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Full text of "Troja bei Homer und in der wirklichkeit [microform]"

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MA S TER 
NEGA  TIVE 

NO.  93-81601 


MICROFILMED  1993 
COLUMBIA  UNIVERSITY  LIBRARIES/NEW  YORK 


as  part  of  the 
"Foundations  of  Western  Civilization  Preservation  Project" 


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AUTHOR: 


HEINRICH,  ALFRED 


TITLE: 


TROJA  BEI  HOMER  UND  IN 
DER  WIRKLICHKEIT 

PLACE: 

GRAZ 

DA  TE: 

1895 


COLUMBIA  UNIVERSITY  LIBRARIES 
PRESERVATION  DEPARTMENT 


Master  Negative  # 


BIBUOGRAPHIC  MICROFORM  TARGET 


Original  Material  as  Filmed  -  Existing  Bibliographie  Record 

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|ZP     Heinrich,  Alfred, 
^•^     ••«Troja  bei  Homer  und  in  lier  Wirklichkeit,  von- 
Professor  Alfred  HoinriGh..*  Graz,  im  vorläge  des 
K.  K.  Ersten  ntaats-^ynnaf^iums,  1805 # 
47  p«   illujj.  ?.5};   cm* 

At  head  of  title:  JahreGbericht  des  K.   K»    Irrsten 
Staats- f;yinnasiums  in  Graz..,  189 5« 

142470 

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Jahresbericht 


des 


k.  k.  ersten  Staats-Gymnasiums 


in  Graz. 


Veröffentlicht 


am  Schlüsse  des  Studien -Jahres 


1895 


vom 


Director  Dr.  Arthur  Steinwenter. 


Inhalt : 

1.  Troja  bei  Homer  und  in  der  Wirklichkeit.  Von  Professor  Alfred  Heinrich. 

2.  Schulnachrichten  vom  Director. 


1 


aRAZ. 

Im  Verlage  des  k.  k.  ersten  Staats-Oymnasiams. 


Troja  bei  Homer  und  in  der  Wirklichkeit/ 


~^tA\ 


Es  hat  eine  Zeit  gegeben,  wo  man  sagte,  es  habe  keinen  Sinn,  nach  dem 
Troja  Homers  zu  suchen.  Man  fürchtete  dadurch  den  Wert  der  Dichtung  herab- 
zusetzen, oder  man  hielt  die  Stadt  des  Priaraos  ebenso  für  ein  Phantasiegebilde 
als  die  Insel  des  Phäakenkönigs  in  der  Odyssee.  Die  einen  mochten  sich  sagen, 
unsere  Theilnahme  hat  der  Held,  der  für  seine  Stadt  kämpft,  und  fällt  und  sein 
furchtbarer,  unversöhnhcher  Gegner,  aber  was  ist  uns  Troja?  Seine  Mauern  und 
Zinnen,  seine  Thürme  und  Thore  kümmern  uns  nicht;  und  ob  der  Fluss,  an 
dessen  Ufern  der  Kampf  tobt,  Skamandros  heißt  oder  sonstwie,  ist  für  den  Leser 
ziemlich  gleichgiltig.  Die  andern  konnten  sich  vorhalten,  dass  die  Phantasie  ihre 
eigenen  Gesetze  hat,  denen,  wie  Goethe  sagt,  der  Verstand  nicht  beikommen  kann. 
Wenn  es  in  den  Gedichten  physische  Unmöglichkeiten  gibt,  wenn  märchenhafte 
Züge  darin  enthalten  sind,  so  kann  auch  der  Schauplatz  der  Handlung  vom 
Dichter  frei  erfunden  sein.  Man  hatte  aber  in  beiden  Fällen  unrecht.  Es  ist 
ja  richtig,  dass  die  Äußerlichkeiten  nicht  den  dichterischen  Wert  ausmachen, 
dass  uns  nicht  der  Thurm  am  Skäischen  Thore  rührt,  sondern  die  Mutter,  die 
von  ihm  aus  ihren  Sohn  und  seinen  tragischen  Untergang  sieht.  Aber  die  Scenerie 
ist  doch  etwas  Nothwendiges,  die  Natur  bildet  zu  Thaten,  Kämpfen  und  Leiden 
die  Umgebung,  und  da  die  ebensowenig  fehlen  darf,  als  man  ein  Gebäude  in 
die  Luft  bauen  kann,  so  dürfen  wir  auch  erwarten,  dass  der  Dichter  ihr  ein 
gewisses  Interesse  entgegenbringt.  Dieses  muss  so  weit  gehen,  dass  er  eine  be- 
stimmte Vorstellung  von  dem  Baume  hat,  auf  dem  er  seine  Personen  handeln 
lässt.  Ist  diese  Vorstellung  so  unklar,  dass  sie  der  Leser  in  seinem  Geiste  nicht 
nachschaffen  kann,  so  wirkt  diese  Erkenntnis  nicht  gerade  erhebend,  sondern 
wird  je  öfter  sie  sich  aufdrängt  desto  störender  und  lässt  den  Dichter  in  unserer 
Schätzung  sinken.  Dabei  bleibt  es  freilich  für  die  dichterische  Wirkung  gleich- 
giltig,  ob  der  Dichter  den  Ort  der  Handlung  erfunden  und  frei  aus  seiner  Phantasie 
erschaffen  oder  aber  einen  wirklichen  Ort  mit  seinen  Gestalten  bevölkert  hat.  Wenn 
man  aber  bedenkt,  dass  neben  manchem  mythischen  Motiv  in  allen  Volksepen 
historischer  Gehalt  steckt,  der  an  einer  bestimmten  Gegend,  au  einer  bestimmten 


SL  k.  Uniyenitäts-Bachdraokerei  ,StyTia*  in  Gras. 


*  Der  Gegenstand  ist  seit  Schliemanns  Ausgrabungen  öfter  behandelt  worden. 
AbschlieBende  Fund-Ergebnisse  haben  aber  erst  die  Grabungen  des  Jahres  1894  gebracht, 
denen  ich  ein  paar  Tage  beizuwohnen  das  Glück  hatte. 


Stätte  haftet,  dann  wird  man  wenig  geneigt  sein,  in  Troja  nur  das  Phantasiegebilde 
eines  Dichters  zu  erblicken.  Auch  die  natürliche  Entwicklung  der  Poesie  spricht 
dagegen.  Der  volle  und  ganze  Beiz  liegt  nicht  im  Erdichteten.  Der  Wirklichkeit 
poetische  Gestalt  zu  geben,  sie  künstlerisch  anschaulich  auszusprechen,  war  von  je 
das  Ziel  der  großen  Dichter;  dies  gilt  vom  Ort  nicht  minder  als  von  der  Handlung. 
Wer  das  Gegentheil  macht  und  das  Erfundene,  „das  Imaginative",  wie  Merk  bei 
Goethe  sagt,  also  eine  bloße  Allgemeinheit  zu  verwirklichen  sucht,  der  wird  selten 
den  Erdgeruch  und  die  Localfarbe  der  lebenswahren  Wirklichkeit  in  seine  Schöpfung 
bringen.    Homer  ist  kein  phantasti5;cher  Dichter.    Selten  genug  verlässt  er  in  der 
Ilias  den  Boden  der  Wirklichkeit,   um   aus  dem  Reich  der  Phantasie   seine  Ge- 
bilde zu  holen.  Es  ist  überhaupt  nicht  hellenische  Art,  phantastisch  zu  sein,  und 
erst  eine  spätere,   weniger  naive  Poesie  konnte  daran   denken,  Unmöglichkeiten 
dichterisch  zu  verwerten.   Und  jede  nähere  Prüfung  der  homerischen  Dichtungen 
zeigt  uns,  wie  Homer  vor  allem  individuelle  Erscheinungen  des  Lebens  liebt;   in 
ihnen  spiegelt  sich  ihm  das  Leben  der  Welt.  Seine  ganze  köstliche  Phantasie  ist 
mit  sinnlicher  Weltauffassung  getränkt  und  durchsättigt.    Mit  welcher  Lust  zählt 
er  Einzelheiten  auf,   welche  Freude  macht   ihm  die  Schilderung  von  wirkliehen 
Dingen!   Die  durch  Schliemanns  Ausgrabungen  veranlasste  neue  Betrachtung  und 
Behandlung  der  Alterthümer  hat  durch  die  Vertiefung  in  die  reale  Welt  Homers 
das  Verständnis  des  Dichters  überraschend  gefördert.   Dies  beweist  das  bekannte 
Buch  von  Heibig  (Das  homerische  Epos  aus  den  Denkmälern  erläutert,   zweite 
Auflage,  Leipzig  1877).    Aber  die  Funde  und  Studien  der  jüngsten  Jahre  haben 
die  Angaben  Helbigs  in  vielen  Punkten  richtiggestellt  und  ergänzt    Wir  werden 
später  Gelegenheit  haben,  Beispiele  solcher  Art  anzuführen.  Es  sei  hier  nur  auf 
eine  nicht  großartige,   aber  doch  interessante  Entdeckung  der   letzten  Zeit  hin- 
gewiesen.   Am  Ende   des  vierten  Gesanges   der  Odyssee   reist  Telemachos  von 
Pylos  zu  Wagen  den  ersten  Tag  bis  Pherä  in  Messenien  und  den  nächsten  Tag 
nach  Sparta.  Man  hat  eine  Wagenfahrt  über  den  Tajgetos,  über  den  auch  heute 
nur  Saumpfade  führen,  für  unmöglich  erklärt,^   aber  im  vorigen  Jahre  ist  das 
Vorhandensein  einer  antiken  Fahrstraße  über  den  Tajgetos  nachgewiesen  worden. 
Im  Süden  der  Langada-Schlucht  hat  man  an  drei  Stellen  unverkennbare,  künstlich 
eingeschnittene,  antike  Wagenspuren  entdeckt. a  Die  Angabe  der  Dichtung  ist  so- 
mit hinlänglich  begründet. 

In  Zusammenhang  mit  der  Frage,  ob  Troja  nach  der  Natur  geschildert  ist, 
steht  auch  die  Frage,  ob  die  Schilderung  Ithakas  in  der  Odyssee  auf  der  Wirk- 
lichkeit  beruht.  R.  Hercher  hat  dem  schönen  Eiland  einen  eintägigen  Besuch 
abgestattet,  ohne  den  wichtigen  nördlichen  Theil  der  Insel  kennen  zu  lernen.» 


«  Bursian,  Geographie  von  Griechenland,  II,  S.  104  f.;   vgl.  auch  Ameis  zu 
der  Stelle. 

»E.Pernice,  Aus  Messenien,  Mittheüungen  des  archäologischen  Institutes  in 
Athen,  1894,  S.  36ö  ff. 

»  Homer  und  das  Ithaka  der  WirHichkeit,  Hermes,  II,  263  (Homer.  Aufsätze. 
Berlin  1881,  S.  1  ff.).  ^  ' 


Er  hat  auf  Grund  dieser  wenig  gründlichen  Anschauung  in  einem  Aufsatz,  der 
viel  Beifall  gefunden  hat,  die  Annahme  von  der  Autopsie  Homers  zurückgewiesen.* 
Nach  eingehender  Untersuchung  und  längerem  Aufenthalt  auf  der  Insel  hat 
J.  Partsch  in  einem  schönen  Aufsatz  dargethan,  dass  die  Vorstellungen,  die  wir 
in  der  Odyssee  von  der  Insel  gewinnen,  mit  der  Wirklichkeit  sich  trefflich  ver- 
einen lassen.^  Es  ist  kein  Zufall  mehr,  wenn  die  Einzeldinge,  die  der  Dichter 
nennt,  sich  ungezwungen  auf  Ithaka  wiederfinden. ^  Freilich  darf  man  die  Burg 
des  Odjsseus  nicht,  wie  Hercher  und  Schlieraann,  auf  dem  380  m  hohen  Berge 
Actos  (auf  der  schmälsten  Stelle  des  Eilandes),  sondern  im  Norden  der  Insel 
bei  der  Bucht  von  Polis  suchen. 

Demnach  haben  wir  wohl  das  Recht,  auch  nach  dem  Troja  Homers  zu 
suchen,  und  der  unbefangene  Sinn  der  Alten  hat  kein  Bedenken  gehabt,  das 
Gleiche  zu  thun,  und  der  Perserkönig  Xerxes,  Alexander  der  Große,  der  lake- 
dämonische Admiral  Mindaros  und  andere  haben  die  zu  ihrer  Zeit  Ilion  genannte 
Stadt  der  troischen  Landschaft  in  dem  frommen  Glauben  besucht,  auf  der  von 
Homer  besungeneu  Stätte  zu  stehen.*  Es  war  die  allgemeine  Ansicht  des  Alter- 
thums,  dass  die  spätere,  historische  Stadt  Ilion  auf  dem  heute  Hissarlik  genannten 
Hügel  an  derselben  Stelle  erbaut  ist,  wie  das  von  Homer  besungene  Troja.«* 

»  Auch  O.  Seeck,  Die  Quellen  der  Odyssee,  S.  281,  behauptet,  nichts  weise  darauf 
hin,  dass  der  Dichter  jemals  den  Boden  der  Insel  betreten  habe. 

^  Kephallenia  und  Ithaka,  Ergänzungsheft  Nr.  98  zu  Petermanns  Mitthei- 
lungen,  1890. 

»Auch  E.  Seilliere,  üne  excursion  4  Ithaque,  Paris  1892,  hat,  weniger  ein- 
gehend, aber  auch  ansprechend,  in  gleichem  Sinne  geschrieben.  Sieh  besonders  über 
die  Lage  der  Stadt  des  Odysseus,  S.  43,  und  über  das  Gehöfte  des  Eumaeos  auf  der 
Höhe  mit  herrlicher  Aussicht  ;r£f;i5X£;rTw  evi  ytopw  ^  6,  S.  56  ff. 

*  Die  Stellen  gesammelt  in  Schliemanns  Ilios,  S.  193  ff. 

^  Erst  um  330  v.  Chr.  sagt  der  Redner  Lykurgos  (in  Leocratem,  §62),  dass 
Troja  nach  der  Zerstörung  unbewohnt  geblieben  ist,  und  um  190  v.  Chr.  wollte  der 
gelehrte  Demetrius  von  Skepsis  den  damaligen  Bewohnern  von  Ilion  ihren  Anspruch, 
auf  der  durch  Homer  geadelten  Stätte  zu  wohnen,  nicht  gönnen.  Er  behauptete,  das  alte 
Troja  habe  weiter  landeinwärts  beim  sogenannten  Dorfe  der  liier  gelegen.  (Sieh  darüber 
Schliemann,  Ilios,  S.  200ff.;  Mahaffy,  The  site  and  antiquity  of  the  hellenic  lüon, 
Journal  of  HeUenic  studies,  S.  69  ff.;  Schuchhardt,  Schliemanns  Ausgrabungen,  zweite 
Auflage,  S.  33  ff.).  Jebb  schließt  aus  den  auf  Demetrius  zurückgehenden  Nachrichten  bei 
Strabo,  dass  das  gesammte  verständige  Alterthum  die  Ansprüche  der  Bewohner  von 
Ilion  verwarf  (Journal  of  Hellenic  studies,  S.  203,  und  An  introduction  to  the  Iliad,  dritte 
Auflage,  S.  100),  aber  mit  Unrecht.  Die  beiden  Gründe  des  Demetrius  sind  als  unrichtig 
nachgewiesen,  und  gegen  Demetrius  hat  man  mit  voUem  Recht  die  Autorität  des  viel 
älteren  Logographen  Hellanikos  von  Mitylene  (Mahaffy,  S.  74)  angeführt,  der  das  spätere 
nion  an  derselben  Stelle  ansetzt  wie  das  homerische  (daher  folgert  Sittl,  Parerga,  1893, 
S.  19  f.,  aus  dem  Fragment  des  Hellanikos  im  Genfer  Scholion  zu  «1»  444  mit  Unrecht, 
dass  Hellanikos  Troja  nicht  auf  Hissarlik  angesetzt  habe).  Und  wenn  man  dem  Hellanikos 
Unzuverlässigkeit  zuschreibt,  so  dürfen  wir  die  Verlässlichkeit  des  Demetrius  auch 
nicht  zu  hoch  anschlagen,  der  z.  B.  die  Stadt  Arne  (Schiffskatalog  B.,  507)  vom  Kopaissee 
verschlungen  sein  lässt,  während  sie  im  vorigen  Jahre  in  den  Ruinen  von  Gla  entdeckt 
worden  ist. 


6 


Erster  Abschnitt. 
Dto  Troas  und  die  Ansiedlungen  auf  Hissarlik. 

Das  Thal  des  Mendere,  in  dem  die  meisten  den  antiken  Si^amander  erkennen, 
öffnet  sich  gegen  den  Hellespont  (Straße  der  Dardanellen)  gerade  gegenüber  der 
Spitze  des  thrakischen  Ohersones  (Halbinsel  von  Oallipoli).  Sieh  das  Kärtchen  im 
Text.  Vom  Meeresstrande  behält  das  Thal  etwa  vier  Stunden  weit  aufwärts  eine 


Breite  von  mehr  als  einer  Stunde.  Weiter  im  Süden  windet  sich  der  vom  höchsten 
Gipfel  des  Ida,  vom  Gargaros  (1670  m)  kommende  Fluss  nach  einem  Laufe  von 
etwa  30  km  für  ein  paar  Stunden  durch  eine  enge  Felsschlucht  und  tritt  in  der 
Nähe  des  türkischen  Dorfes  Bunarbaschi  hinaus  in  die  troische  Ebene.  Manches 
Floß  führt  hier,  wo  Felsen  den  Fluss  in  engeren  Schranken  halten,  das  Holz  aus 
dem  Gebirge  zu  Thal,  wie  schon  zu  Homers  Zeiten  das  Holz  von  den  Abhängen 
des  Ida  (auf  Maulthieren)  geholt  werden  musste  (11,  XXHI 117).  Der  Hnke  ßand 


des  untersten  Skaraanderthales,  welches  hier  allein  in  Betracht  kommt,  wird 
durch  eine  schmale,  recht  niedere  Hügelkette  gebildet,  die  mit  ihrer  anderen  Seite 
steil  gegen  das  ägäische  Meer  abfällt.  Sie  endigt  im  Cap  Sigeion,  von  dem  sieh 
nach  Norden  eine  Sandzunge  vorschiebt,  auf  deren  Spitze  die  türkische  Festung 
Kum  Kaie  (Sandschloss)  erbaut  ist.  Der  rechte  Thalrand  wird  dagegen  von  einem 
breiten,  öfter  durchschnittenen,  im  allgemeinen  40—50  m  hohen  Hügelgelände 
gebildet,  welches  am  Hellespont  in  das  Oap  Rhoiteion  ausläuft.  Kurz  vorher  wird 
es  durch  ein  von  Osten  kommendes  Seitenthal  des  Mendere,  das  Thal  des  Dum- 
brek  Su,  den  man  mit  dem  antiken  Simoeis  identificiert,  unterbrochen.  In  der 
guten  Jahreszeit  erreicht  das  Flüsschen  den  Mendere  nicht,  sondern  bleibt  in 
Sümpfen  stecken.  Die  südliche  Ecke  zwischen  den  beiden  Thälern  bildet  der 
Hügel  von  Hissarlik,  der  durch  einen  niederen,  im  Laufe  vieler  Jahrhunderte 
durch  Bauschutt  erhöhten  Sattel  mit  dem  dahinteriiegenden  Gelände  verbunden 
ist.  Hier  stand  in  historischer  Zeit  die  Stadt  Ilion,  die  auf  den  Karten  mitunter 
fälschlich  Novum  Ilium  genannt  wird  Die  westliche  Hügelkette  des  Skamander- 
thales  ist  so  niedrig,  dass  man  vom  Bord  des  Dampfschiffes  aus,  gleich  nachdem 
es  zwischen  der  Insel  Tenedos  und  dem  Festland  von  Kleinasien  durchgefahren 
ist,  die  Schutthalden  der  Schliemann'schen  Ausgrabungen  auf  dem  Hügel  von 
Hissarlik  erblickt.  Könnte  man  hier  landen,  so  erreichte  man  in  etwas  mehr  als 
einer  Stunde  die  Trüramerstätte  von  Ilion.  Statt  dessen  müssen  wir  unsere  Un- 
geduld zähmen  und  Tpwtov  ':r6>.tv  etcopowvTE;  in  den  Hellespont  einfahren,  denn  erst 
in  der  Nähe  des  alten  Abydos,  in  der  Dardanellen-Station  Tschanak  Kalessi  hält 
der  Dampfer  an.  Um  Hissarlik  zu  erreichen,  muss  man  von  den  Dardanellen 
sechs  Stunden  nach  Südwesten  zurückreiten,  anfangs  den  Hellespont  entlang, 
später  über  das  niedere,  mit  zahlreichen  Knopperneichen  bestandene  Hügelland, 
über  welches  man  zuletzt  in  das  Thal  des  Simoeis  und  durch  dieses  in  schöner 
Flusslandschaft  nach  dem  Hügel  von  Hissarlik  gelangt.  Der  natürliche  Fels,  der 
diese  Höhe  bildet,  erhebt  sich  nur  I8V2  '"^  über  die  Ebenen  des  Simoeis  und  des 
Skam ander,  aber  durch  den  tiefen  Bauschutt,  den  hier  Jahrtausende  aufgehäuft 
haben,  ist  seine  Höhe  bis  über  30  m  gestiegen.  Nach  Norden,  gegen  die  saftigen 
Simoeiswiesen,  fallt  er  ziemlich  steil,  nach  Westen  in  das  Thal  des  Skaraander 
mit  sanfterem  Hange  ab.  Hissarlik,  zu  deutsch  Kleine  Festung,  ist  kein  Ort, 
sondern  der  Name  des  Hügels,  den  ihm  die  Türken  wegen  seiner  Lage  und 
wegen  der  alten  Mauerreste,  die  er  trug,  gegeben  haben.  Wenige  Schritte  südlich 
von  Hissarlik,  aber  doch  noch  auf  der  Höhe  des  Hügelzuges,  stehen  jetzt  sechs 
oder  sieben  von  Schliemann  vor  Jahren  erbaute  Holzhütten,  die  man  in  Erinnerung 
an  den  großen  Entdecker  Schlieraannopolis  zu  nenn»»n  pflegt.  Steht  man  auf  His- 
sarhk,  so  sieht  man  im  Norden  die  Landzunge  des  thrakischen  Ohersones  und 
den  Eingang  in  den  „stark  strömenden''  Hellespont,  wie  ihn  Homer  bezeichnend 
nennt,  so  deutlich,  dass  man  die  aus-  und  einlaufenden  Dampfer  unterscheiden 
kann.  Im  Nordwesten  nimmt  den  Blick  das  mächtige  Gebirge  der  Insel  Imbros 
gefangen,  hinter  dem  der  1600  m  hohe  Saoke  von  Samothrake  emporragt.  Diese 
beiden  Eilande  sind  es,  die  das  weitere  Landschaftsbild  von  Troja  beherrschen, 


/ 


o 

und  bei  Sonnenuntergaog  heben  sich  die  umrisse  dieser  übereinandergethürmten 
dunkelblauen  Berge  auf  das  schärfste  von  dem  glühenden  Both  des  Nordwest- 
himmels ab.  Gegen  dieses  BiJd  verschwindet  die  Erscheinung  des  im  Südosten 
blauenden  Ida,  der  trotz  seiner  1670  m  bei  dem  allmählichen  Ansteigen  des  Ge- 
ländes und  der  immerhin  weiten  Entfernung  nur  einen  mäßigen  Eindruck  macht. 
Wenn  Poseidon  auf  der  Höhe  des  samothrakischen  Gebirges  sich  befand,  konnte 
er  fast  noch  besser  als  Zeus  vom  Gipfel  des  Ida  das  Schlachtfeld  von  Troja  über- 
schauen. Die  wiederholte  Beziehung  auf  Imbros  und  Samothrake*  (bei  Homer 
„die  thrakische  Samos«)  und  auf  die  weiter  südlich  liegende  Insel  Tenedos,  die 
ebenfalls  sichtbar  ist,  zeigt  uns,  dass  der  Dichter  das  Landschaftsbild  der  Troas 
aus  eigener  Anschauung  kannte.  Noch  weiter  westlich  zeigt  sich  Lemnos  und 
bei  reinem  Wetter  morgens  und  besonders  gegen  Abend  der  spitze  Kegel  des 
Athos,  den  auch  schon  Homer  (II.,  XIV  229)  erwähnt. 

Beschäftigen  wir  uns  jetzt  mit  den  hydrographischen  Verhältnissen,«  die  ja 
für  die  Frage,  ob  der  Dichter  nach  der  Natur  schildert,  besonders  wichtig  sein 
müssen,  so  fallt  zuerst  die  Thatsache  auf,  dass  der  Skamander,  wohl  über  eine 
halbe  Stunde  von  Hissarhk  entfernt,  mehr  am  westlichen  Thalrand  hinfließt ;  bald 
bemerken  wir  aber,  nur  wenige  Minuten  von  Hissarlik  entfernt,  ein  altes  Flussbett 
des  Skamander.   Es  zieht  sich  22  km  lang  an  der  östlichen  Thalwand  hin  und 
mündet  nach  einer  Unterbrechung   beim  Dorfe  Kum  Köi  hart  an  der  östlichen 
Hügelkette  neben  dem  rechts  davon  stehenden  sogenannten  Grabhügel  des  Aias, 
der  etwas  südlieh  vom  Gap  ßhoiteion  sich  erhebt  und  von  den  Türken  In  Tepe 
genannt  wird.   Davon   heißt  dieser  todte  Arm,   der  vom  Meer  her  mit  Wasser 
gefüllt  ist.   In  Tepe  Asmak,  während   der  südliche  längere  Theil   den   Namen 
Kalifatli  Asmak,  nach  dem  Dorfe  Kalifatli,  führt.  Dieser  südliche  alte  Flusslauf, 
dessen  Bett  dem  Skaraanderbett  an  Breite  durchaus  nicht  nachsteht,  ist  im  Sommer 
mit  einer  Reihe  unzusammenhängender  Pfützen  erfüllt,  aber  in  der  Zeit  der  Regen- 
güsse  wird  auch  er  vom  Skamander  bewässert.  Bei  dem  Dorfe  Kum  Köi  (Sand- 
dorf) biegt  freilich  der  Kalifatli  Asmak  nach  Westen  ab  und  verzweigt  sich  dann 
mehrfach,   aber  man  darf  annehmen,  dass  der  alte  Skamanderlauf  sich  in  dem 
In  Tepe  Asmak  fortgesetzt  hat.  Denn  nach  den  in  Betracht  kommenden  Stellen 
der  Ilias  liegt  das  Schiffslager  der  Griechen  am  linken  Ufer  des  Skamander. 
Pnamos  z.  B.  fahrt  im  vierundzwanzigsten  Gesang  der  lüas,  um  die  Leiche  Rektors 
2u  holen,  von  Troja  aus,  überschreitet  den  Skamander  an  der  mehrmals  erwähnten 
Furt  und  kommt  dann  zum  Lager  der  Griechen.«  Wenn  die  Vermuthung  Schlie- 
manns,*  dass  der  Kalifatli  Asmak  und  weiter  der  In  Tepe  Asmak  das  Bett  des  alten 

'  A  38;  A  652;  ^  12,  S3, 171, 197;  S  281;  0»  43;  Q  78. 

