, den man 
als entzündungswidrig, entzündungs¬ 
hemmend zu bezeichnen pflegt, als das 
Wirksame Moment ansprechen darf, in 
dem Bedürfnis, die Wirkungsweise aus dem 
Charakter des Stoffes zu erklären und 
auch bei Neuralgien und Neuritiden, Wo» 
pathologisch-anatomische Veränderungen 
vorliegen, solche Wirkungsweise an¬ 
nehmen darf, ist bei der Neuralgie strictidri 
sensu die bekannte sichtlich beruhigende 
Wirkung der in geringer Stärke an¬ 
gewandten Strahlen ein Erklärungs¬ 
versuch. Die typischen Neuralgien, so 
vor allem Ischias, wobei'nach überein¬ 
stimmenden Berichten unbedingt ein 
Versuch mit Emanationstherapie gemacht 
werden sollte, sind durchweg dankbare 
Behandlungsobjekte. 

^ Mehr Wie Trinkkuren und Inhalations¬ 
kuren, die aber auffallenderweise häufig 
allein schon zum Ziele führen. Wirken 
hier Bäder und Kompressen. 

(Schluß folgt.) 


Repetitorium der inneren Therapie. 

Behandlung der Nervenkrankheiten. 

Von G. Klemperer. 


I. Organische Gehirn- und Rücken¬ 
markskrankheiten. 

Allgemeine Behandlung. Derfein 
ausgebildeten neurologischen Diagnostik, 
welche sowohl das Wesen als auch nament¬ 
lich den Ort der Krankheit mit oft er¬ 
staunlicher Sicherheit feststellt, steht 
eine Behandlung gegenüber, welche eigent¬ 
lich nur in zwei Beziehungen die Früchte 
der Diagnose erntet, nämlich wenn es 
sich um Lues handelt oder wenn die 
Möglichkeit eines chirurgischen Eingriffs 
besteht. Die Fragen der antiluetischen 
oder der chirurgischen Behandlung 
müssen freilich so oft im Verlauf von 
Hirn- und Rückenmarkskrankheiten auf¬ 
geworfen werden, das hieraus allein schon 
die Abhängigkeit des Behandlungsplans 
von der diagnostischen Durchbildung 


und Übung des Arztes auch auf diesem 
Gebiet zu erkennen ist. Hiervon ab¬ 
gesehen aber ist die ärztliche Therapie 
im wesentlichen eine pflegerische, welche 
die besten äußeren Bedingungen des Aus¬ 
gleichs herzustellen und Schädlichkeiten 
fernzuhalten sucht, durch welche die 
Krankheit verschlimmert oder die Natur¬ 
heilung verzögert werden könnte. Zu der 
allgemeinen Besorgung — der Reinigung 
und Überwachung des Kranken — treten 
die besonderen Pflichten der Kranken¬ 
pflege, welche sich aus Bewußtlosigkeit, 
Empfindungsstörungen und Lähmungen 
ergeben; in vieler Beziehung grenzen, die 
Aufgaben des Pflegers oft an die des 
Arztes und oft decken sie sich miteinander. 
Von der exakten Ausübung dieser spe¬ 
ziellen Pflege ist oft der Krankheitsverlauf 







39£ 


Oktober ' Die Therapie der Gegenwart 1921 


unmittelbar bedingt. Stets sollte der 
Arzt ihre Ausübung bis- ins einzelne vor¬ 
schreiben und nie verschmähen, sich ihr 
selbst zu widmen, da sie in Wirklichkeit 
ein Teil der ärztlichen Kunst ist. Rein¬ 
haltung des Mundes durch häufiges Aus- 
^wischen, Bewahrung der Conjunctiven 
durch Augenklappen, Schutz der an¬ 
ästhetischen Haut vor Verbrennung durch 
zu heiße Wärmflaschen, Pflege aller auf¬ 
liegenden Körperteile vor Decubitus durch 
geeignete Unterlagen und abhärtende 
Waschung, regelmäßiges Katheterisieren 
und eventuelle Blasenspülung, das Setzen 
von Klysmen, die Verhütung von Ver-' 
unreinigung bei Sphincterenlähmung von 
Darm und Blase, vor allem die künstliche 
Fütterung, am besten mittels Milch- 
eing'eßung durch die Nasenchoane, dazu 
die Überwachung von Puls und Atmung 
und die rechtzeitige Excitation, das alles 
sind Pflichten, die die stete Sorge des 
Arztes und die Hingebung des Pflegers 
Tag,und Nacht in Anspruch nehmen. 

Apoplexie. Die Verhütung von Hirn¬ 
blutungen kommt in allen Zuständen er¬ 
höhten Blutdruckes in Frage, besonders 
wenn schon einmal ein Schlaganfall statt¬ 
gefunden hat, und besteht in regel¬ 
mäßiger Lebensführung, insbesondere in 
der Vermeidung tonussteigerndex Schäd¬ 
lichkeiten (Alkohol, Kaffee, Rauchen, 
psychische oder sexuelle Erregung, enge 
Halskragen, heiße Bäder), sowie in der 
Beeinflussung der primären Krankheits¬ 
zustände, welche zu Apoplexien führen 
können (Herz- und Nierenleiden, Arterio¬ 
sklerose, Gicht und Diabetes, Fettleibig¬ 
keit, Bleivergiftung). 

Die Behandlung besteht in zweck¬ 
mäßiger Lagerung (am besten halbsitzend) 
und Sorge für vollkommene iRuhe, die 
bei erhaltenem Bewußtsein beziehungs¬ 
weise in Erregungszuständen am besten 
durch Morphiuminjektion erzielt wird. 
Gewöhnlich legt man dem Patienten eine 
Eisblase auf den Kopf. Bei sehr gespann¬ 
tem Puls ist ein Aderlaß von 2- bis 300 ccm 
wohl zu empfehlen; bei frequentem klei- 
neni Puls Camphär- oder Coffeininjektion. 
Bei Bewußtlosigkeit ist neben der Mund¬ 
pflege in manchen Fällen für Erleichte¬ 
rung der Atmung durch Vorziehen der 
Unterkiefer und der Zunge zu sorgen, bei 
eventuellem Erbrechen durch zweck¬ 
mäßige seitliche Kopflagerung das Ver¬ 
schlucken zu verhüten. Die Sorge für 
Ernährung tritt in den Hintergrund; bei 
gutem Bewußtsein gibt man Milch und 
breiige Kost in kleinen Portionen, in 


größeren Zwischenräumen; bei erschwer^ 
tem Schlucken teelöffelweise Fütterung; 
bei Bewußtlosigkeit und erschwertem 
Schlucken wartet man am besten ein. 
bis zwei Tage ab und begnügt sich: 
mit rectaler, langsamer Wasserzufuhr,, 
später hat die nasale Fütterung einzu¬ 
setzen. Bei Bewußtlosigkeit ist auch so¬ 
fort der Blasenstand zu kontrollieren und 
im Bedarfsfall zu katheterisieren. Mit der 
Stuhlentleerung ist es nicht so eilig, Ab¬ 
führung eventuell durch ein leichtes Ab¬ 
führmittel (Bitterwasser) oder Klistier 
am dritten Tage. Wichtig ist in jedem 
Fall bei erhaltenem Bewußtsein die Sorge 
für psychisches Gleichgewicht und für 
Schlaf; neben der ärztlichen Einwirkung: 
erweist sich oft regelmäßiger Gebrauch 
von Mixt, nervin. nützlich und aus¬ 
reichend; oft sind des Abends öfters 
Schlafmittel (Adalin oder Veronal) not¬ 
wendig. Medikamente sind nicht indi¬ 
ziert; die Verordnung von kleinen Jod¬ 
dosen (Kal. jodat. 5/200, zweimal täglich 
ein Eßlöffel) geschieht in dem Wunsch,, 
die Resorption des cerebralen Blut¬ 
ergusses zu beschleunigen. Anders liegt 
die Sache bei sicherer oder wahrschein¬ 
licher luetischer Ursache; in diesem Falle 
ist sofortige Einleitung einer kombinierten. 
Neosalvarsan- und Hg-Spritzkur geboten. 

Der Behandlung der Lähmungen ist 
gleich von Beginn insofern Aufmerksam¬ 
keit zu widmen, als durch geeignete Lage¬ 
rung der Glieder der drohenden Con- 
tractur zu begegnen ist; es ist demgemäß 
der gelähmte Arm so zu lagern, daß der 
Oberarm nicht adduciert und nach innen, 
rotiert ist, daß der Arm nicht im Ellen¬ 
bogen und die Hand weder im Hand- 
noch in den Fingergelenken gebeugt ist, 
auch die Prona^tion des Unterarmes ver¬ 
hütet wird; am Bein ist durch knierollen 
und Fußstützen der Streckung des Unter¬ 
schenkels wie der Plantarflexion des Fußes 
entgegenzuwirken. Die systematische Be¬ 
handlung der Lähmungen beginnt erst 
nach etwa 14 Tagen, indem man in regel- 
mäß-gen Übungen drei- bis viermaPam 
Tage jedes Glied in jedem Gelenk soweit 
als möglich beugt und streckt; die anfäng¬ 
liche Schmerzhaftigkeit kann durch kleine 
Gaben antineuralgischer Medikamente¬ 
unterdrückt werden. Diese passive Gym¬ 
nastik wird durch tägliche regelmäßige 
Massage aller Muskeln unterstützt; die 
Massage sei im Beginn sehr vorsichtig 
und werde ganz allmählich energischer. 
Von der dritten bis vierten Woche beginnt 
die elektrische- Behandlung des gelähmten 





392 


Die Therapie der’Gegenwart 1921 


Oktober 


Gliedes, welche in galvanischer Hervor- 
Tufung besonders von Streckung, Abduc- 
tion und Supination am Arm, von Beu- 
igung im Knie und Dorsalflexion des 
Fußes besteht. Hierzu braucht man 
labile Kathoden-Galvanisation oder Unter¬ 
brecherelektrode. Im Gegensatz dazu 
iDehandelt man die zur Contractur neigen- 
<len Muskeln (am Arm Beuger, Adduc- 
toren und Pronatoren; am Bein Strecker 
des Unterschenkels mnd Wadenmuskeln) 
mit stabiler Anodengalvanisation. Nach 
mehrwöchiger Behandlung mit pas¬ 
siver Gymnastik und Elektrisierung wer¬ 
den unter ärztlicher Aufsicht und Leitung 
vorsichtige aktive Bewegungen vom Pa¬ 
tienten begonnen; zweckmäßig finden sie 
.zuerst im lauen Vollbad statt, da der 
Auftrieb des Wassers die Bewegungen 
erleichtert. Die Assistenz des Arztes ist 
bei den aktiven Bewegungen nicht nur 
deswegen wichtig, weil Anstrengung des 
Patienten besonders vermieden werden 
muß, sondern auch weil die Willens¬ 
impulse anfänglich eher in die zur Con¬ 
tractur neigenden Gruppen gehen und 
also durch falsche Übung die Beuge- 
contractur verstärkt werden könnte. Es 
ist sehr zweckmäßig, wenn der Arzt die 
gesamte orthopädisch-elektrische Behand¬ 
lung der postapoplektischen Lähmungen 
eigenhändig ausführt; sie kostet sehr viel 
•Zeit, dauert viele Monate, bringt aber oft 
bei unermüdlicher Geduld selbst in an¬ 
scheinend aussichtslosen Fällen noch be¬ 
merkenswert gute Resultate. Es ist aber 
auch nichts dagegen einzuwenden, wenn 
die einzelnen Prozeduren gehörig ein¬ 
geübten und dauernd kontrollierten Pflege¬ 
kräften überlassen werden. 

Wenn der Patient das* gelähmte Bein 
einigermaßen gebrauchen kann, darf er 
allmählich das Bett verlassen; der Zeit¬ 
punkt des ersten Aufstehens hängt also 
von der Schwere des Falles ab und wird 
mit derselben Sorgfalt wie nach Infektions¬ 
krankheiten überwacht. Der geschwächte 
Arm wird in der Mitelia getragen. Der 
Patient wird zuerst für kurze Zeit auf 
einen bequemen Stuhl gesetzt und lernt 
allmählich, sich selbständig zu erheben; 
•es folgen vorsichtige Steh- und Geh- 
-übungen, wobei die einzelnen Tempi der 
Kniebeugung, des Fußhebens, des Bein- 
vorsetzens systematisch eingeübt werden. 
— Bleiben trotz aller Sorgfalt wesent¬ 
liche Contracturen zurück, so ' können 
chirurgische Eingriffe (Durchschneidung 
der Sehnen beziehungsweise der motori¬ 
schen Nerven, sogar der Rückenmarks¬ 


wurzeln) in Frage kommen; hierüber ist 
spezialistischer Rat einzuholen. 

Besondere Behandlung erheischen die 
die Apoplexie überdauernden Sprach¬ 
störungen. Während die Anarthrie als 
bulbäres Symptom der Therapie unzu¬ 
gänglich ist, bietet ihr die Aphasie müh-. 
selige aber dankbare Aufgaben. Sowohl 
die motorische wie die sensorische 
Aphasie beruhen auf dem Zugrunde¬ 
gehen der centralen Hirnpartien einer 
Seite, während die homologen Teile 
der anderen Hirnhälfte wohl erhalten 
sind; diese sind augenscheinlich befähigt, 
die Funktion der zerstörten Partie in 
weitem Umfang zu übernehmen; es 
kommt darauf an, durch Einübung die 
fehlenden Wortbilder und Wortbegriffe 
dem aufnahmefähigen Hirncentrum ein¬ 
zuprägen. Der aphatische Patient muß 
also wie ein junges Kind von neuem 
sprechen lernen, wozu ihm in mühseligem 
Unterricht zuerst die Buchstaben, dann 
die einzelnen Worte vorgesprochen .und 
erläutert, beziehungsweise vorgehaltene 
Gegenstände benannt werden müssen. 
Diese Unterrichtsstunden erfordern sehr 
lange Zeiträume und mehr als gewöhn¬ 
liche Geduld von seiten des Lehrers wie 
des Schülers, aber es sind auch sehr schöne 
Erfolge zu erzielen. 

Häufig überweist man gehfähige Pa¬ 
tienten zur Nachbehandlung der post¬ 
apoplektischen Folgezustände Spezial¬ 
sanatorien, oder läßt sie gewisse Bade¬ 
orte aufsuchen mit indifferenten Thermen 
(Wildbad, Gastein, Teplitz) oder koch- 
salz- beziehungsweise CO^ haltigen Quellen 
(Nauheim, Wiesbaden, Oeynhausen). Es 
ist nur zu sorgen, daß die Patienten nicht 
auf die Reise gehen, ehe die Gefahr des 
Rezidivs mit einiger Sicherheit auszu¬ 
schließen ist und die Patienten sich 
einigermaßen frei bewegen können. 

Hirn- und Rückenmarkstumor. In 
therapeutischer Beziehung dürfen die Ge¬ 
schwulstbildungen von Hirn- und Rücken¬ 
mark gemeinsam besprochen werden, so 
verschieden auch die Erscheinungen und 
die diagnostischen Erwägungen in beiden 
Krankheiten sein mögen. Aber sobald 
maßgebende Symptome den Gedanken 
an eine das Centralnervensystem be¬ 
drängende Geschwulstbildung nahelegen, 
ergeben sich fast zwangsläufig zwei Indi¬ 
kationen, gleichviel an welcher Stelle der 
fragliche Tumor sitzen mag, antiluetische 
Behandlung und chirurgischer Eingriff. 
Die erstere ist ja in allen unklaren Er¬ 
krankungen des Centralnervensystems an- 





Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


393 


gebracht; der operative Eingriff ist nur 
auf Grund klarer neurologischer Dia¬ 
gnostik möglich. Nichts beweist dem 
Arzt klarer die Notwendigkeit, bis zu 
einem gewissen Grade die Diagnose der 
Nervenkrankheiten zu studieren, als die 
oft ausgezeichneten Erfolge der chirur¬ 
gischen Behandlung der Hirn- und 
Rückenmarkstumoren, denen eine An¬ 
zahl von Todesfällen gegenübersteht, 
welche bei rechtzeitiger Tumordiagnose 
vermeidbar gewesen wären. Es genügt, 
wenn der Arzt frühzeitig zu dem Verdacht 
des Tumors kommt; dann soll er jeden¬ 
falls Hg-Schmier- oder Spritzkur, even¬ 
tuell zugleich mit Neosalvarsan anwenden. 
Lumbalpunktion soll bei der Möglichkeit 
von Hirntumor als lebensgefährlich unter¬ 
bleiben. Verbessert die antiluetische Kur 
das Befinden des Kranken nicht, so emp¬ 
fiehlt sich die Zuziehung eines neurologisch 
durchgebildeten Klinikers zur Feststellung 
der topischen Diagnose und damit der 
chirurgischen Indikation. Ob die Ope¬ 
ration möglich und aussichtsreich ist, 
unterliegt dann dem Urteil des Chirurgen; 
man wird sich auch bei geringer Hoffnung 
zum Eingriff entschließen, wenn die 
Schmerzen dem Patienten das Leben zur 
unerträglichen Qual machen. Wird die 
Operation abgelehnt, so bleiben zur Stil¬ 
lung von Schmerz und Erbrechen, auch 
von Krampfanfällen, nur Morphium, mit 
dem man in so traurigen Fällen nicht 
sparen wird; auch Schlafmittel sind reich¬ 
lich zu geben. 

Hydfocephalus. . Bei Säuglingen soll 
der Wasserkopf mit antiluetischer Kur 
behandelt werden; die Kinderärzte ver¬ 
ordnen täglich dreimal 2 mg Calomel, im 
ganzen 12 Dosen, oder von einer 2 %igen 
Jodlösung dreimal täglich einen Teelöffel 
inMilch. Geht der Hydrocephalus hiernach 
nicht zurück, so soll die große Fontanelle 
punktiert werden, indem am vorderen 
Rand derselben 1 cm neben der Mittel¬ 
linie mit dünner Nadel 3—4 cm tief ein¬ 
gestochen wird. Bei größeren Kindern 
und bei Erwachsenen ist die Lumbal¬ 
punktion das Verfahren der Wahl; man 
läßt 30—40 ccm Liquor langsam ab¬ 
fließen und wiederholt den Stich nach 
einigen Tagen, wenn neue Erscheinungen 
von Hirndruck eintreten. Die Lumbal¬ 
punktion kann sehr oft vorgenommen 
werden. 

Tabes dorsalis. Die Tabes ist der 
Typus eines chronischen, meist Jahrzehnte 
dauernden Leidens, mit welchem ein 
Kranker oft bei vernünftiger Lebensweise 


die natürliche Altersgrenze erreichea 
kann; alles kommt darauf an, ihn zu 
einer solchen Lebensführung zu bringen,, 
welche Verschlimmerungen der Krank- 
heit möglichst ausscjiließt. Vor allem soll 
er sich vermeidbaren psychischen Er¬ 
regungen fernhalten. Einen außerordent¬ 
lichen psychischen Shock bringt den 
meisten Patienten die Erkenntnis der 
eigenen Krankheit, deren Verlauf sich 
der populären Betrachtung ja meist 
düsterer darstellt, als er in Wirklichkeit 
ist; auf vielen lastet das Krankheits¬ 
bewußtsein zeitlebens als ein quälender 
Druck, der sicherlich den Verlauf un¬ 
günstig beeinflußt. Deswegen möge der 
Arzt die Diagnose, die er möglichst früh¬ 
zeitig stellen soll, solange als möglich 
dem Patienten verheimlichen; man kann 
alle hygienischen Anordnungen durch¬ 
setzen, ohne den ominösen Namen zu 
nennen; die Bezeichnung Nervenschwäche 
genügt durchaus. Erfährt der Patient 
die wahre Natur der Krankheit, so spielt 
die psychische Therapie eine. wichtige 
Rolle, die bei der ganzen Behandlung der 
Tabes ein sehr reiches und vielseitiges 
Betätigungsfeld findet. Neben der psychi¬ 
schen Beeinflussung ist die Sorge für das 
körperliche Verhalten wichtig. Der Pa-, 
tient soll viel ruhen, in bestimmten 
Zwischenräumen auch am Tage, und jede 
körperliche Anstrengung. vermeiden. 
Dieser Rat muß besonders kontrolliert 
werden, weil diese Kranken kein Er¬ 
müdungsgefühl haben. Es ist ihnen gut,, 
öfters laue Bäder mit folgenden Ruhe¬ 
stunden zu gebrauchen. Für die Diät 
bedarf es keiner besonderen Ratschläge,.- 
auch hier ist Mäßigkeit geboten; in der 
Kleidung soll sich Patient vorsichtig: 
warm halten. Vorsichtige Massagekuren,, 
auch zeitweise Elektrisierungen sind er¬ 
laubt. -Unter der nötigen Überwachung; 
dürfen auch Badekuren in Oeynhausen,. 
Nauheim, Wiesbaden unternommen wer¬ 
den. Seebäder und Hochgebirge sind ver¬ 
boten. Neben diese allgemeine Beratung; 
tritt in jedem Fall die Frage der anti¬ 
luetischen «Therapie. In früh diagnosti- 
ziertenFällensollsiesofortgründlich durch¬ 
geführt werden. Man darf davon nicht Hei¬ 
lung oder auch nur in vielen Fällen ent¬ 
scheidende Besserung erwarten; aber es ist 
wohl sicher, daß viele Beschwerden da¬ 
durch vermindert und sehr oft der Verlauf 
gemildert wird. Geht es einem Tabiker 
leidlich gut, so würde ich raten, die Kur 
in dreijährigen Zwischenräumen zu wie¬ 
derholen; ebenso betrachte ich eine 


50 






394 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Oktober 


■weseiitliche Verschlimmerung in einem 
üs dahin ruhigen Verlauf als Indikation 
.zu neuer Kur. Zu empfehlen ist kombi¬ 
nierte Kur von Hg salicyl. und Neosalvar- 
san, zwischendurch in jedem Jahre ^eine 
Jodkur, wenn Jod irgend vertragen wird. 
t(Kal. jodat. 10/200, im ganzen zehn 
Flaschen.) 

Außer der hygienisch-diätetischen und 
<ler specifischen Kur bietet der Verlauf 
•der Tabes viele Indikationen für sympto¬ 
matische Behandlung. Bei den Schmer¬ 
zen soll man sich möglichst mit physika¬ 
lischen Methoden, Anwendung von Wärme 
und Licht oder den gebräuchlichen Anal- 
:geticis begnügen, die man in den verschie¬ 
densten Kombinationen verordnen kann, 
und Morphium möglichst zurückhalten, 
denn Tabiker werden allzuleicht Morphi¬ 
nisten. Nur bei den gastrischen Krisen 
ist es nicht zu vermeiden; diese qual¬ 
vollen Zustände sind nur mit großen Dosen 
Morphium einigermaßen erträglich zu ge- 
istalten. In jedem Falle von gastrischen 
Krisen rate ich noch einmal, sehr energi¬ 
sche antiluetische Kuren, z. B. mitCalomel- 
injektion, zu versuchen, die sich doch 
manchmal noch hilfreich erweisen; auch 
das sehr unsichere Mittel der Förster- 
schen Operation, die Durchschneidung 
der hinteren Wurzeln des Rückenmarks, 
Avelche aus den drei untersten Brustwirbeln 
.austreten, darf angewendet werden. 
Auch die übrigen Krisenzustande der 
Tabes lassen sich nur mit Morphium er¬ 
tragen. Sorgfältige Behandlung verdient 
der Blasenkatarrh und die Nierenbecken- 
^entzündung, welche sich allmählich an 
die Blaseninkontinenz anschließen, inner¬ 
lich mit reichlichem Getränk und Uro¬ 
tropin oder Salol, dazu mit regelmäßigen 
Blasenspülungen mit 3 %igem Borsalicyl- 
wasser oder Argentumlösung. 

Je mehr sich Anästhesien entwickeln, 
desto sorgfältiger muß die Haut ^ vor 
Schädigung durch Druck oder Über¬ 
hitzung geschützt werden; die Verhütung 
des Durchliegens durch Luftkranz oder 
Wasserkissen, eventuell die sachgemäße 
Wartung des beginnenden Decubitus ist 
besonders wichtig. 

Sehr eingehende Behandlung verdient 
die Ataxie. Bekanntlich beruht die für 
Tabes charakteristische Unfähigkeit, die 
•gesunden Gliedmaßen zu geordneten Be¬ 
wegungen zu gebrauchen, auf dem Ver¬ 
lust der sensiblen Leitungsbahnen, durch 
welche auch die Bewegungsempfindung 
vermittelt wird und also das Maß für die 
Kraft der Bewegung gewonnen wird. 


Für die Behandlung kommt es darauf an, 
die übriggebliebenen sensiblen Bahnen 
durch Übung zu kräftigen, so daß Lage- 
und Bewegungsempfindung gestärkt wird. 
Auf der anderen Seite suchen wir für die 
nicht wiederzugewinnenden Verluste des 
Muskel- und Gelenksinns kompensatorisch 
den Gesichtssinn einzusetzen, damit die 
Patienten nunmehr in kritischer Weise 
durch das Auge ausführen, was sie vorher 
unbewußt taten: nämlich die für die 
Bewegung notwendige Muskelkraft abzu¬ 
schätzen. Die zur Besserung der Ataxie 
geeigneten Übungen sind in systemati¬ 
scher Weise ausgebildet worden und 
werden mit einer besonderen Apparatur 
spe-ialistisch betrieben. Man kann sie 
aber auch in der Praxis in ausreichender 
Weise anwenden, wenn man sich der 
Prinzipien bewußt bleibt, daß die Pa¬ 
tienten vorgeschriebene Bewegungen mit 
begrenzter Kraftaufwendung so oft üben 
sollen, bis sie ohne Kontrolle der Augen 
überschüssigen Kraftaufwand meiden 
lernen. Es dient diesem Zwecke, wenn 
die Patienten zuerst im Bett Bewegung 
und Streckung der Beine üben, danach 
Gehbewegungen im Liegen machen, nach 
einiger Zeit Stehübungen versuchen, zu¬ 
erst mit Festhalten, dann selbständig, mit 
geschlossenen Augen, schließlich aüf einem 
Bein; wenn sie dann allmählich unter 
Führung wieder gehen lerhen, und wenn 
sie schließlich ä\if Kreidelinien, die am 
Boden gezogen sind, abgemessene Schritte 
machen, oder wenn sie mit einer am 
Faden befestigten Kugel nach einem Ziele 
werfen, oder w^^nn sie Treppenstufen stei¬ 
gen u-sw. Die Übungen sind täglich mehr¬ 
mals unter steter Aufsicht des Arztes 
oder geschulten Personals vorzunehmen, 
weil .einerseits fortwährendes Korrigieren 
der Übenden notwendig ist, andererseits 
jede Überanstrengung vermieden werden 
muß. Der Erfolg ist von größter Aus¬ 
dauer und Geduld des Arztes und Energie 
des Patienten abhängig. 

Auch die in vorgeschrittenen Stadien ’ 
vorhandene Paraplegie bed.arf sorgsam¬ 
ster Übungsbehandlung; auch hier liegt 
keine organische Lähmuhg vor, sondern 
eine psychogene Schwäche, bedingt durch 
die Hilflosigkeit infolge der sehr großen 
Ataxie. Hier spielt neben den systema¬ 
tisch betriebenen Übungen die Psycho¬ 
therapie eine Hauptrolle, welche Mut und 
Selbstvertrauen der. oft ganz unglück¬ 
lichen Kranken zu heben versteht. 

Myelitis. Es ist für absolute Ruhe, 
vorsichtige Lagerung und allgemeine, ‘die 





Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1921' 


395 


Bedingungen der Lähmungen berück¬ 
sichtigende Pflege zu sorgen. Danach ist 
•die Frage der antiluetischen Therapie 
z:li beantworten; im Zweifelsfalle ist sie 
durchzuführen; nicht ganz selten führt 
sie zu eklatantem Erfolg. Bei plötzlichem, 
insbesondere fieberhaftem Beginn ist 
•energische Schwitzkur mit grüßen Dosen 
Aspirin oder andere Methoden zur An¬ 
regung des Gesamtstoffwechsels ratsam; 
auch in anscheinend verzweifelten Fällen 
werden gelegentlich unerwartete Erfolge 
erzielt. Ist die Erkrankung ins chronische 
Stadium getreten, so tritt die Allgemein¬ 
behandlung ins Recht. Laue Vollbäder, die 
freilich nur mit genügenden Wartekräften 
möglich sind, vorsichtige Massage und 
Elektrisierung, innerlich zeitweise Jod¬ 
kali, eventuell Arsen und Strychnin, sind 
anzuwenden. Immer wieder ist das 
diagnostische Problem aufzuwerfen, ob 
wohl eine Wirbelerkrankung oder eine 
Geschwulstbildung nachzuweisen ist, die 
chirurgischer Behandlung zugänglich sein 
könnte. Die Behandlung der Lähmungen 
beziehungsweise Contracturen folgt den 
oben gebenen Regeln. Solange die Pa¬ 
tienten reisefähig sind, werden sie oft in 
diö genannten Badeorte geschickt, wobei 
stets vor Übergeschäftigkeit zu warnen ist. 

Polyomyelitis acuta (Kinderlähmung). 
Entsprechend ihrem infektiösen Ursprung 
und ihrem akuten fieberhaften Beginn 
muß diese Krankheit in ihrem ersten Sta¬ 
dium nach den für akute Infektionskrank¬ 
heiten geltenden Regeln mit Bettruhe, 
i^urückhaltender flüssiger Diät, im Be¬ 
darfsfall mit kleinen Gaben antipyretischer 
Mittel behandelt werden. Mehrfache 
Schwitzprozedur ist in der ersten Woche 
zu empfehlen; bei großen Schmerzen 
Narkotica in kleinen Gaben. Zugleich sind 
von Anfang an die Gesichtspunkte zur 
Verhütung von Contracturen gelähmter 
Glieder zu beobachten. Bewegungsver- 
versuche dürfen im fieberhaften Stadium 
noch nicht gemacht werden. Erst wenn 
etwa eine Woche nach dem Fieber ver¬ 
gangen ist, setzt bei gleichzeitiger An¬ 
näherung an Rekonvaleszentenkost eine 
vorsichtige Behandlung der Lähmungen 
mit passiven Bewegungen, Massagen und 
Elektrizität ein (vergleiche Seite 392). 
Doch sei man im Anfang mit dieser Be¬ 
handlung recht zurückhaltend und stelle 
erst nach etwa vier Wochen größere An¬ 
forderungen an den Patienten, ohne ihn 
zu ermüden. Es ist üblich, zur Unter¬ 
stützung der Ernährung Arsen oder 
Strychnin zu geben. Auch laue Bäder, 


eventuell mit Salz oder aromatischen Zu¬ 
sätzen, sind zu empfehlen. Badeorte, die 
aber erst viele Monate nach Ablauf des 
akuten Prozesses aufgesucht werden 
dürfen, sind neben den mehrfach er¬ 
wähnten auch die Soolbäder (Kösen, 
Kreuznach usw.). Lähmungen, die ein 
halbes bis dreiviertel Jahr trotz systema¬ 
tischer physikalischer und gymnastischer 
Therapie nicht behoben sind, galten früher 
als irreparabel und wurden mit, orthopä¬ 
dischen Behelfen (Korsetts, Schienenappa¬ 
rate) nach Möglichkeit ausgeglichen. 
Neuerdings vermag die chirurgische Be¬ 
handlung mittels Sehnen- und Nerven¬ 
durchschneidung beziehungsweise Über¬ 
pflanzung in manchen Fällen erstaunliche 
Hilfe zu bringen. 

Multiple Sklerose. Die allgemeine und 
psychische Behandlung folgt den bei der 
Tabes entwickelten Grundsätzen. Größte 
Schonung, besonders auch in den Remis¬ 
sionszeiten, ist oberstes Gebojt. Im übri¬ 
gen wird man gelegentlich Bäder, Mas¬ 
sage, elektrische Anwendungen, robo- 
rierende Medikamente, auch vorsichtige 
Übungsbehandlung verordnen, aber bei 
jeder Anwendung unbedingte Vermeidung 
etwaiger Anstrengung zur Pflicht machen. 
Die skandierende Sprache kann durch 
systematische- Übungen oft wesentlich 
gebessert werden. Antiluetische Kuren 
kommen nur bei unsicherer Diagnose in 
Frage; beim Besuch von Badeorten ist 
besonders vor eingreifenden Kuren zu 
warnen. 

Bei der spastischen Spiralsklerose, der 
Syringomyelie und den verschiedenen For¬ 
men der Muskelatrophien ist nach den für 
die Tabes und Myelitis gültigen Behand¬ 
lungsregeln sinngemäß za verfahren. 

2. Krankheiten der peripheren Nerven. 

Multiple Neuritis (Polyneuritis). 
Diese Krankheit bespreche ich zuerst, ob¬ 
wohl sie uns viel seltener beschäftigt als 
die Neuralgien, weil ihre Behandlung sich 
vielfach mit der Therapie centraler Krank¬ 
heiten deckt, von denen sie auch dia¬ 
gnostisch nicht immer leicht abzugrenzen 
ist: im ersten Stadium mit der akuten 
Poliomyelitis, in den Spätstadien mit 
Lähmungen cerebralen und spinalen Ur¬ 
sprunges. Wenn die Krankheit also mit 
den Zeichen akuter Infektion beginnt, 
ist nach den für diese maßgebenden 
Regeln zu verfahren. Bei stürmischem 
schweren Verlauf ist vor allem das Herz 
zu excitieren; bei ruhigerem Beginn ist 
täglich Schwitzprozedur, auch Behand- 

50* 



396 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Oktober 


lung mit Salicylaten ratsam, im übrigen 
von vornherein für gute Lagerung und 
Schmerzstillung zu sorgen. Die Behand¬ 
lung des Lähmungsstadiums deckt sich 
durchaus mit den bei Myelitis und Tabes 
angegebenen Regeln. Trotzdem ist die 
Therapie leichter und erfreulicher. Ein¬ 
mal fehlen die Blasen- und Mastdarm¬ 
störungen, vor allem aber fällt der Unter¬ 
schied der Prognose erheblich ins Gewicht. 
Wenn die Besserung bei der Neuritis auch 
oft sehr langsam vorwärts geht, so sind 
nach einiger Zeit doch immer wieder 
kleine Fortschritte der Beweglichkeit und 
der Fühlfähigkeit zu bemerken, welche 
Zuversicht und Mut des Patienten in 
ganz anderer Weise beeinflussen lassen 
als bei den centralen Lähmungszuständen. 
Die physikalische Therapie mittels Mas¬ 
sage und Elektrizität setzt ebenso wie 
die passive Gyitinastik etwa in.der vierten 
Woche der Erkrankung ein und ist lang¬ 
sam und vorsichtig zu betreiben; die 
aktiven Bewegungsübungen sollen erst- 
viele Wochen später beginnen; die Un¬ 
geduld der Patienten ist zu zügeln, da 
Bewegungsversuche in der Zeit unzu¬ 
reichender Innervierung zu erhöhter psy¬ 
chischer Reizbarkeit führen; erst wenn 
die Muskeln dem Willensimpuls ohne 
Hinderung Folge geben, führt vorsichtige 
Übung durch Bahnung zur Funktions¬ 
verbesserung. 

Die beschriebene Behandlung ist von 
der Ätiologie der Polyneuritis unabhängig. 
Die Berücksichtigung der Ursache führt 
insofern zu besonderen Maßnahmen, als 
bei anscheinender Erkältung die Schwitz¬ 
kuren besonders wichtig sind, bei primärer 
Infektion die Rachenbehandlung und 
eventuelle specifische Anwendungen, wie 
bei Sepsis, in Frage kommen, bei vor¬ 
aufgegangener Diphtherie noch einmal zur 
Anwendung großer Serumdosen (12 bis 
20 000 I.-E.) zu raten und im übrigen 
das Herz besonders zu schonen und 
eventuell zu excitieren ist, während bei 
alkoholistischer Polyneuritis natürlich der 
sonst zur Kräftigung gestattete Alkohol 
in jeder Form verboten werden muß. 

Neuralgien. Allgemeines. Die Be¬ 
handlung dauernder oder anfallsweiser 
Schmerzen im Verlauf sensibler Nerven 
soll mit der Feststellung der Ursache 
beginnen und die Möglichkeit einer kau¬ 
salen Therapie erwägen. Es ist also fest¬ 
zustellen, ob es sich um Erschöpfungs¬ 
zustände durch Anämie oder Kachexie 
oder mangelhafte Blutversorgung durch 
Arteriosklerose handelt, ob chronische 


Vergiftungen ursächlich anzuschuldigen 
sind, wobei ebenso an Diabetes und Gicht 
wie an chronische Mandelentzündung oder 
chronische Nephritis, auch an chronische 
Obstipation zu denken ist. Örtlich ist 
zu untersuchen, ob ein Trauma oder der 
Druck eines Tumors oder einer Narbe 
oder eine fortgeleitete Entzündung ursäch¬ 
lich in Frage kommt; schließlich kann 
durch Neurasthenie oder Hysterie eine 
wirkliche Neuralgie vorgetäuscht werden. 
Wenn eine dieser Ursachen sich als 
wirksam nachweisen läßt, gipfe^lt jede 
Behandlung in dem Bestreben, sie zw 
beseitigen. Aber gleichzeitig sind vorn¬ 
herein die physikalischen und chemischen 
Mittel anzuwenden, welche die Empfind¬ 
lichkeit der Nerven zeitweise oder dauernd 
beeinflussen, sei es, daß man auf einen 
Ausgleich der augenscheinlich moleku¬ 
laren Veränderungen hinwirkt, sei es, da& 
man wenigstens vorübergehende Analge¬ 
sie hervorruft. Die überwiegende Mehr¬ 
zahl der Neuralgien, die mangels einer 
besonderen Ätiologie auf unklare Er- 
k'ältungseinflüsse zurückgeführt werden 
müssen, ist auf die physikalischen und 
chemischen Behandlungsmethoden allein 
angewiesen. Zu ihnen gehört vor allem 
Ruhe, danach Hitzeanwendung jeder Art,, 
sei sie trocken oder feucht, durch Auf¬ 
lagen oder Umschläge, heiße Luft oder 
Elektrizität erzeugt, ferner nach Ablauf 
des. akuten Stadiums Massage, Gym¬ 
nastik und Elektrisierung. Chemisch wirk¬ 
sam ist die große Zahl der bekannten 
Antineuralgica, vom Antipyrin bis zum 
Atophan, zu denen als nachgewiesener¬ 
maßen in die Nervensubstanz eindringen¬ 
des Mittel das Methylenblau gehört. 
Augenscheinlich durch lokale Infiltration 
wirken die endoneuralen Injektionen 
schwächster Cocainlösungen. In be¬ 
sonders schweren Fällen appelliert man 
an den Chirurgen, welcher eventuell durch 
Ausschneidung des leidenden Nerven Hei¬ 
lung herbeiführt. Zwischen der physi¬ 
kalischen. und chirurgischen Methodik 
stehen die Alkoholinjektionen. 

Ischias. Lokale Ursachen, auf dererü 
eventuelle Beseitigung die Aufmerksam¬ 
keit zu richten ist, sind einerseits gynäko¬ 
logische Affektionen, besonders Retro- 
flexio Uteri, oder Beckentumoren, Darm- 
leiden, inklusive Obstipation, auch Pro¬ 
statahypertrophien, Wirbelsäulenaffek¬ 
tionen und Rückenmarkserkrankungeny 
seltenerweise Plattfuß und Varicen. Im 
übrigen bedarf jeder Ischiaskranke der 
Bettruhe, da auch leichte Fälle bei 




OktolDer 


Dk Therapie der Gegenwart 1921 


397 


Bewegung oft zur Verschlimmerung kom¬ 
men. Obligatorisch ist die Wärme¬ 
behandlung, am besten mit angelegten 
Sandsäcken oder heißen Kruken oder 
Thermophor, gut wirken auch heiße 
Bäder oder Packungen mit Moor, Fango, 
Lohtannin, des Nachts mit Prießnitz- 
umschlägen. Nützlich sind mehrfache 
Schwitzprozeduren nach Bädern oder in 
Heißluftschwitzkasten; ebenso Einrei¬ 
bungen mit spirituösen Flüssigkeiten 
(Ameisen-, Campherspiritus) oder salicyl- 
haltigen Mitteln (Salit, Rheumasan, Meso- 
tancreme, Spirosallösung). Auch die 
Lichtbestrahlung der schmerzenden Ner¬ 
ven’ ist wirksam, teils mit künstlicher • 
Höhensonne, teils mit blauem Licht. Oft 
angewandt wird die galvanische Elek¬ 
trizität. Sehr wirksam ist ferner die 
elektrische Wärmeentwicklung durch die 
Diathermie. 

Während in der ersten Zeit voll¬ 
kommene Ruhe erwünscht ist, geht man 
früher oder später, je nach der Schwere 
des Falles, zu vorsichtiger Gymnastik 
und zu regelrechter Massage über. Manch¬ 
mal bewährt sich die regelmäßige Über¬ 
streckung des Beines, welche täglich 
einmal zwei bis drei Minuten vorgenom¬ 
men wird. Ebenso ist die regelmäßige 
Anwendung von faradischer und galva¬ 
nischer Elektrizität von Nutzen (mit dem 
faradischen Pinsel, so stark er vertragen 
wird, oder galvanisch sechs bis zehn 
Stromwendungen). 

Wohl in jedem Falle ist neben einer 
physikalischen Behandlungsmethode die 
gelegentliche oder öftere Anwendung eines 
Antineuralgicüms notw'-endig; man hat 
die Wahl und w^echselt zwischen Anti- 
pyrin, Phenacetin, Aspirin, Pyramiden, 
Diplosal, Atophan und anderen. Oft er¬ 
weist sich Methylenblau heilsam. Welches 
Mittel beziehungsweise welche Kombi¬ 
nation derselben man wählt, ist gleich¬ 
gültig; die persönliche Empfindlichkeit 
und Empfänglichkeit der Patienten ist 
sehr verschieden. Man hüte sich auch 
hier vor zuviel und beachte die Neben¬ 
wirkungen. Morphium suche man mög¬ 
lichst zu vermeiden, aber es gibt so 
schwere Fälle, in denen alle leichteren 
Mittel versagen, daß man zur Morphium¬ 
injektion gezwungen wird. In lang¬ 
wierigen und zu Rezidiven neigenden 
Fällen ist der Besuch von Kurorten be¬ 
liebt; Wiesbaden, Teplitz, Oeynhausen, 
aber auch die Moorbäder Franzensbad, 
Elster, Polzin, die Schwefelbäder in Nenn¬ 
dorf werden mit oft gerühmten Erfolgen 


aufgesucht. Wenn die üblichen Behand¬ 
lungsmethoden nicht helfen, geht-man 
zweckmäßig bald zu den endoneuralen 
Injektionen über, die in der großen Mehr¬ 
zahl der Fälle zur schnellen Heilung 
führen. Man injiziert unter gehöriger 
Asepsis direkt in den Ischiadicus an einem 
typischen Druckpunkt, am besten in 
der Mitte der Verbindungslinie zwischen 
Trochanter und Tuber ossis ischii, während 
der Patient auf der gesunden Seite liegt,, 
xfas Bein in Knie und Hüfte gebeugt,, 
indem man auf einer 10 ccm Spritze eine 
lange starke Injektionskanüle- senkrecht 
in die Tiefe sticht, bis ein blitzartiger 
Schmerz angegeben wird (etwa 7 cm tief).. 
•Die Injektionsflüssigkeit ist .^^-Eucain 0,I„ 
Nat chlorat. 1,0, Aq. dest. ad 100; hier¬ 
von spritzt man langsam 10 ccm ein. 
Die Injektion wird in vier- bis sechs¬ 
tägigen Zwischenräumen fünfmal wieder¬ 
holt. Diese Kur bringt viele, auch schwere 
Ischiasfälle zur vollkommenen Heilung. 
Bleiben diese Einspritzungen erfolglos,, 
so kann man manchmal noch eine Wir¬ 
kung erzielen, indem man nach längerer 
Ruhepause die ganzen 100 ccm in einer 
einzigen Sitzung einspritzt; hierbei vari¬ 
iert man die Tiefe der Injektion, indem 
man die Nadel zwischen 4 und 8 cm hin- 
und herbewegt; oft folgt ein ganz un¬ 
gefährlicher Schüttelfrost. Diese Massen¬ 
einspritzung scheint durch Lösung peri- 
neuritischer Verwachsungen zu wirken;, 
auch sie kann mehrfach wiederholt werden. 

Ebenso wie die endo- und perineuralen 
Injektionen ohne besondere Schulung 
von jedem Arzt auszuführen und sehr 
zu empfehlen sind, so darf auch ohne 
besonderen Apparat in besonders hart¬ 
näckigen Fällen eine epidurale Injektion 
versucht werden'; wer eine Lumbalpunk¬ 
tion ausgeführt hat, wird auch hierbei 
keine Schwierigkeit finden. Dabei lagert 
der Patient mit stark angezogenen Knien 
auf der kranken Seite. Der Arzt tastet 
den Eingang zum Sakralkanal, welcher 
eine Vertiefung unterhalb der sakralen 
Dornfortsätze darstellt, die seitlich von 
je einem Knochenvorsprung begrenzt ist 
u^id sich elastisch anfühlt. Hier wird eine 
lange starke Nadel in einem Winkel von 
20® eingestochen, beim Berühren eines 
Widerstandes gesenkt und im ganzen 
etwa 6 cm in der Mittellinie vorgeschoben. 
Injiziert werden 10 ccm der 0,l%igen 
Eucainlösung; Patient bleibt einen Tag 
zu Bett liegen. Auch diese Injektion 
kann nach drei bis vier Tagen wieder¬ 
holt werden. 



398 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Oktober 


Trigeminusneuralgie. Für die ätio¬ 
logische Behandlung kommen viele akute 
Infektionskrankheiten in Frage; in diesem 
Fall ist dem rekonvaleszenten Patienten 
lange Ruhe und Erholung zu schaffen; 
Malaria-Neuralgie (gewöhnlich des ersten 
Astes) wird mit Chinin behandelt, toxische 
Einflüsse (Blei, Arsen, Nikotin), Stoff¬ 
wechselkrankheiten (Diabetes) müssen be¬ 
kämpft werden. Von größter Bedeutung 
ist die sachverständige Untersuchung und 
eventuelle Behandlung der Zahn- und 
Kieferkrankheiten sowie der Neben¬ 
höhlen; so notwendig eine spezialistische 
Behandlung im Fall vorhandener Er¬ 
krankung, so ist doch vor unbegründeten 
Eingriffen zu warnen; gesunde Zähne 
sollten nicht gezogen werden. Oft wird 
die Erkrankung erst im Röntgenbild 
sichtbar. Im übrigen physikalische und 
medikamentöse Behandlung analog der 
bei Ischias. Die Ernährung ist besonders 
zu regeln, weil das Kauen oft unmöglich 
ist; dann nur flüssige Diät mit Ein¬ 
führung des Löffels auf der gesunden 
Mundseite. Die Injektionsbehandlung 
nach Art der Ischiastherapie wird aus¬ 
geführt, indem die Nadel auf die Ein¬ 
trittsstelle des erkrankten Astes aus dem 
Gesichtsschädel eingestochen wird. Die 
Erfolge bleiben hinter denen bei Ischias 
oft zurück. In vielen schwer zu beein¬ 
flussenden Fällen sind Morphiuminjek¬ 
tionen nicht zu vermeiden. Für die 
schweren Fälle sind Injektionen von 1 bis 
2 ccm 80%igem Alkohol empfohlen wor¬ 
den; auch diese sind nicht sicher wirksam 
und erschweren die spätere Operation. 
Diese, welche in den schwersten Fällen 
augenscheinlich nicht zu umgehen ist, be¬ 
steht in der Ausrottung möglichst großer 
Stücke des Nerven oder als ultima ratio 
in dem schweren Eingriff der Exstirpation 
des Ganglion Gasseri. 

Bei der Behandlung der Occipital-, 
Brachial- und Intercostal-Neuralgien dür¬ 
fen die physikalischen und medikamen-, 
tösen Mittel und Methoden angewandt 
werden; aber öfter noch als bei den bisher 
beschriebenen Formen handelt es sich 
hier um die Folge organischer Erkran¬ 
kungen, zu deren Diagnostik gute kli¬ 
nische Schulung gehört. Insbesondere 
kommen Erkrankungen des Rückenmarks 
und seiner Häute, oder der Halswirbel 
oder Aortenaneurysma oder Erkrankungen 
der Lungen und Pleura in Frage. Erst 
nach sorgfältigster Untersuchung, zu der 
auch das Röntgen verfahren gehört, wird 
man sich in diesen Fällen entschließen, 


eine Neuralgie aus nervösen Ursachen 
anzunehmen und dementsprechend zu 
behandeln. 

Peripherische Nervenlähmungen. Wie 

bei den Neuralgien, ist es notwendig, zu¬ 
erst die Ursache der Erkrankung fest¬ 
zustellen, welche der Behandlung oft ent¬ 
scheidende Richtung gibt. Nur wenn der 
Nerv in seiner Kontinuität unverletzt 
und die Ursache der Lähmung bereits 
beseitigt ist (Druck durch Fesselung oder 
Verbände, im Schlaf oder in der Narkose, 
durch Krücken oder durch Werkzeuge bei 
der Arbeit, oder z. B. bei Druck des 
mütterlichen Ichiadicus durch den bei 
der Geburt durchtretenden Kopf), oder 
wenn es sich um die Folge fortgeleiteter 
Entzündung oder Erschöpfungszustände 
oder Hysterie handelt, darf man hoffen, 
durch Ruhe, spätere Übung und Elektro¬ 
therapie die Funktion wieder herzustellen. 
Wenn die Ursache als fortwirkend fest¬ 
gestellt wird, wenn also Tumoren, Frak¬ 
turen oder Luxationen, Drüsen, Aneurys¬ 
men die Ursache sind, so ist in den meisten 
Fällen an chirurgische Hilfe zu appel¬ 
lieren. Ganz auf den Chirurgen ange¬ 
wiesen sind die Lähmungen, welche durch 
blutige Kontinuitätstrennung (Stich, 
Schuß, Hieb) verursacht sind, und bei 
welchen in neuerer Zeit primäre oder 
sekundäre Nervennaht sowie die Nerven- 
pfropfung zum Teil außerordentliche Re¬ 
sultate erzielt haben. 

In allen Fällen peripherer Lähmung, 
bei denen chirurgische Behandlung nicht 
in Betracht kommt oder aussichtslos er¬ 
scheint, ist neben der eventuellen ätiolo¬ 
gischen Therapie systematische Ubungs- 
behandlung einzuleiten; diese besteht 
einerseits in regelmäßigen passiven Be¬ 
wegungen, welche zugleich der Atrophie 
der Muskeln und der Versteifung der Ge¬ 
lenke entgegenwirkt, andererseits beson¬ 
ders bei längerem Bestehen in der Be¬ 
wegungshilfe beim aktiven Bewegungs¬ 
versuch, wobei der Willensimpuls bahnend 
und trophisch kräftigend wirkt. Hinzu 
kommt vorsichtige Massage der gelähmten 
Muskeln, sowohl durch Streichen und Kne¬ 
ten als auch durch Vibration (wobei aber 
der gelähmte Nerv nicht berührt werden 
darf), auch Wasseranwendung mittels 
Prießnitz und Bädern, vor allem aber die 
elektrische Behandlung, welche nach 
allgemeiner Annahme die Regeneration 
des Nerven beschleunigt. Man verwendet 
den galvanischen Strom (mit Milliampere¬ 
meter und Widerstand), und zwar die 





Oktober 


L)ie Therapie der Gegenwart 1921 


399 


stabile KathodenlDehandlung, im Anfang 
mit sehr schwachen (2 M.-A.), allmählich 
stärkeren Strömen (3—6 M.-A.); nur bei 
hochgradiger Herabsetzung der Erreg¬ 


barkeit werden ganz starke Ströme (bis 
10 M.-A), auch Galvanofaradisation und 
•Stromwendung angewandt. 

(Schluß folgt im nächsten Heft.) 


Repetitorium der chlpurgischen Therapie. 

Von M. Borchardt. 

Die Behandlung frischer Verletzungen. 


Von M. Borchardt 

B. Die Bluttransfusion. 

Es liegen Untersuchungen darüber 
vor, wieviel Blut der Organismus ver¬ 
lieren könne, ohne zugrunde zu gehen, 
und wieweit man die verlorene Blutmenge 
durch Infusion von physiologischer Koch¬ 
salzlösung ausgleichen könne. Der Blut- 
-gehalt des Körpers beträgt etwa 5—5,32 % 
seines Gesamtgewichts. Bei Blutv-erlüsten 
von mehr als 3 %, bezogen auf das Kör¬ 
pergewicht, war beim Versuchstier das 
Leben durch die übliche Kochsalzinfusion 
nicht mehr zu erhalten. Etwas günstigere 
Resultate ergeben sich unter den gleichen 
Versuchsbedingungen mit der Infusion 
des Küttnerschen Sauerstoff-NaCl-Lö¬ 
sungsgemisches (von 100 ccm Sauerstoff 
lösen sich beim Umschütteln 20 ccm in 
1 Liter NaCl-Lösung). Es ist aber zum 
mindesten zweifelhaft, ob diese geringe 
Sauerstoffmenge die Wirkung haben kann, 
die wir durch 0-Inhalation , bei akuter 
Sauerstoffverarmung des Blutes erzielen 
können. Bei hochgradigster Ausblutung 
nun, selbst noch bei durch hochgradigsten 
Ausfall von Sauerstoffträgern hervorge¬ 
rufenen Erstickungskrämpfen, sieht man 
noch durch die Bluttransfusion von 
Mensch zu Mensch überraschende Erfolge. 
Nach Hotz, der sich um die Einführung 
der in Deutschland fast in Vergessenheit 
geratenen Methode besonders verdient 
gemacht hat, ist die Anzeige zur Blut¬ 
transfusion gegeben, wenn ein Ausfall von 
roten Blutkörperchen zu erheblicher In¬ 
suffizienz des Gasstoffwechsels geführt 
hat. Die Frage nach dem therapeutischen 
Wert der Bluttransfusion ist in den letzten 
Jahren gerade besonders lebhaft erörtert 
worden. An dieser Stelle soll nur in 
großen Zügen eine Darstellung der wich¬ 
tigsten Verfahren der Blutübertragung 
zum Ausgleich von akuten Blutverlusten 
gegeben werden. 

Zur Bluttransfusion von Mensch zu 
Mensch steht eine Reihe von Methoden 
zur Verfügung, unter denen drei Haupt¬ 
typen den Vorrang behaupten. Es sind 
dies: 


und S. Ostrowski. (Fortsetzung.) 

1. Die homoioplastische, direkte (arte¬ 
riovenöse oder venovenöse) Transfusion; 

2. die homoioplastische indirekte (Ci¬ 
tratblutmethode oder Def ib! inierungs- 
methode) und 

_3. die autoplastische (Eigenbluttrans¬ 
fusion) Methode. 

Durch das erste der drei Verfahren 
kann unverändertes Blut überpflanzt 
werden, mittels des zweiten Blut, das zur 
Beseitigung seiner Gerinnungsfähigkeit 
mit gerinnungshemmenden Substanzen 
vorbehandelt sein muß, mittels des dritten 
Verfahrens wird Eigenblut in die Gefä߬ 
bahn des Empfängers einverleibt, das bei 
inneren Blutungen in den serösen Körper¬ 
höhlen vorgefunden wird und seine Ge¬ 
rinnungsfähigkeit durch seinen Kontakt 
mit den serösen Häuten spontan verloren 
hat. Allen drei Arten ist die Einbrin¬ 
gung des Blutes unmittelbar in die Blut¬ 
bahn des Empfängers gemeinsam. Die 
rect^le oder intramuskuläre Blutübertra¬ 
gung, deren Nutzeffelt nicht überzeugend 
und zum Teil in anderer Richtung zu 
suchen ist (Proteinkörperreizung des 
Knochenmarkes bei der intramuskulären 
Injektion von Blut) seien der Vollständig¬ 
keit halber erwähnt. . • 

Daß von der Bluttransfusion in praxi 
w^eniger Gebrauch gemacht wird, als 
ihrem tatsächlichen Nutzen entspricht, 
liegt einesteils an der Subtilität der 
Technik, andererseits an der Scheu vor 
gewissen Gefahren, die bei ihrer Anwen¬ 
dung im Bereich des Möglichen liegen, 
wie: Anaphylaxie durch Unstimmigkeit 
der Blutarten, Möglichkeit der Throm¬ 
bose und Embolie, sowie die Übertragung 
von Krankheiten. Die Schwierigkeit der 
Technik kann als Hinderungsgrtind nur 
bei der Transfusion durch arteriovenöse 
Nahtanastomose von Ein- und Auslei¬ 
tungsgefäß gelten. Die venovenöse Trans¬ 
fusion nach Oehlecker z. B. reduziert 
diese Schwierigkeiten auf ein Mindest¬ 
maß. Die Fährlichkeiten der Blutüber¬ 
tragung wiederum können bis zu einem 
gewissen Grade durch die serologische 





400 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Oktobe' 


Vorprüfung auf Hämolyse oder Agglutr- 
nation der zu mischenden Blutarten, 
durch Anstellung der Wassermannreak-- 
tion und Pirqiietschen Probe bei der Wahl 
des Blutspenders und durch schnelles 
Arbeiten vermieden werden. In Notfällen 
freilich wird die schnelle Auswahl eüies 
nach Anamnese und grober klinischer 
Untersuchung als gesund zu bezeichnen¬ 
den Gebers alle diese zeitraubenden Prü¬ 
fungen ersetzen müssen. 

Bei der Besprechung der Gefahren 
der Transfusion und der Wege zu 
ihrer Vermeidung sei gleich vorwegge¬ 
nommen, daß wir uns trotz eines um¬ 
fangreichen'Tatsachenkomplexes in ^sero- 
logisch-hämatologischer Hinsicht über 
den gesetzmäßigen Zusammenhang der 
verschiedenen Reaktionen noch sehr im 
unklaren befinden. Ähnlich liegen die 
Verhältnisse bei der Dosierungsfrage. Ob¬ 
wohl wir heute zu Transfusionszwecken 
nur artgleiches Blut verwenden, treten 
beim Zusammentritt beider Blutarten 
doch relativ häufig als Zeichen der Un¬ 
stimmigkeit Hämolyse oder Agglutina¬ 
tion ein. In der Tat haben Ehrlich und 
seine Schüler im menschlichen Blutserum 
sogenannte Isohämolysine nachweisen 
können. Ehrlich fand auch, daß fast 
jedes menschliche Serum die roten Blut¬ 
körperchen eines anderen Individuums zu 
agglutinieren vermag. Nähere oder fernere 
Verwandtschaft ist dabei ohne Belang. Es 
kann sich sogar das Blut von Müttern 
agglutinierend gegenüber dem Blut ihrer 
neugeborenen Kinder verhalten. Aber 
auch das Resultat sorgfältigster serolo¬ 
gischer Vorprüfung auf Verträglichkeit 
des Spender- und Empfängerblutes 
braucht für die Praxis nicht stichhaltig 
zu sein. Es kann z. B. Vorkommen, daß 
im Vorversuch in vitro bei der Mischung 
beider Blutarten Hämolyse eintritt, die 
Transfusion selbst aber ohne die gering¬ 
sten Anzeichen einer solchen verläuft und 
umgekehrt; von der Agglutination ganz 
zu schweigen. Es liegen hier noch un¬ 
klare Verhältnisse vor. Weshalb unter 
sonst gleichen Verhältnissen die eine 
Blutart die andere toleriert, die andere 
nicht, kann zurzeit nicht erklärt werden. 
Trotz dieser Widersprüche aber tun wir 
in praxi doch gut, durch bestimmte Vor¬ 
prüfungen eine gewisse Auswahl in Bezug 
auf den Spender zu treffen, um den Er¬ 
folg der Transfusion durch die Wahl zu 
blutheterogener Spender nicht in Frage zu 
stellen (hämolytische Vernichtung der 
Spenderblutkörperchen). 


Es stehen dazu mehrere Methoden 
zur Verfügung, die aber für eilige Fälle 
noch größerer Vereinfachung bedürfem 
Es sind dies Reagenzglasprüfungen und 
Vitalreaktionen. Für die Untersuchung; 
in vitro sind etwa je 20 ccm Spender- und 
Empfängerblut in defibriniertem Zustande 
erforderlich. Nach der Trennung der 
Erythrocyten vom Serum durch energi¬ 
sches Zentrifugieren und gründlicher Aus¬ 
waschung der ersteren mittels physiologi¬ 
scher Kochsalzlösung wird eine 5 %ige 
Emulsion der roten Blutkörperchen her¬ 
gestellt. Zu gleichen Volumina Emulsion 
werden nun steigende Serummengen hin¬ 
zugesetzt, danach wird mit Kochsalz¬ 
lösung bis zu gleichen Volumina aufge¬ 
füllt. In der einen Versuchsreihe wird 
die Wirkung des Empfängerserums auf 
die Spenderblutkörperchen, in der an¬ 
deren die des Spenderserums auf die 
Empfängerblutkörperchen beobachtet. 
Nach 24stündigem Verweilen der Rea¬ 
genzröhrchen im Brutschrank kann das 
Resultat des Versuches abgelesen und 
aus dem Eintritt oder Ausbleiben der 
Hämolyse oder Agglutination die Eig¬ 
nung des Spenders zur Transfusion er¬ 
kannt werden.' Schneller orientiert das 
Verfahren des Amerikaners Moss. Nach 
seinen Untersuchungen enthält das. 
menschliche Blut zwei Isohämolysine und 
Isoagglutinine. Mit zwei Standartseren,, 
die je ein Isohämolysin und Isoagglutinin 
enthalten, prüft man Geber- und Nehmer¬ 
blut. Zeigen beide Blutarten die gleiche 
Reaktion mit den Seris, so können beide 
als aufeinander abgestimmt gelten. 

Bei der Vitalreaktion nach- Abel¬ 
mann wird zunächst eine Bluttransfu¬ 
sion im kleinen vorgenommen. Es werden 
dem Empfänger zunächst 20 ccm Spen¬ 
derblut, mit 40 ccm 2 %iger Natrium¬ 
nitratlösung versetzt, intravenös infun¬ 
diert. Beim Eintritt einer positiven Re¬ 
aktion zeigen sich folgende Symptome: 
Erblassen, Brustbeklemmung, dumpfes 
Gefühl im Kopf, Puls- und Respirations¬ 
beschleunigung, Kreuzschmerzen. Diese 
Reihe der primären Symptome, die in ein 
bis fünf M'nuten aufzutreten pflegen, 
zeigt Disharmonie von Geber- und Neh¬ 
merblut an. Die Reaktionsstärke kann 
durch das Infusionstempo beeinflußt wer¬ 
den. Nach 25 bis 40 Minuten werden 
sekundäre Zeichen wahrgenommen. Sie 
bestehen in Schüttelfrost, Gähnen, 
Schweißausbruch, Temperaturerhöhung. 
Bisweilen treten diese Sekundärzeichen 
auch nur allein auf. 



I 


Oktobe.r , Die Therapie der Gegenwart 1921 401 


Technik der Infusion. DieBrauch- 
barkeit einer Transfusionsmethode hängt 
in erster Linie von zwei Faktoren ab: 
Von der Einfachheit der Technik und der 
Möglichkeit, die übergeleitete Blutmenge 
quantitativ genau zu bestimmen. Die 
arteriovenöse Übeiieitungsmethode er¬ 
füllt diese Bedingungen nur unvollständig. 
Als Spendergefäß dient wohl allgemein 
die Arteria radialis. Nachdem Geber 
lind Nehmer auf zwei Tischen so neben¬ 
einander gelagert sind, das Kopf des 
Empfängers bei Fuß des Spenders und 
die Ellenbeuge des ersteren neben die 
Handbeuge des letzteren zu liegen kommt, * 
wird die Radialarterie des Gebers in ört¬ 
licher Betäubung dicht oberhalb des 
Handgelenks freigelegt, unterbunden, 
•durchtrennt und proximalwärts auf etwa 
10 cm Länge freipräpariert. Vor der 
Durchtrennung erfolgt dicht oberhalb der 
Ligatur der temporäre Verschluß, des Ge¬ 
fäßes durch eine federnde Gefäßklemme. 
Die Arterie soll möglichst schonend be¬ 
handelt werden, damit nicht durch Alte¬ 
ration der Intima Anlaß zur Begünsti¬ 
gung von Gerinnungsvorgängen gegeben 
wird. Häufig ist das Arterienrohr sehr 
•eng. Es empfiiehlt sich dann, von vorn- 
here'n eine Vene in der Armbeuge des 
Empfängers von annähernd gleichem Ka¬ 
liber auszuwählen, damit bei der Anasto- 
inosenbildung keine zu große Differenz 
der Gefäßlumina besteht. Ist es unmög¬ 
lich, eine kalibergleiche Vene zu finden, 
so ist es zweckmäßig, das Arterienrohr 
■etwas schräg zu durchtrennen, analog der 
Technik, wie sie bei der Vereinigung quer¬ 
schnittsungleicher Darmlumina gebräuch¬ 
lich ist. Die Anästhesielösung enthält am 
besten kein Adrenalin oder solches wenig¬ 
stens in sehr kleinen Mengen, damit zu 
starke Contractionszustände der Gefäße 
vermieden werden. Die Vereinigung durch 
die Gefäßnaht erfolgt durch die früher 
schon beschriebene Methode Carell- 
Stich. Es ist ratsam, die komniunizie- 
renden Gefäße während der Dauer der 
Transfusion mit warmer physiologischer 
Kochsalzlösung zu berieseln, damit eine 
Schrumpfung derselben durch Aus¬ 
trocknen an der Luft vermieden wird. 
Nach der Nahtvereinigung wird die Ver¬ 
schlußklemme der Arterie geöffnet. Jeder 
Pulsschlag des Spenders treibt nun eine 
gewisse Blutmenge in die Empfängervene 
hinein. Die zarte Venenwand bläht sich 
unter dem Drucke jeder Blutwelle, die 
hellrot durch sie hindurch ^ scheint, auf, 
•ein sicheres Zeichen für den ungestörten 


Bliitübertritt. Eine Rückstauung aus der 
Empfängervene her ist bisher nicht beob¬ 
achtet worden. Sie wird mit Sicherheit 
vermieden, wenn man das Arterienblut 
mit Gefälle in die Vene ein treten läßt, 
was man leicht durch Elevieren des 
Spenderarmes und Senken des Enipfäii- 
gerarmes erreichen kann. 

Das Tempo des Bluteinflusses darf, 
besonders zu Anfang der Transfusion, 
nicht ungehemmt sein, denn es sind beim 
schnellen Überfließenlassen größerer Blut¬ 
mengen — zumal bei Kindern — schwere 
Störungen der Herztätigkeit beobachtet 
worden, offenbar durch akute Dilatation 
des rechten Herzens bedingt. 

Neben anderen Bedenken ist ein 
Hauptnachteil des Verfahrens die Un¬ 
möglichkeit, eine exakte Messung der 
überfließenden Blutmenge durchzu¬ 
führen. Macht man die Dauer der Trans¬ 
fusion von der Reaktion des Spenders ab¬ 
hängig und überträgt ohne zahlenmäßige 
Bestimmung so viel, wie dieser ohne ernst¬ 
liche Schädigung Blut hergeben kann, so 
ist‘die Transfusion abzubrechen, wenn 
Ohrensausen, Schwindel, Gähnen, ver¬ 
tiefte, blasende Atmung oder gar Ohm 
macht auftritt. Einen besseren Anhalt 
gibt die vergleichende Beobachtung des 
Blutdruckes beim Spender und Empfän¬ 
ger. Der Pulsdruck des ersteren soll nicht 
unter 90 mm Hg Druckhöhe sinken, der 
des letzteren mindestens. 80 mm Hg er¬ 
reichen. Auf eine Reihe weiterer, aber 
auch als ungenau zu bezeichnender Me߬ 
methoden kann im Rahmen dieser Arbeit 
nicht eingegangen werden. 

Einfacher als die Anastomosierung 
durch arteriovenöse Naht ist die Methode 
Sauerbruchs. Hier wird die Spender¬ 
arterie — gleichfalls die Radialarterie — 
nur soweit freigelegt und mobilisiert, daß 
sie bequem in einen Längsschlitz der frei¬ 
präparierten, sonst unverändert gelas¬ 
senen Empfängervene proximalwärts ein¬ 
geschoben werden kann. Blutausfluß 
aus dem Venenschlitz oder Luftembolie 
ist bei guter Ausfüllung des Venenlumens 
durch die eingeführte Arterie nicht zu 
befürchten. 

Bei septischen Zuständen des Nehmers 
ist die unmittelbare Anastomosierung des 
Aus- und Einleitungsgefäßes wegen der 
Gefahr der Infektionsübertragung kontra; 
indiziert. In solchen Fällen können die 
Gefäße durch Schaltprothesen (Payer 
nimmt gehärtete Kalbsarterien, Eloesser 
einen dünnen Gummischlauch mit kurzen 
Glasklauen zum Einbinden in die Gefäße) 


51 







402 


Die Therapie der 


1 

miteinander verbunden werden. Sie 
müssen aber, weil sie eine vergrößerte 
Fläche für Gerinnselbildungen bieten^ 
eine besonders glatte Innenwandung ha¬ 
ben. Besteht keine Infektionsgefahr für 
den Geber, so können die Gefäße anstatt 
durch die zeitraubende Gefäßnaht durch 
Schaltstücke vereinigt werden, die eine 
genaue Adaption der Intimen beider Ge¬ 
fäße ermöglichen und im wesentlichen 
nach dem Prinzip der von der Gefäß- 
anastomosierung her bekannten Payer- 
schen Magnesiaröhrchen gebaut sind.' 

Eine wesentliche Vereinfachung der 
Technik bedeutet nun die Methode der 
veno-venösen Transfusion. Wir kön¬ 
nen Zwischen Verfahren unterscheiden, 
durch die unvorbehandeltes, und solchen, 
bei denen mit gerinnungshemmenden Sub-' 
stanzen versetztes Blut übertragen wird. 
Die Überpfla.nzung kann ferner direkt 
oder indirekt geschehen und schließlich 
ist eine Kombination beider Methoden 
möglich. Von den zahlreichen Varianten 
der veno-venösen Transfusionsmethoden 
soll hier nur diejenige genauer beschrieb*en 
werden, die am meisten Anspruch auf 
Brauchbarkeit erheben kann und auch 
von uns selbst erprobt worden ist, näm¬ 
lich die Blutübertragung von Vene zu Vene 
nach Oehlecker. Dieses Verfahren hat 
neben seiner einfachen Technik und Zu¬ 
verlässigkeit, den Vorzug der genauen 
Meßbarkeit der übergeleiteten Blutmenge. 
Es hat sich aus vielfachen, günstigen Er¬ 
fahrungen mit der Methode ergeben, daß 
ein prinzipieller Unterschied in der Ver¬ 
wendung arteriellen und venösen Blutes 
für Transfusionszwecke praktisch nicht 
besteht. Ein weiterer Vorteil ist, daß zu 
den beiden für unsere Zwecke notwendigen 
Antrieben des venösen Spenderblut¬ 
stromes — Stauung mittelst Staifbinde 
und verstärkte Muskelaktion durch Schlie¬ 
ßen und Öffnen der Hand — noch ein 
dritter, die Saugkraft einer eingeschalteten 
besonderen . Spritze kommt, durch’ die* 
Störungen des Blutzuflusses so gut wie 
ausgeschlossen werden. Der Oehlecker- 
sche Apparat besteht aus einem bogen¬ 
förmigen Metallrohr, dessen Halbteile 
von einem Zweiwegehahn mit einem An¬ 
satz für eine gut passende, 50 ccm fassende 
Luerspritze mit weiter Bohrung ausgehen. 
Von den beiden Armen führen kurze 
Gummischaltrohre zu zwei Glaskanülen, 
die zum Einbinden in die Venen bestimmt 
sind und in verschiedener Stärke vorrätig 
sein müssen. Die Transfusion geht 
folgendermaßen vor sich. Geber und 


Gegenwart 1921 Oktober 


Nehmer werden auf zwei Tischen so 
nebeneinander gefahren, daß Kopf bei 
Fuß und die Arme der gleichen Seite auf 
der Diagonalen eines zwischen beiden 
Lagern stehenden Zwischentischchens 
bequem liegen. Nunmehr wird unter 
örtlicher Betäubung eine Ellbeugenvene 
des unter gut abgestimmter Stauung ge-- 
haltenen Spenderarmes freigelegt und 
nach proximaler Unterbindung in sie 
distal die eine Glaskanüle eingebunden. 
Am Empfängerarm erfolgt die Ligatur 
der Vene distal und die Einbindung der 
anderen Glaskanüle proximal. Das ganze 
^Rohrsystem einschließlich der Spritze 
wird vor dem Gebrauch in einprozentiger 
Natriumcitricumlösung gekocht und mit 
der gleichen Lösung gefüllt. Während der 
Einführung der beiden Glaskanülen wird 
langsam Lösung ausgespritzt, so daß 
Luftansammlung im System vermieden 
wird. Bei richtiger Stauung des Spender¬ 
armes füllt sich nun die Spritze zumeist 
automatisch. So stark ist der Druck des 
gestauten Venenblutes. Durch entspre¬ 
chende Umstellung des Dreiwegehahnes 
kann Blut aus dem Geber angesogen 
und in den Empfängerkreislauf hinüber¬ 
gedrückt werden. Für d4e Überleitung 
von 50 ccm Blut sind 10 bis 15 Sekunden 
erforderlich. Die Spritzen können bei 
leichten Stockungen des Kolbenlaüfes 
gewechselt werden, nachdem das Ansatz¬ 
stück des Metallrohres durch Hahn¬ 
umstellung verschlossen ist. Jede neue 
Spritze enthält 5 ccm Natriumcitrat¬ 
lösung. Sie kann im allgemeinen drei bis 
fünfmal gefüllt werden, ohne daß sie aus¬ 
getauscht zu werden braucht. 

Technisch geringere Anforderungen 
ohne den Bedarf einer besonderen Appa¬ 
ratur stellen die indirekten Transfusions¬ 
methoden. Dafür aber haben sie den 
Nachteil, daß durch sie nicht unver¬ 
ändertes, natives Blut, sondern gewisser¬ 
maßen denaturiertes Blut übertragen 
wird. Man sollte annehmen, daß durch 
das zu seiner Ungerinnbarmachung not¬ 
wendige Defibrinieren oder seine Mi¬ 
schung mit gerinnungshemmenden Sub¬ 
stanzen das Blut in seiner physiologischen 
Zusammensetzung so sehr geändert würde, 
daß es dadurch weniger geeignet zur 
Transfusion sei. Dazu erfüllen diese 
Methoden die Hauptvorausseizungen für 
das Gelingen einer Transplantation — 
schnelle Übertragung und möglichste 
Schonung des Transplantates — nicht. 
Aber schließlich lehrt die Erfahrung, daß 
auch mit diesen Verfahren einwandfreie 





Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Erfolge zu erzielen sind: Um die Blut¬ 
gerinnung außerhalb der Gefäßbahn zu 
verhindern, gibt es zwei Hauptverfahren: 
Den Zusatz gerinnungshemmender Sub¬ 
stanzen und das Defibrinieren des Blutes. 
Eine ganze Reihe von Stoffen ver¬ 
mag gerinnungshemmend zu wirken. 
Bekannt ist diese Wirkung von den 
citronensauren, oxalsauren und meta¬ 
phosphorsauren Salzen, dem Trauben¬ 
zucker, dem Hirudin (Blutegelextrakt) 
11 . a. mehr. Am meisten wird für die 
Zwecke.der Transfusion seit Hustin das 
citronensaure Natron verwendet. Nach 
dem Vorgang von Levison werden von 
einer 1 bis 2%igen Lösung 10 ccm mit 
100 ccm Blut gemischt. Zur Transfusion 
ist außer dem Venaepunktions- oder 
Sektionsbesteck kein weiterer chirurgi¬ 
scher Apparat erforderlich. Durch Venae- 
punctio oder -sectio wird eine hinreichende 
Menge Spenderblut (500 bis 800 ccm) ent¬ 
leert. Es wird in einem sterilen, vorher 
mit Citratlösung ausgespülten Gefäß auf¬ 
gefangen, das am besten gleich mit dem 
erforderlichen Quantum Natriumcitrat¬ 
lösung beschickt ist. Durch Schwenken 
wird das Blut mit der Lösung gut ge¬ 
mischt und im Wasserbade auf Körper¬ 
temperatur gehalten. Einzelne Autoren 
(Dziembowski) schlagen das Blut noch 
hinterher, um sicher zu sein, daß sich 
keine Gerinnsel bilden. So vorbereitet 
kann die Blutmischung ganz nach Art 
einer gewöhnlichen intravenösen Infusion 
dem Empfänger einveiieibt werden. In 
der oben angegebenen Konzentration — 
auf das Blut bezogen 0,2% — ist eine 
toxische Wirkung des Citrates nicht zu 
befürchten. Brauchbar ist noch zur 
Gerinnungshemmung der von Hustin 
empfohlene Traubenzucker in 5 %iger 
Konzentration. Die anderen aitticoagu- 
lierenden, oben genannten Substanzen 
finden wegen ihrer toxischen Eigen¬ 
schaften keine Verwendung. 

