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Full text of "Ueber die Psychologie von Schleiermacher"

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B 

3098 

P7L3 


i 


üelier  die 

ycliolo2ie  von  Sctileierinaclier. 


Eine 

von   der  philosophischen  Facultät 
der  Universität  Jena 

genehmigte 

Promotionsschrift 


Ernst  Lang 

aus  Sulz  a.  N.  (Königr.  Württemberg). 


BERLIN  1873. 


Buchdruckerei  von  Gustav  Schade  (Otto  Francke), 
Mak:enstr.  10. 


Seinem  Vater  und  Erzieher 

ß 


als  Zeichen 


der    innigsten   Liebe    und   Verehrung 


gewidmet 


vom  Verfasser. 


.^^- 


1.  H 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2010  witli  funding  from 

University  of  Toronto 


littp://www.arcli  ive.org/details/ueberdiepsyclioloOOIang 


Die  Psychologie  Schleiermacher's 

ist  eine  philosophische,  sofern  sie  alle  thatsächlichen, 
wesentlichen  Eigenschaften  des  menschlichen  Seelen- 
lebens auf  einen  einheitlichen  Grund  zurückzuführen 
bemüht  ist.  Die  philosophische  Betrachtung  aber  wird 
theilweise  geradezu  eine  speculative,  sofern  aus  einem 
Grundgedanken  säramtliche  physische  Lebensäufse- 
ruugen  mit  der  logischen  Nothweudigkeit  von  Ent- 
wicklungsmomenten herausgesetzt  werden.  In  Folge 
dieser  speculativen  Neigung  knüpft  die  Schleier- 
macher'sche  Psychologie  in  den  wesentlichsten  Fragen 
an  eine  metaphysische  Weltanschauung  an,  so  dafs 
die  grundlegenden  Theile  ihr  tieferes  Verständnifs  erst 
durch  Anlehnung  an  die  Schleiermacher'sche  Dialectik 
erhalten.  Ein  Zurückgehen  auf  letztere  Schrift  ist  für 
die  Darstellung  des  eigentlich  philosophischen,  elemen- 
taren Theils  der  Psychologie  unerläfslich,  sowohl  im 
Laufe  der  Darstellung,  um  die  einzelnen  Erscheinungen 
in  ihrer  tieferen  Bedeutung  aufzuzeigen,  als  auch  be- 
sonders im  Anfange,  um  das  Wesen  und  die  Grenzen 
der  Disciplin  sicherzustellen.  Die  metaphysische  Grund- 
voraussetzung für  das  Verständniss  des  getheilten  Seins, 
auf  welchem  alles  Erscheinende  beruht,  ist  das  un- 
getheilte  Sein,  das  Transcendente. 


Transcendentes  Sein. 

Um  zu  demselben  au  gelangen,  ist  nur  das  Denken 
gegeben.  Der  Mensch  selbst  existirt  als  Denken  und 
als  Gedachtes,  oder  als  Denken  und  Sein.  Hier  ist 
also  vorläufig  ein  Zusammensein  von  Denken  und  Sein 
gegehen.  Denken  und  Sein  sind  die  beiden  Modi, 
unter  denen  Alles  befafst  ist.  Gefordert  wird  nun 
ihre  Einheit  und  zwar  in  der  Form,  dafs  die  Totalität 
des  Seins  aufgehe  in  der  Totalität  des  Denkens.  Da 
aber  das  eine  so  gut  wie  das  andere  über  die  Fassungs- 
kraft der  endlichen  Intelligenz  sowohl  als  des  end- 
lichen Organismus  hinausgeht,  so  kann  auch  die  Einheit 
beider  nur  eine  transcendente  sein,  und  selbst  die 
Forderung,  dafs  die  Totalität  aller  Erscheinung  befafst 
werde  in  der  Totalität  aller  endlichen  Intelligenzen, 
kann  stets  nur  approximativen  Werth  haben,  weil 
Raum  und  Zeit  nur  Formen  sind  für  die  Vermittlung 
des  äufsern  Seins  an  den  Organismus  und  an  das  Be- 
wufstsein.  Die  transcendente  Einheit  von  Denken  und 
Sein  ist  also  keine  quantitative,  im  Resultate  liegende 
sie  ist  auch  nicht  zu  suchen  in  der  zeitlichen  und 
causalen  Priorität  des  transcendenten  Seins  als  Existenz- 
grundes für  das  getheilte  Sein.  Ueber  ein  reales  Ver- 
hältnifs  desselben  zum  erscheinenden  Sein  sind  wir 
nicht  im  Stande  zu  urtheilen,  weil  es  sich  den  Formen 
der  endlichen  Vernunft  entzieht.  Die  endliche  Ver- 
nunft l)ewegt  sich  in  den  Kategorien  der  Getheiltheit. 
Begriff  und  ürtheil  können  sich  blofs  mit  getheiltem 
Sein  beschäftigen.     Der  Begriff  hat  den  Gegensatz  von 


Allgemeinem  und  Besonderem  zum  Gegenstande,  das 
Urtheil  betrifft  das  Ineinander  von  Subjeet  und  Prä- 
dicat.  Nur  durch  Abstraction  kann  man  von  diesen 
Formen  des  Denkens  zum  absoluten  Sein  gelangen. 
Je  mehr  man  den  Begriff  verallgemeinert,  desto  ein- 
samer wird  er  in  Beziehung  auf  coordinirte  Begriffe. 
Zuletzt  hat  man  nur  noch  den  Begriff  des  Seins  an 
sich,  in  welchem  Gegenstand  und  Begriff  noch  ge- 
schieden sind  und  darüber  hinaus  ist  nur  noch  das 
absolute  Sein,  in  welchem  jede  Getheilttheit  aufhört,  das 
aber  darum  unter  der  Form  des  Gedankens  nicht  mehr 
vorkommen  kann.  Ebenso  führt  das  Urtheil  durch 
aufsteigende  Verallgemeinerung  an  die  Grenze  des  Den- 
kens, wo  Alles,  was  priidicirbar  ist,  im  Subjeet  auf- 
genommen ist,  bis  zuletzt  auch  hier  noch  das  absolute 
Sein  übrig  bleibt. 

Nicht  ganz  wie  die  Denkformen  weisen  auch  die 
Seinsformen  über  sich  hinaus  auf  das  absolute  Sein. 
Dem  Begriffe  entspricht  auf  Seiten  des  Seins  die  Kraft 
als  Wesensgrund  und  productive  Erzeugerin  der  Er- 
scheinung. Da  aber  eine  Kraft  in  Bezug  auf  eine 
höhere  selbst  wieder  Erscheinung  ist,  so  gelangt  man 
durch  fortgesetztes  Aufsteigen  zur  höchsten  Kraft,  in 
welcher  die  Totalität  der  Kräfte  und  Erscheinungen 
ihren  letzten  Grund  hat.  Allein  da  die  Kraft  sich 
immer  an  der  Erscheinung  äufsert,  also  etwas  Rela- 
tives ist,  so  ist  die  höchste  Kraft  noch  nicht  identisch 
mit  dem  absoluten  Sein,  das  vielmehr  nur  erreicht 
werden  kann  vom  Denken  aus,  selbst  aber  nicht  mehr 
Gedachtes  ist. 


8 

Nur  der  Analogie  wegen  mufs  hier  schon  aus- 
gesprocheu  werden,  dafs,  wenn  man  die  Stufenleiter 
des  Begriffs  und  IJrlheils  verfolgt  nach  unten  in  fort- 
laufender Verengerung,  man  am  unteren  Ende  anlangt 
bei  der  absoluten  Materie.  Hier  ist,  ebenso  wie  für 
das  absolute  Sein,  der  Gedanke  abzuwehren,  als  ob 
dieselbe  etwas  Substantielles  wäre,  aus  dessen  form- 
loser Masse  das  Sein  entstünde.  Absolute  Materie  ist 
vielmehr  nur  eine  Bezeichnung  für  alles  organisch  Er- 
fafsbare,  was  noch  nicht  von  dem  Bewufstsein  er- 
griffen und  vernünftig  verarbeitet  worden  ist. 

Es  ist  also  nicht  die  Absicht,  zwei  für  sich  seiende 
Mächte,  das  absolute  Sein  und  die  absolute  Materie  in 
eine  reale  Verbindung  treten,  und  die  Welt  aus  ihrer 
Verbindung  hervorgehen  zu  lassen,  sondern  es  soll  nur 
nachgewiesen  werden,  dafs  ein  Transcendentes,  ein 
Absolutes  sei,  aber  nicht  als  Gedachtes.  Ein  Ueber- 
gaug  aus  dem  getheilten  Sein,  in  dem  wir  verweilen, 
zu  dem  absoluten  Sein,  in  welchem  kein  Gegensatz 
und  keine  Theilung  ist,  ist  für  uns  nicht. 

Manifestation  des  transcendenten  Seins. 

In  welcher  Weise  äufsert  sich  nun  dieses  transcen- 
dente  Sein?  Wo  wird  die  Getheiltheit  aufgehoben? 
Im  Wissen.  Das  Wissen  ist  dasjenige  Denken,  welches 
einem  Sein  entspricht,  und  wenn  der  Fall  eintritt,  dafs 
ein  Denken  einem  Sein  entspricht,  dann  tritt  bei  dem 
Denkenden  das  Ueberzeuguugsgefühl  ein,  welches  nichts 
Anderes  ist  als  das  Sichmanifestiren  des  Transcendenten. 


Wie  kommt  es  aber,  dafs  Denken  und  Sein,  Ver- 
nunft und  Materie  sieh  decken  im  Wissen?  Weil  das 
Wissen  ein  gemeinsames  Product  von  Vernunft  und 
Organisation  ist,  aus  jedem  von  beiden  ohne  Unter- 
schied des  ResuUats  hervorgehen  kann,  freilich  immer 
so,  dafs  das  andere  Conditio  sine  qua  non  der  Mit- 
wirkung ist.  Das  Wissen  geht  aber  nur  hervor  aus 
der  geraeinsamen  Arbeit  von  Vernunft  und  Organisation 
in  ihrem  allgemeinen  Typus  mit  Ausscheidung  alles 
Individuellen.  Da  sich  nun  Vernunft  und  Materie  in 
ihrer  Gesammtheit  decken  müssen,  so  müssen  sie  sich 
auch  in  ihren  Theilen  decken. 

Mit  diesem  Character  des  Wissens,  Einheit  von 
Vernunft  und  Materie  zu  sein,  hängt  es  zusammen, 
dafs  das  vorherrschend  von  Seiten  der  Materie,  orga- 
nisch zu  Stande  gekommene  Wissen  dasselbe  ist,  wie 
das  in  Folge  selbständigen  Vorgehens  der  Vernunft 
entstandene.  Eins  gibt  die  Probe  vom  andern,  und 
eins  läfst  sich  dem  andern  substituiren. 

Das  unrichtige  Denken,  das  zu  keinem  Wissen 
führt,  beruht  demnach  darauf,  dafs  der  Typus  des  Seins 
in  Folge  seiner  Getheiltheit  im  Aufnehmen  alterirt 
worden  ist,  oder  dafs  das  organisch  aufgenommene 
Sein  Trübung  durch  individuelle  Zustände  erleidet. 
Dieser  Mifsstand  erfordert  fortgesetzte  Kritik  des  Den- 
kens, und  so  mufs  zu  dem  Innern  wesentlichen  Merk- 
male des  Wissens,  zu  der  transcendentalen  Gewifsheit 
des  Zusammenstimmens  mit  einem  Sein,  noch  ein 
äusserliches  Merkmal  kommen,  nemlich  die  Ueber- 
zeugung,  dafs  ein  Denken  von  allen  Denkenden  gleich 


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construirt  werde.  Dieses  zweite  Erfordernifs  ist  im 
Grunde  nur  eine  natürliche  Folge  davon,  daTs  das 
Wissen  einem  Sein  entspricht.  Denn  ist  das  Wissen 
nur  ein  Ausdruck  des  eigentlichen  Verhältnisses  von 
Organisation  und  Vernunft  in  ihrem  allgemeinen  Typus, 
80  mufs  der  Ausdruck  bei  allen,  die  daran  participiren, 
derselbe  sein.  Auf  diesem  zweiten  Merkmale  des 
Wissens,  der  Gleichheit  der  Construction,  beruht  die 
Möglichkeit,  das  Wissen  des  Einen  dem  des  Andern 
zu  substituiren,  und  dafs  der  Eine  auf  dem  Wissen 
des  Andern  fortbauen  kann,  ohne  dafs  er  nöthig  hätte, 
die  Gedankenreihe  des  Vorgängers  noch  einmal  nach- 
zueonstruireu.  Practisch  also  bedeutet  die  Gleichheit 
der  Construction  den  Fortschritt  der  Wissenschaft. 

Eine  falsche  Vorstellung  wäre  es  nun  aber,  anzu- 
nehmen, dafs  aus  der  Gesammtheit  wirklicher  Wissens- 
acte  das  Einswerden  von  Denken  und  Sein  sich  erst 
bilde.  Im  Gegentheil,  das  Wissen  —  und  das  ist 
seine  transeendentale  Bedeutung  —  ruht  seiner  Mög- 
lichkeit nach  auf  dieser  Einheit,  und  hat  sie  zur  be- 
ständigen Voraussetzung.  Das  Einzelne  geht  aus  dem 
Ganzen  hervor  und  nicht  das  Ganze  aus  dem  Einzelnen. 

Richtig  aber  ist,  dafs  dem  denkenden  Subject  als 
Impuls  vorschwebt  die  Möglichkeit,  dass  durch  immer 
reineres  und  umfassenderes  Wissen  die  Einheit  von 
Vernunft  und  Materie  vollkommener  zum  Bewufstsein 
komme,  und  ihre  gegenseitige  Durchdringung  in  den 
Theilen  immer  vollständiger  werde.  Den  Weg  zu  be- 
schreiben, den  Vernunft  und  Materie  in  gegenseitiger 
Annäherung  zurücklegen  müssen,  um  das  Wissen  her- 


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vorzubriogen,  ist  Sache  der  beschreibenden  Psychologie. 
Das  Wissen  in  seiner  Gesaramtheit  betrachtet  ist 
immer  ein  werdendes.  Die  extensive  und  intensive 
Vollendung  des  Wissens  ist  nie  wirklich,  sondern  nur 
als  Impuls  wirksam.  Sie  bestünde  darin,  dafs  einer- 
seits alles  Aeufsere  wahrgenommen  und  mit  den  ent- 
sprechenden Begriffsanfängen  in  Berührung  gebracht, 
andrerseits  alle  Unklarheit  zwischen  Ding  und  Begriff 
aufgehoben  wäre.  Diese  letztere  intensive  Vollendung 
zeigt  sich  im  einzelnen  Acte  an  durch  die  Kühe  der 
Ueberzeugung. 

Bestimmung  von  Vernunft  und  Materie. 

Die  Berührung  von  Denken  und  Sein,  wie  sie  als 
Manifestation  des  Transcendenten  sich  im  Wissen  voll- 
zieht, geschieht  unter  der  Form  des  Einswerdens  von 
Vernunft  und  Materie.  Welches  ist  nun  das  Verhält- 
nifs,  in  welchem  diese  beiden  Modi  des  Seins  sich 
darstellen. 

Die  Vernunft  ist  die  abstracte  inhaltlose  Einheit,  die 
leere  Formel  mit  der  Fähigkeit  sich  zu  spalten,  und 
durch  die  Möglichkeit  unendlicher  Verzweigung  der  in 
ihr  gesetzten  Begriffskeime  die  Totalität  derErscheinungs- 
welt,  der  Actionen  sowohl  als  der  Dinge  zu  gliedern, 
zu  ordnen  und  in  sich  aufzunehmen.  Sie  ist  der  Trieb, 
das  was  Potentia  in  ihr  enthalten  ist,  an  einem  andern 
zu  realisiren,  der  Theilungsgrund,  der  von  der  chaoti- 
schen Materie  gesucht  wird,  um  ihre  Masse  zu  sondern 
und  zu   bestimmen.     Die   Materie   als   solche,   ehe   sie 


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vun  der  Vcruuuft  ergriffen  ist,  ist  eine  chaotische.  Sie 
ist  unbestimmte  Einheit  und  unbestimmte  Vielheit,  oder, 
Beides  in  einem  Ausdruck  zusammengefafst,  unbestimmte 
Manichfaltigkeit.  Unbestimmte  Einheit,  sofern  sie  ein 
Ganzes  ist,  das  Ganze  des  äufseren  Seins,  das  den 
geöffneten  Sinnesorganen  gegenübersteht,  unbestimmte 
Vielheit,  sofern  sie  in  einer  Reihe  von  Einzelbildern  in 
das  Bcwufstsein  aufgenommen  der  begrifflichen  Subsum- 
tion entbehrt.  Ihr  Drang  ist,  die  Vernunft  mit  dem  in  der- 
selben latenten  System  der  Begriffe  zu  reizen  und  von 
derselben  absorbirt  zu  werden,  damit  an  dem  freilich 
ideellen  Ende  dieses  Processes  die  Gesammtheit  des  in 
der  Materie  enthaltenen  Erscheinungsstoffes  in  freier 
Lebendigkeit  und  strenger  Nothwendigkeit  verwirklicht 
werde.  Die  Vernunft  ist  die  Denkform,  die  Materie 
Denkstoff.  Die  Materie  ist  als  Idee  der  Welt,  die  Ver- 
nunft als  Idee  Gottes  in  jedem  Wissen  gesetzt;  das 
Vorherrschen  der  einen  oder  der  anderen  Idee  bedingt 
den  verschiedenen  Character  des  Wissens.  Das  Wissen 
kann  entweder  vorzugsweise  das  Verhältuifs  des  Denkens 
zum  Sein  betonen,  oder  es  kann  mehr  die  Verknüpfung 
der  Gedanken  unter  sich  zum  Gegenstand  haben.  Die 
transcendentale  Seite  des  Wissens,  die  das  Verhältnifs 
zum  Sein  betrifft,  hat  als  treibendes  Princip  die  Idee 
Gottes,  die  formale  Seite  des  Wissens,  welche  die 
Gedankenverknüpfung  angeht,  ruht  auf  der  Idee  der 
Welt.  Gott  und  Welt  sind  also  nicht  Inhalt  des  Wissens, 
sondern  Form  und  Gestalt  und  insofern  transcendenter 
Grund  desselben.  Das  formale  Wissen  ist  darum  dem 
Inhalte  nach  nicht  verschieden  von  dem  transcendentalen. 