«  Darüber  bes.  Virchow,  Beiträge  zur  Landeskunde  der  Troas  (Abhandlungen  der 
Berhner  Akademie,  1879).  * 

"  Beloch,  Griechisclie  Geschichte,  I,  Straßburg  1893,  S.  143,  Anm.  3,  behauptet 
mit  Unrecht,  dass  schon  die  Ilias  den  heutigen  Flusslauf  voraussetzt.  Er  erklärt  Q  692 
gezwungen,  A  498  ff.  und  4»  1-11,  unrichtig  (izt^m^  meint  die  Sim.  Ebene)  und  über-' 
aeht  S  483  f.  und  n  395  ff.  ^ 

*  IHos,  S.  97. 


Skamander  darstellen,  richtig  ist  —  und  es  scheint  nichts  dagegen  zu  sprechen  — , 
so  ist  die  Thatsache,  dass  dieses  alte  Flussbett  bis  zur  Mündung  ins  Meer  sich 
verfolgen  lässt,  von  hervorragender  Wichtigkeit.  Wir  lernen  daraus,  dass  die 
Küstenlinie  des  Hellespont  sich  im  Laufe  der  Zeit  nicht  vorgeschoben  hat*  und 
dass  somit  die  Entfernung  Hissarliks  vom  Meere  heute  die  gleiche  ist,  wie  zur 
Zeit  des  trojanischen  Krieges ;  sie  beträgt  in  gerader  Linie  beiläufig  4V2  km,  und 
das  gleiche  Ausmaß  gibt  im  zweiten  Jahrhundert  v.  Chr.  der  Geograph  Skylax 
mit  25  Stadien  =  4^l^km  an.* 

Der  Skamander  führt,  II.,  V  36,  das  Epitheton  yiwsi?,  welches  verschieden 
erklärt  wird.  Wer  seine  steilen,  durch  ünterwaschungen  abgebrochenen  Ufer 
gesehen  hat,  wird  nicht  daran  zweifeln,  dass  damit  eben  diese  für  den  Ska- 
mander charakteristische  üferbildung  bezeichnet  werden  soll.  Wir  wissen  ja  auch 
aus  11.,  XXI 171,  175,  200,  dass  die  Ufer  des  Flusses  steil  und  hoch  waren.  Neben 
dem  Skamander,  der  selbst  kein  bedeutender  Pluss  ist  (im  Juni  etwa  6  m  breit 
und  Vs  bis  Vs  ^  tief),  verschwindet  fast  der  im  Sommer  versumpfende  Simoeis. 
flerchers  behauptet,  dass  in  der  Ilias  nirgends  ausgesprochen  sei,  dass  der  Simoeis 
kleiner  als  der  Skamander  gewesen.  Da  anderseits  in  der  Ilias  an  vielen  Stellen 
vom  Flusse  schlechthin  die  Rede  sei,  so  müsse  man  schließen,  dass  der  Simoeis 
überhaupt  keine  Berechtigung  habe  und  erst  von  einem  Nachdichter  in  die  troische 
Ebene  eingeführt  sei,  der  von  den  wirklichen  Gewässern  derselben  nichts  gewusst 
habe.  Dieser  Bemerkung  ist  kein  großes  Gewicht  beizulegen.  Die  Einführung  des 
Simoeis  beruht  vielmehr  auf  lebendiger  Anschauung  der  hydrographischen  Ver- 
hältnisse des  Landes,  wie  W.  ßoßmann*  in  schöner  Weise  gezeigt  hat.  Im  Beginn 
des  einundzwanzigsten  Gesanges  drängt  Achilles  eine  Schar  Troer  in  den  Ska- 
mander, springt  ihnen  nach  und  beginnt  im  Flusse  entsetzlich  zu  morden.  Da 
schwillt  der  wüthende  Skamander  an  und  bedrängt  den  Helden  mit  seinen  Fluten. 
Achilles  glaubt  vergehen  zu  müssen,  doch  Poseidon  und  Athene  leihen  ihm  Trost 
und  Kraft.  Aber  der  Skamander  lässt  nicht  nach  und  ruft,  V  308,  laut  zum  Simoeis: 

„Bruder,  wohlan!  die  Gewalt  des  Mannes  da  müssen  wir  beid'  itzt 

Bändigen,  oder  sofort  des  herrschenden  Priamos  Feste 

Wirft  er  in  Staub;   denn  die  Troer  bestehen  ihn  nicht  im  Getümmel! 

Auf  denn,  und  hilf  in  Eil',  und  erfülle  den  Strom  mit  Gewässern 

Rings  aus  den  Quellen  der  Berg',  und  ermuntere  jeglichen  Gießbach! 

Hoch  nun  erhebe  die  Flut,  und  rolle  mit  donnernder  Woge 

Block'  und  Steine  daher,  dass  den  schrecklichen  Mann  wir  bezähmen, 

Welcher  die  Schlacht  durchherrscht  und  gleich  den  Unsterblichen  schaltet! 

Nicht  soll,  mein'  ich,  die  Kraft  ihn  vertheidigen  oder  die  Bildung, 

Noch  die  prangenden  Waffen:  die  sollen  mir  tief  in  dem  Sumpfe 

*  Virchow,  Landeskunde,  S,  124  ff.,  beweist  auch  aus  anderen  Gründen,  dass  ein 
Anwachsen  der  Ebene  gegen  den  Hellespont  zu  nicht  stattgefunden  hat.  Die  starke 
Strömung  trägt  aUe  Ablagerungen  fort. 

'  §  9ö  ("IXtov)  ajce'xet  bk  aicb  t^5  «•aXarnis  (jraSta  xe'. 

»  Über  die  hom.  Ebene  von  Troja,  Abhandlungen  der  preußischen  Akademie,  1876, 
S.  101  (Hom.  Aufsätze,  S.  26  ff.). 

*  Über  Schliemanns  Troja,  Deutsche  Rundschau,  1876,  S.  256  ff. 


1 


10 

Liegen  von  häufigem  Schlamme  bedeckt,  und  ihn  selber  umwälz'  ich 
Kings  mit  Sand,  in  den  Schwall  von  Muscheln  und  Kies  ihn  verschüttend, 
Hoch,  dass  selbst  sein  Gebein  nicht  aufzusammeln  vermögen 
Argos*  Söhn'  im  unendlichen  Wust,  den  ich  über  ihn  ausgoss !" 

„Dieses  Bild",  sagt  Roßmann,  „wäre  unmöglich,  wenn  der  Simoeis  ein  ganz 
selbständiger  Fluss  wäre.  Außerordentlich  treffend  aber  ist  es  für  das  Verhältnis, 
dass  der  Simoeis  für  gewöhnlich  in  seinem  Laufe  träge  ermüdet,  in  Sümpfen 
stecken  bleibt  und  nur  zuweilen  im  Affecte  des  Hochwassers  den  Skamander  er- 
reicht." Der  großartigen  Scene  liegt  also  ein  ebenso  großartiger  Vorgang  in  der 
Natur  zugrunde,  und  wenn  später  der  Skamander  durch  Feuer  gebändigt  wird, 
so  dürfte  auch  hier  ein  wirklicher  Brand  zugrunde  liegen.  Wenigstens  pflegen 
die  Landleute  in  der  Troas,  um  Ackergrund  zu  gewinnen,  die  Binsen,  das  Schilf- 
rohr und  das  Tamariskengestrupp,  das  die  Ufer  des  Flusses  begleitet,  mitunter 
anzuzünden,  indem  sie  dadurch  zugleich  roden  und  düngen. ^  Die  Sage  hat  hier 
wie  in  so  vielen  Fällen  unmittelbar  an  wirkliche  Vorgänge  angeknüpft.  Ein  anderes 
Beispiel  bietet  IL,  XX  57,  wo  Poseidon  das  Land  weithin  erschüttert,  die  Gebirge 
und  den  quellen  reichen  Ida  und  der  Troer  Stadt  und  das  Schiffslager  der  Achaier. 
Auch  das  ist  der  Natur  entnommen,  denn  die  Troas  ist  ein  hervorragend  vul- 
canisches  Land.*  Aber  auch  die  Flora  und  Fauna  der  troischen  Ebene  stimmt 
im  wesentlichen  mit  den  Angaben  Homers  überein.'  Kurz,  die  Ilias  enthält  eine 
Menge  charakteristischer  Züge  der  Landschaft,  Züge,  die  nur  jemand  geben  kann, 
der  sie  mit  eigenen  Augen  gesehen.  Dem  gegenüber  will  es  wenig  bedeuten, 
wenn  wir  einzelne  Dinge  wie  den  Hügel  Eallikolone  (XX  53),  nicht  mit  Sicherheit 
bestimmen  können.  Solche  Dinge  wie  Hügel,  Grotten,  Quellen  hat  der  Dichter 
nach  Bedürfnis  angenommen,  und  man  wird  die  warme  und  die  kalte  Quelle  vor 
Troja  ebensowenig  suchen  dürfen  als  die  Nymphengrotte  auf  Ithaka.  Übrigens 
fehlt  es  nicht  an  Quellen,  die  aus  dem  Hügel  von  Hissarlik  entspringen,  und  auch 
die  Schwellung  der  Ebene  (X  160)  kann  man,  wenn  man  will,  bei  Eum  Eöi 
finden.*  Es  sei  noch  erwähnt,  dass  in  der  Troas  mehrere  Grabhügel  sich  be- 
finden, von  denen  der  sogenannte  Tumulus  des  Achilles  nach  Schliemanns  Unter- 
suchung'' etwa  aus  dem  neunten  Jahrhundert  v.  Chr.  stammt.  Ihn  kennt  schon 
die  Odyssee,  XXIV  80—84. 

Bisher  haben  wir  stillschweigend  angenommen,  dass  das  homerische  Troja 
auf  dem  Hügel  von  Hissarhk  gestanden.  Wir  müssen  uns  nun  etwas  mit  der 
Meinung  derjenigen  beschäftigen,  die  zwar  annehmen,  dass  der  Schilderung 
Homers  die  Wirklichkeit  zugrunde  liege,  die  aber  die  Stadt  nicht  auf  Hissarhk 
suchen,  sondern  weiter  südlich  auf  dem  144  m  hohen  Bali  Dagh  bei  Bunarbaschi. 

>  Boßmann  a.  a.  0.,  S.  271. 

«  Virchow  a.  a.  O.,  S.  10  f. 

»  Schliemann,  Bios,  S.  129  ff.  Statt  der  Rinderherden  durchziehen  jetzt  Büffel 
das  Land.  In  ungeheuren  Mengen  sind  die  Störche  vorhanden,  opvia-wv  ;:eTer,v(ov  ed^ea  «oXXa. 
Homer  hat  sie  wohl  unter  den  y^pavot  mit  verstanden  (Ilios,  S.  132). 

*  Schuchhardt,  Schliemanns  Ausgrabungen,  zweite  Auflage,  S.  41  f. 

*  Troja,  S.  271  C 


I 


II 


Diese  Ansicht  ist  zuerst  von  Lechevalier  aufgestellt  worden,  der  in  den  Jahren 
1785  und  1786  die  troische  Ebene  bereiste.^  Obwohl  nahezu  alles  dagegen  spricht, 
namentlich  die  Höhe  des  Hügels,  zu  dessen  Ersteigung  man  fast  eine  halbe 
Stunde  braucht,  und  die  Entfernung  vom  Hellespont,  die  mehr  als  vier  Stunden 
beträgt,  so  ist  diese  sonderbare  Behauptung  seither  doch  nie  völlig  verstummt, 
sondern,  wie  es  mit  so  curiosen  Dingen  schon  geht,  stets  aufs  neue  mit  den 
schlechtesten  und  lächerlichsten  Gründen  vertheidigt  worden.  Nach  den  Aus- 
grabungen Schliemanns  und  Dörpfelds  soUte  man  eigentlich  die  Sache  für  ab- 
gethan  halten.  Schon  das  hohe  Alter  der  durch  Schliemann  auf  Hissarlik  auf- 
gedeckten Ansiedlungen  lässt  sich  mit  den  unbedeutenden  Resten  des  verhältnis- 
mäßig jungen  Mauerwerkes  auf  dem  Bali  Dagh  gar  nicht  vergleichen.  Trotzdem 
hat  die  Bunarbaschi -Theorie  auch  in  der  allerjUngsten  Zeit  ihre  Vertreter  ge- 
funden.^ 

Wir  brauchen  uns  mit  dieser  jetzt  nicht  mehr  ernst  zu  nehmenden  Ansicht 
hier  nicht  weiter  zu  beschäftigen.  In  früheren  Jahren  war  sie  begreiflich,  und 
so  hat  auch  Moltke,  vom  strategischen  Standpunkt  der  Gegenwart  urtheilend, 
sich  Troja  auf  dem  Bali  Dagh  gedacht,  aber  mit  dem,  was  wir  heute  wissen, 
ist  diese  Ansieht  nicht  mehr  vereinbar.  Wir  müssen  Troja,  wie  später  gezeigt 
werden  wird,  auf  einer  sehr  mäßigen  Anhöhe,  nicht  allzuweit  vom  Meer  entfernt 
suchen.  Auf  dem  Bau  Dagh  kann  es  ebensowenig  gestanden  haben,  als  die  Burg 
des  Odysseus  auf  dem  Actos.* 

»  Schliemann,  Ilios,  S.  210  ff. 

»  Sitti,  Parerga,  1893,  S.  19  ff.  —  G.  Nikolai  des,  wpi  to5  xaO-*  "Ontiipov  'IXK  'E^v 
(XEp\5  apyatoX.  1894,  S.  69  —100.  Auch  Nikolaides'  Gründe  sind  völlig  unzureichend.  Er 
stützt  sich  wieder  auf  die  Quellen  bei  Bunarbaschi  und  auf  den  Feigenbaum.  Er  meint 
(S.  74),  dass  Homer,  \  148,  sagen  wolle,  dass  die  als  warm  bezeichnete  Quelle  nur  im 
Winter  warm  sei  und  dampfe,  eine  ganz  verkehrte  Auffassung,  denn  jede  gute  Quelle 
hat  ganz  natürlich  bei  großer  Winterkälte  diese  Eigenschaft ;  beide  (Gruppen  von)  Quellen 
aber  haben  so  ziemlich  gleiche  Temperatur.  Ebensowenig  Wert  hat  die  Berufung  auf 
den  Feigenbaum,  denn  an  vielen  wasserhaltigen  Punkten  der  Ebene  wächst  der  schon 
durch  seinen  Duft  sich  verrathende  wilde  Feigenbaum.  Ein  sicherer  Beweis  für  die  Lage 
Trojas  auf  dem  Bali  Dagh  soll  die  bekannte  Darstellung  der  belagerten  Stadt  auf  dem 
Bruchstück  des  silbernen  Gefäßes  aus  dem  vierten  Schachtgrab  auf  der  Akropolis  von 
Mykenä  sein.  (Das  vierte  Grab  stammt  als  ältestes  jedenfalls  aus  einer  vor  dem  troja- 
nischen Krieg  liegenden  Zeit.)  Die  Stadt  ist  nach  Nikolaides  Troja.  Auf  dem  Thurm 
stehen  die  weiblichen  Verwandten  Hektors,  Hekabe,  die  mit  der  Rechten  sich  das  Haar 
ausreißt  und  den  Schleier  wegwirft  (nach  X  405  f ),  Andromache  und  andere,  welche 
schauen,  wie  Hektor  von  Achilles  verfolgt  und  getödtet  wird  —  diese  Darstellimg  ist 
eben  weggebrochen.  In  den  Bogenschützen,  die  unter  der  Mauer  knien,  sieht  Nikolaides 
nicht  Vertheidiger  der  Stadt,  sondern  Griechen,  denen  Achilles  zuwinkt  (X  205  f ),  nicht 
auf  Hektor  zu  schießen.  In  den  runden  und  länglichen  Zeichen  unter  den  Füßen  der 
Kämpfer  erkennt  er  die  zwei  Quellen  (!),  und  da  die  Stadtmauer  sich  auf  ansteigendem 
Terrain  erhebt,  so  glaubt  er  den  Beweis  erbracht  zu  haben,  dass  schon  dieser  uralte 
Künstler  Troja  auf  einer  bedeutenden  Anhöhe  gelegen  sein  lässt. 

»  Die  Lage  auf  dem  Bali  Dagh  mag  etwa  für  Dardania  passen  (V  216).  W.  C.La  wton, 
Notes  on  Bunarbaschi  and  other  sites  in  the  Troad  (Papers  of  the  Archaeol.  Inst,  of 
America,  1879,  S.  161  f.). 


12 

Glücklicher  als  auf  Ithaka  hat  Schlieraann  im  Jahre  1871  auf  Hissarlik 
den  ersten  Spateustich  gethan.  Die  Arbeiten,  die  in  zwanzig  Jahren  sechsmal 
unterbrochen  und  immer  wieder  aufgenommen  worden  sind,  haben,  wie  es  bei 
Ausgrabungen  so  häufig  geht,  Unerwartetes  zutage  gefördert.  Schliemann  hat 
im  Laufe  der  Jahre  sieben  Schichten  menschlicher  Ansiedlungen  an  dieser  Stätte 
übereinander  entdeckt.  Freilich,  bei  den  letzten  Grabungen,  die  er  1890  im  Ver- 
eine mit  W.  Dörpfeld  vornahm,  zeigte  es  sich,  dass  man  mit  sieben  Schichten 
nicht  ausreiche  und  dass  man  neun  Ansiedlungen  zählen  müsse.  Die  älteste  An- 
siedlung  ist  unbedeutend ;  sie  stammt  aus  einer  Zeit,  deren  Oultur  sich  mit  der 
Kupferzeit  in  Europa  yergleichen  lässt;  aber  in  der  darüberliegenden  Schicht, 
der  zweiten  von  unten  gezählt,  glaubte  Schliemann  die  Burg  des  Prlamos  er- 
kennen zu  müssen.  Sie  hatte  die  bedeutendste  Mauer  —  abgesehen  von  den 
späteren  griechischen  und  römischen  Bauten.  Sie  allein  konnte  das  homerische 
Troja  sein.  Alle  Gebäude  dieser  Stadt  waren  durch  eine  furchtbare  Feuersbrunst, 
die  das  Holz  verkohlt  und  den  Lehm  zu  Schlacken  gebrannt  hatte,  zugrunde 
gegangen.  Im  Jahre  1890  wurde  festgestellt,  dass  sich  drei  Bauperioden  dieser 
Ansiedlung  unterscheiden  lassen,^  die  durch  Neubauten  und  Erweiterungen  zu 
erklären  sind.  So  fand  sich  ein  dreifacher  Mauerring:  die  jüngere  Mauer  liegt 
im  allgemeinen  jedesmal  weiter  nach  außen  als  die  ältere  und  umsehließt  somit 
den  Burghügel  in  immer  weiterem  Umfang.  An  der  Südwest-Seite  stehen  die 
Mauern,  besonders  die  jüngste,  die  aus  kleinen  Steinen  mit  starker  Böschung 
angelegt  ist,  noch  mehrere  Meter  hoch  aufrecht,  den  Abhang  des  Hügels  um- 
fangend. Auf  dieser  Steinmauer  erhob  sich  eine  Mauer  aus  Lehmziegeln,  von 
der  noch  Beste  erhalten  sind.  Im  Innern  deckte  Schliemann  die  Spuren  einiger 
Gebäude  auf,  deren  Fundamente  aus  Stein  bestehen,  während  die  Wände  aus 
Lehmziegeln  aufgemauert  waren.*  In  einem  Gebäude  in  der  Nähe  des  Westthores 
fand  Schliemann  schon  1873  einen  Schatz  vom  Gold-  und  Silbergeräth,  den  er 
anfangs  für  den  Schatz  des  Priamos  ansah  und  der  heute  im  Museum  für  Völker- 
kunde in  Berlin  zur  Schau  gestellt  ist.  Später  sind  in  derselben  Schicht  noch 
neun  kleinere  Schätze  aus  Edelmetall  entdeckt  worden. 

Über  der  zweiten  Besiedlungsschicht  liegen  die  Reste  ärmlicher  Nieder- 
lassungen, die  sich  als  dritte,  vierte  und  fünfte  Schicht  unterscheiden  lassen,  und 
über  der  fünften  Schicht  endlich  die  Ruinen  des  historisch-griechischen  und  des 
römischen  Ilion.  Als  Schliemann  1890  durch  die  Angriffe  des  Hauptmannes  a.  D. 
£.  Boetticher'  sieh  veranlasst  sah,  mit  Unterstützung  Dörpfelds  die  Arbeiten  in 

1  Schliemann,  Bericht  über  die  Ausgrabungen  in  Troja  im  Jahre  1890,  S.  41. 

*  Diese  Anlagen  stimmen  ziemlich  mit  den  später  gefundenen  Gebäuden  auf  den 
Burgen  von  Tiryns  und  Mykenä,  doch  hatten  sie  quadratische  Vorhallen,  während  die 
der  Königshäuser  in  Tiryns  und  Mykenä  rechteckige  Gestalt  haben.  Zwei  mächtige 
Thore  finden  sich  in  dem  Südost  über  Süd  nach  West  laufenden  Mauerstück.  Thürme 
haben  die  beiden  älteren  Mauerlinien,  die  jüngste  hat  nur  an  der  Südost-Seite,  wo  das 
Steinfundament  nur  1  m  hoch  ist,  Thürme. 

*  Der  Schliemann  einer  Fälschung  von  Ausgrabungs-Ergebnissen  beschuldigt  hatte 
imd  behauptete,  Hissarlik  sei  nichts  weiter  als  eine  Feuemekropole. 


r 


IS 

Troja  fortzusetzen,  wurden  über  der  fünften  Schicht  von  unten  die  Spuren  einer 
bisher  übersehenen  Schicht  gefunden,   die  sich  zunächst  durch  die  eigenthüm- 
lichen,   höchst  charakteristischen  Thongefäße   ankündigte,   welche   ein   sicheres 
Kennzeichen  der  sogenannten  mykenischen  Cultur  sind.  Außerdem  fanden  sich 
Reste  stattlicher  Gebäude,  die  zu  dieser  Ansiedlung  gehörten.  Dass  Schliemann 
nicht  schon   bei  früheren  Grabungen   auf  Spuren   dieser  Schicht  gestoßen  war, 
kommt  daher,   dass  die  Römer  bei  ihrer  Besiedlung  des  Ortes  die  Kuppe  des 
Burghügels  sammt  den  Bauten  früherer  Zeiten  wegschnitten,  um  ebenen  Boden 
zu  gewinnen.!   Dieser  Planierung  fielen   die  damals  vorhandenen  obersten  drei 
Schichten  (die  sechste,  siebente  und  achte)  zum  Opfer,  und  nur  gegen  die  Ränder 
des   Hügels   erhielten   sich   die  Bauwerke   der  sechsten,   siebenten   und  achten 
Schicht.  Diese  Ausgrabungen  haben  auch  gelehrt,  dass  das  von  Griechen  histo- 
rischer Zeit   bewohnte  Ilion  zwei  Ansiedlungen  unterscheiden  lasse,   eine  ältere 
aus  dem  siebenten  Jahrhundert  v.  Chr.  (siebente  Schicht)  und  eine  jüngere  aus 
dem  dritten  Jahrhundert  (achte  Schicht). 

Es  galt  nun,  diese  Spuren  der  sechsten  Stadt  zu  verfolgen.  Allein  zu  Weih- 
nachten 1890  starb  Schliemann.  Da  hielt  es  seine  Witwe,  Frau  Sophie  Schlie- 
mann, für  ihre  Pflicht,  die  Grabungen  fortzusetzen  und  stellte  Dr.  Dörpfeld,  dem 
langjährigen  Mitarbeiter  ihres  Mannes,  die  Mittel  für  eine  dreimonatliche  Arbeits- 
zeit zur  Verfügung.  So  konnten  endlich  im  Jahre  1893  —  der  Ausbruch  der  Cholera 
erlaubte  es  nicht  früher  —  die  Arbeiten  fortgesetzt  werden.  Zum  Abschlüsse  ge- 
bracht wurden  sie  aber  erst  Mitte  Juli  1894,  nach  einer  zwölfwöchentlichen 
Arbeit,  deren  Kosten  diesmal  von  dem  deutschen  Kaiser  aus  den  Dispositions- 
fonds bestritten  wurden.  Es  gelang  im  Jahre  1894,  die  Festungsmauer  der  sechsten 
Burgbesiedlung,  soweit  sie  noch  erhalten  war,  mit  ihren  Thürmen  und  Thoren 
völlig  frei  zu  legen  und  im  Innern  der  Burg  die  Reste  mehrerer  Gebäude  auf- 
zudecken, die  alle  in  einem  beiläufig  40  m  breiten  Streifen  neben  der  Mauer 
gefunden  worden  sind.  Die  Burgmauer  mit  den  Gebäuden  wird  später  beschrieben 
werden.  Diese  überraschenden  Entdeckungen  waren  von  außerordentlicher  Trag- 
weite ;  sie  brachten  etwas  Licht  in  das  Dunkel,  das  über  den  zahlreichen  mensch- 
liehen  Anbauten  dieser  merkwürdigen  Stelle  schwebt,  denn  die  Zeit  der  sogenannten 
mykenischen  Cultur,  der  die  sechste  Burg  angehören  muss,  lässt  sich  mit  einiger 
Sicherheit  bestimmen. 

Zweiter  Abschnitt. 
Die  mykenische  Cultur  und  das  homerische  Epos. 

Mit  dem  Ausdruck  „mykenische  Cultur"  wird  eine  bestimmte  Stufe  cultur- 
geschichtlicher  Entwicklung  bezeichnet,  die  bisher  fast  in  der  ganzen  Osthälfte 
Griechenlands  und  auf  den  Inseln  im  östlichen  Becken  des  Mittelmeeres  nach- 


»  Auch  hat  Schliemann  in  seinem  Eifer,  die  zweite  Burg  freizulegen,  die  etwa 
noch  vorhandenen  Reste  zerstört;  denn  was  über  der  zweiten  Burg  lag,  hat  er  bis  auf 
einige  Erdklötze,  die  noch  heute  im  Innern  bis  zur  ursprünglichen  Höhe  aufragen,  weg- 
genommen. 


i 


■i  .■ 
I  ii; 


II 


gewiesen  worden  ist.  Die  deutlichen  Spuren  ihres  Einflusses  lassen  sieh  aber 
noch  weiter  verfolgen  in  Äg}pten,  im  westlichen  Griechenland  (Kephallenia), 
in  ünteritalien,  Sicilien  und  Sardinien.  Schliemanns  Funde  in  Mykenä  haben  sie 
zuerst  bekannt  gemacht  und  ihren  Namen  geprägt.  Es  war  eine  glückliche  Fügung, 
dass  Schliemann  mit  Unterbrechung  seiner  Arbeiten  in  Troja  durch  seine  Nach- 
grabungen in  Mykenä  und  Tyrins  die  mykenische  Cultur  entdeckt  hatte,  bevor 
noch  die  Reste  dieser  Cultur  auf  Hissarlik  zutage  kamen.  Die  mykenische  Cultur 
ist  im  allgemeinen  eine  Bronzecultur  und  insofern  eine  den  Bronzeculturen  des 
nördlichen  Europas  ähnliche  Erscheinung.  Aber  durch  die  Zeit  ihres  Auftretens 
und  durch  die  hohe  Stufe  ihrer  Entwicklung  nimmt  sie  eine  ganz  andere  Stellung 
ein.  Sie  hat  etwas  Räthselhaftes  an  sich;  sie  bildet  ein  Problem,  dessen  Lösung 
noch  nicht  völlig  gelungen  ist.  Jedes  Jahr  bringt  zahlreiche  und  bedeutungsvolle 
Entdeckungen,  und  überraschende  Zusammenhänge  enthüllen  sich.  Für  eine  auch 
nur  oberflächliche  Darstellung  dieser  Cultur  ist  hier  nicht  der  ßaum,^  nur  ihre 
Kennzeichen  sollen  hervorgehoben  werden.  Das  Wichtigste  wird  bei  ihrer  Ver- 
glcichung  mit  der  homerischen  Cultur  zur  Sprache  kommen. 