Die Defibrinierung von Blut zu Trans¬ 
fusionszwecken wird so vorgenommen, 
daß das in einer erwärmten Schale auf¬ 
genommene Spenderblut fortgesetzt mit 
einem schaumschlägerartigen Instrument 
so lange geschlagen wird, bis sich kein 
Fibrin mehr an ihm absetzt. Ist dies der 
Fall, so wird das Instrument mit dem 
ihm anhaftenden Fibrin entfernt. Geeignet 
sind auch zwei häufig zu wechselnde 
Pinzetten. Danach wird das von Fibrin 
befreite Blut durch mehrfache sterile 


4da 


Gazelagen filtriert, wobei nach Oehl- 
eck er etwa 10% zu Verlust gehen. Bis 
zur Infusion müssen mindestens 40 Minu¬ 
ten vergangen sein, damit das bei der 
Fibrinausfällung sich bildende Fibrin¬ 
ferment unwirksam wird. Dieses wird 
als Ursache der nach der Transfusion 
nicht genügend abgestandenen, frisch- 
defibrinierten Blutes häufiger beobachte¬ 
ten Transfusiönskrankheit betrachtet. Das 
ursprünglich venöse Blut wird durch die 
längere Berührung mit der Luft zugleich 
ausgiebig arterialisiert. Die Einver- 
•leibung des defibrinierten Blutes geschieht 
gleichfalls nach Art der gewöhnlichen 
Infusion. 

Es bleibt schließlich als Abschluß der 
Besprechung der Methodik der Trans¬ 
fusion . die Schilderung der sogenannten 
Eigenbluttransfusion übrig: Sie wird un¬ 
genauerweise bisweilen auch als Auto¬ 
transfusion bezeichnet. Dieser Name ist 
Vorbehalten für die Verkleinerung des. 
Blutkreislaufes durch Auswickelung der 
Extremitäten bei schweren Blutverlusten. 
Der Vorschlag, den Verblutungstod bei 
Ruptur der schwangeren Tube durcb 
Rücktransfusion des in die Bauchhöhle 
ergossenen Blutes in das Gefäßsystem der 
Kranken zu verhindern, stammt von* 
Thies und Lichtenstein. Mehr als die 
Gynäkologen aber haben die Chirurgen 
diese Methode bei Brust- und Bauchhöhlen¬ 
blutungen angewendet. Die Technik ist 
relativ einfach. Das in der Brust- oder 
Bauchhöhle Vorgefundene Blut ist, soweit 
es flüssig geblieben ist, ungerinnbar. 
Blutergüsse in serösen Körperhöhlen ge¬ 
rinnen nur zu einem kleinen Teile und 
sehr verzögert.' Das in'sie ergossene Blut 
eignet sich deshalb vortrefflich zur Wieder¬ 
einverleibung in den Organismus. Das. 
Ausbleiben der Blutgerinnung von Blut¬ 
extravasaten in serösen Körperhöhlen 
kann dadurch erklärt werden, daß die 
Serosaepithelien ja den Gefäßendothelien 
gleichen und deshalb die Adhäsion zwi¬ 
schen den Serosaflächen und dem Blut 
unter den gleichen Verhältnissen wie in 
der geschlossenen Gefäßbahn ausbleibt. 
Es wird mittels eines Schöpflöffels in 
ein bereit gehaltenes, steriles Gefäß ge¬ 
füllt, zur Hälfte mit physiologischer Koch¬ 
salzlösung oder Ringerlösung verdünnt, 
durch ein Gazefilter geseiht und ohne 
weitere Präparation körperwarm, mit 
Hilfe eines gewöhnlichen Infusionsinstru¬ 
mentariums intravenös infudiert. 


51* 





404 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Oktober 


Bücherbesprecliungen. 


•Friedrich Voltz, Die physikalischen und 
technischen Grundlagen der Messung 
und Dosierung der Röntgenstrahlen. 
Mit 173 Abb. Berlin u. Wien 1921. Urban 
und Schwarzenberg. 48 M., geb. 66 M. 

Voltz, der sich schon durch seine Dosierungs¬ 
tabellen vorteilhaft bekannt gemacht hat, läßt 
•als VI. Sonderheft der „Strahlentherapie“ ein 
unfangreiches Buch über die Grundlagen der 
•Messung und Dosierung der Röntgenstrahlen er¬ 
scheinen. Während der theoretische Teil sich 
sehr eingehend mit den physikalischen Eigen¬ 
schaften der Röntgenstrahlen befaßt, stellt der 
praktische Teil, der die Messung der Qualität, der 
Quantität und die Messung der absorbierten 
Röntgenstrahlenenergie behandelt, eine Fund- 
:grube exakter Forschung dar, aus deren Ergeb¬ 
nissen der Röntgenologe reichen Nutzen ziehen 
wird. Wenn man bedenkt, bis zu welcher Genauig¬ 
keit die Dosierung des Heilmittels gelangt ist, so 
muß man nur bedauern, daß die Hauptkrankheit, 
bei der die Röntgenstrahlen angewandt werden, 
‘der Krebs, noch so viele Probleme in bezug auf 
Ursache und Verschiedenheit der Krankheit 
bietet. Die außerordentliche Mühe und Arbeit, 
‘die auf die Dosierungsfrage verwandt wird, ver¬ 
liert an Wert, wenn das Krebsproblem nicht durch 
‘eine technische Lösung der Bestrahlungsfrage 
•erledigt ist. Nur wenige Röntgenologen und Klini¬ 
ker werden aber die biologische Wertung des 
Krankheitsfalles ausschalten wollen. Andererseits 
kann nicht dringend genug davor gewarnt werden, 
mit hochwertigen Apparaten zu bestrahlen, ohne 
•die von Voltz verlangten Messungen und Er¬ 
wägungen zu berücksichtigen. Zum Schluß ver- 
'gleicht der Verfasser die verschiedenen Röntgen¬ 
strahlenmeßmethoden und beschließt sein Buch 
mit dem Hinweis, daß die Seitz-Wintzsche und 
die Krönig-Friedrichsche Methode die Grund- 
Sage für die Weiterentwicklung der Röntgen- 
estrahlung darstellt. Max Cohn. 

Josef Weiterer, Handbuch der Röntgen- 
und Radiumtherapie. Bd. II. Ein Lehr¬ 
buch für Studierende und Ärzte. München- 
Leipzig 1920. Otto Nemnich-Verlag. 

Es ist das unbestreitbare Verdienst des Ver¬ 
fassers, auch in dem vorliegenden zweiten Bande 
-eine Fülle kasuistisch-historischen Materials zu- 
:sammengetragen zu haben. Dadurch gibt er dem 
Röntgenologen ein quellenreiches Nachschlage- 
%verk in die Hand, in dem dieser sich über das 


Für und Wider der Strahlentherapie in den ein¬ 
zelnen medizinischen Disziplinen orientieren kann. 
Es fehlt die kritische Zusammenfassung der vielen 
zitierten Arbeiten, der organische Guß im Werke 
— darum ist es als Lehrbuch weniger geeignet. Als 
besonders gelungen möchte ich die Kapitel über 
die Haar- und Hauterkrankungen hervorheben, 
denen die reichen eigenen Erfahrungen des Ver¬ 
fassers zugute gekommen sind. Warum sind aber 
im Kapitel über maligne Tumoren und über 
gynäkologische Affektionen die Technik und die 
Erfolge der Erlanger Schule vollständig über¬ 
gangen ? Die Erfolge, die der Verfasser bei 
gonorrhoischen Arthritiden und bei geeigneten 
Fällen von chronischem Gelenkrheumatismus 
durch die Strahlenbehandlung erzielt hat, kann 
ich aus eigener .Erfahrung bestätigen. Die An¬ 
wendung der Röntgenstrahlen in diesen Fällen 
sei daher einem weiteren Kreise zur Nachprüfung 
empfohlen. Ca Im (Berlin). 

G.Bucky, Berlin, Anleitung zur Diathermie¬ 
behandlung. Mit 129 Abb. Berlin-Wien 
1921. Urban u. Schwarzenberg. 21 M. 

Das in einen theoretischen und einen prak¬ 
tischen Teil gegliederte Buch gibt in dem zuerst 
angeführten Abschnitte auch dem mit den elektro¬ 
physikalischen Gesetzen weniger Vertrauten eine 
sichere theoretische Grundlage über das Wesen 
der Diathermieströme, wie sie für die praktische 
Anwendung dieser Behandlungsmethode unerlä߬ 
lich ist. "Der praktische Teil, aus dem die reiche 
persönliche Erfahrung des Verfassers zu uns 
spricht, zerfällt in die allgemeine und spezielle 
Behandlungsmethodik; anhangsweise ist die chi¬ 
rurgische Anwendung der Diathermie abgehandelt. 
Durch einfachen, klaren Aufbau, der sich von 
theoretisch-komplizierenden Erörterungen fern¬ 
hält und nur das Wesentliche, in der Praxis Be¬ 
währte in leicht faßlicher Ausdrucksweise bringt, 
erfüllt das Buch den beabsichtigten Zweck, dem 
Praktiker ein guter Wegweiser zu sein. Gegen¬ 
über dem in der Vorrede vom Verfasser geäußerten 
Standpunkte, daß das Schriftchen allein jeden 
Arzt zur erfolgreichen Diathermiebehandlung be¬ 
fähigen soll, bin ich, trotz der Güte des Buches, 
der Meinung, daß praktische Erfahrung und Übung 
die conditio sine qua non für eine erfolgreiche 
Behandlung sind. Sie müssen in der Schule des 
Erfahrenen gewonnen werden. Dafür sprechen 
auch die Kapitel über Kontraindikationen und 
Schädigungen durch die Diathermie. 

Ca Im (Berlin). 


Referate. 


Auf Grund der guten Erfolge, welche 
'Seelmann mit der Terpentinbehand¬ 
lung der Adnexerkrankungen erzielt hat, 
stellt er sich die Aufgabe, auch den Grund 
dieser Heilwirkung zu eruieren. Das 
Resultat seiner Forschungen war die 
' Erkenntnis, daß nur dann eine Besserung 
respektive eine Heilung zu erzielen ist, 
wenn am Ort der Einspritzung eine Herd¬ 
reaktion entsteht, wobei er sich auf die 
Forschungen Biers über die Reiztherapie 
stützt. Von diesem Standpunkt aus muß 
•auch die Therapie geregelt werden. Es 


dürfen demnach nicht mehr eine Reihe 
von Einspritzungen in bestimmten Zwi¬ 
schenräumen gemacht werden, vielmehr 
ist geboten, mit der Terpentinbehandlung 
sofort abzubrechen, wenn Zeichen einer 
Herdreaktion (z. B. äußerst heftige 
Schmerzen im Bein, Lähmungsgefühl in 
der Wade usw.) auftreten. Die Zahl der 
zu dieser Reaktion notwendigen Spritzen 
ist individuell sehr verschieden; die chro¬ 
nischen Fälle erfordern im allgemeinen 
vier bis fünf Spritzen, während bei den 
akuten und subakuten Erkrankungen 






OJctob^r 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


405 


meist zwei bis drei genügen. Verboten ist 
bei , Herz- und Lungenkranken Terpentin 
zu injizieren. Über die eigentlichen Vor¬ 
gänge bei der Wirkung des Terpentins 
kann sich Seelmann nur hypothetisch 
äußern; ob dieses Mittel den Entzündungs¬ 
herd direkt reizt oder erst auf dem Um¬ 
wege von Zerfallsprodukten des körper¬ 
eigenen Eiweißes wirkt, ist noch nicht 
festgestellt. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(Zbl.f. Gyn. 1921, Nr. 4.) 

Das Entstehen der Analfissuren wird 
entweder auf eine Erosion oder das Ein¬ 
reißen des Analrandes durch einen harten 
Kotballen zurückgeführt. Dieser weit¬ 
verbreiteten Ansicht tritt Koßmann auf 
Grund von Beobachtungen an der Mainzer 
Hebammenlehranstalt entgegen, der als 
wichtigstes ätiologisches Moment die Ge¬ 
burtsschädigung ansieht, zumal schon 
die Anamnese auf einen solchen Zu¬ 
sammenhang hinweist. Als Zeitpunkt der 
Entstehung der Analfissuren muß das 
Ende der Austreibungsperiode angesehen 
werden: Der Afterring wird bis über 
Eünfmarkstückgröße erweitert, und seine 
Schleimhaut wulstartig hervorgewölbtund 
überdehnt, wobei ein Einreißen des vor¬ 
deren Pols des Analringes oft erfolgt. Im 
Laufe der Zeit verschlimmert sich der 
Zustand, zumal die Frauen Angst vor dem 
Stuhlgang haben; der intensive, bei der 
Entleerung entstehende und nachher noch 
stundenlang anhaltende Schmerz ist in 
diagnostischer Beziehung für die Anal¬ 
fissur wichtig gegenüber dem Defäka- 
tionsschmerz bei Hämorrhoiden und ent¬ 
zündlichen Affektionen der Rectum- 
gegend, der bald nach der Entleerung ver¬ 
schwindet. Was nun die Therapie anbe¬ 
trifft, so soll erst dann chirurgisch vor¬ 
gegangen werden, wenn Ölklistiere und 
Abführmittel neben örtlicher Ichthyol¬ 
oder Cycloformsalbenanwendung ver¬ 
sagten. Pulvermacher (Charlottenburg). 

(Zbl.f. Gyn. 1921, Nr. 36.) 

Über erfolgreiche Behandlung eines 
Falles von Gonokokkensepsis mit Me¬ 
ningokokkenserum berichtet Citron. 
Es handelte sich um eine mit Gelenk¬ 
rheumatismus beginnende Sepsis, die 
durch Salizyl- und Eucupinbehandlung 
unbeeinflußt blieb, und die durch Blut¬ 
aussaat als Gonokokkensepsis erkannt 
wurde. Patient hatte kurz vor der in- 
cipienten Gelenkerkrankung eine Gonor¬ 
rhöe gehabt, von der auch durch speziali- 
stische. Untersuchung lokal nichts mehr 


nachweisbar war. Blasenspülungen und 
intravenöse Injektionen von Jodkollargol 
blieben ohne Erfolg. Auf Grund der 
nahen Verwandtschaft zwischen Meningo- 
ünd Gonokokken wurde zweimal je 50ccm 
Meningokokkenserum eingespritzt.Danach 
schwand das Fieber sehr schnell und 
Patient wurde nach 14 Tagen geheilt 
entlassen. Der Fall weist von neuem auf 
die Bedeutung der bakteriologischen Blut¬ 
untersuchung hin, die den Fall aufklärte 
und den Weg zu einer zweckmäßigen 
Therapie zeigte. Zu beachten ist weiter¬ 
hin, daß Fälle von akutem Gelenkrheu¬ 
matismus, wenn sie ' aüf starke Salicyl- 
präparate nicht bald erfolgreich reagieren, 
hinreichend verdächtig auf Gonokokken¬ 
rheumatoid sind. C. hält die vorliegende 
Wirkung für eine specifische; eine un- 
specifische Wirkung nach Art der Pro¬ 
teinkörpertherapie hält er für ausge¬ 
schlossen, da das den Proteinkörperinjek¬ 
tionen entsprechende Jodcollargol wir¬ 
kungslos geblieben war. Seiler. 

(D. m.W. 1921,'Nr. 31.) 

H. Gödde macht aus dem Evangeli¬ 
schen Krankenhaus Oberhausen (Rhein¬ 
land) eine kurze Mitteilung über Lym¬ 
phangiome mit besonderer Berücksichti¬ 
gung des tiefen Sitzes am Halse: Es 
handelte sich um ein cystisches Lym¬ 
phangiom am Hals, das weit bis ins Me¬ 
diastinum hineinragte und durch Druck¬ 
erscheinungen Veranlassung zu Fehl¬ 
diagnosen gegeben hatte. Partielle opera¬ 
tive Entfernung brachte vollkommene 
Heilung. Es empfiehlt sich, wenn an¬ 
gängig, den Tumor im Anfangsstadium 
zu entfernen. Willibald Heyn (Berlin) 

(D. Zschr. f. Chir. Bd. 163, Heft 1/2, S. 135.) 

Zur Klinik der Lymphosarkoleukämie 

berichtet Th. Di ein er aus der Freiburger 
Universitätsklinik (Lexer) über einen 
entsprechenden Fall. Es handelt sich um 
einen 42jährigen Eisenbahnarbeiter, bei 
dem zunächst eine allgemeine Schwellung 
sämtlicher palpablen Drüsen zusammen 
mit einem lymphatisch-leukämischen Blut¬ 
bild auftrat. Später erfolgten Spon¬ 
tanfrakturen des Schenkelhalses beider¬ 
seits und der Wirbelsäule. Bei der Sek¬ 
tion ergab sich, daß der ganze lymphati¬ 
sche Apparat von einer sarkomatösen Er¬ 
krankung befallen war, die mit einem in¬ 
filtrierenden kleinzelligen Rundzellen¬ 
wachstum in Muskulatur und Knochen¬ 
mark einherging und die Spontanfrak¬ 
turen hervorgerufen hatte. Wegen des in 
vivo bestehenden leukämischen Blut- 



406 


Die. Therapie der Gegenwart 1921 


Oktober 


bildes faßt Diemer das Krankheitsbild 
unter den Begriff der Lymphosarko- 
leukämie zusammen. 

Das Literaturverzeichnis umfaßt 43 Ar¬ 
beiten. Willibald Heyn (Berlin). 

(D. Zschr. f. Chir. Bd. 163, Heft 1/2, S. 1.) 

Prof. Se Ite r in Solingen berichtet über 
seihe guten Erfolge mit Butolan gegen 
Oxyureit, das er bei 17 Fällen angewendet 
hat. , Er bezeichnet dieses Mittel als ein 
gut wirkendes und unschädliches, das 
die lästigen alten Kurmethoden über¬ 
flüssig macht. Butolan ist ein Karbamin- 
säureester des p-Oxydphenylmethans, das 
ähnlich wie Thymol ein substituiertes 
Phenol ist. Es schmeckt nicht schlecht, 
riecht auch nicht unangenehm und ruft 
keine Reizerscheinungen im Darmkanal 
hervor wie dieses. Man gibt dreimal täg¬ 
lich 0,2—-0,5 g, je nach dem Alter, für 
2—3 Tage, dann 1 Tag lang ein Abführ¬ 
mittel; sodann wird ein zweiter Turnus 
in derselben Weise angeschlossen. Nach 
14 Tagen Wiederholung der Kur. Die 
Vorsichtsmaßregeln gegen erneute Selbst¬ 
infektion, d. h. Reinhaltung der After¬ 
gegend (Badehose, Windel) müssen be¬ 
achtet werden. Klistiere werden nicht 
verwendet. Unangenehme Nebenerschei¬ 
nungen des Mittels hat S. nicht gesehen. 
Der Erfolg blieb in vier Fällen aus, bei 
denen eine erneute Selbstübertragung 
wahrscheinlich war. Seiler (Berlin). 

(D. m.W. 1921, Nr. 27. 

Die Röntgenbehandlung der Polycyt- 
hämie wurde von Böttner in drei Fällen 
angewandt. Der erste Fall wurde durch 
zwei Bestrahlungskuren auf die Unter-. 
Schenkel, Unter- und Oberarme, Brust¬ 
bein (Volldosen) und Milz (Reizdosen) 
völlig geheilt. Nach der Bestrahlung 
wurde Patient 1 % Jahr lang beobachtet. 
Er blieb beschwerdefrei, arbeitsfähig und 
hatte normalen Blutbefund. In zwei 
weiteren Fällen war der Bestrahlungs¬ 
erfolg weniger gut. Das Knochensystem 
wurde mit Volldosen bestrahlt, die Milz 
mit halber Hauteinheitsdosis. Die Haut¬ 
einheitsdosis war bei dem angewendeten 
Instrumentarium nach 50—60 Minuten 
Bestrahlung erreicht. Bei beiden Pa¬ 
tienten erfolgte auf Röntgen tiefenbe- 
strahlung des Knochensystems und der 
Milz ein Zurückgehen der Erythrozyten 
auf fast normale Werte und ein Kleiner¬ 
werden des Milztumors, aber eine Heilung 
wie beim ersten Fall blieb aus. Das Aus¬ 
bleiben der vollständigen Heilung bezieht 


B. auf die/bestehende iCjefäßdUatation 
der äußeren Haut und Schleimhäute, 
A^ilztumor usw. Es wäre denkbar, daß 
die kompensatorisch erweiterten Gef äßefm 
Verlaufe der Zeit durch die ständige 
Überdehnung die Fähigkeit verloren 
haben, sich auf die Weite des alten Ge¬ 
fäßlumens zurückzubilden. Wenn nun 
die Erythrocyten normale Werte wieder 
erreicht haben, dann könnte das weite 
Strombett eine kompensatorische Neu¬ 
bildung von.Erythrocyten veranlassen. 

An dieser Stelle sei auch der medi¬ 
kamentösen Therapie Erwähnung ge¬ 
tan, welche die überschüssigen Blutkör- 
pe.chen zu zerstören sucht. In solchem 
Bestreben gibt man nach Eppinger Phe- 
nylhydracin. Taschenberg hat einen 
Fall damit behandelt. Nach insgesamt 
7,25g Phenylhydracin per os während der 
Zeitdauer von zwei Monaten kam ein 
leichter Abstieg der Erythrocyten und 
Absinken des Hämoglobins, unter Ader¬ 
lässen Absinken von 14 Millionen auf 
6,5 Millionen der roten Blutkörperchen. 
Nach Wiederaufnahme der Phenylhydra- 
cintherapie mit geringerer Dosierung als 
früher kam es zu schwerer Anämie (eine 
Million Rote, 30% Hämoglobin) mit 
gleichzeitigem myeloischem Blutbild. 
Dabei kam es zu extremer Blässe, 
starken Oedenien an beiden Beinen, die 
zum Teil auf einer Nierenschädigung, zum 
Teil aber auch Thrombose beruhten, und 
schließlich Gangrän der Zehen des rechten 
Fußes. Nach Abklingen der schweren 
Symptome stieg das Blutbild wieder auf 
6 Millionen roter Blutkörperchen und 
95% Hämoglobin. Weitere Versuche mit 
Phenylhydracin blieben erfolglos. Phenyl¬ 
hydracin ist also nicht ungefährlich, 
während die Wirkung auf die Poly- 
cythämie sehr unsicher ist. 

Seiler (Berlin). 

(D. m. W. 1927, Nr. 27, S. 773 u. 774.) 

Die Brauchbarkeit des Tenosin als 
Secaleersatz hat Jaeger durch die 
klinischen Erfahrungen, welche mit den 
experimentellen Ergebnissen in allen 
wesentlichen Punkten übereinstimmen, 
in einer größeren Arbeit beweisen können. 
Gegenüber den Hirtentäschelpräparaten, 
welche zur Zeit im Handel sind, müssen 
diesem Mittel folgende Vorzüge züge- 
sprochen werden: gleichbleibende Zu¬ 
sammensetzung, Möglichkeit einer genauen 
Dosierung und eine prompte und gleich¬ 
mäßige Wirkung. Es hat sich bei den 
Untersuchungen herausgestellt, daß die 
Hoffnungen, welche man in die anderen 





Oictober 


Die Therapie der Gegenwart l02l 


407 


Präparate gesetzt hat, nur teilweise er¬ 
füllt wurden.-. Überdies ist ja immer daran 
zu denken, daß die synthetischen Secale- 
präparate gar nicht das Mutterkorn völlig 
verdrängen sollen, das doch sicherlich 
Wieder leichter zu haben sein wird. 


Außerdem können auch beide Mittel ganz 
gut nebeneinander bestehen, wie dies ja 
bei Digitalis und den Ersatzpräparaten 
schon lange "der Fall ist. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

' (Arch. f. Gynäk., Bd. 38.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Zur intravenösen Quecksilber=Salvarsanbehandlung der Lues. 

Von Dr. Siegfried Reines, Wien. 


Baccelli hat als erster im Jahre 1894 
die intravenöse Quecksilberbehandlung der 
Lues in Form intravenöser Sublimatinjek¬ 
tionen empfohlen. Trotz der günstigen 
Resultate hat sich die Methode nicht eiri- 
bürgern können, auch dann nicht, als die 
intravenöse Salvarsanbehandlung Gemein¬ 
gut der Ärzte geworden war. War es die 
größere Wirksamkeit der unlöslichen, für 
intravenöse Injektionen nicht verwend¬ 
baren Quecksilbersalze oder äußere Gründe, 
jedenfalls blieb man- bei der Kombination 
intramuskulärer Quecksilbereinspritzungen 
mit intravenösen Salvarsaninjektionen. 
Erst Linser hat im Jahre 1919 die kom¬ 
binierte Quecksilber-Salvarsanbehandlung 
der Lues wesentlich verändert durch Ein¬ 
führung seiner „einzeitigen“ Sublimat- 
Neosalvarsanbehandlung. Das Wesen 
dieser Methode besteht darin, daß frisch 
bereitete Mischungen von Sublimat und 
Neosalvarsan intravenös eingespritzt und 
jede andere Quecksilberbehandlung aus¬ 
geschaltet wird. Die therapeutischen Er¬ 
folge waren, wie auch andere Autoren 
bestätigen konnten, günstig. Immerhin 
haftete dieser Kombination der Nachteil ' 
an, daß der Patient nur eine relativ ge¬ 
ringe Gesamtmenge Quecksilber erhielt, 
deren Erhöhung durch größere Einzel¬ 
dosen nicht immer möglich war infolge 
der irritierenden, eventuell sogor oblite¬ 
rierenden Wirkung des Sublimats auf die 
Venenwand (Varicenbehandlung Linsers!). 
Es war daher sehr zu begrüßen, daß 
Bruck und Becher im Jahre 1920 das 
Salvarsan statt mit Sublimat mit Novasu- 
rol kombinierten und so für die neue 
Behandlungsart ein Quepksilberpräparat 
einführten, das auch in höheren Einzel¬ 
dosen ohne 'jede Venenschädigung ver¬ 
abfolgt werden konnte. Zieler und nach 
ihm eine Reihe anderer Autoren bestätigten 
die guten klinischen und serologischen 
Resultate sowie die Unschädlichkeit dieser 
intravenösen Novasurol-Neosalvarsan-Be- 
handlung. Im weiteren Ausbau der ein¬ 
zeitigen Quecksilber-Salvarsan-Behandlung 


wurden nun verschiedene,mehroder weniger 
naheliegende Modifikationen und Kom¬ 
binationen versucht, so das Neosalvarsan 
gegebenenfalls durch Silbersalvarsan er¬ 
setzt oder andererseits die bereits ge¬ 
nannten Quecksilberpräparate durch andere 
lösliche Quecksilbersalze, z. B. durch Em- 
barin, Cyarsal u. a. Immerhin scheint, 
soweit ich die Literatur übersehe, der 
Linserschen und der Bruck-Becher- 
schen Kombination die größte Aufmerk¬ 
samkeit zugewendet zu werden. Da sich 
meine Erfahrungen ebenfalls auf diese 
beiden Methoden beschränken, will ich 
kurz das für den praktischen Arzt Wich¬ 
tigste bezüglich Technik, Dosierung, An¬ 
wendungsweise U8W. mitteilen. 

Technik: Die Mischung wird selbstverständlich 
jedesmal frisch bereitet, und zwar am besten in 
der Spritze selbst. Das Neosalvarsan wird wie 
gewöhnlich in 5—8 ccm destillierten Wassers gelöst 
und dann in eine lO-g-Spritze aufgezogen. Sodann 
wird durch die Nadel die entsprechende Menge 
Novasurol oder Sublimat nachgesaugt. Ersferes 
kommt ausschließlich in sterilen Ampullen zu 
2,2 ccm in den Handel, die bei eventueller Ver¬ 
wendung einer geringeren Menge leicht wieder an 
der Bunsenflamme zugeschmolzen werden können. 
Auch für das Sublimat möchte ich unbedingt 
empfehlen, sich der überall erhältlichen sterilen 
Ampullen zu 1 ccm einer 1—2%igen Lösung zu 
bedienen; die für je eine Injektion meist ausreichen. 
Größere, nicht luftdicht verschlossene Quantitäten 
der Sublimatlösung vorrätig zu halten, scheint mir 
nicht ratsam. 

Ist nun die gründliche Durchmischung der 
beiden Flüssigkeiten durch mehrmaliges Um¬ 
schwenken der Spritze nach zirka einer halben 
Minute vollendet, so zeigt die Sublimat-Salvarsan- 
Mischung ein schwärzliches, die Novasurol-Salvarsan- 
Mischung ein je nach der Menge des verwendeten 
Novasurols lichteres oder dunkleres Grün. Die 
intravenöse Injektion selbst wird dann unter den¬ 
selben Kautelen ausgeführt wie die des^ dunklen 
Silbersalvarsans. Wer Erfahrung und Geschick 
in der Injektion des gewöhnlichen Neosalvarsans 
hat, wird au.ch bei der Injektion dunkelgefätbter 
Flüssigkeiten keine besonderen Schwierigkeiten 
finden. Jedenfalls soll der Mindergeübte beim 
Arbeiten mit der gewöhnlichen Spritze und Nadel 
erstere unmittelbar nach dem Einstich abnehmen, 
um sich vom Ausfließen des Blutes aus der Nadel 
zu überzeugen; das bloße Zurückziehen des 
Stempels bei aufsitzender Spritze wie bei der 
einfachen Neosalvarsaninjcktion möchte ich hier 



m 


^ t)ie Therapie der Gegenwart .19^1 


Oktober 


deshalb 'nicht raten, weil das einströmende Blut 
durch die dunkle Farbe der Mischung mehr oder 
weniger verdeckt wird. Auch während der ganzen 
Injektion ist peinliche Aufmerksamkeit nötig, um 
beim geringsten subjektiven oder’objektiven An¬ 
zeichen einer Quaddelbildung sofort aufzuhören. 

Dosierung: a) Einzeldosierung: Das Neosalvar- 
san wird steigend in der Dose II—III bis maxi- 
mum IV, also 0,3—0,45—0,6 verwendet (Silber- 
salvarsan 0,1—0,3). . Vom Sublimat habe ich 
niemals mehr oder weniger als 1 ccm einer 
1— 2%\gen Lösung verwendet, welche Dosis stets 
beschwerdefrei vertragen wurde. Mit der gleichen 
Dosis beginne man bei dem intensiver wirkenden 
Novasurol, um dann bald auf IV 2 ccm und 
schließlich auf die Volldosis von 2,2 ccm zu 
steigen. Diese einschleichende Dosierung des 
Novdsurols, das mehr Quecksilber zur Wirkung 
gelangen läßt als die entsprechende Menge Subli- 
ihat, vermeidet mit Sicherheit die geringgradigen 
Nebenerscheinungen (leichtes Fieber, Brechreiz), 
d.e sich manchmal einstellen können, wenn man 
gleich mit der Volldosis beginnt. 

b) Gesamtdosierung: Zu wenig Neosalvarsan 
ist schädlich! Es kann auf den Krankheitsprozeß 
irritierend wirken und den Boden für Neurorezi- 
dive aller Art und aller Stadien bereiten. Anderer¬ 
seits kann auch ein Zuviel an Neosatorsan die 
natürlichen Heilungsvorgänge des Organismus un¬ 
günstig beeinflussen. Eine Gesamtmenge von 
3—4,5 g Neosalvarsan, je nach Verträglichkeit, 
Alter, Geschlecht usw. dürfte stets ent prechen, 
wenn nicht besondere Indikationen, wie Abortiv¬ 
behandlung, Neurolues usw., vorliegen. Es werden 
also in der Mehrzahl der Fälle sieben bis 
maximum zehn Injektionen, gegeben in sechs- 
bis achttägigen Intervallen, für eine Kur voll¬ 
kommen genügen, wobei sich die Injektionszahl 
selbstverständlich auch nach der Größe der je¬ 
weiligen Einzeldosis des Neosälvarsans zu richten 
hat. 

Mit zehn derartigen Mischungsinjek¬ 
tionen wird also dem Organismus wohl 
eine nach unseren derzeitigen Erfahrungen 
vollkommen entsprechende Gesamtmenge 
Neosalvarsan einverleibt; wie verhält es 
sich aber mit der merkuriellen Kompo¬ 
nente? Die für eine Kur verbrauchte Ge¬ 
samtquecksilbermenge erscheint bei An¬ 
wendung der bloßen Mischungsinjektionen 
immerhin recht mäßig, wenn man in Be¬ 
tracht zieht, daß bei intramuskulärer 
Quecksilberbehandlung durchschnittlich 
15 2%ige Sublimatinjektionen ä 1 ccm oder 
ebenso viel Novasurolinjektionen ä 2,2 ccm 
gegeben werden. Eine reichliche Merku- 
rialisierung, die trotz mancher Gegner¬ 
schaft wohl ebenso nötig und nützlich 
ist wie eine entsprechende Menge.Salvarsan, 
wird also durch die Originalmethoden 
Linsers und Bruck-Bechers wohl nicht 
erzielt. Ich habe nun im Dezember 1920 
über eine Methode berichtet, welche zwecks 
ausgiebigerer Quecksilberzufuhr die Bruck- 
Becherschen einzeitigen Novasurol-Neo- 


salvarsan-Injektionen mit einer- Anzahl 
reiner, intravenöser Novasurolinjektionen 
kombiniert (W. m. W. 1920, Nr. 50). Man 
kann nach meinen Erfahrungen unbe¬ 
denklich vor und zwischen den einzelnen 
Mischungsinjektionen noch 8—10 intra¬ 
venöse Novasurolinjektionen, täglich oder 
jeden zweiten Tag (Dosierung siehe oben), 
geben. Dadurch wird eine rasche und 
kräftige Merkurialisierung erreicht, ohne 
den Patienten zu schädigen; denn das 
stark quecksilberhaltige und daher intensiv 
wirkende Novasurol wird rasch wieder 
ausgeschieden, so daß die Gefahr der 
Kumulierung nicht zu befürchten ist. Ein 
weiterer Vorteil liegt in der Sicherheit, 
durch einige vorausgeschickte Novasurol¬ 
injektionen eventuelle Reaktionserschei¬ 
nungen nach der ersten Salvarsandosis 
zu vermeiden. Solche sind manchmal, 
besonders bei frisch sekundären Fällen 
und ungenügender Vorbehandlung mit 
Quecksilber, zu gewärtigen und beruhen 
wahrscheinlich auf den plötzlichen, durch 
Salvarsan hervorgerufenen Zerfall größerer 
Mengen von Spirochaeten. 

Schließlich wäre noch anzuführen, daß 
von der Mehrzufuhr von Quecksilber sicher¬ 
lich eine Verstärkung und Stabilisierung 
des Behandlungseffektes zu erwarten ist. 
Die mit den Mischungsinjektionen kom¬ 
binierten Novasurolinjektionen sind also 
eine Art Sicherheitskoeffizient für das 
Endresultat, ohne dabei die Behandlungs¬ 
zeit zu verlängern. Dieser Umstand zu¬ 
gleich mit dem Vorteil der raschen und 
kräftigen Wirksamkeit läßt die in Rede 
stehende Kombination besonders für ab¬ 
ortive und sonstige dringende Fälle emp¬ 
fehlenswert erscheinen. 

Ich habe hiermit versucht, die rein 
intravenöse Behandlung der Lues, wie sie 
seit Linser im Flusse ist, kurz zu skiz¬ 
zieren. Ueber ihre klinische und serolo¬ 
gische Dauerwirkung läßt sich derzeit 
noch nichts Sicheres aussagen, ebenso¬ 
wenig, ob nicht die nachhaltige Wirkung 
der unlöslichen Quecksilbersalze, wie Ka- 
lomel oder graues Oel, die Vorteile der 
rein intravenösen Behandlung überwiegt. 
Diese Vorteile aber, unter welchen voll¬ 
kommene Schmerzlosigkeit, schnelle Wir¬ 
kung und Zeitersparnis an erster Stelle 
zu nennen sind, machen jedenfalls im 
Verein mit den bisher erzielten Resultaten 
eine gründliche Prüfung der hier geschil¬ 
derten Methoden wünschenswert. 


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Die Therapie der Gegenwart 

* 

1021 herausgejgeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer y© jxib6P 


' Nachdruck verboten. 

Diabetes und chirurgischer Eingriff i). 

Von Marius Lauritzen, Kopenhagen. 


Ich will zunächst auseinandersetzen, 
wie ich vom Standpunkt des Internisten 
die Indikationen für chirurgische Ein¬ 
griffe bei Diabetes zu stellen pflege und 
dann eine Orientierung über die spezielle 
Diagnose beim Diabetes geben und über 
die jetzige individualisierende Diät¬ 
behandlung dieser Kranken vor und 
nach der Operation. 

I. 

Die Besprechung der Indikationen 
vom internen Gesichtspunkt habe ich in 
zwei Abschnitte geteilt. 

A. Die Indikationen für chirurgische 
Eingriffe bei den eigentlichen diabetischen 
Komplikationen und 

B. Die Indikationen für chirurgische 
Eingriffe bei anderen Krankheiten der 
Diabetiker. 

A. Die eigentlichen diabetischen 
Komplikationen, um die es sich hier 
handeln kann, sind: 1. Furunkulose, sub- 
cutane Phlegmone und Karbunkel, 2. Ent¬ 
zündungen mit Gangrän an den Extremi¬ 
täten, 3. Cataracta diabetica, 4. Otitis' 
media diabetica s. necrotica, 5. diabetische 
Neuralgien und Neuritiden. 

Die diabetische Furunkulose heilte 
sehr bald unter einer antidiabetischen Be¬ 
handlung, die in kurzer Zeit die Glykos- 
Lirie und die Hyperglykämie zu be¬ 
seitigen vermag. Außer der Diät wende 
ich nur Bettruhe, trockene Verbände 
mit Borsäure und Spiritusabwaschungen 
an. Bei subcutaner Phlegmone oder Kar¬ 
bunkel kann natürlich die Incision indi¬ 
ziert sein, aber erst, wenn der Kranke 
hyperglykämiefrei gemacht ist. Da sich 
diese diabetischen Komplikationen meist 
in frischen Diabetesfällen finden, besteht 
hier keine Schwierigkeit, den Kranken 
schnell zuckerfrei zu machen; aber auch 
in nicht frischen, schweren Diabetesfällen 
mit Furunkulose ist es mir immer ge- 


1) Vortrag in der Dänischen ^ chirurgischen 
Gesellschaft in Kopenhagen.. Übersetzt von 
Dr. Misch, Charlottenburg. 


lungen, diese durch eine energische anti¬ 
diabetische. Kur und trockene lokale Be¬ 
handlung zu heilen. 

Entzündungen mit Gangrän an 
den Extremitäten begegnet man besonders 
bei älteren Diabetikern, nach jahrelanger 
Dauer der Krankheit und mangelhafter 
Behandlung. Hier muß man sich nicht 
von dem oft ganz hoffnungslos erscheinen¬ 
den lokalen Befund abschrecken lassen, 
sondern man muß sich volle Klarheit 
darüber verschaffen, welchem Grad von 
Diabetes man gegenübersteht. Die spe¬ 
ziellere Diagnose des Falles kann erst ge¬ 
stellt werden, wenn man einige Zeit diä¬ 
tetisch behandelt hat. Zeigt es sich, da(3 
man mit einer strengen Diät — die später 
besprochen werden soll — die Glykosurie 
und die Hyperklykämie beseitigen kann, 
so kann man selbst bei sehr ausgedehnten 
Entzündungen unter trockener Behand¬ 
lung die Demarkation und Ausheilung 
ganz ruhig abwarten. Selbst wenn es mit 
der Diät nicht ganz gelingt, eine vor¬ 
handene Acidose zu beseitigen, d. h., 
wenn Acetonurie und schwache Diacet- 
urie in saurem Urin und eine mäßige 
Acetonämie zurückbleibt (Totalaceton¬ 
konzentration von unter 0,15 pro mille 
mit der Widmarkschen Methode^) ge¬ 
funden), kann man doch die Heilung er- 
hoffen^). Nach erzielter Heilung muß man 
sehen, dem Kranken eine Diät -zu ver¬ 
ordnen, die ihn glykosurie- und hyper¬ 
glykämiefrei halten kann, und kann 
man seine Acidose nicht diätetisch unten 
halten, .muß man täglich Alkalien ver¬ 
ordnen (darüber s. später). 

Sieht man — nach einigen Wochen 
rationeller diätetischer Behandlung —, 
daß es nicht gelingen will, die Glykosurie 
und Hyperglykämie zu beseitigen, und 
daß die Acidose auf diese Weise auch, 
nicht in den erwähnten niedrigen Grenzen 
gehalten werden kann, muß man lieber 

2) Erik M. P. Widmark, Die Acetonkon¬ 
zentration im Blut, Urin und in der Alveolärluft 
(Lund 1917, S. 16). 

0 Vgl. G. Klemperer, Th. d. Geg. 1907, 
S. 24. 


52 





410 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Novßmber 


schnell sich entschließen, dem Patienten 
zu einer Amputation zu raten^). 

Die Amputation muß dann im Gewebe 
mit gesunden Arterien gemacht werden, 
da man sonst Gefahr läuft, später höher 
oben amputieren zu jnüsseri. 

Die Amputation kann bei einem so 
schwachen Kranken natürlich gefährlich 
^ sein. Wo, wie hier, stärkere Acidose be¬ 
steht, ist die Gefahr des Komas groß und 
Herzschwäche kann zu jeder Zeit ein- 
treten. Da der Zustand ohne Operation 
jedoch hoffnungslos ist, muß die Ampu¬ 
tation vorgenommen werden. 

In den Fällen, wo außer Diabetes 
chronische Nephritis besteht, kann es — 
selbst wo man einem leichteren Grade 
von Glykosurie gegenübersteht — schwer 
oder vielleicht unmöglich sein, Demar¬ 
kation oder Heilung'* einer gangränösen 
Entzündung zu erreichen. ' Zunächst ist 
die Hyperglykämie in solchen Fällen 
hartnäckig oder kann, überhaupt nicht 
beseitigt werden, und dann ist die Wider¬ 
standsfähigkeit des Gewebes gegenüber 
Bakterien bedeutend herabgesetzt, wenn 
längere Zeit Nephritis und Hypergly¬ 
kämie bestanden hat. 

Daher wird selbst in leichten Diabetes¬ 
fällen mit Gangrän, die durch Nephritis 
kompliziert sind, wo kein normaler Blut¬ 
zuckerprozent erreicht werden kann, die 
Indikation zur Amputation bestehen, die 
dann vielleicht das Leben des Kranken 
retten kann. 

Der diabetische Katarakt, der oph¬ 
thalmoskopisch nicht von anderen Kata¬ 
raktformen unterschieden werden kann, 
aber der schneller in seinem Verlauf ist, 
soll gerade in seinem Beginn von einem 
antidiabetischen Regime beeinflußbar sein, 
so daß eine leichte Trübung in der Linse 
sich aufhellt. Ich habe keine Erfahrung 
hierüber; aber es ist wahrscheinlich, daß 
eine diätetische Behandlung, die die 
Hyperglykämie verhindert, den Verlauf 
eines diabetischen Katarakts beeinflussen 
kann, so wie sie auf andere diabetische 
' Komplikationen günstig wirkt. Die In¬ 
dikation zur Operation entsteht ja erst, 
wenn der Katarakt reif und wenn Agly- 
kosurie und normaler Blutzuckerprozent 


V. Noor den teilt jedoch einen Fall von 
Gangrän zweier Zehen und einer gangränösen 
Entzündung des Mitteifußes mit, wo er und ein 
anderer Kliniker und zwei erfahrene Chirurgen zur 
sofortigen hohen Unterschenkelamputation rieten. 
Patient lehnte die Operation ab. Nach vier Wo¬ 
chen kam es zur Demarkation und das zerstörte 
Gewebe wurde samt Knöcheln abgestoßen. Der 
Fuß blieb gebrauchsfähig. 


erreicht ist. Da der Katarakt meist bei 
älteren Diabetikern und in Fällen ohne 
Acidose vorkommt, wird die Operation 
in der Regel nicht kontraindiziert sein. 
Bei einem 26jährigen jungen Mädchen 
mit schwerem Diabetes und. doppelseiti¬ 
gem Katarakt, die ich einige Jahre lang 
ab und zu sah. War eine Operation aus¬ 
geschlossen. Sie starb im Koma. 

• Otitis media diabetica s. necro- 
tica mit Neigung zu schnellem Knochen¬ 
zerfall im Processus mastoideus ist eine 
sehr ernste diabetische Komplikation, die 
eine energische diätetische, Behandlung 
und zeitigen chirurgischen Eingriff er¬ 
fordert. 

Otitis nVed. suppurativa bei Dia¬ 
betikern kaiin einen hartnäckigen Verlauf 
haben und. mahnt, den Kranken ständig 
glykosurie- und hyperglykämiefrei zu 
halten, um chirurgisches Eingreifen zu 
vermeiden. 

Neuralgien, die eine häufige diabeti¬ 
sche Komplikation sind, sind bekanntlich 
ein äußerst dankbares Feld für eine recht¬ 
zeitig angewandte diätetische Behandlung, 
besonders, weil Neuralgien vorzugsweise 
bei älteren Leuten mit leichteren Graden 
von Diabetes auftreten. Die diabetische 
Neuralgie ist meist doppelseitig, aber 
ähnelt im übrigen den Neuralgien anderen 
.Ursprungs. In frischen Fällen schwindet 
eine diabetische Neuralgie unter Bett¬ 
ruhe sehr bald, wenn die Glykosurie und 
Hyperglykämie beseitigt ist. In solchen 
Fällen handelt es sich wohl nur um auf 
'toxischer Basis entstandene Nerven¬ 
schmerzen. In anderen Fällen, wo viel¬ 
leicht eine eigentliche Neuritis mit Zer¬ 
störung des Nerven besteht, oder bei 
Neuralgie in sehr schweren Graden von 
Diabetes, wo man die Hyperglykämie 
nicht dauernd entfernen kann, ist kaum 
Hoffnung auf Heilung auf diätetischem 
Wege. 

Wieweit in. diesen letztgenannten Fäl¬ 
len sich eine Indikation für chirurgische 
Behandlung ergeben kann, kann ich nicht 
entscheiden; ich hatte niemals Gelegen¬ 
heit, chirurgisch behandelte Fälle zu 
sehen. 

B. Indikation zu chirurgischen 
Eingriffen bei anderen Krankheiten 
der Diabetiker. 

Als eine Hauptregel darf man hier 
wohl aufstellen: Vermeide Operationen 
an Diabetikern und besonders Opera¬ 
tionen mit Narkose. Ich denke hierbei 
zunächst an Operationen, die aus kos¬ 
metischen und ähnlichen Gründen vor- 





411 


'November. ' * Die Therapie der Gegenwart 1921 


genommen werden; z. B. an Operation | 
von Deformitäten, gutartigen Geschwül¬ 
sten, Hernien, Struma; dann an Operation 
wegen Akromegalie, adenoiden Vege¬ 
tationen, Morbus Basedowii, Basedowoid, 
Lithiasis, Fissura ani, Hämorrhoiden und 
Strikturen. 

Abweichungen von dieser Hauptregel 
gibt es zweierlei Art: 

1. Die Fälle, wo der Diabetes so leichten 
Grades ist, daß man den Kranken ohne 
Schwierigkeit frei von Glykosurie, Hyper¬ 
glykämie und Acidose vor und nach der 
Operation halten kann, und wo sonst 
keine Kontraindikation für die Operation 
(Mb. cordis, Nephritis) vorliegt, und wo 
man universelle Narkose vermeiden kann. 

2. Die Fälle, wo die komplizierende 
Krankheit des Patienten solcher Art oder 
solchen Grades ist, daß man versuchen 
muß, den Patienten operativ von seinem 
Leiden zu befreien. 

Bei der Art der Krankheit dreht es 
sich natürlich um maligne oder suspekte 
Tumoren, incarcerirte Hernien, Darm- 
invagination, akute Appendicitis, akute 
Osteomyelitis. . 

, Bei dem Grad der Krankheit handelt 
es sich um: große adenoide Vegetationen, 
schwere Fälle von Struma, Mb. Basedo¬ 
wii, Lithiasis, die durch andere Behand¬ 
lung nicht wesentlich zu bessern oder zu 
beheben sind. 

C. Als Anhang zu diesem Abschnitt 
sollen operative Eingriffe bei graviden 
Diabetikern besprochen werden. Meiner 
Erfahrung nach haben Diabetiker, die 
gravide werden — bei der gleichen Diät — 
stärkere Acidose als außerhalb der Gra¬ 
vidität. Das ist ein Faktor, mit dem man 
bei operativen Eingriffen bei diesen 
Kranken rechnen muß, und man mirß 
so weit wie möglich eine Operation an 
Diabetikern während der Gravidität 
vermeiden. Aber auch die sonst un¬ 
schuldige ,Schwängerschaftsglykosurie‘, 
wo sich keine Hyperglykämie findet, 
mahnt zur Vorsicht bei operativen Ein¬ 
griffen, weil auch diese sonst gesunden 
Menschen eine auffallend stärkere Neigung 
zur Acetonurie als gesunde Leute haben. 
Sie scheiden oft Aceton im Urin bei einer 
Kohlehydratzufuhr aus, die sonst immer 
die Acetonurie zu verhindern vermag. 

Auf die Frage der Unterbrechung der 
Gravidität will ich hier nicht näher ein- 
gehen, sondern nur sagen, daß meine Er¬ 
fahrungen in die Richtung gehen, daß, 
wenn eine «Diabeteskranke nur gleich bei 


Beginn der Gravidität unter richtige anti¬ 
diabetische Behandlung kommt, die Gra¬ 
vidität selbst in schwereren Fällen nor¬ 
mal verläuft. Nur soll man ^ mit Rück¬ 
sicht auf die Neigung zur Acidose — 
vorsichtig mit der plötzlichen Entfernung 
der Kohlehydrate der Kost sein. 

Die Behandlung nach dem Partus soll 
ebenso sorgfältig wie während der Gra¬ 
vidität sein, da es sonst leicht zu einer 
Verschlimmerung des Diabetes kommen 
kann. 

H. . 

Vor der Besprechung der diäteti¬ 
schen Behandlung halte ich es für nötig, 
etwas über die spezielle Diagnose beim 
Diabetes zu sagen^J. 

In den Fällen, ^ wo der Kranke im 
Augenblick keine Glykosurie hat, oder 
wo der Urin nur eine ganz schwache Re¬ 
aktion bei den Reduktionsproben gibt, 
wo aber der Patient angibt, früher Glykos-' 
urie gehabt zu haben, muß man vor einer 
Operation sich die Diagnose durch Ver¬ 
abfolgung einer gemischten, zuckerreichen 
Mahlzeit sichern und dann auf Glykosurie 
untersuchen. Kann dabei gleichzeitig 
eine Blutzuckerbestimmung vor der Mor¬ 
genmahlzeit gemacht werden, so ist das 
das beste; denn Patienten, die jahrelang 
intermittierende leichte Glykosurie ge-- 
habt haben, können gut — besonders wa 
eine Albuminurie oder Nephritis besteht 
— . eine recht starke Hyperglykämie 
haben. 

Gerade umgekehrt können die Ver¬ 
hältnisse in frischen Diabetesfällen 
liegen, wo man wohl recht hohe Glykosurie 
nachweisen kann, aber wo die Hyper¬ 
glykämie (bei nüchternem Magen) fehlt, 
das heißt, wo die Glykämie im Augenblick 
so niedrig ist, daß man versucht ist, zu 
glauben, daß der Patient nicht einen 
richtigen beginnenden Diabetes hat, son¬ 
dern eine einfache Zuckerausscheidung 
ohne Hyperglykämie oder wie einige das 
zu nennen lieben, einen ,,renalen Dia¬ 
betes“. In einem solchen frischen Dia¬ 
betesfall kann man nach einer Operation 
in Narkose durch eine Vermehrung der 
Glykosurie und Glykämie und folgendes 
Auftreten einer bedeutenden Acidose un¬ 
angenehm überrascht werden. 

") Mit Rücksi^t auf die Differentialdiagnose 
der verschiedenen Zuckerarten, die im Urin auf- 
treten, möchte ich mir erlauben, auf meine Ab¬ 
handlung hinzuweisen: Om Sukkerudskilning 
i Urinen og dens Forhold til Livs- og Ulykkes- 
forsikring. Nord.- Tidskr. t, Terapi, VI. Aarg. 
1907—08 und Ugeskrift f. Laeger, 1908. 

52* 





412 


Die Therapie der 


Bei der einfachen chronischen 
Glyko surie ohne Hyperglykämie (bei 
nüchternem Magen) oder dem sogenannten 
„renalen Diabetes'* wird man kaum durch 
eine pbstoperative, für den Kranken ge¬ 
fährliche Verschlimmerung der Krank¬ 
heit überrascht werden. Aber ich habe 
in solchen unzweifelhaften Fällen von 
„renalem Diabetes" die Heilung der 
Wunde sehr langsam und unter, nach 
Aussage des Operateurs, abnormem Ver¬ 
lauf vor sich gehen sehen. Es handelte 
sich hier um Operationen wegen Appen- 
dicitis. 

Die einfache transitorische Glyko- 
surie nach Traumen sieht man ja be¬ 
sonders auf chirurgischen Abteilungen. 
Sie kann in zwei Gruppen geteilt werden: 

1. Die transitorischen Glykosurien, die 
nach Schädeltraumen, besonders des Hin- 
terhaupi.ts entstehen. Sie zeigen sich sehr 
bald (bis zwei bis drei Wochen nach dem 
Trauma) und beginnen mit Polyurie, die 
manchmal länger als die Glykosurie 
dauert. Der Verlauf ähnelt der experi¬ 
mentellen Glykosurie Claude Bernards. 

2. Die transitorischen Glykosurien bei 
Frakturen der Extremitäten und der 
Wirbelsäule. Die Glykosurie dauert 
wenige Tage oder höchstens eine Woche 
und ist nur selten von Polyurie be¬ 
gleitet. 

Wenn solche transitorischen Glykos¬ 
urien chronisch werden und den Charak¬ 
ter der diabetiscjaen Glykosurie anneh¬ 
men, ist dieser Übergang vielleicht nur 
scheinbar; es hat sich vorher um einen 
latenten Diabetes gehandelt, der sich 
nach dem Trauma offenbart, oder es hat 
sich nur Diabetes entwickelt, weil das 
Trauma ein dazu disponiertes Indivi¬ 
duum traf. Die Anamnese muß dann 
Aufklärungen geben, ob früher diabetische 
Symptome oder Komplikationen vor¬ 
handen gewesen. 

Schließlich kommen’ wir zu den aus¬ 
gesprochenen Fällen von Diabetes 
mit den verschiedenen Graden von Glykos¬ 
urie und ohne oder mit dauernder Aci- 
dose. 

Klinisch tritt die diabetische Acidose 
in verschiedenen Graden auf: leichte, 
mittlere und starke Acidose, die natürlich 
keine ganz scharfen Grenzen haben: 

1. Bei leichter Acidose gibt der Urin 
positive Legalsche Reaktion auf Aceton, 
quantitativ bis zu 0,5 g. Die Gerhardt- 
sche Reaktion auf Diacetsäure ist in der 
Regel ganz schwäch, hängt aber ja von 


Gegenwart 1921 November' 


der Größe der Diurese ab. Die Ammo¬ 
niakmenge®) ist fast 1 g. 

2. Bei mittelstarker Acidose ist die 
Acetonurie. recht stark (1 g) und die 
Gerhardtsche Probe gibt eine kräftige 
burgunderrote Farbe. Die Ammoniak¬ 
menge ist 2—3 g. Im Blut findet man 
mit Widmarks Methode über 0,15 % 
Totalaceton. . 

3. Bei kräftiger Acidose findet man 
starke Gerhardtsche Reaktion, so daß 
die Flüssigkeit undurchsichtig ist. Die 
Ammoniakmenge ist über 4 g. Die Aceton¬ 
konzentration des Biutes liegt zwischen 
0,15—0,30 %• 

Bei Acetonkonzentration von über 
0,30 % kann es sich schon um drohendes 
Koma handeln. 

Bei leichteren Graden von diabetischer 
Glykosurie besteht bekanntlich keine 
dauernde Acidose, aber man kann,auch 
hier vorübergehende Acidose antreffen, 
wenn der Patient auf Eiweißkost und 
Fett oder auf Hunger gesetzt ist, genau 
so wie man das bei gesunden Menschen 
sieht. 

Die Zugabe von mehr Eiweiß oder 
Zulage von Kohlehydraten wirkt hier 
ebenso wie bei gesunden Menschen: die 
Acetonurie schwindet'^). 

Bei schwereren Graden von diabeti¬ 
scher Glykosurie finden wir also die 
dauernde Acidose, die noch eine Zeitlang 
durch Diät beseitigt werden kann, die 
aber früher oder später wieder inren 
Lauf nimmt und in ihrem Wesen pro¬ 
gredient ist. 

Vom innerniedizinischen Standp^unkt 
scheiden wir scharf sowohl diagnostisch 
und prognostisch wie auch therapeutisch 
zwischen diesen beiden Kategorien: Dia¬ 
betes ohne dauernde Acidose und Dia¬ 
betes mit dauernder Acidose, Weil Ver¬ 
lauf und Diät so verschieden sind. Aber 
vom praktisch-chirurgischen Standpunkt 
meine ich, daß man die Grenzen nicht so 
scharf ziehen soll, daß man glaubt, dia¬ 
betisches Koma ist ausgeschlossen bei 
Diabetes ohne Acidose. 

Die Erfahrung zeigt nämlich, daß ein 
leichterer Diabetesfall nach einem chi¬ 
rurgischen Eingriff in Narkose (und be- 


Die Bestimmung erfolgt am schnellsten mit 
Biorn-Andersens und M, Lauritzens Titrie¬ 
rungsmethode (C. Neuberg: Der Harn, I. Teil, 
1911, S. 97—98), 

Vorübergehende Acidose trifft man auch 
bei leichtem Diabetes, wenn eine fieberhafte Er¬ 
krankung oder eine fieberhafte Entzündung vor¬ 
liegt. ' « 




l^oveiTiber 


413 


Dk Therapie der Gegenwart ;192T 


isonders in Chloroformnarkose) den Cha¬ 
rakter wechseln , und mit einer Acidose 
:auftreten kann, die, vernachlässigt, mit 
•einem diabetischen Koma enden kann. 

Und andererseits soll ein leichterer 
Grad von Acidose die Operation nicht 
köntraindizieren, weil die moderne Be- 
Tiandlung des diabetischen Komas die 
Acidose derart zu bekämpfen vermag, 
•daß der chirurgische Eingriff ohne Le¬ 
bensgefahr für den Patienten gemacht 
werden kann. 

Die sichere Diagnose der Klassifika¬ 
tion eines Falles kann nicht durch eine 
.-ganz kurze Beobachtung gestellt werden, 
man muß vielmehr den Patienten einige 
Zeit diätetisch behandelt haben, um zu 
^entscheiden, welchen Grad diätetischer 
Glykosurie er hat und zu welcher Gruppe 
er gehört: ob es ein Diabetes ohne dauernde 
oder mit dauernder Acidose ist. 

III. 

Die diätetische Behandlung des Dia¬ 
betes hat infolge zahlreicher klinischer 
Versuche und langer Stoffwechselver¬ 
suche sich in den letzten Dezennien zu 
der jetzigen individualisierenden Behand¬ 
lung entwickelt. 

In den neunziger Jahren und gegen 
den Jahrhundertwechsel trat ein großer 
Fortschritt in der Diabetestherapie ein, 
da wir allmählich die schweren Diabetes¬ 
fälle so zu behandeln lernten, daß sie 
sich jahrelang glykosuriefrei und frei von 
Hyperglykämie und Acidose oder wenig¬ 
stens stärkeren Graden von Acidose 
halten. 

Einer der Gründe für den starken 
Umschwung in den Resultaten war, daß, 
•während diese Kranken früher — infolge 
einer verkehrten Auffassung ihres Stoff- 
'wechsels — mit Nahrung und besonders 
mit Eiweißstoffen überladen wurden, 
jetzt in ihrer Diät das Kostminimum und 
•speziell die Eiweißration bekomrren, die 
für den Krankheitsgrad jedes einzelnen 
Kranken geeignet ist. 

Fortlaufende Versuche^ im Beginn 
-dieses Jahrhunderts lieben nämlich ge¬ 
zeigt, daß die Eiweißmenge der Diät und 
die ganze Kostratiofi in den progredienten 
Diabetesfällen allmählich derart einge¬ 
schränkt werden muß, daß die Kranken 
mit den schwereren Graden von Diabetes 
nur 5 bis 6 g N und in den schwersten 
Krankheitsgraden nur 3 bis 4g N in vier¬ 
undzwanzig Stunden ausscheiden dürfen, 
und daß solche Patienten nur das Kost- 
m in im um bekommen dürfen, das ihr 


Gewicht bewähren oder jähen Gewichts¬ 
verlust verhindern kann. 

Meiner Erfahrung nach gibt es bei 
schwerem Diabetes kein konstantes Ei-. 
Weißminimum, sondern es ist das die 
Proteinmenge in der Kost, bei der der 
Patient im gegebe^n Augenblick frei 
von Glykosurie und Hyperglykämie ist 
und so geringe Acidose wie möglich hat. 

Durch Kombination dieser Protein¬ 
menge mit der Fett- und Kohlehydrat¬ 
menge (in- Form von Gemüse und even¬ 
tuell Wurzelfrüchten und eiweißarmem 
Brot, die im einzelnen Fall paßt, hat man 
die für den Patienten ideelle Diät. Denn ^ 
die praktische' Erfahrung zeigt, daß diese 
Kranken sich jahrelang bei einer solchen 
Diät am besten befinden, ohne Hyper¬ 
glykämie und.arbeitsfähig sind und nicht 
die diabetischen Symptome bekommeri, 
die von einer mit Kohlehydraten und ' 
Eiweißstoffen überladenen Diät hervor¬ 
gerufen werden. 

Ein anderer Grund der neuerdings 
verbesserten Behandlung der schwereren 
Diabetesgrade ist die regelmäßigere An¬ 
wendung von V. Noordens Gemüse¬ 
tagen (grüne Gemüse, Butter, Speck, 
Rotwein und eventuell Kognak), die er 
1898 an Stelle der Cahtani-Naunyn- 
schen Hungertage einführte, um einen , 
bestehenden Rest von Glykosurie und 
Hyperglykämie Zu entfernen und die 
etwas später eingeführte Hafersuppen¬ 
diät, die, kombiniert mit Gemüsetagen 
oder Hungertagen, sich in nicht allzu 
vorgeschrittenen Fällen als vorteilhaft 
erwiesen hat, wo sich plötzlich stärkere 
Acidose und drohendes Koma zeigte. 

Vor etwa sieben Jahren machte ich 
auf der Klinik den Versuch, unter Bett¬ 
ruhe mehrere Tage hintereinander strenge 
Gemüsediät (grüne Gemüse mit Butter, 
Bouillon, Rhabarberkompott und danach 
^Zulage von Speck) anzuwenden, um 
schnell die Glykosurie, Hyperglykämie 
und Acidose zu entfernen. 

Dieser Modus hat sich als praktisch 
in Fällen erwiesen, wo diabetische Kom¬ 
plikationen wie Gangrän, Entzündungen, 
akutes Ekzem bestanden, oder wo stei¬ 
gende Acidose infolge Überernährung mit 
eiweißreicher Kost vorhanden war. 

1915 schlug der Amerikaner Allen 
die Anwendung prolongierten Hungers 
oder Fasten (Kaffee, Whisky, Soda¬ 
wasser) vor, um in schwereren Fällen die 
diabetischen Symptome schnell zu be¬ 
seitigen. 





414 


Dk Therapie dej Gegenwart 1921 


Mövemheir; 


Bei vergleichenden Versuchen auf 
meiner Klinik hat es sich herausgestellt, 
daß die strenge Gemüsediät im wesent¬ 
lichen prompt wie der prolongierte Hun¬ 
ger wirkt, und da sie leichter durchführ¬ 
bar ist und von nervösen Patienten besser 
bei Bettruhe vertragen wird, ziehe ich 
die Anwendung der Gemüsekur vor; aus 
Mitteilungen der letzten Zeit aus unseren 
Krankenhäusern ersehe ich übrigens, daß 
man auch dort jetzt die Qemüsekur dem 
prolongierten Hunger vorzieht. 

Aber es kann doch Fälle geben, wo 
es zweckmäßiger oder sogar notwendig 
ist, einige Hungertage anzuwenden. Dar¬ 
über später. 

Wir wollen nunmehr sehen, wie man 
die Diabetiker in chirurgischen Fällen 
diätetisch behandeln soll. 

A. Diätbehandlung bei diabeti¬ 
schen Komplikationen. 

. Bei einem Kranken, der einen leichten 
Grad von Diabetes ohne Nephritis und 
ohne dauernde Acidose zu haben scheint 
und der eine der oben erwähnten diabe¬ 
tischen Komplikationen hat: Furunku¬ 
lose, Karbunkel oder Gangrän, ist es 
ratsam, sofort — unter Bettruhe und 
trockenen Verbänden, eventuell mit Pul¬ 
ver — strenge Gemüsediät zu verordnen: 
'50Ö g grüne, gekochte Gemüse (mit 2 bis 
5 % Kohlehydrate im rohen Zustand), 
30 bis 60 g Butter, 75 bis 150 g Rhabarber¬ 
kompott mit Saccharin gesüßt, ein bis 
zwei Tassen Bouillon und Tee, Kaffee, 
SodaW-asser und ein bis zwei Glas Rot¬ 
wein. 

Im Laufe weniger Tage schwindet die 
Glykosurie und Hyperglykämie, in älteren 
Fällen kann es etwas länger dauern, bevor 
die Hyperglykämie schwindet. In leichten 
Fällen — von denen hier die Rede ist — 


kann man sehen, daß der Urin, der früher 
frei von Aceton und Diacetreaktion war,, 
jetzt diese ’ Reaktionen gibt, aber sie- 
schwinden sofort wieder, wenn die Kost¬ 
rationen vermehrt werden. N im Uriit 
fällt von der eventuellen Höhe (13 bis- 
18 g) gradweis bis zu 5 bis 8 g herab. 

Das Körpergewicht sinkt um 1 kg: 
O-der mehr, in anderen Fällen bleibt das 
Gewicht unverändert; es kann steigen,,, 
wenn der Patient mit der Gemüsediät 
zuviel Salz ißt oder doppelkohlensaures. 
Natron bekommt, was Wasserretention. 
veranlaßt. 

Der Übergang von der Gemüsediät 
zur mehr gemischten, für den Patienten 
geeigneten Diabetesdiät muß langsam 
vor sich gehen. 

In den leichteren Fällen ist die erste 
Zulage zur Gemüsediät Eiweiß: ein bis- 
zwei Eier, 50 g Braten oder Fisch, dann 
durchwachsener Speck 25 bis 50 g bis 
zu 100 g und schließlich, an Stelle eines 
Teiles des Gemüses oder zusammen mit 
diesem 30 bis 45 g Glutenbrot (mit 20%. 
Kohlehydrate und 25% Eiweiß), Mit der 
Vermehrung der Kostrationen schwindet 
in diesen Fällen allmählich die .Diacet¬ 
reaktion und das Aceton aus dem Urin,, 
und N im Urin und Faeces entspricht nun 
dem eingeführten Proteinstoff oder ist 
geringer als dieser. 

Täglich Wird die Zuckerreaktion des 
Urins mit der Almen-Nylanderschen 
Probe gemacht; ist auch nur Andeutung 
von Färbung des Phosphatbodensatzes, 
muß ein strenger Gemüsetag eingeschobeii 
werden und dann wieder langsame Stei¬ 
gerung mit Zulage. 

Ein erhöhter Blutzuckerprozent, d. h. 
über 0,08'bei einer solchen Kost, indiziert 
einen strengen Gemüsetag oder einen: 
Hungertag. 


Tabelle 1. 


H. N.-P., 30 Jahre alter Mann. Diabetes, Acidosis (Bettruhe). 


Datum 



Urinzucker 

g 

Blutzucker 

% 

Ammoniak 

g 

N 

g 

Gewicht 

kg 

30. Juni 

Gemischte Kost. . 

10 

123 

0,14 

'2,4 

10,6 

63,2 

1. Juli 

1. Gemüsetag®) . . 

20 

30 

— 

2,5 

10,8 

— 

2. „ 

2. „ 

20 

21 

— 

1,68 

— 

— 

3. „ 

3. „ 

20 

22 

— 

. 1,2 

5,8 

— 

4. „ 

4. „ 

20 

12 

— ’ 


— 

— 

5. „ 

5. „ 

20 

Spur 

— 

— 

4,3 , 

— 

6. „ 

6. „ 

20 

0 

— 

0,25 

4,8 

— 

7. „ 

7. „ «) . . 

20 

0 

0,07 

0,25 

4 

63,2 


®) 500 g Gemüse, 75 g Butter, 1 Ei, 200 g Bouillon, 150 g Preiselbeeren, Tee, Kaffee. 

«) Darnach ging Patient zu „gemischter Gemüsediät“ über und bekam zuletzt Zulage von? 
50 g Braten und 30 g Käse. Er gebraucht kein Natron mehr; ist ständig zuckerfrei mit normalem 
Blutzucker und hat schwache Acetonurie. Er ist arbeitsfähig. 















NovemberDie Therapie der Gegenwart 1921 415 


Tabelle 2. 

A. H., 55jährige Frau. Leichter Diabetes, Gangrän. 


Datum 

Kost 

Zucker 

Zucker 

Blutzucker 

Diaceturie 

Ammoniak 

N 


o/o 

g 

% ' 


g 

g 

4. Juli 

Gemischte Kost. . 

7,0 

70 ^ ■ 


. 



5. „ 

Diät mit 100 g 







Glutenbrot . . . 

1 

12 

0,17 

- 1 - 

— 

— 

9. „ 

1. Fastentag . . . 

— 

Spur 

-f- 

— 

6,24 

10. „ 

2. 

— 

Spur 

— 

+ 

0,52 

6,94 

11. „ 

3. „ 

— 

0 

0,07 

+ + 

0,75 

5,92 

12. „ 

Gemüsetag .... 

— 

0 

— 

+ + 

■ 1,6 

9,09 

13. „ 

,, .... 

— 

0 

' — 

+ + 

1,2 

5,96 

14. „ 

Gemischte Diät^»). 

— 

0 

— 

+ 

■1,12 

5,49 

16. „ 

UN 

)) ) ' 

— 

0 

r 

0,08 


0,7 

— 


Tabelle 2: Eine 55jährige Frau mft Adipo¬ 
sitas, leichtem Diabetes und Gangrän am Unter¬ 
schenkel. ' Sie litt schon mehrere Jahre an Dia¬ 
betes und hatte kurz vor der Aufnahme 7 % 
Zucker, keine Albuminurie oder Acetonurie. Pa¬ 
tientin hatte bei der Aufnahme ein gangränöses 
Geschwür von Handtellergroße am linken Unter¬ 
schenkel. Nach drei Fasttagen war der Urin frei 
von Zucker und die Hyperglykämie geschwun¬ 
den. Es trat nun Acetonurie und Diaceturie auf, 
die während der folgenden Gemüsetage anhielten 
und erst bei gemischter Kost mit 30 g Gluten¬ 
brot und 300 g Gemüse schwanden. Bei dieser 
Diät blieb sie glykosurie- und hyperglykämiefrei. 
Das gangränöse Geschwür heilte vollständig. 

- Im wesentlichen dasselbe Resultat wie 
mit strenger Gemüsediät kann man auch 
mit Hungertagen (vergleiche Tabelle II) 
erreichen und nach dem Hunger geht man 
zur Gemüsediät und dann langsam zur 
gemischten Diabetesdiät über. 

Bei leichterem Diabetes mit gleich¬ 
zeitiger Nephritis oder Mb. cord, und 
Neigung zu Ödem muß man mit Gemüse¬ 
diät vorsichtig sein ihd nam.entlich Salz 
vermeiden. Hier können Hungertage 
indiziert sein und dann Gemusediät mit 
300 g Gemüse und schließlich gemischte, 
knappe Diät; daneben Tinct. Strophant. 
und Theocin 0,2 dreimal täglich. 

Will man mit Rücksicht auf die 
Ödeme, wo die Nephritis oder das Herz¬ 
leiden im Krankheitsbild dominiert, die 
Gemüsediät ganz vermeiden, kann einige 
Tage absolute Milchdiät: ein Liter Milch 
oder Buttermilch, ein Viertel Liter Sahne 
und ein halbes Liter Wasser am Platze 
sein. Der Übergang von der Milchdiät 
zur gemischten Kost geschieht dann 
durch Einschiebung eines Hungertages 
und darauf folgende Einschränkung der 
Milchration und Verabreichung von: ein 
bis zwei Eiern, 25 g Braten oder 50 g 
Fisch, Kompott von Rhabarber und 

^0) 50 g Braten, 50 g Schinkenspeck, 1 Ei, 60 g 
Butter, 300 g Gemüse, 150 g Preißelbeeren, V» Fb 
Rotwein, Tee, Kaffee. 

+ 30 g Glutenbrot. 


Preißelbeeren, kleine Portionen Gemüse 
mit Butter, 30 bis 50 g Glutenbrot oder 
eiweißarmes Kleienbrot und Kleienkeks 
oder Aleuronatbrot (18% Eiweiß und 
30% Kohlehydrate) und schließlich Rog¬ 
gen- oder Graubrot. 

Die absolute, knappe Milchdiät macht 
in solchen Fällen den Urin in der Regel 
zuckerfrei und läßt die Ödeme schwinden. 
Der Blutzuckerprozent wird erst unter 
der folgenden Diät und meist langsam 
normal. Geht es zu langsam, werden 
Hungertage eingeschoben. 

In mittelschweren Fällen mit A cid ose 
sind die ersten Zulagen nach einer strengen 
Gemüsediät: Fettstoffe: 25 g gebratener 
Speck tcglich, der in meinen Versuchen 
die Glykosurie nicht vermehrt, aber oft 
einen Rest von Zucker im Urin durch 
Verminderung des N im Urin entfernen 
kann und gleichzeitig verringert sich da¬ 
bei die Acidose oder wird ganz beseitigt. 
Danach gibt man gekochten, durch¬ 
wachsenen Speck, ein bis zwei Eier, Fisch 
und schließlich Fleisch, aber stets kleine 
Zulagen. 

Ist die Diaceturie und dann die 
Acetonurie geschwunden, kann man ver¬ 
suchen, etwas mehr Fisch und Fleisch, bis 
zu 100 g, zu geben. 

In schweren Fällen mit starker Aci¬ 
dose muß man manchmal die Gemüsediät 
eine Woche lang fortsetzen und am 
ehesten kohlehydratarme Gemüse (2 bis 
3% Kohlehydrate) und 30 bis 45 g gut 
in Wasser geknetete Butter verabreichen. 
Gelingt die Beseitigung der Hypergly¬ 
kämie nicht, so kann man einen Hunger¬ 
tag und dann wieder strenge Gemüsediät 
+ 60 g Whisky oder Kognak versuchen 
oder man gibt kleine Speckzulagen in 
steigenden Mengen. 

Wenn es trotz einer solchen alkali¬ 
schen Diät nicht gelingt, die Ammoniak- 


















416 


Die Therapie der Gegenwart 1Q21 


November 


menge des Urins auf niedrige Zahlen zu 
halten, d. h. % bis 1 g in 24 Stunden, 
und wenn das Blutaceton mit der Wid- 
marksehen Methode über 0,15% ist, 
muß man Alkalien verabfolgen (Natr. 
bicarb., Natr. citr. und kohlensauren 
Kalk und Magnesia), zuerst 5 g und dann 
langsam steigende Dosen, bis die Wirkung 
erreicht ist. Bei Neigung zu Ödem wird 
sofort Tinct. Strophanti oder Digalen 
(dreimal täglich sieben Tropfen) eventuell 
Theocin dreimal täglich 0,20 g gegeben. 

Bei der Nachbehandlung heißt es, 
die Überernährung vermeiden. Man 
kann für die Diabetiker keine bestimmte 
Kaloriensumme der täglichen Kost fest¬ 
setzen, man muß individualisieren und 
durch Kontrolle des Körpergewichtes und 
des N im Urin die richtige Minimums¬ 
kost zu finden suchen, d. hj die, die 
keine Hyperglykämie und keine stärkere 
Acidose hervorruft; so wird sich denn 
der Kranke Wohlbefinden, wird imstande 
sein zu arbeiten und wird Komplikationen 
vermeiden. 

B. Die diätetische Behandlung vor 
und nach der Operation. 

Bei akut sich entwickelnden Krank¬ 
heiten der Diabetiker, z. B. bei Appendi- 
citis, incarcerierten Hernien, Darminva- 
gination ist keine Zeit zu vorbereitender 
Diätbehandlung. Hier muß nur die 
Nahrungszufuhr vor der Operation ver¬ 
mieden werden und gleich nach der 
Operation wird man auch keine Nahrung 
geben. Nach dieser kurzen Hunger¬ 
periode darf man knappe Hafersuppen¬ 
diät gebrauchen, da diese von den stärke¬ 
reicheren Kostformen erfahrungsgemäß 
die geringste Glykosurie und nur geringe 
Steigerung der Glykämie macht und da¬ 
neben am besten der Acidose entgegen¬ 
arbeitet. Man gibt 50 bis 100 g Hafer 
mit Wasser zu dünner Suppe gekocht. 
Die Hafersuppe wird warm oder kalt 
mit Zusatz von einigen Tropfen Ci- 
tronensaft verabreicht. Sonst darf nur 
Wasser, Tee, Whisky und leichter Rot¬ 
wein gegeben werden. In leichten Fällen 
kann man, wenn gewünscht, 100 bis 
200 g Hafer oder absolute Milchdiät in 
knappen Mengen geben, aber nicht beides 
zusammen, und besteht stärkere Acidose, 
so nur Hafersuppe, da kleine Portionen 
Milch leicht die Acidose vermehren. 

Der Übergang zu der für den Kranken 
passenden Diät geschieht, wie oben an¬ 
gegeben, nach Einschiebung eines Ge¬ 
müse- oder Hungertages. 


Bei chirurgischen Eingriffen, wo ge¬ 
nügend Zeit zu Vorbereitungen ist, muß 
man sich zunächst über die spezielle 
Diagnose des Falles orientieren und da¬ 
nach die Prognose ohne und mit Opera¬ 
tion erwägen. 