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Denn  Vernunft  und  Materie  drücken  nur  auf  verschie- 
dene Weise  dasselbe  Sein  aus. 

Art  und  Weise  des  Zusammentreffens  von  Vernunft 
und  Materie  im  Bewufstsein. 

Getrenntheit  ist  das  Wesen  alles  Existirenden.  Ueber 
das  Entstehen  dieser  Getrenntheit  kann  nich-ts  ausge- 
sagt werden,  als  dafs  die  getrennten  Theile  aus  einem 
IndifFerenzpunkt  hervorgehen.  So  gibt  es  auch  einen 
Indifferenzpunkt  für  das  Auseinandertreten  des  absoluten 
Seins  in  Vernunft  und  Materie.  Derselbe  kann  aber 
nicht  Gegenstand  des  Wissens  sein,  weil  das  Wissen 
blos  im  Gegensatze  sich  bewegt.  Dem  Indifferenzpunkt 
von  Vernunft  und  Materie  entspricht  derjenige  aller 
psychischen  Functionen  vor  ihrem  Eintreten  in's  Be- 
wufstsein. 

Die  Form,  unter  welcher  Vernunft  und  Materie  in 
Berührung  treten,  ist  von  Seiten  ersterer  die  intellectuelle, 
von  Seiten  letzterer  die  organische  Function.  Die  in- 
tellectuelle Function  hat  zum  Ausgangspunkte  die  in 
jedem  Einzelnen  zeitlos  gesetzte  Vernunftanlage,  die 
endliche  Vernunft  als  ruhelose  Agilität,  welche  sich 
nach  einem  Objecto  sehnt,  an  dem  sie  sich  beleben 
könne. 

In  diesem  Vernunfttrieb  ist  das  ganze  System  der 
Begriffe  gesetzt  um  durch  Belebung  und  Bestimmung 
daraus  entwickelt  zu  werden.  Die  Materie  an  sich  ist 
als  Gedanke,  als  Begriff  nicht  fafsbar,  und  kann  daher 
als  solche  keine  begriffliche  Bestimmtheit  erfahren;  sie 


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kuimiit  mir  zum  Bcwulstsein  unter  den  transcendenten 
Formen  von  Zeit  und  Kaum,  welche  Bedingungen  des 
üienschlichen  Organismus  und  Bewufslseius  sind.  Ohne 
sie  ist  kein  organischer  Keiz  möglich.  So  wenig  die 
Vernunft  ohne  die  Form  des  Begriffs  wirklich  werden 
kann,  so  wenig  kann  die  Materie  ohne  die  Kategorieen 
von  Kaum  und  Zeit  wirklich  werden.  Der  Kaum,  das 
real  Materielle,  ist  das  Schema  der  Körperwelt,  die 
Zeit,  das  ideal  Materielle,  das  des  Bewufstseins.  Beide 
können  verschieden  sein  in  Beziehung  auf  ihre  Exten- 
sität und  ihre  Intensität.  Wie  die  körperlichen  Unter- 
schiede auf  der  Dichtigkeit  und  Ausdehnung  des  Raumes, 
so  beruhen  die  Unterschiede  im  Bewufstsein  auf  seiner 
Stärke  und  seiner  Dauer.  Also  die  intellectuelle  Function 
als  Vernunfttrieb  und  Begriffspotenz  auf  der  einen  Seite, 
die  organische  Function  als  unter  der  Form  von  Zeit 
und  Kaum  auftretende  Materie  sind  die  Formen  für 
das  Einswerden  der  beiden  Modi  des  Seins. 

Der  erste  feste  Punkt  im  Bewulstsein  ist  die  Ver- 
nunft als  Trieb,  als  unbelebte  Einheit,  auf  der  anderen 
Seite  die  Sinne  in  verworrener  ErfüUtheit.  Das  ist  die 
erste  Stufe  des  Selbstbewufstseins,  die  Theilung  als  Ent- 
gegensetzung von  Activität  (Trieb  der  Vernunft)  und 
Passivität  (Erfiilltsein  der  Sinne).  Die  Idee  des  Wissens 
liegt  auf  dieser  Stufe  in  dem  Bestreben  der  Vernunft, 
sich  an  der  organischen  Natur,  die  sie  voraussetzt,  zu 
realisiren.  Das  Bewufstsein  hat  sich  hier  noch  nicht 
geschieden  in  Selbstbewufstsein  und  äufseres  Bewufst- 
sein. Die  Begriffsagilität  und  Sinneserfülltheit  drängen 
in   unbestimmter  Weise  gegen  einander.     Wo   ein  be- 


15 

stimmtes  Zusammentreffen  erfolgt,  da  ist  der  lebendige 
Begriff  da.  Das  Zusammentreffen  geschieht  von  Seiten 
der  iutellectuellen  Function  als  Eintreten  des  Vernunft- 
triebes in  das  Bewufstsein  unter  der  Form  eines  be- 
stimmten, abgegrenzten  Seins,  von  Seiten  der  organischen 
Function  so,  dafs  dem  Sinne  eine  dem  begrifflichen 
Schema  entsprechende  Gestaltung,  ein  sinnliches  Ein- 
zelbild eingeprägt  wird.  Das  Wesentliche  dieser  Stufe 
des  Processes  ist  das  Schema  als  Einheit  von  begriff- 
lichem und  organischem  Sein. 

Zwischen  dem  Wirklichwerden  des  Schema's  und 
jenem  primitiven  Zustande  des  Bewufstseins,  wo  Ver- 
nunfttrieb und  SinneserfüUtheit  sich  noch  unbestimmt 
gegegenüberstanden,  verläuft  noch  ein  Uebergangspro- 
cefs,  der  ein  eigenes  Stadium  des  Bewufstseins  con- 
stituirt.  In  diesem  Procefs  fällt  der  Hauptantheil  der 
organischen  Function  zu,  die  intellectuelle  ist  nur  als 
Conditio  sine  qua  non  betheiligt.  Es  ist  dies  das  Aus- 
zeichnen einzelner  Wahrnehmungspunkte  aus  der  chao- 
tischen Manichfaltigkeit  des  die  Sinne  afficirenden 
äufseren  Seins.  Nur  die  äufsere  Einheit,  noch  nicht 
aber  die  Beziehung  auf  die  begriffliche  Subsumtion 
ist  dabei  bestimmend.  Es  wird  etwas  als  ein  Leben- 
diges aufgefafst,  um  zur  weiteren  Operation  verwendet 
zu  werden,  in  deren  Verlauf  das  Aufgenommene  als 
unbrauchbar  wieder  fallen  gelassen  werden  kann.  Ob 
Ding  oder  Action,  Subjects-  oder  Prädicatsbegriff,  lei- 
dend oder  thätig,  bleibt  auf  dieser  Stufe  des  Auffassens 
noch  unentschieden. 

Das  Schema  selbst  ist  diejenige  Erscheinung,   die 


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uacb  der  einen  Seite  dem  Begriffe,  nach  der  andern 
Seite  dem  Sinne  angehört.  Der  Sinn  selbst  ist  gewisser- 
mafsen  das  Condomiuat  von  Vernunft  und  Organisation. 
Eine  Seite  des  Sinns,  die  nach  Aiifsen  gekehrte  öffnet 
sich  gegen  das  materielle  Sein  und  nimmt  von  dem- 
selben Eindrücke  an,  die  andere,  nach  Innen  ge- 
kehrte Seite  ist  ebenso  empfänglich  für  die  Thätig- 
keit  des  Vernunfttriebs.  Dem  äufsern  Reize,  der  dem 
Sinne  auf  der  äufseren  Seite  ein  Einzelbild  zuführt, 
kann  derselbe  nur  insofern  folgen,  als  auf  der  inneren 
Seite  in  Folge  der  intellectuellen  Thätigkeit  schon  ein 
Allgemeinbild  sich  abgedrückt  hat,  in  dessen  Rahmen 
das  Einzelbild  untergebracht  werden  kann.  Es  ist  sehr 
wichtig,  der  empirischen  Auffassung  des  Begriffebildens 
gegenüber  die  Priorität  des  Allgemeinbildes  festzuhalten, 
und  dadurch  den  spontanen  Character  der  intellectuellen 
Function  zu  wahren.  Dasselbe  Einzelbild,  noch  so  oft 
organisch  wirkend,  würde  nie  zur  Bildung  des  Begriffs 
führen,  unter  dem  es  mit  allen  gleichartigen  Erscheinun- 
gen zu  subsumiren  ist,  wenn  nicht  das  Schema  oder 
Allgemeinbild  als  Bedingung  seines  Wirklichwerdens 
vorhergegeben  wäre.  Darin  liegt  die  Erklärung  für 
die  Thatsache,  dafs  die  Erscheinungswelt  unzählige 
Affectionen  auf  den  Sinn  ausübt,  ohne  dafs  dieselben 
zum  Bewufstsein  kommen,  weil  das  Begriffsvermögen 
noch  kein  entsprechendes  Allgemeinbild  aus  sich  her- 
ausgesetzt hat.  Das  Schema  hat  nach  seiner  inneren 
Seite  Antheil  am  Wesen  des  Begriffs,  d.  h.  es  ist  einer 
seits  genau  bestimmt  in  Bezug  auf  seine  Grenzen,  läfst 
aber  andererseits   innerhalb   dieser  Grenzen  einen  ge- 


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wissen  Spielraum  für  die  Verscbiebbarkeit  der  einzelnen 
Theile,  die  dem  Einzelbild  abgebt.  Dem  Begriff  „Ge- 
bäude" entspricht  kein  Einzelbild,  das  immer  ganz 
bestimmte  Formen  bat,  wobl  aber  ein  Aligemeiubild, 
das  mit  dem  Vorzug  sinnlicher  Anscbaulicbkeit  den  der 
Verscbiebbarkeit  der  einzelnen  Tbeile  verbindet. 

Diese  Bildung  der  Schemata  als  erster  Berührungs- 
punkt innerer  Thätigkeit  und  äufseren  Keizes  erfolgt 
aber  nicht  etwa  successive  nach  Mafsgabe  des  Fort- 
schreitens des  äufseren  Reizes,  sondern  der  schematische 
Procefs  vollzieht  sich  auf  allen  Punkten  zugleich  auf 
einer  gewissen  Stufe  des  Bewufstseins  nach  Analogie 
des  Anschiefsens  im  gefrierenden  Wasser.  Auf  dieser 
Stufe  ist  nun  die  Scheidung  des  Bewufstseins  in  äufseres 
Bewufstsein,  Bewufstsein  vom  Bilde  als  vom  äufsern 
Object  herrührend,  und  in  Selbstbewufstsein,  Bewufst- 
sein vom  Ich,  als  von  dem  afficirenden  Object  verschie- 
denem, eingetreten. 

Wo  im  kindlichen  Bewufstsein  der  Procefs  des 
Schematisirens  begonnen  hat,  ist  der  Punkt  erreicht, 
indem  die  gemeinsame  Thätigkeit  von  Intellectuellem 
und  Organischem  einen  festen  Boden  gefunden  hat,  auf 
dem  sich  alle  Evolutionen  dieses  Processes  bewegen. 
Dieser  Punkt  ist  das  Ich,  als  Erscheinung  des  Geistes 
unter  einer  bestimmten  Form  der  Organisation.  Die 
Beschreibung  dieses  Apparates,  in  dessen  Spiel  die 
transcendente  Einheit  von  Vernunft  und  Materie  in  der 
Vielheit  von  Wissensacten  sich  offenbart,  ist  die  Psy- 
chologie. 

Die  Vernunft  ist   in  diesem  Apparate   repräsentirt 

2 


18 

durch  eine  endliche  Erscheinnngsform,  die  ein  noth- 
wendigcr  Durchgangspuukt  ihres  Zusammenseins  mit 
dem  äufsern  Sein  ist,  die  Materie  durch  den  Organis- 
mus, eine  besondere  Erscheinung  des  materiellen  Seins, 
deren  Verkehr  mit  dem  Geistigen  im  Menschen  bedingt 
ist  durch  die  immanenten  Formen  von  Raum  und  Zeit. 
Die  Grenzen  der  beschreibenden  Psychologie  sind 
durch  die  angegebene  Construction  des  Gegenstandes 
genau  bezeichnet.  Nach  der  Seite  des  geistigen  Seins 
bat  sich  die  Psychologie  jedes'  unmittelbaren  Hinaus- 
greifens auf  allgemeine  Verhältnisse,  wie  sie  im  Ich 
nicht  vorkommen  können,  zu  enthalten,  d.  h.  sie  darf 
nicht  metaphysisch  werden.  Ebensowenig  hat  sie  sich 
mit  den  Resultaten  und  Normen  des  Zusammenseins 
der  Massen  zu  befassen,  d.  h.  sie  darf  nicht  über- 
schweifen in  die  Ethik.  Nach  der  Seite  dei  äufseren 
Seins  ist  alles,  was  sich  auf  das  Verhältnifs  von  orga- 
nischem und  mechanischem  Sein  bezieht,  als  der  Phy- 
siologie angehörig,  auszuschliefsen.  Immerhin  ist  hier 
die  Grenze  eine  fliefsende,  weil  es  Zustände  des  orga- 
nischen Seins  gibt,  die  zwar  in  ihrem  Hervortreten 
nicht  durch  das  Ich,  als  centrale  Einheit  des  intellectu- 
ellen  und  organischen  Seins  bedingt  sind,  in  Beziehung 
auf  ihre  Richtung  und  Stärke  sich  aber  dem  Einflüsse 
desselben  nicht  entziehen  können. 

Ueber  den  Theilungsgrund  der  wissenschaftlichen 
Betrachtung. 

Mafsgebend  für  die  Abgrenzung  bleibt  die  Idee  des 
Wissens,  das  Interesse  an  den  eigentlich  geistigen  Thä- 


19 

tigkeiten,  und  so  kann  als  leitender  Gesichtspunkt  die 
Formel  gelten,  dafs  die  Einheit  des  psychischen  Lebens 
darin  besteht,  dafs  auf  dem  Grunde  des  Organismus 
die  eigentlich  geistigen  Thätigkeiten  in  coutinuirlichem 
Zusammenhange  hervortreten. 

Der  Werth  der  einzelnen  psychischen  Lebensäufse- 
rungen  ist  zu  bemessen  an  der  gröfsern  oder  geringern 
Entfernung  derselben  von  dem  Höhenpunkte  des  Seelen- 
lebens, wo  sich  Geist  und  Organismus  im  Acte  des 
Wissens  vereinigen.  Was  auf  dem  langen  Wege  zwischen 
der  ersten  Berührung  des  äufsern  Seins  mit  dem  sinn- 
lichen Organ  und  der  Vollendung  des  Gedankens  im 
adäquaten  sprachlichen  Ausdruck  liegt,  ist  Alles  psy- 
chisch, aber  der  Werth  steigt  fortwährend  vom  untern 
bis  zum  obern  Ende. 

Man  kann  alle  psychischen  Lebensäufserungen  Thä- 
tigkeiten nennen,  weil  in  jeder  Aeufserung,  sie  sei 
anscheinend  noch  so  passiv,  doch  ein  Minimum  von 
Thätigkeit  stattfindet;  denn  der  Act,  der  sich  zur  An- 
nahme des  Dargebotenen  bereit  zeigt,  ist  eine  Thätig- 
keit. Das  Mehr  oder  Weniger  von  Thätigkeit  liegt 
darin,  dafs  das  Geistige,  das  Bestimmende,  Formende 
des  menschlichen  Daseins,  das  Wesen  des  Ich  hervor- 
tritt, und  das  Stoffliche,  äufserlich  Gegebene  blofses 
Substrat  seiner  Thätigkeit  ist. 