Auf  dem  Gebiete  der  Baukunst  gehören  die  gewaltigen  Mauern,  die  man 
kyklopische  zu  nennen  pflegt,  hieher  mit  ihren  starken  kunstvollen  Thorbauten, 
obschon  sich  auch  in  dieser  Zeit  Mauerwerk  aus  regelmäßiger  gefügten  Steinen 
findet.'  Ferner  Palastbauten  mit  Säulenhallen  (die  Basen  aus  Stein,  die  Säulen 
aus  Holz).  Endlich  kunstvoll  gebaute  Kuppelgräber  nebst  einfacheren  Schacht- 
gräbern und  horizontal  in  einen  Berghang  geschnittenen  Kammergräbern.  Spuren 
in  und  vor  den  Gräbern  zeigen,  dass  hier  ein  großartiger  Todtencultus  getrieben 
wurde.  Auf  dem  Gebiete  der  Kunst  finden  wir  die  Anfänge  der  Steinsculptur, 
wie  das  Löwenthor  von  Mykenä  zeigt,  geschnittene  Steine  (besonders  Carneol, 
Achat,  Bergkrystall,  Jaspis,  Amethyst)  und  eine  MetfiUtechnik,  die  in  eingelegter 
und  getriebener  Arbeit  Staunenswertes  leistet.  Hier  bilden  den  Höhepunkt  des 
Könnens  die  berühmten  fünf  Dolchklingen  (eingelegte  Arbeit)  aus  den  Schaeht- 
gräbern  von  Mykenä  uud  die  beiden  Goldbecher  (getriebene  Arbeit)  aus  dem 
Kuppelgrab  von  Waphie  (Ba<psi6,  5  km  südöstlich  von  Sparta).  Diese  Arbeiten  sind 
indes  irgendwie  durch  den  Orient  beeinflusst.  Völlig  vollständig  dagegen  und  mit 
echtem  Erfindungsgeist  begabt  zeigen  sich  die  Mykenäer  in  der  Herstellung  und 
Bemalung  von  Thongefäßen.  Die  eigenthüm liehe,  gefirniste  Topfware  aus  feinem 
Thon   mit  aufgemaltem  Ornament,  zu   dem   Pflanzen   und  Seethiere  verwendet 


*  Die  Literatur  bei  G.  Busolt,  Griechische  Geschichte,  I,  zweite  Auflage,  1893, 
S.  3— 5,  der  selbst  S.  5— 126  eine  gute  Darstellung  gibt.  Seither  kommen  noch  hinzu: 
E.  Beisch,  Die  mykenische  Frage,  Verhandlungen  der  XLII.  Versammlung  deutscher 
Philologen  in  Wien,  Leipzig  1894,  S.  97— 122.  —  X.  Ttouvt«;,  Müxf,vat  xa\  Äluxr^voio;  jcoXt- 
twjJwS«»  'AiHviiotv  1893.  —  G.  Perrot  et  Ch.  Chipioz,  Histoire  de  l'art  dans  l'antiquitö, 
tome  VI,  das  umfassendste  Werk  mit  zahlreichen  Abbildungen,  1033  Seiten. 

*  Die  Burgmauer  auf  dem  Bruchstücke  des  Silbergefäßes  aus  dem  vierten  Schacht- 
grab darf  nicht,  wie  z.  B.  Ed.  Meyer,  Geschichte  des  Alterthums,  II,  S.  160,  Anm.,  thut, 
als  Beweis  angeführt  werden.  Sie  ist  ein  Lehmziegelbau  mit  Holzverband  (Reichel, 
Über  hom.  Waflfen,  S.  142). 


Y 


15 

sind,  besonders  Polypen,  Schnecken,  Muscheln,  Quallen,  Seesterne,  Fische,  Algen, 
Lilienblüten,  Epheublätter  und  Palmbäume,    sind  daher  auch  nebst  den  Kuppel- 
und  Kammergräbern  das  sichere  und  entscheidende  Kennzeichen  dieser  Cultur.  Die 
vollendetsten  Vasen  dieser  Art,  die  des  sogenannten  dritten  Stiles^  haben  eine  glan- 
zende, glatte  Oberfläche  und  einen  gelblichen,  warmen  Farbenton.  Die  Firnisfarbe 
der   Ornamente  .durchläuft  alle  Nuancen   von  Gelb   bis  Schwarzbraun  .   Diese 
Vasen   mit  Firnismalerei   zeigen   eine   so  übereinstimmende  Techmk,  ^orm  und 
Ornamentik,  dass  sie  alle  an  einem  Ort  gefertigt  sein  müssen,  und  alle  Spuren 
weisen  nach  Mykenä.^  Von  hier  wurden  sie  durch  den  Handel  nach  den  fernsten 
Küsten  des  östlichen  Mittelmeeres  verbreitet.  Auch  in  der  Form  sind  einige  Ge- 
raße   charakteristisch:   es   finden    sich  Bügelkannen  mit  schmalem  Ausguss  und 
kleinen  Henkeln   an  den  Schultern   des  Gefäßes.   Diese  Kunst  der  Thoutechnik 
hat  natürlich    eine   lange   Zeit  der  Entwicklung   durchgemacht    Man   setzt  die 
Blütezeit  der  mykenischen  Cultur  gewöhnlich  in  das  fünfzehnte  bis  zehnte  Jahr- 
hundert V.  Chr.,    ein   Ansatz,   der   sich   daraus   ergibt,    dass   ia   Mykenä   und 
anderwärts  zusammen  mit  mykenischen  Dingen  ägyptische  Gegenstände  gefunden 
worden  sind,  deren  Zeit  sich  durch  eingeschriebene  Königsnamen  bat  bestimmen 
lassen  »   Auch   haben   sich  Vasen   mykenischen  Stiles  in  Ägypten  gefunden  mit 
Gegenständen    aus  der  Zeit  der  achtzehnten  bis  zwanzigsten  Dynastie,   also  aus 
der  Mitte  des  vierzehnten  bis  zur  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts.*  Die  An- 
fänge dieser  Cultur  müssen  jedoch  mindestens  bis  zum  Beginn  des  zweiten  Jahr- 
tausends V.  Chr.  hinaufreichen,  denn  an  mehreren  Orten  lässt  sich  eine  Vorstufe 
der  mykenischen  Cultur  aus  den  Vasenscherben  nachweisen.  Auf  einigen  Inseln, 
auf  Kreta,  Kypros,  Thera,  Amorgos,  an  der  Ostküste  Griechenlands«  muss  schon 
um  2O0O  V.  Chr.  eine  Kunst -Industrie   betrieben  worden  sein.   Hier  wurden  die 
Gefäße   bereits   durchgehends   auf  der  Töpferscheibe   hergestellt«  und   auf  eine 
bisher  ganz  unbekannte  Weise  in  mattglänzender  Firnisfarbe  mit  Pflanzen-  und 
Thier-Ornamenten  bemalt.  Es  sind  die  ersten  schüchternen  Versuche,  die  spater 
in  Mykenä  zu  hoher  Kunstentwicklung  geführt  haben. 

«  A.Furtwaengler  und  G.Loeschke,  Mykenische  Vasen,  Berlin  1886,  S.  Vni. 
«  Furtwaengler-Loeschke  a.  a.  0,  S.  IX.  ^    «  o.  r     a         a 

»  Reisch  a  a.  O.,  S.  101.  -  Beloch,  Griechische  Geschichte,  I,  S.  84  f.,  Anm.  d, 
sagt  allerdings,  die  Namen  berühmter  Könige  sind  noch  Jahrhunderte  nach  dem  Tode 
ihrer  Träger  in  Skarabäen  geschnitten  worden.  Allein  wenigstens  gegen  die  Cartouche 
Amenophis  HL,  'Lcpr.{x.  ao/.  1888,  S  156,  lässt  sich  dieser  Einwand  nicht  erheben;  ebenso- 
wenig  gegen  die  Scherbe  ägyptischen  Porzellans,  '^w- 1891,  S.  18  ff.,  wo  ebenfalls  der 
Name  des  Amenophis  III.,  also  zum  drittenmal  erscheint. 

*  Flinders  Petrie,  Kahun,  Gurob  and  Hawara,  S.  42,  Tafel  28.  Beloch  schließt 
mit  Unrecht  daraus  auf  Beeinflussung  mykenischer  Keramik  durch  orientalische  Muster. 

»  In  Tiryns  unter  den  Fundamenten  des  Königspalastes,  in  Eleusis  bei  Athen,  m 

Orchomenos  in  Böotien.  x    m_  •      •  a 

•  Die  Töpferscheibe  kennt  man  in  Babylon  seit  den  ältesten  Zeiten.  In  Troja  sind 
die  Gefäße  der  ersten  Stadt  noch  nicht  auf  der  Töpferscheibe  hergestellt;  m  der  zweiten 
Stadt  finden  sich  bereits  infolge  des  östlichen  Einflusses  auf  der  Scheibe  gedrehte 
Gefäße. 


^ 


If  t 


1<S 

Auf  Grund  der  charakteristischen  mykenischen  Topfware,  die  in  der  sechsten 
Ansiedlung  auf  Hissarlik  neben  den  natürlich  weit  zahlreicheren  einfarbigen  Ge- 
fößen  troischer  Arbeit  gefunden  worden  ist,  rausste  jene  Ansiedlung  in  das  Zeit- 
alter der  mykenischen  Oultur  verlegt  werden.  Bei  dem  Mangel  an  Inschriften  tritt 
gewissermaßen  die  Beschaffenheit  der  Gefäße  und  ihrer  Verzierungen  an  die  Stelle 
schriftlicher  Überlieferung.  Freilich  sollte  man  sich  billig  wundern,  wenn  auf  der 
hohen  Entwicklungsstufe  der  mykenischen  Cultur  und  bei  ihrer  nahen  Beziehung 
mit  den  großen  Reichen  des  Ostens  die  Träger  dieser  Cultur  in  einem  so  wich- 
tigen Punkt,  wie  die  Kenntnis  der  Schrift,  wirklich  hinter  ihren  Nachbarn  im 
Süden  und  Osten  des  Mittelmeeres  zurückgeblieben  wären.  Zwar  sind  auf  den 
Henkeln  eines  Steingefäßes  und  eines  Thongefäßes  ans  Mykenä,  auf  zwei  Am- 
phoren aus  dem  Kuppelgrab  von  Minidi  in  Attika,*  auf  einem  dreihenkligen 
mykenischen  Gefäß  aus  Nauplia»  und  auf  einem  steinernen  Stößel  aus  Mykenä» 
Zeichen  erhalten,  die  offenbar  Schriftzeichen  sind,  aber  man  hat  darauf  kein 
Gewicht  gelegt;*  die  ganze  Oultur  galt  als  analphabet  Diese  Behauptung  ist 
heute  nicht  mehr  richtig.  Der  Director  des  Ashmolean  -  Museums  in  Oxford, 
A.  Evans,  hat  im  Frühjahre  1894  reiche  Funde  auf  Kreta  gemacht,«  denen  zu- 
folge man  nicht  mehr  zweifeln  kann,  dass  in  der  mykenischen  Welt  ein  aus- 
gebildetes Schriftsystem  bestanden  hat.  Evans  unterscheidet  zwei  Arten  von 
Schrift,  eine  ältere  Bilderschrift,  die  an  die  ägyptischen  Hieroglyphen  und  eine 
jüngere  lineare,  die  an  die  Alphabete  von  Kypros  und  Vorderasien  erinnert.« 

Die  linearen  Zeichen  (hauptsächlich  auf  Siegelsteinen  aus  Steatit,  Gefäßen  und 
geschnittenen  Gemmen)  zeigen  eine  überraschende  Übereinstimmung  mit  den  von 
Flindors  Petrie  auf  den  Scherben  von  Kahun  und  Gurob  in  Ägypten  gefundenen. 
Von  zweiunddreißig  sind  zwanzig  geradezu  gleich;  etwa  fünfzehn  stimmen  mit 
Zeichen  des  kyprischen  Silbenalphabetes  überein.  Evans  will  die  hieroglyphenartige 
Schrift,  die  übrigens  keine  Nachbildung  der  ägyptischen  ist,  der  Eteokretern  zu- 
weisen und  lässt  sie  bis  in  das  dritte  Jahrtausend  hinaufreichen;'  dagegen  soll 
die  lineare  den  Mykenäern  zugehören.   Beide  Systeme  greifen  ineinander  über. 

Übrigens  fand  noch  Schliemann  in  der  sechsten  Stadt  einen  Wirtel  von 
brauner  Terracotta  mit  Schriftzeichen,  die  der  Assyriologe  Sayce  „ein  herrliches 
Beispiel  kypriseher  Epigraphie"  nennt,«  und  sogar  schon  die  zweite  Stadt  ent- 
hält Siegel  und  Wirtel  mit  Zeichen,»  die  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  den  von 
Evans  in  Kreta  gefundenen  haben. 

>  Tsandas,  Mux^vat  xa\  M.  n.,  S.  218  f. 

»  'ApxoioX.  &XT10V,  1892,  S.  73. 

■  npoxTixa  tffi  ip-/^.  ixaup,  1889,  S.  9. 

•  So  noch  Perrot-Chipiez  a.  a.  O.,  S.  985. 

»  Primitive  Pictographs  and  a  Praephoenician  Script  from  Crete  and  the  Pelopon- 
Jonmal  of  Hellenic  studies,  vol.  XIV,  1894. 

•  Beziehungen  mit  Syrien  lassen  sich  ja  in  kretischen  Funden  nachweisen  (S.  333). 

»  S.  862-371. 

•  Schliemann,  Bericht  über  die  Ausgrabungen  in  Troja,  S.  25. 
»  Sayce  in  Schliemanns  lUos,  S.  766  ff.  —  Schliemann,  Troja,  S.  181. 


%y 


17 

Zwei  Fragen  knüpfen  sieh  an  die  mykenische  Oultur :  Woher  stammt  sie 
und  was  für  ein  Volk  hat  sie  besessen?  Die  Beantwortung  der  ersten  Frage  ist 
schwierig  und  jetzt  noch  kaum  zu  geben.  Man  hat  für  den  orientalischen  und 
für  den  europäischen  Ursprung  der  Cultur  Grunde  beigebracht.  Indessen  berührt 
uns  diese  Frage  hier  nicht;  umso  wichtiger  ist  für  uns  die  andere,  was  für  ein 
Volk  Träger  dieser  Cultur  gewesen  ist. 

Das  Nächstliegende,  dass  es  Griechen  waren,  glaubte  man  noch  vor  kurzem 
nicht  annehmen  zu  dürfen,    weil  angeblich  die  Funde  von  Mykenä   eine  starke 
Abhängigkeit  vom  Orient  verriethen.^  Man  hat  aber  das  Ungriechische,  Barbarische 
in  der  mykenischen  Cultur  überschätzt.   Wir  werden  später  sehen,  wie  lebendig 
in  den  homerischen  Gedichten  die  Erinnerung  an  die  mykenische  Cultur  ist,  wie 
sie  überall  bei  Homer  noch  durchleuchtet.  Wer  in  den  Trägern  der  mykemschen 
Cultur  keine  Griechen  sehen  will,  der  kommt  in  die  größten  chronologischen 
Verlegenheiten.«  Es  fiele  dann  die  Einwanderung  der  Hellenen  in  Griechenland 
in  eine  so  späte  Zeit,   dass   für   eine  Menge  Ereignisse  kein  Raum  bliebe.    Mit 
Beginn  des  ersten  Jahrtausendes  saßen  schon  in  allen  Hauptsitzen  mykenischer 
Cultur  Griechen.»  Die  Ilias,  schon  im  neunten  Jahrhundert  abgeschlossen,  zeigt 
eine  so  hohe  Entwicklung  von  Sprache  und  Versbau,  dass  ihrer  Abfassung  ein 
Jahrhunderte  langes  Leben  vorausgegangen  sein  muss.  Es  ist  ferner  eine  durch 
Funde  erwiesene  Thatsache,  das  Kypros  noch  vor  Beginn  des  ersten  Jahrtausendes 
von  Griechen  aus  dem  Peloponnes  besiedelt  worden  ist,*  was  unmöglich  wäre, 
hätte  der  Peloponnes   sich  nicht  schon  einige  Zeit  im  Besitze  der  Griechen  be- 
funden.« Überhaupt  muss  uns  bei  solcher  Annahme  die  griechische  Heldensage 
unverständlich  werden.   Wenn  Homer  von  dem  goldreichen  Mykenä  und  Tiryns 
spricht,  von  Amyklai,  vom  böotischen  Orchomenos,  wenn  er  die  Argonauten  sage 
kennt,  wenn  er  Kreta  in  enge  Beziehung  zum  Königshause  von  Mykenä  bringt, 
wenn  er  den  Sänger  Demodokos  von  den  Ereignissen,   die   sich  vor  Troja  ab- 
gespielt haben,   singen  lässt,   so  bezieht  er  sich  damit  auf  die  mykenische  Zeit. 
Wären  nun  in  diesen  Mittelpunkten  mykenischer  Cultur  Nicht-Griechen  gesessen, 
80  hätten  die  Sänger  der  homerischen  Zeit  ihren  Hörern  nicht  die  ruhmreichen 
Thaten  ihrer  Vorfahren,  sondern  die  Heldenthaten  von  Barbaren  geschildert,  was 
bei  dem  Rassenstolz,   der  aus  dem   homerischen  Epos  überall  spricht,   geradezu 
undenkbar  ist.  Wenn  die  Zuhörer  nicht  müde  wurden,  diesen  Erzählungen  immer 
wieder  zu  lauschen,  mussten  sie  nicht  das  Bewusstsein  haben,  dass  diese  Helden- 
geschlechter ein   inniges  Band  mit  den  Achaiern  Homers  verknüpfe?«   Die  ho- 
merischen Gedichte  preisen  die  Heroenzeit  von  Hellas,  und  diese  fällt  im  wesent- 
lichen mit  der  mykenischen  zusammen,  und  die  hervorragendsten  Helden  waren 

*  Dagegen  R  ei  seh,  Die  mykenische  Frage,  S.  117. 

*  Ed.  Meyer,  Geschichte  des  Alterthums,  ü,  S.  131  f. 

*  Bei  seh  a.  a.  O.,  S.  107. 

*  Eeisch,  S.  107;  Busolt,  Griechische  Geschichte,  I,  S.  320. 

e  Beisch,  S.  109. 
Perrot-Chipiez  a.a.O.,  S.  988. 

2 


19 


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'4 


II 11 


1  ii 


Fürsten  von  mykenischen  Culturvölkern.  Also  dürfen  wir  annehmen,  dass  die 
Träger  der  mykenischen  Caltur,  wenigstens  auf  dem  Festland,  hauptsächlich 
Griechen  waren. 

Tsundas  hat  den  Beweis  geliefert,  dass  in  der  Argolis  zwei  mykenische 
Bevölkerungsschichten  zu  unterscheiden  sind,  in  denen  er  die  Achaier  und  die 
Danaer  Homers  erkennt.*  Die  Danaer  verknüpft  die  Überlieferung  mit  Argos  und 
der  Meeresküste.  Ihr  Ahnhen  Danaos  ist  mit  der  Hydrographie  von  Argolis 
(Danaiden!)  auf  das  innigste  verbunden.  Sie  wohnten  wohl  ursprünglich  vielfach 
in  Pfahldörfern  und  gründeten  Tiryns,  welches  einmal  rings  von  Sümpfen  um- 
geben war.  Die  Achaier  dagegen  saßen  in  und  um  Mykenä,  im  nördlichen  und 
gebirgigen  Theil  des  Landes.  Die  Achaier  sind  die  spätere  Bevölkerung;  als  die 
Danaer  sich  aasdehnten,  stießen  sie  in  Mykenä  mit  den  von  Norden  über  den 
Pass  von  Derwenaki  gekommenen  Achaiern  zusammen.  Diese,  erfahrener  und 
kriegerischer,  behielten  die  Oberhand,  ohne  indessen  die  Danaer  zu  vertreiben. 
Es  scheint  ein  friedlicher  Ausgleich  stattgefunden  zu  haben  ;>  sie  ehrten  die 
Gräber  ihrer  Feinde.  Den  beiden  Bevölkerungsschichten  entsprechen  die  zwei 
Arten  von  Grabstätten,  die  Sehachtgräber  und  die  Kuppelgräber.* 

Sehr  nahe  verwandt  mit  den  Danaern  und  ebenfalls  Träger  mykenischer 
Giiltur,  müssen  die  Minyer  die  Gründer  von  Orchomenos  am  Kopaissee  gewesen 
sein,  die  nicht  nur  in  Böotien,  sondern  auch  in  Lakonien,  am  pagasäischen  Meer- 
busen, auf  der  Insel  Thera,  im  Süden  von  Attika  bei  Sunion  und  Thorikos  nach- 
gewiesen worden  sind;  und  alle  Wahrscheinlichkeit  spricht  dafür,  das  Minos 
und  Minyas  dieselben  Namen  sind  und  dass  auch  die  Insel  Kreta  in  den  Kreis 
der  von  den  Minyern  bewohnten  Länder  zu  ziehen  ist.  Die  Spuren  ifaykenischer 
Gultur  haben  sich  ja  in  Kreta  in  reichstem  Maße  gefunden.^  Jüngst  ist  nach- 
gewiesen worden,  dass  die  im  Schiffskatalog,  IL,  H  507,  erwähnte  Stadt  Arne 
in  der  heutzutage  Gulas  oder  Gla  genannten  Burg  auf  einer  Insel  im  östlichen 
Theile  des  Kopaissees  zu  erkennen  ist.'^  Auch  dies  ist  eine  echte  mykenische 
Burg,  ganz  ähnlich  angelegt,  wie  das  ursprünglich  von  Sümpfen  umgebene  Tiryns. 
Arne  steht  in  engster  Verbindung  mit  der  Trockenlegung  des  Kopaissees  durch 


*  Tsundas  a.  a.  0.,  S.  239—245. 

*  Nach  der  Sage  wird  Mykenai  von  Perseus,  einem  Nachkommen  des  Danaos 
ans  Tiryns,  gegründet  und  seine  Nachkommen  herrschen  in  Mykenai  bis  Eurystheus; 
dann  geht  die  Herrschaft  auf  Atreos  und  Thyestes,  das  heü3t  auf  die  Achaier  über. 
Tsundas  vermuthet  ansprechend  (S.  242),  dass,  da  die  Burg  Mykenä  zwei  Bauperioden 
zeigt,  eine  ältere,  in  der  die  Mauer  einen  ähnlichen  Zugang  wie  in  Tiryns  hatte,  und 
eine  jüngere,  in  der  die  Burg  erweitert  und  das  Löwentiior  angelegt  wurde,  die  ältere 
der  Gründung  des  Perseus  entspreche  (dazu  würden  die  Schachtgräber  im  sogenannten 
Oräberrund  gehören),  die  jüngere  dagegen  mit  den  außerhalb  der  Burg  befindlichen 
Kuppelgräbem  der  Herrschaft  der  Atriden. 

*  Ähnlich  schon  Per  rot,  Journal  des  Savants,  1892,  S.  449. 

*  Vgl.  jetzt  besonders  Evans  a.  a.  0.,  S.  270  ff. 

^  F.  Noack,  Arne,  Mittheiluugen  des  archäologischen  Institutes  in  Athen,  1894, 
S.  405-485. 


f 


die  Minyer,!  eines  Riesenwerkes  uralter  Zeiten,  welches  den  ganzen  See  in  frucht- 
bares Ackerland  verwandelt  hatte.  Diese  großartige  Culturleistung  ist  eine  That, 
die  allen  späteren  Zeiten,  trotz  wiederholter  Versuche  im  Alterthum  und  in  der 
neueren  Zeit,  nicht  wieder  gelungen  ist.^  Erst  in  der  neuesten  Zeit  hat  eine 
französische,  jetzt  eine  englische  Actiengesellschaft  die  Austrocknung  des  Sees 
erfolgreich  in  die  Hand  genommen.  Mit  genialer  Einfachheit  sind  die  Minyer 
zuwerke  gegangen.  Sie  fiengen  die  drei  Hauptzuflüsse  des  Sees  in  drei  gewaltigen, 
zum  Theil  noch  gut  erhaltenen  Steincanälen  auf  und  leiteten  sie  zu  den  natür- 
lichen im  Nordosten  des  Sees  befindlichen  Abzugshöhlen  oder  Katawothren,  die 
in  dem  verkarsteten  Hellas  allenthalben  vorkommen.  Eine  solche  Arbeit  konnte 
nur  von  einem  Volke  ausgeführt  werden,  dem  tausende  von  Sclavenhänden  zur 
Verfügung  standen.  Orchomenos'  Blüte  beruht  auf  dieser  Trockenlegung  der 
Kopaisebene.  Eine  ganze  Reihe  von  mykenischen  Befestigungen  diente  zur 
Sicherung  des  Höhenzuges  im  Nordosten  des  Sees,  der  die  Katawothren  enthielt. 
Eine  Verstopfung  derselben  hätte  eine  Katastrophe  herbeigeführt. 

Nachdem  wir  so  die  mykenische  Cultur  als  die  Cultur  einer  hellenischen 
Bevölkerung  kennen  gelernt  haben,  wollen  wir  unsere  Blicke  wieder  nach  der 
Troas  richten.  Auch  hier  ist  in  der  sechsten  Schicht  eine  mykenische  An- 
siedlung  erkannt  worden,  und  wir  haben  nun  in  den  wichtigsten  Gegenden,  die 
die  Ilias  in  ihren  Bereich  zieht,  Sitze  mykenischer  Cultur.  Troja  mit  seiner 
günstigen,  die  beiden  Hauptthäler  des  Landes  und  den  Hellespont  beherrschenden 
Lage  war  gewiss  ein  besonders  bedeutender  Ort  der  mykenischen  Welt,  ein  stark 
besuchter  Handelsplatz,  der  Hauptort  eines  Stammes,  der  durch  Ackerbau,  Handel 
und  wohl  auch  Seeraub  seinen  Reichthum  begründet  hatte.  Nichts  ist  natürlicher, 
als  dass  Troja  infolge  dessen  in  einen  Kampf  mit  dem  Vorort  mykenischer  Cultur 
in  der  Argolis  gerieth.  Die  bisherige  Meinung,  dass  die  Sage  vom  trojanischen 
Krieg  ein  Reflex  der  Kämpfe  sei,  welche  die  Äoler  bei  ihrer  Pestsetzung  in  der 
Troas  mit  der  einheimischen  Bevölkerung  zu  bestehen  gehabt  hätten,  ist  unhaltbar. 
Schon  vor  einiger  Zeit  hat  Ed.  Meyer  nachgewiesen,  dass  es  vor  dem  Jahre  700 
schwerlieh  griechische  Colonien  in  der  Troas  gegeben  hat,»  weder  jonische  noch 
äolische.  Folgerichtig  betrachtet  daher  Ed.  Meyer  als  historischen  Kern  der  Sage 
vom  trojanischen  Krieg  die  Zerstörung  Trojas  durch  einen  Heereszug  pelopon- 
nesischer  Fürsten  oder  vielmehr  des  Königs  von  Mykenä  und  seiner  Mannen.* 
Es  hat  wohl  schon  mancher  die  Ansicht  ungereimt  gefunden,  dass  die  Kämpfe 
um  Troja  nur  ein  Abglanz  der  späteren  Kämpfe  der  griechischen  Ansiedler  in 
Kleinasien  sein  sollen,  allein  man  schwieg  und  den  kühnen  Schritt  Ed.  Meyers 
wagte  man  nicht ;  es  schien  die  Bestätigung  zu  fehlen.  Die  haben  wir  nun  durch 


«  P.  Noack,  S.  409. 