Die Diätbehandlung vor der Operation 
ist die erwähnte strenge Gemüsediät, 
wenn sie nicht kontraindiziert oder schwer 
durchführbar ist, wie z. B. bei gewissen 
Darmleiden, Fieberzuständen, Cystopye- 
litis, Nephritis, starkem Mb. Basedowii, 
Tuberkulose, malignen Tumoren, Gravi¬ 
dität. 

Wenn man also keine Gemüsediät 
und keine Hungertage gebrauchen will 
(z. B. bei Mb. Basedowii, starker Nervo¬ 
sität, malignen Krankheiten und Gravi¬ 
dität), muß man die Glykosurie und 
Hyperglykämie durch eine allmähliche 
Einschränkung der Kohlehydrate und 
Eiweißstoffe der Kost beseitigen und 
dabei die Fettration erhöhen. 

In leichteren Fällen kann folgende 
Anfangsdiät verordnet werden: 200 g 
gebratenes oder gekochtes Fleisch (ohne 
Mehlsauce) oder Fisch, zwei Eier, 60 g 
Butter, 50 g Käse, 300 g grüne Ge¬ 
müse, 100 g Rhabarberkompott, eine 
Tasse Bouillon, zwei Tassen Tee, zwei 
Tassen Kaffee, % Siphon Sodawasser und 
eine Drittel Flasche Rotwein +100 g 
Roggenbrot oder Graubrot. 

Nach ein paar Tagen wird ein Ge¬ 
müsetag eingeschoben: 600 g Gemüse, ein 
Ei, 60 g Butter und Bouillon. 

Danach die frühere Diät ohne Brot 
und Käse und mit 400 g Gemüse. 

Nach kurzer Zeit wird in der Regel die 
Glykosurie verschwunden und der Blut¬ 
zuckerprozent bis auf 0,08 bis 0,09 % 
herunter sein. Ist das nicht geschehen, 
muß wieder ein Gemüsetag eingeschoben 
werden und dann wieder die frühere Diät 
mit etwas weniger Gemüse oder etwas 
Fleisch mit Speck getauscht werden. 

In den schwereren Fällen muß man 
einen Gemüsetag einlegen und dann die 
Eiweißration der Kost auf die Hälfte 
einschränken oder noch weniger Eiweiß 
geben. 

In den schwersten Fällen muß man 
nach einem Gemüsetag oder einem Hun¬ 
gertag Fleisch und Ei entfernen und 
schließlich nur geben: Gemüse, Butter, 
Speck, Rharbarberkompott, Bouillon, Tee, 
Kaffee, Sodawasser, Whisky. 

Unmittelbar vor den Operationen ist 
es am richtigsten, einen Gemüsetag oder 



November 


Die Therapie der Gegenwart 1921- 


417 


einen Hungertag zu machen und gleich¬ 
zeitig Alkalien zu geben, so daß der Urin 
alkalisch wird, und die nächsten Tage 
nach der Operation wird die dem be¬ 
treffenden Fall am meisten entsprechende 
Diät gegeben: Hafersuppendiät oder Ge¬ 
müsediät oder gemischte Diabetesdiät 
und Alkalien, so daß der Urin alkalisch 
oder neutral wird, bis jede Komagefahr 
überstanden ist. 

Nach der Operation muß der Kranke 
natürlich ständig beobachtet und auf 
Symptome beginnenden diabetischen Ko¬ 
mas untersucht werden: schneller Puls 
ohne Temperaturerhöhung, stärkerer 
Durst, Andeutung tieferer Atmung als 
gewöhnlich, unruhiger Schlaf, Kopf¬ 
schmerzen, Kongestion zum Kopfo und 
kühle Hände und Füße. 

In diesem ersten Stadium des Komas 
gelingt es mit einer energischen Behand¬ 
lung immer, den Kranken über die ernste 
Situation hinwegzubringen. 

Die Behandlung besteht in absoluter 
Ruhe, Wärmflaschen, häufigen Campher- 
injektionen, ein Teelöffel doppeltkohlen¬ 
saures Natron in Wasser alle Viertel¬ 
stunden. Bessert sich der Zustand im 
Laufe weniger Stunden und ist Puls und 
Respiration normal, kann man alle halbe 
Stunden Natron geben und die Injek¬ 
tionen einschränken, aber man darf mit 
ihnen nicht aufhören, bevor jede Gefahr 
überstanden ist; dann muß man ohne 
Anstrengung für den Patienten den Darm 
entleeren und darauf wieder eine Campher- 
injektion machen. 

Sollte trotz anscheinend überstande¬ 
ner Gefahr die Herzaktion schwächer 
werden, wird Digalen oder Strophantin 

bis 1 mg intravenös) gegeben, und bei 
sinkender Diurese zwei bis dreimal täg¬ 
lich 0,2 Theocin. 

Ist der Kranke nach Unruhe und 
Schmerzen im Abdomen und Erbrechen 
vor Beginn energischer Behandlung in 
das somnolente Stadium gekommen, dann 
ist die Situation weit schwieriger, aber 
noch besteht die Möglichkeit der Heilung, 
wenn man schnell handelt und wenn es 
gelingt, anhaltend Alkalien zuzuführen 
und die Diurese in Gang zu bringen. 

Die Diät bei beginnendem Koma: in 
den ersten Stunden, manchmal die ersten 
24 Stunden, gebe ich keine Nahrung, 
sondern suche nur soviel Alkali wie mög¬ 
lich zuzuführen. Doch gibt es Patienten, 
die von Alkohol mit Wasser verdünnt 


Nutzen haben; bei eventuellem Er¬ 
brechen muß man sofort davon Abstand 
nehmen. (Anästhesin 0,15 g kann gegen 
das Erbrechen helfen, aber ich vermeide 
am liebsten alle Narkotica und Pulver. 
Als Schlafmittel wird nur verdünnter 
Alkohol benutzt.) Wenn die ersten ein- 
oder zweimal 24 Stunden gut über¬ 
standen sind und der Urin alkalisch ist, 
gebe ich während ein bis zwei Tagen 
Hafersuppendiät von 50 bis 100 g Hafer¬ 
grütze (ohne anderen Zusatz als etwas 
Citrone'nsaft). Hat der Kranke Appetit 
— man kann ihn eventuell mit Mixtur, 
amaro-alkalina stimulieren wird außer 
Hafersuppe einmal Fleischsuppe mit 
Gemüse und 150 g Gemüsegerichte 
mit 10 g (ausgewaschener) Butter ge¬ 
geben. 

Der Übergang zur gemischten Gemüse¬ 
diät geht sehr langsam vor sich, indem 
man allmählich den Hafer durch Gemüse, 
Butter, etwas Speck, Ei und zuletzt 
Fisch und Fleisch ersetzt. Die Bettruhe 
dauert’mindestens vier Wochen. 

Gelingt es nicht, den Kranken über 
das somnolente Stadium hinwegzubrin¬ 
gen, tritt vielmehr tiefes Koma ein, ^o 
ist es mir' einige Male für kurze Zeit 
gelungen, den Kranken durch intravenöse 
Injektionen von 500 bis 1000 ccm einer 
3 bis 4%igen Natr. bicarb. Lösung ins 
Bewußtsein zurückzubringen (die Lösung 
wird in einem nicht hermetisch ver¬ 
schlossenen Kolben über Feuer zehn Mi¬ 
nuten lang sterilisiert). 

An Operierten, die meist gutgenährt 
und kräftig sind, muß man ja jedes 
Mittel versuchen, aber bei sehr mageren 
Diabetikern im letzten Stadium tut man 
am klügsten daran, von intravenösen 
Injektionen abzusehen. 

Narkose muß, wenn irgendmöglich, 
vermieden werden, und Chloroform darf 
nicht angewandt werden. Diabetiker mit 
Acidose vertragen Morphium und Anti- 
pyretica schlecht, die besonders vor und 
nach der Operation vermieden werden 
müssen. 

Es ist für mich außer Zweifel, daß die 
Häufigkeit der eigentlich diabetischen 
Komplikationen und die Prognose von: 
Furunkel, Karbunkel, Phlegmonen und 
Gangrän in den letzten zwei Dezennien 
sich bedeutend gebessert haben, wo es 
mit der Diabetesbehandlung der Neuzeit 
möglich geworden ist, die Patienten lange 
Zeit frei von Glykosurie nnd Hyper¬ 
glykämie zu halten. 


53 





418 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


'B?’ 

NovemBer 


Aber auch die Behandlung der diabe¬ 
tischen Acidose durch Diät und Alkalien 
hat großen Anteil an den günstigen 
Resultaten der Behandlung der diabe¬ 
tischen Komplikationen gehabt. 


An den Operationsresultaten werden 
die neueren Behandlungsmethoden auch 
noch ihre Wirkung tun in dem Maße, 
wie diese Methoden auf den chirurgischen 
Kliniken allgemeiner eingeführt werden. 


Aus der Medizinischeu Universitäts-Poliklinik in Breslau (Leiter: Prof. Dr. Bittorf). 

Über einige Atropinvergiftungen. 

Von R. Meißner. 


Vergiftungen mit Bestandteilen der Atropa 
Belladonna sind in Europa ebenso lange bekannt 
wie die Pflanze selbst. Matthiolus^) beschrieb 
sie ais erster im Jahre 1570 unter dem Namen 
Solanum majus sive herbae Belladonnae, und er 
selbst berichtet auch schon über Vergiftungen mit 
ihr. Bald häuften sich diese Intoxikationen, denn 
abgesehen davon, daß Beeren der Tollkirsche 
aus Unkenntnis öfter gegessen wurden, gab auch 
die Sitte der Venezianer, Belladorina als Kosme- 
tikum zu verwenden und der öftere Gebrauch der 
Belladonna als Abortivum reichlich Gelegenheit 
dazu. Ganz eigentümlich erscheint uns heute 
schließlich die Gewohnheit einiger Gastgeber des 
sechzehnten Jahrhunderts, ihren gefräßigen 
Gästen absichtlich etwas Belladonna in den Wein 
zu mischen und so künstlich Schlingbeschwerden 
hervorzurufen, die die Gäste am Weiteressen ver¬ 
hinderten. Die erste Atropinvergiftung mit dem 
reinen Alkaloid erfolgte wenige Jahre nach der 
Einführung desselben in die Therapie durch 
WhUe Cooper (1844) und betraf einen von 
SelTs berichteten Selbstmord.’ Größere Zusam¬ 
menstellungen über Atropin- resp. Belladonna¬ 
vergiftungen finden sich in der ausführlichen Ar¬ 
beit von J. Kratter^)^ ferner bei F. A. Falk®) 
und über re*ne Atropinvergiftungen in einer Dis¬ 
sertation von Feddersen^). Letzterer berichtet 
über 103 Vergiftungsfälle mit reinem Atropin und 
teilt sie in folgender Weise ein: 


19 absichtliche 

84 zufällige 
davon durch 


Giftmorde .... 

. . . . 9 

Selbstmorde . . . 

. ... 10 

ökonomische . . , 

. ... 43 

medici nale. 

. ... 41 


Schuld des Arztes . . 
„ „ Apothekers 

.. Patienten 


26 

2 

13 


In bezug auf die Form, in welcher das Atropin 
genommen wurde, verteilten sich diese 103 Ver- 


giftungsfälle folgendermaßen: 

In Form von Pulver. 

5 mal 

ft 

von Pillen. 

7 


tt ft 

des Suppositorium . . 

1 

tt 


der Salbe . 

2 


t) ft 

des Linimentes . . . 

1 

tt 

tt tt 

des Syrups. 

1 

tt 

tt tt 

der Lösung in Wasser 

86 

tt 

und diese verteilen sich weiter auf: 




Tropfen innerlich zu nehmen . . 3 


^) Franziscus Calceolarius Veronensis bei 
Matthiolus (Petri Andreae Mathioli, Senensis 
medici Commentarii in sex libros Pedacii Dios- 
coridis Anazarbei de medica materia etc. Venetiis 
ex officina Valgrisiana 1570.) 

2) Vrtljschr. f. gerichtl. M., Bd. 44, S. 52. 

®) Lehrb. d. prakt. Toxikologie, Stuttgart 1880. 

*) Ingwer Meinhard Feddersen, „Bei¬ 
trag zur Atropinvergiftung“. Aus dem Labora¬ 
torium der pharmakol. Sammlung in Kiel. 
Inaug. Diss. Berlin 1884. 


Lösung in den Gehörgang zu appli¬ 
zieren .1 mal 

Lösung zur subcutanen Injektion 4 „ 

Augentropfen.53 „ 

Unbestimmt (wahrscheinlich Col- 

lyried.25 „ 

Wie diese Zusammenstellung zeigt, sind jene 
Atropin Vergiftungen relativ selten — und ähnlich 
ist es auch bei den Belladonnavergiftungen —, die 
durch ein Versehen des Verkäufers (Apotheker^ 
Drogist) verursacht wurden. Ich bin in der Lage, 
über drei solcher Fälle aus den letzten Jahren zu 
berichten. 

1 . 

Im ersten Falle handelte es sich um eine 
Intoxikation durch einen Tee, der uns von einem 
Arzt mit folgenden Angaben zur' Untersuchung 
übersandt wurde: 

„Gestern abend wurde ich zu einer vierzig¬ 
jährigen Frau aus meiner Klientel gerufen. Sie 
hatte mit gutem Appetit zu Abend gegessen, um 
halb neun eine Tasse obigen Tees getrunken, den 
sie als Beruhigungstee gekauft hatte und war 
etwa eine Stunde später plötzlich erkrankt. Es 
wurde ihr übel und schwindelig, so daß sie tau¬ 
melte, als ihr Mann sie zu Bett brachte, und sie 
konnte nicht mehr recht sehen, was sie las. Was 
danach mit ihr geschah, weiß sie nicht anzugeben. 
Ich fand sie in einem Zustand hochgradiger hallu¬ 
zinatorischer Verwirrtheit im Bett sitzen, sie 
sprach mit leiser Stimme unverständliches Zeug, 
griff auf der Bettdecke herum und hatte zweifellos 
Gesichtshalluzinationen. Die Pupillen waren maxi¬ 
mal erweitert und ohne Reaktion auf Lichteinfall, 
der Blick starr, der Puls beschleunigt, über hun¬ 
dert, das Gesicht nicht gerötet. Zuweilen Auf¬ 
stoßen und Würgen, kein Erbrechen. Auf 0,02 
Morphium subcutan schlief sie gegen drei Uhr 
ein. Heute früh war sie orientiert, nur das Nach¬ 
denken ging noch schwer, sie konnte sich auf 
nichts besinnen, seit ihr Mann sie ins Bett gebracht 
hatte, klagte über Trockenheit im Munde, fühlte 
sich müde, hatte einen Puls von einhundertdreißig 
und unverändert weite, reaktionslose Pupillen. 
Letztere waren auch mittags noch so, Puls und 
Allgemeinbefinden dagegen besser.“ 

Zur Untersuchung wurden geschickt ungefähr 
250 g einer klein geschnittenen Wurzel von 5 cm 
Breite und 2—3 cm Dicke im Durchschnitt, die 
außen gelblichgrau, wenig runzelig, innen wei߬ 
lich und etwas weich erscheint. Beim Zerreiben 
der einzelnen Stückchen bemerkt man etwas 
Staub. Bei mikroskopischer Betrachtung zeigte 
sich die charakteristische Trennung von Mark, 
Holzkörper und Rinde mit den stärkehaltigen 
Parenchym- und Krystallsandzellen, wie sie für 
die Radix Belladonnae charakteristisch sind. 

Aus diesem Tee wurde nun ein 5%iger Infus 
bereitet und von diesem bekam eine Katze um 
12 Uhr; 5 Tropfen in den Konjunktivalsack 
rechts. 




















I^ovember 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


419 


12^5: Spur Erweiterung, gute Lichtreaktion. 

3®®: Totale Mydriasis, keine Lichtreaktion 
Tnehr. 

Gegen 5®®: maximale Mydriasis. 

Weiter wurde mit dem nach Stas-Otto be- 
:fiandelten Extrakt die Vitalische Reaktion an- 
:gestellt, die stark positiv ausfiel. Schließlich 
wurde auch noch auf ein mit Muscarin zum Still- 
•stand gebrachtes Froschherz einige Tropfen des 
Infuses aufgeträufelt und hierdurch eine Minute 
^später ein erneutes Schlagen des Herzens bewirkt. 

All diese Reaktionen sprechen einwandfrei für 
Atropin, und auch die ganze Art der Vergiftung 
läßt auf eine Atropinwirkung schließen. Die Ver- 
-giftungen mit der Frucht und den Blättern der 
Belladonna sind in der Literatur häufiger genannt 
^Is die mit der Wurzel, immerhin sind solche auch 
bekannt. Ich verweise auf den von Hunzikery 
>und auf den von v. Placer») veröffentlichten Falf 

II. 

Viel seltener und vielleicht einzig in der Lite¬ 
ratur ist eine Atropinvergiftung, die durch Ver¬ 
mischung von Atropin oder Belladonnabestand- 
4eilen mit einem Nährgrieß hier beobachtet wurde. 

Vor einiger Zeit erkrankten in einem der hie- 
jsigen Krankenhäuser abends plötzlich drei Per¬ 
sonen zu gleicher Zeit mit starken Magendarm¬ 
beschwerden und Erbrechen, bald stellte sich eine 
starke Trockenheit im Halse und eine leichte 
JVlydriasis ein. Alle drei Patienten hatten von 
einem Grießbrei abends gegessen; der Grieß zu 
^diesem Brei war kurz vorher von der Verwaltung 
angekauft worden,' und so war es naheliegend, 
<laß man von Anfang an auf eine Verunreinigung 
dieses Grießes fahndete, um so mehr, als zwei der 
Patienten längere Zeit kein Fleisch zu sich 
:genommen hatten. 

Zur Untersuchung wurden ungefähr 500 g 
eines mittelfeinen, grauweißen, mit einigen brau¬ 
nen Stippchen vermischten Grießes übersandt. 
Hauptbestandteile: Große runde oder linsen¬ 
förmige und kleine polygonale Stärkekörner (die 
sich mit Jod sofort blau färben), zum Teil konzen¬ 
trische Schichtung zeigen und in der Form der 
Weizenstärke entsprechen; außerdem vereinzelte 
zertrümmerte Zellen von der Form des Weizen- 
'perisperms und der braunen Samenhaut des 
Weizens. 

Eine Probe desselben wurde mit heißem Alko¬ 
hol, dem eine Spur verdünnter Schwefelsäure 
zugesetzt war, eine halbe Stunde am Rückfluß- 
Wühler extrahiert, erkalten gelassen, klar filtriert, 
'das Filtrat zur Trockene auf dem Wasserbade 
verdampft, der Rückstand mit einigen Kubik¬ 
zentimeter Wasser wieder aufgenommen und 
mit Natriumcarbonat bis zur neutralen Reaktion 
abgestumpft. Hiervon bekam eine Katze’ einige 
Tropfen in den' Konjunktivalsack geträufelt, 
einige andere Tropfen wurden "auf das frei- 
.gelegte und mit Muscarin zum diastolischen 
Stillstand gebrachte Herzeines Frosches gebracht. 
Das so behandelte Katzenauge zeigte nach einer 
/halben Stunde beginnende, nach zwei bis drei 
Stunden eine deutliche Mydriasis, das gelähmte 
Froschherz bekam sofort nach Betupfen mit dem 
wässerigen Grießauszug wieder seine regelmäßige 
Schlagfolge. Der Rest dieses Extraktes wurde nun 
mit Natriumcarbonat alkalisch gemacht und mit 
Chloroform im Scheidetrichter gut ausgeschüttelt, 
'der Chloroformauszug dann auf dem Wasserbad 
zur Trockene verdampft, wieder mit wenigen 

®) Korr. Bl. Schweizer Ärzte, Bd. 46, S. 684. 

®) s. oben bei Kratter, S. 93. 


Tropfen Wasser aufgenommen, filtriert, einge¬ 
dampft und dann die Reaktionen nach Vitali . 
und Gerard angestellt, die beide deutlich 
positiv ausfielen. Damit war die Anwesenheit 
von Atropin (eventuell von Hyoscyamin) fest- ’ 
gestellt und die Ursache der Vergiftung erklärt. 

III. 

Als dritten Fall erwähne ich eine durch den 
Irrtum des Apothekers entstandene Atropinver¬ 
giftung, die eine Klage nach sich zog und mir 
vom Gericht zur Begutachtung überwiesen wurde. 
Auf einige sich daran anschließende medizinische 
Fragen möchte ich noch etwas näher eingehen. 

In den letzten Dezembertagen des vergangenen 
Jahres konsultierte der Kläger dieses Prozesses 
einen Arzt, um bei ihm einen Verwandten unter¬ 
suchen zu lassen. Nach dieser Untersuchung — 
wie der Kläger angibt, ganz zufällig — bat er 
den Arzt, ihn selbst zu untersuchen, da er sich 
zwar völlig frisch fühle, aber öfters an größeren 
Schweißausbrüchen leide. Die Untersuchung ergab 
ganz gesunde Organe des Klägers, die Schwei߬ 
absonderung wurde auf eine Anomalie der 
Schweißdrüsen zurückgeführt und ihm gegen 
diese Schweiße 100 Atropinpillen ä 0,5 mg ver¬ 
ordnet. Von diesen Pillen sollte der Kläger am 
Abend zwei Stück nehmen. An einem der nächsten 
Tage wurde derselbe Arzt dringend in die Wohnung 
des Klägers gerufen und fand ihn dort schwer er¬ 
krankt unter folgenden Symptomen: Großer Er¬ 
regungszustand, Halluzinationen, undeutliche, 
lallende Sprache, maximal erweiterte Pupillen, 
Doppelsehen, Trockenheit im Halse, sehr stark 
beschleunigten Puls, Lähmung von Blasen- und 
Mastdarmfunktion. Es wurde ihm mitgeteilt, 
daß der Kläger am Abend vorher vorschrifts¬ 
mäßig zwei der verordneten Pillen eingenommen 
habe, darauf wäre ihm plötzlich schwindelig und 
sehr elend geworden, bis der jetzige Zustand ein¬ 
getreten sei. Ein Teil der Pillen wurde sofort 
chemisch untersucht, und es ergab sich darin ein 
zwanzigmal stärkerer Atropingehalt, als der Ver¬ 
ordnung entsprach. Nach vier bis fünf Tagen 
waren die Hauptsymptome dieser Vergiftung ab¬ 
geklungen; Kläger äußerte dann noch folgende 
Beschwerden: Große Schwäche auf körperlichem 
wie auf geistigem Gebiete, Angstzustände, be 
sonders darüber, daß er nie mehr gesund werden 
würde, mangelndes Konzentrationsvermögen 
Schlafsucht, Apathie und Arbeitsunlust. 14 Tage 
blieb er im Bett. Der behandelnde Arzt schlug 
ihm dann vor, baldmöglichst einen mehrwöchigen 
Aufenthalt in einem Sanatorium unter ärztlicher 
Aufsicht anzutreten. Patient reiste auch bald ab, 
aber nicht in das Sanatorium, sondern in ein Dorf 
eines Mittelgebirges, wo sehr viel Wintersport ge¬ 
trieben wird. Dort unternahm er auch einige 
Rodelpartien und Hörnerschlittenfahrten und ist 
dann nach neun Tagen, angeblich mit einer 
leichten Besserung, an seinen Wohnort zurück¬ 
gekehrt. Er will jedoch damals auch noch völlig 
erwerbsunfähig gewesen sein, und seine Versuche, 
Geschäfte anzubahnen, insbesondere auf der Pro¬ 
duktenbörse sich geschäftlich zu betätigen, seien 
völlig mißlungen, weil das lebhafte Reden vieler 
Menschen BeWemmungen und Angstzustände bei 
ihm bewirkte und er unfähig war, seine Gedanken 
einige Zeit hintereinander zu konzentrieren. Seine 
Arbeitsfähigkeit habe er erst Anfang Mai, also 
ungefähr vier Monate nach der Vergiftung, 
wiedererlangt. Ungefähr zur selben Zeit erst ist 
er in das ihm von seinem Arzt bezeichnete Sana¬ 
torium mit den eben erwähnten Klagen gekommen. 
Angstzuständp wurden hiernicht mehr beobachtet^ 

53* 




420 Die Therapie der Gegenwart 1921 November 


es fanden sich aber in den ersten Tagen eine ge¬ 
wisse motorische Unruhe, außerdem Zittern der 
vorgestreckten Zunge und der Finger, Nachröten 
der Haut, Lidflattern, Steigerung der Reflexe. Er 
machte nach den Aussagen des Sanatoriumsarztes 
den Eindruck eines Neurasthenikers. Von einer 
Atropinvergiftung war nichts mehr vorhanden. 
Nach vierwöchigem Aufenthalte wurde Kläger 
nochmals von dem behandelnden Arzt in der 
Heimat untersucht, und dieser bezeichnete ihn 
jetzt auch als völlig gesund. 

Der Patient strengte nun Klage an gegen den 
Apotheker, in dessen Offizin die Pillen dispensiert 
waren. Wie die Akten ergaben, ist zur Herstellung 
der Pillen eine Atropinverreibung, angeblich 
1 :100 verwendet worden. Wie das Versehen aber 
zustande gekommen ist, konnte in Einzelheiten 
bis jetzt nicht aufgeklärt werden. Der Kläger 
klagte nun auf Schadenersatz wegen einer Atropin¬ 
vergiftung, die ihn dem Tode nahegebracht und 
ihn mehrere Monate lang verhindert habe, seinen 
Geschäften nachzugehen. Er klagte zunächst um 
Schadenersatz in der Höh^ von 10000 Mark 
unter ausdrücklichem Vorbehalt weitergehender 
Ansprüche. 

Auf folgende, von dem Gericht ge- 
gestellten Fragen möchte ich nun noch 
mit einigen Worten näher eingehen. Ich 
sehe ab von den zahlreichen Frage¬ 
stellungen, die zur Orientierung des Ge¬ 
richts dienten, sich aber ganz klar aus 
den Sachverständigen-Antworten er¬ 
gaben, und hebe nur folgendes hervor: 

1. Enthielten die verordneten 100 
Pillen 1 g Atropin, d. h. eine Pille im 
Durchschnitt 1 cg? 

Diese Frage konnte von dem ver¬ 
eidigten Chemiker durch wiederholte 
Untersuchungen bestimmt bejaht werden. 

2. Konnten die festgestellten Krank¬ 
heitserscheinungen die Folge einer Atro¬ 
pinvergiftung sein, und ist aus den Be¬ 
obachtungen des Arztes mit einiger 
Sicherheit zu schließen: 

a) auf Atropinvergiftung als Ursache, 

b) auf anweisungsmäßige Einnahme 
der Pillen oder auf Einnahme von 
mehr wie zwei Pillen? 

c) Welche von dem Kläger behaup¬ 
teten und von dem behandelnden 
Arzt beobachteten Folgen lassen 
sich mit einiger Sicherheit auf die 
vorbezeichneten Ursachen zurück¬ 
führen ? ' 

Zu 2a sei folgendes bemerkt: Starke 
Erregungszustände, maximal erweiterte 
Pupillen, Sehstörungen, Störungen der 
Sprache, Trockenheit im Halse, sehr be¬ 
schleunigter Puls, Lähmung der Darm¬ 
und Blasenfunktion, Erscheinungen, wie 
sie bei dem Kläger nach der Vergiftung 
festgestellt wurden, können Symptome 
der Atropinvergiftung sein. Differential¬ 
diagnostisch kommt besonders jene Ver¬ 
giftung nach Wurst- und Fleischwaren 


in Frage, die durch Toxine des Bacillusc 
botulismus hervorgerufen werden. Hier¬ 
bei fehlen aber gerade die Erregungszu¬ 
stände, wie Delirien, Halluzinationen, und 
außerdem die hochgradige Pulsbeschleuni¬ 
gung meistens. Ferner setzen die Er¬ 
scheinungen bei Botulismus erst all¬ 
mählich mitMagendarmbeschwerdeft ein;, 
in unserem Falle aber bestand nach: 
Einnahme der Pillen das Bild einer außer¬ 
ordentlich schnell eintretenden heftigen. 
Vergiftung. Weiter hätte man diffe¬ 
rentialdiagnostisch zu scheiden die Ver¬ 
giftung mit Hyoscin resp. mit Scopolamin^. 
^ei der auch eine starke Erweiterung der 
Pupillen, aber niemals eine Reizung der 
Hirnrinde und auch nur selten eine Be¬ 
schleunigung des Pi^lses hervorgerufen 
wird. Das R-Hyoscyamin, das ja be¬ 
kanntlich einen Teil des Atropins bildet — 
Atropin ist inaktives Hypscyamin — 
wirkt dem Atropin fast in allen Sym¬ 
ptomen ähnlich, vielleicht noch etwas 
stärker, und kommt deshalb hier nicht 
besonders in Frage. Man könnte höch¬ 
stens noch erwägen, ob die Vergiftung: 
durch Tollkirschen oder andere Bella¬ 
donna-Bestandteile hervorgerufen wurde. 
Dann aber hätten im Vordergründe der 
Vergiftung auch wie beim Botulismus er¬ 
hebliche Magendarmbeschwerden ge¬ 
standen, und die nervösen Störungen 
würden nicht so plötzlich eingetreten, 
sein. Da die differentialdiagnostisch in 
Frage kommenden Erkrankungen somit 
alle wohl mit Recht ausgeschlossen werden 
können, scheint es als sicher, daß die 
Vergiftung durch Atropin hervorgerufen: 
wurde, und zwar, da Kläger Atropin in 
anderer Form nicht genommen haben 
will, durch die Atropinpillen. 

Bei 2b kommt vor allem in Betracht,^ 
daß die Wirkung von Atropin auf den 
Menschen individuell sehr verschieden 
ist. In der Literatur sind Fälle berichtet,, 
bei denen z. B. Atropin-Augentropfen 
schon Vergiftungserscheinungen her¬ 
vorriefen, in Mengen, wie sie sonst stets 
gut vertragen werden. Andere Personen 
zeigten aber keinerlei Intoxikationser¬ 
scheinungen nach Atropinquantitäten, die 
gewöhnlich als tödliche Dosis bezeichnet 
werden. Es ist ja bekannt, daß Atropin¬ 
vergiftungen trotz schwerster Erschei¬ 
nungen nur relativ selten zum Tode 
führen. Die Falcksche Zusammen¬ 
stellung ergab eine Mortalität von 11,6%. 
Als kleinste letale innerliche Dosis Atropin- 
wird für Erwachsene 130 mg, für ein 
ungefähr dreijähriges Kind 95 mg an- 




JNovember 


Dk.Therapie der Gegenwart t921 


421 . 


genommen. 50 mg wurden von Kindern 
mehrfach überstanden. Im allgemeinen 
kann man wohl annehmen, daß für Er¬ 
wachsene 5 cg Atropin lebensbedrohend 
und 1 dg tödlich wirken. Im vorliegenden 
. Falle waren pro Tag zwei Pillen ä 0,5 mg 
verordnet worden, die aber nach dem 
Outachten des vereidigten Chemikers in 
Wirklichkeit das Zwanzigfache der ver- 
ordneten Dosis, also 2 cg enthielten. 
Es war nun von der Partei des Klägers 
behauptet worden: drei Pillen-der von 
dem Beklagten gelieferten Beschaffen¬ 
heit würden unfehlbar unter allen 
Umständen zum Tode des Klägers ge¬ 
führt haben müssen. Drei derartige 
Pillen würden also 3 cg Atropin enthalten. 
Nach dem oben Ausgeführten erscheint 
es aber durchaus nicht sicher, daß 3 cg 
Atropin unter allen Umständen zum 
Tode führen müssen; bei einer größeren 
gegen Atropin bestehenden Idiosynkrasie 
kann das der Fall sein, es muß es aber 
nicht, wie eben die zahlreichen schweren, 
aber nicht tödlich endigenden Vergif¬ 
tungen in der Literatur beweisen. Die 
Frage des Gerichts, ob der Patient zwei 
oder mehrere Pillen genommen habe, 
ließ sich aus den Erscheinungen der 
* Erkrankung hier nicht mit Sicherheit 
beantworten. 

Die Frage 2c, welche von dem Kläger 
behaupteten und von dem Arzt beobach¬ 
teten Folgen sich mit einiger Sicherheit 
auf die vorbezeichneten Ursachen, d. h. 
auf die Atropinvergiftung, zurückführen 
lassen, ist, soweit es die ersten vier bis fünf, 
eventuell die ersten 14 Tage betrifft, 
sehr einfach zu beantworten. Sicher sind 
als solche anzusehen die Störungen an 
den Augen, an der Sprache, die Trocken¬ 
heit im Halse, die Pulsbeschleunigung 
und die Blasen- und Darmstörungen. Für 
die Begutachtung war es aber besonders 
wichtig, festzustellen, ob außer diesen die 
leichteren,noch längeranhaltenden Krank¬ 
heitserscheinungen bei dem Patienten 
mit der Atropinvergiftung in Zusammen¬ 
hang gebracht werden konnten, mit an¬ 
deren Worten den Zeitpunkt anzugeben, 
wo die letzte Spur der Atropinvergiftung 
erloschen war. Sämtliche Symptome, 
die der Kläger nach seiner Reise in den 
Luftkurort bis zu seinem Eintritt ins 
Sanatorium zeigte, können rein neur- 
asthenischer Art sein, und finden sich 
bei vielen Menschen, die aber trotzdem 
ihren Beruf voll ausfüllen. Sie zeigten 
sich auch bei einer genauen spezial¬ 
ärztlichen Untersuchung des Klägers 


noch ungefähr ein Jahr nach der Ver- - 
giftung, nachdem er schon ein halbes 
Jahr von seinem Hausarzt als voll er¬ 
werbsfähig betrachtet und seiner ge¬ 
schäftlichen Tätigkeit wieder in vollem 
Umfange nachgegangen war. 

Leichte motorische Unruhe und man¬ 
gelndes Konzentrationsvermögen, die den 
Gesundheitszustand des Klägers noch 
längere Zeit beeinträchtigt haben sollen, 
werden zwar in der Literatur der Atropin-, 
Vergiftungen auch einige Male als Nach¬ 
wirkung bei Atropinvergiftung angesehen ; 
aber auch sie sind ja so häufig bef neur- 
asthenischen Personen zu finden, daß 
sie hier nicht mit der Atropinvergiftung 
in Zusammenhang gebracht wurden. Ob 
vor der Vergiftung bei dem Patienten nie 
nervöse Symptome bestanden hatten, 
war natürlich am schwersten zu ent¬ 
scheiden. Die vor der Atropinvergiftung 
stattgehabte Untersuchung des Patienten 
erwähnt keine Einzelheiten über den 
Nervenbefund und bezeichnet seinen Zu¬ 
stand als gesund. Nur eine Anomalie 
der Schweißdrüsen bestehe. Wären hier¬ 
mit nun eventuell sekretorische Störungen, 
wie man sie bei Vasomotorikern so oft 
findet, gemeint, so könnte man ja diese 
Schweiße schon als Ausdruck einer vor 
der Vergiftung bestehend^en Nerven¬ 
schwäche ansehen. Diesen Überlegungen 
folgend wurde angenommen, daß deut¬ 
liche Zeichen einer Atropinvergiftung bei 
dem Kläger vorhanden, daß sie aber zum 
größten Teil schon nach 14 Tagen abge¬ 
klungen waren. Die leichten nervösen 
Störungen, die sich dann noch zeigten, 
beeinträchtigten einige Zeit lang teil¬ 
weise wohl die Erwerbsfähigkeit des 
Klägers noch, es muß aber mit der Mög¬ 
lichkeit gerechnet werden, daß auch 
dieser letzte Teil der Erkrankung schneller 
vorübergegangen wäre, wenn der Patient, 
dem Rat des Arztes folgend, sofort ein 
Sanatorium und nicht einen Winterkurort 
aufgesucht hätte, da die sportliche Be¬ 
tätigung durchaus nicht immer beruhi¬ 
gend, sondern oft erregend auf ein ge¬ 
schwächtes Nervensystem wirkt. Nach 
alledem wurde das Gutachten dahin ab¬ 
gegeben: der Kläger hat eine Atropin¬ 
vergiftung erlitten, war etwa 14 Tage 
voll erwerbsunfähig und im Anschluß 
daran noch zwei Monate lang um 33^3 % 
in seiner Arbeits- und Erwerbsfähigkeit 
beeinträchtigt. Wäre er, den Anordnun¬ 
gen des behandelnden Arztes folgend, 
alsbald nach dem Sanatorium gegangen, 
so würde er in der eben genannten Zeit 



422 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


November 


zweifellos gänzlich hergestellt sein. Daß 
er unzweckmäßigerweise nach dem Luft¬ 
kurort reiste und erst reichlich drei Monate 
später nach dem Sanatorium, kann mit 
der Vergiftung nicht in Zusammenhang 
gebracht werden. 

3. Mit einem Worte will ich nun 
noch auf die Beantwortung der Frage 
eingehen: Ist zu den verordneten Atro¬ 
pinpillen eine Verreibung (1 : 100) 
benutzt worden? 

Hierzu möchte ich zu überlegen geben, 
ob die auch schon früher manchmal ge¬ 
übte Gewohnheit einzelner Apotheker 
zu befürworten ist, von stark wirkenden 
Arzneien, besonders von Alkaloiden Ver¬ 
reibungen vorrätig zu halten’). Es hat 
an und für sich etwas Bestechendes, 
wenn man in großen Apothekenoffizinen 
bei starker Rezeptur solche Verreibungen 
.vorrätig findet und sich nicht mit dem 
feinen Abwägen kleinster Mengen stark 
wirkender Stoffe aufzuhalten braucht. 
Aber es ist auch der Einwurf nicht von 
der Hand zu weisen, daß solche Alkaloid- 


’) In der Betriebsordnung deutscher Apotheken 
werden Vorschriften über ,,Verreibungen“ nur für 
Morphin und Hydrargyr, chlorat. angegeben; für 
andere Substanzen bestehen keine Verordnungen, 
und sie sind deshalb wohl als gesetzlich zulässig 
zu betrachten. 


mischungen bei längerem Aufbewahren, 
selbst wenn man eine Zersetzung der be¬ 
treffenden Substanz für ausgeschlossen 
hält, leicht zu Irrtümern Veranlassung 
geben können. So wurde in diesem Falle 
mit der Möglichkeit gerechnet, daß sicher 
wohl zuerst die hier in Frage kommende 
Verreibung exactissime dargestellt, daß 
aber vielleicht später versehentlich’ auf 
die Verreibung etwas reines Atropin ge¬ 
schüttet worden war und sie so einen viel 
größeren Atropingehalt zum Teil be¬ 
kommen haben könnte, als ihrer Signatur 
entsprach. 

4. Als letztes möchte ich die Frage 
streifen: War es überhaupt nötig, daß bei 
einem gesunden Organismus und bei nur 
bestehender Anomalie der Schweißdrüsen 
sofort Atropin verordnet werden mußte, 
und zwar gleich 100 Atropinpillen in 
höheren Dosen zu 1 mg pro die? Nach 
den bestehenden gesetzlichen Verord¬ 
nungen hat der behandelnde Arzt in jeder 
Hinsicht ärztlich einwandfrei gehandelt, 
aber da man eben mit großer Überemp¬ 
findlichkeit einzelner Menschen gegen 
• Atropin rechnen muß, wäre es vielleicht 
besser, für solche Fälle einfachere, weniger 
giftige Arzneimittel zu wählen, wie z. B.^ 
Essigwasserwaschungen, Camphersäure 
und eventuell Agaricin. 


Aus dem Stadtkrankenhaus Offeuhack a. M. (Direktor: Medizinalrat Dr. Eebentisck). 

Über Ernährungsstörungen und ihre Behandlung 
mit Tonophosphan als Stoffwechselstimulans unter besonderer 
Berücksichtigung der Rachitis. 

Von Dr. Carl Hoffmann, Assistenzarzt der Inneren Abteilung. 


Die Verwendung des Phosphors als 
Therapeutikum blieb bis zu den Kriegs¬ 
jahren eine beschränkte und umstrittene. 
Meyer und Gottlieb geben in ihrem 
vorzüglichen Lehrbuch der Pharmakolo- 
gie^) den Stand der Frage dahin wieder: 
,,Man sollte versuchen, in derTherapie den 
Phosphor fallen zu lassen und durch das 
sicher dosierte Arsenik zu ersetzen.“ Der 
Krieg mit seinen Entbehrungen und mit 
der Verschlechterung der Nahrungsmittel 
zeitigte eine große Reihe von Ernäh¬ 
rungskrankheiten, die ehedem in Deutsch¬ 
land fast unbekannt oder wenigstens von 
einer nur geringen Ausbreitung gewesen 
waren. Mit ihrer Bekämpfung trat 
gleichzeitig die Phosphortherapie neuer¬ 
lich auf den Plan. Die Resultate der 
Phosphor- Lebertran-Behandlung waren 
vielfach durchaus sinnfällig und ließen 
III. Aufl. 1914. 


sich durch ähnliche Mittel — wie Arsen 
usw. — nicht in gleicher Weise erreichen. 
Fraglich konnte sein, welcher Anteil dem 
Lebertran und welcher dem Phosphor 
bei den Erfolgen zuzusprechen war. Diese 
Frage mußte um so mehr erörtert werden, 
als sich in unseren Anschauungen in den 
letzten Jahren ein Begriff eingebürgert 
hat — der Vitamingehalt der Nahrungs¬ 
mittel —, der nach mancher Richtung 
geradezu bestimmend für die Wertigkeit 
der jeweiligen Speise zu sein scheint. Wir 
haben triftige Gründe anzunehmen, daß 
viele der im Kriege und in den Notjahren 
danach beobachteten Ernährungsstörun¬ 
gen mindestens zu einem Teil dem Mangel 
an Vitaminen in der Nahrung zuzu¬ 
schreiben sind. Der Lebertran aber gilt 
als ein besonders vitaminreiches Mittel. 
Hat nun der Phosphor daneben sein 
eigenes Wirkungsfeld? Betrachtet man 





November 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


423 


die Winzigkeit der Dosen, die wir verab¬ 
folgen,. sowie die Mangelhaftigkeit der 
Resorption, dann müßte man entweder 
dem Phosphor eine sehr beträchtliche 
Wirksamkeit zusprechen oder man muß 
den Erfolg der Therapie im wesentlichen 
auf das Konto des Lebertrans setzen. Ist 
aber nachweisbar, daß an den Phosphor 
sich die eigentliche Wirksamkeit bindet, 
dann müssen wir ihm oder seinen Ab¬ 
kömmlingen im Organismus eine beson¬ 
dere Stellung zuweisen, die derjenigen der 
Vitamine durchaus ähnlich ist. Von_sol- 
chen Vorstellungen geleitet, hat Prof. 
Blum, Direktor des biologischen Instituts 
zu Frankfurt a. M. die chemischen Werke 
L. Cassella & Co., Mainkur, veranlaßt, 
bestimmte organische Phosphorderivate 
herzustellen, die geeignet erschienen, die 
Frage der Wirksamkeit der • Phosphor¬ 
therapie aufzuklären und auszubauen. 
Das uns überlassene, im Tierversuch vor¬ 
her von Blum in weitgehender Weise als 
ungiftig erprobte Präparat ,,Tonophos- 
phan“^) beschlossen wir an dem großen 
Material des Städtischen Krankenhauses 
Offenbach a./M. zunächst bei solchen 
Kranken zu erproben, die gerade jene 
Störungen aufwiesen, bei denen bisher 
Phosphor-Lebertran mit einem gewissen 
Erfolg gegeben wurde. Ich nehme vorweg, 
daß die Frage nach der Wirksamkeit des 
Phosphoranteils in der Behandlung heute 
auf Grund unserer Erfahrungen durchaus 
eindeutig dahin entschieden werden kann, 
daß auch ohne jeden Lebertran allein 
durch das Phosphorpräparat der volle 
Erfolg erzielt wird. Im Interesse einer 
exakten Darreichung haben wir das Tono- 
phosphan durchweg in steriler, wäßriger 
Lösung subcutan verabfolgt, und zwar in 
Dosen von 5 bis 10 mg, die nur einen 
kleinen Bestandteil an Phosphor enthal¬ 
ten. Die Rachitis tarda, erschien uns für 
die ersten Studien am geeignetsten, da 
man im gewissen Sinn auf die Mitbeob¬ 
achtung der Patienten dabei rechnen 
konnte. Eine objektive Kontrolle ver¬ 
blieb uns im genauen Verfolgen des 
Blutbefundes, des Gewichtes und in geeig¬ 
neten Fällen des Röntgenbefundes. Von 
letzterem darf man wohl nur-bei langer 
Beobachtungsdauer und auch dann nur 
bei charakteristischen Veränderungen, wie 
etwa Osteopsathyrose, nachweisbare Besse¬ 
rungen erwarten. Später haben wir dann 


2) Aus äußeren zwingenden .Gründen ist die 
Fabrik vorläufig nicht in der Lage, die Zu¬ 
sammensetzung des Präparats bekanntzugeben; 
doch soll dies bald geschehen. 


die Frührachitis mit dem Mittel behandelt 
und sollen im folgenden einige unserer 
Krankengeschichten wiedergegeben wer¬ 
den. Daneben ist das Tonophosphan ent-. 
sprechend seinem Indikationsgebiet als 
Stoffwechselstimulans vielfach bei Er¬ 
nährungsstörungen mehr allgemeiner Na¬ 
tur mit gutem Erfolg gegeben worden. 

Es ist bekannt, wie schwer es oft ist, 
die Wirksamkeit therapeutischer Fak¬ 
toren sicher zu beurteilen und wurde daher 
bei dem großen Material am Stadt¬ 
krankenhaus Offenbach auf eine richtige 
Auswahl der Fälle besonderer Wert gelegt, 
um zu eindeutigen Resultaten zu gelangen. 
Fälle, in denen z. B. eine Oxyuriasis- 
komplizierend vorlag, waren für unsere 
Zwecke mit Rücksicht auf die Bewertung 
des Blutbildes nicht geeignet. Bei den 
von uns stationär behandelten Patienten 
handelte es sich in der Mehrzahl der Fälle 
uiti Rachitiden mit besonderer Berück¬ 
sichtigung der Spätform der Rachitis 
bei jugendlichen Personen der arbeitenden 
Klasse, die teils durch Berufsschädlich¬ 
keiten, teils durch unzweckmäßige oder 
mangelhafte Ernährung und ungünstige 
häusliche Verhältnisse über Erschöpfungs¬ 
zustände neben örtlichen Beschwerden 
klagten. Im Vordergrund der subjektiven 
Beschwerden standen Müdigkeit, Gefühl 
der Abgeschlagenheit, Kraftlosigkeit, so¬ 
wie mangelnder Appetit und seelisch: 
fehlende Initiative; in ausgesprochenen 
Fällen bei Jugendlichen Klagen über 
Schmerzen nach längerem Gehen und 
Stehen, besonders in den Kniegelenken, 
Behinderung des Ganges; in einigen weni¬ 
gen Fällen waren die Patienten sogar da¬ 
durch bettlägerig. Psychisch fiel die mi߬ 
mutige, teilweise fast apathische Ver¬ 
fassung mit geringerer Ansprechbarkeit 
auf. Nicht unerwähnt mag bleiben, 
daß die bei der Aufnahme vorgenommene 
Erythrocytenzählung meist noch Werte 
ergab, die an der Grenze des Normalen 
lagen, ein Befund, der bei einer größeren 
Zahl sehr anämisch aussehender Kinder 
auch hinsichtlich des Hämoglobingehaltes 
immerhin auffallend war. In den Arbeiten 
über Blutuntersuchungen von Gump- 
recht und Stinzing wie auch Sahli 
wird auf diese Beobachtung schon hin¬ 
gewiesen. Die Hämoglobinwerte wurden 
mit dem Sahlischen Hämoglobinometer 
ermittelt. Die Zählung der Blutkörper¬ 
chen erfolgte in der Zeißschen Zähl¬ 
kammer in regelmäßigen Abständen und 
zu derselben Zeit vormittags. Uns kam 
es weniger darauf an, Vergleiche mit 



424 


. bk Therapie der Gegenwart 1921 


November' 


Normalwerten anzustellen, als vielmehr 
die an demselben Patienten gefundenen 
Werte gegenüberzustellen. 

Bevor ich im Folgenden eine kleine 
Kasuistik aus den von uns beobachteten 
Fällen gebe, möchte ich noch voraus¬ 
schicken, daß wir, um die Resultate besser 
verwerten zu können, sämtlichen Patien¬ 
ten während der Dauer der Beobachtungs¬ 
zeit täglich je 5 mg Tonophosphan subcutan 
injiziert haben. Um eventuell auftretende 
Reizerscheinungen gut beobachten zu 
können, wurden vorzugsweise die Arme 
als Injektionsstellen gewählt. Die Injek¬ 
tionen riefen keinerlei Reizerscheinungen 
hervor und wurden stets gut vertragen. 
Die Zahl der verabfolgten Injektionen 
betrug stets 28 und wurde bei allen 
Patienten derselbe Turnus eingehalten. 
Um einwandfreie Resultate über den Er¬ 
folg des Mittels zu bekommen, wurde 
abgesehen von Bettruhe bei frischen 
Fällen, keinerlei sonstige Behandlung noch 
roborierende Ernährung vorgenommen. 
Als Kost wurde die übliche Normalform 
ohne jegliche Sonderverordnung gereicht. 
Einige charakteristische Krankengeschich¬ 
ten mögen folgen. 

Fall 1. Erich S. 17 Jahre alt, Hilfsarbeiter: 
Rachitis tarda. Seit drei Monaten Klagen über 
Behinderung des Ganges, Schmerzen in beiden 
Kniegelenken, auch in Ruhelage. Leichte Ermüd¬ 
barkeit. Mattigkeit und Unlustgefühl. 

Status: Reduzierter Ernährungszustand, 

blasses Aussehen. Kein besonderer Organbefund. 
Keine früheren rachitischen Stigmata. Beider¬ 
seits geringe Genua valga. 

Gewicht 42 kg. Sahli 75%. Erythrocyten 
4 200 000. Leukocyten 9 800. — 

Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan wesent¬ 
liche Besserung des Allgemeinbefindens. Trotz 
objektiv unveränderter Genua valga-Stellung. 
Gang fast normal und ohne Anstrengung für den 
Patienten. Subjektives Wohlbefinden. 

Gewicht 47 kg. Sahli 78 %. Erythrocyten 
4 587 000. Leukocyten 6600. 

Fall 2. Hans S. 16 Jahre alt, Schriftgießer: 
Rachitis tarda. Seit ca. zwei Monaten- Klagen 
über Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen, sowie 
Schmerzen in den Beinen, besonders in den Knie¬ 
gelenken. Bei Lagewechsel mitunter unbestimmte 
Schmerzen in den Gliedmaßen. Ausgesprochene 
Behinderung des Ganges. 

Gracil gebauter Junge von anämischem Aus¬ 
sehen. Innere Organe ohne Besonderheiten. 
Geringe Genua valga. Tibia und Femur leicht 
druckempfindlich. 

Gewicht 311/2 kg. Sahli 70 %. Blutbild ohne 
Besonderheiten. Erythrocyten 4 680 000. • 

Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan sub¬ 
jektives Wohlbefinden. Die Kopfschmerzen haben 
sich verloren. Keine Gliederschmerzen mehr. 
Gang mühelos, normal. Gewicht 34 kg. Sahli 
75%, Erythrocyten 4 975 000. 

Fall 3. Joseph N. 17 Jahre alt, Arbeiter. 
Kinderzeit englische Krankheit, späterhin keine 
Beschwerden. Seit fast einem Jahre Klagen über 


Schmerzen in den Beinen, besonders nach körper¬ 
lichen Anstrengungen. Schmerzen besonders 
in beiden Kniegelenken. 

Patient von schwächlichem Körperbau in 
reduziertem Ernährungszustand von anämischem 
Aussehen. Innere Organe ohne Besonderheiten. 
Von der Kinderzeit herrührend Genua vara, jetzt 
beginnende Verbiegung im Sinne der Genua-valga- 
Stellung. Gang wesentlich behindert. — Gewicht 
42 kg. Sahli 65%. 

Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan 
erhebliche Gewichtszunahme, 45,700 kg. Bes¬ 
serung des Appetits. Patient subjektiv beschwerde¬ 
frei, bei gleichzeitiger Besserung des Blutbefundes. 

Fall 4. Heinrich D. 16 Jahre alt, Arbeiter. 
Vater an Tbc. pulm. gestorben. — Kinderzeit 
viel kränklich gewesen. Mit 14 Jahren Klagen 
über „rheumatische“ Schmerzen in den Gliedern, 
besonders den Beinen. Die vorher geraden Beine 
seien krumm geworden. Rasche Ermüdbarkeit. 
Appetitlosigkeit. — Anämisches Aussehen. Zur 
Zeit kein Befund an Organen oder Urin. Röntgen- 
durchleuchtimg ohne Befund. Gewicht 50 kg. 
Sahli 69 %. Erythrocyten 4 300 000. Leuko¬ 
cyten 9 200. 

Nach 12 Injektionen mit Tonophosphan Zu¬ 
nahme des Appetits, frischere Gesichtsfarbe, 
subjektiv beschwerdefrei. Gewicht 51 kg 700 g. 
Sahli 75 %. Erythrocyten 5 762 000. 

Fall 5. Peter W. 17 Jahre alt, Schlosser. 
Vor einem Jahre Grippe. Seit ca. einem Monat 
Klagen über Schmerzen besonders in den Knie¬ 
gelenken und Unterschenkeln. Mattigkeit. Gra- 
ciler Körperbau. Blasses Aussehen, engbrüstig. 
Über linker Apex Schall Verkürzung, geringe Lor¬ 
dose. Alte rachitische Deformität (genua vara) 
beginnende genua valga-Stellung. Treppensteigen 
mühsam. 

Gewicht 53% kg. Sähli 75%. 

Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan erheb¬ 
liche Zunahme des Gewichtes: 60,200 kg. Bes¬ 
serung des Appetits. Knochendeformität unver¬ 
ändert. Gang gebessert. Subjektives Wohl¬ 
befinden. Sahli 80 %. 

Fall 6. Heinrich P. 14 Jahre alt, Schlosser¬ 
lehrling. Seit vier Wochen Klagen über Ab¬ 
geschlagenheit, schnelle Ermüdbarkeit. Nach 
körperlichen Anstrengungen unbestimmte Glieder¬ 
schmerzen. Gang schwerfällig. Blasses Aussehen. 
Wirbelsäule im Lendenteil leicht druckempfind¬ 
lich. Röntgenaufnahme ohne besonderen Befund. 
Sahli 70%. Erythrocyten 4 212 000. Nach 28 In¬ 
jektionen mit Tonophosphan erhebliche Gewichts¬ 
zunahme sowie Besserung des Appetits. Sahli 75%. 
Erythrocyten 5 750 000. Leukocyten 9000. 

Fall 7. Konrad St. 16 Jahre alt, Eisendreher. 
Kinderzeit englische Krankheit, späterhin be¬ 
schwerdefrei. Seit mehreren Wochen Unlust¬ 
gefühl, gesteigertes Schlafbedürfnis. Schmerzen 
in den Beinen, besonders in den Kniegelenken. — 
Reduzierter Ernährungszustand. Sichtbare 
Schleimhäute blaß. Geringe Struma. Pectus 
carinatum. Innere Organe ohne Besonderheiten. 
Genua vara.. Alte rachitische „Säbelscheiden“. 
Gewicht 52,100 kg. Sahli 70 %. 

Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan 
frischeres Aussehen. Kein Müdigkeitsgefühl mehr. 
Gang müheloser. Rasches Ansteigen des Körper¬ 
gewichtes 58 kg, bei gleichzeitiger Besserung des 
Hämoglobingehaltes wie des Blutbildes. 

Fall 8. Heinrich E. 2% Jahre alt: Schwere 
Anämie bei Rachitis. Mutter an Tbc. pulm. 
leidend. Siebentes Kind. Große Blässe von 
Haut und Schleimhaut. Muskulatur hypotonisch. 




November 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


425 


Bronchitis. Trommelbauch. Gewicht 18 Pfund 
400 g. Sahli 50 %. Erythrocyten 4 669 000. 

Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan 
Aussehen gebessert. Das Kind ist wesentlich 
munterer geworden, Appetit gut, Gewicht' 22 
Pfund. Sahli 60%. Erythrocyten 5 198 000. 

, NHg = 0,136 %. 

Fall 9. Richard B. 3 Jahre alt, Rachitis. 
Zurückgebliebenes Kind in mäßigem Ernährungs¬ 
zustand. Blasse Gesichtsfarbe. Caput quadratum. 
Auftreibung der Epiphysenlinien. Trommelbauch. 
Verbiegung beider Unterschenkel. Innere Organe 
ohne Befund. Anorexie, leicht apathisch. Gewicht 
29 Pfund. Sahli 65 %. Erythrocyten 4 390 000. 

Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan 
wesentliche Besserung des Allgemeinbefindens, 
Das früher auffallend ruhige und ängstliche 
Kind ist lebhafter geworden. Gewicht 31 Pfund. 
Sahli 80 %. Erythrocyten 4 927 000. 

Fall 10. Elise S. 14 Jahre alt. Mit zwei 
Jahren Rachitis. 1912 Osteotomie. Klagen 
über Gliederschmerzen, besonders in den Beinen. 
Appetitlosigkeit und Müdigkeit. — Blasses etwas 
zurückgebliebenes Kind, allgemeine Muskel- 
schlaffheit, Genua valga, Gewicht 20 kg. Sahli 
65 %. Erythrocyten 4 506 000. 

Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan: 
Patient ist munter. Appetit gut, keine sub¬ 
jektiven Klagen. Trotz unveränderter Genua 
valga Gang wesentlich gebessert. Gewicht 
21% kg. Sahli 85%. Erythrocyten 5 075 000. 
Urin ohne besonderen Befund. 

Ammoniakbestimmung nach Schlösing NHg == 
0,0469%- bei einer Tagesmenge von 1170 g = 
0,543 g NHo. 

Fall 11. Marie H. Vier Jahre alt, Coxa vara 
(Rachitica); Vater an Tbc. pulm. leidend. 
Patient leidlich entwickelt, unterernährt. Coxa 
vara, sonst keine rachitischen Stigmata. Innere 
Organe ohne Besonderheiten.^ Gewicht 24 Pfund 
300 g. Sahli 70%. Erythrocyten 4175 000. 
Urin: Albumen geringe Trübung. 

Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan 
Allgemeinbefinden wesentlich gebessert, auffallend 
munter, lebhafter Appetit, bei subjektivem Wohl¬ 
befinden. Gewicht 26 Pfund. Urin alkalisch. 
Kein Albumen. Ammoniakbestimmung nach 
Schlösing NH 3 = 0,102 g pro die bei einer Diurese 
von 600 g = 0,018 %. 

Fall 12. L. K. Vier Jahre alt. Vater an 
Lungentuberkulose erkrankt. —Zurückgebliebenes 
Kind. Latente Tuberkulose, leicht rachitische 
Schädelform. — Epiphysenauftreibung. Genua 
vara. Stilles Kind von anämischem Aussehen. 
Anorexie.—Afebril. Urin ohne Befund. Gewicht 
13,5 kg. Sahli 53 %. Erythrocyten 4 719 000. — 

Nach 28 Injektionen mit Tonophosphan 
Rötung der Wangen, lebhafter Appetit, bedeutende 
Besserung des Allgemeinbefindens. Gewicht 15 kg. 
Sahli 78%. Erythrocyten 4 712 000. Das rasche 
Ansteigen des Hämoglobingehaltes neben der 
stetigen Zunahme des Körpergewichtes war in 
diesem Falle besonders auffallend. 

Wenn ich nunmehr auf Grund meiner 
Beobachtungen die Resultate der neuen 
Phosphormedikation mit Tonophosphan 
** überblicke, so scheint mir festzustehen, 
daß wir in diesem Präparat ein Mittel 
besitzen, das durchweg, auch bei länger 
fortgesetztem Gebrauche, gut vertragen 


wurde. Bei Anwendung feinster Kanü¬ 
len war niemals auch nur irgendwelche 
lokale Reizerscheinung zu bemerken. Fie¬ 
ber und Temperatursteigerung kamen nie 
zur Beobachtung. Die Gliederschmerzen 
und die sonstigen Klagen der Beeinträch¬ 
tigung des subjektiven Wohlbefindens 
waren meist nach acht bis zehn Tagen 
erheblich gebessert. Suggestive Wirkun¬ 
gen der Injektionen dürften-bei den von 
uns behandelten Fällen nicht in Betracht 
kommen. Das Allgemeinbefinden wurde 
in allen Fällen sehr günstig beeinflußt. 
Das Gefühl der Mattigkeit wie Unlust¬ 
gefühl schwanden bald. Der Appetit 
besserte sich zusehends. Die Patienten 
wurden wieder munter und unterneh¬ 
mungslustiger; • bei Kindern erhöhte 
Freude am Spielen. Bei den vorliegenden 
näher beschriebenen Fällen wurde stets 
eine nicht unerhebliche Zunahme des 
Körpergewichtes sowie eine Vermeh¬ 
rung des Hämoglobingehaltes konsta¬ 
tiert. Auch in den Fällen, wo der Hämo¬ 
globingehalt langsamer 'änstieg, ließ- bei 
den meisten Patienten die Zählung der 
Erythrocyten erkennen, daß das fast 
völlige Verschwinden, besonders der sub¬ 
jektiven Beschwerden mit der Besserung 
des Blutbildes einherging. Vergleiche 
mit den anderen Patienten derselben 
^ Station, die unter durchaus gleichen Ver¬ 
hältnissen, jedoch ohne Anwendung dieser 
Phosphormedikation behandelt wurden, 
ergaben in demselben Zeitraum weit 
weniger günstige'Resultate. 

Es läßt sich also durch die alleinige 
Phosphormedrkation, und darauf ist der 
Hauptwert zu legen, eine relative rasche 
Steigerung des Hämoglobingehaltes 
wie eine nicht unerhebliche Zunahme 
des Körpergewichtes erreichen, sowie 
eine weitgehende Besserung des Allgemein¬ 
befindens in kurzer Zeit, ein Moment, das 
bei der arbeitenden Klasse Jugendlicher 
besonders zu berücksichtigen ist. 

Wenn auch die Versuche noch nicht 
als abgeschlossen gelten können — unsere 
Erfahrungen erstrecken sich jetzt über 
einen Zeitraum von etwa zehn Monaten — 
und zudem wir zunächst nur-eine Seite 
der Stoffwechselbeeinflussung berücksich¬ 
tigt haben, so wird doch durch sie bereits 
erwiesen, daß wir in der Anwendung des 
Tonophosphans ein wichtiges therapeu¬ 
tisches Hilfsmittel im Sinne einer Hebung 
des Stoffweclisels besitzen, dessen weiteres 
Studium auch auf anderen einschlägigen 
Gebieten wir anregen möchten. 


54 



426 ' . ‘ Die Therapie der Gegenwart 1921 . üiovember 

Digitalis bei chronischen Lungenkrankheiten, besonders bei der 

Schwindsucht 1). 

Von C. Focke, Düsseldorf. 


Alle wichtigeren Krankheiten, bei 
denen die ersten Vertreter einer wissen¬ 
schaftlichen Digitalisanwendung, die eng¬ 
lischen Ärzte, vor 140—120 Jahren dieses 
Mittel empfohlen hatten, sind hinsichtlich 
dieser Behandlungsart während des letzten 
Jahrzehnts im deutschen Schrifttum be¬ 
sprochen worden, nur die chronischen 
Lungenleiden noch nicht. Was damals 
• die Engländer darüber veröffentlicht 
haben, finden wir ausführlich und vor¬ 
urteilslos zusammengestellt von dem Fran¬ 
zosen Bidault de Villiers in seinem 
Essai sur le^ Proprietes rnedicinales de la 
Digitale pourpree, dessen 3. Auflage aus 
-Paris von 1812 mir Vorgelegen hat. Die 
unbestreitbare Beobachtung, daß die Di¬ 
gitalis beim Hydrops das Wasser abtreibt, 
hatte zu der Vermutung geführt, sie könne 
auch die Absonderung des Schleims in der 
Lun^e vermindern oder seine Aufsaugung 
beschleunigen. In diesem Gedanken hatte 
man sie angewandt beim bronchialen 
Asthma und bei der Phthise. 

Beim Asthma waren die Versuche 
besonders ausgeführt worden von Eras¬ 
mus Darwin, dem als Arzt, Dichter und 
Naturforscher nicht unbedeutenden Gro߬ 
vater des bekennten Charles Darwin. 
Ferner meinte Sugrue in Cork, daß dabei 
die Verschleimung und der Auswurf mehr 
abgenommen habe als nach den antimon¬ 
haltigen Arzneien. Da nun von den 
letzteren ja nichts Großes zu erwarten ist, 
so will das Lob nicht viel bedeuten. Es 
sind dabei immer hohe Gaben Digitalis 
gereicht worden; infolgedessen kamen 
ohne Absicht auch manche Vergiftungen 
vor. Eine solche aus Versehen entstan¬ 
dene hat B. de Villiers selbst beob¬ 
achtet und 1817 ziemlich genau veröffent¬ 
licht. Während der schweren Vergiftung 
trat der asthmatische Zustand fast ganz 
zurück. Aber noch vor ihrem völligen 
Ablauf begann das Asthma wieder. Auch 
sonst nützte das Mitteigegen diese Krank¬ 
heit so wenig, daß es dabei später nur 
noch in Verbindung mit anderen Mitteln 
gebraucht wurde. — Dem entspricht auch 
meine Erfahrung. Ich habe mir mehrere 
Jahre hindurch alle Mühe gegeben, asth¬ 
matische Anfälle mit Digitalis zu bessern, 
und zwar in kräftigen Gaben. Selbstver- 

Nach einem am 18. Oktober 1920 in der 
Medizinischen Gesellschaft in Düsseldorf ge¬ 
haltenen Vortrag. 


ständlich nützte das Mittel etwas, wenn 
eine Herzstörung mitspielte; wo an deren 
Stelle neben dem neuropathischen Zu¬ 
stand ein chronischer Katarrh bestand, 
war der Nutzen schon recht zweifelhaft; 
in den reinen Fällen de§ Bronchial¬ 
krampfes aber habe ich von der Digitalis 
gar keinen Vorteil gesehen. Hier bleibt 
eine der bekannten narkotischen Ein¬ 
spritzungen das Beste; und um bei einer 
solchen das augenblicklich etwa ange¬ 
griffene Herz zu beleben, schien mir dann 
eine Tasse starken Kaffees zweckmäßiger 
zu sein. 

Weit ^zahlreicher und im allgemeinen 
günstiger waren die Befunde der Eng¬ 
länder bei der Phthise. Es ist natürlich 
im Auge zu behalten, daß unter diesem 
Namen damals nicht nur die Tuberkulose 
der Lunge, sondern jedenfalls noch etwas 
öfter, als es heute vorkommt, gutartige, 
wenngleich schwächende Katarrhe zu¬ 
sammengefaßt wurden. 

Wenigstens zehn namhafte ärztliche Schrift¬ 
steller haben sich damals in England rühmend 
über die Digitalis' bei Schwindsüchtigen aus¬ 
gesprochen. Wenn nicht Heilung, so sollte 
mindestens eine Verlängerung des Lebens erreicht 
werden, und wo der Tod 'erfolgte, sei er mit 
geringerem Kampf oder Schmerz eingetret^n. 
Moßmann in Bradford lehrte, seinen Zeit¬ 
genossen vorauseilend, daß diese Wirkung in 
allen Organen nur erklärbar sei durch derf Ein¬ 
fluß der Digitalis auf das Herz und die Arterien. 
Auf diesem Wege vermindere sie die Anschoppung 
in der Lunge sowie den Schleim, die Beklemmung 
und den Hustenreiz; selbst das hektische Fieber 
könne gemäßigt werden. 

Von den vier bedeutendsten Arbeiten habe 
ich die Originale durchsehen können. Über 
John Ferriar, der besonders auf die vorzügliche 
Digitaliswirkung bei spontanen Blutungen, also 
auch bei der Hämoptoe hinwies, habe ich schon 
früher berichtet (1912 in der ,,Ther. d. Geg.“). 
Deshalb gehe ich darauf hier nicht ein. Aller¬ 
dings möchte ich bemerken, daß bei Hämoptoe 
die ganz vortreffliche Wirkung der Digitalis, die 
mir seitdem auch von vielen Kallegen bestätigt 
worden ist, doch verdient, noch allgemeiner be¬ 
kannt zu werden. Etwas näher möchte ich hier 
die drei anderen Autoren besprechen, zuerst 
Thomas Beddoes in Clifton^). Dieser, damals 
47 Jahre alt, hatte seit drei Jahren viele Schwind¬ 
süchtige aus allen Ständen einer Behandlung 
unterworfen, bei der ein warmes Zimmerklima 
mit dem Digitalisgebrauch vereinigt wurde. 
Anfangs hatte er die Wärme von Kuhställen 
benutzt, indem er entweder die Kranken im Stalle 


2) Th. Beddoes, M. D,, Observations on the 
medical and domestic management of the con- 
sumptive; on the powers of Digitalis purp., and 
on the eure of scrophula. London 1801. 




November 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


427 


schlafen ließ oder die Stalluft durch eine weite 
Röhre in den naheliegenden Wohnraum über¬ 
leitete; später begnügte ,er sich mit verstärkter 
Zimmerheizung der gewöhnlichen Art. 

Als Beispiel seiner Erfolge erzählt er drei 
Krankengeschichten, am genauesten die von 
einem 22jährigen schmächtigen Herrn und einer 
ebensolchen Dame, die beide aus Familien stamm¬ 
ten, in denen die Schwindsucht bereits zahlreiche 
Opfer gefordert hatte. Alle Zeichen traten so 
auf, daß auch heute-daraus auf den Beginn 
einer wirklichen Phthise geschlossen worden wäre. 
Es wurden dreimal täglich einige Tropfen der 
Tinktur genommen; bei'dem Herrn ist ihre Zahl 
nicht angegeben, bei der Dame waren es zuerst 
vier, dann sechs, dann acht Tropfen, mehr ver¬ 
trug sie nicht. Die Kranken nahmen die Tropfen | 
mindestens fünf Wochen lang, der Herr über 
ein Viertel Jahr lang!! Es trat volle Heilung 
ein, so daß der Herr ein Jahr später nach Ost¬ 
indien reisen konnte. 

Es ist zu betonen, daß Beddoes einen Erfolg 
nur dann erwartete, wenn die Lunge noch nicht 
ulceriert war, also nur im Beginn der Krankheit. 
Dann rechnete er auf Heilung bei drei von fünf 
Fällen gleich 60 %. Er sagt: wenn unter Digitalis 
erst das Fieber, der Husten und Auswurf ge¬ 
schwunden sind und die Gewichtsabnahme auf¬ 
hört, so daß nur noch die Zeichen der Chlorose 
bestehen, dann ist zwar viel gewonnen, aber die 
Phthise noch nicht geheilt; deshalb müsse die 
Digitalis weiter gebraucht werden, jedoch ver¬ 
bunden mit Eisen! Die Kunst sei, von dem 
Mittel nur so viel zu geben, daß es nicht störend 
wirke, um recht lange genommen werden zu 
können. Während die Blutbewegung gckräftigt 
werde, würden auch die Nerven beruhigt, ohne 
Unterschied, ob man die Tinktur oder die ge¬ 
pulverten Blätter nehmen lasse. Er erklärt die 
Wirkung dadurch, daß infolge der Anregung des 
Kreislaufs (excitement of the System) die innere 
Oberfläche der Lunge weniger absondere und die 
Lymphgefäße mehr aufsaugen; damit zugleich 
vermindert sich die Reizung der Nerven und 
folglich nehme auch der Husten ab. (Pulmonary 
surfaces discharge less mucus and matter; the 
lymphatics absorbe more; the nerves lose their 
acquired sensibility and the cough abates.) Er 
stellt den Digitalisgebrauch im Beginn der 
Schwindsucht ebenso hoch wie die damals noch 
junge Schutzimpfung gegen die Pocken. 

Ich komme zu Kinglake in BristoP). Auch 
dieser rät, mit kleinen Mengen zu beginnen, gibt 
aber etwas mehr als Beddoes. Ein Erwachsener 
soll zum Beispiel, falls die Tinktur gewählt wird, 
gewöhnlich zuerst zehn Tropfen dreimal täglich 
nehmen und diese steigern, solange Übelkeit, 
Schwindel oder Herzklopfen ausbleiben; sobald 
derartiges sich zeigt, wird die Gabe vermindert. 
Die Tinktur wurde auf Grund der drei damals in 
England geltenden Pharmakopoen entweder im 
Verhältnis von 1 :5 oder I ;6 hergestellt; aber 
sie hatte wegen der unsicheren Blätterverhält¬ 
nisse eine sehr schwankende und oft geringe 
Stärke. Seine 15 Fälle sind nicht so klarerzählt 
wie die seiner Vorgänger. Auch er erwartet 
Hilfe nur im Anfangsstadium und rechnet dann 
auf Heilung bei einem von drei Kranken gleich 
33%. 


Robert Kinglake, M. D., Gases and 
observations on the medicinal efficacy of Digi¬ 
talis purp, in Phthisis pulmonalis etc. — Appendix 
zu dem Buch von Beddoes, 1801. 


Der dritte Autor ist Sanders in Edinburgh*). 
Spine Krankengeschichten, bei denen er nur 
kleine Dosen gegeben hatte, zeigen hauptsächlich, 
daß er die Beschleunigung des Pulses, die, ja 
nach Digitalis manchmal (besonders nach der 
Tinktur) anfangs auftritt, als etwas Regelmäßiges 
und Wesentliches ansah. Bei der Phthise unter¬ 
scheidet er mehrer^e Verlaufsarten. Die gewöhn¬ 
liche ist die inflammatorische. In deren erstem 
Stadium ist die Entzündung eben deutlich ge¬ 
worden ; das zweite und dritte wird durch Eiterung 
und Gangrän erkennbar. Auf Grund seiner 
theoretisch vorausgesetzten Pulsbeschleunigung 
nimmt er an, daß bei allen Entzündungen die 
Digitalis nicht geeignet sei, also auch nicht im 
ersten Stadium der inflammatorischen Phthise. 
Aber wenn der Auswurf jauchig wird, seien die 
stärkendsten Mittel erforderlich; dazu rechnet er 
Wein, Cinchona, Campher und Digitalis. Letztere 
sei also im dritten Stadium (wie wir sagen würden, 
als symptomatisches Mittel) unbestreitbar nütz¬ 
lich. 

Kurz gefaßt läßt sich aus den ein¬ 
gehenden englischen Untersuchungen fol¬ 
gendes Ergebnis ableiten: Die Digitalis 
trägt im Anfangsstadium der Phthise in 
lange gegebenen kleinen Dosen merklich 
zur Heilung bei; im zweiten, längsten 
Stadium ist von ihr wenig zu erwarten; 
im Schlußstadium kann sie manche Be¬ 
schwerden erleichtern. 

In der folgenden Zeit achtete man 
nicht mehr auf die Regeln jenei ausge¬ 
zeichneten Beobachter. Der planlose Ge¬ 
brauch der Digitalis bei allen Formen der 
Schwindsucht führte bald zu großen Ent¬ 
täuschungen und zu völliger Mißachtung 
der Heilanzeige. Das geschah besonders 
in Deutschland, als Virchows anato¬ 
mischer Lehrsatz durchgedrungen war, 
daß jede Krankheit eine örtliche Ursache 
habe und am besten örtlich zu behandeln 
sei; erst recht, als die bakteriologischen 
Entdeckungen Kochs und seiner Schüler 
auf das Ziel hinwiesen, vor allem den 
Bacillus zu bekämpfen. 

Aber wir Heutigen müssen an die ver¬ 
schüttet gewesene Indikation ohne Vor¬ 
urteil herantreten. Die 'Engländer waren 
mit ihrer Wertschätzung der Digitalis 
gegen die Schwindsucht entschieden zu 
weit gegangen; aber von ihren teilweise 
vorzüglichen Beobachtungen bleibt doch 
manches beachtenswert. Der Zusammen¬ 
hang der Organerkrankungen mit dem 
Allgemeinzustand ist heute wieder allge¬ 
mein anerkannt. Auch örtliche Krank¬ 
heiten suchen wir durch Vermittlung der 
Körpersäfte und durch Hebung des Kreis¬ 
laufs heilsam zu beeinflussen. So sind wir 


*) James Sanders, M. D., one of the Pre- 
sidents of the royal medicinal and physical 
societies of Edinburgh. — Treatise on pulmonary 
Consumption, etc. Edinburgh 1808. 

54* 




428 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


NavembeV 


berechtigt, unser mächtigstes Kreislauf¬ 
mittel auch bei der Schwindsucht neu zu 
prüfen. Das gilt besonders, weil die Di¬ 
gitalis ja so harmlos ist, wenn sie als Prä¬ 
parat von bekannter Stärke in kleinen 
Gaben verwandt wird. Ich betone die 
Harmlosigkeit, wejl M. Sänger-Magde¬ 
burg in seiner Arbeit über Gefäß- und 
Herzmittel bei Bronchialkatarrhen sagt, 
er habe dabei eine Prüfung der Digitalis 
nicht versucht wegen ihrer größeren 
Giftigkeit gegenüber Coffein, Adrenalin 
und Hydrastis^). Er bekennt aber von 
der Hydrastis, daß sie bei längerem Ge¬ 
brauch manchmal zu Blutspeien führe. 