Wo  zwei  Factoren  sind,  die  in  ihrem  Zusammen- 
wirken ein  einheitliches  Resultat  geben,  wird  jedes  von 
Beiden  bald  mehr  leidend,  bald  mehr  thätig  sein,  und 
so  sind  Spontaneität  und  Receptivität  die  allgemeinen 
Bedingungen  jeglicher  Thätigkeit.     Die  beiden  Factoren 

2* 


20 

des  psychischen  Lehens  sind  das  Ich  als  Sitz  der 
geistigen  Spontaneität  und  das  äufscrc  Sein.  Unter 
äufscrem  Sein  ist  hier  Alles  zu  verstehen,  was  auf 
irgend  eine  Weise  Gegenstand  der  Auffassung  sein 
kann,  ethisches,  psychisches,  körperliches  Sein.  Ist 
jiun  das  äufserc  Sein  als  mechanisches  in  dem  Zu- 
sanjmentrefl'en  mit  dem  geistigen  Sein  das  Erregende 
und  Vorwiegende,  so  befindet  sich  das  Suhject  im  Zu- 
stande der  Picceptivität,  und  zwar  da  das  Ich  herab- 
steigt zum  materiellen  Sein,  im  Zustande  der  niedern 
Thätigkeiten  der  Receptivität.  Ist  aber  das  äufsere 
Sein,  das  einen  beherrschenden  Reiz  ausübt,  ein  gei- 
stiges, wie  es  durch  die  Wirksamkeit  des  geistigen 
Gesammtseins  der  Gattung  sich  äufsert,  so  befindet 
sich  das  Ich  in  den  höheren  Thätigkeiten  der  Keeep- 
tivität.  Die  niedern  Thätigkeiten  der  Spontaneität  be- 
ziehen sich  auf  das  gewollte  Verhältnifs  des  Ich  zum 
mechanischen  Sein,  die  höhern  Seelenthätigkeiten  der 
Spontaneität  bringen  das  geistige  Sein  des  Subjects, 
wie  es  sich  in  seinem  Bewufstsein  reflectirt,  zum  Aus- 
druck, zunächst  in  für  sich  bestehenden  Momenten, 
und  an  bestimmte  Kreise,  mit  denen  das  Suhject  in 
persönlicher  Beziehung  steht,  und  dann  in  Zusammen- 
fassung getrennter  Momente  zu  einem  Gesammtsein, 
welches  ohne  selbstische  Rücksichten,  seines  Innern 
Werthes  wegen,  zur  Darstellung  kommt. 

Die  Psychologie  hat  ihre  Aufgabe  gelöst,  wenn  sie 
alle  Thätigkeiten,  welche  das  gegenseitige  Verhältnifs 
von  Ich  und  äufscrem  Sein,  von  Individuum  und  Gat- 
tung constituireu,   beschrieben  hat.     Es   sind  das  die- 


21 

jeuigen  Thätigkeiten ,  welche  in  verschiedenen  Indivi- 
duen und  verschiedenen  Massen  zwar  in  Beziehung 
auf  die  Stärke  und  Häufigkeit  ihres  Hervortretens 
verschieden  sein  können,  die  aber  nie  unterdrückt 
werden  können,  ohne  die  lebendige  Einheit  des  Su- 
bjects  zu  zerstören.  Schleiermacher  nennt  sie  die 
elementaren  Thätigkeiten.  In  der  Betrachtung  aller, 
dings,  wo  die  Thätigkeiten,  abgesehen  von  aller  Dif- 
ferenz ,  von  ihrem  ersten  Hervortreten  durch  alle 
nothwendigen  Entwicklungsmomente  hindurch  verfolgt 
werden,  wird  die  lebendige  Einheit  zerstört.  Das 
lebendige  Subject  ist  immer  ein  bestimmtes.  Seine 
Bestimmtheit  rührt  daher,  dafs  die  elementaren  Thätig- 
keiten in  verschiedenen  Stärkegraden,  in  verschiedener 
Mischung  und  Beziehung  auf  einander  auftreten.  Dies 
ist  aber  für  die  wissenschaftliche  Analysirung  gleich- 
giltig.  Erst  wenn  die  Darstellung  aller  wesentlichen 
Functionen  vollendet  ist,  kann  die  Einheit  der  Thätig- 
keiten im  Subject  betrachtet,  können  für  ihr  gegen- 
seitiges Verhältnifs  unter  einander  Normen  und  Grenzen 
aufgestellt  werden,  innerhalb  deren  die  Differenzen 
des  Characters,  des  Lebensalters,  des  Temperaments, 
des  Geschlechts,  der  Nationalität  u.  s.  w.  sich  bewegen. 
Die  Einheit  der  Thätigkeiten  als  eine  lebendige 
stellt  sich  dar  in  dem  Momente.  Was  ist  ein  Moment? 
Ein  Moment  ist  das  Zusammensein  einer  Mehrheit  von 
Thätigkeiten  zur  Einheit  zusammengefafst  im  Ich  als 
dem  Centrum  des  Bewufstseins,  zeitlich  abgegrenzt,  in 
ihrem  Character  bestimmt  durch  das  Vorherrschen 
einer    Thätigkeit,    der    sich    die    andern    unterordnen. 


22 

Dvv  Moment  dauert  so  lange,  bis  die  vorklingende 
Tliätigkeit  entweder  auf  natürliche  Weise  durch  Ver- 
wirklichung ihres  Ziels  zur  Ruhe  gekomrucD,  oder 
durch  die  Gewalt  einer  neu  sich  ]5ahn  brechenden  Thätig- 
keit  unterbrochen  ist.  Für  den  Moment  als  solchen 
ist  es  gleichgiltig,  ob  die  Thätigkeit  eine  höhere  oder 
niedere,  spontane  oder  receptive  ist.  Sein  Character 
ist  das  Gesetz  des  Werdens,  das  Ausgehen  von  einem 
Indifterenzpunkte,  das  Anschwellen  bis  zu  einem  Maxi- 
mum, und  das  Wiederabnehmen,  bis  die  Schwingungen 
einer  neuen  Thätigkeit  ihn  übertönen,  und  dadurch 
dem  Bewufstsein  einen  neuen  Inhalt,  eine  neue  Rich- 
tung geben,  d.  h.  einen  neuen  Moment  constituiren. 
Wesentlich  ist,  dafs  ein  Moment  nie  von  einer  Thätig- 
keit allein  ausgefüllt  wird.  Dadurch  würde  die  Ein- 
heit des  Bewufstseins  zerstört.  Denn  es  müfste  dann 
zwischen  zwei  Momenten  ein  Nullpunkt  liegen,  während 
doch  das  Bewufstsein  nur  als  Bewufstsein  von  etwas, 
von  einer  Beziehung  zwischen  Ich  und  äufserem  Sein 
vorkommt.  Die  Verbindung  wird  hergestellt  nicht  durch 
eine  neu  entstehende,  sondern  nur  durch  eine  stärker 
hervortretende  Thätigkeit.  Noch  von  einem  andern 
Gesichtspunkte  aus  wird  die  Mehrheit  von  Thätigkeiten 
in  einem  Moment  bestätigt.  Die  dem  äufsern  Sein 
und  seiner  Einwirkung  offen  stehende  Seite  des  Sub- 
jects  ist  einer  solchen  Masse  von  Eindrücken  ausgesetzt, 
die  Agilität  der  Vernunft,  wenn  einmal  der  Procefs 
des  Schematisirens  sich  vollzogen  hat,  drängt  so  all- 
seitig vor,  dafs  es  unmöglich  ist,  eine  Thätigkeit 
gänzlich  zu   isoliren.     Practisch  zeigt  sich  diese  That- 


23 

Sache  darin,  dafs  wir  oft  einen  Eindruck,  sei  es  von 
Seiten  der  Vernunft,  sei  es  von  Seiten  des  äufsern 
Seins  vorhanden  finden,  ohne  uns  des  Zeitpunkts  seiner 
Entstehung  zu  erinnern.  Diese  Erscheinung  rührt  da- 
her, dafs  das  Bewufstsein  im  Augenblicke  des  Ent- 
stehens eines  solchen  Eindrucks  von  einer  andern 
Thätigkeit  so  beherrscht  war,  dafs  die  neue  Thätigkeit 
sich  nicht  bis  zu  ihm  Bahn  brechen  konnte,  und  sich 
erst  verstärken  mufste,  um  in's  Bewufstsein  eintreten 
zu  können. 

Das  Gesetz  des  Werdens,  von  einem  Minimum  zum 
Maximum  und  von  da  zum  Punkte  des  Verschwindens 
aus  dem  Bewufstsein,  unter  dem  der  Moment  als  Ein- 
heit verläuft,  ist  ebenso  mafsgebend  für  die  Einheit 
sämmtlicher  Momente  zusammengenommen.  Wie  im 
Momente  selbst  die  Thätigkeit  sich  verstärkt  bis  zum 
Culminationspunkte,  so  verstärkt  sich  auch,  wenn  man 
sämmtliche  Momente  eines  Einzeldaseins  als  eins  be- 
trachtet, ihre  Fülle  und  die  umspannende  Kraft  ihres 
Auftretens  bis  zum  Culminationspunkte  eines  Daseins, 
und  nimmt  von  da  an  wieder  ab.  Wie  der  Moment 
als  Einheit  verschieden  ist,  je  nachdem  eine  Thätig- 
keit vorherrscht,  und  die  andern  mehr  oder  weniger 
bis  an  die  Grenze  des  Bewufstseins  zurückdrängt,  oder 
dieselben  in  harmonischem  Gleichgewichte  verbindet 
und  jeder  ihren  berechtigten  Ausdruck  läfst,  so  kann 
auch  in  der  Einheit  eines  Daseins,  wie  sie  aus  der 
Continuität  der  Momente  entsteht,  eine  Function  die 
beherrschende  sein,  unter  deren  Potenz  das  Bewufst- 
sein mehr  oder  minder  ausschliefslich  verläuft  (Virtuo- 


24 

sitüt  oder  Neigung),  oder  es  können  alle  wesentlichen 
ThUtigkeiten  im  Verhältnifs  der  Gleichberechtigung  her- 
vortreten. Was  von  der  Einheit  der  Momente  im 
Eiuzeldasein  gilt,  gilt  auch  von  der  Einheit  der  Einzel- 
dasein im  Massendasein.  Der  Massencharacter,  dem 
immer  ein  leitender  Impuls  oder  eine  bewufste  Idee 
zu  Grunde  liegt,  macht  ganz  dieselben  Phasen  durch, 
vrelche  die  Entwicklung  des  Moments  und  des  Einzel- 
daseins bezeichnen. 

Denjenigen  Theil  der  Psychologie,  welcher  die 
lebendige  Einheit  der  elementaren  Thätigkeiten  im 
Moment,  im  Einzeldasein  und  im  Massendasein  be- 
handelt, nennt  Schleiermacher  den  constructiven. 

Elementarer  Theil. 

Der  speculative  Grund  der  Psychologie  mufs  das 
Verhältnifs  von  Vernunft  und  Materie  sein.  Ob  aber 
bei  der  Analysirung  der  psychischen  Functionen  dieses 
Verhältnifs  den  richtigen  Theilungsgrund  abgibt,  ist 
eine  andere  Frage.  Denn  indem  die  Vernunft  unter 
einer  endlichen  Erscheinungsform,  dem  endlichen  Geiste 
sich  darstellt,  die  Materie  aber  dem  endlichen  Geiste 
nur  zugänglich  ist  unter  dem  Gegensatze  des  Mecha- 
nischen und  Organischen,  indem  ferner  das  Ich  als 
Einheit  des  Subjects  als  selbständige  Gröfse  dem 
äufsern  Sein  und  dem  der  Gattung  gegenüber  auftritt, 
entsteht  eine  Kreuzung  von  Gegensätzen,  die  der  über- 
sichtlichen Theilung  hinderlich  ist.  Man  kann  die 
Verwicklung  am  einfachsten  dadurch  lösen,   dafs  man 


25 

von  dem  Ich,  als  der  lebendigen  Einheit,  in  welcher 
der  Gegensatz  eine  feste  Gestalt  angenommen  hat, 
ausgeht,  und  das  lebendige  Individuum  als  Einheit 
von  Vernunft  und  Organisation  dem  äufsern  Sein,  dem 
der  Gattung  sowohl,  als  dem  eigentlich  Materiellen 
gegenüber  stellt. 

Die  innerlichen  Acte,  welche  aus  dem  Aufeinander- 
wirken von  Vernunfttrieb  und  SinneserfüUtheit  ent- 
stehen, sollen  durch  diese  Theilung  in  ihrer  Bedeutung 
keineswegs  verkürzt  werden,  sie  sollen  nur  nicht  als 
solche  isolirt  zur  Sprache  kommen.  Denn  ein  inner- 
licher Act  kann  nur  gedacht  werden  entweder  als  Ver- 
lauf eines  äufsern  Eindrucks  oder  als  innere  Initiative, 
die,  wenn  der  Act  zum  Abschlufs  kommen  soll,  irgend 
eine  Veränderung  im  Aufseruns  bewirkt  oder  wenigstens 
im  Wege  der  Darstellung  sich  für  das  Aufseruns  ver- 
körpert. Wenn  die  Entstehung  eines  innerlichen  Actes 
durch  das  Aufseruns  bedingt  ist,  oder  wenn  derselbe 
eine  materielle  Veränderung  im  äufsern  Sein  hervor- 
bringt, so  ist  der  innerliche  Theil  ein  mehr  oder  we- 
niger zurücktretender;  dagegen  wenn  ein  innerlicher 
Act  zur  Darstellung  kommt  unter  der  Potenz  des 
Gattungsbewufstseins,  so  ist  der  äufsere  Theil  ein  ver- 
schwindender gegen  den  Innern.  Immer  aber  ist  fest- 
zuhalten, dafs  das  Inuns  und  das  Aufseruns  eine  zu- 
sammenhängende Kette  bilden,  die  auch  in  der  Be- 
trachtung nicht  gelockert  werden  darf. 

Der  Gegensatz  des  Ich  und  des  Aufseruns  in  seiner 
Wechselwirkung  aufgefafst  gibt  zunächst  den  einfachen 
Theilungsgrund  der  aufnehmenden  und  ausströmenden 


26 

Tlijiti^keitcn,  oder  des  Eintretens  der  Aufsenwelt  in's 
Sulijcct  1111(1  dcK  Heraustretens  des  Suhjeets  in  die 
Aufsenwelt.  Selbstverständlich  ist  die  Tbeilung  beider 
Thätigkeiten,  die  in  der  Betrachtung  gemacht  wird, 
keine  zeitlich  getrennte  in  der  Wirklichkeit,  sondern 
die  Fäden  laufen  ncljen  einander  her,  l)ald  dieser,  bald 
jener  die  Bewegung  des  Bewufstseins  bedingend.  Aber 
wenn  der  einzelne  Moment  sein  Gepräge  erhält  von 
dem  Vorherrschen  der  aufnehmenden  und  in  be- 
schränkter Weise  auch  der  ausströmenden  Thätigkeit, 
so  zeigt  sich  die  Einheit  der  Momente  besonders  an 
der  Continuität  der  ausströmenden  Functionen,  weil 
hier  dem  Keize  des  Augenblicks  und  der  Zufälligkeit 
des  äufsern  Seins  in  der  Manichfaltigkeit  und  Abwechs- 
lung der  Eindrücke  ein  geringerer  Spielraum  gelassen 
ist,  solern  dieselben  unter  der  Potenz  des  Constanten 
im  Menschen,  des  Willens,  verlaufen. 

Verhäitniss  von  Receptivität  und  Spontaneität  einer- 
seits, von  aufnehmender  und  ausströmender  Thätig- 
keit andrerseits. 

Es  würde  der  lebendigen  Wechselwirkung  zwischen 
Individuum  und  Aufsenwelt  nicht  entsprechen,  wenn 
man  ohne  Weiteres  die  aufnehmende  Thätigkeit  mit 
Receptivität,  die  ausströmende  mit  Spontaneität  iden- 
titiciren  wollte.  Es  ist  gewifs,  dafs  die  aufnehmende 
Thätigkeit  vorzugsweise,  besonders  in  ihrem  Entstehen 
unter  den  Gesetzen  der  Receptivität  steht,  sowie  die 
ausströmende   Thätigkeit   als  Hauptfactor  die   Sponta- 


27 

neität  hat.  Schon  eiue  allgemeine  Betrachtung  der 
Eigenthümlichkeit  der  beiden  in  Wechselwirkung  ge- 
setzten Theile  genügt,  um  darzuthun,  dafs  wenigstens 
auf  der  Seite  des  lebendigen  Individuums  keine  me- 
chanische Passivität  möglich  ist,  und  in  den  höchsten 
Formen  der  Mittheilung  nach  Aufsen,  welche  die  eigenen 
geistigen  Gebilde  Verständnifs  fordernd  aus  sich  heraus- 
setzt, ist  wiederum  der  aufnehmende  Theil  mit  einer 
Organisation  ausgestattet,  welche  fremde  Lebensäufse- 
rungen  in  ihrer  Form  wenigstens  modificirt.  Ja  es 
tritt  im  Gattungsbewufstsein  ein  Factor  neben  die  in- 
dividuelle Spontaneität,  welche  zwar  ihrer  Thätigkeit 
erst  die  rechte  Fülle  verleiht,  dieselbe  aber  auch  unter 
den  Einflufs  einer  doch  wieder  fremden  Gröfse  stellt. 
Es  sind  zwei  Gröfsen  in  gegenseitiger  Annäherung 
begriffen,  die  auf  ihrem  ursprünglichen  Boden  rein  und 
unverwischt  auftreten,  aber  nach  Mafsgabe  des  Ein- 
dringens in  das  fremde  Gebiet  ihre  Besonderheit  rao- 
dificiren,  bis  sie  zuletzt  in's  Herz  des  fremden  Factors 
vorgedrungen  sich  völlig  von  demselben  absorbiren 
lassen.  Die  aufnehmende  Thätigkeit  auf  ihrer  nieder- 
sten Stufe  trägt  das  Gepräge  der  Receptivität;  je  weiter 
aber  der  äufsere  Stoff  im  seelischen  Apparate  ein- 
dringt, desto  mehr  unterliegt  er  der  Selbstthätigkeit 
des  Individuums,  bis  endlich  das  Aufnehmen  in  das 
Ausströmen  umschlägt.  Die  ausströmende  Thätigkeit 
in  der  niedersten  Form  der  körperlichen  Gestaltung 
ist  rein  spontan,  das  Object  rein  passiv,  obwohl  auch 
hier  schon  die  gestaltende  Kraft  durch  das  Wesen  des 
Gegenstands  in  ihrer  Wirkung  bestimmt  wird.     In  der 


28 

wcscntlicbcn  Form  des  llcraustretens  aus  sieb,  die  in 
der  Idee  des  Wissens  begründet  ist,  ist  es  riicbt  mebr 
die  Natur  eines  fremden  Gegenstandes,  die  dem  Han- 
dehiden  ibr  Gesetz  auferlegt,  sondern  es  ist  das  eigene 
Wesen  des  Subjects,  das  in  fremder  Gestalt  seine 
Thätigkeit  bestimmt. 