»  Curtius,   Die  Deichbauten  der  Minyer,  Sitzungsbericht  der  preußischen  Aka- 


demie, 1892,  Gesammelte  Abhandlungen,  I,  S.  268  ff. 
in  Griechenland  und  seine  Umgebung,  Berlin  1894. 

«  Geschichte  von  Troas,  Leipzig  1877,  S.  79  f. 

*  Geschichte  des  Alterthums,  II.  B.,  S.  207. 


A.  Philipp son,  Der  Kopaissee 


2* 


20 

die  Entdeckung  Dörpfelds  in  Händen.  Ein  seekundiges  Volk,  dem  ein  solcher 
Kriegszug  über  das  Meer  wohl  zuzutrauen  ist,  waren  die  Mykenäer  gewiss. 
Dies  zeigt  schon  ihre  dem  Thier-  und  PÜanzenlebon  des  Meeres  entnommene 
Ornamentik.  Die  Entdeckungen  auf  den  Inseln  und  Küsten  des  östlichen  Mittel- 
meeres lassen  uns  das  Bild  der  mykenischen  Cultur  immer  großartiger  erscheinen. 
Namentlich  Kreta  mnss  neben  Mykenä,  Orchomenos  und  Troja  einflussreich  ge- 
wesen sein.  Von  Kreta  aus  lassen  sich  in  ältester  mykenischer  Zeit  Beziehungen 
mit  Ägypten  und  Vorderasien,  mit  dem  Peloponnes  und  Thessalien  nachweisen.» 
Endlich  ist  es  wenigstens  sehr  wahrscheinlich,  dass  die  auf  ägyptischen  Bild- 
werken Yom  vierzehnten  Jahrhundert  an  yorkommenden  fremden  Söldner,  die 
Sardana  heißen  und  auch  noch  in  den  folgenden  Jahrhunderten  erscheinen,  sowie 
andere,  als  Nord-  und  Seevölker  bezeichnete  in  den  Kreis  der  mykenischen  Völker 

gehören.* 

Diese  große  und  reiche  Cultur  scheint  nun  auf  dem  griechischen  Fest- 
lande plötzlich  abzubrechen,  sie  verschwindet  fast  mit  einemmale.  Besonders  in 
der  Kunst  bemerkt  man  diesen  Riss.  Es  gibt  keine  Fortentwicklung  der  Kunst- 
formen und  der  Technik,  die  wir  in  den  Goldbechern  von  Waphiö,  in  den  my- 
kenischen Dolchklingen  und  in  den  charakteristischen  Thongefäßen  bewundern. 
Was  die  Kunst  demnächst  in  Hellas  hervorbringt,  das  sind  Erzeugnisse  eines 
tiefer  stehenden  Stiles,  des  sogenannten  geometrischen,  der  sich  zunächst  in  geo- 
metrischen Ornamenten  zu  erkennen  gibt,  die  eine  Ähnlichkeit  mit  Ornamenten 
auf  Geräthen  der  Hallstadtcultur  haben.  Die  reiche  Fülle  der  mykenischen  Muster 
wird  durch  einfcirmigen,  Hnearen  Schmuck  verdrängt;  Zickzacklinien,  Hakenkreuze, 
Rauten,  concentrische,  mit  einem  Mittelpunkt  versehene  Kreise,  die  unter  sich 
durch  Tangenten  zu  fortlaufenden  Reihen  verbunden  sind  (nicht  Spiralen),  be- 
herrschen die  Decoration;  und  wenn  Darstellungen  aus  dem  Leben  auftreten,  so 
sind  die  Figuren  steif  und  eckig,  ein  auffallender  Rückschritt  gegen  die  myke- 
nische  Zeit.  Für  diesen  plötzlichen  Riss  gibt  es  nur  eine  Erklärung:  den  Ein- 
bruch nördlicher  Stämme  in  Griechenland,  eine  Völkerbewegung,  deren  südlichster 
Ausläufer  als  Einwanderung  der  Dorier  in  den  Peloponnes  bekannt  ist.  Nur  auf 
Kreta  scheint  diese  Unterbrechung  nicht  eingetreten  zu  sein,»  denn  Kreta  ist  von 
dieser  Völkerwanderung  nur  in  unbedeutendem  Grade  getroffen  worden.  Der 
Zusammenhang  mit  dem  Orient  ließ  es  hier  nur  zu  einer  Kreuzung  und  Weiter- 
bildung, nicht  zu  einer  Unterbrechung  kommen.  Übrigens  darf  man  nicht  glauben, 

»  Evans  a.  a.  O.  mehrfach.  —  Die  großartigsten  Reste  mykenischer  Cultur  finden 
sich  nicht  an  der  Stelle  des  alten  Knossos,  sondern  im  östlichen  Theil  der  Insel  an  der 
heute  Gul4s  (auch  hier  wieder  dieser  albanesische,  „Thurm"  bedeutende  Name)  genannten 
Stätte  in  der  Nähe  des  Hafens  von  St.  Nicolas  (an  der  Bai  von  Mirabella).  Hier  sind 
nicht  nur  erstaunliche  Baureste,  sondern  auch  (selbst  ohne  Grabungen)  Bronzewaflfen, 
Intaglien,  Steingefäße  u.  dgl.  zu  finden.  (Evans,  S.  277.)  Die  Ansiedlung  wird  von  Evans 
in  das  fünfzehnte  Jahrhundert  gesetzt. 

■  Die  Sardana  sind  doch  wahrscheinlich  Sarden.  Sieh  W.  Max  Müll  er,  Asien  und 
Europa  nach  altagyptischen  Denkmälern,  Leipzig  1893,  S.  371  ff. 

•  Evans  a.  a.  O.,  S.  369. 


4  ^ 


21 

dass  die  mykenische  Oultur  verschwindet,  ohne  ihre  Wirkung  auf  die  roheren 
Eindringlinge  zu  äußern;  mancheriei  wird  von  ihnen  übernommen  und  m  die 
historische  Zeit  herübergerettet  worden  sein.  So  ist  z.  B.  zwar  die  Ornamentik 
der  mykenischen  Vasen  untergegangen,  „aber  ihre  Technik  hat  sich  fortgepflanzt 
und  bildet  die  Grundlage  für  die  Herstellung  aller  hellenischen  Vasengattungen«. 
Im  ganzen  Kreise  der  den  Alten  bekannten  Länder  haben  nur  Griechen  -  und 
wer  es  wie  nachweislich  die  Etrusker,  von  ihnen  gelernt  hat  -  die  Kunst  ge- 
kannt, mit  glänzender  Firnisfarbe  zu  malen.»  Auch  der  Grundriss  des  myke- 
nischen Fürstenhauses  hat  sich  durch  die  Zeiten  hindurch  erhalten;  der  Thor- 
bau mit  Säulen,  wie  ihn  die  Propyläen  auf  Tiryns  zeigen,  kehrt  immer  wieder 
in  der  griechischen  Kunst,  und  der  Prachtbau  des  Mnesikles  auf  der  Akropolis 
von  Athen  geht  in  letzter  Linie  auf  jene  tirynthischen  Thorbauten  zurück. 

Betrachten  wir  nun  die  Oultur,  welche  uns  in  den  homerischen  Gedichten 
entgegentritt,  so  kommen  wir  zum  Schlüsse,  dass  die  Gedichte  Voraussetzungen 
haben,  die  in  eine  weit  frühere  Zeit  als  die  des  Dichters  ist,  in  die  mykenische, 
zurückgreifen.  Bekannt  genug  ist  ja,  dass  Homer  in  seinen  Zeitgenossen  Schwäch- 
linge sieht  gegenüber  den  Helden  des  Epos.»  Das  großartige  Unternehmen  eines 
Kriegszuges  nach  Kleinasien,  an  dem  sich  eine  stattliche  Zahl  von  Fürsten  aus 
Hellas  betheihgte,  ist  in  der  Zeit,  in  der  die   homerischen  Gedichte   entstanden 
sind  (neuntes  bis  siebentes  Jahrhundert  v.  Chr.),  ganz  undenkbar.  Eine  so  weit- 
gehende Zusammenfassung   der  Volkskraft  setzt  einen  Herrscher  voraus,  der  in 
den  patriarchalischen  Staats  Verhältnissen  Griechenlands  gerade  zu  dieser  Zeit  sich 
nirgends  findet.    Eine  solche  Machtentfaltung  war  nur  in  der  mykenischen  Zeit 
möglich,  in  der  übermächtige  Herrschergeschlechter  lebten,  die  einen  unerhörten 
Eeichthum»  auf  ihren  gewaltigen,  uneinnehmbaren  Burgen  hüteten    und  verthei- 
digten,  Fürsten,  die  über  zahllose  Knechte  gebieten  mussten,  um  Bauten  auszu- 
führen, die  noch  heute   unsere  Bewunderung  erregen.   Hier  hausten  keine  Can- 
tönüfürsten  wie  später,  sondern  Großherren  mit  weitreichender  Macht  zu  Wasser 
und  zu  Land.  Eine  unerkläriiche,  räthselhafte  Macht  hält  die  Fürsten  vor  Troja 
zusammen.  Agamemnon  scheint  nicht  mit  den  Machtmitteln  ausgerüstet,  um  diese 
Leistung  zu  Stande  zu  bringen.  Man  begreift  nicht,  warum  nicht  der  eine  oder 
andere  es  ebenso  macht  wie  Achilles,  dem  Streite  entsagt  oder  sich  nach  Hause 
begibt.  Was  hätte  Agamemnon  dagegen  thun  können?    Der  Dichter  macht  uns 
diese  Fügsamkeit  nicht  recht  inneriich  wahrscheinlich.  Es  ist  eben  die  mit  der 
Sage  herübergerettete  Vorstellung  von  dem  übermächtigen  König  einer  mächti- 
geren Vorzeit,  die  wie  ein  Zauberbann  wirkt  und  dieses  Wunder  zu  Stande  bringt. 
Eine  Andeutung  gibt  wohl  auch  Homer,  wenn  Nestor  sagt,  dass  Agamemnon 
über  mehr  Mannen  herrscht  (7r>.e6vs(j<7iv  ava<7<7et),  aber  weiter  wird  das  nicht  aus- 
geführt. 

*  Purtwaengler-Loeschke  a.  a.  0.,  S.  Vil. 

*  Daher  öfter  oToi  vUv  ßpotof  ebtv. 

»  Der  bloße  Metallwert  des  in  den  sechs  Schachtgräbern  von  Mykenä  gefundenen 
Goldes  beträgt  rund  100.000  Francs. 


22' 

Aber  diese  reichsfürstliche  Stellung  Agamemnons  ist  nicht  das  einzige,  was 
uns  auf  alte  Zeiten  weist.  Auch  viele  greifbare  Dinge,  die  die  beiden  Epen 
schildern,  sind  erst  durch  die  Funde  aus  der  mykenischen  Zeit  recht  klar  ge- 
worden. Es  ist  noch  nicht  lange  her,  dass  man  sich  über  den  lustig  machte,  der 
die  mykenischen  Funde  Schlieraanns  in  Beziehung  zu  Homer  brachte  und  die 
homerischen  Eealien  durch  sie  erklären  wollte.  Heute  denkt  man  anders.  Heibig 
(Das  homerische  Epos  aus  den  Denkmälern  erläutert,  zweite  Auflage,  Leipzig  1887) 
hat  den  gelungenen  Versuch  gemacht,  Mykenisches  in  weiterem  Umfang  zur  Er- 
klärung heranzuziehen ;  aber  auch  Heibig  schlägt  die  Berührung  der  mykenischen 
und  der  homerischen  Cultur  zu  gering  und  phönikischon  und  überhaupt  orien- 
talischen Einfluss  viel  zu  hoch  an.  Die  Entdeckungen  liefern  immer  mehr  den 
Beweis,  dass  Mykenisches  und  Homerisches  in  engerer  Beziehung  stehen,  als  man 
dachte.  Der  ganze  Bestand  der  mykenischen  Cultur  kann  und  muss  zur  Erläuterung 
Homers  noch  tüchtig  ausgeschöpft  werden.  Die  Fürstenhäuser,  in  die  die  Odyssee 
uns  führt,  sind  in  allem  Wesentlichen  so  eingerichtet  wie  der  Palast  in  Tiryns.^ 
Der  ist  wie  eine  Illustration  zu  Homer.  Wir  finden  hier  die  Thore,  Vorhallen, 
die  säulenumgebenen  Höfe,  den  Männersaal  und  den  Frauensaal,  auch  den  Bade- 
raum der  homerischen  Anaktenhäuser  wieder.  Selbst  der  Kyanosfries,  jener  Fries 
aus  dunklem  Schmelz,  mit  dem  das  Megaron  des  Alkinoos  geschmückt  ist,  lässt 
sich  aus  den  Funden  in  Tiryns  nachweisen. 

Ein  für  das  Verhältnis  der  mykenischen  zur  homerischen  Cultur  besonders 
wichtiges  Capitel  bilden  die  Waffen.  Funde  von  Schwertern  und  Lanzenspitzen 
und  die  auf  mykenischen  Kunstgegenständen  erhaltnen  Abbildunegen  von  Kriegs- 
und Jagdscenen  setzen  uns  in  den  Stand,  eine  Vorstellung  von  den  Waffen  der 
mykenischen  Zeit  zu  gewinnen.  Da  sind  nun  die  auffallendsten  Stücke  der  große 
mykenische  Schild  und  der  Streitwagen.»  Dieser  Schild  reichte  dem  Träger  vom 
Hals  bis  unter  das  Knie  und  wurde  an  einem  Tragriemen  um  die  linke  Schulter 
getragen  und  theils  mittels  dieses  Riemens,  theils  mittels  eines  Spreizstabes  ge- 
lenkt. Da  der  Schild  aus  mehreren  Schichten  dürrer  Stierhäute  bestand,  die  in 
der  Nässe  ihre  Form  verlieren  mussten,  so  brauchte  er  schon  zur  Festigung  seiner 
Form  wenigstens  zwei  Spreizen.  Die  Längsspreize,  die  verhindern  musste,  dass 
der  auf  die  Kante  gestellte  Schild  einklappe,  konnte  allenfalls  auch  als  Rippe  im 
Innern  verlaufen,  besonders  wichtig  aber  war  die  Querspreize,  die  vom  Rande 
an  beiderseits  wohl  auch  eine  Strecke  weit  als  Rippe  ins  Schild-Innere  führte, 
dann  aber  als  starrer  Stab  frei  wurde.  Demgemäß  hat  der  mykenische  Schild 
etwas  oberhalb  der  Mitte  beiderseits  eine  Einschnürung,  so  dass  er  in  zwei  durch 
sie  getrennte  Bäuche  zerfällt.  Der  Schwerpunkt  lag  in  der  unteren  größeren  Hälfte 
des  Schildes,  was  seine  Handhabung  wesentlich  erleichterte.  Kämpft  der  Mann 
nicht  und  geht  er  zu  Fuße,   so  schiebt  er  den  Schild  mittels  des  Tragriemens 

»  D.  Joseph,  Die  Paläste  des  homerischen  Epos,  Berlin  1893.  —  P.  Dörwald, 
Der  Palast  des  Odysseus,  Neue  Jahrb.  f.  Ph.  n.  P.,  150.  Bd.,  S.  1  ff. 

«  Vergleiche  über  den  Schild  die  meisterhafte  Untersuchung  W.  Reicheis,  Über 
homerische  Waffen,  Wien  1894,  S.  5—18,  und  Über  den  Streitwagen,  S.  63  ff. 


f  ß^ 


^4^       #' 


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23 

auf  den  Rücken.  Diese  schwere  Schutzwaffe,  deren  Handhabung  eine  besondere 
Schulung  voraussetzt,  war  eine  Herrenwaffe,  und  ihr  Träger  bediente  sich  wohl 
häufig  eines  Streitwagens,  wodurch  es  ihm  möglich  wurde,  seine  Kräfte  für  den 
Kampf  zu  sparen  und  nicht  vorzeitig  zu  schwächen.  Wir  finden  nun  diesen  ge- 
waltigen  Schild   auch  im  homerischen  Epos  wieder.   Es  ist  die  ^^k  ^^'m'^J^^ 
der  den  ganzen  Mann  deckende  Schild  (II.,  II  389;   XI  32;   XII  402;  XX  281), 
der  einmal  auch  TroSwxvi?  {XV  646),  bis  zu  den  Füßen  reichend,  genannt  wird. 
Ihn  trägt  z  B.  Hektor  (VI  117),  vom  Schlachtfelde  heimkehrend,  auf  dem  Rucken, 
wobei  ihm  der  Schildrand  an  den  Nacken  und  an  die  Knöchel  sehlägt.  Ihn  tragen 
Nestor  (VHI  193)  und  Idomeneus   (XIH  407),   an  deren   Schilden  von  Homer 
auch  die  beiden  Spreizstäbe,  hier  xxvovs;  genannt,  hervorgehoben  werden.  Ebenso 
trägt  ihn  Aineias  (XX  278  u.  281).   Einen  mykenischen  Schild  von  gewaltigstem 
Ausmaße,  einem  Thurm  vergleichbar,  trägt  der  Telamonier  Aias  cp^pcov  <iixo;  yiuts 
TTipvov  (VII  219 ;  XI  485 ;   XVII  128).    Und  so   tragen  manche  hervorragende 
Helden  der  Ilias  solche  Schilde.  Den  Tragriemen  nennt  Homer  tsXx.xc^v  (II  388 ; 
V  796,  798 ;   XI  38  und  an  anderen  Stellen).    Sogar  das   Exercieren  mit  dem 
schweren  Schilde,  den  Kunstgriff,  ihn  mit  dem  Telamon  andauernd  nach  hnks  und 
nach  rechts  werfen  zu  können,  kennt  Homer,  der  den  Hektor  vor  Beginn  des  Zwei- 
kampfes   mit  Aias   sich  dessen  rühmen  lässt.  Freilich  darf  man  nicht  glauben, 
dass  Homer  nur  diesen  großen  mykenischen  Schild  kennt.  Manche  Stellen  der  Ilias 
sind  nur  verständlich,  wenn  man  an  den  kleineren  Rundschild  denkt,  der  mit  der 
linken  Hand  an  einem  Bügel  gehalten  wurde.  ^ 

Um  das  Anschlagen  des  großen  Schildes   an  die  Schienbeine  zu  mildern, 
trug  man  in  mykenischer  Zeit  Gamaschen   aus  Zeug  oder  Leder,  die  wohl  bis- 

»  Reichel,  der  fiir  die  Ilias  nur  den  großen  Schüd  gelten  lässt  (nur  K  152;  A  32-40 
und  373  sei  der  jüngere  Schild  eingedrungen),  schießt  offenbar  über  das  Ziel  liinaus. 
Es  ist  nicht  einmal  völlig  sicher,  dass  der  Rundschüd  der  mykenischen  Cultur  noch  un- 
bekannt war.  Die  Denkmäler  sind  nicht  ohne  Spur  des  Rundschildes.   Maxim.  Mayer 
führt,  Berliner  Phil.  Wochenschrift,  1895,  S.  516  f.,  die  Scherbe  ägyptischen  PorzeUanes 
an,  auf  der  der  Bügelschüd  zu  ergänzen  ist,  sowie  die  allgemein  für  eine  Schüdnach- 
bildung  gehaltene  Holzplatte  aus  dem  fünften  mykenischen  Schachtgrabe,   die  sich  in 
der  That  wegen  ihrer  Kleinheit  (kaum  V.  "*  Durchmesser)  und  wegen  ihrer  Form  nicht 
zu  einem  gewölbten  mykenischen  Schild  ergänzen  lässt.  Endlich  fahren  die  fremden 
Söldner  auf  ägyptischen  Büdwerken  des  vierzehnten  Jahrhunderts,  die  vielbesprochenen 
Sardana,  nicht  den  Rundschüd.  Reichel  zieht  sie  als  Nichtgriechen  nicht  in  Betracht. 
Aber  sie  scheinen  doch  ein  Volk  gewesen  zu  sein,   das  in  den  Kreis  der  mykenischen 
Cultur  gehört,  wie  der  hömergeschmückte  Helm  und  das  mykenische  Schwert  beweisen, 
und  de  Rouge s  Vermuthung,  dass  darunter  Sarden  zu  verstehen  sind,  ist  durch  W.  Max 
Müller  (a.  a.  O.,  S.  371  ff.)  aufs  neue  gestützt  worden.  Aber  auch  abgesehen  von  diesen 
Dingen,  verlangen,  wie  Scheindler  (Zeitschrift  für  österreichische  Gymnasien,  1895, 
S.  398  ff.)  zeigt,  mehrere  Stellen  der  Ilias  die  Annahme  des  kleineren  Rundschildes.  Zwar, 
dass  Achilles  und  Hektor  bei  dem  Lauf  um  die  Stadt  aus  dem  Grunde  den  mykenischen 
Schild  nicht  gehabt  haben  können,  weil  man  damit  nicht  schnell  laufen  könne,  wie 
Scheindler  annimmt,  ist  doch  kein  Argument.  Dass  Homer  seine  Helden  nicht  Unmög- 
liches vollbrmgen  lasse,  ist  unrichtig.  Ein  dreimaliger  Waffenlauf  um  die  Stadt  mit  der 
SchneUigkeit  des  Falkenfluges,  X  139,  ist  auch  in  der  einfachsten  Bewaffnung  unmögüch; 


u 

weüen  auch  Metallbeschlag  hatten,  z.  B.  von  Zinn  bei  Achilles ;  solche  Gamaschen 
sind  auch  bei  Homer  unter  den  xvnixTSe?  zu  verstehen.* 

Als  Kopfschutz  trug  der  mykenische  wie  der  homerische  Krieger  nicht 
einen  Visierhelm,  sondern  eine  Kappe  oder  Helmhaube  aus  Leder  (ausnahms- 
weise auch  aus  Metall),  die  um  den  unteren  Rand  über  den  Schläfen  durch 
einen  ehernen  Beif  ((its9<4vyi)  abgeschlossen  wurde.«  Zur  Befestigung  diente  ein 

Sturmband  (l;ii<). 

Zum  Schmuck  und  zur  Erhöhung  des  Eindruckes  war  der  Helm  nicht  nur 
mit  einem  Busch  aus  Rosshaaren  06<po;)  versehen,  sondern  auch  mit  dem  9^X0;, 
der  kein  Helmbügel,  sondern  höchst  wahrscheinlich  ein  metallener,  hornartiger 
Vorsprung  war,  welcher,  entweder  einzeln  oder  mehrfach  am  Helm  angebracht. 


einen  Stein,  den  zwei  kräftige  Männer  nicht  tragen  können,  kann  unmöglich  einer 
(E304)  mit  Leichtigkeit  schwingen  und  schleudern.  Mit  solchen  Beweisgiünden  soUte  man 
nicht  kommen.  Schon  Aristoteles  (Poetik, 35)  hat  üher  jenen  WafFenlauf  richtiger  geurtheüt. 
Aber  an  vielen  anderen  Stellen  wird  man  Scheindler  zustimmen  müssen.  Ich  fuge  noch 
folgenden  Grund  hinzu:  Wenn,  11  214  f.,  die  Myrmidonen  vor  Achilleus  stehen,  Schüd 
an  Schild,  so  eng  aneinander  geschlossen,  wie  die  Steine  einer  kunstvoll  gebauten  Mauer, 
so  ist  erstens  so  enge  Fügung  bei  der  Form  des  mykenischen  Schildes  nicht  möglich, 
zweitens  ist  der  mykenische  Schild  eine  Herrenwaffe,  die  nicht  der  Masse  zukommt. 
Das  Gleiche  gut  gegen  ^1  105,  ^  127;   er  ist  durchaus  far  den  Einzelkampf  berechnet, 
und  die  Myrmidonen  konnten  ihn  nicht  geführt  haben.  Man  beachte  aber,  dass  n  zu 
den  ältesten  Schichten  der  Dias  gehört  und  dass  diese  Stelle,  soviel  ich  sehe,  noch  von 
keinem  Kritiker  angefochten  worden  ist.  —  Schwierig  ist  die  durch  Reichel  aufge- 
worfene Panzerfrage.  Neben  der  mächtigen  Schutzwaffe  des  mykenischen  Schildes  war 
nach  Reichel  ein  Panzer  unnöthig  und  unmöglich.  Die  Odyssee  kennt  den  Panzer  nicht 
und  auch  in  der  Ilias  sind  viele  Helden  panzerlos  und  an  manchen  Stellen,  wo  er  vor- 
kommt, zeigt,  sagt  Reichel,  die  Schilderung  der  Kämpfe  und  Verwundungen,  dass  sie 
eigentlich  ohne  Panzer  gedacht  und  mit  dem  Panzer  unverständlich  sind.  Hieher  gehört 
besonders  V  857  ff.  (=  U  251  ff.),  wo  des  Menelaos  Speer  Schild  und  Panzer  des  Paris 
durchbohrt  hat  und  dieser  doch  noch  im  Stande  ist,  durch  eine  rasche  Körperbewegung 
auszuweichen:  o  &*lxXiv»ij  xoi  iXsua^o  xf.pa  {xAaivav;  jeder  Unbefangene  wird  die  hinter  xoi 
stehenden  Worte  als  Folge  des  exXiv^,  auffassen,  was  nothwendig  den  Panzer  ausschließt. 
Scheindler  sucht  für  diese  und  weitere  Stellen  durch  zwar  scharfsinnige,  aber  etwas 
gezwungene  Erklärungen  den  Panzer  zu  retten.  Dennoch  scheint  mir  soviel  sicher  zu 
sein,  dass  sich  schwache  Spuren  der  panzerlosen  mykenischen  Zeit  bei  Homer  erhalten 
haben.  Eine  Einschränkung  wird  die  Annahme  Reicheis  auch  insofeme  erfahren  müssen, 
als  Reichel  nur  den  Plattenpanzer  im  Auge  hat.  Man  darf  aber  mit  einigem  Rechte  auch 
an  einen  mit  Metall  besetzten  Rock  denken,  den  man  als  Panzer  nahm  (M.Mayer, 
Berliner  Phil.  Wochenschrift,  1895,  S.  484  f ),  und  das  Beiwort  der  Achaier  yaXxoyixwve? 
scheint  diese  Annahme  geradezu  zu  verlangen.  Reichel  will,  S.  110  f.,  darin  einen  bild- 
lichen, auf  den  Schild  bezüglichen  Ausdruck  finden ;  der  mykenische  Schild  ist  ihm  das 
verhüllende  Gewand,  eine  Ansicht,  die  wohl  keinen  Beifall  finden  wird. 