Ich habe nun seit etwa 15 Jahren die 
Digitalis bei chronischen Lungenleiden 
versucht. Vom Asthma ist schon eingangs 
gesprochen. Bei chronischen Bronchial¬ 
katarrhen, besonders älterer Leute, habe 
ich jährlich mehrere Male, im ganzen 
vielleicht bei 50 Fällen, gerne der sonstigen 
Arznei etwasr Digitalis zugesetzt, nämlich 
dann, wenn mir bei dem Katarrh die 
Circulation irgendwie gestört erschien, 
auch ohne daß ein Herzfehler vorlag. Ich 
vereinige die Digitalis mit anderen stark 
wirksamen Mitteln nur dann, wenn die 
Digitaliswirkung von den anderen Wir¬ 
kungen gut unterschieden werden kann. 
So habe ich öfter ein Infus aus Ipecacuanha 
mit Fol. Digit, titr. gegeben (z. B. Ipecac. 
0,4 und Föl. Digit, titr. 0,8 ad 200,0), 
natürlich nicht mit Liqu. ammon. anis., 
dagegen zur Konservierung mit etwas 
Spiritus und als Corrigens 5,0 Glycerin. 
Bei starkem Hustenreiz fügte ich noch 
ein Narkoticum in kleiner Dose hinzu. 
Wenn derartiges längere Zeit nötig wurde, 
so gab ich Tropfen, nämlich Digitalysat 
14,0, Tinct. op. 4,0, Spiritus 2,0, täglich 
dreimal fünfzehn Tropfen. — Auch Pul¬ 
vern oder Pillen kann man Fol. Digit, 
titr. mit Vorteil zusetzen. Niemals habe 
ich von diesem Zusatz einen Nachteil 
gesehen. Andererseits konnte ich in 
manchen Fällen mich davon überzeugen, 
daß die Wirkung mit dem Zusatz besser 
war als ohne ihn. Dies erklärt sich dar¬ 
aus, daß gerade bei älteren Leuten, soviel 
häufiger als man denkt, eine Schwäche 
der Herztätigkeit neben dem chronischen 
Katarrh besteht. 

Was die Phthise betrifft, so kann ich 
aus deren Anfangsstadium leider kein 
Ergebnis berichten. Wenn der praktische 
Arzt in der Großstadt eine beginnende 
Phthise erkannt hat, so ist es meines Er- 

M.m, W. 1914, Bd. 18, S. 985. 


achtens seine wichtigste Aufgabe, den 
Kranken möglichst bald in eine Heilstätte 
zu bringen. Bis zur Aufnahme, auf die 
ja gewöhnlich mehrere Monate gewartet 
wird, habe ich in einigen Fällen kleinste 
Digitalismengen wochen lang gegeben. 
Jedes der heutigen gleichmäßigen Präpa¬ 
rate wird dafür geeignet sein. Ich wählte 
entweder die Fol. Digit, titr. und hielt 
mich dabei zwischen 6 und 10 cg täglich,, 
oder ich gab Digitalysat (Bürger) mit 
täglich 10 Tropfen, weil es milder ist als 
die Tinktur und ich mich an den Tropfen¬ 
gebrauch der alten Engländer anlehnen 
wollte. Derartig kleine Mengen kann 
man viele Wochen lang ohne jeden Nach¬ 
teil geben, und sie sind doch nicht wir¬ 
kungslos, wie man bei Herzstörungen 
sehen kann. Über die Ergebnisse kann 
ich nichts Sicheres berichten,"weil die 
Kontrolle gefehlt hat. Die betreffenden 
jungen Leute fühlten sich nur wenig 
krank, so daß es ungewiß blieb, ob sie 
die Verordnung befolgten und ob ihr 
nicht andere Schädlichkeiten ' entgegen¬ 
wirkten. Und wenn die Kranken sich 
wieder wohl fühlten, so haben sie die 
Arbeit wieder aufgenommen und sich aus 
dem ärztlichen Gesichtskreis verloren. 
Deshalb werden Beobachtungen solcher 
Fälle besser in kleinen Orten angestellt,, 
wo der Arzt seine Leute jahrzehntelang 
um sich sieht, oder in Heilstätten, wo 
die Kranken mehrmals einzukehren pfle¬ 
gen und von wo sie brieflich erreichbar 
sind. 

Im zweiten, längsten Stadium der 
Phthise habe ich öfter Digitalis gegeben,, 
wenn Kreislaufstörungen hervortraten. 
Aus solchem Anlaß tut das wohl jeder 
Arzt mehr oder weniger; deshalb gehe ich 
darauf nicht näher ein. 

Aus dem letzten Stadium der Phthise 
habe ich in der Atemnot, die ja nicht 
selten besonders des Nachts auftritt, ein 
Symptom gefunden, bei dessen Be¬ 
kämpfung ein Digitalispräparat von 
hohem Wert ist. Gegen solche Atemnot 
oder Beklemmung habe ich am häufigsten 
die Tinct. Stroph. titr. gegeben,^ weil hier 
ein Mittel nötig ist, das schnell wirkt, ohne 
daß es lange zu wirken braucht. Wenn 
über Beklemmung am Tage geklagt wurde,, 
so verschrieb ich z. B. Tinct. Stroph- 
titr. 1,0 als Zusatz zu einem Ipecac.-In. 
fus. Wo sie aber gewöhnlich nur nachts 
auftrat, verordnete ich Tinct. Stroph. 
titr. 3,0, Tinct. opii 5,0, Tinct. aurantü 
8,0, davon abends fünfzehn bis zwanzig 
Tropfen in Wasser zu nehmen. 




November 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


429 


Über einen dieser Fälle möchte ich etwas 
Genaueres berichten. Ein jtmger Bankbeamter 
war im'Sommer 1912 von einem rechtsseitigen 
Spitzenkatarrh in einem Sanatorium so gut her¬ 
gestellt worden, daß er wieder 2% Jahre lang 
vollen Dienst tun konnte. Aber im Winter 
1915/16 brach er zusammen. Die ganze rechte 
Lunge war jetzt krank. Es fanden sich reichlich 
Bacillen. Dazu bestand ein Larynxgeschwür. 
Trotz aller therapeutischen, auch fachärztlichen 
Bemühungen rascher Verfall. Ende Februar 
1916 öfter Blutspucken. Im Mai ein Anfall von 
Lungenödem. Seitdem begannen die nächt¬ 
lichen Beklemmungen. Er bekam die obigen 
Tropfen und fühlte sich damit bedeutend besser, 
obgleich die Abendtemperaturen meistens hoch 
waren. In den folgenden Monaten zeitweise ein 
Geschwür in der rechten Nasenöffnung und ein 
Decubitus am linken Schulterblatt, ein paarmal 
Darmblutung; im Anfang des Winters ein Anal¬ 
geschwür und nachher eine paranale Ifistel. 
Während dieser Zeit wurde mehrere Male ver¬ 
sucht, die Tropfen ohne Strophanthus zu geben; 
dann litt er jedesmal durch die Beklemmungen 
mehr als durch seine sonstigen Leiden. Er hing 
am Leben und war froh, daß die Tropfen es ihm 
verlängerten. Erst Ende Februar 1917 wurde 
Morphium unumgänglich, worauf er dann Mitte 
März starb. f| 

Hier hatten die drei bis vier Tropfen 
der Tinct. Stroph. titr. jeden Abend zu¬ 
sammen mit 5—7% Tropfen Opium¬ 
tinktur sich so'bewährt, daß der Schwer¬ 
kranke sie neun Monate lang keinen Abend 
missen wollte. Man darf diese geringe 
Menge der starken Tinktur bei schwachen 
empfindlichen Kranken nicht unter¬ 
schätzen. Im übrigen hat schon de Vil- 
liers gesagt, daß der günstigste Zeit- 
p.unkt, bei vorgeschrittener Phthise Digi¬ 
talis zu geben, der Abend sei. Wahr¬ 
scheinlich wird auch er die Erleichterung 
solcher Beklemmungen gekannt haben. 
Und wenn er meinte, man solle sie 
,, ^Stunde vor der gewohnten Fiebersteige¬ 
rung“ geben, so galt dies für die langsamer 
wirkende Digitalistinktur, während ich 
für die schneller wirkende 'Strophanthus- 
tinktur die Mitte zwischen Abendessen 
und Schlafenszeit als das Beste gefunden 
habe. 

Nach alledem war bei mir der Wunsch 
entstanden, daß die Digitalisgruppe ein¬ 
mal gründlich in einer Lungenheilstätte 
geprüft würde. Im Winter 1919/20 unter¬ 
nahm auf'meinen Vorschlag Loges, der 
Leiter der nahen Heilstätte Hösel, die 
damals nur mit Männern belegt war, 
einige Versuche mit Digitalysat. Aber 
durch äußere Hemmungen ungeduldig 
geworden, begingen wir zwei Fehler: 
wir verzichteten auf eine Auswahl der 
Fälle, und wir gaben dreimal täglich 
10 Tropfen. Letzteres wurde einigen 
Leuten bald unangenehm, so daß der 


Versuch nach 14 Tagen abgebrochen 
werden mußte. Ich halte das für sehr 
lehrreich. Man sollte sich möglichst an 
die vorerwähnten kleinsten Gaben halten, 
die auch bei langem Gebrauch nicht 
lästig werden, und man sollte die Fälle 
auswählen nach den Grundsätzen, die 
aus der reichen Erfahrung der früheren 
Engländer abgeleitet werden durften. 

Zur Begründung solcher Versuche muß 
man sich den Hergang bei der Wirkung 
klar machen. Ich halte die Ansicht nicht 
für richtig, die z. B. Länder Brünton 
vor 40 Jahren vertreten hat, daß die un¬ 
mittelbar arterienverengende Kraft der 
Digitalis in therapeutischen Dosen ein 
Abschwellen der gereizten Schleimhäute 
bedinge®). Wenn beim Tier nach Digi¬ 
taliseinspritzung eine Verengung der Me¬ 
senterialarterien beobachtet wird, so nennt 
der Pharmakologe die dazu nötige Dosis 
klein, aber auf das Tiergewicht ^ be¬ 
rechnet ist sie doch für eine chronische 
Kur noch zu groß. (In dem eingangs 
erwähnten Vergiftungsfall bei Asthma 
mag die Arterienverengung mitgespielt 
haben.) Viel näher liegt der Gedanke, 
daß der Lungenkreislauf • auch nach 
kleinen länger gebrauchten Dosen ent¬ 
lastet wird, einfach infolge der auf kar¬ 
dialem Wege hervorgerufenen besseren 
Verteilung des Blutes, immer voraus¬ 
gesetzt, daß der Kreislauf vorher irgend¬ 
wie gestört war. Diese Annahme, die 
schon von Schmiedeberg aufgestellt 
worden ist’), reicht vollkommen aus. 
Bei der Pneumonie ist leider eine solche 
Entlastung kaum zu erwarten, weil von 
der anhaltend hohen Temperatur die 
Reserven des Herzens schon angespannt 
werden und das Herz durch die Toxine 
geschädigt wird. Aber bei den chroni¬ 
schen Leiden mit nur abendlich vorüber¬ 
gehender Temperatursteigerung ist immer 
ein Überschuß an Herzkraft vorhanden, 
der von der Digitalis herangeholt werden 
kann. 

Die Voraussetzung des vorher ge¬ 
störten Lungenkreislaufs wird gewöhn¬ 
lich erfüllt sein. Zunächst bewirkt die 
tuberkulöse Erkrankung doch jedesmal 
eine örtliche Störung. Für noch wichtiger 
halte ich es, daß' bei der Anämie des 
Anfangsstadiums überhaupt das Herz 
schlaff zu sein pflegt und weniger arbeitet 

®) Nach H. Schulz, Digitalis, in Eulen¬ 
burg, Real-Enzyklopädie, 3. Aufl., VI. Bd. 
(1895), S. 13. 

’) 0. Schmiedeberg, Grundriß der Pharma¬ 
kologie, 5. Aufl., 1906, S.281. 




430 


Die Tljerapie der Gegenwart 1921' 


November 


als es könnte. Mancher Anreiz, den es 
beim Gesunden vom regsamen Körper 
empfängt, fällt beim kränkelnden Körper 
fort und wird dem Herzen vielleicht 
gerade durch die therapeutische Scho¬ 
nung vorenthalten. So entsteht hinter 
dem linken Herzen, also in der Lunge, 
eine erhebliche allgemeine Kreislaufstö¬ 
rung. Diese zu beheben, das Herz mit 
sanftem Zwang zu erhöhter Leistung zu 
führen, haben wir im Fingerhut den 
mächtigen Mahner. Das lebhafter tätige 
Herz ernährt sich > selbst besser; die 
relative Stauung in der Lunge wird auf¬ 
gehoben und ihr ganzes Parenchym 
kommt unter günstigere Bedingungen. 
Wie ich einem kürzlich von Brugsch 
gehaltenen Vortrag^) entnehme, kann 
man rechnen, daß nach voller Digitali¬ 
sierung ein Herz, das vorher schwach ge¬ 
arbeitet hat, sein Schlagvolumen auf das 
Zweieinhalb- bis Dreifache steigert. Wenn 
wir bei monatelanger kleiner Digitali¬ 
sierung die Herzarbeit von 100 nur auf 
150% steigern, so ist das schon ein ge¬ 
waltiger Zuwachs. Und wenn ent¬ 
sprechend diesem Grad der besseren 
Lungendurchblutung die Zahl der Aus¬ 
heilenden stiege, so wäre der Gewinn 
bedeutend. 

Ich möchte das Besprochene zusam¬ 
menfassen. Die historischen, praktischen 
und theoretischen Ergebnisse stimmen 
ergänzend gut zu einander. Zunächst ist 
die Digitalis kein Specificum gegen irgend¬ 
ein Lungenleiden. Überhaupt sollte der 
Bereich ihrer Anwendung nicht sehr weit 
gezogen werden, damit sie nicht auch 
dort in Mißachtung gerät, wo sie ange- 
8) D. m. W. 1920, Nr. 34. 


bracht ist. Bei vielen chronischen Lun¬ 
genleiden spielt eine Kreislaufstörung 
mit, die durch Digitalis gebessert werden 
kann. Welche Formen sich zu solcher 
Beeinflussung besonders eignen, müßte 
noch genauer festgestellt^ werden. Was 
sich bis jetzt sagen läßt, ist folgendes: 
Beim bronchialen Asthma ist ein Erfolg 
mit Digitalis im allgemeinen nicht zu er¬ 
warten, außer in den selteneren Fällen, 
wo neben dem bronchialen Krampf und 
Katarrh eben eine Herzstörung mit zu¬ 
grunde liegt. — Häufig lassen sich die 
chronischen Bronchialkatarrhe älterer 
Leute durch eine Verbindung der Digi¬ 
talis mit anderen Mitteln (z. B. Campher, 
Opium) günstig beeinflussen. — Bei der 
Phthise ist zwischen den drei Stadien zu 
unterscheiden. Sehr wahrscheinlich kann 
im Beginn der Krankheit neben jeder 
anderen nicht zu vernachlässigenden all¬ 
gemeinen Therapie die Digitalis eine 
merkliche Hilfe sein. Dazu würde eine 
monatelange Anwendung nötig sein in 
so kleinen einmaligen Tagesgaben, daß 
keine Magenbelästigung entsteht. Sollte 
sich nicht ein Heilstättenarzt finden, der 
die Geduld zu solchem Versuch hat? — 
Bei den meisten Phthisikern, die sich 
ja im mittleren Stadium befinden, ist 
von der Digitalis nur ausnahmsweise 
etwas zu erwarten, nämlich wenn zeit¬ 
weilig besondere Kreislaufstörungen auf- 
treten; eine solche wird z. B. angezeigt 
durch Blutspeien (vgl. Th. d. Geg. 1912). 
— Im letzten Stadium der Phthise er¬ 
scheint gegen die dyspnoischen Beklem¬ 
mungen die titrirte Strophanthustinktur, 
gemischt mit etwas Opium, als sehr ge¬ 
eignet. 


Zusammenfassende Überslclit. 

Der jetzige Stand der Radiumemanattonstherapie. 

Von Dr. Engeltnann, Kreuznach. (Schluß.) 


Gicht. 

Wir kommen nun zu einem weiteren, 
fast möchte man sagen, dem Indikations¬ 
gebiet der Radiumemanationstherapie, 
am geläufigsten aJs solchem dem breiteren 
Arztekreise, fast populär auch dem Laien: 
der Gicht. 

Die oben erwähnten beobachteten 
Beeinflussungen des Stoffwechsels unter 
Emanationswirkung machten die alt¬ 
bekannten Heilerfolge mancher Badeorte, 
soweit sie sich nachträglich als Radium¬ 
bäder herausstellten, plausibel. Aller¬ 
dings andere Stoffwechselerkrankungen 


ließen eine entsprechende Beeinflussung 
vermissen. 

Die bei normalen Individuen fest¬ 
gestellte Sjteigerung der sogenannten en¬ 
dogenen U-Ausscheidung bei ^ einer Ra¬ 
diumemanationskur scheint bei Gichti- 
kern in erhöhtem Maße stattzufinden. 
Es liegen da eine ganze Reihe sehr sorg- 
fäjtiger Beobachtungen aus den ver¬ 
schiedensten Kliniken vor, so daß daran 
nicht mehr gezweifelt werden kann. Eine 
andere Frage ist, wie und ob das Ver¬ 
halten des Harnsäurespiegels des Blutes 
mit der Gicht in Zusammenhang ge- 



November , ' ' Die Therapie der 


bracht werden darf. Die Anschauungen 
sind da noch widersprechend, ob Gicht 
und harnsaure Diathese eins sind, oder 
ob, wie andere meinen, verschiedene, ja 
gegensätzliche Störungen. 

Weintraud z. B. faßt die harnsaure 
Diathese als eine Stoffwechselstörung auf, 
dank welcher viel Harnsäure gebildet 
und ausgeschieden wird. Wenn im Urin 
ungenügende Lösungsbedingungen vor¬ 
liegen, kommt es zu Niederschlägen. Bei 
der Gicht, sagt Weirftraud, liegt eine 
Störung vor, derart, daß Harnsäure im 
Organismus zurückgehalten wird. 

Schiften he Im führt seine Hypo-' 
these noch weiter zurück, indem er sagt, 
die Umbildung der Purinbasen in Harn¬ 
säure wird geschädigt und die weitere 
Verbrennung der Harnsäure im Körper 
durch mangelhafte Funktion des uri- 
kolytischen Ferments gestört. 

Jedenfalls, wie dier chemisch-biolo¬ 
gischen Prozesse im einzelnen sind, bei 
der Pathogenese der Gicht spielen pri¬ 
märe Anomalien des Puriiistoffwechsels 
eine große Rolle. Eine Beeinflussung des 
Purinstoffwechsels im steigerndem Sinne 
durch Radiumemanation ist, wie Wir oben 
sahen, einwandfrei festgestellt, somit ein 
Zusammenhang gegeben. — Eine.Beein¬ 
flussung der Körperfermente im fördern¬ 
den Sinne unter Emanationswirkung be¬ 
steht, wie eine große Reihe Versuchsan¬ 
ordnungen ergeben haben. Eine Beein¬ 
flussung eines supponierten urikoly- 
tischen Ferments (nach Schittenhelm) 
wäre also wohl verständlich. Die An¬ 
wendung von Emanation bei gichtischer 
Diathese ist also wissenschaftlich wohl 
fundamentiert. 

Die klinischen Erfahrungen und Be¬ 
obachtungen entsprechen dem voll¬ 
ständig. Nach einer fast stets auftreten¬ 
den Reaktion, in den ersten Tagen, die 
sehr heftig werden kann und zu aller¬ 
kleinsten Dosen auffordert, die sich auch 
noch ein zweites, drittes Mal wiederholen 
kann, sieht man häufig schon während 
der Kur geringe Besserung: Zurück¬ 
gehen von Schwellungen, Steifigkeiten, 
Abnahme der Schmerzen, Zurückgehen 
der Tophi und Besserung des Allgemein¬ 
befindens. Die eigentliche Besserung 
setzt dann erst später ein, gewissermaßen 
wenn der Organismus durch Überschwem¬ 
mung mit Radiumemanation umgestimmt 
ist. Die Anfälle bleiben weg, das All¬ 
gemeinbefinden bessert sich dauernd 
und vor allem der Harnsäuregehalt im 
Blut geht zurück. 


Gegenwart 1921 ~ . 431 


So hochgradige gichtische Veränderun¬ 
gen wie bei einem Krankenmaterial in 
einem Badeorte mag man wohl selten an 
Kliniken sehen. Ich erinnere mich an 
Zustände, wo fast kein Gelenk verschont 
War, wo der ^Körper übersät war mit 
Tophi. Da kann man nicht vorsichtig 
genug Vorgehen mit der Dosierung, 
kleinste Dosen bringen das ganze System 
schon in Erschütterung, den Eindruck hat 
man, und lösen schwere als Reaktionen 
zu betrachtende Anfälle aus, die auf der 
andern Seite demonstrieren, wie ein¬ 
greifend die Emanation auf den gichti¬ 
schen Organismus wirkt. 

Vor einigen Jahren konnte ich in 
Tierversuchen demonstrieren, wie künst¬ 
liche Tophi unter Emanationseinfluß be-' 
schleunigt zur Resorption kamen. Harn¬ 
säurekristalle unter die Haut gebracht, 
geben nach einiger Zeit das histologische 
Bild von Tophi. Die physiologisch lang- 
.sam und nicht völlig zur Resorption 
kommenden Depots werden erheblich 
schneller und fast restlos aufgesaugt, 
wenn die Tiere bei denen die Depots 
angelegt sind, Emanationswasser ein¬ 
geflößt erhielten. Ein sorgfältiger Beo¬ 
bachter wie Strasburger, hat nach 
Trinkkuren, die bemerkehswerte Erfolge 
bei einer Reihe gut kontrollierter Gicht¬ 
fälle hatten, auch das Verschwinden von 
Tophi festgestellt und darauf aufmerksam 
gemacht. 

Was die Methodik anbetrifft, so sind 
Trinkkuren und Inhalationen angezeigt, 
je nach Geschmack. Falta, His und 
G.udzent sahen ihre Erfolge zumeist bei 
Inhalationen,- Strasburger und die 
Londoner Autoren nach Trinkkuren. 
Bei den emanationsempfindlichen Orga¬ 
nismen empfiehlt sich wegen der Vor¬ 
sichtigeren Dosierungsmöglichkeit viel¬ 
leicht die Trinkkur, der Wir Kreuz- 
nacher Ärzte mehr zuneigen. Wo höhere 
Dosen vertragen werden und indiziert 
sind, nach meinem Eindruck nicht so 
häufig, wie bei den Arthritiden, kombi¬ 
niere man beide Methoden und ordiniere 
selbstverständlich, wo die Verhältnisse 
es erlauben, Bäder und Kompressen. 

In der Gichttherapie dürfte die Be¬ 
handlung mit Radiumemanationen 
wissenschaftlich und klinisch fest fundiert 
sein, als aetiologische, nicht sympto¬ 
matische Behandlungsmethode, wie wenig 
andere. 

Andere Erkrankungen. 

Bei andern Stoffwechselerkran¬ 
kungen, Diabetes, Fettsucht konnte 




Die "Therapie der Gegenwart 1921 


432 


man bisher nicht zu eindeutigen und prä¬ 
zisen Resultaten kommen, obwohl die 
experimentellen Ergebnisse dafür spre¬ 
chen. Es klafft da noch eine Lücke 
zwischen Theorie und Praxis wie so oft. 
Vielleicht bringen höhere'Dosen weiter. 
Was bisher in dem Sinne beobachtet ist, 
beschränkte sich auf Besserungen des 
Zustandes durch Hebung des Allgemein¬ 
befindens. Es wäre dann die Ursache 
nichts Specifisches, was auf die betreffen¬ 
den Stoffwechselstörungen regulierend 
wirkt, sondern eine- ganz allgemeine An¬ 
regung des Stoffwechsels, die sich auch bei 
Stoffwechselgesunden bemerkbar macht 
im Sinne einer Erfrischung, einer Ver¬ 
jüngung des Organismus. Dieses Er¬ 
frischungsmoment läßt sich ja durch eine 
allgemeine Umstimmung des Organismus 
infolge der die Zelltätigkeit anregenden 
Emanation zwanglos erklären und ist 
verständlich. 

Aus derselben Erwägung verstehen '■ 
wir es auch, daß Emanation bei allen den 
Erkrankungsarten indiziert ist, wo 
Resorptionsvorgänge angeregt, un¬ 
terstützt und beschleunigt werden sollen, 
ln der Tat sehen wir günstige Beein¬ 
flussungen beispielsweise bei Narben und 
Verwachsungen,bei chronischen weiblichen 
Beckenerkrankungen: Exsudate, Narben¬ 
reste, Vernarbungen, wo eine Kombina¬ 
tion von Bädern, Kompressen, Scheiden¬ 
spülungen und den, von Eich holz vor 
allem inaugurierten Bleibeklistieren mit 
Emanationswasser (Eichholz nennt es 
ein Bombardement der betreffenden 
Stellen mit Strahlen von allen Seiten), 
sehr wirkungsvoll ist. 

Der Vollstänaigkeit halber nenne ich 
noch Hauterkrankungen, verschie¬ 
denster Art, besonders solche, denen 
vermutlich Stoffwechselstörungen zu¬ 
grunde liegen, und die vermöge univer¬ 
seller Ausbreitung für örthche Therapie 
ungeeignet sind, Magenerlcrankungen, 
die in einer Subfunktion der Drüsen ihre 
Ursache haben, Asthmaund chronische 
Bronchialkatarrhe, für Inhalationen 
und alle die Erkrankungen, wo eine lange 
fortgesetzte anregende Wirkung auf die 
Zellen eine heilsame Wirkung ver¬ 
sprechen. 

Auf eine oft nicht unerwünschte Ne¬ 
benwirkung will ich nicht unterlassen auf¬ 
merksam zu machen: die Anregung des 
sexuellen Bedürfnisses, der^ Libido 
sexualis. von Noorden und Falta 
machten etwa zur selben Zeit darauf auf¬ 
merksam, wie es uns hier in Kreuznach 


Novembef-. 


auffiel; ich verfüge über ganz eindeutige 
Beobachtungen in der Hinsicht, nicht 
nur aus Badekurmaterial. Manchen 
Kollegen wird die Kenntnis solcher Ne¬ 
benwirkung für ihren Therapieschatz nicht 
unlieb sein. Ob dabei mehr die experi¬ 
mentell beobachtete elektive Wirkung der 
Becquerelstrahlen auf die Keimdrüsen 
eine Rolle spielt, oder erst mittelbar die 
von Strasburger u. a. betonte, auch am 
Kreuznacher Krankenmaterial bestätigte 
Wirkung auf Nervengewebe, zum Teil 
in anregendem, zum Teil in beruhigendem 
Sinne, je nach dem individuellen Tonus 
des Nervensystems, bleibt dahingestellt. 
Auch da ist das letzte Wort noch nicht 
gesprochen. Ein gewisser Parallelismus 
im Befinden nervöser Personen und der 
elektrischen Spannung der • Luft, wobei 
nach Grab ly die Erdemanation eine 
Rolle spielen soll, nach Steffen die durch 
a- und /?-Strahlen hervorgerufene Ioni¬ 
sierung der Luft (worauf er seine thera¬ 
peutisch bemerkenswerte Anionenbehand¬ 
lung aufbaut), deutet auf eine zweifellos 
bestehende Überempfindlichkeit des 
Nervensystems gegenüber Strahlen und 
daher therapeutische Beeinflußbarkeit. 

Symptomatisch schöne Erfolge werden 
von vielen Seiten bei Nervenerkrankungen 
zentralen Ursprungs (oben wurden nur 
die peripheren erwähnt), berichtet, eine 
Emanationsbehandlung kann nur drin¬ 
gend anempfohlen werden. Man muß 
als Therapeut dankbar sein, bei diesen 
oft Behandlungswechsel erheischenden Er¬ 
krankungen eine, wenn auch mehr oder 
weniger symptomatische, so doch zu¬ 
verlässige Therapioform an der Hand zu 
haben, die unter Umständen auch Bade¬ 
kuren, die aus irgendeinem Grunde (und 
wie oft wird das jetzt Vorkommen) nicht 
durchführbar sind, ersetzen. 

Gastrische Krisen der Tabes, 
die Nervenschmerzen bei dieser Krankheit 
Trophoneurosen, so die Raynaud- 
sche Krankheit, werden günstig be¬ 
einflußt; Herpes zo-ster sahen ich und. 
andere sich bessern, Lähmungen und 
Apoplexien gingen schneller zurück. 

Ein Erfrischungsgefühl, das auch 
nicht suggestible, recht schwerfällige, 
temperamentlose Personen nicht leugnen 
konnten, ist schon durch eine Trinkkur 
beziehungsweise Inhalationskur allein zu 
erreichen. Verständlich durch die sup- 
ponierte, nach den Versuchen mit einer 
gewissen Berechtigung, anregende Ein¬ 
wirkung auf die Zellfunktion. Emana¬ 
tionskuren wirken belebend, erfrischend, 



November 


Die Therapiö der Gegenwart 1921 


433 


sie -haben geradezu den Ruf von Ver¬ 
jüngungskuren bekommen. 

Emanation und Kreislauf.^ 

Erkrankungen '-oder Störungen 
des Kreislaufs galten anfangs nicht 
als Indikationsgebiet für Emanations¬ 
kuren. Lag doch bei dem Vorhandensein 
bewährter Bäderformen, Kohlensäure, 
natürliche und künstliche, Sauerstoff, 
Vierzelten usw.^keine Veranlassung vor, 
nach neuer Therapie zu fahnden. Die Er¬ 
wägung, ob nicht am Ende diese Erkran¬ 
kungen des Kreislaufs als Kontraindi¬ 
kation zu gelten hätten, da man bei 
stärkeren Kuren manchmal unliebsame 
Zufälle sah, ließ die Aufmerksamkeit auf 
diese Erkrankungen in ihrem Verhältnis 
zur Emanation lenken, bei Erkrankungen, 
wo dieser Befund ein sekundärer war und 
Glicht im Vordergrund der Behandlung 
stand. Man kontrollierte und stellte 
messend fest, daß Blutdruck und Herz¬ 
tätigkeit günstig beeinflußt würden, und 
beobachtete zugleich in Tierversuciien ver¬ 
schiedenster Art eine blutdrucksenkende 
Wirkung auf das Circulationssystem. So 
wurde man gewissermaßen auf dieses bi- 
dikationsgebiet gestoßen und wandte die 
Aufmerksamkeit intensiver auf diese Seite 
der Emanationswirkungsweise. 

Es scheint sich da ein ganz ausge¬ 
sprochenes Indikationsgebiet aer Strahlen¬ 
therapie zu eröffnen, auf das ich be¬ 
sonders hinweisen möchte, zur Nach¬ 
prüfung anregend. 

Die gelegentlich beobachtete, blut¬ 
drucksenkende und herzregulierende Wir¬ 
kung von Radiumbädern und Emana- 
toriumbehandlung erhält eine gewisse 
systematische Unterlage, wenn man Blut¬ 
druckmessungen konsequent anstellt und 
die Resultate mit den entsprechenden 
Tierversuchen in Beziehung bringt. 

Vor dem Kriege nahm ich eine Reihe 
von Blutdruckmessungen vor, um ein 
Bild vom Verhalten des Blutdrucks und 
der Herzarbeit während des Aufenthaltes 
in Radiumbädern zu bekommen. 

Es handelte sich vorläufig um Herz¬ 
beziehungsweise Gefäßgesunde. Die Mes¬ 
sungen sollten an Krankennlaterial weiter- 
gefüh4't werden. Der Krieg unterbrach 
wie so vieles-auch diese Pläne, die Kohlen¬ 
not erlaubte auch später noch nicht, die 
Messungen abzuschließen. Vielleicht ge¬ 
schieht Weiterführung und Abschließung 
der Versuche von anderer .Seite. 

Die Blutdruckmessungen sind ver¬ 
mittelst des Apparates von Riva-Rocci 


un ter Anwendung derRecklinghauserr- 
schen Manschette vorgenommeri. Ich war 
mir bewußt, daß. die Methode ihre Un¬ 
zulänglichkeiten hat und nicht Jrei von 
subjektiven Einflüssen ist. Doch da die 
Nachteile sich bei allen Messungen, also 
auch bei den Vergleichsmessungen im ge¬ 
wöhnlichen Wasserbade (hier jedesmal 
als Süßwasserbqd bezeichnet) wieder¬ 
holen, können sie füglich unbeachtet 
bleiben. Blutdruckmessungen haben wohl 
meist einen relativen Wert, Messungen 
desselben Beobachters sind miteinander 
vergleichbar, aber nicht ohne weiteres 
mit denen anderer Beobachter. Weiter 
ist zu bemerken, daß naturgemäß eine 
absolute, ,,eine Standardkurve“, durch 
Verbindung aer einzelnen Bestimmungen 
und Eintragung in ein Schema, nicht auf¬ 
gestellt werden kann, weder für die Sü߬ 
wasserbäder verschiedener Wärme und 
Kältegrade, noch für Radiumemanations¬ 
bäder. Dazu sind die äußeren Verhält¬ 
nisse, von denen der Blutdruck abhängig 
ist, zu variabel. Doch kann man sich 
wohl aus einer gioßen Anzahl Messungen 
annähernd eine Standardkurve konstru¬ 
ieren. 

Ich habe dem Beispiel Strasbargers 
(,,Einführung in die Hydrotherapie und 
Thermotherapie“) und (,,Über Blutdruck, 
Gefäßtonus und Herzarbeit bei Wasser- 
bädern“)folgend jedesmal den systolischen 
und diastolischen Blutdruck bestimmt, 
die Pulszahl, den Pulsdruck (auch Puls¬ 
amplitude), der nach Strasburger als 
ein annähernd relatives Maß für aas 
Schlagvolumen des Herzens angesehen 
werden kann. Setzt man weiterhin Puls¬ 
druck und Gesamtdruck zueinander in 
Beziehung und vergleicht diesen mit dem 
Maximaldruck, so lassen sich auch ge¬ 
wisse Anscnauungen darüber gewinnen, 
inwieweit Herz und Gefäß jedes für sich 
an der Veränderung des Druckes beteiligt 
sind. Steigt der Quotient (aus Pulsdruck 
und Maximaldruck) und nimmt der Ge¬ 
samtdruck ab, dann spricht das für eine 
Verringerung des Gefäßtonus und um¬ 
gekehrt. Und gibt uns weiter die Puls¬ 
amplitude einen Anhalt für die relative 
Größe des Schlagvolumens, so läßt sich 
natürlich weiter durch Multiplikation der¬ 
selben mit dem Blutdruck und der Puls¬ 
zahl eine gewisse Anschauung über die 
relative Größe der Herzarbeit in der Zeit¬ 
einheit ableiten (Strasburger). 

Ich habe zwei Serien von Messungen 
vorgenommen. Einmal war die Versuchs¬ 
anordnung so, daß die Blutdruckverhält- 

55 



'434 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


November 


nisse derselben Person zuerst im Sü߬ 
wasserbad, dann im Radiumbad geprüft 
wurden, naturgemäß zu verschiedenen 
Tageszeiten oder Tagen. Bei der zweiten 
Serie ließ ich nach Aufenthalt und Mes¬ 
sung in einem Süßwasserbad nach einiger 
Zeit Radiumemanationswasser zusetzen, 
auch gelegentlich noch einen zweiten Zu¬ 
satz nach einer Zeitspanne machen, und 
prüfte den Blutdruck im Verhältnis zum 
unmittelbar vorhergegangenen Wasser¬ 


bad. Bei der Zugrundelegung der oben 
definierten Begriffe fand ich folgendes.: 

Im Radiumbad sank der Druck fast 
durchweg, -blieb einige Male ziemlich un¬ 
beeinflußt, stieg aber im Verhältnis zum 
Anfangswerte nie. Die Pulszahl nahm 
ab, wenn sie nicht'gleich blieb. Der 
Pulsdruck blieb ziemlich gleich, der 
Quotient hatte eine steigende Tendenz, 
die Herzarbeit nahm in dem größten 
Teile der Fälle ab. 


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systolischer 

diasto¬ 

lischer 


Blut¬ 

druck 


Fig. 1. Süßwasserbad Fig. 2. Radiumbad 34» C. 

340 c. = 60000 M.E. 

Berberich (gesund) 30 J. Katzenberger (gesund) 30 J. 

• Puls -Pulsdruck (Relat. 

-Relat. Herzarb. Schlagvolumen) 

i. d. Minute —••— Blutdruckquotient 






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systolischer 

diasto¬ 

lischer 


Fig. 3. Süßwasserbad 34° C, 
dann 2 mal Radiumzusatz 
(je 60000 M.E.) 
Selbstversuch (gesund 36 J.) 

• • Puls 

-Relat. Herzarb. 

i. d. Minute 


Blut¬ 

druck 


Fig. 4. Radiumbad 34° C. 

stark (180000 M.E.) 
Bademeister X. (gesund). 

— •— Pulsdruck (Relat.) 

Schlagvolumen 

— ••— Blutdruckquotient 


Vergleichen wir damit die 
Verhältnisse im Süßwasserbad, 
so finden wir bei derselben 
indifferenten Temperatur den 
Blutdruck meist wenig beein¬ 
flußt, oder auch anfänglich 
steigend, dann fallend, aber 
nicht unter die Anfangswerte 
herabgehend. Die Pulszahl 
nimmt meist etwas ab, aber 
nicht so stark und stetig wie 
bei den Radiumbädern, der 
Pulsdruck bleibt meist unbe¬ 
einflußt oder steigt, der Quo¬ 
tient steigt und die Herzarbeit 
nimmt zu oder bleibt gleich. 

Otfried Müller findet in 
Wasserbädern unterhalb des 
Indifferenzpunktes (33—35®C) 
(mir sind leider die Arbeiten im 
Augenblick nicht zugänglich, 
daher die Zitate nicht er¬ 
schöpfend), Steigen des Blut¬ 
druckes bei Herabsetzung der 
Pulsfrequenz. Daerbei Wasser¬ 
bädern über dem Indifferenz¬ 
punkt nach kurzem Sinken 
wieder Steigen feststellt, müßte 
bei 34°C, der Temperatur mei¬ 
ner Bäder, der Effekt auf Blut¬ 
druck in der Mitte liegen, mehr 
nach den kühlen Bädern zunei¬ 
gend, also eher steigend wie 
sinkend sein. 

Zu ähnlichen Resultaten wie 
Müller kommt Strasburger. 

Also bei den Radiumbädern 
sehen wir ein ausgesprochen an¬ 
deres Verhalten wie bei indiffe¬ 
renten Süßwasserbädern in be¬ 
zug auf den Blutdruck. 

Bei Bewertung dieses Re¬ 
sultates nach obigen Deduk¬ 
tionen deutet dies bei Berück¬ 
sichtigung der Pulszahl darauf 
hin, daß bei Radiumbädern 
von 34° C der Gefäßtonus sel¬ 
ten oder nicht erhöht, meist 












November 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


435 


herabgesetzt ist, und die Herzarbeit in 
der Mehrzahl der Fälle geringer wird. 
Der Widerstand der Blutgefäße nähme 
also eher ab wie zu, die Herzkraft Würde 
geschont, zugleich bei Herabsetzung der 
Pulszahl, was auch eine Erholung für die 
Herzkraft bedeutete. 

Es ergäbe sich daraus, daß Radium¬ 
emanationsbäder vori 34® C und einer 
Stärke bis 60000 Macheeinheitem bei 
gesundem Organismus nicht allein keine 
schädigende Einwirkung auf das Herz- und 
Gefäßsystem ausüben, sondern im Gegen¬ 
teil so schonend wirken, daß anzunehmen 
ist, daß auch bei herz- oder gefäßkranken 
Personen keine Schädigung, eher ein 
wohltätiger Einfluß auf die Circulations- 
organe zu erwarten ist. 

Dies würde sich mit unseren Er¬ 
fahrungen decken. Wir haben immer 
schon die Radiumemanationswirkung als 
blutdrucksenkend bei der hier (in Kreuz¬ 
nach) üblichen Dosierung aufgefaßt, jeden¬ 
falls eher gute wie schlechte Einwirkung 
bei Hypertonien verschiedenster Art und 
Herzinsuffizienzen gesehen. Wie es bei 
höheren Dosen ist, bleibt dahingestellt. 
Kurve Fig. 4 und sonstige Beobachtungen 
könnten dafür sprechen, mit stärkeren 
Bädern vorsichtig zu sein; Blutdruck und 
Herzarbeit steigen anscheinend. Zum 
mindesten sind sie für Herz- und Gefä߬ 
kranke nicht mehr gleichgültig. 

Bei Tierversuchen, die einige Jahre 
zurückliegen, fand ich nach Injektion 
von isotonischer Kochsalzemanations¬ 
lösung (35000 Macheeinheiten) in die 
Schenkelarterie, mit dem Gad - Gowschen 
Tonometer, eine Verlangsamung der Herz¬ 
tätigkeit und eine Abnahme des Gefä߬ 
tonus (vgl. Kurve Fig. 5). 

Vor der Injektion. 

Während der Injektion. 

Fig. 6. Blutdruckkurven, aufgenommen vermittelst des Qad- 
Gowschen Tonometers von radioaktiv gemachter Kochsalz¬ 
lösung = 35000 Macheeinheiten. 

Das würde zu den vorliegenden Re¬ 
sultaten passen. 

Es liegen verschiedene derartige Tier¬ 
versuche, an Kaltblütern und Warm¬ 
blütern vorgenommen, vor; sie müssen 
vorsichtig bewertet und miteinander ver¬ 
glichen werden, da jedesmal die Technik 
eine andere war und die Radium- be¬ 


ziehungsweise Emanationsmenge ver¬ 
schieden groß war. 

Diese meine Messungen sollen, wie 
gesagt, nur orientierende sein, und sa 
kann ich nur mit aller Reserve resü¬ 
mieren: Radiumemanationsbäder 

von 34® C und bis 60000 Mächeein- 
heiten Stärke wirken nicht schäd¬ 
lich auf Herz- und Gefäßsystem. 
Es hat sogar den Anschein, als ob 
sie direkt herz-und gefäßschonend 
wirken, also bei den entsprechen¬ 
den Erkrankungen nicht allein 
nicht kontraindiziert, sondern in¬ 
diziert sind. 

Endgültiges läßt sich erst nach weite¬ 
ren Messungen, vor allem auch bei Per¬ 
sonen mit mehr oder minder großen In¬ 
suffizienzen der Kreislauforgane sagen. 

Ich wollte damit die Aufmerksamkeit 
auf das Wichtige, große, verschlungene 
Gebiet der Circulationsstörungen und ihr 
Verhalten unter EmanationseinWirkung„ 
insbesondere unter Emanationsbäder¬ 
wirkung, gelenkt haben. 

Nierenerkrankungen galten, ganz 
allgemein, das heißt ohne Specifizierung 
der Form, als Kontraindikationen für 
Emanationstherapie. " Die Anschauung 
dürfte auch nicht mehr zu Rechte be¬ 
stehen. Es bleibt Aufgabe genauerer*' 
Beobachtungen, weiterhin festzustellen, 
welche Arten von Nephropathien und 
Nephrosen auszuschließen sind. 

Zunahme der Eiweißausscheidung ist 
beobachtet und mahnt zur Vorsicht. 

• Auch Blutungen gelten als Kontra¬ 
indikation. Zu Hämoptoe und Menor¬ 
rhagien neigende Individuen sind mit 
Vorsicht Emanationskuren zu unter¬ 
ziehen. Häufig sah ich leichte Hämoptoe 
auftreten und unerwünschte Uterusblu¬ 
tungen. 

Zweifellos bedeutet die Radiumema¬ 
nationstherapie eine wertvolle Bereiche¬ 
rung unseres therapeutischen -Schatzes,, 
deren Berechtigung sich nicht allein aus 
einer in der Eigentümlichkeit des Heil¬ 
mittels liegenden besonders intensiven 
Durchforschung der physikalischen und 
biochemischen Eigenschaften herleitet, 
sondern aus einer sehr reichhaltigen prak¬ 
tisch-therapeutischen Erfahrung heraus. 
Eine abgeklärte, abgeschlossene Therapie 
für das alte oben skizzierte Indikations¬ 
gebiet. Eine Therapie, die aber auch noch 
gewisse Entwicklungsmöglichkeiten hat. 

Leider fehlt es noch an dem genügen¬ 
den Vorhandensein von Heilmitteln selbst, 
an genügenden Therapiemöglichkeiten. 

55* 





436 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Noverribef 


Bessere Zeiten mögen der Industrie Ge-- 
legenheit geben, preiswerte Präparate in 
leistungsfähiger Form und gut ausdosiert 
auf den Markt zu bringen und den Ärzten 
zur Verfügung zu stellen. 


Erschöpfende Literaturangaben im „Grund¬ 
riß der Radiumtherapie“ von S. Löwenthal, 
im „Handbuch der Radium-Biologie und The¬ 
rapie“ von Lazarus und „Die Behandlung inne¬ 
rer Krankheiten mit radioaktiven Substanzen“ 
von Falta. 


Repetitorium der Inneren Therapie. 

Behandlung der Nervenkrankheiten. 

Von G. Klemperer. (Schluß.) 


3. Neurosen. 

Neurasthenie und Hysterie. Obwohl 
Neurasthenie und Hysterie in Wirklich¬ 
keit verschiedene Krankheitszustände dar¬ 
stellen, so sollen sie doch in bezug auf 
die Behandlung gemeinsam gewürdigt 
werden. — Sicherlich ist es das periphere 
Nervensystem, welches bei der Neu¬ 
rasthenie leidet, indem entweder die sen¬ 
siblen Nerven überreizt oder die motori¬ 
schen Nerven schnell ermüdbar sind, 
während bei der Hysterie das centrale 
Nervensystem den leidenden Teil dar¬ 
stellt, indem die Empfindungen von den 
peripheren Reizungen einmal gar nicht, 
das andere Mal übertrieben stark ziim 
Bewußtsein kommen, oder motorische 
Impulse von übertriebener Stärke aus¬ 
gesendet werden, oder der Bewußtseins¬ 
inhalt in krankhafter Erregung verzerrt 
wird. Für die Behandlung fließen beide 
Zustände ineinander über, indem beide 
Kategorien von Kranken häufig von 
heftigen Schmerzen gequält werden, beide 
oft von unbegründeten Erregungs- und 
Angstzuständen heimgesucht werden und 
unfähig sind, eine geregelte Tätigkeit in 
nutzbringender Weise auszuüben. Eine 
schematische Scheidung wird bei dem 
Neurastheniker den Nachdruck auf kör¬ 
perliche Behandlung, nämlich auf den 
Wechsel von Ruhe und Arbeit, die Ge¬ 
wöhnung an Reize und die Übung der 
Muskulatur legen, während sie bei der 
Hysterie den erzieherischen Gesichts¬ 
punkt, die Psychotherapie, in den Vorder¬ 
grund stellt, ln Wirklichkeit aber werden 
beide Methoden bei beiden Krankheits¬ 
zuständen zur Anwendung gelangen. Die 
Scheidung ist um so weniger aufrecht zu 
halten, als zwischen reiner Hysterie und 
Neurasthenie vielfache Übergänge Vor¬ 
kommen. Immerhin wird die sorgfältige 
Analyse des Krankheitsbildes je nach 
dem Überwiegen der peripheren oder 
centralen Ursache die eine oder andere 
Behandlungsmethode bevorzugen, wobei 
dann freilich nicht zu verkennen ist, daß 
bei jeder somatischen Behandlung des 


Nervensystems auch der psychische Fak¬ 
tor zur Geltung kommt^ während die 
Psychotherapie der Hysterischen der so¬ 
matischen Behelfe nicht entraten kann. 

1. Psychotherapie. Diese Methode 
soll als die wirksamste an die Spitze ge¬ 
stellt werden. Ihre Ausübung bedarf der 
Erfahrung und besonderer Schulung, weil 
sie eine-eindringende Kenntnis des Seelen¬ 
lebens Gesunder und Kranker voraus¬ 
setzt. Sie geht von der sicher erwiesenen 
Tatsache aus, daß alle Nervenfunktionen 
unter der Oberherrschaft centraler Vor¬ 
stellungen stehen, welche durch die Gel¬ 
tendmachung eines fremden Willens 
wesentlich beeinflußt werden können. 
Die zu beeinflussenden Nervenfunktionen 
betreffen einesteils die Schmerzempfind¬ 
lichkeit, andererseits die sekretorischen 
Funktionen sowie den Bewegungsablauf 
der glatten Muskulatur; ja auch die quer¬ 
gestreifte Muskulatur ist dem Einfluß 
nicht ganz entrückt. Die centralen Vor¬ 
stellungen, auf welche die Behandlung 
Einfluß zu nehmen sucht, sind zum Teil 
bewußter Art, indem sie sich einerseits 
in der Willensbildung, andererseits in der 
gesamten Stimmimgslage zu erkennen 
geben. Es ist aber auch eine centrale 
Beeinflussung ohne erkennbare Mitwir¬ 
kung des Bewußtseins möglich, indem sie 
sich in dem sogenannten Unterbewußtsein 
vollzieht. Die Beeinflussung geschieht 
zum Teil durch erzieherische Einwirkung, 
das heißt durch die verstandesmäßige 
Darlegung der Nützlichkeit oder Schäd¬ 
lichkeit von Vorgängen und Handlungen, 
welche Gesundheit oder Krankheit be¬ 
dingen. Sie sucht den Patienten zu über¬ 
zeugen, daß es von Nutzen für seine Ge¬ 
nesung sei, bestimmte Dinge zu tun oder 
zu lassen und auf diese Weise seine 
Willensbildung zu stärken. Andererseits 
sucht die erzieherische Einwirkung die 
centrale Empfindlichkeit für periphere 
Reize herabzusetzen, indem sie die Gering¬ 
fügigkeit derselben und ihre Bedeutungs¬ 
losigkeit gegenüber höherwertigen Ein¬ 
wirkungen ins rechte Licht setzt und da- 





November 
V. 


Die Therapie der Gegenwart iQ21 


437 


durch einerseits die Reizbarkeit ver¬ 
kleinert, andererseits die gesamte Fühl- 
und Stimmungslage verbessert — Eine 
zweite Art der Einwirkung ist die sug¬ 
gestive, welche weniger an die bewußten 
Denk- und Empfindungsvorgänge des 
Patienten appelliert, als an den geheimnis¬ 
vollen Mechanismus des Unterbewußt¬ 
seins. Es gelingt nämlich, durch ein¬ 
drucksvolles Vorbild oder durch energi¬ 
schen Anruf, manchmal durch Blick, 
Miene und Haltung eine solche Einwir¬ 
kung auf den Patienten zu gewinnen, daß 
dieser, ohne es bewußt zu wollen, in 
seinen Empfindungen und Funktionen 
qualitative und quantitative Verände¬ 
rungen erleidet. Die suggestive Beein¬ 
flussung des Unterbewußtseins verstärkt 
sich in der Hypnose, bei welcher durch 
vorhergehende taktile Reize oder sonstige 
Vorbereitung das Normalbewußtsein aus¬ 
gelöscht und nur das Unterbewußtsein 
übrigbleibt. Hypnotische Beeinflussun¬ 
gen können den hypnotischen Zustand 
lange überdauern und lange im Wach¬ 
zustände wirksam bleiben. Die Empfäng¬ 
lichkeit für Suggestion und Hypnose ist 
bei den verschiedenen Menschen ver¬ 
schieden. Doch pflegen Neurastheniker 
meist suggerierbar. Hysterische außerdem 
entsprechend dem Grade ihrer Krankheit 
hypnotisierbar zu sein. Während die 
suggestive Heilmethode in jedem Falle 
von Hysterie und Neurasthenie weitest¬ 
gehende Anwendung verdient, wird die 
eigentliche Hypnose für schwere Fälle 
von Hysterie'beschränkt und nur unter 
besonderen Vorsichtsmaßregeln ange¬ 
wandt werden. 

Praktisch beginnt die Psychotherapie 
eines Schmerzes oder einer Funktions- 
störjmg damit, daß man dem Patienten 
die Überzeugung beibringt, daß eine orga¬ 
nische Krankheit nicht vorliegt. Damit 
setzt man die centrale Reizempfindung 
herab. Man vermeide freilich den Aus¬ 
druck, daß die Schmerzen in Wirklichkeit 
nicht existieren oder eingebildet wären; 
denn diese Unterstellung kränkt den 
Patienten und reizt ihn zum Widerspruch 
und verstärkt unbewußt die Beharrung 
im centralen Schmerzgefühl. Man zeige 
vielmehr durch eingehende Würdigung 
der Klagen und sorgfältige Untersuchung, 
daß der Symptomenkomplex sachliche 
Behandlung verdient. Die ins einzelne 
gehende Aussprache dient auch dazu, dem 
Arzt das besondere Vertrauen der Pa¬ 
tienten zu sichern, durch welches seine 
Suggerierbarkeit vorbereitet wird. Die 


Besprechung geht von dem besonderen 
Symptomenkomplex zu den allgemeinen 
Verhältnissen des Patienten, zu der Er¬ 
forschung seiner Sinnesart, seines Tem¬ 
peraments und leitet allmählich zur Be¬ 
einflussung desselben über, in dem sie die 
oben entwickelten Gesichtspunkte von 
der Notwendigkeit ablenkender Beschäf- 
tigüng und erhebender Gemütseindrücke 
in den Vordergrund schiebt. In wieder¬ 
holten Besprechungen pädagogischen und 
philosophischen Inhalts wird das Ver¬ 
hältnis persönlicher Beziehung zwischen 
Arzt und Patient vertieft. Dann mu& 
der Zeitpunkt kommen, in welchem die 
direkte Suggestion ausgesprochen und 
damit dem Patienten die feste'^ Überzeu¬ 
gung verschafft wird, daß die Ursache 
der Krankheit nunmehr geschwunden sei. 
Während des ganzen Verlaufs der Behand¬ 
lung kann das Vertrauen des Patienten 
durch mannigfache medikamentöse und 
physikalische Eingriffe gestärkt werden,, 
die ihrerseits zur somatischen Unter¬ 
stützung der psychischen Wirkung bei¬ 
tragen. — In vielen Fällen genügt eine 
kurze psychische Einwirkung, einen vollen 
Erfolg zu erzielen. Oft vergehen Herz¬ 
klopfen, Magenschmerzen usw., wenn 
der Patient nach gehöriger Untersuchung 
die bestimmte Zusicherung erhält, daß 
das gequälte Organ gesund ist und daß 
die Krankheit nur in Angstvorstellung 
begründet ist. Die Sicherheit, gesund zu 
sein, läßt den Patienten seine Beschwer¬ 
den ruhiger ertragen und schließlich ver¬ 
gessen. In hartnäckigen Fällen bedarf es 
oft wiederholter Untersuchung und Be¬ 
einflussung, auch durch somatische Be¬ 
handlung, ehe das Ziel erreicht ist. 

Hygienische Therapie. Für die 
Erzielung eines Heilerfolges ist die Er- 
möglichüng einer gesundheitsgemäßen 
Lebensweise unter Fernhaltung aller schä- 
d'genden Momente von Bedeutung. Wenn 
es möglich ist, sollen die Patienten für 
einige Zeit aus ihrem Berufe genommen 
und in gutes Klima versetzt-werden. Da¬ 
bei ist der Genuß von Luft und Licht 
wesentlich; ebenso ausreichende und 
zweckmäßige Ernährung. Im übrigen 
sind Fehlerhaftigkeiten des körperlichen 
Zustandes möglichst ausgleichend zu be¬ 
einflussen: Unterernährte und Blutarme 
sind aufzufüttern. Fettleibige magerer 
zu machen. Durch Naturgenuß, beson¬ 
ders Wanderungen^ auch mäßige sport¬ 
liche Betätigung wird die Stimmungslage 
und die Empfindlichkeit für suggestive 
Einflüsse verbessert. Sicherlich wird die 



438 Die Therapie der Gegenwart 1921 November ' 

. . ■ — ' ' . — — .. . • .— ■ — ^ 


Gesamtheit der hygienischen Einflüsse 
am besten in Sanatorien gewährt, welche 
die Vorteile des Klimas mit hygienisch¬ 
diätetischen Einflüssen vereinigt und in 
welchen die Persönlichkeit des Arztes die 
Gewähr geeigneter Psychotherapie dar¬ 
bietet. 

Besch äftigun gsth er apie. ^enn 
der krankhafte Zustand durch die Über¬ 
schätzung geringfügiger Reize gegeben 
ist, kann die Heilung auch dadurch er¬ 
folgen, daß der Patient durch die Er¬ 
kennung des höheren Wertes anderer 
Faktoren zur richtigen Bewertung der 
bisher überschätzten Eindrücke gelangt. 
Dies geschieht durch die Gewöhnung an 
■eine regelmäßige Tätigkeit, welche von 
einem nutzbringenden Werte ist. Dabei 
kann es sich um geistige Arbeit handeln, 
durch welche der Bildungsstand erhöht 
wird. Hierbei wächst das innere Selbst¬ 
bewußtsein und die Kraft der Selbst¬ 
beherrschung, aber auch die Kritik gegen¬ 
über den Eindrücken der Außenwelt. Es 
wirkt aber auch körperliche Arbeit heil¬ 
sam, einesteils indem sie Kraft-, und Er¬ 
müdungsgefühl erzeugt, welche die Un¬ 
lustgefühle übertönen, andererseits durch 
den erzielten Nutzen beim Patienten see¬ 
lische Rückwirkung äußern. Geistige wie 
körperliche Arbeit haben auch deswegen 
Heiiwert, weil ihre Bewältigung die Auf¬ 
merksamkeit erheblich in Anspruch nimmt, 
also von krankhaften Vorstellungen ab¬ 
lenkt. Die Wahl der Arbeit ist dem 
körperlichen und geistigen Zustand an¬ 
zupassen. Für gebildete Patienten kommt 
ausgewählte Lektüre in Frage, wobei 
sachlicher Inhalt, insbesondere Lebens¬ 
beschreibungen und geschichtliche Werke 
mit Memoiren, auch Romane ernsten 
Inhalts bevorzugt werden, während ero¬ 
tische Stoffe besser vermieden werden. 
Aber auch ernstere Arbeit, Erlernung von 
Sprachen, Ausarbeitung von Aufsätzen, 
Referaten kommen in Frage. Regelmäßige 
Unterhaltung über die Fortschritte der 
Arbeit erhöht den Heilwert derselben. 
Im Wechsel mit der geistigen Arbeit 
empfiehlt sich körperliche Betätigung: 
Spaziergänge, Sport und Gartenarbeit. 
Wo keine geistige Anteilnahme zu er¬ 
zielen ist, beziehungsweise geistige Arbeit 
infolge allzu großer Reizbarkeit vorläufig 
nicht in Betracht kommt, besteht die 
körperliche Arbeit je nach der Eignung 
in Werkstättentätigkeit oder Garten- und 
Landarbeit, ln den modernen größeren 
Sanatorien sind die Möglichkeiten für 
solche geordnete Beschäftigungstherapie 


vielfach gegeben. Auch in der privaten 
Tätigkeit lassen sich die Prinzipien der 
Beschäftigungstherapie unter Ausnutzung 
vorhandener Gelegenheiten meist durch¬ 
führen. Einen besonderen Zweig der¬ 
selben bildet die soziale Betätigung der 
Frauen, wobei die sittliche Würde und 
das Nutzbringende der Tätigkeit in den 
Vordergrund zu rücken und spielerische 
Betätigung zu vermeiden ist. 

Physikalische Therapie. Jede Art 
von Hydrotherapie, Umschläge und 
Packungen, kühle, warme und Schwitz¬ 
bäder, COg-, Og-, Fichtennadel-usw. Bäder, 
Übergießungen, jede mechanische An¬ 
wendung, also Massage, aktive und pas¬ 
sive Gymnastik, medico - mechanische 
Übungen an den verschiedensten Appa¬ 
raten, jede Art von Elektrizität: Faradi- 
sation, ’ Galvanisation, Franklinisation, 
Diathermie können Heilwirkung ent¬ 
falten. Die Wahl der Methode hängt von 
Eigenart und Schulung des Arztes ab 
und soll auch den Anforderungen und 
Stimmungen des Patienten angepaßt wer¬ 
den. Es kommt besonders darauf an, daß 
die Beliandlung nach einem vorher fest¬ 
gesetzten Plane in systematischer Weise, 
auch nicht ohne suggestive Förmlichkeit, 
geschieht. Es ist Sache des ärztlichen 
Geschicks, das Maß der Behandlung zu be¬ 
stimmen. 

Medikamentöse Therapie. Jede 
Arzneianwendung kann zum Träger sug¬ 
gestiver Heilwirkung werden. So wird 
es kaum ein Medikament geben, welches 
nicht gelegentlich angewendet werden 
könnte. Doch hüte man sich vor diffe¬ 
renten Verordnungen, die durch ihre 
Nebenwirkungen Schaden anrichten. 
Morphium und andere Opiate sollten prin¬ 
zipiell vermieden werden. Erfahrungs¬ 
gemäß bewähren sich leichte Sedativa, 
Baldrian, oft auch Brom, während die 
Schlafmittel nur unter bestimmten Indi¬ 
kationen anzuwenden sind, sowie die 
Tonica und Roborantien, unter denen 
Arsen, Eisen und Strychnin an erster 
Stelle stehen. Hierzu gesellt sich die 
Kalktherapie, welche ebenfalls geeignet 
ist, die Reizbarkeit des Nervensystems 
■herabzusetzen. 

Epilepsie. Der Reizzustand der Hirn¬ 
rinde , welcher zu regelmäßig wieder¬ 
kehrenden Krampfanfällen führt, beruht 
-in seltenen Fällen auf anatomischen Ver¬ 
änderungen des Gehirns, welche durch 
chirurgische Eingriffe rückgängig gemacht 
werden können. An die Möglichkeit einer 
chirurgischen Therapie ist besonders zu 




November ' Die Therapie der 

'‘ti * -- —. . — 

denken, wenn die epileptischen Anfälle 
nach einem Trauma auftreten, oder wenn 
Tumoren und entzündliche Veränderungen 
einen Druck auf die Hirnrinde ausüben. 
Im übrigen sind alle Ursachen zu be¬ 
seitigen, von denen anzunehmen ist, daß 
sie die Reflexerregbarkeit des Gehirns er¬ 
höhen, z, B. adenoide Wucherungen, Ein¬ 
geweidewürmer. In der überwiegenden 
Mehrzahl sind die epileptischen Krämpfe 
der funktionelle Ausdruck einer Zustands¬ 
änderung der grauen Rindensubstanz, 
iiuf die wir nur durch allgemeine Be¬ 
ruhigung und narkotische Mittel zu wirken 
vermögen. Dementsprechend sind Epi¬ 
leptiker möglichst frühzeitig für längere 
Zeit aus der regelmäßigen Tätigkeit zu 
nehmen, Kinder vom Schulunterricht zu 
befreien oder in besonderen Hilfsklassen 
zu unterrichten, jede geistige und körper¬ 
liche Anstrengung und Erregung fernzu¬ 
halten und unter einer reizlosen und 
fleischarmen, an Vegetabilien reichen Er¬ 
nährung und reichlichem Luftgenuß zu 
pflegen. Alkohol ist in jedem Falle streng 
zu untersagen. In jedem Falle ist für 
lange Zeit eine regelmäßige Bromkiir 
durchzuführen, indem die Patienten je 
nach dem Lebensalter 3 bis 10 g von 
Bromalkalien täglich zu sich nehmen, 
täglich etwa drei Eßlöffel der Mixtura 
nervina oder täglich eine halbe Flasche 
Erlenmeyersches Bromwasser oder das 
relativ gut schmeckende Sandowsche 
brausende Bromsalz. Auch die (teuren) 
Sedobroltabletten (dreimal täglich zwei 
Stück) werden gern genommen. Brom 
^wird verschieden gut vertragen. Manch¬ 
malnötigen empfindliche Hautaffektionen 
<gegen welche tägliche Kochsalzgaben von 
-3 bis 5 g als Heilmittel verordnet werden), 
oder Magenstörungen zu schnellem Aus¬ 
setzen. Oft gibt man es monatelang 
hintereinander. Allmählich leiden Ge¬ 
dächtnis- und Verstandeskräfte wesent¬ 
lich. Dann muß man wochen- bis monate¬ 
lang die Brommedikation aussetzen. 
Während der Bromkur ist die Nahrung 
kochsalzarm zu halten, weil dadurch die 
Bromfixation in den Nerven erleichtert 
wird; man kann au:h Bromnatrium 
selbst als Speisesalz gebrauchen. In 
schweren Fällen gibt man mit dem Brom 
gleichzeitig Opiate (Flechsigsche Kur), 
täglich dreimal 0,01 bis 0,03 Extr. Opii. 
Während der Brom-Opiumkur werden 
die Patienten am besten im Bett gehalten, 
da die einschläfernde Wirkung sie doch 
jfür jede Tätigkeit unbrauchbar macht. 
Die Herabsetzung des Appetits und die 


Gegenwart 1Q21 439 


Verstopfung verlangen, besondere Auf¬ 
merksamkeit in bezug auf Diät und Ab¬ 
führung. In Zwischenräumen der Brom¬ 
kur kann man dreimal täglich 0,5 Borax 
geben, von dem manchmal ein anti¬ 
epileptischer Einfluß zu bemerken ist. 

Besonders wichtig sind die erzieheri¬ 
schen Maßnahmen, welche auf die eigen¬ 
tümliche geistige Beschaffenheit bezie¬ 
hungsweise wirklichen Geistesstörungen, 
epileptischer Kinder genügend Rücksicht 
nehmen. Oft sind solche Patienten nicht 
in Familien zu halten und müssen in 
Erziehungsheimen beziehungsweise Spe¬ 
zialanstalten untergebracht werden. 

Während des epileptischen Anfalls 
selbst sind die Patienten zu überwachen, 
damit sie sich nicht im bewußtlosen Zu¬ 
stand durch Sturz oder Stoß beschädigen. 
Sie sind bequem zu lagern, schnürende 
Kleidungsstücke sind zu öffnen. Von dem 
Versuch, den Mund zu öffnen, um'Zungen¬ 
biß zu verhüten, ist abzusehen, da der 
krampfhafte Zahnschluß hierfür zu fest 
ist. Nach dem Anfall soll der Patient 
möglichst einige Stunden ruhen. 

Basedowsche Krankheit. Die Berech¬ 
tigung, den Morbus Basedowii unter der 
Rubrik der Nervenkrankheiten zu be¬ 
handeln, begründet sich auf der wohl 
sichergestellten Anschauung, daß die cha- 
rakteristischeMehrfunktion derThyreoidea 
sich unter dem übergeordneten Einfluß 
nervöser Erregungen vollzieht, die augen¬ 
scheinlich in sympathischen Bahnen ver¬ 
laufen. Diese Anschauung begründet auch 
die Aufgabe, die Behandlung in jedem 
Falle mit der gründlichen Aufklärung der 
Ätiologie zu beginnen. Wenn sich An¬ 
haltspunkte für ursächliche psychische 
Einflüsse ergeben, steht die Psycho¬ 
therapie in erster Linie. Soweit es mög¬ 
lich ist, sollen die Patienten schädlichen 
Erregungen in Haus und Beruf entrückt 
beziehungsweise in ihrer Sinnes- und 
Fühlrichtung zur tapfern Auffassung ihres 
Schicksals beeinflußt werden. Oft dienen 
Ortsänderungen diesem Zweck, mögen nun 
Sanatorien oder Kurorte aufgesucht wer¬ 
den; mit ihnen wird meist eine Ruhe¬ 
beziehungsweise Liege- und Luftkur ver¬ 
bunden. Gern läßt man Höhenkurorte 
aufsuchen, aber ein wirkliches Heilklima 
gibt es nicht. Meist kommt der Basedow¬ 
kranke da zur Genesung, wo er voll¬ 
kommenen inneren Frieden findet. Im Haus 
und in der Klinik läßt man viele Wochen 
lang vollkommene Bettruhe innehalten, 
mit regelmäßigem Gebrauch lauer Bäder, 
am besten mit Fichtennadelextrakt, unter 




44Ö 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


.November 


Innehalten fleischfreier, laktovegetabiler 
Diät. Unterstützend wirken tägliche 
Solarsoninjektionen. Man kann auch 
Brompräparate geben oder Natr. phos- 
phor. 6 :200, dreimal täglich einen E߬ 
löffel. Digitalis ist zu widerraten. Auch 
elektrische Anwendungen sind nützlich, 
meist in Form scl\wacher galvanischer 
beziehungsweise faradischer Einwirkungen 
auf die seitlichen Halspartien. 

Eine specifische Beeinflussung wird 
mit der Darreichung des Serums ent- 
kropfter Tiere versucht (da sich darin die 
normaliter von dem Schilddrüseninkret in 
Anspruch genommene Substanz ansam¬ 
melt). Man gibt das sogenannte Anti- 
thyreoidin Moebius zu dreimal täglich 
30 Tropfen, mit unsicherem Erfolg. 

Innere Behandlung führt oft erst nach 
mehrfacher Wiederholung zur Heilung. 
Die chirurgische Behandlung ist indiziert, 
wenn die Basedowkrankheit zu schneller 
Abmagerung führt oder der wachsende 
Kropf die Luftröhre verengt oder die 
sozialen Verhältnisse zur schnellen Her¬ 
beiführung der Erwerbsfähigkeit drängen. 
Die Ausschneidung eines Lappens der 
Schilddrüse bietet schnellere und relativ 
große Heilungsaussichten. In sehr lang¬ 
wierigen Fällen darf man n’cht mit der 
Operation warten, bis hochgradige Herz¬ 
schwäche eingetreten ist. Die Röntgen¬ 
behandlung gibt wenig sichere Resultate 
und erschwert nach Ansicht der ma߬ 
gebenden Chirurgen durch Verwachsungen 
die eventuell später notwendige Opera¬ 
tion. 

Chorea. Obwohl der Veitstanz wahr¬ 
scheinlich auf einer infektiösen herd¬ 
förmigen Hirnerkrankung beruht, stehen 
nervöse Erregungssymptome so sehr im 
Vordergründe des therapeutischen Inter¬ 
esses, daß auch diese Krankheit hier ein¬ 
geordnet werden darf. In leichten Formen 
beschränkt sich die Beeinflussung der 
Unruhe und der Zuckungen auf allgemeine 
Beruhigung und konsequente Ermahnung. 


Die Kinder dürfen nicht zur Schule gehen, 
bleiben morgens lange im Bett, ruhen 
auch nach Tisch und gehen früh schlafen, 
dürfen aber unter Aufsicht im Freien sein 
und an leichten Spielen teilnehmen. Die 
pädagogische Beeinflussung darf nicht 
strenge sein, Schlagen kann sehr schaden. 
Laue Bäder mehrmals in der Woche. 
Gemischte, an Vegetabilien reiche Kost. 
Als Medikament ' dienen kleine Arsen¬ 
gaben, am besten Eisenelarson, bei ver¬ 
mehrter Unruhe auch Brom. In schwere¬ 
ren Formen, insbesondere bei Fieber, ist 
dauernde Bettruhe notwendig, bei ge¬ 
häuften Zuckungen muß das Bett ge¬ 
polstert und der Patient durch dauernde 
Übeiwachung vor Verletzungen geschützt, 
auch regelmäßig gefüttert werden. Je 
schwerer der Fall, desto notwendiger die 
häufige Darreichung von Schlafmitteln 
oder Chloralklysmen oder Opiaten. Regel¬ 
mäßige Morphiuminjektionen s-nd be¬ 
sonders nützlich; für die Injektion soviel 
Milligramme, als das Kind Jahre hat, bis 
zu 10 mg, zwei- bis dreimal täglich. 
Übrigens ist die Größe der Morphiumgabe 
und die Notwendigkeit der Wiederholung 
in jedem Falle auszuprobieren. Nach der 
Heilung ist noch lange körperliche und 
geistige Schonung notwendig und eine 
längere Nachkur im Mittelgebirge oder an 
der See ratsam. 

Paralysis agitans. Für die Allgemein¬ 
behandlung gelten sinngemäß die bei der 
Tabes entwickelten Grundsätze mit Aus¬ 
nahme der specifischen Kuren; leichte 
Bewegungsübungen sind zeitweise am 
Platze. Medikamentös darf man von 
Baldrian- oder Brompräparaten, gelegent¬ 
lich von Analgeticis, auch Schlafmitteln 
Gebrauch machen. Gegen das Zittern 
pflegt man besonders Skopolamin in 
Pillen zu 0,3 bis 0,5 mg oder in Injek¬ 
tionen zu geben. Manchmal ist Morphium 
nicht zu entbehren. In den vorgeschritte¬ 
nen Stadien tritt die Krankenpflege in 
den Vordergrund, 


Referate. 


Zur Erleichterung der abdominellen 
Untersuchung bei starker Bauchdecken¬ 
spannung gibt Hirsch aus der Döder- 
leinschen Klinik einen neuen Handgriff 
an, der sich in vielen Fällen gut bewährt 
hat, wenn man durch intensive Ablen¬ 
kung der Frauen nicht zum Ziele kam. 
Es kann immer festgestellt werden, daß 
bei einer rectovaginalen Untersuchung 
eine auffallende Entspannung der Bauch¬ 


muskeln eintritt. Dies könnte man viel¬ 
leicht auf folgende Weise erklären: Die 
Muskulatur des Beckenbodens und die der 
Bauchdecken stehen in einem antago¬ 
nistischen Verhältnis; läßt man die 
Frauen pressen, sodaß der Sphinkter er¬ 
schlafft, so werden die Bauchdecken sehr 
hart, fordert man sie hingegen auf, die 
Analöffnung fest zu verschließen, so tritt 
die starke Entspannung der Bauch- 



November 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


441 


muskeln zutage. Darauf fußend, wurden 
-den Frauen Hegarsche Stifte von 1 % bis 
2 cm Durchmesser eingelegt mit der Auf¬ 
forderung, dieselben fest zu umschließen. 
Prompt setzte die Bauchdeckenentspan¬ 
nung ein, sodaß eine abdominale Unter¬ 
suchung in der leichtesten Weise mög¬ 
lich war. Pulvermacher (Charlottenburg). 

(M. m. W. 1921, Nr. 36.) 

Für die Behandlung der Adnexer¬ 
krankungen kann Tutscheck aus der 
zweiten Münchener Universitäts-Frauen¬ 
klinik die Diathermie als bestes kon¬ 
servatives Verfahren empfehlen. Wenn 
auch zugegeben werden muß, daß in 
vielen Fällen eine vollständige Beseiti¬ 
gung der entzündeten Geschwülste nicht 
erzielt werden konnte, so konnte doch 
immer festgestellt werden, daß nach 
•einigen Sitzungen die Schmerzen bald 
verschwanden, sodaß die Patientinnen in 
verhältnismäßig kurzer Zeit wieder ar¬ 
beitsfähig Wurden. — Zeigte sich wieder 
ein Aufflackern des Prozesses, so ge¬ 
nügten wenige Applikationen, um wieder 
die Schmerzen zu beseitigen. Es Wurden 
meist füi jed^ Sitzung nur .15 Minuten ge¬ 
braucht, bei einer Stromstärke von 1 bis 
1 % Ampere — große Bauchdecken¬ 
platte, Scheiden- oder Mastdarmelektrode. 

Demgegenüber stehen jedoch die Fälle, 
bei denen die Untersuchung ergab, daß 
es sich nur um wenig vergrößerte Adnexe 
handelt, die auffallend hart und mit der 
Umgebung fest verwachsen waren. Hier 
half die Diathermie gar nichts, weder eine 
Verringerung der Schmerzen, noch eine 
Beweglichkeit der Geschwülste konnte 
beobachtet werden. Es mußte zur Ope¬ 
ration geschritten werden, wobei recht 
gute Resultate erzielt wurden. 

Pul Vermacher (Charlottenburg). 

(M. m. W. 1921, Nr. 36.) 

Irrtümer bei der Erkennung 
und Behandlung der Arsenikvergif¬ 
tung spielten, wie Heffter neuerdings 
ausführt, in der praktischen wie in der 
forensischen Medizin schon oft eine un¬ 
heilvolle Rolle; vor allem deshalb, weil 
das vielfältige Krankheitsbild mit natür¬ 
lichen Krankheiten und andern Vergif¬ 
tungen mannigfache Züge gemeinsam hat. 
— Die akute Vergiftung kann in drei 
Formen auftreten. 1. Die paralytische 
oder cerebrospinale Form, unter 
komatösen Zuständen und Krämpfen 
meist innerhalb zehn Stunden zum Tode 
führend. Sie kann leicht mit Alkohol-, 
Chloralhydrat- und Blausäurevergiftung 


• 

verwechselt werden. Sie ist selten. Nur 
die chemische Untersuchung von Harn 
und Stuhl oder der Organe kann sichere 
Aufklärung schaffen. 2. Die gastro¬ 
intestinale Form; sie erinnert an das 
Bild der asiatischen Cholera. Kenn¬ 
zeichnend ist für sie aber das Gefühl einer 
brennenden Rauhigkeit im Halse, die 
heftigen Leibschmerzen, das starke Er¬ 
brechen vor den Durchfällen. Die choleri- 
formen Fleisch- und Fischvergiftungen 
kommen noch differentialdiagnostisch 
in Betracht, ebenso Antimon-, Kupfer- 
und Bleivergiftungen. Kupfer und Blei 
machen aber fast nie wäßrige, sondern 
mehr blutige Stühle, sie färben das 
Erbrochene grünlich-blau beziehungsweise 
weißlich-grau und können Wegen ihres 
metallischen Geschmacks kaum unwissent¬ 
lich genommen sein. Gleiches gilt vom 
Sublimat, das sich noch durch weiße 
oder rosa Ätzschorfe kenntlich macht. 
3. Die subakute Form. Für sie ist 
das im Beginn auftretende anhaltende 
Erbrechen ein wichtiges Zeichen. Die 
subchronische Vergiftung, Wie sie 
von öfters dargereichten Mengen zwischen' 
20 und 100 mg bewirkt wird, ist die 
Form, wie sie von Giftmischern an¬ 
gewendet wurde, welche ihre Opfer unter 
unverdächtigen Krankheitserscheinungen 
töten wollten. Magendarmstörungen, 
häufiges Erbrechen, zuweilen Durchfälle 
beherrschen das Bild. Meist wird dann 
starker Magendarmkatarrh, bei Tempe- 
laturerhöhung ,,gastrisches Fieber“ dia¬ 
gnostiziert werden. Gesellt sich aber 
diesen Störungen ein Exanthem, eine 
Conjunctivitis, eine Parese der Beine 
hinzu, so sollte die^ den Verdacht auf 
Arsenik erregen, der durch chemische 
Analyse leicht bestätigt oder widerlegt 
werden kann. — Die chronische Ver¬ 
giftung, meist als Folge zu lange fort¬ 
gesetzter Arsenbehandlungen, seltner 
durch gewerbliche Schädigungen verur¬ 
sacht, kann mannigfaltige Krankheits¬ 
bilder erzeugen. An den Schleim¬ 
häuten kommt es zu lebhaften Reizungs¬ 
erscheinungen, besonders chronischen Ma¬ 
gen- und Darmkatarrhen, nicht selten be¬ 
gleitet von Fieber, Husten, Heiserkeit, 
Kopfweh, Conjunctivitis und Stomatitis. 
Zuweilen lenkt sich der Verdacht auf 
eine Intoxikation durch die Besserung 
der Beschwerden bei Aufenthaltswechsel, 
durch ihre Versdilechterung bei Rück¬ 
kehr in die gewohnte Umgebung. So 
wurden in einigen Fällen die Tapeten der 
Wohnräume, in einem Falle Zeichenkreide 

56 





442 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


November 


als Ursache eruiert. — Die Haut Ver¬ 
änderungen von exanthemartigem Cha¬ 
rakter sind vreniger kennzeichnend als 
die Keratose der Handflächen und Fu߬ 
sohlen und die Melanose, die auch an 
bedeckten Hautstellen auftreten kann 
und nicht selten mit Morbus Addisonii 
verwechselt worden ist. — Schließlich 
wirdnoch die Arsenik-Neuritis erwähnt, 
eine symmetrische, meist die unteren 
Extremitäten betreffende, mit heftigen 
Schmerzen einsetzende Lähmung, be¬ 
gleitet von rascher Atrophie der be¬ 
fallenen Muskeln. Hier muß die Ana¬ 
mnese, besonders die Angabe gastro-intesti- 
naler Störungen, außerdem auch noch 
etwaige Hautveränderungen den Weg zur 
Diagnose leiten. 