Die  aufnehmende  Thätigkeit 

bewegt  sich  zwischen  zwei  Endpunkten  und  hat  ver- 
schiedene Dignität,  je  nachdem  sie  noch  im  Entstehen 
begriffen  in  der  Nabe  des  üufsern  Seins  sich  befindet, 
oder  den  Weg  durch  den  Erkenutnifsapparat  durchge- 
macht und  im  Denken  ihren  Abscblufs  gefunden  bat. 
Der  ganze  Stufengang  kann  bezeichnet  werden  als  die 
allmäblige  Verstärkung  der  Spontaneität  gegen  das  Auf- 
genommene. Der  Grund  der  böhern  Dignität  des  vom 
Denken  erfafsten  und  verarbeiteten  Stoffs  von  der 
blofsen  sinnlichen  Affection  liegt  darin,  dafs  das  Ge- 
dachte als  Einheit  von  Denkform  und  Denkstoff  der 
Idee  des  Wissens  näher  stebt,  als  die  sinnliche  Manich- 
faltigkeit,  der  die  Bestimmtheit  des  vernünftigen  Thei- 
lungsgrundes  abgeht.  Die  aufnehmende  Thätigkeit  spaltet 
sich  nach  ihren  zwei  Hauptphasen  in  Sinnestbätigkeit 
und  Denktbätigkeit. 

Die  Sinnesthätigiceit. 

Zur    Vermittlung    des    Ich    mit    dem    Ganzen    des 
äufsern  Seins  dient  der  Organismus.    Soweit  diese  Ver- 


29 

mittlung  aber  nur  den  Kampf  des  mechanischen  und 
organischen  Processes  anlangt,  gehört  sie  nicht  hieher. 
Die  Psychologie  hat  es  nur  zu  tliiin  mit  demjenigen 
Theile  des  Organismus,  dessen  Eindrücke  sich  als 
Denkstoflfe  verwerthen  lassen.  Diels  sind  die  fünf 
speciellen  Sinne  und  der  sogenannte  Hautsinn.  Sie 
nehmen  von  dem  Ganzen  aufseruns  in  Folge  äufseru 
Reizes  Eindrücke  auf,  die  eine  Veränderung  im  Zustande 
des  Organismus  bedingen.  Lichteindrücke,  Schläge  be- 
wegter Luft,  Cohäsionsverhältnisse,  chemische  und  at- 
mosphärische Verhältnisse  verändern  die  sinnlichen 
Orgaue.  Das  Inuus  und  das  Aufseruns  sind  hier  unge- 
schieden zusammen  in  einem  Zustande.  Dieser  Zustand 
ist  der  der  Empfindung.  In  ihm  ist  nur  ein  Miniraum 
von  Selbstthätigkeit,  so  viel  als  nöthig  ist,  um  die 
Organe  dem  äufseren  Reize  offen  zu  halten.  Das  Was 
dieses  Zustandes  ist  Thieren  und  Menschen  gemein- 
schaftlich, das  Wie  nur  ist  verschieden,  und  zvfar  fol- 
gendermafsen. 

Die  menschlichen  Sinnesorgane  stehen  dem  äufsern 
Sinn  in  ganz  unbeschränkter  Weise  offen,  und  dieses 
absolute  Geöffnetsein  ist  eben  jenes  Minimum  von  Thä- 
tigkeit.  Die  thierischen  Organe  dagegen  nehmen  nur 
insoweit  Eindrücke  des  äufsern  Seins  entgegen,  als  sie 
für  den  animalischen  Procefs  verwerthet  werden  können. 
Man  kann  sagen,  dafs  in  der  sinnlich  aufnehmenden 
Thätigkeit,  welche  die  Empfindung  bedingt,  die  Selbst- 
thätigkeit noch  nicht  als  solche  auftritt,  aber  doch  in 
ahnungsvoller  Weise  sich  ankündigt.  Der  Zustand  der 
Empfindung  ist  der  Indifferenzpunkt  von  Selbstbewufst- 


30 

sein  inul  iiursorem  ßewurstsein,  die  Uiigeschiedenheit 
von  Eiudiuck  und  Gegenstand.  In  Wirkliebkeit  aller- 
dings koranit  dieser  Zustand  nicht  isolirt  vor,  sobald 
einmal  das  Ichsagen  eingetreten  ist,  und  Gegenstand 
der  psycliologiscbcn  lietracbtuug  ist  der  Meuscb  vom 
Augenblicke  des  Ichsagens  an.  Sofern  die  Empfindung 
an  sich  als  Zustand  keinen  Stoff  zur  Denkfunction 
liefert,  bat  sie  keinen  psychischen  Werth,  und  fortge- 
setzte Empfindungszustände,  die  nur  um  ihrer  selbst 
willen  hervorgerufen  werden,  erniedrigen  den  Menschen 
zum  Thier. 

Der  mit  der  Empfindung  begonnene  Procefs  des 
Aufuebmens  läfst  sich  auf  dieser  Stufe  nicht  abschnei- 
den. Es  tritt  sofort  die  Selbsttbätigkeit  hervor.  Ihre 
erste  Aeufserung  besteht  darin,  dafs  sie  sich  der  Ueber- 
wältigung  durch  den  Gegenstand  erwehrt,  sich  der  Be- 
fangenheit im  Eindruck  entledigt,  und  den  letzteren 
zurückwirft,  nicht  um  ihn  zu  vernichten,  sondern  um 
ihm  seine  Stelle  im  äufsern  Sein  anzuweisen. 

Auf  welche  Weise  geschieht  das?  durch  die  Sinnes- 
combination.  Der  Eindruck,  dem  ein  Sinn  unterlegen  ist, 
kann  durch  Zuhilfeeilen  anderer  geklärt  werden.  Die 
sich  ermannende  Selbsttbätigkeit  sendet  einen  zweiten 
Sinn')  in  der  Richtung  des  Eindrucks  ab;  was  zuerst  als 
Lichteindruck  empfunden  wurde,  wird  nun  von  dem 
Sinne  der  Cohäsionsverhältnisse  behandelt,  ebenfalls  an- 
gefafst,  und  wenn  die  Selbsttbätigkeit  damit  noch  nicht 
befriedigt  ist,  so  sendet  sie  einen  neuen  Sinn  aus,  und 

1)  Auf  dieser  Succession  der  Sinne  beruht  die  Eintheilung 
der  Sinne  in  leitende  und  folgende. 


31 

erleidet  von  demselben  Ausgangspunkte  des  Eindrucks 
chemische  Zustände,  und  so  ist  der  Eindruck  zurück- 
gel'tihrt  auf  das  Object,  die  Empfindung  ist  verwandelt 
in  Wahrnehmung  und  hat  nur  noch  den  Werth  eines 
Überwundenen  Moments.  Ich  und  äufseres  !Sein  sind 
geschieden,  Selbstbewufstsein  und  äufseres  Bewufstsein 
auseinander  getreten.  Was  oben  als  Schematisirungs- 
procefs  bezeichnet  wurde,  ist  damit  schon  als  wirksam 
vorausgesetzt.  Denn  das  Object  ist  ein  Inuns,  statt 
eines  Eindrucks  Bild  geworden,  Einzelbild.  Das  Ein- 
zelbild aber  ist  nur  möglich,  wenn  ihm  auf  der  Innern 
Seite  des  Sinnes  ein  von  der  intellectuellen  Function 
mitgetheiltes  Allgemeinbild,  Schema  entspricht.  Wie 
jenes  Allgemeinbild  Bedingung  des  Zustandekommens 
des  Einzelbildes  ist,  so  ist  es  auch  Bedingung  seiner 
Dauer. 

Die  Vorstellung,  als  ob  der  Sinn  einen  materiellen 
Eindruck  behielte,  auf  den  sich  das  innere  Auge  jeder- 
zeit verlassen  könnte,  ist  mechanisch,  und  auch  die 
öftere  Wiederholung  des  sinnlichen  Eindrucks  wird  nie 
die  Stetigkeit  des  gewonnenen  Bildes  bedingen,  sondern 
ganz  allein  das  Schema  als  ein  Act  der  intellectuellen 
Selbstthätigkeit;  nur  wo  diese  nachläfst  und  das  Schema 
nicht  mehr  lebendig  erhält,  verschwindet  auch  das 
Einzelbild.  Die  öftere  Wiederholung  des  sinnlichen 
Eindrucks  kann  nur  dazu  dienen,  das  Verhältniss  des 
Einzelbilds  zu  dem  allgemeineren  Schema  näher  zu 
bestimmen.  Gedächtnifs  und  Vergefslichkeit  sind  also 
keine  abgesonderten  Kategorieen,  sondern  hängen  ab 
von   der  gröfseren   oder  geringeren  Energie  der   Intel- 


32 

Icctuclleu  Function,  Diese  selbst  aber  rührt  von  der  Art 
und  Weise  her,  wie  die  Vernunft  sich  im  endlichen  Geiste 
erscheinend  darstellt.  Auf  keine  Weise  aber  rührt  die 
Constanz  des  Einzelbildes  aus  der  Organisation  her. 

Wenn  nun  einerseits  die  erste  Aeufserung  der  Selbst- 
thätigkeit  in  der  Sinnescombination  den  ersten  Schritt 
für  das  Werden  des  Wissens  gcthan  hat,  so  ist  sie 
auch  zuerst  mit  der  Fähigkeit  des  Irrthums  behaftet. 
Der  blofse  sinnliche  Eindruck  vor  der  Combination  gibt 
absolute  Wahrheit,  die  Verbindung  verschiedener  Ein- 
drücke von  einem  Object  begründet  die  Möglichkeit 
des  Irrthums.  Correctiv  ist  die  Kritik  durch  eigene 
und  fremde  Wiederholung. 

Der  Act  der  Spontaneität,  welcher  den  Zustand  der 
Empfindung  in  Ich  und  Object  schied,  hat  ein  doppel- 
tes Moment.  Zuerst  will  er  das  Aufseruns  als  Besitz 
erwerben  für  das  Inuns ;  das  ist  die  Thätigkeit,  welche 
den  Sinn  dem  äufseru  Eeiz  offen  hält  ohne  den  Druck  des 
animalischen  Triebes,  ein  Act  intellectueller  Uneigen- 
nützigkeit.  Zweitens  will  er  die  Getheiltheit  des  Seins 
zum  Bewufstsein  bringen,  defshalb  die  Combination  der 
Sinne.  Während  dem  Sinn  für  sich  die  Aufsenwelt 
als  unbestimmte  Einheit  sich  fühlbar  macht,  bringt  die 
Verbindung  verschiedener  Sinne  die  Grenzen  des  ein- 
zelnen Seins  zum  Bewufstsein  und  hebt  abgeschlossene 
Einheiten  heraus,  die  dann  als  gesonderte  Bilder  er- 
scheinen. Das  Entstehen  discreter  Einheiten  geschieht 
durch  die  Media  der  Zeit  und  des  Raums.  Der  Raum 
ist  die  Form  unter  der  die  sinnlichen  Eindrücke  dem 
Organe    zugänglich   sind;    er  ist  eine  Bedingung    der 


33 

Organisation,  welcher  äufsere  Reize  nur  nnter  dem  Ver- 
hältnisse der  Ausdehnung  zukommen.  Die  Zeit  ist  die 
Form,  unter  welcher  die  verschiedenen  Sinneseiudrücke 
von  der  Selbstthätigkeit  zu  einer  Einheit  zusammeu- 
gefafst  werden.  Ist  der  Raum  die  Bedingung  für  das 
Nebeneinanderbestehen  der  sinnlichen  Objecto,  so  ist 
die  Zeit  Bedingung  für  die  Reihenfolge  des  Eintretens 
der  Bilder  in  das  Bewufstsein. 

Resultat  der  bisherigen  Betrachtung  ist,  dafs  der 
Sinn  an  sich  keinen  Werth  hat  für  die  Scheidung  des 
Seins,  dafs  in  Bezug  auf  psychische  Verwerthung  des 
äufsern  Stoffes  kein  Sinn  an  Dignität  über  dem  andern 
steht,  dafs  vielmehr  das  Werden  von  Bildern  auf  Rech- 
nung der  inneren  Spontaneität  kommt,  welche  die  sinn- 
lichen Organe  unbedingt  offen  erhält,  und  sie  zwingt, 
ihre  gegenseitige  Thätigkeit  zu  ergänzen. 

Die  Bilder,  welche  aus  der  combinatorischen  Thä- 
tigkeit der  Sinnesorgane  hervorgehen,  sind  zweierlei. 
Sie  können  Bilder  von  Dingen  oder  Bilder  von  Actionen 
sein,  d.  h.  es  kann  mehr  die  räumliche  Beharrlichkeit 
oder  mehr  die  zeitliche  Beharrlichkeit  ihr  Wesen  be- 
stimmen. Ein  Bild,  welches  beharrlicher  Sitz  verschie- 
dener Thätigkeiten  ist,  ist  ein  Ding.  Ein  Bild,  welches 
beharrliche  Bewegung  verschiedener  Gegenstände  zeigt, 
ist  eine  Action.  Jenes  ist  das  Substantiv,  dieses  das 
Verb.  Von  einem  höhern  Gesichtspunkt  zerfliefst  dieser 
Unterschied  wieder,  wie  sich  dieses  in  der  Substanti- 
virung')  abstracter  Begriffe  zeigt.     In    unserem  sinn- 

*)  Der  Ausdruck  abstract  hat  allerdings  bei  Schi,  keinen 
Sinn  mehr,  wie  aus  der  weitern  Entwicklung  hervorgeht. 

3 


34 

lieh  erworbenen  Bilderscbatz  stehen  sich  diese  Beiden 
gegenüber;  verbunden  werden  sie  nicht  durch  die  sinn- 
lieh aufnehmende  Operation,  wie  sie  bis  jetzt  dargestellt 
worden  ist;  es  ist  gegeben  der  Gegenstand  und  es  sind 
gegeben  die  Veränderungen.  Die  gegenseitige  Beziehung 
von  Gegenständen  und  Veränderungen,  das  Vorgehen 
der  Veränderungen  am  Gegenstand  liegt  hierin  noch 
keineswegs.  Dieser  Fortschritt  gehört  dem  ferneren 
Verlauf  des  Processes  an,  wo  die  eigentlichen  Denk- 
thätigkeiten  auftreten. 

Unter  Action  ist  jede  Bewegung  zu  verstehen,  sie 
sei  eine  thätige  oder  leidende,  welche  die  Einheit  einer 
Succession  von  Momenten  ist.  Es  ist  sehr  wesentlich, 
festzustellen,  dafs  Actionen,  d.  h.  zeitlich  continuirliche 
Einheiten  geradeso  zu  Einzelbildern  werden  können 
auf  dem  Wege  combinatorischer  Sinnesthätigkeit,  wie 
räumliche  Einheiten,  und  dafs  nicht,  wie  behauptet 
wurde,  die  Action  als  zeitliche  Einheit  ein  Resultat 
der  eigentlichen  Denkthätigkeit  auf  dem  Wege  der 
Abstraction  ist.  Das  Zustandekommen  der  Actions- 
bilder  beruht  darauf,  dafs  der  Vernunfttrieb,  der  dem 
Sinne  Schemata  einbildet,  eben  so  sehr  unter  der  Form 
der  Zeit,  wie  unter  der  des  Eaums  thätig  ist. 

Das  Begriffssystem  kennt  weder  Zeit  noch  Eaum, 
aber  dem  Innern  Sinn  kann  es  sich  nur  unter  diesen 
Kategorieen  vernehmbar  machen.  Die  allgemeinen 
Schemata  für  die  Action  sind  Bewegung,  Oscillation, 
Zuneigung,  Abneigung,  Verbindung,  Trennung,  Zunahme, 
Abnahme.  Diese  Schemata  werden  sowohl  an  ethischen 
als  an  physischen  Erscheinungen  lebendig. 