»  Reichel  a.  a.  0.,  S.  72—79.  Dass  aber  die  Existenz  solcher  xvt,{xi86?  nicht  durch 
den  mykenischen  Schild  hervorgerufen  sein  kann,  zeigt  M.  Mayer,  Berliner  Phil. Wochen- 
schrift, 1894,  S.  514.  Sie  kommen  ja  auch  bei  Leuten  vor  —  auf  mykenischen  Denk- 
mälern —  die  keinen  Schild  tragen,  überhaupt  nicht  bewafihet  sind. 
*  Über  die  Helme  Reichel  a.  a.  0.,  S.  112—128. 


25 

auch  als  Hiebfänger  diente.*  Manchesmal  war  die  Lederkappe  reihenweise  mit 
Eberzähnen  besetzt;  einen  solchen  Helm  trägt  Meriones  IL,  X  263.« 

Die  Angriffs  Waffen  der  mykenischen  Zeit  sind  natürlich  aus  Bronze;  ebenso 
kennt  die  Ilias  bis  auf  zwei  Verse  (IV  123  und  XVIH  34)  nur  bronzene  Schwerter, 
Lanzen  und  Pfeile,  und  doch  kamen  in  der  Zeit,  in  der  die  Ilias  ihren  Abschluss 
erhielt,  schon  eiserne  Waffen  in  Gebrauch.  Aber  die  merkwürdige  Treue,  mit  der  die 
Ilias  mitunter  Zustände  des  älteren  Kriegswesens  bewahrt  hat,  geht  noch  weiter. 
Jüngst  ist  von  H.  Kluge«  der  Versuch  gemacht  worden,  einige   erhaltene  bild- 
liche Kampfscenen  aus  mykenischer  Zeit  in  homerischen  Kampfdarstellungen 
wiederzuerkennen.  Diese  Darstellungen  finden  sich  auf  dem  Kasten  eines  Gold- 
ringes,  auf  einem  geschnittenen  Sardonyx,   auf  drei  goldenen  Schiebern  eines 
Schmuckes,   auf  einer  Dolchklinge  und  auf  einer  Grabstelle.   Hier  soll   nur  die 
Darstellung  hervorgehoben  werden,  die  die  größte  Ähnlichkeit  mit  einer  homerischen 
hat ;  sie  findet  sich  auf  dem  Goldringe*  und  stimmt  allerdings  erstaunlich  mit  der 
Scene  der  Ilias   IV  517—538   überein,   wo   erzählt  wird,   wie  der  Epeierkönig 
Diores  von  dem  Thraker  Peiroos  mit  einem  Stein  am   rechten   Fuß  verwundet 
und  dann  durch  einen  Lanzenstoß  in  den  Bauch  vollends  getödtet  wird,  worauf 
der  Aetolerfürst  Thoas  den  Peiroos   mit  der  Lanze  in  die  Brust  trifft  und  ihm 
dann  sein  Schwert  in  den  Leib  stößt.  Die  Waffen  aber  kann  er  ihm  nicht  rauben, 
denn   schon   kommen  die  anderen  Thraker  gegen   ihn   heran.    Den  Getödteten 
(Diores),  den  Rächenden  (Thoas),  der  sein  Schwert  gegen  den  Leib  des  infolge 
der  ersten  Wunde  Zusammenknickenden  (Peiroos)  zückt,  und  den  von  rechts  Herbei- 
eilenden  (einen,  statt  mehrerer)  sieht  man  wirklich  ganz  deutlich  auf  dem  Siegel- 
ring;  sogar  den  Stein  will  Kluge   auf  dem  Bilde  neben  dem  Fuße   des  Todten 
erkennen.   Auch  ein  Zweifler  muss  das  eine  zugestehen,  dass  eine  große  Über- 
einstimmung der  Auffassung  in  den  mykenischen  Bildern  und  in  gewissen  Schil- 

»  Diese  Vorsprünge  hätten  nach  Reichel  dem  Hehn  die  Bezeichnung  aOXoijct? 
(—  röhrenaugig),  K  182,  A  352,  verschafft.  Waren  sie  nämUch  zu  zweien  vom  auf  dem 
Hehn  angebracht,  so  mochte  die  Phantasie  in  diesen  wie  Fühlhörner  vorragenden  ?iXot 
Augen  sehen.  Diese  unwahrscheinUche  Annahme  beruht  nur  auf  den  Helmen  der  „my- 
kenischen Kriegervase"  (Furtwaengler-Loeschke,  Mykenische  Vasen,  Tafel  XLH, 
XLHI;  Schuchhardt,  Abbüd.  300,  301),  diese  gehört  aber  dem  sogenannten  vierten 
Stil  an,  soUte  daher  nicht  mehr  in  Betracht  kommen  und  wird  auch  von  Reichel,  S.60, 
für  die  Schüdfrage  ausgeschaltet.  —  Mitunter  und  ursprünglich  mögen  wohl  wirkUche 
Hörner  als  ^iXoi  gedient  haben,  wie  ja  die  Sitte,  den  Helm  mit  Hörnern  zu  besetzen, 
sich  lange  erhalten  hat;  wenigstens  trug  Pyrrhus  von  Epirus  nach  Plutarch  auf  semem 
Hehn  Bockshörner.  Man  mag  damit  auch  die  asiatische  (?)  Sitte  vergleichen,  das  Kopf- 
geschirr der  Pferde  mit  Büffelhömem  zu  besetzen,  woher  wohl  der  Name  Bukephalas. 

«  Vgl.  auch  Tsundas,  IVMvat,  S.  80,  über  ein  Häufchen  bearbeiteter  Eberzähne 
aus  dem  dritten  Schachtgrab  von  Mykenä;  diese  Zähne  stammten  zweifeUos  von  emem 
solchen  Helm,  dessen  Leder  vergangen  ist. 

«  Vorhomerische  Abbildungen  homerischer  Kampfscenen,  Fleckeisens  Jahrbuch, 
1892,   S.  369-385. 

*  Abgebüdet  bei  Schliemann,  Mykenä,  Nr.  334;  Schuchhardt,  Schüemanns 
Ausgrabungen«,  Nr.  231;  Reichel,  Fig.  11  (Abdruck,  also  verkehrt). 


26 


deruDgen  der  Ilias  besteht.  Darin  freilich  geht  Kluge  zu  weit,  wenn  er  die  fast 
übermäßig  oft  in  der  Ilias  erscheinende  Benutzung  des  Löwen  in  Gleichnissen 
aus  der  großen  Beliebtheit  des  Löwen  als  Motivs  bildhcher  Darstellung  in  der 
mykenischen  Cultur  erklärt.  Beide  Erscheinungen  wurzeln  vielmehr  in  demselben 
Boden.  Der  Löwe  war  in  der  mykenischen  Zeit  in  Griechenland,  Thrakien  und 
Kleinasien  gewiss  nicht  selten ;  er  wurde  gejagt,  und  die  Jagd  war  damals  noch 
kein  Sport.  Er  ist.  damals  das  Thier  xät  e^oyviv  gewesen.  Darum  hat  ihn  nicht 
nur  die  mykenische  Kunst  so  oft  verwendet,  sondern  auch  die  älteste,  vorhomerische 
Poesie  hat  sich  seiner  bemächtigt,  und  darum  erscheint  er  noch  bei  Homer  so 
häufig  und  mit  ganz  anderer  Berechtigung  als  im  Nibelungenlied,  wo  Siegfried 
(879,  1)  durch  einen  Pfeilschuss  einen  Löwen  tödtet. 

Bekannt  genug  ist,  dass  die  homerischen  Helden  im  Kampfe  und  auch  sonst 
nie  reiten.  Hievon  macht  nur  die  jüngere  Dolonie  eine  Ausnahme.  Und  doch  war 
das  Reiten  im  neunten  und  achten  Jahrhundert  gewiss  schon  bekannt.  In  der 
dreiunddreißigsten  Olympiade,  also  um  die  Mitte  des  siebenten  Jahrhunderts, 
wurde  das  Wettrennen  mit  Bossen  in  die  olympischen  Spiele  aufgenommen,  was 
eine  lange  Bekanntschaft  mit  dem  Reiten  voraussetzt.  Das  Epos  hat  hier  wieder 
einen  Zug  der  Vorzeit  mit  großer  Zähigkeit  festgehalten  und  keinen  Anachronismus 
hineingebracht. 

Die  lebhaftesten  Beziehungen  zur  mykenischen  Cultur  treten  dort  zutage, 
wo  Homer  von  Kunstgegenständen  spricht.  Vor  den  Ausgrabungen  Schliemanns 
musste  man  den  Schild  des  Achilles,  den  Becher  des  Nestor,  die  goldene  Spange 
des  Odysseus  und  dergleichen  Kleinodien  für  reine  Phantasiegebilde  halten,  die 
bei  der  geringen  Culturhöhe  der  ältesten  historisch-griechischen  Zeit  einfach  un- 
verständUch  waren  —  denn  auch  die  Phantasie  arbeitet  nur  auf  Grund  lebendiger 
Anschauung  weiter.  Heute  weiß  man,  dass  solche  Prachtstücke  wirklich  existiert 
haben,  dass  ihre  Erwähnung  auf  Anschauung  beruht  —  natürlich  hat  sie  nicht 
Homer  selbst  gesehen  —  oder  dass  sie  mindestens  treflflich  im  Geist  und  Cha- 
rakter der  mykenischen  Zeit  erdacht  sind.  Der  bekannte  goldene  Becher  aus  dem 
vierten  mykenischen  Schachtgrab  ist  ja  ganz  wie  ein  Vorbild  des  Nestorbechers 
(II.,  XI  632),  nur  die  Zahl  der  Henkel  und  Tauben  ist  ungleich.  Dass  der  Schild 
des  Achilles  vom  Dichter  als  mykenischer  und  nicht  als  Rundschild  gedacht  ist, 
bat  Reiehel  gezeigt.  Der  Bilderschmuck  passte  technisch,  räumlich  und  inhaltlich 
vortrefflich  für  einen  mykenischen  Schild.  Die  Technik,  die  Hephaistos  anwendet, 
der  mit  Bronze,  Gold,  Silber,  Zinn  und  dunklem  Schmelz  (xuotvo?,  XVIII  564) 
arbeitet,  zeigt  eine  schlagende  Übereinstimmung  mit  der  Arbeit  auf  den  Dolch- 
klingen von  Mykenä.  Auf  die  Anordnung  der  Bilder  kann  hier  nicht  eingegangen 
werden.*  Reiehel  ist  der  Ansicht,  dass  es  sich  bei  dem  Schilde  des  Achilles  um 
eine  wirkliche  Prunkwaffe  handelt,  „die,  so  wie  sie  beschrieben  ist,  dem  Dichter 
Yor  Augen  war".  Unter  dem  Dichter  ist  natürlich  der  Dichter  des  betreffenden 
epischen  Stückes  zu  verstehen,  welches  von  Homer  herübergenommen  worden  ist. 


*  Belchel  a.  a.  O.,  S.  43  ff. 


27 


Was  die  Tracht  anlangt,  so  tragen  allerdings  die  Männer  auf  mykenischen 
Denkmälern  oft  nur  einen  badehosenartigen  Schurz,  z.  B.  in  der  Löwenjagd  auf 
der  Dolchklinge;  dennoch  kennt  schon  die  älteste  mykenische  Zeit  auch  den 
Chiton.i  Wir  werden  annehmen  dürfen,  dass  er  gegen  das  Ende  der  Periode,  in 
die  ja  der  trojanische  Krieg  zu  setzen  ist,  immer  häufiger  wurde.  Gamaschen 
trug  nicht  nur  der  mit  dem  schweren  Schild  bewehrte  Krieger,  sondern  man 
hatte,  wie  viele  Denkmäler  zeigen,  auch  im  Frieden  Anlass,  seine  Beine  damit 
zu  schützen;  so  trägt  auehLaertes  bei  seinen  Arbeiten  im  Garten  (Od.,  XXIV  228) 
wegen  der  scharfen  Dornen  Gamaschen,  eine  Sitte,  die  sich  bei  älteren  Leuten 
in  Hellas  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten  hat. 

Es  darf  allerdings  nicht  verschwiegen  werden,  dass  neben  so  vielem  Über- 
einstimmenden auch  Verschiedenheiten  zwischen  der  mykenischen  und  homeri- 
schen Cultur  vorkommen,  die  eine  Erklärung  verlangen.  Es  handelt  sich  da  um 
zwei  Dinge,   um   die   weibliche  Bekleidung  und  um   die  Todtenbestattung.   Bei 
Homer  tragen  die  Frauen  als  Hauptgewandstück  den  ttet^Xo;,  auch  exvo;  genannt, 
der  nicht  durch  Nähte  zusammengehalten  wird,    sondern  durch  Heftnadeln  oder 
Fibeln  (xspovat)  wie  der  dorische  Chiton.  Dem  gegenüber  begegnen  wir  auf  my- 
kenischen Denkmälern   einer  ganz  anderen,   orientalisierenden  Frauentracht.   Da 
tragen  die  Frauen  einen  Rock,  der  sich  an  den  Oberleib  eng  anschließt  und  die 
Formen  scharf  hervortreten  lässt,»  während  er  von   den  Hüften  abwärts  weit, 
mit  Falbeln  (Volants)  besetzt  und  abgestuft  ist.  Der  Rumpftheil  war  vermutlich 
zum  Knöpfen.»  Abgesehen  von  dieser  Verschiedenheit   fand  Schliemann  in  den 
Schachtgräbern  von  Mykenä  auch  keine  Spur  von  Fibeln.  Dagegen  hat  die  grie- 
chische archäologische  Gesellschaft  in  den  Gräbern  der  mykenischen  Unterstadt 
dreierlei  Arten  von   Bronzefibeln  entdeckt.   Wir   müssen   auch  bedenken,   dass 
unsere  Kenntnis  der  mykenischen  Frauentracht  auf  ganz  wenigen  Darstellungen 
beruht,   die  uns  keinen  sicheren  Schluss  gestatten.*  Es  ist  recht  wohl  möglich, 
dass  die  Frauen  in  der  jüngeren  mykenischen  Zeit  die  asiatische  Art  aufgegeben 
und  die  Fibeltraeht  angenommen  haben. 

In  der  Bestattung  scheint  der  Unterschied  zwischen  mykenischer  und  ho- 
merischer Art  sehr  groß  zu  sein.  Die  Mykenäer  begraben  ihre  Todten,  eine  Sitte, 

rihn  trägt  z.  B.  auf  dem  Bruchstück  des  Silbergefaßes  der  unterste  Krieger  und 
der  Mann  auf  einer  Schale  des  dritten  Stiles  bei  Furtwaengler-Loeschke,  My- 
kenische Vasen,  Tafel  XLI,  427.  . 

»  Dass  der  Oberkörper  nicht  nackt  zu  denken  ist,  lässt  sich  wegen  seiner  Farben- 
gleichheit  mit  der  Farbe  des  übrigen  Gewandes  auf  emer  bUdUchen  Darstellung  mit 

Sicherheit  behaupten.  . 

«  Tsundas  vermuthet,  dass  sehr  viele  sogenannte  Wirtel  wegen  ihrer  Klein- 
heit und  wegen  ihres  zahlreichen  Vorkommens  eher  als  Knöpfe  zu  betrachten  sind, 

A.  a.  0.,  S.  63.  m_    1.     a  OQ        • 

*Studniczka,  Beiträge  zur  Geschichte  der  altgriechischen  Tracht,  b.  ö«,  „wir 
begnügen  uns  zu  constatieren,  dass  wir  bisher  außer  Stande  sind,  sowohl  einen  tief- 
gehenden Gegensatz  als  auch  sichere  Übereinstimmung  der  mykenischen  mit  der  grie- 
chischen Tracht  zu  erkennen".  (Damals  waren  die  Fibelfunde  von  Mykenä  noch  mcht 
bekannt.) 


28 


die  Homer  unbekannt  ist.  Die  mykenische  Art  beruht  auf  dem  bei  den  Natur- 
völkern der  ganzen   Erde  vorkommenden  Glauben  von  der  Macht  der  Todten, 
die  man  sich  gnädig  stimmen  wollte.  Daher  der  großartige  Oultus,  mit  dem  die 
Verstorbenen  geehrt  wurden.    Die  mächtigen,   kunstvollen,   aus  immer   kleiner 
werdenden  Steinkreisen  errichteten  Kuppelbauten  mit  ihrem  Eingangsthor  von 
gewaltigstem  Ausmaße  möchte  man  ja  wahrhaftig  als  Tempel  einer  mächtigen 
Gottheit  auffassen.  Im  Epos  ist  dagegen  das  Verbrennen  der  Leichen  auf  dem 
Scheiterhaufen   ausnahmsloser  Brauch;  die  Knochenreste  werden  gesammelt,  in 
ein  Geföß  gegeben   und  darüber  ein  Grabhügel  aufgeworfen,  tö  y^P  Y^P*?  ^^'^'^ 
^»/ovTtov.  Wie  gering  ist  diese  Auszeichnung,  dieses  ysp«?,  gegenüber  der  gött- 
lichen Ehre,  die  ein  verstorbener  Fürst  in  Mykenä  oder  anderwärts  genoss.  Die 
Überlebenden  wollen  offenbar  bei  Homer  die  gänzliche  Trennung  der  Seele  vom 
Lande  der  Lebenden  (Uias,  XXHI  75,  Odyssee,  XI  218);  sie  wollen  Ruhe  haben 
vor  dem  Todten.  Suchte  man  früher  die  Leiche  zu  erhalten,  weil  man  das  Fort- 
leben der  Seele  davon  abhängig  dachte,  so  that  man  jetzt  das  Gegentheil,»  man 
war  praktischer  geworden.  Und  doch  liegt  der  großartigen  Todtenfeier,  die  Achilles 
dem  Patroklos  veranstaltet,  ein  ebenso  lebhafter  Seelencultus  zugrunde,  wie  den 
feierlichen  Vorgängen,  die  die  Bestattung  in  den  Schacht-  und  besonders  in  den 
Kuppelgräbern  begleitet  haben  müssen.  Überall  ist  es  die  Macht  der  Psyche  des 
Todten,  an  die  man  glaubt  und  die  man  sich  geneigt  machen  will.  Nicht  aus  Pietät 
werden  von  Achilles  zwölf  edle  TroerjüngUnge   geschlachtet  und  strömt,   mit 
Bechern  zu  schöpfen,  das  Blut  von  Stieren,  Schafen,  Ziegen  und  Schweinen 
um  den  Leichnam.  „Es  ist  ein  Rudiment  des  lebhafteren  Seelencultus  einer  ver- 
gangenen Zeit,  eines  Cultus,  der  einst  der  völlig  entsprechende  Ausdruck  für  den 
Glauben  an  Größe  und  dauernde  Macht  der  abgeschiedenen  Seelen  gewesen  sein 
muss,   nun  aber  in  einer  Zeit  sich  unversehrt  erhalten  hat,  die  aus  anders  ge- 
wordenem Glauben  heraus  den  Sinn  solcher  Culthandlungen  nur  halb  oder  auch 
gar  nicht  mehr  versteht. "«  Die  Sitte,  solch  reiche  Todtenopfer  darzubriogen,  lässt 
sieh  aus  den  Kuppelgräbern  nachweisen.  Hier  fand  man  im  Zugang  (Dromos)  zum 
Kuppelraum  Skelette  von  gleichzeitig  begrabenen  Menschen,  vermuthlich  Kriegs- 
gefangenen, die  getödtet,  aber  nicht  in  demselben  Räume  begraben  worden  sind.* 
Im  Eingang  des  Kuppelgrabes  von  Waphi6  fand  sich  eine  tiefe  Grube,  die  wahr- 
scbeinlich  dazu  diente,  das  Blut  der  zu  Ehren  des  Todten  geschlachteten  Thiere 
hineinrinnen  zu  lassen.  Ohne  Zweifel  goss  man  auch  Weihgüsse  aus  Milch  und 
Honig  hinein.  Auch  über  dem  vierten  Schachtgrabe  von  Mykenä  befand  sich  eine 
kreisrunde  Aufmauerung,  die  wohl  als  Opfergrube  benutzt  wurde.   Noch  etwas 
anderes  erinnert  bei  der  Bestattung  des  Patroklos  an  die  ältere  Zeit.  Die  in  den 
Schachtgräbern   von  Mykenä  beigesetzten  Leichen  waren  vermuthlich  in  einer 
gewissen  mangelhaften  Art,  wahrscheinlich  mit  Honig  einbalsamiert,*  sonst  hätten 

«  Bohde,  Psyche,  S.  28  £ 
>  Bohde  a.a.O.,  S.  2L 

*  Tsundas  a.  a.  O.,  S.  151. 

*  Holbig  a.a.O.,  S.o2ff. 


29 


sich  unmöglich  an  einem  Gerippe  die  Fleischtheile  (besonders  des  Gesichtes)  durch 
die  vierthalb  Jahrtausende  so  gut  erhalten  können.  Auf  ehemaliges  Einbalsamieren 
deutet  auch  der  dreimal  in  der  Ilias»  für  „bestatten"  gebrauchte  Ausdruck  rap- 
pstv,  der  wohl  ursprünglich  wie  Tapt^sustv  die  Conservierung  des  Leichnams  be- 
zeichnet.  Und  nun  kommt  auch  bei  der  Leichenfeier  des  Patroklos,  II.,  XXHI  170, 
wie  bei  der  Bestattung  des  Achilles,  Odyssee,  XXIV  68,  eine  eigenthümliche  Sitte 
vor,  die  wie  ein  unverstandenes  Überbleibsel  älterer  Zeit  aussieht :  der  Todte  wird 
auf'  dem  Scheiterhaufen  mit  Töpfen  voll  Honig  (und  Fett)  umstellt.  So  viel  scheint 
mir  sicher,  dass  diese  großartige  Leichenfeier  des  Patroklos  nicht  als  ein  Ana- 
chronismus,  nicht  als  ein  Zug  bezeichnet  werden  kann,  der  die  Zustände  einer 
späteren  Zeit,  der  des  Dichters  wiedergibt.  Die  Sitte  der  Verbrennung  kannte 
gewiss  schon  die  älteste  Überlieferung,  und  dieser  Zustand  einer  älteren  Zeit  ist 
von  ihr  ausnahmslos  festgehalten  worden.  Offenbar  ist  diese  Sitte  der  mykenischen 
Zeit  nicht  fremd  gewesen,  wenn  sie  auch  erst  gegen  das  Ende  aufgekommen  sein 
mag.  Wenn  sich  der  Übergang  von  der  Bestattung  zur  Verbrennung  noch  während 
der  mykenischen  Periode  vollzogen  hat,  so  können  wir  die  parallele  Erscheinung 
in  der  nordischen  Bronzezeit  beobachten.^  Später  mag  dann,  wie  die  ältesten 
Gräber  in  den  Friedhöfen  von  Athen  und  Eleusis  beweisen,  die  Beisetzung  der 
Leichen  wieder  aufgekommen  sein.  Es  hat  also  die  eine  Sitte  die  andere  nicht 
völlig  verdrängt,  vielleicht  haben  sogar  an  irgend  welchen  Orten  beide  nebenein- 
ander bestanden,»  jedenfalls  werden  wir,  da  die  Todten  zur  Zeit  des  Dipylonstiles, 
also  ungefähr  zu  Homers  Zeit,  in  Attika  begraben  wurden,  in  dem  homerischen 
Verbrennen  kaum  einen  Anachronismus  erblicken  dürfen. 

Nicht  homerisch  muthet  uns  endlich  der  kostbare,  protzige  Schmuck  an, 
den  die  fürstlichen  Frauen  und  Männer  nach  den  Funden  in  den  Schachtgräbern 
von  Mykenä  und  im  Kuppelgrab  von  Waphio  getragen  haben  müssen.  Selbst  die 
Männer  trugen  Armbänder  aus  Metall  oder  aus  geschnittenen  Steinen.  Im  Grab 
von  Waphio  fanden  sich  über  zwanzig  solcher  Steine  in  zwei  Häufchen  zu  Händen 
des  Todten,  der  nach  anderen  Beigaben  zu  schließen  ein  Mann  war.  Zu  Häupten 
standen  zwei  Alabastergefäße,  das  eine  mit  einem  kleinen  silbernen  Löffel.   Das 
Gefäß  enthielt  vermuthlich  eine  Salbe.  Auch  ein  Metallspiegel  lag  daneben.  Eine 
Anspielung  auf  solchen  Männerschmuck  enthält  die  Ilias,  H  872,  wenn  es  von 
dem  Führer  der  Karer  heißt,  dass  er  in  den  Krieg  zog  mit  Gold  geschmückt 
wie  ein  Mädchen.  Die  mykenischen  Edelfrauen  trugen  reichen  Schmuck  im  Haar; 
nach  den  Gräberfunden  auf  der  Akropolis  von  Mykenä  hatten  sie  wohl  bei  fest- 
lichen Gelegenheiten  auch  ornamentierte  Goldplättchen  auf  das  Gewand  genäht. 
Solche  asiatische  Barbarei  ist  Homer  fremd,  aber  eine  Spur  davon  verräth  uns 
die  „goldene«  Aphrodite.  Homer  nennt  sie  wohl  wegen  ihrer  Schönheit  so,  aber 
es  spricht  viel  dafür,  dass  sich  das  Beiwort  ursprünglich  auf  ihre  Kleidung  und 

»  H  85,  n  456,  674. 

*  Sophus  Müller,  Die  nordische  Bronzezeit,  Jena  1878,  S.  72  ff. 

•  Wie  in  Hallstadt,  Marzabotto  und  der  Certosa  bei  Bologna,  wo  man  Gräber 
mit  Skeletten  und  mit  verbrannten  Gebeinen  nebeneinander  findet. 


II 


90 

ihren  Schmuck  bezogen  hat.*  Der  übermäßige  Goldschmuck  kam  wohl  aus  Syrien, 
der  Heimat  dieser  Göttin,  nach  Mykeni. 

Was  die  rehgiösen  Vorstellungen  der  Mykenäer  anlangt,  so  lässt  sich  hier 
noch  wenig  Sicheres  mittheilen,  so  nahe  auch  die  Annahme  liegt,  dass  viele 
Götter  der  späteren  Zeit  schon  damals  verehrt  worden  sind.  Auf  einige  phantastische 
Behauptungen  aus  neuerer  Zeit  kann  hier  nicht  eingegangen  werden.  Dass  ein 
Cult  der  abgeschiedenen  Seelen  bestanden  hat,  zu  denen  man  wie  zu  einer 
Gottheit  betete,  wovon  sieh  noch  in  späterer  Zeit  Spuren  finden,«  ist  bereits  an- 
gedeutet worden.  Wahrscheinlich  war  auch  eine  Art  Thierdienst  auf  den  Inseln 
und  Küsten  des  Mittelmeeres  verbreitet.»  Der  Cult  eiuiger  griechischer  Haupt- 
gottheiten, namentlich  der  Athena,*  des  Poseidon,  der  Demeter  Eleusinia,«^  wurzelt 
sicher  in  vordorischen  Zeiten.  Poseidon  scheint  namentlich  als  Erderschütterer, 
yan^oxo?  (oder  y*»^Fox^,  wie  das  Wort  in  den  ältesten  Inschriften  geschrieben 
ist«),  der  unter  die  Erde  fährt  und  sie  erschüttert,  auf  den  erdbebenreichen 
Inseln  und  Kästen   des  ägäischen  Meeres  allenthalben  verehrt  worden  zu  sein. 