Mit der Entfernung der Ursache ist 
die Hauptaufgabe der Therapie erfüllt. 
Die Polyneuritis freilich stellt große An¬ 
sprüche an die Geduld von Arzt und 
Patient. Man sei wegen des langen Ver- 
laufs mit Morphium sparsam. 

E. Joel (Berlin). 

(D. m. W. 1921, Nr. 30). 

Die Bluttransfusion hat sich F. Herzog 
bei einem schweren Falle von Hämophilie 
bewährt. Der betreffende 20jährige Pa¬ 
tient, der aus einer Bluterfamilie stammte, 
war nach Ohroperation durch andauernde 
Blutungen aufs äußerste erschöpft. Vor 
der Operation hatte er Gelatine erhalten 
und außerdem war nach Stephan eine 
Milzbestrahlung vorgenommen worden — 
ohne Erfolg. Erst nach einer körper¬ 
warmen Transfusion von 200 ccm Blut 
(mit 4% Natr. citric.-Lösung gemischt), 
das die Schwester des Patienten spendete, 
trat ein deutlicher Umschwung ein. 

(M. m. W. 1921, Nr. 4L) 'Dünner. 

Auf Grund von Untersuchungen am 
Material der Brandenburgischen Heb¬ 
ammenlehranstalt über die Frage, ob ein 
Ursächlicherzusammenhang zwischen Con¬ 
junctivitis neonatorum und Mastitis puer- 
perarum vorliegt, kommt Lang zu dem 
Schlüsse, daß ein gegen früher gehäuftes 
Auftreten der Mastitis bei Wöchnerinnen 
nicht nachweisbar ist, wenn auch fest¬ 
gestellt werden kann, daß die Conjunc¬ 
tivitiden der Neugeborenen in erheblicher 
Zahl zunehmen. In ganz seltenen Fällen 
kommt es wohl zu einer gonorrhoischen 
Infektion der Brust durch den Augen¬ 
katarrh des Säuglings; deswegen ist man 
noch nicht berechtigt von der Augen¬ 
eiterung der Neugeborenen als der wich¬ 
tigsten Ursache der puerperalen Mastitis 


zu sprechen, wie dies Feilchenfeld ge¬ 
tan hat, dessen Maßnahmen zum Schutze 
der Brust aus. diesem Grunde auch nicht 
erforderlich sind. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(Zbl. f. Gyn. 1921, Heft 21.) 

Zur Lehre vom Diabetes insipidus, 

dessen Pathogenese noch immer un¬ 
geklärt ist, gibt Erich Meyer zusammen 
mit Meyer-Birch einen recht auf¬ 
schlußreichen Beitrag. Ein junges Mäd¬ 
chen, das an einer trotz Aufhörens jeder 
Flüssigkeitszufuhr zwangsläufigen Poly¬ 
urie leidet, wobei die Kochsalzkonzen¬ 
tration im Harn stets weit unter dem 
Blutkochsalzspiegel bleibt, wird einer 
Pituglandol-Dauerbehandlung unterwor¬ 
fen,^ und zwar mit folgender Wirkung: 
Der Kochsalzspiegel des Blutes sinkt, die 
Kochsalzkonzentration des Urins über¬ 
steigt die des Blutes ums Doppelte, die 
zwangsläufige Polyurie verschwindet. Daß 
es sich dabei nicht nur um eine renale 
Wirkung handelt, sondern daß die wasser¬ 
bindende Kraft der Gewebe gleichzeitig 
erhöht wird, machten die Autoren durch 
das Tferexperiment wahrscheinlich. Wenn 
sie nämlich die Lymphe des Ductus 
thoracicus unterm Einfluß von Pitu- 
glandolinjektionen untersuchten, so be¬ 
kamen sie stets eine eiweiß- und koch¬ 
salzreichere Lymphe bei gleichzeitiger 
Eindickung auch des Blutes. Wenn die 
Berechnung der Autoren den tatsäch¬ 
lichen Verhältnissen annähernd nahe¬ 
kommen sollte, so würde es bedeuten, daß 
während eines mit der Kranken vor¬ 
genommenen Durstversuches nicht nur 
aus dem Blut in den Harn, sondern auch 
aus den Geweben ins Blut eine hypoto¬ 
nische Kochsalzlösung herübergeströmt 
ist. Demnach wäre eine gleichartige 
Störung für den Austausch zwischen Ge¬ 
webe und Blut wie auch zwischen Blut 
und Niere anzunehmen. E. Joel (Berlin). 

Arch. f. klin. Med. Bd. 137, H. 3 ti. 4.) 

Kauffmann berichtet über ein neues 
Verfahren, das ohne große Apparatur, nur 
durch Beobachtung der Diurese, dem prak¬ 
tischen Arzt gestattet, Kranke mit be¬ 
ginnender Stauung im Kreislauf richtig zu 
bewerten bzw. sie überhaupt zu erkennen. 
Das Prinzip seiner Methode beruht darauf, 
daß ein gesunder Mensch die eingenom¬ 
mene Menge Flüssigkeit ohne Rücksicht 
auf die Körperhaltung ausscheidet^ und 
daß Menschen mit Neigung zu Ödem 
größere Urinmengen produzieren, wenn 
bei ihnen die Circulation des Blutes und 



November 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


443 


damit der Austausch des Blutes mit den 
•Geweben durch Hochlagerung der Beine 
erleichtert wird. Es ist ohne weiteres ein¬ 
leuchtend, daß bei sehr starken Ödemen 
dieses Unterstützungsmittel nicht helfen 
kann, so daß die Urinmengen durch Hoch¬ 
lagerung nicht gesteigert werden. Die Be¬ 
deutung des ganzen Verfahrens liegt da<Fin, 
daß es die initiale Stauung aufdeckt und 
eine Funktionsprüfung des Kreislaufs dar¬ 
stellt. K. geht folgendermaßen vor: Die 
Patienten erhalten bei Bettruhe und 
horizontaler Lage von morgens 7 Uhr an 
stündlich 150 ccm Flüssigkeit per os zu¬ 
geführt und werden aufgefordert, stündlich 
Urin zu lassen. Bis 11 Uhr wird eine vier¬ 
stündige Vorperiode gewonnen, dann wird 
das hintere Bettende durch Unterschieben 
stets gleicher Klötze hochgestellt. In 
dieser Quinckeschen Lagerung müssen 
die Patienten bis 1 Uhr verharren und 
wiederum stündlich Wasser lassen. K. 
bestimmt dann in jeder Urinportion die 
Gesamtflüssigkeit, ebenso das specifische 
Gewicht und das Kochsalz. Auf die 
Kochsalzbestimmung wird der Praktiker 
freilich verzichten müssen. Wie die in 
der Arbeit aufgeführten Tabellen lehren. 
Wird auch schon allein die Kenntnis der 
Harnmenge upd des specifischen Ge¬ 
wichts genügenden Aufschluß geben. Bei 
gesunden Individuen wird im großen und 
ganzen die pro Stunde gelieferte Harn¬ 
menge in der Vorperiode, also bis 11 Uhr, 
die gleiche sein, wie im Hauptversuch bei 
hochgelagerten Beinen. Dahingegen wird 
bei Personen mit mäßig gestörter Circu- 
lation in der Hauptperiode, also nach 
11 Uhr, die Urinmenge das Vielfache der 
Vorperiode übersteigen. K. führt eine 
Reihe von Beispielen zum Beweise an. 
Die Methode hat sich ihm nicht nur bei 
Herzkranken, sondern auch bei Nieren¬ 
leiden als brauchbar erwiesen. Inter¬ 
essant ist, daß die Probe auch bei ein¬ 
zelnen Fällen von Krampfadern positiv 
ausfällt. - -Dünner. 

(B. kl. W. 1921, Nr. 42 u. D. Arch. f. kl. M., 
Bd. 137, H. 1 u 2.) 

Junkel empfiehlt die Behandlung 
alter Empyemfisteln mit saurer Pepsin¬ 
lösung. Bei einem 18jährigen Patienten 
war nach einer Empyemoperation eine 
Fistel zurückgeblieben, die nicht zur Aus¬ 
heilung kommen wollte, trotz Ausspülung 
mit den verschiedensten Flüssigkeiten, 
wie Dakinsche Lösung, Vuzin, Jodoform¬ 
glycerin und anderen. Nach ISmonatigem 
Bestehen der Fistel füllte Verfasser die 


große Empyemhöhle mit saurer l%iger 
Pepsinlösung (Pepsin 1^,0, Acid. boric. 3,0 
auf 100 Aqua), angeregt durch die Erfolge 
der Dermatologen bei Beseitigung aus¬ 
gedehnter Hautnarben nach Verbrennun¬ 
gen, mittels dieser Lösung. Anfangs wurden 
alle zwei Tage 30 bis 50 ccm in die Fistel“ 
hineingespritzt. Unterstützt wurde diese 
Behandlung durch systematische Atem¬ 
übungen. Nach etwa viermonatiger Dauer 
war die Empyemhöhle durch Erweichung 
und Verdauung der die Ausdehnung der 
Lunge hindernden Pleuraschwarten zur 
Verödung gebracht; die Lunge dehnte 
sich völlig wieder aus. Verfasser empfiehlt 
diese Behandlung besonders in den Fällen, 
in denen wegen des Allgemeinzustandes 
die plastischen Operationen nicht aus¬ 
geführt werden können. 

(M. m. W. 1921, Nr. 36.) Kamnitzer. 

Die Behandlung der Gelenkerkran- 
kungenmit Schwefel verdient nach E. L, 
Mo ln är-Budapest Verwendung. Man be¬ 
nutzt ein Schwefelöl, das in 100 g Oleum 
olivarum 1 g Sulfur depuratüm enthält. 
Von dieser Emulsion wird in Zwischen¬ 
räumen von 5—7 Tagen steigend von 
3—10 ccm in den Glutaeus injiziert. Diese 
Therapie ist namentlich bei Polyarthritis 
chronica deformans und bei der langsam 
heilenden subakuten Polyarthritis rheu- 
matica indiziert. Allerdings können sehr 
unangenehme Nebenerscheinungen sich 
einstellen. M. spricht von Erbrechen, das 
oft kaum zu stillen sei, so daß die Kranken 
während der Kur 1—2 kg abnehmen. Man 
kann die Einspritzungen daher bei herab¬ 
gekommenen, entkräfteten Menschen nicht 
machen. Außerdem bestehen an der In¬ 
jektionsgegend oft sehr heftige Schmer¬ 
zen. Daneben stellt sich noch Fieber ein, 
das in der Regel von Erösteln qnd Schüt¬ 
telfrost begleitet wird und das nach art- 
f änglichemWeichen wieder auftreten kann. 
Als ein für den Erfolg günstiges Symptom 
sind die Schmerzen in den befallenen Ge¬ 
lenken aufzufassen. Diese Reaktions¬ 
erscheinungen werden manchmal erst nach 
der dritten Einspritzung beobachtet. 
Wenn man Patienten mit chronischer 
Arthritis vergeblich mit den bekannten 
Methoden behandelt hat, so wird man sich 
trotz der geschilderten Nebenwirkungen 
zu einer Schwefelkur entschließen; denn 
die Berichte von M. über Kranke, die 
zum Teil schon jahrelang an ihren Ge¬ 
lenkaffektionen litten, sprechen für die 
Wirksamkeit des Verfahrens. Dünner. 

(B. kl. W. 1921, Nr. 43.) 


56* 



444 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


November 


Zur Provokation der Gonorrhöe bei 
Frauen empfehlen Blaschko und Groß 
die fünffach verdünnte Lugolsche Lö¬ 
sung, welche etwa 1 % bis 1 Minute in der 
Harnröhre gelassen wird, wobei sie sich 
auf die guten Resultate stützen, welche 
•sie bei der männlichen Gonorrhöe er¬ 
zielt haben. Es ist ja bekannt, daß die 
Frauen anfangs weniger auf die Gonor¬ 
rhöe reagieren, als die Männer, da einer¬ 
seits die klinischen Erscheinungen ge¬ 
ringfügiger sind und hiermit eine lang¬ 
dauernde Latenz verknüpft sein kann, 
andererseits sich die Gonokokken an den 
verschiedensten Stellen einlagern können. 
Nach der allgemeinen Verordnung soll 
eine Frau*, welche wegen Gonorrhöe in 
Behandlung kommt, nach zwei aufein¬ 
anderfolgenden Menstruationen auf das 
Vorhandensein von Gonokokken unter¬ 
sucht werden. Dies läßt sich aber oft 
in der Praxis nicht durchführen, da eine 
schnelle Entscheidung verlangt wird. 
Hierfür ist nun das jetzt beschriebene 
Verfahren äußerst praktisch; nur soll 
man nicht zu früh provozieren, da sonst 
ein schweres Rezidiv auftreten kann. 
Als Regel muß man festhalten, daß etwa 
drei Wochen, nachdem die letzten Gono¬ 
kokken in der Urethra, im Bartholini- 
schen Drüsenausgang, in der Cervix ge¬ 
funden worden sind, verstrichen sind. 
Während man, wie gesagt, in die Urethra 
die fünffach verdünnte Lösung einspritzen 
darf, ist dies bei der Cervix verboten, 
welche vielmehr mit einem in die Lösung 
eingetauchten Wattebausch ausgewischt 
Wird, wonach sich auch eine reichliche 
Sekretion einstellt, in der eventuell Gono¬ 
kokken gefunden werden. Zur Unter¬ 
stützung können noch die anderen Pro¬ 
vokationsmethoden angewandt werden, 
wie Gonargon und Arthigon, in letzter 
Zeit auch Terpentin, doch kommt man 
in den meisten Fällen auch ohne diese 
aus. Was nun die Technik der Sekret¬ 
abnahme anbetrifft, so ist es am, besten 
sich des stumpfen Aschschen Löffels zu 
bedienen, während man vor der An¬ 
wendung der Platinöse absehen muß, mit 
der man Verletzungen herbeiführen kann. 

Pul Vermacher (Charlottenburg). 

(D. m. W. 1921, Nr. 40.) 

Mit einem neuen Hypophysen präpa- 
rat Physormon, das nach einem Alko¬ 
hol - Chloroformextraktionsverfahren aus 
dem Hinterlappen und dem intermediären 
Teil der Hypophyse von frisch geschlach¬ 
tetem Rindvieh gewonnen wird, hat Hell¬ 


muth an 45 Fällen der Hamburger Uni¬ 
versitäts-Frauenklinik Versuche ange¬ 
stellt, wobei er SOmal einen prompten 
Erfolg hatte. Wenn auch den Forderun¬ 
gen Guggisbergs, die Leistungsfähig¬ 
keit eines Wehenmittels nach den Ergeb¬ 
nissen der tierexperimentellen Unter¬ 
suchung zu beurteilen, aus finanziellen 
Gründen nicht genügt werden kann, so 
ist es doch möglich, die Wirkung eines 
Wehenmittels festzustellen, wenn eine 
exakte klinische Beobachtung durchge¬ 
führt wird. Unbedingt ist an dem Grund¬ 
sätze festzuhalten, daß Hypophysenprä¬ 
parate erst in der Austreibungsperiode 
oder doch wenigstens kurz vor der Be¬ 
endigung der Eröffnungspe.iode gegeben 
werden dürfen. Von der intramuskulären 
zur intravenösen Injektion soll dann über¬ 
gegangen werden, wenn eine gefahr¬ 
drohende Verschlechterung der kindlichen 
Herztöne am Ende der Austreibungs¬ 
periode festgestellt wird. Recht gute Re¬ 
sultate wurden auch erzielt bei Aborten, 
wenn der Uterus sensibilisiert war, ferner 
bei verhaltenem Lochialfluß, Urinbe¬ 
schwerden im Wochenbette, schließlich 
bei Darmlähmungen nach Operationen. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(Zbl.f. Gyn. 1921, Nr. 37.) 

Über Veränderungen des weißen Blut¬ 
bildes nach intravenösen Infusionen hat 
Nürnberger eine Reihe von Versuchen 
angestellt. Unmittelbar nach intravenöser 
Lävuloseinfusion fand er ejnen deutlichen 
Abfall des Gesamtleukocytenwertes. Nach 
einer Stunde war die Leukozytenzahl noch 
mehr gesunken, um in den folgenden 
Stunden einen steilen, über den vor_der 
Infusion konstatierten Wert hinausgehen¬ 
den Anstieg zu zeigen. Die Neutrophilen, 
die unmittelbar nach der Infusion einen 
deutlichen Abfall aufwiesen, hatten nach 
einer Stund(^ ihren tiefsten Wert erreicht. 
Dann trat ein exzessiver, 90% über¬ 
steigender Anstieg auf. Genau das ent¬ 
gegengesetzte Verhalten zeigten die Lym- 
phocyten. Der nach der Infusion ein¬ 
setzende Leukocytensturz läßt sich zwang¬ 
los auf die Verdünnung des Blutes durch 
die infundierte Flüssigkeit zurückführen. 
Ungleich schwieriger ist die neutrophile 
Leukocytose mit Lymphopenie zu er¬ 
klären. Den Untersuchungen Nürn- 
bergers nach läßt sich dafür weder 
eine Erhöhung des Blutzuckerspiegels 
noch das Bestehen einer Hydrämie ver¬ 
antwortlich machen. Nach intravenöser 
Traubenzuckerinfusion zeigt das leuko- 




445 


INovember 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


cytäre Blutbild im großen ganzen die 
gleichen Veränderungen wie nach einer 
Lävuloseinfusion, nur daß die Lympho- 
penie nicht so hochgradig wird und in 
kürzerer Zeit abläuft. Auch mit intra¬ 
venöser Infusion von physiologischer Koch¬ 
salzlösung tritt eine Alteration des weißen 
Blutbildes auf, die — abgesehen von 
■einigen Abweichungen —der nach Zucker¬ 
infusionen ziemlich identisch ist. Eine 
Überschwemmung des Körpers mit Wasser 
— es wurde in einem Selbstversuch mor¬ 
gens nüchtern innerhalb zehn Minuten 
ein Liter ganz dünnen, warmen Tees ge¬ 
trunken — zeigte wohl eine Verdünnungs¬ 
leukopenie, aber keine sekundäre Leuko- 
•cytose. Verfasser zieht daraus den Schluß, 
daß diese Leukocytose ihre Ursache in den 
gelösten Stoffen (Traubenzucker, Lävu- 
lose, Chloinatrium) hat. Kamnitzer. 

(D. Arch. f. kl. M. 1921, Bd. 136.) 

Über lonengleichgewicht und 
Giffwirkung im Organismus haben neuere 
physikalisch-chemische Untersuchungen, 
wie Zondek berichtet, eine Reihe von 
bemerkenswerten Tatsachen gelehrt. Man 
hat gesehen, daß, wenn den anorganischen 
Bestandteilen des Organismus auch keine 
Bedeutung als Energiequellen zukomme, 
sie doch als Regulatoren des Milieus, in 
welchem sich alle biologischen Vorgänge 
abspielen, großen Einfluß haben. So 
brauchte, um ein bekanntes Beispiel zu 
wählen, das isolierte Froschherz nicht nur 
NaCl-Lösung, sondern die Ringerlösung 
zeichnet sich ja gerade dadurch aus, daß 
sie auch K- und Ca-Salze enthält. Diese 
aber müssen in einem ganz bestimmten, 
für die Herzarbeit optimalen Mengen¬ 
verhältnis stehen; geringe Störungen die¬ 
ses Gleichgewichts führte zu Dys¬ 
funktion, wirken also wie ein Gift. Und 
gleiches gilt. Wie Zondek feststellte, auch 
für andere Organe, für Uterus z. B. und 
Darm. — Will man Giftwirkungen stu¬ 
dieren, so geht man im allgemeinen von 
dem im Normalzustand befindlichen Or¬ 
gan aus. Ändert man aber das Gleich¬ 
gewicht der Ionen, z. B. der antagonisti¬ 
schen K- und Ca-Ionen, so kann sich wie 
bei Chloralhydrat und bei Muskarin am 
Herzen eine völlige Umkehrung der be¬ 
kannten Giftwirkung einstellen. Hierher 
gehören auch die Versuche von Kon- 
schey und 0. Loewi, die gezeigt haben, 
daß das Calcium das Herz überhaupt erst 
für Digitalis sensibiliere. Wenn zwischen 
so verschieden gebauten chemischen Kör¬ 
pern, Metallen, Nichtmetallen, Alkaloiden 


und Glykosiden, so nahe biologische Be¬ 
ziehungen bestehen,^ so wird man weniger 
an rein chemische als vielmehr an physi¬ 
kalisch-chemische Wirkungen, besonders 
elektrischer Art, denken müssen. * Eine 
Pharmakologie, die zum Verständnis der 
Giftwirkungen mehr als bisher physi¬ 
kalisch-chemische Gesichtspunkte heran¬ 
zieht, wird auch auf therapeutische Grund¬ 
sätze Einfluß gewinnen, j. joei (Berlin). 

(D. m. W. 1921, Nr. 30). 

Unter Narkolepsie versteht man das 
Auftreten von Schlafanfällen bei ganz 
gesunden Menschen, die erwachen oder 
erweckt werden, und sofort die unter¬ 
brochene Tätigkeit wieder aufnehmen 
können. Ein Zusammenhang mit einer- 
Epilepsie oder Hysterie liegt nicht vor. 
Daß solche Anfälle auch in der Schwan¬ 
gerschaft Vorkommen, beweist Never- 
mann an einem Falle aus der Hamburger 
Universitäts-Frauenklinik, bei dem fol¬ 
gende Beobachtungen gemacht wurden: 
In der Mitte der Schwangerschaft Auf¬ 
treten von Schlafanfällen, welche trotz 
ihrer Häufigkeit keine Störung der Nacht¬ 
ruhe bedingten; bis etwa zur 32. Woche 
trat eine Steigerung ein, um dann lang¬ 
sam abzuklingen, so daß zur Zeit der 
Entbindung die Frau anfallsfrei war. 

Von verschiedenen Autoren sind nun 
Erklärungsversuche unternommen wor¬ 
den, wie neurasthenische Basis, psycho¬ 
pathische Konstitution, Neurose auf dege- 
nerativer Basis, Sympathicuserschlaffung, 
Störung der endocinen Drüsenfunktion, 
besonders der Hypophyse. Letzter Hypo¬ 
these glaubt Nevermann sich mit einem 
gewissen Rechte anschließen zu dürfen, 
Wobei er sich von folgenden Überlegungen 
leiten läßt: durch die Schwangerschaft 
wird das Gleichgewicht, welches zwischen 
den einzelnen Organen besteht, gestört, 
da die Anforderungen gesteigert sind. 
Kommt es nun im Laufe der - folgenden 
Monate zu einem Ausgleich, so ver¬ 
schwinden alle krankhaften Erscheinun¬ 
gen, wie auch in diesem Falle die Schlaf¬ 
sucht. Es muß zugegeben werden, daß 
man noch nicht weiß, welche endokrinen 
Drüsen am meisten alteriert sind, doch 
soviel steht fest, daß von einer Neurose 
sowie von veränderten Strömungsver¬ 
hältnissen in den Capillaren keine Rede 
sein kann. Pulvermacher (Charlottenburg). 

(D. m. W. 1921, Nr. 39.) 

Trivalin ist bekanntlich reines Mor¬ 
phium mit einem spurenweisen Zusatz 





446 


Die" Therapie der Gegenwart 1921 


November 


von Coffein und Cocain; es ist daher 
wohl verständlich, daß es auch schon zu 
Trivalin-Mißbraucli gekommen ist, wo¬ 
zu Reichmann einen sehr lehrreichen 
Fall berichtet. Ein 50jähriger Patient 
hatte wegen rheumatischer Beschwerden 
Trivalin erhalten, und zwar mit gutem 
therapeutischen Erfolg. Später, durch 
häusliche Verhältnisse überreizt, brauchte 
er den Rest auf, stieg allmählich bis zu 
15 ccm täglich und beschaffte sich das 
Präparat mühelos ohne Rezept von den 
Apotheken immer wieder aufs neue. Zu¬ 
nehmende körperliche und seelische Er¬ 
schlaffung, nur noch durch Trivalin- 
injektionen vorübergehend gebessert, Ar¬ 
beitsunlust und starke Gewichtsabnahme 
veranlaßten ihn zur Entziehungskur, die 
nach Überwindung erheblicher Ausfallsr 
erscheinungen auch glückte. Wir refe¬ 
rieren diesen Fall, um auch an dieser 
Stelle darauf hinzuweisen, daß zwischen 
Trivalin und Morphium ein reeller Unter¬ 
schied nicht besteht; selbstverständlich 
sind die Gefahren beider Mittel dieselben 
und es bedeutet eine kaum verständliche 
Spekulation auf die Unwissenheit des 
Publikums, wenn Trivalin zu Morphium¬ 
entziehungskuren empfohlen wird. Im 
übrigen soll nicht unterschätzt werden, 
daß es gelegentlich praktisch nützlich 
sein kann, Morphium unter fremder Be¬ 
zeichnung zu verschreiben. 

E. Joel (Berlin). 

(D. m. W. 1921, Nr. 30.) 


Kretschmer berichtet über zwei 
Fälle, in denen das Friedmannsche 
Tuberkulosemittel als Schutzmittel völlig 
versagt hat. In dem einen Falle handelt es 
sich um einen Knaben, der wegen Bron¬ 
chialdrüsentuberkulose nach Friedmann 
behandelt Worden war und bei dem, ohne 
daß in der Zwischenzeit irgendwelche* 
Zeichen objektiver oder subjektiver Besse- 
rpng sich gezeigt hatten, nach zweieinhalb- 
Monaten eine Nebenhodentuberkulose auf¬ 
trat. Bei einem zweiten Knaben, der,, 
stark tuberkulös belastet, keine klinischen 
Krankheitszeichen bot, bei dem aber der 
positive Pirquet und die Röntgenplatte 
das Bestehen einer zur Zeit inaktiven. 
Bronchialdrüsentuberkulose bewiesen, 
wurde eine Friedmannsche Einspritzung: 
gemacht. Nach sieben Monaten trat eine 
tuberkulöse Rippencaries auf, nachdem in 
der Zwischenzeit das Impfdepot sich stark 
entzündet hatte und abscediert war. In 
beiden Fällen War es weder zu inter¬ 
kurrenten Krankheiten noch zu Traumen 
gekommen, die für eine Störung der 
Immunkörperbildung hätten verantwort¬ 
lich gemacht werden können. Ebenso¬ 
wenig kam eine falsche Dosierung in- 
Frage. Ähnliche Fälle, bei denen nach 
einer Friedmannschen Einspritzung an 
anderen Organen tuberkulöse Herde auf¬ 
traten, sind bereits von Bacmeister,, 
Specht und Un verricht mitgeteilt Wor¬ 
den. Kamnitzer. 

(D. m. W. 1921, Nr. 31.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch ^). 

Caseosan bei akutem Dickdarmkatarrh. 

(Beobachtung am eigenen Körper.) 

Von Dr. Gröpler, Arzt in Dessau. 


Das Milcheiweißpräparat „Caseosan" 
hatte ich bisher nur bei chron. rheumati¬ 
schen Leiden und zur Hebung des All¬ 
gemeinbefindens mit sehr gutem Erfolge 
angewandt. Eine Erkrankung an Dickdarm¬ 
katarrh im Juli 1921 gab mir Gelegenheit, 
die Wirkung des Caseosans bei dem noch 


1) Anmerkung des Herausgebers. Die 
„Therapie der Gegenwart“ steht jedem Kollegen 
zur Mitteilung therapeutischer Kasuistik offen. 
Aber jeder Autor deckt sein Gut mit seiner per¬ 
sönlichen Flagge. Die Redaktion steht weder für 
die Theorien noch für die praktischen Ergebnisse 
ihrer Mitarbeiter ein. Sie rechnet auf nach¬ 
denkende Leser, die sich immer wieder fragen, 
ob post hoc auch propter hoc bedeutet, und die 
sich stets den wechselvollen Verlauf auch unbe¬ 
einflußter Krankheiten vor Augen halten. 


akuten Prozeß am eigenen Körper zu be¬ 
obachten. 

Die Krankheit begann mit dünnschleimigerr 
Entleerungen verbunden mit heftiger Darmkolik.. 
Die Betastung des Leibes, namentlich in der Gegend 
des Querkolons, war äußerst empfindlich. Starke 
Kreuzschmerzen. Die Temperatur stieg im Laufe 
des nächsten Tags bis 38,1®. Die üblichen Ma߬ 
regeln, zuerst Abführung, dann Opium, schließlich 
Adstringentien, Diät, blieben völlig wirkungslos. 
Die Temperatur erhöhte sich am folgenden Tag 
nur noch bis 37,6®, am vierten Tag in der Frühe 
betrug sie nur noch 37,3®. Dabei nahmen jedoch 
die Krankeitssymptome dauernd zu und das All¬ 
gemeinbefinden wurde immer schlechter. Der Dick¬ 
darmkatarrh schien bereits in ein subacutes und 
vielleicht schließlich in ein chronisches Stadium 
übergehen zu wollen, wie es mir selbst schon zwei¬ 
mal, einmal vor 3, einmal vor 7 Jahren, passiert 
war, wodurch ich wochenlang arbeitsunfähig wurde. 





November 


Dk Therapie der Gegenwart 1921 


447 


Schnelle Hilfe also tat not, und diese er¬ 
wartete ich nur noch von der parenteralen An¬ 
wendung' artfremden Eiweißes: Schnelle Herbei- 
‘führung eines künstlichen Heilfiebers und einer 
Heilentzündung im Sinne Biers. 

Am 4. Tag %8 Uhr vormittags. Injektion von 
1 g Caseosan subcutan in den linken Oberschenkel. 
Die Temperatur, die bis ^ 2 ^ mittags weiter 
bis auf 37,2 0 gefallen war, stieg von da ab als 
dem Beginn der Reaktion auf die Caseosaninjektion 
plötzlich wieder an und erreichte bis ^/2 3 Uhr 
nachmittags ihren höchsten Stand von 38,8°. 
Das Allgemeinbefinden war sehr stark beein¬ 
trächtigt, die Darmschmerzen sehr heftig. Mit 
dem allmählichen Sinken der Temperatur inner¬ 
halb von 3 Stunden schwanden handinhandgehend 
■die Krankheitssymptome. Bei 37,5 ^ angekommen, 
begann plötzlich die Temperatur 2 Stunden lang 
bis 38,2® wieder anzusteigen wiederum unter Zu¬ 
nahme der Allgemeinbeschwerden, aber unter 
weiterer Besserung der Krankheit. 

Dieses nochmalige Ansteigen der Temperatur 
■führe ich auf die erst später erfolgte Mitbeteiligung 
der oberen Hautschichten an der Reaktion, sicht¬ 
bar an der jetzt erst auftretenden ausgebreiteten 
entzündlichen Rötung, zurück. 

Als Anhänger der Cutanimpfung mit 
konzentriertem Alttuberkulin nach Dr. 
Ponndorf (Weimar), die ich seit Jahren 
an Tausenden von Patienten zum Teil 
•mit ans Wunderbare grenzenden Erfolgen 
angewandt habe, glaube ich, daß speziell 
die Haut als das große Schutz- und 
Immunisierungsorgan, in Entzündungs¬ 
zustand versetzt, reichliche Abwehrstoffe 
zu bilden vermag. Ob man auch mit 
Ponndorf scher Cutanimpfung bei akutem 
Dickdarmkatarrh einen gleichen Erfolg 
wie mit Caseosaninjektion erzielt hätte, 


lasse ich dahingestellt. Ich selbst habe 
die Ponndorf sehe Methode bei derartig 
akuten Erkrankungen bisher noch nicht 
versucht, jedenfalls werde ich die sub- 
cutanen Eiweißinjektionen stets den intra¬ 
venösen oder intramuskulären vorziehen, 
um eben zugleich die Haut zu aktiver 
Beteiligung an der Bildung von Schutz¬ 
stoffen ,zu Veranlassen. Die entzündliche 
Rötung der Haut war auch noch den 
ganzen ö.iTag sowohl fühl- wie sichtbar, 
fortgesetzte Bildung von Abwehrstoffen 
also anzunehmen. 

Die Temperatur sank am Injektionstag 
bis abends 10 Uhr wieder bis auf 37,5^; 
die Nacht war bis auf dreimaliges kurzes 
Erwachen gut^ am andern Morgen war 
die Temperatur unter 37®, und so blieb 
es auf die Dauer.Abgesehen von großer 
Mattigkeit bestand Wohlbefinden, der 
Stuhlgang war wieder normal, Diät wurde 
wie schon am Tage zuvor, dem Tage der 
Caseosaninjektion, nicht mehr eingehalten. 

Der Zufall wollte es, daß ich in meinen 
Krankheitstagen die jüngst- erschienene 
Broschüre von Hugo Schulz, Greifs¬ 
wald, „Similia similibus curantur“ zu 
lesen bekam, wodurch das Interesse an 
der eigenen Erkrankung und Genesung 
noch bedeutend gesteigert wurde. Kommen 
in der Studie von Schulz doch Gedanken 
zum Ausdruck, die mich in gleicher Weise 
schon stets bei Anwendung moderner Heil¬ 
verfahren, wie z. B. der parenteralen 
Proteinkörpertherapie, bewegten. 


Körperliche Schmerzen, ihre Bedeutung und Behandlung. 

(Aus einem populären Vortrage.) 

Von Dr. Martin Sußmann, Berlin. 


Stellen Sie sich einen Menschen vor, der 
ein umfangreiches Hausgrundstück besitzt; 
zahlreiche Mieter bewohnen das ausge¬ 
dehnte Gebäude. Der Besitzer des Grund¬ 
stücks ist zugleich sein Verwalter; er muß 
den Betrieb aufrechterhalten, hat für die 
Ordnung im Innern zu sorgen und das 
Ganze nach außen zu schützen, ln dem 
Büro, das er im Hause selbst hat, ist er 
mit all diesen Aufgaben hinreichend be¬ 
schäftigt; da er aber noch in anderer 
Weise, mit Lektüre, privaten Liebhabereien 
usw., sich betätigen will, so kann er allein 
der Aufgabe des Schutzes und der Ord¬ 
nung, nach außen und im Innern, nicht 
gerecht werden. Er hat sich daher eine 
große Zahl von Hunden angeschafft und 
sie in alle Stockwerke, in die Gänge, an 
die Türen, auf den Hof, auch ins Innere 
mancher Wohnräume — kurz überallhin 


verteilt, wo sie aufzupassen haben. Die 
Hunde sind äußerst wachsam, aber auch 
gut dressiert; bei dem regelmäßigen, ohne 
Störung ablaufenden Betrieb verhalten sie 
sich ruhig; bei jeder Störung aber, bei 
jeder Unregelmäßigkeit, selbst der aller¬ 
geringsten, melden sie dies sofort durch 
Lautgeben, durch Knurren und mehr oder 
weniger lautes Bellen. Nun läßt sich 
leicht denken, daß in dem großen Grund¬ 
stück täglich allerlei geringfügige Ab¬ 
weichungen von dem normalen, gewöhn¬ 
lichen Ablauf des Betriebes Vorkommen 
werden, und da die Hunde, wie gesagt, 
sehr wachsam sind, werden sie alle diese 
kleinen Abweichungen, die noch nicht 
einmal den Namen ,,Störung“ verdienen, 
registrieren und durch ihr Gebell anzeigen. 
So z. B. wenn jemand einmal eine Tür 
heftig zuwirft, ein lebhafter junge mit 





446 'Die Therapie der Gegenwart 1921 November 


starkem Gepolter die Treppen hinunter¬ 
läuft, zwei Nachbarinnen sich streiten, 
außen am Zaun, der das Gehöft umgibt, 
ein mutwilliger Knabe mal beim Vorüber¬ 
gehen mit einem Stock klirrend dagegen¬ 
streift und dergleichen mehr — stets 
melden es die Hunde durch Knurren oder 
Bellen an. Natürlich werden sie erst recht 
aufmerksam machen, wenn etwas Ernst¬ 
haftes passiert: wenn eine glühende Kohle 
aus dem Ofen gefallen ist und der Fu߬ 
boden zu schwelen anfängt, oder gar ein 
Feuer auszubrechen droht, wenn ein Dieb 
sich einschleichen will oder wenn zwei 
verfeindete Mieter sich mit scharfen In¬ 
strumenten zu Leibe gehen usw. Nun 
ist es natürlich, daß die Hunde ganz 
anders bellen, wenn sie eine der erst¬ 
genannten Abweichungen melden wollen 
oder wenn eine ernsthafte Störung vor¬ 
liegt: im ersten Falle lassen sie ein mehr 
oder weniger heftiges Knurren oder kurzes 
Bellen hören, im letzten Fall ein lautes, 
vor allem auch anhaltendes Gebell oder 
durchdringendes Heulen. Wollte nun der 
Besitzer, der in seinem Büro arbeitet, bei 
jedem Lautgeben der Hunde, das er hört, 
sofort aufspringen und nachsehen, was 
geschehen ist, dann würde er nie zur 
Ruhe kommen; denn es ist bereits gesagt, 
daß bei dem großen Grundstück und der 
reichen Zahl von Hunden kaum der Bruch¬ 
teil einer Minute vergeht, wo nicht der 
eine oder der andere Hund etwas zu melden 
hat. Ein vernünftiger Besitzer muß aus 
eigener Überlegung heraus wissen oder 
aus der Erfahrung gelernt haben, ob ein 
Gebell eine besondere Bedeutung hat, und 
wird bei dem geringen Lautgeben der 
Hunde ruhig sitzen bleiben, es schließlich 
ganz überhören, indem er gelernt hat, sich 
zu sagen: laß die Hunde bellen, es bedeutet 
nichts; nur bei stärkerem, anhaltendem 
Bellen wird er sofort sich erheben, nach 
dem Rechten sehen und die nötigen Ma߬ 
regeln zur Beseitigung der Störung ergreifen. 

So geht es uns Menschen mit unserem 
Besitz, unserem Körper: auch wir haben 
in unserem Innern eine ungeheure Anzahl 
wachsamer Hunde, guter Wächter, die 
uns von allen, auch den geringsten Ab¬ 
weichungen und Störungen Kunde geben — 
es sind die sensiblen, d. h. Empfindungs¬ 
nerven. Da nun im Körper nie Ruhe 
herrscht — Herz und Lungen arbeiten 
ununterbrochen, das Blut wird im Ader¬ 
system dauernd umhergeworfen, die Drüsen 
geben stetig Stoffe zur Verarbeitung der 


eingeführten Nahrung ab, Darm und 
Nieren sind in unablässiger Aufnahme- 
und Abgabetätigkeit —, so gibt es bei 
all diesen zahlreichen Arbeiten und Be¬ 
wegungen hier und da kleine Abweichun¬ 
gen, die von den Nerven zum empfin¬ 
denden Centrum, dem Bewußtsein, geleitet 
werden und sich als Unbehagen oder 
Schmerzen bemerkbar machen können. 
Ein vernünftiger Mensch nun, d. h. ein 
solcher, der seine Gefühle, seine Emp¬ 
findungen mit Hilfe seiner Vernunft 
kontrolliert, gibt sich entweder^ über 
solche geringfügigen Schmerzen gar nicht 
erst Rechenschaft — er empfindet sie 
zwar, aber er „überhört“ sie absichtlich—^ 
oder er wird den Arzt zu Rate ziehen, 
der ihn untersuchen und über die Be¬ 
deutungslosigkeit der Schmerzen aufklären 
wird. Es ist dabei noch etwas Wichtiges 
zu beachten. Haben — in dem obigen 
Beispiel — die Hunde gemerkt, daß der 
Besitzer auf geringes Knurren und Bellen 
nicht achtet, nicht reagiert, dann werden 
sie sich auch dieses allmählich abge- 
wöhnen; haben sie im Gegenteil be¬ 
merkt, daß ein unruhiger Besitzer bei 
jedem Gebell hinzukommt, so werden 
sie erst recht ihre Wachsamkeit beweisen 
wollen und noch öfter bellen als vorher. 
Gerade so ist es mit den Empfindungs¬ 
nerven: wenn man geringfügige Schmer¬ 
zen oder Abweichungen vom Normalen 
nicht beachtet, dann stumpfen die Nerven 
allmählich ab, die Empfindung für diese 
oder jene Schmerzen geht dem Menschen 
überhaupt verloren; es tritt dasjenige ein, 
was man Abhärtung nennt, d. h. eben 
Gewöhnung an einen Reiz. Achtet 
man jedoch auf alle kleinen Schmerzen 
und Störungen, dann ist es wie bei allen 
Funktionen, die man oft übt: sie werden 
durch Übung nur noch stärker und kräf¬ 
tiger. So wird auch die Funktion der 
Nerven, das Empfinden von Schmerzen 
und Unbehagen, „gestärkt“, die Nerven 
machen sich öfter und immer stärker, 
zum Schaden und zur Qual des Menschen, 
bemerkbar. 

Machen Sie sich diese Erkenntnis 
über die Bedeutung der körperlichen 
Schmerzen zunutze, und Sie werden ein- 
sehen, daß ein nicht geringer Teil der 
Lebenskunst des Menschen darin besteht, 
sich beizeiten über eins klar zu werden: 
zu lernen, wann man sich um das Gebell 
der Hunde kümmern muß, und wann man 
ruhig sagen darf: Laß die Hunde bclleni 


Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urb an & Schwarzenberg 
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berlin W57. 










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Die Therapie der Gegenwart 

1021 herausgcgeben von Geh, Med.-Raf Prot Dr. G. Klemperer J) 02 ©m'l)©j» 


Nachdruck verboten. 


Hippokratische Medizin. 

Gesprochen bei Beginn des Wintersemesters in der IV. medizinischen Universitätsklinik 

von Prof. Georg Klemperer. 


Meine Herren! Wie in den ver¬ 
gangenen Semestern, so möchte ich auch 
diesmal zur Einleitung einige Worte über 
die Methode sprechen, nach der ich den 
Unterricht in der Klinik abzuhalten ge¬ 
denke. Unsere Methode soll einem Vor¬ 
bild nachstreben, das seit mehr als zwei 
Jahrtausenden der ärztlichen Kunst vor¬ 
anleuchtet. Es ist der „Vater der Heil¬ 
kunde“, der große griechische Arzt Hippo- 
krates, der 400 Jahre vor dem Beginn 
unserer Zeitrechnung den ärztlichen Be¬ 
ruf so ausübte und lehrte, daß wir seine 
Methode noch heute als nachahmenswert 
rühmen dürfen. Hippokratischen Geist 
möchte ich in der Klinik pflegen und in 
Ihnen lebendig machen. 

Lassen Sie mich aus den Werken 
des Hippokrates darlegen, worin seine 
Kunst besteht und worin wir ihm nach¬ 
eifern wollen. 

Vorbildlich ist uns zuerst die Hippo¬ 
kratische Methode der Krankenunter¬ 
suchung. 

Sie beginnt mit der Anamnese. 
Der Arzt soll von dem Kranken %ä 
jiQoyeyovömy das Vorangegangene, erfor¬ 
schen; er soll durch Ausfragen erfahren 
{jivd'öfievov EiÖEvai)y ob die Krankheit 
angeboren ist, ob sie von der Landes¬ 
gegend abhängt, von der Lebensweise, 
von der Konstitution, von den Jahres¬ 
zeiten; und wenn die Kranken etwas ver¬ 
gessen haben {öycöaa ök naqa^EinovoLv ol 
dad'EVEovTEg) soll es der Arzt durch 
Nachfragen zu ergänzen suchen. 

Eine so vollkommene Anamnese von 
den Kranken zu gewinnen, sei auch in 
der Klinik unser erstes Bemühen. Wer 
aber eine brauchbare Anamnese bekom¬ 
men will, der muß bei der Erzählung des 
Kranken das Wesentliche vom Unwesent¬ 
lichen zu trennen, er muß auch richtige 
Fragen zu stellen wissen. Dazu gehört 

1) Übersetzungen von Grimm, Altenburg 
1781—92, und von Fuchs, München 1895. Die 
griechischen Texte zitiere ich nach der allen 
Medizinern besonders zu empfehlenden Antho¬ 
logie von Beck: Hippokrates’ Erkenntnisse, 
Jena 1907. 


ein gewisser Grad von allgemeinen Kennt¬ 
nissen über Wesen und Verlauf der 
Hauptkrankheiten. Die Klinik, meine 
Herren, gibt keinen systematischen Unter¬ 
richt in der speziellen Pathologie; sie 
zeigt Ihnen einzelne Kranke mit einem 
individuellen Krankheitsbild, dessen Be¬ 
sonderheit sich Ihnen einprägen soll. Erst 
wenn Sie verschiedene Kranke mit an¬ 
scheinend gleicher Krankheit gesehen und 
beobachtet haben, gewinnen Sie die leben¬ 
dige Vorstellung des Krankheitstyps. Aber 
es ist nützlich und empfehlenswert, daß 
Sie die klinischen Vorstellungen durch 
begleitendes Studium eines Lehrbuches 
der speziellen Pathologie ergänzen, aus 
dem Sie die Hauptdaten der Krankheits¬ 
lehre sich zu eigen machen. Bei der Auf¬ 
nahme einer Anamnese werden Sie be¬ 
merken, wieviel sicherer Sie zum Ziel 
kommen, wenn Sie dem zu erfragenden 
Krankheitsbild nicht mehr ganz fremd 
gegenüberstehen. 

An die Anamnese schließt sich die 
Feststellung des Status praesens, das 
heißt die genaue körperliche Unter¬ 
suchung, welche die unerläßliche Vor¬ 
aussetzung jeder ärztlichen Einwirkung 
ist. Die unbedingte Notwendigkeit der 
eingehendsten Untersuchung betont Hip¬ 
pokrates an vielen Stellen seiner Schrif¬ 
ten. Der Arzt soll das Gegenwärtige 
(Ta naQEÖvTa) erkennen und [iriÖEv 
tjvEQOQrjv (nichts übersehen); er soll den 
ganzen Körper sowie die einzelnen Teile 
besehen, befühlen und beriechen. Farbe, 
Ausschläge und Schwellungen der Haut und 
der Schleimhäute, Haare und Nägel, Zunge, 
Zähne und Mundhöhle, Beschaffenheit 
des Pulses, Urin und Auswurf, Erbrechen 
und Darmentleerung, etwaiges Fieber und 
Frostanfälle, Hunger, Durst und Schmer¬ 
zen, alles ist sorgfältig festzustellen, in 
jede zugängliche Körperhöhle ist zu 
tasten, ja das Ohr ist an die Brustwand 
anzulegen, ob man vielleicht ein Kochen 
oder Reiben hört, und der Oberkörper ist 
zu schütteln, um ein etwaiges Plätscher¬ 
geräusch hervorzurufen. 


57 




450 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


DezembeV 


Diese gründliche Untersuchung ist 
noch heute für uns maßgebend; immer 
wieder werde ich Gelegenheit nehmen, 
auf ihre Wichtigkeit hinzuweisen. Ja 
wir folgen direkt den Spuren des Hippo- 
krates, wenn wir uns bei der Aufnahme 
des Status an die Reihenfolge eines be¬ 
stimmten Schema halten, das Sie am 
besten Ihrem Gedächtnis ein für allemal 
einprägen. Freilich ist die Zahl und Art 
unserer Untersuchungsmethoden viel 
reichhaltiger, als sie den alten Griechen 
zur Verfügung stand; wir haben eine voll¬ 
kommene Perkussion und Auskultation; 
wir vermögen die Absonderungen und 
Ausscheidungen mit chemischen und mi¬ 
kroskopischen Methoden zu untersuchen; 
wir lenken das Licht in viele Tiefen des 
Körpers, die den Alten unerhellt und 
verschlossen blieben. In all diesen 
Künsten müssen Sie sich in besonderen 
Kursen üben; aber sie bringen Ihnen 
doch nur den rechten Nutzen, wenn Sie 
sie in steter Verbindung mit der grund¬ 
legenden -^einfachen Methode der klini¬ 
schen Beobachtung anwenden; je mehr 
Sie mit den Sinnen unmittelbar wahr¬ 
nehmen, desto präziser ist die Frage¬ 
stellung für die eingehendere Unter¬ 
suchung. Es wird eine meiner Haupt¬ 
aufgaben sein, Sie durch steten Hinweis 
in der Erfassung einfach zu beobachtender 
Symptome zu üben. 

Aber Sie sehen wohl ein, meine Herren, 
daß für diese Schulung die kurze Zeit der 
klinischen Vorstellung nicht ausreicht. 
Wenn ich vorher sagte, daß Sie zur Er¬ 
lernung der Krankheitstypen des Lehr¬ 
buchstudiums nicht entbehren können, 
so füge ich nun hinzu, daß die fort¬ 
laufende Krankenbeobachtung noch viel 
wichtiger ist. Das berühmte Wort des 
Paracelsus: „Die Kranken sollen des Arztes 
Bücher sein“ entspricht durchaus der 
Hippokratischen Methode. Um Kranke 
zu studieren, müssen Sie unbedingt die 
Krankensäle aufsuchen! Dazu wollen wir 
Ihnen behilflich sein. Es war der be¬ 
sondere Gründungszweck dieser Klinik, 
seminaristischen Unterricht zu erteilen; 
unser Krankenhaus bietet einem Jeden 
von Ihnen Gelegenheit, jetzt oder später 
zwei bis drei Monate als Famulus am 
Krankendienst teilzunehmen. Nur wenn 
Sie diese Zeit mit wachen Sinnen fleißig 
ausnutzen, wird der klinische Unter¬ 
richt für Sie Wahrhaft fruchtbringend 
sein. 

ln der Unterrichtsstunde werde ich 
den Praktikanten anleiten, aus den beob¬ 


achteten Hauptsymptomen die Diagnose 
abzuleiten. Oft wird das leicht sein. Oft 
aber wird die Deutung der Zeichen 
Schwierigkeiten machen, und es wird 
meine Aufgabe sein, das geistige Band vor 
Ihren Augen erstehen zu lassen, das die 
Symptome verbindet und erklärt. Wir 
werden „pathologische Physiologie“ am 
Krankenbett treiben. Aber auch damit 
treten wir nicht aus dem Rahmen des 
Hippokratismus; in den Schriften des 
griechischen Meisters treffen wir stets das 
Bestreben, den Grund der krankhaften 
Erscheinungen aufzuklären. Selbstver¬ 
ständlich waren ihm die Grenzen eng 
gezogen, und viele seiner Theorien muten 
uns sonderbar an; aber es ist doch nur 
ein quantitativer Unterschied zwischen 
Hippokrates und uns, die wir aus dem 
Reichtum der hochentwickelten Natur¬ 
wissenschaft schöpfen dürfen. Gemein¬ 
sam ist uns das Bestreben, die praktische 
Medizin auf wissenschaftlicher Grundlage 
aufzubauen. Ich will, so viel als ich ver¬ 
mag, zu zeigen versuchen, wie sich die 
physiologischen Gesetze im erkrankten 
Organismus auswirken. Ich denke, es 
wird eine Quelle wahrer Befriedigung für 
Sie sein, was Sie beobachten, auch zu 
verstehen. Und wenn die begrenzte Zeit 
mich oft auf Andeutungen beschränken 
wird, so werden Sie früher oder später 
Gelegenheit nehmen, durch das Studium 
eines Lehrbuchs der „Pathologischen Phy¬ 
siologie“ Ihren ärztlich-wissenschaftlichen 
Gesichtskreis zu erweitern. 

Durch die gedankliche Erfassung der 
Krankheitsbilder werden Sie auch am 
besten in die Lage kommen, den Verlauf 
vorauszusagen, das heißt die Prognose 
der Krankheit zu stellen. Auch dieser 
Teil der ärztlichen Tätigkeit, dem wir 
große Aufmerksamkeit widmen wollen, 
ist von Hippokrates hoch bewertet wor¬ 
den; er hat ihr eine besondere Schrift 
gewidmet. Erst mit wachsender Er¬ 
fahrung, meine Henen, werden Sie es 
in der Prognostik zu einiger Sicherheit 
bringen. 

Wenn wir so, meine Herren, nach 
Beobachtung, Untersuchung und Über¬ 
legung, Diagnose und Prognose gestellt 
haben werden, so haben wir doch erst 
die Grundlage für unsere Hauptarbeit 
geschaffen. 

Die Hauptaufgabe der Klinik ist der 
Unterricht in der Behandlung der 
Kranken. Das ist hippokratische Me¬ 
thode: neql nXelaxov jiOLelad'at önojg 

i)yiä noLijaeiQ rbv voaevvTa. Höchste 



Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


451 


Pflicht ist es, den Kranken gesund zu 
machen. „Heilmittel und Methoden zur 
Behandlung der Krankheiten sind der 
ärztlichen Kunst Anfang und Ende.'‘ 
,,Eine chronische Krankheit bedarf auch 
chronischer Behandlung/* Ich könnte 
leicht noch mehr Sätze zitieren, welche be¬ 
weisen, daß wir altgriechischen Geist pfle¬ 
gen, wenn wir die „Therapie**, d. h. den 
Dienst am Kranken als unsere höchste 
Aufgabe betrachten. Unser deutscher 
Berufsname Arzt ist aus dem griechischen 
Archiater, Erzheiler, entstanden, das im 
mittelalterlichen Liede Wolframs noch 
Arzät heißt. 

Da Sie sich diesen Heilberuf erwählt 
haben, meine Hefren, müssen Sie vieles 
lernen, um sich auf ihn vorzubereiten. 
Aber Hippokrates lehrt Sie, daß Sie vor 
allem der Menschenliebe bedürfen. 

""Hv yaQ naqrjv q)Uavd'QO)nlri, jtaqiaTL 
xai cpUoTexvLri. Wo Liebe zur Menschheit, 
da ist auch Liebe zur Kunst. Nicht For¬ 
scherdrang noch Liebe zur Wissenschaft 
können Ihnen allein den Antrieb geben, 
sich dem Studium der Heilkunst zu wid¬ 
men ; auch die Aussicht auf irdische Güter 
kann Sie nicht locken. Weniger wohl als 
früheren Ärztegenerationen werden Ihnen, 
meine Herren, äußere Erfolge beschieden 
sein. Nur der heiße Drang, sich dienend 
den Menschen hinzugeben, kann Sie vor¬ 
wärts leiten, nur das erhebende Bewußt¬ 
sein, Menschen gestützt und gerettet zu 
haben, wird Sie für schwere Mühen be¬ 
lohnen. Nur wahre Liebe zu den Menschen 
kann Sie dazu führen, sich so sehr in das 
Wesen des Kranken zu vertiefen, wie es 
unser heiliger Beruf verlangt. Sein Kör¬ 
per wie seine Seele sind in gleicher Weise 
Gegenstand unserer Fürsorge, in sein 
Denken und Fühlen suchen wir uns einzu¬ 
leben, um den Einfluß auf ihn zu gewin¬ 
nen, der zur Erzielung des Heilzweckes 
notwendig ist. Ich will Versuchen, meine 
Herren, im Unterricht zu zeigen, daß es 
auch unter den wenig günstigeren Ver¬ 
hältnissen des Hospitalbetriebs möglich 
ist, die Persönlichkeit des Kranken in den 
Mittelpunkt der Behandlung zu stellen; 
ich will bei jedem Kranken erkennen 
lassen, daß all unser Untersuchen nur 
dem einen Ziel zusteuert, den Kranken 
gesund zu machen, ihn von Schmerzen 
und Beschwerden zu befreien, ihm das 
Bewußtsein zu verschaffen, daß er von 
Freunden umgeben ist, die alles aufbieten, 
ihm zu helfen. In allen Zeiten sind die 
besten Ärzte von solcher Gesinnung er¬ 
füllt gewesen; lassen Sie mich die schönen i 


Worte Zimmermanns zitieren, des aus¬ 
gezeichneten Leibarztes Friedrichs des 
Großen: Ich habe Ärzte gekannt, die 
nicht große Gelehrte, nicht berühmte 
Schriftsteller waren und von denen mir 
immer mein Herz sagte: „Dich möchte 
ich an meiner Seite haben, wenn ich Hoff¬ 
nung hätte, zu genesen, und in deinen 
Armen möchte ich gern sterben.** 

Selbstverständlich, meine Herren, 
Menschenliebe allein tut es nicht. Mit ihr 
verschwistert sich das Streben, aus allen 
Gebieten der Natur und der Kunst herbei¬ 
zuholen, was zum Helfen geeignet ist. 

Beginnen soll die Therapie mit 
der Prophylaxe, 'byiaivövxoyv 

(pqovxi^eiv, dvoairjg. Es ist gut 

für die Gesunden zu sorgen, wegen des 
Nichtkrankwerdens. Die prophylak¬ 
tische Therapie, welche die allgemeine 
Körperhygiene und die Hygiene der 
einzelnen Organe umfaßt, hat durch die 
Bakteriologie einen neuen Inhalt er¬ 
halten. 

Für die Behandlung der entwickelten 
Krankheit kommen in erster Linie die 
natürlichen Heilmittel, Luft und Licht, 
Wasser, Bewegung und Diät in Betracht; 
ihre Anwendung hat Hippokrates zu 
großer Mannigfaltigkeit entwickelt. Er 
verordnete Bäder, Waschungen und 
Übergießungen, heiße und kalte Um¬ 
schläge und Packungen, läßt schwitzen, 
frottieren und massieren, verordnet 
systematische Gymnastik. Besonderen 
Wert legt er auf die Verordnung der Nah¬ 
rung; der Diätetik hat er nicht weniger 
als vier Schriften gewidmet. All diese 
Heilmethoden, deren Anwendung einen 
besonderen Ruhmestitel der hippokra¬ 
tischen Medizin bildet, sind im Mittel- 
alter von den gelehrten Ärzten wenig ge¬ 
schätzt und von der Schulmedizin der 
Neuzeit fast vergessen worden; sie haben 
im Volke fortgelebt und sind zum Teil von 
ungelehrten Laien wieder entdeckt und 
verbreitet worden. Erst im Ausgang des 
vorigen Jahrhunderts hat die Klinik ihr 
altes hippokratisches Erbe wieder ange¬ 
treten, alsbald dessen Bestand bereichert 
und durch Wissenschaftliche Unter¬ 
suchungen vertieft. Jetzt bildet die 
hygienische wie physikalische und diä¬ 
tetische Therapie einen ganz wesent¬ 
lichen Teil der Krankenbehandlung, den 
Sie in unserem Krankenhaus eifrig ge¬ 
pflegt finden werden und den ich Ihrem 
Studium besonders empfehle. 

Wir treiben ferner Hippokratische 
1 Therapie, wenn wir unseren Kranken auch 

57* 



452 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Dezember 


mit Arzneimitteln zu helfen suchen; 
freilich sind wir hierin kritischer und 
skeptischer als die griechischen Ärzte. Nur 
wenige von den Medikamenten, die Hippo- 
krates empfiehlt, gelten uns noch etwas; 
die meisten sind verlassen; es ist ja selbst¬ 
verständlich, daß gerade hierin sich der 
wissenschaftliche Fortschritt besonders zu 
erkennen gibt. Wir empfinden andererseits 
mit Freude, wie viel reicher wir geworden 
sind, wie viel wirksame Arzneimittel wir 
besitzen, die die Alten entbehren mußten. 
Aber ein wichtiges Prinzip ist uns von 
Hippokrates überkommen, das ich Ihnen 
oft einprägen werde: nünoxe dlxpsXifiöv 
iativ fitjöev (pdQfiaxov nQO^cpiQEiv. Manch¬ 
mal ist es nützlich, kein Heilmittel zu 
reichen. Darin erblicken wir eine Meister¬ 
schaft des Arztes, daß er weiß, wann er 
ohne Arzneimittel auskommen kann. Wir 
wollen uns von dem natürlichen Ablauf 
unbehandelter Krankheiten, von der Mög¬ 
lichkeit ihrer Selbstheilung, Rechenschaft 
geben, um vor Selbsttäuschung und vor 
Schädigung der Kranken bewahrt zu 
bleiben; wir wollen von den Forschungs¬ 
ergebnissen der experimentellen Phar¬ 
makologie Kenntnis nehmen, um das 
richtige Verständnis für die Wirkung der 
Arzneimittel zu erlangen. 

Schließlich ist Hippokrates der Vater 
der operativen Therapie innerer Krank¬ 
heiten. Von ihm stammt das berühmte 
Wort, das der junge Mediziner Schiller 
seinen Räubern vorgesetzt hat: 6v,6aa 
(päQiiana oiv. iifvai, aidrjQÖg ifjtai. Was 
Arzneien nicht heilen, heilt das Eisen. 
Hippokrates hat gelehrt, das Pleura¬ 
empyem durch Operation zu heilen, erst 
die großen Chirurgen des 16. Jahr¬ 
hunderts haben diesen Eingriff, der im 
Mittelalter vergessen war, wieder zu 
Ehren gebracht. Unter dem Schutz 
der Antisepsis und der Asepsis ist die 
operative Therapie immer weiter in die 
innere Medizin vorgedrungen. Wir rufen 
die Chirurgen zur Hilfeleistung, aber es 
ist unsere wichtige Aufgabe, die Indi¬ 
kation für den chirurgischen Eingriff 
zu präzisieren. 

Sie sehen, meine Herren, es wird viel 
von Ihnen verlangt. Der Arzt soll viel 
wissen, sagt Hippokrates. Aber er ver¬ 
langt nicht nur das Fachwissen, das uns 
zum* rechten Eingriff zur rechten Zeit be¬ 
fähigt, er fordert vom Arzte auch einen 
hohen Grad allgemeiner Bildung, deren 
schönste Blüte in gedanklicher Schulung, 
in der Fähigkeit selbständigen Denkens 
gelegen ist. 


’laTQÖg yäQ g>Maoq>og iaö&^eog. 

Der philosophisch gebildete Arzt ist 
gottgleich. Dieser höchsten Stufe der 
Vollkommenheit durch höchste Geistes¬ 
bildung soll der Arzt zustreben,' weil die 
Erhebung seiner Persönlichkeit zu¬ 
gleich seine ärztliche Kraft und Bedeu¬ 
tung steigert. Das ist eine der hippokra¬ 
tischen Grundanschauungen,, zu der auch 
wir uns bekennen, daß die Persönlichkeit 
des Arztes ein wertvolles Mittel zur Be¬ 
einflussung des Kranken bedeutet. yexv'i] 
öiä tqmv, tb vöarifia xai ö voascov xal ö it}- 
TQÖg. Drei Dinge sind der Inhalt der Kunst, 
die Krankheit, der Kranke und der Arzt. 
Innige Menschenliebe soll sich mit Wissen 
und Können vereinen, aber vollkommen 
wird der Arzt erst, wenn sein ganzes We¬ 
sen seinem Berufe dient. Er sei freundlich 
und doch bestimmt, taktvoll und zurück¬ 
haltend, die Hoheit und Heiligkeit seines 
Amtes soll sich in der Wurde seines Auf¬ 
tretens aussprechen, auf seinem Antlitz soll 
die Harmonie innerer Abgeklärtheiterkenn¬ 
bar sein. An vielen Stellen der hippokra¬ 
tischen Schriften sind solche Ratschläge zu 
lesen, die die Ethik der ärztlichen Persön¬ 
lichkeit als wesentlich für die Krankenbe¬ 
handlung hervorheben. Am schönsten 
aber sind die sittlichen Anforderungen 
in dem Eid zusammengefaßt, den die 
Schüler des Meisters abzulegen hatten, ehe 
sie als selbständige Ärzte wirken durften: 

,,lch schwöre bei Apollon, dem Arzte, 
bei Asklepios, Hygiea und Panakeia, 
bei allen Göttern und Göttinnen, daß 
ich nach Kräften und Gewissen diesen 
Eid erfüllen werde; meinen Lehrer in 
dieser Kunst will ich achten gleich meinen 

Eltern. Die Lebensweise will ich 

zum Nutzen der Kranken anordnen und 
dieselben vor Nachteil und Unrecht schüt¬ 
zen. Ich werde keinem, wenn auch ge¬ 
beten, ein tätliches Arzneimittel reichen 
noch dazu eine Anleitung geben. Rein 
und fromm will ich leben und meine Kunst 
üben.... In welche Häuser ich kornme, 
da will ich hineingehen zum Heile der 
Kranken, fern von jeder absichtlichen 
Schädigung und Verführung.... Was 
ich bei der ärztlichen Behandlung sehe 
und höre oder auch außerhalb derselben 
im gewöhnlichen Leben, das will ich ver¬ 
schweigen und als ein Geheimnis be¬ 
wahren. Wenn ich diesen Eid vollkommen 
halte und ihn nicht verletze, möge Glück 
mir beschieden sein im Leben und in 
meiner Kunst; möge Ruhm ich erlangen 
bei allen Menschen, auf ewige Zeiten; 
wenn ich aber diesen Eid übertrete 





Dezember 


Die Therapie der öegenwarf 1921’ 


und falschschwöre, so möge mich das 
Gegenteil davon treffen/* 

Ich beginne unsere Arbeit in diesem 
Semester mit dem Wunsche, daß es uns 


453 


gelingen möchte, dem hohen Ideal der 
hippokratischen Medizin nahezukommen, 
die von jeher der Leitstern der besten 
Ärzte gewesen ist. 


Aus der I. inneren Abteilung des Krankenhauses Moabit in Berlin (Prof. G. Klemperer). 

Zur Diagnose und Therapie der Perikarditis^), 

Von Lasar Dfiimer. 


Bei ausgesprochenen Symptomen wie 
hörbaren Reibegeräuschen oder bei sehr 
großem Exsudat ist die Diagnose Peri¬ 
karditis wohl kaum zu verfehlen. Da¬ 
neben gibt es zahlreiche Fälle, die leicht 
übersehen werden können, für deren 
Erkennen aber gute diagnostische Hin¬ 
weise zur Verfügung stehen. — Wir* 
wissen, daß im Verlaufe jeder Infektions¬ 
krankheit Endokarditis eintreten kann. 
Diese verläuft meist schmerzlos für den 
Kranken. Stiche in der Herzgegend 
sollen den Verdacht auf ein gleichzeitiges 
Befallensein des Perikards erwecken. 
Ebenso wie fast immer bei der Pneumonie 
die Schmerzen der Kranken auf eine 
Pleuritis zurückzuführen sind, so dürfte 
der Schmerz bei der Endokarditis das 
Symptom einer Perikarditis sein. Wenn 
man sich daran gewöhnt, in solchen 
Fällen besonders sorgfältig auf Reibe¬ 
geräusche zu achten, so wird man sie 
tatsächlich nicht selten sofort oder im 
Verlaufe der weiteren Beobachtung fest¬ 
stellen können. Aber selbst wenn der 
Nachweis nicht gelingt, so ist der Ver¬ 
dacht auch weiter berechtigt, weil ja die 
Entzündung an einer Stelle des Perikards 
sein kann, an der sie für das Ohr nicht 
erreichbar ist. — Dieser Schmerz wird 
manchmal schon im Beginn der Er¬ 
krankung so unerträglich, daß der Patient 
kaum zu atmen wagt, mit ängstlichem 
Gesichtsausdruck und Nasenflügelatmen 
daliegt. Mit fortschreitendem perikardi¬ 
tischen Prozeß, gleichgültig, ob er rein 
serös oder fibrinös ist, nimmt das Ge¬ 
sicht einen ganz typischen Ausdruck an: 
Die Gesichtsfarbe wird blasser und er¬ 
hält schließlich ein Kolorit, das entfernt 
an das der perniziösen Anämie erinnert 
und das als „marmorn“ zu bezeichnen 
ist. Diese Physiognomie ist häutig so 
ausgeprägt, daß sie allein schon die 
Diagnose gestattet. — Dazu kommt ein 
weiteres Moment, das merkwürdigerweise 
schulmäßig nicht genügend betont wird. 
Es ist eine auffällige Tatsache, daß 
gerade jugendliche Individuen bis etwa 

Gekürzte Wiedergabe eines Fortbildungs¬ 
vortrags. 


zum 18. Lebensjahre, in erster Linie aber 
Kinder mit Endokarditis gleichzeitig auch 
eine Perikarditis durchmachen müssen. 
Ich habe mich immer wieder von der 
Richtigkeit dieser Tatsache an der ziem¬ 
lich großen Zahl von Herzkranken in 
unserem Krankenhause überzeugen kön¬ 
nen. Vielfach deckte erst die Autopsie 
die Perikarditis auf, von der wir klinisch, 
ohne direkte Anhaltspunkte zu haben, 
nur vermutungsweise gesprochen hatten. 
Man sollte sogar jeden Erwachsenen, der 
anamnestisch einen in der Jugend durch¬ 
gemachten Gelenkrheumatismus angibt, 
bei dem auch „etwas am Herzen“ war, 
genauestens auf überstandene Perikarditis 
untersuchen. 

Was die weitere Diagnostik betrifft, 
so ist hier auch das Nasenbluten zu er¬ 
wähnen. das gelegentlich Frühsymptom 
ist. Wenn dann im weiteren Verlaufe 
Reiben oder die Vergrößerung der Herz¬ 
dämpfung eintritt, so ist ein Zweifel an 
der Diagnose nicht möglich. Diese Sym¬ 
ptome gelten zwar als charakteristisch, 
sie sind es aber in nur beschränktem 
Maße: Das Reiben ist unkonstant und 
unter Umständen vorübergehend; es ist 
vielfach nur im Beginn der Entzündung 
zu hören, wenn die beiden Perikardblätter 
noch aneinander liegen und wenn ihre 
rauhen Flächen aneinander vorbeireiben. 
Wächst das Exsudat, so muß es ver¬ 
schwinden. Auch bei fibrinöser Peri¬ 
karditis ist es bei Ausbreitung des Pro¬ 
zesses oft nur ab und zu feststellbar. Was 
nun die sogenannte typische Herzfigur 
anlangt, so soll ihr Vorkommen nicht 
geleugnet werden. Ohne Zweifel ist aber 
die Atypie ebenso häufig. Wer sich die 
Entstehung eines Perikardialergusses klar 
macht und namentlich die Faktoren be¬ 
rücksichtigt, die dabei eine Rolle spielen, 
der wird ohne weiteres verstehen, daß 
•jede Dämpfungsfigur möglich ist. Die 
Lage des Exsudates wird, abgesehen von 
der Schwerkraft, bedingt von den Ad¬ 
häsionen im Herzbeutel. Das Exsudat 
muß ihnen ausweichen. So kommt es, 
daß das eine Mal, wenn an der Rückseite 
des Herzens Verwachsungen bestehen. 



454 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Dezember 


die Flüssigkeit mehr seitlich und an der 
Vorderseite sich ansammelt. Sind die 
Adhäsionen vorn oder fehlen sie, so füllt 
das Exsudat der Schwere folgend die 
rückwärtigen Partien des Herzbeutels. 
Natürlich ist dabei die Stellung des 
Kranken mitbestimmend. Jedenfalls sind 
viele Variationen möglich. Deshalb ist 
es zu weit gegangen, von einer typischen 
Figur bei Perikarditis zu sprechen. Sehr 
interessant sind nun die klinischen Sym¬ 
ptome, die sich ergeben, wenn der Erguß 
sich vornehmlich an die Hinterseite lagert. 
Kommt nämlich der Entzündungsprozeß 
nicht zum Stillstand, so wird das Exsudat 
die Lunge allmählich bei Seite drängen 
und schließlich sogar sich an die Rück¬ 
seite des Thorax direkt anlegen können. 
In anderen Fällen wird das Exsudat die 
Lunge vor sich hertreiben, nach hinten 
unten drängen und hier komprimieren. 
Dann hört man unter Umständen Bron¬ 
chialatmen und Bronchophonie, während 
bei direkter Anlagerung des Exsudates 
an die Brustwand hinten unten kein 
Atmen zu hören ist und der Pectoral- 
fremitus mindestens abgeschwächt ist. 
Der Perikarderguß kann sogar derartige 
Dimensionen annehmen, daß er bis an 
die hintere Axillarlinie reicht, also voll¬ 
ständig eine Pleuritis Vortäuschen. Ich 
habe im Laufe der Jahre viele Fälle ge¬ 
sehen, die von anderen als Pleuritis ge¬ 
deutet waren, de facto aber eine Peri¬ 
karditis waren. Man sollte sich daher 
bei jedem Fall von Pleuritis, der nach 
unseren Ausführungen Anlaß zu der Ver¬ 
mutungsdiagnose Perikarditis gibt, fra¬ 
gen, ob das Exsudat vielleicht ein peri¬ 
karditisches ist. Das gilt namentlich für 
linksseitige Exsudate. Man sieht sogar 
gelegentlich links- und rechtsseitig Er¬ 
güsse, die durch sehr große Ausdehnung 
des Herzbeutels vorgetäuscht werden. 
Natürlich kommen neben Perikarditis 
auch reguläre Pleuritiden vor. Wenn man 
den Perikarditiskranken im Anstieg des 
Exsudates sorgfältig untersucht, so wird 
man das Heranrücken des Ergusses an 
die rückwärtige Pleura oft schon frühzeitig 
an dem Kompressionsatmen erkennen. 

Zu den nicht gerade häufigen Sym¬ 
ptomen bei Perikarditis gehört die Heiser¬ 
keit infolge Recurrenslähmung. Früher 
glaubte man, daß die großen Exsudate 
mechanisch auf den Nerven drücken. Es 
handelt sich aber sicherlich um ein Über¬ 
greifen des Entzündungsprozesses vom 
Perikard auf das Mediastinum und das 
Gewebe um den Recurrens herum. In 


diesem Zusammenhänge sind die Fälle von 
Mitralstenose und Heiserkeit zu erwähnen. 
Auch hier ist das mechanische Moment 
— Druck des großen Vorhofes — abzu- 
.lehnen. Es handelt sich oft um Peri¬ 
karditis mit gleichzeitiger Mediastinitis, 
bei der auch eine Mitralstenose besteht. 

Schließlich ist von dem Leiserwerden 
der Herztöne Zu sagen, daß es keineswegs 
regelmäßig zu erwarten ist. Wenn wir 
oben ausgeführt haben, daß das Herz so¬ 
wohl dicht der Brustwand anliegen wie 
auch durch eine mehr oder weniger dicke 
Entzündungsschicht von ihr getrennt 
• sein kann, je nach der Lage des Exsu¬ 
dates, so wird auch verständlich, daß 
dementsprechend die Herztöne laut be¬ 
ziehungsweise leise sein können. 

Bei der Mannigfaltigkeit der Syrii- 
ptome kommt es in erster Linie darauf 
an, überhaupt an Perikarditis zu denken. 
Man wird sie sicherlich häufiger dia¬ 
gnostizieren, wenn man die angeführten 
Momente berücksichtigt. 