35 

Ehe  die  eigentlieben  Denkthätigkeiten  zur  Sprache 
kommen  können,  ist  noch  eine  Erscheinung  einzureihen, 
die  zwar  von  der  sinnlichen  Auffassung  des  äufseren 
Seins  wesentlich  verschieden  in  Beziehung  auf  ihre 
Entstehungsweise  ist,  in  Betreff  ihres  Resultats  aber 
auf  die  gleiche  Stufe  mit  derselben  zu  stehen  kommt. 
Sie  betrifft  Eindrücke,  die  unter  derselben  Form,  wie 
die  eigentlich  sinnlichen  zu  unserem  Bewufstsein  kom- 
men, trotzdem  aber  nicht  von  äufsern  Objecten  her- 
rühren, nicht  durch  das  äufsere  Sinnesende  aufgenom- 
men sind,  sondern  ohne  äufsere  Veranlassung  doch  mit 
der  Lebendigkeit,  Frische,  Färbung  und  Bestimmtheit 
sinnlich  erworbener  Bilder  auftreten.  Woher  kommen 
sie?  Wären  es  Trugbilder,  Folge  organischer  Störun- 
gen, rein  individuelle  Erscheinungen?  Theilweise  er- 
klären sie  sich  wohl  als  verspätetes  Bewufstwerden 
verrauschter  sinnlicher  Eindrücke,  Vordrängen  früherer 
Bilder,  die  dem  nächsten  Ideenkreis  fremd  durch  eine 
plötzliche  Energie  der  inneren  Selbstthätigkeit  wieder 
hervorgezaubert  werden.  Wesentlich  davon  verschieden 
aber  ist  ein  ganzes  Gebiet  des  geistigen  Lebens,  das 
sich  aus  dem  Verhältnifs  von  Schema  und  Vernunft- 
trieb erklärt.  Dieselbe  intellectuelle  Kraft,  die  die  farb- 
losen Allgemeinbilder  als  Typen  und  Rahmen  der  sinn- 
lichen Bilder  dem  Innern  Ende  des  Sinnes  mittheilt, 
hat  auch  die  Fähigkeit,  wenn  der  Reichthum  der  sinn- 
lichen Instrumentation  einmal  da  ist,  ihre  eigenen  Triebe 
unter  der  Fojm  solcher  individuell  belebter  Gebilde  zu 
äufern  und  damit  neben  dem  Schatze  des  sinnlich  Er- 
worbenen  einen   gleichen   aus  dem  ebenso  unerschöpf 

3* 


36 

lieben  iSeboofsc  des  iunern  Anschauens  zu  gebären. 
Ist  der  erste  das  Mittel  für  die  Aneignung  des  Aufser- 
uns,  so  ist  der  zweite  das  Mittel  für  das  productive 
Heraussetzen  des  Inuns.  Beide  ergänzen  und  beleben 
sieb  gegenseitig  und  liefern  in  gleicber  Weise  Stoff  für 
die  eigentlicbe  Denktbätigkeit. 

Die  Denkthätigkeiten 

baben  zum  Object  die  Einzelbilder,  wie  sie  als  discrete 
Gröfsen  in  räuralicber  oder  zeitlicbcr  Einheit  als  Action 
oder  Ding  sich  darstellen.  Die  nächste  Operation  der 
sieb  verstärkenden  Selbsttbätigkeit  ist  nun  die  bewufste 
Beziehung  der  Einzelbilder  auf  die  entsprechenden 
Schemata,  und  dieser  erste  Denkact  hat  als  nothwen- 
dige  Aufsenseite  sofort  das  Sprechen  zur  Folge  in  der 
Benennung  der  Bilder.  Es  sei  gleich  hier  der  Satz 
aufgestellt,  dafs  Denken  und  Sprechen  ein  und  dieselbe 
Thätigkeit  sind,  zwei  Seiten  eines  Processes.  Die  Be- 
deutung der  ersten  Stufe  des  Sprechens,  die  sich  in 
der  Benennung  der  Bilder  zeigt,  liegt  darin,  dafs  im 
Sprechen,  oder  was  dasselbe  ist,  im  Denken  eine  Mehr- 
heit gleicher,  nur  durch  Raum  und  Zeit  getrennter  Bil- 
der in  eine  Einheit  zusammengefafst  ist.  Da  die  Con- 
stanz  des  einzelnen  Bildes,  wie  oben  erwähnt  wurde, 
nicht  Sache  seiner  räumlichen  oder  zeitlichen  Vielheit, 
sondern  der  intellectuellen  Energie  ist,  so  ist  auch  das 
Sprechen  nicht  blofs  eine  äufsere  Zusammenfassung 
seiner  Vielheit,  etwa  um  unsern  Bilderschatz  in  abge- 
kürzter Form   Andern  mitzutbeilen.     Dies  wäre  keine 


37 

wesentliche  Function,  sondern  nur  practische  Aeufser- 
lichkeit.  Derselbe  Zweck  der  Mittheilung  objectiven 
Bilderschatzes  könnte  auch  durch  Geberden  erreicht 
werden.  Es  gehört  nicht  zum  Wesen  des  Sprechens, 
dafs  es  ein  lautes  sei.  Damit  fällt  also  die  Beziehung 
auf  Mittheilung  an  Andere  weg.  Das  Sprechen  ist  zu- 
nächst ein  inneres,  und  wird  es  in  den  meisten  Fällen 
auch  bleiben,  weil  das  Denken  ohne  inneres  Si.irechen 
kein  Denken  wäre. 

Das  Sprechen  tritt  überall  auf,  wo  etwas  unter  der 
Form  des  Gegensatzes  existirt.  Nun  ist  aber  hier 
schon  der  Gegensatz  zwischen  Ich  und  Objeet,  und 
dieser  einfachste  Gegensatz  drückt  sich  aus  in  der 
einfachsten  Form  des  Sprechens,  in  der  Benennung. 

Somit  ist  also  die  erste  Aeufserung  des  Denkens 
die  Aufnahme  des  Einzelbildes  in  das  Schema,  die 
Verallgemeinerung  desselben,  oder  äufserlich  dargestellt 
die  Benennung.  Ist  das  Schema  auf  diese  Weise  zur 
lebendigen  Gattung  geworden,  so  kann  diese  wieder 
in  ein  höheres  Schema  aufgenommen  werden,  und  so 
geht  die  begriffliche  Steigerung  aufwärts,  je  weiter 
vom  Einzelbild  entfernt,  desto  allgemeiner,  aber  auch 
blässer  und  farbloser,  je  näher  demselben,  desto  enger, 
aber  belebter. 

Der  zweite  Schritt  der  Spontaneität  gegenüber  dem 
nun  benannten  Bilderschatz  betrifft  die  Verbindung  der 
zwei  Kategorieen  von  Bildern,  der  Dinge  und  der 
Actionen.  Im  Sprechen  treten  die  Dinge  auf  als  Sub- 
stantiva,  die  Actionen  als  Prädicate.  Die  wahre  Be- 
deutung des  Sprechens    als  einer  Denkthätigkeit  liegt 


38 

mm  iu  der  Verbindiuig  vou  Substantiv  und  Prädicat 
zu  einem  Satze.  Dadurch  bringt  die  Selbsttbätigkeit 
des  Subjects  Leben  iu  die  Bilderwelt.  Weit  entfernt, 
dafs  die  Action  eine  Abstractiou  wäre  aus  einer  Masse 
aufgefafster  Erscheinungen,  und  damit  ein  Product  des 
äufsereu  Seins,  ist  vielmehr  seine  Verbindung  mit  dem 
Subject  das  Resultat  der  intellectuellen  Thätigkeit. 
Denken  und  Sein  entsprechen  sich,  und  das  Denken 
in  dieser  verbindenden  Thätigkeit  drückt  eine  reale 
Verbindung  des  äufsern  Seins  aus.  Diese  Verbindung 
von  Seinsverhältnissen,  deren  einfachste,  fundamentale 
Gestalt  die  Verbindung  von  Subject  und  Prädicat  ist, 
setzt  sich  fort  in  der  Darstellung  der  verwickeltsten 
und  feinst  schattirten  Formen  des  lueinanderseins. 
Hiermit  ist  die  höchste  Stufe  der  erkennenden  Selbst- 
thätigkeit  erreicht,  die  aus  dem  Grunde  des  eigenen 
Seins  heraus  Gestaltung  und  Leben  in  die  Aufsenwelt 
bringt.  Das  Denken,  das  uns  unter  der  Form  von 
Begriffen  zum  Bewufstsein  kommt,  legen  wir  allen  Er- 
scheinungen als  ihr  eigenes  Wesen  zu  Grunde.  Diese 
Uebertragung  unsrer  Denkformen  in  Seinsformen  ist 
keine  Fiction ,  sondern  beruht  auf  einer  tiefern  Iden- 
tität von  Bewufstsein  und  Sein,  auf  ihrer  transcen- 
denten  Einheit,  Diese  läfst  sich  nicht  demonstriren, 
ist  aber  Postulat  als  nothwendiger  Impuls  für  den 
Wissenstrieb  in  seiner  allgemeinsten  Form,  wie  er 
allem  Denken  zu  Grunde  liegt.  Begriffe  wie  Kraft, 
Ursache,  Substanz  könnten  uns  nie  auf  sinnlichem 
Wege  zum  Bewufstsein  kommen,  sind  vielmehr  Formen 
unseres   Denkens,    welche    den   äufsern   Stoff  der  Be- 


39 

grififswelt  assimiliren,  wie  Zeit  und  Raum  Formen 
sind  für  die  Vermittlung  der  Begriffe  und  der  Er- 
scheinung an  den  Sinn.  Insofern  kann  man  sagen, 
dafs  die  denkende  Selbstthätigkcit  des  Subjeets  nicht 
sein  Wesen  der  Aufsenwelt  zu  Grunde  legt,  sondern 
vielmehr  im  Aeufsern  das  Innere  aufsucht,  sofern  durch 
die  sinnlichen  Operationen  nur  das  Aeufsere  der  Dinge 
zum  Bewufstsein  kommt. 

Diese  Richtung  der  Sprache,  consequent  verfolgt 
würde  zur  Metaphysik  führen,  während  die  andere  au 
die  combinatorische  Sinnesthätigkeit  sich  anschliefsende 
die  Sprache  des  gemeinen  Lebens  bildet,  soweit  sie 
blofs  auf  Mittheiluug  sinnlicher  Wahrnehmungen  ge- 
richtet ist.  Der  culturhistorische  Werth  einer  Sprache 
hängt  von  dem  Grade  ab,  wie  jene  beiden  Elemente, 
das  objectiv  wissenschaftliche  und  das  unmittelbar 
praktische,  in  ihr  gemischt  sind. 

Das  Wesen  des  Denkens,  so  weit  es  identisch  ist 
mit  dem  bis  jetzt  allein  betonten  inneren  Sprechen, 
liegt  also  in  der  Verbindung  verschiedener  Sprach- 
und  Denkeleraente  unter  sich.  Aus  der  Verbindung 
von  Subject  und  Prädicat  entsteht  der  einfache  Ge- 
danke. Verschiedene  Gedanken  in  Beziehung  zu  ein- 
ander zu  setzen,  kann  gleichfalls  nicht  Sache  des  rein 
innnern  Denkens  sein;  dazu  ist  das  innere  Sprechen 
erforderlich,  um  den  zu  verbindenden  Elementen 
gröfsere  Tenacität  und  Bestimmtheit  zu  geben.  Dieser 
Procefs  erreicht  seinen  Höhepunkt  in  der  logischen 
Composition  gewollter  Gedankenreihen  zu  einem  wis- 
senschaftlichen Ganzen.     Dann  ist  es  nicht  mehr  das 


40 

freie  Spiel  der  Gedankenerzeugung,  wie  es  einestheils 
aus  der  ruhelosen  Agilität  des  Vernunfttriebs  und 
andrerseits  aus  der  Zufälligkeit  des  sich  aufdrängenden 
äufsern  oder  innern  sinnlichen  Stoffs  sich  erzeugt,  son- 
dern es  ist  der  in's  Wollen  aufgenommene,  mit  Aus- 
schlufs  alles  Zufälligen  consequent  durchgeführte  Ge- 
danke. Damit  ist  der  Procefs  des  Denkens  als  Aeufse- 
ruug  der  objectiven  Selbstthätigkeit  abgeschlossen,  und 
auf  diesem  Punkte  hat  die  aufnehmende  Thätigkeit 
bereits  in  die  ausströmende  umgeschlagen. 

Nun  bleibt  aber  noch  eine  andere  Form  übrig  zu 
besprechen,  unter  der  das  Denken  auftritt.  Um  sie 
zu  begreifen,  mufs  man  auf  den  Punkt  zurückgehen, 
von  dem  an  die  eigentlichen,  psychischen  Thätigkeiten 
gerechnet  werden.  Es  ist  diefs  der  Punkt,  wo  das 
Bewufstsein  aus  der  Indifferenz  des  Empfindens  über- 
gegangen ist  in  die  Scheidung  von  Selbstbewufstsein 
und  äufserem  Bewufstsein,  von  Ich  und  Object.  Die 
bisherigen  Denkacte  gehören  alle  der  Gestaltung  der 
äufsern  Welt  an,  wie  sie  durch  die  Spontaneität  des 
intellectucllen  Triebes  sich  gemacht  hat.  Damit  aber, 
dafs  der  menschliche  Vernunfttrieb  an  dem  äufsern 
Object  seinen  ganzen  Gehalt  realisirt,  sich  in  den- 
selben hineingelegt  oder  vielmehr  in  demselben  wieder- 
gefunden hat,  damit  ist  das  Ich  noch  nicht  in  dem 
Denkprocesse  aufgegangen.  Es  schwebt  vielmehr  über 
demselben  und  wacht  darüber,  dafs  die  Geschiedenheit 
von  Subject  und  Object  lebendig  erhalten  werde  in  der 
idealen  Einheit  des  Denkens.  Das  Ich  ist  demnach 
von  dem  Denken,  als  seiner  Selbstthätigkeit  geschieden, 


41 

und  zwar  so,  dafs  die  Selbstthätigkeit  eine  vom  Ich 
gewollte  und  gewufste  ist.  Anders  ausgedrückt:  das 
Denken  ist  die  Selbstthätigkeit,  aber  es  ist  ihre  Eigen- 
tbüralichkeit,  dafs  sie  als  solche  zum  Bewufstsein 
kommt,  sich  im  Ich  beständig  reflectirt.  Denken  ist 
reflectirte  Selbstthätigkeit  des  Ich.  Ohne  diese  reflec- 
tirende  Thätigkeit  wäre  der  Procefs  des  Erkennens 
ein  vager,  unpersönlicher.  Der  Wirkungstrieb  der  Ver- 
nunft, die  sich  an  der  ebenso  ruhelos  zuströmenden 
Erscheinungswelt  versucht,  bald  sich  von  ihr  abgestofsen 
fühlend,  bald  Verbindungen  mit  derselben  eingehend, 
hat  gleichsam  als  geistige  Allgegenwart  über  sich  den 
Spiegel  des  seiner  selbst  bewufsten  Ich,  das  sich  im 
Unterschiede  festhält,  in  dem  alle  Thätigkeiten  zum 
Wiederschein  kommen.  Diefs  die  Wahrheit  der  ge- 
meinen Rede,  man  könne  nie  ohne  Denken  sein.  Das 
Ich  hat  stets  das  Bewufstsein  von  der  Bewegtheit  des 
organischen  und  intellectuellen  Seins. 

Das  Sprechen  als  äusseres. 

Das  innere  Sprechen  diente  dazu,  einen  Denk- 
moment mit  dem  andern  zu  verbinden,  es  war  die 
nothwendige  Aeufserung  der  Selbstthätigkeit  gegen- 
über dem  sinnlich  Zuströmenden.  Warum  wird  es  nun 
ein  äufseres?  Als  Aeufseres  läfst  es  sich  nur  ver- 
stehen unter  dem  Gesichtspunkte  des  Tons  und  des 
Lautes.  Der  Ton  in  seiner  einfachsten  Form  ohne 
Articulation  ist  Aeufserung  eines  Empfindungszustandes. 
Der  Empfindungszustand   ist  etwas  Individuelles,  Sub- 


42 

jcctives,  und  in  seiner  Ungesebiedenheit  vom  objeetiven 
Bewufstsein  ohne  psychischen  Werth.  Er  ist  Thieren 
und  Menschen  gemeinsam,  und  manifestirt  ohne  den 
Zweck  der  Mittheilung  Zustände  des  Wohl-  und  Mifs- 
bchagens.  Er  ist  die  unwillkübrliche  Reaction  unge- 
wöhnlicher Atfcction  der  Sinnesorgane,  die  keiner  wei- 
tern objeetiven  Verwerthung  dienen.  Zu  dieser  Form 
des  Tons  gehört  das  Lachen  und  das  Weinen.  Im 
Lachen  ist  der  Uebergang  zu  dem  Triebe,  sich  mit- 
theilen zu  wollen.  Es  kann  blofse  organische  Reaction 
sein  ohne  Ziel,  es  ist  aber  doch  vorzugsweise  eine 
Acufserung  des  geselligen  Triebs,  mit  dem  Zwecke, 
subjectivc  Bewufstseinszustände  an  Andere  mitzutheilen. 
Sobald  der  Laut  articulirt  ist,  ist  er  Acufserung  eines 
objeetiven  Bewufstseins.  Den  Uebergang  dazu  bildet 
die  Interjectiou  in  instinctiver,  und  der  Gesang,  als 
vom  Laute  begleiteter  Ton,  in  künstlerischer  Weise. 
Der  Gesang  ist  zunächst,  noch  abgesehen  vom  Bedürf- 
nifs  der  Mittheilung,  das  Heraustreten  von  Empfinduugs- 
zuständen.  Solche  können  herrühren  von  einer  äufsern 
Siuneseinheit,  die  den  Sinn  angenehm  oder  schmerzlich 
berührt,  oder  von  einer  Gestaltung  des  Innern  Seins, 
das  sich  dem  Sinn  eingeprägt  und  in  einer  Empfindung 
verläuft.  Da  die  Empfindung  aber  keine  reine,  son- 
dern durch  Wahrnehmung  vermittelte  ist,  so  genügt  zu 
ihrer  Acufserung  nicht  der  Ton,  sondern  es  tritt  das 
Sprechen  als  Organ  des  objeetiven  Bewufstseins  hinzu. 
Der  Gesang  ist  also  eine  Mischung  subjectiver  und  ob- 
jectiver  Bewufstseinsäufserungen,  Das  Gemeinsame 
aller    dieser  Aeufserungen    aber,    sobald    sie    mit  Be- 


43 

wufstsein  geschehen,  ist  das  Sichmanifestirenwollen 
gegen  Andere.  Ehe  aber  auf  das  Princip,  das  allem 
Austausch  subjectiver  Zustände  und  objectiver  Erwer- 
bungen zu  Grunde  liegt,  näher  eingegangen  werden 
kann,  ist  noch  die  Sprache  und  ihr  Verhältnifs  als 
einer  gewordenen  zu  der  Idee  des  Wissens  zu  be- 
sprechen. 