Ein  sehr  beachtenswerter  und  charakteristischer  Zug  des  Epos  ist  die  Nicht- 
erwähnung der  Dorier  und  der  griechischen  Wanderung.  In  diesem  Punkte  hält 
die  Dichtung  wieder  merkwürdig  streng  an  den  Zuständen  der  älteren  Zeit  fest.'' 

Diese  angeführten  Thatsachen,  die  sich  noch  vermehren  ließen,  werden, 
denke  ich,  die  Oberzeugung  erweckt  haben,  dass  in  dem  homerischen  Epos  die 
Culturzustände  einer  älteren  Zeit,  der  mykenischen,  an  zahlreichen  Stellen  durch- 
schlagen. Decken  können  sich  homerische  und  mykenische  Cultur  nicht,  man 
müsste  denn  annehmen,  dass  Homer  in  voller  Absicht  die  Cultur  der  Vorzeit 
habe  darstellen  wollen,  was  doch  erst  bei  Dichtern  unseres  Zeitalters  vorzukommen 
pflegt.  Homer  wollte  gewiss  seinen  Hörern  möglichst  modern  erscheinen,  und  ein 
bewusstes  Antikisieren  konnte  ihm  gar  nicht  in  den  Sinn  kommen.  Was  also 
bei  Homer  mykenisch  ist,  das  muss  aus  der  Oberlieferung  stammen,  deren  Treue 
wahrhaft  erstaunlich  ist.  Zähe,  wie  jene  hessische  Bäuerin,  die  den  Brüdern 
Grimm  die  Märchen  ihrer  Heimat  erzählte,  haben  die  Lieder  der  Sage  einzelne 

«  Tsundas  a.a.O.,  S.  76. 

*  Elektra  betet  in  den  Choephoren  des  Aischylos,  130,  139,  140,  147,  zu  ihrem 
Vater  wie  zu  einem  Gotte. 

*  Cooke,  Animal  worship  in  the  Mycenian  age,  Journal  of  Hellenic  stndies,  1894, 
8.  82  ff.;  doch  geht  Cooke  viel  zn  weit  und  wittert  überall  theriomorphistische  Götter- 
ferehnmg. 

«  Wide,  Lakonische  Cnlte,  S.48ff. 

*  Wide  a.  a.  O.,  S.  176  ff.;  Toepffer,  Attische  Genealogie,  S.  31. 

*  Wide  a.a.O.,  S.88ff. 

'  Allerdings  nennt  die  Odyssee,  x  177,  Dorier  in  dem  Völkergemisch  auf  Kreta. 
Die  Alten  berichten  nun  (Andren,  Frg.  3  und  4,  bei  Müller,  lY,  349,  und  bei  Stephan 
Byz.  s.  y.  Atoptov),  dass  schon  vor  der  dorischen  Wanderung  eine  Besiedlung  Kretas  durch 
die  Dorier  und  andere  Stämme  von  Thessalien  aus  erfolgt  sei.  Man  hat  indessen  diese 
Nachricht  in  neuerer  Zeit  für  eine  Erfindung  ad  hoc  gehalten.  Evans  hat  ihr  aber 
a.  a.  O.,  S.  359  f.)  durch  den  Nachweis  gewisser  Beziehungen  zwischen  Thessalien  und 
Kreta  in  vordorischer  Zeit  eine  Stutze  gegeben. 


31 

Züge  festgehalten,  und  mitunter  hat  eine  selbst  durch  viele  Jahrhunderte  gehende 
Überlieferung  sie  nicht  verwischen  können.  Hiefür  bietet  das  Bild  der  Landungs- 
schlacht in  den  Reliefs  des  Heroon  von  Gjölbaschi  ein  interessantes   Beispiel.* 
Hier  wird  die  Leiche  des  von  allen  Kriegern  vor  Troja  zuerst  getödteten  Prote- 
silaos  nicht,  wie  sonst  auf  griechischen  Bildwerken  üblich,  von  den  Seinen  mit 
Händen,  sondern  auf  einen  Schild  gebahrt  getragen.  Dieser  Schild  zeichnet  sich 
noch  dazu  durch  besondere  Grösse  von  den  sonst  auf  diesen  Bildern  dargestellten 
aus;  daher  schloss  Benndorf  mit  Eecht,  „dass  es  sich  hier  nicht  etwa  um  einen 
künstlerisch  hinzuerfundenen  Zug  handle,  sondern  um  einen  im  Stoflfe  der  Er- 
zählung selbst  liegenden,  welcher  dem  Kriegswesen  der  Zeit,  in  der  diese  Kriegs- 
bilder entstanden,  ungeläufig  war".  Die  Kyprien,  denen  dieses  BUd  entstammen 
muss,  lassen  eben  den  Protesilaos  mit  einem  mykenischen  Schilde  ausgerüstet  sein. 
Jede  Dichtung,   die  ihren  Stoff  aus   der  Vergangenheit  nimmt,  hat  Ana- 
chronismen.  Der  enge  Anschluss  Homers  an  die  Überlieferung  hat  es  mit  sich 
gebracht,  dass  diese  Eindringlinge  in  seinen  Gedichten  seltener«  sind  als  z.  B. 
in  den  griechischen  Tragikern. 

Dritter  Abschnitt. 
Die  sechste  Ansledlung  auf  Hlssarlik  und  die  Angaben  der  llias. 

Bei  der  unverkennbaren  Beziehung  der  homerischen  Gedichte  auf  die  my- 
kenische Zeit  muss  der  Schluss  erlaubt  sein,  dass  von  allen  Ansiedlungen  auf 
Hissarlik  nur  diejenige,  welche  aus  der  Zeit  der  mykenischen  Cultur  stammt, 
darauf  Anspruch  machen  kann,  für  das  homerische  Troja  zu  gelten.  Dann  muss 
man  aber  die  zweite  Stadt  von  unten,  die  bisher  vielen  für  die  homerische  ge- 
gölten  hat,  in  eine  weit  frühere  Zeit  hinaufrücken ;  lassen  sich  doch  zwischen 
ihr  und  der  sechsten  Stadt  noch  drei  Ansiedlungen  von  allerdings  geringer  Be- 
deutung unterscheiden.  Dörpfeld  setzt  die  zweite  Stadt  ungefähr  in  das  Jahr  2000 
vor  Christi.»  Wer  bisher  die  zweite  Stadt  für  die  homerische  ansah,  der  kam 
über  die  Thatsache  nicht  hinaus,  dass  Homer  den  Trojern  und  Achaiern  im  all- 
gemeinen  gleichen  Culturzustand  gibt,  während  die  Funde  in  der  zweiten  Stadt 
beweisen,  dass  die  dort  herrschende   Cultur  von  der  in  Mykenä   und  Tiryns 

wesentlich  verschieden  war. 

Wir  wollen  nun  feststellen,  was  die  Ausgrabungen  von  dieser  mykenischen 
Burg  auf  Hissarlik  ans  Licht  gebracht  haben.*  Wer  jetzt  die  Ruinen  von  Troja 
besucht,   dem  starren,  er  ma^  von  Osten  oder  Süden  sich  nähern  -  auf  den 

rReichel  a.  a.  O.,  S.  63;  Benndorf,  Das  Heroon  von  Gjölbaschi-Trysa,  S.  201 

bis  212 

«Ein  entschiedener  Anachronismus  ist  z.  B.  die  Erwähnung  der  Phönikier,  die 

in  der  mykenischen  Zeit  noch  keine  Rolle  spielten. 

•  Dörpfeld,  Troja,  1893,  Leipzig  1894,  S.  61. 

♦  Dörpfeld  a.  a.  0.  und  Mittheilungen  des  archäologischen  Institutes.  Athen 

1894,  S.  380-394. 


32 


anderen  Seiten  ist  der  Hügel  nicht  leicht  zugänglich  —  die  mächtigen  Burg- 
mauern der  sechsten  Ansiedlung  vor  allem  entgegen.  Dahinter  steckt  ein  Wirrsal 
von  Mauern  und  Gräben,  in  dem  man  ohne  die  kundige  Führung  Dörpfelds  sich 
auch  mit  den  Plänen  nur  mühsam  zurechtfinden  kann.  Die  mittleren  Theile  des 
Hügels  sind  hauptsächlich  von  den  Mauern  der  zweiten  Schicht  eingenommen, 
die  stellenweise  von  denen  der  dritten  bis  fünften  überragt  werden.  Von  den 
Bauten  der  siebenten  und  achten  (historisch-griechischen)  Schicht  ist  (zwischen 
der  Mauer  der  sechsten  und  zweiten)  nicht  viel  erhalten,  dagegen  ziehen  wieder 
im  Osten  und  Nordosten  die  starken   und  tiefen  Quaderfundamente  des  großen 


Athenaheiligthums  aus  römischer  Zeit  (neunte  Schicht)  die  Aufmerksamkeit  auf 
sich.  Diese  römischen  Bauten  durchsetzen  an  einigen  Stellen  die  Mauer  der 
sechsten  Schicht  und  tragen  auf  ihren  Quadern  viele  Steinmetzzeichen.  Von  der 
ersten  Ansiedlung  finden  sich  nur  geringe  Überreste  von  Hausmauern  zwischen 
den  Hauserfundamenten  der  zweiten  Ansiedlung.  Der  noch  erhaltene  Theil  der 
Mauern  der  sechsten  Burg  (vergleiche  beistehenden,  von  Dörpfeld  und  Wilberg 
aufgenommenen,  hier  verkleinerten  Plan,  der  nur  die  Bauten  dieser  und  einige 
der  neunten  Schicht  enthält)  zieht  sich  von  einem  überaus  mächtigen  Thurm  im 
Nordosten  des  Hügels  bogenförmig  und  über  300  m  lang  über  Süden  nach  Westen. 
Das  nordwestliche  und  nördliche  Mauerstück  fehlt  und  ist  offenbar  bei  der  Zer- 
störung oder  nach  derselben  noch  in  alter  Zeit  weggebrochen  worden.  Aus  dem 


33 


.      ^ 


Mauerstück  der  sechsten  Burg  (mit  Vorsprung). 

Links  in  der  Ecke  ist  die  Mauer  mit  einer  schlechteren  der  siebenten  Schicht  verkleidet.  Rechts  Quader- 
fundament der  römischen  Osthalle  des  Athenaheiligthums  Dazwischen  die  später  (in  der  Zeit  der 
siebenten  Schichtj  vermauerte  Pforte  zam  Nordostthurm   Im  Hintergrund  das  Simoeisthal  und,  schwach 

sichtbar,  der  thrakische  Chersones. 

3 


32 


anderen  Seiten  ist  der  Hügel  nicht  leicht  zugänglicli  —  die  machtigen  Burg- 
mauern der  sechsten  Ansiedlung  vor  allem  entgegen.  Dahinter  steckt  ein  Wirrsal 
von  Mauern  und  Gräben,  in  dem  man  ohne  die  kundige  Führung  Dörpfelds  sich 
auch  mit  den  Plänen  nur  mühsam  zurechtfinden  kann.  Die  mittleren  Theile  des 
Hügels  sind  hauptsächlich  von  den  Mauern  der  zweiten  Schicht  eingenommen, 
die  stellenweise  von  denen  der  dritten  bis  fünften  überragt  werden.  Von  den 
Bauten  der  siebenten  und  achten  (historisch-griechischen)  Schicht  ist  (zwischen 
der  Mauer  der  sechsten  und  zweiten)  nicht  viel  erhalten,  dagegen  ziehen  wieder 
im  Osten  und  Nordosten  die  starken   und  tiefen  Quaderfundamente  des  großen 


Athenaheiligthums  aus  römischer  Zeit  (neunte  Schicht)  die  Aufmerksamkeit  auf 
sich.  Diese  römischen  Bauten  durchsetzen  an  einigen  Stellen  die  Mauer  der 
sechsten  Schicht  und  tragen  auf  ihren  Quadern  viele  Steinmetzzeichen.  Von  der 
ersten  Ansiedlung  finden  sich  nur  geringe  Überreste  von  Hausmauern  zwischen 
den  Häuserfundamenten  der  zweiten  Ansiedlung.  Der  noch  erhaltene  Theil  der 
Mauern  der  sechsten  Burg  (vergleiche  beistehenden,  von  Dörpfeld  und  Wilberg 
aufgenommenen,  hier  verkleinerten  Plan,  der  nur  die  Bauten  dieser  und  einige 
der  neunten  Schicht  enthält)  zieht  sich  von  einem  überaus  mächtigen  Thurm  im 
Nordosten  des  Hügels  bogenförmig  und  über  300  m  lang  über  Süden  nach  Westen. 
Das  nordwestliche  und  nördliche  Mauerstück  fehlt  und  ist  offenbar  bei  der  Zer- 
störung oder  nach  derselben  noch  in  alter  Zeit  weggebrochen  worden.  Aus  dem 


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Mauerstück  der  sechsten  Burg  (mit  Vorsprung). 

Links  in  der  Ecke  ist  die  Mauer  mit  einer  schlechteren  der  siebenten  Schicht  verkleidet.  Rechts  Quader- 
fundament der  römischen  Osthalle  des  Athenaheiligthums  Dazwischen  die  später  (in  der  Zeit  der 
siebenten  Schicht)  vermauerte  Pforte  zum  Nordostthurm   Im  Hintergrund  das  Simoeisthal  und,  schwach 

sichtbar,  der  thrakische  Chersones. 

3 


35 


Mauerzug  springen  drei  Thürme  vor.  In  den  starken  Nordostthurm  führt  eine 
kleine  Pforte  {R  auf  dem  Plane) ;  ein  Thor  unterbricht  östlich  (Ä),  eines  südlich 
(VIT)  die  Mauerflucht;  im  Südwesten  endlich  findet  sich  ein  drittes,  schon  in 
der  mykenisehen  Zeit  vermauertes  Thor  (VI  ü).  Die  Mauer  ist  vorzüglich  er- 
halten, in  ihrem  unteren  Theile,  wo  sie  zugleich  Stützmauer  ist,  4-6—5  m  stark, 
aus  großen,  flachen,  an  der  Außenseite  meist  glatt  bearbeiteten  Steinen  mit 
starker  Böschung  erbaut.  Auf  diesem  mächtigen,  geböschten  Unterbau  erhebt 
sich  erst  die  Obermauer,  die  aber  nur  mehr  auf  der  Ostseite  erhalten  ist,  eine 
Dicke  von  1-8— 2*0  m  hat  und  nahezu  senkrecht  aufsteigt.  Hier  im  Osten  hat 
die  Stütz-  und  Obermauer  heute  noch  stellenweise  eine  Höhe  von  6  m  und  darüber. 
Die  ganze  Mauer  ist  auf  ihrer  Außenseite  nirgends  bogenförmig  gerundet,  sondern 
bricht  sich  in  zahlreichen  Winkeln  von  etwas  unter  180»,  bildet  also  ein  Vieleck, 
dessen  Seiten  meist  8—9  m  lang  sind.  Was  der  Mauer  außer  ihrer  vortreff'lichen 
Erhaltung  ein  so  stattliches  Aussehen  verleiht,  das  sind  die  Vorsprünge,  die  an 
jeder  Ecke  sorgfältig  ausgearbeitet  sind  und  eine  gefällige  Gliederung  der  Mauer- 
flucht bilden;  denn  diese  nur  10 — 15cm  herausragenden  Vorsprünge  können  wegen 
ihres  geringen  Maßes  nicht  zur  Vertheidigung,  sondern  nur  zur  Verzierung  ge- 
dient haben.  Vergleiche  die  umstehende,  nach  einer  Photographie  Dörpfelds  ge- 
machte Abbildung,  welche  das  Mauerstück  bei  dem  Buchstaben  R  im  Quadrate 
K3  des  Planes  wiedergibt.  Ähnliche  Vorsprünge  finden  sich  auch  an  mykenisehen 
Burgen  Griechenlands,  namentlich  an  der  oben  erwähnten  Burg  Gla  am  Kopaissee;^ 
wir  erblicken  darin  eine  Bestätigung  für  den  regen  Verkehr  Trojas  mit  dem  östhchen 
Hellas,  den  wir  schon  wegen  der  mykenisehen  Vasenfunde  annehmen  mussten. 

Der  große  Nordostthurm  ragt  heute  noch  bis  zu  einer  Höhe  von  9  m,  bei 
einer  Breite  von  18  m,  empor  und  ist  aus  vorzüglich  gefügten  Quadern  erbaut 
(?gl.  die  Abbildung  im  Text  nach  einer  Photographie  Dörpfelds).  Er  enthält  einen 
viereckigen  Brunnenschacht,  der  tief  in  den  Burgfelsen  hineingetrieben  ist.  Ein 
zweiter,  kleinerer  Thurm  springt  weiter  südlich  aus  der  Mauer,  25  m  vom  Ost- 
thor entfernt,  zu  dessen  Schutz  er  jedenfalls  dienen  sollte.  Endlich  flankiert  ein 
dritter,  nur  wenig  kleinerer  Thurm  links  den  Eingang  des  Südthores.  Beide 
Thürme  enthalten  je  ein  Thurmzimmer ;  das  des  Südthurms  ist  durch  eine  Thüre 
mit  dem  Burginnern  verbunden,  während  das  Zimmer  des  Ostthurms  nur  von 
oben  zugänglich  war.  Dörpfeld  unterscheidet*  an  der  Burgmauer  drei  verschiedene 
Bauweisen.  Am  schlechtesten  ist  die  Mauer  im  Westen,  am  besten  sind  die  Thürme 
und  die  Südstrecke  der  Mauer  gebaut.  Zu  erklären  ist  dies  nach  Dörpfeld  dadurch, 
dass  die  Kunst  der  Steinbearbeitung  während  des  langen  Baues  sich  immer  mehr 
vervollkommnete. 


<  Noack  a.  a.  0.,  S.  425  ff.  Koack  erklärt  S.  430  diese  Eigenthümlichkeit  als  Stili- 
sierong  eines  früher  wirklich  praktischen  Zwecken  (zur  Flankierung)  dienenden  Motives. 
Vielleicht  sind  es  Stilisierungen  der  t^Xm  npoßX^-ce;,  M  259,  die  man  bei  flüchtigem  Mauer- 
werk nöthig  hatte.  Die  Baukunst  ist  ja  so  conservativ,  einmal  verwendete  Formen  bei- 
zubehalten, selbst  wenn  die  Anwendung  anderen  Materials  sie  entbehrlich  macht. 

'  Dörpfeld,  Mittheilungen  des  archäologischen  Institutes,  1894,  S.  385. 


36' 


Das  Innere  der  Burg  war,  wie  die  Grabungen  gezeigt  haben,  in  Terrassen 
aufgebaut,  welche  nach  der  Mitte  anstiegen.  Die  Burgen  der  mykenischen  Epoche 
seheinen  fast  alle  terrassenförmig  gewesen  zu  sein.*  Auf  der  ersten  Terrasse 
lagen  die  meisten  der  aufgefundenen  großen  Wohnhäuser,  denn  als  solche  dürfen 
wir  die  einzelnen  Gebäude  wohl  ohne  Bedenken  bezeichnen.  Zwischen  der  unteren 
oder  ersten  Terrasse  und  der  Burgmauer  befand  sich  im  Süden  und  Osten  ur- 
sprünglich ein  breiter,  freier  Raum,  der  in  einer  späteren  Zeit,  aber  noch  vor 
Zerstörung  der  Burg,  als  der  Fußboden  schon  etwas  gestiegen  war,  von  einer 
großen  Anzahl  kleiner  Gemächer  eingenommen  wurde,  in  denen  sich  viele  jener 
fassartigen  großen  Thongefäße  (-tdoi)  fanden,  die  zur  Aufbewahrung  von  Getreide, 
Ol,  Wein  und  Wasser  benutzt  wurden.  Verkohlte  Gerste  hat  sich  noch  in  vielen 
dieser  Pithoi  gefunden.  Zwölf  standen  in  dem  mit  s  bezeichneten  Räume  (im 
Quadrat  J  5  des  Planes)  dicht  gedrängt  nebeneinander.  Sonach  darf  man  in  diesen 
Räumen  Vorrathskanimern  erblicken,  und  wir  werden  uns  an  die  Stelle  der  Odyssee, 
II  338  ff.,  erinnern,  wo  Telemachos  in  die  Vorrathskammer  seines  Vaters  hinab- 
steigt, um  sich  für  seine  Reise  vorzusehen. 

„Dort  auch  standen  Gefäße  (-i'ifot)  des  alten  balsamischen  Weines, 
Welche  süß  und  lauter  das  Göttergetränk  ihm  bewahrten, 
Ringsumher  (i^etV^?)  an  die  Mauer  gestellt." 

Im  ganzen  sind  die  Überreste  von  sechzehn  solcher  Kammern  aufgedeckt 
worden. 

Die  Bauart  der  Häuser,  von  denen  natürlich  meist  nur  die  Fundamente, 
seltener  Stücke  von  den  aufsteigenden  Mauern  gefunden  worden  sind,  weist  noch 
stärkere  Verschiedenheiten  als  die  der  Mauer  auf.  Manche  Hausmauern  sind  ge- 
radezu kyklopisch,  also  aus  kaum  bearbeiteten  Steinen  mit  Lehmmörtelverband. 
Bei  anderen  aber  sind  die  Steine  gut  bearbeitet  und  ohne  Bindemittel  dicht  an- 
einandergefügt. Wichtig  ist  die  Thatsache,  dass  die  Wände  der  Häuser  durchaus 
aus  Stein,  nicht  wie  in  der  zweiten  Burg  aus  Lehmziegeln  erbaut  sind.'-^  Die 
meisten  Häuser  haben  einen  sehr  einfachen  Grundplan.  Hinter  einer  rechteckigen 
Vorhalle  liegt  ein  großer  Saal  von  gleicher  Breite,  aber  bedeutender  Tiefe.  Die 
Vorhalle  wird  merkwürdigerweise  nicht  wie  in  den  Königshäusern  von  Tiryns 
und  Mykenä  von  Säulen  getragen,  wenigstens  haben  sich  keinerlei  Standspuren 
von  Säulen  der  Vorhallen  erhalten.  Gerade  so  war  es  auch  in  der  zweiten  Stadt 
gewesen.  Unbekannt  war  indessen  die  Verwendung  der  Säule  auch  den  Be- 
wohnern dieser  Burg  nicht.  Im  Osten  wurden  die  Reste  eines  Gebäudes  {VI  C) 
aufgedeckt,  indem  sich  genau  in  der  Längenachse  des  Saales  eine  Säulenbasis 
gefunden  hat.  Ihre  Stellung  zwingt  zur  Annahme  zweier  weiterer  Säulen,  so  dass 

'  Dörpfeld,  Troja,  1893,  S.  33.  So  auch  nach  Evans  die  erwähnte  Burg  Gulas 
auf  Kreta. 

3  Denn  es  wurden  keine  Ziegelbrockeu  wie  m  der  zweiten  Burg  gefunden.  Ferner 
ward  über  dem  Gebäude  VIA  später,  zur  Zeit  der  siebenten  Schicht,  ein  Haus  gebaut, 
dessen  gut  bearbeitete,  charakteristische  Steine  oÖ'enbar  dem  älteren  Gebäude  ent- 
nommen waien.  Dörpfeld,  Troja,  1893,  S.  18. 


37 


wir  einen  Saal  vor  uns  sehen,  der  durch  drei  Innensäulen  in  zwei  Längsschiffe 
getheilt  war.  Jüngst  ist  die  gleiche  Erscheinung  an  einem  aus  dem  siebenten 
Jahrhundert  stammenden  Tempel  in  Neandria,  sieben  Stunden  südüch  von  Hissar- 
hk,  auf  dem  Tschigri  Dagh  nachgewiesen  worden. ^  Dort  wird  der  Innenraum 
(8*04  w  X  19-82  ?w)  durch  eine  mittlere  Reihe  von  sieben  Säulen  in  zwei  gleich- 
wertige Längsschiffe  getheilt.  Und  so  hält  Dörpfeld  auch  dieses  Gebäude  VI  C 
für   einen  Tempel.    Im   ganzen   sind  im  Innern   der   sechsten   Burg  außer  den 


Nordecke  des  grossen  Thurnns. 

Lluks  römisches  Quaderfundament  mit  Steinmetzzeichen. 


Vorrathskammern  die  zum  Theil  recht  schwachen  Spuren  von  sechzehn  Gebäuden 
aufgedeckt  worden.  Es  ist  also  verhältnismäßig  gar  nicht  so  wenig  von  der  sechsten 
Burg  erhalten  geblieben,  und  bevor  die  Römer  den  Hügel  ebneten,  muss  noch 
viel  mehr  aufrecht  gestanden  haben.  Man  darf  dagegen  nicht  die  Zerstörung 
Trojas  ins  Feld  führen.  Die  Zerstörung  der  Städte  im  Alterthum  pflegen  wir 
uns  viel  zu  gründhch  vorzustellen.  Von  dem  durch  Mummius  146  v.  Chr.  zer- 
störten Korinth  stehen  heute  noch  sieben  Säulen  eines  uralten  dorischen  Tempels 
mit   ihrem  Gebälk   aufrecht,   und  vor  wenigen  Jahren   standen  gar  ihrer  neun. 


*  Von   Robert    Koldewey,   Neandria ,   51.  Programm   zum  Winkelmannsfest, 
Berlin  1891. 


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Das  Innere  der  Borg  war,  wie  die  Grabungen  gezeigt  haben,  in  Terrassen 
aufgebaut,  welche  nach  der  Mitte  anstiegen.  Die  Burgen  der  mykenisehen  Epoche 
seheinen  fast  alle  terrassenförmig  gewesen  zu  sein.*  Auf  der  ersten  Terrasse 
lagen  die  meisten  der  aufgefundenen  großen  Wohnhäuser,  denn  als  solche  dürfen 
wir  die  einzelnen  Gebäude  wohl  ohne  Bedenken  bezeichnen.  Zwischen  der  unteren 
oder  ersten  Terrasse  und  der  Burgmauer  befand  sich  im  Süden  und  Osten  ur- 
sprünglich ein  breiter,  freier  Baum,  der  in  einer  späteren  Zeit,  aber  noch  vor 
Zerstörung  der  Burg,  als  der  Fußboden  schon  etwas  gestiegen  war,  von  einer 
großen  Anzahl  kleiner  Gemächer  eingenommen  wurde,  in  denen  sich  viele  jener 
fassartigen  großen  ThongeHiße  (zi^^i)  fanden,  die  zur  Aufbewahrung  von  Getreide, 
Öl,  Wein  und  Wasser  benutzt  wurden.  Verkohlte  Gerste  hat  sich  noch  in  vielen 
dieser  Pithoi  gefunden.  Zwölf  standen  in  dem  mit  s  bezeichneten  Räume  (im 
Quadrat  Jö  des  Planes)  dicht  gedrängt  nebeneinander.  Sonach  darf  man  in  diesen 
Räumen  Vorrathskammern  erblicken,  und  wir  werden  uns  an  die  Stelle  der  Odyssee, 
II  338  flf.,  erinnern,  wo  Telemachos  in  die  Vorrathskammer  seines  Vaters  hinab- 
steigt, um  sich  für  seine  Reise  vorzusehen. 

„Dort  auch  standen  Gefäße  (j^'^ot)  des  alten  balsamischen  Weines, 
Welche  süß  und  lauter  das  Göttergetränk  ihm  bewahrten, 
Ringsumher  {i'^itfi)  an  die  Mauer  gestellt." 

Im  ganzen  sind  die  Überreste  von  sechzehn  solcher  Kammern  aufgedeckt 
worden. 