Für die Therapie trennt man zweck¬ 
mäßig die akut entzündliche Erkrankung 
von den Folgezuständen, die das chroni¬ 
sche Stadium darstellen. Bei den akuten 
Prozessen sorgen wir, abgesehen von der 
Behandlung der Grundursache, für 
Schmerzlinderung mit Narkoticis, für 
Erhaltung der Herzkraft durch früh¬ 
zeitige Verabfolgung von Digitalis, Coffein 
und Campher. Von besonderer Bedeutung 
ist die richtige Wahl des Zeitpunktes der 
Herzbeutelpunktion. Sie soll nicht zu 
früh gemacht werden. Es ist begreiflich, 
wenn der Arzt die oft enormen Be¬ 
schwerden seines Kranken durch Ab¬ 
lassen der Flüssigkeit zu beseitigen hoffte. 
Es ist aber zu bedenken, daß die Be¬ 
schwerden nur dann durch das Exsudat 
bedingt sind, wenn es durch seine Größe 
starke Kompression auf die umliegenden 
lebenswichtigen Organe ausübt, d. h. 
wenn die Herzdämpfung sehr groß ist 
beziehungsweise wenn die Zeichen der 
Pseudo-Pleuritis bestehen und gleich¬ 
zeitig Dyspnöe, Cyanose und kleiner 
frequenter Puls die Herzinsuffizienz be¬ 
weisen. Anderenfalls sind Verklebungen 
oder das Übergreifen des Entzündungs¬ 
prozesses auf Pleura, Diaphragma und 
Mediastinum die Ursache der Beschwer¬ 
den; hier sind Narcotika am Platze. 
Gelingt es durch Morphiuminjektionen, 
dem Patienten Erleichterung zu schaffen, 
so deutet das darauf hin, daß nicht ein 
großer Erguß, sondern die Entzündung 
als solche die Beschwerden hervorgerufen 



Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


455 


hat. Als Regel g^lte, die Perikard- Tagen machen, in der Idee, entstehendes 
Punktion nur dann vorzunehmen, wenn oder entstandenes Bindegewebe aufzu- 
das Exsudat so groß ist, daß man bequem lösen; man kann adch nach dem Vorgänge 
Entfernt vom Herzen einstechen kann. Mendels die Injektionen intravenös vor- 
Bei dieser Indikationsstellung ist die nehmen. Desgleichen wird man physika- 
Punctio pericardii nicht mehr als eine lische Applikationen, die eine Hyperämie 
gewöhnliche Pleurapunktion. Die bis bewirken, anwenden können. Aber die 
zur rückwärtigen Thoraxwand reichenden eventuellen Erfolge sind sehr kritisch zu 
Exsudate punktieren wir wie eine Pleu- bewerten. — Wesentlicher ist die Be- 
ritis von hinten her. Bei dieser unserer ratung der Kranken, die eine Perikarditis 
Stellungnahme ist es nicht erforderlich, überstanden haben. Der Arzt hat das 
bestimmte Einstichstellen als besonders Maß von Arbeit zu bestimmen, das das 
geeignet anzugeben, weil man bei ihnen Herz zu leisten vermag. Da nach unseren 
nicht Gefahr läuft, das Herz selbst oder Erfahrungen die Perikarditis in der Haupt- 
die Arteria riiammaria zu verletzen. Man Sache eine Erkrankung in der Jugend ist 
könnte gegen diesen abwartenden Stand- und sie hier zum Teil recht schwer ver- 
punkt einwenden, daß auch nicht aus- läuft und unter Zurücklassen von Ver- 
gesprochen große Exsudate die Herz- wachsungen ausheilt, so macht man die 
tätigkeit beeinträchtigen können. Dem- traurige Feststellung, daß nicht wenige 
gegenüber ist aber zu beachten, daß ein- dieser Individuen dem Kampfe im täg- 
mal die Ausdehnungsfähigkeit des Herz- liehen Leben nicht gewachsen sind. Es 
beutels eine sehr große ist und daß ferner ist deshalb oft erforderlich, junge Per- 
die Bewegungsfreiheit des Herzens in dem sonen einem Berufe zuzuführen, der ein 
entzündeten Beutel bei nicht großer Minimum von körperlicher Arbeit ver- 
Flüssigkeitsansammlung weit mehr durch langt, nötigenfalls einen Berufswechsel 
gleichzeitige adhäsive Prozesse gehindert zu empfehlen. Es ist eingehend zu er- 
wird. Es ist jedenfalls zwecklos, das wägen, ob man Frauen Geburten zu- 
Exsudat zu punktieren, weil die Erfah- muten kann. Diese und ähnliche Fragen 
rung lehrt, daß es sich dann sehr schnell sind relativ leicht zu erledigen, wenn ein¬ 
neubildet. Dann hat man dem Kranken wandfreie Symptome von Verwachsungen, 
unter ungünstigen Bedingungen für einige Wie z. B. eingezogener Spitzenstoß, nach- 
Stunden Linderung verschafft, die man zuweisen sind. Aber wir wissen auch, 
vielleicht ebensogut durch Morphium daß bei normalem klinischen Befund 
hätte erzielen können. Synechien bestehen können. Gerade 

Das Ziel unserer therapeutischen Maß- diese Fälle können sich lange Zeit arbeits¬ 
nahmen, die restitutio ad integrum, wird fähig fühlen, bis ein akuter Zusammen- 
sicherlich in vielen Fällen rein seröser bruch einsetzt. Wenn man derartige 
Perikarditis erreicht, aber leider keines- Beobachtungen wiederholt gemacht hat, 
wegs in allen. Besonders häufig aber ent- so wird man. den Etnst einer abgelaufenen 
stehen- Verwachsungen nach fibrinöser Perikarditis ganz würdigen und in der 
Perikarditis, denen gegenüber wir fast Beratung seiner Kranken besonders vor¬ 
machtlos sind. Wir müssen mit müßigen sichtig werden und man wird jeden 
Händen es der Natur überlassen, ob die Patienten, der in der Jugend eine Herz- 
Perikardverwachsüngen ausbleiben oder krankheit etwa im Anschluß an Poly¬ 
entstehen. Gewiß kann man den Ver- arthritis ha.tte, unter dem Gesichtswinkel 
such mit 10 bis 14 Fibrolysininjektionen möglicher perikarditischer Verwachsungen 
in Zwischenräumen von vier bis fünf betrachten. 

Die Therapie des Puerperalfiebers. 

Von Dr. Stephan Westmann, Berlin. 

Die Forschung nach den Quellen und Nichtinfektion bei dem ohne Kunsthilfe, 
Wegen der puerperalen Infektion ist zu also physiologisch beendeten Geburtsakte 
immer neuen Erklärungsversuchen an- gegeben sein sollte. „Wäre kein Geburts¬ 
geregt worden durch jene häufig genug helfer bei der Kreißenden, so würde die 
auftretenden Fälle von Wochenbettfieber, Geburt vielleicht lange dauern, das Kind 
bei denen der Nachweis eines Imports vielleicht tot sein, die Mutter vielleicht 
von Keimen in den Geburtskanal nicht einen Dammriß davontragen, aber in¬ 
gelang, und bei denen nach dem Veit- fiziert würde sie nicht werden.“ Auf der 
sehen Ausspruche die Sicherheit einer anderen Seite stehen jedoch die Beob- 






456 


Die-Tlierapie der Gegenwai-t 1921 


DeztmbeT 


achtungen Ahlfeldts und vieler anderer, 
die immer von neuem die Schuld mancher 
Sepsis oder Pyämie der Selbstinfektion 
des puerperalen Genitaltraktus zuschie¬ 
ben. So spricht beispielsweise Scanzoni 
von etwa 21,6 % fieberhafter puerperaler 
Erkrankungen bei Fällen, die nachweis¬ 
lich von jeder Untersuchung usw. frei¬ 
geblieben waren. Man muß" hierbei 
zwischen einer Selbstinfektion vom prak¬ 
tischen Gesichtspunkte aus, also der durch 
■äußere Berührung des Genitales seitens 
der Frau selbst, ihrer Kleidung usw., 
und der vom wissenschaftlich bakterio¬ 
logischen Standpunkte unterscheiden und 
man wird zugeben müssen, daß zwischen 
beiden eine scharfe Trennung unmög¬ 
lich ist, schon allein wegen der Un¬ 
möglichkeit einer scharfen Definition des 
Wortes: Scheidenkeime. Denn die Ab¬ 
grenzung der Scheide nach außen ist 
derart unsicher und ihre Verschlüsse der¬ 
artigen Veränderungen ausgesetzt, daß 
man von einer klaren Entscheidung, ob 
intravaginal oder extravaginal, absehen 
muß. Wenn auch die „Seeschlange'‘ der 
Selbstinfektion von vielen Autoren be¬ 
stritten wird, schon allein um einem 
Fatalismus und einer Lässigkeit der Asep¬ 
sis zu steuern, so berichtet die Literatur 
doch immer wieder von Fällen, bei denen 
die Infektionsquelle unauffindbar ist, und 
die wir der endogenen Infektion zur Last 
zu legen versucht werden. 

Wie interessant die Erklärungsver¬ 
suche der Selbstinfektion dem Wissen¬ 
schaftler sein mögen, ob Import von 
Keimen von außen oder Aufsteigen von 
Scheidenkeimen in die Uterushöhle oder 
Virulenzsteigerung schon vorhandener 
pathogener Keime, den Praktiker inter¬ 
essiert die Prognose und Therapie neben der 
Prophylaxe —nämlich der Asepsis —, zu 
deren Vollständigkeit er selbst am meisten 
beizutragen hat, und ohne deren absolute 
Sicherheit eben von einer rein endogenen 
Infektion keine Rede mehr sein kann. 

Auch bezüglich der Prophylaxe, be¬ 
sonders intra partum, gehen die An¬ 
regungen und Auffassungen so ausein¬ 
ander, daß man von einer einheitlichen, 
allgemeingültigen Regel nicht sprechen 
kann. Ich denke hierbei an die Diskussion 
der Frage: Scheidenspülung vor und 
während der Geburt, wie sie von Hof- 
meier seiner Zeit eingeleitet und von 
Krönig, Menge und anderen fortgeführt 
worden ist. 

Was zunächst auch die Prognose und 
ihre Beziehung zum Vorhandensein be¬ 


sonders von hämolytischen Streptokokken 
im Vaginalsekret ante partum anlangt, 
so ist ein Unterschied zwischen* dem 
Verhalten von Nicht 5 .treptokokkenträge- 
rinnen und dem der Frauen mit Strepto¬ 
kokken nicht nachweisbar, ebensowenig» 
wie die Hämolyse für die Pathogenität 
eines Streptokokkenstammes beweisend 
ist. Eine Entscheidung vollends auf Grund 
der hämolytischen Kraft eines Stammes 
zu treffen, ob man beispielsweise bei 
einem fieberhaften Abort exspektativ oder 
aktiv Vorgehen solle, ist meines Erachtens 
nach den Arbeiten Goldstroms viel 
zu schematisierend und zu wenig auf 
die Individualität des Falles eingehend. 

Bei den septischen, das heißt mit 
Puerperalfieber einhergehenden Aborten, 
kommen für den Praktiker zwei Kate¬ 
gorien in Betracht, nämlich erstens die- 
jenigen Aborte, bei denen die Infektion 
noch auf den Uterus beschränkt ist, und 
zweitens die, welche bereits ein Fort¬ 
schreiten der Entzündung anzeigen. Ob 
diese Entzündung sich nun in bestehen¬ 
dem oder vorausgegangenem Fieber mani- 
festieit, oder ob der bakteriologische oder 
der Palpationsbefund ihre Diagnose si¬ 
chert, immer ist der durch sie herbei¬ 
geführte Prozeß, sei es eine Salpingitis, 
Parametritis oder gar Peritonitis, vom 
Abort getrennt zu behandeln. Eine andere 
Frage ist es hierbei, ob von seiten des 
Uterus der Entzündung immer wieder 
neue Erreger zugeführt werden, die auf 
dem Wege des uteropläcentaren Kreis¬ 
laufes auf den mütterlichen Organismus 
übergehen. Es kommen hierbei besonders 
infizierte Placentastücke und Eireste in 
Betracht. Wenn ihr Vorhandensein durch 
den Befund sichergestellt ist, so heißt es, 
die Brücke zwischen fötalem und mütter¬ 
lichem Gewebe zu zerstören, der Uterus 
muß schnell unter möglichster Schonung 
entleert werden. Erst nach seiner Aus¬ 
räumung kann man dann die restierenden 
Entzündungserscheinungen therapeutisch 
angreifen.^ 

Abweichend von diesem Standpunkte 
der Aktivität empfiehlt Winter und 
seine Schule allein die konservative Me¬ 
thode. Er glaubt, daß durch das operative 
Vorgehen in der mit hämolytischen Strep¬ 
tokokken — nach Walthard auch in 
der . mit Gonokokken und Staphylo¬ 
kokken — infizierten Gebärmutter der 
Leukocytenschutzwall zerstört und durch 
die geschaffene neue Wundfläche ein 
größeres Angriffsfeld für die pathogenen 
Keime geschaffen werde, so daß es durch 





Dezember 


Die-Therapie der Qegeriwart 1921 


457 


deren Penetrationsfähigkeit leicht zu einer 
Sepsis kommen kann. Die Erfahrung 
lehrt jedoch, daß es auch bei der expekta- 
iiven Behandlungsmethode zu einer Py- 
ämie kommen kann, während andererseits 
die vor dem Eingriffe im Blute vor¬ 
handenen Keime nach der Ausräumung 
nicht mehr nachweisbar waren. Aber ab¬ 
gesehen von der Schwierigkeit, ja oft Un¬ 
möglichkeit der bakteriologischen Unter¬ 
suchung für den Praktiker und ihrer langen 
Dauer, zwingen in mindestens 10% der 
Fälle starke Blutungen zum Angriff, und 
hier würde die etwaige Tamponade die 
Infektionsgefahr nur noch komplizieren. 

Die Technik der Ausräumung des in¬ 
fizierten Uterusinhaltes führe ich in der 
iiblichen Weise nach Erweiterung des 
Cervicalkanals mittels Hegarschen Dila¬ 
tatoren oder Laminariastiften digital aus 
und schließe hieran eine etwa 40%ige 
heiße Alkoholspülung zum Zwecke der 
schrtelleren Contraction der Uteruswand 
und dem damit verbundenen Verschlüsse 
der Gefäßlumina. 

Die in den Uterusadnexen und in den 
Lymphspalten des parametranen Gewebes 
bereits installierte Entzündung wird zu¬ 
nächst mit antiphlogistischen Mitteln, zu 
denen ich besonders die Eisblase zähle, 
bekämpft oder zum mindesten ihre weitere 
Ausbreitung verhindert. Absolute Ruhig¬ 
lage der Kranken schränkt die Gefahr 
einer Embolie der fast immer in den 
Beckenvenen auftretenden, septisch in¬ 
fizierten Thromben oder einzelner Be¬ 
standteile ein und damit eine zeitweise 
sich in Schüttelfrösten äußernde Be¬ 
reicherung des Blutes mit pathogenen 
Keimen. Die Fieberkurve bei dieser 
thrombophlebitischen Form zeigt nach 
einer mehr oder weniger langen Continua 
plötzliche,mit Schüttelfrost einhergehende 
Emporschnellungen, die sich in den näch¬ 
sten Tagen wiederholen, und zwischen 
denen tiefe Remissionen auf oder unter 
der Norm liegen. Das primäre Fieber 
wird als von einer lokalen Endo¬ 
metritis, die plötzlichen Temperaturzak- 
ken von der septischen Thrombophlebitis 
herrührend zu erklären sein. Für diese 
Annahme spricht auch der Blutbefund: 
bei einer lokalisierten Endometritis 
werden keine Keime gefunden werden, bei 
der thrombophlebitisch-pyämischen Form 
wird ein Keimgehalt des Blutes während 
der Schüttelfröste zu beobachten sein. 

Über die Therapie der Pyämie infolge 
einer septischen Thrombophlebitis sind 
die verschiedensten Vorschläge gemacht. 


passive und aktive Methoden versucht 
und miteinander verglichen worden. Die 
passive Behandlungsart habe ich schon 
oben beschrieben, sie besteht in Ruhig¬ 
lage der Patienten und antiphlogistischen 
Mitteln. Bei den von uns beobachteten 
Fällen sahen wir zwar ein Seltenerwerden 
der Remissionen, sodaß wir schon mit 
einer Organisation der Thromben und 
einer Abtötung der pathogenen Keime 
rechnen zu können glaubten, da zerstörte 
in einer großen Anzahl von Fällen ein 
neuer Schüttelfrost, ein neuer Fieber¬ 
anstieg die Hoffnung von Arzt und 
Kranken. So entschloss man sich denn 
in einer Reihe von Fällen zur Opera¬ 
tion und unterband die Vena iliaca 
communis derjenigen Seite, auf der 
durch den geschilderten klinischen und 
bakteriologischen Befund die Gefä߬ 
erkrankung sicher diagnostiziert war. 
Eine Circulationstörung ist nach erfolgter 
Venenunterbindung selbst der der Vena 
cava — bei Höherhinaufreichen der 
Thromben — nicht zu befürchten, da 
Viele Fälle von Unterbindung der Cava 
gelehrt haben, daß kompensatorisch ein 
funktionstüchtiger Kollateralkreislauf ein¬ 
zuspringen pflegt. Ein von Fromme be¬ 
schriebener Fall von Unterbindung der 
Vena cava dicht unterhalb der Einmün¬ 
dungsstelle der Venae renales zeigt, daß 
selbst bei so weitgehender Rücklaufsaus¬ 
schaltung die Gefahr einer Stauung nicht 
besteht. 

Die Erfolge mit der geschilderten 
Venenunterbindung sind die denkbar be¬ 
sten; bei den trombophlebitischen For¬ 
men hörte die Neuüberschwemmung des 
Blutes mit Keimen auf, und die Elimina¬ 
tion der ins Blut gelangten Keime konnte 
stattfinden. Die Prognose bei diesen 
Fällen ist daher weitaus günstiger als 
bei jenen, die schon ein ständiges Vor¬ 
handensein von Keimen im Blute zeigen. 
Aber auch hier kann man durch die 
Venenunterbindung noch einen Erfolg 
erzielen, da der Körper mit den inter¬ 
kurrent circulierenden Keimen fertig wird, 
sobald kein neuer Nachschub erfolgt. 

Auf gänzlich anderer anatomischer 
Grundlage basiert nun die große Zahl 
der puerperalen Infektionen, die in ihrem 
Verlaufe nach einem mehr oder weniger 
langen atypischen Fieber eine hohe, ohne 
Schüttelfröste einhergehende Continua 
aufweisen. Hier muß man eine direkte 
Invasion der Bakterien durch die Pla- 
centarstelle oder durch eine zufällige 
Schleimhautverletzung annehmen ohne 

58 




4^ ' Die Therapie -der 


eine primäre Thrombose,. Das Blutbild 
dieser als Septikämie bezeichneten Form 
leigte e‘ne dauernde Überschwemmung 
mit Keimen, vorwiegend hämolytischen 
Streptokokken. Die ungeheure Zahl der 
Behandlungsmethoden beweist schon un¬ 
sere Ratlosigkeit in der Therapie und die 
Ungunst der Prognose. Von einem lo¬ 
kalen den Genitalien kann 

natürlich nur die Rede sein, wenn sich 
im Uteruscavum noch Placehtarreste und 
dergleichen ^befinden und hier ein gün¬ 
stiges Substrat für pathogene Keime ab¬ 
geben. Meinen Standpunkt in dieser 
Hinsicht habe ich oben dargelegt. Das 
Hauptangriffsfeld der Therapie wird aber 
im großen und ganzen das Blut selbst 
sein, und eine ganze Legion von Mitteln 
ist tausendfach angepriesen und ebenso 
oft wieder als unwirksam verworfen wor¬ 
den. Hierbei sind analog den Impf¬ 
theorien zwei große Gruppen zu unter¬ 
scheiden, erstens diejenigen, die den 
Körper in seinem Abwehrkampfe von 
sich aus unterstützen wollen, und zwei¬ 
tens die, welche eine Leistungssteigerung 
zu erzielen bestrebt sind. 

Zu den ersteren gehört jene unüber¬ 
sehbare Menge von Silberpräparaten, die 
von der CredAschen Salbe angefangen 
mit der Verbesserung der Zubereitungs¬ 
und Applikationstechnik in immer kom¬ 
plizierteren Kombinationen angewendet 
werden. Neben dem Kollargol und dem 
Elektrokollargol versuchten wir in Fällen 
schwerer Sepsis das mit Methylenblau 
verbundene Silberpräparat, das Argo- 
chrom. Sein Prinzip besteht in einer 
Schädigung der Widerstandskraft der 
Bakterien gegen das Silber durch die 
Farbe. Erfolge hatten wir nur in den 
wenigsten Fällen zu verzeichnen. 

Stark verdünnte Lösungen von Subli¬ 
mat oder Formalin sahen wir im Tierver¬ 
such das Gewebe und die Blutbestand¬ 
teile zu stark schädigen und nahmen von 
derartigen Infusionen Abstand. Gleich¬ 
falls ohne Erfolg gaben wir das Chinin 
und seine Derivate in der Erinnerung an 
seine Wirksamkeit auf die Malariapara¬ 
siten. Auch Versuche mit Salvarsan in 
den verschiedensten Verbindungen nach 
Art einer Therapia magna sterilisans 
schlugen fehl. 

Das Bestreben des Körpers, die In- 
fekfonserreger mittels profuser Schweiße 
und Diarrhöen auszuscheiden, hat man 
durch Drastica zu unterstützen versucht, 
doch steht die Schwächung des Allgemein¬ 
zustandes in keinerlei Verhältnis zum 


Gegenwart 1921 Dezember 


Erfolge. Andererseits sahen wir nach reiche 
liehen. Gaben von physiologischer Koch¬ 
salzlösung intravenös subcutan und rectal 
als Tropfklysma „zur Auswaschung des 
Blutes“ gegeben, -Hebung des Befindens 
und Senkung der Temperaturen. 

'. Wie bei anderen Infektionskrankheiten 
hat man auch bei bakteriellen Wund¬ 
infektionen den Versuch gemacht, Heil¬ 
sera zu verabreichen, die entweder die 
Bakterien selbst vernichten oder die von 
ihnen gebildeten Giftstoffe neutralisieren 
sollen. Beim Streptokokkenserum, und 
dieses kommt bei puerperaler Sepsis fast 
nur in Frage, handelt es sich um eine 
bakteriotrope Wirkung, derart, daß die 
Kokken durch das Serum gleichsam ge¬ 
bunden werden und so der stark ange¬ 
regten Phagocytose leichter erliegen. 
Wenn auch der Tierversuch einen Erfolg 
erhoffen ließ, so zeigte die Praxis beim 
Menschen, daß das Serum höchstens im 
Beginn der Erkrankung eine Hemmung, 
ja sogar einen^ Stillstand des Infektions¬ 
prozesses vollbringen, niemals aber be¬ 
reits vorgeschrittene Veränderungen, wie 
eine allgemeine Peritonitis oder eine 
Pyämie selbst in Dosen von 150—300 g 
rückgängig machen kann. Es lassen sich 
dagegen Erfolge bei auch schweren For¬ 
men von septischer Endometritis oder 
bei Phlegmasia alba nicht leugnen, und 
da üble Nachwirkungen höchstens in 
Form von bald zurückgehenden Gelenk¬ 
reizungen und erythematösen Ausschlägen 
auftreten, so ist die frühzeitige Serum¬ 
behandlung immerhin eines Versuches 
wert. 

Neben der Specifität des Serums ist 
es vor allem das artfremde Eiweiß, das 
wie überhaupt in der Proteinkörperthera¬ 
pie die Leistungsfähigkeit des Körpers zu 
steigern scheint. Das Dunkel zu heben, 
das über der unspecifischen Protein¬ 
körpertherapie liegt, ist noch nicht ge¬ 
lungen, aber ein günstiger Einfluß der 
Proteine auch auf die im Puerperium auf¬ 
getretenen septischen Prozesse ist unver¬ 
kennbar. So ist in vielen, jeder anderen 
Therapie unzugänglichen Fällen mit fo.rt- 
gesetzten Caseosaninjektioneri . eine er¬ 
hebliche ' Besserung erzielt worden, und 
neueste Versuche mit einer Kombination 
von Caseosan und dem Jodbenzolaerivate 
Yatren scheinen einen bedeutenden Fort¬ 
schritt zu verheißen. 

Über jeder specifischen oder unspeci- 
schen Therapie ist die wichtigste Aufgabe 
nicht zu vergessen, den Körper im Kampf 
mit den pathogenen Keimen bei guten 




5)ezembet: 


459 


pie 'Therapie d€r.j.Qeg'e] 5 ^ar.jt' 1921} 


Kräften zu erhalten, denn um so eher ist 
eine 'Überwindung der Krankheitserreger 
zu erwarten, je energischer die Lebens¬ 
vorgänge in den Zellen verlaufen. Reich¬ 
liche Flüssigkeitszufuhr, leicht verdau¬ 
liche Nahrung und in zweiter Linie Alko- 
holica, wie Kognak, Sekt, Wein in wech¬ 
selnder Folge sind in großen Mengen zu 
verabfolgen. Ob der Grund für die sicher 
günstige Alkoholwirkung in dem Ersatz 
wichtiger Eiweißverbindungen, in der 
Brennkraft oder in dem Anreiz auf die 
Zelltätigkeit zu einer energischen Reak¬ 
tion zu Suchern ist, oder aber ob der 
Alkohol für sich antiseptisch wirkt, bleibe 
dahingestellt. 

Einer besonderen Behandlung des 
Fiebers an sich bedarf es nicht, im Gegen¬ 
teil ist es als ein Zeichen einer kräftigen 
Reaktion als heilsam anzusehen. Niemals 
sahen wir einen Erfolg in der durch Anti- 
pyretica erzielten Temperatursenkung, 
höchstens ist bei drohender Herzmuskel¬ 
schwäche infolge einer langen Continua 
durch kühle Bäder ein Absinken der 
Temperatur, ein Kräftigerwerden des 
Pulses und der Atmung zu erreichen. 

Von verschiedenen Seiten sind auch 
bei nicht abgegrenzten Infektionspro¬ 
zessen operative Eingriffe an den Geni¬ 
talien, zum Beispiel die Uterusexstirpa¬ 
tion empfohlen worden, doch hat die 
Erfahrung gelehrt, daß bei der Zweck¬ 
losigkeit des Verfahrens noch dazu den 
Keimen der Zutritt zu der bisher ver¬ 
schonten Bauchhöhle geöffnet wird. Auch 
bei bereits ausgedehnter Peritonitis hat 
sich selbst breite Eröffnung und aus¬ 
giebige Drainage nicht bewährt, dagegen 
leistete mir bei frühzeitig durch Probe¬ 
punktion diagnostizierter Peritonitis die 
vom Douglasschen Raume aus vorgenom¬ 
mene vaginale Eröffnung der Bauchhöhle 
und ihre Drainage gute Dienste, der Pro¬ 


zeß konnte fast immerjauf das Pelveo- 
peritoneum beschränkt werden. ^ 

Auch die bactericide .Wirkung des 
Sonnenlichtes respektive dtr künstlichen 
Höhensonne . ist bei septischen All¬ 
gemeininfektionen und bei Peritonitis 
verschiedentlich zur Behandlung heran¬ 
gezogen worden. Man hat sich hierbei 
nicht nur auf äußere Bestrahlungen be¬ 
schränkt, sondern hat auch nach Eröff¬ 
nung des Bauchfells die künstliche Höhen¬ 
sonne zur Anwendung gebracht, doch sind 
die Erfolgsmeldungen bisher äußerst spär¬ 
lich und nur mit Vorsicht zu bewerten. 

Die Erfolgsstatistik aller therapeuti¬ 
scher Maßnahmen bleibt verglichen mit 
der Prophylaxe der puerperalen In¬ 
fektionen weit hinter dieser zurück. Aus 
der bekannten Boehrschen Statistik geht 
hervor, daß in Preußen innerhalb eines 
60jährigen Zeitraumes über 300 000 
Frauen an Puerperalfieber starben, weit 
mehr als an Pocken und Cholera zu¬ 
sammen. Erst mit dem Einsetzen der 
anti- beziehungsweise aseptischen Aera 
ist die Mortalität an Kindbettfieber auf 
0,25% gesunken, eine Zahl, die sich durch 
nicht gemeldete Fälle von Puerperalfieber 
nach Aborten und Totgeburten auf 0,35% 
erhöhen dürfte und in dieser Höhe noch 
unerträglich groß ist. 

Literatur: Ahlfeldt, Quellen und Wege 
der puerperalen Selbstinfektion, Zschr. f. Ge- 
burtsh. 1913. — Bondy, Scheidenkeime und en¬ 
dogene Infektion, 1916. — Bumm, Grundriß 
zum Studium der Geburtshilfe, 1914.— Fromme, 
Venenunterbindung bei puerperaler Pyämie, Zschr. 
f. Geburtsh. 76. — Goldstrom, Über die pro¬ 
gnostische Bedeutung des Nachweises von Strep¬ 
tokokken im Vaginalsekret Kreißender, Zschr. f. 
Geburtsh. 1913.. — Hamm, Die puerperale 
Wundinfektion, 1912.— Hartmann, B. kl. W. 
1911. — Joseph, Abortbehandlung, Th. d. Geg. 
1921.— Trendelenburg, Über die chirurgische 
Behandlung der puerperalen Pyämie, M. m. W. 
1902. — Warnekros, Puerperale Pyämie, Arch. 
f. Gynäk. 1912. . 


Aus der I. medizimschen und der chirurgisclieu Abteilung des Städtischen Krankenhauses 
Moabit (Prof. Gr. Klemperer und Prof. M. Borchardt). 


Zur Phloridzindiagnostik der Frühgravidität. 

11. Mitteilung. 


Von Dr. Kamnitzer und 

Im Septemberheft dieser Zeitschrift 
haben wir mitgeteilt, daß ein sehr bemer¬ 
kenswerter Unterschied zwischen Schwan¬ 
geren und Nichtschwangeren in der Re¬ 
aktion der Nieren auf kleine Gaben Phlo¬ 
ridzin besteht. Während die überwie¬ 
gende Mehrzahl Nichtschwangerer nach 
Injektion von 2,5 mg Phloridzin keine 
Glykosurie darbot, haben Schwangere 


Dr. Joseph, Assistenten. 

ausnahmslos nach dieser Injektion posi¬ 
tive Zuckerausscheidung im Urin dar.- 
geboten. * Wir-konnteh mit Sicherheit das 
Bestehen von Schwangerschaft ausschlie¬ 
ßen,-wenn nach Injektion von 2,5 mg Phlo¬ 
ridzin die Glykosurie ausblieb, aber bei 
positivem Ausfall der Reaktion kamen wir 
nicht über eine freilich hohe WahrscheiiiT 
lichkeit hinweg. Unter 70 nichtschwan- 


58* 






460 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Dezember 


geren Kontrollpersoneii hatten 7, also 
^0%, positive Phlorid’zinreaktion, ohne 
daß Schwangerschaft nachweisbar war. 
Es war bemerkenswert, daß der zeitliche 
Ablauf bei Phloridzinglykosurie Nicht¬ 
schwangerer gegenüber dem Schwangerer 
verlangsamt war. 

Wir konnten also anscheinend nur den 
negativen Ausfall der Phloridzinprobe mit 
Sicherheit in der Schwangerschaft dia¬ 
gnostisch verwerten, während bei posi¬ 
tivem Ausfall zwar eine hohe Wahrschein¬ 
lichkeit, aber'doch keine Sicherheit der 
Schwangerschaft vorhanden war. 

Zur Erlangung größerer Zuverlässig¬ 
keit haben wir nun die Phloridzindosis 
noch verkleinert. Wenn es bekannt ist, 
daß die normale Zuckerdichtigkeit der 
Niere in der Schwangerschaft abnimmt, 
so daß sie schon bei normalem Blut¬ 
zuckergehalt Zucker hindurchläßt, wenn 
man also in den syncitiären Stoffen die 
Niere' zur Zuckerausscheidung reizende 
Substanzen erblicken darf, so lag es nahe 
anzunehmen, daß so minimale Mengen 
Phloridzin, wie sie die normale Niere noch 
nicht glykosurisch machen können, die 
Nieren Schwangerer, additioneil zu dem 
syncitiären Reiz, zur Glykosurie bringen 
können. Wir haben also in den heut zu 
berichtenden Versuchen 2 mg Phloridzin 
(2ccm einer 0,1 %igen Lösung, welche leicht 
herstellbar und haltbar ist) zu Injek¬ 
tionen benutzt. Es wurden 47 Gravidae 
(davon zwei tubar), zehn Aborte und 143 
nicht schwangere Frauen untersucht. Es 
befanden sich unter den Graviden elf im 
ersten, 19 im zweiten, zehn im dritten, 
eine im vierten, drei im sechsten, eine im 
siebenten und eine im achten Monat. Bei 
sämtlichen Graviden bis einschließlich 
des dritten Monats, ebenso bei den Tubar- 
schwangeren und den zehn Aborten, war 
die Zuckerausscheidung nach 2 mg Phlo¬ 
ridzin positiv. Von 143 nichtschwangeren 
Frauen reagierten nur fünf, d. h. 3,5%, 
positiv, d, h. 138 Nichtschwangere hatten 
nach 2 mg Phloridzin keine Glykosurie. 
Wir dürfen also unter dem Vorbehalt 
weiterer Prüfung sagen, daß 2 mg Phlorid¬ 
zin insofern ein sicheres Prüfungsmittel auf 
Schwangerschaft darstellt, als das Fehlen 
von Glykosurie das Bestehen einer solchen 
ausschließen läßt. Die positive Glyko¬ 
surie nach 2 mg spricht mit großer Wahr¬ 
scheinlichkeit für Gravidität; die Wahr¬ 
scheinlichkeit beziffern wir bisher auf 
96,5 %. Diese Phloridzinglykosurie findet 
sich bei,Schwangeren augenscheinlich be¬ 
reits in sehr frühem Stadium; wir konnten 


sie mehrfach 14 Tage nach dem Aus¬ 
bleiben der'Menses feststellen. Sie scheint 
mit Ende des dritten Monats aufzuhdren; 
jenseits dieses Monats wird ihr Vorkom¬ 
men sfehr unsicher. Nachweisbar wird 
die Glykosuria gravidarum 34—^ Stunde 
nach Injektion von 2 mg Phloridzin, 
sie hält meist nicht länger als zwei Stun¬ 
den an. Bei Aborten erscheint sie nur, 
solange frische Placenta in engem Zu¬ 
sammenhang mit dem mütterlichen Or¬ 
ganismus steht. Nach der Ausräumung 
ist die Glykosurie nach 0,002 g Phloridzin 
meist schon am nächsten Tage negativ. 
Welche wertvollen Dienste die Probe in 
zweifelhaften Fällen leistet, mögen einige 
Protokolle zeigen. 

Nr. 98. Frau W., 32 Jahre alt, Ill-Para, letzte 
Menses vor sieben Wochen. Patientin gibt ah, 
daß ihre Brüste stärker geworden sind. Sie klagt 
über morgendliches Erbrechen, hat selbst das 
Empfinden, gravid zu sein. Klinisch beginnende 
Gravidität nicht ausgeschlossen. Urin bleibt nach 
der Injektion negativ. Kurze Zeit darauf bekommt 
Patientin ihre normalen Menses. Auch die weitere 
Beobachtung ergibt, daß sie nicht gravi^ist. __ 

Nr. 76. Frau Gr., 40 Jahre alt. Menses un¬ 
regelmäßig. Befund: Tumor oder Gravidität im 
dritten Monat, Schleimhaut livide verfärbt, Ge¬ 
webe stark aufgelockert. Urin nach Injektion 
von 0,002 g Phloridzin immer negativ. Trotz zehn¬ 
tägiger Beobachtung nicht möglich, sichere Dia¬ 
gnose zu stellen. Darauf nochmalige Injektion, 
die wieder negativ ausfällt. Spätere Laparotomie 
ergibt Tumor. 

Nr. 115. frau G., 21 Jahre alt, letzte Menses 
vor sechs Wochen. Gravidität fraglich, Urin nach 
einer halben Stunde stark positiv. Drei Wochen 
später wegen fortschreitender Tuberkulose Gra¬ 
vidität unterbrochen. 

Nr. 145. Frau A., 30 Jahre alt, letzte Menses 
vor sechs Wochen, seit einigen Tagen Blutungen, 
seit 24 Stunden heftige Schmerzen im Leib, Übel¬ 
keit und Erbrechen. Patientin kommt zu Fuß 
ins Krankenhaus. Abdomen etwas aufgetrieben, 
Genitalbefund o. B., Puls klein, es besteht Ver¬ 
dacht auf Tubargravidität, trotzdem Patentin 
nicht den Eindruck einer soi ^nma^'ht ln cktion 
von 0,002 g Phloridzin; nach einer halben Stunde 
positiv, Operation: rupturierte Tubargravidität. 

Die Injektion der Phloridzinlösung 
ist völlig schmerzlos, wenn man 0,5% 
Novocain zusetzt. Die Lösung wird 
durch Aufkochen von 0,03 g Phloridzin 
in 30 ccm Wasser unter Zu-atz von 
0,15 g Novocam hergestellt; diese Lösung 
ist haltbar. 

Die Probe ist am besten nüchtern an¬ 
zustellen, da es sich herausgestellt hat, 
daß schon der Genuß geringer Kohle¬ 
hydratmengen ein falsches Resultat be¬ 
dingt. Es hat sich als zweckmäßig er¬ 
wiesen, die Patienten vor der Injektion 
erst urinieren und dann zirka 200 ccm 
Flüssigkeit (Wasser, Tee, Kaffee ohne 
Zucker) trinken zu lassen, welche Menge 





Dezember 


Die; Therapie der Qegenwart 1921 


461 


eine halbe Stunde nach der Injektion 
noch einmal gegeben wird. Die Patienten 
müssen dreimal in Abständen von je einer 
halben Stunde Urin lassen. Als positiven 
Ausfall der Nyander sehen Probe be- 
zeichneten wir eine beim Kochen oder 
gleich darauf auftretende Schwarzfär¬ 
bung. Es ist bekannt, daß einige Medi¬ 
kamente, wie Antipyrin, Campher, Chloro¬ 
form, Chloralhydrat,“Terpentin, Sacharin, 
Salicylsäure, Hypophysin, Adrenalin einen 
positiven Ausfall der Nylanderprobe ge¬ 
ben können. 

Wir hoffen, daß die Phloridzinprobe, mit 
2 mg angestellt, sich für die Frühdiagnose 


der Gravidität in der Praxis bewähren 
wird; der negative Ausfall läßt Gravidität 
ausschließen, der positive die Diagnose mit 
großer Wahrscheinlichkeit stellen. Es ist 
zweifelhaft, ob eine noch Weitere Ver¬ 
minderung der Pnloridzindose die Ergeb¬ 
nisse noch entscheidender gestalten wird, 
da anzunehmen ist, daß bei allzukleiner 
Phloridzindose auch wirklich Schwangere 
nicht mehr positiv reagieren werden. 

Gebrauchsfertige Phloridzinlösung in Am¬ 
pullen ä 2 ccm wird demnächst unter dem Namen 
„Maturin‘‘ (Schwangerschaftsdiagnosticum nach 
Kamnitzer und Joseph) von der Chemischen 
Fabrik auf Aktien vorm. E. Schering in den 
Handel gebracht. 


über die soziale, eugenetische und Notzuchtsindikation zur 
Einieitung des künstlichen Abortus. 

Von Dr. med. W. Wiegels, 

Frauenarzt in Schwerin i. M., früher ^Assistent der Bremer Frauenklinik^). 


Wie aus zahlreichen Kliniken und 
Krankenhäusern berichtet wird, ist die 
Zahl der kriminellen Aborte und mit 
ihnen naturgemäß die der dadurch be¬ 
dingten Todesfälle in den letzten Jahren, 
besonders aber seit dem Zusammenbruch 
unseres deutschen Vaterlandes, außer¬ 
ordentlich im Steigen begriffen. Mir 
scheint, direkt proportional der sinkenden 
Moral und Kraft unseres Volkes! 

Daß wir den kriminellen Abort nie¬ 
mals werden völlig aus der Welt schaffen 
können, ist uns Ärzten wohl allen klar; 
ebenso aber wohl auch, daß die Zunahme 
desselben ein Symptom der sinkenden 
Kraft unseres Volkes ist, weil er ein Ver¬ 
brechen ist, weil er das Nichtwollen zum 
Kinde dokumentiert, weil er oft ein Pro¬ 
dukt des gesteigerten außerehelichen ge¬ 
schlechtlichen Verkehrs darstellt und weil 
durch ihn die Geburtenzahl verringert 
wird, so wie sie es wird durch Syphilis, 
Gonorrhöe und Präventivverkehr. Und 
der ständige Abfall der Geburtenziffer 
muß allmählich unweigerlich zum Unter¬ 
gänge eines Volkes führen, sowie es 
bereits im Altertum war, als die Germanen 
infolge Übervölkerung in die Geschichte 
eintreten, die Römer infolge Entvölke¬ 
rung aus derselben verschwanden (Fuhr¬ 
mann). Und dieser Wechsel von Über¬ 
völkerung bei einem Volk und Entvölke¬ 
rung bei einem anderen hat sich in der 
Geschichte bereits mehrmals vollzogen 


^) Die Ansichten Benthins, die er in einer 
Arbeit in der Th. d. Geg. 1921, Heft 9, äußert, 
die aber erst nach Fertigstellung meiner Arbeit 
zu meiner Kenntnis kamen, decken sich im all¬ 
gemeinen mit den meinigen. 


und mußte notwendigerweise durch Er¬ 
starken des einen und Verfall des anderen 
den Aufstieg respektive Abstieg zur Folge 
haben. 

Daß die Seuche des' kriminellen Ab¬ 
orts überhaupt nicht eher wird erheb¬ 
lich eingedämmt werden können, ehe 
nicht die Moral unseres Volkes und der 
Wille zum Kinde gestärkt und neu belebt 
ist, diese meine Ansicht habe ich bereits 
früher einmal ausgesprochen, und wird 
auch von Kahl mit den Worten: ,,Die 
Auffassung von der Würde der Mutter¬ 
schaft steht allgemein tief“ bekräftigt. 
Trotz der zur Zeit recht trüben Aussichten 
für eine erfolgreiche Bekämpfung dürfen 
wir Ärzte, die wir doch Bewahrer und 
Hüter der Völksgesundheit und des Volks¬ 
wohls sein wollen, unsere Bemühungen 
nicht aufgeben, sondern müssen stets 
weiterkämpfen im Sinne eines Aufbaues 
auch in dieser Beziehung. Und so sind 
ja auch verschiedene Vorschläge gemacht 
und zahlreiche Einrichtungen zur Ein¬ 
schränkung des kriminellen Abortus ge¬ 
schaffen, die zum Teil allerdings wohl 
heutzutage wegen der angeführten Gründe 
keine große Aussicht auf Erfolg bean¬ 
spruchen können [Aufklärung über Ge¬ 
fahr der Abtreibung, moralisch-ethische 
Vorträge, Verbreitung und Behauptung 
religiöser Ideen (Dietrich, Köln)]; zum 
Teil aber auch einen praktischen Wert 
haben mögen (Bekämpfung des Kur¬ 
pfuschertums, Verbot abtreibender Mittel, 
Verbesserung sozialer Einrichtungen, Be¬ 
vorzugung und bessere Besoldung kinder¬ 
reicher Familien). — Nebenbei sei hier 
bemerkt, daß der Verein Mecklenburg!- 





^2 Die Therapie der öegeflwärt 1921 D^zembe^ 


scher Ze'itungsverleger’^am 16. Februar 
1921 auf seiner Tagung in Rostock folgen¬ 
den Beschli|ß gefaßt hat: Der Verein be¬ 
schließt, daß die Mecklenburgischen Zei¬ 
tungsverleger Inserate, welche Geheim- 
mittel betreffen, sowie solche unsittlichen 
Inhalts vom 1. April 1921 ab nicht mehr 
aufnehmen sollen. 

Daß eine Verringerung des kriminellen 
Abortus durch gesetzgeberische Maßnah¬ 
men wohl kaum möglich sein wird, dieser 
Ansicht, die von vielen Autoren vertreten 
wird, trete auch ich bei. 

Was die Zahl der Aborte und speziell 
der kriminellen anbetrifft, so können die 
zahli eichen darüber veröffentlichten Sta¬ 
tistiken wohl nur relativen Wert haben, 
weil das zur Statistik herangezogene 
Material immer nur einen Teil, allerdings 
den größten, der Gesamtfälle umfaßt, 
eine große Reihe derselben aber ohne 
jede ärztliche Hilfe, ja oft ohne Kenntnis 
einer zweiten Person von statten geht. 
Daß zu diesen letzten vornehmlich wieder 
die kriminellen Aborte gehören, leuchtet 
wohl ein. Die veröffentlichten Statistiken 
differieren, was die Zahl der Aborte und 
den Prozentsatz der kriminellen angeht, 
erheblich. 

Ich erinnere nur an die Statistiken 
von Bumm, Nürnberger, Hirsch, 
Siegel und anderen, ferner an die Ver¬ 
öffentlichung von D öder lein aus der 
Münchener Kommission und an neuere 
Statistiken aus der letzten Zeit, welch 
letztere fast sämtlich ein starkes Sinken 
der Geburtenzahl und Ansteigen der 
septischen Aborte betonen. 

Im allgemeinen wird eine Abortzahl 
von 300 000 bis 500 000 im Jahre (Bumm, 
Döderlein, Opitz, Winter)! an¬ 
genommen, eine Zahl, die sicherlich aber 
noch nicht die wahre Menge derselben 
trifft.- Die Verschiedenheit in den Ergeb¬ 
nissen der Statistiken beruht wohl auf 
der Verschiedenheit der Methoden, mit 
Hilfe deren dieselben gewonnen sind. 
Jedenfalls haben diese zahlreichen, mit 
großer Genauigkeit durchgeführten Ar¬ 
beiten sehr viel zur Klärung der ganzen 
schwierigen Abortfrage beigetragen, und 
steht das eine fest, daß die Zunahme der 
Aborte immer erschreckender wird. 

Es sei mir nur die kurze Zwischen¬ 
bemerkung gestattet, daß von 15 Aborten, 
die ich in den letzten fünf Monaten 
meiner ganz jungen Praxis ausräumen 
mußte, mir zwölf ohne großes Zögern als 
kriminell zugegeben wurden, und daß 


auch von den ahdoreii drei Frauen eine 
verbrecherische- Handlung nicht'mit kate¬ 
gorischer Sicherheit abgeleügnet wurd^-. 

Während der kriminelle Abort eine 
verbrecherische Handlung, die von seiten 
der Frauenwelt, von Kurpfuschern oder 
auch in wenigen Fällen von dunkler. 
Elementen unter den Ärzten vorgenom¬ 
men wird, darstellt, ist-der Abortus arte- 
ficialis eine Operation, die nur von Ärzten 
ledigjich nach medizinischen Gesichts¬ 
punkten vorgenommen werden soll. 

Nach Bumm soll die Zahl der von 
ärztlicher Seite eingeleiteten Aborte nur 
1 % der Gesamtaborte betragen, eine 
Zahl, die mir reichlich niedrig erscheint. 
Winter schätzt (1917!) diese Zahl auf 
5000 bis 10 000. 

Der Arzt darf eine Gravidität nur 
unterbrechen, wenn bei einer Frau infolge 
einer bereits bestehenden Erkrankung 
eine als unvermeidlich erwiesene schwerste 
Gefahr für Leben und Gesundheit vor¬ 
handen ist, die durch kein anderes Mittel 
als durch Unterbrechung der Schwanger¬ 
schaft abgewendet werden kann. 

Von Kahl (Jurist) wird in einer Ver¬ 
handlung der Berliner medizinischen Ge¬ 
sellschaft im Jahre 1917 eine Unter¬ 
brechung der Schwangerschaft nur dann 
als nicht rechtswidrig, also straflos be¬ 
zeichnet, wenn sie von einem approbierten 
Arzte aus medizinischer Indikation zur 
Rettung der Mutter aus Lebensgefahr 
oder Abwendung schwerer Gesundheits¬ 
schädigung nach den Regeln der ärzt¬ 
lichen Wissenschaft vorgenommen wird. 

Das Strafgesetzbuch sieht, für Ab¬ 
treibungen in den p 218 bis 220 die 
schwersten Gefängnis- und Zuchthaus¬ 
strafen vor, schützt also durch solche 
Strafen die Leibesfrucht, die ja das Recht 
auf Leben besitzt, wenn sie auch juristisch 
noch nicht rechtsfähig ist. 

Während Winter 1917 noch schrei¬ 
ben konnte: ,,Der Staat bereitet von 
neuem und in schärferer Weise den 
Kampf gegen den künstlichen Abort und 
gegen Abtreibung vor“ ging bereits im 
Februar 1919 eine Petition auf Abände¬ 
rung dieser Gesetze an die Nationalver¬ 
sammlung ein; und zwei weitere Anträge 
auf Aufhebung beziehungsweise Abände¬ 
rung dieser Paragraphen sind im Juli 
1920 von unabhängiger beziehungsweise 
mehrheitssozialistischer Seite an den 
Reichstag eingebracht. 

Ein von Dr. Geuer (Köln) im ärzt¬ 
lichen Vereinsblatt Nr. 1223 erlassener 



Dei&eftfbef^ 


Oie Thetapir.dö* ßegenjätcarC 1921;. 


Aufruf beleuchtet die vorhandenen Ger. 
fahren .und-fordert von der deutschen' 
Ärzteschaft eine entschiedene, energische 
Stellungnahme/ Der Ruf ist nicht ver¬ 
hallt! Der deutsche Ärztevereinsburtd 
hat einen energischen Einspruch gegen' 
Straffreiheit der Abtreibung an den 
Reichsminister des Innern und an den 
Deutschen Reichstag gerichtet, in dem 
auf die außerordentlich^ schweren Ge¬ 
fahren für die Vo-lksgesundheit und den 
Bestand des Volkes eingehend hinge¬ 
wiesen wird. Inzwischen haben auch ver¬ 
schiedene medizinische Gesellschaften, so 
z. B. die Gesellschaft für Geburtshilfe und 
Gynäkologie, in Berlin und Leipzig, die 
-.Ärztekammern in Sachsen öffentlich zu 
den Anträgen Stellung genommen und 
jede Änderung der §§ 218—220 abgelehnt. 
Möchte den Protesten der Erfolg nicht 
versagt sein, sondern möchte der Deutsche 
Reichstag die gestellten Anträge ebenso 
ablehnen wie es in wahrer Erkennung der 
schweren Gefahren der Große Rat in der 
Schweiz im Jahre 1919 getan hat! Die 
Folgen wären sonst nicht abzusehen! 

Ein geradezu widerlicher Artikel von 
Maximilian Harden findet sich in Nr. 12 
der Zukunft von 1920. Derselbe legt 
Zeugnis ab von einer außerordentlich 
niedrigen Denkungsart eines Menschen, 
der jeder Frau die freie Verfügung und das 
Selbstbestimmungsrecht über die Leibes¬ 
frucht gemäß dem Antrag der Unabhän¬ 
gigen gesetzlich zugestanden wissen will, 
und ergeht sich in zahlreichen Injurien 
gegen uns Ärzte. 

Es ist tief traurig, daß ein solcher 
Mensch, der sich auch noch das Mäntel¬ 
chen des Vorkämpfers für einen ver¬ 
nünftigen Wiederaufbau Deutschlands 
umhängt, folgende Worte schreiben kann: 
Ethos und Wirtschaft, einzelmenschliche 
und soziale Vernunft spricht mit eherner 
Zunge gegen den Fortbestand der Ab-- 
treibungsparagraphen (der wahren 
Schmachparagraphen)! — 

Die Weitherzigkeit in der Indikations¬ 
stellung zur Einleitung eines künstlichen 
Abortus ist an verschiedenen Orten und 
bei verschiedenen Ärzten sehr verschieden 
groß, wenn man bedenkt, aus welchen 
Gründen bisweilen eine Gravidität unter¬ 
brochen wird. Eine auf das bloße Aus¬ 
sehen der Frau gestellte Diagnose von 
Blutarmut, von Nervenschwäche, Körper¬ 
schwäche, eine physiologische Hyper¬ 
trophie der Schilddrüse in der Gravidität 
und viele andere leichte Fehler und Er¬ 
krankungen sind für manche Ärzte schon 


ein. Grund,^ das keimende. Leben :2u:V^- 
nichten. Ich erinnere hier nur an das, 
Opitz in seinem 1917 erschienenen. 
Aufsatz über ,',Bevölkerungspolitik: und 
ärztliche Tätigkeit‘-‘ schreibt: Die schlaffe 
Auffassung von den sittlichen-Verpflich¬ 
tungen gegenüber dem keimenden Leben,- 
die unser ganzes Volk verseucht hat, ist 
auch auf die Ärzte wie auf die Richter 
übergegangen. Die Ansinnen, die dem 
Facharzte auch selbst von seiten als 
gewissenhaft und tüchtig bekannter prak¬ 
tischer Ärzte gestellt werden, sind oft 
geradezu haarsträubend. Mir sind zürn 
Beispiel Fälle zur Einleitung des Abortus 
zugewiesen worden wegen Varicen, wegen 
eines Beingeschwürs, wegen sich wieder¬ 
holender Ausschläge, weil es bei der letzten 
Geburt stark geblutet habe und ähnliche 
mehr.‘' 

Ferner schreibt Döderlein:. :,,Es 
ist aber nicht zu verkennen und durch 
amtliche Umfrage festgestellt, daß die 
ärztlicherseits vorgenommenen Unter¬ 
brechungen der Schwangerschaft" in 
dauerndem Wachstum begriffen sind/* 

Crohne zitiert in einem Referat für 
die wissenschaftliche Deputation eben¬ 
falls Beobachtungen aus mehreren Frauen¬ 
kliniken über Zunahme des künstlichen" 
Abortus. Winter weist ebenfalls auf die 
starke Vermehrung hin und sieht den 
Grund hauptsächlich darin, daß ein großer 
Teil der Ärzte den Boden der Wissenschaft 
verlassen hat. 

Und Kahl schreibt: ,,Zweifellos, viele 
Ärzte und zwar ohne grundsätzliche Ver¬ 
schiedenheit von Groß- und Mittelstadt, 
von Stadt und Land, haben in pflicht¬ 
widriger Weise sich Unterbrechungen ge¬ 
leistet, die vorbehaltlos als kriminelle Ab¬ 
treibungen anzusprechen sind. Nicht 
immer haben unehrenhafte Motive dabei 
eine Rolle gespielt, öfter einfache eigen¬ 
willige Weltanschauung. 

Die Unterbrechung einer durch ge¬ 
ringfügige Fehler und Erkrankungen kom¬ 
plizierten Schwangerschaft wird, abge¬ 
sehen von wenigen Fällen, meiner An¬ 
sicht nach sicherlich nicht-aus bösem 
Willen ausgeführt, sondern weil es einem 
großen Teil der Ärzte — ich spreche nicht 
von der Allgemeinheit — an den nötigen 
Kenntnissen über die Wirkung einer 
Schwangerschaft auf eine bestehende 
Komplikation mangelt, oder auch, weil 
sie oft — was wohl für weibliche Ärzte 
noch mehr zutrifft als für männliche --- 
nicht die nötige Energie besitzen, um 
Patientinnen, die mit solch einem An-^ 



464 


Die Therapie der Gegenwart' 1921 


Dezember 


sinnen kommen, in die richtigen Schran¬ 
ken zurftckzuweisen und sie mit den ge¬ 
bührenden Aufklärungen und Zurecht- 
Meisuilgen wieder zu entlassen. 

Wir Ärzte haben — und dies muß 
immer wieder betont werden — lediglich 
nach medizinischen Gesichtspunkten zu 
handeln, ganz abgesehen davon, daß uns 
ja die Achtung vor den Gesetzen ein an¬ 
deres Handeln selbstverständlich ver¬ 
bieten muß. 

Die wissenschaftlichen theoretischen 
Forschungen und praktischen Erfah¬ 
rungen haben in den letzten Jahren die 
Frage der Indikationsstellung außer¬ 
ordentlich gefördert und soweit geklärt, 
daß für viele Krankheiten bereits ziem¬ 
lich feststehende Indikationen vorhanden 
sind, während man bei anderen (z. B. 
Tuberkulose, Herzfehler, Nierenerkran- 
kung usw.) nach großen Richtlinien han¬ 
deln und jeden Fall individuell be¬ 
urteilen muß. Es ist natürlich, daß nicht 
jeder Arzt in allen Komplikationen, die 
während einer Schwangerschaft auf- 
treten können, große Erfahrungen haben 
kann, da eben die Zahl derselben nicht 
nur relativ, sondern auch absolut gering 
ist. Er muß sich deshalb, was seltene Er¬ 
krankungen betrifft, darauf beschränken, 
seine Erfahrungen und Kenntnisse aus 
der Literatur zu sammeln, um sie im ge¬ 
gebenen Falle nutzbringend verwerten 
zu können. Zu diesem Zwecke erscheint 
das Zusammenarbeiten von Praktikern 
und Fachärzten, welch letztere die Wir¬ 
kungen einer Schwangerschaft auf Krank¬ 
heiten, die ihr Spezialfach betreffen, am 
besten beurteilen können, dringend ge¬ 
boten. So wird ein Ophthalmologe am 
besten die eventuellen Schädigungen einer 
Gravidität auf eine Netzhautablösung 
usw., ein interner Mediziner solche auf 
die Tuberkulose, Herz- und Nierener¬ 
krankungen am sichersten abwägen 
können. Das Konsilium mit einem Gynä¬ 
kologen erscheint mir stets von Nutzen, 
da dieser ja die mannigfachsten Kompli¬ 
kationen während der Gravidität zu sehen 
bekommt und außerdem zu entscheiden 
hat, welche Operation in jedem einzelnen 
Falle zur Unterbrechung vorzunehmen ist. 

Wenn auch bereits vorher diese wich¬ 
tige Frage Oft genug Gegenstand von Vor¬ 
trägen und Diskussionen in ärztlichen 
Vereinen und Gesellschaften und von 
wissenschaftlichen Arbeiten gewesen ist, 
so sind doch die vor allem von Winter 
und seinen Schülern und von anderen 
Königsberger Kliniken aufgestellten Leit¬ 


sätze im allgemeinen grundlegend ge¬ 
worden und schon von zahlreichea medi¬ 
zinischen Vereinen und Gesellschaften, 
bisweilen mit geringen Abänderungen an¬ 
erkannt worden. — ln neuester Zeit ist 
nun die Diskussion überdie nichtmedizini¬ 
schen Indikationen sehr rege, und über 
diese möchte ich im folgenden meine 
Ansicht äußern. 

Soziale Indikationen. 

Die soziale Indikation, die man früher 
überhaupt nicht kannte, wurde erst all¬ 
mählich, zunächst zusammen mit der 
medizinischen, bei der Beurteilung krank¬ 
hafter Zustände in Erwägung gezogen. 
Allmählich erweiterte sich ihr Gebiet 
immer mehr und mehr, so daß die Sach¬ 
lage heute die ist, daß schlechte pekuniäre 
Verhältnisse, Kinderreichtum usw. für 
manche Ärzte der Grund sind, eine 
Schwangerschaft zu unterbrechen. Da¬ 
mit hat, wie Winter sehr richtig bemerkt, 
der Arzt aufgehört, Arzt zu sein und sich 
zum Helfer bei sozialen und familiären 
Notständen gemacht. 

Die Gründe der aufgekommenen so¬ 
zialen Indikationen liegen teilweise un¬ 
zweifelhaft in steigenden wirtscliaftlichen 
Schwierigkeiten; zum größten Teil aber — 
und das muß ganz energisch betont wer¬ 
den — sind sie ganz anderer Natur. Nach 
Fuhrmann sind die Gründe, die den 
modernen Menschen, den Westeuropäer, 
veranlassen, seine Kinderzahl zu be¬ 
schränken, rein selbstsüchtiger Art und 
bestehen in Bequemlichkeit und Genu߬ 
sucht. ,,Diese egoistischen Triebe haben 
im neuzeitlichen Leben eine hemmungs¬ 
lose Steigerung erfahren, vor welcher'alle 
höheren Gesichtspunkte (Vaterland, Fa¬ 
milie) und alle Schranken (Schamhaftig¬ 
keit, Sittlichkeit, Ruf) fallen.“ Selbst¬ 
süchtigen Beweggründen, wenn auch 
anderer Art, entspringt nach Fuhrmann,^ 
auch die Frauenemanzipation. Dies 
schrieb Fuhrmann 1917. Jetzt liegen 
die Verhältnisse in dieser Beziehung in¬ 
folge der gesteigerten materialistischen 
Lebensauffassung noch bedeutend schlim¬ 
mer. — Teilweise Wird die Beschränkung 
der Kinderzahl auch propagiert durch die 
Lehre vom Neomalthusianismus, einer 
zweiten verbesserten Auflage der Lehre 
des Engländers Malthus, nach welcher es 
ein schweres geschlechtliches Verbrechen 
für Männer und Weiber ist, mehr Kinder 
in die Welt zu setzen, als sie ernähren, 
erziehen und beherbergen können. Wenn 
auch in heutigen Zeiten die Wirtschaft- 




Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


465 


liehen Verhältnisse oft recht schwierig, ja 
trostlos sein können, so dürfen sie doch 
unter keinen Umständen für uns Ärzte 
ein Grund zu einer Schwangerschafts¬ 
unterbrechung sein. Und wie können 
die Ärzte überhaupt mit einigermaßen 
großer Sicherheit beurteilen, ob die soziale 
Lage einer Frau wirklich schlecht ist?! 
Ich glaube, das ist heute schwieriger denn 
je! Zu diesem Zwecke müßten wir einen 
genauen Einblick in die Vermögens- und 
Lohnverhältnisse usw. haben! 

Ich kann auch den Standpunkt, den 
M. Hirsch in einem Aufsatz über die 
soziale und eugenetische Indikation 1918, 
und den er neuerdings in einer Arbeit über 
die Fruchtabtreibung vertritt, absolut 
nicht teilen. 

Wenn Hirsch schreibt, die Beschrän¬ 
kung der Kinderzahl habe in den aller¬ 
meisten Familien ihre Ursache in wirt¬ 
schaftlichem Notstand, sei es direkter 
oder indirekter Art, und wenn er dies 
auch eingehend zu beweisen versucht, 
indem nämlich die Fruchtabtreibung ein 
Mittel im Kampf ums Dasein, im kul¬ 
turellen Wettbewerb sein soll, daß ferner 
der Unterschied zwischen Einkommen 
und Lebensbedarf zu groß sei, daß die 
Folge davon eine stärkere Beteiligung 
der Frauen am Erwerbsleben sei, so mag 
dies für viele Fälle zutreffen; für die 
meisten trifft es meiner Ansicht nach 
sicherlich nicht zu. Sondern der wahre 
Grund zum Nichtzeugenwollen liegt, wie 
schon bemerkt, in Bequemlichkeit, Ge¬ 
nußsucht, Sichauslebenwollen und ande¬ 
ren ähnlichen Dingen, die ich nicht anders 
als Degenerationserscheinungen nennen 
kann. Man braucht ja nur mit offenen 
Augen um sich zu schauen, um die De- 
kadenze des Vokes zu sehen. 

Wenn Hirsch ferner schreibt, daß es 
Tatsache sei, daß das in allen Kultur¬ 
staaten bestehende Strafgesetz gegen die 
Fruchtabtreibung in einem scharfen Gegen¬ 
satz zu der in den weitesten Kreisen des 
Volkes bestehenden Auffassung von Sitt¬ 
lichkeit und Recht stehe, so bedarf dies 
doch einer erheblichen Einschränkung 
insofern, als oieser Gegensatz früher nicht 
in den weitesten Kreisen des Volkes be¬ 
standen hat, sondern erst als eine Folge 
der allgemein gesunkenen Moral und der 
gesteigerten materialistischen Lebensauf¬ 
fassung entstanden ist. 

Das VoI/< weiß sehr wohl, daß die Ab¬ 
treibung ein Verbrechen ist. Es ist nicht 
die Auffassung des Volkes, daß jede Frau 
mit der Leibesfrucht machen könne, was 


sie wolle; diese Auffassung wollen nur 
einige Vertreterinnen der Frauenemanzi¬ 
pation und andeie propagiert wissen. 

Das Volk möchte jetzt vielleicht gerne 
von einem unbequem“en Gesetz, durch 
das es in seinen selbstsüchtigen Trieben 
eingeengt ist, sich befreit wissen!? 

Wenn der Staat die Leibesfrucht 
schützt und die Abtreiber mit hohen, 
schweren Strafen belegt, so tut er es eben 
aus dem Bewußtsein heraus, daß die 
wirkliche Abtreibung — also die, die nicht 
aus medizinischer Indikation vorgenom¬ 
men ist — ein Verbrechen ist, weil 
durch dieselbe f^in keimendes Leben, das 
Anspruch auf Leben lYat, getötet wird. 

Es erwächst dem Staat allerdings 
daraus auch die Pflicht, für den Nach¬ 
wuchs genügende Existenzmöglichkeit zu 
schaffen. Er hat aber niemals das Recht, 
die Vernichtung eines keimenden Lebens 
aus sozialer Indikation zu gestatten, auch 
nicht in der Form, wie Hirsch es auf 
dem. Wege einer für diesen Zweck zu 
schaffenden behördlichen Instanz im Auge 
hat. Dem Staate stehen andere Mittel 
und Wege zur Verfügung! Das ist meine 
Ansicht! Und deswegen müssen wir uns 
unbedingt auf den Boden dei Wissen¬ 
schaft stellen, wir dürfen nur nach medi¬ 
zinischen Grundsätzen handeln und auf 
keinen Fall soziale Momente bei der Be¬ 
urteilung mitspielen lassen. Den Boden 
der sozialen Indikation zu betreten, halte 
ich für außerordentlich gefährlich. Wenn 
man überhaupt anfangen wollte, dieselbe 
Hiit einem Schein des Rechts zu um¬ 
kleiden, so wäre dem künstlichen Abort 
und dem Verbrechen Tür und Tor ge¬ 
öffnet, denn die soziale Indikation ließe 
sich doch wohl mit etwas gutem Willen 
in fast jedem Falle herausfinden. 

Ich kann auch dem Artikel von Lenn- 
hoff (Berlin) im ärztlichen Vereinsblatt 
über die Straffreiheit der Abtreibung, in 
dem er s:agt, daß er noch zu der über¬ 
wältigenden Mehrheit der Ärzte gehöre, 
von welcher der Geschäftsausschuß des 
deutschen Ärzteyereinsbundes in seinem 
Protest spricht, nicht für taktisch richtig 
halten, denn die Argumente, die für eine 
soziale Indikation andererseits hier an¬ 
geführt werden, sind zu groß; und ich 
glaube, zwischen'den Zeilen zu lesen, daß 
Lennhoff von der Anerkennung der 
sozialen Indikation nicht mehr allzuweit 
entfernt ist. Die gute Absicht soll an¬ 
erkannt werden, für klug halte ich es 
nicht, einen solchen Artikel jetzt in einem 
Blatt der ärztlichen Fachpresse zu ver- 

59 





466 


^ Die Therapie der Gegenwart 1921 


Dezember 


öffentlichen. Für außerordentlich gefähr¬ 
lich halte ich die Vorschläge, die von 
Lahns^'teiner (Berlin) im ärztlichen 
Vereinsblatt Nr. 1229 gemacht werden. 
Was soll das heißep: „Es könnte von den 
Ärzten aus das Volk zu einer gesunderen 
Basis der Abtreibung geführt werden, 
welche dem Volkswillen und der Wissen¬ 
schaft gerecht werde?“ Das ist glatte 
Propagierung der Abtreibung! Und ich 
kann mich betreffs dieses Artikels nur 
auf den Standpunkt der Schriftleitung 
des Vereinsblattes stellen, die eine kurze 
Zusatzbemerkung zu diesen Zeilen ge¬ 
macht hat. Wir müssen also die soziale 
Indikation strikte ablehnen. Der Staat 
ist derjenige, der die sozialen Verhältnisse 
zu bessern hat; und wir Ärzte müssen 
den Staat in diesen Bestrebungen auf 
allen Gebieten unterstützen, aber nicht 
so, daß wir traurige soziale Zustände durch 
Vernichtung eines keimenden Lebens zu 
bessern suchen! 

Es kann nun Vorkommen, daß 
schlechte soziale Verhältnisse eine wäh¬ 
rend einer Schwangerschaft bestehende 
Erkrankung besonders schlecht beein¬ 
flussen. Hier spricht man dann von 
einer kombiniert sozial-medizinischen In¬ 
dikation. Diese ist auch von der ober¬ 
rheinischen Gesellschaft für Geburtshilfe, 
und' Gynäkologie in Leitsätzen, die von 
Freund aufgestellt waren, erwähnt, und 
es soll danach eine soziale Indikation im 
Verein mit bestehenden ernsten Erkran¬ 
kungen berücksichtigt werden. 

Meiner Ansicht nach ist diese kom- 
biniert-sozialm.edizinische Indikation eine 
Umgehung der sozialen; und hiermit ist 
der erste Schritt zur sozialen Indikation 
überhaupt getan! Entweder ist eine In¬ 
dikation medizinisch oder sozial! Ich 
halte jedenfalls die Kombination für ge¬ 
fahrvoll aus dem einfachen Grunde, weil 
bei derselben in den meisten Fällen sicher¬ 
lich die sozialen Gründe mehr berück¬ 
sichtigt werden würden als die medi¬ 
zinischen; und möchte hinzufügen, daß 
ich der Ansicht bin, daß die soziale In¬ 
dikation in sehr zahlreicjien Fällen weiter 
nichts bedeutet als eine Veischleierung 
der Schlappheit mancher Ärzte, dem 
Publikum offen die Meinung zu sagen, be¬ 
ziehungsweise der Furcht, einmal eine 
Patientin zu verlieren! 

, Die soziale Indikation Avird von allen 
namhaften Autoren abgelehnt; und auch 
der deutsche Ärztevereinsbund hat sich 
in seiner Eingabe an den Reichsminister 
des Innern, in der aufs schärftse Protest 


erhöhten wird gegen die Abänderung der 
§§ 2\% —220, auf diesen Standpunkt ge¬ 
stellt. Er lehnt die soziale ebenso ab wie 
die eugenetische Indikation. 

Von juristischer Seite (Kahl) wird 
gesagt: Jede aus sozialen oder rasse¬ 
hygienischen Indikationen vorgenommene 
Unterbrechung ist glatte kriminelle Ab¬ 
treibung! 

Eugenetische Indikation. 

Eugenik ist die Lehre von der Fort¬ 
pflanzungsauslese, die sich auf botani¬ 
schen und zoologischen Studien und den 
Erfahrungen am Menschengeschlecht auf¬ 
baut. Für sie kommt nur Verhinderung, 
Einschränkung oder Begünstigung der 
Fruchtbarkeit der untüchtigen be¬ 
ziehungsweise tüchtigen Personen in 
Fiage. Die Vererbungslehre ist die trag¬ 
fähige GrundUge für eine Vererbungs¬ 
hygiene oder Eugenik (Schallmayer). 
Unsere Kenntnisse über die ganzen Ver¬ 
erbungsgesetze stehen aber noch auf der- 
aitig schwachen Füßen, daß wir vor¬ 
läufig nicht berechtigt sind, auf Grund 
der bisherigen Erfahrungen für einen 
Einzelfall eine Entscheidung über eine 
Schwangerschaftsunterbrechung zu fällen. 
Nur in ganz seltenen Fällen wird es einem 
Kollegium psychiatrischer Fachleute Vor¬ 
behalten bleiben, eventuell einmal einen 
künstlichen Abort einzuleiten. 

Bonnhöfer meint, daß den Ärzten 
nicht nur das Recht, sondern auch die 
Befähigung abgeht, in Vererbungsfragen 
Vorsehung zu spielen. Er sagt ferner: 
Wenn man seine psychiatrischen Er¬ 
fahrungen über die Kinder endogen 
Geisteskranker überblic.vt, so sähe man 
namentlich bei der Deszendenz Manisch- 
Depressiver so viel Gesundes, soviel Ta¬ 
lent, künstlerische Begabung und starke 
gemütliche Empfänglichkeit mit hoher 
Intelligenz verbunden, daß das Psycho¬ 
pathische, das in der Erbmasse ist, oft 
reichlich aufgewogen ist. Selbst auch bei 
der Dementia präcox, bei der die Erb- 
verhältnisse ungünstiger liegen, fände 
man soviel Gesundes und sozial Brauch¬ 
bares in der Descendenz, daß keine 
sichere, ja nicht einmal eine größere 
Wahrscheinlichkeit vorläge, durch Ver¬ 
nichtung des keimenden Lebens gerade 
das rasseverderbende Element zu treffen. 

Und Meyer sagt, daß die Lehre von 
der Eugenik bei der Vornahme des 
Abortus, bei Geistes- und Nervenkrank¬ 
heiten volle Beachtung erfordere, zu 
greifbaren Anzeigen gäben uns aber die« 





Dezember 


467 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


i 


bisherigen Forschungsergebnisse auf die¬ 
sem Gebiet keinen Anhalt. 

Als Befürworter einer Eugenik im 
Sinne der Sterilisation möchte ich Stro- 
mayer (Jena) nennen, der m manchen 
Fällen von manisch-depressivem Irresein 
und Dementia präcox dieselbe empfiehlt. 
Er begründet seine Ansichten am Schluß 
seiner Abhandlung im Handbuch von 
Placzek und schaut mit einem gewissen 
Neid auf Amerika, wo die Sterilisierung 
bei gewissen Geisteskrankheiten und bei 
manchen Verbrechen schon zum Gesetz, 
erhoben sei. , 

Die angeführten Gründe, daß die 
Fortpflanzung geistig und moralisch Ent¬ 
arteter für Rasse und Staat das größte 
Unglück sei, ist gewiß größter Beachtung 
wert; aber es muß noch einmal betont 
werden, daß vorerst unsere Vererbungs¬ 
gesetze, auch nach den Mendelschen 
Forschungen, noch zu sehr in den An¬ 
fängen stecken. Vorläufig müssen wir 
die eugenetische Indikation im allge¬ 
meinen ablehnen; die Zukunft wird das 
Weitere lehren. Was für Amerika in 
diesen Dingen recht ist, ist für uns noch 
lange nicht billig. 

Ich stelle mich, was die soziale und 
eugenetische Indikation anbetrifft, im 
allgemeinen auf den strengen Standpunkt 
von Menge und mache nur die Ein¬ 
schränkung, daß die Eugenik höchstens 
in ganz seltenen Fällen zu berücksich¬ 
tigen wäre, wo z. B. in einer Familie in 
der Descendenz bereits mehrere Epilep¬ 
tiker vorhanden sind und immer wieder 
epileptische und idiotische Kinder ge¬ 
boren werden. Ebenfalls wäre in ganz 


seltenen Fällen die Sterilisation auszü-r 
führen. 

Die eugenetische Indikation wird auch 
von sämtlichen führenden Gynäkologen/ 
PsycTiiatern und Klinikern abgelehnt/ 

Notzuchtsindikationen. 

Die Notzuchtsindikation ist eigentlidi* 
erst mit Beginn des Weltkrieges akut ge¬ 
worden, als infolge des Russeneinfalles 
in Ostpreußen zahlreiche deutsche Mäd¬ 
chen von russischen Horden geschwängert 
wurden. 

Der Standpunkt von D öd er lein: 
,,Die Unterbrechung bei gerichtlich fest-' 
gestellter Notzucht ist nicht strafbar“, 
erscheint mir der richtige. Notzucht fest¬ 
zustellen ist außerordentlich schwierig;, 
es kann nur durch Zeugenaussagen mög¬ 
lich sein; denn auf die Angaben der 
Frauen ist wohl in solchen Fällen begreif¬ 
licherweise wenig Verlaß, da man natür¬ 
lich nie entscheiden kamt, ob die be¬ 
treffende Frau Wirklich genotzüchtigf 
ist oder freiwillig den Beischlaf gestattet 
hat. 

Von manchen wird behauptet,, daß. 
bei äußerstem Widerstande einer Fraii 
Notzucht durch einen einzelnen infolge der 
starken Adduktion der Oberschenkel über¬ 
haupt nicht möglich sei. 

Kommt einmal die Einleitung eines 
Abortus wegen Notzucht, wie es jetzt ja 
vor allem im besetzten Gebiet eintreten. 
könnte, in Frage, dann würde es wohl 
das Zweckmäßigste sein, den Fall einem 
Kollegium, von Fachärzten zur Bepr-. 
teilung vorzustellen. 


Repetitorium der chirurglsclien Therapie. 

Von M. Borchardt. 

Die Behandlung der Varicen und ihrer Folgezustäride. 

Von M, Borchardt und S. Ostrowski. 