Das  objective  Bewufstsein  äufsert  sich  im  Sprechen, 
wie  es  eine  feste  Gestalt  angenommen  hat  in  der 
Sprache.  Das  Sprechen  ist  eine  Production,  weil  das 
Denken  als  selbstthätige  Gestaltung  des  äufsern  Seins 
eine  solche  ist.  Es  ist  zunächst  noch  keine  aus- 
strömende Thätigkeit,  weil  es  seiner  nächsten  Bedeu- 
tung nach  nur  laut  gewordenes,  fixirtes  Denken  ist. 
Die  Sprache  oder  die  Sprachen  sind  demnach  Krystal- 
lisation  der  gesammten  Denkthätigkeit  der  denkenden 
Individuen  und  Massen.  Es  wurde  oben  der  Unter- 
schied zwischen  der  wissenschaftlichen  Sprache  und 
der  des  gemeinen  Lebens  erwähnt.  Er  ist  zurückzu- 
führen auf  die  zwei  Stufen  der  denkenden  Selbstthätig- 
keit,  diejenige,  welche  nicht  über  die  Sinnescombination 
hinausgeht,  und  diejenige,  welche  die  höchsten  Seins- 
formen handhabt.  Ein  zweiter  Unterschied  kommt 
her  von  dem  Vorherrschen  des  subjectiven  oder  ob- 
jectiven  Elements  im  Denken.  Wo  die  denkende 
Thätigkeit  in  uneigennütziger  Weise  auf  die  identischen 
Seinsverhältnisse  gerichtet  ist,  findet  sie  ihre  Fixirung 
in  der  Prosa,  wo  aber  das  Ich  mit  seinen  individuellen 
Neigungen  übergreift,  und  in  der  Verbindung  des  er- 
worbenen  Bilderschatzes    nicht    nach   immanenten  Ge- 


44 

setzen,  sondern  nach  Laune  oder  Fantasie  oder  Inspi- 
ration verfährt,  ist  das  Element  der  Poesie.  Diese 
Differenz  jedoch  findet  ihre  Ausgleichung  im  denkenden 
Suhjcct  selbst,  das  sich  derselben  und  ihres  verschie- 
denen Werthes  bewufst  bleibt.  Eine  weit  bedenklichere 
Diflferenz  aber  ist  die  der  verschiedenen  Sprachen,  aus 
der  ein  ernstliches  Argument  gegen  die  Identität  von 
Denken  und  Sprechen  hergeleitet  werden  könnte. 
Denn  wenn  die  Identität  des  denkenden  Princips  in 
allen  denkenden  Subjecten  als  Glaubenssatz  feststeht, 
während  doch  die  Irrationalität  der  Sprachen  gegen 
einander  nicht  blofs  in  der  Bilderbenennung,  sondern 
auch  in  der  Combination  der  Sprachelemente  bis  zu 
den  höchsten  Begriffen  hinauf  eine  nicht  zu  leugnende 
Thatsache  ist,  so  scheint  dadurch  die  Einheit  von 
Denken  und  Sprechen  zerrissen.  Die  Wahrheit  ist, 
dafs  die  Differenz  nicht  in  der  Sprache  allein  liegt, 
sondern  schon  dem  Denken  anhaftet.  Sie  tritt  am 
stärksten  hervor  in  der  Verschiedenheit  des  Verhält- 
nisses zur  äufsern  Welt,  die  das  Begriffssystem  auf 
verschiedene  Weise  zur  Aeufserung  reizt,  sie  rührt 
ferner  her  von  den  Differenzen  der  organischen  Con- 
stitution, wie  sie  durch  klimatische  Verhältnisse  be- 
dingt ist,  aber  der  Zwiespalt  reicht  nicht  hinauf  bis 
zu  den  weitesten  Begriffen,  auf  deren  gemeinsamem 
Boden  sich  alles  Denken  bewegt,  zu  den  Begriffen  des 
Seins  und  der  Welt.  Wo  es  sich  um  eine  Einreihung 
der  Erscheinungs-  und  Begriffswelt  unter  diese  beiden 
Ideen  handelt,  da  ist  eine  Verständigung  möglich.  Die 
Idee  des  Wissens   ist  es,   auf  deren  Grund   die  Eini- 


45 

guDg  ZU  erreichen  ist.  Die  quantitative  Differenz  der 
Sprachen  als  gewordener  läfst  sich  nicht  ausgleichen, 
aber  aus  der  Differenziirung  der  Sprachen,  die  der 
Differenziirung  des  Geistes  in  den  endlichen  Intelli- 
genzen entspricht,  gelaugt  man  zur  höchsten,  über  den 
Zwiespalt  erhabenen  Erkenntnifs. 

Nun  tritt  aber  im  äufsern  Sprechen  eine  Beziehung 
heraus,  die  nicht  mehr  ihre  ausreichende  Erklärung 
darin  findet,  dafs  im  Sprechen  die  Verbindung  ver- 
schiedener Denkmomente  unter  einander  vollzogen  wird, 
um  die  Einheit  des  Subjects  herzustellen.  Diese  Be- 
deutung ist  allerdings  wesentlich  für  das  Sprechen. 
Aber  überall,  wo  in  bewufster  Weise  innere  Zustände 
äufserlich  werden,  sei  es  in  Laut,  Geberde,  Wort  oder 
Satz,  da  liegt  noch  eine  andere  Ursache  zu  Grunde, 
nemlich  der  Drang  sich  mitzutheilen,  mit  der  Forde- 
rung, verstanden  zu  werden  von  gleichartigen  Wesen, 
die  derselben  Gattung  angehören.  Diese  Mittheilung 
innerhalb  der  Gattung  kommt  nur  dem  Menschen  zu; 
im  Thiere  fehlt  dieser  Drang  mit  dem  Gefühl,  durch 
die  Gattung  mit  andern  verbunden  zu  sein.  Darum 
hat  das  Thier  keinen  Laut,  sondern  nur  den  Ton. 

Vom  Gattungsbewusstsein. 

Das  Gattungsbewufstsein  ist  etwas  rein  mensch- 
liches und  damit  psychisches.  Es  ist  keine  Function, 
keine  für  sich  bestehende  Aeufserung,  sondern  Form 
unseres  geistigen  Seins.  Es  ist  das  Band,  das  in  der 
Differenzürune  des  äufsern  Seins  und  der  Denkformen 


46 

die  Einheit  darstellt.  Als  Einheit  unseres  geistigen 
Wesens,  auf  der  alle  Denkoperationen  ruhen,  ohne 
dafs  man  sich  ihrer  hewufst  wird,  könnte  man  das 
GattungstjcvA-ufstsein  ein  transcendcntes  nennen,  wie 
die  Idee  des  Wissens  transceudent  ist.  Die  Idee  des 
Wissens  spaltet  sich  in  zwei  Formen;  die  eine  ist 
der  Glaube,  dafs  dem  richtigen  Denken  ein  Sein  ent- 
sprechen müsse,  dieser  Glaube  kommt  uns  nicht  bei 
den  einzelnen  Acten  zum  Bewufstsein,  sondern  er  ist 
der  Grund  unseres  geistigen  Wesens  und  keine  Argu- 
mentation kann  an  seiner  Wahrheit  irre  machen,  weil 
mit  ihm  unserem  Sein  der  Boden  entzogen  wäre.  Die 
zweite  Form  der  Idee  des  Wissens,  ebenso  grund- 
legend und  ebenso  wenig  in  gesonderter  Erscheinung 
hervortretend,  ist  die  Ueberzeugung,  dafs  alle  denken- 
den Subjecte  ebenso  denken  müssen,  wie  wir,  um  zum 
Wissen  zu  gelangen.  Ein  Wissen  mufs  einem  Sein 
entsprechen  und  mufs  von  Allen  gleich  construirt  wer- 
den. Diese  zweite  Form,  unter  der  die  Idee  des 
Wissens  wirksam  ist,  ist  das  Gattungsbewufstsein,  und 
80  kann  man  sagen,  dafs  es  eine  Function  des  Geistes 
ist,  die  Identität  von  Selbstbewufstsein  und  Gattungs- 
bewufstsein zu  setzen.  Es  wird  um  so  wirksamer,  je 
mehr  die  rein  geistigen  Thätigkeiten  vorherrschen,  um 
so  l)lässer,  je  mehr  die  niedern  Thätigkeiten  auf  dem 
Boden  des  individuellen  Gegensatzes  auftreten.  Die 
Trennung  der  Subjecte,  die  in  der  Selbstthätigkeit  be- 
griffen sind,  ist  bedingt  durch  die  trennenden  Formen 
von  Zeit  und  Kaum,  welche  das  Bewufstsein  beherrschen, 
weil  das  eigentlich  geistige  Wesen,  das  Allen  gemein- 


47 

sam  ist,  ohne  diese  Formen  nicht  zum  Bewufstsein 
kommt.  Wo  sieh  nun  die  Selbstthätigkeit  auf  das 
Gebiet  der  Sinnesoperationen  beschränkt,  da  herrscht 
der  Gegensatz,  der  in  Sprache,  Nationalität,  Familie 
bis  zur  Aufhebung  des  Gattungsbewufstseins,  zur  Feind- 
schaft fortgeht;  wo  aber  die  höhere  Richtung  auf  die 
reine  Erkenntnifs  durchbricht,  geht  die  Tendenz  auf 
Aufhebung  aller  individuellen  Verschiedenheiten.  Aus 
dieser  Betrachtung  geht  hervor,  dafs  der  ganze  Procels 
der  aufnehmenden  Thätigkeiten  in  seinem  wesentlichen 
Verlauf  als  ein  auf  der  Idee  des  Wissens  basirender 
bezeichnet  werden  kann,  als  ein  immer  stärkeres  Wirk- 
samwerden des  Gattungsbewufstseins.  Das  Gattungs- 
bewufstsein  unterliegt  sonach  dem  Gesetze  des  Wer- 
dens, unter  dem  alle  psychische  Thätigkeit  steht,  dem 
Hervorgehen  aus  einem  Indifferenzpunkte,  dem  An- 
schwellen zu  seinem  Höhepunkte  mit  der  Möglichkeit 
der  Wiederabnahme  bei  allraählig  sich  verdunkelnden 
Geisteskräften.  Auf  der  niedern  Stufe  der  aufnehmen- 
den Thätigkeit  tritt  das  Gattungsbewulstsein  auf  als  ge- 
meinsames äufseres  Bewufstsein,  d.  h.  als  die  Ueber- 
zeugung,  dafs  alle  an  dem  gleichen  Objecte  operirenden 
Sobjecte  dieselbe  Sinnescombination  vollziehen  müssen, 
und  auf  der  höhern  Stufe  der  geistigen  Thätigkeit  als 
gemeinsames  Selbstbewufstsein,  sofern  die  Begriffe  und 
Ideen,  die  dem  äufsern  Sein  untergelegt  werden,  in 
allen  denkenden  Subjecteu  als  gleich  vorausgesetzt 
werden.  Das  Gattungsbewufstsein  ist  das  ideal  trans- 
cendente  Moment  unseres  Bewufstseins,  während  die 
Kategorie  der  Zeit  die   materiell    transcendente   Form 


48 

desselben  ist.  Die  üufsere  Erscheinungsform  des 
Gattungsbewufstseins  ist  der  Trieb  nach  Mittheilung, 
mit  der  Voraussetzung  verstanden  zu  werden  von  gleich 
organisirten  Wesen.  Aus  ihr  fliefsen  diejenigen  aus- 
strömenden Thätigkeiten  her,  welche  als  Darstellung 
des  geistigen  Gehaltes  des  Subjects  nach  Aufsen  unter 
dem  Begriflfe  der  Selbstmanifestation  zusammengefafst 
werden. 

Eine  unmittelbarere  Beziehung  des  Gattungsbewnfst- 
seins  zeigt  sich  in  seinem  Verhältnifs  zu  dem  subjee- 
tiven  Bewufstsein,  welches  durch  Eintreten  dieses  Factors 
auf  seine  höheren  Stufen  erhoben  wird.  War  für  die 
höheren  Thätigkeiten  des  objectiven  Bewufstseins  das 
Gattungsbewufstseiu  nur  transcendenter  Grund,  so  scheint 
es  dem  subjectiven  Bewufstsein  vorbehalten  zu  sein,  in 
seiner  höchsten  Form  das  Transcendente  unmittelbar 
berühren  zu  dürfen. 

Auf  der  niedrigsten  Stufe  des  subjectiven  Bewufst- 
seins ergab  sich  eine  Veränderung  im  sinnlichen  Organ, 
welche  nicht  auf  das  Object  bezogen  wurde.  Diese 
Veränderung  konnte  herrühren  von  Eindrücken  des  allge- 
meinen und  der  fünf  speciellen  Sinne,  oder  von  innern 
Lebenszuständeu  und  ihrer  Beziehung  zur  Lebenseinheit 
oder  von  irgend  einer  Seite  der  geselligen  Beziehungen, 
in  die  das  menschliche  Dasein  auf  eine  natürliche  Weise 
verflochten  ist.  Da  nun  aber  unsere  Selbstthätigkeit 
gewöhnt  ist,  bei  jeder  sinnlichen  Erregung,  sei  sie  an- 
genehm oder  nicht,  sofort  das  Object  aufzusuchen,  abzu 
grenzen  und  als  Einheit  zu  erfassen,  so  vollzieht  sich- 
diese  Operation   auch   bei  Empfindungszuständen,  die 


49 

au  sich  schon  befriedigen  würden.  Wo  nun  auch  nach  dem 
Eintreten  der  objectiven  Thätigkeit  der  Enipfindungs- 
zustand  fortdauert,  und  zwar  so,  dafs  seine  Dauer  gewollt 
wird  verbunden  mit  der  erkennenden  Thätigkeit,  da  ist 
das  Gebiet  des  Schönen,  sofern  es  wirkt,  aber  ohne 
Rücksicht  auf  seine  innern  Seinsverhältnisse.  Das  ganze 
Gebiet  des  Schönen,  mag  die  objective  Thätigkeit  noch 
so  stark  bei  seiner  Auffassung  betheiligt  sein,  gehört 
doch  dem  subjectiven  Bewufstsein  an,  weil  es  für  das 
objective  Bewufstsein  ganz  gleichgiltig  ist,  ob  der  Gegen- 
stand schön  oder  häfslich  ist. 

Das  subjective  Moment  an  einem  objectiven  Vor- 
gang liegt  darin,  dafs  eine  unbestimmte  Vorstellung, 
die  wir  von  einem  Gegenstande  haben,  durch  ein 
normales  Gebilde  leicht  und  ohne  Gewalt  regulirt  wird. 
Dieser  Vorgang  giebt  die  Empfindung  des  Wohlbehagens, 
und  diese  auf  das  Object  bezogen,  den  Eindruck  des 
Schönen.  Der  allgemeinste,  unbestimmteste,  der  manich- 
faltigsten  Abwechselung  fähige  Eindruck  des  Schönen 
rührt  her  von  der  unbelebten  Natur,  von  der  Gestaltung 
der  Erdoberfläche.  Ihre  Anschauung  wirkt  das  Gefühl 
der  Lebensförderung,  da  wo  die  Verhältnisse  ihrer  äufero 
Gestalt  so  sind,  dafs  wir  darin  mittelbar  oder  unmittel- 
bar die  Beziehung  zu  unserer  Lebenseinheit  treffend 
dargestellt  finden.  Auf  dieser  Stufe  ist  die  Empfindung 
des  Schönen  noch  durchaus  selbstisch.  Das  individuelle 
Gefühl  erfährt  eine  Erweiterung,  sobald  das  Gefühl  der 
Lebensförderung,  welche  als  Eindruck  von  Schönem 
zum  Bewufstsein  kommt,  von  der  organischen  und  be- 
sonders   von    der   animalischen   Natur  herkommt.     Im 

4 


50 

letztern  Falle  ist  es  das  Gefühl  der  plastisch  gestal- 
tenden Kraft,  der  wir  nach  Seite  unsres  Organismus 
angehören,  was  verwandte  Saiten  in  uns  anregt.  Wir 
befinden  uns  hier  in  einem  beschränkten  Sinne  im  Zu- 
stand der  Mitleidenschaft.  Wo  wir  eine  natürliche 
Bildung  sehen,  in  welcher  die  plastisch  gestaltende 
Kraft  der  Natur  ungehemmt  zum  Vorschein  kommt, 
begleiten  wir  in  Folge  des  verwandtschaftlichen  Ver- 
hältnisses unserer  organischen  Natur  eine  solche  Er- 
scheinung mit  dem  Gefühl  eigener  Förderung,  d.  h. 
wir  haben  die  Empfindung  des  Schönen,  wo  wir  aber 
die  bildende  Kraft  gehemmt  zum  Ausdruck  kommen 
sehen,  entsteht  das  Gefühl  eigener  Hemmung,  der  Ein- 
druck des  Häfslichen.  Der  objective  Grund  des  Wohl- 
gefallens liegt  auch  hier  darin,  dafs  in  einem  einzelnen 
Act  des  Afficirtseins  durch  ein  Object  die  Thätigkeit 
des  ErkennenwoUens  auf  intuitive  Weise  zu  einem 
Ruhepunkt  und  Abschlufs  gekommen  ist. 