Die  Bauart  der  Häuser,  von  denen  natürlich  meist  nur  die  Fundamente, 
seltener  Stücke  von  den  aufsteigenden  Mauern  gefunden  worden  sind,  weist  noch 
stärkere  Verschiedenheiten  als  die  der  Mauer  auf.  Manche  Hausmauern  sind  ge- 
radezu kyklopisch,  also  aus  kaum  bearbeiteten  Steinen  mit  Lehmmörtelverband. 
Bei  anderen  aber  sind  die  Steine  gut  bearbeitet  und  ohne  Bindemittel  dicht  an- 
einandergefügt. Wichtig  ist  die  Thatsache,  dass  die  Wände  der  Häuser  durchaus 
aus  Stein,  nicht  wie  in  der  zweiten  Burg  aus  Lehmziegeln  erbaut  sind.^  Die 
meisten  Häuser  haben  einen  sehr  einfachen  Grundplan.  Hinter  einer  rechteckigen 
Vorhalle  liegt  ein  großer  Saal  von  gleicher  Breite,  aber  bedeutender  Tiefe.  Die 
Vorhalle  wird  merkwürdigerweise  nicht  wie  in  den  Königshäusern  von  Tiryns 
und  Mykenä  von  Säulen  getragen,  wenigstens  haben  sich  keinerlei  Standspuren 
von  Säulen  der  Vorhallen  erhiüten.  Gerade  so  war  es  auch  in  der  zweiten  Stadt 
gewesen.  Unbekannt  war  indessen  die  Verwendung  der  Säule  auch  den  Be- 
wohnern dieser  Burg  nicht.  Im  Osten  wurden  die  Reste  eines  Gebäudes  (VI  C) 
aufgedeckt,  indem  sich  genau  in  der  Längenachse  des  Saales  eine  Säulenbasis 
gefunden  hat.  Ihre  Stellung  zwingt  zur  Annahme  zweier  weiterer  Säulen,  so  dass 

»  Dörpfeld,  Troja,  1893,  S.  33.  So  auch  nach  Evans  die  erwähnte  Burg  Gulas 
auf  Kreta. 

«  Denn  es  wurden  keine  Ziegelbrocken  wie  in  der  zweiten  Burg  gefunden.  Ferner 
ward  über  dem  Gebäude  VIA  später,  zur  Zeit  der  siebenten  Schicht,  ein  Haus  gebaut, 
dessen  gut  bearbeitete,  charakteristische  Steine  offenbar  dem  älteren  Gebäude  ent- 
nommen waren.  Dörpfeld,  Troja,  1893,  S.  18. 


37 

wir  einen  Saal  vor  uns  sehen,  der  durch  drei  Innensäulen  in  zwei  Längsschiffe 
getheilt  war.  Jüngst  ist  die  gleiche  Erscheinung  an  einem  aus  dem  siebenten 
Jahrhundert  stammenden  Tempel  in  Neandria,  sieben  Stunden  südlich  von  Hissar- 
lik,  auf  dem  Tschigri  Dagh  nachgewiesen  worden.*  Dort  wird  der  Innenraum 
(8*04  m  X  19-82  m)  durch  eine  mittlere  Reihe  von  sieben  Säulen  in  zwei  gleich- 
wertige Längsschiffe  getheilt.  Und  so  hält  Dörpfeld  auch  dieses  Gebäude  VI  C 
für   einen  Tempel.    Im   ganzen   sind  im  Innern   der  sechsten   Burg  außer  den 


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Nordecke  des  grossen  Thurms. 

Links  römisches  Quaderfiindamcut  mit  Steinmetzzeicheu. 


Vorrathskammern  die  zum  Theil  recht  seh  wachen  Spuren  von  sechzehn  Gebäuden 
aufgedeckt  worden.  Es  ist  also  verhältnismäßig  gar  nicht  so  wenig  von  der  sechsten 
Burg  erhalten  geblieben,  und  bevor  die  Eömer  den  Hügel  ebneten,  muss  noch 
viel  mehr  aufrecht  gestanden  haben.  Man  darf  dagegen  nicht  die  Zerstörung 
Trojas  ins  Feld  führen.  Die  Zerstörung  der  Städte  im  Alterthum  pflegen  wir 
uns  viel  zu  gründlich  vorzustellen.  Von  dem  durch  Mummius  146  v.  Chr.  zer- 
störten Korinth  stehen  heute  noch  sieben  Säulen  eines  uralten  dorischen  Tempels 
mit  ihrem  Gebälk   aufrecht,   und  vor  wenigen  Jahren   standen  gar  ihrer  neun. 


*  Von  Robert   Koldewey,   Neandria ,   51.  Programm   zum  Winkelmannsfest, 
Berlin  1891. 


38 


Strabo  bemerkt  VIII  372,  wo  er  auf  die  Argolis  zu  sprechen  kommt,  dass  Mj- 
kenü  später  (468  v.  Chr.)  von  den  Argi?ern  spurlos  zerstört  worden  ist  (wnt 
vOv  [tTfiX'  l^^vo;  eOp((nce<r&ai  Tfi?  MuxTivatwv  TCoXew;),  und  doch  sah  noch  Pausanias  im 
zweiten  nachchristlichen  Jahrhundert  die  gewaltigen  Beste  von  Mykenä,  und 
im  neunzehnten  Jahrhundert  haben  eben  diese  Reste  Schliemann  zu  seinen  Aus- 
grabungen yeranlasst.  Schlagend  ist  endlich  das  Beispiel,  das  Dörpfeld  anführt, 
dass  die  alten  pelargischen  Mauern  der  Akropolis  noch  heute  an  mehreren  Stellen 
einige  Meter  hoch  aufrecht  stehen,  trotzdem  Mardonios  (Herodot,  IX  13)  alles, 
was  er  von  den  Mauern  noch  aufrecht  fand,  dem  Erdboden  hatte  gleichmachen 

lassen    (el  XOU  TI  Opd^V   -Jv  TÖV   Tei^^^WV  ^  TÖV    OUCYlfJWCTWV  Yl  TÖV  tpöv,  TCaVTÄ   )CaTKßa>.ü>V 

xod  (TiYXbMTx;).  Endlich  kommt  noch  etwas  in  Betracht.  Die  BesehaffeDheit  der 
Erdschichten  bei  den  Ausgrabungen  hat  gezeigt,  dass  schon  während  des  Be- 
stehens der  sechsten  Burg  die  Bingmauer  1 — 2  m  hoch  verschattet  worden  war. 
Als  neue  Ansiedler,  die  Bewohner  der  siebenten  Schicht,  sich  auf  den  Buinen 
niederlieBen,  waren  die  Mauern  im  Osten  und  Süden  schon  meterhoch  mit  Erd- 
schutt bedeckt.  Was  noch  aus  der  Erde  hervorsah,  wurde  durch  Vorbauten  oder 
Umbauten  verkleidet. 

Im  Norden  und  Westen  der  Burg  fehlt  die  Mauer  gänzlich.  Die  Erklärung 
hief^r  scheint  uns  Strabo  zu  geben, >  der  XIII  599  sagt:  „Von  der  alten  Stadt 
ist  keine  Spur  mehr  übrig;  ganz  natürlich,  die  Städte  in  der  Umgegend  waren 
verwüstet,  ohne  völlig  vernichtet  zu  sein,  Troja  aber  war  von  Grund  aus  vertilgt, 
daher  wurden  seine  Steine  zum  Bau  der  anderen  Städte  verwendet.  So  soll  zum 
Beispiel  Archaianaz  von  Mitylene  aus  den  Steinen  von  Troja  die  Mauer  von 
Sigeion  erbaut  haben.**  Sigeion,  das  heutige  Jeni  Schehr,  liegt  genau  nordwestlich 
von  Hissarlik,  und  so  wäre  es  begreiflich,  dass  gerade  die  westliche  und  nörd- 
liche Strecke  der  Burgmauer  fehlt.  Es  scheint  mir  aber  doch  einiges  gegen  diese  ver- 
blüffende Obereinstimmung  zu  sprechen;  vor  allem  die  lange  Zeit,  die  zwischen  der 
Zerstörung  Trojas  und  der  Befestigung  von  Sigeion  liegen  muss.  Denn  die  äolischen 
Colonien  der  Troas  reichen  nach  den  bereits  erwähnten  Untersuchungen  Ed.  Meyers" 
kaum  über  das  Jahr  700  v.  Chr.  hinauf.  Ferner  ist  es  unwahrscheinlich,  dass 
man  mit  den  Steinen  einer  zweihundert  Meter  langen  Mauerstrecke  die  Festungs- 
mauer einer  Stadt  herstellen  kann  (t6  SCyetov  Tnjlfjxi  sagt  Strabo).  Oder  aber 
meinte  Strabo  etwa  die  Stadt  Troja,  die  Unterstadt,  die  sich  an  die  Burg  an- 
schloss?  Und  reichten  die  Steine  nicht  aus,  so  dass  man  auch  das  nächste  Stück 
der  Burgmauer  dazu  verwendete?  Hiemit  berühren  wir  die  wichtige  Frage  nach 
der  Unterstadt  und  kommen  so  auf  das  Verhältnis  der  Funde  zu  den  Angaben 
der  Ilias  zu  sprechen.  Dass  das  Plateau,  welches  im  Süden  und  Osten  des  Burg- 
hügels  (nur  durch  eine  geringe  Niederung  von  ihm  geschieden)  sich  ausdehnt, 

«  Dörpfeld,  Troja,  1893,  S.  45,  Mittheilungen  des  archäologischen  Institutes, 
1894,  S.  382. 

•  Geschichte  von  Troas,  Leipzig  1877,  S.  79  ff.  —  Übrigens  stammt  nach  Ed.  M  ey  e  r, 
Geschichte  des  Alterthums,  U,  §  402,  Anmerkung,  S.  646,  die  Nachricht  des  Strabo  aus 
Demetrios  von  Skepsis  gegen  Tunaios,  der  Periander  auf  Pittakos  Seite  kämpfen  ließ. 


30 


auch  schon  zur  Zeit  der  sechsten  Burg  bewohnt  war,  das  ist  an  und  für  sich 
wahrscheinlich  und  ist  durch  Versuchsgraben,  die  an  mehreren  Stellen  gezogen 
worden  sind,  außer  Zweifel  gestellt.  *  Aber  von  einer  Stadtmauer  aus  dieser  Zeit 
wurde  keine  Spur  gefunden ;  ebensowenig  zeigten  sich  an  der  Burgmauer  irgend- 
welche Ansatzspuren  einer  solchen.  In  der  Ilias  wird  zwar  die  Burg  fünfmal 
ir£pYau.oc  genannt,*  aber  nie  wird  die  Burg  in  einen  Gegensatz  zur  Stadt  gebracht. 
Anderwärts  wird  von  der  Hochstadt  gesprochen,  wo  Athene  einen  Tempel  hatte 
(VI  88  vDÖv  'A^TivaCyic  y^airtKomSo;  iv  TiroXet  dbtpY)  und  297).  Auch  Paris  wohnte 
nahe  dem  Hause  des  Priamos  und  des  Hektor  ev  7r6>.ei  axpvi  VI  317 ;  ebendort 
auf  der  Höhe  halten  die  Trojer  Rath  VII  345,  und  XX  52  schreit  Ares  jtaT 
oxpoTaTTi?  TToXeo)?  Tpwea«  )t8>.e'j(dv.  Nach  dem  Falle  Hektors  fordert  Achilles  die 
argivischen  Fürsten  zu  einem  Angriff  gegen  die  Stadt  auf,  um  zu  erkennen,  ob 
die  Trojer  die  Hochstadt  nun  doch  verlassen  oder  auch  ohne  Hektor  noch  aus- 
harren, XXn  383.  An  allen  übrigen  Stellen  wird  die  Burg  oder  Akropolis  nicht 
hervorgehoben,  sondern  es  wird  nur  von  der  Stadt  gesprochen,  wobei  der  Dichter 
woXi;  und  a<rcu  ohne  Unterschied  verwendet;  am  gewöhnlichsten  aber  heißt  die 
Stadt  "Vkio;,  meist  mit  dem  Epitheton  Ipv^,  seltener  TpoiY),  welcher  Name  mitunter 
auch  die  Landschaft  bezeichnet,  z.  B.  XVIII  330;  XIX  380;  XXIV  346.  Wo  der 
Dichter  die  Ausfahrt  des  Priamos  schildert  (XXIV  323  ff.),  lässt  er  diesen  nach 
dem  Verlassen  des  Thorbaues  xapxaMjMd;  xaTot  «ttu  das  Gespann  lenken,  von 
seinen  Kindern  und  Schwiegersöhnen  begleitet.  Gleich  heißt  es  dann  (329) :  „Wie 
sie  nun  aus  der  Stadt  herabgekommen  waren  und  an  die  Ebene  gelangten**  u.  s.  w. 
An  dieser  Stelle  wäre  doch  Gelegenheit  gewesen,  die  Burg  hervorzuheben,  aber 
es  geschieht  nichts  dergleichen,  und  Priamos  fährt  herab,  als  hätte  es  keine  Mauer 
und  kein  Thor  zwischen  Burg  und  Stadt  gegeben.  Ebenso  stürmt  Hektor  VI  237 
beim  Skäischen  Thor  herein  und  ist  gleich  4arauf  auf  der  höchsten  Stelle  von  Bios 
und  kehrt  denselben  Weg  (391)  zum  Skäischen  Thor  zurück  iuxTtjxeva?  xät'  ÄY^t«; 
und  8tep)^6{jLevo;  [liya  aoru.  Von  einem  Burgthor  keine  Spur.  Daraus  ergibt  sich, 
dass  für  den  Dichter  die  Hochstadt  gegen  eine  allenfalls  vorhandene  Unterstadt 
nicht  durch  eine  eigene  Mauer  abgeschlossen  ist.  Es  ist  nun  eine  Mauer  vor- 
handen, und  die  umschließt  die  Häuser  aller  Trojer  und  der  Mitglieder  des  Fürsten- 
hauses, deren  Wohnungen  sich  in  der  Nähe  der  Tempel  auf  der  Hochstadt  befinden. 
Was  sagt  uns  nun  der  Dichter  vom  Aussehen  der  Stadt?  Die  Stadt  ist 
breitstraßig,  gut  gebaut,  lieblich,  groß,  steil  (aiTretvii,  IX  419;  XIII  625,  773; 
XV  215  [257],  558;  XVH  327)  und  wohl  ummauert  (euTsCxsoc,  1113;  V  716; 
IX  20),  ihre  Mauer  mit  Thürmen  und  mächtigen  Thorbauten  versehen  (eyTwpYo;, 
VII  71 ;  u^/CxuXo;,  XVI  698;  XXI  544).  Sie  hat  mehrere  Thore,  wie  aus  VII,  58 
und  XVin  275  hervorgeht.  Das  oftgenannte  Skäische  Thor  führte  unmittelbar  in 
die  Ebene.  Dreimal  wird  das  Dardanische  Thor  erwähnt:  V  789  schreit  Here  mit 
Stentorstimme,  dass  früher  die  Trojer  nie  vor  das  Dardanische  Thor  zu  gehen 
wagten;  XXU  194  möchte  Hektor,  von  Achilles  verfolgt,  das  Dardanische  Thor 

»Dörpfeld,  Mittheilungen,  1894,  S.  394. 

'  A  508,  E  446  und  460,  Z  512,  H  21  »  A  508,  U  700. 


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40 

gewinnen,  and  XXII  413  will  Priamos  durch  eben  dieses  Thor  zu  den  Schiffen 
der  Archäer  eilen,*  während  nach  den  sonstigen  Angaben  des  Epos  der  nächste 
Weg  an  den  Hellespont  durch  das  Skäische  Thor  führt.  Man  hat  daher  geglaubt, 
dass  das  Hauptthor  der  Stadt  eine  Doppelnamen  hatte.  Dies  wäre  wohl  möglich,' 
denn  die  Namen  altgriechischer  Stadtthore   bezeichnen  meistens  entweder  die 
Bauart  oder  sie  beziehen  sich   auf  die  Zielpunkte  der  Landschaft,  zu  denen 
der  Weg  durch  das  Thor  fährt.»  Durch  das  Skäische  Thor  gelangte  man  auf  das 
Schlachtfeld,  das  im  Norden  (und  Nordosten)  von  Hissarlik  zu  suchen  ist,  vielleicht 
führte  auch  vom  Thor  nordöstlich  oder  rein  östlich  der  Weg  in  die  Landschaft 
Dardanien.  Skäisch  aber  kann  das  Thor  nur  wegen  seiner  Bauart  genannt  worden 
sein.  Die  Thore  der  alten  Städte  Griechenlands,  Kleinasiens  und  Italiens  sind  so 
gebaut,  dass  der  anrückende  Feind  möglichst  lange  seine  schildlose  rechte  Seite 
den  Geschossen  der  Belagerer  darbieten  musste.  Der  Zugang  zum  Thor  ist  so  an- 
gelegt, dass  der  Angreifer  bei  der  Annäherung  seine  rechte,  nicht  seine  linke  Seite 
zur  Mauer  kehren  musste,  von  der  er  beschossen  ward.  Dies  konnte  auf  zweierlei 
Weise  erreicht  werden.  Entweder  macht  man  es  dem  Belagerer  dadurch  un- 
möglich, in  gerader  Bichtung  auf  das  Thor  loszugehen,  dass  man  ihn  durch  eine 
Bampe  nöthigt,  von  rechts  (im  Sinne  des  Vertheidigers  von  links)  heranzukommen, 
wodurch  er  die  Festungsmauer  zur  Bechten  hat,  oder  es  wird,  wenn  die  Terrain- 
verhältnisse doch  eine  Annäherung  von  der  anderen  Seite  gestatten,  das  Thor 
80  gebaut,  dass  der  Feind  sich  in  ihm  nach  links  drehen  muss,  das  heißt  so  wie 
das  Ostthor  der  sechsten  Burg  auf  Hissarlik,  welches  ein  treffliches  Beispiel  für 
ein  solches^Linksthor«  abgibt.  Vitruv,  15,2,  sagt  darüber:  .Excogitandum  uti 
portanim  itinera  non  sint  directa  sed  scaeva.  Namque  cum  ita  factum  fuerit,  tum 
dextrum  latus  accedentibus,   quod  scuto  non  erit  tectum,  proximum  erit  rauro. 
Beichel  freilich,  der  in  seiner  Abhandlung  über  homerische  Waffen  die  Behauptung 
aufstellt,  dass  in  der  mykenischen  Zeit  nur  der  große,  den  ganzen  Leib  deckende 
Schild,  nicht  der  kleinere,  runde  Bügelschild  im  Gebrauch  gewesen  ist,  will  solchen 
Thorbau  für  die  mykenische  Zeit  nicht  gelten  lassen;  denn  bei  dem  großen  my- 
kenischen  Schild  hat  es  keine  Schildseite  gegeben,  wie  bei  den  am  linken  Arm 
getragenen  Bundschilden.  Der  mykenische  Schild  ward  am  Telamon  getragen 
deckte  die  Brust  und  gewährte  beiden  Seiten  allerdings  nur  geringen,  aber  gleich- 
mäßigen  Schutz.  „Deshalb  wird  beim  Festungsbau  der  mykenischen  Periode  das 
Pnncip  der  Folgezeit,  den  Angreifer  zu  zwingen,   dass  er  mit  der  rechten,  un- 
beschüdeten  Seite  die  Mauer  entlang  komme,  noch  gar  nicht  beachtet,  sondern  nur 
darauf  gesehen,  ihn  von  irgend  einer  Seite   zu  bekommen,  rechts  oder  links 
gleichviel.  Deshalb  werden  den  Burgthoren  geschlossene  Gänge  vorgelegt  die  dem 
Feind  emen  Frontalangriff  auf  die  Mauer  verwehren  und  dem  Vertheidiger  ge- 
statten,  ihn  längere  Zeit  von  beiden  Seiten  und  im  Bücken  zu  beschießen.-»  Als 

»  X  (—  XXII)  gehört  zu  den  ältesten  Bestandtheüen  der  Dias 
•Beichel  a.a.O.,  S.  18. 


Beispiel  führt  Beichel  Mykenä  an.^  Allein  das  Hauptthor  von  Tiryns  ist  ent- 
schieden skäisch  angelegt  und  widerspricht  geradezu  der  Annahme  Beichels, 
ebenso  das  Ostthor  der  sechsten  Burg  auf  Hissarlik,  und  was  das  Hauptthor 
(Löwenthor)  von  Mykenä  anlangt,  so  ist  die  ursprüngHch  allerdings  nicht  skäische 
Anlage  gerade  durch  den  spornartig  vorspringenden  Mauerthurra,  der  später  an- 
gebaut zu  sein  scheint, ^  eben  doch,  so  gut  es  sich  machen  ließ,  zu  einer  skäischen 
geworden.  Dass  nunmehr  eine  Beschießung  von  beiden  Seiten  möglieh  war,  konnte 
doch  nicht  als  Nachtheil  empfunden  werden.  Auch  das  Hauptthor  (Südthor)  von 
Arne  ist  entschieden  skäisch  angelegt.'  Es  ist  ja  auch  natüriieh,  dass,  wenn 
damals  wirklich  der  große  mykenische  Schild  allein  im  Gebrauch  war,  bei  den 
Thoranlagen  doch  auch  auf  die  große  Masse  der  Krieger,  die  nur  mit  einem 
schildartigen  Fell  (Xat«77itov  bei  Homer)  bewehrt  war,  Bücksicht  genommen  werden 
musste.  Das  Skäische  Thor  der  Ilias  ist  also  ohne  Zweifel  ein  solches  „Linksthor'' 
gewesen. 

Was  erfahren  wir  nun  über  die  Mauer  vor  Troja  aus  dem  Epos?  Nicht 
gerade  viel.  Die  Mauer  war  mit  mächtigen,  hohen,  wohlgebauten,  (III  384,  IV  34, 
XXII 195)  Thürmen,  die  vorsprangen  (XXII  97),  versehen,  steil,  d.  h.  in  starker 
Böschung  den  Fels  umfangend  erbaut  (atm>  teCj^o;,  VI  327,  XI 181),  an  einer 
Stelle,  wo  der  Feigenbaum  stand,  gefährdet,  d.  h.  ersteigbar  (VI  433).  Mauer 
und  Thürme  waren  von  Götterhand  erbaut  (VIII  519),  Poseidon  hat  sie  allein 
(XXI  446)  oder  mit  ApoUon  (VII  452)  errichtet,  der  Stadt  ein  unzerbrechlicher 
Schutz.  Sie  hatte  daher  auch  geradezu  einen  Buf,  xXut«  tzI^zol  (XXI  295).  Ein 
mächtiger  Thurm  stand  hart  am  Skäischen  Thor,  bildete  die  eine  Seite  des  Thores 
(III 149)  und  bot  eine  Aussicht  über  das  Schlachtfeld.  Oft  stand  Priamos  hier  mit 
den  Frauen  der  Troer.  Wenn  wir  das  Wenige  noch  hinzufügen,  was  wir  über 
die  Gebäude  in  Troja  erfahren,  dass  sowohl  Apollon  (V  446)  als  Athena  (VI  297) 
einen  Tempel  auf  der  Burg  besaßen,  dass  das  Haus  des  Priamos  Vorhallen  und 
andere  Bäume  aus  geglätteten  Steinen  hatte  (VI  243  ff.),  dass  des  Paris  hoch- 
ragendes Haus  von  dem  besten  Baumeister  Trojas  aufgeführt  war  (VI  503)  und 
aus  ^Xa(j(.o;,  ^öpia  und  «uXifi  bestand  (VI  316  f.),  dass  auch  beim  Hause  des 
Priamos  ein  Thorvorbau,  ein  Propylaion  in  den  Hofraum  führte  (XXII  66,  71) 
wie  bei  den  Fürstenhäusern  der  Odyssee,  ja  sogar  beim  Palast  des  Zeus  auf 
dem  Olympos  (XV  124),  so  haben  wir  alles  Wesentliche  genannt.  Es  ist  klar, 
dass  diese  Angaben  so  gering  sind,  dass  ein  Vergleich  mit  den  ausgegrabenen 
Besten  der  sechsten  Burg  wenig  Licht  verbreiten  kann,  um  überhaupt  zu  einem 
Ergebnis  zu  gelangen,  müssen  wir  über  das  Verhältnis  der  Burg  zur  Unterstadt 
ins  klare  kommen.  Der  Flächeninhalt  der  sechsten  Burg  lässt  sich  annähernd 
berechnen.  Nehmen  wir  an,  dass  die  Bingmauer,  der  Gestalt  des  Hügels  cnt- 

*  Welches  allerdings  schon  Hauptmann  Steffens  1884  im  Text  zu  seiner  vor- 
trefflichen Karte  von  Mykenä  —  ohne  Kenntnis  der  mykenischen  Kampfw^eise  —  für 
strategisch  falsch  gebaut  erklärt  hatte. 

•  Curtius  a.  a.  O.,  S.  92.; 

■  Noack  a.  a.  0.,  Tafel  X  und  S,  429,  Fig.  3. 