Die varicöse Entartung der Venen an 
I den Unterextremitäten mit ihren Folge- 
j erscheinungen, dem Ekzema cruris, dem 
I Ulcus cruris varicosum, chronisch-hyper- 
l plastischen Prozessen, der Thrombo- 
' phlebitis, dem rezidivierenden Erysipel, 
' sklerodermieartigen Veränderungen der 
Haut und schließlich der Elephantiasis, 
die wir unter dem Bilde des varicösen 
! Symptomenkomplexes zusammenfassen, 
‘ ist eine in weitesten Schichten der Be- 
tvölkerung verbreitete Erkrankung. Sie Ist 
eine Volkskrankheit im wahrsten Sinne 
des Wortes und deshalb ein ebenso häufiges 


wie wichtiges Behandlungsobjekt für den* 
Arzt, oft aber auch deswegen ein mindbr« 
dankbares .zugleich, weil nur in einer 
Minderzahl von Fällen aus sozialen Grün¬ 
den sich eine Kausaltherapie von Grund- 
auf durchführem läßt. Immerhin be¬ 
sitzen wir doch eine Anzahl von Heil-, 
methoden, die, wenn sie sachgemäß und- 
konsequent angewendet werden, auch bei/ 
ambulatorischer Behandlung, was prak-> 
tisch von großer Bedeutung ist, innerhalb: 
gewisser Grenzen Gutes erreichen, ohne/ 
den Kranken seinem Berufe zu entziehen; 
Die Prophylaxe ist auch hier die beste, 

59* 



468 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Dezember 


Therapie. Sobald die ersten Anzeichen 
d^er Ektasie, verstärkte Zeichnung der 
Venen, das Gefühl leichter Ermüdbarkeit 
inder Beinmuskulatur, ziehende Schmerzen 
entlang den Venenstämmen, bei Frauen 
besonders in der prämenstruellen Zeit, sich 
bemerkbar machen und vielleicht auch 
andere Zeichen, wie Varicocelen- und 
Hämorrhoidenbildung, Hautvenenekta¬ 
sien an anderen Stellen des Körpers auf 
eine Schwäche der vasculären Stütz- 
gewebe hinweisen, hat die Prophylaxe ein¬ 
zusetzen. Sie hat sich gegen die Fern¬ 
haltung aller derjenigen schädigenden 
Momente zu richten, die erfahrungsgemäß 
zur Bildung von Varicen führen oder ver¬ 
schlimmernd auf schon bestehende, im 
Anfangsstadium befindliche einwirken 
können. Wenn möglich, sind bei nach¬ 
gewiesener familiärer Disposition bei der 
Berufswahl alle mit Beschäftigungen im 
Stehen oder mit schweren körperlichen 
Anstrengungen verbundenen Berufe aus¬ 
zuschalten. Zum mindesten ist dafür 
Sorge zu tragen, daß der mit Krampf¬ 
adern Behaftete sfch während der Tages¬ 
arbeit hinreichend Ruhepausen gönnen, 
und während dieser den Beinen eine er¬ 
höhte Lage geben kann. Auch während 
der Nacht sind die Unterextremitäten 
höher zu lagern als das Gesäß, während 
sie am Morgen, vor dem Aufstehen, nach 
^iner für einige Minuten vorgenommen, 
möglichst steilen Elevation, sorgfältig von 
den Zehen an rumpfwärts mit einer der 
späterhin zu besprechenden Bandagen 
cinzuwickeln sind. Denn das Haupt¬ 
prinzip der Therapie, das allen Stadien 
des varicösen Symptomenbildes gemein¬ 
sam ist, ist die möglichst vollständige Be¬ 
seitigung der Stauungsvorgänge in den 
venösen Abflußwegen. Besonderes 
Augenmerk ist auf die Wegräumung me¬ 
chanischer Hindernisse für den Blutabfluß 
zu richten. Schlechte, die Venen kompri¬ 
mierende, circuläre Strumpfhalter sind zu 
entfernen, den intraabdominellen Dfuck 
erhöhende Tumoren, wie Uterusmyome, 
Ovarialcystome, große parametrane Exsu¬ 
date, retrouterine Blut- oder Eiteransamm- 
tungen sind eventuell operativ zu besei¬ 
tigen. In der Hygiene derSchwangerschaft 
und des Wochenbettes ist die Gefahr blei¬ 
bender Varicositäten zu beachten. Eine 
wirksame Schutzmaßnahme, auf die nicht 
eindringlich genug hingewiesen werden 
kann, ist die peinliche Hautpflege der 
varicösen Extremitäten. Zwischen der 
Verschlimmerung bestehender Phlebekta¬ 
sien und dem Mangel einer hinreichenden 


Hautreinigung besteht ein sicherer ur¬ 
sächlicher Zusammenhang. Unreinlich¬ 
keit erhöht die Infektionsgefahr. Von 
kleinen, unscheinbaren Häutläsionen, wie 
sie besonders bei den arbeitenden Klassen 
gerade an den, Traumen in erster Linie . 
ausgesetzten, Extremitäten ein häufiges ; 
Vorkommnis sind, wandert die Infek- 
tion entlang den kleinen Hautgefäßen in 
die Wand der großen Gefäßbahnen ein 
und-muß hier bei häufiger Wiederholung' 
des infektiösen Insults zu einer Entartung 
•der Gefäßwand führen, die wiederum von 
einer Erweiterung des Gefäßes gefolgt sein 
kann. Wichtig ist ferner die Erfahrungs¬ 
tatsache, daß die Haut varicöser Unter¬ 
schenkel eine besondere Empfindlichkeit 
gegen Medikamente zeigen kann. Sei es 
nun, daß ein komplizierendes Ekzem, ent¬ 
zündliche Prozesse oder die häuEgste 
Komplikation der Varicen, des Ulcus 
varicosum, eine medikamentöse Behand¬ 
lung erfordern, ist Vorsicht bei der Aus¬ 
wahl und Dosierung der zu applizierenden 
wirksamen Stoffe zu üben, erst tastend 
mit milderen Mitteln zu beginnen und 
allmählich zu stärkeren überzugehen. 

Die Behandlung des varicösen Sym- 
ptomenkomplexes richtet sich einmal nach 
den sozialen Verhältnissen des Kranken, 
und dann nach dem Grade der vorliegen¬ 
den Veränderungen der Venen. Die in¬ 
terne Therapie, von der man bei leichteren 
Erkrankungsformen früher Nutzen er¬ 
hoffte, ist wohl fast völlig verlassen worden. 
Die Versuche, durch medikamentöse Zu¬ 
fuhr, wie von Extr.. Hamamelidis virgin., 
Liq.Ferri sesquichlorati und anderen styp- 
tischen beziehungsweise gefäßkontrahie¬ 
renden Mitteln, die erweiterten Venen 
dauernd wieder zu verengern, führten zu 
Fehlschlägen und dürften kaum noch 
wieder aufgenommen werden. Von man¬ 
chen Seiten wird immer wieder die gün¬ 
stige Wirkung des Ichthyols bei inner¬ 
licher Darreichung von 0,3 g mehrmals 
täglich hervorgehoben, ohne daß diese 
Angaben sich bei einer näheren Nach¬ 
prüfung aufrechterhalten lassen. 

Die lokalen Maßnahmen dienen in 
erster Linie der Beseitigung der venösen 
Stase in den venösen Abflußwegen der 
unteren Extremitäten. Von den konser¬ 
vativen Mitteln ist vor allem die systema¬ 
tische Kompression durch geeignete Ban¬ 
dagierung anzuwenden, durch die eine 
Entlastung der entarteten Venenwände 
beziehungsweise ein Ersatz der insuffi¬ 
zienten Venenklappen bewirkt werden 
soll. Wenn es sich noch um beginnende 



Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


469 


Venenerweiterung, sogenannte cirsoide Er¬ 
weiterung, handelt, so kann selbst bei 
Fortführung der Berufstätigkeit noch den 
schwereren Graden der Entartung, den 
sack- und wulstförmigen Varicositäten, 
vorgebeugt werden. Wichtig ist, daß 
der Arzt den Kranken oder noch besser 
einen Angehörigen in der Anlegung der 
Bandage gehörig, unterweist. Solchen Pa¬ 
tienten, die sich nicht täglich der ärztlichen 
Verbandkontrolle unterziehen können, 
werden am besten abnehmbare Wickel¬ 
verbände, z. B. die Tetrabinde, verordnet. 

Die Zahl der im Gebrauch befind¬ 
lichen Bandagen ist sehr groß. Es werden 
Cambricbinden über Wattepolsterung zur 
Verstärkung ihrer geringen Eigenelasti- 
^ität, die sehr dehnbaren Idealbinden, die 
mehr in ihrer Quer- als Längsrichtung 
ausziehbaren, sehr brauchbaren Trikot¬ 
schlauchbinden und schließlich als ein 
■elastisches Ganze das Bein umschließende 
Gummistrümpfe verwendet. Unerläßlich 
"für einen Erfolg ist bei allen Wickelver¬ 
fahren die richtige Anlegung der Ban¬ 
dage. Das varicöse Bein wird am Morgen, 
bevor der Kranke das Bett verläßt, etwa 
drei bis fünf Minuten steil eleviert ge¬ 
halten, beziehungsweise werden die Ve¬ 
nen beim Fehlen entzündlicher Verände¬ 
rungen rumpfwärts ausgestrichen. Nun 
wird unter festem Anziehen der Binde die 
Einwicklung des Beines von der Zehen¬ 
basis .mit sich zur Hälfte oder einem 
Drittel deckenden Touren Ober das Knie¬ 
gelenk hinauf bis zur Grenze des mitt¬ 
leren und oberen Oberschenkeldrittels 
vorgenommen. Der Druck der Binde 
muß in allen Höhenlagen gleichmäßig sein, 
nirgendwo darf der Bindenrand einschnü¬ 
ren. Der Kranke gewöhnt sich bald an 
stärkere Kompression, merkt, wie die 
Schwere und Ermüdbarkeit des Beines 
schwinden und kann seine Bandage kaum 
mehr entbehren. Sind die Varicen mit 
Ulcus oder Ekzem kompliziert, so werden 
zunächst diese Affektionen versorgt (Sal¬ 
benbedeckung usw.) und darüber die 
Binde gelegt. Die genauere Technik wird 
später angegeben werden. Neben den 
Bindenverbänden — wir empfehlen be¬ 
sonders die sehr dauerhafte Trikot¬ 
schlauchbinde — können auch Pflaster¬ 
verbände appliziert werden. Von alters her 
im Gebrauch ist der Bayntonsche Heft¬ 
pflasterverband. Er besteht aus dach¬ 
ziegelförmig sich deckenden, 2—3 cm 
breiten Diachylonpflasterstreifen, die sich 
über einem etwa bestehenden Ulcus kreu¬ 
zen und zunächst nur unter losem Zug 


angelegt werden. Jeden Morgen nun 
werden die Streifen vom Arzt oder dem 
Kranken selbst fest angezogen, bis eine 
hinreichende Kompression erzielt ist. Über 
den eigentlichen Heftpflasterverband 
kommt eine genügend dicke Watte- oder 
Mullschicht; die wiederum von einer gut 
anliegenden Binde gedeckt wird. Für die¬ 
jenigen Fälle, in denen die Varicen nur 
bis zur Kniebeuge reichen, ist von Bü- 
dinger der sogenannte Piasterstrumpf¬ 
verband empfohlen worden. Dicht unter¬ 
halb der Kniekehle umschließt den aus¬ 
gestrichenen Unterschenkel eine hand¬ 
breite Mullbinde in vier- bis fünffacher 
Lage. Sie wird von 3—4 cm breiten Pfla¬ 
sterstreifen, die sich nicht decken, son¬ 
dern gerade mit den Rändern berühren, 
überlagert. Die Streifen werden so fest 
angezogen, daß die oberflächlichen Ve¬ 
nen eben noch komprimiert sind, aber 
keine Stauung im distalen Gliederab¬ 
schnitt auftritt. 

An Stelle der Binden- und Pflaster- 
Verbände, die eine tägliche Erneuerung 
beziehungsweise Revision erfordern, sind 
dann die von Unna eingeführten Deck¬ 
firn ißverbände getreten. Während näm¬ 
lich die oben beschriebenen Deck- und 
Kompressionsverbände nur dann ange¬ 
legt werden können, wenn Komplika¬ 
tionen der Varicen wie Dermatitiden und 
Ekzem, tiefergreifende crustöse Prozesse 
durch entsprechende Vorbehandlung 
beseitigt sind, bilden diese Erkrankungen 
ebensowenig wie die chronisch-entzünd¬ 
lichen Gefäßprozesse eine Gegenanzeige 
für die Firnißverbände. Im Gegenteil, 
Ulcus und andere Komplikationen haben 
unter anderen Behandlungsmethoden 
kaum einen günstigeren Heilungsverlauf. 
Dabei ist für die ambulante Praxis der 
Dauerverband höchst bequem und an¬ 
genehm für Arzt und Patienten, von 
der Sparsamkeit des Materialverbrauchs 
ganz abgesehen. Besonders haben sich 
die Zinkleimverbände eingeführt. Ihre 
Vorteile sind mannigfach. Bei'gleich- 
mäß’ger Kompression, Durchlässigkeit für 
Wundsekret, unbehinderter Wasserver¬ 
dunstung kommen alle entzündlichen 
Hauterscheinungen schneller zur HeUung. 
Alle subjektiven Beschwerden der Pa¬ 
tienten schwinden schneller. Die Technik 
des Verbandes ist mannigfach modifiziert 
worden. Wi<geben hier die ursprünglich 
von Unna angegebeneVorschrift für seine 
Herstellung wieder: Selbst beim Fehlen 
von Hautveränderungen ist es geboten, 
die Haut vor Anlegung des Verbandes 





470 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Dezember 


gründlichst durch Seifenwaschung und 
nachfolgender Alkohol- oder BenzinabVei- 
bung zu desinfizieren, die Versorgung der 
bestehenden Hautaffektionen muß ge-' 
sondert vorgenommen werden (medika¬ 
mentöse Überschichtung, Salbenfleck 
usw.). Bei starker Behaarung muß das 
Bein rasiert werden. Zur Verwendung 
kommt folgende Mischung, die man sich 
entweder selbst herstellt oder in ähnlicher 
Zusammensetzung fertig beziehen kann: 


Gelatin. alb . 30,0 

Zinc oxyflat . 30,0 

Glycerin . 50,0 

Aq . 90,0 


M.D.S., Vor dem Gebrauch im 
Wasserbad zu erwärmen! 

Beiersdorf in Hamburg liefert Zink¬ 
leimtafeln, die vor dem Gebrauch im 
Wasserbade geschmolzen werden. Die 
Jünnflüssige, warme Leimmasse wird mit 
einem weichen Borstenpinsel auf die 
Beinhaut aufgetragen, darüber wird mög¬ 
lichst faltenlos eine Mullbinde gewickelt. 
Das gleiche wiederholt sich so, daß 
immer eine Leimschicht mit einer Mull¬ 
binde abwechsellt. Drei bis vier Lagen 
genügen meist zur Erzielung eines festen 
und dauerhaften Verbandes. Über stark 
secernierende Ulcera wird besonders 
reichlich Mull geschichtet. Nach dem 
Trockenwerden beschließt eine glatt an¬ 
gewickelte Mullbinde den Verband. Für 
die Häufigkeit des Verbandwechsels ist 
der Grad der bestehenden Komplika¬ 
tionen maßgebend. Oft genügt es, den 
Verband alle drei bis vier Wochen zu 
wechseln, in anderen Fällen ist alle acht 
bis zehn Tage ein Wechsel erforderlich. 

Für den Praktiker besonders geeignet 
sind die gebrauchsfertig zu beziehenden 
Leimbinden. Empfehlenswert ist die 
Collaminbinde (aus mit Zincoxydsuspen- 
sion bestrichenem Mull bestehend), die 
allerdings nicht so dauerhaft ist wie der 
Originalzinkleimverband. 

Zur Anwendung von Gummibinden¬ 
oder Strümpfen können wir nicht in glei¬ 
cher Weise raten. Erstens sind sie nur für 
varicöse Extremitäten mit intakter Haut 
zu gebrauchen, zweitens leidet die Haut¬ 
verdunstung unter ihrer Uhdurchlässig- 
keit für Feuchtigkeit. Vorteilhafter sind 
die Stephanschen Strümpfe. Sie be¬ 
stehen aus einem Leinengewebe, in das 
Dochte zur Verstärkung eingenäht sind. 
Unter der Bezeichnung ,,Clebrobinde“ ist 
ein elastisches, poröses Gewebe im Handel 
erhältlich, das am zweckmäßigsten in der 
Form von fünf bis sechs Zentimeter brei¬ 


ten Binden benutzt wird. Das elevierte 
Bein wird mit der Binde unter mäßigem 
Zug in gut sich deckenden Touren bis 
zur Oberschenkelmitte eingewickelt, ein 
Trikotschlauchstrumpf erhält den gut an¬ 
modellierten Verband, der bis zu drei bis 
vier Wochen liegen kann, in seiner Lage: 

Die operative Behandlung der 
Varicen tritt dann in ihr Recht, wenn 
trotz der Ausnutzung aller konservativen 
Maßnahmen erhebliche subjektive Be¬ 
schwerden bestehen ‘bleiben oder aus 
sozialen Gründen sich eine langdauernde 
konservative Therapie verbietet. Die 
Zahl der zur operativen Beseitigung 
der Varicen angegebenen Methoden 
ist sehr groß. Die Mehrzahl ist, wie 
Klapp richtig sagt, bereits historisch 
geworden. Aber auch mit den jn den 
Dauerbesitz der Chirurgie übergegangenen 
Verfahren, mag man nun die Verlagerungs¬ 
methoden, die Resektions- und Exstir¬ 
pationsmethoden, die Verödungsmetho¬ 
den durch Injektionen medikamentöser 
Stoffe, offene und subcütane Ligaturen 
anwenden, sind Rezidive, wenn auch in 
ihrer Häufigkeit einzuschränken, so doch 
nicht zu vermeiden. Das Resultat von 
statistischen Erhebungen über Rezidive 
nach Varicenoperationen ist ganz be¬ 
sonders abhängig von der Zeit, die zwi¬ 
schen Operation und Nachuntersuchung 
verstrichen ist. Bei einer auf 12 Jahr 
sich erstreckenden Beobachtung der 
Dauerresultate des Trendelenburg- 
Verfahrens (hohe Ligatur der Vena sa¬ 
phena) ergab sich z. B. die ungeheure 
Rezidivhäufigkeit von 55%. Der Grunde 
für diese hohe Rückfallzahl ist fast stets 
in einer Restitution resezierter Venen¬ 
stücke oder einer Kanalisierung verödeter 
Venenstücke bis zur Wiederdurchgängig¬ 
keit zu suchen. Genauere Angaben über 
die experimentelle Feststellung dieser 
Vorgänge können im Rahmen dieser Ar¬ 
beit hier nicht gemacht werden. Auch 
die varicöre Entartung beider Stromab¬ 
führungsbahnen, der tiefen und ober¬ 
flächlichen, das Erhaltenbleiben von Kol- 
lateralen bei der Operation kann den 
Ausgangspunkt für Rezidive bilden. 

Dennoch bleiben genug Fälle, in denen 
bei richtiger Indikationsstellung die ope¬ 
rative Behandlung dauernden Erfolg, 
bringt. Es werden bei uns häufiger die 
Ligatur-, Resektions- und Exstirpations¬ 
verfahren geübt, die Verlagerungsmetho¬ 
den (Katzenstein) seltener angewendet. 
Es ist das Prinzip der letzteren, die nur 
durch dünne, atrophische Haut gestützten. 






Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


471 


Venen in tiefere Gewe|)'e — subfascial 
oder intramuskulär — zu verlegen, um 
dadurch einen festeren Halt für die 
Venenwände zu gewinnen und durch ihre 
Elastizität eine Art Klappenersatz zu 
schaffen. Es empfiehlt sich dabei, Haut¬ 
streifen, besonders solche, die durch 
Periphlebitis mit den kranken Venen ver¬ 
lötet' sind, mit herauszuschneiden. Die 
bei der Hautnaht dann entstehende Span¬ 
nung der Haut wirkt gewissermaßen wie 
ein Komprimierender Verband auf die von 
ihr umschlossenen Weichteile. 

Während man durch das Verlagerungs- 
Verfahren im allgemeinen zwar keine 
Rückbildung der Varicen, immerhin doch 
aber eine Besserung der subjektiven Be¬ 
schwerden — vor allem des Ermüdungs¬ 
gefühles in den Beinen — erreichen kann, 
gelingt mit den Verödungsmethoden auch 
die Ausschaltung der varicösen Venen¬ 
geflechte. Die zahlreichen Ob literations¬ 
verfahren der älteren Zeit (Ako- und Igni- 
punktur, Galvanopunktur, intravenöse In¬ 
jektionen von Entzündung machenden Mit¬ 
teln usw.) sind zum allergrößten Teile ob¬ 
solet geworden. In neuerer Zeit hat Scherf 
versucht, durch Sublimatinjektionen in 
die varicösen Venen Schrumpfung der er¬ 
weiterten Venenabschnitte herbeizufüh¬ 
ren. Es Wurden mehrmals mit 0,5 bis 
5 ccm einer Sublimatlösung 1 :3000 
intravenöse Durchspülungen vorgenom- 
men^). Nie ging es in den günstigsten 
Fällen ohne stärkere Entzündungspro¬ 
zesse ab, in einigen ungünstig verlaufen¬ 
den trat Gangrän auf oder eine Pyo- 
phlebitis mit Thrombenverschleppung. 
Daraus wird schon ersichtlich, daß diese 
Methode ohne präliminare, hohe Ligatur 
der Vena saphona sehr gefahrvoll ist. Sie 
hat deshalb wenig Nachahmer gefunden. 

Von denJVerödungsverfahren wollen 
wir noch eines erwähnen, das in aller¬ 
jüngster Zeit von Klapp wieder emp¬ 
fohlen ist und die Konkurrenz mit 
den sonst bei uns üblichen Verfahren 
nicht scheuen zu brauchen scheint. Es 
ist dies die percutane, multiple Ligatur 
der Vena saphena (Kuzmik, Schede, 
Kocher, Klapp). Die von Klapp an¬ 
gewandte Technik ist folgende: Er ope¬ 
riert in Allgemeinnarkose oder Lumbal¬ 
anästhesie; vor der Operation macht man 

In jüngster Zeit wurde von Mattheis zur 
Injektion in die varicösen Venen die Pregelsche 
Jodlösung benutzt und danach eine deutliche 
Schrumpfung der ektatischen Gefäße beobachtet. 
Die Methode ist aber noch zu wenig nachgeprüft, 
als daß sie hier empfohlen werden könnte. 


sich den Venenverlauf dadurch sichtbar, 
daß man durch , Hängelage der Beine 
eine starke Füllung der entarteten Venen 
herbeiführt. Man muß so aber später 
strotzend volle Venenstücke herausschnei¬ 
den und deshalb länger auf die Thrombo¬ 
sierung beziehungsweise Verklebung der 
Venen warten. Es ist daher besser, in 
Höchlagerung der Beine zu operieren und 
sich vor der Operation den Venenverlauf 
dadurch sichtbar zu machen, daß man die 
Venen auf der Haut zunächst mit Stärke¬ 
kleister nachzieht und dann einen Jod¬ 
anstrich macht, wodurch eine Blau¬ 
färbung der Zeichnung eintritt. Zunächst 
erfolgt die hohe Unterbindung der Vena 
saphena, eventuell auch die subcutane 
Extraktion ihres Obersehenkelteiles. Am 
Unterschenkel wird stets umstochen. Da¬ 
zu wird eine gestielte, mit einem Öhr 
versehene Nadel neben der Vene ein¬ 
gestochen und jenseits derselben aus¬ 
gestochen, und zwar wird die Nadel ein¬ 
mal hinter der Vene, das anderemal vor 
der Vene vorbeigeführt. Beide Male wird 
derselbe Ein- und Ausstich benutzt. Nach 
Knotung des Fadens verschiebt die Haut 
sich runzelig über der Ligatur. Streift 
man sie glatt, so verschwindet der Knoten 
durch den Einstich ünter die Haut. 
40 bis 50 Umstechungen, besonders sorg¬ 
fältig unterhalb des inneren Kniegelenk¬ 
spaltes von der Verbindungsstelle von 
Vena saphena major und minor aus¬ 
geführt, sind meistens ausreichend. Gut 
granulierende Ulcera sind keine Kontra¬ 
indikation gegen den Eingriff. Man muß 
sich nur etwas fern von ihnen halten. 
Sie verkleinern sich nach dem Eingriff 
bald. Durch ekzematöse Haut soll nicht 
gestochen werden. Der Heilungsverlauf- 
ist günstig. Bisweilen zeugen in den 
ersten Tagen Ödeme für den vollkomme¬ 
nen Verschluß vieler Abflußwege. Auf¬ 
stehen und Bewegungsübungen sind schon 
nach einigen Tagen erlaubt. 

Häufig genügt zur Beseitigung der 
Varicen beziehungsweise der ein Ulcus 
varicosum unterhaltenden Stauung in 
den venösen Abflußwegen des Unter¬ 
schenkels die hohe Unterbindung der 
Saphena, die Trendelenburgauf Grund 
seiner Studien über die Klappenverhält¬ 
nisse und die durch die geringe Klappen¬ 
zahl in ihr bedingten besonderen hämo- 
statischen Verhältnisse zuerst ausgeführt 
hat. Bedingung für den Erfolg ist der 
positive Ausfall des Trendelenburg- 
schen Versuches. Man eleviert das Bein 
des horizontal liegenden Kranken senk- 



472 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Dezember 


recht, unterstützt durch Ausstreichen den 
venösen Blutabfluß und läßt den Patien¬ 
ten nach digitalem Verschluß der Saphena 
sich erheben. Bleiben bei hängendem 
Bein die ektatischen Venen ungefüllt 
oder tritt erst etwa ein drittel bis eine 
halbe Minute später eine schwächere 
Füllung derselben ein. so kann man an¬ 
nehmen, daß die Stauung nur das ober¬ 
flächliche Venennetz betrifft, nicht aber 
die tieferen Abflußwege. Der operative 
Eingriff gestaltet sich einfach. Die Vene 
wird dicht unterhalb ihrer Einmündung 
in die große Schenkelvene in örtlicher 
Betäubung freigelegt, doppelt unterbun¬ 
den und zwischen den Ligaturen durch¬ 
trennt. Nach Anlegung eines leicht 
komprimierenden' Verbandes wird die 
Extremität für einige Tage hochgelagert. 
Der Erfolg besteht zwar nicht in einem 
völligen Schwinden, aber doch in einer 
•erheblichen Abflachung der vordem stark 
gefüllten Gefäße. 

Da die einfache Ligatur trotz Durch¬ 
trennung bisweilen die Wiederdurch¬ 
gängigkeit der Vene nicht verhindern kann, 
hat Trendelenburg noch die Resektion 
größerer Abschnitte der Saphena hinzu¬ 
gefügt. Man führt sie zweckmäßig im 
mittleren Oberschenkeldrittel, am Condy- 
lus internus und am Unterschenkel aus. 

Noch radikaler ist die Methode Made¬ 
lungs. S'e entfernt hauptsächlich auch 
die cruralen Sammelbahnen, legt diese 
und das Hauptgefäß am Oberschenkel 
frei und exstirpiert von zwei großen 
Schnitten aus durch Ausschälung in der 
Richtung von oben nach unten das ganze 
Gefäß unter sorgfältiger Ligatur aller 
Kollateralen, besonders der zu den tiefen 
Bahnen führenden Äste. Will man die 
sehr großen Narben, die die Madelung- 
sche Operation hinterläßt, vermeiden, so 
kann man fast mit derselben Gründlich¬ 
keit die Exstirpation auch nach der 
Carrel-Karewski sehen Knopfloch¬ 
methode ausführen. Die Saphena wird 
nach hoher Unterbindung durch mehr¬ 
fache über ihr angelegte, isolierte Schnitt¬ 
chen freigelegt und nach der Durch¬ 
trennung hoch oben von Schnitt zu 
Schnitt in distaler Richtung heraus¬ 
gezogen. Die Kollateralen straffen sich 
beim Anziehen des Hauptstammes deut¬ 
lich unter der Haut an, werden durch 
kleine Incisionen möglichst fern vom 
Verlauf des Hauptgefäßes freigelegt, dop¬ 
pelt ligiert und durchtrennt. Ist der 
Hauptstamm der Saphena am Ober¬ 
schenkel nicht durch Thrombosierung 


verlegt und bestehen keine entzündlichen 
Veränderungen der Venenwand oder ihrer 
Umgebung, so kann man auch die Opera¬ 
tion nach Babcock machen. Die Vene 
Wird hoch oben durch einen kleinen 
Schnitt wie bei der Trendelenburg- 
schen Operation freigelegt und einfach 
unterbunden. In das distale Ende wird 
nach der Durchtrennung der Vene peri¬ 
pher von der Unterbindungsstelle eine 
lange, biegsame, mit einem durchbohrten 
Endknopf versehene Sonde so weit distal- 
wärts wie möglich eingeführt. Unten wird 
über dem fühl- und sichtbaren Spnden- 
knopf die Vene wiederum freigelegt und 
nach distaler Unterbindung durchschnit¬ 
ten. Das proximale Ende wird mit einem 
durch das Sondenöhr geführten Faden 
umschnürt, und nun die Vene durch 
Zurückziehen der Sonde subcutan durch 
den oberen Schnitt herausgerissen. Die 
Blutung der mitdurchrissenen Kollate¬ 
ralen stillt ein fester Druckverband und 
eine für einige Tage durchgeführte Hoch¬ 
lagerung des Beines. 

Die Methode der sapheno-femoralen 
Anastomosierung, die von einigen Auto¬ 
ren immerhin mit Erfolg ausgeführt wor¬ 
den ist, dürfte dennoch nur wenige An¬ 
hänger haben, weil sich ihr doch manche 
Bedenken entgegenstellen. Sie will die 
Rückstauung in der Saphena dadurch 
beseitigen, daß sie diese unterhalb der 
für gewöhnlich dicht unter der Einmün¬ 
dungsstelle der Saphena befindlichen 
Klappenpaare einpflanzt. Abgesehen von 
der Infektionsgefahr für die Gefäßnaht¬ 
stelle und der aus einer Infektion mög¬ 
lichen Thrombosierung und Embolie dürf¬ 
te auch die Subtilität der Technik keine 
Empfehlung für die Methode sein. 

Mit der Erwähnung der spiraligen 
Unterschenkelumschneidung nach Rind¬ 
fleisch wollen wir die Besprechung der 
operativen Behandlungsmethoden der Va- 
ricen abschließen. Mit ihrer Hilfe er¬ 
reichen wir eine vollständige Unter¬ 
brechung des gesamten oberflächlichen 
Unters chenke 1 venennetzes. Auch hier 
wird zuvor die hohe Unterbindung der 
Saphena vorgenommen; dann wird 
in sechs bis sieben den Unterschenkel 
aufwärts laufenden Spiralen ein überall 
bis auf die Fascie dringender, manchmal 
auch ein Stück auf den Oberschenkel 
übergreifender Schnitt geführt. Etwaige 
Ulcera sollen zwischen-zwei Schnitt¬ 
windungen zu liegen kommen. Die Wund¬ 
ränder werden bis zu starkem Klaffen 
auseinandergezogen und alle durchtrenn- 




Dezember 


Die Therapie d^r Qegenwart 1921 


473 


ten Venenlumina oberhalb der Fascie 
ligiert, die unter ihr sichtbaren Venen 
umstochen. Die große Wunde wird durch 
Tamponade offen gehalten und der Hei¬ 
lung per secundam überlassen. Verkle¬ 
bungen der Wundränder sollen unter 
allen Umständen verhindert werden und 
später gerade Furchen Zurückbleiben, auf 
deren Grund das Epithel gewissermaßen 
herunterkriechen soll. — Die Methode er¬ 
reicht viel. In einer Reihe von Fällen 


wurden Ulcera zur Überhäutung gebracht, 
Varicenbildungen beseitigt, wo alle ande¬ 
ren Methoden versagt hatten. Auch 
Elephantiasis der unteren Extremitäten 
als Folge varicöser Blutstauung konnte 
günstig dadurch beeinflußt werden. Die 
kosmetisch sehr entstellenden Narben 
dürften allerdings doch bewirken, daß die 
Rindfleischsche Methode nur für die 
hartnäckigsten und schwersten Fälle Vor¬ 
behalten bleibt. 

_ 'V . S 3. ^^ 




Therapeutisches aus Ver^nen^u. Kongressen. 


Therapeutisches vom Karlsbader Fortbildungskurs. 


Von Dr. Julian Marcus e, Ebenhausen-München. 


Der vom 11. bis 17. September in Karlsbad 
stattgehabte internationale Fortbildungskurs, der 
durch die außerordentlich geschickte Auswahl der 
Themen wie Referenten einen sehr starken Be¬ 
such aufwies, erbrachte auch für die Therapie 
viele wertvolle Gesichtspiuikte, die an dieser Stelle 
in gedrängter Zusammenfassung skizziert werden 
sollen, 

In dem einleitenden Vortrag von Holmgreen 
(Stockholm) über Diagnose, Prognose und 
Therapie des Basedow stellte er folgende 
Leitsätze auf: Weitaus am wirksamsten ist die 
Operation, jedoch ist die Frage, ob immer operiert 
werden soll, mit Nein zu beantworten. Hyper- 
thyreosistrumen sind meist leichte Fälle, die 
nicht in Basedow übergehen, daher die Operation 
kontraindiziert. Beim Basedow sensu strictiore 
sollen schwere Fälle operiert werden. Für die Zeit 
der Operation ist der Allgemeinzustand ma߬ 
gebend; ferner wenn bei von vornherein nicht 
schweren Fällen Verschlimmerung der Erschei¬ 
nungen auftritt. Bei jugendlichen Individuen 
wie im Klimakterium ist besondere Vorsicht in 
der Indikationsstellung der Operation notwendig. 
An zweiter Stelle steht _die Röntgenbehandlung, 
bei hyperthyreosen und leichten Strumen ist sie 
günstig, bei schweren erfolglos. Die Ruhigstellung 
des Kranken ist eine kardinale Forderung, und 
zwar^Bettruhe von mindestens einem Monat, ver¬ 
bunden mit sedativen Bädern, lakto-vegetabiler 
Kost, eventuell Quarzlampenbestrahlungen. Medi¬ 
kamentös empfiehlt Holmgreen das von Ho che 
angegebene Natr. phosph. ein halbes Jahr lang 
pro die 3 ccm, ferner bei leichten Fällen Injektionen 
von nucleinsaurem Natron (5% Lösung zweimal 
wöchentlich ein bis zwei Ampullen) ein bis zwei 
Monate lang. Jodpräparate sind nach ihm bei 
Hyperthyreosis wie einfachem Basedow schädlich. 

Holst (Christiania) gab ein klinisches^Bild der 
Angina pectoris, deren vielgestaltige Ätiologie 
(Veränderungen im Coronarsystem, der Herz¬ 
ganglien, sowie der Herzklappen) die therapeu¬ 
tischen Maßnahmen bedingt. Sie sind konform 
denen des Asthma bronchiale: Sedativa (Brom 
in erster Reihe) bei Anginaphobien, Jodkali in 
anfallsfreien Zeiten. Im Anfall selbst heiße Um¬ 
schläge, heiße Bäder der Arme und Beine, Nar- 
cotica (Opium, Papaverin, Morphium mit Atropin), 
ferner Diuretin. Die Wirkung der einzelnen Mittel 
läßt Schlüse auf die Ätiologie des Anfalls zu. 
Das Narcoticum in der einen Hand, das Stimulans, 
iiuder anderen, ist maßgebendes Prinzip. 

In seinem tiefschürfenden Abriß über „Wand¬ 
lungen in der Nephritislehre“kamVolhard 
(Halle) zu folgenden Schlüssen: Das Kennzeichen 


der Niereninsuffizienz ist der Verlust der Variabi¬ 
lität der Harnabscheidung, es werden in der Zeit¬ 
einheit gleiche Mengen eines gleich dünnen Harnes 
entleert, dessen specifisches Gewicht dem des 
enteiweißten Blutes entspricht. Akute’Konzen¬ 
tration schließt Niereninsuffizienz aus, keine 
Insuffizienz ohne Isosthenurie. Die Polyurie ist 
nur eine Folge des Unvermögens der Konzentra¬ 
tion, die Wassersucht extrarenal bedingt und hat 
nichts mit Niereninsuffizienz zu tun. Die Be¬ 
handlung der akuten Nephritis erfolgt auf der 
Grundlage dieser Erkenntnis statt mit Milchkuren 
und Wildunger Wasser mit strengster Einhaltung 
von Flüssigkeit, ja sogar in den ersten Tagen mit 
Hunger- und Durstkuren. In engem Zusammen¬ 
hang mit diesen Ausführungen standen die 
Referate von Lichtwitz (Altona) über Hyper-^ 
tonie und von Erich Meyer'(Göttingen)überden 
Einfluß vermehrter Flüssigkeitseinfuhr 
auf den Organismus. Nach einer sehr instruk¬ 
tiven Darstellung der Beziehungen des Blut¬ 
druckes zur Niere und der Charakterisierung der 
essentiellen, genuinen und vasculären Hypertonie 
.folgte ein kurzer Überblick über die Therapie: 
Prophylaktisch strenge Berücksichtigung des 
Milieu, der Ernährung und vor allem der Ver¬ 
dauung, medikamentös lokal wirkende Gefä߬ 
mittel wie Diuretin, Papaverin, Adalin, klima- 
tologisch Höhenkurorte des Schwarzwalds. 

Erich Meyer ging von einer kritischen Be¬ 
trachtung der bisherigen Lehre der Wasserzufuhr 
und ihres präsumierten Zusammenhanges mit der 
Polyurie v/ie des Fettansatzes aus und stellte dem¬ 
gegenüber fest, daß vermehrte Zufuhr von Wasser 
keine Blutverdünnung herbeiführt, und daß selbst, 
wenn dies der Fall ist, in kurzem Überkompen¬ 
sation eintritt. Bei abundanter Steigerung der 
Wasserzufuhr blieb das Körpergewicht gleich, die 
Kochsalzausscheidung nahm zu, das Blut dickte 
sich ein, es traten also Veränderungen im Salz¬ 
haushalt auf, damit ist die Wirkung von Mineral¬ 
kuren bei Retention von Salzbestandteilen er¬ 
wiesen. Diese Versuche zeigen aber weiterhin, 
daß durch das Trinken an sich die Belastung von 
Herz und Kreislauf in der Norm außerordentlich 
gering ist, denn es tritt keine Blutdrucksteigerung, 
keine Herzvergrößerung ein. Zur Erzielung 
dauernder'^Plethora gehört außer der Resorption 
von Flüssigkeit noch etwas anderes, cs handelt 
sich jedenfalls hierbei um Verschiebungen des 
Mineralstoffwechsels. 

Ausgehend einerseits von der neueren Erkennt¬ 
nis, daß der im Blut und den Säften kreisende 
Traubenzucker lediglich die Transportform des 
Kohlehydrates im Organismus ist, daß er aber 


60 



474 


Di’£ kTherapr^, cfer ©egermi^C ^1921^ 


Dezember! 


nicjiti aK .die. zelläquate Form betrachtet werden 
darf^ anderersei.ts von den Kriegserfahrungen und 
den Ergebnissen der Ellenschen .experimenteULeh 
Therapie will Frank (Breslau) in seinem Vortfag 
über„Theörie>und Therapie des Diabetes'* 
b^' mittelschweren und schweren. Fällen eine 
extreme- Unterernährung durchgeführt wissen. 
Im Anschluß an die einleitende Hungerkur wird 
die Erhaltung^diät'zu erreichen gesucht (20 bis 
30 Kalorien pro Kilo Körpergewicht). Die bis¬ 
herigen Fettgaben bedeuten Belastung, die wieder 
zur GI>rkämie und auch zur Acidose führen, denn 
in ihrer specifisch dynamischen Wirkung, die sie 
mit dem Eiweiß teilen, stacheln sie den Zellstoff¬ 
umsatz an; es tritt eine Art Luxuskonsumption 
ein^ Eine falsche Ernährung schädigt das Pankreas, 
es kommt zur hydropischen Degeneration der 
Langerhansschen Zellinseln. Man muß die Eiwei߬ 
mengen (nach Ellen 50 bis 75 g) genau dosieren, 
ebenso die Fettmengen, der Maximal- muß auf 
einen Minimalstand herabgedrückt werden. 

V. d. V61den (Berlin) behandelte das Thema: 
,,Stoffaustausch zwischen Blut und Ge¬ 
werben“. Nach einer Betrachtung der treibenden 
Kräfte der Saftströmung und der Variabilität der 
Zellmembranpermeabilität wird die Wirkung der 
hämatogenen Faktoren besprochen (Aderlaß und 
Aderlaßersatz, die intravenöse Zufuhr hoch¬ 
prozentiger Kochsalz- und Zuckerlösungen), von 
den vasogenen Momenten die physikalischen wie 
phärmakotherapeutischen Mittel, die dilatierend 
oder konstringierend einen lokalisierten Stoff- 
aiistausch veranlassen. Die Rolle des Kalks und 
der Antiphlogistica wird berührt und schließlich 
werden die histogenen Momente (inneren'Sekrete 
und Proteinkörpertherapie) und ihre therapeu¬ 
tischen Indikationen vor Augen geführt. 


Letztere sind .gegeben in. dem Bestreben, das 
Gewebe zu ' entlasten (innere Waschung)- oder, 
durch akute Gleichgewichtsstörungen im Blute 
bestimmte Funktionen des Blutes'(besonders die' 
Gerinnung) zu beeinflussen. Die Grenzen dieser 
Eingriffe sind gezogen durch die vielfachen Be-i 
dingungen, denen in nicht übersehbarer Weise 
der Stoffaustausch normalster unterworfen ist 

Außer einer großen Reihe weiterer Referate, 
die vor allem auch die Physiologie und Biochemie 
der Kreislauf Organe betrafen und abgerundete 
monographische Darstellungen erbrachten, ist 
noch Langstein (Berlin) zu erwähnen, der über 
Trinkkuren bei Kindern sprach. Zwei Eigen¬ 
arten des kindlichen Organismus erfordern direkt 
den Gebrauch alkalischer Wässer, das Wachstum 
mit seinem Mineralstoffbedarf und die acidotische 
Konstitution. Eine eklatante Wirkung der Trink¬ 
kuren ist vor allem bei den konstitutionell minder¬ 
wertigen Kindern zu beobachten, wo der nervöse 
Symptomenkomplex meist mit dem der Anfällig¬ 
keit in Form von Magenattacken kombiniert ist. 
Hierfür kommen in erster Reihe SchwefeItrink- 
kuren in Frage, dreimal pro Jahr von je 6 Wochen 
mit einem Tagesqüantum von 60 bis 80 ccm. Ein 
weiteres Indikationsgebiet ist der chronische 
Rheumatismus der Kinder, dagegen heiße Schwe¬ 
felquellen und heiße Moorbäder, und endlich der 
rezidivierende Lichen scrophulosus als Manifesta¬ 
tion einer exsudativen Diathese, seine Behandlung 
besteht in monatelang fortgesetzter Trinkkur mit 
alkalischen Mineralwässern (Karlsbader Mühl¬ 
brunnen usw.) sowie fast milch- und eifreier Kost. 

Dem inneren Werte der Fortbildungsvorträge 
trug auch der äußere Rahmen voll und ganz Rech¬ 
nung, so daß der Verlauf derselben ungeteilte 
Anerkennung fand. 


Referate. 


Bei der Behandlung des fieberhaften 
Abortes nimmt v,jaschke einen anderen 
Standpunkt ein als Winter, der die 
Ausräumung nur vom Vorhandensein 
oder Fehlen hämolytischer Streptokokken ^ 
abhängig macht. Wenn auch Winter 
zugestanden werden muß, daß die An¬ 
wesenheit ' hämolytischer Streptokokken 
häufig ein gefahrdrohendes Zeichen ist, 
so muß doch auch hervorgehoben werden, 
daß es Fälle gibt, die trotz hämolytischer 
Streptokokken gut enden, während in 
anderen trotz Fehlens dieser Kokken 
durch andere Bakterien eine tödliche All¬ 
gemeininfektion eintritt. Es hängt näm¬ 
lich oft von Zufälligkeiten oder Schwierig¬ 
keiten ab, die sich bei der Ausräumung 
ergeben, ob im Anschluß an diese eine 
schwere Allgemeininfektion zustande 
kommt oder nicht, gleichgültig, welche 
Bakterien im Einzelfalle gefunden wurden. 
Der Nachweis gleichviel welcher möglichen 
Erreger sagt nichts Positives über die 
Widerstandsfähigkeit des befallenen Orga¬ 
nismus aus und ermöglicht daher auch 
keine Prognose, wie der Kampf ausgehen 
wird. Zugegeben muß ja werden, daß 


die aktive Behandlung fieberhafter Aborte 
ganz allgemein und unabhängig von dem 
bakteriologischen Befunde schlechtere Re¬ 
sultate ergibt, als eine abwartende oder 
dauernd konservative. Für den Praktiker 
ist es von Wichtigkeit, darauf zu achten, 
daß er erst dann bei einem fieberhaften 
Abort die Ausräumung vornimmt, wenn 
die Entfieberung eingetreten ist; auf den 
bakteriologischen Befund hat er keine 
Rücksicht zu nehmen. • 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

(Zbl. f. Gyn. 1921, Nr. 44.) 

H. Klose berichtet über die Grund¬ 
sätze der Rehnschen Klinik bei der 
operativen Behandlung der Basedow¬ 
schen Krankheit. Diese wird durch 
gleichzeitige Erkrankung der Schild- und 
der - Thymusdrüse hervorgerufen. Zur 
Diagnose Basedow berechtigt uns die 
folgende Trias von Krankheitssympto¬ 
men: 1. Störungen des Centralnerven¬ 
systems, 2. des Stoffwechsels, und 3. des 
kardiovasculären Apparats einschließlich 
seines Inhalts. Exophthalmus kann in 
50% aller Fälle fehlen, zählt also nicht 
zu den wichtigsten Zeichen. Die genaue 





bezembet 


Die Therapie der 19Ö1 


475 


Untersuchung eines Basedowkranken läßt 
ausnahmslos: .Symptome aus den drei 
ob engen ahnten. Systemen erkennen. Daß 
sie an Zähl und Stärke wechseln, berech-. 
tigt ünä nicht, Von' Basedowoid, Formes 
frUstes usw> zu sprechen. . 

, Die opetativen Erfolge der Schild- 
drüserrentfemung und Thymusverkleine¬ 
rung bei Basedowscher Krankheit deuten 
mit Sicherheit darauf hin, daß mit den 
kranken Organen ein Gift entfernt wird. 
Nach den Erfahrungen der Chirurgen ist 
der rein thyreogene Basedow selten, viel¬ 
mehr läßt sich in 70—80% sollet Fälle 
von primären kompletten Basedow eine 
Thymushyperplasie nachweisen. Nach 
alleiniger Kropfoperation gehen diese 
Kranken häufig unter den Erscheinungen 
des Herzjagens, mit hohem Fieber und 
Vergiftungsdelirien zugrunde. Es ist 
nicht bekannt, warum der Tod eintritt, 
wenn die erkrankte Thymus zurückbleibt. 
Seitdem aber auch diese Drüse verklei¬ 
nert wird, sind die Resultate besser. 
Irreparable Veränderungen werden durch 
die Operation nicht beseitigt, es ist daher 
dringend zur Frühoperation zu raten, die 
in etwa 80% der Fälle Heilung herbei¬ 
führt. Die Gefahren der Operation werden 
durch psychische und diätetische Vor¬ 
behandlung vermindert. Die Operation 
selbst findet in Lokalanästhesie statt, 
nach dem Grundsätze, möglichst viel der 
^ erkrankten Drüse zu entfernen. Bei kno¬ 
tigen Kröpfen gilt als Operation der Wahl 
die Enucleation des entarteten Gewebes, 
bei parenchymatösem Basedow die Resek¬ 
tion des rechten Lappens, bei schweren 
Formen eventuell auch des linken unteren 
Poles mit Erhaltung der Epithelkörper¬ 
chen. Die Unterbindung der vier Schild¬ 
drüsenarterien wird nicht mehr geübt. 
Die Technik der Thymusexstirpation ist 
sehr einfach vom gewöhnlichen Kragen¬ 
schnitt aus und geschieht streng intra- 
kapsulär. Schmalz. 

(M. Kl. 1919, Nr. 40.) 

Für die Behandlung des Cervical- 
Katarrhs empfiehlt Kennedy (New York) 
folgende Methode; Zuerst Austrocknung 
des Cervicalkanals und Desinfektion der 
Portio mit Jodtinktur; dann wird vordere 
und hintere Muttermundslippe angehakt, 
mit einer Pravazspritze 1 bis 2 ccm einer 
25 % wäßrigen Äthylalkohollösung inji¬ 
ziert. Bei diesem Vorgehen ist darauf 
zu achten, daß die Kanüle parallel dem 
Cervicalkanal eingestochen wird, und daß 
die Spitze nicht den Cervicalkanal er- 


reicht^ das Depot der Lösurtg' muß M 
interstitiellen Gewebe:sein. ' 

Pulvermacher (Charlöttenburg). • 
(The Amer. j. of Obst.', Juni fÖ2I.) . ‘ 

Die Behandlung Herzkranker rriit 
Chinin ist nicht neu. Sie hat in der äl¬ 
teren Medizin namentlich iir'Kombination, 
mit Digitalis eine gewisse Bedeutung,, 
Neuerdings hat Wenkebach zwei Fälle 
von Vorhofsflimmern erfolgreich mit Chi¬ 
nin behandelt. Frey hat dann gezeigt, 
daß Chinidin wirksamer als Chinin die 
absolute Irregularität beseitigt. Seitdem 
ist die Behandlung dieser Herzströmurig 
mit Chinm oder Chinidin sehr verbreitet. 
Boden und Neukirch haben Beobach¬ 
tungen mit Chinidinum sulfur. ah 
Herzgesunden und bei Rhythmusstörun¬ 
gen vorgenommen. Das Mittel wurde 
zum Teil peroral in Dosen von dreimal 
0,2 bis fünfmal 0,4, in seltenen Fällen'" 
in höheren Dosen bis dreimal 1 g per os 
pro die gegeben, zum Teil intravenös in 
Dosen von 0,2—0,4 g. Bei Herzgesunden 
zeigte sich in 14 Fällen bei peroraler Dar¬ 
reichung keine sichere Wirkung auf 
Schlagfrequenz, Blutdruck, Diurese und 
Elektrokardiogramm. Bei intravenöser 
Injektion treten in vier von acht Fällen 
leichte, kurze Zeit anhaltende Frequenz¬ 
steigerungen ein. Zwölf intravenös und 
peroral behandelte Sinustachycardien 
zeigten keinerlei Änderungen. 22 Fälle von 
Extrasystalie scheinen günstig beeinflußt. 
Überleitungsströmungen zeigten keine 
sichere Wirkung. Sehr günstige Resultate 
sehen Verfasser von intravenöser Chinidin¬ 
behandlung bei atreoventriculären und 
ventrikulären Tachykardien, von denen 
vier Fälle prompt kupiert wurden. In 
17 Fällen von absoluter Irregularität 
wurde Chinidin per os gegeben. Von 
diesen blieben zehn unbeeinflußt; sieben 
Fälle wurden regelmäßig. Einer blieb es 
neun Monate lang, die andern verfielen 
nach längerer oder kürzerer Zeit wieder 
in i^Vorhofsflimmern oder -flattern.- Ein 
günstiger Einfluß des Mittels auf De¬ 
kompensationszustände Wurde nicht beob¬ 
achtet. In acht Fällen traten als störende 
Nebenerscheinungen bei der Medikatian 
Appetitlosigkeit, . Übelkeit, Erbrechen, 
Durchfälle oder Kollaps ein. 

Kamnitzer. . 

(D. Arch. f. klin. M. 1921, Bd. 136.) 

Karl Boese teilt aus dem Stolper 
Städtischen Krankenhaus (Prof. Creite) 
an der Hand von zwölf eigenen Fällen 
seine Erfahrungen über Collatgol, seine 

60* 




Die Therapie der». Gegenwart 1921. 


Dezembejr 


m 


Anwendung und seine Erfolge in der 
Chirurgie und G)aiäkologie mit. Verf. 
hält das Collargol für das beste specifische 
Mittel gegen schwere Eiterungen des 
menschlichen Körpers. In allen Fällen 
wurde das Collargol in Form einer 2%igen 
Lösung in Mengen von 10 ccm intravenös 
injiziert. Meist wurde Temperaturabfall, 
bessere Granulationsbildung, vermehrte 
Eitersekretion, schnellere Resorption para- 
metritischer Exsudate beobachtet. 

Auch in einer Reihe von Polyarthritis¬ 
fällen wurden Erfolge erzielt, ebenso bei 
einem Fall von schwerem akuten Gelenk¬ 
rheumatismus. Im Anschluß an die In¬ 
jektion tritt meistens eine vorübergehende 
Zunahme der Leukocyten auf. Diesen 
sehr guten Erfahrungen stehen bekannt¬ 
lich eine überaus große Reihe von schweren 
Fällen von Sepsis und Polyarthritis gegen¬ 
über, in denen Collargol ohne sichtbaren 
Erfolg angewandt worden ist. Es ist 
wohl nach den Feststellungen von Bött- 
ner nicht zu zweifeln, daß an der Collar- 
golwirkung das Eiweiß des"Schutzkolloids 
den Hauptanteil hat und daß es sich 
dabei um eine unspezifische wenig sichere 
Einwirkung handelt. 

Willibald Heyn (Berlin) 

(D. Zschr. f. Chir. Bd. 163, Heft 1,2, S. 6^.) 

Prof. Strümpell macht auf die in 
letzter Zeit beobachtete Zunahme von 
Icterus catarrhalis, akuter gelber Leber- 
atrophie und Icterus lueticus (speziell bei 
Salvarsanbehandlung) aufmeiksam. Ob 
der Salvarsanicterus auf einer durch 
Leberschädigung gesteigerten Disposition 
des Körpers zu anderen ikterischen Er¬ 
krankungen beruht, oder als Hepato- 
rezidiv (durch lebhaftere Re’zwirkung 
der Spirochäten bedingt) aufzufassen ist, 
steht noch nicht fest. An Hand seiner 
Fälle von akuter gelber Leberatrophie 
kommt Strümpell zu folgenden Schlüs¬ 
sen und Beobachtungen. 

Die Krankheit befällt vorwiegend ju¬ 
gendlichere Frauen und beginnt mit un- 
charakteristischen Prodromen (allgemei¬ 
ner Unruhe, Kopfweh, leichte dyspep¬ 
tische Erscheinungen), die Tage bis 
Wochen anhalten können. Als Charakte¬ 
ristika der Krankheit sind zu nennen: 
Ikterus, psychische Erscheinungen (Koma, 
Delirien), motorische Unruhe (Zuk- 
kungen in den Extremitäten), stereotype 
Bewegungen der Gesichts- und Mund¬ 
muskulatur, bei normalen Reflexen. Per¬ 
kussion und Palpation ergeben eine Ver¬ 
kleinerung der Leber. Eine Ausscheidung 
von Leucin und Tyrosin im Harn konnte 


Verfasser nicht nachweisen, dagegen fand 
er oft Ikteruscylinder. Fast regelmäßig 
findet man einen frequenten Puls und 
normale Temperatur, die fast immer 5ub 
finem eine Steigerung (manchmal 40 bis 
41 ®) zeigt. Die voll ausgebildete Krank¬ 
heit verläuft wohl immer letal. Es kom¬ 
men auch chronische Formen (drei- bis 
viermonatige Dauer) vor, die mit Sym¬ 
ptomen von Pfortaderstauung (Milztumor, 
Ascites) einhergehen. Die akute gelbe 
Leberatrophie ist eine anatomische, nicht 
eine ätiologische Einheit, sie kann Wahr¬ 
scheinlich durch verschiedene Ursachen 
bedingt sein. Die Fieberlosigkeit und die 
Lokalisation auf das Leberparenchym 
macht eine specifisch-infektiöse Ursache 
unwahrscheinlich, wahrscheinlicher eine 
schwache toxische Schädigung. Zum 
Schluß macht Verfasser auf die Analogie 
der ikterischen Krankheiten mit den 
Nierenerkrankungen aufmerksam. Ein ge¬ 
wisser Unterschied herrscht in der Ent¬ 
stehung: hämatogener bei Nierenkrank¬ 
heiten, cholangiogener bei den ikterischen. 
Der Icterus catarrhalis würde den leich¬ 
teren Nephritiden und Nephrosen ent¬ 
sprechen. ' Den schwersten Grad der 
toxischen Zellschädigung stellt die akute 
gelbe Leberatrophie dar, und die bei dieser 
Krankheit auftretende „Cholämie“ sieht 
Strümpell als Analogon der Urämie an. 

Untersuchungen über die Blutver¬ 
änderungen bei Ikterus und akuter gel¬ 
ber Leberatrophie hat Weigeldt 
angestellt; er kommt zu folgenden Er¬ 
gebnissen: ein typisches Blutbild für 
Ikterus gibt es nicht, meist ist die Ery- 
throcytenzahl vermehrt, bei schweren und 
langdauernden Krankheiten kommt es, 
infolge des Versagens der Erythropo¬ 
ese, zur Anämie. Die Resistenz der Ery- 
throcyten und die Hämoglobinwerte sind 
erhöht, die Blutplättchen unverändert, 
die Gerinnbarkeit verlangsamt. Die 
Leukocyten bleiben unverändert. Die¬ 
selben Veränderungen finden sich auch 
bei der akuten gelben Leberatrophie, nur 
sind die Leukocyten vermehrt(I2—30000). 
In einzelnen Fällen fand Weigeldt in 
den polynukleären Neutrophilen aus Cho¬ 
lesterinestern bestehende Vakuolen. 

(D. m. W. 1921, H. 41.) Grunke. 

Erich Sonntag gibt aus der chirur¬ 
gischen Universitäts-Poliklinik Leipzig 
Beiträge zur Koehlerscheti Krankheit 
des Kahnbeins am Fuße _bei Kindern. 
Mitgeteilt werden zwei Fälle von Koehler- 
scher Krankheit bei sechsjährigen Knaben 
mit typischen klinischen Symptomen und 






Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


477 


mit typischem l^öntgenbild. Im ganzen 
konnten bisher 50 Fälle dieser Erkrankung 
gesammelt werden. Verfasser kommt zu 
folgenden Schlußsätzen: 

Das Leiden befällt Knaben doppelt 
so oft als Mädchen, meist im Lebensalter 
von fünf bis neun Jahren, mehrfach tritt 
es doppelseitig auf. Klinische Symptome 
sind meist: Schmerz, Hinken, Druck¬ 
empfindlichkeit, Weichteilschwellung, be¬ 
ziehungsweise auch erhöhte Hauttempe¬ 
ratur und leichte Rötung. Im Röntgen- 
b i Id erscheint das Kähnbein verschmälert, 
unregelmäßig gestaltet und verdichtet. 
Differentialdiagnostisch kommt häu¬ 
fig Tuberkulose in Frage. Prognose ist 
gut, Therapie soll konservativ sein. 
Wahrscheinlich handelt es sich um eine 
Knochenentwicklungsstörung. Fraktur 
ist manchmal nicht ganz auszuschließen, 
aber für die Mehrzahl der Fälle abzu¬ 
lehnen. Willibald Heyn (Berlin). 

(D. Zschr. f. Chir. Bd. 163, Heft 3/4, S. 145.) 

In einem sehr lehrreichen Aufsatz über 
die Behandlung des Kropfes fordert der 
Münchener Chirurg Prof. Kr ecke zunächst, 
daß man die Patienten aus einer Kropf¬ 
gegend in eine kropffreie Gegend bringen 
muß, respektive, wenn dies nicht mög¬ 
lich, ihnen strengstens den Genuß von 
Leitungswasser untersagt, bevor man 
ihnen Medikamente verschreibt oder sie 
operiert. Die Joddarreichung hat nur bei 
den weichen, diffus angeschwollenen Kröp¬ 
fen der jungen Mädchen in den Entwick¬ 
lungsjahren Aussicht auf Erfolg, da, wie 
von Bruns nachgewiesen, Jod nur 
auf funktionsfähiges Schilddrüsengewebe 
wirkt, während es die schon entarteten, 
kolloiden, cystischen und fibrösen Gewebe 
in der Regel nicht zu beeinflussen vermag. 
Bei älteren Leuten ist fast stets das Zu¬ 
rückgehen des Kropfes mit hochgradiger 
Abmagerung und erheblicher Schädigung 
der Herztätigkeit verbunden. Die Jod¬ 
dosis soll nie mehr als zweimal täglich 
5 bis 10 cg betragen. Für die Schild¬ 
drüsentabletten gilt dasselbe wie für das 
Jod, das ja als wirksamster Bestandteil 
in ihnen enthalten ist. Jodsalben werden 
von Krecke grundsätzlich abgelehnt, da 
er sich bei späteren Operationen immer 
wieder von starken Verwachsungen über¬ 
zeugen mußte. • Er empfiehlt vielmehr 
Ichthyol- und Borsalben. Bircher wen¬ 
det wegen seiner geringen Nebenwirkun¬ 
gen Lipojodin an, respektive neben der 
Joddarreichung Chinin und Calcium. Auch 
die Röntgenbehandlung der Struma wird 
von Krecke als erfolglos widerraten, da 


die Strahlen kolloide, cystische und fibröse 
Gewebe nicht zu beeinflussen vermögen 
und Verwachsungen schaffen, die für 
spätere Operationen höchst unangenehm 
sind. Bei Versagen der inneren Therapie 
kommt die Operation in Frage. Die 
Indikationen hierfür sind außerdem Atem¬ 
beschwerden, thyreo«tische Erscheinungen 
und kosmetische Rücksichten, aus denen 
man bei dem heutigen Stande der opera¬ 
tiven Technik wohl berechtigt ist, einen 
derartigen Eingriff vorzunehmen. Bei den 
Thyreotoxikosen muß man sehr genau ein¬ 
fache nervöse Erscheinungen von den 
thyreotischen unterscheiden. Gegenindi- 
kp+ionen sind nur schwere Erkrankungen 
Qer Atmungs- und Kreislauforgane. Le¬ 
bensalter bleibt unberücksichtigt. Rezi¬ 
dive nimmt Krecke in 10 bis 20 % aller 
Fälle an. Die Betäubungsart überläßt er 
seinen Patienten zur Entscheidung. 

Die prophylaktische Behandlung in 
Kropfgegenden, wie sie in der Schweiz 
durch Darreichung von Jodostarin (Kin¬ 
der Wöchentlich 0,06 =0,03 Jod) getrie¬ 
ben wird, würde, wenn sich dieses Ver¬ 
fahren bewährt, auch in unseren Kropf¬ 
gegenden bei den Schulkindern zu emp¬ 
fehlen sein. Ernst Borchart (Berlin). 

(M. in. W. Nr. 44.) 

H. Scheuermann (Kopenhagen) be¬ 
schreibt eine besondere Form von Ky¬ 
phose, welche sich bei Jünglingen im Ent¬ 
wickelungsalter im Anschluß an schwere 
Arbeit (besonders Landarbeit) in kurzer 
Zeit entwickelt. Er hält sie nicht für 
identisch mit der von Schanz beschrie¬ 
benen zu Kyptose führenden Insuffizienz 
der Rückenmuskeln, ist vielmehr der 
Meinung, daß es sich um ein Leiden in 
der Wachstumslinie der Wirbelkörper 
zwischen Corpus und der Epiphysierung 
handelt. Als Behandlung empfiehlt er 
Bettruhe für ein bis zwei Wochen, dann 
Gipspanzer in Suspension oder lordotischer 
Haltung für mehrere Monate, daran an¬ 
schließend Massage und Gymnastik. Eine 
Heilung konnte er nicht erzielen; das 
Leiden führte stets trotz Behandlung zu 
bleibender Deformität. Georg Müller, 

(Zschr. f. orthop. Chir., 41. BO., 4. Heft.) 

Böen he im macht auf die diagnosti¬ 
sche und therapeutische Bedeutung der 
Blutdrüsen für die Magenpathologie 
aufmerksam, indem er den Zusammen¬ 
hang zwischen Magenfunktion und Blut¬ 
drüsentätigkeit ins rechte Licht setzt. 
Der Mechanismus der Chlorausscheidung 
in den Magen und den Harn ist nach neue- 




m 


DieTTJierapie/d^r ;0eg^tiwatt 192i' 


De^em^f 


ren AUSehautingen etwa folgender: Mo- 
bilfeieruixg der Cltlordepots, Hyperchlor- 
äm'fe, Ausscheidung des tiberschüssigen 
Chlors durch Magen und Niere. Abwei¬ 
chungen von diesem Mechanismus kom¬ 
men bei Magen- und Nierenkrankheiten 
sowie' bei Tuberkulose vor, bei letzter 
als Folge der Hypochloränne und Ver¬ 
armung des Körpers an Chlor. Die Ma¬ 
gensuperacidität resultiert aus folgenden 
Ursachen: 1. Erkrankung der Drüsen¬ 
zellen selbst, 2-. organische Magenkrank¬ 
heiten, 3. Versagen der Nieren, 4. Hyper- 
chlorämie infolge zu starker Chlormobi- 
lisierung. Für die Chlormobilisierung ist 
aber die Tätigkeit der endokrinen Drüsen 
von großer Bedeutung, also auch für die 
aus 4. resultierende Superacidität. Zu 
den die Chlormobilisierung fördernden 
Drüsen gehören die Schilddrüse, das Pan¬ 
kreas, die Hypophyse und die Keim¬ 
drüse, letzte bedingt gleichzeitig mit der 
Chlormobilisierung eine Hemmung an den 
Ausscheidungsorganen. Die größte kli¬ 
nische Bedeutung kommt der Schilddrüse 
zu. Bei den mit Hyperthyreose einher¬ 
gehenden Krankheiten (Morbus Basedowii, 
Tuberkulose) wird meist, in incipienten 
Fällen fast regelmäßig, eine Superacidität 
beobachtet. Auch durch Injektion von 
Thyreoideaextrakt wird eine Hyperchlor- 
ämie erzielt. Therapeutisch indiziert ist 
ihre Anwendung bei Myxödem und ähn¬ 
lichen Krankheitsbildern. Hemmend wir¬ 
ken auf den Chlorstoffwechsel die Thy¬ 
mus, die nach neueren Anschauungen 
auch bei Erwachsenen funktionstüchtig 
bleiben soll, und die Nebenniere. Die 
Anwendung der Thymus ist indiziert bei 
Hyperthyreose und Infantilismus mit 
Superacidität, desgleichen bei der bei 
Tuberkulose vorkommenden Subacidität 
infolge von toxischer Hypofunktion der 
Magendrüsen, kombiniert mit Hyper- 
chlorämie. . Durch Hemmung der Chlor¬ 
mobilisierung und dadurch bedingte Ver¬ 
minderung der Chlorausscheidung durch 
die Niere wirkt Thymus als Chlorsparer 
und beeinflußt günstig den Appetit in 
Fällen, wo die gebräuchlichen Sto- 
machica versagen. Bei richtiger und'schar- 
fer Indikation kann die Darreichung 
eines Blutdrüsenpräparats eine günstige 
Umstellung der Magenfunktion erzwingen. 

(D. m. W. 1921, H. 42.) Grunke. 

Das Novasufol ist eine lösliche Queck¬ 
silberverbindung (oxymerkurichlorphe- 
nylessigsaures Na. + Diaethylmalonyl- 
hamstoff), die ursprünglich nur in der 


Luestherapie verwendet wurde/ Es wird 
sehr rasch wieder ^usgeschieden und ist 
deshalb relativ unschädlich. In letzter 
Zeit hat es eine immer größere Bedeu¬ 
tung als Diureticum gewonnen. Besbn-. 
ders geeignet für die Novasurolbehand- 
lung sind die Hydropsien nicht renalen 
Ursprungs, bei denen die gebräuchlichen 
Mittel versagen. Das Mittel macht in 
günstigen Fällen eine schon ein bis andert¬ 
halb Stunden post inject, einsetzende und 
nach zirka zwölf Stunden abklingende 
Harnflut mit ^ gleichzeitiger reichlicher 
Kochfalzausschwemmung. Man Soll die 
Injektion zwecks Vermeidung schädlicher 
Wirkungen erst am vierten bis siebenten 
Tage wiederholen. Nonnenbruch hat 
die Wirkung des Novasurols am Nor¬ 
malen geprüft, bei dem nach den bis¬ 
herigen Mitteilungen die diuretische Wir¬ 
kung — wenn überhaupt vorhanden — 
nur gering sein sollte. Er fand, daß auch 
hier eine starke wasser- und kochsalz- 
diuretische Wirkung von kurzer Dauer 
vorhanden ist. Man darf jedoch nicht 
die 24-Stunden-Menge des Harns, son¬ 
dern muß die dreistündig gemessene 
Urinmenge am Vortag und am Novasurol- 
tag vergleichen. Das Novasurol wirkt 
auch, wie Versuche des Verfassers er¬ 
geben haben, bei dem durch kochsalz¬ 
arme Vortage wasser- und kochsalzarm 
gemachten Organismus. Was die bei den 
Versuchen beobachteten Veränderungen 
im Blut anbetrifft, so ließ sich nur eine 
absolute,-nicht durch Wasseraustritt-e in 
die Gewebe zu erklärende Vermehrung 
des Serumeiweißes feststellen, denn die 
Blutkörperchen, die den sichersten - An¬ 
haltspunkt für den Wasserwechsel zwi¬ 
schen Blut und Geweben abgeben, blie¬ 
ben gleich — ebenso die Serumkochsalz- 
Werte. Die Wirkung des Novasurols wird 
hauptsächlich in einer Mobilisierung von 
Wasser und Kochsalz in den Geweben 
erblickt. Ob daneben hoch eine spe'cifi- 
sche Wirkung auf die Nieren vorhanden 
ist, muß vorläufig dahingestellt bleiben. 

(M. m. KI. 1921, Nr. 40) Kamnitzer. 

Über einen Fall von rezidivierender 
Pankreatitis verbunden mit Xanthoma¬ 
tose berichtet Wijnhausen. Es han¬ 
delt sich um einen etwa 100 Kilo schwe¬ 
ren, 35jährigen Patienten, bei dem eine 
hereditäre Belastung mit Diabetes und 
Adipositas vorlag. Im Laufe des Jahres 
vor dem ersten Krankheitsanfall hatte. 
Pat. zweimal ein Trauma in der Magen¬ 
gegend. Die Anfälle, symptomatisch fast 




t>ezeml)er 


Die iTkerapie.^da- ,Qegeo\mrtll9S^i 


übereinstimmend, wiederholten sich in 
Zeitabständen von einigen Monaten. Ei¬ 
nige Wochen vor dem eigentlichen Anfall 
bildeten sich immer an denselben Körper¬ 
teilen Xanthome, die sich während des 
Anfalles vergrößerten, der Stuhl wurde 
hell, von besonders üblem Geruch und 
enthielt viele unverdaute Muskelfasern, 
doch keine großen Fettmengen, im sonst 
zuckerfreien Harn trat Zucker auf (un¬ 
mittelbar vof und während des Anfalles 
8—12 %). Patient klagte dabei über 
Magensäure, Magenschmerz und Flatu¬ 
lenz. Während des Anfalles, der häufig 
mit Erbrechen eingeleitet wurde, hatte 
Patient heftige Schmerzen (spontan und 
auf Druck) drei Finger unterhalb des 
proc. ensiformis, welcher Punkt auch 
nach den Anfällen empfindlich blieb. Bei 
der drei Jahre nach dem Krankheitsbe¬ 
ginn ausgeführten Operation zeigte sich 
das Pankreas geschwollen, fest und ge¬ 
spannt. Es wurde dekapsuliert. Am Ma¬ 
gen, Duodenum und Gallenblase wurden 
keine krankhaften Veränderungen ge¬ 
funden. Die mikroskopische Untersuchung 
eines aus dem Pankreas entfernten Knöt¬ 
chens ergab ein nekrotisches Zentrum mit 
Fettsäurekristallen, an dessen Rand Bin¬ 
degewebe und kleinzellige Infiltration, 
weiter peripher ödematöses, hauptsächlich 
aus Fettzellen bestehendes Gewebe, was 
alles für eine Pankreatitis sprach. In den 
sieben Jahren nach der Operation hatte 
Patient drei mildere Anfälle nach Genuß 
von allzu großen Quantitäten Fett und 
Kohlehydrat. Die nach der Operation 
zurückgegangene Kohlehydrat-Toleranz 
wurde ungünstig durch Genuß von Fett 
und Eiweiß beeinflußt. Als Krankheits- 
uisache sieht Verfasser das Trauma des 
Pankreas bei einem mit Diabetes belaste¬ 
ten Menschen an. Was die Xanthome an¬ 
belangt, so bestanden sie aus Cholesterin, 
welches auch im Blut vermehrt war 
(während eines Anfalles 0,86 %). Ver¬ 
fasser nimmt an, daß die Hypercholeste- 
rinämie in diesem Fall, vielleicht auch 
be< einigen Diabetes-Fällen, auf einer 
durch das Pankreas bedingtem Hemmung 
der Cholesterinausscheidung durch die 
Leber beruhen könnte. Grunke. 

(B. kl. w. 1921, H. 43.) 

Als kasuistischen Beitrag zu den Spon¬ 
tanfrakturen der Patella fügt Wagner 
aus dem S.t-Georg-Krankenhause Leipzig 
(Tieller) den sechs bisher in der Literatur 
beschriebenen einen neuen eigenen Fall 
hinzu: Es handelte sich um einen 50jäh¬ 


rigen Patienten mit schwerer progressiver 
Muskeldystrophie, der beim Treppen'-^ 
herabsteigen plötzlich zusammenknicktev 
wodurch die rechte Patella in drei Stücke 
zerrissen wurde. Die Fälle von Spontan- 
fraktur der Patella sind sehr selten, meiät 
haben sie eine Tabes als Ursache. 

Willibald Heyn (Berlin) 

(D. Zschr. f. Chir. Bd. 163, Heft 3/4, S. 208;> 

Ed. Birt berichtet aus der medizini¬ 
schen Hochschule in Shanghai über 
Dekapsulation bei Phosphaturie. Verfasser 
hat in fünf Fällen durch obige Operation 
die schwersten phosphaturischen Kolik¬ 
anfälle vollkommen verschwinden sehen 
und vollkommene Heilung erzielt. Es wird 
nicht g sagt wie lange die Anfälle fort¬ 
geblieben sind. Eine Erklärung für die 
Wirkung der Operation wird nicht ge¬ 
geben. Es ist vielleicht möglich daran 
j zu denken, daß die Phosphaturie stets Teil¬ 
erscheinung allgemeiner neuropathischer 
Disposition ist und daß Phosphaturiker 
verhältnismäßig leicht der Suggestion 
unterliegen. Man kann - Phosphaturie 
auch mit Hypnose behandeln. So wäre 
vielleicht die Deutung erlaubt, daß die 
Operation eine besonders eindringliche 
psychische Einwirkung darstellt. Es wäre 
nur die Frage, ob diese Suggestion nicht 
besser auf unblutigem Wege erzielt wird. 

Willibald Heyn (Berlin). 

(D. Zschr. f. Chir. Bd. 163, Heft 3/4, S. 278.) 

Das neue Heft der Strahlentherapie 
bringt ein'ge Mitteilungen über theo¬ 
retische und praktische Fortschritte 
im Gebiete des Röntgenverfahrens. In 
einer sehr fleißigen Arbeit hat Zumpe 
beim Gesunden sowie bei den ver¬ 
schiedensten Krankheiten die Verände¬ 
rungen des Blutbildes nach Röntgen- 
bestrahlurrgen studiert.- Bei malignen Tu¬ 
moren geht die Blutbildveränderung der 
Erkrankung parallel. Bei vorgeschritte¬ 
nen Fällen ist der Verlauf ein typischer: 
die Veränderung setzt unmittelbar nach 
der Bestrahlung als Reizwirkung auf die 
blutbildenden Organe ein und zwar unter 
dem Bilde der Leukopenie. Die Prognose 
ist abhängig von der vorläufigen Restitu¬ 
tion des Blutbildes. Die Wirkung thera¬ 
peutischer Bestrahlungen auf Blut und 
blutbildende Organe besteht bei peri¬ 
pheren Bestrahlungen in einer indirekten 
Reizung, bei Kopf-, Hals-, Rumpfbestrah¬ 
lungen in einer direkten und indirekten 
Reizung der lymphoiden und myeloiden 
Organe.- Die Stärke der Leukopenie ist 
abhängig vmn (fern Gefäßreichtum der 



480 


Die Therapie der öegenwart 1921 


Dezember 


bestrahlten Stellen, von dem Wachstum 
der bestrahlten Zelle bei jungen Blut¬ 
zellen und von der Strahlendosis. Eine 
genaue Blutbildkontrolle wäre in den 
Betrieben wünschenswert, wo wegen 
stärken Krankenandrangs mehr minder 
schematisiert werden muß. 

Über die Tiefenwirkung der Rönt¬ 
genstrahlen haben Dessauer und Vier¬ 
heller neue schöne Untersuchungen an¬ 
gestellt. Sie kommen zu dem Schlüsse, 
daß Dessauers schon frühzeitig ge¬ 
äußerte Ansicht, daß das Problenr der 
Tiefenbestrahlung davon abhänge, eine 
möglichst homogene Röntgenstrahlung 
in den Körper zu senden, wissenschaftlich 
sichergestellt sei. Früher war dieser Satz 
ein frommer Wunsch, heute ist er zum 
Teil ausführbar. Es gelingt mit den 
jetzigen Apparaten, qualitativ das Homo¬ 
genitätsprinzip durchzuführen. Quanti¬ 
tativ ist es noch nicht erreicht, aber seine 
Erfüllung in greifbare Nähe gerückt. Auf 
Grund der neuen Forschungen muß jeder 
einzelne Fall, der der Tiefentherapie zu¬ 
geführt wird, auf die anzuwendenden 
physikalischen Bedingungen durchdacht 
werden. Man wird dann für bestimmte 
Typen und Lokalisationen der Tumoren 
eine mehr schematische Regelung der 
Bestrahlungsart festlegen können. 

.Einen bemerkenswerten technischen 
Fortschritt der Röntgenbestrahlung be¬ 
deutet ein neues Bestrahlungsgerät, wel¬ 
ches Lehmann zur gleichzeitigen Be¬ 
strahlung mit zwei Röhren konstruiert 
hat; dasselbe ist an den Veifaapparat 
angeschlossen und gestattet daher die 
gleichzeitige Anwendung von zwei Röhren. 
Dies neue Gerät scheint berufen zu sein, 
in mannigfacher Beziehung in der mo-. 
dernen Tiefentherapie Verwendung zu 
finden. Man ist imstande, zu gleicher 
Zeit von oben und unten ■ ein großes 
Fernfeld zu bestrahlen und ebenso, wenn 
man zwei Röhren von oben her wirken 
läßt, zu gleicher Zeit zwei Nahfelder zu 
geben. Vermieden wird vor allem die 
unangenehme Bauchlage. Die Bestrah¬ 
lungszeit wird um mindestens die Hälfte 
herabgesetzt. Referent meint, daß ge¬ 
nauere Messungen noch feststellen müs¬ 
sen, wie sich in der Tiefe Röntgenstrahlen 
verhalten, die von oben und unten gleich¬ 
zeitig auf den Körper treffen. 

Max Cohn. 

(Strahlenther. Bd. XII, Heft 3, 1921.) 