Dieselbe  Empfindung  des  Schönen,  die  durch  äufsere 
Objecte  hervorgerufen  wird,  kann  auch  erreicht  werden 
von  dem  innern  Ende  des  Sinnes  aus,  wenn  die  innere 
Thätigkeit  nicht  in  streng  logischer  Weise  den  Gesetzen 
des  Seins  gemäfs  sich  äufsert,  sondern  im  Dienste  des 
subjectiven  Bewufstseins  nach  individueller  Neigung 
Bilder  hervorzaubert,  deren  Zweck  mit  der  Empfin- 
dung des  Wolgefallens  sich  abschliefst.  Diese  innere 
Thätigkeit  der  Fantasie  ist  die  Quelle  des  künstleri- 
schen Schaffens.  Ihr  Gebiet  ist  soweit  als  das  des 
äufseren  Seins. 

Zu  den  rein  geistigen  Thätigkeiten  darf  jedoch  die 


51 

Empfindung  des  Schönen  auf  diese  Stufe  noch  nicht 
gerechnet  werden,  weil  die  objective  Thätigkeit,  die 
sich  im  subjectiven  Bewufstsein  reflectirt,  und  daselbst 
zum  Ruhen  kommt,  noch  der  niedern  Spontaneität  au- 
gehört, wo  die  erregenden  Einheiten  als  räumlich  und 
zeitlich  getrennte  auftreten,  und  keine  höhere  Function 
den  Unterschied  zwischen  Erregendem  und  Erregtem 
zur  Einheit  aufhebt.  Defshalb  sind  die  bisher  be- 
sprochenen Empfindungen  des  Schönen  immer  vom 
selbstischen  Gefühl  begleitet.  Erst  da,  wo  das  Gattungs- 
bewufstsein  in  die  Sphäre  des  subjectiven  Bewufstseins 
eintritt,  v/ird  die  Schranke  des  Selbstischen  durch- 
brochen, und  damit  die  höchste  Form  des  subjectiven 
Bewufstseins  erreicht. 

Auf  der  höchsten  Stufe  des  vom  Gattungsbewufst- 
sein  getragenen  subjectiven  Bewufstseins  aber  ist  nun 
subjectives  nnd  objectives  Bewufstsein  sorgfältig  aus- 
einanderzuhalten. Eine  Vermengung  beider  ist  von  jeher 
für  beide  zerstörend  gewesen.  Denn  wenn  sich  die 
eigentliche  Denkthätigkeit  im  Gebiete  des  getheilten 
Seins  bewegt,  das  Transcendente  aber  als  ungetheiltes 
Sein  nie  in  diesen  Formen  auftreten  kann,  sondern  nur 
als  bedingender  Grund  hinter  ihnen  steht,  so  liegt  im 
subjectiven  Bewufstsein,  das  sich  des  Theilens  enthält, 
die  Möglichkeit,  dafs  sich  der  transcendente  Grund 
unseres  Wesens  unmittelbar  in  ihm  offenbare. 

Die  subjective  Form  des  Gattungsbewufstseins,  durch 
die  wir  unser  Wesen  erweitert  fühlen  zum  Sein  der 
Gattung  ist  das  Mitleiden.  Hier  wird  eine  fremde 
Lebenshemmung  in   das  subjective  Bewufstsein  aufge- 

4* 


52 

nommen  vermöge  der  Identität  der  Weseubeit.  Der 
Zastand  der  Erweiterung  bleibt  auch  dann,  wenn  die 
Hemmung  fremden  Lebens  in  Förderung  übergeht,  und 
wird  als  Mitgefühl  mit  fremdem  Wohlsein  empfunden. 

Das  Mitleiden  als  transcendcnter  Grund  unseres 
subjeetiven  Seins  in  der  Einheit  mit  der  Gattung  ist 
die  Quelle  alles  sittlichen  Verhaltens,  Princip  der  Ethik. 
Denn  es  wird  nicht  blofs  ein  einzelner  Zustand  eines 
fremden  Individuums  fühlend  aufgenommen,  sondern 
seine  ganze  Lebenseinheit,  die  Bedingungen  seines 
Wohlseins.  Nicht  minder  kommt  im  subjeetiven  Be- 
wufstsein  die  Lebenseinheit  ganzer  Kreise  und  Massen 
mit  ihrem  Wohl  und  Wehe  zum  Mitgefühl,  und  in  dem 
Gemüthe,  dessen  Bewegungen  ausschliefslich  dem  Gat- 
tungsbewufstsein  freistehen,  ist  es  das  Sein  der  ganzen 
Menschheit  in  ihrer  Einheit,  was  in  jedem  Momente 
mitempfunden  wird  und  als  Grund  des  Handelns  sich 
geltend  macht. 

Das  Sittliche  aber  ist  nur  die  eine  Seite  des  sich 
äufsernden  Gattungsbewufstseins,  und  zwar  diejenige, 
welche  eine  Verbindung  mit  objectivem  Bewufstsein 
bedingt,  weil  sie  es  immer  mit  bestimmten  Objecten 
zu  thun  hat.  Denn  ein  fremder  Lebenszustand  mit 
allen  Bedingungen  seines  Seins  kann  nur  zum  Bewufst- 
sein konmien  in  der  Reihenfolge  seiner  Momente,  also 
durch  denkendes  Zusammenfassen  des  Successiven  in 
eine  Einheit.  Nur  ist  das  denkende  Erfassen  hier  nicht 
Selbstzweck,  da  es  seinen  Abschlufs  erst  im  Mitgefühl 
findet.  Hierauf  ist  auch  das  Schöne  in  seiner  geistig- 
sten Erscheinung  zurückzuführen.    Da  wo  eine  Einheit 


53 

geistigen  Seins  in  eins  gescbaut  sich  zum  Bewufstsein 
des  Gesamratseins  erweitert,  und  harmonisch  in  dem- 
selben ruht,  oder  in  unlöfsbarem  Widerspruch  von  dem- 
selben zerstört  wird,  kommt  das  Walten  des  Gesamrat- 
seins zum  Ausdruck  unter  der  Form  des  Sichcins- 
fühlens  mit  demselben,  möge  es  erhebend  oder  ver- 
nichtend wirken. 

Eine  reine  Berührung  des  subjectiven  Bewufstseins 
mit  dem  Transcendenten  findet  nur  da  statt,  wo  es 
frei  ist  von  aller  objectiven  Beimischung.  Keine  Sein's- 
einheit  wirkt  mehr  als  eine  erfafsbare,  das  Gefühl  des 
Schönen  tritt  zurück,  und  das  Erhabene  selbst,  das 
immer  von  einer  bestimmten  Einheit  ausgeht,  erblafst 
vor  dem  neuen  Gefühl,  welches  in  grenzenloser  Ueber- 
macht  und  unfafsbarer  Allgewalt  das  Bewufstsein  bald 
hebt  und  erweitert,  bald  zerknirschend  niederdrückt, 
immer  aber,  trete  es  mehr  in  verwandter  oder  mehr 
in  übergreifender  Form  auf,  das  Gefühl  absoluter  Ab- 
hängigkeit begründet.  In  dieser  Form  und  nur  in 
dieser  ist  es  religiös;  nur  im  Eeligiösen  berührt  sich 
das  Bewufstsein  unmittelbar  mit  dem  Transcendenten, 
Jeder  Versuch  aber,  diese  Form  des  Bewufstseins  in 
die  Form  des  Gedankens  zu  übersetzen,  sie  unter  den 
Kategorien  der  Getheiltheit  zu  reproduciren,  zerstört 
dieselbe. 

Mit  der  höchsten  Form  des  subjectiven  Bewufst- 
seins schliefst  die  Keihe  der  aufnehmenden  Thätig- 
keiten. 

Während  ihres  ganzen  Stufenganges  war  zu  be- 
merken,  dafs  jede  aufnehmende  Thätigkeit  an  einem 


54 

gewissen  Punkte  in  das  Ausströmen  umzuschlagen 
drohte,  oder  umschlug,  wie  von  ihrem  eigenen  Gewichte 
fortgerissen.  Ja  da  die  aufnehmende  Thäthigkeit  selbst 
sich  aus  einem  Indiffcrenzpuukte  von  Selbstthätigkeit 
und  Empfänglichkeit  entwickelte,  war  leicht  voraus- 
zusehen, dafs  man  auch  Aufnehmen  und  Ausströmen, 
wenn  sie  sich  gleich  mit  Receptivität  und  Spontaneität 
nicht  genau  decken ,  nur  in  dsr  Betrachtung  werde 
sondern  können. 

Die  ausströmenden  Thätigkeiten. 

Dafs  die  ausströmende  Thäthigkeit  sich  unter  der 
Form  der  Spontaneität  äufsert,  liegt  in  ihrem  Wesen. 
Die  aufnehmende  Thätigkeit  als  stoflfsammelnde  wird 
dabei  vorausgesetzt,  so  zwar,  dafs  sie  den  Procefs  des 
Ausströmens  in  seinem  Verlauf  nicht  willkührlich  unter- 
brechen oder  modificiren  darf. 

Welche  Form  der  Selbstthätigkeit  wird  nun  die 
ausströmende  zu  nennen  sein?  Um  den  Punkt  zu 
finden,  an  welchem  die  souveräne  Selbstthätigkeit  ein- 
setzt, unabhängig  von  dem  Zuströmen  des  sinnlichen 
Stoffs  wie  von  dem  bewufstlosen  Wirken  des  intel- 
lectuellen  Triebes  mufs  man  das  bisherige  Verhältnifs 
der  beiden  constituirenden  Factoren  noch  einmal  iu's 
Auge  fassen. 

Die  Selbstthätigkeit  hat  sich  der  bisherigen  Be- 
trachtung zufolge  entweder  an  dem  Reize  organischer 
Affection  oder  an  dem  Innern  Aufquellen  von  Bildern 
entwickelt.    Sie  hat  denselben  zuerst  in  seiner  bunten 


55 

Mannigfaltigkeit  auf  sich  wirken  lassen,  sie  hat  sodann 
die  Sonderung  des  Stoffs,  der  in  seinem  chaotischen 
Durcheinander  ihrem  Wesen  widerstrebte,  vorgenommen; 
nicht  zufrieden  damit,  ihn  in  einer  übersichtlich  ge- 
ordneten Reihe  coordinirter  Erscheinungen  vor  sich  zu 
haben,  hat  sie  dieselben  unter  sich  verbunden,  ihren 
innern  Zusammenhang  aufgedeckt,  verschiedene  Er- 
scheinungen aufeinander  bezogen  als  Substanz  und 
Eigenschaft,  als  Wirkung  und  Ursache,  und  sie  bis 
auf  den  einfachsten  Grund  zurückzuführen  gesucht,  so- 
weit die  Macht  des  Gedankens  reichte.  Im  Verlaufe 
dieses  Processes  hat  die  Selbstthätigkeit  allmählig  die 
Receptivität  des  passiven  Aufnehmens  überwunden,  und 
über  den  äufsern  Stoff  in  einer  Weise  verfügt,  welche 
erkennen  liefs,  dafs  die  Denkthätigkeit  ihn  entweder 
erst  belebt,  oder  die  latenten  Gesetze  seines  Seins  als 
beiden  immanente  erst  zum  Hervortreten  zwingt.  Aber 
vom  Anfang  bis  zum  Ende  dieser  Operationen  ging 
die  Initiative  vom  äufsern  Sein  aus.  Noch  die  letzte 
geistigste  Thätigkeit  wurde  von  dem  nachwirkenden 
Reize,  welcher  die  Bewegung  hervorgerufen  hatte,  im 
Gange  erhalten  bis  zu  ihrem  Abschlufs  in  der  Befrie- 
digung des  Wissens.  Nun  ist  es  aber  ein  Axiom  für 
das  Verhältnifs  von  intellectueller  und  organischer 
Function,  dafs  beide  den  gleichen  Werth  für  das  Wer- 
den des  Wissens  haben.  Was  von  der  einen  Seite  er- 
reicht werden  kann,  ist  als  Resultat  ganz  dasselbe  wie 
von  der  andern  Seite.  Beide  decken  sich  und  können 
einander  substituirt  werden ;  an  speculative  Resultate 
kann  die  Empirik  anknüpfen,  und  die  Speculation  ruht 


56 

auf  eoipirischer  Gewifsheit.  Beiden  niufs  also  in  gleicher 
Weise  das  Recht  der  Initiative  zustehen,  und  so  ergibt 
es  sich  von  selbst,  daj's  diejenige  Selbsttbätigkeit  welche 
auf  der  Initiative  des  geistigen  Seins  im  Menschen  be- 
ruht, als  ausströmende  bezeichnet  wird,  gegenüber  der 
aufnehmenden,  in  welcher  die  geistige  Selbsttbätigkeit 
secuudär  ist. 

Unter  welcher  F(jrm  aber  kommt  die  ausströmende 
Thätigkeit  als  solche  zum  Bewufstsein?  Es  ist  ja  jeder 
Denkthätigkeit  eigenthümlich,  sich  im  Bewufstsein,  in 
einem  begleitenden,  allgegenwärtigen  Denken  zu  re- 
flectiren.  Die  aufnehmende  Thätigkeit  reflectirt  sich  als 
Affection  unbestimmter  Einheit  zunächst  und  dann  unbe- 
stimmter Vielheit,  welche  bestimmte  Vielheit  und  be- 
stimmte Einheit  zu  werden  strebt.  Die  intellectuelle 
Function  als  solche  gibt  nur  abstracte  inhaltsleere 
Einheit  und  als  solche  kann  sie  nicht  wirken,  sondern 
setzt  ein  erfülltes  Bewufstsein  voraus.  Dann  aber  gibt 
sie  als  bestimmende  Potenz  des  Bewufstseins  diesem  mit 
seinem  Inhalt  die  Einheit  als  lebendigen  Bezug  aller 
zusammengehörigen  Theile  auf  den  Miltelpunkt,  und  ihr 
Streben  ist  es,  dieses  belebte  Sein  als  Einheit  aus  sich 
herauszusetzen.  Die  Reflexion  dieses  Strebens  im  Be- 
wufstsein ist  das  Wollen.  Das  Wollen  ist  die  zeitlose 
bewufste  Einheit  eines  Ganzen.  Die  Form  unter  welcher 
die  Selbsttbätigkeit  nach  Aufsen  tritt,  nicht  vom  äufsern 
Sein  gereizt,  sondern  vom  Innern  Werden  des  Geistes 
(gereizt)  gedrängt,  ist  das  Wollen  als  im  Denken  re- 
flectirtcs,  d.  h.  das  bewufste  Wollen.  Der  Grund  dieser 
Thätigkeit  ist  das  ureigene  Wesen  des  Geistes,  der  sieb 


57 

in  freier  Weise  aus  sich  heraussetzt,  um  sieh  im  Wollen 
zu  erfassen.  Das  unterscheidende  Moment  zwischen 
folgender  und  leitender  Selbsttbätigkeit  ist  also  das  Vor- 
bedachte Planmäfsige  der  letztern.  Der  Geist  setzt  sich 
in  freier  Weise  aus  sich  heraus,  d.  h.  er  hat  den  bestän- 
digen Trieb,  sich  am  äufsern  Sein  zu  realisiren,  dasselbe 
in  die  Form  von  Gedanken  zu  bringen,  und  zwar  ist 
er  dabei  nicht  an  die  Zufälligkeit  der  äufsern  Erscheinung 
gebunden,  sondern  als  Mikrokosmos  für  jede  Form  des 
Seins  empfänglich,  wie  er  auch  jede  in  seinen  Bereich 
ziehen  kann,  sofern  sie  ein  wesentliches  Verhältnifs  zum 
Ganzen  ausdrückt.  Damit  aber,  dafs  der  Geist  sich  in 
freier  Weise  aus  sich  heraussetzt,  ist  der  Kreis  seines 
selbständigen  Handelns  noch  nicht  geschlossen,  denn 
jenes  freie  aus  sich  Heraustreten  würde  zunächst  nur 
ein  auf-  und  absteigendes  Spiel  von  Gedanken,  von 
schwankenden  Gestalten  geben,  die  doch  gewissermafsen 
wieder  äufserlich  bedingt  sind.  Das  geistige  Sein  gibt 
sieh  erst  dann  in  seiner  vollen  Energie  kund,  wenn  es 
dem  regellosen  Spiel  der  Gedankenerzeugung  gebietet, 
und  eine  ideale  Einheit  im  Wollen  setzt,  aus  der  nun 
seine  Thätigkeit  alle  Momente  bis  zur  äufsern  Vollendung 
heraussetzt,  und  verwirklicht.  Das  bewufste  Wollen  ist 
die  eigentliche  Form,  unter  welcher  die  Spontaneität  rein 
hervortritt ,  die  Form  der  ausströmenden  Thätigkeit. 
Freilich  äufsert  sich  die  Thätigkeit  des  Menschen  nach 
Aufsen  oft  nur  unter  der  Form  des  Einfalls,  der  Laune. 
Dies  ist  der  Fall  in  denjenigen  Subjecten,  deren  geistige 
Energie  nicht  stark  genug  ist,  das  freie  Walten  der  auf- 
tauchenden Gedankenwelt   in  eine  bestimmte  Form  zu 


58 

bannen.  Am  andern  Endpunkte  steht  als  höchste  geistige 
Begabung  diejenige  Thätigkeit,  deren  sämmtliche  Mo- 
mente im  Dienste  einer  klar  erkannten,  fest  gewollten 
Idee  verlaufen.  Zwischen  diesen  beiden  Endpunkten 
bewegt  sich  alle  ausströmende  Tbätigkeit.  Ihre  Dig- 
nität  bemifst  sich  danach,  welchem  von  beiden  sie  am 
nächsten  ist. 