42 


43 


sprecheod,  ungefähr  einen  Kreis  bildete,   dessen  Umfang,   nach  der  erhaltenen 
Strecke  von  300  m  zu  schließen,   sich  auf  etwa  500  m  belaufen  haben  wird,  so 
ergibt  sich  eine  Fläche  von  19.000  bis  20.000  m*  oder  von  2  ha.   Ebenso  groß 
ist  der  Flächeninhalt  der  Burg  von  Tiryns,   um  1  ha  größer  die  Burg  von  My- 
kenä,  während  die  Burg  der  zweiten  Schicht  auf  Hissarlik  nur  einen  Raum  von 
8000  m»  einnimmt.  Auf  einem  so  kleinen  Raum  kann  keine  Stadt  mit  (11.,  II 126  ff.) 
fast  10.000  Bewohnern  —  ohne  die  Bundesgenossen  —   erbaut  gewesen  sein. 
Wohl  treibt  die  dichterische  Phantasie  mit  solchen  Zahlen  gern  freies  Spiel,  und 
in   der  Nibelungenburg  wohnen  (Nib.,  474,  1)  „wol  drizec  tüsent  recken**,»  und 
in  den  Burgen  Rüdigers  und  Etzels  finden  alle  burgundischen  Helden  Aufnahme. 
Allein  für  Troja  ist  es  nach  dem  oben  Erwähnten  sicher,  dass  die  große  Masse 
des  Volkes  um   die  Burg  herum  gesessen  ist,  ohne  dass  eine  besonders  starke 
Mauer  diese  eigentliche  Stadt  schützte.  Wozu  hätte  man  auch  Burgmauern  von 
so  erstaunlichen  Ausmaßen  gebaut,  wie  in  Tiryns,  Mykenä,  Troja,  wenn  schon  die 
Stadt  selbst  widerstandsfähige  Mauern  gehabt  hätte?  Wir  kenneu  eine  befestigte 
Stadt  sammt  Burg  aus  mykenischer  Zeit,  das  mehrfach  erwähnte  Gla  am  Kopais- 
see,  das  alte  Arne.  Die  Ansiedler  benützten  den  aus  dem  See  aufragenden  Felsen 
uud   befestigten  ihn  auf  allen  Seiten  und  gewannen  so  einen  Raum,   der  etwa 
zwölfmal  größer  ist  als  der  Flächenraum  der  sechsten  Burg  auf  Hissarlik.   Die 
Umfassungsmauern  der  Stadt,  die  die  erwähnten  Vorsprünge  haben,  sind  durch- 
gängig 6*70  «i  stark ;  die  Umfassungsmauern  des  Palastes  und  anderer  Baulich- 
keiten -—  vielleicht  einer  Agora,   die  auch  auf  der  Burg  von  Troja  (VII  345) 
gewesen  sein  durfte  —  hatten  nur  eine  Stärke  von  1*20?».  Sie  setzten  im  Norden 
mit  zwei  Schenkeln  an  die  Ringmauer  der  Stadt  an.   Ein  so  günstiges  Gelände 
stand  selten  zur  Verfügung,  und  in  der  Ebene  baut  man  nicht  so  mächtige  Mauern. 
Zwar  ist  in  Mykenä  auch  in  der  Unterstadt  ein  Mauerzug  in  schwachen  Spuren 
nachgewiesen  worden.  Diese  Mauer  war  aus  viel  kleineren  Steinen  erbaut  und 
ist  deshalb  auch  fast  völlig  zerstört.  Nur  in  der  Nähe  der  Südwest-Ecke  der  Burg 
findet  man  ein  kleines,  nach  Westen  laufendes  Stück,  später  taucht  noch  einmal 
eines  in   südlicher  und  noch  eines  in  westlicher  Erstreckung  auf.   Diese  Mauer 
ist  jünger  als  die  Burgmauer.  Ursprünglich  hauste  das  Volk  höchst  wahrscheinlich 
um  die  mykenischen  Burgen  in  oflfenen  Ansiedlungen  dorfartig,  wie  wir  es  von 
den  Spartanern  der  historischen  Zeit  wissen.  Die  Überbleibsel  von  Häusern  und 
Gräbern  um  Mykenä  wenigstens  zeigen  uns,  dass  die  Leute  auf  dem  umliegenden 
welligen  Terrain  nicht  in  zusammenhängenden  Ansiedlungen,  sondern  in  kleinen 
Dörfern  oder  Häusergruppen  gewohnt  haben.   Im  Falle  eines  Krieges  mag  man 
wohl  eine  flüchtige  Befestigung  auch  um  die  Unterstadt  gebaut  haben,  sowie  in 
der  Ilias,  VII  437  ff.,  die  Griechen  ihr  Lager  —  freilich  mit  märchenhafter  Ge- 
schwindigkeit —  durch  Mauer  und  Graben  schützten,  aber  sehr  stark  wird  ein 
solcher  Bau  nicht  gewesen  sein.  Unter  Umständen  wird  das  Volk  auch  wohl  oder 
übel  in  der  Burg  Aufnahme  gefunden  und  dort  auf  das  engste  sich  zusammen- 
gedrängt haben.   Man  möchte  doch  fast  eine  Äußerung  Hektors  zu  Polydamas 

>  B  und  C  schreiben  freilich  drixec  himdert. 


darauf  beziehen.  Der  räth  zur  Vertheidigung  hinter  den  Mauern,  da  ruft  Hektor, 
XVni287:  „Habt  ihr  denn  noch  nicht  satt  dass  Gedränge  zwischen  den  Mauern!** 

Bei  dieser  geringen  Bedeutung  der  Unterstadt  als  Bollwerk  konnte  es  ge- 
schehen, dass  sie  allmählich  ganz  aus  der  Erinnerung  der  Menschen  schwand, 
d.  h.  dass  die  Oberlieferung,  die  Sage,  die  Unterstadt  gar  nicht  mehr  kennt, 
hingegen  die  Burg,  die  Akropolis,  zum  Bild  einer  Stadt  erweitert.  Homer  nennt 
sogar  diese  Stadt  breitstraßig  (sOpudcpta,  z.  B.  D.,  II  141)  wie  Mykenä  (IL,  IV  52), 
ein  Beiwort,  das  nur  auf  die  Unterstadt  passen  kann,  wo  die  einzelnen  Häuser- 
gruppen natürlich  durch  breite  Straßen  geschieden  waren,  während  es  auf  den 
Burgen  selbst  weder  regelmäßige  noch  breite  Straßen  gegeben  hat.*  So  verschieben 
sich  die  Verhältnisse  durch  Übertragung  nicht  dazu  gehörender  Vorstellungen.  Die 
Befestigung  der  Burg  wird  unter  dem  vergrößernden  Einfluss  der  Sage  zur  Be- 
festigung der  ganzen  Stadt,  und  der  Dichter,  der  den  Sagenstoff  bearbeitet,  hat 
keinen  Anlass,  daran  zu  ändern.  Umso  leichter  konnte  die  Unterstadt  sich  ver- 
flüchtigen, als  nach  der  Verwüstung  gerade  die  mächtige  Ringmauer  der  Burg 
das  einzige  sichtbare  Zeichen  gewesen  sein  wird,  das  den  Späteren  von  der  ver- 
gangenen Herrlichkeit  Kunde  gab;  daran  konnte  die  Überlieferung  anknüpfen, 
der  Biesenmauern  bemächtigte  sich  begierig  die  Phantasie,  wie  es  an  vielen 
anderen  Orten,  zu  allen  Zeiten  geschehen  ist.  Dann  ist  aber  auch  klar,  dass  man 
zwischen  den  Angaben  der  Ilias  und  den  Ruinen  von  Hissarlik  eine  genaue  Über- 
einstimmung nicht  suchen  darf.  Schon  Schliemann  hat  darauf  hingewiesen,  dass 
die  Beschreibung  Homers  mit  der  Wirklichkeit  (der  zweiten  Stadt,  wie  er  meinte) 
nicht  übereinstimme,  was  nicht  wundernehmen  dürfe,  da  ja  Homer  Troja  nicht 
selbst  gesehen  haben  könne. 

In  dem  gegenwärtigen  Jahre  feiert  die  homerische  Frage  ihr  hundertjähriges 
Jubiläum.  Man  kann  dabei  insofern  von  einem  Ergebnis  reden,  als  man  sich  jetzt 
mehr  und  mehr  der  Ansicht  zuzuneigen  beginnt,  dass  es  doch  einen  „Dichter** 
Homer  der  Ilias  und  der  Odyssee  gegeben  hat.  Freilich  ist  weder  die  Ilias  noch 
die  Odyssee  lediglich  sein  Werk,  sondern  er  hat  frühere  Dichtungen,  überliefertes 
Sagen-  und  Spraehgut  in  ausgedehntem  Maße  benützt.  Es  ist  aber  bisher  noch 
keinem  gelungen,  allgemein  überzeugend  nachzuweisen,  welche  Stücke  der  Über- 
lieferung angehören,  welche  vom  Dichter  umgebildet  oder  welche  von  ihm 
selbständig  geschaffen  worden  sind.  Das  Verhältnis  Homers  zur  Überlieferung 
lässt  sich  eben  nicht  mehr  feststellen,  denn  er  hat  den  Stoff  mit  künstlerischer 
Gestaltungskraft  zu  einem  lebendigen  Ganzen  umgeformt.  Die  Zeit,  in  der  die 
Gedichte  von  Homer  im  wesentlichen  die  Form  bekommen  haben,  in  der  sie 
uns  vorliegen,  ist  durch  mindestens  zwei  Jahrhunderte  von  der  Zeit  der  Zer- 
störung von  Troja   getrennt.   Jedenfalls  hat  Homer  die  Ruinen  von  Troja  nicht 

*  Auf  der  Akropolis  von  Mykenä  wurden  bei  den  Aasgrabnngen  Wege  gefunden, 
die  mitunter  kaum  l'/j  m  breit  waren.  An  der  Westseite  der  Burgmauer  ist  sogar  ein 
schmaler  Treppenweg  mit  zweiunddreiBig  Steinstufen  entdeckt  worden.  Tsundas 
a.  a.  O.,  S.  22. 


••"^ 


44 


selbst  gesehen.  Was  er  also  über  Troja  berichtet,  verdankt  er  entweder  den  alten 
Liedern,  deren  Fluss  wohl  schon  zu  Zeiten  der  mykenischen  Cultur  unmittelbar 
nach  dem  trojanischen  Krieg  begonnen  hatte,  oder  er  hat  es  nach  Bedarf  aus 
eigenem  hinzugegeben.  Wie  die  ununterbrochene  Tradition  so  viele  scharf  aus- 
geprägte Züge  der  Vorzeit  herübergerettet  hat,  so  verdankt  der  Dichter  ihr  auch 
im  wesentlichen  seine  Kenntnis  der  belagerten  Stadt  und  wohl  auch  des  Landes, 
und  wenn  wir  oben  S.  8  von  dem  Dichter  sprachen,  der  nach  eigener  Anschauung 
schildert,  so  ist  damit  natürlich  nicht  Homer  gemeint.  Homer  hat  dies  alles  aus 
zweiter  Hand.  Da  aber  auch  schon  der  erste  Dichter  die  äußere  Welt  als  Dichter 
wiedergegeben  haben  und  ein  anderes  Bild  aus  der  Wirklichkeit  herausgesehen 
haben  wird,  als  ein  beschreibender  Landesvermesser,  so  kann  die  Übereinstimmung 
zwischen  Dichtung  und  Wirklichkeit  sich  nur  auf  allgemeine  oder  besonders 
namhafte  Dinge  erstrecken.  Und  solche  Obereinstimmung  haben  wir  gefunden: 
Die  gepriesene  Mauer  der  Stadt,  die  an  trelflicher  Ausführung  alle  anderen 
Mauerbauten  mykenischer  Zeit  zurücklässt,  das  Skäische  Thor  und  den  großen 
Thurm,  wenn  auch  beide  nicht  an  dem  erwarteten  Orte,  die  Schwäche  der  Mauer 
an  einer  Stelle,  die  Wohnhäuser  der  Burg  zum  Theil  aus  geglätteten  Steinen  er- 
baut, und  endlich  gar,  wenn  Dörpfeld  mit  seiner  Vermuthung  recht  hat,  einen 
Tempel.*  Diese  Vermuthung  scheint  mir  so  interessant,  dass  sie  ein  Eingehen 
auf  den  Gegenstand  verlohnt. 

Homer  erwähnt  auf  der  Burg  von  Ilios  zwei  Tempel,  einen  des  Apollon 
(V  446,  460)  und  einen  der  Athena  (VI  297).  Diese  beiden  Heiligthümer  kann 
der  Dichter  nicht  aus  seiner  Phantasie  der  Stadt  des  Priamos  zuschreiben.  Sie 
müssen  zum  Bestand  der  ältesten  Überlieferung  gehören,  denn  die  Dias  kennt 
Tempel  nur  an  zwei  oder  drei  Stellen :  I  39,  H  549,  IX  404.  Von  diesen  kommt 
eigentlich  nur  die  erste  in  Betracht,  wo  der  Priester  Chrjses  zu  Apollon  betet : 
El  TTOTs  Tot  x^^h^rz*  ItzX  vt.ov  sps'];a.a  Die  zweite  Stelle  stammt  aus  einer  sehr  jungen 
Zeit,  aus  der  Zeit  des  Peisistratos,  wie  Wilamowitz*  nachgewiesen  hat.*  An  der 

»  Dörpfeld,  Troja,  1893,  S.  57,  meint  auch  eine  Andeutung  der  terrassenförmigen 
Anlage  der  Burg  in  den  Worten  ht  icpoTatTj  kCKv.  X  172  sehen  zu  müssen.  Indessen  muss 
man  bedenken,  dass  axpo?  wegen  seiner  Bedeutung  eigentlich  keinen  Superlativ  braucht, 
und  wenn  er  dennoch  (wie  begreiflich  im  daktylischen  Rhythmus)  vorkommt,  so  ist  das 
eine  Steigerung  des  Ausdruckes,  nicht  des  Begriffes;  tx^-xzt^  xo^u^^  OüXu;jitow,  A  499, 
ist  ganz  so  gemeint  wie  sva  rapyacfo  oxpro  0  152. 

»  Der  sonderbare  Ausdruck  eosia  veranlasste  Ameis-Hentze  (Anhang)  unter 
Verweisung  auf  Pausanias  X  5, 9,  an  die  Zeit  zu  denken,  wo  die  Tempel  aus  Laubwerk 
geflochten  wurden.  (?)  Vielleicht  hat  der  älteste  von  Pausanias  an  der  genannten  Stelle 
angedeutete  Tempel  des  Apollon  in  Delphi  ebenso  aus  Holz  bestanden  wie  das  Heraion 
in  Olympia.  Pausanias  könnte  die  Nachricht  missverstanden  und  sich  ein  Heiligthum 
SOS  Lorbeerzweigen  vorgestellt  und  daher  an  die  Gestalt  einer  Hütte  gedacht  haben. 
Der  Lorbeer  ist  nicht  nur  ein  Strauch,  sondern  namentlich  in  Thessalien  ein  stattlicher 
Baum.  Hehn,  Cultnrpflanzen  und  Hausthiere,  fünfte  Auflage,  S.  186. 

*  Homerische  Untersuchungen,  S.  247  t 

*  Über  den  alten  Athenatempel,  Dörpfeld,  Mittheilungen  des  archäologischen 
Institutes,  1887,  S.  26. 


45 


dritten  Stelle  endUch  wird  die  steinerne  Schwelle  des  Phoibos  Apollon  im  steinichten 
Pytho  genannt,  die  viele  Schätze  berge;  ob  darunter  ein  Tempel  zu  verstehen, 
ist  unklar.  Selbst  in  der  Odyssee  erscheinen  Tempel  nur  an  ganz  wenigen  Stellen.* 
Es  kommt  also  in  der  ganzen  Ilias,  außer  den  auf  Troja  bezüglichen  Stellen,  nur 
eine  Stelle  (I  39)  in  Betracht,  Das  gewöhnliche  Heiligthum  der  Culturstufe,  die 
das  Epos  so  vielfach  voraussetzt,  ist  eben  der  Altar  im  Palast  des  Fürsten,  der 
zugleich  Priester  ist  und  die  heilige  Handlung  des  Opfers  und  des  Gebetes  voll- 
zieht. Außerdem  gibt  es  Altäre  und  heilige  Bezirke,  die  nicht  mit  dem  Anakten- 
hause  verbunden  sind,  z.  B.  II.,  Vllf  48  Altar  und  Temenos  des  Zeus  auf  dem  Ida, 
II  506  heiliger  Hain  des  Poseidon  zu  Onchestos  in  Böotien.  Auf  mehreren  Altären 
des  Zeus  hat  Agamemnon  während  des  Zuges  nach  Troja  geopfert  VIII  240.  Auf 
Altären  opfern  auch  die  Griechen  in  Troja  und  in  Aulis,  VIll  249,  XI 808.  In  der 
Odyssee  hat  Aphrodite  zu  Paphos  einen  heiligen  Bezirk  und  Altar  VIII  363,  auf 
Dolos  Apollon  einen  Altar  VI  162  f.  Ein  heiliger  Hain  des  Apollon  in  Ismaros  wird 
IX  200  erwähnt ;  XX  278  versammeln  sich  die  Achaier  im  schattigen  Hain  des 
Apollon;  VI  291  wird  ein  heiliger  Hain  der  Athena  erwähnt  und  XVII  210  ein 
Altar  der  Nymphen  im  Nymphenhain  auf  Ithaka.  Kurz,  an  Heiligthümern  der 
Götter  fehlt  es  nicht,  aber  sie  haben  —  bis  auf  wenige  Ausnahmen  —  keine 
Tempel  und  somit  auch  keine  Götterbilder. ^  Der  Palast  ist  eben  die  gewöhnliche 
Stätte  der  heiligen  Handlung.»  Daraus  ergibt  sich,  dass,  wenn  Homer  auf  Troja 
einen  Apollon-  und  einen  Athenatempel  kennt,  dies  ein  Zug  alter  Überlieferung 
sein  muss.  Es  ist  freilich  wahr,  dass  bisher  weder  in  Tiryns  und  Mykenä,  noch  an 
anderen  Stätten  mykenischer  Cultur  Reste  von  Gebäuden  gefunden  worden  sind, 
die  man  mit  einigem  Rechte  Tempel  nennen  könnte.  Heilige  Bezirke  aus  my- 
kenischer Zeit  hat  man  nachgewiesen,  aber  keine  Tempelbauten.  Allein  die  bis- 
herigen Ausgrabungen  berechtigen  uns  in  dieser  Frage  noch  nicht,  ein  ent- 
scheidendes Wort  zu  sprechen.  Noch  vor  kurzem  durfte  man  behaupten,  die 
mykenische  Cultur  ist  analphabet.  Heute  ist  diese  Behauptung  unhaltbar.  Ebenso 
kann  es  mit  der  Frage  nach  dem  Vorhandensein  von  Tempeln  stehen.  Man  be- 
achte, dass  die  Ilias  nach  dem  oben  Gesagten  nur  in  Kleinasien  Tempel  za 
kennen  scheint,  in  Troja  und  in  Chryse.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  die 
nahe  Berührung  mit  dem  Orient  gerade  dem  östHchsten  Gebiete  mykenischer 
Cultur  in  Steinbau  und  Schrift  einen  Vorsprung  vor  dem  Westen  gegeben  hat. 
Wir  müssen  uns  überhaupt  davor  hüten  zu  glauben,  dass  diese  Cultur  eine  ganz 
einheitliche  und  gleichmäßige  gewesen  sei.  Die  Funde  zwingen,  den  Kreis  immer 
weiter  zu  ziehen  und  anzunehmen,  dass  Stämme  verschiedener  Nationen  diese 
Cultur  besessen  haben.  Gewiss  haben  sich  Cultur  und  Nationalität  damals  noch 
nicht  gedeckt,  und  das  mag  manche  Verschiedenheit  erklären.  Ich  nehme  also  an, 
dass  es  wirklich  Tempel  in  Troja  gegeben   hat,   und   finde   eine  Unterstützung 

*  {X  345,  J^  10.  —  7)  81  ist  kein  Tempel  gemeint. 

*  Nnr  Z  SOI  wird  yielieicht  ein  Athenabild  angedeutet. 

«  Die  Gottheit  scheint  sogar  nach  t^  81  im  Hause  des  Fürsten  zu  wohnen.  (Noack, 
Arne,  S.  477). 


46 


dieser  Annahme  in  folgenden  Thatsaehen  und  Erwägungen.  Ein  in  fünf  gleichen 
Exemplaren  aus  zwei  Schachtgräbem  in  Mykenä  stammendes  Goldplättchen  zeigt 
den  Aufriss  eines  von  Tauben  umflatterten,  tempelartigen  Gebäudes. »  Vergleicht 
man  damit  eine  sehr  ähnliche  Darstellung  auf  Münzen  der  Kaiserzeit  aus  Paphos, 
so  muss  man  die  Darstellung  für  einen  (Aphrodite-)Tempel  halten.  Man  denkt 
dabei  freilich  zunächst,  dass  jenes  Stück  eingeführte  Arbeit  ist.  Doch  zeigt  sich 
über  dem  Mittelbau  das  wohlbekannte  Motiy  des  Alabasterfrieses  von  Tiryns. 
„Hätten  wir  die  Gewissheit,«  sagt  Perrot-Chipiez,«  „dass  es  in  Mykenä  verfertigt  ist, 
so  würden  wir  daraus  schließen,  dass  es  bereits  in  mykeuischer  Zeit  in  Griechen- 
land Tempel  gegeben  habe." 

Es  gibt  aber  noch  eine  andere  Spur.  Auf  dem  Kasten  eines  1892  in  My- 
kenä gefundenen  Goldringes»  sind  drei  Frauen  dargestellt,  die  Zweige  in  den 
Händen  tragen.  Die  letzte  hält  in  der  Rechten  einen  spitzen  Gegenstand,  ver- 
muthlich  ein  Messer.  Alle  heben  die  eine  Hand  wie  verehrend  vor  einem  Ge- 
bäude in  die  Höhe,  das  anscheinend  einen  Tempel  oder  den  Theil  eines  Tempels 
darstellt,  denn  es  hat  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  dem  auf  dem  Goldplättchen 
abgebildeten  Aphrodite-Heiligthum,  nur  dass  auf  dem  Ringe  statt  der  drei  thür- 
artigen  Öffnungen  des  Plättchens  nur  eine  vorhanden  ist.  Aber  von  der  rechten 
Ecke  oben  steigt  eine  senkrechte  Linie  an,  die  vielleicht  andeutet,  dass  das  Ge- 
bäude sich  in  einem  höheren  Mittelbau  fortsetzen  soll.  Dass  hier  eine  Cultus- 
handlung  abgebildet  ist,  das  ist  durch  die  aufgehobenen  Hände,  die  Zweige  und 
das  Messer  gesichert.  Ähnlich  ist  eine  andere,  ebenfalls  auf  einem  Goldringe  un- 
bekannter, aber  sicher  mykenischer  Herkunft  eingegrabene  Darstellung.*  Auch  hier 
ist  in  der  Ecke  wieder  ein  solches  Gebäude«^  wie  auf  dem  eben  beschriebenen 
Ring;  davor  sitzt  eine  Frau  (Göttin?  Aphrodite?),  die  einen  Spiegel  in  der  Hand 
hält.  Eine  zweite  Frau  kommt  mit  erhobener  Rechten  wie  eine  Flehende  heran. 

Alle  die  genannten  auf  Gold  erhaltenen  Darstellungen  haben  eine  auffallende 
Eigenthümlichkeit.  Immer  ist  die  ThQröffnung,  oder  was  das  sonst  sein  soll, 
durch  eine  in  der  Mitte  stehende  Säule  getheilt.  Dies  scheint  allen  Analogien 
der  Baukunst  zu  widersprechen.«  Eine  Säule  als  Stutze  ist  doch  nur  bei  un- 
gewöhnlicher Spannweite  der  Überdachung  denkbar,  die  bei  einer  Tempelthür 
nicht  anzunehmen  sein  wird.  Auf  den  drei  Darstellungen  entspricht  die  Thür- 
weite  eigentlich  der  Breite  des  Tempels,  und  somit  liegt  die  Annahme  viel  näher, 

«  Abgebüdet  bei  Schuchhardt  a.  a.  O.,  S.  232,  Fig.  191.  -  Perrot-Chipie«. 
Hist.  de  l'art,  VI,  Fig.  111,  S.  337.  *^ 

«  A.  a.  O.,  S.  664. 

"  Abgebüdet  bei  Perrot-Chipiez  a.  a.  O.,  S.  845,  Fig.  23.  -  Tsundas  a.  a.  0.. 

Tafel  5,  Fig.  3. 

*  Bei  Furtwaengler-Loeschke,  Mykenische  Vasen,  als  Vignette  über  dem 
Vorwort  (Zeichnung  nach  Abdruck,  also  in  verkehrter  Richtung). 

»  Purtwaengler  hält  es  (S.  78)  freiHch  för  einen  Altar. 

•  Krause,  Verhandlungen  der  BerUner  Gesellschaft  för  Anthropologie,  Ethnologie 
und  Urgeschichte,  1891,  S.  602.  (Die  Erklärung  Krauses,  dass  die  Säule  ein  Cultbild 
darstelle,  ist  völlig  unhaltbar.)  Zwar  sucht  Luschan,  Verhaadlungen,  1892,  S.  207,  es 


47 


dass  der  Künstler  uns  das  Innere  eines  Tempels  andeuten  wollte,  welches  durch 
eine  Säulenreihe  getheilt  wird,  von  der  eben  nur  die  vordere  Säule  sichtbar  ist. 
So  hätten  wir  hier  eine  aus  dem  Orient  stammende  Eigenthümlichkeit,  die  bei 
Tempelbauten  auch  noch  in  späterer  Zeit  selbst  in  Europa  sich  wiederfindet. 
Außer  dem  oben  besprochenen  Tempel  von  Neandria  gehören  hieher  die  bekannte 
sogenannte  Basilica  von  Paestum  in  ünteritalien,  die  Oella  des  alten  Tempels 
von  Locri*  und  das  von  Pausanias,  X  5, 1,  beschriebene  Haus  der  Abgeordneten 
der  Städte  von  Phokis,  das  ^oixwtov,  svto;  ^s  auroO  x-tovs;  xara  ^y\/.Qz  eiotv  edTYi- 
xÖTs?;  dieses  Haus  diente  auch  als  Tempel.  Man  wird  daher  mit  Dörpfeld  in  dem 
Gebäude  VIC  mit  den  Innensäulen  in  der  That  einen  Tempel  erblicken  müssen.* 
Wir  sind  zu  Ende.  Ist  auch  das  Fundergebnis  recht  klein,«  so  bleibt  doch 
die  von  Dörpfeld  entdeckte  sechste  Stadt,  durch  Homers  Dichtung  geadelt,  inter- 
essant genug.  Zudem  ist  die  Örtlichkeit,  nach  dem  bekannten  Ausspruch  Moltkes, 
das  einzige  Stück  Wirküchkeit,  das  von  einer  längst  vergangenen  Begebenheit 
übrig  geblieben.  Diese  Wirklichkeit  zu  finden,  war  dem  Manne,  der  zuerst  auf 
der  Stätte  von  Hissarlik  den  Spaten  angesetzt  und  dadurch  den  Anstoß  zu  allen 
folgenden  Entdeckungen  gegeben  hat,  nicht  vergönnt;  er  sollte  die  Auffindung 
des  wahren  Troja  nicht  erleben.  Wohl  meinte  er  in  der  zweiten  Stadt  Homers 
Ilios  gefunden  zu  haben,  in  Wahrheit  aber  starb  er  hart  vor  Erreichung  des 
Zieles,  dem  er  sein  ganzes  Leben  lang  nachgestrebt  hatte.  Doch  sein  Verdienst 
wird  darum  nicht  geringer.  Schliemann  hat  viel  mehr  gethan  als  Troja  gefunden; 
er  hat  die  mykenische  Cultur  entdeckt  und  uns  damit  in  eine  Reihe  von  Jahr- 
hunderten hineingeleuchtet,  die  vordem  fast  undurchdringliches  Dunkel  verhüllte. 

an  einem  Beispiel  syrischer  Bauart  wahrscheinlich  zu  machen,  dass  man  unter  Um- 
ständen eine  Säule  in  die  Mitte  des  Tempeleinganges  stellte,  doch  kann  man  aus  dem 
Beispiele  vom  Liwan,  der  saalartigen  Nische  arabischer  Höfe,  diese  Überzeugung  nicht 
gewinnen.  Die  Analogien  aus  der  zweiten  Stadt  von  Hissarlik,  aus  Tiryns  und  Mykenä 
gehören  nicht  hieher. 

*  Mittheilungen  des  archäologischen  Institutes  in  Rom,  1890,  S.  261  ff. 

»Dörpfeld  führt  (Troja,  1898,8.37)  folgende  zwei  Punkte  zur  Unterstützung 
seiner  Ansicht  an:  Erstens  hat  das  Gebäude  VI  C  eine  so  schmale  Vorhalle,  dass  sie 
zu  praktischen  Zwecken  kaum  zu  gebrauchen  war;  zweitens  scheint  der  Platz  vor  der 
YorhaUe  mit  einer  Mauer  umgeben  und  so  als  besonderer  Bezirk  abgeschlossen  gewesen 
zu  sein,  und  dieser  Hof  lag  nicht  weit  von  der  Mitte  und  damit  auch  von  der  höchsten 
Stelle  der  Burg. 

»  Ein  eingehender  Bericht  Dörpfelds  über  die  Funde  der  sechsten  bis  neunten 
Schicht  mit  vielen  Abbildungen  wird  im  Laufe  des  nächsten  Winters  unter  dem  Titel 
„Troja  und  Ilion"  erscheinen. 


Graz,  im  Juni  1895. 


A.  Heinrich. 


COLUMBIA  UNIVERSITY 


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