Silbersalvarsan bei multipler Skle¬ 
rose hat in jüngster Zeit Meyersohn 
angewandt, nachdem die bisherigen in 


der Literatur niedergelegten Erfahrungen 
ein unzweideutiges Urteil nicht gestatten. 
Das kann freilich nicht wundernehmeny 
weil, die' multiple Sklerose schon spontan 
oft weitgehende Besserungen, die dem 
weniger Erfahrenen als Heilungen impo¬ 
nieren, zeigt. Aus diesem Grunde sind 
die bei m. S. empfohlenen Arzneimittel 
mit besonderer Skepsis zu verwerten. — 
Per Verfasser wendet eine Anfangsdosis 
von 0,01—0,05 an und steigt allmählich 
auf 0,1, seltenerweise auf 0,15 bis. zu einer 
Gesamtdosis von etwa 2,0. Bei einzelnen 
Kranken beobachtet man a4s Nebenwir¬ 
kungen ziehende Schmerzen im ganzen 
Körper, allgemeines Unbehagen, mehr¬ 
tägige leichte Temperaturerhöhungen oder 
einmaligen hohen Fieberanstieg. Bevor 
weitere Injektionen gemacht werden, 
müssen diese Nebenreaktionen abge¬ 
klungen sein. Jedenfalls ist Vorsicht ge¬ 
boten; die Polysklerotiker vertragen die 
Silbersalvarsaninjektionen anscheinend 
schlechter als andere Kranke. Meyer¬ 
sohn kommt in der Epikrise seiner 16 Fälle 
zu einem ziemlich resignierten Urteil. 
Wenn man die Krankengeschichten liest, 
muß man sich sagen, daß die Besse¬ 
rungen, die nach den Einspritzungen 
notiert sind, auch ohne diese hätten ein- 
treten können. M. glaubt aber doch, daß 
Spasmen, Koordinationsstörungen und 
Schwindelgefühl günstig beeinflußt wer¬ 
den, daneben auch die Sensibilitäts¬ 
störungen und die Blasenschwäche. Auch 
pathologische Reflexe können zurück¬ 
gehen. — Bei der trostlosen Lage der 
m. S. ist jeder Versuch mit einem neuen 
Mittel berechtigt, wenn die nötige 
Kritik angewandt wird. Ich möchte auf 
Grund der von anderer Seite veröffent¬ 
lichten und eigener, freilich nur geringen 
Erfahrungen meinen, daß Silbersalvarsan 
ebenso wie Fibrolysin nicht nutzt und 
nicht schadet, sondern nur auf den 
Kranken einen gewissen psychischen Ein¬ 
druck macht. Dünner. 

(B. kl. W. 1921, Nr. 43.) 

Prof. Fritz Lange (München) be¬ 
richtet über einen Fall von schwerer ver¬ 
steifter LumbodorsalskoHose, bei wel¬ 
cher von Sauerbruch in zwei Sitzungen 
je ein 5 cm langes Stück von der 
achten bis elften Rippe (erste Operation) 
und von der ersten bis siebenten (zweite 
Operation) an ihrem Wirbelansatz auf 
der konkaven Seite entfernt wurde. Nach 
Abheilung der Wunden wurden gymnasti¬ 
sche Übungen vorgenommen. Der Erfolg, 





481 


Dezember Die Therapie der Gegenwart 1921 


den Lange selbst als zu keinen großen 
Hoffnungen berechtigend bezeichnet, be¬ 
stand nach der ersten Operation in einer 
Mobilisierung des versteiften Wirbelsäu¬ 
lenteils, die aber später wieder verloren 
ging, und einer Verschiebung des ganzen 
Rumpfes nach der konkaven Seite (nach 
der zweiten Operation), wodurch der Ge- 
sanitumriß des Körpers ein günstiger 
Wurde. Ähnliche Eingriffe sind früher 
schon wiederholt versucht worden, je¬ 
doch stets ohne den erhofften Erfolg. 

Georg Müller. 

(Zschr. f. orthop. Chir., 41. Bd., 3. Heft.) 

Solarson, das jetzt wohl meist ange¬ 
wandte lösliche Arsenpräparat, wird von 
Wiener Autoren neuerdings besonders 
bei Malaria empfohlen. So erklärt 
Müllern, der Primärarzt des Haupt¬ 
malariaspitals, die Solarsontherapie bei 
der Malaria für nicht weniger wichtig als 
die kausale Therapie selbst; nach seinen 
Erfahrungen erholen sich die mit Solarson 
und Chinin behandelten Malariakranken 
rascher und neigen weniger zu Rezidiven 
als die mit Chinin behandelten; er meint 
sogar, daß die kombinierte Therapie die 
Erreger auch bei der Tropica schneller 
aus dem Blut verschwinden läßt. Ebenso 
verschwinden die Parasiten aus dem Blut, 
wenn nach eingetretener. ,,Chininab¬ 
stumpfung“ das Chinin einige Zeit aus¬ 
gesetzt und durch Solarson ersetzt wird. 
Die Malaria-Anämie wird, wie jede andere 
Form von Blutkrankheit, durch Solarson- 
injektionen besonders günstig beeinflußt; 
ebenso auch hartnäckige Malarianeur¬ 
algien. Gleich rühmliche Erfolge be¬ 
richtet Balcarek von der kombinierten 
Solarsbn-Chininkur, die er bei 36 Fällen 
schwerer Tropica und 48 Fällen von Ma¬ 
laria tertiana angeordnet hat; sie erfolgte 
in täglichen subcutanen Solarsoninjek- 
tionen neben der Nochtschen Chinin¬ 
darreichung. 73 Fälle wurden glatt ge¬ 
heilt, auch die nach zwei bis fünf Monaten 
in elf Fällen eintretenden Rezidive blie¬ 
ben nach Wiederholung der Doppelinjek-’ 
tionen anfalls- und beschwerdefrei. Ver¬ 
fasser möchte das Solarson mit seiner 
außerordentlich tonisierenden Wirkung 
bei der Behandlung der Malaria in kei¬ 
nem Fall mehr missen. — Schließlich hebt 
Scheint den eklatanten Erfolg der Solar- 
sonbehandlung bei schwerer Malaria¬ 
anämie und hartnäckiger Malarianeur¬ 
algie hervor; auch er bezeichnet das So¬ 
larson als vorzügliches Arsenpräparat und 
wertvolles Heilmittel in der Malariathe¬ 
rapie. 


Im Zusammenhang hiermit sei die 
Arbeit von Löwinger aus der Abteilung 
Strasser in Wien referiert, welcher das 
Solarson als wertvolles Unterstützungs¬ 
mittel von Tuberkulinkuren empfiehlt; 
die kombinierte Behandlung hat eine 
gleich günstige Einwirkung auf das All¬ 
gemeinbefinden wie auf die Zunahme 
des Körpergewichts gezeigt. Insbesondere 
verdienen Solarsoninjektionen bei fie¬ 
bernden Tuberkulösen angewandt zu wer¬ 
den und sollten hier als Roborans den 
eigentlichen Tuberkulinkuren voraus¬ 
geschickt werden. Berger. 

(W. m.W. 1921, Nr. 2, 3, 4, 9.) 

Dr. J. Goerres berichtet über 60Fälle 
von Spondylitis tuberculosa^ die in der 
Vulpiusschen Klinik mit der Albeeschen 
Operation behandelt wurden. Das Ver¬ 
fahren besteht darin, daß ein dem Schien¬ 
bein entnommener Span in die erkrankte 
Partie der Wirbelsäule einschließlich je 
eines über unter derselben gelegenen ge¬ 
sunden Wirbels, und zwar in’ die gespal¬ 
tenen Dornfortsätze eingepflanzt wird. 
Die Operation wurde von den Patienten 
gut überstanden, der Span heilte gut ein. 
Im ganzen waren nur zwei Todesfälle 
zu verzeichnen, in zwei Fällen schlossen 
sich langdauernde Fisteln an, bei 55 Fäl¬ 
len konnte wesentliche Besserung und 
Heilung erzielt werden. Die Patienten 
wurden durchweg mit Stützkorsetten ent¬ 
lassen,so daßsich die Voraussage Albe es, 
daß solche orthopädische Apparate durch 
seine Operation überflüssig würden, nicht 
erfüllt hat. Sehr richtig wäre es, wenn 
Kliniken mit großem Krankenmateriale 
Parallelreihen ohne Operation mit den 
von Rollier, Bernhard, Spitzig, Bi- 
salski, Bier und Anderen vertretenen 
Methoden behandelten und in ihrem 
Verlauf und Endresultaten miteinander 
vergleichen würden. Erst dann könnte 
ein abschließendes Urteil über den Wert 
der Albeeschen Operation gefällt werden, 
die zweifellos* sehr viel bestechendes hat, 
den Referenten aber, und wie es scheint, 
auch die Mehrzahl deutscher Orthopäden 
enttäuscht hat. Georg Müller. 

(Zschr. f. orthop. Chir., XL. Bd., 6. Heft.) 

Werner Siemens berichtet aus der 
Jadassohnschen Hautklinik über einen 
Fall von resistenter Syphilis. Da in 
der Literatur nur wenige derartige Fälle 
bekannt sind, ist es unzweifelhaft von 
großem Interesse, durch ihre genaue 
Untersuchung und Verfolgung die Ur- 

61 



482 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Dezember 


sach^ dieser Resistenz aufzuklären. Es 
handelt sich um einen Fall von psoriasi¬ 
formem Syphilid, vornehmlich an den 
Handflächen, Fingern und Nägeln lokali¬ 
siert, das bisher jod-, Quecksilber- und 
salvarsanresistent geblieben ist. 

35 jähriger Arbeiter, Februar 1919. Ulcus 
molle mit Bubo. 

Erste Kur Juli—August 1919, Neosalv. 3,6, 
erscheinungsfrei. Nach vier Wochen Ausschlag 
an den Händen. 

Zweite Kur November—Dezember 1919. 
Neosalv. 4,35 + Hg (Kalomel 0,13; Hg-Salicyl 
0,5), WaR. -f, spirochätenhaltige Efflorescenzen 
an beiden Palmae, Paronychien. Am Ende der 
Kur WaR. —. Exanthem fast abgeheilt. 

Dritte Kur März—Juni 1920. Neosalv. 
4,65 + Hg 0,6, WaR. +, papulöses Syphilid, 
psoriasiforme Efflorescenzen (Patient hat nie an 
Psoriasis gelitten.) Nach der Kur WaR.—, noch 
einzelne psoriasiforme Herde trotz Behandlung 
mit Jodkali intern, >Salicyltrikoplast, Röntgen- 
und Mesothoriumbestrahlung. 

Vierte Kur August—September 1920. Neo- 
silbersalvarsan 3,5 -f Neosalv. 1,5; Jodkali intern, 
WaR. negativ, der soeben geschilderte Befund. 
Nach der Kur Status idem, energische Röntgen¬ 
bestrahlung und Salicyltrikoplast. 

Fünfte Kur November 1920—Januar 1921. 
Jodkur (Natr. jodat. 80,0, 25 % i.v.). WaR.+, 
massenhafte Spirochaetae pallidae in allen Krank¬ 
heitsherden. Nach der Kur Status idem. 

Sechste Kur Januar—Februar 1921. Neo¬ 
salv. 4,6 -f 0,2 Novasurol, WaR. -f-. Nach der 
Kur WaR. —. Syphilide noch stärker. 

Siebente Kur April—Juni 1921. Kalomel- 
kur 0,45 Hg, WaR. —. Nach der Kur Besserung, 


jedoch nach vier Wochen erneutes Auftreten von 
psoriasiformen Efflorescenzen mit Spirochäten. 
Von Interesse dürfte noeh sein, daß bisher die 
Ehefrau und drei Kinder des Patienten nicht von 
ihm infiziert sind. Ernst Borchart. 

' (M.m. W. 1921, Nr. 44.) 

A. Schanz (Dresden) teilt 33 Kran¬ 
kengeschichten von an Insufficientia 
vertebralis leidenden Patienten mit, unter 
welchem Namen er schon vor einer Reihe 
von Jahren einen sehr variablen Sympto- 
menkomplex zusammenfaßte.' Es han¬ 
delt sich physiologisch um eine Störung 
des Verhältnisses zwischen Tragfähigkeit 
der Wirbelsäule und der ihr zugemuteten 
Traglast. Die Symptome sind neben der 
sich stets findenden Druckschmerzhaftig¬ 
keit eines oder mehrerer Wirbel nervöse 
Beschwerden, die am häufigsten unter 
dem Bilde der Ischias, oft als Magen-, 
Darm-, Unterleibs-, Blasen- und so weiter 
Beschwerden auftreten. Die aus den 
Krankengeschichten ersichtlichen oft ge¬ 
radezu überraschenden Heilungen wurden 
erzielt durch einen einleitenden Rumpf- 
Gipsverband, der oft schon in den ersten 
Tagen die Beschwerden beseitigte, dem 
dann eine längere Behandlung mit Gips¬ 
bett und orthopädischem Stützkorsett 
folgte. Öeorg Müller. 

(Zschr. f. orthop. Chir., 41. Bd. 5. Heft.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch, 

Ans der Inneren Abteilnng des Krankenhauses der jüdischen Gemeinde 
(Direktor; Geh. Kat Prof. Strauß). 

Zur Frage der Sanarthritbehandlung chronischer Gelenk» 

affektionen. 

Von Erna Herrmann. Volontärärztin. 


Über die von Hei ln er begründete 
Sanarthritbehandlung ist bereits eine 
Reihe von Veröffentlichungen erfolgt, so 
daß ich mich in folgendem nur auf eine 
kurze Schilderung der auf der Strauß- 
schen Abteilung gemachten Erfahrungen 
beschränken möchte. Ich will nur voraus¬ 
schicken, daß Hei ln er die Ursache der 
verschiedenen chronischen Gelenkaffek¬ 
tionen in einem Versagen des physiolo¬ 
gischen Schutzapparates sucht, der nach 
seiner Meinung normalerweise imstande 
ist, zu verhindern, daß bestimmte schäd¬ 
liche Stoffe die Gelenkenden verändern. 
Die Versuche Heilners richten sich dem¬ 
gemäß auf Wiederherstellung des Schutz¬ 
apparates der Gelenke. 

Sein Präparat „SanarthriU‘ ist ein 
Extrakt aus jungem Knorpelgewebe und 


soll die erwähnten Schutzstoffe, die das 
normale Gelenk zur Abwehr von Schäd-^ 
lichkeiten liefert, enthalten. Durch die" 
Einverleibung dieser Schutzstoffe wird 
eine Wiedererweckung beziehungsweise 
Verstärkung des lokalen Gewebschutzes 
in den erkrankten Gelenken erstrebt. 

Sanarthrit ist eine farblose, kolloidale Flüssig¬ 
keit, über deren chemische Zusammensetzung 
keine genaueren Angaben vorliegen. Sanarthrit 
wird intravenös verabreicht. Es sollen 6—15 In¬ 
jektionen, je nach der Eigenart des Falles gemacht 
werden. Die Injektionen verlaufen entweder ganz 
symptomlos oder rufen mehr oder weniger starke 
Reaktionen hervor, das heißt: Fieber mit oder ohne 
Schüttelfrost, Kreuz- und Kopfschmerzen, Durst, 
Diarrhöe, Brechreiz. Bei Eintritt von Reaktionen 
soll das Intervall zwischen zwei bis sechs Tage 
betragen, je nach der Stärke der Reaktion. 

Hei ln er berichtet über günstige Er¬ 
folge des Sanarthrits bei den verschie- 



Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


483 


densten chronischen Gelenkentzündungen. 
Jedoch sind die Erfolge nicht immer von 
der Stärke der Reaktion abhängig. Auch 
Umber teilt Günstiges über Sanarthrit 
mit; jedoch nur bei Periarthritis de- 
struens, Osteoarthritis deformans und 
bei chronischen sekundären Gelenkerkran¬ 
kungen. Bei Gicht versagte Sanarthrit 
vollständig. Reinhart beschreibt 23 mit 
Sanarthrit behandelte Fälle aus der Klinik 
von Schittenhelm. In fünf Fällen sah 
er „überraschend gute Wirkung'‘ nach 
zwei bis drei Injektionen. Eine bedeu¬ 
tende Besserung ist auch noch da erzielt 
worden, wo andere Mittel versagten. Vor¬ 
übergehende Stunden oder Tage anhal¬ 
tende Wirkung war in elf Fällen zu ver¬ 
zeichnen, während in sechs Fällen gar 
keine Wirkung zu erzielen war. Finger 
hat Sanarthrit angewandt 1. bei Arthritis 
chronica deformans, 2. bei Periarthritis 
chronica destruens, 3. bei Polyarthritis 
rheumatica im chronischen Stadium, 
4. bei Osteochondritis def. juv., 5. bei 
Coxitis tuberculosa, 6. bei akuten eitrigen 
Gelenkerkrankungen, 7. bei sonstigen Er¬ 
krankungen. Er sah ziemlich gute Er¬ 
folge, auch wenn keine starke Reaktion 
eintrat, nur bei Arthritis chronica defor¬ 
mans und bei. Periarthritis chronica de¬ 
struens. 

Bei den Fällen, die auf unserer Abtei¬ 
lung mit Sanarthrit behandelt wurden, 
handelte es sich nur um solche Patienten, 
bei denen vorher andere bekannte Mittel 
nur mit geringem Erfolg angewandt wor¬ 
den waren. Wir haben uns genau an die 
Gebrauchsvorschrift gehalten, bezüglich 
der Einschaltung der Intervalle zwischen 
den Injektionen. 

Von unseren neun mit Sanarthrit be¬ 
handelten Fällen hatten sechs Arthritis 
deformans und drei Arthritis chronica 
rheumatica. Die Injektionen wurden in¬ 
travenös gegeben, ohne daß sie irgend¬ 
welche Schmerzen verursachten. Die 
Zahl der Injektionen betrug meist vier 
bis sieben; die Dosierung wurde nach 
Vorschrift gemacht. Die Reaktionen 
waren ganz verschieden. Bei einigen Pa¬ 
tienten trat nach einer kleineren Dosis 
schon eine starke Reaktion auf, während 
sich bei anderen auch bei größeren Gaben 
nur schwache oder gar keine Reaktionen 
einstellten. Bei sieben Fällen war eine 
deutliche Besserung zu verzeichnen, und 
zwar wurden die Schmerzen geringer und 
die Beweglichkeit der Gelenke nahm zu. 


Bei je zwei Fällen hat sich aber — trotz 
starker Reaktionen —in dem einen Falle 
nichts im Befunde geändert. 

Wir haben außerdem noch eine I^eihe 
von Fällen von chronischer Gelenkerkran¬ 
kung mit Sanarthrit behandelt; doch 
mußten wir bei diesen die Behandlung 
wegen sehr starker Reaktionen oder weil 
sie das Krankenhaus zu früh verließen, 
aussetzen. Wir haben deshalb diese Fälle 
hier nicht mitgerechnet. 

Nach diesen Erfahrungen erscheint 
auch uns die Sanarthritbehandlung eines 
Versuches wert, wenn die andere Be¬ 
handlung versagt hat. Wir haben eine 
solche — immerhin etwas reservierte — 
Beurteilung der Behandlungsmethode 
deshalb gewonnen, weil die Nebenwir¬ 
kungen unter Umständen große Anforde¬ 
rung an die Widerstandskraft der Pa¬ 
tienten stellen. Freilich ist dies nicht 
stets der Fall, und wie es scheint ist ein 
Erfolg der Behandlung auch nicht direkt 
von der lokalen oder Allgemein-Reaktion 
abhängig. In ähnlichem Sinne äußern 
sich auch Umber und Finger. Ob ein 
prinzipieller Unterschied in Art der Wir¬ 
kung gegenüber der Proteinkörpertherapie 
besteht, können wir zur Zeit noch nicht 
mit Sicherheit entscheiden; denn unsere 
an mehreren Fällen mit Caseosan ange- 
stellten Beobachtungen berechtigen uns 
noch nicht zu einer sicheren Entscheidung 
dieser Frage. Immerhin halten Wir es für 
möglich, daß die Wirkung des Sanarthrits 
mehr oder weniger enge Beziehungen zur 
sogenannten Proteinkörpertherapie be¬ 
sitzt. 

Wir möchten aber nicht unterlassen, 
zu bemerken, daß wir stets neben der 
Sanarthritbehandlung eine systematische 
physikalische Therapie in den Pausen 
zwischen den Injektionen (speziell Be¬ 
wegungen, Massage und Thermotherapie) 
durchgeführt haben. Da aber vorher mit 
dieser oder ähnlicher Therapie ein Erfolg 
ausgeblieben war, so glauben wir doch 
behaupten zu dürfen, daß die Sanarthrit¬ 
behandlung in unseren Fällen die Wir¬ 
kung der physikalischen Maßnahmen un¬ 
terstützt hat. Jedenfalls halten wir es 
für zweckmäßig, im Falle der Anwendung 
der Sanarthritbehandlung, auf die physi¬ 
kalische Therapie nicht zu verzichten. 

Literatur: Heilner (M. m. W. 1916, Nr.28; 
M. m. W. 1917, Nr. 29; M. m. W. 1918, Nr. 36). — 
Umber (M.’m. W. 1918, Nr. 36). — Reinhart 
(D. m. W. 1919, Nr. 49). — Finger (Mitt. Grenz¬ 
geb. 1921, Bd.36). 


61* 



484 . Dfe THwäpt^ der OegenTOFt 1921 • ' ■ 'S * ^ßSanvI^r- 

Aus der ü. chkurgisclen Abteilung des städtiseleu ßudolf-Virchow-Krankenhauses, Berlin. 

(Dirigierender Arzt; Prof, TJnger.) 

Intravenöse Campherölinjektion. 

Von Dr. Kurt Wohlgemuth, Assistenzarzt. 


Vor kurzem hat B. Fischer (B. kl. W. 
1921, Nr. 31) darauf hingewiesen, daß im 
allgemeinen unsere Anschauungen über 
die Gefahren der Luft- und Fettembolie 
wohl nicht ganz den Tatsachen, die er 
durch Tierexperimente bewies, ent¬ 
sprechen. Er zeigte, daß er beim Kaninchen 
0,2 ccm Olivenöl pro Kilogramm Körper¬ 
gewicht intravenös injizieren konnte; 
ohne tödliche Embolie hervorzurufen; 
das wurde beim Menschen einer Dosis von 
etwa 10 ccm entsprechen. Er führt u. a. 
einen Fall an, bei dem versehentlich 
einem Patienten 50 ccm Olivenöl intra¬ 
venös gegeben wurden, ohne daß dieser 
ad exitum kam. Mithin kommt er zu dem 
Schluß, daß nur sehr große Mengen von 
Fett eine tödliche Embolie beim Menschen 
hervorzurufen imstande sind, und daß die 
meisten Fälle von Fettembolie Völlig sym¬ 
ptomlos und ohne Schädigung verlaufen. 

Als praktische Auswertung dieser Tat¬ 
sachen empfiehlt Fischer, das Campher- 
öl beim Menschen intravenös zu appli¬ 
zieren. Ich habe, dieser Anregung fol¬ 
gend, zunächst an Moribunden und Pa¬ 
tienten mit inoperablen malignen Tu¬ 
moren diese Injektionen vorgenommen. 
Ich injizierte zunächst 1 ccm, dann 1 % ccm 
und schließlich 2 ccm. Die Injektion 
erfolgte stets langsam, etwa I Minute 
dauernd. Bei keinem dieser Patienten 


(20 Fälle) traten klinisch die Erschei¬ 
nungen einer Embolie auf; 12 Fälle davon 
kamen zur Sektion (Dr. ChristeIler); 
auch hier zeigte die genaue Untersuchung 
keine Fettembolie. — Nach diesen.Vor¬ 
versuchen haben wir die intravenöse 
Campherölinjektion in einer großen An¬ 
zahl von Fällen therapeutisch angewandt. 
Mehr als 2 ccm habe ich nicht injiziert; 
die Injektion kann nach 24 Stunden wie¬ 
derholt werden. Die Wirkung War stets 
eine außerordentlich schnelle und inten¬ 
sive. Das Anwendungsgebiet ist selbst¬ 
verständlich das gleiche wie bei den sub- 
cutanen Injektionen. Die Vorzüge der 
intravenösen Applikation, auf die auch 
schon Fischer hinweist, sind ja sehr 
einleuchtend: 

1. Von den subcutanen Öldepots geht 
die Resorption oft nur sehr langsam von¬ 
statten. Bei der jntravenösen Injektion 
verteilt sich das Öl sofort in dem ganzen 
Circulationssystem. 

2. Die schmerzhaften Campherab- 
scesse fallen fort. 

3. Mit einer weit geringeren Dosis wird 
eine viel intensivere Wirkung erzielt. 

Wir können demnach die experimen¬ 
tellen Erfahrungen Fischers klinisch 
durchaus bestätigen und die intravenöse 
Campherölinjektion in allen dringenden 
Fällen empfehlen. 


Aus dem Sanatorium Groedel Bad-Nauheim. 
(Leitender Arzt: Privatdozent Dr. med. F. Groedel.) 

Eine neue Art der Nitroglycerin-Darreichung. 

Von Dr. Carl Winkler, Hausarzt. 


Eine nicht unwichtige Rolle in der 
Therapie der Herz- und Gefäßkrank¬ 
heiten spielt das Nitroglycerin. Von 
Natur aus ein heftiges Gift, erheischt 
seine Anwendung die alleräußerste Vor¬ 
sicht, vor allem exakte Dosierung. Seine 
physiologische Hauptwirkung in schwa¬ 
cher Dosis von 0,001 beruht auf der Dila¬ 
tation der Gefäße. Es wirkt anhaltender 
als das ’Amylnitrit. Es ist also in allen 
Fällen indiziert, wo man eine allgemeine 
Gefäßerweiterung erzielen will, insbe¬ 
sondere sonach bei Angina pectoris, vera 
und nervosa, bei Stenokardie, Dyspnöe, 
sonstigen Folgen sklerotischer Verände¬ 
rungen der Gefäße und Erkrankungen des 
Myokards. 


Die bisherige Darreichung erfolgte 
teils in alkoholischer Lösung, teils in Tab¬ 
letten. Letztere haben sich uns nicht be¬ 
währt. Abgesehen davon, daß sie sehr spät 
resorbiert werden — also der Effekt dem¬ 
entsprechend langsam eintritt —, ist auch 
der Wirkungsgrad nicht immer gleich. 

Diese Beobachtung veranlaßte uns, 
seit jeher die Tropfenform auch für 
Taschengebrauch zu verordnen, mit der 
Weisung, bei Bedarf 4—6 Tropfen alko¬ 
holischer Nitroglycerinlösung (Ö,05: 15,0) 
auf die Hand zu träufeln und mit der 
Zunge abzulecken. Die Nachteile dieser 
Verordnungsweise legten Dr. Groedel den 
Gedanken nahe, das Nitroglycerin in einer 
Form Zu geben, die schnelle Resorption 





485 


/ ' . ■ 

Dezember Die Therapie, der Gegenwart 1921 


gewährleistet und außerdem bequem vom 
Patienten mit sich zu führen ist, nämlich 
in Kapseln. 

G. Pohl in Danzig-Langfuhr stellt 
auf unsere Veranlassung derartige Kap¬ 
seln, die Nitroglycerin in ätherischer Lö¬ 
sung enthalten, her, und zwar Original¬ 
packungen zu 3Ö Stück. Die erst ange¬ 
fertigten Kapseln enthielten 0,008 Nitro¬ 
glycerin, jedoch ist ins Auge gefaßt, 
Kapseln von verschiedener Stärke her¬ 
zustellen und durch Zusatz von Pfeffer¬ 
minzöl den Geschmack zu verbessern. 
Bei Bedarf werden in Abständen oder 
auch auf einmal ein, zwei, drei oder mehr 
Kapseln im Mund zerkaut, ausgesaugt 
und die Kapselhüllen ausgespuckt. 

Nach unseren bisher in der Privat¬ 
praxis und bei unseren Sanatoriums¬ 
patienten gesammeltem recht großen Er¬ 


fahrungen haben sich die Kapseln in , 
jeder Beziehung bewährt. Die Wirkung 
setzt sofort ein und ist nach den Aus¬ 
sagen der Patienten stärker, als die, der 
alkoholischen Nitroglycerinlösung, da es 
unverdünnt in voller Dosis von der 
Schleimhaut resorbiert wird. Nach selbst 
angestellten Versuchen am Gesunden tritt 
15—20 Sekunden nach der Einnahme 
die Wirkung ein. Besonders angenehm 
wurde das bequeme Mitsichführen der 
Kapseln und das angenehme Einnehmen 
von den Patienten hervorgehoben. 

Ich glaube bestimmt, daß die von 
Dr. Groedel eingeführte Darreichung des 
Nitroglycerins in Gelatinekapseln sich in 
der Praxis Eingang verschaffen und allen 
mit anginösen und stenokardischen Be¬ 
schwerden geplagten Patienten ein wert¬ 
volles Linderungsmittel sein wird. 


Esalcopat (Extr. Salviae cps.). 

Ein Beitrag: zur Wirkung: der Salvia. 

Von Apotheker Stöcker und Dr. med. A. Mahlo, Hamburg. 


Salvia (Salbei) ist ein uraltes Volks¬ 
mittel, das im neuen Gewände, dem 
Bedürfnis der Gegenwart entsprechend, 
der Vergessenheit entzogen werden soll. 
Extr. salviae cps. (Esalcopat) stellt eine 
dunkelbraune, klare, aromatisch riechende 
und schmeckende Flüssigkeit dar, die 
sich in Zuckerwasser angenehm nehmen 
läßt. Selbst wochenlanger Gebrauch 
löste keinen Widerwillen von seiten der 
Patienten aus und irgendwelche unan¬ 
genehme Nebenwirkung konnte bis jetzt 
in keinem Falle beobachtet werden, so 
daß auch der Anwendung des Präparates 
in der Kinderpraxis nichts im Wege steht. 
Bei den Nachtschweißen der Phthisiker 
kann es mit Vorteil mit Codein, Heroin 
oder Morphium verordnet werden. Auch 
als Zusatz zu Sir. kal. sulfoguajacol. oder 
zum Infus. Ipecac. usw. käme es in 
Frage. Die Verordnungsmöglichkeit ist 
also eine sehr vielseitige. Dem Salbei¬ 
auszug haben wir als Geschmackskorri- 
gentien weitere Mitglieder der Labiaten 
beigegebert. 

Wir haben besonders die Wirkung der 
Salbei bei Tuberkulosen beobachtet, weil 
es von größter Wichtigkeit ist, in der 
Therapie der Lungentuberkulose ein völlig 
unschädliches Mittel zu haben. In der 
Literatur sind nur wenig Beobachtungen 
über Nebenerscheinungen der Salv. offic. 
bekannt geworden. Pidoux^) berichtet 

1) Zitiert nach Krahn. 


über starken Schweiß, Pulsfrequenz, leb¬ 
haften Durst, Trockenheit im Munde, 
Verstopfung. Krahn2) hat den Selbst¬ 
versuch von Pidoux durch Trinken 
eines kalten Teeaufgusses von 15 g Salv. 
offic. wiederholt. Er beobachtet nur die 
Trockenheit im Munde. Frische Salbei¬ 
blätter können nach Lewin 3) unan¬ 
genehme Erscheinungen, die sich im 
wesentlichen mit den Beobachtungen von 
Pidoux decken, hervorrufen. Eine Über¬ 
dosierung War von vornherein nicht zu 
befürchten. 

Wir gaben das Fluidextrakt bei schwe¬ 
ren kavernösen Phthisen monatelang, ohne 
eine Nebenerscheinung, die zum Aus¬ 
setzen des Mittels zwang, zu beobachten. 
Die Wirkung auf die Nachtschweiße der 
Phthisiker war keine ganz gleichmäßige. 
Schwere kavernöse Phthisiker reagierten 
in den ersten drei bis vier Tagen über¬ 
haupt noch nicht, dann ließ jedoch die 
Schweißsekretion erheblich nach und hielt 
so lange an, wie das Mittel gegeben wurde. 
Die Patienten fühlten sich freier und 
hatten einen erquickenden Schlaf. Bei 
einigen elenden Patienten hatten wir den 
Eindruck einer leichten euphorischen Wir¬ 
kung, besonders wenn der Fluidextrakt 
in Verbindung mit Codein verabreicht 
wurde. Ein völliges Aufhören der Nacht- 


2) Di SS. Greifswald. 
Zitiert nach Krahn. 





Dezember 


48,6 ' Die Therapie der Gegenwart 1921 


schweiße haben wir nur in einigen'Fällen 
von kavernöser Phthise beobachtet. Die 
Wirkung des Esalcopat hielt nicht lange 
an; kurze Zeit nach Aussetzen des Mittels 
traten die Nachtschweiße wieder auf, ver¬ 
schwanden dann aber sofort wieder bei 
neuerlichen Salbeigaben. 

fQanz anders wirkt das Esalcopat 
jedoch in initialen Fällen und solchen, 
die dem Turban-II-Stadium entsprechen. 
Das Esalcopat kupiert hier schon nach 
einigen Gaben mit einer fast völligen 
Sicherheit die Nachtschweiße. Wir gaben 
dreimal täglich 20 Tropfen in Zucker¬ 
wasser. Bei vielen Patienten trat die 
Wirkung schon am zweiten Tage ein. 
Trotz des Aufhörens der Nachtschweiße 
gaben wir das Mittel solange weiter, bis 
30 g eingenommen waren, und sahen dann 
in den meisten Fällen, daß die Nacht- 
schweiße bei Aussetzen des Mittels nicht 
wiederkehrten. Größtenteils wurden die 
Patienten zu gleicher Zeit einer Tuberku¬ 
lin- oder Höhensonnenkur unterworfen, 
aber auch bei sonst gänzlich unbehandel¬ 
ten Fällen blieben die Nachtschweiße 
aus. Bei progredienter Tuberkulose war 


jedoch die Regel, daß einige Wochen nach 
Aussetzen des-Mittels sich die Nacht¬ 
schweiße wieder einstellten, so daß mah 
gezwungen War, das Esalcopat weiterzu¬ 
geben. Auch bei Nachtschweißen, die in 
keinem Zusammenhänge 'mit einer tuber¬ 
kulösen Erkrankung standen, wurden 
gleichfalls gute Wirkungen beobachtet, 
insbesondere im Rekonvaleszenten¬ 
stadium von akuten Infektionskrank¬ 
heiten. 

Bei Anwendung der Salbei in Form 
eines Teeaufgusses oder als Tinktur wer¬ 
den die gleichen Wirkungen beobachtet, 
wie man von altersher weiß, doch erscheint 
uns die Wirkung des Esalcopats eine 
intensivere und vor allem schneller wir¬ 
kende zu sein. Und gerade dieser beiden 
nicht zu unterschätzenden Faktoren we¬ 
gen haben wir uns fast ausschließlich des 
Esalcopats bedient. Unsere Erfahrungen 
lassen uns bei alten Phthisen der Salbei 
den Vorzug vor dem Atropin geben: 
Erstens wegen der Unschädlichkeit, zwei¬ 
tens wegen der zum Teil über die Zeit des 
Einnehmens hinaus nachweisbaren Wir¬ 
kung. 


Über einen Jod-Ichthyolanstrich (Astaphylol)^). 

Von Dr. Siegfried Lissau, praktischem Arzt in Reichenberg. 


, Der Jodtinkturanstrich auf die Haut 
^ hat sich als Prophylacticum wie als 
Heilmittel gegen alle Entzündungszu¬ 
stände der Haut und ihrer Anhangs¬ 
gebilde erwiesen und allgemeine Anwen¬ 
dung erreicht. Zahlreiche Dermatologen 
treten für die Jodtinktur als vielseitiges 
Remedium für alle mit follikulärer Herd¬ 
bildung einhergehenden Entzündungszu¬ 
stände der Haut ein, wobei besonders 
auf die beträchtliche Tiefenwirkung des 
Jodtinkturanstriches hingewiesen wird. 

Paul Unna jr. sagt in seiner Arbeit 
,,Die Behandlung der Furunkulose“ (Zschr. 
f. ärztl. Fortbild. 1917, Nr. 2) folgendes: 

„Besonders günstig wirken Kombi¬ 
nationen zweier Mittel, wobei das eine 
mehr als Oberflächen-, das andere mehr 
als Tiefenmittel wirkt, oder wo sich die 
günstigen Wirkungen summieren unter 
Abschwächung ihrer Reizwirkung, z. B. 
Quecksilberkarbol, Jodichthyol.“ Ferner: 
„Die reine Jodtinktur in 2 bis 10%iger 
Lösung ist ein vorzügliches Furunkel- 

Diese Publikation war noch für die Kriegs¬ 
zeit bestimmt, mußte jedoch aus äußeren 
Gründen zurückgestellt und einem späteren Zeit¬ 
punkt Vorbehalten werden. 


mittel und imstande, in dieser sparsamen 
Zeit sämtliche teuren Präparate zu er¬ 
setzen.“ 

Schon im Jahre 1915 habe ich im 
Barackenspital in Feldbach (Steiermark) 
angesichts der erdrückenden Menge von 
infolge von Verschmutzung, Verlausung 
usw. aufgetretenen Dermatosen, mit denen 
die von der Front kommenden Kranken 
behaftet waren, angesichts der endlosen 
Kette von pyodermatischen Prozessen, 
denen mit den hergebrachten Mitteln 
nicht beizukommen war, eine Lösung 
zusammengestellt, welche, als Anstrich 
auf die kranke Haut gebracht, rasch und 
einfach in der Anwendung, mit möglich¬ 
ster Potenzierung der Wirkung, die Auf¬ 
gabe erfüllt: ein bequem zu gebrauchen¬ 
des, rasch trocknendes, externes Appli¬ 
kationsmittel zu sein, welches bactericid, 
resorbierend und antiphlogistisch zu¬ 
gleich ist. 

Da die Pyodermie und Furunkulose 
zum weitaus überwiegenden Teil auf 
Staphylokokkeninfektion beruht, habe ich 
das Mittel Astaphylol genannt. 'Es be¬ 
steht aus Jodtinktur, welcher in einem 
bestimmten Mengenverhältnis Ichthyol, 




Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


487 


flüssiger Teer, Campher und Perubalsam 
zugesetzt ist. Das Resultat dieser Mi¬ 
schung ist ein schwarzbrauner dünn¬ 
flüssiger Lack von angenehmem, aroma¬ 
tischem Gerüche, welcher, auf die Haut 
aufgestrichen, binnen wenigen Minuten 
trocknet und einen firnisartigen Überzug 
bildet. Die bactericide, speziell staphylo¬ 
kokkentötende Eigenschaft des Mittels 
,,AstaphyloT' wurde im Jahre 1916 von 
Dr. med. Brief, Leiter des hygienischen 
Feldlaboratoriums Nr. 7 der 5. Armee in 
Stern thal (Steiermark) bakteriologisch 
geprüft und bestätigt. 

Brief fand bei Staphylococcus pyo¬ 
genes aureus in Reinkultur nach Zusatz 
von „Astaphylol“ Abtötung der Bacillen 
nach fünf Minuten, deutliche Wachstums¬ 
hemmung nach drei Minuten, sodaß die 
bactericide Kraft von „Astaphylol“, ver¬ 
glichen mit einer 1 %o^gen Sublimat¬ 
lösung (nach fünf Minuten noch nicht 
vollständige Abtötung von Staphylokok¬ 
ken) in die Augen springt. 

Aus der weit über 200 Fälle umfassen¬ 
den Versuchsreihe mit ,,Astaphylor‘, wel¬ 
che durchgehends das Verwundeten- und 
Krankenmaterial des Kriegsspitales in 
Sternthal (Süd-Steiermark, heute unter 
jugoslawischer Hoheit) umfaßte, seien 
nur einige wenige, markante Beispiele 
herausgehoben. Wenn ich seit damals, 
also vier bis fünf Jahre, in meinen weite¬ 
ren Beobachtungen stillgestanden bin, so 
liegt das nur an äußeren Gründen, ins¬ 
besondere daran, daß die Verhältnisse 
der Nachkriegszeit eine Herstellung des 
Mittels in der ursprünglichen Zusammen¬ 
setzung nicht erlaubten, was jetzt endlich 
wieder der Fall ist. 

Michael D., 27jähriger Infanterist, kommt am 
10. Dezember von der Isonzofront, wo er durch 
Explosion der eigenen Handgranate am 7. De¬ 
zember eine Verletzung des linken Ellenbogens 
erlitt. 

Stat. praes.: Eiternde, schmierig belegte Ri߬ 
quetschwunde der Haut der linken Ellenbogen¬ 
beuge. Die Ränder der Wunde gerötet und ge¬ 
schwollen, ebenso die Weichteile der nächsten 
Umgebung. Streckung des Gelenkes wegen der 
schmerzhaften Spannung sehr erschwert. Tem¬ 
peratur 38,0. 

Therapie: Reinigung der Wunde mit Wasser¬ 
stoffsuperoxydlösung, Auftragung von „Asta- 
phylol“ auf die Wundränder und zirka zwei 
Finger breit auf die Umgebung der Wunde, ruhig¬ 
stellender, antiphlogistischer Verband. Nach 
24 Stunden bedeutende Abschwellung, Nachlaß 
der Schmerzen und der Sekretion, die phlegmo¬ 
nöse Beschaffenheit der Umgebung geschwunden, 
die Therapie wird fortgesetzt. Patient nach drei 
Tagen mit reiner Wunde, die wenig secerniert, 
ins Hinterland abgeschoben. 

Josef M., 19 Jahre, Infanterist, mit seit zirka 
acht Tagen bestehendem impetiginösem Ekzem 


des Stammes, insbesondere am Rücken, ßegen 
die Kreuzgegend zu zahlreiche confluierende 
Eiterpusteln mit Entzündungshof. Der ganze 
Rücken wird mit „AstaphyloF* angestrichen, 
ebenso die in kleineren Gruppen vorhandenen im- 
petiginösen Stellen der Brust, Achselgegend usw. 
Nach Aufträgen des Mittels promptes Abblassen 
der entzündeten Haut, Nachlassen des Juckens, 
Eintrocknung der Pusteln. Nach drei Tagen 
(10. Dezember 1916) der Rekonvaleszentenabtei¬ 
lung übergeben. 

Johann H., 19 Jahre, Jäger, hat vor drei 
Monaten an der Front ein Panaritium des linken 
Zeigefingers akquiriert, wurde am Hilfsplatz und 
im Feldspital mit Incision und Verbänden be¬ 
handelt. 

Status praes.: Die Eiterung abgelaufen, jedoch 
noch immer starke Schwellung der Weichteile, 
welche livide verfärbt sind, bei Druck schmerzen 
und noch etwas secernieren. Nach Aufträgen von 
„Astaphylol“ rasche Besserung der entzündlichen 
Erscheinungen und Abblassen der Haut, welche 
bald wieder ihr normales, rosiges Aussehen zeigt. 

Franz P., 43 Jahre, Landsturmmann, kommt 
am 10. Juli 1916 von der Isonzofront, wo er am 
6. eine Verletzung durch Granatsplitter am Gesäß 
und am linken Knie erlitt, nachdem er bereits 
einige Tage zuvor an multiplen Hautabscessen 
und furunkulösen Erscheinungen der unteren 
Körperhälfte erkrankt war. 

Stat. praes.: Über der linken Hüfte, gegen die 
Gesäßfalte zu zwei flache, etwa taubeneigroße 
Substanzverluste der Haut mit stark infiltrierter 
Umgebung, am linken Knie mehrfache ähnliche 
Stellen, nur kleiner, hier mehr den Charakter 
des furunkulösen Infiltrates zeigend. Dazwischen 
und auch am anderen Bein eine Unzahl kleiner 
und größerer Hautabscesse von Hanfkorn- bis 
Erbsengröße, also zwischen Impetigopustel und 
kleinerem Furunkel sich bewegend. Es ist schwer 
zu sagen, was an diesen erkrankten Hautstellen 
traumatischen Ursprungs (durch die Granat¬ 
splitterverletzung) und was rein bakteriellen Ur¬ 
sprungs ist, in solchem Maße ist die Vermischung 
beider Kategorien vorhanden. 

Nach Astaphylolanstrich in großea Flächen, 
gesunde Haut inbegriffen, zeigt sich bereits nach 
zwei Tagen ein auffallender Rückgang der Er¬ 
scheinungen, Die Rötung hat stark nachgelassen, 
die follikulären und furunkulösen Infiltrate weisen 
Abschwellung und Eintrocknungstendenz auf, 
Spannungs- und Juckgefühl der Haut geschwun¬ 
den, Patient wird wesentlich gebessert trans¬ 
feriert. 

Stipo K., 29 Jahre, bosnischer Tragtierführer, 
16. Juli 1916 aufgenommen mit der vom Feld¬ 
spital angegebenen Diagnose: Phlegmone der 
Nackengegend. 

Stat. praes.: Ödematös entzündliche Schwel¬ 
lung, starke Rötung des Nackens von der Haar¬ 
grenze bis zum Interscapularraum, in der Mitte 
der Geschwulst eine 3 cm lange Incisionsöffnung, 
aus der sich nach Entfernung eines langen Gaze¬ 
streifens noch reichlich Eiter entleert, ebenso 
fließt dünnflüssiger Eiter aus mehreren fistulösen 
Öffnungen, welche nahe der Operationswunde 
liegen. Temperatur 38,1, abends zuvor Schüttel¬ 
frost und 40,2. 

Diagnose: Phlegmone, Wunderysipel. 

Behandlung der Absceßhöhle nach chirurgi¬ 
schen Grundsätzen, außerdem Astaphylolanstrich 
der ganzen erysipelatös veränderten Hautpartie. 
Nach 24 Stunden bereits Temperatur normal. 





488 


Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1921 


Rötung, Schwellung und Spannung der Haut 
stark zurückgegangen. Patient fühlt sich sehr 
wohl und verlangt spontan nach neuerlicher Ein¬ 
reibung mit dem „schwarzen Mittel“. Am dritten 
Tage Erysipel geheilt. Patient wird bedeutend 
gebessert transferiert. 

Ich glaube, in „AstaphyloT* ein vor¬ 
zügliches, externes Mittel kombiniert zu 


haben, welchem sicherlich eine bedeut¬ 
same Rolle in der dermatologischen Thera¬ 
pie und auch in der kleinen Chirurgie 
beschieden ist. 

Das Mittel wird von der Münchener Phar¬ 
mazeutischen Fabrik (Johann Verfürth) München 
hergestellt. 


Die Behandlung der Ulcera cruris mit Pyoktanin. 

Von Dr. Franz Seiler, Berlin. 


Das Ulcus cruris ist ein in der ärzt¬ 
lichen Praxis wohlbekanntes Leiden, des¬ 
sen Behandlung viel Geduld und Geschick 
erfordert, häufig aber von Kollegen nicht 
sehr geschätzt wird. Und doch kann die 
Behandlung eine äußerst dankbare und 
von schnellem Erfolg gekrönte sein, wenn 
man therapeutisch richtig vorgeht! Ich 
gestatte mir an dieser Stelle eine Art 
der Behandlung anzugeben, die ich von 
einem erfahrenen alten Praktiker gelernt 
habe, der ganz hervorragende Erfolge 
damit erzielt hat. Ich selbst habe etwa 
60 Fälle von • Ulcus cruris nach dieser 
Methode behandelt und alle, oft schon 
nach überraschend kurzer Zeit, zur Hei¬ 
lung bringen können. Es handelte sich 
meistens um schwere chronische Unter¬ 
schenkelgeschwüre auf varicöser Basis mit 
chronischer Stauung, chronischem Ödem, 
Thrombosierung und Entzündung, mit 
Hautveränderungen, wie Schwund des 
Fettpolsters und papierartiger Verdün¬ 
nung. Die Behandlung ist eine ambulante 
und läßt die Patienten unbehindert ihrem 
Berufe nachgehen. Therapeutisch wird 
das Ulcus selbst angegriffen und die Ur¬ 
sache desselben, die Örculationsstörung. 
Man geht wie folgt vor: 

Nach gründlicher Reinigung der Um¬ 
gebung des Ulcus mit Benzin wird die 
ulcerierende Fläche ebenfalls mit einem 
benzingetränkten Mulltupfer gründlich ab¬ 


getupft, nicht gerieben. Hierauf pinselt 
man mit einem kleinen Haarpinsel eine 
10%ige Pyoktaninlösung auf die Wunde 
und deren Rand. Pyoktanin ist ein in 
Wasser und Alkohol gut löslicher Anilin¬ 
farbstoff (Methylviolett) und findet in 
der Pferdepraxis (Mauke) viel Verwen¬ 
dung. Man läßt trocknen und trägt .xun 
dick Zinksalbe auf die mit Pyoktanin 
bepinselte Fläche und die umgebende 
Haut, tut mehrere Schichten glatten 
Mulls darüber und fixiert mit einigen 
Mullbindentouren. Jetzt sucht man die 
Circulati’on zu bessern und bedient sich 
dazu einer gut elastischen Trikotschlauch¬ 
binde, die vom Fuß an, die Zehen frei-, 
lassend, aufwärts unter gleichmäßigem' 
sanften Zuge herauf bis dicht unterhalb 
des Knies geführt wird. Darüber kommt 
eine Stärkebinde. Dieser Verband, an 
den sich die Patienten schnell gewöhten 
und der nicht lästig wird, wenn er gutgep, 
macht ist, bleibt sechs Tage liegen. Die 
Patienten können unbehindert ihrem Beruf 
nachgehen. In wöchentlichen Abständen, 
nur bei starker Sekretion durch den Ver¬ 
band hindurch einen bis zwei Tage früher, 
erfolgt Erneuerung des Verbandes Wie oben. 

Ich empfehle sehr diese Behandlungs¬ 
art, weil ich immer damit Erfolg gehabt 
habe, auch in den Fällen, wo von anderer 
Seite schon alles mögliche erfolglos ver¬ 
sucht worden war. 


Selbstheilung eines perivesikalen Steckschusses 
durch Austreten aus der Harnröhre. 

Von Dr. Pankow, Eberswalde. 


Am 17. März 1917 Verwundung in¬ 
folge Krepierens einer Granatwerfergra¬ 
nate im Lauf zwei Steckschüsse in den 
Hinterbacken. Durch Röntgenstrahlen 
Lage der Sprengstücke dicht vor der 
Blase festgestellt. 

Februar 1920 Schmerzen in der Blase 
und teilweise Urinverhaltung. Nach Hexal 
Besserung. Oktober 1921 das gleiche. 


Ich stelle am 16. Oktober dicht hinter 
der Harnröhrenmündung eine etwa erb¬ 
sengroße, harte Geschwulst fest mit ge¬ 
ringer eitriger Absonderung. Eindruck 
eines harten Schankers. Am 30. Oktober 
wird auf starken Urindrang durch Pressen 
ein 9 mm im Kubus großes, vierkantiges, 
scharfes Eisenstück, mit Salzen bedeckt, 
herausgeschleudert. 


Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. K1 e m p e r e r in Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg 
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berlin W57. 







Inhaltsverzeichnis. 

A. Originalarbeiten. s«te 

Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Georg Klemperer: Hippokratische Medizin . 449 

Aus der I. inneren Abteilung des Kranke^ihauses Moabit in Berlin: 

Dr. Lasar Dünner: Zur Diagnose und Therapie der Perikarditis . . 453 

Dr. Stephan Westmann: Die Therapie des Puerperalfiebers .... 455 

Aus der I. ‘inediz. u. Chirurg. Abteil, d. Städtischen Krankenhauses Moabit in Berlin: 

Dr. Kamnitzer und Dr. Joseph: Zur Phloridzindiagnostik der Früh¬ 
gravidität .459 

Dr. W. Wiegelö: Über die soziale, eugenetische und Notzuchtindikation 

zur Einleitung des künstlichen Abortus.461 

B. Repetitorium der chirurgischen Therapie. 

Geh. Med.-Rat Prof. Dr. M. Borchardt und Dr. Ostrowski, Berlin: 

Die Behandlung der Varicen und ihrer Folgezustände.467 


C. Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen. 

Dr. Julian Marcuse, Ebenhauscn-Münchcn: Therapeutisches vom Karls¬ 
bader Fortbildungskurs.473 

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Inhaltsverzeichnis II. 

D. Referate. (Referat- und Sachregister siehe umstehend) . . . 474 

E. Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Aus dev Inneren Abteilung des Krankenhauses der jüdischen Gemeinde Berlin: 

Dr. Erna Herrmann: Zur Frage der Sanarthritbehandlung chronischer 

Gelenkaffektionen.482 

Aus d. II. Chirurg. Abteil, d. Rudolf-Virchow-Krankenhauses Berlin: 

Dr. Kurt Wohlgemuth: Intravenöse Campherölinjektion.484 

Aus dem Sanatorium Croedel, Bad-Nauheim: 

Dr. Carl Winkler; Eine neue Art der Nitroglycerin-Darreichung . , 484 

Apotheker Stöcker und Dr. A. Mahlo, Hamburg: Esalcopat (Extr. 

Salviae cps.).485 

Dr. Siegfried Lissau, Reichenberg: Über einen Jod-Ichthyolanstrich 

(Astaphylol).486 

Dr. Franz Seiler, Berlin: Die Behandlung der Ulcera cruris mit P^^oktanin 488- 

Dr. Pankow, Eberswalde: Selbstheilung eines pcrivesicalen Steck¬ 
schusses durch Austreten aus der Harnröhre.488 

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Magenpathologie, Bedeutung der Blutdrüsen (Boen- 
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Medizin, hippokratische. S. 449. 

Nephritislehre, Wandlungen in der (Volhard). S. 473. 
Nitroglycerin-Darreichung. S. 484. 

.Novasurol (Nonne'nbnich). S. 478. 

Pankreatitis (Wijnhausen), S. 478. 

Perikarditis, Diagnose und Therapie. S. 453. 
Pho.sphaturie (Birt). S. 479. 

Puerperalfieber-Therapie. , S. 455. 

Röntgen verfahren, Fortschritte (Zumpe). S. 479. 
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wo es sich um sehr empfindliche Haut handelt oder wo infolge von vielen Waschungen die Haut 
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HeiligenbeU, Ostpr. 

I Hohenberg a. d. E. 
j Hohenlehme-Wildan« 

; Kr. Teltow. 

Holzappel i. Th. u. Umg. 
j Hornau, H.-N. 

Idstein, Taunus. 
Immendingen, Ba. 

Johannisberg'Geisenheim. 

Kehdingen, Neuhaus (Oste) u. 
I Hadeln (Kreise.) 

Kirchzell, Ü.-Fr. 

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Lehesten, A. 0.-K.>K. Grafen* 
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Limburg, Lahn. 

Marienberg, Westerw. 
Maschen, O.-Schl. 
Mindelheim, Schwaben. 
Mnlheim/Ruhr. 

Oderberg i. d. Mark. 

Pfaffenhausen, Schwaben. 
Pressig-Rothenkirch. 

Quint b. Trier. 

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Schmitten/T. 

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Schwene, Ruhr. 

Selb, Bayern. 

Sohland, Spree. 

Stade, Kreis. 

Steinbach, Baden (Amt Bühl). 
Strüth, Hessen-Nassau. 

Bad Sulza. 

Turkheim, Schwaben. 

Volkingen/Saar. 

Weißensee b. Berlin. 
Welzheim. 

Westerburg. 

Witzhelden, Krs. Solingen. 
York (Kreis) 


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vorübergehender und dauernder pathologischer Blutdrucksteigerung und ihren ursächlichen 
Begleiterscheinungen: bei vasomotorischen Störungen infolge von Überanstrengungen 
und Aufregungen, bei „Gefäßkrisen“, bei der „genuinen Hypertonie“, bei der „klimak¬ 
terischen Hypertonie“, bei Arteriolosklerose, Arteriosklerose und Schrumpfniere. 

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menstrualis, Asthmaanfällen sowie bei Angina pectoris, bei Magen-Nieren- 
Blasenkrämpfen und anderen Krampfzuständen. 

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katarrh, Arteriosclerose, Lues, Struma, Überbein. 

b) Distorsionen, Sehnenscheidenentzündung, Drüsenanschwellung und Entzündung, Knochen¬ 
haut- und Gelenkentzündung, Panaritium. 

c) Parasitäre (pflanzl. Parasiten) Hautkrankheiten, juckende Affektionen, Frostbeulen. 

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neuralgische Wirkung der Salicylsäure, durch die Wirkung des Jod auf die Lymphgefäße 
unterstützt, zur vollsten Entfaltung. Mit Rücksicht auf den außerordentlich hohen Gehalt an 
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Therapie der Gegenwart. Anzeigen. 


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ferner bei plötzlicher Herzschwäche, Asphyxie, OhnmachtsanfälJe^ besondere Wirkung bei komplizierten 
GrippefäUen mit schwerer Lungenentzündung, — Gut bewähit hat sich Asthmolysin bei schweren Blutungen 
^asen-, Uterus-, Lungen- und Magenblutungen) und in der zahnärztlichen Praxis bei kleineren operativen 
Eingriffen, bei denen mit stärkeren parenchymatösen Blutungen zu rechnen ist. 

Anu/PfflHlltlff« Asthmolysin subkutan. 
i\llWCIlUUllg. Asthmolysin zum Zerstäuben. 

Vgl. Dtsch. raed. Wochenschr. 1912 Nr. 38. — Dtsch. med. Wochenschr. 1915 Nr. 48, 1916 Nr. 43. — Das Rote Kreuz 
1915 Nr. 7. — Therap. der Gegenw. 1913, Juli u. 1921 JulL Dtsche. zahnärztl. Wochenschr, 1919 Nr, 4 . 
Literatur auf Wunsch zur Verfügung. 

Dr. KADE.. BERLIN SO 26 . 













The,räpie der Gegenwart.. Anzeigen. 


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Therapie der Gegenwart. Anzeigen. 


• 1921 


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12. Heft 


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zervikal. Leukorrhoe; Verdauungsstörungen. Ernährungsstörungen (Vitamine).. 
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Preiserhöhung fum Ausgleich für Geldentwertung Vorbehalten. 

Das voriie^nde Buch soll allen nichtärztlichen Kreiseny die irgendwie mit der medi' 
zinischen Wissenschaft zu tan haben, in erster Linie dem Personal der Krankenpfiegey 
ein brauchbares Hilfsmittel zum Verständnis der allerwichtigsten Fachausdrädu sein. 
Wenn der Verfasser dabei auch selbstverständlich seine, unter seinem früheren 
Namen Gattmann erschienene „Medizinische Terminologie*^ benutzt hat, so ist trotz¬ 
dem das Taschenwörterbuch kein bloßer Auszug aus dieser, sondern eine dem ver¬ 
änderten Zweck angepaßte selbständige Neubearbeitung des Stoff’es. 


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3. In Fällen, in denen eine Contraindikation gegen Salvarsan besteht. (Z. B.: Nichtkompensieiie 
Herzleiden, starke Arteriosklerose, gewisse Nephritiden und Leberleiden, vorgeschrittene Lungen^ 
phthise und Syphilis bei allen kachekiischen Individuen). 

4. Auch bei Patienten, die unter schlechten Ernährungsverhältnissen gegen Salvarsan in höheren 
Dosen empfindlich sind: 

5. Als Vorbereitung zur Hauptkur resp. einleitend in Verbindung mit der Schmierkur. 

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wirkungtn des Jods und stellt sich im Verbrauch billiger als Jodkali. 

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12. Heft 



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dehnte, eitrige und Jauchige Flächen, Verbrennungen, 
venerische Erkrankungen, Ekzeme und Dermatlden 

Literatur: Med. KMntk 1017, Nr. 21 — Berl. klin. Wochenschr. 1917, Nr. 44 u. B2 
Th. d.Q. 1917, Heft 8 

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Therapfe der Gegenwart. Anzeigen. 


1921 


12^ i Heft 



27 







Tiiepapie der Gegenwart.* Anzeigen. 


12. Heft 


> 3 - 


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Gonorrhoe, septischen Erkrankungen wie Endokarditis lenta, 
puerperaler Sepsis, akutem Gelenkrheumatismus, 
grippaler Streptokokkenpneumonie, in der Therapie maligner 
Geschwülste. 

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Dlafor ist leichter löslich als die Acetylsalicylsäure. 
Olator besitzt sedative Eigenschaften. 

Literatur : Pr.of. Dr. Hübner, Bonn. Psych.-Neuro- 
log. Wochenschr. XVI.Jahrgang, Nr. 17 (25. Juli 1914). 


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12. Heft 


Therapie der Gegenwart. Anzeigen. 


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heilkunde, 3. neubearbeitete Auflage, 2. band Berlin 1921. 
Tulius Springer. 79 Textfiguren, 2 Tafeln, 1634 Seiten. 
Brosch. 116,—M. geb. 121,—M. 

Bacmeister, Therapeutisches Taschenbuch der Lungen¬ 
krankheiten. Berlin 1920, Fischers medizinische Buch- 
' handlung, 5 Abbildungen, 152 Seiten. 15,—M. 

Bickel, Wie studiert man Medizin? 3. Auflage. Stuttgart 
1921, Wilhelm VioleL 140 Seiten. 12.—M. 

Bier, Braun und Kümmel, Chirurgie, Operationslehre. ' 
5 Bände. Leipzig IP-U Joh. Ambr. Barth. 1000.— M. 
Blencke, Orthopädie des praktischen Arztes. 7. Band. 
Berlin 1921, Julius Springer. lOl Abbildungen, 289 Seiten. 
36,— M. 

Bockenheimer, Die neue Chirurgie. Berlin 1921, Karl 
Siegismund. 158 Seiten. Brosch. 10,—geb. 13,—M. 

Bro m an, Grundriß derEntwicklungsgeschichte desMenschen. 

1. und 2. Auflage, München und Wiesbaden 1921, J. F. 
Bergmann. 208 Abbildungen, 3Tafeln. 354 Seiten, 80,— M. 
Dietrich, Einführung in die physikalische Chemie. Berlin 
1^21, Julius Springer. 6 Abbildungen. 106 Seiten. 20,—M. 

E r k e s und P r i b r a m, Compendium der speziellen Chirurgie 
Berlin 1921, S. Karger. 118 Abbildungen, 422 Seiten. 
32,— M., geb. 36,—. 


Euler, Chemie der Enzyme. 1. Teil. München und Wiesbaden 
1920, J. F. Bergmann. 306 Seiten. 56,— M. 

Feer, Diagnostik der Kinderkrankheiten. Berlin 1921, JuUu.s 
Springer. 225 Abbildungen, 275 Seiten. 40,—M. 

Fein, Die Anginöse. Berlin und Wien 1921, Urban&Schwarzen- 
berg. 76 Seiten. 10, M. 

Fischer, Tuberkulose und soziale Umwelt Karlsruhe 1921, 
Müllersche Hofbuchhandlung. 30Tafeln,20Seiten. 7,2ÖM, 
Francke und Bachfeldt, Die Meldepflicht der Berufs¬ 
krankheiten. Berlin 1921, Julius Springer. 49 Seiten. 
10,-M. 

Freund, 3 Abhandlungen zur Sexualtheorie. Leipzig und 
Wien 1920, Franz Deuticke. 104 Seiten. 12,— M. 

Frey, Der künstliche Pn eumothorax. Leipzig und Wien 1921, 
Franz Deutike. 208 Seiten. 12,— M. 

Frieboes, Grundriß der Histopathologie der Hautkrank¬ 
heiten. Leipzig 1920, F. C.W. Vogel. 208 Seiten. Brosch. 
80,- M., geb. W,— M. 

Fröhlich. Grundzüge einer Lehre vom Licht-und Farben¬ 
sinn. Jena 1921, Gustav Fischer. 20 Abbildungen, 2 TaMn. 
86 Seiten. 15,— M. 

Gocht, Die Orthopädie in der Krieg.s-und Unfallheilkunde. 
Stuttgart 1921,Ferd.Enke, 176Textabbildungen. 376Seitsen- 
Brosch. 62,— M., peb. 76 ^— M. 


Bücherbesprectiungen. 


Richter, Geburtshilfliches Vademekum. 2., 
neubearbeiiete Auflage mit 19 Abbildungen im 
Text und einer Doppeltafel, 386 Seiten. Leipzig, 
F. C. W. Vogel. 

In verhältnismäßig kurzer Zeit konnte dieser 
treffliche geburtshilfliche Führer in einer zweiten 
Auflage erscheinen, die in Anbetracht des Geg?n- 
Standes keine wesentlichen Veränderungen auf¬ 
weist. Jedem Praktiker sei dieses Buch empföhlen, 
das für die sch .gierigste Situation vernünftigen 
Rät erteilt; durch die eigenartige Behandlung des 
Stoffes — Frage und Antwort — wird der Leser 
gezwungen, sich in jedem Falle mit den Einzel¬ 
heiten vertraut zu machen. — Druck und Aus¬ 
stattung sind gut, die Abbildungen nstruktiv. 

Pulvermacher (Charlottenburg). 

N. Hofmeier, Handbuch der Frauenkrank¬ 
heiten. 16. Auflage, mit 297 Abbildungen im 
Text und 10 Tafeln, 816 Seiten. Leipzig 1920. 
Verlag von F. C. W. Vogel. 

Dieses Buch, dessen Wert als ein Unterrichts¬ 
buch für die Studierenden, sowie als ein Ratgeber 
für den Frauenarzt nicht mehr hervorgehoben 
werden muß, erscheint in einer neuen Auflage, 
die wegen der Zeitverhältnisse keine wesentlichen 
Änderungen zeigt. In dem Kapitel über die 
Strahlenbehandlung sind die bis jetzt erzielten 
Resultate berücksichtigt. Durch den klaren Stil, 
die guten Abbildungen und die-für den Praktiker 


bestimmte Angabe der Literatur wird dieses Buch 
sich immer mehr Anhänger erwerben. 

Pulvermacher (Charlottenburg), 

M. Mosse (Berlin), Pathologie und Therapie 
des hämolytischen Ikterus. Sammlung 
zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete 
der Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten. 
Band VII, Heft 3. Carl Marhold, Halle a, S. 
1921. Preis 5,80 M. 

Der hämolytische Ikterus ist ein erst in den 
letzten Jahren bekannt gewordenes Krankheitsbild, 
das sich in weiteren ärztlichen Kreisen noch keiner 
rechten Popularität erfreut. Daher sind Fehl- 
diag osen recht häufi?. Es ist daher außerordent¬ 
lich dankenswert, daß Mosse es unternommen 
hat, in einer kurzen und doch inhaltreichen kleinen 
Monographie den gegenwärtigen Stand unserer 
Kenntnisse über dieses keineswegs so sehr seltene 
Leiden zu schildern. Sowohl die theoretischen 
Grundlagen der Lehre vom hämolytischen Ikterus 
wie die Klinik und Therapie werden eingehend 
und klar besprochen. Ein Literaturverzeichnis ent¬ 
hält alle diejenigen über das Thema erschienenen 
Arbeiten, die in den größeren monographischen 
Werken über diese Krankheit nicht angeführt 
worden sind, /vöce diese den Bedürfnissen des 
Praktikers angepaßte Abhandlung weiteste Ver¬ 
breitung in ärztlichen Kreisen finden! 

H. Hirschfeld (Berlin), 



Infantina 


für Säuglinge zur Ernährung in gesunden u. kranke® 
Tagen. Seit über 26 Jahren als 

diätetisches Therapeutikum 

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angewandt als Vorbeugungsmittel gegen Unterepnährung, Slcrofulose und Rachitis. 

reich an den in Milch und Malz enthaltenen, nach den neuesten 
Forschungen äußerst wichtigen „accessorischen Nahrnngssteffen*^ 

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1894 














Therapie der Gegenwart:. Anzeigen. 


1.2.' Heft 



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P.T. Herren Ärzte, stets ausdrücklich SlfrupilS COlQC COlIip. zu verordnen, 

auf den allein sich die zahlreichen klinischen Berichte beziehen. 

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Therapie der Gegenwart. Anzeigen. 


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Therapie der Gegenwart. Anzeigen. 


12. Heft 



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12 : Hefi 


Therapie der Gegenwart. Anzeigen. 


1921 


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letzten Jahrzehnte nur auf Grund- 

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2. JuU 1921, Seite 931 ff., Medizinische Klinik 1921, 
Nr. 32, Seite 870. 


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Nieren- und Gallenleiden bewährt l 


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Münch. Med. Woch. 1920 S. 1439, u. a. Zusdiriften hervorragender Fachmänner 

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12. Heft 





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Dr. H. Nanning, China-Werke, Den Haag, Holland 



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12. Heft 


Iherapie der Gegenwart. Anzeigen 


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wirkt durch das Übergewicht an Kationen. 

Sehr bewährt besonders bei: Äußeren Ver¬ 
letzungen (wie Schnitt-, Riß-, Biß- und 
Quetschwunden), Frostbeulen, Brandwunden 
I. und II. Grades, Ekzemen, Decubitus, 
Ulcus cruris, Impetigo, Erysipel, Dermato¬ 
mykosen, durch verchiedene aetiologische 
Momente hervorgerufenen Erythemen. 


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Chlor u.nascierender Sauerstoff. 

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zu reizen und ästhetisch unangenehm zu 
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Wirkungen von Chlor und Sauerstoff mit der 
keimtötenden Kraft eines Alkaloids vereinigt. 
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blutstillend. 


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Therapie der Gegenwart. Anzeigen. 


12. Heft 


läl 99 


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Wegen der herzroborierenden, expectorierenden und Appetit anregenden Wirkung U 
■gn indiciert bei Lungentuberkulose, Emphysem, Asthma nervosum, Bronchitis, 

■ chronic., Influenza, Anämie, Scrophulose und Herzschwächezuständen. H 

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12 . Heft 


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39 






















Tit.erapie der Oegenwärt/ Anzeigen. > 


12. Heft 


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12.' Heft 


Heil^nsialicri, Bäder und Kurorte* 



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A O O Q A WALDSANATORIUM 

^ ^ A ^ Heilanstalt für Lungenkrankheiten 

und chirurgische Tuberkulose 

Hniiiiiiiiiiiiiiiiiuiiuiiiiiiiiiiiiiiiiiuiiiiifiiiiiiiiniiiiuiiiiiiiiuiiiiiiiiii Geheimer Sanitätsrat Dr.Römisch 

__ 1830 m a. M., Proipekt D, Arzt Dr. HARTMAini 

flrSßle Hygie.« | I Modernster Komfort | 


im Tannenwald. Erstrangige Verpflegung 





















HcäamtaUen, Bidet und Kurorte. 


12. Heft 


Ahrweiler, Rheinland. 


Heilanstalt für Nerven- und Gemütskranke; Entziehungs¬ 
kuren. Erstklassige Bade-, elektrotherapeutische und 
medikomechanische Einrichtungen. Beschäftigungsttierapie. 
Liegehallen und Ruhegelegenheiten in 450 Morgen großem 
Parke und Wald. 

Geheimer Sanitätsrat Dr. von Bkrenwall, leitender Arzt. 


des \ 


Bad Blankenburg (ThüriDoer Wa 


Schwarzeck, 

Waldsanatorium für innere und Nervenkranke. 
Gute Verpflegung. Ganzjährig. Ausführliche 
ftospekte kostenlos. 

San.-Rat Dr. Wiedeburg, San.-Rat Dr. Poensgen, 
Dr. Länderer, Dr. Weiß-Reval. 

Ebcrswaldc« 

Kuranstalt Dr. Seele. 


Bad Blankenburg (Thirinpr Wald). 


Dr. med. Karl Scbulzes Sanatorium 
am Goldberg 

für Nerven-, Stoffwechsel-, innerlich Kranke und Erholungs¬ 
bedürftige. Physik.-diätet. Heilverfahren. Psychotherapie. 
Höchstzahl 50 Kranke. Das ganze Jahr geöffnet. 

Leitender Arzt: Dr. WIttkugel. 


Kurhaus St. Blasien 


800 m ü. d. M. im Schwarzwald 
für Kranke und Erholungsbedürftige unter Ausschluß 
infektiös Erkrankter. Ganzjahresbetneb. 

Leitender Arzt: Prof.Dr.Determann. 

Sanatorium Luisenheim 


für innere und Nervenkranke. — Ganzjahresbetrieb. 

Leitender Arzt: Prof.Dr.Edens, 
ln beiden Häusern: Einrichtung für die gesamte physik.- 
diätetische Therapie, Röntgeninstitut, Diathermie usw. 

Sanatorlnm Bfihlerhöhe 

800 m ü. d. M. bei Baden-Baden 
für Nerven- und innerlich Kranke. 

Leitender Arzt: Dr. M. van Oordt. 

Kurhaus Bfihlcrhdhc 

Für Kranke und Erholungsbedürftige. 

Leitender Arzt: Dr. Gerb. Stroomann. 
In beiden Häusern: Einrichtung für die ges. phys.-diätet. 
Therapie, Röntgeninstitut, Diathermie usw. Ganzjährig. 


Bad Elster, SoBiif n-ltehlheiislätle 


für 4- bis 16 jährige Kinder. 
Windgeschützte Südlage 600ni. 

Nach Art der Anstalten in Lcysin (Schweiz). 
Chirurg. Tuberkul. (Knochen-, Gelenk-. Drüsenleid.),. 
Orthopädie, Schwache, Nervöse, Lungengefährdete.' 

Geh. San.-Rat. Dr. K ö H L E R. 


Bad Elster. 


Geh. San.-Rat Dr.Köhlers Sanotorium 

Das Sanatorium bleibt megen baulicher uerbu- 
deruugeo nouember bis Februar geschlosseu. 


Hervenheilonstolt * Görlitz 

Offene Kuranstalt Erholungsbedürftige, 

Alkoholisten, Morphinisten u. a. 


Ärztliches Pädagogium Kranke, 

Psychopathen, Debile, Imbecille u. a. 

Geschlossene Anstalt für Geisteskranke. 

Besitzer und Leiter; 

San.-Rat Dr. Kahlbaum. 



KURHAUS BAD TEINACH 

im würftembergischen Scbwarzwald. 

Klinisch eingerichtete Anstalt für innere, insbesondere Herzkrankheiten. 
Geöffnet vom 15. Mörz bis 15. Oktober. 


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Röntgen- u. SolfeniSalvanomeier-Laborotorlum f. spez. Herzdlaanostik. Chemisches Lohoraforiuin 

Anfragen an Sanatorium Bad Teinach. — Telephonruf Nr. 24. 

E. Bossl\£krd, Besitzer. Dr. med. K. Falioreidtamp, leit. Arzt 


! Rönf 

vi: 


42 















12. Heft 


Hcüanstähcn, Bäder und Kurorte. 


1921 


"^leT\)2LTvdes Ae\x\sc\veT äTxWVcW 

Höchenschwand (Kurhaus) 

Tharandt bei Dresden. ^ 

1015 m über Meereshöhe oberhalb St Blasien. 
Deutschlands höchstgelegene Kuranstalt. 
Jahres betrieb. Innere und Nervenkranke. 

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Geh.San.-RatDr.Haupt. Dr.H.Haupt. 1 

Sanatorium für Nerven-, innere, Stoffwechsel- Äh 
kranke und Erholungsbedürftige. Familien- ö 
anschluß. Sommer und Winterkuren. 

Lindenfels, Enrlians nnd Sanatorixun 

Urach (Württemberg). i 

zwischen Darmstadt-Heidelberg, 400 m. 

Tn idealer Waldgegend gelegen, für 
Nervöse und chron. Kranke, 2 Klassen. 

Dr. Löhrs und San.-Rat Dr. Schmitt. 

Sai].-Rat Dr. Kläpfels Sanatorium Hochberg || 

für Nervenkranke, innere ICranke und Er- IDi 

holungsbedürftige. Das ganze Jahr geöffnet. jDj 

Leit.Arzt : Dr.Klüpfel. Inh. ; Frau S.-R. Klupfel,Wwe. O 

Neuenahr. 

Sanatorium Dr. Ernst Rosenberg. 

Magen, Darm, Stoffwechsel. Alle Ernäh¬ 
rungskuren. Das ganze Jahr geöffnet. 

Ciiireise unbeKirkdert- 

Woltorf (Braunschweig). | 

PrivatheUanstalt für Nerven- und Gemütskranke. Fernspr. Ifj 
Amt Peine 288. Schöne ruhige Lage in waldreicher O 
Umgebung. Großer Park. Elektrische Beleuchtung, Zentral- W 
heizung. Getrennte Abteilungen. Aufnahme von Pensionären. 

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Haus Rockenau bei Eberbaeli, Baden. 

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Telegramm-Adr.: Sanatorium Eberbach Baden. 

ErscliOpIimgszastäode» Nervenkranke. 

Entziehungskuren. 

Ausführliche Prospekte. 

Dr. Fürer. 

Sanatorium Waldfrieden. 

Spezialanstalt für ® 

Nervenkranke, Erholungsbedürftige» itl 
Entziebongskuren. Nervenarzt Dr. Jirzik. 


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Kraft der Leukozyten, stört nicht die Bildung von 
agglutinierenden Antikörpern. Oberstabsarzt Dr. 
Dietrich,Kaiser-Wilhelm-lnst.f.exp.Therapie, Dahlem. 
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V. bakterizider Kraftu.dergewebereizendenAnregung 
zur Granulation (Zellaktivierung): Prof. Sonntag, Chir. 
Univ.-Klin., Leipzig, Dr.Finger,Chir.Univ.-IClin.,Berlin. 
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Yatren-Casein stark: 21 / 2 % Yatren -}- 5% Casein. 

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Klinik, Berlin, — bei Amöbendysenterie und Dickdarm¬ 
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chiffs- und Tropenkrankheiten, Hamburg. 


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43 


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1921 


Heilanstalten, Bdüer und Kurorte. 


12.. Heft 


NATÜRLICHES 




SPRÜDELSALZ 

mm 


istdas allein echte Karlsbader 

[ Vor Nachahmungen und Fälschungen wird gewarrrf. 



für ärztliche Kreise, also Kurorte, Heilanstalten, 
Fabriken chemisch, und pharmazeut. Präparate 
und Instrumente, verbreitet man vorteilhaft 
durch die „Therapie der Gegenwart**. 


S£^ii£ktoriiim Dr. Bui:iiiLem£um:i 

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für Nervenleidende und Erholung sbedörffige 



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= Beutschhind, vir sch 1. aller Zusrliläcje. | 

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Leitender Arzt: Dr. H. Philippi 



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Kurmittelhaus das ganze Jahr geöffnet. 


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44 































Th^Vapie-’der’ Gegenwart:" Anzeigen. 


12. Heft 


Cadccfiof' (Pcvicliot 


Sngcfhcim 

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crsePieinungen des föergens, 
6ei T?reis(auJstörungen nsw. 


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C. ß. tDoehvins^v Söhn 

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Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg 
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Max Stadthagen, Berlin W57