Von  der  ausströmenden  Tbätigkeit  gilt  das  Gesetz 
des  Werdens  in  besonderer  Weise.  Im  Anfange  wird 
sie  nur  stofsweise  auftreten,  allmählig  sich  verdichten, 
bis  sie  auf  dem  Höhepunkte  angelangt  ist,  und  in  einem 
Zuge  verläuft,  ohne  noch  widerspenstige  Elemente  in 
sich  zu  dulden. 

Nur  da,  wo  objectives  und  subjectives  Bewufstsein 
zusammenstimmend  in  einander  greifen,  kann  die  aus- 
strömende Tbätigkeit  eine  ungehemmte  sein.  Denn  wenn 
die  Wirksamkeit  der  ausströmenden  Tbätigkeit  durch 
eine  richtige  Erkenntnifs  des  Gegenstands  bedingt  ist, 
also  auf  der  Vollkommenheit  des  objectiven  Bewufst- 
seins  beruht,  so  kann  nur  ein  subjectives  Bewufstsein, 
das  schwankuugslos  von  dem  Gattuugsbewufstsein  ge- 
leitet ist,  einen  unfehlbar  ausreichenden  Antrieb  für  den 
Willen  geben.  Damit  hängt  es  zusammen,  dafs  das  freie 
Spiel  der  Gedankenerzeugung  mehr  dem  selbstischen, 
das  gewufste  Wollen  mehr  dem  vom  Gattuugsbewufst- 
sein geleiteten  subjectiven  Bewufstsein  angehört. 

Ist  das  gewufste  Wollen  die  Form  der  ausströ- 
menden Tbätigkeit  auf  ihrer  höchsten  Stufe,  so  liegt 
das  Wesen  derselben  darin,  dafs  das  Individuum  dem 
Verhältnifs  des  geistigen  Seins,  wie  es  in  ihm  lebt,  zum 


59 

äufsern  Sein,   wie  es  auf  dasselbe   wirkt,   einen   ent- 
sprechenden Ausdruck  geben  möchte. 

Das  nächste  Verhältnifs  von  geistigem  und  äufserem 
Sein  tritt  dem  Menschen  entgegen  in  der  Vereinigung 
seines  organischen  und  iutellectuellen  Seins,  d.  h.  in  der 
Einheit  seines  Lebens.  Sein  Wollen  wird  also  zunächst 
darauf  gerichtet  sein,  die  Einheit  seines  Lebens,  sofern 
sie  ein  Verhältnifs  des  Geistes  zum  Sein  ausdrückt,  in 
der  ungehinderten  Ausübung  sämmtlicher  dazu  gehörigen 
Functionen  ungestört  zu  erhalten. 

Selbsterhaltungstrieb. 

Das  Zusammensein  intellectuellen  und  organischen 
Seins,  wie  es  seine  Einheit  in  der  menschlichen  Seele 
hat,  mufs  seine  Vollendung  nach  zwei  Seiten  suchen. 
Die  eine  Seite  ist  die  harmonische  Einheit  des  Moments, 
im  richtigen  Verhältnifs  der  denselben  constituirenden 
Thätigkeiten,  die  zweite  Seite  betrifft  die  Verwirklichung 
aller  in  diesem  zusammengesetzten  Organismus  liegenden 
Möglichkeiten.  Dieses  letztere  Streben,  im  Ich  reflectirt 
und  im  Wollen  gesammelt,  ist  das  Wesen  des  Selbst- 
erhaltungstriebes. Wenn  das  selbstische  Gefühl  im 
Menschen  im  ganzen  Verlaufe  seines  Daseins  sich  dem 
Gesammtsein  willig  unterordnet  und  in  seinem  Dienste 
alle  Thätigkeiten  das  ganze  Mafs  ihrer  Kraft  ausströmen, 
so  reflectirt  sich  am  Punkte  der  Erschöpfung  der  Kraft 
dieser  Zustand  im  Ich  als  völlige  Zufriedenheit  und 
selbstloses  Aufgeben  der  Individualität.  Wo  aber  ein 
Rest  bleibt  zwischen  Gesammtgeftihl  und  selbstischem 


60 

Streben,  da  rcflcctirt  das  Bcwulstseiu  ein  Gefühl  der 
ünhefriedigtheit,  den  Wunsch,  das  im  Verlaufe  des 
Daseins  nicht  Erreichte  auf  eine  magische  Weise  jen- 
seits der  psychischen  Thätigkeit  erfüllt  zu  sehen.  Es 
ist  diefs  der  Glaube  an  die  Unsterblichkeit  der  Seele. 
Die  niedrigste  Stufe  des  Selbsterhaltungstriebs  ist  auf 
das  unverkünmierte  Fortbestehen  der  organischen  Func- 
tionen gerichtet,  auf  den  Kampf  des  individuellen  or- 
ganischen Processes  gegen  den  universellen  mecha- 
nischen. Auf  dieser  Stufe  ist  er  nichts  psychisches  und 
erfordert  keine  vorausgehende  Denkthätigkeit.  Psychisch 
wird  derselbe  erst  da,  wo  das  Denken  unter  der  Form 
des  gewufsten  Wollens  auf  das  Fortbestehen  der  psy- 
chischen, und  sofern  sie  conditio  sine  qua  non  sind,  der 
physischen  Functionen  gerichtet  ist.  Diese  Richtung 
kann  man  bezeichnen  als  das  Seeleseinwollen  des  Geistes. 
Schon  darin,  dafs  der  Anfang  dieses  Wollens  Sache  der 
Gattung  ist,  liegt  angedeudet,  dafs  das  individuelle  Sein 
sich  der  Gattung  und  ihren  Zwecken  unterzuordnen 
habe.  Ob  die  Bestimmung  des  Stärkegrades,  in  welchem 
der  Geist  als  Seele  erscheint,  Sache  des  Wollens  sein 
kann,  d.  h.  ob  die  geistige  Stufe  des  seelischen  Lehens 
Resultat  eines  intelligibeln  zeitlosen  Actes  des  Indivi- 
duums ist,  aus  dem  sich  alle  späteren  Willensacte  mit 
wesentlicher  Nothwendigkeit  entwickeln  müssen,  das 
ist  eine  Frage,  welche  nicht  Gegenstand  des  Wissens 
sein  kann.  Nur  so  viel  ist  zu  sagen,  dafs  die  Stärke 
und  Eigenheit  des  intellectuellen  Seins  im  Menschen 
nicht  in  seinen  Willen  aufgenommen  werden  kann, 
sondern   vielmehr  dessen  Grund   ist.    Dadurch   ist  die 


61 

Freiheit  des  Willens  keineswegs  aufgehuhen;  ihr  Gehiet 
ist  der  Spielraum  zwischen  selbstischem  und  solchem 
Handeln,  welches  das  Sein  der  Gattung  als  bestimmenden 
Grund  in  sich  aufgenommen  hat.  Wie  im  Gel)iete  des 
Seins  Alles  um  so  freier  ist,  je  nothwendiger  es  ist, 
je  weniger  es  dem  Zufälligen  Raum  läfst,  so  ist  auch 
das  Wollen  des  Individuums  um  so  freier,  je  sicherer 
es  einer  klar  erkannten  Noth wendigkeit  folgt. 

Wie  das  Zusammensein  von  Seele  und  Leib  das 
unmittelbare  Verhältnifs  des  Geistes  zum  Sein  dar- 
stellt, das  ohne  den  individuellen  Willen  hergestellt  ist, 
und  nur  in  seinem  Fortbestehen  Gegenstand  desselben 
sein  kann,  so  schliefst  sich  nun  eine  weitere  bewufste 
Thätigkeit  an,  welche  ebenfalls  das  Verhältnifs  des 
Geistes  zum  Sein  betrifft,  und  zwar  die  Gestaltung 
des  äufsern  Seins  als  Ausdruck  dieses  Verhältnifses 
oder  als  Mittel,  dasselbe  zum  Ausdruck  zu  bringen. 
Wie  das  Seelewerden  von  Seiten  des  Geistes  ein  Be- 
sitzergreifen des  organischen  Seins  ist,  so  ist  die 
Form  dieser  äufsern  Thätigkeit  das  Besitzergreifen. 

Das  Besitzergreifen. 

Das  Besitzergreifen  dient  in  seiner  ursprünglichsten 
Form  dem  Ackerbau,  und  befindet  sich  hier  noch  in 
der  Indifferenz  von  Selbsterhaltungstrieb  und  Besitzer- 
greifen. Das  bewufste  Besitzergreifen  des  äufsern  Seins 
mufs  in  seinen  Formen  sich  nach  der  Getheiltheit  des- 
selben richten.  Dieser  Grundsatz  liegt  schon  angedeutet 
in  der  Differenziirung  des  Geistes  zu  einer  Vielheit  von 


62 

Seeleo.  Diese  DiflferenziiruDg  vom  Individuum  und  von 
der  geschlossenen  Masse  im  Wollen  ert'afst  gibt  die 
Theiliing  der  Ar))eit.  Diese  selbst  ist  in  ihren  Bezie- 
hungen bestimmt  einerseits  durcli  ihre  Einheit  im  Mittel- 
punkt des  geistigen  Seins,  andrerseits  durch  die  Manch- 
taltigkeit  der  Erscheinungsform  der  Aufsenwelt.  Der 
bestimmende  Grund  der  Theilung  der  Arbeit  ist  die 
Forderung  dafs  die  Totalität  geistiger  Fähigkeiten,  Ta- 
lente und  Neigungen  sich  decke  mit  der  Totalität  des 
ErscheinungsstofFes.  An  diese  ideelle  Forderung  ge- 
halten steht  allerdings  das  erreichte  geistige  Resultat 
in  der  Wirklichkeit  in  keinem  Verhältnifs  zu  dem  Auf- 
wand besitzergreifender  Thätigkeit,  weil  letztere  immer 
wieder  in  sich  selbst  zurückläuft  und  sich  selbst  Zweck 
wird.  Der  Grund  dieser  Eitelkeit  liegt  in  dem  Zurück- 
bleiben des  Gattungsbewufstseins  hinter  dem  selbsti- 
schen Gefühl,  in  dem  Ueberwuchern  des  organischen 
Processes  über  die  Zwecke  des  Wissens  und  seiner 
Darstellung.  Diese  Langsamkeit  der  geistigen  Ent- 
wicklung kann  nur  aufgehoben  werden  dadurch,  dafs 
einerseits  zwischen  mehr  und  weniger  entwickelten 
Massen  ein  reger  Flufs  geistiger  Circulation  unterhalten 
wird,  andrerseits  dadurch,  dafs  von  einer  höhern  Ge- 
walt aus,  in  der  sich  die  Menge  der  Individuen  reprä- 
sentirt,  sei  sie  eine  staatliche  oder  kirchliche,  der  Grund- 
ton des  psychischen  Lebens,  die  Idee  des  Wissens,  stets 
rein  und  lebendig  erhalten  wird.  Das  Medium  jeder 
Circulation  erworbenen  Wissens,  jeder  Mittheilung  selbst- 
tbätigen  Gestaltens  von  Ideen  ist  die  Selbstmanifesta- 
tion. 


63 


Die  Selbstmanifesiation. 

Ist  die  Thätigkeit  des  Besitzergreifens  eine  Aeufse- 
ruDg  der  Spontaueitiit  und  uuerläfsliebe  Bedingung 
für  die  Realisirung  des  Verhältnisses  von  Geist  und 
äufserem  Sein,  so  tritt  sie  doch  immer  mehr  unter  der 
Potenz  des  selbstischen,  persönlichen  Gefühls  heraus, 
und  nur  in  Geistern,  denen  eine  besondere  Energie  des 
Gattungsbewufstseins  innewohnt,  ist  das  letztere  be- 
wufster  Bestimmungsgrund  ihrer  äufsern  Thätigkeit.  Die 
Selbstmanifestation  dagegen  ruht  völlig  auf  dem  Gat- 
tungsbewufstsein,  weil  das  Individuum  sich  von  einem 
andern  nur  in  sofern  afficireu  läfst,  als  dasselbe  auf 
dem  Boden  geistiger  Verwandtschaft  sich  äufsert.  Alles 
was  über  das  Verhältnifs  von  Geist  und  Sein  in  einem 
■einzelnen  Bewufstsein  zn  fester  Gestaltung  gelangt  ist, 
drängt  nach  Aufsen  und  will  vom  Wollen  als  Ganzes, 
als  geistiges  Gebilde  dargestellt  sein.  Wo  der  erken- 
nende Procefs  abgeschlossen  ist  im  Wissen,  da  mufs 
dieses  Wissen  heraustreten.  So  wenig  ein  Denken  ohne 
Sprechen  sein  kann,  so  wenig  kann  eine  Erkenntnifs 
ohne  Mittheilung  bleiben.  Die  Mittheilung  dient  zur 
Probe,  zur  Kritik.  Aber  ihr  Wesensgrund  liegt  tiefer. 
Er  liegt  darin,  dafs  das  Wissen,  wenn  es  ein  solches 
wirklich  ist,  aufgehört  hat,  individuelles  Eigenthum  zu 
sein,  es  gehört,  sobald  das  Ueberzeugungsgefühl  da 
ist,  der  Gattung  an,  und  die  Mittheilung  ist  nur  die 
Aeufserung  dieser  Thatsache. 

Wo  die  Selbstraanifestation  eine  eigentliche  ist,  wo 
sie   nicht   blofs   abgebrochene,   zufällige  Elemente   des 


64 

DenkcDS  zum  Gegenstande  bat,  sondern  gewollte  Ein 
heiten  darstellt,  ist  ihr  Character  das  künstlerische 
Schaffen.  Alle  Darstellungen,  sie  mögen  durch  Gestalt, 
Geberde,  Ton,  Farbe  oder  Wort  erfolgen,  welche  berech- 
net sind,  einen  Gedanken,  eine  Stimmung,  ein  Gefühl, 
eine  Idee  zum  Ausdruck  zu  bringen,  so  dafs  von  dem 
Grundton  aus  alle  Einzelheiten  leicht  ihr  Verständnifs 
finden,  gehören  dem  Gebiete  der  Kunst  au.  Je  mehr 
sie  Wirkung  des  Gattungsbewufstseins  sind,  desto 
stärker  ist  ihre  Wirkung  auf  Andere.  Je  tiefer  die 
Herrschaft  des  Gattungsbewufstsein  ihre  Wurzeln  ge- 
trieben hat,  desto  weiter  wird  das  Gebiet  der  Selbst 
manifestation,  das  sich  auf  einer  hohen  Stufe  der  Cul- 
tur  über  alle  Verrichtungen  des  Lebens  erstreckt,  über 
die  Acte  der  Selbsterhaltung  sowohl  als  des  Besitzer- 
greifens. In  letzter  Instanz  ist  die  künstlerische  Dar- 
stellung die  Probe  des  Grades,  bis  zu  welchem  sich 
die  Einheit  von  Geist  und  Sein  vollzogen  hat,  und  die 
Selbstmanifestation  wird  beschleunigt  durch  den  nie 
rastenden  Trieb,  Individuen  und  Massen,  welche  in  der 
Einheit  von  Geist  und  Sein  zurückgeblieben  sind,  in 
die  raschere  Bewegung  mit  fortzureifsen. 

Wie  die  Selbstmanifestation  über  alle  Thätigkeiten 
tibergreift,  so  ist  auch  in  ihr  die  Kette  der  psychischen 
Functionen  geschlossen,  die  Summe  der  elementaren 
Thätigkeiten  der  menschlichen  Seele  erfüllt.  Keine  der 
aufgeführten  Formen,  unter  denen  Denken  und  Sein 
sich  näher  treten,  kann  im  lebendigen  Ich  fehlen,  keine 
kann  mehr  mit  dem  Anspruch  des  Wesentlichen  hinzu- 
treten. 


65 

Hier  müfste  mm  die  Construction  des  lebendigen 
Individuums  einsetzen,  das  ab-  und  zunehmende  Spiel 
der  elementaren  Tbätigkeiten  in  der  Einheit  des  Mo- 
ments und  des  Ich  aufzeigen,  die  Stärkegrade  und  ver- 
schiedene Mischung  der  einzelnen  Thätigkeiten  nach- 
vreisen,  und  daraus  die  Differenzen  ableiten,  welche 
die  reiche  Fülle  von  Einzel-  und  Massenindividualitäten 
beding-en. 


VITA. 


Der  Verfasser  ist  geboren  zu  Sulz  a.  N.  im  Königreiche  Würt- 
temberg, und  hat  seine  Gymnasialbildung  in  der  Lateinschule 
zu  Göppingen  und  der  Klosterschule  Maulbronn  erhalten.  Nach 
vierjährigem  Studium  der  evangelischen  Theologie  auf  der  Uni- 
versität Tübingen  und  Bestehung  des  theologischen  Examens 
Uiselbst  wurde  er  als  Lehrer  der  alten  Sprachen  an  der  Er- 
iehungsanstalt  Hofwyl  angestellt.  Später  trat  er  in  den  säch- 
sischen Schuldienst  über  als  Oberlehrer  an  der  Königlichen 
Realschule  L  Ordnung  zu  Annaberg.  Augenblicklich  befindet 
er  sich  im  Urlaub  in  Berlin ,  um  die  Vorlesungen  der  daselbst 
neu  errichteten  Academie  für  moderne  Philologie  zu  hören. 


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B      Langt  Ernst 

3098     Ueber  die  Psychologie  von 

P7L3   Schleiermacher 


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